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Full text of "Der Mimus; ein litterar-entwickelungs-geschichtlicher Versuch"

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155^ 

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w**- 


DER  MIMVS. 


EIN  LITTERAR-ENTWICKELÜNGSGESCHICHTLICHER 

VERSUCH. 


VON 


HERMANN  REICH. 


ERSTER  BAND. 
ZWEITER  TEIL. 

ENTWICKELÜNGSGESCHICHTE  DES  MBIUS. 


BERLIN 

WEIDMANNSCHE  BÜCHHANDLUNG 
1903. 


PN 

RM- 

Bd.) 


ZWEITES  BUCH. 


DIE  MIMISCHE  HYPOTHESE. 

Grundlinien   ihrer  Geschichte 
von  den  primitiven  Anfängen  bis  in  die  moderne  Zeit. 


utuös  fori  fxiur,aii  ßiov. 
Theophrast. 


SECHSTES  KAPITEL. 


Die  Entwickelung  der  mimischen  Hypothese 
vor  und  nach  Philistion. 

tptXiOTi'üJia  iov  xah'it  t«  xaya&ov 

tyto  Mivavduos  nolii)  xai'qnv  ßoilouai. 

MtvurJgov  xai  'PiltOTfowo;  dtai.fxrog. 

I. 

Mimisches  Scherzspiel  —  Paegnion. 

Wir  haben  die  Terminologie  des  Mimus  kennen  gelernt. 
Nur  die  wichtige  Einteilung  in  Paegnion  und  Hypothese  blieb 
unerörtert,  weil  sie  nicht  wie  die  andern  bis  auf  Aristoteles  und 
die  Peripatetiker  sich  zurückverfolgen  läf>t  Sie  findet  sich 
bei  Plutarch  in  den  Tischgesprächen.  Dort  heifst  es:  es  gebe 
bekanntlich  zwei  Arten  von  Mimen,  die  sich  aber  beide  nicht 
für  die  Unterhaltung  bei  Gastmählern  eigneten;  nämlich  die 
mimischen  Theaterstücke  (Hypothesen)  nicht  wegen  ihrer 
Länge  und  wegen  der  Schwierigkeit  der  Inscenierung.  die  mimi- 
schen Scherze  oder  Possen  (Paegnia)  nicht,  weil  sie  voll  Zoten- 
reifserei  und  Spafsmacherei  und  nicht  einmal  gut  für  die  Sklaven 
wären,  welche  ihren  Herren  das  Schuhwerk  besorgten.  Dennoch  lasse 
man,  selbst  wenn  Frauen  mit  bei  Tische  säfsen  und  Kinder,  solche 
Darstellungen  von  Handlungen  und  Worten  sehen,  die  mehr  als 
das  Übermafs  von  Wein  die  Gemüter  berauschten  und  verwirrten1). 


')  VII,  8,  4:    ovxivv,  ?'/»}V  ?yü,  uiuoi  itv£s  tioiv,  <uv  rovs  [ilv  i>no9iotts, 

JOVi  St   natyvia    xaXoicfiV    aouö&iv  <T   oiiöiilQOV  oluut  avunoaCip  yivos'    *aS 

fikv  vno&taits,  dict  r«    utjxtj  roi»'   i  oauäraiv  xai    r&    dfff/opijy  rjrov      rd 

St  natyvta,  noXXfjs  ytfiovra  ßa>uoi.ox(a;  xai  ontQ/uoloytas,  ovSi  roig  id  vnoSrjuaju 

Reich.    Mimus.  ■_>  7 


418  Sechstes  Kapitel. 

Der  Unterschied  beider  Gattungen  wird  noch  deutlicher  durch 
eine  andere  Äufserung  Plutarchs,  die  dem  Mimus,  natürlich  der 
Hypothese,  eine  dramatische  Verwickelung  zuschreibt,  wie  sie 
das  Zusammenspiel  mehrerer  Personen  hervorbringt1).  Also  die 
Hypothese  ist  das  mimische  Theaterstück,  das  nach  Umfang, 
dramatischer  Verwickelung,  Anzahl  der  Akte  kein  geringeres 
und  kleineres  Gebilde  ist  wie  die  Komödie;  wir  haben  ja  schon 
mannigfache,  derartige,  grofse  mimische  Schauspiele  kennen  ge- 
lernt2). 

Das  Paegnion  umfafst  alle  mimische  Produktion,  die  unter- 
halb der  Hypothese  liegt.  Das  ist  auf  griechischem  wie  auf 
römischem  Boden  aufserordentlich  viel.  Beteiligen  sich  doch  an 
dieser  mimischen  Konkurrenz  nach  der  antiken  Auffassung  selbst 
die  Tiere.  Wir  hören  sogar  von  Bären,  die  einen  Mimus  auf- 
führen3), und  zwar  bei  den  Spielen,  die  Numerianus  und  Carinus 
im  Jahre  284  veranstalteten4).  Plutarch  (de  sollert.  anim.  c.  19) 
erzählt  von  einer  merkwürdig  gelehrigen  Elster  eines  Barbiers  am 
griechischen  Markt  in  Rom.  Dieses  Tier  vermochte  Menschen- 
wie  Tierstimmen  wiederzugeben  und  auch  die  Töne  aller  möglichen 
Instrumente.  Da  kommt  einmal  ein  prächtiger  Leichenzug  mit 
grofsartiger  Trauermusik   an   der  Barbierstube  vorüber;    in   der 


xofiC^ovai  naiättqCois,  «  yt  d'rj  öednotwv  rj  a(0(pQOVOvvriov,  &eäaaa&ai  nQoarjxei ' 
ol  dk  noXXoi,  xal  yvvcuxäiv  avyxaxaxti^iivoyv  xal  nctiöwv  ävrjßcov,  iniSilxvvvrai 
ui/urj/uara  TiQayfiarwv  xal  köytav,  a  nä(Si\<;  /Lit&rjs  raga^coS^aTegov  rag  \pv%as 
&iaTl&rjatv. 

r)  De  sollert.  anim.  19:    Itkoxr\v  .  .  dga^arixtiv  xai  noXvnQoawnov. 

2)  Vgl.  oben  S.  87  folg. 

3)  Vopiscus  Carinus  cap.  19:    ursos  mimum  agentes. 

*)  Ob  man  nun  hier  an  wirkliche  Bären  zu  denken  hat  —  ich  erinnere 
an  die  grofse  Kunst,  zu  der  es  die  Römer  in  der  Dressur  brachten  (vgl. 
Ludwig  Friedländer,  Sittengesch.  2.  Bd.  II,  b.)  —  oder  nur  an  verkleidete 
Schauspieler,  will  ich  unerörtert  lassen.  Jedenfalls  erinnert  dieser  Bärenmimus 
etwas  an  den  sonderbaren  Eselmimus,  den  der  Eselmensch  Lucius,  Aovxtog 
rj  ovog,  zum  Schlufs,  nachdem  er  bei  dem  Liebesspiele  mit  der  vornehmen 
Dame  belauscht  ist,  auf  offener  Bühne  mit  einem  verurteilten  Frauenzimmer 
zum  besten  geben  soll;  vgl.  Lukian  cap.  53  u.  Apuleius  Metam.  X,  23  u.  34.  Ich 
erinnere  auch  an  den  Hund,  der  zur  allgemeinen  Verwunderung  sehr  geschickt 
seine  Rolle  im  Mimus  spielt,  wie  Plutarch  (de  sollert.  anim.  19)  berichtet. 


Mimisches  Scherzspiel  —  Paegnion.  419 

nächsten  Zeit  schweigt  dann  die  Elster  still.  Eines  Tages  aber 
flötet  sie  die  ganze  Trauermusik  herunter.  Plutarch  spricht  an 
dieser  Stelle,  in  Anerkennung  ihres  mimischen  Talentes,  von 
ihren  Mimemata.  Diese  Elster  gehört  gewissermafsen  zur 
untersten  Stufe  der  mimischen  Künstler,  zu  denen,  die  sich 
mit  der  Nachahmung  von  Tierstimmen  und  Naturlauten  befassen ; 
doch  je  niedriger  diese  Stufe  ist,  desto  zahlreicher  sind  ihre 
Vertreter.  Schon  Plato1)  berichtet  von  Jongleuren,  die  in 
mimischer  Weise  die  Stimmen  von  Tieren  nachahmen,  das 
Wiehern  der  Pferde  und  das  Brüllen  der  Stiere,  und  auch 
sonstige  Naturlaute,  das  Rauschen  der  Flüsse,  das  Tosen  des 
Meeres,  Donnerschläge  und  Ähnliches.  Diese  mimische  Nach- 
ahmung ist  zu  allen  Zeiten  ein  höchst  beliebtes  Unterhaltungs- 
mittel gewesen.  So  macht  bei  Petron  im  Gastmahl  Trimalchio, 
der  Gastgeber,  selbst  den  Posaunenbläsern  und  ein  alexandrinischer 
Knabe  den  Nachtigallen  nach,  und  der  Sklave  des  Habinnas 
kopiert,  auf  einer  Thonlampe  musizierend,  Posaunenbläser  und 
nachher  mit  zerbrochenen  Rohrstücken  Chorbläser ').  Besonders 
beliebt  scheint  die  mimische  Nachahmung  des  Grunzens  und 
Quiekens  von  Schweinen  gewesen  zu  sein,  die  man  offenbar,  wie 
aus  einer  Fabel  des  Phaedrus  besonders  zu  ersehen  ist,  selbst 
im  grofsen  Theater  zum  besten  gab*).  Auf  höherer  Stufe  des 
Paegnions  steht  schon  Agathokles,  der  bei  Volksversammlungen 
gelegentlich  Leute,  die  ihm  durch  sonderbares  Wesen  auffielen, 
nachäffte  und  sie  mimisch  darstellte4).  Paegnien  sind  auch 
einige  andere  bei  Petron  erwähnte,  mimische  Kunststückchen, 
wie  besonders  die  Barbierstube  des  Plocamus*).    Hierher  gehört 


»)  Staat  III,  8. 

')  Vgl.  Cena  Trimalchionis,  übersetzt  von  Friedländer  64,  68,  69  and 
dazu  die  Anmerkung  auf  S.  293,  sowie  Wölfflin,  Publilii  Syri  sententiae, 
pag.  6,  wo  noch  einige  ähnliche  Beispiele  angeführt  werden. 

3)  Vgl.  Paroemiogr.  App.  II.  84;  Phaedrus,  Fabeln  V,  5  und  Plutarch, 
Tischgespräche  S.  674  B. 

*)  Vgl.  oben  S.  224 

5)  Die  Barbiere  waren,  wie  noch  heute,  wegen  ihrer  Geschwätzigkeit 
und    ihres    sonstigen   eigentümlichen  Gebahrens   bekannt   und    forderten   so 

27* 


420  Sechstes  Kapitel. 

auch  der  lusor  argutus  mutus  des  Tiberius,  welcher  es  zuerst 
erfand,  Advokaten  mimisch  darzustellen1).  Paegnia  sind  ferner 
die  Darstellungen  Noemons  des  Ethologen,  Kleons  des  Mimaulen, 
des  Heroldes  Ischomachus,  sowie  Nymphodorus',  der  die  Ein- 
wohner von  Rhegium  in  einem  Mimus  wegen  ihrer  Feigheit  ver- 
höhnte. 

Auch  Straton  aus  Tarent,  der  Dithyramben,  und  der  Italiker 
Oenonas,  der  Kitharodien  mimisch  nachäffte,  gehören  hierher; 
desgleichen  die  ionischen  Mimoden,  die  Hilaroden  und  Magoden, 
Lysioden  und  Simoden  und  zum  grofsen  Teil  die  Mimologen, 
Deikelikten  und  Phlyaken  bis  auf  Sophron,  Xenarch,  Herondas 
und  Theokrit;  denn  auch  ihren  Mimen  fehlt  noch  das  sichere 
Kennzeichen  der  Hypothese,  der  grofse  Umfang  und  die  drama- 
tische Verwickelung.  Zum  Paegnion  gehört  auch  noch  die 
Cinaedologie  oder  Ionikologie,  die  zwischen  Mimologie  und 
Mimodie  mitten  inne  steht. 

Es  kommt  hier  nur  darauf  an,  den  unerschöpflichen  Reich- 
tum des  Altertums  an  mimischen  Paegnien  anzudeuten. 

IL 

Paegnion  und  Hypothese. 
Mimisches  Scherzspiel  und  mimisches  Schauspiel. 

Hier  haben  wir  nun  einen  Grundirrtum  in  der  Auffassung 
des  Mimus  zu  beseitigen,  der  sich  schon  jahrhundertelang 
forterbt. 

Das  Gespräch  Plutarchs,  in  dem  diese  Einteilung  in  Paegnia 
und  Hypothesen  sich  findet,  ist  von  lauter  Griechen  geführt 
und  noch  dazu  auf  einem  griechischen  Gastmahl,  in  einer 
griechischen  Stadt,  in  Chaeronea.  Unmittelbar  vorher  ist  von 
der  griechischen  Komödie  als  Unterhaltungsmittel  bei  Gast- 
mählern, von  der  Komödie  des  Aristophanes  und  Menander  die 


geradezu   zur  mimischen  Nachahmung  heraus.     Vgl.  hier  die   treffenden  Be- 
merkungen Ludwig  Friedländers  a.  a.  0.  S.  294. 
>)  Vgl.  oben  S.  152. 


Paegnion  und  Hypothese.  421 

Rede;  es  handelt  sich  aufserdem  direkt  um  zeitgenössische, 
griechische  Verhältnisse.  Auch  die  Ausdrücke  Hypothese  und 
Paegnion  deuten  auf  griechischen  Ursprung.  Da  sollte  man 
meinen,  es  handele  sich  auch  um  den  griechischen  Mimus. 
Aber  solange  diese  Stelle  besprochen  wurde,  ist  immer  geschlossen 
worden,  dafs  der  römische  Mimus  gemeint  sei1). 

Dem  kritischen  Urteil  Otto  Jahns  erschien  das  doch  zu 
bunt;  so  soll  denn  Plutarch  wenigstens  bei  den  Paegnia  an  den 
griechischen  Mimus  gedacht  haben*.).  Das  hat  Grysar  Jahn  ge- 
glaubt, und  so  erklärt  er  (S.  244),  der  römische  Bühnenmimus. 
die  Hypothese,  müsse  streng  von  dem  griechischen  Volksmimus, 
dem  Paegnion,  geschieden  und  dürfe  nicht  etwa  gar  von  ihm 
abgeleitet  werden.  „Es  ist  vielmehr  der  italische  Bühnenmimus 
eine  durchaus  italische  Erfindung,  für  welchen  ich  in  Griechen- 
land kein  entsprechendes  Gegenstück  auffinden  kann" s). 

Der  Grund  für  diese  wunderbaren  Interpretationen  ist  eben 
das  Dogma,  dafs  es  ursprünglich  keine  griechische  Hypothese 
gegeben  hat.  Der  griechische  Mimus  hört  mit  Sophron  und 
allenfalls  mit  Theokrit  und  Herondas  auf,  da  ist  die  griechische, 


])  Der  recht  sonderbare  Beweis  dafür  findet  sich,  soweit  ich  sehe,  zu- 
erst bei  Ziegler,  „De  mimis  Romanorum"  S.  17,  Anm.  v.  Weil  in  diesem 
Gespräch  auch  Bathyllus  und  Pylades,  die  römischen  Pantomimen,  erwähnt 
werden,  könne  hier  nur  der  römische  Mimus  gemeint  sein.  Ebenso  z.  B- 
Munk,  De  fabulis  Atellanis   S.  20,  not.  67. 

a)  Persius,  Prolegomena  S.  LXXXV. 

3)  Vergleiche  hier  auch  die  kategorische  Erklärung  bei  Führ,  De  mimis 
Graecorum  S.  IG:  „Mimica  ars,  qualis  apud  Romanos  exercebatur,  iisdem  fere 
primordiis  orta  est  quibus  Graeca,  neque  tarnen  a  Graeca  originem  duxit, 
sed  Caesaris  Avgustique  tempore  Romae  primum  culta,  cum  aliis  haud  paucis  tum  eo 
abhorret  a  Graeca,  quod  longas  fabulas  et  jinem  aliquem  spectantes  habet,  nloxrft' 
Soauauxi}*  xai  nolvnQooainov  hanc  Romanorum  artem  mimicam  vocat  Plutarchus". 
Dieser  Grundirrtum  kehrt  auch  in  der  letzten  Behandlung  des  griechischen 
Mimus  durch  Hertling  wieder;  vgl.  Quaestiones  mimicae  S.  32:  „Qua«  xmo- 
dtaac  et  haec  nalyvia  quo  spectent,  satis  facile  perspici  potest  et  iam  perspectum 
est  ab  eis.  qui  statuerunt  vno&iatnt  mimos  romanos,  qui  in  scaena  agebantur, 
naiyviois  graecos  notasse  Plutarchum" .  Doch  hat  das  der  guten  Dissertation 
nicht  geschadet,  da  sie  nur  das  griechische  Paegnion  behandelt,  und  zwar 
mit  Glück. 


422  Sechstes  Kapitel. 

mimische  Entwickelung  wie  mit  einem  Messer  abgeschnitten; 
dort  setzt  der  römische  Mimus  ein;  der  ist  aber  etwas  ganz 
anderes,  er  ist  eine  vornehme  Hypothese,  nur  den  Namen  hat 
er  merkwürdigerweise  mit  dem  griechischen  Mimus  gemein. 

In  der  That,  wenn  man  bedenkt,  wie  bildungs-  und  trieb- 
fähig die  mimischen  Keime  sind,  die  wir  bei  den  Griechen  nach- 
weisen können,  so  ist  eine  Weiterbildung  zur  Hypothese  an  und 
für  sich  selbstverständlich.  Zweifellos  sind  die  Mimen  Sophrons, 
die  auf  der  höchsten  Stufe  der  Ausbildung  des  Paegnions  stehen, 
doch  eben  nur  Paegnien  *).  Aber  der  Schritt  von  dem  litterarisch 
ausgebildeten  und  schriftlich  fixierten  Paegnion  zur  Hypothese, 
die  gleichfalls  der  schriftlichen  Ausarbeitung,  und  sei  es  auch 
nur  in  Form  eines  Scenariums  oder  Canevas,  bedarf,  ist  nicht 
mehr  grofs. 

Wenn  nicht  die  geringste  Nachricht  von  einer  griechischen 
Hypothese  vorhanden  wäre,  wäre  das  argumentum  ex  silentio 
wenig  beweiskräftig.  Aber  es  existieren  genug  Nachrichten.  Wir 
haben  schon  oben  die  zahlreichen  Zeugnisse  für  die  mimische 
Hypothese  in  spätgriechischer  und  byzantinischer  Zeit  angeführt; 
der  christologische  Mimus,  ob  er  nun  ein  Tauf-  oder  Kreuzigungs- 
mimus  oder  beides  in  eins  war,  war  eine  grofse,  mimische  Hypo- 
these. Wir  haben  aus  Choricius  mehraktige  Theatermimen,  also 
mimische  Hypothesen  kennen  gelernt;  alle  Klagen  und  Anklagen 
des  Chrysostomus  und  aller  übrigen  griechischen  Kirchenväter 
richten  sich  gegen  die  grofse,  mimische  Komödie  der  Hellenen. 

Doch  diese  Beweise  helfen  uns  nichts;  denn  das  spät- 
griechische, mimische  Drama  ist,  wenn  es  existierte,  nur  ein 
Abklatsch  des  römischen.  Wie  dieses  sich  von  Rom  und  Italien 
aus  nach  Germanien,  Gallien  und  Spanien,  so  hat  es  sich  in  der 
späteren  Kaiserzeit  auch  nach  Griechenland  und  den  Provinzen 
des  Orients  verbreitet  und  da  natürlich  unter  der  griechisch 
redenden  Bevölkerung  die  griechische  Sprache  angenommen2). 


l)  Botzon  erklärte,  um  die  litterarische  Ehre  der  Griechen  zu  retten,  da 
er  nun  einmal  unter  dem  Bann  des  Grundirrtums  stand,  Sophron  für  einen 
Hypothesendichter;  vgl.  Botzon,  Quaestionum  mimicarum  specimen  S.  32. 

3)  So  Grysar  a.  a.  0.  S.  261  und  262. 


Menander  und  Philistion,  attische  und  mimische  Komödie.         423 

m. 

Menander  und  Philistion. 
attische  und  mimische  Komödie. 

Aber  Philistion,  der  griechische  Mimograph.  der  doch  schon 
am  Anfange  des  ersten  Jahrhunderts  nach  Christus  blähte!  Auch 
er  fiel  der  altererbten  Theorie  zum  Opfer  und  wurde,  da  er  ja 
in  Rom  lebte,  zum  Römer  gemacht1). 

Nun,  darüber,  dafs  Philistion  griechisch  schrieb,  ist  ja  heute 
glücklicherweise  kein  Wort  mehr  zu  verlieren.  Das  beweisen 
schon,  von  allem  andern  abgesehen,  die  ZvyxgtGig  MtvävÖQov  xal 
Oihaziuvog,  Menandri  et  Philistionis  disticha  Parisina.  /Ya>pa» 
MevävÖQov  xal  @iliGzicovog,  \ItvavdQov  xai  0i).iatiwvog  dia'/fxroc, 
die  Studemund  herausgab1). 


*)  Das  hat  C.  Fr.  Hermann  (Disp.  de  script.  illustribus  p.  28)  zu  beweisen 
gesucht.  Danach  diskutiert  Grysar  die  Frage  ernstlich,  und  da  er  sie  nicht 
recht  zu  entscheiden  weif?,  fahrt  er  vorsichtigerweise  Philistion  denn  doch 
unter  den  lateinischen  Mimographen  auf.  Aber  Suidas  nennt  Philistion  als 
griechischen  Dichter:  er  setzt  ihn,  wenn  auch  falschlich,  in  die  Zeit  des 
Sokrates,  in  der  es  doch  gewifs  noch  keine  römischen  Mimographen  gab,  und 
führt  griechische  Titel  von  ihm  an.  Die  griechische  Anthologie  verherrlicht 
diesen  griechischen  Dichter.  In  der  Anthologia  Palatina  findet  sich  das  Epi- 
gramm auf  Philistion  wieder,  das  Suidas  anfuhrt.  Epiphanius,  der  nie  Lateiner 
citiert,  erwähnt  Philistion  wiederholt  (vgl.  unten  S.  426,  427  u.  429  Anm.  i 
Auch  Africanus  und  Origenes  kennen  Philistion  als  Griechen.  Die  lateinischen 
Grammatiker,  die  ebenso  wie  die  griechischen  so  gerne  Ausdrücke  der 
mimischen  Sprache  anführen,  die  so  häufig  Publilius  Syrus  und  Decimus 
Laberius  citieren.  nennen  nicht  ein  einziges  Mal  Philistion,  obwohl  er  doch 
berühmter  war  als  beide.  Er  schrieb  eben  griechisch.  Und  Ovid,  der  in 
seinem  berühmten  Dichterverzeichnis  selbst  die  mittelmäfsigen  Lateiner 
Revue  passieren  läfst,  schweigt  von  ihm  mit  Recht,  weil  er  ein  Grieche  ist. 
Es  wäre  Zeit,  dafs  Philistion  endlich  aus  der  römischen  Literaturgeschichte 
von  Teuffei -Schwabe  5,  254,  6,  verschwände,  wo  er.  wenn  auch  mit  starken 
Zweifeln  und  Bedenken,  angeführt  wird. 

*)  Breslauer  Lektionskatalog  für  das  Sommersemester  1887,  Menandri 
et  Philistionis  comparatio  cum  appendicibus  edita.  Auch  hier  hat  sich  wieder 
der  Unstern  gezeigt,  der  von  jeher  über  dem  Mimus  schwebte.  Nachdem 
Rigaltius  die  ZCyxQiois  aus  zwei  Pariser  Codices  herausgegeben  hatte,  fügte 
Rutgers    noch   die   disticha   Parisina   hinzu.      Zugleich    bemerkte   er   nach 


424  Sechstes  Kapitel. 

Diese  „Vergleichung"  ist  etwa  im  sechten  Jahrhundert  nach 
Christus  entstanden8).  Möglich,  dafs  sie  nach  älteren  Vorbildern 
gearbeitet  ist,  aber  auch  diese  würden  nachchristlichen  Jahr- 
hunderten angehören,  lebte  doch  Philistion  selbst  im  ersten 
Jahrhundert  nach  Christus.  Was  war  für  jene  Zeiten  Philemon? 
Die  neue  Komödie  bezeichnete  für  jene  Epochen  einfach  Menander. 
Das  gilt  schon  für  Plutarch.  In  den  „Tischgesprächen"  (VIII,  7) 
bezeichnet  er  die  neue  Komödie  einfach  durch  Menanders  Namen. 
Einen  Vergleich  zwischen  Menander  und  Aristophanes,  zwischen 
alter  und  neuer  Komödie,  mochte  Plutarch  wohl  noch  anstellen 
(vgl.  Moralia  ed.  Dübner  Bd.  II,  S  1039);  aber  einzelne  Dichter 
der  neueren  Komödie  mit  einander  zu  vergleichen,  dafür  lag 
schon  damals  kein  Interesse  vor. 

Nun  hatte  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  eine  neue,  ganz 
moderne  Komödie  gebildet,  das  war  die  mimische  Hypothese. 
Ihr  lief  überall  das  Volk  mit  dem  glühendsten  Eifer  zu.  Es  gab 
seit  dem  ersten  Jahrhundert  nach  Christus  kein  gröfseres,  litte- 
rarisches Interesse  als  das  mimische,  und  der  berühmteste  und 
gefeiertste  Mimograph  war  Philistion. 


Rigaltius'  Vorgange,  dafs  eine  Anzahl  Verse  aus  diesen  Gnomen  bei  Stobaeus 
unter  Philemons  Namen  vorkämen,  und  glaubte  nun,  es  überhaupt  mit  einer 
2.vyxQioig  Mtvavdqov  xal  4>iXri/iovos  zu  thun  zu  haben.  Da  war  ein  köst- 
licher Schatz  für  die  fragmenta  comicorum  gewonnen,  so  viele  Verse  Phile- 
mons; diesen  Fund  hat  sich  fortan  kein  Herausgeber  der  fragmenta  comico- 
rum, auch  nicht  Meineke,  und  schließlich  auch  nicht  Kock  entgehen  lassen. 
Als  dann  weiter  Boissonade  aus  einem  andern  Pariser  Codex  JY<J//a«  MtvavSqov 
xal  *t>ihaTltt)vos  herausgab  (Anecdota  graeca  I,  p.  147—  152),  änderte  man  auch 
hier  sehr  methodisch  in  *PiXr)uovos  und  husch,  mit  all  den  schönen  Versen 
in  den  Philemon  hinein  (vergleiche  Dübner  in  der  Didot'schen  Menander - 
und  Philemon-Ausgabe  S.  105 folg.;  Meineke,  Fragmenta  comicorum  Graecorum 
IV,  pag.  335 folg.).  Da  sich  nun  aber  der  MevdvdQov  xal  <Pi\ioitu)vos  diä- 
Xexrog  in  einem  Florentiner  Codex  fand,  so  ist  der  handschriftliche  Beweis 
für  die  Existenz  eines  Dichterwettstreits  zwischen  Menander  und  Philistion 
geradezu  erdrückend.  Nur  die  Unkenntnis  der  grofsen,  mimischen  Ent- 
wickelung  und  der  außerordentlichen  Bedeutung  des  Mimograpben  Philistion 
hat  Meineke  wie  seine  Vorgänger  und  seinen  Nachfolger  Kock  zu  einer 
so  bedauerlichen  Vergewaltigung  der  Überlieferung  geführt. 
>)  Vgl.  Studemund  a.  a.  0.  S.  18. 


Menander  and  Philistion.  attische  und  mimische  Komödie. 


425 


Begreifen  wir  Philistions  Bedeutung  recht.  Unablässig  wird 
sein  Name  in  der  profanen  wie  in  der  kirchlichen  Litteratur  ge- 
nannt, so  bei: 


1. 

Philo 

1. 

Jahrhundert; 

2. 

Martial 

1. 

„ 

3. 

Marc  Aurel                 zweite  Hälfte  des  2. 

Ji 

4. 

in  der  griechischen  Anthologie 

2. 

(?) 

5. 

bei  Alciphron 

um  200; 

6. 

Africanus                               Anfang 

des  3. 

Jahrhundert; 

7. 

Origenes 

,    3. 

y> 

8. 

Epiphanius 

4. 

» 

9. 

Ammianus  Marcellinus 

4. 

» 

10. 

Eusebius 

4. 

J> 

11. 

Hieronymus  (zweimal)                     4. 

u.  5. 

y> 

12 

Nilus                                     Anfang 

des  5. 

- 

13. 

Marcus  Diaconus                        „ 

»    5. 

■» 

14. 

Sidonius  Apollinaris 

5. 

» 

15. 

Cassiodor 

6. 

m 

16. 

MevdvÖQOV  xai  OiliGTiwvoc;  at'yxgiOtg 

ca.  6. 

» 

17. 

Menandri    et  Philistionis    disticha 

Parisina 

.    6. 

y> 

18. 

MtvävÖQOV  xai  (Jhhaiimvoc  yväuat 

.    6. 

y> 

19. 

MiycivÖQOv  xai  (DiÄktziojvoc  diä'/.txioc. 

■    6. 

■ 

20. 

bei  Choricius 

6. 

*» 

21. 

in  den  Eclogen  des  Maximus 

7. 

i» 

22. 

bei  Georgios  Monachos 

9. 

m 

23. 

Suidas 

10. 

» 

24. 

in  der  Melissa  des  Antonius 

11. 

■ 

25. 

Tzetzes 

12. 

')• 

x)  Die  Belegstellen  für  Philistion  sammelte  zuerst  Fabricius,  Bibl. 
Graec.  II,  p.  480  folg.  (ed.  Harles),  dann  Jacobs,  Anthol.  Graec.  Bd.  XII, 
8.  165folg.,  dann  Otto  Jahn,  Persius  S.  XC,  dann  Bernhardy.  Suidas  II3, 
S.  1475  folg.,  und  diese  gesamte  im  Laufe  der  Jahrhunderte  vermehrte 
Stellensammlung  findet  sich  schliefslich  vollständig  bei  Grysar  a.  a.  O. 
S.  302  folg.     Es    sind    zwölf  Stellen.     Ich    führe   sie  hier  an  und  füge  noch 


426  Sechstes  Kapitel. 

Wenn    der  Mimus    nach  der  Meinung  der  Alten  überhaupt 
ein  Trostmittel  gegen  die  Trübsal  des  Lebens  ist,  dann  ist  es 


elf  weitere  hinzu;   aber  es  ist  nicht  unmöglich,  dafs  mir  trotz  jahrelangen, 
methodischen  Suchens  eine  oder  die  andere  Stelle  doch  noch  entgangen  ist: 

I.  Suidas:  tpiXiortoav,  ügovOaevg,  17  (6g  4>CX(ov  2aq6iav6g,  xco/biixog. 
rsXtvr^  6i  Inl  ZatxgäTovg.  og  tyoaxps  xtOjutp6(ag  ßtoXoyixäg.  reXevrfjc  6k  ino 
yiXonog  antigov.  6od/*ara  6k  avrov  MifioiprjtfuOTat.  ovrog  loxiv  6  ygaxpag 
tov  'PiXöytXwv  r\yovv  rb  ßtßXCov  rb  (pego/uevov  tlg  rov  Kovgia.  Nixatvg  6k  fiaXXov 
naga  näoiv  a6trat,  wg  fiagrvgu  to  Iniygafifia' 

'O  tov  noXvarivaxrov  av&gconwv  ßiov 

ytXairt  xtgaaag  Nixatvg  4>iXiOT(fov. 
Die    Fortsetzung   Anth.  Pal.  VII,  155    siehe   oben    S.  203.    Dafs  bei  Philo 
Philistions   Erwähnung   geschah,   ist   um   so   interessanter,    als  Philo    auch 
sonst  des  Mimus  gedenkt,  vgl.  in  Flaccum  §§  5;  6;  9;  10. 

II.  Martial.  Epigr.  II,  41,  15: 

mimos  ridiculi  Philistionis. 

III.  M.  Antoninus,  Tä  elg  eavrbv  VI,  47;  siehe  oben  S.  56. 

IV.  Cassiodor  IV,  ep.  51 ;  siehe  oben  S.  144. 

V.  Ammianus  Marcellinus  XXX,  4,  21:  et  iudices  patiuntur  interdum  doctos 
ex  Philistionis  aut  Aesopi  cavillationibus  quam  ex  Aristidis  illius  iusti  vel  Catonis 
disciplina  productos:  qui  aere  gravi  mercati  publicas  potestates  ut  creditores  molesti 
opes  cuiusque  modi  fortunae  rimantes,  alienis  gremiis  excutiunt  praedas. 

VI.  Sidonius  Apollinaris,  Epistularum  lib.  II,  2,  6 :  non  hie  per  nudam 
pictorum  corporum  pulchritudinem  turpis  prostat  historia,  quae  sicut  ornat  artem, 
sie  devenustat  artificem.  absunt  ridiculi  vestitu  et  vultibus  histriones  pigmentis 
multicoloribus  Philistionis  supellectilem  mentientes.  Grysar  schreibt:  adsuntl;  das 
könnte  ein  Druckfehler  sein,  doch  findet  er  sich  schon  bei  Ziegler,  dem 
Grysar  überall  so  treulich  folgt;  leider  hat  er  aber  Ziegler  nicht  einmal  ganz 
richtig  ausgeschrieben,  statt  vultibus  schreibt  er  das  sinnlose  vestibus  in- 
folge des  vorausgehenden  vestitu. 

VII.  Epiphanius  adv.  haereses  lib.  I,  haeresis  26,  1  (ed.  Dindorf,  vol.  II, 
S.  39):  Kai  ol  "EXXrjveg  yäg  ifaot  ttjv  dtvxaXtorvog  yvvalxa  IJv^gav  xaXfto&ai. 
Eha  tt\v  ahCav  i>7ioT(deviat  ovroi  oi  rä  rov  4>iXiaritüvog  rjfiiv  aii&tg  ngoaytgö- 
fitvoi,  ort  noXXaxig  ßovXofiivt)  fiera  rov  Neos  Iv  rrj  xißfaitp  yevtodat,  ov  awe^o- 
gslro,  rov  äggovrog,  (paol,  rov  rov  xoOfiov  xrCaavxog  ßovXofis'vov  avrrjv  änoXfaai 
Ovv  rolg  liXXoig  anaatv  tv  T(p  xataxXvO[j.(ji. 

VIII.  Epiphanius  adv.  haereses  lib.  I,  haeresis  33, 8  (ed.  Dindorf,  vol.  II, 
S.  206  u.  207):  r(g  6k  rovrcov  rwv  grifinrcov  xal  tjj?  tov  ybr\Tog  rovrov  xal  rfg 
(Sv  ovv  avTäi  dvi^trai  (pgevoßXaßetag,  üroXsfiaCov  ri  <f>r\fii  xal  twv  ä/u</>'  avrov, 
ei;  toaovrov  xvxiävrwv  xal  xarrvovrwv  nXäa^iara;  ovxe  yao  rwv  naXaiüv  rga- 
yu)6o7ioKov  rig,  ovrt  ol  xa&tgrg  /nijurjXol  rov  roonov,  oi  n(ol  {PtXiar(wva  Xiyot 
xal  Aioyivri,  tov  t«  amara  ygdxpavra,  P/  ol  aXXoi  navrtg  ol  rovg  pv&ovg  ävayt- 


Menander  und  Philistion,  attische  nnd  mimische  Komödie.         427 

besonders    der  Mimus  Philistions.     Denn   kein  Mimograph  ver- 
steht so  das  laute,  lustige,   mimische  Lachen  zu  erwecken  wie 


ygaifÖTtg  xai  ga-üotärpantg,  tooovtov  xpevdog  TjSvrrfirioav  ixrvTiüaai  tag  ovioi 
lolurjOÜs  (fioöutroi  xutc'i  Ttjg  kaxnwv  farfi  dura  iavroig  xajioxivaoay,  xai  rbv 
yovv  Ttöv  7iei9op£v(ov  avToig  dv&gwnav  ttg  uuodg  [rjTrtaiig  ntgtfßakov  xai 
ytnakoyCag  dnigdtTov;  x.  r.  k. 

IX.  Epiphanias  adv.  haereses  lib.  II,  haeres.  66,  IS  (ed.  Dindorf,  yoI.  III, 
S.  42  u.  43):  Ta  6k  akka  ilntiv  n'ff  oix  av  ixytkdofttv,  «ff  täya  tö  toi 
4>iliOTi(üios  (hat  ürayxaiörtga  ij  ra  lijff  tovtov  uiuokoyiug;  'Sluotfooov  yag  uv&o- 
notwv  dtddoxa  ßaaraCovra  Tt]V  yrjv  näaav,  xai  ö*ta  htöv,  (frjoi,  Tpwixon«  xauvov- 
ioff  Tot  wuoi  utTaifiytiv  (ig  tov  (TtQov  wuov.  xai  oi'Tft)  Tovff  atiOfiovs  ytv4o&at. 
El  ö*k  rp>  tovio,  xaiä  tfvoiv  rjv  to  ngayua,  xai  ovxitt  rv  &to~7t£oiov.  Ekfyxovot 
dk  tov  yörpa  o«  jov  2mt fjgog  köyoi,  og  ifftf  Ftviolrt  ayadoi  wff  ö  Uarijg  vftvv 
ö  orptmoff'  oti  avai&lu  tov  rtkiov  aiiov  ini  dixaiovg  xai  ddixotg,  xai  ßgtylt 
avrov  tov  itiov  tni  novrjgovg  xai  dya&ovg'  xai  to*  "Eaovral  ououoi  xara 
TÖnor  xai  Xiuoi  xai  koiuoi.  Ei  dk  ix  (fiotwg,  >}  xaia  avrr,Stiav  oi  oitainoi 
iyivovro,  nokkdxig  ovv,  ort  attouoi  xara  jfwoav  ylvovtai ,  ow4ßn  dt  xai 
in'  ivianov  okoTtkij  xa& '  ixäarrjv  vvxra  nokkdxig  oaktvto9at  ti\v  yrtv.  'Agd 
y  ovv  Toavuaito&fvrarv  TtSv  tov  touoyöoov  wutiv  dtffgtnottag  aytrai  ivdfkty^ 
notovfttvog  tov  adkov;   Kai  t($  äi/ffrai  tijc  Toutvrr,g  ucoookoyiag , 

X.  Hieronymus  contra  Rufinnm  2,  20:  siehe  oben  S.  155. 

XI.  Hieronymns  ad  Eusebiura  chron.  Ol.  CXCVIa.  2:  Pküistio  mi'mo- 
praphus,  natione  Magntsianus,  Romae  elarus  habetur. 

XII.  Sextns  Iulins  Africanus,  De  historia  Snsannae  epistnla  ad  Origenem 
(Migne  a.  a.  0.  Bd.  11,  S.  41—45):  XaTgt,  xvgU  f*ov,  xai  i<ii,  xai  närrtov 
TiuiMTart  'ilgCytrtg,  nt-git  Atfgixavov.  "Ort  tov  ttgbv  inoiov  ngbg  t6»  *Ayvü- 
fiova  dtäloyov,  ifJVTjO&rjg  Ttjg  iv  vtoTr/Tt  nooiftjniag  Tov  ^/wiiji.-  xai  oiff  ingt- 
■ntv,  Tjanaoiiutjv  to't«-  9avud£tu  6i,  ntög  fla&(  at  to  u(oog  tov  ßißliov  tovto 
xtßötjlov  6v  tj  yag  toi  THQtxoni]  iclttj,  xagi'tv  ftev  allwg  ovyygauua,  rftorfoi- 
xov  o*(  xai  ntJTlaopfvov  6*tixvvTal  tc  xai  xaTa  noilovg  anfMyxnai  rgönovg' 
Tr}ff  yao  Zioadi-v^g  dnodavtir  xfxikti  auflag,  IIvtvu«Ti  lr)<f&fig  6  77ßo<f  »j'tijs 
i£fßoT)aiv,  tog  äo*(xmg  rt  änöyaotg  t/ot.  IIoütov  oi-v  ot«  imfl  akkta  tqÖitu 
TTQOffrpivfi,  ögauaat  xai  örttgoig,  öid  navrbg  xaigov'  xai  ayydov  innfavtiag 
Tiy/üvii,  etil'  ovx  ano7tvo(a  ngoyrjTtxrj'  &if tra  utTa  rö  &avuao(tog  ntog  oiitag 
ä7io<f&£y!;ao~9ai  xai  nagu3o$öiuTä  Trug  avioi;  uniliyyn  tag  oiSt  <f>iXiarfmv  o 
fiiuog  (Grysar  schreibt  'Ptkiorftovog  jjiuog)-  ov  y-äg  it-rjgxit  r,  o*tä  nov  JIviv- 
fiarog  ininlri^ig,  dkl'  ISüt  ötaaryoag  (xdrigov,  igtoTa,  ov  avT^v  9idaano  uo/jf»- 
utvrp.  'ilg  o*i  6  fth  vtio  ngtvov  iifaaxtv,  dnoxontrai  ngt'ouv  airöv  to» 
ayyikoy  iw  6i  irxb  a%lvov  figrjxoTi.  ayto&rivat  nagankijOttog  dnfiktt. 

XIII.  Origenes,  Epistola  ad  Africanum  de  historia  Snsannae  eil  (Migne 
a.  a.  0.  Bd.  11,  S.  73 — 76):  ,lEntna  uitü  to  &av/uaoitog  nwg  ovTtog  .  .  .  dnfikfi'- 
"ü.ga    yag    nagaßdkktiv    akko    tovto»    nagankrjatov   ilgr^trov  ir   t>J   to/tjj    TtSv 


428  Sechstes  Kapitel. 

Philistion,    der    an   übermäfsigem    Gelächter   starb,    den    Mar- 
tial   den   lächerlichen   tauft.     Das    mimische   Lachen    hat    aber 


BaOiXeuov,  ontg  xal  ainbg  ofioXoyrjcretg  iyiüg  avaytygäif&ai,  rcjj  >PiXiOTt(ovog 
[lifAcp.  "Exsi  °*£  ovTtog  7)  änb  idiv  BaoiXeicHv  Xit-ig-  Es  folgt  dann  die  aus 
Könige  III,  3  bekannte  Geschichte.  Von  zwei  Weibern,  die  zusammen  ge- 
boren haben,  nimmt  die  eine  der  andern,  während  diese  schläft,  ihren  Sohn 
und  legt  ihr  dafür  ihr  totes  Kind  in  den  Arm.  Salomon  entscheidet  den 
Streit  mit  dem  sprichwörtlichen,  salomonischen  Urteil.  .  .  .  „Kai  r\xovae  näg 
'logarjX  t'o  xinfia,  o  Hxgivsv  6  ßaaiXtvg,  xal  iipoßrj&rjOav  anb  ngoaiönov  tov 
ßaatXtwg,  oTi'itiiSov,  oti  (pgovTjOig  Seov  iv  avrqi  tov  noieiv  öixaiw/xa."  Einig 
yag  XQ*I  wcol  twv  <f,fgo[i£v(ov  iv  Talg  *Exx\r\aiaig  anoifaivta&ai  /XevaOTixtug, 
fiäXXov  itjV  negl  xtäv  dvo  iiaigäv  iatoglav  xtjj  <PiXi0Ti(DVog  ul/uo)  rj  ti\v  nagä 
%r\g  os/uvrjg  2coaäwrjg  ofioitüaat  ixgrjv. 

XIV.   Choricius  §  XVIII,  vgl.  oben  S.  220  u.  221. 
XV.   Nilus;  vgl.  oben  S.  204,  Anm.  1. 

XVI.  Apophthegmatum  collectio  Vindobonensis  (Wachsmuth,  »Festschrift 
zur  Begrüfsung  der  XXXVI.  Philologenversammlung"  Freiburg  1882,  S.  24) 
Nr.  130:  <PiXiait<i)v  6  rtäv  xca/icoSiuiv  noitjTrfg  axovoug,  oti,  Ti&vrjxt  Mivavögog, 
$(p?)-     „oiuoi,   ort  äncüXe oä  /uov  ttjv  äxovTjv"    (Verwechselung  mit Philemon). 

XVII.  Apophthegm.  coli.  Vindobon.  Nr.  131:  4>iXiar(oiv  iomT\&s(g,  ix  twv 
argoyyvXtov  xal  fiaxgöiv  nolä  ilaiv  äcHfaXij,  ?(/»?•  „tu  vewXxov/ueva". 

XVIII.  Anecdota  graeca  ed.  Boissonade  II,  S.  468:  *PiXioiio>v  6  (fnXöaoipog 
tQU)TT)&etg,  „näg  äga  ixir/Oa  tjjv  tov  Xoyov  Svva/uiv"  $(fT}'  „oidivu  %govov 
nagiXimov  Trtg  ävayvwotiog". 

XIX.  Marcus  Diaconus,  Vita  Porphyrii  episcopi  Gazensis  (Ausgabe  des 
Bonner  Seminars)  c.  86:  bfioXoyovaiv  dh  xal  Xgiorov,  6oxr\ast  yag  avTov 
Xiyovatv  ivav^gionrjaai  ■  xal  avTol  yag  öoxrjOti  XtyovTat  XgiOtiavoi.  t«  yag 
y(X(OTog  xal  dvöifri/xiag  al-ta  nagaXifinävw,  tva  fit]  nXtjgwato  Tag  äxoag  T(Sv 
lvTvy%avövT(ov  ij/ovg  ßugvTaTuv  xal  TigaToXoytag.  ra  yag  4>i Xiaxliovog 
tov  Gxr\vixov  xal  'Hoiöö ov  xal  aXXtav  Xiyofiivfov  (piXoo6<p(ov  avfi- 
fil^avTeg  Tolg  tcöv  XgtdT  laväv  tt\v  iavTÖiv  algsaiv  ovvtOT  rjaavT  o. 
dianig  yag  £(oygu<pog  ix  Stayögtov  xoto^T0)V  (xü-ir  noitöv  ctnoTtXii  Soxr^aa 
av&gconov  t]  xhjgtov  rj  aXXo  Tt  ngbg  änaTtjV  tmv  ftstugovvTütv,  tV«  «föfjj  ToTg  fih> 
fitogolg  xal  ävorjroig  aXrjftij  Tvyyävttv,  Totg  6i  vovv  h'xovoi  axia  xal  dnaTt}  xal 
inlvoia  av&gtonCvT],  ovttog  xal  ol  MavixaToi  ix  äiaifögwv  Soy/uaTiov  ävTXrjaarreg 
antTiXeoav  ttjv  aiiTtov  xaxodo%(av,  fxaXXov  St  ix  äiaifögav  kgntTwv  xbv  tov 
avvayayövTtg  xal  (j.ll-aVTtg  9avaTT](p6gov  (fäg/uaxov  xaTfOXivacfav  ngbg  a\a(gtOtv 
av&g(on Ivtov  \pvx<öv. 

XX.  Georgios  Monachos.  Chronicon  206  (Migne,  Patr.  gr.  Bd.  110, 
S.  337  — 340):  jdagüog'b  ]Agaä(iov  ?nj  $',  ov  *AXfl;avdgog  avtXwv,  wg  $ifi\v, 
xa&ttXe  tt{v  ßuoiXtiav  ITfgawv,  Jtagxtoaoav  freoiv  Of*£'.  'Ey '  ov  xal  IlXartov 
xal  ""AgiaTOTiX-rig    ol    tftXöaotfoi    rjx/ua&v,    xal  Zntvainnog    xal  StvoxgaTrjg  xal 


Menander  und  Philistion,  attische  und  mimische  Komödie.         429 

zugleich    einen    ethischen    Zweck;     es    straft    die    menschlichen 
Laster    und    macht    verborgene    Sünde    offenbar.      Gerade    in 


<Pi).taiia>v  (Evatßtios).  Das  Lemma  ist  falsch.  Bei  Eusebius  ist  hier  natür- 
lich keine  Rede  von  Philistion.  Hieronymus  giebt  ja  Philistions  Zeit  ganz 
richtig  an.  Gemeint  kann  nur  der  Mimograph  Thilistion  sein;  einen  be- 
rühmten Philosophen  Namens  Philistion  giebt  es  nicht,  dagegen  kam  in  der 
byzantinischen  Aera  der  Ruhm  des  Mimographen  dem  der  größten  Philo- 
sophen gleich,  und  er  galt  selbst  als  Philosoph,  wie  auch  die  Stelle  aus 
Diaconus  beweist.  Als  Rivale  Menanders  aber  wurde  Philistion  von  den 
Byzantinern  auch  als  dessen  Zeitgenosse  betrachtet,  so  z.  B.  auch  von  Cho- 
ricius  (vgl.  oben  S.  220).  Darum  kann  Georgios  Monachos  ihn  auch  als 
Zeitgenossen  des  Plato,  Aristoteles,  Speusippos  und  Xenokrates  ansehen. 
Schon  Scaliger  hat  sich  vergeblich  bemüht,  den  Irrtum  in  der  seltsamen 
chronologischen  Bestimmung  bei  Suidas:  xtltvxif  dt  Ini  Zuxgaxovg,  den  er 
wohl  bemerkte,  aufzuklären.  Wir  besitzen  jetzt  endlich  das  Material  dazu. 
Suidas  hat  die  Chronik  des  Georgios  Monachos  sehr  stark  benutzt,  mehr  als 
irgend  eine  andere  historische  Quelle  (vgl.  Krumbacher,  Byz.  Littgesch.  ', 
S.  264).  So  ist  aus  der  Aufzählung  Etvoxgüir)s  <Pilurr((ov  bei  ihm  durch 
Verderbung  des  Xenokrates  in  Sokrates  bei  Suidas  das  thöricbte  ini 
Zwxgdiovg  entstanden.  Die  Bemerkungen  Bernhardys  zu  dieser  Stelle  sind 
gänzlich  verfehlt. 

XXI.  Epiphanius  adv.  haereses  lih.  I,  haeres  21,  3  (ed.  Dindorf,  vol.  II, 
S.  9):  alla  xai  'A&rjväv  näliv  titv  aünj»  lltyt  ir\v  nag'  aiitöy  erwoiav 
xalovfiivriv,  xgüutvcx,  Si)&tv  6  nlävog  raig  rov  ayCov  anoarÖÄov  üavkov  ytovali, 
utranoitäv  T(  ii}v  akrftttav  tlg  ib  aviov  xptvöog,  ?ö  „tvduanabt  ibv  &u>gaxa 
ifjg  niaxtayg,  xai  rijf  ntgixtifalaiay  rov  Otüiijgiov,  xai  xyrjuiSag  xai  fiä^aigav 
xai  &vgt6v"-  (Ep.  ad  Ephes.  6,  13  sqq.)  narret  lavia  ini  rrjg  rov  'Ptbaiiwio; 
utuoloyi'ag  6  änattdtv,  ro  vnb  rov  änoaxölov  slgrjut'va  6ia  aitgtbv  loyiauc* 
xai  niaxiv  ayvi);  avafTgo<f,ijg  xai  Svvauiv  »tiov  löyov  xai  Inovoavlov,  tlg 
Xltvt]V  koinbv  xai  ovöiv  htgov  fitTaaig£<f<ov. 

XXII.  Tzetzes,  vgl.  oben  S.  79,  Anm.  1. 

XXIII.  Alciphron  epist.  III,  55,  lO(Hercher):  „«Sott«  ^fuuv  tüv  nagaalxojv 
ouö*tig  tu  loyog-  ib  yag  &{apa  xai  tijv  &vurtdiav  nagt^tr  oidtig  rar  tli  rovto 
xexXrjut'rcjv,  xai'zot  yt  xai  <Poißnx6rjg  6  xi&ag^bg  xai  utuot  ytloitov  ol  ntgi 
Zavvvgitova  xai  4>iliaruxörjv  ovx  antltinovio.  akla  rtäna  tfoo'da  xai  olx 
afröxgea,  r,vöoxiuei  öt  povog  b  iüv  ootfiöv  Xijgog.  Diese  Stelle  ist  von  den 
Herausgebern,  von  Bergler.  Seiler,  Meineke,  da  ihnen  die  erforderlichen, 
mimischen  Kenntnisse  fehlten,  durchaus  mißverstanden  worden.  Meineke 
änderte  das  Zavvvgiuva  der  Codices  in  Zovoagfwva,  von  Bergler  wurde  ntgi 
4>ihoTiaöriv  in  ntgi  4>tUorCiuva  geändert;  Bergk  änderte  gar  nicht  übel  in 
'PiUajiSrlv.  Die  Sache  verhält  sich  so:  Die  Parasiten  ärgern  sich,  dafs  der 
burleske  Cyniker  ihnen  und  allen  andern,  die  sonst  zum  Vergnügen  bei  den 


430  Sechstes  Kapitel. 

dieser  Kunst  mufs  die  philistionische  Biologie  und  Ethologie  sich 
glänzend  bewährt  haben.  Dafür  ein  Beispiel  aus  Africanus.  Er 
tadelt  den  grofsen  Origenes,  der  die  biblische  Geschichte  von 
der  keuschen  Susanna  für  echt  hält.  Die  Art,  wie  Daniel 
die  beiden  lüsternen  Greise,  welche  Susanne  fälschlich  des 
Ehebruchs  beschuldigen,  überführt,  zeigt  nicht  den  heiligen  und 
prophetischen  Geist,  sondern  den  weltlich -burlesken  des  Mimo- 
graphen  Philistion.  So  wie  Daniel  die  beiden  Schurken  jeden 
einzeln  vernimmt  und  durch  die  Aussage  des  einen,  „unter  dem 
Eichenbaum",  des  andern  „unter  dem  Mastixbaumu  sei  der  Ehe- 
bruch geschehen,  beide  ihrer  Bosheit  überführt,  so  lustig  und 
schlagend  pflegt  auch  Philistion  verborgene  Sünden  und  Laster 
aufzudecken.  Also  fort  mit  diesem  Mimus  aus  der  Bibel.  Ori- 
genes meint  dagegen,  dann  sei  auch  der  Rechtsstreit  der  beiden 
Mütter  vor  Salomo  und  des  Königs  salomonisches  Urteil  ein 
philistionischer  Mimus l).    Gewifs  fallen  diese  beiden  Geschichten 


Gastmählern  dienen,  den  Rang  abläuft;  sogar  die  /ulfioi  yeXoiwv  ol  negl  Zavw- 
atojva  xal  <PikiOTuidr}v  bleiben  unberücksichtigt.  Da  Alciphron  Mimen  nennt, 
will  er  nach  dem  mimischen  Gesetze,  die  Eigennamen  zu  nennen,  sie  nicht 
unbenannt  lassen,  und  so  nennt  er  denn  Sannyrio  und  Philistiades.  Der 
Hauptspafsmacher  im  Mimus  ist,  wie  wir  von  Cicero  wissen,  der  Sannio, 
griechisch  Zävvoqos  oder  Zavvvqog'}  (Kaibel  a.  a.  0.  S  188.),  da  konnte  man 
wohl  für  den  Mimen  den  bezeichnenden  Namen  ZavvuQiwv  bilden ;  besser  wäre 
2avvoQ(iov,  und  das  hat  auch  ursprünglich  wohl  im  Text  gestanden.  Da  ist 
also  der  eine  Mime  nach  dem  wichtigsten,  mimischen  Typus  genannt,  der 
andere  nach  dem  wichtigsten  Mimographen,  mit  dessen  Namen  später  über- 
haupt Mimus  und  Mimen  gekennzeichnet  werden,  4>ifoaTtädr\s.  Es  ist  aber 
kein  Grund  vorhanden,  in  4>ifoOT{<ov(x  zu  ändern,  obwohl  diese  Konjektur 
beweist,  dafs  die  älteren  Philologen  gesehen  haben,  dafs  es  sich  hier  um 
Philistion  handelt,  wenn  sie  auch  nicht  recht  wie  und  wo  begriffen.  Meineke 
(Fragm.  com.  attic.  1. 1,  p.  25)  änderte  Zavwgitava  in  ZovoaQfova.  Was  haben 
die  Mimen  mit  Susarion  zu  thun?  Sie  haben  allerdings  im  letzten  Grunde 
mancherlei  mit  ihm  zu  schaffen  und  mit  den  Anfängen  der  Komödie.  Aber 
davon  wufste  Alciphron  ungefähr  soviel,  wie  Meineke  seiner  Zeit  etwa 
wissen  konnte.  Nicht  mit  Susarion,  sondern  mit  Sannio  und  Sannoros,  der 
lustigen  Figur  im  Mimus,  brachte  Alciphron  die  Mimen  in  Verbindung. 
Das  weiter  zu  beweisen,  wäre  jedes  Wort  zuviel. 

l)  In   der  That   ist   dieses  Urteil   der  Gegenstand    eines  Dramas,    und 
zwar  eines  chinesischen,  betitelt  „Der  Kreidekreis".    Dort  werden  die  beiden 


Menander  und  Philistion,  attische  und  mimische  Komödie.  431 

mit  ihrer  tiefen,  aber  etwas  realistischen  und  ironischen  An- 
schauung vom  menschlichen  Leben  ein  wenig  aus  der  sonstigen 
geistlichen  und  gottseligen  Auffassung  der  heiligen  Schrift  heraus. 
Aber  sie  sind  mit  Recht  vor  andern  biblischen  Geschichten  be- 
kannt und  berühmt1),  und  dafs  gerade  sie  an  philistionische 
Mimen  erinnern,  läfst  die  philistionische  Biologie  im  besten 
Lichte  erscheinen. 

Am  schlechtesten  ist  auf  Philistion  unter  den  Kirchenvätern 
noch  Epiphanius  zu  sprechen.  Der  schärfste  Pfeil,  den  er  auf 
die  Häretiker  abschiefst,  ist,  ihre  Irrlehren  erinnern  an  die  Mimen 
Philistions.  Besonders  die  kosmogonischen  Mythen  der  Gnostiker 
von  der  Schöpfung  und  Erhaltung  der  Welt,  von  der  Sintflut 
und  dergleichen  sind  nach  ihm  nicht  besser  als  die  mytho- 
logischen Mimen  Philistions,  besonders  „Deukalion  und  Pyrrha". 
Speziell  empört  er  sich  über  die  Identifizierung  christlicher 
Gottesbegriffe  mit  heidnischen  Göttern,  so  mit  Athene.  Ähn- 
liches kann  man  bei  Philistion  finden,  doch  wohl  im  mytho- 
logischen Mimus.  Marcus  Diaconus  meint,  die  Gnostiker  hätten 
ihre  Irrlehre  aus  christlichen  Elementen  und  hellenisch-heidnischen 
Lehren  gemischt,  die  sie  bei  Philistion,  Hesiod  und  anderen 
„ Philosophen"  fanden2).  Hier  ist  doch  wohl  an  Hesiods  Theogonie 
gedacht,  und  für  Philistion  ist  wieder  durchaus  an  mythologische 
Mimen  zu  denken.  Wir  können  hier  also  wieder  die  Zweiteilung 
in  die  biologische  uud  mythologische  Richtung,  die  wir  für  den 
gesamten  Mimus  konstatiert  haben,  auch  für  den  Hauptdichter 
der  mimischen  Hypothese  feststellen. 

streitenden  Weiber  von  dem  Richter  die  eine  in  den  Kreis,  die  andere 
draufsen  hingestellt,  und  die  den  Knaben  am  leichtesten  zu  sich  zieht,  soll 
ihn  behalten.  Natürlich  wird  das  Kind  der  Mutter,  die  um  sein  Leben 
bangt,  leicht  von  der  andern  entrissen;  aber  dieser  wird  das  Kind  sofort 
genommen  und  der  rechtmäfsigen  Mutter  zugestellt.  Vgl.  Klein,  Geschichte 
des  Dramas  Bd.  III,  S.  460  folg. 

M  So  findet  sich  z.  B.  die  Erzählung  von  Susanne  auch  in  „Tausend 
und  eine  Nacht",  Siebenhundert  und  einundfünfzigste  Nacht  unter  dem 
Titel  nDie  tugendhafte  Frau".  Selbst  dramatisch  ist  dieser  Stoff  wieder- 
holt gestaltet  worden  und  schliefslich  ward  daraus  ein  englisches  Puppenspiel. 
Vgl.  Magnin,  Histoire  des  Marionettes  S.  238. 

a)  Vgl.  oben  S.  428,  Anm.  Nr.  XIX. 


432  Sechstes  Kapitel. 

Die  Kirchenväter  hatten  auch  allen  Grund,  sich  gerade  über 
Philistion  zu  entrüsten.  Erfrechten  sich  doch  damals  sogar  die 
Sophisten,  wie  das  Beispiel  des  Nikotychos  zeigt,  die  Mimen 
Philistions  bei  Tische  vorzulesen  und  gar  auf  dem  Marktplatze 
vor  versammeltem  Volke  vorzutragen.  Wenn  der  Asket  Nilus 
dafür  dem  Sophisten  das  Christentum  abspricht,  so  thut  er  es  — 
so  sehr  steht  er  selbst  unter  dem  Banne  Philistions  mit  Worten 
aus  einem  philistionischen  Mimus:  Man  kennt  dich  Negromant1). 
Die  Kirchenväter  hassen  Philistion  so  sehr  und  erwähnen  ihn  so 
oft,  weil  er  eben  so  ungeheure  Geltung  hatte. 

Aber  Eusebius  und  Hieronymus  nahmen  ihn  ruhig  in  die 
Weltchronik  auf,  und  Hieronymus  steht  nicht  an,  seinen  „sermo 
elegans"  zu  loben.  Allmählich  söhnte  sich  die  Kirche  mit  dem 
Mimus  aus"),  und  so  paradieren  denn  schliefslich  in  der  grofsen, 
byzantinischen  Sentenzensammlung,  dem  Parallelenbuche  oder 
besser  in  den  späteren,  erweiterten  Bearbeitungen  desselben 8), 
friedlich  neben  den  Aussprüchen  eines  Salomo  und  Paulus  auch 
Sentenzen  Philistions.  Er  galt  eben  durchaus  als  einer  der 
gröfsten  hellenischen  Dichter  und  Denker.  Dafür  hielt  ihn  schon 
Kaiser  Marcus4).  Bei  Epiphanius  wird  er  in  eine  Linie  mit  den 
alten  Tragöden  gestellt8).  Seit  Philistions  Zeit  findet  sich  der 
Vergleich  zwischen  Mimus  und  Philosophie  häufig;  nicht  selten 
allerdings    zu    dem   Zwecke,    die    Philosophie    zu    erniedrigen6). 


1)  Vgl.  oben  S.  204,  Anna.  1 .  oiix  Zla&eg  (paQpaxä.  Wir  merken  uns 
hier  also  die  Titel  zweier  philistionischer  Mimen,  die  ungefähr  lauteten: 
devxaklwv  xul  IIv(i§a  —  ich  erinnere  zugleich  an  Epicharms  Ilv^a  xai  TTqo- 
fiäd-evg  —  und   <4>a(>[*ux6s. 

2)  Vgl.  oben  S.  134  Anra.  2. 

8)  Ich  verweise  hier  auf  Holl,  „Die  Sacra  Parallela  des  Johannes  Dama- 
scenus",  Texte  und  Untersuchungen,  Neue  Folge,  Bd.  I,  1897,  S.  1—392. 
*)  Vgl.  oben  S.  56. 

5)  Nun  ist  ja  Epiphanius  nichts  weniger  als  ein  klassischer  Zeuge.  Ich 
verweise  auf  das  wegwerfende  Urteil,  das  in  dieser  Hinsicht  über  ihn  Hermann 
Diels,  Doxographi  S.  176,  gefällt  und  begründet  hat.  Der  Mimus  Pbilistions  war 
Epiphanius  freilich  wohl  etwas  bekannter  wie  die  alten,  hellenischen  Philosophen. 

6)  So  verweist  Minucius  Felix  Pythagoras'  Lehre  von  der  Seelenwande- 


Menander  and  Philistion,  attische  und  mimische  Komödie.         433 

Philistion  ist  nach  Choricius  der  Vollender  der  mimischen 
Kunst;  neben  ihm  sind  die  grofsen,  attischen  Komöden  einfach 
fiTfioi  arzixoi.  Ebenso  urteilt  Cassiodor1).  Der  Name  Philistion 
bezeichnet  fortan  den  Mimus  und  die  gesamte  mimische  Kunst. 
Die  Mimen  und  Mimographen  sind  0*  ntqi  Odiatiwva. 
Alciphron  giebt  nach  Philistion  einem  Mimen  den  typischen 
Namen  Philistiades 2),  und  Sidonius  Apollinaris  nennt  die  Mimen 
„histriones  Philistionis  supellectilem  mentientes". 

So  tritt  in  der  Person  Philistions  die  mimische  Komödie 
der  attischen  gegenüber;  hie  Menander,  hie  Philistion J):  zuver- 
sichtlich stellte  man  die  mimische  Kunst  völlig  auf  gleiche  Stufe 
mit  der  alten,  attischen.  So  beginnt  das  Gespräch  zwischen 
Menander  und  Philistion  mit  den  Worten:  „Dem  edelen  Philistion 


rang  in  den  Mimus;  Octavius  34,  7:  „addunt  (FytAagoras  primus  et  praecipuus 
Plato)  istis  et  illa  ad  retorquendam  veritatem,  in  pecudes,  aves,  beluas  hominum 
animas  redire.  non  phüosophi  sani  studio,  sed  mimi  convicio  digna  ista  sententia 
est".  Ähnlich  äufsert  sich  Lactanz.  divin.  Inst.  VII,  12,30  und  31:  „cetera 
Epicuraei  dogmatis  argumenta  Pythagorae  repugnant  disserenti  migrare  animas  de 
corporibus  vetustate  ac  morte  confectis  et  insinuare  se  novis  ac  recens  natis  et  eas 
dem  semper  renasci  modo  in  homine  modo  in  peeude  modo  in  bestia  modo  in  volucrr 
et  hoc  ratione  inmortales  esse,  quod  saepe  variorum  ac  dissimilium  corporum  domi- 
cilia  commutent.  quae  sententia  deliri  hominis  quoniam  ridicula  et  mimo  dignior 
quam  scoJa  fuit,  ne  refeüi  quidem  serio  debuit:  quod  qui  facit,  videtur  tereri  ne 
quis  id  credat."  Gry-ar,  der  sich  hier  wie  überall  höchst  unmethodisch  nur 
um  sein  dürftiges  Excerpt,  nicht  um  den  Zusammenhang  des  Ganren  ge- 
kümmert hat,  meint,  durch  das  deliri  getäuscht,  Lactanz  habe  hier  an  die 
„ganz  dummen  Einfalle'-   der  Mimen,    d.  h.  die  „mimicae  ineptiae"  gedacht. 

l)  Vgl  oben  S.  144  und  S.  221. 

8)  Vgl.  oben  S.  426,  Anm.  Nr.  VIII  und  S.  429,  Anm.  Nr.  XXIII. 

s)  So  ahmen  auch  die  spätgriechischen  Sophisten  nicht  nur  Attikern 
nach,  sondern  vergleichen  sich  auch  gerne  mit  ihnen.  Wie  zehn  attische 
Redner  in  den  Kanon  aufgenommen  waren,  so  gab  es  auch  zehn  kanonische 
Sophisten.  Selbst  die  armseligsten  Sophisten  liebten  es,  einen  Vergleich 
zwischen  sich  und  Demosthenes  anzustellen.  „Begegnet  dir  jemand  unter- 
wegs, rät  Lukian  ('Pntöooiv  didäaxalog  cap.  21)  dem  jungen  Sophisten,  so  sprich 
Wunderdinge  von  dem,  was  du  geleistet  und  lobe  dich  selbst,  solltest  du 
gleich  noch  so  lästig  dadurch  werden  —  „Was  hat  der  Päanier  mit  mir  zu 
schaffen?"  —  oder  wenn  du  noch  bescheiden  sein  willst,  „Mit  einem  einzigen 
unter  den  Alten  könnte  ich  wohl  noch  zu  kämpfen  haben-.- 


Reich,    Mimus. 


28 


434  Sechstes  Kapitel. 

entbiete  ich,  Menander,  meinen  schönsten  Grufstt.  Philistion  er- 
widert das  dann  gleichermafsen.  Wie  zwei  gleichberechtigte 
Potentaten  der  Dichtkunst  verkehren  die  beiden  mit  einander. 
Und  ein  gewisses  Urteil  hatten  die  gebildeten  Kreise  der 
damaligen  Zeit  immerhin;  denn  in  den  ersten  nachchrist- 
lichen Jahrhunderten,  in  denen  die  avyxgiaeig  entstanden,  hatte 
man  noch  Menanders  Komödien  wie  Philistions  Mimen,  und  die 
letzteren  zum  wenigsten  sah  man  noch  auf  dem  Theater. 

Philistion  wurde  sogar  mit  dem  Titel  eines  Philosophen 
geehrt.  Bei  Marcus  Diaconus  wird  er  zusammen  mit  Hesiod 
und  den  anderen  sogenannten  Philosophen  aufgeführt,  und  in  den 
Anecdota  bei  Boissonade  heifst  es  direkt:  Philistion,  der  Philosoph. 
Ja,  er  erscheint  nicht  nur  als  einer  unter  den  vielen  Philo- 
sophen, sondern  in  der  Weltchronik  des  Georgios  Monachos, 
welche  die  ganze  Weltgeschichte  bis  zum  Tode  des  Kaisers  Theo- 
philos,  842  n.  Chr.,  umfafst,  wird  er,  wie  wir  sahen,  unter  den 
Vertretern  der  Philosophie  neben  Aristoteles  und  Plato,  Speu- 
sipp  und  Xenokrates  genannt  (S.  428,  Anmerkung  Nr.  XX)1). 
Von  ihm  glaubte  man  später  alle  Lebensweisheit  lernen  zu 
können;  selbst  die  Frage,  wie  man  Beredsamkeit  erwürbe, 
wird  ihm  gestellt  und  von  ihm  beantwortet2).  Wir  sahen,  dafs 
der  Mimus  von  Sophrons  Zeiten  und  noch  von  früher  her  mit 
populärer  Lebensweisheit,  mit  Sprichwörtern,  moralischen  Sen- 
tenzen und  schönen  Sprüchen  erfüllt  war.  Der  grofse  Meister 
der  mimischen  Hypothese  wird  nicht  weniger  durch  seine  Spruch- 
weisheit geglänzt  haben  wie  bei  den  Römern  Publilius  Syrus, 
und  seine  Sentenzen  wird  man  nicht  weniger  gesammelt  haben 
wie  die  des  Lateiners.  Nun  war  ebenso  Menander  ob  seiner 
schönen  Sprüche  geschätzt,  und  auch  von  ihm  gab  es  Sentenzen- 


*)  Über  diese  Auffassung  des  Philistion  und  die  Stellung  des  Mimus 
zur  Philosophie  und  den  Philosophen  überhaupt  hat  Norden  schon  vor 
Jahren  sehr  bedeutsame  Bemerkungen  gegeben  in  der  Abhandlung  „Scholia 
in  Gregorii  Nazianzeni  orationes",  Hermes  27,  1892,  S.  626  folg.  Allerdings 
war  ihm  damals  die  Cardinaistelle  bei  Georgius  Monachus  noch  nicht 
zur  Hand. 

2)  Vgl.  oben  S.  428,  Anm.  Nr.  XVIII. 


Menander  und  Philistion,  attische  und  mimische  Komödie.  435 

Sammlungen,  da  brauchte  man  nur  die  gleichen  Rubriken  dieser 
Sammlungen  zusammenzuschreiben,  so  war  auf  höchst  bequeme 
Weise  ein  Vergleich  hergestellt. 

Aber  freilich,  weil  diese  Weisheit  so  billig  war,  dafs  sie 
jeder  Schulmeister,  ja,  jeder  Schüler  handhaben  konnte,  scheint 
dieses  an  und  für  sich  höchst  interessante  Thema  unablässig  in 
den  Schulen  variiert  zu  sein,  und  wir  haben  nicht  gerade  die 
gute,  alte  oi'yxQtaic.,  sondern  späte,  stümper-  und  schülerhafte 
hahmungen  und  Variationen  zu  diesem  Thema.  Dennoch 
zeigen  viele  von  diesen  Sprüchen  eine  so  gesunde  und  vortreff- 
liche Lebensauffassung  und  sind  im  grofsen  und  ganzen  auch  in 
Form  und  Ausdruck  so  korrekt,  dafs  hier  wohl  noch  wirklich 
ein  philistionischer  Kern  vorhanden  sein  mag'). 


])  So  urteilte  schon  Wachsmuth  (Studien  zu  den  griechischen  Florilegien 
S.  124  folg.)  gegenüber  Meineke.  Dafs  vereinzelte  Sentenzen  Philistions  auch 
unter  andern  Autorennamen  sich  finden,  kommt  auch  bei  Sentenzensamm- 
lungen anderer  Dichter  vor  und  ist  kein  Grund,  alle  Verse  zu  verdächtigen 
oder  gar  Philemon  zuzuweisen.  Im  einzelnen  hier  nun  das  philistionische  Gut 
zu  sondern  und  zu  scheiden,  wird  mit  zu  den  Aufgaben  gehören,  welche  die 
Sammlung  eines  Corpus  mimographorum  graecorum  et  latinorum  stellen  würde. 
Vor  allem  aber  müfsten  zu  diesem  Zweck  erst  die  Miscellancodices  nach  neuen 
Sentenzen  Menanders  und  Philistions  durchforscht  werden,  was  ein  so  guter 
Kenner  wie  Studemund  für  durchaus  au-  khtsvoll  halt.  Ich  will  hier  auch 
an  die  Notiz  bei  Kock  a.  a.  0.  III,  Praef.  p.  VI,  Anm.  1,  erinnern:  Ceterum 
Athenis,  ut  per  litteras  cerliorem  me  fecit  Spir.  Lambros  vir  clarissimus,  in  aedibus 
ministerii  institutionü  publica«  codex  exstat  miscellaneus,  bombycinvs  saeeuii  Xllll, 
quo  praeter  alia  guaedam  continentur  IlaQcttvfaftc  MaavJoov  xara  atoi^ttov 
(versus  413)  et  MuüiÖQ(>  /..  i  <i>i/.t  IT/m  ■■:  yvtJuai  xai  Jiultxrot  {versus  cir- 
citer  310). 

Aus  der  ~ "•';•*. «o«;  mögen  hier  ein  paar  bessere  Sentenzen  Platz  finden: 
v.  29—34:     Ilooötoiiv  dtl  rep  ntn/t'  dninria' 

xuv  aoifhc  vnaQ/y  xuv  X.£yy  16  avfiiffyor, 

doxti  i«  (jodtttv  tote  dxovovoiv  xaxcü;. 

TiSv  yäg  ntvr,Tfoy  nt'ariv  oix  (%ti  XÖyof 

dvi)g  Sf   nt.ovKüV,  xuv  uyav  ip(idr]yoQr}, 

Soxu  «  (foa^ttv  loig  dxoüovo'  dayaktc. 
Vers  30 — 34   hat  Nauk    die  Ehre    angethan,    sie   unter  die    fragmenta 
adespota  der  Tragiker  aufzunehmen;  fr.  92. 
v.   149—152:      Ov  dti  nu&üv  at,  /Ltrjfiuuov  axfxlitj  yvyiiv 

ov  ydo  ivvrjOTj  dtatfvyiiv,  o  Of  Sti  nufft n . 

28* 


436  Sechstes  Kapitel. 

Eins  jedenfalls  lehrt  uns  dieser  brennende  Eifer,  diese  hohe 
Bewunderung  so  vieler  Jahrhunderte  für  Philistion,  die  Unver- 
wüstlichkeit, mit  der  seine  Stücke  sich  auf  dem  Theater  be- 
haupteten1), dafs  wir  hier  einen  Grofsen  im  Reiche  der  Poesie 
vor  uns  haben.  Es  ist  Zeit,  dafs  endlich  das  Unrecht,  das 
ihm  bisher  angethan  wurde,  wieder  gut  gemacht  wird,  und 
dafs  wir  ihn  als  das  anerkennen,  was  er  wirklich  war,  als  den 
letzten,  grofsen  Volksdichter  der  Hellenen,  der  die  Keime  volks- 
tümlicher, mimischer  Poesie  aus  althellenischer  Zeit,  die  noch 
immer  lebenskräftig  waren  und  sich  schon  zu  umfangreichen, 
dramatischen  Gebilden  gestaltet  hatten,  die  für  die  Hypothesen 
der  Römer,  für  Laberius  und  Syrus  das  Vorbild  waren,  zu  klassi- 
schen Kunstwerken  geformt  hat,  die  den  Vergleich  mit  den 
menandrischen  Komödien  vertragen  und  sie  ersetzen  konnten, 
die  den  folgenden  Jahrhunderten  grofse  und  unerreichte 
Muster  und  Gegenstand  römischer  wie  griechischer  Bewunderung 
waren. 

IV. 
Der  Ardalio  Philistions. 

Von  jeher  ist  von  den  antiken  Philosophen  und  Schrift- 
stellern das  sinnlose  Haschen  und  Drängen  der  Menschen  nach 
imaginären  und  unnützen  Zielen  beklagt  worden,  dieser  ungeheure 
Lärm   um    nichts,    der  den  Jahrmarkt  des  Lebens   erfüllt.     Am 


(t6}  TtenQiofjiivov  yuQ  ov  fxövov  (naOi)  ßgoroig 

citftvxTov  ioiiv  alka  xai  xat'  ovQttvov. 
V.   175 — 181:     Ei  noxt  tig  r\(xöiv  tig  (rbv)  ayQov  lljiarv 

/j.vrjfiara  nccQtl&ot  xai  rütpovg  av&Qiüxrivovg 

tovt(ov  'ixaorog  eleytv  „eis  wQag  lyw 

nktvaoi,  (fvzevaw,  xrrjOofiai  (jrolloig  dyQovg), 

rov  roT/ov  agag  nvgyov  v\pr)Xbv  ßaldü, 

TTQoaoixoSofirjGü)  rä  7raQ(cxsijbiev'  ayogaffarv". 

loyiCo/xtvog  tum'  ani&avsv  /uqdtv  noiäiv. 
J)  Noch  Martial   sah    „mimos   rldiculi  Philistionis"    auf  der  römischen 
Bühne  und  auch  zur  Zeit  des  Sidonius  Apollinaris  scheinen  sie  sogar  noch 
im  lateinischen  Werten  aufgeführt  worden  zu  sein;   vgl.  oben  S.  146  u.  147. 


Der  Ardalio  Philistions.  437 

lautesten  ertönt  diese  Klage  in  der  Kaiserzeit,  wo  sich  besonders 
Seneca  zu  ihrem  Vertreter  macht.  -Die  Leute",  heifst  es  in 
de  tranquillit.  anim.  XII,  .welche  sich  in  Häusern,  Theatern 
und  auf  den  Foren  herumtreiben,  bieten  sich  zu  Geschäften  an, 
die  sie  nichts  angehen,  und  haben  scheinbar  immer  etwas  zu 
thun.  .  .  .  Man  möchte  Mitleid  mit  ihnen  haben,  wenn  sie  laufen, 
als  ob  es  brenne,  ...  um  einen  Besuch  zu  machen,  der  nicht 
erwidert  wird,  um  einem  Unbekannten  das  letzte  Geleit  zu 
geben,  oder  aufs  Gericht  zur  Verhandlung  in  Sachen  eines 
Prozefssüchtigen  oder  zur  Verlobungsfeier  einer  Frau,  die  öfter 
heiratet,  und  wenn  sie  eine  Sänfte  begleiten,  tragen  sie  sie  gar 
stellenweise.  ...  Sie  gehen  nur  aus,  um  den  Trubel  auf  der 
Strafse  zu  vermehren,  und  kein  bestimmtes  Vorhaben,  sondern 
nur  der  neue  Tag  treibt  sie  heraus" ]). 

Für  diese  geschäftigen  Müfsiggänger  hatte  man  den  typischen 
Ausdruck  Ardalionen.  Am  lächerlichsten  und  unerfreulichsten, 
meint  Martial,  sind  unter  ihnen  die  Grauköpfe.  Solch  ein  alter 
Ardalio  mufs  überall  mit  dabei  gewesen  sein;  vor  dem  Lehn- 
stuhl jeder  Dame  mufs  er  morgens  seinen  Grufs  darbringen; 
ohne  ihn  darf  kein  Tribun,  kein  Konsul  sein  Amt  antreten'), 
gerne  giebt  er  sich   das  geheimnisvolle  Ansehen  hoher  Verbin- 


1 )  Aach  Manilias  kennt  dies«  hauptstädtischen,  vielbeschäftigten  Müfsig- 
gänger recht  gut:  sie  sind  unter  dem  Gestirn  des  Jägers  Orion  geboren; 
wohl  weil  sie  so  unablässig  in  Rom  umherjagen: 

Sollertit  animos,  velocia  corpora  ßnget 
Atque  agilem  officio  mentem,  curasque  per  omni» 
lndelassato  properantia  cor  da  tngore. 
lnttar  erit  populi,  totaque  habitabit  in  urbe 
Limina  pervolitans,  unumque  per  omnia  verbum 
Matte  salutandi  portans  communis  amicus.  (V.  61 — 66). 

*)  Ludwig  Friedländer  giebt  in  den  Darstellungen  aus  der  Sitten- 
geschichte Roms  Is,  S  463  folg.,  eine  höchst  anziehende  Schilderung  des 
leeren  und  äufserlichen  und  doch  dabei  aufreibenden  Lebens  und  Treibens, 
das  in  der  römischen  Gesellschaft  während  der  Kaiserzeit  herrschte.  —  Über 
die  Feierlichkeiten  beim  Amtsantritt  hoher  Beamten,  zu  denen  ihre  Freunde 
zu  erscheinen  hatten.   Tgl.  auch  Sittengesch.  I6,  S.  407. 


438  Sechstes  Kapitel. 

düngen1).  Eine  besondere  Spezies  des  Ardalio  ist  der  Dilettant 
in  allen  schönen  Künsten,  der  alle  sehr  nett  ausübt  und  keine 
ordentlich2). 

Bei  Phaedrus  wird  der  Typus  noch  weiter  nuanciert.  Diese 
Ardalionen,  die  stets  hastig  einherstürzen,  um  nichts  in  Atem 
sind,  immer  grofse  Anstalten  treffen,  um  nichts  zu  stände  zu 
bringen,  sind  sich  selbst  zur  Last,  anderen  aber  höchst  ärgerlich. 
So  ernten  sie  statt  Dank  nur  Spott.  Dafür  giebt  Phaedrus  (II,  5) 
ein  hübsches  Beispiel.  Als  Tiberius  einst  in  Neapel  weilte  und 
in  dem  Park  der  kaiserlichen  Villa  auf  dem  Vorgebirge  Misenum 
lustwandelte,  läuft  auf  einmal  ein  kaiserlicher  Bedienter  vor  ihm 
her  und  besprengt  den  Weg  mit  Wasser.  Der  Kaiser  lacht  ihn 
aus  und  schickt  ihn  fort.  Schnell  eilt  er  auf  Umwegen  zur 
nächsten  Säulenhalle,  und  dort  trifft  ihn  der  Kaiser  wieder,  wie 
er  den  Staub  niederschlägt.  Da  merkt  Tiberius  die  Absicht 
dieses  guten  Ardalio  und  ruft:  „He,  du!"  und  der  wie  der  Blitz 
in  der  Hoffnung  auf  eine  gute  Gratifikation,  wohl  gar  auf  Frei- 
lassung, herbei.  „Ach,u  sagt  der  Kaiser,  ,;wozu  die  Mühe?  So 
billig  erhältst  du  von  mir  keine  —  Maulschellen"  (Zeichen  der 
Freilassung). 

Wo  kommt  dieser  eigentümliche  Ausdruck  Ardalio  her? 
Breal  hat  darunter  einen  Typus  der  Palliata  vermutet3).    Fried- 


»)  Martial  IV,  78: 

Condita  cum  tibi  sit  iam  sexagesima  messis 

Et  fades  multo  splendeat  alba  pilo, 
Discurris  tota  vagus  urbe,  nee  ulla  cathedra  est, 

Cui  non  mane  feras  inrequietus  Bave; 
Et  sine  te  nulli  fas  est  prodire  tribuno, 

Nee  caret  officio  consul  uterque  tuo; 
Et  sacro  decies  repetis  Palatia  clivo 

Sigerosque  meros  Partheniosque  sonas 
Haec  faciant  sane  iuvenes;  deformius,  Afer, 

Omnino  nihil  est  Ardalione  sene. 

2)  Bei  Martial  II,  7,  vgl.  oben  S.  151. 

3)  Revue  de  philologie  IX,  1885,  S.  137:  Je  suppose,  que  nous  avons  ici 
un  nom  de  the'ätre,  comme  JMia'o,  Hegio,  Phormio.  Le  nom  grec  serait  sann  douti 
AgdaXtbiV.     Oest  ainsi  que  nous  disons  un  Figaro,  un  Maitre- Jacques. 


Der  Ardalio  Philistions.  439 

länder  hat  das  zurückgewiesen1)  —  mit  Recht;  denn  in  der 
Kaiserzeit  —  und  erst  seit  der  Kaiserzeit  findet  sich  dieser 
Ausdruck  —  war  die  Palliata  im  grofsen  und  ganzen  von  der 
Bühne  verschwunden.  Dennoch  war  Br6al  auf  der  richtigen 
Spur.  So  wie  Martial  seinem  Narren  am  Schlüsse  seiner  epi- 
grammatischen Schilderung  entgegenschleudert:  du  bist  ein 
Ardalio.  ruft  man  auch:  du  bist  ein  Tartuffe,  ein  Hanswurst,  ein 
Falstaff.  Martial  erinnert  damit  offenbar  an  einen  volkstüm- 
lichen, allgemein  bekannten  Typus  der  Bühne,  und  die  volks- 
tümlichsten Bühnenstücke  der  Kaiserzeit  waren  die  Mimen.  Also 
war  Ardalio  ein  Typus  des  Mimus? 

Martial,  der  sich  so  gerne  an  den  Ardalio  erinnert,  hat  ja 
nun  wirklich,  wie  wir  sahen2),  viele  Anregungen  vom  Mimus 
seiner  Zeit  empfangen.  Veras,  der  ein  ganz  besonderer  Lieb- 
haber des  Mimus  und  der  Mimen  war3),  schwärmte  auch  für 
Martial  und  nannte  ihn  seinen  Vergil4).  Es  ist  wohl  die  rea- 
listische Biologie  und  Ethologie,  die  den  Kaiser  hier  gleich- 
mäfsig  anzog. 

Ebenso  hat  Phaedrus  starke  Beziehungen  zum  Theater  und 
zum  Mimus.  Da  ist  im  fünften  Buche  die  lustige  Geschichte  von 
dem  Flötenvirtuosen  Princeps  (V,  7),  der  einen  dem  Princeps,  dem 
Kaiser,  zu  Ehren  gesungenen  Hymnus  auf  sich  bezieht5).  Da 
hören  wir  von  dem  flüchtigen,  zum  Tode  bestimmten  Sklaven, 
den  in  der  Arena  vor  dem  zum  Schauspiel  versammelten  Volke 
der  treue  Löwe  wiedererkennt  (VH,  9).  Die  Erzählung  von  dem 
trunksüchtigen  Weibe,  das  eine  leere,  noch  süfs  duftende  Wein- 
flasche findet,  hat  schon  andere  an  die  Komödie  erinnert.  Die 
trunksüchtige  Alte    ist  vor  allem   auch  ein  Typus  des  Mimus8). 


»)  Martialausgabe  I,  S.  242. 
3)  Vgl.  oben  S.   57  folg. 
3)  Vgl.  oben  S.  199. 
*)  Vita  c.  2. 

5)  Die  Grabinschrift  dieses  Virtuosen  ist  noch  vorhanden;  vgl.  Bücheier t 
Rhein.  Mus.  37,  S.  332 

6)  Ich   erinnere   z.  B.   nur  an   die  Kupplerin   Gyllis   bei  Herondas  im 
ersten  Miraiambus. 


440  Sechstes  Kapitel. 

V,  5  tritt  ein  mimischer  Spafsmacher  auf  dem  Theater  auf  und 
macht  das  Grunzen  eines  Schweines  nach.  Der  Erzählung  von 
diesem  mimischen  Paegnion  folgt  (V,  6)  die  Fabel  von  den 
beiden  Kahlköpfen,  die  einen  Kamm  finden  und  sich  darüber 
ärgern,  dafs  sie  keine  Haare  zum  Kämmen  haben.  Vorher 
(V,  3)  steht  die  lustige  Geschichte  von  dem  Kahlkopf,  der 
sich  Mühe  giebt,  eine  Fliege,  die  seine  Glatze  umschwirrt,  zu 
fangen,  und  sich  dabei  selbst  eine  tüchtige  Maulschelle  versetzt. 
Welcher  andere  Kahlkopf  als  der  mimus  calvus  sollte  wohl  darauf 
kommen,  dem  Fliegenfang  auf  seinem  glattpolierten  Schädel  ob- 
zuliegen und  sich  dabei  gar  noch  selbst  zu  maulschellieren  ? 
Das  Fliegenfangen  scheint  von  jeher  zu  den  Lazzi  der  italieni- 
schen Burleske  gehört  zu  haben.  Ich  gebe  dafür  einen  Beleg 
aus  Devrient,  Gesch.  d.  deutsch.  Schauspielkunst  I,  S.  315:  „Ita- 
lienische Brocken,  Manieren  und  besonders  italienische  Lazzi 
wurden  immer  allgemeiner  in  der  Stegreifposse,  jene  panto- 
mimischen Extraspäfse,  durch  welche  der  Harlequin,  während 
seine  Mitspieler  sprachen,  die  Aufmerksamkeit  immer  auf  sich 
zu  lenken  und  sich  zur  ausschliefslichen  Hauptperson  zu  machen 
wufste.  So  that  Harlequin  z.  B.  während  einer  Liebes- 
scene,  als  ob  er  Fliegen  finge,  ihnen  die  Flügel  ausrupfte 
und  sie  schadenfroh  vor  sich  auf  dem  Boden  laufen  liefs"  ').  Zu 
den  unaufhörlich  wiederholten  Späfsen  der  stupidi  gehört  ja  das 
Ertragen  klatschender  Maulschellen2);  sich  aber  gar  selbst  zu 
maulschellieren,  war  der  Gipfelpunkt  mimischen  Ulkes.  Auch 
dafs  der  mimus  calvus  auf  der  Bühne  einen  Kamm  findet  und 
mit  ihm  allerhand  Grimassen  anfängt,  wird  jedenfalls  ebenso  zu 
den  Lazzi  der  mimischen  Narren  gehört  haben.  Es  ist  auch 
eine  urdrollige  Scene:  ein  kahler  Narr,  der  einen  grofsen  Fund 
zu  machen  glaubt,  und  nachher  ist  es  ein  Kamm.  Daran 
konnten  allerhand  mimisch  -  burleske  Betrachtungen  über  das 
Walten    der   neidischen    Tyche    geknüpft    werden,    die    in    der 


*)  Weiteres  über  Lazzi  bei  Devrient  a.  a.  0.  IV,  S.  1 22. 
3)  Vgl.  oben  S.  94. 


Der  Ardalio  Philistion«.  441 

Komödie  wie  im  Mimus  gleichmäfsig  regiert').  Damit  aber  gar 
kein  Zweifel  bleibt,  dafs  wir  wirklich  hier  Scenen  aus  dem 
Theater  vor  uns  haben,  folgt  unmittelbar  (V,  7)  die  Theater- 
burleske vom  Flötenbläser  Fürst,  und  handelte  das  erste  Gedicht 
dieses  fünften  Buches  von  dem  Fürsten  der  komischen  Bühne, 
von  Menander. 

Wölfflin  hat  schon  vor  Jahren    hervorgehoben,    dafs   publi- 

*)  Wenn  in  der  Mnävögoi  xal  <Pti.ioTi(ovos  aiyxQiai^  Menander  und 
Philistion  im  Wettstreit  allerlei  Gnomen  über  die  wichtigsten  Fragen  des  mensch- 
lichen Daseins,  über  Armut  und  Reichtum,  über  die  Gottheit,  über  Freund- 
schaft und  Nachbarschaft,  über  Recht  und  Gesetz,  über  die  Pflicht,  Vater 
und  Mutter  zu  ehren,  zum  besten  geben,  so  ist  doch  das  erste  Problem,  das 
beide  behandeln,  niol  rvxis  Menander  beginnt  seine  Paränese  mit  den 
Worten: 

t.  11—22: 

IdoföfitSa  loinov  nfgl  rvjfff  (Myttv)  ootftvs. 

"Orav  ti g  i]uwv  äufgifivov  ?/j  tov  ßtov, 
ovx  Intxaitliai  ttjv  tvxtjv  tvdaiuoiwv 
oray  6*i  Xi'naig  nigiTitor)  xal  ngayuaoir, 
ti&iig  ngoaänrn  rp  rt'^g  rrfv  ahlav. 

0t>U<JTUt>V. 

MtiStrtOTt  ututfov  irv  rw^fjjv,  ti6üs  ort 
xaiQty  noVTjQip  xai  iä    9(ia  övOTi'Xft. 
Mi]  Ivntt  oauTov  rovto  yiruaxav,  ort, 
orav  nor'  äv9g<ü7ioiotv  i)  Tvjfij  yflii. 
navitov  ütfogur,  tüy  xaltöv  tvgioxiraf 
orav  61  ivarvx^  Tis,  oid'  tvifgalvnui. 
"Anavia  vtxii  xal  unaoiy&fti  r  r x  r\- 

Studemund,  Breslauer  Programm  Sommersemester  1887,  S.  19  und  20.  Noch 
in  der  deutschen  Hans- Wurst-Burleske  hat  die  Fortuna  viel  zu  sagen.  Ich 
führe  dafür  eine  etwas  sonderbare  Arie  aus  der  „Braut  von  ohngefähr"  an 
(bei  Devrient,  Gesch.  d.  deutsch.  Schauspielkunst  I,  S.  438): 

Wie  grausam  schreibt  nicht  deine  Kreide 

Fortuna,  falsches  Trampelthier? 

Du  führst  mein  Leben,  meine  Freude, 

Den  Hans  und  auch  die  Wurst  von  hier:  .  . 

Ach  netzt  ihr  Thänen  Hand  und  Fufs. 
Ach!    Ach! 

Weil  ich  mein  Liebstes  meiden  mufs. 


442  Sechstes  Kapitel. 

lianische  Sentenzen  bei  Phaedrus  nachgeahmt  sind1).  Nach  Lucian 
Müller  ist  Phaedrus  zur  Wahl  des  Senars  für  seine  Fabeln  durch 
Publilius  Syrus  angeregt  worden,  mit  dessen  Senaren  seine 
eigenen  Ähnlichkeit  zeigen2),  Auch  die  niedrig  gehaltene,  etwas 
volksmäfsige  Sprache,  die  derben  Wendungen,  haben  nichts  mit 
der  Redeweise  der  damaligen,  vornehmen  Poesie,  alles  aber  mit 
der  volksmäfsigen  Sprache  des  Mimus  gemein3).  Wie  der  Mime 
will  Phaedrus  Lachen  erregen  und  zugleich  das  Leben  bessern; 
seine  Fabeln  sind  nur  Scherze4).  Auch  die  Mimen  erhoben 
durchaus  den  Anspruch,  mit  ihrer  Lebensschilderung  trotz  allen 
burlesken  Spafses  und  aller  Darstellung  von  Laster  und  Sünde 
zur  Besserung  der  Menschen  beizutragen5). 

Wenn  also  Martial  die  „iocos  improbi  Phaedri"  erwähnt,  so 
dürften  damit  vornehmlich  wohl  die  mimischen  Scherze  gemeint 
sein,  da  ja  im  allgemeinen  der  Mimus  und  die  Mimen  als  „im- 
probi" galten;  denn  den  eigentlichen  Fabeln  bei  Phaedrus  mit 
ihrer  ernsthaften  und  moralischen  Tendenz  „improbitas"  vorzu- 
werfen, wäre  doch  etwas  ungereimt. 

Es  ist  lustig  genug,  dafs  Phaedrus  sein  fünftes  Buch  vor- 
nehmlich mit  Reminiscenzen  aus  dem  Mimus  angefüllt  und  dafs 
er  seine  moralisierenden  Betrachtungen  gar  an  die  burlesken 
Lazzi  der  mimischen  Narren  geknüpft  hat.  Was  also  bei 
Phaedrus  eigene  Erfindung  scheint  —  wie  besonders  die  Schnurre 
von  Ardalio    — ,    hat  er  im  allgemeinen  aus   dem  Theater  und 


»)  Vgl.  oben  S.  76. 

2)  Phaedri  fabularum  libri  quinque,  Leipzig  1877,  Cap.  I,  pag.  IX. 

3)  Man  hat  den  Phaedrus  wiederholt  und  sehr  mit  Recht  einen  Plebejer 
gescholten;  so  Leo,  Plautin.  Forschungen  S.  24:  „Die  archäische  Versbildung 
des  Plebejers  Phaedrus  ist  eine  Anomalie  und  tritt  aus  dem  vornehmen 
Kreise  der  herrschenden  Richtung  heraus". 

4)  Proemium  zu  Buch  I: 

Duplex  libelli  dos  est;  quod  risum  movet 
Et  quod  prudenti  vitam  consilio  mottet. 
Calumniari  si  quis  autem  voluerit, 
Quod  arbores  loquantur,  non  tantum  ferae, 
Fictis  iocari  nos  meminerit  fabulis. 

5)  Choricius  giebt  ihnen  darin  auch  durchaus  Recht,    vgl.  oben  S.  215. 


Der  Ardalio  Philistions  443 

besonders   aus   dem  Mimus;    da  wäre   es  also  weiter  nicht  ver- 
wunderlich,   wenn  Ardalio  gerade  ein  Typus  des  Mimus  wäre1). 


*)  Phaedrns  hat  hier  durchaus  nicht  wider  den  Geist  und  Sinn  der 
Fabeldichtung  verstofsen.  Auch  die  Fabel  fafst  wie  der  Mimus  den  ßios  von 
der  realistischen  Seite.  Sie  begreift  wie  der  Mimus  das  menschliche  Leben, 
wie  es  wirklich  ist;  wie  der  Mimus  zeichnet  sie  durchaus  realistische  Typen, 
wenn  sie  diese  auch  in  Tiergestalt  verkleidet.  Man  darf  sich  durch  das  nur 
scheinbar  Phantastische  dieser  Verkleidung  nicht  über  den  strengen  Realismus 
der  ganzen  Dichtung  tauchen  lassen.  Der  Wolf,  der  das  Lamm  zerreif-t, 
weil  es  ihm  das  Wasser  des  Stromes  trübt,  obwohl  er  oben  am  Strome  steht 
und  da-  Lamm  weiter  unten  (Phaedr.  I,  1  >,  der  Kranich  und  der  undankbare 
Wolf  (I,  8),  der  Fuchs  und  die  Trauben  (IV.  3),  um  nur  ein  paar  Beispiele 
zu  geben ,  sind  so  realistische,  biologische  Typen,  wie  sie  nur  je  ein  Mimo- 
graph  erfunden  hat.  So  glaubte  Goethe  ganz  richtig  in  seinem  Reineke 
Fuchs  den  Weltlauf  geschildert  zu  haben,  wie  er  wirklich  ist,  darum  nannte 
er  ihn  die  „unheilige  Weltbibel-.  Auch  Phaedrus  ist  sich  deutlich  seines 
Zusammenbanges  mit  der  realistischen  Poesie  bewufst  und  seine  Anlehnung 
an  den  Mimus  ist  offenbar  nur  eine  ganz  konsequente  Folge  dieser  Einsicht 
in  das  durch  und  durch  realistische  Wesen  der  Fabeldichtung.  Vgl.  be- 
sonders IV,  3.  Wer  die  Entwickelung-geschichte  des  Mimus  aus  dem  mimi- 
schen Tanze  begreift,  der  wird  sich  über  diese  Beziehung  zwischen  Tierfabel 
und  Mimus  am  allerwenigsten  wundern:  denn  in  seinen  Anfangen  war  der 
mimische  Tanz  vornehmlich  Tiertanz:  und  dieser  stellte  die  Typen  der 
Tiere  mit  derselben  realistischen  Ethologie  und  Biologie  dar,  wie  sie  —  man 
denke  etwa  an  den  Wulf,  den  Fuchs,  den  Esel  —  in  der  Fabel  erscheinen 
(Da>  Nähere  über  den  Tiertanz  siehe  im  VII.  Abschnitt  dieses  Kapitels).  Aus 
diesem  uralt>n,  mimischen  Tiertanz  ist  in  den  Uranfängen  der  hellenischen 
wie  der  gesamten  Menschheit  ebenso  der  Mimus  wie  die  Tierfabel  hervor- 
gegangen. Denn  in  primitiver  Form  findet  sich  die  Tierfabel  ebenso  wie 
der  Mimu«  über  die  ganze  Erde  verbreitet.  Vielfältig  hat  auf  die  Tier- 
fabel Ratzel  in  der  Völkerkunde  Bezug  genommen.  Tierfabeln  finden  sich 
sowohl  bei  den  Wildstämmen  in  Amerika  wie  Afrika.  Darüber  giebt  es  eine 
ganze  Litteratur.  Wir  wollen  hier  den  Zusammenhang  zwischen  Fabel  und 
Mimus  nicht  weiter  verfolgen;  aber  es  ist  interessant  genug,  auch  diese 
höchst  wichtige  Art  der  populären  Dichtung  in  so  naher  Verbindung  mit 
der  volkstümlichen  Burleske  zu  erblicken;  überall  zeigt  die  eigentliche  Volks- 
poesie zu  dem  volksmäfsigen  Drama,  dem  Mimus,  die  allernächsten  Be- 
ziehungen. Hier  will  ich  an  eine  Bemerkung  von  Wilamowita  erinnern 
(Hermes  Bd.  XXXTV,  S.  208):  „Und  wie  stehn  sie  (die  Mimologen)  zur  Thier- 
fabel:  bei  Arcbilochos  sprachen  doch  Fuchs  und  Affe.  .Und  immer  grasten 
wir  Distelblätter ',  heifst  Sophrons  Fragment  166:  wer  anders  hat  das 
sagen   können   als    ein  Esel?"     Aus  dieser  neuen  Erkenntnis  heraus  wollen 


444  Sechstes  Kapitel. 

Ich   werde    nun    weitere  Überlieferung   für  Ardalio   heran- 
ziehen: 

1.  Etym.  M. :  AiyvmvoQ  to  1/jcxtiov   rjQdälwoz  fiov  avxl  xov 
rjößöXcotisv  ifioXvvev. 

2.  Gloss.  Lab.  p.  1616:  ardalio  noXvygdyfioov. 


wir  nur  noch  kurz  die  berühmte  Stelle  bei  Ammianus  Marcellinus  richtig 
interpretieren,  in  der  Philistion  und  Aesop  zusammen  erwähnt  werden  (siehe 
den  Text  oben  S.  426,  Anm.  Nr.  V).  Grysar  a.  a.  0.  S.  314  schliefst  aus  dieser 
Stelle  auf  einen  Mimographen  Aesopus.  In  der  That  scheint  dieses  Resultat 
mit  guter  Methode  gewonnen;  denn  da  Aesop  mit  Philistion  zusammensteht, 
mufs  er  ein  Mimograph  gewesen  sein,  und  wie  Philistion  dem  Griechen 
Aristides  entspricht,  so  entspricht  Aesop  dem  Lateiner  Cato;  also  haben  wir 
einen  lateinischen  Mimographen  Aesopus.  Diese  Auffassung  Grysars  hat  wie 
alle  die  zahlreichen  Irrtümer  über  den  Mimus  und  seine  Geschichte  Geltung 
behalten.  Noch  heute  figuriert  der  Mimograph  Aesop  z.  B.  bei  Schanz  in 
der  römischen  Literaturgeschichte.  Daraus  kann  diesem  vortrefflichen 
Werke  natürlich  kein  Vorwurf  gemacht  werden;  wo,  wie  auf  dem  grofsen 
Gebiete  des  Mimus  jede  zuverlässige  Vorarbeit  fehlt,  kann  der  Litterar  - 
historiker,  der  die  ganze,  ungeheure,  römische  Litteratur  umfafst,  nicht  an 
seinem  Teile  alles  selber  leisten.  Jetzt,  da  wir  auf  die  Ähnlichkeit  zwischen 
Mimus  und  Fabel  aufmerksam  geworden  sind,  werden  wir  nicht  mehr  aus 
einer  Zusammenstellung  Aesops  mit  Philistion  schliefsen,  dafs  Aesop  ein 
Mimograph  war.  Wenn  die  Alten  den  Namen  Aesop  nennen,  so  verstehen 
sie  wie  wir  Modernen  eben  darunter  Aesop.  Es  wäre  ja  allerdings  besser, 
dafs  die  Richter  sich  die  Muster  der  Gerechtigkeit  Aristides  und  Cato  zu 
Lehrmeistern  nähmen,  aber  auch  die  Mimographen  und  die  Fabeldichter 
können  sie  mit  ihrer  humoristischen  Ethologie  und  Biologie  zur  Not  lehren, 
was  Recht  und  Gerechtigkeit  ist,  und  wie  es  in  der  Welt  zugeht;  aber  ein 
ordentlicher  Jurist  sollte  sich  allerdings  ernsthaftere  und  wissenschaftlichere 
Quellen  der  Belehrung  suchen. 

Bei  Martial  III,  20  heifst  es: 

Die,  Musa,  quid  agat  Canius  mens  Rufus: 

Utrumne  chartis  tradit  ille  victuris 

Legenda  temporum  acta  Claudianorum? 

An  quae  Neroni  falsus  astruit  scriptor? 

An  aemulator  improbi  iocos  Phaedri? 

Lascivus  elegis  an  severus  herois? 

An  in  cothurnis  korridus  SopJiocleis? 
Gleich  hat  Grysar   hier   wieder  auf  einen  neuen,  lateinischen  Mimographen 
Phaedrus  geschlossen,  der  sich  würdig  dem  Mimographen  Aesop  anschliefst 


Der  Ardalio  Philistions.  445 

3.  Excerpta  ex  libro  glossarum:   ardulio  argutus  cum  ma- 
lignitate;  Goetz,  Corp.  Gloss.  Lat.  V,  S.  168. 

4.  Glossae  Scaligeri  (Isidori):  ardalio  glutto  vorax  manducus; 
a.  a.  0.  V,  S.  590. 

5.  Glossae  Scaligeri:  mandones  ambrones  ardeliones1);  a.a.O. 
V,  S.  605. 

6.  Hesychius:  aQÖaXcofisyovg  TccQatTopevovg2). 

Also  seiner  Grundbedeutung  nach  heifst  Ardalio  „  Schmutz- 
fink'*. Dafs  es  gerade  ein  Ägypter  ist,  der  einem  andern  den 
Mantel  beschmiert,  ist  merkwürdig.  Sonst  pflegten  die  Ägypter 
allerdings  gleich  den  ganzen  Mantel  zu  stehlen  ).  Wir  haben 
den  Ausdruck  „jemand  anschmieren".  IJoXvnQdyiJtüov  stimmt  gut 
zu  der  unnützen  Vielgeschäftigkeit  der  Ardalionen  bei  Phaedrus 
und  Martial.  Diese  Betriebsamkeit  ist  wohl  nicht  selten  mit 
allerlei  Hintergedanken  verbunden,  d.  h.  cum  malignitate.  Darum 
ist  Tiberius  so  hart  gegen  den  Ardalio.  Daneben  ist  Ardalio 
ein  Fresser  und  Säufer  (No.  4,  No.  5).  Daran  erinnert  weder 
Martial  noch  Phaedrus,  aber  das  gehört  eben  mit  zu  den  typi- 
schen Eigenschaften  der  lustigen  Figur  im  griechischen  und 
römischen  Mimus.  Im  kampanischen  Mimus,  der  Atellane,  hat 
der  Maccus  von  dieser  Eigenschaft  direkt  seinen  Namen.  Ich 
erinnere  auch  an  den  mimischen  Herakles,  den  starken  Mann, 
der  nach  den  ins  Humoristische  gewendeten  Proben  seiner  un- 
glaublichen Stärke  sich  auch  als  ein  ebenso  unglaublicher  Fresser 
zeigt  und  dann  zu  einem  starken  Trünke  Lust  hat4).    Noch  heute 


fa.  a.  0.  S.  315),  und  Friedländer  (Martialausgabe  I,  S.  292)  folgt  ihm.  Ach 
nein!  dieser  Mimograph  Phaedrus  ist  unser  Fabeldichter,  der  allerdings  die 
Mimographen  nachahmt  und  darum  improbus  genannt  wird:  vgl.  Martial 
11,86,4: 

Non  sunt  ftaec  mimü  improbiora. 

1)  Überliefert  ist  tardeliones;  ich  brauche  meine  Änderung  in  ardeliones 
wohl  nicht  weiter  zu  befürworten. 

2)  Einzelne  von  diesen  Stellen  verdanke  ich  der  Güte  0.  Rofsbachs. 

3)  Vgl.  oben  S.  184—185. 

4)  Das  Weitere    über  den    mimischen  Herakles    s.  Kap.  IX.    Cynismus 
und  Mimologie.     Absehe.  I. 


446  Sechstes  Kapitel. 

mufs  Pulcinell  vor  dem  jubelnden  Volke  seine  Maccaroni 
schlingen,  die  so  lang  sind,  dafs  sie  ihm  um  die  Ohren 
schlagen1). 

Wie  alle  Gutschmecker  —  man  denke  z.  B.  an  Falstaff  — 
ist  die  lustige  Person  im  Mimus  natürlich  unerdenklich  feige, 
so  feige  wie  Dionysos  und  Xanthias  bei  Aristophanes  in  den 
durchaus  mimischen  Unterweltsscenen2). 

Nach  Arnobius  schreien  die  stupidi  laut  auf  vor  grundloser 
Angst  und  trippeln  ängstlich  hin  und  her,  ohne  etwas  verbrochen 
zu  haben 3).  Darauf  deutet  das  taQaTto/Asvovg.  „Bestürzt" 
wird  wohl  auch  der  Ardalio  gewesen  sein,  den  Kaiser  Tiberius 
verhöhnte. 

Wir  haben  schon  zum  Vergleich  den  Pulcinell  heran- 
gezogen. In  der  That  ist  Ardalios  Ähnlichkeit  mit  ihm  unver- 
kennbar. Wie  könnte  es  auch  anders  sein,  da  die  moderne, 
italienische  Burleske,  wie  wir  noch  zeigen  werden,  die  direkte 
Fortsetzerin  des  griechischen  (byzantinischen)  Mimus  ist.  Auch 
Pulcinell  ist  wie  Ardalio  glutto  vorax  manducus  und  gehört  zu 
den  mandones.  Auch  Pulcinell  ist  durchaus  noXvn^dy^(üv\  er 
versucht  sich  in  den  verschiedensten  Berufen.  Schliefslich  wird 
er  gar  Räuberhauptmann4).  Eine  Abart  des  Pulcinell  ist  der 
Meo-Patacca,  und  er  ist  zweifellos  ein  Ardalio,  wie  er  im  Buche 
steht5).    Natürlich  hat  Pulcinell  mit  allen  seinen  Unternehmungen, 


1)  Vgl.  z.  B.  Sand,  Masques  et  Bouffons  I,  S.  140:  „Une  des  facüies 
qu'il  repetait  souvent,  surtout  en  temps  de  carnaval,  car  pendant  le  careme  il  est 
defendu  ä  Polliciniella  de  porter  ni  masque  ni  costume,  c'etait  de  manger  dans  un 
enorme  cantaro  (vase  de  nuit),  des  monceaux  de  macaroni  dont  ce  personnage  est 
tres-friand.  On  le  voyait  alors  tirer  ces  longues  pätes,  et  se  les  faire  descendre 
dans  la  bouche  de  toute  la  hauteur  de  son  bras,  aux  grands  tclats  de  rire  de 
l'assistance. 

2)  Ich  erinnere  auch  an  den  Angsthasen  in  dem  theokriteischen  Mimus 
dhelg,  der  als  Sicherheitskommissarius  den  Namen  Asphaiion  (Sicherer)  führt. 

3)  Vgl.  oben  S.  113,  Anm.  2. 

4)  Sand  a.  a.  0.  I,  S.  135:  Pulcinella,  chef  de  brigands;  dort  findet  sich 
eine  genaue  Inhaltsangabe  dieses  Stückes. 

5)  Vgl.  Sand  a.  a.  0.  I,  S.  154:  Meo-Patarca  s'irrite  de  l'audace  de  „ces 
canailles  de  Turcs  infames"  qui  osent  assieger  Vienne,  cette  cite  chrttienne.     11  forme 


Der  Ardalio  Philistions.  447 

wie  es  einem  echten  Ardalio  zukommt,  nicht  gerade  allzuviel 
Glück.  Ein  wenig  Schmierfink  wie  Ardalio  ist  auch  Pulcinell 
und  ebenso  der  deutsche  Kasperle.  Vor  allem  aber  ist,  andere 
anzuschmieren,  ihre  höchste  Lust.  Sie  sind  auch  wie  Ardalio  leicht 
zu  erschrecken,  wenn  auch  im  Grunde  ihre  alte  Unverschämtheit 
und  Zuversicht  stets  von  neuem  wieder  zum  Vorschein  kommt. 
Wir  sahen,  dafs  die  lateinischen  Glossen,  wenn  vom  Theater 
die  Rede  ist,  beileibe  nicht  den  Mimus  vergessen '),  und  auch 
sonst  nehmen  sie  gerne  auf  den  Mimus  und  mimische  Typen 
Bedacht8);  darum  gedenken  sie  wohl  auch  wiederholt  des 
Ardalio. 


le  projet  d'aller  la  delivrer,  et  s'arretant  devant  la  statue  de  Marc-Antoine,  .,qui 
a  la  main  leve'e  en  signe  de  triomphe'',  il  la  regarde  et  dit:  „Qui  tait  si  ton  ne 
verra  pas  un  jour  dresser  ici  une  autre  statue?  Qui  sait  si  un  komme  que  fappelle 
moi  ne  s'en  montrera  pas  dignef''  Ses  compagnous,  au  nombre  de  dix,  qui  le 
suivent  comme  les  moutons  suivent  le  premier  de  la  bände,  Vadmirent  de'ja  et  s'in- 
clinent  devant  lui". 

l)  Vgl.  oben  S.  266. 

a)  Das  möge  folgende  Zusammenstellung  verdeutlichen: 

imitatores  umtjicti 

imitatio  uiutjffic: 

imitat  umtttai 

imitatur  fttftmrttt]   Glossae  latino  -  graecae ;  Goetz,  Corp.  Gloss.  Lat. 

II,  S  77. 

u^urjatg  imitatio 

utuog  mimus 

fuuovfi<rt  emitor;  Glossae  graeco-latinae;  a.a.O.  11,371. 

scurpax  mimarius 

seenicus  mimicus 

scurra  imrisio 

scurrio  irrisor 

scurrilitas  locus  turpis;  Glossae  nominum ;  a.a.O.  II,  S.  592. 

strambulus  strantibus  dei  mimitum;  Glossae  nominum;  a.a.O.   II,  S.  593. 

srena  theatri  locus  aut  ludus  mimicus;  Glossae  Codicis  Vaticani  3321 ; 

a.  a.  0.  IV,  S.  168. 

mimologus  qui  mimos  docet;    Glossae  Codicis  Sangallensis  912;   a.  a.  0. 

IV,  S.  258. 

mimografus  quam  mimos  creuit:    Glossae  ab  Absens;    a.  a.  0.   IV,  S.  416. 

mimolacus  qui  minus  docet;  Glossae  Affatim;  a.  a.  0.  IV,  S.  538. 

histrir  mimo  seenicus;  Glossae  Cod.  Sangall.  912;  a.  a.  0.  IV,  S.  244. 


448 


Sechstes  Kapitel. 


Bei  Justin  fanden  wir  die  Schilderung  einer  lustigen  Figur, 
die  jegliche  Kunst  und  jegliches  Handwerk  auszuüben  sich  unter- 


mimolagus  qui  mimos  docet;  Glossae  Cod.  Vat.  3321;  a.  a.  0.  IV,  S.  117. 

mimi  ioculares  grc;    Placidus  Codicis  Parisini;    a.  a.  0.  V,  S.  116. 

mimilogus  qui  minos  docet;  Glossarium  Ampi,  secundum;  a.a.O.  V,  S. 310. 

monopticus  mimus;  Glossae  Scaligeri;  a.  a.  0.  V,  S.  603. 

sannator  fxvxTt]Qi,<sirig 

sannasubsannator    fxüixog;  Glossae  latino-graecae  a.  a.  0.  II,  S.  178. 

^tjkoTvnos  pelicator  pelix;  Glossae  latino-graecae ;  a.  a.  0.  II,  S.  322. 

scena  theatri  locus 

scurrulla  subtilis  inpostor;  Glossarium  Ampi,  secundum;  a.  a.  0.  V,  S.  331. 

morio  stultus  malus 

siculus  stultus,  qui  cito  movetur  ad  iram.    Plaut,  quid  tu  o  momar 
sicule  homo  praesumis ;    Glossae  Seal. ;   a.  a.  0.  V,  604. 

ludis  dediti;  Glossae  Cod.  Vat.  3321;    a.  a.  0.  IV,  S.  168. 

quasi  parasitus  puplicus  qui  non  desinit  caenas  puplicas 

puplicus  inpostor;  Glossae  affatim;  a.  a.  0.  IV,  S.  571. 

theatri  locus 

histrionis  ioculares;  Glossae  Abavus;  a.  a.  0.  IV,  S.  389. 

qui  res  rediculas  dicit  et  facit 

parasitus  bucellarus 

subtilis  inpostor;  Glossae  Abavus ;  a.  a.  0.  IV,  S.  390. 

saltatores  scenici;  Glossae  Abavus;  a.  a.  0.  IV,  S.  349. 

praepositi  meretricum;    Glossae   Cod.   Sangall.    912;    a.  a.  0. 

IV,  S.  244. 
(vgl.  über  diesen  Ausdruck  oben  S.  227.) 

saltatores 

prepositi  meretricum;  Glossae  Cod.  Vat.  3321;  a.a.O.  IV,  S. 87. 

imitator 

homines  pecuati;  Glossae  Bernenses;  a.a.O.  III,  S.  500. 

qui  propter  mercedem  alapas  patitur 

calvus  calvaster;  Glossae  Scaligeri;  a.  a.  0.  V,  S.  589. 
Albrecht  Dieterich  hat  „Pulcinella"  S.  153—182  gründlich  und  geist- 
reich über  den  Spitzhut  als  Kopfbedeckung  des  burlesken  Schauspielers  ge- 
handelt, der,  ursprünglich  zur  Tracht  des  hellenischen  wie  des  italischen 
Bauern  gehörig,  die  Bedeutung  des  Priester-,  des  Freibeits-  wie  des  Narren- 
hutes erlangte.  Im  Narrenhute  feierte  Kom  seine  Saturnalien.  Den  spitzen 
(grünen)  Hut  trägt  gelegentlich  auch  der  italienische  Arlechino  wie  der 
Wiener  Hanswurst  seit  Stranitzky.  Der  Circusclown  erscheint  ja  heute  noch 
gewöhnlich  mit  dem  spitzen  Hute,  wie  man  in  jedem  Circus  sehen  kann. 
Diesen   spitzen  Hut   nimmt  Dieterich  vermutungsweise  auch  für  die  Mimen 


mmnarius 
momar 

scenici 

scurra 

scurrola 

scena 

scenici 

8cur 

scurra 

scurro 

histriones 

histriones 


histrones 

histriones 

mimetes 

moriones 

alopus 

apiciosus 


Der  Ardalio  Philistions.  449 

fängt;  die  alles  kann  und  versteht,  natürlich  nur  in  ihrer  Ein- 
bildung; die  in  Wut  gerät,  wenn  sie  deswegen  verlacht  wird; 
dieser  Typus  erinnert  Zug  für  Zug  an  unsern  Ardalio,  und 
diese  burleske  Figur  wird  direkt  als  mimisch  bezeichnet '). 

Doch  wir  können  die  Wahrscheinlichkeit,  dafs  Ardalio  ein 
Typus  des  Mimus  ist,  zur  Gewifsheit  erhöhen.  Es  ist  eine 
häufig  wiederkehrende  Erscheinung  im  Bühnenleben,  dem  antiken 
wie  dem  moiernen,  dafs  Schauspieler  sich  nach  ihren  Haupt- 
rollen nicht  blofs  auf  dem  Theater,  sondern  auch  im  bürger- 
lichen Leben  nennen.  So  liefs  sich  der  Dottore  „Herr  Doctortt 
nennen,  als  ob  er  allen  Rechtens  promoviert  hätte,  wie  Devrient 
in  der  Geschichte  der  deutschen  Schauspielkunst  wiederholt 
hervorhebt;  Francesco  Cherea,  der  Erfinder  der  Commedia 
dell'  arte,  der  Günstling  und  Lieblingskomiker  Papst  Leos  X-, 
hatte  seinen  Namen  von  dem  terentianischen  Cherea,  den  er  mit 
besonderem  Beifall  zu  spielen  pflegte8).  Ähnlich  steht  es  mit 
dem  berühmten  burlesken  Darsteller,  der  von  1618 — 1630  in 
Paris  die  Rolle  des  Tabarino  (eine  Abart  des  Coviello)  gab. 
Man  kennt  ihn  nur  unter  dem  Namen  Tabarin.  Nach  dieser 
Rolle  des  Tabarino  nannte  sich  schon  früher  am  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  ein  französischer  Hanswurst  Tabary8).  Nun 
wird  in  den  Acta  Sanctorum  unter  dem  Jahre  303  von  einem 
Mimus  berichtet,  in  dem  die  christliche  Taufe  dargestellt  und 
verspottet  wurde.  Die  lustige  Person,  die  in  diesem  Stücke  den 
heilsbegierigen  Heiden  und  Täufling  darstellte,  hiefs  Ardalio4). 
Da   hat   also  Martial    den  dilettierenden  Mimographen,    den   er 


in  Anspruch.  Diese  Vermutung  erhebt  unsere  Stelle  hier,  die  Dieterich 
entgangen  i>t,  zur  Gewifsheit.  Der  Hut,  und  zwar  gerade  der  spitze  Hut 
in  der  specifischen  Form  des  Apei  (vgl.  die  Abbildung  bei  Dieterich  S.  166), 
war  dem  mimus  calvus,  dem  stupidus  graecus,  dem  uwqö;  (fakaxgös  durch- 
gebend eigentümlich,  darum  heifst  er  eben  apiciosus.  An  den  moderneu  Circus- 
narren,  der  gleichfalls  ein  apiciosus  ist,  habe  ich  schon  erinnert. 

y)  Vgl.  oben  S.  32,  Anm.  3. 

3)  Vgl.  Klein,  Geschichte  des  Dramas  IV,  S.  903. 

5)  Vgl.  Sand  ,a.  a.  0.  II,  S.  295. 

*)  Vgl.  oben  S.  83-85. 

Reich,  Mimus.  oq 


450  Sechstes  Kapitel. 

einen  Hänswurst   nennen  will,    geistreich    mit   dem  Namen    des 
mimischen  Hanswurst  gekennzeichnet. 

Kein  unberühmter  Mimograph  wird  diesen  berühmten  Typus 
erfunden  haben.  Nun  hat  Ludwig  Friedländer  ganz  richtig  be- 
merkt, der  Ausdruck  Ardalio  sei  in  der  ersten  Kaiserzeit  auf- 
gekommen. Zuerst  findet  er  sich  bei  Phaedrus,  dann  bei 
Martial. 

Fünferlei  mufs  also  bei  dem  Ardaliotypus  zusammentreffen: 

1.  Er  mufs  aus  einem  Mimus  stammen,  und  zwar 

2.  einem  griechischen, 

3.  der  in  Rom  zur  Aufführung  kam, 

4.  zuerst  in  der  Zeit  kurz  vor  Phaedrus 

5.  und  dann  unablässig  Jahrzehnte  und  Jahrhunderte  lang. 

Denn  nur  so  konnte  sich  der  Ardaliotypus  den  Römern  so 
einprägen,  dafs  er  sprichwörtlich  wurde.  Alles  fünf  stimmt  auf 
die  Stücke  Philistions  und  nur  auf  sie  allein.  Es  waren  Mimen, 
in  griechischer  Sprache,  wurden  zu  Rom  aufgeführt,  und  zwar 
zuerst  kurz  vor  der  Zeit  des  Phaedrus  und  dann  unablässig. 

Da  hat  also  der  Mimograph  so  recht  ins  volle  Menschen- 
leben hineingepackt.  Mit  kecker  Kunst  schuf  er  die  lustige 
Person  im  Mimus  zu  diesem  neuen  Typus  aus  dem  gesellschaft- 
lichen und  sozialen  Leben  Roms  um.  Man  hatte  sich  schon 
lange  über  diese  vielgeschäftigen  Nichtsthuer  moquiert  und  ge- 
ärgert, wie  es  Seneca  thut.  Da  brachte  sie  Philistion  als  Ardalio 
auf  die  Bühne,  und  fortan  war  man  mit  dem  Worte:  „Du  bist 
ein  Ardalio-  diese  Gesellen  und  den  Verdrufs  über  sie  los,  der 
sich  schnell  in  ein  lautes,  mimisches  Lachen  auflöste.  Da  hat 
Philistion  seine  berühmte  Lebensweisheit  glücklich  bethätigt  und 
das  ßi(0(feX£g])  seiner  mimischen  Biologie2)  gezeigt. 

Nun   wird   aber  der  mimische  Narr  nicht  etwa  nur  einmal 


1)  ßiai(f,elrjs  wird  Philistion  in  der  M(v«v$qov  xal  <t>ifoOTi<üvog  ovyxQiots 
Vers  8  und  9  genannt. 

2)  Ein  Ardalio  ist  auch  der  Diener  des  Bruders  Cipolla  (Zwiebel)  bei 
Boccaccio  (sechster  Tag,  zehnte  Geschichte).    Er  heifst  Guccio  Schmutzfink, 


Der  Ardalio  Philistions.  451 

in  einem  philistionischen  Mimus  ^Aqdakioiv  geheifsen  haben,  son- 
dern, da  diese  Rolle  stehend  ist,  so  hiefs  er  eben  bei  Philistion 
wohl  gewöhnlich  Ardalio  und  nicht  mehr  Sannio,  wie  zu  Ciceros 
Zeit.    So  erscheint  Arlechino  zum  Trivelino  und  Truffaldino  meta- 


wie  auch  Ardalio  Schmutzfink  bedeutet.    Er  besitzt  besonders  neun  schlechte 
Eigenschaften: 

Ein  Lügenmaul 

Ist  er  und  faul, 

Verbofst  in  Trutz,  (cum  malignitate) 

Und  reich  an  Schmuz;  {rjoöaXwu^vo;) 

Stets  voll  Verdacht 

Und  unbedacht;  {xagaTjöfitvoc) 

Ein  Feind  der  Pflicht, 

Ein  grober  Wicht, 

Und  was  er  soll, 

Das  thut  er  nicht 

„Außerdem",  pflegte  Bruder  Cipolla  zu  sagen,  „hat  er  noch  einige 
andere  Fehlerchen:  doch  die  wollen  wir  mit  dem  Mantel  der  christlichen 
Liebe  zudecken.  Was  indefs  an  seinen  seltsamen  Manieren  das  Spaßhafteste 
ist:  in  jedem  Dorfe,  wohin  er  geräth,  will  pr  ein  Weib  nehmen  und  ein  Haus 
miethen,  und,  so  lang  und  schwarz  und  schmuzig  auch  sein  Bart  ist,  bildet 
er  sich  dennoch  ein,  so  schön  und  so  anmuthig  zu  sein,  dafs  seiner  Meinung 
nach  alle  Frauenzimmer,  die  uns  zu  Gesichte  bekommen,  sich  in  ihn  ver- 
lieben, und  liefse  man  ihn  gewähren,  so  liefe  er  allen  nach,  und  verlöre 
Gürtel  und  Kragen.  Einräumen  mufs  ich  indefs,  dafs  er  mir  vielfach  sehr 
behülflich  ist;  denn,  so  geheim  auch  jemand  mit  mir  zu  reden  habe,  so  ist 
er  immer  auf  dem  Platze,  um  sich  sein  Theil  davon  abzuhorchen;  und  wenn 
ich  vorkommendenfalls  um  etwas  gefragt  werde,  so  ist  er  so  besorgt,  ob  ich 
auch  auf  die  Antwort  gerüstet  sei,  dafs  er  jedesmal  sich  vordrängt,  und  als- 
bald ja  oder  nein  für  mich  antwortet,  wie  es  ihm  eben  gut  dünkt".  (Das  Deca- 
meron  von  Giovanni  di  Boccacio,  übersetzt  von  Karl  Witte  II,  S.  234  u.  235.) 

Auch  der  Ardalio  thut  zwar  alles  Mögliche,  nur  nichts  Ordentliches, 
Vernünftiges  und  Pflichtgemäßes.  Also  wie  der  Ardalio  hat  Guccio  die  selt- 
samsten und  für  ihn  unausführbarsten  Pläne  im  Kopfe  und  fällt  mit  übel 
angebrachter  Dienstfertigkeit  seinem  Herrn  zur  Last  wie  der  Ardalio  bei 
Phaedrus  dem  Kaiser  Tiberius.  Offenbar  hat  hier  Boccaccio  sich  den 
typischen,  lustigen  Diener  und  stupidus  der  italienischen  Volksburleske  zum 
Muster  genommen,  der  ein  direkter  Nachkomme  des  mimischen  stupidus 
und  also  auch  des  Ardalio  ist.  Auch  im  modernen  Leben  giebt  es  genug 
Ardelionen;  aber  noch  hat  kein  moderner  Dichter  diesen  Typus  klassisch 
gestaltet  wie  Philistion. 

29» 


452  Sechstes  Kapitel. 

morphosiert.  So  ist  Meo-Patacca  und  Birrighino  nur  eine  andere 
Erscheinungsform  des  Pulcinella,  und  ob  der  Pierrot  nun  Bertoldo, 
Paggliaccio  oder  Peppe  Nappa  heifst,  es  ist  immer  der  alte 
Pierrot,  nur  verschieden  nuanciert.  Darum  wird  in  den  Glossarien 
der  Ardaliotypus  mit  so  mannigfaltigen  Eigenschaften  bezeichnet, 
die  alle  zusammen  natürlich  nicht  recht  bei  einer  einzigen  lustigen 
Figur  auf  einmal  vereinigt  in  Erscheinung  treten  konnten.  Die 
„natio  ardalionum"  war  eben  so  zahlreich  und  zeigte  so  ver- 
schiedene Spielarten,  dafs  der  ^Aqöaliu>v  stets  als  derselbe  un- 
nütze, zwecklose  Geselle  und  doch  immer  wieder  in  einer  neuen 
Gestalt  auftreten  konnte,  bald  als  senex  ardalio,  bald  als  di- 
lettierender  Stutzer,  bald  als  übereifriger,  mit  seiner  erheuchelten 
und  nutzlosen  Dienstfertigkeit  lästiger  Bedienter,  bald  als  träger, 
gefräfsiger,  dem  Trünke  ergebener  Schmierfink,  und  dann  wieder 
als  glänzender,  vielgeschäftiger,  in  allen  Sätteln  gerechter  Glücks- 
ritter (nolv7TQciyfiü)v).  So  ist  Pulciuell  bald  ein  schneidiger 
Räuberhauptmann,  bald  ein  windiger  Bedienter,  und  dann  wieder 
ein  Krämer  oder  gar  ein  englischer  Lord.  So  erscheint  Hans- 
wurst in  den  verschiedensten  Metamorphosen  und  versucht  sich 
in  den  verschiedensten  Berufen.  Zuletzt  hat  sich  dann  Ardalio 
noch  gar  zum  Märtyrer  und  christlichen  Glaubenshelden  metamor- 
phosiert.  Eben  das  zwecklose  Handeln,  das  Laufen  und  Jagen  nach 
imaginären  Zielen,  als  was  dem  Heiden  des  Christen  asketischer 
Lebenswandel,  sein  unablässiges  Singen  und  Beten,  Fasten  und 
Kasteien  nun  einmal  erschien,  ist  das  wesentliche  Kennzeichen 
des  Ardalio.  Zugleich  aber  sehen  wir,  wie  die  Bezeichnung  der 
lustigen  Figur  als  Ardalio  durch  die  Jahrhunderte  gedauert  hat ; 
denn  der  Ardalio  des  Taufmimus  starb  im  Jahre  298. 

Noch  in  der  historia  Apollonii  regis  Tyri  nennt  man  den 
Hans  Narren,  ob  er  nun  lustig  oder  blofs  thöricht  ist,  Ardalio. 
Apollonius  liegt  unten  im  Schiffe  und  betrauert  den  Verlust 
seiner  Frau  und  Tochter.  Da  aber  hört  er,  dafs  im  Hafen  von 
Mytilene,  wo  er  sich  gerade  befindet,  ein  grofses  Fest  gefeiert 
wird.  Er  läfst  seinen  Matrosen  zehn  Goldstücke  zum  Feste 
geben,  aber  wer  ihn  selbst  unten  in  seiner  Trauer  stört,  dem 
droht  er  die  Beine  entzwei  zu  schlagen.    Da  kommt  Athenagoras, 


Der  Ardalio  Philistions.  453 

ein  vornehmer  Mann  aus  Mytilene  (princeps  civitatis),  und  bittet 
einen  Matrosen,  ihn  zu  Apollonius  zu  führen;  dafür  bietet  er 
ihm  zwei  Goldstücke.  Da  macht  der  Matrose  im  Hinblick  auf 
die  Drohung  des  Apollonius  den  dummen  Witz:  „Glaubst  du,  ich 
kann  mir  für  zwei  Goldstücke  vier  Beine  kaufen?"  Dieser  etwas 
stupide  Witzbold  heifst  Ardalio  (a.  a.  0.  c.  39). 

Drei  Jünglinge  bitten  den  König  Archistrates  um  die  Hand 
seiner  Tochter,  diese  aber  will  nur  einen  Schiffbrüchigen  (eben 
Apollonius).  Als  der  König  nun  fragt,  welcher  von  ihnen  dreien 
denn  schon  Schiffbruch  gelitten  habe,  meldet  sich  einer  ganz 
keck;  da  meinen  die  andern:  „Wie  kannst  du  solchen  Unsinn 
reden?  du  bist  ja  nie  zum  Thore  hinausgekommen".  Da  steht 
der  dummdreiste  Narr  verlacht  und  bestürzt  da  (zagattöpsvos); 
er  heifst  Ardalio  (a.  a.  0.  c.  21). 

Was  für  die  moderne  Burleske  der  Harlekin,  der  Hanswurst, 
was  für  die  Atellane  der  Bucco,  Maccus,  Pappus  und  Dossennus, 
das  bedeutet  für  die  Hypothese  seit  Philistion  Ardalio. 

Wenn  wir  nun  sehen,  wie  sehr  dieser  Ardalio  den  Beifall 
der  Römer  und  des  Erdkreises  gewann,  wie  dieser  gelungene 
Typus  der  lustigen  Lebensschilderung,  der  mimischen  Biologie, 
sich  dann  durch  die  Jahrhunderte  behauptete,  in  Epigramm  und 
Fabel  und  schliefslich  gar  in  den  Roman  eindrang  und  im 
Kampfe  zwischen  Christentum  und  Heidentum  noch  gar  ein 
Stimmführer  der  Heiden  wurde,  dann  leuchtet  uns  eine  Ahnung 
auf,  dafs  die  Alten  mit  ihrer  Wertschätzung  Philistions  und 
seiner  biologischen  Komödie  Recht  haben  könnten,  dafs  wirklich 
noch  das  erste  Jahrhundert  nach  Christus  einen  hellenischen 
Klassiker  erlebt  hat,  wenn  auch  den  allerletzten,  und  die  Verse 
der  Anthologie: 

6  %6v  vcokvativaxtov  äv&Quinoov  ßiov 
yiXoou  xtodous  Ntxaevg  0i/.tGiioav 

gewinnen  für  uns  Leben  und  Bedeutung1). 


»)  Fisch  (Archiv  für  lat.  Lexikographie  V,  1888,  S.  61  u.  62)  macht  aus 
unserm  Ardalio  einen  ardulio,  leitet  ihn  von  ardulns  her  und  rechnet  ihn 
unter  die  lateinischen  Substantiva  personalia  auf  o,  onis. 


454  Sechstes  Kapitel. 

V. 
Philistions  Philogelos. 

Aufser  seinen  Mimen  hat  Philistion  noch  den  Philogelos  ge- 
schrieben 2),  d.  h.  ein  Witz-  und  Schnurrenbuch.  Wenn  nach  Suidas' 
kaum  verständlichem  Ausdruck  zu  diesem  Buche  noch  der  Barbier 
in  Beziehung  gebracht  wird,  so  mag  vielleicht  Philistion  diese 
Schnurren  einem  Barbier  in  den  Mund  gelegt  haben.  Denn  die 
Barbiere  galten  von  jeher  als  die  eigentlichen  Erzähler  und 
Verbreiter  von  allerhand  Schnurren.  Kommt  doch  im  Philogelos 
selbst  der  Witz  vor,  dafs  ein  Herr,  von  einem  Barbier  gefragt : 
„Wie  soll  ich  dich  rasieren?"  antwortet:  „schweigend".  Ich  er- 
innere an  Theophrasts  Witzwort,  der  die  Barbierstuben  aoiva 
(yvfinoöMx  nannte2).  Freilich  hat  Bernhardy,  der  seiner  Zeit 
allein  die  Bedeutung  Philistions  annähernd  richtig  würdigte, 
rundweg  erklärt,  ein  so  grofser  Poet  könne  nicht  der  Verfasser 
eines  Witzbuches  sein3).  Aber  wir  sahen,  wie  selbst  Martial 
sich  nicht  gescheut  hat,  die  Typen  und  Scenen,  Witze  und 
Schnurren  des  Mimus  in  seine  fein  geschliffenen,  scharf  zu- 
gespitzten Epigramme  aufzunehmen.  Auch  Phaedrus  liefs  sich 
herbei,  der  alten  aesopischen  Fabel  mimische  Schnurren  im  Fabel- 
gewande  hinzuzufügen.  In  den  Rhetorenschulen  erörterte  man 
spitzfindig  Probleme,  die  zum  ersten  Mal  der  Mimus  aufge- 
worfen hatte.  Warum  sollte  da  der  grofse  Mimograph  nicht 
selbst  auf  den  Einfall  kommen,  die  lustigen  Witze  und  Schnurren 
aus  seinen  Mimen,  die  man  sich  ohnehin  schon,  so  gut  man  es 
vermochte,  überall  wiedererzählte,  in  ein  kleines  Büchlein  zu 
sammeln?  Der  „ridiculus  Philistio",  der  fitfiog  yeXoicov,  betitelte  es 


*)  Wie  Suidas  bezeugt.    Vgl.  oben  S.  426,  Anm.  Nr.  I. 

2)  Vgl.  über  alles  dieses  oben  S.  310,  Anm.  2.  Ein  Schwätzer  sonder 
gleichen  und  unerschöpflich  an  allerhand  Geschichten  und  Schnurren  ist 
auch  der  seltsame  Barbier  in  „Tausend  und  eine  Nacht",  Hundertund fünfzigste 
Nacht  u.  folg.,  der  dort  mit  einem  fast  mimischen  Realismus  der  Darstellung 
geschildert  wird. 

3)  Vgl.  Grundrifs  der  griechischen  Litteratur  II3,  2,  S.  554. 


Philistions  Philogt.  455 

„Philogelos *,  rder  Lachlustige".  So  gab  Melissus,  der  Freund 
und  Freigelassene  des  Maecenas,  der  als  Verfasser  national 
römischer  Lustspiele  (trabeatae)  bekannt  ist,  in  seinem  Alter 
eine  Sammlung  von  Schnurren  (ineptiae)  heraus,  die,  wie  es 
scheint,  eine  zweite  Auflage  erlebte1).  Auch  Joseph  Stranitzky, 
der  Wiener  Theaterdirektor,  Lustspieldichter  und  burleske  Acteur, 
der  zuerst  die  Wiener  Posse  nach  dem  Vorbild  der  Commedia 
dell'  arte  schuf,  der  wie  Philistion  zugleich  ein  Mime  und  Mimo- 
graph  gewesen  ist,  verfafste  neben  seinen  Mimen  noch  ein  Witz- 
und  Schnurrenbuch,  die  „Ollapatrida  des  durchgetriebnen  Fuchs- 
mundi",  in  dem  er  mancherlei  Schnurren  aus  seinen  und  andern 
Mimen  zum  besten  gab2). 

Als  der  Mime  Tabarin  viele  Jahre  hindurch  das  Pariser 
Publikum  ergötzt  hatte,  ward  später  ein  Facetienbuch  gesammelt, 
in  dem  alle  seine   lustigen  Erfindungen  und  Witze  vorkamen3). 

In  einer  Pariser,  einer  Münchener  und  einer  Wiener  Hand- 
schrift ist  ein  Büchlein  überliefert: 

OIAOrEAQS 

EK  T2N 

IEPOKAEOrS  KAI  OIAATPIOr 

rPAMMATIKON. 

Da  haben  wir  einen  Philogelos,  nur  ist  es  nicht  der  von  Suidas 
bezeugte  des  Philistion,  sondern  es  ist  ein  Auszug  aus  den 
Sammlungen  zweier  Grammatiker,  Hierokles  und  Philagrius. 

In  dieser  Sammlung  von  Schnurren  kommt  die  Erwähnung 
der  Feier  des  tausendjährigen  Bestandes  von  Rom  im  Jahre  246 


J)  SuetoD,  De  gramm.  21,  p.  116  R. 

8)  Vgl.  Werner,  Ollapatrida  des    durchgetriebnen  Fuchsmundi.    Wiener 
Neudrucke,  Wien  18S6,  II.  Bändchen. 

3)  Vgl.  Sand  a.  a.  0.  II,  S.  301.    Dieser  Recueil  des  farces  tabariniques 
begann  mit  folgenden  Versen: 

9Oevtst  este  perte  est  ränge 
Si,  perdant   Tabarin  des  yenx, 
Nous  eussions  per  du  le  meslange 
De  set  devit  facttieux. u 


456  Sechstes  Kapitel. 

n.  Chr.  vor1),  also  kann  diese  Sammlung  in  letzter  Form  erst 
nach  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  verfafst  sein.  Die  beiden 
Grammatiker,  die  als  ihre  Urheber  genannt  werden,  sind  ganz  ob- 
skure Leute,  die  sich  nicht  weiter  identifizieren  lassen8).  Das 
Nächstliegende  ist  also  immerhin,  dafs  wir  hier  eine  „vermehrte 
und  verbesserte"  Überarbeitung  des  berühmten,  alten  Philogelos 
Philistions  haben.  Denn  Grammatiker  pflegen  doch  höchstens  der- 
artige Schnurrenbücher  neu  zu  bearbeiten  und  herauszugeben;  sie 
selber  zu  verfassen,  liegt  im  allgemeinen  ebenso  tief  unter  ihrer 
"Würde  wie  über  ihrer  Kapazität3).  Aufserdem  hätte  kein  Gram- 
matiker von  sich  aus  eine  so  burleske  Volkssprache  gesprochen, 
wie  sie  sich  in  diesem  Büchlein  findet. 

Es  sind  gewifs  nicht  viele  philistionische  Sentenzen  über- 
liefert worden.  Aber  so  wenig  es  auch  sind,  eine  davon  kommt 
doch  im  Philogelos  vor.  In  der  Wiener  Apophthegmensammlung 
heilst  es:  „Philistion,  gefragt,  welche  Schiffe  sicher  wären,  die 
Kauffahrtei-  oder  die  Kriegsschiffe,  antwortete:  die  ans  Land 
gezogenen",  und  im  Philogelos  heilst  es:  „Ein  Feiger,  gefragt, 
welche  Schiffe  sicherer  seien,  die  Kriegs-  oder  die  Kauffahrtei- 
schiffe, antwortete:  die  ans  Land  gezogenen"4). 

Auf  Schritt  und  Tritt  werden  wir  in   diesem  Philogelos  an 


»)  Nr.  ftT. 

a)  Vgl.  Eberhard  a.  a.  0.  S.  61. 

3)  Dafür  spricht  auch  der  Titel,  der  nicht  lautet:  „aus  dem  Philogelos 
der  Grammatiker  Hierokles  und  Philagrius",  sondern:  „der  Philogelos  aus 
den  Sammlungen  der  Grammatiker  Hierokles  und  Philagrius".  Sehr  eigen- 
tümlich ist  es  auch,  dafs  mitten  in  dieser  Sammlung  steht:  ix  rov  ^iXöyeXw. 
Es  ist  eben  wohl  immer  der  bestimmte,  sonst  allein  bekannte  Philogelos 
Philistions  gemeint,  den  zuerst  der  Grammatiker  Hierokles  bearbeitete  und 
herausgab  und  dann  von  neuem  der  Grammatiker  Philagrius.  Aus  den  Aus- 
gaben beider  wurde  dann  später  unser  Auszug  gemacht;  darum  wiederholen 
sich  auch  in  diesem  Buche  trotz  seines  geringen  Umfanges  zahlreiche  Witze, 
weil  sie  in  der  einen  Ausgabe  einer  anderen  Person  zugeschrieben  waren 
als  in  der  andern;  was  einmal  vom  ,,Scholasticus"  erzählt  wird,  wird  mit  den- 
selben "Worten  vom  Kymäer  und  Sidonier  berichtet  und  so  fort. 

4)  Allerdings  wird  diese  Sentenz  bei  Athenaeus  VIII,  350  b  als  Ausspruch 
des  Klearchos  erwähnt;  Aber  in  den  Philogelos  ist  sie  hineingekommen,  weil 
sie  später  ebpn  für  philistionisch  galt. 


Philistions  Philogelos.  457 

den  Mimus  erinnert.  Ein  Scholasticus,  ein  Kahlkopf  und  ein 
Barbier  machen  zusammen  eine  Reise.  In  einer  Einöde  halten 
sie  Rast  und  beschliefsen,  je  einer  soll  vier  Stunden  wachen  und 
aufs  Gepäck  achten,  während  die  andern  schlafen.  Der  Barbier, 
welcher  zuerst  Wache  halten  soll,  will  einen  Witz  machen  und 
schert  den  schlafenden  Scholasticus  kahl.  Als  dann  seine  Zeit 
um  ist  und  nun  der  Scholasticus  die  Ablösung  hat,  weckt  er 
ihn.  Noch  schlaftrunken  kraut  sich  dieser  den  Kopf,  merkt, 
dafs  er  kahl  ist,  und  ruft  voll  Empörung:  „Da  hat  nun  dieses 
Scheusal  von  Barbier  statt  meiner  den  Kahlkopf  aufgeweckt!" 
Es  ist  eine  übermütig-lustige  Schnurre,  der  Scholasticus  verliert 
durch  das  Kahlscheren  direkt  sein  Ich ;  so  wird  in  dem  Interlude 
„Jack  Juggler"  Jenkin  Careaway  aus  seiner  Identität  heraus- 
geschreckt, so  der  Sklave  Sosias  im  Amphitruo ').  Der  Kahlkopf 
erinnert  uns  an  den  kahlen  Narren  (fionQoc  (fcüaxQÖg)  im  Mimus. 
Wir  kennen  eine  ähnliche  Reisegesellschaft  aus  Petron.  Da  ist 
auch  ein  Barbier  mit  Eumolp,  Encolp  und  Giton  zusammen  auf 
Reisen,  und  dieser  Barbier  schert  Encolp  und  Giton  kahl,  und 
Lichas  beschwert  sich  nachher,  er  sei  mimicis  artibus  getäuscht 
worden  (Petron  106,  Buecheler  .  S.  73).  Nun  verstehen  wir  diese 
wunderliche  Reisegesellschaft  im  Philogelos;  wir  haben  hier  eine 
burleske  Scene  aus  irgend  einem  Mimus,  vermutlich  einem  phili- 


M  Auch  an  das  Volksmärchen  mahnt  diese  seltsame  Geschichte.  Ich 
erinnere  an  „Der  Frieder  und  das  Catherlieschen".  Von  Frieder  aufgefordert, 
geht  das  faule  und  dumme  Catherlieschen  anfs  Feld  Frucht  schneiden;  dort 
spricht  sie  zu  sich:  „ess'  ich,  eh'  ich  schneid,  oder  schlaf  ich,  eh'  ich 
schneid?  hei,  ich  will  ehr  essen!"  Da  als  Catherlieschen  und  ward  überm 
Essen  schläfrig,  und  fleug  an  zu  schneiden  und  schnitt  halb  träumend  alle 
seine  Kleider  entzwei,  Schürze,  Rock  und  Hemd.  Wie  Catherlieschen  nach 
langem  Schlaf  wieder  erwachte,  stand  es  halb  nackigt  da  und  sprach  zu 
sich  selber  „bin  ichs,  oder  bin  ichs  nicht?  ach,  ich  bins  nicht!-  Unter- 
dessen wards  Nacht,  da  lief  Catherlieschen  ins  Dorf  hinein,  klopfte  an  ihres 
Mannes  Fen-ter  und  rief  .Friederchen?"  „Was  ist  denn?"  „Möcht  gern 
wissen,  ob  Catherlieschen  drinnen  ist*.  „Ja,  ja",  antwortete  der  Frieder, 
es  wird  wohl  drinn  liegen  und  schlafen".  Sprach  sie  „gut,  dann  bin  ich 
gewifs  schon  zu  Haus"  und  lief  fort.  (Grimm,  Kinder-  und  Hausmärchen  I, 
S.  229  und  230). 


458  Sechstes  Kapitel. 

stionischen,  vor  uns.  Vielleicht  hat  sich  der  kahlgeschorene 
Scholasticus  in  der  Überzeugung,  dafs  er  der  Kahlkopf  und  noch 
gar  nicht  zum  Wachen  dran  wäre,  wieder  aufs  andere  Ohr  gelegt 
und  den  drei  Freunden  erwachsen  daraus  die  gröfsten  Verlegen- 
heiten; vielleicht  hat  er  den  Kahlkopf  geweckt  und  beide 
streiten  sich  nun,  wer  der  richtige  (faXaxgog  wäre.  Aus  dem 
lustigen,  mimischen  Einfall  ergeben  sich  eben  unglaublich 
burleske  Scenen. 

Ein  Bettelkerl,  der  gewohnt  ist,  seiner  „Freundin"  vorzu- 
lügen, er  sei  ein  Edelmann  und  reich,  trifft  plötzlich,  wie  er 
mit  dem  Bettelsack  zu  den  Nachbarn  geht,  seine  „Freundin". 
Schnell  dreht  er  sich  um  und  ruft  ins  Haus:  „Sende  mir  auch 
meinen  Frack  mit  den  goldenen  Knöpfen1)  nach!"  Einen  andern 
armen  Protzen  findet  seine  „Freundin",  da  er  krank  ist  und  sie 
ihn  unerwartet  besucht,  statt  in  einem  prächtigen  Bett  auf  einer 
armseligen  Binsenmatte;  da  sagt  er  schnell:  „Die  Herren  Medi- 
zinalräte rieten  mir  zur  Binsenmattenkur"  2).  Ein  anderer  Narr 
des  gleichen  Schlages  begegnet  seinem  Bedienten,  der  eben  vom 
Landgut  in  die  Stadt  gekommen  ist.  Da  fragt  er  ihn  stolz: 
„Wie  steht's  mit  dem  Vieh?"  „Ach",  sagt  der,  „das  eine  Schaf 
schläft,  und  das  andere  Schaf  geht" 3).  Wir  haben  schon  (S.  318 
u.  319)  gesehen,  dafs  der  arme  Protz  ein  beliebter  Typus  der 
Komödie  und  des  Mimus  ist.  Aber  während  der  mimische 
Sannio  bei  Herennius  geschickt  auf  die  prahlerischen  Intentionen 
seines  protzigen  Herrn  ernsthaft  eingeht4),  setzt  der  Sklave  in 
Philistions  Philogelos  als  rechter  Sannio,  als  irrisor  und  ioculator, 
seinen  bettelstolzen  Herrn  mit  seiner  scheinbar  naiven  Antwort 
in  Verlegenheit. 

Der  Scholasticus  will  ein  Haus  verkaufen,    da  trägt  er  zur 


1)  <fißXaT(ÖQtov  =  tibul&torixim;  Kleid  mit  einer  fibula  (natürlich  von  kost- 
barem Metall,  von  Gold)  og'. 

2)  Nr.   pf  „ol  xaXol  laiooi  xccl  Söxifiot  ttjj   nöXtiag    txiXtvoüv  fit   i//*a- 
&iO&rjvai". 

3)  Nr.  or{ . 

*)  Vgl.  oben  S.  318. 


Philistion;  Philogelos.  459 

Probe  einen  Ziegelstein  mit  sich  herum1).  Um  die  Komik  dieser 
Geschichte  zu  begreifen,  mufs  man  sich  die  mimische  Aktion  des 
Dümmlings  dazu  denken,  der  auf  der  Bühne  mit  gewichtiger 
Miene  seinen  Ziegelstein  vorzeigt  und  gar  nicht  begreifen  kann, 
wie  man  diese  doch  gewifs  zuverlässige  Probe  nicht  gelten  lassen 
will.  Mit  richtiger  Witterung  hat  diesen  Witz  der  moderne  Mimus 
für  Arlechino  und  für  Hanswurst  reklamiert;  er  gehört  zu  den 
Lazzi,  wie  er  einst  zu  den  mimischen  Trics  gehört  hat'). 

Da  der  Philogelos  in  weiteren  Kreisen  so  gut  wie  unbekannt 
ist.  gebe  ich  eine  Anzahl  weiterer  Proben  aus  ihm,  die  hier, 
soweit  mir  bekannt  ist,  zum  ersten  Male  ins  Deutsche  über- 
tragen werden.  An  ihnen  kann  man  vor  allem -den  Begriff  der 
.mimicae  ineptiae*.  den  wir  schon  erörtert  haben,  sich  näher  er- 
klären. Zugleich  aber  vergegenwärtigen  diese  Witze  uns  mancherlei 
mimische  Typen  und  Scenen,  was  ich  dem  geneigten  Leser 
überlasse,  sich  im  Einzelnen  zu  erläutern.  Wir  werden  später 
noch  wiederholt  Gelegenheit  haben,  auf  einzelne  von  diesen 
Schnurren  zurückzukommen. 

5.  Einem  rScholasticus"  begegnete  jemand  und  sagte  zu 
ihm:  „Herr  Doctor,  im  Traume  sah  ich  Sie  und  sprach  Sie  an". 
Der  erwiderte:  „In  der  That,  ich  war  beschäftigt  und  habe  nicht 
darauf  geachtet". 

6.  Ein  „Scholasticus"  sah  seinen  Hausarzt  kommen  und 
wollte  von  ihm  nicht  gesehen  werden.  Von  einem  Gefährten 
befragt,  warum  er  das  thue,  antwortete  er:  „Ich  bin  schon 
lange  nicht  mehr  krank  gewesen,  und  deshalb  geniere  ich  mich 
vor  ihm". 

7.  Einem  „Scholasticus-4,  der  eine  Operation  am  Zapfen 
bestanden  hatte,  verbot  der  Arzt  das  Sprechen.  Da  gab  er 
seinem  Diener  den  Auftrag,  an  seiner  Statt  alle  Begrüfsungen  zu 


M  Nr.  u«'.  Dieselbe  Geschichte  irird  pvg  von  einem  Kymäer  erzählt 
die  im  Philogelos  als  eine  Art  Schildbörger  figurieren. 

*)  Vgl.  Sand  a.  a.  0.  I  S.  81:  Dans  une  come'die,  Arlequin  veut  vendre  so, 
maison;  il  cient  trouver  Vacheteur  en  seine,  et,  qßn.  lui  dit-il,  qu'il  n'aehete  pas 
chat  en  poche,  il  veut  lui  faire  voir  un  tchantillon  de  la  marchandise,  et  tire  de 
dessous  son  casaquin   un  yros  plätras. 


460  Sechstes  Kapitel. 

erwidern.  Drauf  sagte  er  zu  jedem:  „Nimm's  mir  nicht  übel, 
wenn  mein  Diener  statt  meiner  dich  begrüfst,  der  Arzt  hat  mir 
nämlich  das  Sprechen  verboten". 

9.  Ein  „Scholasticus"  wollte  seinem  Esel  das  „Nicht- 
fressen"  beibringen  und  gab  ihm  kein  Futter  mehr.  Als  dann 
der  Esel  vor  Hunger  krepiert  war,  sagte  er:  „Mich  hat  ein 
schwerer  Verlust  betroffen;  als  der  Esel  das  „Nichtfr essen"  ge- 
lernt hatte,  krepierte  er". 

11.  Ein  „Scholasticus"  wollte  sehen,  ob  es  ihm  gut  stände, 
wenn  er  schliefe.  Da  stellte  er  sich  vor  den  Spiegel  und  schlofs 
die  Augen. 

12.  Zu  einem  „Scholasticus",  der  verreiste,  sagte  sein 
Freund:  „Kaufe  mir  doch  zwei  Pagen  von  15  Jahren",  worauf 
er  erwiderte:  „Sollte  ich  solche  nicht  finden,  so  will  ich  dir 
einen  von  30  Jahren  kaufen". 

13.  Zwei  „Scholastiker"  beklagten  sich  gegenseitig  dar- 
über, dafs  ihre  Väter  noch  lebten.  Als  der  eine  nun  sagte: 
„Bist  du  dabei,  so  wollen  wir  jeder  den  seinen  erwürgen",  ant- 
wortete der  andere:  „Um  Himmels  willen,  wir  könnten  ja  Vater- 
mörder gescholten  werden;  aber,  wenn  du  willst,  erschlägst  du 
meinen  Vater,  und  ich  deinen". 

14.  Ein  „Scholasticus"  hatte  ein  Haus  gekauft;  er  stellte 
sich  in  die  Thür  und  fragte  die  Passanten,  ob  ihm  das  Haus 
stünde. 

15.  Ein  „Scholasticus"  hatte  geträumt,  er  sei  auf  einen 
Nagel  getreten;  er  bewickelte  sich  daher  den  Fufs.  Ein  Ge- 
fährte fragte  ihn  nach  dem  Grunde,  und  als  er  ihn  erfahren 
hatte,  sagte  er:  „Mit  Recht  heifsen  wir  Narren!  Wozu  auch 
barfufs  schlafen  gehen?!"1) 

17.  Einem  „Scholasticus"  schrieb  jemand,  der  verreiste,  er 
solle  ihm  Bücher  kaufen.     Der  kümmerte  sich  nicht  drum,   und 


!)  Hier  erinnern  wir  uns  an  Asphaiion  im  theokriteischen  und  sophro- 
nischen  Fischermimus,  der  den  Schwur,  den  er  im  Traume  geleistet  hat, 
gleichfalls  als  etwas  Wirkliches  und  Reales  behandelt;  vgl.  oben  S.  374folg. ; 
Träume  und  Traumdeuten  ist  ja  überhaupt  ein  gewöhnliches  Sujet  des  Mimus. 


Philistions  Philogelos.  461 

als  er  ihn  nach  seiner  Rückkehr  traf,  sagte  er  zu  ihm:  „Den 
Brief  betreffs  der  Bücher,  den  du  gesandt  hast,  habe  ich  nicht 
erhalten  ". 

18.  Einem  „Scholasticus"  begegnete  jemand  und  sagte  zu 
ihm:  „Der  Sklave,  den  du  mir  verkauft  hast,  ist  gestorben". 
Der  antwortete:  „Meiner  Treu,  solange  er  bei  mir  war.  hat  er 
so  etwas  nicht  gethan!" 

19.  Ein  „Scholasticus"  sah  viele  Spatzen  auf  einem  Baume 
sitzen.  Er  breitete  seine  Busenfalte  aus.  schüttelte  den  Baum 
und  wollte  die  Spatzen  auffangen. 

20.  Zwei  „  Scholastiker"  begleiteten  sich  nach  einem  Gast- 
mahl gegenseitig  nach  Hause,  um  sich  die  gebührende  Achtung 
zu  beweisen,  und  kamen  so  nicht  zum  Schlafen. 

22.  Ein  „Scholasticus*  traf  seinen  Freund  und  sagte  zu 
ihm:  „Ich  hörte,  du  seiest  tot!"  Auf  die  Antwort:  „Aber  ich 
lebe  noch,  wie  du  siehst!"  sagte  der  „Scholasticus":  „Und  doch 
war  der,  welcher  es  mir  erzählte,  viel  glaubwürdiger  als  du!" 

27.  Ein  „Scholasticus*  verabredete  mit  dem  Arzte,  er 
wolle  ihm  das  Honorar  nacli  der  Heilung  zahlen.  Als  er  nun 
im  Fieber  Wein  trank,  schalt  ihn  seine  Gattin.  Da  sagte  er: 
„Ach  so!  Ich  soll  wohl  gesund  werden  und  dem  Arzte  das  Honorar 
zahlen  müssen?!" 

29.  Von  einem  Zwillingspaar  starb  der  eine  Bruder.  Da 
kam  ein  „Scholasticus"  zu  dem  Überlebenden  und  sagte:  „Bist 
du  tot  oder  dein  Bruder?" 

30.  Bei  einem  Schiffbruch  verlangte  ein  „Scholasticus  - 
eine  Schreibtafel,  um  sein  Testament  aufzusetzen. 

32.  Ein  „Scholasticus-  war  zu  einem  Gastmahl  geladen, 
afs  aber  nicht.  Auf  die  Frage  eines  von  den  Gästen,  warum  er 
nicht  esse,  gab  er  die  Antwort:  „Es  sieht  sonst  so  aus,  als  wäre 
ich  blofs  des  Essens  wegen  hergekommen". 

33.  Der  Sohn  eines  „Scholasticus"  spielte  Ball.  Der  Ball 
fiel  in  den  Brunnen,  er  beugte  sich  vor,  sah  seinen  Schatten  (das 
Spiegelbild  im  Wasser)  und  forderte  von  dem  den  Ball.  Drauf 
klagte  er  seinem  Vater,  dafs  er  ihn  nicht  wiederbekommen 
habe.    Nun  beugte  sich  der  in  den  Brunnen,  sah  seinen  Schatten 


4-62  Sechstes  Kapitel. 

und  bat  ihn  um  den  Ball.  „Herr",  sagte  er,  „gieb  dem  Knaben 
den  Ball  wieder"  '). 

34.  Ein  „Scholasticus"  sah  einen  kranken  Freund  und 
befragte  ihn  über  die  Krankheit.  Als  der  keine  Antwort  gab, 
sagte  er  ärgerlich:  „Hoffentlich  werde  ich  auch  krank  werden, 
und  dann  werde  ich  dir  auch  keine  Antwort  geben".     - 

44.  Ein  „Scholasticus"  schlief  bei  seinem  Vater.  In  der 
Nacht  stand  er  auf  und  afs  Weintrauben,  die  oben  aufgehängt 
waren.  Sein  Vater  hatte  ein  Licht  unter  einem  Topfe  verborgen, 
und  als  er  aufstand,  liefs  er  es  plötzlich  leuchten.  Da  stellte 
der  sich  schlafend  und  schnarchte  im  Stehen. 

51.  Ein  „Scholasticus"  sah  auf  seinem  Landgute  einen 
tiefen  Brunnen  und  fragte,  ob  das  Wasser  gut  sei.  Als  die 
Landieute  erwiderten:  „Jawohl!  deine  Vorfahren  haben  draus 
getrunken",  sagte  er:  „Was  müssen  die  für  Hälse  gehabt  haben, 
dafs  sie  aus  solcher  Tiefe  trinken  konnten!" 

52.  Ein  „Scholasticus"  war  in  eine  Cisterne  gefallen  und 
schrie  fortwährend  um  Hilfe.  Da  aber  niemand  hörte,  sagte  er 
zu  sich  selbst:  „Ich  bin  doch  dumm,  dafs  ich  nicht  hingehe 
und  alle  durchpeitsche.  Dann  würden  sie  mir  doch  wohl  ge- 
horchen und  mir  eine  Leiter  bringen". 

57.  Einem  „Scholasticus"  hatte  eine  Magd  ein  Kind  ge- 
schenkt. Sein  Vater  riet  ihm,  es  zu  töten.  Da  sagte  er:  „Erst 
begrabe  du  deine  Kinder  und  dann  rate  mir,  meines  umzu- 
bringen". 

67.  Ein  „Scholasticus"  kam  aus  der  Fremde  zurück  und 
traf  seinen  Schwiegervater.  Der  fragte  ihn,  wie  sich  sein  Reise- 
gefährte befinde.    „Ganz  vortrefflich  geht's  ihm  jetzt",  sagte  er, 


*)  Ähnlich  sieht  Acco,  die  Närrin  im  alten  dorischen  Mimus,  ihr  Spiegel- 
bild für  eine  wirkliche  Person  an,  die  ,sie  anredet.  Vgl.  Idxxü :  inl  rwr 
[twnatvovTtov.  'H  yäg  llxxcu  ywr\  ytyovev  Inl  {i<o(>(ct  diaßtßorjfitvr),  r^v  ifaoiv 
£go7iTQi£o[i€v7}v  irj  stxövi  cog  h^gy  SiaXiyta&af  evd-ev  xal  rö  Axxi&o&ai  negl 
TavTTjv  Itkfy&ai  (Paroem.  gr.  ed.  Leutsch  u.  Schneidewin  I,  pag.  21,  wo  auch 
die  weiteren  Stellen  über  'Axxü  angeführt  sind.  Als  einen  Typus  aus  der 
dorischen  Komödie  hat  die  Acco  erwiesen  Zielinski.  Quaestiones  comicae 
S.  45  folg. 


Philistions  Philogelos.  463 

„und  er  ist  guter  Dinge;   er  hat  nämlich  seinen  Schwiegervater 
begraben  ■. 

76.  Ein  „  Scholasticus"  kam  ins  Sarapeum.  Da  gab  ihm 
der  Priester  einen  Zweig  und  sagte;  „Der  Herr  ist  dir  gnädig". 
Der  erwiderte:  „Der  Herr  mag  meinem  Ferkel  gnädig  sein;  ich 
bin  ein  freier  Mannu. 

77.  Ein  „Scholasticus*  hatte  seinen  Sohn  begraben.  Er 
traf  dessen  Lehrer  und  sagte  zu  ihm:  „Entschuldigen  Sie,  dafs 
mein  Sohn  nicht  zur  Schule  gekommen  ist;  er  ist  gestorben". 

80.  Ein  „Scholasticus*  machte  eine  Seereise.  Das  Schiff 
geriet  durch  einen-  Sturm  in  Gefahr.  Da  warfen  seine  Reise- 
gefährten von  ihrem  Gepäck  ins  Meer,  um  das  Fahrzeug  flott  zu 
machen,  und  forderten  ihn  auf,  dasselbe  zu  thun.  Der  hatte  eine 
Obligation  von  1  500  000  Drachmen,  wischte  die  500  000  weg  und 
sagte:  -Von  so  grofsen  Wogen  habe  ich  das  Schiff  befreit". 

81.  Ein  „Scholasticus"  sagte  auf  einem  Schiffe  zu  seinen 
Reisegefährten,  die  bei  eiiiem  Sturme  weinten:  „Warum  seid  ihr 
so  geizig?  ich  habe  zehn  Thaler  mehr  gegeben  und  fahre  auf 
Gefahr  des  Schiffsherrn". 

87.  Ein  „Scholasticus"  hatte  sich  zu  Hause  das  Zeug  eines 
Gladiators  (atxovToiQ)  umgethan  und  übte.  Da  meldete  ihm  jemand 
die  Ankunft  seines  Vaters.  Er  warf  den  Degen  weg  und  nahm 
die  Beinschienen  ab.  Sein  Vater  war  aber  schneller  bei  ihm,  als 
er  erwartet  hatte.  So  las  er  denn  in  einem  Buche,  den  Schutz- 
korb noch  vor  dem  Gesichte. 

96.  Von  zwei  feigen  „Scholastikern"  verbarg  sich  der 
eine  in  einem  Brunnen,  der  andere  im  Schilf.  Als  nun  die 
Soldaten  den  Helm  abnahmen,  um  Wasser  zu  schöpfen,  glaubte 
jener,  ein  Soldat  werde  herabsteigen;  er  bat  um  Pardon  und 
wurde  gefangen  genommen.  Als  die  Soldaten  meinten,  sie  wären 
an  ihm  vorbeigegangen,  wenn  er  geschwiegen  hätte,  sagte 
der  im  Schilf  verborgene:  „Geht  also  an  mir  vorbei:  ich 
schweige  ja". 

104.  Ein  Geizhals  machte  sein  Testament  und  setzte  sich 
selbst  zum  Erben  ein. 

139.    Ein  Arzt  aus  Sidon  hatte   von  seinem  Patienten   ein 


464  Sechstes  Kapitel. 

Legat  von  1000  Drachmen  nach  dessen  Tode  erhalten.  Beim 
Begräbnis  folgte  er  dem  Leichenzuge  und  schalt  darüber,  dafs 
er  ihm  ein  so  kleines  Legat  hinterlassen  hatte.  Als  nun  auch 
der  Sohn  des  Verstorbenen  von  einer  Krankheit  ergriffen  wurde 
und  ihn  rufen  liefs,  damit  er  ihn  untersuchte  und  die  Krankheit 
bekämpfte,  sagte  der  Arzt:  „Wenn  Sie  mir  5000  Drachmen  als 
Legat  hinterlassen,  werde  ich  Sie  kurieren,  wie  Ihren  Vater". 

140.  Ein  Witzbold  sah  einen  thörichten  Schulmeister 
docieren,  trat  zu  ihm  heran  und  fragte  ihn,  warum  er  keinen 
Unterricht  im  Zitherspielen  erteile.  Der  antwortete:  „Das  kann 
ich  nicht".  Da  sagte  er:  „Wie  kommt  es  denn,  dafs  Sie  in  den 
Wissenschaften  unterrichten,  ohne  es  zu  können?" 

142.  Ein  Witzbold  war  augenkrank.  Ein  diebischer  Arzt  lieh 
sich  Yon  ihm  einen  Leuchter  und  gab  ihn  nicht  wieder.  Eines 
Tages  nun  fragte  er  ihn:  „Wie  geht's  mit  Ihren  Augen?"  Da 
sagte  der  Witzbold:  „Seitdem  Sie  den  Leuchter  von  mir  geborgt 
haben,  sehe  ich  ihn  nicht*. 

149.  Ein  Witzbold  war  von  jemand  im  Bade  unverschämt 
behandelt  und  führte  als  Zeugen  die  Zugiefser  an.  Sein  Gegner 
verwarf  dieselben  als  unglaubwürdig.  Da  sagte  er:  „Wenn 
ich  im  trojanischen  Pferde  unverschämt  behandelt  worden  wäre, 
würde  ich  als  Zeugen  Menelaos,  Odysseus,  Diomedes  und  ihre 
Gefährten  anführen;  nun  ist  aber  die  Unverschämtheit  im  Bade 
passiert,  da  müssen  die  Zugiefser  den  Thatbestand  wohl  besser 
kennen". 

183.  Zu  einem  mürrischen  Arzte  kam  jemand  und  sagte: 
„Herr  Doctor,  ich  kann  weder  liegen  noch  stehen  noch  auch 
sitzen".  Da  sagte  der  Arzt:  „Dann  bleibt  Ihnen  nichts  übrig, 
als  sich  hängen  zu  lassen". 

185.  Ein  mürrischer  Arzt,  der  nur  ,ein  Auge  hatte,  fragte 
einen  Kranken:  „Wie  geht  es  Ihnen?"  Der  antwortete:  „Wie 
Sie  sehen".  Da  sagte  der  Arzt:  „Wenn  es  Ihnen  so  geht,  wie 
ich  sehe,  dann  sind  Sie  zur  Hälfte  tot". 

187.  Ein  mürrischer  Wahrsager  sollte  einem  kränklichen 
Kinde  die  Nativität  stellen;  er  erklärte,  dafs  es  der  Mutter  lange 
erhalten  bleiben  werde,  und  verlangte   sein  Honorar.     Die  ant- 


Philistions  Philogelos.  465 

wortete:  „Koramen  Sie  morgen,  dann  werde  ich  es  Ihnen  geben". 
Da  sagte  er:  „Wie  nun?  Wenn  das  Kind  in  der  Nacht  stirbt, 
soll  ich  dann  mein  Geld  verlieren?" 

190.  Ein  Murrkopf  spielte  Dambrett.  Ein  Müfsiggänger  safs 
dabei  und  redete  ihm  beständig  drein.  Der  ärgerte  sich  und 
fragte  ihn:  „Von  welcher  Zunft  sind  Sie  und  warum  gehen  Sie 
müfsig?"  Jener  antwortete:  „Ich  bin  Schneider,  habe  aber 
nichts  zu  thun".  Da  zerrifs  er  seinen  Rock,  gab  ihm  den  und 
sagte:  „Nehmen  Sie  ihn  und  arbeiten  Sie  und  halten  Sie  den 
Mund". 

191.  Einen  Murrkopf  fragte  jemand:  „Wo  wohnen  Sie?" 
Da  sagte  er:   „Dort,  woher  ich  komme!" 

201.  Zu  einem  närrischen  Seher  kam  jemand1)  und  fragte 
ihn,  wie  es  zu  Hause  stände.  Der  sagte:  „Alle  sind  gesund, 
auch  Ihr  Vater".  Als  der  nun  sagte:  „Mein  Vater  ist  schon 
seit  zehn  Jahren  tot",  antwortete  er:  „Sie  wissen  ja  gar  nicht, 
wer  in  Wahrheit  Ihr  Vater  ist". 

202.  Ein  närrischer  Astrolog  stellte  einem  Kinde  die 
Nativität  und  erklärte:  „Es  wird  Redner,  dann  Statthalter, 
dann  Imperator  werden".  Als  das  Kind  gestorben  war,  forderte 
seine  Mutter  das  Honorar  zurück  und  sagte:  „Der,  von  dem  Sie 
sagten,  er  werde  Redner,  Statthalter  und  Imperator  werden,  ist 
gestorben".  Da  antwortete  er:  „Bei  seinem  Andenken,  wenn  er 
am  Leben  geblieben  wäre,  wäre  er  wohl  alles  geworden". 

211.  Zwei  Faule  schliefen  zusammen.  Da  kam  ein  Dieb 
herein,  zog  ihnen  die  Decke  herunter  und  stahl  sie.  Der  eine 
merkte  es  und  sagte  zum  andern:  „Steh'  auf  und  ergreife 
den,  der  die  Decke  gestohlen  hat".  Der  antwortete:  „Lass' 
nur;  wenn  er  kommt  und  das  Kissen  nehmen  will,  werden  wir 
ihn  fassen,  wir  beide". 

213.  Ein  Fauler  hatte  seinesgleichen  einen  Denar  geliehen. 
Er   traf  ihn  und  forderte  den  Denar.     Da  sagte  der:  „Strecken 


!)  i£  anoärjuiag  inaviüv  ist  ein  ungeschickter  Zusatz;  er  kann  nur  iv 
unoö^uUt  den  Seher  befragen;  wenn  er  erst  zu  Hause  ist,  weüs  er  es  ja 
selber  am  besten. 

Reich,  Mimuc.  3Q 


466  Sechstes  Kapitel. 

Sie  Ihre  Hand  aus,  lösen  Sie  mein  Schnupftuch  und  nehmen  Sie 
den  Denar".  Da  sagte  der  andre:  „Gehen  Sie  weiter;  von  jetzt 
ab  sind  Sie  mir  nichts  mehr  schuldig". 

219.  Ein  Hungerleider  gab  einem  andern  seine  Tochter  zur 
Frau.  Als  er  gefragt  wurde,  was  er  ihr  als  Heiratsgut  mitgebe, 
antwortete  er:  „Ich  gebe  ihr  ein  Haus,  dessen  Thür  nach  der 
Bäckerei  führt". 

227.  Zu  einem  Trunkenbold,  der  in  der  Kneipe  trank,  trat 
jemand  und  sagte:  „Ihre  Frau  ist  gestorben".  Als  der  das  hörte, 
sagte  er  zum  Wirt:  „Herr,  mischen  Sie  mir  also  schwarzen  Wein". 

228.  Ein  Trunkenbold  wurde  von  jemand  gescholten,  weil 
er  vom  vielen  Trinken  den  Verstand  verloren  hätte.  Er  konnte 
infolge  des  Trunkes  nicht  mehr  gut  sehen  und  antwortete:  „Bin 
ich  betrunken  oder  Sie,  der  Sie  zwei  Köpfe  haben?" 

249.  Ein  Weiberfeind  hatte  ein  schwatzhaftes  und  zank- 
süchtiges Weib.  Als  sie  starb,  begrub  er  sie  auf  einem  Schilde. 
Das  sah  jemand  und  fragte  nach  dem  Grunde.  Da  antwortete 
er:  „Sie  war  streitbar!" 

256.  Ein  „Scholasticus- Schulmeister"  hörte  von  einem 
Schüler,  dafs  er  krank  sei,  am  andern  Tage,  dafs  er  Fieber 
habe,  und  später  von  dessen  Vater,  dafs  er  gestorben  sei.  Da 
sagte  er:  „So  macht  ihr  Ausflüchte  und  lafst  eure  Kinder  nichts 
lernen". 

263.  Ein  „Scholasticus"  hatte  Aminäerwein  und  versiegelte 
ihn.  Sein  Sklave  bohrte  ihn  unten  an  und  stahl  von  dem 
Wein.  Da  wunderte  er  sich,  dafs  die  Siegel  unverletzt  waren 
und  der  Wein  doch  weniger  geworden  war.  Ein  anderer  sagte: 
„Sieh  doch  nach,  ob  er  nicht  von  unten  weggenommen  ist". 
Drauf  antwortete  er:  „Dummkopf,  der  untere  Teil  fehlt  ja 
nicht,  sondern  der  obere". 

Man  sieht,  diese  Witze  sind  nicht  von  der  Sorte  der  geist- 
reichen, sie  sind  im  Gegenteil  urdumm  und  damit  zugleich  ur- 
drollig. Eberhard,  der  letzte  Herausgeber,  meint,  es  seien 
facetiae  vel  potius  ineptiae1);  allerdings  „mimicae  ineptiae".    Es 

')  a.  a.  0.  S.  58. 


Philistions  Philogelos.  467 

sind  die  dummen  Witze,  die  so  viel  verborgenen  Gehalt  haben, 
wie  sie  Laberius,  Syrus,  Philistion  und  nach  ihnen  hier  und  da 
auch  Shakespeare  liebt. 

Wir  haben  (S.  68)  schon  den  dummen  Witz  aus  dem  Mimus 
angeführt:  „solang  er  sich  im  Bade  aufhielt,  starb  er  nie";  so 
sagt  der  philistionische  Dümmling,  als  er  hört,  dafs  sein  ver- 
kaufter Sklave  gestorben  ist:  „Bei  mir  hat  er  so  etwas  nie  ge- 
than*.  Wie  dumm  diese  Auffassung  und  doch  wie  tief;  welche 
Schlechtigkeit  auch  von  diesem  niederträchtigen  Sklaven,  auf 
einmal  zu  sterben  und  so  alle  Erwartungen,  die  man  mit  allem 
moralischen  Recht  auf  ihn  setzt  —  hat  man  ihn  doch  gekauft  — , 
zu  täuschen.  Als  jemand  in  einem  Mimus  (vgl.  oben  S.  68)  dem 
stupidus  seine  Frau  vorstellt,  macht  der  ihm  die  seltsame  Eloge, 
sie  sei  „sein  Ebenbild*.  Als  ob  nicht  Eltern  und  Kinder,  sondern 
Mann  und  Frau  sich  ähnlich  sehen  müfsten.  Ebenso  werden  im 
Philogelos  mit  der  Ähnlichkeit  die  lustigsten  mimicae  ineptiae 
getrieben  (vgl.  Nr.  30.  Nr.  101).  Wenn  im  Philogelos  auf  die  Frage: 
wo  wohnst  du?  geantwortet  wird:  dort,  woher  ich  komme;  so 
beantwortet  bei  Pomponius  (43.  44.  R.)  ein  zudringlicher  Neu- 
gieriger die  Aufforderung,  er  solle  bei  Seite  treten,  mit  der 
naiven  Frage:  wie  weit? 

Viele  von  diesen  Schnurren  kann  man  nur  verstehen,  wenn 
man  sie  sich  mit  mimischer  Aktion  auf  dem  Theater  vorgeführt 
denkt.  Ich  erinnere  an  den  Scholasticus  mit  dem  Ziegelstein. 
Man  denke  sich  auch  die  Schnurre:  der  Scholasticus  breitet 
seine  Busenfalte  aus  und  wird  die  Sperlinge  vom  Baum  her- 
unter in  seinen  Busen  schütteln;  es  ist  der  reine  Blödsinn; 
denken  wir  aber  einmal  an  die  mimischen  Lazzi  und  an  das 
oben  besprochene  Fliegenfangen  der  stupidi,  gleich  begreift  man 
das  Lustige  dieses  mimischen  Auftritts.  In  einem  mimischen 
Intermezzo  thut  der  papo?,  als  ob  Sperlinge  auf  einem  Baume 
säfsen;  man  sieht,  er  breitet  seine  Busenfalte  aus,  um  die  herab- 
fallenden Spatzen  darin  aufzufangen,  und  nun  plötzlich  fängt  er 
an,  den  Baum  zu  rütteln;  offenbar  erwartet  er,  die  Spatzen 
sollen  nun  in  sein  Tuch  herunterfallen;  er  schüttelt  verwundert 
sein  Narrenhaupt,    dafs    dies    nicht  der  Fall  ist,    und  blickt  er- 

30* 


468  Sechstes  Kapitel. 

staunt  in  das  Publikum,  das  sich  im  „risus  mimicus"  über  den 
stupidus  ausschüttet.  Warum  sollte  Philistion  diesen  etwas 
albernen  Witz  nicht  in  den  Philogelos  aufnehmen;  hatte  doch 
Phaedrus  mimische  Lazzi  wie  das  Fliegenfangen,  die  damals  das 
Entzücken  des  Publikums  bildeten,  gar  in  seine  Fabeln  auf- 
genommen. Wenn  der  Narr,  um  zu  sehen,  ob  er  im  Schlafe  gut 
aussieht,  sich  vor  den  Spiegel  stellt  und  die  Augen  schliefst,  so 
gehört  das  wohl  auch  zu  den  Lazzi  der  (jbcoqoi  und  moriones. 

Vor  allem  sind  diese  Schnurren  meistens  Situationswitze. 
Sie  sind  eben  zum  grofsen  Teil  den  Scenen  des  Mimus  ent- 
nommen. Ich  erinnere  an  den  Scholasticus,  der  sich  in  der 
Rüstung  des  Fechters  einpaukt;  sein  Vater  aber  will  als  strenger 
Herr,  wie  es  die  Väter  in  der  Komödie  und  im  Mimus  sind,  von 
solchem  Unsinn  nichts  wissen.  Da  hört  der  Sohn  ihn  plötzlich 
kommen;  nun  rasch  herunter  mit  dem  ganzen  Ausputz;  aber 
der  Alte  ist  doch  zu  schnell,  und  nun  steht  der  Sohn  mit  dem 
grofsen  Fechterkorb  vorm  Gesicht  da  und  studiert  eifrig  in 
einem  Buche.  Das  ist  eine  Bühnenscene.  Ich  verweise  auch 
auf  den  Bucco  auctoratus  des  Pomponius. 

Ganz  wie  im  Mimus  werden  im  Philogelos  Gelage  und  Hoch- 
zeiten, selbst  Kindtaufe  und  Begräbnis  gefeiert,  es  kommen  Be- 
trügereien und  Diebstähle,  Kabalen  und  Ränke  vor;  selbst  Schiff- 
brüche fehlen  nicht  (mimicum  naufragium).  Es  sind  die  gewohnten 
Scenen  des  ßiog,  die  der  Mime,  der  Biologe,  vorführt.  Auch  die 
Typen,  die  da  auftreten,  entsprechen  ganz  den  mimischen.  Da  sind 
besonders  Ärzte,  alberne,  betrügerische,  diebische,  mürrische,  ganz 
wie  im  Mimus,  der  seit  dem  lakonischen  Mimus,  dem  Dikelon, 
den  Arzt  unter  seine  typischen  Figuren  zählt,  Wahrsager,  Schul- 
meister, Schiffer,  Bettler,  Sklaven,  Diebe,  Kuppler,  Kneipwirte, 
Trinker,  die  sich  ebenso  alle  im  MimuS'  ünden.  Es  sind  die 
lustigen  Typen  der  mimischen  Biologie,  die  hier  mit  ihrer 
realistischen  Lebenswahrheit,  ihrer  bodenlosen  Narrheit  und 
seltsamen  Drolerie  an  uns  vorüberziehen.  Diese  pedantischen 
Schulmeister,  die  da  lehren,  was  sie  selber  nicht  verstehen,  und 
die  es  doch  für  das  gröfste  Unglück  ansehen,  wenn  ein  Junge 
mal  eine  Schulstunde  versäumt,  und  durchaus  den  Entschuldigungs- 


Philistions  Philogelos.  469 

zettel  verlangen,  denen  nicht  Krankheit,  kaum  einmal  der  Tod 
als  rechter  Entschuldigungsgrund  gilt,  die  überall  böswilliges 
Schulschwänzen  wittern  in  richtiger  Erkenntnis  der  sehr  geringen 
Anziehungskraft,  die  sie  ausüben;  diese  Wahrsager,  die  den 
Leuten  gerne  ein  äufserst  günstiges  Prognostikon  für  die  Zukunft 
stellen,  damit  sie  in  ihrer  Freude  ordentlich  in  den  Geldsack 
greifen,  die  dem  Neugeborenen  die  glänzendste  Karriere  pro- 
phezeien und  dann  schnell  ihr  Geld  verlangen,  damit  das  Kind 
nicht  etwa  schon  am  nächsten  Tage  tot  ist  und  sie  ums  Honorar 
kommen,  die  nie  um  eine  Ausrede  verlegen  sind,  wenn  alles 
anders  kommt,  als  sie  prophezeit  haben;  diese  Ärzte,  die  gierig 
ein  möglichst  hohes  Honorar  herausschlagen  wollen  und  sich 
sonst  wenig  um  das  Ergehen  ihrer  Patienten  kümmern,  die 
ihre  Kranken  mürrisch  und  grob  behandeln  und  gelegentlich 
auch  bei  ihren  Krankenbesuchen  irgend  einen  kostbaren  Gegen- 
stand auf  Nimmerwiedergeben  „borgen4*.  Da  sieht  man 
auch  den  ängstlichen  Patienten,  der  sich  versteckt,  wie  er  den 
Arzt  auf  der  Strafse  kommen  sieht,  weil  er  so  lange  nicht 
krank  war  und  ihm  nichts  zu  verdienen  gegeben  hat;  und  der 
Dümmling  will  überhaupt  nicht  gesund  werden,  damit  er  dem 
Arzt  nicht  das  unerschwingliche  Honorar  zu  zahlen  braucht,  das 
er  ihm  für  den  Fall  der  Genesung  versprechen  mufste.  Das 
sind  die  Farben,  mit  denen  der  Mimus  seine  Ärztetypen  malte. 
Ich  erinnere  an  die  „Mania  medica1'  des  Novius,  an  den  „medicus" 
des  Pomponius1). 

Vor  allem  aber  ist  der  [uoqoq  im  Philogelos  ein  spezifisch- 
mimischer   Typus,    haben  wir   doch   unter   diesen   [iioQoi  schon 


*)  Wenn  Martial  so  unablässig  auf  die  Ärzte  loszieht,  so  hat  er  hier 
wie  so  häufig  seinen  Pinsel  in  den  mimischen  Farbentopf  getaucht;  •wenn  er 
besonders  gern  auch  Leute,  die  aus  dem  Munde  oder  sonstwie  übel  riechen, 
verspottet,  so  scheint  das  gleichfalls,  wie  der  Philogelos  lehrt,  aus  dem  Mimos 
zu  stammen.  Bei  Martial  (III,  17)  bläst  jemand  in  eine  Pastete,  um  sie 
abzukühlen,  hinein  und  macht  sie  zu  —  Mist.  In  dem  Philogelos  bläst 
der  Papa,  der  oSöotojios  ist,  in  den  Brei  des  Kindes,  und  dieses  bedankt  sich 
dafür  mit  dem  Worte:  äua  xuxü,  wo  xaxu  durchaus  nicht  blofs  „schlecht* 
bedeutet  (Nr.  236). 


470  Sechstes  Kapitel. 

den  echt  -  mimischen  ^cogog  (faXaxgog  angetroffen.  Die  bur- 
lesken Typen  des  Mimus  und  seine  wichtigsten  Darsteller 
zerfallen  in  zwei  Gattungen,  den  irrisor  und  den  stupidus;  dem 
ersten  entspricht  etwa  der  srnganslog  und  dem  zweiten  der 
liwQÖg.  In  unserm  Büchlein  bildet  der  evigccneXog  nur  einen 
Abschnitt,  während  alle  andern  Charaktere  die  verschiedenen 
Spielarten  des  peoQos,  des  Albernen  sind.  Die  Kymäer,  die  Sidonier 
und  die  Abderiten,  die  Prahler,  die  Geizigen,  die  Trunkenbolde, 
die  Neidischen,  die  Feigen,  die  Faulen,  die  Mürrischen1),  alles 
sind  Narren.  Und  dafs  gerade  die  Narren  bevorzugt  sind,  ist 
verständlich  genug;  denn  von  ihnen  vornehmlich  gehen  die  mimi- 
schen „ineptiae"  und  die  mimischen  Lazzi  aus. 

Ein  Narr  besonderer  Art  ist  nun  der  „Scholasticus";  diesen 
Typus  wollen  wir  ein  wenig  näher  beleuchten;  denn  die  „ineptiae" 
des  Scholasticus  machen  den  gröfsten  Teil  des  Philogelos  aus. 
Nirgends  wird  uns  der  Begriff  des  Scholasticus  so  deutlich  wie 
in  Lukians  Dialog  Hermotimus.  Dieser  gute  Hermotimus  hat  noch 
in  den  Vierzigern  angefangen,  Philosophie  zu  treiben,  und  drückt 
nun  schon  20  Jahre  die  Kollegbänke.  Er  hat  keine  Zeit,  weiter 
mit  Lukian,  der  ihn  in  ein  Gespräch  verwickelt,  zu  disputieren, 
sonst  könnte  er  am  Ende  noch  gar  das  Kolleg  versäumen.  Trotz 
allen  Ernstes  und  Eifers  studiert  er  niemals  aus.  Doch  hofft 
der  Sechziger,  wenn  er  noch  20  Jahre  weiter  strebt,  werde  er 
die  Höhen  der  stoischen  Philosophie  erklommen  haben  und  dann 
allein  weise,  allein  reich,  allein  glücklich,  allein  Herr  und  König  sein. 
Im  übrigen  ist  er  bei  aller  Schulgelehrsamkeit  von  grofser  Naivetät 
der  Auffassung.  Als  er  zum  Beispiel  hört,  sein  Professor  habe 
in  der  Hitze  des  Disputierens  dem  Peripatetiker  Euthydemus  ein 
Loch  in  den  Kopf  geschlagen,  triumphiert  er  über  den  Sieg.    Er 


')  Ausdrücklich  betont  Cicero  (vgl.  oben  S.  66),  „das  Mürrische,  Aber- 
gläubische, Argwöhnische,  Prahlerische,  Alberne  sei  Gegenstand  der  Dar- 
stellung des  Sannio  und  des  mimischen  Lachens.  Das  Mürrische  kenn- 
zeichnet dann  Cicero  mit  einem  Witze  aus  einer  Atellane  desNovius:  „Was 
weinst  du,  Vater?"  —  „Soll  ich  etwa  singen,  wenn  ich  verurteilt  bin?"  Das 
stimmt  gut  zu  den  Aussprüchen  des  Mürrischen  im  Philogelos.  Bekannt 
ist  der  Mimus  des  Syrus  „Mumurco",  der  Murrkopf,  der  Brummpeter. 


Philistions  Philogelos.  471 

ist  wirklich  ein  „Scholasticus",  wie  er  im  Buche  steht.  Doch  ist 
er  von  Vater  und  Mutter  her  ein  vermögender  Mann,  der  es 
nicht  nötig  hat,  für  seinen  Lebensunterhalt  zu  sorgen,  und  der 
bequem  das  teure  Kolleggeld  bezahlen  kann. 

Ganz  in  diesem  Stile  ist  der  Scholasticus  des  Philogelos; 
es  ist  der  gelehrte  Narr,  ob  er  nun  alt  oder  jung  ist.  Wie 
Hermotimus  ist  er  meist  recht  wohlhabend;  er  kauft  oder  ver- 
kauft ein  Haus  (14.  41.  85.  156),  er  besitzt  ein  Landgut  (46. 
47.  51.  60.  108.  131.210),  hat  grofse  Viehherden  (108)  und  zahl- 
reiche Sklaven  (18.  108),  leiht  Geld  auf  Zinsen  (50. 161).  Er  ärgert 
sich,  dafs  sein  reicher,  alter  Vater  nicht  stirbt  und  er  ihn  nicht 
beerben  kann  (13.  152).  Seltener  treibt  der  Scholasticus  ein 
gelehrtes  Gewerbe,  er  ist  Rhetor  und  Rechtsanwalt  (54.  129.), 
Arzt  (3.  139.  142.  143.  175.  176.  177.  182.  183.  184.  185.  186. 
189.  222.  260.)  oder  Schulmeister  (61.  77.  140.  196.  197.  255. 
256.),  aber  immer  ist  er  der  gleiche  ficagög,  der  sich  in  die 
Verhältnisse  des  praktischen  Lebens  durchaus  nicht  zu  finden 
weifs  und  überall  verlacht  und  genarrt  wird.  Kurz  und  gut, 
dieser  Scholasticus  ist  der  Dottore  der  italienischen  Commedia 
dell'  arte.  Wir  haben  auch  schon  gesehen,  dafs  der  gelehrte 
Mann  wie  besonders  die  Philosophen  schon  Jahrhunderte  vor 
Philistion  zu  den  mimischen  Typen  gehörten.  Ich  erinnere  nur 
an  den  Dossennus  der  Atellane.  Aber  mit  dem  Scholasticus  hat 
Philistion  die  klassische  Dottore-Figur  der  Antike  geschaffen. 

Der  Scholasticus  ist  gewifs  nicht  weniger  genial  erfunden 
wie  der  Ardalio.  Diese  Dottores,  die  wie  Hermotimus  weiter 
keine  Beschäftigung  hatten,  die  von  ihrem  Vermögen  und  dem 
ihrer  Familie  als  nutzlose  Drohnen  zehrten,  die  jahraus,  jahr- 
ein an  den  verschiedenen  Universitäten  bis  ins  hohe  Alter  hin- 
ein studierten  und  dabei  als  gelehrte  Herren  auf  die  öffent- 
liche Achtung  grofsen  Anspruch  hatten,  wenn  man  sie  auch  für 
ein  wenig  verrückt  hielt,  haben  damals  wohl  Land  und  Meer 
erfüllt  und  sich  nicht  selten  höchst  lästig  gemacht.  Da  brachte 
sie  Philistion,  der  Biologe,  auf  die  Bühne.  Seitdem  hat  der 
Dottore  zu  den  wichtigsten,  mimischen  Typen  gehört,  und  selbst 
der  Scholasticus  der  türkischen  Burleske,  der  Eflfendi  Hadschievad, 


472  Sechstes  Kapitel. 

der  Gegenspieler  des  Karagöz,  ist,  wie  wir  noch  zeigen  werden, 
ein  Nachkomme  des  philistionischen  Dottore. 

Sehr  eigentümlich  ist  die  Sprache  des  Philogelos;  wieder- 
holt betonen  die  Herausgeber,  wie  sich  auf  Schritt  und  Tritt 
Reminiscenzen  an  die  Volkssprache  finden 2).  Das  wäre  bei  einem 
Büchlein,  das  auf  zwei  gelehrte  Grammatiker  zurückgeht,  uner- 
klärlich, wenn  wir  nicht  wüfsten,  dafs  es  mit  dem  Mimus,  der  ja 
vornehmlich  die  Volkssprache  kultiviert  (vgl.  oben  S.  394 — 396),  zu- 
sammenhängt, und  zwar  nicht  mit  dem  griechischen  Mimus  im  all- 
gemeinen, sondern  mit  dem  griechischen  Mimus  Philistions,  der  in 
Rom  aufgeführt  wurde.  Um  so  interessanter  ist  es  nun,  im  Philogelos 
eine  grofse  Zahl  lateinischer  Wörter  und  Latinismen  zu  finden *). 
Philistion  hat  wohl  damit  dem  römischen  Publikum  seine  Stücke 
ein  wenig  näher  bringen  wollen,  zugleich  aber  hat  wohl  wirklich 
die  Sprache  der  Griechen  in  Rom  lateinische  Brocken  angenommen. 
Wir  finden  ja  auch  in  dem  sizilischen  Mimus  Sophrons  hier  und 
da  Wörter  lateinischen  Sprachstammes  eingesprengt. 

So  verdeutlicht  uns  der  Philogelos  ein  wenig  die  burleske 
Kraft  der  Mimen  „ridiculi  Philistionis" ;  gewifs,  sie  waren,  wenn 
man  an  die  überlustigen  Scenen  denkt,  die  der  Philogelos  an- 
deutet, zum  Totlachen,  und  Philistion  ist  ja  auch  nach  der  Sage 
am  Lachen  gestorben.  Freilich  sind  sie  meistens  urdumm,  diese 
Witze.  Aber  gerade  in  ihrer  scheinbaren  Thorheit  und  Narrheit 
machen  sie  das  Närrische  und  Thörichte  der  meisten  mensch- 
lichen Verhältnisse  aufs  deutlichste  offenbar.  Lustig  lärmend  und 
lachend  schwingt  hier  der  mimisch-biologische  Humor  die  klin- 
gelnde Narrenkappe  über  dem  menschlichen  ßioq. 

Wir  können  hier  nur  im  allgemeinen  auf  die  Beziehungen 


i)  Vgl.  Eberhard  a.  a.  0.  S.  62. 

a)  Ich  führe  hier  einige  auf:  fiiXiov  42.  60.  131.  132.,  6r]vdgiov  86 
124.  198.  213.  224.  225.,  axäXa  194.,  xsvtovqCwv  138.  Dazu  die  viel  selteneren 
osxovtwq  87.,  aravXog  lQ.,-(pißXaTWQiov  106.,  xoqtivcc  162.,  acc.  ßovXßüv  103.,  to 
Xlyaxov  139.,  oyjixevovres  154.,  raßXi&iv  190.,  ßiyiXtvaac  statt  dyQV7ivrjaai  56., 
ßgdxas  64.,  lov7ir)s  257.  (Herodian.  Epim.  p.  46  Ixxlvog,  -'Xovnrji),  aäyov  211. 
So  wird  auch  Korn  genannt  62.,  'Pwfiaios  138.,  und  selbst  das  Grabmal  der 
Scribonia  {Zx^ßcovCas  tivrifxa  73). 


Philistians  Philogelos.  473 

des  Philogelos  zum  philistionischen  Mimus  aufmerksam  machen. 
Im  einzelnen  ist  es  vorläufig  noch  nicht  möglich,  das  philistio- 
nische  Gut  von  den  späteren  Zusätzen  zu  scheiden1).  Dazu 
bedarf  es  einer  kritischen  Ausgabe  des  Philogelos,  welche 
die  Überlieferung  auf  eine  genügend  sichere,  handschriftliche 
Basis  stellt2). 

Im  Mittelalter  hat  der  Philogelos,  den  man  heute  als 
niederes  Witz-  und  Schnurrenbuch  im  grofsen  und  ganzen  mit 
Verachtung  straft,  eine  grofse  Wirkung  ausgeübt,  eine  gröfsere, 
als  manches  unaufhörlich  edierte  und  mit  allem  gelehrten  Fleifs 
erläuterte  Buch  klassischer  Kunst.  Damals  rechnete  man  eben 
die  Witz-  und  Schnurrenbücher  nicht  in  dem  Mafse  zur  niederen 
Litteratur,  wie  man  es  heute  thut,  und  namhafte  Schriftsteller 
verfafsten  sogenannte  Facetienbücher,  so  Poggio,  Filelfo  und 
der  deutsche  Humanist  Bebel.  Ich  erinnere  auch  an  Jörg 
Wickrams  Rollwagenbüchlein,  an  die  mancherlei  Erzählungen 
von  den  Schildbürgern  und  Laienbürgern,  an  den  Pfaffen  von 
Kahlenberg  und  den  Eulenspiegel.  Diese  Witzbücher  gehen 
vielfältig  auf  die  älteste,  erhaltene  Schnurrensaramlung  der  Welt, 
auf   den  Philogelos   zurück.    Richard  Porson  hatte  die  Absicht, 


*)  Natürlich  wird  es  auch  schon  vor  Philistion  „Facetienbüchlein"  ge- 
geben haben  und  auch  daraus  mancherlei  in  den  Philogelos  geflossen  sein: 
aber  wer  kann  das  heute  scheiden. 

2)  Die  letzte  Ausgabe  von  Eberhard  hat  noch  als  eine  Grundlage: 
apographum  Parisinum  codicis  nescio  cuius  (sie!!)  a  Minoide-Mina  factum; 
(vgl.  a.  a.  0.  S.  6).  Vor  allem  aber  bedarf  dieses  Büchlein  auch  eines 
Kommentars,  den  weder  Boissonade  noch  Corais  und  Eberhard  leisten 
konnten,  da  sie  nichts  von  der  Ursprungsgeschichte  dieses  Büchleins  und 
seiner  historischen  Stellung  und  vor  allem  nichts  vom  Mimus  und  von 
Philistion  wufsten.  Darum  hat  man  diese  Schnurren  auch  bisher  mit 
gelehrter  Pedanterie  mifsachtet,  und  Eberhard  fühlt  sich  verpflichtet, 
seinen  Kommentar  mit  den  Worten  zu  schliefsen:  Sed  iam  nimis  puto  hü 
nugis  indulsimus  lectorum  abusi  patientia  (a.  a.  0.  76).  Und  doch  ist  dieser 
Philogelos  für  die  Erkenntuis  der  Entwickelung  der  komischen  Poesie  in 
Hellas  annähernd  so  wichtig  wie  das  weltberühmte  Charakterenbüchlein  Theo- 
phrasts,  dem  er  in  der  Anordnung  nach  Charakteren  ähnelt,  und  das  ja 
gleichfalls  die  nächsten  Beziehungen  zum  Mimus  hat. 


474  Sechstes  Kapitel. 

diesen  Einflufs  des  Philogelos  im  einzelnen  nachzuweisen1).  An 
dieser  Stelle  ist  das  nun  unsere  Aufgabe  nicht;  aber  wir  sehen 
doch,  wie  der  Mimus  als  Urquell  des  Philogelos  hier  wieder  eine 
ganze,  grofse  Litteraturgattung  energisch  beeinflufst  hat,  und 
auch  so  wird  uns  Philistions  Bedeutung  wieder  bemerkbar. 

Ich  freue  mich,  dafür  noch  einen  neuen  Beleg,  auf  den 
ich  bei  fortgesetztem  Suchen  in  zwölfter  Stunde  stofse,  hier 
einschalten  zu  können.  Marius  Mercator,  ein  Freund  und  An- 
hänger des  heiligen  Augustin  und  rüstiger  Kämpfer  in  dem 
pelagianischen  Streite  fährt  in  seinem  Commonitorium  adversum 
haeresim  Pelagii  et  Caelestii  vel  etiam  scripta  Juliani3)  ingrimmig 
auf  den  Bischof  Julianus  von  Eclanum,  einen  eifrigen  Pelagianer, 
los,  der  sich  allerhand  Späfse  und  beifsende  Spöttereien  über 
das  Dogma  von  der  Erbsünde  erlaubt  hatte.  Mercator  fordert 
Julian  auf,  deswegen  zu  erröten;  das  wäre  eine  „obseönitas",  wie 
sie  in  den  Mimus  gehöre.  Ja,  das  verdiene  den  Applaus  der 
Menge:  „Du  allein  bist  der  einzige  Philistion,  und  unter  den 
Lateinern3)  ist  dir  allein  Lentulus  und  Marullus  zu  vergleichen4); 
denn  des  Petron  und  Martial  Genie  hast  du  allein  überflügelt." 
Wenn  also  später  ein  Mimus  den  besondern  Beifall  des  Volkes 
fand,  scheinen  sich  in  den  Applaus  Akklamationen,  wie  „unus 
Philistion"  gemischt  zu  haben.  Der  Vergleich  mit  Philistion 
war  offenbar  die  höchste  Ehre,  die  später  einem  Dramatiker 
zu  teil  werden  konnte.  So  spricht  Sidonius  Apollinaris  von 
Mimen,  die  gerne  für  Nachfahren  Philistions  gelten  möchten, 
aber  dessen  nicht  würdig  sind5).  „Welch  ein  Mime,  fährt  dann 
Mercator  fort,  welcher  Sannio  möchte  so  etwas  öffentlich  vor- 
bringen?    Höchst   elegant   sind   solche   Witze,    wie   ein   Mime 


»)  Vgl.  Eberhard  a.  a.  0.  S.  60. 

2)  Aus  dem  Jahre  431  oder  432;   vgl.  Bardenhewer,  Patrologie  S.  480. 

3)  Man   sieht  also,   dafs  auch  Mercator  sich  deutlich  bewußt  ist,   dafs 
Philistion  ein  Grieche  ist. 

4)  Die  beiden  berühmtesten  lateinischen  Mimographen  in  der  Zeit  nach 
Laberius  und  Syrus. 

5)  Vgl.  oben  S.  433. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  475 

sprichst  du  Dach  deiner  gewohnten  Art,  und  nach  der  mimischen 
Manier  des  Arbiter  (Petronius)  und  des  Valerius  (Martialis)"1). 
Wie  viel  Martial  der  mimischen  Biologie  verdankt,  haben  wir 
schon  angedeutet,  und  wie  viel  Petron  von  ihr  entlehnt,  werden 
wir  noch  im  zweiten  Bande  zeigen.  Philistion  galt  also  mehr  als 
beide,  und  beide  hatten  gerade  in  den  späteren  Jahrhunderten 
besondere  Geltung.  Für  Mercator  gehören  natürlich  die  Heiden 
Philistion,  Petron  und  Martial  in  die  Verdammnis  ebenso  wie 
der  pelagianische  Bischof. 

VH. 

Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.     Grundzüge  ihrer  Ent- 
wickeiung  von  Uranfang  an. 

Es  ist  kaum  nötig,  den  Klassiker  des  griechischen  Mimus, 
den  man  seltsamer  Weise  gar  zum  Lateiner  gemacht  hat,  vor 
der  Meinung  zu  schützen,  er  wäre  ein  Nachahmer  des  Laberius 
und  Syrus.  Philistion  ist  der  Kulminationspunkt  der  kon- 
sequenten, selbständigen,  mimischen  Entwickelung  bei  den  Hellenen. 
Um  das  völlig  zu  begreifen,  müssen  wir  die  Entwickelung  des 
hellenischen  Mimus,  bis  er  zur  Hypothese,  zum  grofsen,  mimi- 
schen Drama  wird,  in  ihren  Hauptzügen  überschauen. 


l)  Ich  setze  die  Stelle  aus  der  editio  Stephani  Baluzii,  Parisiis  1684, 
S.  9—11,  hierher:  m£rubesce,  infelicissime,  in  tanla  linguae  scurrüis  vel  potius 
mimicae  obscoenitate.  Vulgares  tu  dignus  audirt  acclamationes :  Unus  tu,  unus 
Fhilistion,  unus  Latinorum  Lentulus,  unus  tibi  Marullus  comparandus,  namque 
Martialis  et  Petronii  solus  ingenia  superasti  ....  atque  utinam,  quia  hoc  tibi  fuisset 
utihus,  vitalem  spiritum  exhalasses,  antequam  tarn  obscoena  tamque  pleno  dedecoris 
pleno  ore  proferres.  Quis  scenicus  turpio,  quis  durio,  vel  sannio  professae  licentia 
turpitudinis  publice  isla  proferret  ?  .  .  .  Eleganter  scurra  loqueris  more  tuo,  et  more 
quo  theatrum  Arbitri  Yaleriique  detristi".  Bei  theatrum  denkt  man  in  des  Marius 
Mercator  Zeit  vornehmlich  an  Mimus  und  Pantomimus. 

Damit  fügen  wir  zu  den  elf  oben  (S.  427  folg.)  angeführten,  neuen  Beleg- 
stellen für  Philistion  die  zwölfte.  Zugleich  gewinnen  wir  damit  ein  neues, 
bemerkenswertes  Zeugnis  für  den  Sannio,  die  lustige  Figur  im  lateinischen 
Mimus.  Noch  im  fünften  Jahrhundert  nach  Christus  ergötzte  also  Sannio 
das  Volk  wie  zu  Ciceros  Zeit.  Auch  für  Petron  waren  bisher  für  die  ältere 
Zeit  nur  die  drei  Belegstellen  aus  Tacitus,  Macrobius  und  Lydus  bekannt 
(bei  Bücheier3,  S.  3  u.  4).    Hier  haben  wir  nun  eine  vierte. 


476  Sechstes  Kapitel. 

Wenn  wir  vom  Ursprung  des  dramatischen  Mimus,  der 
sich  zur  Hypothese  entwickelt,  handeln,  müssen  wir  uns  mit 
einem  Sprunge  in  die  prähistorischen  Zeiten  des  hellenischen 
Volkes  hineinbegeben.  Der  sizilisch-italische  Mimus  stammt  aus 
dem  Peloponnes1).  Die  dorischen  Kolonisten  nahmen  ihn  schon 
bei  der  Auswanderung  mit  in  ihre  neue  Heimat.  Besonders 
blühte  der  Mimus  im  sizilischen  Megara,  wo  Epicharm  zuerst, 
dann  in  Syrakus,  wo  er  später  lebte  und  nach  ihm  Sophron.  Beide 
Städte  sind  etwa  am  Anfang  des  achten  Jahrhunderts  gegründet 
worden,  ebenso  Tarent,  das  gleichfalls  eine  Pflegestätte  des  itali- 
schen Mimus,  des  Phlyax,  war.  Also  am  Anfang  des  achten  Jahr- 
hunderts giebt  es  schon  eine  Art  dramatischen  Mimus  in  den 
sizilisch-italischen  Kolonien  der  Dorier;  wie  viele  Jahrhunderte 
vorher  mag  er  da  schon  im  Mutterlande  existiert  haben ! 2)  Der 
Mimus  hat  mit  seiner  Entwickelung  die  ganze,  antike,  historische 
Zeit,  auf  deren  Schwelle  er  uns  entgegentritt,  erfüllt;  so  werden 
seine  frühesten  Manifestationen  sicher  in  noch  viel  frühere,  prä- 
historische Zeiträume  hinabreichen.  Über  diese  dunkeln  Fluten 
trägt  uns  die  Ethnologie  und  die  vergleichende  Völkerpsychologie 
mit  starken  Armen  an  den  Ursprung  des  Mimus  und  der  mimi- 
schen Poesie.  Sie  belehrt  uns  über  den  dramatischen,  mimischen 
Tanz,  welcher  der  Ursprung  des  Mimus  war. 

Bei  allen  Primitiven  ist  der  Tanz  ganz  anders  als  bei  den 
Modernen  das  wichtigste  Mittel  ästhetischer  Lebensäufserungen. 
Wenn  der  Primitive  sich  zur  Schlacht  rüstet,  tanzt  er,  wenn  er 
ein  Tier  erlegt,  führt  er  einen  Tanz  um  seine  Beute  auf,  wenn 
er  seine  Götter  ehren,  seine  Toten  betrauern  will,  immer  tanzt 
er.  Jedes  tiefe  Gefühl,  Trauer  und  Freude,  Hafs  und  Liebe, 
Ehrfurcht  und  Verachtung  bewegt  ihn  zum  Tanze,  ihm  giebt  er 
sich  mit  der  gröfsten  Ausdauer,  mit  der  gröfsten  Leidenschaft- 
lichkeit,   mit  dem  höchsten  Genüsse   hin,    und  ein  solcher  Tanz 


')  Darauf  hat  schon  Otfried  Müller,  Dorier  2.  Abteilung,  S.  352  und 
S.  362  hingewiesen. 

2)  Vgl.  hier  besonders  auch  die  Ausführungen  Erich  Bethes  (Pro- 
legomena  S.  60  und  61),  der  gleichfalls  das  hohe  Alter  des  burlesken 
Dramas  betont. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  477 

hat  auf  ihn  dann  etwa  dieselbe  ästhetische,  kathartische  Wirkung 
wie  auf  uns  ein  ergreifendes  Gedicht  Der  Tanz  ist  -der  un- 
mittelbarste, vollkommenste  und  wirkungsmächtigste  Ausdruck 
der  primitiven  ästhetischen  Gefühle"  1). 

Da  dies  ein  allgemeines  Gesetz  der  ästhetischen  mensch- 
lichen Entwickelung  ist,  so  gilt  es  auch  für  die  ursprüng- 
lichen Zeiten  des  hellenischen  Volkes,  in  die  uns  die  mimische 
Ursprungsgeschichte  verweist.  Das  ist  um  so  sicherer,  als  noch 
in  den  historischen  Zeiten  die  Bedeutung  des  Tanzes  für  das 
antike  Volksleben  eine  ganz  aufserordentliche,  für  uns  Moderne 
ganz  unbegreifliche  gewesen  ist')  und  sich  nur  in  Parallele  stellen 
läfst  mit  seiner  Bedeutung  für  das  Dasein  der  Primitiven. 

Da  können  wir  es  wohl  verständlich  finden,    dafs   aus    der 


')  Ernst  Grosse,  Die  Anfänge  der  Kunst  Kap.  VIII,  Der  Tanz  S.  198. 

8)  Ich  verweise  hier  auf  Emmanuel,  La  danse  grecque  antique;  es  ist 
eine  gründliche  und  gelehrte  Zusammenstellung  der  Tanzdarstellungen  auf 
den  antiken  Denkmälern.  Das  Technische  des  Tanzes  ist,  zumal  der  Autor 
sich  der  Hülfe  von  Herrn  Hansen,  Maitre  de  Ballets  ä  l'Opera,  erfreute, 
glänzend  behandelt.  Nun  ist  aber  die  Mimesis  die  Seele  des  griechischen 
Tanzes,  dessen  Bewegungen  alle  etwas  Sprechendes  haben;  der  moderne 
(Ballet-J  Tanz  ist  dagegen  „beaucoup  moins  un  langage  qu'une  gymnastique  de- 
corative,  idfalisee"  (a.  a.  0.  S.  324).  Der  antike  Tänzer  ist  im  Grunde  ein 
Mime:  „Nous  devons  en  effet  voir  en  lui  un  mime  du  moins  autant  qu'un  danseur: 
ces  deux  termes  sont  impliques  dans  le  mot  oqxtjOttjs  dont  la  svjnißcation  est  tri* 
large  et  dont  l'equivalent  n'existe  pas  dans  notre  langue.  Ce  danseur-mime  ne 
saurait  etre  astreint  ä  une  gymnastique  trop  rigoureuse.  Les  formules  mtcaniques 
qu'il  a  apprises  aus  lecons  du  Ptdotribe  et  du  Maitre  de  danse  sont  en  mtme  temps 
des  signes  et  deviennent  en  langage  (a.  a.  0.  S.  328).  Eine  wirkliche  Geschichte 
der  griechischen  Tanzkunst  wäre  also  vor  allem  eine  Geschichte  der  orchestri- 
schen  Mimesis,  soweit  sie  idealistisch-mythologisch  (pantomimisch)  oder  rea- 
listisch-biologisch (rein  mimisch)  ist.  Auch  die  eigentlichen  Mimen  sind  ja 
in  gewissem  Sinne  Tänzer,  und  im  Mimus  wurde  auch  viel  getanzt.  Von  alledem 
finden  sich  bei  Emmanuel  kaum  Andeutungen.  Die  nicht  geringen  Verdienste 
dieses  Buches  liegen  eben  vornehmlich  auf  dem  Gebiete  der  orchestischen 
Technik.  Die  Geschichte  des  antiken  Tanzes  wäre  also  immer  noch  zu 
schreiben.  Man  wird  dabei,  um  die  orchestische  Mimesis  recht  zu  begreifen, 
da  wir  in  der  modernen  Zeit  nichts  Ähnliches  haben,  von  dem  Tanze  der 
Primitiven  ausgehen  müssen;  dort  finden  sich  mancherlei  höchst  lehrreiche 
Parallelen. 


478  Sechstes  Kapitel. 

wichtigsten  Art  des  Tanzes,  der  mimischen,  der  Mimus  als  die- 
jenige dramatische  Gattung  ihren  Ursprung  genommen  hat, 
welche  während  des  Altertums  am  populärsten  gewesen  ist 
und  nicht  blofs  alle  dramatischen,  sondern  überhaupt  alle 
Gattungen  der  griechisch- italischen  Poesie  an  Dauer  lebendiger 
Existenz  bei  weitem  übertroffen  hat. 

Die  Alten  selbst  hatten  einen  deutlichen  Begriff  von  dem 
Zusammenhang  zwischen  Mimus  und  mimischem  Tanz.  Noch 
die  Römer  pflegten  die  Aktion  in  der  mimischen  Hypothese  mit 
saltare  zu  bezeichnen  und  die  Miminnen  auch  saltatriculae  zu 
nennen1).  Wenn  dieser  Ausdruck  mit  gesticularia  erläutert 
wird,  so  bedeutet  es,  dafs  wir  nicht  an  Rund-  oder  Chortänze, 
sondern  an  mimische  Geberdentänze  denken  sollen.  Dieser 
mimische  Geberdentanz  scheint  sich  noch  bis  in  die  spätesten 
Zeiten  im  Mimus  erhalten  zu  haben.  Auch  die  Cinaedologen, 
die  zu  den  Mimen  gehören,  sind  ursprünglich  Tänzer,  die  ihre 
kleinen  aa^axa  Iconxd  mit  mimischen  Geberdentänzen  begleiteten. 
So  heilst  es  noch  bei  Petron  (c.  23):  intrat  cinaedus  homo  in- 
sulsissimus  et  plane  illa  domo  dignus,  qui  ut  infractis  manibus 
congemuit,  eins  modi  carmina  effudit',  es  folgt  dann  ein  kleines 
ImvMov  qa^ia  in  Sotadeen.  Das  mimische,  theatralische  Element 
in  diesen  Gesängen,  das  allein  auf  dem  mimischen  Tanz  beruht, 
betont  Varro  (Non.  p.  170  scenatilis),  der  comici,  cinaedici, 
scenatici  zusammenstellt.  Ebenso  wird  eine  Art  der  ionischen 
Mimodie,  die  Magodie,  direkt  als  weichlicher  Tanz  (ÖQxqai$ 
ancclri)  gekennzeichnet.  Wenn  Choricius  hervorhebt,  wie  begabt, 
gebildet  und  unterrichtet  die  Mimen  sein  müssen,  so  betont  er 
ausdrücklich:  dst  xal  xoqsvsiv  aniöraad-ai  (a.  a.  0.  S.  238).  Ja, 
selbst  mimische  Tiertänze  scheinen  nicht  ganz  in  der  späten,  mimi- 
schen Hypothese  gefehlt  zu  haben.  Ich  erinnere  an  die  „Bären, 
die  einen  Mimus  aufführen" 2).  Wenn  in  einer  Atellanendarstellung 
aus  der  ersten  Kaiserzeit  ein  Mensch  mit  Eselsmaske  auftritt, 
der  von  einem  andern  von  hinten  verprügelt  wird,  so  dürfen  wir 


*)  Vgl.  oben  S.  57. 
2)  Vgl.  oben  S.  200. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  479 

wohl  annehmen,  dafs  er  zu  dieser  Prügelmusik  nach  Art  Freund 
Langohrs,  des  für  die  Antiken  typisch  komischen  Tieres,  einen 
höchst  seltsamen,  grotesken  Eseltanz  aufgeführt  haben  wird1). 
Tierverkleidungen  scheinen  im  Mimus  etwas  ganz  Gewöhnliches 
gewesen  zu  sein.  Hier  erscheint  also  der  Mime,  der  Schauspieler, 
als  Tier  und  nicht  wie  in  der  alten,  attischen  Komödie  etwa  der 
Chor;  denn  den  giebt  es  im  Mimus  nicht.  Bei  Sophron  scheint 
im  Mimus  ein  Esel  zu  sprechen 2).  Ich  erinnere  auch  an  die 
mannigfachen  Terrakotten,  die  Schauspieler  mit  Köpfen  von 
Ratten  und  Affen  vorführen3).  Wir  dürfen  auch  nicht  ver- 
gessen, dafs  der  Göttermimus,  der  in  Xenophons  Gastmahl  von 
dem  Knaben  und  dem  Mädchen  des  Syrakusaners  vorgeführt 
wird,  noch  mehr  ein  mimischer  Tanz  als  ein  Mimus  ist,  ja,  uns 
sogar  direkt  den  mimischen  Tanz  in  seinem  Übergange  zum 
Mimus  vorführt. 

So  dürfen  wir  also  für  die  Urzeit  bei  den  Hellenen  wie  bei 
allen  primitiven  Nationen  mimische  Tänze  voraussetzen.  Aber 
in  historischer  Zeit  finden  sich  nur  äufserst  wenige  Belege  dafür; 
wir  wissen  ja  vom  hellenischen  Tanze  überhaupt  so  wenig. 

Zu  den  mimischen  Tiertänzen  der  Hellenen  wird  z.  B.  der 
Morphasmus  gehört  haben,  den  Pollux  als  die  Nachahmung  von 
mancherlei  Tieren  erklärt,  ebenso  wohl  auch  die  „Eule",  „Löwe", 
„Kranich"  (ysoavog  bei  Lukian,  rrsgl  ÖQxrjtewg  84),  „Fuchs"  (älw- 
nr}%  bei  Hesych.  s.  v.)  genannten  Tänze.  Von  dem  nach  dem  Spott- 
vogel (oxcoip)  benannten  Tanze  sagt  Pollux  (IV,  103)  mit  dürren 


*)  Vgl.  oben  S.  258. 

2)  Vgl.  oben  S.  413  Anm. 

3)  Babelon  et  Blanchet  Catalogue  des  bronzes  antiques  de  la  bibliotheque 
nationale,  Paris  1895,  S.  432.  No.  983  Carricature  on  actenr  avec  une  tete 
de  singe  S.  433.  No.  984  Acteur  comique  avec  une  tete  de  rat.  No.  985  Acteur 
comique  avec  une  tete  de  rat.  Mit  Hundeköpfen  erscheinen  Aeneas,  Anchises 
und  Ascanius  auf  dem  bekannten  pompejanischen  Bilde  (in  „Herculanum  et 
Porapei,  recueil  göneral  des  peintures,  bronzes,  mosalques  etc."  Paris  1840, 
planche  58  S.  223—226).  Die  Phallen,  welche  alle  drei  tragen,  weisen  auf 
den  Mimus  hin,  doch  könnten  es  auch  Atellanenspieler  sein,  die  ja  von  den 
Mimen  den  Phallus  ererbt  haben  (vgl.  oben  S.  258  Anm.). 


480  Sechstes  Kapitel. 

Worten,  es  sei  ein  Tiertanz  gewesen1).  Von  der  mimischen 
Nachahmung  der  Tiere  steigt  der  Primitive  zu  der  mensch- 
licher Verhältnisse,  Thätigkeiten  und  Typen  auf.  Zu  der- 
artigen mimischen  Tänzen  zählen  bei  den  Griechen  z.  B.  die 
^äXifizoav  sxxvfoq* ,  „xqscov  unoxonr* ,  „äyyeXixy"  (Athen.  XIV, 
630  e). 

Möglich,  dafs  auch  der  Schweinetanz  (ygvXXiöixog)  ein  mimi- 
scher Tiertanz  ist2);  nicht  ganz  unmöglich,  dafs  das  auch  die 
Tierprozession  auf  dem  Gewände  der  Göttin  von  Lykosura: 
Schwein,  Pferd,  Hund,  Widder,  Esel,  Bär  bedeutet3),  wie 
Albrecht  Dieterich  meint4).  So  ist  denn  unsere  Ausbeute  an 
mimischen  Tänzen  bei  den  Hellenen,  so  zahlreich  sie  sicher 
auch  einst  in  dem  tanzfrohen  Hellas  waren,    erstaunlich  gering. 

Allerdings  wenn  wir  den  neuesten  Forschungen,  die  sich 
freilich  hier  auf  schon  recht  alte  Annahmen  und  Ansichten 
stützen,  folgen  wollen,  dann  ist  wenigstens,  was  den  mimischen 
Tiertanz  angeht,  ein  ganz  sicherer  Weg  gefunden,  auf  dem  man 
nicht  mühsam  zu  spüren  und  zu  suchen  hat,  sondern  das  pure 
Gold  in  Massen  findet. 

Der  altattische  Chortanz  ist  eben  zum  grofsen  Teil  ein 
Tiertanz;  da  sind  gleich  des  Magnes  oqvtäsg,  xpijveg,  ßÜTQa%oi, 
des  Eupolis  afysg,  des  Aristophanes  dcpijxsg,  bgvi&sg,  ßärgccxot, 
neXaqyoi,  Piatos  [ivQfitjxeg,  des  Kantharos  [ii^Qfifjxsg  und  äijdovsg, 
des  Archippus  l%&vg.    Da  haben  wir  also  Tiertänze  in  Hülle  und 


*)  ö  dh  (ioQ(pao/j.bs  navioSandöv  $iä(av  fii/urjaig  tjV.  i\v  $1  xi  xal  axwip. 
tb  <J"  aiitb  xal  axconiag,  tlSog  og^rjaetog,  %xov  *wa  T0^  XQa%r\lov  nfQicpoQav 
xaxä  ttjv  tov  OQW&og  fiifirjaiv,  og  in'  txnXr\'&wg  ngbg  ir\v  oqyrfitv  äXtaxtiai, 
vgl.  Ath.  IX,  321a. 

2)  Nach  Bekker,  Anecd.  graec.  I,  p.  33  wird  yqvXMtuv  gesagt  ln\  iwv 
(f'OQTixws  xal  (id^T]fj,6vcos  oQ/ov/ufrcov. 

3)  Vgl.  Cavvadias,  Fouilles  de  Lycosoure  S.  11,  Tafel  IV. 

4)  Pulcinella  S.  32.  An  derselben  Stelle  deutet  Dieterich  den  sonst 
allerdings  kaum  verständlichen  Vers  aus  des  Sophokles  "A/nvxog  bei  Athen. 
IX,  400  b: 

yiqavoi,  /«ilwrat,  ylavxeg,  Ixxlvoi,  XayoC 
auf  alte  Tiertänze.    Das  soll  aber  nur  eine  Vermutung  sein  und  ist  ja  auch 
unbeweisbar. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  481 

Fülle  und  gleich  die  allersonderbarsten  von  Nachtigallen,  Wespen, 
Ameisen  und  Fischen. 

Nun  sind  eigentliche,  mimische  Tänze  von  Nachtigallen  recht 
schwer  vorzustellen  und  gar  von  Fischen  oder  Ameisen  schlecht- 
hin undenkbar.  Auch  hat  es  unter  den  Tiertänzen  der 
Primitiven,  welche  alle  nur  irgend  der  [iiprjöu;  zugänglichen 
Tiere  darstellen,  niemals  einen  Fisch-,  Nachtigallen-,  Ameisen- 
oder Wespentanz  gegeben.  Denken  wir  doch  einmal  an  die 
Chöre  in  den  Vögeln,  den  "Wespen  und  den  Fröschen  des  Aristo- 
phanes.  In  Scharen  ziehen  die  Vögel  auf  den  Lockruf  der 
Nachtigall  herbei;  wir  werden  dabei  mit  Vogelnamen  über- 
schüttet: 

„Kranich,  Amsel,  Turteltaube,  Witzel,  Wachtel,  Ortolan, 
Möve,  Meise,  Edelfalke,  Dohle,  Kiebitz,  Auerhahn, 
Schnepfe,  Trappe,  Gruppe,  Dauschnarr,  Göckelhahn  und  Singe- 
schwan" ! 
(v.  302—304  Droysen.) 

Aber  von  irgend  welcher  genauen,  mimischen  Individualisierung 
der  einzelnen  Vögel  ist  keine  Rede.  Wenn  irgendwo,  so  hätte  da 
ein  mimischer  Tanz  einzelner  Vögel  aufgeführt  werden  können,  wo 
vor  dem  Auftreten  des  gesamten  Chores  einzelne  Vögel  erscheinen1). 
Wäre  das  geschehen,  so  hätten  ihre  grotesken  Bewegungen  dem 
Rathefreund  und  Hoffegut  auffallen  müssen,  die  sich  beim  Kuckuk 
nach  ihnen  erkundigen;  aber  das  ist  nicht  der  Fall.  Offenbar 
hat  dieser  Vogelchor  genau  so  getanzt,  wie  sonst  komische  Chöre 
zu  tanzen  pflegen,  mochten  sie  nun  Musen  und  Wolken  und 
andere  Fabelwesen  oder  Vögel  sein.  Es  wäre  ja  auch  die  Ne- 
gation eines  Chortanzes  geworden,  wenn  jeder  Choreute  die 
Eigenart  des  Vogels,  den  er  vorstellte,  für  sich  in  einem  be- 
sondern, mimischen  Tiertanze  hätte  ausdrücken  sollen. 

Dieser  Vogelchor  soll  nur  beständig  daran  erinnern,  dafs 
wir  uns  in  dem  phantastischen  Reich  zwischen  Himmel  und  Erde 


*)  So  der  (foivixomtQoq  (v.  273),  der  Mijöog  (v.  277),  der  frtoxp  (v.  280) 
und  der  xmuxfayai;  (y.  288). 

Reich,   Mimus.  3J 


482  Sechstes  Kapitel. 

befinden,  in  dem  wunderbaren  Wolkenkuckuksheim,  in  dem  nur 
ein  leichtbeschwingter  Vogel  Heimatsrecht  hat,  in  dem  allein 
sich  die  Wunder  zu  ereignen  vermögen,  die  uns  des  Dichters 
phantastische  Märchenkomödie  vorgaukelt.  Diese  Stimmung  aber 
wäre  wenig  befördert,  ja,  eher  gestört  worden  durch  mimische 
Tiertänze,  bei  denen  es  ja  auf  möglichste  Naturtreue  und  strengen 
Realismus  der  Nachahmung  ankommt.  Nicht  anders  ist  es  mit 
dem  Chor  der  Wespen  und  der  Frösche ;  auch  er  hat  einen  ge- 
wöhnlichen Cbortanz  aufgeführt  und  nicht  etwa  einen  mimischen 
Tiertanz.  Nach  des  Scholiasten  Angabe  bleibt  der  Chor  der 
Frösche  sogar  unsichtbar1). 

Wir  sehen  auf  einem  alten,  attischen  Vasenbilde  sechs  Reiter 
als  Krieger  ausstaffiert  auf  Delphinen,  und  darunter  sechs 
Männer  auf  Straufsen  reiten2).  Aber  wir  sehen  nicht  im 
entferntesten  einen  mimischen  Tanz  von  Delphinen  oder  Straufsen. 
Und  dann  der  Ritterchor  bei  Poppelreuter;  ich  denke,  dafs  die 
Pferde,  nachdem  die  Reiter  abgestiegen  sind,  mit  diesen  ganz 
harmlos  im  Chore  mittanzen,  beweist  doch  aufs  deutlichste,  dafs 
diese  Pferde  eben  durchaus  keinen  mimischen  Pferdetanz  auf- 
führen, sondern  die  Evolutionen  des  komischen  Massenchores 
einfach   mitmachen3).     Auch   der    Tierchor,    der   bei   Dieterich 


x)  An  und  für  sich  freilich  ist  ein  mimischer  Froschtanz  durchaus 
nicht  undenkbar.  So  haben  die  Australier  wirklich  mimische  Froschtänze 
(vgl.  unten  S.  487).  Und  ebenso  traten  zu  Cholula  in  der  Vorhalle  des  Tempels 
von  Quetzalcoatl  mimische  Tänzer  als  Frösche  und  ebenso  als  Käfer  und 
Eidechsen  auf  und  hüpften  quackend  und  pfeifend,  genau  nach  der  Art  der 
Tiere,  die  sie  darstellten,  über  die  Bühne  (siehe  Bancroft,  The  natives  races 
Bd.  II,  S.  291). 

2)  Museum  of  fine  arts  Boston.  Catalogue  of  greek  etruscan  and  roman 
vases  by  Edward  Kobinson.  nr.  372  large  skyphqs  later  black-figured  style 
decorated  with  what  appear  to  be  chorus  scenes  from  early  Attic  comedies 
(Vgl.  Dieterich,  Pulcinella  S.  55). 

3)  Dafs  wir  hier  wirklich  Berittene  vor  uns  haben,  hat  Zielinski, 
Gliederung  der  altattischen  Komödie  (S.  163,  Anm.  1)  scharf  hervorgehoben. 
Poppelreuter  hat  dann  sehr  hübsch  gezeigt,  wie  diese  Pferde  aussahen  —  es 
sind  Choreuten  mit  Pferdemasken  (vgl.  a.  a.  0.  die  Abbildung  S.  8)  — ,  und  auch 
den  Nachweis  geführt,  dafs  die  Innot,  nachdem  die  InntTg  abgestiegen  sind, 
eben  einen  Teil  dos  Chorea  bilden. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  483 

(a.  a.  0.  S.  33)  abgebildet  ist1)  (vgl.  auch  Poppelreuter  S.  5  ff.), 
zwei  Choreuten  mit  Flötenspieler,  deren  Kopf  deutlich  aus  zwei 
Tiertypen  gemischt  ist,  aus  Schweinerüssel  mit  Hahnenkamm 
und  -nase,  kann  ja  gar  nicht  einen  echten,  mimischen  Hahnen- 
tanz aufführen,  weil  er  ja  noch  so  viel  vom  Schwein,  und 
keinen  Schweinetanz,  weil  er  ja  so  viel  vom  Hahn  hat.  Aus 
Athenaeus  wissen  wir  es:  der  Chor  in  der  Komödie,  d.  h.  die 
Sänger  der  Phalluslieder,  sind  Menschen8).  Diese  Menschen 
kann  der  Komöde  in  den  verschiedensten  Masken  auftreten 
lassen,  und  wenn  er  bei  seinen  Wanderungen  durch  die  bekannte 
und  unbekannte  Welt  sich  auch  ins  Reich  der  Tiere  begiebt, 
mufs  der  Chor  eben  auch  tierische  Masken  tragen.  Aber  nie 
verliert  dieser  Chor  seine  menschliche  Art  gänzlich,  seine  Ver- 
kleidung ist  immer  eine  höchst  durchsichtige,  und  gar  leicht  läfst 
er  seine  Maske  fallen.  So  wissen  wir  es  jetzt,  dafs  der  attische 
Tierchor  nichts  mit  dem  uralten,  primitiven,  mimischen  Tiertanz 
zu  thun  und  auch  gar  nichts  Dämonisches  an  sich  hat1). 

Was  ein  rechter,  mimischer  Tanz  und  besonders  ein  mimischer 
Tiertanz  ist,  wie  wirklich  der  Ursprung  des  dramatischen  Mimus 
aussieht,  kann  man  nur  durch  die  Hilfe  der  Ethnologie  von  den  Pri- 
mitiven lernen;  die  wenigen  Nachrichten,  die  wir  über  mimische 
Tänze  bei  den  Griechen  haben,  reichen  dazu  in  keiner  Weise  aus. 

Schon  die  Lebensbedingungen  des  Primitiven  müssen  ihn  in 

x)  Nach  der  Amphora  des  Berliner  Museums  nr.  1830  (Furtwängler,  Be- 
schreibung der  Vasensammlung  im  Antiquarium  I  S.  328). 

a)  Vgl.  oben  S.  275  folg. 

3j  Mit  Recht  hat  Poppelreuter,  nach  einer  tiefen  Anregung  von 
Hermann  Diels  (vgl.  S.  15,  Anm.  2),  die  altattische  Komödie  mit  dem  Spiel 
burlesker,  theriomorpher  Vegetationsdämonen  in  Zusammenhang  gebracht, 
nur  den  attischen  Chor  hätte  er  nicht  damit  zusammenbringen  sollen; 
der  besteht  aus  Menschen  in  allerhand  beliebig  wechselnden  Ver- 
kleidungen, keinen  Dämonen  oder  gar  Tierd&monen.  Nur  der  komische,  mit 
dem  Phallus,  dem  Zeichen  der  ewig  neu  gebärenden  Naturkraft,  begabte 
Schauspieler,  der  mit  dem  Phlyaken  und  Mimen,  die  alle  gleichfalls  den 
Phallus  tragen,  identisch  ist,  ist  dämonischer  Natur,  nur  er  übt  mimische 
Aktion  und  mimischen  Tanz  aus,  nur  er  schildert  Typen  und  Figuren  wie 
der  mimische  Tänzer  und  der  Mime,  und  er  hat  da3  direkt  von  dem  zum 
komischen  Menschenchor  hinzutretenden  Mimen  gelernt. 

31* 


484  Sechstes  Kapitel. 

eine  besonders  nahe  Beziehung  zu  den  Tieren  bringen.  Sein 
Leben  steht  in  engster  Beziehung  zur  Natur;  in  Wald  und  Heide, 
im  Gebirg,  in  Steppen,  auf  Wiesen  und  Sümpfen  verbringt  er 
seine  Tage,  wie  die  Tiere  in  seiner  Umgebung. 

Allein  schon  aus  praktischen  Gesichtspunkten  mufs  er  sich 
bemühen,  eine  recht  genaue  Kenntnis  dieser  seiner  nächsten 
Nachbarn  zu  erlangen;  denn  sie  sichert  ihm  am  ehesten  die 
Herrschaft.  Die  primitiven  Hirten  kennen  ihr  Vieh  genau  so, 
wie  wir  die  Individuen  unserer  Bekanntschaft1).  Die  primitiven 
Jäger  benutzen  diese  genaue  Kenntnis  beim  Fange  der  Tiere. 
So  schleichen  sich  die  Buschmänner,  als  Straufse  verkleidet,  an 
diese  Tiere  heran,  und  ihre  mimische  Geschicklichkeit,  dabei 
ganz  als  Straufse  zu  erscheinen,  wird  als  aufserordentlich 
gerühmt2).    Ebenso  wissen  die  Indianer,  als  Büffel  oder  Prairie- 


!)  Vgl.  Eatzel,  Völkerkunde  Bd.  I,  S.  334:  „Die  Herden  üben  einen 
mächtigen,  geradezu  zwingenden  Einflufs  auf  die  Volksverhältnisse  der  Herero 
aus  .  .  .  Ihr  Sinn  und  Auge  weiden  sich  schon  von  frühster  Jugend  auf  an 
den  Gestalten,  Farben  etc.  dieser  Tiere.  Die  kleinsten  Jungen  vergessen 
ihre  Spiele,  um  sich  über  den  Wert  dieses  oder  jenes  Ochsen  zu  streiten. 
Ein  Hauptvergnügen  der  Kinder  ist  es,  Ochsen  und  Kühe  in  Thon  nachzu- 
bilden, worin  sie  es  zu  einer  grofsen  Vollkommenheit  bringen".  Weiter  wird 
dann  berichtet,  wie  die  Herero  ihr  Vieh  bei  den  verschiedensten  Herden  in 
allen  Teilen  des  Landes  zerstreut  weiden  lassen,  ohne  dafs  eins  von  diesen 
Tieren  eine  Eigentumsmarke  trägt,  und  doch  erkenne  jeder  Besitzer  auch 
so  sein  Tier  unter  Tausenden  heraus.  Vgl.  auch  a.  a.  0.  I,  S.  337.  Auch 
Darwin,  „Über  die  Entstehung  der  Arten",  bespricht  diese  Eigentümlichkeit 
individueller  Kenntnis  der  Tiere. 

2)  Vgl.  Ratzel  a.  a.  0.  I,  S.  68 :  „Gerade  durch  ihre  Kunst  der  Nachahmung 
sind  die  Buschmänner  im  stände,  mit  ihren  einfachen  Waffen  mit  einem 
Erfolge  zu  jagen,  der  die  mit  den  vollkommensten  Mordwerkzeugen  aus- 
gerüsteten Europäer  in  Erstaunen  setzt.  Am  berühmtesten  ist  ihre  Straufsen- 
jagd,  bei  welcher  sie  an  einem  sattelartigen,  mit  Straufsfedern  besetzten 
Polster,  das  sie  auf  der  Schulter  tragen,  den  ausgestopften  Kopf  und  Hals 
eines  Straufses  befestigen  und  ihre  Beine  weifs  anstreichen,  um  sich  so 
straufsartig  wie  möglich  zu  machen.  In  der  Linken  den  Bogen  und  die 
Pfeile  tragend,  nähern  sie  sich  einer  Straufsherde  so  viel  wie  möglich,  natür- 
lich gegen  den  Wind.  Moffat  behauptet,  es  geschehe  dies  mit  so  natürlichen 
Bewegungen,  dafs  mau  auf  ein  paar  Hundert  Schritte  die  Täuschung  nicht 
herausfiude.    „Dieser  menschliche  Vogel",  sagt  er,  „scheint  die  Kräuter  ab- 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  485 

wölfe  vermummt,  durch  ihre  mimische  Kunst  die  Büffelherden 
zu  berücken. 

Dieser  genauen  Beobachtung  der  einzelnen  Tierindividuen 
sind  die  Primitiven  aber  auch  nur  fähig,  weil  für  sie  das  Tier 
ganz  anders  wie  für  den  Modernen  ein  Individuum,  eine  Per- 
sönlichkeit ist,  wie  der  Mensch,  das  Gefühle  hegt  wie  sie 
selbst,  und  dem  sie  alle  Gefühle:  Abneigung,  Vertrauen,  Freund- 
schaft, Bewunderung,  Liebe,  Furcht  und  Hafs  entgegenbringen1). 

So  hat  denn  der  Primitive  ein  erstaunlich  enges  und  in- 
times, fast  verwandtschaftliches  Verhältnis  zur  Tierwelt  und  eine 
ganz  genaue,  ins  Einzelnste  gehende  Kenntnis  der  verschiedenen 
tierischen  Individuen2). 


zuweiden,  wendet  den  Kopf,  als  ob  er  scharf  ausschaue,  schüttelt  seine 
Federn,  wechselt  zwischen  Schritt  und  Trab,  bis  er  nahe  an  die  Herde 
herangekommen.  Rennt  diese,  nachdem  einer  aus  ihrer  Mitte  getroffen,  so 
rennt  er  mit,  um  sein  Spiel  zu  wiederholen.  Manchmal  verfolgen  die  mann- 
lichen Straufse  den  seltsamen  Vogel,  worauf  dieser  alles  aufbieten  mufs,  dafs 
sie  nicht  seinen  Geruch  bekommen,  denn  sonst  ist  der  Zauber  gebrochen. 
Kommt  einer  zu  nahe,  so  bleibt  dem  falschen  Straufs  nichts  übrig,  als  in 
den  Wind  zu  laufen  oder  seinen  Sattel  abzuwerfen,  um  einem  Schlage  mit 
dem  Fufse  zu  entgehen,  welcher  ihn  niederstrecken  könnte*. 

*)  So  grofses  Erstaunen  die  Darwinsche  Theorie  von  dem  tierischen 
Ursprung  des  menschlichen  Geschlechts  erregte,  so  geringe  Verwunderung 
würde  sie  bei  den  wilden  Stämmen  erwecken.  Amerikanische  Indianer 
fühlen  sich  durchaus  als  Abkömmlinge  irgend  welcher  tierischen  Geschlechter, 
von  Schildkröten,  Schlangen  u.  s.  w.  Einzelne  Negerstämme  müssen  wir  als 
Darwinisten  vor  Darwin  bezeichnen,  weil  sie  sich  den  Affen  zum  Urälter- 
vater  ihres  Geschlechtes  erkoren  haben.  Die  australischen  Dieyerie  glauben, 
dafs  die  Menschen  aus  kleinen  Eidechsen  entstanden  seien  (vgl.  Ratzel 
a.  a.  0.  II,  S.  89).  „Als  Heuglin  im  Lande  der  Djur  eine  grofse  Riesenschlange 
(Python)  erlegte,  waren  die  Neger  eines  benachbarten  Gehöftes  sehr  unge- 
halten und  sagten,  der  gewaltsame  Tod  ihres  Ahnherrn  werde  ihnen  Unheil 
bringen.  Auch  die  Bari  nennen  die  Schlange  ihre  Grofsmutter,  und  Ähn- 
liches erzählt  Kaufmann  von  den  Dinka"  (vgl.  Ratzel,  a.  a.  0.  I,  S.  518).  Die 
Aino,  die  Ureinwohner  Japans,  halten  den  Hund  für  ein  ebenbürtiges  Ge- 
schöpf und  erblicken  darin  keine  Schande,  ihn  als  ihren  Stammvater  zu 
betrachten.  Sie  erzählen  sich  eine  merkwürdige  Geschichte :  „Wie  es  kommt, 
dafs  die  Hunde  nicht  mehr  sprechen  können"  (Fischer  a.  a.  0.  S.  302). 

*)  Ein  Rest  dieser  urmenschlichen  Auffassung  der  Tierwelt  offenbart 
sich   noch    bei    den  modernen  Kindern  auf  dem  Lande  und  in  der  kleinen 


486  Sechstes  Kapitel. 

Darum  dürfen  wir  von  den  Tiertänzen  die  äufserste  Realistik, 
die  schärfste  Hervorhebung  bestimmter  Eigentümlichkeiten  ein- 
zelner Tierindividuen  erwarten;  denn  so  scharfe  Beobachter,  wie 
die  Primitiven  es  sind,  müssen  auch  notwendig  ebenso  treue,  mimi- 
sche Darsteller  sein1). 


Stadt,  die  noch  nicht  von  vornherein  in  Verhältnisse  gesetzt  werden,  die 
dieser  Auffassung  den  Garaus  bereiten  müssen.  Sie  haben  noch  immer  die 
intimsten  Verhältnisse  zu  den  Tieren,  und  die  Gabe,  die  Sprache  der  Tiere 
zu  verstehen,  die  sonst  nur  Märchenprinzen  zu  teil  wird,  ist  ihnen  noch 
heutigentags  verliehen.  Vgl.  das  hübsche  Buch  von  F.  Drosihn,  heraus- 
gegeben von  Bolle  und  Polle,  „Deutsche  Kinderreime  und  Verwandtes": 

Nr.  135:    Täuberich:     Wo  s  min  Fru?    Wo  s  min  Fru? 

Kak  Koffee,  Kak  Koffee,  Kak  Koffee! 
Katze:  Mi  au!    Mi  au! 

Ente:  Dat  dacht  ik  wol,  dat  dacht  ik  wol. 

Gun  Dach,  gun  Dach,  gun  Dach. 
Henne:  Kakel  kakel  Klüt! 

Ziege:  Wat  noch  me — e— e? 

Nr.  142:    Die  Henne  ruft,  wenn  sie  ein  Ei  gelegt  hat: 

Wat  bedüt  dat?    Wat  bedüt  dat? 

Wie  innig  das  Zusammenleben  zwischen  den  Kindern  und  Tieren  ist,  zeigt 
das  fünfte  Kapitel  des  citierten  Buches:  „Gute  Nachbarn  und  Freunde  in 
Haus  und  Hof",  wo  zahlreiche  Kinderreime  sich  finden,  welche  alle  mög- 
lichen Anreden  der  Kinder  an  mancherlei  Tiere:  Kuh,  Hase,  Fuchs,  Ente, 
Gans,  Storch,  Habicht,  an  das  Grützwürmchen  oder  Marienwürmchen,  den 
Maikäfer  u.  s.  w.  enthalten. 

*)  So  bemerkt  Grosse  (a.  a.  0.  S.  213  und  214)  höchst  treffend:  „Die  mimi- 
schen Tänze  gewähren  dem  primitiven  Menschen  jedoch  aufserdem  noch  andere 
Genüsse,  welche  er  in  den  gymnastischen  Tänzen  nicht  findet.  Sie  befriedigen 
seinen  Nachahmungstrieb,  der  häufig  genug  zu  einer  wahren  Nachahmungs- 
sucht entwickelt  hervortritt.  Die  Buschmänner  machen  sich  das  gröfste  Ver- 
gnügen daraus,  „die  Bewegungen  bestimmter  Menschen  oder  Tiere  täuschend 
nachzuahmen;  alle  australischen  Eingeborenen  besitzen  eine  staunenswerte 
mimische  Begabung",  die  sie  bei  jeder  Gelegenheit  bethätigen;  und  von  den 
Feuerländern  erzählt  man,  „dafs  sie  jedes  Wort  eines  beliebigen  Satzes,  den 
man  ihnen  vorsprechen  mag,  mit  voller  Genauigkeit  wiederholen,  wobei  sie 
zugleich  die  Manier  und  die  Haltung  des  Sprechenden  copiren"  .  .  .  Der 
Nachahmungstrieb  ist  allerdings  eine  allgemeine  menschliche  Eigenschaft, 
aber  er  herrscht  nicht  auf  allen  Stuten  der  Entwickelung  in  gleicher  Stärke. 
Auf  der   untersten  Kulturstufe  ist  er  für  alle  Glieder  der  Gesellschaft  bei- 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  487 

Diese  Erwartung  wird  durchaus  bestätigt.  Bei  den  Australiern 
hat  man  Schmetterling-,  Dingo-,  Frosch-  und  Emutänze  gefunden. 
Besonderer  Verbreitung  aber  erfreut  sich  bei  ihnen  der  Känguru- 
tanz.  Vor  allem  verwundern  sich  hier  die  Reisenden  über  die 
getreue  Naturnachahmung  und  den  erstaunlichen  Realismus  der 
Darstellung.  „Als  sie  alle  um  die  Wette  hüpften",  sagt  Mundy, 
„konnte  man  sich  nichts  Komischeres  und  keine  gelungenere 
Nachahmung  denken",  und  Eyre  fand  den  Kängurutanz  am 
Lake  Victoria  so  wunderbar  ausgeführt,  dafs  er  in  jedem 
europäischen  Theater  donnernden  Applaus  hervorgerufen  haben 
würde1). 

Nicht  anders  ist  es  bei  den  Eingeborenen  Afrikas.  Von  den 
Herero  berichtet  Ratzel  (a.  a.  0.  I.  S.  331):  „Ihre  Tänze  sind  sehr 
einfacher  Art:  Hauptbestandteil  derselben  ist  die  Nachahmung 
der  Bewegungen  von  Tieren.  In  dieser  Nachahmung  der  Tiere 
sind  wohl  die  Buschmänner  ihre  Lehrmeister  gewesen,  aber  die 
Herero  haben  es  darin  sehr  weit  gebracht.  Galton  erzählt  z.  B. 
von  einem  Damara,  der  ihm  das  Nilpferd  so  täuschend  vorstellte, 
dafs  er  augenblicklich  die  charakteristischen  Bewegungen  des- 
selben erkannte.  Als  Gipfel  der  Komik  gilt  die  Nachahmung 
des  plumpen  Geplärres  des  Pavians,  die  in  jeder  musikalischen 
Unterhaltung  der  Herero  die  unfehlbar  wirksamste  Nummer  des 
Programmes  zu  sein  pflegt2)". 


nahe  unwiderstehlich;  allein  je  mehr  sich  im  Fortschritte  der  Kultur  die 
Differenzen  zwischen  den  einzelnen  socialen  Gliedern  vergröfsern,  desto  ge- 
ringer wird  seine  Macht:  und  das  höchste  Individuum  strebt  vor  allem  da- 
nach, nur  sich  selbst  gleich  zu  sein".  Die  scharfe  Tierbeobachtung  der  Pri- 
mitiven, die  zur  naturgetreuen  mimischen  Nachbildung  im  Tanze  führt,  hat 
auch  die  plastische  Tierdarstellung  schon  in  ausserordentlich  frühen  Zeiten 
zu  einer  bedeutenden  Höhe  gehoben,  so  dafs  uns  prähistorische  Schnitzereien 
von  Tieren  durch  die  erstaunliche  Naturwahrheit  ihrer  wohlgelungenen  Nach- 
ahmung in  Erstaunen  setzen;  vgl.  besonders  Andree,  Ethnographische  Paral- 
lelen  N.  F.   S.  56  folg. 

1)  Grosse  a.  a.  0.  S.  209. 

2)  Auch  die  Hottentotten  excellieren  im  Tiertanze.  Wir  haben  (S.  443, 
Anm.  1)  auf  den  Zusammenhang  zwischen  Tierfabel  und  Tiermimus  hin- 
gewiesen;  um   so    interessanter  ist  es,   dafs  sich  nun  auch  bei  den  Hotten- 


488  Sechstes  Kapitel. 

Ebenso   haben   die  Eingeborenen  Nordamerikas   mancherlei 
Tiertänze.    Um  das  realistische  Element,  das  auch  sie  bezeichnet, 


totten  ausgezeichnete  Tierfaheln  finden.  Ratzel  (a.  a.  0.  I,  S.  1 08)  bemerkt 
darüber:  „Ein  sonderbarer  reicher  Zweig  der  hottentottischen  Erzählungs- 
litteratur  sind  die  Tierfabeln,  welche  bald  in  merkwürdigem  Anklänge  an 
unsre  Reinekefabeln  die  Überlistung  des  Löwen  und  andrer  Tiere  durch 
den  Schakal,  bald  die  Plumpheit  des  Elefanten,  die  Schlauheit  des  Pavianes 
in  teils  witziger,  teils  freilich  auch  pointeloser  Weise  darstellen  und  kari- 
kieren". Ich  setze  die  Fabel  „Der  Leopard  und  der  Widder"  wegen  der 
guten,  realistisch-humoristischen  Biologie,  die  sie  nicht  weniger  auszeichnet 
wie  den  mimischen  Tanz,  hierher: 

„Als  ein  Leopard  einst  von  der  Jagd  heimkehrte,  kam  er  zufällig  an  den 
Kral  eines  Widders.  Nun  hatte  der  Leopard  nie  zuvor  einen  Widder  ge- 
sehen und  näherte  sich  ihm  demzufolge  in  sehr  unterwürfiger  Weise,  wobei 
er  sagte:  „Guten  Tag,  mein  Freund!  Wie  magst  du  wohl  heifsen?"  Der 
Widder  erwiderte  mit  rauher  Stimme,  indem  er  sich  mit  dem  Vorderfufse 
auf  die  Brust  schlug:  „Ich  bin  ein  Widder,  und  wer  bist  denn  du?"  „Ein 
Leopard",  versetzte  der  andre,  mehr  tot  als  lebendig;  dann  nahm  er 
Abschied  und  eilte  heim,  so  schnell  er  laufen  konnte.  Nun  lebte  mit  dem 
Leoparden  zusammen  ein  Schakal,  und  zu  dem  ging  der  Leopard  hin  und 
sprach:  „Freund  Schakal!  Ich  bin  ganz  aufser  Atem  und  halbtot  vor 
Schrecken,  denn  ich  habe  soeben  einen  fürchterlichen  Burschen  mit  grofsem, 
dickem  Kopfe  gesehen,  der  mir  auf  die  Frage  nach  seinem  Namen  ganz  grob 
erwiderte:   „Ich  bin  ein  Widder!" 

„Was  bist  du  doch  für  ein  närrischer  Kerl  von  Leopard",  rief  der 
Schakal,  „dafs  du  solch  ein  schönes  Stück  Fleisch  fahren  läfst!  Wie  kannst 
du  nur  das  thun?  Aber  wir  wollen  uns  morgen  auf  den  Weg  machen  und 
es  in  Gemeinschaft  verzehren." 

Am  folgenden  Tage  machten  sich  die  beiden  nach  dem  Krale  des 
Widders  auf;  als  sie  nun  auf  diesen  von  der  Höhe  eines  Hügels  hinabsahen, 
erblickte  sie  der  Widder,  der  ausgegangen  war,  um  frische  Luft  zu  schöpfen, 
und  der  eben  überlegte,  wo  er  wohl  heute  den  zartesten  Salat  sich  suchen 
könnte.  *Da  eilte  er  denn  sofort  zu  seiner  Frau  und  rief  ihr  zu:  „Ich 
fürchte,  dafs  unser  letztes  Stündlein  geschlagen  hat!  Der  Schakal  und  Leo- 
pard kommen  beide  auf  uns  zu.  Was  wollen  wir  anfangen?"  „Sei  nur  nicht 
bange",  meinte  sein  Weib,  „sondern  nimm  das  Kind  hier  auf  den  Arm,  geh' 
damit  hinaus  und  kneife  es  recht  tüchtig,  so  dafs  es  schreit,  als  sei 
es  hungrig." 

Der  Widder  gehorchte  und  ging  so  den  Verbündeten  entgegen.  Sobald 
der  Leopard  den  Widder  erblickte,  bemächtigte  Furcht  sich  abermals  seiner, 
und   er  wollte  wieder  umkehren.     Der  Schakal  hatte  für  diesen  Fall  schon 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  489 

hervorzuheben,  gebe  ich  hier  kurz  die  Schilderung  des  Prinzen 
Maximilian  zu  Wied,  der  sie  als  Augenzeuge  kannte1):  „Einer 
macht  z.  B.  den  Bären,  in  einer  Bärenhaut  mit  Kopf  und 
Klauen  eingehüllt,  ahmt  die  Bewegungen  und  Stimmen  des 
Thiers  so  genau  nach,  dafs  man  glaubt  einen  Bären  vor  sich 
zu  sehen.  Er  wird  erschossen,  man  sieht  deutlich  die  Schufs- 
wunde,  das  Blut  fliefst,  er  fällt  nieder,  stirbt,  man  zieht  ihm 
die  Haut  ab,  und  endlich  kommt  der  Mann  unverletzt  hervor". 
Steller  erwähnt  die  Tiertänze  der  alten  Kamtschadalen'^  von 
ihnen  haben  sie  die  jetzt  dort  hausenden,  russischen  Kosaken 
geerbt,  und  noch  A.  Erman  sah  die  als  Krähen  und  Bären 
maskierten  Kosaken,  welche  jene  Tiere  „mit  gröfster  Treue 
nachahmten"3).  Überhaupt  hat  die  realistische  Mimesis, 
welche  die  Darstellung  des  Bären  im  Tiertanze  gefunden  hat, 
stets  die  besondere  Bewunderung  der  Reisenden  erregt.  Überall 
wird  hervorgehoben,  dafs  die  ganze  Eigenart  des  Tieres,  seine 
körperliche  Haltung,  seine  plumpen,  drolligen  Bewegungen  und 
selbst    seine    seelische   Erregung   wiedergegeben    wird4).     Auch 


Vorsorge  getroffen,  er  hatte  nämlich  den  Leoparden  mit  einem  ledernen 
Riemen  an  sich  festgebunden.  So  sagte  er  nun:  „So  komm  doch!"  Da 
kniff  der  Widder  sein  Kind  recht  tüchtig  und  rief  dabei  laut:  „Das  ist 
recht,  Freund  Schakal,  dafs  du  uns  den  Leoparden  zum  Essen  bringst,  hörst 
du,  wie  mein  Kind  nach  Nahrung  schreit?" 

Als  der  Leopard  diese  schrecklichen  Worta  hörte,  stürzte  er  trotz  der 
Bitten  des  Schakals,  ihn  doch  loszulassen,  in  der  gröfsten  Angst  davon, 
indem  er  zugleich  den  Schakal  über  Berg  und  Thal,  durch  Büsche  und  über 
Felsen  mit  sich  fortschleppte  und  erst  dann  stillhielt  und  scheu  um  sich 
blickte,  als  er  sich  selbst  und  den  halbtoten  Schakal  wieder  nach  Hause 
gebracht  hatte.    So  entkam  der  Widder",    (bei  Ratzel  a.  a.  0.  I,  S.  109.) 

1)  Reise  in  das  Innere  Nordamerikas  in  den  Jahren  1832—1834, 
Koblenz  1841,  Bd.  II,  S.  246. 

2)  Beschreibung  von  dem  Lande  Kamtschatka.  Frankfurt  und  Leipzig, 
1774,  S.  340. 

3)  Reise  um  die  Erde.    Historischer  Bericht  III,  S.  189. 

4)  Bei  Magnin  a.  a.  0.  S.  44  nach  Lesseps,  Journal  historique  du  voyage 
de  ML  Lesseps  au  Kamtschatka  heifst  es:  „if.  Lesseps  raconte  que  les  Kam- 
tsehadales  reussissent  surtout  a  contrefaire  les  mouvements  de  Vours.  Non-seulement 
üs  reprisentent  tres-bien  la  demarche  lourde  et  stupide  du  male,   mais  ils  excellerU 


490  Sechstes  Kapitel. 

der  alte  Ostjak,  den  0.  Finsch  diesen  Tanz  ausführen  sah,  be- 
mühte sich,  verschiedene  Stellungen  und  Bewegungen  des  Bären 
nachzuahmen,  schwenkte  sonderbar  mit  den  Armen  und  sprang 
mit  der  Plumpheit  eines  Bären  umher.  Neben  dem  Bären 
aber  sehen  die  Ostjaken  auch  Kraniche,  Elentiere  und  der- 
gleichen als  geeignete  Vorbilder  ihrer  mimischen  Tiertänze  an 
und  ahmen  sie  aufs  getreueste  nach1). 

Die  Eskimo  geben  nach  Bancroft8)  zahllose  mimisch- 
burleske Darstellungen  von  Tieren  und  Vögeln.  Bei  festlichen 
Gelegenheiten  führen  die  Tänzer  der  Hyperboreer,  junge  Leute, 
die  sich  bis  zum  Gürtel  entblöfsen  oder  sogar  im  Adamskostüm 
erscheinen,  zahllose,  possierliche  Nachahmungen  von  Vögeln  und 
wilden  Tieren  der  arktischen  Regionen  auf.  Die  Alten  sitzen 
dann  rund  herum  auf  Bänken,  rauchen  und  spenden  Beifall  wie 
im  Theater3).  Einen  sehr  naturgetreuen  Vogeltanz,  vielleicht 
einen  Straufsentanz,  gab  es  auch  auf  Isle  de  France4).  Über 
den  „höchst  originellen  sogenannten  Vogeltanz"  der  Aino  auf 
Jezo  berichtet  Fischer:  „Er  bestand  darin,  dafs  die  Weiber  die 


h  exprimer  la  tendresse  que  la  femelle  porte  h  ses  petits;  ils  peignent  h  merveille 
l'agitation  et  la  colere  de  ces  animaux  lorsqu'ils  viennent  a  e*tre  troublh  dam  leurs 
retraitet.  „Je  demandai,  dit  ce  voyageur,  aux  Russes  plus  connaisseurs  que  moi, 
puisqu'ils  sont  dans  leurs  chasses  continuellement  aux  prises  avec  ces  animaux,  si 
ces  ballets  itaient  bien  exe'cutes;  ils  rri'assur&rent  tous  quHil  etait  difficile  de  ren- 
contrer  dans  le  pays  de  plus  habiles  danseurs  et  que  les  cris,  la  marche  et  toutes 
les  attitudes  de  Vours  itaient  imitds  a  s^y  mdprendre". 

*)  Reise  nach  West-Sibirien  im  Jahre  1876.  Auf  Veranstaltung  des 
Vereins  für  die  deutsche  Nordpolarfahrt  in  Bremen  unternommen  mit  Dr. 
A.  E.  Brehm  und  Karl  Graf  v.  Waldburg-Zeil-Trauchburg  von  Dr.  0.  Finsch, 
Berlin  1879,  S.  614. 

2)  Bancroft,  The  natives  races  I,  S.  67. 

3)  Bancroft  a.  a.  0. 1,  S.  66. 

4)  Magnin  a.  a.  0.  S.  43:  Mr.  Milbert  raconte  que  les  negres  de  V  Herde- 
France  revitent,  aux  jours  de  fites,  le  plumage  de  certains  oiseaux,  dont  ils  sejfor- 
cent  de  reproduire  les  mouvements  habituels.  S'agit-il  de  Fautruche?  ils  allongent 
le  cou  et  se  frappent  les  flancs  de  leurs  coudes  pour  imiter  Vallure  de  ce  geant  de 
la  race  emplumee.  .  .  .  Dans  ces  petites  pieces  les  spectateurs  se  mttent  h  Vaction, 
feignent  de  prendre  Vacteur  pour  Voiseau  qu!il  imite,  courent  ä  sa  poursuite  et,  sHls 
peuvent  Vatteindrey  lui  arrachent  a  l'envi  ses  plumes. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  491 

Arme  in  die  breiten  Ärmel  zurückzogen,  so  dafs  diese  das  An- 
sehen von  Flügeln  erhielten;  alsdann  begannen  sie  mit  den 
Ärmeln  wie  Vögel  zu  schlagen,  indem  sie  gleichzeitig  das  Ge- 
räusch auffliegender  Rebhühner  nachahmten"  (Bilder  aus  Japan, 
Berlin  1897,  S.  310).  Merkwürdigerweise  existieren  Reste  solcher 
Tiertänze  auch  noch  bei  einem  so  civilisierten  Volke  wie  die 
Japaner.  Ihr  Löwentanz  wie  ihr  Fuchstanz  sind  so  mimisch- 
burleske Tiertänze  wie  die  der  Primitiven1).  Auch  der  japanische 
Löwentanz  ist,  wie  die  meisten  Tiertänze,  kein  Chor-,  sondern 
ein  Solotanz.  Er  gehört  in  Japan  zu  den  gewöhnlichen  Vor- 
führungen, mit  dem  die  Gaukler  ihr  Publikum  ergötzen,  und 
mit  dem  sie  stets  sicher  sind,  Geld  und  Beifall  zu  gewinnen. 
Plötzlich  schreitet  unter  dem  Getöse  von  Pauken,  Pfeifen  und 
Tambourins  eine  seltsame  Schreckgestalt,  die  ein  Orchester  von 
drei  Mann  mit  sich  führt,  durch  die  Strafsen;  es  ist  ein  Un- 
geheuer mit  Löwen-  oder  Tigerfell,  mit  einem  schrecklichen, 
phantastischen  Löwenhaupt  und  Löwenmähne.  Es  überragt  die 
Passanten  um  1 — 2  Meter.  Bei  näherem  Hinsehen  freilich  bemerkt 
man  die  Beine  des  Gauklers,  die  aus  dem  weiten  Löwenmantel 
herausstecken.  Dieses  Ungetüm  führt  einen  seltsamen  Tanz  auf; 
plötzlich  verwandelt  es  sich  in  einen  Vierfüfsler,  wie  es  einem 
Löwen  zukommt,  und  macht  allerlei  seltsame  Kapriolen;  dann 
wirft  es  die  Umhüllung  ab  und  der  Gaukler  kommt  zum  Vor- 
schein ). 


J)  In  etwas  abgeschwächter  Form  haben  sich  derartige  Tiertänze  auch 
bei  den  modernen  europäischen  Völkern  bis  ins  16.  Jahrhundert  erhalten, 
z.  B.  die  Pavane,  der  Pfauentanz  (vgl.  Czerwinski,  Gesch.  d.  Tanzkunst  S.  67) 
und  Ähnliches.  Aus  dem  alten  Ägypten  sind,  wenn  auch  nicht  Tiertänze, 
so  doch  mimische  Tänze  bekannt,  die  Gegenstände  der  Natur  und  des  Natur- 
lebens darstellen.  Vgl.  Erman,  Ägypten  und  ägyptisches  Leben  im  Altertum 
Bd.  I,  339  u.  ö. 

2)  Eine  hübsche  bildliche  Darstellung  dieses  grotesken,  gauklerischen 
Tiertanzes  findet  sich  bei  Aime  Humbert,  Le  Japon  illustre,  Paris  1870,  Bd.  II, 
S.  154.  Wir  sehen  dort  den  tanzenden  Löwen  in  effigie  samt  seinem  Orchester 
und  dem  Strafsenpublikum,  das  ihm  zuschaut,  den  Kindern,  die  angstvoll  vor 
ihm  davonlaufen,  oder,  dreister  geworden,  ihn  gar  zu  attakieren  beginnen,  so 
dafs  er  ihnen  drohend  sein  schreckliches,  zähnefletschendes  Antlitz  zuwendet. 


492  Sechstes  Kapitel. 

Auch  der  Fuchstanz  der  Japaner  entspricht  durchaus  der 
Auffassung,  die  wir  vom  Tiertanze  gewonnen  haben.  Auch  er 
ist  die  möglichst  genaue  und  realistische  Nachahmung  eines  be- 
stimmten Tierindividuums. 

Für  unsere  Untersuchung  ist  es  von  grofsem  Werte,  den 
Tiertanz  in  seinen  letzten  Manifestationen  noch  bei  einem  so 
vorgeschrittenen  Volke,  wie  die  Japaner  es  sind,  zu  finden. 
Wir  können  daran  wohl  erkennen,  wie  lange  primitive  Ge- 
bräuche, Sitten,  Gewohnheiten  und  Gefühle  sich  unter  Um- 
ständen bei  einem  eigentümlich  veranlagten  Volke  erhalten. 
Jedenfalls  haben  wir  mehr  Grund,  den  Tiertanz  bei  den  homeri- 
schen und  nachhomerischen  Griechen  vorauszusetzen  wie  bei  den 
modernen  Japanern. 

Diese  wenigen  Beispiele  lassen  aufs  deutlichste  das  wesent- 
liche Element  an  allen  mimischen  Tiertänzen  hervortreten. 
Ihnen  allen  gemeinsam  ist  die  genaue  Nachahmung, 
deren  strenge,  bis  ins  Einzelnste  gehende  Realistik 
durch  den  mimischen  Humor  in  das  Reich  ästhetischer 
Kunstdarstellung  gehoben  wird1).  Aufserdem  aber  ist 
noch  hervorzuheben,  dafs  der  mimische  Tiertanz  ein  Solotanz 
ist  und  kein  Chortanz2). 

Natürlich  zeigt  der  mimische  Tanz  auch,  soweit  er  sich  der 
Darstellung  menschlicher  Typen  zuwendet,  was  allerdings  etwas 


1)  Es  sind  gar  mannigfaltige  Tiere,  die  einer  mimischen  Darstellung 
teilhaftig  werden  und  geworden  sind,  vornehmlich:  Bär,  Elen,  Kranich 
(Hyperboreer),  Wolf,  Stier,  Adler  (nordamerikanische  Indianer),  Klapper- 
schlange, Straufs  (Afrika),  Fuchs,  Löwe  (Japan),  Käfer,  Frosch,  Eidechse 
(Mexiko),  Känguru,  Emu,  Dingo,  Schmetterling  (Australien).  Viele  von  diesen 
Tieren  werden  freilich  von  den  allerverschiedensten  Völkern  im  Tanze  nach- 
geahmt; so  giebt  es  Schmetterlingstänze  nicht  blofs  in  Australien,  sondern 
auch  in  Japan  und  Mexico,  ebenso  ist  der  Froschtanz  in  Australien  wie  in 
Mexico  und  wohl  auch  in  Kamscbatka  zu  Hause.  Der  Bärentanz  aber  ist 
über  den  ganzen  Norden  Asiens,  Amerikas  und  auch  über  Grönland  ver- 
breitet. 

2)  Also  hat  der  komische  Chor  schon  seiner  ganzen  Natur  nach  nichts 
mit  dem  mimischen  Tanze  zu  thun,  desto  mehr  allerdings  der  mimische 
Schauspieler. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  493 

seltener,  wenn  auch  häufig  genug  geschieht,  dieselben  charakte- 
ristischen Merkmale.  So  schildern  die  Hyperboreer  (nach  Banc- 
roft  a.  a.  0.  Bd.  I,  S.  66)  in  allerhand  pantomimischen  Scenen 
Liebe  und  Eifersucht,  Hafs  und  Freundschaft.  So  werden  auch 
bei  gröfseren  Vorstellungen  der  Maoris  Solotänze  aufgeführt,  die 
in  burleske,  mimische  Darstellungen  von  Zank-  und  Prügelscenen 
übergehen '),  und  die  Malayen  stellen  im  mimischen  Tanze  Kopf- 
jäger dar,  wobei  eine  Kokosnufs  den  erbeuteten  Kopf  vertritt 
(Ratzel,  a.  a.  0.  II,  S.  386).  Besonders  lehrreich  sind  hier  die 
primitiven,  mimischen  Darstellungen  der  Kamtschadalen ,  von 
denen  Steller2)  berichtet: 

„Die  vierte  Art  zu  tanzen  besteht  darinn,  dafs  sie  auf  den 
Knien  sitzen  wie  die  Frösche,  im  Kreise  herumhüpfen,  mit  den 
Händen  klatschen,  und  allerhand  wunderliche  Figuren  gegen  ein- 
ander machen,  und  fängt  ebenfalls  nur  einer  an,  die  andern  aber 
kommen  alle    nach  und  nach  aus  den  Winkeln  wie  die  Frösche 

herbeygehüpft Nach  denen  Tänzen  komme  ich  auf  die 

Comedien  der  Itälmenen.  Die  Materie  ihrer  Comedien  sind  ent- 
weder neue  Sitten  und  Manieren  ankommender  Leute,  oder 
närrische  Stellungen.  Worte  und  Begebenheiten  ihrer  Nation. 
Sobald  jemand  auf  Kamtschatka  kommt,  ist  das  erste  dafs  er 
einen  neuen  Namen  in  ihrer  Sprache  erhält,  von  einer  Eigen- 
schaft die  ihnen  zuerst  in  die  Augen  fällt.  Kommt  jemand  zu 
ihnen  in  die  Wohnung,  oder  hält  sich  nur  eine  kurze  Zeit  in  ihren 
Ostrogen  auf,  so  beobachten  sie  nach  ihrer  angebohrnen  Curiosität, 
den  Gang,  Gebärden,  Sprache,  Verrichtungen,  Tugenden  und 
Laster,  und  wissen  nach  diesem  als  ächte  Mimi  diejenige  Person 
welche  sie  wollen,  dergestalt  mit  blofsen  Geberden,  theils  auch 
sammt  den  Worten  vorzustellen,   dafs  mau  sogleich  merken  kan 


*)  Ratzel  a.  a.  0.  II,  S.  133  nach  Cook. 

2)  a.  a.  0.  S.  340  folg.  Ich  hebe  noch  ausdrücklich  hervor,  dafs  noch 
sehr  viel  mehr  Nachrichten  über  mimische  Tänze  der  Primitiven  in  Reise- 
werken und  Missionsberichten  vorhanden  sind.  Ich  gebe  hier  aus  meinen 
Sammlungen  nur  das  besonders  Prägnante  und  für  unsere  spezielle  Unter- 
suchung Lehrreiche;  ich  hätte  aber  ebensogut  auch  andere  Beispiele  wählen 
können. 


494  Sechstes  Kapitel. 

auf  wem  es  angesehen  ist,  ohnerachtet  man  solches  nimmermehr 
hinter  ihnen  suchen  sollte,  und  kommt  folglich  niemand  hieher, 
der  sich  Zeit  seines  Auffenthalts  nicht  müsse  censiren,  und  mit 
seiner  Aufführung  zur  öffentlichen  Schau  aufstellen  lassen.  Dabey 
fassen  sie  deutsche  Worte,  exprimiren  die  üble  Pronunciation 
der  ausländischen  im  Russischen.  Den  Herrn  Capitain  Spangberg 
imitiren  sie  und  commandiren  alle  Segel  mit  terminis  nauticis; 
mich  in  Aufzeichnung  und  Ausforschung  ihrer  Sitten  und  Ge- 
bräuche, dabey  einer  den  Dollmetscher  agirt;  einen  andern  in 
seiner  Völlerey  verbothenen  Caressen,  und  nächtlichen  Unord- 
nungen; dabey  vergessen  sie  nicht  Taback  zu  rauchen,  zu 
schrauben,  zu  schnupfen,  Leute  zu  vermahnen,  mit  Worten  an- 
zugreifen, ja  gar  mit  Schlägen  zu  tractiren.  Sobald  sie  einen 
Augenblick   frey   haben,    exerciren    sie    sich  sogleich  jemand  zu 

agiren,  er  mache  auch  was  er  immer  wolle Ist  dieses 

zu  Ende  so  imitiren  sie  allerhand  Vögelgeschrey  nach,  item 
das  Saussen  des  Windes  und  alles  was  ihnen  vorkommt,  woraus 
man  das  active  Gemüth  der  Kamtschadalen  und  ihre  lebendige 
Phantasie  zur  Gnüge  beurtheilen  kan. 

Aufser  diesen  Mimis  und  Pantomimis  haben  sie  auch  Narren, 
oder  Leute  die  sich  als  Harlequins  an  ihren  Festen  gebrauchen 
lassen.  Ihre  Possen  aber  kommen  dergestalt  unfläthig  heraus, 
dafs  man  sie  ohne  Schande  nicht  erzählen  kan.  Sie  lassen  sich 
als  Hunde  nackend  vor  den  Schlitten  spannen  und  fahren  jemand, 
lassen  sich  wie  Hunde  tractiren,  und  fressen  und  machen  alles 
was  die  Hunde  thun." 

Nach  allem,  was  wir  bisher  über  die  realistische  Ethologie 
und  Biologie  des  Mimus  gelernt  haben,  bei  der  es  vor  allem  auf 
Schärfe  und  Richtigkeit  der  Auffassung  wie  Lebenswahrheit  der 
Darstellung  ankommt,  ist  es  klar,  dafs  dieser  mimische  Tanz 
schon  den  echten,  ethologisch-biologischen,  realistisch-humoristi- 
schen Geist  des  Mimus  besitzt,  und  dafs  ihn  vom  Mimus  selbst 
nur  das  Fehlen  des  gesprochenen  Wortes  trennt.  Nun  ist 
diese  lebendige  Darstellung  bestimmter  Typen,  seien  es  Tiere 
oder  Menschen,  wenn  auch  ohne  Worte  —  und  auch  diese  finden 
sich    nicht   selten  —  durch   und    durch  dramatisch;    so  ist  der 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  495 

Mimus  schon  in  seiner  primitivsten  Form  ein  Drama.  Ja,  nicht 
selten  vereinigen  sich  mehrere  mimische  Tänzer  zur  Darstellung 
einer  mimischen  Grundidee.  Sie  stellen  nicht  blofs  ein  Tier, 
sondern  auch  die  Jagd  darauf  dar,  wobei  der  eine  die  Rolle 
des  Tieres,  der  andere  die  des  Jägers  mit  mimischem  Realis- 
mus spielt1).  Oder  sie  mimen  wie  die  Wilden  Australiens 
eine  weidende  Herde  oder  den  Kampf  zwischen  Wilden  und 
Weifsen2).  In  solchen  gröfseren  Tableaux  erhebt  sich  schon 
der  mimische  Tanz  sozusagen  zur  Hypothese.  Dieses  Streben 
nach  gröfserer  Ausgestaltung  steckt  also  von  vornherein  dem 
Mimus  im  Blute. 

Es  wäre  demnach  leicht  zu  sagen,  zum  mimischen  Tanze 
habe  sich  allmählich  das  Wort  gefunden,  um  die  Charakter- 
darstellung noch  gelungener,  noch  wirkungsvoller  zu  gestalten. 
Allmählich  sei  dann  die  Darstellung  durch  den  Tanz  hinter  der 
Darstellung  durch  das  Wort  zurückgetreten,  und  so  sei  der 
eigentliche  Mimus  entstanden.  Der  philosophisch- ästhetischen 
Kritik  wäre  mit  dieser  Erklärung  Genüge  gethan.  Aber  es 
handelt  sich  hier  um  den  philologisch -historischen  Nachweis 
dieser  Entwickelung;  und  der  läfst  sich  nur  geben,  wenn  man 
zweierlei  erkennt:  erstens,  wie  der  mimische  Tanz  in  Beziehung 
zu  den  Fruchtbarkeitsdämonen  und  ihren  Naturfesten  tritt,  und 
wie  dabei  der  mimische  Tänzer  die  phallische  Gestalt  dieser 
Dämonen  annimmt,  und  zweitens,  wie  dann  dieser  so  seltsam  ge- 
staltete, mimische  Tänzer,  da  ihn  die  Jongleure  in  ihren  Kreis 
aufnehmen,  allmählich  seine  Kunst  nicht  mehr  autoschediastisch, 
sondern  berufsmäfsig  ausübt,   und  wie  so  aus  dem  Stande  der 


*)  Vgl.  oben  S.  489  die  Schilderung  des  Bärentanzes  durch  den  Prinzen 
zu  Wied. 

*)  Auch  diese  grofsen,  mimischen  Tableaux  atmen  Naturtreue  und  Rea- 
lismus. Diese  Kühe  und  Stiere  scheinen  zu  weiden  und  dann  im  Grase 
liegend  wiederzukäuen,  die  Mütter  lecken  ihre  Kälber.  In  der  Darstellung 
des  Kampfes  werden  selbst  die  Eigentümlichkeiten  der  Weifsen  höchst  ge- 
treu nachgeahmt.  Man  hört  das  Trappeln  ihrer  Pferde,  man  sieht  sie  sogar 
die  Patronen  abbeifsen  und  die  Zündhütchen  aufsetzen ;  bald  giebt  es  auf 
beiden  Seiten  Gefallene  (nach  Grosse,  Die  Anfänge  der  Kunst). 


496  Sechstes  Kapitel. 

Jongleure  ein  Stand  berufsmäfsiger  Darsteller  des  Miraus  hervor- 
geht. Diese  beiden  Kardinalpunkte  in  der  Ursprungsgeschichte 
des  Mimus  und  der  Mimen  wollen  wir  ein  wenig  näher  betrachten. 
Wunderlich  mutet  uns  das  Kostüm  der  Schauspieler  der 
altattischen  Komödie  an,  wie  es  zahlreiche  Terrakotten  zeigen. 
Der  Schauspieler  hat  ein  Tricot  über  seinen  Körper  gezogen 
und  trägt  darunter  Leib  und  Hinterteil  stark  gepolstert.  So 
tritt  er  auf  mit  Riesenbauch  und  Riesenpodex.  Als  Kleidung 
trägt  er  den  kurzen  Chiton  und  Mantel  der  untern  Klassen; 
darunter  ragt  der  mächtige  Lederphallus  hervor,  der  ganz  den 
riesigen  Breitedimensionen  des  Leibes  entspricht1).  Auf  den 
unteritalischen  Vasenbildern,  welche  Scenen  aus  der  Phlyaken- 
posse  darstellen,  zeigen  sich  genau  dieselben  wunderlichen  Ge- 
schöpfe. In  trefflichen  Abbildungen  treten  sie  uns  in  dem  Auf- 
satz von  Heydemann  „Phlyakendarstellungen"  entgegen2).  Nur 
unterscheidet  sie  von  den  attischen  Schauspielern  die  gröfsere 
Skurrilität  und  Verzerrtheit  der  Masken3).  Also  die  altattische 
Komödie  und  den  Phlyax  trennen  zeitlich  Jahrhunderte,  räumlich 
Hunderte  von  Meilen.  Sie  haben  keinen  direkten  Zusammen- 
hang mit  einander.  Als  der  phlyakische  Schauspieler  noch  immer 
der  alte,    pudelnärrische  Tropf   war,    war   der  Schauspieler  der 


x)  Vgl.  Körte,  Archäologische  Studien  zur  alten  Komödie ;  Jahrbuch  des 
kaiserlich  deutschen  archäologischen  Instituts  1893,  S.  61—93. 

Körte  weist  nach  (S.  71),  dafs  erst  seit  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  die 
Phallusträger  aufhören,  die  attische  Bühne  zu  bevölkern,  und  dafs  erst  seit 
dieser  Zeit  die  Kostümierung  des  Schauspielers  der  Wirklichkeit  entspricht. 

2)  Jahrbuch  des  kaiserlich  deutschen  archäologischen  Instituts  1886, 
S.  260  folg. 

3)  Man  hat  ursprünglich  einen  ziemlich  engen  Zusammenhang  zwischen 
der  alten,  attischen  Komödie  und  dem  unteritalischen  Phlyax  angenommen. 
Seit  Panofka  (Arch.  Zeitung  1849,  S.  17  folg.)  auf  der  bekannten  Berliner 
Phlyakenvase  eine  unmittelbare  Wiedergabe  des  Prologs  der  Frösche  zu  er- 
kennen glaubte  und  Welcker  ihm  lebhaft  beistimmte  (Arch.  Zeitung  1849, 
S.  84  folg.)  galt  die  Nachbildung  attischer  Scenen  auf  unteritalischen  Vasen 
als  gesicherte  Thatsache.  Nach  den  Zweifeln,  die  Heydemann  erhob,  hat 
besonders  Zielinski  in  seinen  Quaestiones  comicae  (Petersburg  1887)  mit 
aller  Entschiedenheit  den  Zusammenhang  zwischen  der  aristophanischen  Ko- 
mödie und  dem  Phlyax  verworfen.   (S.  80  folg.) 


Die  griechische  Hypothese  Tor  Philiation.  497 

altattische n  Komödie  schon  längst  in  der  neuen  Komödie  ein 
bürgerlich-gesitteter  Herr  geworden.  Dennoch  ist  er  ursprüng- 
lich dasselbe  wunderliche  Geschöpf  wie  der  phlyakische.  Und 
weiter,  auch  der  römische  Atellanenspieler  zeigt  noch  im  ersten 
Jahrhundert  vor  Christus  diese  uralte,  seltsame  Erscheinungsform. 
Mit  baumelndem  Phallus  und  im  Trikot  schneidet  er  seine  Gri- 
massen auf  den  Scherben  römischer  Thongefäfse,  die  Pasqui  ver- 
öffentlichte *)• 

Wir  haben  gelernt,  dafs  der  Phlyax  die  italische  Form 
des  Mimus  ist  und  die  Atellane  wieder  die  oskisch-lateinische 
Form  des  italischen  Mimus  (oben  S.  *232folg.).  Auch  der  griechische 
Mime  hat  den  Phallus  noch  bis  in  die  späten,  byzantinischen 
Jahrhunderte  hinein,  bis  zum  Ende  des  Mittelalters,  getragen). 
Also  der  Phallus  ist  das  eigentliche  Kennzeichen  des  mimischen 
Schauspielers,  der  Phlyake  und  der  Atellanenspieler  tragen  ihn, 
weil  sie  Mimen  sind.  Die  Komödie  ist,  wie  wir  zeigen  konnten, 
nach  aristotelisch -peripatetischer  Theorie  durch  das  Hinzu- 
treten des  Mimus  zum  Chorgesang  entstanden:  also  auch  der 
komische  Schauspieler  trägt  den  Phallus,  weil  er  ursprünglich 
ein  Mime  ist. 

Wo  stammt  dieses  sonderbare,  den  Abscheu  des  modernen 
Menschen  erregende  Symbol  her? 

Auf  den  korinthischen  Vasen  fehlen,  wie  Löschke  und 
Furtwängler  zuerst  beobachtet  haben,  Silene  und  Satyrn  gänz- 
lich. Die  dionysische  Ausgelassenheit  wird  auf  ihnen  durch 
höchst  groteske  Tänzer  dargestellt,  die  meist  mit  langen  Barten, 
mit  eng  anliegendem,  bis  auf  die  Oberschenkel  reichendem, 
gegürtetem  Chiton  versehen  sind.  Unter  dem  Gürtel  quillt  die 
massive  Fülle  des  Bauches  hervor,  dem  ganz  das  mächtige 
Gesäfs  entspricht,  vorne  hängt  der  riesige  Phallus.  Die  Ge- 
stalten sehen  aus,  als  wären  sie  direkt  von  der  mimischen 
Bühne  heruntergestiegen. 

Diese  grotesken  Tänzer  im  Gefolge  des  Dionysos  sind  nun  gar 


i)  Vgl.  oben  S.  9. 

*)  Vgl.  oben  S.  258  Anm.  und  unten  S.  502  Anm.  1. 

Reieb,    Mimus.  32 


498  Sechstes  Kapitel. 

keine  Menschen,  es  sind,  wie  Körte  (a.a.O.  S.91  u.  92)  nachgewiesen 
hat,  bakchische  Dämonen.  Von  zweien  unter  ihnen  wissen  wir 
aus  den  Beischriften  auf  dem  von  Dümmler  (Ann.  1885  tab.  D) 
veröffentlichten  Gefäfs  sogar  die  Namen,  Eunous  und  Ophelander, 
Gutmann  und  Nutzmann,  zwei  höchst  passende  Bezeichnungen 
für  die  Dämonen  der  ewig  neu  gebärenden  Naturkraft,  aus  der 
aller  Segen  und  alle  Fülle  fliefst  (vgl.  Löschke  a.  a.  0.  S.  521). 
Tanzend  treten  diese  Fruchtbarkeitsdämonen  in  unsern  Gesichts- 
kreis; sie  sind  die  ältesten  Darsteller  des  mimischen  Tanzes. 

Was  aber  hat  der  mimische  Tanz,  der  doch  überall  auf  der 
Erde  verbreitet,  der  aufs  tiefste  in  der  menschlichen  Natur 
und  Art  begründet  ist,  mit  diesen  Dämonen  zu  thun?  Auch  das 
kann  uns  die  Ethnologie  lehren. 

Gewifs  wird  der  mimische  Tanz  und  auch  der  mimische 
Tiertanz  bei  allen  möglichen  Gelegenheiten  geübt,  wie  gerade 
das  mimische  Verlangen  sich  regt.  Aber  neben  dem  rein 
ästhetischen  Zweck  haben  diese  Tänze  zugleich  einen  dämonisch- 
zauberischen. Die  mimischen  Tänzer  sind  vielfältig  gar  nicht 
einfache  Nachahmer  der  Tierwelt  sondern  stellen  unter  dem 
Bilde  von  Tieren  zugleich  Naturdämonen  dar  und  wollen  durch 
den  Zauber  des  Tanzes  Fruchtbarkeit  des  Landes  wie  der  Tiere 
erzeugen. 

Ein  Beispiel  diene  zur  Illustration.  Wir  haben  von  dem 
mimischen  Tiertanz  der  Indianer  Nordamerikas  gesprochen  und 
des  Bärentanzes  gedacht;  nicht  weniger  mimisch  ist  auch  der 
Stier-  oder  Bisontentanz  der  Mandan.  Sie  erscheinen  dabei 
in  Bisonfell  gekleidet,  der  Kopf  des  Tieres  mit  den  langen 
Stirnhaaren  fällt  ihnen  ins  Gesicht,  sie  tanzen  in  gebückter 
Stellung  und  geben  die  Bisonstimme  von  sich.  Zu  diesen 
Bisonten  gesellen  sich,  wenn  auch  in  geringerer  Zahl,  noch 
als  Klapperschlangen,  weifsköpfige  Adler,  Biber,  Raubvögel, 
Bären,  Antilopen,  Wölfe  und  Prairiewölfe  verkleidete  Tänzer. 
Die  Verkleidung  ist  dabei  eine  möglichst  realistisch-naturgetreue. 
Diese  Tänzer  „handeln  nach  den  Vorschriften  ihrer  Rollen,  in- 
dem sie  die  natürlichen  Gebärden  jener  Tiere  nachzuahmen 
suchen.    Sie  schlagen  sich  unter  einander  und  machen  tausenderlei 


Die  griechische  Hypothese  yor  Philistion.  499 

Gebärden.  Ein  jedes  Tier  benimmt  sich  nach  seiner  natürlich- 
eigentümlichen ^.rt,  die  Biber  z.  B.  teilen  lautklatschende  Schwanz- 
schläge aus,  die  Bisonten  rollen  und  wälzen  sich  im  Sande,  die 
Bären  schlagen  mit  ihren  Tatzen  oder  Brauten"  u.  s.  w.  Der 
wichtigste  unter  diesen  Tiertäuzen  ist  aber  der  Büffeltanz,  die 
andern  Tiere  sind  nur  als  in  Verbindung  mit  den  Büffelherden 
auftretend  gedacht. 

Anscheinend  haben  diese  Büffeltänze  nur  den  ästhetischen 
Zweck  mimischer,  humoristisch  -  realistischer  Darstellung.  In 
Wirklichkeit  hat  aber  dieses  vier  Tage  lang  mit  grofsem  Eifer 
fortgesetzte  Tanzfest,  während  dessen  sich  andere  junge  Indianer 
den  ernstesten  Martern  und  Bufsübungen  unterziehen,  zugleich 
einen  höchst  reaien  und  praktischen  Zweck.  Das  Ganze  ist  ein 
Zauber,  durch  welchen  die  Büffelherden  angelockt  und  erfolg- 
reiche Jagden  herbeigeführt  werden  sollen.  Darum  werden  am 
Schlüsse  des  Festes  die  Büffeltänzer  zum  Schein  mit  stumpfen 
Pfeilen  erschossen,  und  es  heifst.  nun  hätte  man  Fleisch  in 
Hülle  und  Fülle.  Soweit  die  Schildeiung  des  Prinzen  zu  Wied1). 
Catlin,  der  diesen  Tanz  gleichfalls  bei  den  Mandat)  beobachtete, 
erkannte,  dafs  diese  mimische  Tanz-Cereni'»nie  die  Fruchtbarkeit 
der  Büffel  befördern  sollte,  er  sah  auch,  wie  mit  einem  un- 
geheuren Phallus  das  Bespringen  der  Büffelkühe  mimisch  dar- 
gestellt wurde').  So  erlangt  hier  der  mimische  Tanz  eine  dämo- 
nisch-zauberische Bedeutung  und  tritt  in  die  nächste  Beziehung 
zu  den  Naturdämonen  und  ihren  Festen.  Dieser  Büffeltanz  wird 
im  Frühling,  wenn  die  Natur  zu  erneuter  Fruchtbarkeit  erwacht, 
getanzt8). 


')  Prinz  zu  Wied  a.  a.  0.  N,  S.  172-180. 

2)  Catlin,  O-Kee-Pa.  A  religious  Ceremony  and  other  Customs  of  the 
Mandans.  London  1867  (auf  einem  'folium  reservatum '  zu  pag.  22  besonders 
gedruckt  für  'scientific  men,  who  study  not  the  proprieties  of  man  but  Man', 
während  das  Werk  selbst  für  'general  reading'  bestimmt  ist)  nach  Liebrecht, 
Zur  Volkskunde,  Heilbronn  1879,  S.  395. 

3)  Vgl.  Prinz  zu  Wied  a  a  0.  II,  S.  172.  Wie  die  Nordeuropäer  kennen 
auch  die  nordamerikanischen  Indianer,  besonders  Mandan  und  Mönnitarri 
einen  weiblichen  Vegetationsdämon,  „die  Alte,  welche  nie  stirbt",  die  Korn- 
alte   der  Germanen.     Ihr   wird   im  Frühjahr  ein  Naturfest   zur  Befruchtung 

32* 


500  Sechstes  Kapitel. 

Aus  Mannhatdts  herrlichen»  Buche  „Wald-  und  Feldkulte" 
und  seinen  „Mythologischen  Forschungen"  kann  man  lernen,  dafs 
auch  in  Europa  solchen  phallischen,  mimischen  Ceremonien  und 
Tänzen  naturgewaltige  Zauberkräfte  in  der  primitiven  Auffassung 
beigelegt  werden.  So  kämpfen  am  Pfingstfeiertage  Hedemöppel, 
„der  Vertreter  des  Vegetationsalten  vom  vergangenen  Jahr"  und 
Lovfrosch,  „der  Darsteller  des  im  Frühling  wieder  einziehenden 
Wachtsthumsgeistes"  mit  einander  um  die  „Greitje".  Lovfrosch, 
der  mit  grünen  Zweigen  und  Blättern  dicht  umwickelt  ist  und 
einen  riesigen  Phallus  trägt,  tanzt  als  Sieger  mit  der  „Greitje" 
unter  allerhand  sehr  indecenten  Pantomimen1).  Überhaupt 
werden  um  Pfingsten,  beim  Einzug  des  Frühlings,  gerne 
mancherlei  mimische  Tänze  uud  Pantomimen  aufgeführt,  bei 
denen  die  Naturgeister  auftreten,  der  Kornalte  und  die  Kornalte, 
in  England  Lord  and  Lady  of  the  May,  die  der  Vegetation  zu 
neuer  Fruchtbarkeit  verhelfen2). 

Das  Eigentümliche  aber  ist,  dafs  bei  diesen  Begehungen 
sich  zu  den  dargestellten  Vegetationsdämonen  auch  noch  allerlei 
Charakterfiguren  hinzufinden,  so  dafs  aus  dieser  Verbindung  der 
Vegetationsdämonen  mit  dem  mimischen  Tanze  sich  eine  Art 
mimisch-burlesker  Ethologie  und  Biologie,  so  etwas  wie  der  An- 
fang eines  primitiven  Mimus,   entwickelt3).     Diese  wundersame 


des  Getreides  unter  allerhand  TäDzeu  gefeiert  (a.  a.  0.  II,  S.  182);  hier  hat 
also  der  Tanz  einen  ähnlich  zauberischen  Zweck  wie  der  Bisontentanz. 
»)  Vgl.  Mannhardt,   M.  F.  S.  143  folg. 

2)  Dabei  spielt  dann  das  phallische  Element  als  Symbol  der  Natur- 
kraft eine  wesentliche  Rolle.  Vgl.  Mannhardt,  B.  K.  S.  416,  417,  469, 
521  u.  ö. 

3)  Mannhardt  zählt  B.  K.  S.  349  folg.  die  mancherlei  Charakterfiguren 
auf,  die  sich  in  der  Begleitung  des  Pfingstl  oder  Pfingstling  (des  Vege- 
tationsdämonen) beim  Pfingstritt  befinden.  Ich  gebe  hier  seine  Schilderung 
von  Seite  352:  ;,Aus  Oberbaiern,  wo  der  Pfingstling  Wasservogel  heifst, 
wird  uns  vom  Jahr  1840  eine  noch  viel  buntere  Zusammensetzung  der 
Pfingstproeession  zu  Sauerlach  geschildert.  Im  berittenen  Zuge  befanden 
sich  folgende  Personen  resp.  Gruppen:  1)  der  Nachtwächter,  2)  Feldmesser, 
3)  Trompeter,  4)  Trommelschläger,  5)  Fähndrich,  6)  vierzig  Mann  Reiterei, 
7)  beruhter  Kaminfeger,   8)  Hanswurst,   9)  Schleifer,    10)  Doctor,    11)  Hans- 


Die  griechische  Hypothese  vor  Phili-tion.  501 

Entwickelung  findet  sich  nach  Mannhardts  Nachweisen  fast  überall 
in  ihren  Anfängen  in  Europa,  und  da  wir  sie  nun  eben  auch  in 
Amerika  nachgewiesen  haben,  ist  wohl  kein  Zweifel,  dafs  hier 
ein  Grundgesetz  der  primitiven,  dramatischen  Kunstentwickelung 
vorliegt. 

Diese  Ethologie  und  Biologie,  die  sich  an  die  Naturfeste 
anknüpft,  ist  allerdings  überall  in  ihren  Anfängen  stecken  ge- 
blieben. Nur  die  dämonisch -phallischen,  mimischen  Tänzer  der 
Hellenen,  die  uralten  (*T[iot  rt'koiow,  die  Ethologen  und  Bio- 
logen haben  diese  Anfänge  zur  Vollendung  gebracht  und  das 
grofse,  biologische  Drama  geschaffen,  das  schliefslich  als  mimische 
Hypothese  zum  Weltdrama  werden  konnte,  weil  seine  primi- 
tiven Anfänge  sich  in  der  ganzen,  weiten  Welt  regen.  Hier 
haben  eben  die  Hellenen  einen  grofsen  Menschheitsgedanken, 
den  alle  Völker  dunkel  und  verworren  dachten,  zur  Klarheit  und 
zur  vollendeten  Ausgestaltung  geführt. 

Also  auf  diesem  Wege  erhielt  der  dramatische,  mimische 
Tanz  der  hellenischen  Urzeit  in  den  Fruchtbarkeitsdämonen  seine 
prädestinierten  Darsteller.  Aus  den  mimischen  Tänzen  erwuchs 
im   Laufe    für  uns  nicht  mehr    zu    zählender  Jahrhunderte    das 


grobian,  12)  Krügelmann,  13)  der  Vater  der  Hocbzeiterin,  14)  die  Haupt- 
person, der  im  belaubten  Reisergestell  steckende  Wasservoge)  zu  Pferd  (also 
der  Fruchtbarkeitsdämon,  vgl.  oben  Lovfrosch),  15)  der  Landrichter,  16)  Bauer, 
17)  Stadtherr  und  Bauermädchen,  18)  der  Klausner,  li>)  ein  Weibsbild  mit 
Kindern.  20)  ein  Tiroler,  21)  Bacchus  auf  einem  Fafs  sitxend,  22)  der  Pfarrer, 
23)  der  schwarze  Teufel,  auf  welchen  öfter  geschossen  wurde,  -J4I  der  bairische 
Hiesel.  25)  Hansel  und  Gretel-3  von  Stroh  auf  einem  Schleifrad,  26)  der 
Küchenwagen  mit  zerbrochenen  Hausgeräten,  27)  die  Hexe  auf  einer  Eggen- 
schleife mit  einer  Flachsschwinge,  28 1  Martin  Luther  und  Kätchen,  29)  ein 
Schäfer  mit  seinem  Hund,  30)  Hochzeitsleute  mit  Braut  und  Bräutigam, 
31)  Jäger.  32 1  Rofsdieb,  33)  Gensdarmen.  Jede  dieser  Masken  sagt  einige 
ihrem  Charakter  entsprechende  Verse  her*'.  Die  bunte  Fülle  dieser  Masken 
enthält  alle  Elemente  zu  einer  höchst  wirkungsvollen,  mimischen  Ethologie 
und  Biologie.  Mannhardt  bemerkt  hierzu  (a.  a.  0.  S.  367):  „Ohne  die  innere 
Einheit  einer  dramatischen  Aktion  ist  hier  doch  ein  Ansatz  zu  einer  dra- 
matischen Schaustellung  gemacht,  deren  Figuren  von  der  starren  Natur- 
gebundenheit sich  loslösen  und  der  Freiheit  eines  menschlichen  Charakters 
entgegenstreben-. 


502  Sechstes  Kapitel. 

primitive  mimische  Drama,  das  mit  einiger  Sicherheit  schon  im 
neunten  Jahrhundert  für  den  Peloponnes  vorauszusetzen  ist. 
Seit  diesen  Zeiten,  die  noch  jenseits  Homers  liegen,  erbte  der 
dramatische,  mimische  Darsteller  von  den  Vegetationsgeistern 
den  Phallus  und  die  sonstige,  burleske  Tracht,  die  er  noch  im 
15.  Jahrhundert  nach  Christus  in  ßyzanz  trägt. 

Ich  will  zu  den  mannigfachen  Zeugnissen  für  diese  seltsame 
und  für  moderne  ästhetische  Begriffe  unverständliche  und  un- 
erträgliche Ungestalt  der  Mimen  und  ihren  fortdauernden  Bestand, 
die  ich  oben  (S.  258)  angeführt  habe,  noch  ein  neues  hinzufügen. 
In  den  Scholien  zu  Gregor  von  Nazianz,  die  unter  dem  Namen 
des  Abtes  Nonnus  gehen,  wird  ausdrücklich  dieser  sonderbare 
Ausputz  der  Mimen  als  noch  immer  gebräuchlich  gekennzeichnet1). 
Gregor  lebte  in  der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts; 
das  Scholion  könnte  also  frühestens  aus  dem  fünften  Jahrhundert 
stammen,  wahrscheinlich  aber  ist  es  aus  späterer  Zeit2).  Also 
in  dieser  Ungestalt  hat  der  Mime  nicht  nur  in  frühen  vor- 
christlichen Jahrhunderten  hellenische  Bauern  und  die  Bürger 
volkreicher  Städte  und  später  auch  die  hellenistischen  Könige, 
die  Nachfolger  König  Philipps  und  König  Alexanders,  und  noch 
später   das  Volk  und  die  Kaiser  von  Rom  in   der  Kapitale  der 


r)  liegt  di  tov  (paXXov  ^'Jjj  tigrjxu/tifv  iv  töJ  ngwnp  X6y(i),  ort  uxa&uQtög 
ng  17V  aiäotop  ifttov  alOXQov,  (p  ofiotovai  viiv  oi  /uT/lwi  dtg/biccTtrov,  o  xaXovot 
ipaXriraQtov  xal  tovro  'i^ovaiv  iv  rotg  dtovvatoig,  ifogovvxtg  iv  naiyvioig  xal 
koQtd^ovaiv,  iv  (p  tot«  hiXovv  ixeivoi.  (Migue,  Patrol.  gr.  Bd.  XXXVI,  S.  1047). 
Das  Citat  des  Nonnus  bezieht  sich,  wie  ich  sehe,  auf  das  Scholion  I,  57  niQt 
tüv  (pallüv,  Migne  a.  a.  0.  S.  1006.  Für  diese  wichtige,  unsere  Auffassung 
so  kräftig  stützende  Stelle  habe  ich  mich  bei  Herrn  Geheimrat  Hermann  Diels 
zu  bedanken,  der  die  Güte  hatte,  mich  auf  Estratti  inediti  dai  codici  greci 
della  biblioteca  Mediceo-Laurenziana  publicati  da  E.  Piccolomiui  pag.  XLI, 
Annali  delle  Universita  Toscane  Tomo  Sedicesimo  hinzuweisen,  wo  diese 
Stelle  citiert  wird. 

2)  Nach  Patzig,  Ue  Nonnianis  in  IV  orationes  Gregorii  Nazianzeni  com- 
mentariis,  Progr.  Leipzig  1890  hat  der  Verfasser  dieser  Scholien  zu  Anfang  des 
sechsten  Jahrhunderts  in  Syrien  oder  Palästina  gelebt.  Die  Autorschaft  des 
Nonnus  beruht  auf  späterer,  unhaltbarer  Kombination.  Um  jene  Zeit  lebte  auch 
Choricius,  und  von  ihm  wissen  wir,  wie  sehr  der  Mimiis  damals  im  Orient  blühte. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  503 

Macht  und  Bildung,  des  Geschmackes  und  der  Intelligenz  er- 
götzt, sondern  noch  den  Beifall  des  christianisierten,  griechisch- 
römischen Volkes  und  selbst  der  allerchristlichsten  Kaiser  von 
Byzanz  gefunden.  Sie  alle  haben  an  diesen  obscönen,  für  unsern 
Geschmack  gänzlich  zu  perhorrescierenden  Gestalten  keinen  An- 
stofs  genommen  und  selbst  die  christlichen  Prediger,  die  so  sehr 
gegen  den  Mimus  eifern  und  alle  seine  Schwächen  und  Fehler 
grell  beleuchten,  kümmern  sich  wenig  um  diesen  Aufzug.  Selbst 
Johannes  Chrysostomus  erinnert  nicht  ein  einziges  Mal  daran. 
Man  hatte  sich  eben  seit  uralten  Zeiten  gewöhnt,  hier  nur  das 
religiöse  Symbol  zu  erkennen,  das  dem  Mimen  als  Erben  alter 
Elementargeister,  als  Diener  des  Dionysos  gebührte.  Nur  dar- 
aus erklärt  sich  die  Duldsamkeit  auch  der  christlichen  Jahr- 
hunderte. 

Die  primitiven,  mimischen  Dramen  im  Peloponnes,  in 
Böotien.  in  Sizilien,  in  Süditalien  hatten  in  den  verschiedenen 
Städten  die  verschiedensten  Namen.  Erst  vom  vierten  Jahrhundert 
beginnt  für  sie  alle  der  Begriff  Mimus  herrschend  zu  werden, 
und  seitdem  verschwinden  allmählich  alle  anderen,  lokalen  Be- 
zeichnungen und  gehen  im  Begriff  Mimus  unter1).  Der  Phlyax 
wie  auch  der  böotische  Mimus  und  das  lakonische  Dikelon 
werden  später  direkt  mit  dem  Mimus  identifiziert  *).  Jedenfalls 
aber  stammt  der  Phlyax  aus  dem  Peloponnes,  ebenso  wie  die 
sizilische  Burleske,  und  ist  dem  peloponnesischen,  besonders  dem 
megarischen  Mimus  wesensgleich.  Man  hat  sich  daran  gewöhnt, 
alle  diese  Burlesken  „dorische  Komödie"  zu  nennen,  aber  keine 
von  ihnen  hat  je  Komödie  geheifsen.  Sie  waren  niemals  ein 
Komosgesang,  eine  xtö/uwd/a,  und  hatten  kein  Chorlied*).  Nur 
die  alte,  attische  Komödie  hat  einen  Chor,  weil  der  zweite  Be- 
standteil in  ihr  neben  dem  Mimus  das  Phalluslied  ist.  Auch 
kennen    die  Alten   garnicht    den  Begriff   ..dorische   Komödie"4). 


')  Vgl.  oben  S.  262. 

2)  Vgl.  oben  S.  232  u.  256  folg. 

3)  Vgl.  Grysar,  De  Doriensinm  comoedia,  S.  200  folg. 

M  Es    giebt    keinen    einzigen    griechischen  oder  römischen  Autor,    der 
den   tenninus  technicus  „Dorische  Komödie"    verwendet:    dieser  Begriff  i*t 


504  Sechstes  Kapitel. 

Diese  Burlesken  gehören  alle  zum  grofsen  Reiche  des  Mimus, 
das  Aristoteles  und  die  Peripatetiker  begründet  haben,  gestützt 
auf  die  Volksauffassung,  die  seit  dem  vierten  Jahrhundert  alle 
burlesken  Darsteller  Mimen  nannte.  Wir  kennen  also  nur  einen 
dorischen  Mimus,  daneben  giebt  es  auch  einen  ionischen.  Wenn 
man  also  den  Ausdruck  „dorische  Komödie"  gebrauchen  will,  so 
mufs  man  bedenken,  dafs  sie  ein  Mimus  ist  und  zum  Schlufs  in 
die  grofse,  mimische  Hypothese  mündet,  wie  ja  auch  der  so- 
genannte dorische  Komöde  dasselbe  phallische  Kostüm  trägt  wie 
der  Mime. 

Der  Lebensnerv  des  dorischen  wie  des  gesamten  Mimus 
überhaupt  ist  die  burleske  Ethologie  und  Biologie,  die 
Schöpfung  und  Darstellung  realistisch-humoristischer  Typen  und 
Figuren,  vermittels  deren  ein  reales  Bild  des  Lebens  sich  ge- 
stalten läfst;  das  iambistisch- spottende  Element  des  Phallus- 
liedes  tritt  ganz  anders  wie  in  der  attischen  xeofiwdia  stark  zu- 
rück. Da  sind  die  Typen  des  megarischen  Mimus  (mäsonische 
Typen),  des  sizilischen,  des  italischen  Mimus  (Phlyax)  durchaus 
wesensgleich.  Und  diese  Typen  und  Themen  des  dorischen 
Mimus  kehren  in  der  mimischen  Hypothese  von  neuem  wieder. 

So  findet  der  Narr  des  Mimus,  der  fiu>QÖg,  sein  Prototyp 
schon  in  den  dorischen  Narren  Morychos,  Momar,  Marikas. 
Der  närrische,  kahlköpfige  Phlyake  bei  Heydemann  (a.  a.  0. 
S.  300,  Nr.  o)  hat  völlig  die  Gestalt  des  kahlen  Narren  im 
Mimus.  Neben  diesen  Narren  kennt  der  dorische  Mimus  auch 
Närrinnen,  so  Acco,  Mormo  und  Alphito1).  Acco  sieht  ihr  Spiegel- 


von  den  Modernen  gebildet  worden  nach  der  Stelle  bei  Aristoteles  in  der 
Poetik  cap.  3,  §  3  (p.  1448a  Bekker):  öib  xctl  avtinotovvTat  irjg  it  tqay^diag 
xal  ii)s  xwfitpSCag  ol  dojQing,  rrjg  /niv  xtofxudlng  oi  MsyaQtlg  x.  t.  X.  Also  die 
Dorier  haben  die  Komödie  überhaupt  erfunden,  von  einer  „dorischen  Komödie" 
steht  aber  nichts.  Mit  dieser  Stelle  hebt  jeder  moderne  Darsteller  der 
„dorischen  Komödie"  an,  so  z.  B.  Grysar,  so  Lorenz. 

1)  Diese  sechs  Typen  hat  Zielinski  mit  glänzendem  Scharfsinn  als  zur 
dorischen  Komödie  gehörig  erwiesen  Quaestiones  comicae  S.  90  folg.,  wo  alles 
einschlägige  Material  gesammelt  ist.  Mogv/og,  Mw^uq,  MttQCxag,  Moquw 
(MoQfxolvxri)  gehören  zu  demselben  Stamme  ^u^i  wie  /utoqog  und  das  davon 
abgeleitete  lateinische  Lehnwort  morio. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  505 

bild  für  eine  wirkliche  Person  an,  ähnlich  wie  der  philistionische 
stupidus,  der  Scholasticus  (vgl.  o.  S.  461,  Nr.  33).  Als  Närrin 
erweist  die  Mormo  schon  ihr  Name. 

Acco,  Mormo  und  Alphito  gelten  nun  merkwürdigerweise 
zugleich  als  Popanze  und  als  Kinderschreck1).  Sie  werden  also 
nicht  liebreizende  Huldinnen,  wie  sie  die  Burleske  auch  liebt  — 
man  denke  an  die  verführerischen  Ehebrecherinnen  im  Mimus  — , 
sondern  alte  Hexen  gewesen  sein.  Nun  sind  greuliche,  alte 
Weiber  eine  Spezialität  des  Mimus,  in  dem  sie  als  Trunkenbolde, 
Zauberinnen,  Kupplerinnen  und  Gelegenheitsmacherinnen,  als 
Hökerinnen  und  Bordellwirtinnen  ihr  unheimliches  "Wesen 
treiben.  Ich  erinnere  z.  B.  an  die  Kupplerin  Gyllis  in  des 
Herondas  erstem  Mimiambus,  an  die  alten  Hexen,  die  Dionysos, 
dem  Pseudoherakles,  in  den  durchaus  mimischen  Unterweltsscenen 
bei  Aristophanes  in  den  Fröschen  nacheilen,  weil  er  ihnen  die 
Zeche  nicht  bezahlt  hat,  die  er  als  unglaublicher  Esser  und 
Trinker  aufsummte.  Im  römischen  Mimus  kommen  wiederholt 
alte  Weiber  als  Stief-  und  Schwiegermütter : ),  als  Ammen  und 
alte  Dienerinnen  )  vor.  Greuliche  Weibertypen  finden  sich  auch 
auf  den  Atellanendarstellungen  aus  der  ersten  Kaiserzeit,  die 
Pasqui    veröffentlichte.     Wir  werden  diesem  Typus  noch  in  den 


1)  Vgl.  Et.  M.  uuQuoXvxtiov  •  7n>oawxfiot>  Initfoßov,  nayä  irp  AJoguw. 
Lukian  Philops.  2  Jlrjyäaovs  xal  Xiuaiqag  xal  ruQyovac  xai  KvxXnmac  xa 
oaa  TotaiTci  ntcpo  ali.oxöra  xal  ifyüoitc:  uv&iSta  tiuiSüy  «/"#**?  xr\Xtiv  6ivä- 
utva  hi  irjv  AloQfitu  xai  jrjv  Aapiav  dtöiöiuv.  Plutarch,  De  stoic.  rep. 
p.  1040  B.  oiiiiv  dutiftyti  if^'Axxovg  xal  jijc  'Ahftioic,  dt'  wv  iä  naiddotu  iov 
xaxorjxolttv  al  ywuTxts  avtiqyovaiv.  Die  weiteren  Belegstellen  bei  Röscher, 
Myth.  Lex.  unter  Acco  und  besonders  bei  Zielinski  a.  a.  0.  S  95—99. 

*)  Vgl.  oben  S.  76. 

3)  Hierher  gehört  besonders  die  cata  carisa  (vgl.  oben  S.  90);  von  ihr 
heilst  es  bei  Angelo  Mai,  Auct.  cl.  111,449  Placidi  glossae :  carisa,  vttus  lena 
percallida,  unde  et  in  mimo  r'allaces  ancillae  cata  carisia  appellantur.  Ähnlich 
Pauli  Festus  p.  44:  carissam  apud  Lwilium  (gemeint  ist  der  Mimograph) 
vafram  signißcat.  Thes.  nov.  lat.  bei  Angelo  Mai,  Auct.  cl.  VIII,  98:  carisa, 
vetus  lena  et  litigosa,  unde  et  fallacex  ancillae  carisae  dicuntur,  qvia  veritate  carent. 
Gloss.  Vatic.  Angelo  Mai  Auct.  cl.  VI,  514:  carisa  lena  est  dupla.  Gloss.  1  : 
dori :   carissa  lena  vetus  et  litigosa,  ancilla  dolosa  failax. 


506  Sechstes  Kapitel. 

spezifisch-mimischen  Partien  bei  Petron  begegnen.  Ich  verweise 
vorläufig  nur  auf  die  Priapuspriesterin,  welche  Encolp  von  seiner 
seltsamen  Krankheit  mit  allerhand  Zaubermitteln  heilen  will.  In 
dem  Stile  dieser  alten  Hexen  haben  wir  uns  wohl  Acco,  Mormo 
und  Alphito  zu  denken.  Wie  konnten  aber  diese  drei  unholden 
Schwestern  das  laute,  lustige,  uneingeschränkte  Lachen,  den 
risus  mimicus,  erwecken  und  zugleich  ein  Gegenstand  des 
Grauens  sein? 

Aus  dem  Zusammenhang  des  Mimus  mit  den  Fruchtbarkeits- 
dämonen heraus  will  dieses  Problem  gelöst  werden.  Acco  gehört 
zum  sanskritischen  Akka,  d.  h.  Mutter1).  Alphito  erinnert  an 
äX(firov  (Gerste,  Getreide);  also  auch  Alphito  ist  eine  Mutter 
wie  Acco,  nämlich  eine  „Gerstenmutter  oder  Kornmutter".  Da 
sind  also  wie  die  männlichen  Geister  der  Vegetation  auch  die 
weiblichen  auf  die  mimische  Bühne  gestiegen.  Wird  ja  doch 
neben  dem  Kornalten  auch  die  Kornalte,  neben  dem  Lord  auch 
die  Lady  of  the  May,  neben  dem  Pfingstl  auch  die  Greitje  in 
den  mimischen  Tänzen  und  Begehungen  bei  den  Frühlingsfeiern 
zur  Darstellung  gebracht,  wie  wir  soeben  sahen. 

So  fleht  auch  Aristophanes  nicht  nur  den  männlichen  Vege- 
tationsdämon, Dionysos,  als  Schützer  seiner  Komödie  an, 
sondern  auch  Demeter,  die  Kornalte: 

Du  keuscher  Orgien  Königin, 
Demeter,  sei  in  Gnaden  nah 
Und  schirme  selber  deinen  Chor; 
Lass  sonder  Fehl'  den  Tag  hindurch 

Mich  spielen,  tanzen,  singen, 
Mich  sagen  noch  viel  Spafsiges, 
Mich  sagen  auch  viel  Ernstliches, 
Und,  wenn  ich  würdig  deines  Fest's 
Gespielet  hab',  gespottet  hab', 

Den  Siegeskranz  mich  schmücken! 

(Frösche,  v.  389—398,  Droysen.) 

J)  Fick,  Vergleichendes  Wörterbuch4,  S.  1. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  507 

Wie  die  männlichen  Dämonen  der  Fruchtbarkeit  und  Fülle 
sich  durch  eine  grofse  Korpulenz  auszeichnen,  hat  man  wohl  auch 
die  weiblichen  ursprünglich  ähnlich  gedacht;  und  wie  diese  Vor- 
stellung die  Erscheinung  der  männlichen  Mimen  und  Phlyaken 
beeinflufste,  hat  sie  anfänglich  auch  auf  die  weiblichen  eingewirkt. 
So  sind  im  südlichen  Rufsland  zusammen  mit  allerhand  phallisch- 
pblyakischen  Schauspielerterrakotten  Figuren  von  häfslichen, 
korpulenten,  alten  Weibern  gefunden  worden,  denen  der  mächtige 
Wanst  ebensowenig  wie  den  männlichen  Phlyaken  fehlt1).     Wir 


t)  Ich  gebe  hier  die  Beschreibungen  Stephanis  (Compte-Rendu  de  la  com- 
mission  imperiale  archeologique  pour  l'annee  1868,  S.  56):  „Die  auf  Tafel  I, 
Nr.  15  wiedergegebene  Terrakotta -Figur  schliefst  sich,  indem  sie  eine 
schwangere  Alte,  wie  es  scheint,  bettelnd  darstellt,  an  zwei  schon  früher 
von  mir  bekannt  gemachte  ähnliche  Statuetten  an  und  hat  ohne  Zweifel 
auch  ähnlichen  Zwecken  gedient.  Sie  ist  mit  einem  Kopftuch,  mit  einem 
Chiton  und  einem  Himatiou  versehen  und  hat  das  letztere  bis  in  die  Höhe 
des  Kopfs  empor  gezogen.  Sie  blickt  seitwärts  in  die  Höhe  und  streckt  beide 
Hände,  von  denen  jedoch  die  eine  verloren  gegangen  ist,  vorwärts,  als  ob  sie 
von  Jemandem  Etwas  erbitte.  Von  der  bunten  Färbung,  mit  welcher  ur- 
sprünglich die  ganze  Statuette  versehen  war,  ist  nur  die  weifse  Untermalung 
erhalten."  (C.-R.  pour  l'annee  1869,  S.  164  und  165):  „Hingegen  lassen 
uns  die  beiden,  einander  sehr  ähnlichen  alten  Frauen,  welche  auf  Tafel  III 
Nr.  9  und  10  abgebildet  sind,  in  dieser  Beziehung  durchaus  nicht  im  Un- 
gewissen. Offenbar  liegt  da  der  Ton  auf  dem  namentlich  in  den  Gesichts- 
zügen ausgeprägten  Charakter  gemeiner  Häfslichkeit,  woran  die  Besitzerin, 
wie  uns  auch  andere  in  ihrer  Umgebung  gefundene  Statuetten  hinreichend 
zeigen,  besonderen  Gefallen  fand.  Die  Gesichtszüge  beider  Alten  nähern 
sich  in  der  That  denen  der  Affen.  Im  Übrigen  jedoch  zeigen  sie  nichts 
Besonderes.  Beide  stehen  in  ruhiger  Haltung,  tragen  rothe  Schuhe,  blaue 
Untergewänder  und  haben  die  Obergewänder  über  den  Hinterkopf  gezogen. 
Die  linke  Hand  ist  beide  Male  gesenkt;  die  rechte  unter  dem  Gewand  auf 
die  Bru<t  gelegt.  Eine  andere  Figur  zeigt  einen  noch  gemeineren  Charakter, 
indem  sie  fast  genau  das  Motiv  wiederholt,  welches  wir  schon  durch  eine 
zweite,  ebenfalls  in  der  grofsen  Blisnitza  gefundene  Terrakotta-Figur  kennen  ge- 
lernt haben.  Eine  mit  einem  Unter-  und  Obergewand  bekleidete  schwangere 
Alte  macht  sich  über  ihren  Zustand  selbst  lustig,  indem  sie  das  Gewand  mit 
der  rechten  Hand  so  über  den  untern  Teil  des  Gesichts  zieht,  dafs  ihre 
Körperformen  besonders  deutlich  hervortreten.  Wie  weit  jedoch  der  Ge- 
schmack an  Gestalten  dieser  Art  in  jener  Zeit  und  in  jenen  Gegenden  ver- 
breitet war,  lehren  aufser  den  beiden  erwähnten  Figuren  noch  zwei  andere, 


508  Sechstes  Kapitel. 

haben  hier  eben  weibliche  Phlyaken  oder  Miminnen,  deren  Pro- 
totyp Acco,  Mormo  und  Alphito  sind. 

Wie  die  fülligen  Vegetationsgeister  den  Menschen  alle  Fülle 
und  allen  Segen  spenden,  so  kann  von  ihnen  auch  alles  Verderben 
kommen.  Wie  Apollo  mit  seinen  Pfeilen  die  Pest  erregt,  so  sind 
auch  die  Baumgeister,  die  Elfen  und  Elbe  die  Erreger  böser 
Krankheiten1).  So  sendet  der  Baumgeist  das  krankheiterregende, 
gespenstisch-kleine  Ungeziefer*)  Auch  die  Kobolde  und  Wichtel- 
männer treiben  ja  allerhand  bösen  Schabernack.  Und  Frau  Holle, 
die  den  Guten  ein  Schutz  ist,  ist  für  die  Bösen  ein  übler  Dämon. 
In  den  Kreis  dieser  niederen  Dämonen  gehören  die  Kerkopen 
und  Kobalen,  die  griechischen  Kobolde,  wie  sie  schon  Lobeck 
(Aglaophamus  S.  1312)  nennt;  sie  spielen  gleichfalls  in  der  grie- 
chischen Burleske   eine  Rolle.     Ich   erinnere   an   die  Phlyaken- 

welche  ebenfalls  im  südlichen  Rufsland  gefunden  worden  sind.  Noch  greller 
tritt  die  Geistesrichtung  der  Frau,  deren  Nachlafs  uns  beschäftigt,  in  den 
drei  übrigen  weiblichen  Figuren  hervor,  welche  im  Anschlufs  an  mehrere 
der  männlichen  Figuren  Frauen  im  Zustand  der  Trunkenheit  darstellen.  Die 
eine  hat  zwar  keine  runzligen  Gesichtszüge,  giebt  jedoch  durch  ihren  dicken, 
schwammigen  Bauch  und  die  lang  herabhängenden  Brüste  ihr  schon  etwas 
vorgerückteres  Alter  zu  erkennen.  Aufser  roten  Schuhen  trägt  sie  ein  blaues 
Obergewand,  welches  sie,  indem  sie  sich  auf  einer  Erhöhung  niedergelassen 
hat,  so  über  die  Schultern  geworfen  hat,  dafs  der  Bauch  und  die  Brüste  frei 
bleiben.  Mit  der  Linken  hat  sie  ein  tiefes  Trinkgefäfs  erfafst  und  drückt  es 
an  ihre  Brust,  indem  sie,  entzückt  über  den  Wohlgeschmack  des  bereits 
genossenen  Weines,  das  Haupt  zurück  wirft  und  die  Rechte,  ihn  preisend,  er- 
hebt." Vgl.  auch  Weifshäupl,  'Eif^/ut^U  ägxaioXoyixri  1891  na^aaraan  yQttias 
[j.e&vov0T)s  S.  144  folg. 

1)  Mannhardt,  B.  K.  S.  66. 

2)  Deshalb  umwandelt  man  z.  B.  bei  Zahnschmerzen  einen  Birnbaum 
rechts  und  umfafst  ihn  mit  den  Worten: 

Birnbaum,  ich  klage  dir 

Drei  Würmer,  die  stechen  mir, 

Der  eine  ist  grau 

Der  andre  ist  blau 

Der  dritte  ist  rot 

Ich  wollte  wünschen,  sie  wären  alle  drei  tot. 
Vgl.  Mannhardt,   Baumkulte  S.  14.     Damit   soll  der  Baumgeist,  der  die  Er- 
reger der  Schmerzen  sendete,  um  Hilfe  angerufen  werden. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion  509 

darstellung  bei  Wieseler,  Denkm.  IX,  9,  S.  56  folg  ,  auf  der  Herakles, 
die  Kerkopen  in  Gestalt  von  Aflfen  in  einem  Tragkorb  mit  sich 
führend,  erscheint,  xoßcdti«  wird  bei  Harpocration  mit  ßuofsoXoyja 
(Spafsmacherei)  wiedergegeben,  also  ist  der  Kobold  ein  Spafs- 
macher  und  zwar  meist  ein  übeler1).  Die  Kerkopen  haben  nach 
der  Sage  (vgl.  Herodot  VII,  216.)  den  Herakles  fielcipnv;  og  mit 
ihrer  Spafsmacherei  geärgert  und  ergötzt.  In  der  deutschen 
Volkssprache  heifst  es  „lachen  wie  ein  Kobold". 

So  können  wir  es  verstehen,  wie  Acco  und  Alphito,  die 
Kornmütter,  und  ihre  Schwester  Mormo,  die  Närrin,  als  ge- 
spenstische Naturgeister  Grauen  erwecken  und  andererseits  als 
burleske  Typen  das  Volk  belustigen.  Damit  aber  kein  Zweifel 
bleibt,  dafs  sie  wirklich  von  vornherein  in  den  Kreis  der  Ele- 
mentargeister gehören,  hat  Hesychius  noch  eine  Erinnerung  be- 
wahrt, dafs  die  „Mormonen"  umherschweifende  Dämonen  seien*); 
das  sind  die  Geister  der  Natur  eben  alle.  So  erscheinen  neben 
den  männlichen  Naturgeistern  die  weiblichen  in  der  alten,  dori- 
schen Burleske.  Von  ihnen  stammen  dann  weiterhin  die  Rollen 
der  Weiber  im  Mimus,  soweit  sie  ältlich  sind,  wie  die  cata  carisa 
und  ihre  Verwandten.  Auch  hier  zeigt  sich  ein  ununterbrochener 
Zusammenhang  zwischen  dem  uralten,  burlesken  Drama  der  Dorier 
und  der  späteren,  mimischen  Hypothese. 

Den  dorischen  Mimus  zeichnet  von  vornherein  das  Be- 
streben aus,  sich  zu  einem  gröfseren,  dramatischen  Gebilde  auszu- 
gestalten. Das  wird  schon  der  megarische  Mimus  gewesen  sein, 
sonst  hätten  die  attischen  Komiker  sich  nicht  davor  verwahrt: 
ihr  Drama  megarisch  zu  machen3).    In  Sizilien  ward  der  Mimus 

!)  Vgl.  besonders  Lobeck  a.  a.  0.  S.  1312.  Aristoteles,  H.  A.  VIII,  12, 
nennt  den  Vogel  Otos: 

xoßalog  xtti  uiutjt^g. 

a)  uoofiövctf  nlmmpmt  Satuovas;  an  diese  Dämonen  denkt  Xenophon 
bei  seiner  Bemerkung:  (foßovvrai  tovs  ntlTaöiat;  wonig  uoßuoj«,  naidäqut 
(Hellenica  IV,  4,  17). 

3)  Ekphantides: 

MiyaQtxijs 
xojuojiSiai  aaii    ov  ditiu'   ija^ivouriv 
tb  dottua  Alfyantxor  7lou7r. 


510  Sechstes  Kapitel. 

zu  einem  grofsen  Schauspiel  zuerst  durch  Epicharm  am  Anfang 
des  fünften  Jahrhunderts,  und  wenn  die  epicharmische  Burleske 
auch  nie  Mimus  geheifsen  hat,  so  hat  Epicharm  sie  auch  gewifs 
nicht  Komödie  getauft.  Bald  nach  Epicharm  aber  hat  man  die 
sizilische,  volksmäfsige  Burleske  Mimus  genannt.  Der  italische 
Mimus  gestaltete  sich  am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  durch 
Rhinthon,  Blaesos  und  Skiras  zu  einem  gröfseren  Drama.  Aber 
dieses  hatte  keinen  Bestand,  es  starb  mit  seinen  Schöpfern  wieder 
aus.  Nur  seine  Grundlage,  der  auf  niederer  Stufe  der  Kunst 
festgehaltene,  eigentliche  Volks-Mimus,  hielt  sich  durch  alle  Jahr- 
hunderte in  den  Tiefen  des  Volkslebens  lebendig. 

Solange  eben  der  Mimus  nur  an  den  Naturfesten  von  fest- 
frohen Bauern  oder  später  auch  von  den  Bürgern  der  Städte 
zur  Aufführung  gebracht  wurde,  sank  er  stets  wieder  von  der 
künstlerischen  Höhe,  auf  die  ihn  ab  und  zu  grofse  Dichter  er- 
hoben, zur  primitiven  Volksburleske  herab.  Erst  als  etwa  seit 
dem  vierten  Jahrhundert  aus  dem  Stande  der  wandernden  Jong- 
leure sich  auch  ein  fester  Stand  mimischer  Schauspieler  und 
eine  grofse  Anzahl  wandernder  Mimentruppen  herausgebildet 
hatte,  wurde  jede  neue  Errungenschaft  in  der  mimischen  Kunst 
durch  mündliche  Überlieferung  erhalten  und  durch  unausgesetzte 
Kunstübung  weiter  fortgebildet.  Denn  diese  wandernden  Mimen- 
truppen im  vierten  vorchristlichen  Jahrhundert  hatten  zugleich 
auch  die  Dichter  der  mimischen  Burlesken  unter  sich,  ja  sie 
waren  Dichter  und  Schauspieler  in  einer  Person,  da  sie  nicht 
selten  werden  extemporiert  haben,  ist  doch  noch  Philistion  zu- 
gleich Mime  und  Mimograph.  Das  alles  war  mit  eine  der  wesent- 
lichsten Ursachen  für  die  fortdauernde  Existenz  des  mimischen 
Dramas,  das  nun  am  Beginn  der  alexandrinischen  Epoche  sich 
als  mimische  Hypothese  zu  konstituieren  begann. 

Ich  erinnere  hier  nun  kurz  an  die  einzelnen  Phasen  der  Ent- 
wickelung  des  mimischen  Schauspielers  aus  dem  Jongleur,  dem 
rJ-ccvfjbtxtonoioi; ,  wie  ich  im  Mimusprogramm ,  dem  ich  hier  dem 
Inhalte  und  zum  Teil  auch  dem  Wortlaute  nach  folge,  mich  be- 
müht habe,  sie  festzustellen.  Dieser  Prozefs  ist  ein  so  überaus 
wichtiger  und  welthistorischer,    weil   der  alte  Mime  ja  auch  der 


Die  griechi8i  he  Hypothese  vor  Phili^tion. 

Vater  des  modernen  Schauspielers  ist,  der  sich  heute  noch  gerne 
Mime  nennt.  Zwischen  dem  alten  Tragöden  und  Komöden  und 
dem  modernen  Schauspieler  dagegen  giebt  es  nicht  den  min- 
desten, direkten,  historischen  Konnex;  sie  sind  auch  in  jeder 
Beziehung  wesensungleich. 

Gaukler  hat  es  in  Hellas  seit  uralten  Zeiten  gegeben.  Noch 
viel  älter  ist  die  Jonglerie  im  Oriente,  wo  sich  die  profane 
Gaukelei  aus  der  religiösen  entwickelt  hat.  Ich  erwähne  nur, 
um  ein  allgemein  bekanntes  Beispiel  zu  gebrauchen,  die  Stäbe 
der  ägyptischen  Priester,  die  zu  Schlangen  werden  vor  dem  An- 
gesichte Pharaos,  und  an  Aarons  Schlangenstab,  welcher  sie 
verschlingt1).     Noch   heute    steht    die  Jonglerie  dort,  besonders 


')  Von  religiöser  Jonglerie  der  Mönnitari-Indianer  berichtet  der  Prinz 
zu  Wied  (a.a.O.  II,  S.  268— 270)  folgendes:  „Er  l  Charbonneau)  liefs  mir 
sagen,  dafs  in  einer  gewissen  Hütte  die  Weiber  einen  Medecine-Tanz  auf- 
führten, und  wir  eilten  daher  augenblicklich  dorthin  .  .  .  Die  in  der  Mitte 
stehende  Frau  gab  vor,  eine  Mayskolbe  im  Leibe  zu  haben,  welche  sie  nun 
durch  Medecine  hervor  zaubern,  und  auch  wieder  verschwinden  la«sen  könne. 
Wir  waren  schon  etwas  zu  spät  gekommen,  die  Mayskolbe  war  schon  wieder 
verschwunden:  allein  Charbonneau  redete  mit  den  Leuten,  denen  wir  ein 
Geschenk  von  zehn  Staugen  Tabak  machten,  und  die  Gaukelei  wurde  noch 
einmal  wiederholt.  Unser  Tabak  wurde  auf  einen  auf  Weidenzweigen  auf- 
geschichteten Haufen  von  gebratenen  Bisonrippen  auf  den  Boden  geworfen, 
wo  derselbe  bis  zu  dem  Ende  der  Darstellung,  welche  eine  gute  Mays- 
ernte  im  künftigen  Jahre  erzielen  sollte,  liegen  blieb  .  .  .  Die 
Medezine-Frau  tanzte  allein  nahe  am  Feuer,  dem  sie  ihre  Hände  zuweilen 
nahe  hielt  und  sie  dann  nahe  an  das  Gesicht  legte.  Sie  begann  endlich  zu 
schwanken,  die  Arme  vor  und  rückwärts  zu  bewegen  und  diese  convul- 
sivischen  Anstrengungen  nahmen  immer  zu.  Indem  sie  nun  den  Mund  rück- 
wärts bog,  sah  man  bald  die  Spitze  einer  weifsen  Mayskolbe  ihren  Mund 
ausfüllen,  und  immer  mehr  vorrücken,  wobei  ihre  Convulsionen  zunahmen". 
Prinz  zu  Wied  macht  hierzu  die  Bemerkung:  „Von  ähnlichen  Gaukeleien 
erzählt  auch  d'Orbigny  von  den  Völkern  des  südlichen  Americas,  den  Pata- 
gonen.  Araucanern,  Puelchen  (s.  dessen  Voyages  T.  IL  pag.  91).  In  Brasilien 
habe  ich  nichts  Ähnliches  gesehen."  Wie  diese  indianischen  Gaukeltänze 
gern  in  mimische  Tänze  und  mimische  Darstellung  übergehen,  haben  wir 
schon  gesehen  und  es  ist  interessant,  dafs  auch  dieser  Gaukeltanz  die 
Fruchtbarkeit  der  Natur  zauberisch  erwecken  soll,  ähnlich  wie  der  mimische 
BüffeltanE. 


512  Sechstes  Kapitel. 

in  Indien  und  Ostasien,  in  voller  Blüte  und  ist  eine  der  wich- 
tigsten Unterhaltungen  der  Vornehmen  wie  des  Volkes.  Vom 
Oriente  zogen  die  Gaukler  nach  den  aufblühenden  Städten 
Ioniens,  Griechenlands  und  Süditaliens ').  Aber  bald  fand  sich 
bei  den  Griechen  genug  unruhiges  Volk,  das  sich  mit  Erfolg 
bemühte,  die  Künste  dieser  Gaukler  nachzuahmen,  und  mit 
der  neu  erworbenen  Fertigkeit  sich  gleichfalls  auf  die  Wander- 
schaft begab2). 

Schon  bei  Homer  finden  wir  die  Kybisteteren,  die  man  wohl 
mit  Recht  für  Gaukler  erklärt3).  Seit  Homer  erfahren  wir  dann 
Jahrhunderte  lang  von  diesen  fahrenden  Leuten  nicht  das  Min- 
deste. Sicherlich  haben  sie  auch  nach  ihm  weiter  existiert,  aber 
die  spärlichen,  poetischen  Quellen,  die  wir  aus  jenen  Zeiten  be- 
sitzen, hatten  nicht  den  mindesten  Grund,  sie  zu  erwähnen.  -Die 
Poeten  jener  Zeit  gehören,  soweit  wir  überhaupt  von  ihnen  etwas 
besitzen,  der  idealistischen  Richtung  an,  sie  schreiten  auf  den 
Höhen  der  Menschheit  einher,  der  arme  Gaukler  aber,  der 
&av(jiccT07ioi,6g,    gehört    der  Hefe    der  Gesellschaft   an,    er    pafst 


!)  Beständig  sind  noch  in  neuerer  und  neuester  Zeit  Jongleure  aus  dem 
Orient  gekommen  und  haben  hier  staunende  Verwunderung  erregt;  so  ist  Böttiger 
zu  einer  seiner  kleinen  Abhandlungen  über  die  griechische  Jonglerie  durch  die 
staunenerregenden  Produktionen  eines  indischen  Jongleurs  aus  Madras  geführt 
worden,  der  sich  in  Deutschland  produzierte.    Kl.  Schrift.  Bd.  III,  S.  335  — 361. 

2)  Auch  heute  ist  der  Gaukler  ein  Zugvogel,  der  aber  gemäfs  der  un- 
geheuren Entwickelung  des  modernen  Verkehrs  nicht  nur  von  Stadt  zu 
Stadt,  von  Land  zu  Lande,  sondern  gleich  von  einem  Weltteil  zum*  andern 
zieht.  Alle  Jahre,  8  oder  14  Tage  vor  Weihnachten,  findet  auf  dem  Dom  zu 
Harnburg  ein  grofser  „Künstlerjahrmarkt"  statt  für  den  ganzen  Kontinent 
und  auch  für  Amerika.  Dort  finden  sich  auch  die  Agenten  ein  und  die 
Direktoren  der  grofsen  Varietetheater.  Ein  „Künstler",  der  über  eine 
wirklich  „grofse  Nummer"  verfügt,  wandert,  wenn  das  Glück  gut  ist,  von 
Petersburg,  Berlin  und  Paris  nach  New- York,  San  Francisco,  nach  Capstadt 
oder  nach  Sidney  in  Australien  oder  nach  Singapore  und  Hongkong;  und 
auf  unseren  Varietes  sieht  man  Engländer  und  Amerikaner,  Spanier  und 
Franzosen,  Neger,  Chinesen  und  Japaner.  Ich  erinnere  auch  an  den  wan- 
dernden amerikanischen  Riesencircus  Barnum  und  Bailey,  der  jetzt  den  ganzen 
Kontinent  heimsucht. 

3)  Ilias  XVI,  750;  XVIII,  604. 


Die  griechische  Hypothese  Tor  Philistion.  513 

nicht  in  ihre  Gedichte.  Erst  aus  nachhomerischen  Zeiten  erhalten 
wir  wieder  authentische  Kunde  von  der  Existenz  der  Gaukler 
durch  ein  schwarzfiguriges  Vasenbild,  das  Salzmann  „  Necropole  de 
Camiros"  S.  37  veröffentlichte.  Dort  findet  sich  ein  Kunstreiter 
hoch  zu  Rofs,  während  ein  anderer  mit  kühnem  Schwünge  von 
hinten  aufs  Pferd  springt.  Die  Zuschauer  sitzen  auf  ansteigenden 
Bänken  und  bezeigen  ihren  Beifall1). 

Jedenfalls  scheint  sich  die  Zahl  der  griechischen  Jongleure 
seit  der  homerischen  Zeit  aufserordentlich  vermehrt  zu  haben. 
Wenn  sie  nicht  schon  am  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  Land  und 
Meer  erfüllt  hätten,  so  würden  Plato  und  Xenophon  sie  gewifs 
nicht  so  häufig  erwähnt  haben  (vgl.  oben  S.  247,  Anm.  1).  Wie 
auch  Aristoteles  und  die  Peripatetiker  auf  diese  Jongleure  im 
Zusammenhang  mit  den  Mimen  achteten,  haben  wir  schon  ge- 
sehen (S.  246).  So  ungeheuer  zahlreich  wurden  sie,  dafs  man 
keine  Panegyris,  keine  Festversammlung,  ja,  dafs  man  kein 
kleineres  Fest,  kaum  ein  Gelage  ohne  ihre  Vorführungen  sich 
denken  konnte.  Davon,  wie  sie  scharenweise  von  Ort  zu 
Ort  zogen  und  stellenweise  ordentlich  überschwemmend  auf- 
traten, kann  sich  niemand  ein  rechtes  Bild  machen,  der  an 
die  sogenannten  Künstler  und  Gymnastiker  unserer  Zeit  denkt, 
die  nur  vereinzelte  Kunstreitergesellschaften  und  das  Vari6t6- 
theater  oder  die  Spezialitätenbühnen  mit  ihren  Parterregym- 
nastikern,  zahmen  Zauberkünstlern  und  dergleichen  kennt. 

Um  sich  eine  Vorstellung  von  der  Zahl  und  Verschieden- 
artigkeit der  griechischen  Gaukler  zu  machen,  müssen  wir  an 
die  Jongleure  des  Mittelalters  denken,  die  bei  grofsen  Festen  zu 
Hunderten  und  Tausenden  auftraten 2).  Da  gab  es  Springer, 
Kunstreiter,  Feueresser,  Zauberkünstler  und  viele  andere 
Gattungen  von  Künstlern  ganz  wie  im  griechischen  Altertum. 

Zur  Hochz,eit  Alexanders  und  der  Statira  zogen  wie  zu 
den    grofsen,    mittelalterlichen  Ritterfesten,   z.  B.  zum  Mainzer 

*)  Siehe  auch  die  Abbildung  bei  Schreiber,  Kunsthistorischer  Bilder- 
atlas, Taf.  XXIV.  0.  Rossbach  hatte  die  Güte,  mir  diese  Darstellung  nach- 
zuweisen. 

*)  Schulz,  „Höfisches  Leben".     Bd.  I,  S.  566—577. 

Kai  eh,  Mimue.  oo 


514  Sechstes  Kapitel. 

Fest,  viele  Hunderte  griechischer  Jongleure;  dort  stiefsen  sie 
mit  zahllosen  orientalischen  Gauklern  zusammen,  und  es  scheint 
ein  heftiger  Wettstreit  zwischen  der  uralten,  orientalischen  und 
der  neuen,  hellenischen  Jonglerie  entbrannt  zu  sein.  So  weit 
wir  aus  den  spärlichen  historischen  Nachrichten  über  dieses 
sonderbare  Ereignis  urteilen  können,  scheinen  die  hellenischen 
Schüler  sich  ihrer  orientalischen  Meister  im  höchsten  Grade 
würdig  gezeigt  zu  haben1). 

Alle  gauklerischen  Kunststücke,  mögen  sie  von  Taschen- 
spielern, Seiltänzern,  Akrobaten  oder  sonstigen  Jongleuren  aus- 
geübt werden,  verlangen  gewisse  mimische  Fertigkeiten.  Wenn 
wir  heutzutage  auf  den  Jahrmarkt  gehen,  die  letzte,  volkstümliche 
Zufluchtstätte  des  Gauklers,  so  sehen  wir  ihn  vor  seiner  Bude 
mit  lauter  Stimme  das  Publikum  haranguieren,  und,  wenn  er 
geschickt  ist,  durch  alle  möglichen  mimischen  Produktionen  die 
Aufmerksamkeit  auf  sich  lenken,  bevor  seine  eigentliche  Vor- 
stellung beginnt.  So  hören  wir  bei  Plato  von  Jongleuren,  welche 
die  Stimmen  von  Tieren  nachahmen,  das  Wiehern  der  Pferde 
und  das  Brüllen  der  Stiere,  und  auch  sonstige  Naturlaute 
wiedergeben,  so  das  Rauschen  der  Flüsse,  das  Tosen  des  Meeres 
und  Donnerschläge  (vgl.  oben  S.  419).  Als  Agesilaus  aufgefordert 
wurde,  einen  Gaukler  anzuhören,  der  die  Stimme  der  Nachtigall 
imitierte,  meinte  er:  „Ich  habe  sie  selber  gehört".  (Plutarch  Agesi- 
laus XXI,  6.)  Überhaupt  mufste  der  Verkehr  mit  dem  Publikum 
die  fahrenden  Leute  in  mimischer  Hinsicht  anregen. 

Der  Gaukler  fühlte  sich  dem  niederen  Publikum,  das  ihn 
umdrängte,  weit  überlegen.  Er  war  weit  gereist  und  viel  ge- 
wandert, wie  jener  Syrakusier  in  Xenophons  Gastmahl.  Bald 
war  er  in  Syrakus,  bald  in  Athen,  dann  tauchte  er  in  den 
Städten  des  Peloponnes  auf,  vielleicht  war  er  auch  schon  in  den 
reichen  Städten  Grofs-Griechenlands  gewesen,  die  ein  besonders 

')  Einzelne  Gaukler  Alexanders  gewannen  solchen  Ruhm,  dafs  ihre 
Namen  noch  erhalten  sind,  so  Skyranos  aus  Tarent,  Philistides  aus  Syracus, 
Heraclit  aus  Mitylene  (Athen.  I,  20a).  Ja,  Aristonikos  aus  Karystos,  ein 
Sphärist  Alexanders,  erhielt  von  den  Athenern  das  Bürgerrecht  und  sogar 
ein  Standbild  (Athen.  I,  19  a). 


i 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  515 

ergiebiges  Feld  für  die  Thätigkeit  der  Jongleure  waren,  vielleicht 
hatte  ihn  der  Zufall  gar  nach  Afrika,  nach  Cyrene  verschlagen. 
So  hatte  er  denn  viel  gesehen  und  erfahren,  und  das  Gefühl 
der  Überlegenheit  ist  bei  ihm  erklärlich  genug.  Diese  Stimmung 
zeigen  die  Worte  des  Syrakusiers  in  Xenophons  Symposion: 
„Gut,  rief  hier  Charmides,  aber  Du,  Syrakusier,  worauf  bist  Du 
stolz,  gewifs  auf  den  Knaben?    0  nein,  versetzt  jener,   durchaus 

nicht. Nun,  und  worauf  denn  sonst?    Beim  Zeus,  auf  die 

Thoren;  deun  diese  sehen  meine  Gaukeleien  mit  an  und  schaffen 
mir  dadurch  täglich  mein  Brot  Ach,  darum  also,  sagte  Phi- 
lippus,  hörte  ich  Dich  neulich  zu  den  Göttern  flehen,  sie  möchten, 
wo  Du  weilst,  zwar  einen  recht  reichen  Erntesegen,  aber  einen 
Mifs wachs  an  Verstand  eintreten  lassen*. 

Ich  habe  die>e  Stelle  angeführt,  um  zugleich  zu  zeigen,  in 
welch'  freiem  Verkehr  diese  Gaukler  selbst  mit  dem  besseren 
Publikum,  dazu  gehören  doch  sicher  die  Gäste  des  Kallias, 
standen.  Wir  hören  sogar  noch  später,  wie  dieser  Syrakusier  mit 
einem  der  Gäste,  mit  Sokrates,  einen  Streit  vom  Zaune  bricht, 
weil  er  glaubt,  dafs  die  sokratischen  Gespräche  die  allgemeine 
Aufmerksamkeit  von  seinen  Gaukeleien  ablenkten.  Und  doch 
wird  der  Gaukler  für  diese  Anmafsung  nicht  hinausgeworfen, 
sondern  man  legt  den  Streit  in  gütlicher  Weise  bei  und  beruhigt 
den  Aufgeregten  (vgl.  auch  oben  S.  360). 

So  sahen  denn  diese  Gaukler  mit  freiem  Blick  alle  Ver- 
hältnisse an  und  beobachteten  die  Charaktere  des  Volkes,  wie 
sie  sich  ihnen  zeigten.  Diese  Kenntnis  des  Volkscharakters  ge- 
hörte mit  zu  einer  erfolgreichen  Ausübung  ihres  Gewerbes.  Da 
sie  nun  beständig  auf  Reisen  waren,  was  ja  im  Altertum  für 
eines  der  Hauptbildungsmittel  galt,  so  hatten  sie  vielfältig  Ge- 
legenheit, mancherlei  Typen  zu  studieren  und  auch  die  Volks- 
charaktere in  den  verschiedenen  griechischen  Städten  aufzufassen. 
Dahin  gehört  wohl,  was  Athenaeus  (1, 19  f.)  erzählt:  der  Gaukler 
Nymphodorus  habe  die  Einwohner  von  Rhegium  zuerst  wegen  ihrer 
Feigheit  verspottet. 

So  wie  es  die  heutigen  Gaukler  auf  den  Jahrmärkten  thun, 
werden    wohl    die  damaligen  Jongleure    die  Menge  vor  Beginn 

33* 


516  Sechstes  Kapitel. 

ihrer  Kunststücke  harauguiert  haben.  Das  thun,  wie  wir  sahen 
(S.  97  u.  ö\),  noch  in  späten  nachchristlichen  Jahrhunderten  die 
Mimen  von  der  grofsen  Bühne  herunter.  Wenn  ihnen  dabei  unter 
den  Umstehenden  irgend  jemand  besonders  seltsam  und  dumm 
erscheint,  so  äffen  sie  ihm  in  lächerlicher  Weise  nach  und 
stellen  ihn  zur  Freude  des  Publikums  mimisch  dar.  Derartige 
Kunststücke  werden  die  griechischen  Jongleure  auch  nicht 
verschmäht  haben.  So  berichtet  Diodor1),  wenn  eine  Volks- 
versammlung stattfand,  hätte  Agathokles,  der  von  Natur  zur 
mimischen  Darstellung  und  Possenreifserei  neigte,  oft  ein- 
zelnen Leuten ,  die  ihm  durch  ihr  sonderbares  Wesen  auf- 
fielen, nachgeäfft  und  sie  mimisch  dargestellt;  dann  wäre 
das  Volk  in  Gelächter  ausgebrochen,  als  wenn  es  einen  Etho- 
logen  oder  Jongleur  sähe2).      Nun  erzählt  Athenaeus  nach  dem 


')  Vgl.  oben  S.  224,  Anm.  1. 

2)  Von  solchen  Gaukeleien,  sowie  mancherlei  anderen,  welche  direkt  in 
mimische  Ethologie  und  Biologie  übergehen,  berichtet  Athenaeus  I,  19 d— 20b: 
£9av/j.aCexo  de  nao'  "EXXtjOi  xai  'Ptopatoig  Maxofag  6  nXävog  6  ^AXe^avdoevg, 
dg  eXeye  xai  &tjqiov  xottpeiv  o  avxb  eavxb  xaxeo&iei '  (bg  xai.  CTjTeiO&at  ptyQ1 
viiv  xb  Maxoeov  &rjQiov  xi  laiiv.  lnoix\<Se  cJ"  ovxog  xai  nana  Tag  Aoiaxox  e"Xovg 
anontag  xai  äveyivcoaxe  drjfiooiq,  did  xi  6  ijXiog  dwei  fiev  xoXvfißä  d"  ov,  xai 
did  xi  ol  anöyyoi  av/univovai  /uev  övyxco&cuvitovxai  d'  ov,  xai  xa  xexoadoaxfia 
xaxaXXdxxexai  fiev  oDyifcxai,  d'  ov.  AfrqvaToi  de  no&eivtp  xä}  vevQOOndaxr)  xr\v 
axt\vr\v  edwxav  dq?'  yg  ivefhovOiav  ol  neoi  EvQinidtjV.  IdftrjvaToi  de  xai  Evqv- 
xXeidtjv  tv  tw  &edxoa)  dveßxrjaav  uexd  xtäv  neoi  Ala/i/Xor.  ißav/na^exo  de  xai 
3evo(pwv  b  &av(iaxo7ioi6g,  og  /ja&rjxrjV  xaxiXme  Koaxtaflevr]  xov  <PXidaiov  og 
TivQ  xe  avxöuaxov  tnoiei  dvatfivea&ai  xai  dXXa  noXXd  (pdofiaxa  ixe^fäxo,  ä(f>' 
(bi>  e*l-ioxa  xtiiv  dvd-odtnwv  xr\v  ötdvoiav.  xoiovxog  i\v  xai  NvfX(fbd(i)Qog  b  &avfiaxo- 
nowg,  og  nooaxoovaag,  ^Prjyivoig  <5g  <prjOi  Aovqig^  ttg  deiXiav  avxovg  eOx(ü\ije 
ngdüxog.  Evdixog  de  6  yeXioxonoibg  rjvdoxifxet  (ufiov/uevog  naXaiaxdg  xai  nvxxag, 
(5g  (frfGiv  Aoioxöt-evog.  2,'xqutojv  <f  ö  Taoavxtvog  £&avfxd£exo  xovg  di&voapßovg 
fiifxov/xevog'  zag  de  xi&aoqjdiag  ol  neoi  xov  tl-'lxaXiagOh'djvav,  og  xai  KvxXwna 
eiarjyaye  xeoexiCovxa  xai  vavuybv  'Odvaaia  OoXoixi£ovxa,  b  avxog  qrqoi.  Aionei- 
&rjg  de  6  Abxqog,  äg  (prjOi  'Pavödtj/jog,  naoayevo/uevos  elg  Sr\ßag  xai  iino^oiwii- 
fxevog  o'ivov  xvareig  /ueaxdg  xai  yaXaxxog  xai  xavxag  dno&Ußiav  dvtfxäv  iXeyev 
Ix  xov  axöfiaxog.  xoiavxa  nottüv  rjvdoxifjei  xai  Norjf4(ov  b  rj&oXbyog.  Ivdol-ot 
d'  r^auv  xai  nao'  AXe^dpdQ(i)  ^av/^axonoioi  Zxvuvog  b  Taqavxivog,  tPiXiai(drlg 
6  Zvgaxovotog,  'HgdxXecxog  b  MiTvXrjvaiog.  yeyövaat  de  xai  nXdvot  ivdo^oi, 
btv  Kr](f)ia6d(OQog  xai  IlavtaXiwv.  <t>iXinnov  de  xov  yeXaxonotov  Sevo(f(öv 
/uvrj/uovevet  (symp.  1).    So  bildet  also  hier  Jonglerie,  Mimus  und  Pantomimus, 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  517 

Berichte  des  Phanodemus.  in  Theben  sei  ein  Gaukler  Dio- 
peithes  aufgetreten,  der  hätte  sich  Schläuche  mit  Wein  und 
Milch  untergebunden,  hätte  sie  heimlich  gedrückt  und  dann 
behauptet,  die  hervorquellende  Milch  und  den  Wein  aus  seinem 
Munde  zu  speien.  Durch  solche  Kunst  hätte  auch  Noemon, 
der  Ethologe,  grofsen  Ruhm  gewonnen.  Also  ist  dieser 
Noemon  offenbar  ein  Gaukler,  der  zugleich  ein  Ethologe.  das 
heifst,  ein  Mime  ist.  Freilich  scheint  er  als  Gaukler  glücklicher 
gewesen  zu  sein  denn  als  Mime.  Damit  aber  kein  Zweifel  ent- 
stehe, dafs  dieser  Mime  Noemon  wirklich  zugleich  ein  Jongleur 
ist,  so  fährt  Athenaeus  unmittelbar  an  derselben  Stelle  fort: 
„Ruhm  gewannen  auch  bei  Alexander  die  Jongleure  Skymnos  aus 
Taren t,  Philistides  aus  Syrakus  und  Heraklit  aus  Mitylene4*. 
Also  mimische  Charakterdarstellungen  gehörten  nach  allgemeiner 
griechischer  Auffassung  zur  Art  des  Jongleurs.  Er  war  jeden- 
falls schon  in  sehr  früher  Zeit  eine  Art  Mime. 

Eine  der  wichtigsten  Produktionen  der  Gaukler  ist  der 
Tanz;  wir  besitzen  zahlreiche  Darstellungen  von  tanzenden 
Gauklern  und  Gauklerinnen  aus  dem  griechischen  Altertum1).   Oft 


Spafsmacherei  und  mimisches  Puppenspiel  ein  buntes  Durcheinander,  wie  es 
das  eben  auch  im  Leben  bildet,  wo  mimische  Kunst  und  Jonglerie  direkt 
in  einander  übergehen. 

x)  Solche  Gaukeltänze  beschreibt  nach  den  Bildwerken  besonders  Heyde- 
mann,  Die  Vasensammlung  des  Museo  Nazionale  zu  Neapel,  Berlin  1872. 
So  heifst  es  bei  ihm  (Beschreibung  von  Nr.  2201):  „Ein  bärtiger  Satyr,  der 
die  Doppelflöte  bläst,  hockt  zwischen  zwei  andern  Satyrn.  Der  eine  von 
diesen,  dem  der  erstbeschriebene  Satyr  sein  Gesicht  zuwendet,  streckt  beide 
Arme  nach  hinten  aus  und  will  über  den  vor  ihm  stehenden  Skyphos  (F.  34) 
hinüberspringen :  der  andere  läfst  einen  Skyphos,  den  er  mit  den  Zehen  fest- 
hält, auf  der  Sohle  des  nach  hinten  emporgehobenen  Fufses  balanciren:  er 
scheint  auf  dem  rechten  Fufse  vorwärts  zu  springen  und  streckt  den  Kopf 
und  die  linke  Hand  zurück,  um  seine  Gefährten  auf  sein  Kunststück  auf- 
merksam zu  machen-  i Beschreibung  von  Nr.  3232):  .Ein  junger  Mann,  in 
Mantel,  auf  einen  Knoteustock  gestützt,  die  Linke  erhoben  und  die  Rechte 
in  die  Seite  gestemmt,  sieht  Übungen  von  Gauklerinnen  zu.  Vor  ihm  steht 
eine  Frau,  welche  in  Chiton  ist  und,  in  der  Linken  Flöten  haltend,  mit  der 
Rechten  einer  im  Tanzen  vor  ihr  knieenden  Frau  eine  Leier  darzubieten 
scheint:  die  letztere  trägt  einen  Ärmelchiton,  gegürteten  kurzen  Chiton  und 


518  Sechstes  Kapitel. 

genug  wird  der  gymnastische  Gaukeltanz  in  den  mimischen  Ge- 
bärdentanz übergegangen  sein,  aus  dem  sich  der  Mimus  ent- 
wickelt hat. 


auf  dem  Haupte  eine  Krone  von  Federn.  Es  folgt  eine  ebenso  geschmückte 
und  gekleidete  tanzende  Frau,  welcher  die  auf  einem  Stuhl  sitzende,  in 
Chiton  und  Mantel  gekleidete  Elpinike  (EAHNIKE)  vorbläst;  zwischen 
beiden  steht  ein  Stuhl  mit  daraufliegendem  Gewandstück.  Dieser  Mittel  - 
gruppe  folgt  weiter  nach  rechts  eine  Frau,  welche,  behelmt  und  mit  Lanze 
und  Schild  versehen,  einen  Angriff  im  Tanze  nachahmt;  sie  trägt  ein  eng- 
anliegendes kurzes  Gewand  und  Schuhe,  welche  die  Zehe  freilassen.  Vor 
ihr  steht  eine  Frau,  in  Haube  und  langem  Chiton  mit  glattem  Überwurf, 
welche  Castagnetten  schlägt.  Dann  folgt  auf  einem  Tisch  eine  junge 
Person,  in  Trikot  vom  Hals  bis  unter  die  Knie;  auf  die  beiden  Unterarme 
gestützt,  tiberschlägt  sie  sich,  so  dafs  die  Fufsspitzen  fast  den  Tisch  berühren; 
sie  hat  den  Kopf  umgedreht  und  schiebt  mit  dem  linken  Fufs  eine  Trink- 
schale (F.  12  ohne  Henkel;  mit  Deckel)  ihrem  Munde  zu.  Den  Beschlufs 
machen  eine  Flötenbläserin,  in  Haube  Chiton  und  Mantel  und  ein  juDges 
Mädchen,  in  Trikot  vom  Hals  bis  zur  Mitte  der  Schenkel,  welche  sich  im 
Schwerttanz  übt:  vor  ihr  sind  vier  kurze  Schwerter,  mit  den  Spitzen  nach 
oben  gekehrt,  aufgepflanzt."  (Beschreibung  von  Nr.  281):  „Auf  einer 
Kline  —  rechts  vom  Beschauer  —  liegen  zwei  Jünglinge:  der  eine,  Euaion 
(EVAION),  bläst  die  Doppelflöte;  der  andere,  Kallias  (KAAAIA^),  hält  in 
der  Linken  eine  Schale  am  Fufs  gefafst  und  streckt  verwundernd  die  Rechte 
aus  gegen  die  beiden  vor  ihm  auf  einer  zweiten  Kline  liegenden  Männer, 
welche  sich  umsehen.  Der  erste  von  diesen,  über  dem  ein  xalog  (KAAO^) 
steht,  bewegt  staunend  die  rechte  Hand;  der  andere,  welcher  Euainetos 
(EVAINETO^)  heifst  und  bärtig  ist,  hebt  in  der  Rechten  eine  Trinkschale 
nach  Kottabosart.  Ihre  Aufmerksamkeit  ist  auf  die  weifsgemalte  Frau 
Panariste  (PAA.  Pl£TE  d.  i.  naNAgiaxs)  gerichtet,  welche,  mit  Perizoma, 
Helm  und  Kreuzbändern  versehen,  in  der  Rechten  eine  Lanze  hält  und  auf 
dem  rechten  Fufs  springend  tanzt.  Vor  jeder  Kline  ein  Tisch  mit  zwei 
Äpfeln  und  herabhängenden  Fäden.  Die  Männer  sind  alle  mit  einer  Tänie 
geschmückt  und  unterwärts  bemäntelt.  Ähnliche  Darstellungen  zeigen  sich 
auch  Nrr.  1774,  2854,  3010  und  269.  Solche  gauklerischen  Tanzdarstellungen, 
die  direkt  in  mimische  Darstellung  übergehen,  kommen  auch  zahlreich  bei 
Furtwängler,  Vasensammlung  im  Antiquarium,  vor,  z.  B.  2919.  3444.  3489 
u.  ö.,  nnd  bei  Stephani,  Compte-Rendu  de  la  Commission  Imperiale  Archeo- 
logique  pour  l'annee  1868,  Erklärung  S.  170  u.  S.  161  u.  ö.;  desgleichen  bei 
Stephani,  Vasensammlung  der  Kaiserlichen  Ermitage  57.  270.  407.  808. 
1579  u.  ö.,  sowie  bei  Reinach,  Antiquites  du  Bosphore  Cimmerien  S.  118  u.  <">. 
Sie  finden  sich  auch  bei  Furtwängler,  Die  Sammlung  Saburofl,  bei  Heibig. 
Die    Wandgemälde    von    Pompeji  und  Herculanum,    bei    Gerhardt    auf   den 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  519 

Eine  Art  Mime  ist  auch  nicht  selten  der  moderne  Jongleur. 
Selbst  die  Akrobaten,  die  nur  ihre  körperliche  Geschicklichkeit 
zeigen,  geben  heute  gerne  ihren  Vorführungen  einen  mimi- 
schen Rahmen.  So  führten  zwei  Künstler,  die  ich  hier  in 
Königsberg  im  Apollotheater  sich  am  Reck  produzieren  sah, 
nicht  einfach  ihre  turnerischen  Leistungen  im  gewöhnlichen 
Trikot  aus;  sie  erschienen  als  Gäste  eines  fashionablen  Bades 
stutzerhaft  in  weifsem  Anzüge  mit  Hut  und  Stock,  scheinbar  auf 
einem  Spaziergange  begriffen,  entdeckten  wie  zufällig  das  Reck, 
und  während  der  eine,  die  Cigarette  im  Munde,  zuschaute,  voll- 
führte der  andere  seine  Tricks,  bis  jener  dann  seinerseits  zu 
turnen  begann.  Beide  klatschten  sich  gegenseitig  Beifall  und 
schienen  ganz  von  dem  Vergnügen  beseelt,  ihr  faules  Badeleben 
durch  ein  so  anregendes  Vergnügen  zu  unterbrechen.  Im  April 
1897  traten  in  Königsberg  die  O'Leary,  Burlesk- Akrobaten  (nach 
Aasweis  des  gedruckten  Verzeichnisses  des  engagierten  Künstler- 
personals des  Apollotheaters  von  Februar  1897  bis  Januar  1898) 
auf.  Sie  gaben  als  Sänftenträger  eine  mimische  Scene  zum 
besten,  in  der  sie  in  seltsamer  Weise  mit  der  Sänfte,  in  der 
einer  als  Türke  verkleidet  safs,  jonglierten.  Im  September  1897 
trat  ein  Jongleur  Canary  auf  ('  4  Stündchen  ohne  Gast).  Als 
gelangweilter  Kellner  befindet  er  sich  im  Gastzimmer  und  jong- 
liert scheiubar  zu  seiner  Unterhaltung  mit  Billardkugel  und 
Queue  und,  als  das  Reisegepäck  eines  Gastes  hereingebracht  wird, 
gar  damit. 

Wer  die  Entwickelung  der  modernen,  scenischen  Kunst  über- 
blickt, weifs.  in  wie  enger  Beziehung  von  jeher  der  Jongleur 
zum  Schauspieler  gestanden  hat.  Julleville  (Histoire  du  theätre 
en  France,  Les  com6diens)  leitet  die  französischen  Schauspieler 
von   den   alten  Jongleuren   her1).     Devrient  giebt  in   seiner  Ge- 


etruskischen  Spiegeln  und  in  zahlreichen  andern  descriptiyen  archäo- 
logischen Werken.  Überall  c-ieht  man  die  Jongleure  (Savaaronoioi)  tanzen 
und  springen,  und  nicht  selten  geht  ihre  Gaukelei  direkt  in  den  mimischen 
Tanz  oder  überhaupt  in  mimische  Darstellung  über. 

*)  a.  a.  0.    S.  1 7  und    18:     „.../«*  Jongleurs,    ces  plus  ancietis  comfdiens 


520  Sechstes  Kapitel. 

schichte  der  deutschen  Schauspielkunst  den  deutschen  Schau- 
spielern den  gleichen  Ursprung.  Mit  Recht  sagt  er  (Bd.  I, 
S.  203)  in  der  Schilderung  der  Schauspielkunst  zur  Zeit  des 
dreifsigj ährigen  Krieges:  „Die  niederen  Lockungen  für  die  Schau- 
lust, die  Seiltänzer-,  Schwerdt-  und  Balancirkünste,  das  Taschen- 
spieler- und  Bänkelsängerwesen  behauptete  seine  uralte  Ver- 
mischung mit  dem  Comödienspielen.  Klopffechter,  Spatonschläger, 
Luftspringer  und  Feuerfresser  waren  unter  den  ersten  Liebhabern 
und  Helden  dieser  Banden  zu  finden"  '). 

So  war  Schröder,  einer  der  begabtesten  und  berühmtesten 
Schauspieler,  den  die  deutsche  Bühne  je  besessen  hat,  von  Jugend 
auf  mehr  Equilibrist  als  Schauspieler,  und  selbst,  als  er  sich 
entschieden  der  Schauspielkunst  zugewandt  hatte,  zeichnete  er 
sich    durch    eine    mehr  equilibristische  Leistung,    den   Grotesk- 


du  moyen  äge,  n'e'taient-ils  pas  les  he'ritiers  directs  des  histrions  et  des  mimes  romainsf 
„Les  histrions  sont  les  Jongleurs",  dit  un  vieux  glossaire  latin  du  XIe  siede. 

Race  impe'rissable,  et,  sous  vingt  noms  dife'rents  toujours  semblable  ä  elle- 
meme,  ils  ont  traverse  dix  siecles  sans  beaucoup  modifier  ni  leurs  moeurs  ni  leur 
physionomie;  ce  sont  toujours  les  memes  hommes  que  nous  rencontrons  tantot  ä  la 
cour  des  rois,  ou  dans  la  grande  salle  des  chäteaux ;  tantot  sur  les  places  publiques 
des  bonnes  vittes,  ou  sur  les  routes  ä  Ventrie  des  bourgs;  infatigables  amuseurs  du 
peuple  et  des  grands;  qu'ils  surprennent  par  leurs  tours  de  force  ou  d'adresse; 
qu'ils  e'gaient  par  leurs  jeux  de  mots,  leurs  quolibets,  leur  niaiserie  affectee  ou  leur 
häblerie  impudente?" 

i)  Schlager  leitet  in  den  „Wiener  Skizzen  aus  dem  Mittelalter",  Neue 
Folge  I,  S.  276)  das  Kapitel  über  den  Seiltanz,  das  Marionetten-,  Policinell- 
spiel  und  andere  Spektakel  mit  folgenden  Worten  ein:  „Mögen  die  achtungs- 
wtirdigen  Pfleger  der  dramatischen  Kunst  neuester  Zeit  — '  deren  hohe 
Kunstleistungen  jetzt  den  Verstand  der  gebildeten  Welt  Europas  beschäftigen, 
und  das  verfeinertste  Gefühl,  bis  auf  die  innersten  Fibern  anzuregen  ver- 
mögen —  in  diesem  Anhange  die  Beifügung  der,  in  der  Überschrift  bezeich- 
neten Spektakel,  an  die  Erscheinungen  dramatischer  Kunst  höherer  Art  ent- 
schuldigen; so  unedel  jetzt  diese  Verbrüderung  sich  darstellt,  so  unerläfslich 
ist  sie  aber  zum  Verständnifs  jener  hinabgesunkenen  Zeit,  wo  dieselbe  Hand, 
welche  den  Dolch  des  Trauerspiels  zückte,  oft  auch  mit  der  Drahtpuppe 
beschäftigt  war,  und  der  Fufs  desselben  Schauspielers  im  Seiltänzerschuh 
und  im  tragischen  Kothurn  zugleich  wandelte  —  so  unentbehrlich  ist  sie 
zur  Vervollständigung  der  Entwickelungsgeschichte  des  öffentlichen  Wiener 
Theaterwesens. 


'  Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  52 1 

Tanz,  aus1).  Noch  Lessing  empfand  über  diese  Verbindung 
zwischen  Schauspielkunst  und  Equilibristik  Verdrufs,  und  bekannt 
genug  ist,  dafs  Goethe  die  Leitung  des  weimarischen  Theaters 
niederlegte,  weil  er  es  nicht  zu  verhindern  vermochte,  dafs 
gauklerische  Kunststücke  sich  mit]  der  wahren  Schauspielkunst 
verbau deD. 

Freilich  haben  die  Schauspieler,  je  mehr  sie  zum  Bewufst- 
sein  ihrer  vornehmen  künstlerischen  Würde  kamen,  desto  mehr 
gegen  ein  gemeinsames  Auftreten  mit  Akrobaten  und  Equilibristen 
und  eine  Vermischung  mit  diesen  protestiert.  Der  Versuch, 
beide  Klassen  zu  gemeinsamer"  Wirkung  mit  einander  zu  ver- 
einigen, hat  in  neuester  Zeit  Karl  von  Holtei  schwerep  Verdrufs 
bereitet").  Trotz  dieses  Widerspruchs  ist  die  uralte  Verbindung 
und  Vermischung  beider  Künste  nicht  ganz  geschwunden.  Der 
Cirkus  hat  sie  auch  heute  noch  nicht  aufgegeben.  Bekannt 
genug  sind  die  theatralischen  Pantomimen  des  Cirkus  Renz  und 
anderer  Institute.  Fast  überall  geben  da  die  Clowns  panto- 
mimische und  mimische  Vorstellungen. 

Dafür,  dafs  aus  den  griechischen  Jongleuren  die  ältesten 
berufsmäfsigen  Mimen  hervorgegangen  sind,  haben  wir  nun  eine 
ganze  Anzahl  quellenmäfsiger  Belege.  Beständig  findet  sich  im 
Griechischen  die  Verbindung  der  Begriffe  Mime  und  Jongleur 
(/**/«oc  und  ÖavuaioTioiöc).  Die  Klassen  der  Mimen  und  Jong- 
leure grenzen  für  den  Griechen  nicht  nur  nahe  an  einander,  sie 
scheinen  oft  geradezu  in  einander  überzugehen.  So  wurde  an 
der  vorher  angeführten  Stelle  des  Diodor  Agathokles  mit  einem 
Jongleur  und  in  demselben  Atemzuge  mit  einem  Mimen  ver- 
glichen, ebenso  ward,  wie  wir  sahen,  Noemon  als  Jongleur  und 
zu  gleicher  Zeit  als  Mime  von  Athenaeus  bezeichnet,  desgleichen 
findet  sich  bei  Diodor  (vgl.  Suidas  nQodtixitjg)  der  Begriff  des 
Mimen  dem  weiteren  des  Jongleurs  untergeordnet3).  Selbst  in 
den  späteren  Jahrhunderten,  als  sich  längst  der  Mime  vom  Jong- 

')  Devrient  a.  a.  0.  II,  S.  329  folg. 
8)  Devrient  a.  a.  0.  IV,  S.  135. 

3)  "Exatgev  'AvtIoxos  fiifion  xat  nQodtlxxuts  xu\  xti&ölov  nuoi  roi( 
&KVfiaionoio7s  xtxi  r«  roviaiv  inirrjSfvuara  uav&dvuv  hfUonutlio. 


522  Sechstes  Kapitel. 

leur  geschieden  hatte,  blieb  die  Meinung  von  ihrer  nahen  Kunst- 
verwandtschaft bestehen  und  äufserte  sich  in  ihrer  unaufhörlichen 
Zusammenstellung,  so  z.  B.  bei  Dio  Chrysostomus1),  bei  Plutarch2), 
bei  Capitolinus3),  bei  Sidonius  Apollinaris4).  Ja,  die  griechischen 
Astrologen  glaubten  ernsthaft  daran,  dafs  Mimen  und  Gaukler 
unter  derselben  Konstellation  geboren  würden.  So  heifst  es  bei 
Manetho5):   „Es  werden  im  Gegenschein  der  Sonne  und  des  Mars 


*)  Oratio  LXVI.     Vgl.  oben  S.  143;  Anm.  2. 

2)  Autor.  XXI.    Vgl.  oben  S.  164,  Anm.  2. 

3)  Capitolinus.  Verus  cap.  VIII;  vgl.  oben  S.  199,  Anm.  1. 

4)  Im  Lobgedicht  auf  die  Stadt  Narbo  finden  sich  eine  Menge  mimi 
und  schoenobatae,  d.  h.  Seiltänzer,  also  Jongleure,  &av/uitToni>t,oi.  Sidon. 
Apoll,  c.  XXIII,  37— 40;  263—271;  300—306: 

salve,  Narbo  potens  salubritate, 
urbe  et  rure  simul  bonus  videri, 
muris,  civibus,  ambitu,  tabernis, 
portis,  portieibus,  foro,  theatro  ... 
Iam  si  seria  forte  terminantem 
te  spectacula  ceperant  theatri, 
pallebat  chorus  omnis  kistrionum, 
tamquam  si  Arcitenens  novemque  Musae 
propter  pulpita  iudices  sederent. 
coram  te  Caramallus  aut  Phabaton 
clausis  faueibus  et  loquente  gestu 
nutu,  crure,  genu,  manu,  rotatu 
toto  in  schemate  vel  semel  latebit  .  .  . 
quid  dicam  citharistrias,  choraulas, 
mimos,  schoenobata *• ,  gelasianos 
cannas,  plectra,  iocos,  palen,  rudentem 
coram  te  trepidanter  explicare? 
nam  circensibus  ipse  quanta  ludis 
victor  gesseris  intonante  Roma, 
laetam  par  fuit  exarare  Musam. 

'=>)  Apotelesmatica  IV,  275—293: 

Koiov  r    tlctQÖtvios  in    wdCvtoat  ßqorfiatc, 
Ioxvqcüv  t-Qyiov  Tfii/tt  novonaixTOQKS  üvSqac, 
bxl°XaQ('Si  <pdof4o/d-a  &e*tTQOftavovVTttS,  lyvtarsiv 
itl&Qoßitiug,  nnxtoifH  ntiuvoiairj^Hg  h  f(>yois, 
ttidfyt  xu)  y(u'r)  fKjLttiQrj/n^va  t-Qycc  i(h-vvi(t5, 
{ii/Ltofi(ovs,  %Xevrjs  i'  f.ntßi]TOQug,  vßf)iytt<otus, 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  523 

im  Hause  des  Stier-  und  Widderzeichens  und  des  Löwen  die 
Gaukler  geboren,  die  theaterlustigeu .  Vollbringer  kühner  Werke, 
durch  die  Luft  hinfliegende  Petauristen;  aber  auch  die  Mimen, 
im  Lande  ziehende  Vögel,  in  der  Stadt  die  verworfenste  Brut. 
In  den  nachchristlichen  Jahrhunderten  teilen  Mimen  und  Jong- 
leure durchaus  die  Bühne  mit  einander.  Wenn  Dio  Chrysostomus 
meint,  wer  das  Wohlwollen  des  Volkes  gewinnen  wolle,  müsse 
ihm  Mimen  und  Jongleure  vorführen,  so  ist  es  klar,  dafs  der 
Jongleur  den  Mimen  auf  dem  Theater  ablöste  (vgl.  oben  S.  143). 
In  der  That  finden  wir  diese  Gemeinsamschaft  zwischen  Mimen 
und  Gauklern  noch  in  der  heutigen  Zeit  auf  der  japanischen 
Bühne1).  Die  modernen  japanischen  Schauspieler  können  selbst 
heute  noch  auf  ihren  Gastreisen  in  Europa  diesen  Zusammen- 
hang mit  der  gauklerischen  Kunst  nicht  ganz  verleugnen  •).  Ja, 
ein  wenig  übten  später  noch  die  Mimen  auf  der  grofsen  Bühne 
und  im  grofsen,  mimischen  Drama  gauklerische  Künste.  Dazu 
boten  besonders  die  unaufhörlichen  Prögelscenen  Veranlassung 
(vgl.  S  195).  So  amüsierte  sich  nach  Synesius  (Lob  der  Kahl- 
heit ed.  Tetavii  S.  77c.)  das  Publikum  über  einen  Mimen,  der 
die  erstaunlichsten  Proben  von  der  Härte  seines  Schädels  gab; 
man    gofs    ihm    bei   seinem  Auftreten    siedendes  Pech    auf   den 


lv  ff/Vj  yr'jQiog  ImßrfioQttg,  6&vioTVfißovg, 
oqvta  yfjg,  nökiog  nüorfi  dnöhoia  ytitttku, 
iHOQÖyoolai,  knovg,  da/r}fiovag,  ain^QOQiltoiaq, 
XQuiortkayiTg,  u^dtovag,  ü(i  x>(>u(fTJOi  ipalaxQovg, 
iov  6  ßi'og  x^l  r^Xrriv  «nff*aEtt&'  hoiurjr. 
rjv  dt  aiv  'Hfkioj  r*  xal  "A(X'i  xai   Kinoig  öydj, 
oxoivoßäiag  ttvyji,  xakoßäuovag,  infMi&ff  tl< 
yertovlt)  davaioio  xaTugotmoiVTa;  iavrovg, 
tbv  6  nooog  ptooog  loiiv,  inijv  ftg  atfiikuur«  rtvoi,. 
M  Vgl.  darüber  die  Nachweise  bei  Humbert,    Le  Japon  illustre. 
a)  So  berichtet  Fischer,  der  als  früherer  Theaterdirektor  und  von  allen 
Vorurteilen    freier  Kenner  japanischer  Verhältnisse  für  sein  Urteil  alle  Be- 
rücksichtigung verlangen  darf  a  a.  0.  S.  186:    „Eine  japanische  Kampf-  und 
Sterbesrene    grenzt    nicht  nur  an  die  Karrikatnr,    sondern  treibt  die  Karri- 
katur  auf  die  Spitze,  und  ich  konnte  daher  bis  jetzt  —  ich  will  noch  nicht 
endgültig   urteilen    —    nie  von  tragischen  Schauspielern  in  Japan  sprechen, 
sondern  nur  von  mehr  oder  minder  geschickten  Hampelmännern. a 


524  Sechstes  Kapitel. 

Kopf,  traktierte  ihn  mit  Fausthieben  und  Fufsstöfsen,  ja,  selbst 
der  Sturmbock  und  Steingut  vermochten  nichts  gegen  ihn.  Das 
ist  schon  nicht  mehr  mimische  Kunst,  sondern  rechtes  Gaukel- 
wesen,  und  es  war  doch  einmal  etwas  anderes  als  die  gewöhn- 
lichen, klatschenden  Ohrfeigen  der  stupidi. 

So  spärlich  und  lückenhaft  unsere  Quellen  gerade  über 
diesen  Gegenstand  sind,  so  können  wir  doch  einige  Beispiele 
für  den  Übergang  des  Jongleurs  zum  Mimen  nachweisen,  und 
zwar,  was  für  uns  von  besonderem  Interesse  ist,  in  recht 
früher  Zeit. 

Als  die  Gaukler  bei  Xenophon  den  Schwertertanz  ausgeführt, 
Räder  mit  dem  Körper  nachgebildet  haben  und  auf  der  Töpfer- 
scheibe, während  sie  sich  im  Kreise  herumdreht,  lesen  und 
schreiben  sollten,  da  verlangt  Sokrates,  sie  möchten  Tänze  auf- 
führen, in  denen  Charitinnen,  Nymphen  und  Hören  dargestellt 
werden.  Und  zwar  setzt  er  die  Fähigkeit  zu  solchen  mimischen 
Tanzproduktionen  als  etwas  bei  Jongleuren  Selbstverständliches 
voraus.  In  der  That  wird  auch  schnell  seinem  Wunsche  Folge 
geleistet.  Der  Knabe  und  das  Mädchen  des  Gauklers  stellen 
das  Begegnen  der  auf  Naxos  von  Theseus  verlassenen  Ariadne 
mit  Dionysos  auf  die  reizvollste  Weise  mimisch  dar.  Die  Gäste 
des  Kallias  sehen  nicht  nur,  wie  das  Liebespaar  sich  herzt  und 
küfst,  sie  hören  auch  ihre  Beteuerungen  und  Liebesschwüre. 

Wir  haben  hier  zweifelsohne  eine  mimische  Darstellung  der 
Jongleure,  freilich  ist  sie,  um  einen  späteren  Ausdruck  zu  ge- 
brauchen, in  höherem  Grade  pantomimisch  als  mimisch.  Doch 
fehlt  neben  der  Musik  den  Tänzen  nicht  das  gesprochene  Wort, 
das  den  Mimus  vom  Pantomimus  scheidet1).  Von  besonderem 
Werte  ist  hier,  dafs  Sokrates  von  den  Gauklern  derartige 
mimische  Produktionen  als  selbstverständlich  verlangen  kann. 
Denn  danach  mufs  man  im  Anfange  des  vierten  und  auch  schon 


1)  Auch  Hirzel  (Geschichte  des  Dialogs)  fafst  diese  Produktion  der 
Gaukler  durchaus  als  eine  mimische  auf.  Wenn  hier  die  mimische  Pro- 
duktion vornehmlich  im  Tanze  vollführt  wird,  so  wollen  wir  bedenken,  dafs 
die  Mimen  häufig  genug  Tänzer,  oQxvaT(<h  genannt  werden. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  525 

im  fünften  Jahrhundert  die  Verbindung  zwischen  mimischen  und 
gauklerischen  Vorführungen  als  alltäglich  angesehen  haben. 

Noch  wichtiger  ist  jedoch,  was  Athenaeus  von  Nymphodorus 
berichtet1).  Er  war  ursprünglich  ein  Gaukler  und  scheint  als 
solcher  nicht  geringen  Ruf  genossen  zu  haben,  da  ihn  Athenaeus 
mit  dem  berühmten  Feuergaukler  Kratisthenes  vergleicht,  der 
aus  der  Schule  des  Jongleurs  Xenophon  hervorging2).  Dann  ist 
er  aber  auch  ein  vortrefflicher  Mime  geworden,  wenn  er  auch 
nicht  ganz  den  Vergleich  mit  dem  berühmten  Kleon,  der  nach 
Athenaeus  der  beste  Darsteller  italischer  Mimen  war.  aushält. 
Wir  erfahren  sogar  etwas  von  seinen  Produktionen.  -  Denn  die 
Verspottung  der  Einwohner  von  Rhegium  um  ihrer  Feigheit 
willen  wird,  soweit  wir  sehen  können,  in  einem  Mimus  des 
Nymphodorus  vorgekommen  sein.  Hat  ja  doch  auch  Xenarch, 
der  Sohn  und  Nachfolger  Sophrons,  nach  dem  Zeugnisse  des 
Photius  und  Suidas  die  Rheginer  auf  Verlangen  des  altern 
Dionys  wegen  ihrer  Feigheit  verhöhnt3).  Da  Athenaeus  diese 
Nachricht  aus  Duris  hat,  so  gehört  Nymphodorus  spätestens  ins 
dritte  Jahrhundert.  Hier  wollen  wir  auch  des  oben  erwähnten 
Noemon  gedenken,  der  sich  gleichfalls  aus  einem  Jongleur,  der 
scheinbar  allerlei  Flüssigkeiten  aus  seinem  Körper  zu  ziehen 
wufste,  zum  Mimen  entwickelte. 


')  Athen.  I,  19f.;  vgl.  oben  S.516,  Anm.  2  und  X,  452f.:    in  <fe  Kktav 

6    uiuavlog    tnixalovfifvos,    oanfQ    xai   nur  'haluccüv   uiutov    koiaxog   yiyovtv 

aVJ07TQ6(JQ)TIOS     V7lOXQlT^g'      Xal      yttQ     NlU(fo6'(üOUl'     7lfQlf]V     tv     Tb)     /uvr]/uovivo- 

fjiivto  fii/uoi. 

3)  Die  Gaukler  machten  also  auch  im  griechischen  Altertum  wie  im 
Mittelalter  Schule  und  überlieferten  so  im  geheimen  ihre  Fertigkeiten  weiter. 

3)  Bekannt  ist  das  Sprichwort:  'Pr\yivov  ddXöiiQog.  Holm  sagt  in  der 
Geschichte  Siziliens  (Bd.  II,  S.130  u.  131)  über  den  ersten  Ausgang  des  Kampfes 
zwischen  Dionys  und  den  Rheginern:  „Er  (Dionys)  gewährte  ihnen  Frieden 
unter  der  Bedingung,  dafs  sie  300  Talente  zahlen,  ihre  ganze  aus  70  Segeln 
bestehende  Flotte  ihm  ausliefern  und  100  Geiseln  stellen  sollten.  Die  Rheginer 
gingen  darauf  ein,  ohne  zu  bedenken,  dafs  sie  nun  gänzlich  in  der  Hand 
des  Tyrannen  waren.  Es  war  das  Verfahren  der  Römer  gegen  Karthago, 
aber  Karthago  ging  besiegt  solche  Bedingungen  ein,  wie  Rhegion  ohne 
Kampf.     Also  war  der  Vorwurf  der  Feigheit  nicht  ohne  Berechtigung. 


526  Sechstes  Kapitel. 

Wie  aber  auch  andere  Bevölkerungsklassen  unter  Umständen 
Mimen  wurden,  wenn  ihr  Beruf  sie  zu  dergleichen  Darstellungen 
antrieb,  vermögen  wir  in  recht  ergötzlicher  Weise  aus  einer  Stelle 
des  Athenaeus  herauszulesen1).  Dort  wird  ein  gewisser  Ischo- 
machus  erwähnt.  Er  war  ursprünglich  ein  Herold,  das  heifst 
ein  Ausrufer,  ein  Mann,  dessen  Beruf  es  war.  zu  verauktionierende 
Waren  anzuzeigen.  Er  befand  sich  also  in  einer  ähnlichen  Lage 
wie  ein  Jongleur,  der  seine  Kunststücke  anzupreisen  und  das 
Publikum  zu  den  Vorstellungen  anzulocken  hatte.  Wir  haben 
gesehen,  dafs  hauptsächlich  diese  Aufgabe  die  Gaukler  zu  mimi- 
schen Produktionen  veranlafst  hat.  Die  Ähnlichkeit  der  Lage 
hat  nun  diesen  Ausrufer  gleichfalls  zu  einem  Mimen  gemacht; 
freilich  trug  er  seine  mimischen  Darstellungen  h  totq  xvxloig 
vor,  das  heifst  unter  freiem  Himmel,  auf  freien  Plätzen  und  auf 
der  S'trafse,  wo  sich  eine  Menge  Volkes  um  ihn  im  Kreise  sam- 
melte. Da  er  nun  aber  allmählich  vielen  Beifall  fand,  so  dafs 
er  sich  sogar  später  mit  Kleon,  dem  berühmten  Mimen,  messen 
konnte,  fing  er  an,  seine  Darstellungen  ganz  kunstmäfsig  auszu- 
üben und  trug  seine  Mimen  ev  öavpaGw  vor2).  Freilich  grenzt 
das  Gewerbe  eines  Ausrufers  nahe  an  das  des  Gauklers;  so  ist 
denn  auch  dieses  Beispiel  geeignet,  uns  den  Übergang  des  Gauk- 
lers zum  Mimen  zu  veranschaulichen3). 

Ischomachus  wird  von  Athenaeus  (X,  452  f)  als  ein  Nach- 
eiferer, mithin  doch  als  ein  Zeitgenosse,  wenn  auch  vielleicht  ein 
jüngerer,  des  Nymphodorus  bezeichnet,  also  auch  dieses  Beispiel 
für  die  Verwandlung  des  Jongleurs  in  den  Mimen  fällt  spätestens 


1)  Athen.  X,  452  f:  rovxov  (nämlich  des  Nymphodor)  St  xai  'fa/öfiaxog  o 
xrjovS  lytvtxo  fijAtu/^f,  og  lv  roig  xvxkoig  Ittoihto  rag  f^i/u^atig-  (og  <J"  rjvSoxifiti, 
/itraßag  £v  xolg  &av[iKOiv  intxQivtTo  fifftovg. 

2)  Als  Nacheiferer  des  Kleon,  der  ein  Zeitgenosse  des  Nymphodorus 
war,  gehört  Ischomachus  spätestens  ins  dritte  Jahrhundert  vor  Christus. 

3)  Auch  der  in  der  deutschen  Schauspielkunst  rühmlichst  bekannte 
Wiener  Archimime  Joseph  Stranitzky  (vgl.  oben  S.  455)  war  gleichfalls  von 
Hause  aus  ein  Marktschreier.  Schlager  in  den  „Wiener  Skizzen  aus  dem 
Mittelalter"  (Neue  Folge  I,  287)  sagt:  „Die  Wiener  städtischen  Grundbuchs- 
akten 1727  erklären  ihn  zum  Mund-  und  Zahnarzt  von  Herkunft  (ein  Markt- 
schreier dieser  Zeit)". 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistioti.  527 

in  deu  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts.  Um  diese  Zeit  ist  der 
Prozefs,  der  aus  den  wandernden  Gauklerbauden  wandernde 
Mimengesellschaften  hervorgehen  liefs,  vollzogen.  Das  mimische 
Drama  besitzt  jetzt  endlich  seine  berufsmäfsigen  Darsteller1). 

Dieser  Übergang  war  für  den  Jongleur  leicht  genug.  Bei 
schwierigen  Produktionen  erschien  er  im  Trikot;  Oberkörper, 
Füfse  und  Arme  blieben  unbedeckt,  auch  das  Haupt  frei  und 
un verhüllt  -).  Wenn  der  Gaukler  Leib  und  Hinterteil  unter 
diesem  Trikot  ausstopfte,  sich  einen  Phallus  vorband  und  den 
kurzen  Kittel,  den  er  sonst  im  gewöhnlichen  Leben  trug,  um- 
hing, so  war  der  phlyakische  Mime  fertig.  Ja,  das  letzte  war 
vielleicht  nicht  einmal  nötig,  finden  wir  doch  bei  Heydemann 
wiederholt  phlyakische  Schauspieler,  die  selbst  dieses  Kleidungs- 
stückes entbehren3). 

Theophrast  schildert  im  sechsten  Kapitel  seiner  „Charaktere" 
den  Verworfenen ;  er  ist  ein  Pflastertreter,  ein  liederlicher  Bursche, 
ein  Garkoch,  ein  Spielbudenhalter,  ein  Dieb,  ein  Zuchthäusler, 
ein  Kuppler;  es  kommt  ihm  nicht  darauf  an,  nüchtern  den 
Kordax  zu  tanzen*),  ja,  er  ist  schamlos  genug,  im  Chor  der 
Komödie  ohne  Maske  aufzutreten.  Treffend  ist  mit  diesen 
Worten    die  Schmach    gekennzeichnet,    welche    die  schauspiele- 


1)  Am  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  haben  sich  auch  die  Gaukler 
selbst  den  Zutritt  zur  Bühne  erkämpft  und  treten  sogar  mit  Komöden  und 
Tragoden  zusammen  auf,  wie  drei  choregische  Urkunden  von  Delos  erweisen. 
Vgl.  Bulletin  de  Correspondance  hellenique,  7.  Jahrgang,  1883.  Hauvette- 
Besuault,  Foaillefi  de  Delos.  Inscriptions  choregiques  S.  1 10,  No.  V.  roa- 
yco[töoi],  Sfoi(ü()oi  <Jiovvo6ötüO'>s,  Evxlfjg,  Oixtädt]i,  Kotuottdol  'EQ}oifiioi 
Itgwvos  .  .  &avurtT07TOibs  Kleixcttgct.  Dieselbe  daiifiaionotoi;  KktvnäiQa 
findet  sich  in  gleicher  Gesellschaft  auf  No.  VII  und  ein  SavuaroTroioi  Zfg- 
öuv  (ÄYoJwr  Bücheier)  auf  No.  VIII.  No.  V  stammt  aus  270  a.  Chr.,  No.  VII 
aus  265  a.  Chr.,  No.  VIII  aus  261  a.  Chr.  Hauvette-Besnault  schrieb  'Olu- 
[iaronoiös,  Bücheier  korrigierte  in  GavutcTonotög.  Vgl.  Rhein.  Museum  38 
1883,  S.  480. 

2)  Vgl.  die  Abbildungen  bei  Baumeister  631,  632,  633. 

3)  So  die  Schauspieler  auf  C,  T  und  0.  Odysseus  und  Diomedes  auf 
h  erscheinen  gleichfalls  fast  unbekleidet. 

4)  Aristophanes  ^Wolken  v.  536)  rechnet  es  sich  zum  Verdienste  an, 
dafs  dieser  Tanz  in  keiner  seiner  Komödien  vorkommt. 


528  Sechstes  Kapitel. 

rische  Aktion  ohne  Maske  traf.  Niemals  sind  daher  griechische 
Schauspieler  ohne  Maske  aufgetreten,  ausgenommen  die  mimi- 
schen Darsteller. 

Aber  die  bäuerlichen  und  bürgerlichen  Schauspieler  des 
alten  dorischen  Mimus  tragen  noch  Masken.  Masken  finden 
wir  auf  den  sogenannten  Phlyakenvasen.  Auch  die  Schau- 
spieler der  Atellane  trägen  noch  Masken.  Diese  finden  sich  noch 
auf  den  schon  wiederholt  erwähnten  Atellanendarstellungen  aus 
dem  ersten  Jahrhundert  nach  Christus.  Erst  der  berufsmäfsige 
Mime  legte  die  Maske  ab,  er  hatte  als  ehemaliger  Gaukler  keine 
bürgerlichen  Rücksichten  zu  nehmen.  Es  ist  darum  wohl  nicht 
einfach  aus  künstlerischen  Rücksichten  zu  erklären,  wie  Heyde- 
mann  will,"  wenn  sich  auf  den  phlyakischen  Darstellungen  neben 
den  maskierten  auch  unmaskierte  Schauspieler  finden,  so  z., B. 
auf  Ia,  b,  d,  f,  i,  s,  u,  X,  R,  G,  B,  E,  Z,  L,  1,  w,  x,  y;  hier 
beginnt  sich  wohl  schon  die  Sitte  der  Mimen,  ohne  Maske  zu 
spielen,  langsam  einzuführen.  Wir  können  diese  Frage  glück- 
licherweise entscheiden.  Wenn  Athenaeus  (X,  452  f)  von  dem 
mimischen  Schauspieler  Kleon  sagt,  er  sei  der  beste  un- 
maskierte Schauspieler  italischer  Mimen  gewesen,  so  trat 
nicht  Kleon  allein  ohne  Maske  auf,  sondern  auch  andere 
mimische  Darsteller,  da  er  der  beste  derartige  Schauspieler  ge- 
nannt wird.  Es  handelt  sich  hier  jedenfalls  um  eine  ziemlich 
alte,  mimische  Gewohnheit,  denn  Kleon  wird  an  derselben  Stelle 
als  Zeitgenosse  des  Nymphodor  erwähnt,  und  wir  haben  eben 
den  Nachweis  geführt,  dafs  Nymphodor  spätestens  am  Anfang 
des  dritten  Jahrhunderts  lebte. 

Weder  Tragöden  noch  Komöden  duldeten  weibliche  Mit- 
glieder unter  sich1).  Selbst  im  Pantomimus  traten  Frauen  erst 
in    der    späteren  Kaiserzeit   auf,    nur  die  Mimen  machten  hier 


J)  Die  schauspielerische  Leistung  in  dem  grofsen  antiken  Theater  soll 
über  weibliche  Kräfte  gegangen  sein  (Öhmichen  in  I.  v.  Müllers  Hdb.  V,  3, 
S.  250).  Aber  die  weiblichen  Mimen  sind  später  auch  in  den  grofsen 
Theatern  aufgetreten.  Die  Stimme,  auf  die  es  doch  hier  vornehmlich  an- 
kommt, ist  beim  Weibe  gewifs  nicht  weniger  kräftig  und  durchdringend  wie 
bei  dem  Manne. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  5*29 

wieder  eine  höchst  merkwürdige  Ausnahme.  Es  ist  bekannt,  dafs. 
es  neben  männlichen  Mimen  beständig  auch  weibliche  gegeben 
hat,  ja.  die  letzteren  erfreuten  sich  unter  Umständen  solchen 
Ansehens  unter  ihren  Genossen,  dafs  sie  sogar  Direktricen 
(Archimimae)  wurden.  Bei  Orelli  (inscript.  Nr.  4760)  wird  die 
Claudia  Hermione  erwähnt,  eine  rArchimima  sui  temporis  prima-. 
Wie  war  es  möglich,  dafs  Jahrhunderte  hindurch  eine  solche 
Institution  bei  den  Mimen  als  ganz  selbstverständlich  und  natür- 
lich, dagegen  bei  allen  andern  Schauspielern  als  ganz  unmöglich 
und  undenkbar  gelten  konnte?  In  dieses  Dunkel  bringt  die 
Erkenntnis  des  gauklerischen  Ursprungs  der  Mimen  Licht.  Die 
Jonglerie  ist  von  Anfang  an  von  Männern  und  von  Frauen  aus- 
geübt worden.  Wir  haben  oben  orientalische  Gauklerinnen  nach- 
gewiesen. Schon  in  der  ersten  ausführlichen  Schilderung  von 
griechischen  Gauklern,  die  wir  besitzen,  in  Xenophons  Symposion, 
begegnete  uns  eine  Gauklerin.  Zahlreich  sind  die  bildlichen 
Darstellungen  weiblicher  Jongleure  (Baumeister  Abb.  231,  631, 
632,  633).  Auch  bei  Athenaeus  im  Sophistenmahl  finden  sich 
wiederholt  Gauklerinnen  erwähnt1).  Ward  also  der  Gaukler 
zum  Mimen,  so  folgte  ihm  die  Gauklerin.  So  mufste  es  selbst- 
verständlich von  vornherein  männliche  und  weibliche  Mimen 
geben.  Ebenso  selbstverständlich  ist  es  andererseits,  dafs  die 
Tragöden  und  Komöden  bei  ihrer  ganz  anderen  und  vornehmeren 
Herkunft  gar  nicht  in  die  Kunstgemeinschaft  mit  einem  Weibe 
gelangen  konnten.  Wie  hätten  sie  auch  eine  Ehrlose,  denn  das 
war  nach  antiker  Anschauung  jedes  Weib,  das  die  Bühne  betrat, 
unter  sich  dulden  sollen*)?  Der  Mime  hat  sich  freilich  nie  zu 
dem  Ehrbegriffe  seiner  vornehmen  Kunstverwandten  erhoben, 
auch  hierin  hat  er  sich  stets  dem  Gaukler  näher  gefühlt. 

x)  Athen.  IV,  129d:  &avuttTovoyol  ywatxts;  (IV,  137  c)  aus  Matron, 
dem  Paroden: 

Tzögvai  6'  tlo?il&ov,  xovgai  Svo  &avfxtttonoto(. 

8)  Ehrlos  sind  schon  die  Vorgängerinnen  der  griechischen  Ganklerinnen 
und  Mimen,  die  ägyptischen  und  orientalischen  Tänzerinnen  (so  die  alte 
Hekt  in  Ebers'  Uarda).  Klunzinger,  Bilder  aus  Oberägypten,  identifiziert 
ihre  Nachfolgerinnen,  die  ägyptischen  Tänzerinnen,  mit  den  Freudenmädchen. 

Reich,    ilimus.  34 


530  Sechstes  Kapitel. 

Auch  die  Art  der  Verfassung  der  Mimengesellschaften  unter 
einem  Archimimen,  also  nach  modernem  Ausdruck  die  Prinzipal- 
schaft, rührt  von  der  Verfassung  der  alten  Gauklerbanden  her, 
die  gleichfalls  immer  unter  einem  selbstgewählten  Prinzipal 
standen,  falls  dieser  nicht  etwa  seine  Gesellschaft  gekauft  hatte, 
so  dafs  er  den  Mitgliedern  als  Herr  den  Sklaven  gegenüberstand. 
Schon  der  Syrakusaner  in  Xenophons  Gastmahl,  der  das  Mädchen 
und  den  Knaben  als  mimische  Gaukler  herumführt,  ist  so  eine 
Art  Mimenprinzipal. 

Es  wäre  seltsam,  wenn  in  diesen  Banden  jeder  für  sich 
allein  gemimt,  und  wenn  man  sich  nicht  gelegentlich  zu  der 
wenn  auch  nur  improvisierten  Darstellung  irgend  einer  mimischen 
Grundidee  vereinigt  hätte ;  das  ist  aber  der  Ansatz  zur  mimischen 
Hypothese. 

Diese  wandernden  Mimengesellschaften  bemächtigten  sich 
allmählich  all  der  verschiedenen  Typen  und  Themen  des  uralten 
Bauernmimus;  sie  wurden  die  Hüter  und  Mehrer  des  grofsen 
mimischen  Hortes.  Sie  waren  nicht  mehr  an  heilige  Zeiten 
gebunden,  sie  fanden  sich  überall  ein,  wo  es  hoch  herging,  und 
führten  überall  ihre  kleinen  Mimendramen  auf,  wie  der  Syra- 
kusaner von  dem  Knaben  und  dem  Mädchen  auf  dem  Gastmahl 
des  Kallias  das  mimische  Ballet  geben  läfst. 


Besonders  beliebt  waren  die  neuen  Mimen  am  Hofe  König 
Philipps,  und  mit  König  Alexander  zogen  sie  in  Scharen  nach 
Kleinasien1).  Dort  stiefsen  diese  Darsteller  des  dorischen  Mimus 
auf  die  ionischen  Mimen,  die  sich  inzwischen  unabhängig  von 
ihnen  entwickelt  hatten,  und  aus  diesem  welthistorischen  Zu- 
sammenstofs  entstand  erst  das  grofse  mimische  Drama,  die 
mimische  Hypothese  am  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  vor 
Christus.  Der  dorische  Mimus  war  ursprünglich  prosaisch,  wie 
es  Sophrons  Mimen  sind;  grofse  Künstler,  wie  Epicharm,  hatten 


>)  Vgl.  oben  S.  151,  193,  219. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  531 

ihn  in  metrische  Formen  gezwängt,  dahei  blieb  er  immer  noch 
rein  mimologisch. 

Die  mimische  Hypothese  aber  zeichnet  sich  gerade  durch 
ihre  zahlreichen  Cantica  aus,  diese  Couplets,  die  so  sehr  den 
Beifall  des  Volkes  fanden,  über  welche  die  Kirchenväter  darum 
ganz  besonders  schalten,  und  die  schliefslich,  da  man  sie  nicht 
ausrotten  konnte,  dem  kirchlichen  Gesang  in  Rythmus  und  Melodie 
zum  Vorbilde  dienen  mufsten.  Diese  Verbindung  von  Mimologie 
und  Mimodie  hat  die  mimische  Hypothese  zum  Siege  geführt. 
Dabei  wurde  die  Mimodie  besonders  stark  betont,  vielfältig  nahm 
später  die  mimische  Hypothese  einen  ans  Opern-  oder  Operetten- 
hafte streifenden  Charakter  an.  Damit  war  zugleich  der  ersehnte 
Ersatz  für  den  fehlenden  Chor  der  Komödie  geschaffen;  das 
haben  Plautus  und  Caecilius  Statius  begriffen,  als  sie  die  Mimodie 
als  mimisches  Canticum  in  ihre  Komödie  hinübernahmen;  als 
Novius  und  Pomponius  die  Atellane  litterarisch  ausgestalteten, 
durfte  gleichfalls  das  mimische  Canticum  nicht  fehlen.  Das 
Couplet  aber  erlangte  das  mimische  Drama  erst,  als  es  im 
Beginne  der  alexandrinischen  Epoche  nach  Ionien  kam  und  dort 
den  ionischen  Mimus,  die  Mimodie,  in  sich  aufnahm.  Erst  da  war 
seine  Entwickelung  zur  Hypothese  vollendet. 

Durch  die  ionische  Mimodie  geht  wie  durch  den  ganzen 
Mimus  die  Zweiteilung  in  eine  mythologische  und  eine  bio- 
logische Richtung.  Das  meinte  Aristoxenus,  wenn  er  die  beiden 
Hauptgattungen  der  ionischen  Mimodie,  die  Magodie  mit  der 
Komödie,  die  Hilarodie  mit  der  Tragödie  verglich1)  Der  Magode 
stellte  biologische  Typen  dar,  Weiber,  Ehebrecher,  Kuppler, 
einen  Betrunkenen,  der  im  Rausche  zum  Liebchen  zieht,  und 
ähnliche  Figuren;  der  Lysiode  und  Hilarode  wird  dagegen  seine 
Typen  der  Mythologie  entlehnt  haben.  Der  mimische  Vortrag 
des  Magoden  wie  des  Hilaroden  ist  durchaus  melisch.  Der 
Gesang  des  Hilaroden  wird  mit  Saitenspiel,  der  des  Magoden 
mit  Pauken  und  Cyrabeln  begleitet  -).    Festus  nennt  den  Hilaroden 


*)  Den  Nachweis  siehe  oben  S.  239. 

2)  Ich  verweise  auf  die  grofse  Belegstelle  bei  Athenaeus  620d— 621  d. 

34* 


532  Sechstes  Kapitel. 

einen  Sänger  leichtfertiger  und  pikanter  Lieder1),  Eustathius  den 
Magoden  einen  Meliker2).  Strabo  rechnet  Hilarodie  und  Magodie 
zur  Melik,  nur  dafs  nach  ihm  die  Magodie  eine  gröfsere  Entartung 
der  musikalischen  Kunst  bedeutet  als  die  Hilarodie3).  Dieser  ge- 
sangliche Vortrag  wird  noch  besonders  durch  mimischen  Tanz  und 
Gebärdenspiel  unterstützt.  So  definiert  Hesychius  (v.  (iccyMdij)  die 
Magodie  geradezu  durch  „weichlicher  Tanz"  4).  Diese  ausgelassene 
und  wohl  hier  und  da  geradezu  obscöne  Art  des  Tanzes  und 
der  Mimik  beim  magodischen  Vortrag  will  Athenaeus  mit  dem 
Ausdruck  dxivi&tai*)  bezeichnen.  Des  Hilaroden  Tanz  und 
Mienenspiel  war  weniger  lasciv6);  eben  weil  er  der  mythologischen 
Richtung  angehört,  legte  ihm  die  mimische  Darstellung  von 
Göttern  und  Helden  eine  gröfsere  Reserve  auf. 

Jedenfalls  waren  Hilarodie  und  Magodie  in  Ionien  viel  beliebt 
und  weit  verbreitet,  da  es  ja  einen  besonderen  Stand  dieser 
Mimen,  eben  die  Hilaroden  und  Magoden,  gab.  Schliefslich  fand 
diese  populäre,  mimische  Poesie  noch  eine  vornehme  litterarische 
Ausgestaltung,  die  Hilarodie  durch  Simos  von  Magnesia  und  die 
Magodie  durch  Lysis.  Diese  neuen  Arten  der  Mimodie  hiefsen 
fortan  Simodie  und  Lysiodie;  daneben  bestanden  die  alte  Magodie 
und  Hilarodie  weiter.  Auch  gab  es  zahlreiche  Dichter,  die 
sich  in  der  Hilarodie  versuchten;  denn  bei  Athenaeus  heifst  es 
ausdrücklich,  Simos  sei  unter  ihnen  der  beste  gewesen.  Dieser 
ionische  Mimus  war  durch  den  besonderen  Stand  von  Mimen, 
die  sich  ihm  widmeten,  durch  zahlreiche  und  anerkannte  Dichter 


1)  hilarodos  lascivi  et  delicati  carminis  cantator. 

2)  Od.  V,  p.  1941,54.    sn  txaktfto  dt  ng  jxslixbg  xctt  /xaycotiüg. 
»)  Strabo  XIV,  648! 

4)  Vgl.  oben  S.  478. 

ft)  Vgl.  oben  S.  344.  Das  Wort  ist.  hergeleitet  von  dem  axh>ov  ge- 
nannten Zahnpulver  und  wird  gerne  von  dem  Gebahren  geckenhafter  Men- 
schen, besonders  aber  von  dem  der  Cinaeden  gebraucht.  (Vgl.  Hiller,  Rh. 
Mus.  XXX,  1875,  S.  74.) 

G)  Das  bedeutet  der  Ausdruck  ovdi  a%iv(£tTKt  bei  Athenaeus,  nicht 
aber,  er  hätte  überhaupt  mimisches  Geberdenspiel  und  Tanz  vermieden,  wie 
Sommerbrodt  a.  a.  0.  S.  6  schliefst. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  533 

so  sicher  fundiert,  dafs  er,  wie  es  scheint,  fast  bis  in  die  römische 
Kaiserzeit  Bestand  behalten  hat;  wir  lernten  schon  den  Lysioden 
Metrobius  als  Freund  des  Mimenliebhabers  Sulla  kennen.  Ich 
erinnere  ferner  an  die  Lysiodin  am  Hofe  des  syrischen  Königs 
Alexander,  in  die  der  Epicureer  Diogenes  so  schmählich  verliebt 
war,  auch  an  die  schöne  Lysiodin  Antiodemis,  die  im  zweiten 
Jahrhundert  nach  Rom  zog,  um  dort  ihr  Glück  zu  machen.  So 
erinnert  sich  noch  der  Grammatiker  Festus  der  Hilarodie. 

Eine  Art  des  ionischen  Mimus  ist  auch  die  Cinaedologie 
oder  Ionicologie,  allerdings  ist  sie  mehr  Mimologie  als  Mimodie, 
da  sie  nur  mit  mimischem  Gebärdentanze  vorgetragen,  nicht  aber 
eigentlich  gesungen  wird.  Auch  diese  Art  des  Mimus  war  in 
Ionien  weit  verbreitet,  und  zahlreich  sind  die  Dichter,  die  sich 
in  diesem  Genre  versucht  haben,  Sotades,  Alexander  Aetolus. 
Pyres,  Alexas,  Kleomachus,  der  Faustkämpfer  von  Magnesia 
und  andere1).  Einen  Cinaedologen  fanden  wir  bei  Petron,  und 
Sotades  ward  noch  nach  Jahrhunderten  von  dem  Hafs  der  Kirchen- 
väter verfolgt.  Also  der  ionische  Mimus,  vor  allem  die  ionische 
Mimodie,  war  wirklich  eine  bedeutsame,  populäre  Dichtung,  wenn- 
gleich die  Nachrichten  über  sie  auch  nicht  reichlicher  fliefsen  als 
über  den  althellenischen  Mimus  überhaupt.  Ohne  Aristoxenus 
und  die  Peripatetiker  wüfsten  wir  ja  überhaupt  nichts  davon. 

Diese  ganze,  grofse  Poesie  stammte  nun  natürlich  nicht  von 
heute  und  gestern  her,  sie  geht  in  sehr  frühe  Zeiten  hinauf. 
Ausdrücklich  hebt  Athenaeus  hervor,  dafs  schon  Aristoxenus  die 
Lysiodie,  die  Abart  der  Magodie,  kannte.  Mithin  lebte  Lysis 
vor  Aristoxenus,  also  etwa  vor  300  vor  Christus.  Nach  der 
Notiz  Strabos  ist  Simos  wieder  älter  als  Lysis;  nehmen  wir  nur 
ein  Menschenalter  an,  so  lebte  Simos  vor  350.  Aber  diese 
Zahlen  bezeichnen  nur  den  Terminus,  vor  welchem  Lysis  und 
Simos  gelebt  haben  müssen.  Sie  können  noch  viel  früheren  Zeiten 
angehören  als  dem  vierten  Jahrhundert  Aufserdem  ist  Lysiodie 
und  Simodie  erst  die  modernisierte  Form  der  alten  Magodie 
und  Hilarodie,    wie    ausdrücklich    bezeugt   ist.     Wenn    wir   be- 


*)  Vgl.  oben  S.  295-303. 


534  Sechstes  Kapitel. 

denken,  wie  viele  Jahrhunderte  im  Allgemeinen  die  mimischen 
Gattungen  zubrachten,  bevor  sie  sich  zu  litterarischer  Geltung 
zu  erheben  vermochten,  so  wird  es  wahrscheinlich  genug,  dafs 
die  Mimodie  nicht  blofs  in  dem  Jahrhundert  vor  Simos  und 
Lysis,  sondern  schon  in  viel  früheren  Jahrhunderten  existierte. 
Der  Mimus  ist  eben  überhaupt  in  Hellas  uralt. 

Nun  gab  es  Mimoden  nicht  blofs  in  Iönien,  sondern 
auch  in  Unteritalien.  So  erregte  Straton  aus  Tarent  Aufsehen 
durch  die  mimische  Parodie  von  Dithyramben,  der  Italiker 
Oenonas  äffte  Kitharodien  mimisch  nach,  er  führte  einen 
trällernden  Cyklopen  und  einen  solökisierenden,  schiffbrüchigen 
Odysseus  vor.  Oenonas  mag  also  Gesänge  wie  des  Philoxenus 
Dithyrambus  „Der  Gyklop"  mimisch  travestiert  haben.  Zu  ver- 
gleichen wäre  auch  Theokrit,  Id.  VI,  6 — 40,  wo  gleichfalls  der 
trällernde  Cyklop  auftritt.  Eine  Vorstellung  von  derartigen 
Travestien  können  wir  noch  am  ehesten  aus  Aristophanes  ge- 
winnen, der  so  gerne  die  neumodischen  Dithyrambendichter  ver- 
höhnt. Wie  singt  doch  der  verdrehte  Kinesias,  der  Dithyramben- 
dichter, bei  ihm  in  den  „Vögeln"  (1394  folg.): 

„Idole  der  schwärmenden, 

Äther  durchlärmenden, 

Halsausreckenden  Vögel  — 

Berührend  kaum  des  Meersaums  Schaumes  Raum, 

Möcht'  ich  wallen  mit  Windes  Wehen! 

Bald  südlicher  Bahn  mit  den  Blicken  gewandt, 

Bald  Willen  und  Wunsch  gen  des  Nordpols  Rand, 

Portlos  ätherische  Furchen  pflügend!" 

Aber  man  thäte  sehr  unrecht,  wollte  man  neben  der  ioni- 
schen etwa  von  einer  dorischen  Mimodie  reden.  Diese  Mimoden 
in  Unteritalien  ■  sind  sehr  jung  und  sehr  wenig  zahlreich.  Nir- 
gends hört  man  von  einem  besonderen  Stande  von  lyrischen  Mimen 
wie  in  Ionien,  nirgends  werden  besondere  Namen  und  Bezeich- 
nungen angeführt,  nirgends  hat  es  Dichter  und  gar  bekannte  und 
anerkannte  Dichter  des  lyrischen  Mimus  unter  den  Doriern  ge- 
geben; die  Mimodie  ist  im  wesentlichen  ionisch. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  535 

Besser  als  alle  die  geringfügigen  und  verzettelten  Notizen 
und  deren  kümmerliche  Erklärung  belehrt  uns  über  die  ionische 
Mimodie  „des  Mädchens  Klage14.  Diese  Mimodie  enthält  starke, 
mächtig  pulsierende  Leidenschaft,  hier  findet  sich  bei  allem 
Realismus  hohe  und  höchste  Poesie  des  Herzens:  doch  ist  darüber 
nach  Wilamowitzens  Ausführungen  jedes  Wort  zuviel.  Leiden- 
schaftlich und  herzbewegend  strömt  dort  eine  Verlassene  ihre 
Klage  aus.  Der  Geliebte  hat  sie  mit  seinen  Küssen  betrogen 
und  verräterisch  um  ihre  jungfräuliche  Ehre  gebracht,  „den  Ge- 
danken an  den  Bruch  im  Herzen,  den  herbeizuführen  er  so  ge- 
schickt einen  Anlafs  zu  finden  wufste"  (Wilamowitz  a.  a.  0. 
S.  221).  Aber  während  der  Ungetreue  zugleich  mit  dem  Genüsse 
der  Liebe  ledig  ward,  liebt  sie  um  so  leidenschaftlicher.  So 
sollen  denn  die  Sterne  und  die  erhabene  Nacht  sie  zu  seiner 
Schwelle  geleiten.  Sie  ist  rasend,  wenn  sie  daran  denkt,  dafs 
der  Freund  in  der  Umarmung  einer  anderen  liegt.  Wenn  sie 
beide  sich  entzweit  haben,  mögen  die  Freunde  entscheiden,  wer 
Unrecht  hat.  Damit  bricht,  von  zusammenhanglosen  Bruchstücken 
abgesehen,  der  Papyrus  ab. 

„Des  Mädchens  Klage"  gehört  zur  biologischen  Gattung  der 
Mimodie,  und  zwar  zur  Abart  der  Magodie,  zur  Lysiodie,  sie  ist, 
wie  es  sich  für  einen  biologischen  Mimus  gehört,  auch  im  popu- 
lären Stile  gehalten,  hier  herrscht  durchaus  die  Sprache  des 
Lebens.  Wir  haben  sie  uns  von  den  schönen  Lysiodinnen,  wie 
die  zarte  Antiodemis,  „Aphroditens  Nestküchlein ",  eine  war,  mit 
allem  Zauber  einer  herrlichen  Stimme,  bestrickenden  körperlichen 
Liebreizes,  verführerischen  Tanzbewegungen  und  mimischen  Ge- 
bärden vorgetragen  zu  denken1).  So  sangen  später  noch  nach 
vielen  Jahrhunderten  die  Miminnen  auf  den  grofsen  Theatern 
von  Rom  und  Konstantiuopel,  Alexandria  und  Antiochia  und  in 
allen  Städten  der  alten  Welt,  in  Europa,  Afrika  und  Asien  ihre 
bezaubernden  Couplets,  wie  einst  die  Lysiodin  ihre  Liebesklage 
sang.  Wenn  Chrysostomus  voller  Empörung  auf  diese  erotischen 
Couplets   schilt,  welche  die  Leute  mit  unwiderstehlicher  Gewalt 

*)  Vgl.  oben  S.  344. 


536  Sechstes  Kapitel. 

anziehen,  über  denen  die  Christen  ihre  Psalmen  vergessen,  die 
man  den  lieben,  langen  Tag  vor  sich  hinträllert,  die  die  jungen 
Leute  singen,  um  die  Mädchen  zu  verführen,  so  erinnert  uns 
das  an  die  zauberische  Gewalt,  die  auch  „des  Mädchens  Klage" 
haben  mufste,  von  den  verführerischen  Lysiodinnen  vorgetragen, 
deren  Reizen  selbst  ernsthafte  Philosophen  unterlagen.  Gar  manche 
Lysiodin  mag  aus  den  prunkenden  Sälen  der  Fürsten  und  Reichen, 
in  denen  sie  ihre  Arien  vortrug,  zur  grofsen  Bühne  geschritten 
und  von  der  Mimodin  direkt  zur  Mimin  geworden  sein,  wie  heute 
umgekehrt  Opernsängerinnen  auch  im  Konzertsaal  singen.  Jeden- 
falls ging  die  Mimodie  selber  aufs  grofse  Theater  und  ward  zum 
mimischen  Couplet.  Darum  erinnern  ja  auch  plautinische  Cantica 
an  die  Mimodie;  Plautus  wird  schwerlich  selbst  zuerst  die  Mimodie 
als  Canticum  in  seine  Komödien  aufgenommen  haben;  das  hat  er 
der  hellenischen  mimischen  Hypothese  abgesehen1). 

Die  mythologische  Art  der  Mimodie,  Hilarodie  und  Simodie 
ist  paratragödisch  und  burlesk.  Sie  kann  also  nur  den  alten 
Mythus  parodiert  haben.  Auch  von  ihr  gilt  wie  von  der  Hilaro- 
tragödie  Rhinthons  als  Charakteristicum  das  ntxctQQV&ni&iv  xd 
zQayixd  ig  zo  ysloiov;  nur  dafs  Rhinthons  Drama  mimologisch, 
die  Hilarodie  aber  kein  Drama  und  mimodisch  ist.  Zudem  be- 
steht zwischen  Rhinthon  und  der  ionischen  Mimodie  kein  direkter 
Zusammenhang. 

Hier  mag  uns  nun  wieder  Aristophanes  zu  einer  anschau- 
lichen Vorstellung  verhelfen.  Die  Parodie,  welche  Aeschylos  in 
den  „Fröschen"  einer  euripideischen  Monodie  zu  teil  werden 
läfst,  hat  wie  die  Hilarodie  viel  Mythologisch-Parodistisches  an 
sich.  Durch  die  Mengung  des  Hochtragischen  mit  dem  Gewöhn- 
lichen und  Niedrigen,  durch  die  Anwendung  der  vornehmen  Form 
auf  den  niedrigen  Inhalt  wird  eine  nahezu  mimisch -burleske 
Wirkung  erzielt.  Furchtbar  fängt .  die  ganze  Monodie  an.  Ein 
grausiger  Traum   hat   sich    der  Heldin    genaht  —  wir  erfahren 


l)  Vielleicht  war  „Des  Mädchens  Klage"  schon  gar  keine  selbständige 
Mimodie  mehr.  Die  ziemlich  komplizierte  Situation,  die  sie  zur  Voraus- 
setzung hat,  wird  von  ihr  so  andeutungsweise  behandelt,  als  ob  sie  durch 
vorausgegangene  Scenen  schon  deutlich  gemacht  wäre. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  537 

nicht,  wer  sie  ist  — ;  mit  dem  Thau  der  Gewässer  will  die 
Träumerin  sich  den  unheilkündenden  Traum  abspülen.  In  der 
That  ist  das  grause  Unheil,  das  er  ahnen  liefs,  auch  schon  ein- 
getreten. Die  böse  Nachbarin  Glyke  hat  im  schwarzblickenden 
Dunkel  der  Nacht  den  Kückelhahn  gestohlen,  das  ist  freilich 
eine  entsetzliche  Greueltbat:  man  mufs  nun  bei  der  bösen  Glyke 
Haussuchung  halten.  Durch  ein  Wunderzeichen  ist  alles  schon 
im  Traume  vorher  verkündigt;  der  Garnknäuel,  den  die  Träumerin 
verfertigte,  um  ihn  am  nächsten  Morgen  auf  dem  Markt  zu  ver- 
handeln, hat  plötzlich  Flügel  bekommen,  und  ist  als  Vogel  in 
die  Luft  geflogen.  Doch  ich  will  lieber  diese  Parodie  —  ich  hätte 
beinahe  gesagt  Mimodie  —  ganz  hierhersetzen:  sie  verdient  es 
wegen  ihrer  typischen  Bedeutung: 

„0  schwarzblickend  Dunkel  der  Nacht, 

Was  schickst  du  für  einen  grausigen  Traum  mir 

Her  aus  schweigendem  Ort. 

Mir  des  Hades  Gesandten, 

Die  unseelige  Seele, 

Der  Grabnacht  unhold  Kind  mir, 
Gesicht  furchtbar,  graunweckend, 
Schwarzleichenbahrengewandig, 
Blutigen,  blutigen  Mord  im  Blick. 
An  den  Fingern  mit  langen  Nägeln? 
Aber  ihr  Mägde  mir.  züDdet  ein  Lämpchen  an, 
Schöpft  in  Eimern  mir  Thau  der  Gewässer,  doch  wärmt 

mir  das  Wasser, 
Dafs  abspülen  den  göttlichen  Traum  ich  kann! 
Ja,  Fürst  du  des  Meeres, 

Ja,  das  ist's! 
Ja,  Hausgenossen! 

Schaut  die  entsetzliche  Greulthat,  schaut  sie! 
Mir  entführend  von  dem  Hof  den  Kückelhahn  ist 

Glyke  fort,  wehe! 
0  Nymphen  ihr,  Kinder  des  Bergs. 
0  Küchenmagd,  greifet  sie! 


538  Sechstes  Kapitel. 

Doch  ich  armes  Kind,  ich  safs  grad'  für  mich  so, 

Mit  Handarbeit  fleifsig, 

Des  Garnes  füllende  Spindel 

Ei  ei  ei  ei  ei  ei  eifrig  drehend  mit  der  Hand, 

Ein  Knäuel  zu  fertigen 

Das  grauenden  Morgens  zu  Markt 

Ich  wandelnd  verhandele; 

Da  entflog  er,  entlang  in  den  Äther  er, 

Leichtesten  Schwunges  der  Fittiche! 

Ach  Klage  mir,  Klage  mir  liefs  er  zurück! 

Und  Tränen,  und  Tränen  fort  und  fort, 

Strömen  mir,  strömen  die  Wimpern  mir! 

Kreter,  Söhne  des  Ida,  auf! 

Den  Bogen  ergreifet,  mich  zu  verteidigen, 

Die  Beine  lafst  schweifen,  das  Haus 

Kings  umkreisend  umzuspähn! 

Und  du  zugleich,  holde  Maid, 

Diktynna  Artemis, 

Deine  Windhund'  am  Band  komm  und  zieh' 

Durch  den  Palast  überall! 

Zeus  Kind  du,  doppeltgeflammte  Fackel 

Hebend  empor  in  geschwungener  Hand, 
Hecate,  leuchte  mir  vor! 

Zu  Glykes  Haus,  damit  ich 

Dort  anstelle  Haussuchung1)." 

(V.  1331  —  1363  Droysen.) 
Da  wir  dem  Ursprung  der  gesamten  Hypothese  nachgehen, 
müssen  wir  auch  nach  dem  der  alten  ionischen  Mimodie,  die  ja 
ein  wichtiger  Bestandteil  der  Hypothese  geworden  ist,  fragen; 
oder  hat  sie  etwa  denselben  wie  das  alte  mimische  Drama  der 
Dorier,  .sie,  die  doch  weder  so  alt  wie  dieses  noch  überhaupt 
ein  Drama  ist? 


J)  Hier  erinnern  wir  uns  ein  wenig  an  den  Traum,  den  bei  Herondas 
im  „Traum"  die  Bäuerin  ihrer  aufhorchenden  Magd  Anna  erzählt.  Auch 
dieser  Traum  mufs  sehr  seltsam  gewesen  sein.  Ich  verweise  auf  den  Rekon- 
struktionsversuch  bei  Crusius  in  den  „Untersuchungen"  S.  151  folg. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  539 

Der  dramatische  Mime  trägt  Tricot  und  Phallus,  dazu 
noch  meistens  vorn  eine  Polsterung,  das  Progastridion,  seine 
Bekleidung  besteht  in  einem  Kittel,  wie  ihn  die  einfachen  Leute 
in  Hellas  tragen,  auf  dem  Haupte  trägt  er  gerne  eine  spitze 
Mütze  wie  der  mimische  Odysseus  mit  dem  Schifferhut  oder 
der  apiciosus  des  römischen  Mimus.  Der  Mimode  aber  er- 
scheint nach  der  Schilderung  bei  Athenaeus  (XIV,  620  e  folg.)  im 
feierlichen,  weifsen,  langwallenden  Gewände,  nirgends  findet  sich 
eine  Spur  von  Phallus  oder  Progastridion,  im  Haar  trägt  er 
den  Kranz,  seine  Füfse  sind  beschuht,  während  die  Mimen 
seit  den  urältesten  Zeiten  bis  zu  den  mimi  planipedes  der  Römer 
unbeschuht  waren.  Man  stelle  neben  eine  liebreizende  Lysiodin 
mit  ihren  wallenden  Prunkgewändern,  ihrer  ganzen  luxuriös- 
prächtigen Erscheinung  solch  einen  halbnackten,  dickbäuchigen, 
phallischen,  kahlköpfigen  Mimen  mit  seinem  burlesk-verzerrten, 
grinsenden  Gesicht.  —  Eine  Welt  liegt  zwischen  beiden. 

Der  Aufzug  dieser  Mimoden  ist  der  des  citherschlagenden 
Apoll,  es  ist  die  feierliche  Tracht,  die  dem  Rhapsoden  wie 
seinen  Vettern ,  den  melischen  Künstlern ,  den  Kitharoden 
und  auch  den  Auloden  zukommt.  Und  wenn  es  von  dem  Magoden 
heifst,  alle  seine  Gewänder  wären  weiblich,  so  müssen  wir  be- 
denken, dafs  die  Tracht  und  der  Schmuck  des  Rhapsoden  wie 
der  Meliker  überhaupt  sich  der  weiblichen  sehr  nähert.  Der 
alte  weifse  Chiton  der  Männer  wie  der  Weiber  unterschied  sich 
wenig  von  einander,  nur  dafs  der  weibliche  einen  Bausch  (x6Ä.noc) 
hatte,  den  der  männliche  entbehrte.  Es  war  also  für  den 
weibischen  Magoden,  dem  der  weichliche,  üppige  Tanz  bei 
Hesychius  (vgl.  oben  S.  352)  vorgeworfen  wird,  äufserst  bequem, 
seine  ursprünglich  rhapsodische  Kleidung  durch  geringe  Ände- 
rungen in  die  weibliche  zu  verwandeln.  Diese  ionischen 
Mimoden  unterscheiden  sich  in  ihrem  Aussehen  von  den  dori- 
schen Mimologen  wie  die  idealen  ritterlichen  Götter  Homers 
von  den  burlesken  Bauerndämonen,  den  mimischen  Geistern, 
und  den  mit  ihnen  verwandten  Kobolden,  den  Wichtelmännern, 
den  Kobalen  und  Kerkopen. 

Der  dramatische  Mime  verleuguet  auch  in  der  Art,    wie  er 


540  Sechstes  Kapitel. 

das  Geld  für  seine  Produktionen  sammelt,  nicht  seinen  gauk- 
lerischen Ursprung.  Wie  heute  bei  dem  Kasperletheater  meistens 
die  Frau  des  Mimen  mit  dem  Teller  oder  mit  dem  Hute  umher- 
geht, das  Geld  zu  sammeln,  ähnlich  geschah  es  auch  bei  den 
hellenischen  Mimen. 

Jahn  (die  Wandgemälde  des  Columbariums  in  der  Villa  Doria 
Pamfili,  Taf.  II,  5.  Abh.  d.  Münch  Acad.  Bd.  VIII  S.  229 folg.)  hat  ein 
Wandgemälde  veröffentlicht,  auf  welchem  drei  Ägypter  einen  enthu- 
siastischen Tanz  aufführen,  während  ein  vierter  in  seinem  Hute 
Geld  sammelt.  Nicht  mit  Unrecht  hat  Jahn  diesen  Tanz  zu  den 
Leistungen  der  Cinaedologen  in  Beziehung  gesetzt,  die  mit  zu 
den  Mimen  gehören1).  Ähnlich  ist  die  Schilderung  bei  Theophrast 
(Charact  VI)  von  der  Art,  wie  die  Gaukler,  die  Kunstverwandten 
der  Mimen,  das  Schaugeld  sammeln.  Wenn  wir  bei  Heydemann  den 
Phlyaken  auf  seih  er  dürftigen  auf  drei  oder  höchstens  vier  Pfählen 
errichteten  Bühne  sehen  (vgl.  a.  a.  0.  besonders  No.  A),  dann 
wissen  wir,  dafs  er  das  Geld  sicher  in  der  primitiven,  oben  be- 
schriebenen Weise  gesammelt  hat.  Hätten  die  Maler  dieser 
Phlyakenvasen  jemals  auch  das  Publikum  gemalt,  so  würden  sie 
es  nicht  unterlassen  haben,  wie  auf  dem  Wandgemälde  bei  Jahn 
die  Frau  oder  den  Mann,  der  das  Schaugeld  sammelt,  abzubilden. 

Wieder  stehen  hier  in  einem  strengen  Gegensatz  zu  dieser 
eigentlich  mimischen  Art  die  Lysioden  und  Magoden.  Des  Rhap- 
soden wie  des  vornehmen  melischen  Künstlers  ehrenvoller  Lohn 
war  der  Kranz,  der  ursprünglich  wohl,  weil  er  nur  eine  Ehren- 
gabe war,  aus  Lorbeer-  oder  Ölzweigen  bestand.  Als  die  Zeiten 
materieller  wurden,  da  ward  er  aus  Gold  gefertigt.  Und  dieser 
ideelle  Lohn,  nach  dem  der  eigentliche  Mime  nie  gestrebt,  ward 
dem  Hilaroden  und  Magoden  zu  teil,  mit  ihm  durfte  er  sich  öffent- 
lich zeigen.  Ausdrücklich  sagt  Athenaeus,  dem  Lysioden  ward 
derselbe  Kranz   zu    teil    wie  dem  Auloden,  d.  h.  dem  melischen 

J)  Apuleius  giebt  (Metam.  VIII)  eine  Schilderung  der  religiösen 
Gaukeleien  der  eigentlichen  Metragyrten.  Das  Ende  aber  ist  die  Einsamm- 
lung des  Lohnes:  „die  Leute  drängten  herbei  und  schenkten  ihnen  reich- 
lich eherne  und  auch  silberne  Münzen,  die  sie  mit  aufgehaltenem  Schofse 
einsammelten". 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  541 

Künstler  überhaupt.  So  trägt  in  der  That  eine  Lysiodin,  die 
Geliebte  des  Epikureers  Diogenes,  bei  ihrem  Auftreten  den 
goldenen  Kranz  im  Haar,  den  der  Epikureer  als  Lohn  der  Tugend 
von  dem  König  Alexander  von  Syrien  erhalten  hatte1). 

Also  Hilaroden  und  Magoden,  Lysioden  und  Simoden  zeigen 
sich  in  der  Tracht,  die  allein  dem  Rhapsoden  wie  dem  melischen 
Künstler  gebührt,  und  auch  sein  Lohn,  der  Kranz,  wird  ihnen 
zu  teil;  sie  werden  also  wohl  mimische  Vettern  der  Kitharoden 
und  Auloden  sowie  der  homerischen  Rhapsoden  sein.  Das 
scheint  auch  Athenaeus  oder  vielmehr  seine  alten  Gewährsmänner 
geglaubt  zu  haben;  denn  der  Stelle  über  die  Mimoden  geht 
unmittelbar  voran  eine  kurze  Erörterung  über  die  Rhapsoden 
und  dieser  eine  recht  lange  über  die  Auloden  und  Kitharoden 
(616e— 620d). 

Stehen  also  auch  diese  Mimoden  wie  alle  Sänger  in  Ionien, 
wie  die  homerischen  Rhapsoden,  wie  grofsenteils  auch  die  ionischen 
Auloden  und  Kitharoden  auf  dem  Boden  der  Epik,  der  Helden- 
sage und  Mythologie? 

Aber  die  ideale  epische  Poesie  sang  von  Göttern  und 
Göttersöhnen,  sie  war  für  Ritter  gedichtet  und  schnelle  Helden, 
mochten  sie  zur  See  oder  zu  Lande  ihre  Thaten  vollführen; 
und  der  Homeride  wollte  sie  in  der  goldglänzenden  Halle  der 
Anakten  vortragen.  Doch  die  Zeiten  wurden  andere  in  Ionien. 
Mit  der  Herrschaft  der  Zeusentsprossenen  ging  es  zu  Ende,  das 
Volk  wurde  frei,  um  dann  schnell  unter  die  Herrschaft  der  Bar- 
baren zu  kommen.  Da  war  kein  Raum  mehr  für  Göttersöhne, 
den  Ioniern  war  ihr  Rittertum  zerbrochen,  als  sie  dem  Lyder 
den  Nacken  beugten,  da  und  noch  früher  ging  das  hochge- 
spannte, ritterliche,  ideale  Leben  in  die  Brüche  und  mit  ihm 
auch  der  ideale  Heldensang.  Auf  den  Trümmern  ihrer  Städte 
erschien  den  Joniern  ein  anderer  Gott  als  die  anthropomorphen, 
ritterlichen,  leichtlebigen  Götter  Homers,  da  begann  die  strenge 
ionische  Naturphilosophie.  Da  blieb  für  die  alten  Götter  und 
ihre  Welt    nur    noch   die  Kritik  übrig,    und  herb    und    strenge 

»)  Vgl.  oben  S.  167. 


542  Sechstes  Kapitel. 

haben  die  Philosophen  sie  geübt;  sie  hatten  kein  Verständnis 
mehr  für  sie  und  darum  auch  kein  Mitleid.  Sie  taugen  alle 
nichts,  die  Götter  Homers,  wie  sollten  sie  die  Welt  erlösen,  die 
selbst  mit  allen  ihren  Schwächen  behaftet  sind.  Die  Welt,  welche 
der  Erlösung  bedarf,  mufs  ihrer  entraten: 

Ildvxa  #£Otff'   ävs&qxav  "OfxrjQÖg  •#'    Haioööq  ts, 
odda  naq^   ävd-QutnoicStv  bvsiöea  xai  xpoyog  eötiv, 
xkimsiv  fioix£V6iv  ts  xal  äXXijXovg  dnaxevHV. 

(Diels,  Fragm.  poet.  philos.  S.  39.) 

singt  Xenophanes,  der  Rhapsode,  als  er  zum  Philosophen  ge- 
worden war. 

Da  ist  die  Volkspoesie  in  Ionien  doch  mit  dieser  homerischen 
Welt  milder  umgegangen,  sie  hat  sie  parodiert  und  travestiert; 
aber  sie  blieb  dem  Volke  als  ein  altes  Erbstück  aus  der  ritter- 
lichen Väter  glänzenden  Zeit  lieb  und  wert;  sie  so  ohne 
weiteres  über  Bord  zu  werfen,  wie  der  folgerichtige  Philosoph 
that,  war  nicht  des  Volkes  Sache.  Je  jünger  die  Triebe  der 
homerischen  Poesie  in  Ilias  und  Odyssee  sind,  desto  realistischer 
werden  sie,  wie  ihre  Träger,  die  Ionier;  ja,  sie  nehmen  nicht 
selten  eine  realistisch-humoristische  Färbung  an,  die  an  die  Art 
des  mythologischen  und  zum  Teil  auch  des  biologischen  Mimus 
streift. 

Selbst  die  Götter  sind  hier  und  da  merkwürdig  ver- 
ändert und  sehen  aus  wie  Sterbliche  von  der  niedrigsten  Sorte, 
intriguieren,  betrügen,  zanken  und  keifen,  schmausen,  pokulieren 
und  huldigen  den  Freuden  der  Liebe,  die  Aphrodite  Pandemios 
verleiht,  als  wären  sie  garnicht  die  Bewohner  des  Olymp,  sondern 
biedere  Pfahlbürger  irgend  eines  verrufenen,  kleinen  griechischen 
Nestes,  die  der  göttliche  Sänger  einst  während  seines  Erdenwallens 
kennen  lernte. 

Wenn  wir  diesen  galanten  Göttervater  Homers  sehen,  der 
der  verführerischen  Hera  so  eifrig  und  so  thöricht  schmeichelt  — 
ich  erinnere  an  die  berühmte  Vereinigung  beider  auf  dem  Ida 
(XIV,  157—355;  XV,  4—39)  —  um  sie  dann  nach  dem  Liebes- 
genufs  grob  und  rüde  anzufahren,  dann  brauchen  wir  kaum  einen 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  543 

einzigen  Schritt  tiefer  zu  gehen,  um  sofort  den  alten  Götter- 
papa zu  verstehen,  wie  er  mit  Phallus  und  Progastridion  im 
italischen  Mimus  zu  Liebchens  Fenster  auf  schwanker  Leiter 
hinaufsteigt1).  Wenn  er  das  bei  Nacht  und  Nebel  thut.  so  kennen 
wir  seine  Furcht  vor  der  gestrengen  Ehehälfte  schon  aus  dem 
ersten  Buch  der  Ilias,  wo  er  Thetis  bittet,  sich  im  geheimen 
zu  entfernen,  damit  es  die  ewig  keifende  Hera  nicht  merkt 
(I,  522  und  523). 

Wenn  aber  gerade  Hermes  ihm  dabei  helfen  mufs,  so  wissen 
wir  ja  aus  dem  Hermeshymnus,  was  für  ein  Galgenstrick  und 
Gauner  dieser  Gott  schon  in  seinen  Windeln  war.  Es  ist  doch 
äufserst  merkwürdig,  was  für  erstaunliche  Thaten  er  dort  gleich 
nach  seiner  Geburt  verübt;  erfindet  die  Zither,  raubt  des  Helios 
Rinder,  und  ist  gleich  ein  so  abgefeimter  Spitzbube,  der  auch  zu 
Meineid  und  allem  Bösen  bereit  ist,  wie  es  selbst  für  einen 
homerischen  Gott  arg  ist.  Dafs  das  bei  aller  Realistik  nur  Spafs 
und  Humor  ist,  können  schon  die  Weissagevögel  lehren,  die 
Hermes  streichen  läfst,  als  Apollo  den  kleinen  Spitzbuben  zum 
Vater  Zeus  vor  Gericht  schleppen  will. 

Die  Göttermutter  hat,  abgesehen  von  dem  Verdrufs,  den 
ihr  der  auf  hübsche  Frauen  und  Jungfrauen  erpichte  Gatte  be- 
reitet, im  Mimus  auch  viel  Ärger  mit  ihren  Kindern.  Auf  der 
bekannten  Phlyakenvase  aus  Bari  (Elite  ceram.  I,  36)  sitzt  sie 
auf  einem  hohen  Stuhle  und  weifs  sich  nicht  zu  helfen.  Denn 
dieser  Stuhl,  den  ihr  Sohn  Hephaestos  hergestellt  hat,  besitzt 
die  Zauberkraft,  sie  nicht  los  zu  lassen.  So  tritt  denn  ihr  Sohn 
Ares  für  sie  ein  und  kämpft  mit  Hephaestos,  um  den  Zauber  zu 
lösen*). 


»)  Wieseler  a.  a.  0.  S.  11. 

2)  Schon  bei  Epicharm  findet  sich  der  Komödientitel  „Die  Komasten 
oder  Hephaestos",  und  aus  Photius  wissen  wir,  dafs  Epicharm  hier  dasselbe 
Thema  behandelt  hat,  das  später  die  Phlyaken  darstellen.  Nur  erfahren 
wir  noch  den  Verlauf  des  ganzen  Abenteuers,  die  Verbannung  des  Hephaestos 
und  seine  Zurückführung  im  übermütigen  Komos.  (Vgl.  Lorenz,  Leben  und 
Schriften  des  Koers  Epicharmos  S.  138,  und  besonders  Löschcke,  Korinthische 
Vase  mit  der  Rückführung  des  Hephaestos.  Mittheilungen  des  deutschen 
archäologischen  Instituts  in  Athen  1894.) 


544  Sechstes  Kapitel. 

Auch  diese  mimische  Erfindung  ist  einfach  eine  Fortbildung, 
kaum  eine  Parodie  der  homerischen  Dichtung  zu  nennen.  Wenn 
Hephaestos  im  Mimus  Here  fesselt,  so  hat  er  bei  Homer  auch 
Ares  und  Aphrodite  in  Bande  geschlagen;  Here  hat  sich  ja 
auch  schlecht  genug  gegen  ihren  Sohn  benommen.  Sie  hat 
ihn,  da  er  von  Geburt  hinkend  war,  als  Neugeborenen  aus  dem 
Himmel  geworfen  (Ilias  XVIII,  396  f.)  Kein  Wunder,  dafs 
Hephaestos  sich  solcher  Rabenmutter  gegenüber  Unziemliches 
erlaubt.  Dafs  ihm  gerade  Ares  gegenübertritt,  ist  auch  im  Sinne 
des  homerischen  Mythos.  Ares  weifs,  wie  schlimm  es  ist,  in 
den  Fesseln  der  Hephaestos  zu  liegen.  Dafs  er  in  dem  Kampfe 
nicht  Sieger  sein  wird,  lehrt  uns  wieder  Homer,  der  ihn  als 
Feigling  schildert.  Aber  Hephaestos  ist  sehr  gutmütig,  das 
wifsen  wir  aus  dem  Demodocuslied;  er  wird  sich  versöhnen 
lassen,  und  so  können  wir  aus  der  analogen  homerischen  Dichtung 
auch  den  heiteren  Schlufs  dieses  Mimus  erraten. 

Hier  ist  der  homerische  und  der  mimische  Stil  sich  so 
ähnlich,  dafs  sie  fast  in  einander  übergehen.  Ja,  das  Demodocus- 
lied könnte  man  dreist  eine  mimische  Erfindung  nennen.  WTie 
herrlich  ist  in  dem  russigen,  hinkenden  Hephaestus  der  arme, 
alte  Hahnrei  geschildert  und  ebenso  in  Ares  der  galante,  junge 
Mann,  der  cultus  adulter,  den  Ovid  aus  dem  römischen  Mimus 
kennt,  der  in  des  Alten  Abwesenheit  das  zierliche,  junge  Weib- 
chen verführt.  Der  Alte  ist  schlau  genug,  die  beiden  abzufassen, 
und  dumm  genug,  die  lieben  Nachbarn  als  Zeugen  herbeizurufen ; 
die  ergötzen  sich  an  dem  Anblick  weidlich  und  finden  den  jungen 
Mann  garnicht  so  dumm.  Der  Alte  aber  tobt  und  verlangt  von 
dem  Schwiegervater  alle  Geschenke  zurück,  die  er  für  seine 
lockere  Tochter  einst  gegeben;  doch  schliefslich  verspricht  der 
Onkel  der  jungen  Frau  (Poseidon)  ein  Stück  Geld  als  Ersatz. 
Da  giebt  sich  der  betrogene  Ehemann  zufrieden,  und  das  Ganze 
schliefst  mit  einem  lustigen,  mimischen  Gelächter,  wie  ein  Mimus 
nach  Choricius  endigen  mufs. 

Wir  kommen  zu  Thersites.  Mit  welch  eindringlichem 
Realismus  wird  er  geschildert.  Er  ist  der  häfslichste  der  Griechen, 
schielend,  lahm,  bucklig  und  hat  einen  Spitzkopf,  der  nur  spar- 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  545 

lieh  mit  dünner  Wolle  besetzt  ist.  Das  heilst  also,  er  ist  nach 
seinem  Aussehen  eine  echt  komische  Figur.  Noch  in  später  Zeit 
haben  vornehme  Damen  nach  Clemens  von  Alexandria  Zeugnis 
ihre  Narren  Thersitesse  genannt1).  Dieser  Thersites  ist  die  In- 
carnation  des  niederen  Volkes,  er  vertritt  die  allgemeine  Meinung, 
er  hat  scharf,  nüchtern  und  rücksichtslos  beobachtet,  und  seine 
grelle  Stimme  verschafft  sich  Gehör,  wenn  man  ihn  auch  noch 
so  wenig  leiden  mag. 

„Quidquid  delirant  reges,  plectuntur  Achivi" 

sagt  Horaz  (Epist.  I;  2,  14);  etwas  viel  anderes  meint  Thersites 
auch  nicht. .  Und  doch  erhält  er  die  empfindlichsten  Prügel,  wie 
nur  je  ein  Narr  im  Mimus,  so  dafs  er  laut  aufheult,  und  alle 
Achäer  lachen,  und  wir  lachen  mit  ihnen. 

Ist  die  eigentlich  realistische,  mimisch- biologische  Schil- 
derung in  der  Ilias  noch  seltener,  so  nimmt  sie  dagegen  in  der 
Odyssee  einen  grofsen  Raum  ein.  Hier  können  wir  uns  für 
die  Richtigkeit  unseres  modernen  Empfindens  sogar  auf  das 
Urteil  eines  der  hervorragendsten,  antiken  Aesthetiker  berufen, 
der  in  den  Schilderungen  des  Lebens  und  Treibens  im  Hause 
des  Odysseus  mimische  Ethologie  und  Biologie  wiederfand,  ja 
dem  das  Ganze  wie  eine  Art  mimischer  Hypothese  vorkam1). 
Vor  allem  ist  die  Schilderung  der  Freier  so  realistisch  wie  mög- 
lich: Dieses  Gesindel,  das  in  des  Königs  Abwesenheit  sein  Weib 
bedrängt  und  dabei  wider  allen  Brauch  sein  Hab  und  Gut  verprafst, 
das  um  die  Königin  wirbt  und  sich  inzwischen  mit  den  Mägden 
tröstet  Ich  habe  oben  schon  auf  den  Bettler  Odysseus  hin- 
gewiesen. Er  hat  nur  alte  Lumpen  am  Leibe  und  trägt  einen 
schmutzigen  Ranzen  (XVII,  351),  gefräfsig  geht  er  von  einem 
zum  andern,  um  ihn  anzubetteln.  Er  hat  eine  Glatze,  auf  der 
auch  nicht  ein  Härchen  zu  sehen  ist,  wie  der  mimische  kahle 
Narr,  nur  dafs  Odysseus  unter  dieser  Maske  den  Humor  zu 
einem   fürchterlichen   macht.      Einer   der   Unsterblichen,   meint 


')  Paedagog.  III,  4.    Vgl.  Floegel,  Gesch.  d.  Hofnarren  S.  159. 
*).  Vgl.  ohen  S.  328,  Anm.  4. 

Reich,   Mimu».  35 


546  Sechstes  Kapitel. 

ein  Freier,  müsse  ihn  hergeführt  haben,  denn  himmlischer  Glanz 
strahle  von  seinem  glattpolierten  Schädel1). 

Nicht  der  Mimus,  nicht  Epicharm  hat  die  Figur  des 
Parasiten  erfunden,  der  älteste  Parasit  ist  der  Bettler 
Odysseus  und  daneben  der  Bettler  Iros.  Merkwürdig  genug, 
selbst  auf  Penelope  fällt  dieser  realistische  Schimmer  und 
verwandelt  sie  in  der  seltsamsten  Weise.  In  der  Episode 
im  XVIII.  Buche  tritt  sie  in  vollem  Putze  zu  den  Freiern, 
kokett  hält  sie  den  Schleier,  allen  erregt  sie  heifses  Verlangen, 
zumal  da  ihr  so  ungewöhnliches  Erscheinen  verheifsungsvoll 
wirken  mufs.  Was  Wunder,  dafs  die  Freier  auf  ihre  Klage: 
nicht,  dafs  man  überhaupt,  sondern  dafs  man  ohne  Geschenke 
um  sie  werbe,  bereitwilligst  eingehen  und  reiche  Gaben  an 
Gold  herbeiholen  lassen.  Da  hat  Penelope  sie  schön  genarrt; 
vergnügt  wie  eine  Hetäre,  die  ihre  Liebhaber  ordentlich  ge- 
rupft hat  —  die  Mimologen  haben  diese  Freude  oft  zum  Aus- 
druck gebracht  —  zieht  sie  ab  und  besieht  oben  in  ihrem  Ge- 
mache die  reichen  Gaben2).  Odysseus,  der  das  mit  ansieht, 
freut  sich  über  die  einträgliche  Koketterie  seiner  Frau  (XVIII, 
286— 289) 3).  Da  fällt  uns  der  mimische  Odysseus  ein,  der  bei 
Horaz  in  der  Erbschleichersatire  sich  bei  Tiresias  erkundigt,  wie 
er  am  besten  das  von  den  Freiern  durchgebrachte  Vermögen 
wiedergewinnen  kann,  und  den  guten  Rat  erhält,  sich  auf  die 
Erbschleicherei  zu  legen4). 

Die  griechischen  Systematiker  rechnen  das  homerische  Epos 


1)  Man  beachte  hier  die  echt  volksmäfsige  Ironie;  der  Hohn  prallt  auf 
die  Höhnenden  zurück,  sie  reden  ironisch  und  ihre  Ironie  ist  die  bittere, 
aber  ihnen  verborgene  Wahrheit. 

2)  Kayser  (Homer.  Abh.  ed.  Usener  S.  41)  verwunderte  sich  ganz  richtig 
über  die  artes  meretricias,  denen  die  Königin  hier  huldige. 

3)  Wilamowitz  (Homerische  Untersuchungen  S.  8  folg.,  S.  29  folg.)  hat 
wegen  dieser  humoristisch-realistischen  Art  diese  Episode  als  ein  späteres 
Einschiebsel  gekennzeichnet.  Man  sieht,  wie  die  Rhapsoden  in  späterer  Zeit 
immer  mehr  zu  realistisch-humoristischer  Auffassung  neigen,  bis  sie  schliefs- 
lich  sich  hierin  kaum  noch  von  den  Ethologen  und  Biologen  unterscheiden. 

4)  Über  den  Zusammenhang  dieser  Satire  mit  dem  Mimus  vergleiche 
unten  die  Kapitel  „Cynismus  und  Mimologie"  sowie  „Mimus  und  Satire". 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  547 

nicht  zur  einfach  erzählenden  Poesie,  sondern  zum  yivoc,  [xixtov, 
weil  es  aus  erzählenden  und  dramatischen  Partien  gemischt  ist. 
Man  denke  an  die  zahlreichen  Reden,  die  Homer  seinen 
Personen  in  den  Mund  legt.  Wenn  der  Rhapsode  sich  beim 
Vortrage  dieser  Reden  in  die  Person  des  Helden  hineinversetzte, 
so  war  er  direkt  zum  Schauspieler  geworden. 

Ich  erinnere  an  den  braven  Jon,  den  Plato  mit  soviel 
Humor,  Lust  und  Liebe  in  seinem  gleichnamigen  Dialoge  schildert. 
Bei  schrecklichen  Stellen  sträuben  sich  ihm  die  Haare  empor, 
bei  wehmütigen  treten  ihm  die  Thränen  in  die  Augen,  er  be- 
gleitet also  seinen  Vortrag  mit  Mienenspiel.  Kein  geringer 
Teil  der  rhapsodischen  Kunst  wird  in  der  mimischen  Ver- 
anschaulichung des  Epos  und  seiner  Helden  bestanden  haben, 
die  Rhapsoden  waren  zugleich  vnoxQixai  'OpiJQoVj  Darsteller 
Homers1).  Nicht  anders  wird  es  mit  den  Kitharoden  und  Auloden 
gewesen  sein.  Wenn  diese  mit  mimischer  Aktion  Reden  einzelner 
epischer  Personen,  realistisch-burlesk  parodiert,  vortrugen,  waren 
sie  zu  Hilaroden  und  zu  Magoden  geworden.  Die  homerische 
Poesie  neigt  aber  in  ihren  letzten  Ausläufern  schon  an  und  für 
sich  zu  mimischer,  realistisch-burlesker  Auffassung. 

Das  ionische  Publikum  der  späteren  Zeit,  diese  Seeleute, 
Schiffskapitäne,  Rheder,  Kaufleute  und  sonstigen  Gewerbetreiben- 
den im  betriebsamen  Ionien  werden  ihre  Rhapsoden,  Kitharoden 
und  Auloden  nicht  selten  zu  dieser  mimischen  Entwickelung 
gedrängt  haben.  Immer  und  ewig  mochte  man  auch  nicht  den 
Streit  der  Könige  oder  Penelopes  Jammer,  das  Getöse  des  Wassers 
und  den  Donner  des  Zeus  und  alle  diese  idealistischen,  hoch- 
gespannten Dinge  vernehmen.  Der  verwöhnte  Gaumen  wollte 
auch  einmal  derbere  und  pikantere  Kost.  Es  ist  bezeichnend, 
dafs  es  gerade  die  Phäaken  sind,  vor  denen  Demodocus  die 
Märe  von  Ares  und  Aphrodite  singt.  Es  ist  gewifs  später 
im  realistischen  Ionien  viel  lukrativer  gewesen,  ein  Mimode 
als  ein  Rhapsode  zu   sein.    Bedenken  wir   es  wohl,    selbst   das 


1)  Bei  Athenaeus  (620  c)  wird  von  dem  Rhapsoden  Mnasion  direkt  der 
Ausdruck  v7ioxQivta&at,  gebraucht. 

35* 


548  Sechstes  Kapitel. 

streng-ideale  Athen  verlangte  in  seiner  Heldenzeit  nach  dem 
erhabenen  Aeschyleischen  Trauerspiel  den  plumpen  Scherz  der 
Satyrn,  es  wollte  nach  Prometheus  und  den  Eumeniden  den 
betrunkenen  Cyklopen  sehen  und  Herakles,  den  Fresser.  Was 
für  das  dramatische  Athen  das  Satyrspiel,  das  ist  für  das  epische 
Ionien  gewissermafsen  die  Lysiodie  und  Magodie.  Wenn  dem 
realistischen  Volke  nach  all  dem  Idealismus  der  Khapsodie,  der 
Kitharodie  und  Aulodie  flau  zu  Mute  wurde,  dann  trat  die 
Hilarodie  und  Magodie  in  ihre  Rechte. 

So  hat  denn  also  der  ionische  Mimode  nichts  mit  den 
burlesken  Darstellern  des  dorischen  Mimus  und  auch  von  vorn- 
herein nichts  mit  dem  &av(iaionoi6s>  dem  Ahnen  des  Mimen,  zu 
thun.  Aber  trotz  seiner  vornehmen  Herkunft' und  dem  prächtigen 
Auftreten,  das  er  immer  beibehielt,  gehört  er  schliefslich  doch 
auch  zum  fahrenden  Volk,  das  sich  mit  seiner  Kunst  das 
Brod  erwirbt,  so  zog  die  Lysiodin  Antiodemis  nach  Rom,  um 
sich  das  Gold  der  Barbaren  zu  verdienen  (vgl.  oben  S.  167  u.  194). 
Diese  Mimoden  hatten  später  keinen  Grund  mehr,  sich  von  den 
andern  Mimen  zu  scheiden,  wie  es  die  vornehmen  Tragöden  und 
Komöden  thaten:  sie  vereinigten  sich  leicht  mit  ihnen  zur  Dar- 
stellung der  mimischen  Hypothese  als  Sänger  der  mimischen 
Cantica. 

Wir  dürfen  also  im  allgemeinen  sagen,  die  Mimologie 
ist  dorisch,  die  Mimodie  ionisch.  Die  realistische  dramatische 
Volkspoesie  hat  in  ihren  mannigfaltigen  Formen  bei  den  Doriern 
und  Ioniern  geblüht.  Den  idealen  Attikern  ward  es  gegeben, 
die  hohe  Blüte  des  vornehmen  Dramas  zu  schaffen,  das,  wie  alles 
Ideal-Schöne  und  Hehre,  bald  dahinwelkte,  während  seine  derben, 
realistisch-mimischen  Vettern  ihr  unverwüstliches  Leben  bis  an 
das  Ende  alles  griechischen  Wesens  weiter  führen  sollten,  da 
sie,  durch  ihre  Vereinigung  stark,  das  grofse  mimische  Drama 
hervorgebracht  hatten.  Die  Suprematie  Athens  auch  auf  dem 
Gebiete  der  Dichtung  hörte  auf,  der  griechische,  idealistische 
Klassizismus  hatte  sein  Ende  erreicht,  das  realistisch.- burleske, 
das  biologische  Drama  gewann  die  Herrschaft. 

Die  ionische  Mimodie  führt  uns  also  dazu,  aufser  den  bisherigen, 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  549 

durchgreifenden  Unterscheidungen  im  Mimus,  die  wir  aufgestellt 
haben,  —  ich  erinnere  z.  B.  an  Paegnia — Hypothesen,  Mimodie — 
Mimologie,  dorischen — ionischen  Mimus,  biologischen— mythologi- 
schen Mimus,  —  eine  weitere  Unterscheidung  zu  machen  zwischen 
dem  rein  dramatischen,  auf  die  dramatische  Aktion  zweier  oder 
mehrerer  Personen  und  dem  recitativen,  allein  auf  den  mimischen 
Vortrag  einer  einzigen  Person  berechneten  Mimus.  Zur  letzteren 
Gattung  haben  wir  ohne  weiteres  Magodie  und  Lysiodie,  Hilarodie 
und  Simodie  zu  rechnen.  Wie  diese  ist  auch  die  mehr  mimologische 
Art  des  ionischen  Mimus,  die  Ionicologie  oder  Cinaedologie  durch- 
aus recitativ,  ist  doch  auch  sie  auf  dem  Boden  der  Rhapsodie 
und  der  Epik  erwachsen.  Abgesehen  von  dem  Schmähgedicht 
gegen  Belestiche,  die  Maitresse  des  Ptolemaeus  Philadelphus, 
haben  wir  von  Sotades,  dem  Hauptdichter  der  Cinaedologie, 
nur  mythologische  Titel  „Der  Abstieg  in  die  Unterwelt", 
-Priapus",  „Die  Amazone"1),  „Ilias",  „Adonis* s).  Die  Ein- 
leitung zum  „Adonis"*  beginnt  fast  wie  ein  Märchen: 

Tiva  tdäv  naXaiäv  laiooicöv  #«JUr'  iöaxovaai*). 

So  kann  nur  ein  Erzähler,  ein  Recitator,  ein  Rhapsode  anheben- 
Dennoch  gehört,  wie  wir  oben  (S.  233 folg.)  gezeigt  haben,  die 
Cinaedologie  zum  Mimus.  Aus  seinem  rhapsodischen  Ursprung  er- 
giebt  sich  eben  die  recitative  Art  des  ionischen  Mimus  von  selbst. 
Aber  auch  der  rein  dramatische  Mimus  hat  noch  nebenher 
eine  recitative  Spielart  ausgebildet;  sie  wird  gekennzeichnet 
durch  die  Namen  Sophron,  Herondas,  Theokrit.  Auf  diesen 
Mimus,  er  gehört  zur  Gattung  des  mimischen  Paegnions,  bezieht 
sich  Wilamowitzens  Bemerkung:  „Was  sind  die  Mimen?  Doch 
keine  dramatische  Gattung.  Der  Erzähler  tritt  auf,  seis  auf  dem 
Markte  oder  im  Privathause,  später  auch  auf  dem  Platze,  der 
Schauplatz  heifst,  weil  alles  da  bequem  gesehen  werden  kann, 
was   ein    grofses  Publikum    sehen  will.     Der  Erzähler  kann  mit 


')  Suidas  s.  v.   Zonädrig-   tla\  ö'  avtov  tldtj  nktiaia,  olav  t fr "AtSov  xara- 
ßa<ng,  nqlrrnog,  dg  BtltOTixrp,  'Aua&v,  xal  hioa. 

2)  Hephaestion  p.  8,  5. 

3)  Hephaestion  an  derselben  Stelle. 


550  Sechstes  Kapitel. 

den  ysXcoTonowi  des  Westens  ebenso  verglichen  werden,  wie  mit 
den  vornehmen  Rhapsoden  des  Ostens,  die  auch  Stücke  des  Archi- 
lochus  und  Hipponax  recitierten.  Er  imitiert  mit  drastischer 
Komik  mehrere  Stimmen.  Darin  hat  sich  nichts  geändert,  als  im 
dritten  Jahrhundert  die  eleganten  Poeten  auch  diese  alten  Formen 
umbildend  und  verfeinernd  aufnehmen.  Theokrits  Adoniazusen 
und  Simaitha  sind  doch  zunächst  von  ihm  selbst  vorgetragen; 
das  ist  keine  Buchpoesie:  er  hat  ja  gar  kein  Buch  gemacht. 
Und  so  hat  es  im  Jambos  ihm  Herodas  nachgemacht1)." 
Wilamowitz  spricht  hier2)  vom  Mimus  Sophrons,  Herondas'  und 
Theokrits  und  ihren  volksmäfsigen  Vorläufern.  Diesen  gilt 
seine  Bemerkung  und  aufserdem  noch  der  ionischen  Mimodie 
und  Cinaedologie,  natürlich  aber  nicht  dem  althellenischen, 
dramatischen  Mimus  und  dem  mimischen  Drama  der  späteren 
Zeiten,  dem  alexandrinischen,  griechisch-römischen  und  byzan- 
tinischen, der  Hypothese.  Hertling  hat  dann  mit  guter  Methode 
den  Beweis  durchgeführt,  dafs  Herondas'  Mimen  nicht  für  die 
Bühne  gedichtet  sind,  dafs  sie  also  nach  unserer  Terminologie 
zum  recitativen  Mimus  gehören,  dem,  wie  er  wohl  mit  Recht 
vermutet,  auch  Sophron  zuzuweisen  ist  und  selbstverständlich 
Theokrit3). 

Die  Lust  an  den  kleinen,  mimischen  Dramen  war  eben  seit 
uralter  Zeit  so  grofs,  dafs  auch  Einzeldarsteller  sich  ganze 
Mimen  vorzuführen  bemühten,  wie  es  z.  B.  Kleon,  der  Mimaule, 


J)  Herondas  will  sich  ja  direkt  als  Nachfolger  des  Hipponax,  dessen 
Dichtung  nichts  weniger  als  dramatisch  war,  betrachtet  wissen. 

2)  Lesefrüchte,  Hermes  XXXIV,  S.  207  u.  208. 

3)  Wenn  aber  Hertling  nach  Besprechung  des  recitativen  Mimus  zum 
Schlüsse  seiner  Dissertation  meint:  „Quae  de  Graecorum  mimica  arte  disputavi, 
si  quis  comprehendat,  habiturum  eum  spero,  unde  rede  de  usu  mimorum  graecorum 
iudicet  .  .  .  gravissirna  .  .  monuisse  et  tibi  e  re  visum  est  explicatius  docuisse 
mihi  videor.",  dann  zeigt  er  damit,  dafs  er  glaubt,  der  griechische  Mimus 
sei  mit  Sophron,  Herondas  und  Theokrit  und  der  volkstümlichen  mimischen 
Kunst,  auf  der  sie  basieren  und  mit  der  sie  zusammenhängen,  erledigt. 
Das  ist  ein  Irrtum,  aber  freilich  ein  altgeheiligter  (vgl.  oben  S.  421).  Der 
recitative  Mimus  ist  bei  aller  Bedeutung,  die  ihm  innewohnt,  doch  bei  weitem 
der  geringere  Teil  im  grofsen  Reiche  des  Mimus. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  551 

that  und  der  Herold  Ischomachus  und  auch  Nymphodorus.  Ihr 
Triumph  bestand  eben  darin,  durch  lebhaftes  Gebärdenspiel, 
durch  die  Annahme  verschiedener  Stimme  und  Sprache  beinahe 
dieselbe  Illusion  zu  erregen,  wie  sonst  eine  ganze  Bande  von 
Schauspielern *).  Die  Rolle  solcher  mimischen  Recitatoren  mochten 
dann  später  auch  vornehme  Kunstdichter,  wie  Sophron,  Herondas 
und  Theokrit  um  so  eher  übernehmen,  als  diese  Einzeldarsteller 
natürlich  nicht  in  der  Tracht  des  Mimen  mit  Phallus  und  Pro- 
gastridion  aufgetreten  sind.  Sie  fühlten  sich  eben  viel  mehr 
als  Rhapsoden,  ähnlich  wie  die  Mimoden  Ioniens.  Gewifs  haben 
Herondas  und  Theokrit  ihre  Mimen  zuerst  selber  vorgetragen; 
aber  wer  möchte  sie  sich  dabei  in  dem  wunderlichen  Kostüm 
des  dramatischen  Mimen  vorstellen. 

Die  hellenistischen  Könige  waren,  wie  wir  sahen,  dem  Bei- 
spiel Philipps  und  Alexanders  folgend,  eifrige  Begünstiger  des 
Mimus,  des  recitativen  wie  des  dramatischen.  Wie  einst  Kleon 
der  Mimaule  seine  lustigen  fMpyONC  allein  der  gaffenden  Menge 
vorführte,  wie  einst  Oenonas  einen  solökisierenden,  schiffbrüchigen 
Odysseus  und  einen  trällernden,  liebeseeligen  Cyklopen  darstellte, 
so  mag  Theokrit  vor  dem  glänzenden  Hofe  der  Ptolemäer  als 
ein  neuer  Mimologe  seinen  Mimus  von  Polyphems  und  Galateas 
Liebe  und  alle  seine  andern  biologischen  und  bukolischen  Mimen 
mit  mimischer  Aktion  recitiert  haben,  so  hat  man  auf  den 
glänzenden  Gastmählern  und  Gelagen  Alexandriens  auch  Herondas' 
Mimen  vorgetragen.  Sehr  gut  sagt  Richard  Reitzenstein :  „Wir 
dürfen  nicht  vergessen,  dafs  er  (der  alexandrinische  Dichter) 
immer  einen  Vortrag  fingiert,  und  lebendig  wird  uns  sein  Werk 
nur,  wenn  wir  es  wirklich  vorgetragen  denken,  die  Mimiamben 
des  Herondas  .  .  .  wie  die  Iamben  des  Kallimachus  .  .  .  sind 
naiyvia  'Scherzvorträge  beim  Gelage'"  (Epigramm  und  Skolion 
S.  1).    Beim  Gelage  haben  wir  uns  auch  die  gesamte  Mimodie 


l)  So  führt  der  Kasperlespieler  allein  ein  ganzes,  kleines  Drama  auf 
und  redet  für  alle  handelnden  Personen  in  seinem  Mimus,  während  draufsen 
vor  dem  Publikum  die  Puppen  tanzen.  Der  mimische  Recitator  läfst  ja  nun 
keine  Pappen  agieren,  aber  er  unterstützt  den  dramatischen  Eindruck  seiner 
Worte  mit  lebhafter  Gestikulation  und  mimischem  Gebärdenspiel. 


552  Sechstes  Kapitel. 

vorgetragen  zu  denken,  die  Hilarodien  und  Lysiodien,  Simodien 
und  Magodien.  Nicht  umsonst  erhält  die  einzige  Lysiodin,  die 
wir  kennen,  Antiodemis,  den  Titel  tsqnvov  n&vqpai  (is&ris *).  "Wir 
wissen  auch,  dafs  Sotades,  der  Mimograpti,  seine  Cinaedologien 
an  den  Höfen  der  Diadochen  selber  vortrug. 

Aber  neben  diesen  mimischen  Recitatoren  gab  es  an  den 
Höfen  von  Alexandria  und  Antiochia  auch  ganze  Gesellschaften 
von  dramatischen  Mimen.  Ich  erinnere  an  die  Deikteriade 
oder  Mime  Myrtion,  die  eine  von  den  vielen  Geliebten 
des  Philadelphus  war  und  wohl  eine  ganz  ähnliche  Rolle 
gespielt  hat  wie  die  weiblichen  Mimen  später  in  Rom  und 
Byzanz2).  Wir  werden  uns  diese  Mimen  auf  dem  Theater  und 
Alexandria  und  Antiochia  agierend  zu  denken  haben,  wo  sie 
Dio  von  Prusa  noch  im  ersten  Jahrhundert  nach  Christus  sah, 
und  'wo  sie  auch  nach  des  Johannes  Chrysostomus  Zeugnis  in  den 
späteren  Jahrhunderten  spielten  und  ihre  mimischen  Hypothesen 
aufführten.  An  den  Höfen  der  Diadochen  fand  sich  jede  Art 
des  Mimus  vertreten,  und  der  Zusammenflufs  aller  erhob  das 
grofse,  mimische  Drama,  die  Hypothese,  wohl  schon  damals  zu 
einer  hohen  Vollendung. 

Wir  sahen,  wie  die  mimische  Theorie  der  Peripatetiker  am 
Anfange  der  Alexandrinerzeit  dazu  beitrug,  die  vornehmen  Dichter 
zu  einer  Ausgestaltung  des  alten,  volksmäfsigen  Pägnions,  soweit 
es  recitativ  war,  anzuregen.  Mit  einem  Schlage  entstand  eine 
vollendete  mimische  Kunstdichtung,  aber  nur  auf  dem  Gebiete 
des  Pägnions. 

Die  Hypothese  blieb  noch  den  Volksdichtern  überlassen; 
die  vornehmen  Dichter  gingen,  durch  die  mimische  Theorie  und 
Theophrasts  Charaktere  angeregt,  darauf  aus,  die  vornehme, 
attische  Komödie  zu  neuem  Glänze  zu  führen,  allerdings  mit 
Hilfe  starker  Hervorhebung  des  mimischen  Elements.  Daneben 
aber  bestand  die  mimische  Hypothese  als  reines  Volksdrama 
weiter,  und  die  kunstmäfsige  Gestaltung  des  mimischen  Pägnions 


')  Vgl.  oben  S.  168,  344,  345. 
2)  Vgl.  oben  S.  166. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  553 

wird  sicher  auch  auf  ihre  kunstgemäfse  Entfaltung  nicht  ohne 
Einflufs  geblieben  sein. 

Antiochus  IV.  trat  bei  den  Festen,  die  er  im  Jahre  168  zu 
Daphne  in  der  Nähe  von  Antiochia  feierte,  selbst  als  Mime  auf. 
Es  heifst  bei  Athenaeus  ausdrücklich,  der  König  sei  mitten  unter 
den  Mimen  aufgetreten  und  hätte  mit  ihnen  zusammen  getanzt 
und  gespielt ').  Da  aber  nicht  jeder  Mime  für  sich  allein  gemimt 
haben  kann,  weil  sie  zusammen  auftraten,  so  mufs  es  sich  um 
ein  zusammenhängendes  Stück  mit  mehreren  Akteuren  gehandelt 
haben,  in  das  der  König  auf  seine  Art  eingriff.  Hier  sind  wir 
also  wirklich  einer  mimischen  Hypothese  habhaft  geworden  und 
zwar  im  Jahre  168  vor  Christus.  Warum  sollte  es  zu  jener  Zeit 
in  anderen  Städten  anders  gewesen  sein  als  in  Alexandria  und 
Antiochia;  auch  sie  werden  ihre  Mimengesellschaften  und  ihre 
mimischen  Hypothesen  gehabt  haben.  Die  Mimentruppen  zogen 
eben  schon  damals  wie  in  den  nachchristlichen  Jahrhunderten 
von  Stadt  zu  Stadt,  von  Land  zu  Land  und  fanden  überall  mit 
ihren  Stücken  ein  Publikum  und  besonders  später  in  Rom. 

Diese  Betrachtungen  waren  längst  geschrieben  und  der  Druck 
schon  bis  zum  sechsten  Kapitel  vorgeschritten,  da  erhielt  ich  in 
zwölfter  Stunde  durch  die  Freundlichkeit  Watzingers  die  Ab- 
handlung „Mimologen"2).  Der  Autor  publiziert  eine  Terrakotte, 
die  bei  den  Ausgrabungen  des  deutschen  Instituts  am  West- 
abhange  der  Akropolis  bei  einer  der  Cisternen,  die  dicht  unter 
dem  Abhang  der  Pnyx  liegen,  gefunden  wurde.  Es  ist  eine 
Lampe,  auf  deren  als  Ölbehälter  dienenden  Basis  drei  Schau- 
spieler stehen;  der  mittelste  mit  grofsen  Ohren,  dickem  Bauch 
und  Glatzkopf  erscheint  als  rechter  mimus  calvus  und  hioqös 
(faXaxgog.  Zu  seiner  Linken  steht  ein  anderer  Glatzkopf  in 
einem  Mantel,  zu  seiner  Rechten  ein  wohlfrisierter  Jüngling 
mit  Mantel  und  Chiton.  Alle  drei  sind,  wie  es  sich  für  Mimen 
gehört,  ohne  Masken. 


*)  Vgl.  oben  S.  193  und  194. 

2)  Sonderabdruck    aus    den    Mitteilungen    des    Kaiserlich    deutschen 
archaeol.  Instituts  in  Athen.     Bd.  XXVI.   1901. 


554  Sechstes  Kapitel. 

Zu  diesem  Bilde  gehört  die  Inschrift  auf  der  Rückseite  der 
Lampe: 

MIMOAßrOl  (sie!) 

HYnOOHCIC  (sie!) 

EIKYPA(sic!) 

Das  heifst:  Mimologen,  das  Sujet  (rj  vnö&eöis):  Hecyra.  Als 
besonders  beliebten  mimischen  Typus  haben  wir  die  Schwieger- 
mutter schon  oben  (S.  76.  120)  gekennzeichnet.  Die  drei  Mimo- 
logen sind  in  einer  gemeinsamen  Aktion  begriffen,  der  Ausdruck 
nloxii  ÖQccfjiccTixri,  den  Plutarch  vom  grofsen  mimischen  Drama, 
der  Hypothese  gebraucht,  gilt  also  wohl  auch  von  diesem 
Mimus  Hecyra;  ob  er  schon  eine  wirkliche  Hypothese  in  dem 
späteren  Sinne  war  und  auch  schon  so  hiefs?1)    Jedenfalls  war 


J)  Dafs  vnöSeais  hier  schon  in  dem  prägnanten  Sinne  wie  bei  Plutarch 
gebraucht  wird,  ist  mehr  wie  fraglich,  höchstens  zeigt  sich  ein  Ansatz  dazu. 
Von  der  „Hypothese"  spricht  nur  Plutarch  und  auch  er  nur  einmal,  aber 
da  auch  so  unzweideutig,  dafs  ich  diesen  Ausdruck  bei  dem  Mangel  einer 
typischen  Bezeichnung  für  das  grofse  mimische  Drama  adoptiert  habe.  Jeden- 
falls aber  ist  das  eine  rein  gelehrte  Bezeichnung,  die  im  gewöhnlichen  Leben 
keine  Geltung  besafs.  Der  Töpfer,  der  die  drei  Mimologen  bildete,  hat 
schwerlich  je  einen  Mimus  eine  Hypothese  genannt;  das  überliefs  er  den 
Gelehrten.  Vor  allem  aber'  beweist  dieser  Fund  gegen  die  Auffassung  vom 
recitativen  Mimus  garnichts.  Dafs  der  Mimus  ein  Drama  und  nur  ein  Drama 
ist,  hatte  man  bisher  geglaubt,  was  sollten  wohl  auch  des  Laberius,  Syrus 
und  Philistions  und  aller  ihrer  Vorgänger  Mimen  anderes  sein,  da  war  es 
ja  einfach,  von  Herondas  das  Gleiche  zu  glauben.  Erst  durch  Wilamowitz 
haben  wir  gelernt,  dafs  es  daneben  noch  einen  recitativen  Mimus  giebt. 
Erst  auf  dieser  neuen  Grundlage  kann  man  die  Entwickelung  des  Mimus  zur 
Bukolik,  zum  Idyll  und  weiter  seine  Beziehungen  zur  bukolischen  Novelle 
und  zum  bukolischen  Roman  und  dann  zu  Roman  (Petron,  Apuleius)  und 
Novelle  überhaupt,  also  zur  erzählenden  Prosadichtung  —  so  spricht  Wilamo- 
witz von  „diesen  Rapsoden  der  Prosa"  —  recht  begreifen.  Sie  haben  eben 
immer  zusammengehört,  die  recitierenden  Mimologen  und  die  Erzähler.  Darum 
erwähnt  Dio  Chrysostomus  (or.  XX,  10),  wenn  er  die  Leute  aufzählt,  die 
im  Cirkus  ihr  Wesen  treiben,  neben  den  ^avfiaxonoiot,  den  nächsten  Ver- 
wandten der  Mimen,  auch  die  Erzähler  (tbv  Si  iaxoQlav  tiva  y  /uii&ov  diriyov- 
fxevov)  und  Philodem  stellt  die  Mimographen  mit  den  Aretalogen  zusammen, 
die  zweifellos  Erzähler  waren:  xai  yccQ  [iifjioyQcupov  xai  aQtta  [X6y]ov  [all']  ov 
avvyqcnftion  ägtiriv  av  rig  (ixlfyoiTO?)  ravjrjv.    Vol.  Herc.  Coli.  alt.  II,  Col.  IX). 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  555 

er  ein  Drama  mit  mehreren  Darstellern  und  stammt  wie  die 
Terrakotte  spätestens  aus  dem  Ende  des  dritten  Jahrhunderts 
vor  Christus1). 

So  wird  denn  nun  der  Gang  der  griechischen  mimischen 
Entwickelung  immer  deutlicher.  Ununterbrochen  ist  der  Zu- 
sammenhang  zwischen    dem   mimisch  -  dramatischen    Tanze    der 


Vgl.  Gompertz,  Zeitschr.  f.  öst.  Gymn.  1865,  S.724  u.  725.  Diesen  Aufsatz  hatte 
August  Brinkmann  die  Freundlichkeit  mir  nachzuweisen.  Philodems  Urteil 
ist  umso  wichtiger,  als  der  Mimus  in  seiner  ästhetischen  Theorie  eine  be- 
deutende Rolle  spielt.  Vgl.  Fragment  72  (Hausrath):  xal  yag  [ra  rov]  ZwtfQovog 
xal  ja  [noXXüv'i]  allmv  /mfioyg[ä(f(ov]  tl  nozt  7roijuc[r' ÖQ&wg  (?)  Xi]ynal.  xcu  uri 
. .  .  .  oi  ovm&iv  [rtg .  .  .]  uiuwv  normal ....  Dort  erscheint  der  Mimograph 
zusammen  mit  dem  Redner  und  Historiker.  Vgl.  Hausrath,  Jhhch.  f.  kl.  Phil. 
Suppl.  XVII,  1890,  S.  236.  Auch  Frgm.  53  wird  Sophron  erwähnt.  Für  Phi- 
lodem (1.  Jahrh.  v.  Chr.)  ist  noch  Sophron  der  Mimograph  xai'  ^o/ijv,  für  die 
nachchristlichen  Jahrhunderte  ist  es  Philistion,  der  Klassiker  der  Hypothese. 
J)  Vgl.  Watzinger  a.  a.  0.  S.  3-5.  "Wiederholt  hat  in  den  letzten  Zeiten 
die  Altertumswissenschaft  die  grofse  Freude  und  Genugthuung  gehabt,  dafs 
ihre  Konjpkturen  und  Hypothesen,  die  auf  Grundlage  des  alten,  hisher  be- 
kannten Materiales  sich  nur  zur  Wahrscheinlichkeit  erheben  liefsen,  durch 
neue  Funde  und  Entdeckungen  bestätigt  wurden.  Allerdings  sind  auch  nicht 
selten  mancherlei  weit  verbreitete  Auffassungen  —  man  denke  nur  an  Theodor 
Bergks  Anschauungen  von  Sophrons  und  Herondas  Mimen  (vgl.  Crusius,  Die 
Mimiamben  des  Herondas.  Deutsch.  S.  XXX)  —  aufs  schlagendste  widerlegt 
worden.  Nun  hat  also  auch  diese  Anschauung  von  der  Existenz  des  grofsen 
mimischen  Schauspiels  im  alexandrinischen  Zeitalter,  die  ich  vor  fünf  Jahren 
in  der  Einleitung  zum  Mimusprogramm  als  Grundlage  meiner  Auffassungen 
von  der  mimischen  Entwickelung  hinstellte,  die  Feuerprobe  durch  diesen  wich- 
tigen Fund  erhalten.  Ich  will  hier  auch  an  die  metrische  Inschrift  auf  der 
Basis  einer  Statue  eines  griechischen  Mimographen  aus  Eski-Zaghra  erinnern, 
die  zuerst  im  Bulletin  de  correspondance  Hellenique  V  (18S1),  S.  130  No.  2, 
und  dann  von  Dittenberger,  Rh.  Mus.  1881,  36,  S.  463,  mit  den  erforderlichen 
Emendationen  publiziert  wurde- 

'Aya&rjt  T[v%T)t] 

'Hquöiovo;  ßfti(x()ov  na(i)(tög  (a)iijatv 

XaXxtiov  avöoiavTu  naxolSog  tpTjifw, 

yvaijurjg  rt  txcai.  uti'/.i/og  yäg  r^v  näair, 

xtQnvüv  t«  fxt[C]uwv  ovg  iyQaxptv  äaitltog. 
Jedenfalls  also  war  dieser  Nikias  ein  Mimograph,  ob  er  Paegnien  oder  Hypo- 
thesen dichtete?    Hat  er  etwa  Mimiamben  gedichtet,  weil  seine  Grabschrift 
in  Skazonten  verfafst  ist?  wie  Crusius,  Unters.  S.  102,  zu  bedenken  giebt. 


556  Sechstes  Kapitel. 

hellenischen  Urzeit,  den  uralten,  kleinen  mimischen  Dramen  der 
Dorier,  dem  italischen  Phlyax  des  achten  Jahrhunderts  vor  Christus 
und  den  mimischen  Hypothesen  des  sechsten  und  der  noch 
späteren  Jahrhunderte  nach  Christus,  von  denen  wir  noch  einige 
ihrem  Inhalt  nach  herstellen  konnten,  ja,  den  byzantinischen 
Mimen,  die  noch  im  14.  und  15.  Jahrhundert  nach  Christus  in 
Byzanz  aufgeführt  wurden,  bevor  es  die  Türken  eroberten1). 

Ein  Rätsel  giebt  uns  freilich  noch  die  phänomenale  Er- 
scheinung Philistions  auf.  Wie  durfte  man  ihn  den  Erfinder  des 
Mimus  nennen?  Vor  ihm  haben  doch  Sophron,  Herondas,  Theo- 
krit  gedichtet;  nun,  das  waren  eben  Pägniendichter.  Aber  es 
lebten  doch  vor  ihm  auch  Rhinthon,  Blaesos  und  Skiras;  die 
rechnete  man  zur  italischen  Abart  des  Mimus,  zum  Phlyax.  Aber 
es  gab  zweifellos  auch  Mimographen  der  eigentlichen  mimischen 
Hypothese  in  den  vorchristlichen  Jahrhunderten.  Sie  sorgten 
jedoch  wohl  wesentlich  nur  für  das  theatralische  Bedürfnis  und 
haben,  wie  später  noch  Publilius  Syrus,  ihre  Stücke  nur  teilweise 
ausgearbeitet,  vielleicht  nur  ein  Canevas  für  die  Aufführung  her- 
gestellt, wie  die  Commedia  dell'  arte -Dichter,  und  nur  Prolog 
und  Cantica  vollständig  ausgeführt;  sie  erhoben  eben  nicht  eigent- 
lich litterarische  Ansprüche,  sie  blieben  einfache  Volksdichter. 
Philistion  aber  arbeitete  seine  Hypothesen  vollständig  aus  und 
erhob  sie  so  zu  einer  vornehmen  Litteraturgattung,  die  ebenso 
auf  Nachruhm  und  nicht  blofs  auf  den  Beifall  der  flüchtig  ver- 
rauschenden Stunde  Anspruch  machte  wie  die  anderen.  Darum 
konnte  man  ihn  den  Erfinder  des  Mimus  nennen.  Das  ist  nicht 
eine  aus  den  Verhältnissen  sich  ergebende  Kombination,  son- 
dern Cassiodor  bestätigt  es  aufs  ausdrücklichste,  wenn  er  sagt 
(IV,  21):  mimus  .  .  .  tanta  Philistionis  cautela  repertus  est,  ut  eins 
actus  poneretur  in  litteris.  Wir  erfahren  ja  auch,  dafs  diese 
Mimen  noch  in  den  späteren  Jahrhunderten  gelesen  und  auch 
aufgeführt  wurden2).  Jedenfalls  wurden  über  Philistion  alle  seine 
griechischen  Vorgänger  vollständig  vergessen. 

a)  So   erklärte  Vahlen  vor  42  Jahren,   der  Mimus  sei:   ein  „uraltes 
volkstümliches  Produkt."    Ztschr.  f.  östr.  Gymn.  1859,  S.  291. 
2)  Vgl.  oben  S.  90  folg. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  557 

Warum  aber,  wenn  die  mimische  Poesie  in  den  letzten  vor- 
christlichen und  in  den  nachchristlichen  Jahrhunderten  Markt 
und  Strafse,  Gastmahl  und  Gelage  und  selbst  das  vornehme 
Theater  füllte,  warum  haben  denn  die  griechischen  Schrift- 
steller so  hartnäckig  davon  geschwiegen,  warum  haben  sie 
uns  so  böswillig  dieses  Rätsel  aufgegeben,  das  erst  die  Jahr- 
hunderte allmählich  lösen?  Ich  glaube,  das  kann  das  Beispiel 
des  Athenaeus  uns  lehren,  wie  ich  es  oben  erklärt  habe.  Er 
spricht  nur  von  den  Mimen  im  vierten  oder  fünften  Jahrhundert 
vor  Christus,  und  doch  lebte  er  in  einer  Zeit,  in  der  er  fast 
tagtäglich  Mimen  vor  sich  sah.  Er  hat  die  ganze  Stelle  über 
die  Mimen  aus  Didymus  oder  einem  Zeitgenossen  des  Didymus 
abgeschrieben.  Didymus  wieder  lebte  in  Rom,  er  lebte  in  der 
mimenfrohesten  Zeit  des  römischen  Reiches,  er  hat  Laberius  und 
Publilius  Syrus  gesehen.  Doch  was  machte  das  dem  XalxsvxsQoq 
aus,  solche  zeitgenössischen  Dinge  gehörten  für  ihn  gar  nicht  in 
die  Wissenschaft.  Wir  haben  Lukian  über  diese  thörichte  Auf- 
fassung schon  spotten  hören1);  dieser  Hohn  Lukians  ist  im  voll- 
sten Mafse  berechtigt;  gelangt  doch  auch  Aristides,  der  Sophist, 
in  seiner  Lobschrift  auf  Athen  nur  bis  zur  Schlacht  bei  Chaeronea, 
alles  Spätere  ist  der  Erwähnung  nicht  mehr  wert. 

Hier  und  da  lassen  sich  ja  auch  diese  hohen  Herrschaften 
herab,  die  Angelegenheiten  und  Verhältnisse  ihrer  eigenen  Zeit 
eines  Blickes  zu  würdigen,  und  dann  fangen  sie  sofort  an, 
über  den  Mimus  zu  perorieren.  Aber  das  beginnt  erst  mit 
Dio  Chrysostomus,  also  mit  dem  Ende  des  ersten  Jahrhunderts 
nach  Christus.  So  würde  denn  vom  Jahre  168  vor  Christus  bis 
zum  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  nach  Christus  die  Lücke  in 
der  Entwickelung  der  griechischen  Hypothese  klaffen.  Aber  die 
mächtige  Erscheinung  Philistions  schliefst  diese  Lücke  und  ver- 
knüpft bedeutungsvoll  den  vorchristlichen  und  nachchrist- 
lichen Mimus  mit  einander. 

So  erweist  sich  die  griechische  Hypothese  der  nachchrist- 
lichen Jahrhunderte  als  die  einfache  Konsequenz  der  mimischen 


XJ  Vgl.  oben  S.  433,  Änm.  3. 


558  Sechstes  Kapitel. 

Entwickelung  der  früheren  und  frühesten  Zeiten  des  Hellenen- 
tums.  Der  mimische  Tanz  vorgeschichtlicher  Zeiten,  der  pelo- 
ponnesische  Mimus  des  achten  und  neunten  Jahrhunderts  vor 
Christus  ist  durch  das  Band  ununterbrochener  Entwickelung 
verknüpft  mit  dem  spätesten  byzantinischen  Mimus,  der  bis 
zur  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  nach  Christus  blühte. 


Damit  ist  nun  auch  das  Problem  von  der  Stellung  des 
lateinischen  Mimus  innerhalb  der  mimischen  Gesamtentwickelung 
erledigt.  Es  giebt  keine  selbständige  Entwickelung  im  Mimus 
aufserhalb  der  griechischen.  Die  Lateiner  sind,  wie  überall,  auch 
hier  die  Nachahmer. 

Im  zweiten  Jahrhundert  zog  die  Mimodin  oder  genauer 
Lysiodin  Antiodemis  nach  Rom  und  im  ersten  Jahrhundert  finden 
wir  dort  wieder  den  Lysioden  Metrobius,  den  Gesellschafter 
Sullas  (vgl.  S.  167  u.  233).  Warum  sollten  nicht  ebenso  früh 
oder  noch  früher  auch  dramatische  Mimen  und  wandernde  Mimen- 
truppen den  Weg  nach  Rom  gefunden  haben?  Schon  im  Jahre  211 
führte  ein  bejahrter  Mime  einen  Gebärdentanz  unter  Flöten- 
begleitung im  römischen  Theater  auf1).  Doch  trat  er  nur  einzeln 
und  in  der  Orchestra  auf.  Sein  mimischer  Tanz  war  nur  ein 
Intermezzo  während  der  Pausen  in  den  auf  der  Bühne  auf- 
geführten, grofsen  Stücken.  Jedenfalls  aber  sehen  wir  an  diesem 
Mimen,  dafs  in  der  zweiten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  schon 
die  Mimen  überhaupt  nach  Rom  gelangt  sind.  Die  Mimen  aber, 
die  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  von  der  Bühne 
herunter  den  Accius  und  Lucilius  verhöhnten,  sind  Darsteller  des 
grofsen,  mimischen  Schauspiels  und  folgen  hier  einem  eigentümlichen 
Brauch  der  mimischen  Hypothese  (vgl.  S.  190).  Sie  müssen  beim 
römischen  Volk  schon  in  alt  eingewurzelter  Gunst  gestanden 
haben,  wenn  sie  sich  solche  Freiheiten  herausnahmen.    Das  wird 


*)  Festus    S.  326,    0.  M.:      libertinus    mimus   magno   natu,    qui    ad    tibi- 
einem  saltaret. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion.  559 

an  den  übermütigen  Floralien  geschehen  sein,  die  vornehmlich 
durch  Mimen  gefeiert  wurden  (vgl.  S.  53).  Das  Florafest  (28.  April 
bis  3.  Mai)  wurde  im  Jahre  238  zum  ersten  Male,  seit  dem  Jahre 
173  ständig  begangen.  Es  ist  wohl  möglich,  dafs  von  Anfang  an 
der  Mimus  dieses  Fest  verherrlichte,  das  später  unlöslich  mit 
ihm  verbunden  war.  Hier  bestehen  noch  dunkle,  religiöse  Be- 
ziehungen. Flora  ist  eine  Naturgöttin  und  die  Mimen  erscheinen 
in  der  Gestalt  der  Fruchtbarkeitsdämonen;  der  Mimus  aber  diente 
ursprünglich  zur  Feier  uralter  Naturfeste x),  und  ein  Naturfest  sind 
die  Floralien,  die,  am  Ende  des  April  gefeiert,  der  Freude  über 
die  prächtig  erblühte  Natur  Ausdruck  gaben.  Also  am  Anfang 
des  dritten  Jahrhunderts  konstituiert  sich  die  mimische  Hypo- 
these im  griechischen  Osten;  an  seinem  Ende  beherrscht  sie  in 
Rom  die  Floralienbühne  und  darf  sich  schon  im  zweiten  Jahr- 
hundert persönliche  und  wohl  auch  politische  Anspielungen  er- 
lauben. Nach  dem  Muster  der  Mimodien,  der  Couplets  dieser 
Hypothesen,  gestalteten  Plautus  und  Caecilius  Statius  ihre  cantica 
(vgl.  oben  S.  344 folg.). 

So  hat  sich  in  kaum  einem  Jahrhundert  die  mimische 
Hypothese  den  griechischen  Osten  wie  den  lateinischen  Westen 
erobert.  Das  ist  eine  reifsend  schnelle  Verbreitung;  dem  Mimen 
lag  eben  von  seinem  Ahn,  dem  Gaukler,  her  das  Wandern  im 
Blute;  die  Mimengesellschaften  waren  wie  die  Gauklerbanden 
Wandertruppen,  und  seit  Alexanders  Kriegszügen  war  man  in 
Griechenland  an  weites  Wandern  gewöhnt.  Der  Orient  war  den 
Griechen  aufgethan,  nun  öffnete  sich  auch  der  Westen.  Die  Be- 
ziehungen zwischen  Griechenland  und  Rom  werden  ja  damals 
immer  enger.  Im  Jahre  272  fällt  Tarent,  und  damit  ist  Grofs- 
griechenland  römisch;  190  kehrt  Lucius  Cornelius  Scipio  Asiaticus 
nach  Besiegung  des  Antiochus  aus  dem  griechischen  Osten,  der 
eigentlichen  Heimat  der  mimischen  Hypothese,  nach  Rom  zurück. 
Aus  dem  griechischen  Osten  brachte  Kaiser  Verus  bei  seiner  Rück- 
kehr vom  Partherkriege  ganze  Schiffe  voll  griechischer  Mimen  nach 
Rom  (vgl.  oben  S.  199).     Ob  nicht  ebenso  schon  dem  Heere  des 


!)  Vgl.  oben  S.  498  folg. 


560  Sechstes  Kapitel. 

Asiaticus  wandernde  Mimentruppen  gefolgt  sind?  Sie  schlössen 
sich  ja  seit  Alexanders  Kriegszügen  gerne  den  Armeen  an.  Noch 
Kaiser  Julianus,  der  den  Mimen  bei  seiner  strengen,  fast 
asketischen  Richtung  wenig  geneigt  war,  nahm  seinen  Soldaten 
zu  Gefallen  Mimenbanden  auf  seinem  letzten  Feldzuge  mit  (vgl. 
oben  S.  200). 

Nun  sprachen  ja  allerdings  diese  aus  dem  Osten  nach  Rom 
pilgernden  Mimentruppen  griechisch;  aber  von  allen  griechischen 
Dramen  war  der  Mimus  mit  seiner  Prügelkomik,  seinem 
Grimassieren,  seinem  Gebärdenspiel  und  Tanz  den  Römern  noch 
am  ehesten  verständlich.  Für  dieses  Verständnis  waren  sie 
durch  den  campanischen  Mimus,  die  Atellane,  vorbereitet,  von 
dorther  waren  sie  auch  das  seltsame  Kostüm  des  dramatischen 
Mimen  schon  gewöhnt.  Dafs  diese  neuen  Mimen  keine  Masken 
trugen  wie  die  Atellanenspieler,  war  dem  Verständnis  nur  noch 
förderlicher.  Wenn  die  Mimodin  Antiodemis  im  zweiten  Jahr- 
hundert in  Rom  auftreten  wollte,  so  mufste  sie  offenbar  darauf 
rechnen  können,  dafs  man  sie  dort  verstehen  werde.  So  etablierten 
diese  neuen  Mimen  eine  „griechische  Bühne"  in  Rom. 

Allmählich  fanden  sich  lateinische  Mimen,  und  dann  wurde 
der  griechische  Mimus  latinisiert.  Ich  erinnere  nur  an  den 
Mimus  „Der  Vormund",  den  Cicero  in  der  ins  Jahr  91  verlegten 
Unterredung  „Vom  Redner"  als  einen  „alten"  Mimus  nennen 
läfst  (vgl.  S.  69  Anm.  1),  an  Laberius  und  Syrus.  Schon  Atta, 
der  alte  Komödiendichter  (starb  77  vor  Christus),  kennt  den  Mimen 
unter  der  lateinischen  Bezeichnung  „planipes"  *). 

Aber  die  „scaena  graeca"  blieb.  Noch  Cicero  kennt  sie8). 
Caesar  liefs  neben  lateinischen  auch  griechische  Mimen  aufführen, 


*)  Diomedes  III,  K.  LS.  490:  cuius  planipedis  Atta  togatarum  scriptor  ita 
in  Aedilicia  fabula  meminit: 

daturin  estis  aurumf    exultat  planipes. 

2)  Ad  familiäres  VII,  1 :  Non  te  puto  Graecos  aut  Oscos  ludos  desiderasse. 
ad  Att.  XVI,  5 :  Rumoris  nescio  quid  afßaverat,  comissione  Oraecorum  frequentiam 
non  fuisse;  quod  quidem  me  minime  fefellit.  Scis  enim,  quid  ego  de  Graecis  ludis 
existimem. 


Die  griechische  Hypothese  vor  Philistion. 


561 


desgleichen  Augustus1)-  Wenn  Tacitus  berichtet,  Nero  habe  vor- 
nehme Herren  und  Damen  zu  Schauspielern  im  Mimus  geprefst, 
so  spricht  er  von  „graeci  latinive  histrionis  ars%  d.  h.  vom  griechi- 
schen und  lateinischen  Mimus  (vgl.  S.  69  Anm.  2).  Die  griechischen 
Mimen  des  Kaisers  Verus  werden  auf  der  „griechischen  Bühneu 
aufgetreten  sein.  Die  Mime  Eucharis  wird  in  ihrer  Grabinschrift 
direkt  als  eine  erste  Künstlerin  auf  der  scaena  graeca  bezeichnet3). 
Philistion  gab  griechische  Mimen  in  Rom,  sie  wurden  auch 
später  unaufhörlich  dort  aufgeführt.  So  erhielt  sich  die  grie- 
chische Mimenbühne  in  Rom,  und  noch  zu  Theodorichs  Zeit 
kamen  die  griechischen  Mimen  aus  Byzanz  dorthin  (vgl.  oben 
S.  145). 

Also  in  Rom  selber  hatte  der  lateinische  Mimograph  die 
griechische  Hypothese  vor  Augen;  seine  Abhängigkeit  von  ihr 
ist  eine  ganz  unmittelbare3).  So  wird  die  lateinische  Hypo- 
these ursprünglich  ein  ziemlich  getreues  Konterfei  der  gleich- 
zeitig blühenden,  griechisch  -  alexandrinischen  gewesen  sein. 
Andererseits  aber  schildert  der  Mime  und  Mimograph  bei  dem 
Realismus  der  mimischen  Ethologie  und  Biologie  stets  die  Typen 


')  Sueton,  Caesar  C  39:  Edidit  ludo*  regionatim  et  quidem  per  omnium 
linguarum  histriones.  Octavian  43:  histriones  omnium  linguarum  d.  h.  lateinisch, 
griechisch  (Mimus),  oskisch  (Atellane). 

*)  C.  I.  L.  VI,  2.  10096:      Docta  erodiia  paene  mtuarum  manu 

Quae  modo  nobüium  ludet  decoravi  choro 
Et  graeca  in  scaena  prima  populo  apparui. 
s)  Darum  sind  auch  die  lateinischen  und  griechischen  termini  technici 
für  Mimus  und  Mimen,  insbesondere  die  Rollenbezeichnungen,  gleich.    Ich 
stelle  zusammen: 


mimus 

piuoc 

iocularis 

uluo;  ytlotwv 

mima 

("»(Ußf 

paelicator  paelex 

fyLÖTvnoc  (S.  448) 

archimimus 

ccu/iuiuoi 

moechus 

uoiXU 

morio,  stupidus 

fitOQOC 

parasitus 

naoäanog 

calvus,  calvaster 

fiiogos  (ftikaxoöi 

mimus  seeundarum 

Sannio 

JEavvooög 

partium 

u'iuo;  diVTioos 

sannator 

(iVXTtJQKntjs 

mimologus 

muo/.oyos 

;rri>^r 

piöxos 

mimia 

utuia  (S.  577  Anm.) 

scurra 

ytkvjToiotüi 

mimographus 

utuoyoafoq 

Reich,   Jlimu«. 

36 

562  Sechstes  Kapitel. 

und  Figuren,  die  Sitten  und  das  Leben  des  Volkes,  unter  dem 
er  sich  befindet.  Also  wird  im  römischen  Mimus  auch  schliefslich 
wesentlich  römisches  Leben  pulsiert  haben,  und  das  lateinische 
Gepräge  wird  hier  viel  deutlicher  hervorgetreten  sein  als  in  der 
vornehmen  Tragödie  und  Komödie. 

Mommsen  hat  in  den  „Unteritalischen  Dialekten"  (S.  118)  die 
besondere  Begabung  der  Italiker  für  alles  Komisch-Burleske  ge- 
kennzeichnet. In  der  That  haben  wir  die  Grundlagen  des  primi- 
tiven Mimus  bei  allen  Völkern  der  Erde  gefunden.  Wenn  nun 
auch  die  Griechen  allein  diese  Anfänge  zu  einer  grofsen  Kunst 
gestaltet  haben,  so  haben  wohl  später  die  Italiker  zu  dem 
ihnen  überkommenen  Mimus  mancherlei  Italisches  hinzugethan, 
manches  Neue,  Spezifisch- Lateinische  dazu  erfunden.  Es  ist 
kein  Zufall,  dafs  der  klassische,  griechische  Mimus  gerade 
in  Rom  geschaffen  wurde,  wo  die  griechische  und  die  lateinische 
mimische  Kunst  sich  später  gegenseitig  befruchteten.  Hat  doch 
Philistion  im  Ardalio  einen  Typus  vornehmlich  aus  dem  römi- 
schen Leben  dargestellt.  Wenn  die  Lateiner  von  dem  gewöhn- 
lichen archimimus,  stupidus,  scenicus  (mimus)  einen  archimimus 
graecus,  stupidus  graecus,  scenicus  graecus  unterscheiden,  wie 
es  auf  den  Inschriften  geschieht,  so  sind  die  ersteren  eben 
nicht  mehr  „more  graeco"  gewesen,  sondern  haben  ein  national- 
römisches Wesen  gehabt.  So  ist  der  französische  Polichinelle 
doch  eine  andere  Figur  als  der  italienische  Pulcinella,  er  ist 
eben  ein  Franzose  und  Pulcinella  ist  ein  Italiener.  Aber  die 
ganze  Gestalt  der  Stücke  und  auch  die  lateinischen  Typen  und 
Themen  sind  nach  dem  Vorbilde  der  griechischen  geschaffen  und 
gestaltet.  Noch  Laberius  wird,  nachdem  der  Mimus  mindestens 
seit  einem  Jahrhundert  latinisiert  war,  die  griechischen  Titel  nicht 
ganz  los.  Ich  erinnere  an  Kolax,  Kophinus,  Ephebus  (vgl.  unten 
S.  586.) 

Griechischer  und  lateinischer  Mimus  blühten  also  seit  dem 
dritten  Jahrhundert  vor  Christus  neben  einander,  der  eine  im 
Osten ,  der  andere  im  Westen  der  antiken  Kulturwelt,  obwohl 
der  griechische  Mimus  auch  in  Rom  eine  Freistätte  hatte  und 
dort  unter  Philistion  den  Gipfelpunkt  der  Vollendung  erreichte. 


Form,  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        563 

VII. 

Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte. 

Ihre  Aufführung  auf  dem  Theater. 

Wir  haben  nach  der  antiken  Theorie  des  Mimus,  nach  der 
Auffassung  der  Heiden  wie  der  Christen,  der  Priester  wie  der 
Laien,  der  Völker  wie  der  Regierungen,  der  Philosophen  und 
Sophisten  die  lateinische,  griechische  und  byzantinische  Litteratur 
durchforscht.  Da  nun  die  Bewunderer  des  Mimus  wie  seine 
Feinde  und  Hasser  nicht  nur  gelobt  oder  getadelt  und  verflucht, 
sondern  gelegentlich  auch  ihr  Urteil  näher  begründet  haben, 
so  haben  wir  eine  grofse  Anzahl  neuer,  eigenartiger,  für  die  Be- 
urteilung des  Mimus  wichtiger  Züge  aufgefunden.  Wir  wollen 
sie  jetzt  zu  einem  Gesamtbilde  vereinigen,  und  dieses  mit  Hülfe 
weiterer  Zeugnisse  noch  mehr  mit  den  Farben  des  Lebens  und 
der  Wirklichkeit  ausstatten. 

Die  Hypothese  ist  in  ihrer  Vollendung  ein  grofses 
Drama,  das  an  Umfang,  an  Zahl  der  Akte  und  der  Scenen 
das  alte  klassische  Drama  zum  mindesten  erreicht. 

Wir  haben  gezeigt,  dafs  die  Ehebruchsstücke,  von  denen 
Juvenal,  Ovid,  Johannes  Chrysostomus,  Choricius  und  andere  be- 
richten, eine  grofse  Zahl  von  Aufzügen  enthalten.  Da  wird  in 
den  ersten  Scenen  die  leichtfertige  junge  Frau  und  der  mürrische, 
eifersüchtige  Ehemann  geschildert,  dann  findet  sich  der  schmucke, 
junge  Buhle  ein,  mit  Hülfe  der  verschmitzten  Vermittlerin,  der 
cata  carissa,  gelangt  er  zu  einer  Zusammenkunft  mit  seiner  ge- 
liebten Dame  im  Hause  des  Mannes.  In  den  nächsten  Scenen 
wird  der  täppische  Ehemann  durch  allerlei  Ränke  betrogen,  und 
je  toller  die  Intriguen,  Kabalen  und  Ränke,  die  verschmitzten 
Erfindungen1)  sind,  mit  denen  er  getäuscht  wird,  desto  besser; 
schliefslich  mufs  sich  der  Liebhaber  vor  ihm  in  einen  grofsen 
Kasten2)  verstecken.  Es  erfolgt  die  Entdeckung,  der  Gatte 
schnaubt  Rache,    schon  ruft  er  nach  einem  grofsen  Messer,   um 


1)  Artes  mimicae  nennt  sie  Petron,  cap.  106;   vgl.  darüber  oben  S.  113, 
Anm.  1. 

2)  perituri  cista  Latini.     Vgl.  oben  S.  90. 

36* 


564  Sechstes  Kapitel. 

den  Missethäter  für  immer  der  Möglichkeit  zu  berauben,  einem 
Ehemann  Hörner  aufzusetzen.  Doch  besinnt  er  sich  schliefslich 
eines  Besseren  und  entschliefst  sich  vor  Gericht  zu  gehen.  In 
einer  der  nächsten  Scenen  erscheint  er  auch  wirklich  mit  dem 
Ehebrecher  und  der  Ehebrecherin  vor  dem  Richter;  dieser  läfst 
die  Schuldigen  hart  an.  Schliefslich  aber,  nachdem  der  Konflikt 
ernsthaft  genug  sich  zugespitzt  hat,  erfolgt  in  den  letzten  Scenen 
ein  lustiger  Ausgleich,  damit,  wie  Choricius  sagt,  der  Mimus 
lachend  endigen  kann1). 

Denken  wir  an  das  berühmte  Räuberstück,  den  „Laureolus" 
des  Catullus.  Laureolus  befindet  sieh  zuerst  als  Sklave  bei 
seinem  Herrn,  dann  entrinnt  er  nach  allerhand  schlechten 
Streichen,  bringt  es  schliefslich  bis  zum  Räuberhauptmann,  ver- 
übt als  solcher  mancherlei  verwegene  Banditenstücke.  Als  man 
hinter  ihm  und  seiner  Räuberschar  hinterdrein  ist,  gelingt'  es 
ihm  in  der  höchsten  Not  noch  einmal  zu  entrinnen.  Dabei 
kommt  ihn  aber  ein  heftiger  Bluthusten  an,  sowie  ebenso  seine 
Räuber,  die  mit  ihm  zusammen  entrinnen,  und  die  Scene  schwimmt 
in  Blut.  Schliefslich  wird  er  gefangen  genommen,  es  folgt  die 
Gerichtsscene,  die  der  Mimus  so  sehr  liebt,  und  dann  die  Scene 
auf  dem  Hochgericht.  Laureolus  wird  ans  Kreuz  geschlagen. 
Wir  sahen,  dafs  diese  Kreuzigung  in  einer  ausgedehnten  Scene 
ganz  realistisch  vorgeführt  wurde.  Dieses  Räuberstück  zeigt 
nicht  viel  weniger  Aufzüge  als  etwa  Schillers  „Räuber"2). 

Schwerlich  standen  die  späten  christologischen  Mimen  noch 
auf  der  Höhe  der  mimischen  Kunst;  zwischen  ihnen  und  den 
philistionischen  Dramen  war  sicher  ein  himmelweiter  Unterschied. 
Der  Mimus  des  Genesius,  der  aus  dem  Jahre  303  stammt,  ist 
nur  extemporiert  worden.  Dennoch  war  er  zum  mindesten  auf 
fünf  Aufzüge  berechnet,  wie  ich  oben  S.  87  gezeigt  habe.  Nicht 
anders  war  es  mit  den  anderen  christologischen  Mimen,  deren 
letzten  wir  noch  für  das  Jahre  362  in  Konstantinopel  nachweisen 
konnten  (vgl.  oben  S.  85). 

i)  Vgl.  oben  S.  213. 

2)  Die  Nachweise  im  Einzelnen  für  den  Ehebruchs-  wie  den  Räuber- 
mimus  siehe  oben  S.  89.  90.  120.   127.   I   76.  88-92.  148.   198. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        565 

So  gewinnen  also  des  Plutarch  Worte  von  der  dramatischen 
Verwickelung,  von  der  Länge  des  mimischen  Dramas  für  uns 
lebendige  Anschauung.  Darum  spricht  auch  Suidas  nicht  von 
den  Mimen,  sondern  mit  vornehmem  Ausdruck  von  den  bio- 
logischen Komödien  Philistions,  und  darum  wird  in  der  Schrift 
„über  das  Erhabene"  der  letzte  Teil  der  Odyssee  nicht  schlechthin 
mit  dem  „Mimusu,  sondern  mit  dem  grofsen  mimischen  Drama, 
der  „biologisch-ethologischen  Komödie"  verglichen.  So  wird  auch 
Kaiser  Marcus'  Ausspruch,  die  Komödie  sei  zum  Mimus  ge- 
worden, noch  verständlicher,  sowie  die  Gleichsetzung  Philistions 
mit  Menander  und  die  Erklärung  des  Choricius,  die  alten 
Komöden  seien  „attische  Mimen"1)« 

Plutarch  weist  nun  aber  dem  mimischen  Schauspiel  nicht 
nur  eine  Verwickelung  zu,  wie  sie  das  grofse  Drama  hat,  sondern 
noch  darüber  hinaus  eine  Verwickelung,  wie  sie  aus  dem  Zu- 
sammenwirken einer  grofsen  Anzahl  von  Personen  in  der  drama- 
tischen Handlung  entsteht  (nloxrj  doctiicczixrj  xai  nolvrigöoconog). 
Bei  Petron  heifst  es  (cap.  80): 

Grex  agit  in  scaena  mimum:  pater  ille  vocatur, 
filius  hie,  nomen  divitis  ille  tenet. 

Da  hätten  wir  drei  Personen  im  Mimus.  Aber  das  sind  nur 
die  drei  Hauptpersonen;  die  weiblichen  Rollen  und  die  zahl- 
reichen Nebenrollen  sind  nicht  erwähnt. 

Juvenal  (VI,  44;  I,  36;  VIII,  197)  nennt,  obwohl  er  nur  eine 
kurze  Anspielung  auf  den  Ehebruchsmimus  macht,  drei  Haupt- 
akteure: Latinus,  der  den  Ehebrecher,  die  Mime  Thvmele,  welche 
die  treulose  Gattin,  und  den  Mimen  Corinthus,  der  den  Hahnrei, 
den  Eifersüchtigen  (^közvnog),  spielt.  Choricius  läfst  den  Ehe- 
mann dem  Sklaven  zurufen,  er  soll  das  Messer  bringen.  Ein 
Sklave  wird  auch  noch  besonders  in  dem  Ehebruchsmimus  ge- 
nannt, der  nach  dem  Zeugnis  des  Capitolinus  (c.  29)  vor  Kaiser 


lJ  Schon  Friedländer  erhebt  sich  ein  wenig  über  die  landläufige  Auffassung 
des  Mimus,  wenn  er,  Sittg.  II6,  S.  438,  allerdings  noch  etwas  zaghaft,  bemerkt: 
„vielleicht  entlehnte  die  Posse  (gemeint  ist  der  Mimus)  um  so  mehr  von  der 
kunstmäfsigen  Komödie,  je  mehr  sie  diese  auf  der  Bühne  verdrängte". 


566  Sechstes  Kapitel. 

Marcus  gespielt  wurde  (vgl.  oben  S.  188).  Ferner  ist  im  Ehe- 
bruchsdrama die  cata  carissa  unumgänglich  (vgl.  oben  S.  90) 
und  ebenso  der  Parasit  nach  dem  Zeugnis  des  Festus  (vgl.  oben 
S.  90,  Anm.  I)1),  der  also  wohl  als"  Vertrauter  dem  Ehemann  zur 
Seite  stand. 

Auch  der  cultus  adulter  hat  als  vornehmer  junger  Herr  zum 
mindesten  einen  Sklaven  zur  Seite  gehabt.  Wenn  wir  nur  die 
ausdrücklich  bezeugten  Typen  nehmen,  den  Buhlen,  die  Frau, 
den  Mann,  den  Sklaven,  die  Vermittlerin,  den  Richter,  kommen 
wir  auf  sechs  Personen,  die  zum  Schlüsse  alle  zusammen  vor 
Gericht  als  Ankläger,  Angeklagte  und  Zeugen  erscheinen,  für 
deren  Rollen  also  auch  sechs  Schauspieler  respektive  Schau- 
spielerinnen erforderlich  sind.  Aber  daneben  haben  wir  ja  noch 
den  Parasiten,  den  Sklaven  des  vornehmen  jungen  Herrn,  die  Bei- 
sitzer des  Gerichts,  Gerichtsdiener,  weitere  Zeugen,  Verteidiger 
und  dergleichen  anzunehmen.  Die  letzte  Scene  bot  also  jedenfalls 
ein  grofses  Tableau  mit  zahlreichen  Haupt-  und  Nebenpersonen. 

Und  nun  der  Räubermimus.  Wenn  im  Laureolus  auch  nicht 
wie  in  „Ali  Baba  und  die  vierzig  Räuber"  aus  „Tausend  und  eine 
Nacht"  gleich  40  Räuber  auftreten,  so  sind  es  doch  eine  ganze  An- 
zahl, da  sie  mit  ihrem  Blute  die  Bühne  überschwemmen2).  Natür- 
lich sind  hinter  ihnen  zahlreiche  Soldaten  hergewesen,  und  da  die 
Räuber  auf  der  Bühne  davonlaufen,  werden  wohl  die  Soldaten 
hinter  ihnen  hergelaufen  sein.  Auch  die  Gerichtsscene  und  die 
Kreuzigung  werden  figurenreiche  scenische  Bilder  geboten  haben. 

Selbst  der  christologische  Mimus  verfügt  noch  über  zahl- 
reiche Darsteller.  Ich  habe  oben  (S.  87  u.  88)  die  Personen  in 
dem  Mimus  des  Genesius,  die  direkt  genannt  werden,  aufgezählt. 
Da  ist  Genesius  als  Täufling  und  Märtyrer,  der  Presbyter,  der 
Exorcist,    der  Vorsitzende    des  Gerichts    (hier  der  Kaiser),    die 


1)  Für  den  Parasiten  besitzen  wir  auch  das  Zeugnis  des  Hieronymus: 
ep.  XXII  ad  Eustochium  29;  Migne  22,  pag.  415:  Eas  aütem  virgines  et  viduas, 
quae  otiosae  et  curiosae  domos  circumeunt  matronarum,  quae  rubore  frontis  parasitos 
vincunt  mimorum,  quasi  quasdam  pestes  abjice. 

2)  plures  secundarum  partium  bei  Sueton,  Calig.  57.  Vgl.  oben  S.  89, 
Anm.  3  u.  S.  561,  Anm.  3. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       567 

Freunde  des  Genesius  (sagen  wir,  um  die  geringste  Zahl  anzu- 
nehmen, zwei),  die  römischen  Soldaten,  die  ihn  vor  Gericht  führen 
(sagen  wir  wiederum  zwei).  Das  sind  mindestens  neun  Personen.  Nun 
werden  sonst  im  christologischen  Mimus  noch  ausdrücklich  der 
Bischof  erwähnt,  der  die  Taufe  vornimmt,  desgleichen  Diakonen 
und  Gemeindemitglieder  als  Taufzeugen.  Wir  haben  ferner  Ge- 
richtsdiener anzunehmen  und  Folterknechte,  sowie  Henker,  die 
den  Märtyrer  ans  Kreuz  schlagen.  Der  Kaiser  oder  überhaupt 
der  Gerichtsherr  wird  doch  wohl  von  einem  zahlreichen  Gefolge 
umgeben  aufgetreten  sein,  so  erfordert  es  die  Lebenswahrheit, 
nach  welcher  der  Mime,  der  Biologe,  vor  allem  strebt.  Es  sind 
also  nicht  nur  neun  Schauspieler,  sondern  es  ist  ein  wahrer  Schwärm 
von  Mimen,  der  noch  im  vierten  Jahrhundert  die  Bühne  erfüllt 

Diese  Eigenart  des  biologischen  Dramas  erinnert  uns  wohl 
an  das  moderne  Schauspiel  und  besonders  an  das  Schauspiel 
Shakespeares  mit  seinen  zahlreichen  Darstellern  und  an  die 
indischen  Stücke,  aber  nicht  im  mindesten  an  das  klassische 
Drama,  das  auf  seinem  Höhepunkte  an  drei  Schauspieler  ge- 
bunden ist  und  in  dieser  Gebundenheit  trotz  mancher  Erweite- 
rung und  Erleichterung  im  grofsen  und  ganzen  beharrt. 

Das  eigentliche  Volksdrama  der  Hellenen  fühlte  sich  eben 
auf  seinem  Gipfel  von  den  meisten  Fesseln  frei,  mit  denen  das 
klassische  Drama  sich  band.  Von  den  sogenannten  klassischen 
drei  Einheiten  existierte  für  den  Mimus  höchstens  die  Einheit 
der  Handlung,  und  auch  sie  nur  bedingt,  der  Mimus  ersetzte 
sie  mehr  durch  die  Einheit  des  Interesses.  Von  Einheit  des 
Ortes  ist  in  ihm  nicht  im  entferntesten  die  Rede.  Der  Mimus 
des  Genesius  spielt  erst  auf  der  Strafse,  dann  in  der  Wohnung, 
wo  der  Täufling  krank  im  Bette  liegt,  dann  in  der  Kirche,  dann 
vor  Gericht,  und  endlich  sollte  Genesius  auch  noch  zum  Hoch- 
gerichte geführt  werden.  Also  wir  haben  nicht  weniger  als  fünf 
verschiedene  Scenen  (vgl.  darüber  oben  S.  87).  Denselben  Scenen- 
wechsel  zeigen  auch  alle  anderen  christologischen  Mimen,  und 
gerade  weil  sie  späte,  minderwertige  Mimen  sind,  werden  sie  am 
wenigsten  zuerst  eine  solche  bedeutsame  Neuerung  gewagt  haben, 
wie  es  der  Bruch  mit  der  Einheit  des  Ortes  ist. 


568  Sechstes  Kapitel. 

Auch  die  gute  mimische  Hypothese  wie  z.  B.  der  berühmte 
„Laureolus"  zeigt  diesen  bunten  Scenenwechsel.  Erst  befindet 
sich  Laureolus  als  Sklave  im  Hause  des  Herrn,  dann  führt  er 
ein  vagabundierendes  Räuberleben,  natürlich  mit  bunt  wechselnder 
Scenerie,  als  Gefangener  erscheint  er  vor  Gericht,  endlich  auf 
dem  Hochgericht;  vier  ganz  verschiedene  Scenen  wären  also 
mindestens  anzunehmen,  selbst  wenn  man  seine  Heldenthaten 
alle  an  einem  Orte  geschehen  dächte;  das  ist  aber  höchst  un- 
wahrscheinlich, und  so  werden  wohl  in  Wirklichkeit  fünf  oder 
sechs  verschiedene  Scenerien  anzunehmen  sein,  ja  wenn  seine 
Verbrechen  recht  ausführlich  vorgeführt  wurden,  und  darauf  ist 
es  ja  gerade  in  einem  romantischen  Räuberstück  angelegt,  auch 
noch  mehr. 

Gänzlich  bricht  der  Mimus  auch  mit  der  Einheit  der  Zeit: 
Genesius  wird  auf  der  Strafse  krank,  läfst  sich  in  sein  Haus 
tragen,  läfst  die  Priester  kommen  und  bekehrt  sich.  Wenn  wir 
dann  in  der  nächsten  Scene  die  Taufe  mit  allem  Pompe  unter 
Assistenz  des  Bischofs,  des  Presbyters,  der  Diakonen,  Exorcisten 
und  zahlreicher  Taufzeugen  vor  sich  gehn  sehen,  so  sind  in- 
zwischen Tage  vergangen  zu  denken.  Steht  dann  der  Täuf- 
ling vor  dem  Gerichte,  so  müssen  inzwischen  wieder  Tage 
verflossen  sein,  in  welchen  gegen  ihn  die  ordnungsmäfsige  An- 
zeige erstattet  war,  und  er  ordnungsmäfsig  geladen  und  vor- 
geführt werden  konnte.  Das  ging  im  römischen  Lehen  seinen 
geregelten  Gang,  und  der  Mime  ist  gerade  der  Biologe  und 
Realist.  Genesius  hebt  hervor,  wie  er  genau  nach  der  Wirklich- 
keit seine  Mimesis  eingerichtet  habe  (vgl.  oben  S.  93).  Nicht 
anders  ist  es  mit  dem  Räubermimus.  Da  liegen  zwischen  dem 
Anfang  der  Handlung,  dem  Entfliehen  des  Sklaven  Laureolus, 
und  ihrem  Ende  Monate,  vielleicht  Jahre,  und  diesen  ganzen 
Zeitraum  umspannen  die  Scenen  dieses  Mimus.  Auch  die  Ehe- 
bruchsstücke haben  schwerlich  die  Zeit  des  Geschehens  auf  einen 
Tag  zusammengedrängt. 

Von  der  Einheit  der  Handlung  im  Mimus  verlohnt  sich 
kaum  zu  reden.  Wir  müfsten  wenigstens  eine  Hypothese  völlig 
erhalten   haben,    um    ein    Urteil   fällen    zu   können.    Jedenfalls 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        569 

werden  wir  uns  den  Zusammenhang  der  Scenen  ziemlich  locker 
vorzustellen  haben,  wenn  auch  die  Führung  der  ganzen  Handlung, 
die  dramatische  Verknüpfung,  nach  Plutarchs  Ausdruck,  eine 
folgerichtige  und  genaue  gewesen  ist,  ähnlich  wie  in  der  vor- 
nehmen Komödie ').  Wenn  Cicero  meint,  sobald  die  Mimen  nicht 
mehr  recht  weiter  wissen,  so  läuft  einer  schnell  fort  und  die 
anderen  ihm  nach,  worauf  dann  die  Klappern  zum  Zeichen  des 
Schlusses  ertönen  und  der  Vorhang  aufgezogen  wird  (vgl.  oben  S.  64, 
Anm.  1),  so  haben  wir  hier  wohl  eins  von  den  kleinen  extempo- 
rierten Mimenstücken  vor  uns,  die  zum  Schlufs  der  Vorstellung  nach 
Tragödien  oder  Komödien  als  Exodien  gegeben  wurden,  wesshalb 
man  die  Mimen  auch  exodiarii  nannte  (vgl.  unten  S.  604,  Anm.  4). 
Nichts  aber  kann  den  bewufsten  Bruch  des  grofsen  mimischen 
Dramas  mit  der  sogenannten  klassischen  Überlieferung  des  Hel- 
lenismus so  deutlich  machen,  wie  die  eigentümliche  Form,  in  die 
der  Mimograph  sein  Drama  kleidet,  in  dem  Prosa,  Iambus  und 
die  lyrischen  Mafse  der  Mimodie  mit  einander  wechseln.  Aus 
Mimodie  und  Mimologie  erwuchs  im  alexandrinischen  Zeitalter 
die  Hypothese.  Die  Mimodie  ist  in  lyrischen  Mafsen  gehalten, 
die  Mimologie  ist  Von  vornherein  Prosa.  Noch  Sophrons  Mimo- 
logie ist  prosaisch,  wenn  diese  Prosa  auch  schon  rhythmisch 
stilisiert  wird.  Noch  des  Herondas  Hinkiamben  stehen  der  Prosa 
nahe  genug.  So  sollte  denn  eigentlich  im  mimischen  Drama 
Prosa  und  Lied  wechseln,  und  die  Prosa  hat  jedenfalls  in  der 
mimischen  Hypothese  eine  hervorragende  Rolle  gespielt.  Wir 
haben  oben  (S.  87  Anm.  3,  S.  95  Anm.  2,  S.  97  Anm.  1)  die  aus 
dem  Mimus  des  Genesius  erhaltenen  Stellen  angeführt;  es  ist  die 
reine  Prosa.  Allerdings  ist  dieser  Mimus  wohl  im  grofsen  und 
ganzen  extemporiert  gewesen.  Aber  auch  die  römischen  Gram- 
matiker überliefern  mancherlei  Stellen  aus  Laberius,  die  durch- 
aus prosaisch  sind  und  nur  durch  allerhand  Umstellungen  und  Ver- 
änderungen in  metrische  Form  gebracht  werden  können.  Ribbeck 
hat  sich  dieser  sehr  undankbaren  Mühe    mit  Eifer   unterzogen 


])  Ich    erinnere    an    Quintilians    Wort:    ductus   rei   credibüis,    qualis   in 
comoediis  etiam  et  in  mimis.    (IV,  2,  53.) 


570  Sechstes  Kapitel. 

und  so  die  Prosa  aus  dem  Mimus  mit  Mühe  und  Not  heraus- 
korrigiert1). Grysar  hatte  ja  dem  Mimus  die  Prosa  abgesprochen, 
also  mufste  man  eben  korrigieren  und  emendieren. 

Die  Worte,  die  Nilus  aus  dem  Mimus  des  Philistion  „Der 
Negromant"  überliefert  hat,  sind  Prosa2).  Dio  Chrysostomus 
bestätigt  ausdrücklich,  dafs  die  Mimographen  damals  bald  in 
Prosa,  bald  in  Versen  sprachen3).  Vor  allem  redeten  die  Narren 
im  Mimus  gerne  in  Prosa,  wie  sie  es  so  possierlich  auch  in 
Philistions  Philogelos  thun.  > 

Die  Mimologie  ist  eben  ursprünglich  durchaus  prosaisch; 
das  beweisen  Sophrons  Mimen.  Je  mehr  wir  nun  die  Kontinuität 
in  der  mimischen  Entwickelung  erkennen,  um  so  begreiflicher 
mufs  es  uns  erscheinen,  dafs  die  Prosa  im  Mimus  ihr  angestammtes 
Recht  behielt.  Schon  Orelli  wollte  für  den  römischen  Mimus 
Prosa  feststellen4).  Aber  er  dachte  nur  an  die  extemporierten 
Stellen,  und  so  brachte  Grysar  diese  richtige  Auffassung,  die  nur 
thöricht  begründet  war,  fcum  Schweigen  mit  der  Erklärung:  die 
improvisierten  Stellen  hätten  ja  garnicht  in  den  Exemplaren  der 
Mimen  des  Laberius  gestanden5).    Um  so  mehr  freue  ich  mich, 

!)  Ein  Beispiel  dafür  siehe  oben  S.  286,  Anm.  1. 

2)  Vgl.  oben  S.  204,  Anm.  1  und  S.  432. 

3)  Oratio  II  de  regno  56  Emp. :  dklct  nävxa  xd  xoiavxa  nqwxov  fikv 
xal  fidkiöxa  ixßaXdv  cog  no^wxdxto  xal  dnoniiityai  xr\g  avxov  ipv%rg,  tntixa 
xijg  ßaocXevovotjg  noXfwg'  ytXtoxdg  xe  dxQUxovg  xal  xoiovxov  yiXoixog  noiyxdg 
fiixd  axwfjLfiäxcov  (die  Mimographen)  ^(xixQovg  xal  dfiixQovg. 

4)  P.  Syri  et  aliorum  sententiae,  praef.  p.  X. 

5)  Vgl.  auch  a.a.O.  S. 263:  „Doch  kommen  einige  unter  diesen  Bruch- 
stücken vor,  die,  wenn  man  auch  eine  teilweise  Corruptel  in  denselben  voraus- 
setzen will,  ursprünglich  die  Form  von  Versen  schwerlich  gehabt  haben.  Z.  B. 
Non.  s.  v.  colustra:  Siquidem  mea  colustra  fretus  terris  studere  fecisset  sumere 
aquam  ex  fönte,  oder  Non.  s.  v.  proltibium:  Quo  quidem  me  a  matronali  pudore 
prolubium  meretricis  progredi  coegit.  Dafs  die  solche  Stellen  citierenden  Gram- 
matiker durch  Auslassungen  einzelner  Wörter,  Transpositionen  u.  a.  die  Form 
derselben  verändert  und  es  uns  dadurch  unmöglich  gemacht  haben,  den  Vers 
herauszufinden,  ist  wohl  das  Wahrscheinlichste".  Nun,  Ribbeck  hat  hier 
die  Verse  herausgefunden;  wie  sehr  er  dabei  besonders  die  erste  Stelle  ver- 
gewaltigt hat,  sehe  man  Fr.  Com.  Rom.  2,  Laberius  Virgo  II  u.  Frag.  Trag. 
Rom.  2  Naevius  Lycurgus  XVII. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       57 1 

dafs  Hirzel  neuerdings  in  seiner  so  verdienstvollen  Geschichte 
des  Dialogs  sich  gegen  die  ebenso  unhistorische,  wie  unkritische 
Leugnung  der  Prosa  im  römischen  Mimus  erklärt  hat1). 

Von  dieser  Prosa  des  Mimus,  in  dem  die  Volkssprache  vor- 
herrschte, mit  ihren  niederen,  burlesken  Vergleichen,  ihren  selt- 
samen Redensarten  und  Sprichwörtern  werden  sich  um  so  mehr 
die  lyrischen  Partieen  abgehoben  haben,  die  Mimodien  mit  ihrer 
gehobenen  Sprache,  mit  ihrem  nicht  selten  tief  erregten  Gefühl. 
Für  eine  Arie,  wie  etwa  „Des  Mädchens  Klage"  oder  selbst  die 
mythologisch-parodische  Mimodie  in  den  „Fröschen",  die  schön  in 
einen  mythologischen  Mimus  passen  würde,  sind  prosaische  Rüpel- 
scenen  und  Rüpelspäfse  ein  merkwürdiges  Relief.  Es  war  gewifs 
ein  Fortschritt,  als  die  mimische  Hypothese  sich  entschlofs,  diese 
prosaischen  Partieen  mit  den  lyrischen  durch  iambisch-metrische 
Stellen  zu  verbinden.  Hier  wirkt  eben  auf  den  Mimus  das 
vornehme  iambische  Drama  ein,  dessen  Einflufs  er  sich  um  so 
weniger  entziehen  konnte,  als  die  eine  Hälfte  des  klassischen 
Dramas,  die  Komödie,  direkt  auf  dem  Boden  des  Mimus  er- 
wachsen ist 

So  haben  schliefslich  vielleicht  die  metrischen  Partieen  die 
prosaischen  überwogen.  Der  Prolog,  den  jeder  Mimus  hat1), 
war  durchaus,  wie  der  des  klassischen  Dramas,  in  Iamben  ge- 
halten. Ich  setze  zum  Beleg  den  berühmten  Prolog  des  Laberius 
in  der  Wielandschen  Übersetzung  hierher: 

Die  Noth,  ein  Strom,  den  viele  durch  entgegenschwimmen 

zu  überwinden  schon  versuchten,  wenige 

vermochten,  wohin  hat  sie  beynahe  noch 

in  meinen  letzten  Augenblicken  mich  gebracht? 


J)  Vgl.  a.  a.  0.  1,  S.  437  u.  438. 

a)  Ich  hahe  dafür  oben  S.  214,  Anm.  5  n.  S.  215  das  Zeugnis  des  Choricius 
gegeben  und  will  hier  noch  eine  Stelle  aus  Isidor.  orig.  Hb.  XVIII,  Cap.  XLIX. 
hinzufügen :  De  mimis.  Mimi  sunt  dicti  Graeca  appellatione,  quod  rerum  humana- 
rum  sint  imitatores.  Kam  habebant  sxcum  actorem,  qui  antequam  mimum  agerent, 
Jabulam  pronuntiaret.  Naan  jabulae  ita  componebantur  a  poetis,  ut  aptissimae  etscnt 
motui  corporis.     Die  pronuntiatio  fabulae  bedeutet  eben  den  Prolog. 


572  Sechstes  Kapitel. 

Mich,  den  nicht  Ehrgeitz,  noch  Gewinnsucht,  keine 

Gewalt,  kein  Ansehn,  keine  Furcht  in  meiner  Jugend 

aus  meinem  Stande  heben  konnte,  seht 

wie  leicht  der  grofse  Mann  durch  gnädige 

zu  sanften  Bitten  herzgewinnend  sich 

herunterlassende  Beredungen 

im  Alter  mich  aus  meiner  Stelle  rückte! 

Doch  ihm,  dem  selbst  die  Götter  nichts  versagen  konnten, 

wie  hätt'  ich  blofser  Mensch  ihm  etwas  abzuschlagen 

geduldet  werden  können?   So  geschah  es  dann, 

dafs  nun  nach  zweymal  dreyfsig  ohne  Tadel 

verlebten  Jahren  ich,  der  meinen  Heerd 

als  römscher  Ritter  eben  itzt  verliefs, 

nach  Haus  als  Mimus  wiederkehren  werde. 

Um  diesen  einz'gen  Tag  hab'  ich  demnach 

zu  lang  gelebt!    0  du  im  Bösen  wie  im  Guten 

unmäfsige  Fortuna,  wenn  es  ja 

dein  Wille  war,  des  Ruhmes  Blume,  den 

die  Musen  mir  erwarben,  abzuknicken, 

warum  nicht  lieber  damals,  da  ich  noch 

in  frischen  Jahren  grünte,  noch  die  Kräfte  hatte 

dem  Volk  und  einem  solchen  Mann  genug  zu  thun? 

o!  warum  beugtest  du  nicht  lieber  damals  mich, 

da  ich  noch  biegsam  war,  um  meine  Zweige 

zu  schneiden?  Jetzt  wozu  so  tief  herab  mich  drücken? 

Was  bring  ich  auf  den  Schauplatz?  etwa  Schönheit,  Anstand, 

muth volle  Kraft  des  Geistes,  Reiz  der  Stimme? 

Ach!  wie  dem  Baum  der  Epheu  durch  Umarmen 

das  Leben  raubt,  so  hat  das  Alter  langsam  mich 

umschlingend  ausgesogen,  und  gleich  einem  Grabe 

behielt  ich  von  mir  selbst  nichts  als  den  Nahmen1). 


!)  Horaz'  Satiren  übersetzt  von  Wieland,  Teil  I,  Leipzig  1804,  S.  296  folg. 
Jedenfalls  ist  dieser  Prolog  nicht  vollständig  erhalten,  es  fehlt  die  pronuntatio 
fabulae,  die  der  Dichter  bei  allem  Eingehen  auf  seine  persönlichen  Verhält- 
nisse sich  nicht  schenken  durfte. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        573 

Als  weiteres  Beispiel  für  den  Iambus  im  Mimus  möge  die  be- 
rühmte Stelle  über  den  Luxus  der  Römer  aus  einem  Mimus  des 
Syrus  dienen: 

Massloses  Schwelgen  hat  der  Römer  Mark  verzehrt. 

Für  eure  Gaumen  mästet  man  im  Stall  den  Pfau, 

Dess  Kleid  dem  bunten  babylonischen  Teppich  gleicht; 

Für  euch  Kapaunen  und  Numidiens  Hühnervolk. 

Der  hochgebeinte  Klapperstorch  sogar,  der  Gast 

Aus  Süden,  der  so  brav  die  Kindespflicht  erfüllt, 

Der  Feind  des  Winters,  der  als  Frühlingsbote  kommt, 

Mufs  nisten  jetzt  im  Tiegel  schnöder  Schlemmerei. 

Wozu  gibt  Indiens  Muschel  theure  Perlen  euch? 

Damit  sogar  mit  des  Meeresgrundes  Schätzen  sich 

Für  ihren  Buhlen  schmück'  ein  ehrvergessnes  Weib! 

Wozu  begehrt  ihr  der  Smaragden  grünen  Schein? 

Wozu  karthagischer  Steine  rothe  Feuergluth? 

Gibt  Ehrbarkeit  denn  im  Karfunkelglanze  sich  kund? 

Und  sollen  Frau'n  sich'  kleiden  dürfen  in  dünnen  Flor? 

Wie  nackt  in  ganz  durchsichtiger  Hülle  stehn  zur  Schau? 
(Friedländer,  Übersetzg.  v.  Petrons  Cena  Trimalchionis.) 

Wir  besitzen  sonst  noch  eine  längere  iambische  Stelle  aus 
dem  r Seiler"  des  Laberius.  Dort  erklärt  ein  geiziger  Vater:  wie 
sich  einst  der  Philosoph  Demokrit  durch  einen  in  der  Sonne 
blitzenden  Schild  geblendet  habe,  um  nicht  die  Schurken  im 
Glücke  zu  sehn,  so  werde  er  sich  durch  den  steten  Anblick 
seines  blanken  Geldes  davor  bewahren,  seinen  verschwende- 
rischen Sohn  schlemmen  zu  sehn ').    Diese  Rede  ist  durchaus  in 


')  Ich  setze  die  Verse  hierher: 

Democritus  Abderiies  physicus  philosophus 

Clipeum  constituit  cotUra  exortum  Hyperionis, 

Oculos  effodere  vi  posset  splendore  aereo. 

lta  radiis  sali*  aciem  efod.it  luminü, 

Malis  bene  esse  ne  uideret  ciuibus. 

Sic  ego  ßdgentis  splendorem  pecuniae 

Volo  elucißcare  exitwn  aetati  meae. 

Ne  in  re  bona  esse  uideam  nequam  filium.     72  folg.  R. 


574  Sechstes  Kapitel. 

ernsthaften  und  würdigen  Ausdrücken  gehalten.  Ich  erinnere 
auch  an  die  gröfseren,  zusammenhängenden  Stellen,  in  denen 
Philistion  sich  im  Wettstreit  mit  Menander  über  die  Pflicht  die 
Eltern  zu  ehren,  über  die  Nichtigkeit  aller  irdischen  Pläne, 
über  das  Regiment  der  Herrin  Tyche  und  ähnliche,  ernste 
Dinge  ausläfst.  Überall  herrscht  ein  würdiger  Ton.  Ob  nun 
diese  ernsthaften  Verse  wirklich  von  Philistion  herrühren,  ist 
unsicher,  zum  mindesten  aber  glaubte  man  damals,  dafs  sie 
durchaus  dem  Tone  des  philistionischen  Mimus  entsprächen1). 
Desgleichen  waren,  wie  wir  sahen  (vgl.  oben  S.  69 — 78,  432 
— 435),  die  zahlreichen  Sentenzen,  mit  denen  der  Dialog  im 
Mimus  durchwoben  war,  zugleich  in  schöner  und  vornehmer 
Sprache  gehalten,  sodafs  sie,  wie  Seneca  sagt,  jeder  Tragödie 
Ehre  gemacht  hätten.  Die  zahlreichen,  erhaltenen  Aussprüche 
des  Publilius  Syrus  gestatten  hier  ja  noch  ein  ganz  zuver- 
lässiges Urteil.  So  konnte  auch  Hieronymus  die  elegante  Aus- 
drucksweise der  Mimographen  Marullus  und  Lentulus  loben 
und  ebenso  Marius  Mercator,  wenn  auch  ironisch,  von  der  ele- 
ganten Art  sprechen,  mit  der  Bischof  Julianus,  der  Pelagianer, 
nach  der  Weise  der  Mimographen  scherze.  Darum  konnte  man 
auch  finden,  dafs  Philistion,  der  Mimograph,  Klassiker  wie 
Martial  und  Petron  bei  weitem  übertreffe  (vgl.  oben  S.  474 
und  475). 

Die  frechen,  volksmäfsigen  und  obscönen  Redensarten  im 
Mimus  sind  dagegen  immer  nur  in  ein  oder  zwei,  höchstens  drei 
Versen  überliefert.  Sie  machen  allerdings  den  Hauptbestandteil 
aller  Fragmente  aus,  weil  die  Grammatiker,  die  sie  überliefern, 
die  Mimen  vornehmlich  nur  als  ergiebige  Jagdgründe  für  wunder- 
liche Volksausdrücke  betrachteten.  Aber  gerade  nach  diesen 
Brocken  hat  man  thörichter  Weise  die  Sprache  im  Mimus  über- 
haupt beurteilt,  als  wenn  man  aus  den  Rüpelspäfsen  und  Rüpel- 
scenen  bei  Shakespeare  die  niedrigsten  und  gemeinsten  Ausdrücke 
zusammenstellen   und    danach   allein    die    Shakespearesche  Aus- 

*)  Vgl.  oben  S.  441,  Anm.  1. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        575 

drucksweise  und  überhaupt  das  Shakespearesche  Drama  beur- 
teilen wollte1). 

Wie  die  Formen  der  Rede  im  Mimus  sich  von  der  Niedrig- 
keit bis  zur  Erhabenheit  erheben,  so  mengt  er  auch  die  Per- 
sonen des  Lebens  merkwürdig  durcheinander.  Es  treten  alle 
menschlichen  Typen  auf  vom  Rüpel  bis  zum  Kaiser,  ja  bis  zum 
Gotte.  Gewifs  verweilt  der  Mimus  gerne  in  den  Niederungen 
des  Lebens.  Da  zeigen  sich  allerhand  Bettler,  Gauner,  Diebe, 
Beutelschneider  und  sonstiges  Lumpengesindel,  Höker  und  Höke- 
rinnen, Kneipwirte,  Ammen,  Unteroffiziere,  Bordellwirte  und 
Bordellwirtinnen,  Handwerker,  kurz  alle  Typen  der  niedrigen 
und  niedrigsten  Volkskreise  haben  im  Mimus  eine  Freistatt. 
Vielfältig  weisen  die  Mimentitel  des  Laberius  auf  die  niederen 
sozialen  Schichten  hin,  so  „Der  Walker",  „Der  Fischer",  „Der 
Färber",  „Der  Seiler**,  „Der  Salzverschleifser",  „Die  Hetäre"2). 
Aber  wir  haben  Cyprian  klagen  hören,  dafs  diese  frechen 
Mimen  keineswegs  mit  ihrer  Ethologie  und  Biologie  blofs  die 
niederen  Stände  geifseln,  sondern  selbst  vor  den  Standespersonen 
nicht  Halt  machen.  Alle  Stände,  alle  Kreise  des  socialen  Lebens 
hecheln  sie  durch3). 

In  der  That  ist  der  cultus  adulter  gewifs  ein  vornehmer 
junger  Herr,  etwa  wie  Delphis,  der  bei  Theokrit  Simaetha  verführt, 
oder  wie  der  Jüngling,  an  den  „Des  Mädchens  Klage"  gerichtet 
ist,  der  mit  Herr  (xvqu)  angeredet  wird*).  Die  junge  Frau,  an 
die  sich  im  Ehebruchsmimus  der  Buhle  heranmacht,  ist,  wenn 
keine  vornehme  Dame,  doch  eine  anständige  Bürgerfrau,  die  eine 
Zofe  (cata  carissa)  hat,  und  deren  Ehemann  über  reichliche  Diener- 
schaft verfügt,    mit  deren  Hilfe  er  den  Ehebrecher  fängt.     Der 


l)  Vergleiche  die  Ausführungen  über  die  mimische  Pöbelsprache  in 
dem  Kapitel:  Sokrates,  der  Ethologe  u.  s.  w.  S.  353  folg.,  S.  395  folg.  und 
die  Aufzählung  volksmäfsiger  Ausdrücke  des  Laberius  bei  Gellius  (oben 
S.  395,  Anm.  2). 

a)  Siehe  die  Aufzahlung  der  mimischen  Typen  oben  S.  468  und  469 
und  S.  240,  241. 

3)  Vgl.  oben  S.  123. 

*)  Vgl.  darüber  Wilamowitz  a.  a.  0.  S.  222  u.  223. 


576  Sechstes  Kapitel. 

Vater,  der  so  beweglich  über  die  Verschwendungssucht  seines 
Sohnes  bei  Laberius  klagt,  ist  zum  mindesten  ein  angesehener, 
wohlsituierter  Bürger.  Ausdrücklich  wird  für  den  Mimus  der 
reiche  Banquier,  der  gelegentlich  zum  Bankerotteur  wird,  der 
dives  und  dives  fugitivus,  bezeugt.  In  den  Gerichtsscenen  er- 
scheinen vornehme  Amtspersonen  auf  der  Bühne,  selbst  Könige 
und  Kaiser  treten  mit  grofsem  Gefolge  im  Mimus  auf1).     Auch 


x)  So  berichtet  Philo,  bei  der  Judenverfolgung  in  Alexandrien  zur  Zeit 
Caligulas  hätte  der  Pöbel  einen  armen  Narren,  dessen  Thorheit  nicht  bösartig 
war,  Namens  Karabas,  um  Agrippa,  den  Enkel  des  König  Herodes,  zu  ver- 
höhnen, in  wunderlicher  Weise  als  König  herausgeputzt,  mit  einer  papierenen 
Krone,  mit  einer  Lumpendecke  als  Königsmantel,  und  einem  Papyrusstengel 
als  Scepter.  Und  wie  einen  König  im  Mimus  hätten  ihn  Jünglinge  mit  Stäben 
auf  den  Schultern  wie  Trabanten  als  Gefolge  umgeben.  Dann  hätte  man  ihm 
gehuldigt  und  Recht  und  Gericht  von  ihm  verlangt.  Und  die  Menge  hätte  ihn 
als  „Maris",  wie  nach  ihrer  Meinung  „König"  auf  syrisch  hiefs,  begrüfst. 
Dieser  Narr  und  König  im  Mimus  Karabas  erinnert  seltsam  an  die  Scene  aus  der 
Bibel,  da  die  Kriegsknechte  Christus  zum  Hohn  als  König  verkleiden  und  ihm 
als  der  „Juden  König"  huldigen.  Ich  setze  diese  wichtige  Belegstelle  hier- 
her (in  Flaccum  §  6):  "*Hv  Tig  /ue/urjvtog  ovofia  Kagaßäg,  ov  ri]V  ayolav  xai 
&T}Quö$ri  (laviav  —  aaxr\nxog  yao  avrrj  ys  xai  Tolg  l/oufft  xai  ToTg  nh\Giät,ovGiv 
—  dXXd  ttjv  ävHfxivrjV  xai  /j.aXaxwTt'gav.  Oiiog  dtrjfxioeve  xai  SiEVvxTiqevt 
yv/xvbg  iv  Talg  odoig,  ovts  fhäXnog,  ovts  xqvfxbv  ixTgenöfisvog,  d&VQ/na  vr^nibiv 
xai'  fieiQaxitav  o%oXaC6vT(ov.  J£vvsXä<TavTeg  tov  ä&Xiov  a/Qi  tov  yvfxvaalov,  xai 
OT^aavTtg  (AtTS'coQOV,  Iva  xa&OQÜTo  nqog  ndvrcov,  ßvßXov  fxkv  svQvvapisg  dvri 
diadfj/uaTog  iniTi&iaaiv  avTov  ttj  x€(paXrj,  %anaiGTQWT(a  de  to  aXXo  a<Zuu 
negtßdXXovaiv  dvTl  %Xa[j,vdog,  ccvtI  de  GxrpiToov  ßga%v  ti  nanvgov  Tfir\^ia  ifjg 
§y%o)Q(ov  xafr'  odov  i^gifxfxivov  IdovTeg  dvadidoaffiv.  'Enel  de  tag  iv  deaTQixoig 
[xtfiotg  Tti  nagdarjfxa  r%  ßaoiXeiag  dveiXruptv,  xai  diexexoGfitjTo  eig  ßaGiXia,  veavCat 
qaßdovg  inl  tiov  ä>(i(av  {fioovTeg  dvil  Xoyxoupogwv  ixaTiocü&ev  eloTrjxeoav, 
[iifzovfievoi  doovipooovg,  el&'  stsqoi  ngogrjeaav,  ol  fiev  wg  danaaofievoi,  ol  de 
w?  dixaaöfxevoi,  oi  d'  wg  ivTev£ö[xevoi  negl  xotvwv  ngayfiÜTtav.  Eit'  ix  negi- 
eOTüiTog  iv  xvxXm  nXrj&ovg  i^/si  ß°V  Tt?  aTonog  Mägtv  dnoxaXovvTtav.  OvTcog 
di  (faotv  tov  xvqiov  ovo/uäfeo&at  nagd  Zvgoig'  rjdetoav  ydg  Idyginnav  xai 
yivei,  2vgov,  xai  SvgCag  /ueydXrjV  dnoTOftijv  e^ovra,  fjg  ißaolXevae.  Doch  darf 
man  nicht  annehmen,  weil  die  Volksmenge  den  Narren  mit  von  der  Gasse 
aufgerafftem  Aufputz  zierte,  sei  auch  der  König  im  Mimus  ebenso  ärmlich 
ausstaffiert  gewesen.  Sehr  wichtig  ist  jedenfalls  das  Zeugnis,  dafs  der  König 
auch  im  Mimus  mit  grofsem  Gefolge  auftrat. 

Gerichtsscenen  bezeugt  uns  für  den  Mimus  wieder  Philo.     Als  er  von 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        577 

zeigen  sich  nach  dem  Zeugnis  des  Choricius  im  Mimus  Rhe- 
toreu,  selbst  Heroen  fehlen  nicht  in  ihm,  Choricius  nennt  aus- 
drücklich Hektor   und   Achill    (vgl.  oben   S.  240).     Im  christo- 


den  Juden  als  Mitglied  einer  Gesandtschaft  an  Kaiser  Caligula  gesandt  wurde, 
der  durchaus  sein  Standbild  in  den  jüdischen  Synagogen  und  besonders  im 
Tempel  zu  Jerusalem  aufgestellt  wissen  wollte,  da  erinnert  ihn  die  seltsame 
Gerichtsverhandlung,  die  vor  dem  halbwahnsinnigen  Kaiser  stattfand,  die 
Art,  wie  die  jüdische  Gesandtschaft  von  den  Feinden  und  Anklägern  der 
Juden  und  vom  Kaiser,  dem  Gerichtsherrn,  selber  geschmäht  und  verhöhnt 
wurde,  an  die  Gerichtsscenen  aus  dem  Mimus.  Ein  echt  mimischer  Spott 
schien  dem  Juden  in  der  Frage  des  Kaisers  enthalten:  warum  die  Juden 
kein  Schweinefleisch  äfsen.  Darüber  lacht  alles  laut  auf  wie  die  Zuschauer 
im  Mimus.  Aber,  setzt  der  Jude  etwas  bösartig  hinzu,  die  nächste  Um- 
gebung des  Kaisers  ärgerte  sich,  denn  sie  fürchtete,  mau  hielte  ihn  für  ver- 
rückt. Auch  diese  mimische  Gerichtsverhandlung  endigt  schliefslich  fröh- 
lich, wie  ein  Mimus  endigen  soll,  der  Kaiser  entliefs  die  Juden,  die  ihm 
mehr  als  Narren  wie  als  Bösewichter  erschienen,  ungekränkt.  Vgl.  Philo,  De 
leg.  ad  Caium  §  45:  Ehu  rtutig  tluvwiftipot  mtor^olovS oi utv  iiroj  xüiw, 
xaxuy).tvcuöut\oi  xai  xtoTouoiutvoi  ngbg  tüv  anmäXuiv,  tbg  iv  ötaTQixoTg 
uiuoig.  Kai  yäo  rb  ngäy/uu  uiutu  tig  r^v.  'O  fitv  dixuortjg  urtilr^n  aj^ijua 
xciTTjyÖQov,  ot  Se  xarrjyogoi  qavXov  dixaorov  ngog  t/Sony  anoßXinovrog,  aXV 
ov  ttjv  ifvoiv  jfji  aXr]9tiag  ....  'Enit  dk  tvta  tcjv  ntgi  rag  oixoSouitg  <fifT«£«ro, 
ufytoiov  xai  Ofuior  fuu)T7tua  r;QWTa,  uAük  ti yoigtiwr  xgtwv  ant/fo&t";  Jhti.iv 
ngog  it\v  ntvaiv  yiXtug  Ix  rwr  aritöi'xarv  xctTfggayr)  looovTog,  rjj  fxiv  rjäouitwi; 
t;~  dt  xul  intTTjdtvovTtov  tvtxa  xoXaxtiag,  intg  rov  16  Xt%&iv  öoxtiv  aiv  liirga- 
Tni.itt  xai  /«0117  elnrfi&ai,  äg  xtvag  tüv  inouivaiv  avitjj  deoanöriwr  ayaraxitiv 
ini  t$  xaT€t(foovt]Tix<og  $xliV  avjoxgantogog,  ....  Totavia  <fXvagT)9£rTtg  xai 
xaraxtQTouT]&irT(g  iv  äfit^ävoig  ^fxtv,  tha  6\p(  noit  nagaatrsvguivwg  „BovXo- 
fit&a  /ua&tu",  ttfrn  ,,tA»  ygfja&i  ntgi  rfjg  noXntiag  Jtxatotg"  ....  'O  öi  Xaßtäv 
oIxjov  «j^utüv,  Totnti  rov  dvfibv  avrov  ngog  ti.tov  .... 

Es  ist  merkwürdig,  wie  oft  sich  dieser  ernst  gesinnte  Jude  an  den 
Mimus  erinnert  fühlt,  dem  er  doch  innerlich,  rumal  die  Juden  im  Mimus 
häufig  verspottet  wurden,  durchaus  feindlich  gegenübersteht.  Bei  Hausrath, 
Neutest.  Zeitgesch.  III,  76  heifst  es :  rRabbi  Abahu  beklagt  sich,  welch  ge- 
ringer Aufwand  von  Witz  nötig  sei,  um  das  Theater  zum  Lachen  zu  bringen, 
wenn  nur  auf  die  Juden  gestichelt  werde".  Es  handelt  sich  natürlich  um 
den  risus  mimicus  und  um  den  Mimus.  Philo  geht  es  hier  ähnlich  wie  den 
Kirchenvätern;  der  Mimus  übte  eben  über  Feind  und  Freund  gleichmäfsig 
seine  dämonische  Macht.  Vgl.  z.  B.  Philo  in  Flaccum  §  9:  Kai  ot  /uiv  kut« 
ögwneg  wantg  iv  roTg  &tui gi xotg  uiuoig  xadintxüCiovTo  101g  näa^ov- 
iKi'  §  10:  xai  6gyr,atai  xai  uiuoi  xai  avXrjTai.  De  leg.  ad  Caium  §  7: 
Reich,  Slimns.  3- 


578  Sechstes  Kapitel. 

logischen  Mimus  erscheinen  Presbyter  und  Exorcisten,  ja  der 
Bischof  und  in  den  Gerichtsscenen  der  kaiserliche  Gerichtsherr, 
der  römische  Statthalter,  ja  der  Kaiser  selbst,  wie  z.  B.  im 
Mimus  des  Genesius. 

Gegen  diese  vornehmen  Herren  mögen  dann  allerdings  die 
mimischen  Lumpen  und  Narren,  Gauner  und  Beutelschneider 
recht  seltsam  abgestochen  haben,  umso  seltsamer,  als  die  vor- 
nehmen Personen  in  stolzen  Jamben  und  in  der  vornehmen 
Umgangssprache  gesprochen  haben,  die  niederen  Figuren  aber 
in  der  gewöhnlichen  Volkssprache  und  mancherlei  Volksdialekten 
oder  gar  dem  wunderlichen  Jargon  der  Gasse. 

Vor  allem  hat  man  bei  der  Überzeugung  von  der  Niedrig- 
keit des  Mimus  sich  auch  gänzlich  falsche  und  vor  allem  viel 
zu  niedrige  Vorstellungen  über  die  Kostümierung  der  Mimen 
gemacht.  Weil  Apuleius  ausdrücklich  dem  Mimus  den  centun- 
culus,  den  aus  bunten  Lappen  zusammengeflickten  Hock,  zu- 
weist1), so  meint  Grysar,  die  Personen  des  Mimus  hätten  ihn 
durchgängig  getragen  und  ebenso  noch  einen  kurzen  Überwurf 
über  dem  centunculus,  eine  Art  viereckiges  Umschlagetuch,  das 
nach  hinten  zurückgeschlagen  wurde,  das  Blcinium2).  Das  alt- 
modische Ricinum  aber  gebührt  wohl  im  wesentlichen  nur  den 
greulichen  alten  Weibern  im  Mimus,  zumal  der  cata  carissa, 
wenn  sie  alt  war.  Den  Centunculus  trägt  wohl  nur  der  Narr 
im  Mimus,  der  auch  vornehmlich  der  Träger  des  Phallus  ist. 
Vor  allem   ist  sein  Haupt  bis  auf  die  Haut  rasiert:    daher  der 


rj  ln\  (jiifxoig  al0XQ<i5v  xal  axwfifiäxtov,  fit}  vnofxttSitaVTa  asfivörtQOV,  ali.cc  (iu- 
QuxHüSiaTtQov  xayxd&vra,   es  ist  von  Caligula  die  Rede. 

*)  Apologia  XIII:  si  choragium  ihymelicum  possiderem,  nunc  ex  eo  argu- 
mentarere,  etiam  uti  me  conMiesse  tragoedi  syrmate,  histrionis  crocota,  mimi  cen~ 
tunculof 

2)  Festus  p.  274 — 276 :  reciniwm  .  .  .  esse  dixerunt  vir{ilis)  tog(a)e  simile 
vestimentum  quo)  mulieres  utebantur,  praetextum  clavo  purpureo,  unde  reciniaü 
mimi  planipedes.  Nonius  s.  v.  Bicinium  quod  nunc  Mafurtium  dicitur,  palliolum 
femineum  breve.  Varro,  L.  L.  V,  132:  antiquissimis  amictui  ncinium.  Id  quod 
eo  utebantur  duplici,  ab  eo  quod  dimidiam  partem  retrorsum  iaciebant,  ab  reiicien- 
do  ricinium  dictum.  Serv.  Aen.  I,  282:  togas  etiam  feminas  habuisse  cycladum  et 
recini  usus  ostendit. 


Form  und  Art  der  mimischen   Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        579 

Ausdruck  tuwQ6g  (falaxQÖg,  mimus  calvus  oder  einfach  calvaster. 
Auf  diesem  kahlen  Kopf  sitzt  eine  kleine  spitze  Mütze,  der  apex, 
daher  der  Ausdruck  apiciosus  für  den  mimus  calvus').  Zwei 
solcher  kahlen  Narren  mit  dem  spitzen  Narrenhut  stellen  zwei 
römische  Bronzen  dar.  Es  sind  höchst  groteske  Gesichter  mit 
recht  grofsen  Ohren,  wie  sie  auch  der  mittelste  Mimologe  auf 
der  S.  553  u.  554  besprochenen  Terracotta  aus  Athen  zeigt.  Der 
eine  schleppt  sich  mit  einem  grofsen  Baumast,  der  andere  singt 
zu  der  Guitarre  ein  Schelmenlied,  das  er  mit  unglaublich  dummem 
Mienenspiel  begleitet').  In  der  Hand  führt  der  Narr  im  Mimus 
nicht  selten  eine  lederne  Narrenpritsche  oder  noch  häufiger  ein 
Prügelholz  (vgl.  oben  S.  114).  Wegen  der  Schläge,  die  er  un- 
aufhörlich erhält,  wird  er  alopus  (von  alapa)  genannt  (vgl.  oben 
S.  448). 

Also   die  Narren    im  Mimus  hatten   eine  besondere,    phan- 
tastisch-burleske Narrentracht  wie  der  Harlekin  und  Pulcinell  im 


»)  Vgl.  oben  S.  448  u.  449. 

2)  Bei  Babelon  et  Blanchet  a.  a.  0.  S.  427.  Ich  gebe  die  Schilderung. 
No.  967  (S.  427):  Saltxmbanque  nu,  debout.  II  est  itnberbe;  sa  Ute,  qu'il  penche 
en  avant  d'un  air  grottsque.  est  completement  rasee  et  eouverte  (Tun  petit  bonnet 
conique.  Son  cou  et  ses  or eitles  sont  demesurement  long»;  il  porte  sur  sa  poitrine 
un  collier  orne"  d'une  bulla.  De  la  main  gauche,  tendue  de  cöte,  ü  s'appuie  sur 
vne  brauche  d'arbre  tordue  (cep  de  vignet).  L'arant-bras  droit  est  mutile.  Travail 
de  l'ipoque  romavie.  No.  968  (S.  427):  Saltimbanque  nu,  debout,  jouant  de  la 
cithare.  II  est  imberbe;  sa  tite,  qu'il  penche  en  avant  et  h  droits,  d'un  air  grotesque, 
est  rasee  et  eouverte  d'un  petit  bonnet  conique.  Son  cou  et  ses  oreiües  sont  deme- 
surevient  längs.  II  porte  a  son  cou  un  collier  orni  dune  bulla.  De  la  main 
gauche,  il  tient  sa  cithare  appuyee  contre  sa  poitrine.  La  main  droite  et  les  pieds 
manquent.     Travail  de  l'epoque  r omaine. 

Vor  allem  findet  sich  auf  einem  Cornetanischen  Grabgemälde  ein  echter 
mimischer  stupidus.  Ich  gebe  die  Beschreibung  von  E.  Brizio:  Ha  la  figura 
pih  interessante  e  quella  ch' io  credo  d'un  istrione,  rappresentato  nella  mossa  di 
danza  .  .  .  Porta  in  capo  un  lungo  beretto  fatio  a  cono,  diviso  in  tonte  striscie  verti- 
cali  e  con  la  punta  ornata  d'un  ßoechetto.  Teste  una  giubba  corta,  stretta,  scompartita 
a  molti  quadretti  che  in  natura  doveano  etsere  di  molti  colori,  ma  che  il  pittore  si 
contentb  d'  indicare  solamente  con  due.  AI  di  sotto  della  giubba  gli  esce  una  specie 
di  tunica  che  le  avvolge  le  natiche,  e  cammina  come  danzasse,  agitando  le  braccia. 
Tombe  dipint.  di  Corneto,  Roma  1874,  p.  6. 

37* 


580  Sechstes  Kapitel. 

modernen  Schauspiel;  da  aber  die  Narren  dem  Mimus  ein  be- 
sonderes Charakteristikum  aufdrückten,  dachte  man  im  Altertum 
bei  dem  Aufzug  des  Mimen  vornehmlich  an  diese  typische  Tracht. 
Alle  anderen  Personen  im  Mimus  trugen  dagegen  durchaus 
die  Kleidung  des  gewöhnlichen  Lebens  und  erschienen  je  nach 
dem  Stande  auch  in  vornehmen,  und  wenn  Feste  und  Gastmähler 
wie  so  häufig  im  Mimus  gefeiert  wurden,  auch  in  prächtigen 
Gewändern.  Kaiser  und  Könige,  Richter  und  Priester,  Bischöfe 
und  Exorcisten  erschienen  mit  allen  Zeichen  ihrer  Stellung 
und  ihres  Amtes.  Vielfältig  hatte  der  Aufzug  der  mimischen 
Typen,  vom  Narren  abgesehen,  an  sich  nichts  Burleskes.  Aus- 
drücklich sagt  Choricius:  warum  man  immer  nur  auf  die  Narren 
im  Mimus  hinweise,  mit  ihren  kahlen  Köpfen  und  ihren  Ohr- 
feigengesichtern, und  garnicht  an  die  anderen  Mimen  dächte, 
die  ihr  Haar  lang  wachsen  liefsen  und  niemals  Ohrfeigen  ein- 
nähmen, sondern  sie  höchstens  austeilten.  Auch  Johannes 
Chrysostomus  setzt  den  Mimen,  die  um  Lachen  zu  erregen  sich 
entstellen  und  sich  den  Kopf  rasieren,  die  jungen  Mimen  gegen- 
über, die  ihr  Haar  lang  wachsen  lassen  und  in  Miene  und  Haltung, 
Tracht  und  Putz  geradezu  weibische  Anmut  zeigen  und  etwas 
fast  mädchenhaft  Zartes  an  sich  haben ').  Gegenüber  den  an- 
mutigen jungen  Mimen,  die  offenbar  die  Rolle  des  Liebhabers  zu 
vertreten  hatten,  erinnern  wir  uns  an  die  Vertreter  dieser  Rolle 
in  der  italienischen  Volkskomödie,  besonders  an  Lelio,  Flavio, 
Cinthio,  Ottavio.  Diese  erscheinen  auf  den  Abbildungen  bei  Sand 
überall  nach  der  letzten  Mode  gekleidet,  mit  Spitzen,  Bändern 
und  Federhüten  und  mit  langwallendem  Haar2).  Wir  haben  uns 
ähnlich  den  Liebhaber  im  Mimus  in  prächtigem,  fast  stutzerhaftem 


»)  Vgl.  oben  S.  117. 

a)  Siehe  a.  a.  0.  die  Abbildungen  des  Orazio  (I,  S.  300),  des  Ottavio 
(I,  335),  des  Lelio  (I,  337),  des  Leander  (I,  347).  Vgl.  auch  die  Beschreibung 
Cinthios  bei  Sand  a.  a.  0.  I,  S.  332:  nous  le  voyons,  dans  les  rbles  d'amoureux, 
habilli  comme  les  jeunes  gens  de  la  fin  du  dix-septieme  siecle,  avec  la  grande  per- 
ruque  ä  la  Louis  XIV,  le  rabat  de  dentelles,  la  veste  et  Vhabit  longs  de  taille  et 
temblable  h  un  fourreau,  Vicharpe  sur  les  hanches,  et  le  chapeau  rond,  aux  bords 
im  peu  releves,  entotires  de  plumee. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        581 

Aufzuge  zu  denken,  und  durchaus  nicht  in  dem  bettelhaften 
Kostüm,  in  dem  Grysar  sich  alle  Mimen  vorstellte.  Das  sind 
die  mimischen  Weichlinge,  von  denen  Arnobius  redet,  die  er  ge- 
legentlich auch  Cinaeden  schilt.     (Vgl.  oben  S.  112,  117.) 

Bei  Ovid  heifst  der  geschniegelte  Liebhaber,  der,  wie  der 
Dichter  hervorhebt,  unablässig  im  Mimus  auftritt,  bezeichnender 
Weise:  cultus  adulter1).  Martial  malt,  wie  wir  oben  (S.  59)  sahen, 
den  verliebten,  eleganten  Stutzer  mit  den  zahllosen  Fingerringen, 
den  galanten  Schwerenöther  mit  den  Farben  des  Mimus. 

Ja  selbst  die  feierliche  Tracht  des  römischen  Bürgers,  die 
Toga,  war  im  Mimus  ganz  gewöhnlich.  So  spricht  Cyprian 
von  den  betrogenen  Ehemännern  in  der  Toga  im  Mimus2).  Nun 
machte  aber  den  betrogenen  Ehemann  gewöhnlich  der  stupidus, 
der  mimus  calvus,  also  nicht  einmal  für  den  Narren  war  der 
centunculus  unter  allen  Umständen  verbindlich.  Wenn  er  als 
christlicher  Glaubensheld  erscheint,  wird  er  anstatt  des  Harlekin- 
kostüms mit  den  weifsen  Kleidern  der  Getauften  angethan.  Ich 
erinnere  für  den  Aufzug  der  Mimologen  auch  an  die  oben  S.  554 
besprochene  Terrakotte.  Die  drei  Mimen  tragen  dort  durchaus 
die  Kleidung  des  bürgerlichen  Lebens;  ihre  Tracht  ist  weder 
niedrig  noch  burlesk.  Der  Jüngling  mit  seinem  wohlfrisierten 
Haar  macht  sogar  einen  etwas  stutzerhaften  Eindruck. 

Denken  wir  an  den  Aufzug  der  Miminnen.  Gewifs  werden 
die  dickbäuchigen,  trunksüchtigen  alten  Hexen,  die  Kupplerinnen, 
Kneipwirtinnen,  Mägde,  Wahrsagerinnen,  wie  es  ihrer  Rolle  ent- 
spricht, im  ärmlichen  Aufzuge,  eben  mit  dem  altmodischen  dürf- 
tigen Umschlagetuche,  dem  Ricinium,  erschienen  sein.  Aber  die 
Vertreterinnen  der  weiblichen  Anmut,  die  das  Gegenstück  zu 
dem  jugendlichen  Liebhaber  bilden,  die  zierlichen,  jungen  Ehe- 
frauen, die  verliebten,  jungen  Damen,  die  Bürgerfrauen  und  die 
Damen  der  Aristokratie  traten  im  höchsten  Putze  auf.  Sie  trugen 
kostbare,  bunte,  strahlende,  seidene  Kleider,  trugen  Juwelen,  Perlen 
und  Gold.    Wir  haben  Chrysostomus  schelten  hören,  dafs  das  Herz 


>)  Vgl.  oben  S.  52,  90,  544. 

a)  De  spect.  VI.    Vgl.  oben  S.  123. 


582  Sechstes  Kapitel. 

des  Armen  mit  Neid  erfüllt  wird,  wenn  er  diese  Miminnen  in 
ihrem  strahlenden  Putze  auf  der  Bühne  sieht  und  daran  denkt, 
dafs  sein  ehrbares  Eheweib  nichts  dergleichen  hat.  Dieser  Feind 
des  Mimus  kann  sich  mit  seinen  Schmähungen  über  den  Glanz 
und  die  Pracht,  welche  die  Miminnen  im  Theater  entfalteten, 
garnicht  genug  thun1).  Die  Mime  Pelagia  erhielt  von  ihrem 
von  Juwelen  und  Perlen  funkelnden  Aufzuge  den  Bühnennamen 
Margarito  (vgl.  oben  S.  102  Anm.  2.) 

Denken  wir  an  den  mythologischen  Mimus.  „Was  willst  du 
mit  deinen  tragischen  Versen  und  dem  Prunkgewande  des  Tra- 
göden?" fragt  jemand  im  Mimus  „Phormio"  des  Valerius 2).  Also 
trägt  der  Frager  offenbar  kein  tragisches  Prunkgewand,  und  auch 
seine  Sprache  ist  nicht  gerade  tragisch.  Wir  haben  also  eine 
rechte  Person  des  Mimus  im  Harlekinsrock,  oder  aber  in  der 
Tracht  des  alltäglichen  Lebens  im  Gespräch  mit  einer  tragischen 
Person.  Der  Mimentitel  Ephebus  (der  junge  Herr)  bei  Laberius 
deutet  an  und  für  sich  auf  Typen  des  gewöhnlichen  Lebens 
hin.  Dennoch  redet  in  diesem  Mimus  offenbar  ein  Gott,  ob  es 
nun  Quirinus,  Mars  oder  Juppiter  selber  ist:  „Du  bittest,  ich 
möchte  der  Zügellosigkeit  und  der  Wollust  der  Römer  ein  Ende 
machen".  Und  weiter  redet  der  Gott:  „Deswegen  ist  durch  unsere 
Hülfe  die  Herrschaft  des  Volkes  in  der  Toga  ausgebreitet  wor- 
den3)". In  diesem  Mimus  mit  dem  streng  biologischen  Titel  haben 
sich  also  Personen  des  Mythus  mit  denen  des  ßiog  gemischt. 
Jedenfalls  ist  ein  Mimus  ohne  den  typischen  „kahlen  Narren" 
eben  kein  Mimus;  der  durfte  auch  im  Göttermimus  nicht  fehlen. 
Dieser  kahle  Narr  ist  natürlich  immer  ein  Mensch,  so  findet 
sich  Mensch  und  Gott  vereint,  wie  etwa  Xanthias  und  Dionysos 
bei  Aristophanes.    Ebenso  treten  in  der  mythologischen  Atellane 


lj  Vgl.  oben  S.  117  u.  118.  'Ich  erinnere  hier  an  den  prächtigen  Aus- 
putz der  Cantatrice  im  italienischen  Volksdrama.  Siehe  die  Abbildung  bei 
Sand  a.  a.  0.  Bd.  II,  S.  53. 

2)  Quid  hie  cum  tragicis  vereis  et  syrma  facis?  Ribbeck,  Frag.  com. 
Rom.  II»,  S.  302. 

3)  Fragm.  com.  Rom.  Ribbeck  II2  S.  285.    Lab.  42—45. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       583 

wohl   die  typischen  Atellanen- Figuren  Bucco,   Maccus,  Pappus, 
Dossenus,  zusammen  mit  Heroen  und  Göttern  auf. 

Da  finden  wir  nun  auf  einem  Elfenbeindiptychon  mit  sceni- 
schen  Bildern,  das  zur  Feier  des  Konsulatsantritts  des  Anastasius 
im  Jahre  517  n.  Chr.  verteilt  wurde,  auf  dem  unteren  Streifen 
der  linken  Platte  drei  Figuren  im  tragischen  Kostüme  mit  lang- 
wallenden Prunkgewändern,  mit  Maske  und  grofsem  Aufsatz 
darüber,  auf  die  von  links  her  vier  Mimen  ohne  Maske  und  in 
der  Tracht  des  alltäglichen  Lebens  zueilen.  Unter  diesen  Mimen 
wird  besonders  die  Figur  des  Glatzkopfes,  des  eigentlichen  mimi- 
schen Narren,  des  ficoQog  (fcdaxQÖg,  des  mimus  calvus  deutlich '). 
Es  ist  kein  Grund  anzunehmen,  die  auf  einem  Bilde  eng  ver- 
einigten Gruppen  stellten  einerseits  einen  Mimus,  andererseits 
eine  Tragödie  dar2);  diese  Tragöden  und  Mimen  spielen  zusammen 
eine  mimische  Tragödie,  oder  besser  einen  mythologischen 
Mimus3).  Im  sechsten  Jahrhundert  wurden  ja  auch  kaum  noch 
Tragödien  aufgeführt. 

x)  Diptychon  Bituricense  in  Paris  auf  der  Nationalbibliothek,  vgl. 
W.  Meyer,  zwei  antike  Elfenbeintafeln  der  K.  Staatsbibliothek  in  München 
Nr.  14,  S.  67.  Vgl.  auch  Gori  Thesaurus  veterum  diptychorum  tom.  I, 
tab.  XII.    Siehe  die  wohlgelungene  Abbildung  bei  Dieterich,  Pulcinella  S.  221. 

2)  Dieterich  a.  a.  0.  S.  220. 

3)  Auf  einer  Vase  der  Hamiltonschen  Sammlung  (Tischbein,  Collection 
of  engraving3,  from  ancient  vases  of  Sir  Hamilton  H,  Tafel  57,  danach  die 
verkleinerte  Abbildung  bei  Dieterich  a.  a.  0.  S.  239)  sieht  man  einen  jungen 
Helden  mit  Speer  und  Schild.  Er  ist  durchaus  wohlgestaltet  an  Körper 
und  Gesicht.  Nur  seine  Kopfbedeckung  ist  sonderbar  mit  Hahnenfedern 
verziert.  Ihm  folgt  ein  kurzer,  dicker  Diener  mit  burleskem  Gesicht,  dickem 
Wanst  und  Phallus,  mit  Schild  und  Helm,  der  gleichfalls  mit  Hahnenfedern 
verziert  ist.  Wanst  und  Phallus  erweisen  den  Diener  als  Mimen,  aufserdem 
sind  beide  barfüfsig,  es  sind  mimi  planipedes.  Auch  fehlt  beiden  die  Maske, 
wie  es  sich  bei  dem  Mimen  gehört.  Sehr  gut  erinnert  Dieterich  an  Don 
Quixote  und  Sancho  Pansa.  ^BWbti  nat^ovaiv  nöktpov  ol  piTuot  sagt  Cho- 
ricius,  das  thut  dieser  wehrhafte  Jüngling  und  sein  Knappe  sicherlich.  Es 
ist  schade,  dafs  sich  die  Zeit  des  Vasenbildes  nicht  genau  bestimmen  läfst; 
wäre  es  sehr  früh,  so  müfste  man  an  den  italischen  Mimus,  den  Phlyax 
denken,  aber  die  Zeichnung  der  Gesichter  ist  doch  viel  weniger  burlesk,  als 
sonst  auf  den  Phlyakenvasen,  und  die  Phlyaken  tragen  meistens  Masken, 
obwohl,   wie  ich  oben  bemerkt  habe,    auch  unmaskierte  Typen  vorkommen. 


584  Sechstes  Kapitel. 

Sicherlich  werden  die  Götter  und  Heroen  des  Mimus  sich 
sehr  von  ihrer  tragischen  Höhe  herabgelassen  haben.  Nur  wird 
man  gut  thun,  den  mythologischen  Mimus  sich  doch  nicht  etwa 
im  Stile  einer  modernen  Offenbachiade  zu  denken.  Für  den 
Hellenen  bleiben  die  Götter  auch  in  ihrer  erniedrigten,  ganz 
und  gar  vermenschlichten  Gestalt  immer  noch  Götter,  die  sich 
wieder  zur  Höhe  des  Ideals  erheben  können,  und  zu  denen 
er  in  dieser  idealen  Erhebung  wieder  gläubig  zu  beten  ver- 
mag. Auch  in  ihrer  tollen  Verwandlung  in  des  Plautus  Am- 
phitruo,  der  latinisierten  Rhinthonica,  dem  italischen  Götter- 
mimus  bleiben  Juppiter  und  Mercur  immer  noch  Götter.  Ähn- 
lich steht  es  mit  den  Göttern  und  Heroen  im  burlesken  Satyr- 
drama. 

So  wird  denn  hier  eine  sehr  starke  Kontrastwirkung 
zwischen  den  mythischen  Heroen  und  den  niedrigen  mimischen 
Personen,  besonders  den  mimischen  Narren,  stattgefunden  haben. 
Wer  an  Modernes  denken  will,  erinnere  sich  etwa  an  Shake- 
speares „Troilus  und  Cressida." 

Also  der  Mimus  spielt  durchaus  nicht  nur  in  den  niedrigen 
und  niedrigsten  Kreisen,  im  Gegenteil,  er  geht  selbst  bis  in  die 
höchsten  hinauf. 

Wie  das  biologische  Drama  Volkssprache  und  vornehme 
Sprache,  niederes  Volk  und  Vornehme  vermischt  und  so  durch 
die  sonderbarsten  Kontraste  wirkt,  so  verbindet  es  mit  seinem 
burlesken  Humor  auch  hier  und  da  den  Ernst.  Ausdrücklich 
hebt  Choricius  hervor,  es  gebe  Mimen,  in  denen  der  Ernst  von 
Anfang  bis  zu  Ende  vorwiege1).  Da  höre  man  Ehemänner  ernst- 
haft ihre  Frauen  ermahnen,  auf  Zucht  und  Ehre  zu  halten,  oder 
Rhetoren  gingen  einen  Wettkampf  in  der  Beredsamkeit  ein  und 
dergleichen.  In  der  That  bestätigt  das  selbst  der  späte,  alberne 
christologische  Mimus.  Der  Vorwurf  im  Mimus  des  Genesius  ist 
im  Grunde  ernst.  Der  stupidus  verlangt  ernsthaft  nach  der 
Taufe,  er  redet  ernsthaft  im  Tone  des  zerknirschten,  reumütigen 
Sünders.    Taufe,  Gericht  und  Hochgericht  gehen  sicher  mit  ihm 


»)  Vgl.  oben  S.  214. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       585 

ganz  ernsthaft  vor  sich.  Drollig  wird  die  Sache  nur  dadurch, 
dafs  es  eben  der  Dümmling  ist,  an  dem  alles  das  vorgenommen 
wird.  Und  wenn  der  Räuber  Laureolus  vor  Gericht  geführt  und 
ans  Kreuz  geschlagen  wird,  so  wird  es  schliefslich  doch  auch 
blutiger  Ernst. 

Wenn  der  betrogene  Ehemann  schon  zum  Dolche  greift, 
schliefslich  jedoch  sein  Recht  vor  Gericht  sucht,  so  ist.  wie 
Choricius  hervorhebt  (vgl.  oben  S.  91),  die  Situation  eigentlich 
ernst  genug,  und  nur  weil  zum  Schlüsse  doch  nun  einmal  der 
mimische  Humor  zum  Rechte  kommen  soll,  wird  alles  aus- 
geglichen. Wenn  Giftmischer  im  Mimus  auftreten,  wie  Plutarch 
berichtet,  so  wird  die  Sache  auch  ernsthaft. 

Auch  Totschlag  und  Mord  waren  im  Mimus  offenbar  nicht 
selten.  Der  Räuberhauptmann  Laureolus  ist  ein  Mörder,  und 
im  Giftmischermimus  sollte  auch  gemordet  werden.  So  heifst 
es  im  Epigramm  auf  Philistion,  er  sei  schon  oft  gestorben  — 
nämlich  auf  der  Bühne  — ,  aber  noch  nie  so  —  nämlich  in  Wirk- 
lichkeit. Derselbe  eigentümliche  Ausdruck  kommt  im  Grab- 
gedicht auf  die  Mime  Bassilla  vor1). 

Vergessen  wir  doch  nicht,  welch'  ernste,  ja  strenge  Biologie 
uns  in  Herondas'  Mimen  entgegentritt.  Die  Lebensschilderung 
ist  dort  so  herb,  ja  nicht  selten  so  bitter,  dafs  kaum  für  den 
risus  mimicus,  den  Humor,  Raum  bleibt.  Ein  wenig  milder 
und  humoristischer  ist  schon  die  biologische  Darstellung  in  den 
Mimen  Theokrits,  und  noch  lustiger  mag  es  in  den  mehr  volks- 
mäfsigen  Mimen  Sophrons  zugegangen  sein*).  Aber  die  ernste 
Auffassung  dieser  mimischen  Biologie  ist  unverkennbar.  Wir 
haben  allen  Grund,  von  diesem  biologischen  Ernste  viel  bei 
Philistion  vorauszusetzen,  der  die  Thoren  so  geschickt  ihrer 
Narrheit  zu  überführen  wufste  wie  etwa  Moliere  den  Tartuffe3). 

Wie  mit  dem  Burlesken  das  Ernste,  so  mischt  sich  im 
Mimus  mit  dem  einfach  Biologischen,  mit  dem  Platt-nüchternen, 
dem  Realistischen  das  Phantastische. 


x)  Vgl.  oben  S.  157  u.  158. 

2)  Vgl.  darüber  oben  S.  376  folg. 

8)  Vgl.  darüber  oben  S.  430,  431,  450;  451,  471. 


586 


Sechstes  Kapitel. 


Die  Titel  bei  Laberius  sind  ja  meistens  aus  dem  realen 
Leben1).  Nach  dem  Titel  „Der  junge  Herr"  (Ephebus)  zu 
urteilen,  sollte  man  nun  glauben,  es  handele  sich  um  einfache, 
bürgerliche  Verhältnisse,  und  doch  tritt  in  diesem  Stück,  wie  wir 
eben  sahen,  ein  Gott  auf.  Wenn  wir  aber  an  des  Laberius  „Lacus 
Avernus"  und  die  „Necyomantia"  denken,  so  haben  wir  die  Unter- 
welt mit  ihren  Schrecken  vor  uns  und  zugleich  argen  Zauber 
und  Totenbeschwörung. 

Überhaupt  scheint  der  Mimus,  selbst  wo  er  rein  biologisch 
war  und  sich  auf  dem  Boden  der  Wirklichkeit  bewegte,  das  Be- 
sondere, Seltsame  und  Erstaunliche  bevorzugt  zu  haben.  Da 
wird  ein  Armer  im  Mimus  plötzlich  reich,  wie  Antonius,  meint 
Cicero,  der  sich  in  des  Pompejus  Vermögen  einsetzt  und  es 
durchbringt  (vgl.  oben  S.  63).  Reiche  Leute  machen  Bankerott, 
und  der  Millionär  wird  plötzlich  zum  Bettler.  Das  sind  die  divites 
fugitivi  (vgl.  oben  S.  71). 


!)  Ich  setze  sie  in  alphabetischer  Reihenfolge  hierher: 

Alexandrea 

Anna  Perenna 

Aquae  Caldae 

Aries 

Augur 

Aulularia 

Belonistria 

Cacomnemon 

Gaetuli 

Cancer 

Carcer 

Catularius 

Centonarius 

Colax 

Colorator 
Ribbeck  (Rom.  Dicht.  I,  S.  226)  vermutet  nach  den  Titeln  „Der  Widder", 
„Der  Stier",  „Der  Krebs",  —  er  hätte  noch  weiter  hinzufügen  sollen  „Die 
Jungfrau",  „Die  Zwillinge"  —  Laberius  habe  die  Mythen,  welche  sich  an  die 
Zeichen  des  Tierkreises  anschliefsen,  in  einer  Folge  von  Mimen  behandelt. 
Bei  der  Vorliebe  für  den  mythologischen  Mimus,  von  der  Ribbeck  noch  nichts 
wufste,  gewinnt  diese  geistvolle  Vermutung  eine  hohe  Wahrscheinlichkeit. 


Compitalia 

Parilicii 

Cophinus 

Paupertas 

Cretensis 

Piscator 

Ephebus 

Restio 

Fullo 

Salinator 

Galli 

Saturnalia 

Gemelli 

Scylax 

Hetaera 

Sedigitus 

Imago 

Sorores 

Lacus  Avernus 

Staminariae 

Late  loquentes 

Stricturae 

Natal 

Taurus 

Necyomantia 

Tusca 

Nuptiae 

Virgo 

Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       587 

Gelegentlich  wird  in  breiter  Ausführung  das  romantische 
Räuberleben  vorgeführt.  Nicht  selten  wird  auch  ein  Schiffbruch 
geschildert  mit  aller  seiner  Not,  Angst  und  Qual  und  mit  dem 
Aufruhr  der  Elemente.  Wir  befinden  uns  ganz  anders  als  im 
klassischen  Drama  im  Mimus  direkt  auf  dem  Verdeck  des  mit 
dem  Sturm  in  höchster  Not  kämpfenden  Schiffes.  So  spricht 
Seneca  von  den  Schiffbrüchen  im  Mimus,  bei  deren  Anblick  sich 
die  Stirn  vor  Sorge  furcht1).  Bei  Petron  lernen  wir  in  einem 
aus  dem  Mimus  entnommenen  Scenengefüge  ein  solches  mimicum 
naufragium  mit  allen  seinen  Aufregungen  und  Schrecken  kennen2). 
Auch  Shakespeare  verlegt  in  seinem  „Sturm"  die  Eingangsscene 
auf  das  mit  dem  Orkane  ringende  Schiff,  auch  hier  haben  wir 
ein  mimicum  naufragium,  dessen  Anblick  unsere  Stirn  vor  Sorge 
furcht. 

Vor  allem  geschehen  im  Mimus  nicht  selten  schwere  und 
unheimliche  Verbrechen.  Meineid  und  Meineidprozesse  scheinen 
nicht  selten  gewesen  zu  sein,  und  besonders  war  die  Giftmischerei 
im  Schwünge.  So  sah  Plutarch  im  Theater  des  Marcellus  bei 
einer  Vorstellung,  der  auch  der  greise  Kaiser  Vespasianus  bei- 
wohnte, ein  grofses  mimisches  Schauspiel  mit  zahlreichen  Dar- 
stellern und  einer  sehr  verwickelten  Handlung.  Die  Intrigue  in 
diesem  Mimus  hing  wesentlich  mit  einem  Gifte  zusammen,  das 
eigentlich  ein  eigentümliches  Schlafmittel  war;  wer  es  einnahm, 
wurde  von  Totenstarre  befallen,  um  dann  nach  einiger  Zeit  wieder 
aufzuleben.  In  diesem  Mimus  spielte  nun  ein  Hund  mit,  der  ganz 
vortrefflich  bei  jeder  Gelegenheit,  wo  er  aufzutreten  hatte,  sich  in 
seine  Rolle  zu  finden  wufste.  Geradezu  erstaunlich  erwies  sich  die 
Schauspielkunst  dieses  Tieres,  als  man  sich  im  Mimus  den  Anschein 
gab,  die  Wirkung  dieses  eigentümlichen  Giftes  an  ihm  zu  erproben. 
Wie  ein  richtiger  Mime  glänzte  der  Hund  durch  grofsartiges 
Geberdenspiel,  sowie  er  das  Stück  Brot  mit  dem  Gifte  gefressen 
hatte,  fing  er  an  zu  zittern  und  zu  wanken,  dann  schien  ihm 
der  Kopf  schwer  zu  werden,  und  schliefslich  streckte  er  sich  wie 


»)  Vgl  oben  S.  114,  115. 

2)  Cap.  114.  115.    Das  Nähere  darüber  im  zweiten  Bande. 


588  Sechstes  Kapitel. 

tot  lang  aus  und  liefs  sich  ganz  starr  und  steif  hin-  und  her- 
tragen. Als  es  dann  Zeit  war  wieder  zu  sich  zu  kommen,  rührte 
er  sich  langsam,  schien  aus  tiefem  Schlummer  zu  erwachen,  hob 
den  Kopf  in  die  Höhe  und  blickte  sich  um.  Während  nun  die 
Personen  im  Mimus  ihre  Verwunderung  bezeugten,  dafs  der  Hund 
wieder  auflebe,  der  doch  ein  tötliches  Gift  erhalten  habe,  lief 
dieser  auf  seinen  Herrn,  vielleicht  auch  auf  den  zu,  der  ihm  das 
Brot  gegeben  hatte,  schmeichelte  ihm  und  legte  seine  Freude  an 
den  Tag.  Die  Zuschauer,  insbesondere  auch  der  alte  Kaiser, 
verspürten  eine  ordentliche  Rührung  über  die  Klugheit  dieses 
Hundes1). 

Die  Handlung  wird  nun  im  Mimus  vermutlich  folgender- 
mafsen  weiter  gegangen  sein.  Man  erkennt,  dafs  ein  durch 
dieses  Gift  Ermordeter  nur  scheintot  sei  und  holt  ihn  aus 
seinem  Grabe.  Damit  gewinnt  die  düstere  Handlung'  eine 
glückliche  Lösung  und  ein  erfreuliches  Ende,  doch  werden 
sicher  die  Bösewichter  ihrer  Bosheit  und  Narrheit  durch  die 
Wiedererweckung  des  Totgeglaubten  überführt  worden  sein;  wie 
Philistion  die  Schurken  und  Narren  überführt.    Jedenfalls  kann 


x)  De  solert.  anim.  IX,  7 :  nXrjv  av  yi  ti  fiüdrifia  xvvog  ov  6ox<S  fioi 
naorjüsiv,  ysvoftevog  lv  'Pwfxij  Staxfig.  nagwv  ydq  6  xvtav  uifuo  tiXoxtjv  tyovu 
^Qtt/uaTtxrjV  xal  noXvnqoatonov ,  aXXag  ts  /ut^aeig  dneälSov  lolg  vnoxtifxtvois 
7id&eoi  xal  ngäyfxaai  noooipÖQovg,  xal  (pag/udxov  notovfxivtov  iv  aircp  ntiqav 
V7iviüTixov  (xlv  vnoxftfiivov  d"  tlvav  fravaaifiov,  xöv  ?'  cigiov,  ut  drj&tv  ifxifxixio 
t6  (fagfiaxov,  ifäj-aro  xal  xaraipaywv  oXCyov  varsgov  üfioiog  v\v  vnorg^ovri 
xal  oifaXXofie'va)  xal  xagrjßagovvri'  t£kog  61  ngortCvag  iaviov  (Santo  vexgbg 
J-xeiTo,  xal  nagtlytv  'iXxtiv  xal  /Atiacpe'gHV,  wg  6  iov  Sgäfiaiog  vnrjyogtve  Xöyog. 
Infi  de  rbv  xaigbv  ix  iwv  Xeyo/x^vwv  xal  n  gano/usvojv  ivotjatv,  rav^rj  ib  ttoiu- 
tov  ixCvr\atv  iaviov,  äontg  l!-  vnvov  ßu&£og  ävacfegöftfvog,  xal  rrjv  xecpaXijv 
Inäoag  Sie'ßXexpev  tnena  &av/ua<jävi(ov,  Itjavaarug  ißddtCe  ngbg  ov  edti'  xal 
ngoarjxaXXs  %atgwv  xal  (piXoipgovovftfvog,  wate  nävtag  av&gwnovg  xal  Kai- 
Gaga  (nagijv  ydg  6  yigwv  Oveanaaiavbg  iv  iw  Magx4XXov  #£«rptj))  avfxna&eig 
ytvtodai.  Für  den  Hund  im  Mimus  will  ich  noch  an  des  Laberius  „Catularius" 
erinnern,  der  wohl  ein  Hundejunge  oder  Hundehändler  war.  Auch  im  „Scylax* 
dürfte  ein  Hund  mitgespielt  haben;  denn  der  Titel  ist  ein  Hundename.  In 
einer  mimischen  Prügelscene  hei  Petron  spielt  ein  grofser  Kettenhund  mit, 
den  ein  altes,  entsetzlich  häfsliches  Weib  auf  den  Poeten  Eumolp  hetzt 
(cap.  95). 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       589 

ein  Stück  mit  einer  derartigen  Handlung  nicht  rein  burlesk  ge- 
wesen sein. 

Bei  Äpuleius  steht  am  Anfang  des  zehnten  Buches  der 
Metamorphosen  eine  sehr  merkwürdige  Kriminalgeschichte:  vEin 
Oberst  ist  in  zweiter  Ehe  mit  einer  zwar  sehr  schönen,  aber  sitten- 
losen Dame  verheiratet.  Diese  verliebt  sich  in  ihren  Stiefsohn; 
seine  abweisende  Haltung  verwandelt  ihre  Liebe  in  Hafs.  Wir 
wissen,  wie  häufig  im  Mimus  die  Stiefmutter  in  den  Stiefsohn  ver- 
liebt ist  und  umgekehrt1).  Ein  verruchter  Sklave  verschafft  ihr 
ein  schnell  wirkendes  Gift,  sie  giefsen  es  in  einen  Becher  Wein  und 
beratschlagen,  wie  sie  es  dem  spröden  Jüngling  beibringen  wollen, 
indem  kommt  der  rechte  Sohn  der  Dame  aus  der  Schule  durstig 
zurück,  trinkt  den  Becher  aus  und  fällt  auf  der  Stelle  tot  hin. 
Das  sind  die  unerwarteten  Zwischenfälle,  die  der  Mimus  liebt, 
in  dem  die  Herrin  Tyche  regiert.  Sofort  wird  allgemein  bekannt, 
dafs  hier  ein  Giftmord  vorliegt,  und  das  scheufsliche  Weib  be- 
schuldigt ihren  Stiefsohn  der  Giftmischerei  und  zugleich  der 
versuchten  Blutschande.  Nun  folgt,  wie  im  Mimus,  eine  grofse 
Gerichtsscene,  bei  der  nach  vielen  Dupliken  und  Kepliken  der 
Jüngling  zum  Tode  verurteilt  werden  soll,  da  tritt  wieder,  wie 
es  im  Mimus  zu  geschehen  pflegt,  ein  unerwarteter  Umschwung 
ein.  Ein  alter  Richter,  zugleich  ein  weiser  Arzt,  erhebt  sich,  sagt, 
er  selbst  habe  dem  Sklaven  das  Gift  gegeben,  es  sei  aber  nur 
ein  starker  Schlaftrunk.  Es  ist  derselbe  Schlaftrunk,  den  wir  aus 
dem  Mimus  bei  Plutaxch  kennen.  Man  solle  nur  zum  Grabmal 
des  Knaben  gehen  und  ihn  aufweckeu:  das  geschieht.  Damit 
ist  des  Weibes  Schandthat  aufgedeckt:  die  Geschichte  endigt 
fröhlich,  wie  ein  Mimus  endigen  mufs.  Die  Frau  wird  zur  Strafe 
nur  verstofsen,  der  Sklave  wird  allerdings  gehenkt;  aber  was 
kommt  es  auch  auf  einen  Sklaven  und  noch  dazu  einen  so  nichts- 
würdigen an?! '-') 

*)  Vgl.  oben  S.  176. 

2)  Wir  werden  im  zweiten  Bande,  wo  wir  von  den  Beziehungen  zwischen 
Mimus  und  Roman  zu  handeln  haben,  noch  im  einzelnen  den  Nachweis  führen, 
dafs  Äpuleius  hier  das  Sujet  eines  Giftmischermimus  erzählt,  wie  der  bei 
Plutarch  ist.    Der  seltsame  mimische  Schlaftrunk  kommt  auch  in  Shakespeares 


590  Sechstes  Kapitel. 

Mit  der  seltsamen  Voraussetzung  dieses  eigenartigen  Giftes 
macht  der  Mimus  schon  ein  wenig  den  Übergang  in  das  Reich 
des  Phantastischen;  und  es  scheint,  dafs  er  sich  darin  gern 
bewegt  hat.  So  zeigen  sich  im  Mimus  allerhand  Hexen  und 
Zauberer.  Wahrsager  treten  auf  wie  im  Philogelos.  Ja  leib- 
haftige Gespenster  scheinen  auf  der  Bühne  vorgekommen  zu 
sein,  in  dem  „Gespenst"  des  Mimographen  Catull  lief  jemand 
jedesmal  beim  Erscheinen  des  Gespenstes  mit  lautem  Geschrei 
von  dannen1).  Auch  in  der  dem  Mimus  nahestehenden,  wenn 
auch  sehr  viel  niedrigeren  Atellane  zeigten  sich  allerhand  böse 
Gespenster,  wie  der  Pytho  Gorgonius,  die  pythische  Schlange  mit 
einem  Drachenhaupte  bei  Pomponius,  und  die  böse  Mania,  die 
Mutter  der  Laren,  trat  bei  Novius  gar  als  Ärztin  auf.  Ein 
Zauberer  und  Negromant,  der  im  Stande  ist,  mit  seiner  Be- 
schwörung die  Sterne  und  den  Mond  vom  Himmel  herabzu- 
ziehen, kommt  bei  Philistion  vor.  Er  wird  aber  entlarvt  (vgl. 
oben  S.  204.  432.) 

Kein  Wunder,  dafs  bei  dem  Einwirken  von  soviel  Hexerei 
und  Zauberei,  bei  der  Mitwirkung  so  mannigfaltiger  Gespenster 
und  Geister  —  erscheinen  ja  doch  ursprünglich  die  mimischen 
Schauspieler  selbst  in  Gestalt  von  Dämonen,  und  Acco,  Mormo 
und  Alphito,  welche  die  Rolle  der  Alten  im  dorischen  Mimus 
spielen,  sind  zugleich  Schreckgespenster  —  es  schliefslich  gar 
zur  Verzauberung  von  Menschen  in  Tiere  kommt,  woraus  sich 
dann  natürlich  die  seltsamsten  Verwickelungen  ergeben. 


Romeo  und  Julia  vor,  nur  dafs  er  verhängnisvollere  Folgen  hat  als  im 
Mimus.  Dagegen  erinnert  die  Art,  wie  dieses  Gift  im  Cymbeline  behandelt 
wird,  stark  an  den  Mimus.  Auch  dort  findet  sich  die  böse  Stiefmutter  des 
Mimus  und  des  Märchens,  die  allerdings  nicht  dem  Stiefsohn,  sondern  der 
Stieftochter  feindlich  ist.  Auch  sie  wünscht  ein  tötliches  Gift,  aber  der 
weise  Arzt  giebt  ihr  nur  das  schwere  Schlafmittel.  Imogen  nimmt  dieses 
nur  durch  einen  Zufall,  ähnlich  wie  der  rechte  Sohn  der  bösen  Stief- 
mutter im  Mimus  bei  Apuleius  und  wird  dann  wie  dieser  für  tot  ge- 
halten und  von  Arviragus  und  Guiderius  zum  Zeichen  der  Bestattung  mit 
Blumen  überschüttet.  Auch  sie  lebt  nachher  zur  grofsen  Freude  aller  wieder 
auf,  wie  der  Sohn  des  Obersten. 

l)  Daher  die  Bezeichnung  clamosum  Phasma  Catulli  bei  Juvenal  VIII,  186. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        591 

So  scheint  es  einen  alten  Eselmimus  gegeben  zu  haben, 
auch  in  der  Atellane,  die  ja  mit  dem  Mimus  häufig  die  gleichen 
Sujets  hat,  erscheint  ein  Mensch  mit  Eselkopf ').  Wie  phan- 
tastisch und  doch  zugleich  biologisch-realistisch  es  in  dem  Esel- 
mimus zuging,  kann  uns  der  berühmte  alte  Eselroman  wenigstens 
in  etwas  lehren.  Vermutlich  wird  der  vereselte  Mensch,  der  in 
der  Atellanendarstellung  in  einer  Prügelscene  erscheint,  im  Mimus 
ein  grofser  Liebesheld  gewesen  sein,  wie  der  Eselmensch  Lucius 
bei  Apuleius  und  bei  Lukian,  und  wird  dabei  für  seine  erotischen 
Triebe  hauptsächlich  nur  erbauliche  Prügel  eingenommen  haben, 
ebenso  wie  Lucius  und  wie  der  Eselmann  in  der  Atellane.  Zum 
Schlufs  wird  allerdings  der  Eselmann  Lucius  der  begünstigte 
Liebhaber  einer  vornehmen  Dame.  Der  Eselmimus  erinnert 
uns  an  Shakespeares  „Sommernachtstraum",  wo  der  Weber  Zettel 
plötzlich  einen  Eselskopf  erhält  und  keine  geringere  Dame  zur 
Liebhaberin  hat  als  die  Feenkönigin  Titania.  Nur  Zettel  wird 
dort  so  wunderbar  verzaubert,  alle  anderen  Personen  behalten 
ihre  natürliche  Gestalt;  ebenso  trägt  in  den  Atellanenscenen 
nur  ein  Darsteller  den  Eselkopf,  die  anderen  sind  Menschen  ge- 
blieben. 

Wir  haben  schon  oben  (S.  478  folg.)  darauf  hingewiesen,  wie 
der  Tiertanz  ursprünglich  im  Mimus  eine  Rolle  gespielt  hat.  da 
können  wir  uns  kaum  wundern,  auch  im  späteren  Mimus  Tiere 
zu  finden,  die  nur  verzauberte  Menschen  sind.  So  spricht  bei 
Sophron  ein  Esel  (vgl.  oben  S.  443  Anm.).  Ich  erinnere  auch  au 
die  Bären  im  Mimus  (vgl.  oben  S.  418)2)  und  an  die  oben  (S.  479) 
erwähnten  mimischen  Schauspieler  mit  Hunde-  und  Affenköpfen. 


*)  Vgl.  ohen  S.  258.  478.  Der  Titel  Asinius  bei  Ribbeck  a.  a.  0.  S.  255, 
ist  für  Novius  sinnlos,  es  hiefs  Asinus,  wie  schon  Junius  richtig  vermutet 
hat.  Möglich,  dafs  die  Atellanenscene  mit  dem  Eselmenschen  auf  den 
römischen  Thonscherben  aus  dem  Asinus  des  Novius  stammt,  jedenfalls  aber 
stammt  sie  aus  einer  Atellane,  die  diesem  Stücke  sehr  nahe  stand. 

8)  Ich  habe  oben  S.  417  auf  die  Tierbändigerkünste  der  Alten  hin- 
gewiesen. Gerade  Bären  als  Nachahmer  menschlicher  Fertigkeiten  werden 
in  einer  interessanten  Stelle  bei  Isokrates  nigl  ariiööatoK,  213  genannt: 
*«#'  exaorov  ibv  ivuzvtbv  ^fcjQovyrfi  iv  tois  ßavuaot  tov;  uiv  Uovxas  ngao- 


592  Sechstes  Kapitel. 

Sehr  seltsam  ist  auch  der  Vers  von  Laberius,  wo  berichtet  wird, 
jemand  sei  zu  dem  Affen  des  Apothekers  in  heifser  Liebe  ent- 
brannt1). Lactanz  erklärt,  die  Lehre  des  Pythagoras  von  der 
Seelenwanderung,  nach  der  menschliche  Geister  in  Tierleiber 
gesteckt  würden,  sei  lächerlich  und  erinnere  an  die  Erfindungen 
des  Mimus2). 

Mit  dieser  Verwandlung  von  Menschen  in  Tiere  begiebt  sich 
der  Mimus  direkt  in  das  Gebiet  des  Phantastisch-Märchenhaften. 
Ich  erinnere  beispielsweise  nur  an  die  deutschen  Märchen  von 
dem  Froschkönig  oder  dem  eisernen  Heinrich  und  besonders  an 
Schneeweifschen    und  Rosenrot   mit   ihrem  Bären,    der  ein  ver- 


tsgov  Siaxufxivovg  ngog  roiig  dsoanevorzag  .  .  .     rag  6'  aoxTovg  xvXivSovfxivag 
xul  naXaiovaag  xal  fiifj.ov^ivag  rag  fifiergoag  Imarrjfiag. 

1)  Farmocopoles  simium  deamare  coepit  Lab.  40,  41. 

2)  Corp.  Vind.  XIX  Firm.  Lactanti  divin.  inst.  lib.  VII,  12,  30:  cetera  Epi- 
curei  dogmatis  argumenta  Pythagorae  repugnant  disserenti  migrare  animas  de  cor- 
poribus  uetustate  ac  morte  confectis  et  insinuare  se  nouis  ac  recens  natis  et  easdem 
semper  renascimodo  in  hominemodo  in pecude  modo  in  bestia  modo  in  uolucre 
et  hac  ratione  inmortales  esse,  quod  saepe  uariorum  ac  dissimilium  corporum  domi- 
cilia  commutent.  quae  sententia  deliri  hominis  quoniam  ridicula  et  mimo 
dignior  quam  scola  fuit,  ne  refelli  quidem  serio  debuit.  Grysar  a.  a.  0. 
S.  317  citiert  ganz  allgemein  „eine  Stelle  bei  Lactanz  in  der  Apologie"  (sie!): 
Multis  enim  iocis  et  otio  opus  erit,  si  velimus  ad  hanc  partem  laseivire  (von  den 
Mimen  ist  die  Rede).  Quis,  in  quam  bestiam  reformari  velit?  Ich  habe  die 
Stelle  weder  bei  Lactanz,  wo  sie  nach  Ausweis  des  vortrefflichen  Index  im 
Corpus  Vindobonense  garnicht  vorkommt,  noch  sonstwo  bisher  eruieren  können. 
Jedenfalls  hat  sie  Grysar,  wie  die  ganz  ungenaue,  von  seiner  sonstigen  Weise 
denn  doch  abweichende  Citierungsart  zeigt,  nur  aus  zweiter  Hand. 

Unablässig  wird  im  Mimus  mit  der  Lehre  von  der  Seelenwanderung 
gespielt  in  dem  Sinne  der  Verwandelung  von  Menschen  zu  Tieren  und  Tieren 
zu  Menschen.  So  behauptet  jemand  bei  Laberius,  der  Mann  sei  ursprüng- 
lich ein  Maulesel  gewesen  und  die  Frau  werde  zur  Schlange;  in  der  That 
ist  im  Ehebruchsmimus  der  Mann  ein  Esel  und  die  Frau  eine  Schlange.  Vgl. 
Tertullian,  apolog.  48:  age  iam,  si  qui  philosophus  adßrmet,  ut  ait  Laberius  de 
sententia  Pythagorae,  hominemfieri  ex  mulo,  colubram  ex  mutiere,  et  in  eam  opinio- 
nem  omnia  argumenta  eloquii  virtute  distorserit,  nonne  consensum  movebit  et  fidem 
infiget  etiam  ab  animalibus  abstinendi  proptera?  persuasum  quis  habeat,  ne  forte 
bubulam  de  aliquo  proavo  suo  obsonetf  In  dem  „Krebs"  des  Laberius  stand  der 
Vers:  Nee  Pythagoream  dogmam  doctus.  Lab.  17,  18  R.  Ein  Mimus  Gozzis  heilst: 
La  Donna  Serpente,  ein  anderer  II  Re  Cervo,  ein  dritter  L'Angellino  Belverde. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        593 

zauberter  Prinz  ist1).  In  dem  neugriechischen  Märchen  erscheint 
ein  goldener  Krebs,  der  in  Wirklichkeit  ein  Prinz  ist2),  und 
drei  Prinzessinnen  sind  gar  zu  Citronen  verzaubert8).  Diese 
Metamorphose  hat  Gozzi  in  seinem  Märchenmimus  „L'Amore 
delle  tre  Melarance  (Die  Liebe  zu  den  drei  Pomeranzen)  ■  mit  den 
typischen  Personen  der  commedia  dell'  arte  auf  die  Bühne  gebracht. 
Auch  da  berühren  sich  also  wieder  Märchen  und  Mimus.  Über- 
haupt haben  die  Zauberer,  Hexen,  Geister  und  Gespenster  des 
Mimus  viel  mit  den  gleichen  Typen  im  Märchen  zu  schaffen. 
Acco,  Mormo,  Alphito,  die  Prototypen  der  weiblichen  Figuren 
des  Mimus,  gehören  zugleich  als  Schreckgespenster  und  Figuren 
der  niederen  Mythologie  ins  Gebiet  des  Märchens,  ebenso 
wie  Mania,  die  Mutter  der  Laren,  die  als  Mania  medica  in  der 
Atellane  erscheint. 

Wir  haben  auch  schon  auf  das  Katherlieschen  des  deutschen 
Märchens  hingewiesen,  die  Närrin,  die  sich  ihre  Identität  ab- 
streiten läfst,  wie  die  Narren  im  Mimus.  Zwischen  dem  Mimus 
und  Volksmärchen  herrschen  überhaupt  die  innigsten  Beziehungen, 
auf  die  wir  im  zweiten  Bande  näher  eingehen  werden,  Beziehungen, 
welche  die  alte  attische  Komödie  vom  alten  Mimus  geerbt  hat4). 
Phantastisch  genug  mufs  es  auch  im  Göttermimus  zugegangen 
seiu,  wo  sich,  wie  wir  gezeigt  haben,  Götter  und  Heroen,  tra- 
gische Figuren  mit  Maske  und  Onkos,  mit  langen  schleppenden 
Prunkgewändern  und  Kothurn,  mit  Alltagsmenschen  in  der  ge- 
wöhnlichen Kleidung  des  Lebens,  ja  mit  burlesken  Narren  im 
Clownkostüm  mischten. 

Wir  haben  schon  oben  eine  ganze  Anzahl  von  Titeln  mytho- 
logischer Mimen  oder  von  Göttern,  die  darin  vorkamen,  nach- 
gewiesen: „Lacus  Avernus",  „Necyomantia",  „Priapus",  „Anna 
Perenna",  „Ehebrecher  Anubisui),  „Die  männliche  Lunau,   „Die 


')  Grimm,  Kinder-  und  Hausmärchen  II,  S.  217  folg. 

2)  Schmidt,  Griechische  Märchen,  Sagen  und  Volkslieder.    S.  83  folg. 

3)  a.a.O.  S.  71  folg. 

*)  Ich  verweise  hier  auf  Zielinski's  geistvolle  Abhandlung:  Die  Märchen- 
komödie in  Athen,  Petersburg  1885. 

5)  In  dem  Ehebrecher  Anubis  ist  wohl  eine  Geschichte  auf  die  Bühne 

Reich,    Mimn*.  oo 


594  Sechstes  Kapitel. 

geprügelte  Diana",  „Jupiter,  der  nach  seinem  Tode  sein  Testa- 
ment verliest",  „Die  drei  gefoppten,  hungrigen  Herkulesse",  „Attis", 
„Saturn",  „Bacchus",  „Isis"  (vgl.  oben  S.  112—113,  240  u.  241), 
„Actaeon"^)1),  „Kinyras  und  Myrrha" '),  „Paris  und  Oenone"  (vgl. 

gebracht  worden,  die  zu  Tiberius'  Zeit  passierte.  Sie  steht  bei  Josephus, 
Ant.  XVIII  3,  4.  Ein  Ritter  Decius  Mundus  liebte  eine  vornehme  Dame, 
Paullina,  wurde  aber  von  ihr  mit  seinen  Anträgen  abgewiesen.  Nun  war 
die  gute  Paullina  aber  sehr  dem  Isisdienste  ergeben.  Da  machte  sich 
der  Ritter  hinter  die  Priester,  gab  ihnen  5000  Denaren,  und  die  Priester 
redeten  dafür  der  frommen  Dame  ein,  Gott  Anubis  selber  verlange  nach 
einer  nächtlichen  Zusammenkunft  mit  ihr.  Dem  hundsköpfigen  Grotte  ergab 
sie  sich  denn  auch,  und  Mundus  kam  in  der  Maske  des  Gottes  an  das 
Ziel  seiner  Wünsche.  Aber  dies  kam  heraus;  Tiberius  verbannte  den 
Ritter,  die  Priester  wurden  ans  Kreuz  geschlagen,  der  Tempel  nieder- 
gerissen. Das  alles  wird  der  Mimus  mit  seiner  getreuen  Biologie  aus 
dem  wirklichen  Leben  auf  die  Bühne  gebracht  haben,  bis  zur  Scene  auf 
dem  Hochgericht,  wie  er  ja  auch  des  Räuberhauptmann  Laureolus 
Thaten  vorführte.  Hier  spielt  also  ein  Mann  mit  einem  Hundskopfe  im 
Mimus  mit,  vorher  hatten  wir  eben  einen  Mann  mit  einem  Eselskopfe.  In 
Boccacios  Decameron  (4.  Tag,  2.  Gescb.)  findet  sich  eine  Erzählung,  die,  von 
der  christlichen  Färbung  abgesehen,  unserem  Mimus  auf  ein  Haar  gleicht. 
Da  redet  der  Pater  Alberto  der  schönen,  frommen  und  ziemlich  dummen 
Madonna  Lisetta  ein,  der  Engel  Gabriel  habe  ein  heftiges  Verlangen 
nach  ihrer  Schönheit.  Die  geschmeichelte  Dame  verspricht  sich  des  Erz- 
engels zu  erbarmen,  und  natürlich  erscheint  Bruder  Alberto  mit  Engels- 
flügelu  angethan.  Das  Gespräch  des  vermeintlichen  Erzengels  mit  der 
schönen  Gans  während  des  Stelldicheins  ist  ein  Meisterstück  mimischen 
Humors,  mit  „mimicae  ineptiae"  reichlich  durchwirkt.  Doch  die  Schwäger 
Lisettens  kommen  dem  Erzengel  auf  die  Sprünge  und  es  geht  ihm  erbärmlich 
schlecht,  noch  schlechter  als  dem  Ritter  im  moechus  Anubis.  Es  ist  eine 
seltsame  Ähnlichkeit  zwischen  diesem  Mimus  und  dieser  Novelle,  über  deren 
Gründe  wir  noch  zu  handeln  haben  werden. 

*)  Es  ist  wohl  möglich,  dafs  Friedländer,  Sittengeschichte  II 6,  S.  437, 
mit  seiner  Bemerkung  Recht  hat:  „Auf  einen  Mimus  Actaeon  deutet  Varro, 
Sat.  Menipp.  513,  Petron  ed.  Buecheler3,  p.  216:  Quod  si  Actaeon  occupasset 
et  ipse  prius  suos  canes  comedi3setf  non  nugas  saltatoribus  in  theatro  ßeretu.  Es 
könnte  allerdings  auch  ein  Pantomimus  gemeint  sein.  Als  mimisch  oder  für 
den  Mimus  passend  bezeichnet  den  Dienst  der  Isis  Prudentius: 

Isidis  amissum  semper  plangentis  Osirim 

mimica  ridendaque  suis  sollempnia  calvis. 

Contra  Symmach.  I,  639—630. 
2)  Nach  dem  Zeugnisse  des  Josephus  Ant.  XIX,  1,  15. 


Form  and  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       595 

oben  S.  190).  Gerade  der  Göttermimus  war  besonders  beliebt, 
und  wie  wir  (S.  113,  Anm.  1.)  gezeigt  haben,  überwiegen  in  den 
Jahrhunderten  nach  Chr.  diese  phantastischen  Stücke.  Auch  von 
Philistion  konnten  wir  einen  Göttermimus  „Deukalion  und  Pyrrha" 
konstatieren,  wo  wir  in  die  Urzeiten  der  zweiten  Schöpfung  des 
Menschengeschlechts  zurückversetzt  werden,  in  die  Zeiten  der 
Sintflut. 

Kein  Wunder,  dafs  bei  dieser  märchenhaften  Art  des  Mimus 
die  Kirchenväter  gegenüber  den  seltsamsten  Erfindungen  der 
Gnostiker  und  anderer  Häretiker  über  den  Ursprung  der  Welt, 
die  Genealogie  von  Gott  Vater,  Sohn  und  Heiliger  Geist,  über 
den  Ursprung  und  die  Beziehung  der  Dämonen  zur  Gottheit, 
über  den  merkwürdigen,  grofsen  Dämon,  der  die  Welt  auf  seinen 
Schultern  trägt  und  gelegentliche  Erdbeben  veranlafst,  über  die 
Sintflut,  deren  Ursache  und  nähere  Geschichte  immer  darauf 
hinweisen,  das  seien  ganz  mimische  Erfindungen,  so  phantastisch, 
wie  sie  Philistion  liebe  oder  der  Mimograph  Diogenes,  ö  %a 
ämöia  ygäipag.  Tä  äntata,  das  Wunderbare,  hat  im  phan- 
tastisch-biologischen Mimus  eben  keine  geringere  Rolle  gespielt 
als  etwa  in  dem  nicht  weniger  realistisch -biologischen  Drama 
Shakespeares. 

Wenn  Apuleius,  der,  wie  seine  wiederholten  Erwähnungen  des 
Mimus  beweisen,  ein  guter  Kenner  war,  als  Charakteristikum  des 
Mimus  angiebt  „mimus  hallucinatur"  (Florida  XVIII),  so  werden 
wir  dabei  nicht  blofs  an  den  niedrigen  Sinn  von  hallucinari  „ins 
Blaue  hinein,  Unsinn  reden",  zu  denken  haben,  sondern  auch  an 
den  höheren  Sinn  „träumen,  seltsame  Dinge  reden  und  denken". 
Gewifs,  der  Mimus  hat  bei  aller  Realistik  nicht  selten  seltsame 
Träume  und  Hallucinationen  gehabt,  wie  sie  gelegentlich  auch 
Aristophanes  hat,  kaum  je  aber  die  regelrechte  Menanderkomödie. 
So  lieifsen  die  Mimen  in  einem  Juvenalscholion  (vgl.  unten  S.  608, 
Anm.  3)  paradoxi.  In  der  That  ist  ja  alle  Phantastik  paradox, 
paradox  sind  zugleich  auch  die  mimicae  ineptiae,  die  Narrenpossen 
und  Späfse.     Der  Ausdruck  wird  auf  beides  gehen. 

So  ist  denn  im  Mimus  in  der  wundersamsten  Weise  Niedriges 

38* 


596  Sechstes  Kapitel. 

mit  Hohem,  Ernstes,  ja  Grausiges  mit  Burleskem  und  Humo- 
ristischem, das  platt  Reale  mit  höchst  Phantastischem  und 
Zauberhaftem  verquickt.  Diese  seltsamen  Mischungen  begreift 
man  am  besten,  wenn  man  an  die  Dramen  Shakespeares 
denkt,  an  die  wir  uns  schon  wiederholt  erinnern  mufsten, 
etwa  an  den  Sommernachtstraum,  wo  im  Zauberwalde  Heroen 
und  Heroinen,  Theseus  und  die  Amazonenkönigin  Hippolyta, 
die  Beherrscher  der  Elfen  Oberon  und  Titania  und  die  niedrigen 
Geister  Droll,  Spinnweb,  Motte,  Bohnenblüte  und  Senfsamen 
und  dann  wieder  ansehnliche  Bürgersleute  und  auf  der  vierten 
und  letzten  Stufe  das  niedere  Volk,  die  ehrsamen  Handwerks- 
meister, Squenz  der  Zimmermann,  Schnock  der  Schreiner, 
Zettel  der  Weber,  Flaut  der  Bälgenflicker,  Schnauz  der 
Kesselflicker,  Schlucker  der  Schneider,  bunt  durcheinander  weben. 
Auch  kann  man  an  den  Sturm  denken,  wo  neben  Ariel,  dem 
Luftgeist,  und  seinen  zauberischen  Gehülfen  auch  allerhand 
Menschen  von  der  niedrigsten  Stufe  bis  zur  höchsten,  von  dem 
Halbtier  Caliban  bis  herauf  zum  Halbgott,  bis  zu  Prospero, 
dem  Menschen,  der  durch  den  Adel  seiner  Gesinnung  und  die 
Höhe  seiner  Kunst  und  Wissenschaft  die  Geister  unter  seine 
Herrschaft  zwingt,  im  bunten  Durcheinander  sich  bewegen. 

So  geht  denn  auch  die  Sprache  bei  Shakespeare  wie  im 
Mimus  vom  Gassenjargon  zur  Umgangssprache,  ja  zu  der  höch- 
sten lyrischen  Ausdrucksweise  über.  Vornehmlich  reden  die 
Narren  im  Mimus  Prosa  wie  bei  Shakespeare  die  Clowns.  Man 
denke  etwa  an  die  niedrigen,  burlesken  Reden  des  Weber  Zettel 
oder  des  Bedienten  Lanz  in  den  beiden  Veronesern  oder  des 
Clowns  Holzapfel  in  „Viel  Lärm  um  nichts"  oder  des  Totengräbers 
im  „Hamlet."  Um  so  seltsamer  ist  es  dann,  wenn  diese  Clowns 
wie  im  Mimus  plötzlich  anfangen  zu  singen. 

So  fragt  in  „Was  ihr  wollt",  zweiter  Aufzug,  zweite  Scene, 
der  Narr,  wollt  ihr  ein  Liebeslied  oder  ein  Lied  von  gutem 
Lebenswandel  und  hebt  dann  an  zu  singen: 

0  S-chatz,  auf  welchen  Wegen  irrt  ihr? 
0  bleibt  und  hört,  der  Liebste  girrt  hier. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        597 

Sing  in  hob-  und  tiefem  Ton, 
Hüpft  nicht  weiter,  zartes  Kindlein. 
Liebe  find't  zuletzt  ihr  Stündlein, 
Das  weifs  jeder  Muttersohn. 

Wie  singt  der  Page  in  „Wie  es  euch  gefällt": 

Ein  Liebster  und  sein  Mädel  schön 
Mit  heisa  und  ha  und  juchheisa  trala! 
Die  thäten  durch  das  Kornfeld  gehn, 
Zur  Maienzeit,  der  lustigen  Paarezeit, 

oder  der  Weber  Zettel  im  „Sommernachtstraum": 

Der  Kuckuk,  der  der  Grasemück' 

So  gern  ins  Nestchen  heckt, 
Und  lacht  darob  mit  arger  Tück' 

Und  manchen  Ehmann  neckt. 

3.  Aufzug,  1.  Scene. 

Das  alles  sind  Schelmenlieder,  wie  die  Couplets  im  Mimus, 
«da»  cccTavixai,  wie  die  alten  Kirchenväter  schelten.  Aber 
Choricius  weist  darauf  hin,  wie  es  auch  ganz  ernsthafte  Lieder 
im  Mimus  gebe,  und  von  einer  ernsten  Leidenschaft  ist  wirklich 
die  Mimodie  „  Des  Mädchens  Klage"  durchbebt.  Dem  gegenüber 
erinnern  wir  uns  an  die  Totenklage,  die  Arviragus  und  Guiderius 
im  Cymbeline  singen  oder  an  das  Toten gräberlied  im  „Hamlet" 
oder  gar  an  Ophelias  Lied: 

Wie  erkenn'  ich  dein  Treulieb 
Vor  den  anderen  nun? 
An  dem  Muschelhut  und  Stab 
Und  an  den  Sandelschuh'n. 

4.  Aufzug,  5.  Scene. 

Jedenfalls  können  die  zahlreichen  Lieder  bei  Shakespeare 
lehren,  wie  einst  die  zahlreichen  Arien  im  Mimus  gewirkt  haben 
müssen,  die  in  ihm  einen  so  wesentlichen  Platz  einnahmen  und 
die  das  Volk  besonders  bezauberten  (vgl.  darüber  oben  S.  138 
—  142).     Von   der   niederen  Volkssprache    ebenso    wie  von  den 


598  Sechstes  Kapitel. 

lustigen  und  tiefgefühlten  Liedern  stechen  dann  wieder  bei 
Shakespeare  die  jambischen  Verse  mit  ihrer  vornehmen  und 
würdigen  Sprache  ab.  Es  herrscht  hier  eben  derselbe  Gegen- 
satz, wie  das  Leben  und  wie  der  Mimus,  das  Drama  des  Lebens, 
ihn  liebt. 

Auch  Shakespeare  ist  ein  Biologe,  ein  Ethologe  und  ein 
Realist.  Und  doch  drängen  sich  bei  ihm  wie  im  Mimus  spukhaft 
Geister  und  Gespenster  und  übernatürliche  Wesen  in  die  natür- 
lich-biologische Handlung,  und  oft  scheint  die  dünne  Decke  zu 
zerreifsen,  welche  die  kleine,  reale,  natürliche  Welt  der  Menschen 
von  der  übernatürlichen,  überirdischen  und  unterirdischen  trennt. 
Vor  allem  wie  man  Ernstes  und  Burleskes  zu  mischen  habe,  hat 
niemand  so  gut  wie  Shakespeare  verstanden  und  der  alte  Mimus. 

Längst  hat  man  alle  diese  seltsamen  Mischungen,  die  das 
Drama  seit  Shakespeare  liebt,  für  unantik,  ungriechisch,  spezifisch 
modern,  für  romantisch  erklärt.  Gewifs,  diese  Mischung  ist  un- 
klassisch, denn  der  klassische  Stil  bedeutet  das  Einfache,  das 
streng  Einheitliche,  ungriechisch  aber  ist  sie  durchaus  nicht.  Im 
Gegenteil,  sie  ist  ein  Spezificum  des  eigentlichen  Volksdramas 
der  Hellenen,  des  Mimus,  der  an  und  für  sich  das  älteste  grie- 
chische Drama  ist,  wenn  auch  die  mimische  Hypothese  noch 
jünger  als  die  Menander- Komödie  und  in  ihrer  letzten  grofs- 
artigen  Ausgestaltung  durch  Philistion  das  jüngste,  grofse,  grie- 
chische Drama  ist. 

Wie  der  Mimus  innerlich  und  in  seiner  ganzen  Form  und 
Art  mit  dem  klassischen  Drama  gebrochen  hat,  so  hat  er  es 
auch  äufserlich  gethan  in  allem,  was  seine  Darsteller,  seine  Dar- 
stellung auf  der  Bühne  und  seine  Bühne  selber  angeht.  So 
fremdartig  uns  die  Aufführung  eines  antiken  klassischen  Dramas 
mit  den  seltsamen,  unförmlichen  Masken,  den  hohen  Kothurnen, 
den  wunderlichen  Prunkgewändern  der  Schauspieler  anmuten 
würde,  so  leicht  würden  wir  uns  in  das  lebenswahre,  lebendige 
Spiel  der  Mimen  hineinfinden. 

Schon  das  Fehlen  der  Masken  scheidet  das  Aussehen  wie  das 
Spiel  des  Mimen  streng  von  dem  der  Schauspieler  des  klassischen 
Dramas.    Wie   beim   modernen   Schauspieler   kam    es   bei    dem 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        599 

Mimen  wesentlich  auf  das  Mienenspiel  an J).  Eine  der  wichtigsten 
mimischen  Typen,  der  Sannio,  hat  davon  den  Namen').  Auch 
Quintilian  spricht  von  den  burlesken  Grimassen  der  Mimen  (vgl. 
oben  S.  75,  Anm.  3).  Die  Narren  im  Mimus  waren  jedenfalls 
Meister  im  Grimassenschneiden;  der  Mime  Vitalis  rühmt  sich 
des  lebhaften  Mienenspieles,  mit  dem  er  seine  Mitmenschen  zu 
kopieren  versteht8).     Im  niederen  mimischen  Paegnion  bei  dem 


i)  Vgl.  darüber  oben  S.  527  u.  528. 

*)  Ich  erinnere  an  Ciceros  Beschreibung  des  Sannio:  ore  vultu  denique 
corpore  ridetur  ipso  (de  oratore  11,61);  TgL  auch  Nonius  p.  67,2:  sanniones 
dicuntur  a  sannis  [  sanna  die  Grimasse)  qui  sunt  in  dictis  fatui  et  in  motibus  et 
in  schemis,  quos  moros  vocant  graeci.  Ganz  recht,  es  ist  eben  der  uwoo;  (fctiaxoög 
im  Mimus,  der  grimassierende  Narr. 

3)  Gaudebam  temper.     Quid  enim,  si  gaudia  desint, 

Hie  vagus  eye  fallax  utile  mundus  habet? 

Me  viso  rabidi  subito  cecidere  furores, 

ridebat  summus  me  veniente  dolor. 

Non  lieuit  quemquam  mordaeibus  urere  curis, 

Nee  rerum  incerta  mobilitate  trahi. 

Vincebat  eunetos  praesentia  nostra  timores 

Et  mecum  felix  quaelibet  hora  fiüt. 

Motibus  ae  dictis,  tragica  quoque  voce  plaeebam 

Exhüarans  variis  tristia  corda  modis. 

Fingebam  vultus,  habitus  ae  verba  loquentum, 

Ut  plures  uno  erederes  ore  loqui. 

Ipse  etiam,  quem  nostra  oeulis  geminabat  imago, 

Morruit,  in  vultu  se  magis  esse  meo. 

0  quoties,  imitata  meo  se  femina  gestu 

Vidit  et  erubuit  totaque  mota  fuit! 

Ergo  quot  in  nostro  videantur  corpore  formae; 

Tot  mecum  raptas  abstulit  atra  dies. 

Quo  vos  iam  tristi  turbatus  deprecor  ore* 

Qui  titulum  legitis  cum  pietate  meiern, 

0  quam  laetus  eras,  Yitalisl  diäte  rnoesti! 

Sint  tibi,  Vitalis,  sint  tibi  laeta  modo! 

Meyer,  Anthol.  II,  p.  89,  Nr.  1173. 
Die  fehlenden  vier  Anfangsverse  siehe  oben  S.  158,  Anm.  3. 

Also  Vitalis  rühmt  an  seiner  mimischen  Kunst  besonders  sein  Mienen- 
spiel.   Er  gehört  nicht  zu  einer  Mimengesellschaft,  sondern  ist  ein  einzelner 


600  Sechstes  Kapitel. 

Nachahmen  von  Kutschern,  Marktschreiern  und  dergleichen  war 
das  Mienenspiel  jedenfalls  die  Hauptsache. 

Ganz  wie  die  modernen  Mimen  haben  die  antiken  eine 
grofse  Kunstfertigkeit  in  der  Anwendung  der  mannigfaltigsten 
Schminken  besessen:  das  sind  die  „vielfarbigen  Pigmente",  die 
zum  Apparat  des  Mimen  nach  Sidonius  Apollinaris  gehören. 

Der  Mime  verschmähte  jeden  Theaterschuh,  Kothurn  wie 
Soccus;  er  ging  entweder  barfufs  —  wie  man  es  in  den  niederen 
Ständen  im  Altertum  vielfach  that  —  oder  er  trug  zu  der  Klei- 
dung des  gewöhnlichen  Lebens  auch  das  gewöhnliche  Schuhwerk 
wie  der  moderne  Schauspieler4). 


Biologe  und  Ethologe,  wie  die  waren,  welche  einst  Sophrons,  Theokrits  oder 
Herondas'  Mimen  mit  wechselnder  Stimme  vortrugen.  Vitalis  begleitet  den 
Vortrag  seiner  mimischen  Paegnia  nun  noch  mit  lebhaftem  Gebärdenspiel 
und  weifs  dabei  zugleich  die  Stimme  so  geschickt  zu  ändern,  dafs  man 
mehrere  Personen  zu  hören  glaubt.  Dabei  erlaubt  er  sich  den  Spafs, 
während  seines  mimischen  Vortrages  Gesicht  und  Haltung  bekannter  Per- 
sönlichkeiten nachzuäffen  und  diese  Kopien  waren  so  gelungen,  dafs  die 
Originale,  ob  Mann  oder  Weib  —  denn  der  Mime  gab  in  seinem  Paegnion 
ja  auch  Weiberrollen,  man  erinnere  sich  z.  B.  an  Theokrits  Zauberinnen 
oder  die  Weiber  am  Adonisfeste  oder  an  Herondas'  Eifersüchtige  — ,  nicht 
selten  heftig  darüber  erschraken.  Für  die  andern  Zuhörer  war  das  natür- 
lich ein  grofses  Gaudium.  Ich  will  hier  an  eine  gewöhnliche  Spezies  der 
Varietes  erinnern,  den  Mimiker,  der  die  Gesichter  berühmter  Männer,  — 
man  kann  verlangen,  welche  man  will  —  nachmacht,  bald  ist  er  Napoleon, 
bald  der  alte  Fritz,  dann  wieder  Kaiser  Friedrich,  gelegentlich  wohl  auch 
eine  stadtbekannte  Persönlichkeit  und  so  fort.  Wenn  Vitalis  von  tragischer 
Stimme  redet,  so  haben  wir  das  auf  mythologische  Mimen  zu  beziehen. 
Lustig  ist  das  Selbstbewufstsein,  mit  der  Vitalis  von  seiner  mimischen  Kunst 
redet,  die  ihn  zum  reichen  Manne  gemacht  hat.  Er  will  die  Wertschätzung 
des  grofsen  mimischen  Dramas  auch  für  seine  Kunststücke  beanspruchen. 
Die  ersten  acht  Verse  sehen  fast  wie  eine  Paraphrase  des  Lobes  aus,  das 
Cassiodor  dem  Mimus  erteilt:  mundum  curis  edacibus  aestuantem  laetissimis 
sententiis  temperare.     Vgl.  oben  S.  144,  Anm.  2. 

4)  Donat.  fragm.  de  com.  planipedia  autem  dicta  ob:  .  .  .  vilitatem  actor, 
qui  non  coturno  aut  socco  nituntur  in  caena  aut  pulpito  sed  piano  pede.  Seneca 
epist.  VIII,  8,  9  nennt  die  Mimen  excakeati.  Vgl.  oben  73,  Anm.  1.  Festus  s.  v. 
Ricinium  spricht  von  mimi  planipedes.  Auch  findet  sich  planipes  öfters.  Da- 
her stammt  der  lateinische  Ausdruck  für  den  mimus:  planipes  bei  Diomedes 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        601 

Überall  stellt  der  Mime  eben  als  Biologe  die  Wirklichkeit 
möglichst  getreu  dar.  Darum  werden  auch  im  Mimus  wie  im 
modernen  Schauspiel  die  Frauenrollen  durch  Miminnen  gegeben. 
Der  Mime  duldet,  wie  wir  sahen,  neben  sich  die  Mimin,  wie 
ursprünglich  der  Gaukler  die  Gauklerin  neben  sich  geduldet 
hatte,  und  auch  der  moderne  Schauspieler  konnte  sich  mit 
einem  Weibe,  das  durch  sein  Auftreten  zur  Ehrlosen  wird,  auf 
der  Bühne  sehen  lassen,  weil  er  ursprünglich  auch  nur  ein 
Gaukler  war,  und  von  jeher  mit  dem  Gaukler  die  Gauklerin 
gewandert  und  mit  ihm  aufgetreten  war.  Dafs  diese  Einrichtung 
eine  geradezu  revolutionäre  ist  im  Verhältnis  zur  klassischen 
Bühnen  auf  führung  und  zu  dem  Standesbewufstsein  der  Tragöden 
und  Komöden,  haben  wir  schon  hervorgehoben:  sie  ist  eben  durch 
und  durch  modern. 

Ich  habe  schon  gezeigt,  dafs  das  mimische  Drama  ganz  im 
Gegensatz  zum  klassischen  eine  grofse  Zahl  von  Mitspielenden 
gleichzeitig  auf  der  Bühne  vereinigte.  Aufserdem  aber  scheint 
jeder  Mime  ganz  wie  der  moderne  Bühnenkünstler  und  im 
Gegensatz  zu  dem  antik -klassischen  Schauspieler  immer  nur  in 
einer  Rolle  aufgetreten  zu  sein.  So  mufste  denn  eine  grofse  und 
vollständige  Mimentruppe  über  ein  ungemein  reiches  Personal 
verfügen.  Auf  dem  Denkmal,  das  dem  Archimimen  L.  Acilius 
Eutyches  im  Jahre  169  n.  Chr.  von  seiner  Mimengesellschaft  zu 
Bovillae,  wo  er  Decurio  war,  gesetzt  worden  ist,  finden  sich  auf  der 
rechten  Seite  und  ebenso  auf  der  linken  je  dreifsig  Schauspieler 
namentlich  aufgeführt1).  Also  im  ganzen  sechzig  Angehörige 
einer  Mimengesellschaft.  Nun  werden  hier  wohl  die  Musiker, 
Theaterdiener  und  dergleichen  mit  aufgeführt  sein,  andererseits 
fehlen  aber  die  Miminnen,  und  wir  dürfen  kaum  zweifeln,  dafs 
die  Schauspielerinnen  nicht  weniger  zahlreich  waren  als  die 
Schauspieler.  Da  gab  es  Archimiminnen  und  gewöhnliche 
Miminnen,  und  auch  hier  wird  es  wohl  wie  bei  den  männlichen 


(a.  a.  0.  S.  490,  4),  und  nXavmiSÜQta  bei  Lydus  de  mag.  cap.  40.     Doch  ist 
das  nur  eine  Wortbildung  der  Grammatiker-  und  Gelehrtensprache. 
J)  C.  I.  L.  XIV,  2408. 


602  Sechstes  Kapitel. 

Schauspielern  Miminnen  ersten  bis  vierten  Grades  gegeben  haben. 
Die  häfsliche,  alte  Mimin,  die  sich  so  trefflich  herausgeputzt  hat, 
tritt  in  einem  grofsen  Chor  von  Miminnen  auf.  An  den  Floralien 
treten  Scharen  von  Buhlerinnen  anstatt  der  Miminnen  auf.  Von 
den  Miminnen  niederen  Grades  wird  als  von  Buhlerinnen  ge- 
sprochen, die  zahlreich  in  den  Zellen  des  Cirkus  zugleich  ihr 
gemeines  Gewerbe  üben1).  In  der  That  erscheinen  ja  auch  im 
Mimus  zugleich  vornehme  Damen,  sowie  geringe  Frauen,  trunk- 
süchtige alte  Weiber,  Ammen,  Kupplerinnen2),  Mägde,  alte  und 
junge  auf  der  Bühne. 

Aufserdem  traten  im  Mimus  auch  häufig  Kinder  auf.  Schon 
bei  Sophron  kommt  ein  kleines  Kind  vor3);  desgleichen  bei 
Theokrit  in  den  Adoniazusen  und  bei  Herondas  findet  sich  ein 
Knabe  im  Schulmeistermimus  und  ein  kleines  Mädchen  im 
„ Fastenfrühstück ".  Zahlreich  scheinen  die  kleinen  Schauspieler 
in  der  Atellane  gewesen  zu  sein,  die  hier  wie  überhaupt  dem 
gleichzeitigen  Mimus  entspricht.  Ich  erinnere  an  den  Bucculo  d.  h. 
den  kleinen  Bucco  des  Novius.  Zahlreich  finden  sich  diese  kleinen 
Mimen  auch  auf  den  oft  erwähnten  Atellanendarstellungen  aus 
der  frühesten  römischen  Kaiserzeit. 

Solche  Kinder  gehörten  also  mit  zur  Truppe.  Das  ist  ver- 
ständlich genug.    Die  Mimen,  die  nach  Choricius  vielfältig  ver- 


*)  Eine  solche  niedere  Mimin  ist  zum  Beispiel,  wie  wir  sahen,  die  Mime 
Theodora;  denn  ihr  fehlte,  was  eine  Mime  ersten  Ranges,  wie  Choricius 
hervorhebt,  besitzen  mufs,  die  schöne  Stimme.  Doch  gehörte  sie  andererseits 
auch  nicht  zu  den  allergeringsten  Miminnen,  Statistinnen  oder  Tänzerinnen, 
welche  die  Bühne  füllten,  da  sie  durch  ihre  Witze  und  ihr  niederes  Wesen 
und  die  lustige  Art,  mit  der  sie  Maulschellen  hinnahm,  den  Beifall  des 
Volkes  erhielt.    (Vgl.  darüber  oben  S.  175.) 

2)  Diese  zahlreichen  Typen  alter  Weiber  im  Mimus  ermöglichten  es 
den  talentierten  Miminnen  bis  ins  höchste  Alter  auf  der  Bühne  zu  bleiben; 
sie  gingen  von  den  Rollen  jugendlicher  Liebhaberinnen  allmählich  zu  denen 
der  alten  Hexen  über.  So  berichtet  Plinius,  n.  h.  VII,  48,  von  einer  Mime 
Lucceia,  die  noch  im  Alter  von  100  Jahren  im  Mimus  auftrat,  und  die  Mime 
(emboliaria)  Galeria  Copiola,  die  unter  dem  Konsulat  des  alten  Marius  und 
des  Carbo  im  Jahre  88  zum  ersten  Male  aufgetreten  war,  erschien  noch 
unter  Kaiser  Augustus  104  Jahre  alt  wieder  auf  der  Bühne. 

3)  Nach  der  Bemerkung  bei  Choricius  a.  a.  0.  §  III,  10. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.      .  603 

heiratet  und  Familienväter  waren,  brachten  ihre  Kleinen  bei 
Zeiten  auf  die  Bretter,  damit  sie  sich  schon  früh  an  den  Beruf 
der  Eltern  gewöhnten  und  mimische  Fertigkeit  gewannen.  Für 
den  Mimographen  aber  waren  diese  kleinen  Mimen  sehr  geeignet, 
die  Realität  seiner  Lebensbilder  zu  erhöhen,  die  sich  so  gerne 
gerade  mit  dem  intimsten  Familienleben  befafsten.  Ich  erinnere 
an  Mimentitel  wie  „Der  Vormund"  oder  an  des  Laberius  „Hoch- 
zeit", „Geburtstag",  „Der  Ephebe",  „Die  Jungfrau",  „Die 
Schwestern".  Kurz  und  gut,  das  Personal  einer  Mimenbühne  war, 
was  weibliche  und  männliche  Schauspieler  aller  Grade  angeht, 
nicht  weniger  zahlreich  als  das  eines  grofsen  modernen  Theaters. 

Wie  bei  den  modernen  Schauspielern  bestand  die  Verfassung 
der  antiken  Mimen  in  der  Prinzipalschaft,  die  sich  bei  beiden, 
wie  wir  sahen,  aus  der  Verfassung  der  alten  Gaukler  heraus 
entwickelt.  Der  Prinzipal,  der  Archimime,  war  der  Unter- 
nehmer1). 

Der  Mime  ist  ein  durch  und  durch  moderner  Schauspieler, 
und  es  ist  sehr  thöricht,  sich  den  vornehmen  Mimen,  der  den 
Gipfel  der  mimischen  Kunst  erklommen  hat,  als  einen  gewöhn- 
lichen Spafsmacher  und  Possenreifser  zu  denken.  Ausdrücklich 
mahnt  Choricius,  man  möchte  doch  nicht  immer  nur  der  niederen 
Mimen  gedenken,  sondern  auch  der  vornehmen  Künstler,  die  von 
ihrer  schönen  Kunst  ein  fürstliches  Einkommen  genössen,  die 
ehrsame  Hausväter  wären,  einen  ehrbaren  und  vornehmen  Haus- 
stand führten  und  Weib  und  Kind  besäfsen.  Ja,  Johannes  Chry- 
sostomus,  der  Feind  des  Mimus  und  der  Mimen,  klagt  voller 
Empörung,  dafs  man  die  grofsen  Mimen  wie  Gesandte  in  den 
Städten    aufnähme2).     Wir   hören   von    berühmten    Mimen,    die 


')  Ich  kann  hier  die  Verfassung  der  Mimengesellschaften  nicht  bis  ins 
einzelne  hinein  darlegen,  das  wird  in  einem  besonderen  Anhange  am  Ende 
des  II.  Bandes  geschehen,  wo  ich  alle  Inschriften,  die  ich  gesammelt  habe, 
vorlegen  werde.  Es  sind  leider  vorwiegend  römische  und  nur  ein  paar 
griechische  von  ganz  geringem  Umfange  darunter.  Auf  einer  Inschrift  aus 
Ägypten  von  der  Nilinsel  Philae  befindet  sich  sogar  nur  der  Name  'Apaqiuv 
ptpos  (Corp.  Inscr.  graec.  Boekh.  III,  Nr.  4908). 

»)  Vgl.  oben  S.  157. 


604  Sechstes  Kapitel. 

einen  ehrenvollen  Ruf  an  das  kaiserliche  Theater  in  Rom  er- 
halten; hören  von  fürstlichen  Gagen,  von  intimen  Beziehungen 
der  Mimen  zu  Imperatoren,  Königen  und  Kaisern1). 

Wie  preist  Choricius  die  Kunst  der  Mimen,  ihr  Mienenspiel, 
ihren  Vortrag,  ihren  Gesang,  ihren  Tanz.  Ich  habe  die  Begeiste- 
rung, welche  das  Publikum  damals  für  grofse  Mimen  empfand,  wie 
es  sie  mit  hohen  Gehältern,  mit  reichen  Geschenken,  mit  prunk- 
vollen Standbildern  ehrte,  wie  es  ihren  Tod  als  eine  öffentliche 
Kalamität  betrauerte,  ausführlich  geschildert2).  Kurz  und  gut, 
die  vornehmen  mimischen  Schauspieler  waren  an  Einkommen, 
Ansehen  und  Ehre  gewifs  nicht  schlechter  gestellt  als  ein  be- 
rühmter Mime  moderner  Zeiten  und  auch  ihre  Kunst  wie  ihr 
Kunstbewufstsein  waren  nicht  geringer3).  Selbst  das  moderne 
Unwesen  der  CIaqueure  fand  sich  im  alten  Mimus,  und  die 
Mimen  waren,  wenn  sie  nicht  ausgezischt  werden  wollten,  ge- 
zwungen, eine  zahlreiche  Claque  zu  halten,  die  klatschte,  ihnen 
Ovationen  bereitete  und  durch  ehrenvolle  Zurufe  ihren  Beifall 
bezeugte4). 

Wie  Mimus  und  Mimen  im  strengen  Gegensatz  zum  alten 
klassischen  Schauspiele   und  Schauspieler    stehen,    so   hat   auch 


a)  Vgl.  oben  S.  182  folg. 

2)  Die  einzelnen  Nachweise  siehe  oben  S.  156 — 181. 

3)  Ich  erinnere  an  das  Beispiel  der  Arbuscula.  Vgl.  oben  S.  61, 
S.  159. 

4)  Dafür  finde  ich  ein  Zeugnis  bei  Ammianus  Marcellinus  XXVIII,  32,  33 : 
Unde  si  ad  theatralem  ventum  fuerit  vilitatem,  —  ich  erinnere  an  des  Euanthius 
und  Donat  „mimica  vilitas"  Vgl.  oben  S.  50.  51.  600.  —  artißces  scaenarii  per 
sibilos  exploduntur,  siquis  sibi  aere  humiliorern  non  conciliaverit  plebem.  qui  si 
defuerit  strepitus,  ad  imitationem  Tauricae  gentis  peregrinos  vociferantur  pelli  debere 
—  quorum  subsidiis  semper  nisi  sunt  ac  steterunt  —  et  taetris  vocibus  et  absurdis, 
quae  longe  abhorrent  a  studiis  et  voluntate  veteris  illius  plebis,  cuius  multa  facete 
dicta  memoria  loquitur  et  venusta.  Id  enim  nunc  repertum  est  pro  sonitu  laudum 
inpensiore  per  applicatos  homines  ad  plodendum,  ut  in  omni  spectaculo,  exodiario  .  . 
et  histrionum  generi  omni .  .  .  clametur  adsidue  'per  te  ille  discat'  quid  autem  debeat 
disci  nemo  sufficit  explanare.  Exodiarius  ist  der  Mime  als  Spieler  des  heitern 
Nachspiels,  des  exodiums.  Vgl.  Plut.  Crass.  33,  Pelop.  34,  Schol.  Juv.  III,  175, 
Cicero  Epp.  IV,  16. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        605 

die  Mimenbühne  ursprünglich  nichts  mit  der  klassischen  Bühne 
und  dem  grofsen  Dionysostheater  zu  thun.  Dem  Mimen  gebührt 
von  seinem  Ahn,  dem  Gaukler  her,  die  Gaukelbühne,  auf  der 
auch  die  Wiege  unseres  modernen  Dramas  stand. 

Die  primitive  Bühne  der  Gaukler  sehen  wir  öfters  auf  den 
Phlyakendarstellungen  bei  Heydemann.  Bethe  hat  dieser  so- 
genannten Phlyakenbühne  das  dreizehnte  Kapitel  seiner  Prolego- 
mena  gewidmet  und  ihre  Gestalt  eingehend  besprochen.  Sie  ist 
nichts  weiter  als  ein  Bretterboden,  der  auf  etwa  einen  Meter 
hohen,  in  die  Erde  getriebenen  Pfählen  ruht,  vorne  befindet  sich 
meistens  eine  schmale  Treppe,  auf  welcher  der  Schauspieler  das 
Gerüst  ersteigt.  Wiederholt  hat  man  sich  bei  dieser  primitiven 
Bühne  an  das  Gerüst  unserer  heutigen  Gaukler,  Marktschreier 
und  Bänkelsänger  erinnert  (vgl.  auch  Bethe,  Prolegomena  S.  80). 
Nicht  mit  Unrecht!  Aber  die  Bühne,  welche  der  alte  griechische 
Jongleur  sich  herzustellen  gewohnt  war,  dürfte  ihr  vielleicht 
ähnlicher  gewesen  sein. 

Plato  gedenkt  dieser  Bühne  als  einer  gewöhnlichen  Er- 
scheinung des  alltäglichen  Lebens.  Ihre  Gestalt  wird  ersichtlich 
aus  dem  berühmten  Gleichnis  im  Staate  von  den  Gefangenen, 
die  sich  in  der  dunklen  Höhle  befinden,  vor  deren  Eingang  in 
weiter  Entfernung  ein  mächtiges  Feuer  brennt.  Hören  wir  Plato 
selbst:  »Zwischen  dem  Feuer  aber  und  den  Gefangenen  befindet 
sich  oben  ein  Weg,  und  an  diesem,  stelle  dir  vor,  ist  eine  Art 
Mauer  aufgeführt,  wie  sich  zwischen  den  Zuschauern  jene  Ver- 
zäunung  befindet,  oberhalb  welcher  die  Gaukler  ihre  Vorstellungen 
geben.  Stelle  dir  demnach  auch  vor,  dafs  an  dieser  Mauer  ent- 
lang Leute  mancherlei  Geräte  tragen,  welche  über  die  Mauer 
hinaufreichen,  und  auch  Bildsäulen  von  Menschen  und  sonstigen 
steinernen  und  hölzernen  Tieren."  —  Da  es  nun  heifst,  die 
Gaukler  spielten  oberhalb  der  Verzäunung1),  so  mufs  diese  einen 
Bretterboden    getragen   haben,    der    dann    natürlich    auch    nach 


*)  Innvtü  ödov,  nag  rjv  ldk  Tf/^tov  naqojxoSojxrijxivov,  (Santo  roTg  &ccv- 
fJLaianoioig  noo  tüv  av&ownwv  ngöxfacti  ia  naQa(fQäyfiata,  vnko  tov  ra  &av- 
ftunt  duxvvaaiv. 


606  Sechstes  Kapitel. 

hinten  zu  auf  Pfählen  ruhte.  Dieses  Gerüst  kann  nicht  viel 
höher  als  einen  Meter  gewesen  sein,  denn  die  Bildsäulen,  welche 
daran  vorübergetragen  wurden,  reichen  selbst  mit  ihren  Füfsen 
über  die  Bühne.  Den  Leuten  in  der  dunklen  Höhle,  die  vor 
allem  nur  die  Schatten  sehen,  scheint  es  dann  so,  als  ob  diese 
Dinge  auf  der  Bühne  vorüberziehen.  Die  Ähnlichkeit  mit  der 
Phlyakenbühne  ist  nicht  zu  verkennen,  auch  deren  Vorderseite 
ist  ein  Paraphragma,  das  seinen  Zweck,  das  Publikum  fernzu- 
halten, erfüllt;  auch  sie  ist  etwa  einen  Meter  hoch  und  mit  einem 
Bretterboden  versehen,  auf  welchem  die  Mimen  spielen.  —  Im 
Grunde  ist  diese  Gaukelbühne  nichts  weiter,  als  ein  etwas  grofser 
und  klotziger  Tisch,  von  dem  aus  der  Gaukler  dem  Publikum 
besser  sichtbar  ist.  Auf  einer  etruskischen  Bronce  sehen  wir 
einen  Gaukler  auf  einem  solchen  Tisch,  auf  welchem  er  einen 
Gaukeltanz  aufführt1).  Auch  wurde  schon  oben  S.  518  eine 
Gauklerin  erwähnt,  die  auf  einem  Tische  ihre  Gaukeleien  voll- 
führt. Ein  ähnliches  Gerüst  befindet  sich  auf  einer  Gemme,  die 
bei  Caylus,  rec.  d'ant.  I  3,  3  abgebildet  ist.  Zwei  Gaukler  mit 
spitzen  Mützen  führen  auf  ihm  einen  seltsamen  Tanz  auf,  während 
ein  Flötenspieler  dazu  bläst.  Das  Ganze  befindet  sich  in  einem 
Boote,  welches,  von  einem  Fährmanne  geleitet,  einen  Strom 
hinabgleitet;  es  ist  wohl  der  Nil,  wie  die  Pelikane  am  Rande 
der  Gemme  andeuten.  Schon  Jahn  hat  dieses  Gerüst  für  eine 
Art  Gauklerbühne  gehalten,  während  Caylus  es  noch  für  ein 
Verdeck  des  Bootes  ansah.    . 

So  hat  es  seit  alter  Zeit  eine  Gauklerbühne  gegeben.    Als 


x)  Babelon  et  Blanchet,  Catalogue  des  Bronzes  antiques  de  la  Biblio- 
teque  nationale  1899  in  ,  dem  Abschnitt  „acteurs",  Nr.  958  (S.  423— 424): 
Danseur  nu,  debout  sur  une  table.  II  est  imberbe;  ses  cheveux  sont  arrangit 
en  petites  meches  frisees  sur  le  front  et  sur  le  cou;  sa  töte  est  surmontee  cL'une 
couronne  plate,  tressee.  Les  bras,  allongh  en  croix,  sont  ornes  de  bracelets;  la 
main  gauche  tient  une  sorte  de  cylix  h  pied  large  et  eleve.  Ses  pieds  sont  chausses 
de  sandales  ä  bouts  releve's  et  munies  d'une  languette  au  dessus  des  talons  (calcei 
repandi);  le  pied  droit  seul  pose  ä  terre;  la  jambe  gauche,  ployee  et  relevte,  parait 
exCcuter  un  pas  de  danse.  Les  trois  pie.ds  de  la  table  sont  ineurvds  et 
riunis  p  ar  une  traverse  en  forme  de  T.  Bon  style  etrusque;  patine  verte, 
rugueuse. 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       607 

der  Gaukler  zum  Mimen  wurde,  hat  er  seine  alte  Bühne,  wie  so 
vieles  andere  von  seinem  früheren  Gauklerwesen,    beibehalten1). 

Der  italische  Mime,  der  Phlyake  spielt  durchaus  nur  auf 
der  alten  Gaukelbühne.  Auch  in  späterer  Zeit,  als  der  Mimus 
schon  auf  das  grofse  Theater  des  Dionysos  gehörte,  haben 
die  niederen  Mimentruppen,  die  nach  Art  unserer  Schmieren  aus 
einer  kleinen  Stadt  in  die  andere,  aus  einem  Dorf  ins  andere  zogen, 
sicherlich  diese  primitive,  mit  ein  paar  Brettern  und  Pfählen  so 
bequem  herzustellende  Bühne  beibehalten. 

Der  Übergang  von  der  Gaukelbühne  zur  grofsen  Bühne  hat 
sich  beim  Mimus  nur  sehr  langsam  vollzogen.  Ursprünglich 
wurde  dem  Mimen  in  der  Orchestra  vor  der  grofsen  Bühne 
ein  kleines  Gerüst,  eine  Art  Gaukelbühne  errichtet,  auf  der 
er  in  den  Zwischenakten  mimte  *).  Derartige  Intermezzos 
nannte  man  Embolium,  und  die  darin  auftretenden  Mimen  em- 
boliarii  und  emboliariae3);  auch  hier  findet  sich  von  vorn- 
herein zum  Mimen  die  Mimin.  Allmählich  stieg  dann  der 
Mimus  auf  die  grofse  Bühne,  und  während  ursprünglich  die 
Atellane  nach  den   klassischen  Schauspielen  als  Nachspiel  (ex- 


')  Bethe  hat  sich  bemüht,  die  römische  Bohne  von  der  mimischen  her- 
zuleiten. Dieser  Versuch  scheint  ebenso  glücklich  als  geistreich  zu  sein, 
wenngleich  vorläufig  ja  nur  die  Möglichkeit  oder  besser  gesagt,  die  innere 
Wahrscheinlichkeit  dieser  Hypothese  einleuchtet.  Auch  Zielinski  hat  sich 
in  seiner  Rezension,  Berliner  Wochenschrift  für  klassische  Philologie  (9.  Sept. 
1896)  der  Warscheinlichkeit  dieser  Hypothese  nicht  verschlossen.  Da  nun 
auch  Dörpfeld  und  Reisch  (Das  griechische  Theater  S.  327)  den  Zusammen- 
hang zwischen  dem  römischen  Theater  und  der  Phlyakenbühne  nachweisen, 
liegt  hier  wohl  eine  wissenschaftlich  gesicherte  Thatsache  vor.  Jedenfalls 
eröffnen  sich  so  noch  weitere  Perspektiven,  und  im  letzten  Grunde  würde 
danach  die  römische  Bühne  auf  das  Gerüst  des  griechischen  Jongleurs 
zurückgehen. 

2)  Vgl.  Diomedes  III,  Keil,  Gr.  L.  I,  p.  490:  Olim  tum  in  tuggestu 
scenae  sed  in  piano  orchestrae  positis  instrumentis  actitabant  und  Festus 
pag.  326  0.  M.:  solebant  hit  prodire  mimi  in  orchestra,  dum  in  scena  actus 
fabulae  componerentur  cum  gestibus  obscaenis. 

8)  Vgl.  Cicero  Sest.  54, 116.  Bei  Plinius,  n.  h.  VII,  48  kommt  die  Em- 
boliaria  Galeria  Copiola  vor;  desgleichen  finden  sich  im  C.  I.  L.  wiederholt 
emboliarii. 


608  Sechstes  Kapitel. 

odium)  aufgeführt  wurde,  trat  seit  Ciceros  Zeit  der  Mimus  an 
deren  Stelle1).  Schliefslich  trennte  sich  der  Mimus  mehr  und 
mehr  von  den  klassischen  Aufführungen  und  wurde  immer  selb- 
ständiger2). An  den  Floralien  wurden  schon  sehr  früh  allein 
Mimen  aufgeführt.  In  der  Kaiserzeit  trat  der  Mimus  auch  sonst 
selbständig  auf  dem  grofsen  Theater  auf,  und  allmählich  ver- 
drängte er  dann  Komödie  und  Tragödie  von  ihrer  angestammten 
Bühne  und  ward  auf  ihr  neben  dem  Pantomimus  Allein- 
herrscher. 

Aber  selbst  da  blieb  noch  ein  deutliches  Zeichen  dafür  er- 
halten, dafs  er  von  rechtswegen  nicht  dahin  gehörte.  Wenn  die 
Mimen  auftraten,  wurde  vor  den  prächtigen  Hintergrund,  der 
für  Tragödie  oder  Komödie  bestimmt  war,  das  Siparium  vor- 
gezogen ;  das  war  ein  grofser  Vorhang  in  Form  einer  Art  Gardine, 
die  den  hinteren  Teil  der  Bühne  von  dem  vorderen,  auf  dem  die 
Mimen  auftraten,  schied.  Hinter  dieser  Gardine  standen  die 
Mimen,  und  an  wen  die  Reihe  des  Auftretens  kam,  der  schlug 
den  Vorhang  in  der  Mitte  auseinander  und  trat  hervor3),  hinter 
ihm  aber  ging  die  Gardine  wieder  zusammen. 


!)  Vgl.  oben  S.  604,  Anm.  4  und  S.  62. 

2)  Dafür  ein  eigentümliches,  allerdings  sehr  verworrenes  Zeugnis  aus 
Sueton  bei  Diomedes  1.  III,  Keil,  Gr.  L.  I,  p.  491,  492:  primis  autem  temporibus, 
sie  uti  adserit  Tranquillus,  omnia  quae  in  scena  versantur  in  comoedia  agebantur.  nam 
et  pantomimus  et  pyihaules  et  choraules  in  comoedia  canebant.  sed  quia  nön  poterant 
omnia  simul  apud  omnes  artißces  pariter  excellere,  siqui  erant  inter  actores  comoe- 
diarum  pro  facultate  et  arte  potiores,  prineipatum  sibi  artißcii  vindicabant.  sie 
factum  est  ut  nolentibus  cedere  mimis  in  artificio  suo  ceteris  separatio  fieret  re- 
liquorum.  nam  dum  potiores  inferioribus,  qui  in  communi  ergasterio  erant,  servire 
dedignantur,  se  ipsos  a  comoedia  separaverunt,  ac  sie  factum  est  ut  exemplo  semel 
sumpto  unusquisque  artis  suae  rem  exequi  coeperit  neque  in  comoediam  venire. 

3)  Zu  Juvenal  VIII,  186  Vocem,  Damasippe,  locasti  sipario  bemerkt  der 
Scholiast:  siparium  velum  sub  quo  latent  paradoxi  (das  sind  die  Mimen) 
cum  in  scenam  prodeunt,  aut  ostium  mimi.  Zu  vergleichen  ist  auch  Donat, 
De  Comoedia  bei  Kaibel,  Com.  graec.  Fragm.  S.  71  (Leo):  siparia  aetas 
posterior  aeeepit  est  autem  mimicum  velum,  quod  populo  obstitit  dum  fabularum  actus 
commutantur.  Sonst  wird  das  Siparium  noch  bei  Cicero  und  Seneca  erwähnt. 
Vgl.  oben  S.  64  u.  S.  73,  Anm.  1. 


Form  and  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        609 

Als  Petronius  unter  Kaiser  Valens  im  Jahre  365  einen 
Putschversuch  machte,  erschien  er  plötzlich  vor  den  Soldaten, 
blafs  wie  ein  Gespenst,  im  prächtigen,  goldgestickten  kaiserlichen 
Ornate,  dem  allerdings  mancherlei  mangelte,  mit  den  purpurnen 
Schuhen,  in  der  linken  Hand  eine  Lanze  mit  einem  purpurnen 
Fähnlein.  So  taucht,  meint  Ammianus  Marcellinus,  plötzlich 
auf  der  Bühne  im  Mimus  eine  seltsam  prächtige  Erscheinung 
hinter  dem  Vorhange  auf). 

Dieses  Siparium  war  für  den  Mimus  so  typisch,  dafs  Juvenal 
wie  Seneca  für  Mimus  einfach  Siparium  setzen2).  So  entbehrte 
der  Mimus  einer  bemalten  Hinterwand.  Im  Mimus  ist  nichts 
von  Scenenmalerei,  nichts,  was  wie  im  vornehmen  Drama  an 
unsere  Kulissen  erinnern  könnte.  Doch  gab  es  natürlich  sonst 
allerhand  Requisiten.  Chrysostomus  nennt  ausdrücklich  das 
Sopha,  bekannt  ist  auch  der  grofse  Kasten  im  Ehebruchs- 
stück3). So  wird  also  die  Wohnstube  durch  allerhand  Möbel 
und  häusliche  Geräte  angedeutet  sein,  die  Kneipe  durch  Bank 
und  Tisch,  desgleichen  wird  man  das  Gerichtslokal  mit  allerhand 
besonderen  Requisiten  ausgestattet  haben. 


*)  Amm.  XXVI,  6,  15:  Stetit  Uaque  subtabidus  —  excitum  putares  ab  inferis 
—  nusquam  reperto  paludamento,  tunica  auro  distincta  ut  regius  minister,  indutus 
a  calce  in  pubem  in  paedagogiani  pueri  speciem,  purpureis  opertus  tegminibus  pedum, 
hastatusque  purpureum  itidem  pannulum  laeva  manu  gestabat,  ut  in  theatrali  scaena 
simulacrum  quoddam  insigne  per  aulaeum  vel  mimicam  cavillationem  subito 
putares  emersnm.  Solin  gebraucht  diesen  Ausdruck  gleichfalls  für  das  ein- 
fache Mimus:  hie  primum  inventa  est  comoedia  hie  et  cavillatio  mimica  in  scaena 
stetit.  Collect.  V,  13  (p.  50  Momms.  ed.  2).  aulaeum,  das  allgemeine  Wort 
für  Vorhang,  ist  hier  für  das  speziellere  siparium  gebraucht,  denn  es 
handelt  sich  zweifellos  um  den  Mimus.  Das  „simulacrum  insigne"  schreitet 
durch  das  Siparium  hindurch  (per  aulaeum),  denn  dieses  ist  „ostium  mimi", 
„Eingang  des  Mimus".  Die  „prächtige  Erscheinung"  ist  wohl  ein  Gott  oder 
sonst  ein  überirdisches  Wesen,  wir  haben  an  den  mythologischen  Mimus 
zu  denken.  In  simulacrum  liegt  der  Begriff  des  Geisterhaften.  Es  ist  auch 
eben  erst  von  den  inferi  die  Rede.  Zugleich  haben  wir  hier  wieder  ein 
neues  Zeugnis  für  die  Pracht,  mit  der  gelegentlich  die  Mimen  auftraten. 

2)  Vgl.  oben  S.  73,  Anm.  1,  und  S.  148,  Anm.  3. 

»)  Vgl.  oben  S.  90  u.  503;  S.  120,  Anm.  5. 

Bei  eh,   Mimus.  qq 


610  Sechstes  Kapitel. 

Ursprünglich  ist  diese  höchst  einfache  Art  der  Inscenierung 
daraus  hervorgegangen,  dafs  der  Mimus  auf  dem  primitiven,  auf 
vier  Pfählen  aufgebauten  Bretterboden,  der  seine  Bühne  be- 
deutete, keine  bessere  ins  Werk  setzen  konnte.  Als  er  dann 
später  sich  durch  das  Siparium  den  neugierigen  Blicken  der 
Zuschauer  vor  dem  Auftreten  entzog,  war  dieser  Vorhang  einer 
weiteren  Ausstattung  der  Scene  auch  nicht  förderlich,  und  so 
behielt  man  die  alte  primitive  Art  der  Aufführung  bei  und  ver- 
liefs  sich  auf  die  Phantasie  der  Zuschauer. 

Ursprünglich  war  das  nur  Not,  aber  daraus  wurde  für  das 
grofse  mimische  Stück  eine  Tugend.  Wir  haben  darauf  hin- 
gewiesen, wie  in  diesem  blitzschnell  die  Scenen  wechseln  und  in 
bunter  Reihenfolge  an  uns  vorüberziehen,  wie  wir  uns  bald  an 
diesem,  bald  an  jenem  Ort  befinden,  weil  uns  der  Mimus  ge- 
legentlich vom  Himmel  durch  die  Welt  zur  Hölle  führt.  Der 
Mimus  sagt  eben  einfach,  jetzt  sind  wir  hier,  jetzt  sind  wir  da, 
damit  war  der  Scenenwechsel  vollzogen,  und  derselbe  Tisch, 
dasselbe  Sopha  und  derselbe  Kasten,  die  vorher  das  Wohn- 
zimmer andeuteten,  bezeichneten  nun  wieder  das  Innere  einer 
Kneipe  u.  s.  w.  Vor  allem  aber  brachte  dieser  Mangel  an  In- 
scenierung es  mit  sich,  dafs  der  Mimus  sich  nicht,  wie  die  andern 
dramatischen  Stücke,  vor  dem  Hause  und  Palast,  sondern  ganz 
realistisch-biologisch,  wie  es  sich  gehört,  ebenso  gut  auch  inner- 
halb des  Hauses  abspielt.  Die  Familienscenen,  die  Kneipenscenen, 
die  Ehebruchsscenen  spielen  eben  drinnen;  das  Sopha  und  der 
Kasten  standen  doch  gewifs  nicht  auf  der  Strafse,  Genesius 
liegt  erkrankt  bei  sich  zu  Hause  im  Bette  und  Priester  und 
Exorcisten  stehen  dort  um  ihn  herum.  Also  auch  hier  wieder 
ein  völliger  Bruch  des  Volksdramas  mit  den  Gewohnheiten  des 
klassischen  Dramas. 

Es  ist  eben  alles  ähnlich  wie  im  Shakespearischen  Drama, 
das  sich  gleichfalls  im  grofsen  und  ganzen  ohne  Kulissen  behilft, 
wo  von  Scenenmalerei  kaum  die  Rede  ist  und  gelegentlich,  um 
eine  Gegend  zu  bezeichnen,  statt  eines  Bildes  eine  Tafel  mit 
ihrem  Namen  ausgehängt  wurde.  „Ein  Tisch  mit  Feder  und 
Tinte   machte    aus    der  Bühne    ein  Geschäftslokal;    zwei  Stühle 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.       Q\] 

statt  des  Tisches  bedeuteten  eine  Schenkstube,  ein  vorgeschobenes 
Bett  ein  Schlafzimmer" '). 

Überhaupt  entspricht  die  Bühne  der  englischen  Komödianten 
völlig  der  Gaukelbühne  des  Mimus.  Besonders  lehrreich  ist  hier 
eine  Innenansicht  des  Schwantheaters,  die  Gaedertz  nach  der 
Federzeichnung  eines  holländischen  Kanonikus  Johannes  de  Witt 
(vermutlich  aus  dem  Jahre  1596)  herausgab*). 

Da  ist  die  Bühne  einfach  ein  grofser  viereckiger  Bretter- 
boden, der,  genau  wie  bei  der  Phlyakenbühne.  vorne  auf  zwei 
Pfählen  ruht.  Auf  der  hintersten  Seite  allerdings  sind  nicht 
mehr  zwei  Pfähle  die  Stützen.  Dort  ist  an  den  Bretterboden, 
weil  es  schon  ein  stehendes  Theater  ist,  ein  grofser  Anbau  für 
die  Schauspieler  angebaut.  Wie  bei  der  Phlyakenbühne  hatte 
diese  Bretterplattform  etwa  Brusthöhe. 

Sogar  von  dem  Siparium  ist  noch  ein  Rest  erhalten,  das 
ist  der  Vorhang,  der  die  hintere  kleine  Bühne  von  der  vorderen 
grofsen  scheidet.  Er  war  wie  das  Siparium  eine  zweiteilige 
Gardine,  vor  welcher  wie  vor  dem  Siparium,  wenn  die  hintere 
Bühne  verhüllt  war,  gespielt  wurde  und  hinter  welcher  die 
Schauspieler  auf  die  eigentliche  Bühne,  wie  die  Mimen  hinter 
dem  Siparium  hervortraten.  So  sehen  wir  auf  einer  alten  Ab- 
bildung (aus  dem  Jahre  1662)  des  „Red  Bull  Theatre"  den 
Hintergrund  der  Bühne  gröfstenteils  von  dem  zweiteiligen  Vor- 
hange eingenommen.  Vor  diesem  spielen  auf  der  viereckigen, 
nach  vorn  weit  ausladenden,  auf  den  übrigen  drei  Seiten  völlig 
freien  Bühne  sechs  Schauspieler;  der  siebente  schlägt  eben  die 
Gardine    auseinander   und   will  hinter  ihr  hervor  auf  die  Scene 


*)  Ulrici,  Shakespeares  dramatische  Kunst  I3,  S.  127.  Vgl.  auch  Delius, 
Über  das  Englische  Theaterwesen  zu  Shakespeares  Zeit;  ein  Vortrag.  Bremen 
1853,  S.  11  folg. 

•)  Zur  Kenntnis  der  altenglischen  Bühne.  Bremen  1888.  Vgl.  a.  a.  0. 
S.  14:  „Die  Plattform  scheint  nach  den  Dimensionen  des  ganzen  Baues 
und  nach  der  Gröfse  der  drei  agierenden  Personen  etwa  vier  Fufs  über  dem 
Erdboden  sich  zu  erheben,  sodafs  das  Auditorium,  welches  hier  stehend  zu- 
schaute, nicht  allzuviel  die  Bretter,  welche  die  Welt  bedeuten,  überragte, 
ein  grofser  erwachsener  Mensch  ungefähr  bis  zur  Brusthöhe*. 

39* 


612  Sechstes  Kapitel. 

treten1).     Da  haben  wir  das   mimicum  velum   sub   quo   latent 
paradoxi 2). 

Es  ist  bekannt,  welche  grofse  Rolle  im  altenglischen  Volks- 
drama und  besonders  im  Shakespeareschen  Schauspiel  Musik 
und  Tanz  einnehmen.  Häufig  genug  schauen  wir  bei  Shakespeare 
Tänzen  zu  und  hören  Musik.  Nicht  anders  im  Mimus.  Die  mannig- 
faltigen Arien  im  Mimus  wurden  stets  mit  Musik  begleitet,  mit 
den  Tänzen  wird  es  ebenso  gewesen  sein.  Neben  den  Mimoden 
und  Mimodinnen  stand  stets  ein  Musiker,  der  ihnen  aufspielte3); 
bald  ertönten  Flöten,  bald  auch  Pauken  und  Cymbeln.  Mimaule 
hiefs  der  Mimenflötner.  In  einem  Epigramm  wird  der  Flöten- 
bläser Theon  als  Musiker  im  Mimus  und  bei  den  Vorstellungen 
der  Thymeliker  gerühmt4).     Der  Mime,  dessen  Märtyrertod  im 

*)  Siehe  die  Abbildung  bei  Kudolph  Genee,  Shakespeares  Leben  und 
Werke.    Hildburghausen  1872.    S.  77. 

2)  Allerdings  ist  dieses  Siparium  auf  der  englischen  Bühne  nur  ge- 
legentlich im  Gebrauch  gewesen,  es  ist  eben  nur  noch  ein  Rudiment;  denn 
seinen  Zweck,  die  Mimen  vor  ihrem  Auftreten  den  Blicken  der  Zuschauer 
zu  entziehen,  erfüllte  ja  auf  der  stehenden  englischen  Bühne  schon  die  Wand 
des  Schauspielhauses,  aedes  mimorum,  wie  es  de  Witt  auf  seiner  Zeichnung 
nennt. 

3)  So  heifst  es,  Ath.  621b,  vom  Hilaroden:  ipüXXei  ö'  ai/rai  uqqtjv  rj  &r]Xua, 
<ag  xal  tqi  avX(i)S(o  und  vom  Magoden:  rv/xnava  e%ei  xal  xv{xßaXa. 

4)  'HSvXov 

Tovio  Q£wv  6  fiovavXog  vif  r)qCov  6  yXvxvg  olxel 

avXrjTrjs,  fiC/nwv  xr)v  &V[X  4X tjOl  ^«pi?. 

TvcfXog  vnai  yr\q(ag  ofycoxs,  ZxiqtiüXov  vl6g, 

vrjncov  ov  y'  IxäXu  JExtonaXog  EvnaXa/xov, 

xväa(v(ov  ccvtoi  Ta  yeve'&Xia'  tovto  ycto  efye, 

rdv  naXafidv  ägSTav  aloifia  ar\fxavi(av. 

HvXei  de  rXavxrjg  fiifxs&vafxiva  nalyvta  Movoimv, 

xal  tov  iv  dxorßoig  BärruXov  TjdunÖTrjV, 

rj  tov  KcoraXov,  r)  tov  üäyxaXov    dXXa  &4wva 

tov  xaXafiavXriTTjV  elnaTe,  xa'Qs  ö^wv. 

Anth.  Pal.  III,  S.  110. 
Was  die  Thymeliker  betrifft,  will  ich  hier  auf  die  vortreffliche  von  Erich 
Bethe  angeregte  und  ihm  zugeeignete  Dissertation  von  Frei  hinweisen:  „De 
certaminibus  thymelicis"  sowie  auf  Bethes  Abhandlung:  „Thymeliker  und 
Skeniker".  Hermes  36,  1901 ,  S.  597  folg.  In  dem  Anhange  des  zweiten 
Bandes    über    die   Verfassung   der   Mimentruppen   werde   ich    Veranlassung 


Form  und  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        613 

Jahre  287  die  Stadt  Antinous  in  Ägypten  so  sehr  betrübte, 
war  neben  seiner  Kunst  als  Mime  zugleich  ein  guter  Musiker, 
natürlich  im  Mimus  (vgl.  oben  S.  179), 

Claudian  schildert  in  dem  sechsten  griechischen  Epigramm 
eine  Mime.  Das  häfsliche  alte  Weib  hat  sich  wunderlich  heraus- 
geputzt, das  graue  Haar  aus  dem  Gesichte  fortgekämmt  und 
rote  Schminke  aufgelegt  und  nun  tanzt  sie,  die  Brüste  ordent- 
lich aufgepolstert,  im  leichten  Röckchen  mit  unter  den  Miminnen 
und  schlägt  mitjauchzend  lustig  ihre  Castagnetten  aneinander1). 
Es  wird  zwar  vom  Chor  gesprochen,  aber  es  ist  natürlich  nicht 
etwa  an  einen  Chor  im  Stile  des  klassischen  Dramas  zu  denken. 
Ich  habe  schon  oben  der  Scharen  von  niederen  Miminnen  ge- 
dacht, welche  die  Bühne  erfüllten,  sie  hatten  vor  allem  zum 
Schalle  der  Musik  lustige  Tänze  aufzuführen;  wie  man  im 
modernen  Drama  oder  der  Oper  gelegentlich  ein  Ballet  einlegt. 
Die  alte  Mime  bei  Claudian  gehörte  eben  zum  Corps  de  ballet. 

Wie  im  modernen  Schauspiel  mögen  diese  Ballettänzerinnen 
im  mythologischen  Mimus  als  Genien,  Nymphen,  Hören  oder 
sonst  etwas  erschienen  sein  und  in  den  biologischen  Mimen, 
wo  so  vielfältige  Feste,  Hochzeiten,  Gelage  vorgeführt  werden, 
war  gleichfalls  die  Einlage  eines  lustigen  Tanzes  motiviert. 
Zwischen  diesen  mehr  phantastischen  und  üppigen  Tänzen  wird 
es  dann  aber  noch  allerhand  Charakter-  und  Grotesktänze  von 
Seiten    der  Narren  und  Rüpel    gegeben   haben    wie  bei  Shake- 


haben,  auch  auf  diese  Fragen  vom  Standpunkte  des  Mimus  aus  einzugehen. 
—  Wir  haben  oben  S.  303  schon  darauf  hingewiesen,  dafs  die  Paegnia  der 
Glauke  mimische  Paegnia,  Mimodien,  waren. 

x)    Eis  fii/uäSa  yt}Q(iaaaav  xal  xaXXaTH^Ofxfvrjv  ryoxrv  aXtufou{vr,v 
ra  riöv  ywa$xdv  uuyyavtiuaitt. 
Ma^Xag  tvxooici).oKJiv  ävtväCovOa  ;fop«fa«s, 
Msvya  7ia).).ouhoioi  uväyuaai  %aXxov  uoäaatt. 
Ij  ulv  imoxXimsiv  noXir]v  rp(ya,  yttxova  AIol^s 
i\lt[xüjois  [<5'\  axrTat  xagclaotTctt  ouuajog  aiyr\. 
ipfvdöutvov  6'  ?Qi&T)/*a  xatiyQaxptv  a^Qoos  alöovg, 
uyXaiij  ar(\paaa  v6&tj  xixalvuuivu  utlrj. 

Ludwich,  Eudociae  Augustae,  Prodi  Lycii,  Claudiani 
carminum  graecorum  reliquiae  S.  178. 


614  Sechstes  Kapitel. 

speare,  verlangt  doch  Choricius  die  Ausbildung  im  Tanze  von 
allen  Mimen.  Ausdrücklich  wird  der  Tanz  für  den  Mimus  auch 
bezeugt  durch  Dio  Chrysostomus  *). 

So  zeigt  denn  die  alte  Mimenbühne  dieselbe  Einfachheit 
wie  das  moderne  Volkstheater.  Nur  ein  Luxus  ist  auf  der 
mimischen  Bühne  von  den  oben  bezeichneten  Personen,  dem 
Liebhaber,  dem  cultus  adulter  und  dann  besonders  von  den 
schönen  Miminnen  getrieben  worden:  sie  glänzten  gerne  in 
Prunkgewändern.  Ganz  derselbe  Kleiderluxus  hat  bei  den  eng- 
lischen Komödianten  im  Gegensatz  zur  Dürftigkeit  ihrer  Scene 
geherrscht;  und  wenn  der  Philosoph  Diogenes  sein  Purpur- 
gewand und  den  goldenen  Kranz,  den  Ehrenlohn  seines  Königs, 
an  eine  Mimin  wegschenkt,  so  borgten  nach  der  Restauration 
König  Jacob  und  seine  Kavaliere  den  Komödianten  ihre  Krönungs- 
kleider2). 

Da  wir  nun  genug  neues  Material  zusammengetragen  haben, 
um  wenigstens  eine  annähernde  Vorstellung  haben  zu  können 
von  dem,  was  der  Mimus  in  seiner  höchsten  Vollendung  wirklich 
ist,  müssen  wir  den  Hellenismus  auch  hier  preisen  und  verehren, 
wo  man  ihn  so  schnöde  und  so  schmählich  verkannt  hat.  Da 
der  hohe,  ideale  Ernst  der  reinen,  strengen  Tragik  nicht  mehr 
eine  Statt  hatte  auf  dieser  Welt,  setzte  das  griechische  Volk 
den  göttlichen  Humor  an  deren  Stelle,  den  Humor,  der  auch  in 
dem  modernen  Drama  seit  Shakespeare  die  gröfste  Rolle  spielt, 
und  setzte  an  die  Stelle  der  mythischen  die  biologische  Welt- 
betrachtung, die  gleichfalls  im  modernen  Drama  die  herrschende 
geworden  ist.  Der  Mimus,  der  es  verstanden  hat,  realistische 
Biologie  mit  übermütiger  Phantastik,  Humor  mit  Ernst,  Niedriges 
mit  Erhabenem,  Narrheit  mit  Weisheit,  Narren  und  Rüpel  mit 
Kaisern  und  Göttern,  Prosa  mit  Lyrik,  Volkssprache  mit  höchster 


x)  Er  fährt  unmittelbar  an  der  oben  S.  570,  Anm.  3  citierten  Stelle,  wo 
er  von  Mimen  in  Vers  und  Prosa  spricht,  weiter  fort:  op/qff«?  T*  kqos  rov- 
tois  xaraXvtiv  dasXyeTg,  xal  ff^jj^uara  fraiqixä  yvvaixwv  Iv  OQx^Otaiv,  dxoXd- 
otois,  ttvXt]fxüx(av  ts  cj-sts  xal  nuQavöfiovs  qvd-fxovg  x.  t.  X.  Hier  haben  wir 
also  auch  wieder  die  Flötenmusik  im  Mimus. 

2)  Vgl.  Elze,  William  Shakespeare,  S.  264  u.  Shakespeare.  Jahrb.  IV,  148. 


Form  nnd  Art  der  mimischen  Hypothese  auf  ihrem  Höhepunkte.        615 

Kunstsprache  zu  vereinen,  er  fand  die  freieren  Formen  der  dra- 
matischen Dichtung  wie  der  schauspielerischen  Darstellung,  in 
denen  sich  fortan  auch  das  moderne  Drama  bis  und  seit  Shake- 
speare bewegt  hat,  soweit  es  ein  Volksdrama  und  ein  Drama 
des  lebendigen  Lebens  ist.  Der  Mimus  ist  in  seiner  höchsten 
Vollendung  am  Beginne  der  christlichen  Ära  das  grofse  moderne 
Drama  der  Antike,  das  Drama  des  griechisch-römischen  Welt- 
reichs, das  mit  seiner  Biologie  dem  damaligen  Leben  in  der 
grofsen  griechisch-römischen  Kulturwelt  gerecht  wurde.  So 
können  wir  auch  die  dämonische  Anziehungskraft  des  Mimus 
verstehen  und  begreifen,  wie  es  möglich  war,  über  ihm  Aeschylos 
und  Sophokles,  Euripides  und  Menander  zu  vergessen.  Auch 
hier  ist  schliefslich ,  recht  verstanden,  die  Weltgeschichte  das 
Weltgericht  gewesen. 


SIEBENTES  KAPITEL. 


Karagöz. 

(Der  Mimus  im  Orient.) 


Motto:     Mit  Aufmerksamkeit  betrachte  dieses  Himmelsgewölbe 

Diese  Welt  ist  dem  Schatten  ähnlich  für  Kenner. 

Was  man  äufserlich  sieht,  ist  ein  Vorhang, 

Aber  es  ist  eine  Allegorie  auf  die  Welt. 

Wähne  nicht,  dieser  Vorhang  bestehe  lediglich,  aus 
Schattenbildern, 

Wenn  man  ihn  in  Wahrheit  betrachtet,  ist  er  der  Platz 
lehrreichen  Exempels. 

Die  zeitlichen  Vorgänge  zeigt  der  Vorhang, 

Was  alles  gekommen  und  vorübergezogen  ist  in  ver- 
gangener Zeit. 

Diese  elende  Welt  ist  keinem  zum  dauernden  Aufenthalt 
beschieden, 

Ohne  Dauer  hat  geschaffen  die  Majestät,  welche  man 
um  Beistand  anfleht. 

Alle,  die  kommen,  gehen  wieder,  bis  die  Vernichtung 
eintritt. 

Was  man  sieht,  ist  Schatten  im  Schatten. 

Das  ist  von  Gott  unser  bescheidenes  Gebet. 

(Prolog  zu  Schejtan  dolaby  ja^od  Karagözün  dschindschiliji. 
Die  Teufelslist  oder  die  Geisterbannerei  des  Karagöz.  Jacob.) 

I. 

Die  modernen  Nachrichten  Über  Karagöz. 

Wir  haben  gesehen,  wie  der  Mimus  in  seiner  eigent- 
lichen Heimat,  im  griechischen  Osten,  sich  immer  behauptet 
und  weiter  geblüht  hat  wie  nur  je  in  den  Tagen  seines  alten 
Glanzes,  zur  Zeit  Alexanders  und  der  Diadochen  und  zu  Phi- 
listions Zeit.    Ich   will  die  einzelnen  Momente  noch  einmal  hier 


Die  modernen  Nachrichten  üher  Karagöz.  617 

kurz    zusammenfassen.      Ich    erinnere   an   den    Christ ologischen 
Mimus: 

275  starb  der  Mime  Porphyrius  als  Märtyrer, 

279      „       „       „      Gelasinus  in  Heliupolis, 

284      „       „       „      Philemon  in  Antinous, 

298      „       „       „      Ardalio, 

362      „       „    zweite  Porphyrius  in  Konstantinopel. 

Am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  schleudert  Johannes  Chry- 
sostomus  seine  Invektiven  gegen  den  in  Pracht  und  Herrlichkeit  zu 
Antiochia  und  Konstantinopel  blühenden  Mimus.  Der  Mimus  nimmt 
an  den  kirchlichen  Streitigkeiten  Anteil,  und  wie  Chrysostomus 
selbst  berichtet,  werden  seine  Gegner,  die  Bischöfe  Severianus 
und  Antiochus,  auf  der  mimischen  Bühne  verhöhnt,  zweifellos 
aber  Chrysostomus,  der  Feind  des  Mimus,  in  noch  höherem 
Grade.  Andere  Kirchenväter,  wie  ein  Bischof  von  Ephesus  und 
wie  Dioscoros,  der  Patriarch  von  Alexandria,  waren  dem  Mimus 
geneigt  (vgl.  oben  S.  154).  Im  fünften  Jahrhundert  peroriert 
des  Chrysostomus  Schüler,  der  Asket  Nilus,  gegen  den  über- 
mächtigen Mimus.  Am  Beginne  des  sechsten  Jahrhunderts  nimmt 
sich  dann  Choricius  des  Mimus  mit  der  gröfsten  Energie  an. 
Wir  lernen  von  ihm,  wie  der  Mimus  damals  wie  in  den  früheren 
Zeiten  die  grofse  Bühne  beherrscht  und  den  Beifall  des  Volkes 
wie  der  Gebildeten  hat.  So  geht  es  in  Byzanz  weiter  durch  die 
Jahrhunderte  hin.  Theophilus,  der  letzte  der  bilderstürmenden 
Kaiser  (822—849)  ward  durch  die  Mimen  an  Recht  und  Ge- 
rechtigkeit gemahnt  (vgl.  oben  S.  191).  Noch  Michael  Psellos 
(elftes  Jahrhundert)  tadelt  seine  Studenten  wegen  ihres  gar  zu 
grofsen  Eifers  für  den  Mimus,  der  sie  das  Colleg  schwänzen 
läfst  (vgl.  oben  S.  153),  und  ärgert  sich  über  seinen  Schwieger- 
sohn, der  trotz  seiner  hohen  Stellung  mit  den  Mimen  lebt 
(vgl.  oben  S.  166),  Prodromus  (zwölftes  Jahrhundert)  heifst 
voller  Zornes  die  Gelahrtheit  sich  zum  Teufel  scheren,  da 
sie  nur  Not  und  Armut  bringt.  Nur  die  Mimen  gewinnen 
Geld  und  Ehre  (S.  162  u.  163).  Zonaras  (Anfang  des  zwölften 
Jahrhunderts)    berichtet    von    Mimen,    die    auf   dem    grofsen 


61g  Siebentes  Kapitel. 

Theater  aufgeführt  wurden,  also  von  Hypothesen  (S.  134 folg.). 
Desgleichen  spricht  Manuel  Philes  (um  1300)  von  den  Mimen, 
die  im  Theater  vorgeführt  werden  (S.  135).  Vergessen  habe 
ich  noch  den  byzantinischen  Prokonsul  Theodorus,  der  dem  ver- 
storbenen Mimologen  Tityros  Ehre  und  Ansehen  auch  in  der 
Unterwelt  verspricht  (S.  156). 

Also  der  Mimus  hat  in  Byzanz  bis  ans  Ende  des  Mittel- 
alters geblüht.  Dieser  byzantinische  Mimus,  der  das  aktuelle 
byzantinische  Leben  kritisierte  und  illustrierte,  der,  wie  er 
einst  die  Christen  verhöhnt  hatte,  später  an  allen  christlichen 
und  kirchlichen  Streitigkeiten  teilnahm,  der  sich  nicht  scheute, 
Mönche  und  Nonnen  vorzuführen,  der  aber  ebenso  auch  alle 
die  zahlreichen  Typen  und  Figuren  verschiedener  profaner  Stände 
und  Berufe,  Nationen  und  Rassen,  die  sich  auf  dem  völker- 
wimmelnden Bazar  des  hellenischen  Byzanz,  wie  heute  -  des 
türkischen  Stambul  drängten,  mimisch  abkonterfeite  —  so  ist 
uns  z.  B.  der  Araber  und  der  Armenier  als  Typus  des  byzan- 
tinischen Mimus  direkt  überliefert  (vgl.  S.  134,  Anm.  4)  — , 
dieser  byzantinische  Mimus  schilderte  wie  der  hellenische  über- 
haupt die  Gegenwart.  So  bildete  er  einen  bedeutsamen  Gegen- 
satz zur  byzantinischen  Gelehrsamkeit,  Theologie,  Philosophie, 
Philologie,  die  wesentlich  nur  in  der  Vergangenheit  lebte. 
Aber  als  den  Klassiker  des  Mimus  nannte  man  durch  alle 
diese  Jahrhunderte  hin  doch  immer  Philistion,  der  schliefs- 
lich  als  der  wahre  Weise  und  Philosoph  galt.  Wie  viel  würde 
uns  dieser  byzantinische  Mimus  von  der  damaligen  Kultur  und 
dem  damaligen  Volksleben  lehren;  um  so  bedauerlicher  ist,  dafs 
wir  aufser  den  Nachrichten  bei  Choricius  nichts  Näheres  über 
ihn  erfahren.  Doch  wie  der  Mimus  in  der  alexandrinischen 
Epoche  sich  ins  Lateinische  umgewandelt  hat,  so  hat  er  gegen 
das  Ende  der  byzantinischen  Ära  noch  einmal  eine  höchst  selt- 
same Metamorphose  mit  sich  vorgenommen.  In  dieser  Meta- 
morphose hat  er  sich  bis  auf  unsere  Tage  erhalten,  und  in  ihr 
werden  wir  seiner  noch  heute  habhaft. 

Im  islamischen  Oriente,  vornehmlich  bei  den  Türken,  giebt 
es    ein   merkwürdiges  Puppenspiel  „Karagöz",    das   erst  in  den 


Die  modernen  Nachrichten  über  Karagöz.  619 

letzten  Decennien    näher   bekannt   geworden  ist1).    Man  hat  es 
mit  unserem  Kasperletheater,  auch  mit  der  Commedia  dell'  arte, 

J)  Allerdings  berichtet  darüber  im  17.  Jahrhundert  schon  der  fran- 
zösische Reisende  Thevenot,  wie  Jacob,  Karagözkomödien,  1.  Heft,  S.  IV,  be- 
merkt (der  VI.  Jahresbericht  der  geographischen  Gesellschaft  zu  Greifswald 
1896  war  mir  nicht  zugänglich).  Ich  setze  diese  Stelle  aus  der  deutschen  Über- 
setzung des  Thevenotschen  Reiseberichtes  (Frankfurt  a.  M.  1693)  Erstes  Buch, 
S.  48  u.  49,  hierher:  „Es  deucht  mich,  dass  ich  mit  unter  ihre  Ergötzlich- 
keiten die  Marionetten  oder  Gaucklers-Püppgen  rechnen  könne,  denn  obwol 
die  Türeken  gantz  keine  Bilder  bey  ihnen  leyden,  so  unterlassen  sie  doch 
nicht  solche  Puppen  zu  haben,  mit  denen  sie  zwar  nicht  öffentlich  spielen, 
aber  doch  besonders  in  Häusern,  ob  sie  schon  in  wehrenden  Ramadan  die  Nacht 
von  einer  Cahvehane  zu  der  andern  gehen,  und  wenn  sie  daselbst  viel  Geld 
bekommen,  damit  agiren,  wo  nicht,  dasselbe  wieder  geben  und  davon  gehen. 
Es  seynd  gemeiniglich  Juden,  die  diese  Marionetten  auff führen,  und  ich  habe 
keine  andere  gesehen,  alleine  sie  gepaaren  darmit  gantz  anders  als  in  Franck- 
reich;  Sie  setzen  sich  in  der  Cammer  in  einem  Winckel,  und  nach  dem  sie 
einen  Teppich  vor  sich  gezogen  haben,  in  welchem  oben  ein  Durchschnitt 
oder  viereckigt  Loch,  mit  einem  Stück  weisser  Leinwad  ohngefehr  2.  Schuch 
vermacht  ist,  zünden  sie  darhinder  viel  Lichter  an,  und  wann  sie  auf  diesem 
Tuche  mit  dem  Schatten  ihrer  Hände  unterschiedene  Thiere  vorgestellet 
haben,  so  brauchen  sie  kleine  schlechte  Bilder,  die  hinter  solcher  Leinwad 
von  ihnen  so  artig  bewegt  werden,  dass  dieses,  meinen  Erachten  nach,  eine 
bessere  Vorstellung  giebt  als  die  unsere,  und  singen  immittelst  allerhand 
Lieder  in  Türckischer  und  Persianischer  Sprache,  derer  Inhalt  aber  mit  sehr 
unflätigen  und  unerbaren  Schand-Possen  angefüllet  ist,  und  dennoch  haben 
sie  grosse  Lust  dieselbe  mit  anzusehen,  wie  mich  denn  ein  Abgefallener, 
bey  dem  ich  eines  Abends  zu  Tische  war,  mit  dergleichen  Puppenspiel  rega- 
liret.  Der  Herr,  dem  er  zustünde,  war  damaln  in  Candia  bey  dem  Hussein 
Bassa,  Generain  der  Türckischen  Armee.  Desselben  Frau,  welche  auch  Theil 
an  der  Erlustigung  dieser  Puppen  haben  wolte,  liefs  einen  Teppich  vor  die 
Thür  ihres  Zimmers,  das  dem  Saale,  wo  wir  uns  auffhielten,  gegen  über  lag, 
ziehen,  damit  sie  nicht  von  uns  gesehen  werden  möchte  und  gieng  nicht  ehe 
weg,  biss  das  Spiel  seine  Endschafft  hatte,  welches  dann,  weiln  es  über  drey 
gantzer  Stunden  gewehret,  umb  1.  Uhr  Nach-Mitternacht  geschähe.  Dann 
sie  können  es  so  lang  verschieben  als  sie  wollen;  und  ich  wunderte  mich, 
dass  die  Frau  sich  nicht  geschämet  hatte  diese  Unflätereyen  mit  anzusehen, 
die  ihr  Caragheuz,  die  Principal-Person  unter  diesen  Poppen  machte."  Aus- 
führliche Berichte  und  Abhandlungen  über  das  Karagözspiel  finden  sich  aber 
erst  sehr  viel  später: 

1854    bei  Rolland,  La  Turquie  contemporaine. 
1862    bei  Gerard  de  Nerval,  Voyage  en  Orient. 


620  Siebentes  Kapitel. 

ja,  selbst  mit  den  burlesken  Scenen  der  aristophanischen  Komödie 
verglichen  und  sich  Karagöz,  dem  türkischen  Lustigmacher,  gegen- 
über an  Harlekin  und  Pulcinell,  Scapin  und  Turlupin,  an  Kasperle 
und  auch  an  den  ungarischen  Paprika -Jancsi  erinnert.  Nur 
steht  unser  Kasperlespiel  auf  einer  niedrigeren  Stufe  wie  die 
islamische  Puppenkomödie,  die  in  ihren  besten  Leistungen  der 
italienischen  Commedia  dell'  arte  nicht  viel  nachgiebt. 

Im  Fastenmonat  Ramasan,  in  dem  die  Mohammedaner  den 
Tag  verschlafen  und  die  Nacht  zum  Tage  machen,  finden  in  den 
Städten  des  türkischen  Reichs  Karagözaufführungen  statt1).    Schon 


1870    bei  von  Maltzan,   Reise   in  den   Regentschaften   Tunis   und   Tripolis 

Bd.  I,  S.  232-238. 
1882    bei  Jean  Lux,  Trois  mois  en  Tunisie. 
1884    bei  Paul  Arene,  Vingt  jours  en  Tunisie. 

1888  bei  Champfleury,  Histoire  de  la  Caricature  6,  S.  1 — 116,  wo  sämtliche 
französische  Quellen  über  Karagöz  sorgfältig  zusammengestellt  sind. 
Eine  eindringende,  wissenschaftliche,  auf  gelehrter  Kenntnis  des 
Türkischen  und  Arabischen  basierende  Erforschung  des  Karagöz  ward 
erst  in  der  letzten  Zeit  durch  Künos,  von  Luschan  und  Jacob  begonnen. 

1886  veröffentlichte  Künos  unter  dem  Titel  Haran  Karagös  Tätek  den  Text 
dreier  Karagözstücke  mit  ungarischer  Übersetzung.    • 

1887  Künos,  Über  türkische  Schattenspiele  („Karagös").  Ungarische  Revue, 
VII.  Jahrgang  S.  425—435. 

1889  von  Luschan,  Das  türkische  Schattenspiel,  Internationales  Archiv  für 
Ethnologie  Bd.  II,  S.  1—9,  81—90,  125-143. 

1892    Künos,   Ethnologische  Mitteilungen  aus  Ungarn,  Bd.  II,   S.  148—158. 

Text  und  Übersetzung  des  Salyndschak  ojunu. 
1899    Jacob,    Karagöz -Komödien,    Heft  I  „mit  einer  (sehr  gelehrten   und 

scharfsinnigen)  Einleitung  über  das  islamische  Schattenspiel  versehen", 

—  Heft  II  —  Heft  III. 

Erwähnen  will  ich  noch  Quedenfeld,  Das  türkische  Schattenspiel  im 
Magrib.     Ausland,  Jahrgang  63  (1890),  S.  904ff. 

Vornehmlich  folge  ich  hier  Jacob,  von  Luschan  und  Künos,  wenn  ich 
auch  mit  Vorsicht  hier  und  da  die  Berichte  der  Reisenden,  die  des  Türki- 
schen und  Arabischen  garnicht  oder  nicht  vollkommen  mächtig  waren,  inso- 
fern ich  sie  durch  die  Untersuchungen  der  drei  genannten  Gelehrten  be- 
stätigt gefunden  habe,  und  Champfleury  heranziehe. 

x)  Allerdings  finden  Karagözaufführungen  auch  bei  sonstigen  Festen 
und  Lustbarkeiten  statt,  so  bei  Beschneidungen  und  Hochzeiten  (vgl.  Murad 


Die  modernen  Nachrichten  über  Karagöz.  621 

an  den  Vormittagen  werden  an  den  Caf6s,  in  welchen  Vorstel- 
lungen stattfinden  sollen,  Plakate  mit  bunten  Karagözfiguren  aus- 
gehängt. Nach  Eintritt  der  Dunkelheit  beginnt  das  Schauspiel. 
Eine  Ecke  des  viereckigen  Gemachs  ist  durch  eine  spanische 
Wand  abgetrennt.  In  ihr  befindet  sich  ein  viereckiger  Ausschnitt 
(perde),  der  mit  einem  weifsen  Leinen  oder  weifsem  Ölpapier 
überspannt  ist.  Das  Innere  dieses  Verschlages  oder  Kastens,  der 
an  unsere  Kasperlebuden  erinnert,  wird  durch  eine  Öllampe 
gleichmäfsig  erhellt,  welche  die  Puppen  beleuchtet  und  ihre 
Schatten  auf  den  weifsen  Vorhang  wirft.  Drei  Personen  pflegen 
im  Räume  dieses  Kastens  zu  agieren,  der  Puppenlenker,  der 
Karagödschi  oder  Hajaldschy  (Schattenspieler)  und  zwei  Musi- 
kanten; manchmal  macht  der  Hajaldschy  die  Musik  auch  selbst1). 

Wenn  das  Spiel  beginnen  soll,  drückt  er  die  bunt  bemalten, 
aus  Kameelleder  geschnittenen,  mit  Gelenken  versehenen  Figuren3) 
gegen  den  weifsen  Vorhang.     Damit  ist  die  Scene  eröffnet. 

Die  Hauptfigur  ist  Karagöz3);  sein  Gegenspieler  ist  Ha- 
dschievad.  Aufserdem  erscheinen  vornehme  Herren,  der  Sultan 
und  Pascha,  Bankiers  und  Kaufleute,  Beamte  und  fremde  Ge- 
sandte, daneben  niederes  Volk,  Derwische  und  Pilger,  Polizisten, 
Schulmeister,  Bauern,  Höker,  Kneipwirte,  Zuhälter,  Ausrufer, 
Lastträger,  Holzhacker,  Fischer,  Eseltreiber,  Schiffer,  Ruder- 
knechte, Diebe  und  Räuber,  neben  der  verheirateten  Frau  und 
ihren  Töchtern  Mägde,  Hetären  und  Tänzerinnen.  Es  finden 
sich  Perser  und  Araber,  Griechen  und  Franken,  Lasen,  Arnauten, 
Armenier,  Juden  und  Neger.     Jede  dieser  Typen  spricht  ihren 


Efendi,  Türkische  Skizzen  S.  217,  vgl.  auch  S.  93).  Überhaupt  wird  an 
regnerischen  Winterabenden  in  den  Hafenstädten  gewöhnlich  in  irgend 
einer  Matrosenkneipe  Karagöz  gespielt  (vgl.  von  Luschan  a.  a.  0.  S.  1). 

x)  Vgl.  die  eingehende  Beschreibung  bei  von  Luschan  a.  a.  0.  S.  2—5. 

2)  Vorzügliche  Abbildungen  von  nicht  weniger  als  38  Figuren  finden 
sich  bei  von  Luschan ;  auch  bei  Champfleury  sind  mancherlei  Figuren  in  den 
Text  eingestreut;  doch  sind  dort  sogar  die  Hauptpersonen  Karagöz  und 
Hadschievad,  wie  der  Vergleich  mit  Luschan  lehrt,  verwechselt. 

3)  Schon  zur  Zeit  von  Thevenots  Reise  (1652)  war  also  die  Einrichtung 
des  Karagöz  wie  auch  der  Name  identisch. 


622  Siebentes  Kapitel. 

besonderen  Dialekt.  Auch  allerhand  Tiere  und  Ungeheuer  spielen 
mit.  Dieses  türkische  Puppenspiel  giebt  ein  getreues,  realistisch- 
humoristisches Bild  des  türkischen  und  des  orientalischen  Lebens 
überhaupt. 

In  allen  Städten  und  Plätzen  des  weiten  türkischen  Reiches 
ist  dieses  volkstümliche  Schauspiel  verbreitet,  selbst  in  Arabien, 
Ägypten,  Tunis  und  Tripolis  findet  es  sich,  natürlich  in  arabischer 
Sprache;  es  giebt  sogar  von  ihm  eine  persische  Abart1). 

Wo  stammt  dieses  burleske  Volksdrama  des  islamischen 
Orients  her,  das  eine  so  überaus  singulare  Erscheinung  ist,  da 
der  Orient  —  von  Indien  und  Indonesien,  China  und  Japan 
sehen  wir  hier  vorläufig  ab  —  eigentlich  keine  Schauspiele  hat2)? 

Schon  Champfleury  hat  sich  die  gröfste  Mühe  gegeben, 
dieses  Problem  zu  lösen.  Er  hat  sich  bei  allen  französi- 
schen Orientalisten    danach  erkundigt,    aber   das  Resultat   war 


J)  Vgl.  Chodzko,  Theätre  persan.    Paris  1878,  S.  XV  folg. 

2)  Vgl.  darüber  oben  S.  80.  Hierüber  will  ich  noch  die  treffenden  Be- 
merkungen Murad  Efendis,  dieses  so  hervorragenden  Kenners  des  Orients,  geben 
(S.  93— 94):  „Das  Drama  hat  im  ganzen  Orient  niemals  eine  Stätte  gefunden. 
Namentlich  weist  die  Literatur  der  Mohamedaner  nirgends  einen  dramatischen 
Versuch  auf.  Selbst  die  Araber,  voreinst  im  Mittelalter  die  Leuchten  der 
Bildung,  haben  diese  Dichtungsform  nie  berührt,  obschon  ihnen  die  Anregung 
hiezu  von  den  alten  Griechen  hätte  kommen  müssen.  Der  Hauptgrund  dafür 
dürfte  darin  liegen,  dass  das  Übersinnliche  den  Muselmanen  eben  näher  steht, 
als  das  rein  Menschliche.  Ihr  öffentliches,  sowie  ihr  privates  Leben,  dem 
immer  eine  gewisse  Dosis  Opium  beigemengt  scheint,  lässt  sich  überdies 
wenig  dramatisch  an.  Der  innerlich  tragische  Confiikt  ist  bei  ihnen  auf 
ein  Minimum  von  denkbaren  Fällen  beschränkt.  Ihr  „Es  ist  geschrieben" 
und  „Wenn  es  Gott  will"  ist  denn  doch  verschieden  von  dem  Fatum  der 
alten  Griechen,  das  sich  sinnlich  und  sozusagen  in  menschlicher  Gestalt 
äusserte.  Für  Mummereien  im  weiteren  Rahmen  waren  sie  zu  ernst  und 
die  Darstellung  von  Mysterien  hätte  ihr  streng  religiöser  Sinn  niemals  ge- 
stattet. So  finden  wir  bei  ihnen  nirgends  jene  Anfänge,  aus  denen  sich  die 
Bühne  der  meisten  abendländischen  Völker  entwickelt  hat,  um  sich  später, 
zumeist  nach  griechischem  Vorbild,  weiter  zu  bilden.  Und  selbst  die  Perser, 
die  hier  wie  bei  der  bildlichen  Darstellung  weiter  gehen  als  die  übrigen 
Mahomedaner,  und  die  Passionsgeschichte  Hassan's  und  Hussei'n's,  der  Söhne 
Alis,  in  der  Weise  unserer  Mysterien  darstellen,  sind  über  diese  Anfänge 
nie  hinweggekommen". 


Übergang  des  byzantinischen  Mimus  zum  Karagözspiel.  623 

negativ1).  Im  Grunde  glaubt  man  heute,  weil  das  Schatten- 
spiel in  China,  Japan,  Siam,  in  Indonesien  und  besonders  auf 
Java  heimisch  ist,  der  Karagöz  stamme  aus  Ostasien2).  Aber 
auch  hierfür  hat  sich  sonst  nicht  der  mindeste  Beweis  erbringen 
lassen.  Im  Gegenteil  macht  Jacob  geltend,  dafs  gerade  die  Ost- 
türken den  Karagöz  nicht  haben').  Das  Einfachste  wäre  es  also, 
die  Karagözspiele ,  die  humoristisch -dramatischen  Äufserungen 
des  türkischen  Volkstumes,  als  türkische  Erfindung  anzusehen. 
Dazu  scheint  Künos  zu  neigen,  wenn  man  die  Bemerkung  pressen 
darf:  „Letztere  Erscheinung  (Karagöz)  ist  hauptsächlich  deswegen 
interessant  und  bemerkenswert,  weil  kein  anderes  islamitisches 
Volk  im  Oriente  derartige,  wenn  auch  noch  so  elementare  An- 
fänge einer  dramatischen  Dichtkunst  aufzuweisen  hat"*). 
Aber  wer  möchte  eine  solche  Erfindung  vor  allen  islamitischen 
Völkern  gerade  den  in  der  Poesie  so  wenig  begabten  und  er- 
findungsreichen Türken  zutrauen? 


IL 

Übergang  des  byzantinischen  Mimus  zum  Karagözspiel. 

Für  jeden,  der  mit  uns  die  Entwicklungsgeschichte  des 
Mimus  vom  uralten,  mimischen  Tanze  her  bis  zum  alexandrini- 
schen,  griechisch-römischen  und  byzantinischen  Mimus  verfolgt 
hat,  ist  dieses  grofse  Problem  erledigt.  Der  byzantinische 
Mimus  hat  im  Reiche  der  Rhomäer  geblüht,  als  die  Türken 
es  im  Laufe  der  Jahrhunderte  allmählich  eroberten.  In  allen 
türkischen  Städten,  in  denen  heute  Karagöz  vor  dem  jubelnden 
Volke  seine  Possen  treibt,  gab  vorher  der  Mime  seine  Späfse 
zum  Besten;  in  ihnen  hat  Karagöz  einfach  den  hellenischen 
fitfiog  yeXoicov  abgelöst.  Mit  den  Schätzen  dieser  Städte  ge- 
wannen   die  Türken  auch   den  byzantinischen  Mimus,    nur   dafs 


lj  Vgl.  a.  a.  0.  S.  17. 

3)  Vgl.  von  Luschan  a.  a.  0.  S.  139—140. 

s)  Heft  I,  S.  in  und  IV. 

*)  a.  a.  O.  8.  425. 


624  Siebentes  Kapitel. 

er  bei  ihnen  türkisch  sprechen  mufste,  wie  er  vor  V/2  Jahr- 
tausenden bei  den  Römern  lateinisch  sprechen  lernte.  Der 
hellenische  Miraus  mit  seinem  mimischen  Tanz  und  seinem  Ge- 
berdenspiel machte  sich  von  vornherein  auch  den  Barbaren 
leicht  verständlich.  Und  wie  die  Mimen  einst  das  Interesse  der 
Römer  und  der  Gothen  gewannen,  so  errangen  sie  auch  den 
Beifall  der  Türken  und  ihrer  Sultane1).  Die  byzantinischen 
Mimen  hatten  Zeit  genug  dazu;  denn  jahrhundertelang  bestand 
die  türkische  Macht  neben  der  byzantinischen;  bis  endlich 
Byzanz  in  der  Türken  Gewalt  fiel  (1453).  Da  ward  Kon- 
stantinopel die  Hauptpflegestätte  des  Karagöz,  wie  es  früher  die 
des  Mimus  gewesen  war.  Bis  zu  Konstantinopels  Fall,  vielleicht 
noch  kurze  Zeit  darüber  hinaus,  existiert  der  byzantinische 
Mimus.  Im  Jahre  1652,  also  zwei  Jahrhunderte  später,  wird  uns 
durch  Thevenot  bestätigt,  dafs  es  ein  altes  Volksschauspiel, 
„Karagöz",  bei  den  Türken  gab.  Der  Karagöz  schliefst  sich  also 
unmittelbar  an  den  byzantinischen  Mimus  an;  es  klafft  dort 
keine  Lücke,  und  die  Ähnlichkeit  dieser  türkische  Fortsetzung 
des  hellenischen  Mimus  mit  ihrem  Urbilde  ist  so  aufserordent- 
lich,  dafs  wir  auch  ohne  jedes  Zeugnis  den  Zusammenhang 
zwischen  Karagöz  und  Mimus  für  gesichert  ansehen  könnten2). 


*)  So  ist  andererseits  heute  noch  der  Karagöz  mit  seinen  mimischen 
Gebärden  den  Reisenden  nicht  ganz  unverständlich,  auch  wenn  sie  wenig 
oder  garnicht  Türkisch  können. 

2)  Für  das  hohe  Alter  des  Karagöz  (zu  deutsch  „Schwarzauge")  spricht 
es  auch,  dafs  dieser  Harlekin  seinen  Namen  von  Bahü-ed-Din  Qaraqüsch, 
einem  bei  dem  grofsen  Saladin  in  höchsten  Ehren  stehenden  Staatsmanne 
hat,  der  nach  seinem  Tode  (1201)  wegen  seiner  Thätigkeit  als  höchster 
Richter  in  Ägypten  von  einem  Feinde  in  dem  „Buch  des  Hohlschädels  über 
die  Entscheidungen  des  Qaraqüsch"  verspottet  wurde.  Das  hat  Casanova 
„Karakoüch,  sa  legende  et  son  histoire"  —  Communication  faite  ä  l'Institut 
egyptien,  Le  Caire  1892  und  „Karakoüch"  —  Memoires  publies  par  les 
membres  de  la  mission  archeologique  francaise  du  Caire,  Tome  sixieme,  Paris 
1897,  S.  447  folg.  bewiesen.  Vgl.  auch  Jacob  a.  a.  0.  Heft  I,  S.  VII.  In  diesem 
Pamphlet  wurden  allerhand  alberne,  nichts  weniger  als  salomonische  Urteile 
des  Qaraqüch  aufgeführt.  Daraus  wurde  schliefslich  durch  Hinzufügung 
allerhand  lustiger  Schnurren  eine  Art  Volksbuch,   etwa   im  Stile  des  Philo- 


Übergang  des  byzantinischen  Mimus  zum  Karagözspiel.  625 

Aber  es  fehlt  selbst  nicht  einmal  dieses  direkte  Zeugnis. 
Als  Manuel  Palaeologus  an  den  Hof  des  Türkensultans  Bajazet 
als    Gesandter   kam,    fand   er    dort    Scharen    von    hellenischen 


gelos.    Das   mögen   ein   paar  von  diesen  Schnurren  erläutern,    die   ich  aus 
Casanova  S.  485 folg.  übersetze: 

Ein  kurdischer  Soldat  war  in  eine  Barke  gestiegen,  in  welcher  ein 
Landmann  mit  seiner  Frau  sich  befand,  und  schlug  die  Frau,  welche  im 
siebenten  Monat  ging,  so  roh,  dafs  sie  eine  Fehlgeburt  zur  Welt  brachte. 
Auf  die  Klage  des  Landmannes  verurteilte  Karagöz  den  Soldaten,  die  Frau 
zu  sich  zu  nehmen,  sie  zu  ernähren,  bis  sie  im  siebenten  Monat  ginge, 
und  sie  dann  dem  Gatten  wiederzugeben.  Da  sagte  der  Landmann:  „Herr, 
ich  nehme  meine  Klage  zurück  und  vertraue  mich  der  Gerechtigkeit  Gottes 
an".     Dann  nahm  er  seine  Frau  und  ging  davon. 

Zur  Zeit  des  Karagöz  war  etwas  gestohlen;  die  Besitzer  trugen  ihm 
ihre  Klage  vor,  und  er  fragte  sie,  ob  die  Strafse,  in  welcher  sie  wohnten, 
durch  ein  Thor  geschlossen  sei.  Auf  ihre  bejahende  Antwort  liefs  er  das 
Thor  zu  sich  bringen  und  befahl,  es  zu  schliefsen.  Während  man  seine  Befehle 
vollstreckte,  legte  er  sein  Ohr  an  das  Thor  und  sprach  leise  mit  ihm.  Darauf 
liefs  er  die  Bewohner  der  Strafse  kommen  und  sagte  zu  ihnen  in  Gegenwart 
des  Thores:  „Dieses  Thor  hat  mir  gesagt,  dafs  derjenige,  welcher  die  Sache 
gestohlen  hat,  eine  Feder  auf  dem  Kopfe  hat".  Der  Dieb,  welcher  dabei  war, 
führte  unwillkürlich  die  Hand  nach  dem  Kopfe.  Karagöz  sah  es  und  liefs 
ihn  prügeln,  um  von  ihm  ein  Geständnis  zu  erhalten.  Der  gestand  den 
Diebstahl  und  gab  die  gestohlene  Sache  zurück,  welche  Karagöz  ihrem 
Eigentümer  zustellen  lief?. 

Jährlich  setzte  er  für  Almosen  eine  beträchtliche  Summe  au?.  Als  die 
Summe  erschöpft  war,  kam  eine  Frau,  erzählte  ihm,  dafs  ihr  Mann  gestorben 
sei,  und  dafs  sie  kein  Leichentuch  habe,  um  ihn  zu  bedecken,  und  bat  ihn,  er 
solle  ihr  eines  geben  lassen.  „Die  Summe  ist  für  dieses  Jahr  erschöpft*,  sagte 
er,  „komme  im  nächsten  Jahre  wieder;  dann  werde  ich  dir  ein  Leichentuch 
geben  lassen."  Die  Frau  ging  verblüfft  zu  ihrem  Toten,  bedeckte  und  begrub  ihn. 

In  Misr  (Foustät)  gab  es  einen  Kaufmann,  welcher  habgierig  war,  und 
sein  Sohn  borgte  viel,  indem  er  seineu  Tod  erwartete.  Aber  die 
Schulden  wuchsen,  und  der  Vater  starb  nicht.  Der  Sohn  kam  also  mit  seinen 
Gläubigern  überein,  ihn  lebendig  zu  begraben.  Die  Gläubiger  kamen  also 
mit  ihm,  nahmen  den  Vater,  wuschen  ihn,  deckten  ihn  zu  und  legten 
ihn  auf  eine  Bahre.  Vergebens  bat  und  schrie  er.  Man  versammelte  sich 
um  seinen  Sarg  wie  zu  einem  dhikr  [einer  religiösen  Ceremonie,  bei  der 
man  viel  schreit],  schrie  um  ihn  und  betete.  Es  traf  sich,  dafs  Karagöz 
vorbeiging.  Er  steigt  (vom  Pferde)  herab,  um  xu  beten.  Der  Tote  hört  es 
und  schreit:  „Gott  sei  gelobt;  die  Befreiung  naht."  Er  richtet  sich  auf 
seinem  Platz    auf   der  Bahre    auf   und   sagt:    „Herr  Sultau,    gieb  mir  Recht 

Reich,  Mimus.  aq 


626  Siebentes  Kapitel. 

Mimen1);  sobald  diese  türkisch  sprachen,  war  aus  dem  Mimus 
der  Karagöz  geworden. 

Des  Mimen  Wahrzeichen  ist  der  Phallus.  Ihn  trägt  der  alt- 
hellenische Mime,  wie  der  alexandrinische  und  byzantinische.  Ihn 
tragen  alle  Abkömmlinge  des  Mimus,  der  alte  Komöde  wie  der 
Phlyake,  der  Atellanenspieler  wie  der  lateinische  Mime,  und  weil 
Karagöz  ein  Abkömmling  des  Mimen  ist,  trägt  auch  er  ihn  noch  heute 2). 

gegen  meinen  Sohn,  der  mich  lebendig  begraben  will".  —  „Wie",  ruft  er, 
„du  willst  deinen  Vater  lebendig  begraben?"  —  „Er  verläumdet  micb,  Herr 
Sultan;  wenn  ich  ihn  gewaschen  habe,  so  geschah  es,  weil  er  tot  war;  wenn 
ich  ihn  herausgetragen  habe,  so  geschah  es,  weil  er  tot  war.  Die  Dabei- 
stehenden werden  das  bezeugen".  —  „Ihr  bezeugt  das?"  sagt  Karagöz  zu 
den  Umstehenden.  —  „Wir  bezeugen  das,  was  der  Sohn  gesagt  hat".  Darauf 
wendet  sich  Karagöz  zu  dem  Toten  und  sagt:  „Dir  allein  soll  ich  glauben, 
um  alle  diese  Leute  Lügen  zu  strafen?  Lafs  dich  ohne  weitere  Widerrede 
begraben.  Wenn  die  Toten  mit  uns  thun  könnten,  was  sie  wollten,  dann 
würden  wir  jetzt  keinen  Toten  mehr  begraben".  Man  trug  ihn  also  fort 
und  begrub  ihn  auf  die  Verantwortung  des  Karagöz  hin. 

Erinnern  wir  uns  an  die  beiden  Scholastici  bei  Philistion,  die  gerne  ihren 
Vater  beerben  möchten  und  beschliefsen,  jeder  den  Vater  des  andern  totzu- 
schlagen, oder  noch  besser  an  den  Scholasticus,  der,  als  sein  Vater  sich  schon 
dem  Tode  nähert,  seine  Freunde  zum  Begräbnis  bestellt;  als  sie  sich  ein- 
stellen, und  der  Vater  ist  noch  nicht  tot,  sagt  er  zu  ihnen,  da  sie  sich  ärgern, 
umsonst  gekommen  zu  sein,  sie  sollten  am  folgenden  Tage  wiederkommen, 
da  werde  er  den  Vater  begraben,  ob  er  nun  tot  sei  oder  nicht.  Das  sind 
dieselben  mimicae  ineptiae  wie  im  „Buche  des  Hohlschädels".  Es  ist  lustig 
genug!  Den  Helden  dieser  orientalischen  mimicae  ineptiae  machten  die 
Moslims  zur  Hauptperson  in  ihrem  Mimus,  und  wir  wieder  erkennen  an 
dieser  mimischen  Art  der  Witze  im  Philogelos,  dafs  sie  aus  dem  griechischen 
Mimus  stammen.  Es  läfst  sich  schwer  sagen,  ob  diese  merkwürdige  Ähnlich- 
keit der  letzten  arabischen  Geschichte  mit  mimischen  Erfindungen  nicht 
etwa  doch  auf  direkter  Entlehnung  beruht.  Der  Mimus  hat  in  Ägypten 
immer  eine  Hauptpflegestätte  gehabt  und  bis  tief  ins  Mittelalter  dort  ge- 
blüht; die  Araber  haben  ihn  dort  gefunden.  So  findet  sich  in  „Tausend  und 
eine  Nacht"  z.  B.  auch  das  Motiv  der  durchbrochenen  Wand  aus  dem  Miles 
gloriosus,  wie  W.  Bacher  Ztschr.  d.  D.  M.  G.  30,  143  ff.  und  Rohde  „Über 
griechische  Novellen"  S.  67  jetzt  auch  Der  griech.  Roman2  Anhang,  ge- 
zeigt haben. 

J)  Vgl.  oben  S.  202. 

2)  Abbildungen  des  phallophorischen  Karagöz  siehe  bei  von  Luschan 
a.  a.  0.    Jacob  (Heft  I,  S.  XIII)   spricht   von  der  Phallophorie  des  Karagöz 


Übergang  des  byzantinischen  Mimus  zum  Karagözspiel.  627 

Wenn  man  Karagöz  sieht  mit  dem  Phallus,  das  mimische 
Prügelholz  in  der  Rechten,  an  dessen  Stelle  er  allerdings  nicht 
selten  sein  Wahrzeichen  selber  schwingt,  mit  der  knappen,  all- 
täglichen Kleidung  der  niederen  Klassen,  wie  sie  einst  der  Mime 
trug,  dann  sieht  man  den  alten  fitfiog  ysXoiatv  vor  sich.  An 
Stelle  des  Trikots  des  Mimen  trägt  er  die  eng  anliegenden 
Hosen,  an  Stelle  der  kurzen,  griechischen  Exomis  trägt  er  einen 
ebenso  kurzen,  eng  anliegenden  Kittel,  unter  dem  der  Phallus  wie 
beim  hellenischen  Mimen  zum  Vorschein  kommt;  nur  die  Beine 
sind  lederbraun  gehalten  und  erinnern,  wie  das  hellenische  Trikot, 
an  die  menschliche  Hautfarbe.  Dieselbe  Farbe  zeigen  auch  die 
Arme,  die  bei  Karagöz,  wie  beim  alten  Mimen,  nackt  sind. 
Allerdings  trägt  Karagöz  als  guter  Türke  einen  Turban.  Doch 
auch  die  Römer  versahen  ja  ihre  Mimen  mit  besonderen,  latei- 
nischen Merkmalen  und  unterschieden  vom  lateinischen  stupidus 
den  stupidus  graecus.  Nun  aber  ist  dieser  Turban  mit  dem 
Hinterhaupte  des  Karagöz  durch  ein  Gelenk  verbunden,  so  dafs 
er  heruntergeklappt  werden  kann.  Wenn  ihm  dann  in  einer 
der  zahlreichen  Prügelscenen  sein  Turban  heruntergehauen  wird, 
dann  ist  er  mit  seinem  glattrasierten  Schädel  der  alte  stupidus 
graecus,  der  hwqös  (falaxQÖg,  der  kahle  Narr,  Zug  für  Zug1). 

Ja,  in  Persien  hat  Karagöz  noch  das  typische  Symbol  des 
kahlen  Narren  im  Mimus,  eben  die  Kahlheit,  immer  und  un- 
veränderlich beibehalten.  Er  kann  im  persischen  Puppenspiel 
seine  Tracht  ändern,  wie  er  will  und  bald  in  den  Kleidern 
eines  Bettlers  oder  eines  Derwischs  oder  eines  Kaufmanns 
auftreten,  nur  einen  unbedeckten  kahlen  Kopf  mufs  er  unbe- 
dingt   haben.     Das   ist  sein  Erkennungszeichen,    darum  hat  er 


als  „von  einer  bereits  vielfach  beseitigten  Äufserlichkeit,  welche  das  türkische 
Schattenspiel  mit  der  antiken  Komödie  teilt*.  Maltzan  sagt  a.  a.  0.  S.  233: 
„Karagus  .  .  eine  höchst  seltsam  geformte  Persönlichkeit,  welche  mit  dem 
„Gott  der  Gärten"  bei  den  Alten  eine  auffallende  und  unanständige  Ähn- 
lichkeit besitzt".  Auch  alle  übrigen  Kenner  des  Karagöz  wissen  davon  zu 
berichten. 

x)  Wie  solch  ein  kahler  Narr  im  Türkischen  aussieht,  verdeutlicht  uns 
sehr  gut  die  Abbildung  Nr.  30  bei  von  Luschan. 

40* 


628  Siebentes  Kapitel. 

auch  ein  für  alle  Mal  den  Namen   „Kahler  Held",   eben  mimus 
calvus '). 

Wenigstens  eine  Figur  im  türkischen  Karagöz  hat  nun  aber 
noch  die  hellenische  Tracht  ganz  und  gar  beibehalten.  Ich  setze 
sie  hierher: 


Da    haben    wir   den   hellenischen    Helm,    die   griechischen 
Sandalen  und  die  bis  zum  Knie  nackten  Beine,  den  anliegenden 


x)  Vgl.  Chodzko,  Theatre  Persan  S.  XV:  Le  he'ros  populaire  persan  du 
Karaguez  s'appelle  Ketchel  Pehle'van  (heros  chauve).  II  ria  pas  de  costume  parti- 
culier.  La  calvitie  est  son  attribut  distinctif,  comme  la  bosse  eelui  de  Polichinelle. 
Quant  au  caractere,  Ketchel  Pehlevan  ressemble  beaucoup  au  Pulcinello  de  Naples. 
S.  XVI:  Seines  de  Marionettes  Persanes.  Küchel  Pehlevan  se  rend  cliez  un 
Äkhond  (che/  d'une  paroisse).  La  manifre  dont  il  se  presente  excite  dejh  la  gaietC 
du  public.  Per  sonne  rtaurait  reconnu  Ketchel  s^il  n^etait  pas  chauve,  car  il  a 
maintenant  tous  les  dehors  du  plus  pieux  des  musulmans.  11  pourrait  servir  de 
modele  ä  un  Cheikh-ul-Islam  (archimolla).  Chodzko  erzählt  dann  weiter,  wie  der 
kahle  Narr  als  Erzpriester  in  einem  fort  seufzt  und  betet  und  Verse  des 
Korans  im  besten  Arabisch  hersagt.  Sein  geistlicher  Bruder  in  Mahomed 
fühlt  sich  aufs  höchste  erbaut,  sie  stehen  und  singen  zusammen.  Schliefslich 
besingen  sie  die  Freuden  des  Paradieses  mit  den  gazellenäugigen  Huris  und 


Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz.  629 

Brustpanzer,  der  hier  sonderbarerweise  rot  gezeichnet  ist.  So 
werden  die  Soldaten  und  die  Helden  im  byzantinischen  Miinus 
aufgetreten  sein.  Der  Träger  dieser  griechischen  Rüstung  heilst 
Kör-oghlu  (Herakles?)  und  ist  ein  grofser  türkischer  Held1). 


HI. 
Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz. 

Wir  wollen  ein  wenig  näher  auf  die  einzelnen  Typen  im 
türkischen  Mimus  eingehen.  Karagöz  und  sein  Gegenspieler 
Hadschievad  dürfen  in  keinem  Stücke  fehlen,  so  sehr  auch  alle 
andern  Typen  und  Figuren  wechseln. 


dem  feurigen  Wein.  Sie  begeistern  sich  immer  mehr,  sie  empfinden  einen 
Vorgeschmack  des  Paradieses,  der  Rosenkranz  entfallt  ihren  Händen,  sie 
tanzen,  sie  trinken;  denn  irgendwie  finden  sich  plötzlich  in  dem  Zimmer  des 
geistlichen  Herrn,  den  der  kahle  Narr  besucht,  eine  Guitarre  und  einige 
Flaschen  guten  Weines ;  sie  betrinken  sich  schliefslich  ganz  gehörig.  Chodxko 
schliefst  damit,  die  eindringende  Realität  und  Wahrheit  dieser  mimischen 
Biologie  und  Ethologie  für  die  persischen  Verhältnisse  anzuerkennen:  On 
vit  ä  la  maniere  de  Küchel  Pehleran  et  honni  soit  qui  mal  y  perue!  Wir  denken 
daran,  wie  noch  in  spät  byzantinischer  Zeit  den  Mimen  unaufhörlich  ver- 
boten werden  mufste,  in  geistlichen  Gewändern  zu  erscheinen,  erinnern  uns 
auch  an  den  Augur  und  den  Küster  im  römischen  Mimus  und  an  den  Tempel- 
diener bei  Herondas  im  vierten  Mimiambus. 

1)  von  Luschan  identifiziert  ihn  wegen  des  Namens  mit  Herakles.  Dafür 
würde  der  Löwe  sprechen,  den  Kör-oghlu  bändigt  wie  Herakles  den  nemei- 
schen  Löwen.  Dagegen  spricht,  dafs  Herakles  nicht  mit  Helm  und  Panzer, 
sondern  immer  in  der  Löwenhaut  auftritt,  zumal  im  hellenischen  Mimus. 
Ich  verweise  auf  Heydemann  a.  a.  0.  Abbildung  Nr.  M.  Ob  die  Byzantiner 
ihn  sich  etwa  gelegentlich  auch  in  Helm  und  Panzer  vorstellten,  die  Frage 
ist  schwer  zu  entscheiden.  Dennoch  ist  die  Identifizierung  von  Kör-oghlu 
und  Herakles  zumal  nach  dem,  was  von  Luschan  über  ähnliche  Türkisierung 
hellenischer  Ausdrücke  bemerkt,  sehr  ansprechend.  Bedenklich  bleibt,  dafs 
sich  in  der  Sage  von  Kör  Oglu  sonst  nichts  eigentlich  Herakleisches  findet, 
wie  von  Luschan  a.  a.  0.  S.  7  selbst  bemerkt.  Leider  sind  sonst  weder  Künos 
noch  Jacob  noch  Champfleury  auf  die  Figur  von  Kör-oghlu  eingegangen. 
Doch  mag  es  nun  mit  Kör-oghlu  sein,  wie  es  wolle,  für  uns  ist  das  Beibehalten 
altgriechischer  Tracht  im  türkischen  Mimus  beweisend. 


630  Siebentes  Kapitel. 

Karagöz  ist  der  echte  titfiog  ysXoicov.  Bei  aller  scheinbaren 
Einfalt  ist  er  der  eigentlich  Schlaue,  er  ist  zwar  ein  Narr,  aber 
einer  von  der  lustigen,  übermütigen  Art.  Alle  andern  Personen  sind 
nur  dazu  da,  um  von  ihm  verspottet,  verlacht,  verhöhnt  und  zum 
Schlüsse  verprügelt  zu  werden.  Er  ist  der  derisor  im  Mimus, 
wie  Martial  den  berühmten  Mimen  Latinus  nennt  *),*  er  ist  die 
Verkörperung  des  rechten  Mutterwitzes,  der  Volksironie  und  des 
Volkshumors  in  demselben  Mafse,  wie  es  der  hellenisch-römische 
Sannio  war2). 

Hadschievad,  der  typische  Gegenspieler  des  Karagöz,  ist 
dagegen  der  eigentliche  dumme  Narr,  der  Tölpel.  Freilich 
kommt  er  sich  Karagöz  gegenüber  als  der  Klügere  und  Gebildetere 
vor.  Er  hat  sozusagen  studiert,  er  kann  schreiben,  er  ist  so 
eine  Art  Efendi  und  spricht  die  vornehme,  türkische  Umgangs- 
sprache, das  Efendi-Türkisch ,  während  Karagöz  natürlich  nur 
das  eigentliche  Türkisch,  die  gute,  rechte,  türkische  Volkssprache 
versteht3).     Es  ist  höchst  belustigend,    die  gespreizten  Phrasen 


i)  Vgl.  oben  S.  54. 

2)  Wenn  man  diesen  türkischen  Mimen  alle  Welt  zum  besten  halten 
und  verspotten  und  ihrer  Narrheit  überführen  sieht,  versteht  man  noch 
mehr,  wie  der  Sillograph  Timon  den  Sokrates,  den  derisor  omnium,  einen 
Mimen  schelten  konnte. 

3)  Vgl.  darüber  die  feinsinnigen  Bemerkungen  bei  Künos  a.  a.  0.  S.  433 
und  434 :  „die  türkisch-osmanische  Volkssprache  .  .  teilt  sich  in  zwei  Haupt- 
zweige: Die  rumelische  (europäische)  und  die  anatolische  (kleinasiatische), 
welche  Beide  sich  wieder  in  viele  weniger  bedeutende  Dialekte  verzweigen. 
Die  rumelische  Sprache  ist  die  „intsche  dil"  d.  h.  die  feine  Sprache,  die 
Sprache  der  Osmanen,  und  anatolisch  ist  die  „kaba  dil",  die  grobe  Sprache, 
deren  sich  die  Türken,  die  Bauern  Anatoliens,  bedienen  ....  Der  geschulte 
Efendi,  mit  seinem  gezierten  Gemisch  von  persisch-arabisch  und  einigen 
türkischen  Brocken,  spricht  weder  die  „intsche  dil"  noch  die  „kaba  dil". 
Für  ihn  sind  alle  Volkssprachen  „Kaba  diller",  d.  h.  grobe  Sprachen  im 
Vergleich  zu  seiner  Efendisprache,  welche  auch  als  Literatursprache  dient. 
.  .  .  und  die  anatolischen  Bauern  verstehen  die  Stambuler  Efendisprache  mit 
keinem  Worte.  . .  .  Der  satyrische  Karagös  ist  der  Repräsentant  der  ver- 
achteten Volkssprache,  sein  Gegensatz  ist  Hadschewat,  welcher  gerne  in  ge- 
spreizter Weise  das  Efenditürkisch  parlirt  und  dabei  von  Karagös  rücksichts- 
los verspottet  und  parodirt  wird.    Die   an  Wortspielen  und  Redewendungen 


Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz.  631 

des  guten  Efendi  anzuhören  und  die  kurz  angebundene  Art,  mit 
der  sie  Karagöz  abfertigt;  z.  B.: 

Hadschievad:     „Mein  Herr  Karagöz,   geruhen  Sie  zu  er- 
scheinen, jetzt  ist  die  Zeit  dazu. 
Ihr  ergebenster  Hadschievad  wartet  an  der  Thür,   jetzt 

ist  die  Zeit  dazu. 
Zeige  einmal  die  Mondschönheit,  die  Augen  sollen  sich 

öffnen, 
Ertönen  sollen  Blasinstrumente  und  Flötenklänge,    jetzt 
ist  die  Zeit  dazu! 
Karagöz  (vom  Fenster):  Hadschievad,  die  Zeit  ist  da,  wo 
du  dich  bereit  halten  sollst, 
Wenn    er   sich  gekratzt  hat,    ist  jetzt  die  Zeit,    seinen 

Rücken  in  Behandlung  zu  nehmen. 
Eh!  Schamloser!  Eh!  Unverschämter!  Wie  viel  hab'  ich 

von  dir  ertragen! 
Sieh,    da   bin  ich,   Hadschievad,   jetzt  ist  die  Zeit  des 
Knüttels ! 
EL:    Bitte,    mein  Herr,    was    soll  dies  Gerede  vom   Prügel 

heifsen  ? 
K. :  Nun,  und  was  soll  die  Unanständigkeit,  die  du  vor  der 

Thür  begehst,  heifsen? 
H. :  Mein  Herr,  in  Anbetracht  dessen,  dafs  ich,  Euer  Sklave, 
einer  von  denen  bin,  welche  die  Wichtigkeit  Eurer  hohen 
Nachsicht  zu  schätzen  wissen,  bin  ich  im  Vertrauen  auf 
diese  Euere  Hochwürdigkeit  einige  Liederzeilchen  singend 
gekommen,  Ew.  Wohlgeboren  meine  Aufwartung  zu 
machen. 
K.:  Was  machst  du  für  Quatsch?14 

(Die  Teufelslist  oder  die  Geisterbannerei  des  Karagöz,  Jacob, 
Heft  3.    S.  18—19). 


reiche  Volkssprache  ist  also  in  den  Karagösspielen  die  herrschende,  und  das 
vom  Volke  so  geliebte  Aschenbrödel,  welches  nur  noch  in  den  Türkis  (Volks- 
liedern) und  Massais  (Volksmärchen)  von  Generation  zu  Generation  sich  fort- 
bringt, soll  durch  den  Hajaldschy  wieder  zu  Ehren  gebracht  werden". 


632  Siebeutes  Kapitel. 

Sehr  häufig  verbittet  er  sich  ganz  energisch  des  Karagöz 
gemeine  Redensarten,  und  am  Schlüsse  des  zweiten  von  Luschan 
veröffentlichten  Stückes  kündigt  er  ihm  entrüstet  die  Freund- 
schaft: „von  nun  an  sage  ich  dir  weder  kalimera  noch  kalispera" 
—  guten  Tag,  guten  Abend  —  (a.  a.  0.  S.  138). 

Trotz  aller  Gelehrsamkeit  und  Bildung  wird  der  gute  Efendi 
aber,  immer  von  dem  einfachen  und  ungebildeten,  aber  mit 
Mutterwitz  begabten  Karagöz  zum  Narren  gehalten.  Bei  Murad 
Efendi  findet  sich  die  Bemerkung,  Efendi  sei  etwa  unser  Doctor, 
nur  ohne  richtige,  gelehrte  Graduierung  und  ordentliche  Pro- 
motion1). Griechisch  ist  Efendi  etwa  a%olac>ti,x6q.  Seit  Philistion 
tritt  der  stupidus  gerne  in  der  Spielart  des  Scholasticus  auf,  des 
Dossennus  der  Atellane,  des  Dottore  der  Commedia  delP  arte. 
So  ist  also  der  türkische  Dottore  nur  eine  Erneuerung  des 
mimischen  Scholasticus. 

Gerne  giebt  der  Dottore  dem  ungebildeten  Karagöz  Be- 
lehrungen für  richtiges  Sprechen,  für  feines  Benehmen  und  feinen 
Ton,  und  Karagöz  macht  ihn  dann  gröblich  zum  Narren2).     Als 


3)  Türkische  Skizzen,  Zweiter  Band,  Das  osmanische  Beamtenthum  S.  66. 

2)  Als  Beispiel  gebe  ich  hier  ein  Gespräch  zwischen  Hadschievad  und 
Karagöz,  das  im  Anfang  des  „Sängerkriegs  (Uruschma  ojunu)"  steht,  in  der 
Übersetzung  von  Künos  (Ung.  Rev.  S.  431  und  432): 

„Hadschievad:    Soeben  habe  ich  mir  einen  neuen  Fez  gekauft. 

Karagöz:     Was  gehts  mich  an?! 

H.:     So  sagt  man  zu  einem  Freunde?! 

K.:     Wie  sonst? 

H.:    Lachend,  lachend  soll  er  auf  deinem  Kopfe  zerstückelt  werden. 

K.:  Also  gut,  wenn  du  es  so  willst:  Lachend,  lachend  soll  er  auf 
deinem  Kopfe  zerstückelt  werden. 

H.:     Aber  ich  mufs  dir  auch  erzählen,  dafs  ich  Brennholz  gekauft  habe. 

K.:  Maschallah!  Lachend,  lachend  soll  es  auf  deinem  Kopfe  zer- 
stückelt werden. 


H. 


Kerl!    Auf  meinem  Kopfe  soll  es  zerstückelt  werden? 


K. :     Was  weifs  ich ;  du  hast  mir  ja  selbst  gesagt,  dafs  ich  so  sagen  soll. 

H.:  Ja  das  galt  nur  für  den  Fez.  Jetzt  mufst  du  aber  sagen:  Lachend, 
lachend  verbrenne  es  und  blicke  in  die  Asche. 

K.:  Also  gut,  wenn  du  es  so  willst:  Lachend,  lachend  verbrenne  es 
und  blicke  in  die  Asche. 


Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz.  633 

echter  stupidus  bekommt  Hadschievad  natürlich  auch  von  Karagöz 
ungezählte  Prügel. 

Um  dieses  burleske  Paar,  den  Sannio  und  den  stupidus, 
gruppieren  sich  nun  alle  anderen  Typen.  Auch  sie  zeigen  eine 
erstaunliche  Ähnlichkeit  mit  den  Figuren  des  Mimus.  Da  ist 
Bekry  Mustapha,  der  reiche  Bauer.  Er  kommt,  um  sich  lustig 
zu  machen,  zum  ersten  Mal  in  gereiftem  Alter  in  die  Stadt, 
gerät  in  allerhand  Kneipen  und  Bordelle  und  kommt  schliefslich 
rarm  am  Beutel,  krank  am  Herzen  ■,  aber  noch  immer  betrunken, 


H.:    Indessen  habe  ich  mir  auch  ein  Haus  gekauft. 

K.:  Peh,  Pehü  Lachend,  lachend  sollst  du  es  verbrennen  und  in  die 
Asche  blicken. 

H.:     Nicht  so  sagt  man,  du  dummer  Kerl! 

K.:     Wie  denn?     Du  hast  mir's  ja  so  befohlen. 

H. :  Man  sagt:  Es  freut  mich  sehr.  Lachend,  lachend  wohne  darin 
und  nie  sollst  du  es  verlassen. 

K.:  Also  gut:  Lachend,  lachend  wohne  darin,  und  nie  sollst  du  es 
verlassen. 

H.:  So  ist's  recht  Als  aber  einer  meiner  Gläubiger  hörte,  dafs  ich 
mir  ein  Haus  gekauft  habe,  kam  er  zu  mir  und  verlangte  sein  Geld.  Ich 
konnte  ihm  nichts  geben,  es  kam  zu  Streitigkeiten,  dann  zu  einer  Rauferei, 
und  am  Ende  sperrte  man  uns  alle  Beide  ins  Gefängnis. 

K.:     Lachend,  lachend  wohne  darin,  nie  sollst  du  es  verlassen. 

H. :    Bist  du  von  Sinnen?!    Das  wünscht  man  seinem  Bruder? 

K.:     Du  hast  ja  selbst  angeordnet,  dafs  ich  so  zu  sagen  hätte! 

H:  Nein,  in  diesem  Falle  mufst  du  sagen:  Gott  sei's  gedankt,  der 
Eine  ist  schon  draufsen;  hoffentlich  kommt  der  Andere  auch  bald  heraus. 

K. :  Wie  du  willst:  Gott  sei's  gedankt!  Der  Eine  ist  schon  draufsen. 
und  hoffentlich  kommt  der  Andere  auch  bald  heraus. 

H.:  Nun  mufs  ich  dir  aber  weiter  erzählen.  Als  ich  aus  dem  Ge- 
fängnisse herauskomme,  gehe  ich  bei  einem  Bäcker  vorbei,  der  gerade  sein 
Brot  in  den  Ofen  schiebt.  Stöfst  mir  nicht  der  blinde  Maulwurf  mit  seinem 
Brotschieber  eins  meiner  Augen  aus!! 

K.:  Gott  sei's  gedankt!  Das  Eine  ist  schon  heraus;  hoffentlich  kommt 
auch  das  Andere  bald  heraus." 

Auch  bei  Luschan  findet  sich  Text  und  Übersetzung  dieses  Stückes; 
aber  beides  zeigt  erhebliche  Abweichungen  (a.a.O.  S.  125  folg.).  Bei  Jacob 
findet  sich  dasselbe  Thema  in  dem  Stücke  Karagözün  aschyklykv,  Karagöz 
als  Dichter,  aber  in  durchaus  selbständiger  Ausführung. 


634  Siebentes  Kapitel. 

nach  Hause.  Er  ist  auf  seine  Art  ein  ganz  geriebener  Bursche, 
aber  die  Städter  sind  dem  Bauern  doch  über.  Er  giebt  aller- 
hand Bauernmoral  zum  besten,  nur  schade,  dafs  er  sie  selber 
nicht  befolgt.  Er  ist  der  dygotxog,  der  rusticus  des  Mimus,  wie 
er  im  Buche  steht,  und  wohl  direkt  aus  dem  byzantinischen 
Mimus  übernommen1). 

Der  „Dellal"  (Ausrufer)  ist  der  zweite  Spafsmacher  in  der 
türkischen  Burleske,  so  eine  Art  mimus  secundarum  partium.  Er 
trägt  allerhand  alte  Sachen,  Kleider,  Teppiche,  Kupfergeschirr 
und  dergleichen  umher  und  bietet  es  auf  der  Strafse  mit  lauter 
Stimme  aus.  Da  ergeben  sich  dann,  da  ihn  der  Besitzer  dieser 
Kostbarkeiten  begleitet  und  Kauflustige  hinzutreten,  allerhand 
mimische  Scenen.  Man  denke  an  den  praeco,  der  nach  der  Er- 
klärung des  Scholiasten  zu  Juvenal  (VIII,  185)  im  Mimus  Phasma 
des  Catullus  auftrat,  und  an  den  xjjqv%  Ischomachus,  der  ein  Mime 
ward,  auch  an  die  Atellane  des  Pomponius  Praeco  posterior 2).  Auch 

*)  Ich  erinnere  an  den  Titel  bei  Sophron:  ilXisvg  xbv  dygoiwrav,  an  die 
Bauern  und  Landleute  bei  Theokrit,  an  Atellanentitel  wie :  Der  Landmann  (Agri- 
cola,  Kusticus,  Pappus  agricola),  Der  Feigengärtner  (Ficitor),  Die  Winzer  (Vin- 
demiatores),  Die  Eselin  (Asina),  Die  Ziege  (Capella),  Das  Borgschwein  (Maialis), 
Das  kranke  Schwein  (Verres  aegrotus),  Das  gesunde  Schwein  (Verres  salvos),  Das 
Mutterschwein  (Porcetra).  Ich  verweise  auch  auf  den  dyQolxog  bei  Theophrast. 
Vom  Mimus  hat  dann  die  neue  Komödie  den  Typus  des  Bauern  übernommen. 
Man  vergleiche  hier  Ribbecks   Charakterstudie  Agroikos  (vgl.  oben  S.  308). 

2)  Die  griechischen  Krämer  liefsen  ihre  Waren  auf  dem  Markte  durch 
den  Ausrufer  (xrJQv!;)  versteigern  (vgl.  Hermann,  „Griechische  Antiquitäten" 
3.  Aufl.  IV,  S.  420).  In  sehr  ergötzlicher  Weise  macht  Hermes  den  Aus- 
rufer bei  Lukian  in  der  „Philosophenversteigerung"  und  den  „Ausreifsern". 
Das  Gebahren  dieser  Leute  wird  dem  unserer  Auktionatoren  ähnlich  gewesen 
sein.  Am  besten  können  wir  sie  wohl  mit  unserem  sogenannten  „Schmeifs- 
weg"  vergleichen,  der  unter  den  sonderbarsten  Beteuerungen,  Kapriolen  und 
Witzen  auf  offenem  Markte  seine  Waren  an  den  Mann  zu  bringen  sucht, 
dessen  Gaukeleien  selbst  bei  uns  im  kalten,  steifen  Norden  nahe  an  mimische 
Produktionen  streifen.  Auch  die  orientalischen  Ausrufer  zeigen  ganz  die- 
selbe Art  wie  die  griechischen  und  treiben  genau  dasselbe  Gewerbe.  Wieder- 
holt treten  sie  in  „Tausend  und  eine  Nacht"  auf.  Eine  lebendige  Schilderung 
eines  solchen  xrjgv§  finde  ich  bei  Klunziger,  Bilder  aus  Oberägypten,  Stutt- 
gart 1878.  S.  20  u.  273.  Wie  der  xrtqvk'  Ischomachus  sich  leicht  zum  Mimen 
metamorphosierte  (vgl.  oben  S.  51),  bildet  der  türkische  xtiqv!;  der  Dellal, 
eine  höchst  lustige  Figur  im  türkischen  Mimus. 


Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz.  635 

Räuber  treten  im  türkischen  Mimus  auf,  wie  sie  es  im  helleni- 
schen und  römischen  thaten.  Ich  verweise  auf  den  Räuberhaupt- 
mann Laureolus.  Der  Räuber  im  türkischen  Mimus  ist  immer 
ein  Albanese  und  stets  ein  edler  Mann,  der  nur  reiche  Menschen- 
schinder beraubt  und  sich  edler  Frauen  ritterlich  annimmt,  ob 
er  sie  nun  ihren  rohen  Männern  oder  dem  sinnlichen,  mit  seinem 
schrecklichen  Zeichen  drohenden  Karagöz  entreifst.  Auch  der 
Räuberhauptmann  im  Mimus  pflegte  die  Sympathien  des  griechi- 
schen und  römischen  Publikums  zu  geniefsen1). 

Wenn  im  türkischen  Mimus  allerhand  Kaufleute  (meistens 
sind  es  Juden),  Höker,  Kneipwirte,  Cafeliers  auftreten,  so  müssen 
wir  uns  an  die  Höker  (xäntiXoi)  und  die  Grofskaufleute  («ju- 
noQoi,y)  des  hellenischen  Mimus  erinnern.  Choricius  kennt  Höker, 
Wursthändler,  Budiker  als  typische  Figuren  im  byzantinischen 
Mimus  (vgl.  oben  S.  214  Anm.  5.  u.  S.  240).  Der  Schiffskapitän 
Thaies  bei  Herondas  (II)  ist  zugleich  ein  Grofshändler  und  Ge- 
treidespekulant. „Maccus  als  Kneipwirt  (copo)",  der  „Kleine 
Gewerbsmann  (Cerdo)"  hiefsen  zwei  Atellanen  des  Novius. 

Selbst  die  Bettler  und  Derwische  des  türkischen  Mimus 
finden  im  hellenischen  ihre  Vorbilder;  Bettler  finden  sich  auf 
den  Atellanenbildern,  die  Pasqui  veröffentlichte,  und  die  geist- 
lichen Personen  sind  belegt  durch  des  Laberius  „Augur",  des 
Pomponius  „Aruspex  vel  pexor  rusticus",  und  seinen  „Aeditumus"; 
denn  der  Küster  gehört  ja  nun  einmal  mit  zur  Geistlichkeit8). 
Wie  der  Derwisch  moralische  Sprüche  im  Munde  führt  und  sinn- 
liche Lust  im  Herzen,  selbst  noch  mehr  wie  Karagöz,  ist  es  mit 
der  Moral  der  Augurn  und  der  Haruspices  im  Mimus  und  in 
der  Atellane  wohl  auch  nicht  zum  besten  bestellt  gewesen.  Bei 
Pomponius  ist  der  Haruspex  zugleich  auch  noch  der  Dorfbarbier. 

Neben  Hadschievad  tritt  hier  und  da  auch  sein  kleiner  Sohn 
auf,  der  ihm  auf  ein  Haar  gleicht,    was  eine  besonders  drollige 


x)  Vgl.  oben  S.  89. 

2)  Wie  häufig  in  der  griechischen  und  römischen  Komödie  der  tfinoQog 
und  der  mercator  vorkommt,  ist  bekannt. 

3)  Über   geistliche  Personen    im    burlesken  Volksdrama  überhaupt   vgl. 
die  Vorrede  S.  41  u.  42  und  oben  S.  628,  Anm.  1. 


636  Siebentes  Kapitel. 

Situation  abgiebt1).  Als  Pendant  dazu  nehme  man  die  zahl- 
reichen, kleinen  Mimen,  wie  sie  auf  den  Atellanendarstellungen 
bei  Pasqui  erscheinen2)  und  den  Bucculo,  d.  h.  den  kleinen  Bucco, 
des  Novius,  der  vielleicht  seines  Vaters  „einzige  Passion"  war8) 
(vgl.  oben  S.  602  u.  603). 

Was  die  Typen  aus  verschiedenen  Völkerschaften,  Griechen, 
Juden,  Armenier,  Arnauten,  Lasen,  Perser  u.  s.  w.  angeht,  so  wollen 
wir  an  des  Laberius  „Die  Gaetuler",  „Die  Gallier",  „Die  Kreter", 
„Die  Etruskerin",  des  Pomponius  „Campani",  „Galli  Transalpini", 
„Milites  Pometinenses"  denken.  Vor  allem  aber  ist  der  Typus  des 
Armeniers  wie  des  Arabers  schon  für  den  byzantinischen  Mimus 
direkt  bezeugt4).  Und  die  Juden,  die  unablässig  im  Karagöz 
vorkommen,  spielten  ihre  Rolle  im  griechischen  und  byzantini- 
schen Mimus  (vgl.  oben  S.  577  Anm.)  und  auch  wohl  schon 
bei  Laberius  in  dem  Mimus  „die  Kiepe  (Cophinus)". 

Nicht  selten  treten  auch  Frauen,  sogar  anständige  Frauen  und 
Matronen  auf.  Unter  den  Karagözfiguren,  die  vonLuschan  gesammelt 
und  publiziert  hat,  finden  sich  nicht  weniger  als  zehn  weibliche 
Figuren.  Neben  zwei  Tänzerinnen  (Taf.III,  19  u.  20)  und  einer  etwas 

1)  Vgl.  von  Luschaa  a.  a.  0.  S.  85. 

2)  Das  Kölner  Hänneschenspiel  ist  wohl  nur  eine  der  vielen  Nach- 
kommen der  Commedia  dell'  arte  (vgl.  Dieterich,  Pulcinella  S.  272),  wie  diese 
ein  Nachkomme  des  griechischen  Mimus  ist.  Nun  sah  ich  im  vorigen 
Jahre  in  Berlin  im  sogenannten  „Theater  Millowitsch'"  „Drei  Tage  aus 
dem  Kölner  Leben",  ein  ziemlich  blödes  Machwerk,  das  nur  als  Nach- 
bildung und  nur  auf  sehr  niedriger  Stufe  stehende  Erweiterung  des  Kölner 
Hanne schenspiels  ein  gewisses  Interesse  bot.  Dort  trat  in  einer  Gerichts- 
scene  Tünnes  mit  der  Nos  als  Kölner  Dienstmann  Anton  Träkärche  zusammen 
mit  seinem  Söhnchen,  dem  kleinen  Tünnes,  auf,  und  das  Söhnchen  ähnelte 
seinem  Vater  auf  ein  Haar,  was  grofsen  Jubel  erregte;  zumal  der  kleine 
Tünnes  schon  derselbe  Schnapstrinker  und  Liebhaber  von  „Schabau"  war  wie 
sein  Vater. 

3)  Ribbeck  hat  daraus  (Frgm.  com.  Rom.  S.  255)  sehr  unnötig  einen 
bubulcus  gemacht,  vgl.  Munk,  De  fabulis  Atellanis  S.  166.  Auch  die  Komödie 
kennt  solche  kleinen  Burschen,  allerhand  Piccoli  und  Pagen;  ich  erinnere  an 
den  Küchenjungen  in  Plautus'  „Captivi",  an  Lurcio  im  „Miles",  an  Paegnium 
im  „Persa",  der  so  ausgezeichnet  zu  schimpfen  versteht,  an  den  kleinen,  von 
seiner  Wichtigkeit  durchdrungenen  Knirps  Pinacium  im  „Stichus". 

*)  Vgl.  oben  S.  577  Anm. 


Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz.  637 

sittenlosen  jungen  Dame,  die  zum  Schlufs  aber  gewöhnlich  glück- 
lich an  einen  stupiden  Greis  oder  einen  dummen  Neger  verheiratet 
wird,  sehen  wir  die  Frau  des  „rusticus*  Bekry  Mustapha,  die  mit 
Blumen  zum  Kadi  geht,  um  Scheidung  von  ihrem  Trunkenbold  von 
Mann  zu  verlangen  (III,  18).  Auch  findet  sich  eine  stark  dekollet- 
ierte, spaniolische  Jüdin  (III,  17);  die  auf  einem  Pferde  reitende 
Dame,  die  als  die  Frau  des  Hadschievad  bezeichnet  wird  (I,  6); 
die  gewöhnlich  als  Frau  des  Hadschievad  bezeichnete  Frau  mit 
der  phrygischen  Mütze  (II,  16);  die  beiden,  durchaus  anständigen 
Töchter  des  Hadschievad  (II,  14  u.  15)  und  endlich  die  Matrone 
mit  den  beiden  Kindern,  vor  deren  strenger  Tugend  selbst 
Karagöz  Reifsaus  nimmt  (III,  21).  Doch  ist  diese  Figurenserie 
wohl  noch  nicht  einmal  vollständig.  So  erscheint  z.  B.  in  „Die  fin- 
girte  Braut"  noch  die  Frau  des  Karagöz,  und  in  einem  tunesischen 
Karagözstück  tritt  die  Frau  eines  Inders  auf.  In  diesem  türki- 
schen Mimus  vergifst  man  doch  sehr,  dafs  man  im  Oriente  ist, 
der  die  Frauen  völlig  vom  öffentlichen  Leben  absperrt;  es  sind 
hier  eben  mehr  alte  griechische  als  türkische  Sitten.  Das  hat  der 
türkische  Mimus  natürlich  aus  dem  hellenischen,  der  ganz  anders 
wie  selbst  die  griechische  Komödie  die  Verhältnisse  des  intimsten 
Familienlebens  an  die  Öffentlichkeit  brachte,  unaufhörlich  Matronen 
und  anständige  Mädchen  auf  der  Bühne  vorführte  und  mit  Vor- 
liebe die  Liebesverhältnisse  der  verheirateten  Frauen  schilderte. 
Wie  im  Mimus  spielen  auch  im  türkischen  Schattenspiel  aller- 
hand Tiere  mit1).  So  erscheint  Karagöz  als  Eseltreiber  mit  seinem 
Esel,  mit  dem  er  allerhand  seltsame  Kapriolen  macht.  Ich  erinnere 
an  den  Menschen  mit  Eselkopf  in  der  Atellane,  an  Dionysos  und 
Xanthias  mit  ihrem  Esel  bei  Aristophanes.  Ein  beliebter  Titel 
der  neuen  Komödie  ist  der  Eseltreiber,  övayöc.  Auch  der  Hund 
spielt  im  Mimus  mit").  In  der  türkischen  Burleske  wird  er  ein- 
mal auf  Karagöz  gehetzt,  der  ein  Bordell  stürmen  will,  und  ent- 
reifst ihm  mit  einem  grimmigen  Bifs  sein  mächtig  drohendes 
Zeichen3).     Dieser  grofse  Hund  spielt  eine  ganz  ähnliche  Rolle 

*)  Vgl.  darüber  oben  S.  418.  487.  488. 
*)  Vgl.  oben  S.  329.  480.  587.  588. 
3)  Vgl.  Champfleuty  a.  a.  0.  S.  43. 


638  Siebentes  Kapitel. 

in  einer  mimischen  Scene  bei  Petron ').  Wie  im  Mimus  treten  auch 
allerhand  Ungeheuer  auf  (vgl.  oben  S.  590  folg.).  Man  denke  nur 
an  die  Mania,  die  Mutter  oder  Grofsmutter  aller  bösen,  ruhelos 
umherschweifenden  Gespenster,  mit  der  die  Ammen  den  Kindern 
gerne  drohten.  Sie  kommt  ab  und  zu  aus  der  Unterwelt  her- 
auf  und  verlangt  ein  kleines  Kind  zum  Opfer.  Zur  Abwehr  gegen 
sie  werden  kleine,  häfsliche  Figuren  aus  Mehl  (maniolae)  vor 
der  Hausthür  aufgehängt.  Bei  Novius  tritt  sie  in  der  „Mania 
medica"  als  Heilkünstlerin  auf,  wohl  nach  Art  des  Doktor  Eisen- 
bart. Dem  „Pytho  Gorgonius"  des  Pomponius,  dem  pythischen 
Drachen  mit  dem  Gorgonenkopf  und  schrecklichen  Hauzähnen 
entspricht  direkt  die  grofse,  furchtbare  Schlange  der  türkischen 
Burleske.  Sie  ist  nebenbei  eine  achtbare  Vertreterin  der  Moral 
und  straft  Karagöz  für  seine  Unthaten  nicht  selten  in  der 
schrecklichen  Art  des  grofsen  Hundes3).  Auch  der  furchtbare 
Riese  Og  ben  Oniok  des  tunesischen  Mimus  gehört  hierher;  er 
macht  wie  die  grofse  Schlange  öfters  am  Schlufs  des  Stückes 
die  Zeche3). 

Wie  die  Typen,  so  ist  auch  ihr  Thun  und  Handeln,  Reden 
und  Agieren,  Singen,  Tanz  und  Grimassieren  genau  wie  im  alten 
Mimus.  Wie  dort  erschallt  auch  hier  unaufhörlich  das  dumpfe 
Rasseln  der  Prügel  und  das  Klatschen  der  Ohrfeigen.  Wie 
der  irrisor  den  Panniculus,  wie  der  Sannio  den  stupidus  ver- 
prügelt4), so  pflegt  hier  Karagöz  seinen  Gefährten  Hadschievad 
mit  allerlei  laut  schallenden  Handgreiflichkeiten  zu  begrüfsen. 
Hin  und  wieder  entschuldigt  er  sich  wegen  seiner  Grobheit  und 
legt  sie  unter  dem  Gelächter  des  Publikums  als  zärtliche  Lieb- 
kosung aus5).  Doch  gerät  auch  Karagöz  bei  diesen  Prügeleien 
mit  Hadschievad   und    den  andern  Mitspielenden    manchmal    in 


i)  Vgl.  S.  558,  Anm.  1. 

2)  Vgl.  Champfleury  a.  a.  0.  S.  85. 

3)  Vgl.    über   ihn  Quedenfeld,   Das  türkische  Schattenspiel  im  Magrib 
923. 

*)  Über  Prügelscenen  in  Atellane  und  Mimus  vgl.  oben  S.  113  u.  114. 
5)  Künos  a.  a.  0.  S.  428. 


Typen  des  hellenischen  Mimns  im  Karagöz.  639 

Not.  Oft  genug  wird  ihm  sein  Turban  heruntergehauen.  In  der 
„ Blutpappel ■  wird  er  von  einem  Gespenste  arg  verprügelt. 

Die  Sprache  ist,  wie  es  sich  für  den  Mimus  gehört,  —  ich 
erinnere  nur  an  die  vulgären  Ausdrücke  bei  Sophron  und  Theokrit 
und  vor  allem  bei  Herondas,  bei  Laberius,  bei  Pomponius  und 
Xovius,  an  die  Vulgarismen  in  Philistions  „Philogelos"  —  durchaus 
die  Volkssprache.  Davon  ausgenommen  ist  wie  im  griechischen 
und  römischen  Mimus  nur  der  Prolog,  der  im  gebildeten  Efendi- 
türkisch  gesprochen  wird,  und  die  eingestreuten  Couplets,  diese 
wenigstens  zum  Teil.  Der  Gegensatz  zwischen  dem  vornehmen 
Effenditiirkisch  des  Hadschievad  und  der  Volkssprache  des  Karagöz 
führt  natürlich  zu  allerhand  lustigen  Mifsverständnissen.  Der 
Badediener  heifst  auf  Arabisch  Kadir,  und  Katir  heifst  in  der 
türkischen  Volkssprache  Maultier ;  so  erkundigt  sich  denn  Karagöz 
bei  dem  Kadir  nach  dem  Fräulein  Schwester,  das  sein  Nachbar, 
der  Mistbauer,  vor  den  Karren  spannt.  Ein  Freund  des  Karagöz, 
der  sich  weigert,  ihm  Geld  zu  leihen,  heifst  Künap  Sade.  Nun 
bedeutet  Künap  im  Türkischen  Strick;  da  meint  Karagöz,  schon 
der  Vater  des  hartherzigen  Freundes  werde  ein  Strick  gewesen 
sein.  Den  Karagöz,  der  einmal  auf  die  Idee  verfällt,  sich  für 
einen  Journalisten  auszugeben,  prüft  Hadschievad:  wie  stehts 
denn  mit  der  Logik  (mandik)?  0,  die  esse  ich  sehr  gerne,  ruft 
Karagöz;  er  meint  mandi,  eine  beliebte  Ramadanspeise1). 

Das  sind  die  alten  mimicae  ineptiae,  die  wir  schon  kennen. 
Dazwischen  werden  mancherlei  schlechte  Zoten  und  Witze  wie 
die  dicteria  und  die  dictabolaria  (nach  Fronto  de  orat  p.  240 
ed.  Rom.)  der  Atellanen  und  Mimen  gerissen,  es  finden  sich 
Frechheiten  und  Nuditäten,  wie  in  der  Atellane  und  im  Mimus, 
aber  ebenso  wie  im  Mimus  „tiefsinnige  Sprichwörter  und  natur- 
philosophische Sentenzen"  (Künos  a.  a.  0.  S.  420).  Auch  die 
lustigen  Ränke,  Kabalen,  Übertölpelungen  und  Betrügereien 
werden  im  Karagöz  mit  derselben  übermütigen  Ruchlosigkeit  ver- 
übt, wie  die  „tricae"  in  der  Atellane  und  wie  die  „artes  mimicae", 
von  denen  Petron  (cap.  106  Bücheier*)  weifs. 


1 1  Nach  Künos  a.  a.  0.  S.  434  u.  435. 


640  Siebentes  Kapitel. 


IV. 


Karagöz  als  Biologe  und  Ethologe.     Politische  Anspielungen  wie 

im  Mimus. 

Wie  der  Mimus  liebt  das  Karagözspiel  allerhand  Anspielungen 
an  die  aktuellen  Tagesereignisse  und  vertritt  die  allgemeine 
Volksmeinung  gegenüber  der  Eegierung. 

Ein  hübscher  Beleg  dafür  ist  die  Anschauung,  die  man  vom 
Ursprung  des  Karagöz  in  Tripolis  hat.  Ich  gebe  sie  mit  Queden- 
feldts  Worten  (a.  a.  0.  S.  905  u.  906):  „Vor  langer  Zeit  lebte 
in  Stambul  ein  Mann,  dem  die  Mifswirtschaft  der  Paschas  und 
der  sonstigen  Würdenträger  ein  Dorn  im  Auge  war.  Er  sann 
nach,  wie  dem  abzuhelfen  sei.  Da  es  ihm  unmöglich  war, .  bis 
zur  Person  des  Sultans  vorzudringen,  um  diesem  seine  Wahr- 
nehmungen selbst  vorzutragen,  beschlofs  er,  ein  Schatten- 
spiel zu  etablieren,  in  der  Hoffnung,  dafs  der  Sultan  auf  das 
Gerücht  von  der  Neuerung  hin  sich  zu  einem  Besuche  seiner 
Vorstellungen  entschliefsen  würde.  So  geschah  es  in  der  That. 
Kaum  gelangte  die  Kunde  von  dem  allgemeinen  Beifall  findenden, 
zotenhaft-drolligen  Karaküsspiel  zu  den  Ohren  des  Herrschers, 
als  derselbe  im  Theater  erschien.  Karaküs  hat  an  diesem 
Abend  natürlich  ganz  andere  Dinge  geredet  als  Zoten.  Dem 
Sultan  wurden  die  Augen  geöffnet  über  das  Treiben  seiner 
Minister  und  Gouverneure,  die  er  grofsenteils  ihrer  Ämter  ent- 
hob und  bestrafte.  Der  Karaküsbegründer  aber  wurde  Wesir. 
Als  solcher  konnte  er,  das  ist  klar,  seine  Vorstellungen  nicht 
weiter  leiten.  Da  die  Sache  aber  dem  Volke  einmal  gefallen 
hatte,  so  traten  andere  an  seine  Stelle,  und  das  Spiel  gewann 
allmählich  überall  da  Verbreitung,  wo  Türken  herrschen  und 
geherrscht  haben". 

Karagöz  ist  ein  Satiriker,  mit  dem  die  Autoritäten  in  Kon- 
stantinopel rechnen  müssen '),  deren  Anordnungen,  wenn  sie  un- 


J)  Wie  frech  Karagöz  nicht  selten  hohen  Würdenträgern  die  Wahrheit 
sagt,  mag  folgende  Geschichte  bei  Champfleury  illustrieren,  die  wegen  ihrer 
gar  zu  grofseu  Frechheit  französisch  bleiben  mag   (a.  a.  0.  S.  52):     „A  Con- 


Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz.  641 

populär  sind,  leicht  seiner  Kritik  verfallen1).  Besonders  aber 
hat  er  in  Algier  es  auf  die  französische  Obrigkeit  abgesehen 
und  überhaupt  auf  die  Franzosen.  Dort  wurden  die  Auf- 
führungen verboten,  weil  in  ihnen  das  französische  Militär 
lächerlich  gemacht  wurde 2),  und  ein  Karagödschi  erstach  den  fran- 
zösischen Marschall  Bugeaud,  welcher  ihn  einem  Verhör  unter- 
ziehen wollte3).  Der  Teufel  erschien  in  diesen  Stücken  immer 
in  französischer  Tracht*).  So  macht  Karagöz  dem  Volksunwillen 
gegen  die  Unterdrücker  Luft. 

Die  türkische  Regierung  ist  auf  den  Karagöz  nicht  gerade 
gut  zu  sprechen,  aber  das  niedere  muselmanische  Volk  schwärmt 
ebenso  für  ihn  wie  das  hellenische  für  den  Mimus.  Doch  sind 
auch,  wie  einst  die  hellenischen  Grofsen  dem  Mimus  gewogen 
waren,  wiederholt  hohe  türkische  Würdenträger  Freunde  des 
Karagöz  gewesen,  und  zwar  besonders  der  grofse  Mehemet  Ali &). 


stantinople,  Caragvevz  etait  tres  hardi.  On  en  jugera  par  le  trait  suivant.  bien  connu 
du  reste:  Caragveuz  jouait  devant  de  havts  fonctionnaires.  II  dialoguait  avec  son 
äne  ä  la  porte  (Tun  beau  Jardin,  ou  n'entraient  que  quelques  privxUgies.  11  voulut 
etre  un  de  ceux-la,  et  se  mit  en  decoir  de  tirer  son  äne  par  la  bride.  Resistance 
de  la  bete.  „Attends,  attends,  dit  Caragveuz,  je  vais  te  montrer  comme  on  avance 
en  Turquie".  Et,  se  mettant  derriere  le  baudet,  il  le  poussait  de  la  facon  que 
vous  savez.  On  pretend  que,  ä  cette  saiüie,  les  hauts  fonctionnaires  ne  rirent  qve 
du  bout  des  dents." 

x)  Ich  gebe  dafür  eine  Betrachtung  Gerards  nach  Champfleury  a.  a.  0. 
S.  101  U.  102:  „C'est,  dit'ilj  ou  le  bourgeois  raillevr,  ou  Vhomme  du  peuple  dont 
le  bon  sens  critique  les  actes  des  autorites  secondaires.  A  Vipoque  ou  les  regle- 
ments  de  police  ordonnaient,  pour  la  premiere  fois,  qv'on  ne  put  sortir  sans  lanterne 
apres  la  chute  du  jour,  Caragvevz  parvt  avec  une  lanterne  singulierement  svspendve, 
narguant  impvnement  le  pouvoir,  parce  que  Vordonnance  n'avait  pas  dit,  qve  la 
lanterne  dit  enfermer  vne  bovgie.  Arrete  par  les  cavas,  et  reläche  d"apres  la 
Ugalit€  de  son  Observation,  on  le  vit  reparaitre  avec  une  lanterne  ornie  d"une 
bougie ,  qu'il  avait  ne'glige  ctallumer  .  .  .  Cette  facetie  est  pareille  a  Celles  que 
nos  legendes  populaires  attribvent  ä  Jean  de  Falaise,  ce  qvi  provve  que  tous  les 
pevples  sont  les  memes.  Caragvevz  a  son  franc-parler ;  il  a  tovjovrs  d(fie  le  pal, 
le  sabre  et  le  cordon".     Vgl.  auch  S.  86. 

2)  Vgl.  Quedenfeldt  a.  a.  0.  S.  906. 

3)  Vgl.  Champfleury  a.  a.  0.  S.  71  u.  72. 
*)  Vgl.  Champfleury  a.  a.  0.  S.  72. 

5)  Vgl.  Champfleury  a.  a.  0.  S.  56. 


Reich,  Mimus. 


41 


642  Siebentes  Kapitel. 

Karagöz  ist  derselbe  Ethologe  und  Biologe,  wie  der  helle- 
nische Mime  es  war.  Wir  sahen,  wie  die  mimische  Biologie 
direkt  die  antike  Kulturgeschichte,  den  ßiog  'EXXdöog  der  Peri- 
patetiker,  angeregt  hat,  wie  man  aus  dem  antiken  Mimus  trotz 
seiner  spärlichen  Überlieferung  noch  viel  von  der  antiken  Kultur 
und  dem  antiken  Volksleben  lernen  kann.  Ganz  dasselbe  sagen 
moderne  Kenner  vom  Karagöz.  Ausdrücklich  bemerkt  Jacob: 
„Der  Reiz,  welchen  das  Schattentheater  auf  uns  ausübt,  besteht 
in  erster  Linie  in  dem  treuen  Abbild  morgenländischen  Volks- 
lebens, das  es  darstellt.  Es  führt  uns  durch  türkische  Cafes, 
durch  öffentliche  Bäder,  zur  Bude  des  Strafsenschreibers,  lehrt 
uns  das  buntsprachige  Völkergewirr,  das  hier  als  Kunden  vor- 
spricht, und  seine  Bedürfnisse  kennen.  Es  führt  uns  in  alle 
Winkel  des  orientalischen  Lebens,  sogar  in  die  Kajyks  auf  den 
Fluten  des  Bosporus.  Somit  ist  es  naturgemäfs  auch  eine  reiche 
Quelle  für  die  Volkskunde".    (Heft  I,  S.  14.) 

Freilich,  wie  uns  Karagöz  in  alle  Winkel  des  morgen- 
ländischen Lebens  führt,  lehrt  er  uns  auch  allerhand  Schmutz 
und  alles  Verderben  dieses  Lebens  kennen;  er  schreckt  vor  dem 
Äufsersten  nicht  zurück  und  überführt  alle  ihrer  geheimen 
Sünden  und  Laster,  amovg  nwg  äntXeyxti,  cog  ovds  OiXiöticov  6 
[itfjbog.  So  kommen  denn  im  Karagöz  alle  Verkehrtheiten  des 
orientalischen  Volkslebens  an  den  Tag.  Aber  der  Karagödschi 
kann  sich  entschuldigen,  wie  Choricius  es  für  den  griechischen 
Mimus  that;  er  schildert  eben  das  gesamte  Leben,  und  der  ßiog 
ist  nun  einmal  nicht  blofs  moralisch. 

Über  Moral  oder  Unmoral  des  Karagöz  hat  sich  in  jüngster 
Zeit  ein  Streit  erhoben,  ähnlich  wie  der,  welcher  einst  um 
den  Mimus  getobt  hat;  und  besonders  Monsieur  Rolland  hat 
gegen  die  Unmoralität  des  Karagöz  pathetisch  wie  ein  Kirchen- 
vater gewettert,  wenngleich  er  den  Nutzen  der  Biologie  des 
Karagöz  für  die  Erkenntnis  des  orientalischen  Volkslebens  wohl 
begriff1).     Ihm    galt   der  Karagöz   als  ein    Todeskeim   für   das 


x)  Champfleury  a.  a.  0.  S.  38  u.  39 :    „  Je  viens  d'assister  a  la  reprisentation 
du  Polichinelle  turc,  Caragueuz,   l'homme   aux  yeux  noirs.     J'en  suis  sorli  stuptfait, 


Typen  des  hellenischen  Mimus  im  Karagöz.  643 

türkische  Volk.  Nun,  dieser  Todeskeim  ist  in  der  Türkei  schon 
weit  über  500  Jahre  alt  und  in  Hellas  über  2000,  und  er  hat 
durchaus  nirgends  tödlich  gewirkt.  Die  besten  Kenner  nehmen 
hier  Karagöz  durchaus  in  Schutz,  der  bei  aller  Frechheit  und 
Zotenhaftigkeit  und  trotz  des  Phallus  durchaus  nicht  unmoralisch 
sei,  so  wenig  wie  unsere  mittelalterlichen  Schwanke  oder  die 
Komödien  des  Aristophanes1).  Ganz  wie  Choricius  einst  betonte, 
es  gebe  doch  so  viele  ernste  und  durchaus  moralische  Schilde- 
rungen im  Mimus,  hebt  von  Luschan  hervor,  dafs  es  auch  genug 
durch  und  durch  „anständige"  Karagözstücke  gebe  (a.  a.  0. 
S.  143) 2).  Auf  den  türkischen  Mimus  pafst  eben  wie  auf  den 
hellenischen  die  Definition  Theophrasts:  Der  Mimus  ist  die  Nach- 
ahmung des  Lebens,  die  das  Erlaubte  wie  das  Unerlaubte  dar- 
stellt. Nicht  selten  überwiegt  allerdings  wohl  das  Unanständige, 
das  Unerlaubte  (%ä  aGvyxÜQiKx)' 

Aber  wenn  Karagöz  auch  noch  so  übermütige  Schelmenstreiche 
verübt,  so  wird  er  doch  nie  wirklich  schlechte  Streiche  machen, 
welche  der  Moral  des  Volkes  direkt  zuwider  sind.  Ja,  nach 
türkischer  Überlieferung  wollte  der  Scheich  Küschteri  aus  Brussa, 
der  als  Altmeister  des  Karagözspieles  in  den  Karagözprologen 
gefeiert  wird,  durch  dieses  Spiel  das  Volk  belehren  und  erziehen. 
Noch  Achmed  Vefik  Pascha,  der  bekannte  Turkologe,  bestätigte 
es  Künos,  dafs  in  seiner  Jugend  die  Karagözstücke  durch- 
aus moralich  gewesen    und   erst   später  frech    und  obscön    ge- 


consterne,  dirais-je,  pour  peindre  mieux  mes  impressions.  Sans  doute,  un  vif  interet 
m'attire  vers  toute  cette  scene  reväant  les  secrets  des  moeurs  indigenes,  et  je  n'eus 
jamais  oceasion  pareille  de  soulever  les  volles  qui  se  deroulent  rarement  devant  les 
regards  europdens" .  S.  51 :  „A  mon  sens,  le  jour  ou  le  de'goüt  public  aurait  proscrit 
Caragueuz,  un  germe  de  mort  serait  exstirpe  du  sein  du  peuple  ottoman". 

l)  So  besonders  von  Luschan  a.  a.O.  S.  142  u.  143,  dem  auch  Jacob  durch- 
aus beistimmt  (Heft  I,  S.  XIII).  Wenn  Quedenfeldt  im  Gegensatze  zu  Maltzan 
sich  über  die  Unmoralität  des  Karagöz  entrüstet  zeigt,  so  ist  zu  bedenken, 
dafs  der  Karagöz  in  Afrika  auf  einer  besonders  niedrigen  Stufe  steht.  Vgl. 
Jacob,  Heft  I,  S.  XIII.  Auch  Champfleury  verkennt  die  sittliche  Harmlosigkeit 
des  Karagöz  durchaus  nicht. 

21  Vgl.  Jacob,  Heft  I,  S.  XIII. 

41* 


644  Siebentes  Kapitel. 

worden  seien1).  So  sagt  auch  Heinrich  von  Maltzan  (a.  a.  0. 
S.  237):  „Wie  allen  wahrhaft  volkstümlichen  Charakteren,  fehlt 
auch  dem  Karagus  nicht  eine  gewisse  moralische  Tendenz.  Er 
ist  die  Verkörperung  der  naiven,  unverdorbenen  Ehrlichkeit  der 
untersten  Stände;  er  weifs  nichts  von  einem  Abfinden  mit  dem 
Gewissen;  freilich  erscheint  dieses  bei  ihm  oft  je  nach  den  Um- 
ständen weiter  oder  enger;  aber  im  Grunde  ist  es  doch  das  Ge- 
wissen des  ehrlichsten  Teiles  des  Volkes,  vor  dem  er  sich  zeigt; 
was  diesem  Volke  Unrecht  erscheint,  und  sei  es  oft  auch  nur 
etwas  durch  einseitige  Religionsvorurteile  Verbotenes,  das  wird 
auch  von  Karagus  verworfen;  was  dagegen  die  volkstümliche 
Ansicht  nur  als  leichte  Sünden  ansieht,  und  seien  es  oft  auch 
solche,  die  in  Wirklichkeit  einen  schlimmeren  Namen  verdienen, 
das  macht  sich  Karagus  keine  Skrupel  zu  begehen.  Einen  eigent- 
lichen, heimtückischen  Betrug  aber  begeht  er  nie;  wenn  er  seinen 
Nächsten  übervorteilt,  beraubt  oder  durchprügelt,  so  geschieht 
dies  immer  auf  eine  Weise,  dafs  er  alle  ehrlichen  Leute  für  sich 
hat,  denn  es  geschieht  stets  zur  Strafe  für  irgend  einen  listigen 
Anschlag,  der  gegen  ihn  unternommen  wurde.  Nichts  ist  aber 
dem  Volke  in  allen  Ländern  verbalster  als  heimtückische  List, 
und  nichts  erscheint  ihm  erwünschter  und  gerechter,  als  deren 
Entlarvung  und  Bestrafung.  Man  sieht,  eine  gewisse  poetische 
Gerechtigkeit  fehlt  in  den  Possenspielen  des  Karagus  nie". 

Jedenfalls  ist  der  Hajaldschy  durchaus  von  dem  Werte  und 
der  Würde  seiner  Stücke  durchdrungen.  In  dem  Prologe  hebt 
er  hervor,  die  Welt  sei  nur  ein  Schatten,  und  ein  Schatten  sei 
alles  Leben  und  alles  Lebendige,  das,  wenn  es  seine  Zeit  habe, 
wieder  verschwinden  müsse.  Dagegen  gebe  sein  Schattenspiel 
Wirklichkeit;  es  ist  das  Bild  der  Welt  und  des  Lebens;  wenn 
auch  nur  Schattenbilder  auf  dem  Vorhang  (perde)  erscheinen, 
so  könne  man  daraus  doch  lehrreiche  Exempel  für  das  Leben 
gewinnen.  Der  Hajaldschy  betrachtet  sich  also  weniger  als 
burlesker  Spafsmacher  wie  als  rechter  Darsteller  und  Schilderer 
der  Welt  und  des  Lebens,  der  manche  gute  Lehre  erteilt.  Ganz 
ebenso    hat   sich    der  griechische  Mime   gerne  als   den   eigent- 

L)  Vgl.  Künos  a.  a.  0.  S.  426. 


Identität  der  Form  der  mimischen  Hypothese  und  des  Karagöz.         645 

liehen  Lebensschilderer  aufgefafst  und  sich  darum  den  pompösen 
Titel  „Biologe"  statt  des  einfachen  _Mimetf  beigelegt.  Als  „Bio- 
logen "  bezeichneten  ihn  die  Peripatetiker  wie  auch  Choricius;  ich  er- 
innere an  die  Biologen  Heraklides,  Agathokles,  Flavius  Alexander *). 
Philistion  ward  von  diesem  Standpunkte  aus  unter  die  Philo- 
sophen gerechnet.  Der  Mimus  ist  nach  Auffassung  seiner  Freunde 
ein  Tröster  des  Menschengeschlechts,  ohne  den  die  Menschen  in 
ihrer  Not  und  in  ihrem  Elend  verzagen  müfsten.  Er  lindert  die 
menschlichen  Schmerzen  wie  Balsam;  ohne  ihn  hätte  selbst  nach  der 
Meinung  der  römischen  und  griechischen  Kegierungen  das  arme 
Volk  verzweifeln  müssen-).  Man  denke  auch  an  das  Epigramm, 
in  dem  Philistion  gepriesen  wird,  weil  er  die  Menschen  in  ihrem 
jammerreichen  Leben  mit  seinem  lustigen  Lachen  getröstet  habe. 
Nicht  geringer  denkt  der  türkische  Mime  von  seiner  Kunst. 
„Nach  dem  Gasel,  dem  Eröffnungsliede,  sagt  Künos,  beginnt 
Hadschewat  unter  feierlichen,  aber  durch  den  Schatten  verzerrten 
Gebärden,  und  mit  gewählten  Worten  den  Prolog  zu  sprechen. 
Er  verspricht  darin  dem  Publikum,  sofort  seinen  lustigen  Ge- 
fährten Karagös  vorzuführen,  dessen  Worte  wie  Balsam  alle 
Schmerzen  lindern  werden"  (a.  a.  0.  S.  427).  Diese  ganze, 
vornehme  Auffassung  hat  der  türkische  Mime  von  seinem  vor- 
nehmen Vorfahren,  dem  hellenischen,  geerbt,  wenn  er  ihr  auf 
seinem  viel  niedrigeren  Standpunkte  auch  gewifs  sehr  viel 
weniger  entspricht  wie  jener. 

V. 

Identität  der  Form  der  mimischen  Hypothese  und  des  Karagöz. 
Prolog  und  Canticum. 

Jedes  Karagözstück  beginnt  mit  einem  Prolog,  wie  der  Mimus. 
Dann   folgt    die  dialogisierte  Handlung  in  mehreren  Akten.     In 


x)  Eustathius  Antioch.,  De  engastromytho  (ed.  Jahn,  Texte  u.  Unters. 
Bd.  II,  Heft  IV,  S.67:  inav&a  6k  ovo  ngöotona  ßtoXoyel  ßaaUiar,  tha  tovtoiv 
io  fikv  cidtxov  tiaäyti  rb  dt  d(xatov.  Die  Erinnerung  an  den  Mimus  ist  hier 
allerdings  doch  eine  sehr  ferne.    Die  Stelle  verdanke  ich  August  Brinkmann. 

2)  Das  Nähere  haben  wir  oben  S.  144.  145.  202.  203  entwickelt. 


646  Siebentes  Kapitel. 

„Die  Teufelslist  oder  die  Geisterbannerei  des  Karagöz"  werden 
z.  B.  drei  Akte  (fasl  oder  medschlis)  unterschieden  (a.  a.  0. 
S.  20  u.  21).  Dazwischen  werden,  wie  in  der  byzantinischen 
Hypothese,  allerhand  Couplets  gesungen.  Diese  Couplets  bildeten, 
wie  wir  oben  sahen,  einen  sehr  wesentlichen  Bestandteil  der 
Hypothese.  Nicht  anders  ist  es  im  türkischen  Mimus,  wo  jede 
neu  auftretende  Person  mit  einem  Couplet  sich  einzuführen 
pflegt,  was  sie  nicht  hindert,  mitten  inne  bei  passender  Gelegen- 
heit noch  ein  oder  das  andere  Couplet  zuzugeben.  Wir  hörten 
die  Kirchenväter  vor  allem  gegen  diese  mimischen  Cantica 
wettern,  die  besonders  verführerisch  waren,  weil  sie  vornehmlich 
von  Liebe  handeln.  Auch  die  Couplets  im  Karagöz  haben  zum 
Hauptthema  die  Liebe.  Ich  gebe  das  Lied  Hadschievads  aus 
„Die  Teufelslist"   (Jacob  Heft  2,  S.  X  u.  XI): 

„Dieses  Herz   hat   sich  wieder  in  eine  unglückliche  Liebe  zu 

einem  Trügerischen  verwickelt, 
Zu   dem  Trügerischen   hat   sich   mein  Auge  gewendet,    seine 

Augen  zum  Trügerischen. 
Indem  auf  dem  Liebesfelde  das  liebeskranke  Herz  lustwandelt, 
Hat  sich  das  Herz  zu  dem  Berückenden,  der  Berückende  zum 

Herzen,  zum  Herzgewinnenden  gewendet. 
Indem   auf   dem  Rosenbeet   die   liebeskranke  Nachtigall   ihre 

Klage  anstimmt, 
Hat   sich    die  Rose   zur  Nachtigall,    die  Nachtigall  zur  Rose, 

zum  Rosendorn  gewendet." 

Ein  anderes  Lied  in  demselben  Stücke  lautet: 

„Spazieren  gehen  wollen  wir  und  Gartenvergnügen  (Picknick) 

machen, 

Wenn  du  willst,  will  ich  Plaid  (ihram)  sein  unter  dir. 

Komm,    schneide  ab  mein  Haupt,   vergiefse  mein  Blut,  mache 

es  zu  Tinte, 

Schliefslich   für   diesen  Rohrfinger  will  ich  ein  Opfer  sein1)." 


*)  Bei  Jacob,  Heft  2,  S.  XII. 


Identität  der  Form  der  mimischen  Hypothese  nnd  des  Karagöz.         647 

Höchst  erotisch  sind  auch  die  Couplets  der  Dichter  im  „Sänger- 
streit".  Ich  gebe  eins  davon  in  der  Übersetzung  von  Luschans 
(a.  a.  0.  S.  128): 

„Wenn  nicht  vom  reinen  Weine  der  Liebe  trunken  wäre  der 

Verliebte, 
Würde  er  seine  Brust  nicht  zerschlagen,  der  Verliebte; 
Im  meerartigen  Herzen  suche  das  Kleinod  der  Liebe 
Nicht  jedes  Herz  birgt  die  seltene  Perle  der  Liebe. 
Treue  bei  der  Schönen,  Freude  im  Herzen,  ist  nicht  möglich, 
Es  haben  sich  wieder  angesammelt  Ursachen  der  Liebe 

Das  Verlangen  nach  ihren  Brauen  hat  meinen  Körper  ge- 
schwächt, 
Der  scharfe  Säbel  der  Liebe  hat  mein  Herz  durchbohrt. 
Aber  meinst  du,    seine  Liebe  wird  diese  Sorgenpein  mit  der 

Freiheit  tauschen 
Wenn  auch  der  Verliebte  krank  ist  vor  Liebesgram?41 

Ein  wenig  schlüpfrig  sind  diese  Couplets  zum  Teil,  wie  es 
wohl  auch  die  griechischen  waren.  Aber  auch  für  1  und  2  gilt 
das  Wort  des  Choricius  von  den  Couplets  im  hellenischen  Mimus, 
sie  seien  sittlich  tadellos.  Das  Schlufslied  im  „Sängerstreit*  bei 
von  Luschan  (a.  a.  0.  S.  132): 

„Habe  ich  dir  nicht  gesagt,  mein  Lämmchen;  liebe  nicht  neun 

Liebchen ! 
Liebchen,  Liebchen,  Liebchen,  liebe  nicht  neun  Liebchen  1 
Neun  ist  keine  Glückszahl,  zwei  schon  sind  vom  Übel; 
Liebchen,  Liebchen,  liebe  nicht  neun  Liebchen." 

enthält  sogar  eine  ganz  moralische  Aufforderung. 

So  zeigt  sich  denn  der  türkische  Mimus  in  Form  und  Inhalt, 
in  der  ganzen  humoristisch-realistischen  Ethologie  und  Biologie, 
in  allen  seinen  Typen  und  Figuren  als  der  rechte  Erbe  und 
Nachfolger  des  byzantinischen  Mimus.  Wie  dieser  ist  er  ein 
mehraktiges  Stück.  Selbst  den  operettenhaften  Charakter  des 
Mimus  hat  das  Karagözspiel  beibehalten,  obwohl  die  Hajaldschys 


648  Siebentes  Kapitel. 

wohl  sehr  selten  gute  Sänger  sein  werden,  was  Choricius,  wie 
wir  sahen,  ausdrücklich  an  den  Mimen  hervorhebt,  deren  schöne 
Stimme  er  lobt. 


VI. 
Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels. 

Ich  gebe  hier  nun  die  Inhaltsangaben  einzelner  Karagöz- 
stücke;  denn  mutatis  mutandis  giebt  solch  ein  Stück  uns  ein 
Bild  des  alten  byzantinischen  Mimus. 

Die  fingierte  Braut1). 
(Sa/te  gelin). 

Hadschievad  singt  vor  des  Karagöz  Thür  ein  erotisches 
Couplet.  Karagöz  glaubt  sich  dadurch  kompromittiert;  Had- 
schievad aber  meint:  „Wenn  jemand  im  Begriff  ist,  seinen  Freund 
zu  loben  und  zu  preisen,  mufs  man  da  gleich  an  etwas  Schlechtes 
denken?"  Da  sich  Karagöz  so  prüde  stellt,  kommen  Hadschievad, 
dessen  Frau  und  die  Frau  des  Karagöz  auf  die  Idee,  ihm  einzureden, 
er  sei  ein  Mädchen  und  solle  den  dicken  Baba  Himmet  heiraten. 
Karagöz  sträubt  sich,  wie  er  kann,  aber  da  alles  gegen  ihn  im 
Komplott  ist,  beginnt  er  wirklich  ein  wenig  an  seiner  Identität 
zu  zweifeln.  Alle  Anstalten  zur  Hochzeit  werden  getroffen, 
alle  Bedenken  des  verzweifelten  Karagöz  niedergeschlagen. 
Mit  einem  Liebescouplet  erscheint  schliefslich  Baba  Himmet; 
Hadschievad  und  die  Weiber,  welche  die  Braut  herausgeputzt 
haben,  verschwinden  trotz  der  Proteste  des  Karagöz.  Das  Liebes- 
paar ist  allein;  die  Brautnacht  hebt  an.  Himmet  entschleiert 
die  Braut  und  findet  den  priapischen,  bärtigen  Karagöz.  Er- 
grimmt droht  er  ihm  den  Tod  an.  Aber  schliefslich  läfst  er  ihn 
laufen,  und  das  Ganze  endet,  wie  ein  Mimus  soll,  mit  dem  un- 
auslöschlichen risus  mimicus.  Ähnlich  wie  der  wackere  Baba 
Himmet  wird  wohl  der  miles  gloriosus  Mars  in  dem  Mimus  des 


')  Ich  folge  hier  Jacob,  Karagöz-Komödien  Heft  3,  S.  27  folg. 


Sujets  des  Mimus  uud  des  türkischen  Puppenspiels.  649 

Laberius  „Anna  Perenna",  von  der  Ovid  so  hübsch  zu  erzählen 
weifs  (vgl.  Fast,  m,  675 folg.),  getäuscht  worden  sein.  Ihr  gesteht 
Ares  seine  Liebe  zur  spröden  Minerva  und  bittet  um  ihre  Ver- 
mittelung,  die  ihm  denn  auch  schliefslich  auf  vieles  Drängen  zu- 
gesagt wird.  Mars  schmückt  nun  freudig  das  Brautgemach.  Dicht 
verschleiert,  wie  Karagöz,  wird  die  Braut  hereingeführt,  und  als 
der  Bräutigam  den  Schleier  hebt,  sieht  er  die  runzlige,  alte 
Nymphe  vor  sich,  die  ihn  noch  dazu  tüchtig  auslacht. 

Aber  auch  die  Verkleidung  von  Männern  zu  Frauen  ist  im 
italischen  Mimus  offenbar  häufig  gewesen,  und  der  folgt  ja  nur 
dem  hellenischen.  In  des  Pomponius  Atellane  „Die  Kaienden  des 
März"  wird  einem  Manne  auf  der  Bühne  die  Rolle  als  Matrone 
einstudiert,  die  er  spielen  soll  (Pomp.  57  ff.).  In  den  „Macci 
gemini  *  wird  ein  Mann  entlarvt,  der  sich  als  Frau  verkleidet  hat; 
er  sträubt  sich  dagegen,  was  er  kann1). 

Hier   möge    ein  Karagözstück    verwandten  Inhalts  folgen'). 

Hadschievad  stolpert  vor  des  Karagöz  Thür.  Karagöz  bietet 
ihm  Prügel  an,  man  einigt  sich  schliefslich  zu  einem  friedlichen 
Gespräch.  Hadschievad  fragt  vertraulich,  mit  welcher  Frau 
Karagöz  jetzt  verkehre.  Karagöz  meint,  mit  einer  hinkenden 
Eselin.  Er  fühlt  sich  zwar  genügend  erotisch  veranlagt,  aber  es 
fehlt  am  Besten,  er  hat  kein  Geld. 

H. :  Das  schadet  nichts;  ich  werde  dir  alles  besorgen  unter 
der  Bedingung,  dafs  wir  einen  Kontrakt  machen. 

K.:  Gut,  ich  unterzeichne. 

H.:  So,  dann  gebe  ich  dir  meine  Tochter  zur  Frau. 

Er  geht  fort,  holt  seine  Tochter  nebst  zwei  Notaren  und 
zwei  Zeugen,  die  Trauung  wird  vollzogen. 

Zwischen  der  ersten  und  zweiten  Scene  liegt  eine  Nacht. 

Die  Frau  fühlt  am  nächsten  Tage  allerhand  Schmerzen; 
schliefslich    fürchtet   sie,    ins   Kindbett    zu   kommen.     Karagöz 


*)         [Ei]  perii!    non  puellula  est.    numquid  [namj  abscondidisti 

Inter  nates?  (68.  69.) 

*)  Quedenfeldt  erhielt  es  durch  die  Vermittelung  eines  Freundes  von 
dem  Karagödschi-Ssi-Mohammed  Ben-Dabüs  in  Tunis;  a.a.O.  S.  921  folg. 


650  Siebentes  Kapitel. 

wundert  sich,  die  Frau  aber  meint,  sie  sei  in  einer  heiligen 
Stadt  geboren,  und  wenn  sie  mit  einem  Manne  verkehre,  be- 
komme sie  am  nächsten  Morgen  ein  Kind. 

Callida  dat  stulto  tarn  nova  nupta  viro, 

sagt  Ovid  vom  Mimus.  Karagöz  holt  die  Hebamme,  und  bald 
stellt  das  Kind  sich  ein.  Es  zeigt  sich  merkwürdig  frühreif, 
kann  gleich  sprechen,  äufsert  gar  erotische  Bedürfnisse,  und  als 
Vater  Karagöz  es  auf  den  Rücken  hebt  und  mit  ihm  spazieren 
geht,  benimmt  es  sich  höchst  unanständig;  da  läfst  Karagöz  es 
hinfallen,  dafs  es  stirbt.  Aber  des  Kindes  Mutter  hetzt  ihm  die 
Polizei  auf  den  Hals,  und  Karagöz  wird  schliefslich  hingerichtet. 
Auch  in  den  griechischen  Komödien  erschallt  das  Geschrei  ge- 
bärender Frauen,  und  es  zeigt  sich  die  Hebamme.  Das  wird 
im  Mimus  nicht  anders  gewesen  sein.  Ich  erinnere  auch  an 
Sophrons  " Ax.idxQiai J).  Auch  Hinrichtungsscenen  kamen  im  Mimus 
vor,  so  im  „Laureolus"  und  in  den  Kreuzigungsmimen. 

Genau  denselben  Stoff,  wie  dieser  türkische  Mimus,  behandelt 
„Die  schwangere  Jungfrau"  (virgo  praegnans)  des  Pomponius, 
und  sie  wird  ihn  gewifs  nicht  weniger  burlesk  gestaltet  haben, 
wie  der  Karagöz. 

Im  allgemeinen  aber  hat  Karagöz  viel  Glück  in  der  Liebe, 
und  seinen  Werbungen  widersteht  selten  ein  Weib.  So  entführt 
in  einem  bei  Quedenfeldt  (a.  a.  0.  S.  922  folg.)  erzählten  Stück 
Karagöz  einem  Araber  oder  auch  einem  Inder  seine  Frau,  mit 
welcher  dieser  sich  zum  Vergnügen  aufs  Land  begeben  hat.  Sieg- 
reich weifs  er  die  reizende  Fatme  gegen  alle  Abgesandten  des 
Inders,  die  sie  zurückholen  sollen,  zu  verteidigen.  Erst  der  Riese 
Og  ben  Oniok  bringt  sie  glücklich  ihrem  rechtmäfsigen  Besitzer 


')  Auch  bei  Champfleury  (a.  a.  0.  S.  99)  wird  von  einem  tunesischen 
Karagözstück  berichtet,  „Karagöz  als  Familienvater",  in  dem  in  höchst 
realistischer  Weise  alle  Vorkehrungen  für  die  Niederkunft  einer  Frau  ge- 
troffen werden;  zum  Schlüsse  kommt  ein  kleiner  Karagöz  zum  Vorschein 
der  bis  auf  den  Phallus  seines  Vaters  getreues  Konterfei  ist;  über  den  letzten 
Zug  vgl.  oben  S.  602,  603,  635.  An  derselben  Stelle  wird  das  Stück  „Karagöz 
im  Irrenhause"  erwähnt. 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  651 

wieder  zurück.  Es  ist  hier  eben  der  alte  Ehebruchsmimus. 
Als  wahrer  Liebesheld  erscheint  Karagöz  in  einem  Stücke,  das 
Rolland  in  Konstantinopel  sah.  (Ich  gebe  die  Beschreibung  nach 
Champfleury,  a.a.O.  S.  42 — 44):  „Karagöz  kommt  auf  die  Bühne 
und  besingt  die  Freuden  der  Liebe,  dann  kommen  der  Reihe 
nach  verschiedene  Frauen,  welche  spazieren  gehen:  der  Harem 
eines  Pascha,  die  Gattin  eines  Kaufmannes,  die  eines  armenischen 
Sarafen,  die  eines  Landmannes  und  die  Tochter  eines  Priesters. 
Bei  ihrem  Anblick  fängt  der  Wollüstling  Feuer.  Seine  tierischen 
Gelüste  zeigen  sich  mit  einer  unanständigen  Offenheit,  welche  die 
ganze  Zuhörerschaft,  selbst  die  kleinsten  Kinder,  in  Freude  ver- 
setzt. Karagöz  versucht  diese  Schönen  alle  nacheinander  zu  ver- 
führen; und  nach  mehr  oder  weniger  scheinbaren  Äufserungen 
des  Unwillens,  nach  schwachen  Einwänden,  nach  Gesprächen 
.voll  frecher  Sarkasmen,  ergeben  sich  leider  schliefslich  alle  und 
willigen  ein.  Nur  bestimmen  sie  ihren  Preis ;  bei  dem  Geständnis 
des  Versuchers,  er  habe  keinen  Heller,  entfernen  sich  alle  im 
Zorn,  oder  sie  treiben  mit  ihm  derartige  Possen,  dafs  man  sie 
unmöglich  erzählen  kann. 

Von  allen  abgewiesen  und  desto  mehr  erotisch  aufgeregt, 
versucht  Karagöz  sich  zu  trösten  und  liefert  sich  selbst  in  einem 
langen  Monolog  mit  Hilfe  vieler  niedrig-komischen  Vergleiche 
den  Beweis,  dafs  es  kaum  einen  Unterschied  zwischen  Torte  und 
Schwarzbrot  giebt,  und  dafs  alle  Frauen  gleich  viel  wert  sind. 
Infolgedessen  klopft  er  an  die  Thür  eines  Lupanar.  Da  er  mit 
leeren  Händen  kommt,  wird  er  nicht  besser  empfangen.  Trotz 
seiner  Bitten,  Versprechen  und  Ränke  jagt  man  ihn  wiederholt 
fort.  Schliefslich  wird  er  wütend  und  will  die  Thür  stürmen. 
Da  hetzt  man  einen  grofsen  Hund  auf  ihn,  der  ihn  in  einem 
grotesken  Kampfe  mit  einem  Bifs  zum  Eunuchen  macht  und  fort- 
läuft. Niedergeschlagen  durch  sein  Unglück  sieht  sich  der 
Spektakler  gezwungen,  um  seinen  Verlust  wieder  gut  zu  machen, 
die  Rolle  des  Lieferanten  des  Hauses  anzunehmen. 

Dann  beginnt  das  Gegenstück  zur  Musterung  der  Weiber, 
und  diese  zweite  Hälfte  des  Dramas  übertrifft  an  Komik  bei 
weitem  alles  Vorangegangene.    Karagöz  wendet  sich  als  Versucher 


652  Siebentes  Kapitel. 

nacheinander  an  einen  Pascha,  einen  Priester,  einen  Bankier, 
einen  Kaufmann,  einen  Soldaten,  einen  Derwisch,  einen  Juden, 
einen  Christen,  einen  Packträger  u.  s.  w.  Anfänglich  widerstehen 
alle,  aber  nach  langem,  höchst  moralischem  Gerede  kommen  sie 
mit  ihren  wahren  Beweggründen  zum  Vorschein.  Es  ist  das  eine 
eigenartige  Satire  auf  den  typischen  Charakter  der  Kasten  und 
Zünfte.  Der  Pascha  spricht  von  seiner  Würde,  der  Priester  von 
seinem  Ansehen,  der  Bankier  von  seinem  Kredit,  der  Jude  be- 
rechnet die  Kosten  und  der  Kaufmann  das  Risiko,  das  die  Be- 
friedigung ihrer  Laster  mit  sich  bringen  würde.  Der  Derwisch 
träumt  von  andern  Freuden  und  verachtet  solch  gemeine  Ver- 
gnügungen. Allmählich  jedoch  verschwinden  die  Bedenken  vor 
der  burlesken  Beredsamkeit,  den  Paradoxien,  den  erotischen  Ge- 
mälden des  Verführers:  Jeder  willigt  ein  und  rechtfertigt' sich 
vor  sich  selbst  mit  höchst  burlesken  Sophismen.  Schliefslich  is.t 
das  Lupanar  gefüllt ..." 

Das  Thema  dieses  Stückes  ist  nichts  weniger  als  sauber; 
aber  es  war  von  Uranfang  an  im  Mimus  beliebt;  noch  in  der 
neuen  Komödie  spielt  die  Scene  gern  vor  der  Thür  des  Bordells, 
die  manchmal  heftig  berannt  wird1).  Herondas  führt  uns  die 
Kupplerin  vor  und  den  Mädchenwirt;  der  Kuppler  ist  eine  der 
wichtigsten  Typen  der  Magodie,  und  die  Cinaedologie  hat  vor- 
nehmlich mit  diesen  bösen  Stoffen  zu  thun. 

Kein  Wunder,  dafs  also  Karagöz  gelegentlich  auch  einmal 
in  der  Rolle  des  Mädchenwirtes  erscheint  und  zwar  im 

Quartierskandal. 
(Mehalle  baskyny.) 

Karagöz,  dessen  Frau  auf  mehrere  Tage  abwesend  ist,  trifft 
ein  Mädchen,  die  sich  mit  ihrem  Wirt  verzankt  hat,  und  nimmt 


*)  Diphilus,  Menander  und  andere  Dichter  der  neuen  Komödien 
haben  den  Kuppler  öfter  vorgeführt;  bei  Diphilus  und  Poseidipp  ist  der 
noQVoßöaxog  sogar  die  Titelrolle,  bei  Plautus  und  Terenz  findet  sich  der 
Kuppler. wiederholt;  der  gelungenste  Kupplertypus  ist  wohl  Ballio  im  Pseu- 
dolus  des  Plautus. 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  653 

sie  bei  sich  auf.  Schon  kommen  ihre  Anbeter;  zuerst  ein  junger 
Bej,  Lokmann  aus  Skutari,  aber  Karagöz  will  für  die  Zusammen- 
kunft als  echter  Gesinnungsgenosse  des  Kupplers  Battaros  bei 
Herondas  Geld,  und  der  gute  Bej  hat  keins.  Darauf  prügelt 
Karagöz  ihn  unbarmherzig,  wie  es  alle  Kuppler  im  Mimus  und 
in  der  neuen  Komödie  sind,  hinaus,  ebenso  den  Stammler  und 
einige  andere  Kunden  des  Fräuleins,  und  zuletzt  den  Inder.  Da 
erscheint  aber  ein  äufserst  rücksichtsloser  junger  Mann,  der 
Karagöz  mit  Gewalt  zu  Leibe  geht,  wie  es  im  Mimus  und  der 
attischen  Komödie  nicht  selten  dem  Kuppler  gegenüber  geschieht, 
der  nun  einmal  dazu  da  ist,  geprellt  zu  werden  und  Prügel  zu 
bekommen.  Schliefslich  wirft  er  den  Karagöz  aus  seinem  eigenen 
Hause  hinaus.  Aber  Karagöz  weifs  sich  besser  zu  helfen  als  etwa 
Battaros;  er  ist  nun  einmal  immer  der  Schlaue;  schnell  ruft  er 
die  vorher  von  ihm  herausgeworfenen  ungebetenen  Gäste  zurück. 
Der  Bej  an  ihrer  Spitze  dringt  auf  den  frechen  Eindringling  ein, 
und  während  sie  sich  draufsen  streiten,  macht  Karagöz  die  Haus- 
thür  zu  und  behält  das  Mädchen  frohlockend  für  sich  selber  (nach 
Jacob  Heft  2,  S.  VII— IX). 

Urdrollig  ist  es,  diesen  lasciven  Karagöz  in  einem  Mimus 
als  den  Tugendwächter  der  Frau  seines  Freundes  Hadschievad 
anzutreffen.  Ich  gebe  den  Inhalt  dieses  Mimus  „Karagöz  als 
Opfer  seiner  Tugend"  mit  den  Worten  Gerard  de  Nervals,  der 
dieses  ziemlich  heikle  Stück  geistvoll  und  geschickt  erzählt  (bei 
Champfleury  a.  a.  0.  S.  27-36):  „Hinter  der  Leinwand  wurde 
eine  Dekoration  angebracht,  welche  einen  Platz  von  Konstanti- 
nopel darstellte,  mit  einem  Brunnen  und  Häusern  davor. 

Bald  sah  man  aus  einem  Hause  einen  Türken  kommen,  be- 
gleitet von  einem  Sklaven,  welcher  einen  Reisesack  trug.  Er 
schien  unruhig,  und  indem  er  plötzlich  einen  Entschlufs  fafste, 
klopfte  er  an  ein  anderes  Haus  des  Platzes  und  rief:  „Karagöz! 
Karagöz!  Bester  Freund,  schläfst  du  noch?-4 

Karagöz  steckte  die  Nase  durchs  Fenster,  und  als  man  ihn 
sah,  tönte  ein  Schrei  der  Bewunderung  durch  den  ganzen  Zu- 
hörerraum; dann  bat  er  um  Zeit,  sich  ankleiden  zu  können,  er- 
schien bald  und  umarmte  seinen  Freund. 


654  Siebentes  Kapitel. 

Höre,  sagte  dieser,  ich  erwarte  von  dir  einen  grofsen  Dienst ; 
eine  wichtige  Angelegenheit  zwingt  mich,  nach  Brussa  zu  gehen. 
Du  weifst,  dafs  ich  mit  einer  sehr  hübschen  Frau  verheiratet 
bin;  ich  will  es  dir  gestehen,  dafs  es  mir  schwerfällt,  sie  allein 
zu  lassen,  da  ich  nicht  viel  Vertrauen  zu  meinen  Dienern  habe  . . . 
Nun  wohl,  mein  Freund;  heute  Nacht  ist  mir  ein  guter  Gedanke 
gekommen;  —  dich  zum  Schützer  ihrer  Tugend  zu  bestellen. 
Ich  kenne  die  zarte  und  tiefe  Anhänglichkeit,  die  du  zu  mir 
fühlst;  ich  bin  glücklich,  dir  diesen  Beweis  meiner  Achtung  zu 
geben. 

—  Unglücklicher,  sagte  Karagöz,  bist  du  närrisch?  Sieh 
mich  doch  ein  wenig  an! 

—  Nun,  und? 

—  Wie,  begreifst  du  nicht,  dafs  deine  Frau,  wenn  sie  mich 
sieht,  dem  Drange  nicht  wird  widerstehen  können,  mir  anzu- 
gehören? 

—  Ich  sehe  das  nicht,  sagte  der  Türke;  sie  liebt  mich,  und 
wenn  ich  eine  Verführung  fürchten  müfste,  der  meine  Frau  er- 
liegen könnte,  dann  wird  die  nicht  von  deiner  Seite  kommen, 
mein  armer  Freund;  dafür  bürgt  mir  zunächst  deine  Ehre  —  und 
dann  —  Ah  bei  Allah!  du  bist  sonderbar  gebaut!  .  .  .  Kurz,  ich 
rechne  auf  dich. 

Der  Türke  entfernt  sich. 

Blindheit  der  Menschen,  ruft  Karagöz  aus.  Ich!  sonderbar 
gebaut!  sage  doch:  zu  gut  gebaut,  zu  schön,  zu  verführerisch, 
zu  gefährlich. 

Schliefslich,  sagt  er  im  Selbstgespräch,  mein  Freund  hat 
mir  die  Bewachung  seiner  Frau  anvertraut,  ich  mufs  dieses  Ver- 
trauen rechtfertigen.  Ich  will  in  das  Haus  gehen  und  es  mir 
auf  dem  Divan  bequem  machen  ...  0  Unglück!  Seine  Frau,  neu- 
gierig, wie  sie  alle  sind,  wird  mich  sehen  wollen  .  .  .  und  sobald 
sie  ihre  Augen  auf  mich  geworfen  hat,  wird  sie  in  Staunen  ge- 
raten und  alle  Zurückhaltung  verlieren.  Nein!  ich  will  nicht 
hineingehen,  ich  werde  an  der  Thür  dieses  Hauses  stehen  bleiben 
wie  ein  Soldat  auf  Schildwache.  Eine  Frau  ist  eine  so  geringe 
Sache  und  ein  wahrer  Freund  ein  so  seltenes  Gut. 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  655 

Diese  Phrase  erregte  einen  wahren  Beifallsturm  unter  der 
männlichen  Zuhörerschaft  im  Kaffeehaus.  Sie  wurde  als  Couplet 
vorgetragen.  In  dieser  Art  Stücke  kommen  nämlich  vielfältig, 
wie  bei  uns,  Volkslieder  vor. 

Karagöz  zeichnete  sich  auf  der  weifsen  Leinwand  (der 
perde)  .  .  wunderbar  ab  mit  seinem  schwarzen  Auge,  seinen  schön 
geschwungenen  Augenbranen  und  den  am  meisten  in  die  Augen 
springenden  Vorzügen  seiner  ungezwungenen  Art  (Phallus). 
Seine  Eigenliebe  hinsichtlich  von  Verführungen  schien  die  Zu- 
hörer nicht  in  Erstaunen  zu  setzen. 

Nach  seinem  Liede  schien  er  in  Betrachtungen  versunken. 
Was  soll  ich  thun?  sagte  er  zu  sich;  zweifellos  an  der  Thüre 
warten,  bis  mein  Freund  zurückkommt.  Aber  diese  Frau  kann 
mich  heimlich  durch  die  Fenstervorhänge  sehen.  Aufserdem 
kann  sie  Lust  haben,  mit  ihren  Sklavinnen  ins  Bad  zu  gehen. 
Kein  Mann  könnte  seine  Frau  hindern,  unter  diesem  Vorwande 
auszugehen;  dann  kann  sie  mich  mit  Mufse  bewundern  .  .  .  0 
thörichter  Freund,  warum  hast  du  mir  diese  Überwachung  an- 
vertraut? 

Hier  geht  das  Stück  ins  Phantastische  über.  Um  sich  den 
Blicken  der  Frau  zu  entziehen,  legt  sich  Karagöz  auf  den  Bauch 
und  sagt:  „Ich  werde  wie  eine  Brücke  aussehen4*. 

Die  Possen,  die  Karagöz  jetzt  treibt,  sind  so  heikler  Natur, 
dafs  ich  sie  lieber  französisch  lasse1). 


*)  Champfleury  a.  a.  0.  S.  30 — 32 :  „11  faudrait  se  rendre  compte  de  sa 
conformation  particuliere  pour  comprendre  cette  excentricit€.  On  peut  se  figurer 
Polichinelle  posant  la  bosse  de  son  ventre  comme  une  arche,  et  figurant  le  pont 
avec  ses  pieds  et  ses  bras.    Seulement,    Caragueuz  n'a  pas  de  bosse  svr  les   /paules. 

Passent  une  foule  de  gens,  des  chevaux,  des  chiens,  une  patrouille,  puis  enfin 
un  arabas  traine  par  des  boeufs  et  chargt  de  Jemm.es.  L'infortune  Caragueuz  se 
live  a  temps  pour  ne  pas  servir  de  pont  ä  une  si  lourde  machine. 

Une  sehne  plus  comique  a  la  reprtsentation  que  facile  ä  d4crire  succide  a 
celle  oü  Caragueuz,  pour  se  dissimuler  aux  regards  de  la  femme  de  son  ami,  a 
voulu  avoir  fair  cfun  pont.  11  faudrait,  pour  Vexpliquer,  remonier  au  comique 
des    atellanes    laünes.     Dans   cette   seine,    d"une   exentricite   qu'il  serait  difficile  de 


656  Siebentes  Kapitel. 

„Plötzlich  tritt  die  Gattin  seines  Freundes  aus  dem  Hause, 
um  sich  ins  Bad  zu  begeben.  Karagöz  hat  keine  Zeit,  sich  zu 
verbergen,  und  die  Bewunderung  dieser  Frau  bricht  in  Freuden- 
rufen los,  —  —  die  den  Zuschauern  sehr  erklärlich  sind. 

Was  für  ein  schöner  Mann!  ruft  die  Dame;  ich  habe  nie 
etwas  Ähnliches  gesehen. 

Entschuldigen  Sie,  gnädige  Frau,  sagt  Karagöz,  immer 
tugendhaft;  ich  gehöre  nicht  zu  den  Menschen,  mit  denen  man 
sprechen  kann,  ...  ich  bin  ein  Nachtwächter,  einer  von  denen, 
welche  mit  ihrer  Hellebarde  klopfen,  um  das  Publikum  zu  be- 
nachrichtigen, wenn  eine  Feuersbrunst  in  dem  Viertel  ausge- 
brochen ist. 

—  Und  wie  kommt  es,  dafs  du  noch  um  diese  Stunde  hier 
zu  finden  bist? 

—  Ich  bin  ein  armer  Sünder  .  .  .  Obgleich  ich  ein  guter 
Muselman  bin,  habe  ich  mich  von  Giaurs  ins  Wirtshaus  verführen 
lassen.  Dann  hat  man  mich,  ich  weifs  selbst  nicht  wie,  sinnlos 
betrunken  auf  diesem  Platze  liegen  lassen  .  .  .  Mag  Mahomet  mir 
verzeihen,  dafs  ich  seine  Gebote  übertreten  habe! 

—  Armer  Mann!  Du  mufst  krank  sein! . . .  Tritt  ins  Haus, 
du  kannst  dich  dort  ausruhen. 

—  Und  die  Dame  versucht,  die  Hand  des  Karagöz  zum 
Zeichen  der  Gastfreundschaft  zu  fassen. 


faire  supporter  chez  nous,  Caragueuz  se  couche  sur  le  dos  et  desire  avoir  Vair 
d'un  pieu. 

La  foule  passe  et  chacun  se  dit:  —  Qui  a  plante'  la  ce  pieu?  il  n'y  en  avait 
pas  hier.     Est-ce  du  chene,  est  ce  du  sapin? 

Arrivent  des  blanchisseuses  revenant  de  la  fontaine,  qui  etendent  du  linge  sur 
Caragueuz.  II  Japercoit  avec  plaisir  que  sa  supposition  a  reussi.  Un  instant 
apres,  on  voit  entrer  des  esclaves  menant  des  chevaux  a  l'abreuvoir;  un  ami  les 
rencontre  et  les  invite  ä  entrer  dans  une  galere  {sorte  de  cabarei)  pour  se  rafraichir; 
mais  oü  attacher  les  chevaux?  —  Tiens,  voilä  un  pieu,  et  on  attache  les  chevaux 
ä  Caragueuz. 

Bientöt  des  chants  joyeux,  provoque~s  par  l'aimable  chaleur  du  vin  de  Tene'dos, 
retentissent  dans  le  cabaret.  Les  chevaux  impatients  s'agitent.  Caragueuz,  tir€  a 
quatre,  appelle  les  passants  ä  son  secours  et  demontre  douloureusement,  qu'il  est 
victime  d'une  erreur.     On  le  ddivre  et  on  le  remet  sur  pied". 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  657 

—  Rühren  Sie  mich  nicht  an,  Madame,  ruft  der  letztere  mit 
Schrecken  .  .  .  Ich  bin  unrein.  Ich  kann  garnicht  in  ein  an- 
ständiges muselmanisches  Haus  eintreten;  ich  bin  durch  die  Be- 
rührung eines  Hundes  befleckt.  —  — 

—  Wie  ist  das  gekommen?  fragt  die  Dame. 

—  Der  Himmel  hat  mich  gerecht  gestraft.  Ich  hatte  bei 
meiner  schrecklichen  Schwelgerei  in  dieser  Nacht  Confitüren 
von  Weintrauben  gegessen.  Als  ich  hier  auf  der  Strafse  er- 
wachte, merkte  ich  mit  Schrecken,  dafs  ein  Hund  mir  das 
Gesicht  beleckte.  Das  ist  die  Wahrheit.  Allah  möge  mir  ver- 
zeihen! 

Von  allen  falschen  Angaben,  die  Karagöz  macht,  um  die 
Angriffe  der  Frau  seines  Freundes  zurückzuweisen,  scheint  diese 
die  siegreichste  zu  sein. 

„Armer  Mann,  sagt  sie  mitleidig;  wahrhaftig,  niemand  wird 
dich  anrühren  dürfen,  bevor  du  nicht  fünf  Waschungen  von  je 
einer  Viertelstunde  vorgenommen  und  dabei  Verse  des  Koran 
recitiert  hast.  Gehe  zum  Brunnen,  und  wenn  ich  vom  Bade 
zurückkehre,  will  ich  dich  hier  wiederfinden." 

Die  Dame  kehrt  zurück  und  mit  ihr  eine  ganze  Schaar  von 
Freundinnen,  die  sie  im  Bade  getroffen  hat,  alle  fallen  liebestoll 
wie  Mänaden  über  ihn  her.  Da  fährt  plötzlich  der  französische 
Gesandte  in  einer  prächtigen  Kutsche  vorüber;  Karagöz,  der 
schon  in  Gefahr  ist,  zu  unterliegen,  stellt  sich  unter  fran- 
zösischen Schutz  und  fährt  vor  den  Augen  der  verzweifelnden 
Damen  schnell  davon.  Der  Gatte  kehrt  zu  seiner  Frau  zu- 
rück, deren  Tugend  Freund  Karagöz  durch  seine  Aufopferung 
bewahrt  hat. 

Diese  Idee,  den  gewohnten  Verführer,  wie  er  unablässig  in 
den  griechischen  und  römischen  Mimen  vorkam, 

in  quibus  assidue  cultus  procedit  adutier, 

auch  einmal  die  Rolle  des  Tugendwächters  spielen  zu  lassen,  ist 
so  übermütig-lustig  und  zugleich  so  genial,  dafs  schwerlich  ein 
türkischer   Karagözdichter    der   Erfinder    war,    das    dürfte   auf 

Reich,    Mimua.  40 


658  Siebentes  Kapitel. 

einen    griechischen  Mimographen    zurückgehen.     Jedenfalls    gilt 
auch  von  den  Karagözstücken  Ovids  Wort  über  die  Mimen: 

qui  semper  vetiti1)  crimen  amoris  habent. 

Gelegentlich  sehen  wir  Karagöz  auch  als  Ehestifter  auf- 
treten, so  besonders  in  „  Die  Teufelslist  oder  die  Geisterbannerei 
des  Karagöz«  (vgl.  Jacob  Heft  3,  S.  17  folg,). 

Karagöz  hat  von  mehreren  geheimnisvollen  Männern,  die  er 
im  Traume  gesehen  hat,  eine  Beschwörungsformel  gelernt,  Kranke 
und  Verrückte  zu  heilen.  Er  einigt  sich  mit  Hadschievad  dahin, 
dieser  soll  ihm  alle  Kranken  und  Verrückten  bringen,  damit  er 
sie  heile,  und  dieser  bringt  ihm  Tusun  Bej;  aber  Tusun  stellt 
sich  nur  wahnsinnig,  in  Wirklichkeit  liebt  er  Dilber,  die  Tochter 
des  Hadschievad,  und  Karagöz  hat  vorher  ein  Gespräch  zwischen 
Dilber  und  Tusun  belauscht  und  gehört,  wie  Dilber  dem  Tusun 
einen  vergrabenen  Schatz  des  Hadschievad  anzeigt,  den  dieser 
dem  Vater  Hadschievad  als  Brautgabe  übergeben  soll.  Tusun 
gewinnt  Karagöz'  Beihilfe;  dieser  weifs  Hadschievad  durch  die 
schnelle  Heilung  Tusuns  und  durch  den  geheimnisvollen  Hinweis 
auf  den  verborgenen  Schatz  so  einzuschüchtern,  dafs  er  seine 
Einwilligung  in  die  Heirat  Tusuns  und  Dilbers  giebt.  Karagöz 
empfiehlt  sich,  um  Hochzeitskleider  anzulegen.  Warum  sich 
Tusun  krank  und  geistesgestört  anstellt,  ist  aus  diesem  Stück, 
wie  Jacob  hervorhebt,  absolut  nicht  zu  ersehen.  Desto  deut- 
licher wird  dieser  Zusammenhang  in  dem  alten  byzantinischen 
Mimus  gewesen  sein,  der  die  letzte  Quelle  dieses  Stückes  ist. 
Wenn  Karagöz  hier  als  Arzt  auftritt,  so  erinnern  wir  uns  daran, 
dafs  der  Arzt  schon  im  lakonischen  Mimus,  dem  Dikelon,  eine 
typische  Figur  war  und  seitdem  als  unwissender  und  prahlerischer 
Charlatan  ein  stehender  Typus  des  Mimus  ist.  Nicht  selten  hat 
er  sogar  die  Titelrolle;  einen  „Medicus"  schrieb  Pomponius,  eine 
„Mania  medica"  Novius;  noch  Choricius  kennt  den  Arzt  als  mimi- 
schen Typus.  Wie  Karagöz  soll  der  Arzt  in  den  „Menaechmi"  des 
Plautus   einen    vermeintlich  Wahnsinnigen    heilen.     Karagöz  ist 

l)  ficti  in  einzelnen  Codd.,  wohl  aus  foedi  verdorben,  was  dann  die  ur- 
sprüngliche Lesart  wäre ;  vetiti  nur  sinngeraäfser  Ersatz  für  das  sinnlose  ficti? 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  659 

zugleich  hier  eine  Art  Beschwörer,  wie  es  auch  der  Negromant 
Philistions  war.  Beschwörungen  sind  überhaupt  seit  Sophrons 
rvvaTxfg  al  xdv  Ütöv  (fuvxi  i^släv  und  Theokrits  OaquaxtvxQiat 
ein  gewöhnliches  Thema  des  Mimus. 

Besonders  beliebt  ist  im  Mimus  die  Darstellung  nicht  blofs 
von  Zank  mnd  Streit,  sondern  auch  eines  regulären  Wettstreites 
zwischen  zwei  typischen  Personen.  In  einer  Atellane  des  Xovius  wird 
sogar  der  Wettstreit  zwischen  Tod  und  Leben  vorgeführt  (Mortis 
et  vitae  iudicium).  Bei  den  Gerichtsscenen  im  Mimus  werden 
Verklagte  und  Kläger  einen  regelrechten  Agon  aufgeführt  haben. 
Des  Herondas  Kuppler  Battaros  vor  Gericht  führt  uns  als  recita- 
tiver  Mimus  nur  den  einen  Teil  dieses  Streites  vor.  Noch 
Choricius  weist  darauf  hin,  wie  im  Mimus  gerne  neben  dem 
guten  Redner  auch  ein  schlechter  auftrete,  und  an  ihnen  könne 
man  erkennen,  was  richtige  und  was  falsche  Beredsamkeit  sei 
(vgl.  oben  S.  214).  Die  beiden  haben  also  doch  wohl  im  Wett- 
streite Proben  ihrer  Kunst  abgelegt.  Dieses  mimische  Motiv, 
das  noch  weiter  wirkt  in  der  AixvSov  xal  (faxfjg  (fvyxQiaig  des 
Cynikers  Meleager  und  später  noch  in  den  Streitgedichten  des 
Mittelalters,  in  denen  Sommer  und  Winter,  Wein  und  Wasser, 
Leinwand  und  Wolle  oder  Phyllis  und  Flora,  die  Geliebte  eines 
Ritters  und  eines  Klerikers  um  den  Vorrang  streiten1),  ist  nun 
auch  eines  der  Hauptthemata  im  türkischen  Mimus. 

Dort  metamorphosiert  sich  Karagöz  zum  Dichter  und  ringt 
in  einem  Kaffeehause  mit  einer  ganzen  Gesellschaft  von  Dichtern 
um  den  Preis.  Im  ersten  Akte  kommt  Hadschievad  zu  Karagöz, 
und  nach  mancherlei  Hin-  und  Herreden  erzählt  ihm  Hadschievad, 
er  sei  an  dem  Cafe"  der  Dichter  vorübergekommen  und  hätte  ein 
lautes  Geschrei  gehört.  Die  Dichter  säfsen  da,  hätten  die 
Mandoline  in  der  Hand  und  spielten  und  sängen.  Zugleich 
hörte  Hadschievad,  sie  wollten  einen  grofsen  Dichterwettstreit 
anheben,  und  wer  darin  siege,  solle  einen  Shawl  und  zehn  Gold- 
stücke erhalten.  0!  meint  Karagöz,  da  müssen  wir  hin,  die 
zehn  Goldstücke  können  wir  brauchen.  Ja,  sagt  Hadschievad, 
kannst   du   denn    die    Laute   schlagen?     Gewifs,    sagt  Karagöz. 

*)  Vgl.  Creizenach,  Geschichte  des  neueren  Dramas  I,  S.  384. 

42* 


660  Siebentes  Kapitel. 

Hadschievad  giebt  zu  bedenken,  er  meine  aber  nicht  etwa  zer- 
schlagen. Karagöz  weist  alle  Zweifel  zurück  und  beide  gehen 
ins  Cafe\  Schon  hat  der  Wettstreit  begonnen,  einer  von  den 
Dichtern  singt  eben,  doch  hier  gebe  ich  lieber  den  Text  selbst 
in  von  Luschans  Übersetzung  (a.  a.  0.  S.  128—132): 

K. :  Hadschi  E'iwad,  ist  das  der  Ort,  von  dem  Du  gesprochen  ? 
Was  sind  das  für  sonderbare  Kerle,  und  was  halten  sie  in  der 
Hand? 

H.:  Aber  um  Gotteswillen,  Karagös,  sei  doch  still,  schreie 
nicht  so  laut;  das  sind  hier  die  Dichter,  von  denen  ich  Dir  er- 
zählt, mit  ihnen  sollst  Du  Dich  in  den  Wettstreit  einlassen; 
jetzt  mufst  du  zeigen,  was  Du  kannst. 

K.:  Oho,  oho,  was  glaubst  du  denn!  Haaaaah,  Ihr  Dichter, 
ich,  der  Karagöz,  ich  bin  gekommen,  um  mit  Euch  um  den  Preis 
zu  ringen,  legt  nur  los,  dafs  ich  Euch  höre! 

Einer  von  den  Dichtern:  Bitte,  wollen  Sie  nur  näher  treten. 
Willkommen,  sehr  willkommen!  Caf6-Wirth,  mache  einen  Cafe" 
mit  Zucker. 

Caf6-Wirth:  Mit  Zucker,  kommt  gleich,  gleich. 

K.:  Ruhig,  Du!  Mein  Trommelfell  ist  zerplatzt,  hat  man  Dir 
denn  Deinen  Hals  mit  einer  Wasserleitungs-Röhre  angebohrt! 

(Es  wird  Cafe"  gereicht,  alle  trinken.) 

Ein  Dichter:  Nun  Karagös,  bist  Du  gekommen,  um  Dich  mit 
uns  zu  messen? 

K.:  Ja,  was  glaubst  Du  denn!  Schickt  es  sich  vielleicht, 
dafs  diese  Goldfüchse  da  kleben  bleiben  und  ich  mit  hungrigem 
Auge  daneben  stehe. 

Ein  Dichter:  Dann  bitte,  tragen  Sie  nur  vor,  wir  werden 
zuhören. 

K.:  Nein,  tragt  ihr  vor,  ich  werde  Gegenreime  machen. 

Ein  Dichter:  Gut,  dann  hören  Sie  zu. 

Komm,    wir  wollen   fröhlich   sein,    eine  Nacht,    heimlich  in 

Bebek, 
Wollen  uns  vom  Schicksal  nach  Herzenslust  unseren  Wunsch 

erfüllen  lassen. 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  661 

Lasse    doch    durch   das   Heilmittel  Deines  Besitzes  Deinen 

Kranken  gesunden, 
Oder  soll  er  wol  so  ganz  unglücklich  im  Bette  bleiben? 
All  mein  Eifer  und  meine  Mühen  sind  umsonst  gewesen 
Die  Silberarmige  hat  sich  meiner  Dicht  erbarmt. 

Sie  fertigt  den  Liebhaber  mit  Versprechungen  ab  und  läfst 

sich  nicht  umarmen. 
Ihresgleichen  ist  nicht  wieder  zu  finden  an  Bosheit. 
Ihr  Ebenbild  hat  ein  Mensch  oder  Menschenkind  nie  noch  ge- 
sehen 
Vielleicht    dafs   ihresgleichen   an  Schönheit  sich  unter  Engeln 

nur  findet. 
Der  Sänger  Nijme  soll  Tag  und  Nacht  seufzen, 
Die  Liebste  zu  erringen    soll    stets  nur  sein  Wunsch  sein. 

Bitte,  Karagös,  die  Reihe  ist  an  Ihnen.     Karagös  singt: 

Sieh  unsere  Hütte,  sie  füllt  die  Welt  mit  Gestank 
Empfange  von  mir  ein  Sieb  als  Ehrengeschenk. 

Gestohlen  hatte  ich  den  Becher  des  Scherbet-Verkäufers 

Gefangen  wurde  ich,  und  lange  Zeit  blieb  ich  im  Bagno. 
Meine  Zeit  verging  mit  Schmieden  von  Rosten  und  Feuerzangen 
Und  doch  war  meine  Mühe  und  Arbeit  keinen  Heller  wert. 

Mir  genügt  auch  irgend  eine  grobe  Matte, 

Denn  hast  Du  gehört,  dafs  je  ein  Zigeuner  in  einem  Bette 

schläft? 
Es  giebt  keinen  gröfseren  Fatzke,  als  den  Hadschi-Eiwad, 
Vielleicht  giebt  es  seinesgleichen  unter  Affen  und  Meerkatzen! 

Nicht  wahr,  das  ist  schön!  Ha,  Ha,  Ha! 

H.:  Bravo,  Karagös,  bravo,  ich  wufste  gar  nicht,  dafs  Du 
solch  ein  Dichter  seiest! 

K.:  Ja,  was  glaubst  Du  denn,  es  giebt  noch  manches  an 
mir,  von  dem  Du  nichts  weifst. 

Dichter:  Karagös,  ich  werde  noch  etwas  singen,  und  wenn 
Du  auch  darauf  eine  Antwort  hast,  so  bist  Du  mein  Meister, 
und  ich  küsse  Dir  die  Hände  zur  Anerkennung. 


662  Siebentes  Kapitel. 

K. :  Singe  nur  immer  zu,  so  lange  Du  kannst,  (so  lange 
als  Deine  Hand  reicht)  meine  Antwort  ist  immer  bereit. 

Nachdem  auch  dieser  Dichter  besiegt  ist  und  Hadschievad 
Karagöz  belobt  hat,  kommt  ein  anderer  Poet  an  die  Reihe, 
dessen  Lied  gleichfalls  vom  Karagöz  parodiert  wird.  Dann  fragt 
Karagös: 

Nun,  stimmt  es? 

D.:  Ja,  stimmen  thut  es,  aber  gehört  sich  eine  solche  Parodie? 

K.:  Wenn  es  Dir  nicht  gefällt,  singe  nur  ein  anderes  Lied! 

Schliefslich  müssen  sich  alle  Dichter  für  besiegt  erklären, 
und  Karagöz  erhält  den  Shawl  und  die  zehn  Goldstücke. 

Unerklärt  bleibt  in  diesem  Mimus,  woher  dem  sonst  höchst 
ungebildeten  Karagöz  die  Dichtergabe  so  plötzlich  kommt.  In 
„Karagöz  als  Dichter"  (Karagözün  aschyklyky),  einem  gedruckten 
Karagözstück,  das  es  Jacob  in  Konstantinopel  zu  erwerben  gelang, 
und  das  dasselbe  Thema  behandelt  aber  variiert,  wird  auch  dieser 
Umstand  erklärt.  Als  Hadschievad  vor  Karagöz'  Thür  kommt, 
fragt  dessen  Frau  aus  dem  Fenster  nach  seinem  Begehr.  Auf 
seine  Frage  nach  Karagöz'  Befinden  erzählt  sie,  mit  ihrem  Mann 
sei  es  nicht  mehr  auszuhalten,  er  sei  direkt  verrückt  geworden. 
Er  habe  nämlich  ein  Buch  in  die  Hand  bekommen,  in  dem  er 
unablässig  lese,  und  nun  fasele  er,  er  sei  ein  Dichter  geworden; 
auch  jetzt  hocke  er  wieder  über  dem  Buche.  Darauf  erscheint 
Karagöz  und  erzählt  dem  Hadschievad,  er  sei  jetzt  sa^yr  (taub) 
geworden,  worauf  ihm  Hadschievad  allerhand  Mittel  gegen 
Taubheit  anrät.  Schliefslich  kommt  denn  heraus,  er  meint,  er 
ist  schayr  (Dichter)  geworden.  Er  giebt  dann  Hadschievad  einige 
Proben  seines  neuen  Könnens,  und  dieser  rückt  nun  mit  seiner 
Nachricht  von  dem  Dichterwettstreit,  der  stattfinden  soll,  heraus, 
und  sie  gehen  ins  Caf6,  wo  sich  alles  weitere  ähnlich  wie  oben 
abwickelt.     Auf  das  Lied  des  Dichters  Kulubi: 

„Komm,  o  Dichter,  frage  nach  der  Wein-Schilderung  bei  dem, 
der  (schon)  in  dieser  Welt  trinkt, 

Frage  bei  dem,  welcher  von  dem  Dichterwein  berauscht  und 
bewufstlos  geworden  ist. 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  663 

Wenn  du  von  dem  Vogel  Greif  Kunde  zu  empfangen  verlangst, 
Frage   bei    dem,    der   über   die  sieben  Meere  zum  Gipfel  des 
Kaf  seine  Schwingen  ausbreitend  fliegt." 

antwortet  Karagöz: 

„Nach  dem  Amüsement  dieser  Welt  frage  den,   der  viel  Geld 

ausgiebt, 

Frag'  nach  der  Furcht  vor  dem  Tode  die  Maus  in  der  Falle. 

Wenn  du  sprichst:  „Was  ist  Unverschämtheit?"  komm,  Sänger 

Kulubi, 

Frag   bei    dem,    der   im  Wettstreit   überwunden  mit  Schande 

flieht.  ■ 

Kulubi  erklärt  sich  vom  Dichter  Karagöz  besiegt  und  ruft  seine 
beiden  Kollegen,  die  Karagöz  gleichfalls  überwindet,  den  letzten, 
indem  er  ein  Rätsel  löst,  das  er  zufällig  kurz  vorher  von  Had- 
schievad  gehört  hat.  Man  sieht  hier  überall  die  bessere  Moti- 
vierung (vgl.  Jacob  Heft  3,  S.  7  ff.). 

Zum  Schlufs  giebt  es  dann  noch  in  der  Version  des  Wett- 
streites, die  Künos  kennt,  eine  Prügelei  zwischen  Karagöz  und 
Hadschievad  bei  der  Verteilung  des  Siegespreises,  bis  beide  end- 
lich, ein  Lied  singend,  abziehen. 

Es  ist  lustig  genug,  wie  Karagöz  die  vornehmen,  idealistischen, 
ja  sogar  ein  wenig  verstiegenen  lyrischen  Lieder  der  Dichter  in 
seiner  burlesken  Weise  travestiert.  Der  realistische  Mimus  liebte 
ja  schon  bei  den  Hellenen,  seinen  Gegensatz  gegen  die  idea- 
listische Poesie  herauszukehren.  Wie  der  mythologische  Mimus 
die  idealistische  Heldensage  in  ihr  burleskes,  realistisches  Gegen- 
bild verkehrte,  so  travestierte  der  lyrische  Mimus  gerne  die  vor- 
nehme Lyrik.  Ich  erinnere  auch  an  die  Parodie  der  Euripi- 
deischen  Monodie  durch  Aeschylos  beim  Dichterwettstreit  in  den 
-Fröschen"  (vgl.  oben  S.  536 ff.).  Nun,  soweit  Aristophanes  von 
einem  niederen  türkischen  Karagödschi  absteht,  so  weit  steht  der 
Wettstreit  in  den  „Fröschen"  von  dem  im  türkischen  Mimus  ab. 
Aber  das  alte  mimische  Motiv  ist  in  beiden  dasselbe,  und  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  in  seiuer  Ausführung  ist  nicht  zu  verkennen, 
wenn   auch   der  Preis   in    dem    einen  der  Thron  der  tragischen 


664 


Siebentes  Kapitel. 


Kunst  und  im  anderen  zehn  Goldstücke  sind.  Wie  Dionysos  bei 
Aristophanes,  giebt  Hadschievad  einen  prächtigen  Zuhörer  ab. 
Oft  genug  wird  im  byzantinischen  Mimus  dieser  Dichterwettstreit 
vorgekommen  sein,  der  ja  in  den  Einrichtungen  des  antiken  Lebens, 
seinen  vielfältigen  dichterischen  Konkurrenzen  und  Preisen,  einen 
realen  Boden  hatte. 


Wir  erinnern  uns  nun  noch 
Karagöztiteln  wie: 
Le  mariage  de  Caragueuz 
Le  mariage  de  Hubbe  Hanum 

La  peche  de  Caragueuz 


Das  Bad 

Kanli  kavak    (blutige  Platane, 
Gespensterstück) 


gegenüber 

an   folgende  Mimentitel: 
Die  Hochzeit  (Laberius) 
Die  Braut  des  Pappus 

(Pomponius) 
Der  Thunfischer  (Sophron) 
Der  Fischer  (Sophron) 
Die  Fischer  (Theokrit) 
Die  Fischer  (Pomponius) 
Der  Fischer  (Laberius) 
Der  Gesundbrunnen  (Laberius) 
Das  Gespenst    (Mimograph 

Catullus). 


Zuletzt  will  ich  noch,  damit  man  sieht,  in  wie  hohem  Grade 
das  Karagözspiel  in  Nordafrika  vergröbert  und  verschlechtert  wird, 
ein  tunesisches  Stück  mitteilen,  welches  Champfleury  aus  Paul 
Arene  „Vingt  jours  en  Tunisiett  mitteilt  (a.  a. 0.  S.  95 — 99):  „Bald 
erscheint  ein  schwarzes  Schattenbild,  welches  auf  dem  Grunde 
des  erleuchteten  Rahmens  mit  Händen  und  Füfsen  heftig  gesti- 
kuliert. Doch  das  ist  noch  nicht  Karagöz,  sondern  ein  Ein- 
wohner der  Stadt,  ein  Bürger  mit  einem  Turban  auf  dem  Kopfe, 
der  Appetit  auf  einen  guten  Fisch  hat  und  den  Auftrag  zu 
seiner  Beschaffung  einem  Neger  erteilt.  Nach  diesem  kommt 
Karagöz.  Karagöz  hat  die  Unterhaltung  zwischen  dem  Bürger 
und  dem  Neger  belauscht.  Er  erklärt,  dafs  er,  Karagöz,  den 
Fisch  essen  werde.     Damit  schliefst  der  erste  Akt. 

Im  zweiten  erscheint  Karagöz  nicht.  Wir  befinden  uns  auf 
dem  Meere  in  einer  Barke  mit  mehreren  Ruderknechten,  welche 
sehr  geistreich  hergestellt  ist.    Der  Neger  hält  die  Stange.   Vorne 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  665 

wirft  der  Eigentümer  des  Bootes  seine  Leine  in  das,  was  die 
salzigen  Tiefen  vorstellt.  Ein  grofser  Thunfisch,  mit  weifsein, 
rundem  Auge  und  offenem  Maule,  streift  unter  dem  Wasser  umher 
und  beriecht  den  Angelhaken.  Aber  der  Neger  spricht  fortwährend 
und  hindert  den  Fisch  am  Anbeifsen.  Eine  endlose  Auseinander- 
setzung zwischen  dem  Herrn  und  dem  Neger,  infolge  deren  der 
Neger  verspricht,  nicht  mehr  zu  reden.  Er  redet  wirklich  nicht 
mehr ;  aber  —  zur  grofsen  Freude  der  Zuhörer,  die  den  schmutzigen 
Witzen  dieses  rufsfarbigen  Pierrot  sehr  sympathisch  gegenüber- 
stehen —  läfst  er  anderswoher,  als  aus  dem  Munde,  ein  un- 
passendes, schallendes  Geräusch  hören,  furchtbar  wie  ein  Donner- 
schlag. 

Der  Thunfisch  rettet  sich  verstört  in  die  Abgründe.  Eine 
neue  Auseinandersetzung  des  Herrn,  begleitet  von  wütenden  Ge- 
bärden. Neue  Eide  des  Negers,  welcher  schwört,  in  Zukunft  sich 
völlig  ruhig  zu  verhalten.  Endlich  ist  der  Thunfisch  gefangen, 
man  zieht  ihn  an  Bord,  die  Ruderknechte  rudern,  die  Barke  ver- 
schwindet hinter  der  Coulisse,  und  der  zweite  Akt  hat  ein  Ende. 

Im  dritten  Akt  kommt  der  Bürger,  trägt  seiden  Fisch  unter 
dem  Arm  und  legt  ihn  auf  die  Erde.  Er  legt  sich  nebenbei  hin 
zu  Kopfende.  Karagöz  kommt  hinzu  und  legt  sich  an  das 
Schwanzende.  Unruhig  beobachtet  der  Bürger  Karagöz.  Aber 
Karagöz  schläft,  Karagöz  schnarcht.  Der  Bürger,  sicher  gemacht, 
glaubt,  einen  Augenblick  fortgehen  zu  können,  geht  weg,  und 
überläfst  den  Fisch  der  Obhut  der  Sterne. 

Als  er  mit  seinen  Freunden  wiederkommt,  die  seinen  Kauf 
bewundern  wollen,  hat  Karagöz  den  Fisch  weggenommen;  er  hat 
sich  an  die  Stelle  gelegt,  auf  den  Rücken  ausgestreckt,  und  es  läfst 
sich  erraten,  wie  gröblich  der  Bürger  sich  täuscht,  wenn  er  in  der 
finstern  Nacht  einen  frisch  geangelten  Thunfisch  zu  finden  glaubt. 

Der  erste  Kampf,  an  dessen  Ende  Karagöz  das  Feld  be- 
hauptet, wobei  er  gewohnheitsmäfsig  den  besiegten  Feind  über 
seine  sonderbare  Klinge  hat  springen  lassen. 

Vierter  Akt  und  zweiter  Kampf,  diesmal  mit  dem  Neger, 
der  verlangt,  Karagöz  solle  den  Fisch  zurückgeben. 

Der  Neger  wird  getötet.    Karagöz  schleppt  ihn  vor  die  Thür 


666  Siebentes  Kapitel. 

des  Bürgers.  Der  Bürger,  dem  nichts  an  der  blofsstellenden  Nach- 
barschaft eines  Leichnams  liegt,  schleppt  seinerseits  den  Neger 
vor  die  Thür  des  Karagöz.  Man  zerrt  den  unglücklichen  Neger 
eine  Weile  hin  und  her.  Endlich  entschliefst  man  sich  zu  einem 
Vergleich.  Der  Neger  soll  mitten  auf  die  Strafse,  in  gleicher 
Entfernung  von  beiden  Häusern,  gelegt  werden.  Karagöz  mifst 
die  Strecke  ab,  aber  mit  welch  sonderbarer  Elle!  0  Mahomet! 
Aber  da  Karagöz  auf  andere  Streiche  sinnt,  legt  er  sich,  als  der 
Bürger  einmal  weggeht,  an  die  Stelle  des  Negers,  den  er  ver- 
schwinden läfst. 

Fünfter  und  letzter  Akt.  Die  Klageweiber,  die  inzwischen  be- 
nachrichtigt sind,  umringen  Karagöz,  den  sie  für  den  toten  Neger 
halten.  Sie  rufen  klagend  „you!  you!",  sie  stimmen  Totenlieder  an. 
Plötzlich  richtet  sich  der  Tote  auf:  das  ist  nicht  der  Neger,  das 
ist  Karagöz,  das  ist  der  Feind!  Weniger  tapfer  gegenüber 
Frauen  als  gegenüber  Männern,  steht  Karagöz  auf  dem  Punkte, 
das  Schicksal  des  Orpheus  zu  teilen.  Angegriffen,  zerrissen, 
mit  den  Krallen  gepackt,  in  die  Nase  und  anders  wohin  gebissen, 
bleibt  der  Unglückliche  auf  dem  Strafsenpflaster,  seufzt  und 
spuckt  sich  in  die  Hände  „prt .  .  .  prt .  .  .  prt .  .  .",  um  seine 
Wunden  einzureiben.  Da  kommen  Juden  und  wollen  ihn  be- 
graben. Sie  legen  ihn  auf  eine  Bahre,  und  ihre  genäselten 
Klagen  auf  hebräisch,  ihre  amen  und  adonai,  deren  Nachahmung 
sehr  komisch  karrikiert  wird,  bringen  die  Zuschauer  häufig  zum 
Lachen.  Schon  bat  sich  der  Leichenzug  in  Bewegung  gesetzt, 
da  richtet  sich  Karagöz  plötzlich  wild  auf.  Von  seiner  ewigen 
fixen  Idee  fortgerissen,  beschimpft  er  die,  welche  ihn  begraben 
wollten,  indem  er  sie  gegen  die  Coulissen  stöfst. 

Der  Rahmen  bleibt  einen  Augenblick  leer;  dann  erscheint 
Karagöz  wieder,  sehr  grofs,  ideal,  zehnmal  so  grofs,  wie  in  dem 
Stück,  der  Gargantua  unter  den  Karagöz'.  Er  macht  Luft- 
sprünge und  gestikuliert  wie  ein  richtiger  semitischer  Policinell, 
er  kauderwälscht  einen  Triumphgesang.  Die  Lampe  erlischt, 
die  Posse  ist  zu  Ende." 

Nun  dürfen  wir  nicht  vergessen,  wenn  wir  den  Karagöz 
mit  dem  Mimus  identifizieren,  dafs  der  Karagöz  doch  immer  nur 


Sujets  des  Mimus  und  des  türkischen  Puppenspiels.  ßß7 

ein  armseliges  Puppenspiel  ist.  und  der  Mimus  ein  grofses, 
auf  der  vornehmen  Bühne  aufgeführtes  Drama.  "Wenn  der 
türkische  Hajaldschy  auch  ein  noch  so  grofser  Künstler  ist,  wie 
er  es  nach  von  Luschans  Bemerkungen  wirklich  hier  und  da  zu 
sein  scheint,  so  ist  er  schliefslich  doch  immer  nur  ein  Puppen- 
spieler. Trotz  alledem  fordert  noch  heute  die  türkische  Puppen- 
komödie mit  ihrer  treffenden,  wenn  auch  groben  Ethologie 
und  Biologie  die  Bewunderung  verwöhnter  europäischer  Zu- 
schauer heraus;  selbst  so  feine  Kenner  der  Poesie,  wie  Jacob, 
Künos,  von  Luschan,  Maltzan  u.  a.,  können  ihr  ihren  Beifall 
nicht  versagen.  Wie  hoch  müssen  da  erst  die  hellenischen 
Originale  gestanden  haben,  die  Mimen  Philistions  und  späterer 
byzantinischer  Mimographen,  von  denen  die  Karagözkomödie  ein 
spätes,  vielfältig  umgestaltetes,  verändertes  und  zum  Teil  ver- 
ballhorntes Abbild  bietet! 

Wie  weit  steht  andererseits  wieder  der  tunesische  Mimus  mit 
seiner  plumpen  und  groben  Spafsmacherei,  seiner  fast  zusammen- 
hangslosen Handlung,  seinem  phantastischen,  um  Lebenswahr- 
heit unbekümmerten  Schlüsse  von  einem  guten  Konstantinopeler 
Karagözstücke  ab!  Wie  ist  er  gegenüber  jener  wahren,  witzigen, 
lebendigen  Ethologie  und  Biologie  so  blöde  und  stumpfsinnig,  so 
platt  und  gemein,  und  noch  dazu  so  überaus  schmutzig!  So 
weit  wie  dieser  tunesische  Mimus  von  den  guten  Mimen  an  der 
Hauptpflegestätte  der  türkischen,  mimischen  Kunst  absteht,  so  tief 
werden  andererseits  diese  wieder  unter  ihrem  alten  Vorbilde,  dem 
byzantinischen  Mimus,  stehen.  Die  byzantinische  Hypothese  ist  ein 
grofses  Drama  der  vornehmen  Bühne,  in  dem  zahlreiche  männ- 
liche  und    weibliche  Schauspieler    agierten1).     Der  Karagödschi 

')  Nur  in  Ägypten  tritt  noch  heute  ein  phallusbewehrter  burlesker 
Darsteller  in  Person  auf,  wie  Quedenfeldt  in  einem  Briefe  von  Schweinfurth 
(a.  a.  0.  S.  906)  mitteilt:  „Der  Garagos  par  excellence  aber,  eine  Spezialität 
von  Ägypten,  ist  der  sogenannte  'Ali  Kaka',  jetzt  'Ali  Kaka  Sohn',  der  nicht 
nur  in  Cairo,  sondern  in  allen  Städten  und  auf  allen  Messen  gastiert  und 
auch  an  andern  Orten  Nachahmer  findet.  Ob  der  ursprüngliche  'Ali  Kaka' 
dieses  Genre  aufgebracht  hat,  weifs  ich  nicht,  ich  nehme  aber  an,  dafe  es 
früher  nicht  existiert  hat.  Denn  sonst  wäre  davon  in  der  Description  de 
l'Egypte  und  anderswo  die  Rede  gewesen." 


668  Siebentes  Kapitel. 

aber  ist  Mimus  und  Archimimus,  Schauspieler  und  Theater- 
direktor, ja  Dichter  und  Coulissenschieber  in  einer  Person.  Zu 
Konstantinopel  finden  sich  ja  nun  in  neuerer  Zeit  hin  und  wieder 
gedruckte  Stücke,  im  allgemeinen  aber  und  ursprünglich  wird  die 
Überlieferung  der  Karagözstücke  nur  eine  mündliche  gewesen  sein, 
wie  es  noch  heute  in  Tunis  und  Tripolis  der  Fall  ist.  So  sagt 
Quedenfeldt  (a.  a.  0.  S.  922):  „Auch  hier  (in  Tripolis)  pflanzen 
sich  die  Stücke  in  Form  einer  Erzählung  unter  den  Karaküs- 
spielern  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  in  der  Überlieferung  fort. 
Die  Dialoge  werden  jedesmal  improvisiert,  der  Sinn  ist  aber 
stets  derselbe.  Neue  solcher  Stücke  sollen  übrigens  nicht 
oder  doch  nur  sehr  selten  kreiert  werden."  Also  diese  Mimen 
werden  vom  Hajaldschy  nach  einer  Art  Canevas  extemporiert, 
wie  es  die  antiken  Mimen  ursprünglich  auch  wurden.  Aber 
diese  Improvisation  bewegt  sich  immer  im  alten  Geleise,  es  ist 
eine  Reihe  stereotyper  Figuren,  Witze  und  Scenen,  die  unab- 
lässig, wenn  auch  mannigfach  variiert,  wiederkehren.  So  ist 
der  Dichterwettstreit  bei  Künos,  besonders  in  der  Einleitung, 
mannigfach  von  demselben  Stück  bei  Luschan  abweichend,  und 
Jacob  fand  denselben  Stoff  sogar  unter  einem  andern  Titel; 
trotz  aller  Verschiedenheit  aber  war  es  doch  dasselbe  Stück ;  es 
waren  eben  verschiedene  Hajaldschys,  die  hier  dieselbe  Über- 
lieferung, jeder  in  seiner  Weise,  behandelten.  Der  Puppenspieler 
ist  eben  nicht  Dichter,  sondern  Schauspieler,  und  er  hat  auch  mit 
seiner  Schauspielerei  so  sehr  selbst  im  eigentlichen  Sinne  alle 
Hände  voll  zu  thun,  dafs  er  kaum  für  selbständiges  Erfinden 
Zeit  hat l).  Schon  Thevenot  hat  nach  seiner  Schilderung  offenbar 
dieselben  burlesken  und  nicht  selten  recht  unverschämten  Stücke 
vor  250  Jahren  gesehen,  wie  sie  heute  noch  aufgeführt  werden. 
Die  Karagödschis  ziehen  mit  dem  alten,  in  ein  Puppenspiel 
verwandelten  Mimus  in  den  Städten  Asiens  und  Afrikas  umher, 
wie  es  ebenso  die  griechischen  Mimen  thaten;  ich  erinnere  z.  B. 
an  die  weiten  Gastreisen  der  Mime  Theodora. 


J)  Wiederholt  ist  von  Reisenden  die  aufserordentliche  schauspielerische 
Gewandtheit  des  Hajaldschy  gelobt  worden.  Er  ist  nicht  selten  ein  wabrer 
Künstler,  der  seine  Rolle  trefflich  spielt. 


Der  griechische  Mimus  als  Puppenspiel.  669 

Das  Repertoire  des  byzantinischen  Mimus  war  ein  ungemein 
reiches.  Von  Philistion  und  den  übrigen  griechischen  und  byzantini- 
schen Mimographen  haben  Hunderte  von  Mimen  existiert,  die  un- 
ablässig zur  Aufführung  kamen.  Diesen  Kreis  hat  der  Karagödschi 
natürlich  sehr  eingeschränkt;  aber  die  gebräuchlichsten  mimischen 
Stoffe  hat  er  doch,  soweit  sie  sich  ins  Türkische  übertragen 
liefsen,  beibehalten.  Ein  hervorragender  Karagödschi  soll  für 
jede  Nacht  im  Monat  Ramasan  ein  besonderes  Karagözstück 
bereit  halten,  das  wären  also  30  verschiedene  Stücke1)-  Wenn 
aber  heute  selbst  hochgebildete  und  gelehrte  Europäer  am 
türkischen  Karagöz  trotz  seiner  nicht  selten  groben,  ja  gemeinen 
Zoten  ihre  helle  Freude  haben,  so  bethätigt  hier  eben  die  alte 
Biologie  und  Ethologie  des  hellenischen  Mimus  noch  in  dieser 
verstümmelten  und  verzerrten  Form  ihre  unverwüstliche  Kraft, 
Wahrheit  und  Schönheit. 


vn. 

Der  griechische  Mimus  als  Puppenspiel. 

Wir  haben  bisher  so  gesprochen,  als  ob  der  türkische 
Hajaldschy  selbst  den  Mimus  zum  Puppenspiel  gemacht  hätte; 
damit  würden  wir  aber  seiner  Erfindungskraft  wohl  zuviel  Ehre 
erweisen.  Schon  viele  Jahrhunderte,  ja  vielleicht  schon  zwei 
Jahrtausende  vor  ihm  hat  der  griechische  Mimus,  der  das 
Dionysostheater  eroberte,  sich  zugleich  auch  zum  Puppentheater 
herabgelassen.  Hier  müssen  wir  kurz  auf  die  Geschichte  des 
griechischen  Puppenspiels  eingehen.  Schon  der  Mimenprinzipal 
in  Xenophons  „Gastmahl",  dessen  Handlung  ins  Jahr  422  ver- 
legt ist,  führt  aufser  seinen  mimischen  Tänzern  auch  Mario- 
netten mit  sich  und  zieht  seinen  Unterhalt,  wie  er  selbst  er- 
klärt, von  den  Leuten,  die  diesen  Marionetten  zuschauen2)-  Also 
schon  im  5.  Jahrh.  v.  Chr.   gehört  das  Marionettenspiel  als  eine 


')  Vgl.  von  Luschan  a.  a.  0.  S.  141. 

*)  Xen.  conviv.  4,  55:    'Alla  /ua  Ji',    etpr),    ovx  ?nl  roirtq)  piya  (foovco. 
All'    inl    iüJ   pr\v;  'Eni  vfj  Akt  rotg  atpQoatv    ovroi  yccg  ict  iuä  vtvQoanaara 


670  Siebentes  Kapitel. 

gewöhnliche  Ergötzung  selbst  in  einen  so  vornehmen  Cirkel,  wie 
ihn  die  Gäste  des  Kallias  bedeuten.  Die  Anfänge  des  Marionetten- 
spieles in  Hellas  werden  also  wohl  noch  um  Jahrhunderte  weiter 
zurückliegen.  Plato  wie  Aristoteles  erinnern  sich  nicht  selten 
an  das  Puppenspiel.  Bei  Athenaeus  findet  sich  (I,  19 e)  die 
Notiz,  die  Athener  seien  so  grofse  Liebhaber  von  Marionetten 
gewesen,  dafs  sie  dem  Neurospasten  (Puppenspieler)  Potheinos 
die  Bühne  des  Dionysostheaters  überlassen  hätten,  auf  der  die 
Dramen  des  Euripides  aufgeführt  wurden.  Heron  (wohl  erst  in 
römischer  Zeit.  Diels.)  spricht  in  seinem  Buche  über  die  Ver- 
fertigung von  Automaten  von  der  Aufführung  einer  Tragödie 
„Nauplios"  und  ebenso  einer  Apotheose  des  Dionysos  durch 
Marionetten1).  Die  griechischen  Marionetten  müssen  einen  hohen 
Grad  von  Vollendung  besessen  haben.  Sie  erschienen  wie  lebende 
Menschen,  drehten  den  Nacken,  bewegten  das  Haupt,  Arme, 
Füfse  und  Hände,  ja  selbst  die  Augen2).  Wenn  Galen  den  ge- 
nialen Mechanismus  begreifllich  machen  will,  mit  welchem  die 
Natur  die  Muskeln  an  die  Knochen  heftet,  um  die  leichte  Be- 
weglichkeit unseres  Körpers  zu  erzielen,  gleich  kommt  ihm  der 
Vergleich  mit  den  Puppenspielern,  die  durch  geschickt  ange- 
brachte Fäden   ihre  Puppen  bewegen,    wie  sie  wollen3).     Selbst 


')  Vgl.  Les  Theätres  d'automates  en  Grece  au  ]>  siecle  avant  L'ere 
Chretienne  d'apres  les  AviofiaTonouxa  d'Heron  d'Alexandrie  par  V.  Prou. 
Memoires  presentes  par  divers  savants  ä  l'academie,  Serie  I,  Bd.  IX,  1884, 
S.  117  folg.  Siehe  Hermann  Diels,  Über  das  physicalische  System  des  Straton, 
Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  1893, 1,  S.  106  ff.  und  Richard  Schöne 
Zu  Hyginus  und  Hero,  Archaeol.  Jahrb.  V,  73  ff. 


a)  Pseudoaristoteles,  De  mundo 
C.  VI:  'Ojuolwg  de  xal  ot  vevQoanäotai 
fiCav  [irjQiv&ov  tniönaaafitvoi  noiovai 
xal  av%£va  xivsiß&ai  xal  %tT(ia  xov 
Cq>ov  xal  w/uov  xal  6(f&aj.fi6v,  toxi  d' 
ots  nävia  xä  f^iorj,  fj.£xä  xtvog  tvqv&- 
/j.(ag.  (ed.  Didot,  Paris  1854,  Vol. 
III,  638). 


Apuleius,  De  mundo  t.  II,  pag.  35 1 
(ed.Oudendorp):  Uli,  qui  in  ligneolis  ho- 
minumfiguris  gestus  movent,  quando  filum 
membri,  quod  agitare  volent,  traxerint, 
torquebitur  cervix,  nutabit  caput,  oculi 
vibrabunt,  manus  ad  omne  ministerium 
praesto  erunt,  nee  invenuste  totus  videbitur 
vivere. 


3)  Galen,  Ilegl  %Qt(ag  xwv  iv  kv^qwtiov  aufiaxi  fiooCwv  III,  cap.  XVI. 
Medicorum  graecorum  opera  ed.  Kühn  Bd.  III,  p.  262 folg.  üg  yctQ  xal  oaoi 
J/a  xivcdv  fxt]Q(v&(ov  xä  £vkiva  xwv  eiäcilm'  xtvovoiv,  Intxeiva  iwv  ä()&ptov  tig 


Der  griechische  Mimas  als  Puppenspiel.  671 

vornehme,  antike  Schriftsteller  denken  nicht  selten  an  das 
Puppenspiel.  Berühmt  sind  die  Verse  des  Horaz  (Sat.  II,  7,  81 
u.  82): 

Tu,  mihi  qui  imperitas,  aliis  servis  miser  atque 
Duceris,  ut  nervis  alienis  mobile  lignum. 

Auch  Persius  erwähnt  die  Marionetten ').  Favorinus  bemerkt 
gegen  die  Astrologie,  wenn  der  Mensch  wirklich  allein  von  den 
Sternen  abhinge,  dann  wäre  er  kein  vernunftbegabtes  Wesen, 
sondern  eine  komische  und  lächerliche  Marionette2).  Vor  allem 
erinnert  sich  Marc  Aurel,  der  so  häufig  des  Mimus  gedenkt,  in 
seinen  Selbstbetrachtungen  unablässig  an  das  Puppenspiel;  der 
menschliche  Geist,  meint  der  Kaiser,  soll  sich  den  Leidenschaften 
entgegensetzen,  die  ihn  hin  und  her  zerren,  wie  mit  Fäden3); 
erst  der  Tod  erlöst  den  Menschen  von  diesem  niedrigen,  irdischen 
Zustand  als  Marionette4).    Im  letzten  Grunde  geht  dieser  Vergleich 


Trjy    x€(ftti.rjv  tov   [xtllovjog  xwXov  xtvrj&rjata&at  xa&änjovaiv  avräg,    ovitog  t] 

ifioig  nolv  TiQoxioa  xa&£xuOTov  iwv  aQ&Qwv  hf/vriaaTo.   Vgl.  auch  I,  cap.  XVII. 

*)  Pers.  Sat.  V,  v.  128—131: 

Servitium  acre 

te  nihil  impeüit,  nee  quiequam  txtrinsecus  intrat 
quod  nervös  agitet? 

*)  Bei  Gellius,  Noctes  Atticae  XIV,  I,  23:  Iam  vero  id.  mimime  ferundum 
censebat,  quod  non  modo  casus  et  eventa,  quae  evenirent  extrinsecus,  sed  consilia 
quoque  ipsa  hominum  et  arbitria  et  varias  voluntates  adpetitionesque  et  declinationes 
et  fortuitos  repentinosque  in  levissimis  rebus  animorum  impetus  recessusque  moveri 
agitarique  desuper  e  caelo  putarent:  tamquam  quod  forte  ire  in  balneas  volueris  ac 
deinde  nolueris  atque  id  rursus  volueris,  non  ex  aliqua  dispari  variaque  animi 
agitatione,  sed  ex  necessaria  quadam  errantium  siderum  reeiprocatione  contigerit,  ut 
plane  homines  non,  quod  dicitur,  'Xoytxä  Cc5a\  sed  ludicra  et  ridenda  quaedam 
neurospasta  esse  videantur,  si  nihil  sua  sponte,  nihil  arbitratu  suo  faciunt,  sed 
ducentibus  stellis  et  aurigantibus. 

3)  Elg  ictvTov  II,  2:  Tgfrov  ovv  lazl  tö  y\ytfxovixov.  wöt  tniroTjöyTf 
yfywv  tl'  jUTjxiri  tovto  iäang  JovUvoai-  urjxtu  xa&'  ooli^v  axotvarrnTov  iivgo- 
onaarn&rivai  ■  uijxtfr*  tö  iluaoptvov,  i)  naoov  duoyioävai,  rj  fiillov  dnoöüto&ai. 
—  III,  16:  To  fikv  Timovodai  (fctnaonxüs,  xal  tcöv  ßoaxrJtuäT(ov  •  to  ö(  vt vqo- 
anaaitia&ui  ogfxvTixiiJs,  xal  icSi'  &r,oicav,  xal  tcjv  (tvdooyvvorv,  xal  <Paläoidos, 
xal  Nigurvos  •  •  •  —  X,  38 :  Miuvnoo,  Sit  tö  vevgoanaOTovv  kariv  ixtiro,  to 
fwtov  iyxtxovfi^ivov  txeivo  grjTogeia,  txeivo  fai»j.  ixtivo,  et  <f«f  tlntiv,  av&gwnoc. 

4)  a.  a.  0.  Vn,  28.    Vgl.  auch:  VI,  16;  VII,  29;  XII,  19. 


672  Siebentes  Kapitel. 

auf  Plato  zurück1).  Auch  die  Kirchenväter  denken  hie  und  da  an 
das  Puppenspiel,  um  allerhand  moralische  Betrachtungen  daran 
anzuknüpfen,  so  Clemens  von  Alexandrien2)  und  Tertullian 3),  der 
sich  häufig  auch  an  den  Mimus  erinnert,  so  besonders  in  dem 
„Büchlein  über  die  Schauspiele"  (vgl.  oben  S.  109—113).  Von 
ihm  stammt  ja  auch  die  wichtige  Notiz  über  Lentulus  und  Hostilius 
und  den  mythologischen  Mimus  (vgl.  oben  S.  112).  Auch  die 
Mimographen  Catullus  und  Laberius  erwähnt  er.  Das  Puppen- 
spiel hat  offenbar  auch  die  ganze  byzantinische  Aera  durch- 
dauert. Synesius,  der  Bischof  von  Ptolemais  und  Metropolitan 
der  ägyptischen  Pentapolis  (Cyrenaika)  (circa  370  nach  Christus), 
der,  wie  wir  oben  S.  523  sahen,  gelegentlich  an  den  Mimus 
denkt,  kennt  auch  die  oqyava  vtvqoanaata  und  vergleicht  die  Ein- 
wirkung Gottes  auf  die  Dämonen  mit  der  Art,  wie  der  Puppen- 
spieler seine  Marionetten  bewegt4).  Johannes  Philoponus  aus 
Caesarea,  Bischof  von  Alexandrien,  der  bedeutende  Grammatiker, 
Theologe,  Philosoph  und  Aristoteleserklärer  (6.  Jahrhundert  nach 
Christus)  spricht  bei  der  Erläuterung  einer  Stelle  des  Aristoteles  von 
den  kleinen  Holzfiguren,  mit  denen  man  an  den  Hochzeiten  Schau- 
spiele giebt,  und  die  von  dem  Taschenspieler  so  geschickt  in 
Bewegung  gesetzt  werden,  dafs  man  glaubt,  sie  tanzen  zu  sehen 5). 
Noch  Eustathius,    der  Erzbischof   von  Thessalonich,    verwundert 


J)  Vgl.  de  legibus  lib.  I,  p.  644» 

2)  Strom,  lib.  II,  p.  434:  vtvQoanaaxovfxivoiv  dh  rjfxwv  aipv%(ov  öixtjv 
(pvoixccig  hsoysiaig  xb  re  axovöiov  xal  xb  ixovaiov  naoikxei,  bofir)  xe  r\  ngo- 
xa&rjyovfAivr]  xovxoiv.  lib.  IV,  p.  598:  dei  yäq  xvqiov  dvat,  xbv  xqixr\v  xr\g  iav- 
xov  yvcj/urjg,  [*rj  vevQOOnaaxovfifvov  axfjv/wv  dlxx\v  doydvarv  difoqfidg  lOoog  fiovov 
■naqd  xijg  $'£w&tv  ahCag  Xafxßdvovxa, 

3)  adv.  Valent.  cap.  XVIII  u.  ö. 

4)  De  Providentia  lib.  I.  Opera  pag.  98:  "&öneo  fö  xd  vevooctnaaxa 
bqyava  xivhxcu  /uev  xal  nmavfjiivov  xov  xi\v  aQ/yv  r*is  xtv^aetog  (vSövxog  xrj 
firjxavrj'  xiveixat,  ök  ovx  £71'  anetoov  ov  yaq  otxo&ev  tyd  xfjv  Ttr\yr\v  xr\g  xivr\- 
atwg,  dXX'  'icos  r]  do&£LOa  övvafiig  ia/vu,  xal  ovx  ixXvexai  tj  ngoödw,  xrjg 
oixdag  a(pi<Jafx^irj  yev^Gscog'  xbv  avxbv  oiov  xqotiov,  tu  (p(Xs  'Ootgi,  xb  fikv 
xaXcög,  xal  xb  &uov  a\ua  xt  eJvai,  xal  ovx  tlvai  xovdf  xov  xonov,  xaxantftnso&ai 
dk  ix€Q<o&6V. 

8)  'Aqictxoxikovg    mol    Cwcov    yeviaswg    /usxa   xfjg  xov  'PiXonovov  ^jjyijffftof 
ßißUa  nivxe.    Venedig  1526,  L.  II,  p.  37. 


Der  griechische  Mimus  als  Puppenspiel.  673 

sich  über  die  Wertschätzung,  die  der  Puppenspieler  Potheinos 
bei  den  Athenern  genofs.  Zugleich  aber  geht  aus  seinen  Be- 
merkungen hervor,  dafs  diese  Kunst  auch  zu  seiner  Zeit  (12.  Jahr- 
hundert) ein  beliebtes  Unterhaltungsmittel  des  Volkes  war1). 
Wie  der  Mimus  hat  offenbar  also  auch  das  Puppenspiel  bis 
ans  Ende  des  Griechentums,  bis  zum  Untergange  von  Byzanz, 
gedauert. 

Zufällig  gehören  die  zwei  griechischen  Puppenspiele,  deren  Titel 
wir  kennen,  ins  Gebiet  des  ernsten  Dramas.  Auch  in  der  modernen 
Welt  hat  man  auf  dem  Puppentheater  häufig  Tragödien  aufgeführt. 
Jahrhunderte,  bevor  Goethe  seinen  Faust  schrieb,  wurde  der  Faust 
auf  den  deutschen  Puppenbühnen  tragiert,  und  ehe  Shakespeare 
seinen  Julius  Caesar  dichtete,  gab  es  einen  Julius  Caesar  schon 
auf  der  englischen  Puppenbühne.  In  Italien  wurden  nicht  selten 
die  Stücke  der  grofsen  Bühne  genau  ebenso  auf  dem  Puppen- 
theater gegeben,  nicht  blofs  Tragödien  und  Komödien,  sondern 
selbst  grofse  Opern,  ebenso  im  17.  Jahrhundert  in  England.  In 
Deutschland  wurden  im  17.  und  18.  Jahrhundert  die  Haupt-  und 
Staatsaktionen  bald  von  wirklichen  Schauspielern,  bald  von 
Marionetten  aufgeführt').  Aber  die  eigentliche  Domäne  des 
Puppenspiels  war  von  jeher  die  Burleske.  So  ist  unser  Kasperle- 
spiel rein  burlesk,  und  der  eigentliche  Held  der  romanischen 
Puppenspiele  ist  Pulcinell.  Das  burleske  Element  liegt  ja  auch 
schon  von  vornherein  in  der  Darstellung  von  Menschen  durch 
kleine,  bewegliche  Puppen  eingeschlossen.  Also  wird  auch  das 
antike  Puppenspiel  im  wesentlichen  burlesk  gewesen  sein.    Über 


*)  Comm.  in  Iliad.  IV,  v.  151,  1. 1,  p.  457  (Leipzig  1827):  xal  6  fitxt- 
Viyxuiv  dt  änb  twv  vtvgoonaOTovutvtav  Ztötav  rois  vivgoondaTas  öuotto; 
tnotrjOiv,  fov  naoüvvfios  ij  rtvgoanctarixrj  rfyry  tq'  fj  ntoinvaxog  jv,  <ftta\, 
Uo&sivbg  6  £f  !dih}vdh>.  rfyvr]  6k  ndviai  ov  onovdai'a  17  v(vgo7iaaTixrj,  dlXd 
rür  xar'  elöos  naidiäg. 

2)  Die  näheren  Nachweise  dafür  am  besten  bei  Magnin,  Histoire  des 
Marionettes  en  Europe,  Paris  1852,  S.  84  folg.  Der  Puppenspieler  Henry 
Rowe  spielte  gegen  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  nicht  nur  wiederholt 
Shakespeares  Dramen,  sondern  veranstaltete  sogar  von  Macbeth,  den  er  be- 
sonders häufig  auf  seiner  Puppenbühne  tragierte,  eine  recht  verdienstliche 
kritische  Ausgabe.    Magnin  a.  a.  0.  S.  258  und  259. 

Rsieh,  Mimus.  10 


674  Siebentes  Kapitel. 

das  Puppenspiel  der  vorchristlichen  Jahrhunderte,  seine  Typen  und 
Themen,  will  ich  jedoch  keine  Vermutung  wagen.  Es  existierten 
damals  so  mancherlei  Arten  des  Dramas  auf  der  grofsen  Bühne, 
nach  denen  das  Puppenspiel  sich  richten  konnte,  dafs  es  vielleicht 
dieselbe  Mannigfaltigkeit  gezeigt  hat,  die  auch  die  grofse  Bühne 
zeigte.  Als  aber  alle  diese  vornehmen,  althellenischen  Dramen 
und  ebenso  ihre  römischen  Nachahmungen  zum  Orcus  hinab- 
gestiegen waren,  als  einzig  und  allein  der  Mimus  auf  der  grofsen 
Bühne  existierte,  da  konnte  das  Puppenspiel,  dessen  Ehrgeiz  es 
von  jeher  war,  ein  Abbild  der  grofsen  Bühne  zu  liefern,  eben 
auch  nur  noch  den  Mimus  zeigen,  und  weil  es  ihn  zeigte,  hatte 
es  ein  unverwüstliches  Interesse  für  sich.  Wenn  Philoponus  die 
Aktion  dieser  Puppen  „tanzen"  (oQxsta&ai)  nennt,  so  bedenken 
wir,  dafs  man  denselben  Ausdruck  von  der  Aktion  der  Mimen 
gebrauchte.  Wenn  Favorinus  von  ludicra  et  ridenda  quaedam 
neurospasta  spricht  (vgl.  oben  S.  671,  Anm.  2),  so  meint  er  den 
Mimus,  der  zum  Puppenspiel  geworden  ist.  Tokke-spil  oder 
Dokkespiel  bedeutet  Puppenspiel,  und  in  einem  alten  lateinisch- 
deutschen Glossar  wird  Tocha  durch  mima  erklärt1). 

So  hat  denn  der  Mimus  nicht  blofs  auf  der  grofsen  Bühne 
die  Byzantiner  ergötzt,  sondern  auch  auf  dem  Puppentheater. 
Wir  wissen,  wie  besonders  auf  Hochzeiten  die  Mimen  nicht  fehlen 
durften;  nun,  die  kleinen  Leute  werden  sich  diesen  Luxus  nicht 
haben  gestatten  können;  da  mufsten  dann  dafür  die  Puppen 
tanzen.  Für  diese  an  und  für  sich  wahrscheinliche  Sitte  haben 
wir  soeben  noch  das  ausdrückliche  Zeugnis  des  Johannes  Philo- 
ponus angeführt.  Das  mimische  Puppenspiel  konnte  das  Volk 
zu  allen  Zeiten  haben,  den  Mimus  nur  bei  grofsen  Festen;  da 
wird  der  rasende  Eifer  des  Volkes  für  den  Mimus  dem  Puppen- 
spiele sehr  zu  gute  gekommen  sein.  Die  Verbreitung  des 
byzantinischen  Puppenspieles  haben  wir  uns  ähnlich  zu  denken 
wie    in  Italien  im  siebzehnten,    achtzehnten,  neunzehnten  Jahr- 


x)  Glossae  super  vitas  patrum  ap.  B.  Pezii  Thesaur.  anecd.  noviss. 
t.  I,  p.  413.  Cf.  Graff,  Althochdeutscher  Sprachschatz  t.  V,  p.  364:  Tocha, 
f.  Tocke,  Docke,  Puppe,  pupa.  n.  s.  tocha,  pupa.  F.  Tr.  tohcha,  mima. 
Em.  21. 


Karagöz  und  Pulcinell,  byzantinischer  Mimus  und  Commedia  dell'  arte.     675 

hundert  und  noch  heute,  wo  überall  auf  den  freien  Plätzen 
in  den  Städten  sich  ein  paar  Puppenspielbuden  (castelletti)  er- 
heben, die  immer  eine  grofse  Menge  umdrängt,  welche  höchst  auf- 
merksam, befriedigt  und  vergnügt  den  Puppen  zuschaut  Von 
dem  griechischen  Puppenspieler  und  wohl  nicht  direkt  von 
dem  Mimen,  übernahm  der  türkische  Hajaldschy  seine  Puppen- 
komödie. Er  hatte  es  bequem  genug,  er  brauchte  nur  an 
Stelle  des  griechischen  Wortes  das  türkische  zu  setzen  und  seine 
Puppe  statt  hellenisch  türkisch  zu  kleiden.  Das  wird  zuerst  wohl 
sogar  der  griechische  Puppenspieler  selbst  besorgt  haben,  der 
sich  seinem  neuen  türkischen  Publikum  anpafste. 

Jedenfalls  lehrt  uns  das  Repertoire  des  Karagöz  das  des 
byzantinischen  Puppenspiels  kennen,  und  dieses  wieder  wird  im 
grofsen  und  ganzen  dem  byzantinischen  Theatermimus  entsprochen 
haben.  Auf  diesem  Puppentheater  mögen  noch  alte  Philistioni- 
sche Mimen  gespielt  worden  sein,  wie  noch  am  Ende  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  der  Puppenspieler  Henry  Rowe  Shakespeares 
Dramen  gab. 


vni. 

Karagöz  und  Pulcinell. 
byzantinischer  Mimus  und  Commedia  dell"  arte. 

Wie  Karagöz  der  Hauptakteur  im  asiatischen  Puppenmimus 
ist,  so  ist  es  Pulcinell  im  europäischen.  Beide  Typen  ähneln  sich 
aufs  Haar,  und  jeder  Reisende  und  Gelehrte,  der  bisher  den 
Karagöz  sah,  erinnerte  sich  sofort  an  den  Pulcinell.  So  spricht 
Maltzan  von  des  Karagöz  grober  Polichinellmanier  (a.  a.  0.  Bd.  I, 
S.  234);  Revillod  nennt  ihn  „le  Polichinelle  arabeul),  Jean  Lux 
„le  Polichinelle  musulman*  2),  und  Künos  erklärt,  _er  entspricht 
im  Wesentlichen  .  .  .  dem  italienischen  Polichinell" 3).  In  der 
That   ist   diese  Entsprechung    eine  sehr  weitgehende.    Karagöz 


')  Bei  Champfleury  a.  a.  0.  S.  53. 

2)  Bei  Champfleury  a.  a.  0.  S.  88. 

3)  a.  a.  0.  S.  425. 

43* 


676  Siebentes  Kapitel. 

und  Pulcinell  sind  ganz  die  gleichen  Frechlinge,  die  alle  Welt 
an  der  Nase  herumführen,  verspotten  und  verhöhnen,  die  in  den 
schlimmsten  Lagen  gleich  vergnügt  und  unerschütterlich  bleiben, 
die  gleichen  Streiche  und  Schalkheiten  mit  dem  gleichen  Humor 
treiben  und  dieselben  Lazzi  ausüben;  das  Prügelholz  in  der 
Faust  schlagen  sie  sich  durch  die  schwierigsten  Situationen  hin- 
durch, ihre  Gläubiger  bezahlen  sie  gleichermafsen  mit  dem 
Knüttel,  vor  dem  auch  die  hohe  Polizei,  ob  es  nun  ein  Saptieh 
oder  ein  Sbirre  ist,  zittert;  zum  Schlüsse  aber  entrinnen  sie 
immer  noch  dem  Galgen,  so  nahe  sie  auch  nicht  selten  daran 
vorbeistreifen.  Vor  allem  aber  sind  beide  grofse  Don  Juans,  die 
bei  den  Frauen  fabelhaftes  Glück  machen.  Die  Ähnlichkeit  der 
ganzen  Figur  erstreckt  sich  bis  auf  die  Nase.  Pulcinell  hat  be- 
kanntlich eine  krumme  Hahnennase.  Nun  ist  die  Nase  des 
Karagöz  auf  der  Abbildung  bei  von  Luschan  (Tafel  I,  Fig.  1  u.  2) 
zwar  auch  krumm,  aber  doch  nicht  besonders  hervorstechend. 
Aber  auf  dem  Facsimile  des  Titelbildes  eines  türkischen  Karagöz- 
druckes  (bei  von  Luschan  S.  86)  erscheint  Karagöz  allerdings 
mit  einer  mächtigen,  schnabelähnlichen  Hakennase ;  ebenso  spricht 
Rolland  (bei  Champfleury  a.  a.  0.  S.  39)  von  „ce  grotesque 
Ottoman  au  nez  et  au  menton  crochus". 

Karagöz  kann  sich  in  alle  Figuren  verwandeln;  bald  tritt 
er  als  Sultan  auf,  bald  als  Bettler,  dann  wieder  als  Bootführer, 
Eisverkäufer,  Arzt,  Geisterbanner,  Dichter;  ja  selbst  zum  Pfahl, 
zur  Brücke  und  gar  zum  Weibe  kann  er  werden.  Dem  gegen- 
über denken  wir  an  Pulcinella  podestä,  Pulcinella  cittadino 
mercante,  Pulcinella  medico,  Pulcinella  negromante,  Pulcinella 
poeta  disperato,  Pulcinella  finto  statua,  Pulcinella  gravido.  Wenn 
in  den  Pulcinellastücken  Tod,  Teufel  und  Gespenster  auftreten, 
so  erinnern  wir  uns  an  den  Gespensterbaum,  die  Blutpappel 
(kanli  kavak),  an  die  Riesen  und  Ungeheuer  und  die  gespenstische 
Riesenschlange,  die  Karagöz  so  viel  zu  schaffen  macht.  Von 
Pulcinella  stammt  direkt  der  französische  Polichinelle  und  der 
englische  Punchinello  oder  Punch,  wie  er  gewöhnlich  heifst. 

Punch  ist  gewaltthätiger  und  gröber,  sein  Witz  ist  derber 
und  plumper,  und  insofern  ähnelt  er  dem  türkischen  Karagöz  fast 


Karagöz  und  Pulcinel),  byzantinischer  Mimus  und  Commedia  dell'  arte.     677 

noch  mehr.  Ich  verweise  hier  auf  die  Tragical  comedy  of  Punch 
and  Judy,  die  Payne  Collier  1828  herausgab.  Es  existiert  aufser- 
dem  eine  englische  Ballade,  in  der  die  Geschichte  von  Punch 
und  Judy  nach  den  alten  Puppenspielen  erzählt  wird1).  Punch 
hat  eine  reizende  Frau  Judy  und  einen  hübschen  kleinen  Sohn, 
aber  er  unterhält  nebenbei  noch  eine  Maitresse,  und  als  seine 
Frau  das  merkt,  schlägt  Punch  sie  mit  seinem  Prügelholz  tot. 
Seinen  kleinen  Sohn  wirft  er  zwei  Stock  hoch  zum  Fenster  hinaus; 
die  Verwandten,  die  einer  nach  dem  andern  kommen  und  Rechen- 
schaft verlangen,  behandelt  er  nicht  besser.  Dann  geht  er 
schnell  auf  Reisen,  nach  Italien,  Frankreich,  Spanien  und  Deutsch- 
land. Keine  Frau  kann  dort  seiner  Verführung  widerstehen,  jede, 
der  er  sich  nähert,  fällt  ihm  zum  Opfer,  nur  ein  junges  Mäd- 
chen vom  Lande,  eine  fromme  Äbtissin  und  eine  ganz  ver- 
worfene Dirne  weisen  ihn  ab;  und  die  Verwandten  aller  dieser 
Damen  traktiert  er  ebenso  mit  seinem  Knüttel,  wie  die  seiner 
Frau  Judy.  Schliefslich  kommt  er  wieder  nach  England,  und 
als  er  gehenkt  werden  soll,  bleibt  er  ganz  kaltblütig  und  will 
nur  noch  seine  ehemalige  Maitresse  sehen.  Wie  der  Henker 
ihm  den  Kopf  in  die  Schlinge  stecken  will,  stellt  er  sich  dumm, 
und  der  Henker  macht  ihm  vor,  wie  er  es  thun  soll.  Schnell 
zieht  Punch  die  Schlinge  zu.  Das  alles  aber  gelingt  ihm  nur 
mit  Hilfe  von  Old  Nick  (Teufel).  Als  der  nun  zum  Schlufs  ihn 
holen  will,  meint  Punch,  er  sei  es  gar  nicht;  da  fährt  Old  Nick 
auf  ihn  los:  ich  werde  dir  beweisen,  dafs  du  es  bist;  und  sie 
kämpfen  mit  aller  Macht.  Aber  trotz  seiner  Gabel  wird  der 
Teufel  mit  dem  mimischen  Prügelholz  erschlagen.  „Hurrah! 
Old  Nick  ist  tot,  mein  Herr!  —  Right  toi  de  rol  lol  u.  s.  w." 
schliefst  die  Ballade. 

Auch  Karagöz  behandelt  seine  Frau  sehr  schlecht,  wenn 
er  sie  auch  nicht  gerade  totschlägt;  aber  den  Sohn,  den  sie 
(Hadschievads  Tochter)  ihm  am  Morgen  nach  der  Hochzeit 
präsentiert,  wirft   er   zur   Erde,    dafs   er   stirbt.     Wie   Punch, 


a)  Ich   entnehme   diese  Notizen  aus  Magnin,    Histoire  des  Marionettes 
S.  248  folg.  und  S.  253  folg. 


678  Siebentes  Kapitel. 

kümmert  er  sich  nicht  um  seine  Frau  und  läuft  allen  Weibern 
nach.  Er  ist  derselbe  unwiderstehliche  Don  Juan,  eine  Frau 
nach  der  andern  erliegt  seinen  massiven  Gelüsten;  wie  Punch 
erfährt  er  nur  selten  eine  Abweisung,  so  besonders  von  der 
ernsten  Matrone  mit  den  Kindern ').  Wie  in  der  englischen 
Puppenkomödie  „Punch  and  Judy"  ein  Frauentypus  nach  dem 
andern  vorgeführt  wird,  so  auch  in  manchen  Karagözstücken3). 
Auch  Karagöz  gerät,  wie  Punch,  in  die  Hände  des  Henkers, 
dem  er  aber  wie  dieser  meistens  zu  entrinnen  weifs,  und  zu- 
letzt erscheint,  wie  bei  Punch  der  Teufel,  die  gespenstige,  grofse 
Schlange,  die  Karagöz  nicht  selten  verderblich  wird,  aber  ab 
und  zu  scheint   er  sie  zu  bewältigen,  wie  Punch  den  Old  Nick. 

Also  Pulcinell  ist  bis  auf  seine  entfernten  Nachkommen, 
selbst  bis  auf  den  englischen  Punch,  des  Karagöz  Ebenbild3)» 
Andererseits  haben  beide  nichts  direkt  mit  einander  zu  thun.  Im 
fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhundert  war  für  italienische 
Pupazzi  in  der  christenfeindlichen  Türkei  kein  Eaum,  und  kein 
türkischer  Hajaldschy  ist  je  nach  Italien  gezogen.  Woher 
die  Ähnlichkeit,  da  doch  gar  kein  directer  Zusammenhang 
besteht? 

Hier  mag  uns  die  Weltgeschichte  belehren.  Vom  Unter- 
gange von  Byzanz  und  den  byzantinischen  Gelehrten,  die  nach 
Italien  kamen,  her  schreibt  man  die  neue  Wissenschaft  und  Poesie. 
Nun,  genau  um  dieselbe  Zeit  erlebte  auch  die  volksmäfsige 
Burleske  in  Italien  ihre  Renaissance.  Sollte  dieses  merkwürdige 
Zusammentreffen  zufällig  sein?  Sollten  nicht  auch,  wie  die  byzan- 
tinischen Litteraten  und  Gelehrten,  Mimen  und  mimische  Puppen- 
spieler, die  ja  von  jeher  ans  Wandern  gewöhnt  waren,  nach  Italien 
gegangen  sein,  um  lieber  unter  dem  stammverwandten  christ- 
lichen Volke  als  unter  den  Türken  mit  ihrer  mimischen  Kunst 
ihr  Brot  zu  erwerben?    Karagöz  ist  der  byzantinische  Mimus  ins 


i)  Vgl.  oben  S.  637. 

2)  Vgl.  oben  S.  651. 

3)  Gegenüber  Punch   candidate  for  Guzzledown  (Magnin  S.  254)   wollen 
wir  uns  noch  schnell  an  den  Pappus  praeteritus  der  Atellane  erinnern. 


Karagöz  und  Pulcinell,  byzantinischer  Mimus  und  Commedia  dell'  arte.     679 

Türkische  gewendet,  und  Pulcinella  ist  des  Karagöz  Ebenbild; 
also  ist  auch  er  der  byzantinische  Mimus,  nur  ins  Italienische 
übersetzt. 

Es  ist  dieselbe  uralte  Entwickelung,  die  sich  von  neuem 
wiederholt.  Zuerst  ging  der  althellenische  phlyakische  Mimus 
von  Hellas  nach  Italien  und  ward  zum  spezifisch  italischen  Mimus, 
zur  Atellane  und  ging  als  solche  auch  nach  Rom.  Als  er  dann 
Jahrhunderte  später  auf  griechischem  Boden  zur  grofsen,  alexan- 
drinischen  Hypothese  geworden  war,  zog  er  wieder  siegreich  in 
Rom  ein  und  gewann  die  grofse  Bühne  für  sich  allein,  und  stets 
von  neuem  zog  er  von  Griechenland  her  seine  beste  Kraft.  Ich 
erinnere  an  die  scena  graeca,  an  Philistion,  an  die  Mimen,  die 
noch  zur  Zeit  der  Gothen  von  Byzanz  nach  Rom  zogen.  Und 
zum  dritten  Mal  in  der  Weltgeschichte  zog  der  griechische 
Mimus  nach  der  Eroberung  von  Byzanz  nach  Italien  und  ward 
da,  nachdem  er  die  Reste  des  alten  lateinischen  Mimus,  die  sich 
kümmerlich  das  Mittelalter  hindurch  erhalten  hatten,  in  sich 
aufgenommen  hatte,  zur  Commedia  dell'  arte.  Und  wie  er  einst 
als  lateinischer  Mimus  sich  ganz  Westeuropa  unterwarf,  so  that  er 
dies  jetzt  als  italienischer  Mimus,  als  Pulcinell.  Auch  im  Oriente 
konnte  er  jetzt  seine  hellenische  Sprache  nicht  mehr  wie  einst 
bewahren  und  gab  die  Herrschaft  in  allen  Ländern  und  Städten, 
in  denen  man  ihn  einst  bejubelt,  an  seinen  direkten  Nachfolger 
Karagöz.  Darum  sind  sich  heute  Pulcinell  und  Karagöz  so  ähn- 
lich, wie  nie  ein  Italiener  einem  Türken  war. 

Sathas  hat  gezeigt,  dafs  die  byzantinischen  Mimen,  welche 
nach  dem  Untergange  von  Byzanz  nach  Venedig  kamen,  dessen 
Schiffe  den  Byzantinern  in  der  letzen  Türkennot  zu  Hilfe  waren, 
die  Lehrmeister  der  venetianischen  Ethologen  und  burlesken 
Darsteller  geworden  sind.  So  ist  unter  anderen  der  Grieche 
liks^rjq  Kaqaßiag  der  Lehrmeister  des  venetianischen  Possen- 
reifsers  Zanpol  il  Buflfone  gewesen.  Allerhand  lustige  Auf- 
führungen pflegten  auch  zu  den  Vergnügungen  der  Katharina 
Kornaro  zu  gehören,  als  sie  nach  dem  Tode  ihres  Gemahls  Jacob  H, 
des  Königs  von  Cypern.  wieder  ihren  Wohnsitz  in  ihrer  Vaterstadt 


680  Siebentes  Kapitel. 

nahm1).  Sie  wollte  eben  den  byzantinischen  Mimus,  an  den  sie  in 
Cypern  gewöhnt  war,  auch  in  Venedig  nicht  entbehren.  Francesco 
Cherea,  Papst  Leo  X.  Lieblingskomiker,  der  als  der  eigentliche 
Erfinder  der  Commedia  delP  arte  bezeichnet  wird,  führte  die 
Steggreifkomödie  erst  in  Venedig,  wohin  er  sich  nach  der  Plünde- 
rung Roms  unter  Clemens  VIII.  begeben  hatte,  zur  Vollendung. 
Wieder  in  Venedig  ward  dann  durch  Gozzi  die  alte  Steggreif- 
posse zur  grofsen  Zauberkomödie  umgeschaffen,  entsprechend  den 
nahen  Beziehungen,  die  Mimen  und  Märchen  von  jeher  hatten. 
Vertritt  Gozzi  den  phantastischen  Mimus,  so  Goldoni,  sein  Rival 
in  der  Gunst  des  venetianischen  Volkes,  den  rein  biologischen. 
Doch  das  sind  spätere  Entwickelungen,  die  der  Mimus  in  Venedig 
nahm  (vgl.  oben  S.  332  u.  352).  Schon  im  Jahre  1508  wird  in  einem 
Erlasse  des  Rates  der  Zehn  vom  29.  Dezember  die  vor  kurzem 
aufgekommene  Unsitte  gerügt,  Schauspiele  bei  Hochzeiten, 
Gelagen  und  sonstigen  Festen  zu  geben2).  Sathas  weist  mit 
Recht  darauf  hin,  dafs  die  Beschreibung  dieser  Komödien  durch- 
aus an  den  byzantinischen  Mimus  erinnere3). 


!)  Kqtjtixov  &iaTQov  Bd.  I.  Iotoqixov  öoxifiiov  negl  tov  &(arQov  xal  rrjg 
fiovaixris  xwv  Bv£avrlv(ov  r\  staaywyr]  tlg  to  Kqtjtixov  &iarqov  vn' — vi'. 

2)  Studuit  semper  dominium  nostrum  cum  hoc  Consilio  levare  de  medio  ea 
omnia  quae  cognita  fuerunt  posse  quoque  modo  corrumpere  et  depravare  bonos  mores 
juventutis  et  consequenter  introductiva  illarum  malarum  rerum  et  effectuum,  quae,  ut 
inhonesta,  honeste  dici  et  nominari  non  possunt.  Cum  igitur  a  paucissimo  tempore 
citra  appareat  introductum  in  hac  civitate  quae  ex  causa  festorum  et  nuptiarum, 
pastuum  et  aliter,  et  tarn  in  domibus,  quam  etiam  in  propatulo  ad  haec  praeparato 
recitantur  etfiunt  comoediae  et  repraesentationes  comoediarum,  in  quibus  per  personatos 
sive  mascheratos  dicuntur  et  utuntur  multa  verba  et  acta  turpia,  lasciva  et  in- 
honestissima ;  et  cum  ista  quae  ultra  dispenditim  civium  nostrOrum  pleno  et  praevia 
sunt  malorum,  non  sint  permittenda  procedere  ulterius;  capiatur:  Vadit  pars  quod 
auctoritate  hujus  Consiglii  deliberatum,  captum  et  prosivum  sit,  quod  comoediae, 
recitationes,  et  repraesentationes  comoediales  seu  tragoediales,  eglogae  omnino  bann- 
iantur,  sie  quod  de  caetero  fieri  et  exercitari  non  possint,  in  hac  nostra  civitate 
tarn  privatim  quam  publice,  et  tarn  pro  festis  nuptialibus  et  pastibus,  quam  aliter 
ullo  modo  e.  q.  s.  aus  Arrigoni  Kenato  Notizie  et  osservazioni  intorno  all'  origine 
e  al  progresso  dei  teatri  e  delle  rappresentazioni  teatrali  in  Venezia,  1840. 
3)  to  nah  /LiiXQOv  yvwo&kv  tv'EvtTia  &€aTQov  elx^  naviag  rovs  xaoaxTrj- 
(>itg  rov  rwv  Bv£avTtv(Jöv  fxlfxwv,  ä<fov  xal  ol  'Everol  vnoxQital  naolaiav  rag 
xotfXbidlag  avrwv  £v  xaiQtp  yä/MJV,  avfxnoGiwv  xal  aXkoiV  iöiWTixüJV  iogrcöv. 


Karagöz  und  Pulcinell,  byzantinischer  Mimus  ond  Commedia  dell'  arte.     68 1 

Eigentümlicher  Weise  spielt  die  Handlung  in  den  Lustspielen 
der  ältesten  venetianischen  Komödiendichter  vielfaltig  an  griechi- 
schen Orten  und  es  wird  darin  häufig  griechisch  gesprochen;  so 
zum  Beispiel  in  den  Komödien  „Las  Spagnolas"  (Venedig  1549) 
und  „H  Travaglia*  (Venedig  1556)  des  Venezianers  Andrea  Calmo, 
der  als  rechter  Mimograph  zugleich  ein  guter  Mime  war.  Auch 
in  der  Maskenkomödie  „Rodiana"  des  Beolco  Ruzante  aus  Padua, 
der  ebenfalls  zugleich  ein  Mime  und  ein  Mimograph  war,  die 
allerdings  Calmo  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  hört  man  Grie- 
chisch1). Die  eigentümliche  Mischung  der  Dialekte  in  der 
Commedia  dell'  arte  des  Ruzante,  die  auch  Commedia  mimica 
heifst,  erinnert  an  denselben  Gebrauch  im  Mimus.  Im  byzan- 
tinischen Mimus  traten,  wie  wir  sahen,  Araber,  Armenier, 
Juden  auf,  auch  die  anderen  Völkertypen,  die  sich  auf  den  Bazaren 
von  Byzanz  drängten,  werden  nicht  gefehlt  haben,  wie  ja  auch 
im  Karagöz  sich  die  mannigfachsten  Völkertypen  finden,  deren 
jeder  seinen  besonderen  Dialekt  spricht.  Hier  ist  also  nur  die 
Art  des  byzantinischen  Mimus  ins  Italienische  übertragen. 

Wenn  in  dieser  Maskenkomödie  von  einzelnen  Typen  Masken 
getragen  werden,  so  wollen  wir  daran  denken,  dafs  auch  iü  dem 
mythologischen  Mimus  sich  maskierte  Personen  mit  unmaskierten 
mischen  (vgl.  oben  S.  583).  Ein  gelegentlicher  Gebrauch  von 
Masken  —  ich  denke  zum  Beispiel  an  den  Eselmimus  —  war 
offenbar  im  Mimus  nicht  selten,  wie  der  Mimus  überhaupt,  da 
er  Komödie  und  Tragödie  ersetzte,  manches  von  dem  uralten 
antiken  Gebrauch  der  Masken  übernommen  haben  mag.  Es  ist 
also  absolut  nicht  nötig,  wie  man  das  bisher  immer  gethan  hat, 
für   die  Maskenkomödie   auf  die  Atellane  zurückzugreifen,    weil 


v)  Ich  gebe  ein  Beispiel  aus  der  Komödie  „Las  Spagnolas"  nach  Sathas 
a.  a.  0.  viß:  Polataeci  mort  adefosmu  (rtoila  rä  hrh  ucoof,  aötoyo;  uov)  no 
dubitare  chie  bando  sarastu  caliche  cosa  den  bosto  naplorotti  (vic  rjloooia^\  tandi 
Mucegnigi  beli  tundi  de  chesio,  dose  {ätöoe)  grecasme  ('ygoixag  ue;)  .  .  .  Aimena, 
pos  me  pogni  tora  to  cardio  mu  gia  tb  agapiticos  mos  {ä'iufra,  näg  /u<  novit  riöoa 
to  xaotiid  fxov  yiä  tö  ayanrnixög  fiag)  ...  Da  me  chit  vostra  ma,  emi  so  rostro, 
aderfö  stin  bistimo  acarteri  (ao'toift,  'c  rr/r  nioxi  /uov  üxaoTtou):  ela  Morula, 
Jerodo  crassi  na  pium  gligora  {(la,  Maoovla,  (fto  iJtj  xoaoi  ȟ  iioiu   ylqyooa). 


682  Siebentes  Kapitel. 

der  Atellanenspieler  Masken  getragen  habe,  nicht  aber  der  Mime. 
Von  der  Atellane  hören  wir  seit  dem  vierten  Jahrhundert  nach 
Christus  —  ich  werde  selbst  dafür  die  Stellen  im  neunten  Kapitel 
aus  Hieronymus  nachweisen  —  absolut  nichts  mehr,  sie  ist  ver- 
schollen und  wohl  auch  verschwunden. 

Wenn  also  Pulcinell,  „der  leichtfüfsige  Sohn  des  sonnigen 
Kampaniens",  wie  ihn  Dieterich  so  schön  nennt,  erst  gegen  das 
Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  nachzuweisen  ist,  während 
der  byzantinische  Mimus  schon  1508  in  Venedig  verboten  wird, 
so  hat  eben  die  Verbreitung  des  byzantinischen  Mimus  bis  nach 
Kampanien  und  seine  Verschmelzung  mit  dem  in  der  verküm- 
merten Form  der  Farce  erhaltenen  italischen  Mimus,  aus  welcher 
das  Pulcinellspiel  hervorging,  geraume  Zeit  beansprucht.  Ur- 
sprünglich trug  auch  Pulcinell  den  dicken  Wanst  des  fitfiog 
ytloicov,  der  später  und  besonders  in  der  modernen  Zeit  abge- 
kommen ist  (vgl.  Dieterich,  Pulcinella  S.  249) ').  Wenn  Pulcinell 
gelegentlich  buckelig  ist,  so  findet  sich  auch  schon  ein  buckliger 
fitfiog  ysXoiaiv  auf  einer  späten  Mimendarstellung  des  sechsten 
Jahrhunderts  nach  Christus2).  Trägt  Pulcinell  die  schwarze 
Hahnenmaske,  so  hat  auch  Karagöz  gelegentlich  eine  grofse 
krumme  Hahnennase3).  Wir  kennen  einen  Ritter  mit  dem 
Hahnenkamm  aus  dem  mythologischen  Mimus4)  und  einen  dick- 
bäuchigen Mimen  mit  der  krummen  Hahnennase5). 

Jedenfalls  sind  die  Gründe  für  das  Auftreten  des  byzan- 
tinischen Mimus  in  Venedig  und  später  in  ganz  Italien,  die 
Sathas  vor  einem  Vierteljahrhundert  gab,    von   grofsem  Belang, 


1)  Von  dem  Pulcinellaspieler  Andrea  Ciuccio  heifst  es  bei  Giovanni 
Battista  Pacichelli  Schediasma  iuridico-pbilologicum  de  larvis  capillamentis 
chirothecis,  vulgo  mascheris  perruchis  guantis.  Neapel  1693,  S.  70:  advultum 
ex  natura  accomodum,  ventrem  straminibus  onustum  aptavit,  plures  ad  sui  imitationem 
excitans  summamque  famam  per  universam  Europam  captans. 

2)  Es  ist  auf  dem  Diptychon  Bituricense  der  am  weitesten  nach  links 
befindliche  Mime.    Vgl.  oben  S.  583. 

3)  Vgl.  oben  S.  676. 

*)  Vgl.  oben  S.  583,  Anm.  3. 

5)  Siehe  die  schönen  Nachweise  über  den  Hahnentypus  in  der  antiken 
Komik  bei  Dieterich,  Pulcinella  S.  237  folg. 


Karagöz  und  Pulcinell,  byzantinischer  Mimus  und  Commedia  dell'  arte.     683 

wenn  er  auch  den  wichtigsten  Grund,  die  Identität  von  Karagöz 
und  Pulcinella,  die  nur  aus  der  gleichen  Abstammung  vom 
byzantinischen  fitfiog  ysXoiwv  befriedigend  erklärt  zu  werden  ver- 
mag, nicht  kannte1). 

])  Sathas  hatte  das  Hauptziel,  zu  zeigen,  dafs  das  gesamte  antike 
Theater,  Komödie  und  selbst  Tragödie,  die  byzantinische  Ära  hindurch  ge- 
dauert hat.  Dieser  Beweis  konnte  von  vornherein  garnicht  gelingen,  weil 
ja  im  Beginne  der  byzantinischen  Ära  schon  längst  Komödie  und  Tragödie 
durch  den  Mimus  von  der  Bühne  verdrängt  und  ersetzt  war,  ja  auch  voll- 
ständig ersetzt  werden  konnte,  da  der  Mimus  als  Hypothese  selbst  ein  grofses 
Drama  war.  Dem  Mimus  aber  hat  Sathas  leider  geringere  Beachtung  ge- 
schenkt, weil  ihn  die  falschen  und  niedrigen  Auffassungen  Grysars 
hinderten,  der  nur  einen  Bruchteil  des  wirklich  vorhandenen  mimischen 
Materiales  kannte.  Wie  nachlässig  und  unkritisch  Grysar  selbst  mit  diesem 
Bruchteil  umgegangen  ist,  haben  wir  gesehen  und  werden  dafür  im  zehnten 
Kapitel  noch  weitere  erstaunliche  Proben  erhalten.  Sathas  aber,  der  nirgends 
auf  den  römischen  Mimus  näher  eingeht,  lobt:  ohts  r«s  ntol  /tffim*  tußgi- 
#««"?  mUrug  tov  Grysar  xal  tov  Klein  (a.  a.  0.  rpß').  Nun,  Klein  konnte 
nach  dem  grofs  angelegten  Plane  seines  Riesenwerkes  nicht  Spezialstudien  über 
den  Mimus  treiben,  sonst  wäre  er  über  den  zweiten  Band  der  Geschichte 
des  Dramas,  in  dem  er  vom  Mimus  handelt,  vielleicht  nie  hinausgekommen, 
er  hat  einfach  den  Vorgänger  Grysars  —  Grysar,  der  zehn  Jahre  vor  ihm 
schrieb,  kennt  er  nicht  —  Ziegler  ausgeschrieben,  nur  dafs  er  bei  seiner 
temperamentvollen  Art  noch  etwas  mehr  auf  den  Mimus  —  den  er  nicht  im 
mindesten  kannte  —  schilt,  als  es  sonst  üblich  war  (a.  a.  0.  S.  639 folg.). 
Danach  hat  also  Satbas  seine  Meinung  über  den  römischen  Mimus  gebildet 
und  ist  zugleich  in  seinem  Urteil  über  den  ganzen  Mimus  von  vornherein 
befangen  gewesen.  Trotz  alledem  mufste  sich  ihm  die  merkwürdige  Be- 
deutung des  Mimus  in  der  byzantinischen  Zeit  infolge  der  unablässigen  Er- 
wähnungen bei  den  byzantyiischen  Autoren  aufdrängen,  und  gelegentlich 
erhebt  er  sich  bei  der  Güte  seines  Materiales  denn  doch  zu  der  richtigen 
Auffassung  vom  byzantinischen  Mimus  als  einem  grofsen  Schauspiel,  aller- 
dings, wie  er  meint,  im  Gegensatz  zum  römischen  Mimus,  zum  Mimus,  den 
Plutarch  kennt  und  zum  althellenischen  Mimus.  Das  letztere  ist  allerdings 
richtig.  Ja  einmal  findet  sich  schon  bei  Sathas  die  Beobachtung,  dafs  der 
Mime  in  der  byzantinischen  Ära  der  Schauspieler  xoi'  1$oxtiv  gewesen 
sei  und  dafs  die  Mimen  selbst  Tragödien  gegeben  hätten,  a.  a.  0.  rftß',  Tjuy: 
'0  Inl  tov  diypioa&frovs  xal  IIXovTaQXov  fiiuog  r\v  uükkov  6  ytlcoionotos  T(3v 
vtüjiiowv  xqÖvoiv,  Toiavvqv  dk  arjuaütav  tfuiitjai  lywv  xal  Ixl  Pcjuai'wv  av- 
Tiaioi/döv,  a>s  teyei  6  yqauuaTixbi;  Jio^irß^g,  noos  tov  &taToiairjv  tov  oxkov, 
tov  planipedes.  "Etog  tov  'lovariviavov  oi  BvCamvol  xalws  öttxoivov  to  elöos 
ttjs    äT)[40TtxTjS    TavTtjg    xcouojdut;    {IlkavmtSaqia)    anb    Trjg    utuixfji    fJJMMWjC 


684  Siebentes  Kapitel. 

So  bedeutet  die  Renaissance  nicht  nur  die  Wiedergeburt  der 


AvSös,  GtX  152  $xd.  BövvTjg)  .  .  .  Kaxa  tov  Xoqixiov  ol  fut/uoi  Tr\g  ZT'  ixcaov- 
xat  ttjqiSos  rjoav  ol  xvotcos  Xsyo/utvoi  xw  (itpdot,  .  .  .  'Eni  dioxXtjTiavov  xal  tov 
'lovfoavov  naqCßTcav  iSiwg  xw  [tq>dia  s  xara  tov  /QiGTiavtO/nov  .  .  .  'Eni  t<5v 
Kofivrivwv  ol  /ul/uoi  naotoxwv  ni&avöis  xal  Toaywdius.  Und  weiter  spricht 
dann  Sathas  von  dem  „[xi/liixov  &€atQovu,  in  dem  zwar  auch  der  yelwTonows, 
der  Clown,  aufgetreten  sei,  aber  der  hätte  wie  der  moderne  Cirkusclown 
seine  Lazzi  in  den  Pausen  gemacht  und  nicht  zum  eigentlichen  Schauspiel 
gehört.  Das  ist  allerdings  wieder  ganz  falsch,  der  yelioTonoiog  gehört  zum 
Mimus  wie  der  Clown  zum  Shakespearischen  Drama.  Ebenso  falsch  ist  die 
Auffassung  über  die  Definition  bei  Diomedes,  denn  die  ist  gemeint,  wie  von  der 
Lydusstelle  (vgl.  darüber  oben  S.  271  ff.  u.  S.  241,  Anm.  1).  Aber  trotz  aller 
Fehler  bricht  doch  die  Grundanschauung  vom  Mimus,  als  einem  grofsen,  be- 
deutenden Schauspiele,  hier  siegreich  durch.  Nein,  Komödie  und  Tragödie  hat 
nicht  auf  dem  Theater  die  byzantinische  Ära  durchdauert,  wohl  aber  das  grofse 
mimische  Schauspiel,  die  Hypothese,  die  daneben  auch  noch  auf  der  Mimen- 
bühne des  Cirkus,  wie  in  den  Prunksälen  der  Kaiser,  der  Aristokratie  und 
der  Reichen  aufgeführt  wurde.  Allerdings  soll  Kaiser  Justinian  (nach  Procop, 
histor.  arcana  c.  26,  und  Ioannes  Malalas  chronicon  XVII,  Migne  97,  p.  416  folg.) 
rot  &£axQK  geschlossen  haben,  und  wahrscheinlich  hat  im  Jahre  526  oder  kurz 
vorher,  da  diese  Mafsregel  drohte,  Choricius  seine  Rede  für  die  Mimen  ge- 
halten (vgl.  Kirsten,  Quaest.  choricianae,  Breslauer  philolog.  Abhdlg.  VII, 
1895,  S.  21  folg.).  Aber  noch  um  1300  spricht  Manuel  Philes  vom  zeit- 
genössischen Mimus  auf  dem  Theater  (vgl.  darüber  und  über  ähnliche  Zeug- 
nisse oben  S.  134,  135,  136,  162,  163,  617).  In  der  zweiten  Trullanischen 
Synode  691  wird  den  Anwälten  verboten  sich  ins  Theater  zu  mischen 
und  Theaterkostüme  zu  tragen.  Theatermelodien  sollen  aus  der  Kirche 
verbannt  sein.  Wenn  also  die  Theater  je  geschlossen  waren,  müssen 
sie  um  691  schon  längst  wieder  offen  gestanden  haben  und  der  Mimus 
hat  eben  wieder  seinen  alten  Schauplatz  zurückerhalten.  Hierfür  haben 
wir  nun  ein  sehr  interessantes  und  ausschlaggebendes  Zeugnis.  In  des 
Bischof  Leontius  von  Neapolis  auf  Kypros  Lebensbeschreibung  des  Mönches 
Symeon  Salos,  „des  Narren  um  Christi  willen",  die  um  650  ge- 
schrieben ist  (vgl.  H.  Geizer,  Ein  griechischer  Volksschriftsteller.  Histor. 
Zeitschrift  N.  F.  XXV,  S.  1  folg.),  wird  des  Theatermimus  als  einer  ge- 
wohnten Erscheinung  gedacht.  Der  Heilige  Symeon  begiebt  sich  ins 
Theater  und  trifft  den  Mimen  Psephas,  der  mit  anderen  Mimen  dort  auf 
dem  Bretterboden,  der  die  mimische  Bühne  bedeutet,  agierte,  mit  einem 
Steine  gegen  die  Hand,  die  verdorrt  von  Stund  an,  und  der  Mime  bekehrt 
sich  zu  einem  gottseligen  Lebenswandel.  Symeon  selbst  lebte  nach  der  Vita 
zu  Emesa  unter  Kaiser  Mauricius  (582  602),  nach  dem  Bericht  des  Euagrius 
(dem  Geizer,  a.  a.  0.  S.  7  u.  8,  den  Vorzug  giebt)  unter  Justinian.    Danach 


Karagöz  und  Pulcinell,  byzantinischer  Mimu3  und  Commedia  dell'  arte.     685 

vornehmen,  antiken  hellenisch-klassischen  Dichtung,  sondern  auch 
des  volksmäfsigen  hellenischen  Mimus1). 


hätten  also  in  der  späteren  Regierungszeit  Justinians  wieder  die  Theater 
offen  gestanden,  und  wenn  wir  die  Leidenschaft  des  Volkes  für  das  Theater 
und  den  Mimus  bedenken,  ist  es  klar,  dafs  eine  derartige  rigorose  Mafs- 
regel  sich  weder  durchführen  noch  aufrechterhalten  liefs.  Jedenfalls  war 
in  der  Zeit  des  Leontius  um  650  diese  Verordnung  längst  wieder  aufgehoben, 
sonst  hätte  er  nicht  so  selbstverständlich  vom  Mimus  im  Theater  ge- 
sprochen: mit  Recht  weist  Geizer  darauf  hin,  wie  zuverlässig  Leontius  in 
kulturhistorischer  Hinsicht  ist.  Ich  setze  diese  wichtige  Stelle,  deren  Nach- 
weis ich  August  Brinkmann  verdanke,  hierher:  'EdeargiCov  noie  uiuoi 
tlg  tb  d-iaroov.  'Hv  6i  eig  tt;  uvxcöv,  Vr/ffug.  S(i.<ov  ovv  xb  toiovtov 
xaxbv  ävaxoipat  6  6ixaiog  (<«££  yäo  jira  xala  foya  6  Ityo/utvog  Wrjifäg),  oiix 
am]i"i(ooe  tov  a7itXxHiv,  dlXa  antjX&t,  xal  xär oi  Taiajo,  tls  tb  ttH.uu, 
onov  enaitov  ol  fiiuof  xal  mg  I6tv  xbv  *Pr)(fäv  agl-duevov  tov  noieTv 
d&iuixa  ngdyfiuTa,  (vielleicht  ward  ein  Ehebruchstück  oder  dergleichen 
gerade  gegeben)  ginxti  ki&ov  uixgbv  nävv,  noiTfOag  eig  avrbv  aravobv,  xal 
ßdilii  xaxd  TTjg  6e suig xetgbg  tov  Wr^ä,  xal  iir,uavtv  «irrjr.  OvStlg  6e  lrör,oi 
xb  xi'g  xbv  M&ov  eQgixpev.  cpalvixai  ovv  avxqi  xfj  vvxxl  xaxä  rovg  t/Tryoiv  6  Zaiog 
xal  liya  citTÜ-  "Ovxtog  inixv^ov,  xal  ei  fiij  duoatig  ort  ovx  fxi  inixrj6sieig 
Toiovxov  xi  7roä|«i,  ovx  iyiaiveig.  "Sluooev  ovv  aiT<j*  xard  xr\g  Seoroxov,  o  ti 
ov  (A.i)  ixaatk&to  xov  loinov  6iä  xov  toiovtov  natyvidlov.  Kul  dvaaxag, 
elge  ti]v  x*'Qa  ßÜToü  vyirj.  Acta  Sanctorum  Bollandistorum  Juli,  Tom.  I, 
pag.  138  D.    Migne  93,  S.  1716  B.  C. 

Gegen  Sathas'  Theorie  vom  Fortbestehen  der  Tragödie  und  Komödie  vgl. 
die  scharfsinnigen  und  höchst  gelehrten  Ausführungen  Krumbachers,  Byzan- 
tinische Littg.1,  S.  298,  die  jede  derartige  Annahme  völlig  vernichten.  Doch 
mag  gelegentlich  von  den  Mimen  auch  einmal  eine  alte  Komödie  oder  Tra- 
gödie aufgeführt  worden  sein,  wie  ja  unablässig  Philistions  Hypothesen  dar- 
gestellt wurden:  aber  Aeschylos  und  Sophokles  waren  für  das  byzantinische 
Publikum  nicht  mehr  theaterfähig,  so  wenig  wie  Aristophanes.  Um  dieser 
falschen  Grundanschauung  willen  ist  Sathas'  so  verdienstvolles,  gelehrtes  und 
mannigfaches,  sonst  unzugängliches  Material  darbietendes  Werk  unberück- 
sichtigt geblieben,  zumal  ihm  jede  übersichtliche  Gruppierung,  jede  deutliche 
Kennzeichnung  der  Kapitel,  jede  chronologische  oder  sonstige  Disposition 
sowie  Indices  und  Inhaltsangabe  fehlen  und  das  schwierige  Griechisch  von 
Sathas  nur  für  genaue  Kenner  ohne  Lexikon  lesbar  ist.  Kein  moderner 
Litterator  erfuhr  darum  je  von  dem  Einflufs  des  byzantinischen  Mimus  auf 
die  Commedia  dell'  arte,  den  Sathas  wahrscheinlich  macht. 

x)  Es  spricht  sehr  für  die  Byzantiner,  dafs  sie  nicht  blofs  die  alten 
Handschriften  erhalten  haben,  das  konnten  sie  auch  ohne  ihren  Inhalt  recht 
zu  verstehen.   Viel  gröfser  war  es,  die  uralte  volksmäfsige  Dichtung  lebendig 


686  Siebentes  Kapitel. 

IX. 
Karagöz  und  die  alte  attische  Komödie. 

Wiederholt  erinnerten  sich  die  Kenner  des  Karagöz  an  die 
alte  attische  Komödie,  mit  der  Karagöz  den  Phallus  teilt;  sie 
empfanden  eine  gewisse  Ähnlichkeit,  und  ihr  Gefühl  hat  sie 
nicht  getäuscht.  Von  jeher  hat  man  mit  Verwunderung  bemerkt, 
wie  Aristophanes  in  manchen  Stücken  nach  Zuendeführung  der 
eigentlichen  Fabel,  nach  der  Parabase,  eine  Reihe  lose  aneinander 
gereihter  Scenen  mit  verschiedenen  volkstümlichen  Typen  folgen 
läfst,  Scenen,  die  nicht  von  einem  einheitlichen  komischen  Ge- 
danken beherrscht  werden  und  nicht  Glieder  einer  kunstvollen 
Fabel  sind.  Es  erscheint,  zumal  im  Schlufsakte,  auf  einmal  eine 
Reihe  neuer  Typen,  die  gewöhnlich  von  der  Hauptperson  der 
Reihe  nach  verspottet  und  dann  eine  nach  der  andern  hinaus- 
gepritscht  werden.  Genau  so  ist  auch  der  Verlauf  der  Handlung 
in  vielen  Karagözstücken.  Hadschievad  und  Karagöz  ziehen  zu- 
sammen aus,  um  sich  eine  bessere  Zukunft  zu  begründen  und 
Geld  zu  verdienen.  Hadschievad  weifs  dafür  stets  guten  Rat, 
und  Karagöz  ist  der  Hans  Hoffegut,  der  auf  alles  eifrig  eingeht. 
So  ergreifen  sie  irgend  ein  neues  Gewerbe,  das  Hadschievad 
empfiehlt,  z.  B.  das  Bootmannsgewerbe  (im  Kajyk  ojunu),  oder  sie 
richten  eine  Schaukel  ein  (im  Salyndschak  ojunu1))  oder  beginnen 
einen  Betrieb  mit  Fruchteis  oder  Karagöz  etabliert  sich  als  Strafsen- 
schreiber  (im  Jazydschy  ojunu3)).  Dann  kommen  allerhand  Leute 
zu  ihnen,  um  von  ihrem  Gewerbe  Vorteil  zu  ziehen  oder  etwas  zu 


und  im  lebendigen  Leben  zu  erhalten.  Man  wird  doch  viel  von  der  unge- 
rechten Mifsachtung  der  byzantinischen  Aera  nachlassen  müssen.  Ich  ver- 
weise hier  auf  die  schönen  und  beherzigenswerten  Worte,  die  Krumbacher 
in  dieser  Hinsicht  in  der  Einleitung  zu  seiner  byzantinischen  Literatur- 
geschichte gesprochen  hat. 

J)  Text  und  Übersetzung  bei  Künos,  Ethnologische  Mitteilungen  aus 
Ungarn.    Bd.  II.    Budapest  1892.   S.  148—158. 

2)  Siehe  die  Zusammenstellung  bei  Jacob,  Heft  I,  S.  X  u.  XI. 


Karagöz  und  die  alte  attische  Komödie.  687 

kaufen.  Aber  alle  werden  von  Karagöz  zum  Besten  gehalten  und 
zum  Schlufs  hinausgepritscht.  Denken  wir  an  des  Aristophanes 
„ Vögel".  Da  ziehen  Hoffegut  und  Rathefreund  aus,  sich  gleichfalls 
eine  neue  Zukunft  zu  schaffen.  Sie  haben  wie  Karagöz  und  Had- 
schievad  beide  kein  Geld.  So  begründen  sie  als  ganz  neues 
Unternehmen  das  Reich  der  Vögel,  mit  dem  es  gewifs  nicht 
weniger  windig  aussieht,  als  mit  irgend  einer  Gründung  des 
Karagöz.  Es  kommen  nun,  von  dieser  Gründung  angelockt, 
allerhand  Leute  an  und  möchten  gerne  daran  Anteil  nehmen 
und  davon  Vorteil  haben.  Es  erscheint  von  Vers  861  —  1057 
nach  einander  ein  Priester,  ein  Poet,  ein  Prophet,  Meton,  der 
Mathematiker,  ein  athenischer  Staatskommissar,  ein  Gesetzes- 
händler, und  von  Vers  1334 — 1469  ein  ungeratener  Sohn, 
Kinesias,  der  Dithyrambendichter,  ein  Sykophant.  Wie  gravi- 
tätisch beginnt  der  Priester,  der  das  Gebet  an  die  Staatsgötter 
der  Vögel  im  offiziösen  athenischen  Stile  beginnt: 

„Betet  zu  Hestia,  der  vom  Vogelheerd,  und  dem  Schuhu  Heerd- 

walter, 

Und    den   Olympischen   Vögeln    und    Vögelinnen    jedem   und 

jeder!  .... 

Betet  zu  den  Heroen  und  den  Vögeln  und  den  Vögelkindern, 

Zu  den  Salanganen  und  Pelekinen  und  Pelikanen",  u.  s.  w. 

Das  wird  dem  Rathefreund  denn  doch  zu  viel,  kaum  für 
den  Weih  wäre  das  Opfer  genug,  und  nun  beruft  dieser  über- 
eifrige, ceremoniöse  Priester  gar  alle  Vögelgötter;  hinaus  mit 
ihm!  Wie  prächtig  ist  der  bettelhafte  Poet  geschildert,  wie 
stolziert  er  ins  Wolkenkuckuksheim  hinein,  und  wie  befriedigt 
zieht  er  ab,  als  er  von  Rathefreund  schliefslich  nach  vielen  hoch- 
poetischen Tiraden  ein  warmes  Wams  erbettelt  hat. 

Freilich,  der  Prophet  kommt  schon  sehr  viel  schlechter  weg. 
Er  hat  einen  vortrefflichen  Orakelspruch  des  Bakis,  der  Wolken- 
kuckuksheim zu  gründen  und  dabei  den  Propheten  ordentlich  zu 
bedenken  befiehlt.  Aber  Rathefreund  hat  auch  einen  Orakel- 
spruch in  Bereitschaft: 


688  Siebentes  Kapitel. 

„Wieder  sobald  dir  ein  Mensch  dummdreist,  unerwünscht,  un- 
geladen, 

Stört  dein  Opfer  und  Theil  an  dem  Fleische  des  Opfers  be- 
gehret, 

Siehe,    so    holz'    ihm    die  Höh'n,    die   am  Rinnsal  steh'n  der 

Verdauung." 

Und  gemäfs  diesem  Spruche  behandelt  er  den  Bettelpropheten. 
So  geht  es  dann  nachher  auch  Meton,  dem  Mathematiker,  dem 
athenischen  Staatskommissar,  dem  Gesetzeshändler,  dem  Kinesias 
und  dem  Sykophanten.  Erstaunlich  ist  der  Realismus,  mit  dem 
diese  Gestalten  gezeichnet  sind,  und  gerade  darum  haben  sie 
das  athenische  Publikum  so  sehr  interessiert,  es  fand  in  ihnen 
lauter  alte  Bekannte  von  der  Strafse  und  vom  Markte  wieder, 
wie  sie  das  türkische  Publikum  genau  so  in  den  Karagözstücken 
findet. 

Wie  bei  der  Schaukel  des  Karagöz  und  auf  seinem  Boote 
erscheinen  auf  dem  neu  abgesteckten,  befriedeten  Markte  des 
Dikäopolis  allerhand  Typen: 

719 — 835  der  hungrige  Megarer, 
860 — 958  der  Handelsmann  aus  Böotien, 
910—958  der  Sykophant, 
911 — 969  der  Diener  des  Lamachos, 
1018  —  1036  ein  Landmann, 
1048—1068  Brautführer  und  Brautjungfer. 

Aber  wie  Karagöz  treibt  Dikäopolis  mit  ihnen  nur  seinen 
Spott  und  jagt  sie  fort.  Im  „Frieden"  verhöhnt  und  verjagt  Try- 
gaios  nach  einander: 

Vers  1052  —  1109  den  Lehrer  Hierokles, 
1182 — 1191  einen  Sensenschmied, 
1195 — 1208  einen  Helmbuschfabrikanten, 
1208 — 1224  einen  Panzerschmied, 
1225—1239  einen  Helmschmied, 


Karagöz  und  die  alte  attische  Komödie.  689 

Vers  1240—1249  einen  Lanzenschäfter, 

1255—1279  den  Sohn  des  Lamachus, 
1280—1296  den  Sohn  des  Kleonymos. 

Woher  stammt  diese  Ähnlichkeit  zwischen  der  alten  attischen 
Komödie  und  dem  Karagöz? 

Nun,  der  alte  attische  Komöde  trägt  vom  uralten  hellenischen 
Mimen  den  Phallus  zum  Lehen,  wie  ihn  Karagöz  vom  byzan- 
tinischen Mimus  hat.  Und  die  lockere  Scenenfolge  bei  Aristo- 
phanes  ähnelt  der  im  Karagöz,  weil  sie  bei  beiden  aus  dem 
Mimus  stammt,  und  die  burleske,  realistisch-humoristische  Etho- 
logie und  Biologie  dieser  lockeren  Scenen  ist  bei  Aristophanes 
der  im  Karagöz  verwandt,  weil  sie  beide  Ethologen  und  Biologen 
sind  nach  dem  Bilde  ihres  Ältervaters,  des  Mimen.  Da  mufs 
uns  also  der  moderne,  türkische  Hajaldschy  die  aristotelisch-peri- 
patetische  Auffassung  von  dem  Mimus  als  einem  wesentlichen 
Elemente  der  alten  Komödie,   ja  als  der  Urkomödie  bestätigen. 

Auch  das  Kasperletheater  zeigt  sich  mit  seiner  lockeren 
Scenenfolge,  mit  seinen  burlesken,  realistisch -humoristischen, 
ethologischen  Typen  und  Figuren,  die  Kasperle,  der  deutsche 
Sannio  und  derisor,  verspottet  und  zum  Schlufs  hinauspritscht, 
der  alten  attischen  Komödie  wie  dem  Karagözspiele  verwandt. 
In  Magdeburg  auf  der  Messe  und  beim  Jahrmarkt  auf  dem  roten 
Hörn  habe  ich  als  Kind  den  Kasperle  alle  Jahre  unter  dem  Jubel 
des  Volkes  agieren  gesehen,  das  genau  so  zu  lachen  anfängt, 
wenn  sich  Kasperle  nur  zeigt,  wie  die  Türken,  wenn  Karagöz 
nur  die  Nase  zum  Fenster  heraushängt.  Kasperle  ist  genau  der- 
selbe mit  Mutterwitz,  Humor  und  grofser  Schalkheit  begabte 
Frechling  wie  Karagöz,  und  verübt  auch,  wie  dieser,  dieselben 
mutwilligen,  aber  doch  nie  geradezu  schlechten  oder  nieder- 
trächtigen Streiche.  Kaum  hat  Kasperle  seine  Art  und  Weise 
mit  allerhand  Mätzchen  und  Kapriolen  klargestellt  und  seine 
lustige  und  spitzbübische  Art  offenbart,  so  erscheinen  andere 
volkstümliche  Typen  einer  nach  dem  andern,  und  eine  kurze 
Scene  reiht  sich  an  die  andere,  ohne  dafs  sie  durch  eine  zu 
Grunde  liegende  Fabel  mit  einander  verknüpft  wären.    Da  zeigt 

Reich,  Mimus.  4  4 


690  Siebentes  Kapitel. 

sich  ein  prahlerischer  Soldat,  ein  Jude,  ein  Polizist,  auch 
Kasperles  zänkische  Frau,  schliefslich  gar  noch  der  Teufel  und 
der  Tod,  aber  Kasperle  mit  seiner  spitzen  Zunge  wird  mit  allen 
fertig,  gewöhnlich  greift  er  jedoch  zu  schlagenden  Argumenten 
und  schwingt  triumphierend,  wie  Karagöz,  sein  Prügelholz.  Aber 
zum  Schlüsse  erscheint  die  böse  Schwiegermutter,  und  vor  der 
nimmt  selbst  Kasperle  Reifsaus.  Über  die  Schwiegermutter  als 
Typus  des  alten  Mimus  haben  wir  schon  oben  gehandelt. 

Die  Ähnlichkeit  mit  den  locker  gefügten  Scenen  bei  Aristo- 
phanes  ist  unverkennbar;  Poppelreuter  hat  darauf  in  seiner  treff- 
lichen Dissertation  hingewiesen.  Auch  hier  lehrt  uns  jetzt  die 
Entwickelungsgeschichte  des  Mimus  den  tief  verborgenen  Zu- 
sammenhang erkennen. 

Es  wäre  nicht  ganz  unmöglich,  dafs  Kasperle  ein  Ab- 
kömmling von  Karagöz  ist.  Wenigstens  giebt  es  dieselbe 
Puppenkomödie  auch  in  Ungarn  (und  in  Rufsland),  so  dafs 
der  territoriale  Zusammenhang  zwischen  Kasperle  und  Karagöz 
ununterbrochen  ist.  Es  finden  sich  Ähnlichkeiten,  die  offenbar 
auf  Entlehnung  beruhen.  So  schreibt  Karagöz  als  Strafsen- 
schreiber1)  für  einen  Griechen  einen  Brief.  Als  es  ans  Be- 
zahlen geht,  sagt  der  Grieche,  er  werde  zuvor  Karagöz  ein 
Kunststück  zeigen;  er  werde  ihn  verschwinden  lassen;  darauf 
schliefst  er  die  Augen.  Karagöz  meint,  das  Kunststück  könne 
er  auch,  und  wie  er  die  Augen  schliefst,  verschwindet  der  Grieche. 
Genau  derselbe  Streich  findet  sich  auch  in  dem  Puppenspiel 
„Kasperl  als  Bräutigam"2).  Doch  mag  nun  Kasperle  dem  Karagöz 
ähneln,  weil  er  aus  dem  italienischen  Puppenspiel  und  vom  Pulci- 
nell  stammt,  oder  weil  er  gar  ein  direkter  Nachkomme  des 
Karagöz  ist,  jedenfalls  stammt  die  moderne  europäische  burleske 
Puppenkomödie  im  letzten  Grunde  aus  dem  byzantinischen,  wie  die 
antike  und  mittelalterliche  aus  dem  griechisch-römischen  Mimus. 


T)  Choricius  erwähnt  (XIII,  8)  die  av/jßllaia  yQÜiforreg  als  Typus  des 
byzantinischen  Mimus;  vgl.  oben  S.  215  Anm. 

2)  Deutsche  Puppenspiele  herausgegeben  von  Kralik  und  Winter;  Wien 
1885,  S.  299.  Diese  Ähnlichkeit  hat  Jacob  a.  a.  0.  Heft  1,  S.  IV,  V  scharf- 
sinnig bemerkt. 


Karagöz  und  die  alte  attische  Komödie.  691 

Aber  dieses  mimische  Problem  ist  kein  europäisches,  es  ist 
ein  Weltproblem.  In  Japan  giebt  es  eine  burleske  Posse  ganz  im 
Stile  des  Mimus  (vgl.  oben  S.  39  —  41).  Auch  in  China  existieren 
burleske  Schauspiele,  die  an  den  Mimus  gemahnen,  und  vor  allem 
eine  Puppenkomödie,  die  manche  Ähnlichkeit  mit  Kasperle  und 
Karagöz  hat1).  Vor  allem  aber  giebt  es  auf  Java  ein  Puppen- 
spiel, das  schon  Serrurier,  der  es  zuerst  auf  Grund  eines  grofsen 
und  sorgfältig  gesammelten  Materials  beschrieb,  an  den  türkischen 
Karagöz  erinnerte*).  Da  wäre  ja  dann  der  Zusammenhang  mit  dem 
hellenischen  Mimus  hergestellt.  Wir  wissen,  wie  weit  die  Mimen 
wanderten.  Wenn  sie  vom  Norden  Englands  bis  zu  den  Katarakten 
des  Nils,  von  der  Mündung  des  Rheins  bis  zu  der  des  Euphrat 
zogen,  warum  sollten  sie  nicht  auch  nach  Indonesien  gelangt 
sein?  In  der  That  finden  sich  in  diesem  Puppenspiele  lustige 
Figuren  ganz  im  Stile  des  Narren  im  Mimus,  das  sind  Semar 
und  seine  Söhne.  Wie  der  alte  Sannio  ist  Semar  ein  lustiger 
Kauz,  der  auch  in  den  schlimmsten  Lagen  sich  zu  helfen  weifs, 
der  allerhand  lustige  Streiche  macht  und  ein  rechter  Possen- 
reifser  ist;  natürlich  ist  er  samt  seinen  Söhnen  glutto,  vorax, 
manducus    wie  Ardalio.     Sein  Charakter   deckt   sich  völlig  mit 


')  Mein  Freund  Dr.  Richard  Hensel  macht  mich  hier  auf  die  bildliche 
Darstellung  eines  chinesischen  Puppenspiels  in  einem  der  ersten  Hefte  von 
Kürschners  China,  Leipzig  1901,  aufmerksam.  Es  erinnert  an  unser  Kasperle- 
spiel, nur  dafs  der  Spieler  nicht  in  einer  kastenähnlichen  Bude  steckt,  die 
oben  in  der  Vorderwand  einen  Ausschnitt  hat,  in  dem  die  Puppen  erscheinen. 
Er  hat  sich  vielmehr  sein  Puppentheater  vor  die  Brust  geschnallt  und  ver- 
schwindet dahinter  mit  seinem  Oberkörper,  der  noch  dazu  mit  einem 
grofsen  Tuch  verhüllt  ist.  Unten  sind  seine  Beine  wie  Stützen  des  ganzen 
Puppentheaters  sichtbar.  Auf  dieser  Puppenbühne  agiert  ein  chinesischer 
Kasperle  mit  dem  mimischen  Prügelholz;  eine  Puppe  hat  er  schon  tot- 
geschlagen; sie  hängt,  mit  einer  langen  Zipfelmütze  bedeckt,  von  der 
Brüstung  des  Theaters  herunter.  Nun  hat  er  es  mit  einem  schrecklichen 
Ungeheuer  in  Gestalt  einer  grofsen  Bulldogge  (wie  man  John  Bull  ab  und 
zu  malt)  zu  thun.  Derartige  Puppenkomödien  sollen  von  den  Mandarinen 
bei  dem  grofsen  Boxeraufstande  zur  Aufreizung  des  Pöbels  gegen  die 
Fremden  benutzt  worden  sein.  Also  auch  hier  ist  die  Puppenkomödie  ab 
und  zu  politisch  wie  Karagöz  und  der  griechische  Mimus. 

*)  De  Wajang  Poerwa,  Eene  ethnologische  Studie,  Leyden  1896,  S.  167  ff. 

44* 


692  Siebentes  Kapitel. 

dem  des  Karagöz,  er  ist  offenbar  wie  dieser  auch  ein  Abkömm- 
ling des  alten  Mimus ').  Ja,  Semar  hat  auch  noch  alle  äufseren 
Anzeichen  dieser  Abkunft;  wie  die  hellenischen  Mimen  trägt  er 
den  dicken  Bauch  und  das  mächtige  Hinterteil  und  vor  allem 
den  riesigen  Phallus2). 

Alle  diese  hinterasiatischen  Spiele  sind  jünger  als  die 
hellenischen,  sie  reichen  nirgend  ins  achte  oder  neunte  Jahr- 
hundert vor  Christus  zurück,  sondern  stammen  meist  sogar  aus 
nachchristlicher  Zeit.  Und  da  nun  der  vorderasiatische  Puppen- 
spieler nur  ein  Nachkomme  des  hellenischen  Mimus  ist,  wie  alle 
europäischen,  dürfte  es  mit  den  hinterasiatischen  auch  nicht 
viel  anders  sein3). 


')  a.  a.  0.  S.  92  (grofse  Ausgabe).  Semar  is  van  goddelijken  oorsprong. 
Hij  is  de  vaderlijke  vriend  van  de  Pandäwäs;  in  het  bezit  van  goddelijke  wijs- 
heid  en  van  bovennatuurlijke  macbt.  Listig  in  de  hoogste  mate,  weet  hij  op 
alles  raad,  en  waarschuwt  hij  voor  naderende  gevaren;  zie  o.  a.  Poensen,  Kartä- 
wiyogä,  aanteekening  XXVII  in  Tijdschr.  voor  Ind.  taal-,  land-  en  volkenk.  1883. 
Hij  voegt  zieh  geheel  naar  den  aard  van  zijn  patroon;  zoo  helpt  hij  Ardjoenä 
bij  diens  talrijke  minnarijen  en  loopt  bij  die  gelegenheden  soms  wel  een  pak 
slagen  op.  Het  komische  element  van  zijn  persoonlijkheid  uit  zieh  vooreerst 
in  zijn  voorkomen  en  in  de  onaethetische  manier  van  zijn  tegenstanders  on- 
aangenaam  te  zijn;  ook  in  zijn  hebbelijkheid  om  ieder  oogenblik  as  het  pas 
geeft,  te  gaan  huilen. 

Petroek  en  Nälägareng  worden  als  zijn  zonen  voorgesteld;  maar  zij 
hebben  altijd  wat  op  hem  te  zeggen  en  noemen  hem  oud  en  suf.  Het  zijn 
zuivere  potsenmakers;  niets  ernstigs  is  aan  hen.  Als  er  gevochten  wordt 
doen  zij  het  niet  raet  wapens,  maar  met  vuil;  het  zijn  een  paar  inhalige 
rakkers,  die  als  zij  er  kans  toe  zien,  het  een  en  ander  meenemen  en  altijd 
op  lekker  eten  azen.  Petroek  riekt  uit  den  adem.  Kortum  zij  zijn  de  ge- 
personifieerde  platheid. 

2)  Vgl.  die  Abbild,  zu  S.  242  u.  S.  269.  Serrurier  hat  S.  187  u.  188 
(grofse  Ausgabe  S.  291  u.  292)  zwei  solche  Phallen  abgebildet.  Der  zweite 
Phallus  endigt  in  einen  Stierkopf.  —  De  zooeven  vermelde  figuur  van  Poting  is 
vorzien  van  een  buitensporig  ontwikkelden  phallus,  die  zieh  door  middel  van  een 
groot  aantal  geledingen  slangvormig  Jean  Jcronkelen  en  in  een  montier achtigen  stieren- 
kop  eindigt.  Auch  der  Phallus  des  Karagöz  bei  von  Luschan  S.  141  endigt  in 
einen  Tierkopf. 

3)  Ich  will  hier  aber  hervorheben,  dafs  nach  Serrurier  das  javanische 
Puppenspiel  ernsthaft  ist.     Es  treten  darin  vor  allem  Götter  und  Göttinnen, 


Karagoz  und  die  alte  attische  Komödie.  693 

Da  wir  wenigstens  eine  asiatische  Burleske,  den  Karagöz, 
als  Mimus  erweisen  konnten,  so  ist  hier,  wo  bisher  noch  alles 
schwankt  und  die  entgegengesetzten  Ansichten  mit  der  gleichen 
Zuversicht  ausgesprochen  werden,  wenigstens  ein  fester  Punkt  ge- 
wonnen, von  dem  aus  man  das  grofse,  helfs  umstrittene  Problem, 
ob  das  asiatische  Drama  griechischen  Anregungen  entsprungen  ist 
oder  nicht,  mit  Aussicht  auf  Erfolg  in  Angriff  nehmen  kann. 


Heroen  und  Heroinen  auf,    aber  im  mythologischen  griechischen  Mimus  gab 
es  gleichfalls  Götter  und  Helden,  wenn  auch  burleske. 


ACHTES  KAPITEL. 


Der  Mimus  in  Indien. 


Willst  du  die  Blüte  des  frühen,  die  Früchte 
des  späteren  Jahres, 
Willst  du,  was  reizt  und  entzückt,  willst 
du,  was  sättigt  und  nährt, 
Willst  du  den  Himmel,  die  Erde  mit  einem 
Namen  begreifen: 
Nenn  ich,  Sakuntala,  dich  und  so  ist  alles, 
gesagt. 

Goethe. 


Das  Problem  des  griechischen  Einflusses  im  indischen  Drama. 

Es  ist  nicht  viel  über  ein  Jahrhundert  her,  dafs  man  in  Europa 
von  dem  indischen  Drama  Kunde  erhielt.  Im  Jahre  1789  veröffent- 
lichte William  Jones  eine  englische  Übersetzung  von  Kälidäsas 
Qakuntalä1).  1791  gab  Förster  die  erste  deutsche  Übersetzung; 
es  folgte  eine  dänische,  eine  französische,  eine  italienische.  1827 
erschien  dann  Horace  Haymann  Wilsons  berühmtes,  grundlegendes 
Werk  „Select  specimens  of  the  Theatre  of  the  Hindus".  Der  erste 
Band  enthält  neben  der  Einleitung  die  Übersetzung  der  Mrccha- 
katikä,  der  zweite  Vikramorvagi,  Mälatimädhava  und  Uttaracarita, 
der  dritte  Mudräräksasa,  Ratnävali  und  eine  längere  oder  kürzere 
Analyse  von  23  weiteren  Dramen.    Besondere  Bewunderung  er- 


')  Sacontala  or  the  Fatal  Ring,  an  Indian  drama  by  Calidas,  translated 
fron»  the  original  Sanscrit  and  Pracrit. 


Das  Problem  des  griechischen  Einflusses  im  indischen  Drama.      695 

regte  die  Mrcchakatikä,  unablässig  erinnerte  man  sich  an  Shake- 
speare, dessen  Dichtergröfse  (^üdraka  zu  erreichen  schien1). 

Schlimm  steht  es  mit  der  Entwicklungsgeschichte  des  indi- 
schen Dramas.  Ganz  plötzlich  hebt  diese  grofse  dramatische  Litte- 
ratur  an.  Am  Anfange  steht  gleich  ein  solches  Meisterwerk  wie 
die  Mrcchakatikä.  Kälidäsa  lebte  etwa  im  sechsten  Jahrhundert 
n.  Chr.,  Harsa  am  Anfange,  Bhavabhüti  am  Ende  des  siebenten 
Jahrhunderts.  An  die  Werke  dieser  grofsen  Dramatiker  schliefst 
sich  durch  das  Mittelalter  hin  bis  in  die  neue  Zeit  eine  lange 
Kette  von  Dramen,  die  immer  konventioneller  und  schablonen- 
hafter werden.  Von  früheren  Dramatikern  erwähnt  Kälidäsa  im 
Prolog  von  Mälavikägnimitra  Bhäsa,  Saumilla,  Kaviputra.  Aber 
auch  sie  erscheinen  als  ziemlich  unmittelbare  Vorgänger.  Zu 
ihnen  gehört  auch  noch  Candra  oder  Candraka2).  Dann  aber  gähnt 
vor  uns  das  dunkele  Nichts,  aus  dem  plötzlich  die  Meisterwerke 
entsprangen. 

Hier  setzte  die  Theorie  von  dem  Einflüsse  des  griechischen 
Dramas  ein,  die  Weber  begründete.  In  seinen  akademischen 
Vorlesungen  über  indische  Literaturgeschichte  (Berlin  1876) 
heifst  es  (S.  223  und  224):  „Aus  dem  Bisherigen  hat  sich  er- 
geben, dafs  uns  das  Drama  gleich  vollendet  und  mit  seinen 
besten  Stücken  entgegentritt;  es  wird  denn  auch  in  fast  allen 
Prologen  das  betreffende  Werk  als  neu  im  Gegensatz  zu  den 
Stücken  der  früheren  Dichter  dargestellt.  Von  diesen  aber,  den 
Anfängen  der  dramatischen  Dichtkunst,  ist  uns  nicht  das  Ge- 
ringste erhalten.     Es  ist  sonach  die  Vermutung,  ob  nicht  etwa 


')  Dieser  Bewunderung  gab  Klein  in  seiner  genialen  Geschichte  des 
Dramas,  Band  III,  S.  85,  zum  ersten  Male  einen  entsprechenden  Ausdruck: 
„Seine  Geschichtsthaten  (Cüdrakas)  mögen  Terschollen  seyn,  oder  gleich 
denen  so  vieler  indischer  Könige  sich  mit  den  Thaten  anderer  Herrscher 
unscheidbar  vermischt  haben:  sein  Drama,  die  Spielkutsche,  verewigt  seinen 
Namen  f&r  alle  Zeiten.  Das  Kinderwäglein  von  Thon  ist  König  Cüdrakas 
monumentum  aere  perennius,  sein  Erz  überdauernd  Denkmal;  der  gebrech- 
liche Kindertand  seine  unvergängliche  Grofsthat.  Throne,  Königreiche  werden 
wie  irdenes  Geschirr  in  Scherben  gehn,  wenn  König  Cüdrakas  kleiner  Thon- 
karren  noch  felsenfest  dasteht". 

a)  Ygl.  Sylvain  Levi,  Le  theatre  indien  S.  161. 


696  Achtes  Kapitel. 

die  Aufführung  griechischer  Dramen  an  den  Höfen  der  griechi- 
schen Könige  in  Baktrien,  im  Penjab  und  in  Guzerate  (denn 
so  weit  hat  sich  ja  eine  Zeit  lang  die  griechische  Macht  er- 
streckt) die  Nachahmungskraft  der  Inder  geweckt  habe  und  so 
Ursache  zum  indischen  Drama  geworden  sei,  zwar  vor  der  Hand 
durch  nichts  direkt  zu  beweisen,  aber  die  historische  Möglichkeit 
dafür  ist  wenigstens  unleugbar,  zumal  da  die  älteren  Dramen 
fast  alle  in  den  Westen  Indiens  gehören.  Ein  innerer  Zu- 
sammenhang mit  dem  griechischen  Drama  übrigens  findet 
nicht  statt". 

Windisch  schuf  dann  für  diese  Frage  in  der  berühmten  Ab- 
handlung „Der  griechische  Einflufs  im  indischen  Drama"  eine 
breite  Basis J).  Er  wies  auf  die  zahlreichen  Beziehungen  zwischen 
Indien  und  den  Griechen  hin,  die  Scharen  der  dionysischen 
Techniten,  die  Alexander  den  Grofsen  begleiteten,  die  Schau- 
spieler an  den  Höfen  der  Diadochen,  die  schwerlich  an  den  Höfen 
der  indischen  Diadochen  gefehlt  haben.  Aber  nicht  die  Tragödie 
sondern  die  neue  attische  Komödie  war  das  Vorbild  für  das  in- 
dische Drama.  Darauf  folgt  dann  eine  Aufzählung  der  mannig- 
fachen Vergleichungspunkte. 

Diese  Ansicht  hat  eifrige  Anhänger  und  noch  eifrigere  Gegner 
gefunden.  Zuletzt  hat  Sylvain  Levi  in  seiner  Geschichte  des  indi- 
schen Theaters  die  Beweisführung  von  Windisch  einer  eingehenden 
Kritik  unterzogen.  Wie  es  scheint,  macht  er  sie  gleich  mit 
seinem  ersten  Gegenargument  zu  nichte:  „Die  griechische  Herr- 
schaft, die  im  Becken  des  Indus  infolge  der  vorübergehenden 
Eroberungen  des  Demetrius  und  Menander  bestand,  verschwand 
völlig  aus  Indien  während  des  ersten  Jahrhunderts  vor  Christus; 
Kälidäsa  schuf  seine  Meisterwerke  fünf  oder  sechs  Jahrhunderte 
später.  Darf  man  annehmen,  dafs  das  Studium  der  griechischen 
Vorbilder  sich  während  eines  so  ungeheuren  Zeitraums  in  den 
Brahmanenschulen  erhalten  hat?  Die  Annahme  fällt  von  selbst 
ohne  Diskussion"2).    Ja,  wir  müssen  diese  Argumentation  L6vis 

')  Verhandlungen  des  V.  internat.  Orientalisten  -  Congresses  zu  Berlin 
1881,  Berlin  1882,  S.  3—106. 

2)  Sylvain  Levi,  Le  theatre  indien  S.  345. 


Das  Problem  des  griechischen  Einflusses  im  indischen  Drama.      697 

noch  unterstützen.  In  Rom  und  Hellas  selbst  hatte  im  zweiten 
und  dritten  Jahrhundert  n.  Chr.  die  Menanderkomödie  fast  gänz- 
lich aufgehört.  Als  Kälidäsa  schrieb,  war  die  Komödie  schon  seit 
Jahrhunderten  selbst  in  der  griechisch-römischen  Welt  tot.  Es 
liegt  wirklich  eine  unüberbrückbare  Kluft  zwischen  dem  Menander- 
drama  und  dem  Drama  Kälidäsas. 

Sylvain  Le>i  geht  ein  Beweisstück  von  Windisch  nach  dem 
anderen  durch.  Die  Ähnlichkeit  des  Vidüsaka  mit  dem  servus 
currens,  des  Qakära  mit  dem  miles  gloriosus,  des  Vita  mit  dem 
Parasiten  ist  nicht  gerade  flagrant,  und  wenn  die  Königin  sowohl 
etwas  von  der  „  Matrone"  wie  dem  mifsvergnügten  „senex"  hat, 
so  wird  sie  in  Wirklichkeit  wohl  von  beiden  nichts  haben.  Zudem 
weicht  die  äufsere  Form  des  indischen  Dramas  ganz  von  der- 
jenigen der  griechischen  Komödie  ab,  und  wenn  die  Komödien 
des  Plautus  fünf  Akte  haben,  so  hat  die  Qakuntalä  sieben  und 
die  Mrcchakatikä  gar  zehn.  Die  griechischen  Komöden  tragen 
Masken  und  die  indischen  nicht;  die  Zahl  der  Schauspieler  in 
den  griechischen  Stücken  ist  eine  beschränkte,  in  den  indischen 
eine  fast  unbeschränkte. 

Ob  man  aber  wirklich  über  die  eigentümliche  Ähnlich- 
keit in  der  Technik  der  Erkennungszeichen,  der  yvwQiOfiaxa*), 
im  indischen  und  griechischen  Drama  so  leicht  weggehn  darf, 
wie  L6vi  will?  Gerade  solche  Techniken  erhalten  sich  am 
zähesten  in  der  poetischen  Praxis,  wenn  sonst  schon  alle  anderen 
Spuren  früherer  Überlieferung  verwischt  sind.  Gewifs,  Erken- 
nungszeichen kommen  auch  im  gewöhnlichen  Leben  vor  -).    Aber 


')  Vgl.  die  eindringenden  Ausfahrungen  von  Windisch  a.  a.  0.  S.  34  folg. 

-I  Sylvain  Levi  a.  a.  0.  S.  354:  Les  contes  abondent  en  cos  analogues; 
Vusage  de  ce  procede  n'est  pas  d'ailleurs  une  simple  Imagination  de  poete;  ü  etait 
imite  de  la  vie  reelle.  Ulnde  ancienne,  aussi  bien  que  la  Grece,  ignorait  let  for~ 
malites  et  les  acte»  de  Velat  civil ;  la  vie  de  famille  avec  sei  incidents,  naissance, 
mariage  et  mort,  avait  un  caractbre  entierement  priv€.  Si  les  Hasards  inherents  d 
Vexistence  des  peuples  antiques:  incursions  de  tribus  voisines,  lüttes  intestines,  voyages 
aventureiix,  arrachaient  Vindividu  a  sa  famille  ou  ä  sa  tribu  et  Visolaient  brusque- 
ment,  des  indices  materiels,  tels  que  des  bijoux  ou  des  signes  physiques,  restaient 
les  seuls  garants  de  son  identite'.  Les  nomades  et  les  vagabonds  perpüuent  dam  la 
societi  moderne  Vimage  du  passe  lointain;    tuntbt  des   bijoux  retrouves   trahissent  le 


698  Achtes  Kapitel. 

es  kommt  in  ihm  so  unendlich  viel  vor,  ohne  dafs  die  Poesie 
daraus  ein  bestimmtes  Motiv  bildet.  Die  yvoogicfiaTcc  finden  sich 
doch  auch  in  der  Menander-Komödie  und  im  indischen  Drama 
nicht  wie  im  Leben  gelegentlich,  sondern  unablässig  und  durch 
sie  wird  gern  der  Umschwung  in  der  Handlung  bewirkt1).  Über- 
haupt liebt  das  indische  Drama  wie  das  griechische  Erkennungs- 
scenen,  wenn  sie  auch  nicht  immer  durch  yvcogiofima  herbei- 
geführt werden;  so  wird  im  letzten  Akt  von  Mälavikägnimitra 
die  Zofe  Mälavikä  als  Prinzessin  erkannt:  Eine  derartige  Er- 
kennungsscene  bildet  fast  beständig  den  Beschlufs  der  indischen 
Haremskomödie. 

Aber  soviel  ist  gewifs,  den  ungeheuren,  klaffenden,  zeitlichen 
Zwischenraum  zwischen  Menanderkomödie  und  indischem  Drama, 
den  Sylvain  Levi  konstatiert,  füllen  derartige  Ähnlichkeiten,-  die 
sich  doch  verschieden  deuten  lassen,  nicht  aus.  Nun  dieser  Spalt 
existiert  nicht  mehr,  er  ist  ausgefüllt  durch  den  Mimus. 

II. 
Die  Mimen  wandern  nach  Indien. 

Zu  der  Zeit,  als  Kälidäsa  blühte,  als  man  in  Indien  zum 
ersten  Male  Qakuntalä,  Urvaci,  Mälavikägnimitra  aufführte,  hielt 
Choricius  zu  Gaza  im  Philisterlande,  dessen  Küste,  nach  Indien 
gerichtet,  von  den  Wellen  des  roten  Meeres  bespült  wird,  die  sich 
mit  denen  des  indischen  Oceans  vermischen,  seine  Rede  für  den 
Mimus  und  die  Mimen.  Er  bezeugt  uns  für  jene  Zeit  des  Mimus 
machtvolle  Blüte  und  seine  Verbreitung  durch  die  ganze  griechisch- 
römische Welt  und  besonders  durch  den  Orient. 


meurtrier ;  tantot  des  signes  physiaues  viennent  au  secours  de  la  justice  hesitante ; 
aussi  les  melodrames  contemporains,  qui  portent  sur  la  sehne  le  monde  des  voleurs 
et  des  criminels  ont-ils  largement  us4  de  Yabhijndna,  Baptist  d'un  nom  eilehre:  la 
croix  de  ma  mdre* 

*)  Selbst  in  den  Roman  sind  diese  yvoigia^iata  übergegangen.  Aber 
der  griechische  Romancier  hat  diese  Technik  durchaus  nicht  dem  Leben 
abgelauscht,  sondern  eben  der  Komödie.  Wir  werden  das  an  dem  Beispiel 
des  Longus  im  zweiten  Bande  bei  der  Erörterung  der  Beziehung  zwischen 
Mimus,  Komödie  und  Roman  des  näheren  zeigen. 


Die  Mimen  wandern  nach  Indien.  699 

Im  Orient  ist  die  grofse  mimische  Hypothese  aus  der  alten 
Mimologie  und  Mimodie  entstanden.  Alle  grofsen  Städte  des 
Orients,  Alexandria,  Antiochia,  Konstantiuopel,  waren  von  Mimen 
geradezu  überflutet.  Wir  sahen  schon,  wie  Syrien  und  Palästina 
Pflanzstätten  und  Hochschulen  der  Mimen  waren.  Von  Gaza 
wurden  berühmte  Mimen  von  den  Kaisern  nach  Rom  berufen. 
Immer  neue  Mimographen  traten  auf  und  neue  Mimen  wurden 
geschaffeD,  neue  Typen  erfunden,  dazu  war  eine  grofse  Fülle  alter, 
vortrefflicher  Stücke  litterarisch  überliefert,  besonders  Philistions 
Mimen  führte  man  unablässig  wieder  auf.  Jahrhunderte  gingen 
vorüber,  Königreiche  sanken  in  Trümmer,  neue  Weltreiche  kamen, 
Religionen  versanken  und  neue  Religionen  tauchten  auf,  nur  der 
Mimus  blieb  unverändert  blühend  und  herrschend  im  Orient.  Erst 
als  am  Ende  des  Mittelalters  Byzanz  in  die  Gewalt  der  Türken 
fiel,  ging  es  mit  dem  griechischen  Mimus  in  Asien  zu  Ende; 
aber  in  seiner  türkischen  Metamorphose  führt  der  Mimus  noch 
heute  ein  wenn  auch  erniedrigtes  und  dürftiges  Dasein. 

Die  griechischen  Fürsten  im  Orient  waren  leidenschaft- 
liche Verehrer  des  Mimus,  der  auf  der  orientalischen  Hofbühne 
souverän  herrschte.  Die  Diadochen  in  Indien  haben  da  schwer- 
lich eine  Ausnahme  gemacht.  Bis  ins  erste  Jahrhundert  vor 
Christus  fanden  die  weit  wandernden  Mimen  an  den  griechischen 
Höfen  in  dem  Becken  des  Indus  sicherlich  eine  freundliche  Auf- 
nahme. Dann  gingen  jene  Dynastien  zu  Grunde.  Sollten  darum 
nicht  die  Mimen  weiter  die  ihnen  wohl  bekannte  Strafse  nach 
Indien  gezogen  sein,  diese  Zugvögel  der  Welt,  oQvta  y^c,  wie 
Manetho  sie  nennt  (vgl.  oben  S.  523),  die  von  den  Gebirgen 
Schottlands  zu  den  Katarakten  des  Nil,  von  den  Säulen  des 
Herkules  zu  den  Küsten  des  schwarzen  Meeres  zogen,  die,  wie 
einst  zu  den  römischen  Barbaren,  später  zu  den  Kelten,  Ger- 
manen und  Briten  wanderten,  die  wir  später  noch  am  Hofe  Karls 
des  Grofsen  antreffen  werden,  die  selbst,  wie  der  Mime  Amarion *), 
zu  den  Eingeborenen  Afrikas  drangen.  Es  ist  bekannt,  wie  enge 
Handelsbeziehungen    zwischen  Indien   und    dem  Römerreiche    in 

J)  Über  das  Wandern  der  Mimen  vgl.  oben  S.  55S  folg.  und  im  Kapitel 
Cynismus  und  Mimologie  den  ersten  Paragraphen  „Cyniker  und  Mimen". 


700  Achtes  Kapitel. 

den  ersten  Jahrhunderten  nach  Christus  herrschten.  Beständig 
fuhren  Schiffe  zwischen  den  orientalischen  Häfen  des  Imperium 
Romanum  und  den  indischen  Emporien  hin  und  her;  und  gerade 
in  diesen  Hafenplätzen  bildete  der  Mimus  das  besondere  Ver- 
gnügen des  Volkes  und  waren  die  Mimen  in  Masse  vertreten, 
so  besonders  in  Alexandria.  Wir  hörten  ja  schon  Dio  Chry- 
sostomus  schelten,  die  Alexandriner  hätten  an  nichts  weiter 
Vergnügen  wie  am  Mimus  und  seien  davon  ganz  närrisch  und 
selber  beinahe  zu  Mimen  und  Spafsmachern  geworden.  Von 
Alexandria  aus  hatten  die  Mimen  bequeme  Fahrgelegenheit  nach 
Indien  bis  in  die  Zeiten  Kälidäsas;  was  hinderte  sie  einen 
indischen  Kauffahrer  zu  besteigen,  um  einmal  auch  in  dem 
fabelhaften  Goldlande  ihr  Glück  zu  versuchen.  Was  sie  an  Ge- 
räten und  Kostümen  brauchten,  ging  in  einen  einzigen  Sack  und 
ihre  Gaukelbühne  konnten  sie  leicht  überall  aufschlagen. 

Der  Mime  hat  sich  von  jeher  mit  seinem  lebhaften  Gebärden- 
spiel, mit  seiner  Grimassen-  und  Ohrfeigenkomik  auch  den  anders 
Redenden  verständlich  gemacht.  Anfänglich  haben  die  Römer 
zum  gröfseren  Teile  ja  auch  nicht  die  griechisch  redenden  Mimen 
verstanden  und  ebenso  wenig  später  die  Germanen,  Kelten  und 
Angelsachsen.  Reichte  die  mimische  Kunst  nicht  aus,  so  war 
der  Mime  noch  nebenbei  in  allerhand  Gaukelkunst  als  ^avfiaro- 
noi,6g  geübt  und  die  Miminnen  waren  zugleich  Tänzerinnen.  Diese 
Biologen  kannten  den  ßiog  genau  und  wufsten  mit  allen  Menschen 
zu  verkehren.  Dazu  kam  ihre  lustige  Vagabundenfrechheit  und 
der  Übermut  und  die  Findigkeit  des  fahrenden  Volkes.  Kurz, 
eine  griechische  Mimenbande  schlug  sich  auch  im  fremden  Lande 
durch.  Wir  dürfen  also  sagen,  dafs  recht  gut  in  der  Zeit  von 
circa  300  vor  Chr.  bis  600  n.  Chr.  die  Kenntnis  des  griechischen 
Dramas  und  zwar  in  der  Form  des  Mimus  durch  die  Mimen  den 
Indern  vermittelt  sein  kann.  Ja,  wenn  man  an  den  ungeheuren 
Wandertrieb  der  Mimen  und  an  die  nahen  Beziehungen  zwischen 
Indien  und  den  Reichen  der  Diadochen  sowie  später  dem  römi- 
schen Weltreiche  denkt,  besteht  sogar  die  Wahrscheinlichkeit 
einer  solchen  Vermittelung;  doch  bleiben  wir  vorläufig  erst  ein- 
mal bei  der  Möglichkeit. 


Verfassung  der  indischen  Mimen.  701 

ni. 

Verfassung  der  indischen  Mimen. 

Die  griechischen  Tragöden  und  Komöden  waren  in  grofsen 
Gesellschaften,  Synoden,  vereinigt.  Von  diesen  Synoden  wurden 
für  die  Festfeiern  der  verschiedenen  Städte  die  erforderlichen 
dionysischen  Techniten,  vom  Tragöden  bis  zum  Flötenbläser  her- 
unter, gegen  ein  Entgelt,  der  an  die  Synode  zu  zahlen  war,  ent- 
sendet. Eine  einzige  solche  Synode  konnte  zugleich  die  ver- 
schiedensten Festspiele  beschicken  und  war  für  ganze  Länder 
die  Versorgerin.  Sie  hatte  ihren  festen  Wohnsitz;  die  Verfassung 
war  eine  republikanische,  auf  dem  allgemeinen  Stimmrecht  be- 
ruhende. Die  Synode  wählte  ihre  Beamten,  vom  Erzpriester  bis 
herunter  zum  Pedell. 

Die  Verfassung  der  indischen  Schauspieler  ist  dagegen  die 
Prinzipalschaft.  An  der  Spitze  steht  der  Direktor,  der  sütradhära, 
ihm  liegen  die  Geschäfte  der  Gesellschaft  ob,  er  sorgt  für  alles  und 
hat  das  Regiment.  Als  Schauspieler  giebt  er  die  ersten  Rollen. 
Er  ist  mit  einem  Wort  der  archimimus  der  griechischen  Mimen- 
banden, der  ebenfalls  sowohl  der  Prinzipal,  wie  auch  einer  der 
besten  Schauspieler  der  Truppe  ist.  Neben  dem  Direktor  be- 
hauptet die  erste  Aktrice  noch  einen  hervorragenden  Platz.  Im 
Prologe,  der  vom  sütradhära  gesprochen  wird,  tritt  sie  allein 
von  allen  Schauspielern  auf  und  der  Archimimus  hält  mit  ihr 
ein  lustiges  Zwiegespräch.  Gewöhnlich  ist  sie  mit  ihm  ver- 
heiratet. Auch  die  griechischen  Mimen  pflegten,  wie  Choricius 
hervorhebt,  verheiratet  zu  sein.  Es  ist  die  archimima  der  grie- 
chischen Bühne.  Wie  archimimus  und  archimima  entspricht  sich 
sütradhära  und  sütradhäri1). 

Die  griechischen  Archimimae  und  alle  Miminnen,  die  Prima- 
donnen waren,  erscheinen  im  allerkostbarsten  Schmucke,  strahlen 
von  Gold,  Perlen  und  edelem  Gestein.  Pelagia  erhielt  davon  den 
Namen  Margarito  (Perle).   Sie  haben  an  dieser  Gewohnheit  in  dem 


*)  Vgl.  Sylvain  Levi  a.  a.  0.  S.  378,  Anm.  5 


702  Achtes  Kapitel. 

reichen  Indien  nichts  nachgelassen.  Die  Pracht  des  Schmuckes 
und  der  Toilette  einer  sütradhäri  war  sprichwörtlich;  von  Vasanta- 
senä  heifst  es,  sie  geht  so  prächtig  geschmückt  daher  wie  eine 
Archimima  (Mrcchakatikä  erster  Aufzug). 

Die  griechischen  Mimentruppen  waren,  wie  wir  sahen,  sehr 
zahlreich;  neben  dem  Archimimus  und  der  Archimima,  neben  den 
stupidi  und  moriones,  neben  den  jugendlichen  Liebhabern  und 
Liebhaberinnen,  den  häfslichen  alten  Miminnen,  den  Hexen  und 
Kupplerinnen  fand  sich  noch  ein  Trofs  zahlreicher  niederer  und 
niederster  Mimen  bis  herunter  zu  dem  Corps  de  ballet  und  den 
Statisten.  Genau  so  verhielt  es  sich  mit  den  indischen  Schau- 
spielertrupps. Da  fanden  sich  neben  dem  Prinzipal  und  der 
Prinzipalin  die  Narren,  der  Vidusaka  und  der  Qakära,  der  Parasit, 
der  Vita  und  zahlreiche  sonstige  Vertreter  männlicher  Neben- 
rollen, und  vor  allem  zahlreiche  Miminnen,  zweite  und  dritte 
Liebhaberinnen  —  denn  die  erste  ist  ja  immer  die  sütradhäri  — , 
Vertraute,  Dienerinnen,  Kupplerinnen  u.  dergl.,  häfsliche  alte 
Hexen,  Zauberinnen  und  Tänzerinnen. 

„Zugvögel  im  Lande"  nannte  man  die  hellenischen  Mimen, 
das  gilt  von  den  indischen  genau  in  der  gleichen  Weise.  „So 
organisiert",  sagt  L6vi  (a.  a.  0.  S.  384  u.  385),  „durchzog  die 
Truppe  das  Land  auf  der  Suche  nach  günstigen  Gelegenheiten: 
Mondwechsel,  das  Opfer  eines  Königs,  eine  Prozession,  eine 
kirchliche  Feier,  eine  glänzende  Hochzeit,  die  Heimkehr  eines 
teueren  Angehörigen,  die  Besitzergreifung  einer  Stadt  oder  eines 
Hauses,  die  Geburt  eines  Sohnes  liefsen  sich  nicht  würdig  feiern 
ohne  eine  dramatische  Aufführung".  Nun,  genau  ebenso  konnte 
im  griechisch-römischen  Weltreiche  kein  Fest,  keine  Hochzeit, 
ja  kein  Gelage  ohne  die  Mimen  gefeiert  werden.  Selbst  die 
kaiserliche  Regierung  feierte  öffentliche  Handlungen,  wie  die 
Errichtung  einer  Bildsäule  des  Kaisers  oder  der  Kaiserin  durch 
Aufführung  von  Mimen  (vgl.  oben  S.  132). 

Die  indischen  Schauspieler  gaben  nun  aber  ihr  Spiel  nicht 
auf  eigene  Rechnung  und  nahmen  etwa  Eintrittsgeld,  sondern 
der  Veranstalter  des  Festes  hatte  sie  zu  entlohnen,  wie  es  mit 
den    griechisch-römischen  Mimen  Sitte   war.     Allmählich    wurde 


Verfassung  der  indischen  Mimen.  703 

Indien  genau  so  von  umherziehenden  Mimengesellschaften  erfüllt 
wie  das  griechisch-römische  Weltreich.  Zu  allen  grofsen  Festen 
fanden  sich  zahlreiche  Mimenbanden  ein. 

Da  gab  es  denn  unter  diesen  indischen  Mimenbanden  genau 
dieselben  Eifersüchteleien  wie  etwa  zwischen  den  griechischen, 
die  vor  Caesar  zur  Feier  der  Begründung  der  Weltmonarchie 
spielten,  als  Publius  Syrus  mit  seiner  Truppe  alle  anderen  Mimo- 
graphen  und  Mimen  zum  Wettkampf  herausforderte.  Davon  ist 
wiederholt  in  den  Prologen  indischer  Dramen,  besonders  denen, 
die  zum  Kreise  des  Räma  gehören,  die  Rede.  Aber  ein  richtiger 
Agon  ist  wenigstens  ursprünglich  bei  den  hellenischen  wie  den  indi- 
schen Mimentruppen  mehr  etwas  Zufälliges,  weniger  eine  stehende 
Einrichtung,  wie  bei  den  hellenischen  Tragöden  und  Komöden1). 

Als  fahrende  Leute  sind  die  Mimen  und  Miminnen  auch  in 
Indien  ehrlos  geblieben,  wie  sie  es  in  Hellas  und  nachher  im 
griechisch-römischen  Reiche  nach  dem  Gesetze  nun  einmal  waren, 
die  Ehrlosigkeit  ist  ihnen  auch  über  das  Weltmeer  gefolgt. 

Die  indischen  Miminnen  waren,  wie  die  griechischen,  meistens 
zugleich  Hetären,  trotzdem  sie  zum  Teil  verheiratet  waren.  Ihre 
Männer  waren  nicht  eifersüchtig,  sondern  zogen  Vorteil  aus  den 
Reizen  ihrer  Frauen.  Die  indischen  Lexiken  geben  trocken  und 
ohne  alle  Malice  für  Ausdrücke  wie  Schauspieler,  Mime  das  Syno- 
nym „einer,  der  von  seiner  Frau  lebtu.  Unter  dieser  spezifisch 
indischen  Voraussetzung  verstehen  wir  jetzt  das  alte  Glossar,  das 
Mimus  mit  prepositus  meretricum  übersetzt,  noch  besser.  Ich 
erinnere  auch  an  {xifjägtov  =  Bordell.  Die  griechischen  Miminnen 
standen  da  doch  noch  auf  höherer  moralischer  Stufe  wie  die  indi- 
schen. Wer  die  Frau  eines  Mimen  verführt,  sagt  Choricius,  wird 
ebenso  bestraft  wie  irgend  ein  anderer  Ehebrecher.  Nach  indi- 
schem Gesetze  stand  auf  Ehebruch  mit  einer  Mimin  eine  sehr  ge- 
ringe Strafe,  weil  das  gewöhnlich  war  (vgl.  Levi  a.  a.  0.  S.  391). 
Die  indischen  Mimen  waren  in  ihre  sehr  niedrige  Kaste  gebannt; 
nie  hätte  ein  vornehmer  Mann,   wie  es  seit  Justinian  gesetzlich 

x)  Allerdings  wird  der  Mime  Flavins  Alexander  Oxeides  als  Asionike 
und  Sieger  in  zahlreichen  Agonen  bezeichnet  (Waddington  Voyag.  archeol. 
No.  1652  b). 


704  Achtes  Kapitel. 

erlaubt  war,  eine  rechtliche  Ehe  mit  einer  Mimin  eingehen  können: 
kein  indischer  Radscha  hat  je  eine  Mimin  geheiratet,  nie  war  eine 
Mimin  gar  Kaiserin  von  Indien.  Der  strenge  indische  Kastengeist 
gestattete  auch  der  grofsen  Künstlerin  nicht,  sich  aus  der  Ehrlosig- 
keit ihres  Berufes  zu  erheben. 

Wie  im  Römerreiche  konnten  auch  in  Indien  die  Mimen  nicht 
Zeugnis  vor  Gericht  ablegen.  Aber  auch  in  Indien  bildeten  sie 
trotz  alledem  das  Entzücken  des  Volks,  und  die  indischen  Radschas 
haben  ebenso  mit  den  hervorragenden  Mimen  intim  verkehrt,  wie 
es  König  Philipp  und  Alexander,  die  Könige  Syriens  und  Ägyptens 
und  wohl  auch  die  indischen  Diadochen  thaten.  König  Vasumitra 
mufste  gar  seine  Leidenschaft  für  die  Mimen  mit  dem  Tode  büfsen 
(L6vi  a.  a.  0.  S.  381),  wie  Kaiser  Elagabalus  nur  durch  die  Ent- 
lassung der  Mimen  aus  seiner  Umgebung  einen  gefährlichen  Auf- 
ruhr stillen  konnte. 

IV. 
Tracht  und  Spiel  der  indischen  Mimen. 

Die  indischen  Schauspieler  tragen  nicht  wie  die  griechischen 
Tragöden  fremdartige  Prunkgewänder,  auch  keine  Kothurne  oder 
den  erhöhten  Theaterschuh  der  Komöden.  Sie  erscheinen  wie 
die  griechischen  Mimen  im  wesentlichen  in  der  Kleidung  des 
gewöhnlichen  Lebens. 

Vor  allem  tragen  die  indischen  Schauspieler,  wie  es  sich  für 
Mimen  gehört,  keine  Maske.  Dagegen  haben  sie  von  den  griechi- 
schen Mimen  den  Gebrauch  der  verschiedenartigsten  Schminken 
(pigmenta  multicoloria,  vgl.  oben  S.  600)  übernommen.  Die  Be- 
reitung und  der  Gebrauch  der  Schminke  gehörte  sehr  wesentlich 
mit  zu  den  Künsten  des  indischen  wie  des  griechischen  Mimen. 
Darüber  haben  wir  sehr  eingehende  Angaben  aus  der  indischen 
Litteratur  (vgl.  Sylyain  Le>i  a.  a.  0.  S.  370  u.  388).  Der  [itpos 
ysXoioov  trat  als  Kahlkopf  auf.  Wir  werden  sehen,  dafs  sein 
indischer  Nachkomme  desgleichen  thut,  ja  wir  werden  noch  den 
Phallus  wiederfinden,  der  nun  einmal  mit  zur  äufseren  Er- 
scheinung des  Mimus  gehört. 


Indische  Bühne.  —  Mimenbühne.  705 

Bei  den  griechischen  Mimen  kam  es  vornehmlich  auf  das 
Mienenspiel  an,  ich  erinnere  nur  an  den  Ausdruck  „gesticularia", 
an  den  Mimen,  der  in  Gebärde  und  Haltung  Kaiser  Vespasian 
nachahmt,  an  den  Mimen  Vitalis,  an  Sannio  den  Grimassen- 
schneider. Dasselbe  ist  bei  den  indischen  Mimen  der  Fall.  Sie 
mufsten  alle  Empfindungen  und  Seelenstimmungen  mit  besonderen, 
fein  nüanzierten  Gebärden  ausdrücken.  Es  gab  dafür  in  den 
indischen  Kunstlehren  wahrhaft  minutiöse  Vorschriften.  Die  Be- 
wegung der  Hände,  der  Füfse,  alles  war  aufs  genaueste  und  bis 
ins  einzelnste  hinsichtlich  des  mimischen  Ausdruckes  geregelt1). 
Derartige  Regeln  für  Mimen  sind  uns  ja  leider  aus  dem  grie- 
chischen Altertume  nicht  erhalten.  Aber  in  der  pseudolucianischen 
Schrift  über  den  Pantomimus  (negl  oQxijoeag)  werden  gleichfalls 
die  genauesten  Anweisungen  für  mimisches  Gebärdenspiel  ge- 
geben2). Dieses  lebhafte  Mienenspiel  der  indischen  Mimen  mufste 
um  so  naturwahrer  und  ethologischer  sein,  als  ja  auch  die 
Weiberrollen,  wie  im  griechischen  Mimus  und  im  Gegensatz  zur 
griechischen  Komödie  und  Tragödie,  durch  Frauen  gegeben  wurden. 

V. 

Indische  BUhne.   —    Mimenbühne. 

Wir  haben  die  Bühne  der  griechischen  Mimen  kennen  ge- 
lernt; auf  einigen  Pfählen  in  Brusthöhe  ruht  ein  leichter  Bretter- 


x)  Ich  gebe  zum  Belege  einige  von  den  Beispielen,  die  Levi  a.  a.  0.  S.  387 
u.  3ß8  anführt:  Tandis  que  Qakuntalä  effrayee  fuit  devant  Vabeille,  eile  exprime 
sa  crainte  par  des  signes:  <Elle  secoue  vivement  la  tite;  sei  Ibores  tremblent;  la 
paume  ouverte,  les  doigts  itendus  {sauf  le  pouce  qui  se  recourbe  et  se  fixe  ä  la  bäte 
de  t index)  eile  retoume  se»  mains  devant  son  visage  > .  .  .  .  Les  traiiis  de  mimique 
ne  se  contentent  pas  d'enseigner  les  gestes  de  Convention,  qui  indiquent  au  speetateur 
Vaction  du  personnage;  ils  de'crivent  les  manifestations  exterieures  des  sentiments 
avec  autant  de  patience  et  de  minutie  que  les  ouvrages  de  rhitorique  en  mettent  ä 
cataloguer  les  sentiments  meines.  Qakuntalä  exprime  la  honte  de  l'amour  (grngä 
ralajjäm  rupayati):  *Eüe  de'tourne  la  tite;  ses  paupieres  se  rejoignent  aux  deux 
bouts,  la  pupille  est  baissie  et  la  paupikre  retombe». 

8)  Es  wäre  interessant  genug,  wenn  einmal  diese  detaillierten  griechi- 
schen und  indischen  Vorschriften  über  mimische  Gestikulation  im  einzelnen 
verglichen  würden;  e>  liegt  ja  Material  in  Fülle  vor. 

Reich,  Mimus.  45 


706  Achtes  Kapitel. 

boden ').  Als  man  dann  später  die  mimische  Hypothese  zur  Ver- 
herrlichung von  Festen  und  Gelagen  gab,  ward  dasselbe  Gerüst 
im  Festsaale  aufgeschlagen.  So  spielten  bei  dem  grofsen  Feste, 
das  König  Antiochus  IV.  von  Syrien  in  Daphne  im  Jahre  168  vor 
Christus  gab,  die  Mimen  im  Saale  vor  der  Festversammlung.  Im 
grofsen,  steinernen  Dionysostheater  trennte  sich  der  Mime,  wie 
wir  sahen,  von  dem  glänzenden,  für  die  vornehme  Tragödie  und 
Komödie  bezeichneten  scenischen  Hintergrunde  durch  einen  Vor- 
hang, das  siparium *).  Vor  diesem  spielten  die  Mimen,  hinter  ihm 
warteten  sie  auf  ihr  Stichwort.  Dahinter  werden  zum  Teil  auch 
die  Musiker  gestanden  haben,  die  im  Mimus  sehr  zahlreich  waren. 
Das  Siparium  war  eine  Art  Gardine,  die  beim  Heraustreten  des 
Schauspielers  in  der  Mitte  sich  auseinanderschob,  um  dann  wieder 
zusammenzugehen2);  es  bildete  zugleich  für  den  Mimus  den 
scenischen  Hintergrund.  Genau  so  verhält  es  sich  mit  der  indi- 
schen Bühne.  Grofse  steinerne  Theater,  ja  überhaupt  ein  eigent- 
liches Theater  hat  es  in  Indien  nie  gegeben.  Die  Mimen  haben 
ja  auch  in  Griechenland  kein  Bedürfnis  darnach  verspürt,  sie 
haben  dort  das  steinerne  Dionysostheater,  das  für  Tragödie  und 
Komödie  erbaut  war,  nur  benutzt,  weil  es  nun  einmal  da  war. 
Die  wandernden  indischen  Mimenbanden  liefsen  sich  von  dem 
Festgeber  einen  Hof  oder  einen  Saal  anweisen,  an  den  indischen 


*)  Der  Boden,  auf  dem  die  Mimen  spielten,  heifst  niXfia ;  so  nennt  ihn 
Leontios  in  der  vita  Symeons.  xal  xärco  iffraro  tis  to  niX/xa  onov  enai£ov 
ol  filfxoi  heifst  es  von  Symeon;  et  stetit  infra  in  area  drei,  ubi  ludebant 
mimi  übersetzen  die  Bollandisten.  Aber  vom  Cirkus  ist  gar  keine  Rede 
sondern  vom  Theater.  Wenn  Symeon  sich  unten  hinstellt  auf  den  Bretter- 
boden, auf  dem  die  Mimen  spielen,  so  haben  wir  ja  eben  hervorgehoben, 
dafs  dieser  Boden  etwa  Brusthöhe  zu  haben  pflegte  (vgl.  anch  oben 
S.  606,  611).  Die  Zuschauersitze  stiegen  aber  amphitheatralisch  an,  und  die 
Mehrzahl  der  Zuschauer  schauten  von  oben  auf  das  „7i£X/xau.  Wenn  man 
Symeon  nicht  auf  dem  Bretterboden  bemerkt  und  nicht  sieht,  wie  er  den 
Stein  wirft,  so  stand  er  eben  hinter  dem  Siparium  versteckt,  nur  so  konnte 
er  ja  auch  auf  der  Bühne  geduldet  werden.  Die  Bollandisten  haben  also 
hier  eine  falsche  Anschauung,  jedenfalls  aber  wird  das  ntXfjLK  nicht  selten 
ebenso  wie  im  Theater  auch  im  Cirkus  aufgeschlagen  sein,  der  ja  gleichfalls 
eine  Heimstätte  der  Mimen  war. 

2)  Vgl.  die  Ausführungen  über  das  Siparium  oben  S.  608 — 612. 


Indische  Bühne.  —  Mimenbühne.  707 

Fürstenhöfen  war  es  gewöhnlich  der  grofse,  prächtig  ausgestattete 
Musiksaal.  Dort  schlugen  sie  ihre  Bühne  auf,  zu  welcher  der 
Mimentrupp  alles  Erforderliche  mit  sich  führte.  Kräftige  Pfähle 
aus  kostbarem  Holze  wurden  zur  Hälfte  ihrer  Höhe  in  die  Erde 
gegraben,  darauf  wurde  ein  Bretterboden  gelegt,  ganz  wie  bei 
der  alten  Mimenbühne,  auch  die  Brusthöhe  stimmt  etwa.  Wie 
die  Mimenbühne  verzichtet  die  indische  Bühne  auf  Scenenmalerei, 
der  Ort  der  Handlung  wird  durch  die  Personen  des  Stückes  an- 
gedeutet Bald  ist  die  Bühne  ein  Büfserhain,  bald  ein  Fürsten- 
palast, bald  die  Terrasse  des  Perlenschlosses,  bald  stellt  sie  den 
Himmelssaal  dar,  bald  gar  die  Region  über  den  Wolken;  wie  im 
Mimus  wechselt  die  Scene,  aber  die  Bühne  bleibt  unverändert 
dieselbe.  Den  Hintergrund  schliefst  ein  Vorhang  ab,  eine  Art 
Gardine.  Hinter  diesem  Vorhang  ist  die  Musik  verborgen  und 
stehen  die  Schauspieler.  Beim  Hinaustreten  eines  Schauspielers 
auf  die  Bühne  wird  der  Vorhang  in  der  Mitte  auseinander- 
geschlagen, vor  diesem  Vorhang  spielten  die  Mimen.  Soll  ich 
noch  weiter  beweisen,  dafs  er  das  velum  mimicum,  das  siparium 
ist?    Nun  gut,  er  heilst  Yavanikä,  der  Ionische,  der  Griechische '). 


*)  Den  Hinweis  auf  diesen  entscheidenden  Ausdruck  verdanken  wir 
Windisch,  der  schon  hervorhob,  wenn  der  Vorhang  der  „ griechische"  sei, 
werde  wohl  auch  mit  ihm  die  ganze  Bühneneinrichtung  aus  Griechenland 
entlehnt  sein  (a.  a.  0.  S.  24  ff.).  Nun  hat  diese  aber  nichts  mit  derjenigen  der 
griechischen  Komödie  zu  thun.  Komödie  und  Tragödie  kennt  in  Griechenland 
keinen  Vorhang,  am  wenigsten  aber  einen  Vorhang  wie  das  Siparium.  Bei 
diesen  himmelweiten  Unterschieden  schien  Sylvain  Levis  Einspruch  wohl  be- 
gründet (a.  a.  0.  S.  348  ff.)=  Javani  hiefsen  nicht  blofs  die  Ionier,  die  Griechen, 
sondern  im  weiteren  Sinne  neben  den  Griechen  auch  alle  Völker  im  Westen, 
also  auch  Baktrier,  Perser,  Araber;  da  könnte  Javanika  also  möglicherweise 
einfach  auch  einen  Perserteppich  bedeuten,  der  von  Griechen  nach  Indien 
verhandelt,  dort  als  Vorhang  auf  der  Bühne  diente.  Die  Perserteppiche 
waren  schon  im  Altertum  berühmt.  Nun,  die  Identität  zwischen  Yavanikä 
und  Siparium  macht  diese  Möglichkeit  zur  Unmöglichkeit.  Auch  die  mittel- 
alterlichen mimi  et  ioculatores  im  lateinischen  Westen  Europas  haben  sich  das 
Siparium  erhalten  (vgl.  oben  S.  611,  612),  und  ein  Rest  davon  findet  sich  noch 
auf  der  altenglischen  Bühne,  die  von  der  mittelalterlichen  mimischen  Gaukel- 
bühne abstammt.  Die  Farbe  des  Sipariums  wechselt  in  Indien  je  nach  dem 
Inhalt  des  Stückes;  ist  er  erotisch,  ist  sie  weifs,  tragisch:  schwarz,  komisch  : 

45* 


708  Achtes  Kapitel. 

Götter  und  Helden,  Könige  und  Prinzen,  Weise  und  Minister, 
Göttinnen,  Nymphen,  Königinnen,  Bettelmönche,  Kaufleute,  Ar- 
beiter, Fischer,  Spieler,  Bettler,  Henkersknechte  und  Totengräber, 
und  allerhand  Lumpengesindel,  Hetären  und  Kupplerinnen  müssen 
alle,  woher  sie  auch  kommen  mögen,  ob  direkt  aus  Indras  Himmel 
oder  aus  der  Winkelkneipe,  durch  den  einen  Schlitz  im  velum 
mimicum  in  die  Erscheinung  treten.  Das  war,  so  seltsam  es  ist, 
in  Indien  Sitte,  weil  es  nun  einmal  auch  im  griechisch-römischen 
Mimus  Sitte  war  und  weil  die  griechischen  Mimentruppen  alle 
ihre  Einrichtungen,  Gewohnheiten  und  Gebräuche,  ihre  Art  zu 
erscheinen  und  zu  spielen,  ihre  Verfassung  und  ihre  Bühne  nach 
Indien  verpflanzt  haben.  Ob  sie  allein  die  Hauptsache,  den 
Mimus,  zu  Hause  gelassen  haben? 


VI. 
Form  des  indischen  und  des  mimischen  Schauspiels. 

Rätselhaft  ist  die  Form  des  indischen  Dramas.  Wenn  Win- 
disch zum  Schlüsse  die  Verschiedenheiten  zwischen  griechischer 
Komödie  und  indischem  Drama  hervorhebt,  so  nennt  er 
vor  allem  diese  Form:  „In  der  griechischen  Komödie  war 
auch  der  gewöhnliche  Dialog  in  Versen.  Das  indische  Drama 
hat  für  den  Dialog  die  Prosa.  Dies  begreift  sich,  wenn  wir 
bedenken,  dafs  die  Inder  kein  Versmafs  besafsen,  das  dem 
leichten,  einzeiligen  iambischen  Trimeter  entsprach,  in  den  sich 
sogar  zwei  Personen  teilen  konnten.  Es  ist  aber  nicht  ohne 
Interesse,  dafs  vereinzelt,  am  Ende  des   7.  Aktes  der  Mriccha- 


bunt,  gewaltsam:  rot  u.  s.  w.  Doch  scheint  die  rote  Farbe  immer  zu  lässig 
(Levi  S.  374).  So  wird  auf  der  altenglischen  Bühne  die  Farbe  des  Vorhanges 
und  der  Teppiche  geändert;  bei  Trauerspielen  sind  sie  schwarz,  bei  Lust- 
spielen rot.  Vermutlich  wird  die  Farbe  des  Sipariums  schon  im  alten 
griechisch-römischen  Mimus  gewechselt  haben;  doch  ist  die  Überlieferung 
für  solche  intime  Einzelheiten  zu  dürftig  und  lückenhaft.  Das  velum  mimicum 
bildet  noch  heute  den  scenischen  Hintergrund  in  den  indischen  Volks- 
schauspielen den  Yätras  (vgl.  L6vi  a.  a.  0.  S.  397). 


Form  des  indischen  und  des  mimischen  Schauspiels.  709 

katikä,  das  schöne  Zwiegespräch  zwischen  Aryaka  und  Cänidatta 
eine  vollkommen  korrekte  Cärdulavikridita- Strophe  bildet,  wie 
Stenzler  erkannt  hat.  Vielleicht  ist  dies  ein  Nachklang  von 
Versuchen,  die  Griechen  in  der  Versifikation  des  Dialogs  nach- 
zuahmen. Die  Prosa  des  Dialogs  kann  aber  auch  beabsichtigt 
sein  als  genauer  der  Wirklichkeit  entsprechend,  ein  Gesichts- 
punkt, der  jedenfalls  für  das  Präkrit  der  Dramen  in  Betracht 
kommt.  Es  könnte  endlich  auch  die  Praxis  der  modernen  ben- 
galischen yäträs,  in  denen  der  Dialog  der  Improvisation  über- 
lassen ist  (vgl.  Wilson,  Hindu  Theatre  II,  p.  414),  schon  in  die 
älteste  Zeit  zurückgehn  und  die  Ursache  der  Prosa  im  Dialog 
des  literaten  Dramas  geworden  sein. 

Der  Dialog  besteht  aber  bekanntlich  nicht  blofs  aus  Prosa, 
sondern  zum  Teil  aus  Versen.  Diese  Verse  haben  bisweilen 
einen  sentenziösen  Charakter,  vorwiegend  ist  jedoch  die  ge- 
bundene Form  zum  Ausdruck  der  gehobenen  Stimmung  und 
der  poetischen  Gedanken  des  Zwiegesprächs  gebraucht.  An  die 
cantica  bei  Plautus  und  Terenz  darf  man  nicht  erinnern, 
denn  diese  sind  Monologe  und  wurden  gesungen;  mit  den 
canticis  könnten  höchstens  die  Singverse  des  suchenden  Königs 
im  4.  Akt  der  Urvacj  verglichen  werden.  Die  Untersuchung 
über  die  Entwickelung  der  Kunstformen  der  indischen  Litteratur 
ist  mindestens  noch  nicht  abgeschlossen.  Der  Prosa  mit  ein- 
gestreuten Versen  begegnen  wir  z.  B.  auch  im  Pancatantra  und 
in  der  Vetälapaiicavimcatikä.  Es  wird  diese  Kunstform  eine 
echt  indische  Erfindung  sein,  sie  könnte  aber  im  Drama  neu 
entstanden  sein,  als  es  galt  den  verifizierten  griechischen 
Dialog  nachzuahmen:  den  ganzen  Dialog  zu  versifizieren  liefs 
sich  nicht  durchführen,  und  so  unterschied  man  zwischen  der 
gewöhnlichen  und  der  gehobenen  Rede  und  brachte  eben  nur  für 
die  letztere  die  indischen  Versmafse  in  Anwendung".  (Windisch 
a.  a.  0.  S.  101  und  102.) 

Also  die  Form  des  Dialogs  ist  Prosa,  die  durch  metrische 
Stellen  unterbrochen  wird.  Die  Singstrophen  in  der  Urvaci  er- 
innern Windisch  an  Plautinische  cantica;  ich  setze  die  erste 
Strophe  hierher: 


710  Achtes  Kapitel. 

„Von  dem  Weibchen  getrennt,  vom  Wahnsinn  berückt, 
So  dringt,  mit  Blütengezweig  geschmückt 
Der  Bäume,  das  vorn  um  den  Leib  sich  ihm  wand, 
Ins  Dickicht  der  mächtige  Elephant". 

Die  Plautinischen  cantica  sind  aber  Mimodieen.  Diese 
Liebesklagen  des  Königs  Purüravas  erinnern  mit  ihrer  präch- 
tigen, sinnberückenden  Leidenschaft  an  die  Mimodie  „Des  Mäd- 
chens Klage".  Solche  Liebesklagen,  wie  sie  in  den  indischen 
Dramen  in  reizvollen  Liedern  erklingen,  haben  auch  unablässig 
durch  die  mimische  Hypothese  geschallt.  Auch  sonst  giebt  es 
Arien  in  den  indischen  Dramen.  Ich  gebe  als  Beispiel  das  Lied 
am  Anfange  des  fünften  Aufzuges  der  Qakuntalä: 

„Denkst  du  nicht  mehr,  o  Honigspender, 
Der  Knospe  an  dem  Mangobaum, 
Die  deiner  Liebe  Unterpfänder 
Im  Kufs  empfing,  im  Liebestraum? 


Nach  frischem  Saft  steht  dein  Verlangen? 
Zur  Lotusblüte  ziehst  du  ein? 
Wird  dir's  im  neuen  Haus  nicht  bangen? 
Wirst  du  auch  wahrhaft  glücklich  sein? 

Die  mimische  Hypothese  hat  überhaupt  einen  etwas  opern- 
haften  Charakter,  ähnlich  dem  indischen  Drama.  Windisch  hebt 
hervor,  die  metrischen  Stellen  dienten  besonders  für  sententiöse 
Wendungen  —  nun  wir  kennen  die  metrischen  Sentenzen  des 
Mimus  —  und  zur  Bezeichnung  der  sich  hebenden  Stimmung  — 
wie  im  Mimus. 

Also  das  indische  Schauspiel  hat  einen  Prolog,  dann  wechseln 
Prosa,  metrischer  Dialog  und  Lieder  miteinander  ab.  Diese  eigen- 
tümliche Form  hat  allerdings  nichts  mit  der  antiken  Komödie  oder 
gar  Tragödie  gemein,  alles  aber  mit  dem  Mimus,  für  den  sie 
typisch  ist.  Diese  Form  haben  die  alten  hellenischen  Mimo- 
graphen  geschaffen,  Philistions  Vorgänger  und,  weil  der  türkische 
Mimus  ein  Nachkomme  des  byzantinischen  ist,  zeigt  er  sie  ähnlich 
wie  das  indische  Drama. 


Form  des  indischen  und  des  mimischen  Schauspiels.  711 

Der  Mimus  liebt  es,  den  Dialekt  der  hohen  und  niederen 
Personen  zu  unterscheiden ;  neben  dem  gewähltesten,  ja  preziösen 
Griechisch,  wie  es  die  vornehmen  Personen,  Könige  und  Götter 
und  vornehmen  Damen  reden,  macht  sich  der  Jargon  der  Gasse 
mit  den  niedrigsten  Pöbelausdrücken  breit.  Das  ist  ein  unver- 
brüchliches Gesetz  der  mimischen  Hypothese,  das  man  als  solches 
auch  in  Indien  respektiert  hat.  Die  vornehmen  Personen  im 
indischen  Drama  sprechen  das  vornehme  Sanskrit,  die  einfachen 
Leute  und  die  Frauen  die  Volkssprache  Präkrit.  Nun  gab  der 
Mimus  aber  nicht  die  Volkssprache  schlechthin,  er  wufste  darin 
fein  zu  nüanzieren  und  Dialekte  zu  unterscheiden.  Da  redeten 
Gaetuler,  Gallier,  Kreter,  die  Etruskerin,  Armenier,  Araber,  Juden 
ihre  besonderen  Dialekte;  wir  haben  auch  einen  solökisierenden 
Odysseus.  Wir  wissen  ja  auch,  wie  schon  die  Aristophanische 
Komödie,  die  soviel  vom  Mimus  gelernt  hat,  Dialekte  unter- 
scheidet und  den  Böoter  eben  Böotisch,  den  Megarer  Megarisch 
und  den  Dorer  Dorisch  reden  läfst,  das  hat  der  Mimus  selbst 
noch  in  seiner  türkischen  Metamorphose,  dem  Karagözspiel,  bei- 
behalten. So  wird  denn  auch  im  indischen  Drama  die  Volks- 
sprache das  Präkrit  nach  seinen  verschiedenen  Dialekten  ge- 
sprochen:  Mägadhi,  Qäkäri,  Cändäli  u.  s.  w. 

Im  Mimus  pflegten,  ganz  im  Gegensatz  zur  Tragödie  und  neuen 
Komödie  eine  grofse  Anzahl  von  Personen  aufzutreten.  Ganze 
Scharen  von  Mimen  und  Miminnen  füllten  die  Bühne.  Auch  das 
indische  Drama  kennt  keine  Beschränkung  in  der  Zahl  der  auf- 
tretenden Personen;  bei  seiner  dem  Mimus  gemäfsen  ethologischen 
Richtung  schwelgt  es  in  der  Zeichnung  zahlreicher  Charakter- 
figuren. 14  verschiedene  Personen  hat  z.  B.  Mälatimädhava, 
18  Urva^i,  20  Mälavikägnimitra,  25  Mudräräksasa,  28  Mriccha- 
katikä. 

Wir  haben  auf  die  wunderbare  Mischung  der  vornehmen 
mit  den  niedrigen  Personen  im  griechischen  Mimus  hin- 
gewiesen. Es  geht  von  Göttern,  Helden,  Königen,  Imperatoren, 
Prätoren  und  Gerichtsherrn  bis  zum  Strolch  herunter  und 
der  Mimus  weifs  alle  diese  Typen  miteinander  zu  verbinden. 
Genau  so  im  indischen  Drama,   wo  gleichfalls  alle  Skalen  der 


712  Achtes  Kapitel. 

sozialen  Stufenleiter  vom  Gotte  und  Könige  bis  zum  Lumpen 
vertreten  sind  und  wo  selbst  in  einem  so  idealen  und  hoch- 
gespannten Drama  wie  der  Qakuntalä  ein  Polizeimeister  uüd 
zwei  gewöhnliche  Polizeikerle  auftreten,  die  erst  einen  armen 
Fischer  erbärmlich  verhauen  und  nachher  mit  ihm  in  die  Kneipe 
gehn,  um  gemeinsam  einen  Schnaps  zu  nehmen,  den  natürlich 
der  Fischer  zu  bezahlen  hat. 

Schnell  wie  im  Mimus  wechselt  im  indischen  Drama  der 
Ort;  der  Mangel  jeder  Kulissenmalerei  wie  auf  der  griechischen 
Mimenbühne  ermöglicht  das.  Prächtig  schildert  der  indische 
Mimus  bald  den  Bergwald,  bald  den  Büfserhain,  den  könig- 
lichen Lustpark  oder  die  herrlichen  Gemächer  des  Königs- 
schlosses, in  denen  er  sich  befindet.  Aber  es  ist  immer 
dieselbe  kahle  Scene,  und  so  kostet  es  dem  Mimen  nur  ein 
paar  Worte,  um  plötzlich  am  anderen  Orte  zu  sein.  Wenn 
schon  der  griechische  Mimus  die  Zuschauer  vom  Himmel  durch 
die  Welt  zur  Hölle  führt,  so  ist  das  indische  Drama  ebenso  in 
Indras  Himmel,  und  auf  den  Bergspitzen  des  Himalaya  wie  auf 
der  Erde  zu  Hause.  Auch  das  indische  Drama  erstreckt  wie  der 
Mimus  seine  Handlung  über  mehrere  Tage;  ja  er  geht  über  diese 
Freiheit  des  griechischen  Mimus  noch  weit  hinaus.  Die  Handlung 
der  Qakuntalä  wie  der  Urvacj  umfafst  Jahre,  an  ihrem  Anfange 
sind  die  Heldinnen  liebende  Jungfrauen,  an  ihrem  Ende  die 
Mütter  munterer,  heldenhafter  Knaben. 

Die  klassischen  Einheiten  kennt  also  das  indische  Drama 
so  wenig  wie  der  Mimus;  es  benutzt  die  Freiheiten,  die  ihm 
der  kühne  Neuerer,  der  Biologe,  geschaffen  hat.  Eigentümlich 
sind  dem  Mimus  die  Kinderrollen,  selbst  diese  Besonderheit  zeigt 
das  indische  Drama  und  zwar  gerade  in  den  ältesten  Stücken. 
In  der  Mrcchakatikä  tritt  Rohasena,  das  Söhnchen  des  Cärudatta 
auf;  in  Kälidäsas  Qakuntalä  der  kleine  Sohn  Duhsantas  und 
Qankuntalas,  in  der  Urvagi  der  kleine  Bogenschütze  Ayus,  Urvagis 
und  Purüravas  Sohn ;  und  entsprechend  der  Gewohnheit  des  Mimus 
sind  diese  Kinderrollen  keineswegs  unbedeutend.  Auch  die  indi- 
schen Mimen  gewöhnten  eben  wie  die  griechischen  ihre  Kinder 
schon  früh  an  ein  dreistes  Auftreten  auf  der  Bühne. 


Mrcchakatikä  als  mimische  Hypothese.  713 

vn. 

Mrcchakatikä  als  mimische  Hypothese. 

Wir  wollen  den  Vergleich  zwischen  Mimus  und  indischem 
Schauspiel  etwas  eingehender  an  der  Mrcchakatikä  durchführen. 

Wie  im  Mimus  haben  wir  einen  Prolog,  wie  im  Mimus  und 
in  allen  indischen  Dramen  wechseln  hier  Vers  und  Prosa,  vor- 
nehme Sprache  mit  niederer  Volkssprache  und  hier  wieder  ver- 
schiedene Dialekte  miteinander.  Wie  im  Mimus  mischen  sich 
vornehme  mit  niedrigen  Personen.  Da  findet  sich  der  königliche 
Prinz  Samsthänaka  und  sein  Hofschranze,  der  Vita,  ein  vor- 
nehmer, hochgebildeter,  Sanskrit  redender  Herr;  der  Brahmane 
Cärudatta  und  seine  Gattin,  Rohasena  sein  Söhnchen,  der  Thron- 
prätendent Aryaka,  ein  Oberrichter,  zwei  Hauptleute  der  Stadt- 
wache mit  ihren  Leuten,  die  reiche  Bajadere  Vasantasenä  und 
ihre  kupplerische  Mutter,  so  geht  es  immer  tiefer  herunter  zum 
Gerichtsschreiber  und  zum  Pedell,  zu  den  Bedienten,  Zofen  und 
Mägden,  ja  zu  den  allerniedrigsten  Leuten,  den  zwei  Tschändälern, 
den  Henkern. 

Wie  im  Mimus  folgt  ein  Bild  aus  dem  Leben  dem  anderen, 
schnell  ändert  sich  in  kurzatmigen  Auftritten  die  Scene,  bald  sind 
wir  vor,  bald  in  des  Brahmanen  Cärudatta  Haus,  oder  in  Vasanta- 
senäs  Palast,  bald  in  diesem,  bald  in  jenem  Zimmer  oder  im 
Garten,  dann  bald  wieder  auf  der  Strafse  oder  im  Parke 
Puschpakaranda,  im  Gerichtssaale  oder  auf  dem  Wege  zum 
Hochgerichte.  Ebenso  ist  wie  im  Mimus  von  Einheit  der  Zeit 
keine  Rede,  die  Handlung  spielt  sich  nicht  an  einem  sondern 
an  fünf  Tagen  ab.  Auch  die  Einheit  der  Handlung  ist  nicht 
gewahrt,  es  sind  zwei  Handlungen  durcheinander  geschlungen. 

Die  Haupthandlung  ist  eine  Liebesgeschichte  zwischen  der 
schönen  und  geistvollen  Hetäre  Vasantasenä.  die  ihrem  lockeren 
Gewerbe  durch  eine  reine  und  heilige  Leidenschaft  abwendig  ge- 
macht wird,  und  dem  tugendhaften  Kaufmanne  aus  der  Brahmanen- 
kaste  Cärudatta,  der  einst  reich,  durch  seine  grofse  Mildherzigkeit 
und  Freigebigkeit  verarmt  ist    Die  ernsthafte  Liebe  der  Hetäre 


714  Achtes  Kapitel. 

zu  einem  schönen,  aber  armen  Jünglinge,  die  bei  ihrer  hab- 
süchtigen Mutter  keine  Billigung  findet,  ist  ein  altes,  griechi- 
sches Komödienmotiv.  Das  hat  Windisch  vortrefflich  entwickelt1). 
Auch  im  VII.  Hetärenmimus  Lukians  findet  sich  dieses  Motiv 
wieder.  Dort  schilt  die  Mutter  auf  Musarion:  „Wenn  wir  noch 
so  einen  Liebhaber  finden,  Musarion,  wie  dieser  Chaereas  ist, 
so  können  wir  weniger  nicht  thun,  als  der  Venus  Pandemos 
eine  weifse  Ziege,  der  Urania  und  der  in  den  Gärten  jeder 
eine  junge  Kuh  opfern,  und  die  Plutodoteira  über  und  über 
mit  Blumenkränzen  behängen;  wir  werden  auch  ganz  glücklich 
und  dreifach  beseeligt  sein.  Das  mufst  du  mir  doch  selbst 
gestehn,  dafs  es  ein  freigebiger  junger  Herr  ist!  Wenn  er, 
seitdem  du  ihn  kennst,  auch  nur  mit  einem  Silbergroschen 
hervorgerückt  wäre!  Nur  ein  Halstuch  oder  ein  paar  Schuhe, 
oder  ein  Pommadetöpfchen  wenigstens!  Aber  nichts!  Nichts 
als  Entschuldigungen,  und  Versprechungen  und  weit  hinaus- 
geschobene Hofnungen,  und  das  ewige  „Wenn  mein  Vater  — 
Wenn  ich  Herr  von  meinen  Erbgütern  sein  werde  —  dann  ist 
alles  dein"  —  Sagst  du  nicht,  er  habe  dir  mit  einem  Eide 
versprochen,  dafs  er  dich  sogar  heirathen  wolle?  Musarion: 
Ja,  Mutter,  das  hat  er  mir  bei  den  beiden  Göttinnen  und  bei 
der  Polias  geschworen!"  Besonders  empört  ist  die  Mutter  dar- 
über, dafs  Musarion  zwei  wohlhabende  junge  Leute,  die  reiche 
Anerbietungen  machten,  abwies.  „Wie  behandeltest  du  neulich 
den  jungen  Gutsbesitzer  von  Acharnä,  den  sein  Vater  mit 
einem  Fuder  Wein  in  die  Stadt  zum  Markte  geschickt  hatte? 
Der  hatte  doch  auch  noch  keinen  Bart,  aber  einen  desto 
gespicktem  Beutel;  und  so  einen  Landsmann,  der  dir  von 
seinem  gelösten  Gelde  zwei  baare  Minen  anbot,  weisest  du 
verächtlich  ab,  und  letzest  dich  dafür  mit  deinem  Adonis 
Chaereas!  ....  Nun,  nun!  Er  ist  freilich  nur  ein  Bauer,  und 
riecht  nicht  zum  besten.  Aber  was  hattest  du  gegen  den 
Antipho,  des  Menekrates  Sohn,  einzuwenden,  der  eine  Mine 
geben  wollte?    Ist  der  nicht  ein  so  feiner  junger  Herr  aus  der 

J)  a.  a.  0.  S.  31  ff. 


Mrcchakatikä  als  mimische  Hypothese.  715 

Stadt  als  Chaereas  immer?  Warum  wurde  auch  der  abgewiesen?" 
Aber  Musarion  bleibt  fest,  sie  will,  wie  ihre  Mutter  hämisch 
sagt,  fortan  so  keusch  leben  wie  eine  Ceres  und  hofft,  dafs  ihr 
Geliebter  Chaereas,  der  junge  Edelmann,  der  Dinomache  und 
des  Areopagiten  Laches  einziger  Sohn,  sie  später  heiraten  werde. 
Ähnlich  wie  diese  Hetärenmama  benimmt  sich  auch  Vasanta- 
senäs  Mutter,  die  gern  ihr  Töchterchen  an  den  Narren  Samsthä- 
naka  verkuppeln  möchte,  der  zugleich  mit  der  Sänfte,  die  Vasanta- 
sena  abholen  soll,  einen  Schmuck  von  hunderttausend  Goldstücken 
an  Wert  sendete  (Beginn  des  vierten  Aufzuges).  Dieses  Motiv 
der  reinen  Liebe  einer  Hetäre  ist  zwar  Mimus  und  Komödie  ge- 
meinsam, aber  wie  es  hier  durchgeführt  wird,  entspricht  be- 
sonders dem  Mimus. 

Bei  allen  Liebesgeschichten  im  Mimus  ist  Eifersucht  das 
treibende,  den  Knoten  der  Handlung  schürzende  Motiv.  Eine 
Eifersüchtige  singt  „Des  Mädchens  Klage",  eine  Eifersüchtige 
ist  die  Zauberin  bei  Theokrit,  eine  Eifersüchtige  (Zylonmog) 
tritt  im  fünften  Mimiambus  des  Herondas  aul  Der  Zrjloivnog 
ist  eine  stehende  Figur  in  der  mimischen  Hypothese.  Ich  erinnere 
an  den  „zelotypus  Thymeles,  stupidi  collega  Corinthi"  bei  Iuvenal 
(vgl.  oben  S.  89  Anm.  3).  Wie  er  den  begünstigten  Nebenbuhler 
verfolgt,  wie  er  die  Zusammenkunft  der  Liebenden  hintertreibt  oder 
stört,  wie  diese  doch  schliefslich  an  das  Ziel  ihrer  Wünsche  ge- 
langen, wie  er  gefoppt,  geprellt,  gehänselt  und  geprügelt  wird, 
wie  er  sich  dann  später  rächt,  ist  der  Inhalt  der  Liebesgeschichten 
im  mimischen  Drama.  Der  Zylöivrio; ,  der  sich  hier  zwischen 
die  Liebenden  stellt,  ist  der  halbverrückte  Samsthänaka,  der 
„ Schwager  des  Königs",  der  Qakära.  Als  rechter  stupidus  erntet 
er  bei  seiner  Liebesbewerbung  um  Vasantasenä  nur  ernste  Zu- 
rückweisung und  Spott  und  schliefslich  noch  gar  Prügel.  Alle 
seine  Anschläge  mifslingen  kläglich.  Gleich  von  vornherein 
jagt  er  durch  seine  täppische  Verfolgung  die  schöne  Hetäre  in 
das  Haus  ihres  geliebten  Brahmanen.  Voll  Eifersucht  trägt  er 
Maitreya  „dem  drolligen  Freunde"  des  Cärudatta  auf,  dem  Brah- 
manen zu  sagen,  er  solle  die  schöne  Hetäre  ihm  ausliefern,  oder 
er,  der  Prinz,  werde  ihn  aufs  Äufserste  verfolgen.     In  der  That 


716  Achtes  Kapitel. 

geht  nun  alles  Unglück,  was  Cärudatta  und  Vasantasenä  trifft, 
von  dem  rachsüchtigen  ZqXoivnog  aus. 

Denken  wir  an  die  Handlung  im  Giftmischermimus,  auch 
dort  herrscht  Liebe  und  Eifersucht.  Die  Dame  wird  aus  ver- 
schmähter Liebe  und  Eifersucht  zur  Giftmischerin,  sie  versucht 
den  Geliebten  zu  ermorden.  Der  „Eifersüchtige"  in  der  Mrccha- 
katikä  wird  zum  Mörder  an  Vasantasenä.  Der  Mimus  wie  das 
indische  Schauspiel  wird  zur  Kriminalgeschichte.  An  dem  Gifte 
stirbt  im  Mimus  jemand  anderes  und  die  Übelthäterin  beziehtet 
den  Jüngling,  der  sie  verschmähte,  des  von  ihr  verübten  Mordes. 
So  beschuldigt  der  eifersüchtige  und  verschmähte  Qakära  den 
Brahmanen  des  Mordes  an  Vasantasenä.  Im  griechischen  Mimus 
wie  im  indischen  Schauspiel  folgt  dann  eine  lang  ausgesponnene, 
mit  aller  biologischen  Treue  und  Genauigkeit  wiedergegebene 
Gerichtsverhandlung  mit  Erhebung  der  Anklage,  mit  Zeugen- 
verhör, mit  Reden  und  Gegenreden,  mit  allen  Wendungen  des 
Prozesses.  Gerade  solche  Gerichtsscenen  waren,  wie  wir  sahen, 
für  den  Mimus  typisch1).  Schon  soll  im  Mimus  das  Todesurteil 
ausgesprochen  werden,  da  erscheinen  die  Ermordeten  und  Tot- 
geglaubten wieder  auf  der  Scene.  Alles  klärt  sich  auf,  das  Gift 
war  nur  ein  starkes  Schlafmittel,  Vasantasenäs  Tod  nur  eine 
starke  Ohnmacht;  den  Scheintoten  im  Mimus  führt  ein  weiser 
und  mitleidiger  Arzt,  die  scheintote  Vasantasenä  ein  frommer 
und  mitleidiger  Mönch  ins  Leben  zurück.  Die  Unschuld  siegt, 
der  Held  steht  in  Reinheit  gerechtfertigt  da;  die  eigentlichen 
Übelthäter  kommen  in  beiden  Stücken  ohne  allzu  harte  Strafe 
fort,  und  so  schliefsen  beide  Schauspiele,  obwohl  die  schwersten 
Thaten  geschehen  sind,  obwohl  das  schwärzeste  Unheil  schon 
hereingebrochen  war,  dennoch  mit  der  wolkenlosen  Heiterkeit, 
die  dem  Mimus  eigentümlich  ist. 

In  diese  Haupthandlung  der  Mrcchakatikä  ist  noch  eine 
bedeutsame  politische  Nebenhandlung  verflochten:  die  Thron- 
entsetzung des  schlechten  Königs  Palaka,  des  Schwagers  des 
bösen  Narren  Samsthänaka,    durch    den  tapferen  Hirtenjüngling 


*)  Vgl.  oben  S.  87  ff.,  576,  577  u.  ö. 


Mrcchakatikä  als  mimische  Hypothese.  717 

Aryaka.  Dadurch  erhält  das  ganze  Drama  einen  bedeutsamen 
politischen  Hintergrund,  alle  brahmanischen  Elemente  sind  dem 
König  Palaka  übel  gesinnt.  Beständig  wird  auf  des  Herrschers 
tyrannische  Regierung  gescholten.  Windisch  sagt  (a.a.O.  S. 41): 
„Solcher  Ausblick  auf  politische  Verhältnisse  war  auch  der  grie- 
chischen neueren  Komödie  nicht  ganz  fremd";  ganz  und  gar 
allerdings  nicht,  aber  dieses  Betonen  politischer  Dinge  wie  in 
der  Mrcchakatikä  ist  der  neueren  Komödie  allerdings  ganz  und 
gar  fremd,  sie  ist  so  unpolitisch,  wie  nur  möglich  und  vermeidet 
es  auf  die  Händel  der  grofsen  Welt  Bezug  zu  nehmen.  Aus- 
nahmen bestätigen  da  nur  die  Regel. 

Aber  der  Mimus  nahm  unaufhörlich  auf  das  politische  Leben 
Bezug,  das  Publikum  im  Theater  erwartete  politische  Anspielungen 
von  ihm;  er  wagte  es,  schlechte  Herrscher,  wie  hier  König  Palaka 
es  ist,  zu  tadeln1).  Selbst  die  Darstellungen  des  christologischen 
Mimus  sind  viel  weniger  theologischer  als  politischer  Natur,  da  sie 
den  Kampf  des  heidnischen  Staates  mit  der  Kirche  schildern,  wobei 
der  Mimus  immer  auf  Seiten  des  Staates  stand2).  Wenn  Aryaka 
aus  dem  Gefängnis  entrinnt,  auf  der  Flucht  begriffen  erscheint, 
wenn  die  königlichen  Häscher  auftreten,  die  ihn  verfolgen,  wenn 
er  ihnen  glücklich  in  der  Sänfte  Cärudattas  entkommt,  so  sind 
derartige  Scenen  auch  im  Mimus  gang  und  gäbe  gewesen.  Dort 
fanden  sich  flüchtige  Sklaven,  die  ihren  Herren  entrannen, 
oder  bankerotte  Bankiers,  die  vor  ihren  Gläubigern  ausrissen 
(vgl.  oben  S.  71  und  S.  586).  Laureolus  entrinnt  dem  Ge- 
fängnis und  ist  auf  beständiger  Flucht  vor  seinen  Häschern, 
die  hinter  ihm  her  sind  wie  hier  die  Schergen  König  Palakas 
hinter  Aryaka.  Schliefslich  wird  dann  Aryaka,  der  arme  Ver- 
folgte, König,  und  da  ihm  Cärudatta  auf  der  Flucht  mit  seiner 
Sänfte  einen  so  grofsen  Dienst  erwiesen  hat,  macht  er  ihn  wieder 
vornehm  und  reich  und  Vasantasenä,  der  er  den  Schleier  über- 
sendet, frei  von  dem  Makel  ihres  Hetärenberufes.  So  trägt  denn 
auch  das  Ende  dieser  politischen  Nebenhandlung  dazu   bei,    die 


1)  Über  die  politische  Richtung  des  Mimus  Tgl.  oben  S.  182—193, 640—645. 

2)  Vgl.  oben  S.  80  ff. 


718  Achtes  Kapitel. 

allgemeine  Freude,  die  am  Schlüsse  eines  Mimus  nun  einmal 
herrschen  soll,  zu  erhöhen;  denn  die  Hetäre  kann  nun,  wie  es 
sich  Musarion  in  Lukians  Hetärenmimus  wünscht,  ihres  edlen 
und  vornehmen  Geliebten  rechtmäfsige  Gattin  werden. 

Im  Mimus  herrscht  nicht  das  furchtbar-erhabene  Schicksal, 
nicht  die  Aha,  die  ElpccQfiivrj  der  Tragödie.  Der  Mimus  schildert 
die  wunderbaren  Zufälle,  die  im  Menschenleben  in  Wirklichkeit 
garnicht  selten  sind,  diese  merkwürdigen  Wendungen  und  Um- 
schläge, dieses  launische  Walten  des  Glückes.  Der  Bettler  wird 
im  Mimus  plötzlich  zum  Millionär,  der  Millionär  zum  Bettler1). 
Totgeglaubte  stehen  wieder  auf  aus  dem  Grabe,  unschuldig  Ver- 
urteilte werden  plötzlich  als  schuldlos  erkannt.  Es  ist  Fortuna, 
es  ist  die  Herrin  Tyche,  die  hier  unumschränkt  regiert,  bald 
neidisch,  bald  auch  wieder  über  die  Mafsen  freundlich  und  hold. 
Dieselbe  Herrin  Tyche  herrscht  auch  in  unserem  Drama.  Schon 
wird  über  Cärudatta  das  Richtschwert  geschwungen,  da  erfolgt 
plötzlich  der  Umschlag.  Der  arme  Cärudatta  wird  gerettet  und 
wieder  reich  und  glücklich,  die  tote  Vasantasenä  wird  wieder 
lebendig.  Der  Hirtenjüngling  Aryaka  wird  König  und  König 
Palaka  verliert  Thron  und  Leben,  der  Hauptmann  der  Stadt- 
wache erhält  alle  Güter  Sanisthänakas ,  der  reiche  Prinz  aber 
wird  zum  Bettler. 

Im  Mimus  war  beständig  von  der  Herrin  Tyche  die  Rede. 
Ich  habe  oben  die  Verse  Philistions  über  die  Tyche  angeführt2). 
Ebenso  wird  „von  dem  Schicksal"  im  Sinne  der  Tyche  gleich 
im  Prologe  unseres  Dramas  gesprochen: 

„In  diesem  Stück  erscheinen 
Cärudatta,    ein    junger    verarmter    Kaufmann    brahmanischen 
Standes  in  der  Hauptstadt  von  Avanti. 

Und  in  seine  Tugenden  verliebt  Vasantasenä,  die  Hetäre,  wie 
der  Frühling  so  an  Schönheit. 

Dieser  Beiden  kluge  Wege,  die  zum  Liebesfest  hinführen,  des 
Prozesses  Schlechtigkeit, 


1)  Vgl.  oben  S.  63,  71,  586. 

2)  S.  440,  441,  574,  589. 


Mrcchakatikä  als  mimische  Hypothese.  719 

Eines  Bösewichts  Natur  und  des  Schicksals  Macht,  dies  Alles 
hat  Fürst  Qudräka,  wie  bekannt  ist,  dargestellt."     (Windisch 

a.  a.  0.  S.  71/72.) 

Und  am  Schlüsse  des  Dramas   spricht   sich  Cärudatta  fast 

mit  Philistions  Worten  über  die  Tyche  aus. 

„Was  soll  des  Köstlichen  noch  mehr  entquellen 
Des  Glückes  Füllhorn,  was  noch  mehr  gewinnen 
Soll  ich  auf  Lebens  schnellbewegten  Wellen? 
Die  einen  reifst  des  Schicksals  Sturm  von  hinnen, 
Die  einen  leert's,  die  andern  füllt's  mit  Gnade: 
Es  hebt,  es  stürzt  —  wie's  gerade  ihm  zu  Sinnen. 
Des  einen  Glück  —  es  ist  des  andern  Schade, 
Feindlicher  Gegensatz  auf  jeder  Seite, 
Den  Eimern  gleich  am  Schicksalsbrunnenrade  1).tt 

In  den  grofsen  Zug  der  Handlung  sind  nun  in  unser  Drama 
mannigfache  kleine  Scenen  eingefügt,  mimische  Skizzen,  in  denen 
allerhand  Typen  auch  niedrigster  und  widrigster  Art  vorkommen. 
Denn  auch  von  unserem  Drama  gilt  die  theophrastische  Definition 
des  Mimus  als  einer  „Mimesis  des  Lebens,  die  das  sittlich 
Erlaubte  wie  das  Unerlaubte  darstellt."  Da  ist  die  ausführ- 
liche Schilderung  des  Diebes  und  Diebstahls  des  Goldkästchens. 
Gerade  Dieberei  ist,  wie  wir  sahen,  ein  besonderes  Sujet  des 
Mimus.  Wenn  der  Brahmane  Qarvilaka  in  den  technischen  Aus- 
drücken der  Diebessprache  redet,  so  geschieht  das  bei  Laberius 
gleichfalls2).  Sehr  biologisch  ist  die  Spielerscene,  auch  im  Mimus 
kommen  Spieler  vor.  Entsetzlich  ist  der  Spielhalter  in  seiner 
Härte  und  Geldgier.  Sein  Gewerbe  kommt  an  Verworfenheit  dem 
des  Kupplers  gleich,  und  mit  dreister  Stirn  bekennt  er  sich  dazu. 
Wie  sagt  Battaros,  der  Hurenwirt,  vor  Gericht  bei  Herondas 
(zu  Thaies  gewandt): 


2)  Ich  citiere  aus  der  Mrcchakatikä,  wo  ich  es  nicht  ausdrücklich 
anders  bemerke,  nach  der  Übersetzung  von  Professor  Hermann  Camillo 
Kellner,  die  ja  jeder  leicht  zur  Hand  hat. 

a)  Gellius  XVI,  7,3,  Laberius  .  .  .  item  in  Fullone  furem  manuarium 
appellat.     Manuari,  inquit,  pudorem  perdidisti. 


720  Achtes  Kapitel. 

Du  lachst?    Ein  Louis  bin  ich  und  leugn'  es  nicht, 
Und  Battaros  ist  mein  Name,  und  Sisymbras 
Der  war  mein  Grofspapa  und  Sisymbriskos  *) 
Mein  Vater,  und  Dirnen  hielten  sie  allesammt. 
Doch  was  die  Männerkraft  betrifft,  bin  ich 
Getrost  und  sage:  Heran,  Thaies,  es  sei  drum." 

(II,  74—78,  Crusius.) 

Aber  wenn  der  freche  Schiffskapitän  Thaies,  der  ihn  so  schnöde 
behandelt  hat,  nur  ordentlich  bezahlen  will,  soll  alles  wieder 
gut  sein: 

„Du  liebst  die  Myrtale  —  was  ist  dabei! 
Ich  liebe  Weizenbrot:  das  gieb  mir,  dann 
Kriegst  du  das  andre.     Oder  brennt  dir  was 
Im  Inneren  lichterloh:  beim  Zeus,  so  stopfe 
Den  Preis  dem  guten  Battaros  in  die  Hand 
Und  nimm  dein  Eigenthum  und  quetsch'  es  wie 
Du  willst  —  du  darfst  es." 

(H,  74—83,  Crusius.) 

Ähnlich  sagt  Mäthura.  „Solches  Geschwätz  ist  nicht  am 
Plalze,  du  Schurke,  heraus  mit  besagten  Goldstücken!  Es  ist 
wahr,  der  Mäthura  ist  ein  Schurke,  spielt  mit  Lug  und  Trug, 
hat  vor  keinem  Menschen  Scheu:  wer  aber  aller  guten  Lebens- 
art bar  ist,  das  bist  du!"  (S.  56).  Mit  welchem  echt  mimi- 
schem, ironischem  Humor  ist  dieser  Typus  behandelt  worden. 
Mäthura  überhäuft  seinen  bösen  Schuldner,  den  Bader,  mit 
den  schlimmsten  Ehrentiteln,  prügelt  ihn  halb  tot,  aber  wie  er 
sein  Geld  erhält,  ist  er  sofort  wie  verwandelt.  „Dem  edlen 
Herrn  meine  Empfehlung,  seine  Schuld  wäre  damit  abgemacht. 
Er  könne  nun  wiederkommen  und  die  Freuden  des  Spieles  wieder 
geniefsen".  Der  Bader  hat  an  diesen  Freuden  allerdings  für 
ewig  genug;  er  wird  buddhistischer  Bettelmönch. 


])  Diese  Namen  sind  redend  und  typische  Bezeichnungen  für  Kuppler 
(vgl.  darüber  Kap.V,  3).  Dieselbe  eiserne  Stirn  wie  Battaros  pflegen  ja  auch  die 
Kuppler  in  der  griechischen  Komödie  wie  bei  Plautus  und  Terenz  zu  zeigen. 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  721 

Wenn  der  entfliehende  Gläubiger  sieh  in  einem  Tempel  starr 
hinstellt  und  eine  Statue  zu  sein  fingiert,  so  beweist  Pulcinella 
finto  Statua  und  Karagöz,  der  zum  Pfahle  wird,  dafs  wir  es 
hier  mit  einer  uralten  Erfindung  des  Mimus  zu  thun  haben, 
auf  den  die  italienische  commedia  dell'  arte  wie  der  türkische 
Karagöz  gleichmäfsig  zuriickgehn.  Die  genaue  ethologische 
Schilderung  des  Richters  und  der  Beisitzer  des  Gerichts,  des 
Schreibers,  des  Pedells,  der  ganzen  Gerichtsverhandlung  über- 
haupt ist  typisch  für  den  Mimus,  desgleichen  das  Vorführen  von 
Häschern  und  Henkern  (vgl.  oben  S.  87 ff.,  576,  577,  652  u.  ö\). 
Die  weit  ausgesponnene  Scene  des  Hochgerichts  in  unserem 
Drama  hat  ihresgleichen  nur  in  den  ausgedehnten  Blutgerichts- 
scenen  des  Mimus  (vgl.  oben  S.  89). 

So  zieht  eine  biologische  Scene  nach  der  andern,  ein  mimi- 
scher Typus  nach  dem  andern  an  uns  vorüber.  Jede  Scene,  jeder 
Typus  läfst  sich  mit  identischen  aus  dem  griechisch-römischen 
Mimus  belegen.  Lebhaft,  ja  unruhig,  wie  es  dem  Mimus  zu- 
kommt, ist  der  Gang  der  Handlung,  unaufhörlich  geschieht  etwas 
Neues.  Unerwartetes. 

VHI. 
Der  Vidüsaka  und  der  Sannio. 

Kommen  wir  noch  einmal  auf  den  Typus  des  Qakära  zurück. 
Er  ist,  wie  wir  sahen,  der  Zylönnoc  des  griechischen  Mimus: 
seine  treibende  Leidenschaft  ist  die  Eifersucht,  aus  ihr  ergeben 
sich  zugleich  die  eigentlichen  Verwickelungen.  Diese  Rolle  fällt 
nun  in  der  mimischen  Hypothese  durchaus  dem  stupidus  zu. 
dem  Narren,  dem  Dümmling;  er  ist  schliefslich  immer  der  Ge- 
peitschte und  erhält  gewöhnlich  Prügel,  wie  auch  Samsthänaka 
gleich  zu  Anfang  auf  seiner  Suche  nach  Vasantasenä  von  Maitreya 
Prügel  angeboten  werden,  die  er  zum  Schlüsse  in  der  Gerichts- 
scene  dann  wirklich  erhält.  Der  (^akära  ist  ein  stupidus  vom 
reinsten  Wasser,  seine  Narrheit  ist  geradezu  grotesk.  Wir  kennen 
die  mimicae  ineptiae  der  griechischen  Narren.  Unaufhörlich  ver- 
wechselt der  stupidus  die  landläufigsten  Begriffe,  Wasser  verlangt 

Reich.   Mimus.  4g 


722  Achtes  Kapitel. 

er  von  Dionysos,  Wein  von  den  Nymphen.  Derartige  Ver- 
drehungen werden  in  Bharatas  Nätyasästra,  der  alten,  grofsen 
indischen  Dramaturgie  als  für  den  Qakära  typisch  angegeben1). 
So  sagt  er  im  ersten  Aufzuge  der  Mrcchakatikä:  „Meine  Nase 
ist  freilich  von  Finsternis  ganz  vollgestopft,  doch  höre  ich  den 
Kranzgeruch.  Aber  das  Klingen  des  Schmuckes  sehe  ich 
noch  nicht",  oder  im  achten  Aufzuge:  „Es  ist  aus  mit  dir,  ganz 
aus!  Eine  Hexe  oder  ein  Dieb  hat  die  Sänfte  bestiegen  und 
sitzt  noch  drinnen.  Ist's  eine  Hexe,  dann  werden  wir  be- 
stohlen;  ist'n  Dieb,  dann  frifst  er  uns",  und  weiter:  „Wie? 
Schakale  fliegen  auf  und  die  Krähen  traben  ab?  Während 
der  Meister  da  mit  den  grofsen  Augen  gefressen  und  mit  den 
Zähnen  angeguckt  wird,  will  ich  mich  aus  dem  Staube  machen". 
Ganz  richtig  erinnert  sich  Huizinga  bei  diesen  seltsamen  Ver- 
wechselungen und  grotesken  Verdrehungen  des  Qakära  an  die 
Intermezzos  moderner  Cirkusklowns2).  Wir  werden  im  nächsten 
Kapitel  sehen,  dafs  der  Klown,  der  Ioculator,  der  Jongleur 
direkt  vom  alten  (xfyos  yslomv  abstammt. 

Gern  zeigt  der  Qakära  seine  Bildung,  ähnlich  wie  der 
mimische  Scholasticüs,  der  Dottore.  Beständig  wirft  er  mit 
mythologischen  Vergleichen  aus  dem  Mahä-Bhärata  und  dem 
Rämäyana  um  sich,-  nur  dafs  ihm  dabei  unablässig  die  thörichte- 
sten  und  lächerlichsten  Verwechselungen  der  mythologischen 
Personen  und  Fabelwesen  begegnen  (vgl.  besonders  den  ersten 
Aufzug,  ersten  und  dritten  Auftritt  in  Kellners  Übersetzung  S.  33 
u.  41,  sowie  den  achten  Aufzug,  vierten  Auftritt.  Kellner  S.  143). 
Schliefslich  hält  er  gar  den  Hanumat,  den  wohlbekannten  Affen- 
häuptling im  Rämäyana,  für  einen  Berg.  Dieser  Art  der  Komik 
bedient  sich  auch  Petron,  der  in  seiner  biologischen  Sittenschilde- 


x)  XXIV,  105.  Ich  gebe  die  Übersetzung  Huizingas  a.  a.  0.  S.  111: 
Prachtig  gekleed  en  getooid,  zonder  reden  toornig  en  tveer  bedaard,  van  läge  af- 
homst,  het  mdgadha-dialect  spreitend,  dat  is  de  sakära,  vol  van  verdraaiingen. 

2)  a.  a.  0.  S.  1^5:  Het  achtste  bedrijf  bestaat  voor  een  groot  deel  uit  de 
zotheden  van  den  sakära,  levendig  herinnerend  aan  een  Intermezzo  van  hedendaagsche 
circusclowns ;  alleen  is  bij  dat  alles  het  type  van  den  onberekenbaren,  boosaardigen 
half-idioot  zeer  treffend  volgehouden. 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  723 

rung  das  Meiste  und  Beste  dem  Mimus  verdankt;  so  erzählt  Tri- 
malchio,  der  sich  wie  der  (^akära  nicht  wenig  mit  seiner  Bildung 
weifs,  wenn  er  auch,  wie  er  sich  rühmt,  nie  einen  Philosophen 
gehört  hat:  „Diomedes  und  Ganymedes  waren  ein  paar  Brüder; 
ihre  Schwester  war  Helena.  Agamemnon  raubte  sie  und  schob 
der  Diana  eine  Hirschkuh  unter.  Und  so  sagt  jetzt  Homer,  wie 
die  Trojaner  und  Parentiner  unter  einander  kämpfen.  Er  siegte 
nämlich  und  gab  seine  Tochter  Iphigenia  dem  Achill  zur  Frau. 
Deswegen  ist  Ajax  rasend  geworden.  (Petron  ed.  Buecheler3, 
S.  39.)  Wie  in  der  Mrcchakatikä  wird  dieser  burleske  Zug  der 
mimischen  Ethologie  öfter  vorgebracht.  So  heifst  es  an  einer 
anderen  Stelle  (Buecheler*,  S.  33):  Sage  mir,  mein  lieber  Aga- 
memnon, kennst  du  die  zwölf  Arbeiten  des  Herkules  auswendig, 
und  die  Fabel  (vom  Odysseus),  wie  der  Cyklop  ihm  mit  einer 
Zange  den  Daumen  ausdrehte. 

Wie  bösartig  die  griechischen  Mimendichter  den  ZtjXotvnog 
schildern,  lehrt  uns  das  Beispiel  der  Eifersüchtigen  im  fünften 
Mimiambus  des  Herondas,  sie  möchte  den  Gegenstand  ihrer  Liebe 
aus  Eifersucht  beinahe  ermorden,  wie  es  der  Qakära,  soweit  es 
an  ihm  ist,  wirklich  thut.  Der  stupidus,  der  in  der  mimischen 
Hypothese  die  Rolle  des  Ztiloivnog  zu  geben  hatte,  ist  nicht 
der  lustige,  er  ist  der  verdrehte,  der  bösartige  Narr,  dem  man 
alle  Prügel,  die  ihm  erteilt  werden,  von  Herzen  gönnt.  So  ist 
denn  auch  der  Qakära,  der  Nachkomme  des  eifersüchtigen  stupi- 
dus, ein  böser  Narr,  seine  Bosheit  und  Narrheit  ist  so  grofs, 
dafs  sie  beinahe  in  Verrücktheit  übergeht.  Gerade  wegen  dieser 
Unzurechnungsfähigkeit  bleibt  er  immer  noch  ein  lustiger  mimi- 
scher Typus  und  wird  nicht  einfach  ein  Scheusal.  Er  hat  auch 
noch  allerhand  andere  nebensächliche  Züge,  mit  denen  der  grie- 
chische stupidus  ausgestattet  zu  sein  pflegte.  Vor  allem  ist  er 
von  einer  geradezu  grotesken  Eitelkeit,  Einbildung  und  An- 
mafsung,  er,  der  „Schwager  des  Königs"  so  eine  Art  „stolzer 
Pappus";  das  ist  auch  das  Einzige  an  ihm,  was  ein  wenig  an 
den  miles  gloriosus  erinnert.  Auch  glaubt  er  alles  zu  können 
und  zu  verstehen,  wie  Ardali o.  Als  ein  rechter  Ardalio  hält  der 
(j'akära  sich  auch  sehr  ohne  Grund  für  einen  vorzüglichen  Sänger. 

46* 


724  Achtes  Kapitel. 

Im  dritten  Auftritte  des  achten  Aufzuges  beginnt  er  zum  Zeit- 
vertreibe zu  singen;  da  soll  der  Vita  seine  Stimme  loben. 
Der  meint  denn  auch  allerdings  ironisch:  er  habe  wie  ein  Gan- 
dharver  (wie  einer  von  den  himmlischen  Musikanten)  gesungen. 
Ja,  meint  der  Stupidus,  er  habe  auch  Kukuksbraten,  wir  würden 
sagen  Nachtigallenbraten,  gegessen  und  seine  Kehle  mit  zer- 
lassener Butter  und  Sesamsöl  geschmiert.  Atticus,  der  Ardalio 
bei  Martial,  ist  auch  besonders  stolz  auf  seine  Stimme:  Et  belle 
cantas  et  saltas,  Attice,  helle  (vgl.  oben  S.  151,  Anm.  1).  Wie  Ardalio 
scheint  der  Qakära  auch  für  gutes  Essen  und  Trinken  zu  sein ') 
und  ebenso  wie  dieser  ist  er  sehr  ä  la  mode  und  ein  verrückter 
Stutzer,  dazu  ist  er  unerdenklich  feige  (taQaiTOfievog). 

Nun  tritt  im  griechischen  Mimus  aber  nicht  nur  der  dumme 
Narr,  der  eigentliche  stupidus  und  fiooQÖg  auf,  es  findet  sich 
immer  ein  Narrenpaar;  neben  dem  stupidus  der  derisor,  neben 
dem  morio  der  Sannio,  der  scurra,  neben  dem  (icogog  der 
[läxog.  Haben  wir  also  im  Qakära  den  „dummen  Narren"  des 
Mimus  wiedergefunden,  bedeutet  wirklich  dieser  Typus  wie  die 
anderen  oben  besprochenen  die  Anpassung  uralter,  griechischer, 
biologischer  Typen  an  den  indischen  ßiog,  dann  müssen  wir  auch 
den  lustigen  Narren,  den  scurra,  den  Sannio,  den  [tcoxog,  den  derisor 
wiederfinden,  dann  mufs  es  auch  im  indischen  Schauspiel  ein 
Narrenpaar  geben. 

In  der  That  giebt  es  noch  einen  Narren  in  den  indischen- 
Dramen,  den  Vidüsaka,  und  das  ist  sogar  der  Hauptnarr.  In  der 
Mrcchakatikä  heifst  er  Maitreya  und  ist  des  Brahmanen  Qärudatta 
geringerer  Freund;  er  ist  überhaupt  immer  der  drollige  Parasit  und 
lustige  Rat  des  Helden.  Er  hat  mancherlei  Narrenzüge  auch  mit 
dem  Qakära  gemein.  Wie  dieser  ist  auch  er  erstaunlich  feige. 
Er  möchte  gern  Qakuntalä  sehen,  von  der  ihm  sein  königlicher 
Freund  Duhsanta  vorschwärmt,  als  er  aber  von  den  Gespenstern 
hört,  die  in  dem  Büfserwalde  umherschwärmen,  in  dem  Qakuntalä 


l)  So  meint  er  im  zehnten  Aufzuge  höchst  befriedigt:  „Ein  herzhaft  - 
säuerliches  Allerlei  von  Fleisch,  Kraut,  Fisch,  gekochtem  Reis  und  Reismehl- 
speise hab'  ich  in  meinem  Hause  zu  mir  genommen." 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  725 

wohnt,  verliert  er  völlig  die  Lust  dazu.  Wenn  aber  die  Gefahr 
vorüber  ist,  zeigt  er  wieder  grofsen  Mut  und  gewinnt  sofort  seine 
alte  Unverfrorenheit  zurück,  wie  der  (^akära. 

Während  bei  dem  Cakära  der  Hang  zum  guten  Essen  nur 
gerade  angedeutet  wird,  ist  er  beim  Vidüsaka  der  herrschende 
Charakterzug.  Der  Vidüsaka  ist  ein  Fresser  wie  der  Maccaroni 
schlingende  Pulcinell  und  Karagöz;  er  ist  glutto,  vorax,  man- 
ducus  wie  Ardalio,  wie  der  lustige  Narr  im  Mimus  überhaupt. 
Gleich  im  Anfange  der  Mrcchakatikä  tritt  dieser  typische  Zug 
in  dem  elegischen  Selbstgespräch  Maitreyas  deutlich  hervor: 
„Mit  mir,  Maitreya,  ist's  leider  soweit  gekommen,  dafs  ich  mich 
wirklich  von  Fremden  einladen  lassen  möchte.  Ach,  du  jämmer- 
liche Lage!  Wenn  ich  dich  so  vergleiche.  Bis  jetzt  habe  ich 
mich  so  auffüttern  lassen  mit  süfsduftenden  Leckerbissen.  Von 
dem  schönen  Gelde  des  Herrn  ^ärudatta  wurde  ja  bei  Tag  und 
Nacht  geschmort  und  gebräkelt.  Ach,  damals  standen  drinnen 
im  Hause  hundert  Näpfe  um  mich  herum,  als  ob  ich  ein  Maler 
wäre,  und  ich  —  ich  fuhr  nur  so  mit  den  Fingern  darin  herum, 
schob  alles  dann  weg,  wenn  ich  ein  bischen  genascht  hatte  und 
stellte  mich  dann  hin,  wie  ein  Ochse,  der  auf  dem  Markte  wieder- 
käut. *  Er  nimmt  es  Vasantasenä  bitter  übel,  dafs  sie  ihm,  ob- 
wohl er  soviel  gute  Sachen  bei  ihr  sieht,  nichts  vorsetzt.  Zu 
Beginn  des  zweiten  Aufzuges  der  Qakuntalä  spricht  er  seinen 
Arger  über  des  Königs  Liebhaberei  für  die  Jagd  aus,  wobei  es 
weder  etwas  Gutes  zu  essen  noch  zu  trinken  gäbe.  Im  zweiten 
Aufzuge  von  Vikramorvac,!  meint  der  Vidüsaka,  die  Königin  soll 
dem  Könige  nur  schnell  zu  essen  geben,  dann  werde  es  mit  ihm 
wieder  gut.  Als  der  König  im  dritten  Aufzuge  begeistert  die 
Schönheit  des  Mondaufganges  preist,  stimmt  der  Vidüsaka  bei: 
Der  Mond  sähe  aus  wie  ein  Zuckerkuchen.  Als  er  in  Ratnaväli 
auf  die  Worte  eines  sprechenden  Star  hören  soll,  erklärt  er, 
der  Star  sage,  der  König  möchte  dem  Vidüsaka  zu  essen  geben. 
Am  Ende  des  zweiten  Aufzuges  von  Kälidäsas  Mälavikägnimitra 
fordert  er  zur  Mittagszeit  die  Königin  auf,  rasch  Trank  und 
Speise  zu  besorgen  und  beklagt  sich  beim  König,  dafs  sein 
Magen  ihm  vor  Hunger  brennt. 


726  Achtes  Kapitel. 

Prügeln  und  Geprügeltwerden  ist  das  Los  der  stupidi  im 
Mimus,  auch  die  beiden  indischen  Narren  entgehen  dem  nicht. 
Gleich  im  Beginn  der  Mrcchakatikä  werden,  wie  wir  sahen,  dem 
Qakära  vom  Vidüsaka  Schläge  angeboten,  in  der  Gerichtsscene 
geraten  dann  die  beiden  stupidi  wirklich  aneinander  und  es  ent- 
spinnt sich  eine  ordentliche  Prügelei.  Mit  Prügeln  ist  der  Qakära, 
wie  es  sich  für  einen  Mimen  gehört,  gleich  bei  der  Hand,  erst 
prügelt  er  den  buddhistischen  Bettelmönch,  dann  den  Sthävaraka, 
sein  Dienerchen,  wie  er  ihn  nennt;  Prügelscenen  giebt  es  über- 
haupt in  der  Mrcchakatikä  für  ein  nach  so  hohen  Zielen  stre- 
bendes Kunstwerk  erstaunlich  viele.  Ich  erinnere  an  die  lang 
ausgesponnene  Prügelscene  zwischen  den  Spielern,  an  die  Prügelei 
zwischen  den  beiden  Hauptleuten  der  Stadtwache.  Kurz  durch 
dieses  indische  Schauspiel  schallt  der  alapittarum  sonitus  genau 
so,  wie  er  im  grofsen  Drama  nur  noch  in  der  mimischen  Hypo- 
these erscholl.  Der  Hauptheld  der  Prügelscenen  im  griechischen 
wie  im  indischen  Mimus  ist  nun  aber  nicht  der  dumme,  sondern 
der  lustige  Narr,  der  Vidüsaka.  Er  führt  unverbrüchlich  sein 
krummes  Prügelholz  mit  sich  herum  wie  der  Sannio  seine  Pritsche. 

Wie  der  Qakära  ist  auch  der  Vidüsaka  ein  wenig  dumm, 
er  ist  ja  auch  ein  mimischer  Narr.  Besonders  grotesk  ist  seine 
Dummheit  im  fünften  Aufzuge  der  Mrcchakatikä  geschildert. 
Ich  setze  die  Scene  hierher: 

Diener  (eintretend  und  sich  umsehend):  Ah,  da  sitzt  Cäru- 
datta  in  seinem  Baumgarten;  und  da  ist  auch  dieser 
Schlingel.  Also  hin  zu  ihnen!  Zum  Geier,  die  Garten- 
thür  jist  zu.  Gut,  ich  will  diesem  Schlingel  'ne  feine 
Andeutung  geben.  (Er  wirft  einen  Erdklumpen  nach 
Maitreya.) 

Maitreya:  Hoho,  wer  bewirft  mich  denn  da  mit  'nem  Erd- 
klumpen, als  wäre  ich  ein  eingehegter  Apfelbaum? 

Cärudatta:  Die  Tauben  spielen  auf  dem  Dach  des  Garten- 
häuschens; die  werden  es  wohl  herabgeworfen  haben. 

M.:  Na  warte,  du  Thunichtgut,  du  Schelm  von  einer  Taube, 
warte    nur,    ich  werde    dich  sofort  mit  meinem  Stocke 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  727 

vom  Dache  'runterhauen,  wie  'ne  reife  Mangofrucht.   (Er 

hebt  den  Stock  auf  und  rennt  hinter  der  Taube  her.) 
C.     (ihn  bei  der  Brahmanenschnur  haltend):     Bleib!     Was 

soll  das  heifsen?    Störe  doch  nicht  diesen  unschuldigen 

Täuberich,    der  sich  der  Gesellschaft  seines  Weibchens 

erfreut. 
Kumbhilaka:    Was?    Die  Taube  sieht  er,  mich  nicht?    Da 

mufs  ich  ihn  noch  mit  einem  Erdklumpen  auf  die  Spur 

bringen.    (Er  thut  es.) 
M.     (nach  der  Richtung  hinsehend):     Ah,  Kumbhilaka!     Ich 

komme    gleich!      (Er    öffnet    die    Gartenthür.)      Nun, 

Kumbhilaka,  immer  näher,  sei  herzlich  willkommen. 
K.:    Besten  Grufs,  Herr! 

M. :    Na,  wo  kommst  du  denn  bei  dem  entsetzlichen  Wetter  her? 
K.:    Nun,  sie  ist  da. 
M.:    Wa— as?     Sie,  wer? 
K.:    Sie,  sie. 
M.:    Du  Schlingel,  was  machst  du  nur  immer  Sisisi  wie  ein 

Kornwucherer,    der   sich  zur  Zeit   der  Hungersnot  die 

Hände  reibt? 
K. :    Und  du,  guter  Freund,  was  machst  du  immer  dein  Wa- 

wawa,  wie  ein  Hund,  der  nach  einem  Stück  Opferfleisch 

herumschwänzelt? 
M.:    Na,  endlich  heraus  mit  der  Sprache! 
K.     (für  sich):    Hm,  gut,  ich  will  es  ihm  so  beibringen.  (Laut) 

Holla,  Achtung!    Ich  will  dir  ein  Rätsel  aufgeben. 
IL:    Und  ich  dir  noch  eins  auf  deinen  Schädel  draufgeben. 
K.:    Nun,  nun  —  höre  nur  erst!     In  welcher  Jahreszeit  be- 
kommen die  Mangobäume  Knospen? 
M.:    Alberner  Kerl,  im  Sommer  doch  natürlich! 
K.     (lächelnd):    Grundfalsch! 
M.     (für  sich):    Ja,  was  soll  ich  nun  sagen?    (Überlegend) 

Schön,    ich   will   zu    Cärudatta   gehn    und   ihn   fragen. 

(Laut)   Habe  einen  Augenblick  Geduld!    (Zu  Cärudatta 

tretend)    Freund,    eine    Frage!     In    welcher   Jahreszeit 

schlagen  die  Mangobäume  aus? 


728  Achtes  Kapitel. 

C:    Dummkopf!     Im  Vasanta!" 

M.     (zurückkehrend):     Dummkopf,  im  Vasanta! 

K.:    Hm!    Nun  will  ich  dir  noch  'ne  zweite  Frage  aufgeben. 

Wer  besorgt  die  Bewachung  wohlhabender  Ortschaften? 
M.:    Die  Wache,  Freund! 
K.     (lachend):    Wieder  grundfalsch,  Freund! 
M. :    Da  stecke  ich  wahrhaftig  wieder  in  dubio.    (Überlegend) 

Gut,    ich    will  Cärudatta   fragen.     (Laut)    Warte  einen 

Augenblick!     (Zu  Cärudatta)   Freund,  noch  eine  Frage! 

Wer  besorgt  die  Bewachung  wohlhabender  Ortschaften? 
C:    Die  Senä,  lieber  Freund. 
M.     (zu  Kumbhilaka) :    Die  Senä,  du  Esel ! 
K.:    Nun    stelle  einmal  beide  Worte  zusammen   und  sprich 

sie  schnell  hintereinander  aus. 
M. :    Senavasanta. 
K.:    Nicht  doch!     Umgedreht! 
M.     (dreht  sich  um):    Senavasanta! 
K.:    0  du  Einfaltspinsel,  du  Dummkopf;  die  Füfse  im  Sprechen 

sollst  du  umdrehen. 
M.      (sich  auf  den  Füfsen  umdrehend):    Senavasanta. 
K.:    Nein,  über  so  'nen  Einfaltspinsel!    Die  aus  Silben  und 

Buchstaben  bestehenden  Wortfüfse  sollst  du  umdrehen. 
M.      (nach  längerem  Nachdenken):    Vasantasenä. 
K.:    Na  endlich!     Nun,  die  ist  angekommen. 

Das  ist  eine  vollständige  Clownscene,  wie  sie  die  mimischen 
Narren  aufzuführen  liebten.  Da  fehlen  nicht  die  mimischen  Foppe- 
reien, die  Eulenspiegeleien,  die  wunderlichen  Mifsverständnisse. 
Besonders  wie  hier  die  Worte  buchstäblich  genommen  werden, 
erinnert  ganz  an  die  mimicae  ineptiae  im  Philogelos,  wo  jemand 
sich  einen  Mantel  borgen  will  aufs  Land  (zu  reisen),  worauf  der 
dumme  Dottore  sagt,  einen  so  langen  Mantel  habe  er  nicht 
(No.  100),  oder  an  den  Scholasticus,  dem  ein  sehr  tiefer  Brunnen 
gezeigt  wird  mit  der  Bemerkung,  aus  dem  hätten  immer  seine 
Vorfahren  getrunken,  worauf  er  meint,  dann  müfsten  sie  aber 
sehr  lange  Hälse  gehabt  haben  (No.  va). 


•  Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  729 

Ja,  nicht  einmal  die  Lazzi  der  Mimen  fehlen.  Dahin  ge- 
hört es,  wenn  der  Diener  mit  einem  Erdklumpen  nach  Maitreya 
wirft,  wenn  dieser  sich  den  Anschein  giebt,  mit  seinem  mimi- 
schen Prügelholze  auf  die  beiden  Tauben  loszugehn,  die  garnicht 
existieren.  Werden  im  griechisch-römischen  Mimus  die  Lazzi  mit 
Fliegen  getrieben  (vgl.  oben  S.  440),  so  vollführt  sie  der  Narr  im 
indischen  Drama  mit  den  etwas  poetischeren  Bienen.  In  Harsas 
Nägänanda  ist  Hochzeit  gefeiert.  Der  Vidüsaka  hat  sich  dabei  ge- 
hörig gütlich  gethan.  Er  erscheint  mit  einem  Blumenkranze  auf  dem 
Haupte  und  ist  mit  Wohlgerüchen  einparfümiert,  nun  umschwirren 
ihn  die  Bienen  und  er  vermag  sich  ihrer  garnicht  zu  erwehren, 
schliefslich  verschleiert  er  sich  wie  eine  Frau,  um  die  lästigen 
Bienen,  die  um  seinen  kahlen  Kopf  fliegen,  los  zu  werden.  An 
diese  mimischen  Lazzi  reiht  sich  dann  gleich  wieder  ein  neuer 
mimischer  Trik.  Da  nun  der  Vidüsaka  als  Frau  verkleidet  ist, 
hält  ihn  der  betrunkene  Vita,  der  Parasit,  für  seine  Geliebte 
und  fällt  ihm  um  den  Hals.  Als  er  dann  hinter  dem  Schleier 
den  häfslichen,  dicken  Narren  findet,  ist  er  sehr  ungehalten, 
der  Vidüsaka  wird  dabei  auch  noch  von  der  hinzukommen- 
den Geliebten  des  Vita  gehänselt.  Es  ist  eine  Scene  wie  im 
türkischen  Puppenspiel,  als  Baba  Himmet  den  Schleier  seiner 
Braut  hebt  und  zu  seinem  Ärger  darunter  den  bärtigen  Karagöz 
findet  und  wie  alle  die  zahlreichen  Auftritte  im  Mimus,  wo  der 
stupidus  als  Frau  verkleidet  erscheint1). 

Aber  bei  all  seiner  Narrheit,  Dummheit,  Feigheit,  Eitelkeit, 
Gefräfsigkeit  ist  der  Vidüsaka  durchaus  nicht  direkt  albern  wie 
der  Qakära.  Im  Gegenteil,  er  zeigt  nicht  selten  Schlauheit  und 
Mutterwitz,  zumal  wo  es  sich  um  seine  Bequemlichkeit  oder  ums 
Essen  handelt.  Er  betrachtet  die  Welt  von  seinem  niederen, 
hausbacken- verständigen,  nüchternen  —  im  Gegensatz  zur  idealen, 
hochgespannten  Auffassung  des  Helden  —  etwas  stupiden  Stand- 
punkt aus,  dafür  ist  er  eben  der  stupidus.  Dabei  hat  er  aber 
nicht  selten  Recht  mit  seinen  Beurteilungen,  besonders  was  die 
eifersüchtigen,   über  den  verliebten  König  erzürnten  Königinnen 


i)  Vgl.  oben  S.  648  u.  649. 


730  Achtes  Kapitel. 

angeht.  In  Vasantasenä  sieht  er  anfänglich  nur  die  durch  ihre 
Buhlerinnenkünste  reich  gewordene  Hetäre,  die  nun  nach  Cäru- 
datta  ihre  Netze  auswirft,  um  so  höher  erstrahlt  dieser  unge- 
rechten Kritik  gegenüber  die  Tugend  der  schönen  Hetäre. 

So  ist  denn  der  Vidüsaka  in  seinen  Keden  weniger  dumm  als 
vielmehr  naiv  und  lustig.  Besonders  gebraucht  er  gern,  wie  es  ja  ein 
Charakteristikum  des  lustigen  Narren  im  Mimus  ist,  Sprichwörter 
und  sprichwörtliche  Redensarten.  So  sagt  er  im  fünften  Aufzuge 
der  Mrcchakatikä,  es  bleibt  doch  ein  wahres  Wort:  „Ein  Lotos- 
stengel,  der  sich  aus  einer  Zwiebel  erhoben  hätte,  ein  Kaufmann, 
der  nicht  betrüge,  ein  Goldarbeiter,  der  kein  Dieb  wäre,  eine 
Dorfkneipgesellschaft,  wo's  ohne  Prügel  abginge  und  eine  Buhlerin 
ohne  Habsucht,  da  kann  man  lange  suchen",  und  weiter:  „Na 
ja,  so  eine  Buhlerin  wird  nur  unter  Schmerzen  abgeschüttelt, 
wie'n  Steinchen,  das  man  sich  in  den  Schuh  getreten  hat.  Aber 
Freund  bedenke  auch:  Wo  eine  Buhlerin,  ein  Elefant,  ein 
Schreiber,  ein  Bettelmönch,  ein  Schwindler  und  ein  Esel  hausen, 
da  gedeiht  nicht  einmal  Unkraut.  Im  Anfange  des  zweiten 
Aufzuges  der  Qakuntalä  meint  er:  „Auf  der  Beule  ist  ein  Ge- 
schwür gewachsen",  und  im  vierten  Aufzuge  der  Mälavikägni- 
mitra:  „Ja,  Diebe  und  Verliebte  scheuen  den  Mond".  Sprich- 
wörtliche Redensarten  finden  sich  überhaupt  in  der  Mrcchakatikä 
häufig,  weil  das  nun  einmal  die  Art  des  Mimus  ist;  so  sagt,  um 
nur  ein  Beispiel  anzuführen,  Cärudatta  am  Anfange  des  fünften 
Aufzuges:  „Übrigens  heifst  es  im  Sprichwort:  Geld  macht 
Liebe,  wer  Schätze  hat,  hat  auch  ein  Schätzchen".  Der  Diener 
des  Samsthänaka  meint  zu  Vasantasenä  im  ersten  Aufzuge:  „Sei 
doch  etwas  zuvorkommend  gegen  den  Liebling  des  Königs.  An 
Fisch-  und  Fleischgerichten  solls  dir  nicht  fehlen.  Und  hat  der 
Hund  Fisch  und  Fleisch,  kümmert  er  sich  nicht  um's  Aas." 

Der  Vidüsaka  ist  immer  Brahmane.  Jedenfalls  war  er  das 
schon  in  den  alten  Volksstücken,  das  heifst  den  indischen 
Mimen,  die  am  Anfange  des  indischen  Dramas  gestanden  haben, 
werden  doch  auch  noch  später  in  den  indischen  Possen  Priester 
aller  Sekten  unablässig  verspottet.  Der  Mimus  hat  ja  von  jeher 
die  Geistlichkeit  zur  Zielscheibe  seiner  Witze  gemacht:   Auguren, 


Der  Vidüsaka  and  der  Sannio.  731 

Haruspices  und  Tempelhüter  und  in  den  nachchristlichen  Jahr- 
hunderten die  christlichen  Geistlichen,  Bischöfe,  Priester, 
Mönche  und  Nonnen.  Der  mimische  Narr  glänzte  als  christ- 
licher Glaubensheld.  Unablässig  mufste  es  den  Mimen,  wie  wir 
sahen,  im  griechischen  Osten  das  ganze  Mittelalter  hindurch  ver- 
boten werden,  in  den  Kleidern  von  Priestern,  Mönchen  und 
Nonnen  aufzutreten  und  genau  so  war  es,  wie  wir  noch  zeigen 
werden,  im  lateinischen  Westen.  Der  Spott  auf  die  Geistlichen 
war  also  ein  Charakteristikum  des  Mimus  und  ist  es  auch  in 
Indien  geblieben. 

Während  sonst  die  Brahmanen  Sanskrit  sprachen,  spricht 
der  Vidüsaka  Präkrit,  weil  er  eben  aus  den  eigentlichen  Volks- 
stücken, den  alten  indischen  Mimen  stammt,  in  denen  anfang- 
lich wohl  nur  das  Volksidiom  gesprochen  wurde.  Huizinga 
hat  es  scharfsinnig  erschlossen,  dafs  der  Vidüsaka  von  vorn- 
herein viel  burlesker  und  närrischer  gewesen  ist,  als  in  der 
Mrcchakatikä  und  den  anderen  vornehmen  Dramen1).  In  der 
That,  wenn  er  auch  in  diesen  Dramen  alle  Züge  des  lustigen 
Narren  im  Mimus  trägt,  so  sind  sie  hier  doch  feiner,  die  Farben 
sind  nicht  ganz  so  grell,  die  Komik  ist  nicht  ganz  die  namenlos 
übermütige  und  freche  des  Mimus,  sie  ist  gedämpft.  Aber  in 
den    indischen  Volksstücken,    den  eigentlichen  indischen  Mimen, 

*)  In  Bharata's    hoofdstuk  Siddhivyanjaka    vinden    wij   het    folgende  omtrent 

het  lachen  der  toeschouwers :     Het  häsya,  dat  voortspruit  uit  de  uitgelaten- 

heid  van  den  vidüsaka  en  uit  den  tooneeltoestel,  dat  moet  tuet  een  schaterlach  door 
de  toeschouwers  worden  ojygenomen.  (Ns  XXVII,  6-6)  De  grappen  van  den 
vidüsaka,  hier  op  (en  lijn  gesteld  met  vertooningen  van  bespottelijke  decoratie  en 
dergelijke  zaken,  schijnen  dus  van  bijster  koddigen  aard  de  zijn  geweest.  Dit  be- 
festigt het  twaalfde  hoofdstuk  van  Bharata  (Ns  XII,  vs.  121),  waar  sprake  is  van 
het  spei  of  de  actie  van  den  vidüsaka:  „Het  spei  van  den  vidüsaka  is  getooid  met 
drie  soorten  van  häsya:  dat  van  lichaam,  van  taal  en  van  kleeding.  Als  hij  op- 
treedt  met  zijn  groote  fanden,  kaalhoofdig,  gebocheld,  kreupel,  met  leelijk  gelaat  — 
dat  is  lichamelijk  häsya.  Onder  häsya  van  taal  verstaut  men  onsamenhangend 
gebazel,  zinnelooze  verdraaiingen  en  zotteklap.  Als  hij  echter  gelijk  de  reiger 
gaat  (met  geveinsde  diepzinnigheid).  terwilj  hij  toeziet  en  rondziet,  .  .  .  .,  dat  is 
häsya  van  kleeding".  De  veronderstelling,  dat  deze  voorschriften  zijn  gemaakt  in 
een  tijd,  toen  de  vidüsaka  meer  uitsluitend  hansworst  icas  dan  in  de  ons  bekende 
stukken,  schijnt  mij  niet  te  gewaagd.     a.  a.  0.  S.  104  u.   105. 


732  Achtes  Kapitel. 

ist  er  noch  ganz  der  Hans  Wurst  des  alten  griechisch-römischen 
Mimus. 

Vor  einem  Jahre  erklärte  Pischel  in  der  Abhandlung  über 
„Die  Heimat  des  Puppenspiels",  Hallische  Rektorredenil,  1900, 
der  Vidüsaka  sei  identisch  mit  den  modernen  Figuren  des  Volks-, 
insbesondere  des  Puppentheaters,  mit  Hans  Wurst,  Kasperle  und 
Pulcinella.  Er  erinnert  gegenüber  der  gewaltigen  Efslust  des 
Vidüsaka  an  „Jack  Pudding  %  „Jean  Potage",  „Signor  Maccaroni", 
„Paprika  Jancsi",  „Pekelharing",  „Pickleherring".  Ich  kann  es  mir 
nicht  versagen,  Pischels  eigene  Worte  hierher  zu  setzen:  „Es  ist 
nach  dieser  Schilderung  fast  unnötig,  Ihnen  zu  sagen,  wer  der 
Vidüsaka  ist':  er  ist  der  Hanswurst  der  Volksbühne,  der  Kasperle 
des  Puppentheaters.  Alle  Züge  des  indischen  Lustigmachers  kehren 
bei  dem  europäischen  wieder  und  zwar  in  so  überraschender 
Gleichheit,  dafs  an  der  Identität  der  Figuren  kein  Zweifel  sein 
kann."  In  dem  Worte  „Identität"  liegt  die  Tragweite  dieser 
neuen  Erkenntnis.  Ich  will  hier  weiter  die  Ausführungen  des 
grofsen  Indologen  im  Wortlaut  geben:  „Solche  Figuren  werden 
in  so  ausgesprochener  einheitlicher  Gestalt  nicht  selbständig  an 
verschiedenen  Orten  erfunden,  sondern  sie  -haben  eine  Heimat 
und  wandern,  wobei  sie  je  nach  dem  Lande  im  Einzelnen  um- 
gestaltet werden". 

Der  Vidüsaka  kann  nun  nicht  von  den  modernen  europäi- 
päischen  Typen  abstammen,  denn  er  ist  viel  älter  als  sie,  also 
stammen  vielmehr  die  modernen  Typen  'vom  Vidüsaka  ab?  Aber 
auf  welchem  Wege  sollte  das  geschehen  sei?  Gewifs  ähnelt  der 
Vidüsaka  dem  Hans  Wurst,  Pulcinell  und  Kasperle  auf  ein  Haar, 
aber  ebenso  ähnelt  er  auch  dem  alten  ptfiog  yeXoicov.  Nur  in 
der  äufseren  Gestalt  unterscheiden  sich  die  modernen  Typen 
doch  stark  vom  Vidüsaka.  Der' Vidüsaka  ist  ein  kleiner,  dick- 
bäuchiger Kerl,  mit  hervorstehenden  Zähnen,  bucklig,  gelbäugig, 
mit  verzerrtem  Gesicht,  kahlköpfig1). 


J)  Ich  gebe  hierfür  die  Zusammenstellungen  aus  den  indischen  Quellen 
bei  Huizinga  a.  a.  0.  S.  103  u.  104:  „Een  dwerg  achtige,  yebochelde  brahmaan 
met  groote  tanden,  leelijk  van  gelaat,   kaalhoofdig,  geeloogig,  aldus  zij  de  vidüsaka 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  733 

Nun  einen  dicken  Bauch  wie  der  Vidüsaka  tragen  die 
modernen  burlesken  Figuren  im  allgemeinen  nicht,  dafür  trägt 
ihn  aber  unbedingt  der  mimische  Narr.  Auch  kahlköpfig  wie 
der  Vidüsaka  sind  die  modernen  burlesken  Figuren  nicht,  dafür 
ist  aber  Kahlköpfigkeit  das  typische  Zeichen  des  Narren  im 
Mimus,  des  kahlen  Narren,  des  fioogög  (fakaxQÖs,  des  mimus 
calvus.  Der  Vidüsaka  hat  bei  seiner  dicken  Figur  ein  etwas 
fettthraniges  Äufsere.  Von  derselben  Art  hat  Ardalio,  der 
Schmutzfink,  den  Namen.  Der  Vidüsaka  zeichnet  sich  durch 
einen  verzerrten  Gesichtsausdruck  aus,  er  nennt  sich  selbst  ge- 
legentlich einen  gemalten  oder  roten  Affen.  Nun  auch  die 
mimischen  Narren  haben  einen  verzerrten  Gesichtsausdruck, 
so  z.  B.  der  mimische  Kahlkopf  auf  der  Vase  bei  Watzinger, 
der  mit  seinem  verzerrten  Gesicht  und  seinen  grofsen  Ohren 
halb  wie  ein  Esel,  halb  wie  ein  Affe  aussieht.  Ich  erinnere 
auch  an  die  seltsam  verzerrten  Gesichter  der  Phlyakischen 
Mimen,  wie  an  die  oben  erwähnten  Terrakotten  von  Mimen,  wo 
man  nicht  weifs,  ob  es  verzerrte  Menschengesichter  oder  Affen- 
fratzen sind.  Wenn  der  Vidüsaka  buckelig  ist,  so  ist  das 
Dossenus  in  der  Atellane  auch.  Auch  auf  dem  oben  S.  583  be- 
sprochenen Bilde  fanden  wir  einen  buckeligen  mimus  calvus. 
Nur  ein  typisches  Zeichen  des  Mimus  scheint  bei  dem  Vidüsaka 
zu  fehlen,  der  Phallus.  Aber  noch  heute  trägt  ihn  sein  direkter 
Nachkomme,  der  Semar  im  javanischen  Puppenspiel,  also  hat 
auch  er  ihn  anfänglich  getragen  und  erst  später  abgelegt,  als 
dieses  groteske  Merkzeichen  garnicht  mehr  in  das  idealistische, 
blumenhaft  zarte  indische  Drama  passen  wollte.  Kurz  der  Vidü- 
saka ist  auch  äufserlich  das  Ebenbild  des  Mimus  calvus;  ja  selbst 
sein  Name  ist  nur  die  Übersetzung  des  Hauptrollennamens  des 
Mimus.      Vidüsaka    heifst    -  Schlechtmacher ",     „Tadler*,    „Ver- 


gedefinieerd'  (Ns  XXIV,  106).  Bij  Visvanatha:  „De  vidüsaka  is  genaamd  naar 
bloemen,  de  lente  enz.,  lachwekkend  door  daden,  lichaam,  kleeding,  taal  enz.,  twistziek 
en  kunding  in  zijn  eigen  werk"  (S.  D.  79).  „Zijn  eigen  werk,  zegt  de  commentaar, 
is  eten  enzu.  Sägara  beschrijft  den  vidüsaka  als  folgt:  „  Kamer  aad,  catupatu  of 
wel  vidüsaka  noemt  men  den  bewoner  van  het  vrouvent immer,  's  konings  minister 
van  vermaak".    (Geciteerd  bij  Ranganätha,  comm.  op.  Vikr.,  p.  2fi.) 


734  •  Achtes  Kapitel. 

spötter'"  (Pischel  a.  a.  0.  S.  18),  das  ist  die  direkte  Übersetzung 
von  derisor  und  pwxog '). 

Dieser  Vidüsaka  ist  allen  anderen  Personen  gegenüber  der 
rechte  [mZxos,  er  moquiert  sich  über  sie  auf  Schritt  und  Tritt. 
Wie  schlecht  urteilt  er  über  Vasantasenä!  Er  ist  bei  aller  An- 
hänglichkeit im  Grunde  nie  mit  seinen  vornehmen  Freunden  zu- 
frieden. Besonders  ärgert  ihn  deren  Verliebtheit.  Die  Liebe  des 
Königs  Duhsanta  nennt  er  die  Qakuntaläseuche.  Immer  hat  er 
etwas  zu  tadeln,  obwohl  er  im  Grunde  der  Seele  nichts  weniger 
als  böse,  sondern  sehr  gutmütig  ist.  Wie  weifs  er  sich  über 
Vasantasenäs  Mutter   lustig   zu   machen:    wie  spottet  er   „über 


l)  Über  den  derisor  vgl.  oben  S.  93.  630.  Als  derisor  pflegte  der  berühmte 
Latinus  aufzutreten  (vgl.  oben  S.  54.  55).  Derisores  waren  vor  allem  die  San- 
niones,  die  Grimassenschneider;  auch  der  Vidüsaka  ist  ein  grimassierender 
Narr.  Die  Glossen  geben,  wie  wir  sahen  (vgl.  oben  S.  484),  für  Sannio  (sanna- 
subsannator)  die  Übersetzung  ftwxog.  Davon  kommt  /uaxdotuai  auch  fuaxtCtü  ver- 
spotten, verhöhnen  (besonders  durch  Nachäffen,  wie  es  eben  der  fii/xog  yeloiwv 
thut);  französisch  se  moquer,  und  ficSxog  =  französisch  moqueur.  Silvain 
Levi  giebt  Vidüsaka  mit  querelleur,  das  streift  an  moqueur,  was  für  Vidüsaka 
die  genaue  Übersetzung  ebenso  wie  für  /uäxog  wäre.  Windisch  übersetzt 
Raisonneur  (a.  a.  0.  S.  56).  Der  Spötter  war  eine  stehende  Figur  schon  im 
uralten  dorischen  Mimus.  Auf  einem  Vasenbilde  des  Asteas  heilst  einer  der 
Phlyaken  zluxotQog  d.  h.  eben  derisor,  fxwxog,  Vidüsaka.  Den  Spötter  Sannio 
können  wir  im  Mimus  dann  noch  für  die  spätesten  Zeiten  nachweisen :  Marius 
Mercator  erwähnt  ihn  im  fünften  Jahrhundert.  Noch  Eustathius,  der  uns 
über  den  zum  Puppenspiel  gewordenen  Mimus  berichtet,  kennt  auch  die 
populären  tCavvui:  Eustathius  zu  Od.  1350,  p.  1761,  21  sq.:  6  nao«  t<£  xw- 
/ut,x(ß  KgccTivw  aävvas'  avtog  [x£vtoi  ov  rov  ivri&r}  anlwg  Srjlol,  ällct  rov  [icogov, 
ov  iGcog  f]  xoivt]  yläaaa  rCavvov  lallt,  dögcct  6'  dv  eilfjip&m  dnö  w  'Aaiavöiv 
aavvatv,  ovg  al  Idiwrat,  j&vvovg  (sie!)  xalovai,  ßaoßaoixovg  oviag  xal  (6g  flxog 
ivrj&etg  dt'  dnatSevaCav  .  .  .  Vgl.  auch  das  Verbum  T&vtdfa,  das  mit  yelü, 
dnatw  erklärt  wird,  s.  Du  Cange  s.  v.  Der  Sannio  ist  also  in  dem  byzan- 
tinischen Mimus  nie  ausgestorben,  seine  direkten  Nachkommen  sind  der  tür- 
kische derisor  Karagöz  und  die  beiden  Zanni  der  italienischen  Volks- 
komödie. Wenn  der  Sannio  bei  Eustathius  als  uwoög  und  nicht  als  fiäxog 
bezeichnet  wird,  so  ist  zu  bedenken,  dafs  auch  der  Spötter  immerhin  ein 
Narr  ist,  wenn  auch  kein  dummer,  sondern  ein  lustiger.  Bei  diesen  Figuren 
ist  eben  Narrheit  und  Klugheit  in  seltsam  schillernden  Farbentönen  gemischt. 
Über  die  derisores  des  dorischen  Mimus  vgl  besonders  Zielinski,  Quaestiones 
comicae  S.  119. 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  735 

den  grofsartigen  Bauchumfang  der  unsauberen  Hexe,  die  immer 
trunken  ist  von  Rum,  Arak  und  Schnäpsen".  Da  haben  wir  zu 
dem  dickbäuchigen  indischen  Narren  die  dickbäuchige  Alte  aus 
dem  griechischen  Mimus,  die  stets  eine  grofse  Liebhaberin  von 
berauschenden  Getränken  ist  (vgl.  oben  S.  499.  504  ff.). 

Am  schärfsten  aber  läfst  der  derisor  seine  Zunge  los, 
wenn  er  auf  seinen  Widerpart,  den  eigentlichen  stupidus,  den 
Qakära  stöfst.  Wenn  die  beiden  Narren  aneinander  geraten, 
dann  prasselt  ein  wahrer  Hagel  von  Schimpfworten  nieder.  Da 
haben  wir  die  lustigen  Schimpfscenen,  welche  die  Narren  im 
Mimus  zum  besten  geben,  an  denen  der  alte  Mimus  so  reich 
war,  die  auch  im  vornehmen  Mimus  des  Herondas  nicht  fehlen. 
Wie  schimpft  und  prügelt  der  Schulmeister  den  Galgenstrick 
Gryllos,  wie  schimpfen  bei  Sophron,  Herondas  und  Theokrit  die 
Frauen  auf  die  Mägde '),  der  Schuster  auf  seine  Gesellen  und  der 
Bordellwirt  Battaros  auf  den  frechen  Schiffskapitän,  der  mit  Ge- 
walt in  seine  Kneipe  eingebrochen  ist.  Als  der  Jude  Philo  vor 
Kaiser  Caligula  steht  und  dieser  die  jüdischen  Gesandten  fragt, 
warum  sie  kein  Schweinefleisch  äfsen  und  von  allen  Seiten 
lustiger  Spott  und  übermütiger  Hohn  auf  die  armen  Beschnittenen 
niederhagelt,  da  meint  Philo,  es  sei  ihnen  so  gegangen  wie  im 
Mimus1).  Wie  fährt  Maitreya  im  ersten  Aufzuge  der  Mrccha- 
katikä  mit  heftigen  Scheltreden  auf  Samsthänaka  los,  der  bei 
der  Verfolgung  Vasantasenäs  den  Frieden  des  Hauses  Cärudattas 
stört.  Schliefslich  kommt  es  in  der  Gerichtscene  zwischen  beiden 
nach  allerhand  Schimpfereien  zu  einer  grofsen  Prügelei,  wie  sie 
nun  einmal  zwischen  den  Narren  im  Mimus  üblich  ist. 

So  wird  der  Spötter,  der  derisor,  der  Sannio  selbst  zum 
Spotte.  Ja  wie  Fallstaff  macht  der  indische  derisor  sich  über 
sich  selber  lustig;  wie  Sokrates,  der  derisor  omnium,  der  Etho- 
loge,  wendet  er  seinen  Spott  gegen  sich  selbst;    er  nennt  sich 


1)  Vgl.  darüber  besonders  Diels,  Sitz.-B.  d.  Berl.  Akad.  1892, 1,  17  ff.,  387  ff. 

2)  Vergleiche  oben  S.  577  Anm.  den  treffenden  Ausdruck  bei  Philo 
XKTtt^Xtvce^öufyot  xal  xtoxouovuevot  tiqos  rwy  «ir«rr«Äw»'  a»?  Iv  &taiQtxo7s 
fiiftots.  Ich  erinnere  an  die  Schimpfwörter  bei  Laberius,  an  die  Bezeichnung 
mimica  cavillatio  für  Mimus  (vgl.  oben  S.  609). 


736  Achtes  Kapitel. 

selbst  einen  genialten  Affen,  oder  er  meint:  „Ich  bin  freilich 
ein  Brahmane,  aber  mir  geht  alles  in  die  Quere.  Wie  im 
Spiegel  wird  links  zu  rechts  und  rechts  zu  links"  (Mrccha- 
kat.ikä  Aufzug  I).  Als  der  lustige  Narr  weckt  er  auch  den  Spott 
und  die  Laune  der  anderen  Personen  im  Mimus,  alle  haben  ihren 
Spafs  mit  ihm  und  foppen  und  hänseln  ihn  gern.  So  wird  Mai- . 
treya  z.  B.  vom  Diener  der  Vasantasenä  gehänselt.  Unablässig 
macht  man  sich  über  seine  Frefsgier,  seine  Feigheit  lustig. 

Die  Identität  des  Vidüsaka  mit  dem  mimus  calvus,  dem 
Sannio  ist  eine  absolute.  Entweder  ist  der  indische  Narr  der 
Vater  des  griechischen  oder  umgekehrt.  Nun,  im  sechsten 
Jahrhundert  nach  Christus  blühte  Kälidäsa,  der  Klassiker 
des  indischen  Dramas,  aber  im  ersten  Jahrhundert  nach 
Christus  Philistion,  der  Klassiker  des  Mimus.  Schon  seit  300 
vor  Christus  begann  die  mimische  Hypothese  sich  im  Orient 
auszubreiten  und  schon  viele  Jahrhunderte  früher  hat  der 
(itfiog  yskoiwv  mit  dickem  Wanst  und  dem  Phallus  in  den 
kleinen  burlesken,  mimischen  Volksdramen  die  jubelnde  Menge 
ergötzt.  Wir  finden  ihn  auf  den  Phlyakendarstellungen  aus  dem 
vierten  Jahrhundert  vor  Christus.  Wir  haben  ihn  dann  weiter 
hinauf  verfolgt  bis  ins  achte  und  neunte  Jahrhundert  und  bis 
in  die  vorgeschichtlichen  Zeiten  hinein,  da  er  noch  ein  Genosse 
der  dickbäuchigen  Naturdämonen  war.  Also  der  mimus  calvus, 
der  fjbü)QÖ<;  ifaXuxqos  ist  eine  uralte  griechische  Schöpfung  und 
der  Vidüsaka  ist  sein  Nachkomme. 

Damit  ist  auch  die  Frage  gelöst,  warum  die  modernen  bur- 
lesken Typen  dem  Vidüsaka  erstaunlich  ähnlich  sehen,  obwohl 
doch  in  jenen  Zeiten,  in  denen  sie  entstanden  sind,  das  Abend- 
land vom  Oriente  und  noch  gar  vom  fernen  indischen  und  hinter- 
asiatischen Oriente  durch  unübersteigbare  Schranken  getrennt  war. 

Weil  sie  Nachkommen  des  alten  mimischen  Narren  sind, 
zeigen  sie  mit  dem  Vidüsaka  Familienähnlichkeit.  Aber  der 
Vidüsaka  ist  des  griechisch-römischen  Mimus  ältester  Sohn  und 
seines  Vaters  leibhaftes  Ebenbild1).  » 

*)  Es  kann  nicht  meine  Sache  sein,  im  einzelnen  die  Konsequenzen  für 
die  Entwickelungsgeschichte  des  indischen  Dramas  zu  ziehen  und  zu  zeigen, 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  737 

Zum  Schlüsse  mag  noch  eine  kleine  Wortzusammenstellung 


wie  es  sich  nach  den  Gesetzen  und  Neigungen  des  indischen  Geistes  vom 
Mimus  aus  weiter  entwickelt  und  ausgestaltet  und  zu  so  wunderbarer 
Blüte  entfaltet  hat;  hier  gilt  es  bescheiden  vor  den  kundigen  Indologen  und 
Sanskritisten  zurückzutreten,  vor  deren  Forum  alles  Weitere  allein  gehört. 
Meine  Pflicht  ist  es,  hier  nur  noch  auf  die  mannigfachen  Eigenschaften  des 
Mimus  hinzuweisen,  die  diese  glänzende  Entwickelung  ermöglicht  und  be- 
fördert haben.  Scharfsinnig  hat  Sylvain  Levi  erschlossen,  dafs  in  seiner 
ältesten  Epoche  das  indische  Drama  ein  Volksschauspiel  war,  in  dem  nur 
Präkrit  gesprochen  und  das  grofsenteils  extemporiert  wurde.  Das  war  die 
Epoche,  als  es  noch  ein  einfacher  Mimus  war  und  von  den  Mimen  auf  der 
Gaukelbühne  unter  freiem  Himmel  wie  in  Hellas  vor  dem  jubelnden  Volke 
extemporiert  wurde,  als  der  Vidüsaka  noch  ganz  und  gar  dasselbe  burleske 
Vieh  mit  dickem  Bauch,  Kahlkopf  und  selbst  noch  dem  Phallus  war,  wie  der 
Sannio,  der  fitüxog,  der  mimus  calvus.  Aus  dieser  Epoche  hat  der  indische 
Narr  auch  noch  die  Volkssprache,  das  Präkrit,  beibehalten,  obwohl  er  als 
Brahmane  eigentlich  Sanskrit  sprechen  müfste  (vgl.  darüber  Pischel  a.  a.  0. 
S.  19).  Dieser  Stufe  des  indischen  Dramas  steht  später  am  nächsten 
die  Farce  (Prahasana).  Leider  sind  bisher  nur  zwei  Farcen  aus  dem  späten 
Mittelalter  publiziert,  nämlich  Dhürtasamägama  von  Kavi^ekhara-Iyotivicara 
aus  dem  XV.  Jahrhundert  und  des  Iayadica  H&syänava;  aber  es  gab 
auch  ein  Prahasana  von  Kälidäsa  wie  von  Bäna.  Also  selbst  die  vollen- 
detsten Dramatiker  dichteten  nebenbei  noch  weiter  Mimen.  Die  Inhalts- 
angabe der  beiden  erhaltenen  Farcen  steht  bei  Levi  a.  a.  O.  S.  252  folg. 
Es  treten  darin  die  typischen  Figuren  des  Mimus  auf;  Geistliche,  Mönche, 
Ärzte,  Barbiere,  Bajaderen,  Kupplerinnen  u.  s.  w.  Der  recitative  Mimus  ist 
vertreten  in  der  Form  des  Monologes  (bhäna)  (vgl.  Sylvain  Levi  a.  a.  0. 
S.  255  u.  256). 

In  Rom  blieb  der  Mimus  so,  wie  er  aus  Hellas  eingewandert  war,  ja 
ob  je  eine  römische  Hypothese  die  Vollendung  des  biologischen  Dramas 
Philistions  erreicht  hat,  ist  sehr  die  Frage.  Die  Römer  hatten  nicht  viel 
aus  eigenen  Mitteln  hinzuzuthun.  In  Indien  aber  gab  es  längst  eine  grofse 
Litteratur.  Der  spezifisch  indische  Geist  hatte  sich  in  Hymnen  und  Epen, 
in  Lyrik,  Roman,  Novelle  und  Märchen  prachtvoll  entfaltet.  Verächtlich 
mochten  die  Hofdichter  auf  die  Mimen  herabblicken,  wenn  sie  wie  auf  Markt 
und  Strafse  ebenso  im  prachtvollen  Musiksaal  des  Rajah  ihre  Gaukelbühne 
aufschlugen  und  ihren  Mimus  vorführten,  selbst  wenn  es  eine  grofse  Hypo- 
these war.  Sahen  sie  die  mimischen  Narren  und  besonders  den  utäxog,  so 
war  ihnen  klar,  dafs  dieses  dicke,  burleske,  freche,  lustige  Untier  nicht  in  ihre 
lieblichen,  von  allen  Balsamdüften  Indiens  durchhauchten  Dichtungen  gehöre. 
Wie  wenig  stimmte  dazu  ihre  Neigung  zu  idealen,  ja  zarten  und  blumen- 
haften    Gefühlen,   ihre   Naturschwärmerei   und   gefühlvolle  Naturschilderung 

Reich,   Mimus.  47 


738  Achtes  Kapitel. 

stehen.    Das  Siparium  heifst  Yavanikä  (Das  Ionische,  das  Grie- 


und  ihre  Richtung  aufs  Heroisch-Mythische!  Und  doch  trat  der  freche 
hellenische  Kerl,  der  Kahlkopf  mit  dem  Riesenwanste  und  dem  Phallus  auf 
und  schilderte  den  ßiog,  wie  er  wirklich  ist  und  stellte  lachend  die  Narren 
an  den  Pranger,  dann  mufste  der  Rajah  lachen  und  es  lachte  sein  Hof,  und 
der  risus  mimicus  brauste  durch  das  Königsschlofs  von  Ujjayinl,  wie  er 
vielleicht  zur  selben  Zeit  im  Theater  von  Alexandria  oder  von  Antiochia 
oder  von  Rom  erscholl  und  den  Gotenkönig  Theodorich  schüttelte,  dafs  er 
Thränen  lachte.  Es  half  nichts,  hier  hatten  die  grofsen  indischen  Dichter 
eine  Weltmacht  vor  sich,  die  sich  nicht  ignorieren  liefs. 

Die  mimische  Hypothese  ist  ein  festgefügter  Bau.  Jahrhunderte  helle- 
nischer Erfindung  hatten  ihn  gefügt.  Diese  Form  ist  für  die  Ewigkeit  ge- 
schaffen, sie  mufste  bleiben  und  ebenso  die  Ethologie  und  Biologie  und  der 
mimische  Narr.  Aber  die  Hypothese  hatte  im  Laufe  der  Jahrhunderte  in 
Ägypten,  Palästina  und  Syrien  gewifs  viel  Orientalisches  angenommen, .  da 
waren  also  manche  Anknüpfungspunkte,  sie  hat  ja  sowieso  die  Richtung  auf 
das  Nationale,  ja  das  Lokale,  sie  ist  eben  Biologie.  Auch  die  Neigung  zum 
Wunderbaren  steckt  in  ihr,  diese  Zauberer,  weisen  Frauen,  Hexen, 
Dämonen,  Gespenster  des  indischen  Dramas  fanden  sich  schon  in  der 
Hypothese.  Der  mythologischen  Richtung  der  Inder  kam  der  mytho- 
logische Mimus  entgegen,  der  in  den  nachchristlichen  Jahrhunderten,  wie 
wir  oben  sahen,  überwog.  Stellte  er  unaufhörlich  die  Liebesgeschichten 
von  Göttern  und  Göttinnen,  Heroen  und  Nymphen  dar,  so  that  das  nun  das 
indische  Drama  auch.  Die  etwas  lockere,  weite  Form  der  Hypothese  war 
der  Aufnahme  eines  neuen  grofsen  Inhaltes  günstig  und  fähig.  So  drang 
die  vornehme  indische  Poesie  in  die  Hypothese  ein.  Damit  vollzog  sich  eine 
wichtige  Erhebung  und  Läuterung.  Auch  in  dem  vornehmen  antiken  klassi- 
schen Drama  hat  ja  von  burlesken,  niederen  Anfängen  aus  ein  änoas/nvvvea&ai 
stattgefunden,  wie  Aristoteles  in  der  Poetik  bezeugt.  Der  sanfte,  ideale, 
gefühlvolle  indische  Geist  gewinnt  allmählich  die  Oberhand  im  Mimus.  Die 
übermütige  burleske  Parodie  verschwindet  aus  dem  mythologischen  Mimus 
ganz  und  gar,  er  wird  eine  ernsthafte  Schilderung  göttlicher  Wunder, 
Leiden  und  Thaten,  schliefslich  entwickelt  sich  so  der  Mimus  zum  Mysterium. 
Das  ist  das  Ende. 

Das  älteste  indische  Drama,  die  Mrcchakatikä,  zeigt  noch  etwa  zur 
Hälfte  den  mimischen,  realistisch-biologischen,  zur  Hälfte  den  zarten  indischen 
Geist.  Sylvain  Levi  hat  allerdings  versucht,  dieses  Drama  entgegen  der  ge- 
samten bisherigen  Auffassung  bedeutend  jünger  zu  machen  und  nach  Kälidäsa 
etwa  zwischen  Harsa  und  Bhavabhüti  zu  setzen.  Das  ist  dann  zugleich 
ein  glücklicher  Schlag  gegen  Windisch  und  die  Annahme  des  griechischen 
Einflusses  im  indischen  Drama,  für  welches  besonders  dieses  älteste  Drama 
spricht.     Nun,    vor   Kälidäsa    lebte    der   Dramatiker    Bhäsa,    man    nannte 


Der  Vidüsaka  und  der  Sannio.  739 

chische).  Vidüsaka  ist  die  Übersetzung  von  tu<äxog.  Eine  Bezeichnung 


ihn  das  Lachen  der  Poesie.  Allerdings,  das  ist  der  ridicnlus  Philistion 
auch,  der  Verfasser  des  Philogelos.  Das  Lachen  der  Poesie,  das  ist  über- 
haupt der  Mimus,  und  als  das  hat  er  nach  der  griechisch-römischen 
Auffassung  immer  gegolten.  Wir  haben  uns  also  doch  Bhäsa  als  einen 
Dramatiker  im  Stile  Cüdrakas  zu  denken,  vielleicht  noch  etwas  burlesker, 
etwas  mimischer.  Er  ist  eben  noch  älter  und  dem  Mimus  noch  näher.  Pischel 
hat  Bhäsa  als  den  Verfasser  der  Mrcchakatikä  (Götting.  Gel.  Anz.  1883, 
S.  1229  ff.)  erweisen  wollen,  diesen  glänzenden  Einfall  aber  wieder  zurück- 
gezogen, weil  er  nach  der  Lage  der  Dinge  nicht  exakt  bewiesen  werden  kann. 

In  Eälidäsas  Qakuntalä  überwiegt  schon  das  spezifisch  indische,  das 
idyllisch-erotische  Element.  Die  Handlung,  die  in  der  Mrcchakatikä  noch, 
wie  es  sich  für  eine  mimische  Hypothese  gehört,  ein  mächtig  pulsierendes 
Leben  hat,  beginnt  in  der  Cakuntalä  abzuflauen,  sie  wird  von  allerhand 
fremden,  an  und  für  sich  hochpoetischen  Zuthaten  erdrückt.  Nur  die 
Mrcchakatikä  ist  mit  Erfolg  über  die  moderne  Bühne  geschritten  und  diesen 
Erfolg,  der  beweist,  dafs  sie  für  alle  Zeiten  geschrieben  ist,,  verdankt  sie 
vor  allem  der  Unverwüstlichkeit  des  Mimus  und  zugleich  seiner  internatio- 
nalen Art.  Mochte  das  indische  Drama  sich  aber  später  auch  noch  so  sehr 
von  dem  Mimus  entfernen,  immer  behielt  es  wenigstens  die  äufsere  Form 
der  Hypothese,  behielt  die  alte  mimische  Bühneneinrichtung,  die  alten  Mimen 
und  vor  allem  den  alten  mimischen  Narren,  den  Vidüsaka.  dem  noch  heute 
das  Volk  in  Indien  zujubelt. 

Das  indische  Drama  hat  also  nichts  mit  der  griechischen  Komödie  zu 
thun,  und  die  Indologen,  die  sich,  Pischel  voran,  so  scharf  und  energisch 
dagegen  verwahrt  haben,  sind  im  Rechte.  Dennoch  konnte  Windisch  merk- 
würdige Ähnlichkeiten  aufweisen,  Ähnlichkeiten,  die  hinreichend  schienen, 
griechischen  Einfiufs  zu  erweisen  und  die  dann  unablässig  diskutiert  worden 
sind.  Nun,  der  Mimus  ist  der  Ältervater  der  Komödie,  und  besonders  die 
neue  attische  Komödie  hat  unendlich  viel  von  ihm  ererbt  und  erlernt,  wenn 
sie  auch  immer  ein  klassisches  Drama  blieb  mit  der  klassischen  Bühnenein - 
richtung  und  den  klassischen  Schauspielern.  Also  in  jenen  Ähnlichkeiten 
zeigt  sich  allerdings,  wie  Windisch  scharfsinnig  erkannt  hat.  griechischer  Ein- 
fiufs, wenn  ihn  auch  nicht  die  Komödie,  sondern  der  Mimus  ausgeübt  hat 
und  auch  allein  ausüben  konnte. 

Seit  Lassen  und  Benfey  hat  man  versucht,  das  indische  Drama  mit  der 
uralten  hymnischen  und  epischen  Poesie  in  Beziehung  zu  setzen  und  hat  ihm 
mit  genialer  Kombination  eine  Entwickelungsgeschichte  konstruiert.  Diese 
Konstruktion  hat  Levi  besonders  scharfsinnig  und  geistreich  durchgeführt 
(a.  a.  0.  S.  297—343).  Die  Hymnen  des  Rigveda  sind  grofsenteils  dialogisch. 
Teilte  man  den  Dialog  zwischen  den  Chören,  so  war  ein  Anfang  zum  Drama 
gemacht.    Ähnlich  ist  ja  das  griechisch-klassische  Drama  entstanden,  aber  das 

47* 


740  Achtes  Kapitel. 

für  Schauspieler  ist  Kugilava.     Weber  bringt  es  mit  cüä,  Sitten, 


hat  auch  einen  Chor  und  das  indische  Drama  bat  keinen,  wie  der  Mimus. 
Dann  kommt  noch  das  Epos  hinein,  es  ist  vielfältig  dialogisch -dramatisch; 
teilten  die  Rhapsoden  den  Dialog  unter  einander,  traten  sie  gar  in  ent- 
sprechenden Kostümen  auf,  war  das  Drama  fertig.  Das  scheint  so  logisch 
und  einfach.  Aber  von  dem  klassischen  Drama  der  Griechen,  das  sich  doch 
gewifs  an  das  Epos  anlehnt,  wissen  wir  genau,  dafs  es  eine  ganz  andere  Her- 
kunft hat;  Aristoteles  hat  sie  gekennzeichnet.  Die  griechischen  Rhapsoden 
hatten  stark  schauspielerische  Neigung  (vgl.  oben  S.  547),  aber  nie  sind  sie 
auf  die  Idee  gekommen,  sich  in  den  Dialog  zu  teilen  und  sich  entsprechende 
Kostüme  anzuziehen.  Nein,  die  Schauspieler  des  klassischen  Dramas  waren 
niemals  Rhapsoden.  Die  Griechen  rechneten  das  Epos  sogar  zum  yivog 
fiixiöv,  zur  halb  erzählenden,  halb  dramatischen  Poesie,  aber  sie  wufsten 
es  genau,  dafs  aus  dem  halben  Drama  nie  ein  ganzes  geworden  ist  und  auch 
garnicht  werden  konnte,  die  epische  und  dramatische  Art  schliefsen  einander 
aus,  selbst  da,  wo  sie  sich  zu  berühren  scheinen. 

Die  Rhapsoden  in  Indien  waren,  wenn  sie  nicht  Brahmanen  waren,  doch 
immer  als  Träger  der  mythischen  Poesie  angesehene  Leute;  das  Drama  be- 
deutete noch  eine  Erhöhung  ihrer  Kunst,  wie  konnten  sie  da  ehrlos  werden  ? 
Die  Darsteller  des  klassischen  mythologischen  Dramas  in  Hellas  waren  doch 
auch  durchaus  würdige  Bürger  und  behielten  ihre  bürgerliche  Ehre,  noch 
Sophokles  spielte  auf  der  Bühne. 

Wir  haben  die  Entwickelung  des  Schauspielerstandes  verfolgt,  haben 
den  Gegensatz  kennen  gelernt  zwischen  den  vornehmen  Schauspielern  des 
klassischen  Dramas  und  den  Mimen.  Nur  die  Mimen,  die  von  den  Gauklern 
herstammen,  waren  ehrlos  wie  die  indischen  Schauspieler,  nur  sie  duldeten 
Weiber  unter  sich  wie  die  indischen  Schauspieler,  nur  sie  blieben  im  Konnex 
mit  den  Gauklern,  denen  sie  gern  ihre  Bühne  verstatteten,  wie  die  indischen 
Schauspieler  auch  (vgl.  über  das  letztere  Levi  S.  382  ff.).  Das  Auftreten  eines 
Weibes  auf  der  Bühne  verstiefs  ganz  gegen  die  antiken,  insbesondere  die 
orientalischen  und  indischen  Auffassungen.  Die  Indier  haben  es  einfach  von 
den  fremden  hellenischen  Mimen  übernommen.  Aber  allmählich  ist  bei  den 
Indern  diese  ihnen  nur  oktroyierte  Sitte  wieder  abgekommen,  man  gab  später 
Weiberrollen  durch  junge  Männer. 

Wunderbar  mischt  sich  im  indischen  Drama  Humor  und  Ernst,  Er- 
habenes und  Burleskes,  vornehme  und  niedere  Sprache.  Wo  findet  sich  dies 
Prinzip  in  der  alten  Epik  und  Hymnologie,  wo  findet  sich  dort  der  Vidüsaka. 
Die  Epik  ist  durchaus  einer  grofsen,  heldenhaften,  tragischen  Auffassung  des 
Daseins  zugeneigt,  wie  kommt  es,  dafs  trotzdem  im  indischen  Drama  haupt- 
sächlich schmachtende  Liebeshelden  auftreten  wie  im  Mimus?  Wie  kommt 
es,   wenn   das  indische  Drama  von  dorther  seinen  Ursprung  nahm,   dafs   es 


Der  Vidösaka  and  der  Sannio.  741 

in  Verbindung,  also  wäre  es  etwa  =  y&okoyog,  Sittenschilderer, 
Mime?1)  Sonst  heifst  Schauspieler  nata,  Schauspiel  nätaka;  nata 
bedeutet  etwa  „mimischer  Tänzer-4  -).  Der  Mimus  ist  aus  dem 
Tanze  entstanden;  ich  erinnere  an  die  unaufhörliche  Verbindung 
Mimen  und  Tänzer  (jxZpot  und  dQxijatai),  an  die  mimi  saltantes, 
an  saltatricula  =  mima,  ogx^tfjg  =  Pantomimus,  gelegentlich 
auch  =  Mimus.  Cinaedologie  =  ÖQxrjoig  dnaXq.  Durch  den  mimi- 
schen Gebärdentanz  haben  sich  die  griechischen  Mimen  und 
Miminnen  den  Indern  zuerst  verständlich  gemacht.  Also  wäre: 
nata  =  Mime,  nätaka  =  Mimus?8) 


unverbrüchlich   zum  Schlüsse    fröhlich  enden  muXs  —  selbst  wenn  schreck- 
liche Dinge  geschehen  sind  —  wie  im  Mimus? 

a)  Vgl.  das  Petersburger  Lexikon  s.  v.  Ganz  anders  ist  die  Erklärung 
des  Wortes  bei  Sylvain  Levi  a.  a.  0.  S.  312  u.  313.  Ich  kann  weder  die  Er- 
klärung Webers  noch  die  Levis  sicher  beurteilen. 

2)  Vgl.  z.  B.  Windisch  a.  a.  0.  S.  8:  „Aber  der  Schauspieler  hei/st  nata, 
das  Schauspiel  nätaka,  und  die  Sanskritwurzel  nrit,  welche  zu  nat  präkriti- 
siert worden  ist,  bedeutet  ohne  Frage  „Tanzen".  Wir  dürfen  jedoch  hier 
nicht  an  unsere  Tänze  mit  ihren  schematischen,  sich  wiederholenden  Schritt- 
figuren denken,  vielmehr  bezeichnet  nat  hier  die  Kunst,  durch  Stellung  und 
rhythmische  Bewegung  des  Körpers  und  seiner  Glieder,  durch  Gebärden  und 
Mienen  einen  bestimmten  Sinn  auszudrücken.  Diese  Kunst  konnte  einerseits 
verbunden  mit  Gesang  und  Musik  auftreten.  Die  Mimik  drückt  dann  in 
ihrer  Weise  aus,  was  der  Gesang  in  deutliche  Worte  fafsf  Nun,  jedenfalls 
beweist  der  Name,  dafs  man  die  Mimik  im  indischen  Schauspiel  für  die 
Hauptsache  angesehen  hat  —  wie  im  Mimus. 

3)  Für  den  griechischen  Einflufs  in  Indien,  und  zwar  vornehmlich  in 
der  bildenden  Kunst,  will  ich  hier  noch  auf  das  lehrreiche  Buch  von  Albert 
Grünwedel  hinweisen  „Buddhistische  Kunst  in  Indien",  2.  Auf! ,  Berlin  1900 
(Handbücher  der  Königlichen  Museen  zu  Berlin  —  Museum  für  Völkerkunde), 
zumal  auf  den  Abschnitt  „Die  Gandhära-Skulpturen  (sog.  graeco-buddhistische 
Skulpturen)"  S.  74 ff.  Wenn  Grünwedel  a.  a.  0.  S.  76  bemerkt:  „Griechische 
Ideen  und  Erzählungen  gingen  in  die  buddhistischen  Texte,  indische  Ver- 
gleiche, Fabeln  und  Märchen  in  die  abendländische  Litteratur  über.  Ob  die 
griechische  Schauspielkunst  die  indische  blofs  beeinflufst  oder  begründet  hat, 
mag  dahingestellt  bleiben.  Diese  Bestrebungen  dauern  bis  in  die  römische 
Kaiserzeit  —  etwa  bis  ins  fünfte  Jahrhundert  —  fort",  so  stellt  er  sich 
offenbar  den  Einflufs  des  griechischen  Dramas  auf  das  indische  nichts  weniger 
als  unbedeutend  vor.    Ich  verweise  auch  noch  auf  Ernst  Curtius,  „Die  grie- 


742  Achtes  Kapitel. 

Der  dickbäuchige,  phallische  Semar  im  javanischen  Puppen- 
spiel ist  des  Vidüsaka  Ebenbild  und  sein  Nachkomme.  Das  hat 
schon  Serrurier  bemerkt  *),  und  Pischel  hat  es  bestätigt  (a.  a.  0. 
S.  21).  Also  ist  der  alte  mimus  calvus  schliefslich  von  Indien 
bis  nach  Indonesien  gewandert  und  hat  sich  dort  in  seiner 
ursprünglichen  althellenischen,  burlesken  Gestalt  erhalten.    Wenn 


einsehe  Kunst  in  Indien".  Gesammelte  Abhandlungen  II,  S.  235—243,  und 
Goblet  d'Alviella  „Ce  que  l'Inde  doit  k  la  Grece",  Paris  1897,  sLes  Grecs 
dans  l'Inde",  Bruxelles  1897,  „Des  influences  classiques  dans  l'art  de  l'Inde", 
Bruxelles  1897.  Doch  giebt  es  hier  eine  ausgedehnte  Litteratur  besonders 
in  England,  die  vornehmlich  nur  den  Spezialforscher  interessiert. 

*)  Ausdrücklich  erklärt  sich  Serrurier  gegen  die  gewöhnliche  Auffassung, 
Semar  und  seine  Söhne  seien  ursprüngliche  Schöpfungen  der  javanischen 
Phantasie. 

Ze  zijn  te  veel  geacheveerd,  te  goed  in  hunne  rol,  en  daarbij  te  populair  om 
niet  een  lange  wordingsgeschiedenis  achter  zieh  te  hebben ;  zulke  figuren  kamen  maar 
niet  op  eens  pasklaar  voor  den  dag. 

Hoezeer  Semar  en  de  zijnen  als  zoodanig  in  de  indische  literatuur  ontbreken, 
zoo  vind  ik  loch  bij  Lassen,  Indische  Alterthumskunde  IV  eene  aanwijzing,  die  er 
mij  toe  brengt  aan  deze  tooneelfiguur  voor  een  deel  althans  een  indischen  oorsprong  toe 
te  kennen.  Wij  lezen  aldaar  op  p.  829  het  volgende:  „De  vidushaka  is  de  indische 
vertegenwoordiger  van  den  germaanschen  hansworst  en  den  italiaanschen  polichinel 
of  harlekijn"  ....  Zie  ook  Wilson,  Theater  der  Hindu' s,  Weimar  1828,  p.  42. 
Herkent  men  hierin  niet  punt  voor  punt  de  karaktertrekken  van  de  pänäkaioan  's, 
zooals  die  hier  boven  zijn  geschilderd?    Tot  zelf  de  goddelijke  oorsprong  van  Semar 

vindt    hare    weergade    in    de    hooge    käste    van   den  vidushaka De  band 

usschen  Semar  en  de  helden  van  het  drama  is  te  innig  om  te  kunnen  aannemen, 
dat  hij  er  in  later  tijd  tusschen  in  geschoven  is.  En  eenmaal  zijn  indische  oor- 
sprong vastgesteld,  dunkt  het  mij  niet  onwaarschijnlijk,  dat  hij  reeds  van  den 
aanvang  af  met  het  drama  verbanden  is  geweest,  en  dat  de  bewoners  der  streek, 
vanwaar  de  waj angverhalen  op  de  Iavanen  zijn  overgegaan,  die  overgeleverde  ver- 
holen nimmer  anders  hebben  gekend  dan  in  den  toestand  van  tooneelstukken  met 
Semar  en  de  zijnen  als  dramatisch  element.     (Kleine  Ausgabe  S.  38/9.) 

Ganz  recht,  ohne  den  Hanswurst,  den  Sannio,  ist  eine  mimische  Hypo- 
these ebenso  undenkbar,  wie  ein  indisches  Drama,  ein  javanisches  Puppen- 
spiel oder  ein  Karagözstück,  und  in  allen  ist  der  Hans  Wurst  nicht  etwa 
später  hinzugekommen,  sondern  er  ist  das  urälteste  Element.  Der  älteste 
Spieler  im  Mimus  ist  eben  der  nifxog  yelolmv.  Im  Bhäratiyanätyaäästra  I,  63 
heifst  es:  Den  Helden  schützt  Indra,  die  Heldin  Sarasvati,  den  Vidüsaka 
die  heilige  Silbe  Om,  die  übrigen  Personen  Siva.  Also  neben  dem  Helden 
und  der  Heldin  ist  der  Narr  die  wichtigste  Person,  wie  im  Mimus. 


Der  Vidnsaka  und  der  Sannio.  743 

bis  auf  unsere  Tage  Semar  zugleich  dem  Karagöz  merkwürdig 
ähnlich  ist,  wie  Serrurier  hervorhebt  (vgl.  oben  S.  691)  und 
Pischel  gleichfalls  bestätigt  (a.  a.  0.  S.  21),  so  wissen  wir,  dafs 
Karagöz  des  alten  Sannio,  des  uüxo;  Nachkomme  ist,  und  da, 
wie  wir  nun  sehen,  Semar  dieselbe  Abkunft  hat,  müssen  sie  sich 
beide  wohl  gleichen.  So  ist  der  alte  Mimus  noch  heute  im 
Oriente,  in  Nordafrika  und  in  Ägypten,  in  Vorder-  wie  in  Hinter- 
asien, gewaltig. 


NEUNTES  KAPITEL. 


Der  Mimus  im  Occident. 


Melius  est  deo  placere  quam  histrionibus, 
pauperum  habere  curam  quam  mimorum. 


Alcuin. 
I. 

Der  römische  Mimus  im  Mittelalter. 

Wie  im  Oriente  der  griechische  Mimus  das  Mittelalter 
hindurch  geblüht  hat  und  in  seinen  Kindern  und  Kindes- 
kindern dort  noch  heute  fortlebt,  so  hat  im  Occidente  der 
römische  Mimus  sich  durch  das  lange  Mittelalter  hindurch 
lebendig  erhalten  bis  auf  unsere  Tage.  Wie  Philistion  im  grie- 
chischen Osten  zahlreiche  Nachfolger  hatte,  Phoebus,  Origanion, 
Diogenes  und  die  zahllosen  Mimographen,  deren  Namen  ver- 
gessen sind,  die  in  immer  neuen  Mimen  die  alten  Typen  und 
Themen  der  mimischen  Ethologie  und  Biologie  den  Wandlungen 
des  ßiog  anpafsten  und  wohl  auch  neue  dazu  erfanden,  so  gab 
es  auch  im  lateinischen  Westen  in  den  nachchristlichen  Jahr- 
hunderten zahlreiche  Mimographen. 

Aus  dem  ersten  Jahrhundert  nach  Christus  lernten  wir  als 
den  berühmtesten  mimischen  Bühnendichter  Catullus  mit  dem 
„Laureolus",    und    dem    „Gespenst    (Phasma)"    kennen1).      Im 


*)  Fälschlich  habe  ich  auf  S.  76  u.  150  vom  Laureolus  des  Lentulus  ge- 
sprochen. Dieser  Irrtum  rührt  von  Ziegler  her,  dem  Grysar  folgt;  ich  habe 
ihn  inzwischen  oben  S.  584  stillschweigend  verbessert.  Laureolus  gehört  dem 
Catullus,  das  sagt  Tertullian  ausdrücklich:  Ita  depulsa  quominus  pergeret,  nee 
habens  supervolare  crucem,  id  est  Horon,  quia  nullum  Catulli  Laureolum  fueril 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  745 

zweiten  Jahrhundert  beherrschte  Marullus  die  Bühne,  dessen 
Spott  Kaiser  Marc  Aurel  geduldig  ertrug l).  Ungefähr  zu  gleicher 
Zeit  dichteten  auch  die  Mimographen  Lentulus  (Catinenses3)  und 


exercitata,  ut  destituta  Passtoni  illi  suae  in  trica  multiplici  atque  perplexa,  omni 
genere  eins  coepit  adfligi  e.  q.  s.  (Advers.  Valent.  XIV).  In  dem  Juvenal- 
verse: 

Laureolum  velox  etiam  bene  Lentulus  egit  (VIII,  187) 

ist  Lentulus  nur  der  Hauptakteur.  Da  dieser  Mimus  schon  unter  Caligula 
aufgeführt  wurde  (vgl.  oben  S.  150),  hätte  Lentulus,  wenn  er  der  Dichter  des 
Laureolus  wäre,  zu  Juvenals  Zeit  tot  oder  zum  mindesten  ein  hochbetagter 
Greis  sein  müssen,  der  schwerlich  in  der  Rolle  des  flinken  Räubers  hätte 
glänzen  können.  Interessant  ist,  dafs  hier  Tertullian  gegenüber  den  gnosti- 
schen  Lehren  nach  der  Gewohnheit  der  Kirchenväter  den  Mimus  heranzieht 
und  sich  hier  bei  der  gnostischen  Auffassung  der  Passion  an  den  Kreuzigungs- 
mimus  „Laureolus"  erinnert.  Unmittelbar  vorher  hat  Tertullian  die  gnostische 
Mythologie  von  den  Äonen,  deren  einer  Christus  ist,  mit  der  Tragödie  und 
dem  mythologischen  Mimus  verglichen:  Continet  hie  igitur  ordo  primam  pro- 
cessionem  pariter  et  nascentium  et  nubentium  et  generantium  Aeonum  ....  Ceterum 
haec  intra  coetum  Pleromatis  decueurrisse  dieuntur,  prima  tragoediae  scena.  Alia 
autem  trans  siparium  cothurnatio  est,  extra  Pleroma  dico.  Diese  Stelle  ist 
den  oben  S.  608,  609,  Anm.  für  das  velam  mimicum  angeführten  hinzuzufügen. 
Die  trans  siparium  cothurnatio  ist  der  mythologische  Mimus.  Ich  habe  oben 
S.  582,  583  gezeigt,  dafs  in  diesen  Stücken  die  Mimen  in  der  Kleidung  der 
Tragöden,  also  auch  mit  Cothurnen  auftraten.  Da  nun  aber  Mimus  und  Puppen- 
spiel auf  das  engste  zusammenhängen,  wird  an  derselben  Stelle  zum  Ver- 
gleiche mit  der  Gnosis  ebenfalls  das  Puppenspiel  herangezogen:  Ut  autem 
tantum  sigillarium  extrinsecus  quoque  inornassent,  satellites  ei  angelos 
proferunt,  par  genus;  si  inter  se,  potest  ßeri,  si  vero  Soteri  consubstantivos  .  .  quae 
erit  eminentia  eius  inter  satellites  coaequales  (Schlufs  von  cap.  XII).  Ähnlich 
heifst  es  bald  darauf  (Cap.  XVIII):  Et  primum .  ..  deum  fingit  hunc  nostrum  et 
omnium,  praeter  haereticorum,  patrem  et  Demiurgum  .  .  .  Ab  illo  enim;  si  tarnen 
ab  illo  et  non  ab  ipsa  potius  Achamoth,  a  qua  oeculto,  nihil  sentiens  eius,  et  velut 
sigillario  extrinsecus  duetu  in  omnem  operationem  movebatur.  Sigillarium 
bedeutet  die  Puppe  im  Puppenspiel,  vgl.  Marc  Aurel  VII,  3:  aiyiilaout  vtvgo- 
onaaiov/AEva. 

«j  Vgl.  oben  S.  188. 

2)  Vgl.  Tertullian,  De  pallio  IV:  Qualis  ille  Hercules  in  serico  Omphales 
fuerit;  iam  Omphale  in  Herculis  scorto  designata  descripsit.  Sed  et  qui  ante  Tt/rin- 
thium  accesserat,  pugil  Cleomachus,  post  Olympiae  cum  incredibili  mutatu  de  masculo 
ßuxisset,  intra  cutem  caesus  et  ultra,  inter  Fuüones  iam  Novianos  coronandus, 
meritoque  mimographo  Leiitulo  in  Catinensibus  commemoratus,   e.  q.  s. 


746  Neuntes  Kapitel. 

Hostilius,  die  Tertullian  als  besonders  hervorragend  im  mytho- 
logischen Drama  nennt1).  Marullus  und  Lentulus  galten  dann 
in  den  späteren  Jahrhunderten  als  die  eigentlichen  grofsen 
Dichter  im  römischen  Mimus,  über  deren  Leistungen  man 
Publilius  Syrus  und  Decimus  Laberius  vergafs.  So  nennt  Marius 
Mercator  im  fünften  Jahrhundert  neben  dem  „einzigen  Philistion" 
unter  den  Lateinern  Marullus  und  Lentulus  und  stellt  ihren 
Ruhm  über  den  Martials  und  Petrons2).  Auch  Hieronymus 
erwähnt  beide  in  einem  Atemzuge  mit  Philistion  und  läfst  sich 
herbei,  ihren  eleganten  Ausdruck,  wenn  auch  ironisch,  zu  loben 
und  Sabinianus  tadelt  er,  weil  er  seine  Freude  vor  allem  an 
Mimographen  wie  Lentulus  habe3).  Den  Marullus  erwähnt  auch 
Galen  *).  Der  grofse  Arzt  bezeugt  zugleich,  dafs  neben  Marullus 
noch  ein  Schwärm  von  Mimographen  dichtete8).  Mimographen 
fanden  sich  nicht  nur  in  Rom,  sondern  auch  in  den  Provinzen. 
So  wurde  in  Spanien  in  Tarraco  ein  Stein  mit  dem  Namen  des 
Mimographen  Severianus  gefunden6).  Neben  den  berufsmäfsigen 
Mimographen  gab  es  noch  vornehme  Dilettanten  wie  z.  B.  Atticus, 


Über  Kleofiaxog  6  nvxxrfi  vgl.  oben  S.  257.  Es  ist  beachtenswert,  dafs  dieser 
Faustkämpfer,  der  später  ein  Weichling  und  dann  ein  Cinaedologe  und  Mimo- 
graph  wurde,  im  lateinischen  Mimus  erwähnt  wird.  Erstaunlich  ist,  wie 
häufig  Tertullian  des  Mimus  und  des  Puppenspiels  gedenkt.  Seine  Kenntnis 
war  hier  eine  so  genaue,  dafs  er  z.  B.  selbst  über  die  Sprache  des  Laberius 
bis  ins  einzelne  unterrichtet  ist.  Vgl.  De  pallio  1:  Nam  et  arietem  (non 
quem  Laberius  reciprocicornem  et  lanicutem  et  testitrahum  sed  trabes  viachina 
est,  quae  muros  frangere  militat)  nemini  unquam  adhuc  libratum  illa  dicitur  Carthago 
studiis  asperrima  belli,  prima  omnium  armasse  e.  q.  s.  Über  die  Erwähnung  des 
Mimus  und  des  Puppenspiels  bei  Tertullian  vgl.  auch  oben  S.  672. 
i)  VgL  oben  8.  111,  112. 

2)  Vgl.  oben  S.  474. 

3)  Vgl.  unten  S.  752. 

4)  Galen,  üsqi  avaxofxixäv  ly/signomv  VII,  12,  6  MaqvXXov  xov  fitfio- 
yqä(fov  nalg  i&eQanev&r)  xal  £rj  vvv  fr*,  xatiot  yvfivio&etoyg  avT<p  noxt  xr\g 
xitodiag  • 

5)  Galen.  a.a.O.  VII,  16:  tovro  /*ev  ovv,  eis  ytXioionodav  rois  yQa- 
(povoi  rovg  [Alfxovg  xüv  ytkotiov  ä<fe(o&(o. 

6)  C.  I.  L.  II,  4092.     Deo    Tutelae  Aemilius  Severianus  mimographus  posuit. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  747 

den  Martial  verspottete,  oder  Nucula,  den  Cicero  verhöhnte1). 
Helvidius  Priscus,  der  wegen  seines  Mimus  „Paris  und  Oenone" 
von  Domitian  hingerichtet  wurde,  gehörte  zur  höchsten  römischen 
Aristokratie2). 

Die  Leidenschaft,  welche  das  römische  Volk  für  den  Mimus 
zeigte,  fühlten  genau  ebenso,  wie  wir  sahen,  die  römischen 
Kaiser3).  Von  den  weströmischen  Kaisern  haben  ja  erst  die 
oströmischen,  die  byzantinischen  Kaiser  und  Grofsen  die  Vorliebe 
für  den  Mimus  geerbt. 

Wie  die  griechischen  Kirchenväter  im  Orient  gegen  den 
Mimus  eiferten,  so  haben  es  die  lateinischen  im  Occident  gethan. 
Haben  wir  dort  aus  späterer  Zeit  besonders  das  Beispiel  des  grofsen 
Johannes  Chrysostomus,  so  hier  das  des  heiligen  Augustinus  und 
Hieronymus4).  Hieronymus  ist  gewifs  nicht  gut  auf  den  Mimus 
und  das  Theater  zu  sprechen.  Paulinus,  der  ein  Mönch  geworden 
ist,  erkundigt  sich  bei  ihm,  dem  grofsen  Verteidiger  der  Askese, 


*)  Vgl.  oben  S.  149,  150,  151. 

2)  Vgl.  oben  S.  190. 

3)  Vgl.  oben  S.  193—204.  Zu  den  dort  mitgeteilten  einzelnen  Zügen 
will  ich  noch  hinzufügen,  dafs  litterarisch  gerichtete  Kaiser  wie  Hadrian  ihr 
Interesse  für  den  Mimus  bis  auf  die  Einzelheiten  der  mimischen  Sprache 
besonders  des  Laberius  erstreckten.  Vgl.  Charisius  II,  p.  124  L.:  Obiter 
divus  Hadrianus  sermonum  primo  quaerit  an  Latinum  sit:  quamquam  inquit,  apud 
Laberium  haec  vox  esse  dicaiur,  et  cum  Scaurus  Latinum  esse  neget.  Wenn  hier 
Hadrian  untersucht,  ob  ein  Ausdruck  des  Laberius  auch  rechtes  Latein  sei, 
so  ist  das  überhaupt  ein  bei  Grammatikern  beliebtes  Thema.  So  ist  das 
berühmte  Kapitel  bei  Gellius  XVI,  7,  in  dem  wir  mancherlei  aus  den  Mimen 
des  Laberius  erfahren,  betitelt:  Quod  Laberius  verba  pleraque  licentius  petu- 
lantiusque  finxit;  et  quod  multis  item  verbis  utitur,  de  quibus,  an  sint  Latina  quaeri 
solet.  Fronto,  der  Lehrer  Marc  Aureis,  scheut  sich  nicht,  in  einem  Briefe 
an  den  Thronfolger  den  Mimographen  Laberius,  der  zu  seinen  Lieblings- 
schriftstellern gehörte,  als  Autorität  zu  citieren.  Vgl.  epist.  in  M.  Caesarem 
lib.  I  6,  p.  14  ed.  Rom,  lverum  ut  profecta  quod  ait  noster  Laberius,  ad  amorem 
delenimenta  esse  deleramenta.  beneficia  autem  veneficia. 

4)  Aus  früheren  Jahrhunderten  haben  wir  unter  den  lateinischen  Kirchen- 
vätern als  energische  Feinde  des  Mimus  und  überhaupt  des  antiken  Schau- 
spiels Minucius  Felix,  Arnobius,  Tertullian,  Lactanz  und  Cyprian  kennen  ge- 
lernt.   Vgl.  oben  S.  109—116. 


748  Neuntes  Kapitel. 

der  Jahrelang  in  der  Wüste  von  Chalcis,  „  der  syrischen  Thebais ", 
im  Osten  von  Antiochia,  als  Einsiedler  gelebt  und  schliefslich  in 
Bethlehem  bei  der  Krippe  des  Herrn  ein  Mönchskloster  ge- 
gründet hatte,  nach  der  besten  Art,  wie  man  als  Mönch  leben 
könne,  dabei  läfst  er  sein  Verlangen  durchblicken,  Jerusalem 
und  die  heiligen  Stätten  aufzusuchen.  Aber  Hieronymus  ermahnt 
ihn,  nicht  dorthin  zu  kommen.  Ein  Mönch  müsse  in  der 
Einöde,  in  der  Einsamkeit,  in  der  Verborgenheit,  nicht  aber 
in  Jerusalem  dem  Herrn  dienen,  denn  dort  ist  das  Stelldichein 
des  ganzen  Erdkreises.  Dort  drängt  sich  das  Volk  auf  den 
Strafsen,  dort  giebt  es  ein  Rathaus  und  eine  Militär-Komman- 
dantur, Buhldirnen  und  vor  allem  Mimen  und  Possenreifser, 
genau  so  wie  in  allen  anderen  Städten1).  Hier  haben  wir  also 
zugleich  wieder  ein  Zeugnis  dafür,  dafs  der  Mimus,  wie  wir 
schon  so  oft  hervorhoben,  sich  in  allen  Städten  des  griechisch- 
römischen Reiches  fand,  selbst  in  dem  hochheiligen  Jerusalem 
zur  Zeit,  als  das  Christentum  bereits  unbedingt  herrschte.  Dieser 
Brief  des  Hieronymus  an  Paulinus  stammt  aus  dem  Ende  des 
vierten  Jahrhunderts. 

An  einer  anderen  Stelle  entrüstet  sich  Hieronymus  dar- 
über, dafs  die  christliche  Obrigkeit  die  christlichen  Kleriker 
und  Mönche  von  den  Erbschaften  ausschliefst,  während  sie  selbst 
solche  verworfene  Gesellen,  wie  die  heidnischen  Priester,  Mimen, 
Wagenlenker  und  Buhlerinnen  zuläfst.  Der  Staat  hatte  eben 
von  jeher  das  Bestreben  gehabt,  eine  Ansammlung  des  Vermögens 
in  der  toten  Hand,  auch  wenn  es  die  der  christlichen  Kirche 
war,    zu    vermeiden.     Die    Zusammenstellung    mit   heidnischen 


!)  Epistola  LVIII.  Ad  Paulinum.  Vallarsi  I,  S.  322  A.B.:  Quod  loquor, 
non  de  Episcopis,  non  de  Presbyteris,  non  de  Clericis  loquor,  quorum  aliud  officium 
est;  sed  de  Monacho,  et  Monacho  quondam  apud  saeculum  nobili:  qui  iccirco  pretium 
possessionum  suarum  ad  pedes  Apostolorum  posuit,  docens  pecuniam  esse  calcandam; 
ut  humiliter  et  secreto  victitans,  semper  contemnat  quod  semel  contemsit.  Si  Crucis 
et  Resurrectionis  loca  non  essent  in  Urbe  celeberrima,  in  qua  curia,  in  qua  aula 
militum,  in  qua  scorta,  mimi,  scurrae,  et  omnia  sunt,  quae  solent  in 
caeteris   urbibus  etc. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  749 

Priestern,  Wagenlenkern  und  Hetären  zeigt,  wie  wenig  Hiero- 
nymus  den  Mimen  geneigt  war1). 

Die  Witwe  Salvina  ermahnt  er,  um  ihr  Witwentum  rein 
und  keusch  zu  bewahren,  keine  Pantomimen,  die  sich  zu  Weibern 
entnerven,  keine  scenischen  Künstler  —  damit  sind  vornehmlich 
Mimen  gemeint  —  in  ihrer  Umgebung  zu  dulden 2).  Wir  wissen 
ja,  mit  welcher  Vorliebe  man  Mimen  und  Pantomimen  in  vor- 
nehmen Häusern  hielt.  Seine  Freundin  Marcella  fordert  der 
Heilige  auf,  Rom  zu  verlassen  mit  seinem  Lärm,  seinen  Gladia- 
torenkämpfen in  der  Arena,  mit  seinem  Cirkus  und  vor  allem 
mit  seinem  üppigen  Theater3).  Er  denkt  hier  natürlich  vor- 
nehmlich an  den  Mimus  mit  seinen  Liebesgeschichten  und  an 
den  Pantomimus.  In  der  That  erwähnt  er  wenige  Zeilen  vorher 
den  Pantomimus  ausdrücklich4).  Da  ist  also  wieder  ein  Zeugnis 
für  die  Fortdauer  von  Mimus  und  Pantomimus  in  Rom  gegen 
das  Ende  des  vierten  Jahrhunderts. 

In  der  Streitschrift  gegen  Iovinian  erklärt  Hieronymus,  durch 
die  fünf  Sinne  kehren  wie  durch  ebenso  viele  Fenster  die  Laster 
bei  der  Seele  ein.  Wenn  jemand  seine  Freude  hat  am  Cirkus 
oder  den  Gladiatorenspielen,  an  der  Geschmeidigkeit  der  Panto- 
mimen, an  der  Schönheit  der  Frauen,  an  dem  Glänze  der  Edel- 


*)  Epistola  LH.  Ad  Nepotiannm  Vallarsi  I,  S.  260  E,  261 A:  Pudet  dicere, 
sacerdotes  idolorum,  mimi,  et  aurigae,  et  scorta,  haereditates  capiunt:  solis  Clericis 
et  Monachis  hoc  Lege  prohibetur:  et  prohibetur  non  a  persecutoribvs,  sed  a  Principibus 
Christianis. 

*)  Epistola  LXXXIX.  Ad  Salvinam.  Vallarsi  I,  S.  505  E,  506  A:  Non 
ambulet  juxta  te  calamistratus  Procurator,  non  histrio  fractus  in  feminam,  non  cantoris 
diabolici  venenata  dulcedo,  non  juvenis  volsus  et  nitidus.  Nihil  artium  scenicarum, 
nihil  tibi  in  obsequiis  molle  jungatur.  Habeto  tecum  viduarum  et  virginum  choros, 
habeto  tui  sexus  solatia. 

s)  Epistola  XLIII.  Ad  Marcellam.  Vallarsi  I,  S.  194  B.C.:  Habtat  tibi 
Roma  mos  tumultus,  arena  saeviat,  circus  insaniat,  theatra  luxurient.  et  quia  de 
nostris  dicendum  est,  matronarum  quotidie  visitetur  senatus. 

*)  a.  a.  0.  S.  193D,  E:  Et  quomodo  in  theatralibus  scenis  unus  atque  idem 
histrio,  nunc  llerculem  robustus  ostendit,  nunc  moüis  in  Venerem  frangitur,  nunc 
tremulus  v»  Cybelem:  ita  et  nos  ...  tot  habemus  personarum  similitudines.  quot 
peccata. 


750  Neuntes  Kapitel. 

steine,  der  Kleider  und  des  goldenen  Geschmeides,  dann  erfüllt 
sich  das  Wort  des  Propheten:  Der  Tod  stieg  ein  durch  die 
Fenster  (Jeremias  9,  21).  Das  Gehör  hinwiederum  wird  durch 
Musik  angenehm  umschmeichelt,  durch  den  Vortrag  von  Ge- 
dichten und  Komödien,  durch  den  feinen  Witz  und  die  lustigen 
Intriguen  im  Mimus1). 

Iovinian  war  in  Rom  gegen  die  absolute  Askese  aufgetreten 
und  hatte  den  Stand  der  Ehe  dem  der  Jungfräulichkeit  gleich- 
gestellt unter  dem  Beifall  aller  mehr  natürlich  und  irdisch 
Gesinnten.  Da  läfst  ihn  Hieronymus  hart  an:  „Natürlich  hast 
du  eine  grofse  Gemeinde,  alle  Schmerbäuche,  alle  Stutzer  und 
vor  allem  alle  Possenreifser  (Mimen)  und  dann  die  Vornehmen 
und  Reichen2). 

Seinen  Gegnern  wirft  der  Kirchenvater  überhaupt  gerne  Vor, 
dafs  ihre  Art  ihn  an  den  Mimus  erinnere.  Das  war  ja  auch, 
wie  wir  sahen,  der  gewöhnliche  Vorwurf  der  katholischen  Kirchen- 
väter gegenüber  den  Ketzern,  besonders  den  Arianern  und  den 
Manichaeern.  Wenn  die  Kirchenlieder  des  Arius  an  die  Couplets 
im  Mimus  gemahnten,  so  war  dieser  Vorwurf  nicht  einmal  un- 
berechtigt 3). 

Wenn  Hieronymus  den  Rufinus  am  schärfsten  tadeln  will, 
so  findet  er,  die  Ausführungen  seines  einstigen  Jugendfreundes 
seien  wahnsinnige  Erfindungen  und  erinnerten  an  die  Geschichten, 
die   man    am  Frühstückstisch    oder   beim  Gastmahl  sich  erzählt 


»)  Adversus  Iovinianum  II,  8.  Vallarsi  II,  S.  336  C,  D.  337  A:  Si  Circensi- 
bus  quispiam  delectetur:  si  athletarum  certamine:  si  mobilitate  histrionum :  si  formis 
mulierum:  splendore  gemmarum,  vestium,  metallorum,  et  caeteris  huiuscemodi,  per 
oculorum  fenestras  animae  capta  libertas  est,  et  impletur  illud  propheticum :  Mors 
intravit  per  fenestras  vestras.  Rursum  auditus  vario  organorum  cantu,  et  vocum 
inflexionibus  delinitur:  et  carmine  Poetarum  et  Comoediarum,  mimorumque  ur- 
banitatibus  et  strophis,  quidquid  per  aures  introiens,  virilitatem  mentis  effeminat. 

2)  Adversus  Iovinianum  11,37.  Vallarsi  II,  S.  382  C:  Eabes  praeterea  in 
exercitu  plures  succenturiatos,  habes  scurras  et  velites  in  praesidiis,  crassos,  comtos, 
nitidos,  clamatores,  qui  te  pugnis  calcibusque  defendant.  Die  scurrae  sind  hier 
wohl  die  scurrae  mimarii,  wie  ja  auch  inschriftlich  scurra  sich  als  Be- 
zeichnung des  Mimen  findet. 

3)  Vgl.  oben  S.  135  ff. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  751 

oder  au  den  Mimus  Philistions  oder  des  Lentulus  und  Marullus1). 
Damit  nennt  er  die  drei  berühmtesten  Mimographen  der  griechi- 
schen und  der  lateinischen  Welt.  Den  Lentulus  und  Marullus 
hat  er  ja  allerdings  nicht  in  seine  Tabelle  der  Weltgeschichte 
aufgenommen,  aber  dem  Philistion  hat  er  diese  Ehre  denn  doch 
geglaubt  nicht  versagen  zu  dürfen2). 

Der  Diakon  Sabinianus,  der  zu  Rom  durch  einen  Ehe- 
bruch grofses  Ärgernis  erregt  hatte  und  nur  mit  Mühe  dem  be- 
trogenen Ehemann  entgangen  war,  hatte  sich  im  Kloster  des 
Hieronymus  in  Bethlehem  mit  einem  Empfehlungsbriefe  seines 
Bischofs  eingestellt.  Hieronymus  hatte  ihn  freundlich  aufge- 
nommen. Aber  der  verderbte  Priester  hatte  ohne  Rücksicht 
auf  die  heilige  Stätte  des  Herrn  die  erste  günstige  Gelegen- 
heit benutzt,  eine  Nonne  zu  verführen  und  hatte  eine  höchst 
verschmitzte  Entführung  geplant.  Im  letzten  Augenblicke  war 
dieser  ruchlose  Plan  verraten  und  vereitelt  worden.  Hiero- 
nymus ruft  voller  Entrüstung  aus,  eine  solche  Schandthat  könnte 
kein  Mimograph  erfinden,  kein  Mime  darstellen,  kein  Schau- 
spieler in  der  Atellane  vorführen3).     Freilich  werde   Sabinianus 

*)  Vallarsi  II,  S.  514  A,  B.  Contra  Rufinum  cap.  20:  Quaeso  te, 
amice  carissime,  ut  in  Ecclesiasticis  tractatibus,  ubi  de  veritate  dogmatum  quaeritur, 
et  de  salute  animarum  nostrarum,  majorum  flagitatur  auctoritas,  huiuscemodi  deli- 
ramenta  dimittas,  et  prandiorum  coenarumque  fabulas  pro  argumento  non  teneas 
veritatis.  Fieri  enim  potest,  ut  etiam  si  a  me  verum  audisti,  alius  qui  huius  rei 
ignarus  est,  dicat  a  te  esse  compositum :  et  quasi  mimum  Philistionis,  vel  Lentuli, 
ac  Marulli  stropham  eleganti  sermone  conßctam. 

2)  Vgl.  oben  S.  427,  XI. 

3)  Vallarsi  I,  1089  B,  C:  Epistola  CXLVH.  Ad  Sabinianum:  Proh  nefas, 
non  possum  ultra  progredi.  Prorumpunt  singtdtus  antequam  verba,  et  indignatione 
pariter  ac  dolore,  in  ipso  meatu  faucium  spiritws  coarctatur.  Ubi  mare  illud  elo- 
quentiae  Tullianaef  ubi  torrens  fluvius  Demosthenis  ?  Nunc  profecto  muH  essetis 
ambo,  et  vestra  lingua  torpesceret.  Inventa  est  res,  quam  nulla  eloquentia  explicare 
queat.  Bepertum  est  Jacinus,  quod  nee  mimus  fingere,  nee  scurra  ludere, 
nee  Atellanus  possit  effari.  Diese  Stelle  enthält  zugleich  das  letzte 
Zeugnis  für  die  Existenz  der  Atellane,  die  auch  Tertullian  (De  spect.  XVII.) 
bezeugt:  Hoc  igitur  modo  etiam  a  theatro  separamur,  quod  est  privatum  con- 
sistorium  impudicitiae,  tibi  nihil  probatur,  quam  quod  alibi  non  probatur.  Ita 
summa  gratia  eius  dei  spurcitia  plurimum  concinnata  est,  quam  atellanus  gesticulator 
quam  mimus  etiam  per  mulieres  repraesentat,  serum  pudoris  exterminans. 


752  Neuntes  Kapitel. 

wohl  alle  Vorwürfe  in  den  Wind '  schlagen  und  darüber  lachen 
als  ein  eifriger  Freund  und  Leser  der  alten  Komödien,  lyri- 
schen Gedichte  und  der  Mimen  des  Lentulus1). 

Auch  erinnert  sich  Hieronymus  in  seiner  Polemik  gern  an 
die  Cirkulatoren,  die  niederen  Mimen,  die  auf  Markt  und  Strafse 
ihr  Wesen  treiben.  Ihnen  gleichen  die  Unberufenen,  die  über 
die  heilige  Schrift  mitsprechen,  die  da  lehren  wollen,  was  sie 
selber  nicht  verstehn2). 

Scharf  fährt  der  Heilige  in  seinem  Briefe  an  Domnio  „Über 
die  Bücher  gegen  Iovinian"  auf  einen  Mönch  los,  der  in  Rom 
ihm  gegenüber  für  Iovinian  Partei  ergriffen  hatte.  Er  nennt  ihn 
eine  »Stütze  der  Plautus-Komödiantensippschaft"  3),  der  seine 
Beden  höchst  elegant  mit  dem  Salze  der  Komödie  würzt4), 
und  seine  Anhänger  sollte  man  mit  den  Namen  der  Parasiten 
in  den  Komödien  als  Leute  wie  Gnatho  und  Phormio  kenn- 
zeichnen.   Fortan  solle  er  nicht  nur  in  den  Winkeln  und  Kneipen 


i)  Vallarsi  I,  1086  c.  Epistola  CXLVII,  Ad  Sabinianum  cap.  3:  Haec 
tibi  ridicula  forte  videantur,  qui  comoedis,  et  lyricis  scriptoribus,  et  mimis  Lentuli 
delectaris:  quamquam  ne  ista  tibi  quidem  prae  nimia  cordis  hebetudine  intelligenda 
concesserim. 

2)  Vallarsi  I,  275  B,C,  276  A:  Epist.  LIII.  Ad  Paulinum,  cap.  7: 
Sola  Scripturarum  ars  est,  quam  sibi  omnes  passim  vindicant.  „Scribimus  indocti, 
doctique  poemata  passim".  Hanc  garrula  anus,  karte  delirus  senex,  hanc  sophista 
verbosus,  hanc  universi  praesumunt,  lacerant,  docent,  antequam  discant.  Alii  addueto 
supercilio,  grandia  verba  trutinantes,  inter  mulierculas  de  sacris  literis  philo sophantur. 
Alii  diseunt,  proh  pudor,  afeminis,  quod  viros  doceant:  et  ne  partim  hoc  sit,  quadam 

facilitate  verborum,  immo  audacia  edisserunt  aliis,    quod    ipsi  non  intelligunt 

Cap.  8.  Puerilia  sunt  haec,  et  circulatorum  ludo  similia,  docere  quod  ignores. 

3)  Vallarsi  I,  236  D,  E.  Epistola  L.  Ad  Domnionem :  Eunc  JDialecticum 
urbis  vestrae  et  Plautinae  familiae  columen,  ....  Auch  sonst  gebraucht  Hiero- 
nymus Gegnern  gegenüber  den  Ausdruck  plautinische  Komödiantensippe. 
S.  230  D,  E :     Inventae  sunt  Plautinae  familiae. 

4)  Vallarsi  I,  238  C.  Epistola  L.  Ad  Domnionem:  Qui  tantae  in  fermo- 
cinando  elegantiae  est,  ut  Comico  sale  ac  lepore  conspersus  sit.  Ahnlich  Contra 
llufiuum  I,  13.  Vallarsi  II,  p.  469:  audio  praeterea  te  .  .  .  Plautino  in  me  sale 
ludere;  worin  zugleich  eine  Anspielung  an  Horaz,  De  arte  poetica  v.  270  ff. 
liegt: 

at  vestri  proavi  Plautinos  et  numeros  et 
laudavere  sales.  ■ 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  753 

und  in  den  Vorzimmern  der  Ärzte  allerhand  üble  Nachrede 
verbreiten,  das  können  auch  die  Possenreifser,  sondern  eine 
Schrift  gegen  Hieronymus  verfassen,  damit  man  doch  etwas  Greif- 
bares habe ').  Da  ist  es  nun  um  so  merkwürdiger,  dafs  wir  bei 
Hieronymus  selber  auf  Schritt  und  Tritt  Reminiscenzen  aus 
Terenz  und  Plautus  begegnen*).  Wie  nahe  aber  Plautus  den 
Mimographen  steht,  ist  oben  S.  345 ff.  entwickelt  worden.  Ja, 
wenn  Hieronymus  seine  allzu  heftigen  Streitschriften  gegen 
Iovinian  verteidigt,  vergleicht  er  sich  gar  mit  einem  Mimen,  der 
das  mimische  Prügelholz  in  der  Faust  auf  dem  Markte  die 
Narren  auf  den  Hintern  klopfe  oder  ihnen,  wenn  sie  ihn  beifsen 
wollen,  damit  in  die  Zähne  schlage*). 


1)  Vallarsi  I,  239  E,  240  A.  Epistola  L.  Ad  Domnionem:  Loquamur 
scriptis,  ut  de  nobis  tacitus  lector  iudicet;  ut  quomodo  ego  discipulorum  gregem 
ductito ,  sie  ex  kuius  nomine  Gnathonici  vel  Phormionici  vocentur  ....  (cap.  V.) 
Non  est  grande  mi  Domnion,  garrire  per  angulos  et  medicorum  tabcmas,  ac  de 
mundo  ferre  sententiam:  hie  bene  dixit,  ille  male:  iste  Scripturas  novit,  ille  delirat: 
iste  loquax,  ille  infantissimus  est.  Ut  de  omnibus  iudicet,  cuius  hoc  iudicio  meruit? 
Contra  quemlibet  passim  in  triviis  strepere,  et  congerere  maledicta,  non  crimina, 
scurrarum  est.  Gnathonici  nach  dem  Parasiten  Gnatho  in  Terenzens  Eunuchns, 
Phormionici  nach  Terenzens  Phormio. 

2)  Siehe  die  Zusammenstellungen  bei  Lübeck,  Hieronymus,  quos  noverit 
scriptores  et  ex  quibus  hauserit  S.  106—109,  110—115.  In  dem  Briefe  an 
Eustochium,  in  welchem  Hieronymus  die  berühmte  Vision  erzählt,  wie  er, 
vor  den  Richterstuhl  Gottes  gefordert,  sich  als  Christ  erklärt  und  dann  um 
seiner  klassischen  Studien  willen  die  Donnerworte  vernehmen  mufs :  du  lügst, 
du  bist  kein  Christ,  du  bist  ein  Ciceronianer,  berichtet  er  auch  von  seiner 
Leidenschaft  für  Plautus.  Ad  Eustochium  30,  Vallarsi  I,  p.  115:  post  noctium 
crebras  vigilias,  post  lacrymas,  quas  mihi  praeteritorum  recordatio  peccatorum  ex 
imis  visceribus  eruebat,  Plautus  sumebatur  in  manus.  Vgl.  hier  die  treffenden 
Bemerkungen  von  Ebert,  Geschichte  der  Litteratur  des  Mittelalters  I, 
S.  178  folg. 

3)  Vallarsi  I,  957  B.  Epistola  CXXVÜ.  Ad  Principiam:  Non  mirum 
si  in  plateis,  et  in  foro  rerum  venalium,  fictus  ariolus  stultorum  verberet  nates,  et 
obtorto  fuste  dentes  mordentium  quatiat.  Wie  die  Mimen  in  den  Hofhaltungen 
und  in  reichen  Häusern  als  Narren  und  Lustigmacher  d.  h.  als  Hofnarren 
fungierten,  so  traten  die  niedrigsten  unter  ihnen  als  Volksnarren  auf  Märkten 
und  Strafsen  auf.  Wie  der  Spafsmacher  im  Mimus  den  stupidus  mit  seinem 
Prügelholze  auf  den  Hintern  klopft,  so  thut  es  auch  der  mimische  Circu- 
lator,  welcher  mit  der  ihn  umdrängenden  Volksmenge  spafst.   Wird  aber  einer 

Reich,    Mimus.  4g 


754  Neuntes  Kapitel. 

Doch  auch  sonst  fällt  unserem  Kirchenvater,  selbst  wenn  er 
keine  polemischen  Tendenzen  verfolgt,  oft  der  Mimus  ein. 
So  meint  er,  die  Erzählung  vom  alten  König  David,  für  den  ein 
junges  Mädchen  gesucht  wird,  ihn  zu  erwärmen,  erinnere  an  die 
Erfindungen  des  Mimus  und  der  Atellane1).  In  dem  Briefe 
an  die  vornehme  Römerin  Furia  „über  die  Bewahrung  des 
Witwenstandes"  schildert  er  die  Gefahren  einer  zweiten  Ver- 
ehelichung. Wenn  der  neue  Mann  Kinder  mit  in  die  Ehe  bringt, 
wird  sie  bald  als  böse  Stiefmutter  verdächtigt  werden.  Sie  mag 
den  Stiefkindern  gegenüber  noch  so  gütig  sein,  bald  wird  man 
doch  alle  Gemeinplätze  der  Komöden,  Mimographen  und  Rhetoren 
gegen     die    grausame    Stiefmutter    deklamieren2).       Stief-    wie 


von  den  Dummen,  die  er  gepritscht  hat,  grob  und  will  gar  beifsen,  so  schlägt 
er  ihm  mit  seinem  Prügelholze  in  die  Zähne.  Das  hat  auch  Hieronymus 
mit  Iovinian  gethan,  als  dessen  Narrheit  und  Schändlichkeit  gar  zu  grofs 
wurde.  Denselben  Vergleich  hat  Hieronymus  schon  früher  in  der  Streitschrift 
gegen  Iovinian  fast  mit  denselben  Worten  gebraucht.  Nur  die  Nutzanwendung 
ist  eine  ganz  andere.  Iovinian  solle  nicht  stolz  sein  auf  seine  grofse  Ge- 
meinde, die  finde  auch  der  Harlekin  auf  der  Gasse.  Jedenfalls  schwebt  hier 
Hieronymus  ein  Bild  aus  dem  Strafsenleben  jener  Zeit  vor,  in  welchem  Mimen 
und  Possenreifser  offenbar  eine  grofse  Rolle  spielten.  Vallarsi  II,  380  B,  C. 
Quod  multi  acquiescunt  sententiae  tuae,  indicium  voluptatis  est:  non  enim  tarn  te 
loquentem  probant,  quam  suis  favent  vitiis.  In  circulis  platearum  quotidie  fictus 
hariolus  stultorum  nates  verberat,  et  obtorto  fuste  dentes  mordentium  quatit,  nee 
tarnen  deest  qui  semper  possit  induci?  et  pro  magna  sapientia  deputas,  si  plures 
porci  post  te  currant,    quos  gehennae  sueeidiae  nutrias? 

1)  Vallarsi  1 ,  255  A ,  B.  Epistola  LH.  Ad  Nepotianum  i  Quod  ne  de 
gentili  tantum  literatura  proferre  videamur,  divinorum  voluminum  sacramenta  cognosce. 
David  annos  natus  septuaginta,  bellicosus  quondam  vir,  senectute  frigescente,  non 
poterat  calefieri :  Quaeritur  itaque  puella  de  universis  finibus  Israel  Abisag  Suna- 
mitis,  quae  cum  rege  dormiret,  et  senile  corpus  calefaceret.  Nonne  tibi  videtur,  si 
oeeidentem  sequaris  literam,  vel  ßgmentum  esse  de  mimo,  vel  Atellanarum  ludicra? 
Frigidus    senex   obvolvitur   vestimentis,    et   nisi  complexu  adolescentulae  non  tepescit. 

2)  Vallarsi  I,  292  C,  D.  Epistola  LIV.  Ad  Furiam:  Quod  si  de  priore 
uxore  sobolem  Habens,  domum  te  introduxerit ;  etiam  si  clementissima  fueris,  omnes 
Comoedi,  et  Mimographi,  et  communes  Bhetorum  loci,  in  novercam  saevissimam  de- 
clamabunt.  Si  privignus  languerit,  et  condoluerit  caput,  infamaberis  ut  venefica.  Si 
non  dederis  eibos,  crudelis;  si  dederis,  malefica  diceris.  Oro  te,  quid  habent  tantum 
boni  seeundae  nuptiae,   ut  haec  mala  valeant  compensare? 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  755 

Schwiegermütter  gehörten  wirklich,  wie  wir  sahen,  zu  den  be- 
liebtesten Typen  im  Mimus.  Hieronymus  verrät  hier  eine  gute 
Kenntnis  der  mimischen  Ethologie  und  Biologie.  Überhaupt 
erinnert  die  Art,  wie  er  mit  seinen  Gegnern  umspringt,  wie 
er  ihre  Fehler  aufdeckt  und  sie  ihrer  Narrheit  oder  gar  ihrer 
Bosheit  und  Schändlichkeit  überführt,  wie  er  ihr  Charakter- 
bild mit  scharfen  Strichen  zeichnet  und  allerhand  ironisch- 
satirische und  ab  und  zu  auch  humoristische  Lichter  aufsetzt, 
ein  wenig  an  mimische  Ethologie  und  Biologie.  Niemand  schil- 
derte damals  menschliche  Typen  und  Lebensverhältnisse  mit 
solcher  eindringlichen  realistischen  Schärfe  und  Lebenswahrheit, 
wie  es  Hieronymus  besonders  in  den  Briefen  thut,  ausgenommen 
—  die  Biologen  und  Ethologen  seiner  Zeit.  So  fühlt  sich  denn 
Hieronymus  selber  während  des  Schreibens  unablässig  an  Plautus 
und  Terenz  wie  an  den  Mimus  seiner  Zeit  erinnert.  Und  wenn 
er  gern  die  Satiriker  Horaz,  Persius  und  Juvenal  erwähnt  und 
sich  ihrer  Worte  bedient,  einmal  sich  auch  auf  Petron  beruft1), 
so  werden  wir  im  zweiten  Bande  im  einzelnen  ausführen,  wie 
nahe  Beziehungen  zwischen  der  Biologie  und  Ethologie  der 
Satiriker  und  realistischen  Novellisten  und  Romanciers  und  der 
der  Mimographen  bestanden  haben. 

In  der  Schrift  gegen  Iovinian  giebt  Hieronymus,  um  vom 
Heiraten  abzuschrecken  eine  längere  Stelle  aus  Theophrasts 
Buch  „über  die  Ehe*;  darin  heifst  es:  „Die  Frauen  haben  sehr 
viele  Bedürfnisse:  kostbare  Garderobe,  Gold,  Edelsteine,  Luxus- 
artikel, Zofen,  schöne  Möbel,  Sänften  und  vergoldete  Karossen. 
Ganze  Nächte  dauert  ihr  Schwatzen  und  Klagen:  die  geht  ge- 
putzter aus;  die  wird  von  allen  geehrt;  ich  Arme  bin  in  der 
Gesellschaft  der  Damen  mifsachtet.  Warum  sahst  du  nach  der 
Nachbarin?  Was  sprachst  du  mit  dem  Mädchen?  Was  hast  du 
mir  vom  Markte  mitgebracht?  —  Wir  können  keinen  Freund 
und  keinen  Gesellschafter  haben.  —  Wenn  ein  Anderer  uns 
liebt,  so  argwöhnt  sie  schon,  dafs  man  sie  hasse  ....  Immer 
mnfs  man  auf  ihr  Gesicht  Acht  geben  und  ihre  Schönheit  loben, 


»)  Vgl.  Lübeck  a.  a.  0.  S.  160-167,  193,  195—199. 

48* 


756  Neuntes  Kapitel. 

damit  sie  nicht,  wenn  du  eine  Andre  anschaust,  glaube,  dafs  sie 
dir  mifsfalle.  Man  mufs  sie  „Madonna"  rufen,  ihren  Geburtstag 
feiern,  bei  ihrem  Wohlsein  schwören,  ihr  langes  Leben  an- 
wünschen,  ihre  Amme  ehren,  ihren  väterlichen  Diener,  .  .  .  ihren 
hübschen  Begleiter,  ihren  wohlfrisierten  Hausanwalt  und  ihren 
zur  langanhaltenden  und  gefahrlosen  Befriedigung  ihrer  Lust 
entmannten  Verschnittenen.  Denn  unter  allen  diesen  Namen 
sind  doch  nur  Ehebrecher  versteckt.  Wem  immer  sie  zugethan 
ist,  den  mufst  du  auch  wider  Willen  ebenfalls  lieben.  Wenn 
du  ihr  die  Regierung  des  ganzen  Hauses  überträgst,  so  mufs  du 
ihr  Sklave  sein.  Wenn  du  deiner  eigenen  Verfügung  etwas  vor- 
behältst, so  glaubt  sie,  du  traust  ihr  nicht,  das  giebt  dann  Hafs 
und  Zank,  und  nimmst  du  nicht  schnell  Rat  an,  so  giebt  sie  dir 
Gift.  Wenn  du  alte  Weiber,  Wahrsager,  Zeichendeuter,  Juwelen- 
und  Seidenstoffhändler  zu  ihr  lassest,  so  ist  ihre  Keuschheit  in 
Gefahr;  wenn  du  sie  fern  hältst,  so  klagt  sie  über  ungerechten 
Verdacht1)". 

Wir  haben  hier  eine  biologische  Schilderung,  die  an  den 
Stil  der  „Charaktere"  erinnert  und  vor  allem  an  den  Mimus. 
Wie  sehr  ja  aber  die  „Charaktere"  neben  der  Komödie  vom 
Mimus  beeinflufst  sind  und  ein  wie  grofser  Kenner  und  Freund 
des  Mimus  Theophrast  war,  wissen  wir.  Aufserdem  ist  die 
ganze  Stelle  recht  unpassend  eingefügt.  Hieronymus  sagt  aus- 
drücklich, er  will  damit  die  Frauen  vom  Heiraten  und  beson- 
ders von  einer  Wieder  Verheiratung  abschrecken;  Theophrast  aber 
denkt  hier  gerade  an  die  Männer.  Hieronymus  ist  eben  in 
derartige  ethologisch-biologische  Darstellungen  so  verliebt,  dafs 
er  sie  anwendet,  auch  wenn  sie  nur  halbwegs  in  seine  Aus- 
führungen passen2). 

Auch  aus  eigenen  Mitteln  giebt  Hieronymus  gerne  bio- 
logische Skizzen.     Ich  erinnere  an  seine  Schilderung  der  Haus- 


')  Adversus  Iovinianum  I,  cap.  47.     Vallarsi  II,  S.  313,  314,  315. 

2)  Sed  quid  faciam,  quum  mihi  muH  er  es  nostri  temporis,  Apostoli  ingerant 
auctoritatem ;  et  necdum  elato  funere  prioris  viri,  memoriter  digamiae  praecepta  de- 
cantent?  Ut  quae  Christianae  pudicitiae  despiciunt  fidem,  discant  saltem  ab  Ethnicis 
castitatem.     Fertur  aureolus  Theophrasti  über  de  nuptiis,  e.  q.  s.    Vallarsi  II,  313  b. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  757 

frau,  die  ganz  in  ihrem  Berufe  aufgeht,  ohne  viel  an  Gott  zu 
denken:  Sie  schminkt  sich  vor  dem  Spiegel,  und  dem  Schöpfer 
zur  Schande  will  sie  schöner  sein,  als  sie  von  Natur  ist.  Da 
schwatzen  die  Kleinen,  da  lärmt  das  Gesinde,  da  hängen  die 
Kinder  an  ihren  Küssen  und  an  ihrem  Munde,  es  werden  die 
Ausgaben  zusammengerechnet.-  Vorbereitungen  zum  Fest  getroffen. 
Hier  zerhacken  Köche  mit  aufgekrämpten  Ärmeln  Fleisch,  hier 
flüstert  die  Schar  der  Weberinnen;  inzwischen  wird  der  Haus- 
herr mit  Gästen  gemeldet.  Sie  durchfliegt  wie  eine  Schwalbe 
alle  Gemächer,  ob  das  Polster  strotzt,  ob  man  den  Fufsboden  ge- 
kehrt, ob  die  Becher  blank  sind,  ob  das  Mahl  angerichtet  ist1). 
In  der  Mahnschrift  an  Eustochium  -  über  die  Bewahrung  der 
Jungfrauschaft*  beschreibt  Hieronymus  die  Verdorbenheit  vieler 
gottgeweihten  Jungfrauen;  nicht  selten  fallen  sie  und  versuchen 
es  dann  mit  Abtreibungsmitteln.  Das  sind  die,  welche  gerne 
sagen:  „Den  Reinen  ist  Alles  rein.  Mir  genügt  mein  gutes  Ge- 
wissen. Gott  fordert  ein  reines  Herz.  Aber  warum  soll  ich  mich 
von  Speisen  enthalten,  die  Gott  zum  Gebrauche  geschaffen  hat?" 
—  Und  wenn  sie  sich  einmal  einen  Rausch  getrunken  haben 
und  recht  geistreich  und  witzig  erscheinen  wollen,  fügen  sie  zum 
Rausche  die  Gotteslästerung  hinzu  und  sprechen:  Fern  sei  es, 
mich  des  Blutes  Christi  zu  enthalten.  Wenn  sie  aber  eine  mit 
blassem  und  traurigem  Antlitz  einhergehen  sehen,  so  nennen  sie 
sie  gleich  eine  Elende,  eine  Manichäerin  und  zwar  ganz  folge- 
richtig: denn  bei  solcher  Lebensweise  ist  Fasten  freilich  eine 
Ketzerei.  Das  sind  die,  welche  bei  ihrem  Erscheinen  öffentliches 
Aufsehen  machen  und  mit  verstohlenem  Augenwinken  eine  ganze 

Heerde    von   jungen  Männern  nach  sich  ziehen  — .     Ein 

nur  schmaler  Purpurstreifen  am  Kleide,  das  Haupt  lose  ge- 
bunden, so  dafs  die  Haare  herabwallen,  ein  ordinärer  Schuh, 
der   um    die    Schultern    flatternde    Überwurf2),    kurze    Ärmel, 


x)  Ad  versus  Helvidium,   cap.  20.    Vallarsi  II,  S.  228  B,  C,  D. 

2)  et  super  humeros  .  .  .  Maforte  volitans.  (Vallarsi  I,  97  C.)  Mafortium  ist 
eine  spätere  Bezeichnung  für  ricinium,  das  besonders  die  Weiber  im  Mimus 
tragen  (vgl.  oben  S.  578). 


758  Neuntes  Kapitel. 

die  an  die  Arme  knapp  anschliefsen,  ein  weichlicher  Gang 
mit  schlotternden  Knieen,  darin  besteht  ihre  ganze  Jungfrau- 
schaft1). 

Überall  zeigt  sich  bei  Hieronymus  Ethologie  und  Biologie, 
wenn  auch  zu  ernstem  und  heiligem  Zwecke  verwendet  und  den 
heiligen  Ermahnungen  zu  frommem  und  asketischem  Wandel  nur 
gelegentlich  beigemengt. 

Aber  sein  ethologisch- biologisches  Interesse  führt  den 
Heiligen  noch  weiter.  Mit  dem  realistischen  Pinsel  des  Etho- 
logen  voll  Ironie  und  bitterem  Humor  malt  er  in  einem  Briefe 
(CXVII)  eine  gottgeweihte  Jungfrau,  die  sich  von  ihrer  Mutter 
getrennt  hat  und  wegen  ihres  Zusammenlebens  mit  einem 
jungen,  wohlgebildeten  Mönche  und  wegen  ihrer  weltlich-leicht- 
fertigen Gesinnung  dem  Verdachte  und  der  üblen  Nachrede 
Thür  und  Thor  öffnet.  Die  Mutter  allerdings  ist  dieser  Tochter 
wert,  sie  lebt  mit  einem  anderen  Mönche. 

„Ich  höre",  ruft  er  dem  Mädchen  zu,  „du  gehst  mit  Ver- 
wandten hinaus  aufs  Land  und  besuchst  die  anmutigen  Land- 
häuser vor  der  Stadt;  gewifs  wirst  du  zur  Unterhaltung  für 
eine  Schwester  oder  Cousine  mitgenommen,  aber  da  ist  eine 
Nonne  doch  eine  sonderbare  Gesellschafterin.  Natürlich  suchst 
du  nicht  etwa  aus  freien  Stücken  die  Gesellschaft  der  Männer, 
selbst  nicht,  wenn  sie  dir  verwandt  oder  verschwägert  sind. 
Nimmst  du  auf  diesen  Ausflügen  etwa  deinen  Liebhaber,  den 
Mönch,  mit?  So  frech  du  bist,  wirst  du  doch  wohl  nicht  wagen, 
ihn  vor  die  Augen  der  Weltleute  zu  bringen.  Da  würde  ja  das 
Hausgesinde  auf  euch  ein  Spottlied  singen  und  alle  würden  mit 
Fingern  auf  euch  weisen;  selbst  die  Cousine  oder  Schwester, 
die  ihn  dir  zu  Liebe  in  deiner  Gegenwart  einen  Heiligen  und 
einen  Mönch  nennt,  wird,  wenn  sie  sich  nur  ein  wenig  von  dir 
wegdreht,  über  diesen  seltsamen  Ehemann  lachen.  Gehst  du  aber 
allein,  so  bewegst  du  dich  in  deinen  dunkelen  Kleidern  unter 
jungen  Sklaven,  unter  verheirateten  Frauen  und  solchen,  die 
heiraten  wollen,   unter  leichtfertigen  jungen  Damen  und  jungen 


!)  Epistola  XXII,  ad  Eustochium.    Vallarsi  I,  S.  96  e,  S.  97  A,  B,  C. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  759 

Stutzern.  Ein  Dandy  mit  einem  schmucken  Bart  reicht  dir  die 
Hand  und  führt  dich,  wenn  du  ermüdet  bist.  Da  giebt  es  zärt- 
liche Händedrücke  und  entweder  kokettierst  du  oder  er." 

Dann  folgt  ein  üppiges  Mahl  mit  Musik  und  Gesang.  Selbst 
eherne  Charaktere,  meint  der  geistliche  Ethologe,  werden  durch 
solche  Reizungen  verführt  und  gar  erst  diese  verzärtelte,  üppige 
junge  Dame.  Selbst  das  grobe,  schwarze  Kleid  verrät  die  ver- 
schwiegenen Gedanken  des  Herzens,  wenn  es  keine  Falte  hat,  wenn 
es  auf  der  Erde  hingeschleift  wird,  damit  es  gröfser  erscheint;  und 
die  geschlitzte  Tunika  läfst  ab  und  zu  sehen,  was  für  ein  üppig- 
schöner Kern  sich  unter  schlechter  und  dunkler  Hülle  birgt: 
das  Häfsliche  wird  verdeckt,  das  Schöne  blofsgelegt.  Auch  der 
schwarze  und  beim  Gehen  knarrende  Stiefel  lockt  die  Jünglinge 
an.  Die  Brust  wird  mit  Binden  geschnürt  und  mit  bunt  be- 
setztem Gürtel  die  Taille  enger  eingezwängt.  Die  Haare  wallen 
über  die  Stirne  oder  die  Ohren  herab.  Der  Mantel  fällt  bis- 
weilen herab,  um  die  weifsen  Schultern  zu  entblöfsen,  und  als 
ob  sie  nicht  gesehen  werden  wollte,  verbirgt  sie  schnell,  was  sie 
doch  absichtlich  entblöfst  hatte. 

Da  klagt  dann  der  Bruder  der  jungen  Dame,  dafs  ihm  der 
Mönch  vorgezogen  werde,  ein  junger  Mann,  der  zwar  nicht  wohl 
frisiert  und  in  seidenen  Kleidern  einhergehe,  der  aber  trotz  seiner 
Bufsgewänder  recht  üppig  und  weichlich  sei.  „Dieser  habe  — 
ich  gebe  wieder  Hieronymus'  eigene  Worte  —  selbst  die  Hand 
auf  der  Börse,  habe  die  Webestube  unter  sich,  verteile  die 
Arbeiten  des  Tages,  befehle  dem  Gesinde,  besorge  die  not- 
wendigen Einkäufe  auf  dem  Markte.  Er  ist  Verwalter  und  Herr, 
hat  auf  die  Dienste  der  Sklaven  ein  wachsames  Auge,  so  dafs 
alle  Diener  über  ihn  schelten  .  .  .  Jener  nennt  ihn  einen 
Schmeichler,  dieser  einen  Betrüger,  dieser  wieder  einen  Erb- 
schleicher, ein  anderer  hat  wieder  einen  neuen  Namen  für 
ihn.  Sie  prahlen,  dafs  er  an  deinem  Bette  sitze,  bei  deiner 
Krankheit  die  Hebammen  hole,  das  Geschirr  herbeitrage, 
die  Wäsche   warm   mache,    die  Binden  falte"1).     Da  haben  wir 


0  Epistola  CXVn.    Ad  Matrem  et  Filiam.    Vallarsi  I,  S.  786C-788D. 


760  Neuntes  Kapitel. 

eine  Kindbettschilderung,  wie  sie  dem  Mimus  geläufig  ist,  und 
es  zeigt  sich  die  Hebamme,  die  wir  seit  Sophron  als  Typus  im 
Mimus  kennen.  In  diesem  Tone  geht  der  Brief  weiter  fort; 
nach  der  Tochter  wird  die  Mutter  geschildert,  die  ihrer  Tochter 
würdig  ist. 

Diese  Darstellung  ist  die  Leistung  eines  bedeutenden  Biologen, 
eines  rücksichtslosen  Realisten,  ja  Naturalisten.  So  schildern  die 
religiöse  Heuchelei,  hinter  der  sich  ein  Abgrund  der  Sünde  und 
Schande  verbirgt,  moderne  Romanciers,  so  schildert  die  Weiber 
Petron  und  Juvenal,  die,  wie  überhaupt  die  Satiriker,  von  Hiero- 
nymus  geschätzt  werden,  und  gerade  hier  sind  sie,  wie  wir  zeigen 
werden,  bei  den  Mimographen  in  die  Schule  gegangen. 

Da  ist  es  nun  interessant,  dafs  der  Anlafs  zu  dieser  Skizze 
einfach  fingiert  ist.  Allerdings  sagt  Hieronymus  am  Anfange  des 
Briefes,  er  schreibe  ihn  auf  Veranlassung  des  Bruders  dieses 
Mädchens,  der  ihn  unter  Thränen  darum  gebeten ;  in  Wirklichkeit 
ist  das  aber  nur  erdichtet,  der  Hintergrund  des  Ganzen  nur  er- 
dacht, wie  Hieronymus  selber  zugiebt1)  und  wie  auch  der  Titel  des 
Briefes  lehrt.  Denn  während  sonst  die  Briefe  des  Hieronymus 
stets  einen  bestimmt  benannten  Adressaten  aufweisen,  ist  dieser 
Brief  betitelt  „An  eine  Mutter  und  Tochter".  Hieronymus 
nennt  keinen  Namen,  weil  er  an  keine  wirkliche  Person  denkt, 
ja  zum  Schlüsse  des  Briefes  sagt  er,  er  habe  sich  gleich- 
sam an  einem  Stoffe,  wie  er  in  den  Schulen  als  Aufgabe  gestellt 
wird,  üben  wollen  und  darum  auch  alle  Citate  aus  der  heiligen 
Schrift  fortgelassen2).  In  der  That,  in  der  Rhetorenschule 
waren  solche  verfängliche  Themata  sehr  beliebt:  von  Schwieger- 


3)  Contra  Vigilantium.  Vallarsi  II,  389  A :  Sed  iam  tempus  est  ut  ipsius 
verba  ponentes  ad  singula  respondere  nitamur.  Fieri  enim  potest,  ut  rursum  malignus 
interpres  dicat  fictam  a  me  materiam,  cui  rhetorica  declamatione  respondeam :  sicut 
illam  quam  scripsi  ad  Gallias,  matris  et  fiiiae  inter  se  discordantium. 

2)  Haec  ad.  brevem  lucubratiunculam  celeri  sermone  dictavi  .  .  .  quasi  ad 
scholasticam  materiam  me  exercens  .  .  simulque  ut  ostenderem  obtrectatoribus  meis, 
quod  et  ego  possim  quidquid  venerit  in  buccam  dicere.  Unde  et  de  Scripturis  pauca 
perstrinxi;  nee  orationem  meam,  ut  in  caeteris  libris  facere  solitus  sum,  illarum 
floribus  texui.     Extemporalis  est  dietatio.     (Vallarsi  I,   790  E,  791  A,  B.) 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  761 

müttern,  die  in  ihre  Schwiegersöhne,  von  Stiefmüttern,  die  in 
ihre  Stiefsöhne  verliebt  sind,  von  Jungfrauen,  die  durch 
einen  Unglücksfall  in  ein  Bordell  verschlagen  werden  und  nun 
hier  von  gottgeweihten  Jungfrauen,  die  mit  einem  jungen  Mönche 
zusammen  dem  Herrn  leben.  Freilich  hatte  die  Rhetorenschule 
diese  Sujets  zum  grofsen  Teil  aus  dem  Mimus  übernommen1). 
Solche  mimischen  Sujets  behandelten  in  den  späteren  nach- 
christlichen Jahrhunderten  die  Epistolographen  überhaupt  gerne, 
wie  wir  später  noch  an  dem  Beispiele  des  Aristaenet  genauer 
zeigen  werden. 

Hieronymus  studierte  um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts 
in  Rom;  der  letzte  christologische  Mimus,  den  wir  aus  Rom 
nachweisen  können,  ist  der  des  Genesius  vom  25.  August  303. 
Ich  erinnere  daran,  wie  hier  die  christlichen  Geistlichen  ver- 
spottet werden  und  wie  der  Biologe  Genesius  sich  rühmt,  alle 
Einrichtungen  und  Gebräuche  der  Christen  genau  wiederzugeben, 
da  er  den  christlichen  ßiog  zu  diesem  Zwecke  studiert  habe:). 
Noch  362  ward  ein  christologischer  Mimus,  wie  es  scheint  in 
Konstantinopel,  aufgeführt "). 

Aber  selbst  als  das  Heidentum  völlig  besiegt  war,  als  nicht 
mehr,  da  die  Obrigkeit  wie  das  Volk  christlich  geworden  waren, 
Tauf-  und  Kreuzigungsmimen  vorgeführt  werden  konnten,  liefsen 
sich  die  Mimen  nicht  so  ohne  weiteres  den  kostbaren  Stoff  ent- 
gehen, den  ihnen  von  jeher  die  Geistlichen,  mochten  es  nun 
heidnische  oder  christliche  sein,  boten.  Die  Geistlichkeit  blieb 
einer  der  Zielpunkte  ihres  Spottes  und  unablässig  treten  im 
Mimus  Mönche  und  gottgeweihte  Jungfrauen  auf.  Zugleich  aber 
ist  das  Hauptsujet  des  Mimus  die  Liebe  in  allen  ihren  Formen, 
der  erlaubten  wie  der  unerlaubten.  In  welcher  Weise  man  also 
Mönche  und  Nonnen  damals  im  Mimus  in  Beziehung  zu  ein- 
ander gesetzt  und  verspottet,  wie  man  sie  nach  Art  des  grofsen 
Meisters  Philistion  ihrer  Heuchelei  und  Tartüfferie  überführt  hat, 


1)  Vgl.  oben  S.  315  ff. 

2)  Vgl.  oben  S.  93. 

3)  Vgl.  oben  S.  85. 


762  Neuntes  Kapitel. 

davon  können  wir  aus  Hieronymus  eine  gute  Vorstellung  ge- 
winnen, obwohl  hier  der  Kirchenvater  ebenso  gut  von  den  Mimo- 
graphen,  wie  die  Mimographen  von  dem  Kirchenvater  gelernt 
haben  können. 

Besonders  müssen  wir  aber  betonen,  dafs  Hieronymus  seine 
Bildung  in  den  Rhetorenschulen  erhalten  hat,  ebenso  wie 
Augustinus  und  Johannes  Chrysostomus.  Sie  sind  alle  Rhetoren, 
wenn  es  auch  nur  Augustin  zum  Professor  der  Beredsamkeit 
gebracht  hat.  In  den  Rhetorenschulen  liebte  man,  wie  wir  schon 
hervorhoben,  die  Sujets  des  Mimus;  dort  erwog  man  die  Frage, 
ob  Syrus  oder  Cicero  beredter  sei,  dort  ist  auch  der  Vergleich 
zwischen  Philistion  und  Menander  entstanden,  dort  verwendete 
man  gern  die  Sentenzen  des  Publilius  Syrus  und  des  Philistion. 
In  der  That  hat  Hieronymus  die  Sprüche1  des  Syrus  in  der 
Schule  gelesen  und  wohl  auch  auswendig  gelernt.  Denn  wenn 
er  später  gelegentlich  solche  Sentenzen  —  mögen  sie  nun  direkt 
von  Publilius  herstammen  oder  nur  als  publilianisch  gegolten 
haben  —  anwendet,  so  citiert  er  natürlich  aus  dem  Gedächtnisse1). 
Hieronymus  ist  auch  ein  grofser  Liebhaber  Senecas,  des  Philo- 
sophen,   den  wir  als  Liebhaber  der  Sentenzen  im  Mimus    und 


J)  Vgl.  ep.  CVII,  ad  Laetam  8.  Vallarsi  I,  p.  685  c :  Legi  quondam  in 
scholis  puer:  Aegre  reprehendas,  quod  sinis  consuescere.  Gruter,  Bentley  und 
Ribbeck  nahmen  den  Vers  unter  die  sententiae  Publilii  Syrii  auf.  Wölfflin 
warf  ihn  heraus,  weil  er  nicht  in  den  Handschriften  der  sententiae  vorkommt, 
findet  aber  mit  Recht  darin  publilianischen  Ton  (vgl.  Prolegomena  von 
Wölfflins  Ausgabe  S.  14).  Ribbeck  hat  danach  den  Vers  dann  in  der  zweiten 
Auflage  der  Fragm.  com.  rom.  auch  nur  noch  im  Appendix  sententiarum 
vers  180  (S.  380).  Er  dürfte  doch  wohl  wirklich  in  dem  alten  vollständigen 
corpus  Publilianum,  das  man  zu  Hieronymus'  Zeit  in  den  Schulen  gebrauchte, 
gestanden  haben.  Zwei  Verse  bei  Hieronymus  sind  jedenfalls  als  publilianisch 
direkt  bezeugt:  Ep.  ad  Paulin.  LIII,  10.  Vallarsi  I,  S.  281 B:  Antiquum  dictum 
est:  Avaro  tarn  deest  quod  habet,  quam  quod  non  habet.  Ep.  C,  15.  Vallarsi  I, 
S.  627  B:  Eget  semper,  qui  avarus  est:  nescit  mensuram,  cui  tantum  deest  quod 
habet,  quantum  quod  non  habet.  Adv.  Jovin.  I,  47.  Vallarsi  II,  S.  314 D:  Difßcile 
custoditur,  quod  plures  amant.  \\  Tarn  deest  avaro  quod  habet,  quam  quod  non  habet. 
(Bei  Ribbeck,  Fragm.  com.  rom.  S.  357,  Publili  Syri  sententiae  628,  wo  die 
beiden  Stellen  aus  Hieronymus  fehlen.)  maximo  periclo  custoditur  quod  multis 
placet  (326  bei  Ribbeck). 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  763 

besonders  im  Mimus  des  Syrus  kennen1).  Überhaupt  beurteilte 
der  gröfste  Philosoph  und  zugleich  der  gröfste  Tragiker  seiner 
Epoche  seine  Dichterkollegen  im  Fache  des  Mimus  recht  günstig. 
Man  vergalt  ihm  das  später  von  Seiten  der  Schulmeister  damit, 
dafs  man  sich  auch  seinen  philosophischen  Schriften  und  besonders 
seinen  Aussprüchen  und  Sentenzen  gegenüber  gerne  an  den 
Mimus  mit  seinen  wunderlichen  Redensarten  erinnerte.  Alles 
das  wird  Hieronymus  in  der  Schule  von  seinem  Lehrer  Donat 
gehört  haben,  an  dessen  Erklärung  des  Terenz  er  sich  später 
noch  mit  Vergnügen  erinnert. 

So  hat  denn  Hieronymus,  der  als  Student  in  Rom  den 
Mimus  unablässig  auf  dem  Theater  sah,  und  in  seiner  Jugend 
schwerlich  sich  der  allgemeinen  Begeisterung  für  den  Mimus  hat 
entziehen  können,  der  in  der  Schule  auf  die  grofsen  Mimographen 
hingewiesen  wurde,  in  seinen  Schriften  sich  unaufhörlich  ihrer 
und  des  Mimus  wie  der  Komödie  erinnert,  sich  gelegentlich  selbst 
wie  ein  mimischer  Bajazzo  vorkommt,  welcher  seine  närrischen 
Gegner  mit  dem  mimischen  Prügelholze  ordentlich  trifft,  seinen 
Pinsel  nicht  selten  wohl  recht  tief  in  den  mimischen  Farbentopf 
getaucht.  In  den  Rhetorenschulen  empfahl  man  ja  auch  die 
Lektüre  des  Mimus  als  höchst  geeignet  für  die  Bildung  des 
Stiles.  Diese  gute  Lehre  hatte  z.  B.  Seneca  von  seinem  Vater 
dem  Rhetor  erhalten  und  hat  sie  weislich  befolgt,  wie  auch 
Hieronymus. 

Hier  ist  nun  besonders  der  Brief  an  Eustochium  merkwürdig. 
Dort  zieht  Hieronymus  im  28.  Kapitel  gegen  die  Geistlichen  los, 
die  sich  nur  deshalb  um  die  Würde  des  Presbyters  oder  Diakonen 
bewerben,  um  mit  desto  gröfserer  Freiheit  die  Damen  besuchen 
zu  dürfen.  Es  sind  die  gröfsten  Stutzer.  Ihre  ganze  Sorge 
richtet  sich  darauf,  ob  die  Kleider  auch  schön  parfümiert  sind, 
ob  die  Stiefel  knapp  und  nett  sitzen.  Die  Haare  werden  zu 
Locken  gebrannt,  die  Finger  blitzen  von  Ringen,  und  damit  die 


*)  Die  Stelle  aus  Theophrasts  Buch  über  die  Ehe  entnahm  Hieronymus 
wahrscheinlich  aus  Senecas  Schrift  über  dasselbe  Thema,  wie  schon  Haase, 
Seneca-Ausgabe  HI,  p.  428  ff.  annahm. 


764  Neuntes  Kapitel. 

schmutzige  Strafse  nicht  ihre  Füfschen  besudele,  schweben  sie 
nur  so  einher,  ohne  einen  Fufstapfen  zurückzulassen.  Solch  ein 
Kleriker  sieht  aus  wie  ein  Bräutigam.  Vor  allem  studieren  sie 
die  Lebensgewohnheiten  der  Damen.  Schon  frühmorgens  erhebt 
sich  solch  ein  pflichtvergessener  Geistlicher,  stellt  die  Liste  der 
Visiten  auf  und  dann  dringt  der  lästige  Alte  beinahe  bis  ins 
Schlafzimmer.  Bekommt  er  ein  Kissen  zu  Gesicht  oder  ein 
elegantes  Handtuch  oder  sonst  ein  Ausstattungsstück,  so  lobt  er 
es,  bewundert  es,  betastet  es  und  klagt,  dafs  er  dergleichen 
nicht  besitze,  wodurch  er  es  nicht  sowohl  erhält,  als  her- 
ausprefst,  weil  niemand  den  Stadtkourier  beleidigen  mag.  Er 
ist  ein  Wollüstling,  ein  Trinker,  ein  Feinschmecker,  hat  ein  un- 
verschämtes Maul  und  ist  stets  zum  Schmähen  bereit.  Überall 
läuft  er  herum,  überall  trifft  man  ihn  zuerst.  Alle  Neuigkeiten 
bringt  er  auf  oder  tratscht  sie  mindestens  herum.  Es  ist  eine 
hübsche,  mit  feinen  biologischen  Zügen  ausgestattete  ethologische 
Studie. 

Aber  dieser  interessante  Charaktertypus  ist  nicht  von  Hiero- 
nymus  zum  ersten  Male  beschrieben ;  er  erinnert  uns  merkwürdig 
an  unseren  alten  Bekannten,  den  Ardalio;  der  läuft  auch  überall 
in  Rom  herum  oder  ist  auf  der  Visitentour  begriffen,  hat  immer 
etwas  vor  (nokvnQdyfKov),  nur  nichts  Vernünftiges,  ist  glutto, 
vorax,  manducus  wie  dieser  Priester  und  zugleich  auch  sehr  auls 
Geschenkebekommen  versessen.  Auch  auf  die  Damen  hat  es 
Ardalio  abgesehen  und  ist  ebenfalls  wie  dieser  Priester  ein 
grofser  Neuigkeitskrämer  und  ein  lästiger  Patron. 

Eigentlich  schwebt  Hieronymus  das  Bild  eines  jungen 
Priesters  als  Weiberjäger  und  Stutzer  vor;  da  aber  unter  den 
Ardalionen  nach  Martials  Ausspruch  der  verhafsteste  der  senex 
Ardalio  ist  und  Ardalio  besonders  als  Greis  auf  der  Bühne  be- 
kannt war,  so  wird  auch  bei  Hieronymus  dieser  Charaktertypus 
plötzlich  zum  Greise  (senex  importunus)').    Vergessen  wir  nicht, 


A)  S.  Hieronymi  Epistola  XXII,  28/29  in  Migne,  Patr.  lat.  Bd.  22, 
S.  414; — 415:  Sunt  alii  (de  mei  ordinis  hominibus  loquor)  qui  ideo  Presbyteratum 
et  Diaconatum  ambiunt,  ut  mulieres  licentius  videant.  Omnis  kis  cura  de  vestibus, 
si  bene    oleant,    si  pes  laxa  pelle    non  folleat.     Crines  calamistri  vestigio  rotantur; 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  765 

der  Kirchenvater  Justinus  erinnert  sich,  wie  wir  oben  S.  32 
Anm.  3  u.  S.  448  zeigten,  bei  einer  ethologischen  Schilderung,  die 
den  Ardaliotypus  zur  Voraussetzung  hat,  direkt  an  den  Mimus. 

Hieronymus  fährt  nun  an  derselben  Stelle  in  seiner  eigen- 
artigen Ethologie  und  Biologie  weiter  fort.  Schildert  er  erst 
die  leichtfertigen  Geistlichen,  die  in  ihrer  Art  an  die  verwelt- 
lichten Kleriker  der  Renaissance  oder  die  Abb6s  in  der  Zeit 
Ludwigs  XIV.  gemahnen,  so  wendet  er  sich  darauf  der  Schilderung 
der  Damenwelt  zu  und  besonders  der  gottgeweihten  Jungfrauen 
und  Nonnen.  Er  hat  hier  die  vornehmsten  Kreise  Roms  im 
Auge,  denen  Eustochium  von  Geburt  angehörte. 

Vor  allem  warnt  er  Eustochium,  die  dem  Herrn  ewige  Jung- 
frauschaft gelobt  hatte,  vor  den  Jungfrauen  und  Wit.twen,  welche 
müfsig  und  neugierig  in  dem  Hause  der  verheirateten  Frauen 
herumschnüffeln.  Sie  haben  keine  andere  Sorge  als  für  den 
Bauch  und  was  dem  Bauch  am  nächsten  steht.  Die  wenden 
sich  wohl  an  Eustochium  und  sagen:  mein  Liebchen,  geniefse 
doch  deinen  Reichtum  —  Eustochiums  Mutter  Paula  war  selbst 
für  römische  Verhältnisse  sehr  reich  — ,  freue  dich  des  Lebens, 
so  lange  du  lebst.  Hast  du  etwa  für  deine  Kinder  zu  sparen? 
Dem  Weine  zugethan  und  geil,    wissen  sie  zu  allem  Schlechten 


digiti  de  annulis  radiant:  et  ne  plantas  humidior  via  aspergat,  vix  imprimunt  summa 
vestigia.  Tales  cum  videris,  sponsos  magis  aestimalo  quam  Clericos.  Quidam  in 
hoc  omne  Studium  vitamque  posuerunt,  ut  matronarum  nomina,  domos,  moresque 
cognoscant.  Ex  quibus  unum,  qui  hujus  artis  est  princeps,  brevüer  strictimque  descri- 
bam:  quo  facilius  magistro  cognito,  discipulos  recognoscas.  Cum  sole  festinus  exurgit ; 
salutandi  ei  ordo  disponitur;  viarum  compendia  requiruntur,  et  pene  usque  ad  cubicula 
dormientium,  senex  importunus,  ingreditur.  Si  'pulviUum  viderit,  si  mantile  elegans, 
si  aliquid  domesticae  suppeUectilis,  laudat,  miratur,  attrectat,  et  se  his  indigere  con- 
querens,  non  tarn  impetrat,  quam  extorquet:  quia  singulae  metuunt  Veredarium  urbis 
offendere.  Huic  inimica  castitas,  inimica  jejunia:  prandium  nidoribus  probat  et 
altili  geranopepa,  quae  vulgo  pipizo  nominatur.  Os  barbarum  et  proeax,  et  in  con- 
vicia  semper  armatum.  Quocumque  te  verteris,  primus  in  fade  est.  Quidquid  novum 
insonuerit,  aut  auctor,  aut  exaggerator  estfamae.  Equi  per  horarum  momenta  mutan- 
tur,  tarn  nitidi,  tamque  feroces,  ut(a)  Thracii  regis  illum  putes  esse  germanum.  Den 
Hinweis  auf  diese  Stelle  verdanke  ich  einer  hriefliehen  Mitteilung  Alfred 
Schönes,  der  sich  hier  an  den  Mimus  erinnert  fühlte  und  mich  zugleich  auf 
das  in  den  Zusammenhang  nicht  passende  senex  importunus  verwies. 


766  Neuntes  Kapitel. 

zu  verführen.  Wir  kennen  diese  trinksüchtigen,  hexenartigen 
Weiber,  die  in  der  Jugend  buhlen  und  im  Alter  kuppeln,  aus 
dem  Mimus  zur  Genüge.  Damit  nun  aber  gar  kein  Zweifel 
bleibt,  dafs  Hieronymus  mit  mimischen  Farben  malt,  sagt  er 
es  einfach  selber,  indem  er  sich  hier  ausdrücklich  an  den 
Mimus  erinnert.  Diese  Jungfrauen  und  Matronen,  meint  er, 
haben  sich  so  dicke,  rote  Schminke  aufgelegt,  dafs  ihre  Stirne 
noch  röter  ist  wie  die  der  Parasiten  im  Mimus1).  Den  Gebrauch 
der  Schminke  von  Seiten  der  Mimen  haben  wir  oben  S.  600 
u.  704  besprochen;  die  Parasiten  als  Fresser  und  Trunkenbolde 
hatten  natürlich  ein  brennend  rotes  Trinkergesicht  und  darum 
ordentlich  Rot  aufgelegt. 

Dann  kommen  die  verheirateten  Damen  an  die  Reihe,  .die 
sich  für  beredt  halten  und  lyrische  Gedichte  machen.  Vor  allem 
zieren  sie  sich  mit  der  Sprache,  und  lassen  bald  mit  ge- 
schlossenen Zähnen,  bald  mit  geöffneten  Lippen  und  stammelnder 
Zunge  halbe  Worte  fallen  und  halten  alles  natürliche  Sprechen 
für  bäurisch.  Wir  wissen,  wie  sehr  der  Mimus  gerade  die  Sprache 
der  verschiedenen  Klassen  aufs  genaueste  nachäffte,  und  derartige 
pröcieuses  ridicules  sind  sicherlich  besonders  beliebte  Typen  im 
Mimus  gewesen,  der  nichts  so  gerne  wie  die  Eigentümlichkeiten, 
Heimlichkeiten,  Fehler  und  Narrheiten  der  Weiber  schildert. 

Es  ist  eine  erstaunliche  Sache,  einen  so  grofsen  Kirchen- 
schriftsteller als  einen  direkten  Nachahmer  des  Mimographen 
Philistion  zu  sehen.  Das  verdeutlicht  recht  den  dämonischen 
Einflufs,  den  der  Theatermimus  und  insbesondere  der  Phili- 
stionische —  denn  Philistion  hat  den  Ardaliotypus  geschaffen  — 
auch  noch  im  4.  und  5.  Jahrhundert  besafs2).  Wir  haben  ja  gesehen, 


!)  rubore  frontis  attrito,  parasitos  vincunt  mimorum.     Vallarsi  I,  114  A. 

2)  Wenn  man  weiter  in  der  kirchlichen  Litteratur  nachspürt,  wird  man 
in  den  christlichen  Predigten  und  Briefen  vielfältig  den  Einflufs  des  Mimus 
aufweisen  können.  Hier  stehen  uns  noch  bei  weiteren  eindringenden  Einzel- 
forschungen schöne  und  wichtige  Entdeckungen  bevor.  Der  Sittenprediger 
mufs  eben  die  schlechten  Sitten  kennen,  und  niemand  schilderte  sie  damals 
so  klar  und  so  grell  wie  der  Ethologe;  der  Prediger,  der  den  ßios  bessern 
will,  mufs  seine  übelen  Auswüchse  kennen,  und  die  kannte  damals  niemand 
so  gut  wie  der  Biologe:  es  lohnte  sich,  bei  ihm  in  die  Schule  zu  gehen. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  767 

wie  die  Kirchenväter  überhaupt  sich  unablässig  'an  den  Mimus 
erinnern:  wie  sie  der  häretischen  Richtung  unaufhörlich  vor- 
werfen, ihre  Auffassungen  über  Gott,  Vater,  Sohn  und  heiliger 
Geist,  über  die  Schöpfung  und  Erhaltung  der  Welt  erinnerten 
an  die  Erfindungen  des  Mimus.  Hierin  stehn  die  lateinischen 
Kirchenväter  nicht  hinter  den  griechischen  zurück,  wie  uns 
schon  das  Beispiel  Tertullians  lehrte.  Marius  Mercator  meint, 
Bischof  Julianus  von  Eclanum,  der  Pelagianer,  spafse  über 
den  katholischen  Glauben  im  Stile  der  Mimographen,  eines 
Philistion,  Marullus  und  Lentulus,  und  wenn  die  griechischen 
Kirchenväter  die  Geschichte  von  Susanna  an  den  Mimus  erinnert, 
so  Hieronymus  die  vom  greisen  König  David  und  der  Sunamitin. 
Ja,  wenn  Hilarius,  der  fromme  Bischof  von  Poitiers  (starb  366), 
der  die  gallische  Kirche  wieder  vom  Pelagianismus  zur  ortho- 
doxen Lehre  bekehrte,  über  die  heilige  Trinität  handelt  und  das 
Verhältnis  zwischen  Gott  Vater  und  Gott  Sohn,  die  zwar  zwei 
besondere  Personen  und  doch  wiederum  nur  eine  seien,  erklären 
will,  warnt  er  davor,  sich  das  im  Stile  des  Mimus  vorzustellen, 
wo  auch  gelegentlich  jemand  die  Gestalt  und  den  Namen  eines 
anderen  annimmt  und  doch  derselbe  bleibt.  Ich  erinnere  hier 
an  die  Verkleidungen  und  vor  allem  auch  an  die  eigentlichen 
Metamorphosen,  selbst  zu  Tieren  im  Mimus.  Hilarius  hat  den 
Theatermimus  seiner  Zeit  im  Sinne;  er  spricht  von  „Mimen  im 
Theater" ').  Welchen  Eindruck  mufs  der  Mimus  auf  diesen 
Kirchenfürsten  gemacht  haben,  wenn  er  bei  der  Erklärung  der 
allerheiligsten  göttlichen  Geheimnisse  seiner  nicht  vergessen 
kann!  Erinnern  sich  die  lateinischen  Kirchenväter  selbst  der 
christlichen  Religion  gegenüber  an  den  Mimus,  so  ist  ihnen  die 
heidnische  Religion  überhaupt  gar  keine  Religion,  sondern  nur 
ein  „mimus  religionis*. 


])  St.  Hilarii  Episcopi  opera  (Ausgabe  der  Benediktiner  Tom.  II.  De 
trinitate,  über  VII,  206 e,  207a):  lnseparabiles  esse  per  naturalem  similitudinem 
Patrem  et  Filium,  non  possumus  verbis  aliis  docere,  nisi  Filii.  Non  enim  hie  per 
demutationem  nominum  atque  specierum  Filius,  qui  via  est  et  veritas  et  vita,  mimt's 
theatralibus  ludit:  ut  in  assumto  nomine  se  filium  Dei  nuneupet,  in  natura  vero 
Deum  patrem,  et  unus  ac  solus  personali  demutatione  se  nunc  in  alio  mentiatur. 


768  Neuntes  Kapitel. 

Augustin  (354 — 430)  hat  sich  in  seiner  Jugend  leidenschaft- 
lich für  die  Schauspiele  interessiert.  Schon  als  Knabe  fühlte  er 
sich  dadurch  im  Lernen  behindert  und  er  spottet  darüber,  dafs 
man  dafür  die  Schuljungen  schlägt,  und  doch  nichts  sehnlicher 
wünscht,  als  dafs  sie  im  späteren  Leben  so  reiche  und  angesehene 
Männer  werden,  dafs  sie  dem  Volke  Schauspiele  geben  können x). 
Als  Augustin  dann  als  Jüngling  die  Hochschule  in  Karthago 
bezog,  besuchte  er  erst  recht  das  Theater.  Da  sah  er  Tragödien 
und  vor  allem  den  Mimus;  er  nahm  leidenschaftlichen  Anteil  an 
den  Liebesgeschichten,  die  ja  unablässig  im  Mimus  vorgeführt 
wurden,  freute  sich,  wenn  die  Liebenden  selbst  durch  List  und 
Trug  und  allerlei  Schändlichkeiten  an  das  Ziel  ihrer  Wünsche 
gelangten  und,  wenn  sie  getrennt  wurden,  empfand  er  mit  ihnen 
Mitleid2). 

In  der  That  war  das  Theater  in  Karthago  besonders 
dem  Mimus  geweiht.  Die  grofsen  afrikanischen  Kirchenväter 
Tertullian  (2.  saec.)  wie  Cyprian  (3.  saec),  beide  in  Karthago 
zu  Hause,  sind  beide,  wie  wir  sahen,  besonders  eifrige  Kämpfer 
gegen  das  Theater  und  den  Mimus.  Selbst  in  der  ägyptischen 
Pentapolis  (Cyrenaica),  deren  Städte,  durch  die  räuberischen 
Einfälle  der  Barbaren  (Maketen)  bedroht,  sehr  heruntergekommen 
waren,  hatte  sich  der  Theatermimus  noch  im  fünften  Jahrhundert 


l)  S.  Augustini  Confessionum  über  I,  cap.  10  (16)  ed.  Raumer  S.  14: 
Poteram  enim  postea  bene  uti  litteris,  quas  volebant  ut  discerem  quocumque  animo 
Uli  mei.  Non  enim  meliora  eligens,  inobediens  eram,  sed  amore  ludendi,  amans  m 
certaminibus  superbas  victorias,  et  scalpi  aures  meas  falsis  fabellis,  quo  prurirent 
ardentius,  eadem  curiositate  magis  magisque  per  oculos  emicante  in  spectacula  ludosque 
majorum;  quos  tarnen  qui  edunt,  ea  dignitate  praediti  excellunt,  ut  hoc  pene  omnes 
optent  parvulis  suis;  quos  tarnen  caedi  libenter  patiuntur,  si  spectaculis  talibus  im- 
pediuntur  a  studio,  quo  eos  ad  talia  edenda  cupiunt  pervenire. 

3)  S.  Augustini  Confessionum  über  III,  cap.  1.  2,  Raumer  S.  40-42. 
Veni  Carthaginem ;  et  circumstrepebat  me  undique  sartago  flagitiosorum  amorum  .... 
Rapiebant  me  spectacula  theatrica,  plena  imaginibus  miseriarum  mearum,  et 
fomitibus  ignis  mei.  Quid  est  quod  ibi  homo  vult  dolere,  cum  spectat  luctuosa 
atque  tragica,  quae  tarnen  pati  ipse  nollet?  ....  sed  tunc  in  theatris  congaudebam 
amantibus,  cum  sese  fruebantur  per  ßagitia,  quamvis  haec  imaginarie  gererent 
in  ludo  spectaculi.  Cum  autem  sese  amittebant,  quasi  misericors  contristabar ;  et 
utrumque  delectabat  tarnen. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  769 

erhalten.  Synesius,  der  Sophist,  der  Metropolitan  der  ägyptischen 
Pentapolis  (Cyrenaica),  hat  noch  den  Mimus  Calvus  auf  der  Bühne 
gesehen '). 

Fast  zwei  Jahrhunderte  vor  Augustin  lebte  Apuleius  in 
Afrika;  er  fühlt  sich  unablässig  an  Atellane  und  Mimus  erinnert2). 
Besonders  bezeichnend  ist  eine  Stelle  in  den  Florida.  Dort 
denkt  Apuleius  in  einem  Proemium  sich  im  Theater  vor  dem 
Volke  von  Karthago  stehend  und  mahnt,  man  solle  sich  nicht 
durch  die  üppige  Pracht  des  gtofsen  Baues,  nicht  durch  die 
Erinnerung  an  die  zahlreichen  Schauspieler,  Seiltänzer  und 
Gaukler  davon  abhalten  lassen,  nun  auch  dem  Philosophen  ein 
ernstes  Gehör  zu  schenken.  Unter  allen  denen  aber,  die  im 
Theater  auftreten,  nennt  er  an  erster  Stelle  den  Mimen  und 
dann  erst  Komöden  und  Tragöden3).  So  sah  auch  Augustinus 
im  Karthagischen  Theater  vor  allem  den  Mimus. 

Wie  einst  Kaiser  Augustus  und  Seneca4)  vergleicht  auch 
Augustin  das  menschliche  Dasein  mit  dem  Mimus.  Wie  bald, 
ruft  er  aus,  müssen  wir  den  nachfolgenden  Geschlechtern.  Platz 
machen.  Wenn  die  Kinder  heranwachsen,  sagen  sie  zu  den  Eltern, 
gebt  uns  Raum,  damit  wir  nun  auch  unsern  Mimus  aufführen 
können.  Denn  das  ganze  menschliche  Leben  ist  ein  Mimus*). 
Fulgentius,  der  Bischof  von  Ruspe  iu  Afrika,  schreibt  in  seinem 


*)  Vgl.  oben  S.  523. 

>)  Vgl.  oben  S.  412  Anm.  1,  578  Anm.  1,  589  ff. 

*)  Lucii  Apulei  Madaurensis  Apologia  sive  de  Magia  liber  et  Florida, 
rec.  Van  der  Vliet,  Teubner  1900,  S.  179,  Cap.  18:  praeterea  in  auditorio 
hoc  genus  spectari  riebet,  non  pauimenti  marmoratio  nee  proscaenii  contabulatio  nee 
scaenae  columnatio, ....  nee  quod  hie  alias  mimus  halucinatur,  comoedus  sermocinatur, 
tragoedus  uoci/eratur,  funerepus  periclitatur,  praestigiator  furatur,  histrio  gesticulalur 
ceterique  omnes  ludiones  ostentant  populo,  quod  cuiusque  artis  est:  sed  istis  omnibus 
supersessis  nihil  amplius  spectari  debet,  quam  conuenientium  ratio  et  dicentis  oratio. 

*)  Vgl.  oben  S.  72,  196. 

5)  S.  Angustini  Episcopi  enarratio  in  Psalmum  CXXVII,  Ausgabe  der 
Benediktiner,  Tom.  IV,  1081  C,  D:  Nati  enim  pueri  tamquam  hoc  dieunt  parenti- 
bus  suis,  Eia  cogitate  ire  hinc,  agamus  et  nos  mimum  nostrum.  Mimus  est  enim 
generis  humani  tota  vita  tentationis:  quia  dictum  est,  Universa  vanitas  omnis 
homo  vivens. 

Reich,    Mimus.  4Q 


770  Neuutes  Kapitel. 

schnurrigen  mythologischen  Werke,  das  er  in  seiner  sündigen 
und  noch  sehr  unreifen  Jugend  schrieb,  um  allerhand  unverdaute 
Schulweisheit  zum  Besten  zu  geben,  diesen  Vergleich  dem  „Philo- 
sophen Kleobulos"  zu1)-  Das  ist  schwerlich  jemand  anderes  als 
Kleobulos  von  Lindos,  einer  der  sieben  Weisen.  Da  hat  Ful- 
gentius  für  diesen  berühmten  Vergleich  einen  ebenso  berühmten 
Erfinder  aufgetrieben;  wie  er  dazu  gekommen  ist,  ist  bei  seiner 
krausen  Art  ganz  unnütz  zu  erörtern2).  Jedenfalls  haben  wir 
auch  hier  wieder  einen  afrikanischen  Schriftsteller  und  zugleich 
einen  Verehrer  Augustins,  der  sich  an  den  Mimus  erinnert  fühlt. 
Fulgentius  starb  533. 

Nach  seiner  Bekehrung  war  Augustin  um  so  schlechter  auf 
das  Theater  und  den  Mimus  zu  sprechen. 

„Fliehet,  Geliebte,  das  Theater,  das  Eigentum  des  Teufels", 
ruft  er  seiner  Gemeinde  zu.  Kein  guter  Christ  geht  ins  Theater, 
nur  die  schlechten  Christen  thun  das,  thäten  sie  es  nicht,  so 
ständen  die  Theater  leer;  denn  die  Minderzahl  der  Heiden  und 
Juden  könnte  allein  den  ungeheuren  Raum  nicht  füllen3).  An 
den  Schauspielen  haben  die  Dämonen  ihre  Freude,  an  den  Narr- 
heiten und  mannigfaltigen  Schändlichkeiten  im  Theater,  der 
Raserei  des  Circus,  der  Grausamkeit  des  Amphitheaters  mit 
seinen  Tierhetzen  und  Gladiatorenkämpfen  und  besonders  an  der 


')  Fabii  Planciadis  Fulgentii  V.  C.  Opera,  rec.  Eud.  Helm.  Leipzig  1S98. 
Mitologiarum  liber  II,  XIV,  S.  56 :  Denique  (Jatinius  augur  dicere  solitus  ||  erat 
diuersarum  urbium  honores  somnialiter  peragi  urbicario  mimologo  et  quamuis  utraque 
nihil  agere  dixerit,  tarnen  hoc  Romae  praestare  uisus  est,  quod  ex  parte  quidem 
ueros  honores,  sed  risorios  et  citius  fugitiuos;  credo  enim  quod  Cleobuli  philosophi 
scntentiam  legerat  dicentis:  fxifiog  6  ßCog,  id  est:  mimus  uita. 

2)  Ich  verweise  hier  auf  die  scharfsinuige,  das  Problem  der  „Mito- 
logiae"  des  Fulgentius  zum  Abschlufs  bringende  Abhandlung  von  Helm:  Der 
Bischof  Fulgentius  und  der  Mythograph.    Rh.  M.    N,  F.  54,  1899,  S.  111  folg. 

3)  S.  Augustini  Episcopi  sermo  LXXXVIII.  de  verbis  Evangelii  Matth. 
20.  Ausgabe  der  Benediktiner  Tom.  V,  333  F,  334 A:  Non  enim  solis  vocibus  com- 
2?rimunt  bonos  Christianos  malt,  sed  et  malis  operibus.  Non  vult  bonus  Christianus 
ire  spectare.  Hoc  ipsum  quod  f renal  concupiscentiam  suam,  ne  pergat  ad  theatrum, 
clamat  post  Christum,  clamat  ut  sanetur.  Älii  concurrunt,  sed  forte  Pagani,  forte 
Iudaei.  Immo  vero  tarn  pauci  essent  in  theatris,  ut  erubescendo  discederent,  si 
Christiani  ad  theatra  non  accederent. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  771 

Raserei,  mit  der  die  Zuschauer  für  einen  Mimen,  Schauspieler 
oder  Pantomimen  Partei  ergriffen1).  Wer  also  ins  Theater  und 
zum  Mimus  geht,  opfert  den  Dämonen. 

Wenn  die  Heiden,  noch  voll  Freude  über  das  Geschaute,  aus 
dem  Theater  kommen  und  sehen  die  Christen,  die  nicht  hinein? 
gegangen  sind,  so  bedauern  sie  diese,  weil  sie  soviel  entbehren 
müssen.  Das  ist  ein  sehr  verkehrtes  Mitleid  und  ein  sehr  un- 
nützes Wohlwollen;  denn  in  den  Schauspielen  sieht  man  nur 
Verderbliches2).  Aber  die  Macht  des  Schauspieles  über  die 
Gemüter  hat  sich  Augustin  so  eingeprägt,  dafs  er  nicht  wagt 
zu  sagen,  es  sollen  überhaupt  keine  Schauspiele  sein,  sondern 
er  erklärt,  wer  der  heidnischen  Schauspiele  entbehre,  erhalte 
dafür  die  christlichen.  Gott  läfst  uns  nicht  ohne  Schauspiele. 
Ist  es  nicht  ein  grofses  Schauspiel  zu  sehen,  wie  der  Löwe 
(der  Teufel)  durch  das  Blut  des  Lammes  (Christi)  bezwungen 
wird?8)  Ist  es  nicht  ein  grofses  Schauspiel,  wie  der  Christ 
gegen  die  Sünde  kämpft,  Gott  selber  schaut  vom  Himmel  diesem 
erhabenen  Schauspiele  zu  und  feuert  die  Sieger  an.  Bei  den 
heidnischen  Schauspielen  sieht  man  im  Pantomimus,  wie  Jupiter 
buhlt  und  donnert,    bei  den  christlichen  den  wahren  Gott,    wie 


*)  S.  Augustini  Episcopi  Sermo  CXCVIII.  De  Kalendis  Januariis  II.  (Aus- 
gabe der  Benediktiner  Tom.  V,  632  C,  D):  lue  auiem  qui  dixit,  Nolo  vos  fieri 
socios  daemoniorum,  voluit  ut  ab  Ulis  qui  daemonibus  serrirent,  vita  et  moribus 
separarentur.  Etenim  illa  daemonia  delectantur  canticis  vanitatis,  delectantur 
nugatorio  spectaculo,  et  turpitudinibus  rariis  Hieatrorum,  iiuania  drei,  crudelitate 
amphitheairi,  certaminibus  animosis  eorum,  qui  pro  pestileiüibus  hominibus  Utes  et 
contentiones  usque  ad  inimicitias  suseipiunt,  pro  mimo,  pro  histrione,  pro 
pantomimo,  pro  auriga,  pro  venatore.  Ista  facientes,  quasi  thura ponunt  daemoniis 
de  cordibus  suis. 

2)  S.  Augustini  Episcopi  enarratio  in  Psalmum  CXLVII,  Ausgabe  der 
Benediktiner  Tom.  IV,  1234  C,  D. 

3)  S.  Augustini  Episcopi  in  Johannis  Evangel.,  cap.  I,  traetatus  VII 
Ausgabe  der  Benediktiner  Tom.  III,  250  F,  251  A):  Ecce  speetacula  Christianorum. 
Et  quod  est  amplius,  Uli  oculis  carnis  vident  vanitatem,  nos  cordis  oculis  veritatem. 
Ne  putetis  Fratres,  quod  sine  speetaculis  nos  dimisit  Dominus  Deus  noster:  nam  si 
nulla  sunt  speetacula,  cur  hodie  convenistist  Ecce  quod  diximus,  vidistis;  et 
exclamastis:  non  exclamaretis  nisi  vidissetis.  Et  magnum  est  hoc  speetare  per  iotum 
orbem  terrarum,  victum  leonem  sanguine  Agni. 

49* 


772  Neuntes  Kapitel. 

er  zur  Keuschheit  mahnt  und  das  Heil  lehrt.  Dort  sieht  man 
Juno  als  Gattin  und  Schwester  Jupiters,  hier  die  heilige  Maria, 
Jungfrau  und  Mutter  zugleich.  Dort  sieht  man  den  Seiltänzer, 
hier  schreitet  Petrus  über  das  Meer.  Dort  wird  im  Mimus  die 
Keuschheit  verletzt,  hier  wird  durch  die  keusche  Susanna  und 
den  keuschen  Joseph  die  Begierde  unterdrückt1). 

Freilich  den  Thoren  gefallen  die  Schauspiele  Gottes  und 
Gott  selber  viel  weniger  als  Mimus  und  Pantomimus').  Aber 
Gott  will  auch  nicht  beklatscht  werden  wie  ein  Mime  oder 
Pantomime 3). 


!)  S.  Augustini  Episcopi,  De  Symbolo  (Ausgabe  der  Benediktiner  Tom. VI, 
406  C,  E,  F,  407  A) :  Quid  nobis  ire  per  multa?  Breviter  admonendi  estis  quid  spev- 
nere,  et  quid  diligere  deheatis.  Fugite  Dilectissimi  spectacula,  fugite  caveas  turpissimas 
diaboli:  Me  vos  vincula  teneant  maligni.  Sed  si  oblectandus  est  animus,  et  spectare 
delectat:  exhibit  vobis  sancta  maier  Ecclesia  vener anda  ac  salubria  spectacula, 
quae  et  mentes  vestras  oblectent  sua  delectatione,  et  in  vobis  non  corrumpant,  sed 
custodiant  fidem.  Amator  est  quispiam  circif  Quid  delectat  in  circo%  .  .  .  Alius 
fortassis  theatri  amator  admonendus  sit,  quid  fugiat,  et  quo  delectetur:  ac  sie 
voluntatem  speetandi  non  perdat,  sed  mutet.  In  theatris  labes  morum,  discere  turpia, 
audire  inlwnesta,  videre  perniciosa.  Sed  adjuvante  Domino  ea  ex  cordibus  vestris 
ßrmiter  repellamus.  Singula  singulis  comparemus.  Illic  intuentur  speetatores  pro- 
positum  nescio  quem  confictum  Deum  Iovcm,  et  adulterantem,  et  tonantem:  hie 
respieimus  verum  Deum  Christum,  castitatem  docentem,  immunditiam  destruentem, 
salubria  praedicantem.  Illic  fingitur  quod  idem  Iovis  lunonem  habeat  sororem  et 
conjugem:  hie  praedicamus  sanetam  Mariam  matrem  simul  et  virginem.  Illic  Stupor 
ingeritur  visui,  ex  usu  hominem  in  fune  ambulantem:  hie  magnum  miraculum, 
Fetrum  mare  pedibus  transeuntem.  Illic  per  mimicam  turpitudinem  castitas 
violatur:  hie  per  castam  Susannam  castumque  Ioseph  libido  comprimitur,  mors 
contemnitur,  Deus  amatur,  castitas  exaltaiur.  Chorus  illic  et  cantio  Pantomimi  illicit 
auditum,  sed  expugnat  sanum  affectum:  et  quid  tale  nostro  cantico  comparan- 
dum  sit. 

2)  S.  Augustini  Episcopi  in  Psalmum  XXXII.  Sermo  I  (Ausgabe  der 
Benediktiner  Tom.  IV,  14 IC):  Talibus  hominibus  infidelibus,  impiis,  iniquis  (quod 
piget  dicere,  sed  tarnen  dicam,  nostis  enim  quam  verum  dicairi),  'facilius  placet 
pantomimus  quam  Deus. 

3)  S.  Augustini  Episcopi  enarratio  in  Psalmum  LIV.  (Ausgabe  der  Be- 
nediktiner Tom.  IV,  372E,  F):  Laudo  Deum,  et  in  ipsa  laude  gaudeo:  ipsius  laude 
gaudeo,  quo  laudato  non  erubesco.  Non  enim  quemadmodum  laudatur  ab  studiosis 
theatricarum  nugarum  vel  Auriga,  vel  Venator,  rel  quilibet  histrio,  et  a  laudatoribus 
suis    invitantur    alii    landatores,     exhortantur    ut    paritcr    clament;    et    cum    omnes 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  ,  73 

Unablässig  fallen  Augustinus,  während  er  die  Nichtigkeit 
der  heidnischen  Mythologie  erweist,  Scenen  aus  dem  mythologi- 
schen Mimus  ein;  die  Götter  der  Heiden  sind  nicht  besser  als 
die  Götter  im  Mimus,  eher  schlechter,  das  ist  der  unaufhörliche 
Refrain.  So  fragt  er:  „Haben  etwa  blofs  die  Dichter  einen 
bärtigen  Jupiter  und  einen  unbärtigen  Merkur?  Haben  ihn  nicht 
auch  die  Priester?  Oder  haben  dem  Priapus  nur  die  Mimen, 
nicht  auch  die  Priester  einen  enormen  Phallus  gegeben?  .... 
Und  was  wollten  diejenigen,  die  Schmarotzer-Götter  als  Parasiten 
an  Jupiters  Tisch  beriefen  anders  als  einen  Mythus  nach  Art 
des  Mimus?  Denn,  wenn  ein  Mime  gesagt  hätte,  Jupiter  habe 
Tellerlecker  zu  seinem  Tische  zugelassen,  so  hätte  er  offenbar 
damit  Lachen  erregen  wollen.  Aber  das  sprach  Varro  und  nicht 
um  die  Götter  zu  verlachen,  sondern  um  sie  zu  ehren."  Dann 
erzählt  Augustinus  weiter  die  bekannte,  merkwürdige  Fabel 
von  der  Acca  Larentia,  die,  von  einem  Tempelhüter  in  dem 
Tempel  des  Herakles  eingeschlossen,  von  dem  Gotte  im  Schlafe 
besucht  und  nachher  mit  grofsen  Reichtümern  beschenkt  wird, 
die  sie  dem  römischen  Volke  vermacht.  Wenn  Derartiges  im 
Mimus  vorkäme,  so  könnte  man  es  zu  den  mythologischen  Er- 
findungen der  Dichter  rechnen,  aber  Varro  erzählt  es  ganz  ernst- 
haft; die  Mimen  könnten  sich  bei  Darstellung  solcher  Schänd- 
lichkeit auf  die  ernsthafte  heidnische  Theologie  berufen.  Ja,  die 
heidnische  Theologie  erzähle  solche  Scheufslichkeiten,  dafs  sie 
nicht  einmal  der  sittenlose  Mimus  vorführen  mag.  Dieses  ist  im 
wesentlichen  der  Inhalt  des  achten  Kapitels  im  sechsten  Buche  des 
„Gottesstaatesul).     Im  nächstfolgenden  Kapitel  (IX)  macht  sich 


damaverint,  plerumque  illo  victo  omnes  erubescunt.    Non  ita  est  Deus  notier:  laudetur 
coluntate,  ametur  caritate. 

1)  Ich  gebe  hier  noch  die  einzelnen  Ausdrücke,  die  direkt  auf  den 
Mimus  hinweisen:  „De  civitate  Dei",  lib.  VI,  cap.  7  [C.  V.  40,  S.  284— 287J: 
Numquid  Priapo  mimi,  non  etiam  sacerdotes  enormia  pudenda  fecerunt?  An 
aliter  stat  adorandus  in  loci»  sacris,  quam  procedit  ridendus  in  theatris?  .  .  .  quid 
aliud  quam  viimica  Sacra  esse  uolueruntf  Kam  parasitos  Iovis  ad  convivium  eins 
adhibitos  si  mimus  dixisset,  utique  risum  quaesisse  uideretur  .  .  .  ad  fabulosam 
theologiam  dicerentur  procul  dubio  pertinere  et  a  civilis  theologiae  dignitate  separaiula 
iudicarentur.    Cum  uero  haec  dedecora  non  poetarum,  sed  populorum ;  non  mimorum, 


774  Neuntes  Kapitel. 

Augustinus  über  die  zahllosen  Götter  der  Römer  lustig,  da  jedem 
noch  so  kleinen  Thun  oder  Geschehen  eine  Gottheit  vorstehe,  so 
dem  Essen  die  Göttin  Educa,  dem  Trinken  die  Göttin  Potina.  Das 
seien   eigentlich  burleske  Erfindungen,  wie  sie  der  Mimus  liebe. 

Wenn  jemand  seinem  Kinde  zwei  Ammen  geben  wollte,  von 
welchen  die  eine  ihm  nur  Speise,  die  andere  ihm  nur  Trank  zu 
reichen  hätte,  so  würde  er  in  seinem  Hause  einen  Eulenspiegel- 
streich aufführen,  wie  sie  im  Mimus  vorkämen1).  In  der  That 
hatte  Varro  hervorgehoben,  man  müsse  genau  wissen,  was  für 
Kraft  und  Gewalt  jeder  einzelne  unter  den  vielen  Göttern  habe, 
damit  man  es  nicht  mache  wie  die  Mimen,  die  zum  Bacchus 
um  Wasser,  zu  den  Nymphen  um  Wein  beten.  Das  berichtet 
gleichfalls  Augustinus2).  Im  folgenden  Kapitel  des  6.  Buches  (X) 
erzählt  dann  Augustinus  nach  Seneca  die  bekannte,  rührende  Anek- 
dote von  dem  greisen  Archimimen3). 

Zu  Augustins  Zeit  war  jedenfalls  noch  gar  keine  Rede  von 
einem    Rückgange    des    Interesses   an    dem    grofsen    mimischen 


sed  sacrorum;  non  theatrorum,  sed  templorum  .  .  .  non  frustra  histriones  ludicris 
artibus  fingunt  deorum  quae  tanta  est  turpitudinem  .  .  .  Itaque  potius  est  unde  gratiae 
debeantur  histrionibus ,  qui  oculis  hominum  pepercerunt  nee  omnia  speetaculis 
nudauerunt,  quae  sacrarum  aedium  parietibus  oeculuntur .  .  .  quae  sunt  ergo  illa 
sacra,  quibus  agendis  tales  elegit  sanetitas,  quales  nee  thymelica  in  se  admisit 
obscenitasf  Thymelica  obscenitas  erinnert  an  den  Mimus;  so  ist  der  Mime 
Genesius  magister  mimithimelae  artis. 

x)  De  ciuitate  Dei,  lib.  VI,  eap.  9  [C.  V.  40,  S.  289] :  de  ofßciis  singulomm 
deorum.  Quid?  ipsa  numinum  officia  tarn  uiliter  minutatimque  concisa,  propter  quod 
eis  dieunt  pro  uniuseuiusque  proprio  munere  supplicari  oportere,  unde  non  quidem 
omnia,  sed  multa  iam  diximus,  nonne  scurrilitati  mimicae  quam  diuinae  consonant 
dignitatif  Si  duas  quisquam  nutrices  adhiberet  infanti,  quarum  una  nihil  nisi 
escam,  altera  nihil  nisi  potum  daret,  sicut  isti  ad  hoc  duas  adhibuerunt  deas, 
Educam  et  Potinam,  nempe  desipere  et  aliquid  mimo  simile  in  sua  domo  agere 
uideretur. 

2)  De  ciuitate  Dei,  lib.  IV,  cap.  22  [C.  V.  40,  S.  190]:  Quid  est  ergo,  quod 
pro  ingenti  beneßcio  Varro  iaetat  praestare  se  ciuibus  suis,  quia  non  solum  commemorat 
deos,  quos  coli  oporteat  a  Bomanis,  uerum  etiam  dicit  quid  ad  quemque  pertineat'? .  . . 
„Ex  eo  enim  poterimus,  inquit,  scire  quem  cuiusque  causa  deum  aduocare  atque 
inuocare  debeamus,  ne  faciamus,  ut  mimi  solent,  et  optemus  a  Libero  aquam,  a 
Lymphis  uinum." 

3)  Vgl.  oben  S.  71. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  775 

Drama.  Hieronymus  bezeugt  ja  auch,  wie  wir  soeben  sahen,  für 
jene  Zeit  ausdrücklich  die  Existenz  des  Mimus  in  allen  Städten 
der  Welt,  in  Jerusalem  wie  in  Rom.  Für  Rom  wird  das  Vor- 
handensein des  Mimus  auf  dem  Theater  auch  durch  Claudian 
bestätigt,  der  in  seinem  Lobgedichte  auf  den  Konsulatsantritt 
des  Manlius  Theodorus  (399)  die  Spiele  beschreibt,  die  Rom 
im  Amphitheater  und  im  Theater  zu  erwarten  hat.  Für  das 
Theater  nennt  er  den  Mimus  voran,  weil  der  eben  die  Haupt- 
sache und  dem  Volke  am  liebsten  war;  dann  folgt  der  Panto- 
mimus,  Komödie  und  Tragödie,  und  zum  Schlufs  die  Gaukler, 
die  nun  einmal  damals  durchaus  zu  den  Vorstellungen  im  Theater 
gehörten 2). 

Auch  Marius  Mercator  spricht,  wie  wir  oben  S.  474  sahen, 
noch  um  die  Mitte  des  5.  Jahrhunderts  von  dem  Applaus,  den 
das  Volk  im  Theater  dem  Mimus  und  dem  erfolgreichen  Mimo- 
graphen   spendet.     Diese  Anspielungen   an   den  Mimus  drängen 


')  Claudii  Claudiani  (XVII.)  Pan.  Dictus  Maiilio  Theodoro  consuli,  rec. 
Julius  Koch  S.  138/39,  Vers  311—330: 

„Nee  mottes  egeant  nota  dulcedine  ludi: 
Qui  laetis  risutn  salibus  mocisse  facetus, 
Qui  nutu  manibusque  loquax,  cui  tibia  flatu, 
Cui  plectro  piUsanda  chelys,  qui  pulpüa  soeco 
Personat  aut  alte  graditur  maiore  cothurno, 
Et  qui  magna  levi  detrudens  murmura  tactu 
Innumeras  vocei  segetis  moderatus  aenae 
Intonet  erranti  digito  penitusque  trabali 
Tecte  laborantes  in  carmina  concitet  unda», 
Vel  qui  more  avium  sese  iaculentur  in  auras 
Corporaque  aedificent  celeri  crescentia  nexu, 
Quorum  compositam  puer  amentatua  in  areem 
Emicet  et  vinetu  plantae  vel  cruribus  haeren» 
Pendula  Ubrato  figat  vetligia  saltu. 
Mobile  ponderibus  deteendat  pegma  redueti» 
Inque  chori  speciem  Spargentes  ardua  flammas 
Scaena  rötet  uarios  et  fingat  Mulciber  orbis 
Per  tabulas  impune  vagus  pietaeque  citato 
Ludant  igne  trabes  et  non  permissa  morari 
Fida  per  innocuas  errent  incendia  turres. 


776  Neuntes  Kapitel. 

sich  sogar  in  das  nüchterne  Geschichtswerk  des  Orosiusv  eines 
Schülers  und  Anhängers  Augustins1). 

Paulinus  von  Nola,  ein  Anhänger  des  heiligen  Augustinus, 
lobt  den  Mimen  Cardamas,  der  sich  von  seiner  gottlosen 
Beschäftigung  ganz  abgewendet  hat,  ein  Exorcist,  ein  Teufels- 
banner, geworden  ist  und  sich  mit  des  Bischofs  frugaler 
Kost  begnügen  läfst.  Ganz  traut  der  Asket  dem  Mimen  aller- 
dings nicht,  wenn  er  es  sich  nur  nicht  auf  der  Reise,  die  er 
unternimmt,  fern  von  der  beschöflichen  Tafel,  bei  seinen  alten 
Kollegen  wohl  sein  läfst  und  statt  als  blasser  Büfser  sich  wieder 
als  wohlgenährtes  Weltkind  zeigt2).     Es  handelt  sich  eben  im 

5.  Jahrhundert  nicht  mehr  darum,  dafs  die  Mimen  Christen, 
sondern  dafs  sie  Priester,  Exorcisten,  Mönche  und  Büfser  werden. 
Von  einem  Mimen,  der  durch  seine  Kunst  ein  reicher  Mann 
geworden  war,  wie  die  grofsen  Mimen,  von  denen  Choricius  im 

6.  Jahrhundert  erzählt,  und  ein  lockeres  Freudenleben  mit  ztoei 
Konkubinen  führte,  wird  im  Pratum  spirituale  eine  sehr  erbau- 


J)  Pauli  Orosii  historiarum  aduersum  paganos  VII,  42,  7— 8  [C.  V.  V, 
S.  556/57]:  quid  de  infelicissimo  Attalo  loquar,  cui  occidi  inier  tyrannos  honor 
et  mori  lucrum  fuitf  in  hoc  Alaricus  imperatore  facto  infecto  refecto  ac  defecto, 
citius  his  omnibus  actis  paene  quam  dictis,  mimum  risit  et  ludum  spectauit  imperii. 
Bei  ihm  finden  wir  auch  eine  Notiz  von  den  Mimen,  die  mit  dem  Heere  des 
Königs  Antiochus  ziehen,  Orosius  V,  cap.  10,  8  [C.  V.  V,  S.  299/300]:  Isdem 
temporibus  Antiochus,  non  contentus  Babylona  atque  Ecbatana  totoque  Mediae  imperio, 
aduersus  Phrahatem  Parthorum  regem  congressus  et  uictus  est.  qui  cum  in  exercitu 
suo  cenium  milia  armatorum  habere  uideretur,  ducenta  milia  amplius  calonum  atque 
lixarum  inmixta  scortis  et  histrionibus  trahebat.  Über  Mimen  bei  den  Heeren 
siehe  oben  S.  193.  200—202.  530. 

2)  Paulini  Nolani  epistola  XVIIII,  cap.  4  [C.  V.  XXIX,  p.  142,  ed.  de 
Hartel] :  sit  nobis  clausula  commendatio  Cardamatis,  quem  gratulamur  de  benedictione 
manus  tuae  ita  esse  renouatum,  ut  in  eo  ante  [dante]  ridiculam  mimici  nominis 
leuitatem  nunc  adsumpta  de  exorcistae  nomine  grauitas  reuerentiam  dederit.  magis 
tarnen  admirati  eo  gauisi  sumujs,  quod  etiam  pristinae  conditionis  ingenium  religioso 
mutauit  officio ;  nam  adsiduus  mensulae  nostrae  particeps  ita  se  ad  mensuram  nostri 
gutturis  artauit,  ut  nee  holuscula  nee  pocula  nostra  uitauerit,  quod  poterit  adtenuatione 
sui  corporis  et  oris  pallore  testari,  nisi  se  forte,  dum  remeat,  per  iter  laboriosum 
retraetata  suorum  quondam  calicum  familiaritate  reparauerit. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  777 

liehe  Bekehrungsgeschichte  erzählt.    Er  verbringt  den  Rest  seines 
Lebens  als  Büfser  in  einem  Turme  zu  Tharsus1). 

Ja  wir  machen  in  der  zweiten  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts 
sogar  noch  die  Bekanntschaft  eines  Mimenprinzipals,  des  Archi- 
mimen  Masculas.  Ihn  wollte  der  Vandalenkönig  Geiserich,  wie 
Victor,  der  Bischof  von  Vita  (in  der  afrikanischen  Provinz  Byza- 
cena)  in  seiner  Geschichte  der  Verfolgungen  der  Katholiken  durch 
die  arianischen  Vandalenkönige  Geiserich  und  Hunerich  (aus  dem 
Jahre  486)  erzählt,  durch  schwere  Drohungen  vom  katholischen 
Glauben  abbringen.  Masculas  blieb  aber  standhaft  und  bewies, 
dafs  selbst  ein  Archimime  ein  guter  Katholik  sein  könne.  Er  kam 
dann  in  den  Heiligenkalender  so  gut  wie  der  Mime  Genesius  und  die 
anderen  Mimen  und  Miminnen').    Also  noch  in  der  zweiten  Hälfte 


!)  Migne,  Bd.  74,  S.  134b,  c,  d.  Pratum  spirituale,  Caput.  XXXII:  Con- 
versio  et  vita  Babylae  mimt,  nee  non  Cometae  et  Xicosae  coneubinarum  eins. 
Mimus  quidam  erat  in  Tharso  Ciliciae,  nomine  Babylat:  cremt  autem  Uli  duae 
coneubinae;  nomen  uni  Cometa,  nomen  alteri  Nicosa.  Vivebat  autem  luxuriöse 
agens  omnia  quae  Uli  daemon  suggessisset.  Die  vero  quadam  ingressus  ecclesiam, 
audirit  per  dispensationem  Dei  sanetum  Evangelium  legi.  Erat  autem  Uta  lectio: 
Poenitentiam  agite,  appropinquavit  enim  regnum  coelorum  (Matth.  III).  Compunctus- 
que  coepit  cum  lacrymis  horrere,  ac  te  miserum  diecre  pro  his,  quae  pcccavcrat.  Con- 
festim  igitur,  egressus  extra  ecclesiam,  vocacit  duas  amica»  mos,  dixitque  Ulis :  Scitis, 
quomodo  vobiscum  luxuriöse  vixerim,  utque  nunquam  alteram  plus  quam  älterem 
dilexerrm  itaque  vestra  sunt  omnia  quaeeunque  ego  acquisivi,  aedpite  insuper  mea 
omnia  et  dividite  inter  vos;  ego  enim  ex  nunc  abrenuntio  saeculo,  et  efficior  monachus. 
Illae  autem  ex  uno  ore  responderunt  ei  cum  lacrymis:  Ad  luxuriam  et  animarum 
nostrarum  interitum  communieavimus  tibi;  nunc  vero  quando  hoc  Deo  placitum 
opusfacere  vis,  dimittis  nos,  et  id  solusfacis?  pro/ecto  non  ita  erit,  sed  etiam  in  bona 
communicabimus  tibi.  Atque  ita  mimus  quidem  inefusit  se  in  una  turrium  civitatis : 
illae  vero,  venditis  omnibus  suis,  erogatisque  pauperibus,  aeeipientes  et  ipsae  religiosum 
habitum.  fecerunt  sibi  prope.turrem  cellulam,  et  se  ipsas  pariter  incluserunt.  Hunc 
et  ego  vidi,  et  ab  eo  valde  aedißcatus  sum;  est  enim  vir  valde  humilis  et  clemensi 
atque  misericors.     Scripsi  autem  et  hoc  pro  utilitate  legentium. 

*)  Victoris  Vitensis,  Üb.  I,  47  (I,  15)  [Corp.  Vind.  VII,  20]:  Sed  nee  quen- 
dam  archimimum,  nomine  Masculan,  debeo  praeterire.  Qui  cum  multis  insidiis 
premeretur,  ut  catholicam  amitteret  fidem,  ipse  cum  rex  postea  blandiendo  affatibus 
saecularibus  inuitabat,  prominens  multis  tum  diuitiis  cumulandum,  si  uoluntati  eius 
auditum  facilem  commodasset.  Qui  cum  fortis  atque  invictus  maneret,  iubet  eum 
subire  sententiam  capitalem,  ita  tarnen  callidus  oeculte  praeeipiens,  ut  si  in  illa  hora 


778  Neuntes  Kapitel. 

des  5.  Jahrhunderts  gab  es  selbst  in  dem  entlegenen  Afrika, 
selbst  unter  der  Vandalenherrschaft  Mimenprinzipale  und  also 
auch  Mimentruppen.  Auch  gedenkt  Salvianus  von  Marseille  in 
seinem  zwischen  439  und  451  verfafsten  Werke  De  gubernatione 
dei  des  Mimus  als  des  grofsen  Theaterstückes. 

Es  regten  sich  in  jenen  Zeiten,  in  denen  durch  die  Völker- 
wanderung unsägliche  Not  über  das  römische  Reich  hereinbrach, 
allerhand  Zweifel  an  dem  göttlichen  Weltregimente;  es  schien, 
dafs  Gott,  der  so  entsetzliche  Greuel  durch  die  heidnischen  Bar- 
baren an  den  Christen  verüben  liefs,  sich  nicht  mehr  um  die 
Welt  kümmere  und  alles  gehen  lasse,  wie  es  eben  wolle l). 
Salvian  aber  erklärt  diese  Prüfungen  mit  der  strafenden  Bered- 
samkeit eines  Propheten  des  alten  Bundes  für  ein  göttliches 
Strafgericht;  denn  die  romanischen  Christen  und  Katholiken 
seien  ganz  und  gar  sittlich  verdorben  und  verwahrlost  und  viel 
schlechter  als  die  heidnischen  und  häretischen  Barbaren  (Sachsen, 
Franken,  Gepiden  und  Hunnen,  Goten  und  Vandalen).  Vor  allem 
zeige  sich  ihre  Lasterhaftigkeit  in  ihrer  Vorliebe  für  den  Cirkus, 
für  das  Theater  und  insbesondere  für  den  Mimus,  während  jene 
Heiden  viel  sittlicher  seien  und  keine  Theater  hätten 2).  Von 
dieser  Leidenschaft  für  das  Theater  und  den  Mimus  handelt  das 


uibrantis  gladii  pertimesceret  ictum,  magis  cum  occideret,  ne  martyrem  gloriosum 
fecisset;  si  autem  fortem  in  confessione  conspiceret,  a  gladio  temperaret.  Sed  ille 
ut  columna  immobilis  Christo  solidante  fortis  effectus  confessor  reuertitur  gloriosus. 
Et  si  martyrem  inuidus  hostis  noluit  facere,  confessorem  tarnen  nostrum  non  potuit 
uiolare.  Dieser  Archimimus  Masculas  kommt  sonst  noch  wiederholt  in 
Matyrologien  vor.  Siehe  die  Nachweise  hei  Migne,  Patrol.  Lat.  58,  S.  199; 
auch  Ruinarti  in  Historiam  Persec.  Vandal.  Commentarius  Historicus  bei 
Migne,  Bd.  58,  S.  359 ff. 

')  So  beginnt  gleich  das  erste  Buch  mit  den  Worten :  Incuriosus  a  qui- 
busdam  et  quasi  neglegens  hnmanorum  actuum  deus  dicitur  utpote  nee  bonos  custodiens 
nee  coercens  malos,  et  ideo  in  hoc  saeculo  bonos  plerumque  miseros,  malos  beatos  esse. 
(De  gubernatione  Dei  1, 1.  C.  V.  VIII,  S.  3.) 

2)  VI,  7.  C.  V.  VIII,  S.  134:  Rursiim  ergo  necesse  est  redeamus  ad  illud,  quod 
saepe  diximus:  quid  simile  apud  barbaros?  ubi  apud  Mos  circenses  ubi  theatra  ubi 
scelus  diuersarum  impuritatum,  hoc  est  spei  nostrae  ac  salutis  excidiuml  quibus  ille 
etsi,  utpote  pagani  uterentur,  minore  tarnen  culpa  sacrae  offensionis  errabant,  quia, 
etsi  esset  impuritas  uiaionis  praeuaricatio  tarnen  non  erat  sacramenti. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  779 

ganze  sechste  Buch,  das  noch  dazu  unter  den  acht  Büchern  „De 
gubernatione  dei"  das  umfangreichste  ist.  Ich  setze  einige 
Hauptstellen  hierher:  „III.  Weil  es  nun  zuviel  Zeit  erfordert, 
über  alles  zu  sprechen,  nämlich  Amphitheater,  Konzerte,  Spiele, 
Aufzüge,  Wettkämpfe,  Gladiatoren,  Seiltänzer,  Pantomimen  und 
dergleichen  Scheufslichkeiten  . . . ,  so  will  ich  nur  über  die  Schänd- 
lichkeit in  Cirkus  und  Theater  reden x) .  .  .  Sonst  beschränken 
sich  die  Laster  auf  ihr  eigentümliches  Gebiet,  so  schmutzige 
Gedanken  auf  den  Geist,  unzüchtige  Blicke  auf  die  Augen,  gott- 
lose Reden  auf  die  Ohren  ...  Im  Theater  aber  bleibt  keines 
von  Schuld  frei,  denn  durch  böse  Gedanken  wird  der  Geist, 
durch  Hören  werden  die  Ohren,  durch  Blicke  die  Augen  ge- 
schändet .  .  .  Wer  kann  ohne  Verletzung  der  Schamhaftigkeit 
jene  Nachahmung  schändlicher  Dinge,  jene  Gemeinheit  in  Wort 
und  Ausdruck,  jene  Schmutzigkeit  in  den  Bewegungen,  jene 
Lüsternheit  in  den  Gebärden  nennen?  —  Gemeint  sind  hier  vor 
allem  Ehebruchsmimen  und  sonstige  niedrige  mimische  Sitten- 
stücke. —  Wie  frevelhaft  sie  sind,  geht  schon  daraus  hervor, 
dafs  sie  nicht  erzählt  werden  können.  Einige  Verbrechen, 
sogar  sehr  grofse,  kann  man  erwähnen  und  verdammen,  ohne 
die  Ehrbarkeit  zu  verletzen,  so  Mord,  Raub,  Ehebruch,  Kirchen- 
raub und  dergleichen  mehr.  Nur  die  Unreinheit  der  Theater 
kann  man  ehrbarer  Weise  nicht  einmal  anklagen  .  .  .  Nur  die 
Schändlichkeit  der  Schauspiele  macht  die  Schandthat  für  Schau- 
spieler und  Zuschauer  gleich.  Denn  während  die  Zuschauer 
solches  billigen  und  mit  Vergnügeu  ansehen,  verüben  sie  durch 
Zuschauen  und  Billigen  dasselbe.  Fürwahr,  für  jene  gilt  beson- 
ders das  Wort  des  Apostels:  „Des  Todes  wert  sind  nicht  nur 
jene,  die  solches  thun,  sondern  auch  die  den  Thätern  zustimmen". 


a)  VI,  3.  C.  V.  VIII,  S.  128:  et  quidem  quia  longum  est  nunc  de  omnibus 
dicere,  amphitheatris  scilicet  odiis  lusoriis  pompis  athletis  petaminariis  pantomimis 
ceterisqae  portentis,  quae  piget  dicere  .  .  .  de  solis  circorum  ac  theatrorum  impuri- 
tatibus  dico  ....  in  theatris  uero  nihil  horum  reatu  uacat,  quia  et  concupiscentiis 
unimi  et  auditu  aures  et  aspectu  oculi  polluuntur  ....  solae  theatrorum  impuritates 
sunt,  quae  honeste  non  possunt  uel  accusari  ....  et  qui  forte  ad  spectaculum  puri 
uenerant  de  theatro  adulteri  reuertuntur. 


780  Neuntes  Kapitel. 

So  treibt  der  Zuschauer  bei  jenen  Darstellungen  der  Hurerei 
(den  Ehebruchsmimen  und  schlüpfrigen  Pantomimen)  im  Geiste 
Unzucht,  und  wenn  auch  Einzelne  noch  rein  das  Schau- 
spiel besuchen,  verlassen  sie  als  Ehebrecher  das  Theater.  Ja, 
nicht  nur  treiben  sie  Unzucht,  wenn  sie  zurückkehren,  sondern 
auch,  wenn  sie  kommen.  Denn  eben  dadurch,  dafs  Jemand 
nach  einer  unlauteren  Sache  begehrt,  wird  er,  dem  unreinen 
Gegenstande  zueilend,  selbst  unrein.  IV.  So  treiben  es  alle 
oder  fast  alle,  die  Römer  sind.  Unter  solchen  Umständen 
klagen  wir,  dafs  die  Gottheit  uns  vernachlässige,  uns,  die  wir 
solches  thun;  behaupten,  Gott  verlasse  uns,  da  wir  doch  selbst 
Gott  verlassen.  Stellen  wir  uns  vor,  Gott  wolle  gnädig  auf  uns 
herabschauen.  Siehe,  unzählige  Tausende  von  Christen  verweilen 
täglich  in  den  Schauspielen  bei  schändlichen  Dingen.  Kann  Gott 
auf  sie  herabschauen,  die  im  Cirkus  ausgelassen,  in  den  Theatern 
unzüchtig  sind?  Oder  verlangen  wir  vielleicht  und  halten  es 
nicht  unter  seiner  Würde,  dafs  Gott,  wenn  er  uns  im  Cirkus 
und  im  Theater  sehen  soll,  ebenfalls  das  mit  uns  anschaue,  was 
wir  anschauen,  und  mit  uns  den  Schändlichkeiten  beiwohne,  denen 
wir  beiwohnen?  .  .  .  Oder  glauben  wir  etwa  mit  den 'Heiden  an 
einen  eigenen  Gott  für  Theater  und  Cirkus?  Jene  übten  solches 
aus,  weil  sie  glaubten,  ihre  Götzen  hätten  Gefallen  daran.  Wie 
aber  wagen  wir  es,  so  zu  handeln,  da  wir  doch  wissen,  dafs 
Gott  solches  hafst?  .  .  .  Christus  also,  o  grauenhafter  Wahn- 
sinn, Christus  opfern  wir  Rennen  und  Mimen,  ganz  besonders 
dann,  wenn  wir  von  ihm  eine  Wohlthat  empfangen,  wenn  er  uns 
Segen  bescheert  oder  die  Gottheit  uns  den  Sieg  über  die  Feinde 
giebt?1).  V.  Christus  also,  o  des  grauenhaften  Wahns,  Christus 
opfern  wir  Rennen  und  Mimen,   Christus  bringen  wir  für  seine 


x)  VI,  4.  C.  V.  VIII,  S.  130:  potest  (deus)  ad  eos  respicere,  qui  bacchantur  in 
circis  qui  moechantur  in  theatrisf  an  forte  hoc  uolumus  et  hoc  dignum  putamus  ut, 
cum  in  circis  nos  et  in  theatris  deus  uideat,  ea  quat  nos  aspicimus  aspiciat  quoque 
ipse  nobiscum  et  turpitudines,  quas  nos  cernimus,  cernat  etiam  ipse  nobiscum  .... 
an  forte  in  morem  ueterum  paganorum  theatrorum  et  circorum  nos  dewni  habere 
arbitramur?  ....  Christo  ergo  (o  amentia  monstruosa!)  Christo  circenses  oßerimus 
et  mimo8  .... 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  781 

Wohlthaten  die  Schändlichkeiten  der  Theater  dar,  Christus 
weihen  wir  die  Opfer  schlüpfriger  Schauspiele!1)...  VI.  In 
den  Schauspielen  liegt  gewissermafsen  ein  Abfall  vom  Glauben, 
ein  todbringendes  Abweichen  von  seinen  Symbolen  und  den 
himmlischen  Sakramenten.  Welches  ist  das  erste  Bekenntnis 
des  Christen  bei  der  heilspendenden  Taufe?  Doch  Nichts  anders, 
als  dem  Teufel  und  seiner  Pracht  zu  entsagen,  von  seinen  Schau- 
spielen und  Werken  sich  zu  trennen.  Also  Schauspiele  und  Ge- 
pränge sind  sogar  nach  unserem  eigenen  Bekenntnisse  Werke- 
des  Teufels.  Wie  kannst  du  also,  mein  Christ,  nach  der  Taufe 
noch  Schauspiele  besuchen,  die  du  als  Werk  des  Teufels  be- 
kennst? Du  hast  einmal  dem  Teufel  und  seinen  Schauspielen 
entsagt,  wisse  also,  dafs,  wenn  du  mit  Einsicht  und  Überlegung 
zu  den  Schauspielen  zurückkehrst,  du  zum  Teufel  zurückkehrst . . . 
VII.  Den  Kirchen  Gottes  ziehen  wir  die  Spiele  vor,  wir  ver- 
achten die  Altäre  und  ehren  die  Theater.  Wenn  es  sich  gerade 
trifft,  was  freilich  oft  der  Fall  ist,  dafs  an  demselben  Tage  ein 
kirchliches  Fest  und  öffentliche  Spiele  gefeiert  werden,  so  kann 
ich  mich  fragend  an  das  Gewissen  eines  Jeden  wenden,  welcher 
Ort  die  meisten  christlichen  Männer  zählt,  die  Stätte  der 
öffentlichen  Spiele  oder  die  Hallen  Gottes?  ob  alle  lieber  nach 
dem  Tempel  eilen  oder  zu  dem  Theater,  lieber  die  Worte  der 
Evangelien  hören  oder  die  Gesänge  der  Bühne,  lieber  die  Worte 
des  Lebens  oder  die  Worte  des  Todes,  lieber  Worte  Christi 
oder  Worte  des  Mimen? ...  An  dem  Tage  der  verderblichen 
Spiele  kommen  die.  welche  Christen  heifsen,  nicht  nur  nicht  zur 
Kirche,  welche  kirchlichen  Feste  auch  gefeiert  werden  mögen, 
sondern  wenn  sie  zufällig,  ohne  es  zu  wissen,  hineinkommen  und 
in  der  Kirche  hören,  es  würden  Spiele  gefeiert,  verlassen  sie 
dieselbe  sofort.  Der  Tempel  Gottes  wird  verachtet,  um  zum 
Theater   zu    rennen2).     VHI.   Aber  vielleicht  kann  man  hierauf 


1)  VI,  5.    C.  V.  VIII,  S.  131:     Christo  eireenses  offerimus  et  mimos,   Christo 
pro  beneficiis  suis  theatrorum  obscena  reddimus  .... 

2)  VI,  7.    C.  V.  VIII,  S.  134 :  nos  ecclesiis  dei  ludicra  anteponimus,  nos  altaria 
spernimu*    et    theatra    honoramus ....     quis   locus  maiores  Christianorum   rirorutn 


782  Neuntes  Kapitel. 

erwidern,  das  geschehe  nicht  in  allen  Städten  der  Römer.  Das 
ist  wahr.  Ja,  ich  sage  noch  mehr,  es  geschieht  nicht  einmal 
mehr  dort,  wo  es  früher  immer  geschah.  Es  geschieht  nicht 
mehr  in  der  Stadt  Mainz,  weil  sie  zerstört  und  vernichtet  ist. 
Es  geschieht  nicht  mehr  in  der  Stadt  Köln;  denn  sie  ist  von 
Feinden  voll.  Es  geschieht  nicht  mehr  in  der  berühmten 
Stadt  Trier,  denn  sie  liegt  durch  eine  viermalige  Zerstörung  in 
Trümmern.  Es  geschieht  nicht  mehr  in  den  meisten  Städten 
Galliens  und  Spaniens  .  .  .  IX.  Betrachtet  man  aber  die  Wünsche 
der  Menschen,  so  sind  die  alten  Zustände  noch  überall  da,  wenn 
sie  in  Wirklichkeit  auch  nicht  mehr  überall  existieren,  denn 
allenthalben  möchte  das  römische  Volk  sie  wieder  haben  .  .  . 
Was  sage  ich  von  Verlangen?  Beinahe  alle  stillen  ihr  Verlangen, 
wenn  sie  können.  Denn  wenn  die  Bewohner  irgend  einer  Stadt 
nach  Ravenna  oder  Rom  kommen,  gehen  sie  mit  dem  römi- 
schen Volke  in  den  Cirkus  oder  mit  den  Bürgern  Ravennas  ins 
Theater1)  .  .  .  Und  da  schmeicheln  wir  uns  mit  der  Reinheit  der 
Sitten,  mit  der  Seltenheit  der  Laster?  Ich  gehe  noch  weiter: 
Nicht  nur  werden  die  schmutzigen  und  schändlichen  Spiele  wieder- 
holt, wie  es  früher  geschah,  sondern  es  wird  noch  viel  sündhafter 
getrieben  als  früher  ...  An  den  meisten  Orten  unterhielt  man 
damals  Schauspieler  für  schändliche  Ergötzungen,  aber  Alles  war 
auch  reich  und  überfüllt.  Niemand  bedachte  den  Aufwand  des 
Staates,  Niemand  die  Kosten,  weil  man  die  Ausgaben  nicht 
spürte.  Der  Staat  konnte  sich  selbst  fragen,  wie  er  viel  durch- 
bringen könne,  da  er  Alles  beinahe  nicht  unterzubringen  ver- 
mochte. Deshalb  wurde  der  aufgehäufte  Reichtum,  der  fasf 
alles  Mafs  überschritt,  zu  Possen  benutzt.  Was  soll  man  aber 
jetzt  sagen?  Die  frühere  Fülle  ist  von  uns  gewichen,  das  Ver- 
mögen vergangener  Zeiten  ist  verschwunden,  schon  sind  wir 
arm,  aber  wir  bleiben  närrisch.     XI.    Man  fragt  vielleicht,   wo- 


copias  habeat,  cauea  ludi  publici  an  atrium  dei,  et  templum  omnes  magis  sectentur 
an  theatrum,  dieta  euangeliorum  magis  diligant  an  thymelicorum,  uerba  uitae  an 
uerba  mortis,  uerba  Christi  an  uerba  mimif  .  .  .  spernitur  dei  templum,  ut  curralur 
ad  tlieatrum  .  .  . 

r)  VI,  9.     C.  V.  VIII,  S.  139:    denique  cuiuslibet  ciuitatis  incolae  Bauennam 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  783 

hin  das  alles  ziele?  Wohin  ohne  Zweifel  anders,  als  dafs  man 
Nichts  für  gering  erachte,  wodurch  Gott  beleidigt  wird?  Denn  wir 
sprechen  von  den  öffentlichen  Spielen,  die  unserer  Hoffnung  spotten, 
unser  Leben  zur  Thorheit  machen;  denn  wenn  wir  im  Theater 
und  in  der  Rennbahn  uns  belustigen,  gehen  wir  verloren  nach 
jenem  Worte  der  heiligen  Schrift:  „Der  Thor  begeht  mit  lachen- 
dem Munde  die  Schandthat".  .  .  .  Alle  Unreinheiten  treibt  ihr 
in  den  Theatern '),  alle  Wollust  auf  den  Ringplätzen,  alle  Zügel- 
losigkeit  in  den  Rennbahnen,  alle  Raserei  auf  den  Schauplätzen. 
Hier  Unzucht,  dort  Frechheit,  hier  Unmäfsigkeit,  dort  Wahnsinn, 
überall  der  Dämon,  ja  an  allen  einzelnen  Orten,  wo  Schauspiele 
gefeiert  werden,  alle  dämonischen  Ungeheuer  zusammen  .... 
XII.  Vielleicht  aber  werden  wir,  obschon  durch  das  Glück  ver- 
dorben, im  Unglück  gebessert .  .  .  Belagert  ist  die  Stadt  Rom 
und  erobert.  Liefsen  deshalb  die  Römer  von  ihrer  Gottes- 
lästerung und  Thorheit  ab?  Barbaren  haben  Gallien  über- 
schwemmt. Sind,  was  Verderbtheit  der  Sitten  anbelangt,  die 
Laster  der  Gallier  nicht  dieselben  geblieben?  Die  Vandalen- 
schaaren  sind  in  Spaniens  Ländereien  eingedrungen.  Das  Ge- 
schick der  Spanier  ist  dadurch  zwar  anders  geworden,  aber  nicht 
ihre  Lasterhaftigkeit .  .  .  Barbarenvölker  umtosten  mit  ihren 
Waffen  die  Mauern  von  Cirta  und  Carthago,  und  die  Cartha- 
ginienser  schwelgten  in  wahnsinniger  Lust  in  den  Rennbahnen, 
wareu  ausgelassen  in  dem  Theater')  .  .  .  Wie  gesagt,  aufserhalb 
und  innerhalb  der  Mauern  Lärm  von  Kämpfen  und  Schauspielen; 
Stimmen  von  Sterbenden  und  Schwelgenden  mischten  sich,  kaum 
konnte  man  das  Wehklagen  des  Volkes,  welches  in  der  Schlacht 
fiel,    und    das  Getöse    des  Haufens,    welcher    im  Cirkus  schrie, 


aut  Romam  uenerint,    pars  sunt  Rovumae  piebü  in  circo  pars  sunt  populi  Rauen- 
natis  in  theatro. 

1)  VI,  11.  C.V.  VIII,  S.  142:  nam  dum  in  theatris  et  circis  ludimus,  deperimus 
seeundum  illud  utique  dictum  sermonis  sacri:  stultus  per  risum  operatur  scelus  .  .  , 
quiequid  inmunditiarum  est  hoc  erercetur  in  theatris. 

2)  VI,  12.  C.  V.  VIII.  S.  144:  circumsonabant  armis  muros  Cirtae  atque  Cartha- 
ginis  populi  barbarorum,  et  ecclesia  Carthaqiniensis  insaniebat  in  circis,  luxuriabat 
in  theatris. 


784  Neuntes  Kapitel. 

von  einander  unterscheiden  .  .  .  XV.  Nachdem  die  erste  Stadt 
Galliens  dreimal  durch  fortgesetzte  Zerstörung  in  den  Staub  ge- 
sunken, die  ganze  Stadt  ein  Grabmal  war,  nahmen  die  Laster 
trotz  des  Falles  wieder  zu  .  .  .  Überall  lagen,  wie  ich  es  selbst 
gesehen  und  ertragen  habe ,  entblöfste  Leichname  beiderlei  Ge- 
schlechts, zerrissen,...  von  Vögeln  und  Hunden  zerfleischt. 
Verderben  für  die  Lebenden  war  der  Leichengeruch  der  Toten. 
Der  Tod  hauchte  den  Tod  aus  .  .  .  Was  erfolgte  hierauf,  was 
erreichte  man  hierdurch?  Einige  Vornehme,  die  den  Untergang 
überlebt,  verlangten  als  das  beste  Hilfsmittel  für  die  vernichtete 
Stadt  vom  Kaiser  Spiele  .  .  .  Also  Spiele  verlangt  ihr  Trierer? 
Ich  gestehe,  ich  habe  Euch  für  sehr  elend  gehalten  nach  solchen 
Niederlagen;  aber  ich  sehe  Euch  noch  in  gröfserem  Elend,,  da 
ihr  Schauspiele  verlangt.  Ich  glaubte,  ihr  hättet  in  den  Nieder- 
lagen nur  Hab  und  Gut  eingebüfst,  aber  ich  wufste  nicht,  dafs 
ihr  auch  Sinn  und  Verstand  verloren  hattet.  Theater  also  wollt 
ihr,  einen  Cirkus  fordert  ihr  von  der  Regierung?  . .  .  XVII.  Ent- 
sagen wir  fortan  dem  früheren  lasterhaften  Leben,  .  .  .  fliehen 
die  Rasereien  des  Cirkus,  verwünschen  die  Schändlichkeiten  der 
Spiele  im  Theater,  weihen  dem  Herrn  ein  neues  Leben1). 
XVIII.  Das  also  müfste  Gott  gegenüber  den  neuen  Wohlthaten 
geschehen;  lafst  uns  aber  sehen,  was  in  Wirklichkeit  geschieht. 
Sofort  eilt  man  zu  den  Spielen,  fliegt  zu  den  Rasereien,  die 
Bürger  zerstreuen  sich  in  den  Theatern,  das  ganze  Volk  rast 
in  den  Rennbahnen2)." 

Die  Schilderung  Salvians  ist  überzeugend.  Trotz  aller 
Not  war  die  alte  Leidenschaft  für  die  Spiele,  das  Theater  und 
den  Mimus  den  Römern  und  Romanen  verblieben.  Wenn 
auch  in  den  meisten  Städten  Galliens,  wenn  auch  im  west- 
lichen Germanien,  in  Mainz,  Köln  und  Trier,  die  Theater 
in  Trümmer  gesunken  oder  bei  der  Not  der  Zeit  geschlossen 
waren,    so    standen  zum  mindesten  noch  in  Marseille,    Ravenna 


J)  VI,  17.  C.V.  VIII,  S.  152:  omnibus  denique  immunditiis  bellum  sanetum 
indieimus,  circorum  insanias  fugimus,  foeditates  theatralium  ludorum  execramur. 

a)  VI,  18.  C.V.  VIII,  S.  152:  ad  ludos  protinus  curritur  ad  insanias  con- 
uolatur,  in  theatris  populus  diffunditur  in  circis  plebs  tota  bacchatur. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  785 

und  Rom  und  sicherlich  auch  in  vielen  anderen,  weniger  ge- 
schädigten Städten  des  Westens  die  Theater  offen  und  auf  ihnen 
wurde  wie  früher  das  grofse  mimische  Schauspiel  aufgeführt. 
Das  kränkt  Salvian  gerade  am  meisten,  dafs  man  wie  einst  dem 
Dionysos  oder  der  Aphrodite  nun,  da  man  doch  in  christlichen 
Zeiten  lebt,  sozusagen  Christus  auf  dem  Theater  Mimen  darbringt, 
dafs  man  die  Worte  des  Mimus  besser  behält,  als  die  Worte  des 
Heils,  dafs  man  lieber  zum  mimischen  Schauspiel  läuft  als  in 
die  Kirche.  Und  wenn  man  bei  der  allgemeinem  Verelendung  und 
Verarmung  auch  nicht  die  kostspieligen  Rennen  im  Cirkus  oder 
Tierhetzen  und  Gladiatorenspiele  im  Amphitheater  geben  konnte, 
der  Mimus  war  keineswegs  so  kostspielig. 

Also  für  das  fünfte  Jahrhundert  ist  selbst  iu  den  von  den  Bar- 
baren am  meisten  überfluteten  und  geschädigten  Provinzen  desOcci- 
dents,  für  Gallien  und  Spanien,  der  Theatermimus  zu  konstatieren, 
wenn  er  auch  schon  sehr  im  Rückgange  ist.  Im  sechsten  Jahr- 
hundert wird  dann  wohl  der  Mimus  ganz  und  gar  von  den  Theatern 
verschwunden  sein,  die  in  Trümmer  fielen,  so  dafs  im  siebenten 
Jahrhundert  der  Spanier  Isidor  von  Sevilla  in  seiner  grofsen 
Realencyklopädie  vom  Theater  und  vom  Theatermimus  als  von 
vergangenen  Dingen  redet,  während  die  Mimen  selber  nach 
seinem    eigenen  Zeugnis  noch   zu  seiner  Zeit  existieren1).     Am 

')  Ich  setze  zum  Belege  die  Stelle  aus  Etbymologiarum  lib.  XVIII. 
hierher:  (Migne,  Patrol.  lat.  82,  S.  657-660)  Caput  XLIL  De  theatro. 
1.  Theatrum  est  quo  scena  includitur,  semicirculi  ßguram  habens,  in  quo  Staates 
omnes  inspiciunt.  Cujus  forma  primum  rotuxda  erat,  sicut  et  amphüheatri,  postea 
ex  medio  amphitheatro  theatrum  factum  est.  Theatrum  autem  a  tpectaculo  nominatum 
«7iö  rrjc  ötugtac,  quod  in  eo  populus  stans  desuper  atque  spectans  ludos  contem- 
plaretur.  2.  Idem  rero  theatrum,  idem  et  prostibulum,  eo  quod  post  ludos  exactos 
meretrices  ibi  prostarenL  Idem  et  lupanar  vocatum,  ab  eisdem  meretrieibus,  quae 
propter  vulgati  corporis  vilitatem  lupae  nuncupabantur  ....  Caput  XLIII.  De 
scena.  1.  Scena  autem  erat  locus  infra  theatrum  in  modum  domus  instructa  cum 
pulpito,  quod  pulpitum  orchestra  rocabatur,  ubi  cantabant  comici,  tragici  atque  salta- 
bant  histriones  et  mimi.  Dicta  autem  scena  Graeca  appeüatione,  eo  quod  in  speciem 
domus  erat  instructa.  Unde  et  apud  Hebraeos  tabernaculorum  dedicatio  a  simili- 
tudine  domiciliorum  Scenopegia  appeüabatur.  Caput  XLTV.  De  orchestra.  1.  Or- 
chestra autem  pulpitum  erat  scenae,  ubi  saltator  agere  possei,  out  duo  inter  se  dis- 
putare.     Ibi    enim  poetae   comoedi    et    tragoedi  ad  certamen  conscendebant,    iisque 

Reich,  yimus.  r.n 


786  Neuntes  Kapitel. 

frühesten    hat    der  Theatermimus  jedenfalls  im  westlichen  Ger- 


canentibus,  alii gestus  edebant.  Officio,  scenica:  tragoedi,  comoedi,  thymelici,  histriones, 
mimi  et  saltatores.  Caput  XLV.  De  tragoedis.  1.  Tragoedi  sunt  qui  antiqua 
gesta  atque  facinora  sceleratorum  regum  luciuoso  carmine,  speetante  populo,  concine- 
bant.  Caput  XLVI.  De  comoedis.  1.  Comoedi  sunt  qui  privatorwm  hominum 
acta  dictis  atque  gestu  cantabant,  atque  stupra  virginum  et  amores  meretricum  in 
suis  fabulis  exprimebant.  Caput  XLVII.  De  thymelicis.  1.  Thymelici  autem  erant 
musici  scenici,  qui  in  organis  et  lyris  et  citharis,  praecinebant.  Et  dicii  thymelici, 
quod  olim  in  orchestra  stantes  cantabant  super  pulpitum  quod  thymele  vocabatur. 
Caput  XL VIII.  De  histrionibus.  1.  Histriones  sunt  qui  muliebri  indumento  gestus 
impudicarum  feminarum  exprimebant:  ii  autem  saltando  etiam  historias  et  res  gestas 
demonstrabant.  Dicti  autem  histriones,  sive  quod  ab  Istria  id  genus  sit  adductum, 
sive  quod  perplexas  historiis  fabulas  exprimerent,  quasi  histriones.  Caput  XLIX. 
De  mimis.  1.  Mimi  sunt  dicti  Graeca  appellatione,  quod  rerum  humanarum  sint 
imitatores.  Nam  habebant  suum  auctorem,  qui  antequam  mimum  agerent,  fabulam 
pronuntiaret.  Nam  fabulae  ita  componebantur  a  poefis,  ut  aptissimae  essent  motui 
corporis.  Caput  L.  De  saltatoribus.  Caput  LI.  Quid  quo  patrono  agatur.  Caput  LH. 
De  amphitheatro.  Caput  LIII.  De  ludo  equestri.  Caput  LIV.  De  retiariis. 
Caput  LV.  De  secutoribus.  Caput  LVI.  De  laqueariis.  Caput  LVII.  De 
velitibus.  Caput  LVIII.  De  serali  certamine.  Caput  LIX.  De  horum  ersecratione. 
1.  Haec  quippe  spectacula  crudelitatis,  et  inspectio  vanitatum  non  solum  hominum 
vitiis,  sed  de  daemonum  jussis  instituta  sunt.  Proinde  nihil  esse  debet  Christiano 
cum  circensi  insania,  cum  impudicitia  theatri,  cum  amphitheatri  crudelitate,  cum 
atrocitate  arenae,  cum  luxuria  ludi.  Deum  enim  negat,  qui  talia  praesumit,  fidei 
Christianae  praeraricator  effectus,  qui  id  denuo  appetit  quod  in  lavacro  jam  pridem 
renwntiavit,  id  est,  diabolo,  pompis  et  operibus  ejus.  Man  bemerke  scena  erat, 
orchestra  erat,  thymelici  erant.  Und  wenn  es  heilst  tragoedi  sunt,  comoedi 
sunt,  histriones  sunt,  so  beruht  das  nur  auf  der  Formel  der  Definition; 
denn  es  heilst  weiter:  qui  concinebant,  qui  exprimebant,  sie  existieren 
eben  nicht  mehr.  Wenn  aber  vom  Theater  im  Tempus  der  Gegenwart 
gesprochen  wird,  so  beruht  das  darauf,  dafs  die  Theater  noch  stehn;  aber 
man  spielt  nicht  mehr  darin  und  schaut  nicht  mehr  zu,  darum  quod  in  eo 
populus .  .  .  contemplaretur,  nicht  contempletur,  darum  quod  meretrices  ibi  pm- 
starent,  nicht  prostent.  Aber  von  den  Mimen  heifst  es,  quod  rerum  humanarum 
.sint  imitatores,  Tempus  der  Gegenwart,  weil  sie  noch  gegenwärtig  existieren. 
Die  Stelle  über  den  Mimus  ist  ein  zusammenhangloses  Excerpt  aus  einer 
gröfseren  Stelle  über  den  Theatermimus;  die  beiden  „nam"  sind  sinnlos.  Es 
war  vom  Prolog  und  vom  Mimographen  darin  die  Rede.  Mimographen  und 
einen  Theatermimus  mit  einem  Prologsprecher  gab  es  aber  damals  nicht 
mehr  in  Spanien;  darum  die  Imperfekte  habebant,  pronuntiaret,  com- 
ponebantur. Dennoch  ist  die  Erinnerung  an  das  Theater  und  an  diese 
Schauspiele  noch  so  frisch,   dafs  der  gelehrte  llealencyelopädist  es  für  nötig 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  787 

manien  aufgehört,  nach  der  Schilderung  Salvians  am  Anfange 
des  fünften  Jahrhunderts.  Bis  dahin  hat  er  aber  in  Köln,  in 
Mainz  und  Trier  und  doch  wohl  auch  in  anderen  hervorragenden 
Städten  dort  geblüht.  In  Rom  und  Italien  dagegen  hat  der 
Mimus  als  grofses  Theaterstück  noch  im  sechsten  Jahrhundert 
fortbestanden. 

Im  Jahre  533  ward  durch  Belisars  Sieg  über  die  Vandalen 
Afrika  wieder  oströmische  Provinz.  Zweifellos  wird  der  Mimus 
unter  den  neuen,  günstigeren  Existenzbedingungen  dort  kräftig 
weitergeblüht  haben,  wie  in  dem  ganzen  byzantinischen  Orient; 
war  doch  das  benachbarte  Ägypten  und  besonders  Alexandria  eine 
Hochburg  des  Mimus.  Im  Jahre  647  fiel  dann  Afrika  in  die  Ge- 
walt der  Araber.  Was  dann  weiter  mit  dem  Mimus  in  Afrika  ge- 
worden ist.  läfst  sich  nicht  sagen.  Jedenfalls  erweckt  er  dort 
heute  noch  als  mimisches  Puppenspiel,  als  Karagöz,  den  Jubel 
des  Volke?. 

Im  6.  Jahrhundert  warb  Theodorich  der  Grofse.  wie  wir 
(oben  S.  143,  144)  sahen,  mit  Mimenaufführungen  auf  dem  Theater 
um  die  Gunst  der  Römer.  Auch  an  seinem  Hofe  hatte  der  Goten- 
könig, wie  wir  später  zeigen  werden,  Mimen  als  Spafsmacher 
und  Hofnarren.  Vielfältig  wird  der  Mimus  im  6.  Jahrhundert 
nach  dem  Zeugnis  des  Cassiodor  extemporiert  sein,  sicher  sind 
daneben  auch  die  alten,  berühmten  mimischen  Dramen  eines 
Philistion,  Lentulus,  Marullus,  Hostilius  und  anderer  gelegentlich 
aufgeführt  worden.  Ausgaben  dieser  Dramen  befanden  sich  noch 
in  den  Händen  der  Zeitgenossen  des  Hieronymus  (vgl.  oben  S.  752, 
Anra.  1).  In  der  That  bezeichnet  auch  Ausonius  (c.  310—395) 
das  Interesse  am  Mimus  und  die  Lektüre  von  Mimen  als  selbst- 
verständlich bei  einem  litterarisch  interessierten  Manne.  Er 
ermahnt  den  Freund,  schnell  za  ihm  zu  eilen  und  seine  Bücher, 
vor  allem  die  Mimen,  zu  Hause  zu  lassen,  er  fände  bei  ihm  eine 
ganze  Bibliothek,  darunter  auch  die  Mimen  des  Cinaeodologen 
und    Ionicologen    Sotades1).     Auch  die  Dramen  Philistions  sind 

hält,  seine  objektive  Aufzählung  mit  der  Mahnung  zu  schliefsen,  ein  Christ, 
der  daran  seine  Freude  habe,  verfalle  dem  Teufel. 

')   Ausonii   epistulae  XIV   (in   Mon.  Germ,  hist   Auctt.  antiqq.  V,  2, 

50* 


788  Neuntes  Kapitel. 

ja  sehr'  lange  in  Abschriften  verbreitet  gewesen,  noch  im  fünften 
Jahrhundert  liefs  sie  der  Sophist  Nicotychos  vorlesen  (vgl.  oben 
S.  204).  Wenn  im  6.  Jahrhundert  nach  dem  Zeugnis  des  Cho- 
ricius  die  Sophisten  auf  dem  Markte  Mimen  vortrugen,  so  mufsten 
sie  davon  handschriftliche  Exemplare  besitzen1).  Jedenfalls  also 
existierte  im  lateinischen  Westen,  zum  mindesten  in  Italien,  noch 
im  6.  Jahrhundert  der  Mimus  als  grofses  Bühnenstück,  wie  er  zu 
derselben  Zeit  im,  griechischen  Osten  in  voller  Macht  und  Herr- 
lichkeit blühte  und  bis  zum  Ende  des  Mittelalters  geblüht  hat2). 
Ob  der  Mimus  noch  über  das  sechste  Jahrhundert  hinaus 
als  grofses  Theaterstück  in  Italien  geherrscht  hat,  läfst  sich 
nicht   mehr    entscheiden.      Darüber    fehlen    mir   vorläufig    alle 


p.  172— 173)  XIV  (ad  Paulum  Lugdunensem): 

attamen  ut  citius  venias  leviusque  vehare, 

historiam,  mimos,  carmina  linque  domi  .  .  . 

nobiscum  invenies  ln£<ov  nolvfiOQqia  nkrj&vv 
yQctfificcTixdSv  re  nXoxdg  xai  koyodaidaMrjv, 

Sdxxvkov  TjQtpov  xai  aoiöonöXarv  xoQiapßov,  .  .  . 
Gvv.    @cd(j]S  xw/uw  avQfiara  TeQXpij(6()t]g 

GCOTCtdlXOV   XS    XlVaiSoV,    iwVIXOV    afMfOx£Q(0&tV. 

')  Vgl.  oben  S.  219. 

2)  Ich  will  hier  noch  einmal  auf  die  Schliefsung  der  Theater  durch 
Justinian  zurückkommen,  welche  überall  mit  dem  Anspruch  einer  gesicherten 
Thatsache  von  welthistorischer  Bedeutung  auftritt.  Es  scheint  alles  so  schön 
zusammenzustimmen.  Wie  Justinian  die  letzten  Reste  des  Heidentums  be- 
seitigt, wie  er  die  griechischen  Philosophenschulen  schliefst,  so  schliefst 
er  auch  die  Theater.  Ich  habe  schon  oben  S.  684  und  685  gezeigt,  dafs 
diese  Mafsregel  zum  mindesten  vorübergehend  war,  und  dafs  in  der  späteren 
Regierungszeit  Justinians  und  unter  den  folgenden  Kaisern  die  Theater  überall 
offen  standen. 

Malalas  berichtet,  die  Cirkusparteien  hätten  im  Jahre  525  unter  Kaiser 
Justin  (als  Justinian  schon  de  facto  regierte)  wieder  Unruhen  erregt,  und 
zur  Strafe  wurden  die  Schauspiele  aufgehoben  und  die  Pantomimen  aus  dem 
ganzen  Orient  verjagt  aufser  in  Alexandria  in  Ägypten.  Auch  die  olympischen 
Spiele  in  Antiochia  wurden  verboten.  Chronographia  XVII.  Bonner  Aus- 
gabe S.  417:  xai  in^Q&rjaav  xa  &t(ÖQia,  xai  ol  oQ/rjaxal  ix  xfjg  dvaxolrjg  xai 
ndvxeg  i^cooia&rjOav,  dl%a  fxivxoi  xfjg  /usyälqg  AXf^avÖQtiag  xrjg  TiQog  Aiyvnxov. 
'0  dt  avxbg  ßaaiXevg  ixwkvas  rov  aytiiva  xwv'Olvfxniwv  nyog  xa  [iti  tnixsltio&ai 
iv  'Avxioxeiq  dnd  ivötxxiwvog  td".     So    hob    Kaiser  Theodosius    in  Antiochia 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  789 

direkten  historischen  Zeugnisse,    und   ich  wage  nicht  zu  hoffen, 
dafs  sich  solche  noch  finden  werden,  obwohl  ich  es  nicht  für  ganz 


zur  Strafe  für  einen  Aufruhr  die  Schauspiele  auf  (vgl.  oben  S.  146).  Natür- 
lich dauerte  es  damals  nicht  lange,  so  wurden  in  Antiochia  wieder  die 
Theater  geöffnet.  Die  Mafsregel  Justinians  trifft  allerdings  den  ganzen  Orient, 
aber  auch  hier  werden  gleich  Ausnahmen  zugelassen. 

Procop,  der  zweite  Zeuge  in  der  Sache,  berichtet:  die  Fiskalität  der 
Krone  hätte  unter  Justinian  erschreckend  zugenommen.  Dafür  giebt  er  zahl- 
reiche Belege.  Selbst  die  staatlichen  Besoldungen  der  Professoren  und  Ärzte 
wurden  aufgehoben,  und  die  Kommunalabgaben,  welche  die  Städte  im  Interese 
der  Errichtung  und  Unterhaltung  öffentlicher  Gebäude  und  zur  Veranstaltung 
von  Schauspielen  erhoben,  wurden  einfach  den  Staatssteuern  zugeschlagen. 
Infolgedessen  hatten  seit  längerer  Zeit  die  Theater,  Amphitheater  und  der 
Cirkus  Ruhe.  Später  liefs  der  Kaiser  sogar  in  Byzanz  die  Schauspiele  ein- 
schlummern und  gab  nicht  mehr  dafür  die  gewohnten  Summen  aus  dem 
Staatsschatze  her,  obwohl  zahlreiche  Bürger  von  den  Spielen  ihre  Nahrung 
zogen.  Infolgedessen  herrschte  allgemeine  Trauer:  Lachen  und  Freude  waren 
aus  dem  menschlichen  Leben  gewichen.  Procop,  Historia  Arkana  26.  Bonner 
Ausgabe  S.  143  4 :    xal  firjv  xal  oOovg  ol  rag  noXttg  otxovvrtg  dndaag  noXiri- 

X(UV  OCfiOlV  T)  dtülQTjTtXWV  OIXO&tV  7lt7lotl]VTai  710QOVS ;  xctl  loviovg  /uaayayioy 
(fögoig  dva/uT^ai  roTg  dtjuooioig  hoXur]OE.  xal  ovn  iargdiv  iig  r)  6i6aaxdXojf  xo 
Xombv  lytvero  Xoyog  ovie  Srjjuoaiag  itg  tu  olxodouittg  ngovoüv  lo/vatv  oisit 
Xv%va  raig  nöXtaiv  Iv  6tjfioa(co  kxämy  ovre  rig  r]v  dXXr)  nagaxpv/r)  joig  ravrag 
olxovOi.  xa  rt  ydg  dtaiga  xal  InnoSgofiot  xal  xWTjyf'oia  Ix  rov  tmnXtiorov 
unavia  rjgyH.  ov  dr]  ol  rr)v  yvvaixa  xfx^#a*  1«  xal  rtrgd(f&ai  xal  ntnat- 
ätva&at  £uv£ßairtv.  vOTtgov  öi  ravia  örj  dgyttv  iv  Bv^avilto  lx4Xivas  rd  &ed- 
fiaza,  rov  [at]  rd  (ia)96ra  xogrfl'fiv  rb  drjuöoiov,  noXXoTg  rs  xal  a^aSöv  ri  dva- 
g(&/xoig  ovotv,  olg  lv&4v6e  6  ß(og.  r)v  re  lata  re  xal  xoivrj  Xvnrj  x*  xal  xarrj- 
(ffia,  (üOntQ  dXXo  ri  rwv  an'  oioavov  tnioxqipaoai  nd&og,  xal  ß(og  näoir 
dyiXaOTog.  dXXo  is  ro  nagänav  ovitv  t(f4otio  roig  dv&gtonoig  h'  tiirjyquaaiv, 
01x01  tl  ovat  xal  dyogaCovoi  xdv  rotg  legoig  Siargißovatv  r\  avuifooai  rt  xal 
Tid&ri  xal  xaivortgtav  aTv/rjfidjwv  v7itgßoXr]. 

Justinian  brauchte  eben  für  seine  grofsen  Eroberungspläne  viel  Geld, 
und  sein  Finanzminister  Johannes  war  ein  Finanzgenie,  der  nahm,  was 
er  bekommen  konnte  (vgl.  hier  die  Ausführungen  Geizers  bei  Krumbacher 
a.  a.  0.  S.  930).  Es  mufsten  also  darunter,  wie  man  heute  sagen  würde, 
die  Kulturaufgaben  leiden  und  für  das  Theater  und  den  Mimus  war  eben 
kein  Geld  da.  Wenn  aber  Städte  und  Privatpersonen  trotz  aller  Not  doch 
noch  ab  und  zu  im  Theater,  bei  der  Leidenschaft  des  Volkes  dafür,  Mimen 
aufführen  liefsen,  stand  dem  schwerlich  etwas  im  Wege.  Unter  den  späteren 
Kaisern  hat  man  dann  offenbar  die  Gelder  für  das  Theater  und  den  Mimus 
ihrer   alten  Bestimmung   zurückgegeben;   denn   auf   die  Dauer   mufste  jede 


790  Neuntes  Kapitel. 

ausgeschlossen  halte.  Die  Herrschaft  der  Ostgoten  in  Rom 
wurde  durch  Justinian  vernichtet  (544),  Italien  ward  wieder  ein 
Bestandteil  des  römischen  Reiches.  Auch  als  die  Langobarden 
unter  Alboin  nach  Italien  zogen  (568),  blieb  den  Byzantinern 
das  Exarchat  mit  Ravenna,  Rom  und  Venedig.  Erst  749  er- 
oberte der  Longobarde  Aistulf  das  Exarchat.  Erst  786  nahm 
die  Herrschft  der  Byzantiner  in  Mittelitalien  ein  Ende  und  ost- 
römisch blieben  nur  Neapel,  Gaeta,  Calabrien  und  das  Gebiet 
von  Otranto.  Hatte  Theodorich  noch  im  sechsten  Jahrhundert 
für  die  Römer  Mimen  auf  dem  Theater  aufführen  lassen,  so 
mögen  die  Byzantiner,  bei  denen  ja  immer  der  Theatermimus 
in  Blüte  blieb,  es  auch  noch  im  siebenten  und  achten  Jahr- 
hundert gethan  haben.  Ruft  doch  noch  der  Gesandte  des  Ost- 
gotenkönigs Vitigis  (vgl.  oben  S.  145)  den  Römern,  die  zu  den 
Byzantinern  abgefallen  waren,  höhnend  zu,  von  Byzanz  wären 
ja  zu  den  Römern  doch  immer  nur  Schelme  und  Mimen  ge- 
kommen. Das  Theater  in  Ravenna  war  noch  im  fünften  Jahr- 
hundert nach  Salvians  Schilderung  berühmt,  da  mögen  also  dort 
unter  der  byzantinischen  Herrschaft  auch  in  den  folgenden  Jahr- 
hunderten Mimen  gespielt  worden  sein,  wie  sie  zu  gleicher 
Zeit  im  sechsten,  siebenten  und  achten  Jahrhundert  in  allen 
Städten  der  Rhomäer  in  Byzanz  und  Thessalonich,  in  Antiochia 
und  Alexandria  bis  auf  die  kleinen  griechischen  Städte,  Emesa 
und  andere  herunter  aufgeführt  wurden.  Noch  am  Ende  des 
achten  Jahrhundert  warnt  Alcuin,  wie  wir  gleich  sehen  werden, 
einen  jungen  Freund  vor  den  Mimen  in  Italien.    Wie  lange  mag 


Regierung  unpopulär  werden,  die  das  nicht  that,  zumal  wenn  sie  nicht  wie 
die  des  Justinian  grofse  äufsere  Erfolge  aufzuweisen  hatte.  Wie  wenig  es  sich 
im  Jahre  525  um  eine  prinzipielle  Schliefsung  der  Theater  gehandelt  hatte, 
zeigt  Malalas  selbst;  denn  er  berichtet,  dafs  wenige  Jahre  später,  als  ein  Auf- 
ruhr unter  Justinian  im  Theater  von  Antiochia  ausbrach,  das  Theater  daselbst 
zur  Strafe  geschlossen  wurde  (vgl.  oben  S.  146,  Anm.  4).  Also  525  werden 
alle  Theater  im  Orient  aufser  in  Alexandria  geschlossen  und  vier  oder  fünf 
Jahre  später  steht  das  Theater  in  Antiochia  wieder  offen,  wird  aber  zur 
Strafe  von  neuem  geschlossen.  Kurz  und  gut,  mit  einem  prinzipiellen  Verbot 
des  Theaters  unter  Justinian,  etwa  aus  christlich-kirchlichen  Gründen,  ist 
es  nichts. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  791 

auch  noch  in  dem  byzantinischen  Neapel  der  Mimus  als  grofses 
Theaterstück  existiert  haben?  Doch  schliefslich  sanken  auch  hier 
wie  überall  die  Theater  in  Trümmer,  wenn  auch  vielleicht  um 
Jahrhunderte  später  als  in  Germanien,.  Gallien  und  Spanien. 

Mit  den  grofsen  Theatern  waren  die  letzten  Reste  des 
klassischen  Dramas,  die  sich  dort  noch  notdürftig  hier  und  da 
behauptet  haben  mögen,  unwiderbringlich  verloren.  Wenn  sich 
ein  Tragöde  mit  seiner  seltsamen  Maske,  dem  Kothurne  und 
den  schleppenden  tragischen  Gewändern  in  einer  Taverne  oder 
vor  dem  Volke  auf  dem  Markte  hätte  sehen  lassen  wollen,  er 
wäre  dem  Gelächter  verfallen.  Der  Mime  dagegen  war  ja  von 
vornherein  in  der  Kneipe,  auf  Strafsen,  Märkten,  im  Variete 
oder  im  Prunksaale  der  Könige  aufgetreten.  Ihn  kostete  es 
nichts,  wieder  von  der  grofsen  Scene  herabzusteigen;  er  gab  von 
seiner  Kunst  nicht  einen  Deut  auf,  wenn  er  sie  fortan,  wie  er 
einst  gewöhnt  war,  in  der  Halle  der  Könige  und  Grofsen  zur 
Verherrlichung  ihrer  Feste  oder  auf  dem  Markte  vor  dem  Volke 
zum  Besten  gab.  Seine  Bühne  war  bald  aufgeschlagen,  einige 
Pfähle,  darüber  ein  Bretterboden  und  dahinter  der  mimische 
Vorhang  das  siparium,  so  hatte  er  dieselbe  Bühne  wieder,  die 
ihm  einst  das  grofse  Dionysostheater  gewährte,  und  was  er  selbst 
zu  Philistions  Zeit  allein  als  Bühnenausstattung  verlangte,  ein 
wenig  Hausgerät,  einige  Bänke,  einen  grofsen  Kasten,  das  konnte 
er  später  leicht  auch  in  der  Hofhaltung  Dietrichs  von  Bern  oder 
Karls  des  Grofsen,  oder  des  Brittenkönigs  Alfred  erlangen,  wie 
er  es  auch  in  derselben  Epoche  an  den  Höfen  der  indischen 
Radschas  erhielt. 

Vergessen  wir  es  nicht,  an  der  Schwelle  des  Mittelalters 
besafs  der  Mimus  als  das  letzte,  grofse  Drama  der  Antike,  als 
das  eigentliche  Drama  des  griechisch-römischen  Weltreiches,  als 
das  internationale  Weltdrama  eine  ganz  erstaunliche  Macht  und 
Fülle.  Im  3.,  4.,  5.  und  6.  Jahrhundert  erfüllte  der  Mimus  die 
ganze  Erde,  überall  jauchzte  ihm  das  Volk  in  rasender  Be- 
geisterung zu.  In  jeder  gröfseren  Stadt  gab  es  hunderte  von 
Mimen,  in  der  ganzen  damaligen  Kulturwelt  also  Hunderttausende. 
Zu  Hunderttausenden   sind    die  Mimen    ins   Mittelalter    hinüber- 


792  Neuntes  Kapitel. 

gezogen.  Dem  Mimen  war  es  gleichgültig,  ob  er  seine  lustigen 
Stücklein  in  der  Halle  eines  italischen  Senators  oder  eines 
fränkischen,  gotischen  oder  spanischen  Grafen  zum  Besten  gab. 
Was  den  Barbaren  an  Sprachkenntnis  fehlte,  das  ersetzte  des 
Mimen  lebhaftes  Gebärdenspiel.  Hatten  sich  die  hellenischen 
Mimen  den  Syrern  und  Ägyptern  und  später  sogar  den  Indern 
verständlich  gemacht  und  vvufsten  sie  selbst  den  Türken  das 
Verständnis  für  ihre  heitere  Kunst  zu  eröffnen,  hatten  sie  vor 
Jahrhunderten  vor  den  römischen  Barbaren  gespielt,  die  kein  oder 
wenig  Griechisch  verstanden,  warum  sollten  nun  nicht  wieder  die 
römischen  Mimen  vor  den  keltischen  und  germanischen  Barbaren 
spielen.  Schon  mit  Stilichos'  Heer,  das  zum  grofsen  Teile  aus 
Germanen  bestand,  wanderten  die  Mimen.  Zudem  blieb  ihnen  ja 
aufser  dem  vornehmen  Publikum  der  barbarischen  Fürsten  und 
Herren  in  den  alten,  römischen  Kulturstaaten  noch  immer  das 
lateinisch  redende  Volk  gewifs,  und  aufserdem  sprachen  die 
Priester  und  Mönche  ruhig  weiter  lateinisch.  Noch  der  Archipoeta 
ergrimmt  darüber,  wie  er  umsonst  an  das  Thor  der.  Klöster  an- 
klopft, das  sich  den  Mimen  sofort  öffnet1). 

So  gilt  denn  das  ganze  Mittelalter  hindurch  bei  den  itali- 
schen Fürsten  und  Herren,  wie  bei  den  spanischen,  bei  den 
fränkischen  Königen,  wie  bei  den  französischen  und  englischen, 
bei  römischen  Kaisern  deutscher  Nation,  wie  einst  bei  den  alten 
römischen  Kaisern  und  bei  den  hellenischen  Königen  seit  Philipp 
dem  Makedonen  und  Alexander  und  wie  auch  bei  den  indischen 
Radschas  die  Regel,  dafs  es  keine  Feste  geben  könne,  die  nicht 
der  Mime  durch  sein  Spiel  verherrliche,  oder  wie  Dio  Chrysostomus 
es  ausdrückt,  wer  die  Gunst  des  Volkes  gewinnen  wolle,  müsse 
Mimen    aufführen  lassen  oder,    wie  die  römischen  Staatsmänner 


')  J.  Grimm,  „Gedichte  des  Mittelalters  auf  König  Friedrich  I.  den 
Staufer  und  aus  seiner,  sowie  der  nächstfolgenden  Zeit".  Berl.  1844,  IV.  Archi- 
poeta 24,  S.  56/57: 

Eia  nunc  pontifices  pietatis  mire, 

cum  poeta  soleat  foris  esurire, 

mimi  solent  cameras  vestras  introire, 

(jui  nil  sciunt  facere  preter  insanire. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  793 

meinten  und  wie  es  auch  Cassiodor  im  Namen  Theodorichs  ver- 
kündigt, ohne  den  Mimus  müsse  das  Volk  in  der  Not  des  Lebens 
verzagen,  oder  wie  der  türkische  Mime,  der  Hajaldschy,  sagt: 
Die  Schmerzen  des  Volkes  werden  durch  das  Karagözspiel  wie 
durch  Balsam  gelindert. 

Karl  der  Grofse  hat  diese  Maxime  ebenso  beherzigt  wie 
Ludwig  der  Fromme,  und  alle  ihre  Nachfolger  haben  danach  ge- 
handelt, wie  es  ebenso  die  byzantinischen  Kaiser  thaten. 

Am  Hofe  Karls  war  besonders  sein  vertrauter  Rat  An- 
gilbert,  den  seine  geistliche  Stellung  nicht  gehindert  hatte, 
mit  Bertha,  einer  Tochter  Karls,  eine  geheime  Ehe  einzu- 
gehen, ein  besonderer  Freund  des  Mimus.  Er  galt  zugleich 
als  der  gröfste  Dichter  in  dem  grammatisch-ästhetischen  Kreise 
Karls,  darum  ward  er  mit  dem  Namen  Homerus  bezeichnet. 
Wiederholt  beklagt  der  streng  kirchliche  Alcuin  die  weltliche 
Richtung  „Homers"  und  besonders,  seine  Neigung  für  die  Mimen. 
Die  Partei  der  Asketen  kämpfte  bei  Karl  unablässig  gegen  den 
Mimus;  so  wendet  der  Erzbischof  von  Lyon  Leidradus  sich  in 
einem  Schreiben  an  Kaiser  Karl  gegen  den  Mimus1).  Alcuin 
wird  in  diesem  Sinne  unablässig  thätig  gewesen  sein  und  schliefs- 
lich  überwog  dieser  Einflufs.  Es  ward  ein  Gesetz  gegen  den 
Mimus  erlassen,  das  natürlich  ebensoviel  gefruchtet  hat.  wie  alle 


1)  Epistolae  variorum  Carolo  magno  regname  scriptae  29  (Mon.  Ger. 
hist.  Ep.  IV,  S.  540  1):  Leidradus  archiepiscopus  Lugdunensis  Carolo  1.  imperatori 
mittit  de  abrenunciatione  diaboli  opusculum.  Domino  gloriosissimo  et  vere  piissimo 
imperatori  et  in  Christo  victori  ac  triumphatori,  invictissimo  semper  Augvsto  Leidra- 
dus, licet  indignus,  divina  tarnen  ditpensatione  ac  vestra  miseratione  Lugdunetuis 
ecclesiae  episcopus  ....  Velut  cum  teatrorum  moles  extruuntur  et  effodiuntur 
fundamenta  virtutum ;  cum  gloriosa  est  effusionis  insania  et  opera  m'uericordiae 
deridentur;  cum  ex  his  quae  dicitibus  abundant,  luxuriantur  histriones,  et  necessaria 
rix  habent  pauperes.  Per  .quinque  sensus  corporis  Metropolis  et  an  mentis  capitur, 
aspectu  scilicet,  auditu,  gustu,  odoratu  et  tactu  [raucht  G. ).  Si  circensibus  quispiam 
delectetur,  si  adletarum  certamine,  si  mobilitate  hystrionum,  si  j'ormis  mulierum, 
si  splendore  gemmarum,  vestium,  metallorum  et  caeteris  kuiuscemodi,  per  oculorum 
fenestras  animae  est  capto  libertas.  XII.  Rursum  auditu,  si  vario  organorum  cantu 
et  vocum  flexionibus  delinitur,  et  carmine  poetarum  et  comoediarum  mimorumque 
urbanitatibus  et  strophis  et  quicquid  per  aures  introiens  virilitatem  mentis 
effeminat.   Leidradus  folgt  hier  wortgetreu  dem  Hieronymus  (vgl.  oben  8.750). 


794  Neuntes  Kapitel. 

die  Gesetze,  die  schon  seit  Jahrhunderten  auf  Antrieb  der  Geist- 
lichkeit gegen  den  Mimus  gerichtet  wurden.  Freilich  fürchtet 
Alcuin  in  einem  Briefe  an  den  Abt  Adalhart  von  Corvey 
„Homer"  werde  erzürnt  sein  über  diesen  Erlafs;  aber  schon 
Augustin  habe  gesagt,  wer  Schauspieler,  Mimen^  und  Tänzer  in 
sein  Haus  aufnähme,,  der  wisse  nicht,  was  für  eine  Schaar  un- 
sauberer Geister  ihnen  folge *).  Doch  Adalhart  antwortet,  „Homer" 
habe  seiner  alten  Neigung  für  den  Mimus  entsagt.  Darüber  spricht 
Alcuin  in  einem  erneuten  Schreiben  an  Adalhart  seine  Freude 
aus.  Die  Mimen  hätten  Angilberts  Seele  nicht  geringe  Gefahr 
gedroht,  es  sei  merkwürdig,  dafs  Angilbert  nicht  gewufst  habe, 
dafs  darunter  seine  Würde  Schaden  litt.  Dieser  Brief  stammt 
aus  dem  Jahre  801,  fällt  also  13  Jahre  vor  Angilberts  Tod,  der 
814  starb. 

Ludwig  der  Fromme  mufste  zwar  trotz  seiner  kirchlich- 
christlichen Richtung  den  Mimus  dulden,  persönlich  aber 
mochte  er  ihn  nicht.  Der  Franke  Theganus,  ein  vornehmer 
Geistlicher  in  Trier,  lobt  in  seinem  Leben  des  heiligen  Ludwig 
(ca.  835  geschrieben)  diesen  frommen  König.  Er  habe  nie  zu 
Spafs  und  Fröhlichkeit  geneigt  und  nur  an  den  hohen  Festen 
zum  Vergnügen  des  Volkes  Mimen  auftreten  lassen.  Aber  wenn 
das  Volk  auch  seine  Freude  am  Mimus  an  den  Tag  legte,  der 
König  blieb  immer  ernst  und  zeigte  nie  beim  Lachen  seine 
Zähne,  obwohl  er  schöne  weifse  hatte,  wie  Theganus  noch  be- 
sonders  hervorhebt3). 


J)  Alcuini  Albini  epistolae  116  (in  Mon.  Alcuiniana,  Wattenbach  und 
Dümmler,  S.  478  u.  479):  Alcuinus  Adalhardum  abbatem  Corbeiensem  reprehendit, 
quod  ad  se  neque  accedat  neque  littteras  mittat.  Se  febri  impeditum  fuisse,  quo- 
minus  ad  eum  veniret.  De  Angilberto.  (799  ante  Ja).  10.)  Vereor,  ne  Homerus 
irascatur  contra  cartam  prohibentem  spectacula  et  diabolica  figmenta.  Quae  omnes 
sanctae  scripturae  prohibent,  in  tantum,  ut  legebam,  sanctum  dicere  Augustinum : 
Nescit  homo,  qui  histriones  et  mimos  et  saltatores  introducit  in  domum  suam,  quam 
maqna  eos  inmundorum  sequitur  turba  spirituum.  Sed  absit,  ut  in  domo  christiana 
diabolus  habeat  potestatem.  Olim  tibi  de  kis  scrijisi,  optans  salutem  Icarissimi  filii 
toto  cordis  affectu;  volens  per  te  ßeri,  quod  per  me  non  posse  ßeri  agnovi. 

2)  Theganus,  Vita  Hludowici  imperatoris  in  Mon.  Germ.  hist.  Scripto- 
rum    II,    S.  595:     Nunquam     in    risum    exaltavit    vocem     suam,     nee    quando    in 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  795 

Die  Verbote  des  Mimus  konnten  um  so  weniger  fruchten, 
als  gerade  die  Kirchenfürsten  selber  für  das  mimische  Schauspiel 
schwärmten.  So  schilt  der  Erzbischof  von  Lyon  Agobert  im 
Jahre  836  auf  die  untreuen  Prälaten  und  Geistlichen,  die  das 
Kirchengut  für  die  Mimen  vergeuden  und  die  Armen  Hungers 
sterben  lassen1).  Auch  Alcuin  fühlt  sich  veranlafst,  den  eng- 
lischen Bischof  Higbald  daran  zu  mahnen,  lieber  für  die  Armen 
zu  sorgen  als  für  die  Schauspieler  und  Mimen*). 

Auch  zu  jenen  Zeiten  erschienen  die  Mimen  nicht  nur  in  den 
Hallen  der  Könige  und  verherrlichten  ihre  Feste,  sondern  durch- 
zogen die  ganze  Welt  und  erfüllten  sie  von  den  grofsen  Städten 
herab  bis  zum  kleinsten  Dorfe.  So  berichtet  der  Mönch  Milo, 
der  das  Leben  des  heiligen  Amandus  in  den  Jahren  845  —  858 
schrieb,  von  einem  Spafsmacher,  der  Amandus  in  einem  Dorfe 
auf  Antrieb  des  Satans  verhöhnte.  Diesen  Spafsmacher  nannte 
das  Volk  „Mimus".  Er  fand  den  Lohn  seiner  Schändlichkeit, 
der  Teufel  fuhr  mit  ihm  zur  Hölle3).     Auch  der  Abt  Ermenrich 


summis  fettivitatibus  ad  laetitiam  populi  procedebant  themilici,  scurri  et  mimi 
cum  coraulis  et  citharistis  ad  mensam  coram  eo,  tunc  ad  mensuram  ridebat  populus 
coram  eo,  ille  nunquam  nee  dentes  candidos  suos  in  risu  ostendit. 

')  Editio  Stephani  Baluzii,  Paris  1666,  S.  299.  „Liber  de  dispensatione 
ecclesiasticarum  rerum" :  epulatur  cum  divitibus  epulantibus  gaudens,  ridensque,  et 
opus  Domini  non  reeipiens,  et  quasi  agens  quae  Deo  placeant  jueundatur,  satiat  prae- 
terea  et  inebriat  histriones,  mimos  turpissimosque  et  vanissimos  joculares,  cum  pauperes 
Ecclesiae  fame  discruciati  intereant. 

2)  Alcuini  Albini  ep.  81.  Alcuinus  Higbaldum  episcopum  Lindisfarnensem 
multa  admonet.  Memorat  de  Ecgfridi  regis  Merciorum  obitu  inopinato : 
....  Melius  est,  pauperes  edere  de  mensa  tua,  quam  istriones.  Wattenbach  und 
Dümmler  S.  356. 

3)  Mon.  hist.  Germ.  Poetae  latini  Bd.  III,  S.  600.  —  Milonis  carmina 
lib.  IV,  II.    Vita  S.  Amandi. 

70.     Unus  iners,  facilis,  male  lubricus  atque  superbus, 
Turpis  et  impurus  scurrillia  probra  susurrans, 
Quem  merito  vulgus  vocitat  cognomine  Minimum. 
Ubstitit  infelix  stolido  bachante  cachinno. 
Sed  mox  arreptus  miser  atro  daemone,  plenus 

75.    $iio  fuerat  pridem,  cum  vitae  risit  alumnum, 
Ipse  suis  matibus  male  sano  membra  furore 


796  '.  Neuntes  Kapitel. 

von  Ellwangen,  der  im  Jahre  874  nach  Christus  starb,  erinnert 
sich  in  einem  Briefe  an  den  Abt  Grimald  der  Mimen.  Alcuin 
ermahnt  einen  jungen  Freund  und  Schüler,  der  nach  Italien  zieht, 
er  möchte  sich  doch  dort  nur  ja  vor  den  Mimen  in  Acht  nehmen, 
es  sei  besser,  Gott  zu  gefallen  als  den  Mimen1). 

Wie  einst  im  Altertum,  wurden  die  Mimen  auch  im  Mittel- 
alter den  Damen  gefährlich.  Das  zeigt  der  bekannte  Schwank  vom 
„Schneekinde"  aus  dem  Zeitalter  der  Ottonenr  der  modus  Liebinc. 
Ein  Schwabe,  ein  Kaufmann  aus  Konstanz  am  Bodensee,  unternimmt 
eine  Seereise.  Inzwischen  sind  wandernde  Mimen  bei  seiner  Frau 
eingekehrt,  und  als  er  nach  zwei  Jahren  heimkehrt,  kommt  sie 
ihm  mit  einem  neuen  Söhnlein  entgegen  und  beichtet  ihm,  bei 
einem  Spaziergange  in  den  Alpen  habe  sie  ihren  Durst  mit 
Schnee  gelöscht  und  davon  sei  das  Kind  gekommen^). 

Merkwürdig  ist  auch,  was  der  Langobarde  Liudprand  von 
dem  byzantinischen  Kaiser  Romanos  I.  Lekapenos  erzählt.  Als 
dieser  für  den  jugendlichen  Konstantinos  Porphyrogennetos  die 


Discerpit  scindit  disrumpit  diripit  urit, 

Anteque  quam  patulos  Iferebi  transcurrat  hiatus, 

Dat  certum  indicium,  duce  quo  deductus  abiret. 

')  Ep.  289.  Wattenbach  und  Düminler,  Monumenta  Alcuiniana  S.  872. 
Alcuinus  discipulum  in  Italia  peregrinantem  ad  vitam  rede  agendam  litterasque 
colendas  exhortatur.     Studia  olim  communia  in  memoriam  revocat. 

Pater  filio,  pacificus  peregrino,  magister  discipulo,  socius  socio  peregrinationis 
sempiternam  salutem  ......     Melius  est  Deo  placere   quam  histrionibus,  pauperum 

habere  curam  quam  mimorum.  Sint  tibi  honesta  convivia  et  convivae  religiosi.  Esto 
senior  in  moribus,   quamvis  iunior  in  annis. 

2)  Denkmäler  deutscher  Poesie  und  Prosa  aus  dem  VIII.— XII.  Jahr- 
hundert, herausgegeben  von  K.  Müllenhoff  und  W.  Scherer.  2.  Aufl.  Berlin 
1873,  S.  32: 

Advertite,  omnes  populi,  ridiculum 

et  audite  quomodo 

Suevum  mulier  et  ipse  illam  defrudaret  .... 

Nee  interim  domi  vacat  coniux 
.  mimi  juvenes  seeuntur : 

quos  et  immemor  viri  exulis  excepit  gaudens 

atque'  nocte  proxima 

praegnans  Jilium  iniustum  fudit  iusto  die. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  797 

Regierung  übernommen  (919—944)  und  mit  List  und  Tücke  von 
den  Grofsen  des  Reiches  erlangt  hatte,  dafs  man  ihm  die  roten 
Schuhe,  das  Symbol  der  kaiserlichen  Würde,  bewilligte,  da  ver- 
langte er  später  auch  die  Krone;  denn,  erklärte  er,  er  komme 
sich  buntscheckig  wie  ein  Mime  vor,  wenn  er  mit  seiner  Fufs- 
bekleidung  wie  ein  Kaiser,  mit  seiner  Kopfbedeckung  aber  wie 
ein  gemeiner  Mann  erscheine.  Auch  die  Mimen  liebten  ja,  sich 
mit  bunten  Farben  zu  bemalen,  aber  er  müsse  dafür  danken; 
entweder  wolle  er  mit  den  purpurfarbenen  Sandalen  und  mit 
der  Krone  erscheinen  oder  überhaupt  auf  den  buntscheckigen 
Anzug  verzichten  und  fortan  auch  die  purpurnen  Stiefel  ablegen x). 
Diese  Schilderung  beweist,  dafs  die  Mimen  im  Mittelalter  genau 
so  buntscheckig  auftraten  wie  im  Altertum ;  ich  erinnere  auch  an 
den  centunculus,  den  bunten  Harlekinsrock  der  mimischen  Narren. 
•  Jedenfalls  haben  die  Mimen  das  ganze  Mittelalter  hindurch  das 
Volk  und  die  Fürsten  mit  ihren  Späfsen,  Schauspielen  und  Liedern 
erheitert.  Noch  im  spätesten  Mittelalter  ist  von  ihnen  die  Rede. 
So  berichtet  der  Mönch  Donizo,  Herzog  Bonifacius  von  Etrurien 
habe  gelegentlich  seiner  Hochzeit  mit  Beatrice  von  Lothringen 
die  Mimen  besonders  reich  beschenkt -)>  und  in  der  Chronik  von 
Asti  heifst  es,  als  Galeazzo  Visconti  die  Tochter  des  Markgrafen 
von  Este  in  Mailand  heiratete,  seien  an  die  Ioculatoren  7000 
gute  Kleider  verteilt  worden ').    Bei  dem  Feste  des  Ritterschlags 


*)  Liudprandi  Antapodosis  Lib.  III,  35  (in  Mon.  Germ,  histor.  Tom.  V. 
Script.  3  S.  310:  visum  est  mihi  histrionum  mimorumve  more  ineedere, 
qui  ut  ad  risum  facile  turbas  illieiant,  variis  sese  depingunt  colori- 
bus.  Risum  denique  aliis  non  solum,  sed  mihi  etiam  ipsi  moveo,  dum  pedibus  im- 
peratorem,  capite  communem  imiiari  videar  plebtm.  Nam  quae  comoedia?  mimus 
quis  melior?  Gemeint  sind  nur  byzantinische  Mimen.  Aber  die  abendländi- 
schen Mimen  können  kaum  auders  ausgesehen  haben,  da  Liudprand  mit  so 
grofser  Selbstverständlichkeit  spricht.  Variis  sese  depingunt  coloribus  =  pig- 
menti muhicoloribus  bei  Sidonius  Apollinaris.    Vgl.  oben  S.  426.  VI.  600.  704. 

2)  Donizo  monachus,  vita  Mathildis,  lib.  I,  cap.  9.  Mon.  Germ,  histor. 
XIV,  Script.  XII.  S.  366/367. 

3)  Chronicon  Astense,   cap.  XIV   (in  Muratori;    Rer.  ltal.  XI,  169/70): 

Opera  Maffei  Visconti  maxima  fuerunt.    Omnes  Lombardi  metuebant  eum.     Galeatius 
tius  filius   cepit   in   uxorem    sororem  Marchionis   de  Este.     Admirabües  nuptiae  pro 


798  Neuntes  Kapitel. 

der  Jünglinge  aus  dem  Hause  Malatesta  und  vieler  anderer 
Adligen  zu  Ariminum  im  Jahre  1324  hatten  sich  mehr  als  1500 
histriones  eingefunden  und  waren  reich  beschenkt  entlassen 
worden1).  So  wird  auch  aus  dem  Jahre  1356  von  einer  fürst- 
lichen Hofhaltung  Kaiser  Karls  IV.  berichtet,  zu  der  zahlreiche 
Mimen  herbeiströmten  und  mit  reichen  Gaben  bedacht  wurden8). 
Gelegentlich  zeigten  sich  auch  Kaiser  und  Könige  gegen- 
über den  Mimen  unfreundlich,  das  wird  dann  aber  stets  als 
Ausnahmefall  bemerkt.  So  liefs  Heinrich  IL  im  Jahre  1054  bei 
seinem  zu  Ingelheim  gefeierten  Beilager  mit  der  schönen  Agnese 
von  Poitou  die  histriones  nicht  vor  sich  kommen,  sondern  ent- 
liefs  sie  unbeschenkt3).     Philipp  August  II.  von  Frankreich  ver- 


ea  Mediolani  jactae  sunt,  ad  quas  invitati  fuerunt  omnes  Lombardi ;  et  tot  data 
fuerunt  joculaloribus  plus  quam   1 000  Pannorum  bonorum. 

1)  Annales-Caesenates  (bei  Muratori  XIV.  Rer.  Ital.  S.  114 1/2):  De  militia 
Malatestorum  et  plurium  aliorum.  Millesimo  CCCXX1V.  die  Dominico  Festivitatis 
Paschae  Roxatae  III.  mensis  Iunii.  Magnifici  et  Potentes  Domini  Pandulphus  Mala- 
testa et  Galeottus  eius  filius,  Ferranlinus  et  Malatislinus  eius  Jilius sumse- 

runt  in  Arimino  cingulum  militare.  Triumphus  quidem  maximus  fuit  ibidem,  ad 
quorum  honoranf iam  concurrerunt  Florentini,  Perusini,  Senenses,  Bononienses,  et  omnes 
Nobiles  et  Potentes  de  Tuscia,  Marchia,  Romandiola,  et  fere  tota  Lombardia  .... 
Fuit  et  iam  multitudo  histrionum  circa  mille  quingentos  et  ultra. 

2)  M.  Alberti,  Argentinensis  Chronicon  (in  „Germaniae  historicorum 
illustrium  quorum  plerique  ab  Henrico  IV.  imperatore  usque  ad  annum 
Christi  1400  —  Tomus  unus  Christiani  Urstisii  Basiliensis  fide  et  studio  nunc 
in  lucem  editus"  pars  altera  p.  164):  Anno  Domini  1356  venu  Carolus  impe- 
rator  ad  civitatem  Metensem  in  adventu  Domini:  fueruntque  ibi  Principes,  Electores 
et  Officiales  sui  ministrales.  Imperii,  quorum  quilibet  ministrabat  Imperatori  sedenti 
in  mensa,  in  officio  seu  ministerio  suo  proprio.  Quilibet  autem  veniebat  super  equo, 
usque  ad  mensam.  Descendente  vero  de  equo  coram  mensa,  histrionibus  et 
mimis  dabatur  equus. 

3)  Herimannus  (Contractus)  Augiensis,  Chronicon  (in  Mon.  Germ,  histor. 
VII  Script.  5.  S.  124)  ad  annum  1043:  Exin  Agnetem  Wilhelmi  Pictaviensis 
filiam,  sponsam  suam  accipiens,  et  Mogontiaci  reginam  ungui  faciens,  regales  apud 
Ingelemheim  nuptias  celebravit,  et  in  vano  histrionum  favore  nihili  pendendo,  utile 
cunctis  exemplum,  vacuos  eos  et  moerentes  dimittendo,  proposuit  ....  Dasselbe  be- 
richtet Saxo,  der  Annalist,  Annalista  Saxo  ad  annum  1045  (in  Mon.  Germ, 
histor.  VIII.  Auetores  antiqq.  6,  p.  687).  .  .  .  Deinde  Agnetem  Willehelmi  Picta- 
viensis prineipis  filiam,  reginam  apud  Mogontiam  ungi  faciens,  regalibus  sibi  nupttis 
Ingelenheim    copulavit;    unde    infinitam    multitudinem   histrionum  et  ioculatorum  sine 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  799 

ordnete,    wie    der   Historiker  Rigord  berichtet,    im  Jahre  1185 


cibo  et  muneribut  vacuam  et  merentem  abire  permisit.  Otto  von  Freisingen,  Chron. 
VI,  32  (M.  G.  H.  Script.  Bd.  XX,  S.  244),  berichtet  von  derselben  Sache  mit 
den  Worten :  omne  balatronum  et  histrionum  collegium,  quod,  ut  assolet,  eo  conßuxerat, 
racuum  abire  permisit,  pauperibusque  ea,  quae  membris  diaboli  subtraxerat,  large 
distribuit. 

Hier  sind  Grysar  einige  Irrtümer  begegnet,  welche  die  eigentümliche 
Art  seiner  Stadien  für  den  Mimus  illustrieren.  Auf  Seite  333  heifst  es  bei 
ihm:  „Agoberd,  Erzbischof  von  Lyon,  beklagt  es  in  einem  Briefe  vom  Jahre 
83&.  dafs  der  König  wenig  für  die  Kirche,  desto  mehr  für  die  Komödianten 
thue:  inebriat  histriones,  mimos  turpissimos  et  vanissimos  ioculatore*.  Hermann, 
Contr.  Chronic,  ad.  a.  1043,  sagt  beinahe  im  ähnlichen  Sinne:  ad  solemnia 
eiusmodi  agmina  mimorum  et  histrionum  conßuunt,  ac  munera  a  principibus  re- 
ferunt."  Man  kann  suchen,  soviel  man  will,  diese  Stelle  findet  sich  bei  Heri- 
mannus  nicht,  auch  überhaupt  nicht  in  irgend  einer  anderen  Chronik.  Da- 
gegen citiert  Muratori  in  den  Antiquitates  Italicae  medii  aevi  Tom.  II  in  der 
Dissertatio  vigesima  noiia:  De  spectaculis  et  ludis  publicis  medii  aevi  auf 
S.  843  B  die  eben  angeführt^  Stelle  aus  Otto  von  Freisiugen;  diese  Stelle 
hat  dann  Grysar  S.  335  einfach  aus  Muratori  abgeschrieben.  Dann  heifst  es 
hei  Muratori  an  derselben  Stelle  weiter:  Paria  habet  Rermannus  Contractu* 
ad  Autatm  MXLIH  in  fusiori  editione  illius  Chronici.  Quae  cnnnia  ottendunt  tum 
XI.  Saeculo  tantum,  sed  iamdiu  inraluisse  moretn,  ut  ad  solemnia  eiusmodi 
spectacula  agmina  Mimorum  et  Histrionum  conjluerent  ac  munera 
a  Principibus  re/errent.  Diese  Worte  Muratoris  hat  Grysar  für  die  des 
Herimannus  angesehen  und  sich  so  dieses  Zeugnis  Herimanns  zusammen- 
geschmiedet. Die  Quellen  selber  aufzusuchen  gehört  nicht  zu  seinen  Ge- 
pflogenheiten. Darum  kann  er  auch  oben  sagen,  Agoberd  klage,  dafs  der 
König  die  Mimen  füttere:  er  hat  diese  Stelle  wieder  einfach  ans  Muratori 
a.  a.  0.  S.  S45  D  abgeschrieben.  Hätte  er  bei  Agobert  selbst  nachgesehen, 
so  hätte  ihn  der  Zusammenhang  gelehrt,  dafs  gerade  die  Kirchenfürsten, 
nicht  der  König  gemeint  sind  (vgl.  oben  S.  795).  Doch  hier  handelt  es  sich 
um  entlegene  mittelalterliche  Litteratur,  aber  selbst  mit  den  alten  lateinischen 
Quellen  geht  Grysar  nicht  vorsichtiger  um.  Für  ricinium  giebt  er  (S.  270) 
aus  Festus  das  Citat:  Ricinia  autem  portabani,  quo  aequiore  habitu  prodirent, 
atque  ut  inde  nomen  ducerent.  Ich  habe  Tage  lang  im  Festus  umsonst  nach 
diesem  Citate  gesucht  und  mich  nicht  wenig  geärgert,  endlich  merkte  ich, 
dafs  diese  Belegstelle  für  ricinium  wieder  einfach  Grysarsches  Fabrikat  ist 
aus  der  Festusstelle  (0.  Müller  S.  181):  planipedes  autem  soecos  nonporta- 
bant,  quo  aequiore  habitu  prodirent:  quo  factum  ut  inde  nomen  ducerent  Auf 
S.  -247  ist  von  dem  „mit  römischen  Kognomen  überscbriebenen,  also  doch 
wohl  römischen  Mimus  Natta"  des  Laberius  die  Rede,  der  bei  Gellius  XVI,  7 
vorkommen  soll.     Dieser  Mimus  heifst  aber  Natal,    und  bei  der  Aufzählung 


800  Neuntes  Kapitel.  ' 

den    „histrionen"    mit   ihren   verderblichen    „verba    ioculatoria" 


der  Mimen  des  Laberius  (S.  294)  giebt  Grysar  nachher  selbst  unter  Berufung 
auf  Gellius  XVI,  7  diesen  Titel  richtig  und  hat  schon  längst  vergessen,  dafs 
er  eben  von  einem  seiner  Vorgänger,  der  noch  in  einer  alten  Gelliusausgabe 
Nata  las,  das  einige  hss.  haben,  den  Mimus  Natta  acceptiert  hat.  Er  hat 
die  Gelliusstelle  eben  garnicht  angesehen.  S.  328  ist  von  den  verschiedenen 
Theatern  die  Rede,  die  in  Rom  erbaut  waren,  dort  heifst  es  weiter:  „Plin. 
H.  N.  XXXV,  38  bezeichnet  uns  sogar  namentlich  einen  gewissen  Publius  als 
den  Erbauer  einer  Mimenbühne:  Publius  mimicae  scenae  conditorem  etc.'1  Die 
Stelle  steht  nicht, 38  sondern  58  und  lautet  richtig:  Publilium  Antiochium  etc., 
und  wenn  Grysar  die  Stelle  eingesehen  und  nicht  blofs  wieder  abgeschrieben 
hätte,  hätte  er  gesehen,  dafs  hier  nicht  von  irgend  einem  Baumeister  einer 
Mimenbühne,  sondern  von  dem  berühmten  Mimographen  Publilius  Syrus  die 
Rede  ist,  dem  der  Ehrentitel  conditor  mimicae  scenae  beigelegt  wird.  Wie 
Grysar  mit  den  Quellen  umgegangen  ist,  dafür  habe  ich  schon  oben  ein'  und 
das  andere  Beispiel  gegeben,  und  diese  Beispiele  lassen  sich  stark  vermehren, 
doch  wozu  (vgl.  S.  69,  171,  426,  VI,  433,  444  u.  ö.).  Von  einer  methodi- 
schen Ausnutzung  der  Quellen,  ja  überhaupt  nur  von  einem  Nachschlagen 
der  Citate  ist  keine  Rede,  das  meiste  ist  einfach  von  den  Vorgängern  ent- 
lehnt, die  wieder  ihre  Vorgänger  benutzen,  so  sind  die  Stellen  zur  Geschichte 
des  Mimus  wie  abgegriffene  Scheidemünze  von  Hand  zu  Hand,  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht  gegangen;  an  diesen  Bettelpfennigen  hat  man  sich  so  lange 
genügen  lassen  und  seine"  Unkenntnis  des  Mimus  gelegentlich  mit  pathetischen 
Schimpfereien  über  seine  Sittenlosigkeit  und  Armseligkeit  verbrämt.  Selb- 
ständig scheint  Grysar  die  lateinische  Patrologie  Mignes,  wenigstens  nach 
den  Indices,  durchgearbeitet  zu  habeii.  Aber  diese  unter  theologischen  Ge- 
sichtspunkten verfafsten  Indices  sind  für  den  Mimus  natürlich  ganz  un- 
genügend, zudem  fehlen  sie  zum  grofsen  Teile  überhaupt.  Da  war  der 
Liebe  Müh'  umsonst.  Vollständiger,  was  den  Mimus  angeht,  sind  die  In- 
dices in  den  alten  Einzelausgaben  aus  dem  XVI,  XVII  und  XVIII.  Saecu- 
lum,  besonders  in  den  Maurinerausgaben  des  Augustin  und  Johannes 
Chrysostomus ;  die  hat  aber  Grysar  natürlich  wieder  nicht'  benutzt.  Da- 
gegen bieten  die  Indices  bei  Vallarsi  und  den  Maurinern  für  Hiero- 
nymus  kaum  ein  einziges  Mal  das  Wort  „Mimus",  und  doch  findet 
man,  wenn  man  Hieronymus  genau  durcharbeitet,  den  Mimus  unablässig 
erwähnt.  Nur  eine  solche  Durcharbeitung  aller  einschlägigen  Quellen 
konnte  hier  eine  wissenschaftliche  Grundlage  liefern,  aber  darüber  gehen 
viele  Jahre  hin,  und  die  hatte  Grysar  wohl  nicht  übrig.  So  hat  dieses 
ziemlich  leichtfertige  Machwerk  mit  seiner  aus  einer  ganz  ungenügenden 
Kenntnis  der  Quellen  resultierenden  geringschätzigen,  platten  und  banalen 
Auffassung  des  grofsen  mimischen  Dramas  jeden  Fortschritt  auf  diesem 
wichtigen  litterarischen  Gebiete  gehindert,  wo  das  Eingeständnis  der  Unwissen- 


Der  römische  Mimns  im  Mittelalter.  801 

sollten    nicht    mehr    seine    abgelegten    Gewänder,    sondern    den 
Armen  gegeben  werden1). 

Diese  Nachrichten  über  die  Mimen  stammen  vorwiegend  aus 
dem  westlichen  Deutschland,  aus  Italien  und  Gallien.  In  diesen 
Ländern  waren  seit  dem  ersten  Jahrhundert  nach  Christus  die 
Mimen  besonders  zahlreich.  Aber  auch  in  Britannien  sind  sie 
in  der  nachchristlichen  Aera  weit  verbreitet  gewesen.  So  be- 
richtet Peter  von  Blois,  an  dem  Hofe  Heinrichs  II.  von  England 
hätten  die  Histrionen  und  Mimen  besondere  Geltung  gehabt  ). 
Das  bestätigt  Johannes  von  Salisbury.  Er  lobt  den  Augustus, 
der  sich  von  seiuer  Leidenschaft  fürs  Theater  habe  heilen  lassen. 
Ganz  anders  Nero,  der  trotz  seiner  Habsucht  den  Mimen  und 
Histrionen  unermefsliche  Schätze  zufliefsen  liefs  und  sie  zu 
Patriziern  und  Senatoren  ernannte.  In  der  That  trieb  Nero  die 
Leidenschaft  für  den  Mimus  bis  zur  Verrücktheit1).     Nach  Nero 


heit  und  Unzulänglichkeit  viel  nützlicher  gewesen  wäre  als  dieses  falsche 
und  ein  wenig  schwindelhafte  Wissen,  von  dem  man  sich  merkwürdiger  Weise 
allgemein  imponieren  liefs.  Ich  erinnere  nur  an  Sathas  Lobspruch  (vgl.  obeu 
S.  o83,  Anm.  1).  Teuffei  wufste  an  Grysar  nur  zu  tadeln,  dafs  er  die  Zeiten  nicht 
genug  sondere.  Du  lieber  Gott,  wir  haben  ja  allerdings  den  althellenischen, 
alexandrinischen,  griechisch-römischen  und  byzantinischen  Mimus  geschieden: 
aber  wir  haben  daneben  gerade  eine  gewisse  Stabilität  in  der  Form  der  mimi- 
schen Hypothese  sowie  in  den  mimischen  Typen  und  Themen  konstatieren 
können;  dieser  Einwand,  der  kritisch  und  gelehrt  klingt,  beweist  also  nur, 
dafs  Teuffei  noch  weniger  vom  Mimus  verstand  wie  Grysar  und  hier  noch 
oberflächlicher  urteilte. 

')  Rec.  d.  histor.  des  Gaules  et  d.  1.  France  t.  XVII.  S.  21. 

2)  Petrus  Blesensis,  Epistolae  (Migne,  Patrol.  lat.  207,  pag.  49,  Epi- 
Stola  XIV):  ....  Curritur  ad  meretrices  et  tabernacularios  atriales,  utjnquiratur 
ab  eis,  quo  princeps  profecturus  sit.  Hoc  enim  genus  curialium  arcana  palatii 
Jrequenter  novit.  Regis  enim  curia/n  sequuntur  assidue  histriones,  candida- 
trices,  aleatores,  dukorarii,  caupones,  nebulatores,   mimt,  barbatores  .  .  .  . 

*)  Polycraticus  Lib.  I,  cap.  VII.  De  dissimilitudine  Augusti  et  Neronis 
(ed.  A.  Giles,  I,  Oxford  1848,  S.  41  ff.):  Augusto  tympanizante  in  caena,  a 
quodam  milite  probrose  dictum  est:  Vides  —  ne  ut  cinaedus  orbem  digito  tem- 
peret? Cujus  ille  verbi  percnssus  amaritudine,  os,  manus  et  animum  in  aevum  ab 
hvjusmodi  levitate  suspendit;  habuitque  semper  gratiam  exprobranti.  Sed  lange  secus 
Nero  ....  Cum  vero  esset  omnium  avarissimus,  adeo  ut  nullt  quodcunque  officium 
delegaret,  quin  prosequeretur,  Nosti  quid  mihi  opus  sit:  aut  illud  subjiceret.  Qui 
Reich,    Mimus.  ci 


802  Neuntes  Kapitel. 

und  nicht  nach  Augustus,  meint  nun  Johannes  von  Salisbury, 
richteten  sich  zu  seiner  Zeit  die  Fürsten  und  das  Volk  in  Eng- 
land, sie  seien  durchaus  Freunde  der  Mimen.  Im  Altertum  gab 
es  allerdings  würdige  Schauspiele,  denen  auch  ein  ernsthafter 
Mann  mit  Recht  sein  Interesse  hätte  zuwenden  können.  Das 
lehre  das  Beispiel  des  Plautus,  Menander  und  Terenz.  Zu  seiner 
Zeit  gäbe  es  aber  nur  die  Mimen  mit  ihren  sittenlosen  Dar- 
stellungen und  die  Gaukler.  Sie  würden  mit  Vorliebe  selbst 
in  die  vornehmsten  Haushaltungen  aufgenommen  und  niemand 
kümmere  sich  darum,  dafs  sie  von  den  Kirchenversammlungen 
exkommuniciert  seien  und  dafs  darum  auch  ihren  Gönnern  das 
ewige  Verderben  bevorstände1). 


omnibus  praeest,  omnibus  indiget:  tarnen  histrionibus  et  mimis  pecunias  infinitas 
erogare  non  gravabatur;  singulos  jjrout  quisque  placuerat,  amplissimae  dignitatis 
nomine  subornabat,  alios  patriciosj  alios  senatores  dicens.  Hos  illustrium  spectabi- 
liumve  nominibus  illustrabat. 

l)  Cap.  8.  De  Histrionibus  et  Mimis  et  Praestigiatoribus.  Eum  vero  adhuc 
aliqui  pro  parte  imitantur,  etsi  foeditate  illius  nemo  dignetur  involvi,  quum  gratiam 
suam  histrionibus  et  mimis multi prostituant,  et  in  exhihenda  malitia  eorum  caeca 
quadam  et  contemtibili  magnißctntia,  non  tarn  mirabiles,  quam  miserabiles  Jaciunt 
sumtus.  lila  tarnen  aetas  (ut  sie  interim  dicam)  honestiores  habuit  histriones,  si 
tarnen  aliquo  modo  honestum  est,  quod  omni  nomine  libero  comprobatur  indignum. 
Nee  tarnen  histrionem  assero  turpiter  in  arte  sua  versari,  etsi  indubitanter  turpe  sit 
esse  histrionem.  Et  quidem  histriones  erant,  qui  gestu  corporis  arteque  verborum,  et 
modulatione  vocis,  faetas  aut  fietas  historias,  sub  aspectu  publico  referebant,  quos 
apud  Plautum  invenis  et  Menandrum,  et  quibus  ars  nostri  Terentii  innotescit.  Porro 
comicis  et  tragicis  abeuntibus,  quum  omnia  levitas  oecupaverit,  clientes  eorum,  comoedi 
videlicet  et  tragoedi,  exterminati  sunt.  Sed  eos  in  servili  conditione  duntaxat  ple- 
rumque  reperies.     Quis  vero  eorum  usus  extiterit,  poetica  docens  aperit. 

Aut  prodesse  volunt,  aut  delectare  poetae 

Aut  iueunda  simul  et  idonea  dicere  vitae. 
At    nostra    aetas   prolapsa  ad  fabulas,    et  quaevis   inania,    non   modo  aures  et  cor 
prostituit  vanitati,  sed  oculorum  et  aurium  voluptate,  suam  muleet  desidiam,  luxuriam 
accendit,  conquirens  undique  fomenta  vitiorum  .... 

Vitanda  est,  inquit  Ethicus,  improba  Siren 

Desidia 

At  eam  nostris  prorogant  histriones.    Exoccupatis  etenim  mentibus  surrepunt  taedia, 

seseque  non  sustinerent,  si  non  alieuius  voluptatis  solatio  muleerentur.    Ad/nissa  sunt 

ergo  speetacula  et  infinita  tyrocinia  vanitatis,  quibus  qui  omnino  otiari  non  possunt, 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  803 

Wie  in  den  Kirchenversammlungen  des  griechischen  Ostens 
wird  der  Mimus  in  denen  des  lateinischen  Westens  stets  von 
neuem  verflucht,  und  die  Mimen  werden  unablässig  weiter  mit 
Exkommunication  bedroht,  weil  sie  eben  unaufhörlich  weiter 
existierten.  So  werden  in  der  zweiten  Synode  von  Arras  im 
Jahre  452  die  christlichen  Mimen,  so  lange  sie  ihren  Beruf  aus- 
üben, von  der  Kommunion  ausgeschlossen1).  In  den  Kapitularien 
Karls  des  Grofsen  wird  den  Geistlichen  ausdrücklich  das  Halten 
von  Mimen  (Ioculatoren)  untersagt2),  desgleichen  den  Mimen  und 
Schauspielern  verboten,  in  Kleidern  von  Priestern,  Mönchen  und 
Nonnen  aufzutreten3).     Wir  wissen,  dafs  genau  dasselbe  Verbot 


pemiciosius  occupentur.  Satius  enim  fuerat  otiarit  quam  turpiter  occupari.  Hinc 
m  im  i,  salii,  vel  saliares,  balatrones,  aemiliani,  gladiatores,  palaestritae,  gignadii, 
praestigiatores  malifici  quoque  multi  et  tota  joculatorum  scena  procedit.  Quorum 
adeo  error  invaluit,  ut  a  praeclaris  domibus  non  arceantur,  etiam  Uli  qui  obscenis 
partibus  corporis,  oculis  omnium  eam  ingerunt  turpitudinem,  quam  erubescat  videre 
vel  Cynicus.  Quodque  magis  mirere,  nee  tunc  ejiciuntur,  qvando  tumultuantes  inferius 
crebro  sonitu  aerem  foedant,  et  turpiter  inclusum,  turpius  produnt.  Xumquid  tibi 
videtur  sapiens,  qui  oculos,  vel  aures  istis  expanditP  Quis  tarnen  libenter  non  videat 
et  rideat,  quum  praestigiatoris  lotio  perfusi  ars  deletur,  et  oculis,  quos  malitia  sua 
praestrinxerat,  videndi  facultas  reparatur  f  Iucundum  quidem  est,  et  ab  honesta  non 
recedit,  vimm  probum  quandoque  modesta  hilaritate  muleeri,  sed  ignominiosum  est 
gravitatem  huiusmodi  laseivia  frequenter  resolvi.  Ab  istis  quoque  speetaculis,  et 
maxime  ab  obscenis,  viri  arcendus  est  oculus,  ne  Incontinentia  ejus,  mentis  quoque  im- 
pudicitiam  fateatur  . . .  Sacrae  quidem  communionis  gratiam  histrionibus  et  mimis, 
dum  in  malitia  perseverant,  ex  auetoritate  patrum  non  ambigis  esse  praeclusam. 
Unde  quid  fautoribus  eorum  immineat  colligis,  si  facientes.  et  consentientes  pari 
poena  recolis  esse  plectendos.  Qui  donant,  inquit,  histrionibus,  quare  donanfi  Hoc 
utique  in  Ulis  Jovent,  in  quo  nequissimi  sunt.  Nempe  qui  nequitiam  fovet,  estne 
bonusf  Quum  vero  omnium  istorum  sit  odibUis,  illorum  tarnen  qui  minus  nocent, 
malitia  tolerabilior  est. 

')  Harduin  II,  774.  De  agitationibus  sive  theatricis,  qui  jideles  sunt,  placuit 
eos,  quamdiu  agunt,  a  communione  separari.  Vgl.  auch  Hefele,  „Concilien- 
geschichte"  II,  283. 

J)  Caroli  Magni  capitularia.  Duplex  legationis  edictum  789  m.  Martio 
23  (M.  G.  h.  Leges,  sect.  II,  I,  S.  64)  31.  Ut  episcopi  et  abbates  et  abbatissae 
cupplas  canum  non  habeant  nee  falcones  nee  aeeipüres  nee  ioculatores. 

s)  Caroli  Magni  capitularia,  t.  V,  p.  1509  ed.  Heineccius:  Si  quis  ex 
scenicis  vestem  sacerdotalem  aut  monasticam  vel  mulieris  religiosae,  vel  qualicunque 
ecclesiastico  statu  simUem  indutus  fuerit,  corporali  poena  subsistat  et  exilio  tradatur. 

51* 


804  Neuntes  Kapitel. 

gegen  die  Mimen  im  byzantinischen  Osten  erlassen  werden  mufste 
(vgl.  oben  S.  134,  Anm.  2).  Im  bayrischen  Landfrieden  vom  Jahre 
1244  und  1256  werden  zusammen  mit  den  Lotterpfaffen  die 
histriones  und  ihr  weiblicher  Anhang,  Mimen  und  Miminnen, 
spilman  und  spilwip,  für  aufserhalb  des  Friedens  stehend  erklärt1). 


*)  (Mon.  Germ,  histor.  Leges  Sect.  IV,  Constitutiones  II,  577.)  Pax 
Bawarica  1244,  Nr.  427,  1244  ante  Jul.  25.  64  (61  L):  De  vagis  et  hystrioni- 
bus.  Item  clericos  tonsuram  laycalem  deferentes,  videlicet  vagos,  et  etiam  laicos 
istriones,  mulieres  secum  per  provinciam  ducentes,  et  quoslibet  ioculatores  nisi  in 
sua  parrochia  innatos  ponimus  extra  pacem. 

Pax  Bawarica  1256,  Nr.  438  (S.  600),  1256  ante  Nov.  11.  (50.  XXXIII.) 
De  vagis.  Loterpfaffen  mit  dem  langen  hare  und  spilleut,  di  diu  wip  mit  in  furent 
uzzerhalb  ir  pfarre,  di  sint  uz  dem  fride. 

Ähnlich  werden  in  Kapitularien  Ludwigs  des  Frommen  oder  "Kaiser 
Lothars  die  histrionen  und  scurren  für  unfähig  der  Zeugenschaft  vor  Gericht 
erklärt.  M.  G.  hist.  leg.  II,  1.  S.  334.  Capitula  singillatim  tradita  et  Hludo- 
wico  pio  vel  Hlothario  adscripta.  —  Capitulum  ultimnm  est  secundae  ad 
Ansegisum  appendicis  in  codice  Paris.  10758.  Originis  incertae  est.  8.  De 
non  accipiendis  qualibuscumque  personis  in  iuditio,  in  accusatione  et  testimonio. 
Hoc  sancimus,  ut  in  palatiis  nostris  ad  accusandum  et  iudicandum  et  testimonium 
faciendum  non  se  exhibeant  viles  personae  et  infames,  histriones  scilicet,  nugatores, 
manzeres,  scurrae. 

Wenn  im  Mainzer  Concilienbeschlufs  aus  derselben  Epoche  (847)  (Ad- 
ditamenta  ad  capitularia  regum  Franciae  orientalis  Nr.  248  in  Mon.  Germ, 
histor.  leges  II,  II,  S.  179)  von  den  Geistlichen  verlangt  wird:  ante  se  ioca  saecu- 
laria  vel  turpia  fieri  non  permittere,  so  sind  damit  die  Späfse  (ioca)  der  iocu- 
lares,  der  filfxoi  yeXotcov  gemeint.  Von  diesen  Späfsen  der  Mimen  ist  auch 
in  dem  concilium  Turonense  wie  Cabilonense  die  Rede.  Turonense  III 
(813),  Harduin  IV,  1024.  VII.  Ab  omnibus  quaecumque  ad  aurium  et  ad 
oculorum  pertinent  illecebras,  unde  vigor  animi  emolliri  posse  credatur,  quod  de 
aliquibus  generibus  musicorum  aliisque  nonnullis  rebus  sentiri  potest  Dei  sacer- 
dotes  abstinere  debent:  quia  per  aurium  oculorumque  illecebras,  vitiorum  turba  ad 
animam  ingredi  solet.  Histrionum  quoque  turpium  et  obscoenorum  nisolentias  ioco- 
tum  et  ipsi  animo  effugere  ceterisqice  sacerdotibus  effugienda  praedicare  debent. 
8.  Sacerdotibus  non  expedit,  saecularibus  et  turpibus  quibuslibet  interesse  jocis; 
venationes  quoque  ferarum  vel  avium  minime  sectentur. 

Cabilonense,  Chalons  sur  Saone  813,  II,  can.  IX.  Harduin  IV,  1034. 
IX.  Ab  omnibus  oculorum  auriumque  illecebris  sacerdotes  abstinere  debent:  et  camtm, 
accipitrum  falconum  vel  ceterarum  huiusmodi  rerum  cur  am  parvi  pendere:  et  h  istrio- 
num,  sive  scurronum  et  turpium  seu  obscenorum  iocorum  insolenüam  non  solum  ipsi 
respuant,  verum  etiam  fidelibus  respuendum  percussant. 


Der  römische  Mimus  im  Mittelalter.  805 

Noch  in  der  Pariser  Synode  vom  Jahre  1212  oder  1213  wird  es 
den  Bischöfen  eingeschärft,  am  Anfang  und  Ende  ihrer  Mahlzeiten 
müsse  eine  Lesung  aus  der  heiligen  Schrift  stattfinden  und  bei 
ihren  Gastmählern  dürften  keine  Mimen  auftreten1).  Das  wird 
ausdrücklich  verboten,  weil  es  gewifs  ebenso  die  Regel  war,  wie  bei 
den  Gastmählern  der  weltlichen  Grofsen.  Ich  erinnere  an  den 
Bischof  von  Ephesus,  der  auf  die  Schulter  einer  Mimin  gestützt 
zum  Gastmahl  kam  (vgl.  oben  S.  154).  In  einem  Concilien- 
beschlufs  von  Ravenna  vom  Jahre  1238  wird  hervorgehoben,  zu 
den  weltlichen  Festen  bei  der  Erteilung  des  Ritterschlages  und 
bei  Hochzeiten  fänden  sich  gern  die  histrionen  und  ioculatoren 
ein.  Dann  hätten  die  Laien  die  Gewohnheit  angenommen,  die 
Mimen  nach  Beendigung  des  Festes  zu  den  Geistlichen  zu  senden, 
und  diese  verschwendeten  nicht  selten  das  Kirchengut  an  die 
Mimen.  Fortan  aber  müsse  jeder  Kleriker  das  Doppelte  von 
dem,  was  er  von  KircheDgeldern  einem  Histrionen  gegeben  habe, 
den  Armen  aus  seinem  eigenen  Vermögen  darreichen').  So 
glaubte  schon  im  Altertum  der  Patriarch  Dioscoros  von  Alexan- 
dria ein  reiches  Vermächtnis,  das  den  Armen  gemacht  war,  besser 
für  die  Mimen  aufzuwenden  (vgl.  oben  S.  154,  155).  Auch  Erz- 
bischof Agobert  führte  Klage   über  das  Kirchengut,   das  für  die 


1)  Labbe  XI  (I),  77.  V.  Ut  in  menta  eorum  fiat  sacra  lectio  Statuimus 
etiam,  ut  in  mensa,  nahem  in  principio  et  in  ßne,  coram  eis  sacra  lectio  re- 
citetur:  et  ne  in  mensa  histriones,  vel  mimos  vel  eorum  audiant  instrumenta. 
Ähnlich  heifit  es  iu  einem  Hirtenbriefe  Tom  Jahre  1280  bei  Montfaucon, 
Catalog.  manuscr.  S.  1 158 :  Nullus  spectaculis  aiiquibus  quae  aut  in  nuptiis  aut  in 
scenis  exhibentur,  intersü. 

2)  Concilium  Ravennate  I,  anno  Christi  1286  (Labbe  XI  (U),  1238D,  E, 
1239  A,  B)  Capitula:  Ne  clerici  ioculatores  vel  histriones  a  laicis  trans- 
missos  recipiant.     .  .  .  cum  laici  decorantur  cingulo  militari,   seu  nuptias  contrakunt, 

ioculatores  et  histriones  transmittunt  ad  clericost  ut  eis  provideant 

statuimus,  ut  nullus  clericorum  nostrae  provinciae,  quocumque  fungatur  honore  vel 
statu,  a  talibus  ioculatores  vel  histriones  transmissos  recipiat,  seu  provideat 
aliquid  propter  victum,  etiam  transeundo.  Si  quis  autem  contra  fecerit  duplum  eius, 
quod  dederit  ioculatori  vel  histrioni,  restituere  ecclesiae,  a  qua  habet  beneficium, 
teneatur.  per  ipxum  in  MM  pauperum  convertendum. 


806  Neuntes  Kapitel. 

Mimen  vergeudet  wurde  (vgl.  oben  S.  795).  Unaufhörlich  wird 
den  Geistlichen  ihre  Freude  an  den  Mimen  und  ihren  Schau- 
spielen von  zeitgenössischen  Satirikern  vorgehalten.  So  klagt 
der  Archipoeta  darüber,  dafs  die  Geistlichen  wohl  die  Mimen, 
aber  nicht  ihn  mit  offenen  Armen  aufnehmen.  Walther  Mapes 
spottet  über  die  Kleriker,  die  für  die  Schauspiele  immer 
Zeit  haben1).  Noch  gegen  Ende  des  fünfzehnten,  Jahrhunderts 
werden  Synodalbeschlüsse  gegen  die  „mimi  et  ioculatores"  er- 
lassen 2). 

Schliefslich  fanden  sich  denn  auch  im  lateinischen  Westen 
ebenso  wie  im  byzantinischen  Osten  angesehene  Geistliche,  die 
den  Mimus  und  die  Mimen  nicht  so  ohne  weiteres  verwerfen 
wollten,  wie  z.  B.  der  heilige  Thomas  von  Aquino  (13.  Jahr- 
hundert)3). Ja,  sogar  die  Päpste  liefsen  es  sich  gefallen,  wenn 
man  ihr  Erscheinen  in  einer  Stadt  mit  Mimen  und  Spafsmachern 
feierte.  Als  Pabst  Hadrian  VI.  im  Jahre  1522  von  Spanien 
nach  Rom  reiste,  traten  in  dem  spanischen  Städtchen  Calahorra 
ihm  zu  Ehren  Mimen  auf.     Das  ist   ungefähr   dieselbe  Zeit,    in 


x)  Wright,  Latin  poems  commonly  attributed  to  Walther  Mapes,  p.  233 
(de  dirersis  ordinibus  hominum): 

Clerici  spectacula  saepe  visitabunti 
tabulas  non  deserent,  plateas  calcabunt 
et  canem  pacificum  stantes  excitabunt 
libris  tardabunt,  ad  ludos  se  properabunt. 

2)  So  z.  B.  auf  der  Synode  zu  Olmütz  VII  (Hartzheim  IV,  338):  nullus 
dericus  .  .  .  alicui  joculatori  seu  mimo  ex  nupciis  sibi  transmisso  per  aliquem 
aliquid  dare  praesumat.  Ebenso  Synod.  Frising.  1480  (Hartzheim  V,  512): 
mimis,  j oculatoribus,  hystrionibus,  buffbnibus  seu  hominibus  artis  lubrice 
pretextu  nuptiarum  vel  alterius  similis  cansae  (rae)  quidquam  largiantur.  Bei  Helele 
in  der  Conciliengeschichte  findet  sich  unablässig  das  ganze  Altertum  und 
Mittelalter  hindurch  die  Erwähnung  solcher  Beschlüsse  gegen  das  Theater 
und  die  Schauspiele,  insbesondere  aber  gegen  die  Mimen  und  Ioculatoren,  so 
1, 153,  747,  III,  307,  VI,  S.  171,  212,  433,  591,  597,  VII,  1,  S.  414  u.  415,  VII,  2, 
S.  414,  VIII,  6,  besonders  mit  Anm.  3,  37,  201,  293. 

3)  Vol.  II,  2  quaest.  168,  art.  3:  Histrionum  officium  non  esse  per  se  illici- 
tum,  dummodo  moderate  ludo  utantur,  id  est  non  utendo  illicitis  verbis  vel  /actis 
ad  ludum. 


Jongleur  nnd  Jongieresse.    Mimus  und  Mima.  807 

welcher  die' Sultane  der  Türken  ihre  Feste  durch  den  byzautini- 
schen  Mimus  verherrlichten1). 

IL 
Jongleur  und  Jongieresse.     Mimus  und  Mima. 

Der  Mime  ist  der  yelooTonoiög,  der  ftTpog  yeloi<*>v,  davon 
ist  iocularis  und  ioculator  die  lateinische  Übersetzung.  Schon  in 
der  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  bezeichnet  Firmicus  Materuus 
in  seiner  Astrologie  die  Mimen  als  „scenische  ioculatoren ■  *).  So 
steht  in  dem  alten  griechisch-lateinischen  Glossar  ptpoi;  =  iocu- 
laris und  im  Mittellatein  wird  mimus  und  ioculator  als  identisch 
neben  einander  gebraucht.  Erzbischof  Agobert  (im  neunten  Jahr- 
hundert) stellt  mimos'turpissimosque  et  vanissimos  ioculares  zu- 
sammen (vgl.  oben  S.  795,  Anm.  l)s). 


l)  Baluzii,  Miscellaneorum  lib.  III,  364.  Paris  1690.  Itinerarium 
Adriani  VI.  Pontificis  maximi  per  Blasium  Ortizium  in  Decretis  Doctorem 
Canonicumque  Toletanum  ac  generalem  Vicariam  summa  fide  collectum. 
IV.  De  honorifica  receptione  a  Lucronensibus  habita  in  Pontificis  ad- 
ventu  ....  Hinc  in  oppidum  de  Alcanadre  profeetus,  ibidem  pernoctavit.  Die 
proxima,  hora  nona .  in  antiquam  urbern  Calagurrium  receptus  solenniter  cum 
mim  15  et  larvis  aliisque  huiusmodi  ludis,  .iocunde  comitatus  in  Ecclesiam  cathe- 
dralem. 

')  Hatbeseos  lib.  VIII,  cap.  22 :  Histriones  faciet,  pantomimos,  ac  scaenicos 
ioculatores. 

3)  Du  Cange  citiert  Lambertus  Ardensis  pag.  247:  ministrantüms  mimicis, 
nebulonibus,  yarcionibus,  scurris  et  locularibus  (s.  v.  iocularis);  desgleichen  (s.  V. 
Mimare)  Lit.  remiss.  ann.  1361  in  Reg.  91.  Chartoph.  reg.  eh.  241:  Bequisi- 
rerunt  unum  mimum  seu  jugalatorem  (sie)  ....  pro  ludendo  et  spatiando  seu 
Mimando  cum  ipsis.  Das  Verbum  mimare  entspricht  dem  griechischen  ptfio- 
Xoytio&ai,  das  Strabo  von  den  Atellanenspielern  braucht  (vgl.  oben  S.  281, 
Anm.  1).  Es  ist  eine  mittellateinische  Bildung;  man  bedurfte  eines  eigenen 
Verbums  für  die  Thätigkeit  des  Mimen,  den  man  beständig  vor  sich  sah,  und 
der  einen  so  wichtigen  Platz  im  mittelalterlichen  Volksleben  einnahm.  Selbst 
für  die  mimischen  Spöttereien,  Foppereien  und  Spafsmachereien,  die  losen 
und  übermütigen  Reden  und  Narrheiten,  die  mimicae  ineptiae  und  artes 
mimicae  bildete  man  ein  besonderes  Substantivum :  mimaritiae.  Der  Abt 
Pirminius  (stnrb  758)  sagt:  Xullus  Christ ianorum  neque  ad  ecclesiam,  neque  in 
domibust  neque  in  trivio,  nee  in  ullo  loco  balationes,  cantationes,   saltationes,  Jocus 


gQg  Neuntes  Kapitel. 

In  spanischen  Concilienbeschlüssen  werden  gleichfalls  die 
juglars  mit  den  Mimen  identifiziert1). 

Allmählich  gaben  die  romanischen  Sprachen  vor  dem  griechi- 
schen Lehnwort  mimus  dem  echt  lateinischen,  auch  in  seiner 
stammhaften  Bedeutung  noch  den  Romanen  verständlichen,  iocularis 
und  ioculator,  altfransösisch  jogleor  (modern  Jongleur),  italienisch 
giocolare,  giocolatore,  spanisch  juglar,  den  Vorzug.  Davon  stammt 
im  Englischen  Juggler,  im  Althochdeutschen  gougaläri,  coucaläri, 
gouggiläri,  Mittelhochdeutschen  gougelaere,  goukelaere,  modern 
Gaukler. 

Nun  scheint  ja  allerdings  die  Schauspielkunst,  die  eigentliche 
Kunst  des  Mimen,  sehr  weit  abzuliegen  von  den  Fertigkeiten 
der  alten  Jongleure.  Von  ihnen  gab  Tobler  vor  mehr  als 
25  Jahren  in  der  formvollendeten  Abhandlung  „Spielmannsleben 
im  alten  Frankreich"  eine  lebensvolle  Schilderung.,  Ich  kann 
mir's  nicht  versagen,  daraus  eine  besonders  lehrreiche  Stelle  hier- 
her zu  setzen:  „Der  unbekannte  Dichter  der  breit  angelegten 
Novelle  „Flamenka"  weifs  kaum  ein  Ende  zu  finden,  wo  er  aufzählt, 
was  beim  Feste  zu  Ehren  der  in  Bourbon  eingetroffenen  jungen 
Gemahlin  an  Ohren-  und  Augenschmaus  den  Gästen  geboten 
worden  sei:  aufser  den  Liedern  aller  Gattung,  der  unabsehbaren 
Reihe  von  erzählenden  Gedichten  ......  aufser  den  vielerlei  In- 
strumenten, die  er  ertönen  läfst,  der  Fiedel,  der  Harfe,  der 
Flöte,  der  Pfeife,  der  Geige,  der  Rote,  dem  Dudelsack,  der 
Schalmei,  der  Mandoline,  der  Zither  und  einigen  anderen,  für 
welche  deutsche  Namen  fehlen,  erwähnt  er  der  Kunststücke,  die 
mit  Messern  ausgeführt  werden,  des  Puppenspiels  (wenn  wir  ihn 


et  lusa  diabolica  facere  non  praesumat.  Mimaiitias  et  verba  turpia  et  ama- 
toria,  vel  luxuriosa,  ex  ore  suo  non  proferat.  (De  singulis  libris  canonicis  sca- 
rapsus.  Migne,  Patr.  lat.  89,  pag.  1041 D.).  Allerdings  fielen  bei  den  Liebes- 
geschichten, welche  die  Mimen  darstellten,  verliebte  und  üppige  Reden  und 
besonders  im  roheren  Mittelalter  mögen  sie  direkt  schändlich  gewesen  sein. 
Von  Interesse  ist  hier  wieder  die  Zusammenstellung  von  mimaritiae  mit  iocus. 
>)  In  Conc.  Tarracon.  VIII,  ann.  1317  inter  Constit.  Mss.  reg.  Aragon.: 
Moneantur  (clerici)  quocl  nee  tafurarias  exerceant  bastaxi  aive  Iucglars  mimi,  etc.  (bei 
Du  Cange  s.  v.  ioculator). 


Jongleur  and  Jongieresse.     Mimus  und  Mima.  809 

richtig  verstehen),  der  Purzelbäume,  des  Kriechens  am  Boden, 
des  Tanzes  mit  einer  Flasche,  des  Springens  durch  einen  Reif; 
kurz,  wir  dürfen  ihm  wohl  glauben,  wenn  er  am  Ende  seiner 
Beschreibung  sagt:  Und  von  der  Fidein  lautem  Schall,  Vom 
Lärmen  der  Erzähler  all,  War  durch  den  Saal  ein  grosses 
Brausen!  —  Jaquemet  Saquesep,  der  die  Geschichte  des  Castellans 
von  Coucy  des  breiteren  erzählt  hat,  läfst  bei  ähnlicher  Ge- 
legenheit auch  Hörner,  Tamburine,  Zimbeln  ertönen,  Ochsen  und 
Bären  tanzen.  Jean  aus  Cond6  klagt  einmal  über  den  geringen 
Erfolg  seines  lehrhaften  Dichtens  und  schätzt  den  „Spielmann" 
glücklieh,  dem  es  besser  gelinge,  „zum  Ergötzen  der  Leute 
einem  Pferde,  einem  Bären,  einem  Hunde  mancherlei  Kunststücke 
für  die  Dauer  beizubringen  ■tl). 

Die  Jongleure  sind  also  vorwiegend  Gaukler,  Springer, 
Tänzer,  Bändiger  und  Abrichter  von  Tieren,  daneben  auch 
Spielleute,  Sänger  und  Erzähler;  die  Mimen  dagegen  sind  Schau- 
spieler. 

Nun.  wir  haben  gesehen,  wie  im  vierten  und  fünften  Jahr- 
hundert v.  Chr.  der  Stand  der  antiken  Mimen  aus  dem  der 
Gaukler  erwuchs,  wie  Gaukler  und  Mime  noch  später  sich  fried- 
lich nebeneinander  produzierten,  wie  selbst  das  grofse  mimische 
Drama  neben  sich  die  Produktionen  der  Gaukler  im  Dionysos- 
theater duldete,  ja  wie  gelegentlich  allerhandi  Gauklerkünste  in 
der  mimischen  Hypothese  selber  vorgeführt  wurden.  Ich  denke 
an  den  kahlen  Narren  mit  dem  unzerbrechlichen  Schädel  bei 
Synesius,  an  das  Blutspeien  des  Laureolus  und  seiner  Räuber, 
au  den  Hund,  der  im  Mimus  mitspielt.  So  ward  die  Verwandt- 
schaft zwischen  Mimen  und  Gauklern  nie    gänzlich    aufgehoben. 


')  Im  neuen  Reich.  Wochenschrift  für  das  Lehen  des  deutschen  Volkes. 
Leipzig  1895.  S.  327  u.  32 S.  Die  hübsche  Legende,  die  Tobler  hier  von 
einem  alten  Jongleur  erzählt,  der  als  Mönch  die  Jungfrau  Maria  weder  mit 
lateinischem  Gebet  und  Gesang  noch  sonstiger  mönchischer  Kunst  zu  ehren 
versteht  und  nun  vor  dem  Bilde  der  Gebenedeiten  ihr  zu  Ehren  seine  alten 
Sprünge  und  Gaukeltänze  machte,  erinnert  uns  an  den  greisen  Mimen,  der 
täglich  auf  dem  Kapitol  vor  dem  Standbild  Juppiters  diesem  zur  Ehre  einen 
Mimus  aufführte  (vgl.  oben  S.  71). 


810  Neuntes  Kapitel. 

Im  Mittelalter  war  das  Niveau  der  Volksbildung  arg  herunter- 
gedrückt, da  pafsten  sich  die  Mimen  dem  roheren  Geschmacke 
an  und  bevorzugten  wieder  mehr  ihre  ,alte  Gaukelkunst,  hatten 
sie  ja  doch  die  Gaukelbühne  des  d^avfiatonoiog  immer  bei- 
behalten. 

So  können  wir  uns  nicht  wundern,  den  alten  Mimen,  den 
Jogleor  als  Tänzer,  Springer,  Gaukler,  Messerwerfer,  Bärenführer 
und  Tierbändiger  wiederzufinden1). 

Mit  dem  Gaukler  wanderte  schon  im  klassischen  Altertum 
die  Gauklerin,  mit  dem  Mimen  die  Mimin,  mit  dem  Archimimen 
die  Archimimin,  und  als  der  Mimus  zum  Jongleur  wurde,  ward 
die  Mime  zur  Jongieresse.  In  einer  Urkunde  der  Corporation 
des  menetriens  ou  joueurs  d'instruments  de  la  ville  de  Paris ,  vom 
14.  September  1321 2)  werden  neben  Jongleurs  auch  jongleresses, 
neben  menestrels  auch  menestrelles  genannt.  Freilich  hatte  die 
jongleresse  auch  neben  der  mimischen  und  der  Gaukelkunst  den 
schlechten  Ruf  der  niederen  „Mimae"  von  diesen  geerbt.  So 
hat  denn  jongleresse  und  das  gleichbedeutende  menestrelle 
einen  bösen  Nebenbegriff3).  In  der  oben  genannten  Uckunde 
unterzeichnet  mit  den  Jongleurs  und  Menestrels  unter  anderen 
Miminnen  eine  Marguerite,  mit  dem  Spottnamen  la  fame  ou  moine. 


III. 
Jongleure  und  Mimoden. 

Wir  haben  die  Mimen  in  Mimologen  und  Mimoden  geschieden. 
Die  mittelalterlichen  Mimen  sind  zum  gröfseren  Teile  Mimoden. 


J)  Die  einschlägigen  Belegstellen  dafür  aus  der  altfranzösischen  Litte- 
ratur  siehe  bei  Freymond,  Jongleurs  und  Menestrels.    Halle  1883.    S.  1 6 folg. 

2)  Abgedruckt  bei  B.  Bernhard,  Recherches  sur  l'histoire  de  la  Cor- 
poration, des  menetriers  ou  joueurs  d'instruments  de  la  ville  de  Paris. 
Bibliotheque  de  l'ecole  des  chartes  t.  III,  p.  384. 

3)  Vgl.  darüber  Freymond  a.  a.  0.  S.  11.  Nachrichten  über  Spilwip 
giebt  es  aus  dem  frühesten  Mittelalter.  Vgl.  Reiffenbergs  Ausgabe  der 
Chronik  Mouskets.    Bd.  I,  p.  CXXXIX. 


Jongleure  und  Mimoden.  811 

Neben  den  hellenischen  Mimoden  und  Mimodinnen  stand  stets 
ein  Musikant  oder  eine  Musikantin  und  begleitete  die  Arien  mit 
Flöten,  Pauken  oder  Cymbeln  (vgl.  oben  S.  612ff.).  So  spielten 
die  Jongleure  und  sangen  dazu  oder  liefsen  ihren  Gesang  auch 
von  anderen  auf  Instrumenten  begleiten.  In  der  „Reise  Karls 
des  Grofsen*  heifst  es: 

E  cantent  e  vielent  e  rotent  eil  jugler 

(V.  413  u.  837.) 

Das  Singen  und  Musizieren  wurde  allmählich  zur  Haupt- 
sache1), doch  haben  noch  bis  in  die  späteste  Zeit  Spielleute  mit 
Musik  und  Gesang  zugleich  die  alte,  spezifisch  mimische  Kunst 
verbunden.  So  heifst  es  in  einem  „  Instrumentum  ■  vom  Jahre 
1482,  das  dem  Spielmann  Iter  ausgefertigt  war:  Mihi  nomen 
Iterius  trahens  originem  ex  Brabardiae  finibus  mimia  et  cantu 
victum  aquiro*).  Mimia  ist  aber  nicht,  wie  Du  Cange  denkt,  ein 
mittellateinisches  Wort,  sondern  findet  sich  schon,  wie  wir  saheu, 
im  Griechischen  bei  Philo  (vgl.  oben  S.  577  Anm.). 

Die  alten  Mimoden,  die  sich  zu  Jongleuren  und  Menestrels 
verwandelt  hatten,  bemächtigten  sich  dann,  da  sie  nun  einmal 
im  Mittelalter  die  Sänger  nn?  i%oxtjv  waren,  der  uralten  epischen 
Poesie  der  Germanen  und  Kelten  und  verdrängten  Barden  und 
Skalden.  Schliefslich  begannen  sie  gar  selber  an  der  Helden- 
poesie weiter  zu  dichten,  das  heifst  dann  „Spielmannsepik''  und 
diese  Spielmannsepik  schlägt  am  Ende  wieder  humoristische 
Töne  an,  weil  der  Spielmann  den  alten  Mimen  nicht  ganz  ver- 
leugnen konnte.  Der  Mime,  der  ioculator,  wird  eben  im  dunklen 
Mittelalter,  als  die  mönchisch  gewordene  Bildung  sich  von  allem 
Frohen,  Heiteren.  Volksmäfsigen  als  heidnischem  Teufelsblendwerk 
abwandte,  der  Träger  der  gesamten  Volkspoesie. 

Es  ist  eine  hohe  Kulturmission,  die  der  Mime,  der  immer 
etwas  von  dem  alten,  heidnischen  Hellenentum  beibehielt,  im 
Mittelalter  erfüllt,    der,    nach  der  alten  mimischen  Devise  qdvg 


M  Siehe  die  Nachweise  bei  Freymond  a.  a.  0.  S.  15  ff. 
2J  Bei  Du  Cange  s.  v.  mimia. 


812  Neuntes  Kapitel. 

ßioq  tö  &JV,  das  Recht  der  Lebensfreude  hochhielt,  aus  der  alle 
wahre  Poesie  und  besonders  alle  Volkspoesie  strömt.  Da  die 
vornehme,  gelehrte,  schriftmäfsige  Weisheit  der  Hellenen  im 
Staub  der  Bibliotheken,  vergessen  und  begraben,  moderte,  er- 
hielt wenigstens  der  niedere,  burleske  Mime,  der  wandernde 
Gesell,  etwas  von  der  alten,  heiteren  hellenischen  Welt  —  und 
Lebensauffassung  unter  den  Barbaren  lebendig  —  so  gut  er  es 
vermochte. 

Der  Mime  und  Jongleur,  als  der  Rhapsode  des  Mittelalters, 
ist  eine  seltsame  Erscheinung2),  aber  nicht  so  seltsam,  dafs  wir 


2)  Ich  gebe  hier  einige  Belegst'ellen,  die  intimere  Kenner  der  Litteratur 
des  Mittelalters  leicht  werden  vermehren  können,  für  mimus  =  Musiker, 
Sänger,  Rhapsode.  Als  König  Konrads  Heer  im  Jahre  973  von  den  Sachsen 
eine  blutige  Niederlage  erlitten  hatte,  sangen  nach  Widukinds  Zeugnis  die 
Mimen,  welche  Hölle  wäre  grofs  genug,  um  alle  die  Toten  aufzunehmen: 
tarda  caede  Francos  mulctati  sunt,  ut  a  mimis  declamaretur,  ubi  tantus  ille  infernus 
esset,  qui  tantam  multitudinem  caesorum  capere  posset.  Widukindi,  Res  gestae 
saxonicae  Lib.  I,  23.  Mon.  Germ.  hist.  V,  S.  428.  Du  Cange  teilt  aus  Nicolaus 
de  Braia  das  Lied  eines  Mimen  auf  König  Ludwig  VIII.  von  Frankreich 
mit  (s.  v.  ministelli  S.  393) : 

Dumque  fovent  genium  geniali  mutiere  Bacchi, 
Nectare  commixto  curas  removente  Lyaeo, 
Principis  a  facie,  citharae  celeberrimus  arte 
Assurgit  Mimus,  ars  musica  quem  decoravit. 
Hie  ergo  chorda  resonante  subintulit  ista: 
Inclyte  Rex  Hegum,  probitatis  stemmate  vernans, 
Quem  vigor  et  virtus  extollit  in  aethera  famae. 

So  singt  der  Mime  das  Lob  des  Königs  in  immer  höheren  Tönen,  um 
ihm  zum  Schlüsse  die  Freigebigkeit  als  die  höhste  Tugend  zu  empfehlen: 

Es  ist  eine  sonderbare  Eselgeschichte,  die  im  Asinarius  vel  Diadema 
erzählt  wird.  Es  war  einmal  ein  König  und  eine  Königin,  die  hatten  einen 
Sohn,  der  von  Gestalt  ein  Esel  war,  von  Sinnen  aber  ein  Mensch  wie  Lucius 
im  goldenen  Esel.  Dieser  Eselmensch  wollte  durchaus  das  Saitenspiel  er- 
lernen und  wendet  sich  an  einen  Zitherspieler,  der  ihn  das  lehren  soll; 
dieser  Sänger  und  Musikant  wird  ein  Mime  und  Spafsmacher  geheifsen, 
weil  mimus  und  scurra  eben  zusammengehören;  man  sagte  ja  schon  im  alten 
Latein  scurra  mimarius  (vgl.  oben  S.  199,  Anm  1).  Der  Esel  bittet:  esto 
magister,  ait,  o  citharista  mens.  Die  Bitte  wird  abgelehnt:  dixerat  hoc  MtMtti 
tremit  et  tabescit  asellus.     Da  fährt  der  Esel  den  citharista  an: 


Jongleure  nnd  Mimoden.  813 

sie    jetzt    nicht    erklären    könnten.      Aus    der    alten    ionischen 
Rhapsodie  ging,  da  die  Epik  allmählich  humoristisch  wurde,  die 


quid  tibi  lecator  de  me,  quid  scurra  videtur. 
Es  hilft  nichts,    der  Esel  will  durchaus   das  Lautenschlagen  lernen,    und  es 

gelingt: 

nunc  mimi  more  satis  arguto  canit  ort 

nunc  et  informi  palliee  dtdce  melos. 
Überhaupt  galt  der  Mime  schon  gegen  Ende  des  Altertums  als  eine, 
Art  Musikant.  So  ist  der  Mime  Philemon,  über  dessen  Ende  als  Märtyrer 
wir  oben  S.  179 ff.  berichteten,  auch  ein  Choraule.  In  den  mittelalterlichen 
Glossaren  wird  Choraule  einfach  mit  Mime  erklärt,  so  Gloss.  Sang.:  coraula, 
mimus,  cantator;  Gloss.  Vatic. :  choraula  mimus;  Papias:  choraule»  prineeps, 
ehori .  .  choraula  cantator  proprie  qui  cornu  canit  vtl  mimus.  So  wird  gar 
Taillefer,  der  wackere  normannische  Sänger  und  Held,  der  in  der  Schlacht 
bei  Hastings  den  Angriff  auf  die  Angelsachsen  beginnen  durfte,  in  Geffrei 
Gainer's  Estoire  Engleis  (Mon.  hist.  britannica,  1878,  p.  827,  V.  5271  ff.)  ein 
Jongleur  genannt.  In  dem  Carmen  Widonis  de  Ea-tingae  Proelio  heifst  er 
dann  entsprechend  mimus  und  histrio  (Mon.  histor.  brit.  p.  856  ff. V  In  der 
Summa  de  Poenitentia  aus  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
(abgedruckt  in  Huon  de  Bordeaux,  chanson  de  ge^te  par  M.  M.  F.  Guessard 
et  C.  Grandmaison,  Paris  1860,  Preface  p.  VI  u.  VII)  werden  drei  Arten  von 
Histrionen  unterschieden.  Da  sind  erstens  die  Histrionen,  die  da  wunder- 
liche Tänze  aufführen  unter  allerhand  obscönen  Gebärden  und  sich  ver- 
stellen, gelegentlich  auch  wohl  maskieren.  Unter  diesen  etwas  nngeschickten 
Termini  sind  unzweifelhaft  die  mimischen  Schauspieler  gemeint.  Der  Mime 
trägt  ja  nun  an  und  für  sich  keine  Maske,  aber  der  Atellanenspieler,  der 
nächste  Verwandte  des  Mimen,  trägt  sie,  und  im  Eselmimus  trat  der  Esel- 
mensch doch  auch  maskiert  auf.  Desgleichen  scheinen  im  mythologischen 
Mimus  die  Götter  Masken  getragen  zu  haben  (vgl.  oben  S.  583,  593,  681) 
Die  Pantomimen  traten  sogar  immer  maskiert  auf  Da  ist  es  verständ- 
lich, wenn  die  mittelalterlichen  Mimen,  als  die  einzigen  überlebenden 
Schauspieler  der  Antike,  gelegentlich  Masken  tragen.  Die  zweite  Gattung 
von  Histrionen  zieht  von  Hof  zu  Hof,  um  hier  Schmähungen  über  Ab- 
wesende vorzubringen.  Hier  wird  man  gut  thun,  an  Sotades  den  Cinaedo- 
logen  und  Ionicologen  zu  denken,  der  am  ägyptischen  Hofe  seine  mimi- 
schen Spottlieder  auf  die  syrischen  Könige  und  am  syrischen  Hofe  auf  die 
ägyptischen  Könige  vortrug.  Die  dritte  Gattung  der  Histrionen,  die  man  auch 
Ioculatoren  nennt,  sind  die  Sänger,  wir  sagen  die  Mimoden.  Sie  zerfallen 
in  zwei  Kategorien.  Die  einen  singen  in  den  Kneipen  und  bei  üppigen  Ge- 
lagen allerhand  Schandlieder;  das  sind  die  (oSai  nogrixai,  wie  die  Kirchen- 
väter die  Mimodien  und  die  cantica  in  den  Hypothesen  nannten.  Die  anderen 
singen  von  den  Thaten  der  Heiligen  und  der  Helden.    Diese  letzteren  Iocula- 


814  Neuntes  Kapitel. 

ionische  Mimodie  hervor,  der  Rhapsode  wurde  zum  Mimoden. 
So  können  wir  nun  auch  die  umgekehrte  Entwicklung  in  der 
mittelalterlichen  Epoche  verstehen,  da  der  Mimode  sich  zum 
Rhapsoden  zurückverwandelt. 

Diese  Spielleute,  Epenerzähler,  Sänger,  Tänzer,  Springer, 
Tierbändiger,  Zauberer  waren  gröfstenteils  keine  Spafsmacher, 
keine  Ioculatoren,  wie  konnte  man  sie  also  unter  einem  so  gänz- 
lich unpassenden  Begriffe  zusammenfassen?  Nun,  iocularis  ist 
eben  der  ptfiog  ysXoiow  und  Mimen  sind  diese  Leute,  wenn  auch 
nur  ihrem  Ursprung  nach,  alle. 

IV. 
Die  Jongleure  als  Ethologen. 

Doch  haben  die  Jongleure  niemals  den  eigentlichen  Beruf 
des  Mimen  als  Darsteller  der  verschiedenen  menschlichen  Typen 


toren  sind  die  einzigen  unter  den  Histrionen,  die  man  dulden  darf.  Ich 
setze  den  Text  hierher:  Sunt  eciam  alii  histriones  qui  nichil  operantur,  sed 
curiose  agunt,  non  habentes  certum  domicilium,  sed  circumeunt  curias  magnas  et 
locuntur  opprobria  et  innominias  (ignominias)  de  absentibus:  tales  et  dampnabiles 
sunt,  quare  prohibet  apostolus  cum  talibus  eibum  sumere,  et  dieuntur  tales  scurrae 
sive  magi,  quare  ad  nichil  aliud  utiles  sunt  nisi  ad  devorandum  et  ad  male- 
dicendum.  Est  tercium  genus  histrionum,  qui  habent  instrumenta  musica  ad  de- 
lectandum  homines;  sed  talium  duo  sunt  gener a:  quidam  enim  frequentant  pötaciones 
publicas  et  laseivas  congregationes ,  ut  content  ibi  laseivas  cantilenas,  et  tales 
dampnabiles  sunt,  sicut  alii  qui  movent  homines  ad  laseiviam.  Sunt  autem  alii, 
qui  dieuntur  joculatores,  qui  cantant  gesta  prineipum  et  vitas  sanetorum,  et 
faciunt  solacia  hominibus  in  egritudinibus  suis  vel  in  angustiis  suis,  et  non  faciunt 
innumeras  turpitudines  sicut  faciunt  saltatores  et  saltatrices  et  alii  qui  ludunt  in 
ymaginibus  inhonestis,  et  faciunt  videri  quasi  quedam  fantasmata  per  incantationes  vel 
alio  modo.  Si  autem  non  faciunt  talia,  set  cantant  gesta  prineipum  instrumentis  suis, 
ut  faciant  solatia  hominibus,  sicut  dictum  est,  bene  possunt  sustineri  tales,  sicut  ait 
Alexander  papa.  Cum  quidam  joadator  quereret  ab  eo  utrum  posäet  salvare  ani~ 
mam  suam  in  officio  suo,  quesivit  ab  eo  papa  utrum  sciret  aliquod  aliud  opus  unde 
posset  vivere.  Respondit  quod  non.  Permisit  igitur  dominus  papa  quod  ipse  viveret 
de  officio  suo,  dummodo  abstineret  a  predictis  laseivis  turpitudinibus.  Notandum 
est  quod  omnes  peccant  mortaliter  qui  dant  scurris  vel  lecatoribus  vel  predictis 
histrionibus  aliquid  de  suo.  Histrionibus  dare  nichil  aliud  est  quam  per  der  e 
etc.  etc.    (Ms.  de  la  Bibl.  Imp.,  Sorbonne,  1552,  fol.  91  r°  col.  2.) 


Die  Jongleure  als  Ethologen.  815 

und  zugleich  als  Spafsmacher  ganz  vergessen.  In  Herberts 
Dolopathos,  V.  6889,  ist  der  jogleor  ein  Imitator,  ein  Lustig- 
macher, ein  Komiker1).  Robert  der  Teufel,  der,  um  seine  Sünde 
zu  büfsen,  sich  von  dem  Abfall  nährt,  den  die  Hunde  übrig  lassen, 
wird  von  Alt  und  Jung  .zum  Narren"  gemacht,  sie  machen  aus 
ihm  ihren  „Jongleur*  ■). 

Zu  den  Aufgaben  der  Jongleure  und  Menestrels  gehörte  es, 
die  im  Turnier  verwundeten  Ritter  aufzuheitern.  Dabei  gaben 
sie  gerne  mimische  Charakterdarstellungen  zum  besten.  Sie 
machten  den  Dandy,  den  Eremiten  oder  den  Pilger  und  gaben 
besonders  Parodien  religiöser  und  kirchlicher  Personen  und 
Handlungen J).  In  einem  altfranzösischen  Fabliau  wird  berichtet, 
wie  die  Jongleure  sich  bemühen,  den  von  dem  Hausherrn  aus- 
gesetzten Preis  zu  erringen,  einer  spielt  den  Trunkenen,  ein 
anderer  den  Narren4).  Im  14.  Jahrhundert  mimten  Spielleute 
in  Oberitalien  Typen  von  Engländern  und  Bretonen5). 


')  In  Johannis  de  Alta  Silva  Dolopatos  sive  de  rege  et  Septem  sapienti- 
bus,  ed.  H.  Oesterley,  StraM)urg  1873,  dem  Originale  Herberts,  p.  55,  24, 
steht:  quod  riderit  vel  audierit  imitari  conatur,  gestus  comicos  repraetentat,  fran- 
git  verba  .... 

2)  De  Robert  fönt  lor  jougleor 
Petit  et  grant,  taut  rous  puis  dire 
Cor  ü  let  fait  moult  touent  rire. 

Vgl.  Freymond  a.  a.  0.  S.  IS. 

3)  Bretel,  Tournois  de  Chauvenci  V.  4341: 

Apres  le  vin  s'entracointerent 

Li  uns  a  Vautre  et  eneerchierent 

Qui  seit  faire  le  beguignage 

L'ermite,  le  pelerignaige, 

Le  provencel,  le  robardel, 

Berenglier  ot  le  chapelet 

Ou  aueuns  gieus  pour  esgaler  .... 
Das  Spiel  Berengier  et  le  chapelet  wird  an  derselben  Stelle  v.  4369 — 4462 
eingehend  beschrieben. 

4)  L'uns  fet  l'ivre,  l'antres  le  sot  (Montaiglon  et  Raynaud,  Recueil  d. 
fabliaux  3,  204).  Beide  Typen  waren  sehr  beliebt.  Siehe  den  Nachweis  bei 
Freymond  a.  a.  0.  S.  24. 

8)  Cibrario,    Economia   politica   del   medio   evo  Torino   1839,   S.  233: 


816  Neuntes  Kapitel. 

Der  Pariser  Dichter  Rutebeuf  verfafste  um  1265  nach  dem 
Muster  solcher  ethologischen  Vorführungen  der  Jongleure  den 
berühmten  Dit  de  l'herberie ]):  Ein  ärztlicher  Charlatan,  ein 
Quacksalber,  kommt  aus  dem  Orient,  wo  er  den  Sultan  von 
Ägypten  kuriert  hat,  und  will  mit  seinen  unfehlbar  wirkenden 
Arzneien,  die  er  endlos  aufzählt,  wie  der  Schustermeister  bei 
Herondas  seine  mannigfaltigen  Sorten  von  Schuhwerk,  nun  auch 
das  ihn  umdrängende  Publikum  beglücken. 

In  dem  Monologe  „Lob  und  Tadel  der  Frauen"  rühmt  sich 
der  Sprecher,  allein  die  drei  Rollen  des  Anklägers,  Verteidigers 
und  Richters  geben  zu  können;  als  Mal  Embouche  klagt  er  die 
Frauen  an,  als  Gentil- Courage  verteidigt  er  sie,  als  Richter  er- 
klärt er  sich  für  sie2). 

Wie  im  Dit  de  Therberie  trat  im  lakonischen  Mimus  der 
Charlatan  auf  und  pries  seine  wundersamen  Arzneien.  Seitdem 
blieb  der  Arzt  einer  der  beliebtesten  Typen  im  Mimus3)  und 
dann  in  der  attischen  Komödie.  Fremde  Völkertypen  darzu- 
stellen war  von  jeher  der  Mimen  besondere  Lust,  wie  die  Juden, 
Araber,  Armenier,  Gaetuler,  Galler,  Etrusker  des  griechischen 
und  römischen  Mimus,  und  die  zahlreichen  Völkertypen  des 
türkischen  Karagöz  zeigen.  Desgleichen  war  der  Betrunkene 
eine  der  ältesten  und  lustigsten  mimischen  Figuren.  Beliebter 
als  er  war  nur  noch  der  Narr,  der  stupidus  und  tMogug,  das 
ist  der  „sot"  der  Jongleure. 

Vom  Stupidus,  dem  beschorenen  Narren,  übernahm  der 
der  Jongleur  sogar  die  Gewohnheit,  sich  kahl  zu  scheeren, 
selbst  dann,    wenn  er  gar  kein  Narr,    sondern  ein  Sänger  oder 


„Rappresentando  i  costumi  delle  compagnie  i  inglesi  e  bretoni"  nach  „conti  dei 
tesorieri  generali  di  Savoia  nel  secolo  XIV".  Ich  entnehme  diese  Notiz  aus 
Creizenach,  Geschichte  des  neuen  Dramas,  Bd.  I,  S.  383. 

*)  So  heilst  es  bei  Montaiglon  Nr.  LXXX  v.  150  von  den  Menestrels 
und  Jongleurs:    Et  li  autres  dit  VErberie. 

2)  Vgl.  Petit,  Repertoire  du  Theatre  comique  en  France  au  moyen-äge, 
S.  261  folg.,  No.  216:  Monologue  fort  joyeulx,  auquel  sont  introduycts  deux  ad- 
vocatz  et  ung  juge,  devant  lequel  est  playdoye  le  bien  et  le  mal  des  dames. 

3)  Vgl.  oben  S.  469,  658  u.  ö. 


Die  Jongleure  als  Ethologen.  817 

Musikant  war,  wie  er  sich  ja  auch  ioculator,  nach  dem  alten 
(iipos  ytXoiwv  nannte,  selbst  da,  wo  er  gar  kein  Spafsmacher 
war1).  Allerdings  findet  sich  diese  Sitte  nicht  durchgängig 
und  doch  wohl  mehr  bei  den  Ioculatoren,  die  eigentliche  Spafs- 
macher waren2).  Auch  behielten  die  Jongleure  viel  von  der 
Tracht  der  Narren  im  Mimus.  Ihre  buntscheckige  Kleidung 
ähnelte  dem  Harlekinsrock  des  Mimen,  dem  centunculus8).  Und 
wenn  Radulphus  Glaber  von  dem  sonderbaren  und  armseligen 
Schuhwerk  der  Ioculatoren  spricht,  so  trugen  ja  auch  die  Mimen 
nur  ganz  dünne,  niedrige  Sohlen  und  hiefsen  davon  planipedes, 
womit  zugleich,  wie  die  römischen  Grammatiker  meinen,  ihre 
niedere  Art  gekennzeichnet  ist 


1)  Dafür  giebt  es  eine  grofse  Anzahl  von  Zeugnissen.  Gottfried  von 
Monmouth,  Historia  regum  Britanniae  (erste  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts,  ed. 
San-Marte,  Halle  1854,  S.  123),  lib.  IV,  cap.  I:  Cum  ergo  alterius  modi  aditum 
non  haberet:  rasit  capillos  suos  et  barbam,  cultumque  ioculatoris  cum 
cythara  cepit.  Deinde  intra  contra  deambulans,  moduli*  quos  in  lyra  componebat, 
»ese  cytharittam  exhibebat.  Glabri  Radulphi,  Historiarum  lib.  IV,  cap.  IX 
[Duchesne  Historiae  Francorum  scriptores  IV,  S.  38,  C/39,  A]:  Olim  igitur  circa 
millesimum  incarnati  Yerbi  annum,  cum  Rex  Roberto*  accepisset  tibi  Reginam  Con- 
stantiam  a  partibus  Aquitaniae  in  coniugium,  coeperunt  confluere  gratia  eiusdem 
Reginae  in  Fraudem  atque  Burgundiam,  ab  Aruernia  et  Aquitania  hominet  omni 
leuitate  vanissimi,  moribus  et  veste  dittorti,  armis  et  equorum  pha- 
leris  incompositi,  a  medio  capitis  nudati,  histrionum  more  barbit 
rasi,  caligis  et  oereis  turpissimi,  fidei  et  pacis  foedere  omnino  vaeui. 
Wiederholt  wird  die  Tonsur  als  Zeichen  der  Narrheit  angegeben: 

Mez  regardez  quel  apostol! 
ü  est  tondu  comrne  ung  fol. 

Martire  de  Saint  Pere  et  de  saint  Pol  Jubinal, 
Mysteres  inedits  1. 1,  pag.  78. 

2)  Vgl.  bei  Montaiglon  Fabliauxsammlung  No.  I,  V.  54,  No.  54,  V.  208 ff. 

3)  So  citiert  Du  Cange  S.  422,  Joannes  Signiensis  Episc.  in  Vita  S.  Beraldi 
Episc.  Marsorum  :  Alii  quod  proprie  Iocularium  est,  ab  utroque  latere  divisis,  item 
mixtis  coloribus,  vestimenta  variabant  (s.  v.  iocularis).  Der  buntscheckige  Auf- 
zug des  Mimen  ist  für  das  späte  Mittelalter  auch  bezeugt  durch  Liudprand 
in  der  eigentümlichen  Stelle  seiner  Antapodosis,  die  wir  oben  S.  797  näher 
besprochen  haben. 

Reich,    Mimus.  52 


818  Neuntes  Kapitel. 

Neben  dem  grofsen  dramatischen  Mimus  giebt  es  den  recita- 
tiven,  ob  es  nun  eine  Mimodie  oder  Mimologie  ist;  er  wird  von 
einem  einzigen  Sprecher  in  einer  Kolle  vorgetragen,  ähnlich  wie 
der  zweite  Mimiambus  des  Herondas,  in  dem  allein  Battaros,  der 
Frauenwirt,  vor  Gericht  spricht,  oder  wie  Theokrits  „Zauberinnen", 
in  denen  allein  Simaetha  redet.  Das  ist  dann  dieselbe  Form 
des  Mimus  wie  im  Dit  de  l'herberie.  Öfters  aber  wechselt  der 
Sprecher  die  Stimme  und  die  Rolle,  wie  im  „Lob  und  Tadel  der 
Frauen"  und  bringt  mehrere  Personen  zur  Darstellung,  ähnlich 
wie  in  des  Herondas  „Kupplerin",  Schulmeister",  „Schuster" 
und  den  meisten  übrigen  Mimiamben,  oder  in  Theokrits  Adoniazusen 
und  seinen  bukolischen  Mimen1).   Auf  dem  Gastmahle  Trimalchios 


!)  Diese  Ethologieen  der  mittelalterlichen  Mimen  und  Ioculatoren 
machen  die  Art  des  alten  recitativen  Mimus  noch  deutlicher.  Petit  bemerkt 
zum  „Lob  und  Tadel  der  Frauen"  a.  a.  0.  S.  261 :  Cette  pikce  offre  une  parti- 
cularitt  curieuse:  eile  etait  jouee  par  un  seul  acteur  qui  remplissait  trois  rbles 
differents.  Cet  acteur  de" dar e  se  nommer  Verconus;  il  vante  la  souplesse  de  son 
talent  et,  pour  en  fournir  la  preuve,  il  s1  offre  a  plaider  tout  seul  pour  et  contre 
l'fionneur  des  Dames,  et  meme  h  figurer  le  Juge  qui  tranchera  le  differend.  So 
haben  wir  also  vor  diesem  französischen  recitativen  Mimus  noch  ein  Pro- 
oemium,  womit  ja  allerdings  die  dramatische  Illusion  gestört  wird;  aber  da 
nur  ein  Darsteller  für  mehrere  Personen  auftritt,  ist  diese  Illusion  im 
recitativen  Mimus  ja  von  vornherein  geopfert.  Theokrit  beginnt  in  den 
meisten  Mimen  gleich  mit  dem  Dialoge,  gelegentlich  aber  durchbricht  er 
auch  dieses  dramatische  Prinzip  und  läfst  durch  seinen  Kecitator  ein  kleines 
orientierendes  Proemium  im  erzählenden  Stile  voranschicken.  So  lautet  die 
erzählende  Einleitung  im  sechsten  Idyll  der  BovxoXiaatan 

Aätpvtg  xal  Aa^ioixaq. 
AafxoiTag  %(ü  Aäipvis  6  ßovxöXog  eis  eva  %(Öqov 
räv  ayiXav  nöx\  "Agare,  avväyayov  rjs  <?'  o  fiev  avrcöv 
71vqq6s,  6  d'  rl[uye'vecos•  tnl  xquvciv  di  tiv'  afiifoi 
iCöfievoi  fhe'Qeos  fiiaoi  äfiatt  toikS'  iteidov. 
7tQccTos  d"  agl-aro  Aaqvis,  tnel  xal  7iqätog  iqiadev. 
Darauf  beginnt  dann  der  dramatische  Wettgesang. 

Ja,  dieser  bukolische  Mimus  nähert  sich  soweit  der  Erzählung,  dafs 
sogar  der  Schlufs  wieder  episch  wird:  Damoetas  küfste  den  Daphnis,  sie 
beschenkten  sich  gegenseitig  und  rings  im  üppigen  Grase  tanzten  die  Kälber. 
Ebenso  hat  der  achte  bukolische  Mimus  „BovxoXiaoral,  Acupvts  xal  MevaXxw;" 
einen  erzählenden  Prolog  und  Epilog,   und  der  elfte  Mimus,  „Der  Kyklop", 


Die  Jongleure  als  Ethologen.  819 

ergötzt  man  sich  an  diesen  Pägnien,  wie  Plutarch  sie  nennt,  an 
den  Scenen  aus  dem  Leben  der  Vetturine  und  Marktschreier,  also 
auch  der  Charlatane,  doch  brauchen  es  nicht  gerade,  wie  im  Dit 
de  l'herberie,  Ärzte  zu  sein.  Der  Mime  Vitalis,  der  wahrscheinlich 
an  den  Anfang  des  Mittelalters  gehört,  ist  solch  ein  einzeln  .auf- 
tretender Ethologe  und  Vertreter  des  recitativen  Mimus  (vgl.  oben 
S.  599,  Anm.  3).  Die  Jongleure  haben  also  unter  sich  auch  die 
direkten  Erben  der  alten  hellenischen  Ethologen  gehabt,  die  mit 
denselben  mimischen  Darstellungen  das  mittelalterliche  Publikum 
ergötzten,  wie  ihre  Vorfahren  die  antike  Welt.  Nur  haben  diese 
mimischen  Pägnien  des  Mittelalters,  von  dem  berühmten  Dit  de 
l'herberie  abgesehen,  nicht,  wie  in  der  Antike,  vornehme  Dichter 
gefunden,  die  sie  kunstmäfsig  gestalteten,  und  darum  wissen 
wir  heute  so  wenig  von  ihnen. 


hat  gar  zwei  Prologe,  eine  Widmung  an  Aratos  und  dann  eine  epische  Ein- 
leitung über  Polyphems  Liebe  zu  Galatea.    Dann  erst  folgt  die  dramatische 
Mimodie,  in  der  Polyphemos  seine  Liebe  zu  Galatea  erklärt. 
Die  beiden  Schlufszeilen  sind  wiederum  erzählend: 

„Also  linderte  sich  damals  Polyphemos  die  Liebe 

Durch  den  Gesang,  und  schaffte  sich  Ruh',  die  mit  Gold  nicht  erkauft  wird." 

(Mörike.) 

Das  21.  Idyll,  „Der  Fischer",  ist  gewifs  durch  und  durch  ein  Mimus  (vgl. 
darüber  oben  S.  373  ff.,  über  den  Fischer  als  spezifisch  mimische  Figur  vgl. 
auch  oben  S.379,  664,  665).  Aber  auch  dieser  Mimus  hat  wieder  zwei  Prooemien, 
das  erste,  eine  Widmung  an  Diophantes.  stellt  Betrachtungen  an  über  die 
Armut  als  Erweckerin  der  Künste;  das  zweite  schildert  erzählend  das  Leben 
der  beiden  alten  Fischer,  erst  dann  wird  der  Mimus  mit  dem  Zwiegespräch  der 
Fischer  rein  dramatisch,  um  auch  so  zu  endigen.  Wäre  der  Mimus  an  und 
für  sich  rein  dramatisch,  wäre  er  nur  als  Drama  gedacht  und  nur  als  Drama 
dargestellt,  hätte  Theokrit  nie  diese  Form  wählen  können;  er  beherrschte 
ja  auch  die  scheinbar  dramatische  Form  des  recitativen  Mimus  nicht  weniger 
gut  wie  Herondas;  dann  wären  die  erzählenden  Zuthaten  unverständlich. 
Aber  wer  den  recitativen  Mimus  versteht,  der  begreift  leicht,  wie  der 
mimische  Recitator  durch  kleine  erzählende  Erläuterungen  erst  in  seinen 
Zuhörern  die  rechte  Stimmung  erwecken,  sie  über  die  dramatische  Situation, 
in  der  er  sich  produziert,  aufklären  möchte.  So  thut  es  der  Recitator  des 
französischen,  so  der  des  Theokriteischen  Mimus. 

52* 


820  Neuntes  Kapitel. 

V. 
Die  mittelalterlichen  Hofnarren  und  die  Moriones  im  Mimus. 

Dem  modernen  Gefühl  erscheint  der  Hofnarr  als  etwas  Un- 
antikes, spezifisch  Mittelalterliches.  In  Wahrheit  aber  kennt 
das  ausgehende  Altertum  den  Hofnarren  schon  völlig  in  der  aus- 
geprägten Art,  die  er  im  Mittelalter  und  im  Beginne  der  modernen 
Zeit  zeigt.  Schon  die  Mimen,  die  am  Hofe  Philipps  gerne 
gesehen  wurden,  mögen  dort  als  eine  Art  von  Hofnarren  ge- 
golten haben.  Später  gab  es  an  den  Höfen  der  Diadochen  grofse 
Mimenbanden,  die  auf  dem  Hoftheater  zu  spielen  hatten  und  auch 
gelegentlich  bei  Gastmählern  und  Gelagen  auftraten.  Daneben 
aber  fanden  sich  noch  mimische  Einzeldarsteller,  Logomimen, 
Mimoden  und  Mimodinnen,  an  denen  die  Fürsten  besonderes 
Gefallen  hatten  und  mit  denen  sie  persönlich  umgingen,  wie 
Antiochus  der  Zweite  mit  dem  Logpmimen  Herodot1).  Sulla 
hatte  in  seiner  Gesellschaft  Mimen  und  Mimoden,  auch  die 
römischen  Kaiser  hatten  gerne  Mimen  und  mimische  Spafsmacher 
(scurrae  mimarii)  in  ihrer  nächsten  Umgebung.  Am  Hofe  des 
Tiberjus  gab  es  einen  mimischen  Spafsmacher,  der  Advokaten 
ethologisch  darstellte8).  Wie  sehr  sich  die  römischen  Kaiser  den 
Mimen  geneigt  zeigten,  habe  ich  oben  im  einzelnen  ausgeführt. 
Wenn  sie  neben  den  grofsen  Mimengesellschaften  noch  einzelne 
Mimen  besonders  in  ihre  Nähe  zogen,  so  wollten  sie  eben  durch 
deren  Späfse  und  Narrenpossen  ergötzt  werden,  sie  mufsten  ihnen 
vor  allein  darum  bei  der  Tafel  aufwarten,  wie  es  schon  Sulla 
liebte.  Der  unterhaltendste  mimische  Typus  aber  ist  der  Narr, 
der  mimus  calvus,  der  ficogoc  (fakaxgd^  der  stupidus  und  morio. 

In  den  grofsen  Haushaltungen  der  Antike  that  man  es  den 
fürstlichen  Hofhaltungen  nach  und  hielt  gleichfalls  ganze  Mimen- 
trupps, wie  z.  B.  Trimalchio  sich  eine  Schauspielerbande  gekauft 
hat,  die  er  Atellanen  spielen  läfst,  meistens  aber  begnügte  man 


*)  Vgl.  oben  S.  193  Anm. 
2)  Vgl.  oben  S.  152,  Anm.  2. 


Die  mittelalterlichen  Hofnarren  and  die  Moriones  im  Mimus.       821 

sich   mit    einem   einzelnen  Mimus  oder  dem  mimischen  Narren, 
der  zum  Haus-  und  Hofnarren  wurde. 

Diese  mimischen  Hofnarren  hatten  besonders,  wie  im  Mittelalter, 
bei  Gelagen,  Gastmählern  und  Gesellschaften  für  die  Unterhaltung 
der  Gäste  zu  sorgen.  Ein  Gelage  ohne  die  Aufführung  eines  mimi- 
schen Schauspiels  oder  ohne  die  Narrenspäfse  wenigstens  eines 
mimus  calvus  war  ganz  undenkbar.  Wir  finden  z.B.  diesen  mimischen 
Hofnarren  auf  einem  Gastmahl,  das  Lukian,  wie  einem  anderen,  das 
Alkiphron  beschreibt,  und  wenn  Plutarch  von  Gastmählern  spricht, 
kommt  er   sofort  auf  den  Mimus  zu   reden.     Diese  Hofnarren1) 


x)  Vgl.  auch  Plinius,  Ep.  IX,  17:  C.  Plinios  Genitori  suo  S.  Beeepi litterat 
tuas,  quibus  quereris  taedio  tibi  fuisae  quamris  lautiaimam  cenam,  quia  scurrae  cinaedi 
moriones  mensis  inerrabant.  vis  tu  remittere  aliquid  ex  rugü?  equidem  nihil  tote 
habeo,  habentes  tarnen  fero.  cur  ergo  non  habeol  quia  nequaquatn  me  ut  inexpectatum 
festirumve  delectat,  siquid  molle  a  cinaedo,  petulans  a  scurra,  (von  der  petulantia 
der  scurrae  mimarii  bei  Gastmählern  haben  wir  eben  gehandelt)  shdtum  a 
morione  pro/ertur.  Der  Zoten  reifsende  Cinaede  beim  Gastmahl  der  römischen 
Grofsen  gehörte  gleichfalls  zu  den  Mimen,  wenigstens  wenn  er,  wie  es  nach 
den  Worten  des  Plinius  den  Anschein  hat,  ein  Cinaedologe  oder  Iouicologe 
war.  Des  Morio  Dummheit  erwies  sich,  wie  im  Mimus  nicht  selten,  als  fin- 
giert.   Vgl.  Martial  VIII,  13: 

Morio  dictus  erat:  viginti  milibus  emi. 
Bedde  mihi  nummos,  Gargiliane:  sapit. 

Flögel  handelt  sehr  gründlich  und  systematisch  von  den  Hofnarren 
und  Lu-tigmachern  erstens  bei  den  weltlichen  Fürsten,  deutschen,  spanischen, 
italienischen,  französischen,  englischen,  niederländischen,  ungarischen,  polni- 
schen, rus-i-chen,  schwedischen,  dänischen;  zweitens  bei  den 'geistlichen 
Herren,  Päpsten,  geistlichen  Churfürsten,  Cardinälen,  Erzbischöfen,  Äbten 
uud  Weltpriestern.  Endlich  kommt  er  auf  die  Volksnarren,  und  der  erste 
und  älteste  darunter  ist  Tyll  Eulenspiegel.  Von  den  Volksnarren  der  Antike 
weifs  Flügel  noch  nichts.  Wir  erinnern  uns  jetzt  an  die  Bajazzos,  die  mit  dem 
Prügelholze  in  der  Faust  nach  Hieronymus'  Zeugnis  ihre  mimicae  ineptiae 
und  Narrenteidungeu  auf  dem  Markte  verübten.  Über  die  mancherlei  Mimen 
niederer  Art,  die  auf  Markt  und  Strafse  ihr  Wesen  trieben,  hat  schon  Otto  Jahn 
a.  a.  0.  mancherlei  gesammelt  (vgl.  oben  S.  540),  auch  ich  habe  darüber  im 
Mimusprogramm  einiges  angemerkt.  Also  auch  die  Antike  hatte  ihre  Volks- 
narren, welche  die  ineptiae  der  Mimenbühne  auf  Markt  und  Strafse  ver- 
legten. Gelegentlich  wurden  auch  wirklich  närrische  Menschen,  wie  der 
arme  Irre  Karabas.  den  man  zum  König  im  Mimus  herausputzte  und  als 
König  verehrte,    vom  Pöbel,  der  nun  einmal  solch'  einen  Volksnarren  haben 


822  Neuntes  Kapitel. 

heifsen  bei  den  Römern  „moriones",  nach  dem  [moqos,  dem  Narren 
im  Mimus. 


mufs,  dazu  gestempelt.  Wer  diese  Volksnarren  der  Antike  kennt,  wird  auch 
einen  eigentümlichen  Typus  mönchischer  Askese,  „die  Narren  um  Christi 
willen",  begreifen,  deren  Prototyp  der  Heilige  Symeon  Salos  ist.  Wir  haben 
oben  (S.  684,  685  Anm.)  aus  seiner  Vita  den  Streich  berichtet,  den  er  einem 
Mimen  spielt.  Es  sind  die  tollsten  Narrenpossen  und  Narrenstreiche,  die 
dieser  „syrische  Till  Eulenspiegel",  wie  ihn  Geltzer  a.  a.  0.  S.  30  treffend 
nennt,  zur  Ehre  Gottes  verübt,  und  die  Vita  dieses  Narren  um  Christi  willen 
ist  trotz  ihres  ernsthaft  -  geistlichen  Charakters  ein  echtes  Volksbuch,  wie 
das  vom  Eulenspiegel  voll  derber  Schwanke  und  Narrenteidungen.  Die 
Streiche  des  Narren  erinnern  stark  an  die  mimischen  Ränke  und  Künste, 
Kabalen  und  Foppereien,  die  „artes  mimicae".  Unter  dem  Scheine  der  Narr- 
heit hält  Symeon  die  ganze  Welt  zum  Besten,  wie  der  derisor  im  Mimus. 
Vor  allem  führt  der  Heilige  wie  dieser  unablässig  sein  Prügelholz  mit  sich 
herum,  von  dem  er  den  ausgiebigsten  Gebrauch  macht.  Natürlich  fehlen 
auch  die  Lazzi  der  mimischen  Narren  nicht.  An  einem  Sonntage  nahm  er 
Nüsse  und  warf  damit  unter  die  Gemeinde,  die  sich  zum  Gottesdienst  ver- 
sammelte, und  als  man  ihn  hinauswerfen  wollte,  lief  er  schnell  auf  die 
Kanzel  und  zielte  mit  seinen  Nüssen  nach  den  Weibern  auf  den  Emporen 
(Migne  93,  1707  D).  Bald  stellte  er  sich  hinkend,  bald  hielt  er  einem  eilig 
Vorübergehenden  das  Bein  hin,  sodafs  er  stürzte.  Gelegentlich  hielt  er  auch 
förmliche  Reden  an  den  Mond  (Migne  93,  1726  B).  Auch  ging  er  in  die 
Häuser  der  Reichen  und  spafste  (nat&iv)  und  that  so,  als  ob  er  die  Mägde 
küfste ;  und  als  eine  Magd  schwanger  wurde,  entging  er  dem  schwarzen  Ver- 
dacht nur  durch  ein  göttliches  Wunderzeichen.  Migne  93,  1763  B.  War 
der  Narr  im  Mimus  beschoren,  so  war  es  der  Narr  um  Christi  willen  als 
Mönch  ebenfalls.  So  liefsen  sich  denn  die  guten  Bürger  von  Emesa  diesen 
geistlichen  Clown  Wohlgefallen,  da  er  sich  äufserlich  fast  garnicht  von  den 
Bajazzos  unterschied,  welche  die  Späfse  der  Mimenbühne  vor  dem  Volke  auf 
Markt  und  Strafsen  trieben  (vgl.  oben  S.  753,  Anm.  3).  Sein  Hauptquartier  hatte 
der  Narr  in  einer  Schenke  aufgeschlagen,  wo  er  Bohnen  verkaufte.  Natür- 
lich duldete  der  Wirt  den  Bajazzo  gerne,  denn  er  lockte  ihm  zahlreiche 
Kundschaft  an:  'Hv  Sa  lianXayxvog  6  xän^Xog,  dioie  noXXäxig  ovSa  rrjv  Tf>o(pTjV 
aiiTOV  ISiSov,  xuintQ  noXXrjv  7iQ«aiv  a/av  Siä  tov  ZaXov.  '£lg  iv  rä£ti  yaq 
/mtsiÖqov  eXayov  7iQog  aXXr\Xovg  ol  noXltaf  "Aytofitv,  nCco/Atv  onov  6  2aX6g 
(Migne  a.a.O.  S.  1712 A).  Wenn  dieser  Wundermann  sich  auch  auf  der 
Mimenbühne  hinter  dem  Siparium  herumtreibt  (vgl.  oben  S.  685  Anm.), 
so  kann  das  nicht  auffallen,  von  dort  her  hat  er  ja  den  gröfsten  Teil 
seiner  „mimicae  ineptiae"  und  seiner  Lazzi  her.  Mag  es  nun  mit  der  Gott- 
seligkeit und  Heiligkeit  dieses  eigentümlichen  Gottesmannes  sein  wie  es 
wolle,  jedenfalls  zeugt  diese  Vita  für  die  Gewalt,   mit   der  das  Christentum 


Die  mittelalterlichen  Hofnarren  und  die  Moriones  im  Mimus.       823 
So  kommt  auch  in  Philistions  Philogelos  in  einer  vornehmen 


damals  alle  Schichten  des  Volkes  bis  in  die  niedrigsten  durchdrang,  wollten 
doch  damals  selbst  die  Clowns  ihre  Späfse  zur  höheren  Ehre  Gottes  ausüben. 
In  der  That  sind  dem  Heiligen  in  seiner  Clownmanier  mancherlei  Bekehrungen 
zur  orthodoxen  Kirche  gelungen,  Bekehrungen,  bei  denen  besonders  das 
mimische  Prügelholz  und  allerhand  scherzhafte  Wunder  eine  Rolle  spielten. 
Wenn  jemand  Geld  gestohlen  ist,  geht  er  zu  dem  Narren  um  Christi  willen, 
und  gegen  eine  kleine  Entschädigung  entlarvt  dieser  den  Dieb  und  nennt 
den  Ort,  wo  das  Geld  verborgen  liegt.  Allerdings  übt  solcherlei  Kunst  auch 
Dossenus,  der  Charlatan  in  der  Atellane.  Jedenfalls  können  wir  aus  der 
Schilderung  dieses  syrischen  Till  Eulenspiegel  ersehen,  warum  gerade  Syrien 
die  besten  Komiker  für  den  Mimus  bot.  Noch  in  der  „veteris  orbis  de- 
scriptio"  heifst  es:  Tyrus  und  Berytos  lieferten  den  Römern  die  besten 
Mimen,  Caesarea  die  besten  Pantomimen,  Heliopolis  die  besten  Musiker. 
Jedenfalls  hat  sich  diese  alte  graeco-syrische  Narrentradition,  die  so  nahe 
Zusammenhänge  mit  dem  Mimus  hat,  in  Emesa  weiter  erhalten,  als  Höms 
ist  es  später  das  arabische  Schiida,  die  Heimat  der  orientalischen  Hans- 
würste und  Eulenspiegel. 

Noch  bekannter  als  Symeon  ist  in  der  katholischen  Kirche  der  hl. 
Andreas,  „der  Narr  um  Christi  willen",  dessen  Narrheiten  zum  grofsen  Teile 
mit  denen  Symeons  identisch  sind.  Stil  und  Sprache  weisen  diese  Vita,  die 
Pater  Conr.  Janning  (A.  A.  S.  S.  Mai  T.  VI,  Corollarium  p.  1*— 103*)  1886 
herausgab,  in  sehr  späte  Zeiten.  Symeon  Salos  erscheint  als  ein  Mann  der 
Vorzeit;  die  Bulgaren  haben  schon  die  Hämushalbinsel  besetzt;  Janning 
dachte  an  das  zehnte  Jahrhundert,  freilich  ist  mit  Leo  dem  Grofsen,  der  er- 
wähnt wird,  schwerlich  Leo  der  Weise  (886—911)  gemeint.  Vgl.  Geizer, 
Leontius  von  Neapolis,  Leben  des  Heiligen  Johannes  des  Barmherzigen,  Erz- 
bischofs von  Alexandrien,  S.  XIII.  Auch  in  der  Vita  des  heiligen  Narren 
Andreas  ist  viel  vom  Theater  und  vom  Mimus  die  Rede. 

In  einer  Vision  fühlt  sich  Symeon  ins  Theater  entrückt,  dort  steht  auf 
der  einen  Seite  eine  Schaar  Mohren,  auf  der  anderen  eine  Menge  Männer 
in  weifsen  Kleidern,  die  mit  einander  ringen,  und  Symeon  besiegt  in  heifsem 
Ringen  den  Anführer  der  Schwarzen,  es  ist  Satanas  selber.  Idno  tov  <f6ßov 
<f*  vnvco  ßu&näiw  aiayt&iis  6  Mctxdowg,  ogä  xai  idov  ort  wv  &täto(o,  xai 
r\v  h  t$  &>i  fitoii  tov  9tdiQoi  . . .  (a.  a.  0.  S.  6*B).  Eine  fromme  Christin, 
die  beständig  vom  Satan  versucht  wird,  sieht  sich  im  Traume  im  Theater 
des  Hippodroms  stehen  und  voll  leidenschaftlichem  Verlangen  die  Bildsäulen 
umarmen,  die  sich  dort  befinden:  nältv  oirv  brtqtt  vixtI  öoä  iavri]v  iv  tü> 
&laTQ(i>  tov  inTiodoouiov  iarwaa  xai  aana^ouivri  td  ixuoe  liddÄuar«,  virtro- 
fUrq  irnb  noqvtxrfi  Inidvuias  toi  ovyytv£o9ai  uvroig.  (S.  62A.)  Am  Ende 
seines  Lebens  verkündet  Andreas  Salos  die  Ereignisse  vor  dem  Untergange 
der  Welt  und  dem  letzten  Gericht.    Ehe  der  Antichrist  in  die  Welt  kommt, 


g24  Neuntes  Kapitel. 

Haushaltung  ein  Narr  {fiooQÖg)  vor,  an  dessen  körperlichen  Reizen 


wird   ein   schändliches  Weib   aus  dem  Pontus  Namens  Mondion  in  Byzanz 
herrschen,  eine  Mime  und  Tänzerin;  dann  wird  man  in  den  Kirchen  Tänze, 
satanische  Tragödien  und  Possenspiele  (Mimen)  aufführen :    Töts  dk . . . .  dva- 
örrjosTai  yvvaiov  ala%odv  MovSiov  ix  xov  JJovtov,  .  .  .  ßaxxtvrQia,  rov  diaßoXov 
&vydTT)Q  ...    —    Die   Mime   Pelagia   heilst   ähnlich   nocörr)   tüv  nQUToxoQt- 
oToiwr   (vgl.  oben  S.  103,   Anm.  1)    —    ...  xal  iv  raig   ixxXtjotaig  eaovrai 
dßeXyiai  xal  docoriai,  . .  .  xa\  OQ%riasig,  xal  TQaywSCai  oazavixal,  xal  /Ifvaa/nol 
xai   naCyvta.    (S.  92  A.)      Pater  Jannig    übersetzt    ganz   richtig:    cavillationes 
et  nugae  scurriles.     Die   Cavillationes   sind   eben   die   cavillatio   mimica   (vgl. 
oben   S.  609,  Anm.  1).      Kein   Wunder,    dafs    unter   der   Mimin   als   Vor- 
gängerin  des  Antichrist   der  Mimus  'in  die  Kirche  dringt.    In  einer  Vision 
führt  Andreas  seinen  Freund  in  die  Hölle  und  zeigt  ihm  den  Ort  der  Qual; 
da    sind    die   Seelen   der  Bösen    in  Tiere    verwandelt.     Die  Mörder    sind  zu 
Skorpionen  geworden,    die  Zauberer  und  Giftmischer  Schlangen,    die  Geilen 
Schweine,    die  Diebe  Wölfe,   die   Betrüger  Füchse,   die   Kuppler  Esel,   die 
Verläumder  Raben   u.  s.  v.   u.  s.  w.    Die  Sänger  in  den  Tragödien  sind  gar 
zu  Fröschen   geworden,   die  Mädel  vom  Ballet   zu  Reihern   und  die  jungen 
Leute,  die  an  Späfsen,  am  Lachen  und  am  Mimus  Gefallen  finden,  sind  un- 
reines, kriechendes  Gewürm,  Ungeziefer  und  Schlangenbrut  geworden:    zovg 
TQaytpdovvras  w?  ßaTQU^org  .  .  .  rag  oqxovfitvag  yvvalxag  cog  tovs  i(>(üöiovg, . .  . 
xal  rd  naiddota  wg  rotg  naiyvioig,  xal  roTg  ytXoCoig,  xai  ralg  p  ifxoX  oylaig  avv- 
xvfovdov/ueva  . .  .  rjyuTcu  (og  dxdo&aTa  ionerd  rijg  yr\g,  xal  (ög  rd  xvwöaXa,  xai 
tag  jd  zwv  ixidvüv  yevvrjfiaTa.  (S.  59*  F.).    Auf  die  jungen  Leute  ist  der  heilige 
Narr  überhaupt  sehr  schlecht  zu  sprechen,    denn  er  mufste  ihnen  bei  ihren 
Gelagen  nicht  selten,  ob  er  wollte  oder  nicht,  als  „stupidus"  dienen,  mit  dem 
sie    dann   dje    schändlichsten    Possen   und   Mimen    aufführten.     Vgl.  a.  a.  0. 
S.  12  B. :    vewTegiOral  .-.    öqafxövrtg  .  .   ixqäiriOav  airbv,   xal  Ovoavrsg  tlaitaav 
iv  T<p  tfovaxaoio),  jvmovrtg   airbv,    xal    naXtv  xa&to9£vrtg  inivov,    pydtv  rat 
/iixaibi    didovrtg.      dXXd     /udXXov    xoOOovg    xaid    rov    ai>%4vog    fJiifioXoyovfisvoi 
ervnrov.    "Ors  oiiv  dnXetorag   ot  [icoool  ixetvoi  inat^av,    (Sanniones  irrisionibus 
satanas  nescii  übersetzt  Pater  Janning)  .  .  .  Mwool,  fiwool  rl  exw  noifiaat.    Die 
jungen  Leute    führen   eben   mit    dem   armen  Narren    eine  der  übermütigen 
Spott-'  und  Schimpfscenen  aus  dem  Mimus  auf,  und  Andreas  mufs  als  stupi- 
dus  dabei  die  Prügel  einnehmen.     So  führt  Alarich,  wie  es  bei  Orosius  heifst, 
mit   dem   armen  Scheinkaiser  Attalus    einen  Mimus   auf  (vgl.  oben  S.  776, 
Anm.  1).    Und  in  dem  neu  entdeckten  Fragment  des  Juvenal  heifst  aliis  hunc 
mimum:  Mach'  anderen  solche  Wippchen  vor.    Gegenüber  fit^oXoyda&ai  und 
weiter  oben  fxtfioXoyia  erinnere  ich  an  die  drei  Mimologen,  welche  die  Hypo- 
these „Hecyra"  vorführen.    /ucfioXoytioüai  gebraucht  Strabo  von  Spielen  der 
Atellane,   fiifioXoyCa   und   fjo,fioXöyr]fia  findet  sich  bei  Epiphanius   (vgl.  oben 
S.  281,  Anm.  1 — 3).    In  den  Hermeneumata  Monacensia  und  Montepessulana 


Die  mittelalterlichen  Hofnarren  und  die  Moriones  im  Mimus.       825 

seine  Herrin  Gefallen  findet,    nachher  aber  wird  alles  von  dem 


werden  die  Mimologen  als  Schauspieler  im  Theater  gekennzeichnet  (vgl.  oben 
S.  226).  Ich  habe  'oben  S.  286  den  Mimologen  Agathokiion  erwähnt.  Die 
Inschrift  aus  Larnaka  auf  Cypern  lautet: 

Moxpaiov  xövtg  r,3t  '-iya&oxi.^a  nalöa  xtxtv&fv         ' 
AfftuolöyttiV  näu(ov  Ifojrov  iv  yttoiotv. 
l4ya&oxki(ova  ßtolöyov. 

Revue  archeol.  N.  S.  XL1  1881  p.  124  und '  Oberhummer,  Griech.  Inschr.  aus 
Cypern,  M.  Akad.  1888  I,  310  u.  311.  Über  den  Ausdruck  Biologe  für  den 
mimischen  Schauspieler  vgl.  oben  S.  265 ff.  u.  284  ff.  Ich  füge  hier  die  In- 
schrift des  Biologen  Flavius  Alexander  Oxeides  (Waddington,  Voyage  archeol. 
1652b.)  hinzu: 

'H  ßovli)  xal  6  Jfjfiog  hfifiyoiv  fPlä(ßiov,  *All$av$oov  *ObiSr,v  Nnxo^rtSia, 
ßioXöy\ö)v  Aaiovuxr\v,  Siä  re  i^r  iov  fgyov  vntooxriv  xal  ro  x&iuiov  toi 
t)9ovs,  vitXTjOarTa  6*i  iv  Aaia  [äy]««mr;  it)',  tv  Avxiu  Ji  xal  üaucfvltu  xg, 
ßm/.f[v]iT}V  dt  Avtio^ojv  xal  'Hoax/.iWTtör,  yegovotaoTTjv  di  Miilrjoitov. 

Ich  habe  oben  S.  286  gezeigt,  dafs  der  Ausdruck  ßtolöyog  ein  Ehren- 
titel für  den  Mimen  ist,  was  durch  die  letzte  Inschrift  ja  auch  wieder 
im  vollsten  Mafse  bestätigt  wird.  Da  nun  'Aya&oxUojv  sowohl  ein  Bio- 
loge wie  Mimologe  genannt  wird,  scheint  also  auch  Mimologe  eine 
ehrende  Bezeichnung  gegenüber  dem  einfachen  Mime  zu  sein.  Ursprüng- 
lich wurde  von  den  Peripatetikern  mit  Mimodie  und  Mimologie  der  pro- 
saische und  lyrische  Mimus  geschieden,  es  ist  das  also  mehr  eine  gelehrte 
Terminologie.  Iu  der  That  ist  der  Ausdruck  uiuoXoyog  für  den  Mimen 
nie  usuell  gewesen:  wir  kennen  sonst  noch  die  Mimologen  der  Hypothese 
Hecyra  und  den  Mimologen  Tityros  in  dem  byzantinischen  Epigramm 
(vgl.  oben  S.  156),  in  dem  es  ebenfalls  Ehrentitel  ist.  Sonst  kennen  wir 
zahlreiche  Mimen  und  Miminnen;  Choricius  und  Johannes  Chrysostomus 
nennen  unablässig  die  pifiot,  aber  nie  kommt  es  ihnen  in  den  Sinn,  sie 
fit/jolöyoi  zu  nennen.  Dennoch  mufs  dieses  Wort  auch  im  gewöhnlichen 
Leben  gelegentlich  für  den  Schauspieler  gebräuchlich  gewesen  sein.  Darum 
kann  in  der  Vita  Andreae  Sali  mit  ihrem  spät-byzantinischen  Populär-Grie- 
chisch von  fiifiokcyytTa9at  und  (iiuokoyta  gesprochen  werden.  Jedenfalls  er- 
giebt  sich  aus  der  Vita  dieses  Narren,  die  kulturhistorisch  vom  höchsten 
Interesse  ist,  dafs  im  neunten  und  zehnten  Jahrhundert  es  noch  Theater 
gab,  deren  Bühne  mit  Bildsäulen  geschmückt  war,  also  grofse  stehende 
Theater,  ob  blofs  im  Cirkus  oder  auch  sonst,  läfst  sich  so  sicher  nicht  ent- 
scheiden; einmal  wird  schlechthin  „das  Theater",  ein  anderes  Mal  „das 
Theater  im  Cirkus-  genannt.  Auf  der  Bühne  haben  natürlich  die  Mimen 
agiert,  an  deren  uiuoXoyiai  die  jungen  Leute  eine  so  verwerfliche  Freude 
hatten.     Da  haben  wir  also  wieder  ein  Zeugnis  für  die  Existens  der  Theater 


826  Neuntes  KapiteL 

dummen  Narren  dem  Hausherrn  verraten1).  So  hält  sich  Polyxena 
und  ihr  Gemahl  einen  Narren,  welcher  der  Herrin  mit  seinen 
Possen  beschwerlich  fällt.  Dieser  Hofnarr  wird  ausdrücklich 
„Mimus"  genannt2). 

Diese  Sitte,  einen  Mimus  als  Narren  zu  halten,  war  in  den 
letzten  Zeiten  der  Antike  so  gewöhnlich,  dafs  dieser  Gebrauch 
direkt  ins  Mittelalter  übernommen  wurde. 

So  erzählt  Gregor  von  Tours  von  dem  Hofnarren  des 
spanischen  Königs  Miro  von  Galicien  eine  seltsame  Historie. 
Der  König  ging  mit  seinem  Gefolge  in  die  Kirche  des  Heiligen 
Martinus,  und  an  dem  Wege  vor  der  Kirche  war  ein  Spalier 
mit  herrlichen  Weintrauben,  die  der  Kirche  und  demnach  dem 
Heiligen  Martin  gehörten.  Trotz  der  Warnung  des  Königs  will 
der  Hofnarr,  der  den  König  mit  seinen  Späfsen  aufzuheitern 
pflegte,  sich  eine  Traube  abschneiden  und  siehe,  der  arme  Narr 
kommt  nicht  mehr  mit  der  Hand  von  der  Weintraube  los.  Da 
half  ihm  kein  Lachen  und  keiner  von  seinen  Schalks-  und  Narren- 
streichen, er  empfand  die  furchtbarsten  Schmerzen  und  schrie 
laut  um  Hülfe,  aber  erst  auf  das  inbrünstige,  von  einem  Strom 
von  Thränen  begleitete  Gebet  des  Königs  Miro  ward  der  Narr 
wieder  frei  und  kam  mit  dem  blofsen  Schrecken  davon.  Dieser 
Hofnarr  heifst  bei  Gregor  (Ende  des  sechsten  Jahrhunderts)  ein 


und  des  Mimus  bis  in  die  letzte  Zeit  der  byzantinischen  Ära.  So  wird 
sowohl  der  heilige  Narr  Symeon  wie  der  heilige  Narr  Andreas  mit  dem 
Mimus  in  Beziehung  gebracht,  und  in  der  That  ist  Andreas  derselbe  komische 
Volksnarr  wie  Symeon,  dessen  Streiche  ihm  zum  Teil  einfach  beigelegt 
werden,  und  hat  viel  von  einem  Bajazzo  an  sich.  Auch  die  russische  Kirche 
kennt  die  Narren  um  Christi  willen  als  eine  Art  sonderbaren  mönchischen 
Asketentumes.  Vgl.  Pelesz,  Geschichte  der  Union  der  russischen  Kirche 
mit  Rom  I,  S.  231  u.  S.  594  ff. 

!)  Ich  gebe  diesen  sehr  bedenklichen  Schwank  griechisch.  Nr.  251: 
Olxodianoiva  [aioquv  olxfrrjv  fyovaa  tfufavrj  xal  idovoa  aviov  äo*oox£<fai.ov, 
lni&V(ir\Ga0a  aviov,  yi/j.RQiov  sig  iö  iiQQGomov  ßalovaa  Iva  fxi]  imyvtoO&rj, 
auvinai^tv  avxip.  6  dt  £v  iü)  nai&iv  GvvaarjX&ev  avirj.  xal  tw  öeanorij  aw- 
rj&cog  noogyeXaiv    ttnt'    «xvqi,    xvqi,    iov    oq^gttiv    ißivrjOa,    xal    ij    xv^ä    »jv 

2)  Vgl.  oben  S.  152,  Anm.  3. 


Die  mittelalterlichen  Hofnarren  nnd  die  Moriones  im  Mimus.       #•_>: 

Miraus 1).  Allerdings  kennen  wir  ja  noch  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  fünften  Jahrhunderts  einen  Archimimus. 

Sidonius  Apollinaris  berichtet  in  einem  Briefe,  in  dem  er 
das  Leben  am  Hofe  Theodorichs  des  Grofsen  schildert,  bei  der 
Tafel  des  Königs  wären  Hofnarren  aufgetreten.  Er  nennt  sie 
mimici.  Aber  Theodorich  hätte  nicht  geduldet,  dafs  sie  seine 
Gäste  durch  Spöttereien  verletzten2). 

In  der  That  war  derartiges  von  den  antiken  Hofnarren  und 
Mimen  leicht  zu  besorgen.  Wie  die  Mimen  auf  dem  Theater 
gerne  in  den  Stücken  allerhand  Foppereien,  Kabalen,  Betrügereien 
und  Ränke  vorbrachten  und  lustige  Schimpf-,  Spott-  und  Prügel- 
scenen  aufführten,  so  suchten  die  mimischen  Narren  die  gleichen 
Späfse  von  der  Bühne  in  das  Gastmahl  zu  verlegen. 

So  foppt  der  mimus  calvus  in  Lukians  Gastmahl  die  Gäste 
der  Reihe  nach  und  nennt  den  robusten  Cyniker  Aleidamas  zum 
Spafse  ein  Schofshündchen.  Der  Cyniker  nimmt  das  übel  und 
es  entspinnt  sich  eine  Prügelei,  die  der  Gesellschaft  zur  Be- 
lustigung dient. 

Jedenfalls  wurden  auch  die  mittelalterlichen  Hofnarren  durch- 
aus nicht  so  streng  in  Zucht  gehalten  wie  bei  Theodorich  die 
„mimici". 

Im    Alamode    Kehraus    schildert    Philander    von    Sittewald 


l)  S.  Gregorii  episcopi  Turonensis  de  miraculis  Sancti  Martini  lib.  IV. 
cap.  VII.  (Higne  Bd.  71,  S.  994  A,  B):  De  uva  apud  Galliciam.  .  .  .  erat  enim 
mimus  regis,  qui  ei  per  verba  iocularia  laetitiam  erat  solitus  excitare.  Sed  non  eum 
adjutit  cachinnus  aliquis,  neque  praetigium  artis  suae;  sed  eogente  dolore,  voce* 
äare  eoepit  ac  dicere:  Succurite  tiri  misero,  subeenite  oppresso,  ferte  Ucamen  appenso, 
et   sancti  antistitis  Martini  rirtuiem  pro  me  depreeamini,  qui  tali  exitu  crueior  .  .  . 

>)  Migne  Bd.  58,  S.  449,  B.  Sidonii  Apollinaris  Epistol.  Liber  I,  III. 
.  .  Circa  nonatn  recrudescit  moles  Uta  regnand*.  Redeimt  pulsantes,  redeunt  svbtnorentes, 
ubique  litigiöses  fremit  ambitus:  qui  tr actus  in  vesperam,  eoena  regia  interpetlante 
rareseit,  et  per  aulicos  deineeps  pro  patronorum  carietate  dispergitur,  usque  ad  tempus 
coneubiae  noctis  exeubaturus.  Sorte  intromittuntur,  quamquam  raro,  inter  coenandum 
mimici  sales,  ita  ut  nullus  conti va  mordaeü  linguae  feile  feriatur.  Sie  tarne* 
quod  illic  nee  Organa  hydraulica  sonant,  nee  sub  phonasco  vocalium  concentus  medi- 
tatxtm  acroama  simul  intonat.  Xullus  ibi  lyristes,  choraules,  mesochorus,  tympa- 
nistria,  psaltria  canit  .... 


828  Neuntes  Kapitel. 

(Moscherosch)  mit  Ingrimm  ihre  Impertinenz:  „Indem  kam  einer 
mit  grofsem  Gelächter  in  den  Saal  gelaufen,  dafs  ich  wohl  sähe, 
er  müsse  entweder  ein  Spitzbub  oder  ein  Schalksnarr  seyn;  der 
stellte  sich  neben  den  König.  Dieser  Schalksnarr  kam  an  mich, 
zauste  mir  das  Haar,  griff  mir  in  den  Bart,  wiewohl  ich  nicht 
viel  hatte,  rupfte  mich  am  Wamms  und  Hosen,  mit  kreischen 
und  ruffen,  hieher  Wälscher,  hui  Wälscher,  hui  ä  la  mode,  hot 
Zopf,  Haar  tropf,  hui  Laudel,  jyst  Faudel,  Haar  zottel,  zu  dir 
Hottel,  herum  Lottel,  hinum  trottel  u.  s.  f.  Und  viel  des  Verdriefs 
mehr,  dafs  ich  letzlich  entrüstet  sprach:  mit  Erlaubnii's,  wenn 
es  nicht  vor  dem  König  wäre,  und  du  nicht  eben  einer  seiner 
Diener  einer  wärest,  ich  wollte  sagen,  du  hättest  gelogen,  wie 
ein  Schelm  oder  Dieb". 

Ähnlich  sucht  der  Narr  der  Polyxena  seine  Herrin  im  Dunkel 
zu  erschrecken,  sie  aber  wirft  dem  Mimus  einen  eisernen  Vasen- 
ständer an  den  Kopf.  Nicht  anders  hat  man  auch  mit  den 
Narren  im  Mittelalter  nicht  selten  kurzen  Prozefs  gemacht.  Iwan 
der  Schreckliche  von  Rufsland  freilich  stiefs  seinem  Narren,  der 
ihn  geärgert  hatte,  gleich  ein  Messer  in  die  Kehle,  dafs  er  starb. 

Hofnarren  wurden  vom  ausgehenden  Altertum  durch  das 
Mittelalter  bis  in  die  moderne  Zeit  hinein  gehalten.  Unter 
Ludwig  XIV.  kamen  sie  in  Frankreich  ab *).  Unter  den  Hofnarren 
der  Königin  Elisabeth  von  England  war  der  berühmteste  Scoggan. 
Noch  am  Hofe  Karls  I.  von  England  findet  sich  ein  Narr.  Der 
letzte  wirkliche  Hofnarr  am  preufsischen  Hofe  war  bekanntlich 
Gundling,  der  im  bürgerlichen  Leben  Freiher,  Geheimrat  und 
Präsident  der  Akademie  der  Wissenschaften  war.  Unter  den 
Päpsten  war  besonders  Leo  X.,  unter  dem  die  Reformation  durch 
Luther  begann,  ein  Freund  der  Hofnarren.  Auch  der  Kardinal 
Hypolite  de  Medici,  wie  der  Kardinal  Wolsey  unter  Heinrich  VIII. 
von  England  hielten  Hofnarren2). 

1)  Der  Hofnarr  hatte  bis  dahin  als  fous  en  titre  d'office  ein  ordentliches 
Hofamt  inne.     Vgl.  Flögel,  Geschichte  der  Hofnarren  S.  339. 

2)  Die  Nachweise  im  einzelnen  siehe  bei  Flögel,  Geschichte  der  Hof- 
narren, Liegnitz  und  Leipzig  1789. 


Die  mittelalterlichen  Hofnarren  und  die  Moriones  im  Mimus.       829 

Diese  ungeheure  Folge  der  Narrengeschlechter,  von  denen 
immer  'das  folgende  vom  vorhergehenden  die  alten  Narren- 
theidungen,  närrischen  Streiche,  Witze  und  Bosheiten  lernte, 
reicht  also  durch  das  Mittelalter  bis  in  die  Antike,  bis  zu  den 
Narren  des  Mimus1);  Von  diesen  alten  mimischen  Moriones 
stammte  vornehmlich  das  ganze  Narrenwesen  her.  Anfänglich 
nannte  man  den  Narren  darum  Mimus,  als  man  später  den 
Mimen    ioculator    nannte,    hiefs    wieder    auch  der  Hofnarr  so1). 

Die  Narren  sind  auch  immer  dessen  eingedenk  geblieben, 
dafs  sie  von  Hause  aus  Mimen  und  Ethologen  sind  und  haben 
darum  gerne  in  possierlichen  und  humoristischen  Charakter- 
darstellungen geglänzt.  Ich  gebe  hier  die  Beschreibung  dieser 
Ethologie  der  Narren  durch  Garzoni3):   „Zu  unsern  Zeiten   ist 


r)  Flögel  hat  nach  einem  recht  geistlosen  Prinzipe  seine  fleifsig  ge- 
sammelten Materialien  über  die  Narren  aufgeschüttet,  er  reiht  sie  chrono- 
logisch und  geographisch  und  Dach  den  Herren,  denen  sie  dienten,  anein- 
ander. Die  Menge  der  Narren  ist  zwar  grofs,  aber  sie  treiben  immer  die- 
selben oder  sehr  ähnliche  Schalksstreiche,  worauf  Flögel  kaum  achtet.  Viel- 
fach fühlen  wir  uns  an  den  Philogelos  erinnert,  desgleichen  an  Symeon  Salos, 
den  griechisch-syrischen  Eulenspiegel,  der  die  Narrenteidungen  der  alten 
mimischen  Volksnarren  um  Christi  willen  weiter  trieb,  und  überhaupt  an  die 
Narrheiten  der  stupidi  und  uwool.  Es  sind  sehr  einfache,  stets  von  neuem 
wiederkehrende  Motive,  und  darnach  müfste  ordnen,  wer  eine  Geschichte  der 
Narren  heute  schreiben  wollte.  Uns  interessieren  sie  nur  soweit,  als  wir 
ihrer  bei  der  Entwicklungsgeschichte  des  Mimus,  insbesondere  der  mimi- 
schen Hypothese  bedürfen,  und  wie  nützlich  sie  dabei  sein  können,  wird  uns 
gleich  wieder  das  Shakespeare-Drama  mit  seinen  Clowns  lehren,  aber  dar- 
über hinaus  selbständig  interessieren  sie  uns  nicht.  Die  Geschichte  der 
Narren  lehrt  vorläufig  nur,  dafs,  dafs  sie  im  Altertum  wie  im  Mittelalter, 
wie  auch  in  der  modernen  Zeit  immer  den  Beifall  des  Pöbels  fanden,  ob 
sie  nun  im  Mimus  auftraten  oder  aufserhalb  desselben,  ob  sie  wirklich 
närrisch  waren  oder  sich  nur  so  stellten.  Wer  diese  Geschichte  schriebe, 
müfste  nicht  nur  ein  Philologe,  sondern  auch  ein  Psychologe,  sogar  ein  guter 
Psychiater  sein;  dann  könnte  seine  Behandlung  des  vorhandenen,  sehr  kost- 
baren Materiales,  das  wir  hier  um  ein  beträchtliches  ergänzt  haben,  höchst 
belehrend  für  die  Geistesgeschichte  der  Menschheit  werden. 

2)  Wir  haben  oben  S.  815,  Anm.  2,  den  Ausdruck  jogleor  für  den  Narren 
nachgewiesen. 

3)  Tomaso  Garzoni  Piazza  universale,  Discorso  118  übersetzt  von  Flögel 
a.  a.  0.  S.  15  folg. 


830  Neuntes  Kapitel. 

das  Possenreifsen  wiederum  so  hoch  gestiegen,  dafs  man  der 
Schalksnarren  an  Herren  Höfen  und  Tafeln  mehr  findet,  haben 
auch  einen  freiem  Zutritt  und  mehr  Gunst  bei  denselben,  als 
ansehnliche  und  ehrliche  Leute.  Man  glaubt  eine  Hofhaltung 
in  Abnahme  kommen,  wo  nicht  ein  Carafula,  ein  Gonella,  ein 
Boccafresca  oder  sonst  ein  unverschämter  Possenreifser,  die 
ganze  Gesellschaft  der  Höflinge  und  der  Herren  selbst  mit  kurz- 
weiligen Reden,  geschwinden  Antworten,  auch  mit  ziemlich  groben 
Zoten  unterhält  und  lustig  macht.  Da  sitzt  oft  Herr  und  Knecht, 
sperren  Maul  und  Nasen  auf  und  hören  dem  Narren  zu,  der 
allerhand  Schnaken  vorbringt;  bald  sagt  er  eines  Bauern  Testa- 
ment her,  welches  er  seiner  Grethe  hinterlassen;  bald  kommt  er 
auf  ein  Instrument  des  Ceci,  welches  in  so  lächerlichen  Worten 
abgefafst  ist,  dafs  es  Cocajus  nicht  ärger  machen  könnte;  bald 
erzählt  er  die  krummen  Sprünge,  welche  jenes  Arztes  Weib  ihrem  ' 
Manne  zu  Ehren  in  der  Fastnacht  gethan ;  bald  fällt  er  auf  das 
Gespräch  M.  Agresti  mit  der  Togna  S.  Germani.  Er  redet  von 
den  Gesetzen,  wie  ein  Gratianus  zu  Bologna,  von  der  Arzneikunst, 
wie  ein  M.  Grillus;  perorirt  auf  gut  pedantisch,  wie  ein  Fidentius 
Glotocrisus;  spricht  bergamaskisch,  als  wäre  er  der  gröbste  Bauer 
in  der  ganzen  Gegend.  Bald  macht  er  den  Rektor  Magnifikus 
in  der  Stellung  des  Leibes,  bald  einen  Spanier  in  höflichen 
Gebehrden,  bald  einen  Deutschen  im  Gange,  bald  einen  Floren- 
tiner im  Reden  und  Schnarren,  bald  einen  Neapolitaner  im 
Krähen.  Mit  einem  Worte,  er  kann  der  ganzen  Welt  in  Reden, 
Gebehrden  und  Kleidern  nachäffen.  Er  kann  auch  das  Angesicht 
fast  auf  tausenderlei  Weise  verändern  und  verstellen.  Bald  zieht 
er  die  Augenbrauen  ein,  und  verdreht  die  Augen,  als  wenn  er 
schielte;  bald  zieht  er  die  Lippen  so  seltsam  zusammen,  dafs 
man  glaubt,  er  habe  eine  Mafke  vor  sein  Angesicht  gezogen; 
bald  reckt  er  die  Zunge  spannenlang  heraus,  wie  ein  durstiger 
Schäferhund  in  der  Hitze;  bald  streckt  er  den  Hals,  als  wenn 
er  am  Galgen  hienge;  bald  zieht  er  ihn  wieder  ein,  und  biegt 
den  ganzen  Leib  zusammen,  als  wenn  er  den  Teufel  auf  den 
Schultern  hätte;  bald  macht  er  einen  krummen  Rücken,  wie  ein 
Mailändischer  Reffträger;  bald  schlägt  er  die  Arme  übereinander, 


Die  Tracht  der  mittelalterlichen  Hofnarren  gleich  der  des  mimus  calvus.     831 

als  wenn  er  voller  Andacht  wäre:  bald  gehn  ihm  die  Hände  und 
die  Finger  wie  einem  Gaukler.  Bald  streckt  er  sich  wie  ein 
fauler  Schlingel,  bald  geht  er  einher,  wie  ein  Lastträger,  bald 
richtet  er  sich  auf  wie  ein  Esel.  Überhaupt  geht  seine  ganze 
Kunst  dahin,  dafs  man  lachen  soll;  und  wenn  er  anfängt  zu 
lachen,  so  mufs  jedermann,  der  ihn  ansieht,  mit  lachen.  Dieses 
sind  die  Tugenden  der  Possenmfser,  um  derentwillen  sie  bei 
Fürsten  und  Herren  lieb  und  angenehm  sind,  auch  in  Freuden 
leben,  und  wohl  begabt  werden;  da  unterdessen  ein  gelehrter 
Dichter,  ein  anmuthiger  Redner  und  ein  scharfsinniger  Philosoph 
im  hintersten  Winkel  sitzen,  und  oft  Noth  leiden  mufs.14 

Vor  allem  ist  der  mittelalterliche  Narr  trotz  aller  Albernheit, 
trotz  aller  mimicae  ineptiae,  die  er  vorbringt,  im  Grunde  ein  ver- 
schmitzter und  gescheidter  Bursche,  in  dessen  bodenloser  Narr- 
heit viel  verborgener  Witz  und  Gehalt  steckt,  wie  in  den  Narr- 
heiten in  Philistions  Philogelos.  Eben  weil  er  vom  mimischen 
Narren  abstammt,  ist  er  nicht  blos  ein  stupidus,  sondern  zu- 
gleich ein  Sannio  und  derisor,  der  in  der  Narrenkappe  straflos 
die  Narrheit  der  Welt  verhöhnt.  An  diesem  lustigen  Kauze 
entzündet  sich  auch  der  Witz  der  anderen,  wie  der  Narr  im 
Mimus  verspottet  wird  und  zugleich  der  anderen  spottet. 


VI. 

Die  Tracht  der  mittelalterlichen  Hofnarren  gleich  der  des 
mimus  calvus. 

Das  wichtigste  Kennzeichen  des  mimischen  Narren  war  die 
Kahlköpfigkeit;  davon  hatte  er  den  Namen  mimus  calvus  oder 
ficogög  (falaxqög.  Synesius  spricht  im  Lob  der  Kahlheit  von  dem 
kahlen  Mimen,   der  den  Tag  ein  paar  Mal  zum  Barbier  geht1). 


l)  4>alaxQ.  tyx.  77  B:  Tov  Iv  S(Ötqü)  de  av&Qtonov,  os  nollrjv  xai 
xalrjv  7$  ör)ua>  öiargißrjv,  f£cam  xa&'  ixäavrp/  ieoouyviav  rü  xaiaXaßövu 
&fav  öfcioSai.  Ovrog  emi  uiv  twv  r^vij  tfalaxoüv,  ol  twv  Mb,  ßaSi^cav 
tnl  ia  xovgtTa  xr\g  rjuioas  noiläxig-    Ich   will   hier  auch  noch   zu  den 


832  Neuntes  Kapitel. 

Noch  heute  sind  Kagal  Pahlavan,  der  persische,  und  der  Vidüsaka, 
der  indische  Narr,  Kahlköpfe,  weil  sie  Nachkommen  des  alten 
mimischen  Narren  sind;  weil  das  nun  der  mittelalterliche  Hofnarr 
gleichfalls  ist,  ist  auch  er  beschoren. 

Flögel  a.  a.  S.  51  u.  52  bemerkt  dazu:  „dafs  den  Narren 
ehemals  die  Köpfe  beschoren  worden,  erhellet  daraus,  weil  man 
die  Mönche  wegen  ihrer  Tonsur  mit  den  Narren  verglichen  hat. 
So  pflegte  Johann  Geiler  von  Kaisersberg  zu  sagen:  die  Fran- 
cifcaner  sind  geschoren,  wie  die  Narren,  sind  im  Gesichte^bedeckt, 
als  unehrliche  Schandbuben,  und  mit  Stricken  gebunden,  wie 
Diebe;  und  dieser  Geiler  war,  wie  bekannt,  katholisch.  Und 
eben  so  schreibt  Cornelius  Agrippa:  Die  Mönche  sind  beschoren 
wie  die  Narren.  Es  finden  sich  auch  in  den  hogarthartigen 
Holzstichen  bei  Lochers  lateinischer  Übersetzung  von  Bränts 
Narrenschiff,  einige  Abbildungen  von  Narren  mit  heruntergezogener 
Kappe,  bei. welchen  der  kahle  beschorene  Kopf  deutlich  zu  sehen 
ist;  als  Blatt  39,  der  Narr,  der  in  die  Sonne  sieht;  und  Blatt  68, 
der  Narr,  der  in  den  Spiegel  sieht."  Auch  die  Jongleure  schoren 
ja  als  Nachkommen  der  pZfjbot  yslo'mv  ihr  Haupt. 

Auf  dem  beschorenen  Haupte  trägt  der  mittelalterliche  Hof- 
narr eine  spitze  Narrenkappe,  wie  der  mimus  calvus,  den  spitzen 
Apex,  wovon  er  auch  apiciosus  hiefs.  Auch  der  Hofnarr  ist  also 
apiciosus,  wie  noch  heute  sein  direkter  Nachkomme,  der  Cirkus- 
clown l).  Den  Narrenkolben,  das  mimische  Prügelholz,  trug  gleich- 
falls vor  dem  Narren  schon  der  Mime. 

Eine  mehr  gelegentliche  Auszeichnung  der  Narrentracht  ist 
der  Hahnenkamm,  Eselsohren  an  der  Narrenkappe,  Schellen  und 
eine  grofse  Halskrause.  Doch  hat  schon  der  antike  Mime  viel 
vom  Hahnentypus2).  Wir  kennen  einen  Ritter  aus  dem  mytho- 
logischen Mimus  mit  dem  Hahnenkamm  und  einen  dickbäuchigen 


zahlreichen  anderen  Stellen  anführen  Artemidor.  Onirocrit.  L.  I,  C.  22. 
SvQUO&at  St  Soxeh1  ttjv  xe<fai.r\v  oirjv  nXi]V  Alyvnrliov  »tüv  tSQtvOi  xai  ytlcozo- 
noioTs  xal  tolg  'id-og  tyovOi  S-vgeio&cti  icya&ov  .... 

i)  Vgl.  darüber  oben  S.  449,  579. 

2)  Vgl.  hier  auch  die  Nachweise  bei  Dieterich,  Pulcinella  S.  238 ff. 


Der  Mimus  als  Puppenspiel  i.  d.  Händen  d.  mittelalterlichen  Ioculatoren.     833 

Mimen  mit  der  Hahnennase1)-  Auch  die  Hahnennase  des  Karagöz 
wie  des  Pülcinell  dürfte  wohl  auf  der  alten  mimischen  Über- 
lieferung beruhen2).  Was  die  Eselsohren  angeht,  so  wollen  wir 
an  den  alten  Eselmimus  denken.  Schellen  und  Kragen  hat  viel- 
leicht erst  das  Mittelalter  der  Narrentracht  hinzugefügt. 

Da  der  Narr  nun  einmal  bei  der  guten  Gesellschaft  des  Mittel- 
alters (wie  der  Antike)  mit  dazu  gehört,  so  fehlt  er  auch  nicht 
auf  den  mittelalterlichen  Bildern,  die  sie  darstellen.  Auf  Mair 
von  Landshuts  Bilde  „Gesellschaft  auf  dem  Balkon"  (Wien 
k.  k.  Kupferstichsammlung,  abgebildet  bei  Schulz,  Deutsches 
Leben  Nr.  138,  S.  380 — 381)  befindet  sich  der  Narr,  das  mimische 
Prügelholz  in  der  Rechten,  auf  dem  Haupt  die  Kappe  mit  den 
langen,  spitzen  Ohren,  in  der  Gesellschaft  schöner  Damen  und 
eines  stolzen  Herrn.  Auf  dem  Bilde  von  Martin  Jäsinger  „Tanz 
im  Münchener  Schlosse"  (1500.  a.  a.  0.  Nr.  177,  S.  494— 495) 
schaut  der  Narr  mit  Kappe  und  Eselsohren  dem  Tanze  der  Hof- 
gesellschaft zu.  Beide  Narren  dürften  beschoren  sein,  da  bei 
ihnen  nicht  das  Haar,  wie  bei  den  anderen  Männern,  angedeutet 
ist,  doch  könnte  es  auch  von  der  Narrenkappe  verdeckt  sein. 
Auf  dem  Bilde  von  Israel  von  Meckenen  „Die  Tänzer"  (a.  a.  0. 
Nr.  174,  S.  490—491)  springt  der  Narr  unter  anderen  höchst 
exaltierten  Tänzern  mit,  in  der  Hand  trägt  er  die  Narrenpritsche, 
vom  Haupte  ist  ihm  die  Kappe  bei  der  heftigen  Bewegung  herab-- 
geglitten,  da  sieht  man  deutlich,  er  ist  ein  beschorener  Narr, 
eine  Art  „mimus  calvus". 


VIL 

Der  Mimus  als  Puppenspiel  in  den  Händen  der  mittelalterlichen 

Ioculatoren. 

Mit  dem  Hofnarren  sind  wir  zur  niedrigsten  Stufe  der  mimi- 
schen Kunst  herabgestiegen.  Wir  erheben  uns  wieder  und  gelangen 
zunächst  zum  mittelalterlichen  Mimus  als  Puppenspiel.  Wir  sahen, 


')  Vgl.  oben  S.  583. 

2)  Vgl.  darüber  oben  S.  676,  682. 

Reich,  Mimua.  53 


834  Neuntes  Kapitel. 

dafs  das  Puppenspiel  in  Hellas  uralt  ist.  Im  byzantinischen 
Osten  und  im  Orient  hat  sich  die  Hypothese  als  Puppenspiel 
erhalten  bis  zum  Untergange  von  Byzanz,  und  in  der  Meta- 
morphose des  Karagözspiels  bis  auf  unsere  Tage;  auch  der  Held 
des  persischen  Puppenspiels,  der  Kagal  Pahlawan,  wie  der  des 
indischen,  der  Vidusaka,  wie  der  des  javanischen  Semar  sind  die 
direkten  Nachkommen  des  alten  mimus  calvus,  des  Helden  im 
griechischen  Puppenspiel. 

Wie  wir  im  zwölften  Jahrhundert  für  Byzanz  das  Puppen- 
spiel durch  Eustathius  bezeugt  erhalten  (vgl.  oben  S.  672  u.  673), 
so  haben  wir  für  den  lateinischen  Westen  aus  derselben  Epoche 
eine  Abbildung  des  Puppenspiels,  in  dem  Hortus  deliciarum  der 
Herrad  von  Landsberg  (Äbtissin  von  Hohenburg  1167— 1196) l). 

Gerade  die  mittelalterlichen  Mimen,  die  Ioculatoren,  führten 
solche  Puppenspiele  vor.  Das  wird  bezeugt  in  der  provengali- 
schen  Flamenca  (13.  Jahrhundert)2)  wie  im  deutschen  Wachtel- 
märe, wo  die  Marionetten,  die  dort  an  Schnüren  befestigt  er- 
scheinen, tatermanne  genannt  werden8).  Die  Ioculatoren  trugen 
diese  Puppen  (Kobolde)  vielfältig  unter  dem  Mantel  und  zogen 
sie,  wenn  sie  spielen  wollten,  hervor4).  So  erscheint  Oriande 
als  Jongleur  verkleidet  bei  einem  Hochzeitsfeste,  dem  auch  ihr 
Geliebter  Malegys  beiwohnt,  von  dem  sie  lange  Jahre  getrennt 
war.  Sie  zieht  zwei  herrlich  gearbeitete  Puppen  hervor  und  läfst 
sie  auf  einer  schnell  zum  Theater  hergerichteten  Tafel  tanzen; 
die  Puppen  halten  ein  Liebesgespräch,  zum  Schlüsse  küssen  sie 
sich,  da  erkennt  Malegys  die  schöne  Fee  und  küfst  sie5). 


2)  Bei  A.  Schulz,  Höfisches  Leben  im  Mittelalter  I,  S.  118,  wiedergegeben 
nach  Engelhard  Herrad  von  Landsberg,  Stuttgard  1818,  Tafel  V.  Es  sind 
zwei  geharnischte  Gliederpuppen,  die,  durch  Schnüre  bewegt,  mit  einander 
fechten.    Darunter  steht  die  Unterschrift:  ludus  monstrorum. 

2)  Vgl.  oben  S.  808. 

3)  Mafsmann,  Denkmäler  der  dentschen  Sprache  und  Litteratur.  München 
1828, 'S.  110. 

4)  Belegstelle  hierfür  ist  besonders  Hugo  von  Trimbergs  Renner,  v.  5065. 
')  Siehe   die  Ausgabe   des  Fragments   bei   Von  der  Hagen,    Germania 

VIII,  S.  280. 


Der  Mimus  als  Puppenspiel  i.  d.  Händen  d.  mittelalterlichen  Ioculatoren.     835 

Einen  Marionettenkasten  finden  wir  schon  auf  einer  Miniatur- 
abbildung aus  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  in  einer 
Handschrift  des  „Roman  d'Alexandre"1).  Dort  schaut  aus  dem 
Puppenkasten  ein  dickbäuchiger  Herr  mit  einem  kräftigen 
Knittel  heraus,  ihm  gegenüber  befindet  sich  ein  Weib.  West- 
wood sieht  diese  beiden  Puppen  als  die  Vorläufer  von  Punch 
und  Iudy  an.  Das  ist  an  und  für  sich  falsch,  denn  Punchs 
Ahne  ist  niemand  anders  als  Pulcinell  und  von  Pulcinell  ist  im 
14.  Jahrhundert  und  noch  dazu  in  England  keine  Rede.  Aber 
in  diesem  dickbäuchigen  Herrn  im  Puppenspiel  werden  wir 
unschwer  den  alten,  dickbäuchigen  Mimen  erkennen;  auch  die 
Helden  des  orientalischen  mimischen  Puppenspiels,  Vidüsaka  und 
Semar,  haben  noch  vom  alten  mimus  calvus  her  den  dicken 
Bauch.  Murner  beschreibt  in  der  Narrenbeschwörung  (1512) 
einen  Puppenkasten,  „ein  Himmelreich".  '  Auf  ihm  erscheint 
Meister  Isengrimm  und  stiehlt  einer  Beghine  einen  Braten,  auch 
schiefst  er  mit  einem  Bogen  den  Ehebrechern  die  Nasen  ab,  ein 
Mönch  wirft  mit  einem  Kissen  nach  einer  Äbtissin.  Es  sind  die 
alten  Themen  aus  dem  Mimus,  die  Bestrafung  der  Ehebrecher, 
der  Spott  auf  die  Geistlichkeit,  auf  Mönche  und  Nonnen.  Dafs 
hier  Meister  Isengrimm  als  eine  Person  des  Tierepos  und  der 
Tierfabel  im  Puppenspiel  auftritt,  können  wir  jetzt,  da  uns  die 
nahen  Beziehungen  zwischen  Mimus  und  Fabel  deutlich  geworden 
sind  (vgl.  oben  S.  442 — 444),  ganz  wohl  verstehen'). 

Jedenfalls  war  der  Mimus  als  Puppenspiel  im  lateinischen 
Westen  Europas  ebenso  beliebt  wie  im  byzantinischen  Osten. 
Im  Redentiner  Osterspiel  (1138  ff.)  befiehlt  der  Teufel  seinen 
Dienern,  unter  den  andern  Verlorenen  auch  die  Leute  vor- 
zuführen : 

Die  da  spielen  mit  den  Docken 

Und  den  Thoren  ihr  Geld  ablocken*). 


J)  Vgl.  Westwood,  Archeological  Journal,  Bd.  V  (London  1848),  S.  198. 
*)  Vgl.  A.  Schultz,  Deutsches  Leben,  S.  228. 

*)  Zweifelsohne   war   das  Marionettenspiel  im  Mittelalter  aufserordent- 

53* 


836  Neuntes  Kapitel. 

Also  das  Puppenspiel  in  den  Händen  der  mittelalterlichen 
Mimen,  der  Ioculatoren,  war  von  vornherein  ein  Mimus,  wie  es 
noch  heute  im  Orient  ein  Mimus  ist  und  im  letzten  Grunde 
ist  ja  auch  unser  modernes  Kasperle-  und  Pulcinellspiel  nichts 
anderes.  Ich  will  hier  nochmals  an  die  Übersetzung  von  Tocha, 
Marionette  durch  mima,  in  dem  althochdeutschen  Glossar  hin- 
weisen 1). 


VIII. 

Der  Mimus  am  Ende  des  Mittelalters. 

Adams  de  la  Halle  „Jeu  de  la  feuillee". 

Alle  Leistungen  der  alten  griechisch-römischen  Mimen  bis 
zu  den  niedrigsten  hinab  haben  die  Jongleure  beibehalten.  Ob 
sie  auch  wie  diese  ihre  Vorfahren  Schauspieler  geblieben  sind, 
ob  sie  gelegentlich  auch  mimische  Dramen  weiter  aufgeführt 
haben,  das  ist  nun  die  Frage. 

Die  mittelalterlichen  Mimen  treten,  wie  im  Altertume,  in 
Scharen  auf  und  haben  auch  Miminnen  unter  sich;  sie  wandern 
wie  in  der  Antike,  in  grofsen  Gesellschaften,  sie  lieben  es,  Mimo- 
logieen  und  ethologische  Darstellungen  vorzuführen  und  üben  die 
Künste  der  Mimesis  in  weitestem  Umfange.  Es  wäre  wunderbar, 
wenn  in  diesen  Gesellschaften  jeder  für  sich  allein  gemimt,  wenn 
man  sich  nicht  zur  Aufführung  ganzer  Stücke  vereinigt  hätte, 
zumal  ja  die  Jongleure  auf  dem  Puppentheater  unablässig  kleine 
Dramen  aufgeführt  haben. 

Wir  hören  von  Verboten  gegen  Mimen  und  Miminnen,  sie 
sollen  nicht  in  Gewändern  von  Mönchen  und  Nonnen  auftreten, 
also  nicht  in  schauspielerischen  Verkleidungen.  Die  Nachäffung 
der  Typen  von  Engländern  und  Bretonen  durch  Jongleure  in  Ober- 
italien könnte  wohl,  wie  schon  Creizenach  hervorhebt,  in  kleinen 


lieh   verbreitet;   Magnin   giebt   dafür  (histoire  des  Marionettes)   eine  ganze 
Anzahl  interessanter  Belege,  die  sich  aber  noch  sehr  vermehren  liefsen. 
.     l)  Vgl.  oben  S.  674,  Anm.  1. 


Der  Mimus  am  Ende  des  Mittelalters.     „Jeu  de  la  fenillee".       837 

Dramen,  d.h.  also  in  Mimen,  vor  sich  gegangen  sein1).  Aber 
von  dem  Inhalte  der  mittelalterlichen  Mimen  erfahren  wir  sonst 
nichts.  Die  Jongleure,  die  das  mimische  Schauspiel  vorführten, 
hatten,  wie  die  griechischen  Mimographen,  die  einst  Philistions 
Vorläufer  waren,  kein  litterarisches  Interesse  und  keine  litterari- 
schen Ansprüche,  sie  stellten  in  lustigen  Stücklein  die  alten  und 
ewig  jungen  Typen  und  Themen  dar,  die  sie  von  ihren  griechisch- 
römischen Vorfahren  überkommen  hatten.  Das  Ganze  diente  zur 
Lust  des  Augenblicks  und  wurde  natürlich  extemporiert  Der 
stupidus  in  diesen  Mimen,  der  sot,  war  noch  ganz  der  alte  mit 
kahlem  Kopf  und  mit  grellbunter  Tracht,  vielleicht  zierte  ihn 
auch  noch  der  dicke  <.  Bauch,  den  ja  auch  noch  die  komische 
Figur  im  mittelalterlichen  Puppenspiel  beibehalten  hat.     . 

Wer  sollte  wohl  diese  Stücke  aufschreiben.  Möglich  auch, 
dafs  anfänglich  unter  den  Jongleuren  eine  Art  Canevas  schrift- 
lich überliefert  wurde,  nachdem  man  extemporieren  konnte.  Im 
6.,  7.  und  8.  Jahrhundert  sind  unter  den  mittelalterlichen  Mimen- 
banden vielleicht  auch  noch  Hypothesen  von  Marullus  und  Lentulus 
und  anderen  berühmten  Mimographen  handschriftlich  verbreitet 
gewesen,  wenigstens  haben  wir  festgestellt,  dafs  noch  im  fünften 
Jahrhundert  n.  Chr.  die  Mimen  der  alten  berühmten  Mimographen 
gelesen  wurden,  dafs  es  also  von  ihnen  handschriftliche  Exem- 
plare gab. 

Später  hat  dann  allein  die  mündliche  Überlieferung  ein- 
gesetzt. Aber  die  lustigen  alten  Typen  des  Mimus,  der  stupi- 
dus, der  derisor,  der  Sannio,  der  Ardalio,  der  betrogene  Ehe- 
mann, der  Zr\).6ivnoz,  die  verschmitzten  Eheweiber,  die  schlaue 
Vermittlerin  und  alle  die  anderen  sind  so  unvergefslich,  wie  die 
markantesten  Scenen,  in  denen  sie  auftraten,  die  Ränke  und 
Possen,  die  sie  sich  spielten,  ihre  lustigen  Foppereien  und 
Schimpfereien,  Kabalen  und  Intriguen.  So  werden  im  Karagöz- 
spiel  die  alten  mimischen  Charaktere  und  Sujets  schon  über  vier 
Jahrhunderte  mündlich  überliefert,  und  doch  bleibt  die  Über- 
lieferung  konstant   und   äufserst   selten   wird  einmal  ein  neues 


>)  a.  a.  0.  S.  383,  Anm.  2. 


838  Neuntes  Kapitel. 

Stück  gedichtet  und  auch  dieses  setzt  sich  dann  wieder  aus  den 
uralten  Elementen  zusammen1). 

Die  Litteratur  des  Mittelalters  steht  unter  dem  Zeichen  der 
Geistlichen.  Priester  und  Mönche  haben  sich  weidlich  an  den 
Mimen  ergötzt,  sie  haben  sich  Ioculatoren  und  Hofnarren  gehalten 
und  die  Kirchenfürsten  waren  mit  den  mimischen  Narren  gut 
Freund,  aber  den  Inhalt  der  Mimen  aufzeichnen,  wie  hätten  sie 
das  thun  sollen,  ja  dürfen?  Wozu  sollte  man  auch  diese  lustigen 
Narrenteidungen  aufschreiben,  dafs  sie  aufhören  könnten,  war  ja 
garnicht  zu  befürchten,  man  beschimpfte  und  verbot  sie  ja  offiziell 
schon  seit  Jahrhunderten  in  Concilienbeschlüfsen  und  Synodal- 
verordnungen ohne  ihnen  je  etwas  anhaben  zu  können.  Wie 
empört  ist  Alcuin,  der  fromme  Lehrer  Karls  des  Grofsen,  über 
die  besondere  Vorliebe,  die  Angilbert  der  „Homerus",  der  Eidam 
Karls,  der  verheiratete  Abt  den  Mimen  zeigt,  wie  dringend  mahnt 
er  ihn,  davon  abzulassen,  bis  er  hört,  Angilbert  habe  seinen 
Lebenswandel  gebessert. 

Ja,  dafs  die  Mimen,  die  alten  Darsteller  des  Mimus,  im 
Mittelalter  weiter  gelebt  haben,  ist  gar  keine  Frage.  Ich  habe 
die  zahlreichen  Zeugnisse  für  ihre  Fortexistenz  angeführt2).  Aber 
wenn  die  Mimen  weiter  lebten,  wie  sollte  dann  der  Mimus  zu 
Grunde  gegangen  sein? 

Die  Existenz  des  grofsen  mimischen  Dramas  der  Hypothese 
ist  mindestens  für  das  vierte,  fünfte  und  sechste  Jahrhundert 
n.  Chr.  nach  den  zahlreichen  und  deutlichen  Zeugnissen,  die  wir 
aufgefunden  haben,  erwiesen.  Wenn  also  die  mimischen  Schau- 
spieler im  sechsten  Jahrhundert  ihre  Existenz  behaupteten,  wenn 
sie  alle  Stürme  der  Völkerwanderung  überstanden  hatten,  warum 
sollten  sie  plötzlich  im  siebenten,  achten,  neunten,  zehnten  Jahr- 


*)  Vgl.  oben  S.  668. 

2)  Schon  Petit  de  Julleville  hat  sich  wenigstens  dieser  Erkenntnis  auch 
ohne  die  ganze  Masse  der  Zeugnisse  zu  kennen,  nicht  verschlossen;  soviel 
konnte  man  selbst  aus  Grysar  und  noch  besser  aus  Magnin  (Origines  latines 
du  Theätre  moderne),  der  Grysar  vorangeht,  lernen.  Darum  beginnt  Petit 
in  seiner  berühmten  Geschichte  der  französischen  Komödie  den  Band  „Les 
comediens"  mit  dem  Kapitel  „Les  Jongleurs". 


Der  Mimus  am  Ende  des  Mittelalters.     „Jeu  de  la  feuillee".       839 

hundert  die  Möglichkeit  der  Existenz  verlieren  und  vor  allem  die 
Möglichkeit,  ihre  alten  mimischen  Dramen  vorzuführen.  Ähnlich 
haben  wir  wohl  Kunde  vom  Fortleben  der  Mimen  im  Mittelalter 
im  byzantinischen  Orient,  und  aus  Choricius  kennen  wir  derartige 
mimische  Hypothesen  aus  dem  sechsten  Jahrhundert,  aber  aus 
der  Folgezeit  ist  auch  nicht  eine  einzige  Nachricht  über  Sujet  und 
Inhalt  einer  byzantinischen  Hypothese  überliefert,  wenn  wir  auch 
gelegentlich  von  dem  Mimus  im  Theater  boren  und  uns  Araber 
und  Armenier  als  neuer  mimischer  Typus  genannt  werden.  Dann 
setzt  die  reichliche  Überlieferung  erst  wieder  mit  dem  Nachkommen 
des  byzantinischen  Mimus,  dem  Karagöz  ein,  und  wir  sehen,  dafs 
der  byzantinische  Mimus  noch  in  seinen  letzten  jämmerlichen  Aus- 
läufern ein  mehraktiges  Stück,  eine  Hypothese  ist.  Aber  erst 
moderne  Wissenschaft  hat  den  Karagöz  entdeckt,  mittelalterliche 
Betrachtungsweise  hätte  ihn  spurlos  vergehen  und  vergessen  lassen. 
In  der  That  zeigen  sich  auch  im  lateinischen  Westen  die  Spuren 
des  Mimus  sofort  wieder,  sowie  sich  das  Mittelalter  seinem  Ende 
nähert  und  wieder  mehr  von  einer  eigentlich- litterarischen,  von 
der  Geistlichkeit  unabhängigen  Überlieferung  die  Rede  ist 

Das  älteste  erhaltene  komische  Drama  des  Mittelalters  stammt 
von  dem  berühmten  Trouvere  Adam  de  la  Halle,  es  ist  das  Spiel  von 
Adam  oder  von  der  Blätterlaube  (Jeu  d'Adam  oder  Jeu  de  la  feuill6e) 
(circa  1262;  vgl.  Petit,  La  comädie  S.  19).  In  ihm  erscheint  Adam 
selbst,  sein  Vater,  Meister  Heinrich,  und  fünf  Bürger  des  Städtchen 
Arras,  Riquier,  Hane,  Guillot,  Wal6s  und  Rainnel6s,  auch  zeigt 
sich  ein  Arzt  und  ein  vagabondierender  Mönch.  Adam  ist  seiner 
Vaterstadt  Arras  und  seiner  reizenden  Frau  Marie  überdrüssig; 
sein  Hunger  nach  ihren  Reizen  ist  gestillt,  und  nun  hat  er  grofse 
Pläne,  er  will  nach  Paris  gehen,  um  zu  studieren.  Sein  Vater 
ist  nicht  dagegen,  will  aber  das  nötige  Geld  nicht  vorstrecken, 
weil  er  alt  und  krank  ist  und  es  selber  braucht.  Jetzt  tritt  der 
Arzt  in  Scene  und  meint,  die  Krankheit  des  Alten  ist  der  Geiz. 
Der  Arzt  wird  mit  einem  Male  die  Hauptperson,  eine  Dame 
kommt  hinzu  und  konsultiert  ihn  und  es  folgt  eine  Art  Sprech- 
stunde. Da  tritt  auf  einmal  ein  vagabondierender  Kleriker,  gleich- 
falls eine  Art  Mediziner,  herein,  er  führt  eine  Reliquie  mit  sich, 


840  Neuntes  Kapitel. 

die  imstande  ist,  alle  Narrheit  zu  heilen.  Sofort  weist  jeder 
den  andern  darauf  hin,  aber  nicht  einmal  der  eigentliche  Narr 
Wal6s  wird  durch  die  Berührung  geheilt.  In  dieser  Nacht,  in 
der  man  spielt,  sind  die  Feen  gewöhnt,  unter  einer  Blätterlaube 
von  den  Bürgern  von  Arras  ein  Mahl  anzunehmen.  Aber  der 
Mönch  mit  seiner  Reliquie  hält  Feen  und  Geister  fern.  Schnell 
versteckt  man  ihn  und  schon  vernimmt  man  das  Brausen  des 
Geisterheeres;  es  erscheint  Croquesos,  der  Diener  Hellequins,  des 
Herrn  der  Geister,  mit  einer  Liebesbotschaft  seines  Herrn  für 
die  Fee  Morgue.  Plötzlich  zeigt  sich  Morgue  mit  den  Feen  Arsile 
und  Maglore  auf  der  Scene.  Zum  Unglück  ist  etwas  an  der 
Tafelzurüstung  für  Maglore  vergessen  und  während  Morgue  und 
Arsile  Glück  und  Segen  wünschen,  verflucht  Maglore  Riquier  und 
Adam.  '  Zum  Schlufs  grofses  Zechgelage,  der  Mönch  .schläft  dabei 
ein  und  mufs  zuletzt  die  Zeche  bezahlen,  und  da  er  nichts  hat, 
die  Reliquie  zum  Pfände  lassen. 

Magnin  hat  dieses  Spiel  zum  ersten  Male  mit  der  aristo- 
phanischen Komödie  verglichen  und  Petit  hat  diesen  Vergleich 
geistvoll  weiter  durchgeführt  (La  comedie  S.  19).  Aber  eins 
ist  gewifs,  Adam  de  la  Halle  hat  auch  nicht  ein  Sterbens- 
wort von  Aristophanes  gewufst.  Was  an  diesem  Drama  vor- 
nehmlich als  aristophanisch  erschien,  die  Sittenschilderung,  die 
Mischung  des  biologischen  und  märchenhaften  Elementes,  politische 
und  lokale  Anspielung,  Humor  und  Spott,  ist  nicht  spezifisch  aristo- 
phanisch sondern  mimisch.  Aus  Mimus  und  phallischem  Chor- 
gesang, lehrt  Aristoteles  und  die  altperipatetische  Schule,  setzt 
sich  die  sogenannte  alte  attische  Komödie  zusammen.  Vom  Chor- 
gesange  ist  im  Jeu  de  Adam,  so  viele  Personen  auch  darin  auftreten, 
keine  Spur,  von  der  alten  Komödie  findet  sich  nur  das  spezifisch 
mimische  Element  dort,  und  um  dieses  mimischen  Elementes  willen 
konnte  man   sich  an  die  alte  attische  Komödie  erinnert  fühlen. 

Die  Darstellung  des  Ehelebens,  wie  sie  sich  bei  Adam 
findet,  ist  eines  der  wichtigsten  Sujets  des  Mimus.  Der  Mimus 
führte  auch  gerne  solche  stupidi  vor,  wie  es  der  Narr  bei 
Adam  ist,  der  Biologe  liebte  es,  Personen  aus  dem  ßiog  zu 
schildern,   wie  es  Adam  thut;  der  Mimus  liebte  es,  Ärzte  vor- 


Der  Mimus  am  Ende  des  Mittelalters.     .Jeu  de  la  feuülee".       841 

zuführen  in  ihrer  Praxis,  wie  bei  Adam,  und  gerade  wie  diese 
Ärzte  mit  Damen  umgehen,  hat  der  Mimus  geschildert  wie 
Adam.  Mönche  hat  von  jeher  der  nachchristliche  Mimus  mit 
Vorliebe  auftreten  lassen  und  wenn  dieser  Mönch  mit  seiner 
Reliquie  Wahnsinnige  und  Besessene  heilen  kann,  so  hat  auch 
der  türkische  Mime  Karagöz  ein  geheimes  Mittel,  Verrückte  zu 
heilen  und  einmal  erscheint  er  sogar  in  einer  Irrenanstalt.  Be- 
sessene oder  die  als  solche  erscheinen  oder  behandelt  werden, 
fanden  sich  in  der  alten  Komödie  wie  im  alten  Mimus.  Wenn 
Maglore  wünscht,  dafs  Riquier,  der  nur  noch  ein  Haar  auf  dem 
Kopfe  hat,  ganz  kahl  wird,  können  wir  uns  vielleicht  an  den 
mimus  calvus  erinnern,  zumal  auch  die  Ioculatoren  dieses  Zeichen 
ihrer  griechisch-römischen  Vorgänger  beibehalten  haben.  Auch 
gelegentliche  politische  Anspielungen  wie  bei  Adam  finden  sich 
im  Mimus,  wenngleich  der  Mimus  niemals  wie  die  altattische 
Komödie  vornehmlich  auf  die  Politik  zugeschnitten  ist  oder  gar 
um  ihretwillen  gedichtet  war.  Das  war  aber  auch  nicht  das 
Spiel  von  Adam,  es  nimmt  der  Politik  gegenüber  genau  dieselbe 
Stellung  ein  wie  der  alte  Mimus. 

Dieses  Spiel  mit  seiner  Mischung  des  niedrig-realistischen 
Elementes  mit  dem  Phantastisch-Märchenhaften  ist  der  Ethologie 
und  Biologie  des  Mimus  am  nächsten  verwandt.  Mimus  und 
Märchen  gehören  ja  überhaupt  nahe  zusammen,  schon  die  alt- 
attische Märchenkomödie  verdankt  viel  der  uralten  Neigung  des 
Mimus  zum  Märchenhaften ;  ich  erinnere  auch  an  Gozzis  Märchen- 
mimus  (vgl.  darüber  oben  S.  332,  593,  680). 

Zum  Schlüsse  kommt  in  diesem  Drama  noch  Frau  Fortuna 
herein.  Wir  kennen  sie  genau  aus  dem  alten  griechisch-römischen 
Mimus,  die  Herrin  Tyche,  die  zuletzt  die  Zeche  macht  Ganz 
ähnlich  wie  Adam  von  der  „Fortune**,  redet  Philistion  von 
der  Tyche.  Ja  fast  wörtlich  stimmt  Adams  Schilderung  der 
„Fortune"  und  ihres  Rades  mit  derjenigen  am  Schlüsse  von 
Qudrakas  Mimus  der  Mrcchakatikä  überein1). 


*)  Ich  gebe  hier  die  altfranzösischen  Verse  in  der  modernisierten  und 
leicht  verständlichen  Form,  die  ihnen  Petit,  La  comedie  S.  26,  giebt: 


842  Neuntes  Kapitel. 

In  Adams  Dichtung  zeigt  sich  der  freie  und  kühne  Geist 
eines  grofsen  Poeten,  der  trefflich  mit  dem  von  den  Ioculatoren, 
den  alten  Mimen,  überlieferten  Schatze  an  mimischen  Typen  und 
Themen  umzugehen  weifs  und  geistvoll  das  alte  Gold  zu  funkel- 
nagelneuen Münzen  schlägt1). 

IX. 

Typen  und  Themen  des  Mimus  in  InterSude  und  Farce. 

In  einer  englischen  Handschrift  des  vierzehnten  Jahrhunderts 
ist  ein  Interludium  „De  Clerico  et  puella"  überliefert.  Der 
Clericus  geht  in  Abwesenheit  der  Eltern  zur  Jungfrau  Malkin 
(Mariechen),  aber  er  hat  mit  seiner  Liebeswerbung  wenig  Glück. 
Da  geht  er  zur  Kupplerin;  doch  die  alte  Hexe  behauptet,"  sie 
sei  eine  ehrbare  Frau,  die  lieber  singe  und  bete  als  mit  solchen 
Geschichten  zu  thun  habe.     Leider  bricht  da  dieses  Spiel  ab3). 

Wir  haben  hier  wieder  den  alten  Ehebruchs-  oder  Ver- 
führungsmimus  vor  uns.  Jungfer  Malkin  erinnert  uns  an  Metriche 
im  ersten  Mimiambus  des  Herondas,  die  den  von  der  Kupplerin 
angepriesenen  Verführer  so  schnöde  abweist,  der  Geistliche,  der 
sich  hinter  die  alte  Kupplerin,  die  Dame  Gyllis  bei  Herondas, 
die  cata  carissa  des  römischen  Ehebruchsmimus,  steckt,  an  den 
edlen  Gryllos,  der  mit  Hilfe  der  Gyllis  an  das  Ziel  seiner 
Wünsche   zu   gelangen   hofft.     Dieses  Interludium   steht  also  in 


Fortune  —  a  toute  chose  eile  est  commune  —  et  tient  tout  le  monde  en  sa 
main  —  pauvre  aujourd'hui,  riche  demain  —  ni  ne  sait  point  qui  eile  avance  — 
Pour  ce,  nul  n'y  ait  confiance  —  si  haut  qu'il  puisse  etre  monte;  car  il  ne  faut 
qu'uh  tour  de  roue  —   il  lui  convient  descendre  ä  bas. 

r)  Ich  will  hier  auf  „Robrn  und  Marion",  das  zweite  Drama  Adams, 
nicht  näher  eingehen,  es  ist  ein  Pastorale  mit  zahlreichen  Couplets,  eine 
Art  komischer  Oper  mit  schäferlichen  Masken,  kurz,  ein  bukolischer  Mimus, 
während  das  Spiel  von  Adam  ein  biologischer  Mimus  ist.  Gerade  für  den 
bukolischen  Mimus  ist  dem  Mittelalter  die  Überlieferung,  und  zwar  hier  die 
schriftmäfsige,  niemals  -abgerissen.  Ich  erinnere  nur  an  den  Eklogendichter 
Naso  am  Hofe  Karls  des  Grofsen.  In  jeder  Hinsicht  steht  also  das  älteste 
komische  französische  Drama,  das  wir  kenneD,  unter  dem  Zeichen  des  Mimus. 

2j  Vgl.  Creizenach  a.  a.  0.  S.  400. 


Typen  und  Themen  des  Mimus  in  Interlude  und  Farce.  843 

einer  Handschrift  aus  dem  Anfange  des  vierzehnten  Jahrhunderts; 
danach  ist  es  sicher,  dafs  man  schon  im  dreizehnten  Jahrhundert 
den  mittelalterlichen  Mimus  Interludium  nannte  (vgl.  Creizenach 
a.  a.  0.  S.  400),  und  darum  nennt  Adam  de  la  Halle  seinen 
Mimus  zwar  kein  Interludium,  aber  doch  einfach  einen  ludus 
(jeu),  und  wir  wissen,  dafs  man  die  Mimen  auch  ludiones  hiefs. 
Der  Name  Interlude  blieb  das  Mittelalter  hindurch  erhalten. 
Noch  Königin  Elisabeth  hielt  von  ihrem  Regierungsantritt  an 
eine  Gesellschaft  von  'Players  of  Enterludes' ')  als  königliche 
Schauspielertruppe 8). 

Warum  nannte  man  den  Mimus  a Interludium?"  Wir  wissen, 
wie  reichlich  in  den  vornehmen  Haus-  und  Hofhaltungen  des 
Mittelalters  für  die  Unterhaltung  der  Gäste  gesorgt  wurde;  da 
gab  es  eine  grofse  Masse  von  „ludi-1  und  „ ludiones".  Allen 
diesen  ludiones  wurde  Schweigen  geboten;  wenn  das  Interludium 
vor  sich  gehen  sollte,  dann  hörten  die  Fidein  und  Harfen  auf, 
die  Mim  öden  sangen  nicht  mehr,  der  Puppenspieler  schwieg 
stille,  die  Bären  durften  nicht  mehr  brummen  und  die  dressierten 
Hunde-  nicht  mehr  bellen,  auch  der  Heldengesang  verstummte. 
Hinter  der  Gardine"5)  traten  die  Ioculatoren,  die  Mimen,  hervor 
und  führten,  während  die  ludi  schwiegen,  ihr  grofses  Interludium 
auf.  Doch  wenn  die  Ioculatoren  wieder  hinter  ihrem  velum 
mimicum  verschwunden  waren,  traten  die  anderen  ludi  von  neuem 


i)  Vgl.  Karl  Elze,  William  Shakespeare  S.  271. 

2)  Seine  Blüte  erlangte  das  Interlude  in  England  durch  John  Heywood 
am  Hofe  Heinrichs  VIII ;  dieses  Spiel  ist  wie  der  alte  Mimus  voller  Spott 
gegen  die  Geistlichkeit. 

*)  Das  Siparium  fanden  wir  ja  noch  auf  der  englischen  Bohne  zu 
Shakespeares  Zeit,  sie  hat  es  von  den  alten  players  of  enterludes.  Wir 
haben  also  allen  Grund,  das  velum  mimicum  überhaupt  bei  dem  Interlude 
vorauszusetzen.  Die  mittelalterlichen  Mimen  haben  eben  dieses  unerläßliche 
Stück  der  Ausstattung  beibehalten.  Hart,  Geschichte  der  Weltlitteratur  II, 
S.  97.  giebt  nach  P.  Albert,  La  litterature  fran?aise,  Paris  1891,  die  bild- 
liche „Darstellung  einer  Possenscene  auf  der  spätmittelalterlichen  Volks- 
bühne'". Deutlich  sieht  man  hier  den  Vorhang,  vor  welchem  gespielt  wird, 
das  Siparium.  Noch  heute  treten  in  primitiven  Varietes  die  Gaukler  hinter 
der  sich  teilenden  Gardine  hervor. 


844  Neuntes  Kapitel. 

in  ihr  Recht,  und' es  erhob  sich  im  Saale  das  alte  Brausen.  So 
traten  an  den  Höfen  der  Diadochen  ÖavpaTonoioi,,  Musikanten 
und  Mimoden,  in  Scharen  in  dem  grofsen  Festsaale  auf,  bis  die 
mimische  Hypothese,  die  alles  Interesse  auf  sich  zog,  den  übrigen 
Spielen  Schweigen  gebot. 

Der  Name  interludium  für  den  alten  Mimus  scheint  im 
späteren  Mittelalter  wie  im  Beginne  der  neuen  Zeit  in  allen 
romanischen  Ländern  Geltung  gehabt  zu  haben;  in  Spanien  hiefs 
das  Interlude  Entremesa.  Cervantes  wie  Lope  de  Vega,  die 
grofsen  Zeitgenossen  William  Shakespeares,  haben  eine  ganze 
Anzahl  Entremesas  gedichtet1). 

Daneben  kam  der  Name  Farce  auf2).  Es  sind  genau  150 
französische  Farcen  erhalten3),   die  alle  nicht  älter  sind  als  das 


1)  Eine  genaue  Inhaltsangabe  der  Entremesas  von  Cervantes  findet  sich 
bei  J.  L.  Klein,  Geschichte  des  Dramas  IX,  S.  375  ff.  Im  dritten  Entremesa 
„El  viejo  zeloso"  (Der  eifersüchtige  Alte)  haben  wir  den  alten  mimischen 
Narren,  den  ^Aonmos,  vor  uns,  mit  all'  den  alten  mimischen  Zügen  bis 
ins  einzelne  und  einzelste.  Gegenüber  dem  sechsten  Entremes  „de  la  Eleccion 
de  los  Alealdos  de  Daganzo"  erinnern  wir  uns  an  Pappus  Praeteritus  oder 
Punch  candidate  for  Guzzledown.  Kurz,  die  Typen  und  Themen  des  spani- 
schen Entremes  lassen  sich  bis  ins  einzelne  hinein  mit  denen  des  Mimus  be- 
legen; aber  das  würde  eine  ganze  Monographie,  ja,  bei  der  Fülle  des  aus 
dem  Mimus  Überlieferten  und  Überkommenen,  ein  ganzes  Buch  erfordern. 

2)  Über  den  Ausdruck  Farce,  der  als  Bezeichnung  für  den  Mimus  vor- 
läufig zuerst  für  das  fünfzehnte  Jahrhundert  nachweisbar  ist,  vgl.  Petit  de 
Julleville,  La  comedie  et  les  moeurs  en  France  au  moyen-äge,  Paris  1886, 
S.  51  ff.    Auch  Du  Cange,  s.v.  farsa,  giebt  nützliche  Belege. 

3)  Petit  de  Julleville  zählt  im  Repertoire  du  Theatre  comique  en  France 
au  moyen-äge,  Paris  1886,  148  auf.  S.  106—258,  Nr.  66-213.  Inzwischen 
haben  sich  zwei  neue  Farcen  hinzugefunden.  Vgl.  Codd.(  Ashburnhamiani 
I,  63  ff.  Und  doch  sind  diese  150  Stücke  nur  der  kleine  Bruchteil  eines 
ungeheuren  Reichtums.  Wie  es  im  griechisch-römischen  Weltreiche  einst 
in  allen  grofsen  Städten  Mimographen  gab,  wie  überall  die  Mimen,  die  das 
Leben  abspiegelten,  in  diesen  lebensfrohen  Zeiten  wie  Pilze  aus  der  Erde 
hervorschossen,  so  gab  es  in  dem  daseinsfreudigen  Frankreich  gegen  Ende 
des  Mittelalters  zahllose  Farcendichter,  und  die  Farcen  blühten  auf  wie  die 
Blumen  an  einem  Frühlingstage.  Sehr  gut  bemerkt  Petit  de  Julleville,  La 
comedie  S.  57 :  Quoique  nous  posstdions  beaueoup  de  farces,  peut-etre  n'avons- 
nous   pas    la   centieme  partie  des  pieces  de   ce  genre  compose'es  au  moyen-äge  .... 


Typen  und  Themen  des  Mimus  in  Interlude  und  Farce.  845 

sechzehnte  Jahrhundert,  zum  Teil  sind  sie  in  alten  Drucken, 
zum  Teil  handschriftlich  überliefert.  Doch  hebt  Creizenach 
hervor,  dafs  diese  Farcen  grösstenteils  wohl  Überarbeitungen 
von  komischen  Schauspielen  viel  früherer  Jahrhunderte  sind1). 
Überall  regt  sich  die  Erkenntnis,  dafs  das  komische  Drama  des 
Mittelalters  sehr  viel  älter  ist,  als  es  scheint,  es  ist  eben  der 
uralte  Mimus. 

Wie  im  Mimus  treten  auch  hier  wieder  alle  Typen  des 
ßioq  auf.  Da  sind  vor  allem  die  alten  Handwerkertypen,  der 
Müller,  der  Schuster  (wie  bei  Herondas),  der  Schneider,  der 
Kesselflicker,  alle  Typen  des  Marktes  und  der  Strafse,  die 
Fischweiber  (wie  schon  bei  Epicharm),  die  Grünkraut-  und 
Gemüsefrauen  —  wie  in  den  mimischen  Scenen  bei  Petron. 
Wie  im  alten  Mimus  zeigen  sich  Ärzte,  Schulmeister  mit  ihren 
Schülern,  Advokaten,  prahlerische  Soldaten  (vgl.  besonders 
Petit,  Nr.  71,  86,  108,  114).  Vor  allem  werden,  wie  es  der 
Mimus  seit  den  ältesten  Zeiten  und  besonders  der  christo- 
logische  Mimus  liebt  und  wie  es  noch  heute  im  indischen  wie 
im  persischen  und  türkischen  Mimus  Sitte  ist,  die  Geist-- 
liehen  arg  mitgenommen.  Da  erscheinen  allerhand  verliebte 
Cleriker,  verbuhlte  Äbtissinnen  und  Nonnen.  Nicht  einmal 
der  copo  compilatus,  der  betrogene  Kneipwirt  aus  dem  alten 
Mimus  fehlt,  ebenso  wenig  fehlen  die  Industrieritter  des  Mimus, 
die  in  den  mimischen  Scenen  bei  Petron  eine  so  wichtige  Rolle 
spielen.  Wie  der  Narr,  der  stupidus,  im  griechisch-römischen 
Mimus,  so  spielt  in  der  französischen  Farce  der  Narr,  der  sot 
oder  wie  er  seit  den  ersten  Zeiten  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
heifst,  der  Badin,  eine  wichtige  Rolle.  Natürlich  finden  sich, 
wie  im  alten  Mimus  und  besonders  der  Atellane,  allerhand  Typen 
des  ländlichen  Lebens  in  der  Farce,  Bauern  und  Bäuerinnen, 
Knechte  und  Mägde. 


Du  Verdier  s'exprime  ainsi  dans  sa  Billiotheque  franeoise  en  1585:  *On  ne 
sauroit  dire  Us  farces  qui  ont  (te  compose'es  et  imprimees,  si  grand  en  est  le 
nombre.     Car  au  temps  passe",  chaseun  se  mesloit  (Ten  faire». 

»)  a.  a.  0.  S.  431. 


846  Neuntes  Kapitel. 

Den  eigentlichen  risus  miraicus  aber  erwecken  in  diesen 
Farcen  die  uralten  mimicae  ineptiae,  diese  drolligen  Dummheiten 
der  Narren,  die  Eulenspiegeleien;  die  mimicae  artes,  die  lustigen 
Vermummungen  und  Betrügereien,  die  Kabalen  und  Ränke,  die 
praestigiae  atque  fallaciae,  die  Cicero  als  mimorum  argumenta 
kennzeichnet  (vgl.  oben  S.  64,  Anm.  2).  So  sind  denn  in  der 
französischen  Farce  wie  im  alten  Mimus  besonders  allerhand 
lustige  Gaunereien  und  Diebstähle  im  Schwange.  Das  Ver- 
suchsobjekt für  solche  Streiche  ist  besonders  der  Gastwirt,  der 
copo  compilatus  des  alten  lateinischen  Mimus.  Aber  auch 
sonst  werden  im  französischen  Mimus  allerhand  Gewerbtreibende 
von  ihren  Kunden  betrogen;  so  im  neuen  Pathelin  (Nr.  157 
bei  Petit)  ein  Kürschner.  In  Nr.  72  bei  Petit  tritt  ein  Blinder 
und  sein  Junge  auf,  die  eine  Wurst  stehlen  und  dabei  abgefafst 
werden. 

Wie  es  sich  für  einen  Mimus  gehört,  liebt  die  französische 
Farce  allerhand  politische  Anspielungen,  besonders  über  den  Steuer- 
druck wird  geklagt,  wie  im  sechsten  Mimiambus  des  Herondas.  Und 
-wie  der  griechisch-römische  Mimus  gelegentlich  in  Anspielungen 
die  Verhältnisse  der  allerhöchsten  Herrschaften  berührte,  so 
auch  der  französische.  So  wurde  im  Jahre  1503  in  einer  Farce 
vorgeführt,  wie  ein  Hufschmied  (marechal)  eine  Eselin  (Anne) 
beschlägt,  dabei  aber  einen  kräftigen  Fufstritt  erhält.  Gemeint 
war  der  Marschall  von  Rohan,  der  von  der  Königin  Anna  gestürtzt 
wurde  (vgl.  Petit,  Repertoire  S.  357). 

Der  gröfste  Wert  der  französischen  Farcen  für  die  Historie 
in  ihrer  höchsten  und  letzten  Form,  d.  h.  der  Entwicklungs- 
geschichte der  Menschheit,  besteht  in  der  Treue,  mit  der  sie 
die  sozialen  und  politischen  Verhältnisse  des  Mittelalters  wider- 
spiegeln, d.  h.  um  antike  Termini  zu  gebrauchen,  in  ihrer  Bio- 
logie; auch  dem  französischen  Farceur  gebührt  der  Ehrentitel 
Biologe,  wie  dem  Mimen.  Petit  de  Julleville  hat  die  Farce  vor- 
nehmlich unter  diesem  biologischen  Gesichtspunkte  behandelt, 
das  drückt  sich  sogar  in  dem  Titel  seines  Werkes  aus:  La 
comSdie  et  les  moeurs  en  France  au  moyen-äge.  So  gründeten 
die  Peripatetiker  auf  den  Mimus  ihre  Darstellung   der  „moeurs 


Typen  und  Themen  des  Mimus  in  Interlude  und  Farce.  847 

en  Grece*  und  basierten  zum  Teil  auf  der  mimischen  Biologie 
ihre  hellenische  Sittengeschichte,  ihren  Tßiog  °ElXddoqu  (vgl. 
oben  S.  319,  320). 

Die  Schwiegermutter,  die  sich  schon  in  dem  alexandrinischen 
Mimus  Hecyra  wie  im  griechisch-römischen  Mimus  zeigt,  spielt 
auch  eine  arge  Rolle  in  der  Farce  vom  „Waschfafs".  Es  handelt 
sich  da,  wie  oft  im  Mimus,  um  die  Herrschaft  im  Hause.  Der  arme 
Jaquinot  wird  von  seinem  Weibe  und  seiner  "Schwiegermutter 
drangsaliert.  Als  Jaquinot  sich  nun  beschwert,  dafs  ihm  alle 
weiblichen  Arbeiten  im  Hause  aufgehalst  würden,  rät  die 
Schwiegermutter,  damit  aller  Zank  und  Streit  aufhöre,  solle  er 
sich  ein  Verzeichnis  seiner  Pflichten  anlegen;  da  diktiert  ihm 
denn  Frau  und  Schwiegermutter  ein  langes  Register.  So  be- 
giebt  man  sich  an  die  Wäsche;  aber  Jaquinot  zieht,  während  er 
am  Waschfafse  steht,  die  Wäsche  wohl  allzu  straff  an  und  die 
Frau  purzelt  ins  Waschfafs.  Als  sie  nun  verlangt,  er  solle  sie 
herausziehen,  sieht  er  seine  Liste  nach  und  findet  das  nicht 
darin.  —  Cela  n'est  point  a  mon  rollet.  —  Auch  die  Schwieger- 
mutter kann  ihrer  Tochter  nicht  helfen;  man  ist  wirklich  allein 
auf  die  Kräfte  Jaquinots  angewiesen  und  so  müssen  denn  Frau 
und  Schwiegermutter  ihn  als  den  Herrn  im  Hause  anerkennen. 
Vgl.  Petit,  La  comädie  S.  321  ff.  Es  ist  eben  der  alte  Schwieger- 
muttermimus. 

Vor  allem  aber  waren  offenbar  der  Verführer,  das  junge 
Mädchen  oder  die  junge  Frau,  auf  die  sich  seine  Wünsche 
richten,  und  die  Vermittlerin  die  cata  carissa  des  alten  Mimus, 
desgleichen  der  stupidus  als  betrogener  Ehemann,  besonders 
beliebte  Typen  auch  im  späteren  mittelalterlichen  Mimus. 
Wir  finden  sie  ja  schon  im  alten  Interludium  „De  clerico  et 
puella"  und  ebenso  in  den  alten  niederländischen  Mimen  aus 
dem  späteren  Mittelalter,  die  von  den  französischen  Farcen 
ihren  Ursprung  genommen  haben.  (Vgl.  Creizenach  a.  a.  0. 
S.  404.) 

Herr  Werrenbracht  hat  seine  Frau  im  Verdachte  der  Un- 
treue. Er  begiebt  sich  aus  dem  Hause  und  läfst  sich  von 
einem  Krämer  im  Tragkorbe  wieder  in  seine  Wohnung  bringen. 


848  Neuntes  Kapitel. 

Richtig  ist  auch  schon  der  Pfaffe  bei  seiner  Frau.  Er  singt  ein 
Spottlied-  auf  den  Hahnrei  Werrenbracht,  dann  fordert  er  den 
Krämer  auf,  auch  ein  Lied  zu  singen.  Da  singt  der  Krämer: 
Herr  Werrenbracht  soll  gleich  aus  seinem  Korbe  herauskommen 
und  den  falschen  Pfaffen  durchprügeln,  und  das  geschieht1). 

Am  lustigsten  und  verbreitesten  unter  allen  diesen  Ehe- 
bruchsmimen ist  nun  die  Farce  von  dem  armen  stupidus  von 
Ehemann,  der  bei  seiner  Frau  ein  Kind  findet,  dessen  Herkunft 
er  sich  nicht  recht  erklären  kaun. 

Dieses  Thema  findet  sich  schon  im  niederländischen  Possen- 
spiel (Creizenach  S.  402);  da  beschwert  sich  Rüben  bei  seiner 
Schwiegermutter,  dafs  seine  junge  Frau  schon  nach  drei  Wochen  in 
die  Wochen  gekommen  sei.  Die  Schwiegermutter  meint,  er  müsse 
die  drei  Monate  Brautstand  und  dazu  die  Tage  und  Nächte  des 
Ehestandes  besonders  rechnen,  dann  kämen  neun  Monate  heraus. 
Zum  Schlüsse  schwört  sie,  dafs  ihre  Tochter  ebenso  unschuldig 
bei  der  Verheiratung  war  wie  sie  selbst.  Das  mufs  dem  guten 
Rüben  genügen. 

Dasselbe  Sujet  behandelt  ähnlich,  wenn  auch  anders,  die 
französische  Farce.  Ein  Mann  hat  seine  Frau,  die  ihm  mit  ihren 
unaufhörlichen  Anforderungen  an  seinen  Geldbeutel  gar  zu  lästig 
fiel,  verlassen.  Als  er  wiederkommt,  sieht  er  mit  Erstaunen, 
wie  viel  besser  seine  Wohnung  ausmöbliert  ist,  und  wie  er  sich 
über  ein  Stück  der  neuen  Ausstattung  nach  dem  anderen  wundert 
und  fragt,  wodurch  sie  das  erlangt  habe,  erhält  er  die  stereotype 
Antwort:  „Durch  den  Segen  Gottes".  Zum  Schlufs  bemerkt  er 
ein  kleines  Kindlein;  auf  die  Frage:  „Woher  hast  du  das?" 
lautet  die  Antwort  gleichfalls:  „Vom  Segen  Gottes"2). 

So  kommt  im  türkischen  Mimus  des  Karagöz  junge  Frau, 
des  Dottore  Hagievad  Tochter,  schon  in  der  ersten  Ehenacht  in 
die  Wochen.  Der  Modus  Liebinc  bietet  dasselbe  Motiv.  Es 
sind  „mimi  juvenes",  die  da  mit  der  Frau  des  entfernten  Ehe- 


')  Vgl.  Creizenach  a.  a.  0.  S.  403. 

2)  Bei    Petit,    Repertoire    Nr.  87:     Colin   gui  loue  et  depite  (maudit)  dieu. 
Vgl.  auch  Petit,  La  comedie  S.  307  ff. 


Farcen  als  mimische  Hypothesen.    Maistre  Mimin.  849 

mannes  scherzen,  weil  eben  in  dem  Schwanke  der  Inhalt  eines 
Mimus,  mit  dem  damals  die  Zuschauer  ergötzt  wurden,  wieder- 
gegeben wird  (vgl.  oben  S.  796). 

Weil  dieser  Mimus  in  allen  Ländern,  in  Deutschland,  Frank- 
reich, England,  Italien  und  Spanien  weit  verbreitet  war,  darum 
finden  wir  die  Fabel  vom  Schneekinde  auch  in  Litteraturen  ver- 
breitet1), die  sonst  nichts  von  einander  entlehnen. 

Es  ist  wunderlich,  man  hat  bisher  immer  den  alten  Ehe- 
bruchsmimus,  wie  er  in  griechisch-römischer  Zeit  die  Bühnen 
von  Alexandria,  Rom  und  Neapel,  Konstantinopel,  Babylon  und 
Antiochia,  Paris,  London,  Köln,  Mainz,  Trier  und  aller  anderen 
Städte  des  griechisch-römischen  Weltreiches  beherrschte,  als  ein 
spezifisches  Zeichen  der  Sittenverderbnis  der  antiken  Welt  an- 
gesehen und  siehe  da,  nun  treffen  wir  den  gleichen  Ehebruchs- 
mimus  als  den  Hauptbestandteil  von  Interlude,  Entremesa  und 
Farce  im  Mittelalter  wieder  überall  verbreitet.  Sollen  wir  nun 
dieselbe  Sittenverderbnis  auch  für  diese  kräftigen,  von  der  christ- 
lichen Sittlichkeit  beherrschten  Nationen  voraussetzen?  Ach 
nein!  Die  Sitten  waren  im  Mittelalter  unter  den  Germanen 
und  Franzosen,  Engländern,  Spaniern  wohl  bessere  als  in  den 
Zeiten  der  endenden  antiken  Kultur.  Aber  der  mittelalterliche 
Mimus  knüpft  doch  nun  einmal  direkt  an  den  Mimus  der  aus- 
gehenden Antike  an  und  darum  mufste  in  ihm  der  Ehebruchs- 
mimus  überwiegen  und  die  in  ihm  herrschende  freche,  realistisch- 
burleske Auffassung  von  den  Frauen,  die  so  merkwürdig  absticht 
von  der  sonst  im  Mittelalter  herrschenden  schwärmerisch-minnig- 
lichen,  romantisch-idealistischen  Frauenverehrung,  die  im  Marien- 
kultus gipfelt. 

X. 

Farcen  als  mimische  Hypothesen.     Maistre  Mimin. 

Wir  wollen  den  Vergleich  zwischen  Mimus  und  Farce  an  der 
Farce  Nr.  129  bei  Petit  ein  wenig  genauer  durchfuhren. 


')  Vgl.  darüber  Ebert  a.  a.  0.  II,  S.  346. 

Reich,   Mimus.  ",.| 


850  Neuntes  Kapitel. 

Ein  Vater  und  eine  Mutter  unterhalten  sich  von  ihrem 
Sohne.  Der  Vater  hat  ihn  zur  besseren  Ausbildung  einem 
Schulmeister  übergeben.  Nun  hat  die  Mutter  schlimme  Neuig- 
keiten zu  berichten.  Der  Sohn  hat  so  trefflich  Latein  ge- 
lernt, dafs  er  nicht  mehr  Französisch  zu  sprechen  versteht. 
Da  mufs  man  ihn  doch  gleich  aus  der  Schule  herausholen, 
sonst  verstehn  ihn  nicht  einmal  die  Hunde  mehr.  Man  macht 
sich  auf  den  Weg,  holt  unterwegs  die  Braut  dieses  seltsamen 
Schülers  und  Raoul  Machue,  seinen  Schwiegervater  in  spe,  ab 
und  begiebt  sich  dann  zum  Schulmeister.  In  der  That  hat 
der  Schüler  erstaunlich  viel  gelernt,  er  spricht  nur  Latein  und 
was  für  ein  Latein1).  Aber  die  Braut  lehrt  ihn  nach  vielen  ver- 
geblichen Bemühungen  wieder  Französisch  sprechen,  und  so  geht 
man  fröhlich  heim  zur  Hochzeit. 

Dieser  Student,  der  ob  der  grofsen  Schulweisheit  alle  Ver- 
nunft verlernt  hat,  ist  der  alte  Scholastikus  Philistions,  der 
Dottore.  Der  Magister  ist  der  Schulmeister  des  griechisch- 
italischen  Mimus.     Bei  Herondas    schon    spielt   er    seine  Rolle 


x)  So  sagt  der  Magister  (Ancien  theatre  francais,  publie  par  M.  Viollet 
Le  Duc,  Tome  II.  —  Bibliotheque  Elzevirienne  10,  S.  344/45: 

Responde:  quod  librum  legis? 
En  frangoys. 

Maistre  Mimin: 

Ego  non  dire, 
Franchoyson  jamais  parlate; 
Car  ego  oubliaverunt. 

Le  Magister: 
Jamais  je  ne  vy  ainsi  prompt 
Ne  d'estudier  si  ardant. 

Auf  die  weiteren  Fragen   des  Magister   fährt   dann   der  Schüler   weiter   in 
seinem  französischen  Latein  fort: 

Mundo  mirabilius 
Avanturosus  Lupare 
Bonibus  et  non  gaignare 
Non  durabo  certambus 
Et  non  emportabilibus     u.  S.  W. 


Farcen  als  mimische  Hypothesen.    Maistre  Mimin.  851 

im  Mimiambus  „Der  Schulmeistert  Dort  besucht  ihn  die  Mutter 
seines  Zöglings,  wie  ihn  hier  Mutter  Lubine  besucht  Er  ist 
dort  derselbe  würdevolle  Pedant,  wie  in  der  französischen  Farce. 
Bei  Petron  lernen  wir  in  einer  dem  Mimus  entlehnten  Partie 
zwei  Schulmeister  kennen,  der  eine  ist  ein  fauler  Kerl,  der 
andere  aber  lehrt  seine  Schüler  mehr  als  er  selber  versteht. 
Auch  aus  Philistions  Philogelos  kennen  wir  diese  pedantischen 
Schulmeister,  noch  Choricius  sind  sie  bekannt.  Gelegentlich 
tritt  auch  Karagöz  im  türkischen  Mimus  als  Schulmeister  auf. 
Wenn  der  Schüler  in  dem  französischen  Mimus,  doch  halt,  in 
der  französischen  Farce  auch  noch  als  Bräutigam  auftritt  und 
sich  ziemlich  verliebt  zeigt,  so  erinnere  ich  an  den  Scholastikus 
in  Philistions  Philogelos,  der  von  seiner  Magd  ein  Kind  hat 
(Nr.  57,  vgl.  oben  S.  462). 

Dazu  zeigt  sich  auch  Form  und  Gestalt  dieser  Farce  bis 
ins  einzelnste  der  mimischen  Hypothese  vergleichbar. 

Allerdings  findet  sich  nicht  Prosa,  sondern  nur  iambischer 
Vers  und  Cantica  gemischt,  und  zwar  finden  sich  Couplets  mitten 
drin  und  am  Schlüsse1).  Auch  in  dem  Mimus  vom  betrogenen 
Ehemann,  Herrn  Werrenbracht,  finden  sich  Couplets,  und  wenig- 
stens für  den  Schlufs  des  spanischen  Entremesas  ist  das  Couplet 
ganz  unerläfslich. 


*)  So  heifst  es  a.  a.  0.  S.  350,  351: 

Scait-il  plus  chanter,  voirement, 
Pour  nous  rejouyr  en  allantf 

Le  Magister: 
Jl  faxt  ragt. 

Raulet: 
Chantez  avant. 
(Ils  chantent  quelque  chanson  a  plaisir.) 
Und  weiter  heifst  es  S.  357: 

Mon  ßls,  vien-fen  vien : 
Nous  chanterons  bien  en  allant. 
Und  zum  Schlüsse  (S.  359)  steht: 
ils  chantent. 
Leider   sind   diese  Couplets   nicht   erhalten.    Auch  sonst  findet  sich  in  den 
Farcen  häufig  zum  Schlüsse:    un  chanson  pour  dire  adieu. 

54* 


852  j  Neuntes  Kapitel. 

Im  spanischen  Entremesa,  das  mit  der  Farce  auf  gleicher 
Stufe  steht,  findet  sich  auch  die  Prosa.  Also  wenn  das  mittel- 
alterliche Drama  auch  nur  eine  sehr  minderwertige,  sehr  ein- 
geschrumpfte Gestalt  der  mimischen  Hypothese  ,  zeigt,  aus  der 
es  entsprungen  ist,  so  zeigt  es  sie  doch  immerhin  noch  deut- 
lich genug. 

Auch  der  freie  Scenenweclisel,  den  der  Mimus  liebt,  findet 
sich  in  unserer  Farce.  Erst  unterhält  sich  Mutter  Lubine  und 
ihr  Mann  auf  dem  Lande.  Dann  erscheinen  sie  zusammen  vor 
Raoul  Machue's  Haus  in  der  Stadt  und  endlich  alle  gemeinsam 
bei  dem  Schulmeister  in  der  Schule.  Ebenso  haben  wir  hier, 
wie  in  der  Hypothese,  eine  gröfsere  Anzahl  von  Darstellern,  näm- 
lich sechs. 

Doch  wozu  einen  mühsamen  Indicienbeweis  dafür  anstellen, 
dafs  diese  Farce  aus  dem  Mimus  stammt  und  ein  uralter  Mimus 
in  französischer  Form  ist,  dafs  hat  ja  schon  der  alte  französische 
Mimograph  gewufst,  der  den  Hauptdarsteller  in.  diesem  Mimus 
als  Maistre  Mimin  estudiant  bezeichnete1).  Der  Hauptakteur  in 
dieser  Farce  ist  also  der  Mime.  Nun  wohl,  wir  wissen  ja,  dafs  noch 
im  neunten  Jahrhundert  nach  Christus  ausdrücklich  bezeugt  wird, 
dafs  das  Volk  einen  Lustigmacher  mimus  nennt  (vgl.  oben  S.795). 
Es  hat  also  auch  noch  in  den  späteren  Jahrhunderten,  da  es  ihn 
einen  ioculator,  einen  jogleor  und  Jongleur  hiefs,  was,  wie  wir 
sahen,  die  direkte  Übersetzung  von  (iipog  yekoicov  ist,  nicht  ver- 
gessen, das  jeder  ioculator,  jeder  mimische  Darsteller  eben  ein' 
Mime  ist.  In  der  Farce  von  den  „drei  Pilgern"  wird  mit  dem 
Ausdruck  „Mymin"  der  Spafsmacher  bezeichnet2).  Dafs  Meister 
Mime  der  Akteur  in  allen  französischen  Interludien  und  Farcen 
ist,  diese  Erinnerung  haben  noch  zwei  andere  französische  Farcen 
bewahrt.     Bei  Petit  de  Julleville  a.  a.  0.  Nr.  130  findet  sich  eine 


!)  Bei  Petit,  Repertoire  du  Theatre  comique,  Paris  1886,  Nr.  129,  S.  156. 
In  den  Farcensammlungen  (Recueil  du  British  Museum,  Recueil  Viollet-Leduc, 
Recueil  Edouard  Fournier)  lautet  der  Titel:  Farce  joyeuse  de  Maistre  Mimin 
ä  six  personnages,  c'est  assavoir  le  Maistre  d'Escolle,  maistre  Mimin,  estudiant; 
Raulet,  son  pere;  Lubine,  sa  mere;  Raoul  Machue  et  la  Bru  Maistre  Mimin. 

2)  Les  trois  P61erins  et  Malice  bei  Petit  No.  166. 


Farcen  als  mimische  Hypothesen.     Maistre  Mimin.  853 

Farce  zu  drei  Personen,  nämlich:  Maistre  Mimin  le  Gouteux; 
son  varlet  Richard  le  Pel6,  sourd,  et  le  chaussetier.  Dann 
giebt  es  noch  eine  alte  Farce,  betitelt:  Le  Testament  de 
Maitre  Mimin  (bei  Julleville  a.  a.  0.  Nr.  306)»  Wir  erinnern 
uns  an  des  toten  Juppiters  Testament  und  ähnliche  ur- 
alte Mimen1).  Ganz  richtig,  Meister  Mime  hat  ja  das  ganze 
Mittelalter  hindurch  gespielt.  Er  spielte  ja  auch  im  indischen 
Drama  und  spielt  noch  heute  im  türkischen  Karagöz  und  als 
Kacal  Pahlavan  in  dem  persischen  Puppendrama  und  in  der 
Commedia  deir  arte  und  noch  im  deutschen  Kasperlespiel  *).    Ihre 


J)  Petit  de  Julleville  a.  a.  0.  S.  314  bemerkt  dazu:  Le  nom  de  Maitre 
Mimin  parait  avoir  ete  celui  (Tun  farceur  celebre,  ou  peut-etre  le  sobriquet  traditionnel 
de  plusieurs  farceurs.  Ei,  freilich,  der  berühmteste  aller  Farceure,  der  Farceur 
an  sich,  ist  ja  der  mimus,  der  ioculator,  der  ftipos  yeloltov,  der  maistre 
Mimin. 

3)  Der  Farce  entspricht  auf  deutschem  Boden  das  Fastnachtsspiel.  Auch 
hier  wird  es,  nachdem  die  verschiedenen  Typen  und  Themen  des  Mimus  fest- 
stehn,  nicht  schwer  fallen,  die  alten  mimischen  Elemente  im  einzelnen  nach- 
zuweisen. Nur  soweit  die  Fastnachtsspiele  auf  dem  alten  Mimus  beruhen, 
sind  sie  weiterer  Entwickelung  fähig  gewesen.  So  bemerkt  Creizenach  a.  a.  0. 
S.  413:  »Die  einzige  Abart  des  Fastnachtspieles,  in  der  ein  fruchtbarer 
Kern  zu  weiterer  Entwickelung  lag,  sind  die  Spiele,  die  auf  komischen  Er- 
zählungen beruhen;  hier  wäre  es  wohl  denkbar,  dafs  die  bürgerlichen  Fast- 
nachtsspieler sich  Anregungen  aus  dem  Repertoire  des  fahrenden  Volkes 
holten."  Ganz  recht,  das  fahrende  Volk  sind  eben  die  mimi  et  ioculatores. 
Später  wirkte  dann  auf  das  deutsche  Drama  auch  der  italisch-italienische 
Mimus,  die  Commedia  dell'arte  und  der  Pulcinell.  Schon  im  Jahre  1649 
tritt  in  Nürnberg  ein  Italiener  auf,  'so  den  Pollizinello  mit  kleinen  Dockelein 
agiret  hat'  (vgl.  Dieterich,  Pulcinella  S.  271).  Nach  dem  Bilde  der  Com- 
media dell'arte  schuf  dann  Stranitzki  die  Wiener  Posse,  und  auf  dieser 
Grundlage  ruht  das  Wiener  Volksschauspiel,  bis  auf  Raimund  („Der  Ver- 
schwender"', „Der  Bauer  als  Millionär",  „Der  Alpenkönig  und  der  Menschen- 
feind"), Nestroy  (1802—1862)  („Lumpaci  vagabundus",  „Der  Unbedeutende", 
„Die  verhängnisvolle  Wette",  „Einen  Jux  will  er  sich  machen*,  „Freiheit 
in  Krähwinkel"  u.  a.),  ja  schliefslich  wohl  auch  Anzengruber  (1839 — 1889) 
(„Der  Pfarrer  von  Kirchfeld",  „Der  ledige  Hof*,  „Der  Meineidbauer",  „Die 
Kreuzelschreiber",  „Die  Trutzige",  „Der  Fleck  auf  der  Ehr'").  So  hat  denn 
der  Mimus  seit  den  ersten  Jahrhunderten  nach  Christus,  da  er  als  grofses 
Theaterstück  auf  den  Theatern  von  Mainz,  Köln  und  Trier  aufgeführt  wurde, 
seit   den  Zeiten   des   späteren  Mittelalters,   aljä  er  die  burlesken  Scenen  im 


854  Neuntes  Kapitel. 

Krönung  erhielt  die  alte  französische  Farce  in  der  Moliere- 
komödie.  Vortrefflich  hat  Petit  de  Julleville  auseinandergesetzt, 
wie  das  ernste,  vornehme  Drama  in  Frankreich  nichts  mit  dem 
alten  Mysterium  zu  thun  hat  und  wie  es  seit  der  Renaissance 
aus  dem  antiken  klassischen  Drama  sich  neu  entwickelte,  wie 
aber  kein  Einschnitt  durch  die  Renaissance  in  der  Entwickelung 
der  französischen  Komödie  gemacht  ist  und  die  aus  der  Farce, 
das  heifst  wie  wir  es  jetzt  verstehen,  aus  dem  alten  gallischen 
Mimus,  sich  konsequent  entwickelte.  Das  Mysterium  verschwand 
vor  der  Tragödie,    aber  der  Mimus   blieb1).     Moliere  schuf  den 


deutschen  Mysterium  inspirierte  (vgl.  unten  die  nächste  Anmerkung),  nie 
seinen  Einflufs  in  Deutschland  ganz  verloren.  Doch  unsere  vornehmen, 
klassischen  Dichter  haben  bei  der  dürftigen  und  niedrigen,  ja  rohen  Art  — 
man  denke  an  Hans  Wurst  —  die  der  Mimus,  so  weitab  von  seiner  eigent- 
lichen Heimat  zeigte,  nie  recht  wie  in  den  romanischen  Ländern  und  wie  in 
England  den  Weg  zu  dem  mimischen  Volksschauspiel  gefunden.  Aber  darum 
haben  wir  auch  nie  eine  Blüte  der  Komödie  in  Deutschland  erlebt  (vgl.  hier- 
über oben  S.  335.  336). 

J)  Nur  insoweit  es  ein  Mimus  ist,  haben  wir  hier  auf  das  mittelalter- 
liche Drama  geachtet.  Da  scheinen  sich  die  Darstellungen  der  Passions- 
geschichte, sowie  die  dramatischen  Martyrien  und  die  Mirakelspiele  ganz 
von  selber  auszuschliefsen.  Was  hat  auch  das  heilig-ernste  Mysterium  mit 
dem  lustigen  Mimus  zu  schaffen.  Aus  dramatischen  Ansätzen  in  der  gottes- 
dienstlichen kirchlichen  Handlung,  besonders  im  Weihnachts-  und  Ostercyklus 
aus  kirchlichen*  Wechselgesängen  hat  das  Mysterium  sich  selbständig  ent- 
wickelt. Das  ist  die  seit  langem  geltende  Meinung,  der  auch  Creizenach 
in  seiner  „Geschichte  des  neueren  Dramas"  folgt.  Diese  Entwickelung 
hat  ein  so  schönes  Analogon  in  der  Entstehung  der  antiken  klassischen 
Tragödie  aus  der  gottesdienstlichen  Handlung,  zudem  war  ja  am  Beginne 
des  Mittelalters  Komödie  und  Tragödie  tot,  nicht  einmal  die  ursprüngliche 
Bedeutung  der  Namen  verstand  man  mehr.  Tragödie  galt  einfach  als  eine 
traurige,  Komödie  als  eine  fröhliche  Geschichte,  den  Hauptbegriff  des  Dramas 
hatte  man  verloren.  Ich  erinnere  an  Dantes  „Divina  Comedia".  Vgl.  hier 
Creizenach  a.  a.  0.  9 — IS  und  Cloetta,  Beiträge  zur  Litteraturgeschichte  des 
Mittelalters  und  der  Renaissance,  I.  Komödie  und  Tragödie  im  Mittelalter, 
S.  144ff.,  S.  166ff.  Im  Neugriechischen  heifst  TQayovdw:  ich  singe  und  xb 
TQayoiSi:  Volkslied.  Vgl.  auch  Sathas  a.  a.  0.  rf.  Also  konnte  das  Mysterium 
sich  gar  nicht  an  die  antike  dramatische  Überlieferung  anlehnen  und  mufste 
sich  eben  unabhängig  und  selbständig  entwickeln.    Nun,  das  klassische  Drama 


Farcen  als  mimische  Hypothesen.     Maistre  Mimin.  855 

alten  volksmäfsigen  Mimus  wieder  aus  seiner  verkümmerten  und 
verschrumpften  Gestalt  zu  seiner  alten,   blühenden  Herrlichkeit 


war  allerdings  tot  und  vergessen,  aher  das  letzte  grofse  Drama  der  Antike, 
der  Mimus,  war  lebendig,  und  wenn  man  nicht  einmal  mehr  recht  wutste, 
was  comoedia  und  tragoedia,  comoedi  und  tragoedi  waren,  was  mimus  und 
mimi  sind,  wufste  man  genau,  denn  die  sah  man  das  ganze  Mittelalter  hin- 
durch vor  sich.  Wie  sollte  sich  also  ein  neues  Drama  unabhängig  aus  den 
primitiven  dramatischen  Uranfängen  heraus  entwickeln,  während  daneben 
ein  ausgebildetes  Schauspiel  bestand,  das  noch  dazu  den  Beifall  des  Volkes 
wie  der  Höfe  und  verstohlen  auch  der  Geistlichkeit  hatte? 

Zum  ersten  Male  in  der  Weltgeschichte  sind  die  Martyrien  und 
die  göttlichen  Geheimnisse  des  Christentums,  seine  Mysterien,  Gnaden  und 
Wunder  nicht  von  christlichen  Priestern  dramatisch  vorgeführt  worden, 
sondern  von  heidnischen  Mimen,  allerdings  nicht  zur  Erbauung.  Das  geschah 
in  den  christologischen  Mimen.  Schließlich  bekehrten  sich  die  Mimen  zum 
Christentume,  aber  sie  behielten  ihre  Gewohnheit ,  die  Geistlichkeit  auf 
der  Bühne  vorzuführen  und  hier  und  da  in  den  Gewändern  von  Mönchen 
und  Nonnen  aufzutreten,  bei.  Bequemten  sich  die  Mimen  dazu,  ihren 
christologischen  Mimus  ins  Ernsthafte  zu  wenden,  so  war  der  Mimus  zum 
Mysterium  geworden.  Und  der  Mimus  nimmt  ja  in  der  That  nicht  selten 
eine  etwas  ernsthafte  Richtung,  und  die  Mimen  waren  nicht  selten  sehr  ernst- 
hafte Christen,  wie  der  Archimime  Masculas,  der  standhafte  afrikanische 
Katholik  Sie  hätten  ja  in  dem  neuen  Mysterium  daneben  noch  das  alte 
burleske  mimische  Element  beibehalten  können,  wie  es  das  Mysterium  ja 
wirklich  in  ausgedehntem  Mafse  thirt.  In  der  That  hat  sich  ja  auch, 
wie  wir  sahen,  in  Indien  durch  immer  stärkeres  Hervorkehren  des  ernst- 
haften, mythologisch-religiösen  Elementes  aus  dem  burlesken  Mimus  das 
ernsthaft-heilige  Mysterium  entwickelt.  Wie  im  Occidente  kann  es  auch 
dort  des  burlesken  Elementes  nicht  ganz  entbehren,  das  durch  den  alten 
ftipo;  ydoioiv,  den  Vidusaka,  vertreten  wird. 

Doch  dürfte  im  Abendlande  diese  Entwicklung  aus  dem  Mimus  nicht 
so  einfach  und  direkt  vor  sich  gegangen  sein.  Denken  wir  an  die  mannig- 
fachen Beziehungen  der  Kirche  und  der  kirchlichen  Litteratur  zum  Mimus, 
an  die  Kirchenlieder  des  Arius,  die  nach  dem  Vorbilde  von  Mimodieen  ver- 
fafst  waren,  an  den  Vorwurf,  die  Arianer  brächten  mit  ihrem  dramatisch 
bewegten  Gottesdienste  den  Mimus  in  die  Kirche.  Arius  kam  hier  ge- 
schickt der  mimischen  Leidenschaft  des  Volkes  entgegen,  und  schliefslich 
folgte  ihm  die  katholische  Kirche,  wenn  auch  mit  grofser  Vorsicht.  Seiner 
Thalia  stellte  man  eine  'Avri&äXaa  entgegen;  man  gab  der  gottesdienst- 
lichen Handlung  mehr  dramatische  Bewegung,  gab  den  Wechselgesängen 
Raum,  schuf  grofse  Prozessionen,  bei  denen  es  nicht  selten  recht  theatralisch 


856  Neuntes  Kapitel. 

um  zu  einem  grofsen  biologischen  Drama,  einer  mimischen  Hypo- 
these, wie  es  einst  Philistions  Drama  war.     Ihm  half  dabei  das 

herging.  ,Was  hier  etwa  von  mimischer  Form  war,  wurde  ganz  mit  ortho- 
doxem Inhalte  erfüllt;  aber  hier  und  da  regte  sich  doch  der  alte  mimische 
Geist;  noch  im  Trullanum  werden  „Theatergesänge",  d.  h.  Mimodieen,  in  der 
Kirche  verboten. 

Erfüllte  man  die  Mimodie  mit  christlichem  Geiste,  warum  nicht  auch 
den  Mimus?  „Einen  Ersatz  für  die  alte  Bühne",  sagt  Krumbacher  (Ge- 
schichte der  Byzantinischen  Litteratur2  S.  644  u.  645),  „schuf  das  Christen- 
tum ....  durch  dramatische  Behandlung  christlicher  Stoffe  und  endlich  durch 
geistliche  Aufführungen,  aus  denen  später  das  abendländische  Mysterienspiel 
hervorwuchs  ....  Wenn  Bischof  Liutprand  unter  vielen  anderen  Anstöfsig- 
keiten,  die  er  bei  den  Griechen  sah,  auch  die  Verwandelung  der  Hagia 
Sophia  in  ein  Theater  bemerkt,  so  kann  er  nichts  anderes  meinen,  als  eine 
Art  Mysterienspiel".  Ganz  gewifs,  das  Mysterienspiel  sollte  dem  Volke  ein 
Ersatz  für  das  weltliche  Theater,  d.  d.  in  jenen  Zeiten  für  den  Miräus, 
sein.  Das  Mysterium  ist  wenigstens  im  Oriente  von  vornherein  sozusagen 
als  Konkurrenzunternehmen  gegen  den  Mimus  geschaffen,  wie  das  Kirchen- 
lied gegen  die  Mimodie,  die  aa^iaxa  noQvixä,  die  (päal  aararixaC.  Anfangs 
ist  ja  das  Mysterium  bei  den  Lateinern  wenigstens,  gemäfs  seiner  ursprüng- 
lichen Bestimmung  als  Gegengift  gegen  den  Mimus,  auch  streng  ernst  und 
heilig  gewesen;  bei  den  Griechen  scheint  sich  schon  von  vornherein  dem 
Mysterium  viel  Mimisch  -  Burleskes  beigemischt  zu  haben,  sonst  hätte 
Liutprand  nicht  solche  Entrüstung  gezeigt.  Allmählich  aber  drängt  sich 
auch  im  occidentalischen  Mysterium  immer  mehr  und  mehr  das  mimisch- 
burleske Element  in  den  Vordergrund.  Das  Volk  wollte  nun  einmal  überall 
seinen  seit  Jahrhunderten,  ja  Jahrtausenden  geliebten  Mimus  sehen,  und 
ohne  Mimus  erschien  ihm  das  Mysterium  fade. 

Maria  Magdalena,  die  schöne  Büfserin,  ist  mit  ihrer  Üppigkeit  und 
Weltlust  ganz  im  Stile  der  üppigen,  verliebten  jungen  Frauen  im  Mimus  ge- 
schildert, neben  ihr  die  Zofe,  die  cata  carissa,  und  auch  die  alte  Kupplerin 
des  Mimus.  Wenn  Maria  Magdalena  ihre  Arie  voll  Liebeslust  und  Welt- 
freude anhebt  mit  dem  Refrain: 

Seht  mich  an, 

Jungen  man, 

Lat  mich  eu  gevallen, 
so  haben  wir  eine  der  gewohnten  Mimodieen,  der  cantica,  wie  sie  die  Mimi 
et  Ioculatores  und  vor  allem  die  Jongleure  und  Menestrels  das  ganze 
Mittelalter  hindurch  gesungen  haben.  Lustige  Couplets  erschallen  ebenso 
wie  durch  den  Mimus  auch  durch  das  Mysterium.  So  singen  im  Mysterium 
von  Revello  ebenso  wie  in  der  Vengeance  die  Matrosen  während  der  Über- 
fahrt  ein   lustiges  Liebeslied.    Auch   der  Knecht  Rubin   singt   gelegentlich 


Farcen  als  mimische  Hypothesen.    Maistre  Mimin.  857 

lebendige  Vorbild  des  italisch-italienischen  Mimus,  der  Conrmedia 


zum  Lobe  seines  Herrn,  des  Quacksalbers,  ein  Liedchen.  Der  Krämer,  von 
dem  Maria  Magdalena  die  Schminke  kauft,  gehört  zu  den  uralten  xünriloi 
des  Mimus,  desgleichen  sind  sein  Knecht  Rubin  und  seine  Frau  uralte 
mimische  Typen.  Ebenso  fehlt,  im  Mysterium  nicht  der  Gastwirt,  der  copo 
des  Mimus.  Vor  der  Abendmahlscene  pflegen  die  Jünger  des  Herrn  mit 
ihm  mimisch -burlesk  den  Kostenpunkt  zu  erörtern;  gelegentlich  zanken 
und  prügeln  sich  gar  die  Jünger  mit  dem  Gastwirt,  es  ist  eben  der  copo 
compilatus  des  Mimus.  Im  englischen  Magdalenamysterium  mufs  der  Wirt 
vor  der  Thür  seinen  Wein  anpreisen;  seit  dem  Nikolas  des  Jean  Dodel 
waren  solche  mimischen  Wirtshausscenen  vor  allem  auch  im  französischen 
Mysterium  gang  und  gäbe.  Wie  im  Mimus  ward  auch  im  Mysterium  ge- 
legentlich kräftig  pokuliert  und  wurden  allerhand  Kneipwitze  gerissen.  Die 
Arztscenen  im  Mysterium  entsprechen  gleichfalls  ganz  direkt  denen  im 
Mimus.  So  zeigt  der  Knecht  des  Arztes  Rubin  in  den  Erlauer  Spielen  die 
Zange,  das  chirurgische  Messer  und  die  Klystierspritze  mit  allerhand  bur- 
lesker Erklärung,  wobei  er  nicht  vergifst,  recht  marktschreierisch  die  ärzt- 
lichen Grofsthaten  seines  Herrn  aufzuzählen.  Auch  die  Soldaten  im  Mysterium 
sind  Aufschneider  und  Prahler,  wie  sie  es  von  jeher  im  Mimus  waren,  und 
werden  darum  nicht  selten  arg  verspottet.  Eine  Hauptfigur  im  Mimus  war 
der  betrogene  Ehemann,  der  Hahnrei,  der  CyloivTiog.  Es  scheint,  als  ob' 
man  ein  ganz  klein  wenig  unter  diesem  mimischen  Gesichtspunkte  den 
frommen  Joseph  betrachtet  hat.  Gewöhnlich  denkt  man  ihn  sich  ein  wenig 
stupide  und  zugleich  etwas  ältlich,  wie  es  die  betrogenen  Ehemänner  im 
Mimus  sind.  In  einem  deutschen  Weihnachtsspiel,  ediert  v.  Piderit,  Parchim 
1869,  in  hessischer  Mundart  aus  dem  XV.  Saeculum,  zankt  sich  der  alte 
Joseph  mit  der  Magd  Hillegard,  nachher  giebt  er  ein  paar  alte  Hosen  her, 
das  Kind  einzuwickeln;  in  einem  anderen  Mysterium  kocht  er  für  das  Kind 
Milch  auf.  Natürlich  fehlen,  wie  im  Mimus,  bei  diesen  Darstellungen  des 
Ehelebens  auch  nicht  die  genauen  Darstellungen  des  Wochenbettes.  Wie 
bei  Sophron,  im  Karagöz  und  sonst  im  Mimus  erscheinen  Hebammen  u.  s.  w. 
Das  sind  die  beliebten,  alten,  intimen  Familienscenen  aus  dem  Mimus.  Wie 
im  Mimus  zankt  sich  auch  im  Mysterium  Ehemann  und  Ehefrau.  Joseph 
darf  das  natürlich  nicht  gegenüber  der  Himmelskönigin  wagen;  dafür  er- 
baute man  sich  desto  mehr  an  den  ehelichen  Zankscenen  zwischen  Noah 
und  seiner  Frau,  die  als  böse  Sieben  galt.  So  ist  im  Mysterium  von  York 
Frau  Noah  sehr  beleidigt,  weil  ihr  Gatte,  ohne  ihr  etwas  zu  sagen,  aus- 
geblieben war  und  hundert  Jahre  lang  im  Walde  an  der  Arche  Noah 
gezimmert  hatte.  In  den  Townley  -  Mysteries  will  sie  durchaus  nicht  in 
die  Arche  hinein;  sie  sitzt  zornig  auf  einem  Hügel  an  ihrem  Spinnrad 
und  spinnt,  aber  schliefslich  wird  ihr  der  Sündflutregen  doch  zu  viel. 
Wir    sahen    schon,    dafs    die   Noah -Legende    und    die    eigentümliche   Um- 


858  Neuntes  Kapitel. 

deir  arte,  die  ihrerseits  sich  wieder  nach  dem  Vorbilde  des  alten 


deutung,  die  sie  bei  den  Gnostikern  fand,  alte  Kirchenväter  an  den  Mimus 
gemahnte  (vgl.  oben  S.  426.  VII).  Ein  besonders  beliebter  Typus  im  Mimus 
war  schon  seit  vorchristlichen  Zeiten  der  Jude,  der  noch  heute  im  türkischen 
Mimus  seine  seltsame  Rolle  spielt.  So  erscheint  er  denn  auch  im  Mysterium 
ganz  mit  den  uralten  mimisch-burlesken  Zügen.  Ich  gebe  hier  Creizenachs 
mafsgebende  Darstellung  a.  a.  0.  S.  205  ff. :  „Der  komische  Effekt  wurde,  wie 
es  scheint,  in  erster  Linie  dadurch  erzielt,  dafs  die  Schauspieler  Aussehen, 
Sprache  und  Gebärdenspiel  der  jüdischen  Bevölkerung  beobachtend  und 
karrikierend  wiedergeben,  wie  das  ja  schon  in  dem  Weihnachtsspiel  von 
Benediktbeuren  geschah,  und  dafs  sie  von  Zeit  zu  Zeit  den  Judengesang 
anstimmten  (wie  im  Karagöz  vgl.  oben  S.  666),  der,  wie  es  scheint,  regel- 
mäfsig  eines  Heiterkeitserfolges  sicher  war.  Der  Spott  in  diesen  Scenen 
war  durchaus  nicht  harmloser  Natur".  Ich  erinnere  an  die  Klage  Babi  Abahus, 
dafs  nichts  so  sehr  den  Pöbel  zum  Lachen  bringe,  als  wenn  im  Mimus  der 
Jude  verspottet  werde,  sowie  an  Philo,  der  sich  von  Kaiser  Caligula  und 
seiner  Umgebung  verhöhnt  fühlte,  wie  man  die  Juden  im  Mimus  höhnte 
(vgl.  oben  S.  577  Anm.).  Gewifs  hat  das  Volk  zur  Zeit  des  mittelalterlichen 
Mysteriums  gegen  die  Juden  dasselbe  Übelwollen  gefühlt,  wie  zur  Zeit  des 
antiken  Mimus  —  aber  dafs  man  die  Juden  auf  die  Bühne  brachte  in  der 
uralten,  mimisch -burlesken  Gestalt,  das  hat  das  Mysterium  doch  wohl  vom 
Mimus. 

Vor  allem  waren,  wie  wir  gelernt  haben,  Diebesscenen  im  althellenischen 
wie  im  alexandrinischen,  im  griechisch-römischen  wie  im  byzantinischen,  im 
indischen  und  indonesischen  wie  im  türkischen  und  arabischen  Mimus  be- 
liebt, so  liebt  sie  denn  auch  das  Mysterium.  In  den  englischen  Townley- 
Mysteries  wird  das  Treiben  der  Hirten,  denen  die  Engel  die  Erscheinung 
des  Herrn  verkündigen,  in  der  lustigsten  Weise  geschildert.  Zuerst  haben 
wir  eine  Art  bukolischen  Mimus,  allerhand  Zank-  und  Streitscenen  zwischen 
den  Hirten.  Dann  bringen  sie  dem  Christuskinde  ihre  Verehrung  dar. 
Während  sie  dann  schlafen,  stiehlt  der  Schafdieb  Mak  einen  Hammel  aus 
ihrer  Herde.  Seine  Frau  legt  ihn  in  die  Wiege,  und  Mak  singt  ein  Wiegen- 
lied, eine  Art  mimischen  Canticums.  Die  Hirten  halten  bei  dem  Schafdiebe 
Haussuchung;  schon  wollen  sie  gehen,  da  kommt  einer  von  ihnen  auf  die 
Idee,  dem  Kinde  einen  Kufs  zu  geben;  er  wundert  sich  über  des  Kindes 
grofse  Nase  und  siehe,  es  ist  der  vermifste  Hammel.  Eine  echt  mimisch- 
burleske Scene. 

Diese  lustigen  mimischen  Betrügereien,  Kabalen  und  Ränke,  diese  artes 
mimicae,  wie  Petron  sie  nennt,  nehmen  im  Mysterium  einen  breiten  Raum 
ein.  Ja,  selbst  der  geheiligten  Person  des  Heilandes  gegenüber  wendet  man 
sie  an.  Im  Donaueschinger  Passionsspiele  wird  ihm  beim  ersten  Verhöre  ein 
Stuhl   hingesetzt,   aber   in  dem  Augenblicke,   wie  er  sich  setzen  will,   zieht 


Farcen  als  mimische  Hypothesen.    Maistre  Mimin.  859 

byzantinischen  Mimus,  nach  Konstantinopels  Fall,  neu  entwickelt 
hatte.  Es  sind  zwei  mächtige  Ströme  uralter,  mimischer  Über- 
lieferung, die  in  Moliere  zusammenflössen;  darum  ward  er  auch 
der  Franzosen  gröfster  „  Maistre  Mimin". 


ihm  Malchus  den  Stuhl  fort,  so  dafs  er  sich  statt  auf  den  Stuhl  auf  die  Erde 
setzt.  So  bemerkt  Creizenach  a.a.O.  S.  201 :  „Auch  die  Scene,  in  der 
Jesus  vor  Herodes  erscheint,  giebt  öfters  Anlafs  zu  einer  unwürdigen  Posse. 
Nach  Lukas  26,  11  liefs  Herodes  dem  Heilande  ein  weifses  Kleid  anlegen; 
Petrus  Comestor  cap.  164  sagt:  Herodes  habe  dies  zur  Verhöhnung  gethan, 
weil  er  Jesum  für  einen  Narren  gehalten  habe.  Dementsprechend  wird  die 
Scene  auch  mehrmals  in  den  Passionsspielen  dargestellt.  Bei  Greban  23  398 
sagt  Herodes  ausdrücklich,  man  solle  einem  seiner  Narren  das  Kleid  aus- 
ziehen und  es  Jesu  anlegen;  im  bretonischen  Passionsspiele  ist  die  Scene 
mit  einem  kläglichen  Monologe  des  Narren  verbunden,  der  den  Verlust  seines 
Kleides  bejammert."  Hier  erscheint  also  Christus  im  weifsen  Narrenkleid 
als  eine  Art  Mimus  albus.  Da  der  Narr  im  Mimus  unerläßlich  war,  so  findet 
sich  schließlich  auch  im  Mysterium  so  der  Narr  des  Pilatus.  In  manchen 
französischen  Mysterien  tritt  der  alte  mimische  stüpidus,  der  sot,  auf  und 
begleitet  die  Handlung  mit  seinen  „mimicae  ineptiae".  So  ist  denn  auch  das 
Mysterium  mit  seinen  mimischen  Narrheiten  und  Eulenspiegelstreichen  erfüllt; 
selbst  die  alten,  burlesken  mimischen  Lazzi  fehlen  nicht.  Auch  auf  die  Teufel 
mit  ihren  lustigen  Sprüngen  und  Narrenteidungen,  mit  den  rasselnden  Prügeln, 
die  sie  überall  erhalten  und  austeilen,  hat  der  alte  stüpidus  merklich  abge- 
färbt. Alle  diese  burlesken  Dinge  sind  aus  dem  mittelalterlichen  Mimus  ins 
Mysterium  hinübergekommen,  sie  nehmen  einen  immer  gröfseren  Raum  ein: 
schliefslich  werden  ins  Mysterium  vollständige  Mimen  und  Farcen  einge- 
schoben. Da  mögen  sich  hier  und  da  auch  die  alten  fiiftoi  yelodor,  die 
Ioculatores,  unter  die  Darsteller  der  Mysterien  gemischt  haben.  Ein  Spiel 
von  dem  Martyrium  des  Petrus  und  Paulus  ward  1417  in  Rom  auf  dem 
Scherbenberge  durch  Jocatores"  aufgeführt  (vgl.  Creizenach  a.  a.  0.  S.  334). 
In  der  Entwickelungsgeschichte  des  neueren  Dramas  lautet  eines  der 
bedeutsamsten  Kapitel,  das  noch  ungeschrieben  ist,  „Mimus  und  Mysterium". 
Ich  wollte  hier  nur  einige  Gesichtspunkte  andeuten,  denn  für  die  Auffassung 
des  Mimus  ist  nicht  so  sehr  viel  Neues  aus  dem  Mysterium  zu  lernen,  desto 
mehr  für  die  Auffassung  des  Mysteriums  aus  dem  Mimus. 


ZEHNTES  KAPITEL. 


Shakespeare. 

Es  sind  keine  Gedichte!  Man  glaubt 
vor  den  aufgeschlagenen,  ungeheuren 
Büchern  des  Schicksals  zu  stehen  „  in 
denen  der  Sturmwind  des  be- 
wegten Lebens  saust. 

Goethe. 
I. 

Mimische  Elemente  bei  Shakespeare. 

Seine  herrliche  Krönung  erhielt  das  mittelalterliche  Drama 
am  Beginne  der  modernen  Zeit  durch  Shakespeare.  Wir  haben 
die  eigentümliche  Form  der  mimischen  Hypothese,  den  Wechsel 
zwischen  Prosa,  Jambus  und  lyrischen  Partieen,  zwischen  Mimodie 
und  Mimologie,  zwischen  Niedrigem  und  Hohem,  zwischen  Ernst 
und  Humor,  Realistik  und  Phantastik  an  dem  Beispiel  des 
Skakespeare-Dramas .  erläutern  können.  Wie  im  Mimus  findet 
sich  dort  Prolog  und  Epilog  mit  dem  „plaudite",  das  auch 
Augustus  von  seinen  Freunden  verlangte,  wenn  er  den  „Mimus 
vitae"  recht  gespielt  habe.  Wir  fanden  etwas  vom  uralten  Esel- 
mimus  im  Sommernachtstraum.  Das  märchenhafte  Gift,  das  blofs 
Scheintod  erzeugt,  ist  der  Kern  der  Fabel  von  Romeo  und 
Julia1)   und   diesen  Kern  schuf,    wie  wir  jetzt  wissen,    der  alte 


')  Vgl.  hierüber  die  kurzen,  aber  höchst  bedeutsamen  Ausführungen  von 
Brandl,  Shakespere  S.  40,  41. 


t  Mimische  Elemente  bei  Shakespeare.  861 

Mimus.  In  Cymbeline  fanden  wir  gleichfalls  dieses  sozusagen 
mimische  Gift.  Die  böse  Stiefmutter  wie  der  weise  Arzt  dort 
entsprechen  den  gleichen  Personen  im  Giftmischermimus,  über- 
haupt endet  in  Cymbeline  alles  ähnlich  wie  im  alten  Mimus. 
Der  Räuber  war  ein  besonders  beliebter  Typus  im  Mimus.  Auch 
bei  Shakespeare  findet  sich  in  „Die  beiden  Veroneser"  eine  Art 
Räubermimus  eingeschaltet  und  diese  Räuber  sind  dort,  wie  es 
sich  für  einen  volksmäfsigen  Mimus  gehört,  ehrenwerte  Leute 
und  werden  samt  ihrem  Hauptmann  von  den  Fürsten  in  Gnaden 
aufgenommen. 

Einen  typischen  Charakter  verleihen  dem  Shakespearischen 
Drama  die  Clowns.  Es  sind  die  alten  stupidi,  die  auch  im  Mimus, 
selbst  wenn  es  in  ihm  ernsthaft  und  grausig  zuging,  niemals 
fehlten  und  für  ihn  so  charakteristisch  sind  wie  die  Clowns  für 
Shakespeare.  Wenn  die  Clowns  gern  als  eigentliche  Narren, 
d.  h.  als  Hofnarren  erscheinen  wie  etwa  der  Narr  in  „König 
Lear14  und  in  „Wie  es  euch  gefällt"  oder  in  „Was  ihr  wollt- 
oder  der  Narr  der  Gräfin  von  Roussillon  in  „Ende  gut,  alles  gut", 
so  erweisen  sie  sich  damit  von  vornherein  als  direkte  Nach- 
kommen des  alten  mimischen  Narren  des  pooQÖt;  und  morio.  Die 
mittelalterliche  Sitte,  in  vornehmen  Haushaltungen  einen  Narren 
zu  halten,  stammt,  wie  wir  sahen,  direkt  aus  dem  Altertum  und 
der  antike  Narr  war  eben  der  mimische  stupidus  und  morio,  der 
die  mimischen  Späfse  von  der  Bühne  in  die  Haushaltung  ver- 
pflanzte, wird  er  doch  noch  im  Mittelalter  wie  seine  Schauspieler- 
Kollegen  „mimus"  genannt.  So  sind  denn  auch  die  Narren  in 
den  vornehmen  englischen  Haushaltungen  wie  sie  Shakespeare 
aus  dem  Leben  kannte  und  als  Clowns  auf  die  Bühne  brachte, 
im  letzten  Grunde  mimische  Narren. 

Die  Clowns  bei  Shakespeare  reden  Prosa,  wie  sie  es  auch 
im  alten  Mimus  und  in  Philistions  Philogelos  thun.  Gelegent- 
lich fängt  der  Clown  auch  an  zu  singen  und  trägt  lustige 
Mimodieen  vor,  wie  der  alte  stupidus  es  auch  that  und  ab 
und  zu  kommen  aus  dem  Munde  des  Narren  tiefsinnige  Sen- 
tenzen, wie  sie  sich  auch  im  Mimus  unablässig  finden.  Vor 
allem   reden    die   Clowns    ebensolche    erstaunlichen   Narrheiten, 


862  Zehntes  Kapitel. 

wie  wir  sie  aus  dem  Mimus  und  Philistions  Philogelos  kennen, 
und  erwecken  damit  den  risus  mimicus.  Aber  nicht  selten  leuchtet 
gerade  aus  diesen  urdummen  Aussprüchen  verborgene  Weisheit, 
wie  aus  den  mimicae  inceptiae.  Shakespeares  Spruchweisheit  ist 
ebenso  berühmt  wie  es  die  des  Publius  Syrus  oder  Philistion 
war.  Prügeln  und  geprügelt  zu  werden  ist  das  Los  der  stupidi 
wie  der  Clowns,  in  Shakespeares  Dramen  schallt  der  alapittarum 
sonitus,  und  die  Clowns  üben  die  lustigen  Schimpfereien,  in  denen 
sie  dem  alten  mimischen  Narren  gewachsen  sind,  die  lustigen 
Triks,  Kabalen,  Ränke,  Foppereien  und  Betrügereien,  die  alten, 
lustigen  „artes  mimicae". 

Schliefslich  führt  in  den  beiden  Veronesern  der  Clown 
Launce  gar  seinen  Hund  Shrap  vor  und  hält  mit  ihm  ein  selt- 
sames, mit  humoristischer  Narrheit  und  pudelnärrischer  Laune 
erfülltes  Gespräch.  Wir  erinnern  uns  an  Hund,  der  im  Mimus 
mitspielt,  allerdings  mit  Shrap  wird  nur  gespielt,  und  der  Phylax 
im  Giftmischermimus  spielte  selber  ganz  ernsthaft  mit,  so  gut 
war  er  dressiert.  Der  französische  Mime,  der  Farceur,  machte 
freilich  aus  seinem  Kater  gar  einen  König1). 

Die  Ioculatoren  zeigten  sich  im  Mittelalter,  ebenso  wie  die 
alten  ^avfiatonoiol  gern  mit  dressierten  Hunden,  von  ihrem 
Gaukelwesen  her  haben  die  Mimen  den  Hund  mit  auf  die  Bühne 
gebracht,  sie  werden  auch  im  Mittelalter  nicht  die  Spielgemein- 
schaft mit  ihm  aufgehoben  haben,  so  wenig  wie  ihre  Nachkommen 
die  modernen  Cirkusclowns.  Shakespeare  mochte  den  getreuen 
Kameraden  des  antiken  und  mittelalterlichen  Mimen  und  Gauklers, 
der  diesem  sein  Brot  verdienen  half,  nicht  mitleidslos  verjagen 
und  diese  gemütvolle  Duldung  hat  ihm  der  vierbeinige  Spiel- 
kamerad im  Mimus  nach  Kräften  vergolten  und  hat  ihm  zu 
einer  Clownscene  verholfen,  wie  sie  sich  so  urdrollig  und  dabei 
so  hinreifsend  gemütvoll  kaum  sonst  wieder  findet. 


*)  Farce  nouvelle  tres  bonne  et  fort  joyeuse  de  Jeninot  qui  fist  un  roy  de  son 
chat  par  faulte  lautre  compagnon  en  criant:  Le  roy  boit!  et  monsta  sur  sa  maistresse 
pour  la  mener  a  la  messe,  a  trois  personnaiges,  c'est  assavoir:  le  Mary,  la  Femme 
et  Jeninot.     Recueil  Viollet-Le  Duc  t.  I,  p.  289—304  bei  Petit  Nr.  122. 


Fallstaff  und  der  Narr  im  Mimus.  863 

Wir  können  wohl  sagen,  dafs  die  Clownscenen  aus  dem  alten 
Mimus  stammen.  Sie  waren  auch  für  das  mittelalterliche  Drama 
so  unerläfslich,  dafs  nicht  einmal  das  heilige,  ernste  Mysterium, 
das  an  die  Stelle  der  Erregung  von  „Furcht  und  Mitleid*,  dem 
grofsen  Ziel  (teXo;)  des  antiken  klassischen  Dramas,  die  Erregung 
des  Gefühls  der  absoluten  Sündhaftigkeit,  der  Zerknirschung,  der 
Bufse  und  Reue  setzen  wollte,  seiner  ganz  entbehren  mochte. 
Wir  sahen  ja  schon,  wie  eng  selbst  das  Mysterium  mit  dem 
Mimus  zusammenhängt  und  wie  der  Mimus  schliefslich  in  ihm 
mit  Saus  und  Braus  seinen  Einzug  hält.  Auch  der  Narr  Vice, 
der  in  dem  englischen  Moralität  sich  mit  Teufeln  herumschlägt 
und  dabei  kräftig  sein  mimisches  Prügelholz  gebraucht,  ist  ja 
der  alte  mimische  Narr. 

IL 

Fallstaff  und  der  Narr  im  Mimus. 

Wir  können  unmöglich  den  Vergleich  zwischen  dem  Mimus 
und  den  Shakespeare-Dramen  für  alle  Stücke  durchführen,  das 
würde  weit  über  den  Rahmen  und  Zweck  unserer  Unternehmung 
hinausreichen;  wir  wollen  diesen  Vergleich  nur  für  ein  einziges 
Stück  durchführen,  nämlich  für  „Die  lustigen  Weiber  von 
Windsor".  Die  Hauptperson  darin  ist  Fallstaff,  um  ihn  dreht 
sich  das  ganze  Stück,  das  ohne  ihn  alles  Sinnes  bar  wäre.  Die 
Liebesgeschichte  zwischen  Fenton  und  Anne  Page  ist  nur  eine 
Nebenhandlung,  wie  sie  der  Mimus,  der  ähnlich,  wie  es  im  Leben 
geht,  gerne  allerhand  Fäden  durcheinander  schlingt,  liebt  und 
ebenso  Shakespeare. 

Fallstaff  ist  die  eigentliche  Inkarnation  des  alten  Narren 
im  Mimus,  er  ist  sozusagen  der  König  aller  Clowns.  Er  ist 
eine  Metamorphose  des  alten  Jack  Jugler.  Wir  haben  schon 
die  Gleichung  aufgestellt  Jugler  gleich  Ioculator  =  iocularis  = 

ysXiatonowQ  =  ftTftog    ysXoicov,    also    Fallstaff  sse  [tipos    yf/.oicov. 

In  der  That  erinnert  Fallstaff  mit  seinem  dicken  Bauche 
und  seinen  niedrigen,  fleischlichen  Gelüsten  an  die  dickbäuchigen 
Narren  im  uralten  hellenischen  Mimus,  auch  an  den  dickbäuchigen 


864  Zehntes  Kapitel. 

kahlköpfigen  Vidüsaka  und  den  dickbäuchigen  Semar,  die  imhoi 
yeXo'uav  und  yeXunonowi  im  indischen  Drama  und  im  indischen 
und  javanischen  Puppenspiel.  Denken  wir  an  Philistions  Ardalio, 
er  ist  glutto,  vorax,  manducus,  ein  Fresser  und  Säufer;  das  ist 
auch  Karagöz,  Kasperle  und  Pulcinell,  der  Vidüsaka  und  Semar. 
Bei  Fallstaff,  als  einem  Nordländer  und  Germanen,  überwiegt 
das  Trinken.  Was  steht  doch  auf  der  Rechnung,  die  ihm  Poins 
aus  der  Tasche  zieht: 


Item, 

ein  Kapaun     .... 

2 

Schilling,  2  Pf. 

n 

-  '       4    „ 

VI 

Sekt,  2  Mafs       .     .     . 

5 

v          8    „ 

V 

Sardellen  und  Sekt  nach 

dem  Abendessen   .    . 

2 

r>               6      „ 

» 

Brot    ...... 

A      r, 

Ardalio  ist,  wie  sein  Name  sagt,  ein  wenig  Schmutzfink,  er 
wird  eben  von  seinem  vielen  Schlemmen  und  Prassen  ein  etwas 
fettiger  Geselle  sein,  wie  es  auch  noch  unter  seinen  Nachkommen 
der  Vidüsaka  und  Semar  ist.  Prinz  Heinrich  sagt  von  Hans 
Fallstaff:  „Ruft  mir  das  Rippenstück,  ruft  mir  den  Talgklumpen" 
(König  Heinrich  IV.,  I.  Teil,  IL  Aufzug,  Scene  4)  Und  weiter: 
„Ei,  du  grützköpfiger  Wanst!  du  vernagelter  Tropf!  du  ver- 
wetterter,  schmutziger,  fettiger  Talgklump en".  So  vieles  Fett 
macht  Fallstaff  feige  und  er  ist  bei  aller  Unverfrorenheit,  die  er 
als  echter  mimischer  Narr  besitzt,  durchaus  leicht  zu  erschrecken 
und  ins  Bockshorn  zu  jagen.  Er  ist  lagatTÖfisvog  wie  Philistions 
Ardalio  und  die  mimischen  Narren  alle;  ich  erinnere  auch  an 
die  Feiglinge  in  Philistions  Philogelos.  Mit  welcher  Zuversicht 
fällt  Fallstaff  über  die  feigen  Krämer  her  und  wie  entsetzt  nimmt 
er  Reifsaus,  „brüllend  wie  ein  Büffelkalb",  als  Prinz  Heinrich 
und  Poins  in  ihrer  Vermummung  ihn  scheinbar  ernsthaft  an- 
greifen. 

Vor   allem    zeigt  Fallstaff   die  Haupteigenschaft  des  mimi- 
schen Narren,  er  ist  der  noXvnQayficov  wie  Philistions  Ardalio, , 
er  ist  ein  Industrie-  und  Glücksritter,  ähnlich  wie  Karagöz  und 
Pulcinell,    „der  auf  der  Dummheit  der  anderen  bequem  durchs 


Fallstaff  und  der  Narr  im  Mimus.  865 

Leben  reitet  *').  Wie  alle  Beutelschneider  im  Mimus  ist  Fallstaff 
von  Hause  aus  ein  armer  Lump.  Er  ist  so  arm,  wie  es  der 
Parasit  im  Mimus  immer  ist  oder  wie  es  die  spezifisch  mimischen 
Typen  bei  Petron,  die  Glücksritter  Encolpios,  Ascyltos  und  der 
hungrige  Poet  Eumolpos  sind,  die  sich  durch  allerhand  Spitz- 
bübereien ihr  Brot  verschaffen.  Von  Beutelschneiderei  und  Dieb- 
stahl ist  im  Mimus  beständig  die  Rede.  Laberius  verwendet  für 
das  schändliche  ,  stehlen"  den  hochanständigen  Ausdruck  „manuari* 
aus  der  Diebessprache. 

Als  Fallstaff  kein  Geld  hat,  Frau  Hurtig  zu  bezahlen,  schlägt 
er  Lärm,  er  sei  in  ihrer  Kneipe  bestohlen  worden,  besonders 
sein  kostbarer  Siegelring  ist  fort;  es  kommt  aber  heraus,  dafs 
dieser  Ring  aus  Kupfer  und  kaum  8  Pfennig  wert,  und  Fallstaff 
überhaupt  nicht  bestohlen  ist.  Schliefslich  verspricht  er  der 
Wirtin,  sie  soll  seine  Lady  werden  und  verschafft  sich  damit 
bei  ihr  unbegrenzten  Kredit;  freilich,  als  sie  ihr  Geld  wieder- 
haben oder  geheiratet  werden  will,  steht  die  Sache  schlimm. 
Gelegentlich  kommt  es  ihm  auch  nicht  darauf  an,  bei  Nacht  auf 
Raub  auszugehen  um  Börsen  mit  Gewalt  zu  ergattern  und  den 
Friedensrichter  Schallow  bringt  er  um  tausend  Pfund,  indem  er 
ihm  goldene  Berge  verspricht,  wenn  nur  erst  sein  Heinz  König 
Heinrich  sein  wird.  Wie  einträglich  ist  nicht  auch  sein  Werbe- 
system. Er  ist  wirklich  ein  Beutelschneider,  wie  sie  im  Mimus 
von  jeher  geschildert  sind.  Seine  Einfälle  erinnern  überhaupt  an 
die  des  Karagöz  und  des  Pulcinell  und  besonders  an  den  alten 
Mimus.  So  wie  Fallstaff  Schallow  gegenüber,  tritt  Eumolpos  im 
Erbschleichermimus  bei  Petron  als  Herr  über  ungeheure  Schätze 
auf,  nur  dafs  er  sie  nicht  gerade  zur  Hand  und  zur  Ver- 
fügung hat,  und  reichlich  strömen  ihm  die  Gaben  der  Gimpel 
zu,  die  bei  ihm  erbschleichen,  wie  Herr  Schallow  sich  um  Fall- 
staffs  Protektion  mit  tausend  Pfund  bewirbt.  Das  sind  die  prae- 
stigiae  und  fallaciae,  die  als  „mimorum  argumenta"  Cicero  nennt, 
das  sind  die  „tricae*  der  Atellanen,  von  denen  unser  Ausdruck 
„Intrigue"  herkommt. 


*)  Brandl  a.a.O.  S.  121. 

Reich,  Mimus.  55 


866  Zehntes  Kapitel. 

Der  Narr  im  griechischen  und  römischen  Mimus  spielt  nicht 
eigentlich  die  erste  Rolle,  er  ist  ein  mimus  secundarum  partium 
und  erscheint  gewöhnlich  als  Parasit  der  Hauptperson,  wie  auch 
der  Vidusaka  als  Parasit  des  Helden  auftritt.  Auch  Fallstaff  ist 
im  „König  Heinrich  IV.",  I.  und  II.  Teil,  der  mimus  secundarum 
partium,  der  Parasit  bei  Prinz  Heinrich  und  als  rechter  noXv- 
ngäyficov  und  Beutelschneider  weifs  er  seinen  Herrn  trefflich 
auszunutzen. 

So  sagt  Fallstaff  zu  Heinz:  „Nein,  ich  lasse  dir  Gerechtig- 
keit wiederfahren,  du  hast  immer  alles  bezahlt." 

Prinz  Heinrich:  „Ja,  und  anderswo  auch,  soweit  mein  bares 
Geld  reichte,  und,  wo  es  mir  ausging:  habe  ich  meinen 
Kredit  gebraucht." 

Die  Narren  sind  im  Mimus,  wie  wir  sahen,  in  zwei  Typen 
geschieden,  den  wirklich  stupiden  Narren,  den  eigentlichen  stupidus 
und  fiwQÖg  —  wie  Philistion  im  Scholasticus,  dem  Dottore,  sein 
Prototyp  schuf  oder  die  commedia  dell'  arte  im  Arlechino  —  und 
den  Derisor,  in  dessen  Rolle  gern  der  berühmte  Mime  Latinus 
auftrat,  den  Spötter,  den  eigentlichen  Spafsmacher,  den  scurra 
und  yeXcotonoiog,  der  nicht  nur  als  Narr  den  anderen  zum  Spafse 
dient,  sondern  sich  ebenso  und  noch  besser  über  die  anderen 
lustig  zu  machen  versteht.  Sein  Prototyp  ist  Sannio,  der  mit 
jeder  Muskel  seines  Gesichts,  ja  seines  ganzen  Körpers  lacht, 
wie  Cicero  sagt.  Er  ist  der  eigentliche  Lustigmacher,  der  rechte 
fjbtfiog  yeXoicov.  Er  ist  zwar  auch  ein  Narr,  aber  er  weifs,  dafs 
er  ein  Narr  ist  und  er  weifs  sogar  auch,  dafs  die  ganze  Welt 
närrisch  ist  und  dafs  er  sie  darum  als  Narr  zum  Narren  halten 
kann.  Wir  sahen,  dafs  zu  dieser  besonderen  Sorte  der  mimischen 
Narren  auch  der  Vidusaka  und  Semar  gehört,  sowie  der  türkische 
Karagöz,  der  Pulcinell  und  Kasperle.  Und  im  Grunde  gehören 
auch  die  mittelalterlichen  Hofnarren  dazu,  die  unter  der  Maske 
der  Thorheit  ihren  Herrn  nicht  selten  die  Wahrheit  sagten,  und 
vor  allem  auch  die  Clowns  bei  Shakespeare.  Nur  darum,  weil  er 
diese  unsterbliche  mimische  Narrheit  vertritt,  ist  Fallstaff  eine 
unsterbliche    Figur    geworden,    Fallstaff    als    der    bedeutendste 


Fallstaff  und  der  Narr  im  Mimu.=.  867 

moderne  Vertreter  des  mimischen  Narren,  der  zugleich  ein  Spötter, 
ein  Verhöhner  der  Narrheit,  ein  derisor,  ein  fxüxog  ist. 

Wie  weifs  Prinz  Heinrich  den  guten  Fallstaff  zu  verhöhnen  ob 
seiner  absoluten  Feigheit  bei  dem  räuberischen  Überfall  auf  die  Kauf- 
leute. Doch  wie  geschickt  zieht  sich  der  derisor  aus  der  Schlinge. 
Er  habe  Prinz  Heinrich  und  Poins  wohl  erkannt,  aber  der  Löwe 
rührt  den  echten  Prinzen  nicht  an.  Mit  welchem  lustigen  Hohne 
überschüttet  der  derisor  den  Bardolph,  als  dieser  sich  erlaubt, 
die  Gewissensbisse  'des  dicken  Hans  über  seinen  schlechten 
Lebenswandel  für  sehr  berechtigt  zu  erklären. 

Fallstaff:  Bessere  du  dein  Gesicht,  so  will  ich  mein  Leben 
bessern.  Du  bist  unser  Admiralsschiff,  du  trägst 
die  Laterne,  aber  nicht  im  Hinterdeck,  sondern  sie 
steckt  dir  in  der  Nase,  du  bist  der  Ritter  von  der 
brennenden  Lampe  ....  Du  hast  mir  an  die  Tausend 
Mark  für  Kerzen  und  Fackeln  erspart,  wenn  ich  mit 
dir  nachts  von  Schenke  zu  Schenke  wanderte;  aber 
für  den  Sekt,  den  du  mir  getrunken  hast,  hätte  ich 
von  dem  teuersten  Lichtzieher  in  Europa  ebenso 
wohlfeil  Lichter  haben  können. 

Bei  dieser  lustigen  und  unverschämten  Art,  mit  welcher 
der  derisor  jede  Neckerei  doppelt  und  dreifach  heimzuzahlen  ver- 
steht, kommt  es  nicht  selten  zu  wahren  Zank-  und  Schimpfduetten. 
Wie  schilt  Prinz  Heinrich  auf  Fallstaff:  ^Diese  vollblütige  Memme, 
dieser  Bettdrücker.  die>er  Pferderückenbrecher,  dieser  Fleisch- 
bergu,  Fallstaff  dagegen:  „Fort  mit  dir,  du  Hungerbild,  du  Aal- 
haut, du  getrocknete  Rinderzunge,  du  Ochsenziemer,  du  Stock- 
fisch, —  o,  hätte  ich  nur  Odem,  zu  nennen,  was  dir  gleicht!  — 
du  Schneiderelle,  du  Degenfutteral,  du  erbärmliches  Rapier" 
(König  Heinrich  IV.,  I.  Teil,  H.  Aufzug,  Scene  4).  Ich  erinnere 
auch  an  die  Zankscene  zwischen  Fall>taff  und  Dortchen  Laken- 
reifser  (König  Heinrich  IV .   IL  Teil,  Akt  H,  Scene  4). 

Dem  Beispiel  des  grofsen  derisors  folgen  seine  Spiefsgesellen. 
Wie  foppt  Bardolph  Fallstaffs  Pagen  mit  losen  Stichelreden: 
„Komm,  du  tugendhafter  Esel,  du  verschämter  Narr!     Mufst  du 

55* 


868  Zehntes  Kapitel. 

rot  werden?  Warum  wirst  du  rot?  Welch  ein  jüngferlicher 
Soldat  bist  du  geworden!  Ist  es  so  eine  grofse  Sache,  die 
Jungfernschaft  eines  Vier -Nösel- Krugs  zu  erobern?  (König 
Heinrich  IV.,  II.  Teil,  IL  Akt,  Scene  4.)  Aber  der  witzige  Junge 
bleibt  dem  Ritter  von  der  brennenden  Lampe  nichts  schuldig. 

Mit  ernster  Mahnung  sagt  der  Lord  Oberrichter  zu  Fallstaff 
(König  Heinrich  IV.,  IL  Teil,  IL  Akt,  Scene  1):  „Nun,  der  Herr  er- 
leuchte dich!  Du  bist  selbst  ein  grofser  Narr",  und  doch  mufs  er 
sich  von  diesem  notorischen  Narren,  weil  es  nun  einmal  der  alte 
derisor  und  ioculator  ist,  der  seit  zwei  Jahrtausenden  schon  die 
Narrenfreiheit  übt,  verhöhnen  lassen:  „Was  die  Ohrfeige  betrifft, 
die  euch  der  Prinz  gab,  so  gab  er  sie  wie  ein  roher  Prinz  und 
ihr  nahmt  sie  wie  ein  feinsinniger  Lord.  Ich  habe  es  ihm  ver- 
wiesen und  der  junge  Löwe  that  Bufse,  freilich  nicht  in  Sack 
und  in  der  Asche,  sondern  in  altem  Sekt  und  neuer  Seide." 

Wie  kläglich  geht  es  zum  Schlüsse,  da  König  Heinrich  sich 
von  ihm  wendet,  dem  alten  Beutelschneider,  dem  noXvnQÜynwv, 
trotz  aller  seiner  Anschläge,  Ränke  und  Künste;  er  ist  der  Ge- 
preschte, wie  es  der  Narr  im  Mimus  ein  für  allemal  ist.  Doch 
schnell  wirft  der  derisor  Spott  und  Hohn  auf  den  thörichten 
Friedensrichter  Schallow,  der  ihm  die  tausend  Pfund  geborgt  hat 
und  nun  auch  nicht  eins  davon  wiedersieht. 

Am  lustigsten  ist  es,  den  feisten  Narren  im  Kriege  zu  sehen, 
der  für  ihn  nur  eine  lustige  Abwechselung  und  eine  gute  Er- 
werbsquelle ist.  Der  mimische  Narr,  der  mit  Dickwanst  und 
Phallus,  Helm  und  Schild  hinter  seinem  jugendschlanken  Helden 
herzieht,  auf  dem  S.  583,  Anm.  3.  besprochenen  Bilde  ist  auch  ein 
Fallstaff  im  Kriege.  Manchmal  spielen  die  Mimen  auch  Krieg, 
sagt  Choricius  (vgl.  oben  'S.  583,  Anm.  3). 

Wie  der  mimische  Narr  durch  Philistion  in  den  Ardaliotypus 
umgeschaffen  wurde  zu  einem  Prototyp  des  zerfahrenen,  unruhigen 
Lotterlebens  in  den  höheren  sozialen  Kreisen  seiner  Zeit,  so 
mufs  die  Inkarnation  des  alten  mimischen  Narren  und  derisors 
in  der  Person  Fallstaffs  durch  Shakespeare  das  heruntergekommene 
Rittertum  in  der  Zeit  der  Königin  Elisabeth  zur  Anschauung 
bringen.    Dieses  Rittertum,  das  längst  aller  Ideale  bar  geworden 


„Die  lustigen  Weiber  von  Windsor"  ein  Mimus.  869 

ist  und  nur  nach  Genufs  ohne  Mühe  und  Arbeit  strebt,  das  da 
glaubt,  selbst  in  der  verfetteten  und  versumpften  Gestalt  des 
mimischen  Narren  den  ehrlichen  Bürgerweibern  eine  Ehre  an- 
zuthun,  wenn  es  sie  verführt,  und  das  schliefslich  als  ein  Haufen 
schmutziger  Wäsche  ins  Wasser  geschüttet  wird.  Dafs  der 
mimische  Narr  hier  als  Ritter  auftritt,  kann  uns,  die  wir  seine 
ganze  Entwicklungsgeschichte  übersehen,  nicht  wundern,  war 
er  doch  auch  im  mythologischen  Mimus  als  Ritter  aufgetreten 
und  hatte  gar  als  Zeus,  als  Vater  der  ritterlichen  Götter,  mit 
mächtigem  Wanste  bewehrt,  den  schönen  Weibern  und  Töchtern 
der  Menschen  nachgestellt. 

So  entspringen  Fallstaff  wie  Ardalio,  diese  beiden  berühm- 
testen Metamorphosen  des  uralten  mimischen  Narren,  einer  im 
letzten  Grunde  sehr  ernsten  Lebensauffassung  und  einer  bei  aller 
Lustigkeit  herben  und  strengen  Biologie. 

hl 

„Die  lustigen  Weiber  von  Windsor"  ein  Mimus. 

Unter  den  zahlreichen  Arten  der  mimischen  Hypothese  war, 
wie  wir  wissen,  besonders  das  Ehebruchsstück  beliebt  und  solch 
ein  alter  Ehebruchsmimus  sind  „Die  lustigen  Weiber  von  Windsor" 
Zug  für  Zug  und  Punkt  für  Punkt.  Da  sind  vor  allem  die 
lustigen  Eheweiber  aus  dem  Mimus,  die  schlau  dem  Ehemann  so 
schöne  Worte  zu  geben  wissen,  wie  Ovid  erzählt.  Frau  Page 
und  Frau  Flut  sind,  wie  die  Eheweiber  im  alten  Mimus,  zu  aller- 
hand lustigen  Ränken  aufgelegt,  bei  denen  ihre  Ehre  wenigstens 
scheinbar  in  Gefahr  gerät  und  ihre  Männer  wenigstens  als  be- 
trogen erscheinen.  Herr  Flut  ist  denn  auch  unablässig  um  die 
Treue  seiner  Frau  besorgt;  er  ist  eine  typische  Figur  aus  dem 
Ehebruchsmimus:   der  Eifersüchtige,  der  ZriXonmog. 

Mit  welchem  echt  mimischen  Humor,  wie  flammend  ist  Herrn 
Fluts  Eifersucht  geschildert,  die  um  so  lustiger  ist  als  sie  voll- 
kommen grundlos  ist.  Wie  rast  er:  Amaimon  klingt  gut, 
Lucifer  gut,  Barbason  gut,  und  doch  sind  es  Teufelstitulaturen, 
die  Namen  böser  Geister;   aber  Hahnrei?    Hörnerträger?    Der 


870  Zehntes  Kapitel. 

Teufel  selbst  führt  nicht  solche  Namen.  Ich  will  dem  Dinge  zu- 
vorkommen, mein  Weib  entlarven,  mich  an  Fallstaff  rächen. 
Pfui,  pfui,  pfui!  Hahnrei,  Hahnrei,  Hahnrei  (zweiter  Aufzug, 
dritte  Scene).  Wilder  hat  gewifs  kein  Stupidus  im  Mimus  ge- 
tobt, wenn  er  seine  Schande  als  betrogener  Ehemann  entdeckte 
und  mit  wilden  Flüchen  seine  Sklaven  rief  und  nach  seinem 
Dolche  schrie.     Wie  sagt  Ovid: 

Und  wo  ein  Buhle  den  Mann  durch  etwas  Neues  betrogen 
Wird  beifällig  geklatscht  und  ihm  die  Palme  gereicht. 

Auch  hier  wird  der  Zrjlözvnoc,  Herr  Flut,  immer  durch  etwas 
Neues  betrogen  und  wenn  er  schon  den  allerdings  sehr  harm- 
losen und  selbst  an  der  Nase  herumgeführten  Buhlen  ertappt 
zu  haben  glaubt,  wird  er  durch  die  schlauen  Weiber  genasführt. 
Wir  haben  schon  auf  die  „perituri  cista  Latini",  den  grofsen 
Kasten,  in  dem  der  Ehebrecher  kriecht,  als  ein  unerläfsliches 
Requisit  im  alten  Ehebruchsmimus  hingewiesen.  In  unserem 
Ehebruchsmimus  ist  der  beinahe  ertappte  Ehebrecher,  der  peri- 
turus  Latinus,  der  gute  Sir  John;  welche  Todesangst  befällt  ihn, 
da  er  von  Frau  Page  hört,  Flut  kommt  mit  allen  Gerichtsdienern 
von  Windsor,  ihn  bei  seiner  Frau  zu  suchen.  Und  die  unerläfs- 
liche  cista  des  Ehebruchsmimus  ist  hier  der  grofse  Waschkorb 
mit  schmutziger  Wäsche,  in  den  Fallstaff  hineinkriecht.  Er  wird 
im  Korbe  hinausgetragen  und  der  thörichte  Zrj&ÖTvnog  hält  natür- 
lich vergeblich  Haussuchung. 

Dieser  mimische  Kasten  kam  auch  im  mittelalterlichen  Mimus, 
der  Shakespeares  Dramen  vorangeht,  besonders  in  der  französi- 
schen Farce  unablässig  vor,  so  wird  er  denn  auch  bei  Shake- 
speare zum  stehenden  Inventar.  In  „Cymbeline"  läfst  Jachimo 
sich  in  einer  grofsen  Kiste  in  das  Schlai'gemach  der  keuschen 
Imogen  tragen.  Der  Buhle  im  Korbe  gehört  zu  den  vielen  Situa- 
tionen des  alten  Mimus,  die  auch  in  Jahrtausenden  nicht  zu  ver- 
gessen sind. 

Das  nächste  Mal,  als  Fallstaff  wieder  bei  Frau  Flut  ist, 
stürzt  sich  der  arme  Ztjlötvnog,  der  für  seine  Eifersucht  so 
stark  gehänselt  wird,  wie  nur  je  im  Mimus  ein  betrogener  Ehe- 


„Die  lustigeu  Weiber  von  Windsor"  ein  Mimus.  871 

mann,  auf  den  Korb  mit  Wäsche,  den  er  vergeblich  durch- 
sucht; denn  dieses  Mal  wird  er  durch  eine  Verkleidung  ge- 
täuscht. Fallstaff  entrinnt  ihm,  herausgeputzt  als  eine  alte, 
dicke  Frau.  Die  Verkleidung  von  Männern  zu  Frauen  ist  eine 
der  gewöhnlichsten  Trics  im  alten  Mimus.  Ich  erinnere  an  den 
Mann,  der  bei  Laberius  als  Frau  entlarvt,  an  einen  andern,  dem 
sein  Benehmen  als  Frau  einstudiert  wird;  an  Maccus  virgo,  an 
Karagöz,  der  als  Frau  verkleidet  von  dem  alten  Baba  Himmet 
geheiratet  werden  soll,  an  Pulcinella  gravido  (vgl.  oben  S.  676). 

Iu  seiner  blinden  Wut  fallt  der  arme  Hahnrei,  der  es  zur 
Erhöhung  des  Spafses  nur  in  seiner  eigenen  Einbildung  ist,  über 
die  vermeintliche  alte  Frau  mit  ordentlichen  Prügeln  her;  denn 
sie  ist  eine  Hexe,  eine  Kartenlegerin,  Besprecherin,  Wahr- 
sagerin und  Zeichendeuterin.  Wie  fährt  Flut  während  der  Prügel 
auf  sie  los:  Du  Zigeunerin,  du  Vettel,  du  Meerkatze,  du  garstiges 
Tier!  Fort  mit  dir,  ich  will  dich  wahrsagen  und  besprechen 
lehren.  Da  haben  wir  die  alte  Hexe  und  Zauberin  aus  dem 
Mimus,  die,  wie  wir  sahen,  darin  seit  den  urältesten  Zeiten  ein 
stehender  Typus  ist.  Wir  haben  gezeigt,  wie  diese  Hexen  gern 
als  dickbäuchige  Vetteln  erscheinen,  eben  wie  wir  hier  die 
dicke,  alte  Frau  aus  Brentford,  die  Hexe,  in  deren  Kleidern 
Faustan"  steckt. 

Zu  diesen  Hexen  gehört  vor  allem  die  cata  carissa,  die 
schlaue  Kupplerin  und  Verführerin,  das  betrügerische,  Zank  und 
Hader  erregende  alte  Weib.  Im  Ehebruchsmimus  war  dieser 
Typus  unerläfslich;  wie  es  sich  gehört,  findet  er  sich  auch  in 
unserem  Mimus  hier.  Es  ist  Frau  Hurtig,  die  Haushälterin  des 
Doktor  Caius;  Frau  Hurtig,  die  in  „König  Heinrich  IV.14  einen 
anderen  typischen  Posten  im  Mimus  als  Gastwirtin  und  zugleich 
Aushälterin  von  Dortchen  Lakenreifser  bekleidet. 

Hier  spielt  sie  nun  die  pfiffige  Mittelsperson,  die  einerseits 
an  Fallstaff  die  heuchlerischen  Liebesbriefe  von  Frau  Page  und 
Frau  Flut  besorgt,  wie  sie  andererseits  Herrn  Fentons,  wie  des 
Herrn  Doktor  Caius  und  schliefslich  auch  des  Junkers  Schmächtig 
Liebeswerbung  um  Anne  Page  unterstützen  soll  Jedem  redet 
sie  nach  dem  Munde  und  alle  betrügt  sie;    sie  ist  im  höchsten 


872  Zehntes  Kapitel. 

Grade  fallax  wie  die  cata  .und  erregt  dadurch  Zank  und  Streit 
Infolge  ihrer  Zwischenträgern  fordert  Doktor  Caius  den  Pastor 
Evans  gär  zum  Duell. 

Der  Arzt  spielt  schon,  wie  wir  sahen,  im  Dikelon,  dem 
alten  lakedämonischen  Mimus,  mit  allerhand  fremdartigen  Kede- 
wendungen  und  Anpreisungen  seiner  Kunst  eine  Hauptrolle  und 
spielt  sie  dann  weiter  die  ganze  mimische  Entwicklung  hin- 
durch; noch  in  Philistion  Philogelos  kommt  er  vor  und  ist 
dort  ganz  derselbe  Prahlhans1,  Narr  und  Windbeutel,  der  aber 
nebenbei  eine  sehr  einträgliche  Praxis  hat,  und  es  versteht  zu 
Gelde  zu  kommen,  wie  der  französische  Doktor  Caius.  Diesen 
mimischen  Typus  des  Arztes  fanden  wir  ja  auch  in  der  Farce 
und  überhaupt  im  mittelalterlichen  Mimus  wieder.  Hier  geht 
der  gute  Doktor  auf  Freiersfüfsen  und  mufs  sich  dabei  zum 
Narren  machen  lassen,  wie  es  nun  einmal  des  Arztes  Los  im 
Mimus  ist. 

Ebenso  lieferte  von  jeher,  wie  wir  schon  sahen,  die  Geist- 
lichkeit dem  Mimus  allerhand  lustige  Typen.  Und  da  Shake- 
speares Phantasie  mit  den  Figuren  der  alten  mimischen  Biologie 
erfüllt  ist,  so  liebt  er  es  gleichfalls  Typen  der  Geistlichkeit  vor- 
zuführen. Ich  erinnere  aufser  an  den  Pastor  Evans  an  Nathanael, 
den  Trottel  von  Dorfkurat  in  „Verlorener  Liebesmüh".  In  „Was 
ihr  wollt"  tritt  Ehrn  Matthias,  der  Pfarrer,  auf  und  wird  den 
Hausmeister  Malvolio,  den  man  als  närrisch  eingesperrt  hat, 
durch  geistliche  Besprechung  heilen.  Was  diese  Beschwörung 
eines  Wahnsinnigen  anlangt,  so  wollen  wir  an  Karagöz  denken, 
der  den  sich  wahnsinnig  stellenden  Tusun  durch  seine  Be- 
sprechung heilt:  wir  haben  hier  eben  wieder  ein  uraltes  mimi- 
sches Sujet. 

Pfarrer  und  Schulmeister  gehören  zusammen  und  nicht 
selten  übt  der  Pfarrer  auch  Schulmeisterfunktionen  aus,  so 
Pastor  Evans  in  den  „Lustigen  Weibern".  Es  ist  eine  höchst 
drollige  Schulscene.  Herr  Page  meint,  sein  Wilhelm  habe  nichts 
Ordentliches  gelernt,  und  nun  bittet  Frau  Page  als  besorgte 
Mutter  den  Pastor  Evans,  ihn  aus  dem  Donat  zu  überhören. 
Frau  Hurtig  hört  mit  zu  und,  da  sie  horum  harum  horum  hört, 


,Die  lustigen  Weiber  von  Windsor"  ein  Mimus.  873 

meint  sie,  man  solle  dem  Jungen  nicht  in  der  Schule  von  Huren 
und  ihren  Haaren  erzählen,  so  begleitet  sie  das  Examen  mit 
ihren  Glossen.  Diese  Form  der  Schulscene  findet  sich  schon 
genau  so  in  dem  mittelalterlichen  französischen  Mimus. 

Schon  bei  Herondas  kommt  der  Schulmeister  vor,  im 
ersten  Mimiambus;  Schulmeisterscenen  kennen  wir  auch  aus 
PhilistioDS  „Philogelos ".  Dort  hört,  wie  hier  Frau  Hurtfg, 
jemand  dem  Unterrichte  zu  und  fragt  dann  den  Schulmeister, 
warum  er  nicht  auch  Zitherspielen  lehre,  und  da  der  Schul- 
meister meint,  das  verstehe  er  nicht,  sagt  der  "Witzbold:  ach, 
das  mache  ja  nichts  aus,  er  lehre  ja  überhaupt,  was  er  nicht 
verstehe,  ganz  wie  Pastor  Evans,  mit  dessen  Latein  es  auch  sehr 
bedenklich  steht.  Bei  Petron  kommen  zwei  mimische  Schul- 
meistertypen vor,  der  eine  ist  ein  wenig  träge,  der  andere  aber 
ist  sehr  eifrig,  der  lehrt  mehr  als  er  versteht,  wie  Pastor  Evans. 
Mehr  zu  lehren  als  man  versteht,  meint  Hieronymus,  der  gute 
Kenner  der  mimischen  Ethologie  und  Biologie  sei  Sache  der 
scurrae,  doch  wohl  mimarii  (vgl.  oben  S.  752,  Anm.  2).  Der 
Schulmeister  kommt  überhaupt  bei  Shakespeare  wie  in  den  alten 
Mimen  nicht  selten  vor,  ich  erinnere  z.  B.  an  den  verdrehten 
Schulmeister  Holofernes  in  „Verlorener  Liebesmüh"  und  an  den 
Schreiber  und  Schulmeister  von  Chatam  Emanuel,  den  Cade  in 
„König  Heinrich  VI",  Teil  II,  mit  Feder  und  Tintenfafs  um  den 
Hals  hängen  läfst. 

Eine  ganz  besondere  Art  von  Schulscenen  findet  sich  in 
„König  Heinrich  V."  (Akt  III,  Scene  IV),  wo  die  schöne  Katha- 
rina von  Frankreich  von  ihrem  Hoffräulein  Englisch  lernt.  In 
der  „Widerspenstigen  Zähmung"  stellen  sich  zwei  Liebhaber  der 
Bianca  ein,  der  eine  als  Lateinlehrer,  der  andere  als  Musik- 
lehrer (Akt  I,  Scene  1),  und  schliefslich  findet  sich  sogar  ein 
Magister  (Akt  IV,  Scene  2),  der  den  alten  Herrn  Vincentio  vor- 
stellen mufs  und  später  als  sein  Doppelgänger  diesem  sein 
eigenes  Ich  abstreitet.  Wir  haben  die  Herkunft  dieses  uralten 
Motivs  aus  dem  Mimus  schon  oben  besprochen. 

Ein  besonders  beliebter  Typus  im  Mimus  war  der  Huren- 
wirt oder  auch  der  Gastwirt,    der  copo,    der  gewöhnlich  beides 


874  Zehntes  Kapitel. 

in  einem  ist.  Frau  Hurtig  als  Gast-  und  Hurenwirtin  kennen  wir 
schon.  Der  alte  mimische  copo  ist  in  unserem  Stück  der  Wirt 
zum  Hosenbande.  In  seiner  Taverne  wohnt  Faustan",  und  in 
ihr  spielen  mehrere  Scenen,  wie  der  Mimus  überhaupt  gerne  in 
der  Taberne  spielt.  Dieser  Wirt  hält  sich  für  einen  grofsen 
Pfiffikus  und  die  beiden  Scholastiker,  den  Pfarrer  und  den  Arzt, 
macht  er  auch  schmählich  zum  Narren.  Aber  im  Mimus  tritt 
der  Gastwirt  durchaus  immer  als  der  Geprellte  auf,  ich  erinnere 
an  den  Bordellwirt  Battaros  bei  Herondas.  Solch  ein  geprellter 
Gastwirt  findet  sich  auch  in  einer  mimischen  Tavernenscene  bei 
Petron,  wo  er  erklärt,  er  werde  den  Spitzbuben  Eumolp  und 
Encolp  schon  zeigen,  dafs  das  Haus  keiner  Witwe  —  etwa  wie 
die  Gastwirtin  Hurtig  im  II.  Teile  von  „Heinrich  IV."  —  sondern 
Marcus  Mannicius  (95.  B. 3)  gehöre.  Für  den  geprellten  Gastwirt 
im  Mimus  hatte  man  den  terminus  technicus:  copo  compilatus 
und  auch  der  Schlauberger  von  Wirt  zum  Hosenbande  ist  schliefs- 
lich  ein  solcher  copo  compilatus,  als  ihm  seine  Pferde  gestohlen 
sind,  und  er  wird  nun  von  dem  vorher  gefoppten  Arzte  und  Pfarrer 
arg  verhöhnt.  Lustige  Spitzbübereien  sind  ja  von  jeher  ein  be- 
liebtes Motiv  im  alten  Mimus.  So  genügt  denn  auch  Shakespeare 
dieser  eine  Diebstahl  in  seinem  Mimus  noch  nicht,  es  findet  sich, 
dafs  Bardolph,  Nym  und  Pistol  den  guten  Junker  Schmächtig  bei 
einem  gemeinsamen  Gelage  betrunken  gemacht  und  dann  eine 
ergiebige  Visitation  seiner  Taschen  vorgenommen  haben,  und 
Fallstaff  hat  in  Herrn  Shallows  Park  gewildert. 

Ich  habe  auf  die  zahlreichen  Kinderrollen  im  Mimus  und  in 
der  Atellane  hingewiesen.  In  diesem  Mimus  tritt  der  kleine 
Page  Falstaffs  auf,  ferner  Wilhelm,  Frau  Pages  Sohn,  und  dann 
eine  ganze  Schar  kleiner  Kinder,  die  als  Elfen  verkleidet  er- 
scheinen. 

Wie  das  ganze  Thema  und  alle  Typen  dieses  Shakespeare- 
schen  Mimus,  so  lassen  sich  auch  alle  Kabalen  und  Ränke  in 
ihm  durchaus  als  die  beliebten  praestigiae  et  fallaciae  des  alten 
Mimus  erweisen.  Und  da  die  mimischen  Triks  immer  weiter- 
gehn,  so  mufs  sich  schliefslich  Fallstaff  gar  ein  Gehörn  auf- 
setzen   und    mufs    sich,    damit    diesem    im    Grunde    rein    bio- 


„Die  lustigen  Weiber  von  Windsor"  ein  Mimus.  875 

logischen  Mimus  doch  auch  nicht  das  phantastische  Element 
fehlt,  das  der  Mimus  so  sehr  liebt,  sich  zum  gespenstischen, 
wilden  Jäger  Herne  umwandeln  und  Anna  Page  und  allerlei 
Kinder  verkleiden  sich  als  Feen.  Das  sind  die  fortgesetzten 
Verkleidungen,  die  der  alte  Mimus  so  sehr  liebte,  so  besucht 
auch  Herr  Flut  Sir  Fallstaff  als  Herr  Bach.  Zwei  von  den  ver- 
kleideten Knaben,  die  absichtlich  sich  ganz  der  Jungfrau  Anna 
Page  angeähnelt  haben,  werden  von  Doktor  Caius  und  Junker 
Schmächtig  entführt.  Es  geht  dem  Doktor  wie  dem  Junker 
dabei  ganz  wie  den  gefoppten  Liebhabern  im  alten  Mimus, 
denen  ein  Mann  für  eine  Frau  untergeschoben  wird,  wie  auch 
Baba  Himmet  mit  dem  als  Braut  verkleideten  Karagöz.  Als  sie 
genauer  zusehen,  entdecken  sie  an  den  Vermummten  die  Zeichen 
des  Mannes  und  Anna  Page  ist  für  sie  verloren.  Ähnlich  findet 
Mars,  als  er  die  Braut  entschleiert,  statt  der  jugeudschönen 
Minerva  die  alte  Hexe  Anna  Perenna. 

Fallstaff  aber  wird  nicht  nur  gefoppt,  er  wird  auch  aufs 
ärgste  gezwackt  und  geprügelt.  Auch  durch  diesen  Mimus  schallt 
der  alapittarum  sonitus  und  der  Narr  in  ihm,  Hans  Fallstaff,  ist 
so  gut  ein  alopus,  wie  es  nur  irgend  ein  Narr  in  einem  alten 
griechisch-römischen  war  und  auch  die  lustigen  Schimpfereien, 
die  ein  Specificum  des  alten  Mimus  waren,  fehlen  hier  durch- 
aus nicht;  ich  erinnere  an  die  amüsant-komische  Art,  wie  Pastor 
Evans  auf  Doktor  Caius  und  Doktor  Caius  auf  Pastor  Evans 
schimpft  und  beide  nachher  zusammen  auf  den  spitzbübischen 
Wirt,  der  sie  genasführt  hat;  ich  erinnere  ferner  an  die  Zank- 
scene  zwischen  Junker  Schmächtig  und  Shallow  auf  der  einen, 
und  Fallstaff  und  den  Seinigen  auf  der  anderen  Seite,  oder  den 
Hagel  von  Schimpfworten,  die  Herr  Flut  auf  die  vermeintliche  Hexe 
von  Brentford  niederprasseln  läfst.  Zum  Schlüsse  sind  denn  bei 
diesen  unaufhörlich  durchgeführten  Foppereien,  Kabalen,  Ränken 
und  Spitzbübereien,  die  mit  Verkleidungen,  Lügen  und  Betrügen 
und  allen  sonstigen  artes  mimicae  ins  Werk  gesetzt  werden, 
alle  Personen  dieses  lustigen  Mimus  gehänselt  und  genarrt.  Vor 
allem  Fallstaff,  der  gefoppte  Ehebrecher,  auch  Herr  Flut,  der 
zwar  ein  getäuschter  Ehemann,  aber  doch  kein  Hahnrei  ist,  auch 


876  Zehntes  Kapitel. 

Doktor  Caius  so  gut  wie  Pfarrer  Evans  ist  geprellt  und  Junker 
Schmächtig,  desgleichen  Herr  Page,  der  Junker  Schmächtig  und 
Frau  Page,  die  Doktor  Caius  begünstigt;  da  sie  sich  gegenseitig 
hinters  Licht  führen  wollten,  müssen  sie  es  sich  schon  gefallen 
lassen,  dafs  ihre  Tochter  Anne  sie  beide  genarrt  hat. 

Wie  einst  von  Philistion  gerühmt  wurde,  er  hätte  die  Welt 
ihrer  Narrheit  überführt,  so  müssen  wir  dasselbe  von  diesem 
Shakespearischen  Mimus  rühmen,  der  zum  Schlüsse  trotz  aller 
Kabalen,  Ränke  und  Verwickelungen,  wie  es  sich  für  einen  guten 
Mimus  gehört,  mit  wolkenloser  Heiterkeit  und  dem  lauten  risus 
mimicus  endet,  den  Herrn  Fluts  Worte  entfesseln: 

„Sir  John, 
Eu'r  Wort  an  Bach  macht  Ihr  nun  dennoch  gut, 
Er  geht  zu  Bett  noch  heute  mit  Frau  Flut." 


IV. 
Philistion,  Shakespeare  und  Qudraka. 

Wir  kennen  den  Mimus  als  das  grofse  biologische  Drama 
der  ausgehenden  Antike,  als  die  herrschende  dramatische  Poesie 
am  Beginne  des  Mittelalters,  wir  haben  ihn  ins  Mittelalter  hin- 
einverfolgt und  durch  das  Mittelalter  hindurch,  wir  wissen,  dafs 
„Meister  Mime"  noch  der  Spieler  des  Interludes  wie  der  fran- 
zösischen Farce  ist. 

Die  players  of  interludes  in  England  sind  die  alten  Mimen, 
sowie  Jack  Jugler  im  gleichnamigen  Interlude  durch  den  Namen 
als  ioculator  und  Mime  gekennzeichnet  ist.  Sie  treten  auch  noch 
auf  der  alten  mimischen  Gaukelbühne  auf. 

Oft  genug  hat  Shakespeare  als  Kind  diese  players  of  interludes 
in  Stratfort  gesehen,  wir  können  noch  aus  den  Rechnungsbüchern 
seines  Vaters  feststellen,  wie  viel  dieser  für  die  Mimen  zu- 
geschossen hat.  So  hat  der  gröfste  Dramatiker  der  Neuzeit  die 
ersten  dramatischen  Anregungen  in  seiner  Kindheit  vom  Mimus 
erhalten.      Man    hat   für    „Die   lustigen  Weiber   von  Windsor" 


Philistion,  Shakespeare  und  Cüdraka.  877 

nicht  wie  für  die  meisten  anderen  Stücke  Shakespeares  eine 
bestimmte  litterarische  Quelle  nachweisen  können,  aus  der  das 
Stück  in  seinen  Hauptzügen  geflossen  ist1).  Man  wird  sie  wohl 
auch  schwerlich  finden. 

Der  mittelalterliche  Mimus  hat  das  griechisch-römische  Ehe- 
bruchsstück besonders  bevorzugt.  Solche  lustigen  Ehebruchs- 
stücke hatte  Shakespeare  in  seiner  Jugend  von  den  players  of 
interludes  oft  gesehen  und  aus  ihnen  formte  er  wieder  eine 
grofse,  üppigblühende  Hypothese.  Nach  einer  allerdings  sehr 
unverbürgten  Sage  soll  er  das  Stück  auf  Aufforderung  der 
Königin  Elisabeth  in  ungefähr  14  Tagen  verfafst  haben,  eine 
kurze  Zeit,  aber  nicht  gerade  allzu  kurz,  wenn  man  bedenkt, 
dafs  Shakespeare  hier  fast  alle  Motive  und  Personen  aus  dem 
Mimus  hat.  Shakespeare  kannte  wahrscheinlich  auch  die  com- 
media  delP  arte,  hat  sie  vielleicht  sogar  in  ihrer  Heimat,  in  Ober- 
italien, gesehen  (Über  Shakespeares  vermutliche  Reise  nach  Ober- 
italien vgl.  Sarrazin,  William  Shakespeares  Lehrjahre,  Kap.  V, 
S.  118 ff.,  Shakespeare  in  Italien?),  also  den  italisch-italienischen 
Mimus,  der  vom  byzantinischen  Mimus  befruchtet  war.  Shake- 
speare hat  auch  ein  besonderes  Interesse  am  Puppenspiel  gehabt, 
das  beweisen  seine  häufigen  Anspielungen,  und  wir  haben  gezeigt, 
dafs  das  Puppenspiel,  das  orientalische  wie  das  occidentale,  am 
Beginne  des  Mittelalters  vollständig  dem  Mimus  gehörte  und  wohl 
an  seinem  Ende  ebenso.  Also  auch  dort  sprudelte  für  Shake- 
speare seit  seiner  Kindheit  der  tiefe  Born  des  Mimus*). 


1)  Die  bekannte  Novelle  im  Pecorone  des  Ser  Giovanni,  die  ähnlich 
auch  Straparola  und  Michael  Lindener  in  seiner  Sahwanksammlung  „Rast- 
büchlein" (16.  saec.)  erzählt,  die  Tragödie  des  Herzogs  Heinrich  Julius  von 
Braunschweig  „Tragedia  von  einer  Ehebrecherin"  sind  trotz  einer  gewissen 
Ähnlichkeit  schwerlich  Shakespeares  Quelle ;  sie  gehen  eben  wie  Shakespeare 
auf  den  gleichen,  uralten,  mimischen  Stoff  zurück.  Wie  der  Mimus  gerne 
als  Novelle  oder  als  Schwank  in  die  erzählende  Litteratur  übergeht,  soll  im 
nächsten  Bande  gezeigt  werden. 

2)  Zu  Shakespeares  Zeit  war  das  Puppentheater  ganz  besonders  beliebt; 
überall  zogen  die  puppet  players  ebenso  wie  die  Players  of  interludes  herum 
mit  ihrem  Puppenkasten  und  mimten  darauf  die  alten  Interludes  und  Morali- 


878  Zehntes  Kapitel. 

Auch  Shakespeare  ist  ein  Ethologe  und  Biologe.  Wenn 
er  sagt  (Hamlet,  III.  Akt,  Scene  1):  „Der  Zweck  des  Schau- 
spiels war  und  ist,  der  Natur  gleichsam  den  Spiegel  vor- 
zuhalten, der  Tugend  ihre  eigenen  Züge,  der  Schmach  ihr 
eigenes  Bild  und  dem  Jahrhundert  und  Körper  der  Zeit  den 
Abdruck  seiner  Gestalt  zu  zeigen-',  so  kann  man  bei  Shake- 
speare-Kommentatoren, bei  Ästhetikern  und  sonst  die  läng- 
sten Betrachtungen  über  diese  Worte  lesen,  die  in  der  That 
viel  tiefen  Sinn  enthalten  und  zugleich  Shakespeares  Glaubens- 
bekenntnis als  Dramatiker.  Setzen  wir  dafür  die  griechische 
Formel,  so  können  wir  uns  kürzer  fassen:  fiiftijatg  ßiov  %ä  te 
avyxsxdoQrjfiha  neqU^uiv  xal  tä  davyx(^Q1]'ia-  Biologe  ist  der  Mime 
oder  lateinisch:  rerum  humanarum  imitator.  Er  hält  dem  ßiog, 
d.  h.  bei  Shakespeare  der  Natur,  dem  Jahrhundert,  dem  Körper 
der  Zeit,  den  Spiegel  vor  und  das  Bild,  darin  ist  eben  [tifirjcKg 
ßiov;  und  die  Tugend  soll  ihr  eigenes  schauen,  ebenso  wie  die 
Schmach.  Shakespeare  bekennt  sich  zur  Ethologie  genau  wie 
der  Mime,  der  Ethologe.  Also  Ethologie  und  Biologie,  aber  un- 
geschminkt und  wahrhaftig,  auch  das  Laster  soll  dargestellt 
werden,  mit  allen  seinen  abschreckenden  Zügen.  Wie  sagt  doch 
Seneca:  soviel  Laster  gebiert  unsere  Zeit,  dafs  der  Mimus  sie 
nicht  einmal  alle  abkonterfeien  kann.  Choricius  klagt:  „Warum 
tadelt  ihr  den  Mimus,  dafs  er  ebenso  die  Laster  darstellt  wie 
die  Tugenden;  scheltet  lieber  auf  die  lasterhafte  Welt;  und 
Africanus  sagt  von  Daniel,  der  die  beiden  greisen  Schufte  in 
der  Geschichte  von  der  keuschen  Susanna  ihrer  Schurkerei  so 
schlagend  überführt;  er  überführt  sie,  wie  sonst  kaum  Philistion, 
der    Mimograph.      Shakespeares    Menschenkenntnis    ist    in    der 


täten,  später  auch  die  neuen  Komödien  und  Tragödien;  und  der  alte  Narr 
Vice  spielte  auf  der  Puppenbühne  etwa  die  Rolle  unseres  Kasperle.  Wieder- 
holt erwähnt  Shakespeare  in  seinen  Schauspielen  das  Puppenspiel,  und  gern 
zielt  er  in  seinen  Vergleichen  und  Anspielungen  darauf.  Sein  Zeitgenosse 
Ben  Johnson  brachte  in  der  Komödie  „The  Bartholomew  Fair"  gar  eine 
puppet-schow  auf  die  Bühne.  Die  Nachweise  im  einzelnen  bei  Magnin 
a.  a.  0.  S.  204  ff. 


Philistion,  Shakespeare  und  £üdraka.  879 

modernen  Zeit  sprichwörtlich,  in  der  antiken  war  es  die  Philistions, 
des  Philosophen. 

Gewifs  hat  auch  das  klassische  Drama,  insbesondere  Seneca, 
Shakespeare  beeinflufst,  aber  vor  allem  das  volksmäfsige,  soge- 
nannte nationale  Volksdrama,  eben  der  alte  Mimus,  der  überall 
das  Landschafts-  und  das  Lokalkolorit  annimmt  und  sich  darum 
überall  nationalisiert1).  Als  die  Mimen  des  Herondas  gefunden 
wurden,  begann  man  sofort  von  der  erstaunlichen  Ähnlichkeit 
mit  Shakespeare  zu  reden.  Der  Gauner  Battaros  bei  Herondas 
erinnerte  schon  Crusius  an  die  Shakespearischen  Galgenvögel 
und  ebenso  Frau  Gyllis,  die  Kupplerin*).  Diese  Ähnlichkeit 
Shakespeares  mit  dem  Mimus  ist  nun  für  uns  keine  zufällige 
mehr,  auch  nicht  blofs  in  einer  ähnlichen  Geistesrichtung  be- 
gründete. 

Er  ist  wirklich  ein  Mimograph  geworden,  der  grofse  William 
Shakespeare  und  hat  mit  lustigem  Lachen  und  göttlichem  Humor 
eine  grofse  biologische  Hypothese  geschaffen,  wie  einst  Philistion. 
Bei  ihm  findet  sich  wieder  der  alte,  strenge  Realismus  des  mimi- 
schen Biologen,  der  göttliche  Humor  und  das  laute  Lachen,  der 
wunderbare  Wechsel  zwischen  Scherz  und  Ernst,  zwischen  Bur- 
leskem und  Traurigem,  zwischen  Niedrigem  und  Hohem,  wie  es 
sich  alles  einst  bei  Philistion  fand.  Sie  sind  die  beiden  gröfsten 
Hypothesendichter  der  Weltliteratur,  der  mit  unergründlichem 
Humor  begabte,  tiefsinnige,  grofse  Brite  und  der  ridiculus 
Philistion,  der  Philosoph,  der  alte  Klassiker  des  Mimus.     Ihnen 


1)  Ulrici  bemerkt  („Shakespeares  dramatische  Kunsf  I,  S.  368):  Sh. 
nimmt  entschieden  Partei  für  das  englische  Volkstheater  ...  er  verwirft  jene 
Bestrebungen,  welche  das  in  doppelter  Beziehung  durch  seine  plastische 
Idealität  wie  durch  seine  Fremdartigkeit  unnatürlich  erscheinende  Drama 
der  Alten  zu  beleben  suchten."  Nun,  eine  Wiederbelebung  des  Dramas  der 
Alten  hat  denn  doch  in  gewisser  Weise  durch  Shakespeare  stattgefunden, 
al-er  weniger  des  klassischen,  das  Ulrici  natürlich  nur  allein  kennt,  sondern 
mehr  des  mimisch-biologischen,  des  antiken  Yolk>dramas.  Allerdings  gilt 
das  natürlich  nur  für  Shakespeares  Lustspiele  und  die  Schauspiele,  die  ihnen 
näher  stehn. 

2)  Vgl.  Die  Mimiambeu  des  Herondas.  Deutsch.  S.  VII,  IX.  Unter- 
suchungen S.  28. 


880  Zehntes  Kapitel. 

beiden  ward  durch  die  Volksüberlieferung  schon  eine  grofse 
Fülle  mimischer  Ethologie  und  Biologie  überliefert.  Philistion 
schuf  daraus  zuerst  das  grofse  mimisch-biologische  Drama  in 
seiner  höchsten  Vollendung  und  als  dieses  dann  im  Laufe  des 
Mittelalters  tiefer  und  tiefer  gesunken  war,  schuf  zum  zweiten 
Male  Shakespeare  aus  dem  unzerstörbaren  mimischen  Kern  ein 
klassisches  biologisches  Schauspiel.  Philistion  dichtete  länger 
als  anderthalb  tausend  Jahre  vor  Shakespeare,  aber  der  Faden 
zwischen  beiden  ist  niemals  abgerissen,  auch  wenn  der  grofse 
William  kein  Sterbenswort  davon  wufste,  dafs  es  jemals  eine 
mimische  Hypothese  und  jemals  einen  Philistion  gegeben  habe. 
Hie  Menander,  hie  Philistion,  sagten  die  Alten,  hie  Philistion, 
hie  Shakespeare,  könnten  wir  Modernen  sagen  und  das  hätte  dann 
einen  viel  tieferen  Sinn. 

Wenn  wir  an  die  Dramen  Philistions  denken,  nachdem  wir 
so  mühsam  ihren  Charakter  und  ihre  Eigenart,  ihre  Grofse  und 
ihren  Wert  festgestellt  haben,  an  ihren  Humor,  ihre  Satire  und 
Ironie,  ihre  biologisch-realistische  und  doch  zugleich  phantastisch- 
humoristische Art,  so  könnten  wir  die  These  wagen,  Philistion 
sei  der  Shakespeare  der  Antike  oder  besser,  der  Brite  sei  der 
Philistion  der  modernen  Zeit. 

Ein  dritter  gehört  noch  in  diesen  gröfsen  Bund:  Qüdraka. 
Seit  Wilsons  Übersetzung  der  Mrcchakatikä  erschien,  hat  dieses 
Drama  immer  ein  mafsloses  Erstaunen  hervorgerufen,  das  war 
ja  Shakespeare,  Shakespeare  wie  er  leibte  und  lebte.  Alle  Be- 
urteiler waren  darin  einig,  jeder  kam  auf  Shakespeare  zu  sprechen, 
die  Ähnlichkeit  war  erstaunlich,  auffallend,  frappant. 

Klein  gab  diesem  Erstaunen  zum  ersten  Male  einen  einiger- 
mafsen  entsprechenden,  grofsartigen  Ausdruck.  Ich  setze  seine 
Worte  hierher  (Geschichte  des  Dramas  III,  S.  87fif.):  „Im  Verlaufe 
unseres  Dramas  . . .  wird  uns  noch  eine  andere  Familienähnlichkeit 
überraschen  und  in  Erstaunen  setzen:  Eine  so  tiefe  Verwandtschaft 
dieser  indischen  Dramen  mit  denen  Shakespeares  in  Komposition, 
in  Charakteristik,  in  dem  Kultus  des  Hochmenschlichen,  eine  so 
grundinnerliche  Wesens-  und  Formenverwandtschaft,  dafs  man 
glauben  sollte,  eine  ähnliche  Ursprungserinnerung  habe  bei  den 


Philistion,  Shakespeare  und  Qüdraka.  ggj 

Schöpfungen  des  gröfsten  dramatischen  Dichters  mitgewirkt  wie, 
nach  Plato,  das  göttliche  Wissen  und  Schauen  der  menschlichen 
Seele  als  ein  Erinnerungsdenken  der  Urbilder  zu  gelten  habe, 
die  sie  in  ihrem  vorkörperlichen  Zustande  unmittelbar  in  Gott 
geschaut,  dafs  man  glauben  sollte,  diese  Erinnerung  an  den 
arischen  Ursprung  wäre  in  der  Seele  des  gröfsten  Poeten  des 
germanischen  Völkerstammes  beim  Dichten  seiner  Dramen,  gleich 
einer  mächtigen  Wunderblume,  gleich  jener  Lotos -Weltblume 
aufgegangen,  und  hätte  in  seine  Schöpfungen  den  heimatlichen, 
zaubervollen  Seelenduft  und  Wohlgeruch  ergossen.  Aus  der 
neuen  Welt  in  unseren  Erdteil  verpflanzte  Gewächse  öffnen  zur 
Nachtzeit  ihre  Blüten,  weil  sie  um  dieselbe  Tagesstunde  in  ihrem 
Vaterlande  blühen.  Warum  sollte  man  nicht  denken  dürfen, 
dafs  auch  nach  Jahrtausenden  unter  den  entlegensten  Himmels- 
strichen Blüten  der  Poesie  im  Geiste  sich  erschliefsen,  die  den 
Balsam  ihres  geschichtlicen  Ursprungs,  ihrer  Stammeswurzel, 
atmen?  ....  Unter  allen  uns  bekannten  indischen  Dramen  trägt 
dies  die  Shakespeare-Signatur  am  sichtbarsten  ausgeprägt.  Das 
älteste  der  vorhandenen  indischen  Schauspiele  ist  für  uns  zugleich 
das  bei  weitem  merkwürdigste,  durch  dramatisches  Genie  und 
poetisch-tiefe  Charakterzeichnung  bedeutsamste  der  indischen 
Bühne König  Qüdrakas  „Spielwagen  a,  als  ältestes  erhal- 
tenes Drama  der  Inder,  der  Thespis-Spielkarren  des  romantischen 
Kunstdramas,  wird  uns,  auch  schon  bei  summarischer  Durch- 
nahme desselben,  diesen,  von  der  Geschichte  der  dramatischen 
Kunst,  ohne  Mitwissen  der  Dichter,  an  der  alten  Tragikomödie, 
an  dem  griechisch-römischen  Hetären-,  Schmarotzer-,  Kuppler-, 
Hefenspiel,  zu  bewirkenden  Läuterungsprozefs  in  einem  bereits 
so  vorgeschrittenen  Stadium  vor  Augen  stellen,  dafs  sich  uns, 
bis  zu  Shakespeares  Drama,  nichts  ähnliches  darbieten  wird,  ja 
dafs  dieses,  das  Shakespeare-Drama,  nach  Stil,  Ton  und  Form 
gewürdigt,  als  eine  Tragikomödie  in  König  Qudrakas  Geiste  er- 
scheinen darf,  und  nur  als  deren  herrlichste,  kunstvollkommenste 
Entfaltung." 

Es   ist   richtig,    die  Ähnlichkeit   ist   wunderbar   und   nicht 
weniger  wunderbar  ist  die  Erklärung  des  geistreichen  Litterar- 

Reieh,  Mimus.  cg 


882  Zehntes  Kapitel. 

historikers  und  Ästhetikers,  eine  mythische,  dämonische  Er- 
innerung an  die  arische  Urzeit,  die  platonische  Lehre  von  den 
Urbildern,  die  der  Mensch  yor  seiner  irdischen  Existenz  in  Gott 
gekannt  habe,  mufs  herhalten,  während  sonst  bei  Klein  klar  und 
deutlich,  falls  sich  so  grofse  Ähnlichkeiten  finden,  auch  die  Ur- 
sachen aufgedeckt  werden.  Es  ist  eben  das  Eingeständnis  des 
Unbegreiflichen  oder  wenigstens  mit  den  Mitteln  der  damaligen 
Wissenschaft,  die  Klein  zur  Verfügung  standen,  Unerklärbaren. 
Klein  kannte  die  Geschichte  des  gesamten  Dramas  bis  ins  ein- 
zelndste,  es  hat  nie  ein  Menschenhirn  gegeben,  in  das  die  hundert- 
tausend Dramen  der  Welt  so  wohlgeordnet  hineingingen,  wie  in 
das  dieses  genialen  Kopfes,  aber  den  Mimus  kannte  er  nicht,, 
oder  doch  er  kannte  ihn  sehr  gut  —  aus  Ziegler,  dem  Vorgänger 
Grysars1).  Und  so  blieb  in  der  grofsen  Geschichte  des  Dramas 
dieses  Wunder  eben  als  Wunder  bestehen. 

Das  indische  Drama  soll  allein  eine  Geburt  des  indischen 
Genies,  wie  das  Shakespeare-Drama  das  des  englischen  sein; 
wenn  man  von  mystischen,  arischen  Urerinnerungen  absieht,  haben 
die  beiden  Genies  soviel  mit  einander  zu  teilen  wie  der  Engländer 
mit  dem  Inder,  den  er  heute  knechtet,  wie  das  nordische,  neblige 
England  und  das  tropische,  sonnige  Indien;  soviel  Meere  zwischen 
England  undlndien  liegen,  soviel  Abgründe  zwischen  indischem 
und  englischem  Volkscharakter.  Und  doch  ist  das  Drama  die 
höchste  Blüte  des  dichtenden  Volksgeistes  und  diese  beiden 
Dramen  sind  einander  so  ähnlich,  wie  nie  ein  Inder  einem 
Engländer  war. 

Ja,  allerdings  Qüdraka  und  Shakespeare  haben  beide  ein 
Urbild  gesehen,  wenn  auch  nicht  eins  von  den  Urbildern  Piatos, 
nämlich  den  Mimus.  Qüdraka  gleicht  Philistion,  wie  andererseits 
Shakespeare  Philistion  gleicht,  und  sind  zwei  Gröfsen  einer 
Dritten  gleich,  so  sind  sie  unter  einander  gleich2). 


i)  Vgl.  oben  S.  683  Anm.  1. 

2)  Seit  Lessing  zum  ersten  Male  energisch  auf  Shakespeare  hinwies, 
brach  trotz  des  heftigen  Widerstandes  der  alten  klassicistisch-französischen 
Richtung  im  Drama  ein  wahrer  Sturm  der  Begeisterung  für  Shakespeare 
los.  Das  ist  der  Sturm,  der  vornehmlich  durch  die  grofse  Sturm-  und 
Drangperiode   wehte,    die    unserer    klassischen   Litteratur   vorausging.     In 


Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus.     883 

V. 
Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus. 

Eine  Nebenart  des  biologischen  Mimus  ist  der  bukolische, 
das  Idyll.  Theokrit,  der  Begründer  der  Idyllendichtung  hat  sich 
von  vornherein  als  Mimograph  gefühlt,  als  Schilderer  des  Lebens, 
als  Biologe.     Wenn  er  mit  allem  Realismus  der  Darstellung  die 


seiner  brausenden  Jugend  begriff  Goethe  die  Biologie  Shakespeares  wohl, 
die  zugleich  die  Philistions  ist,  diese  grofse  mimische  Biologie,  die  das  Leben 
in  allen  seinen  Tiefen  und  seinen  Höhen,  mit  seiner  Tollheit  und  seiner 
Narrheit,  mit  seinem  Ernst  und  seiner  tiefen  Traurigkeit  begreift  und 
dennoch  darüber  lachen  kann  voll  Humor  und  darüber  die  klingelnde 
Narrenkappe  schwingen  im  jauchzenden  risus  mimicus.  Später  hatte 
Goethe  andere  Ideale,  als  er  Elassicist  geworden;  er  behauptete,  sich 
von  der  Shakespearomanie  befreit  zu  haben  durch  den  Götz  und  durch  den 
Egmont.  Und  dann  folgte  Tasso  und  Iphigenie.  In  dieser  seiner  klassischen 
Epoche  hat  er  Shakespeare  beinahe  gefürchtet  und  fast  erschien  er  ihm 
wie  ein  schrecklicher  Dämon.  Aber  im  Faust  findet  sich  doch  wieder  die 
grofse  und  mächtige  Biologie  und  Ethologie,  die  alte  Mischung  der  Sprache 
des  Volkes  und  der  Vornehmen,  die  von  der  Prosa  zur  höchsten  lyrischen 
Empfindung  reicht,  hier  mischen  sich  wieder  Götter,  Dämonen,  Menschen 
und  Fabelwesen.  Seltsam  schaut  wie  im  alten  Mimus  allerhand  Zauberspuk 
in  den  realen  ßiog  hinein,  und  Mord  und  Totschlag,  Giftmischerei,  Gericht  und 
Hochgericht,  Kneip-  und  Liebesscenen  wechseln  im  bunten  Durcheinander. 
Da  ist  wieder  die  alte  Ethologie  und  Biologie,  humoristisch,  realistisch 
und  phantastisch  zugleich  und  doch  dabei  so  ernsthaft.  Freund  Mephisto 
hat  sich  zwar  vornehm  herausgeputzt  und  verkündet  sich  pathetisch  und 
mit  hoher  Philosophie  als  den  Teil  des  Teils,  der  anfangs  alles  war.  Im 
Grunde  aber  ist  er  doch  der  alte,  arme,  dumme,  gepritschte  Teufel,  der 
schon  in  dem  Interlude,  dem  mittelalterlichen  englischen  Mimus  „The  Devil 
is  he  as~  als  stupidus  proklamiert  wird,  der  vom  alten  Mimen  so  lustig  im 
Mysterium  gespielt  wurde  und  ebenso  in  der  Moralität,  wo  er  sich  mit 
Vice,  dem  alten  mimischen  stupidus,  herumprügelt  und  selbst  als  stupidus 
die  erbärmlichsten  Schläge  bekommt.  Auch  Mephistopheles  ist  zuletzt 
ein  armer  stupidus  und  fühlt  sich  ganz  als  solcher.  Die  Rosen,  welche  in 
der  Schlufsscene  die  Engel  auf  ihn  werfen,  brennen  ihn  ebenso  wie  den 
Teufel  im  mittelalterlichen  Mimus  und  Mysterium  seine  handfesten  Prügel. 
Die  Sage  vom  Doktor  Faust  lernte  Goethe  in  der  Gestalt  des  Puppenspieles 
kennen,  und  das  Puppenspiel  war  von  jeher  die  Domäne  des  Mimus.  Der 
Faust  ist  in  der  That  mehr  ein  biologisches  Schauspiel  als  eine  klassische 
Tragödie,  aber  das  ist  kein  Tadel,  sondern  ein  grofses '  Lob.  Auch  ein 
Mysterium  darf  man  ihn  nennen,  doch  gehören  Mimus  und  Mysterium  von 
jeher  nahe  zusammen. 

56* 


884  Zehntes  Kapitel. 

Bürgerweiber  schildert,  die  zum  Adonisfeste  gehn  (XV.)  oder 
das  rasend  verliebte,  gefallene  Bürgermädchen,  das  mit  Zauber- 
mitteln den  ungetreuen  Buhlen  zu  sich  ziehen  will  (IL),  oder 
die  Schwermut  des  Soldaten,  der  aus  Eifersucht  sein  Schätzchen 
geschlagen  hat  und  nun  zur  Strafe  für  immer  verlassen 
ist  (XIV.),  wenn  er  das  ärmliche  Leben  der  Fischer  und  ihren 
thörichten  Aberglauben  malt  (XXL),  so  sind  das  biologische 
Scenen  wie  sie  ebenso  Sophron,  der  Mimograph,  Theokrits 
grofses  Vorbild,  oder  Herondas,  der  Mimograph,  sein  Rivale 
dichtete.  Auch  bleibt  Theokrit,  wie  es  die  Mimographen  lieben, 
gern  in  den  niederen  Kreisen  des  Lebens,  und  wenn  er  vor  allem 
Hirten  und  Hirtinnen,  Fischer,  Bauern,  Knechte  und  Mägde  zu 
schildern  beginnt,  so  verläfst  er  auch  damit  noch  nicht  die  alt- 
gewohnten Geleise  des  Mimus.  Auch  Sophron  schilderte  Bauern 
und  Fischer,  und  die  oskische  Abart  des  Mimus,  die  Atellane, 
liebte  ja  vornehmlich  das  Landleben  darzustellen.  In  diesen 
mimischen  Schilderungen  herrschte  der  stärkste  Realismus.  Von 
ihm  ist  auch  Theokrit  ausgegangen,  aber  dann  machte  er  eine 
grofse  Erfindung.  Statt  einfach  das  Landvolk  und  das  Landleben 
in  seiner  Niedrigkeit  und  seinem  Schmutze  voll  Ironie  und  Herzens- 
kälte zu  schildern  wie  es  wirklich  ist,  beginnt  er  sich  für  das 
Einfache  und  Natürliche  an  diesen  niederen  Verhältnissen  zu 
begeistern;  er  fängt  an  für  Natur  zu  schwärmen  und  schon  hat 
er  das  Paradies,  in  das  die  überbildete,  überreizte  und  über- 
sättigte Menschheit  sich  stets  von  neuem  flüchten  kann,  entdeckt. 
Die  Natur  mit  dem  Rauschen  heiliger  Quellen,  mit  den  Berg- 
wäldern und  sonnigen  Bergeshalden  und  dem  Blick  aufs  blaue 
Meer,  mit  den  Göttern,  die  sichtbarlich  in  ihr  walten,  mit  Pan, 
der  um  die  Mittagszeit  im  Walde  schläft  und  den  man  dann  ja 
nicht  stören  darf,  mit  den  Nymphen  und  mit  Demeter,  die  Büscheln 
von  Ähren  und  Mohn  in  beiden  Händen  freundlich  lächelnd  beim 
Erntefeste  dem  fröhlichen  Treiben  zuschaut  (VII.).  In  diese  göttliche 
Natur  gehören  nicht  die  mimischen  Rüpel,  die  Bauernlümmel  aus 
der  Atellane  hinein,  die  können  sie  weder  verstehen  noch  ge- 
niefsen.  Die  Bauern,  Hirten  und  Fischer  des  bukolischen  Mimus 
haben  feinere  Nerven,  zartere  Empfindungen,  sie  sind  mehr  den 
Städtern    angeglichen.     Theokrit   hat   ihnen   etwas  von  seinem 


Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus.     885 

eigenen  Herzen,  von  seiner  eigenen  Freude  an  der  Natur  ge- 
geben, die  ihm  so  herrlich  leuchtet.  Bei  diesen  Bauern  bricht 
das  romantisch -idyllische  Gefühl  durch,  so  ist  der  Mimus  zum 
Idyll  geworden,  aber  es  bleibt  doch  immer  viel  von  der  Realität 
der  Verhältnisse  gewahrt;  das  Theokritische  Idyll  bleibt  eben 
immer  noch  Biologie,  bleibt  immer  noch  ein  Mimus. 

Die  Folgezeit  hob  dann  an  Theokrit  das  romantisch-idyllische 
Element  vor  dem  mimisch-biologischen  hervor.  Bei  seinen  Nach- 
folgern und  Nachahmern,  bei  Bion  und  Moschus,  bei  Vergil, 
Calpurnius,  Nemesianus  in  den  Bucolica  Einsiedlensia  tritt  der 
Realismus  der  mimischen  Biologie  mehr  und  mehr  zurück.  Die  Welt 
der  Hirten  wird  immer  unwirklicher,  idealistischer,  romantischer 
und  unwahrer,  immer  im  modernen  Sinne  idyllischer.  Immer  aber 
behielt  das  Idyll  die  dramatische  Grundform  des  Mimus,  den  Dialog, 
die  Wechselrede  und  den  Wechselgesang  bei.  Vergils  Bucolica 
sind  zweifelsohne  nur  auf  die  Rezitation  berechnet  wie  Theokrits 
oder  des  Herondas  Mimus.  Ein  Rezitator  trägt  sie  vor,  aber 
mit  wechselnder  Stimme  und  gewissermafsen  in  verschiedenen 
Rollen.  Auch  der  rezitative  Mimus  verleugnet  nicht  das  drama- 
tische Element  und  seinen  Ursprung  von  dem  eigentlichen  mimi- 
schen Drama,  das  nach  Aristoteles  und  der  peripatetischen  Schule 
die  dritte  Gattung  unter  den  vier  grofsen  Gattungen  des  helleni- 
schen Dramas  ist1). 

Im  Grunde  ist  nun  freilich,  wie  wir  schon  hervorhoben 
(vgl.  oben  S.  15),  der  bukolische  Mimus  nur  ein  kleiner  Neben- 
schöfsling  am  grofsen  Weltbaume  des  Mimus.  Aber  er  hat  in 
der  Entwickelung  der  Weltlitteratur  einen  aufserordentlichen 
Vorteil  vor  den  anderen  Gattungen  des  Mimus  voraus.  Der 
Mimus  Theokrits  mit  seinem  direkten  Nachkommen,  dem  römi- 
schen Idyll,  blieb  allein  erhalten,    das  grofse  mimische  Drama, 

J)  Durch  die  Güte  des  Herrn  Verfassers  erhalte  ich  noch  ganz  kurz 
Tor  Thoresschlufs  aus  der  Festschrift  für  Gomperz  den  Aufsatz  von  Crusius 
,Die  Anagnostikoi".  Crusius  plaidirt  hier  unter  Hinweis  auf  die  drei  von 
Watzinger  veröffentlichten  Mimologen  und  die  Hypothesis  Hecyra  für  seine 
Auffassung  von  den  Mimiamben  des  Herondas  als  „Dramolets".  Ich  werde 
Veranlassung  haben  im  zweiten  Bande  bei  der  Besprechung  der  Einwirkung 
des  dramatischen  wie  des  rezitativen  Mimus  auf  die  antike  Prosadichtung 
näher  auf  die  geistvollen  und  anregenden  Bemerkungen  einzugehen. 


886  '  Zehntes  Kapitel. 

Philistion,  Syrus,  Laberius  und  alle  die  modernen  Mimographen 
der  Griechen  und  Römer   gingen  verloren.     Theokrits  und  vor 
allem  Vergils  Eclogen  sind  doch  mehr  Gelehrten-Poesie,  während 
das  grofse  mimische  Drama  im  eigentlichen  Sinne  Volkspoesie 
war,  und'  der  Gelehrten-Poesie  haben  sich  die  Gelehrten  und  vor 
allem  die  Schulmeister  angenommen  und  so  blieb  sie  erhalten. 
Wenn  auch  Theokrit  im  Mittelalter  vergessen  wurde,    so   blieb 
doch  Vergil  durchaus  lebendig  und  ebenso  Calpurnius  und  Neme- 
sianus,  und  in  dieser  Form  hat  dann  der  bukolische  Mimus  das 
Mittelalter   hindurch    seine   Wirkung   äufsern    können.      Davon 
zeugt  z.  B.  der  Bukoliker  Naso,  der  am  Hofe  Karls  des  Grofsen 
am  Anfange  des  neunten  Jahrhunderts  seine  grofse  Ecloge  dichtete. 
Noch  die  Troubadours  singen  „Pastour eilen"  und  wenn  der 
berühmte  Trouvere  Adam  de  la  Halle,  von  dem  das  erste  komische 
Drama  in  Frankreich  stammt,    im  „Spiel  von  der  Blätterlaube" 
vom  volksmäfsig  überlieferten  biologischen  Mimus  abhängig  ist, 
so  folgt  er  in  „Robin  und  Marion"  dem  litterarisch  überlieferten 
bukolischen  Mimus.     Das  war  etwa  im  Jahre  1262.     So  steht 
also  der  bukolische  Mimus,   wie  ich  schon  oben  hervorhob,    am 
Anfange  der  modernen  dramatischen  Entwickelung  in  Frankreich. 
Dieselbe  Entwickelung  zeigt  sich  auch  in  Italien,  der  eigentlichen 
Wiege  des  modernen  Dramas.  Als  Nachahmer  Vergils  dichtete  schon 
Petrarca  (1304—1374)   und  Boccaccio  (1313—1375)  lateinische 
Eclogen;  im  fünfzehnten  Jahrhundert  dichteten  dann  Bojardo  und 
die  toskanischen  Dichter  Idyllen  in  italienischer  Sprache  und  bald 
schofs  die  italienische  Bukolik  üppig  ins  Kraut.    Noch  blieb  die 
italienische  Ecloge  ein  wenig  umfangreiches  Werk,  aber  bei  der 
dem   bukolischen  Mimus  von  altersher  innewohnenden  dramati- 
schen Kraft  begann  man  diese  Eklogen   dramatisch  aufzuführen, 
wie  man  auch  einst  Vergils  Eklogen  auf  dem  römischen  Theater 
gab,  obwohl  sie  ursprünglich  nicht  dafür  bestimmt  waren.    Lang- 
sam  vergröfserte   sich    der  Körper    dieser   kleinen    bukolischen 
Mimen,   bis  aus    dem   kleinen   mimischen  Paegnion   das   grofse 
bukolische  Drama,    die  bukolische,   mimische  Hypothese,  welche 
die  moderne  Ästhetik  Pastoraldrama  nennt,  geworden  war.  Dieses 
Wachstum  aus  den  dramatischen  Anlagen  des  bukolischen  Mimus 
heraus  ist,  sobald  man  diesen  nicht  mehr  als  von  einem  Rezitator 


Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus.     887 

vorgetragenes  Paegnion  behandelte,  sondern  von  mehreren  Per- 
sonen vorführen  liefs,  leicht  verständlich. 

Im  Mimus  Theokrits  und  ebenso  Vergils  sind  häufig  in  der 
einen  Scene,  welche  der  Mimus  schildert,  auch  die  Scenen,  die 
vorangehen,  wie  diejenigen,  die  noch  etwa  folgen  werden,  d.  h. 
eine  ganze  grofse  dramatische  Handlung  angedeutet.  Denken 
wir  an  Theokrits  Zauberinnen.  Vorgeführt  wird  nur  die  Zauber- 
scene,  aber  wir  hören  von  zahlreichen  früheren  Scenen;  da  ist  die 
Scene  wie  Simätha  von  Klearista  zum  Ausgehn  das  Mäntelchen 
borgt,  da  schaut  sie  einer  Procession  zu,  da  sieht  sie  Delphis, 
da  schickt  sie  die  Thestylis  zu  ihm,  um  ihn  zu  sich  zu  bitten. 
Dann  folgt  die  Liebes-  und  Verführungsscene.  Nun  bedient  sie 
sich  der  Zaubermittel,  und  wir  sind  gespannt  darauf,  ob  sie 
helfen  werden,  vielleicht  kommt  Delphis,  vielleicht  söhnen  die 
Liebenden  sich  aus.  Aber  das  Ganze  hat  eine  so  wilde,  leiden- 
schaftliche Färbung,  ein  glückliches  Ende  ist  kaum  zu  erwarten; 
leicht  malt  die  Phantasie  eines  Dramatikers  die  düsteren  Scenen 
aus,  die  nun  etwa  folgen  werden. 

So  entwickelte  sich  aus  dem  bukolischen  Paegnion  die  grofse 
bukolische  Hypothese,  die  in  Italien  ihre  Vollendung  erreicht 
mit  Tassos  Aminta  (1573)  und  Guarinis  Pastor  fido  (1585),  diesen 
beiden  weltberühmten  Hirtendramen.  Bei  den  Spaniern  gilt  als 
der  älteste  Dramatiker  Juan  de  la  Encina  (1469—1534).  Seine 
kleinen  dramatischen  Schäferspiele,  die  am  Hofe  des  Don  Fadrique 
de  Toledo,  ersten  Herzogs  von  Alba,  aufgeführt  wurden,  nannte 
er  nach  Vergils  Vorangange  und  zugleich  dem  der  ältesten 
italienischen  Hirtendichter  Eclogen.  Seine  Abhängigkeit  von  Vergil 
ist  um  so  gewisser,  als  die  erste  spanische  Übersetzung  von  Vergils 
Eclogen  von  ihm  herrührt  (vgl.  von  Schack  a.  a.  0.  I,  S.  149). 
Die  ältesten  von  diesen  kleinen  Hirtendramen  schildern  nun  aber 
nicht  sicilische  oder  arkadische,  sondern  die  bethlehemitischen 
Hirten,  denen  die  Ankunft  des  Herrn  verkündet  wird.  Die  erste 
Ecloge  Encinas  ist  zum  Weihnachtsfest  gedichtet.  Es  treten  die 
vier  Evangelisten  Juan,  Mateo,  Lucas  und  Marco  auf,  aber  sie 
sind  zu  Hirten  geworden  und  Juan  ist  aufserdem  noch  eine 
Maske  für  Juan  de  la  Encina.  Juan  verkündet  das  Lob  des 
Herzogs  von  Alba  und  der  Herzogin.     Schäfer    Mateo    erweist 


888  Zehntes  Kapitel. 

sich  als  Feind  und  Neider  des  Juan,  aber  wie  er  hört,  der 
Herzog  nehme  ihn  in  Lohn  und  Sold,  wünscht  er  ihm  Glück. 
Nun  finden  sich  auch  Lucas  und  Marco  ein.  Lucas  mit  der 
frohen  Botschaft  von  der  Geburt  des  Herrn.  Die  vier  Hirten 
brechen  nach  Bethlehem  auf  zur  Krippe  und  zum  Schlüsse  singen 
die  vier  ein  Villancico. 

In  wunderlicher  Weise  verschmilzt  hier  das  schäferliche  und 
das  litterarische  Element,  ganz  wie  in  Vergils  Eclogen,  nur  dafs 
hier  aufserdem  noch  das  geistliche  Element  hinzukommt.  Die 
zweite  Ecloge  Encinas  handelt  von  den  Leiden  Christi.  Die 
dritte  von  der  Auferstehung.  In  der  sechsten  Ecloge  geht  es 
schon  weltlicher,  realistischer,  lustiger,  überhaupt  mehr  mimisch- 
biologisch zu.  Es  sind  mittelalterliche  Krippen-  und  Mirakelspiele, 
die  hier  im  antiken  bukolischen  Stile  behandelt  werden;  wieder 
dringt  der  Mimus  ins  Mysterium.  Vier  Hirten  Juan,  Miguelejo, 
Rodrigacho  und  Anton  suchen  in  einer  Felshöhle  Schutz  gegen 
das  böse  Wetter,  sie  zünden  sich  ein  Feuer  an,  wie  es  auch 
Theokrits  Hirten  thun.  Sie  schimpfen  auf  das  schlechte  Wetter, 
sprechen  über  den  Tod  eines  Sakristans  und  zanken  sich  darum, 
wer  von  ihnen  sein  Nachfolger  werden  soll.  Es  sind  die  alten, 
lustigen,  mimischen  Zank-  und  Streitscenen.  Dann  wollen  sie  ein 
Schock  Kastanien  unter  sich  verteilen,  wobei  es  wieder  zum 
Streit  kommt.  Da  entschliefst  man  sich  die  Kastanien  auszu- 
spielen und  zu  dem  Zweck  Trentin,  etwa  unser  „Sechsundsechzig", 
zu  spielen.  In  dem  Augenblicke  kommt  der  Engel  herein  und 
bringt  die  frohe  Botschaft:  Jubel  über  die  Nachricht  des  ge- 
putzten Burschen  (garcon  repicado),  auf  nach  Bethlehem  zum 
Kinde  mit  den  Geschenken,  einem  Zicklein,  Milch,  Käsen, 
Butterstollen  und  einem  hölzernen  Napf.  Hier  überwuchert  das 
bukolische  Element,  das  geistliche  tritt  stark  zurück  und  wird 
nebensächlich.  Der  Mimus  verdrängt  das  Mysterium.  In  den 
weiteren  Eclogen  des  Encina  handelt  es  sich  dann  allein  um  die 
weltliche,  sündige  Liebe  wie  bei  Vergil  und  Theokrit.  So  gleich 
in  der  nächsten  Ecloge.  Der  Hirt  Mingo  verläfst  seine  ver- 
lobte Braut  Menguilla  und  bewirbt  sich  um  die  Liebe  der  Hirtin 
Pascuala,  um  die  auch  ein  Edelknappe  freit.  Der  Junker  trägt 
den  Preis    davon;    doch  mufs   er  ein  Hirte  werden.     In  Adams 


Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus.     889 

de  la  Halle  bukolischen  Mimus  wird  das  gleiche  Thema  behandelt, 
aber  der  Junker  wird  von  der  Hirtin  Marion  verlacht.  In  einer 
anderen  Ecloge  nimmt  sich  ein  Hirte  aus  Liebesgram  das  Leben. 
Schliefslich  wird  der  bukolische  Mimus  des  Encina,  wie  es  sich 
für  einen  rechten  Mimus  gehört,  derb  realistisch,  das  ist  das 
„Aucto  (Auto)  de  Repelon  (Rauf  Auto)",  in  dem  eine  grofse 
Prügelei  zwischen  Studenten  und  Hirten,  die  ihre  Waren  in  die 
Stadt  zum  Markte  gebracht  haben,  geschildert  wird1). 

Wie  der  erste,  so  hat  auch  der  gröfste  spanische  Dramatiker 
Eclogen  und  Hirtendramen  gedichtet.  Schon  in  seinen  Jugend- 
jahren schrieb  Lope  de  Vega  zwei  Schäferdramen  „El  verdadero 
amante*  und  „La  pastoral  de  Jacinto".  Unter  seinen  späteren 
bukolischen  Schauspielen  ist  am  berühmtesten  „La  Arcadia" 2). 
Allerdings  ist  diese  Arcadia  nur  eine  verkürzte  Dramatisierung 
von  Lopes  gleichnamigem  Pastoralroman,  der  wieder  nur 
eine  Nachahmung  von  Cervantes'  Pastoralroman  „Galatea" 
ist,  der  wieder  seinerseits  des  Sannazaro  „Arcadia"  nach- 
geformt ist.  In  einer  Zuschrift  an  den  Doktor  Gregorio  Lopez 
Madera,  Mitglied  des  obersten  Staatsrates  Sr.  Majestät,  rühmt 
sich  Lope,  dafs  La  Arcadia  nicht  einfach  die  etwas  rohen  Buco- 
lica  Theokrits  nachahme,  wie  es  noch  vor  ihm  der  ruhmreiche 
Lope  de  Rueda  gethan  habe,  sondern  schon  höherem  Ziele 
nachstrebe.  In  der  That  liefert  er  eine  bei  weitem  verwickeitere 
Handlung ').  Auch  Calderon  hat  der  bukolischen  Dichtung  seinen 
Tribut  gezollt.  Sein  Drama  „El  Golfo  de  las  Sirenas"  ist  eine 
Ecloga  Piscatoria4). 

Zu  den  ältesten  englischen  Dramen  gehört  John  Lylys 
(1554—1606)  Pastoraldrama  „Loves  Metamorphosis"  (1601  zuerst 
gedruckt).  Dieser  schäferliche  Geschmack  des  Euphuismus  wirkt 
auch  stark  bei  Shakespeare  nach. 

Opitz,  der  Bahnbrecher  der  neueren  deutschen  Poesie,  schuf 


')  Über  Encina  und  seine  Eklogen  Tgl.  Klein  a,  a.  0.  Band  IX.  S.  1 — 33 
und  von  Schack,  „Geschichte  der  dramatischen  Literatur  und  Kunst  in 
Spanien",  I,  S.  146—156. 

8)  Vgl.  Ton  Schack,  a.  a.  0.  II  S.  381. 

3)  Vgl.  Klein,  a.  a.  0.  IX  S.  558. 

*)  Vgl.  von  Schack,  a.  a.  0.  III  S.  190. 


390  Zehntes  Kapitel. 

nach  italienischem  Vorbilde  ein  mythologisch-schäferliches  Sing- 
spiel „Däphne",  das  1627  in  Torgau  bei  Gelegenheit  der  Ver- 
mählung einer  sächsischen  Prinzessin  aufgeführt  wurde.  Seitdem 
wuchsen  in  Deutschland  die  bukolischen  Dramen  wie  Pilze  aus 
der  Erde,  besonders  von  den  litterarischen  Orden,  zumal  der 
Gesellschaft  der  Pegnitzschäfer  gepflegt.  Noch  eins  von  den 
Jugendwerken  Goethes  „Die  Laune  des  Verliebten"  ist  ein 
Schäferspiel. 

Selbst  zu  den  Serben  und  Kroaten  ist  die  bukolische  mimische' 
Hypothese  gelangt.  Der  ragüsaner  Dramatiker  Marin  Drzic 
(1520—1580)  dichtete  Pastoraldramen,  Plautinische  Komödien 
und  zwei  biblische  „Rappresentazioni",  besonderen  Beifall  aber 
fanden  seine  Hirtenspiele1).  Im  16.,  17.  und  zum  Teil  noch  im 
18.  Jahrhundert  waren  alle  europäischen  Bühnen  mit  Hirten- 
dramen geradezu  überschwemmt.  Die  grofse,  bukolische,  mimische 
Hypothese  hatte  dieselbe  Gewalt  und  Ausbreitung  erlangt,  wie 
die  Hypothese  überhaupt  einst  zur  Zeit  des  griechisch-römischen 
Weltreiches. 

Wollte  ich  alle  die  modernen,  dramatischen,  bukolischen 
Mimen  aufführen,  ich  müfste  Seiten  und  Seiten  allein  mit  den 
Titeln  füllen ;  denn  sie  zählen  nach  Hunderten.  Doch  wozu,  wenn 
man  einige  von  diesen  Hirtendramen  kennt,  kennt  man  sie  alle; 
denn  unablässig  kehren  dieselben  Typen,  dieselben  Sujets,  die 
gleichen  Entwickelungen  und  Lösungen  der  Handlung,  die  gleichen 
Erfindungen  wieder,  und  fast  für  alle  läfst  sich  Zug  um  Zug 
das  Vorbild  oder  mindestens  die  Anregung  bei  Vergil  oder  Theo- 
krit  nachweisen3).  Immer  findet  sich  da  ein  verliebter  Hirt, 
jung,  schön  und  leidenschaftlich.  Seine  Schönheit  ist  immer 
ganz   aufserordentlich  wie    die    des  Daphnis   bei  Theokrit   und 


*)  So  bemerkt  Vatroslav  Jagic,  „Die  Aulularia  des  Plautus  in  einer 
südslavischen  Umarbeitung  aus  der  Mitte  des  XVI.  Jahrhunderts.  Festschrift 
für  Johannes  Vahlen,  S.  620:  „Das  ragusanische  Publikum  des  16.  Jahr- 
hunderts . . .  scheint  den  Pastoralspielen  mit  der  mythologischen  Romantik, 
wobei  Gesänge  und  Tänze  vorkamen,  mehr  geneigt  gewesen  zu  sein,  als  den 
Piecen  ohne  solche  Ingredienzen". 

2)  Über  diese  ewige  Wiederholung  der  gleichen  bukolischen  Motive 
wird  schon  in  einem  alten  lateinischen  Epigramm  gespottet: 


Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus.     89 1 

bei  Longus.  Er  bricht  immer  in  die  heftigsten  Klagen  nicht 
erhörter  Liebe  aus,  wie  Aminta  bei  Tasso  oder  der  Hirt  Theo- 
krits,  der  Amaryllis  sein  Ständchen  darbringt,  oder  Polyphem, 
der  über  die  spröde  Galatea  leidenschaftlich  klagt.  Manchmal 
tönt  er  diese  Klagen  in  der  Einsamkeit  liebegirrend  aus,  öfters 
vertraut  er  sie  einem  Gefährten  an  wie  Tassos  Aminta  seinem 
Freunde  Tirsi  oder  Theokrits  Battos  dem  Freunde  Milo  (X.) 
oder  Theokrits  Aeschines  dem  Freunde  Thyonichus  (XIV.).  Die 
Geliebte  ist  zuerst  immer  spröde  wie  Amaryllis  oder  Galatea  oder 
Silvia  bei  Tasso.  Dann  droht  der  verliebte  Hirtenjüngling  mit 
dem  Selbstmorde  wie  Tassos  Aminta  oder  Theokrits  verliebter 
Hirt,  der  sich  vor  Amaryllis'  Grotte  niederwirft  mit  der  Er- 
klärung, mögen  die  Wölfe  mich  fressen  (IV.)  und  der  ver- 
zweifelte Dämon  bei  Vergil  (VIH,  58  ff.).  Ja  schliefslich  führt 
er  gar  diesen  Selbstmord  aus  wie  bei  Theokrit  der  Liebhaber 
des  schönen  Knaben  (XXIH.)  oder  wie  Tassos  Aminta  oder  wie 
der  Hirt  in  Encinas1  Ecloge. 

Die  Hirtin  ist  bei  Vergil  und  Theokrit,  bei  Calpurnius  und 
Nemesianus  gewöhnlich  nur  ein  Menschenkind,  bei  den  modernen 
bukolischen  Dramatikern  fast  immer  eine  Nymphe.  Aber  die 
Modernen  geben  auch  ihren  Hirten  gern  eine  göttliche  Ab- 
stammung, von  Pan  oder  irgend  einem  Flufsgotte  oder  gar 
einem  Olympier  her,  da  mufs  eben  die  Geliebte  auch  eine  Natur- 
gottheit werden.  Aber  auch  bei  Theokrit  ist  Daphnis  ein  gött- 
licher Hirte  und  seine  Geliebte  ist  eine  Nymphe;  Amaryllis  haust 
wie  eine  Waldnymphe  in  einer  Berggrotte  und  Galatea  ist  eine 
Najade,  und  wenn  die  Modernen  gern  noch  Venus,  Amor,  Pan 
und  sonstige  Gottheiten  auftreten  lassen,  so  erscheint  ja  Venus 


Altno  Theon  Thyrti»  orti  sub  colle  Pelori, 
semine  disparili,  Laurente  Lacone  Sabina  — 
vite  Sabina,  Lacon  sulmost,  sue  cognita  Laurens  — 
Thyrsis  oves,  vitulos  Theon  egerat,  Alrno  capeUas, 
Almo  puer  pubesque  Theon  ei  Thyrsis  ephebus 
canna  Almo,  Thyrsis  stipula,  Theon  ore  melodus. 
Kais  arnot  Thyrsin,  Glauce  Almona,  Xysa  Theonem, 
Nysa  rosas,  Glauce  violas  dat,  lilia  Nais. 

Baehrens,  P.  L.  M.  IV,  p.  112.) 


892  Zehntes  Kapitel. 

in  Person  in  der  ersten  Idylle  Theokrits  vor  dem  Hirten  Daphnis, 
und  an  Eros  und  Pan  wird  beständig  erinnert;  überall  erscheint 
Pan  wenn  auch  unsichtbar  gegenwärtig,  wie  auch  in  dem  ganz 
von  Theokrit  abhängigen  Hirtenromane  des  Longus. 

Gestört  wird  nun  die  Liebe  des  Hirtenjünglings  durch 
allerhand  Nebenbuhler,  die  sich  gleichfalls  um  die  Liebe  der 
Nymphe  bewerben.  Solchen  Nebenbuhler  findet  z.  B.  Aeschines 
in  dem  jungen,  hübschen  Lykos  oder  Daphnis  in  des  Longus 
Hirtenroman  in  dem  Rinderhirten  Lampis,  der  die  Chloe  raubt. 
In  Tassos  Aminta  ist  der  Nebenbuhler  ein  Satyr,  ein  Satyr  ist  es 
in  den  modernen  Hirtendramen  meistens,  wenn  es  nicht  ein 
gewöhnlicher  Bauerkerl  ist,  der  mit  seiner  Bewerbung  Spott 
und  Hohn  erntet,  genau  wie  der  Satyr.  Nun  tritt  ja  der  Satyr 
nicht  als  Liebhaber  im  Theokriteischen  Idyll  auf,  aber  im 
IV.  Idyll  wird  von  einem  alten  Hirten,  der  hinter  dem  Stalle 
sich  an  eine  junge  Hirtin  macht,  gesagt,  er  sei  Satyrn  und 
Panen  vergleichbar.  In  einem  Theokriteischen  Epigramm  (III.) 
ist  Daphnis  in  einer  Höhle  eingeschlummert.  Da  schleichen 
Priap  und  Pan  herein  und  wollen  den  hübschen  Jungen  ver- 
gewaltigen. Moschus  (VI.)  erzählt  von  der  Liebe  des  Pan  zur 
Echo,  die  ihrerseits  einen  Satyr  liebt.  Horaz  spricht  von  Nym- 
pharumque  leves  cum  Satyris  chori  (carm.  I.)  und  von  dem  Faune, 
der  den  Nymphen  folgt  (carm.  III,  18).  Also  auch  diese 
moderne  Erfindung  ist  angeregt  von  der  antiken  Bukolik  oder 
der  ihr  nahestehenden  Poesie.  Auch  die  Art,  wie  die  Hirten 
geschildert  werden,  ist  ganz  die  antike.  Am  vornehmsten  ist 
der  Rinderhirt,  dann  kommt  der  Schafhirt,  dann  der  Ziegenhirt. 
Dieser  hat  wie  bei  Theokrit  und  Vergil  immer  einen  schlechten 
Charakter  und  ist  ein  Störenfried. 

Diese  Figuren,  der  verliebte  Hirt  und  die  spröde  Hirtin, 
und  ihre  Vertrauten,  Freund  und  Freundin,  denen  sie  ihre  Liebe 
klagen,  finden  sich  bei  allen  Bukolikern  typisch  wie  der  feine, 
junge  Galan,  der  cultus  adulter,  und  die  kokette,  junge  Frau  in 
der  mimischen  Hypothese;  die  befreundete  Nymphe,  die  meistens 
zur  Liebe  rät,  wie  die  Nymphe  Dafne  bei  Tasso,  die  geschickt 
zu  vermitteln  sucht,  erinnert  ein  wenig  an  die  cata  carissa. 
Jedenfalls    sind    diese    Figuren    des    bukolischen  Mimus    ebenso 


Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus.     893 

stereotyp  die  Jahrhunderte  hindurch  geblieben  wie  die  des 
biologischen  Mimus. 

Da  Hirt  und  Hirtin  aus  Theokrit  und  Vergil  stammen, 
haben  sie  auch  von  dorther  die  Namen;  so  ist  bei  Tasso  Aminta 
und  Tirsi  nach  Theokrits  Amyntas  (VII.)  und  Thyrsis  (I.),  Dafne 
nach  Daphnis  und  Mopso  nach  Vergils  Mopsus  (VII.)  genannt. 
Wie  Theokrit  und  Vergil  lieben  es  die  Modernen  sich  und  ihre 
Freunde  in  Hirtenmasken  zu  stecken.  Simichidas  im  VE.  Idyll 
ist  Theokrit;  Tirsi  in  Tassos  Aminta  ist  Tasso  selbst  Dabei 
wird  auch  gern  auf  die  politischen  und  litterarischen  Zeit- 
ereignisse angespielt,  wie  es  von  jeher  der  Mimus  that  (vgl. 
oben  S.  182  ff.),  und  vor  allem  werden  die  Fürsten  gepriesen. 
Ich  erinnere  an  Theokrits  Lob  des  Ptolemäus,  oder  Vergils  Lob 
des  Augustus.  Wenn  Tasso  im  Aminta  mit  deutlichem  Hin- 
weis auf  Herzog  Alfonso  erklärt:  Ein  Gott  habe  ihm  diese 
Mufse  gegeben  (0  Dame,  a  me  quest'  otio  ha  fatto  Dio),  so  ist 
das  die  direkte  Übersetzung  von  Vergils  Schmeichelei  für 
Augustus:  deus  nobis  haec  otia  fecit  (Ecl.  I,  6). 

Kurz,  ich  könnte  noch  zahllose  Züge  anführen,  die  das 
moderne  Hirtendrama  von  Vergil  und  Theokrit  hat,  aber  ich 
würde  damit  nur  beweisen,  was  man  im  grofsen  und  ganzen 
schon  immer  gewufst  hat,  dafs  am  Anfange  des  modernen  Hirten- 
dramas Vergil  und  Theokrit  stehen 1).  Aber  das  hat  man  bisher 
nicht  gewufst,  dafs  der  Idyllendichter  Theokrit  ein  Mimograph 
ist,  und  dafs  somit  am  Anfange  des  modernen  Hirtendramas  der 
Mimus,  allerdings  der  bukolische,  steht  und  dafs  dieses  also  in 
seiner  erweiterten  dramatischen  Fügung   nach  antiker  Termino- 


l)  Im  zweiten  Bande  sollen  in  dem  Abschnitte  „Mimus  und  Roman" 
die  Entlehnungen  des  bukolischen  Romans  der  Alten  und  der  Modernen  aus 
dem  bukolischen  Mimus  im  einzelnen  nachgewiesen  werden.  Denn  der  antike 
bukolische  Roman  hat  sich  direkt  aus  dem  bukolischen  Mimus  entwickelt. 
Da  nun  aber  die  bukolischen  Erfindungen  und  Voraussetzungen  im  modernen 
Pastoraldrama  dieselben  sind  wie  im  Pastoralroman,  so  wird  dabei  auch 
noch  im  grösseren  Zusammenhange  die  Entstehung  des  Hirtendramas  aus 
dem  bukolischen  Mimus  mit  weiteren  Einzelzügen  erläutert  werden.  Vor- 
läufig weise  ich  darauf  hin,  dafs  ich  in  De  Alciphronis  Longique  aetate 
S.  54—66  in  des  Longus  Hirtenroman  die  Entlehnungen  aus  Theokrit  auf- 
gezeigt habe. 


894  Zehntes  Kapitel. 

logie  eine  bukolische  oder  auch  idyllische,  mimische  Hypo- 
these ist. 

Das  Hirtendrama  war  schliefslich  so  unwahr,  ja  verlogen 
und  albern  geworden,  dafs  es  allmählich  dem  Spotte  verfiel.  Es 
ist  heute,  wie  es  scheint,  ganz  aus  der  Mode  gekommen,  aber 
noch  Vofs  dichtete  Idyllen  und  seine  „Luise"  ist  auf  idyllischer 
Grundlage  erwachsen,  noch  Goethe  singt  vom  Schäfer  Thyrsis 
und  hat  sogar  ein  Schäferspiel  gedichtet.  Noch  Schiller  wollte 
ein  Idyll  schreiben. 

Der  Realismus  der  modernsten  Dramatik  erinnert  vielfältig 
an  den  biologischen  Mimus,  der  das  Leben  schildert,  wie  es  ist; 
ijdug  ßio;  %6  £iyy  ist  die  Devise  des  Biologen.  „Es  lebe  das 
Leben"  ist  der  Titel  eines  berühmten  modernen  Dramas.  Dieser 
moderne  Realismus  scheint  die  Pastorale  völlig  auszuschliefsen. 
Ein  grofses  Schauspiel  der  Jetztzeit  giebt  es  nun  aber  doch, 
das  merkwürdige  Parallelen  zu  dem  bukolischen  Mimus  und  dem 
Pastoraldrama  bietet:  Gerhart  Hauptmanns  „Versunkene  Glocke". 
Der  Realismus  der  antiken  wie  der  modernen  Biologen  nimmt 
eben  schliefslich  die  Wendung  zum  Idyllischen.  Die  Nymphe  des 
Hirtendramas  ist  das  „Waldfräulein"  Rautendelein;  der  Satyr, 
welcher  der  Nymphe  folgt,  ist  der  Waldschrat.  Der  Mensch, 
der  die  Liebe  der  Nymphe  erringt,  ist  Meister  Heinrich,  der 
Glockengiefser,  allerdings  kein  Hirte,  sondern  seinem  äufseren 
Berufe  nach  ein  Handwerker.  Der  Waldschrat  zeigt  die  Natur, 
welche  die  Satyrn,  die  Pane  und  Faune  in  der  antiken 
Dichtung  zeigen.  Er  ist  aus  dem  Geschlechte  des  Priap,  der 
sich  in  seiner  ganzen  Nacktheit  im  Mimus  zeigte.  An  die  Antike 
erinnert  sich  Hauptmann,  wenn  er  ihn  einen  faunischen  Wald- 
geist nennt.  Im  übrigen  hat  der  Waldschrat  als  rechter  Satyr 
Bocksfüfse.  Seine  freien  Reden  erinnern  ein  wenig  an  die  Ob- 
scönitäten  im  alten  Mimus,  dem  biologischen  wie  dem  bukoli- 
schen, und  die  Üppigkeiten,  die  sich  gleichfalls  im  modernen 
Pastoraldrama,  finden.  Wie  der  Satyr  in  Tassos  Aminta  geht 
er  gern  direkt  auf  sein  Ziel  los;  so  raubt  er  aus  dem  Reigen, 
den  Rautendelein  mit  ihren  Gefährtinnen  schlingt,  eine  Elfin, 
und  am  liebsten  ginge  er  Rautendelein  selbst  mit  Gewalt 
zu   Leibe   wie   bei  Theokrit  Priap   und  Pan    dem   schlafenden, 


Das  moderne  Pastoraldrama  als  Nachkomme  des  bukolischen  Mimus.     895 

schönen  Daphnis.  Zwischen  dem  Satyr  und  dem  Menschen,  der 
die  Nymphe  liebt,  kommt  es  im  Pastoraldrama  nicht  selten  zu 
argen  Thätlichkeiten,  wobei  der  Satyr  meist  den  kürzeren  zieht; 
Meister  Heinrich  will  den  Waldschrat  gar  mit  dem  Schmiede- 
hammer bedienen.  Wenn  hier  an  die  Stelle  der  antiken  Nymphe 
das  germanische  Waldfräulein  gesetzt  wird,  so  hat  auch  diese 
Neuerung  schon  das  Pastoraldrama  vor  Hauptmann  eingeführt. 
Der  ragusaner  Pastoraldichter  Marin  Drzic  setzte  z.  B.  an  die 
Stelle  der  Nymphe  die  Vila,  eine  serbisch-kroatische  Naturgottheit. 
Seit  Mannhardts  Buche  über  die  Wald-  und  Feldkulte  der  Ger- 
manen wissen  wir  ja,  wie  sehr  die  niedrigen  Elementargeister 
überhaupt  einander  ähneln. 

Die  Nymphen,  welche  im  Pastoraldrama  die  Heldin  um- 
geben, sind  hier  die  Elfen,  Rautendeleins  Gespielinnen.  Elfen 
und  Nymphen  sind  ja  gleichfalls  nach  Mannhardt  identisch.  Die 
alte  Wittichen,  „die  Buschgrofsmutter",  halb  Hexe  und  Zauberin, 
halb  gebietender  Naturgeist  und  Herrin  der  Dämonen,  sowie 
Nickelmann,  der  Wassergeist,  gehören  mit  in  diesen  dämonischen 
Kreis.  Nickelmann  gleicht  den  dickbäuchigen  Fruchtbarkeits- 
dämonen, den  ältesten  Darstellern  des  Mimus.  Er  hat  dabei 
etwas  Cyklopisch-Unbehülfliches  wie  Polyphem,  der  um  die  schöne 
Nymphe  Galatea  freit. 

Der  Pfarrer,  der  Schulmeister  und  der  Barbier  sind  die  be- 
kannten Typen  aus  dem  alten  biologischen  Mimus  und  auch 
durchaus  realistisch  gehalten;  der  Wechsel  zwischen  dem  schlesi- 
schen  Volksdialekt  der  Wittichen,  der  niederen  Sprache  des 
Waldschrats,  des  Barbiers  und  des  Schulmeisters  und  die  lyrisch 
gehobene  Ausdrucksweise  Heinrichs  und  Rautendeleins  erinnert 
etwas  an  die  Art,  wie  die  Sprache  in  der  mimischen  Hypothese 
wechselt,  bei  Rautendeleins  Lied  könnte  man  an  die  Arien  im 
Mimus  denken.  Hauptmann  nennt  sein  Schauspiel  ein  Märchen- 
drama. Wir  kennen  den  Märchenmimus  mit  seinen  Metamorphosen, 
seinen  Göttern  und  Dämonen,  Gespenstern,  Zauberern  und  Hexen, 
auch  in  der  versunkenen  Glocke  wird  viel  gezaubert  uud  gehext. 
Es  sind  uralte,  verschollene  Motive  des  bukolischen  und  zum 
Teil  auch  des  biologischen  Mimus,  insbesondere  der  neueren 
Pastorale,    die    hier   mit   gewaltiger   Erfindungskraft    neu   und 


896  Zehntes  Kapitel. 

eigenartig  gestaltet  sind.  Die  grofse,  moderne,  realistische 
Biologie  ist  hier  wieder  einmal  in  das  bukolisch-idyllische  Zauber- 
land gezogen,  in  das  die  antike  Biologie  zum  ersten  Male  Theo- 
krit  der  Mimograph  geführt  hat. 

VI. 

Schlufsbetrachtung:   Der  Mimus  als  Grundlage  der  dramatischen 
Weltliteratur  soweit  sie  nicht  klassisch  oder  klassizistisch  ist. 

Wir  stehen  am  Ende  der  Entwickelungsgeschichte  des  Mimus, 
wir  haben  gesehen,  wie  der  Mimus  sich  von  kleinen  Anfängen 
allmählich  zu  dem  grofsen,  biologischen  Drama  Philistions  ent- 
wickelt hat  und  haben  auch  die  weiteren  Schicksale  dieses  Dramas 
bis  zum  Untergange  von  Byzanz  verfolgt.  Damit  wäre  der  Ge- 
schichte des  griechisch-römischen  Mimus  —  denn  das  ist  unsere 
eigentliche  Aufgabe  —  soweit  es  möglich  war,  Genüge  geschehen. 
Aber  die  eigentümliche,  internationale  Natur  des  Mimus  hat  uns 
mit  Gewalt  gezwungen,  die  Grenzen  des  Griechisch-Römischen 
zu  überschreiten  und  dem  weitwandernden  Mimen  zum  hohen 
Norden  wie  zum  fernsten  Orient  und  zugleich  durch  die  Jahr- 
hunderte und  Jahrtausende  und  durch  alle  Litteraturen  zu  folgen. 
Wenn  wir  nun  in  den  nächsten  Kapiteln  wieder  nach  Hellas 
und  Rom  zurückkehren,  so  haben  wir  uns  sehr  bei  den  jener 
Litteraturen  kundigen  Forschern  zu  bedanken,  deren  wegkundiger 
Führung  wir  es  allein  verdanken,  dafs  wir  den  Pfaden  des  Mimus 
auch  in  den  für  uns  entlegenen  Gegenden,  Völkern  und  Zeiten 
haben  folgen  können. 

Zugleich  scheint  durch  den  Mimus  die  ganze  dramatische 
Entwickelung  klar  zu  werden.  Was  das  klassische  Drama 
der  Griechen  für  die  Weltliteratur  bedeutet,  war  seit  Jahr- 
hunderten bekannt,  nun  haben  wir  zu  lernen  versucht,  was 
die  andere  Hälfte  des  griechischen  Dramas,  das  biologische 
Drama,  dafür  bedeutet.  Zuerst  entwickelte  sich  in  Hellas  das 
klassische  Drama,  dann  das  mimisch-biologische.  Als  das  grie- 
chisch-römische Weltreich  geschaffen  war,  das  entweder  alle 
Kulturländer  und  Kulturvölker  der  Welt  umfafste  oder  wenig- 
stens mit  ihnen  wie  mit  den  Indern  und  Chinesen  in  Beziehung 
trat,  war  das  klassische  Drama  verblüht.    Der  Mimus  aber  war  das 


Schlufsbetrachtung:  Der  Mimas  als  Grundlage  d.  dramat.  Weltlitteratur.   897 

Weltdrama,  das  internationale  Drama  geworden.  Das  klassische 
Drama  war  am  Beginne  des  Mittelalters  längst  von  der  Bühne 
verschwunden,  der  Mimus  herrschte  absolut.  Ja,  man  hatte  später 
in  den  Volkskreisen  das  klassische  Volksdrama  vollständig  ver- 
gessen und  selbst  in  den  gelehrten  Kreisen  verblafste  die  Er- 
innerung mehr  und  mehr.  Wenn  die  weitere  dramatische  Ent- 
wicklung im  Mittelalter  an  das  antike  Drama  anknüpfen  wollte, 
so  konnte  sie  überhaupt  nur  an  den  Mimus  anknüpfen,  weil  er 
allein  existierte  und  das  hat  sie  denn  auch  in  Europa  und  Asien 
gleichmäfsig  gethan. 

Der  Mimus  ist  der  Urquell  des  mittelalterlichen  europäischen 
Dramas  wie  des  gesamten  orientalischen  Schauspiels  geworden.  Aus 
dem  Mimus  heraus  hat  sich  selbst  das  indische  Mysterium  entwickelt, 
wie  er  auch  noch  im  mittelalterlichen  europäischen  Mysterium 
nachwirkt.  Dann  kam  die  Renaissance  und  mit  ihr  die  Neu- 
geburt von  Tragödie  und  Komödie,  das  klassische  Drama  kam  zu 
seiner  alten  Ehre  und  übte  einen  ungeheuren  Einflufs  aus  be- 
sonders in  Italien  und  Frankreich,  aber  auch  in  Spanien,  Eng- 
land und  Deutschland.  Von  da  ab  dichtete  man  erst  wieder  von 
neuem  Tragödien  und  Komödien;  wie  oft  erscheint  fortan  nicht 
wieder  Iphigenie,  Medea,  Klytemnästra,  Orest,  Achill,  Hektor 
und  Agamemnon  auf  der  Bühne.  Diese  Dinge  sind  allgemein 
bekannt.  Der  griechische  Einflufs  ging  von  allgemein  gekannten 
Litteraturwerken  aus,  die  modernen  Poeten  rühmten  sich  be- 
ständig als  Nachahmer  der  Griechen,  der  Litteraturhistoriker 
brauchte  nur  auszusprechen,  was  sie  ihm  selber  vorsagten,  das 
war  kein  tiefverborgenes  Geheimnis,  es  lag  alles  klar  am  Tage. 

Wie  der  Mimus  einst  dem  klassischen  Drama  die  Oberherr- 
schaft auf  der  Bühne  geraubt,  so  gewann  es  ihm  diese  in  der 
Zeit  der  Renaissance  wieder  ab,  wie  man  im  Mittelalter  Komödie 
und  Tragödie  völlig  vergafs,  so  in  der  modernen  Zeit  den  Mimus. 

Aber  in  Shakespeare  vereinigen  sich  beide  Ströme  der  Über- 
lieferung, der  klassicistische  wie  der  volksmäfsige,  biologisch- 
humoristische. So  ward  das  grofse,  sogenannte  romantische 
Drama  geboren.  In  ihm  ist  der  Einflufs  des  Mimus  überwiegend. 
Auch  das  indische  Drama  ist  ja  nicht  klassisch,  sondern  roman- 
tisch und  in  seinen  Anfängen  eine  Metamorphose  des  Mimus. 

Reich,    Mimus.  r.n 


898  Neuntes  Kapitel. 

Damit  ist  das  Problem  von  der  Kontinuität  der  mensch- 
lichen Geistesentwickelung  im  Drama  im  grofsen  und  ganzen 
wohl  entschieden.  Alle  die  zahlreichen  Dramen,  die  bisher,  da 
man  allein  die  griechische  Komödie  und  Tragödie  als  beherr- 
schenden Faktor  in  der  dramatischen  Weltentwickelung  kannte, 
selbständig  zu  sein  schienen,  vor  allem  die  Dramen  des  Mittel- 
alters und  die  Dramen  des  fernen  Orientes,  erweist  die  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Mimus  als  im  letzten  Grunde  abhängig 
vom  Drama  der  Hellenen.  Es  giebt  keine  dramatische  Poesie 
in  der  Welt  aufserhalb  des  hellenischen  Einflusses.  Es  giebt 
also  keine  verschiedenen  Schöpfungscentren  in  der  dramatischen 
Poesie,  es  giebt  nur  ein  einziges  und  das  liegt  in  Hellas,  und 
von  dort  strahlte  das  Drama  gleichmäfsig  nach  allen  Richtungen 
aus  nach  Europa,  Asien  und  Afrika.  Nur  der  griechische  Geist 
mit  seiner  leidenschaftlich-genialen  Neigung  zur  plastisch-körper- 
lichen Darstellung  der  Ideen  liefs  die  Poesie  zur  Plastik  werden, 
schuf  die  höchste  Blüte  des  Menschengeistes,  das  Drama1). 


*)  Von  jeher  haben  die  besten  Kenner  der  verschiedenen  dramatischen 
Nationallitteraturen  bei  den  Anfängen  des  modernen  Dramas  an  den  Mimus 
gedacht,  so  der  vortreffliche  Kiccoboni  für  die  italienische  Komödie,  der 
schon  zu  ziemlich  sicheren  Resultaten  gelangte  (die  wichtige  Gleichung  Zanni- 
Sanniones  verdanken  wir  ihm),  so  Weinhold  für  die  komischen  Scenen  im 
Mysterium  (vgl.  oben  S.  45),  von  Schack  für  das  spanische  Drama;  vgl.  Ge- 
schichte der  dramatischen  Literatur  und  Kunst  in  Spanien  Bd.  I,  S.  32  ff.); 
Sibilet  für  die  französische  Farce  (vgl.  oben  S.  39  Anm.  1),  Petit  de  Julleville 
wollte  wenigstens  die  modernen  Schauspieler  von  den  alten  Mimen  herleiten 
(vgl.  oben  S.  838  Anm.  2).  Besonders  für  die  Beziehungen  des  Mimus  zu 
den  Anfängen  des  spanischen  Dramas  —  ich  erinnere  an  Encinas  Eclogen 
und  den  bukolischen  Mimus  —  wird  eindringende  Specialforschung  noch  viel 
Neues  und  Wichtiges  lehren.  So  berichtet  die  Cronica  des  Condestables 
Miguel  Lucas  de  Iranzo,  dieser  habe  1458—1471  momos  (d.h.  mimos) 
representaciones  y  mysteriös  aufführen  lassen.  Vgl.  Klein  a.  a.  0.  IX  S.  1 1 
Anm.  1.  Sehr  gut  bemerkt  Creizenach,  der  in  seiner  Geschichte  des 
modernen  Dramas  einen  Abschnitt  (VI,  6)  „Mimus  und  Farce"  über- 
schreibt: „Viel  wichtiger  für  die  Geschichte  des  neuen  Dramas  wäre  es, 
wenn  wir  nachweisen  könnten,  dafs  die  Mimi,  diese  in  der  römischen  Kaiser- 
zeit so  beliebten  Possenspiele,  von  den  Lustigmachern  in  das  Mittelalter 
hinübergerettet  worden  wären  und  so  auf  die  Form  des  komischen  Dramas 
mittelbar  eingewirkt  hätten,  die  wir  am  Ausgange  dieser  Epoche  an  zahl- 
reichen Beispielen  vorfinden.    Es  begegnen  uns  hier  allerdings  manche  Eigen- 


Schlufsbetrachtung:  Der  Mimus  als  Grundlage  d  dramat.  Weltliteratur.   899 

Wohl  haben  wir  überall  auf  der  Erde  den  mimischen  Tanz, 
den  Urquell  des  Mimus  nachgewiesen;  haben  selbst  zeigen  können, 
wie  dieser  hier  und  da  sogar  wie  in  Hellas  von  Fruchtbarkeits- 
dämonen in  Gestalt  der  phallischen  griechischen  Elementargeister, 
der  Prototypen  des  mimischen  Schauspielers  ausgeübt  wird. 
Aber  wenn  sich  hier  auch  überall  der  grofse  Menschheitsgedanke 
des  Mimus  und  des  Dramas  überhaupt  im  Keime  regt,  so  ist  er 
eben  überall  auch  im  Keime  stecken  geblieben. 

Vergessen  wir  es  nicht,  selbst  die  genialen  Griechen  haben 
fast  ein  Jahrtausend  gebraucht,  um  die  letzte,  höchstvollendete 
Gestalt  des  Mimus  in  dem  biologischen  Drama  Philistions  zu 
schaffen.  Dann  haben  sie  allerdings  auch  mit  dieser  Schöpfung, 
mit  dieser  mimischen  Ethologie  und  Biologie  so  sehr  den  Kern 
alles  Menschlichen  getroffen  und  ihn  so  sehr  von  allem  nur  zu- 
fällig Anhaftenden  befreit,  dafs  der  Mimus  sich  fortan  überall 
akklimatisieren  und  nationalisieren  konnte,  überall  leicht  Heimats- 
recht erhielt. 

Den  mimischen  Narren  der  Hellenen  begrüfsten  die  Inder 
ebenso  jubelnd  als  den  ihren,  wie  es  Araber  und  Türken,  Syrer 
und  Ägypter,  Lateiner,  Slaven,  Kelten  und  Germanen  thaten  und 
überall  war  er  schnell  ein  beliebter  Volksgenosse  und  redete  die 
Sprache  des  Volkes.  Riesengrofs  richtet  sich  vor  uns  der  grie- 
chische mimische  Narr  auf,  der  pTnog  yekoiwv,  der  ftoigdg  <faXa- 
x(>oc,  der  yskcoxo^oiög,  der  mimus  calvus,  der  alopus,  der  sannio, 
der  turpio,  der  pdöxos,  der  derisor,  der  scurra,  der  Vidüsaka,  der 
Semar,  der  Kacal  Pahlavän,  der  Karagöz,  der  Pulcinell,  der  Kas- 


tümlichkeiten,  die  an  den  Mimus  erinnern".  (I  S.  3S6— 387.)  Dennoch  kommt 
er  nach  Hervorhebung  einiger  markanter  Ähnlichkeiten  zum  Schlüsse:  „Es 
handelt  sich  also  hier  nur  um  eine  Möglichkeit,  die  indes  nicht  ohne  weiteres 
von  der  Hand  zu  weisen  isf.  Soweit  konnte  die  Forschung  schon  selbst  auf 
Grundlage  der  erbärmlichen,  nicht  den  zehnten  Teil  des  vorhandenen  mimi- 
schen Materiales  bietenden  Kompilation  von  Grysar,  der  die  wahre  Be- 
deutung des  Mimus  auch  im  entferntesten  nicht  einmal  ahnte,  gelangen.  Da 
nun  das  grofse  mimische  Material  zum  Vergleiche  mit  der  modernen  Ent- 
wicklung vorliegt,  dürfen  wir  von  den  Spezialkennern  und  Forschern  auf 
dem  Gebiete  der  neueren  Nationallitteraturen,  hier,  wo  der  Altphilologe  nur 
unsicher  tastend  das  Gröfste  und  Gröbste  findet,  weitere  wichtige  Belehrung 
auch  im  einzelnen  erhoffen. 

57* 


900  Zehntes  Kapitel.    Schlufsbetrachtung. 

perle,  der  Hans  Wurst,  der  iocularis,  der  Ioculator,  der  Jack 
Juggler,  der  Fallstaff,  der  Maistre  Mimin  und  mit  was  für  Namen 
man  sonst  ihn  nennt.  Unablässig  hält  er  der  Welt  den  Spiegel 
vor  und  lacht  humorvoll  über  ihre  Narrheit,  über  ihr  Glück 
und  über  ihr  Wehe,  über  das  launische  Regiment  der  Herrin 
Tyche,  der  Frau  Fortuna,  er,  der  Ethologe  und  Biologe,  der 
derisor.  Wunderlich  genug  sieht  er  aus  mit  seinem  dicken 
Bauche  und  dem  kahlen  Schädel  und  dem  häfslichen,  seltsam 
verzogenen  Gesichte,  fast  wie  Sokrates,  der  Ethologe,  der 
derisor  omnium.  Mit  den  Füfsen  steht  er  auf  der  Erde,  aber 
sein  Haupt  reicht  bis  zum  Zenith,  und  wenn  er  sein  gellendes, 
lautes,  lustiges  Lachen,  den  risus  mimicus  erhebt,  dann  lacht 
alles  Volk  auf  der  weiten  Erde  und  zugleich  schallt  es  durch 
die  sieben  Himmel  der  Weltliteratur. 

Gemäfs  seiner  grofsen  Bedeutung  mufs  der  Mimus  auch 
aufserhalb  des  Dramas  einen  mächtigen  Einflufs  ausgeübt  haben; 
wir  fanden,  während  wir  die  peripatetische  Theorie  vom  Mimus 
entwickelten,  deutliche  Spuren  des  Mimus  in  Theophrasts  „Cha- 
rakteren" in  der  peripatetischen  Kulturgeschichte,  die  nach  der 
mimischen  Biologie  ßiog  lEXXäöog  sich  nannte,  in  der  griechischen 
und  römischen  Rhetorik,  ferner  bei  Seneca  undPlato,  im  sokratischen 
Dialog,  in  Fabel  (Phaedrus)  und  Epigramm  (Martial)  im  Philo- 
gelos  und  den  Facetienbüchern,  im  christlichen  Kirchenliede  wie 
bei  christlichen  Apologeten,  Sittenpredigern,  Dogmatikern  und 
Epistolographen,  insbesondere  bei  Hieronymus.  Aber  der  Mimus 
richtet  sich  zu  so  riesengrofser  Bedeutung  vor  uns  auf,  dafs  das 
alles  nicht  genügen  kann,  wir  werden  mehr  finden,  noch  viel  mehr. 

Wir  gelangten  bei  der  Entwickelung  der  peripatetischen 
Theorie  vom  Mimus  zuletzt  zu  Sokrates,  dem  Ethologen,  als 
dem  Ausgangspunkte.  Darum  wollen  wir  bei  dem  Nachweis  der 
praktischen  Einwirkung  des  Mimus  auf  die  hellenisch-römische 
Litteratur  —  soweit  diese  nicht  dramatisch  ist  — ,  dem  wir  den 
zweiten  Teil  unserer  Untersuchung  widmen,  wieder  von  Sokrates 
ausgehen;  denn  kein  Einzelner  hat  einen  gröfseren  Einflufs  auf  die 
antike  Litteratur  und  damit  auf  die  Litteratur  der  Welt  ausgeübt, 
wie  dieses  dämonische  Genie,  das  nie  eine  Zeile  geschrieben  hat. 


Druck  Ton  W.  Pormetter  in  Berlin 


PN     Reich,  Hermann 
1942      Der  Minus 

RA 

Bd.l 

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