CO
- (-}
155^
00
w**-
DER MIMVS.
EIN LITTERAR-ENTWICKELÜNGSGESCHICHTLICHER
VERSUCH.
VON
HERMANN REICH.
ERSTER BAND.
ZWEITER TEIL.
ENTWICKELÜNGSGESCHICHTE DES MBIUS.
BERLIN
WEIDMANNSCHE BÜCHHANDLUNG
1903.
PN
RM-
Bd.)
ZWEITES BUCH.
DIE MIMISCHE HYPOTHESE.
Grundlinien ihrer Geschichte
von den primitiven Anfängen bis in die moderne Zeit.
utuös fori fxiur,aii ßiov.
Theophrast.
SECHSTES KAPITEL.
Die Entwickelung der mimischen Hypothese
vor und nach Philistion.
tptXiOTi'üJia iov xah'it t« xaya&ov
tyto Mivavduos nolii) xai'qnv ßoilouai.
MtvurJgov xai 'PiltOTfowo; dtai.fxrog.
I.
Mimisches Scherzspiel — Paegnion.
Wir haben die Terminologie des Mimus kennen gelernt.
Nur die wichtige Einteilung in Paegnion und Hypothese blieb
unerörtert, weil sie nicht wie die andern bis auf Aristoteles und
die Peripatetiker sich zurückverfolgen läf>t Sie findet sich
bei Plutarch in den Tischgesprächen. Dort heifst es: es gebe
bekanntlich zwei Arten von Mimen, die sich aber beide nicht
für die Unterhaltung bei Gastmählern eigneten; nämlich die
mimischen Theaterstücke (Hypothesen) nicht wegen ihrer
Länge und wegen der Schwierigkeit der Inscenierung. die mimi-
schen Scherze oder Possen (Paegnia) nicht, weil sie voll Zoten-
reifserei und Spafsmacherei und nicht einmal gut für die Sklaven
wären, welche ihren Herren das Schuhwerk besorgten. Dennoch lasse
man, selbst wenn Frauen mit bei Tische säfsen und Kinder, solche
Darstellungen von Handlungen und Worten sehen, die mehr als
das Übermafs von Wein die Gemüter berauschten und verwirrten1).
') VII, 8, 4: ovxivv, ?'/»}V ?yü, uiuoi itv£s tioiv, <uv rovs [ilv i>no9iotts,
JOVi St natyvia xaXoicfiV aouö&iv <T oiiöiilQOV oluut avunoaCip yivos' *aS
fikv vno&taits, dict r« utjxtj roi»' i oauäraiv xai r& dfff/opijy rjrov rd
St natyvta, noXXfjs ytfiovra ßa>uoi.ox(a; xai ontQ/uoloytas, ovSi roig id vnoSrjuaju
Reich. Mimus. ■_> 7
418 Sechstes Kapitel.
Der Unterschied beider Gattungen wird noch deutlicher durch
eine andere Äufserung Plutarchs, die dem Mimus, natürlich der
Hypothese, eine dramatische Verwickelung zuschreibt, wie sie
das Zusammenspiel mehrerer Personen hervorbringt1). Also die
Hypothese ist das mimische Theaterstück, das nach Umfang,
dramatischer Verwickelung, Anzahl der Akte kein geringeres
und kleineres Gebilde ist wie die Komödie; wir haben ja schon
mannigfache, derartige, grofse mimische Schauspiele kennen ge-
lernt2).
Das Paegnion umfafst alle mimische Produktion, die unter-
halb der Hypothese liegt. Das ist auf griechischem wie auf
römischem Boden aufserordentlich viel. Beteiligen sich doch an
dieser mimischen Konkurrenz nach der antiken Auffassung selbst
die Tiere. Wir hören sogar von Bären, die einen Mimus auf-
führen3), und zwar bei den Spielen, die Numerianus und Carinus
im Jahre 284 veranstalteten4). Plutarch (de sollert. anim. c. 19)
erzählt von einer merkwürdig gelehrigen Elster eines Barbiers am
griechischen Markt in Rom. Dieses Tier vermochte Menschen-
wie Tierstimmen wiederzugeben und auch die Töne aller möglichen
Instrumente. Da kommt einmal ein prächtiger Leichenzug mit
grofsartiger Trauermusik an der Barbierstube vorüber; in der
xofiC^ovai naiättqCois, « yt d'rj öednotwv rj a(0(pQOVOvvriov, &eäaaa&ai nQoarjxei '
ol dk noXXoi, xal yvvcuxäiv avyxaxaxti^iivoyv xal nctiöwv ävrjßcov, iniSilxvvvrai
ui/urj/uara TiQayfiarwv xal köytav, a nä(Si\<; /Lit&rjs raga^coS^aTegov rag \pv%as
&iaTl&rjatv.
r) De sollert. anim. 19: Itkoxr\v . . dga^arixtiv xai noXvnQoawnov.
2) Vgl. oben S. 87 folg.
3) Vopiscus Carinus cap. 19: ursos mimum agentes.
*) Ob man nun hier an wirkliche Bären zu denken hat — ich erinnere
an die grofse Kunst, zu der es die Römer in der Dressur brachten (vgl.
Ludwig Friedländer, Sittengesch. 2. Bd. II, b.) — oder nur an verkleidete
Schauspieler, will ich unerörtert lassen. Jedenfalls erinnert dieser Bärenmimus
etwas an den sonderbaren Eselmimus, den der Eselmensch Lucius, Aovxtog
rj ovog, zum Schlufs, nachdem er bei dem Liebesspiele mit der vornehmen
Dame belauscht ist, auf offener Bühne mit einem verurteilten Frauenzimmer
zum besten geben soll; vgl. Lukian cap. 53 u. Apuleius Metam. X, 23 u. 34. Ich
erinnere auch an den Hund, der zur allgemeinen Verwunderung sehr geschickt
seine Rolle im Mimus spielt, wie Plutarch (de sollert. anim. 19) berichtet.
Mimisches Scherzspiel — Paegnion. 419
nächsten Zeit schweigt dann die Elster still. Eines Tages aber
flötet sie die ganze Trauermusik herunter. Plutarch spricht an
dieser Stelle, in Anerkennung ihres mimischen Talentes, von
ihren Mimemata. Diese Elster gehört gewissermafsen zur
untersten Stufe der mimischen Künstler, zu denen, die sich
mit der Nachahmung von Tierstimmen und Naturlauten befassen ;
doch je niedriger diese Stufe ist, desto zahlreicher sind ihre
Vertreter. Schon Plato1) berichtet von Jongleuren, die in
mimischer Weise die Stimmen von Tieren nachahmen, das
Wiehern der Pferde und das Brüllen der Stiere, und auch
sonstige Naturlaute, das Rauschen der Flüsse, das Tosen des
Meeres, Donnerschläge und Ähnliches. Diese mimische Nach-
ahmung ist zu allen Zeiten ein höchst beliebtes Unterhaltungs-
mittel gewesen. So macht bei Petron im Gastmahl Trimalchio,
der Gastgeber, selbst den Posaunenbläsern und ein alexandrinischer
Knabe den Nachtigallen nach, und der Sklave des Habinnas
kopiert, auf einer Thonlampe musizierend, Posaunenbläser und
nachher mit zerbrochenen Rohrstücken Chorbläser '). Besonders
beliebt scheint die mimische Nachahmung des Grunzens und
Quiekens von Schweinen gewesen zu sein, die man offenbar, wie
aus einer Fabel des Phaedrus besonders zu ersehen ist, selbst
im grofsen Theater zum besten gab*). Auf höherer Stufe des
Paegnions steht schon Agathokles, der bei Volksversammlungen
gelegentlich Leute, die ihm durch sonderbares Wesen auffielen,
nachäffte und sie mimisch darstellte4). Paegnien sind auch
einige andere bei Petron erwähnte, mimische Kunststückchen,
wie besonders die Barbierstube des Plocamus*). Hierher gehört
») Staat III, 8.
') Vgl. Cena Trimalchionis, übersetzt von Friedländer 64, 68, 69 and
dazu die Anmerkung auf S. 293, sowie Wölfflin, Publilii Syri sententiae,
pag. 6, wo noch einige ähnliche Beispiele angeführt werden.
3) Vgl. Paroemiogr. App. II. 84; Phaedrus, Fabeln V, 5 und Plutarch,
Tischgespräche S. 674 B.
*) Vgl. oben S. 224
5) Die Barbiere waren, wie noch heute, wegen ihrer Geschwätzigkeit
und ihres sonstigen eigentümlichen Gebahrens bekannt und forderten so
27*
420 Sechstes Kapitel.
auch der lusor argutus mutus des Tiberius, welcher es zuerst
erfand, Advokaten mimisch darzustellen1). Paegnia sind ferner
die Darstellungen Noemons des Ethologen, Kleons des Mimaulen,
des Heroldes Ischomachus, sowie Nymphodorus', der die Ein-
wohner von Rhegium in einem Mimus wegen ihrer Feigheit ver-
höhnte.
Auch Straton aus Tarent, der Dithyramben, und der Italiker
Oenonas, der Kitharodien mimisch nachäffte, gehören hierher;
desgleichen die ionischen Mimoden, die Hilaroden und Magoden,
Lysioden und Simoden und zum grofsen Teil die Mimologen,
Deikelikten und Phlyaken bis auf Sophron, Xenarch, Herondas
und Theokrit; denn auch ihren Mimen fehlt noch das sichere
Kennzeichen der Hypothese, der grofse Umfang und die drama-
tische Verwickelung. Zum Paegnion gehört auch noch die
Cinaedologie oder Ionikologie, die zwischen Mimologie und
Mimodie mitten inne steht.
Es kommt hier nur darauf an, den unerschöpflichen Reich-
tum des Altertums an mimischen Paegnien anzudeuten.
IL
Paegnion und Hypothese.
Mimisches Scherzspiel und mimisches Schauspiel.
Hier haben wir nun einen Grundirrtum in der Auffassung
des Mimus zu beseitigen, der sich schon jahrhundertelang
forterbt.
Das Gespräch Plutarchs, in dem diese Einteilung in Paegnia
und Hypothesen sich findet, ist von lauter Griechen geführt
und noch dazu auf einem griechischen Gastmahl, in einer
griechischen Stadt, in Chaeronea. Unmittelbar vorher ist von
der griechischen Komödie als Unterhaltungsmittel bei Gast-
mählern, von der Komödie des Aristophanes und Menander die
geradezu zur mimischen Nachahmung heraus. Vgl. hier die treffenden Be-
merkungen Ludwig Friedländers a. a. 0. S. 294.
>) Vgl. oben S. 152.
Paegnion und Hypothese. 421
Rede; es handelt sich aufserdem direkt um zeitgenössische,
griechische Verhältnisse. Auch die Ausdrücke Hypothese und
Paegnion deuten auf griechischen Ursprung. Da sollte man
meinen, es handele sich auch um den griechischen Mimus.
Aber solange diese Stelle besprochen wurde, ist immer geschlossen
worden, dafs der römische Mimus gemeint sei1).
Dem kritischen Urteil Otto Jahns erschien das doch zu
bunt; so soll denn Plutarch wenigstens bei den Paegnia an den
griechischen Mimus gedacht haben*.). Das hat Grysar Jahn ge-
glaubt, und so erklärt er (S. 244), der römische Bühnenmimus.
die Hypothese, müsse streng von dem griechischen Volksmimus,
dem Paegnion, geschieden und dürfe nicht etwa gar von ihm
abgeleitet werden. „Es ist vielmehr der italische Bühnenmimus
eine durchaus italische Erfindung, für welchen ich in Griechen-
land kein entsprechendes Gegenstück auffinden kann" s).
Der Grund für diese wunderbaren Interpretationen ist eben
das Dogma, dafs es ursprünglich keine griechische Hypothese
gegeben hat. Der griechische Mimus hört mit Sophron und
allenfalls mit Theokrit und Herondas auf, da ist die griechische,
]) Der recht sonderbare Beweis dafür findet sich, soweit ich sehe, zu-
erst bei Ziegler, „De mimis Romanorum" S. 17, Anm. v. Weil in diesem
Gespräch auch Bathyllus und Pylades, die römischen Pantomimen, erwähnt
werden, könne hier nur der römische Mimus gemeint sein. Ebenso z. B-
Munk, De fabulis Atellanis S. 20, not. 67.
a) Persius, Prolegomena S. LXXXV.
3) Vergleiche hier auch die kategorische Erklärung bei Führ, De mimis
Graecorum S. IG: „Mimica ars, qualis apud Romanos exercebatur, iisdem fere
primordiis orta est quibus Graeca, neque tarnen a Graeca originem duxit,
sed Caesaris Avgustique tempore Romae primum culta, cum aliis haud paucis tum eo
abhorret a Graeca, quod longas fabulas et jinem aliquem spectantes habet, nloxrft'
Soauauxi}* xai nolvnQooainov hanc Romanorum artem mimicam vocat Plutarchus".
Dieser Grundirrtum kehrt auch in der letzten Behandlung des griechischen
Mimus durch Hertling wieder; vgl. Quaestiones mimicae S. 32: „Qua« xmo-
dtaac et haec nalyvia quo spectent, satis facile perspici potest et iam perspectum
est ab eis. qui statuerunt vno&iatnt mimos romanos, qui in scaena agebantur,
naiyviois graecos notasse Plutarchum" . Doch hat das der guten Dissertation
nicht geschadet, da sie nur das griechische Paegnion behandelt, und zwar
mit Glück.
422 Sechstes Kapitel.
mimische Entwickelung wie mit einem Messer abgeschnitten;
dort setzt der römische Mimus ein; der ist aber etwas ganz
anderes, er ist eine vornehme Hypothese, nur den Namen hat
er merkwürdigerweise mit dem griechischen Mimus gemein.
In der That, wenn man bedenkt, wie bildungs- und trieb-
fähig die mimischen Keime sind, die wir bei den Griechen nach-
weisen können, so ist eine Weiterbildung zur Hypothese an und
für sich selbstverständlich. Zweifellos sind die Mimen Sophrons,
die auf der höchsten Stufe der Ausbildung des Paegnions stehen,
doch eben nur Paegnien *). Aber der Schritt von dem litterarisch
ausgebildeten und schriftlich fixierten Paegnion zur Hypothese,
die gleichfalls der schriftlichen Ausarbeitung, und sei es auch
nur in Form eines Scenariums oder Canevas, bedarf, ist nicht
mehr grofs.
Wenn nicht die geringste Nachricht von einer griechischen
Hypothese vorhanden wäre, wäre das argumentum ex silentio
wenig beweiskräftig. Aber es existieren genug Nachrichten. Wir
haben schon oben die zahlreichen Zeugnisse für die mimische
Hypothese in spätgriechischer und byzantinischer Zeit angeführt;
der christologische Mimus, ob er nun ein Tauf- oder Kreuzigungs-
mimus oder beides in eins war, war eine grofse, mimische Hypo-
these. Wir haben aus Choricius mehraktige Theatermimen, also
mimische Hypothesen kennen gelernt; alle Klagen und Anklagen
des Chrysostomus und aller übrigen griechischen Kirchenväter
richten sich gegen die grofse, mimische Komödie der Hellenen.
Doch diese Beweise helfen uns nichts; denn das spät-
griechische, mimische Drama ist, wenn es existierte, nur ein
Abklatsch des römischen. Wie dieses sich von Rom und Italien
aus nach Germanien, Gallien und Spanien, so hat es sich in der
späteren Kaiserzeit auch nach Griechenland und den Provinzen
des Orients verbreitet und da natürlich unter der griechisch
redenden Bevölkerung die griechische Sprache angenommen2).
l) Botzon erklärte, um die litterarische Ehre der Griechen zu retten, da
er nun einmal unter dem Bann des Grundirrtums stand, Sophron für einen
Hypothesendichter; vgl. Botzon, Quaestionum mimicarum specimen S. 32.
3) So Grysar a. a. 0. S. 261 und 262.
Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 423
m.
Menander und Philistion.
attische und mimische Komödie.
Aber Philistion, der griechische Mimograph. der doch schon
am Anfange des ersten Jahrhunderts nach Christus blähte! Auch
er fiel der altererbten Theorie zum Opfer und wurde, da er ja
in Rom lebte, zum Römer gemacht1).
Nun, darüber, dafs Philistion griechisch schrieb, ist ja heute
glücklicherweise kein Wort mehr zu verlieren. Das beweisen
schon, von allem andern abgesehen, die ZvyxgtGig MtvävÖQov xal
Oihaziuvog, Menandri et Philistionis disticha Parisina. /Ya>pa»
MevävÖQov xal @iliGzicovog, \ItvavdQov xai 0i).iatiwvog dia'/fxroc,
die Studemund herausgab1).
*) Das hat C. Fr. Hermann (Disp. de script. illustribus p. 28) zu beweisen
gesucht. Danach diskutiert Grysar die Frage ernstlich, und da er sie nicht
recht zu entscheiden weif?, fahrt er vorsichtigerweise Philistion denn doch
unter den lateinischen Mimographen auf. Aber Suidas nennt Philistion als
griechischen Dichter: er setzt ihn, wenn auch falschlich, in die Zeit des
Sokrates, in der es doch gewifs noch keine römischen Mimographen gab, und
führt griechische Titel von ihm an. Die griechische Anthologie verherrlicht
diesen griechischen Dichter. In der Anthologia Palatina findet sich das Epi-
gramm auf Philistion wieder, das Suidas anfuhrt. Epiphanius, der nie Lateiner
citiert, erwähnt Philistion wiederholt (vgl. unten S. 426, 427 u. 429 Anm. i
Auch Africanus und Origenes kennen Philistion als Griechen. Die lateinischen
Grammatiker, die ebenso wie die griechischen so gerne Ausdrücke der
mimischen Sprache anführen, die so häufig Publilius Syrus und Decimus
Laberius citieren. nennen nicht ein einziges Mal Philistion, obwohl er doch
berühmter war als beide. Er schrieb eben griechisch. Und Ovid, der in
seinem berühmten Dichterverzeichnis selbst die mittelmäfsigen Lateiner
Revue passieren läfst, schweigt von ihm mit Recht, weil er ein Grieche ist.
Es wäre Zeit, dafs Philistion endlich aus der römischen Literaturgeschichte
von Teuffei -Schwabe 5, 254, 6, verschwände, wo er. wenn auch mit starken
Zweifeln und Bedenken, angeführt wird.
*) Breslauer Lektionskatalog für das Sommersemester 1887, Menandri
et Philistionis comparatio cum appendicibus edita. Auch hier hat sich wieder
der Unstern gezeigt, der von jeher über dem Mimus schwebte. Nachdem
Rigaltius die ZCyxQiois aus zwei Pariser Codices herausgegeben hatte, fügte
Rutgers noch die disticha Parisina hinzu. Zugleich bemerkte er nach
424 Sechstes Kapitel.
Diese „Vergleichung" ist etwa im sechten Jahrhundert nach
Christus entstanden8). Möglich, dafs sie nach älteren Vorbildern
gearbeitet ist, aber auch diese würden nachchristlichen Jahr-
hunderten angehören, lebte doch Philistion selbst im ersten
Jahrhundert nach Christus. Was war für jene Zeiten Philemon?
Die neue Komödie bezeichnete für jene Epochen einfach Menander.
Das gilt schon für Plutarch. In den „Tischgesprächen" (VIII, 7)
bezeichnet er die neue Komödie einfach durch Menanders Namen.
Einen Vergleich zwischen Menander und Aristophanes, zwischen
alter und neuer Komödie, mochte Plutarch wohl noch anstellen
(vgl. Moralia ed. Dübner Bd. II, S 1039); aber einzelne Dichter
der neueren Komödie mit einander zu vergleichen, dafür lag
schon damals kein Interesse vor.
Nun hatte sich im Laufe der Jahrhunderte eine neue, ganz
moderne Komödie gebildet, das war die mimische Hypothese.
Ihr lief überall das Volk mit dem glühendsten Eifer zu. Es gab
seit dem ersten Jahrhundert nach Christus kein gröfseres, litte-
rarisches Interesse als das mimische, und der berühmteste und
gefeiertste Mimograph war Philistion.
Rigaltius' Vorgange, dafs eine Anzahl Verse aus diesen Gnomen bei Stobaeus
unter Philemons Namen vorkämen, und glaubte nun, es überhaupt mit einer
2.vyxQioig Mtvavdqov xal 4>iXri/iovos zu thun zu haben. Da war ein köst-
licher Schatz für die fragmenta comicorum gewonnen, so viele Verse Phile-
mons; diesen Fund hat sich fortan kein Herausgeber der fragmenta comico-
rum, auch nicht Meineke, und schließlich auch nicht Kock entgehen lassen.
Als dann weiter Boissonade aus einem andern Pariser Codex JY<J//a« MtvavSqov
xal *t>ihaTltt)vos herausgab (Anecdota graeca I, p. 147— 152), änderte man auch
hier sehr methodisch in *PiXr)uovos und husch, mit all den schönen Versen
in den Philemon hinein (vergleiche Dübner in der Didot'schen Menander -
und Philemon-Ausgabe S. 105 folg.; Meineke, Fragmenta comicorum Graecorum
IV, pag. 335 folg.). Da sich nun aber der MevdvdQov xal <Pi\ioitu)vos diä-
Xexrog in einem Florentiner Codex fand, so ist der handschriftliche Beweis
für die Existenz eines Dichterwettstreits zwischen Menander und Philistion
geradezu erdrückend. Nur die Unkenntnis der grofsen, mimischen Ent-
wickelung und der außerordentlichen Bedeutung des Mimograpben Philistion
hat Meineke wie seine Vorgänger und seinen Nachfolger Kock zu einer
so bedauerlichen Vergewaltigung der Überlieferung geführt.
>) Vgl. Studemund a. a. 0. S. 18.
Menander and Philistion. attische und mimische Komödie.
425
Begreifen wir Philistions Bedeutung recht. Unablässig wird
sein Name in der profanen wie in der kirchlichen Litteratur ge-
nannt, so bei:
1.
Philo
1.
Jahrhundert;
2.
Martial
1.
„
3.
Marc Aurel zweite Hälfte des 2.
Ji
4.
in der griechischen Anthologie
2.
(?)
5.
bei Alciphron
um 200;
6.
Africanus Anfang
des 3.
Jahrhundert;
7.
Origenes
, 3.
y>
8.
Epiphanius
4.
»
9.
Ammianus Marcellinus
4.
»
10.
Eusebius
4.
J>
11.
Hieronymus (zweimal) 4.
u. 5.
y>
12
Nilus Anfang
des 5.
-
13.
Marcus Diaconus „
» 5.
■»
14.
Sidonius Apollinaris
5.
»
15.
Cassiodor
6.
m
16.
MevdvÖQOV xai OiliGTiwvoc; at'yxgiOtg
ca. 6.
»
17.
Menandri et Philistionis disticha
Parisina
. 6.
y>
18.
MtvävÖQOV xai (Jhhaiimvoc yväuat
. 6.
y>
19.
MiycivÖQOv xai (DiÄktziojvoc diä'/.txioc.
■ 6.
■
20.
bei Choricius
6.
*»
21.
in den Eclogen des Maximus
7.
i»
22.
bei Georgios Monachos
9.
m
23.
Suidas
10.
»
24.
in der Melissa des Antonius
11.
■
25.
Tzetzes
12.
')•
x) Die Belegstellen für Philistion sammelte zuerst Fabricius, Bibl.
Graec. II, p. 480 folg. (ed. Harles), dann Jacobs, Anthol. Graec. Bd. XII,
8. 165folg., dann Otto Jahn, Persius S. XC, dann Bernhardy. Suidas II3,
S. 1475 folg., und diese gesamte im Laufe der Jahrhunderte vermehrte
Stellensammlung findet sich schliefslich vollständig bei Grysar a. a. O.
S. 302 folg. Es sind zwölf Stellen. Ich führe sie hier an und füge noch
426 Sechstes Kapitel.
Wenn der Mimus nach der Meinung der Alten überhaupt
ein Trostmittel gegen die Trübsal des Lebens ist, dann ist es
elf weitere hinzu; aber es ist nicht unmöglich, dafs mir trotz jahrelangen,
methodischen Suchens eine oder die andere Stelle doch noch entgangen ist:
I. Suidas: tpiXiortoav, ügovOaevg, 17 (6g 4>CX(ov 2aq6iav6g, xco/biixog.
rsXtvr^ 6i Inl ZatxgäTovg. og tyoaxps xtOjutp6(ag ßtoXoyixäg. reXevrfjc 6k ino
yiXonog antigov. 6od/*ara 6k avrov MifioiprjtfuOTat. ovrog loxiv 6 ygaxpag
tov 'PiXöytXwv r\yovv rb ßtßXCov rb (pego/uevov tlg rov Kovgia. Nixatvg 6k fiaXXov
naga näoiv a6trat, wg fiagrvgu to Iniygafifia'
'O tov noXvarivaxrov av&gconwv ßiov
ytXairt xtgaaag Nixatvg 4>iXiOT(fov.
Die Fortsetzung Anth. Pal. VII, 155 siehe oben S. 203. Dafs bei Philo
Philistions Erwähnung geschah, ist um so interessanter, als Philo auch
sonst des Mimus gedenkt, vgl. in Flaccum §§ 5; 6; 9; 10.
II. Martial. Epigr. II, 41, 15:
mimos ridiculi Philistionis.
III. M. Antoninus, Tä elg eavrbv VI, 47; siehe oben S. 56.
IV. Cassiodor IV, ep. 51 ; siehe oben S. 144.
V. Ammianus Marcellinus XXX, 4, 21: et iudices patiuntur interdum doctos
ex Philistionis aut Aesopi cavillationibus quam ex Aristidis illius iusti vel Catonis
disciplina productos: qui aere gravi mercati publicas potestates ut creditores molesti
opes cuiusque modi fortunae rimantes, alienis gremiis excutiunt praedas.
VI. Sidonius Apollinaris, Epistularum lib. II, 2, 6 : non hie per nudam
pictorum corporum pulchritudinem turpis prostat historia, quae sicut ornat artem,
sie devenustat artificem. absunt ridiculi vestitu et vultibus histriones pigmentis
multicoloribus Philistionis supellectilem mentientes. Grysar schreibt: adsuntl; das
könnte ein Druckfehler sein, doch findet er sich schon bei Ziegler, dem
Grysar überall so treulich folgt; leider hat er aber Ziegler nicht einmal ganz
richtig ausgeschrieben, statt vultibus schreibt er das sinnlose vestibus in-
folge des vorausgehenden vestitu.
VII. Epiphanius adv. haereses lib. I, haeresis 26, 1 (ed. Dindorf, vol. II,
S. 39): Kai ol "EXXrjveg yäg ifaot ttjv dtvxaXtorvog yvvalxa IJv^gav xaXfto&ai.
Eha tt\v ahCav i>7ioT(deviat ovroi oi rä rov 4>iXiaritüvog rjfiiv aii&tg ngoaytgö-
fitvoi, ort noXXaxig ßovXofiivt) fiera rov Neos Iv rrj xißfaitp yevtodat, ov awe^o-
gslro, rov äggovrog, (paol, rov rov xoOfiov xrCaavxog ßovXofis'vov avrrjv änoXfaai
Ovv rolg liXXoig anaatv tv T(p xataxXvO[j.(ji.
VIII. Epiphanius adv. haereses lib. I, haeresis 33, 8 (ed. Dindorf, vol. II,
S. 206 u. 207): r(g 6k rovrcov rwv grifinrcov xal tjj? tov ybr\Tog rovrov xal rfg
(Sv ovv avTäi dvi^trai (pgevoßXaßetag, üroXsfiaCov ri <f>r\fii xal twv ä/u</>' avrov,
ei; toaovrov xvxiävrwv xal xarrvovrwv nXäa^iara; ovxe yao rwv naXaiüv rga-
yu)6o7ioKov rig, ovrt ol xa&tgrg /nijurjXol rov roonov, oi n(ol {PtXiar(wva Xiyot
xal Aioyivri, tov t« amara ygdxpavra, P/ ol aXXoi navrtg ol rovg pv&ovg ävayt-
Menander und Philistion, attische nnd mimische Komödie. 427
besonders der Mimus Philistions. Denn kein Mimograph ver-
steht so das laute, lustige, mimische Lachen zu erwecken wie
ygaifÖTtg xai ga-üotärpantg, tooovtov xpevdog TjSvrrfirioav ixrvTiüaai tag ovioi
lolurjOÜs (fioöutroi xutc'i Ttjg kaxnwv farfi dura iavroig xajioxivaoay, xai rbv
yovv Ttöv 7iei9op£v(ov avToig dv&gwnav ttg uuodg [rjTrtaiig ntgtfßakov xai
ytnakoyCag dnigdtTov; x. r. k.
IX. Epiphanias adv. haereses lib. II, haeres. 66, IS (ed. Dindorf, yoI. III,
S. 42 u. 43): Ta 6k akka ilntiv n'ff oix av ixytkdofttv, «ff täya tö toi
4>iliOTi(üios (hat ürayxaiörtga ij ra lijff tovtov uiuokoyiug; 'Sluotfooov yag uv&o-
notwv dtddoxa ßaaraCovra Tt]V yrjv näaav, xai ö*ta htöv, (frjoi, Tpwixon« xauvov-
ioff Tot wuoi utTaifiytiv (ig tov (TtQov wuov. xai oi'Tft) Tovff atiOfiovs ytv4o&at.
El ö*k rp> tovio, xaiä tfvoiv rjv to ngayua, xai ovxitt rv &to~7t£oiov. Ekfyxovot
dk tov yörpa o« jov 2mt fjgog köyoi, og ifftf Ftviolrt ayadoi wff ö Uarijg vftvv
ö orptmoff' oti avai&lu tov rtkiov aiiov ini dixaiovg xai ddixotg, xai ßgtylt
avrov tov itiov tni novrjgovg xai dya&ovg' xai to* "Eaovral ououoi xara
TÖnor xai Xiuoi xai koiuoi. Ei dk ix (fiotwg, >} xaia avrr,Stiav oi oitainoi
iyivovro, nokkdxig ovv, ort attouoi xara jfwoav ylvovtai , ow4ßn dt xai
in' ivianov okoTtkij xa& ' ixäarrjv vvxra nokkdxig oaktvto9at ti\v yrtv. 'Agd
y ovv Toavuaito&fvrarv TtSv tov touoyöoov wutiv dtffgtnottag aytrai ivdfkty^
notovfttvog tov adkov; Kai t($ äi/ffrai tijc Toutvrr,g ucoookoyiag ,
X. Hieronymus contra Rufinnm 2, 20: siehe oben S. 155.
XI. Hieronymns ad Eusebiura chron. Ol. CXCVIa. 2: Pküistio mi'mo-
praphus, natione Magntsianus, Romae elarus habetur.
XII. Sextns Iulins Africanus, De historia Snsannae epistnla ad Origenem
(Migne a. a. 0. Bd. 11, S. 41—45): XaTgt, xvgU f*ov, xai i<ii, xai närrtov
TiuiMTart 'ilgCytrtg, nt-git Atfgixavov. "Ort tov ttgbv inoiov ngbg t6» *Ayvü-
fiova dtäloyov, ifJVTjO&rjg Ttjg iv vtoTr/Tt nooiftjniag Tov ^/wiiji.- xai oiff ingt-
■ntv, Tjanaoiiutjv to't«- 9avud£tu 6i, ntög fla&( at to u(oog tov ßißliov tovto
xtßötjlov 6v tj yag toi THQtxoni] iclttj, xagi'tv ftev allwg ovyygauua, rftorfoi-
xov o*( xai ntJTlaopfvov 6*tixvvTal tc xai xaTa noilovg anfMyxnai rgönovg'
Tr}ff yao Zioadi-v^g dnodavtir xfxikti auflag, IIvtvu«Ti lr)<f&fig 6 77ßo<f »j'tijs
i£fßoT)aiv, tog äo*(xmg rt änöyaotg t/ot. IIoütov oi-v ot« imfl akkta tqÖitu
TTQOffrpivfi, ögauaat xai örttgoig, öid navrbg xaigov' xai ayydov innfavtiag
Tiy/üvii, etil' ovx ano7tvo(a ngoyrjTtxrj' &if tra utTa rö &avuao(tog ntog oiitag
ä7io<f&£y!;ao~9ai xai nagu3o$öiuTä Trug avioi; uniliyyn tag oiSt <f>iXiarfmv o
fiiuog (Grysar schreibt 'Ptkiorftovog jjiuog)- ov y-äg it-rjgxit r, o*tä nov JIviv-
fiarog ininlri^ig, dkl' ISüt ötaaryoag (xdrigov, igtoTa, ov avT^v 9idaano uo/jf»-
utvrp. 'ilg o*i 6 fth vtio ngtvov iifaaxtv, dnoxontrai ngt'ouv airöv to»
ayyikoy iw 6i irxb a%lvov figrjxoTi. ayto&rivat nagankijOttog dnfiktt.
XIII. Origenes, Epistola ad Africanum de historia Snsannae eil (Migne
a. a. 0. Bd. 11, S. 73 — 76): ,lEntna uitü to &av/uaoitog nwg ovTtog . . . dnfikfi'-
"ü.ga yag nagaßdkktiv akko tovto» nagankrjatov ilgr^trov ir t>J to/tjj TtSv
428 Sechstes Kapitel.
Philistion, der an übermäfsigem Gelächter starb, den Mar-
tial den lächerlichen tauft. Das mimische Lachen hat aber
BaOiXeuov, ontg xal ainbg ofioXoyrjcretg iyiüg avaytygäif&ai, rcjj >PiXiOTt(ovog
[lifAcp. "Exsi °*£ ovTtog 7) änb idiv BaoiXeicHv Xit-ig- Es folgt dann die aus
Könige III, 3 bekannte Geschichte. Von zwei Weibern, die zusammen ge-
boren haben, nimmt die eine der andern, während diese schläft, ihren Sohn
und legt ihr dafür ihr totes Kind in den Arm. Salomon entscheidet den
Streit mit dem sprichwörtlichen, salomonischen Urteil. . . . „Kai r\xovae näg
'logarjX t'o xinfia, o Hxgivsv 6 ßaaiXtvg, xal iipoßrj&rjOav anb ngoaiönov tov
ßaatXtwg, oTi'itiiSov, oti (pgovTjOig Seov iv avrqi tov noieiv öixaiw/xa." Einig
yag XQ*I wcol twv <f,fgo[i£v(ov iv Talg *Exx\r\aiaig anoifaivta&ai /XevaOTixtug,
fiäXXov itjV negl xtäv dvo iiaigäv iatoglav xtjj <PiXi0Ti(DVog ul/uo) rj ti\v nagä
%r\g os/uvrjg 2coaäwrjg ofioitüaat ixgrjv.
XIV. Choricius § XVIII, vgl. oben S. 220 u. 221.
XV. Nilus; vgl. oben S. 204, Anm. 1.
XVI. Apophthegmatum collectio Vindobonensis (Wachsmuth, »Festschrift
zur Begrüfsung der XXXVI. Philologenversammlung" Freiburg 1882, S. 24)
Nr. 130: <PiXiait<i)v 6 rtäv xca/icoSiuiv noitjTrfg axovoug, oti, Ti&vrjxt Mivavögog,
$(p?)- „oiuoi, ort äncüXe oä /uov ttjv äxovTjv" (Verwechselung mit Philemon).
XVII. Apophthegm. coli. Vindobon. Nr. 131: 4>iXiar(oiv iomT\&s(g, ix twv
argoyyvXtov xal fiaxgöiv nolä ilaiv äcHfaXij, ?(/»?• „tu vewXxov/ueva".
XVIII. Anecdota graeca ed. Boissonade II, S. 468: *PiXioiio>v 6 (fnXöaoipog
tQU)TT)&etg, „näg äga ixir/Oa tjjv tov Xoyov Svva/uiv" $(fT}' „oidivu %govov
nagiXimov Trtg ävayvwotiog".
XIX. Marcus Diaconus, Vita Porphyrii episcopi Gazensis (Ausgabe des
Bonner Seminars) c. 86: bfioXoyovaiv dh xal Xgiorov, 6oxr\ast yag avTov
Xiyovatv ivav^gionrjaai ■ xal avTol yag öoxrjOti XtyovTat XgiOtiavoi. t« yag
y(X(OTog xal dvöifri/xiag al-ta nagaXifinävw, tva fit] nXtjgwato Tag äxoag T(Sv
lvTvy%avövT(ov ij/ovg ßugvTaTuv xal TigaToXoytag. ra yag 4>i Xiaxliovog
tov Gxr\vixov xal 'Hoiöö ov xal aXXtav Xiyofiivfov (piXoo6<p(ov avfi-
fil^avTeg Tolg tcöv XgtdT laväv tt\v iavTÖiv algsaiv ovvtOT rjaavT o.
dianig yag £(oygu<pog ix Stayögtov xoto^T0)V (xü-ir noitöv ctnoTtXii Soxr^aa
av&gconov t] xhjgtov rj aXXo Tt ngbg änaTtjV tmv ftstugovvTütv, tV« «föfjj ToTg fih>
fitogolg xal ävorjroig aXrjftij Tvyyävttv, Totg 6i vovv h'xovoi axia xal dnaTt} xal
inlvoia av>onCvT], ovttog xal ol MavixaToi ix äiaifögwv Soy/uaTiov ävTXrjaarreg
antTiXeoav ttjv aiiTtov xaxodo%(av, fxaXXov St ix äiaifögav kgntTwv xbv tov
avvayayövTtg xal (j.ll-aVTtg 9avaTT](p6gov (fäg/uaxov xaTfOXivacfav ngbg a\a(gtOtv
av&g(on Ivtov \pvx<öv.
XX. Georgios Monachos. Chronicon 206 (Migne, Patr. gr. Bd. 110,
S. 337 — 340): jdagüog'b ]Agaä(iov ?nj $', ov *AXfl;avdgog avtXwv, wg $ifi\v,
xa&ttXe tt{v ßuoiXtiav ITfgawv, Jtagxtoaoav freoiv Of*£'. 'Ey ' ov xal IlXartov
xal ""AgiaTOTiX-rig ol tftXöaotfoi rjx/ua&v, xal Zntvainnog xal StvoxgaTrjg xal
Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 429
zugleich einen ethischen Zweck; es straft die menschlichen
Laster und macht verborgene Sünde offenbar. Gerade in
<Pi).taiia>v (Evatßtios). Das Lemma ist falsch. Bei Eusebius ist hier natür-
lich keine Rede von Philistion. Hieronymus giebt ja Philistions Zeit ganz
richtig an. Gemeint kann nur der Mimograph Thilistion sein; einen be-
rühmten Philosophen Namens Philistion giebt es nicht, dagegen kam in der
byzantinischen Aera der Ruhm des Mimographen dem der größten Philo-
sophen gleich, und er galt selbst als Philosoph, wie auch die Stelle aus
Diaconus beweist. Als Rivale Menanders aber wurde Philistion von den
Byzantinern auch als dessen Zeitgenosse betrachtet, so z. B. auch von Cho-
ricius (vgl. oben S. 220). Darum kann Georgios Monachos ihn auch als
Zeitgenossen des Plato, Aristoteles, Speusippos und Xenokrates ansehen.
Schon Scaliger hat sich vergeblich bemüht, den Irrtum in der seltsamen
chronologischen Bestimmung bei Suidas: xtltvxif dt Ini Zuxgaxovg, den er
wohl bemerkte, aufzuklären. Wir besitzen jetzt endlich das Material dazu.
Suidas hat die Chronik des Georgios Monachos sehr stark benutzt, mehr als
irgend eine andere historische Quelle (vgl. Krumbacher, Byz. Littgesch. ',
S. 264). So ist aus der Aufzählung Etvoxgüir)s <Pilurr((ov bei ihm durch
Verderbung des Xenokrates in Sokrates bei Suidas das thöricbte ini
Zwxgdiovg entstanden. Die Bemerkungen Bernhardys zu dieser Stelle sind
gänzlich verfehlt.
XXI. Epiphanius adv. haereses lih. I, haeres 21, 3 (ed. Dindorf, vol. II,
S. 9): alla xai 'A&rjväv näliv titv aünj» lltyt ir\v nag' aiitöy erwoiav
xalovfiivriv, xgüutvcx, Si)&tv 6 nlävog raig rov ayCov anoarÖÄov üavkov ytovali,
utranoitäv T( ii}v akrftttav tlg ib aviov xptvöog, ?ö „tvduanabt ibv &u>gaxa
ifjg niaxtayg, xai rijf ntgixtifalaiay rov Otüiijgiov, xai xyrjuiSag xai fiä^aigav
xai &vgt6v"- (Ep. ad Ephes. 6, 13 sqq.) narret lavia ini rrjg rov 'Ptbaiiwio;
utuoloyi'ag 6 änattdtv, ro vnb rov änoaxölov slgrjut'va 6ia aitgtbv loyiauc*
xai niaxiv ayvi); avafTgo<f,ijg xai Svvauiv »tiov löyov xai Inovoavlov, tlg
Xltvt]V koinbv xai ovöiv htgov fitTaaig£<f<ov.
XXII. Tzetzes, vgl. oben S. 79, Anm. 1.
XXIII. Alciphron epist. III, 55, lO(Hercher): „«Sott« ^fuuv tüv nagaalxojv
ouö*tig tu loyog- ib yag &{apa xai tijv &vurtdiav nagt^tr oidtig rar tli rovto
xexXrjut'rcjv, xai'zot yt xai <Poißnx6rjg 6 xi&ag^bg xai utuot ytloitov ol ntgi
Zavvvgitova xai 4>iliaruxörjv ovx antltinovio. akla rtäna tfoo'da xai olx
afröxgea, r,vöoxiuei öt povog b iüv ootfiöv Xijgog. Diese Stelle ist von den
Herausgebern, von Bergler. Seiler, Meineke, da ihnen die erforderlichen,
mimischen Kenntnisse fehlten, durchaus mißverstanden worden. Meineke
änderte das Zavvvgiuva der Codices in Zovoagfwva, von Bergler wurde ntgi
4>ihoTiaöriv in ntgi 4>tUorCiuva geändert; Bergk änderte gar nicht übel in
'PiUajiSrlv. Die Sache verhält sich so: Die Parasiten ärgern sich, dafs der
burleske Cyniker ihnen und allen andern, die sonst zum Vergnügen bei den
430 Sechstes Kapitel.
dieser Kunst mufs die philistionische Biologie und Ethologie sich
glänzend bewährt haben. Dafür ein Beispiel aus Africanus. Er
tadelt den grofsen Origenes, der die biblische Geschichte von
der keuschen Susanna für echt hält. Die Art, wie Daniel
die beiden lüsternen Greise, welche Susanne fälschlich des
Ehebruchs beschuldigen, überführt, zeigt nicht den heiligen und
prophetischen Geist, sondern den weltlich -burlesken des Mimo-
graphen Philistion. So wie Daniel die beiden Schurken jeden
einzeln vernimmt und durch die Aussage des einen, „unter dem
Eichenbaum", des andern „unter dem Mastixbaumu sei der Ehe-
bruch geschehen, beide ihrer Bosheit überführt, so lustig und
schlagend pflegt auch Philistion verborgene Sünden und Laster
aufzudecken. Also fort mit diesem Mimus aus der Bibel. Ori-
genes meint dagegen, dann sei auch der Rechtsstreit der beiden
Mütter vor Salomo und des Königs salomonisches Urteil ein
philistionischer Mimus l). Gewifs fallen diese beiden Geschichten
Gastmählern dienen, den Rang abläuft; sogar die /ulfioi yeXoiwv ol negl Zavw-
atojva xal <PikiOTuidr}v bleiben unberücksichtigt. Da Alciphron Mimen nennt,
will er nach dem mimischen Gesetze, die Eigennamen zu nennen, sie nicht
unbenannt lassen, und so nennt er denn Sannyrio und Philistiades. Der
Hauptspafsmacher im Mimus ist, wie wir von Cicero wissen, der Sannio,
griechisch Zävvoqos oder Zavvvqog'} (Kaibel a. a. 0. S 188.), da konnte man
wohl für den Mimen den bezeichnenden Namen ZavvuQiwv bilden ; besser wäre
2avvoQ(iov, und das hat auch ursprünglich wohl im Text gestanden. Da ist
also der eine Mime nach dem wichtigsten, mimischen Typus genannt, der
andere nach dem wichtigsten Mimographen, mit dessen Namen später über-
haupt Mimus und Mimen gekennzeichnet werden, 4>ifoaTtädr\s. Es ist aber
kein Grund vorhanden, in 4>ifoOT{<ov(x zu ändern, obwohl diese Konjektur
beweist, dafs die älteren Philologen gesehen haben, dafs es sich hier um
Philistion handelt, wenn sie auch nicht recht wie und wo begriffen. Meineke
(Fragm. com. attic. 1. 1, p. 25) änderte Zavwgitava in ZovoaQfova. Was haben
die Mimen mit Susarion zu thun? Sie haben allerdings im letzten Grunde
mancherlei mit ihm zu schaffen und mit den Anfängen der Komödie. Aber
davon wufste Alciphron ungefähr soviel, wie Meineke seiner Zeit etwa
wissen konnte. Nicht mit Susarion, sondern mit Sannio und Sannoros, der
lustigen Figur im Mimus, brachte Alciphron die Mimen in Verbindung.
Das weiter zu beweisen, wäre jedes Wort zuviel.
l) In der That ist dieses Urteil der Gegenstand eines Dramas, und
zwar eines chinesischen, betitelt „Der Kreidekreis". Dort werden die beiden
Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 431
mit ihrer tiefen, aber etwas realistischen und ironischen An-
schauung vom menschlichen Leben ein wenig aus der sonstigen
geistlichen und gottseligen Auffassung der heiligen Schrift heraus.
Aber sie sind mit Recht vor andern biblischen Geschichten be-
kannt und berühmt1), und dafs gerade sie an philistionische
Mimen erinnern, läfst die philistionische Biologie im besten
Lichte erscheinen.
Am schlechtesten ist auf Philistion unter den Kirchenvätern
noch Epiphanius zu sprechen. Der schärfste Pfeil, den er auf
die Häretiker abschiefst, ist, ihre Irrlehren erinnern an die Mimen
Philistions. Besonders die kosmogonischen Mythen der Gnostiker
von der Schöpfung und Erhaltung der Welt, von der Sintflut
und dergleichen sind nach ihm nicht besser als die mytho-
logischen Mimen Philistions, besonders „Deukalion und Pyrrha".
Speziell empört er sich über die Identifizierung christlicher
Gottesbegriffe mit heidnischen Göttern, so mit Athene. Ähn-
liches kann man bei Philistion finden, doch wohl im mytho-
logischen Mimus. Marcus Diaconus meint, die Gnostiker hätten
ihre Irrlehre aus christlichen Elementen und hellenisch-heidnischen
Lehren gemischt, die sie bei Philistion, Hesiod und anderen
„ Philosophen" fanden2). Hier ist doch wohl an Hesiods Theogonie
gedacht, und für Philistion ist wieder durchaus an mythologische
Mimen zu denken. Wir können hier also wieder die Zweiteilung
in die biologische uud mythologische Richtung, die wir für den
gesamten Mimus konstatiert haben, auch für den Hauptdichter
der mimischen Hypothese feststellen.
streitenden Weiber von dem Richter die eine in den Kreis, die andere
draufsen hingestellt, und die den Knaben am leichtesten zu sich zieht, soll
ihn behalten. Natürlich wird das Kind der Mutter, die um sein Leben
bangt, leicht von der andern entrissen; aber dieser wird das Kind sofort
genommen und der rechtmäfsigen Mutter zugestellt. Vgl. Klein, Geschichte
des Dramas Bd. III, S. 460 folg.
M So findet sich z. B. die Erzählung von Susanne auch in „Tausend
und eine Nacht", Siebenhundert und einundfünfzigste Nacht unter dem
Titel nDie tugendhafte Frau". Selbst dramatisch ist dieser Stoff wieder-
holt gestaltet worden und schliefslich ward daraus ein englisches Puppenspiel.
Vgl. Magnin, Histoire des Marionettes S. 238.
a) Vgl. oben S. 428, Anm. Nr. XIX.
432 Sechstes Kapitel.
Die Kirchenväter hatten auch allen Grund, sich gerade über
Philistion zu entrüsten. Erfrechten sich doch damals sogar die
Sophisten, wie das Beispiel des Nikotychos zeigt, die Mimen
Philistions bei Tische vorzulesen und gar auf dem Marktplatze
vor versammeltem Volke vorzutragen. Wenn der Asket Nilus
dafür dem Sophisten das Christentum abspricht, so thut er es —
so sehr steht er selbst unter dem Banne Philistions mit Worten
aus einem philistionischen Mimus: Man kennt dich Negromant1).
Die Kirchenväter hassen Philistion so sehr und erwähnen ihn so
oft, weil er eben so ungeheure Geltung hatte.
Aber Eusebius und Hieronymus nahmen ihn ruhig in die
Weltchronik auf, und Hieronymus steht nicht an, seinen „sermo
elegans" zu loben. Allmählich söhnte sich die Kirche mit dem
Mimus aus"), und so paradieren denn schliefslich in der grofsen,
byzantinischen Sentenzensammlung, dem Parallelenbuche oder
besser in den späteren, erweiterten Bearbeitungen desselben 8),
friedlich neben den Aussprüchen eines Salomo und Paulus auch
Sentenzen Philistions. Er galt eben durchaus als einer der
gröfsten hellenischen Dichter und Denker. Dafür hielt ihn schon
Kaiser Marcus4). Bei Epiphanius wird er in eine Linie mit den
alten Tragöden gestellt8). Seit Philistions Zeit findet sich der
Vergleich zwischen Mimus und Philosophie häufig; nicht selten
allerdings zu dem Zwecke, die Philosophie zu erniedrigen6).
1) Vgl. oben S. 204, Anna. 1 . oiix Zla&eg (paQpaxä. Wir merken uns
hier also die Titel zweier philistionischer Mimen, die ungefähr lauteten:
devxaklwv xul IIv(i§a — ich erinnere zugleich an Epicharms Ilv^a xai TTqo-
fiäd-evg — und <4>a(>[*ux6s.
2) Vgl. oben S. 134 Anra. 2.
8) Ich verweise hier auf Holl, „Die Sacra Parallela des Johannes Dama-
scenus", Texte und Untersuchungen, Neue Folge, Bd. I, 1897, S. 1—392.
*) Vgl. oben S. 56.
5) Nun ist ja Epiphanius nichts weniger als ein klassischer Zeuge. Ich
verweise auf das wegwerfende Urteil, das in dieser Hinsicht über ihn Hermann
Diels, Doxographi S. 176, gefällt und begründet hat. Der Mimus Pbilistions war
Epiphanius freilich wohl etwas bekannter wie die alten, hellenischen Philosophen.
6) So verweist Minucius Felix Pythagoras' Lehre von der Seelenwande-
Menander and Philistion, attische und mimische Komödie. 433
Philistion ist nach Choricius der Vollender der mimischen
Kunst; neben ihm sind die grofsen, attischen Komöden einfach
fiTfioi arzixoi. Ebenso urteilt Cassiodor1). Der Name Philistion
bezeichnet fortan den Mimus und die gesamte mimische Kunst.
Die Mimen und Mimographen sind 0* ntqi Odiatiwva.
Alciphron giebt nach Philistion einem Mimen den typischen
Namen Philistiades 2), und Sidonius Apollinaris nennt die Mimen
„histriones Philistionis supellectilem mentientes".
So tritt in der Person Philistions die mimische Komödie
der attischen gegenüber; hie Menander, hie Philistion J): zuver-
sichtlich stellte man die mimische Kunst völlig auf gleiche Stufe
mit der alten, attischen. So beginnt das Gespräch zwischen
Menander und Philistion mit den Worten: „Dem edelen Philistion
rang in den Mimus; Octavius 34, 7: „addunt (FytAagoras primus et praecipuus
Plato) istis et illa ad retorquendam veritatem, in pecudes, aves, beluas hominum
animas redire. non phüosophi sani studio, sed mimi convicio digna ista sententia
est". Ähnlich äufsert sich Lactanz. divin. Inst. VII, 12,30 und 31: „cetera
Epicuraei dogmatis argumenta Pythagorae repugnant disserenti migrare animas de
corporibus vetustate ac morte confectis et insinuare se novis ac recens natis et eas
dem semper renasci modo in homine modo in peeude modo in bestia modo in volucrr
et hoc ratione inmortales esse, quod saepe variorum ac dissimilium corporum domi-
cilia commutent. quae sententia deliri hominis quoniam ridicula et mimo dignior
quam scoJa fuit, ne refeüi quidem serio debuit: quod qui facit, videtur tereri ne
quis id credat." Gry-ar, der sich hier wie überall höchst unmethodisch nur
um sein dürftiges Excerpt, nicht um den Zusammenhang des Ganren ge-
kümmert hat, meint, durch das deliri getäuscht, Lactanz habe hier an die
„ganz dummen Einfalle'- der Mimen, d. h. die „mimicae ineptiae" gedacht.
l) Vgl oben S. 144 und S. 221.
8) Vgl. oben S. 426, Anm. Nr. VIII und S. 429, Anm. Nr. XXIII.
s) So ahmen auch die spätgriechischen Sophisten nicht nur Attikern
nach, sondern vergleichen sich auch gerne mit ihnen. Wie zehn attische
Redner in den Kanon aufgenommen waren, so gab es auch zehn kanonische
Sophisten. Selbst die armseligsten Sophisten liebten es, einen Vergleich
zwischen sich und Demosthenes anzustellen. „Begegnet dir jemand unter-
wegs, rät Lukian ('Pntöooiv didäaxalog cap. 21) dem jungen Sophisten, so sprich
Wunderdinge von dem, was du geleistet und lobe dich selbst, solltest du
gleich noch so lästig dadurch werden — „Was hat der Päanier mit mir zu
schaffen?" — oder wenn du noch bescheiden sein willst, „Mit einem einzigen
unter den Alten könnte ich wohl noch zu kämpfen haben-.-
Reich, Mimus.
28
434 Sechstes Kapitel.
entbiete ich, Menander, meinen schönsten Grufstt. Philistion er-
widert das dann gleichermafsen. Wie zwei gleichberechtigte
Potentaten der Dichtkunst verkehren die beiden mit einander.
Und ein gewisses Urteil hatten die gebildeten Kreise der
damaligen Zeit immerhin; denn in den ersten nachchrist-
lichen Jahrhunderten, in denen die avyxgiaeig entstanden, hatte
man noch Menanders Komödien wie Philistions Mimen, und die
letzteren zum wenigsten sah man noch auf dem Theater.
Philistion wurde sogar mit dem Titel eines Philosophen
geehrt. Bei Marcus Diaconus wird er zusammen mit Hesiod
und den anderen sogenannten Philosophen aufgeführt, und in den
Anecdota bei Boissonade heifst es direkt: Philistion, der Philosoph.
Ja, er erscheint nicht nur als einer unter den vielen Philo-
sophen, sondern in der Weltchronik des Georgios Monachos,
welche die ganze Weltgeschichte bis zum Tode des Kaisers Theo-
philos, 842 n. Chr., umfafst, wird er, wie wir sahen, unter den
Vertretern der Philosophie neben Aristoteles und Plato, Speu-
sipp und Xenokrates genannt (S. 428, Anmerkung Nr. XX)1).
Von ihm glaubte man später alle Lebensweisheit lernen zu
können; selbst die Frage, wie man Beredsamkeit erwürbe,
wird ihm gestellt und von ihm beantwortet2). Wir sahen, dafs
der Mimus von Sophrons Zeiten und noch von früher her mit
populärer Lebensweisheit, mit Sprichwörtern, moralischen Sen-
tenzen und schönen Sprüchen erfüllt war. Der grofse Meister
der mimischen Hypothese wird nicht weniger durch seine Spruch-
weisheit geglänzt haben wie bei den Römern Publilius Syrus,
und seine Sentenzen wird man nicht weniger gesammelt haben
wie die des Lateiners. Nun war ebenso Menander ob seiner
schönen Sprüche geschätzt, und auch von ihm gab es Sentenzen-
*) Über diese Auffassung des Philistion und die Stellung des Mimus
zur Philosophie und den Philosophen überhaupt hat Norden schon vor
Jahren sehr bedeutsame Bemerkungen gegeben in der Abhandlung „Scholia
in Gregorii Nazianzeni orationes", Hermes 27, 1892, S. 626 folg. Allerdings
war ihm damals die Cardinaistelle bei Georgius Monachus noch nicht
zur Hand.
2) Vgl. oben S. 428, Anm. Nr. XVIII.
Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 435
Sammlungen, da brauchte man nur die gleichen Rubriken dieser
Sammlungen zusammenzuschreiben, so war auf höchst bequeme
Weise ein Vergleich hergestellt.
Aber freilich, weil diese Weisheit so billig war, dafs sie
jeder Schulmeister, ja, jeder Schüler handhaben konnte, scheint
dieses an und für sich höchst interessante Thema unablässig in
den Schulen variiert zu sein, und wir haben nicht gerade die
gute, alte oi'yxQtaic., sondern späte, stümper- und schülerhafte
hahmungen und Variationen zu diesem Thema. Dennoch
zeigen viele von diesen Sprüchen eine so gesunde und vortreff-
liche Lebensauffassung und sind im grofsen und ganzen auch in
Form und Ausdruck so korrekt, dafs hier wohl noch wirklich
ein philistionischer Kern vorhanden sein mag').
]) So urteilte schon Wachsmuth (Studien zu den griechischen Florilegien
S. 124 folg.) gegenüber Meineke. Dafs vereinzelte Sentenzen Philistions auch
unter andern Autorennamen sich finden, kommt auch bei Sentenzensamm-
lungen anderer Dichter vor und ist kein Grund, alle Verse zu verdächtigen
oder gar Philemon zuzuweisen. Im einzelnen hier nun das philistionische Gut
zu sondern und zu scheiden, wird mit zu den Aufgaben gehören, welche die
Sammlung eines Corpus mimographorum graecorum et latinorum stellen würde.
Vor allem aber müfsten zu diesem Zweck erst die Miscellancodices nach neuen
Sentenzen Menanders und Philistions durchforscht werden, was ein so guter
Kenner wie Studemund für durchaus au- khtsvoll halt. Ich will hier auch
an die Notiz bei Kock a. a. 0. III, Praef. p. VI, Anm. 1, erinnern: Ceterum
Athenis, ut per litteras cerliorem me fecit Spir. Lambros vir clarissimus, in aedibus
ministerii institutionü publica« codex exstat miscellaneus, bombycinvs saeeuii Xllll,
quo praeter alia guaedam continentur IlaQcttvfaftc MaavJoov xara atoi^ttov
(versus 413) et MuüiÖQ(> /.. i <i>i/.t IT/m ■■: yvtJuai xai Jiultxrot {versus cir-
citer 310).
Aus der ~ "•';•*. «o«; mögen hier ein paar bessere Sentenzen Platz finden:
v. 29—34: Ilooötoiiv dtl rep ntn/t' dninria'
xuv aoifhc vnaQ/y xuv X.£yy 16 avfiiffyor,
doxti i« (jodtttv tote dxovovoiv xaxcü;.
TiSv yäg ntvr,Tfoy nt'ariv oix (%ti XÖyof
dvi)g Sf nt.ovKüV, xuv uyav ip(idr]yoQr},
Soxu « (foa^ttv loig dxoüovo' dayaktc.
Vers 30 — 34 hat Nauk die Ehre angethan, sie unter die fragmenta
adespota der Tragiker aufzunehmen; fr. 92.
v. 149—152: Ov dti nu&üv at, /Ltrjfiuuov axfxlitj yvyiiv
ov ydo ivvrjOTj dtatfvyiiv, o Of Sti nufft n .
28*
436 Sechstes Kapitel.
Eins jedenfalls lehrt uns dieser brennende Eifer, diese hohe
Bewunderung so vieler Jahrhunderte für Philistion, die Unver-
wüstlichkeit, mit der seine Stücke sich auf dem Theater be-
haupteten1), dafs wir hier einen Grofsen im Reiche der Poesie
vor uns haben. Es ist Zeit, dafs endlich das Unrecht, das
ihm bisher angethan wurde, wieder gut gemacht wird, und
dafs wir ihn als das anerkennen, was er wirklich war, als den
letzten, grofsen Volksdichter der Hellenen, der die Keime volks-
tümlicher, mimischer Poesie aus althellenischer Zeit, die noch
immer lebenskräftig waren und sich schon zu umfangreichen,
dramatischen Gebilden gestaltet hatten, die für die Hypothesen
der Römer, für Laberius und Syrus das Vorbild waren, zu klassi-
schen Kunstwerken geformt hat, die den Vergleich mit den
menandrischen Komödien vertragen und sie ersetzen konnten,
die den folgenden Jahrhunderten grofse und unerreichte
Muster und Gegenstand römischer wie griechischer Bewunderung
waren.
IV.
Der Ardalio Philistions.
Von jeher ist von den antiken Philosophen und Schrift-
stellern das sinnlose Haschen und Drängen der Menschen nach
imaginären und unnützen Zielen beklagt worden, dieser ungeheure
Lärm um nichts, der den Jahrmarkt des Lebens erfüllt. Am
(t6} TtenQiofjiivov yuQ ov fxövov (naOi) ßgoroig
citftvxTov ioiiv alka xai xat' ovQttvov.
V. 175 — 181: Ei noxt tig r\(xöiv tig (rbv) ayQov lljiarv
/j.vrjfiara nccQtl&ot xai rütpovg av&Qiüxrivovg
tovt(ov 'ixaorog eleytv „eis wQag lyw
nktvaoi, (fvzevaw, xrrjOofiai (jrolloig dyQovg),
rov roT/ov agag nvgyov v\pr)Xbv ßaldü,
TTQoaoixoSofirjGü) rä 7raQ(cxsijbiev' ayogaffarv".
loyiCo/xtvog tum' ani&avsv /uqdtv noiäiv.
J) Noch Martial sah „mimos rldiculi Philistionis" auf der römischen
Bühne und auch zur Zeit des Sidonius Apollinaris scheinen sie sogar noch
im lateinischen Werten aufgeführt worden zu sein; vgl. oben S. 146 u. 147.
Der Ardalio Philistions. 437
lautesten ertönt diese Klage in der Kaiserzeit, wo sich besonders
Seneca zu ihrem Vertreter macht. -Die Leute", heifst es in
de tranquillit. anim. XII, .welche sich in Häusern, Theatern
und auf den Foren herumtreiben, bieten sich zu Geschäften an,
die sie nichts angehen, und haben scheinbar immer etwas zu
thun. . . . Man möchte Mitleid mit ihnen haben, wenn sie laufen,
als ob es brenne, ... um einen Besuch zu machen, der nicht
erwidert wird, um einem Unbekannten das letzte Geleit zu
geben, oder aufs Gericht zur Verhandlung in Sachen eines
Prozefssüchtigen oder zur Verlobungsfeier einer Frau, die öfter
heiratet, und wenn sie eine Sänfte begleiten, tragen sie sie gar
stellenweise. ... Sie gehen nur aus, um den Trubel auf der
Strafse zu vermehren, und kein bestimmtes Vorhaben, sondern
nur der neue Tag treibt sie heraus" ]).
Für diese geschäftigen Müfsiggänger hatte man den typischen
Ausdruck Ardalionen. Am lächerlichsten und unerfreulichsten,
meint Martial, sind unter ihnen die Grauköpfe. Solch ein alter
Ardalio mufs überall mit dabei gewesen sein; vor dem Lehn-
stuhl jeder Dame mufs er morgens seinen Grufs darbringen;
ohne ihn darf kein Tribun, kein Konsul sein Amt antreten'),
gerne giebt er sich das geheimnisvolle Ansehen hoher Verbin-
1 ) Aach Manilias kennt dies« hauptstädtischen, vielbeschäftigten Müfsig-
gänger recht gut: sie sind unter dem Gestirn des Jägers Orion geboren;
wohl weil sie so unablässig in Rom umherjagen:
Sollertit animos, velocia corpora ßnget
Atque agilem officio mentem, curasque per omni»
lndelassato properantia cor da tngore.
lnttar erit populi, totaque habitabit in urbe
Limina pervolitans, unumque per omnia verbum
Matte salutandi portans communis amicus. (V. 61 — 66).
*) Ludwig Friedländer giebt in den Darstellungen aus der Sitten-
geschichte Roms Is, S 463 folg., eine höchst anziehende Schilderung des
leeren und äufserlichen und doch dabei aufreibenden Lebens und Treibens,
das in der römischen Gesellschaft während der Kaiserzeit herrschte. — Über
die Feierlichkeiten beim Amtsantritt hoher Beamten, zu denen ihre Freunde
zu erscheinen hatten. Tgl. auch Sittengesch. I6, S. 407.
438 Sechstes Kapitel.
düngen1). Eine besondere Spezies des Ardalio ist der Dilettant
in allen schönen Künsten, der alle sehr nett ausübt und keine
ordentlich2).
Bei Phaedrus wird der Typus noch weiter nuanciert. Diese
Ardalionen, die stets hastig einherstürzen, um nichts in Atem
sind, immer grofse Anstalten treffen, um nichts zu stände zu
bringen, sind sich selbst zur Last, anderen aber höchst ärgerlich.
So ernten sie statt Dank nur Spott. Dafür giebt Phaedrus (II, 5)
ein hübsches Beispiel. Als Tiberius einst in Neapel weilte und
in dem Park der kaiserlichen Villa auf dem Vorgebirge Misenum
lustwandelte, läuft auf einmal ein kaiserlicher Bedienter vor ihm
her und besprengt den Weg mit Wasser. Der Kaiser lacht ihn
aus und schickt ihn fort. Schnell eilt er auf Umwegen zur
nächsten Säulenhalle, und dort trifft ihn der Kaiser wieder, wie
er den Staub niederschlägt. Da merkt Tiberius die Absicht
dieses guten Ardalio und ruft: „He, du!" und der wie der Blitz
in der Hoffnung auf eine gute Gratifikation, wohl gar auf Frei-
lassung, herbei. „Ach,u sagt der Kaiser, ,;wozu die Mühe? So
billig erhältst du von mir keine — Maulschellen" (Zeichen der
Freilassung).
Wo kommt dieser eigentümliche Ausdruck Ardalio her?
Breal hat darunter einen Typus der Palliata vermutet3). Fried-
») Martial IV, 78:
Condita cum tibi sit iam sexagesima messis
Et fades multo splendeat alba pilo,
Discurris tota vagus urbe, nee ulla cathedra est,
Cui non mane feras inrequietus Bave;
Et sine te nulli fas est prodire tribuno,
Nee caret officio consul uterque tuo;
Et sacro decies repetis Palatia clivo
Sigerosque meros Partheniosque sonas
Haec faciant sane iuvenes; deformius, Afer,
Omnino nihil est Ardalione sene.
2) Bei Martial II, 7, vgl. oben S. 151.
3) Revue de philologie IX, 1885, S. 137: Je suppose, que nous avons ici
un nom de the'ätre, comme JMia'o, Hegio, Phormio. Le nom grec serait sann douti
AgdaXtbiV. Oest ainsi que nous disons un Figaro, un Maitre- Jacques.
Der Ardalio Philistions. 439
länder hat das zurückgewiesen1) — mit Recht; denn in der
Kaiserzeit — und erst seit der Kaiserzeit findet sich dieser
Ausdruck — war die Palliata im grofsen und ganzen von der
Bühne verschwunden. Dennoch war Br6al auf der richtigen
Spur. So wie Martial seinem Narren am Schlüsse seiner epi-
grammatischen Schilderung entgegenschleudert: du bist ein
Ardalio. ruft man auch: du bist ein Tartuffe, ein Hanswurst, ein
Falstaff. Martial erinnert damit offenbar an einen volkstüm-
lichen, allgemein bekannten Typus der Bühne, und die volks-
tümlichsten Bühnenstücke der Kaiserzeit waren die Mimen. Also
war Ardalio ein Typus des Mimus?
Martial, der sich so gerne an den Ardalio erinnert, hat ja
nun wirklich, wie wir sahen2), viele Anregungen vom Mimus
seiner Zeit empfangen. Veras, der ein ganz besonderer Lieb-
haber des Mimus und der Mimen war3), schwärmte auch für
Martial und nannte ihn seinen Vergil4). Es ist wohl die rea-
listische Biologie und Ethologie, die den Kaiser hier gleich-
mäfsig anzog.
Ebenso hat Phaedrus starke Beziehungen zum Theater und
zum Mimus. Da ist im fünften Buche die lustige Geschichte von
dem Flötenvirtuosen Princeps (V, 7), der einen dem Princeps, dem
Kaiser, zu Ehren gesungenen Hymnus auf sich bezieht5). Da
hören wir von dem flüchtigen, zum Tode bestimmten Sklaven,
den in der Arena vor dem zum Schauspiel versammelten Volke
der treue Löwe wiedererkennt (VH, 9). Die Erzählung von dem
trunksüchtigen Weibe, das eine leere, noch süfs duftende Wein-
flasche findet, hat schon andere an die Komödie erinnert. Die
trunksüchtige Alte ist vor allem auch ein Typus des Mimus8).
») Martialausgabe I, S. 242.
3) Vgl. oben S. 57 folg.
3) Vgl. oben S. 199.
*) Vita c. 2.
5) Die Grabinschrift dieses Virtuosen ist noch vorhanden; vgl. Bücheier t
Rhein. Mus. 37, S. 332
6) Ich erinnere z. B. nur an die Kupplerin Gyllis bei Herondas im
ersten Miraiambus.
440 Sechstes Kapitel.
V, 5 tritt ein mimischer Spafsmacher auf dem Theater auf und
macht das Grunzen eines Schweines nach. Der Erzählung von
diesem mimischen Paegnion folgt (V, 6) die Fabel von den
beiden Kahlköpfen, die einen Kamm finden und sich darüber
ärgern, dafs sie keine Haare zum Kämmen haben. Vorher
(V, 3) steht die lustige Geschichte von dem Kahlkopf, der
sich Mühe giebt, eine Fliege, die seine Glatze umschwirrt, zu
fangen, und sich dabei selbst eine tüchtige Maulschelle versetzt.
Welcher andere Kahlkopf als der mimus calvus sollte wohl darauf
kommen, dem Fliegenfang auf seinem glattpolierten Schädel ob-
zuliegen und sich dabei gar noch selbst zu maulschellieren ?
Das Fliegenfangen scheint von jeher zu den Lazzi der italieni-
schen Burleske gehört zu haben. Ich gebe dafür einen Beleg
aus Devrient, Gesch. d. deutsch. Schauspielkunst I, S. 315: „Ita-
lienische Brocken, Manieren und besonders italienische Lazzi
wurden immer allgemeiner in der Stegreifposse, jene panto-
mimischen Extraspäfse, durch welche der Harlequin, während
seine Mitspieler sprachen, die Aufmerksamkeit immer auf sich
zu lenken und sich zur ausschliefslichen Hauptperson zu machen
wufste. So that Harlequin z. B. während einer Liebes-
scene, als ob er Fliegen finge, ihnen die Flügel ausrupfte
und sie schadenfroh vor sich auf dem Boden laufen liefs" '). Zu
den unaufhörlich wiederholten Späfsen der stupidi gehört ja das
Ertragen klatschender Maulschellen2); sich aber gar selbst zu
maulschellieren, war der Gipfelpunkt mimischen Ulkes. Auch
dafs der mimus calvus auf der Bühne einen Kamm findet und
mit ihm allerhand Grimassen anfängt, wird jedenfalls ebenso zu
den Lazzi der mimischen Narren gehört haben. Es ist auch
eine urdrollige Scene: ein kahler Narr, der einen grofsen Fund
zu machen glaubt, und nachher ist es ein Kamm. Daran
konnten allerhand mimisch - burleske Betrachtungen über das
Walten der neidischen Tyche geknüpft werden, die in der
*) Weiteres über Lazzi bei Devrient a. a. 0. IV, S. 1 22.
3) Vgl. oben S. 94.
Der Ardalio Philistion«. 441
Komödie wie im Mimus gleichmäfsig regiert'). Damit aber gar
kein Zweifel bleibt, dafs wir wirklich hier Scenen aus dem
Theater vor uns haben, folgt unmittelbar (V, 7) die Theater-
burleske vom Flötenbläser Fürst, und handelte das erste Gedicht
dieses fünften Buches von dem Fürsten der komischen Bühne,
von Menander.
Wölfflin hat schon vor Jahren hervorgehoben, dafs publi-
*) Wenn in der Mnävögoi xal <Pti.ioTi(ovos aiyxQiai^ Menander und
Philistion im Wettstreit allerlei Gnomen über die wichtigsten Fragen des mensch-
lichen Daseins, über Armut und Reichtum, über die Gottheit, über Freund-
schaft und Nachbarschaft, über Recht und Gesetz, über die Pflicht, Vater
und Mutter zu ehren, zum besten geben, so ist doch das erste Problem, das
beide behandeln, niol rvxis Menander beginnt seine Paränese mit den
Worten:
t. 11—22:
IdoföfitSa loinov nfgl rvjfff (Myttv) ootftvs.
"Orav ti g i]uwv äufgifivov ?/j tov ßtov,
ovx Intxaitliai ttjv tvxtjv tvdaiuoiwv
oray 6*i Xi'naig nigiTitor) xal ngayuaoir,
ti&iig ngoaänrn rp rt'^g rrfv ahlav.
0t>U<JTUt>V.
MtiStrtOTt ututfov irv rw^fjjv, ti6üs ort
xaiQty noVTjQip xai iä 9(ia övOTi'Xft.
Mi] Ivntt oauTov rovto yiruaxav, ort,
orav nor' äv9g<ü7ioiotv i) Tvjfij yflii.
navitov ütfogur, tüy xaltöv tvgioxiraf
orav 61 ivarvx^ Tis, oid' tvifgalvnui.
"Anavia vtxii xal unaoiy&fti r r x r\-
Studemund, Breslauer Programm Sommersemester 1887, S. 19 und 20. Noch
in der deutschen Hans- Wurst-Burleske hat die Fortuna viel zu sagen. Ich
führe dafür eine etwas sonderbare Arie aus der „Braut von ohngefähr" an
(bei Devrient, Gesch. d. deutsch. Schauspielkunst I, S. 438):
Wie grausam schreibt nicht deine Kreide
Fortuna, falsches Trampelthier?
Du führst mein Leben, meine Freude,
Den Hans und auch die Wurst von hier: . .
Ach netzt ihr Thänen Hand und Fufs.
Ach! Ach!
Weil ich mein Liebstes meiden mufs.
442 Sechstes Kapitel.
lianische Sentenzen bei Phaedrus nachgeahmt sind1). Nach Lucian
Müller ist Phaedrus zur Wahl des Senars für seine Fabeln durch
Publilius Syrus angeregt worden, mit dessen Senaren seine
eigenen Ähnlichkeit zeigen2), Auch die niedrig gehaltene, etwas
volksmäfsige Sprache, die derben Wendungen, haben nichts mit
der Redeweise der damaligen, vornehmen Poesie, alles aber mit
der volksmäfsigen Sprache des Mimus gemein3). Wie der Mime
will Phaedrus Lachen erregen und zugleich das Leben bessern;
seine Fabeln sind nur Scherze4). Auch die Mimen erhoben
durchaus den Anspruch, mit ihrer Lebensschilderung trotz allen
burlesken Spafses und aller Darstellung von Laster und Sünde
zur Besserung der Menschen beizutragen5).
Wenn also Martial die „iocos improbi Phaedri" erwähnt, so
dürften damit vornehmlich wohl die mimischen Scherze gemeint
sein, da ja im allgemeinen der Mimus und die Mimen als „im-
probi" galten; denn den eigentlichen Fabeln bei Phaedrus mit
ihrer ernsthaften und moralischen Tendenz „improbitas" vorzu-
werfen, wäre doch etwas ungereimt.
Es ist lustig genug, dafs Phaedrus sein fünftes Buch vor-
nehmlich mit Reminiscenzen aus dem Mimus angefüllt und dafs
er seine moralisierenden Betrachtungen gar an die burlesken
Lazzi der mimischen Narren geknüpft hat. Was also bei
Phaedrus eigene Erfindung scheint — wie besonders die Schnurre
von Ardalio — , hat er im allgemeinen aus dem Theater und
») Vgl. oben S. 76.
2) Phaedri fabularum libri quinque, Leipzig 1877, Cap. I, pag. IX.
3) Man hat den Phaedrus wiederholt und sehr mit Recht einen Plebejer
gescholten; so Leo, Plautin. Forschungen S. 24: „Die archäische Versbildung
des Plebejers Phaedrus ist eine Anomalie und tritt aus dem vornehmen
Kreise der herrschenden Richtung heraus".
4) Proemium zu Buch I:
Duplex libelli dos est; quod risum movet
Et quod prudenti vitam consilio mottet.
Calumniari si quis autem voluerit,
Quod arbores loquantur, non tantum ferae,
Fictis iocari nos meminerit fabulis.
5) Choricius giebt ihnen darin auch durchaus Recht, vgl. oben S. 215.
Der Ardalio Philistions 443
besonders aus dem Mimus; da wäre es also weiter nicht ver-
wunderlich, wenn Ardalio gerade ein Typus des Mimus wäre1).
*) Phaedrns hat hier durchaus nicht wider den Geist und Sinn der
Fabeldichtung verstofsen. Auch die Fabel fafst wie der Mimus den ßios von
der realistischen Seite. Sie begreift wie der Mimus das menschliche Leben,
wie es wirklich ist; wie der Mimus zeichnet sie durchaus realistische Typen,
wenn sie diese auch in Tiergestalt verkleidet. Man darf sich durch das nur
scheinbar Phantastische dieser Verkleidung nicht über den strengen Realismus
der ganzen Dichtung tauchen lassen. Der Wolf, der das Lamm zerreif-t,
weil es ihm das Wasser des Stromes trübt, obwohl er oben am Strome steht
und da- Lamm weiter unten (Phaedr. I, 1 >, der Kranich und der undankbare
Wolf (I, 8), der Fuchs und die Trauben (IV. 3), um nur ein paar Beispiele
zu geben , sind so realistische, biologische Typen, wie sie nur je ein Mimo-
graph erfunden hat. So glaubte Goethe ganz richtig in seinem Reineke
Fuchs den Weltlauf geschildert zu haben, wie er wirklich ist, darum nannte
er ihn die „unheilige Weltbibel-. Auch Phaedrus ist sich deutlich seines
Zusammenbanges mit der realistischen Poesie bewufst und seine Anlehnung
an den Mimus ist offenbar nur eine ganz konsequente Folge dieser Einsicht
in das durch und durch realistische Wesen der Fabeldichtung. Vgl. be-
sonders IV, 3. Wer die Entwickelung-geschichte des Mimus aus dem mimi-
schen Tanze begreift, der wird sich über diese Beziehung zwischen Tierfabel
und Mimus am allerwenigsten wundern: denn in seinen Anfangen war der
mimische Tanz vornehmlich Tiertanz: und dieser stellte die Typen der
Tiere mit derselben realistischen Ethologie und Biologie dar, wie sie — man
denke etwa an den Wulf, den Fuchs, den Esel — in der Fabel erscheinen
(Da> Nähere über den Tiertanz siehe im VII. Abschnitt dieses Kapitels). Aus
diesem uralt>n, mimischen Tiertanz ist in den Uranfängen der hellenischen
wie der gesamten Menschheit ebenso der Mimus wie die Tierfabel hervor-
gegangen. Denn in primitiver Form findet sich die Tierfabel ebenso wie
der Mimu« über die ganze Erde verbreitet. Vielfältig hat auf die Tier-
fabel Ratzel in der Völkerkunde Bezug genommen. Tierfabeln finden sich
sowohl bei den Wildstämmen in Amerika wie Afrika. Darüber giebt es eine
ganze Litteratur. Wir wollen hier den Zusammenhang zwischen Fabel und
Mimus nicht weiter verfolgen; aber es ist interessant genug, auch diese
höchst wichtige Art der populären Dichtung in so naher Verbindung mit
der volkstümlichen Burleske zu erblicken; überall zeigt die eigentliche Volks-
poesie zu dem volksmäfsigen Drama, dem Mimus, die allernächsten Be-
ziehungen. Hier will ich an eine Bemerkung von Wilamowita erinnern
(Hermes Bd. XXXTV, S. 208): „Und wie stehn sie (die Mimologen) zur Thier-
fabel: bei Arcbilochos sprachen doch Fuchs und Affe. .Und immer grasten
wir Distelblätter ', heifst Sophrons Fragment 166: wer anders hat das
sagen können als ein Esel?" Aus dieser neuen Erkenntnis heraus wollen
444 Sechstes Kapitel.
Ich werde nun weitere Überlieferung für Ardalio heran-
ziehen:
1. Etym. M. : AiyvmvoQ to 1/jcxtiov rjQdälwoz fiov avxl xov
rjößöXcotisv ifioXvvev.
2. Gloss. Lab. p. 1616: ardalio noXvygdyfioov.
wir nur noch kurz die berühmte Stelle bei Ammianus Marcellinus richtig
interpretieren, in der Philistion und Aesop zusammen erwähnt werden (siehe
den Text oben S. 426, Anm. Nr. V). Grysar a. a. 0. S. 314 schliefst aus dieser
Stelle auf einen Mimographen Aesopus. In der That scheint dieses Resultat
mit guter Methode gewonnen; denn da Aesop mit Philistion zusammensteht,
mufs er ein Mimograph gewesen sein, und wie Philistion dem Griechen
Aristides entspricht, so entspricht Aesop dem Lateiner Cato; also haben wir
einen lateinischen Mimographen Aesopus. Diese Auffassung Grysars hat wie
alle die zahlreichen Irrtümer über den Mimus und seine Geschichte Geltung
behalten. Noch heute figuriert der Mimograph Aesop z. B. bei Schanz in
der römischen Literaturgeschichte. Daraus kann diesem vortrefflichen
Werke natürlich kein Vorwurf gemacht werden; wo, wie auf dem grofsen
Gebiete des Mimus jede zuverlässige Vorarbeit fehlt, kann der Litterar -
historiker, der die ganze, ungeheure, römische Litteratur umfafst, nicht an
seinem Teile alles selber leisten. Jetzt, da wir auf die Ähnlichkeit zwischen
Mimus und Fabel aufmerksam geworden sind, werden wir nicht mehr aus
einer Zusammenstellung Aesops mit Philistion schliefsen, dafs Aesop ein
Mimograph war. Wenn die Alten den Namen Aesop nennen, so verstehen
sie wie wir Modernen eben darunter Aesop. Es wäre ja allerdings besser,
dafs die Richter sich die Muster der Gerechtigkeit Aristides und Cato zu
Lehrmeistern nähmen, aber auch die Mimographen und die Fabeldichter
können sie mit ihrer humoristischen Ethologie und Biologie zur Not lehren,
was Recht und Gerechtigkeit ist, und wie es in der Welt zugeht; aber ein
ordentlicher Jurist sollte sich allerdings ernsthaftere und wissenschaftlichere
Quellen der Belehrung suchen.
Bei Martial III, 20 heifst es:
Die, Musa, quid agat Canius mens Rufus:
Utrumne chartis tradit ille victuris
Legenda temporum acta Claudianorum?
An quae Neroni falsus astruit scriptor?
An aemulator improbi iocos Phaedri?
Lascivus elegis an severus herois?
An in cothurnis korridus SopJiocleis?
Gleich hat Grysar hier wieder auf einen neuen, lateinischen Mimographen
Phaedrus geschlossen, der sich würdig dem Mimographen Aesop anschliefst
Der Ardalio Philistions. 445
3. Excerpta ex libro glossarum: ardulio argutus cum ma-
lignitate; Goetz, Corp. Gloss. Lat. V, S. 168.
4. Glossae Scaligeri (Isidori): ardalio glutto vorax manducus;
a. a. 0. V, S. 590.
5. Glossae Scaligeri: mandones ambrones ardeliones1); a.a.O.
V, S. 605.
6. Hesychius: aQÖaXcofisyovg TccQatTopevovg2).
Also seiner Grundbedeutung nach heifst Ardalio „ Schmutz-
fink'*. Dafs es gerade ein Ägypter ist, der einem andern den
Mantel beschmiert, ist merkwürdig. Sonst pflegten die Ägypter
allerdings gleich den ganzen Mantel zu stehlen ). Wir haben
den Ausdruck „jemand anschmieren". IJoXvnQdyiJtüov stimmt gut
zu der unnützen Vielgeschäftigkeit der Ardalionen bei Phaedrus
und Martial. Diese Betriebsamkeit ist wohl nicht selten mit
allerlei Hintergedanken verbunden, d. h. cum malignitate. Darum
ist Tiberius so hart gegen den Ardalio. Daneben ist Ardalio
ein Fresser und Säufer (No. 4, No. 5). Daran erinnert weder
Martial noch Phaedrus, aber das gehört eben mit zu den typi-
schen Eigenschaften der lustigen Figur im griechischen und
römischen Mimus. Im kampanischen Mimus, der Atellane, hat
der Maccus von dieser Eigenschaft direkt seinen Namen. Ich
erinnere auch an den mimischen Herakles, den starken Mann,
der nach den ins Humoristische gewendeten Proben seiner un-
glaublichen Stärke sich auch als ein ebenso unglaublicher Fresser
zeigt und dann zu einem starken Trünke Lust hat4). Noch heute
fa. a. 0. S. 315), und Friedländer (Martialausgabe I, S. 292) folgt ihm. Ach
nein! dieser Mimograph Phaedrus ist unser Fabeldichter, der allerdings die
Mimographen nachahmt und darum improbus genannt wird: vgl. Martial
11,86,4:
Non sunt ftaec mimü improbiora.
1) Überliefert ist tardeliones; ich brauche meine Änderung in ardeliones
wohl nicht weiter zu befürworten.
2) Einzelne von diesen Stellen verdanke ich der Güte 0. Rofsbachs.
3) Vgl. oben S. 184—185.
4) Das Weitere über den mimischen Herakles s. Kap. IX. Cynismus
und Mimologie. Absehe. I.
446 Sechstes Kapitel.
mufs Pulcinell vor dem jubelnden Volke seine Maccaroni
schlingen, die so lang sind, dafs sie ihm um die Ohren
schlagen1).
Wie alle Gutschmecker — man denke z. B. an Falstaff —
ist die lustige Person im Mimus natürlich unerdenklich feige,
so feige wie Dionysos und Xanthias bei Aristophanes in den
durchaus mimischen Unterweltsscenen2).
Nach Arnobius schreien die stupidi laut auf vor grundloser
Angst und trippeln ängstlich hin und her, ohne etwas verbrochen
zu haben 3). Darauf deutet das taQaTto/Asvovg. „Bestürzt"
wird wohl auch der Ardalio gewesen sein, den Kaiser Tiberius
verhöhnte.
Wir haben schon zum Vergleich den Pulcinell heran-
gezogen. In der That ist Ardalios Ähnlichkeit mit ihm unver-
kennbar. Wie könnte es auch anders sein, da die moderne,
italienische Burleske, wie wir noch zeigen werden, die direkte
Fortsetzerin des griechischen (byzantinischen) Mimus ist. Auch
Pulcinell ist wie Ardalio glutto vorax manducus und gehört zu
den mandones. Auch Pulcinell ist durchaus noXvn^dy^(üv\ er
versucht sich in den verschiedensten Berufen. Schliefslich wird
er gar Räuberhauptmann4). Eine Abart des Pulcinell ist der
Meo-Patacca, und er ist zweifellos ein Ardalio, wie er im Buche
steht5). Natürlich hat Pulcinell mit allen seinen Unternehmungen,
1) Vgl. z. B. Sand, Masques et Bouffons I, S. 140: „Une des facüies
qu'il repetait souvent, surtout en temps de carnaval, car pendant le careme il est
defendu ä Polliciniella de porter ni masque ni costume, c'etait de manger dans un
enorme cantaro (vase de nuit), des monceaux de macaroni dont ce personnage est
tres-friand. On le voyait alors tirer ces longues pätes, et se les faire descendre
dans la bouche de toute la hauteur de son bras, aux grands tclats de rire de
l'assistance.
2) Ich erinnere auch an den Angsthasen in dem theokriteischen Mimus
dhelg, der als Sicherheitskommissarius den Namen Asphaiion (Sicherer) führt.
3) Vgl. oben S. 113, Anm. 2.
4) Sand a. a. 0. I, S. 135: Pulcinella, chef de brigands; dort findet sich
eine genaue Inhaltsangabe dieses Stückes.
5) Vgl. Sand a. a. 0. I, S. 154: Meo-Patarca s'irrite de l'audace de „ces
canailles de Turcs infames" qui osent assieger Vienne, cette cite chrttienne. 11 forme
Der Ardalio Philistions. 447
wie es einem echten Ardalio zukommt, nicht gerade allzuviel
Glück. Ein wenig Schmierfink wie Ardalio ist auch Pulcinell
und ebenso der deutsche Kasperle. Vor allem aber ist, andere
anzuschmieren, ihre höchste Lust. Sie sind auch wie Ardalio leicht
zu erschrecken, wenn auch im Grunde ihre alte Unverschämtheit
und Zuversicht stets von neuem wieder zum Vorschein kommt.
Wir sahen, dafs die lateinischen Glossen, wenn vom Theater
die Rede ist, beileibe nicht den Mimus vergessen '), und auch
sonst nehmen sie gerne auf den Mimus und mimische Typen
Bedacht8); darum gedenken sie wohl auch wiederholt des
Ardalio.
le projet d'aller la delivrer, et s'arretant devant la statue de Marc-Antoine, .,qui
a la main leve'e en signe de triomphe'', il la regarde et dit: „Qui tait si ton ne
verra pas un jour dresser ici une autre statue? Qui sait si un komme que fappelle
moi ne s'en montrera pas dignef'' Ses compagnous, au nombre de dix, qui le
suivent comme les moutons suivent le premier de la bände, Vadmirent de'ja et s'in-
clinent devant lui".
l) Vgl. oben S. 266.
a) Das möge folgende Zusammenstellung verdeutlichen:
imitatores umtjicti
imitatio uiutjffic:
imitat umtttai
imitatur fttftmrttt] Glossae latino - graecae ; Goetz, Corp. Gloss. Lat.
II, S 77.
u^urjatg imitatio
utuog mimus
fuuovfi<rt emitor; Glossae graeco-latinae; a.a.O. 11,371.
scurpax mimarius
seenicus mimicus
scurra imrisio
scurrio irrisor
scurrilitas locus turpis; Glossae nominum ; a.a.O. II, S. 592.
strambulus strantibus dei mimitum; Glossae nominum; a.a.O. II, S. 593.
srena theatri locus aut ludus mimicus; Glossae Codicis Vaticani 3321 ;
a. a. 0. IV, S. 168.
mimologus qui mimos docet; Glossae Codicis Sangallensis 912; a. a. 0.
IV, S. 258.
mimografus quam mimos creuit: Glossae ab Absens; a. a. 0. IV, S. 416.
mimolacus qui minus docet; Glossae Affatim; a. a. 0. IV, S. 538.
histrir mimo seenicus; Glossae Cod. Sangall. 912; a. a. 0. IV, S. 244.
448
Sechstes Kapitel.
Bei Justin fanden wir die Schilderung einer lustigen Figur,
die jegliche Kunst und jegliches Handwerk auszuüben sich unter-
mimolagus qui mimos docet; Glossae Cod. Vat. 3321; a. a. 0. IV, S. 117.
mimi ioculares grc; Placidus Codicis Parisini; a. a. 0. V, S. 116.
mimilogus qui minos docet; Glossarium Ampi, secundum; a.a.O. V, S. 310.
monopticus mimus; Glossae Scaligeri; a. a. 0. V, S. 603.
sannator fxvxTt]Qi,<sirig
sannasubsannator fxüixog; Glossae latino-graecae a. a. 0. II, S. 178.
^tjkoTvnos pelicator pelix; Glossae latino-graecae ; a. a. 0. II, S. 322.
scena theatri locus
scurrulla subtilis inpostor; Glossarium Ampi, secundum; a. a. 0. V, S. 331.
morio stultus malus
siculus stultus, qui cito movetur ad iram. Plaut, quid tu o momar
sicule homo praesumis ; Glossae Seal. ; a. a. 0. V, 604.
ludis dediti; Glossae Cod. Vat. 3321; a. a. 0. IV, S. 168.
quasi parasitus puplicus qui non desinit caenas puplicas
puplicus inpostor; Glossae affatim; a. a. 0. IV, S. 571.
theatri locus
histrionis ioculares; Glossae Abavus; a. a. 0. IV, S. 389.
qui res rediculas dicit et facit
parasitus bucellarus
subtilis inpostor; Glossae Abavus ; a. a. 0. IV, S. 390.
saltatores scenici; Glossae Abavus; a. a. 0. IV, S. 349.
praepositi meretricum; Glossae Cod. Sangall. 912; a. a. 0.
IV, S. 244.
(vgl. über diesen Ausdruck oben S. 227.)
saltatores
prepositi meretricum; Glossae Cod. Vat. 3321; a.a.O. IV, S. 87.
imitator
homines pecuati; Glossae Bernenses; a.a.O. III, S. 500.
qui propter mercedem alapas patitur
calvus calvaster; Glossae Scaligeri; a. a. 0. V, S. 589.
Albrecht Dieterich hat „Pulcinella" S. 153—182 gründlich und geist-
reich über den Spitzhut als Kopfbedeckung des burlesken Schauspielers ge-
handelt, der, ursprünglich zur Tracht des hellenischen wie des italischen
Bauern gehörig, die Bedeutung des Priester-, des Freibeits- wie des Narren-
hutes erlangte. Im Narrenhute feierte Kom seine Saturnalien. Den spitzen
(grünen) Hut trägt gelegentlich auch der italienische Arlechino wie der
Wiener Hanswurst seit Stranitzky. Der Circusclown erscheint ja heute noch
gewöhnlich mit dem spitzen Hute, wie man in jedem Circus sehen kann.
Diesen spitzen Hut nimmt Dieterich vermutungsweise auch für die Mimen
mmnarius
momar
scenici
scurra
scurrola
scena
scenici
8cur
scurra
scurro
histriones
histriones
histrones
histriones
mimetes
moriones
alopus
apiciosus
Der Ardalio Philistions. 449
fängt; die alles kann und versteht, natürlich nur in ihrer Ein-
bildung; die in Wut gerät, wenn sie deswegen verlacht wird;
dieser Typus erinnert Zug für Zug an unsern Ardalio, und
diese burleske Figur wird direkt als mimisch bezeichnet ').
Doch wir können die Wahrscheinlichkeit, dafs Ardalio ein
Typus des Mimus ist, zur Gewifsheit erhöhen. Es ist eine
häufig wiederkehrende Erscheinung im Bühnenleben, dem antiken
wie dem moiernen, dafs Schauspieler sich nach ihren Haupt-
rollen nicht blofs auf dem Theater, sondern auch im bürger-
lichen Leben nennen. So liefs sich der Dottore „Herr Doctortt
nennen, als ob er allen Rechtens promoviert hätte, wie Devrient
in der Geschichte der deutschen Schauspielkunst wiederholt
hervorhebt; Francesco Cherea, der Erfinder der Commedia
dell' arte, der Günstling und Lieblingskomiker Papst Leos X-,
hatte seinen Namen von dem terentianischen Cherea, den er mit
besonderem Beifall zu spielen pflegte8). Ähnlich steht es mit
dem berühmten burlesken Darsteller, der von 1618 — 1630 in
Paris die Rolle des Tabarino (eine Abart des Coviello) gab.
Man kennt ihn nur unter dem Namen Tabarin. Nach dieser
Rolle des Tabarino nannte sich schon früher am Ende des
16. Jahrhunderts ein französischer Hanswurst Tabary8). Nun
wird in den Acta Sanctorum unter dem Jahre 303 von einem
Mimus berichtet, in dem die christliche Taufe dargestellt und
verspottet wurde. Die lustige Person, die in diesem Stücke den
heilsbegierigen Heiden und Täufling darstellte, hiefs Ardalio4).
Da hat also Martial den dilettierenden Mimographen, den er
in Anspruch. Diese Vermutung erhebt unsere Stelle hier, die Dieterich
entgangen i>t, zur Gewifsheit. Der Hut, und zwar gerade der spitze Hut
in der specifischen Form des Apei (vgl. die Abbildung bei Dieterich S. 166),
war dem mimus calvus, dem stupidus graecus, dem uwqö; (fakaxgös durch-
gebend eigentümlich, darum heifst er eben apiciosus. An den moderneu Circus-
narren, der gleichfalls ein apiciosus ist, habe ich schon erinnert.
y) Vgl. oben S. 32, Anm. 3.
3) Vgl. Klein, Geschichte des Dramas IV, S. 903.
5) Vgl. Sand ,a. a. 0. II, S. 295.
*) Vgl. oben S. 83-85.
Reich, Mimus. oq
450 Sechstes Kapitel.
einen Hänswurst nennen will, geistreich mit dem Namen des
mimischen Hanswurst gekennzeichnet.
Kein unberühmter Mimograph wird diesen berühmten Typus
erfunden haben. Nun hat Ludwig Friedländer ganz richtig be-
merkt, der Ausdruck Ardalio sei in der ersten Kaiserzeit auf-
gekommen. Zuerst findet er sich bei Phaedrus, dann bei
Martial.
Fünferlei mufs also bei dem Ardaliotypus zusammentreffen:
1. Er mufs aus einem Mimus stammen, und zwar
2. einem griechischen,
3. der in Rom zur Aufführung kam,
4. zuerst in der Zeit kurz vor Phaedrus
5. und dann unablässig Jahrzehnte und Jahrhunderte lang.
Denn nur so konnte sich der Ardaliotypus den Römern so
einprägen, dafs er sprichwörtlich wurde. Alles fünf stimmt auf
die Stücke Philistions und nur auf sie allein. Es waren Mimen,
in griechischer Sprache, wurden zu Rom aufgeführt, und zwar
zuerst kurz vor der Zeit des Phaedrus und dann unablässig.
Da hat also der Mimograph so recht ins volle Menschen-
leben hineingepackt. Mit kecker Kunst schuf er die lustige
Person im Mimus zu diesem neuen Typus aus dem gesellschaft-
lichen und sozialen Leben Roms um. Man hatte sich schon
lange über diese vielgeschäftigen Nichtsthuer moquiert und ge-
ärgert, wie es Seneca thut. Da brachte sie Philistion als Ardalio
auf die Bühne, und fortan war man mit dem Worte: „Du bist
ein Ardalio- diese Gesellen und den Verdrufs über sie los, der
sich schnell in ein lautes, mimisches Lachen auflöste. Da hat
Philistion seine berühmte Lebensweisheit glücklich bethätigt und
das ßi(0(feX£g]) seiner mimischen Biologie2) gezeigt.
Nun wird aber der mimische Narr nicht etwa nur einmal
1) ßiai(f,elrjs wird Philistion in der M(v«v$qov xal <t>ifoOTi<üvog ovyxQiots
Vers 8 und 9 genannt.
2) Ein Ardalio ist auch der Diener des Bruders Cipolla (Zwiebel) bei
Boccaccio (sechster Tag, zehnte Geschichte). Er heifst Guccio Schmutzfink,
Der Ardalio Philistions. 451
in einem philistionischen Mimus ^Aqdakioiv geheifsen haben, son-
dern, da diese Rolle stehend ist, so hiefs er eben bei Philistion
wohl gewöhnlich Ardalio und nicht mehr Sannio, wie zu Ciceros
Zeit. So erscheint Arlechino zum Trivelino und Truffaldino meta-
wie auch Ardalio Schmutzfink bedeutet. Er besitzt besonders neun schlechte
Eigenschaften:
Ein Lügenmaul
Ist er und faul,
Verbofst in Trutz, (cum malignitate)
Und reich an Schmuz; {rjoöaXwu^vo;)
Stets voll Verdacht
Und unbedacht; {xagaTjöfitvoc)
Ein Feind der Pflicht,
Ein grober Wicht,
Und was er soll,
Das thut er nicht
„Außerdem", pflegte Bruder Cipolla zu sagen, „hat er noch einige
andere Fehlerchen: doch die wollen wir mit dem Mantel der christlichen
Liebe zudecken. Was indefs an seinen seltsamen Manieren das Spaßhafteste
ist: in jedem Dorfe, wohin er geräth, will pr ein Weib nehmen und ein Haus
miethen, und, so lang und schwarz und schmuzig auch sein Bart ist, bildet
er sich dennoch ein, so schön und so anmuthig zu sein, dafs seiner Meinung
nach alle Frauenzimmer, die uns zu Gesichte bekommen, sich in ihn ver-
lieben, und liefse man ihn gewähren, so liefe er allen nach, und verlöre
Gürtel und Kragen. Einräumen mufs ich indefs, dafs er mir vielfach sehr
behülflich ist; denn, so geheim auch jemand mit mir zu reden habe, so ist
er immer auf dem Platze, um sich sein Theil davon abzuhorchen; und wenn
ich vorkommendenfalls um etwas gefragt werde, so ist er so besorgt, ob ich
auch auf die Antwort gerüstet sei, dafs er jedesmal sich vordrängt, und als-
bald ja oder nein für mich antwortet, wie es ihm eben gut dünkt". (Das Deca-
meron von Giovanni di Boccacio, übersetzt von Karl Witte II, S. 234 u. 235.)
Auch der Ardalio thut zwar alles Mögliche, nur nichts Ordentliches,
Vernünftiges und Pflichtgemäßes. Also wie der Ardalio hat Guccio die selt-
samsten und für ihn unausführbarsten Pläne im Kopfe und fällt mit übel
angebrachter Dienstfertigkeit seinem Herrn zur Last wie der Ardalio bei
Phaedrus dem Kaiser Tiberius. Offenbar hat hier Boccaccio sich den
typischen, lustigen Diener und stupidus der italienischen Volksburleske zum
Muster genommen, der ein direkter Nachkomme des mimischen stupidus
und also auch des Ardalio ist. Auch im modernen Leben giebt es genug
Ardelionen; aber noch hat kein moderner Dichter diesen Typus klassisch
gestaltet wie Philistion.
29»
452 Sechstes Kapitel.
morphosiert. So ist Meo-Patacca und Birrighino nur eine andere
Erscheinungsform des Pulcinella, und ob der Pierrot nun Bertoldo,
Paggliaccio oder Peppe Nappa heifst, es ist immer der alte
Pierrot, nur verschieden nuanciert. Darum wird in den Glossarien
der Ardaliotypus mit so mannigfaltigen Eigenschaften bezeichnet,
die alle zusammen natürlich nicht recht bei einer einzigen lustigen
Figur auf einmal vereinigt in Erscheinung treten konnten. Die
„natio ardalionum" war eben so zahlreich und zeigte so ver-
schiedene Spielarten, dafs der ^Aqöaliu>v stets als derselbe un-
nütze, zwecklose Geselle und doch immer wieder in einer neuen
Gestalt auftreten konnte, bald als senex ardalio, bald als di-
lettierender Stutzer, bald als übereifriger, mit seiner erheuchelten
und nutzlosen Dienstfertigkeit lästiger Bedienter, bald als träger,
gefräfsiger, dem Trünke ergebener Schmierfink, und dann wieder
als glänzender, vielgeschäftiger, in allen Sätteln gerechter Glücks-
ritter (nolv7TQciyfiü)v). So ist Pulciuell bald ein schneidiger
Räuberhauptmann, bald ein windiger Bedienter, und dann wieder
ein Krämer oder gar ein englischer Lord. So erscheint Hans-
wurst in den verschiedensten Metamorphosen und versucht sich
in den verschiedensten Berufen. Zuletzt hat sich dann Ardalio
noch gar zum Märtyrer und christlichen Glaubenshelden metamor-
phosiert. Eben das zwecklose Handeln, das Laufen und Jagen nach
imaginären Zielen, als was dem Heiden des Christen asketischer
Lebenswandel, sein unablässiges Singen und Beten, Fasten und
Kasteien nun einmal erschien, ist das wesentliche Kennzeichen
des Ardalio. Zugleich aber sehen wir, wie die Bezeichnung der
lustigen Figur als Ardalio durch die Jahrhunderte gedauert hat ;
denn der Ardalio des Taufmimus starb im Jahre 298.
Noch in der historia Apollonii regis Tyri nennt man den
Hans Narren, ob er nun lustig oder blofs thöricht ist, Ardalio.
Apollonius liegt unten im Schiffe und betrauert den Verlust
seiner Frau und Tochter. Da aber hört er, dafs im Hafen von
Mytilene, wo er sich gerade befindet, ein grofses Fest gefeiert
wird. Er läfst seinen Matrosen zehn Goldstücke zum Feste
geben, aber wer ihn selbst unten in seiner Trauer stört, dem
droht er die Beine entzwei zu schlagen. Da kommt Athenagoras,
Der Ardalio Philistions. 453
ein vornehmer Mann aus Mytilene (princeps civitatis), und bittet
einen Matrosen, ihn zu Apollonius zu führen; dafür bietet er
ihm zwei Goldstücke. Da macht der Matrose im Hinblick auf
die Drohung des Apollonius den dummen Witz: „Glaubst du, ich
kann mir für zwei Goldstücke vier Beine kaufen?" Dieser etwas
stupide Witzbold heifst Ardalio (a. a. 0. c. 39).
Drei Jünglinge bitten den König Archistrates um die Hand
seiner Tochter, diese aber will nur einen Schiffbrüchigen (eben
Apollonius). Als der König nun fragt, welcher von ihnen dreien
denn schon Schiffbruch gelitten habe, meldet sich einer ganz
keck; da meinen die andern: „Wie kannst du solchen Unsinn
reden? du bist ja nie zum Thore hinausgekommen". Da steht
der dummdreiste Narr verlacht und bestürzt da (zagattöpsvos);
er heifst Ardalio (a. a. 0. c. 21).
Was für die moderne Burleske der Harlekin, der Hanswurst,
was für die Atellane der Bucco, Maccus, Pappus und Dossennus,
das bedeutet für die Hypothese seit Philistion Ardalio.
Wenn wir nun sehen, wie sehr dieser Ardalio den Beifall
der Römer und des Erdkreises gewann, wie dieser gelungene
Typus der lustigen Lebensschilderung, der mimischen Biologie,
sich dann durch die Jahrhunderte behauptete, in Epigramm und
Fabel und schliefslich gar in den Roman eindrang und im
Kampfe zwischen Christentum und Heidentum noch gar ein
Stimmführer der Heiden wurde, dann leuchtet uns eine Ahnung
auf, dafs die Alten mit ihrer Wertschätzung Philistions und
seiner biologischen Komödie Recht haben könnten, dafs wirklich
noch das erste Jahrhundert nach Christus einen hellenischen
Klassiker erlebt hat, wenn auch den allerletzten, und die Verse
der Anthologie:
6 %6v vcokvativaxtov äv&Quinoov ßiov
yiXoou xtodous Ntxaevg 0i/.tGiioav
gewinnen für uns Leben und Bedeutung1).
») Fisch (Archiv für lat. Lexikographie V, 1888, S. 61 u. 62) macht aus
unserm Ardalio einen ardulio, leitet ihn von ardulns her und rechnet ihn
unter die lateinischen Substantiva personalia auf o, onis.
454 Sechstes Kapitel.
V.
Philistions Philogelos.
Aufser seinen Mimen hat Philistion noch den Philogelos ge-
schrieben 2), d. h. ein Witz- und Schnurrenbuch. Wenn nach Suidas'
kaum verständlichem Ausdruck zu diesem Buche noch der Barbier
in Beziehung gebracht wird, so mag vielleicht Philistion diese
Schnurren einem Barbier in den Mund gelegt haben. Denn die
Barbiere galten von jeher als die eigentlichen Erzähler und
Verbreiter von allerhand Schnurren. Kommt doch im Philogelos
selbst der Witz vor, dafs ein Herr, von einem Barbier gefragt :
„Wie soll ich dich rasieren?" antwortet: „schweigend". Ich er-
innere an Theophrasts Witzwort, der die Barbierstuben aoiva
(yvfinoöMx nannte2). Freilich hat Bernhardy, der seiner Zeit
allein die Bedeutung Philistions annähernd richtig würdigte,
rundweg erklärt, ein so grofser Poet könne nicht der Verfasser
eines Witzbuches sein3). Aber wir sahen, wie selbst Martial
sich nicht gescheut hat, die Typen und Scenen, Witze und
Schnurren des Mimus in seine fein geschliffenen, scharf zu-
gespitzten Epigramme aufzunehmen. Auch Phaedrus liefs sich
herbei, der alten aesopischen Fabel mimische Schnurren im Fabel-
gewande hinzuzufügen. In den Rhetorenschulen erörterte man
spitzfindig Probleme, die zum ersten Mal der Mimus aufge-
worfen hatte. Warum sollte da der grofse Mimograph nicht
selbst auf den Einfall kommen, die lustigen Witze und Schnurren
aus seinen Mimen, die man sich ohnehin schon, so gut man es
vermochte, überall wiedererzählte, in ein kleines Büchlein zu
sammeln? Der „ridiculus Philistio", der fitfiog yeXoicov, betitelte es
*) Wie Suidas bezeugt. Vgl. oben S. 426, Anm. Nr. I.
2) Vgl. über alles dieses oben S. 310, Anm. 2. Ein Schwätzer sonder
gleichen und unerschöpflich an allerhand Geschichten und Schnurren ist
auch der seltsame Barbier in „Tausend und eine Nacht", Hundertund fünfzigste
Nacht u. folg., der dort mit einem fast mimischen Realismus der Darstellung
geschildert wird.
3) Vgl. Grundrifs der griechischen Litteratur II3, 2, S. 554.
Philistions Philogt. 455
„Philogelos *, rder Lachlustige". So gab Melissus, der Freund
und Freigelassene des Maecenas, der als Verfasser national
römischer Lustspiele (trabeatae) bekannt ist, in seinem Alter
eine Sammlung von Schnurren (ineptiae) heraus, die, wie es
scheint, eine zweite Auflage erlebte1). Auch Joseph Stranitzky,
der Wiener Theaterdirektor, Lustspieldichter und burleske Acteur,
der zuerst die Wiener Posse nach dem Vorbild der Commedia
dell' arte schuf, der wie Philistion zugleich ein Mime und Mimo-
graph gewesen ist, verfafste neben seinen Mimen noch ein Witz-
und Schnurrenbuch, die „Ollapatrida des durchgetriebnen Fuchs-
mundi", in dem er mancherlei Schnurren aus seinen und andern
Mimen zum besten gab2).
Als der Mime Tabarin viele Jahre hindurch das Pariser
Publikum ergötzt hatte, ward später ein Facetienbuch gesammelt,
in dem alle seine lustigen Erfindungen und Witze vorkamen3).
In einer Pariser, einer Münchener und einer Wiener Hand-
schrift ist ein Büchlein überliefert:
OIAOrEAQS
EK T2N
IEPOKAEOrS KAI OIAATPIOr
rPAMMATIKON.
Da haben wir einen Philogelos, nur ist es nicht der von Suidas
bezeugte des Philistion, sondern es ist ein Auszug aus den
Sammlungen zweier Grammatiker, Hierokles und Philagrius.
In dieser Sammlung von Schnurren kommt die Erwähnung
der Feier des tausendjährigen Bestandes von Rom im Jahre 246
J) SuetoD, De gramm. 21, p. 116 R.
8) Vgl. Werner, Ollapatrida des durchgetriebnen Fuchsmundi. Wiener
Neudrucke, Wien 18S6, II. Bändchen.
3) Vgl. Sand a. a. 0. II, S. 301. Dieser Recueil des farces tabariniques
begann mit folgenden Versen:
9Oevtst este perte est ränge
Si, perdant Tabarin des yenx,
Nous eussions per du le meslange
De set devit facttieux. u
456 Sechstes Kapitel.
n. Chr. vor1), also kann diese Sammlung in letzter Form erst
nach der Mitte des dritten Jahrhunderts verfafst sein. Die beiden
Grammatiker, die als ihre Urheber genannt werden, sind ganz ob-
skure Leute, die sich nicht weiter identifizieren lassen8). Das
Nächstliegende ist also immerhin, dafs wir hier eine „vermehrte
und verbesserte" Überarbeitung des berühmten, alten Philogelos
Philistions haben. Denn Grammatiker pflegen doch höchstens der-
artige Schnurrenbücher neu zu bearbeiten und herauszugeben; sie
selber zu verfassen, liegt im allgemeinen ebenso tief unter ihrer
"Würde wie über ihrer Kapazität3). Aufserdem hätte kein Gram-
matiker von sich aus eine so burleske Volkssprache gesprochen,
wie sie sich in diesem Büchlein findet.
Es sind gewifs nicht viele philistionische Sentenzen über-
liefert worden. Aber so wenig es auch sind, eine davon kommt
doch im Philogelos vor. In der Wiener Apophthegmensammlung
heilst es: „Philistion, gefragt, welche Schiffe sicher wären, die
Kauffahrtei- oder die Kriegsschiffe, antwortete: die ans Land
gezogenen", und im Philogelos heilst es: „Ein Feiger, gefragt,
welche Schiffe sicherer seien, die Kriegs- oder die Kauffahrtei-
schiffe, antwortete: die ans Land gezogenen"4).
Auf Schritt und Tritt werden wir in diesem Philogelos an
») Nr. ftT.
a) Vgl. Eberhard a. a. 0. S. 61.
3) Dafür spricht auch der Titel, der nicht lautet: „aus dem Philogelos
der Grammatiker Hierokles und Philagrius", sondern: „der Philogelos aus
den Sammlungen der Grammatiker Hierokles und Philagrius". Sehr eigen-
tümlich ist es auch, dafs mitten in dieser Sammlung steht: ix rov ^iXöyeXw.
Es ist eben wohl immer der bestimmte, sonst allein bekannte Philogelos
Philistions gemeint, den zuerst der Grammatiker Hierokles bearbeitete und
herausgab und dann von neuem der Grammatiker Philagrius. Aus den Aus-
gaben beider wurde dann später unser Auszug gemacht; darum wiederholen
sich auch in diesem Buche trotz seines geringen Umfanges zahlreiche Witze,
weil sie in der einen Ausgabe einer anderen Person zugeschrieben waren
als in der andern; was einmal vom ,,Scholasticus" erzählt wird, wird mit den-
selben "Worten vom Kymäer und Sidonier berichtet und so fort.
4) Allerdings wird diese Sentenz bei Athenaeus VIII, 350 b als Ausspruch
des Klearchos erwähnt; Aber in den Philogelos ist sie hineingekommen, weil
sie später ebpn für philistionisch galt.
Philistions Philogelos. 457
den Mimus erinnert. Ein Scholasticus, ein Kahlkopf und ein
Barbier machen zusammen eine Reise. In einer Einöde halten
sie Rast und beschliefsen, je einer soll vier Stunden wachen und
aufs Gepäck achten, während die andern schlafen. Der Barbier,
welcher zuerst Wache halten soll, will einen Witz machen und
schert den schlafenden Scholasticus kahl. Als dann seine Zeit
um ist und nun der Scholasticus die Ablösung hat, weckt er
ihn. Noch schlaftrunken kraut sich dieser den Kopf, merkt,
dafs er kahl ist, und ruft voll Empörung: „Da hat nun dieses
Scheusal von Barbier statt meiner den Kahlkopf aufgeweckt!"
Es ist eine übermütig-lustige Schnurre, der Scholasticus verliert
durch das Kahlscheren direkt sein Ich ; so wird in dem Interlude
„Jack Juggler" Jenkin Careaway aus seiner Identität heraus-
geschreckt, so der Sklave Sosias im Amphitruo '). Der Kahlkopf
erinnert uns an den kahlen Narren (fionQoc (fcüaxQÖg) im Mimus.
Wir kennen eine ähnliche Reisegesellschaft aus Petron. Da ist
auch ein Barbier mit Eumolp, Encolp und Giton zusammen auf
Reisen, und dieser Barbier schert Encolp und Giton kahl, und
Lichas beschwert sich nachher, er sei mimicis artibus getäuscht
worden (Petron 106, Buecheler . S. 73). Nun verstehen wir diese
wunderliche Reisegesellschaft im Philogelos; wir haben hier eine
burleske Scene aus irgend einem Mimus, vermutlich einem phili-
M Auch an das Volksmärchen mahnt diese seltsame Geschichte. Ich
erinnere an „Der Frieder und das Catherlieschen". Von Frieder aufgefordert,
geht das faule und dumme Catherlieschen anfs Feld Frucht schneiden; dort
spricht sie zu sich: „ess' ich, eh' ich schneid, oder schlaf ich, eh' ich
schneid? hei, ich will ehr essen!" Da als Catherlieschen und ward überm
Essen schläfrig, und fleug an zu schneiden und schnitt halb träumend alle
seine Kleider entzwei, Schürze, Rock und Hemd. Wie Catherlieschen nach
langem Schlaf wieder erwachte, stand es halb nackigt da und sprach zu
sich selber „bin ichs, oder bin ichs nicht? ach, ich bins nicht!- Unter-
dessen wards Nacht, da lief Catherlieschen ins Dorf hinein, klopfte an ihres
Mannes Fen-ter und rief .Friederchen?" „Was ist denn?" „Möcht gern
wissen, ob Catherlieschen drinnen ist*. „Ja, ja", antwortete der Frieder,
es wird wohl drinn liegen und schlafen". Sprach sie „gut, dann bin ich
gewifs schon zu Haus" und lief fort. (Grimm, Kinder- und Hausmärchen I,
S. 229 und 230).
458 Sechstes Kapitel.
stionischen, vor uns. Vielleicht hat sich der kahlgeschorene
Scholasticus in der Überzeugung, dafs er der Kahlkopf und noch
gar nicht zum Wachen dran wäre, wieder aufs andere Ohr gelegt
und den drei Freunden erwachsen daraus die gröfsten Verlegen-
heiten; vielleicht hat er den Kahlkopf geweckt und beide
streiten sich nun, wer der richtige (faXaxgog wäre. Aus dem
lustigen, mimischen Einfall ergeben sich eben unglaublich
burleske Scenen.
Ein Bettelkerl, der gewohnt ist, seiner „Freundin" vorzu-
lügen, er sei ein Edelmann und reich, trifft plötzlich, wie er
mit dem Bettelsack zu den Nachbarn geht, seine „Freundin".
Schnell dreht er sich um und ruft ins Haus: „Sende mir auch
meinen Frack mit den goldenen Knöpfen1) nach!" Einen andern
armen Protzen findet seine „Freundin", da er krank ist und sie
ihn unerwartet besucht, statt in einem prächtigen Bett auf einer
armseligen Binsenmatte; da sagt er schnell: „Die Herren Medi-
zinalräte rieten mir zur Binsenmattenkur" 2). Ein anderer Narr
des gleichen Schlages begegnet seinem Bedienten, der eben vom
Landgut in die Stadt gekommen ist. Da fragt er ihn stolz:
„Wie steht's mit dem Vieh?" „Ach", sagt der, „das eine Schaf
schläft, und das andere Schaf geht" 3). Wir haben schon (S. 318
u. 319) gesehen, dafs der arme Protz ein beliebter Typus der
Komödie und des Mimus ist. Aber während der mimische
Sannio bei Herennius geschickt auf die prahlerischen Intentionen
seines protzigen Herrn ernsthaft eingeht4), setzt der Sklave in
Philistions Philogelos als rechter Sannio, als irrisor und ioculator,
seinen bettelstolzen Herrn mit seiner scheinbar naiven Antwort
in Verlegenheit.
Der Scholasticus will ein Haus verkaufen, da trägt er zur
1) <fißXaT(ÖQtov = tibul&torixim; Kleid mit einer fibula (natürlich von kost-
barem Metall, von Gold) og'.
2) Nr. pf „ol xaXol laiooi xccl Söxifiot ttjj nöXtiag txiXtvoüv fit i//*a-
&iO&rjvai".
3) Nr. or{ .
*) Vgl. oben S. 318.
Philistion; Philogelos. 459
Probe einen Ziegelstein mit sich herum1). Um die Komik dieser
Geschichte zu begreifen, mufs man sich die mimische Aktion des
Dümmlings dazu denken, der auf der Bühne mit gewichtiger
Miene seinen Ziegelstein vorzeigt und gar nicht begreifen kann,
wie man diese doch gewifs zuverlässige Probe nicht gelten lassen
will. Mit richtiger Witterung hat diesen Witz der moderne Mimus
für Arlechino und für Hanswurst reklamiert; er gehört zu den
Lazzi, wie er einst zu den mimischen Trics gehört hat').
Da der Philogelos in weiteren Kreisen so gut wie unbekannt
ist. gebe ich eine Anzahl weiterer Proben aus ihm, die hier,
soweit mir bekannt ist, zum ersten Male ins Deutsche über-
tragen werden. An ihnen kann man vor allem -den Begriff der
.mimicae ineptiae*. den wir schon erörtert haben, sich näher er-
klären. Zugleich aber vergegenwärtigen diese Witze uns mancherlei
mimische Typen und Scenen, was ich dem geneigten Leser
überlasse, sich im Einzelnen zu erläutern. Wir werden später
noch wiederholt Gelegenheit haben, auf einzelne von diesen
Schnurren zurückzukommen.
5. Einem rScholasticus" begegnete jemand und sagte zu
ihm: „Herr Doctor, im Traume sah ich Sie und sprach Sie an".
Der erwiderte: „In der That, ich war beschäftigt und habe nicht
darauf geachtet".
6. Ein „Scholasticus" sah seinen Hausarzt kommen und
wollte von ihm nicht gesehen werden. Von einem Gefährten
befragt, warum er das thue, antwortete er: „Ich bin schon
lange nicht mehr krank gewesen, und deshalb geniere ich mich
vor ihm".
7. Einem „Scholasticus-4, der eine Operation am Zapfen
bestanden hatte, verbot der Arzt das Sprechen. Da gab er
seinem Diener den Auftrag, an seiner Statt alle Begrüfsungen zu
M Nr. u«'. Dieselbe Geschichte irird pvg von einem Kymäer erzählt
die im Philogelos als eine Art Schildbörger figurieren.
*) Vgl. Sand a. a. 0. I S. 81: Dans une come'die, Arlequin veut vendre so,
maison; il cient trouver Vacheteur en seine, et, qßn. lui dit-il, qu'il n'aehete pas
chat en poche, il veut lui faire voir un tchantillon de la marchandise, et tire de
dessous son casaquin un yros plätras.
460 Sechstes Kapitel.
erwidern. Drauf sagte er zu jedem: „Nimm's mir nicht übel,
wenn mein Diener statt meiner dich begrüfst, der Arzt hat mir
nämlich das Sprechen verboten".
9. Ein „Scholasticus" wollte seinem Esel das „Nicht-
fressen" beibringen und gab ihm kein Futter mehr. Als dann
der Esel vor Hunger krepiert war, sagte er: „Mich hat ein
schwerer Verlust betroffen; als der Esel das „Nichtfr essen" ge-
lernt hatte, krepierte er".
11. Ein „Scholasticus" wollte sehen, ob es ihm gut stände,
wenn er schliefe. Da stellte er sich vor den Spiegel und schlofs
die Augen.
12. Zu einem „Scholasticus", der verreiste, sagte sein
Freund: „Kaufe mir doch zwei Pagen von 15 Jahren", worauf
er erwiderte: „Sollte ich solche nicht finden, so will ich dir
einen von 30 Jahren kaufen".
13. Zwei „Scholastiker" beklagten sich gegenseitig dar-
über, dafs ihre Väter noch lebten. Als der eine nun sagte:
„Bist du dabei, so wollen wir jeder den seinen erwürgen", ant-
wortete der andere: „Um Himmels willen, wir könnten ja Vater-
mörder gescholten werden; aber, wenn du willst, erschlägst du
meinen Vater, und ich deinen".
14. Ein „Scholasticus" hatte ein Haus gekauft; er stellte
sich in die Thür und fragte die Passanten, ob ihm das Haus
stünde.
15. Ein „Scholasticus" hatte geträumt, er sei auf einen
Nagel getreten; er bewickelte sich daher den Fufs. Ein Ge-
fährte fragte ihn nach dem Grunde, und als er ihn erfahren
hatte, sagte er: „Mit Recht heifsen wir Narren! Wozu auch
barfufs schlafen gehen?!"1)
17. Einem „Scholasticus" schrieb jemand, der verreiste, er
solle ihm Bücher kaufen. Der kümmerte sich nicht drum, und
!) Hier erinnern wir uns an Asphaiion im theokriteischen und sophro-
nischen Fischermimus, der den Schwur, den er im Traume geleistet hat,
gleichfalls als etwas Wirkliches und Reales behandelt; vgl. oben S. 374folg. ;
Träume und Traumdeuten ist ja überhaupt ein gewöhnliches Sujet des Mimus.
Philistions Philogelos. 461
als er ihn nach seiner Rückkehr traf, sagte er zu ihm: „Den
Brief betreffs der Bücher, den du gesandt hast, habe ich nicht
erhalten ".
18. Einem „Scholasticus" begegnete jemand und sagte zu
ihm: „Der Sklave, den du mir verkauft hast, ist gestorben".
Der antwortete: „Meiner Treu, solange er bei mir war. hat er
so etwas nicht gethan!"
19. Ein „Scholasticus" sah viele Spatzen auf einem Baume
sitzen. Er breitete seine Busenfalte aus. schüttelte den Baum
und wollte die Spatzen auffangen.
20. Zwei „ Scholastiker" begleiteten sich nach einem Gast-
mahl gegenseitig nach Hause, um sich die gebührende Achtung
zu beweisen, und kamen so nicht zum Schlafen.
22. Ein „Scholasticus* traf seinen Freund und sagte zu
ihm: „Ich hörte, du seiest tot!" Auf die Antwort: „Aber ich
lebe noch, wie du siehst!" sagte der „Scholasticus": „Und doch
war der, welcher es mir erzählte, viel glaubwürdiger als du!"
27. Ein „Scholasticus* verabredete mit dem Arzte, er
wolle ihm das Honorar nacli der Heilung zahlen. Als er nun
im Fieber Wein trank, schalt ihn seine Gattin. Da sagte er:
„Ach so! Ich soll wohl gesund werden und dem Arzte das Honorar
zahlen müssen?!"
29. Von einem Zwillingspaar starb der eine Bruder. Da
kam ein „Scholasticus" zu dem Überlebenden und sagte: „Bist
du tot oder dein Bruder?"
30. Bei einem Schiffbruch verlangte ein „Scholasticus -
eine Schreibtafel, um sein Testament aufzusetzen.
32. Ein „Scholasticus- war zu einem Gastmahl geladen,
afs aber nicht. Auf die Frage eines von den Gästen, warum er
nicht esse, gab er die Antwort: „Es sieht sonst so aus, als wäre
ich blofs des Essens wegen hergekommen".
33. Der Sohn eines „Scholasticus" spielte Ball. Der Ball
fiel in den Brunnen, er beugte sich vor, sah seinen Schatten (das
Spiegelbild im Wasser) und forderte von dem den Ball. Drauf
klagte er seinem Vater, dafs er ihn nicht wiederbekommen
habe. Nun beugte sich der in den Brunnen, sah seinen Schatten
4-62 Sechstes Kapitel.
und bat ihn um den Ball. „Herr", sagte er, „gieb dem Knaben
den Ball wieder" ').
34. Ein „Scholasticus" sah einen kranken Freund und
befragte ihn über die Krankheit. Als der keine Antwort gab,
sagte er ärgerlich: „Hoffentlich werde ich auch krank werden,
und dann werde ich dir auch keine Antwort geben". -
44. Ein „Scholasticus" schlief bei seinem Vater. In der
Nacht stand er auf und afs Weintrauben, die oben aufgehängt
waren. Sein Vater hatte ein Licht unter einem Topfe verborgen,
und als er aufstand, liefs er es plötzlich leuchten. Da stellte
der sich schlafend und schnarchte im Stehen.
51. Ein „Scholasticus" sah auf seinem Landgute einen
tiefen Brunnen und fragte, ob das Wasser gut sei. Als die
Landieute erwiderten: „Jawohl! deine Vorfahren haben draus
getrunken", sagte er: „Was müssen die für Hälse gehabt haben,
dafs sie aus solcher Tiefe trinken konnten!"
52. Ein „Scholasticus" war in eine Cisterne gefallen und
schrie fortwährend um Hilfe. Da aber niemand hörte, sagte er
zu sich selbst: „Ich bin doch dumm, dafs ich nicht hingehe
und alle durchpeitsche. Dann würden sie mir doch wohl ge-
horchen und mir eine Leiter bringen".
57. Einem „Scholasticus" hatte eine Magd ein Kind ge-
schenkt. Sein Vater riet ihm, es zu töten. Da sagte er: „Erst
begrabe du deine Kinder und dann rate mir, meines umzu-
bringen".
67. Ein „Scholasticus" kam aus der Fremde zurück und
traf seinen Schwiegervater. Der fragte ihn, wie sich sein Reise-
gefährte befinde. „Ganz vortrefflich geht's ihm jetzt", sagte er,
*) Ähnlich sieht Acco, die Närrin im alten dorischen Mimus, ihr Spiegel-
bild für eine wirkliche Person an, die ,sie anredet. Vgl. Idxxü : inl rwr
[twnatvovTtov. 'H yäg llxxcu ywr\ ytyovev Inl {i<o(>(ct diaßtßorjfitvr), r^v ifaoiv
£go7iTQi£o[i€v7}v irj stxövi cog h^gy SiaXiyta&af evd-ev xal rö Axxi&o&ai negl
TavTTjv Itkfy&ai (Paroem. gr. ed. Leutsch u. Schneidewin I, pag. 21, wo auch
die weiteren Stellen über 'Axxü angeführt sind. Als einen Typus aus der
dorischen Komödie hat die Acco erwiesen Zielinski. Quaestiones comicae
S. 45 folg.
Philistions Philogelos. 463
„und er ist guter Dinge; er hat nämlich seinen Schwiegervater
begraben ■.
76. Ein „ Scholasticus" kam ins Sarapeum. Da gab ihm
der Priester einen Zweig und sagte; „Der Herr ist dir gnädig".
Der erwiderte: „Der Herr mag meinem Ferkel gnädig sein; ich
bin ein freier Mannu.
77. Ein „Scholasticus* hatte seinen Sohn begraben. Er
traf dessen Lehrer und sagte zu ihm: „Entschuldigen Sie, dafs
mein Sohn nicht zur Schule gekommen ist; er ist gestorben".
80. Ein „Scholasticus* machte eine Seereise. Das Schiff
geriet durch einen- Sturm in Gefahr. Da warfen seine Reise-
gefährten von ihrem Gepäck ins Meer, um das Fahrzeug flott zu
machen, und forderten ihn auf, dasselbe zu thun. Der hatte eine
Obligation von 1 500 000 Drachmen, wischte die 500 000 weg und
sagte: -Von so grofsen Wogen habe ich das Schiff befreit".
81. Ein „Scholasticus" sagte auf einem Schiffe zu seinen
Reisegefährten, die bei eiiiem Sturme weinten: „Warum seid ihr
so geizig? ich habe zehn Thaler mehr gegeben und fahre auf
Gefahr des Schiffsherrn".
87. Ein „Scholasticus" hatte sich zu Hause das Zeug eines
Gladiators (atxovToiQ) umgethan und übte. Da meldete ihm jemand
die Ankunft seines Vaters. Er warf den Degen weg und nahm
die Beinschienen ab. Sein Vater war aber schneller bei ihm, als
er erwartet hatte. So las er denn in einem Buche, den Schutz-
korb noch vor dem Gesichte.
96. Von zwei feigen „Scholastikern" verbarg sich der
eine in einem Brunnen, der andere im Schilf. Als nun die
Soldaten den Helm abnahmen, um Wasser zu schöpfen, glaubte
jener, ein Soldat werde herabsteigen; er bat um Pardon und
wurde gefangen genommen. Als die Soldaten meinten, sie wären
an ihm vorbeigegangen, wenn er geschwiegen hätte, sagte
der im Schilf verborgene: „Geht also an mir vorbei: ich
schweige ja".
104. Ein Geizhals machte sein Testament und setzte sich
selbst zum Erben ein.
139. Ein Arzt aus Sidon hatte von seinem Patienten ein
464 Sechstes Kapitel.
Legat von 1000 Drachmen nach dessen Tode erhalten. Beim
Begräbnis folgte er dem Leichenzuge und schalt darüber, dafs
er ihm ein so kleines Legat hinterlassen hatte. Als nun auch
der Sohn des Verstorbenen von einer Krankheit ergriffen wurde
und ihn rufen liefs, damit er ihn untersuchte und die Krankheit
bekämpfte, sagte der Arzt: „Wenn Sie mir 5000 Drachmen als
Legat hinterlassen, werde ich Sie kurieren, wie Ihren Vater".
140. Ein Witzbold sah einen thörichten Schulmeister
docieren, trat zu ihm heran und fragte ihn, warum er keinen
Unterricht im Zitherspielen erteile. Der antwortete: „Das kann
ich nicht". Da sagte er: „Wie kommt es denn, dafs Sie in den
Wissenschaften unterrichten, ohne es zu können?"
142. Ein Witzbold war augenkrank. Ein diebischer Arzt lieh
sich Yon ihm einen Leuchter und gab ihn nicht wieder. Eines
Tages nun fragte er ihn: „Wie geht's mit Ihren Augen?" Da
sagte der Witzbold: „Seitdem Sie den Leuchter von mir geborgt
haben, sehe ich ihn nicht*.
149. Ein Witzbold war von jemand im Bade unverschämt
behandelt und führte als Zeugen die Zugiefser an. Sein Gegner
verwarf dieselben als unglaubwürdig. Da sagte er: „Wenn
ich im trojanischen Pferde unverschämt behandelt worden wäre,
würde ich als Zeugen Menelaos, Odysseus, Diomedes und ihre
Gefährten anführen; nun ist aber die Unverschämtheit im Bade
passiert, da müssen die Zugiefser den Thatbestand wohl besser
kennen".
183. Zu einem mürrischen Arzte kam jemand und sagte:
„Herr Doctor, ich kann weder liegen noch stehen noch auch
sitzen". Da sagte der Arzt: „Dann bleibt Ihnen nichts übrig,
als sich hängen zu lassen".
185. Ein mürrischer Arzt, der nur ,ein Auge hatte, fragte
einen Kranken: „Wie geht es Ihnen?" Der antwortete: „Wie
Sie sehen". Da sagte der Arzt: „Wenn es Ihnen so geht, wie
ich sehe, dann sind Sie zur Hälfte tot".
187. Ein mürrischer Wahrsager sollte einem kränklichen
Kinde die Nativität stellen; er erklärte, dafs es der Mutter lange
erhalten bleiben werde, und verlangte sein Honorar. Die ant-
Philistions Philogelos. 465
wortete: „Koramen Sie morgen, dann werde ich es Ihnen geben".
Da sagte er: „Wie nun? Wenn das Kind in der Nacht stirbt,
soll ich dann mein Geld verlieren?"
190. Ein Murrkopf spielte Dambrett. Ein Müfsiggänger safs
dabei und redete ihm beständig drein. Der ärgerte sich und
fragte ihn: „Von welcher Zunft sind Sie und warum gehen Sie
müfsig?" Jener antwortete: „Ich bin Schneider, habe aber
nichts zu thun". Da zerrifs er seinen Rock, gab ihm den und
sagte: „Nehmen Sie ihn und arbeiten Sie und halten Sie den
Mund".
191. Einen Murrkopf fragte jemand: „Wo wohnen Sie?"
Da sagte er: „Dort, woher ich komme!"
201. Zu einem närrischen Seher kam jemand1) und fragte
ihn, wie es zu Hause stände. Der sagte: „Alle sind gesund,
auch Ihr Vater". Als der nun sagte: „Mein Vater ist schon
seit zehn Jahren tot", antwortete er: „Sie wissen ja gar nicht,
wer in Wahrheit Ihr Vater ist".
202. Ein närrischer Astrolog stellte einem Kinde die
Nativität und erklärte: „Es wird Redner, dann Statthalter,
dann Imperator werden". Als das Kind gestorben war, forderte
seine Mutter das Honorar zurück und sagte: „Der, von dem Sie
sagten, er werde Redner, Statthalter und Imperator werden, ist
gestorben". Da antwortete er: „Bei seinem Andenken, wenn er
am Leben geblieben wäre, wäre er wohl alles geworden".
211. Zwei Faule schliefen zusammen. Da kam ein Dieb
herein, zog ihnen die Decke herunter und stahl sie. Der eine
merkte es und sagte zum andern: „Steh' auf und ergreife
den, der die Decke gestohlen hat". Der antwortete: „Lass'
nur; wenn er kommt und das Kissen nehmen will, werden wir
ihn fassen, wir beide".
213. Ein Fauler hatte seinesgleichen einen Denar geliehen.
Er traf ihn und forderte den Denar. Da sagte der: „Strecken
!) i£ anoärjuiag inaviüv ist ein ungeschickter Zusatz; er kann nur iv
unoö^uUt den Seher befragen; wenn er erst zu Hause ist, weüs er es ja
selber am besten.
Reich, Mimuc. 3Q
466 Sechstes Kapitel.
Sie Ihre Hand aus, lösen Sie mein Schnupftuch und nehmen Sie
den Denar". Da sagte der andre: „Gehen Sie weiter; von jetzt
ab sind Sie mir nichts mehr schuldig".
219. Ein Hungerleider gab einem andern seine Tochter zur
Frau. Als er gefragt wurde, was er ihr als Heiratsgut mitgebe,
antwortete er: „Ich gebe ihr ein Haus, dessen Thür nach der
Bäckerei führt".
227. Zu einem Trunkenbold, der in der Kneipe trank, trat
jemand und sagte: „Ihre Frau ist gestorben". Als der das hörte,
sagte er zum Wirt: „Herr, mischen Sie mir also schwarzen Wein".
228. Ein Trunkenbold wurde von jemand gescholten, weil
er vom vielen Trinken den Verstand verloren hätte. Er konnte
infolge des Trunkes nicht mehr gut sehen und antwortete: „Bin
ich betrunken oder Sie, der Sie zwei Köpfe haben?"
249. Ein Weiberfeind hatte ein schwatzhaftes und zank-
süchtiges Weib. Als sie starb, begrub er sie auf einem Schilde.
Das sah jemand und fragte nach dem Grunde. Da antwortete
er: „Sie war streitbar!"
256. Ein „Scholasticus- Schulmeister" hörte von einem
Schüler, dafs er krank sei, am andern Tage, dafs er Fieber
habe, und später von dessen Vater, dafs er gestorben sei. Da
sagte er: „So macht ihr Ausflüchte und lafst eure Kinder nichts
lernen".
263. Ein „Scholasticus" hatte Aminäerwein und versiegelte
ihn. Sein Sklave bohrte ihn unten an und stahl von dem
Wein. Da wunderte er sich, dafs die Siegel unverletzt waren
und der Wein doch weniger geworden war. Ein anderer sagte:
„Sieh doch nach, ob er nicht von unten weggenommen ist".
Drauf antwortete er: „Dummkopf, der untere Teil fehlt ja
nicht, sondern der obere".
Man sieht, diese Witze sind nicht von der Sorte der geist-
reichen, sie sind im Gegenteil urdumm und damit zugleich ur-
drollig. Eberhard, der letzte Herausgeber, meint, es seien
facetiae vel potius ineptiae1); allerdings „mimicae ineptiae". Es
') a. a. 0. S. 58.
Philistions Philogelos. 467
sind die dummen Witze, die so viel verborgenen Gehalt haben,
wie sie Laberius, Syrus, Philistion und nach ihnen hier und da
auch Shakespeare liebt.
Wir haben (S. 68) schon den dummen Witz aus dem Mimus
angeführt: „solang er sich im Bade aufhielt, starb er nie"; so
sagt der philistionische Dümmling, als er hört, dafs sein ver-
kaufter Sklave gestorben ist: „Bei mir hat er so etwas nie ge-
than*. Wie dumm diese Auffassung und doch wie tief; welche
Schlechtigkeit auch von diesem niederträchtigen Sklaven, auf
einmal zu sterben und so alle Erwartungen, die man mit allem
moralischen Recht auf ihn setzt — hat man ihn doch gekauft — ,
zu täuschen. Als jemand in einem Mimus (vgl. oben S. 68) dem
stupidus seine Frau vorstellt, macht der ihm die seltsame Eloge,
sie sei „sein Ebenbild*. Als ob nicht Eltern und Kinder, sondern
Mann und Frau sich ähnlich sehen müfsten. Ebenso werden im
Philogelos mit der Ähnlichkeit die lustigsten mimicae ineptiae
getrieben (vgl. Nr. 30. Nr. 101). Wenn im Philogelos auf die Frage:
wo wohnst du? geantwortet wird: dort, woher ich komme; so
beantwortet bei Pomponius (43. 44. R.) ein zudringlicher Neu-
gieriger die Aufforderung, er solle bei Seite treten, mit der
naiven Frage: wie weit?
Viele von diesen Schnurren kann man nur verstehen, wenn
man sie sich mit mimischer Aktion auf dem Theater vorgeführt
denkt. Ich erinnere an den Scholasticus mit dem Ziegelstein.
Man denke sich auch die Schnurre: der Scholasticus breitet
seine Busenfalte aus und wird die Sperlinge vom Baum her-
unter in seinen Busen schütteln; es ist der reine Blödsinn;
denken wir aber einmal an die mimischen Lazzi und an das
oben besprochene Fliegenfangen der stupidi, gleich begreift man
das Lustige dieses mimischen Auftritts. In einem mimischen
Intermezzo thut der papo?, als ob Sperlinge auf einem Baume
säfsen; man sieht, er breitet seine Busenfalte aus, um die herab-
fallenden Spatzen darin aufzufangen, und nun plötzlich fängt er
an, den Baum zu rütteln; offenbar erwartet er, die Spatzen
sollen nun in sein Tuch herunterfallen; er schüttelt verwundert
sein Narrenhaupt, dafs dies nicht der Fall ist, und blickt er-
30*
468 Sechstes Kapitel.
staunt in das Publikum, das sich im „risus mimicus" über den
stupidus ausschüttet. Warum sollte Philistion diesen etwas
albernen Witz nicht in den Philogelos aufnehmen; hatte doch
Phaedrus mimische Lazzi wie das Fliegenfangen, die damals das
Entzücken des Publikums bildeten, gar in seine Fabeln auf-
genommen. Wenn der Narr, um zu sehen, ob er im Schlafe gut
aussieht, sich vor den Spiegel stellt und die Augen schliefst, so
gehört das wohl auch zu den Lazzi der (jbcoqoi und moriones.
Vor allem sind diese Schnurren meistens Situationswitze.
Sie sind eben zum grofsen Teil den Scenen des Mimus ent-
nommen. Ich erinnere an den Scholasticus, der sich in der
Rüstung des Fechters einpaukt; sein Vater aber will als strenger
Herr, wie es die Väter in der Komödie und im Mimus sind, von
solchem Unsinn nichts wissen. Da hört der Sohn ihn plötzlich
kommen; nun rasch herunter mit dem ganzen Ausputz; aber
der Alte ist doch zu schnell, und nun steht der Sohn mit dem
grofsen Fechterkorb vorm Gesicht da und studiert eifrig in
einem Buche. Das ist eine Bühnenscene. Ich verweise auch
auf den Bucco auctoratus des Pomponius.
Ganz wie im Mimus werden im Philogelos Gelage und Hoch-
zeiten, selbst Kindtaufe und Begräbnis gefeiert, es kommen Be-
trügereien und Diebstähle, Kabalen und Ränke vor; selbst Schiff-
brüche fehlen nicht (mimicum naufragium). Es sind die gewohnten
Scenen des ßiog, die der Mime, der Biologe, vorführt. Auch die
Typen, die da auftreten, entsprechen ganz den mimischen. Da sind
besonders Ärzte, alberne, betrügerische, diebische, mürrische, ganz
wie im Mimus, der seit dem lakonischen Mimus, dem Dikelon,
den Arzt unter seine typischen Figuren zählt, Wahrsager, Schul-
meister, Schiffer, Bettler, Sklaven, Diebe, Kuppler, Kneipwirte,
Trinker, die sich ebenso alle im MimuS' ünden. Es sind die
lustigen Typen der mimischen Biologie, die hier mit ihrer
realistischen Lebenswahrheit, ihrer bodenlosen Narrheit und
seltsamen Drolerie an uns vorüberziehen. Diese pedantischen
Schulmeister, die da lehren, was sie selber nicht verstehen, und
die es doch für das gröfste Unglück ansehen, wenn ein Junge
mal eine Schulstunde versäumt, und durchaus den Entschuldigungs-
Philistions Philogelos. 469
zettel verlangen, denen nicht Krankheit, kaum einmal der Tod
als rechter Entschuldigungsgrund gilt, die überall böswilliges
Schulschwänzen wittern in richtiger Erkenntnis der sehr geringen
Anziehungskraft, die sie ausüben; diese Wahrsager, die den
Leuten gerne ein äufserst günstiges Prognostikon für die Zukunft
stellen, damit sie in ihrer Freude ordentlich in den Geldsack
greifen, die dem Neugeborenen die glänzendste Karriere pro-
phezeien und dann schnell ihr Geld verlangen, damit das Kind
nicht etwa schon am nächsten Tage tot ist und sie ums Honorar
kommen, die nie um eine Ausrede verlegen sind, wenn alles
anders kommt, als sie prophezeit haben; diese Ärzte, die gierig
ein möglichst hohes Honorar herausschlagen wollen und sich
sonst wenig um das Ergehen ihrer Patienten kümmern, die
ihre Kranken mürrisch und grob behandeln und gelegentlich
auch bei ihren Krankenbesuchen irgend einen kostbaren Gegen-
stand auf Nimmerwiedergeben „borgen4*. Da sieht man
auch den ängstlichen Patienten, der sich versteckt, wie er den
Arzt auf der Strafse kommen sieht, weil er so lange nicht
krank war und ihm nichts zu verdienen gegeben hat; und der
Dümmling will überhaupt nicht gesund werden, damit er dem
Arzt nicht das unerschwingliche Honorar zu zahlen braucht, das
er ihm für den Fall der Genesung versprechen mufste. Das
sind die Farben, mit denen der Mimus seine Ärztetypen malte.
Ich erinnere an die „Mania medica1' des Novius, an den „medicus"
des Pomponius1).
Vor allem aber ist der [uoqoq im Philogelos ein spezifisch-
mimischer Typus, haben wir doch unter diesen [iioQoi schon
*) Wenn Martial so unablässig auf die Ärzte loszieht, so hat er hier
wie so häufig seinen Pinsel in den mimischen Farbentopf getaucht; •wenn er
besonders gern auch Leute, die aus dem Munde oder sonstwie übel riechen,
verspottet, so scheint das gleichfalls, wie der Philogelos lehrt, aus dem Mimos
zu stammen. Bei Martial (III, 17) bläst jemand in eine Pastete, um sie
abzukühlen, hinein und macht sie zu — Mist. In dem Philogelos bläst
der Papa, der oSöotojios ist, in den Brei des Kindes, und dieses bedankt sich
dafür mit dem Worte: äua xuxü, wo xaxu durchaus nicht blofs „schlecht*
bedeutet (Nr. 236).
470 Sechstes Kapitel.
den echt - mimischen ^cogog (faXaxgog angetroffen. Die bur-
lesken Typen des Mimus und seine wichtigsten Darsteller
zerfallen in zwei Gattungen, den irrisor und den stupidus; dem
ersten entspricht etwa der srnganslog und dem zweiten der
liwQÖg. In unserm Büchlein bildet der evigccneXog nur einen
Abschnitt, während alle andern Charaktere die verschiedenen
Spielarten des peoQos, des Albernen sind. Die Kymäer, die Sidonier
und die Abderiten, die Prahler, die Geizigen, die Trunkenbolde,
die Neidischen, die Feigen, die Faulen, die Mürrischen1), alles
sind Narren. Und dafs gerade die Narren bevorzugt sind, ist
verständlich genug; denn von ihnen vornehmlich gehen die mimi-
schen „ineptiae" und die mimischen Lazzi aus.
Ein Narr besonderer Art ist nun der „Scholasticus"; diesen
Typus wollen wir ein wenig näher beleuchten; denn die „ineptiae"
des Scholasticus machen den gröfsten Teil des Philogelos aus.
Nirgends wird uns der Begriff des Scholasticus so deutlich wie
in Lukians Dialog Hermotimus. Dieser gute Hermotimus hat noch
in den Vierzigern angefangen, Philosophie zu treiben, und drückt
nun schon 20 Jahre die Kollegbänke. Er hat keine Zeit, weiter
mit Lukian, der ihn in ein Gespräch verwickelt, zu disputieren,
sonst könnte er am Ende noch gar das Kolleg versäumen. Trotz
allen Ernstes und Eifers studiert er niemals aus. Doch hofft
der Sechziger, wenn er noch 20 Jahre weiter strebt, werde er
die Höhen der stoischen Philosophie erklommen haben und dann
allein weise, allein reich, allein glücklich, allein Herr und König sein.
Im übrigen ist er bei aller Schulgelehrsamkeit von grofser Naivetät
der Auffassung. Als er zum Beispiel hört, sein Professor habe
in der Hitze des Disputierens dem Peripatetiker Euthydemus ein
Loch in den Kopf geschlagen, triumphiert er über den Sieg. Er
') Ausdrücklich betont Cicero (vgl. oben S. 66), „das Mürrische, Aber-
gläubische, Argwöhnische, Prahlerische, Alberne sei Gegenstand der Dar-
stellung des Sannio und des mimischen Lachens. Das Mürrische kenn-
zeichnet dann Cicero mit einem Witze aus einer Atellane desNovius: „Was
weinst du, Vater?" — „Soll ich etwa singen, wenn ich verurteilt bin?" Das
stimmt gut zu den Aussprüchen des Mürrischen im Philogelos. Bekannt
ist der Mimus des Syrus „Mumurco", der Murrkopf, der Brummpeter.
Philistions Philogelos. 471
ist wirklich ein „Scholasticus", wie er im Buche steht. Doch ist
er von Vater und Mutter her ein vermögender Mann, der es
nicht nötig hat, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, und der
bequem das teure Kolleggeld bezahlen kann.
Ganz in diesem Stile ist der Scholasticus des Philogelos;
es ist der gelehrte Narr, ob er nun alt oder jung ist. Wie
Hermotimus ist er meist recht wohlhabend; er kauft oder ver-
kauft ein Haus (14. 41. 85. 156), er besitzt ein Landgut (46.
47. 51. 60. 108. 131.210), hat grofse Viehherden (108) und zahl-
reiche Sklaven (18. 108), leiht Geld auf Zinsen (50. 161). Er ärgert
sich, dafs sein reicher, alter Vater nicht stirbt und er ihn nicht
beerben kann (13. 152). Seltener treibt der Scholasticus ein
gelehrtes Gewerbe, er ist Rhetor und Rechtsanwalt (54. 129.),
Arzt (3. 139. 142. 143. 175. 176. 177. 182. 183. 184. 185. 186.
189. 222. 260.) oder Schulmeister (61. 77. 140. 196. 197. 255.
256.), aber immer ist er der gleiche ficagög, der sich in die
Verhältnisse des praktischen Lebens durchaus nicht zu finden
weifs und überall verlacht und genarrt wird. Kurz und gut,
dieser Scholasticus ist der Dottore der italienischen Commedia
dell' arte. Wir haben auch schon gesehen, dafs der gelehrte
Mann wie besonders die Philosophen schon Jahrhunderte vor
Philistion zu den mimischen Typen gehörten. Ich erinnere nur
an den Dossennus der Atellane. Aber mit dem Scholasticus hat
Philistion die klassische Dottore-Figur der Antike geschaffen.
Der Scholasticus ist gewifs nicht weniger genial erfunden
wie der Ardalio. Diese Dottores, die wie Hermotimus weiter
keine Beschäftigung hatten, die von ihrem Vermögen und dem
ihrer Familie als nutzlose Drohnen zehrten, die jahraus, jahr-
ein an den verschiedenen Universitäten bis ins hohe Alter hin-
ein studierten und dabei als gelehrte Herren auf die öffent-
liche Achtung grofsen Anspruch hatten, wenn man sie auch für
ein wenig verrückt hielt, haben damals wohl Land und Meer
erfüllt und sich nicht selten höchst lästig gemacht. Da brachte
sie Philistion, der Biologe, auf die Bühne. Seitdem hat der
Dottore zu den wichtigsten, mimischen Typen gehört, und selbst
der Scholasticus der türkischen Burleske, der Eflfendi Hadschievad,
472 Sechstes Kapitel.
der Gegenspieler des Karagöz, ist, wie wir noch zeigen werden,
ein Nachkomme des philistionischen Dottore.
Sehr eigentümlich ist die Sprache des Philogelos; wieder-
holt betonen die Herausgeber, wie sich auf Schritt und Tritt
Reminiscenzen an die Volkssprache finden 2). Das wäre bei einem
Büchlein, das auf zwei gelehrte Grammatiker zurückgeht, uner-
klärlich, wenn wir nicht wüfsten, dafs es mit dem Mimus, der ja
vornehmlich die Volkssprache kultiviert (vgl. oben S. 394 — 396), zu-
sammenhängt, und zwar nicht mit dem griechischen Mimus im all-
gemeinen, sondern mit dem griechischen Mimus Philistions, der in
Rom aufgeführt wurde. Um so interessanter ist es nun, im Philogelos
eine grofse Zahl lateinischer Wörter und Latinismen zu finden *).
Philistion hat wohl damit dem römischen Publikum seine Stücke
ein wenig näher bringen wollen, zugleich aber hat wohl wirklich
die Sprache der Griechen in Rom lateinische Brocken angenommen.
Wir finden ja auch in dem sizilischen Mimus Sophrons hier und
da Wörter lateinischen Sprachstammes eingesprengt.
So verdeutlicht uns der Philogelos ein wenig die burleske
Kraft der Mimen „ridiculi Philistionis" ; gewifs, sie waren, wenn
man an die überlustigen Scenen denkt, die der Philogelos an-
deutet, zum Totlachen, und Philistion ist ja auch nach der Sage
am Lachen gestorben. Freilich sind sie meistens urdumm, diese
Witze. Aber gerade in ihrer scheinbaren Thorheit und Narrheit
machen sie das Närrische und Thörichte der meisten mensch-
lichen Verhältnisse aufs deutlichste offenbar. Lustig lärmend und
lachend schwingt hier der mimisch-biologische Humor die klin-
gelnde Narrenkappe über dem menschlichen ßioq.
Wir können hier nur im allgemeinen auf die Beziehungen
i) Vgl. Eberhard a. a. 0. S. 62.
a) Ich führe hier einige auf: fiiXiov 42. 60. 131. 132., 6r]vdgiov 86
124. 198. 213. 224. 225., axäXa 194., xsvtovqCwv 138. Dazu die viel selteneren
osxovtwq 87., aravXog lQ.,-(pißXaTWQiov 106., xoqtivcc 162., acc. ßovXßüv 103., to
Xlyaxov 139., oyjixevovres 154., raßXi&iv 190., ßiyiXtvaac statt dyQV7ivrjaai 56.,
ßgdxas 64., lov7ir)s 257. (Herodian. Epim. p. 46 Ixxlvog, -'Xovnrji), aäyov 211.
So wird auch Korn genannt 62., 'Pwfiaios 138., und selbst das Grabmal der
Scribonia {Zx^ßcovCas tivrifxa 73).
Philistians Philogelos. 473
des Philogelos zum philistionischen Mimus aufmerksam machen.
Im einzelnen ist es vorläufig noch nicht möglich, das philistio-
nische Gut von den späteren Zusätzen zu scheiden1). Dazu
bedarf es einer kritischen Ausgabe des Philogelos, welche
die Überlieferung auf eine genügend sichere, handschriftliche
Basis stellt2).
Im Mittelalter hat der Philogelos, den man heute als
niederes Witz- und Schnurrenbuch im grofsen und ganzen mit
Verachtung straft, eine grofse Wirkung ausgeübt, eine gröfsere,
als manches unaufhörlich edierte und mit allem gelehrten Fleifs
erläuterte Buch klassischer Kunst. Damals rechnete man eben
die Witz- und Schnurrenbücher nicht in dem Mafse zur niederen
Litteratur, wie man es heute thut, und namhafte Schriftsteller
verfafsten sogenannte Facetienbücher, so Poggio, Filelfo und
der deutsche Humanist Bebel. Ich erinnere auch an Jörg
Wickrams Rollwagenbüchlein, an die mancherlei Erzählungen
von den Schildbürgern und Laienbürgern, an den Pfaffen von
Kahlenberg und den Eulenspiegel. Diese Witzbücher gehen
vielfältig auf die älteste, erhaltene Schnurrensaramlung der Welt,
auf den Philogelos zurück. Richard Porson hatte die Absicht,
*) Natürlich wird es auch schon vor Philistion „Facetienbüchlein" ge-
geben haben und auch daraus mancherlei in den Philogelos geflossen sein:
aber wer kann das heute scheiden.
2) Die letzte Ausgabe von Eberhard hat noch als eine Grundlage:
apographum Parisinum codicis nescio cuius (sie!!) a Minoide-Mina factum;
(vgl. a. a. 0. S. 6). Vor allem aber bedarf dieses Büchlein auch eines
Kommentars, den weder Boissonade noch Corais und Eberhard leisten
konnten, da sie nichts von der Ursprungsgeschichte dieses Büchleins und
seiner historischen Stellung und vor allem nichts vom Mimus und von
Philistion wufsten. Darum hat man diese Schnurren auch bisher mit
gelehrter Pedanterie mifsachtet, und Eberhard fühlt sich verpflichtet,
seinen Kommentar mit den Worten zu schliefsen: Sed iam nimis puto hü
nugis indulsimus lectorum abusi patientia (a. a. 0. 76). Und doch ist dieser
Philogelos für die Erkenntuis der Entwickelung der komischen Poesie in
Hellas annähernd so wichtig wie das weltberühmte Charakterenbüchlein Theo-
phrasts, dem er in der Anordnung nach Charakteren ähnelt, und das ja
gleichfalls die nächsten Beziehungen zum Mimus hat.
474 Sechstes Kapitel.
diesen Einflufs des Philogelos im einzelnen nachzuweisen1). An
dieser Stelle ist das nun unsere Aufgabe nicht; aber wir sehen
doch, wie der Mimus als Urquell des Philogelos hier wieder eine
ganze, grofse Litteraturgattung energisch beeinflufst hat, und
auch so wird uns Philistions Bedeutung wieder bemerkbar.
Ich freue mich, dafür noch einen neuen Beleg, auf den
ich bei fortgesetztem Suchen in zwölfter Stunde stofse, hier
einschalten zu können. Marius Mercator, ein Freund und An-
hänger des heiligen Augustin und rüstiger Kämpfer in dem
pelagianischen Streite fährt in seinem Commonitorium adversum
haeresim Pelagii et Caelestii vel etiam scripta Juliani3) ingrimmig
auf den Bischof Julianus von Eclanum, einen eifrigen Pelagianer,
los, der sich allerhand Späfse und beifsende Spöttereien über
das Dogma von der Erbsünde erlaubt hatte. Mercator fordert
Julian auf, deswegen zu erröten; das wäre eine „obseönitas", wie
sie in den Mimus gehöre. Ja, das verdiene den Applaus der
Menge: „Du allein bist der einzige Philistion, und unter den
Lateinern3) ist dir allein Lentulus und Marullus zu vergleichen4);
denn des Petron und Martial Genie hast du allein überflügelt."
Wenn also später ein Mimus den besondern Beifall des Volkes
fand, scheinen sich in den Applaus Akklamationen, wie „unus
Philistion" gemischt zu haben. Der Vergleich mit Philistion
war offenbar die höchste Ehre, die später einem Dramatiker
zu teil werden konnte. So spricht Sidonius Apollinaris von
Mimen, die gerne für Nachfahren Philistions gelten möchten,
aber dessen nicht würdig sind5). „Welch ein Mime, fährt dann
Mercator fort, welcher Sannio möchte so etwas öffentlich vor-
bringen? Höchst elegant sind solche Witze, wie ein Mime
») Vgl. Eberhard a. a. 0. S. 60.
2) Aus dem Jahre 431 oder 432; vgl. Bardenhewer, Patrologie S. 480.
3) Man sieht also, dafs auch Mercator sich deutlich bewußt ist, dafs
Philistion ein Grieche ist.
4) Die beiden berühmtesten lateinischen Mimographen in der Zeit nach
Laberius und Syrus.
5) Vgl. oben S. 433.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 475
sprichst du Dach deiner gewohnten Art, und nach der mimischen
Manier des Arbiter (Petronius) und des Valerius (Martialis)"1).
Wie viel Martial der mimischen Biologie verdankt, haben wir
schon angedeutet, und wie viel Petron von ihr entlehnt, werden
wir noch im zweiten Bande zeigen. Philistion galt also mehr als
beide, und beide hatten gerade in den späteren Jahrhunderten
besondere Geltung. Für Mercator gehören natürlich die Heiden
Philistion, Petron und Martial in die Verdammnis ebenso wie
der pelagianische Bischof.
VH.
Die griechische Hypothese vor Philistion. Grundzüge ihrer Ent-
wickeiung von Uranfang an.
Es ist kaum nötig, den Klassiker des griechischen Mimus,
den man seltsamer Weise gar zum Lateiner gemacht hat, vor
der Meinung zu schützen, er wäre ein Nachahmer des Laberius
und Syrus. Philistion ist der Kulminationspunkt der kon-
sequenten, selbständigen, mimischen Entwickelung bei den Hellenen.
Um das völlig zu begreifen, müssen wir die Entwickelung des
hellenischen Mimus, bis er zur Hypothese, zum grofsen, mimi-
schen Drama wird, in ihren Hauptzügen überschauen.
l) Ich setze die Stelle aus der editio Stephani Baluzii, Parisiis 1684,
S. 9—11, hierher: m£rubesce, infelicissime, in tanla linguae scurrüis vel potius
mimicae obscoenitate. Vulgares tu dignus audirt acclamationes : Unus tu, unus
Fhilistion, unus Latinorum Lentulus, unus tibi Marullus comparandus, namque
Martialis et Petronii solus ingenia superasti .... atque utinam, quia hoc tibi fuisset
utihus, vitalem spiritum exhalasses, antequam tarn obscoena tamque pleno dedecoris
pleno ore proferres. Quis scenicus turpio, quis durio, vel sannio professae licentia
turpitudinis publice isla proferret ? . . . Eleganter scurra loqueris more tuo, et more
quo theatrum Arbitri Yaleriique detristi". Bei theatrum denkt man in des Marius
Mercator Zeit vornehmlich an Mimus und Pantomimus.
Damit fügen wir zu den elf oben (S. 427 folg.) angeführten, neuen Beleg-
stellen für Philistion die zwölfte. Zugleich gewinnen wir damit ein neues,
bemerkenswertes Zeugnis für den Sannio, die lustige Figur im lateinischen
Mimus. Noch im fünften Jahrhundert nach Christus ergötzte also Sannio
das Volk wie zu Ciceros Zeit. Auch für Petron waren bisher für die ältere
Zeit nur die drei Belegstellen aus Tacitus, Macrobius und Lydus bekannt
(bei Bücheier3, S. 3 u. 4). Hier haben wir nun eine vierte.
476 Sechstes Kapitel.
Wenn wir vom Ursprung des dramatischen Mimus, der
sich zur Hypothese entwickelt, handeln, müssen wir uns mit
einem Sprunge in die prähistorischen Zeiten des hellenischen
Volkes hineinbegeben. Der sizilisch-italische Mimus stammt aus
dem Peloponnes1). Die dorischen Kolonisten nahmen ihn schon
bei der Auswanderung mit in ihre neue Heimat. Besonders
blühte der Mimus im sizilischen Megara, wo Epicharm zuerst,
dann in Syrakus, wo er später lebte und nach ihm Sophron. Beide
Städte sind etwa am Anfang des achten Jahrhunderts gegründet
worden, ebenso Tarent, das gleichfalls eine Pflegestätte des itali-
schen Mimus, des Phlyax, war. Also am Anfang des achten Jahr-
hunderts giebt es schon eine Art dramatischen Mimus in den
sizilisch-italischen Kolonien der Dorier; wie viele Jahrhunderte
vorher mag er da schon im Mutterlande existiert haben ! 2) Der
Mimus hat mit seiner Entwickelung die ganze, antike, historische
Zeit, auf deren Schwelle er uns entgegentritt, erfüllt; so werden
seine frühesten Manifestationen sicher in noch viel frühere, prä-
historische Zeiträume hinabreichen. Über diese dunkeln Fluten
trägt uns die Ethnologie und die vergleichende Völkerpsychologie
mit starken Armen an den Ursprung des Mimus und der mimi-
schen Poesie. Sie belehrt uns über den dramatischen, mimischen
Tanz, welcher der Ursprung des Mimus war.
Bei allen Primitiven ist der Tanz ganz anders als bei den
Modernen das wichtigste Mittel ästhetischer Lebensäufserungen.
Wenn der Primitive sich zur Schlacht rüstet, tanzt er, wenn er
ein Tier erlegt, führt er einen Tanz um seine Beute auf, wenn
er seine Götter ehren, seine Toten betrauern will, immer tanzt
er. Jedes tiefe Gefühl, Trauer und Freude, Hafs und Liebe,
Ehrfurcht und Verachtung bewegt ihn zum Tanze, ihm giebt er
sich mit der gröfsten Ausdauer, mit der gröfsten Leidenschaft-
lichkeit, mit dem höchsten Genüsse hin, und ein solcher Tanz
') Darauf hat schon Otfried Müller, Dorier 2. Abteilung, S. 352 und
S. 362 hingewiesen.
2) Vgl. hier besonders auch die Ausführungen Erich Bethes (Pro-
legomena S. 60 und 61), der gleichfalls das hohe Alter des burlesken
Dramas betont.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 477
hat auf ihn dann etwa dieselbe ästhetische, kathartische Wirkung
wie auf uns ein ergreifendes Gedicht Der Tanz ist -der un-
mittelbarste, vollkommenste und wirkungsmächtigste Ausdruck
der primitiven ästhetischen Gefühle" 1).
Da dies ein allgemeines Gesetz der ästhetischen mensch-
lichen Entwickelung ist, so gilt es auch für die ursprüng-
lichen Zeiten des hellenischen Volkes, in die uns die mimische
Ursprungsgeschichte verweist. Das ist um so sicherer, als noch
in den historischen Zeiten die Bedeutung des Tanzes für das
antike Volksleben eine ganz aufserordentliche, für uns Moderne
ganz unbegreifliche gewesen ist') und sich nur in Parallele stellen
läfst mit seiner Bedeutung für das Dasein der Primitiven.
Da können wir es wohl verständlich finden, dafs aus der
') Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunst Kap. VIII, Der Tanz S. 198.
8) Ich verweise hier auf Emmanuel, La danse grecque antique; es ist
eine gründliche und gelehrte Zusammenstellung der Tanzdarstellungen auf
den antiken Denkmälern. Das Technische des Tanzes ist, zumal der Autor
sich der Hülfe von Herrn Hansen, Maitre de Ballets ä l'Opera, erfreute,
glänzend behandelt. Nun ist aber die Mimesis die Seele des griechischen
Tanzes, dessen Bewegungen alle etwas Sprechendes haben; der moderne
(Ballet-J Tanz ist dagegen „beaucoup moins un langage qu'une gymnastique de-
corative, idfalisee" (a. a. 0. S. 324). Der antike Tänzer ist im Grunde ein
Mime: „Nous devons en effet voir en lui un mime du moins autant qu'un danseur:
ces deux termes sont impliques dans le mot oqxtjOttjs dont la svjnißcation est tri*
large et dont l'equivalent n'existe pas dans notre langue. Ce danseur-mime ne
saurait etre astreint ä une gymnastique trop rigoureuse. Les formules mtcaniques
qu'il a apprises aus lecons du Ptdotribe et du Maitre de danse sont en mtme temps
des signes et deviennent en langage (a. a. 0. S. 328). Eine wirkliche Geschichte
der griechischen Tanzkunst wäre also vor allem eine Geschichte der orchestri-
schen Mimesis, soweit sie idealistisch-mythologisch (pantomimisch) oder rea-
listisch-biologisch (rein mimisch) ist. Auch die eigentlichen Mimen sind ja
in gewissem Sinne Tänzer, und im Mimus wurde auch viel getanzt. Von alledem
finden sich bei Emmanuel kaum Andeutungen. Die nicht geringen Verdienste
dieses Buches liegen eben vornehmlich auf dem Gebiete der orchestischen
Technik. Die Geschichte des antiken Tanzes wäre also immer noch zu
schreiben. Man wird dabei, um die orchestische Mimesis recht zu begreifen,
da wir in der modernen Zeit nichts Ähnliches haben, von dem Tanze der
Primitiven ausgehen müssen; dort finden sich mancherlei höchst lehrreiche
Parallelen.
478 Sechstes Kapitel.
wichtigsten Art des Tanzes, der mimischen, der Mimus als die-
jenige dramatische Gattung ihren Ursprung genommen hat,
welche während des Altertums am populärsten gewesen ist
und nicht blofs alle dramatischen, sondern überhaupt alle
Gattungen der griechisch- italischen Poesie an Dauer lebendiger
Existenz bei weitem übertroffen hat.
Die Alten selbst hatten einen deutlichen Begriff von dem
Zusammenhang zwischen Mimus und mimischem Tanz. Noch
die Römer pflegten die Aktion in der mimischen Hypothese mit
saltare zu bezeichnen und die Miminnen auch saltatriculae zu
nennen1). Wenn dieser Ausdruck mit gesticularia erläutert
wird, so bedeutet es, dafs wir nicht an Rund- oder Chortänze,
sondern an mimische Geberdentänze denken sollen. Dieser
mimische Geberdentanz scheint sich noch bis in die spätesten
Zeiten im Mimus erhalten zu haben. Auch die Cinaedologen,
die zu den Mimen gehören, sind ursprünglich Tänzer, die ihre
kleinen aa^axa Iconxd mit mimischen Geberdentänzen begleiteten.
So heilst es noch bei Petron (c. 23): intrat cinaedus homo in-
sulsissimus et plane illa domo dignus, qui ut infractis manibus
congemuit, eins modi carmina effudit', es folgt dann ein kleines
ImvMov qa^ia in Sotadeen. Das mimische, theatralische Element
in diesen Gesängen, das allein auf dem mimischen Tanz beruht,
betont Varro (Non. p. 170 scenatilis), der comici, cinaedici,
scenatici zusammenstellt. Ebenso wird eine Art der ionischen
Mimodie, die Magodie, direkt als weichlicher Tanz (ÖQxqai$
ancclri) gekennzeichnet. Wenn Choricius hervorhebt, wie begabt,
gebildet und unterrichtet die Mimen sein müssen, so betont er
ausdrücklich: dst xal xoqsvsiv aniöraad-ai (a. a. 0. S. 238). Ja,
selbst mimische Tiertänze scheinen nicht ganz in der späten, mimi-
schen Hypothese gefehlt zu haben. Ich erinnere an die „Bären,
die einen Mimus aufführen" 2). Wenn in einer Atellanendarstellung
aus der ersten Kaiserzeit ein Mensch mit Eselsmaske auftritt,
der von einem andern von hinten verprügelt wird, so dürfen wir
*) Vgl. oben S. 57.
2) Vgl. oben S. 200.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 479
wohl annehmen, dafs er zu dieser Prügelmusik nach Art Freund
Langohrs, des für die Antiken typisch komischen Tieres, einen
höchst seltsamen, grotesken Eseltanz aufgeführt haben wird1).
Tierverkleidungen scheinen im Mimus etwas ganz Gewöhnliches
gewesen zu sein. Hier erscheint also der Mime, der Schauspieler,
als Tier und nicht wie in der alten, attischen Komödie etwa der
Chor; denn den giebt es im Mimus nicht. Bei Sophron scheint
im Mimus ein Esel zu sprechen 2). Ich erinnere auch an die
mannigfachen Terrakotten, die Schauspieler mit Köpfen von
Ratten und Affen vorführen3). Wir dürfen auch nicht ver-
gessen, dafs der Göttermimus, der in Xenophons Gastmahl von
dem Knaben und dem Mädchen des Syrakusaners vorgeführt
wird, noch mehr ein mimischer Tanz als ein Mimus ist, ja, uns
sogar direkt den mimischen Tanz in seinem Übergange zum
Mimus vorführt.
So dürfen wir also für die Urzeit bei den Hellenen wie bei
allen primitiven Nationen mimische Tänze voraussetzen. Aber
in historischer Zeit finden sich nur äufserst wenige Belege dafür;
wir wissen ja vom hellenischen Tanze überhaupt so wenig.
Zu den mimischen Tiertänzen der Hellenen wird z. B. der
Morphasmus gehört haben, den Pollux als die Nachahmung von
mancherlei Tieren erklärt, ebenso wohl auch die „Eule", „Löwe",
„Kranich" (ysoavog bei Lukian, rrsgl ÖQxrjtewg 84), „Fuchs" (älw-
nr}% bei Hesych. s. v.) genannten Tänze. Von dem nach dem Spott-
vogel (oxcoip) benannten Tanze sagt Pollux (IV, 103) mit dürren
*) Vgl. oben S. 258.
2) Vgl. oben S. 413 Anm.
3) Babelon et Blanchet Catalogue des bronzes antiques de la bibliotheque
nationale, Paris 1895, S. 432. No. 983 Carricature on actenr avec une tete
de singe S. 433. No. 984 Acteur comique avec une tete de rat. No. 985 Acteur
comique avec une tete de rat. Mit Hundeköpfen erscheinen Aeneas, Anchises
und Ascanius auf dem bekannten pompejanischen Bilde (in „Herculanum et
Porapei, recueil göneral des peintures, bronzes, mosalques etc." Paris 1840,
planche 58 S. 223—226). Die Phallen, welche alle drei tragen, weisen auf
den Mimus hin, doch könnten es auch Atellanenspieler sein, die ja von den
Mimen den Phallus ererbt haben (vgl. oben S. 258 Anm.).
480 Sechstes Kapitel.
Worten, es sei ein Tiertanz gewesen1). Von der mimischen
Nachahmung der Tiere steigt der Primitive zu der mensch-
licher Verhältnisse, Thätigkeiten und Typen auf. Zu der-
artigen mimischen Tänzen zählen bei den Griechen z. B. die
^äXifizoav sxxvfoq* , „xqscov unoxonr* , „äyyeXixy" (Athen. XIV,
630 e).
Möglich, dafs auch der Schweinetanz (ygvXXiöixog) ein mimi-
scher Tiertanz ist2); nicht ganz unmöglich, dafs das auch die
Tierprozession auf dem Gewände der Göttin von Lykosura:
Schwein, Pferd, Hund, Widder, Esel, Bär bedeutet3), wie
Albrecht Dieterich meint4). So ist denn unsere Ausbeute an
mimischen Tänzen bei den Hellenen, so zahlreich sie sicher
auch einst in dem tanzfrohen Hellas waren, erstaunlich gering.
Allerdings wenn wir den neuesten Forschungen, die sich
freilich hier auf schon recht alte Annahmen und Ansichten
stützen, folgen wollen, dann ist wenigstens, was den mimischen
Tiertanz angeht, ein ganz sicherer Weg gefunden, auf dem man
nicht mühsam zu spüren und zu suchen hat, sondern das pure
Gold in Massen findet.
Der altattische Chortanz ist eben zum grofsen Teil ein
Tiertanz; da sind gleich des Magnes oqvtäsg, xpijveg, ßÜTQa%oi,
des Eupolis afysg, des Aristophanes dcpijxsg, bgvi&sg, ßärgccxot,
neXaqyoi, Piatos [ivQfitjxeg, des Kantharos [ii^Qfifjxsg und äijdovsg,
des Archippus l%&vg. Da haben wir also Tiertänze in Hülle und
*) ö dh (ioQ(pao/j.bs navioSandöv $iä(av fii/urjaig tjV. i\v $1 xi xal axwip.
tb <J" aiitb xal axconiag, tlSog og^rjaetog, %xov *wa T0^ XQa%r\lov nfQicpoQav
xaxä ttjv tov OQW&og fiifirjaiv, og in' txnXr\'&wg ngbg ir\v oqyrfitv äXtaxtiai,
vgl. Ath. IX, 321a.
2) Nach Bekker, Anecd. graec. I, p. 33 wird yqvXMtuv gesagt ln\ iwv
(f'OQTixws xal (id^T]fj,6vcos oQ/ov/ufrcov.
3) Vgl. Cavvadias, Fouilles de Lycosoure S. 11, Tafel IV.
4) Pulcinella S. 32. An derselben Stelle deutet Dieterich den sonst
allerdings kaum verständlichen Vers aus des Sophokles "A/nvxog bei Athen.
IX, 400 b:
yiqavoi, /«ilwrat, ylavxeg, Ixxlvoi, XayoC
auf alte Tiertänze. Das soll aber nur eine Vermutung sein und ist ja auch
unbeweisbar.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 481
Fülle und gleich die allersonderbarsten von Nachtigallen, Wespen,
Ameisen und Fischen.
Nun sind eigentliche, mimische Tänze von Nachtigallen recht
schwer vorzustellen und gar von Fischen oder Ameisen schlecht-
hin undenkbar. Auch hat es unter den Tiertänzen der
Primitiven, welche alle nur irgend der [iiprjöu; zugänglichen
Tiere darstellen, niemals einen Fisch-, Nachtigallen-, Ameisen-
oder Wespentanz gegeben. Denken wir doch einmal an die
Chöre in den Vögeln, den "Wespen und den Fröschen des Aristo-
phanes. In Scharen ziehen die Vögel auf den Lockruf der
Nachtigall herbei; wir werden dabei mit Vogelnamen über-
schüttet:
„Kranich, Amsel, Turteltaube, Witzel, Wachtel, Ortolan,
Möve, Meise, Edelfalke, Dohle, Kiebitz, Auerhahn,
Schnepfe, Trappe, Gruppe, Dauschnarr, Göckelhahn und Singe-
schwan" !
(v. 302—304 Droysen.)
Aber von irgend welcher genauen, mimischen Individualisierung
der einzelnen Vögel ist keine Rede. Wenn irgendwo, so hätte da
ein mimischer Tanz einzelner Vögel aufgeführt werden können, wo
vor dem Auftreten des gesamten Chores einzelne Vögel erscheinen1).
Wäre das geschehen, so hätten ihre grotesken Bewegungen dem
Rathefreund und Hoffegut auffallen müssen, die sich beim Kuckuk
nach ihnen erkundigen; aber das ist nicht der Fall. Offenbar
hat dieser Vogelchor genau so getanzt, wie sonst komische Chöre
zu tanzen pflegen, mochten sie nun Musen und Wolken und
andere Fabelwesen oder Vögel sein. Es wäre ja auch die Ne-
gation eines Chortanzes geworden, wenn jeder Choreute die
Eigenart des Vogels, den er vorstellte, für sich in einem be-
sondern, mimischen Tiertanze hätte ausdrücken sollen.
Dieser Vogelchor soll nur beständig daran erinnern, dafs
wir uns in dem phantastischen Reich zwischen Himmel und Erde
*) So der (foivixomtQoq (v. 273), der Mijöog (v. 277), der frtoxp (v. 280)
und der xmuxfayai; (y. 288).
Reich, Mimus. 3J
482 Sechstes Kapitel.
befinden, in dem wunderbaren Wolkenkuckuksheim, in dem nur
ein leichtbeschwingter Vogel Heimatsrecht hat, in dem allein
sich die Wunder zu ereignen vermögen, die uns des Dichters
phantastische Märchenkomödie vorgaukelt. Diese Stimmung aber
wäre wenig befördert, ja, eher gestört worden durch mimische
Tiertänze, bei denen es ja auf möglichste Naturtreue und strengen
Realismus der Nachahmung ankommt. Nicht anders ist es mit
dem Chor der Wespen und der Frösche ; auch er hat einen ge-
wöhnlichen Cbortanz aufgeführt und nicht etwa einen mimischen
Tiertanz. Nach des Scholiasten Angabe bleibt der Chor der
Frösche sogar unsichtbar1).
Wir sehen auf einem alten, attischen Vasenbilde sechs Reiter
als Krieger ausstaffiert auf Delphinen, und darunter sechs
Männer auf Straufsen reiten2). Aber wir sehen nicht im
entferntesten einen mimischen Tanz von Delphinen oder Straufsen.
Und dann der Ritterchor bei Poppelreuter; ich denke, dafs die
Pferde, nachdem die Reiter abgestiegen sind, mit diesen ganz
harmlos im Chore mittanzen, beweist doch aufs deutlichste, dafs
diese Pferde eben durchaus keinen mimischen Pferdetanz auf-
führen, sondern die Evolutionen des komischen Massenchores
einfach mitmachen3). Auch der Tierchor, der bei Dieterich
x) An und für sich freilich ist ein mimischer Froschtanz durchaus
nicht undenkbar. So haben die Australier wirklich mimische Froschtänze
(vgl. unten S. 487). Und ebenso traten zu Cholula in der Vorhalle des Tempels
von Quetzalcoatl mimische Tänzer als Frösche und ebenso als Käfer und
Eidechsen auf und hüpften quackend und pfeifend, genau nach der Art der
Tiere, die sie darstellten, über die Bühne (siehe Bancroft, The natives races
Bd. II, S. 291).
2) Museum of fine arts Boston. Catalogue of greek etruscan and roman
vases by Edward Kobinson. nr. 372 large skyphqs later black-figured style
decorated with what appear to be chorus scenes from early Attic comedies
(Vgl. Dieterich, Pulcinella S. 55).
3) Dafs wir hier wirklich Berittene vor uns haben, hat Zielinski,
Gliederung der altattischen Komödie (S. 163, Anm. 1) scharf hervorgehoben.
Poppelreuter hat dann sehr hübsch gezeigt, wie diese Pferde aussahen — es
sind Choreuten mit Pferdemasken (vgl. a. a. 0. die Abbildung S. 8) — , und auch
den Nachweis geführt, dafs die Innot, nachdem die InntTg abgestiegen sind,
eben einen Teil dos Chorea bilden.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 483
(a. a. 0. S. 33) abgebildet ist1) (vgl. auch Poppelreuter S. 5 ff.),
zwei Choreuten mit Flötenspieler, deren Kopf deutlich aus zwei
Tiertypen gemischt ist, aus Schweinerüssel mit Hahnenkamm
und -nase, kann ja gar nicht einen echten, mimischen Hahnen-
tanz aufführen, weil er ja noch so viel vom Schwein, und
keinen Schweinetanz, weil er ja so viel vom Hahn hat. Aus
Athenaeus wissen wir es: der Chor in der Komödie, d. h. die
Sänger der Phalluslieder, sind Menschen8). Diese Menschen
kann der Komöde in den verschiedensten Masken auftreten
lassen, und wenn er bei seinen Wanderungen durch die bekannte
und unbekannte Welt sich auch ins Reich der Tiere begiebt,
mufs der Chor eben auch tierische Masken tragen. Aber nie
verliert dieser Chor seine menschliche Art gänzlich, seine Ver-
kleidung ist immer eine höchst durchsichtige, und gar leicht läfst
er seine Maske fallen. So wissen wir es jetzt, dafs der attische
Tierchor nichts mit dem uralten, primitiven, mimischen Tiertanz
zu thun und auch gar nichts Dämonisches an sich hat1).
Was ein rechter, mimischer Tanz und besonders ein mimischer
Tiertanz ist, wie wirklich der Ursprung des dramatischen Mimus
aussieht, kann man nur durch die Hilfe der Ethnologie von den Pri-
mitiven lernen; die wenigen Nachrichten, die wir über mimische
Tänze bei den Griechen haben, reichen dazu in keiner Weise aus.
Schon die Lebensbedingungen des Primitiven müssen ihn in
x) Nach der Amphora des Berliner Museums nr. 1830 (Furtwängler, Be-
schreibung der Vasensammlung im Antiquarium I S. 328).
a) Vgl. oben S. 275 folg.
3j Mit Recht hat Poppelreuter, nach einer tiefen Anregung von
Hermann Diels (vgl. S. 15, Anm. 2), die altattische Komödie mit dem Spiel
burlesker, theriomorpher Vegetationsdämonen in Zusammenhang gebracht,
nur den attischen Chor hätte er nicht damit zusammenbringen sollen;
der besteht aus Menschen in allerhand beliebig wechselnden Ver-
kleidungen, keinen Dämonen oder gar Tierd&monen. Nur der komische, mit
dem Phallus, dem Zeichen der ewig neu gebärenden Naturkraft, begabte
Schauspieler, der mit dem Phlyaken und Mimen, die alle gleichfalls den
Phallus tragen, identisch ist, ist dämonischer Natur, nur er übt mimische
Aktion und mimischen Tanz aus, nur er schildert Typen und Figuren wie
der mimische Tänzer und der Mime, und er hat da3 direkt von dem zum
komischen Menschenchor hinzutretenden Mimen gelernt.
31*
484 Sechstes Kapitel.
eine besonders nahe Beziehung zu den Tieren bringen. Sein
Leben steht in engster Beziehung zur Natur; in Wald und Heide,
im Gebirg, in Steppen, auf Wiesen und Sümpfen verbringt er
seine Tage, wie die Tiere in seiner Umgebung.
Allein schon aus praktischen Gesichtspunkten mufs er sich
bemühen, eine recht genaue Kenntnis dieser seiner nächsten
Nachbarn zu erlangen; denn sie sichert ihm am ehesten die
Herrschaft. Die primitiven Hirten kennen ihr Vieh genau so,
wie wir die Individuen unserer Bekanntschaft1). Die primitiven
Jäger benutzen diese genaue Kenntnis beim Fange der Tiere.
So schleichen sich die Buschmänner, als Straufse verkleidet, an
diese Tiere heran, und ihre mimische Geschicklichkeit, dabei
ganz als Straufse zu erscheinen, wird als aufserordentlich
gerühmt2). Ebenso wissen die Indianer, als Büffel oder Prairie-
!) Vgl. Eatzel, Völkerkunde Bd. I, S. 334: „Die Herden üben einen
mächtigen, geradezu zwingenden Einflufs auf die Volksverhältnisse der Herero
aus . . . Ihr Sinn und Auge weiden sich schon von frühster Jugend auf an
den Gestalten, Farben etc. dieser Tiere. Die kleinsten Jungen vergessen
ihre Spiele, um sich über den Wert dieses oder jenes Ochsen zu streiten.
Ein Hauptvergnügen der Kinder ist es, Ochsen und Kühe in Thon nachzu-
bilden, worin sie es zu einer grofsen Vollkommenheit bringen". Weiter wird
dann berichtet, wie die Herero ihr Vieh bei den verschiedensten Herden in
allen Teilen des Landes zerstreut weiden lassen, ohne dafs eins von diesen
Tieren eine Eigentumsmarke trägt, und doch erkenne jeder Besitzer auch
so sein Tier unter Tausenden heraus. Vgl. auch a. a. 0. I, S. 337. Auch
Darwin, „Über die Entstehung der Arten", bespricht diese Eigentümlichkeit
individueller Kenntnis der Tiere.
2) Vgl. Ratzel a. a. 0. I, S. 68 : „Gerade durch ihre Kunst der Nachahmung
sind die Buschmänner im stände, mit ihren einfachen Waffen mit einem
Erfolge zu jagen, der die mit den vollkommensten Mordwerkzeugen aus-
gerüsteten Europäer in Erstaunen setzt. Am berühmtesten ist ihre Straufsen-
jagd, bei welcher sie an einem sattelartigen, mit Straufsfedern besetzten
Polster, das sie auf der Schulter tragen, den ausgestopften Kopf und Hals
eines Straufses befestigen und ihre Beine weifs anstreichen, um sich so
straufsartig wie möglich zu machen. In der Linken den Bogen und die
Pfeile tragend, nähern sie sich einer Straufsherde so viel wie möglich, natür-
lich gegen den Wind. Moffat behauptet, es geschehe dies mit so natürlichen
Bewegungen, dafs mau auf ein paar Hundert Schritte die Täuschung nicht
herausfiude. „Dieser menschliche Vogel", sagt er, „scheint die Kräuter ab-
Die griechische Hypothese vor Philistion. 485
wölfe vermummt, durch ihre mimische Kunst die Büffelherden
zu berücken.
Dieser genauen Beobachtung der einzelnen Tierindividuen
sind die Primitiven aber auch nur fähig, weil für sie das Tier
ganz anders wie für den Modernen ein Individuum, eine Per-
sönlichkeit ist, wie der Mensch, das Gefühle hegt wie sie
selbst, und dem sie alle Gefühle: Abneigung, Vertrauen, Freund-
schaft, Bewunderung, Liebe, Furcht und Hafs entgegenbringen1).
So hat denn der Primitive ein erstaunlich enges und in-
times, fast verwandtschaftliches Verhältnis zur Tierwelt und eine
ganz genaue, ins Einzelnste gehende Kenntnis der verschiedenen
tierischen Individuen2).
zuweiden, wendet den Kopf, als ob er scharf ausschaue, schüttelt seine
Federn, wechselt zwischen Schritt und Trab, bis er nahe an die Herde
herangekommen. Rennt diese, nachdem einer aus ihrer Mitte getroffen, so
rennt er mit, um sein Spiel zu wiederholen. Manchmal verfolgen die mann-
lichen Straufse den seltsamen Vogel, worauf dieser alles aufbieten mufs, dafs
sie nicht seinen Geruch bekommen, denn sonst ist der Zauber gebrochen.
Kommt einer zu nahe, so bleibt dem falschen Straufs nichts übrig, als in
den Wind zu laufen oder seinen Sattel abzuwerfen, um einem Schlage mit
dem Fufse zu entgehen, welcher ihn niederstrecken könnte*.
*) So grofses Erstaunen die Darwinsche Theorie von dem tierischen
Ursprung des menschlichen Geschlechts erregte, so geringe Verwunderung
würde sie bei den wilden Stämmen erwecken. Amerikanische Indianer
fühlen sich durchaus als Abkömmlinge irgend welcher tierischen Geschlechter,
von Schildkröten, Schlangen u. s. w. Einzelne Negerstämme müssen wir als
Darwinisten vor Darwin bezeichnen, weil sie sich den Affen zum Urälter-
vater ihres Geschlechtes erkoren haben. Die australischen Dieyerie glauben,
dafs die Menschen aus kleinen Eidechsen entstanden seien (vgl. Ratzel
a. a. 0. II, S. 89). „Als Heuglin im Lande der Djur eine grofse Riesenschlange
(Python) erlegte, waren die Neger eines benachbarten Gehöftes sehr unge-
halten und sagten, der gewaltsame Tod ihres Ahnherrn werde ihnen Unheil
bringen. Auch die Bari nennen die Schlange ihre Grofsmutter, und Ähn-
liches erzählt Kaufmann von den Dinka" (vgl. Ratzel, a. a. 0. I, S. 518). Die
Aino, die Ureinwohner Japans, halten den Hund für ein ebenbürtiges Ge-
schöpf und erblicken darin keine Schande, ihn als ihren Stammvater zu
betrachten. Sie erzählen sich eine merkwürdige Geschichte : „Wie es kommt,
dafs die Hunde nicht mehr sprechen können" (Fischer a. a. 0. S. 302).
*) Ein Rest dieser urmenschlichen Auffassung der Tierwelt offenbart
sich noch bei den modernen Kindern auf dem Lande und in der kleinen
486 Sechstes Kapitel.
Darum dürfen wir von den Tiertänzen die äufserste Realistik,
die schärfste Hervorhebung bestimmter Eigentümlichkeiten ein-
zelner Tierindividuen erwarten; denn so scharfe Beobachter, wie
die Primitiven es sind, müssen auch notwendig ebenso treue, mimi-
sche Darsteller sein1).
Stadt, die noch nicht von vornherein in Verhältnisse gesetzt werden, die
dieser Auffassung den Garaus bereiten müssen. Sie haben noch immer die
intimsten Verhältnisse zu den Tieren, und die Gabe, die Sprache der Tiere
zu verstehen, die sonst nur Märchenprinzen zu teil wird, ist ihnen noch
heutigentags verliehen. Vgl. das hübsche Buch von F. Drosihn, heraus-
gegeben von Bolle und Polle, „Deutsche Kinderreime und Verwandtes":
Nr. 135: Täuberich: Wo s min Fru? Wo s min Fru?
Kak Koffee, Kak Koffee, Kak Koffee!
Katze: Mi au! Mi au!
Ente: Dat dacht ik wol, dat dacht ik wol.
Gun Dach, gun Dach, gun Dach.
Henne: Kakel kakel Klüt!
Ziege: Wat noch me — e— e?
Nr. 142: Die Henne ruft, wenn sie ein Ei gelegt hat:
Wat bedüt dat? Wat bedüt dat?
Wie innig das Zusammenleben zwischen den Kindern und Tieren ist, zeigt
das fünfte Kapitel des citierten Buches: „Gute Nachbarn und Freunde in
Haus und Hof", wo zahlreiche Kinderreime sich finden, welche alle mög-
lichen Anreden der Kinder an mancherlei Tiere: Kuh, Hase, Fuchs, Ente,
Gans, Storch, Habicht, an das Grützwürmchen oder Marienwürmchen, den
Maikäfer u. s. w. enthalten.
*) So bemerkt Grosse (a. a. 0. S. 213 und 214) höchst treffend: „Die mimi-
schen Tänze gewähren dem primitiven Menschen jedoch aufserdem noch andere
Genüsse, welche er in den gymnastischen Tänzen nicht findet. Sie befriedigen
seinen Nachahmungstrieb, der häufig genug zu einer wahren Nachahmungs-
sucht entwickelt hervortritt. Die Buschmänner machen sich das gröfste Ver-
gnügen daraus, „die Bewegungen bestimmter Menschen oder Tiere täuschend
nachzuahmen; alle australischen Eingeborenen besitzen eine staunenswerte
mimische Begabung", die sie bei jeder Gelegenheit bethätigen; und von den
Feuerländern erzählt man, „dafs sie jedes Wort eines beliebigen Satzes, den
man ihnen vorsprechen mag, mit voller Genauigkeit wiederholen, wobei sie
zugleich die Manier und die Haltung des Sprechenden copiren" . . . Der
Nachahmungstrieb ist allerdings eine allgemeine menschliche Eigenschaft,
aber er herrscht nicht auf allen Stuten der Entwickelung in gleicher Stärke.
Auf der untersten Kulturstufe ist er für alle Glieder der Gesellschaft bei-
Die griechische Hypothese vor Philistion. 487
Diese Erwartung wird durchaus bestätigt. Bei den Australiern
hat man Schmetterling-, Dingo-, Frosch- und Emutänze gefunden.
Besonderer Verbreitung aber erfreut sich bei ihnen der Känguru-
tanz. Vor allem verwundern sich hier die Reisenden über die
getreue Naturnachahmung und den erstaunlichen Realismus der
Darstellung. „Als sie alle um die Wette hüpften", sagt Mundy,
„konnte man sich nichts Komischeres und keine gelungenere
Nachahmung denken", und Eyre fand den Kängurutanz am
Lake Victoria so wunderbar ausgeführt, dafs er in jedem
europäischen Theater donnernden Applaus hervorgerufen haben
würde1).
Nicht anders ist es bei den Eingeborenen Afrikas. Von den
Herero berichtet Ratzel (a. a. 0. I. S. 331): „Ihre Tänze sind sehr
einfacher Art: Hauptbestandteil derselben ist die Nachahmung
der Bewegungen von Tieren. In dieser Nachahmung der Tiere
sind wohl die Buschmänner ihre Lehrmeister gewesen, aber die
Herero haben es darin sehr weit gebracht. Galton erzählt z. B.
von einem Damara, der ihm das Nilpferd so täuschend vorstellte,
dafs er augenblicklich die charakteristischen Bewegungen des-
selben erkannte. Als Gipfel der Komik gilt die Nachahmung
des plumpen Geplärres des Pavians, die in jeder musikalischen
Unterhaltung der Herero die unfehlbar wirksamste Nummer des
Programmes zu sein pflegt2)".
nahe unwiderstehlich; allein je mehr sich im Fortschritte der Kultur die
Differenzen zwischen den einzelnen socialen Gliedern vergröfsern, desto ge-
ringer wird seine Macht: und das höchste Individuum strebt vor allem da-
nach, nur sich selbst gleich zu sein". Die scharfe Tierbeobachtung der Pri-
mitiven, die zur naturgetreuen mimischen Nachbildung im Tanze führt, hat
auch die plastische Tierdarstellung schon in ausserordentlich frühen Zeiten
zu einer bedeutenden Höhe gehoben, so dafs uns prähistorische Schnitzereien
von Tieren durch die erstaunliche Naturwahrheit ihrer wohlgelungenen Nach-
ahmung in Erstaunen setzen; vgl. besonders Andree, Ethnographische Paral-
lelen N. F. S. 56 folg.
1) Grosse a. a. 0. S. 209.
2) Auch die Hottentotten excellieren im Tiertanze. Wir haben (S. 443,
Anm. 1) auf den Zusammenhang zwischen Tierfabel und Tiermimus hin-
gewiesen; um so interessanter ist es, dafs sich nun auch bei den Hotten-
488 Sechstes Kapitel.
Ebenso haben die Eingeborenen Nordamerikas mancherlei
Tiertänze. Um das realistische Element, das auch sie bezeichnet,
totten ausgezeichnete Tierfaheln finden. Ratzel (a. a. 0. I, S. 1 08) bemerkt
darüber: „Ein sonderbarer reicher Zweig der hottentottischen Erzählungs-
litteratur sind die Tierfabeln, welche bald in merkwürdigem Anklänge an
unsre Reinekefabeln die Überlistung des Löwen und andrer Tiere durch
den Schakal, bald die Plumpheit des Elefanten, die Schlauheit des Pavianes
in teils witziger, teils freilich auch pointeloser Weise darstellen und kari-
kieren". Ich setze die Fabel „Der Leopard und der Widder" wegen der
guten, realistisch-humoristischen Biologie, die sie nicht weniger auszeichnet
wie den mimischen Tanz, hierher:
„Als ein Leopard einst von der Jagd heimkehrte, kam er zufällig an den
Kral eines Widders. Nun hatte der Leopard nie zuvor einen Widder ge-
sehen und näherte sich ihm demzufolge in sehr unterwürfiger Weise, wobei
er sagte: „Guten Tag, mein Freund! Wie magst du wohl heifsen?" Der
Widder erwiderte mit rauher Stimme, indem er sich mit dem Vorderfufse
auf die Brust schlug: „Ich bin ein Widder, und wer bist denn du?" „Ein
Leopard", versetzte der andre, mehr tot als lebendig; dann nahm er
Abschied und eilte heim, so schnell er laufen konnte. Nun lebte mit dem
Leoparden zusammen ein Schakal, und zu dem ging der Leopard hin und
sprach: „Freund Schakal! Ich bin ganz aufser Atem und halbtot vor
Schrecken, denn ich habe soeben einen fürchterlichen Burschen mit grofsem,
dickem Kopfe gesehen, der mir auf die Frage nach seinem Namen ganz grob
erwiderte: „Ich bin ein Widder!"
„Was bist du doch für ein närrischer Kerl von Leopard", rief der
Schakal, „dafs du solch ein schönes Stück Fleisch fahren läfst! Wie kannst
du nur das thun? Aber wir wollen uns morgen auf den Weg machen und
es in Gemeinschaft verzehren."
Am folgenden Tage machten sich die beiden nach dem Krale des
Widders auf; als sie nun auf diesen von der Höhe eines Hügels hinabsahen,
erblickte sie der Widder, der ausgegangen war, um frische Luft zu schöpfen,
und der eben überlegte, wo er wohl heute den zartesten Salat sich suchen
könnte. *Da eilte er denn sofort zu seiner Frau und rief ihr zu: „Ich
fürchte, dafs unser letztes Stündlein geschlagen hat! Der Schakal und Leo-
pard kommen beide auf uns zu. Was wollen wir anfangen?" „Sei nur nicht
bange", meinte sein Weib, „sondern nimm das Kind hier auf den Arm, geh'
damit hinaus und kneife es recht tüchtig, so dafs es schreit, als sei
es hungrig."
Der Widder gehorchte und ging so den Verbündeten entgegen. Sobald
der Leopard den Widder erblickte, bemächtigte Furcht sich abermals seiner,
und er wollte wieder umkehren. Der Schakal hatte für diesen Fall schon
Die griechische Hypothese vor Philistion. 489
hervorzuheben, gebe ich hier kurz die Schilderung des Prinzen
Maximilian zu Wied, der sie als Augenzeuge kannte1): „Einer
macht z. B. den Bären, in einer Bärenhaut mit Kopf und
Klauen eingehüllt, ahmt die Bewegungen und Stimmen des
Thiers so genau nach, dafs man glaubt einen Bären vor sich
zu sehen. Er wird erschossen, man sieht deutlich die Schufs-
wunde, das Blut fliefst, er fällt nieder, stirbt, man zieht ihm
die Haut ab, und endlich kommt der Mann unverletzt hervor".
Steller erwähnt die Tiertänze der alten Kamtschadalen'^ von
ihnen haben sie die jetzt dort hausenden, russischen Kosaken
geerbt, und noch A. Erman sah die als Krähen und Bären
maskierten Kosaken, welche jene Tiere „mit gröfster Treue
nachahmten"3). Überhaupt hat die realistische Mimesis,
welche die Darstellung des Bären im Tiertanze gefunden hat,
stets die besondere Bewunderung der Reisenden erregt. Überall
wird hervorgehoben, dafs die ganze Eigenart des Tieres, seine
körperliche Haltung, seine plumpen, drolligen Bewegungen und
selbst seine seelische Erregung wiedergegeben wird4). Auch
Vorsorge getroffen, er hatte nämlich den Leoparden mit einem ledernen
Riemen an sich festgebunden. So sagte er nun: „So komm doch!" Da
kniff der Widder sein Kind recht tüchtig und rief dabei laut: „Das ist
recht, Freund Schakal, dafs du uns den Leoparden zum Essen bringst, hörst
du, wie mein Kind nach Nahrung schreit?"
Als der Leopard diese schrecklichen Worta hörte, stürzte er trotz der
Bitten des Schakals, ihn doch loszulassen, in der gröfsten Angst davon,
indem er zugleich den Schakal über Berg und Thal, durch Büsche und über
Felsen mit sich fortschleppte und erst dann stillhielt und scheu um sich
blickte, als er sich selbst und den halbtoten Schakal wieder nach Hause
gebracht hatte. So entkam der Widder", (bei Ratzel a. a. 0. I, S. 109.)
1) Reise in das Innere Nordamerikas in den Jahren 1832—1834,
Koblenz 1841, Bd. II, S. 246.
2) Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. Frankfurt und Leipzig,
1774, S. 340.
3) Reise um die Erde. Historischer Bericht III, S. 189.
4) Bei Magnin a. a. 0. S. 44 nach Lesseps, Journal historique du voyage
de ML Lesseps au Kamtschatka heifst es: „if. Lesseps raconte que les Kam-
tsehadales reussissent surtout a contrefaire les mouvements de Vours. Non-seulement
üs reprisentent tres-bien la demarche lourde et stupide du male, mais ils excellerU
490 Sechstes Kapitel.
der alte Ostjak, den 0. Finsch diesen Tanz ausführen sah, be-
mühte sich, verschiedene Stellungen und Bewegungen des Bären
nachzuahmen, schwenkte sonderbar mit den Armen und sprang
mit der Plumpheit eines Bären umher. Neben dem Bären
aber sehen die Ostjaken auch Kraniche, Elentiere und der-
gleichen als geeignete Vorbilder ihrer mimischen Tiertänze an
und ahmen sie aufs getreueste nach1).
Die Eskimo geben nach Bancroft8) zahllose mimisch-
burleske Darstellungen von Tieren und Vögeln. Bei festlichen
Gelegenheiten führen die Tänzer der Hyperboreer, junge Leute,
die sich bis zum Gürtel entblöfsen oder sogar im Adamskostüm
erscheinen, zahllose, possierliche Nachahmungen von Vögeln und
wilden Tieren der arktischen Regionen auf. Die Alten sitzen
dann rund herum auf Bänken, rauchen und spenden Beifall wie
im Theater3). Einen sehr naturgetreuen Vogeltanz, vielleicht
einen Straufsentanz, gab es auch auf Isle de France4). Über
den „höchst originellen sogenannten Vogeltanz" der Aino auf
Jezo berichtet Fischer: „Er bestand darin, dafs die Weiber die
h exprimer la tendresse que la femelle porte h ses petits; ils peignent h merveille
l'agitation et la colere de ces animaux lorsqu'ils viennent a e*tre troublh dam leurs
retraitet. „Je demandai, dit ce voyageur, aux Russes plus connaisseurs que moi,
puisqu'ils sont dans leurs chasses continuellement aux prises avec ces animaux, si
ces ballets itaient bien exe'cutes; ils rri'assur&rent tous quHil etait difficile de ren-
contrer dans le pays de plus habiles danseurs et que les cris, la marche et toutes
les attitudes de Vours itaient imitds a s^y mdprendre".
*) Reise nach West-Sibirien im Jahre 1876. Auf Veranstaltung des
Vereins für die deutsche Nordpolarfahrt in Bremen unternommen mit Dr.
A. E. Brehm und Karl Graf v. Waldburg-Zeil-Trauchburg von Dr. 0. Finsch,
Berlin 1879, S. 614.
2) Bancroft, The natives races I, S. 67.
3) Bancroft a. a. 0. 1, S. 66.
4) Magnin a. a. 0. S. 43: Mr. Milbert raconte que les negres de V Herde-
France revitent, aux jours de fites, le plumage de certains oiseaux, dont ils sejfor-
cent de reproduire les mouvements habituels. S'agit-il de Fautruche? ils allongent
le cou et se frappent les flancs de leurs coudes pour imiter Vallure de ce geant de
la race emplumee. . . . Dans ces petites pieces les spectateurs se mttent h Vaction,
feignent de prendre Vacteur pour Voiseau qu!il imite, courent ä sa poursuite et, sHls
peuvent Vatteindrey lui arrachent a l'envi ses plumes.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 491
Arme in die breiten Ärmel zurückzogen, so dafs diese das An-
sehen von Flügeln erhielten; alsdann begannen sie mit den
Ärmeln wie Vögel zu schlagen, indem sie gleichzeitig das Ge-
räusch auffliegender Rebhühner nachahmten" (Bilder aus Japan,
Berlin 1897, S. 310). Merkwürdigerweise existieren Reste solcher
Tiertänze auch noch bei einem so civilisierten Volke wie die
Japaner. Ihr Löwentanz wie ihr Fuchstanz sind so mimisch-
burleske Tiertänze wie die der Primitiven1). Auch der japanische
Löwentanz ist, wie die meisten Tiertänze, kein Chor-, sondern
ein Solotanz. Er gehört in Japan zu den gewöhnlichen Vor-
führungen, mit dem die Gaukler ihr Publikum ergötzen, und
mit dem sie stets sicher sind, Geld und Beifall zu gewinnen.
Plötzlich schreitet unter dem Getöse von Pauken, Pfeifen und
Tambourins eine seltsame Schreckgestalt, die ein Orchester von
drei Mann mit sich führt, durch die Strafsen; es ist ein Un-
geheuer mit Löwen- oder Tigerfell, mit einem schrecklichen,
phantastischen Löwenhaupt und Löwenmähne. Es überragt die
Passanten um 1 — 2 Meter. Bei näherem Hinsehen freilich bemerkt
man die Beine des Gauklers, die aus dem weiten Löwenmantel
herausstecken. Dieses Ungetüm führt einen seltsamen Tanz auf;
plötzlich verwandelt es sich in einen Vierfüfsler, wie es einem
Löwen zukommt, und macht allerlei seltsame Kapriolen; dann
wirft es die Umhüllung ab und der Gaukler kommt zum Vor-
schein ).
J) In etwas abgeschwächter Form haben sich derartige Tiertänze auch
bei den modernen europäischen Völkern bis ins 16. Jahrhundert erhalten,
z. B. die Pavane, der Pfauentanz (vgl. Czerwinski, Gesch. d. Tanzkunst S. 67)
und Ähnliches. Aus dem alten Ägypten sind, wenn auch nicht Tiertänze,
so doch mimische Tänze bekannt, die Gegenstände der Natur und des Natur-
lebens darstellen. Vgl. Erman, Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum
Bd. I, 339 u. ö.
2) Eine hübsche bildliche Darstellung dieses grotesken, gauklerischen
Tiertanzes findet sich bei Aime Humbert, Le Japon illustre, Paris 1870, Bd. II,
S. 154. Wir sehen dort den tanzenden Löwen in effigie samt seinem Orchester
und dem Strafsenpublikum, das ihm zuschaut, den Kindern, die angstvoll vor
ihm davonlaufen, oder, dreister geworden, ihn gar zu attakieren beginnen, so
dafs er ihnen drohend sein schreckliches, zähnefletschendes Antlitz zuwendet.
492 Sechstes Kapitel.
Auch der Fuchstanz der Japaner entspricht durchaus der
Auffassung, die wir vom Tiertanze gewonnen haben. Auch er
ist die möglichst genaue und realistische Nachahmung eines be-
stimmten Tierindividuums.
Für unsere Untersuchung ist es von grofsem Werte, den
Tiertanz in seinen letzten Manifestationen noch bei einem so
vorgeschrittenen Volke, wie die Japaner es sind, zu finden.
Wir können daran wohl erkennen, wie lange primitive Ge-
bräuche, Sitten, Gewohnheiten und Gefühle sich unter Um-
ständen bei einem eigentümlich veranlagten Volke erhalten.
Jedenfalls haben wir mehr Grund, den Tiertanz bei den homeri-
schen und nachhomerischen Griechen vorauszusetzen wie bei den
modernen Japanern.
Diese wenigen Beispiele lassen aufs deutlichste das wesent-
liche Element an allen mimischen Tiertänzen hervortreten.
Ihnen allen gemeinsam ist die genaue Nachahmung,
deren strenge, bis ins Einzelnste gehende Realistik
durch den mimischen Humor in das Reich ästhetischer
Kunstdarstellung gehoben wird1). Aufserdem aber ist
noch hervorzuheben, dafs der mimische Tiertanz ein Solotanz
ist und kein Chortanz2).
Natürlich zeigt der mimische Tanz auch, soweit er sich der
Darstellung menschlicher Typen zuwendet, was allerdings etwas
1) Es sind gar mannigfaltige Tiere, die einer mimischen Darstellung
teilhaftig werden und geworden sind, vornehmlich: Bär, Elen, Kranich
(Hyperboreer), Wolf, Stier, Adler (nordamerikanische Indianer), Klapper-
schlange, Straufs (Afrika), Fuchs, Löwe (Japan), Käfer, Frosch, Eidechse
(Mexiko), Känguru, Emu, Dingo, Schmetterling (Australien). Viele von diesen
Tieren werden freilich von den allerverschiedensten Völkern im Tanze nach-
geahmt; so giebt es Schmetterlingstänze nicht blofs in Australien, sondern
auch in Japan und Mexico, ebenso ist der Froschtanz in Australien wie in
Mexico und wohl auch in Kamscbatka zu Hause. Der Bärentanz aber ist
über den ganzen Norden Asiens, Amerikas und auch über Grönland ver-
breitet.
2) Also hat der komische Chor schon seiner ganzen Natur nach nichts
mit dem mimischen Tanze zu thun, desto mehr allerdings der mimische
Schauspieler.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 493
seltener, wenn auch häufig genug geschieht, dieselben charakte-
ristischen Merkmale. So schildern die Hyperboreer (nach Banc-
roft a. a. 0. Bd. I, S. 66) in allerhand pantomimischen Scenen
Liebe und Eifersucht, Hafs und Freundschaft. So werden auch
bei gröfseren Vorstellungen der Maoris Solotänze aufgeführt, die
in burleske, mimische Darstellungen von Zank- und Prügelscenen
übergehen '), und die Malayen stellen im mimischen Tanze Kopf-
jäger dar, wobei eine Kokosnufs den erbeuteten Kopf vertritt
(Ratzel, a. a. 0. II, S. 386). Besonders lehrreich sind hier die
primitiven, mimischen Darstellungen der Kamtschadalen , von
denen Steller2) berichtet:
„Die vierte Art zu tanzen besteht darinn, dafs sie auf den
Knien sitzen wie die Frösche, im Kreise herumhüpfen, mit den
Händen klatschen, und allerhand wunderliche Figuren gegen ein-
ander machen, und fängt ebenfalls nur einer an, die andern aber
kommen alle nach und nach aus den Winkeln wie die Frösche
herbeygehüpft Nach denen Tänzen komme ich auf die
Comedien der Itälmenen. Die Materie ihrer Comedien sind ent-
weder neue Sitten und Manieren ankommender Leute, oder
närrische Stellungen. Worte und Begebenheiten ihrer Nation.
Sobald jemand auf Kamtschatka kommt, ist das erste dafs er
einen neuen Namen in ihrer Sprache erhält, von einer Eigen-
schaft die ihnen zuerst in die Augen fällt. Kommt jemand zu
ihnen in die Wohnung, oder hält sich nur eine kurze Zeit in ihren
Ostrogen auf, so beobachten sie nach ihrer angebohrnen Curiosität,
den Gang, Gebärden, Sprache, Verrichtungen, Tugenden und
Laster, und wissen nach diesem als ächte Mimi diejenige Person
welche sie wollen, dergestalt mit blofsen Geberden, theils auch
sammt den Worten vorzustellen, dafs mau sogleich merken kan
*) Ratzel a. a. 0. II, S. 133 nach Cook.
2) a. a. 0. S. 340 folg. Ich hebe noch ausdrücklich hervor, dafs noch
sehr viel mehr Nachrichten über mimische Tänze der Primitiven in Reise-
werken und Missionsberichten vorhanden sind. Ich gebe hier aus meinen
Sammlungen nur das besonders Prägnante und für unsere spezielle Unter-
suchung Lehrreiche; ich hätte aber ebensogut auch andere Beispiele wählen
können.
494 Sechstes Kapitel.
auf wem es angesehen ist, ohnerachtet man solches nimmermehr
hinter ihnen suchen sollte, und kommt folglich niemand hieher,
der sich Zeit seines Auffenthalts nicht müsse censiren, und mit
seiner Aufführung zur öffentlichen Schau aufstellen lassen. Dabey
fassen sie deutsche Worte, exprimiren die üble Pronunciation
der ausländischen im Russischen. Den Herrn Capitain Spangberg
imitiren sie und commandiren alle Segel mit terminis nauticis;
mich in Aufzeichnung und Ausforschung ihrer Sitten und Ge-
bräuche, dabey einer den Dollmetscher agirt; einen andern in
seiner Völlerey verbothenen Caressen, und nächtlichen Unord-
nungen; dabey vergessen sie nicht Taback zu rauchen, zu
schrauben, zu schnupfen, Leute zu vermahnen, mit Worten an-
zugreifen, ja gar mit Schlägen zu tractiren. Sobald sie einen
Augenblick frey haben, exerciren sie sich sogleich jemand zu
agiren, er mache auch was er immer wolle Ist dieses
zu Ende so imitiren sie allerhand Vögelgeschrey nach, item
das Saussen des Windes und alles was ihnen vorkommt, woraus
man das active Gemüth der Kamtschadalen und ihre lebendige
Phantasie zur Gnüge beurtheilen kan.
Aufser diesen Mimis und Pantomimis haben sie auch Narren,
oder Leute die sich als Harlequins an ihren Festen gebrauchen
lassen. Ihre Possen aber kommen dergestalt unfläthig heraus,
dafs man sie ohne Schande nicht erzählen kan. Sie lassen sich
als Hunde nackend vor den Schlitten spannen und fahren jemand,
lassen sich wie Hunde tractiren, und fressen und machen alles
was die Hunde thun."
Nach allem, was wir bisher über die realistische Ethologie
und Biologie des Mimus gelernt haben, bei der es vor allem auf
Schärfe und Richtigkeit der Auffassung wie Lebenswahrheit der
Darstellung ankommt, ist es klar, dafs dieser mimische Tanz
schon den echten, ethologisch-biologischen, realistisch-humoristi-
schen Geist des Mimus besitzt, und dafs ihn vom Mimus selbst
nur das Fehlen des gesprochenen Wortes trennt. Nun ist
diese lebendige Darstellung bestimmter Typen, seien es Tiere
oder Menschen, wenn auch ohne Worte — und auch diese finden
sich nicht selten — durch und durch dramatisch; so ist der
Die griechische Hypothese vor Philistion. 495
Mimus schon in seiner primitivsten Form ein Drama. Ja, nicht
selten vereinigen sich mehrere mimische Tänzer zur Darstellung
einer mimischen Grundidee. Sie stellen nicht blofs ein Tier,
sondern auch die Jagd darauf dar, wobei der eine die Rolle
des Tieres, der andere die des Jägers mit mimischem Realis-
mus spielt1). Oder sie mimen wie die Wilden Australiens
eine weidende Herde oder den Kampf zwischen Wilden und
Weifsen2). In solchen gröfseren Tableaux erhebt sich schon
der mimische Tanz sozusagen zur Hypothese. Dieses Streben
nach gröfserer Ausgestaltung steckt also von vornherein dem
Mimus im Blute.
Es wäre demnach leicht zu sagen, zum mimischen Tanze
habe sich allmählich das Wort gefunden, um die Charakter-
darstellung noch gelungener, noch wirkungsvoller zu gestalten.
Allmählich sei dann die Darstellung durch den Tanz hinter der
Darstellung durch das Wort zurückgetreten, und so sei der
eigentliche Mimus entstanden. Der philosophisch- ästhetischen
Kritik wäre mit dieser Erklärung Genüge gethan. Aber es
handelt sich hier um den philologisch -historischen Nachweis
dieser Entwickelung; und der läfst sich nur geben, wenn man
zweierlei erkennt: erstens, wie der mimische Tanz in Beziehung
zu den Fruchtbarkeitsdämonen und ihren Naturfesten tritt, und
wie dabei der mimische Tänzer die phallische Gestalt dieser
Dämonen annimmt, und zweitens, wie dann dieser so seltsam ge-
staltete, mimische Tänzer, da ihn die Jongleure in ihren Kreis
aufnehmen, allmählich seine Kunst nicht mehr autoschediastisch,
sondern berufsmäfsig ausübt, und wie so aus dem Stande der
*) Vgl. oben S. 489 die Schilderung des Bärentanzes durch den Prinzen
zu Wied.
*) Auch diese grofsen, mimischen Tableaux atmen Naturtreue und Rea-
lismus. Diese Kühe und Stiere scheinen zu weiden und dann im Grase
liegend wiederzukäuen, die Mütter lecken ihre Kälber. In der Darstellung
des Kampfes werden selbst die Eigentümlichkeiten der Weifsen höchst ge-
treu nachgeahmt. Man hört das Trappeln ihrer Pferde, man sieht sie sogar
die Patronen abbeifsen und die Zündhütchen aufsetzen ; bald giebt es auf
beiden Seiten Gefallene (nach Grosse, Die Anfänge der Kunst).
496 Sechstes Kapitel.
Jongleure ein Stand berufsmäfsiger Darsteller des Miraus hervor-
geht. Diese beiden Kardinalpunkte in der Ursprungsgeschichte
des Mimus und der Mimen wollen wir ein wenig näher betrachten.
Wunderlich mutet uns das Kostüm der Schauspieler der
altattischen Komödie an, wie es zahlreiche Terrakotten zeigen.
Der Schauspieler hat ein Tricot über seinen Körper gezogen
und trägt darunter Leib und Hinterteil stark gepolstert. So
tritt er auf mit Riesenbauch und Riesenpodex. Als Kleidung
trägt er den kurzen Chiton und Mantel der untern Klassen;
darunter ragt der mächtige Lederphallus hervor, der ganz den
riesigen Breitedimensionen des Leibes entspricht1). Auf den
unteritalischen Vasenbildern, welche Scenen aus der Phlyaken-
posse darstellen, zeigen sich genau dieselben wunderlichen Ge-
schöpfe. In trefflichen Abbildungen treten sie uns in dem Auf-
satz von Heydemann „Phlyakendarstellungen" entgegen2). Nur
unterscheidet sie von den attischen Schauspielern die gröfsere
Skurrilität und Verzerrtheit der Masken3). Also die altattische
Komödie und den Phlyax trennen zeitlich Jahrhunderte, räumlich
Hunderte von Meilen. Sie haben keinen direkten Zusammen-
hang mit einander. Als der phlyakische Schauspieler noch immer
der alte, pudelnärrische Tropf war, war der Schauspieler der
x) Vgl. Körte, Archäologische Studien zur alten Komödie ; Jahrbuch des
kaiserlich deutschen archäologischen Instituts 1893, S. 61—93.
Körte weist nach (S. 71), dafs erst seit Mitte des vierten Jahrhunderts die
Phallusträger aufhören, die attische Bühne zu bevölkern, und dafs erst seit
dieser Zeit die Kostümierung des Schauspielers der Wirklichkeit entspricht.
2) Jahrbuch des kaiserlich deutschen archäologischen Instituts 1886,
S. 260 folg.
3) Man hat ursprünglich einen ziemlich engen Zusammenhang zwischen
der alten, attischen Komödie und dem unteritalischen Phlyax angenommen.
Seit Panofka (Arch. Zeitung 1849, S. 17 folg.) auf der bekannten Berliner
Phlyakenvase eine unmittelbare Wiedergabe des Prologs der Frösche zu er-
kennen glaubte und Welcker ihm lebhaft beistimmte (Arch. Zeitung 1849,
S. 84 folg.) galt die Nachbildung attischer Scenen auf unteritalischen Vasen
als gesicherte Thatsache. Nach den Zweifeln, die Heydemann erhob, hat
besonders Zielinski in seinen Quaestiones comicae (Petersburg 1887) mit
aller Entschiedenheit den Zusammenhang zwischen der aristophanischen Ko-
mödie und dem Phlyax verworfen. (S. 80 folg.)
Die griechische Hypothese Tor Philiation. 497
altattische n Komödie schon längst in der neuen Komödie ein
bürgerlich-gesitteter Herr geworden. Dennoch ist er ursprüng-
lich dasselbe wunderliche Geschöpf wie der phlyakische. Und
weiter, auch der römische Atellanenspieler zeigt noch im ersten
Jahrhundert vor Christus diese uralte, seltsame Erscheinungsform.
Mit baumelndem Phallus und im Trikot schneidet er seine Gri-
massen auf den Scherben römischer Thongefäfse, die Pasqui ver-
öffentlichte *)•
Wir haben gelernt, dafs der Phlyax die italische Form
des Mimus ist und die Atellane wieder die oskisch-lateinische
Form des italischen Mimus (oben S. *232folg.). Auch der griechische
Mime hat den Phallus noch bis in die späten, byzantinischen
Jahrhunderte hinein, bis zum Ende des Mittelalters, getragen).
Also der Phallus ist das eigentliche Kennzeichen des mimischen
Schauspielers, der Phlyake und der Atellanenspieler tragen ihn,
weil sie Mimen sind. Die Komödie ist, wie wir zeigen konnten,
nach aristotelisch -peripatetischer Theorie durch das Hinzu-
treten des Mimus zum Chorgesang entstanden: also auch der
komische Schauspieler trägt den Phallus, weil er ursprünglich
ein Mime ist.
Wo stammt dieses sonderbare, den Abscheu des modernen
Menschen erregende Symbol her?
Auf den korinthischen Vasen fehlen, wie Löschke und
Furtwängler zuerst beobachtet haben, Silene und Satyrn gänz-
lich. Die dionysische Ausgelassenheit wird auf ihnen durch
höchst groteske Tänzer dargestellt, die meist mit langen Barten,
mit eng anliegendem, bis auf die Oberschenkel reichendem,
gegürtetem Chiton versehen sind. Unter dem Gürtel quillt die
massive Fülle des Bauches hervor, dem ganz das mächtige
Gesäfs entspricht, vorne hängt der riesige Phallus. Die Ge-
stalten sehen aus, als wären sie direkt von der mimischen
Bühne heruntergestiegen.
Diese grotesken Tänzer im Gefolge des Dionysos sind nun gar
i) Vgl. oben S. 9.
*) Vgl. oben S. 258 Anm. und unten S. 502 Anm. 1.
Reieb, Mimus. 32
498 Sechstes Kapitel.
keine Menschen, es sind, wie Körte (a.a.O. S.91 u. 92) nachgewiesen
hat, bakchische Dämonen. Von zweien unter ihnen wissen wir
aus den Beischriften auf dem von Dümmler (Ann. 1885 tab. D)
veröffentlichten Gefäfs sogar die Namen, Eunous und Ophelander,
Gutmann und Nutzmann, zwei höchst passende Bezeichnungen
für die Dämonen der ewig neu gebärenden Naturkraft, aus der
aller Segen und alle Fülle fliefst (vgl. Löschke a. a. 0. S. 521).
Tanzend treten diese Fruchtbarkeitsdämonen in unsern Gesichts-
kreis; sie sind die ältesten Darsteller des mimischen Tanzes.
Was aber hat der mimische Tanz, der doch überall auf der
Erde verbreitet, der aufs tiefste in der menschlichen Natur
und Art begründet ist, mit diesen Dämonen zu thun? Auch das
kann uns die Ethnologie lehren.
Gewifs wird der mimische Tanz und auch der mimische
Tiertanz bei allen möglichen Gelegenheiten geübt, wie gerade
das mimische Verlangen sich regt. Aber neben dem rein
ästhetischen Zweck haben diese Tänze zugleich einen dämonisch-
zauberischen. Die mimischen Tänzer sind vielfältig gar nicht
einfache Nachahmer der Tierwelt sondern stellen unter dem
Bilde von Tieren zugleich Naturdämonen dar und wollen durch
den Zauber des Tanzes Fruchtbarkeit des Landes wie der Tiere
erzeugen.
Ein Beispiel diene zur Illustration. Wir haben von dem
mimischen Tiertanz der Indianer Nordamerikas gesprochen und
des Bärentanzes gedacht; nicht weniger mimisch ist auch der
Stier- oder Bisontentanz der Mandan. Sie erscheinen dabei
in Bisonfell gekleidet, der Kopf des Tieres mit den langen
Stirnhaaren fällt ihnen ins Gesicht, sie tanzen in gebückter
Stellung und geben die Bisonstimme von sich. Zu diesen
Bisonten gesellen sich, wenn auch in geringerer Zahl, noch
als Klapperschlangen, weifsköpfige Adler, Biber, Raubvögel,
Bären, Antilopen, Wölfe und Prairiewölfe verkleidete Tänzer.
Die Verkleidung ist dabei eine möglichst realistisch-naturgetreue.
Diese Tänzer „handeln nach den Vorschriften ihrer Rollen, in-
dem sie die natürlichen Gebärden jener Tiere nachzuahmen
suchen. Sie schlagen sich unter einander und machen tausenderlei
Die griechische Hypothese yor Philistion. 499
Gebärden. Ein jedes Tier benimmt sich nach seiner natürlich-
eigentümlichen ^.rt, die Biber z. B. teilen lautklatschende Schwanz-
schläge aus, die Bisonten rollen und wälzen sich im Sande, die
Bären schlagen mit ihren Tatzen oder Brauten" u. s. w. Der
wichtigste unter diesen Tiertäuzen ist aber der Büffeltanz, die
andern Tiere sind nur als in Verbindung mit den Büffelherden
auftretend gedacht.
Anscheinend haben diese Büffeltänze nur den ästhetischen
Zweck mimischer, humoristisch - realistischer Darstellung. In
Wirklichkeit hat aber dieses vier Tage lang mit grofsem Eifer
fortgesetzte Tanzfest, während dessen sich andere junge Indianer
den ernstesten Martern und Bufsübungen unterziehen, zugleich
einen höchst reaien und praktischen Zweck. Das Ganze ist ein
Zauber, durch welchen die Büffelherden angelockt und erfolg-
reiche Jagden herbeigeführt werden sollen. Darum werden am
Schlüsse des Festes die Büffeltänzer zum Schein mit stumpfen
Pfeilen erschossen, und es heifst. nun hätte man Fleisch in
Hülle und Fülle. Soweit die Schildeiung des Prinzen zu Wied1).
Catlin, der diesen Tanz gleichfalls bei den Mandat) beobachtete,
erkannte, dafs diese mimische Tanz-Cereni'»nie die Fruchtbarkeit
der Büffel befördern sollte, er sah auch, wie mit einem un-
geheuren Phallus das Bespringen der Büffelkühe mimisch dar-
gestellt wurde'). So erlangt hier der mimische Tanz eine dämo-
nisch-zauberische Bedeutung und tritt in die nächste Beziehung
zu den Naturdämonen und ihren Festen. Dieser Büffeltanz wird
im Frühling, wenn die Natur zu erneuter Fruchtbarkeit erwacht,
getanzt8).
') Prinz zu Wied a. a. 0. N, S. 172-180.
2) Catlin, O-Kee-Pa. A religious Ceremony and other Customs of the
Mandans. London 1867 (auf einem 'folium reservatum ' zu pag. 22 besonders
gedruckt für 'scientific men, who study not the proprieties of man but Man',
während das Werk selbst für 'general reading' bestimmt ist) nach Liebrecht,
Zur Volkskunde, Heilbronn 1879, S. 395.
3) Vgl. Prinz zu Wied a a 0. II, S. 172. Wie die Nordeuropäer kennen
auch die nordamerikanischen Indianer, besonders Mandan und Mönnitarri
einen weiblichen Vegetationsdämon, „die Alte, welche nie stirbt", die Korn-
alte der Germanen. Ihr wird im Frühjahr ein Naturfest zur Befruchtung
32*
500 Sechstes Kapitel.
Aus Mannhatdts herrlichen» Buche „Wald- und Feldkulte"
und seinen „Mythologischen Forschungen" kann man lernen, dafs
auch in Europa solchen phallischen, mimischen Ceremonien und
Tänzen naturgewaltige Zauberkräfte in der primitiven Auffassung
beigelegt werden. So kämpfen am Pfingstfeiertage Hedemöppel,
„der Vertreter des Vegetationsalten vom vergangenen Jahr" und
Lovfrosch, „der Darsteller des im Frühling wieder einziehenden
Wachtsthumsgeistes" mit einander um die „Greitje". Lovfrosch,
der mit grünen Zweigen und Blättern dicht umwickelt ist und
einen riesigen Phallus trägt, tanzt als Sieger mit der „Greitje"
unter allerhand sehr indecenten Pantomimen1). Überhaupt
werden um Pfingsten, beim Einzug des Frühlings, gerne
mancherlei mimische Tänze uud Pantomimen aufgeführt, bei
denen die Naturgeister auftreten, der Kornalte und die Kornalte,
in England Lord and Lady of the May, die der Vegetation zu
neuer Fruchtbarkeit verhelfen2).
Das Eigentümliche aber ist, dafs bei diesen Begehungen
sich zu den dargestellten Vegetationsdämonen auch noch allerlei
Charakterfiguren hinzufinden, so dafs aus dieser Verbindung der
Vegetationsdämonen mit dem mimischen Tanze sich eine Art
mimisch-burlesker Ethologie und Biologie, so etwas wie der An-
fang eines primitiven Mimus, entwickelt3). Diese wundersame
des Getreides unter allerhand TäDzeu gefeiert (a. a. 0. II, S. 182); hier hat
also der Tanz einen ähnlich zauberischen Zweck wie der Bisontentanz.
») Vgl. Mannhardt, M. F. S. 143 folg.
2) Dabei spielt dann das phallische Element als Symbol der Natur-
kraft eine wesentliche Rolle. Vgl. Mannhardt, B. K. S. 416, 417, 469,
521 u. ö.
3) Mannhardt zählt B. K. S. 349 folg. die mancherlei Charakterfiguren
auf, die sich in der Begleitung des Pfingstl oder Pfingstling (des Vege-
tationsdämonen) beim Pfingstritt befinden. Ich gebe hier seine Schilderung
von Seite 352: ;,Aus Oberbaiern, wo der Pfingstling Wasservogel heifst,
wird uns vom Jahr 1840 eine noch viel buntere Zusammensetzung der
Pfingstproeession zu Sauerlach geschildert. Im berittenen Zuge befanden
sich folgende Personen resp. Gruppen: 1) der Nachtwächter, 2) Feldmesser,
3) Trompeter, 4) Trommelschläger, 5) Fähndrich, 6) vierzig Mann Reiterei,
7) beruhter Kaminfeger, 8) Hanswurst, 9) Schleifer, 10) Doctor, 11) Hans-
Die griechische Hypothese vor Phili-tion. 501
Entwickelung findet sich nach Mannhardts Nachweisen fast überall
in ihren Anfängen in Europa, und da wir sie nun eben auch in
Amerika nachgewiesen haben, ist wohl kein Zweifel, dafs hier
ein Grundgesetz der primitiven, dramatischen Kunstentwickelung
vorliegt.
Diese Ethologie und Biologie, die sich an die Naturfeste
anknüpft, ist allerdings überall in ihren Anfängen stecken ge-
blieben. Nur die dämonisch -phallischen, mimischen Tänzer der
Hellenen, die uralten (*T[iot rt'koiow, die Ethologen und Bio-
logen haben diese Anfänge zur Vollendung gebracht und das
grofse, biologische Drama geschaffen, das schliefslich als mimische
Hypothese zum Weltdrama werden konnte, weil seine primi-
tiven Anfänge sich in der ganzen, weiten Welt regen. Hier
haben eben die Hellenen einen grofsen Menschheitsgedanken,
den alle Völker dunkel und verworren dachten, zur Klarheit und
zur vollendeten Ausgestaltung geführt.
Also auf diesem Wege erhielt der dramatische, mimische
Tanz der hellenischen Urzeit in den Fruchtbarkeitsdämonen seine
prädestinierten Darsteller. Aus den mimischen Tänzen erwuchs
im Laufe für uns nicht mehr zu zählender Jahrhunderte das
grobian, 12) Krügelmann, 13) der Vater der Hocbzeiterin, 14) die Haupt-
person, der im belaubten Reisergestell steckende Wasservoge) zu Pferd (also
der Fruchtbarkeitsdämon, vgl. oben Lovfrosch), 15) der Landrichter, 16) Bauer,
17) Stadtherr und Bauermädchen, 18) der Klausner, li>) ein Weibsbild mit
Kindern. 20) ein Tiroler, 21) Bacchus auf einem Fafs sitxend, 22) der Pfarrer,
23) der schwarze Teufel, auf welchen öfter geschossen wurde, -J4I der bairische
Hiesel. 25) Hansel und Gretel-3 von Stroh auf einem Schleifrad, 26) der
Küchenwagen mit zerbrochenen Hausgeräten, 27) die Hexe auf einer Eggen-
schleife mit einer Flachsschwinge, 28 1 Martin Luther und Kätchen, 29) ein
Schäfer mit seinem Hund, 30) Hochzeitsleute mit Braut und Bräutigam,
31) Jäger. 32 1 Rofsdieb, 33) Gensdarmen. Jede dieser Masken sagt einige
ihrem Charakter entsprechende Verse her*'. Die bunte Fülle dieser Masken
enthält alle Elemente zu einer höchst wirkungsvollen, mimischen Ethologie
und Biologie. Mannhardt bemerkt hierzu (a. a. 0. S. 367): „Ohne die innere
Einheit einer dramatischen Aktion ist hier doch ein Ansatz zu einer dra-
matischen Schaustellung gemacht, deren Figuren von der starren Natur-
gebundenheit sich loslösen und der Freiheit eines menschlichen Charakters
entgegenstreben-.
502 Sechstes Kapitel.
primitive mimische Drama, das mit einiger Sicherheit schon im
neunten Jahrhundert für den Peloponnes vorauszusetzen ist.
Seit diesen Zeiten, die noch jenseits Homers liegen, erbte der
dramatische, mimische Darsteller von den Vegetationsgeistern
den Phallus und die sonstige, burleske Tracht, die er noch im
15. Jahrhundert nach Christus in ßyzanz trägt.
Ich will zu den mannigfachen Zeugnissen für diese seltsame
und für moderne ästhetische Begriffe unverständliche und un-
erträgliche Ungestalt der Mimen und ihren fortdauernden Bestand,
die ich oben (S. 258) angeführt habe, noch ein neues hinzufügen.
In den Scholien zu Gregor von Nazianz, die unter dem Namen
des Abtes Nonnus gehen, wird ausdrücklich dieser sonderbare
Ausputz der Mimen als noch immer gebräuchlich gekennzeichnet1).
Gregor lebte in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts;
das Scholion könnte also frühestens aus dem fünften Jahrhundert
stammen, wahrscheinlich aber ist es aus späterer Zeit2). Also
in dieser Ungestalt hat der Mime nicht nur in frühen vor-
christlichen Jahrhunderten hellenische Bauern und die Bürger
volkreicher Städte und später auch die hellenistischen Könige,
die Nachfolger König Philipps und König Alexanders, und noch
später das Volk und die Kaiser von Rom in der Kapitale der
r) liegt di tov (paXXov ^'Jjj tigrjxu/tifv iv töJ ngwnp X6y(i), ort uxa&uQtög
ng 17V aiäotop ifttov alOXQov, (p ofiotovai viiv oi /uT/lwi dtg/biccTtrov, o xaXovot
ipaXriraQtov xal tovro 'i^ovaiv iv rotg dtovvatoig, ifogovvxtg iv naiyvioig xal
koQtd^ovaiv, iv (p tot« hiXovv ixeivoi. (Migue, Patrol. gr. Bd. XXXVI, S. 1047).
Das Citat des Nonnus bezieht sich, wie ich sehe, auf das Scholion I, 57 niQt
tüv (pallüv, Migne a. a. 0. S. 1006. Für diese wichtige, unsere Auffassung
so kräftig stützende Stelle habe ich mich bei Herrn Geheimrat Hermann Diels
zu bedanken, der die Güte hatte, mich auf Estratti inediti dai codici greci
della biblioteca Mediceo-Laurenziana publicati da E. Piccolomiui pag. XLI,
Annali delle Universita Toscane Tomo Sedicesimo hinzuweisen, wo diese
Stelle citiert wird.
2) Nach Patzig, Ue Nonnianis in IV orationes Gregorii Nazianzeni com-
mentariis, Progr. Leipzig 1890 hat der Verfasser dieser Scholien zu Anfang des
sechsten Jahrhunderts in Syrien oder Palästina gelebt. Die Autorschaft des
Nonnus beruht auf späterer, unhaltbarer Kombination. Um jene Zeit lebte auch
Choricius, und von ihm wissen wir, wie sehr der Mimiis damals im Orient blühte.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 503
Macht und Bildung, des Geschmackes und der Intelligenz er-
götzt, sondern noch den Beifall des christianisierten, griechisch-
römischen Volkes und selbst der allerchristlichsten Kaiser von
Byzanz gefunden. Sie alle haben an diesen obscönen, für unsern
Geschmack gänzlich zu perhorrescierenden Gestalten keinen An-
stofs genommen und selbst die christlichen Prediger, die so sehr
gegen den Mimus eifern und alle seine Schwächen und Fehler
grell beleuchten, kümmern sich wenig um diesen Aufzug. Selbst
Johannes Chrysostomus erinnert nicht ein einziges Mal daran.
Man hatte sich eben seit uralten Zeiten gewöhnt, hier nur das
religiöse Symbol zu erkennen, das dem Mimen als Erben alter
Elementargeister, als Diener des Dionysos gebührte. Nur dar-
aus erklärt sich die Duldsamkeit auch der christlichen Jahr-
hunderte.
Die primitiven, mimischen Dramen im Peloponnes, in
Böotien. in Sizilien, in Süditalien hatten in den verschiedenen
Städten die verschiedensten Namen. Erst vom vierten Jahrhundert
beginnt für sie alle der Begriff Mimus herrschend zu werden,
und seitdem verschwinden allmählich alle anderen, lokalen Be-
zeichnungen und gehen im Begriff Mimus unter1). Der Phlyax
wie auch der böotische Mimus und das lakonische Dikelon
werden später direkt mit dem Mimus identifiziert *). Jedenfalls
aber stammt der Phlyax aus dem Peloponnes, ebenso wie die
sizilische Burleske, und ist dem peloponnesischen, besonders dem
megarischen Mimus wesensgleich. Man hat sich daran gewöhnt,
alle diese Burlesken „dorische Komödie" zu nennen, aber keine
von ihnen hat je Komödie geheifsen. Sie waren niemals ein
Komosgesang, eine xtö/uwd/a, und hatten kein Chorlied*). Nur
die alte, attische Komödie hat einen Chor, weil der zweite Be-
standteil in ihr neben dem Mimus das Phalluslied ist. Auch
kennen die Alten garnicht den Begriff ..dorische Komödie"4).
') Vgl. oben S. 262.
2) Vgl. oben S. 232 u. 256 folg.
3) Vgl. Grysar, De Doriensinm comoedia, S. 200 folg.
M Es giebt keinen einzigen griechischen oder römischen Autor, der
den tenninus technicus „Dorische Komödie" verwendet: dieser Begriff i*t
504 Sechstes Kapitel.
Diese Burlesken gehören alle zum grofsen Reiche des Mimus,
das Aristoteles und die Peripatetiker begründet haben, gestützt
auf die Volksauffassung, die seit dem vierten Jahrhundert alle
burlesken Darsteller Mimen nannte. Wir kennen also nur einen
dorischen Mimus, daneben giebt es auch einen ionischen. Wenn
man also den Ausdruck „dorische Komödie" gebrauchen will, so
mufs man bedenken, dafs sie ein Mimus ist und zum Schlufs in
die grofse, mimische Hypothese mündet, wie ja auch der so-
genannte dorische Komöde dasselbe phallische Kostüm trägt wie
der Mime.
Der Lebensnerv des dorischen wie des gesamten Mimus
überhaupt ist die burleske Ethologie und Biologie, die
Schöpfung und Darstellung realistisch-humoristischer Typen und
Figuren, vermittels deren ein reales Bild des Lebens sich ge-
stalten läfst; das iambistisch- spottende Element des Phallus-
liedes tritt ganz anders wie in der attischen xeofiwdia stark zu-
rück. Da sind die Typen des megarischen Mimus (mäsonische
Typen), des sizilischen, des italischen Mimus (Phlyax) durchaus
wesensgleich. Und diese Typen und Themen des dorischen
Mimus kehren in der mimischen Hypothese von neuem wieder.
So findet der Narr des Mimus, der fiu>QÖg, sein Prototyp
schon in den dorischen Narren Morychos, Momar, Marikas.
Der närrische, kahlköpfige Phlyake bei Heydemann (a. a. 0.
S. 300, Nr. o) hat völlig die Gestalt des kahlen Narren im
Mimus. Neben diesen Narren kennt der dorische Mimus auch
Närrinnen, so Acco, Mormo und Alphito1). Acco sieht ihr Spiegel-
von den Modernen gebildet worden nach der Stelle bei Aristoteles in der
Poetik cap. 3, § 3 (p. 1448a Bekker): öib xctl avtinotovvTat irjg it tqay^diag
xal ii)s xwfitpSCag ol dojQing, rrjg /niv xtofxudlng oi MsyaQtlg x. t. X. Also die
Dorier haben die Komödie überhaupt erfunden, von einer „dorischen Komödie"
steht aber nichts. Mit dieser Stelle hebt jeder moderne Darsteller der
„dorischen Komödie" an, so z. B. Grysar, so Lorenz.
1) Diese sechs Typen hat Zielinski mit glänzendem Scharfsinn als zur
dorischen Komödie gehörig erwiesen Quaestiones comicae S. 90 folg., wo alles
einschlägige Material gesammelt ist. Mogv/og, Mw^uq, MttQCxag, Moquw
(MoQfxolvxri) gehören zu demselben Stamme ^u^i wie /utoqog und das davon
abgeleitete lateinische Lehnwort morio.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 505
bild für eine wirkliche Person an, ähnlich wie der philistionische
stupidus, der Scholasticus (vgl. o. S. 461, Nr. 33). Als Närrin
erweist die Mormo schon ihr Name.
Acco, Mormo und Alphito gelten nun merkwürdigerweise
zugleich als Popanze und als Kinderschreck1). Sie werden also
nicht liebreizende Huldinnen, wie sie die Burleske auch liebt —
man denke an die verführerischen Ehebrecherinnen im Mimus — ,
sondern alte Hexen gewesen sein. Nun sind greuliche, alte
Weiber eine Spezialität des Mimus, in dem sie als Trunkenbolde,
Zauberinnen, Kupplerinnen und Gelegenheitsmacherinnen, als
Hökerinnen und Bordellwirtinnen ihr unheimliches "Wesen
treiben. Ich erinnere z. B. an die Kupplerin Gyllis in des
Herondas erstem Mimiambus, an die alten Hexen, die Dionysos,
dem Pseudoherakles, in den durchaus mimischen Unterweltsscenen
bei Aristophanes in den Fröschen nacheilen, weil er ihnen die
Zeche nicht bezahlt hat, die er als unglaublicher Esser und
Trinker aufsummte. Im römischen Mimus kommen wiederholt
alte Weiber als Stief- und Schwiegermütter : ), als Ammen und
alte Dienerinnen ) vor. Greuliche Weibertypen finden sich auch
auf den Atellanendarstellungen aus der ersten Kaiserzeit, die
Pasqui veröffentlichte. Wir werden diesem Typus noch in den
1) Vgl. Et. M. uuQuoXvxtiov • 7n>oawxfiot> Initfoßov, nayä irp AJoguw.
Lukian Philops. 2 Jlrjyäaovs xal Xiuaiqag xal ruQyovac xai KvxXnmac xa
oaa TotaiTci ntcpo ali.oxöra xal ifyüoitc: uv&iSta tiuiSüy «/"#**? xr\Xtiv 6ivä-
utva hi irjv AloQfitu xai jrjv Aapiav dtöiöiuv. Plutarch, De stoic. rep.
p. 1040 B. oiiiiv dutiftyti if^'Axxovg xal jijc 'Ahftioic, dt' wv iä naiddotu iov
xaxorjxolttv al ywuTxts avtiqyovaiv. Die weiteren Belegstellen bei Röscher,
Myth. Lex. unter Acco und besonders bei Zielinski a. a. 0. S 95—99.
*) Vgl. oben S. 76.
3) Hierher gehört besonders die cata carisa (vgl. oben S. 90); von ihr
heilst es bei Angelo Mai, Auct. cl. 111,449 Placidi glossae : carisa, vttus lena
percallida, unde et in mimo r'allaces ancillae cata carisia appellantur. Ähnlich
Pauli Festus p. 44: carissam apud Lwilium (gemeint ist der Mimograph)
vafram signißcat. Thes. nov. lat. bei Angelo Mai, Auct. cl. VIII, 98: carisa,
vetus lena et litigosa, unde et fallacex ancillae carisae dicuntur, qvia veritate carent.
Gloss. Vatic. Angelo Mai Auct. cl. VI, 514: carisa lena est dupla. Gloss. 1 :
dori : carissa lena vetus et litigosa, ancilla dolosa failax.
506 Sechstes Kapitel.
spezifisch-mimischen Partien bei Petron begegnen. Ich verweise
vorläufig nur auf die Priapuspriesterin, welche Encolp von seiner
seltsamen Krankheit mit allerhand Zaubermitteln heilen will. In
dem Stile dieser alten Hexen haben wir uns wohl Acco, Mormo
und Alphito zu denken. Wie konnten aber diese drei unholden
Schwestern das laute, lustige, uneingeschränkte Lachen, den
risus mimicus, erwecken und zugleich ein Gegenstand des
Grauens sein?
Aus dem Zusammenhang des Mimus mit den Fruchtbarkeits-
dämonen heraus will dieses Problem gelöst werden. Acco gehört
zum sanskritischen Akka, d. h. Mutter1). Alphito erinnert an
äX(firov (Gerste, Getreide); also auch Alphito ist eine Mutter
wie Acco, nämlich eine „Gerstenmutter oder Kornmutter". Da
sind also wie die männlichen Geister der Vegetation auch die
weiblichen auf die mimische Bühne gestiegen. Wird ja doch
neben dem Kornalten auch die Kornalte, neben dem Lord auch
die Lady of the May, neben dem Pfingstl auch die Greitje in
den mimischen Tänzen und Begehungen bei den Frühlingsfeiern
zur Darstellung gebracht, wie wir soeben sahen.
So fleht auch Aristophanes nicht nur den männlichen Vege-
tationsdämon, Dionysos, als Schützer seiner Komödie an,
sondern auch Demeter, die Kornalte:
Du keuscher Orgien Königin,
Demeter, sei in Gnaden nah
Und schirme selber deinen Chor;
Lass sonder Fehl' den Tag hindurch
Mich spielen, tanzen, singen,
Mich sagen noch viel Spafsiges,
Mich sagen auch viel Ernstliches,
Und, wenn ich würdig deines Fest's
Gespielet hab', gespottet hab',
Den Siegeskranz mich schmücken!
(Frösche, v. 389—398, Droysen.)
J) Fick, Vergleichendes Wörterbuch4, S. 1.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 507
Wie die männlichen Dämonen der Fruchtbarkeit und Fülle
sich durch eine grofse Korpulenz auszeichnen, hat man wohl auch
die weiblichen ursprünglich ähnlich gedacht; und wie diese Vor-
stellung die Erscheinung der männlichen Mimen und Phlyaken
beeinflufste, hat sie anfänglich auch auf die weiblichen eingewirkt.
So sind im südlichen Rufsland zusammen mit allerhand phallisch-
pblyakischen Schauspielerterrakotten Figuren von häfslichen,
korpulenten, alten Weibern gefunden worden, denen der mächtige
Wanst ebensowenig wie den männlichen Phlyaken fehlt1). Wir
t) Ich gebe hier die Beschreibungen Stephanis (Compte-Rendu de la com-
mission imperiale archeologique pour l'annee 1868, S. 56): „Die auf Tafel I,
Nr. 15 wiedergegebene Terrakotta -Figur schliefst sich, indem sie eine
schwangere Alte, wie es scheint, bettelnd darstellt, an zwei schon früher
von mir bekannt gemachte ähnliche Statuetten an und hat ohne Zweifel
auch ähnlichen Zwecken gedient. Sie ist mit einem Kopftuch, mit einem
Chiton und einem Himatiou versehen und hat das letztere bis in die Höhe
des Kopfs empor gezogen. Sie blickt seitwärts in die Höhe und streckt beide
Hände, von denen jedoch die eine verloren gegangen ist, vorwärts, als ob sie
von Jemandem Etwas erbitte. Von der bunten Färbung, mit welcher ur-
sprünglich die ganze Statuette versehen war, ist nur die weifse Untermalung
erhalten." (C.-R. pour l'annee 1869, S. 164 und 165): „Hingegen lassen
uns die beiden, einander sehr ähnlichen alten Frauen, welche auf Tafel III
Nr. 9 und 10 abgebildet sind, in dieser Beziehung durchaus nicht im Un-
gewissen. Offenbar liegt da der Ton auf dem namentlich in den Gesichts-
zügen ausgeprägten Charakter gemeiner Häfslichkeit, woran die Besitzerin,
wie uns auch andere in ihrer Umgebung gefundene Statuetten hinreichend
zeigen, besonderen Gefallen fand. Die Gesichtszüge beider Alten nähern
sich in der That denen der Affen. Im Übrigen jedoch zeigen sie nichts
Besonderes. Beide stehen in ruhiger Haltung, tragen rothe Schuhe, blaue
Untergewänder und haben die Obergewänder über den Hinterkopf gezogen.
Die linke Hand ist beide Male gesenkt; die rechte unter dem Gewand auf
die Bru<t gelegt. Eine andere Figur zeigt einen noch gemeineren Charakter,
indem sie fast genau das Motiv wiederholt, welches wir schon durch eine
zweite, ebenfalls in der grofsen Blisnitza gefundene Terrakotta-Figur kennen ge-
lernt haben. Eine mit einem Unter- und Obergewand bekleidete schwangere
Alte macht sich über ihren Zustand selbst lustig, indem sie das Gewand mit
der rechten Hand so über den untern Teil des Gesichts zieht, dafs ihre
Körperformen besonders deutlich hervortreten. Wie weit jedoch der Ge-
schmack an Gestalten dieser Art in jener Zeit und in jenen Gegenden ver-
breitet war, lehren aufser den beiden erwähnten Figuren noch zwei andere,
508 Sechstes Kapitel.
haben hier eben weibliche Phlyaken oder Miminnen, deren Pro-
totyp Acco, Mormo und Alphito sind.
Wie die fülligen Vegetationsgeister den Menschen alle Fülle
und allen Segen spenden, so kann von ihnen auch alles Verderben
kommen. Wie Apollo mit seinen Pfeilen die Pest erregt, so sind
auch die Baumgeister, die Elfen und Elbe die Erreger böser
Krankheiten1). So sendet der Baumgeist das krankheiterregende,
gespenstisch-kleine Ungeziefer*) Auch die Kobolde und Wichtel-
männer treiben ja allerhand bösen Schabernack. Und Frau Holle,
die den Guten ein Schutz ist, ist für die Bösen ein übler Dämon.
In den Kreis dieser niederen Dämonen gehören die Kerkopen
und Kobalen, die griechischen Kobolde, wie sie schon Lobeck
(Aglaophamus S. 1312) nennt; sie spielen gleichfalls in der grie-
chischen Burleske eine Rolle. Ich erinnere an die Phlyaken-
welche ebenfalls im südlichen Rufsland gefunden worden sind. Noch greller
tritt die Geistesrichtung der Frau, deren Nachlafs uns beschäftigt, in den
drei übrigen weiblichen Figuren hervor, welche im Anschlufs an mehrere
der männlichen Figuren Frauen im Zustand der Trunkenheit darstellen. Die
eine hat zwar keine runzligen Gesichtszüge, giebt jedoch durch ihren dicken,
schwammigen Bauch und die lang herabhängenden Brüste ihr schon etwas
vorgerückteres Alter zu erkennen. Aufser roten Schuhen trägt sie ein blaues
Obergewand, welches sie, indem sie sich auf einer Erhöhung niedergelassen
hat, so über die Schultern geworfen hat, dafs der Bauch und die Brüste frei
bleiben. Mit der Linken hat sie ein tiefes Trinkgefäfs erfafst und drückt es
an ihre Brust, indem sie, entzückt über den Wohlgeschmack des bereits
genossenen Weines, das Haupt zurück wirft und die Rechte, ihn preisend, er-
hebt." Vgl. auch Weifshäupl, 'Eif^/ut^U ägxaioXoyixri 1891 na^aaraan yQttias
[j.e&vov0T)s S. 144 folg.
1) Mannhardt, B. K. S. 66.
2) Deshalb umwandelt man z. B. bei Zahnschmerzen einen Birnbaum
rechts und umfafst ihn mit den Worten:
Birnbaum, ich klage dir
Drei Würmer, die stechen mir,
Der eine ist grau
Der andre ist blau
Der dritte ist rot
Ich wollte wünschen, sie wären alle drei tot.
Vgl. Mannhardt, Baumkulte S. 14. Damit soll der Baumgeist, der die Er-
reger der Schmerzen sendete, um Hilfe angerufen werden.
Die griechische Hypothese vor Philistion 509
darstellung bei Wieseler, Denkm. IX, 9, S. 56 folg , auf der Herakles,
die Kerkopen in Gestalt von Aflfen in einem Tragkorb mit sich
führend, erscheint, xoßcdti« wird bei Harpocration mit ßuofsoXoyja
(Spafsmacherei) wiedergegeben, also ist der Kobold ein Spafs-
macher und zwar meist ein übeler1). Die Kerkopen haben nach
der Sage (vgl. Herodot VII, 216.) den Herakles fielcipnv; og mit
ihrer Spafsmacherei geärgert und ergötzt. In der deutschen
Volkssprache heifst es „lachen wie ein Kobold".
So können wir es verstehen, wie Acco und Alphito, die
Kornmütter, und ihre Schwester Mormo, die Närrin, als ge-
spenstische Naturgeister Grauen erwecken und andererseits als
burleske Typen das Volk belustigen. Damit aber kein Zweifel
bleibt, dafs sie wirklich von vornherein in den Kreis der Ele-
mentargeister gehören, hat Hesychius noch eine Erinnerung be-
wahrt, dafs die „Mormonen" umherschweifende Dämonen seien*);
das sind die Geister der Natur eben alle. So erscheinen neben
den männlichen Naturgeistern die weiblichen in der alten, dori-
schen Burleske. Von ihnen stammen dann weiterhin die Rollen
der Weiber im Mimus, soweit sie ältlich sind, wie die cata carisa
und ihre Verwandten. Auch hier zeigt sich ein ununterbrochener
Zusammenhang zwischen dem uralten, burlesken Drama der Dorier
und der späteren, mimischen Hypothese.
Den dorischen Mimus zeichnet von vornherein das Be-
streben aus, sich zu einem gröfseren, dramatischen Gebilde auszu-
gestalten. Das wird schon der megarische Mimus gewesen sein,
sonst hätten die attischen Komiker sich nicht davor verwahrt:
ihr Drama megarisch zu machen3). In Sizilien ward der Mimus
!) Vgl. besonders Lobeck a. a. 0. S. 1312. Aristoteles, H. A. VIII, 12,
nennt den Vogel Otos:
xoßalog xtti uiutjt^g.
a) uoofiövctf nlmmpmt Satuovas; an diese Dämonen denkt Xenophon
bei seiner Bemerkung: (foßovvrai tovs ntlTaöiat; wonig uoßuoj«, naidäqut
(Hellenica IV, 4, 17).
3) Ekphantides:
MiyaQtxijs
xojuojiSiai aaii ov ditiu' ija^ivouriv
tb dottua Alfyantxor 7lou7r.
510 Sechstes Kapitel.
zu einem grofsen Schauspiel zuerst durch Epicharm am Anfang
des fünften Jahrhunderts, und wenn die epicharmische Burleske
auch nie Mimus geheifsen hat, so hat Epicharm sie auch gewifs
nicht Komödie getauft. Bald nach Epicharm aber hat man die
sizilische, volksmäfsige Burleske Mimus genannt. Der italische
Mimus gestaltete sich am Ende des vierten Jahrhunderts durch
Rhinthon, Blaesos und Skiras zu einem gröfseren Drama. Aber
dieses hatte keinen Bestand, es starb mit seinen Schöpfern wieder
aus. Nur seine Grundlage, der auf niederer Stufe der Kunst
festgehaltene, eigentliche Volks-Mimus, hielt sich durch alle Jahr-
hunderte in den Tiefen des Volkslebens lebendig.
Solange eben der Mimus nur an den Naturfesten von fest-
frohen Bauern oder später auch von den Bürgern der Städte
zur Aufführung gebracht wurde, sank er stets wieder von der
künstlerischen Höhe, auf die ihn ab und zu grofse Dichter er-
hoben, zur primitiven Volksburleske herab. Erst als etwa seit
dem vierten Jahrhundert aus dem Stande der wandernden Jong-
leure sich auch ein fester Stand mimischer Schauspieler und
eine grofse Anzahl wandernder Mimentruppen herausgebildet
hatte, wurde jede neue Errungenschaft in der mimischen Kunst
durch mündliche Überlieferung erhalten und durch unausgesetzte
Kunstübung weiter fortgebildet. Denn diese wandernden Mimen-
truppen im vierten vorchristlichen Jahrhundert hatten zugleich
auch die Dichter der mimischen Burlesken unter sich, ja sie
waren Dichter und Schauspieler in einer Person, da sie nicht
selten werden extemporiert haben, ist doch noch Philistion zu-
gleich Mime und Mimograph. Das alles war mit eine der wesent-
lichsten Ursachen für die fortdauernde Existenz des mimischen
Dramas, das nun am Beginn der alexandrinischen Epoche sich
als mimische Hypothese zu konstituieren begann.
Ich erinnere hier nun kurz an die einzelnen Phasen der Ent-
wickelung des mimischen Schauspielers aus dem Jongleur, dem
rJ-ccvfjbtxtonoioi; , wie ich im Mimusprogramm , dem ich hier dem
Inhalte und zum Teil auch dem Wortlaute nach folge, mich be-
müht habe, sie festzustellen. Dieser Prozefs ist ein so überaus
wichtiger und welthistorischer, weil der alte Mime ja auch der
Die griechi8i he Hypothese vor Phili^tion.
Vater des modernen Schauspielers ist, der sich heute noch gerne
Mime nennt. Zwischen dem alten Tragöden und Komöden und
dem modernen Schauspieler dagegen giebt es nicht den min-
desten, direkten, historischen Konnex; sie sind auch in jeder
Beziehung wesensungleich.
Gaukler hat es in Hellas seit uralten Zeiten gegeben. Noch
viel älter ist die Jonglerie im Oriente, wo sich die profane
Gaukelei aus der religiösen entwickelt hat. Ich erwähne nur,
um ein allgemein bekanntes Beispiel zu gebrauchen, die Stäbe
der ägyptischen Priester, die zu Schlangen werden vor dem An-
gesichte Pharaos, und an Aarons Schlangenstab, welcher sie
verschlingt1). Noch heute steht die Jonglerie dort, besonders
') Von religiöser Jonglerie der Mönnitari-Indianer berichtet der Prinz
zu Wied (a.a.O. II, S. 268— 270) folgendes: „Er l Charbonneau) liefs mir
sagen, dafs in einer gewissen Hütte die Weiber einen Medecine-Tanz auf-
führten, und wir eilten daher augenblicklich dorthin . . . Die in der Mitte
stehende Frau gab vor, eine Mayskolbe im Leibe zu haben, welche sie nun
durch Medecine hervor zaubern, und auch wieder verschwinden la«sen könne.
Wir waren schon etwas zu spät gekommen, die Mayskolbe war schon wieder
verschwunden: allein Charbonneau redete mit den Leuten, denen wir ein
Geschenk von zehn Staugen Tabak machten, und die Gaukelei wurde noch
einmal wiederholt. Unser Tabak wurde auf einen auf Weidenzweigen auf-
geschichteten Haufen von gebratenen Bisonrippen auf den Boden geworfen,
wo derselbe bis zu dem Ende der Darstellung, welche eine gute Mays-
ernte im künftigen Jahre erzielen sollte, liegen blieb . . . Die
Medezine-Frau tanzte allein nahe am Feuer, dem sie ihre Hände zuweilen
nahe hielt und sie dann nahe an das Gesicht legte. Sie begann endlich zu
schwanken, die Arme vor und rückwärts zu bewegen und diese convul-
sivischen Anstrengungen nahmen immer zu. Indem sie nun den Mund rück-
wärts bog, sah man bald die Spitze einer weifsen Mayskolbe ihren Mund
ausfüllen, und immer mehr vorrücken, wobei ihre Convulsionen zunahmen".
Prinz zu Wied macht hierzu die Bemerkung: „Von ähnlichen Gaukeleien
erzählt auch d'Orbigny von den Völkern des südlichen Americas, den Pata-
gonen. Araucanern, Puelchen (s. dessen Voyages T. IL pag. 91). In Brasilien
habe ich nichts Ähnliches gesehen." Wie diese indianischen Gaukeltänze
gern in mimische Tänze und mimische Darstellung übergehen, haben wir
schon gesehen und es ist interessant, dafs auch dieser Gaukeltanz die
Fruchtbarkeit der Natur zauberisch erwecken soll, ähnlich wie der mimische
BüffeltanE.
512 Sechstes Kapitel.
in Indien und Ostasien, in voller Blüte und ist eine der wich-
tigsten Unterhaltungen der Vornehmen wie des Volkes. Vom
Oriente zogen die Gaukler nach den aufblühenden Städten
Ioniens, Griechenlands und Süditaliens '). Aber bald fand sich
bei den Griechen genug unruhiges Volk, das sich mit Erfolg
bemühte, die Künste dieser Gaukler nachzuahmen, und mit
der neu erworbenen Fertigkeit sich gleichfalls auf die Wander-
schaft begab2).
Schon bei Homer finden wir die Kybisteteren, die man wohl
mit Recht für Gaukler erklärt3). Seit Homer erfahren wir dann
Jahrhunderte lang von diesen fahrenden Leuten nicht das Min-
deste. Sicherlich haben sie auch nach ihm weiter existiert, aber
die spärlichen, poetischen Quellen, die wir aus jenen Zeiten be-
sitzen, hatten nicht den mindesten Grund, sie zu erwähnen. -Die
Poeten jener Zeit gehören, soweit wir überhaupt von ihnen etwas
besitzen, der idealistischen Richtung an, sie schreiten auf den
Höhen der Menschheit einher, der arme Gaukler aber, der
&av(jiccT07ioi,6g, gehört der Hefe der Gesellschaft an, er pafst
!) Beständig sind noch in neuerer und neuester Zeit Jongleure aus dem
Orient gekommen und haben hier staunende Verwunderung erregt; so ist Böttiger
zu einer seiner kleinen Abhandlungen über die griechische Jonglerie durch die
staunenerregenden Produktionen eines indischen Jongleurs aus Madras geführt
worden, der sich in Deutschland produzierte. Kl. Schrift. Bd. III, S. 335 — 361.
2) Auch heute ist der Gaukler ein Zugvogel, der aber gemäfs der un-
geheuren Entwickelung des modernen Verkehrs nicht nur von Stadt zu
Stadt, von Land zu Lande, sondern gleich von einem Weltteil zum* andern
zieht. Alle Jahre, 8 oder 14 Tage vor Weihnachten, findet auf dem Dom zu
Harnburg ein grofser „Künstlerjahrmarkt" statt für den ganzen Kontinent
und auch für Amerika. Dort finden sich auch die Agenten ein und die
Direktoren der grofsen Varietetheater. Ein „Künstler", der über eine
wirklich „grofse Nummer" verfügt, wandert, wenn das Glück gut ist, von
Petersburg, Berlin und Paris nach New- York, San Francisco, nach Capstadt
oder nach Sidney in Australien oder nach Singapore und Hongkong; und
auf unseren Varietes sieht man Engländer und Amerikaner, Spanier und
Franzosen, Neger, Chinesen und Japaner. Ich erinnere auch an den wan-
dernden amerikanischen Riesencircus Barnum und Bailey, der jetzt den ganzen
Kontinent heimsucht.
3) Ilias XVI, 750; XVIII, 604.
Die griechische Hypothese Tor Philistion. 513
nicht in ihre Gedichte. Erst aus nachhomerischen Zeiten erhalten
wir wieder authentische Kunde von der Existenz der Gaukler
durch ein schwarzfiguriges Vasenbild, das Salzmann „ Necropole de
Camiros" S. 37 veröffentlichte. Dort findet sich ein Kunstreiter
hoch zu Rofs, während ein anderer mit kühnem Schwünge von
hinten aufs Pferd springt. Die Zuschauer sitzen auf ansteigenden
Bänken und bezeigen ihren Beifall1).
Jedenfalls scheint sich die Zahl der griechischen Jongleure
seit der homerischen Zeit aufserordentlich vermehrt zu haben.
Wenn sie nicht schon am Ende des fünften Jahrhunderts Land und
Meer erfüllt hätten, so würden Plato und Xenophon sie gewifs
nicht so häufig erwähnt haben (vgl. oben S. 247, Anm. 1). Wie
auch Aristoteles und die Peripatetiker auf diese Jongleure im
Zusammenhang mit den Mimen achteten, haben wir schon ge-
sehen (S. 246). So ungeheuer zahlreich wurden sie, dafs man
keine Panegyris, keine Festversammlung, ja, dafs man kein
kleineres Fest, kaum ein Gelage ohne ihre Vorführungen sich
denken konnte. Davon, wie sie scharenweise von Ort zu
Ort zogen und stellenweise ordentlich überschwemmend auf-
traten, kann sich niemand ein rechtes Bild machen, der an
die sogenannten Künstler und Gymnastiker unserer Zeit denkt,
die nur vereinzelte Kunstreitergesellschaften und das Vari6t6-
theater oder die Spezialitätenbühnen mit ihren Parterregym-
nastikern, zahmen Zauberkünstlern und dergleichen kennt.
Um sich eine Vorstellung von der Zahl und Verschieden-
artigkeit der griechischen Gaukler zu machen, müssen wir an
die Jongleure des Mittelalters denken, die bei grofsen Festen zu
Hunderten und Tausenden auftraten 2). Da gab es Springer,
Kunstreiter, Feueresser, Zauberkünstler und viele andere
Gattungen von Künstlern ganz wie im griechischen Altertum.
Zur Hochz,eit Alexanders und der Statira zogen wie zu
den grofsen, mittelalterlichen Ritterfesten, z. B. zum Mainzer
*) Siehe auch die Abbildung bei Schreiber, Kunsthistorischer Bilder-
atlas, Taf. XXIV. 0. Rossbach hatte die Güte, mir diese Darstellung nach-
zuweisen.
*) Schulz, „Höfisches Leben". Bd. I, S. 566—577.
Kai eh, Mimue. oo
514 Sechstes Kapitel.
Fest, viele Hunderte griechischer Jongleure; dort stiefsen sie
mit zahllosen orientalischen Gauklern zusammen, und es scheint
ein heftiger Wettstreit zwischen der uralten, orientalischen und
der neuen, hellenischen Jonglerie entbrannt zu sein. So weit
wir aus den spärlichen historischen Nachrichten über dieses
sonderbare Ereignis urteilen können, scheinen die hellenischen
Schüler sich ihrer orientalischen Meister im höchsten Grade
würdig gezeigt zu haben1).
Alle gauklerischen Kunststücke, mögen sie von Taschen-
spielern, Seiltänzern, Akrobaten oder sonstigen Jongleuren aus-
geübt werden, verlangen gewisse mimische Fertigkeiten. Wenn
wir heutzutage auf den Jahrmarkt gehen, die letzte, volkstümliche
Zufluchtstätte des Gauklers, so sehen wir ihn vor seiner Bude
mit lauter Stimme das Publikum haranguieren, und, wenn er
geschickt ist, durch alle möglichen mimischen Produktionen die
Aufmerksamkeit auf sich lenken, bevor seine eigentliche Vor-
stellung beginnt. So hören wir bei Plato von Jongleuren, welche
die Stimmen von Tieren nachahmen, das Wiehern der Pferde
und das Brüllen der Stiere, und auch sonstige Naturlaute
wiedergeben, so das Rauschen der Flüsse, das Tosen des Meeres
und Donnerschläge (vgl. oben S. 419). Als Agesilaus aufgefordert
wurde, einen Gaukler anzuhören, der die Stimme der Nachtigall
imitierte, meinte er: „Ich habe sie selber gehört". (Plutarch Agesi-
laus XXI, 6.) Überhaupt mufste der Verkehr mit dem Publikum
die fahrenden Leute in mimischer Hinsicht anregen.
Der Gaukler fühlte sich dem niederen Publikum, das ihn
umdrängte, weit überlegen. Er war weit gereist und viel ge-
wandert, wie jener Syrakusier in Xenophons Gastmahl. Bald
war er in Syrakus, bald in Athen, dann tauchte er in den
Städten des Peloponnes auf, vielleicht war er auch schon in den
reichen Städten Grofs-Griechenlands gewesen, die ein besonders
') Einzelne Gaukler Alexanders gewannen solchen Ruhm, dafs ihre
Namen noch erhalten sind, so Skyranos aus Tarent, Philistides aus Syracus,
Heraclit aus Mitylene (Athen. I, 20a). Ja, Aristonikos aus Karystos, ein
Sphärist Alexanders, erhielt von den Athenern das Bürgerrecht und sogar
ein Standbild (Athen. I, 19 a).
i
Die griechische Hypothese vor Philistion. 515
ergiebiges Feld für die Thätigkeit der Jongleure waren, vielleicht
hatte ihn der Zufall gar nach Afrika, nach Cyrene verschlagen.
So hatte er denn viel gesehen und erfahren, und das Gefühl
der Überlegenheit ist bei ihm erklärlich genug. Diese Stimmung
zeigen die Worte des Syrakusiers in Xenophons Symposion:
„Gut, rief hier Charmides, aber Du, Syrakusier, worauf bist Du
stolz, gewifs auf den Knaben? 0 nein, versetzt jener, durchaus
nicht. Nun, und worauf denn sonst? Beim Zeus, auf die
Thoren; deun diese sehen meine Gaukeleien mit an und schaffen
mir dadurch täglich mein Brot Ach, darum also, sagte Phi-
lippus, hörte ich Dich neulich zu den Göttern flehen, sie möchten,
wo Du weilst, zwar einen recht reichen Erntesegen, aber einen
Mifs wachs an Verstand eintreten lassen*.
Ich habe die>e Stelle angeführt, um zugleich zu zeigen, in
welch' freiem Verkehr diese Gaukler selbst mit dem besseren
Publikum, dazu gehören doch sicher die Gäste des Kallias,
standen. Wir hören sogar noch später, wie dieser Syrakusier mit
einem der Gäste, mit Sokrates, einen Streit vom Zaune bricht,
weil er glaubt, dafs die sokratischen Gespräche die allgemeine
Aufmerksamkeit von seinen Gaukeleien ablenkten. Und doch
wird der Gaukler für diese Anmafsung nicht hinausgeworfen,
sondern man legt den Streit in gütlicher Weise bei und beruhigt
den Aufgeregten (vgl. auch oben S. 360).
So sahen denn diese Gaukler mit freiem Blick alle Ver-
hältnisse an und beobachteten die Charaktere des Volkes, wie
sie sich ihnen zeigten. Diese Kenntnis des Volkscharakters ge-
hörte mit zu einer erfolgreichen Ausübung ihres Gewerbes. Da
sie nun beständig auf Reisen waren, was ja im Altertum für
eines der Hauptbildungsmittel galt, so hatten sie vielfältig Ge-
legenheit, mancherlei Typen zu studieren und auch die Volks-
charaktere in den verschiedenen griechischen Städten aufzufassen.
Dahin gehört wohl, was Athenaeus (1, 19 f.) erzählt: der Gaukler
Nymphodorus habe die Einwohner von Rhegium zuerst wegen ihrer
Feigheit verspottet.
So wie es die heutigen Gaukler auf den Jahrmärkten thun,
werden wohl die damaligen Jongleure die Menge vor Beginn
33*
516 Sechstes Kapitel.
ihrer Kunststücke harauguiert haben. Das thun, wie wir sahen
(S. 97 u. ö\), noch in späten nachchristlichen Jahrhunderten die
Mimen von der grofsen Bühne herunter. Wenn ihnen dabei unter
den Umstehenden irgend jemand besonders seltsam und dumm
erscheint, so äffen sie ihm in lächerlicher Weise nach und
stellen ihn zur Freude des Publikums mimisch dar. Derartige
Kunststücke werden die griechischen Jongleure auch nicht
verschmäht haben. So berichtet Diodor1), wenn eine Volks-
versammlung stattfand, hätte Agathokles, der von Natur zur
mimischen Darstellung und Possenreifserei neigte, oft ein-
zelnen Leuten , die ihm durch ihr sonderbares Wesen auf-
fielen, nachgeäfft und sie mimisch dargestellt; dann wäre
das Volk in Gelächter ausgebrochen, als wenn es einen Etho-
logen oder Jongleur sähe2). Nun erzählt Athenaeus nach dem
') Vgl. oben S. 224, Anm. 1.
2) Von solchen Gaukeleien, sowie mancherlei anderen, welche direkt in
mimische Ethologie und Biologie übergehen, berichtet Athenaeus I, 19 d— 20b:
£9av/j.aCexo de nao' "EXXtjOi xai 'Ptopatoig Maxofag 6 nXävog 6 ^AXe^avdoevg,
dg eXeye xai &tjqiov xottpeiv o avxb eavxb xaxeo&iei ' (bg xai. CTjTeiO&at ptyQ1
viiv xb Maxoeov &rjQiov xi laiiv. lnoix\<Se cJ" ovxog xai nana Tag Aoiaxox e"Xovg
anontag xai äveyivcoaxe drjfiooiq, did xi 6 ijXiog dwei fiev xoXvfißä d" ov, xai
did xi ol anöyyoi av/univovai /uev övyxco&cuvitovxai d' ov, xai xa xexoadoaxfia
xaxaXXdxxexai fiev oDyifcxai, d' ov. AfrqvaToi de no&eivtp xä} vevQOOndaxr) xr\v
axt\vr\v edwxav dq?' yg ivefhovOiav ol neoi EvQinidtjV. IdftrjvaToi de xai Evqv-
xXeidtjv tv tw &edxoa) dveßxrjaav uexd xtäv neoi Ala/i/Xor. ißav/na^exo de xai
3evo(pwv b &av(iaxo7ioi6g, og /ja&rjxrjV xaxiXme Koaxtaflevr] xov <PXidaiov og
TivQ xe avxöuaxov tnoiei dvatfivea&ai xai dXXa noXXd (pdofiaxa ixe^fäxo, ä(f>'
(bi> e*l-ioxa xtiiv dvd-odtnwv xr\v ötdvoiav. xoiovxog i\v xai NvfX(fbd(i)Qog b &avfiaxo-
nowg, og nooaxoovaag, ^Prjyivoig <5g <prjOi Aovqig^ ttg deiXiav avxovg eOx(ü\ije
ngdüxog. Evdixog de 6 yeXioxonoibg rjvdoxifxet (ufiov/uevog naXaiaxdg xai nvxxag,
(5g (frfGiv Aoioxöt-evog. 2,'xqutojv <f ö Taoavxtvog £&avfxd£exo xovg di&voapßovg
fiifxov/xevog' zag de xi&aoqjdiag ol neoi xov tl-'lxaXiagOh'djvav, og xai KvxXwna
eiarjyaye xeoexiCovxa xai vavuybv 'Odvaaia OoXoixi£ovxa, b avxog qrqoi. Aionei-
&rjg de 6 Abxqog, äg (prjOi 'Pavödtj/jog, naoayevo/uevos elg Sr\ßag xai iino^oiwii-
fxevog o'ivov xvareig /ueaxdg xai yaXaxxog xai xavxag dno&Ußiav dvtfxäv iXeyev
Ix xov axöfiaxog. xoiavxa nottüv rjvdoxifjei xai Norjf4(ov b rj&oXbyog. Ivdol-ot
d' r^auv xai nao' AXe^dpdQ(i) ^av/^axonoioi Zxvuvog b Taqavxivog, tPiXiai(drlg
6 Zvgaxovotog, 'HgdxXecxog b MiTvXrjvaiog. yeyövaat de xai nXdvot ivdo^oi,
btv Kr](f)ia6d(OQog xai IlavtaXiwv. <t>iXinnov de xov yeXaxonotov Sevo(f(öv
/uvrj/uovevet (symp. 1). So bildet also hier Jonglerie, Mimus und Pantomimus,
Die griechische Hypothese vor Philistion. 517
Berichte des Phanodemus. in Theben sei ein Gaukler Dio-
peithes aufgetreten, der hätte sich Schläuche mit Wein und
Milch untergebunden, hätte sie heimlich gedrückt und dann
behauptet, die hervorquellende Milch und den Wein aus seinem
Munde zu speien. Durch solche Kunst hätte auch Noemon,
der Ethologe, grofsen Ruhm gewonnen. Also ist dieser
Noemon offenbar ein Gaukler, der zugleich ein Ethologe. das
heifst, ein Mime ist. Freilich scheint er als Gaukler glücklicher
gewesen zu sein denn als Mime. Damit aber kein Zweifel ent-
stehe, dafs dieser Mime Noemon wirklich zugleich ein Jongleur
ist, so fährt Athenaeus unmittelbar an derselben Stelle fort:
„Ruhm gewannen auch bei Alexander die Jongleure Skymnos aus
Taren t, Philistides aus Syrakus und Heraklit aus Mitylene4*.
Also mimische Charakterdarstellungen gehörten nach allgemeiner
griechischer Auffassung zur Art des Jongleurs. Er war jeden-
falls schon in sehr früher Zeit eine Art Mime.
Eine der wichtigsten Produktionen der Gaukler ist der
Tanz; wir besitzen zahlreiche Darstellungen von tanzenden
Gauklern und Gauklerinnen aus dem griechischen Altertum1). Oft
Spafsmacherei und mimisches Puppenspiel ein buntes Durcheinander, wie es
das eben auch im Leben bildet, wo mimische Kunst und Jonglerie direkt
in einander übergehen.
x) Solche Gaukeltänze beschreibt nach den Bildwerken besonders Heyde-
mann, Die Vasensammlung des Museo Nazionale zu Neapel, Berlin 1872.
So heifst es bei ihm (Beschreibung von Nr. 2201): „Ein bärtiger Satyr, der
die Doppelflöte bläst, hockt zwischen zwei andern Satyrn. Der eine von
diesen, dem der erstbeschriebene Satyr sein Gesicht zuwendet, streckt beide
Arme nach hinten aus und will über den vor ihm stehenden Skyphos (F. 34)
hinüberspringen : der andere läfst einen Skyphos, den er mit den Zehen fest-
hält, auf der Sohle des nach hinten emporgehobenen Fufses balanciren: er
scheint auf dem rechten Fufse vorwärts zu springen und streckt den Kopf
und die linke Hand zurück, um seine Gefährten auf sein Kunststück auf-
merksam zu machen- i Beschreibung von Nr. 3232): .Ein junger Mann, in
Mantel, auf einen Knoteustock gestützt, die Linke erhoben und die Rechte
in die Seite gestemmt, sieht Übungen von Gauklerinnen zu. Vor ihm steht
eine Frau, welche in Chiton ist und, in der Linken Flöten haltend, mit der
Rechten einer im Tanzen vor ihr knieenden Frau eine Leier darzubieten
scheint: die letztere trägt einen Ärmelchiton, gegürteten kurzen Chiton und
518 Sechstes Kapitel.
genug wird der gymnastische Gaukeltanz in den mimischen Ge-
bärdentanz übergegangen sein, aus dem sich der Mimus ent-
wickelt hat.
auf dem Haupte eine Krone von Federn. Es folgt eine ebenso geschmückte
und gekleidete tanzende Frau, welcher die auf einem Stuhl sitzende, in
Chiton und Mantel gekleidete Elpinike (EAHNIKE) vorbläst; zwischen
beiden steht ein Stuhl mit daraufliegendem Gewandstück. Dieser Mittel -
gruppe folgt weiter nach rechts eine Frau, welche, behelmt und mit Lanze
und Schild versehen, einen Angriff im Tanze nachahmt; sie trägt ein eng-
anliegendes kurzes Gewand und Schuhe, welche die Zehe freilassen. Vor
ihr steht eine Frau, in Haube und langem Chiton mit glattem Überwurf,
welche Castagnetten schlägt. Dann folgt auf einem Tisch eine junge
Person, in Trikot vom Hals bis unter die Knie; auf die beiden Unterarme
gestützt, tiberschlägt sie sich, so dafs die Fufsspitzen fast den Tisch berühren;
sie hat den Kopf umgedreht und schiebt mit dem linken Fufs eine Trink-
schale (F. 12 ohne Henkel; mit Deckel) ihrem Munde zu. Den Beschlufs
machen eine Flötenbläserin, in Haube Chiton und Mantel und ein juDges
Mädchen, in Trikot vom Hals bis zur Mitte der Schenkel, welche sich im
Schwerttanz übt: vor ihr sind vier kurze Schwerter, mit den Spitzen nach
oben gekehrt, aufgepflanzt." (Beschreibung von Nr. 281): „Auf einer
Kline — rechts vom Beschauer — liegen zwei Jünglinge: der eine, Euaion
(EVAION), bläst die Doppelflöte; der andere, Kallias (KAAAIA^), hält in
der Linken eine Schale am Fufs gefafst und streckt verwundernd die Rechte
aus gegen die beiden vor ihm auf einer zweiten Kline liegenden Männer,
welche sich umsehen. Der erste von diesen, über dem ein xalog (KAAO^)
steht, bewegt staunend die rechte Hand; der andere, welcher Euainetos
(EVAINETO^) heifst und bärtig ist, hebt in der Rechten eine Trinkschale
nach Kottabosart. Ihre Aufmerksamkeit ist auf die weifsgemalte Frau
Panariste (PAA. Pl£TE d. i. naNAgiaxs) gerichtet, welche, mit Perizoma,
Helm und Kreuzbändern versehen, in der Rechten eine Lanze hält und auf
dem rechten Fufs springend tanzt. Vor jeder Kline ein Tisch mit zwei
Äpfeln und herabhängenden Fäden. Die Männer sind alle mit einer Tänie
geschmückt und unterwärts bemäntelt. Ähnliche Darstellungen zeigen sich
auch Nrr. 1774, 2854, 3010 und 269. Solche gauklerischen Tanzdarstellungen,
die direkt in mimische Darstellung übergehen, kommen auch zahlreich bei
Furtwängler, Vasensammlung im Antiquarium, vor, z. B. 2919. 3444. 3489
u. ö., nnd bei Stephani, Compte-Rendu de la Commission Imperiale Archeo-
logique pour l'annee 1868, Erklärung S. 170 u. S. 161 u. ö.; desgleichen bei
Stephani, Vasensammlung der Kaiserlichen Ermitage 57. 270. 407. 808.
1579 u. ö., sowie bei Reinach, Antiquites du Bosphore Cimmerien S. 118 u. <">.
Sie finden sich auch bei Furtwängler, Die Sammlung Saburofl, bei Heibig.
Die Wandgemälde von Pompeji und Herculanum, bei Gerhardt auf den
Die griechische Hypothese vor Philistion. 519
Eine Art Mime ist auch nicht selten der moderne Jongleur.
Selbst die Akrobaten, die nur ihre körperliche Geschicklichkeit
zeigen, geben heute gerne ihren Vorführungen einen mimi-
schen Rahmen. So führten zwei Künstler, die ich hier in
Königsberg im Apollotheater sich am Reck produzieren sah,
nicht einfach ihre turnerischen Leistungen im gewöhnlichen
Trikot aus; sie erschienen als Gäste eines fashionablen Bades
stutzerhaft in weifsem Anzüge mit Hut und Stock, scheinbar auf
einem Spaziergange begriffen, entdeckten wie zufällig das Reck,
und während der eine, die Cigarette im Munde, zuschaute, voll-
führte der andere seine Tricks, bis jener dann seinerseits zu
turnen begann. Beide klatschten sich gegenseitig Beifall und
schienen ganz von dem Vergnügen beseelt, ihr faules Badeleben
durch ein so anregendes Vergnügen zu unterbrechen. Im April
1897 traten in Königsberg die O'Leary, Burlesk- Akrobaten (nach
Aasweis des gedruckten Verzeichnisses des engagierten Künstler-
personals des Apollotheaters von Februar 1897 bis Januar 1898)
auf. Sie gaben als Sänftenträger eine mimische Scene zum
besten, in der sie in seltsamer Weise mit der Sänfte, in der
einer als Türke verkleidet safs, jonglierten. Im September 1897
trat ein Jongleur Canary auf (' 4 Stündchen ohne Gast). Als
gelangweilter Kellner befindet er sich im Gastzimmer und jong-
liert scheiubar zu seiner Unterhaltung mit Billardkugel und
Queue und, als das Reisegepäck eines Gastes hereingebracht wird,
gar damit.
Wer die Entwickelung der modernen, scenischen Kunst über-
blickt, weifs. in wie enger Beziehung von jeher der Jongleur
zum Schauspieler gestanden hat. Julleville (Histoire du theätre
en France, Les com6diens) leitet die französischen Schauspieler
von den alten Jongleuren her1). Devrient giebt in seiner Ge-
etruskischen Spiegeln und in zahlreichen andern descriptiyen archäo-
logischen Werken. Überall c-ieht man die Jongleure (Savaaronoioi) tanzen
und springen, und nicht selten geht ihre Gaukelei direkt in den mimischen
Tanz oder überhaupt in mimische Darstellung über.
*) a. a. 0. S. 1 7 und 18: „.../«* Jongleurs, ces plus ancietis comfdiens
520 Sechstes Kapitel.
schichte der deutschen Schauspielkunst den deutschen Schau-
spielern den gleichen Ursprung. Mit Recht sagt er (Bd. I,
S. 203) in der Schilderung der Schauspielkunst zur Zeit des
dreifsigj ährigen Krieges: „Die niederen Lockungen für die Schau-
lust, die Seiltänzer-, Schwerdt- und Balancirkünste, das Taschen-
spieler- und Bänkelsängerwesen behauptete seine uralte Ver-
mischung mit dem Comödienspielen. Klopffechter, Spatonschläger,
Luftspringer und Feuerfresser waren unter den ersten Liebhabern
und Helden dieser Banden zu finden" ').
So war Schröder, einer der begabtesten und berühmtesten
Schauspieler, den die deutsche Bühne je besessen hat, von Jugend
auf mehr Equilibrist als Schauspieler, und selbst, als er sich
entschieden der Schauspielkunst zugewandt hatte, zeichnete er
sich durch eine mehr equilibristische Leistung, den Grotesk-
du moyen äge, n'e'taient-ils pas les he'ritiers directs des histrions et des mimes romainsf
„Les histrions sont les Jongleurs", dit un vieux glossaire latin du XIe siede.
Race impe'rissable, et, sous vingt noms dife'rents toujours semblable ä elle-
meme, ils ont traverse dix siecles sans beaucoup modifier ni leurs moeurs ni leur
physionomie; ce sont toujours les memes hommes que nous rencontrons tantot ä la
cour des rois, ou dans la grande salle des chäteaux ; tantot sur les places publiques
des bonnes vittes, ou sur les routes ä Ventrie des bourgs; infatigables amuseurs du
peuple et des grands; qu'ils surprennent par leurs tours de force ou d'adresse;
qu'ils e'gaient par leurs jeux de mots, leurs quolibets, leur niaiserie affectee ou leur
häblerie impudente?"
i) Schlager leitet in den „Wiener Skizzen aus dem Mittelalter", Neue
Folge I, S. 276) das Kapitel über den Seiltanz, das Marionetten-, Policinell-
spiel und andere Spektakel mit folgenden Worten ein: „Mögen die achtungs-
wtirdigen Pfleger der dramatischen Kunst neuester Zeit — ' deren hohe
Kunstleistungen jetzt den Verstand der gebildeten Welt Europas beschäftigen,
und das verfeinertste Gefühl, bis auf die innersten Fibern anzuregen ver-
mögen — in diesem Anhange die Beifügung der, in der Überschrift bezeich-
neten Spektakel, an die Erscheinungen dramatischer Kunst höherer Art ent-
schuldigen; so unedel jetzt diese Verbrüderung sich darstellt, so unerläfslich
ist sie aber zum Verständnifs jener hinabgesunkenen Zeit, wo dieselbe Hand,
welche den Dolch des Trauerspiels zückte, oft auch mit der Drahtpuppe
beschäftigt war, und der Fufs desselben Schauspielers im Seiltänzerschuh
und im tragischen Kothurn zugleich wandelte — so unentbehrlich ist sie
zur Vervollständigung der Entwickelungsgeschichte des öffentlichen Wiener
Theaterwesens.
' Die griechische Hypothese vor Philistion. 52 1
Tanz, aus1). Noch Lessing empfand über diese Verbindung
zwischen Schauspielkunst und Equilibristik Verdrufs, und bekannt
genug ist, dafs Goethe die Leitung des weimarischen Theaters
niederlegte, weil er es nicht zu verhindern vermochte, dafs
gauklerische Kunststücke sich mit] der wahren Schauspielkunst
verbau deD.
Freilich haben die Schauspieler, je mehr sie zum Bewufst-
sein ihrer vornehmen künstlerischen Würde kamen, desto mehr
gegen ein gemeinsames Auftreten mit Akrobaten und Equilibristen
und eine Vermischung mit diesen protestiert. Der Versuch,
beide Klassen zu gemeinsamer" Wirkung mit einander zu ver-
einigen, hat in neuester Zeit Karl von Holtei schwerep Verdrufs
bereitet"). Trotz dieses Widerspruchs ist die uralte Verbindung
und Vermischung beider Künste nicht ganz geschwunden. Der
Cirkus hat sie auch heute noch nicht aufgegeben. Bekannt
genug sind die theatralischen Pantomimen des Cirkus Renz und
anderer Institute. Fast überall geben da die Clowns panto-
mimische und mimische Vorstellungen.
Dafür, dafs aus den griechischen Jongleuren die ältesten
berufsmäfsigen Mimen hervorgegangen sind, haben wir nun eine
ganze Anzahl quellenmäfsiger Belege. Beständig findet sich im
Griechischen die Verbindung der Begriffe Mime und Jongleur
(/**/«oc und ÖavuaioTioiöc). Die Klassen der Mimen und Jong-
leure grenzen für den Griechen nicht nur nahe an einander, sie
scheinen oft geradezu in einander überzugehen. So wurde an
der vorher angeführten Stelle des Diodor Agathokles mit einem
Jongleur und in demselben Atemzuge mit einem Mimen ver-
glichen, ebenso ward, wie wir sahen, Noemon als Jongleur und
zu gleicher Zeit als Mime von Athenaeus bezeichnet, desgleichen
findet sich bei Diodor (vgl. Suidas nQodtixitjg) der Begriff des
Mimen dem weiteren des Jongleurs untergeordnet3). Selbst in
den späteren Jahrhunderten, als sich längst der Mime vom Jong-
') Devrient a. a. 0. II, S. 329 folg.
8) Devrient a. a. 0. IV, S. 135.
3) "Exatgev 'AvtIoxos fiifion xat nQodtlxxuts xu\ xti&ölov nuoi roi(
&KVfiaionoio7s xtxi r« roviaiv inirrjSfvuara uav&dvuv hfUonutlio.
522 Sechstes Kapitel.
leur geschieden hatte, blieb die Meinung von ihrer nahen Kunst-
verwandtschaft bestehen und äufserte sich in ihrer unaufhörlichen
Zusammenstellung, so z. B. bei Dio Chrysostomus1), bei Plutarch2),
bei Capitolinus3), bei Sidonius Apollinaris4). Ja, die griechischen
Astrologen glaubten ernsthaft daran, dafs Mimen und Gaukler
unter derselben Konstellation geboren würden. So heifst es bei
Manetho5): „Es werden im Gegenschein der Sonne und des Mars
*) Oratio LXVI. Vgl. oben S. 143; Anm. 2.
2) Autor. XXI. Vgl. oben S. 164, Anm. 2.
3) Capitolinus. Verus cap. VIII; vgl. oben S. 199, Anm. 1.
4) Im Lobgedicht auf die Stadt Narbo finden sich eine Menge mimi
und schoenobatae, d. h. Seiltänzer, also Jongleure, &av/uitToni>t,oi. Sidon.
Apoll, c. XXIII, 37— 40; 263—271; 300—306:
salve, Narbo potens salubritate,
urbe et rure simul bonus videri,
muris, civibus, ambitu, tabernis,
portis, portieibus, foro, theatro ...
Iam si seria forte terminantem
te spectacula ceperant theatri,
pallebat chorus omnis kistrionum,
tamquam si Arcitenens novemque Musae
propter pulpita iudices sederent.
coram te Caramallus aut Phabaton
clausis faueibus et loquente gestu
nutu, crure, genu, manu, rotatu
toto in schemate vel semel latebit . . .
quid dicam citharistrias, choraulas,
mimos, schoenobata *• , gelasianos
cannas, plectra, iocos, palen, rudentem
coram te trepidanter explicare?
nam circensibus ipse quanta ludis
victor gesseris intonante Roma,
laetam par fuit exarare Musam.
'=>) Apotelesmatica IV, 275—293:
Koiov r tlctQÖtvios in wdCvtoat ßqorfiatc,
Ioxvqcüv t-Qyiov Tfii/tt novonaixTOQKS üvSqac,
bxl°XaQ('Si <pdof4o/d-a &e*tTQOftavovVTttS, lyvtarsiv
itl&Qoßitiug, nnxtoifH ntiuvoiairj^Hg h f(>yois,
ttidfyt xu) y(u'r) fKjLttiQrj/n^va t-Qycc i(h-vvi(t5,
{ii/Ltofi(ovs, %Xevrjs i' f.ntßi]TOQug, vßf)iytt<otus,
Die griechische Hypothese vor Philistion. 523
im Hause des Stier- und Widderzeichens und des Löwen die
Gaukler geboren, die theaterlustigeu . Vollbringer kühner Werke,
durch die Luft hinfliegende Petauristen; aber auch die Mimen,
im Lande ziehende Vögel, in der Stadt die verworfenste Brut.
In den nachchristlichen Jahrhunderten teilen Mimen und Jong-
leure durchaus die Bühne mit einander. Wenn Dio Chrysostomus
meint, wer das Wohlwollen des Volkes gewinnen wolle, müsse
ihm Mimen und Jongleure vorführen, so ist es klar, dafs der
Jongleur den Mimen auf dem Theater ablöste (vgl. oben S. 143).
In der That finden wir diese Gemeinsamschaft zwischen Mimen
und Gauklern noch in der heutigen Zeit auf der japanischen
Bühne1). Die modernen japanischen Schauspieler können selbst
heute noch auf ihren Gastreisen in Europa diesen Zusammen-
hang mit der gauklerischen Kunst nicht ganz verleugnen •). Ja,
ein wenig übten später noch die Mimen auf der grofsen Bühne
und im grofsen, mimischen Drama gauklerische Künste. Dazu
boten besonders die unaufhörlichen Prögelscenen Veranlassung
(vgl. S 195). So amüsierte sich nach Synesius (Lob der Kahl-
heit ed. Tetavii S. 77c.) das Publikum über einen Mimen, der
die erstaunlichsten Proben von der Härte seines Schädels gab;
man gofs ihm bei seinem Auftreten siedendes Pech auf den
lv ff/Vj yr'jQiog ImßrfioQttg, 6&vioTVfißovg,
oqvta yfjg, nökiog nüorfi dnöhoia ytitttku,
iHOQÖyoolai, knovg, da/r}fiovag, ain^QOQiltoiaq,
XQuiortkayiTg, u^dtovag, ü(i x>(>u(fTJOi ipalaxQovg,
iov 6 ßi'og x^l r^Xrriv «nff*aEtt&' hoiurjr.
rjv dt aiv 'Hfkioj r* xal "A(X'i xai Kinoig öydj,
oxoivoßäiag ttvyji, xakoßäuovag, infMi&ff tl<
yertovlt) davaioio xaTugotmoiVTa; iavrovg,
tbv 6 nooog ptooog loiiv, inijv ftg atfiikuur« rtvoi,.
M Vgl. darüber die Nachweise bei Humbert, Le Japon illustre.
a) So berichtet Fischer, der als früherer Theaterdirektor und von allen
Vorurteilen freier Kenner japanischer Verhältnisse für sein Urteil alle Be-
rücksichtigung verlangen darf a a. 0. S. 186: „Eine japanische Kampf- und
Sterbesrene grenzt nicht nur an die Karrikatnr, sondern treibt die Karri-
katur auf die Spitze, und ich konnte daher bis jetzt — ich will noch nicht
endgültig urteilen — nie von tragischen Schauspielern in Japan sprechen,
sondern nur von mehr oder minder geschickten Hampelmännern. a
524 Sechstes Kapitel.
Kopf, traktierte ihn mit Fausthieben und Fufsstöfsen, ja, selbst
der Sturmbock und Steingut vermochten nichts gegen ihn. Das
ist schon nicht mehr mimische Kunst, sondern rechtes Gaukel-
wesen, und es war doch einmal etwas anderes als die gewöhn-
lichen, klatschenden Ohrfeigen der stupidi.
So spärlich und lückenhaft unsere Quellen gerade über
diesen Gegenstand sind, so können wir doch einige Beispiele
für den Übergang des Jongleurs zum Mimen nachweisen, und
zwar, was für uns von besonderem Interesse ist, in recht
früher Zeit.
Als die Gaukler bei Xenophon den Schwertertanz ausgeführt,
Räder mit dem Körper nachgebildet haben und auf der Töpfer-
scheibe, während sie sich im Kreise herumdreht, lesen und
schreiben sollten, da verlangt Sokrates, sie möchten Tänze auf-
führen, in denen Charitinnen, Nymphen und Hören dargestellt
werden. Und zwar setzt er die Fähigkeit zu solchen mimischen
Tanzproduktionen als etwas bei Jongleuren Selbstverständliches
voraus. In der That wird auch schnell seinem Wunsche Folge
geleistet. Der Knabe und das Mädchen des Gauklers stellen
das Begegnen der auf Naxos von Theseus verlassenen Ariadne
mit Dionysos auf die reizvollste Weise mimisch dar. Die Gäste
des Kallias sehen nicht nur, wie das Liebespaar sich herzt und
küfst, sie hören auch ihre Beteuerungen und Liebesschwüre.
Wir haben hier zweifelsohne eine mimische Darstellung der
Jongleure, freilich ist sie, um einen späteren Ausdruck zu ge-
brauchen, in höherem Grade pantomimisch als mimisch. Doch
fehlt neben der Musik den Tänzen nicht das gesprochene Wort,
das den Mimus vom Pantomimus scheidet1). Von besonderem
Werte ist hier, dafs Sokrates von den Gauklern derartige
mimische Produktionen als selbstverständlich verlangen kann.
Denn danach mufs man im Anfange des vierten und auch schon
1) Auch Hirzel (Geschichte des Dialogs) fafst diese Produktion der
Gaukler durchaus als eine mimische auf. Wenn hier die mimische Pro-
duktion vornehmlich im Tanze vollführt wird, so wollen wir bedenken, dafs
die Mimen häufig genug Tänzer, oQxvaT(<h genannt werden.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 525
im fünften Jahrhundert die Verbindung zwischen mimischen und
gauklerischen Vorführungen als alltäglich angesehen haben.
Noch wichtiger ist jedoch, was Athenaeus von Nymphodorus
berichtet1). Er war ursprünglich ein Gaukler und scheint als
solcher nicht geringen Ruf genossen zu haben, da ihn Athenaeus
mit dem berühmten Feuergaukler Kratisthenes vergleicht, der
aus der Schule des Jongleurs Xenophon hervorging2). Dann ist
er aber auch ein vortrefflicher Mime geworden, wenn er auch
nicht ganz den Vergleich mit dem berühmten Kleon, der nach
Athenaeus der beste Darsteller italischer Mimen war. aushält.
Wir erfahren sogar etwas von seinen Produktionen. - Denn die
Verspottung der Einwohner von Rhegium um ihrer Feigheit
willen wird, soweit wir sehen können, in einem Mimus des
Nymphodorus vorgekommen sein. Hat ja doch auch Xenarch,
der Sohn und Nachfolger Sophrons, nach dem Zeugnisse des
Photius und Suidas die Rheginer auf Verlangen des altern
Dionys wegen ihrer Feigheit verhöhnt3). Da Athenaeus diese
Nachricht aus Duris hat, so gehört Nymphodorus spätestens ins
dritte Jahrhundert. Hier wollen wir auch des oben erwähnten
Noemon gedenken, der sich gleichfalls aus einem Jongleur, der
scheinbar allerlei Flüssigkeiten aus seinem Körper zu ziehen
wufste, zum Mimen entwickelte.
') Athen. I, 19f.; vgl. oben S.516, Anm. 2 und X, 452f.: in <fe Kktav
6 uiuavlog tnixalovfifvos, oanfQ xai nur 'haluccüv uiutov koiaxog yiyovtv
aVJ07TQ6(JQ)TIOS V7lOXQlT^g' Xal yttQ NlU(fo6'(üOUl' 7lfQlf]V tv Tb) /uvr]/uovivo-
fjiivto fii/uoi.
3) Die Gaukler machten also auch im griechischen Altertum wie im
Mittelalter Schule und überlieferten so im geheimen ihre Fertigkeiten weiter.
3) Bekannt ist das Sprichwort: 'Pr\yivov ddXöiiQog. Holm sagt in der
Geschichte Siziliens (Bd. II, S.130 u. 131) über den ersten Ausgang des Kampfes
zwischen Dionys und den Rheginern: „Er (Dionys) gewährte ihnen Frieden
unter der Bedingung, dafs sie 300 Talente zahlen, ihre ganze aus 70 Segeln
bestehende Flotte ihm ausliefern und 100 Geiseln stellen sollten. Die Rheginer
gingen darauf ein, ohne zu bedenken, dafs sie nun gänzlich in der Hand
des Tyrannen waren. Es war das Verfahren der Römer gegen Karthago,
aber Karthago ging besiegt solche Bedingungen ein, wie Rhegion ohne
Kampf. Also war der Vorwurf der Feigheit nicht ohne Berechtigung.
526 Sechstes Kapitel.
Wie aber auch andere Bevölkerungsklassen unter Umständen
Mimen wurden, wenn ihr Beruf sie zu dergleichen Darstellungen
antrieb, vermögen wir in recht ergötzlicher Weise aus einer Stelle
des Athenaeus herauszulesen1). Dort wird ein gewisser Ischo-
machus erwähnt. Er war ursprünglich ein Herold, das heifst
ein Ausrufer, ein Mann, dessen Beruf es war. zu verauktionierende
Waren anzuzeigen. Er befand sich also in einer ähnlichen Lage
wie ein Jongleur, der seine Kunststücke anzupreisen und das
Publikum zu den Vorstellungen anzulocken hatte. Wir haben
gesehen, dafs hauptsächlich diese Aufgabe die Gaukler zu mimi-
schen Produktionen veranlafst hat. Die Ähnlichkeit der Lage
hat nun diesen Ausrufer gleichfalls zu einem Mimen gemacht;
freilich trug er seine mimischen Darstellungen h totq xvxloig
vor, das heifst unter freiem Himmel, auf freien Plätzen und auf
der S'trafse, wo sich eine Menge Volkes um ihn im Kreise sam-
melte. Da er nun aber allmählich vielen Beifall fand, so dafs
er sich sogar später mit Kleon, dem berühmten Mimen, messen
konnte, fing er an, seine Darstellungen ganz kunstmäfsig auszu-
üben und trug seine Mimen ev öavpaGw vor2). Freilich grenzt
das Gewerbe eines Ausrufers nahe an das des Gauklers; so ist
denn auch dieses Beispiel geeignet, uns den Übergang des Gauk-
lers zum Mimen zu veranschaulichen3).
Ischomachus wird von Athenaeus (X, 452 f) als ein Nach-
eiferer, mithin doch als ein Zeitgenosse, wenn auch vielleicht ein
jüngerer, des Nymphodorus bezeichnet, also auch dieses Beispiel
für die Verwandlung des Jongleurs in den Mimen fällt spätestens
1) Athen. X, 452 f: rovxov (nämlich des Nymphodor) St xai 'fa/öfiaxog o
xrjovS lytvtxo fijAtu/^f, og lv roig xvxkoig Ittoihto rag f^i/u^atig- (og <J" rjvSoxifiti,
/itraßag £v xolg &av[iKOiv intxQivtTo fifftovg.
2) Als Nacheiferer des Kleon, der ein Zeitgenosse des Nymphodorus
war, gehört Ischomachus spätestens ins dritte Jahrhundert vor Christus.
3) Auch der in der deutschen Schauspielkunst rühmlichst bekannte
Wiener Archimime Joseph Stranitzky (vgl. oben S. 455) war gleichfalls von
Hause aus ein Marktschreier. Schlager in den „Wiener Skizzen aus dem
Mittelalter" (Neue Folge I, 287) sagt: „Die Wiener städtischen Grundbuchs-
akten 1727 erklären ihn zum Mund- und Zahnarzt von Herkunft (ein Markt-
schreier dieser Zeit)".
Die griechische Hypothese vor Philistioti. 527
in deu Anfang des dritten Jahrhunderts. Um diese Zeit ist der
Prozefs, der aus den wandernden Gauklerbauden wandernde
Mimengesellschaften hervorgehen liefs, vollzogen. Das mimische
Drama besitzt jetzt endlich seine berufsmäfsigen Darsteller1).
Dieser Übergang war für den Jongleur leicht genug. Bei
schwierigen Produktionen erschien er im Trikot; Oberkörper,
Füfse und Arme blieben unbedeckt, auch das Haupt frei und
un verhüllt -). Wenn der Gaukler Leib und Hinterteil unter
diesem Trikot ausstopfte, sich einen Phallus vorband und den
kurzen Kittel, den er sonst im gewöhnlichen Leben trug, um-
hing, so war der phlyakische Mime fertig. Ja, das letzte war
vielleicht nicht einmal nötig, finden wir doch bei Heydemann
wiederholt phlyakische Schauspieler, die selbst dieses Kleidungs-
stückes entbehren3).
Theophrast schildert im sechsten Kapitel seiner „Charaktere"
den Verworfenen ; er ist ein Pflastertreter, ein liederlicher Bursche,
ein Garkoch, ein Spielbudenhalter, ein Dieb, ein Zuchthäusler,
ein Kuppler; es kommt ihm nicht darauf an, nüchtern den
Kordax zu tanzen*), ja, er ist schamlos genug, im Chor der
Komödie ohne Maske aufzutreten. Treffend ist mit diesen
Worten die Schmach gekennzeichnet, welche die schauspiele-
1) Am Anfang des dritten Jahrhunderts haben sich auch die Gaukler
selbst den Zutritt zur Bühne erkämpft und treten sogar mit Komöden und
Tragoden zusammen auf, wie drei choregische Urkunden von Delos erweisen.
Vgl. Bulletin de Correspondance hellenique, 7. Jahrgang, 1883. Hauvette-
Besuault, Foaillefi de Delos. Inscriptions choregiques S. 1 10, No. V. roa-
yco[töoi], Sfoi(ü()oi <Jiovvo6ötüO'>s, Evxlfjg, Oixtädt]i, Kotuottdol 'EQ}oifiioi
Itgwvos . . &avurtT07TOibs Kleixcttgct. Dieselbe daiifiaionotoi; KktvnäiQa
findet sich in gleicher Gesellschaft auf No. VII und ein SavuaroTroioi Zfg-
öuv (ÄYoJwr Bücheier) auf No. VIII. No. V stammt aus 270 a. Chr., No. VII
aus 265 a. Chr., No. VIII aus 261 a. Chr. Hauvette-Besnault schrieb 'Olu-
[iaronoiös, Bücheier korrigierte in GavutcTonotög. Vgl. Rhein. Museum 38
1883, S. 480.
2) Vgl. die Abbildungen bei Baumeister 631, 632, 633.
3) So die Schauspieler auf C, T und 0. Odysseus und Diomedes auf
h erscheinen gleichfalls fast unbekleidet.
4) Aristophanes ^Wolken v. 536) rechnet es sich zum Verdienste an,
dafs dieser Tanz in keiner seiner Komödien vorkommt.
528 Sechstes Kapitel.
rische Aktion ohne Maske traf. Niemals sind daher griechische
Schauspieler ohne Maske aufgetreten, ausgenommen die mimi-
schen Darsteller.
Aber die bäuerlichen und bürgerlichen Schauspieler des
alten dorischen Mimus tragen noch Masken. Masken finden
wir auf den sogenannten Phlyakenvasen. Auch die Schau-
spieler der Atellane trägen noch Masken. Diese finden sich noch
auf den schon wiederholt erwähnten Atellanendarstellungen aus
dem ersten Jahrhundert nach Christus. Erst der berufsmäfsige
Mime legte die Maske ab, er hatte als ehemaliger Gaukler keine
bürgerlichen Rücksichten zu nehmen. Es ist darum wohl nicht
einfach aus künstlerischen Rücksichten zu erklären, wie Heyde-
mann will," wenn sich auf den phlyakischen Darstellungen neben
den maskierten auch unmaskierte Schauspieler finden, so z., B.
auf Ia, b, d, f, i, s, u, X, R, G, B, E, Z, L, 1, w, x, y; hier
beginnt sich wohl schon die Sitte der Mimen, ohne Maske zu
spielen, langsam einzuführen. Wir können diese Frage glück-
licherweise entscheiden. Wenn Athenaeus (X, 452 f) von dem
mimischen Schauspieler Kleon sagt, er sei der beste un-
maskierte Schauspieler italischer Mimen gewesen, so trat
nicht Kleon allein ohne Maske auf, sondern auch andere
mimische Darsteller, da er der beste derartige Schauspieler ge-
nannt wird. Es handelt sich hier jedenfalls um eine ziemlich
alte, mimische Gewohnheit, denn Kleon wird an derselben Stelle
als Zeitgenosse des Nymphodor erwähnt, und wir haben eben
den Nachweis geführt, dafs Nymphodor spätestens am Anfang
des dritten Jahrhunderts lebte.
Weder Tragöden noch Komöden duldeten weibliche Mit-
glieder unter sich1). Selbst im Pantomimus traten Frauen erst
in der späteren Kaiserzeit auf, nur die Mimen machten hier
J) Die schauspielerische Leistung in dem grofsen antiken Theater soll
über weibliche Kräfte gegangen sein (Öhmichen in I. v. Müllers Hdb. V, 3,
S. 250). Aber die weiblichen Mimen sind später auch in den grofsen
Theatern aufgetreten. Die Stimme, auf die es doch hier vornehmlich an-
kommt, ist beim Weibe gewifs nicht weniger kräftig und durchdringend wie
bei dem Manne.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 5*29
wieder eine höchst merkwürdige Ausnahme. Es ist bekannt, dafs.
es neben männlichen Mimen beständig auch weibliche gegeben
hat, ja. die letzteren erfreuten sich unter Umständen solchen
Ansehens unter ihren Genossen, dafs sie sogar Direktricen
(Archimimae) wurden. Bei Orelli (inscript. Nr. 4760) wird die
Claudia Hermione erwähnt, eine rArchimima sui temporis prima-.
Wie war es möglich, dafs Jahrhunderte hindurch eine solche
Institution bei den Mimen als ganz selbstverständlich und natür-
lich, dagegen bei allen andern Schauspielern als ganz unmöglich
und undenkbar gelten konnte? In dieses Dunkel bringt die
Erkenntnis des gauklerischen Ursprungs der Mimen Licht. Die
Jonglerie ist von Anfang an von Männern und von Frauen aus-
geübt worden. Wir haben oben orientalische Gauklerinnen nach-
gewiesen. Schon in der ersten ausführlichen Schilderung von
griechischen Gauklern, die wir besitzen, in Xenophons Symposion,
begegnete uns eine Gauklerin. Zahlreich sind die bildlichen
Darstellungen weiblicher Jongleure (Baumeister Abb. 231, 631,
632, 633). Auch bei Athenaeus im Sophistenmahl finden sich
wiederholt Gauklerinnen erwähnt1). Ward also der Gaukler
zum Mimen, so folgte ihm die Gauklerin. So mufste es selbst-
verständlich von vornherein männliche und weibliche Mimen
geben. Ebenso selbstverständlich ist es andererseits, dafs die
Tragöden und Komöden bei ihrer ganz anderen und vornehmeren
Herkunft gar nicht in die Kunstgemeinschaft mit einem Weibe
gelangen konnten. Wie hätten sie auch eine Ehrlose, denn das
war nach antiker Anschauung jedes Weib, das die Bühne betrat,
unter sich dulden sollen*)? Der Mime hat sich freilich nie zu
dem Ehrbegriffe seiner vornehmen Kunstverwandten erhoben,
auch hierin hat er sich stets dem Gaukler näher gefühlt.
x) Athen. IV, 129d: &avuttTovoyol ywatxts; (IV, 137 c) aus Matron,
dem Paroden:
Tzögvai 6' tlo?il&ov, xovgai Svo &avfxtttonoto(.
8) Ehrlos sind schon die Vorgängerinnen der griechischen Ganklerinnen
und Mimen, die ägyptischen und orientalischen Tänzerinnen (so die alte
Hekt in Ebers' Uarda). Klunzinger, Bilder aus Oberägypten, identifiziert
ihre Nachfolgerinnen, die ägyptischen Tänzerinnen, mit den Freudenmädchen.
Reich, ilimus. 34
530 Sechstes Kapitel.
Auch die Art der Verfassung der Mimengesellschaften unter
einem Archimimen, also nach modernem Ausdruck die Prinzipal-
schaft, rührt von der Verfassung der alten Gauklerbanden her,
die gleichfalls immer unter einem selbstgewählten Prinzipal
standen, falls dieser nicht etwa seine Gesellschaft gekauft hatte,
so dafs er den Mitgliedern als Herr den Sklaven gegenüberstand.
Schon der Syrakusaner in Xenophons Gastmahl, der das Mädchen
und den Knaben als mimische Gaukler herumführt, ist so eine
Art Mimenprinzipal.
Es wäre seltsam, wenn in diesen Banden jeder für sich
allein gemimt, und wenn man sich nicht gelegentlich zu der
wenn auch nur improvisierten Darstellung irgend einer mimischen
Grundidee vereinigt hätte ; das ist aber der Ansatz zur mimischen
Hypothese.
Diese wandernden Mimengesellschaften bemächtigten sich
allmählich all der verschiedenen Typen und Themen des uralten
Bauernmimus; sie wurden die Hüter und Mehrer des grofsen
mimischen Hortes. Sie waren nicht mehr an heilige Zeiten
gebunden, sie fanden sich überall ein, wo es hoch herging, und
führten überall ihre kleinen Mimendramen auf, wie der Syra-
kusaner von dem Knaben und dem Mädchen auf dem Gastmahl
des Kallias das mimische Ballet geben läfst.
Besonders beliebt waren die neuen Mimen am Hofe König
Philipps, und mit König Alexander zogen sie in Scharen nach
Kleinasien1). Dort stiefsen diese Darsteller des dorischen Mimus
auf die ionischen Mimen, die sich inzwischen unabhängig von
ihnen entwickelt hatten, und aus diesem welthistorischen Zu-
sammenstofs entstand erst das grofse mimische Drama, die
mimische Hypothese am Anfang des dritten Jahrhunderts vor
Christus. Der dorische Mimus war ursprünglich prosaisch, wie
es Sophrons Mimen sind; grofse Künstler, wie Epicharm, hatten
>) Vgl. oben S. 151, 193, 219.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 531
ihn in metrische Formen gezwängt, dahei blieb er immer noch
rein mimologisch.
Die mimische Hypothese aber zeichnet sich gerade durch
ihre zahlreichen Cantica aus, diese Couplets, die so sehr den
Beifall des Volkes fanden, über welche die Kirchenväter darum
ganz besonders schalten, und die schliefslich, da man sie nicht
ausrotten konnte, dem kirchlichen Gesang in Rythmus und Melodie
zum Vorbilde dienen mufsten. Diese Verbindung von Mimologie
und Mimodie hat die mimische Hypothese zum Siege geführt.
Dabei wurde die Mimodie besonders stark betont, vielfältig nahm
später die mimische Hypothese einen ans Opern- oder Operetten-
hafte streifenden Charakter an. Damit war zugleich der ersehnte
Ersatz für den fehlenden Chor der Komödie geschaffen; das
haben Plautus und Caecilius Statius begriffen, als sie die Mimodie
als mimisches Canticum in ihre Komödie hinübernahmen; als
Novius und Pomponius die Atellane litterarisch ausgestalteten,
durfte gleichfalls das mimische Canticum nicht fehlen. Das
Couplet aber erlangte das mimische Drama erst, als es im
Beginne der alexandrinischen Epoche nach Ionien kam und dort
den ionischen Mimus, die Mimodie, in sich aufnahm. Erst da war
seine Entwickelung zur Hypothese vollendet.
Durch die ionische Mimodie geht wie durch den ganzen
Mimus die Zweiteilung in eine mythologische und eine bio-
logische Richtung. Das meinte Aristoxenus, wenn er die beiden
Hauptgattungen der ionischen Mimodie, die Magodie mit der
Komödie, die Hilarodie mit der Tragödie verglich1) Der Magode
stellte biologische Typen dar, Weiber, Ehebrecher, Kuppler,
einen Betrunkenen, der im Rausche zum Liebchen zieht, und
ähnliche Figuren; der Lysiode und Hilarode wird dagegen seine
Typen der Mythologie entlehnt haben. Der mimische Vortrag
des Magoden wie des Hilaroden ist durchaus melisch. Der
Gesang des Hilaroden wird mit Saitenspiel, der des Magoden
mit Pauken und Cyrabeln begleitet -). Festus nennt den Hilaroden
*) Den Nachweis siehe oben S. 239.
2) Ich verweise auf die grofse Belegstelle bei Athenaeus 620d— 621 d.
34*
532 Sechstes Kapitel.
einen Sänger leichtfertiger und pikanter Lieder1), Eustathius den
Magoden einen Meliker2). Strabo rechnet Hilarodie und Magodie
zur Melik, nur dafs nach ihm die Magodie eine gröfsere Entartung
der musikalischen Kunst bedeutet als die Hilarodie3). Dieser ge-
sangliche Vortrag wird noch besonders durch mimischen Tanz und
Gebärdenspiel unterstützt. So definiert Hesychius (v. (iccyMdij) die
Magodie geradezu durch „weichlicher Tanz" 4). Diese ausgelassene
und wohl hier und da geradezu obscöne Art des Tanzes und
der Mimik beim magodischen Vortrag will Athenaeus mit dem
Ausdruck dxivi&tai*) bezeichnen. Des Hilaroden Tanz und
Mienenspiel war weniger lasciv6); eben weil er der mythologischen
Richtung angehört, legte ihm die mimische Darstellung von
Göttern und Helden eine gröfsere Reserve auf.
Jedenfalls waren Hilarodie und Magodie in Ionien viel beliebt
und weit verbreitet, da es ja einen besonderen Stand dieser
Mimen, eben die Hilaroden und Magoden, gab. Schliefslich fand
diese populäre, mimische Poesie noch eine vornehme litterarische
Ausgestaltung, die Hilarodie durch Simos von Magnesia und die
Magodie durch Lysis. Diese neuen Arten der Mimodie hiefsen
fortan Simodie und Lysiodie; daneben bestanden die alte Magodie
und Hilarodie weiter. Auch gab es zahlreiche Dichter, die
sich in der Hilarodie versuchten; denn bei Athenaeus heifst es
ausdrücklich, Simos sei unter ihnen der beste gewesen. Dieser
ionische Mimus war durch den besonderen Stand von Mimen,
die sich ihm widmeten, durch zahlreiche und anerkannte Dichter
1) hilarodos lascivi et delicati carminis cantator.
2) Od. V, p. 1941,54. sn txaktfto dt ng jxslixbg xctt /xaycotiüg.
») Strabo XIV, 648!
4) Vgl. oben S. 478.
ft) Vgl. oben S. 344. Das Wort ist. hergeleitet von dem axh>ov ge-
nannten Zahnpulver und wird gerne von dem Gebahren geckenhafter Men-
schen, besonders aber von dem der Cinaeden gebraucht. (Vgl. Hiller, Rh.
Mus. XXX, 1875, S. 74.)
G) Das bedeutet der Ausdruck ovdi a%iv(£tTKt bei Athenaeus, nicht
aber, er hätte überhaupt mimisches Geberdenspiel und Tanz vermieden, wie
Sommerbrodt a. a. 0. S. 6 schliefst.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 533
so sicher fundiert, dafs er, wie es scheint, fast bis in die römische
Kaiserzeit Bestand behalten hat; wir lernten schon den Lysioden
Metrobius als Freund des Mimenliebhabers Sulla kennen. Ich
erinnere ferner an die Lysiodin am Hofe des syrischen Königs
Alexander, in die der Epicureer Diogenes so schmählich verliebt
war, auch an die schöne Lysiodin Antiodemis, die im zweiten
Jahrhundert nach Rom zog, um dort ihr Glück zu machen. So
erinnert sich noch der Grammatiker Festus der Hilarodie.
Eine Art des ionischen Mimus ist auch die Cinaedologie
oder Ionicologie, allerdings ist sie mehr Mimologie als Mimodie,
da sie nur mit mimischem Gebärdentanze vorgetragen, nicht aber
eigentlich gesungen wird. Auch diese Art des Mimus war in
Ionien weit verbreitet, und zahlreich sind die Dichter, die sich
in diesem Genre versucht haben, Sotades, Alexander Aetolus.
Pyres, Alexas, Kleomachus, der Faustkämpfer von Magnesia
und andere1). Einen Cinaedologen fanden wir bei Petron, und
Sotades ward noch nach Jahrhunderten von dem Hafs der Kirchen-
väter verfolgt. Also der ionische Mimus, vor allem die ionische
Mimodie, war wirklich eine bedeutsame, populäre Dichtung, wenn-
gleich die Nachrichten über sie auch nicht reichlicher fliefsen als
über den althellenischen Mimus überhaupt. Ohne Aristoxenus
und die Peripatetiker wüfsten wir ja überhaupt nichts davon.
Diese ganze, grofse Poesie stammte nun natürlich nicht von
heute und gestern her, sie geht in sehr frühe Zeiten hinauf.
Ausdrücklich hebt Athenaeus hervor, dafs schon Aristoxenus die
Lysiodie, die Abart der Magodie, kannte. Mithin lebte Lysis
vor Aristoxenus, also etwa vor 300 vor Christus. Nach der
Notiz Strabos ist Simos wieder älter als Lysis; nehmen wir nur
ein Menschenalter an, so lebte Simos vor 350. Aber diese
Zahlen bezeichnen nur den Terminus, vor welchem Lysis und
Simos gelebt haben müssen. Sie können noch viel früheren Zeiten
angehören als dem vierten Jahrhundert Aufserdem ist Lysiodie
und Simodie erst die modernisierte Form der alten Magodie
und Hilarodie, wie ausdrücklich bezeugt ist. Wenn wir be-
*) Vgl. oben S. 295-303.
534 Sechstes Kapitel.
denken, wie viele Jahrhunderte im Allgemeinen die mimischen
Gattungen zubrachten, bevor sie sich zu litterarischer Geltung
zu erheben vermochten, so wird es wahrscheinlich genug, dafs
die Mimodie nicht blofs in dem Jahrhundert vor Simos und
Lysis, sondern schon in viel früheren Jahrhunderten existierte.
Der Mimus ist eben überhaupt in Hellas uralt.
Nun gab es Mimoden nicht blofs in Iönien, sondern
auch in Unteritalien. So erregte Straton aus Tarent Aufsehen
durch die mimische Parodie von Dithyramben, der Italiker
Oenonas äffte Kitharodien mimisch nach, er führte einen
trällernden Cyklopen und einen solökisierenden, schiffbrüchigen
Odysseus vor. Oenonas mag also Gesänge wie des Philoxenus
Dithyrambus „Der Gyklop" mimisch travestiert haben. Zu ver-
gleichen wäre auch Theokrit, Id. VI, 6 — 40, wo gleichfalls der
trällernde Cyklop auftritt. Eine Vorstellung von derartigen
Travestien können wir noch am ehesten aus Aristophanes ge-
winnen, der so gerne die neumodischen Dithyrambendichter ver-
höhnt. Wie singt doch der verdrehte Kinesias, der Dithyramben-
dichter, bei ihm in den „Vögeln" (1394 folg.):
„Idole der schwärmenden,
Äther durchlärmenden,
Halsausreckenden Vögel —
Berührend kaum des Meersaums Schaumes Raum,
Möcht' ich wallen mit Windes Wehen!
Bald südlicher Bahn mit den Blicken gewandt,
Bald Willen und Wunsch gen des Nordpols Rand,
Portlos ätherische Furchen pflügend!"
Aber man thäte sehr unrecht, wollte man neben der ioni-
schen etwa von einer dorischen Mimodie reden. Diese Mimoden
in Unteritalien ■ sind sehr jung und sehr wenig zahlreich. Nir-
gends hört man von einem besonderen Stande von lyrischen Mimen
wie in Ionien, nirgends werden besondere Namen und Bezeich-
nungen angeführt, nirgends hat es Dichter und gar bekannte und
anerkannte Dichter des lyrischen Mimus unter den Doriern ge-
geben; die Mimodie ist im wesentlichen ionisch.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 535
Besser als alle die geringfügigen und verzettelten Notizen
und deren kümmerliche Erklärung belehrt uns über die ionische
Mimodie „des Mädchens Klage14. Diese Mimodie enthält starke,
mächtig pulsierende Leidenschaft, hier findet sich bei allem
Realismus hohe und höchste Poesie des Herzens: doch ist darüber
nach Wilamowitzens Ausführungen jedes Wort zuviel. Leiden-
schaftlich und herzbewegend strömt dort eine Verlassene ihre
Klage aus. Der Geliebte hat sie mit seinen Küssen betrogen
und verräterisch um ihre jungfräuliche Ehre gebracht, „den Ge-
danken an den Bruch im Herzen, den herbeizuführen er so ge-
schickt einen Anlafs zu finden wufste" (Wilamowitz a. a. 0.
S. 221). Aber während der Ungetreue zugleich mit dem Genüsse
der Liebe ledig ward, liebt sie um so leidenschaftlicher. So
sollen denn die Sterne und die erhabene Nacht sie zu seiner
Schwelle geleiten. Sie ist rasend, wenn sie daran denkt, dafs
der Freund in der Umarmung einer anderen liegt. Wenn sie
beide sich entzweit haben, mögen die Freunde entscheiden, wer
Unrecht hat. Damit bricht, von zusammenhanglosen Bruchstücken
abgesehen, der Papyrus ab.
„Des Mädchens Klage" gehört zur biologischen Gattung der
Mimodie, und zwar zur Abart der Magodie, zur Lysiodie, sie ist,
wie es sich für einen biologischen Mimus gehört, auch im popu-
lären Stile gehalten, hier herrscht durchaus die Sprache des
Lebens. Wir haben sie uns von den schönen Lysiodinnen, wie
die zarte Antiodemis, „Aphroditens Nestküchlein ", eine war, mit
allem Zauber einer herrlichen Stimme, bestrickenden körperlichen
Liebreizes, verführerischen Tanzbewegungen und mimischen Ge-
bärden vorgetragen zu denken1). So sangen später noch nach
vielen Jahrhunderten die Miminnen auf den grofsen Theatern
von Rom und Konstantiuopel, Alexandria und Antiochia und in
allen Städten der alten Welt, in Europa, Afrika und Asien ihre
bezaubernden Couplets, wie einst die Lysiodin ihre Liebesklage
sang. Wenn Chrysostomus voller Empörung auf diese erotischen
Couplets schilt, welche die Leute mit unwiderstehlicher Gewalt
*) Vgl. oben S. 344.
536 Sechstes Kapitel.
anziehen, über denen die Christen ihre Psalmen vergessen, die
man den lieben, langen Tag vor sich hinträllert, die die jungen
Leute singen, um die Mädchen zu verführen, so erinnert uns
das an die zauberische Gewalt, die auch „des Mädchens Klage"
haben mufste, von den verführerischen Lysiodinnen vorgetragen,
deren Reizen selbst ernsthafte Philosophen unterlagen. Gar manche
Lysiodin mag aus den prunkenden Sälen der Fürsten und Reichen,
in denen sie ihre Arien vortrug, zur grofsen Bühne geschritten
und von der Mimodin direkt zur Mimin geworden sein, wie heute
umgekehrt Opernsängerinnen auch im Konzertsaal singen. Jeden-
falls ging die Mimodie selber aufs grofse Theater und ward zum
mimischen Couplet. Darum erinnern ja auch plautinische Cantica
an die Mimodie; Plautus wird schwerlich selbst zuerst die Mimodie
als Canticum in seine Komödien aufgenommen haben; das hat er
der hellenischen mimischen Hypothese abgesehen1).
Die mythologische Art der Mimodie, Hilarodie und Simodie
ist paratragödisch und burlesk. Sie kann also nur den alten
Mythus parodiert haben. Auch von ihr gilt wie von der Hilaro-
tragödie Rhinthons als Charakteristicum das ntxctQQV&ni&iv xd
zQayixd ig zo ysloiov; nur dafs Rhinthons Drama mimologisch,
die Hilarodie aber kein Drama und mimodisch ist. Zudem be-
steht zwischen Rhinthon und der ionischen Mimodie kein direkter
Zusammenhang.
Hier mag uns nun wieder Aristophanes zu einer anschau-
lichen Vorstellung verhelfen. Die Parodie, welche Aeschylos in
den „Fröschen" einer euripideischen Monodie zu teil werden
läfst, hat wie die Hilarodie viel Mythologisch-Parodistisches an
sich. Durch die Mengung des Hochtragischen mit dem Gewöhn-
lichen und Niedrigen, durch die Anwendung der vornehmen Form
auf den niedrigen Inhalt wird eine nahezu mimisch -burleske
Wirkung erzielt. Furchtbar fängt . die ganze Monodie an. Ein
grausiger Traum hat sich der Heldin genaht — wir erfahren
l) Vielleicht war „Des Mädchens Klage" schon gar keine selbständige
Mimodie mehr. Die ziemlich komplizierte Situation, die sie zur Voraus-
setzung hat, wird von ihr so andeutungsweise behandelt, als ob sie durch
vorausgegangene Scenen schon deutlich gemacht wäre.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 537
nicht, wer sie ist — ; mit dem Thau der Gewässer will die
Träumerin sich den unheilkündenden Traum abspülen. In der
That ist das grause Unheil, das er ahnen liefs, auch schon ein-
getreten. Die böse Nachbarin Glyke hat im schwarzblickenden
Dunkel der Nacht den Kückelhahn gestohlen, das ist freilich
eine entsetzliche Greueltbat: man mufs nun bei der bösen Glyke
Haussuchung halten. Durch ein Wunderzeichen ist alles schon
im Traume vorher verkündigt; der Garnknäuel, den die Träumerin
verfertigte, um ihn am nächsten Morgen auf dem Markt zu ver-
handeln, hat plötzlich Flügel bekommen, und ist als Vogel in
die Luft geflogen. Doch ich will lieber diese Parodie — ich hätte
beinahe gesagt Mimodie — ganz hierhersetzen: sie verdient es
wegen ihrer typischen Bedeutung:
„0 schwarzblickend Dunkel der Nacht,
Was schickst du für einen grausigen Traum mir
Her aus schweigendem Ort.
Mir des Hades Gesandten,
Die unseelige Seele,
Der Grabnacht unhold Kind mir,
Gesicht furchtbar, graunweckend,
Schwarzleichenbahrengewandig,
Blutigen, blutigen Mord im Blick.
An den Fingern mit langen Nägeln?
Aber ihr Mägde mir. züDdet ein Lämpchen an,
Schöpft in Eimern mir Thau der Gewässer, doch wärmt
mir das Wasser,
Dafs abspülen den göttlichen Traum ich kann!
Ja, Fürst du des Meeres,
Ja, das ist's!
Ja, Hausgenossen!
Schaut die entsetzliche Greulthat, schaut sie!
Mir entführend von dem Hof den Kückelhahn ist
Glyke fort, wehe!
0 Nymphen ihr, Kinder des Bergs.
0 Küchenmagd, greifet sie!
538 Sechstes Kapitel.
Doch ich armes Kind, ich safs grad' für mich so,
Mit Handarbeit fleifsig,
Des Garnes füllende Spindel
Ei ei ei ei ei ei eifrig drehend mit der Hand,
Ein Knäuel zu fertigen
Das grauenden Morgens zu Markt
Ich wandelnd verhandele;
Da entflog er, entlang in den Äther er,
Leichtesten Schwunges der Fittiche!
Ach Klage mir, Klage mir liefs er zurück!
Und Tränen, und Tränen fort und fort,
Strömen mir, strömen die Wimpern mir!
Kreter, Söhne des Ida, auf!
Den Bogen ergreifet, mich zu verteidigen,
Die Beine lafst schweifen, das Haus
Kings umkreisend umzuspähn!
Und du zugleich, holde Maid,
Diktynna Artemis,
Deine Windhund' am Band komm und zieh'
Durch den Palast überall!
Zeus Kind du, doppeltgeflammte Fackel
Hebend empor in geschwungener Hand,
Hecate, leuchte mir vor!
Zu Glykes Haus, damit ich
Dort anstelle Haussuchung1)."
(V. 1331 — 1363 Droysen.)
Da wir dem Ursprung der gesamten Hypothese nachgehen,
müssen wir auch nach dem der alten ionischen Mimodie, die ja
ein wichtiger Bestandteil der Hypothese geworden ist, fragen;
oder hat sie etwa denselben wie das alte mimische Drama der
Dorier, .sie, die doch weder so alt wie dieses noch überhaupt
ein Drama ist?
J) Hier erinnern wir uns ein wenig an den Traum, den bei Herondas
im „Traum" die Bäuerin ihrer aufhorchenden Magd Anna erzählt. Auch
dieser Traum mufs sehr seltsam gewesen sein. Ich verweise auf den Rekon-
struktionsversuch bei Crusius in den „Untersuchungen" S. 151 folg.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 539
Der dramatische Mime trägt Tricot und Phallus, dazu
noch meistens vorn eine Polsterung, das Progastridion, seine
Bekleidung besteht in einem Kittel, wie ihn die einfachen Leute
in Hellas tragen, auf dem Haupte trägt er gerne eine spitze
Mütze wie der mimische Odysseus mit dem Schifferhut oder
der apiciosus des römischen Mimus. Der Mimode aber er-
scheint nach der Schilderung bei Athenaeus (XIV, 620 e folg.) im
feierlichen, weifsen, langwallenden Gewände, nirgends findet sich
eine Spur von Phallus oder Progastridion, im Haar trägt er
den Kranz, seine Füfse sind beschuht, während die Mimen
seit den urältesten Zeiten bis zu den mimi planipedes der Römer
unbeschuht waren. Man stelle neben eine liebreizende Lysiodin
mit ihren wallenden Prunkgewändern, ihrer ganzen luxuriös-
prächtigen Erscheinung solch einen halbnackten, dickbäuchigen,
phallischen, kahlköpfigen Mimen mit seinem burlesk-verzerrten,
grinsenden Gesicht. — Eine Welt liegt zwischen beiden.
Der Aufzug dieser Mimoden ist der des citherschlagenden
Apoll, es ist die feierliche Tracht, die dem Rhapsoden wie
seinen Vettern , den melischen Künstlern , den Kitharoden
und auch den Auloden zukommt. Und wenn es von dem Magoden
heifst, alle seine Gewänder wären weiblich, so müssen wir be-
denken, dafs die Tracht und der Schmuck des Rhapsoden wie
der Meliker überhaupt sich der weiblichen sehr nähert. Der
alte weifse Chiton der Männer wie der Weiber unterschied sich
wenig von einander, nur dafs der weibliche einen Bausch (x6Ä.noc)
hatte, den der männliche entbehrte. Es war also für den
weibischen Magoden, dem der weichliche, üppige Tanz bei
Hesychius (vgl. oben S. 352) vorgeworfen wird, äufserst bequem,
seine ursprünglich rhapsodische Kleidung durch geringe Ände-
rungen in die weibliche zu verwandeln. Diese ionischen
Mimoden unterscheiden sich in ihrem Aussehen von den dori-
schen Mimologen wie die idealen ritterlichen Götter Homers
von den burlesken Bauerndämonen, den mimischen Geistern,
und den mit ihnen verwandten Kobolden, den Wichtelmännern,
den Kobalen und Kerkopen.
Der dramatische Mime verleuguet auch in der Art, wie er
540 Sechstes Kapitel.
das Geld für seine Produktionen sammelt, nicht seinen gauk-
lerischen Ursprung. Wie heute bei dem Kasperletheater meistens
die Frau des Mimen mit dem Teller oder mit dem Hute umher-
geht, das Geld zu sammeln, ähnlich geschah es auch bei den
hellenischen Mimen.
Jahn (die Wandgemälde des Columbariums in der Villa Doria
Pamfili, Taf. II, 5. Abh. d. Münch Acad. Bd. VIII S. 229 folg.) hat ein
Wandgemälde veröffentlicht, auf welchem drei Ägypter einen enthu-
siastischen Tanz aufführen, während ein vierter in seinem Hute
Geld sammelt. Nicht mit Unrecht hat Jahn diesen Tanz zu den
Leistungen der Cinaedologen in Beziehung gesetzt, die mit zu
den Mimen gehören1). Ähnlich ist die Schilderung bei Theophrast
(Charact VI) von der Art, wie die Gaukler, die Kunstverwandten
der Mimen, das Schaugeld sammeln. Wenn wir bei Heydemann den
Phlyaken auf seih er dürftigen auf drei oder höchstens vier Pfählen
errichteten Bühne sehen (vgl. a. a. 0. besonders No. A), dann
wissen wir, dafs er das Geld sicher in der primitiven, oben be-
schriebenen Weise gesammelt hat. Hätten die Maler dieser
Phlyakenvasen jemals auch das Publikum gemalt, so würden sie
es nicht unterlassen haben, wie auf dem Wandgemälde bei Jahn
die Frau oder den Mann, der das Schaugeld sammelt, abzubilden.
Wieder stehen hier in einem strengen Gegensatz zu dieser
eigentlich mimischen Art die Lysioden und Magoden. Des Rhap-
soden wie des vornehmen melischen Künstlers ehrenvoller Lohn
war der Kranz, der ursprünglich wohl, weil er nur eine Ehren-
gabe war, aus Lorbeer- oder Ölzweigen bestand. Als die Zeiten
materieller wurden, da ward er aus Gold gefertigt. Und dieser
ideelle Lohn, nach dem der eigentliche Mime nie gestrebt, ward
dem Hilaroden und Magoden zu teil, mit ihm durfte er sich öffent-
lich zeigen. Ausdrücklich sagt Athenaeus, dem Lysioden ward
derselbe Kranz zu teil wie dem Auloden, d. h. dem melischen
J) Apuleius giebt (Metam. VIII) eine Schilderung der religiösen
Gaukeleien der eigentlichen Metragyrten. Das Ende aber ist die Einsamm-
lung des Lohnes: „die Leute drängten herbei und schenkten ihnen reich-
lich eherne und auch silberne Münzen, die sie mit aufgehaltenem Schofse
einsammelten".
Die griechische Hypothese vor Philistion. 541
Künstler überhaupt. So trägt in der That eine Lysiodin, die
Geliebte des Epikureers Diogenes, bei ihrem Auftreten den
goldenen Kranz im Haar, den der Epikureer als Lohn der Tugend
von dem König Alexander von Syrien erhalten hatte1).
Also Hilaroden und Magoden, Lysioden und Simoden zeigen
sich in der Tracht, die allein dem Rhapsoden wie dem melischen
Künstler gebührt, und auch sein Lohn, der Kranz, wird ihnen
zu teil; sie werden also wohl mimische Vettern der Kitharoden
und Auloden sowie der homerischen Rhapsoden sein. Das
scheint auch Athenaeus oder vielmehr seine alten Gewährsmänner
geglaubt zu haben; denn der Stelle über die Mimoden geht
unmittelbar voran eine kurze Erörterung über die Rhapsoden
und dieser eine recht lange über die Auloden und Kitharoden
(616e— 620d).
Stehen also auch diese Mimoden wie alle Sänger in Ionien,
wie die homerischen Rhapsoden, wie grofsenteils auch die ionischen
Auloden und Kitharoden auf dem Boden der Epik, der Helden-
sage und Mythologie?
Aber die ideale epische Poesie sang von Göttern und
Göttersöhnen, sie war für Ritter gedichtet und schnelle Helden,
mochten sie zur See oder zu Lande ihre Thaten vollführen;
und der Homeride wollte sie in der goldglänzenden Halle der
Anakten vortragen. Doch die Zeiten wurden andere in Ionien.
Mit der Herrschaft der Zeusentsprossenen ging es zu Ende, das
Volk wurde frei, um dann schnell unter die Herrschaft der Bar-
baren zu kommen. Da war kein Raum mehr für Göttersöhne,
den Ioniern war ihr Rittertum zerbrochen, als sie dem Lyder
den Nacken beugten, da und noch früher ging das hochge-
spannte, ritterliche, ideale Leben in die Brüche und mit ihm
auch der ideale Heldensang. Auf den Trümmern ihrer Städte
erschien den Joniern ein anderer Gott als die anthropomorphen,
ritterlichen, leichtlebigen Götter Homers, da begann die strenge
ionische Naturphilosophie. Da blieb für die alten Götter und
ihre Welt nur noch die Kritik übrig, und herb und strenge
») Vgl. oben S. 167.
542 Sechstes Kapitel.
haben die Philosophen sie geübt; sie hatten kein Verständnis
mehr für sie und darum auch kein Mitleid. Sie taugen alle
nichts, die Götter Homers, wie sollten sie die Welt erlösen, die
selbst mit allen ihren Schwächen behaftet sind. Die Welt, welche
der Erlösung bedarf, mufs ihrer entraten:
Ildvxa #£Otff' ävs&qxav "OfxrjQÖg •#' Haioööq ts,
odda naq^ ävd-QutnoicStv bvsiöea xai xpoyog eötiv,
xkimsiv fioix£V6iv ts xal äXXijXovg dnaxevHV.
(Diels, Fragm. poet. philos. S. 39.)
singt Xenophanes, der Rhapsode, als er zum Philosophen ge-
worden war.
Da ist die Volkspoesie in Ionien doch mit dieser homerischen
Welt milder umgegangen, sie hat sie parodiert und travestiert;
aber sie blieb dem Volke als ein altes Erbstück aus der ritter-
lichen Väter glänzenden Zeit lieb und wert; sie so ohne
weiteres über Bord zu werfen, wie der folgerichtige Philosoph
that, war nicht des Volkes Sache. Je jünger die Triebe der
homerischen Poesie in Ilias und Odyssee sind, desto realistischer
werden sie, wie ihre Träger, die Ionier; ja, sie nehmen nicht
selten eine realistisch-humoristische Färbung an, die an die Art
des mythologischen und zum Teil auch des biologischen Mimus
streift.
Selbst die Götter sind hier und da merkwürdig ver-
ändert und sehen aus wie Sterbliche von der niedrigsten Sorte,
intriguieren, betrügen, zanken und keifen, schmausen, pokulieren
und huldigen den Freuden der Liebe, die Aphrodite Pandemios
verleiht, als wären sie garnicht die Bewohner des Olymp, sondern
biedere Pfahlbürger irgend eines verrufenen, kleinen griechischen
Nestes, die der göttliche Sänger einst während seines Erdenwallens
kennen lernte.
Wenn wir diesen galanten Göttervater Homers sehen, der
der verführerischen Hera so eifrig und so thöricht schmeichelt —
ich erinnere an die berühmte Vereinigung beider auf dem Ida
(XIV, 157—355; XV, 4—39) — um sie dann nach dem Liebes-
genufs grob und rüde anzufahren, dann brauchen wir kaum einen
Die griechische Hypothese vor Philistion. 543
einzigen Schritt tiefer zu gehen, um sofort den alten Götter-
papa zu verstehen, wie er mit Phallus und Progastridion im
italischen Mimus zu Liebchens Fenster auf schwanker Leiter
hinaufsteigt1). Wenn er das bei Nacht und Nebel thut. so kennen
wir seine Furcht vor der gestrengen Ehehälfte schon aus dem
ersten Buch der Ilias, wo er Thetis bittet, sich im geheimen
zu entfernen, damit es die ewig keifende Hera nicht merkt
(I, 522 und 523).
Wenn aber gerade Hermes ihm dabei helfen mufs, so wissen
wir ja aus dem Hermeshymnus, was für ein Galgenstrick und
Gauner dieser Gott schon in seinen Windeln war. Es ist doch
äufserst merkwürdig, was für erstaunliche Thaten er dort gleich
nach seiner Geburt verübt; erfindet die Zither, raubt des Helios
Rinder, und ist gleich ein so abgefeimter Spitzbube, der auch zu
Meineid und allem Bösen bereit ist, wie es selbst für einen
homerischen Gott arg ist. Dafs das bei aller Realistik nur Spafs
und Humor ist, können schon die Weissagevögel lehren, die
Hermes streichen läfst, als Apollo den kleinen Spitzbuben zum
Vater Zeus vor Gericht schleppen will.
Die Göttermutter hat, abgesehen von dem Verdrufs, den
ihr der auf hübsche Frauen und Jungfrauen erpichte Gatte be-
reitet, im Mimus auch viel Ärger mit ihren Kindern. Auf der
bekannten Phlyakenvase aus Bari (Elite ceram. I, 36) sitzt sie
auf einem hohen Stuhle und weifs sich nicht zu helfen. Denn
dieser Stuhl, den ihr Sohn Hephaestos hergestellt hat, besitzt
die Zauberkraft, sie nicht los zu lassen. So tritt denn ihr Sohn
Ares für sie ein und kämpft mit Hephaestos, um den Zauber zu
lösen*).
») Wieseler a. a. 0. S. 11.
2) Schon bei Epicharm findet sich der Komödientitel „Die Komasten
oder Hephaestos", und aus Photius wissen wir, dafs Epicharm hier dasselbe
Thema behandelt hat, das später die Phlyaken darstellen. Nur erfahren
wir noch den Verlauf des ganzen Abenteuers, die Verbannung des Hephaestos
und seine Zurückführung im übermütigen Komos. (Vgl. Lorenz, Leben und
Schriften des Koers Epicharmos S. 138, und besonders Löschcke, Korinthische
Vase mit der Rückführung des Hephaestos. Mittheilungen des deutschen
archäologischen Instituts in Athen 1894.)
544 Sechstes Kapitel.
Auch diese mimische Erfindung ist einfach eine Fortbildung,
kaum eine Parodie der homerischen Dichtung zu nennen. Wenn
Hephaestos im Mimus Here fesselt, so hat er bei Homer auch
Ares und Aphrodite in Bande geschlagen; Here hat sich ja
auch schlecht genug gegen ihren Sohn benommen. Sie hat
ihn, da er von Geburt hinkend war, als Neugeborenen aus dem
Himmel geworfen (Ilias XVIII, 396 f.) Kein Wunder, dafs
Hephaestos sich solcher Rabenmutter gegenüber Unziemliches
erlaubt. Dafs ihm gerade Ares gegenübertritt, ist auch im Sinne
des homerischen Mythos. Ares weifs, wie schlimm es ist, in
den Fesseln der Hephaestos zu liegen. Dafs er in dem Kampfe
nicht Sieger sein wird, lehrt uns wieder Homer, der ihn als
Feigling schildert. Aber Hephaestos ist sehr gutmütig, das
wifsen wir aus dem Demodocuslied; er wird sich versöhnen
lassen, und so können wir aus der analogen homerischen Dichtung
auch den heiteren Schlufs dieses Mimus erraten.
Hier ist der homerische und der mimische Stil sich so
ähnlich, dafs sie fast in einander übergehen. Ja, das Demodocus-
lied könnte man dreist eine mimische Erfindung nennen. WTie
herrlich ist in dem russigen, hinkenden Hephaestus der arme,
alte Hahnrei geschildert und ebenso in Ares der galante, junge
Mann, der cultus adulter, den Ovid aus dem römischen Mimus
kennt, der in des Alten Abwesenheit das zierliche, junge Weib-
chen verführt. Der Alte ist schlau genug, die beiden abzufassen,
und dumm genug, die lieben Nachbarn als Zeugen herbeizurufen ;
die ergötzen sich an dem Anblick weidlich und finden den jungen
Mann garnicht so dumm. Der Alte aber tobt und verlangt von
dem Schwiegervater alle Geschenke zurück, die er für seine
lockere Tochter einst gegeben; doch schliefslich verspricht der
Onkel der jungen Frau (Poseidon) ein Stück Geld als Ersatz.
Da giebt sich der betrogene Ehemann zufrieden, und das Ganze
schliefst mit einem lustigen, mimischen Gelächter, wie ein Mimus
nach Choricius endigen mufs.
Wir kommen zu Thersites. Mit welch eindringlichem
Realismus wird er geschildert. Er ist der häfslichste der Griechen,
schielend, lahm, bucklig und hat einen Spitzkopf, der nur spar-
Die griechische Hypothese vor Philistion. 545
lieh mit dünner Wolle besetzt ist. Das heilst also, er ist nach
seinem Aussehen eine echt komische Figur. Noch in später Zeit
haben vornehme Damen nach Clemens von Alexandria Zeugnis
ihre Narren Thersitesse genannt1). Dieser Thersites ist die In-
carnation des niederen Volkes, er vertritt die allgemeine Meinung,
er hat scharf, nüchtern und rücksichtslos beobachtet, und seine
grelle Stimme verschafft sich Gehör, wenn man ihn auch noch
so wenig leiden mag.
„Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi"
sagt Horaz (Epist. I; 2, 14); etwas viel anderes meint Thersites
auch nicht. . Und doch erhält er die empfindlichsten Prügel, wie
nur je ein Narr im Mimus, so dafs er laut aufheult, und alle
Achäer lachen, und wir lachen mit ihnen.
Ist die eigentlich realistische, mimisch- biologische Schil-
derung in der Ilias noch seltener, so nimmt sie dagegen in der
Odyssee einen grofsen Raum ein. Hier können wir uns für
die Richtigkeit unseres modernen Empfindens sogar auf das
Urteil eines der hervorragendsten, antiken Aesthetiker berufen,
der in den Schilderungen des Lebens und Treibens im Hause
des Odysseus mimische Ethologie und Biologie wiederfand, ja
dem das Ganze wie eine Art mimischer Hypothese vorkam1).
Vor allem ist die Schilderung der Freier so realistisch wie mög-
lich: Dieses Gesindel, das in des Königs Abwesenheit sein Weib
bedrängt und dabei wider allen Brauch sein Hab und Gut verprafst,
das um die Königin wirbt und sich inzwischen mit den Mägden
tröstet Ich habe oben schon auf den Bettler Odysseus hin-
gewiesen. Er hat nur alte Lumpen am Leibe und trägt einen
schmutzigen Ranzen (XVII, 351), gefräfsig geht er von einem
zum andern, um ihn anzubetteln. Er hat eine Glatze, auf der
auch nicht ein Härchen zu sehen ist, wie der mimische kahle
Narr, nur dafs Odysseus unter dieser Maske den Humor zu
einem fürchterlichen macht. Einer der Unsterblichen, meint
') Paedagog. III, 4. Vgl. Floegel, Gesch. d. Hofnarren S. 159.
*). Vgl. ohen S. 328, Anm. 4.
Reich, Mimu». 35
546 Sechstes Kapitel.
ein Freier, müsse ihn hergeführt haben, denn himmlischer Glanz
strahle von seinem glattpolierten Schädel1).
Nicht der Mimus, nicht Epicharm hat die Figur des
Parasiten erfunden, der älteste Parasit ist der Bettler
Odysseus und daneben der Bettler Iros. Merkwürdig genug,
selbst auf Penelope fällt dieser realistische Schimmer und
verwandelt sie in der seltsamsten Weise. In der Episode
im XVIII. Buche tritt sie in vollem Putze zu den Freiern,
kokett hält sie den Schleier, allen erregt sie heifses Verlangen,
zumal da ihr so ungewöhnliches Erscheinen verheifsungsvoll
wirken mufs. Was Wunder, dafs die Freier auf ihre Klage:
nicht, dafs man überhaupt, sondern dafs man ohne Geschenke
um sie werbe, bereitwilligst eingehen und reiche Gaben an
Gold herbeiholen lassen. Da hat Penelope sie schön genarrt;
vergnügt wie eine Hetäre, die ihre Liebhaber ordentlich ge-
rupft hat — die Mimologen haben diese Freude oft zum Aus-
druck gebracht — zieht sie ab und besieht oben in ihrem Ge-
mache die reichen Gaben2). Odysseus, der das mit ansieht,
freut sich über die einträgliche Koketterie seiner Frau (XVIII,
286— 289) 3). Da fällt uns der mimische Odysseus ein, der bei
Horaz in der Erbschleichersatire sich bei Tiresias erkundigt, wie
er am besten das von den Freiern durchgebrachte Vermögen
wiedergewinnen kann, und den guten Rat erhält, sich auf die
Erbschleicherei zu legen4).
Die griechischen Systematiker rechnen das homerische Epos
1) Man beachte hier die echt volksmäfsige Ironie; der Hohn prallt auf
die Höhnenden zurück, sie reden ironisch und ihre Ironie ist die bittere,
aber ihnen verborgene Wahrheit.
2) Kayser (Homer. Abh. ed. Usener S. 41) verwunderte sich ganz richtig
über die artes meretricias, denen die Königin hier huldige.
3) Wilamowitz (Homerische Untersuchungen S. 8 folg., S. 29 folg.) hat
wegen dieser humoristisch-realistischen Art diese Episode als ein späteres
Einschiebsel gekennzeichnet. Man sieht, wie die Rhapsoden in späterer Zeit
immer mehr zu realistisch-humoristischer Auffassung neigen, bis sie schliefs-
lich sich hierin kaum noch von den Ethologen und Biologen unterscheiden.
4) Über den Zusammenhang dieser Satire mit dem Mimus vergleiche
unten die Kapitel „Cynismus und Mimologie" sowie „Mimus und Satire".
Die griechische Hypothese vor Philistion. 547
nicht zur einfach erzählenden Poesie, sondern zum yivoc, [xixtov,
weil es aus erzählenden und dramatischen Partien gemischt ist.
Man denke an die zahlreichen Reden, die Homer seinen
Personen in den Mund legt. Wenn der Rhapsode sich beim
Vortrage dieser Reden in die Person des Helden hineinversetzte,
so war er direkt zum Schauspieler geworden.
Ich erinnere an den braven Jon, den Plato mit soviel
Humor, Lust und Liebe in seinem gleichnamigen Dialoge schildert.
Bei schrecklichen Stellen sträuben sich ihm die Haare empor,
bei wehmütigen treten ihm die Thränen in die Augen, er be-
gleitet also seinen Vortrag mit Mienenspiel. Kein geringer
Teil der rhapsodischen Kunst wird in der mimischen Ver-
anschaulichung des Epos und seiner Helden bestanden haben,
die Rhapsoden waren zugleich vnoxQixai 'OpiJQoVj Darsteller
Homers1). Nicht anders wird es mit den Kitharoden und Auloden
gewesen sein. Wenn diese mit mimischer Aktion Reden einzelner
epischer Personen, realistisch-burlesk parodiert, vortrugen, waren
sie zu Hilaroden und zu Magoden geworden. Die homerische
Poesie neigt aber in ihren letzten Ausläufern schon an und für
sich zu mimischer, realistisch-burlesker Auffassung.
Das ionische Publikum der späteren Zeit, diese Seeleute,
Schiffskapitäne, Rheder, Kaufleute und sonstigen Gewerbetreiben-
den im betriebsamen Ionien werden ihre Rhapsoden, Kitharoden
und Auloden nicht selten zu dieser mimischen Entwickelung
gedrängt haben. Immer und ewig mochte man auch nicht den
Streit der Könige oder Penelopes Jammer, das Getöse des Wassers
und den Donner des Zeus und alle diese idealistischen, hoch-
gespannten Dinge vernehmen. Der verwöhnte Gaumen wollte
auch einmal derbere und pikantere Kost. Es ist bezeichnend,
dafs es gerade die Phäaken sind, vor denen Demodocus die
Märe von Ares und Aphrodite singt. Es ist gewifs später
im realistischen Ionien viel lukrativer gewesen, ein Mimode
als ein Rhapsode zu sein. Bedenken wir es wohl, selbst das
1) Bei Athenaeus (620 c) wird von dem Rhapsoden Mnasion direkt der
Ausdruck v7ioxQivta&at, gebraucht.
35*
548 Sechstes Kapitel.
streng-ideale Athen verlangte in seiner Heldenzeit nach dem
erhabenen Aeschyleischen Trauerspiel den plumpen Scherz der
Satyrn, es wollte nach Prometheus und den Eumeniden den
betrunkenen Cyklopen sehen und Herakles, den Fresser. Was
für das dramatische Athen das Satyrspiel, das ist für das epische
Ionien gewissermafsen die Lysiodie und Magodie. Wenn dem
realistischen Volke nach all dem Idealismus der Khapsodie, der
Kitharodie und Aulodie flau zu Mute wurde, dann trat die
Hilarodie und Magodie in ihre Rechte.
So hat denn also der ionische Mimode nichts mit den
burlesken Darstellern des dorischen Mimus und auch von vorn-
herein nichts mit dem &av(iaionoi6s> dem Ahnen des Mimen, zu
thun. Aber trotz seiner vornehmen Herkunft' und dem prächtigen
Auftreten, das er immer beibehielt, gehört er schliefslich doch
auch zum fahrenden Volk, das sich mit seiner Kunst das
Brod erwirbt, so zog die Lysiodin Antiodemis nach Rom, um
sich das Gold der Barbaren zu verdienen (vgl. oben S. 167 u. 194).
Diese Mimoden hatten später keinen Grund mehr, sich von den
andern Mimen zu scheiden, wie es die vornehmen Tragöden und
Komöden thaten: sie vereinigten sich leicht mit ihnen zur Dar-
stellung der mimischen Hypothese als Sänger der mimischen
Cantica.
Wir dürfen also im allgemeinen sagen, die Mimologie
ist dorisch, die Mimodie ionisch. Die realistische dramatische
Volkspoesie hat in ihren mannigfaltigen Formen bei den Doriern
und Ioniern geblüht. Den idealen Attikern ward es gegeben,
die hohe Blüte des vornehmen Dramas zu schaffen, das, wie alles
Ideal-Schöne und Hehre, bald dahinwelkte, während seine derben,
realistisch-mimischen Vettern ihr unverwüstliches Leben bis an
das Ende alles griechischen Wesens weiter führen sollten, da
sie, durch ihre Vereinigung stark, das grofse mimische Drama
hervorgebracht hatten. Die Suprematie Athens auch auf dem
Gebiete der Dichtung hörte auf, der griechische, idealistische
Klassizismus hatte sein Ende erreicht, das realistisch.- burleske,
das biologische Drama gewann die Herrschaft.
Die ionische Mimodie führt uns also dazu, aufser den bisherigen,
Die griechische Hypothese vor Philistion. 549
durchgreifenden Unterscheidungen im Mimus, die wir aufgestellt
haben, — ich erinnere z. B. an Paegnia — Hypothesen, Mimodie —
Mimologie, dorischen — ionischen Mimus, biologischen— mythologi-
schen Mimus, — eine weitere Unterscheidung zu machen zwischen
dem rein dramatischen, auf die dramatische Aktion zweier oder
mehrerer Personen und dem recitativen, allein auf den mimischen
Vortrag einer einzigen Person berechneten Mimus. Zur letzteren
Gattung haben wir ohne weiteres Magodie und Lysiodie, Hilarodie
und Simodie zu rechnen. Wie diese ist auch die mehr mimologische
Art des ionischen Mimus, die Ionicologie oder Cinaedologie durch-
aus recitativ, ist doch auch sie auf dem Boden der Rhapsodie
und der Epik erwachsen. Abgesehen von dem Schmähgedicht
gegen Belestiche, die Maitresse des Ptolemaeus Philadelphus,
haben wir von Sotades, dem Hauptdichter der Cinaedologie,
nur mythologische Titel „Der Abstieg in die Unterwelt",
-Priapus", „Die Amazone"1), „Ilias", „Adonis* s). Die Ein-
leitung zum „Adonis"* beginnt fast wie ein Märchen:
Tiva tdäv naXaiäv laiooicöv #«JUr' iöaxovaai*).
So kann nur ein Erzähler, ein Recitator, ein Rhapsode anheben-
Dennoch gehört, wie wir oben (S. 233 folg.) gezeigt haben, die
Cinaedologie zum Mimus. Aus seinem rhapsodischen Ursprung er-
giebt sich eben die recitative Art des ionischen Mimus von selbst.
Aber auch der rein dramatische Mimus hat noch nebenher
eine recitative Spielart ausgebildet; sie wird gekennzeichnet
durch die Namen Sophron, Herondas, Theokrit. Auf diesen
Mimus, er gehört zur Gattung des mimischen Paegnions, bezieht
sich Wilamowitzens Bemerkung: „Was sind die Mimen? Doch
keine dramatische Gattung. Der Erzähler tritt auf, seis auf dem
Markte oder im Privathause, später auch auf dem Platze, der
Schauplatz heifst, weil alles da bequem gesehen werden kann,
was ein grofses Publikum sehen will. Der Erzähler kann mit
') Suidas s. v. Zonädrig- tla\ ö' avtov tldtj nktiaia, olav t fr "AtSov xara-
ßa<ng, nqlrrnog, dg BtltOTixrp, 'Aua&v, xal hioa.
2) Hephaestion p. 8, 5.
3) Hephaestion an derselben Stelle.
550 Sechstes Kapitel.
den ysXcoTonowi des Westens ebenso verglichen werden, wie mit
den vornehmen Rhapsoden des Ostens, die auch Stücke des Archi-
lochus und Hipponax recitierten. Er imitiert mit drastischer
Komik mehrere Stimmen. Darin hat sich nichts geändert, als im
dritten Jahrhundert die eleganten Poeten auch diese alten Formen
umbildend und verfeinernd aufnehmen. Theokrits Adoniazusen
und Simaitha sind doch zunächst von ihm selbst vorgetragen;
das ist keine Buchpoesie: er hat ja gar kein Buch gemacht.
Und so hat es im Jambos ihm Herodas nachgemacht1)."
Wilamowitz spricht hier2) vom Mimus Sophrons, Herondas' und
Theokrits und ihren volksmäfsigen Vorläufern. Diesen gilt
seine Bemerkung und aufserdem noch der ionischen Mimodie
und Cinaedologie, natürlich aber nicht dem althellenischen,
dramatischen Mimus und dem mimischen Drama der späteren
Zeiten, dem alexandrinischen, griechisch-römischen und byzan-
tinischen, der Hypothese. Hertling hat dann mit guter Methode
den Beweis durchgeführt, dafs Herondas' Mimen nicht für die
Bühne gedichtet sind, dafs sie also nach unserer Terminologie
zum recitativen Mimus gehören, dem, wie er wohl mit Recht
vermutet, auch Sophron zuzuweisen ist und selbstverständlich
Theokrit3).
Die Lust an den kleinen, mimischen Dramen war eben seit
uralter Zeit so grofs, dafs auch Einzeldarsteller sich ganze
Mimen vorzuführen bemühten, wie es z. B. Kleon, der Mimaule,
J) Herondas will sich ja direkt als Nachfolger des Hipponax, dessen
Dichtung nichts weniger als dramatisch war, betrachtet wissen.
2) Lesefrüchte, Hermes XXXIV, S. 207 u. 208.
3) Wenn aber Hertling nach Besprechung des recitativen Mimus zum
Schlüsse seiner Dissertation meint: „Quae de Graecorum mimica arte disputavi,
si quis comprehendat, habiturum eum spero, unde rede de usu mimorum graecorum
iudicet . . . gravissirna . . monuisse et tibi e re visum est explicatius docuisse
mihi videor.", dann zeigt er damit, dafs er glaubt, der griechische Mimus
sei mit Sophron, Herondas und Theokrit und der volkstümlichen mimischen
Kunst, auf der sie basieren und mit der sie zusammenhängen, erledigt.
Das ist ein Irrtum, aber freilich ein altgeheiligter (vgl. oben S. 421). Der
recitative Mimus ist bei aller Bedeutung, die ihm innewohnt, doch bei weitem
der geringere Teil im grofsen Reiche des Mimus.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 551
that und der Herold Ischomachus und auch Nymphodorus. Ihr
Triumph bestand eben darin, durch lebhaftes Gebärdenspiel,
durch die Annahme verschiedener Stimme und Sprache beinahe
dieselbe Illusion zu erregen, wie sonst eine ganze Bande von
Schauspielern *). Die Rolle solcher mimischen Recitatoren mochten
dann später auch vornehme Kunstdichter, wie Sophron, Herondas
und Theokrit um so eher übernehmen, als diese Einzeldarsteller
natürlich nicht in der Tracht des Mimen mit Phallus und Pro-
gastridion aufgetreten sind. Sie fühlten sich eben viel mehr
als Rhapsoden, ähnlich wie die Mimoden Ioniens. Gewifs haben
Herondas und Theokrit ihre Mimen zuerst selber vorgetragen;
aber wer möchte sie sich dabei in dem wunderlichen Kostüm
des dramatischen Mimen vorstellen.
Die hellenistischen Könige waren, wie wir sahen, dem Bei-
spiel Philipps und Alexanders folgend, eifrige Begünstiger des
Mimus, des recitativen wie des dramatischen. Wie einst Kleon
der Mimaule seine lustigen fMpyONC allein der gaffenden Menge
vorführte, wie einst Oenonas einen solökisierenden, schiffbrüchigen
Odysseus und einen trällernden, liebeseeligen Cyklopen darstellte,
so mag Theokrit vor dem glänzenden Hofe der Ptolemäer als
ein neuer Mimologe seinen Mimus von Polyphems und Galateas
Liebe und alle seine andern biologischen und bukolischen Mimen
mit mimischer Aktion recitiert haben, so hat man auf den
glänzenden Gastmählern und Gelagen Alexandriens auch Herondas'
Mimen vorgetragen. Sehr gut sagt Richard Reitzenstein : „Wir
dürfen nicht vergessen, dafs er (der alexandrinische Dichter)
immer einen Vortrag fingiert, und lebendig wird uns sein Werk
nur, wenn wir es wirklich vorgetragen denken, die Mimiamben
des Herondas . . . wie die Iamben des Kallimachus . . . sind
naiyvia 'Scherzvorträge beim Gelage'" (Epigramm und Skolion
S. 1). Beim Gelage haben wir uns auch die gesamte Mimodie
l) So führt der Kasperlespieler allein ein ganzes, kleines Drama auf
und redet für alle handelnden Personen in seinem Mimus, während draufsen
vor dem Publikum die Puppen tanzen. Der mimische Recitator läfst ja nun
keine Pappen agieren, aber er unterstützt den dramatischen Eindruck seiner
Worte mit lebhafter Gestikulation und mimischem Gebärdenspiel.
552 Sechstes Kapitel.
vorgetragen zu denken, die Hilarodien und Lysiodien, Simodien
und Magodien. Nicht umsonst erhält die einzige Lysiodin, die
wir kennen, Antiodemis, den Titel tsqnvov n&vqpai (is&ris *). "Wir
wissen auch, dafs Sotades, der Mimograpti, seine Cinaedologien
an den Höfen der Diadochen selber vortrug.
Aber neben diesen mimischen Recitatoren gab es an den
Höfen von Alexandria und Antiochia auch ganze Gesellschaften
von dramatischen Mimen. Ich erinnere an die Deikteriade
oder Mime Myrtion, die eine von den vielen Geliebten
des Philadelphus war und wohl eine ganz ähnliche Rolle
gespielt hat wie die weiblichen Mimen später in Rom und
Byzanz2). Wir werden uns diese Mimen auf dem Theater und
Alexandria und Antiochia agierend zu denken haben, wo sie
Dio von Prusa noch im ersten Jahrhundert nach Christus sah,
und 'wo sie auch nach des Johannes Chrysostomus Zeugnis in den
späteren Jahrhunderten spielten und ihre mimischen Hypothesen
aufführten. An den Höfen der Diadochen fand sich jede Art
des Mimus vertreten, und der Zusammenflufs aller erhob das
grofse, mimische Drama, die Hypothese, wohl schon damals zu
einer hohen Vollendung.
Wir sahen, wie die mimische Theorie der Peripatetiker am
Anfange der Alexandrinerzeit dazu beitrug, die vornehmen Dichter
zu einer Ausgestaltung des alten, volksmäfsigen Pägnions, soweit
es recitativ war, anzuregen. Mit einem Schlage entstand eine
vollendete mimische Kunstdichtung, aber nur auf dem Gebiete
des Pägnions.
Die Hypothese blieb noch den Volksdichtern überlassen;
die vornehmen Dichter gingen, durch die mimische Theorie und
Theophrasts Charaktere angeregt, darauf aus, die vornehme,
attische Komödie zu neuem Glänze zu führen, allerdings mit
Hilfe starker Hervorhebung des mimischen Elements. Daneben
aber bestand die mimische Hypothese als reines Volksdrama
weiter, und die kunstmäfsige Gestaltung des mimischen Pägnions
') Vgl. oben S. 168, 344, 345.
2) Vgl. oben S. 166.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 553
wird sicher auch auf ihre kunstgemäfse Entfaltung nicht ohne
Einflufs geblieben sein.
Antiochus IV. trat bei den Festen, die er im Jahre 168 zu
Daphne in der Nähe von Antiochia feierte, selbst als Mime auf.
Es heifst bei Athenaeus ausdrücklich, der König sei mitten unter
den Mimen aufgetreten und hätte mit ihnen zusammen getanzt
und gespielt '). Da aber nicht jeder Mime für sich allein gemimt
haben kann, weil sie zusammen auftraten, so mufs es sich um
ein zusammenhängendes Stück mit mehreren Akteuren gehandelt
haben, in das der König auf seine Art eingriff. Hier sind wir
also wirklich einer mimischen Hypothese habhaft geworden und
zwar im Jahre 168 vor Christus. Warum sollte es zu jener Zeit
in anderen Städten anders gewesen sein als in Alexandria und
Antiochia; auch sie werden ihre Mimengesellschaften und ihre
mimischen Hypothesen gehabt haben. Die Mimentruppen zogen
eben schon damals wie in den nachchristlichen Jahrhunderten
von Stadt zu Stadt, von Land zu Land und fanden überall mit
ihren Stücken ein Publikum und besonders später in Rom.
Diese Betrachtungen waren längst geschrieben und der Druck
schon bis zum sechsten Kapitel vorgeschritten, da erhielt ich in
zwölfter Stunde durch die Freundlichkeit Watzingers die Ab-
handlung „Mimologen"2). Der Autor publiziert eine Terrakotte,
die bei den Ausgrabungen des deutschen Instituts am West-
abhange der Akropolis bei einer der Cisternen, die dicht unter
dem Abhang der Pnyx liegen, gefunden wurde. Es ist eine
Lampe, auf deren als Ölbehälter dienenden Basis drei Schau-
spieler stehen; der mittelste mit grofsen Ohren, dickem Bauch
und Glatzkopf erscheint als rechter mimus calvus und hioqös
(faXaxgog. Zu seiner Linken steht ein anderer Glatzkopf in
einem Mantel, zu seiner Rechten ein wohlfrisierter Jüngling
mit Mantel und Chiton. Alle drei sind, wie es sich für Mimen
gehört, ohne Masken.
*) Vgl. oben S. 193 und 194.
2) Sonderabdruck aus den Mitteilungen des Kaiserlich deutschen
archaeol. Instituts in Athen. Bd. XXVI. 1901.
554 Sechstes Kapitel.
Zu diesem Bilde gehört die Inschrift auf der Rückseite der
Lampe:
MIMOAßrOl (sie!)
HYnOOHCIC (sie!)
EIKYPA(sic!)
Das heifst: Mimologen, das Sujet (rj vnö&eöis): Hecyra. Als
besonders beliebten mimischen Typus haben wir die Schwieger-
mutter schon oben (S. 76. 120) gekennzeichnet. Die drei Mimo-
logen sind in einer gemeinsamen Aktion begriffen, der Ausdruck
nloxii ÖQccfjiccTixri, den Plutarch vom grofsen mimischen Drama,
der Hypothese gebraucht, gilt also wohl auch von diesem
Mimus Hecyra; ob er schon eine wirkliche Hypothese in dem
späteren Sinne war und auch schon so hiefs?1) Jedenfalls war
J) Dafs vnöSeais hier schon in dem prägnanten Sinne wie bei Plutarch
gebraucht wird, ist mehr wie fraglich, höchstens zeigt sich ein Ansatz dazu.
Von der „Hypothese" spricht nur Plutarch und auch er nur einmal, aber
da auch so unzweideutig, dafs ich diesen Ausdruck bei dem Mangel einer
typischen Bezeichnung für das grofse mimische Drama adoptiert habe. Jeden-
falls aber ist das eine rein gelehrte Bezeichnung, die im gewöhnlichen Leben
keine Geltung besafs. Der Töpfer, der die drei Mimologen bildete, hat
schwerlich je einen Mimus eine Hypothese genannt; das überliefs er den
Gelehrten. Vor allem aber' beweist dieser Fund gegen die Auffassung vom
recitativen Mimus garnichts. Dafs der Mimus ein Drama und nur ein Drama
ist, hatte man bisher geglaubt, was sollten wohl auch des Laberius, Syrus
und Philistions und aller ihrer Vorgänger Mimen anderes sein, da war es
ja einfach, von Herondas das Gleiche zu glauben. Erst durch Wilamowitz
haben wir gelernt, dafs es daneben noch einen recitativen Mimus giebt.
Erst auf dieser neuen Grundlage kann man die Entwickelung des Mimus zur
Bukolik, zum Idyll und weiter seine Beziehungen zur bukolischen Novelle
und zum bukolischen Roman und dann zu Roman (Petron, Apuleius) und
Novelle überhaupt, also zur erzählenden Prosadichtung — so spricht Wilamo-
witz von „diesen Rapsoden der Prosa" — recht begreifen. Sie haben eben
immer zusammengehört, die recitierenden Mimologen und die Erzähler. Darum
erwähnt Dio Chrysostomus (or. XX, 10), wenn er die Leute aufzählt, die
im Cirkus ihr Wesen treiben, neben den ^avfiaxonoiot, den nächsten Ver-
wandten der Mimen, auch die Erzähler (tbv Si iaxoQlav tiva y /uii&ov diriyov-
fxevov) und Philodem stellt die Mimographen mit den Aretalogen zusammen,
die zweifellos Erzähler waren: xai yccQ [iifjioyQcupov xai aQtta [X6y]ov [all'] ov
avvyqcnftion ägtiriv av rig (ixlfyoiTO?) ravjrjv. Vol. Herc. Coli. alt. II, Col. IX).
Die griechische Hypothese vor Philistion. 555
er ein Drama mit mehreren Darstellern und stammt wie die
Terrakotte spätestens aus dem Ende des dritten Jahrhunderts
vor Christus1).
So wird denn nun der Gang der griechischen mimischen
Entwickelung immer deutlicher. Ununterbrochen ist der Zu-
sammenhang zwischen dem mimisch - dramatischen Tanze der
Vgl. Gompertz, Zeitschr. f. öst. Gymn. 1865, S.724 u. 725. Diesen Aufsatz hatte
August Brinkmann die Freundlichkeit mir nachzuweisen. Philodems Urteil
ist umso wichtiger, als der Mimus in seiner ästhetischen Theorie eine be-
deutende Rolle spielt. Vgl. Fragment 72 (Hausrath): xal yag [ra rov] ZwtfQovog
xal ja [noXXüv'i] allmv /mfioyg[ä(f(ov] tl nozt 7roijuc[r' ÖQ&wg (?) Xi]ynal. xcu uri
. . . . oi ovm&iv [rtg . . .] uiuwv normal .... Dort erscheint der Mimograph
zusammen mit dem Redner und Historiker. Vgl. Hausrath, Jhhch. f. kl. Phil.
Suppl. XVII, 1890, S. 236. Auch Frgm. 53 wird Sophron erwähnt. Für Phi-
lodem (1. Jahrh. v. Chr.) ist noch Sophron der Mimograph xai' ^o/ijv, für die
nachchristlichen Jahrhunderte ist es Philistion, der Klassiker der Hypothese.
J) Vgl. Watzinger a. a. 0. S. 3-5. "Wiederholt hat in den letzten Zeiten
die Altertumswissenschaft die grofse Freude und Genugthuung gehabt, dafs
ihre Konjpkturen und Hypothesen, die auf Grundlage des alten, hisher be-
kannten Materiales sich nur zur Wahrscheinlichkeit erheben liefsen, durch
neue Funde und Entdeckungen bestätigt wurden. Allerdings sind auch nicht
selten mancherlei weit verbreitete Auffassungen — man denke nur an Theodor
Bergks Anschauungen von Sophrons und Herondas Mimen (vgl. Crusius, Die
Mimiamben des Herondas. Deutsch. S. XXX) — aufs schlagendste widerlegt
worden. Nun hat also auch diese Anschauung von der Existenz des grofsen
mimischen Schauspiels im alexandrinischen Zeitalter, die ich vor fünf Jahren
in der Einleitung zum Mimusprogramm als Grundlage meiner Auffassungen
von der mimischen Entwickelung hinstellte, die Feuerprobe durch diesen wich-
tigen Fund erhalten. Ich will hier auch an die metrische Inschrift auf der
Basis einer Statue eines griechischen Mimographen aus Eski-Zaghra erinnern,
die zuerst im Bulletin de correspondance Hellenique V (18S1), S. 130 No. 2,
und dann von Dittenberger, Rh. Mus. 1881, 36, S. 463, mit den erforderlichen
Emendationen publiziert wurde-
'Aya&rjt T[v%T)t]
'Hquöiovo; ßfti(x()ov na(i)(tög (a)iijatv
XaXxtiov avöoiavTu naxolSog tpTjifw,
yvaijurjg rt txcai. uti'/.i/og yäg r^v näair,
xtQnvüv t« fxt[C]uwv ovg iyQaxptv äaitltog.
Jedenfalls also war dieser Nikias ein Mimograph, ob er Paegnien oder Hypo-
thesen dichtete? Hat er etwa Mimiamben gedichtet, weil seine Grabschrift
in Skazonten verfafst ist? wie Crusius, Unters. S. 102, zu bedenken giebt.
556 Sechstes Kapitel.
hellenischen Urzeit, den uralten, kleinen mimischen Dramen der
Dorier, dem italischen Phlyax des achten Jahrhunderts vor Christus
und den mimischen Hypothesen des sechsten und der noch
späteren Jahrhunderte nach Christus, von denen wir noch einige
ihrem Inhalt nach herstellen konnten, ja, den byzantinischen
Mimen, die noch im 14. und 15. Jahrhundert nach Christus in
Byzanz aufgeführt wurden, bevor es die Türken eroberten1).
Ein Rätsel giebt uns freilich noch die phänomenale Er-
scheinung Philistions auf. Wie durfte man ihn den Erfinder des
Mimus nennen? Vor ihm haben doch Sophron, Herondas, Theo-
krit gedichtet; nun, das waren eben Pägniendichter. Aber es
lebten doch vor ihm auch Rhinthon, Blaesos und Skiras; die
rechnete man zur italischen Abart des Mimus, zum Phlyax. Aber
es gab zweifellos auch Mimographen der eigentlichen mimischen
Hypothese in den vorchristlichen Jahrhunderten. Sie sorgten
jedoch wohl wesentlich nur für das theatralische Bedürfnis und
haben, wie später noch Publilius Syrus, ihre Stücke nur teilweise
ausgearbeitet, vielleicht nur ein Canevas für die Aufführung her-
gestellt, wie die Commedia dell' arte -Dichter, und nur Prolog
und Cantica vollständig ausgeführt; sie erhoben eben nicht eigent-
lich litterarische Ansprüche, sie blieben einfache Volksdichter.
Philistion aber arbeitete seine Hypothesen vollständig aus und
erhob sie so zu einer vornehmen Litteraturgattung, die ebenso
auf Nachruhm und nicht blofs auf den Beifall der flüchtig ver-
rauschenden Stunde Anspruch machte wie die anderen. Darum
konnte man ihn den Erfinder des Mimus nennen. Das ist nicht
eine aus den Verhältnissen sich ergebende Kombination, son-
dern Cassiodor bestätigt es aufs ausdrücklichste, wenn er sagt
(IV, 21): mimus . . . tanta Philistionis cautela repertus est, ut eins
actus poneretur in litteris. Wir erfahren ja auch, dafs diese
Mimen noch in den späteren Jahrhunderten gelesen und auch
aufgeführt wurden2). Jedenfalls wurden über Philistion alle seine
griechischen Vorgänger vollständig vergessen.
a) So erklärte Vahlen vor 42 Jahren, der Mimus sei: ein „uraltes
volkstümliches Produkt." Ztschr. f. östr. Gymn. 1859, S. 291.
2) Vgl. oben S. 90 folg.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 557
Warum aber, wenn die mimische Poesie in den letzten vor-
christlichen und in den nachchristlichen Jahrhunderten Markt
und Strafse, Gastmahl und Gelage und selbst das vornehme
Theater füllte, warum haben denn die griechischen Schrift-
steller so hartnäckig davon geschwiegen, warum haben sie
uns so böswillig dieses Rätsel aufgegeben, das erst die Jahr-
hunderte allmählich lösen? Ich glaube, das kann das Beispiel
des Athenaeus uns lehren, wie ich es oben erklärt habe. Er
spricht nur von den Mimen im vierten oder fünften Jahrhundert
vor Christus, und doch lebte er in einer Zeit, in der er fast
tagtäglich Mimen vor sich sah. Er hat die ganze Stelle über
die Mimen aus Didymus oder einem Zeitgenossen des Didymus
abgeschrieben. Didymus wieder lebte in Rom, er lebte in der
mimenfrohesten Zeit des römischen Reiches, er hat Laberius und
Publilius Syrus gesehen. Doch was machte das dem XalxsvxsQoq
aus, solche zeitgenössischen Dinge gehörten für ihn gar nicht in
die Wissenschaft. Wir haben Lukian über diese thörichte Auf-
fassung schon spotten hören1); dieser Hohn Lukians ist im voll-
sten Mafse berechtigt; gelangt doch auch Aristides, der Sophist,
in seiner Lobschrift auf Athen nur bis zur Schlacht bei Chaeronea,
alles Spätere ist der Erwähnung nicht mehr wert.
Hier und da lassen sich ja auch diese hohen Herrschaften
herab, die Angelegenheiten und Verhältnisse ihrer eigenen Zeit
eines Blickes zu würdigen, und dann fangen sie sofort an,
über den Mimus zu perorieren. Aber das beginnt erst mit
Dio Chrysostomus, also mit dem Ende des ersten Jahrhunderts
nach Christus. So würde denn vom Jahre 168 vor Christus bis
zum Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus die Lücke in
der Entwickelung der griechischen Hypothese klaffen. Aber die
mächtige Erscheinung Philistions schliefst diese Lücke und ver-
knüpft bedeutungsvoll den vorchristlichen und nachchrist-
lichen Mimus mit einander.
So erweist sich die griechische Hypothese der nachchrist-
lichen Jahrhunderte als die einfache Konsequenz der mimischen
XJ Vgl. oben S. 433, Änm. 3.
558 Sechstes Kapitel.
Entwickelung der früheren und frühesten Zeiten des Hellenen-
tums. Der mimische Tanz vorgeschichtlicher Zeiten, der pelo-
ponnesische Mimus des achten und neunten Jahrhunderts vor
Christus ist durch das Band ununterbrochener Entwickelung
verknüpft mit dem spätesten byzantinischen Mimus, der bis
zur Mitte des 15. Jahrhunderts nach Christus blühte.
Damit ist nun auch das Problem von der Stellung des
lateinischen Mimus innerhalb der mimischen Gesamtentwickelung
erledigt. Es giebt keine selbständige Entwickelung im Mimus
aufserhalb der griechischen. Die Lateiner sind, wie überall, auch
hier die Nachahmer.
Im zweiten Jahrhundert zog die Mimodin oder genauer
Lysiodin Antiodemis nach Rom und im ersten Jahrhundert finden
wir dort wieder den Lysioden Metrobius, den Gesellschafter
Sullas (vgl. S. 167 u. 233). Warum sollten nicht ebenso früh
oder noch früher auch dramatische Mimen und wandernde Mimen-
truppen den Weg nach Rom gefunden haben? Schon im Jahre 211
führte ein bejahrter Mime einen Gebärdentanz unter Flöten-
begleitung im römischen Theater auf1). Doch trat er nur einzeln
und in der Orchestra auf. Sein mimischer Tanz war nur ein
Intermezzo während der Pausen in den auf der Bühne auf-
geführten, grofsen Stücken. Jedenfalls aber sehen wir an diesem
Mimen, dafs in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts schon
die Mimen überhaupt nach Rom gelangt sind. Die Mimen aber,
die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts von der Bühne
herunter den Accius und Lucilius verhöhnten, sind Darsteller des
grofsen, mimischen Schauspiels und folgen hier einem eigentümlichen
Brauch der mimischen Hypothese (vgl. S. 190). Sie müssen beim
römischen Volk schon in alt eingewurzelter Gunst gestanden
haben, wenn sie sich solche Freiheiten herausnahmen. Das wird
*) Festus S. 326, 0. M.: libertinus mimus magno natu, qui ad tibi-
einem saltaret.
Die griechische Hypothese vor Philistion. 559
an den übermütigen Floralien geschehen sein, die vornehmlich
durch Mimen gefeiert wurden (vgl. S. 53). Das Florafest (28. April
bis 3. Mai) wurde im Jahre 238 zum ersten Male, seit dem Jahre
173 ständig begangen. Es ist wohl möglich, dafs von Anfang an
der Mimus dieses Fest verherrlichte, das später unlöslich mit
ihm verbunden war. Hier bestehen noch dunkle, religiöse Be-
ziehungen. Flora ist eine Naturgöttin und die Mimen erscheinen
in der Gestalt der Fruchtbarkeitsdämonen; der Mimus aber diente
ursprünglich zur Feier uralter Naturfeste x), und ein Naturfest sind
die Floralien, die, am Ende des April gefeiert, der Freude über
die prächtig erblühte Natur Ausdruck gaben. Also am Anfang
des dritten Jahrhunderts konstituiert sich die mimische Hypo-
these im griechischen Osten; an seinem Ende beherrscht sie in
Rom die Floralienbühne und darf sich schon im zweiten Jahr-
hundert persönliche und wohl auch politische Anspielungen er-
lauben. Nach dem Muster der Mimodien, der Couplets dieser
Hypothesen, gestalteten Plautus und Caecilius Statius ihre cantica
(vgl. oben S. 344 folg.).
So hat sich in kaum einem Jahrhundert die mimische
Hypothese den griechischen Osten wie den lateinischen Westen
erobert. Das ist eine reifsend schnelle Verbreitung; dem Mimen
lag eben von seinem Ahn, dem Gaukler, her das Wandern im
Blute; die Mimengesellschaften waren wie die Gauklerbanden
Wandertruppen, und seit Alexanders Kriegszügen war man in
Griechenland an weites Wandern gewöhnt. Der Orient war den
Griechen aufgethan, nun öffnete sich auch der Westen. Die Be-
ziehungen zwischen Griechenland und Rom werden ja damals
immer enger. Im Jahre 272 fällt Tarent, und damit ist Grofs-
griechenland römisch; 190 kehrt Lucius Cornelius Scipio Asiaticus
nach Besiegung des Antiochus aus dem griechischen Osten, der
eigentlichen Heimat der mimischen Hypothese, nach Rom zurück.
Aus dem griechischen Osten brachte Kaiser Verus bei seiner Rück-
kehr vom Partherkriege ganze Schiffe voll griechischer Mimen nach
Rom (vgl. oben S. 199). Ob nicht ebenso schon dem Heere des
!) Vgl. oben S. 498 folg.
560 Sechstes Kapitel.
Asiaticus wandernde Mimentruppen gefolgt sind? Sie schlössen
sich ja seit Alexanders Kriegszügen gerne den Armeen an. Noch
Kaiser Julianus, der den Mimen bei seiner strengen, fast
asketischen Richtung wenig geneigt war, nahm seinen Soldaten
zu Gefallen Mimenbanden auf seinem letzten Feldzuge mit (vgl.
oben S. 200).
Nun sprachen ja allerdings diese aus dem Osten nach Rom
pilgernden Mimentruppen griechisch; aber von allen griechischen
Dramen war der Mimus mit seiner Prügelkomik, seinem
Grimassieren, seinem Gebärdenspiel und Tanz den Römern noch
am ehesten verständlich. Für dieses Verständnis waren sie
durch den campanischen Mimus, die Atellane, vorbereitet, von
dorther waren sie auch das seltsame Kostüm des dramatischen
Mimen schon gewöhnt. Dafs diese neuen Mimen keine Masken
trugen wie die Atellanenspieler, war dem Verständnis nur noch
förderlicher. Wenn die Mimodin Antiodemis im zweiten Jahr-
hundert in Rom auftreten wollte, so mufste sie offenbar darauf
rechnen können, dafs man sie dort verstehen werde. So etablierten
diese neuen Mimen eine „griechische Bühne" in Rom.
Allmählich fanden sich lateinische Mimen, und dann wurde
der griechische Mimus latinisiert. Ich erinnere nur an den
Mimus „Der Vormund", den Cicero in der ins Jahr 91 verlegten
Unterredung „Vom Redner" als einen „alten" Mimus nennen
läfst (vgl. S. 69 Anm. 1), an Laberius und Syrus. Schon Atta,
der alte Komödiendichter (starb 77 vor Christus), kennt den Mimen
unter der lateinischen Bezeichnung „planipes" *).
Aber die „scaena graeca" blieb. Noch Cicero kennt sie8).
Caesar liefs neben lateinischen auch griechische Mimen aufführen,
*) Diomedes III, K. LS. 490: cuius planipedis Atta togatarum scriptor ita
in Aedilicia fabula meminit:
daturin estis aurumf exultat planipes.
2) Ad familiäres VII, 1 : Non te puto Graecos aut Oscos ludos desiderasse.
ad Att. XVI, 5 : Rumoris nescio quid afßaverat, comissione Oraecorum frequentiam
non fuisse; quod quidem me minime fefellit. Scis enim, quid ego de Graecis ludis
existimem.
Die griechische Hypothese vor Philistion.
561
desgleichen Augustus1)- Wenn Tacitus berichtet, Nero habe vor-
nehme Herren und Damen zu Schauspielern im Mimus geprefst,
so spricht er von „graeci latinive histrionis ars% d. h. vom griechi-
schen und lateinischen Mimus (vgl. S. 69 Anm. 2). Die griechischen
Mimen des Kaisers Verus werden auf der „griechischen Bühneu
aufgetreten sein. Die Mime Eucharis wird in ihrer Grabinschrift
direkt als eine erste Künstlerin auf der scaena graeca bezeichnet3).
Philistion gab griechische Mimen in Rom, sie wurden auch
später unaufhörlich dort aufgeführt. So erhielt sich die grie-
chische Mimenbühne in Rom, und noch zu Theodorichs Zeit
kamen die griechischen Mimen aus Byzanz dorthin (vgl. oben
S. 145).
Also in Rom selber hatte der lateinische Mimograph die
griechische Hypothese vor Augen; seine Abhängigkeit von ihr
ist eine ganz unmittelbare3). So wird die lateinische Hypo-
these ursprünglich ein ziemlich getreues Konterfei der gleich-
zeitig blühenden, griechisch - alexandrinischen gewesen sein.
Andererseits aber schildert der Mime und Mimograph bei dem
Realismus der mimischen Ethologie und Biologie stets die Typen
') Sueton, Caesar C 39: Edidit ludo* regionatim et quidem per omnium
linguarum histriones. Octavian 43: histriones omnium linguarum d. h. lateinisch,
griechisch (Mimus), oskisch (Atellane).
*) C. I. L. VI, 2. 10096: Docta erodiia paene mtuarum manu
Quae modo nobüium ludet decoravi choro
Et graeca in scaena prima populo apparui.
s) Darum sind auch die lateinischen und griechischen termini technici
für Mimus und Mimen, insbesondere die Rollenbezeichnungen, gleich. Ich
stelle zusammen:
mimus
piuoc
iocularis
uluo; ytlotwv
mima
("»(Ußf
paelicator paelex
fyLÖTvnoc (S. 448)
archimimus
ccu/iuiuoi
moechus
uoiXU
morio, stupidus
fitOQOC
parasitus
naoäanog
calvus, calvaster
fiiogos (ftikaxoöi
mimus seeundarum
Sannio
JEavvooög
partium
u'iuo; diVTioos
sannator
(iVXTtJQKntjs
mimologus
muo/.oyos
;rri>^r
piöxos
mimia
utuia (S. 577 Anm.)
scurra
ytkvjToiotüi
mimographus
utuoyoafoq
Reich, Jlimu«.
36
562 Sechstes Kapitel.
und Figuren, die Sitten und das Leben des Volkes, unter dem
er sich befindet. Also wird im römischen Mimus auch schliefslich
wesentlich römisches Leben pulsiert haben, und das lateinische
Gepräge wird hier viel deutlicher hervorgetreten sein als in der
vornehmen Tragödie und Komödie.
Mommsen hat in den „Unteritalischen Dialekten" (S. 118) die
besondere Begabung der Italiker für alles Komisch-Burleske ge-
kennzeichnet. In der That haben wir die Grundlagen des primi-
tiven Mimus bei allen Völkern der Erde gefunden. Wenn nun
auch die Griechen allein diese Anfänge zu einer grofsen Kunst
gestaltet haben, so haben wohl später die Italiker zu dem
ihnen überkommenen Mimus mancherlei Italisches hinzugethan,
manches Neue, Spezifisch- Lateinische dazu erfunden. Es ist
kein Zufall, dafs der klassische, griechische Mimus gerade
in Rom geschaffen wurde, wo die griechische und die lateinische
mimische Kunst sich später gegenseitig befruchteten. Hat doch
Philistion im Ardalio einen Typus vornehmlich aus dem römi-
schen Leben dargestellt. Wenn die Lateiner von dem gewöhn-
lichen archimimus, stupidus, scenicus (mimus) einen archimimus
graecus, stupidus graecus, scenicus graecus unterscheiden, wie
es auf den Inschriften geschieht, so sind die ersteren eben
nicht mehr „more graeco" gewesen, sondern haben ein national-
römisches Wesen gehabt. So ist der französische Polichinelle
doch eine andere Figur als der italienische Pulcinella, er ist
eben ein Franzose und Pulcinella ist ein Italiener. Aber die
ganze Gestalt der Stücke und auch die lateinischen Typen und
Themen sind nach dem Vorbilde der griechischen geschaffen und
gestaltet. Noch Laberius wird, nachdem der Mimus mindestens
seit einem Jahrhundert latinisiert war, die griechischen Titel nicht
ganz los. Ich erinnere an Kolax, Kophinus, Ephebus (vgl. unten
S. 586.)
Griechischer und lateinischer Mimus blühten also seit dem
dritten Jahrhundert vor Christus neben einander, der eine im
Osten , der andere im Westen der antiken Kulturwelt, obwohl
der griechische Mimus auch in Rom eine Freistätte hatte und
dort unter Philistion den Gipfelpunkt der Vollendung erreichte.
Form, und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 563
VII.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte.
Ihre Aufführung auf dem Theater.
Wir haben nach der antiken Theorie des Mimus, nach der
Auffassung der Heiden wie der Christen, der Priester wie der
Laien, der Völker wie der Regierungen, der Philosophen und
Sophisten die lateinische, griechische und byzantinische Litteratur
durchforscht. Da nun die Bewunderer des Mimus wie seine
Feinde und Hasser nicht nur gelobt oder getadelt und verflucht,
sondern gelegentlich auch ihr Urteil näher begründet haben,
so haben wir eine grofse Anzahl neuer, eigenartiger, für die Be-
urteilung des Mimus wichtiger Züge aufgefunden. Wir wollen
sie jetzt zu einem Gesamtbilde vereinigen, und dieses mit Hülfe
weiterer Zeugnisse noch mehr mit den Farben des Lebens und
der Wirklichkeit ausstatten.
Die Hypothese ist in ihrer Vollendung ein grofses
Drama, das an Umfang, an Zahl der Akte und der Scenen
das alte klassische Drama zum mindesten erreicht.
Wir haben gezeigt, dafs die Ehebruchsstücke, von denen
Juvenal, Ovid, Johannes Chrysostomus, Choricius und andere be-
richten, eine grofse Zahl von Aufzügen enthalten. Da wird in
den ersten Scenen die leichtfertige junge Frau und der mürrische,
eifersüchtige Ehemann geschildert, dann findet sich der schmucke,
junge Buhle ein, mit Hülfe der verschmitzten Vermittlerin, der
cata carissa, gelangt er zu einer Zusammenkunft mit seiner ge-
liebten Dame im Hause des Mannes. In den nächsten Scenen
wird der täppische Ehemann durch allerlei Ränke betrogen, und
je toller die Intriguen, Kabalen und Ränke, die verschmitzten
Erfindungen1) sind, mit denen er getäuscht wird, desto besser;
schliefslich mufs sich der Liebhaber vor ihm in einen grofsen
Kasten2) verstecken. Es erfolgt die Entdeckung, der Gatte
schnaubt Rache, schon ruft er nach einem grofsen Messer, um
1) Artes mimicae nennt sie Petron, cap. 106; vgl. darüber oben S. 113,
Anm. 1.
2) perituri cista Latini. Vgl. oben S. 90.
36*
564 Sechstes Kapitel.
den Missethäter für immer der Möglichkeit zu berauben, einem
Ehemann Hörner aufzusetzen. Doch besinnt er sich schliefslich
eines Besseren und entschliefst sich vor Gericht zu gehen. In
einer der nächsten Scenen erscheint er auch wirklich mit dem
Ehebrecher und der Ehebrecherin vor dem Richter; dieser läfst
die Schuldigen hart an. Schliefslich aber, nachdem der Konflikt
ernsthaft genug sich zugespitzt hat, erfolgt in den letzten Scenen
ein lustiger Ausgleich, damit, wie Choricius sagt, der Mimus
lachend endigen kann1).
Denken wir an das berühmte Räuberstück, den „Laureolus"
des Catullus. Laureolus befindet sieh zuerst als Sklave bei
seinem Herrn, dann entrinnt er nach allerhand schlechten
Streichen, bringt es schliefslich bis zum Räuberhauptmann, ver-
übt als solcher mancherlei verwegene Banditenstücke. Als man
hinter ihm und seiner Räuberschar hinterdrein ist, gelingt' es
ihm in der höchsten Not noch einmal zu entrinnen. Dabei
kommt ihn aber ein heftiger Bluthusten an, sowie ebenso seine
Räuber, die mit ihm zusammen entrinnen, und die Scene schwimmt
in Blut. Schliefslich wird er gefangen genommen, es folgt die
Gerichtsscene, die der Mimus so sehr liebt, und dann die Scene
auf dem Hochgericht. Laureolus wird ans Kreuz geschlagen.
Wir sahen, dafs diese Kreuzigung in einer ausgedehnten Scene
ganz realistisch vorgeführt wurde. Dieses Räuberstück zeigt
nicht viel weniger Aufzüge als etwa Schillers „Räuber"2).
Schwerlich standen die späten christologischen Mimen noch
auf der Höhe der mimischen Kunst; zwischen ihnen und den
philistionischen Dramen war sicher ein himmelweiter Unterschied.
Der Mimus des Genesius, der aus dem Jahre 303 stammt, ist
nur extemporiert worden. Dennoch war er zum mindesten auf
fünf Aufzüge berechnet, wie ich oben S. 87 gezeigt habe. Nicht
anders war es mit den anderen christologischen Mimen, deren
letzten wir noch für das Jahre 362 in Konstantinopel nachweisen
konnten (vgl. oben S. 85).
i) Vgl. oben S. 213.
2) Die Nachweise im Einzelnen für den Ehebruchs- wie den Räuber-
mimus siehe oben S. 89. 90. 120. 127. I 76. 88-92. 148. 198.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 565
So gewinnen also des Plutarch Worte von der dramatischen
Verwickelung, von der Länge des mimischen Dramas für uns
lebendige Anschauung. Darum spricht auch Suidas nicht von
den Mimen, sondern mit vornehmem Ausdruck von den bio-
logischen Komödien Philistions, und darum wird in der Schrift
„über das Erhabene" der letzte Teil der Odyssee nicht schlechthin
mit dem „Mimusu, sondern mit dem grofsen mimischen Drama,
der „biologisch-ethologischen Komödie" verglichen. So wird auch
Kaiser Marcus' Ausspruch, die Komödie sei zum Mimus ge-
worden, noch verständlicher, sowie die Gleichsetzung Philistions
mit Menander und die Erklärung des Choricius, die alten
Komöden seien „attische Mimen"1)«
Plutarch weist nun aber dem mimischen Schauspiel nicht
nur eine Verwickelung zu, wie sie das grofse Drama hat, sondern
noch darüber hinaus eine Verwickelung, wie sie aus dem Zu-
sammenwirken einer grofsen Anzahl von Personen in der drama-
tischen Handlung entsteht (nloxrj doctiicczixrj xai nolvrigöoconog).
Bei Petron heifst es (cap. 80):
Grex agit in scaena mimum: pater ille vocatur,
filius hie, nomen divitis ille tenet.
Da hätten wir drei Personen im Mimus. Aber das sind nur
die drei Hauptpersonen; die weiblichen Rollen und die zahl-
reichen Nebenrollen sind nicht erwähnt.
Juvenal (VI, 44; I, 36; VIII, 197) nennt, obwohl er nur eine
kurze Anspielung auf den Ehebruchsmimus macht, drei Haupt-
akteure: Latinus, der den Ehebrecher, die Mime Thvmele, welche
die treulose Gattin, und den Mimen Corinthus, der den Hahnrei,
den Eifersüchtigen (^közvnog), spielt. Choricius läfst den Ehe-
mann dem Sklaven zurufen, er soll das Messer bringen. Ein
Sklave wird auch noch besonders in dem Ehebruchsmimus ge-
nannt, der nach dem Zeugnis des Capitolinus (c. 29) vor Kaiser
lJ Schon Friedländer erhebt sich ein wenig über die landläufige Auffassung
des Mimus, wenn er, Sittg. II6, S. 438, allerdings noch etwas zaghaft, bemerkt:
„vielleicht entlehnte die Posse (gemeint ist der Mimus) um so mehr von der
kunstmäfsigen Komödie, je mehr sie diese auf der Bühne verdrängte".
566 Sechstes Kapitel.
Marcus gespielt wurde (vgl. oben S. 188). Ferner ist im Ehe-
bruchsdrama die cata carissa unumgänglich (vgl. oben S. 90)
und ebenso der Parasit nach dem Zeugnis des Festus (vgl. oben
S. 90, Anm. I)1), der also wohl als" Vertrauter dem Ehemann zur
Seite stand.
Auch der cultus adulter hat als vornehmer junger Herr zum
mindesten einen Sklaven zur Seite gehabt. Wenn wir nur die
ausdrücklich bezeugten Typen nehmen, den Buhlen, die Frau,
den Mann, den Sklaven, die Vermittlerin, den Richter, kommen
wir auf sechs Personen, die zum Schlüsse alle zusammen vor
Gericht als Ankläger, Angeklagte und Zeugen erscheinen, für
deren Rollen also auch sechs Schauspieler respektive Schau-
spielerinnen erforderlich sind. Aber daneben haben wir ja noch
den Parasiten, den Sklaven des vornehmen jungen Herrn, die Bei-
sitzer des Gerichts, Gerichtsdiener, weitere Zeugen, Verteidiger
und dergleichen anzunehmen. Die letzte Scene bot also jedenfalls
ein grofses Tableau mit zahlreichen Haupt- und Nebenpersonen.
Und nun der Räubermimus. Wenn im Laureolus auch nicht
wie in „Ali Baba und die vierzig Räuber" aus „Tausend und eine
Nacht" gleich 40 Räuber auftreten, so sind es doch eine ganze An-
zahl, da sie mit ihrem Blute die Bühne überschwemmen2). Natür-
lich sind hinter ihnen zahlreiche Soldaten hergewesen, und da die
Räuber auf der Bühne davonlaufen, werden wohl die Soldaten
hinter ihnen hergelaufen sein. Auch die Gerichtsscene und die
Kreuzigung werden figurenreiche scenische Bilder geboten haben.
Selbst der christologische Mimus verfügt noch über zahl-
reiche Darsteller. Ich habe oben (S. 87 u. 88) die Personen in
dem Mimus des Genesius, die direkt genannt werden, aufgezählt.
Da ist Genesius als Täufling und Märtyrer, der Presbyter, der
Exorcist, der Vorsitzende des Gerichts (hier der Kaiser), die
1) Für den Parasiten besitzen wir auch das Zeugnis des Hieronymus:
ep. XXII ad Eustochium 29; Migne 22, pag. 415: Eas aütem virgines et viduas,
quae otiosae et curiosae domos circumeunt matronarum, quae rubore frontis parasitos
vincunt mimorum, quasi quasdam pestes abjice.
2) plures secundarum partium bei Sueton, Calig. 57. Vgl. oben S. 89,
Anm. 3 u. S. 561, Anm. 3.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 567
Freunde des Genesius (sagen wir, um die geringste Zahl anzu-
nehmen, zwei), die römischen Soldaten, die ihn vor Gericht führen
(sagen wir wiederum zwei). Das sind mindestens neun Personen. Nun
werden sonst im christologischen Mimus noch ausdrücklich der
Bischof erwähnt, der die Taufe vornimmt, desgleichen Diakonen
und Gemeindemitglieder als Taufzeugen. Wir haben ferner Ge-
richtsdiener anzunehmen und Folterknechte, sowie Henker, die
den Märtyrer ans Kreuz schlagen. Der Kaiser oder überhaupt
der Gerichtsherr wird doch wohl von einem zahlreichen Gefolge
umgeben aufgetreten sein, so erfordert es die Lebenswahrheit,
nach welcher der Mime, der Biologe, vor allem strebt. Es sind
also nicht nur neun Schauspieler, sondern es ist ein wahrer Schwärm
von Mimen, der noch im vierten Jahrhundert die Bühne erfüllt
Diese Eigenart des biologischen Dramas erinnert uns wohl
an das moderne Schauspiel und besonders an das Schauspiel
Shakespeares mit seinen zahlreichen Darstellern und an die
indischen Stücke, aber nicht im mindesten an das klassische
Drama, das auf seinem Höhepunkte an drei Schauspieler ge-
bunden ist und in dieser Gebundenheit trotz mancher Erweite-
rung und Erleichterung im grofsen und ganzen beharrt.
Das eigentliche Volksdrama der Hellenen fühlte sich eben
auf seinem Gipfel von den meisten Fesseln frei, mit denen das
klassische Drama sich band. Von den sogenannten klassischen
drei Einheiten existierte für den Mimus höchstens die Einheit
der Handlung, und auch sie nur bedingt, der Mimus ersetzte
sie mehr durch die Einheit des Interesses. Von Einheit des
Ortes ist in ihm nicht im entferntesten die Rede. Der Mimus
des Genesius spielt erst auf der Strafse, dann in der Wohnung,
wo der Täufling krank im Bette liegt, dann in der Kirche, dann
vor Gericht, und endlich sollte Genesius auch noch zum Hoch-
gerichte geführt werden. Also wir haben nicht weniger als fünf
verschiedene Scenen (vgl. darüber oben S. 87). Denselben Scenen-
wechsel zeigen auch alle anderen christologischen Mimen, und
gerade weil sie späte, minderwertige Mimen sind, werden sie am
wenigsten zuerst eine solche bedeutsame Neuerung gewagt haben,
wie es der Bruch mit der Einheit des Ortes ist.
568 Sechstes Kapitel.
Auch die gute mimische Hypothese wie z. B. der berühmte
„Laureolus" zeigt diesen bunten Scenenwechsel. Erst befindet
sich Laureolus als Sklave im Hause des Herrn, dann führt er
ein vagabundierendes Räuberleben, natürlich mit bunt wechselnder
Scenerie, als Gefangener erscheint er vor Gericht, endlich auf
dem Hochgericht; vier ganz verschiedene Scenen wären also
mindestens anzunehmen, selbst wenn man seine Heldenthaten
alle an einem Orte geschehen dächte; das ist aber höchst un-
wahrscheinlich, und so werden wohl in Wirklichkeit fünf oder
sechs verschiedene Scenerien anzunehmen sein, ja wenn seine
Verbrechen recht ausführlich vorgeführt wurden, und darauf ist
es ja gerade in einem romantischen Räuberstück angelegt, auch
noch mehr.
Gänzlich bricht der Mimus auch mit der Einheit der Zeit:
Genesius wird auf der Strafse krank, läfst sich in sein Haus
tragen, läfst die Priester kommen und bekehrt sich. Wenn wir
dann in der nächsten Scene die Taufe mit allem Pompe unter
Assistenz des Bischofs, des Presbyters, der Diakonen, Exorcisten
und zahlreicher Taufzeugen vor sich gehn sehen, so sind in-
zwischen Tage vergangen zu denken. Steht dann der Täuf-
ling vor dem Gerichte, so müssen inzwischen wieder Tage
verflossen sein, in welchen gegen ihn die ordnungsmäfsige An-
zeige erstattet war, und er ordnungsmäfsig geladen und vor-
geführt werden konnte. Das ging im römischen Lehen seinen
geregelten Gang, und der Mime ist gerade der Biologe und
Realist. Genesius hebt hervor, wie er genau nach der Wirklich-
keit seine Mimesis eingerichtet habe (vgl. oben S. 93). Nicht
anders ist es mit dem Räubermimus. Da liegen zwischen dem
Anfang der Handlung, dem Entfliehen des Sklaven Laureolus,
und ihrem Ende Monate, vielleicht Jahre, und diesen ganzen
Zeitraum umspannen die Scenen dieses Mimus. Auch die Ehe-
bruchsstücke haben schwerlich die Zeit des Geschehens auf einen
Tag zusammengedrängt.
Von der Einheit der Handlung im Mimus verlohnt sich
kaum zu reden. Wir müfsten wenigstens eine Hypothese völlig
erhalten haben, um ein Urteil fällen zu können. Jedenfalls
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 569
werden wir uns den Zusammenhang der Scenen ziemlich locker
vorzustellen haben, wenn auch die Führung der ganzen Handlung,
die dramatische Verknüpfung, nach Plutarchs Ausdruck, eine
folgerichtige und genaue gewesen ist, ähnlich wie in der vor-
nehmen Komödie '). Wenn Cicero meint, sobald die Mimen nicht
mehr recht weiter wissen, so läuft einer schnell fort und die
anderen ihm nach, worauf dann die Klappern zum Zeichen des
Schlusses ertönen und der Vorhang aufgezogen wird (vgl. oben S. 64,
Anm. 1), so haben wir hier wohl eins von den kleinen extempo-
rierten Mimenstücken vor uns, die zum Schlufs der Vorstellung nach
Tragödien oder Komödien als Exodien gegeben wurden, wesshalb
man die Mimen auch exodiarii nannte (vgl. unten S. 604, Anm. 4).
Nichts aber kann den bewufsten Bruch des grofsen mimischen
Dramas mit der sogenannten klassischen Überlieferung des Hel-
lenismus so deutlich machen, wie die eigentümliche Form, in die
der Mimograph sein Drama kleidet, in dem Prosa, Iambus und
die lyrischen Mafse der Mimodie mit einander wechseln. Aus
Mimodie und Mimologie erwuchs im alexandrinischen Zeitalter
die Hypothese. Die Mimodie ist in lyrischen Mafsen gehalten,
die Mimologie ist Von vornherein Prosa. Noch Sophrons Mimo-
logie ist prosaisch, wenn diese Prosa auch schon rhythmisch
stilisiert wird. Noch des Herondas Hinkiamben stehen der Prosa
nahe genug. So sollte denn eigentlich im mimischen Drama
Prosa und Lied wechseln, und die Prosa hat jedenfalls in der
mimischen Hypothese eine hervorragende Rolle gespielt. Wir
haben oben (S. 87 Anm. 3, S. 95 Anm. 2, S. 97 Anm. 1) die aus
dem Mimus des Genesius erhaltenen Stellen angeführt; es ist die
reine Prosa. Allerdings ist dieser Mimus wohl im grofsen und
ganzen extemporiert gewesen. Aber auch die römischen Gram-
matiker überliefern mancherlei Stellen aus Laberius, die durch-
aus prosaisch sind und nur durch allerhand Umstellungen und Ver-
änderungen in metrische Form gebracht werden können. Ribbeck
hat sich dieser sehr undankbaren Mühe mit Eifer unterzogen
]) Ich erinnere an Quintilians Wort: ductus rei credibüis, qualis in
comoediis etiam et in mimis. (IV, 2, 53.)
570 Sechstes Kapitel.
und so die Prosa aus dem Mimus mit Mühe und Not heraus-
korrigiert1). Grysar hatte ja dem Mimus die Prosa abgesprochen,
also mufste man eben korrigieren und emendieren.
Die Worte, die Nilus aus dem Mimus des Philistion „Der
Negromant" überliefert hat, sind Prosa2). Dio Chrysostomus
bestätigt ausdrücklich, dafs die Mimographen damals bald in
Prosa, bald in Versen sprachen3). Vor allem redeten die Narren
im Mimus gerne in Prosa, wie sie es so possierlich auch in
Philistions Philogelos thun. >
Die Mimologie ist eben ursprünglich durchaus prosaisch;
das beweisen Sophrons Mimen. Je mehr wir nun die Kontinuität
in der mimischen Entwickelung erkennen, um so begreiflicher
mufs es uns erscheinen, dafs die Prosa im Mimus ihr angestammtes
Recht behielt. Schon Orelli wollte für den römischen Mimus
Prosa feststellen4). Aber er dachte nur an die extemporierten
Stellen, und so brachte Grysar diese richtige Auffassung, die nur
thöricht begründet war, fcum Schweigen mit der Erklärung: die
improvisierten Stellen hätten ja garnicht in den Exemplaren der
Mimen des Laberius gestanden5). Um so mehr freue ich mich,
!) Ein Beispiel dafür siehe oben S. 286, Anm. 1.
2) Vgl. oben S. 204, Anm. 1 und S. 432.
3) Oratio II de regno 56 Emp. : dklct nävxa xd xoiavxa nqwxov fikv
xal fidkiöxa ixßaXdv cog no^wxdxto xal dnoniiityai xr\g avxov ipv%rg, tntixa
xijg ßaocXevovotjg noXfwg' ytXtoxdg xe dxQUxovg xal xoiovxov yiXoixog noiyxdg
fiixd axwfjLfiäxcov (die Mimographen) ^(xixQovg xal dfiixQovg.
4) P. Syri et aliorum sententiae, praef. p. X.
5) Vgl. auch a.a.O. S. 263: „Doch kommen einige unter diesen Bruch-
stücken vor, die, wenn man auch eine teilweise Corruptel in denselben voraus-
setzen will, ursprünglich die Form von Versen schwerlich gehabt haben. Z. B.
Non. s. v. colustra: Siquidem mea colustra fretus terris studere fecisset sumere
aquam ex fönte, oder Non. s. v. proltibium: Quo quidem me a matronali pudore
prolubium meretricis progredi coegit. Dafs die solche Stellen citierenden Gram-
matiker durch Auslassungen einzelner Wörter, Transpositionen u. a. die Form
derselben verändert und es uns dadurch unmöglich gemacht haben, den Vers
herauszufinden, ist wohl das Wahrscheinlichste". Nun, Ribbeck hat hier
die Verse herausgefunden; wie sehr er dabei besonders die erste Stelle ver-
gewaltigt hat, sehe man Fr. Com. Rom. 2, Laberius Virgo II u. Frag. Trag.
Rom. 2 Naevius Lycurgus XVII.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 57 1
dafs Hirzel neuerdings in seiner so verdienstvollen Geschichte
des Dialogs sich gegen die ebenso unhistorische, wie unkritische
Leugnung der Prosa im römischen Mimus erklärt hat1).
Von dieser Prosa des Mimus, in dem die Volkssprache vor-
herrschte, mit ihren niederen, burlesken Vergleichen, ihren selt-
samen Redensarten und Sprichwörtern werden sich um so mehr
die lyrischen Partieen abgehoben haben, die Mimodien mit ihrer
gehobenen Sprache, mit ihrem nicht selten tief erregten Gefühl.
Für eine Arie, wie etwa „Des Mädchens Klage" oder selbst die
mythologisch-parodische Mimodie in den „Fröschen", die schön in
einen mythologischen Mimus passen würde, sind prosaische Rüpel-
scenen und Rüpelspäfse ein merkwürdiges Relief. Es war gewifs
ein Fortschritt, als die mimische Hypothese sich entschlofs, diese
prosaischen Partieen mit den lyrischen durch iambisch-metrische
Stellen zu verbinden. Hier wirkt eben auf den Mimus das
vornehme iambische Drama ein, dessen Einflufs er sich um so
weniger entziehen konnte, als die eine Hälfte des klassischen
Dramas, die Komödie, direkt auf dem Boden des Mimus er-
wachsen ist
So haben schliefslich vielleicht die metrischen Partieen die
prosaischen überwogen. Der Prolog, den jeder Mimus hat1),
war durchaus, wie der des klassischen Dramas, in Iamben ge-
halten. Ich setze zum Beleg den berühmten Prolog des Laberius
in der Wielandschen Übersetzung hierher:
Die Noth, ein Strom, den viele durch entgegenschwimmen
zu überwinden schon versuchten, wenige
vermochten, wohin hat sie beynahe noch
in meinen letzten Augenblicken mich gebracht?
J) Vgl. a. a. 0. 1, S. 437 u. 438.
a) Ich hahe dafür oben S. 214, Anm. 5 n. S. 215 das Zeugnis des Choricius
gegeben und will hier noch eine Stelle aus Isidor. orig. Hb. XVIII, Cap. XLIX.
hinzufügen : De mimis. Mimi sunt dicti Graeca appellatione, quod rerum humana-
rum sint imitatores. Kam habebant sxcum actorem, qui antequam mimum agerent,
Jabulam pronuntiaret. Naan jabulae ita componebantur a poetis, ut aptissimae etscnt
motui corporis. Die pronuntiatio fabulae bedeutet eben den Prolog.
572 Sechstes Kapitel.
Mich, den nicht Ehrgeitz, noch Gewinnsucht, keine
Gewalt, kein Ansehn, keine Furcht in meiner Jugend
aus meinem Stande heben konnte, seht
wie leicht der grofse Mann durch gnädige
zu sanften Bitten herzgewinnend sich
herunterlassende Beredungen
im Alter mich aus meiner Stelle rückte!
Doch ihm, dem selbst die Götter nichts versagen konnten,
wie hätt' ich blofser Mensch ihm etwas abzuschlagen
geduldet werden können? So geschah es dann,
dafs nun nach zweymal dreyfsig ohne Tadel
verlebten Jahren ich, der meinen Heerd
als römscher Ritter eben itzt verliefs,
nach Haus als Mimus wiederkehren werde.
Um diesen einz'gen Tag hab' ich demnach
zu lang gelebt! 0 du im Bösen wie im Guten
unmäfsige Fortuna, wenn es ja
dein Wille war, des Ruhmes Blume, den
die Musen mir erwarben, abzuknicken,
warum nicht lieber damals, da ich noch
in frischen Jahren grünte, noch die Kräfte hatte
dem Volk und einem solchen Mann genug zu thun?
o! warum beugtest du nicht lieber damals mich,
da ich noch biegsam war, um meine Zweige
zu schneiden? Jetzt wozu so tief herab mich drücken?
Was bring ich auf den Schauplatz? etwa Schönheit, Anstand,
muth volle Kraft des Geistes, Reiz der Stimme?
Ach! wie dem Baum der Epheu durch Umarmen
das Leben raubt, so hat das Alter langsam mich
umschlingend ausgesogen, und gleich einem Grabe
behielt ich von mir selbst nichts als den Nahmen1).
!) Horaz' Satiren übersetzt von Wieland, Teil I, Leipzig 1804, S. 296 folg.
Jedenfalls ist dieser Prolog nicht vollständig erhalten, es fehlt die pronuntatio
fabulae, die der Dichter bei allem Eingehen auf seine persönlichen Verhält-
nisse sich nicht schenken durfte.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 573
Als weiteres Beispiel für den Iambus im Mimus möge die be-
rühmte Stelle über den Luxus der Römer aus einem Mimus des
Syrus dienen:
Massloses Schwelgen hat der Römer Mark verzehrt.
Für eure Gaumen mästet man im Stall den Pfau,
Dess Kleid dem bunten babylonischen Teppich gleicht;
Für euch Kapaunen und Numidiens Hühnervolk.
Der hochgebeinte Klapperstorch sogar, der Gast
Aus Süden, der so brav die Kindespflicht erfüllt,
Der Feind des Winters, der als Frühlingsbote kommt,
Mufs nisten jetzt im Tiegel schnöder Schlemmerei.
Wozu gibt Indiens Muschel theure Perlen euch?
Damit sogar mit des Meeresgrundes Schätzen sich
Für ihren Buhlen schmück' ein ehrvergessnes Weib!
Wozu begehrt ihr der Smaragden grünen Schein?
Wozu karthagischer Steine rothe Feuergluth?
Gibt Ehrbarkeit denn im Karfunkelglanze sich kund?
Und sollen Frau'n sich' kleiden dürfen in dünnen Flor?
Wie nackt in ganz durchsichtiger Hülle stehn zur Schau?
(Friedländer, Übersetzg. v. Petrons Cena Trimalchionis.)
Wir besitzen sonst noch eine längere iambische Stelle aus
dem r Seiler" des Laberius. Dort erklärt ein geiziger Vater: wie
sich einst der Philosoph Demokrit durch einen in der Sonne
blitzenden Schild geblendet habe, um nicht die Schurken im
Glücke zu sehn, so werde er sich durch den steten Anblick
seines blanken Geldes davor bewahren, seinen verschwende-
rischen Sohn schlemmen zu sehn '). Diese Rede ist durchaus in
') Ich setze die Verse hierher:
Democritus Abderiies physicus philosophus
Clipeum constituit cotUra exortum Hyperionis,
Oculos effodere vi posset splendore aereo.
lta radiis sali* aciem efod.it luminü,
Malis bene esse ne uideret ciuibus.
Sic ego ßdgentis splendorem pecuniae
Volo elucißcare exitwn aetati meae.
Ne in re bona esse uideam nequam filium. 72 folg. R.
574 Sechstes Kapitel.
ernsthaften und würdigen Ausdrücken gehalten. Ich erinnere
auch an die gröfseren, zusammenhängenden Stellen, in denen
Philistion sich im Wettstreit mit Menander über die Pflicht die
Eltern zu ehren, über die Nichtigkeit aller irdischen Pläne,
über das Regiment der Herrin Tyche und ähnliche, ernste
Dinge ausläfst. Überall herrscht ein würdiger Ton. Ob nun
diese ernsthaften Verse wirklich von Philistion herrühren, ist
unsicher, zum mindesten aber glaubte man damals, dafs sie
durchaus dem Tone des philistionischen Mimus entsprächen1).
Desgleichen waren, wie wir sahen (vgl. oben S. 69 — 78, 432
— 435), die zahlreichen Sentenzen, mit denen der Dialog im
Mimus durchwoben war, zugleich in schöner und vornehmer
Sprache gehalten, sodafs sie, wie Seneca sagt, jeder Tragödie
Ehre gemacht hätten. Die zahlreichen, erhaltenen Aussprüche
des Publilius Syrus gestatten hier ja noch ein ganz zuver-
lässiges Urteil. So konnte auch Hieronymus die elegante Aus-
drucksweise der Mimographen Marullus und Lentulus loben
und ebenso Marius Mercator, wenn auch ironisch, von der ele-
ganten Art sprechen, mit der Bischof Julianus, der Pelagianer,
nach der Weise der Mimographen scherze. Darum konnte man
auch finden, dafs Philistion, der Mimograph, Klassiker wie
Martial und Petron bei weitem übertreffe (vgl. oben S. 474
und 475).
Die frechen, volksmäfsigen und obscönen Redensarten im
Mimus sind dagegen immer nur in ein oder zwei, höchstens drei
Versen überliefert. Sie machen allerdings den Hauptbestandteil
aller Fragmente aus, weil die Grammatiker, die sie überliefern,
die Mimen vornehmlich nur als ergiebige Jagdgründe für wunder-
liche Volksausdrücke betrachteten. Aber gerade nach diesen
Brocken hat man thörichter Weise die Sprache im Mimus über-
haupt beurteilt, als wenn man aus den Rüpelspäfsen und Rüpel-
scenen bei Shakespeare die niedrigsten und gemeinsten Ausdrücke
zusammenstellen und danach allein die Shakespearesche Aus-
*) Vgl. oben S. 441, Anm. 1.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 575
drucksweise und überhaupt das Shakespearesche Drama beur-
teilen wollte1).
Wie die Formen der Rede im Mimus sich von der Niedrig-
keit bis zur Erhabenheit erheben, so mengt er auch die Per-
sonen des Lebens merkwürdig durcheinander. Es treten alle
menschlichen Typen auf vom Rüpel bis zum Kaiser, ja bis zum
Gotte. Gewifs verweilt der Mimus gerne in den Niederungen
des Lebens. Da zeigen sich allerhand Bettler, Gauner, Diebe,
Beutelschneider und sonstiges Lumpengesindel, Höker und Höke-
rinnen, Kneipwirte, Ammen, Unteroffiziere, Bordellwirte und
Bordellwirtinnen, Handwerker, kurz alle Typen der niedrigen
und niedrigsten Volkskreise haben im Mimus eine Freistatt.
Vielfältig weisen die Mimentitel des Laberius auf die niederen
sozialen Schichten hin, so „Der Walker", „Der Fischer", „Der
Färber", „Der Seiler**, „Der Salzverschleifser", „Die Hetäre"2).
Aber wir haben Cyprian klagen hören, dafs diese frechen
Mimen keineswegs mit ihrer Ethologie und Biologie blofs die
niederen Stände geifseln, sondern selbst vor den Standespersonen
nicht Halt machen. Alle Stände, alle Kreise des socialen Lebens
hecheln sie durch3).
In der That ist der cultus adulter gewifs ein vornehmer
junger Herr, etwa wie Delphis, der bei Theokrit Simaetha verführt,
oder wie der Jüngling, an den „Des Mädchens Klage" gerichtet
ist, der mit Herr (xvqu) angeredet wird*). Die junge Frau, an
die sich im Ehebruchsmimus der Buhle heranmacht, ist, wenn
keine vornehme Dame, doch eine anständige Bürgerfrau, die eine
Zofe (cata carissa) hat, und deren Ehemann über reichliche Diener-
schaft verfügt, mit deren Hilfe er den Ehebrecher fängt. Der
l) Vergleiche die Ausführungen über die mimische Pöbelsprache in
dem Kapitel: Sokrates, der Ethologe u. s. w. S. 353 folg., S. 395 folg. und
die Aufzählung volksmäfsiger Ausdrücke des Laberius bei Gellius (oben
S. 395, Anm. 2).
a) Siehe die Aufzahlung der mimischen Typen oben S. 468 und 469
und S. 240, 241.
3) Vgl. oben S. 123.
*) Vgl. darüber Wilamowitz a. a. 0. S. 222 u. 223.
576 Sechstes Kapitel.
Vater, der so beweglich über die Verschwendungssucht seines
Sohnes bei Laberius klagt, ist zum mindesten ein angesehener,
wohlsituierter Bürger. Ausdrücklich wird für den Mimus der
reiche Banquier, der gelegentlich zum Bankerotteur wird, der
dives und dives fugitivus, bezeugt. In den Gerichtsscenen er-
scheinen vornehme Amtspersonen auf der Bühne, selbst Könige
und Kaiser treten mit grofsem Gefolge im Mimus auf1). Auch
x) So berichtet Philo, bei der Judenverfolgung in Alexandrien zur Zeit
Caligulas hätte der Pöbel einen armen Narren, dessen Thorheit nicht bösartig
war, Namens Karabas, um Agrippa, den Enkel des König Herodes, zu ver-
höhnen, in wunderlicher Weise als König herausgeputzt, mit einer papierenen
Krone, mit einer Lumpendecke als Königsmantel, und einem Papyrusstengel
als Scepter. Und wie einen König im Mimus hätten ihn Jünglinge mit Stäben
auf den Schultern wie Trabanten als Gefolge umgeben. Dann hätte man ihm
gehuldigt und Recht und Gericht von ihm verlangt. Und die Menge hätte ihn
als „Maris", wie nach ihrer Meinung „König" auf syrisch hiefs, begrüfst.
Dieser Narr und König im Mimus Karabas erinnert seltsam an die Scene aus der
Bibel, da die Kriegsknechte Christus zum Hohn als König verkleiden und ihm
als der „Juden König" huldigen. Ich setze diese wichtige Belegstelle hier-
her (in Flaccum § 6): "*Hv Tig /ue/urjvtog ovofia Kagaßäg, ov ri]V ayolav xai
&T}Quö$ri (laviav — aaxr\nxog yao avrrj ys xai Tolg l/oufft xai ToTg nh\Giät,ovGiv
— dXXd ttjv ävHfxivrjV xai /j.aXaxwTt'gav. Oiiog dtrjfxioeve xai SiEVvxTiqevt
yv/xvbg iv Talg odoig, ovts fhäXnog, ovts xqvfxbv ixTgenöfisvog, d&VQ/na vr^nibiv
xai' fieiQaxitav o%oXaC6vT(ov. J£vvsXä<TavTeg tov ä&Xiov a/Qi tov yvfxvaalov, xai
OT^aavTtg (AtTS'coQOV, Iva xa&OQÜTo nqog ndvrcov, ßvßXov fxkv svQvvapisg dvri
diadfj/uaTog iniTi&iaaiv avTov ttj x€(paXrj, %anaiGTQWT(a de to aXXo a<Zuu
negtßdXXovaiv dvTl %Xa[j,vdog, ccvtI de GxrpiToov ßga%v ti nanvgov Tfir\^ia ifjg
§y%o)Q(ov xafr' odov i^gifxfxivov IdovTeg dvadidoaffiv. 'Enel de tag iv deaTQixoig
[xtfiotg Tti nagdarjfxa r% ßaoiXeiag dveiXruptv, xai diexexoGfitjTo eig ßaGiXia, veavCat
qaßdovg inl tiov ä>(i(av {fioovTeg dvil Xoyxoupogwv ixaTiocü&ev eloTrjxeoav,
[iifzovfievoi doovipooovg, el&' stsqoi ngogrjeaav, ol fiev wg danaaofievoi, ol de
w? dixaaöfxevoi, oi d' wg ivTev£ö[xevoi negl xotvwv ngayfiÜTtav. Eit' ix negi-
eOTüiTog iv xvxXm nXrj&ovg i^/si ß°V Tt? aTonog Mägtv dnoxaXovvTtav. OvTcog
di (faotv tov xvqiov ovo/uäfeo&at nagd Zvgoig' rjdetoav ydg Idyginnav xai
yivei, 2vgov, xai SvgCag /ueydXrjV dnoTOftijv e^ovra, fjg ißaolXevae. Doch darf
man nicht annehmen, weil die Volksmenge den Narren mit von der Gasse
aufgerafftem Aufputz zierte, sei auch der König im Mimus ebenso ärmlich
ausstaffiert gewesen. Sehr wichtig ist jedenfalls das Zeugnis, dafs der König
auch im Mimus mit grofsem Gefolge auftrat.
Gerichtsscenen bezeugt uns für den Mimus wieder Philo. Als er von
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 577
zeigen sich nach dem Zeugnis des Choricius im Mimus Rhe-
toreu, selbst Heroen fehlen nicht in ihm, Choricius nennt aus-
drücklich Hektor und Achill (vgl. oben S. 240). Im christo-
den Juden als Mitglied einer Gesandtschaft an Kaiser Caligula gesandt wurde,
der durchaus sein Standbild in den jüdischen Synagogen und besonders im
Tempel zu Jerusalem aufgestellt wissen wollte, da erinnert ihn die seltsame
Gerichtsverhandlung, die vor dem halbwahnsinnigen Kaiser stattfand, die
Art, wie die jüdische Gesandtschaft von den Feinden und Anklägern der
Juden und vom Kaiser, dem Gerichtsherrn, selber geschmäht und verhöhnt
wurde, an die Gerichtsscenen aus dem Mimus. Ein echt mimischer Spott
schien dem Juden in der Frage des Kaisers enthalten: warum die Juden
kein Schweinefleisch äfsen. Darüber lacht alles laut auf wie die Zuschauer
im Mimus. Aber, setzt der Jude etwas bösartig hinzu, die nächste Um-
gebung des Kaisers ärgerte sich, denn sie fürchtete, mau hielte ihn für ver-
rückt. Auch diese mimische Gerichtsverhandlung endigt schliefslich fröh-
lich, wie ein Mimus endigen soll, der Kaiser entliefs die Juden, die ihm
mehr als Narren wie als Bösewichter erschienen, ungekränkt. Vgl. Philo, De
leg. ad Caium § 45: Ehu rtutig tluvwiftipot mtor^olovS oi utv iiroj xüiw,
xaxuy).tvcuöut\oi xai xtoTouoiutvoi ngbg tüv anmäXuiv, tbg iv ötaTQixoTg
uiuoig. Kai yäo rb ngäy/uu uiutu tig r^v. 'O fitv dixuortjg urtilr^n aj^ijua
xciTTjyÖQov, ot Se xarrjyogoi qavXov dixaorov ngog t/Sony anoßXinovrog, aXV
ov ttjv ifvoiv jfji aXr]9tiag .... 'Enit dk tvta tcjv ntgi rag oixoSouitg <fifT«£«ro,
ufytoiov xai Ofuior fuu)T7tua r;QWTa, uAük ti yoigtiwr xgtwv ant/fo&t"; Jhti.iv
ngog it\v ntvaiv yiXtug Ix rwr aritöi'xarv xctTfggayr) looovTog, rjj fxiv rjäouitwi;
t;~ dt xul intTTjdtvovTtov tvtxa xoXaxtiag, intg rov 16 Xt%&iv öoxtiv aiv liirga-
Tni.itt xai /«0117 elnrfi&ai, äg xtvag tüv inouivaiv avitjj deoanöriwr ayaraxitiv
ini t$ xaT€t(foovt]Tix<og $xliV avjoxgantogog, .... Totavia <fXvagT)9£rTtg xai
xaraxtQTouT]&irT(g iv äfit^ävoig ^fxtv, tha 6\p( noit nagaatrsvguivwg „BovXo-
fit&a /ua&tu", ttfrn ,,tA» ygfja&i ntgi rfjg noXntiag Jtxatotg" .... 'O öi Xaßtäv
oIxjov «j^utüv, Totnti rov dvfibv avrov ngog ti.tov ....
Es ist merkwürdig, wie oft sich dieser ernst gesinnte Jude an den
Mimus erinnert fühlt, dem er doch innerlich, rumal die Juden im Mimus
häufig verspottet wurden, durchaus feindlich gegenübersteht. Bei Hausrath,
Neutest. Zeitgesch. III, 76 heifst es : rRabbi Abahu beklagt sich, welch ge-
ringer Aufwand von Witz nötig sei, um das Theater zum Lachen zu bringen,
wenn nur auf die Juden gestichelt werde". Es handelt sich natürlich um
den risus mimicus und um den Mimus. Philo geht es hier ähnlich wie den
Kirchenvätern; der Mimus übte eben über Feind und Freund gleichmäfsig
seine dämonische Macht. Vgl. z. B. Philo in Flaccum § 9: Kai ot /uiv kut«
ögwneg wantg iv roTg &tui gi xotg uiuoig xadintxüCiovTo 101g näa^ov-
iKi' § 10: xai 6gyr,atai xai uiuoi xai avXrjTai. De leg. ad Caium § 7:
Reich, Slimns. 3-
578 Sechstes Kapitel.
logischen Mimus erscheinen Presbyter und Exorcisten, ja der
Bischof und in den Gerichtsscenen der kaiserliche Gerichtsherr,
der römische Statthalter, ja der Kaiser selbst, wie z. B. im
Mimus des Genesius.
Gegen diese vornehmen Herren mögen dann allerdings die
mimischen Lumpen und Narren, Gauner und Beutelschneider
recht seltsam abgestochen haben, umso seltsamer, als die vor-
nehmen Personen in stolzen Jamben und in der vornehmen
Umgangssprache gesprochen haben, die niederen Figuren aber
in der gewöhnlichen Volkssprache und mancherlei Volksdialekten
oder gar dem wunderlichen Jargon der Gasse.
Vor allem hat man bei der Überzeugung von der Niedrig-
keit des Mimus sich auch gänzlich falsche und vor allem viel
zu niedrige Vorstellungen über die Kostümierung der Mimen
gemacht. Weil Apuleius ausdrücklich dem Mimus den centun-
culus, den aus bunten Lappen zusammengeflickten Hock, zu-
weist1), so meint Grysar, die Personen des Mimus hätten ihn
durchgängig getragen und ebenso noch einen kurzen Überwurf
über dem centunculus, eine Art viereckiges Umschlagetuch, das
nach hinten zurückgeschlagen wurde, das Blcinium2). Das alt-
modische Ricinum aber gebührt wohl im wesentlichen nur den
greulichen alten Weibern im Mimus, zumal der cata carissa,
wenn sie alt war. Den Centunculus trägt wohl nur der Narr
im Mimus, der auch vornehmlich der Träger des Phallus ist.
Vor allem ist sein Haupt bis auf die Haut rasiert: daher der
rj ln\ (jiifxoig al0XQ<i5v xal axwfifiäxtov, fit} vnofxttSitaVTa asfivörtQOV, ali.cc (iu-
QuxHüSiaTtQov xayxd&vra, es ist von Caligula die Rede.
*) Apologia XIII: si choragium ihymelicum possiderem, nunc ex eo argu-
mentarere, etiam uti me conMiesse tragoedi syrmate, histrionis crocota, mimi cen~
tunculof
2) Festus p. 274 — 276 : reciniwm . . . esse dixerunt vir{ilis) tog(a)e simile
vestimentum quo) mulieres utebantur, praetextum clavo purpureo, unde reciniaü
mimi planipedes. Nonius s. v. Bicinium quod nunc Mafurtium dicitur, palliolum
femineum breve. Varro, L. L. V, 132: antiquissimis amictui ncinium. Id quod
eo utebantur duplici, ab eo quod dimidiam partem retrorsum iaciebant, ab reiicien-
do ricinium dictum. Serv. Aen. I, 282: togas etiam feminas habuisse cycladum et
recini usus ostendit.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 579
Ausdruck tuwQ6g (falaxQÖg, mimus calvus oder einfach calvaster.
Auf diesem kahlen Kopf sitzt eine kleine spitze Mütze, der apex,
daher der Ausdruck apiciosus für den mimus calvus'). Zwei
solcher kahlen Narren mit dem spitzen Narrenhut stellen zwei
römische Bronzen dar. Es sind höchst groteske Gesichter mit
recht grofsen Ohren, wie sie auch der mittelste Mimologe auf
der S. 553 u. 554 besprochenen Terracotta aus Athen zeigt. Der
eine schleppt sich mit einem grofsen Baumast, der andere singt
zu der Guitarre ein Schelmenlied, das er mit unglaublich dummem
Mienenspiel begleitet'). In der Hand führt der Narr im Mimus
nicht selten eine lederne Narrenpritsche oder noch häufiger ein
Prügelholz (vgl. oben S. 114). Wegen der Schläge, die er un-
aufhörlich erhält, wird er alopus (von alapa) genannt (vgl. oben
S. 448).
Also die Narren im Mimus hatten eine besondere, phan-
tastisch-burleske Narrentracht wie der Harlekin und Pulcinell im
») Vgl. oben S. 448 u. 449.
2) Bei Babelon et Blanchet a. a. 0. S. 427. Ich gebe die Schilderung.
No. 967 (S. 427): Saltxmbanque nu, debout. II est itnberbe; sa Ute, qu'il penche
en avant d'un air grottsque. est completement rasee et eouverte (Tun petit bonnet
conique. Son cou et ses or eitles sont demesurement long»; il porte sur sa poitrine
un collier orne" d'une bulla. De la main gauche, tendue de cöte, ü s'appuie sur
vne brauche d'arbre tordue (cep de vignet). L'arant-bras droit est mutile. Travail
de l'ipoque romavie. No. 968 (S. 427): Saltimbanque nu, debout, jouant de la
cithare. II est imberbe; sa tite, qu'il penche en avant et h droits, d'un air grotesque,
est rasee et eouverte d'un petit bonnet conique. Son cou et ses oreiües sont deme-
surevient längs. II porte a son cou un collier orni dune bulla. De la main
gauche, il tient sa cithare appuyee contre sa poitrine. La main droite et les pieds
manquent. Travail de l'epoque r omaine.
Vor allem findet sich auf einem Cornetanischen Grabgemälde ein echter
mimischer stupidus. Ich gebe die Beschreibung von E. Brizio: Ha la figura
pih interessante e quella ch' io credo d'un istrione, rappresentato nella mossa di
danza . . . Porta in capo un lungo beretto fatio a cono, diviso in tonte striscie verti-
cali e con la punta ornata d'un ßoechetto. Teste una giubba corta, stretta, scompartita
a molti quadretti che in natura doveano etsere di molti colori, ma che il pittore si
contentb d' indicare solamente con due. AI di sotto della giubba gli esce una specie
di tunica che le avvolge le natiche, e cammina come danzasse, agitando le braccia.
Tombe dipint. di Corneto, Roma 1874, p. 6.
37*
580 Sechstes Kapitel.
modernen Schauspiel; da aber die Narren dem Mimus ein be-
sonderes Charakteristikum aufdrückten, dachte man im Altertum
bei dem Aufzug des Mimen vornehmlich an diese typische Tracht.
Alle anderen Personen im Mimus trugen dagegen durchaus
die Kleidung des gewöhnlichen Lebens und erschienen je nach
dem Stande auch in vornehmen, und wenn Feste und Gastmähler
wie so häufig im Mimus gefeiert wurden, auch in prächtigen
Gewändern. Kaiser und Könige, Richter und Priester, Bischöfe
und Exorcisten erschienen mit allen Zeichen ihrer Stellung
und ihres Amtes. Vielfältig hatte der Aufzug der mimischen
Typen, vom Narren abgesehen, an sich nichts Burleskes. Aus-
drücklich sagt Choricius: warum man immer nur auf die Narren
im Mimus hinweise, mit ihren kahlen Köpfen und ihren Ohr-
feigengesichtern, und garnicht an die anderen Mimen dächte,
die ihr Haar lang wachsen liefsen und niemals Ohrfeigen ein-
nähmen, sondern sie höchstens austeilten. Auch Johannes
Chrysostomus setzt den Mimen, die um Lachen zu erregen sich
entstellen und sich den Kopf rasieren, die jungen Mimen gegen-
über, die ihr Haar lang wachsen lassen und in Miene und Haltung,
Tracht und Putz geradezu weibische Anmut zeigen und etwas
fast mädchenhaft Zartes an sich haben '). Gegenüber den an-
mutigen jungen Mimen, die offenbar die Rolle des Liebhabers zu
vertreten hatten, erinnern wir uns an die Vertreter dieser Rolle
in der italienischen Volkskomödie, besonders an Lelio, Flavio,
Cinthio, Ottavio. Diese erscheinen auf den Abbildungen bei Sand
überall nach der letzten Mode gekleidet, mit Spitzen, Bändern
und Federhüten und mit langwallendem Haar2). Wir haben uns
ähnlich den Liebhaber im Mimus in prächtigem, fast stutzerhaftem
») Vgl. oben S. 117.
a) Siehe a. a. 0. die Abbildungen des Orazio (I, S. 300), des Ottavio
(I, 335), des Lelio (I, 337), des Leander (I, 347). Vgl. auch die Beschreibung
Cinthios bei Sand a. a. 0. I, S. 332: nous le voyons, dans les rbles d'amoureux,
habilli comme les jeunes gens de la fin du dix-septieme siecle, avec la grande per-
ruque ä la Louis XIV, le rabat de dentelles, la veste et Vhabit longs de taille et
temblable h un fourreau, Vicharpe sur les hanches, et le chapeau rond, aux bords
im peu releves, entotires de plumee.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 581
Aufzuge zu denken, und durchaus nicht in dem bettelhaften
Kostüm, in dem Grysar sich alle Mimen vorstellte. Das sind
die mimischen Weichlinge, von denen Arnobius redet, die er ge-
legentlich auch Cinaeden schilt. (Vgl. oben S. 112, 117.)
Bei Ovid heifst der geschniegelte Liebhaber, der, wie der
Dichter hervorhebt, unablässig im Mimus auftritt, bezeichnender
Weise: cultus adulter1). Martial malt, wie wir oben (S. 59) sahen,
den verliebten, eleganten Stutzer mit den zahllosen Fingerringen,
den galanten Schwerenöther mit den Farben des Mimus.
Ja selbst die feierliche Tracht des römischen Bürgers, die
Toga, war im Mimus ganz gewöhnlich. So spricht Cyprian
von den betrogenen Ehemännern in der Toga im Mimus2). Nun
machte aber den betrogenen Ehemann gewöhnlich der stupidus,
der mimus calvus, also nicht einmal für den Narren war der
centunculus unter allen Umständen verbindlich. Wenn er als
christlicher Glaubensheld erscheint, wird er anstatt des Harlekin-
kostüms mit den weifsen Kleidern der Getauften angethan. Ich
erinnere für den Aufzug der Mimologen auch an die oben S. 554
besprochene Terrakotte. Die drei Mimen tragen dort durchaus
die Kleidung des bürgerlichen Lebens; ihre Tracht ist weder
niedrig noch burlesk. Der Jüngling mit seinem wohlfrisierten
Haar macht sogar einen etwas stutzerhaften Eindruck.
Denken wir an den Aufzug der Miminnen. Gewifs werden
die dickbäuchigen, trunksüchtigen alten Hexen, die Kupplerinnen,
Kneipwirtinnen, Mägde, Wahrsagerinnen, wie es ihrer Rolle ent-
spricht, im ärmlichen Aufzuge, eben mit dem altmodischen dürf-
tigen Umschlagetuche, dem Ricinium, erschienen sein. Aber die
Vertreterinnen der weiblichen Anmut, die das Gegenstück zu
dem jugendlichen Liebhaber bilden, die zierlichen, jungen Ehe-
frauen, die verliebten, jungen Damen, die Bürgerfrauen und die
Damen der Aristokratie traten im höchsten Putze auf. Sie trugen
kostbare, bunte, strahlende, seidene Kleider, trugen Juwelen, Perlen
und Gold. Wir haben Chrysostomus schelten hören, dafs das Herz
>) Vgl. oben S. 52, 90, 544.
a) De spect. VI. Vgl. oben S. 123.
582 Sechstes Kapitel.
des Armen mit Neid erfüllt wird, wenn er diese Miminnen in
ihrem strahlenden Putze auf der Bühne sieht und daran denkt,
dafs sein ehrbares Eheweib nichts dergleichen hat. Dieser Feind
des Mimus kann sich mit seinen Schmähungen über den Glanz
und die Pracht, welche die Miminnen im Theater entfalteten,
garnicht genug thun1). Die Mime Pelagia erhielt von ihrem
von Juwelen und Perlen funkelnden Aufzuge den Bühnennamen
Margarito (vgl. oben S. 102 Anm. 2.)
Denken wir an den mythologischen Mimus. „Was willst du
mit deinen tragischen Versen und dem Prunkgewande des Tra-
göden?" fragt jemand im Mimus „Phormio" des Valerius 2). Also
trägt der Frager offenbar kein tragisches Prunkgewand, und auch
seine Sprache ist nicht gerade tragisch. Wir haben also eine
rechte Person des Mimus im Harlekinsrock, oder aber in der
Tracht des alltäglichen Lebens im Gespräch mit einer tragischen
Person. Der Mimentitel Ephebus (der junge Herr) bei Laberius
deutet an und für sich auf Typen des gewöhnlichen Lebens
hin. Dennoch redet in diesem Mimus offenbar ein Gott, ob es
nun Quirinus, Mars oder Juppiter selber ist: „Du bittest, ich
möchte der Zügellosigkeit und der Wollust der Römer ein Ende
machen". Und weiter redet der Gott: „Deswegen ist durch unsere
Hülfe die Herrschaft des Volkes in der Toga ausgebreitet wor-
den3)". In diesem Mimus mit dem streng biologischen Titel haben
sich also Personen des Mythus mit denen des ßiog gemischt.
Jedenfalls ist ein Mimus ohne den typischen „kahlen Narren"
eben kein Mimus; der durfte auch im Göttermimus nicht fehlen.
Dieser kahle Narr ist natürlich immer ein Mensch, so findet
sich Mensch und Gott vereint, wie etwa Xanthias und Dionysos
bei Aristophanes. Ebenso treten in der mythologischen Atellane
lj Vgl. oben S. 117 u. 118. 'Ich erinnere hier an den prächtigen Aus-
putz der Cantatrice im italienischen Volksdrama. Siehe die Abbildung bei
Sand a. a. 0. Bd. II, S. 53.
2) Quid hie cum tragicis vereis et syrma facis? Ribbeck, Frag. com.
Rom. II», S. 302.
3) Fragm. com. Rom. Ribbeck II2 S. 285. Lab. 42—45.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 583
wohl die typischen Atellanen- Figuren Bucco, Maccus, Pappus,
Dossenus, zusammen mit Heroen und Göttern auf.
Da finden wir nun auf einem Elfenbeindiptychon mit sceni-
schen Bildern, das zur Feier des Konsulatsantritts des Anastasius
im Jahre 517 n. Chr. verteilt wurde, auf dem unteren Streifen
der linken Platte drei Figuren im tragischen Kostüme mit lang-
wallenden Prunkgewändern, mit Maske und grofsem Aufsatz
darüber, auf die von links her vier Mimen ohne Maske und in
der Tracht des alltäglichen Lebens zueilen. Unter diesen Mimen
wird besonders die Figur des Glatzkopfes, des eigentlichen mimi-
schen Narren, des ficoQog (fcdaxQÖg, des mimus calvus deutlich ').
Es ist kein Grund anzunehmen, die auf einem Bilde eng ver-
einigten Gruppen stellten einerseits einen Mimus, andererseits
eine Tragödie dar2); diese Tragöden und Mimen spielen zusammen
eine mimische Tragödie, oder besser einen mythologischen
Mimus3). Im sechsten Jahrhundert wurden ja auch kaum noch
Tragödien aufgeführt.
x) Diptychon Bituricense in Paris auf der Nationalbibliothek, vgl.
W. Meyer, zwei antike Elfenbeintafeln der K. Staatsbibliothek in München
Nr. 14, S. 67. Vgl. auch Gori Thesaurus veterum diptychorum tom. I,
tab. XII. Siehe die wohlgelungene Abbildung bei Dieterich, Pulcinella S. 221.
2) Dieterich a. a. 0. S. 220.
3) Auf einer Vase der Hamiltonschen Sammlung (Tischbein, Collection
of engraving3, from ancient vases of Sir Hamilton H, Tafel 57, danach die
verkleinerte Abbildung bei Dieterich a. a. 0. S. 239) sieht man einen jungen
Helden mit Speer und Schild. Er ist durchaus wohlgestaltet an Körper
und Gesicht. Nur seine Kopfbedeckung ist sonderbar mit Hahnenfedern
verziert. Ihm folgt ein kurzer, dicker Diener mit burleskem Gesicht, dickem
Wanst und Phallus, mit Schild und Helm, der gleichfalls mit Hahnenfedern
verziert ist. Wanst und Phallus erweisen den Diener als Mimen, aufserdem
sind beide barfüfsig, es sind mimi planipedes. Auch fehlt beiden die Maske,
wie es sich bei dem Mimen gehört. Sehr gut erinnert Dieterich an Don
Quixote und Sancho Pansa. ^BWbti nat^ovaiv nöktpov ol piTuot sagt Cho-
ricius, das thut dieser wehrhafte Jüngling und sein Knappe sicherlich. Es
ist schade, dafs sich die Zeit des Vasenbildes nicht genau bestimmen läfst;
wäre es sehr früh, so müfste man an den italischen Mimus, den Phlyax
denken, aber die Zeichnung der Gesichter ist doch viel weniger burlesk, als
sonst auf den Phlyakenvasen, und die Phlyaken tragen meistens Masken,
obwohl, wie ich oben bemerkt habe, auch unmaskierte Typen vorkommen.
584 Sechstes Kapitel.
Sicherlich werden die Götter und Heroen des Mimus sich
sehr von ihrer tragischen Höhe herabgelassen haben. Nur wird
man gut thun, den mythologischen Mimus sich doch nicht etwa
im Stile einer modernen Offenbachiade zu denken. Für den
Hellenen bleiben die Götter auch in ihrer erniedrigten, ganz
und gar vermenschlichten Gestalt immer noch Götter, die sich
wieder zur Höhe des Ideals erheben können, und zu denen
er in dieser idealen Erhebung wieder gläubig zu beten ver-
mag. Auch in ihrer tollen Verwandlung in des Plautus Am-
phitruo, der latinisierten Rhinthonica, dem italischen Götter-
mimus bleiben Juppiter und Mercur immer noch Götter. Ähn-
lich steht es mit den Göttern und Heroen im burlesken Satyr-
drama.
So wird denn hier eine sehr starke Kontrastwirkung
zwischen den mythischen Heroen und den niedrigen mimischen
Personen, besonders den mimischen Narren, stattgefunden haben.
Wer an Modernes denken will, erinnere sich etwa an Shake-
speares „Troilus und Cressida."
Also der Mimus spielt durchaus nicht nur in den niedrigen
und niedrigsten Kreisen, im Gegenteil, er geht selbst bis in die
höchsten hinauf.
Wie das biologische Drama Volkssprache und vornehme
Sprache, niederes Volk und Vornehme vermischt und so durch
die sonderbarsten Kontraste wirkt, so verbindet es mit seinem
burlesken Humor auch hier und da den Ernst. Ausdrücklich
hebt Choricius hervor, es gebe Mimen, in denen der Ernst von
Anfang bis zu Ende vorwiege1). Da höre man Ehemänner ernst-
haft ihre Frauen ermahnen, auf Zucht und Ehre zu halten, oder
Rhetoren gingen einen Wettkampf in der Beredsamkeit ein und
dergleichen. In der That bestätigt das selbst der späte, alberne
christologische Mimus. Der Vorwurf im Mimus des Genesius ist
im Grunde ernst. Der stupidus verlangt ernsthaft nach der
Taufe, er redet ernsthaft im Tone des zerknirschten, reumütigen
Sünders. Taufe, Gericht und Hochgericht gehen sicher mit ihm
») Vgl. oben S. 214.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 585
ganz ernsthaft vor sich. Drollig wird die Sache nur dadurch,
dafs es eben der Dümmling ist, an dem alles das vorgenommen
wird. Und wenn der Räuber Laureolus vor Gericht geführt und
ans Kreuz geschlagen wird, so wird es schliefslich doch auch
blutiger Ernst.
Wenn der betrogene Ehemann schon zum Dolche greift,
schliefslich jedoch sein Recht vor Gericht sucht, so ist. wie
Choricius hervorhebt (vgl. oben S. 91), die Situation eigentlich
ernst genug, und nur weil zum Schlüsse doch nun einmal der
mimische Humor zum Rechte kommen soll, wird alles aus-
geglichen. Wenn Giftmischer im Mimus auftreten, wie Plutarch
berichtet, so wird die Sache auch ernsthaft.
Auch Totschlag und Mord waren im Mimus offenbar nicht
selten. Der Räuberhauptmann Laureolus ist ein Mörder, und
im Giftmischermimus sollte auch gemordet werden. So heifst
es im Epigramm auf Philistion, er sei schon oft gestorben —
nämlich auf der Bühne — , aber noch nie so — nämlich in Wirk-
lichkeit. Derselbe eigentümliche Ausdruck kommt im Grab-
gedicht auf die Mime Bassilla vor1).
Vergessen wir doch nicht, welch' ernste, ja strenge Biologie
uns in Herondas' Mimen entgegentritt. Die Lebensschilderung
ist dort so herb, ja nicht selten so bitter, dafs kaum für den
risus mimicus, den Humor, Raum bleibt. Ein wenig milder
und humoristischer ist schon die biologische Darstellung in den
Mimen Theokrits, und noch lustiger mag es in den mehr volks-
mäfsigen Mimen Sophrons zugegangen sein*). Aber die ernste
Auffassung dieser mimischen Biologie ist unverkennbar. Wir
haben allen Grund, von diesem biologischen Ernste viel bei
Philistion vorauszusetzen, der die Thoren so geschickt ihrer
Narrheit zu überführen wufste wie etwa Moliere den Tartuffe3).
Wie mit dem Burlesken das Ernste, so mischt sich im
Mimus mit dem einfach Biologischen, mit dem Platt-nüchternen,
dem Realistischen das Phantastische.
x) Vgl. oben S. 157 u. 158.
2) Vgl. darüber oben S. 376 folg.
8) Vgl. darüber oben S. 430, 431, 450; 451, 471.
586
Sechstes Kapitel.
Die Titel bei Laberius sind ja meistens aus dem realen
Leben1). Nach dem Titel „Der junge Herr" (Ephebus) zu
urteilen, sollte man nun glauben, es handele sich um einfache,
bürgerliche Verhältnisse, und doch tritt in diesem Stück, wie wir
eben sahen, ein Gott auf. Wenn wir aber an des Laberius „Lacus
Avernus" und die „Necyomantia" denken, so haben wir die Unter-
welt mit ihren Schrecken vor uns und zugleich argen Zauber
und Totenbeschwörung.
Überhaupt scheint der Mimus, selbst wo er rein biologisch
war und sich auf dem Boden der Wirklichkeit bewegte, das Be-
sondere, Seltsame und Erstaunliche bevorzugt zu haben. Da
wird ein Armer im Mimus plötzlich reich, wie Antonius, meint
Cicero, der sich in des Pompejus Vermögen einsetzt und es
durchbringt (vgl. oben S. 63). Reiche Leute machen Bankerott,
und der Millionär wird plötzlich zum Bettler. Das sind die divites
fugitivi (vgl. oben S. 71).
!) Ich setze sie in alphabetischer Reihenfolge hierher:
Alexandrea
Anna Perenna
Aquae Caldae
Aries
Augur
Aulularia
Belonistria
Cacomnemon
Gaetuli
Cancer
Carcer
Catularius
Centonarius
Colax
Colorator
Ribbeck (Rom. Dicht. I, S. 226) vermutet nach den Titeln „Der Widder",
„Der Stier", „Der Krebs", — er hätte noch weiter hinzufügen sollen „Die
Jungfrau", „Die Zwillinge" — Laberius habe die Mythen, welche sich an die
Zeichen des Tierkreises anschliefsen, in einer Folge von Mimen behandelt.
Bei der Vorliebe für den mythologischen Mimus, von der Ribbeck noch nichts
wufste, gewinnt diese geistvolle Vermutung eine hohe Wahrscheinlichkeit.
Compitalia
Parilicii
Cophinus
Paupertas
Cretensis
Piscator
Ephebus
Restio
Fullo
Salinator
Galli
Saturnalia
Gemelli
Scylax
Hetaera
Sedigitus
Imago
Sorores
Lacus Avernus
Staminariae
Late loquentes
Stricturae
Natal
Taurus
Necyomantia
Tusca
Nuptiae
Virgo
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 587
Gelegentlich wird in breiter Ausführung das romantische
Räuberleben vorgeführt. Nicht selten wird auch ein Schiffbruch
geschildert mit aller seiner Not, Angst und Qual und mit dem
Aufruhr der Elemente. Wir befinden uns ganz anders als im
klassischen Drama im Mimus direkt auf dem Verdeck des mit
dem Sturm in höchster Not kämpfenden Schiffes. So spricht
Seneca von den Schiffbrüchen im Mimus, bei deren Anblick sich
die Stirn vor Sorge furcht1). Bei Petron lernen wir in einem
aus dem Mimus entnommenen Scenengefüge ein solches mimicum
naufragium mit allen seinen Aufregungen und Schrecken kennen2).
Auch Shakespeare verlegt in seinem „Sturm" die Eingangsscene
auf das mit dem Orkane ringende Schiff, auch hier haben wir
ein mimicum naufragium, dessen Anblick unsere Stirn vor Sorge
furcht.
Vor allem geschehen im Mimus nicht selten schwere und
unheimliche Verbrechen. Meineid und Meineidprozesse scheinen
nicht selten gewesen zu sein, und besonders war die Giftmischerei
im Schwünge. So sah Plutarch im Theater des Marcellus bei
einer Vorstellung, der auch der greise Kaiser Vespasianus bei-
wohnte, ein grofses mimisches Schauspiel mit zahlreichen Dar-
stellern und einer sehr verwickelten Handlung. Die Intrigue in
diesem Mimus hing wesentlich mit einem Gifte zusammen, das
eigentlich ein eigentümliches Schlafmittel war; wer es einnahm,
wurde von Totenstarre befallen, um dann nach einiger Zeit wieder
aufzuleben. In diesem Mimus spielte nun ein Hund mit, der ganz
vortrefflich bei jeder Gelegenheit, wo er aufzutreten hatte, sich in
seine Rolle zu finden wufste. Geradezu erstaunlich erwies sich die
Schauspielkunst dieses Tieres, als man sich im Mimus den Anschein
gab, die Wirkung dieses eigentümlichen Giftes an ihm zu erproben.
Wie ein richtiger Mime glänzte der Hund durch grofsartiges
Geberdenspiel, sowie er das Stück Brot mit dem Gifte gefressen
hatte, fing er an zu zittern und zu wanken, dann schien ihm
der Kopf schwer zu werden, und schliefslich streckte er sich wie
») Vgl oben S. 114, 115.
2) Cap. 114. 115. Das Nähere darüber im zweiten Bande.
588 Sechstes Kapitel.
tot lang aus und liefs sich ganz starr und steif hin- und her-
tragen. Als es dann Zeit war wieder zu sich zu kommen, rührte
er sich langsam, schien aus tiefem Schlummer zu erwachen, hob
den Kopf in die Höhe und blickte sich um. Während nun die
Personen im Mimus ihre Verwunderung bezeugten, dafs der Hund
wieder auflebe, der doch ein tötliches Gift erhalten habe, lief
dieser auf seinen Herrn, vielleicht auch auf den zu, der ihm das
Brot gegeben hatte, schmeichelte ihm und legte seine Freude an
den Tag. Die Zuschauer, insbesondere auch der alte Kaiser,
verspürten eine ordentliche Rührung über die Klugheit dieses
Hundes1).
Die Handlung wird nun im Mimus vermutlich folgender-
mafsen weiter gegangen sein. Man erkennt, dafs ein durch
dieses Gift Ermordeter nur scheintot sei und holt ihn aus
seinem Grabe. Damit gewinnt die düstere Handlung' eine
glückliche Lösung und ein erfreuliches Ende, doch werden
sicher die Bösewichter ihrer Bosheit und Narrheit durch die
Wiedererweckung des Totgeglaubten überführt worden sein; wie
Philistion die Schurken und Narren überführt. Jedenfalls kann
x) De solert. anim. IX, 7 : nXrjv av yi ti fiüdrifia xvvog ov 6ox<S fioi
naorjüsiv, ysvoftevog lv 'Pwfxij Staxfig. nagwv ydq 6 xvtav uifuo tiXoxtjv tyovu
^Qtt/uaTtxrjV xal noXvnqoatonov , aXXag ts /ut^aeig dneälSov lolg vnoxtifxtvois
7id&eoi xal ngäyfxaai noooipÖQovg, xal (pag/udxov notovfxivtov iv aircp ntiqav
V7iviüTixov (xlv vnoxftfiivov d" tlvav fravaaifiov, xöv ?' cigiov, ut drj&tv ifxifxixio
t6 (fagfiaxov, ifäj-aro xal xaraipaywv oXCyov varsgov üfioiog v\v vnorg^ovri
xal oifaXXofie'va) xal xagrjßagovvri' t£kog 61 ngortCvag iaviov (Santo vexgbg
J-xeiTo, xal nagtlytv 'iXxtiv xal /Atiacpe'gHV, wg 6 iov Sgäfiaiog vnrjyogtve Xöyog.
Infi de rbv xaigbv ix iwv Xeyo/x^vwv xal n gano/usvojv ivotjatv, rav^rj ib ttoiu-
tov ixCvr\atv iaviov, äontg l!- vnvov ßu&£og ävacfegöftfvog, xal rrjv xecpaXijv
Inäoag Sie'ßXexpev tnena &av/ua<jävi(ov, Itjavaarug ißddtCe ngbg ov edti' xal
ngoarjxaXXs %atgwv xal (piXoipgovovftfvog, wate nävtag av&gwnovg xal Kai-
Gaga (nagijv ydg 6 yigwv Oveanaaiavbg iv iw Magx4XXov #£«rptj)) avfxna&eig
ytvtodai. Für den Hund im Mimus will ich noch an des Laberius „Catularius"
erinnern, der wohl ein Hundejunge oder Hundehändler war. Auch im „Scylax*
dürfte ein Hund mitgespielt haben; denn der Titel ist ein Hundename. In
einer mimischen Prügelscene hei Petron spielt ein grofser Kettenhund mit,
den ein altes, entsetzlich häfsliches Weib auf den Poeten Eumolp hetzt
(cap. 95).
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 589
ein Stück mit einer derartigen Handlung nicht rein burlesk ge-
wesen sein.
Bei Äpuleius steht am Anfang des zehnten Buches der
Metamorphosen eine sehr merkwürdige Kriminalgeschichte: vEin
Oberst ist in zweiter Ehe mit einer zwar sehr schönen, aber sitten-
losen Dame verheiratet. Diese verliebt sich in ihren Stiefsohn;
seine abweisende Haltung verwandelt ihre Liebe in Hafs. Wir
wissen, wie häufig im Mimus die Stiefmutter in den Stiefsohn ver-
liebt ist und umgekehrt1). Ein verruchter Sklave verschafft ihr
ein schnell wirkendes Gift, sie giefsen es in einen Becher Wein und
beratschlagen, wie sie es dem spröden Jüngling beibringen wollen,
indem kommt der rechte Sohn der Dame aus der Schule durstig
zurück, trinkt den Becher aus und fällt auf der Stelle tot hin.
Das sind die unerwarteten Zwischenfälle, die der Mimus liebt,
in dem die Herrin Tyche regiert. Sofort wird allgemein bekannt,
dafs hier ein Giftmord vorliegt, und das scheufsliche Weib be-
schuldigt ihren Stiefsohn der Giftmischerei und zugleich der
versuchten Blutschande. Nun folgt, wie im Mimus, eine grofse
Gerichtsscene, bei der nach vielen Dupliken und Kepliken der
Jüngling zum Tode verurteilt werden soll, da tritt wieder, wie
es im Mimus zu geschehen pflegt, ein unerwarteter Umschwung
ein. Ein alter Richter, zugleich ein weiser Arzt, erhebt sich, sagt,
er selbst habe dem Sklaven das Gift gegeben, es sei aber nur
ein starker Schlaftrunk. Es ist derselbe Schlaftrunk, den wir aus
dem Mimus bei Plutaxch kennen. Man solle nur zum Grabmal
des Knaben gehen und ihn aufweckeu: das geschieht. Damit
ist des Weibes Schandthat aufgedeckt: die Geschichte endigt
fröhlich, wie ein Mimus endigen mufs. Die Frau wird zur Strafe
nur verstofsen, der Sklave wird allerdings gehenkt; aber was
kommt es auch auf einen Sklaven und noch dazu einen so nichts-
würdigen an?! '-')
*) Vgl. oben S. 176.
2) Wir werden im zweiten Bande, wo wir von den Beziehungen zwischen
Mimus und Roman zu handeln haben, noch im einzelnen den Nachweis führen,
dafs Äpuleius hier das Sujet eines Giftmischermimus erzählt, wie der bei
Plutarch ist. Der seltsame mimische Schlaftrunk kommt auch in Shakespeares
590 Sechstes Kapitel.
Mit der seltsamen Voraussetzung dieses eigenartigen Giftes
macht der Mimus schon ein wenig den Übergang in das Reich
des Phantastischen; und es scheint, dafs er sich darin gern
bewegt hat. So zeigen sich im Mimus allerhand Hexen und
Zauberer. Wahrsager treten auf wie im Philogelos. Ja leib-
haftige Gespenster scheinen auf der Bühne vorgekommen zu
sein, in dem „Gespenst" des Mimographen Catull lief jemand
jedesmal beim Erscheinen des Gespenstes mit lautem Geschrei
von dannen1). Auch in der dem Mimus nahestehenden, wenn
auch sehr viel niedrigeren Atellane zeigten sich allerhand böse
Gespenster, wie der Pytho Gorgonius, die pythische Schlange mit
einem Drachenhaupte bei Pomponius, und die böse Mania, die
Mutter der Laren, trat bei Novius gar als Ärztin auf. Ein
Zauberer und Negromant, der im Stande ist, mit seiner Be-
schwörung die Sterne und den Mond vom Himmel herabzu-
ziehen, kommt bei Philistion vor. Er wird aber entlarvt (vgl.
oben S. 204. 432.)
Kein Wunder, dafs bei dem Einwirken von soviel Hexerei
und Zauberei, bei der Mitwirkung so mannigfaltiger Gespenster
und Geister — erscheinen ja doch ursprünglich die mimischen
Schauspieler selbst in Gestalt von Dämonen, und Acco, Mormo
und Alphito, welche die Rolle der Alten im dorischen Mimus
spielen, sind zugleich Schreckgespenster — es schliefslich gar
zur Verzauberung von Menschen in Tiere kommt, woraus sich
dann natürlich die seltsamsten Verwickelungen ergeben.
Romeo und Julia vor, nur dafs er verhängnisvollere Folgen hat als im
Mimus. Dagegen erinnert die Art, wie dieses Gift im Cymbeline behandelt
wird, stark an den Mimus. Auch dort findet sich die böse Stiefmutter des
Mimus und des Märchens, die allerdings nicht dem Stiefsohn, sondern der
Stieftochter feindlich ist. Auch sie wünscht ein tötliches Gift, aber der
weise Arzt giebt ihr nur das schwere Schlafmittel. Imogen nimmt dieses
nur durch einen Zufall, ähnlich wie der rechte Sohn der bösen Stief-
mutter im Mimus bei Apuleius und wird dann wie dieser für tot ge-
halten und von Arviragus und Guiderius zum Zeichen der Bestattung mit
Blumen überschüttet. Auch sie lebt nachher zur grofsen Freude aller wieder
auf, wie der Sohn des Obersten.
l) Daher die Bezeichnung clamosum Phasma Catulli bei Juvenal VIII, 186.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 591
So scheint es einen alten Eselmimus gegeben zu haben,
auch in der Atellane, die ja mit dem Mimus häufig die gleichen
Sujets hat, erscheint ein Mensch mit Eselkopf '). Wie phan-
tastisch und doch zugleich biologisch-realistisch es in dem Esel-
mimus zuging, kann uns der berühmte alte Eselroman wenigstens
in etwas lehren. Vermutlich wird der vereselte Mensch, der in
der Atellanendarstellung in einer Prügelscene erscheint, im Mimus
ein grofser Liebesheld gewesen sein, wie der Eselmensch Lucius
bei Apuleius und bei Lukian, und wird dabei für seine erotischen
Triebe hauptsächlich nur erbauliche Prügel eingenommen haben,
ebenso wie Lucius und wie der Eselmann in der Atellane. Zum
Schlufs wird allerdings der Eselmann Lucius der begünstigte
Liebhaber einer vornehmen Dame. Der Eselmimus erinnert
uns an Shakespeares „Sommernachtstraum", wo der Weber Zettel
plötzlich einen Eselskopf erhält und keine geringere Dame zur
Liebhaberin hat als die Feenkönigin Titania. Nur Zettel wird
dort so wunderbar verzaubert, alle anderen Personen behalten
ihre natürliche Gestalt; ebenso trägt in den Atellanenscenen
nur ein Darsteller den Eselkopf, die anderen sind Menschen ge-
blieben.
Wir haben schon oben (S. 478 folg.) darauf hingewiesen, wie
der Tiertanz ursprünglich im Mimus eine Rolle gespielt hat. da
können wir uns kaum wundern, auch im späteren Mimus Tiere
zu finden, die nur verzauberte Menschen sind. So spricht bei
Sophron ein Esel (vgl. oben S. 443 Anm.). Ich erinnere auch au
die Bären im Mimus (vgl. oben S. 418)2) und an die oben (S. 479)
erwähnten mimischen Schauspieler mit Hunde- und Affenköpfen.
*) Vgl. ohen S. 258. 478. Der Titel Asinius bei Ribbeck a. a. 0. S. 255,
ist für Novius sinnlos, es hiefs Asinus, wie schon Junius richtig vermutet
hat. Möglich, dafs die Atellanenscene mit dem Eselmenschen auf den
römischen Thonscherben aus dem Asinus des Novius stammt, jedenfalls aber
stammt sie aus einer Atellane, die diesem Stücke sehr nahe stand.
8) Ich habe oben S. 417 auf die Tierbändigerkünste der Alten hin-
gewiesen. Gerade Bären als Nachahmer menschlicher Fertigkeiten werden
in einer interessanten Stelle bei Isokrates nigl ariiööatoK, 213 genannt:
*«#' exaorov ibv ivuzvtbv ^fcjQovyrfi iv tois ßavuaot tov; uiv Uovxas ngao-
592 Sechstes Kapitel.
Sehr seltsam ist auch der Vers von Laberius, wo berichtet wird,
jemand sei zu dem Affen des Apothekers in heifser Liebe ent-
brannt1). Lactanz erklärt, die Lehre des Pythagoras von der
Seelenwanderung, nach der menschliche Geister in Tierleiber
gesteckt würden, sei lächerlich und erinnere an die Erfindungen
des Mimus2).
Mit dieser Verwandlung von Menschen in Tiere begiebt sich
der Mimus direkt in das Gebiet des Phantastisch-Märchenhaften.
Ich erinnere beispielsweise nur an die deutschen Märchen von
dem Froschkönig oder dem eisernen Heinrich und besonders an
Schneeweifschen und Rosenrot mit ihrem Bären, der ein ver-
tsgov Siaxufxivovg ngog roiig dsoanevorzag . . . rag 6' aoxTovg xvXivSovfxivag
xul naXaiovaag xal fiifj.ov^ivag rag fifiergoag Imarrjfiag.
1) Farmocopoles simium deamare coepit Lab. 40, 41.
2) Corp. Vind. XIX Firm. Lactanti divin. inst. lib. VII, 12, 30: cetera Epi-
curei dogmatis argumenta Pythagorae repugnant disserenti migrare animas de cor-
poribus uetustate ac morte confectis et insinuare se nouis ac recens natis et easdem
semper renascimodo in hominemodo in pecude modo in bestia modo in uolucre
et hac ratione inmortales esse, quod saepe uariorum ac dissimilium corporum domi-
cilia commutent. quae sententia deliri hominis quoniam ridicula et mimo
dignior quam scola fuit, ne refelli quidem serio debuit. Grysar a. a. 0.
S. 317 citiert ganz allgemein „eine Stelle bei Lactanz in der Apologie" (sie!):
Multis enim iocis et otio opus erit, si velimus ad hanc partem laseivire (von den
Mimen ist die Rede). Quis, in quam bestiam reformari velit? Ich habe die
Stelle weder bei Lactanz, wo sie nach Ausweis des vortrefflichen Index im
Corpus Vindobonense garnicht vorkommt, noch sonstwo bisher eruieren können.
Jedenfalls hat sie Grysar, wie die ganz ungenaue, von seiner sonstigen Weise
denn doch abweichende Citierungsart zeigt, nur aus zweiter Hand.
Unablässig wird im Mimus mit der Lehre von der Seelenwanderung
gespielt in dem Sinne der Verwandelung von Menschen zu Tieren und Tieren
zu Menschen. So behauptet jemand bei Laberius, der Mann sei ursprüng-
lich ein Maulesel gewesen und die Frau werde zur Schlange; in der That
ist im Ehebruchsmimus der Mann ein Esel und die Frau eine Schlange. Vgl.
Tertullian, apolog. 48: age iam, si qui philosophus adßrmet, ut ait Laberius de
sententia Pythagorae, hominemfieri ex mulo, colubram ex mutiere, et in eam opinio-
nem omnia argumenta eloquii virtute distorserit, nonne consensum movebit et fidem
infiget etiam ab animalibus abstinendi proptera? persuasum quis habeat, ne forte
bubulam de aliquo proavo suo obsonetf In dem „Krebs" des Laberius stand der
Vers: Nee Pythagoream dogmam doctus. Lab. 17, 18 R. Ein Mimus Gozzis heilst:
La Donna Serpente, ein anderer II Re Cervo, ein dritter L'Angellino Belverde.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 593
zauberter Prinz ist1). In dem neugriechischen Märchen erscheint
ein goldener Krebs, der in Wirklichkeit ein Prinz ist2), und
drei Prinzessinnen sind gar zu Citronen verzaubert8). Diese
Metamorphose hat Gozzi in seinem Märchenmimus „L'Amore
delle tre Melarance (Die Liebe zu den drei Pomeranzen) ■ mit den
typischen Personen der commedia dell' arte auf die Bühne gebracht.
Auch da berühren sich also wieder Märchen und Mimus. Über-
haupt haben die Zauberer, Hexen, Geister und Gespenster des
Mimus viel mit den gleichen Typen im Märchen zu schaffen.
Acco, Mormo, Alphito, die Prototypen der weiblichen Figuren
des Mimus, gehören zugleich als Schreckgespenster und Figuren
der niederen Mythologie ins Gebiet des Märchens, ebenso
wie Mania, die Mutter der Laren, die als Mania medica in der
Atellane erscheint.
Wir haben auch schon auf das Katherlieschen des deutschen
Märchens hingewiesen, die Närrin, die sich ihre Identität ab-
streiten läfst, wie die Narren im Mimus. Zwischen dem Mimus
und Volksmärchen herrschen überhaupt die innigsten Beziehungen,
auf die wir im zweiten Bande näher eingehen werden, Beziehungen,
welche die alte attische Komödie vom alten Mimus geerbt hat4).
Phantastisch genug mufs es auch im Göttermimus zugegangen
seiu, wo sich, wie wir gezeigt haben, Götter und Heroen, tra-
gische Figuren mit Maske und Onkos, mit langen schleppenden
Prunkgewändern und Kothurn, mit Alltagsmenschen in der ge-
wöhnlichen Kleidung des Lebens, ja mit burlesken Narren im
Clownkostüm mischten.
Wir haben schon oben eine ganze Anzahl von Titeln mytho-
logischer Mimen oder von Göttern, die darin vorkamen, nach-
gewiesen: „Lacus Avernus", „Necyomantia", „Priapus", „Anna
Perenna", „Ehebrecher Anubisui), „Die männliche Lunau, „Die
') Grimm, Kinder- und Hausmärchen II, S. 217 folg.
2) Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. S. 83 folg.
3) a.a.O. S. 71 folg.
*) Ich verweise hier auf Zielinski's geistvolle Abhandlung: Die Märchen-
komödie in Athen, Petersburg 1885.
5) In dem Ehebrecher Anubis ist wohl eine Geschichte auf die Bühne
Reich, Mimn*. oo
594 Sechstes Kapitel.
geprügelte Diana", „Jupiter, der nach seinem Tode sein Testa-
ment verliest", „Die drei gefoppten, hungrigen Herkulesse", „Attis",
„Saturn", „Bacchus", „Isis" (vgl. oben S. 112—113, 240 u. 241),
„Actaeon"^)1), „Kinyras und Myrrha" '), „Paris und Oenone" (vgl.
gebracht worden, die zu Tiberius' Zeit passierte. Sie steht bei Josephus,
Ant. XVIII 3, 4. Ein Ritter Decius Mundus liebte eine vornehme Dame,
Paullina, wurde aber von ihr mit seinen Anträgen abgewiesen. Nun war
die gute Paullina aber sehr dem Isisdienste ergeben. Da machte sich
der Ritter hinter die Priester, gab ihnen 5000 Denaren, und die Priester
redeten dafür der frommen Dame ein, Gott Anubis selber verlange nach
einer nächtlichen Zusammenkunft mit ihr. Dem hundsköpfigen Grotte ergab
sie sich denn auch, und Mundus kam in der Maske des Gottes an das
Ziel seiner Wünsche. Aber dies kam heraus; Tiberius verbannte den
Ritter, die Priester wurden ans Kreuz geschlagen, der Tempel nieder-
gerissen. Das alles wird der Mimus mit seiner getreuen Biologie aus
dem wirklichen Leben auf die Bühne gebracht haben, bis zur Scene auf
dem Hochgericht, wie er ja auch des Räuberhauptmann Laureolus
Thaten vorführte. Hier spielt also ein Mann mit einem Hundskopfe im
Mimus mit, vorher hatten wir eben einen Mann mit einem Eselskopfe. In
Boccacios Decameron (4. Tag, 2. Gescb.) findet sich eine Erzählung, die, von
der christlichen Färbung abgesehen, unserem Mimus auf ein Haar gleicht.
Da redet der Pater Alberto der schönen, frommen und ziemlich dummen
Madonna Lisetta ein, der Engel Gabriel habe ein heftiges Verlangen
nach ihrer Schönheit. Die geschmeichelte Dame verspricht sich des Erz-
engels zu erbarmen, und natürlich erscheint Bruder Alberto mit Engels-
flügelu angethan. Das Gespräch des vermeintlichen Erzengels mit der
schönen Gans während des Stelldicheins ist ein Meisterstück mimischen
Humors, mit „mimicae ineptiae" reichlich durchwirkt. Doch die Schwäger
Lisettens kommen dem Erzengel auf die Sprünge und es geht ihm erbärmlich
schlecht, noch schlechter als dem Ritter im moechus Anubis. Es ist eine
seltsame Ähnlichkeit zwischen diesem Mimus und dieser Novelle, über deren
Gründe wir noch zu handeln haben werden.
*) Es ist wohl möglich, dafs Friedländer, Sittengeschichte II 6, S. 437,
mit seiner Bemerkung Recht hat: „Auf einen Mimus Actaeon deutet Varro,
Sat. Menipp. 513, Petron ed. Buecheler3, p. 216: Quod si Actaeon occupasset
et ipse prius suos canes comedi3setf non nugas saltatoribus in theatro ßeretu. Es
könnte allerdings auch ein Pantomimus gemeint sein. Als mimisch oder für
den Mimus passend bezeichnet den Dienst der Isis Prudentius:
Isidis amissum semper plangentis Osirim
mimica ridendaque suis sollempnia calvis.
Contra Symmach. I, 639—630.
2) Nach dem Zeugnisse des Josephus Ant. XIX, 1, 15.
Form and Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 595
oben S. 190). Gerade der Göttermimus war besonders beliebt,
und wie wir (S. 113, Anm. 1.) gezeigt haben, überwiegen in den
Jahrhunderten nach Chr. diese phantastischen Stücke. Auch von
Philistion konnten wir einen Göttermimus „Deukalion und Pyrrha"
konstatieren, wo wir in die Urzeiten der zweiten Schöpfung des
Menschengeschlechts zurückversetzt werden, in die Zeiten der
Sintflut.
Kein Wunder, dafs bei dieser märchenhaften Art des Mimus
die Kirchenväter gegenüber den seltsamsten Erfindungen der
Gnostiker und anderer Häretiker über den Ursprung der Welt,
die Genealogie von Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, über
den Ursprung und die Beziehung der Dämonen zur Gottheit,
über den merkwürdigen, grofsen Dämon, der die Welt auf seinen
Schultern trägt und gelegentliche Erdbeben veranlafst, über die
Sintflut, deren Ursache und nähere Geschichte immer darauf
hinweisen, das seien ganz mimische Erfindungen, so phantastisch,
wie sie Philistion liebe oder der Mimograph Diogenes, ö %a
ämöia ygäipag. Tä äntata, das Wunderbare, hat im phan-
tastisch-biologischen Mimus eben keine geringere Rolle gespielt
als etwa in dem nicht weniger realistisch -biologischen Drama
Shakespeares.
Wenn Apuleius, der, wie seine wiederholten Erwähnungen des
Mimus beweisen, ein guter Kenner war, als Charakteristikum des
Mimus angiebt „mimus hallucinatur" (Florida XVIII), so werden
wir dabei nicht blofs an den niedrigen Sinn von hallucinari „ins
Blaue hinein, Unsinn reden", zu denken haben, sondern auch an
den höheren Sinn „träumen, seltsame Dinge reden und denken".
Gewifs, der Mimus hat bei aller Realistik nicht selten seltsame
Träume und Hallucinationen gehabt, wie sie gelegentlich auch
Aristophanes hat, kaum je aber die regelrechte Menanderkomödie.
So lieifsen die Mimen in einem Juvenalscholion (vgl. unten S. 608,
Anm. 3) paradoxi. In der That ist ja alle Phantastik paradox,
paradox sind zugleich auch die mimicae ineptiae, die Narrenpossen
und Späfse. Der Ausdruck wird auf beides gehen.
So ist denn im Mimus in der wundersamsten Weise Niedriges
38*
596 Sechstes Kapitel.
mit Hohem, Ernstes, ja Grausiges mit Burleskem und Humo-
ristischem, das platt Reale mit höchst Phantastischem und
Zauberhaftem verquickt. Diese seltsamen Mischungen begreift
man am besten, wenn man an die Dramen Shakespeares
denkt, an die wir uns schon wiederholt erinnern mufsten,
etwa an den Sommernachtstraum, wo im Zauberwalde Heroen
und Heroinen, Theseus und die Amazonenkönigin Hippolyta,
die Beherrscher der Elfen Oberon und Titania und die niedrigen
Geister Droll, Spinnweb, Motte, Bohnenblüte und Senfsamen
und dann wieder ansehnliche Bürgersleute und auf der vierten
und letzten Stufe das niedere Volk, die ehrsamen Handwerks-
meister, Squenz der Zimmermann, Schnock der Schreiner,
Zettel der Weber, Flaut der Bälgenflicker, Schnauz der
Kesselflicker, Schlucker der Schneider, bunt durcheinander weben.
Auch kann man an den Sturm denken, wo neben Ariel, dem
Luftgeist, und seinen zauberischen Gehülfen auch allerhand
Menschen von der niedrigsten Stufe bis zur höchsten, von dem
Halbtier Caliban bis herauf zum Halbgott, bis zu Prospero,
dem Menschen, der durch den Adel seiner Gesinnung und die
Höhe seiner Kunst und Wissenschaft die Geister unter seine
Herrschaft zwingt, im bunten Durcheinander sich bewegen.
So geht denn auch die Sprache bei Shakespeare wie im
Mimus vom Gassenjargon zur Umgangssprache, ja zu der höch-
sten lyrischen Ausdrucksweise über. Vornehmlich reden die
Narren im Mimus Prosa wie bei Shakespeare die Clowns. Man
denke etwa an die niedrigen, burlesken Reden des Weber Zettel
oder des Bedienten Lanz in den beiden Veronesern oder des
Clowns Holzapfel in „Viel Lärm um nichts" oder des Totengräbers
im „Hamlet." Um so seltsamer ist es dann, wenn diese Clowns
wie im Mimus plötzlich anfangen zu singen.
So fragt in „Was ihr wollt", zweiter Aufzug, zweite Scene,
der Narr, wollt ihr ein Liebeslied oder ein Lied von gutem
Lebenswandel und hebt dann an zu singen:
0 S-chatz, auf welchen Wegen irrt ihr?
0 bleibt und hört, der Liebste girrt hier.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 597
Sing in hob- und tiefem Ton,
Hüpft nicht weiter, zartes Kindlein.
Liebe find't zuletzt ihr Stündlein,
Das weifs jeder Muttersohn.
Wie singt der Page in „Wie es euch gefällt":
Ein Liebster und sein Mädel schön
Mit heisa und ha und juchheisa trala!
Die thäten durch das Kornfeld gehn,
Zur Maienzeit, der lustigen Paarezeit,
oder der Weber Zettel im „Sommernachtstraum":
Der Kuckuk, der der Grasemück'
So gern ins Nestchen heckt,
Und lacht darob mit arger Tück'
Und manchen Ehmann neckt.
3. Aufzug, 1. Scene.
Das alles sind Schelmenlieder, wie die Couplets im Mimus,
«da» cccTavixai, wie die alten Kirchenväter schelten. Aber
Choricius weist darauf hin, wie es auch ganz ernsthafte Lieder
im Mimus gebe, und von einer ernsten Leidenschaft ist wirklich
die Mimodie „ Des Mädchens Klage" durchbebt. Dem gegenüber
erinnern wir uns an die Totenklage, die Arviragus und Guiderius
im Cymbeline singen oder an das Toten gräberlied im „Hamlet"
oder gar an Ophelias Lied:
Wie erkenn' ich dein Treulieb
Vor den anderen nun?
An dem Muschelhut und Stab
Und an den Sandelschuh'n.
4. Aufzug, 5. Scene.
Jedenfalls können die zahlreichen Lieder bei Shakespeare
lehren, wie einst die zahlreichen Arien im Mimus gewirkt haben
müssen, die in ihm einen so wesentlichen Platz einnahmen und
die das Volk besonders bezauberten (vgl. darüber oben S. 138
— 142). Von der niederen Volkssprache ebenso wie von den
598 Sechstes Kapitel.
lustigen und tiefgefühlten Liedern stechen dann wieder bei
Shakespeare die jambischen Verse mit ihrer vornehmen und
würdigen Sprache ab. Es herrscht hier eben derselbe Gegen-
satz, wie das Leben und wie der Mimus, das Drama des Lebens,
ihn liebt.
Auch Shakespeare ist ein Biologe, ein Ethologe und ein
Realist. Und doch drängen sich bei ihm wie im Mimus spukhaft
Geister und Gespenster und übernatürliche Wesen in die natür-
lich-biologische Handlung, und oft scheint die dünne Decke zu
zerreifsen, welche die kleine, reale, natürliche Welt der Menschen
von der übernatürlichen, überirdischen und unterirdischen trennt.
Vor allem wie man Ernstes und Burleskes zu mischen habe, hat
niemand so gut wie Shakespeare verstanden und der alte Mimus.
Längst hat man alle diese seltsamen Mischungen, die das
Drama seit Shakespeare liebt, für unantik, ungriechisch, spezifisch
modern, für romantisch erklärt. Gewifs, diese Mischung ist un-
klassisch, denn der klassische Stil bedeutet das Einfache, das
streng Einheitliche, ungriechisch aber ist sie durchaus nicht. Im
Gegenteil, sie ist ein Spezificum des eigentlichen Volksdramas
der Hellenen, des Mimus, der an und für sich das älteste grie-
chische Drama ist, wenn auch die mimische Hypothese noch
jünger als die Menander- Komödie und in ihrer letzten grofs-
artigen Ausgestaltung durch Philistion das jüngste, grofse, grie-
chische Drama ist.
Wie der Mimus innerlich und in seiner ganzen Form und
Art mit dem klassischen Drama gebrochen hat, so hat er es
auch äufserlich gethan in allem, was seine Darsteller, seine Dar-
stellung auf der Bühne und seine Bühne selber angeht. So
fremdartig uns die Aufführung eines antiken klassischen Dramas
mit den seltsamen, unförmlichen Masken, den hohen Kothurnen,
den wunderlichen Prunkgewändern der Schauspieler anmuten
würde, so leicht würden wir uns in das lebenswahre, lebendige
Spiel der Mimen hineinfinden.
Schon das Fehlen der Masken scheidet das Aussehen wie das
Spiel des Mimen streng von dem der Schauspieler des klassischen
Dramas. Wie beim modernen Schauspieler kam es bei dem
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 599
Mimen wesentlich auf das Mienenspiel an J). Eine der wichtigsten
mimischen Typen, der Sannio, hat davon den Namen'). Auch
Quintilian spricht von den burlesken Grimassen der Mimen (vgl.
oben S. 75, Anm. 3). Die Narren im Mimus waren jedenfalls
Meister im Grimassenschneiden; der Mime Vitalis rühmt sich
des lebhaften Mienenspieles, mit dem er seine Mitmenschen zu
kopieren versteht8). Im niederen mimischen Paegnion bei dem
i) Vgl. darüber oben S. 527 u. 528.
*) Ich erinnere an Ciceros Beschreibung des Sannio: ore vultu denique
corpore ridetur ipso (de oratore 11,61); TgL auch Nonius p. 67,2: sanniones
dicuntur a sannis [ sanna die Grimasse) qui sunt in dictis fatui et in motibus et
in schemis, quos moros vocant graeci. Ganz recht, es ist eben der uwoo; (fctiaxoög
im Mimus, der grimassierende Narr.
3) Gaudebam temper. Quid enim, si gaudia desint,
Hie vagus eye fallax utile mundus habet?
Me viso rabidi subito cecidere furores,
ridebat summus me veniente dolor.
Non lieuit quemquam mordaeibus urere curis,
Nee rerum incerta mobilitate trahi.
Vincebat eunetos praesentia nostra timores
Et mecum felix quaelibet hora fiüt.
Motibus ae dictis, tragica quoque voce plaeebam
Exhüarans variis tristia corda modis.
Fingebam vultus, habitus ae verba loquentum,
Ut plures uno erederes ore loqui.
Ipse etiam, quem nostra oeulis geminabat imago,
Morruit, in vultu se magis esse meo.
0 quoties, imitata meo se femina gestu
Vidit et erubuit totaque mota fuit!
Ergo quot in nostro videantur corpore formae;
Tot mecum raptas abstulit atra dies.
Quo vos iam tristi turbatus deprecor ore*
Qui titulum legitis cum pietate meiern,
0 quam laetus eras, Yitalisl diäte rnoesti!
Sint tibi, Vitalis, sint tibi laeta modo!
Meyer, Anthol. II, p. 89, Nr. 1173.
Die fehlenden vier Anfangsverse siehe oben S. 158, Anm. 3.
Also Vitalis rühmt an seiner mimischen Kunst besonders sein Mienen-
spiel. Er gehört nicht zu einer Mimengesellschaft, sondern ist ein einzelner
600 Sechstes Kapitel.
Nachahmen von Kutschern, Marktschreiern und dergleichen war
das Mienenspiel jedenfalls die Hauptsache.
Ganz wie die modernen Mimen haben die antiken eine
grofse Kunstfertigkeit in der Anwendung der mannigfaltigsten
Schminken besessen: das sind die „vielfarbigen Pigmente", die
zum Apparat des Mimen nach Sidonius Apollinaris gehören.
Der Mime verschmähte jeden Theaterschuh, Kothurn wie
Soccus; er ging entweder barfufs — wie man es in den niederen
Ständen im Altertum vielfach that — oder er trug zu der Klei-
dung des gewöhnlichen Lebens auch das gewöhnliche Schuhwerk
wie der moderne Schauspieler4).
Biologe und Ethologe, wie die waren, welche einst Sophrons, Theokrits oder
Herondas' Mimen mit wechselnder Stimme vortrugen. Vitalis begleitet den
Vortrag seiner mimischen Paegnia nun noch mit lebhaftem Gebärdenspiel
und weifs dabei zugleich die Stimme so geschickt zu ändern, dafs man
mehrere Personen zu hören glaubt. Dabei erlaubt er sich den Spafs,
während seines mimischen Vortrages Gesicht und Haltung bekannter Per-
sönlichkeiten nachzuäffen und diese Kopien waren so gelungen, dafs die
Originale, ob Mann oder Weib — denn der Mime gab in seinem Paegnion
ja auch Weiberrollen, man erinnere sich z. B. an Theokrits Zauberinnen
oder die Weiber am Adonisfeste oder an Herondas' Eifersüchtige — , nicht
selten heftig darüber erschraken. Für die andern Zuhörer war das natür-
lich ein grofses Gaudium. Ich will hier an eine gewöhnliche Spezies der
Varietes erinnern, den Mimiker, der die Gesichter berühmter Männer, —
man kann verlangen, welche man will — nachmacht, bald ist er Napoleon,
bald der alte Fritz, dann wieder Kaiser Friedrich, gelegentlich wohl auch
eine stadtbekannte Persönlichkeit und so fort. Wenn Vitalis von tragischer
Stimme redet, so haben wir das auf mythologische Mimen zu beziehen.
Lustig ist das Selbstbewufstsein, mit der Vitalis von seiner mimischen Kunst
redet, die ihn zum reichen Manne gemacht hat. Er will die Wertschätzung
des grofsen mimischen Dramas auch für seine Kunststücke beanspruchen.
Die ersten acht Verse sehen fast wie eine Paraphrase des Lobes aus, das
Cassiodor dem Mimus erteilt: mundum curis edacibus aestuantem laetissimis
sententiis temperare. Vgl. oben S. 144, Anm. 2.
4) Donat. fragm. de com. planipedia autem dicta ob: . . . vilitatem actor,
qui non coturno aut socco nituntur in caena aut pulpito sed piano pede. Seneca
epist. VIII, 8, 9 nennt die Mimen excakeati. Vgl. oben 73, Anm. 1. Festus s. v.
Ricinium spricht von mimi planipedes. Auch findet sich planipes öfters. Da-
her stammt der lateinische Ausdruck für den mimus: planipes bei Diomedes
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 601
Überall stellt der Mime eben als Biologe die Wirklichkeit
möglichst getreu dar. Darum werden auch im Mimus wie im
modernen Schauspiel die Frauenrollen durch Miminnen gegeben.
Der Mime duldet, wie wir sahen, neben sich die Mimin, wie
ursprünglich der Gaukler die Gauklerin neben sich geduldet
hatte, und auch der moderne Schauspieler konnte sich mit
einem Weibe, das durch sein Auftreten zur Ehrlosen wird, auf
der Bühne sehen lassen, weil er ursprünglich auch nur ein
Gaukler war, und von jeher mit dem Gaukler die Gauklerin
gewandert und mit ihm aufgetreten war. Dafs diese Einrichtung
eine geradezu revolutionäre ist im Verhältnis zur klassischen
Bühnen auf führung und zu dem Standesbewufstsein der Tragöden
und Komöden, haben wir schon hervorgehoben: sie ist eben durch
und durch modern.
Ich habe schon gezeigt, dafs das mimische Drama ganz im
Gegensatz zum klassischen eine grofse Zahl von Mitspielenden
gleichzeitig auf der Bühne vereinigte. Aufserdem aber scheint
jeder Mime ganz wie der moderne Bühnenkünstler und im
Gegensatz zu dem antik -klassischen Schauspieler immer nur in
einer Rolle aufgetreten zu sein. So mufste denn eine grofse und
vollständige Mimentruppe über ein ungemein reiches Personal
verfügen. Auf dem Denkmal, das dem Archimimen L. Acilius
Eutyches im Jahre 169 n. Chr. von seiner Mimengesellschaft zu
Bovillae, wo er Decurio war, gesetzt worden ist, finden sich auf der
rechten Seite und ebenso auf der linken je dreifsig Schauspieler
namentlich aufgeführt1). Also im ganzen sechzig Angehörige
einer Mimengesellschaft. Nun werden hier wohl die Musiker,
Theaterdiener und dergleichen mit aufgeführt sein, andererseits
fehlen aber die Miminnen, und wir dürfen kaum zweifeln, dafs
die Schauspielerinnen nicht weniger zahlreich waren als die
Schauspieler. Da gab es Archimiminnen und gewöhnliche
Miminnen, und auch hier wird es wohl wie bei den männlichen
(a. a. 0. S. 490, 4), und nXavmiSÜQta bei Lydus de mag. cap. 40. Doch ist
das nur eine Wortbildung der Grammatiker- und Gelehrtensprache.
J) C. I. L. XIV, 2408.
602 Sechstes Kapitel.
Schauspielern Miminnen ersten bis vierten Grades gegeben haben.
Die häfsliche, alte Mimin, die sich so trefflich herausgeputzt hat,
tritt in einem grofsen Chor von Miminnen auf. An den Floralien
treten Scharen von Buhlerinnen anstatt der Miminnen auf. Von
den Miminnen niederen Grades wird als von Buhlerinnen ge-
sprochen, die zahlreich in den Zellen des Cirkus zugleich ihr
gemeines Gewerbe üben1). In der That erscheinen ja auch im
Mimus zugleich vornehme Damen, sowie geringe Frauen, trunk-
süchtige alte Weiber, Ammen, Kupplerinnen2), Mägde, alte und
junge auf der Bühne.
Aufserdem traten im Mimus auch häufig Kinder auf. Schon
bei Sophron kommt ein kleines Kind vor3); desgleichen bei
Theokrit in den Adoniazusen und bei Herondas findet sich ein
Knabe im Schulmeistermimus und ein kleines Mädchen im
„ Fastenfrühstück ". Zahlreich scheinen die kleinen Schauspieler
in der Atellane gewesen zu sein, die hier wie überhaupt dem
gleichzeitigen Mimus entspricht. Ich erinnere an den Bucculo d. h.
den kleinen Bucco des Novius. Zahlreich finden sich diese kleinen
Mimen auch auf den oft erwähnten Atellanendarstellungen aus
der frühesten römischen Kaiserzeit.
Solche Kinder gehörten also mit zur Truppe. Das ist ver-
ständlich genug. Die Mimen, die nach Choricius vielfältig ver-
*) Eine solche niedere Mimin ist zum Beispiel, wie wir sahen, die Mime
Theodora; denn ihr fehlte, was eine Mime ersten Ranges, wie Choricius
hervorhebt, besitzen mufs, die schöne Stimme. Doch gehörte sie andererseits
auch nicht zu den allergeringsten Miminnen, Statistinnen oder Tänzerinnen,
welche die Bühne füllten, da sie durch ihre Witze und ihr niederes Wesen
und die lustige Art, mit der sie Maulschellen hinnahm, den Beifall des
Volkes erhielt. (Vgl. darüber oben S. 175.)
2) Diese zahlreichen Typen alter Weiber im Mimus ermöglichten es
den talentierten Miminnen bis ins höchste Alter auf der Bühne zu bleiben;
sie gingen von den Rollen jugendlicher Liebhaberinnen allmählich zu denen
der alten Hexen über. So berichtet Plinius, n. h. VII, 48, von einer Mime
Lucceia, die noch im Alter von 100 Jahren im Mimus auftrat, und die Mime
(emboliaria) Galeria Copiola, die unter dem Konsulat des alten Marius und
des Carbo im Jahre 88 zum ersten Male aufgetreten war, erschien noch
unter Kaiser Augustus 104 Jahre alt wieder auf der Bühne.
3) Nach der Bemerkung bei Choricius a. a. 0. § III, 10.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. . 603
heiratet und Familienväter waren, brachten ihre Kleinen bei
Zeiten auf die Bretter, damit sie sich schon früh an den Beruf
der Eltern gewöhnten und mimische Fertigkeit gewannen. Für
den Mimographen aber waren diese kleinen Mimen sehr geeignet,
die Realität seiner Lebensbilder zu erhöhen, die sich so gerne
gerade mit dem intimsten Familienleben befafsten. Ich erinnere
an Mimentitel wie „Der Vormund" oder an des Laberius „Hoch-
zeit", „Geburtstag", „Der Ephebe", „Die Jungfrau", „Die
Schwestern". Kurz und gut, das Personal einer Mimenbühne war,
was weibliche und männliche Schauspieler aller Grade angeht,
nicht weniger zahlreich als das eines grofsen modernen Theaters.
Wie bei den modernen Schauspielern bestand die Verfassung
der antiken Mimen in der Prinzipalschaft, die sich bei beiden,
wie wir sahen, aus der Verfassung der alten Gaukler heraus
entwickelt. Der Prinzipal, der Archimime, war der Unter-
nehmer1).
Der Mime ist ein durch und durch moderner Schauspieler,
und es ist sehr thöricht, sich den vornehmen Mimen, der den
Gipfel der mimischen Kunst erklommen hat, als einen gewöhn-
lichen Spafsmacher und Possenreifser zu denken. Ausdrücklich
mahnt Choricius, man möchte doch nicht immer nur der niederen
Mimen gedenken, sondern auch der vornehmen Künstler, die von
ihrer schönen Kunst ein fürstliches Einkommen genössen, die
ehrsame Hausväter wären, einen ehrbaren und vornehmen Haus-
stand führten und Weib und Kind besäfsen. Ja, Johannes Chry-
sostomus, der Feind des Mimus und der Mimen, klagt voller
Empörung, dafs man die grofsen Mimen wie Gesandte in den
Städten aufnähme2). Wir hören von berühmten Mimen, die
') Ich kann hier die Verfassung der Mimengesellschaften nicht bis ins
einzelne hinein darlegen, das wird in einem besonderen Anhange am Ende
des II. Bandes geschehen, wo ich alle Inschriften, die ich gesammelt habe,
vorlegen werde. Es sind leider vorwiegend römische und nur ein paar
griechische von ganz geringem Umfange darunter. Auf einer Inschrift aus
Ägypten von der Nilinsel Philae befindet sich sogar nur der Name 'Apaqiuv
ptpos (Corp. Inscr. graec. Boekh. III, Nr. 4908).
») Vgl. oben S. 157.
604 Sechstes Kapitel.
einen ehrenvollen Ruf an das kaiserliche Theater in Rom er-
halten; hören von fürstlichen Gagen, von intimen Beziehungen
der Mimen zu Imperatoren, Königen und Kaisern1).
Wie preist Choricius die Kunst der Mimen, ihr Mienenspiel,
ihren Vortrag, ihren Gesang, ihren Tanz. Ich habe die Begeiste-
rung, welche das Publikum damals für grofse Mimen empfand, wie
es sie mit hohen Gehältern, mit reichen Geschenken, mit prunk-
vollen Standbildern ehrte, wie es ihren Tod als eine öffentliche
Kalamität betrauerte, ausführlich geschildert2). Kurz und gut,
die vornehmen mimischen Schauspieler waren an Einkommen,
Ansehen und Ehre gewifs nicht schlechter gestellt als ein be-
rühmter Mime moderner Zeiten und auch ihre Kunst wie ihr
Kunstbewufstsein waren nicht geringer3). Selbst das moderne
Unwesen der CIaqueure fand sich im alten Mimus, und die
Mimen waren, wenn sie nicht ausgezischt werden wollten, ge-
zwungen, eine zahlreiche Claque zu halten, die klatschte, ihnen
Ovationen bereitete und durch ehrenvolle Zurufe ihren Beifall
bezeugte4).
Wie Mimus und Mimen im strengen Gegensatz zum alten
klassischen Schauspiele und Schauspieler stehen, so hat auch
a) Vgl. oben S. 182 folg.
2) Die einzelnen Nachweise siehe oben S. 156 — 181.
3) Ich erinnere an das Beispiel der Arbuscula. Vgl. oben S. 61,
S. 159.
4) Dafür finde ich ein Zeugnis bei Ammianus Marcellinus XXVIII, 32, 33 :
Unde si ad theatralem ventum fuerit vilitatem, — ich erinnere an des Euanthius
und Donat „mimica vilitas" Vgl. oben S. 50. 51. 600. — artißces scaenarii per
sibilos exploduntur, siquis sibi aere humiliorern non conciliaverit plebem. qui si
defuerit strepitus, ad imitationem Tauricae gentis peregrinos vociferantur pelli debere
— quorum subsidiis semper nisi sunt ac steterunt — et taetris vocibus et absurdis,
quae longe abhorrent a studiis et voluntate veteris illius plebis, cuius multa facete
dicta memoria loquitur et venusta. Id enim nunc repertum est pro sonitu laudum
inpensiore per applicatos homines ad plodendum, ut in omni spectaculo, exodiario . .
et histrionum generi omni . . . clametur adsidue 'per te ille discat' quid autem debeat
disci nemo sufficit explanare. Exodiarius ist der Mime als Spieler des heitern
Nachspiels, des exodiums. Vgl. Plut. Crass. 33, Pelop. 34, Schol. Juv. III, 175,
Cicero Epp. IV, 16.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 605
die Mimenbühne ursprünglich nichts mit der klassischen Bühne
und dem grofsen Dionysostheater zu thun. Dem Mimen gebührt
von seinem Ahn, dem Gaukler her, die Gaukelbühne, auf der
auch die Wiege unseres modernen Dramas stand.
Die primitive Bühne der Gaukler sehen wir öfters auf den
Phlyakendarstellungen bei Heydemann. Bethe hat dieser so-
genannten Phlyakenbühne das dreizehnte Kapitel seiner Prolego-
mena gewidmet und ihre Gestalt eingehend besprochen. Sie ist
nichts weiter als ein Bretterboden, der auf etwa einen Meter
hohen, in die Erde getriebenen Pfählen ruht, vorne befindet sich
meistens eine schmale Treppe, auf welcher der Schauspieler das
Gerüst ersteigt. Wiederholt hat man sich bei dieser primitiven
Bühne an das Gerüst unserer heutigen Gaukler, Marktschreier
und Bänkelsänger erinnert (vgl. auch Bethe, Prolegomena S. 80).
Nicht mit Unrecht! Aber die Bühne, welche der alte griechische
Jongleur sich herzustellen gewohnt war, dürfte ihr vielleicht
ähnlicher gewesen sein.
Plato gedenkt dieser Bühne als einer gewöhnlichen Er-
scheinung des alltäglichen Lebens. Ihre Gestalt wird ersichtlich
aus dem berühmten Gleichnis im Staate von den Gefangenen,
die sich in der dunklen Höhle befinden, vor deren Eingang in
weiter Entfernung ein mächtiges Feuer brennt. Hören wir Plato
selbst: »Zwischen dem Feuer aber und den Gefangenen befindet
sich oben ein Weg, und an diesem, stelle dir vor, ist eine Art
Mauer aufgeführt, wie sich zwischen den Zuschauern jene Ver-
zäunung befindet, oberhalb welcher die Gaukler ihre Vorstellungen
geben. Stelle dir demnach auch vor, dafs an dieser Mauer ent-
lang Leute mancherlei Geräte tragen, welche über die Mauer
hinaufreichen, und auch Bildsäulen von Menschen und sonstigen
steinernen und hölzernen Tieren." — Da es nun heifst, die
Gaukler spielten oberhalb der Verzäunung1), so mufs diese einen
Bretterboden getragen haben, der dann natürlich auch nach
*) Innvtü ödov, nag rjv ldk Tf/^tov naqojxoSojxrijxivov, (Santo roTg &ccv-
fJLaianoioig noo tüv av&ownwv ngöxfacti ia naQa(fQäyfiata, vnko tov ra &av-
ftunt duxvvaaiv.
606 Sechstes Kapitel.
hinten zu auf Pfählen ruhte. Dieses Gerüst kann nicht viel
höher als einen Meter gewesen sein, denn die Bildsäulen, welche
daran vorübergetragen wurden, reichen selbst mit ihren Füfsen
über die Bühne. Den Leuten in der dunklen Höhle, die vor
allem nur die Schatten sehen, scheint es dann so, als ob diese
Dinge auf der Bühne vorüberziehen. Die Ähnlichkeit mit der
Phlyakenbühne ist nicht zu verkennen, auch deren Vorderseite
ist ein Paraphragma, das seinen Zweck, das Publikum fernzu-
halten, erfüllt; auch sie ist etwa einen Meter hoch und mit einem
Bretterboden versehen, auf welchem die Mimen spielen. — Im
Grunde ist diese Gaukelbühne nichts weiter, als ein etwas grofser
und klotziger Tisch, von dem aus der Gaukler dem Publikum
besser sichtbar ist. Auf einer etruskischen Bronce sehen wir
einen Gaukler auf einem solchen Tisch, auf welchem er einen
Gaukeltanz aufführt1). Auch wurde schon oben S. 518 eine
Gauklerin erwähnt, die auf einem Tische ihre Gaukeleien voll-
führt. Ein ähnliches Gerüst befindet sich auf einer Gemme, die
bei Caylus, rec. d'ant. I 3, 3 abgebildet ist. Zwei Gaukler mit
spitzen Mützen führen auf ihm einen seltsamen Tanz auf, während
ein Flötenspieler dazu bläst. Das Ganze befindet sich in einem
Boote, welches, von einem Fährmanne geleitet, einen Strom
hinabgleitet; es ist wohl der Nil, wie die Pelikane am Rande
der Gemme andeuten. Schon Jahn hat dieses Gerüst für eine
Art Gauklerbühne gehalten, während Caylus es noch für ein
Verdeck des Bootes ansah. .
So hat es seit alter Zeit eine Gauklerbühne gegeben. Als
x) Babelon et Blanchet, Catalogue des Bronzes antiques de la Biblio-
teque nationale 1899 in , dem Abschnitt „acteurs", Nr. 958 (S. 423— 424):
Danseur nu, debout sur une table. II est imberbe; ses cheveux sont arrangit
en petites meches frisees sur le front et sur le cou; sa töte est surmontee cL'une
couronne plate, tressee. Les bras, allongh en croix, sont ornes de bracelets; la
main gauche tient une sorte de cylix h pied large et eleve. Ses pieds sont chausses
de sandales ä bouts releve's et munies d'une languette au dessus des talons (calcei
repandi); le pied droit seul pose ä terre; la jambe gauche, ployee et relevte, parait
exCcuter un pas de danse. Les trois pie.ds de la table sont ineurvds et
riunis p ar une traverse en forme de T. Bon style etrusque; patine verte,
rugueuse.
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 607
der Gaukler zum Mimen wurde, hat er seine alte Bühne, wie so
vieles andere von seinem früheren Gauklerwesen, beibehalten1).
Der italische Mime, der Phlyake spielt durchaus nur auf
der alten Gaukelbühne. Auch in späterer Zeit, als der Mimus
schon auf das grofse Theater des Dionysos gehörte, haben
die niederen Mimentruppen, die nach Art unserer Schmieren aus
einer kleinen Stadt in die andere, aus einem Dorf ins andere zogen,
sicherlich diese primitive, mit ein paar Brettern und Pfählen so
bequem herzustellende Bühne beibehalten.
Der Übergang von der Gaukelbühne zur grofsen Bühne hat
sich beim Mimus nur sehr langsam vollzogen. Ursprünglich
wurde dem Mimen in der Orchestra vor der grofsen Bühne
ein kleines Gerüst, eine Art Gaukelbühne errichtet, auf der
er in den Zwischenakten mimte *). Derartige Intermezzos
nannte man Embolium, und die darin auftretenden Mimen em-
boliarii und emboliariae3); auch hier findet sich von vorn-
herein zum Mimen die Mimin. Allmählich stieg dann der
Mimus auf die grofse Bühne, und während ursprünglich die
Atellane nach den klassischen Schauspielen als Nachspiel (ex-
') Bethe hat sich bemüht, die römische Bohne von der mimischen her-
zuleiten. Dieser Versuch scheint ebenso glücklich als geistreich zu sein,
wenngleich vorläufig ja nur die Möglichkeit oder besser gesagt, die innere
Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese einleuchtet. Auch Zielinski hat sich
in seiner Rezension, Berliner Wochenschrift für klassische Philologie (9. Sept.
1896) der Warscheinlichkeit dieser Hypothese nicht verschlossen. Da nun
auch Dörpfeld und Reisch (Das griechische Theater S. 327) den Zusammen-
hang zwischen dem römischen Theater und der Phlyakenbühne nachweisen,
liegt hier wohl eine wissenschaftlich gesicherte Thatsache vor. Jedenfalls
eröffnen sich so noch weitere Perspektiven, und im letzten Grunde würde
danach die römische Bühne auf das Gerüst des griechischen Jongleurs
zurückgehen.
2) Vgl. Diomedes III, Keil, Gr. L. I, p. 490: Olim tum in tuggestu
scenae sed in piano orchestrae positis instrumentis actitabant und Festus
pag. 326 0. M.: solebant hit prodire mimi in orchestra, dum in scena actus
fabulae componerentur cum gestibus obscaenis.
8) Vgl. Cicero Sest. 54, 116. Bei Plinius, n. h. VII, 48 kommt die Em-
boliaria Galeria Copiola vor; desgleichen finden sich im C. I. L. wiederholt
emboliarii.
608 Sechstes Kapitel.
odium) aufgeführt wurde, trat seit Ciceros Zeit der Mimus an
deren Stelle1). Schliefslich trennte sich der Mimus mehr und
mehr von den klassischen Aufführungen und wurde immer selb-
ständiger2). An den Floralien wurden schon sehr früh allein
Mimen aufgeführt. In der Kaiserzeit trat der Mimus auch sonst
selbständig auf dem grofsen Theater auf, und allmählich ver-
drängte er dann Komödie und Tragödie von ihrer angestammten
Bühne und ward auf ihr neben dem Pantomimus Allein-
herrscher.
Aber selbst da blieb noch ein deutliches Zeichen dafür er-
halten, dafs er von rechtswegen nicht dahin gehörte. Wenn die
Mimen auftraten, wurde vor den prächtigen Hintergrund, der
für Tragödie oder Komödie bestimmt war, das Siparium vor-
gezogen ; das war ein grofser Vorhang in Form einer Art Gardine,
die den hinteren Teil der Bühne von dem vorderen, auf dem die
Mimen auftraten, schied. Hinter dieser Gardine standen die
Mimen, und an wen die Reihe des Auftretens kam, der schlug
den Vorhang in der Mitte auseinander und trat hervor3), hinter
ihm aber ging die Gardine wieder zusammen.
!) Vgl. oben S. 604, Anm. 4 und S. 62.
2) Dafür ein eigentümliches, allerdings sehr verworrenes Zeugnis aus
Sueton bei Diomedes 1. III, Keil, Gr. L. I, p. 491, 492: primis autem temporibus,
sie uti adserit Tranquillus, omnia quae in scena versantur in comoedia agebantur. nam
et pantomimus et pyihaules et choraules in comoedia canebant. sed quia nön poterant
omnia simul apud omnes artißces pariter excellere, siqui erant inter actores comoe-
diarum pro facultate et arte potiores, prineipatum sibi artißcii vindicabant. sie
factum est ut nolentibus cedere mimis in artificio suo ceteris separatio fieret re-
liquorum. nam dum potiores inferioribus, qui in communi ergasterio erant, servire
dedignantur, se ipsos a comoedia separaverunt, ac sie factum est ut exemplo semel
sumpto unusquisque artis suae rem exequi coeperit neque in comoediam venire.
3) Zu Juvenal VIII, 186 Vocem, Damasippe, locasti sipario bemerkt der
Scholiast: siparium velum sub quo latent paradoxi (das sind die Mimen)
cum in scenam prodeunt, aut ostium mimi. Zu vergleichen ist auch Donat,
De Comoedia bei Kaibel, Com. graec. Fragm. S. 71 (Leo): siparia aetas
posterior aeeepit est autem mimicum velum, quod populo obstitit dum fabularum actus
commutantur. Sonst wird das Siparium noch bei Cicero und Seneca erwähnt.
Vgl. oben S. 64 u. S. 73, Anm. 1.
Form and Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 609
Als Petronius unter Kaiser Valens im Jahre 365 einen
Putschversuch machte, erschien er plötzlich vor den Soldaten,
blafs wie ein Gespenst, im prächtigen, goldgestickten kaiserlichen
Ornate, dem allerdings mancherlei mangelte, mit den purpurnen
Schuhen, in der linken Hand eine Lanze mit einem purpurnen
Fähnlein. So taucht, meint Ammianus Marcellinus, plötzlich
auf der Bühne im Mimus eine seltsam prächtige Erscheinung
hinter dem Vorhange auf).
Dieses Siparium war für den Mimus so typisch, dafs Juvenal
wie Seneca für Mimus einfach Siparium setzen2). So entbehrte
der Mimus einer bemalten Hinterwand. Im Mimus ist nichts
von Scenenmalerei, nichts, was wie im vornehmen Drama an
unsere Kulissen erinnern könnte. Doch gab es natürlich sonst
allerhand Requisiten. Chrysostomus nennt ausdrücklich das
Sopha, bekannt ist auch der grofse Kasten im Ehebruchs-
stück3). So wird also die Wohnstube durch allerhand Möbel
und häusliche Geräte angedeutet sein, die Kneipe durch Bank
und Tisch, desgleichen wird man das Gerichtslokal mit allerhand
besonderen Requisiten ausgestattet haben.
*) Amm. XXVI, 6, 15: Stetit Uaque subtabidus — excitum putares ab inferis
— nusquam reperto paludamento, tunica auro distincta ut regius minister, indutus
a calce in pubem in paedagogiani pueri speciem, purpureis opertus tegminibus pedum,
hastatusque purpureum itidem pannulum laeva manu gestabat, ut in theatrali scaena
simulacrum quoddam insigne per aulaeum vel mimicam cavillationem subito
putares emersnm. Solin gebraucht diesen Ausdruck gleichfalls für das ein-
fache Mimus: hie primum inventa est comoedia hie et cavillatio mimica in scaena
stetit. Collect. V, 13 (p. 50 Momms. ed. 2). aulaeum, das allgemeine Wort
für Vorhang, ist hier für das speziellere siparium gebraucht, denn es
handelt sich zweifellos um den Mimus. Das „simulacrum insigne" schreitet
durch das Siparium hindurch (per aulaeum), denn dieses ist „ostium mimi",
„Eingang des Mimus". Die „prächtige Erscheinung" ist wohl ein Gott oder
sonst ein überirdisches Wesen, wir haben an den mythologischen Mimus
zu denken. In simulacrum liegt der Begriff des Geisterhaften. Es ist auch
eben erst von den inferi die Rede. Zugleich haben wir hier wieder ein
neues Zeugnis für die Pracht, mit der gelegentlich die Mimen auftraten.
2) Vgl. oben S. 73, Anm. 1, und S. 148, Anm. 3.
») Vgl. oben S. 90 u. 503; S. 120, Anm. 5.
Bei eh, Mimus. qq
610 Sechstes Kapitel.
Ursprünglich ist diese höchst einfache Art der Inscenierung
daraus hervorgegangen, dafs der Mimus auf dem primitiven, auf
vier Pfählen aufgebauten Bretterboden, der seine Bühne be-
deutete, keine bessere ins Werk setzen konnte. Als er dann
später sich durch das Siparium den neugierigen Blicken der
Zuschauer vor dem Auftreten entzog, war dieser Vorhang einer
weiteren Ausstattung der Scene auch nicht förderlich, und so
behielt man die alte primitive Art der Aufführung bei und ver-
liefs sich auf die Phantasie der Zuschauer.
Ursprünglich war das nur Not, aber daraus wurde für das
grofse mimische Stück eine Tugend. Wir haben darauf hin-
gewiesen, wie in diesem blitzschnell die Scenen wechseln und in
bunter Reihenfolge an uns vorüberziehen, wie wir uns bald an
diesem, bald an jenem Ort befinden, weil uns der Mimus ge-
legentlich vom Himmel durch die Welt zur Hölle führt. Der
Mimus sagt eben einfach, jetzt sind wir hier, jetzt sind wir da,
damit war der Scenenwechsel vollzogen, und derselbe Tisch,
dasselbe Sopha und derselbe Kasten, die vorher das Wohn-
zimmer andeuteten, bezeichneten nun wieder das Innere einer
Kneipe u. s. w. Vor allem aber brachte dieser Mangel an In-
scenierung es mit sich, dafs der Mimus sich nicht, wie die andern
dramatischen Stücke, vor dem Hause und Palast, sondern ganz
realistisch-biologisch, wie es sich gehört, ebenso gut auch inner-
halb des Hauses abspielt. Die Familienscenen, die Kneipenscenen,
die Ehebruchsscenen spielen eben drinnen; das Sopha und der
Kasten standen doch gewifs nicht auf der Strafse, Genesius
liegt erkrankt bei sich zu Hause im Bette und Priester und
Exorcisten stehen dort um ihn herum. Also auch hier wieder
ein völliger Bruch des Volksdramas mit den Gewohnheiten des
klassischen Dramas.
Es ist eben alles ähnlich wie im Shakespearischen Drama,
das sich gleichfalls im grofsen und ganzen ohne Kulissen behilft,
wo von Scenenmalerei kaum die Rede ist und gelegentlich, um
eine Gegend zu bezeichnen, statt eines Bildes eine Tafel mit
ihrem Namen ausgehängt wurde. „Ein Tisch mit Feder und
Tinte machte aus der Bühne ein Geschäftslokal; zwei Stühle
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. Q\]
statt des Tisches bedeuteten eine Schenkstube, ein vorgeschobenes
Bett ein Schlafzimmer" ').
Überhaupt entspricht die Bühne der englischen Komödianten
völlig der Gaukelbühne des Mimus. Besonders lehrreich ist hier
eine Innenansicht des Schwantheaters, die Gaedertz nach der
Federzeichnung eines holländischen Kanonikus Johannes de Witt
(vermutlich aus dem Jahre 1596) herausgab*).
Da ist die Bühne einfach ein grofser viereckiger Bretter-
boden, der, genau wie bei der Phlyakenbühne. vorne auf zwei
Pfählen ruht. Auf der hintersten Seite allerdings sind nicht
mehr zwei Pfähle die Stützen. Dort ist an den Bretterboden,
weil es schon ein stehendes Theater ist, ein grofser Anbau für
die Schauspieler angebaut. Wie bei der Phlyakenbühne hatte
diese Bretterplattform etwa Brusthöhe.
Sogar von dem Siparium ist noch ein Rest erhalten, das
ist der Vorhang, der die hintere kleine Bühne von der vorderen
grofsen scheidet. Er war wie das Siparium eine zweiteilige
Gardine, vor welcher wie vor dem Siparium, wenn die hintere
Bühne verhüllt war, gespielt wurde und hinter welcher die
Schauspieler auf die eigentliche Bühne, wie die Mimen hinter
dem Siparium hervortraten. So sehen wir auf einer alten Ab-
bildung (aus dem Jahre 1662) des „Red Bull Theatre" den
Hintergrund der Bühne gröfstenteils von dem zweiteiligen Vor-
hange eingenommen. Vor diesem spielen auf der viereckigen,
nach vorn weit ausladenden, auf den übrigen drei Seiten völlig
freien Bühne sechs Schauspieler; der siebente schlägt eben die
Gardine auseinander und will hinter ihr hervor auf die Scene
*) Ulrici, Shakespeares dramatische Kunst I3, S. 127. Vgl. auch Delius,
Über das Englische Theaterwesen zu Shakespeares Zeit; ein Vortrag. Bremen
1853, S. 11 folg.
•) Zur Kenntnis der altenglischen Bühne. Bremen 1888. Vgl. a. a. 0.
S. 14: „Die Plattform scheint nach den Dimensionen des ganzen Baues
und nach der Gröfse der drei agierenden Personen etwa vier Fufs über dem
Erdboden sich zu erheben, sodafs das Auditorium, welches hier stehend zu-
schaute, nicht allzuviel die Bretter, welche die Welt bedeuten, überragte,
ein grofser erwachsener Mensch ungefähr bis zur Brusthöhe*.
39*
612 Sechstes Kapitel.
treten1). Da haben wir das mimicum velum sub quo latent
paradoxi 2).
Es ist bekannt, welche grofse Rolle im altenglischen Volks-
drama und besonders im Shakespeareschen Schauspiel Musik
und Tanz einnehmen. Häufig genug schauen wir bei Shakespeare
Tänzen zu und hören Musik. Nicht anders im Mimus. Die mannig-
faltigen Arien im Mimus wurden stets mit Musik begleitet, mit
den Tänzen wird es ebenso gewesen sein. Neben den Mimoden
und Mimodinnen stand stets ein Musiker, der ihnen aufspielte3);
bald ertönten Flöten, bald auch Pauken und Cymbeln. Mimaule
hiefs der Mimenflötner. In einem Epigramm wird der Flöten-
bläser Theon als Musiker im Mimus und bei den Vorstellungen
der Thymeliker gerühmt4). Der Mime, dessen Märtyrertod im
*) Siehe die Abbildung bei Kudolph Genee, Shakespeares Leben und
Werke. Hildburghausen 1872. S. 77.
2) Allerdings ist dieses Siparium auf der englischen Bühne nur ge-
legentlich im Gebrauch gewesen, es ist eben nur noch ein Rudiment; denn
seinen Zweck, die Mimen vor ihrem Auftreten den Blicken der Zuschauer
zu entziehen, erfüllte ja auf der stehenden englischen Bühne schon die Wand
des Schauspielhauses, aedes mimorum, wie es de Witt auf seiner Zeichnung
nennt.
3) So heifst es, Ath. 621b, vom Hilaroden: ipüXXei ö' ai/rai uqqtjv rj &r]Xua,
<ag xal tqi avX(i)S(o und vom Magoden: rv/xnava e%ei xal xv{xßaXa.
4) 'HSvXov
Tovio Q£wv 6 fiovavXog vif r)qCov 6 yXvxvg olxel
avXrjTrjs, fiC/nwv xr)v &V[X 4X tjOl ^«pi?.
TvcfXog vnai yr\q(ag ofycoxs, ZxiqtiüXov vl6g,
vrjncov ov y' IxäXu JExtonaXog EvnaXa/xov,
xväa(v(ov ccvtoi Ta yeve'&Xia' tovto ycto efye,
rdv naXafidv ägSTav aloifia ar\fxavi(av.
HvXei de rXavxrjg fiifxs&vafxiva nalyvta Movoimv,
xal tov iv dxorßoig BärruXov TjdunÖTrjV,
rj tov KcoraXov, r) tov üäyxaXov dXXa &4wva
tov xaXafiavXriTTjV elnaTe, xa'Qs ö^wv.
Anth. Pal. III, S. 110.
Was die Thymeliker betrifft, will ich hier auf die vortreffliche von Erich
Bethe angeregte und ihm zugeeignete Dissertation von Frei hinweisen: „De
certaminibus thymelicis" sowie auf Bethes Abhandlung: „Thymeliker und
Skeniker". Hermes 36, 1901 , S. 597 folg. In dem Anhange des zweiten
Bandes über die Verfassung der Mimentruppen werde ich Veranlassung
Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 613
Jahre 287 die Stadt Antinous in Ägypten so sehr betrübte,
war neben seiner Kunst als Mime zugleich ein guter Musiker,
natürlich im Mimus (vgl. oben S. 179),
Claudian schildert in dem sechsten griechischen Epigramm
eine Mime. Das häfsliche alte Weib hat sich wunderlich heraus-
geputzt, das graue Haar aus dem Gesichte fortgekämmt und
rote Schminke aufgelegt und nun tanzt sie, die Brüste ordent-
lich aufgepolstert, im leichten Röckchen mit unter den Miminnen
und schlägt mitjauchzend lustig ihre Castagnetten aneinander1).
Es wird zwar vom Chor gesprochen, aber es ist natürlich nicht
etwa an einen Chor im Stile des klassischen Dramas zu denken.
Ich habe schon oben der Scharen von niederen Miminnen ge-
dacht, welche die Bühne erfüllten, sie hatten vor allem zum
Schalle der Musik lustige Tänze aufzuführen; wie man im
modernen Drama oder der Oper gelegentlich ein Ballet einlegt.
Die alte Mime bei Claudian gehörte eben zum Corps de ballet.
Wie im modernen Schauspiel mögen diese Ballettänzerinnen
im mythologischen Mimus als Genien, Nymphen, Hören oder
sonst etwas erschienen sein und in den biologischen Mimen,
wo so vielfältige Feste, Hochzeiten, Gelage vorgeführt werden,
war gleichfalls die Einlage eines lustigen Tanzes motiviert.
Zwischen diesen mehr phantastischen und üppigen Tänzen wird
es dann aber noch allerhand Charakter- und Grotesktänze von
Seiten der Narren und Rüpel gegeben haben wie bei Shake-
haben, auch auf diese Fragen vom Standpunkte des Mimus aus einzugehen.
— Wir haben oben S. 303 schon darauf hingewiesen, dafs die Paegnia der
Glauke mimische Paegnia, Mimodien, waren.
x) Eis fii/uäSa yt}Q(iaaaav xal xaXXaTH^Ofxfvrjv ryoxrv aXtufou{vr,v
ra riöv ywa$xdv uuyyavtiuaitt.
Ma^Xag tvxooici).oKJiv ävtväCovOa ;fop«fa«s,
Msvya 7ia).).ouhoioi uväyuaai %aXxov uoäaatt.
Ij ulv imoxXimsiv noXir]v rp(ya, yttxova AIol^s
i\lt[xüjois [<5'\ axrTat xagclaotTctt ouuajog aiyr\.
ipfvdöutvov 6' ?Qi&T)/*a xatiyQaxptv a^Qoos alöovg,
uyXaiij ar(\paaa v6&tj xixalvuuivu utlrj.
Ludwich, Eudociae Augustae, Prodi Lycii, Claudiani
carminum graecorum reliquiae S. 178.
614 Sechstes Kapitel.
speare, verlangt doch Choricius die Ausbildung im Tanze von
allen Mimen. Ausdrücklich wird der Tanz für den Mimus auch
bezeugt durch Dio Chrysostomus *).
So zeigt denn die alte Mimenbühne dieselbe Einfachheit
wie das moderne Volkstheater. Nur ein Luxus ist auf der
mimischen Bühne von den oben bezeichneten Personen, dem
Liebhaber, dem cultus adulter und dann besonders von den
schönen Miminnen getrieben worden: sie glänzten gerne in
Prunkgewändern. Ganz derselbe Kleiderluxus hat bei den eng-
lischen Komödianten im Gegensatz zur Dürftigkeit ihrer Scene
geherrscht; und wenn der Philosoph Diogenes sein Purpur-
gewand und den goldenen Kranz, den Ehrenlohn seines Königs,
an eine Mimin wegschenkt, so borgten nach der Restauration
König Jacob und seine Kavaliere den Komödianten ihre Krönungs-
kleider2).
Da wir nun genug neues Material zusammengetragen haben,
um wenigstens eine annähernde Vorstellung haben zu können
von dem, was der Mimus in seiner höchsten Vollendung wirklich
ist, müssen wir den Hellenismus auch hier preisen und verehren,
wo man ihn so schnöde und so schmählich verkannt hat. Da
der hohe, ideale Ernst der reinen, strengen Tragik nicht mehr
eine Statt hatte auf dieser Welt, setzte das griechische Volk
den göttlichen Humor an deren Stelle, den Humor, der auch in
dem modernen Drama seit Shakespeare die gröfste Rolle spielt,
und setzte an die Stelle der mythischen die biologische Welt-
betrachtung, die gleichfalls im modernen Drama die herrschende
geworden ist. Der Mimus, der es verstanden hat, realistische
Biologie mit übermütiger Phantastik, Humor mit Ernst, Niedriges
mit Erhabenem, Narrheit mit Weisheit, Narren und Rüpel mit
Kaisern und Göttern, Prosa mit Lyrik, Volkssprache mit höchster
x) Er fährt unmittelbar an der oben S. 570, Anm. 3 citierten Stelle, wo
er von Mimen in Vers und Prosa spricht, weiter fort: op/qff«? T* kqos rov-
tois xaraXvtiv dasXyeTg, xal ff^jj^uara fraiqixä yvvaixwv Iv OQx^Otaiv, dxoXd-
otois, ttvXt]fxüx(av ts cj-sts xal nuQavöfiovs qvd-fxovg x. t. X. Hier haben wir
also auch wieder die Flötenmusik im Mimus.
2) Vgl. Elze, William Shakespeare, S. 264 u. Shakespeare. Jahrb. IV, 148.
Form nnd Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 615
Kunstsprache zu vereinen, er fand die freieren Formen der dra-
matischen Dichtung wie der schauspielerischen Darstellung, in
denen sich fortan auch das moderne Drama bis und seit Shake-
speare bewegt hat, soweit es ein Volksdrama und ein Drama
des lebendigen Lebens ist. Der Mimus ist in seiner höchsten
Vollendung am Beginne der christlichen Ära das grofse moderne
Drama der Antike, das Drama des griechisch-römischen Welt-
reichs, das mit seiner Biologie dem damaligen Leben in der
grofsen griechisch-römischen Kulturwelt gerecht wurde. So
können wir auch die dämonische Anziehungskraft des Mimus
verstehen und begreifen, wie es möglich war, über ihm Aeschylos
und Sophokles, Euripides und Menander zu vergessen. Auch
hier ist schliefslich , recht verstanden, die Weltgeschichte das
Weltgericht gewesen.
SIEBENTES KAPITEL.
Karagöz.
(Der Mimus im Orient.)
Motto: Mit Aufmerksamkeit betrachte dieses Himmelsgewölbe
Diese Welt ist dem Schatten ähnlich für Kenner.
Was man äufserlich sieht, ist ein Vorhang,
Aber es ist eine Allegorie auf die Welt.
Wähne nicht, dieser Vorhang bestehe lediglich, aus
Schattenbildern,
Wenn man ihn in Wahrheit betrachtet, ist er der Platz
lehrreichen Exempels.
Die zeitlichen Vorgänge zeigt der Vorhang,
Was alles gekommen und vorübergezogen ist in ver-
gangener Zeit.
Diese elende Welt ist keinem zum dauernden Aufenthalt
beschieden,
Ohne Dauer hat geschaffen die Majestät, welche man
um Beistand anfleht.
Alle, die kommen, gehen wieder, bis die Vernichtung
eintritt.
Was man sieht, ist Schatten im Schatten.
Das ist von Gott unser bescheidenes Gebet.
(Prolog zu Schejtan dolaby ja^od Karagözün dschindschiliji.
Die Teufelslist oder die Geisterbannerei des Karagöz. Jacob.)
I.
Die modernen Nachrichten Über Karagöz.
Wir haben gesehen, wie der Mimus in seiner eigent-
lichen Heimat, im griechischen Osten, sich immer behauptet
und weiter geblüht hat wie nur je in den Tagen seines alten
Glanzes, zur Zeit Alexanders und der Diadochen und zu Phi-
listions Zeit. Ich will die einzelnen Momente noch einmal hier
Die modernen Nachrichten üher Karagöz. 617
kurz zusammenfassen. Ich erinnere an den Christ ologischen
Mimus:
275 starb der Mime Porphyrius als Märtyrer,
279 „ „ „ Gelasinus in Heliupolis,
284 „ „ „ Philemon in Antinous,
298 „ „ „ Ardalio,
362 „ „ zweite Porphyrius in Konstantinopel.
Am Ende des vierten Jahrhunderts schleudert Johannes Chry-
sostomus seine Invektiven gegen den in Pracht und Herrlichkeit zu
Antiochia und Konstantinopel blühenden Mimus. Der Mimus nimmt
an den kirchlichen Streitigkeiten Anteil, und wie Chrysostomus
selbst berichtet, werden seine Gegner, die Bischöfe Severianus
und Antiochus, auf der mimischen Bühne verhöhnt, zweifellos
aber Chrysostomus, der Feind des Mimus, in noch höherem
Grade. Andere Kirchenväter, wie ein Bischof von Ephesus und
wie Dioscoros, der Patriarch von Alexandria, waren dem Mimus
geneigt (vgl. oben S. 154). Im fünften Jahrhundert peroriert
des Chrysostomus Schüler, der Asket Nilus, gegen den über-
mächtigen Mimus. Am Beginne des sechsten Jahrhunderts nimmt
sich dann Choricius des Mimus mit der gröfsten Energie an.
Wir lernen von ihm, wie der Mimus damals wie in den früheren
Zeiten die grofse Bühne beherrscht und den Beifall des Volkes
wie der Gebildeten hat. So geht es in Byzanz weiter durch die
Jahrhunderte hin. Theophilus, der letzte der bilderstürmenden
Kaiser (822—849) ward durch die Mimen an Recht und Ge-
rechtigkeit gemahnt (vgl. oben S. 191). Noch Michael Psellos
(elftes Jahrhundert) tadelt seine Studenten wegen ihres gar zu
grofsen Eifers für den Mimus, der sie das Colleg schwänzen
läfst (vgl. oben S. 153), und ärgert sich über seinen Schwieger-
sohn, der trotz seiner hohen Stellung mit den Mimen lebt
(vgl. oben S. 166), Prodromus (zwölftes Jahrhundert) heifst
voller Zornes die Gelahrtheit sich zum Teufel scheren, da
sie nur Not und Armut bringt. Nur die Mimen gewinnen
Geld und Ehre (S. 162 u. 163). Zonaras (Anfang des zwölften
Jahrhunderts) berichtet von Mimen, die auf dem grofsen
61g Siebentes Kapitel.
Theater aufgeführt wurden, also von Hypothesen (S. 134 folg.).
Desgleichen spricht Manuel Philes (um 1300) von den Mimen,
die im Theater vorgeführt werden (S. 135). Vergessen habe
ich noch den byzantinischen Prokonsul Theodorus, der dem ver-
storbenen Mimologen Tityros Ehre und Ansehen auch in der
Unterwelt verspricht (S. 156).
Also der Mimus hat in Byzanz bis ans Ende des Mittel-
alters geblüht. Dieser byzantinische Mimus, der das aktuelle
byzantinische Leben kritisierte und illustrierte, der, wie er
einst die Christen verhöhnt hatte, später an allen christlichen
und kirchlichen Streitigkeiten teilnahm, der sich nicht scheute,
Mönche und Nonnen vorzuführen, der aber ebenso auch alle
die zahlreichen Typen und Figuren verschiedener profaner Stände
und Berufe, Nationen und Rassen, die sich auf dem völker-
wimmelnden Bazar des hellenischen Byzanz, wie heute - des
türkischen Stambul drängten, mimisch abkonterfeite — so ist
uns z. B. der Araber und der Armenier als Typus des byzan-
tinischen Mimus direkt überliefert (vgl. S. 134, Anm. 4) — ,
dieser byzantinische Mimus schilderte wie der hellenische über-
haupt die Gegenwart. So bildete er einen bedeutsamen Gegen-
satz zur byzantinischen Gelehrsamkeit, Theologie, Philosophie,
Philologie, die wesentlich nur in der Vergangenheit lebte.
Aber als den Klassiker des Mimus nannte man durch alle
diese Jahrhunderte hin doch immer Philistion, der schliefs-
lich als der wahre Weise und Philosoph galt. Wie viel würde
uns dieser byzantinische Mimus von der damaligen Kultur und
dem damaligen Volksleben lehren; um so bedauerlicher ist, dafs
wir aufser den Nachrichten bei Choricius nichts Näheres über
ihn erfahren. Doch wie der Mimus in der alexandrinischen
Epoche sich ins Lateinische umgewandelt hat, so hat er gegen
das Ende der byzantinischen Ära noch einmal eine höchst selt-
same Metamorphose mit sich vorgenommen. In dieser Meta-
morphose hat er sich bis auf unsere Tage erhalten, und in ihr
werden wir seiner noch heute habhaft.
Im islamischen Oriente, vornehmlich bei den Türken, giebt
es ein merkwürdiges Puppenspiel „Karagöz", das erst in den
Die modernen Nachrichten über Karagöz. 619
letzten Decennien näher bekannt geworden ist1). Man hat es
mit unserem Kasperletheater, auch mit der Commedia dell' arte,
J) Allerdings berichtet darüber im 17. Jahrhundert schon der fran-
zösische Reisende Thevenot, wie Jacob, Karagözkomödien, 1. Heft, S. IV, be-
merkt (der VI. Jahresbericht der geographischen Gesellschaft zu Greifswald
1896 war mir nicht zugänglich). Ich setze diese Stelle aus der deutschen Über-
setzung des Thevenotschen Reiseberichtes (Frankfurt a. M. 1693) Erstes Buch,
S. 48 u. 49, hierher: „Es deucht mich, dass ich mit unter ihre Ergötzlich-
keiten die Marionetten oder Gaucklers-Püppgen rechnen könne, denn obwol
die Türeken gantz keine Bilder bey ihnen leyden, so unterlassen sie doch
nicht solche Puppen zu haben, mit denen sie zwar nicht öffentlich spielen,
aber doch besonders in Häusern, ob sie schon in wehrenden Ramadan die Nacht
von einer Cahvehane zu der andern gehen, und wenn sie daselbst viel Geld
bekommen, damit agiren, wo nicht, dasselbe wieder geben und davon gehen.
Es seynd gemeiniglich Juden, die diese Marionetten auff führen, und ich habe
keine andere gesehen, alleine sie gepaaren darmit gantz anders als in Franck-
reich; Sie setzen sich in der Cammer in einem Winckel, und nach dem sie
einen Teppich vor sich gezogen haben, in welchem oben ein Durchschnitt
oder viereckigt Loch, mit einem Stück weisser Leinwad ohngefehr 2. Schuch
vermacht ist, zünden sie darhinder viel Lichter an, und wann sie auf diesem
Tuche mit dem Schatten ihrer Hände unterschiedene Thiere vorgestellet
haben, so brauchen sie kleine schlechte Bilder, die hinter solcher Leinwad
von ihnen so artig bewegt werden, dass dieses, meinen Erachten nach, eine
bessere Vorstellung giebt als die unsere, und singen immittelst allerhand
Lieder in Türckischer und Persianischer Sprache, derer Inhalt aber mit sehr
unflätigen und unerbaren Schand-Possen angefüllet ist, und dennoch haben
sie grosse Lust dieselbe mit anzusehen, wie mich denn ein Abgefallener,
bey dem ich eines Abends zu Tische war, mit dergleichen Puppenspiel rega-
liret. Der Herr, dem er zustünde, war damaln in Candia bey dem Hussein
Bassa, Generain der Türckischen Armee. Desselben Frau, welche auch Theil
an der Erlustigung dieser Puppen haben wolte, liefs einen Teppich vor die
Thür ihres Zimmers, das dem Saale, wo wir uns auffhielten, gegen über lag,
ziehen, damit sie nicht von uns gesehen werden möchte und gieng nicht ehe
weg, biss das Spiel seine Endschafft hatte, welches dann, weiln es über drey
gantzer Stunden gewehret, umb 1. Uhr Nach-Mitternacht geschähe. Dann
sie können es so lang verschieben als sie wollen; und ich wunderte mich,
dass die Frau sich nicht geschämet hatte diese Unflätereyen mit anzusehen,
die ihr Caragheuz, die Principal-Person unter diesen Poppen machte." Aus-
führliche Berichte und Abhandlungen über das Karagözspiel finden sich aber
erst sehr viel später:
1854 bei Rolland, La Turquie contemporaine.
1862 bei Gerard de Nerval, Voyage en Orient.
620 Siebentes Kapitel.
ja, selbst mit den burlesken Scenen der aristophanischen Komödie
verglichen und sich Karagöz, dem türkischen Lustigmacher, gegen-
über an Harlekin und Pulcinell, Scapin und Turlupin, an Kasperle
und auch an den ungarischen Paprika -Jancsi erinnert. Nur
steht unser Kasperlespiel auf einer niedrigeren Stufe wie die
islamische Puppenkomödie, die in ihren besten Leistungen der
italienischen Commedia dell' arte nicht viel nachgiebt.
Im Fastenmonat Ramasan, in dem die Mohammedaner den
Tag verschlafen und die Nacht zum Tage machen, finden in den
Städten des türkischen Reichs Karagözaufführungen statt1). Schon
1870 bei von Maltzan, Reise in den Regentschaften Tunis und Tripolis
Bd. I, S. 232-238.
1882 bei Jean Lux, Trois mois en Tunisie.
1884 bei Paul Arene, Vingt jours en Tunisie.
1888 bei Champfleury, Histoire de la Caricature 6, S. 1 — 116, wo sämtliche
französische Quellen über Karagöz sorgfältig zusammengestellt sind.
Eine eindringende, wissenschaftliche, auf gelehrter Kenntnis des
Türkischen und Arabischen basierende Erforschung des Karagöz ward
erst in der letzten Zeit durch Künos, von Luschan und Jacob begonnen.
1886 veröffentlichte Künos unter dem Titel Haran Karagös Tätek den Text
dreier Karagözstücke mit ungarischer Übersetzung. •
1887 Künos, Über türkische Schattenspiele („Karagös"). Ungarische Revue,
VII. Jahrgang S. 425—435.
1889 von Luschan, Das türkische Schattenspiel, Internationales Archiv für
Ethnologie Bd. II, S. 1—9, 81—90, 125-143.
1892 Künos, Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn, Bd. II, S. 148—158.
Text und Übersetzung des Salyndschak ojunu.
1899 Jacob, Karagöz -Komödien, Heft I „mit einer (sehr gelehrten und
scharfsinnigen) Einleitung über das islamische Schattenspiel versehen",
— Heft II — Heft III.
Erwähnen will ich noch Quedenfeld, Das türkische Schattenspiel im
Magrib. Ausland, Jahrgang 63 (1890), S. 904ff.
Vornehmlich folge ich hier Jacob, von Luschan und Künos, wenn ich
auch mit Vorsicht hier und da die Berichte der Reisenden, die des Türki-
schen und Arabischen garnicht oder nicht vollkommen mächtig waren, inso-
fern ich sie durch die Untersuchungen der drei genannten Gelehrten be-
stätigt gefunden habe, und Champfleury heranziehe.
x) Allerdings finden Karagözaufführungen auch bei sonstigen Festen
und Lustbarkeiten statt, so bei Beschneidungen und Hochzeiten (vgl. Murad
Die modernen Nachrichten über Karagöz. 621
an den Vormittagen werden an den Caf6s, in welchen Vorstel-
lungen stattfinden sollen, Plakate mit bunten Karagözfiguren aus-
gehängt. Nach Eintritt der Dunkelheit beginnt das Schauspiel.
Eine Ecke des viereckigen Gemachs ist durch eine spanische
Wand abgetrennt. In ihr befindet sich ein viereckiger Ausschnitt
(perde), der mit einem weifsen Leinen oder weifsem Ölpapier
überspannt ist. Das Innere dieses Verschlages oder Kastens, der
an unsere Kasperlebuden erinnert, wird durch eine Öllampe
gleichmäfsig erhellt, welche die Puppen beleuchtet und ihre
Schatten auf den weifsen Vorhang wirft. Drei Personen pflegen
im Räume dieses Kastens zu agieren, der Puppenlenker, der
Karagödschi oder Hajaldschy (Schattenspieler) und zwei Musi-
kanten; manchmal macht der Hajaldschy die Musik auch selbst1).
Wenn das Spiel beginnen soll, drückt er die bunt bemalten,
aus Kameelleder geschnittenen, mit Gelenken versehenen Figuren3)
gegen den weifsen Vorhang. Damit ist die Scene eröffnet.
Die Hauptfigur ist Karagöz3); sein Gegenspieler ist Ha-
dschievad. Aufserdem erscheinen vornehme Herren, der Sultan
und Pascha, Bankiers und Kaufleute, Beamte und fremde Ge-
sandte, daneben niederes Volk, Derwische und Pilger, Polizisten,
Schulmeister, Bauern, Höker, Kneipwirte, Zuhälter, Ausrufer,
Lastträger, Holzhacker, Fischer, Eseltreiber, Schiffer, Ruder-
knechte, Diebe und Räuber, neben der verheirateten Frau und
ihren Töchtern Mägde, Hetären und Tänzerinnen. Es finden
sich Perser und Araber, Griechen und Franken, Lasen, Arnauten,
Armenier, Juden und Neger. Jede dieser Typen spricht ihren
Efendi, Türkische Skizzen S. 217, vgl. auch S. 93). Überhaupt wird an
regnerischen Winterabenden in den Hafenstädten gewöhnlich in irgend
einer Matrosenkneipe Karagöz gespielt (vgl. von Luschan a. a. 0. S. 1).
x) Vgl. die eingehende Beschreibung bei von Luschan a. a. 0. S. 2—5.
2) Vorzügliche Abbildungen von nicht weniger als 38 Figuren finden
sich bei von Luschan ; auch bei Champfleury sind mancherlei Figuren in den
Text eingestreut; doch sind dort sogar die Hauptpersonen Karagöz und
Hadschievad, wie der Vergleich mit Luschan lehrt, verwechselt.
3) Schon zur Zeit von Thevenots Reise (1652) war also die Einrichtung
des Karagöz wie auch der Name identisch.
622 Siebentes Kapitel.
besonderen Dialekt. Auch allerhand Tiere und Ungeheuer spielen
mit. Dieses türkische Puppenspiel giebt ein getreues, realistisch-
humoristisches Bild des türkischen und des orientalischen Lebens
überhaupt.
In allen Städten und Plätzen des weiten türkischen Reiches
ist dieses volkstümliche Schauspiel verbreitet, selbst in Arabien,
Ägypten, Tunis und Tripolis findet es sich, natürlich in arabischer
Sprache; es giebt sogar von ihm eine persische Abart1).
Wo stammt dieses burleske Volksdrama des islamischen
Orients her, das eine so überaus singulare Erscheinung ist, da
der Orient — von Indien und Indonesien, China und Japan
sehen wir hier vorläufig ab — eigentlich keine Schauspiele hat2)?
Schon Champfleury hat sich die gröfste Mühe gegeben,
dieses Problem zu lösen. Er hat sich bei allen französi-
schen Orientalisten danach erkundigt, aber das Resultat war
J) Vgl. Chodzko, Theätre persan. Paris 1878, S. XV folg.
2) Vgl. darüber oben S. 80. Hierüber will ich noch die treffenden Be-
merkungen Murad Efendis, dieses so hervorragenden Kenners des Orients, geben
(S. 93— 94): „Das Drama hat im ganzen Orient niemals eine Stätte gefunden.
Namentlich weist die Literatur der Mohamedaner nirgends einen dramatischen
Versuch auf. Selbst die Araber, voreinst im Mittelalter die Leuchten der
Bildung, haben diese Dichtungsform nie berührt, obschon ihnen die Anregung
hiezu von den alten Griechen hätte kommen müssen. Der Hauptgrund dafür
dürfte darin liegen, dass das Übersinnliche den Muselmanen eben näher steht,
als das rein Menschliche. Ihr öffentliches, sowie ihr privates Leben, dem
immer eine gewisse Dosis Opium beigemengt scheint, lässt sich überdies
wenig dramatisch an. Der innerlich tragische Confiikt ist bei ihnen auf
ein Minimum von denkbaren Fällen beschränkt. Ihr „Es ist geschrieben"
und „Wenn es Gott will" ist denn doch verschieden von dem Fatum der
alten Griechen, das sich sinnlich und sozusagen in menschlicher Gestalt
äusserte. Für Mummereien im weiteren Rahmen waren sie zu ernst und
die Darstellung von Mysterien hätte ihr streng religiöser Sinn niemals ge-
stattet. So finden wir bei ihnen nirgends jene Anfänge, aus denen sich die
Bühne der meisten abendländischen Völker entwickelt hat, um sich später,
zumeist nach griechischem Vorbild, weiter zu bilden. Und selbst die Perser,
die hier wie bei der bildlichen Darstellung weiter gehen als die übrigen
Mahomedaner, und die Passionsgeschichte Hassan's und Hussei'n's, der Söhne
Alis, in der Weise unserer Mysterien darstellen, sind über diese Anfänge
nie hinweggekommen".
Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel. 623
negativ1). Im Grunde glaubt man heute, weil das Schatten-
spiel in China, Japan, Siam, in Indonesien und besonders auf
Java heimisch ist, der Karagöz stamme aus Ostasien2). Aber
auch hierfür hat sich sonst nicht der mindeste Beweis erbringen
lassen. Im Gegenteil macht Jacob geltend, dafs gerade die Ost-
türken den Karagöz nicht haben'). Das Einfachste wäre es also,
die Karagözspiele , die humoristisch -dramatischen Äufserungen
des türkischen Volkstumes, als türkische Erfindung anzusehen.
Dazu scheint Künos zu neigen, wenn man die Bemerkung pressen
darf: „Letztere Erscheinung (Karagöz) ist hauptsächlich deswegen
interessant und bemerkenswert, weil kein anderes islamitisches
Volk im Oriente derartige, wenn auch noch so elementare An-
fänge einer dramatischen Dichtkunst aufzuweisen hat"*).
Aber wer möchte eine solche Erfindung vor allen islamitischen
Völkern gerade den in der Poesie so wenig begabten und er-
findungsreichen Türken zutrauen?
IL
Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel.
Für jeden, der mit uns die Entwicklungsgeschichte des
Mimus vom uralten, mimischen Tanze her bis zum alexandrini-
schen, griechisch-römischen und byzantinischen Mimus verfolgt
hat, ist dieses grofse Problem erledigt. Der byzantinische
Mimus hat im Reiche der Rhomäer geblüht, als die Türken
es im Laufe der Jahrhunderte allmählich eroberten. In allen
türkischen Städten, in denen heute Karagöz vor dem jubelnden
Volke seine Possen treibt, gab vorher der Mime seine Späfse
zum Besten; in ihnen hat Karagöz einfach den hellenischen
fitfiog yeXoicov abgelöst. Mit den Schätzen dieser Städte ge-
wannen die Türken auch den byzantinischen Mimus, nur dafs
lj Vgl. a. a. 0. S. 17.
3) Vgl. von Luschan a. a. 0. S. 139—140.
s) Heft I, S. in und IV.
*) a. a. O. 8. 425.
624 Siebentes Kapitel.
er bei ihnen türkisch sprechen mufste, wie er vor V/2 Jahr-
tausenden bei den Römern lateinisch sprechen lernte. Der
hellenische Miraus mit seinem mimischen Tanz und seinem Ge-
berdenspiel machte sich von vornherein auch den Barbaren
leicht verständlich. Und wie die Mimen einst das Interesse der
Römer und der Gothen gewannen, so errangen sie auch den
Beifall der Türken und ihrer Sultane1). Die byzantinischen
Mimen hatten Zeit genug dazu; denn jahrhundertelang bestand
die türkische Macht neben der byzantinischen; bis endlich
Byzanz in der Türken Gewalt fiel (1453). Da ward Kon-
stantinopel die Hauptpflegestätte des Karagöz, wie es früher die
des Mimus gewesen war. Bis zu Konstantinopels Fall, vielleicht
noch kurze Zeit darüber hinaus, existiert der byzantinische
Mimus. Im Jahre 1652, also zwei Jahrhunderte später, wird uns
durch Thevenot bestätigt, dafs es ein altes Volksschauspiel,
„Karagöz", bei den Türken gab. Der Karagöz schliefst sich also
unmittelbar an den byzantinischen Mimus an; es klafft dort
keine Lücke, und die Ähnlichkeit dieser türkische Fortsetzung
des hellenischen Mimus mit ihrem Urbilde ist so aufserordent-
lich, dafs wir auch ohne jedes Zeugnis den Zusammenhang
zwischen Karagöz und Mimus für gesichert ansehen könnten2).
*) So ist andererseits heute noch der Karagöz mit seinen mimischen
Gebärden den Reisenden nicht ganz unverständlich, auch wenn sie wenig
oder garnicht Türkisch können.
2) Für das hohe Alter des Karagöz (zu deutsch „Schwarzauge") spricht
es auch, dafs dieser Harlekin seinen Namen von Bahü-ed-Din Qaraqüsch,
einem bei dem grofsen Saladin in höchsten Ehren stehenden Staatsmanne
hat, der nach seinem Tode (1201) wegen seiner Thätigkeit als höchster
Richter in Ägypten von einem Feinde in dem „Buch des Hohlschädels über
die Entscheidungen des Qaraqüsch" verspottet wurde. Das hat Casanova
„Karakoüch, sa legende et son histoire" — Communication faite ä l'Institut
egyptien, Le Caire 1892 und „Karakoüch" — Memoires publies par les
membres de la mission archeologique francaise du Caire, Tome sixieme, Paris
1897, S. 447 folg. bewiesen. Vgl. auch Jacob a. a. 0. Heft I, S. VII. In diesem
Pamphlet wurden allerhand alberne, nichts weniger als salomonische Urteile
des Qaraqüch aufgeführt. Daraus wurde schliefslich durch Hinzufügung
allerhand lustiger Schnurren eine Art Volksbuch, etwa im Stile des Philo-
Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel. 625
Aber es fehlt selbst nicht einmal dieses direkte Zeugnis.
Als Manuel Palaeologus an den Hof des Türkensultans Bajazet
als Gesandter kam, fand er dort Scharen von hellenischen
gelos. Das mögen ein paar von diesen Schnurren erläutern, die ich aus
Casanova S. 485 folg. übersetze:
Ein kurdischer Soldat war in eine Barke gestiegen, in welcher ein
Landmann mit seiner Frau sich befand, und schlug die Frau, welche im
siebenten Monat ging, so roh, dafs sie eine Fehlgeburt zur Welt brachte.
Auf die Klage des Landmannes verurteilte Karagöz den Soldaten, die Frau
zu sich zu nehmen, sie zu ernähren, bis sie im siebenten Monat ginge,
und sie dann dem Gatten wiederzugeben. Da sagte der Landmann: „Herr,
ich nehme meine Klage zurück und vertraue mich der Gerechtigkeit Gottes
an". Dann nahm er seine Frau und ging davon.
Zur Zeit des Karagöz war etwas gestohlen; die Besitzer trugen ihm
ihre Klage vor, und er fragte sie, ob die Strafse, in welcher sie wohnten,
durch ein Thor geschlossen sei. Auf ihre bejahende Antwort liefs er das
Thor zu sich bringen und befahl, es zu schliefsen. Während man seine Befehle
vollstreckte, legte er sein Ohr an das Thor und sprach leise mit ihm. Darauf
liefs er die Bewohner der Strafse kommen und sagte zu ihnen in Gegenwart
des Thores: „Dieses Thor hat mir gesagt, dafs derjenige, welcher die Sache
gestohlen hat, eine Feder auf dem Kopfe hat". Der Dieb, welcher dabei war,
führte unwillkürlich die Hand nach dem Kopfe. Karagöz sah es und liefs
ihn prügeln, um von ihm ein Geständnis zu erhalten. Der gestand den
Diebstahl und gab die gestohlene Sache zurück, welche Karagöz ihrem
Eigentümer zustellen lief?.
Jährlich setzte er für Almosen eine beträchtliche Summe au?. Als die
Summe erschöpft war, kam eine Frau, erzählte ihm, dafs ihr Mann gestorben
sei, und dafs sie kein Leichentuch habe, um ihn zu bedecken, und bat ihn, er
solle ihr eines geben lassen. „Die Summe ist für dieses Jahr erschöpft*, sagte
er, „komme im nächsten Jahre wieder; dann werde ich dir ein Leichentuch
geben lassen." Die Frau ging verblüfft zu ihrem Toten, bedeckte und begrub ihn.
In Misr (Foustät) gab es einen Kaufmann, welcher habgierig war, und
sein Sohn borgte viel, indem er seineu Tod erwartete. Aber die
Schulden wuchsen, und der Vater starb nicht. Der Sohn kam also mit seinen
Gläubigern überein, ihn lebendig zu begraben. Die Gläubiger kamen also
mit ihm, nahmen den Vater, wuschen ihn, deckten ihn zu und legten
ihn auf eine Bahre. Vergebens bat und schrie er. Man versammelte sich
um seinen Sarg wie zu einem dhikr [einer religiösen Ceremonie, bei der
man viel schreit], schrie um ihn und betete. Es traf sich, dafs Karagöz
vorbeiging. Er steigt (vom Pferde) herab, um xu beten. Der Tote hört es
und schreit: „Gott sei gelobt; die Befreiung naht." Er richtet sich auf
seinem Platz auf der Bahre auf und sagt: „Herr Sultau, gieb mir Recht
Reich, Mimus. aq
626 Siebentes Kapitel.
Mimen1); sobald diese türkisch sprachen, war aus dem Mimus
der Karagöz geworden.
Des Mimen Wahrzeichen ist der Phallus. Ihn trägt der alt-
hellenische Mime, wie der alexandrinische und byzantinische. Ihn
tragen alle Abkömmlinge des Mimus, der alte Komöde wie der
Phlyake, der Atellanenspieler wie der lateinische Mime, und weil
Karagöz ein Abkömmling des Mimen ist, trägt auch er ihn noch heute 2).
gegen meinen Sohn, der mich lebendig begraben will". — „Wie", ruft er,
„du willst deinen Vater lebendig begraben?" — „Er verläumdet micb, Herr
Sultan; wenn ich ihn gewaschen habe, so geschah es, weil er tot war; wenn
ich ihn herausgetragen habe, so geschah es, weil er tot war. Die Dabei-
stehenden werden das bezeugen". — „Ihr bezeugt das?" sagt Karagöz zu
den Umstehenden. — „Wir bezeugen das, was der Sohn gesagt hat". Darauf
wendet sich Karagöz zu dem Toten und sagt: „Dir allein soll ich glauben,
um alle diese Leute Lügen zu strafen? Lafs dich ohne weitere Widerrede
begraben. Wenn die Toten mit uns thun könnten, was sie wollten, dann
würden wir jetzt keinen Toten mehr begraben". Man trug ihn also fort
und begrub ihn auf die Verantwortung des Karagöz hin.
Erinnern wir uns an die beiden Scholastici bei Philistion, die gerne ihren
Vater beerben möchten und beschliefsen, jeder den Vater des andern totzu-
schlagen, oder noch besser an den Scholasticus, der, als sein Vater sich schon
dem Tode nähert, seine Freunde zum Begräbnis bestellt; als sie sich ein-
stellen, und der Vater ist noch nicht tot, sagt er zu ihnen, da sie sich ärgern,
umsonst gekommen zu sein, sie sollten am folgenden Tage wiederkommen,
da werde er den Vater begraben, ob er nun tot sei oder nicht. Das sind
dieselben mimicae ineptiae wie im „Buche des Hohlschädels". Es ist lustig
genug! Den Helden dieser orientalischen mimicae ineptiae machten die
Moslims zur Hauptperson in ihrem Mimus, und wir wieder erkennen an
dieser mimischen Art der Witze im Philogelos, dafs sie aus dem griechischen
Mimus stammen. Es läfst sich schwer sagen, ob diese merkwürdige Ähnlich-
keit der letzten arabischen Geschichte mit mimischen Erfindungen nicht
etwa doch auf direkter Entlehnung beruht. Der Mimus hat in Ägypten
immer eine Hauptpflegestätte gehabt und bis tief ins Mittelalter dort ge-
blüht; die Araber haben ihn dort gefunden. So findet sich in „Tausend und
eine Nacht" z. B. auch das Motiv der durchbrochenen Wand aus dem Miles
gloriosus, wie W. Bacher Ztschr. d. D. M. G. 30, 143 ff. und Rohde „Über
griechische Novellen" S. 67 jetzt auch Der griech. Roman2 Anhang, ge-
zeigt haben.
J) Vgl. oben S. 202.
2) Abbildungen des phallophorischen Karagöz siehe bei von Luschan
a. a. 0. Jacob (Heft I, S. XIII) spricht von der Phallophorie des Karagöz
Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel. 627
Wenn man Karagöz sieht mit dem Phallus, das mimische
Prügelholz in der Rechten, an dessen Stelle er allerdings nicht
selten sein Wahrzeichen selber schwingt, mit der knappen, all-
täglichen Kleidung der niederen Klassen, wie sie einst der Mime
trug, dann sieht man den alten fitfiog ysXoiatv vor sich. An
Stelle des Trikots des Mimen trägt er die eng anliegenden
Hosen, an Stelle der kurzen, griechischen Exomis trägt er einen
ebenso kurzen, eng anliegenden Kittel, unter dem der Phallus wie
beim hellenischen Mimen zum Vorschein kommt; nur die Beine
sind lederbraun gehalten und erinnern, wie das hellenische Trikot,
an die menschliche Hautfarbe. Dieselbe Farbe zeigen auch die
Arme, die bei Karagöz, wie beim alten Mimen, nackt sind.
Allerdings trägt Karagöz als guter Türke einen Turban. Doch
auch die Römer versahen ja ihre Mimen mit besonderen, latei-
nischen Merkmalen und unterschieden vom lateinischen stupidus
den stupidus graecus. Nun aber ist dieser Turban mit dem
Hinterhaupte des Karagöz durch ein Gelenk verbunden, so dafs
er heruntergeklappt werden kann. Wenn ihm dann in einer
der zahlreichen Prügelscenen sein Turban heruntergehauen wird,
dann ist er mit seinem glattrasierten Schädel der alte stupidus
graecus, der hwqös (falaxQÖg, der kahle Narr, Zug für Zug1).
Ja, in Persien hat Karagöz noch das typische Symbol des
kahlen Narren im Mimus, eben die Kahlheit, immer und un-
veränderlich beibehalten. Er kann im persischen Puppenspiel
seine Tracht ändern, wie er will und bald in den Kleidern
eines Bettlers oder eines Derwischs oder eines Kaufmanns
auftreten, nur einen unbedeckten kahlen Kopf mufs er unbe-
dingt haben. Das ist sein Erkennungszeichen, darum hat er
als „von einer bereits vielfach beseitigten Äufserlichkeit, welche das türkische
Schattenspiel mit der antiken Komödie teilt*. Maltzan sagt a. a. 0. S. 233:
„Karagus . . eine höchst seltsam geformte Persönlichkeit, welche mit dem
„Gott der Gärten" bei den Alten eine auffallende und unanständige Ähn-
lichkeit besitzt". Auch alle übrigen Kenner des Karagöz wissen davon zu
berichten.
x) Wie solch ein kahler Narr im Türkischen aussieht, verdeutlicht uns
sehr gut die Abbildung Nr. 30 bei von Luschan.
40*
628 Siebentes Kapitel.
auch ein für alle Mal den Namen „Kahler Held", eben mimus
calvus ').
Wenigstens eine Figur im türkischen Karagöz hat nun aber
noch die hellenische Tracht ganz und gar beibehalten. Ich setze
sie hierher:
Da haben wir den hellenischen Helm, die griechischen
Sandalen und die bis zum Knie nackten Beine, den anliegenden
x) Vgl. Chodzko, Theatre Persan S. XV: Le he'ros populaire persan du
Karaguez s'appelle Ketchel Pehle'van (heros chauve). II ria pas de costume parti-
culier. La calvitie est son attribut distinctif, comme la bosse eelui de Polichinelle.
Quant au caractere, Ketchel Pehlevan ressemble beaucoup au Pulcinello de Naples.
S. XVI: Seines de Marionettes Persanes. Küchel Pehlevan se rend cliez un
Äkhond (che/ d'une paroisse). La manifre dont il se presente excite dejh la gaietC
du public. Per sonne rtaurait reconnu Ketchel s^il n^etait pas chauve, car il a
maintenant tous les dehors du plus pieux des musulmans. 11 pourrait servir de
modele ä un Cheikh-ul-Islam (archimolla). Chodzko erzählt dann weiter, wie der
kahle Narr als Erzpriester in einem fort seufzt und betet und Verse des
Korans im besten Arabisch hersagt. Sein geistlicher Bruder in Mahomed
fühlt sich aufs höchste erbaut, sie stehen und singen zusammen. Schliefslich
besingen sie die Freuden des Paradieses mit den gazellenäugigen Huris und
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 629
Brustpanzer, der hier sonderbarerweise rot gezeichnet ist. So
werden die Soldaten und die Helden im byzantinischen Miinus
aufgetreten sein. Der Träger dieser griechischen Rüstung heilst
Kör-oghlu (Herakles?) und ist ein grofser türkischer Held1).
HI.
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz.
Wir wollen ein wenig näher auf die einzelnen Typen im
türkischen Mimus eingehen. Karagöz und sein Gegenspieler
Hadschievad dürfen in keinem Stücke fehlen, so sehr auch alle
andern Typen und Figuren wechseln.
dem feurigen Wein. Sie begeistern sich immer mehr, sie empfinden einen
Vorgeschmack des Paradieses, der Rosenkranz entfallt ihren Händen, sie
tanzen, sie trinken; denn irgendwie finden sich plötzlich in dem Zimmer des
geistlichen Herrn, den der kahle Narr besucht, eine Guitarre und einige
Flaschen guten Weines ; sie betrinken sich schliefslich ganz gehörig. Chodxko
schliefst damit, die eindringende Realität und Wahrheit dieser mimischen
Biologie und Ethologie für die persischen Verhältnisse anzuerkennen: On
vit ä la maniere de Küchel Pehleran et honni soit qui mal y perue! Wir denken
daran, wie noch in spät byzantinischer Zeit den Mimen unaufhörlich ver-
boten werden mufste, in geistlichen Gewändern zu erscheinen, erinnern uns
auch an den Augur und den Küster im römischen Mimus und an den Tempel-
diener bei Herondas im vierten Mimiambus.
1) von Luschan identifiziert ihn wegen des Namens mit Herakles. Dafür
würde der Löwe sprechen, den Kör-oghlu bändigt wie Herakles den nemei-
schen Löwen. Dagegen spricht, dafs Herakles nicht mit Helm und Panzer,
sondern immer in der Löwenhaut auftritt, zumal im hellenischen Mimus.
Ich verweise auf Heydemann a. a. 0. Abbildung Nr. M. Ob die Byzantiner
ihn sich etwa gelegentlich auch in Helm und Panzer vorstellten, die Frage
ist schwer zu entscheiden. Dennoch ist die Identifizierung von Kör-oghlu
und Herakles zumal nach dem, was von Luschan über ähnliche Türkisierung
hellenischer Ausdrücke bemerkt, sehr ansprechend. Bedenklich bleibt, dafs
sich in der Sage von Kör Oglu sonst nichts eigentlich Herakleisches findet,
wie von Luschan a. a. 0. S. 7 selbst bemerkt. Leider sind sonst weder Künos
noch Jacob noch Champfleury auf die Figur von Kör-oghlu eingegangen.
Doch mag es nun mit Kör-oghlu sein, wie es wolle, für uns ist das Beibehalten
altgriechischer Tracht im türkischen Mimus beweisend.
630 Siebentes Kapitel.
Karagöz ist der echte titfiog ysXoicov. Bei aller scheinbaren
Einfalt ist er der eigentlich Schlaue, er ist zwar ein Narr, aber
einer von der lustigen, übermütigen Art. Alle andern Personen sind
nur dazu da, um von ihm verspottet, verlacht, verhöhnt und zum
Schlüsse verprügelt zu werden. Er ist der derisor im Mimus,
wie Martial den berühmten Mimen Latinus nennt *),* er ist die
Verkörperung des rechten Mutterwitzes, der Volksironie und des
Volkshumors in demselben Mafse, wie es der hellenisch-römische
Sannio war2).
Hadschievad, der typische Gegenspieler des Karagöz, ist
dagegen der eigentliche dumme Narr, der Tölpel. Freilich
kommt er sich Karagöz gegenüber als der Klügere und Gebildetere
vor. Er hat sozusagen studiert, er kann schreiben, er ist so
eine Art Efendi und spricht die vornehme, türkische Umgangs-
sprache, das Efendi-Türkisch , während Karagöz natürlich nur
das eigentliche Türkisch, die gute, rechte, türkische Volkssprache
versteht3). Es ist höchst belustigend, die gespreizten Phrasen
i) Vgl. oben S. 54.
2) Wenn man diesen türkischen Mimen alle Welt zum besten halten
und verspotten und ihrer Narrheit überführen sieht, versteht man noch
mehr, wie der Sillograph Timon den Sokrates, den derisor omnium, einen
Mimen schelten konnte.
3) Vgl. darüber die feinsinnigen Bemerkungen bei Künos a. a. 0. S. 433
und 434 : „die türkisch-osmanische Volkssprache . . teilt sich in zwei Haupt-
zweige: Die rumelische (europäische) und die anatolische (kleinasiatische),
welche Beide sich wieder in viele weniger bedeutende Dialekte verzweigen.
Die rumelische Sprache ist die „intsche dil" d. h. die feine Sprache, die
Sprache der Osmanen, und anatolisch ist die „kaba dil", die grobe Sprache,
deren sich die Türken, die Bauern Anatoliens, bedienen .... Der geschulte
Efendi, mit seinem gezierten Gemisch von persisch-arabisch und einigen
türkischen Brocken, spricht weder die „intsche dil" noch die „kaba dil".
Für ihn sind alle Volkssprachen „Kaba diller", d. h. grobe Sprachen im
Vergleich zu seiner Efendisprache, welche auch als Literatursprache dient.
. . . und die anatolischen Bauern verstehen die Stambuler Efendisprache mit
keinem Worte. . . . Der satyrische Karagös ist der Repräsentant der ver-
achteten Volkssprache, sein Gegensatz ist Hadschewat, welcher gerne in ge-
spreizter Weise das Efenditürkisch parlirt und dabei von Karagös rücksichts-
los verspottet und parodirt wird. Die an Wortspielen und Redewendungen
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 631
des guten Efendi anzuhören und die kurz angebundene Art, mit
der sie Karagöz abfertigt; z. B.:
Hadschievad: „Mein Herr Karagöz, geruhen Sie zu er-
scheinen, jetzt ist die Zeit dazu.
Ihr ergebenster Hadschievad wartet an der Thür, jetzt
ist die Zeit dazu.
Zeige einmal die Mondschönheit, die Augen sollen sich
öffnen,
Ertönen sollen Blasinstrumente und Flötenklänge, jetzt
ist die Zeit dazu!
Karagöz (vom Fenster): Hadschievad, die Zeit ist da, wo
du dich bereit halten sollst,
Wenn er sich gekratzt hat, ist jetzt die Zeit, seinen
Rücken in Behandlung zu nehmen.
Eh! Schamloser! Eh! Unverschämter! Wie viel hab' ich
von dir ertragen!
Sieh, da bin ich, Hadschievad, jetzt ist die Zeit des
Knüttels !
EL: Bitte, mein Herr, was soll dies Gerede vom Prügel
heifsen ?
K. : Nun, und was soll die Unanständigkeit, die du vor der
Thür begehst, heifsen?
H. : Mein Herr, in Anbetracht dessen, dafs ich, Euer Sklave,
einer von denen bin, welche die Wichtigkeit Eurer hohen
Nachsicht zu schätzen wissen, bin ich im Vertrauen auf
diese Euere Hochwürdigkeit einige Liederzeilchen singend
gekommen, Ew. Wohlgeboren meine Aufwartung zu
machen.
K.: Was machst du für Quatsch?14
(Die Teufelslist oder die Geisterbannerei des Karagöz, Jacob,
Heft 3. S. 18—19).
reiche Volkssprache ist also in den Karagösspielen die herrschende, und das
vom Volke so geliebte Aschenbrödel, welches nur noch in den Türkis (Volks-
liedern) und Massais (Volksmärchen) von Generation zu Generation sich fort-
bringt, soll durch den Hajaldschy wieder zu Ehren gebracht werden".
632 Siebeutes Kapitel.
Sehr häufig verbittet er sich ganz energisch des Karagöz
gemeine Redensarten, und am Schlüsse des zweiten von Luschan
veröffentlichten Stückes kündigt er ihm entrüstet die Freund-
schaft: „von nun an sage ich dir weder kalimera noch kalispera"
— guten Tag, guten Abend — (a. a. 0. S. 138).
Trotz aller Gelehrsamkeit und Bildung wird der gute Efendi
aber, immer von dem einfachen und ungebildeten, aber mit
Mutterwitz begabten Karagöz zum Narren gehalten. Bei Murad
Efendi findet sich die Bemerkung, Efendi sei etwa unser Doctor,
nur ohne richtige, gelehrte Graduierung und ordentliche Pro-
motion1). Griechisch ist Efendi etwa a%olac>ti,x6q. Seit Philistion
tritt der stupidus gerne in der Spielart des Scholasticus auf, des
Dossennus der Atellane, des Dottore der Commedia delP arte.
So ist also der türkische Dottore nur eine Erneuerung des
mimischen Scholasticus.
Gerne giebt der Dottore dem ungebildeten Karagöz Be-
lehrungen für richtiges Sprechen, für feines Benehmen und feinen
Ton, und Karagöz macht ihn dann gröblich zum Narren2). Als
3) Türkische Skizzen, Zweiter Band, Das osmanische Beamtenthum S. 66.
2) Als Beispiel gebe ich hier ein Gespräch zwischen Hadschievad und
Karagöz, das im Anfang des „Sängerkriegs (Uruschma ojunu)" steht, in der
Übersetzung von Künos (Ung. Rev. S. 431 und 432):
„Hadschievad: Soeben habe ich mir einen neuen Fez gekauft.
Karagöz: Was gehts mich an?!
H.: So sagt man zu einem Freunde?!
K.: Wie sonst?
H.: Lachend, lachend soll er auf deinem Kopfe zerstückelt werden.
K.: Also gut, wenn du es so willst: Lachend, lachend soll er auf
deinem Kopfe zerstückelt werden.
H.: Aber ich mufs dir auch erzählen, dafs ich Brennholz gekauft habe.
K.: Maschallah! Lachend, lachend soll es auf deinem Kopfe zer-
stückelt werden.
H.
Kerl! Auf meinem Kopfe soll es zerstückelt werden?
K. : Was weifs ich ; du hast mir ja selbst gesagt, dafs ich so sagen soll.
H.: Ja das galt nur für den Fez. Jetzt mufst du aber sagen: Lachend,
lachend verbrenne es und blicke in die Asche.
K.: Also gut, wenn du es so willst: Lachend, lachend verbrenne es
und blicke in die Asche.
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 633
echter stupidus bekommt Hadschievad natürlich auch von Karagöz
ungezählte Prügel.
Um dieses burleske Paar, den Sannio und den stupidus,
gruppieren sich nun alle anderen Typen. Auch sie zeigen eine
erstaunliche Ähnlichkeit mit den Figuren des Mimus. Da ist
Bekry Mustapha, der reiche Bauer. Er kommt, um sich lustig
zu machen, zum ersten Mal in gereiftem Alter in die Stadt,
gerät in allerhand Kneipen und Bordelle und kommt schliefslich
rarm am Beutel, krank am Herzen ■, aber noch immer betrunken,
H.: Indessen habe ich mir auch ein Haus gekauft.
K.: Peh, Pehü Lachend, lachend sollst du es verbrennen und in die
Asche blicken.
H.: Nicht so sagt man, du dummer Kerl!
K.: Wie denn? Du hast mir's ja so befohlen.
H. : Man sagt: Es freut mich sehr. Lachend, lachend wohne darin
und nie sollst du es verlassen.
K.: Also gut: Lachend, lachend wohne darin, und nie sollst du es
verlassen.
H.: So ist's recht Als aber einer meiner Gläubiger hörte, dafs ich
mir ein Haus gekauft habe, kam er zu mir und verlangte sein Geld. Ich
konnte ihm nichts geben, es kam zu Streitigkeiten, dann zu einer Rauferei,
und am Ende sperrte man uns alle Beide ins Gefängnis.
K.: Lachend, lachend wohne darin, nie sollst du es verlassen.
H. : Bist du von Sinnen?! Das wünscht man seinem Bruder?
K.: Du hast ja selbst angeordnet, dafs ich so zu sagen hätte!
H: Nein, in diesem Falle mufst du sagen: Gott sei's gedankt, der
Eine ist schon draufsen; hoffentlich kommt der Andere auch bald heraus.
K. : Wie du willst: Gott sei's gedankt! Der Eine ist schon draufsen.
und hoffentlich kommt der Andere auch bald heraus.
H.: Nun mufs ich dir aber weiter erzählen. Als ich aus dem Ge-
fängnisse herauskomme, gehe ich bei einem Bäcker vorbei, der gerade sein
Brot in den Ofen schiebt. Stöfst mir nicht der blinde Maulwurf mit seinem
Brotschieber eins meiner Augen aus!!
K.: Gott sei's gedankt! Das Eine ist schon heraus; hoffentlich kommt
auch das Andere bald heraus."
Auch bei Luschan findet sich Text und Übersetzung dieses Stückes;
aber beides zeigt erhebliche Abweichungen (a.a.O. S. 125 folg.). Bei Jacob
findet sich dasselbe Thema in dem Stücke Karagözün aschyklykv, Karagöz
als Dichter, aber in durchaus selbständiger Ausführung.
634 Siebentes Kapitel.
nach Hause. Er ist auf seine Art ein ganz geriebener Bursche,
aber die Städter sind dem Bauern doch über. Er giebt aller-
hand Bauernmoral zum besten, nur schade, dafs er sie selber
nicht befolgt. Er ist der dygotxog, der rusticus des Mimus, wie
er im Buche steht, und wohl direkt aus dem byzantinischen
Mimus übernommen1).
Der „Dellal" (Ausrufer) ist der zweite Spafsmacher in der
türkischen Burleske, so eine Art mimus secundarum partium. Er
trägt allerhand alte Sachen, Kleider, Teppiche, Kupfergeschirr
und dergleichen umher und bietet es auf der Strafse mit lauter
Stimme aus. Da ergeben sich dann, da ihn der Besitzer dieser
Kostbarkeiten begleitet und Kauflustige hinzutreten, allerhand
mimische Scenen. Man denke an den praeco, der nach der Er-
klärung des Scholiasten zu Juvenal (VIII, 185) im Mimus Phasma
des Catullus auftrat, und an den xjjqv% Ischomachus, der ein Mime
ward, auch an die Atellane des Pomponius Praeco posterior 2). Auch
*) Ich erinnere an den Titel bei Sophron: ilXisvg xbv dygoiwrav, an die
Bauern und Landleute bei Theokrit, an Atellanentitel wie : Der Landmann (Agri-
cola, Kusticus, Pappus agricola), Der Feigengärtner (Ficitor), Die Winzer (Vin-
demiatores), Die Eselin (Asina), Die Ziege (Capella), Das Borgschwein (Maialis),
Das kranke Schwein (Verres aegrotus), Das gesunde Schwein (Verres salvos), Das
Mutterschwein (Porcetra). Ich verweise auch auf den dyQolxog bei Theophrast.
Vom Mimus hat dann die neue Komödie den Typus des Bauern übernommen.
Man vergleiche hier Ribbecks Charakterstudie Agroikos (vgl. oben S. 308).
2) Die griechischen Krämer liefsen ihre Waren auf dem Markte durch
den Ausrufer (xrJQv!;) versteigern (vgl. Hermann, „Griechische Antiquitäten"
3. Aufl. IV, S. 420). In sehr ergötzlicher Weise macht Hermes den Aus-
rufer bei Lukian in der „Philosophenversteigerung" und den „Ausreifsern".
Das Gebahren dieser Leute wird dem unserer Auktionatoren ähnlich gewesen
sein. Am besten können wir sie wohl mit unserem sogenannten „Schmeifs-
weg" vergleichen, der unter den sonderbarsten Beteuerungen, Kapriolen und
Witzen auf offenem Markte seine Waren an den Mann zu bringen sucht,
dessen Gaukeleien selbst bei uns im kalten, steifen Norden nahe an mimische
Produktionen streifen. Auch die orientalischen Ausrufer zeigen ganz die-
selbe Art wie die griechischen und treiben genau dasselbe Gewerbe. Wieder-
holt treten sie in „Tausend und eine Nacht" auf. Eine lebendige Schilderung
eines solchen xrjgv§ finde ich bei Klunziger, Bilder aus Oberägypten, Stutt-
gart 1878. S. 20 u. 273. Wie der xrtqvk' Ischomachus sich leicht zum Mimen
metamorphosierte (vgl. oben S. 51), bildet der türkische xtiqv!; der Dellal,
eine höchst lustige Figur im türkischen Mimus.
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 635
Räuber treten im türkischen Mimus auf, wie sie es im helleni-
schen und römischen thaten. Ich verweise auf den Räuberhaupt-
mann Laureolus. Der Räuber im türkischen Mimus ist immer
ein Albanese und stets ein edler Mann, der nur reiche Menschen-
schinder beraubt und sich edler Frauen ritterlich annimmt, ob
er sie nun ihren rohen Männern oder dem sinnlichen, mit seinem
schrecklichen Zeichen drohenden Karagöz entreifst. Auch der
Räuberhauptmann im Mimus pflegte die Sympathien des griechi-
schen und römischen Publikums zu geniefsen1).
Wenn im türkischen Mimus allerhand Kaufleute (meistens
sind es Juden), Höker, Kneipwirte, Cafeliers auftreten, so müssen
wir uns an die Höker (xäntiXoi) und die Grofskaufleute («ju-
noQoi,y) des hellenischen Mimus erinnern. Choricius kennt Höker,
Wursthändler, Budiker als typische Figuren im byzantinischen
Mimus (vgl. oben S. 214 Anm. 5. u. S. 240). Der Schiffskapitän
Thaies bei Herondas (II) ist zugleich ein Grofshändler und Ge-
treidespekulant. „Maccus als Kneipwirt (copo)", der „Kleine
Gewerbsmann (Cerdo)" hiefsen zwei Atellanen des Novius.
Selbst die Bettler und Derwische des türkischen Mimus
finden im hellenischen ihre Vorbilder; Bettler finden sich auf
den Atellanenbildern, die Pasqui veröffentlichte, und die geist-
lichen Personen sind belegt durch des Laberius „Augur", des
Pomponius „Aruspex vel pexor rusticus", und seinen „Aeditumus";
denn der Küster gehört ja nun einmal mit zur Geistlichkeit8).
Wie der Derwisch moralische Sprüche im Munde führt und sinn-
liche Lust im Herzen, selbst noch mehr wie Karagöz, ist es mit
der Moral der Augurn und der Haruspices im Mimus und in
der Atellane wohl auch nicht zum besten bestellt gewesen. Bei
Pomponius ist der Haruspex zugleich auch noch der Dorfbarbier.
Neben Hadschievad tritt hier und da auch sein kleiner Sohn
auf, der ihm auf ein Haar gleicht, was eine besonders drollige
x) Vgl. oben S. 89.
2) Wie häufig in der griechischen und römischen Komödie der tfinoQog
und der mercator vorkommt, ist bekannt.
3) Über geistliche Personen im burlesken Volksdrama überhaupt vgl.
die Vorrede S. 41 u. 42 und oben S. 628, Anm. 1.
636 Siebentes Kapitel.
Situation abgiebt1). Als Pendant dazu nehme man die zahl-
reichen, kleinen Mimen, wie sie auf den Atellanendarstellungen
bei Pasqui erscheinen2) und den Bucculo, d. h. den kleinen Bucco,
des Novius, der vielleicht seines Vaters „einzige Passion" war8)
(vgl. oben S. 602 u. 603).
Was die Typen aus verschiedenen Völkerschaften, Griechen,
Juden, Armenier, Arnauten, Lasen, Perser u. s. w. angeht, so wollen
wir an des Laberius „Die Gaetuler", „Die Gallier", „Die Kreter",
„Die Etruskerin", des Pomponius „Campani", „Galli Transalpini",
„Milites Pometinenses" denken. Vor allem aber ist der Typus des
Armeniers wie des Arabers schon für den byzantinischen Mimus
direkt bezeugt4). Und die Juden, die unablässig im Karagöz
vorkommen, spielten ihre Rolle im griechischen und byzantini-
schen Mimus (vgl. oben S. 577 Anm.) und auch wohl schon
bei Laberius in dem Mimus „die Kiepe (Cophinus)".
Nicht selten treten auch Frauen, sogar anständige Frauen und
Matronen auf. Unter den Karagözfiguren, die vonLuschan gesammelt
und publiziert hat, finden sich nicht weniger als zehn weibliche
Figuren. Neben zwei Tänzerinnen (Taf.III, 19 u. 20) und einer etwas
1) Vgl. von Luschaa a. a. 0. S. 85.
2) Das Kölner Hänneschenspiel ist wohl nur eine der vielen Nach-
kommen der Commedia dell' arte (vgl. Dieterich, Pulcinella S. 272), wie diese
ein Nachkomme des griechischen Mimus ist. Nun sah ich im vorigen
Jahre in Berlin im sogenannten „Theater Millowitsch'" „Drei Tage aus
dem Kölner Leben", ein ziemlich blödes Machwerk, das nur als Nach-
bildung und nur auf sehr niedriger Stufe stehende Erweiterung des Kölner
Hanne schenspiels ein gewisses Interesse bot. Dort trat in einer Gerichts-
scene Tünnes mit der Nos als Kölner Dienstmann Anton Träkärche zusammen
mit seinem Söhnchen, dem kleinen Tünnes, auf, und das Söhnchen ähnelte
seinem Vater auf ein Haar, was grofsen Jubel erregte; zumal der kleine
Tünnes schon derselbe Schnapstrinker und Liebhaber von „Schabau" war wie
sein Vater.
3) Ribbeck hat daraus (Frgm. com. Rom. S. 255) sehr unnötig einen
bubulcus gemacht, vgl. Munk, De fabulis Atellanis S. 166. Auch die Komödie
kennt solche kleinen Burschen, allerhand Piccoli und Pagen; ich erinnere an
den Küchenjungen in Plautus' „Captivi", an Lurcio im „Miles", an Paegnium
im „Persa", der so ausgezeichnet zu schimpfen versteht, an den kleinen, von
seiner Wichtigkeit durchdrungenen Knirps Pinacium im „Stichus".
*) Vgl. oben S. 577 Anm.
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 637
sittenlosen jungen Dame, die zum Schlufs aber gewöhnlich glück-
lich an einen stupiden Greis oder einen dummen Neger verheiratet
wird, sehen wir die Frau des „rusticus* Bekry Mustapha, die mit
Blumen zum Kadi geht, um Scheidung von ihrem Trunkenbold von
Mann zu verlangen (III, 18). Auch findet sich eine stark dekollet-
ierte, spaniolische Jüdin (III, 17); die auf einem Pferde reitende
Dame, die als die Frau des Hadschievad bezeichnet wird (I, 6);
die gewöhnlich als Frau des Hadschievad bezeichnete Frau mit
der phrygischen Mütze (II, 16); die beiden, durchaus anständigen
Töchter des Hadschievad (II, 14 u. 15) und endlich die Matrone
mit den beiden Kindern, vor deren strenger Tugend selbst
Karagöz Reifsaus nimmt (III, 21). Doch ist diese Figurenserie
wohl noch nicht einmal vollständig. So erscheint z. B. in „Die fin-
girte Braut" noch die Frau des Karagöz, und in einem tunesischen
Karagözstück tritt die Frau eines Inders auf. In diesem türki-
schen Mimus vergifst man doch sehr, dafs man im Oriente ist,
der die Frauen völlig vom öffentlichen Leben absperrt; es sind
hier eben mehr alte griechische als türkische Sitten. Das hat der
türkische Mimus natürlich aus dem hellenischen, der ganz anders
wie selbst die griechische Komödie die Verhältnisse des intimsten
Familienlebens an die Öffentlichkeit brachte, unaufhörlich Matronen
und anständige Mädchen auf der Bühne vorführte und mit Vor-
liebe die Liebesverhältnisse der verheirateten Frauen schilderte.
Wie im Mimus spielen auch im türkischen Schattenspiel aller-
hand Tiere mit1). So erscheint Karagöz als Eseltreiber mit seinem
Esel, mit dem er allerhand seltsame Kapriolen macht. Ich erinnere
an den Menschen mit Eselkopf in der Atellane, an Dionysos und
Xanthias mit ihrem Esel bei Aristophanes. Ein beliebter Titel
der neuen Komödie ist der Eseltreiber, övayöc. Auch der Hund
spielt im Mimus mit"). In der türkischen Burleske wird er ein-
mal auf Karagöz gehetzt, der ein Bordell stürmen will, und ent-
reifst ihm mit einem grimmigen Bifs sein mächtig drohendes
Zeichen3). Dieser grofse Hund spielt eine ganz ähnliche Rolle
*) Vgl. darüber oben S. 418. 487. 488.
*) Vgl. oben S. 329. 480. 587. 588.
3) Vgl. Champfleuty a. a. 0. S. 43.
638 Siebentes Kapitel.
in einer mimischen Scene bei Petron '). Wie im Mimus treten auch
allerhand Ungeheuer auf (vgl. oben S. 590 folg.). Man denke nur
an die Mania, die Mutter oder Grofsmutter aller bösen, ruhelos
umherschweifenden Gespenster, mit der die Ammen den Kindern
gerne drohten. Sie kommt ab und zu aus der Unterwelt her-
auf und verlangt ein kleines Kind zum Opfer. Zur Abwehr gegen
sie werden kleine, häfsliche Figuren aus Mehl (maniolae) vor
der Hausthür aufgehängt. Bei Novius tritt sie in der „Mania
medica" als Heilkünstlerin auf, wohl nach Art des Doktor Eisen-
bart. Dem „Pytho Gorgonius" des Pomponius, dem pythischen
Drachen mit dem Gorgonenkopf und schrecklichen Hauzähnen
entspricht direkt die grofse, furchtbare Schlange der türkischen
Burleske. Sie ist nebenbei eine achtbare Vertreterin der Moral
und straft Karagöz für seine Unthaten nicht selten in der
schrecklichen Art des grofsen Hundes3). Auch der furchtbare
Riese Og ben Oniok des tunesischen Mimus gehört hierher; er
macht wie die grofse Schlange öfters am Schlufs des Stückes
die Zeche3).
Wie die Typen, so ist auch ihr Thun und Handeln, Reden
und Agieren, Singen, Tanz und Grimassieren genau wie im alten
Mimus. Wie dort erschallt auch hier unaufhörlich das dumpfe
Rasseln der Prügel und das Klatschen der Ohrfeigen. Wie
der irrisor den Panniculus, wie der Sannio den stupidus ver-
prügelt4), so pflegt hier Karagöz seinen Gefährten Hadschievad
mit allerlei laut schallenden Handgreiflichkeiten zu begrüfsen.
Hin und wieder entschuldigt er sich wegen seiner Grobheit und
legt sie unter dem Gelächter des Publikums als zärtliche Lieb-
kosung aus5). Doch gerät auch Karagöz bei diesen Prügeleien
mit Hadschievad und den andern Mitspielenden manchmal in
i) Vgl. S. 558, Anm. 1.
2) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 85.
3) Vgl. über ihn Quedenfeld, Das türkische Schattenspiel im Magrib
923.
*) Über Prügelscenen in Atellane und Mimus vgl. oben S. 113 u. 114.
5) Künos a. a. 0. S. 428.
Typen des hellenischen Mimns im Karagöz. 639
Not. Oft genug wird ihm sein Turban heruntergehauen. In der
„ Blutpappel ■ wird er von einem Gespenste arg verprügelt.
Die Sprache ist, wie es sich für den Mimus gehört, — ich
erinnere nur an die vulgären Ausdrücke bei Sophron und Theokrit
und vor allem bei Herondas, bei Laberius, bei Pomponius und
Xovius, an die Vulgarismen in Philistions „Philogelos" — durchaus
die Volkssprache. Davon ausgenommen ist wie im griechischen
und römischen Mimus nur der Prolog, der im gebildeten Efendi-
türkisch gesprochen wird, und die eingestreuten Couplets, diese
wenigstens zum Teil. Der Gegensatz zwischen dem vornehmen
Effenditiirkisch des Hadschievad und der Volkssprache des Karagöz
führt natürlich zu allerhand lustigen Mifsverständnissen. Der
Badediener heifst auf Arabisch Kadir, und Katir heifst in der
türkischen Volkssprache Maultier ; so erkundigt sich denn Karagöz
bei dem Kadir nach dem Fräulein Schwester, das sein Nachbar,
der Mistbauer, vor den Karren spannt. Ein Freund des Karagöz,
der sich weigert, ihm Geld zu leihen, heifst Künap Sade. Nun
bedeutet Künap im Türkischen Strick; da meint Karagöz, schon
der Vater des hartherzigen Freundes werde ein Strick gewesen
sein. Den Karagöz, der einmal auf die Idee verfällt, sich für
einen Journalisten auszugeben, prüft Hadschievad: wie stehts
denn mit der Logik (mandik)? 0, die esse ich sehr gerne, ruft
Karagöz; er meint mandi, eine beliebte Ramadanspeise1).
Das sind die alten mimicae ineptiae, die wir schon kennen.
Dazwischen werden mancherlei schlechte Zoten und Witze wie
die dicteria und die dictabolaria (nach Fronto de orat p. 240
ed. Rom.) der Atellanen und Mimen gerissen, es finden sich
Frechheiten und Nuditäten, wie in der Atellane und im Mimus,
aber ebenso wie im Mimus „tiefsinnige Sprichwörter und natur-
philosophische Sentenzen" (Künos a. a. 0. S. 420). Auch die
lustigen Ränke, Kabalen, Übertölpelungen und Betrügereien
werden im Karagöz mit derselben übermütigen Ruchlosigkeit ver-
übt, wie die „tricae" in der Atellane und wie die „artes mimicae",
von denen Petron (cap. 106 Bücheier*) weifs.
1 1 Nach Künos a. a. 0. S. 434 u. 435.
640 Siebentes Kapitel.
IV.
Karagöz als Biologe und Ethologe. Politische Anspielungen wie
im Mimus.
Wie der Mimus liebt das Karagözspiel allerhand Anspielungen
an die aktuellen Tagesereignisse und vertritt die allgemeine
Volksmeinung gegenüber der Eegierung.
Ein hübscher Beleg dafür ist die Anschauung, die man vom
Ursprung des Karagöz in Tripolis hat. Ich gebe sie mit Queden-
feldts Worten (a. a. 0. S. 905 u. 906): „Vor langer Zeit lebte
in Stambul ein Mann, dem die Mifswirtschaft der Paschas und
der sonstigen Würdenträger ein Dorn im Auge war. Er sann
nach, wie dem abzuhelfen sei. Da es ihm unmöglich war, . bis
zur Person des Sultans vorzudringen, um diesem seine Wahr-
nehmungen selbst vorzutragen, beschlofs er, ein Schatten-
spiel zu etablieren, in der Hoffnung, dafs der Sultan auf das
Gerücht von der Neuerung hin sich zu einem Besuche seiner
Vorstellungen entschliefsen würde. So geschah es in der That.
Kaum gelangte die Kunde von dem allgemeinen Beifall findenden,
zotenhaft-drolligen Karaküsspiel zu den Ohren des Herrschers,
als derselbe im Theater erschien. Karaküs hat an diesem
Abend natürlich ganz andere Dinge geredet als Zoten. Dem
Sultan wurden die Augen geöffnet über das Treiben seiner
Minister und Gouverneure, die er grofsenteils ihrer Ämter ent-
hob und bestrafte. Der Karaküsbegründer aber wurde Wesir.
Als solcher konnte er, das ist klar, seine Vorstellungen nicht
weiter leiten. Da die Sache aber dem Volke einmal gefallen
hatte, so traten andere an seine Stelle, und das Spiel gewann
allmählich überall da Verbreitung, wo Türken herrschen und
geherrscht haben".
Karagöz ist ein Satiriker, mit dem die Autoritäten in Kon-
stantinopel rechnen müssen '), deren Anordnungen, wenn sie un-
J) Wie frech Karagöz nicht selten hohen Würdenträgern die Wahrheit
sagt, mag folgende Geschichte bei Champfleury illustrieren, die wegen ihrer
gar zu grofseu Frechheit französisch bleiben mag (a. a. 0. S. 52): „A Con-
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 641
populär sind, leicht seiner Kritik verfallen1). Besonders aber
hat er in Algier es auf die französische Obrigkeit abgesehen
und überhaupt auf die Franzosen. Dort wurden die Auf-
führungen verboten, weil in ihnen das französische Militär
lächerlich gemacht wurde 2), und ein Karagödschi erstach den fran-
zösischen Marschall Bugeaud, welcher ihn einem Verhör unter-
ziehen wollte3). Der Teufel erschien in diesen Stücken immer
in französischer Tracht*). So macht Karagöz dem Volksunwillen
gegen die Unterdrücker Luft.
Die türkische Regierung ist auf den Karagöz nicht gerade
gut zu sprechen, aber das niedere muselmanische Volk schwärmt
ebenso für ihn wie das hellenische für den Mimus. Doch sind
auch, wie einst die hellenischen Grofsen dem Mimus gewogen
waren, wiederholt hohe türkische Würdenträger Freunde des
Karagöz gewesen, und zwar besonders der grofse Mehemet Ali &).
stantinople, Caragvevz etait tres hardi. On en jugera par le trait suivant. bien connu
du reste: Caragveuz jouait devant de havts fonctionnaires. II dialoguait avec son
äne ä la porte (Tun beau Jardin, ou n'entraient que quelques privxUgies. 11 voulut
etre un de ceux-la, et se mit en decoir de tirer son äne par la bride. Resistance
de la bete. „Attends, attends, dit Caragveuz, je vais te montrer comme on avance
en Turquie". Et, se mettant derriere le baudet, il le poussait de la facon que
vous savez. On pretend que, ä cette saiüie, les hauts fonctionnaires ne rirent qve
du bout des dents."
x) Ich gebe dafür eine Betrachtung Gerards nach Champfleury a. a. 0.
S. 101 U. 102: „C'est, dit'ilj ou le bourgeois raillevr, ou Vhomme du peuple dont
le bon sens critique les actes des autorites secondaires. A Vipoque ou les regle-
ments de police ordonnaient, pour la premiere fois, qv'on ne put sortir sans lanterne
apres la chute du jour, Caragvevz parvt avec une lanterne singulierement svspendve,
narguant impvnement le pouvoir, parce que Vordonnance n'avait pas dit, qve la
lanterne dit enfermer vne bovgie. Arrete par les cavas, et reläche d"apres la
Ugalit€ de son Observation, on le vit reparaitre avec une lanterne ornie d"une
bougie , qu'il avait ne'glige ctallumer . . . Cette facetie est pareille a Celles que
nos legendes populaires attribvent ä Jean de Falaise, ce qvi provve que tous les
pevples sont les memes. Caragvevz a son franc-parler ; il a tovjovrs d(fie le pal,
le sabre et le cordon". Vgl. auch S. 86.
2) Vgl. Quedenfeldt a. a. 0. S. 906.
3) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 71 u. 72.
*) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 72.
5) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 56.
Reich, Mimus.
41
642 Siebentes Kapitel.
Karagöz ist derselbe Ethologe und Biologe, wie der helle-
nische Mime es war. Wir sahen, wie die mimische Biologie
direkt die antike Kulturgeschichte, den ßiog 'EXXdöog der Peri-
patetiker, angeregt hat, wie man aus dem antiken Mimus trotz
seiner spärlichen Überlieferung noch viel von der antiken Kultur
und dem antiken Volksleben lernen kann. Ganz dasselbe sagen
moderne Kenner vom Karagöz. Ausdrücklich bemerkt Jacob:
„Der Reiz, welchen das Schattentheater auf uns ausübt, besteht
in erster Linie in dem treuen Abbild morgenländischen Volks-
lebens, das es darstellt. Es führt uns durch türkische Cafes,
durch öffentliche Bäder, zur Bude des Strafsenschreibers, lehrt
uns das buntsprachige Völkergewirr, das hier als Kunden vor-
spricht, und seine Bedürfnisse kennen. Es führt uns in alle
Winkel des orientalischen Lebens, sogar in die Kajyks auf den
Fluten des Bosporus. Somit ist es naturgemäfs auch eine reiche
Quelle für die Volkskunde". (Heft I, S. 14.)
Freilich, wie uns Karagöz in alle Winkel des morgen-
ländischen Lebens führt, lehrt er uns auch allerhand Schmutz
und alles Verderben dieses Lebens kennen; er schreckt vor dem
Äufsersten nicht zurück und überführt alle ihrer geheimen
Sünden und Laster, amovg nwg äntXeyxti, cog ovds OiXiöticov 6
[itfjbog. So kommen denn im Karagöz alle Verkehrtheiten des
orientalischen Volkslebens an den Tag. Aber der Karagödschi
kann sich entschuldigen, wie Choricius es für den griechischen
Mimus that; er schildert eben das gesamte Leben, und der ßiog
ist nun einmal nicht blofs moralisch.
Über Moral oder Unmoral des Karagöz hat sich in jüngster
Zeit ein Streit erhoben, ähnlich wie der, welcher einst um
den Mimus getobt hat; und besonders Monsieur Rolland hat
gegen die Unmoralität des Karagöz pathetisch wie ein Kirchen-
vater gewettert, wenngleich er den Nutzen der Biologie des
Karagöz für die Erkenntnis des orientalischen Volkslebens wohl
begriff1). Ihm galt der Karagöz als ein Todeskeim für das
x) Champfleury a. a. 0. S. 38 u. 39 : „ Je viens d'assister a la reprisentation
du Polichinelle turc, Caragueuz, l'homme aux yeux noirs. J'en suis sorli stuptfait,
Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 643
türkische Volk. Nun, dieser Todeskeim ist in der Türkei schon
weit über 500 Jahre alt und in Hellas über 2000, und er hat
durchaus nirgends tödlich gewirkt. Die besten Kenner nehmen
hier Karagöz durchaus in Schutz, der bei aller Frechheit und
Zotenhaftigkeit und trotz des Phallus durchaus nicht unmoralisch
sei, so wenig wie unsere mittelalterlichen Schwanke oder die
Komödien des Aristophanes1). Ganz wie Choricius einst betonte,
es gebe doch so viele ernste und durchaus moralische Schilde-
rungen im Mimus, hebt von Luschan hervor, dafs es auch genug
durch und durch „anständige" Karagözstücke gebe (a. a. 0.
S. 143) 2). Auf den türkischen Mimus pafst eben wie auf den
hellenischen die Definition Theophrasts: Der Mimus ist die Nach-
ahmung des Lebens, die das Erlaubte wie das Unerlaubte dar-
stellt. Nicht selten überwiegt allerdings wohl das Unanständige,
das Unerlaubte (%ä aGvyxÜQiKx)'
Aber wenn Karagöz auch noch so übermütige Schelmenstreiche
verübt, so wird er doch nie wirklich schlechte Streiche machen,
welche der Moral des Volkes direkt zuwider sind. Ja, nach
türkischer Überlieferung wollte der Scheich Küschteri aus Brussa,
der als Altmeister des Karagözspieles in den Karagözprologen
gefeiert wird, durch dieses Spiel das Volk belehren und erziehen.
Noch Achmed Vefik Pascha, der bekannte Turkologe, bestätigte
es Künos, dafs in seiner Jugend die Karagözstücke durch-
aus moralich gewesen und erst später frech und obscön ge-
consterne, dirais-je, pour peindre mieux mes impressions. Sans doute, un vif interet
m'attire vers toute cette scene reväant les secrets des moeurs indigenes, et je n'eus
jamais oceasion pareille de soulever les volles qui se deroulent rarement devant les
regards europdens" . S. 51 : „A mon sens, le jour ou le de'goüt public aurait proscrit
Caragueuz, un germe de mort serait exstirpe du sein du peuple ottoman".
l) So besonders von Luschan a. a.O. S. 142 u. 143, dem auch Jacob durch-
aus beistimmt (Heft I, S. XIII). Wenn Quedenfeldt im Gegensatze zu Maltzan
sich über die Unmoralität des Karagöz entrüstet zeigt, so ist zu bedenken,
dafs der Karagöz in Afrika auf einer besonders niedrigen Stufe steht. Vgl.
Jacob, Heft I, S. XIII. Auch Champfleury verkennt die sittliche Harmlosigkeit
des Karagöz durchaus nicht.
21 Vgl. Jacob, Heft I, S. XIII.
41*
644 Siebentes Kapitel.
worden seien1). So sagt auch Heinrich von Maltzan (a. a. 0.
S. 237): „Wie allen wahrhaft volkstümlichen Charakteren, fehlt
auch dem Karagus nicht eine gewisse moralische Tendenz. Er
ist die Verkörperung der naiven, unverdorbenen Ehrlichkeit der
untersten Stände; er weifs nichts von einem Abfinden mit dem
Gewissen; freilich erscheint dieses bei ihm oft je nach den Um-
ständen weiter oder enger; aber im Grunde ist es doch das Ge-
wissen des ehrlichsten Teiles des Volkes, vor dem er sich zeigt;
was diesem Volke Unrecht erscheint, und sei es oft auch nur
etwas durch einseitige Religionsvorurteile Verbotenes, das wird
auch von Karagus verworfen; was dagegen die volkstümliche
Ansicht nur als leichte Sünden ansieht, und seien es oft auch
solche, die in Wirklichkeit einen schlimmeren Namen verdienen,
das macht sich Karagus keine Skrupel zu begehen. Einen eigent-
lichen, heimtückischen Betrug aber begeht er nie; wenn er seinen
Nächsten übervorteilt, beraubt oder durchprügelt, so geschieht
dies immer auf eine Weise, dafs er alle ehrlichen Leute für sich
hat, denn es geschieht stets zur Strafe für irgend einen listigen
Anschlag, der gegen ihn unternommen wurde. Nichts ist aber
dem Volke in allen Ländern verbalster als heimtückische List,
und nichts erscheint ihm erwünschter und gerechter, als deren
Entlarvung und Bestrafung. Man sieht, eine gewisse poetische
Gerechtigkeit fehlt in den Possenspielen des Karagus nie".
Jedenfalls ist der Hajaldschy durchaus von dem Werte und
der Würde seiner Stücke durchdrungen. In dem Prologe hebt
er hervor, die Welt sei nur ein Schatten, und ein Schatten sei
alles Leben und alles Lebendige, das, wenn es seine Zeit habe,
wieder verschwinden müsse. Dagegen gebe sein Schattenspiel
Wirklichkeit; es ist das Bild der Welt und des Lebens; wenn
auch nur Schattenbilder auf dem Vorhang (perde) erscheinen,
so könne man daraus doch lehrreiche Exempel für das Leben
gewinnen. Der Hajaldschy betrachtet sich also weniger als
burlesker Spafsmacher wie als rechter Darsteller und Schilderer
der Welt und des Lebens, der manche gute Lehre erteilt. Ganz
ebenso hat sich der griechische Mime gerne als den eigent-
L) Vgl. Künos a. a. 0. S. 426.
Identität der Form der mimischen Hypothese und des Karagöz. 645
liehen Lebensschilderer aufgefafst und sich darum den pompösen
Titel „Biologe" statt des einfachen _Mimetf beigelegt. Als „Bio-
logen " bezeichneten ihn die Peripatetiker wie auch Choricius; ich er-
innere an die Biologen Heraklides, Agathokles, Flavius Alexander *).
Philistion ward von diesem Standpunkte aus unter die Philo-
sophen gerechnet. Der Mimus ist nach Auffassung seiner Freunde
ein Tröster des Menschengeschlechts, ohne den die Menschen in
ihrer Not und in ihrem Elend verzagen müfsten. Er lindert die
menschlichen Schmerzen wie Balsam; ohne ihn hätte selbst nach der
Meinung der römischen und griechischen Kegierungen das arme
Volk verzweifeln müssen-). Man denke auch an das Epigramm,
in dem Philistion gepriesen wird, weil er die Menschen in ihrem
jammerreichen Leben mit seinem lustigen Lachen getröstet habe.
Nicht geringer denkt der türkische Mime von seiner Kunst.
„Nach dem Gasel, dem Eröffnungsliede, sagt Künos, beginnt
Hadschewat unter feierlichen, aber durch den Schatten verzerrten
Gebärden, und mit gewählten Worten den Prolog zu sprechen.
Er verspricht darin dem Publikum, sofort seinen lustigen Ge-
fährten Karagös vorzuführen, dessen Worte wie Balsam alle
Schmerzen lindern werden" (a. a. 0. S. 427). Diese ganze,
vornehme Auffassung hat der türkische Mime von seinem vor-
nehmen Vorfahren, dem hellenischen, geerbt, wenn er ihr auf
seinem viel niedrigeren Standpunkte auch gewifs sehr viel
weniger entspricht wie jener.
V.
Identität der Form der mimischen Hypothese und des Karagöz.
Prolog und Canticum.
Jedes Karagözstück beginnt mit einem Prolog, wie der Mimus.
Dann folgt die dialogisierte Handlung in mehreren Akten. In
x) Eustathius Antioch., De engastromytho (ed. Jahn, Texte u. Unters.
Bd. II, Heft IV, S.67: inav&a 6k ovo ngöotona ßtoXoyel ßaaUiar, tha tovtoiv
io fikv cidtxov tiaäyti rb dt d(xatov. Die Erinnerung an den Mimus ist hier
allerdings doch eine sehr ferne. Die Stelle verdanke ich August Brinkmann.
2) Das Nähere haben wir oben S. 144. 145. 202. 203 entwickelt.
646 Siebentes Kapitel.
„Die Teufelslist oder die Geisterbannerei des Karagöz" werden
z. B. drei Akte (fasl oder medschlis) unterschieden (a. a. 0.
S. 20 u. 21). Dazwischen werden, wie in der byzantinischen
Hypothese, allerhand Couplets gesungen. Diese Couplets bildeten,
wie wir oben sahen, einen sehr wesentlichen Bestandteil der
Hypothese. Nicht anders ist es im türkischen Mimus, wo jede
neu auftretende Person mit einem Couplet sich einzuführen
pflegt, was sie nicht hindert, mitten inne bei passender Gelegen-
heit noch ein oder das andere Couplet zuzugeben. Wir hörten
die Kirchenväter vor allem gegen diese mimischen Cantica
wettern, die besonders verführerisch waren, weil sie vornehmlich
von Liebe handeln. Auch die Couplets im Karagöz haben zum
Hauptthema die Liebe. Ich gebe das Lied Hadschievads aus
„Die Teufelslist" (Jacob Heft 2, S. X u. XI):
„Dieses Herz hat sich wieder in eine unglückliche Liebe zu
einem Trügerischen verwickelt,
Zu dem Trügerischen hat sich mein Auge gewendet, seine
Augen zum Trügerischen.
Indem auf dem Liebesfelde das liebeskranke Herz lustwandelt,
Hat sich das Herz zu dem Berückenden, der Berückende zum
Herzen, zum Herzgewinnenden gewendet.
Indem auf dem Rosenbeet die liebeskranke Nachtigall ihre
Klage anstimmt,
Hat sich die Rose zur Nachtigall, die Nachtigall zur Rose,
zum Rosendorn gewendet."
Ein anderes Lied in demselben Stücke lautet:
„Spazieren gehen wollen wir und Gartenvergnügen (Picknick)
machen,
Wenn du willst, will ich Plaid (ihram) sein unter dir.
Komm, schneide ab mein Haupt, vergiefse mein Blut, mache
es zu Tinte,
Schliefslich für diesen Rohrfinger will ich ein Opfer sein1)."
*) Bei Jacob, Heft 2, S. XII.
Identität der Form der mimischen Hypothese nnd des Karagöz. 647
Höchst erotisch sind auch die Couplets der Dichter im „Sänger-
streit". Ich gebe eins davon in der Übersetzung von Luschans
(a. a. 0. S. 128):
„Wenn nicht vom reinen Weine der Liebe trunken wäre der
Verliebte,
Würde er seine Brust nicht zerschlagen, der Verliebte;
Im meerartigen Herzen suche das Kleinod der Liebe
Nicht jedes Herz birgt die seltene Perle der Liebe.
Treue bei der Schönen, Freude im Herzen, ist nicht möglich,
Es haben sich wieder angesammelt Ursachen der Liebe
Das Verlangen nach ihren Brauen hat meinen Körper ge-
schwächt,
Der scharfe Säbel der Liebe hat mein Herz durchbohrt.
Aber meinst du, seine Liebe wird diese Sorgenpein mit der
Freiheit tauschen
Wenn auch der Verliebte krank ist vor Liebesgram?41
Ein wenig schlüpfrig sind diese Couplets zum Teil, wie es
wohl auch die griechischen waren. Aber auch für 1 und 2 gilt
das Wort des Choricius von den Couplets im hellenischen Mimus,
sie seien sittlich tadellos. Das Schlufslied im „Sängerstreit* bei
von Luschan (a. a. 0. S. 132):
„Habe ich dir nicht gesagt, mein Lämmchen; liebe nicht neun
Liebchen !
Liebchen, Liebchen, Liebchen, liebe nicht neun Liebchen 1
Neun ist keine Glückszahl, zwei schon sind vom Übel;
Liebchen, Liebchen, liebe nicht neun Liebchen."
enthält sogar eine ganz moralische Aufforderung.
So zeigt sich denn der türkische Mimus in Form und Inhalt,
in der ganzen humoristisch-realistischen Ethologie und Biologie,
in allen seinen Typen und Figuren als der rechte Erbe und
Nachfolger des byzantinischen Mimus. Wie dieser ist er ein
mehraktiges Stück. Selbst den operettenhaften Charakter des
Mimus hat das Karagözspiel beibehalten, obwohl die Hajaldschys
648 Siebentes Kapitel.
wohl sehr selten gute Sänger sein werden, was Choricius, wie
wir sahen, ausdrücklich an den Mimen hervorhebt, deren schöne
Stimme er lobt.
VI.
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels.
Ich gebe hier nun die Inhaltsangaben einzelner Karagöz-
stücke; denn mutatis mutandis giebt solch ein Stück uns ein
Bild des alten byzantinischen Mimus.
Die fingierte Braut1).
(Sa/te gelin).
Hadschievad singt vor des Karagöz Thür ein erotisches
Couplet. Karagöz glaubt sich dadurch kompromittiert; Had-
schievad aber meint: „Wenn jemand im Begriff ist, seinen Freund
zu loben und zu preisen, mufs man da gleich an etwas Schlechtes
denken?" Da sich Karagöz so prüde stellt, kommen Hadschievad,
dessen Frau und die Frau des Karagöz auf die Idee, ihm einzureden,
er sei ein Mädchen und solle den dicken Baba Himmet heiraten.
Karagöz sträubt sich, wie er kann, aber da alles gegen ihn im
Komplott ist, beginnt er wirklich ein wenig an seiner Identität
zu zweifeln. Alle Anstalten zur Hochzeit werden getroffen,
alle Bedenken des verzweifelten Karagöz niedergeschlagen.
Mit einem Liebescouplet erscheint schliefslich Baba Himmet;
Hadschievad und die Weiber, welche die Braut herausgeputzt
haben, verschwinden trotz der Proteste des Karagöz. Das Liebes-
paar ist allein; die Brautnacht hebt an. Himmet entschleiert
die Braut und findet den priapischen, bärtigen Karagöz. Er-
grimmt droht er ihm den Tod an. Aber schliefslich läfst er ihn
laufen, und das Ganze endet, wie ein Mimus soll, mit dem un-
auslöschlichen risus mimicus. Ähnlich wie der wackere Baba
Himmet wird wohl der miles gloriosus Mars in dem Mimus des
') Ich folge hier Jacob, Karagöz-Komödien Heft 3, S. 27 folg.
Sujets des Mimus uud des türkischen Puppenspiels. 649
Laberius „Anna Perenna", von der Ovid so hübsch zu erzählen
weifs (vgl. Fast, m, 675 folg.), getäuscht worden sein. Ihr gesteht
Ares seine Liebe zur spröden Minerva und bittet um ihre Ver-
mittelung, die ihm denn auch schliefslich auf vieles Drängen zu-
gesagt wird. Mars schmückt nun freudig das Brautgemach. Dicht
verschleiert, wie Karagöz, wird die Braut hereingeführt, und als
der Bräutigam den Schleier hebt, sieht er die runzlige, alte
Nymphe vor sich, die ihn noch dazu tüchtig auslacht.
Aber auch die Verkleidung von Männern zu Frauen ist im
italischen Mimus offenbar häufig gewesen, und der folgt ja nur
dem hellenischen. In des Pomponius Atellane „Die Kaienden des
März" wird einem Manne auf der Bühne die Rolle als Matrone
einstudiert, die er spielen soll (Pomp. 57 ff.). In den „Macci
gemini * wird ein Mann entlarvt, der sich als Frau verkleidet hat;
er sträubt sich dagegen, was er kann1).
Hier möge ein Karagözstück verwandten Inhalts folgen').
Hadschievad stolpert vor des Karagöz Thür. Karagöz bietet
ihm Prügel an, man einigt sich schliefslich zu einem friedlichen
Gespräch. Hadschievad fragt vertraulich, mit welcher Frau
Karagöz jetzt verkehre. Karagöz meint, mit einer hinkenden
Eselin. Er fühlt sich zwar genügend erotisch veranlagt, aber es
fehlt am Besten, er hat kein Geld.
H. : Das schadet nichts; ich werde dir alles besorgen unter
der Bedingung, dafs wir einen Kontrakt machen.
K.: Gut, ich unterzeichne.
H.: So, dann gebe ich dir meine Tochter zur Frau.
Er geht fort, holt seine Tochter nebst zwei Notaren und
zwei Zeugen, die Trauung wird vollzogen.
Zwischen der ersten und zweiten Scene liegt eine Nacht.
Die Frau fühlt am nächsten Tage allerhand Schmerzen;
schliefslich fürchtet sie, ins Kindbett zu kommen. Karagöz
*) [Ei] perii! non puellula est. numquid [namj abscondidisti
Inter nates? (68. 69.)
*) Quedenfeldt erhielt es durch die Vermittelung eines Freundes von
dem Karagödschi-Ssi-Mohammed Ben-Dabüs in Tunis; a.a.O. S. 921 folg.
650 Siebentes Kapitel.
wundert sich, die Frau aber meint, sie sei in einer heiligen
Stadt geboren, und wenn sie mit einem Manne verkehre, be-
komme sie am nächsten Morgen ein Kind.
Callida dat stulto tarn nova nupta viro,
sagt Ovid vom Mimus. Karagöz holt die Hebamme, und bald
stellt das Kind sich ein. Es zeigt sich merkwürdig frühreif,
kann gleich sprechen, äufsert gar erotische Bedürfnisse, und als
Vater Karagöz es auf den Rücken hebt und mit ihm spazieren
geht, benimmt es sich höchst unanständig; da läfst Karagöz es
hinfallen, dafs es stirbt. Aber des Kindes Mutter hetzt ihm die
Polizei auf den Hals, und Karagöz wird schliefslich hingerichtet.
Auch in den griechischen Komödien erschallt das Geschrei ge-
bärender Frauen, und es zeigt sich die Hebamme. Das wird
im Mimus nicht anders gewesen sein. Ich erinnere auch an
Sophrons " Ax.idxQiai J). Auch Hinrichtungsscenen kamen im Mimus
vor, so im „Laureolus" und in den Kreuzigungsmimen.
Genau denselben Stoff, wie dieser türkische Mimus, behandelt
„Die schwangere Jungfrau" (virgo praegnans) des Pomponius,
und sie wird ihn gewifs nicht weniger burlesk gestaltet haben,
wie der Karagöz.
Im allgemeinen aber hat Karagöz viel Glück in der Liebe,
und seinen Werbungen widersteht selten ein Weib. So entführt
in einem bei Quedenfeldt (a. a. 0. S. 922 folg.) erzählten Stück
Karagöz einem Araber oder auch einem Inder seine Frau, mit
welcher dieser sich zum Vergnügen aufs Land begeben hat. Sieg-
reich weifs er die reizende Fatme gegen alle Abgesandten des
Inders, die sie zurückholen sollen, zu verteidigen. Erst der Riese
Og ben Oniok bringt sie glücklich ihrem rechtmäfsigen Besitzer
') Auch bei Champfleury (a. a. 0. S. 99) wird von einem tunesischen
Karagözstück berichtet, „Karagöz als Familienvater", in dem in höchst
realistischer Weise alle Vorkehrungen für die Niederkunft einer Frau ge-
troffen werden; zum Schlüsse kommt ein kleiner Karagöz zum Vorschein
der bis auf den Phallus seines Vaters getreues Konterfei ist; über den letzten
Zug vgl. oben S. 602, 603, 635. An derselben Stelle wird das Stück „Karagöz
im Irrenhause" erwähnt.
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 651
wieder zurück. Es ist hier eben der alte Ehebruchsmimus.
Als wahrer Liebesheld erscheint Karagöz in einem Stücke, das
Rolland in Konstantinopel sah. (Ich gebe die Beschreibung nach
Champfleury, a.a.O. S. 42 — 44): „Karagöz kommt auf die Bühne
und besingt die Freuden der Liebe, dann kommen der Reihe
nach verschiedene Frauen, welche spazieren gehen: der Harem
eines Pascha, die Gattin eines Kaufmannes, die eines armenischen
Sarafen, die eines Landmannes und die Tochter eines Priesters.
Bei ihrem Anblick fängt der Wollüstling Feuer. Seine tierischen
Gelüste zeigen sich mit einer unanständigen Offenheit, welche die
ganze Zuhörerschaft, selbst die kleinsten Kinder, in Freude ver-
setzt. Karagöz versucht diese Schönen alle nacheinander zu ver-
führen; und nach mehr oder weniger scheinbaren Äufserungen
des Unwillens, nach schwachen Einwänden, nach Gesprächen
.voll frecher Sarkasmen, ergeben sich leider schliefslich alle und
willigen ein. Nur bestimmen sie ihren Preis ; bei dem Geständnis
des Versuchers, er habe keinen Heller, entfernen sich alle im
Zorn, oder sie treiben mit ihm derartige Possen, dafs man sie
unmöglich erzählen kann.
Von allen abgewiesen und desto mehr erotisch aufgeregt,
versucht Karagöz sich zu trösten und liefert sich selbst in einem
langen Monolog mit Hilfe vieler niedrig-komischen Vergleiche
den Beweis, dafs es kaum einen Unterschied zwischen Torte und
Schwarzbrot giebt, und dafs alle Frauen gleich viel wert sind.
Infolgedessen klopft er an die Thür eines Lupanar. Da er mit
leeren Händen kommt, wird er nicht besser empfangen. Trotz
seiner Bitten, Versprechen und Ränke jagt man ihn wiederholt
fort. Schliefslich wird er wütend und will die Thür stürmen.
Da hetzt man einen grofsen Hund auf ihn, der ihn in einem
grotesken Kampfe mit einem Bifs zum Eunuchen macht und fort-
läuft. Niedergeschlagen durch sein Unglück sieht sich der
Spektakler gezwungen, um seinen Verlust wieder gut zu machen,
die Rolle des Lieferanten des Hauses anzunehmen.
Dann beginnt das Gegenstück zur Musterung der Weiber,
und diese zweite Hälfte des Dramas übertrifft an Komik bei
weitem alles Vorangegangene. Karagöz wendet sich als Versucher
652 Siebentes Kapitel.
nacheinander an einen Pascha, einen Priester, einen Bankier,
einen Kaufmann, einen Soldaten, einen Derwisch, einen Juden,
einen Christen, einen Packträger u. s. w. Anfänglich widerstehen
alle, aber nach langem, höchst moralischem Gerede kommen sie
mit ihren wahren Beweggründen zum Vorschein. Es ist das eine
eigenartige Satire auf den typischen Charakter der Kasten und
Zünfte. Der Pascha spricht von seiner Würde, der Priester von
seinem Ansehen, der Bankier von seinem Kredit, der Jude be-
rechnet die Kosten und der Kaufmann das Risiko, das die Be-
friedigung ihrer Laster mit sich bringen würde. Der Derwisch
träumt von andern Freuden und verachtet solch gemeine Ver-
gnügungen. Allmählich jedoch verschwinden die Bedenken vor
der burlesken Beredsamkeit, den Paradoxien, den erotischen Ge-
mälden des Verführers: Jeder willigt ein und rechtfertigt' sich
vor sich selbst mit höchst burlesken Sophismen. Schliefslich is.t
das Lupanar gefüllt ..."
Das Thema dieses Stückes ist nichts weniger als sauber;
aber es war von Uranfang an im Mimus beliebt; noch in der
neuen Komödie spielt die Scene gern vor der Thür des Bordells,
die manchmal heftig berannt wird1). Herondas führt uns die
Kupplerin vor und den Mädchenwirt; der Kuppler ist eine der
wichtigsten Typen der Magodie, und die Cinaedologie hat vor-
nehmlich mit diesen bösen Stoffen zu thun.
Kein Wunder, dafs also Karagöz gelegentlich auch einmal
in der Rolle des Mädchenwirtes erscheint und zwar im
Quartierskandal.
(Mehalle baskyny.)
Karagöz, dessen Frau auf mehrere Tage abwesend ist, trifft
ein Mädchen, die sich mit ihrem Wirt verzankt hat, und nimmt
*) Diphilus, Menander und andere Dichter der neuen Komödien
haben den Kuppler öfter vorgeführt; bei Diphilus und Poseidipp ist der
noQVoßöaxog sogar die Titelrolle, bei Plautus und Terenz findet sich der
Kuppler. wiederholt; der gelungenste Kupplertypus ist wohl Ballio im Pseu-
dolus des Plautus.
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 653
sie bei sich auf. Schon kommen ihre Anbeter; zuerst ein junger
Bej, Lokmann aus Skutari, aber Karagöz will für die Zusammen-
kunft als echter Gesinnungsgenosse des Kupplers Battaros bei
Herondas Geld, und der gute Bej hat keins. Darauf prügelt
Karagöz ihn unbarmherzig, wie es alle Kuppler im Mimus und
in der neuen Komödie sind, hinaus, ebenso den Stammler und
einige andere Kunden des Fräuleins, und zuletzt den Inder. Da
erscheint aber ein äufserst rücksichtsloser junger Mann, der
Karagöz mit Gewalt zu Leibe geht, wie es im Mimus und der
attischen Komödie nicht selten dem Kuppler gegenüber geschieht,
der nun einmal dazu da ist, geprellt zu werden und Prügel zu
bekommen. Schliefslich wirft er den Karagöz aus seinem eigenen
Hause hinaus. Aber Karagöz weifs sich besser zu helfen als etwa
Battaros; er ist nun einmal immer der Schlaue; schnell ruft er
die vorher von ihm herausgeworfenen ungebetenen Gäste zurück.
Der Bej an ihrer Spitze dringt auf den frechen Eindringling ein,
und während sie sich draufsen streiten, macht Karagöz die Haus-
thür zu und behält das Mädchen frohlockend für sich selber (nach
Jacob Heft 2, S. VII— IX).
Urdrollig ist es, diesen lasciven Karagöz in einem Mimus
als den Tugendwächter der Frau seines Freundes Hadschievad
anzutreffen. Ich gebe den Inhalt dieses Mimus „Karagöz als
Opfer seiner Tugend" mit den Worten Gerard de Nervals, der
dieses ziemlich heikle Stück geistvoll und geschickt erzählt (bei
Champfleury a. a. 0. S. 27-36): „Hinter der Leinwand wurde
eine Dekoration angebracht, welche einen Platz von Konstanti-
nopel darstellte, mit einem Brunnen und Häusern davor.
Bald sah man aus einem Hause einen Türken kommen, be-
gleitet von einem Sklaven, welcher einen Reisesack trug. Er
schien unruhig, und indem er plötzlich einen Entschlufs fafste,
klopfte er an ein anderes Haus des Platzes und rief: „Karagöz!
Karagöz! Bester Freund, schläfst du noch?-4
Karagöz steckte die Nase durchs Fenster, und als man ihn
sah, tönte ein Schrei der Bewunderung durch den ganzen Zu-
hörerraum; dann bat er um Zeit, sich ankleiden zu können, er-
schien bald und umarmte seinen Freund.
654 Siebentes Kapitel.
Höre, sagte dieser, ich erwarte von dir einen grofsen Dienst ;
eine wichtige Angelegenheit zwingt mich, nach Brussa zu gehen.
Du weifst, dafs ich mit einer sehr hübschen Frau verheiratet
bin; ich will es dir gestehen, dafs es mir schwerfällt, sie allein
zu lassen, da ich nicht viel Vertrauen zu meinen Dienern habe . . .
Nun wohl, mein Freund; heute Nacht ist mir ein guter Gedanke
gekommen; — dich zum Schützer ihrer Tugend zu bestellen.
Ich kenne die zarte und tiefe Anhänglichkeit, die du zu mir
fühlst; ich bin glücklich, dir diesen Beweis meiner Achtung zu
geben.
— Unglücklicher, sagte Karagöz, bist du närrisch? Sieh
mich doch ein wenig an!
— Nun, und?
— Wie, begreifst du nicht, dafs deine Frau, wenn sie mich
sieht, dem Drange nicht wird widerstehen können, mir anzu-
gehören?
— Ich sehe das nicht, sagte der Türke; sie liebt mich, und
wenn ich eine Verführung fürchten müfste, der meine Frau er-
liegen könnte, dann wird die nicht von deiner Seite kommen,
mein armer Freund; dafür bürgt mir zunächst deine Ehre — und
dann — Ah bei Allah! du bist sonderbar gebaut! . . . Kurz, ich
rechne auf dich.
Der Türke entfernt sich.
Blindheit der Menschen, ruft Karagöz aus. Ich! sonderbar
gebaut! sage doch: zu gut gebaut, zu schön, zu verführerisch,
zu gefährlich.
Schliefslich, sagt er im Selbstgespräch, mein Freund hat
mir die Bewachung seiner Frau anvertraut, ich mufs dieses Ver-
trauen rechtfertigen. Ich will in das Haus gehen und es mir
auf dem Divan bequem machen ... 0 Unglück! Seine Frau, neu-
gierig, wie sie alle sind, wird mich sehen wollen . . . und sobald
sie ihre Augen auf mich geworfen hat, wird sie in Staunen ge-
raten und alle Zurückhaltung verlieren. Nein! ich will nicht
hineingehen, ich werde an der Thür dieses Hauses stehen bleiben
wie ein Soldat auf Schildwache. Eine Frau ist eine so geringe
Sache und ein wahrer Freund ein so seltenes Gut.
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 655
Diese Phrase erregte einen wahren Beifallsturm unter der
männlichen Zuhörerschaft im Kaffeehaus. Sie wurde als Couplet
vorgetragen. In dieser Art Stücke kommen nämlich vielfältig,
wie bei uns, Volkslieder vor.
Karagöz zeichnete sich auf der weifsen Leinwand (der
perde) . . wunderbar ab mit seinem schwarzen Auge, seinen schön
geschwungenen Augenbranen und den am meisten in die Augen
springenden Vorzügen seiner ungezwungenen Art (Phallus).
Seine Eigenliebe hinsichtlich von Verführungen schien die Zu-
hörer nicht in Erstaunen zu setzen.
Nach seinem Liede schien er in Betrachtungen versunken.
Was soll ich thun? sagte er zu sich; zweifellos an der Thüre
warten, bis mein Freund zurückkommt. Aber diese Frau kann
mich heimlich durch die Fenstervorhänge sehen. Aufserdem
kann sie Lust haben, mit ihren Sklavinnen ins Bad zu gehen.
Kein Mann könnte seine Frau hindern, unter diesem Vorwande
auszugehen; dann kann sie mich mit Mufse bewundern . . . 0
thörichter Freund, warum hast du mir diese Überwachung an-
vertraut?
Hier geht das Stück ins Phantastische über. Um sich den
Blicken der Frau zu entziehen, legt sich Karagöz auf den Bauch
und sagt: „Ich werde wie eine Brücke aussehen4*.
Die Possen, die Karagöz jetzt treibt, sind so heikler Natur,
dafs ich sie lieber französisch lasse1).
*) Champfleury a. a. 0. S. 30 — 32 : „11 faudrait se rendre compte de sa
conformation particuliere pour comprendre cette excentricit€. On peut se figurer
Polichinelle posant la bosse de son ventre comme une arche, et figurant le pont
avec ses pieds et ses bras. Seulement, Caragueuz n'a pas de bosse svr les /paules.
Passent une foule de gens, des chevaux, des chiens, une patrouille, puis enfin
un arabas traine par des boeufs et chargt de Jemm.es. L'infortune Caragueuz se
live a temps pour ne pas servir de pont ä une si lourde machine.
Une sehne plus comique a la reprtsentation que facile ä d4crire succide a
celle oü Caragueuz, pour se dissimuler aux regards de la femme de son ami, a
voulu avoir fair cfun pont. 11 faudrait, pour Vexpliquer, remonier au comique
des atellanes laünes. Dans cette seine, d"une exentricite qu'il serait difficile de
656 Siebentes Kapitel.
„Plötzlich tritt die Gattin seines Freundes aus dem Hause,
um sich ins Bad zu begeben. Karagöz hat keine Zeit, sich zu
verbergen, und die Bewunderung dieser Frau bricht in Freuden-
rufen los, — — die den Zuschauern sehr erklärlich sind.
Was für ein schöner Mann! ruft die Dame; ich habe nie
etwas Ähnliches gesehen.
Entschuldigen Sie, gnädige Frau, sagt Karagöz, immer
tugendhaft; ich gehöre nicht zu den Menschen, mit denen man
sprechen kann, ... ich bin ein Nachtwächter, einer von denen,
welche mit ihrer Hellebarde klopfen, um das Publikum zu be-
nachrichtigen, wenn eine Feuersbrunst in dem Viertel ausge-
brochen ist.
— Und wie kommt es, dafs du noch um diese Stunde hier
zu finden bist?
— Ich bin ein armer Sünder . . . Obgleich ich ein guter
Muselman bin, habe ich mich von Giaurs ins Wirtshaus verführen
lassen. Dann hat man mich, ich weifs selbst nicht wie, sinnlos
betrunken auf diesem Platze liegen lassen . . . Mag Mahomet mir
verzeihen, dafs ich seine Gebote übertreten habe!
— Armer Mann! Du mufst krank sein! . . . Tritt ins Haus,
du kannst dich dort ausruhen.
— Und die Dame versucht, die Hand des Karagöz zum
Zeichen der Gastfreundschaft zu fassen.
faire supporter chez nous, Caragueuz se couche sur le dos et desire avoir Vair
d'un pieu.
La foule passe et chacun se dit: — Qui a plante' la ce pieu? il n'y en avait
pas hier. Est-ce du chene, est ce du sapin?
Arrivent des blanchisseuses revenant de la fontaine, qui etendent du linge sur
Caragueuz. II Japercoit avec plaisir que sa supposition a reussi. Un instant
apres, on voit entrer des esclaves menant des chevaux a l'abreuvoir; un ami les
rencontre et les invite ä entrer dans une galere {sorte de cabarei) pour se rafraichir;
mais oü attacher les chevaux? — Tiens, voilä un pieu, et on attache les chevaux
ä Caragueuz.
Bientöt des chants joyeux, provoque~s par l'aimable chaleur du vin de Tene'dos,
retentissent dans le cabaret. Les chevaux impatients s'agitent. Caragueuz, tir€ a
quatre, appelle les passants ä son secours et demontre douloureusement, qu'il est
victime d'une erreur. On le ddivre et on le remet sur pied".
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 657
— Rühren Sie mich nicht an, Madame, ruft der letztere mit
Schrecken . . . Ich bin unrein. Ich kann garnicht in ein an-
ständiges muselmanisches Haus eintreten; ich bin durch die Be-
rührung eines Hundes befleckt. — —
— Wie ist das gekommen? fragt die Dame.
— Der Himmel hat mich gerecht gestraft. Ich hatte bei
meiner schrecklichen Schwelgerei in dieser Nacht Confitüren
von Weintrauben gegessen. Als ich hier auf der Strafse er-
wachte, merkte ich mit Schrecken, dafs ein Hund mir das
Gesicht beleckte. Das ist die Wahrheit. Allah möge mir ver-
zeihen!
Von allen falschen Angaben, die Karagöz macht, um die
Angriffe der Frau seines Freundes zurückzuweisen, scheint diese
die siegreichste zu sein.
„Armer Mann, sagt sie mitleidig; wahrhaftig, niemand wird
dich anrühren dürfen, bevor du nicht fünf Waschungen von je
einer Viertelstunde vorgenommen und dabei Verse des Koran
recitiert hast. Gehe zum Brunnen, und wenn ich vom Bade
zurückkehre, will ich dich hier wiederfinden."
Die Dame kehrt zurück und mit ihr eine ganze Schaar von
Freundinnen, die sie im Bade getroffen hat, alle fallen liebestoll
wie Mänaden über ihn her. Da fährt plötzlich der französische
Gesandte in einer prächtigen Kutsche vorüber; Karagöz, der
schon in Gefahr ist, zu unterliegen, stellt sich unter fran-
zösischen Schutz und fährt vor den Augen der verzweifelnden
Damen schnell davon. Der Gatte kehrt zu seiner Frau zu-
rück, deren Tugend Freund Karagöz durch seine Aufopferung
bewahrt hat.
Diese Idee, den gewohnten Verführer, wie er unablässig in
den griechischen und römischen Mimen vorkam,
in quibus assidue cultus procedit adutier,
auch einmal die Rolle des Tugendwächters spielen zu lassen, ist
so übermütig-lustig und zugleich so genial, dafs schwerlich ein
türkischer Karagözdichter der Erfinder war, das dürfte auf
Reich, Mimua. 40
658 Siebentes Kapitel.
einen griechischen Mimographen zurückgehen. Jedenfalls gilt
auch von den Karagözstücken Ovids Wort über die Mimen:
qui semper vetiti1) crimen amoris habent.
Gelegentlich sehen wir Karagöz auch als Ehestifter auf-
treten, so besonders in „ Die Teufelslist oder die Geisterbannerei
des Karagöz« (vgl. Jacob Heft 3, S. 17 folg,).
Karagöz hat von mehreren geheimnisvollen Männern, die er
im Traume gesehen hat, eine Beschwörungsformel gelernt, Kranke
und Verrückte zu heilen. Er einigt sich mit Hadschievad dahin,
dieser soll ihm alle Kranken und Verrückten bringen, damit er
sie heile, und dieser bringt ihm Tusun Bej; aber Tusun stellt
sich nur wahnsinnig, in Wirklichkeit liebt er Dilber, die Tochter
des Hadschievad, und Karagöz hat vorher ein Gespräch zwischen
Dilber und Tusun belauscht und gehört, wie Dilber dem Tusun
einen vergrabenen Schatz des Hadschievad anzeigt, den dieser
dem Vater Hadschievad als Brautgabe übergeben soll. Tusun
gewinnt Karagöz' Beihilfe; dieser weifs Hadschievad durch die
schnelle Heilung Tusuns und durch den geheimnisvollen Hinweis
auf den verborgenen Schatz so einzuschüchtern, dafs er seine
Einwilligung in die Heirat Tusuns und Dilbers giebt. Karagöz
empfiehlt sich, um Hochzeitskleider anzulegen. Warum sich
Tusun krank und geistesgestört anstellt, ist aus diesem Stück,
wie Jacob hervorhebt, absolut nicht zu ersehen. Desto deut-
licher wird dieser Zusammenhang in dem alten byzantinischen
Mimus gewesen sein, der die letzte Quelle dieses Stückes ist.
Wenn Karagöz hier als Arzt auftritt, so erinnern wir uns daran,
dafs der Arzt schon im lakonischen Mimus, dem Dikelon, eine
typische Figur war und seitdem als unwissender und prahlerischer
Charlatan ein stehender Typus des Mimus ist. Nicht selten hat
er sogar die Titelrolle; einen „Medicus" schrieb Pomponius, eine
„Mania medica" Novius; noch Choricius kennt den Arzt als mimi-
schen Typus. Wie Karagöz soll der Arzt in den „Menaechmi" des
Plautus einen vermeintlich Wahnsinnigen heilen. Karagöz ist
l) ficti in einzelnen Codd., wohl aus foedi verdorben, was dann die ur-
sprüngliche Lesart wäre ; vetiti nur sinngeraäfser Ersatz für das sinnlose ficti?
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 659
zugleich hier eine Art Beschwörer, wie es auch der Negromant
Philistions war. Beschwörungen sind überhaupt seit Sophrons
rvvaTxfg al xdv Ütöv (fuvxi i^släv und Theokrits OaquaxtvxQiat
ein gewöhnliches Thema des Mimus.
Besonders beliebt ist im Mimus die Darstellung nicht blofs
von Zank mnd Streit, sondern auch eines regulären Wettstreites
zwischen zwei typischen Personen. In einer Atellane des Xovius wird
sogar der Wettstreit zwischen Tod und Leben vorgeführt (Mortis
et vitae iudicium). Bei den Gerichtsscenen im Mimus werden
Verklagte und Kläger einen regelrechten Agon aufgeführt haben.
Des Herondas Kuppler Battaros vor Gericht führt uns als recita-
tiver Mimus nur den einen Teil dieses Streites vor. Noch
Choricius weist darauf hin, wie im Mimus gerne neben dem
guten Redner auch ein schlechter auftrete, und an ihnen könne
man erkennen, was richtige und was falsche Beredsamkeit sei
(vgl. oben S. 214). Die beiden haben also doch wohl im Wett-
streite Proben ihrer Kunst abgelegt. Dieses mimische Motiv,
das noch weiter wirkt in der AixvSov xal (faxfjg (fvyxQiaig des
Cynikers Meleager und später noch in den Streitgedichten des
Mittelalters, in denen Sommer und Winter, Wein und Wasser,
Leinwand und Wolle oder Phyllis und Flora, die Geliebte eines
Ritters und eines Klerikers um den Vorrang streiten1), ist nun
auch eines der Hauptthemata im türkischen Mimus.
Dort metamorphosiert sich Karagöz zum Dichter und ringt
in einem Kaffeehause mit einer ganzen Gesellschaft von Dichtern
um den Preis. Im ersten Akte kommt Hadschievad zu Karagöz,
und nach mancherlei Hin- und Herreden erzählt ihm Hadschievad,
er sei an dem Cafe" der Dichter vorübergekommen und hätte ein
lautes Geschrei gehört. Die Dichter säfsen da, hätten die
Mandoline in der Hand und spielten und sängen. Zugleich
hörte Hadschievad, sie wollten einen grofsen Dichterwettstreit
anheben, und wer darin siege, solle einen Shawl und zehn Gold-
stücke erhalten. 0! meint Karagöz, da müssen wir hin, die
zehn Goldstücke können wir brauchen. Ja, sagt Hadschievad,
kannst du denn die Laute schlagen? Gewifs, sagt Karagöz.
*) Vgl. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas I, S. 384.
42*
660 Siebentes Kapitel.
Hadschievad giebt zu bedenken, er meine aber nicht etwa zer-
schlagen. Karagöz weist alle Zweifel zurück und beide gehen
ins Cafe\ Schon hat der Wettstreit begonnen, einer von den
Dichtern singt eben, doch hier gebe ich lieber den Text selbst
in von Luschans Übersetzung (a. a. 0. S. 128—132):
K. : Hadschi E'iwad, ist das der Ort, von dem Du gesprochen ?
Was sind das für sonderbare Kerle, und was halten sie in der
Hand?
H.: Aber um Gotteswillen, Karagös, sei doch still, schreie
nicht so laut; das sind hier die Dichter, von denen ich Dir er-
zählt, mit ihnen sollst Du Dich in den Wettstreit einlassen;
jetzt mufst du zeigen, was Du kannst.
K.: Oho, oho, was glaubst du denn! Haaaaah, Ihr Dichter,
ich, der Karagöz, ich bin gekommen, um mit Euch um den Preis
zu ringen, legt nur los, dafs ich Euch höre!
Einer von den Dichtern: Bitte, wollen Sie nur näher treten.
Willkommen, sehr willkommen! Caf6-Wirth, mache einen Cafe"
mit Zucker.
Caf6-Wirth: Mit Zucker, kommt gleich, gleich.
K.: Ruhig, Du! Mein Trommelfell ist zerplatzt, hat man Dir
denn Deinen Hals mit einer Wasserleitungs-Röhre angebohrt!
(Es wird Cafe" gereicht, alle trinken.)
Ein Dichter: Nun Karagös, bist Du gekommen, um Dich mit
uns zu messen?
K.: Ja, was glaubst Du denn! Schickt es sich vielleicht,
dafs diese Goldfüchse da kleben bleiben und ich mit hungrigem
Auge daneben stehe.
Ein Dichter: Dann bitte, tragen Sie nur vor, wir werden
zuhören.
K.: Nein, tragt ihr vor, ich werde Gegenreime machen.
Ein Dichter: Gut, dann hören Sie zu.
Komm, wir wollen fröhlich sein, eine Nacht, heimlich in
Bebek,
Wollen uns vom Schicksal nach Herzenslust unseren Wunsch
erfüllen lassen.
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 661
Lasse doch durch das Heilmittel Deines Besitzes Deinen
Kranken gesunden,
Oder soll er wol so ganz unglücklich im Bette bleiben?
All mein Eifer und meine Mühen sind umsonst gewesen
Die Silberarmige hat sich meiner Dicht erbarmt.
Sie fertigt den Liebhaber mit Versprechungen ab und läfst
sich nicht umarmen.
Ihresgleichen ist nicht wieder zu finden an Bosheit.
Ihr Ebenbild hat ein Mensch oder Menschenkind nie noch ge-
sehen
Vielleicht dafs ihresgleichen an Schönheit sich unter Engeln
nur findet.
Der Sänger Nijme soll Tag und Nacht seufzen,
Die Liebste zu erringen soll stets nur sein Wunsch sein.
Bitte, Karagös, die Reihe ist an Ihnen. Karagös singt:
Sieh unsere Hütte, sie füllt die Welt mit Gestank
Empfange von mir ein Sieb als Ehrengeschenk.
Gestohlen hatte ich den Becher des Scherbet-Verkäufers
Gefangen wurde ich, und lange Zeit blieb ich im Bagno.
Meine Zeit verging mit Schmieden von Rosten und Feuerzangen
Und doch war meine Mühe und Arbeit keinen Heller wert.
Mir genügt auch irgend eine grobe Matte,
Denn hast Du gehört, dafs je ein Zigeuner in einem Bette
schläft?
Es giebt keinen gröfseren Fatzke, als den Hadschi-Eiwad,
Vielleicht giebt es seinesgleichen unter Affen und Meerkatzen!
Nicht wahr, das ist schön! Ha, Ha, Ha!
H.: Bravo, Karagös, bravo, ich wufste gar nicht, dafs Du
solch ein Dichter seiest!
K.: Ja, was glaubst Du denn, es giebt noch manches an
mir, von dem Du nichts weifst.
Dichter: Karagös, ich werde noch etwas singen, und wenn
Du auch darauf eine Antwort hast, so bist Du mein Meister,
und ich küsse Dir die Hände zur Anerkennung.
662 Siebentes Kapitel.
K. : Singe nur immer zu, so lange Du kannst, (so lange
als Deine Hand reicht) meine Antwort ist immer bereit.
Nachdem auch dieser Dichter besiegt ist und Hadschievad
Karagöz belobt hat, kommt ein anderer Poet an die Reihe,
dessen Lied gleichfalls vom Karagöz parodiert wird. Dann fragt
Karagös:
Nun, stimmt es?
D.: Ja, stimmen thut es, aber gehört sich eine solche Parodie?
K.: Wenn es Dir nicht gefällt, singe nur ein anderes Lied!
Schliefslich müssen sich alle Dichter für besiegt erklären,
und Karagöz erhält den Shawl und die zehn Goldstücke.
Unerklärt bleibt in diesem Mimus, woher dem sonst höchst
ungebildeten Karagöz die Dichtergabe so plötzlich kommt. In
„Karagöz als Dichter" (Karagözün aschyklyky), einem gedruckten
Karagözstück, das es Jacob in Konstantinopel zu erwerben gelang,
und das dasselbe Thema behandelt aber variiert, wird auch dieser
Umstand erklärt. Als Hadschievad vor Karagöz' Thür kommt,
fragt dessen Frau aus dem Fenster nach seinem Begehr. Auf
seine Frage nach Karagöz' Befinden erzählt sie, mit ihrem Mann
sei es nicht mehr auszuhalten, er sei direkt verrückt geworden.
Er habe nämlich ein Buch in die Hand bekommen, in dem er
unablässig lese, und nun fasele er, er sei ein Dichter geworden;
auch jetzt hocke er wieder über dem Buche. Darauf erscheint
Karagöz und erzählt dem Hadschievad, er sei jetzt sa^yr (taub)
geworden, worauf ihm Hadschievad allerhand Mittel gegen
Taubheit anrät. Schliefslich kommt denn heraus, er meint, er
ist schayr (Dichter) geworden. Er giebt dann Hadschievad einige
Proben seines neuen Könnens, und dieser rückt nun mit seiner
Nachricht von dem Dichterwettstreit, der stattfinden soll, heraus,
und sie gehen ins Caf6, wo sich alles weitere ähnlich wie oben
abwickelt. Auf das Lied des Dichters Kulubi:
„Komm, o Dichter, frage nach der Wein-Schilderung bei dem,
der (schon) in dieser Welt trinkt,
Frage bei dem, welcher von dem Dichterwein berauscht und
bewufstlos geworden ist.
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 663
Wenn du von dem Vogel Greif Kunde zu empfangen verlangst,
Frage bei dem, der über die sieben Meere zum Gipfel des
Kaf seine Schwingen ausbreitend fliegt."
antwortet Karagöz:
„Nach dem Amüsement dieser Welt frage den, der viel Geld
ausgiebt,
Frag' nach der Furcht vor dem Tode die Maus in der Falle.
Wenn du sprichst: „Was ist Unverschämtheit?" komm, Sänger
Kulubi,
Frag bei dem, der im Wettstreit überwunden mit Schande
flieht. ■
Kulubi erklärt sich vom Dichter Karagöz besiegt und ruft seine
beiden Kollegen, die Karagöz gleichfalls überwindet, den letzten,
indem er ein Rätsel löst, das er zufällig kurz vorher von Had-
schievad gehört hat. Man sieht hier überall die bessere Moti-
vierung (vgl. Jacob Heft 3, S. 7 ff.).
Zum Schlufs giebt es dann noch in der Version des Wett-
streites, die Künos kennt, eine Prügelei zwischen Karagöz und
Hadschievad bei der Verteilung des Siegespreises, bis beide end-
lich, ein Lied singend, abziehen.
Es ist lustig genug, wie Karagöz die vornehmen, idealistischen,
ja sogar ein wenig verstiegenen lyrischen Lieder der Dichter in
seiner burlesken Weise travestiert. Der realistische Mimus liebte
ja schon bei den Hellenen, seinen Gegensatz gegen die idea-
listische Poesie herauszukehren. Wie der mythologische Mimus
die idealistische Heldensage in ihr burleskes, realistisches Gegen-
bild verkehrte, so travestierte der lyrische Mimus gerne die vor-
nehme Lyrik. Ich erinnere auch an die Parodie der Euripi-
deischen Monodie durch Aeschylos beim Dichterwettstreit in den
-Fröschen" (vgl. oben S. 536 ff.). Nun, soweit Aristophanes von
einem niederen türkischen Karagödschi absteht, so weit steht der
Wettstreit in den „Fröschen" von dem im türkischen Mimus ab.
Aber das alte mimische Motiv ist in beiden dasselbe, und eine
gewisse Ähnlichkeit in seiuer Ausführung ist nicht zu verkennen,
wenn auch der Preis in dem einen der Thron der tragischen
664
Siebentes Kapitel.
Kunst und im anderen zehn Goldstücke sind. Wie Dionysos bei
Aristophanes, giebt Hadschievad einen prächtigen Zuhörer ab.
Oft genug wird im byzantinischen Mimus dieser Dichterwettstreit
vorgekommen sein, der ja in den Einrichtungen des antiken Lebens,
seinen vielfältigen dichterischen Konkurrenzen und Preisen, einen
realen Boden hatte.
Wir erinnern uns nun noch
Karagöztiteln wie:
Le mariage de Caragueuz
Le mariage de Hubbe Hanum
La peche de Caragueuz
Das Bad
Kanli kavak (blutige Platane,
Gespensterstück)
gegenüber
an folgende Mimentitel:
Die Hochzeit (Laberius)
Die Braut des Pappus
(Pomponius)
Der Thunfischer (Sophron)
Der Fischer (Sophron)
Die Fischer (Theokrit)
Die Fischer (Pomponius)
Der Fischer (Laberius)
Der Gesundbrunnen (Laberius)
Das Gespenst (Mimograph
Catullus).
Zuletzt will ich noch, damit man sieht, in wie hohem Grade
das Karagözspiel in Nordafrika vergröbert und verschlechtert wird,
ein tunesisches Stück mitteilen, welches Champfleury aus Paul
Arene „Vingt jours en Tunisiett mitteilt (a. a. 0. S. 95 — 99): „Bald
erscheint ein schwarzes Schattenbild, welches auf dem Grunde
des erleuchteten Rahmens mit Händen und Füfsen heftig gesti-
kuliert. Doch das ist noch nicht Karagöz, sondern ein Ein-
wohner der Stadt, ein Bürger mit einem Turban auf dem Kopfe,
der Appetit auf einen guten Fisch hat und den Auftrag zu
seiner Beschaffung einem Neger erteilt. Nach diesem kommt
Karagöz. Karagöz hat die Unterhaltung zwischen dem Bürger
und dem Neger belauscht. Er erklärt, dafs er, Karagöz, den
Fisch essen werde. Damit schliefst der erste Akt.
Im zweiten erscheint Karagöz nicht. Wir befinden uns auf
dem Meere in einer Barke mit mehreren Ruderknechten, welche
sehr geistreich hergestellt ist. Der Neger hält die Stange. Vorne
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 665
wirft der Eigentümer des Bootes seine Leine in das, was die
salzigen Tiefen vorstellt. Ein grofser Thunfisch, mit weifsein,
rundem Auge und offenem Maule, streift unter dem Wasser umher
und beriecht den Angelhaken. Aber der Neger spricht fortwährend
und hindert den Fisch am Anbeifsen. Eine endlose Auseinander-
setzung zwischen dem Herrn und dem Neger, infolge deren der
Neger verspricht, nicht mehr zu reden. Er redet wirklich nicht
mehr ; aber — zur grofsen Freude der Zuhörer, die den schmutzigen
Witzen dieses rufsfarbigen Pierrot sehr sympathisch gegenüber-
stehen — läfst er anderswoher, als aus dem Munde, ein un-
passendes, schallendes Geräusch hören, furchtbar wie ein Donner-
schlag.
Der Thunfisch rettet sich verstört in die Abgründe. Eine
neue Auseinandersetzung des Herrn, begleitet von wütenden Ge-
bärden. Neue Eide des Negers, welcher schwört, in Zukunft sich
völlig ruhig zu verhalten. Endlich ist der Thunfisch gefangen,
man zieht ihn an Bord, die Ruderknechte rudern, die Barke ver-
schwindet hinter der Coulisse, und der zweite Akt hat ein Ende.
Im dritten Akt kommt der Bürger, trägt seiden Fisch unter
dem Arm und legt ihn auf die Erde. Er legt sich nebenbei hin
zu Kopfende. Karagöz kommt hinzu und legt sich an das
Schwanzende. Unruhig beobachtet der Bürger Karagöz. Aber
Karagöz schläft, Karagöz schnarcht. Der Bürger, sicher gemacht,
glaubt, einen Augenblick fortgehen zu können, geht weg, und
überläfst den Fisch der Obhut der Sterne.
Als er mit seinen Freunden wiederkommt, die seinen Kauf
bewundern wollen, hat Karagöz den Fisch weggenommen; er hat
sich an die Stelle gelegt, auf den Rücken ausgestreckt, und es läfst
sich erraten, wie gröblich der Bürger sich täuscht, wenn er in der
finstern Nacht einen frisch geangelten Thunfisch zu finden glaubt.
Der erste Kampf, an dessen Ende Karagöz das Feld be-
hauptet, wobei er gewohnheitsmäfsig den besiegten Feind über
seine sonderbare Klinge hat springen lassen.
Vierter Akt und zweiter Kampf, diesmal mit dem Neger,
der verlangt, Karagöz solle den Fisch zurückgeben.
Der Neger wird getötet. Karagöz schleppt ihn vor die Thür
666 Siebentes Kapitel.
des Bürgers. Der Bürger, dem nichts an der blofsstellenden Nach-
barschaft eines Leichnams liegt, schleppt seinerseits den Neger
vor die Thür des Karagöz. Man zerrt den unglücklichen Neger
eine Weile hin und her. Endlich entschliefst man sich zu einem
Vergleich. Der Neger soll mitten auf die Strafse, in gleicher
Entfernung von beiden Häusern, gelegt werden. Karagöz mifst
die Strecke ab, aber mit welch sonderbarer Elle! 0 Mahomet!
Aber da Karagöz auf andere Streiche sinnt, legt er sich, als der
Bürger einmal weggeht, an die Stelle des Negers, den er ver-
schwinden läfst.
Fünfter und letzter Akt. Die Klageweiber, die inzwischen be-
nachrichtigt sind, umringen Karagöz, den sie für den toten Neger
halten. Sie rufen klagend „you! you!", sie stimmen Totenlieder an.
Plötzlich richtet sich der Tote auf: das ist nicht der Neger, das
ist Karagöz, das ist der Feind! Weniger tapfer gegenüber
Frauen als gegenüber Männern, steht Karagöz auf dem Punkte,
das Schicksal des Orpheus zu teilen. Angegriffen, zerrissen,
mit den Krallen gepackt, in die Nase und anders wohin gebissen,
bleibt der Unglückliche auf dem Strafsenpflaster, seufzt und
spuckt sich in die Hände „prt . . . prt . . . prt . . .", um seine
Wunden einzureiben. Da kommen Juden und wollen ihn be-
graben. Sie legen ihn auf eine Bahre, und ihre genäselten
Klagen auf hebräisch, ihre amen und adonai, deren Nachahmung
sehr komisch karrikiert wird, bringen die Zuschauer häufig zum
Lachen. Schon bat sich der Leichenzug in Bewegung gesetzt,
da richtet sich Karagöz plötzlich wild auf. Von seiner ewigen
fixen Idee fortgerissen, beschimpft er die, welche ihn begraben
wollten, indem er sie gegen die Coulissen stöfst.
Der Rahmen bleibt einen Augenblick leer; dann erscheint
Karagöz wieder, sehr grofs, ideal, zehnmal so grofs, wie in dem
Stück, der Gargantua unter den Karagöz'. Er macht Luft-
sprünge und gestikuliert wie ein richtiger semitischer Policinell,
er kauderwälscht einen Triumphgesang. Die Lampe erlischt,
die Posse ist zu Ende."
Nun dürfen wir nicht vergessen, wenn wir den Karagöz
mit dem Mimus identifizieren, dafs der Karagöz doch immer nur
Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. ßß7
ein armseliges Puppenspiel ist. und der Mimus ein grofses,
auf der vornehmen Bühne aufgeführtes Drama. "Wenn der
türkische Hajaldschy auch ein noch so grofser Künstler ist, wie
er es nach von Luschans Bemerkungen wirklich hier und da zu
sein scheint, so ist er schliefslich doch immer nur ein Puppen-
spieler. Trotz alledem fordert noch heute die türkische Puppen-
komödie mit ihrer treffenden, wenn auch groben Ethologie
und Biologie die Bewunderung verwöhnter europäischer Zu-
schauer heraus; selbst so feine Kenner der Poesie, wie Jacob,
Künos, von Luschan, Maltzan u. a., können ihr ihren Beifall
nicht versagen. Wie hoch müssen da erst die hellenischen
Originale gestanden haben, die Mimen Philistions und späterer
byzantinischer Mimographen, von denen die Karagözkomödie ein
spätes, vielfältig umgestaltetes, verändertes und zum Teil ver-
ballhorntes Abbild bietet!
Wie weit steht andererseits wieder der tunesische Mimus mit
seiner plumpen und groben Spafsmacherei, seiner fast zusammen-
hangslosen Handlung, seinem phantastischen, um Lebenswahr-
heit unbekümmerten Schlüsse von einem guten Konstantinopeler
Karagözstücke ab! Wie ist er gegenüber jener wahren, witzigen,
lebendigen Ethologie und Biologie so blöde und stumpfsinnig, so
platt und gemein, und noch dazu so überaus schmutzig! So
weit wie dieser tunesische Mimus von den guten Mimen an der
Hauptpflegestätte der türkischen, mimischen Kunst absteht, so tief
werden andererseits diese wieder unter ihrem alten Vorbilde, dem
byzantinischen Mimus, stehen. Die byzantinische Hypothese ist ein
grofses Drama der vornehmen Bühne, in dem zahlreiche männ-
liche und weibliche Schauspieler agierten1). Der Karagödschi
') Nur in Ägypten tritt noch heute ein phallusbewehrter burlesker
Darsteller in Person auf, wie Quedenfeldt in einem Briefe von Schweinfurth
(a. a. 0. S. 906) mitteilt: „Der Garagos par excellence aber, eine Spezialität
von Ägypten, ist der sogenannte 'Ali Kaka', jetzt 'Ali Kaka Sohn', der nicht
nur in Cairo, sondern in allen Städten und auf allen Messen gastiert und
auch an andern Orten Nachahmer findet. Ob der ursprüngliche 'Ali Kaka'
dieses Genre aufgebracht hat, weifs ich nicht, ich nehme aber an, dafe es
früher nicht existiert hat. Denn sonst wäre davon in der Description de
l'Egypte und anderswo die Rede gewesen."
668 Siebentes Kapitel.
aber ist Mimus und Archimimus, Schauspieler und Theater-
direktor, ja Dichter und Coulissenschieber in einer Person. Zu
Konstantinopel finden sich ja nun in neuerer Zeit hin und wieder
gedruckte Stücke, im allgemeinen aber und ursprünglich wird die
Überlieferung der Karagözstücke nur eine mündliche gewesen sein,
wie es noch heute in Tunis und Tripolis der Fall ist. So sagt
Quedenfeldt (a. a. 0. S. 922): „Auch hier (in Tripolis) pflanzen
sich die Stücke in Form einer Erzählung unter den Karaküs-
spielern von Geschlecht zu Geschlecht in der Überlieferung fort.
Die Dialoge werden jedesmal improvisiert, der Sinn ist aber
stets derselbe. Neue solcher Stücke sollen übrigens nicht
oder doch nur sehr selten kreiert werden." Also diese Mimen
werden vom Hajaldschy nach einer Art Canevas extemporiert,
wie es die antiken Mimen ursprünglich auch wurden. Aber
diese Improvisation bewegt sich immer im alten Geleise, es ist
eine Reihe stereotyper Figuren, Witze und Scenen, die unab-
lässig, wenn auch mannigfach variiert, wiederkehren. So ist
der Dichterwettstreit bei Künos, besonders in der Einleitung,
mannigfach von demselben Stück bei Luschan abweichend, und
Jacob fand denselben Stoff sogar unter einem andern Titel;
trotz aller Verschiedenheit aber war es doch dasselbe Stück ; es
waren eben verschiedene Hajaldschys, die hier dieselbe Über-
lieferung, jeder in seiner Weise, behandelten. Der Puppenspieler
ist eben nicht Dichter, sondern Schauspieler, und er hat auch mit
seiner Schauspielerei so sehr selbst im eigentlichen Sinne alle
Hände voll zu thun, dafs er kaum für selbständiges Erfinden
Zeit hat l). Schon Thevenot hat nach seiner Schilderung offenbar
dieselben burlesken und nicht selten recht unverschämten Stücke
vor 250 Jahren gesehen, wie sie heute noch aufgeführt werden.
Die Karagödschis ziehen mit dem alten, in ein Puppenspiel
verwandelten Mimus in den Städten Asiens und Afrikas umher,
wie es ebenso die griechischen Mimen thaten; ich erinnere z. B.
an die weiten Gastreisen der Mime Theodora.
J) Wiederholt ist von Reisenden die aufserordentliche schauspielerische
Gewandtheit des Hajaldschy gelobt worden. Er ist nicht selten ein wabrer
Künstler, der seine Rolle trefflich spielt.
Der griechische Mimus als Puppenspiel. 669
Das Repertoire des byzantinischen Mimus war ein ungemein
reiches. Von Philistion und den übrigen griechischen und byzantini-
schen Mimographen haben Hunderte von Mimen existiert, die un-
ablässig zur Aufführung kamen. Diesen Kreis hat der Karagödschi
natürlich sehr eingeschränkt; aber die gebräuchlichsten mimischen
Stoffe hat er doch, soweit sie sich ins Türkische übertragen
liefsen, beibehalten. Ein hervorragender Karagödschi soll für
jede Nacht im Monat Ramasan ein besonderes Karagözstück
bereit halten, das wären also 30 verschiedene Stücke1)- Wenn
aber heute selbst hochgebildete und gelehrte Europäer am
türkischen Karagöz trotz seiner nicht selten groben, ja gemeinen
Zoten ihre helle Freude haben, so bethätigt hier eben die alte
Biologie und Ethologie des hellenischen Mimus noch in dieser
verstümmelten und verzerrten Form ihre unverwüstliche Kraft,
Wahrheit und Schönheit.
vn.
Der griechische Mimus als Puppenspiel.
Wir haben bisher so gesprochen, als ob der türkische
Hajaldschy selbst den Mimus zum Puppenspiel gemacht hätte;
damit würden wir aber seiner Erfindungskraft wohl zuviel Ehre
erweisen. Schon viele Jahrhunderte, ja vielleicht schon zwei
Jahrtausende vor ihm hat der griechische Mimus, der das
Dionysostheater eroberte, sich zugleich auch zum Puppentheater
herabgelassen. Hier müssen wir kurz auf die Geschichte des
griechischen Puppenspiels eingehen. Schon der Mimenprinzipal
in Xenophons „Gastmahl", dessen Handlung ins Jahr 422 ver-
legt ist, führt aufser seinen mimischen Tänzern auch Mario-
netten mit sich und zieht seinen Unterhalt, wie er selbst er-
klärt, von den Leuten, die diesen Marionetten zuschauen2)- Also
schon im 5. Jahrh. v. Chr. gehört das Marionettenspiel als eine
') Vgl. von Luschan a. a. 0. S. 141.
*) Xen. conviv. 4, 55: 'Alla /ua Ji', etpr), ovx ?nl roirtq) piya (foovco.
All' inl iüJ pr\v; 'Eni vfj Akt rotg atpQoatv ovroi yccg ict iuä vtvQoanaara
670 Siebentes Kapitel.
gewöhnliche Ergötzung selbst in einen so vornehmen Cirkel, wie
ihn die Gäste des Kallias bedeuten. Die Anfänge des Marionetten-
spieles in Hellas werden also wohl noch um Jahrhunderte weiter
zurückliegen. Plato wie Aristoteles erinnern sich nicht selten
an das Puppenspiel. Bei Athenaeus findet sich (I, 19 e) die
Notiz, die Athener seien so grofse Liebhaber von Marionetten
gewesen, dafs sie dem Neurospasten (Puppenspieler) Potheinos
die Bühne des Dionysostheaters überlassen hätten, auf der die
Dramen des Euripides aufgeführt wurden. Heron (wohl erst in
römischer Zeit. Diels.) spricht in seinem Buche über die Ver-
fertigung von Automaten von der Aufführung einer Tragödie
„Nauplios" und ebenso einer Apotheose des Dionysos durch
Marionetten1). Die griechischen Marionetten müssen einen hohen
Grad von Vollendung besessen haben. Sie erschienen wie lebende
Menschen, drehten den Nacken, bewegten das Haupt, Arme,
Füfse und Hände, ja selbst die Augen2). Wenn Galen den ge-
nialen Mechanismus begreifllich machen will, mit welchem die
Natur die Muskeln an die Knochen heftet, um die leichte Be-
weglichkeit unseres Körpers zu erzielen, gleich kommt ihm der
Vergleich mit den Puppenspielern, die durch geschickt ange-
brachte Fäden ihre Puppen bewegen, wie sie wollen3). Selbst
') Vgl. Les Theätres d'automates en Grece au ]> siecle avant L'ere
Chretienne d'apres les AviofiaTonouxa d'Heron d'Alexandrie par V. Prou.
Memoires presentes par divers savants ä l'academie, Serie I, Bd. IX, 1884,
S. 117 folg. Siehe Hermann Diels, Über das physicalische System des Straton,
Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1893, 1, S. 106 ff. und Richard Schöne
Zu Hyginus und Hero, Archaeol. Jahrb. V, 73 ff.
a) Pseudoaristoteles, De mundo
C. VI: 'Ojuolwg de xal ot vevQoanäotai
fiCav [irjQiv&ov tniönaaafitvoi noiovai
xal av%£va xivsiß&ai xal %tT(ia xov
Cq>ov xal w/uov xal 6(f&aj.fi6v, toxi d'
ots nävia xä f^iorj, fj.£xä xtvog tvqv&-
/j.(ag. (ed. Didot, Paris 1854, Vol.
III, 638).
Apuleius, De mundo t. II, pag. 35 1
(ed.Oudendorp): Uli, qui in ligneolis ho-
minumfiguris gestus movent, quando filum
membri, quod agitare volent, traxerint,
torquebitur cervix, nutabit caput, oculi
vibrabunt, manus ad omne ministerium
praesto erunt, nee invenuste totus videbitur
vivere.
3) Galen, Ilegl %Qt(ag xwv iv kv^qwtiov aufiaxi fiooCwv III, cap. XVI.
Medicorum graecorum opera ed. Kühn Bd. III, p. 262 folg. üg yctQ xal oaoi
J/a xivcdv fxt]Q(v&(ov xä £vkiva xwv eiäcilm' xtvovoiv, Intxeiva iwv ä()&ptov tig
Der griechische Mimas als Puppenspiel. 671
vornehme, antike Schriftsteller denken nicht selten an das
Puppenspiel. Berühmt sind die Verse des Horaz (Sat. II, 7, 81
u. 82):
Tu, mihi qui imperitas, aliis servis miser atque
Duceris, ut nervis alienis mobile lignum.
Auch Persius erwähnt die Marionetten '). Favorinus bemerkt
gegen die Astrologie, wenn der Mensch wirklich allein von den
Sternen abhinge, dann wäre er kein vernunftbegabtes Wesen,
sondern eine komische und lächerliche Marionette2). Vor allem
erinnert sich Marc Aurel, der so häufig des Mimus gedenkt, in
seinen Selbstbetrachtungen unablässig an das Puppenspiel; der
menschliche Geist, meint der Kaiser, soll sich den Leidenschaften
entgegensetzen, die ihn hin und her zerren, wie mit Fäden3);
erst der Tod erlöst den Menschen von diesem niedrigen, irdischen
Zustand als Marionette4). Im letzten Grunde geht dieser Vergleich
Trjy x€(ftti.rjv tov [xtllovjog xwXov xtvrj&rjata&at xa&änjovaiv avräg, ovitog t]
ifioig nolv TiQoxioa xa&£xuOTov iwv aQ&Qwv hf/vriaaTo. Vgl. auch I, cap. XVII.
*) Pers. Sat. V, v. 128—131:
Servitium acre
te nihil impeüit, nee quiequam txtrinsecus intrat
quod nervös agitet?
*) Bei Gellius, Noctes Atticae XIV, I, 23: Iam vero id. mimime ferundum
censebat, quod non modo casus et eventa, quae evenirent extrinsecus, sed consilia
quoque ipsa hominum et arbitria et varias voluntates adpetitionesque et declinationes
et fortuitos repentinosque in levissimis rebus animorum impetus recessusque moveri
agitarique desuper e caelo putarent: tamquam quod forte ire in balneas volueris ac
deinde nolueris atque id rursus volueris, non ex aliqua dispari variaque animi
agitatione, sed ex necessaria quadam errantium siderum reeiprocatione contigerit, ut
plane homines non, quod dicitur, 'Xoytxä Cc5a\ sed ludicra et ridenda quaedam
neurospasta esse videantur, si nihil sua sponte, nihil arbitratu suo faciunt, sed
ducentibus stellis et aurigantibus.
3) Elg ictvTov II, 2: Tgfrov ovv lazl tö y\ytfxovixov. wöt tniroTjöyTf
yfywv tl' jUTjxiri tovto iäang JovUvoai- urjxtu xa&' ooli^v axotvarrnTov iivgo-
onaarn&rivai ■ uijxtfr* tö iluaoptvov, i) naoov duoyioävai, rj fiillov dnoöüto&ai.
— III, 16: To fikv Timovodai (fctnaonxüs, xal tcöv ßoaxrJtuäT(ov • to ö( vt vqo-
anaaitia&ui ogfxvTixiiJs, xal icSi' &r,oicav, xal tcjv (tvdooyvvorv, xal <Paläoidos,
xal Nigurvos • • • — X, 38 : Miuvnoo, Sit tö vevgoanaOTovv kariv ixtiro, to
fwtov iyxtxovfi^ivov txeivo grjTogeia, txeivo fai»j. ixtivo, et <f«f tlntiv, av&gwnoc.
4) a. a. 0. Vn, 28. Vgl. auch: VI, 16; VII, 29; XII, 19.
672 Siebentes Kapitel.
auf Plato zurück1). Auch die Kirchenväter denken hie und da an
das Puppenspiel, um allerhand moralische Betrachtungen daran
anzuknüpfen, so Clemens von Alexandrien2) und Tertullian 3), der
sich häufig auch an den Mimus erinnert, so besonders in dem
„Büchlein über die Schauspiele" (vgl. oben S. 109—113). Von
ihm stammt ja auch die wichtige Notiz über Lentulus und Hostilius
und den mythologischen Mimus (vgl. oben S. 112). Auch die
Mimographen Catullus und Laberius erwähnt er. Das Puppen-
spiel hat offenbar auch die ganze byzantinische Aera durch-
dauert. Synesius, der Bischof von Ptolemais und Metropolitan
der ägyptischen Pentapolis (Cyrenaika) (circa 370 nach Christus),
der, wie wir oben S. 523 sahen, gelegentlich an den Mimus
denkt, kennt auch die oqyava vtvqoanaata und vergleicht die Ein-
wirkung Gottes auf die Dämonen mit der Art, wie der Puppen-
spieler seine Marionetten bewegt4). Johannes Philoponus aus
Caesarea, Bischof von Alexandrien, der bedeutende Grammatiker,
Theologe, Philosoph und Aristoteleserklärer (6. Jahrhundert nach
Christus) spricht bei der Erläuterung einer Stelle des Aristoteles von
den kleinen Holzfiguren, mit denen man an den Hochzeiten Schau-
spiele giebt, und die von dem Taschenspieler so geschickt in
Bewegung gesetzt werden, dafs man glaubt, sie tanzen zu sehen 5).
Noch Eustathius, der Erzbischof von Thessalonich, verwundert
J) Vgl. de legibus lib. I, p. 644»
2) Strom, lib. II, p. 434: vtvQoanaaxovfxivoiv dh rjfxwv aipv%(ov öixtjv
(pvoixccig hsoysiaig xb re axovöiov xal xb ixovaiov naoikxei, bofir) xe r\ ngo-
xa&rjyovfAivr] xovxoiv. lib. IV, p. 598: dei yäq xvqiov dvat, xbv xqixr\v xr\g iav-
xov yvcj/urjg, [*rj vevQOOnaaxovfifvov axfjv/wv dlxx\v doydvarv difoqfidg lOoog fiovov
■naqd xijg $'£w&tv ahCag Xafxßdvovxa,
3) adv. Valent. cap. XVIII u. ö.
4) De Providentia lib. I. Opera pag. 98: "&öneo fö xd vevooctnaaxa
bqyava xivhxcu /uev xal nmavfjiivov xov xi\v aQ/yv r*is xtv^aetog (vSövxog xrj
firjxavrj' xiveixat, ök ovx £71' anetoov ov yaq otxo&ev tyd xfjv Ttr\yr\v xr\g xivr\-
atwg, dXX' 'icos r] do&£LOa övvafiig ia/vu, xal ovx ixXvexai tj ngoödw, xrjg
oixdag a(pi<Jafx^irj yev^Gscog' xbv avxbv oiov xqotiov, tu (p(Xs 'Ootgi, xb fikv
xaXcög, xal xb &uov a\ua xt eJvai, xal ovx tlvai xovdf xov xonov, xaxantftnso&ai
dk ix€Q<o&6V.
8) 'Aqictxoxikovg mol Cwcov yeviaswg /usxa xfjg xov 'PiXonovov ^jjyijffftof
ßißUa nivxe. Venedig 1526, L. II, p. 37.
Der griechische Mimus als Puppenspiel. 673
sich über die Wertschätzung, die der Puppenspieler Potheinos
bei den Athenern genofs. Zugleich aber geht aus seinen Be-
merkungen hervor, dafs diese Kunst auch zu seiner Zeit (12. Jahr-
hundert) ein beliebtes Unterhaltungsmittel des Volkes war1).
Wie der Mimus hat offenbar also auch das Puppenspiel bis
ans Ende des Griechentums, bis zum Untergange von Byzanz,
gedauert.
Zufällig gehören die zwei griechischen Puppenspiele, deren Titel
wir kennen, ins Gebiet des ernsten Dramas. Auch in der modernen
Welt hat man auf dem Puppentheater häufig Tragödien aufgeführt.
Jahrhunderte, bevor Goethe seinen Faust schrieb, wurde der Faust
auf den deutschen Puppenbühnen tragiert, und ehe Shakespeare
seinen Julius Caesar dichtete, gab es einen Julius Caesar schon
auf der englischen Puppenbühne. In Italien wurden nicht selten
die Stücke der grofsen Bühne genau ebenso auf dem Puppen-
theater gegeben, nicht blofs Tragödien und Komödien, sondern
selbst grofse Opern, ebenso im 17. Jahrhundert in England. In
Deutschland wurden im 17. und 18. Jahrhundert die Haupt- und
Staatsaktionen bald von wirklichen Schauspielern, bald von
Marionetten aufgeführt'). Aber die eigentliche Domäne des
Puppenspiels war von jeher die Burleske. So ist unser Kasperle-
spiel rein burlesk, und der eigentliche Held der romanischen
Puppenspiele ist Pulcinell. Das burleske Element liegt ja auch
schon von vornherein in der Darstellung von Menschen durch
kleine, bewegliche Puppen eingeschlossen. Also wird auch das
antike Puppenspiel im wesentlichen burlesk gewesen sein. Über
*) Comm. in Iliad. IV, v. 151, 1. 1, p. 457 (Leipzig 1827): xal 6 fitxt-
Viyxuiv dt änb twv vtvgoonaOTovutvtav Ztötav rois vivgoondaTas öuotto;
tnotrjOiv, fov naoüvvfios ij rtvgoanctarixrj rfyry tq' fj ntoinvaxog jv, <ftta\,
Uo&sivbg 6 £f !dih}vdh>. rfyvr] 6k ndviai ov onovdai'a 17 v(vgo7iaaTixrj, dlXd
rür xar' elöos naidiäg.
2) Die näheren Nachweise dafür am besten bei Magnin, Histoire des
Marionettes en Europe, Paris 1852, S. 84 folg. Der Puppenspieler Henry
Rowe spielte gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur wiederholt
Shakespeares Dramen, sondern veranstaltete sogar von Macbeth, den er be-
sonders häufig auf seiner Puppenbühne tragierte, eine recht verdienstliche
kritische Ausgabe. Magnin a. a. 0. S. 258 und 259.
Rsieh, Mimus. 10
674 Siebentes Kapitel.
das Puppenspiel der vorchristlichen Jahrhunderte, seine Typen und
Themen, will ich jedoch keine Vermutung wagen. Es existierten
damals so mancherlei Arten des Dramas auf der grofsen Bühne,
nach denen das Puppenspiel sich richten konnte, dafs es vielleicht
dieselbe Mannigfaltigkeit gezeigt hat, die auch die grofse Bühne
zeigte. Als aber alle diese vornehmen, althellenischen Dramen
und ebenso ihre römischen Nachahmungen zum Orcus hinab-
gestiegen waren, als einzig und allein der Mimus auf der grofsen
Bühne existierte, da konnte das Puppenspiel, dessen Ehrgeiz es
von jeher war, ein Abbild der grofsen Bühne zu liefern, eben
auch nur noch den Mimus zeigen, und weil es ihn zeigte, hatte
es ein unverwüstliches Interesse für sich. Wenn Philoponus die
Aktion dieser Puppen „tanzen" (oQxsta&ai) nennt, so bedenken
wir, dafs man denselben Ausdruck von der Aktion der Mimen
gebrauchte. Wenn Favorinus von ludicra et ridenda quaedam
neurospasta spricht (vgl. oben S. 671, Anm. 2), so meint er den
Mimus, der zum Puppenspiel geworden ist. Tokke-spil oder
Dokkespiel bedeutet Puppenspiel, und in einem alten lateinisch-
deutschen Glossar wird Tocha durch mima erklärt1).
So hat denn der Mimus nicht blofs auf der grofsen Bühne
die Byzantiner ergötzt, sondern auch auf dem Puppentheater.
Wir wissen, wie besonders auf Hochzeiten die Mimen nicht fehlen
durften; nun, die kleinen Leute werden sich diesen Luxus nicht
haben gestatten können; da mufsten dann dafür die Puppen
tanzen. Für diese an und für sich wahrscheinliche Sitte haben
wir soeben noch das ausdrückliche Zeugnis des Johannes Philo-
ponus angeführt. Das mimische Puppenspiel konnte das Volk
zu allen Zeiten haben, den Mimus nur bei grofsen Festen; da
wird der rasende Eifer des Volkes für den Mimus dem Puppen-
spiele sehr zu gute gekommen sein. Die Verbreitung des
byzantinischen Puppenspieles haben wir uns ähnlich zu denken
wie in Italien im siebzehnten, achtzehnten, neunzehnten Jahr-
x) Glossae super vitas patrum ap. B. Pezii Thesaur. anecd. noviss.
t. I, p. 413. Cf. Graff, Althochdeutscher Sprachschatz t. V, p. 364: Tocha,
f. Tocke, Docke, Puppe, pupa. n. s. tocha, pupa. F. Tr. tohcha, mima.
Em. 21.
Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 675
hundert und noch heute, wo überall auf den freien Plätzen
in den Städten sich ein paar Puppenspielbuden (castelletti) er-
heben, die immer eine grofse Menge umdrängt, welche höchst auf-
merksam, befriedigt und vergnügt den Puppen zuschaut Von
dem griechischen Puppenspieler und wohl nicht direkt von
dem Mimen, übernahm der türkische Hajaldschy seine Puppen-
komödie. Er hatte es bequem genug, er brauchte nur an
Stelle des griechischen Wortes das türkische zu setzen und seine
Puppe statt hellenisch türkisch zu kleiden. Das wird zuerst wohl
sogar der griechische Puppenspieler selbst besorgt haben, der
sich seinem neuen türkischen Publikum anpafste.
Jedenfalls lehrt uns das Repertoire des Karagöz das des
byzantinischen Puppenspiels kennen, und dieses wieder wird im
grofsen und ganzen dem byzantinischen Theatermimus entsprochen
haben. Auf diesem Puppentheater mögen noch alte Philistioni-
sche Mimen gespielt worden sein, wie noch am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts der Puppenspieler Henry Rowe Shakespeares
Dramen gab.
vni.
Karagöz und Pulcinell.
byzantinischer Mimus und Commedia dell" arte.
Wie Karagöz der Hauptakteur im asiatischen Puppenmimus
ist, so ist es Pulcinell im europäischen. Beide Typen ähneln sich
aufs Haar, und jeder Reisende und Gelehrte, der bisher den
Karagöz sah, erinnerte sich sofort an den Pulcinell. So spricht
Maltzan von des Karagöz grober Polichinellmanier (a. a. 0. Bd. I,
S. 234); Revillod nennt ihn „le Polichinelle arabeul), Jean Lux
„le Polichinelle musulman* 2), und Künos erklärt, _er entspricht
im Wesentlichen . . . dem italienischen Polichinell" 3). In der
That ist diese Entsprechung eine sehr weitgehende. Karagöz
') Bei Champfleury a. a. 0. S. 53.
2) Bei Champfleury a. a. 0. S. 88.
3) a. a. 0. S. 425.
43*
676 Siebentes Kapitel.
und Pulcinell sind ganz die gleichen Frechlinge, die alle Welt
an der Nase herumführen, verspotten und verhöhnen, die in den
schlimmsten Lagen gleich vergnügt und unerschütterlich bleiben,
die gleichen Streiche und Schalkheiten mit dem gleichen Humor
treiben und dieselben Lazzi ausüben; das Prügelholz in der
Faust schlagen sie sich durch die schwierigsten Situationen hin-
durch, ihre Gläubiger bezahlen sie gleichermafsen mit dem
Knüttel, vor dem auch die hohe Polizei, ob es nun ein Saptieh
oder ein Sbirre ist, zittert; zum Schlüsse aber entrinnen sie
immer noch dem Galgen, so nahe sie auch nicht selten daran
vorbeistreifen. Vor allem aber sind beide grofse Don Juans, die
bei den Frauen fabelhaftes Glück machen. Die Ähnlichkeit der
ganzen Figur erstreckt sich bis auf die Nase. Pulcinell hat be-
kanntlich eine krumme Hahnennase. Nun ist die Nase des
Karagöz auf der Abbildung bei von Luschan (Tafel I, Fig. 1 u. 2)
zwar auch krumm, aber doch nicht besonders hervorstechend.
Aber auf dem Facsimile des Titelbildes eines türkischen Karagöz-
druckes (bei von Luschan S. 86) erscheint Karagöz allerdings
mit einer mächtigen, schnabelähnlichen Hakennase ; ebenso spricht
Rolland (bei Champfleury a. a. 0. S. 39) von „ce grotesque
Ottoman au nez et au menton crochus".
Karagöz kann sich in alle Figuren verwandeln; bald tritt
er als Sultan auf, bald als Bettler, dann wieder als Bootführer,
Eisverkäufer, Arzt, Geisterbanner, Dichter; ja selbst zum Pfahl,
zur Brücke und gar zum Weibe kann er werden. Dem gegen-
über denken wir an Pulcinella podestä, Pulcinella cittadino
mercante, Pulcinella medico, Pulcinella negromante, Pulcinella
poeta disperato, Pulcinella finto statua, Pulcinella gravido. Wenn
in den Pulcinellastücken Tod, Teufel und Gespenster auftreten,
so erinnern wir uns an den Gespensterbaum, die Blutpappel
(kanli kavak), an die Riesen und Ungeheuer und die gespenstische
Riesenschlange, die Karagöz so viel zu schaffen macht. Von
Pulcinella stammt direkt der französische Polichinelle und der
englische Punchinello oder Punch, wie er gewöhnlich heifst.
Punch ist gewaltthätiger und gröber, sein Witz ist derber
und plumper, und insofern ähnelt er dem türkischen Karagöz fast
Karagöz und Pulcinel), byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 677
noch mehr. Ich verweise hier auf die Tragical comedy of Punch
and Judy, die Payne Collier 1828 herausgab. Es existiert aufser-
dem eine englische Ballade, in der die Geschichte von Punch
und Judy nach den alten Puppenspielen erzählt wird1). Punch
hat eine reizende Frau Judy und einen hübschen kleinen Sohn,
aber er unterhält nebenbei noch eine Maitresse, und als seine
Frau das merkt, schlägt Punch sie mit seinem Prügelholz tot.
Seinen kleinen Sohn wirft er zwei Stock hoch zum Fenster hinaus;
die Verwandten, die einer nach dem andern kommen und Rechen-
schaft verlangen, behandelt er nicht besser. Dann geht er
schnell auf Reisen, nach Italien, Frankreich, Spanien und Deutsch-
land. Keine Frau kann dort seiner Verführung widerstehen, jede,
der er sich nähert, fällt ihm zum Opfer, nur ein junges Mäd-
chen vom Lande, eine fromme Äbtissin und eine ganz ver-
worfene Dirne weisen ihn ab; und die Verwandten aller dieser
Damen traktiert er ebenso mit seinem Knüttel, wie die seiner
Frau Judy. Schliefslich kommt er wieder nach England, und
als er gehenkt werden soll, bleibt er ganz kaltblütig und will
nur noch seine ehemalige Maitresse sehen. Wie der Henker
ihm den Kopf in die Schlinge stecken will, stellt er sich dumm,
und der Henker macht ihm vor, wie er es thun soll. Schnell
zieht Punch die Schlinge zu. Das alles aber gelingt ihm nur
mit Hilfe von Old Nick (Teufel). Als der nun zum Schlufs ihn
holen will, meint Punch, er sei es gar nicht; da fährt Old Nick
auf ihn los: ich werde dir beweisen, dafs du es bist; und sie
kämpfen mit aller Macht. Aber trotz seiner Gabel wird der
Teufel mit dem mimischen Prügelholz erschlagen. „Hurrah!
Old Nick ist tot, mein Herr! — Right toi de rol lol u. s. w."
schliefst die Ballade.
Auch Karagöz behandelt seine Frau sehr schlecht, wenn
er sie auch nicht gerade totschlägt; aber den Sohn, den sie
(Hadschievads Tochter) ihm am Morgen nach der Hochzeit
präsentiert, wirft er zur Erde, dafs er stirbt. Wie Punch,
a) Ich entnehme diese Notizen aus Magnin, Histoire des Marionettes
S. 248 folg. und S. 253 folg.
678 Siebentes Kapitel.
kümmert er sich nicht um seine Frau und läuft allen Weibern
nach. Er ist derselbe unwiderstehliche Don Juan, eine Frau
nach der andern erliegt seinen massiven Gelüsten; wie Punch
erfährt er nur selten eine Abweisung, so besonders von der
ernsten Matrone mit den Kindern '). Wie in der englischen
Puppenkomödie „Punch and Judy" ein Frauentypus nach dem
andern vorgeführt wird, so auch in manchen Karagözstücken3).
Auch Karagöz gerät, wie Punch, in die Hände des Henkers,
dem er aber wie dieser meistens zu entrinnen weifs, und zu-
letzt erscheint, wie bei Punch der Teufel, die gespenstige, grofse
Schlange, die Karagöz nicht selten verderblich wird, aber ab
und zu scheint er sie zu bewältigen, wie Punch den Old Nick.
Also Pulcinell ist bis auf seine entfernten Nachkommen,
selbst bis auf den englischen Punch, des Karagöz Ebenbild3)»
Andererseits haben beide nichts direkt mit einander zu thun. Im
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert war für italienische
Pupazzi in der christenfeindlichen Türkei kein Eaum, und kein
türkischer Hajaldschy ist je nach Italien gezogen. Woher
die Ähnlichkeit, da doch gar kein directer Zusammenhang
besteht?
Hier mag uns die Weltgeschichte belehren. Vom Unter-
gange von Byzanz und den byzantinischen Gelehrten, die nach
Italien kamen, her schreibt man die neue Wissenschaft und Poesie.
Nun, genau um dieselbe Zeit erlebte auch die volksmäfsige
Burleske in Italien ihre Renaissance. Sollte dieses merkwürdige
Zusammentreffen zufällig sein? Sollten nicht auch, wie die byzan-
tinischen Litteraten und Gelehrten, Mimen und mimische Puppen-
spieler, die ja von jeher ans Wandern gewöhnt waren, nach Italien
gegangen sein, um lieber unter dem stammverwandten christ-
lichen Volke als unter den Türken mit ihrer mimischen Kunst
ihr Brot zu erwerben? Karagöz ist der byzantinische Mimus ins
i) Vgl. oben S. 637.
2) Vgl. oben S. 651.
3) Gegenüber Punch candidate for Guzzledown (Magnin S. 254) wollen
wir uns noch schnell an den Pappus praeteritus der Atellane erinnern.
Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 679
Türkische gewendet, und Pulcinella ist des Karagöz Ebenbild;
also ist auch er der byzantinische Mimus, nur ins Italienische
übersetzt.
Es ist dieselbe uralte Entwickelung, die sich von neuem
wiederholt. Zuerst ging der althellenische phlyakische Mimus
von Hellas nach Italien und ward zum spezifisch italischen Mimus,
zur Atellane und ging als solche auch nach Rom. Als er dann
Jahrhunderte später auf griechischem Boden zur grofsen, alexan-
drinischen Hypothese geworden war, zog er wieder siegreich in
Rom ein und gewann die grofse Bühne für sich allein, und stets
von neuem zog er von Griechenland her seine beste Kraft. Ich
erinnere an die scena graeca, an Philistion, an die Mimen, die
noch zur Zeit der Gothen von Byzanz nach Rom zogen. Und
zum dritten Mal in der Weltgeschichte zog der griechische
Mimus nach der Eroberung von Byzanz nach Italien und ward
da, nachdem er die Reste des alten lateinischen Mimus, die sich
kümmerlich das Mittelalter hindurch erhalten hatten, in sich
aufgenommen hatte, zur Commedia dell' arte. Und wie er einst
als lateinischer Mimus sich ganz Westeuropa unterwarf, so that er
dies jetzt als italienischer Mimus, als Pulcinell. Auch im Oriente
konnte er jetzt seine hellenische Sprache nicht mehr wie einst
bewahren und gab die Herrschaft in allen Ländern und Städten,
in denen man ihn einst bejubelt, an seinen direkten Nachfolger
Karagöz. Darum sind sich heute Pulcinell und Karagöz so ähn-
lich, wie nie ein Italiener einem Türken war.
Sathas hat gezeigt, dafs die byzantinischen Mimen, welche
nach dem Untergange von Byzanz nach Venedig kamen, dessen
Schiffe den Byzantinern in der letzen Türkennot zu Hilfe waren,
die Lehrmeister der venetianischen Ethologen und burlesken
Darsteller geworden sind. So ist unter anderen der Grieche
liks^rjq Kaqaßiag der Lehrmeister des venetianischen Possen-
reifsers Zanpol il Buflfone gewesen. Allerhand lustige Auf-
führungen pflegten auch zu den Vergnügungen der Katharina
Kornaro zu gehören, als sie nach dem Tode ihres Gemahls Jacob H,
des Königs von Cypern. wieder ihren Wohnsitz in ihrer Vaterstadt
680 Siebentes Kapitel.
nahm1). Sie wollte eben den byzantinischen Mimus, an den sie in
Cypern gewöhnt war, auch in Venedig nicht entbehren. Francesco
Cherea, Papst Leo X. Lieblingskomiker, der als der eigentliche
Erfinder der Commedia delP arte bezeichnet wird, führte die
Steggreifkomödie erst in Venedig, wohin er sich nach der Plünde-
rung Roms unter Clemens VIII. begeben hatte, zur Vollendung.
Wieder in Venedig ward dann durch Gozzi die alte Steggreif-
posse zur grofsen Zauberkomödie umgeschaffen, entsprechend den
nahen Beziehungen, die Mimen und Märchen von jeher hatten.
Vertritt Gozzi den phantastischen Mimus, so Goldoni, sein Rival
in der Gunst des venetianischen Volkes, den rein biologischen.
Doch das sind spätere Entwickelungen, die der Mimus in Venedig
nahm (vgl. oben S. 332 u. 352). Schon im Jahre 1508 wird in einem
Erlasse des Rates der Zehn vom 29. Dezember die vor kurzem
aufgekommene Unsitte gerügt, Schauspiele bei Hochzeiten,
Gelagen und sonstigen Festen zu geben2). Sathas weist mit
Recht darauf hin, dafs die Beschreibung dieser Komödien durch-
aus an den byzantinischen Mimus erinnere3).
!) Kqtjtixov &iaTQov Bd. I. Iotoqixov öoxifiiov negl tov &(arQov xal rrjg
fiovaixris xwv Bv£avrlv(ov r\ staaywyr] tlg to Kqtjtixov &iarqov vn' — vi'.
2) Studuit semper dominium nostrum cum hoc Consilio levare de medio ea
omnia quae cognita fuerunt posse quoque modo corrumpere et depravare bonos mores
juventutis et consequenter introductiva illarum malarum rerum et effectuum, quae, ut
inhonesta, honeste dici et nominari non possunt. Cum igitur a paucissimo tempore
citra appareat introductum in hac civitate quae ex causa festorum et nuptiarum,
pastuum et aliter, et tarn in domibus, quam etiam in propatulo ad haec praeparato
recitantur etfiunt comoediae et repraesentationes comoediarum, in quibus per personatos
sive mascheratos dicuntur et utuntur multa verba et acta turpia, lasciva et in-
honestissima ; et cum ista quae ultra dispenditim civium nostrOrum pleno et praevia
sunt malorum, non sint permittenda procedere ulterius; capiatur: Vadit pars quod
auctoritate hujus Consiglii deliberatum, captum et prosivum sit, quod comoediae,
recitationes, et repraesentationes comoediales seu tragoediales, eglogae omnino bann-
iantur, sie quod de caetero fieri et exercitari non possint, in hac nostra civitate
tarn privatim quam publice, et tarn pro festis nuptialibus et pastibus, quam aliter
ullo modo e. q. s. aus Arrigoni Kenato Notizie et osservazioni intorno all' origine
e al progresso dei teatri e delle rappresentazioni teatrali in Venezia, 1840.
3) to nah /LiiXQOv yvwo&kv tv'EvtTia &€aTQov elx^ naviag rovs xaoaxTrj-
(>itg rov rwv Bv£avTtv(Jöv fxlfxwv, ä<fov xal ol 'Everol vnoxQital naolaiav rag
xotfXbidlag avrwv £v xaiQtp yä/MJV, avfxnoGiwv xal aXkoiV iöiWTixüJV iogrcöv.
Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus ond Commedia dell' arte. 68 1
Eigentümlicher Weise spielt die Handlung in den Lustspielen
der ältesten venetianischen Komödiendichter vielfaltig an griechi-
schen Orten und es wird darin häufig griechisch gesprochen; so
zum Beispiel in den Komödien „Las Spagnolas" (Venedig 1549)
und „H Travaglia* (Venedig 1556) des Venezianers Andrea Calmo,
der als rechter Mimograph zugleich ein guter Mime war. Auch
in der Maskenkomödie „Rodiana" des Beolco Ruzante aus Padua,
der ebenfalls zugleich ein Mime und ein Mimograph war, die
allerdings Calmo für sich in Anspruch nimmt, hört man Grie-
chisch1). Die eigentümliche Mischung der Dialekte in der
Commedia dell' arte des Ruzante, die auch Commedia mimica
heifst, erinnert an denselben Gebrauch im Mimus. Im byzan-
tinischen Mimus traten, wie wir sahen, Araber, Armenier,
Juden auf, auch die anderen Völkertypen, die sich auf den Bazaren
von Byzanz drängten, werden nicht gefehlt haben, wie ja auch
im Karagöz sich die mannigfachsten Völkertypen finden, deren
jeder seinen besonderen Dialekt spricht. Hier ist also nur die
Art des byzantinischen Mimus ins Italienische übertragen.
Wenn in dieser Maskenkomödie von einzelnen Typen Masken
getragen werden, so wollen wir daran denken, dafs auch iü dem
mythologischen Mimus sich maskierte Personen mit unmaskierten
mischen (vgl. oben S. 583). Ein gelegentlicher Gebrauch von
Masken — ich denke zum Beispiel an den Eselmimus — war
offenbar im Mimus nicht selten, wie der Mimus überhaupt, da
er Komödie und Tragödie ersetzte, manches von dem uralten
antiken Gebrauch der Masken übernommen haben mag. Es ist
also absolut nicht nötig, wie man das bisher immer gethan hat,
für die Maskenkomödie auf die Atellane zurückzugreifen, weil
v) Ich gebe ein Beispiel aus der Komödie „Las Spagnolas" nach Sathas
a. a. 0. viß: Polataeci mort adefosmu (rtoila rä hrh ucoof, aötoyo; uov) no
dubitare chie bando sarastu caliche cosa den bosto naplorotti (vic rjloooia^\ tandi
Mucegnigi beli tundi de chesio, dose {ätöoe) grecasme ('ygoixag ue;) . . . Aimena,
pos me pogni tora to cardio mu gia tb agapiticos mos {ä'iufra, näg /u< novit riöoa
to xaotiid fxov yiä tö ayanrnixög fiag) ... Da me chit vostra ma, emi so rostro,
aderfö stin bistimo acarteri (ao'toift, 'c rr/r nioxi /uov üxaoTtou): ela Morula,
Jerodo crassi na pium gligora {(la, Maoovla, (fto iJtj xoaoi ȟ iioiu ylqyooa).
682 Siebentes Kapitel.
der Atellanenspieler Masken getragen habe, nicht aber der Mime.
Von der Atellane hören wir seit dem vierten Jahrhundert nach
Christus — ich werde selbst dafür die Stellen im neunten Kapitel
aus Hieronymus nachweisen — absolut nichts mehr, sie ist ver-
schollen und wohl auch verschwunden.
Wenn also Pulcinell, „der leichtfüfsige Sohn des sonnigen
Kampaniens", wie ihn Dieterich so schön nennt, erst gegen das
Ende des sechzehnten Jahrhunderts nachzuweisen ist, während
der byzantinische Mimus schon 1508 in Venedig verboten wird,
so hat eben die Verbreitung des byzantinischen Mimus bis nach
Kampanien und seine Verschmelzung mit dem in der verküm-
merten Form der Farce erhaltenen italischen Mimus, aus welcher
das Pulcinellspiel hervorging, geraume Zeit beansprucht. Ur-
sprünglich trug auch Pulcinell den dicken Wanst des fitfiog
ytloicov, der später und besonders in der modernen Zeit abge-
kommen ist (vgl. Dieterich, Pulcinella S. 249) '). Wenn Pulcinell
gelegentlich buckelig ist, so findet sich auch schon ein buckliger
fitfiog ysXoiaiv auf einer späten Mimendarstellung des sechsten
Jahrhunderts nach Christus2). Trägt Pulcinell die schwarze
Hahnenmaske, so hat auch Karagöz gelegentlich eine grofse
krumme Hahnennase3). Wir kennen einen Ritter mit dem
Hahnenkamm aus dem mythologischen Mimus4) und einen dick-
bäuchigen Mimen mit der krummen Hahnennase5).
Jedenfalls sind die Gründe für das Auftreten des byzan-
tinischen Mimus in Venedig und später in ganz Italien, die
Sathas vor einem Vierteljahrhundert gab, von grofsem Belang,
1) Von dem Pulcinellaspieler Andrea Ciuccio heifst es bei Giovanni
Battista Pacichelli Schediasma iuridico-pbilologicum de larvis capillamentis
chirothecis, vulgo mascheris perruchis guantis. Neapel 1693, S. 70: advultum
ex natura accomodum, ventrem straminibus onustum aptavit, plures ad sui imitationem
excitans summamque famam per universam Europam captans.
2) Es ist auf dem Diptychon Bituricense der am weitesten nach links
befindliche Mime. Vgl. oben S. 583.
3) Vgl. oben S. 676.
*) Vgl. oben S. 583, Anm. 3.
5) Siehe die schönen Nachweise über den Hahnentypus in der antiken
Komik bei Dieterich, Pulcinella S. 237 folg.
Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 683
wenn er auch den wichtigsten Grund, die Identität von Karagöz
und Pulcinella, die nur aus der gleichen Abstammung vom
byzantinischen fitfiog ysXoiwv befriedigend erklärt zu werden ver-
mag, nicht kannte1).
]) Sathas hatte das Hauptziel, zu zeigen, dafs das gesamte antike
Theater, Komödie und selbst Tragödie, die byzantinische Ära hindurch ge-
dauert hat. Dieser Beweis konnte von vornherein garnicht gelingen, weil
ja im Beginne der byzantinischen Ära schon längst Komödie und Tragödie
durch den Mimus von der Bühne verdrängt und ersetzt war, ja auch voll-
ständig ersetzt werden konnte, da der Mimus als Hypothese selbst ein grofses
Drama war. Dem Mimus aber hat Sathas leider geringere Beachtung ge-
schenkt, weil ihn die falschen und niedrigen Auffassungen Grysars
hinderten, der nur einen Bruchteil des wirklich vorhandenen mimischen
Materiales kannte. Wie nachlässig und unkritisch Grysar selbst mit diesem
Bruchteil umgegangen ist, haben wir gesehen und werden dafür im zehnten
Kapitel noch weitere erstaunliche Proben erhalten. Sathas aber, der nirgends
auf den römischen Mimus näher eingeht, lobt: ohts r«s ntol /tffim* tußgi-
#««"? mUrug tov Grysar xal tov Klein (a. a. 0. rpß'). Nun, Klein konnte
nach dem grofs angelegten Plane seines Riesenwerkes nicht Spezialstudien über
den Mimus treiben, sonst wäre er über den zweiten Band der Geschichte
des Dramas, in dem er vom Mimus handelt, vielleicht nie hinausgekommen,
er hat einfach den Vorgänger Grysars — Grysar, der zehn Jahre vor ihm
schrieb, kennt er nicht — Ziegler ausgeschrieben, nur dafs er bei seiner
temperamentvollen Art noch etwas mehr auf den Mimus — den er nicht im
mindesten kannte — schilt, als es sonst üblich war (a. a. 0. S. 639 folg.).
Danach hat also Satbas seine Meinung über den römischen Mimus gebildet
und ist zugleich in seinem Urteil über den ganzen Mimus von vornherein
befangen gewesen. Trotz alledem mufste sich ihm die merkwürdige Be-
deutung des Mimus in der byzantinischen Zeit infolge der unablässigen Er-
wähnungen bei den byzantyiischen Autoren aufdrängen, und gelegentlich
erhebt er sich bei der Güte seines Materiales denn doch zu der richtigen
Auffassung vom byzantinischen Mimus als einem grofsen Schauspiel, aller-
dings, wie er meint, im Gegensatz zum römischen Mimus, zum Mimus, den
Plutarch kennt und zum althellenischen Mimus. Das letztere ist allerdings
richtig. Ja einmal findet sich schon bei Sathas die Beobachtung, dafs der
Mime in der byzantinischen Ära der Schauspieler xoi' 1$oxtiv gewesen
sei und dafs die Mimen selbst Tragödien gegeben hätten, a. a. 0. rftß', Tjuy:
'0 Inl tov diypioa&frovs xal IIXovTaQXov fiiuog r\v uükkov 6 ytlcoionotos T(3v
vtüjiiowv xqÖvoiv, Toiavvqv dk arjuaütav tfuiitjai lywv xal Ixl Pcjuai'wv av-
Tiaioi/döv, a>s teyei 6 yqauuaTixbi; Jio^irß^g, noos tov &taToiairjv tov oxkov,
tov planipedes. "Etog tov 'lovariviavov oi BvCamvol xalws öttxoivov to elöos
ttjs äT)[40TtxTjS TavTtjg xcouojdut; {IlkavmtSaqia) anb Trjg utuixfji fJJMMWjC
684 Siebentes Kapitel.
So bedeutet die Renaissance nicht nur die Wiedergeburt der
AvSös, GtX 152 $xd. BövvTjg) . . . Kaxa tov Xoqixiov ol fut/uoi Tr\g ZT' ixcaov-
xat ttjqiSos rjoav ol xvotcos Xsyo/utvoi xw (itpdot, . . . 'Eni dioxXtjTiavov xal tov
'lovfoavov naqCßTcav iSiwg xw [tq>dia s xara tov /QiGTiavtO/nov . . . 'Eni t<5v
Kofivrivwv ol /ul/uoi naotoxwv ni&avöis xal Toaywdius. Und weiter spricht
dann Sathas von dem „[xi/liixov &€atQovu, in dem zwar auch der yelwTonows,
der Clown, aufgetreten sei, aber der hätte wie der moderne Cirkusclown
seine Lazzi in den Pausen gemacht und nicht zum eigentlichen Schauspiel
gehört. Das ist allerdings wieder ganz falsch, der yelioTonoiog gehört zum
Mimus wie der Clown zum Shakespearischen Drama. Ebenso falsch ist die
Auffassung über die Definition bei Diomedes, denn die ist gemeint, wie von der
Lydusstelle (vgl. darüber oben S. 271 ff. u. S. 241, Anm. 1). Aber trotz aller
Fehler bricht doch die Grundanschauung vom Mimus, als einem grofsen, be-
deutenden Schauspiele, hier siegreich durch. Nein, Komödie und Tragödie hat
nicht auf dem Theater die byzantinische Ära durchdauert, wohl aber das grofse
mimische Schauspiel, die Hypothese, die daneben auch noch auf der Mimen-
bühne des Cirkus, wie in den Prunksälen der Kaiser, der Aristokratie und
der Reichen aufgeführt wurde. Allerdings soll Kaiser Justinian (nach Procop,
histor. arcana c. 26, und Ioannes Malalas chronicon XVII, Migne 97, p. 416 folg.)
rot &£axQK geschlossen haben, und wahrscheinlich hat im Jahre 526 oder kurz
vorher, da diese Mafsregel drohte, Choricius seine Rede für die Mimen ge-
halten (vgl. Kirsten, Quaest. choricianae, Breslauer philolog. Abhdlg. VII,
1895, S. 21 folg.). Aber noch um 1300 spricht Manuel Philes vom zeit-
genössischen Mimus auf dem Theater (vgl. darüber und über ähnliche Zeug-
nisse oben S. 134, 135, 136, 162, 163, 617). In der zweiten Trullanischen
Synode 691 wird den Anwälten verboten sich ins Theater zu mischen
und Theaterkostüme zu tragen. Theatermelodien sollen aus der Kirche
verbannt sein. Wenn also die Theater je geschlossen waren, müssen
sie um 691 schon längst wieder offen gestanden haben und der Mimus
hat eben wieder seinen alten Schauplatz zurückerhalten. Hierfür haben
wir nun ein sehr interessantes und ausschlaggebendes Zeugnis. In des
Bischof Leontius von Neapolis auf Kypros Lebensbeschreibung des Mönches
Symeon Salos, „des Narren um Christi willen", die um 650 ge-
schrieben ist (vgl. H. Geizer, Ein griechischer Volksschriftsteller. Histor.
Zeitschrift N. F. XXV, S. 1 folg.), wird des Theatermimus als einer ge-
wohnten Erscheinung gedacht. Der Heilige Symeon begiebt sich ins
Theater und trifft den Mimen Psephas, der mit anderen Mimen dort auf
dem Bretterboden, der die mimische Bühne bedeutet, agierte, mit einem
Steine gegen die Hand, die verdorrt von Stund an, und der Mime bekehrt
sich zu einem gottseligen Lebenswandel. Symeon selbst lebte nach der Vita
zu Emesa unter Kaiser Mauricius (582 602), nach dem Bericht des Euagrius
(dem Geizer, a. a. 0. S. 7 u. 8, den Vorzug giebt) unter Justinian. Danach
Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimu3 und Commedia dell' arte. 685
vornehmen, antiken hellenisch-klassischen Dichtung, sondern auch
des volksmäfsigen hellenischen Mimus1).
hätten also in der späteren Regierungszeit Justinians wieder die Theater
offen gestanden, und wenn wir die Leidenschaft des Volkes für das Theater
und den Mimus bedenken, ist es klar, dafs eine derartige rigorose Mafs-
regel sich weder durchführen noch aufrechterhalten liefs. Jedenfalls war
in der Zeit des Leontius um 650 diese Verordnung längst wieder aufgehoben,
sonst hätte er nicht so selbstverständlich vom Mimus im Theater ge-
sprochen: mit Recht weist Geizer darauf hin, wie zuverlässig Leontius in
kulturhistorischer Hinsicht ist. Ich setze diese wichtige Stelle, deren Nach-
weis ich August Brinkmann verdanke, hierher: 'EdeargiCov noie uiuoi
tlg tb d-iaroov. 'Hv 6i eig tt; uvxcöv, Vr/ffug. S(i.<ov ovv xb toiovtov
xaxbv ävaxoipat 6 6ixaiog (<«££ yäo jira xala foya 6 Ityo/utvog Wrjifäg), oiix
am]i"i(ooe tov a7itXxHiv, dlXa antjX&t, xal xär oi Taiajo, tls tb ttH.uu,
onov enaitov ol fiiuof xal mg I6tv xbv *Pr)(fäv agl-duevov tov noieTv
d&iuixa ngdyfiuTa, (vielleicht ward ein Ehebruchstück oder dergleichen
gerade gegeben) ginxti ki&ov uixgbv nävv, noiTfOag eig avrbv aravobv, xal
ßdilii xaxd TTjg 6e suig xetgbg tov Wr^ä, xal iir,uavtv «irrjr. OvStlg 6e lrör,oi
xb xi'g xbv M&ov eQgixpev. cpalvixai ovv avxqi xfj vvxxl xaxä rovg t/Tryoiv 6 Zaiog
xal liya citTÜ- "Ovxtog inixv^ov, xal ei fiij duoatig ort ovx fxi inixrj6sieig
Toiovxov xi 7roä|«i, ovx iyiaiveig. "Sluooev ovv aiT<j* xard xr\g Seoroxov, o ti
ov (A.i) ixaatk&to xov loinov 6iä xov toiovtov natyvidlov. Kul dvaaxag,
elge ti]v x*'Qa ßÜToü vyirj. Acta Sanctorum Bollandistorum Juli, Tom. I,
pag. 138 D. Migne 93, S. 1716 B. C.
Gegen Sathas' Theorie vom Fortbestehen der Tragödie und Komödie vgl.
die scharfsinnigen und höchst gelehrten Ausführungen Krumbachers, Byzan-
tinische Littg.1, S. 298, die jede derartige Annahme völlig vernichten. Doch
mag gelegentlich von den Mimen auch einmal eine alte Komödie oder Tra-
gödie aufgeführt worden sein, wie ja unablässig Philistions Hypothesen dar-
gestellt wurden: aber Aeschylos und Sophokles waren für das byzantinische
Publikum nicht mehr theaterfähig, so wenig wie Aristophanes. Um dieser
falschen Grundanschauung willen ist Sathas' so verdienstvolles, gelehrtes und
mannigfaches, sonst unzugängliches Material darbietendes Werk unberück-
sichtigt geblieben, zumal ihm jede übersichtliche Gruppierung, jede deutliche
Kennzeichnung der Kapitel, jede chronologische oder sonstige Disposition
sowie Indices und Inhaltsangabe fehlen und das schwierige Griechisch von
Sathas nur für genaue Kenner ohne Lexikon lesbar ist. Kein moderner
Litterator erfuhr darum je von dem Einflufs des byzantinischen Mimus auf
die Commedia dell' arte, den Sathas wahrscheinlich macht.
x) Es spricht sehr für die Byzantiner, dafs sie nicht blofs die alten
Handschriften erhalten haben, das konnten sie auch ohne ihren Inhalt recht
zu verstehen. Viel gröfser war es, die uralte volksmäfsige Dichtung lebendig
686 Siebentes Kapitel.
IX.
Karagöz und die alte attische Komödie.
Wiederholt erinnerten sich die Kenner des Karagöz an die
alte attische Komödie, mit der Karagöz den Phallus teilt; sie
empfanden eine gewisse Ähnlichkeit, und ihr Gefühl hat sie
nicht getäuscht. Von jeher hat man mit Verwunderung bemerkt,
wie Aristophanes in manchen Stücken nach Zuendeführung der
eigentlichen Fabel, nach der Parabase, eine Reihe lose aneinander
gereihter Scenen mit verschiedenen volkstümlichen Typen folgen
läfst, Scenen, die nicht von einem einheitlichen komischen Ge-
danken beherrscht werden und nicht Glieder einer kunstvollen
Fabel sind. Es erscheint, zumal im Schlufsakte, auf einmal eine
Reihe neuer Typen, die gewöhnlich von der Hauptperson der
Reihe nach verspottet und dann eine nach der andern hinaus-
gepritscht werden. Genau so ist auch der Verlauf der Handlung
in vielen Karagözstücken. Hadschievad und Karagöz ziehen zu-
sammen aus, um sich eine bessere Zukunft zu begründen und
Geld zu verdienen. Hadschievad weifs dafür stets guten Rat,
und Karagöz ist der Hans Hoffegut, der auf alles eifrig eingeht.
So ergreifen sie irgend ein neues Gewerbe, das Hadschievad
empfiehlt, z. B. das Bootmannsgewerbe (im Kajyk ojunu), oder sie
richten eine Schaukel ein (im Salyndschak ojunu1)) oder beginnen
einen Betrieb mit Fruchteis oder Karagöz etabliert sich als Strafsen-
schreiber (im Jazydschy ojunu3)). Dann kommen allerhand Leute
zu ihnen, um von ihrem Gewerbe Vorteil zu ziehen oder etwas zu
und im lebendigen Leben zu erhalten. Man wird doch viel von der unge-
rechten Mifsachtung der byzantinischen Aera nachlassen müssen. Ich ver-
weise hier auf die schönen und beherzigenswerten Worte, die Krumbacher
in dieser Hinsicht in der Einleitung zu seiner byzantinischen Literatur-
geschichte gesprochen hat.
J) Text und Übersetzung bei Künos, Ethnologische Mitteilungen aus
Ungarn. Bd. II. Budapest 1892. S. 148—158.
2) Siehe die Zusammenstellung bei Jacob, Heft I, S. X u. XI.
Karagöz und die alte attische Komödie. 687
kaufen. Aber alle werden von Karagöz zum Besten gehalten und
zum Schlufs hinausgepritscht. Denken wir an des Aristophanes
„ Vögel". Da ziehen Hoffegut und Rathefreund aus, sich gleichfalls
eine neue Zukunft zu schaffen. Sie haben wie Karagöz und Had-
schievad beide kein Geld. So begründen sie als ganz neues
Unternehmen das Reich der Vögel, mit dem es gewifs nicht
weniger windig aussieht, als mit irgend einer Gründung des
Karagöz. Es kommen nun, von dieser Gründung angelockt,
allerhand Leute an und möchten gerne daran Anteil nehmen
und davon Vorteil haben. Es erscheint von Vers 861 — 1057
nach einander ein Priester, ein Poet, ein Prophet, Meton, der
Mathematiker, ein athenischer Staatskommissar, ein Gesetzes-
händler, und von Vers 1334 — 1469 ein ungeratener Sohn,
Kinesias, der Dithyrambendichter, ein Sykophant. Wie gravi-
tätisch beginnt der Priester, der das Gebet an die Staatsgötter
der Vögel im offiziösen athenischen Stile beginnt:
„Betet zu Hestia, der vom Vogelheerd, und dem Schuhu Heerd-
walter,
Und den Olympischen Vögeln und Vögelinnen jedem und
jeder! ....
Betet zu den Heroen und den Vögeln und den Vögelkindern,
Zu den Salanganen und Pelekinen und Pelikanen", u. s. w.
Das wird dem Rathefreund denn doch zu viel, kaum für
den Weih wäre das Opfer genug, und nun beruft dieser über-
eifrige, ceremoniöse Priester gar alle Vögelgötter; hinaus mit
ihm! Wie prächtig ist der bettelhafte Poet geschildert, wie
stolziert er ins Wolkenkuckuksheim hinein, und wie befriedigt
zieht er ab, als er von Rathefreund schliefslich nach vielen hoch-
poetischen Tiraden ein warmes Wams erbettelt hat.
Freilich, der Prophet kommt schon sehr viel schlechter weg.
Er hat einen vortrefflichen Orakelspruch des Bakis, der Wolken-
kuckuksheim zu gründen und dabei den Propheten ordentlich zu
bedenken befiehlt. Aber Rathefreund hat auch einen Orakel-
spruch in Bereitschaft:
688 Siebentes Kapitel.
„Wieder sobald dir ein Mensch dummdreist, unerwünscht, un-
geladen,
Stört dein Opfer und Theil an dem Fleische des Opfers be-
gehret,
Siehe, so holz' ihm die Höh'n, die am Rinnsal steh'n der
Verdauung."
Und gemäfs diesem Spruche behandelt er den Bettelpropheten.
So geht es dann nachher auch Meton, dem Mathematiker, dem
athenischen Staatskommissar, dem Gesetzeshändler, dem Kinesias
und dem Sykophanten. Erstaunlich ist der Realismus, mit dem
diese Gestalten gezeichnet sind, und gerade darum haben sie
das athenische Publikum so sehr interessiert, es fand in ihnen
lauter alte Bekannte von der Strafse und vom Markte wieder,
wie sie das türkische Publikum genau so in den Karagözstücken
findet.
Wie bei der Schaukel des Karagöz und auf seinem Boote
erscheinen auf dem neu abgesteckten, befriedeten Markte des
Dikäopolis allerhand Typen:
719 — 835 der hungrige Megarer,
860 — 958 der Handelsmann aus Böotien,
910—958 der Sykophant,
911 — 969 der Diener des Lamachos,
1018 — 1036 ein Landmann,
1048—1068 Brautführer und Brautjungfer.
Aber wie Karagöz treibt Dikäopolis mit ihnen nur seinen
Spott und jagt sie fort. Im „Frieden" verhöhnt und verjagt Try-
gaios nach einander:
Vers 1052 — 1109 den Lehrer Hierokles,
1182 — 1191 einen Sensenschmied,
1195 — 1208 einen Helmbuschfabrikanten,
1208 — 1224 einen Panzerschmied,
1225—1239 einen Helmschmied,
Karagöz und die alte attische Komödie. 689
Vers 1240—1249 einen Lanzenschäfter,
1255—1279 den Sohn des Lamachus,
1280—1296 den Sohn des Kleonymos.
Woher stammt diese Ähnlichkeit zwischen der alten attischen
Komödie und dem Karagöz?
Nun, der alte attische Komöde trägt vom uralten hellenischen
Mimen den Phallus zum Lehen, wie ihn Karagöz vom byzan-
tinischen Mimus hat. Und die lockere Scenenfolge bei Aristo-
phanes ähnelt der im Karagöz, weil sie bei beiden aus dem
Mimus stammt, und die burleske, realistisch-humoristische Etho-
logie und Biologie dieser lockeren Scenen ist bei Aristophanes
der im Karagöz verwandt, weil sie beide Ethologen und Biologen
sind nach dem Bilde ihres Ältervaters, des Mimen. Da mufs
uns also der moderne, türkische Hajaldschy die aristotelisch-peri-
patetische Auffassung von dem Mimus als einem wesentlichen
Elemente der alten Komödie, ja als der Urkomödie bestätigen.
Auch das Kasperletheater zeigt sich mit seiner lockeren
Scenenfolge, mit seinen burlesken, realistisch -humoristischen,
ethologischen Typen und Figuren, die Kasperle, der deutsche
Sannio und derisor, verspottet und zum Schlufs hinauspritscht,
der alten attischen Komödie wie dem Karagözspiele verwandt.
In Magdeburg auf der Messe und beim Jahrmarkt auf dem roten
Hörn habe ich als Kind den Kasperle alle Jahre unter dem Jubel
des Volkes agieren gesehen, das genau so zu lachen anfängt,
wenn sich Kasperle nur zeigt, wie die Türken, wenn Karagöz
nur die Nase zum Fenster heraushängt. Kasperle ist genau der-
selbe mit Mutterwitz, Humor und grofser Schalkheit begabte
Frechling wie Karagöz, und verübt auch, wie dieser, dieselben
mutwilligen, aber doch nie geradezu schlechten oder nieder-
trächtigen Streiche. Kaum hat Kasperle seine Art und Weise
mit allerhand Mätzchen und Kapriolen klargestellt und seine
lustige und spitzbübische Art offenbart, so erscheinen andere
volkstümliche Typen einer nach dem andern, und eine kurze
Scene reiht sich an die andere, ohne dafs sie durch eine zu
Grunde liegende Fabel mit einander verknüpft wären. Da zeigt
Reich, Mimus. 4 4
690 Siebentes Kapitel.
sich ein prahlerischer Soldat, ein Jude, ein Polizist, auch
Kasperles zänkische Frau, schliefslich gar noch der Teufel und
der Tod, aber Kasperle mit seiner spitzen Zunge wird mit allen
fertig, gewöhnlich greift er jedoch zu schlagenden Argumenten
und schwingt triumphierend, wie Karagöz, sein Prügelholz. Aber
zum Schlüsse erscheint die böse Schwiegermutter, und vor der
nimmt selbst Kasperle Reifsaus. Über die Schwiegermutter als
Typus des alten Mimus haben wir schon oben gehandelt.
Die Ähnlichkeit mit den locker gefügten Scenen bei Aristo-
phanes ist unverkennbar; Poppelreuter hat darauf in seiner treff-
lichen Dissertation hingewiesen. Auch hier lehrt uns jetzt die
Entwickelungsgeschichte des Mimus den tief verborgenen Zu-
sammenhang erkennen.
Es wäre nicht ganz unmöglich, dafs Kasperle ein Ab-
kömmling von Karagöz ist. Wenigstens giebt es dieselbe
Puppenkomödie auch in Ungarn (und in Rufsland), so dafs
der territoriale Zusammenhang zwischen Kasperle und Karagöz
ununterbrochen ist. Es finden sich Ähnlichkeiten, die offenbar
auf Entlehnung beruhen. So schreibt Karagöz als Strafsen-
schreiber1) für einen Griechen einen Brief. Als es ans Be-
zahlen geht, sagt der Grieche, er werde zuvor Karagöz ein
Kunststück zeigen; er werde ihn verschwinden lassen; darauf
schliefst er die Augen. Karagöz meint, das Kunststück könne
er auch, und wie er die Augen schliefst, verschwindet der Grieche.
Genau derselbe Streich findet sich auch in dem Puppenspiel
„Kasperl als Bräutigam"2). Doch mag nun Kasperle dem Karagöz
ähneln, weil er aus dem italienischen Puppenspiel und vom Pulci-
nell stammt, oder weil er gar ein direkter Nachkomme des
Karagöz ist, jedenfalls stammt die moderne europäische burleske
Puppenkomödie im letzten Grunde aus dem byzantinischen, wie die
antike und mittelalterliche aus dem griechisch-römischen Mimus.
T) Choricius erwähnt (XIII, 8) die av/jßllaia yQÜiforreg als Typus des
byzantinischen Mimus; vgl. oben S. 215 Anm.
2) Deutsche Puppenspiele herausgegeben von Kralik und Winter; Wien
1885, S. 299. Diese Ähnlichkeit hat Jacob a. a. 0. Heft 1, S. IV, V scharf-
sinnig bemerkt.
Karagöz und die alte attische Komödie. 691
Aber dieses mimische Problem ist kein europäisches, es ist
ein Weltproblem. In Japan giebt es eine burleske Posse ganz im
Stile des Mimus (vgl. oben S. 39 — 41). Auch in China existieren
burleske Schauspiele, die an den Mimus gemahnen, und vor allem
eine Puppenkomödie, die manche Ähnlichkeit mit Kasperle und
Karagöz hat1). Vor allem aber giebt es auf Java ein Puppen-
spiel, das schon Serrurier, der es zuerst auf Grund eines grofsen
und sorgfältig gesammelten Materials beschrieb, an den türkischen
Karagöz erinnerte*). Da wäre ja dann der Zusammenhang mit dem
hellenischen Mimus hergestellt. Wir wissen, wie weit die Mimen
wanderten. Wenn sie vom Norden Englands bis zu den Katarakten
des Nils, von der Mündung des Rheins bis zu der des Euphrat
zogen, warum sollten sie nicht auch nach Indonesien gelangt
sein? In der That finden sich in diesem Puppenspiele lustige
Figuren ganz im Stile des Narren im Mimus, das sind Semar
und seine Söhne. Wie der alte Sannio ist Semar ein lustiger
Kauz, der auch in den schlimmsten Lagen sich zu helfen weifs,
der allerhand lustige Streiche macht und ein rechter Possen-
reifser ist; natürlich ist er samt seinen Söhnen glutto, vorax,
manducus wie Ardalio. Sein Charakter deckt sich völlig mit
') Mein Freund Dr. Richard Hensel macht mich hier auf die bildliche
Darstellung eines chinesischen Puppenspiels in einem der ersten Hefte von
Kürschners China, Leipzig 1901, aufmerksam. Es erinnert an unser Kasperle-
spiel, nur dafs der Spieler nicht in einer kastenähnlichen Bude steckt, die
oben in der Vorderwand einen Ausschnitt hat, in dem die Puppen erscheinen.
Er hat sich vielmehr sein Puppentheater vor die Brust geschnallt und ver-
schwindet dahinter mit seinem Oberkörper, der noch dazu mit einem
grofsen Tuch verhüllt ist. Unten sind seine Beine wie Stützen des ganzen
Puppentheaters sichtbar. Auf dieser Puppenbühne agiert ein chinesischer
Kasperle mit dem mimischen Prügelholz; eine Puppe hat er schon tot-
geschlagen; sie hängt, mit einer langen Zipfelmütze bedeckt, von der
Brüstung des Theaters herunter. Nun hat er es mit einem schrecklichen
Ungeheuer in Gestalt einer grofsen Bulldogge (wie man John Bull ab und
zu malt) zu thun. Derartige Puppenkomödien sollen von den Mandarinen
bei dem grofsen Boxeraufstande zur Aufreizung des Pöbels gegen die
Fremden benutzt worden sein. Also auch hier ist die Puppenkomödie ab
und zu politisch wie Karagöz und der griechische Mimus.
*) De Wajang Poerwa, Eene ethnologische Studie, Leyden 1896, S. 167 ff.
44*
692 Siebentes Kapitel.
dem des Karagöz, er ist offenbar wie dieser auch ein Abkömm-
ling des alten Mimus '). Ja, Semar hat auch noch alle äufseren
Anzeichen dieser Abkunft; wie die hellenischen Mimen trägt er
den dicken Bauch und das mächtige Hinterteil und vor allem
den riesigen Phallus2).
Alle diese hinterasiatischen Spiele sind jünger als die
hellenischen, sie reichen nirgend ins achte oder neunte Jahr-
hundert vor Christus zurück, sondern stammen meist sogar aus
nachchristlicher Zeit. Und da nun der vorderasiatische Puppen-
spieler nur ein Nachkomme des hellenischen Mimus ist, wie alle
europäischen, dürfte es mit den hinterasiatischen auch nicht
viel anders sein3).
') a. a. 0. S. 92 (grofse Ausgabe). Semar is van goddelijken oorsprong.
Hij is de vaderlijke vriend van de Pandäwäs; in het bezit van goddelijke wijs-
heid en van bovennatuurlijke macbt. Listig in de hoogste mate, weet hij op
alles raad, en waarschuwt hij voor naderende gevaren; zie o. a. Poensen, Kartä-
wiyogä, aanteekening XXVII in Tijdschr. voor Ind. taal-, land- en volkenk. 1883.
Hij voegt zieh geheel naar den aard van zijn patroon; zoo helpt hij Ardjoenä
bij diens talrijke minnarijen en loopt bij die gelegenheden soms wel een pak
slagen op. Het komische element van zijn persoonlijkheid uit zieh vooreerst
in zijn voorkomen en in de onaethetische manier van zijn tegenstanders on-
aangenaam te zijn; ook in zijn hebbelijkheid om ieder oogenblik as het pas
geeft, te gaan huilen.
Petroek en Nälägareng worden als zijn zonen voorgesteld; maar zij
hebben altijd wat op hem te zeggen en noemen hem oud en suf. Het zijn
zuivere potsenmakers; niets ernstigs is aan hen. Als er gevochten wordt
doen zij het niet raet wapens, maar met vuil; het zijn een paar inhalige
rakkers, die als zij er kans toe zien, het een en ander meenemen en altijd
op lekker eten azen. Petroek riekt uit den adem. Kortum zij zijn de ge-
personifieerde platheid.
2) Vgl. die Abbild, zu S. 242 u. S. 269. Serrurier hat S. 187 u. 188
(grofse Ausgabe S. 291 u. 292) zwei solche Phallen abgebildet. Der zweite
Phallus endigt in einen Stierkopf. — De zooeven vermelde figuur van Poting is
vorzien van een buitensporig ontwikkelden phallus, die zieh door middel van een
groot aantal geledingen slangvormig Jean Jcronkelen en in een montier achtigen stieren-
kop eindigt. Auch der Phallus des Karagöz bei von Luschan S. 141 endigt in
einen Tierkopf.
3) Ich will hier aber hervorheben, dafs nach Serrurier das javanische
Puppenspiel ernsthaft ist. Es treten darin vor allem Götter und Göttinnen,
Karagoz und die alte attische Komödie. 693
Da wir wenigstens eine asiatische Burleske, den Karagöz,
als Mimus erweisen konnten, so ist hier, wo bisher noch alles
schwankt und die entgegengesetzten Ansichten mit der gleichen
Zuversicht ausgesprochen werden, wenigstens ein fester Punkt ge-
wonnen, von dem aus man das grofse, helfs umstrittene Problem,
ob das asiatische Drama griechischen Anregungen entsprungen ist
oder nicht, mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen kann.
Heroen und Heroinen auf, aber im mythologischen griechischen Mimus gab
es gleichfalls Götter und Helden, wenn auch burleske.
ACHTES KAPITEL.
Der Mimus in Indien.
Willst du die Blüte des frühen, die Früchte
des späteren Jahres,
Willst du, was reizt und entzückt, willst
du, was sättigt und nährt,
Willst du den Himmel, die Erde mit einem
Namen begreifen:
Nenn ich, Sakuntala, dich und so ist alles,
gesagt.
Goethe.
Das Problem des griechischen Einflusses im indischen Drama.
Es ist nicht viel über ein Jahrhundert her, dafs man in Europa
von dem indischen Drama Kunde erhielt. Im Jahre 1789 veröffent-
lichte William Jones eine englische Übersetzung von Kälidäsas
Qakuntalä1). 1791 gab Förster die erste deutsche Übersetzung;
es folgte eine dänische, eine französische, eine italienische. 1827
erschien dann Horace Haymann Wilsons berühmtes, grundlegendes
Werk „Select specimens of the Theatre of the Hindus". Der erste
Band enthält neben der Einleitung die Übersetzung der Mrccha-
katikä, der zweite Vikramorvagi, Mälatimädhava und Uttaracarita,
der dritte Mudräräksasa, Ratnävali und eine längere oder kürzere
Analyse von 23 weiteren Dramen. Besondere Bewunderung er-
') Sacontala or the Fatal Ring, an Indian drama by Calidas, translated
fron» the original Sanscrit and Pracrit.
Das Problem des griechischen Einflusses im indischen Drama. 695
regte die Mrcchakatikä, unablässig erinnerte man sich an Shake-
speare, dessen Dichtergröfse (^üdraka zu erreichen schien1).
Schlimm steht es mit der Entwicklungsgeschichte des indi-
schen Dramas. Ganz plötzlich hebt diese grofse dramatische Litte-
ratur an. Am Anfange steht gleich ein solches Meisterwerk wie
die Mrcchakatikä. Kälidäsa lebte etwa im sechsten Jahrhundert
n. Chr., Harsa am Anfange, Bhavabhüti am Ende des siebenten
Jahrhunderts. An die Werke dieser grofsen Dramatiker schliefst
sich durch das Mittelalter hin bis in die neue Zeit eine lange
Kette von Dramen, die immer konventioneller und schablonen-
hafter werden. Von früheren Dramatikern erwähnt Kälidäsa im
Prolog von Mälavikägnimitra Bhäsa, Saumilla, Kaviputra. Aber
auch sie erscheinen als ziemlich unmittelbare Vorgänger. Zu
ihnen gehört auch noch Candra oder Candraka2). Dann aber gähnt
vor uns das dunkele Nichts, aus dem plötzlich die Meisterwerke
entsprangen.
Hier setzte die Theorie von dem Einflüsse des griechischen
Dramas ein, die Weber begründete. In seinen akademischen
Vorlesungen über indische Literaturgeschichte (Berlin 1876)
heifst es (S. 223 und 224): „Aus dem Bisherigen hat sich er-
geben, dafs uns das Drama gleich vollendet und mit seinen
besten Stücken entgegentritt; es wird denn auch in fast allen
Prologen das betreffende Werk als neu im Gegensatz zu den
Stücken der früheren Dichter dargestellt. Von diesen aber, den
Anfängen der dramatischen Dichtkunst, ist uns nicht das Ge-
ringste erhalten. Es ist sonach die Vermutung, ob nicht etwa
') Dieser Bewunderung gab Klein in seiner genialen Geschichte des
Dramas, Band III, S. 85, zum ersten Male einen entsprechenden Ausdruck:
„Seine Geschichtsthaten (Cüdrakas) mögen Terschollen seyn, oder gleich
denen so vieler indischer Könige sich mit den Thaten anderer Herrscher
unscheidbar vermischt haben: sein Drama, die Spielkutsche, verewigt seinen
Namen f&r alle Zeiten. Das Kinderwäglein von Thon ist König Cüdrakas
monumentum aere perennius, sein Erz überdauernd Denkmal; der gebrech-
liche Kindertand seine unvergängliche Grofsthat. Throne, Königreiche werden
wie irdenes Geschirr in Scherben gehn, wenn König Cüdrakas kleiner Thon-
karren noch felsenfest dasteht".
a) Ygl. Sylvain Levi, Le theatre indien S. 161.
696 Achtes Kapitel.
die Aufführung griechischer Dramen an den Höfen der griechi-
schen Könige in Baktrien, im Penjab und in Guzerate (denn
so weit hat sich ja eine Zeit lang die griechische Macht er-
streckt) die Nachahmungskraft der Inder geweckt habe und so
Ursache zum indischen Drama geworden sei, zwar vor der Hand
durch nichts direkt zu beweisen, aber die historische Möglichkeit
dafür ist wenigstens unleugbar, zumal da die älteren Dramen
fast alle in den Westen Indiens gehören. Ein innerer Zu-
sammenhang mit dem griechischen Drama übrigens findet
nicht statt".
Windisch schuf dann für diese Frage in der berühmten Ab-
handlung „Der griechische Einflufs im indischen Drama" eine
breite Basis J). Er wies auf die zahlreichen Beziehungen zwischen
Indien und den Griechen hin, die Scharen der dionysischen
Techniten, die Alexander den Grofsen begleiteten, die Schau-
spieler an den Höfen der Diadochen, die schwerlich an den Höfen
der indischen Diadochen gefehlt haben. Aber nicht die Tragödie
sondern die neue attische Komödie war das Vorbild für das in-
dische Drama. Darauf folgt dann eine Aufzählung der mannig-
fachen Vergleichungspunkte.
Diese Ansicht hat eifrige Anhänger und noch eifrigere Gegner
gefunden. Zuletzt hat Sylvain Levi in seiner Geschichte des indi-
schen Theaters die Beweisführung von Windisch einer eingehenden
Kritik unterzogen. Wie es scheint, macht er sie gleich mit
seinem ersten Gegenargument zu nichte: „Die griechische Herr-
schaft, die im Becken des Indus infolge der vorübergehenden
Eroberungen des Demetrius und Menander bestand, verschwand
völlig aus Indien während des ersten Jahrhunderts vor Christus;
Kälidäsa schuf seine Meisterwerke fünf oder sechs Jahrhunderte
später. Darf man annehmen, dafs das Studium der griechischen
Vorbilder sich während eines so ungeheuren Zeitraums in den
Brahmanenschulen erhalten hat? Die Annahme fällt von selbst
ohne Diskussion"2). Ja, wir müssen diese Argumentation L6vis
') Verhandlungen des V. internat. Orientalisten - Congresses zu Berlin
1881, Berlin 1882, S. 3—106.
2) Sylvain Levi, Le theatre indien S. 345.
Das Problem des griechischen Einflusses im indischen Drama. 697
noch unterstützen. In Rom und Hellas selbst hatte im zweiten
und dritten Jahrhundert n. Chr. die Menanderkomödie fast gänz-
lich aufgehört. Als Kälidäsa schrieb, war die Komödie schon seit
Jahrhunderten selbst in der griechisch-römischen Welt tot. Es
liegt wirklich eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Menander-
drama und dem Drama Kälidäsas.
Sylvain Le>i geht ein Beweisstück von Windisch nach dem
anderen durch. Die Ähnlichkeit des Vidüsaka mit dem servus
currens, des Qakära mit dem miles gloriosus, des Vita mit dem
Parasiten ist nicht gerade flagrant, und wenn die Königin sowohl
etwas von der „ Matrone" wie dem mifsvergnügten „senex" hat,
so wird sie in Wirklichkeit wohl von beiden nichts haben. Zudem
weicht die äufsere Form des indischen Dramas ganz von der-
jenigen der griechischen Komödie ab, und wenn die Komödien
des Plautus fünf Akte haben, so hat die Qakuntalä sieben und
die Mrcchakatikä gar zehn. Die griechischen Komöden tragen
Masken und die indischen nicht; die Zahl der Schauspieler in
den griechischen Stücken ist eine beschränkte, in den indischen
eine fast unbeschränkte.
Ob man aber wirklich über die eigentümliche Ähnlich-
keit in der Technik der Erkennungszeichen, der yvwQiOfiaxa*),
im indischen und griechischen Drama so leicht weggehn darf,
wie L6vi will? Gerade solche Techniken erhalten sich am
zähesten in der poetischen Praxis, wenn sonst schon alle anderen
Spuren früherer Überlieferung verwischt sind. Gewifs, Erken-
nungszeichen kommen auch im gewöhnlichen Leben vor -). Aber
') Vgl. die eindringenden Ausfahrungen von Windisch a. a. 0. S. 34 folg.
-I Sylvain Levi a. a. 0. S. 354: Les contes abondent en cos analogues;
Vusage de ce procede n'est pas d'ailleurs une simple Imagination de poete; ü etait
imite de la vie reelle. Ulnde ancienne, aussi bien que la Grece, ignorait let for~
malites et les acte» de Velat civil ; la vie de famille avec sei incidents, naissance,
mariage et mort, avait un caractbre entierement priv€. Si les Hasards inherents d
Vexistence des peuples antiques: incursions de tribus voisines, lüttes intestines, voyages
aventureiix, arrachaient Vindividu a sa famille ou ä sa tribu et Visolaient brusque-
ment, des indices materiels, tels que des bijoux ou des signes physiques, restaient
les seuls garants de son identite'. Les nomades et les vagabonds perpüuent dam la
societi moderne Vimage du passe lointain; tuntbt des bijoux retrouves trahissent le
698 Achtes Kapitel.
es kommt in ihm so unendlich viel vor, ohne dafs die Poesie
daraus ein bestimmtes Motiv bildet. Die yvoogicfiaTcc finden sich
doch auch in der Menander-Komödie und im indischen Drama
nicht wie im Leben gelegentlich, sondern unablässig und durch
sie wird gern der Umschwung in der Handlung bewirkt1). Über-
haupt liebt das indische Drama wie das griechische Erkennungs-
scenen, wenn sie auch nicht immer durch yvcogiofima herbei-
geführt werden; so wird im letzten Akt von Mälavikägnimitra
die Zofe Mälavikä als Prinzessin erkannt: Eine derartige Er-
kennungsscene bildet fast beständig den Beschlufs der indischen
Haremskomödie.
Aber soviel ist gewifs, den ungeheuren, klaffenden, zeitlichen
Zwischenraum zwischen Menanderkomödie und indischem Drama,
den Sylvain Levi konstatiert, füllen derartige Ähnlichkeiten,- die
sich doch verschieden deuten lassen, nicht aus. Nun dieser Spalt
existiert nicht mehr, er ist ausgefüllt durch den Mimus.
II.
Die Mimen wandern nach Indien.
Zu der Zeit, als Kälidäsa blühte, als man in Indien zum
ersten Male Qakuntalä, Urvaci, Mälavikägnimitra aufführte, hielt
Choricius zu Gaza im Philisterlande, dessen Küste, nach Indien
gerichtet, von den Wellen des roten Meeres bespült wird, die sich
mit denen des indischen Oceans vermischen, seine Rede für den
Mimus und die Mimen. Er bezeugt uns für jene Zeit des Mimus
machtvolle Blüte und seine Verbreitung durch die ganze griechisch-
römische Welt und besonders durch den Orient.
meurtrier ; tantot des signes physiaues viennent au secours de la justice hesitante ;
aussi les melodrames contemporains, qui portent sur la sehne le monde des voleurs
et des criminels ont-ils largement us4 de Yabhijndna, Baptist d'un nom eilehre: la
croix de ma mdre*
*) Selbst in den Roman sind diese yvoigia^iata übergegangen. Aber
der griechische Romancier hat diese Technik durchaus nicht dem Leben
abgelauscht, sondern eben der Komödie. Wir werden das an dem Beispiel
des Longus im zweiten Bande bei der Erörterung der Beziehung zwischen
Mimus, Komödie und Roman des näheren zeigen.
Die Mimen wandern nach Indien. 699
Im Orient ist die grofse mimische Hypothese aus der alten
Mimologie und Mimodie entstanden. Alle grofsen Städte des
Orients, Alexandria, Antiochia, Konstantiuopel, waren von Mimen
geradezu überflutet. Wir sahen schon, wie Syrien und Palästina
Pflanzstätten und Hochschulen der Mimen waren. Von Gaza
wurden berühmte Mimen von den Kaisern nach Rom berufen.
Immer neue Mimographen traten auf und neue Mimen wurden
geschaffeD, neue Typen erfunden, dazu war eine grofse Fülle alter,
vortrefflicher Stücke litterarisch überliefert, besonders Philistions
Mimen führte man unablässig wieder auf. Jahrhunderte gingen
vorüber, Königreiche sanken in Trümmer, neue Weltreiche kamen,
Religionen versanken und neue Religionen tauchten auf, nur der
Mimus blieb unverändert blühend und herrschend im Orient. Erst
als am Ende des Mittelalters Byzanz in die Gewalt der Türken
fiel, ging es mit dem griechischen Mimus in Asien zu Ende;
aber in seiner türkischen Metamorphose führt der Mimus noch
heute ein wenn auch erniedrigtes und dürftiges Dasein.
Die griechischen Fürsten im Orient waren leidenschaft-
liche Verehrer des Mimus, der auf der orientalischen Hofbühne
souverän herrschte. Die Diadochen in Indien haben da schwer-
lich eine Ausnahme gemacht. Bis ins erste Jahrhundert vor
Christus fanden die weit wandernden Mimen an den griechischen
Höfen in dem Becken des Indus sicherlich eine freundliche Auf-
nahme. Dann gingen jene Dynastien zu Grunde. Sollten darum
nicht die Mimen weiter die ihnen wohl bekannte Strafse nach
Indien gezogen sein, diese Zugvögel der Welt, oQvta y^c, wie
Manetho sie nennt (vgl. oben S. 523), die von den Gebirgen
Schottlands zu den Katarakten des Nil, von den Säulen des
Herkules zu den Küsten des schwarzen Meeres zogen, die, wie
einst zu den römischen Barbaren, später zu den Kelten, Ger-
manen und Briten wanderten, die wir später noch am Hofe Karls
des Grofsen antreffen werden, die selbst, wie der Mime Amarion *),
zu den Eingeborenen Afrikas drangen. Es ist bekannt, wie enge
Handelsbeziehungen zwischen Indien und dem Römerreiche in
J) Über das Wandern der Mimen vgl. oben S. 55S folg. und im Kapitel
Cynismus und Mimologie den ersten Paragraphen „Cyniker und Mimen".
700 Achtes Kapitel.
den ersten Jahrhunderten nach Christus herrschten. Beständig
fuhren Schiffe zwischen den orientalischen Häfen des Imperium
Romanum und den indischen Emporien hin und her; und gerade
in diesen Hafenplätzen bildete der Mimus das besondere Ver-
gnügen des Volkes und waren die Mimen in Masse vertreten,
so besonders in Alexandria. Wir hörten ja schon Dio Chry-
sostomus schelten, die Alexandriner hätten an nichts weiter
Vergnügen wie am Mimus und seien davon ganz närrisch und
selber beinahe zu Mimen und Spafsmachern geworden. Von
Alexandria aus hatten die Mimen bequeme Fahrgelegenheit nach
Indien bis in die Zeiten Kälidäsas; was hinderte sie einen
indischen Kauffahrer zu besteigen, um einmal auch in dem
fabelhaften Goldlande ihr Glück zu versuchen. Was sie an Ge-
räten und Kostümen brauchten, ging in einen einzigen Sack und
ihre Gaukelbühne konnten sie leicht überall aufschlagen.
Der Mime hat sich von jeher mit seinem lebhaften Gebärden-
spiel, mit seiner Grimassen- und Ohrfeigenkomik auch den anders
Redenden verständlich gemacht. Anfänglich haben die Römer
zum gröfseren Teile ja auch nicht die griechisch redenden Mimen
verstanden und ebenso wenig später die Germanen, Kelten und
Angelsachsen. Reichte die mimische Kunst nicht aus, so war
der Mime noch nebenbei in allerhand Gaukelkunst als ^avfiaro-
noi,6g geübt und die Miminnen waren zugleich Tänzerinnen. Diese
Biologen kannten den ßiog genau und wufsten mit allen Menschen
zu verkehren. Dazu kam ihre lustige Vagabundenfrechheit und
der Übermut und die Findigkeit des fahrenden Volkes. Kurz,
eine griechische Mimenbande schlug sich auch im fremden Lande
durch. Wir dürfen also sagen, dafs recht gut in der Zeit von
circa 300 vor Chr. bis 600 n. Chr. die Kenntnis des griechischen
Dramas und zwar in der Form des Mimus durch die Mimen den
Indern vermittelt sein kann. Ja, wenn man an den ungeheuren
Wandertrieb der Mimen und an die nahen Beziehungen zwischen
Indien und den Reichen der Diadochen sowie später dem römi-
schen Weltreiche denkt, besteht sogar die Wahrscheinlichkeit
einer solchen Vermittelung; doch bleiben wir vorläufig erst ein-
mal bei der Möglichkeit.
Verfassung der indischen Mimen. 701
ni.
Verfassung der indischen Mimen.
Die griechischen Tragöden und Komöden waren in grofsen
Gesellschaften, Synoden, vereinigt. Von diesen Synoden wurden
für die Festfeiern der verschiedenen Städte die erforderlichen
dionysischen Techniten, vom Tragöden bis zum Flötenbläser her-
unter, gegen ein Entgelt, der an die Synode zu zahlen war, ent-
sendet. Eine einzige solche Synode konnte zugleich die ver-
schiedensten Festspiele beschicken und war für ganze Länder
die Versorgerin. Sie hatte ihren festen Wohnsitz; die Verfassung
war eine republikanische, auf dem allgemeinen Stimmrecht be-
ruhende. Die Synode wählte ihre Beamten, vom Erzpriester bis
herunter zum Pedell.
Die Verfassung der indischen Schauspieler ist dagegen die
Prinzipalschaft. An der Spitze steht der Direktor, der sütradhära,
ihm liegen die Geschäfte der Gesellschaft ob, er sorgt für alles und
hat das Regiment. Als Schauspieler giebt er die ersten Rollen.
Er ist mit einem Wort der archimimus der griechischen Mimen-
banden, der ebenfalls sowohl der Prinzipal, wie auch einer der
besten Schauspieler der Truppe ist. Neben dem Direktor be-
hauptet die erste Aktrice noch einen hervorragenden Platz. Im
Prologe, der vom sütradhära gesprochen wird, tritt sie allein
von allen Schauspielern auf und der Archimimus hält mit ihr
ein lustiges Zwiegespräch. Gewöhnlich ist sie mit ihm ver-
heiratet. Auch die griechischen Mimen pflegten, wie Choricius
hervorhebt, verheiratet zu sein. Es ist die archimima der grie-
chischen Bühne. Wie archimimus und archimima entspricht sich
sütradhära und sütradhäri1).
Die griechischen Archimimae und alle Miminnen, die Prima-
donnen waren, erscheinen im allerkostbarsten Schmucke, strahlen
von Gold, Perlen und edelem Gestein. Pelagia erhielt davon den
Namen Margarito (Perle). Sie haben an dieser Gewohnheit in dem
*) Vgl. Sylvain Levi a. a. 0. S. 378, Anm. 5
702 Achtes Kapitel.
reichen Indien nichts nachgelassen. Die Pracht des Schmuckes
und der Toilette einer sütradhäri war sprichwörtlich; von Vasanta-
senä heifst es, sie geht so prächtig geschmückt daher wie eine
Archimima (Mrcchakatikä erster Aufzug).
Die griechischen Mimentruppen waren, wie wir sahen, sehr
zahlreich; neben dem Archimimus und der Archimima, neben den
stupidi und moriones, neben den jugendlichen Liebhabern und
Liebhaberinnen, den häfslichen alten Miminnen, den Hexen und
Kupplerinnen fand sich noch ein Trofs zahlreicher niederer und
niederster Mimen bis herunter zu dem Corps de ballet und den
Statisten. Genau so verhielt es sich mit den indischen Schau-
spielertrupps. Da fanden sich neben dem Prinzipal und der
Prinzipalin die Narren, der Vidusaka und der Qakära, der Parasit,
der Vita und zahlreiche sonstige Vertreter männlicher Neben-
rollen, und vor allem zahlreiche Miminnen, zweite und dritte
Liebhaberinnen — denn die erste ist ja immer die sütradhäri — ,
Vertraute, Dienerinnen, Kupplerinnen u. dergl., häfsliche alte
Hexen, Zauberinnen und Tänzerinnen.
„Zugvögel im Lande" nannte man die hellenischen Mimen,
das gilt von den indischen genau in der gleichen Weise. „So
organisiert", sagt L6vi (a. a. 0. S. 384 u. 385), „durchzog die
Truppe das Land auf der Suche nach günstigen Gelegenheiten:
Mondwechsel, das Opfer eines Königs, eine Prozession, eine
kirchliche Feier, eine glänzende Hochzeit, die Heimkehr eines
teueren Angehörigen, die Besitzergreifung einer Stadt oder eines
Hauses, die Geburt eines Sohnes liefsen sich nicht würdig feiern
ohne eine dramatische Aufführung". Nun, genau ebenso konnte
im griechisch-römischen Weltreiche kein Fest, keine Hochzeit,
ja kein Gelage ohne die Mimen gefeiert werden. Selbst die
kaiserliche Regierung feierte öffentliche Handlungen, wie die
Errichtung einer Bildsäule des Kaisers oder der Kaiserin durch
Aufführung von Mimen (vgl. oben S. 132).
Die indischen Schauspieler gaben nun aber ihr Spiel nicht
auf eigene Rechnung und nahmen etwa Eintrittsgeld, sondern
der Veranstalter des Festes hatte sie zu entlohnen, wie es mit
den griechisch-römischen Mimen Sitte war. Allmählich wurde
Verfassung der indischen Mimen. 703
Indien genau so von umherziehenden Mimengesellschaften erfüllt
wie das griechisch-römische Weltreich. Zu allen grofsen Festen
fanden sich zahlreiche Mimenbanden ein.
Da gab es denn unter diesen indischen Mimenbanden genau
dieselben Eifersüchteleien wie etwa zwischen den griechischen,
die vor Caesar zur Feier der Begründung der Weltmonarchie
spielten, als Publius Syrus mit seiner Truppe alle anderen Mimo-
graphen und Mimen zum Wettkampf herausforderte. Davon ist
wiederholt in den Prologen indischer Dramen, besonders denen,
die zum Kreise des Räma gehören, die Rede. Aber ein richtiger
Agon ist wenigstens ursprünglich bei den hellenischen wie den indi-
schen Mimentruppen mehr etwas Zufälliges, weniger eine stehende
Einrichtung, wie bei den hellenischen Tragöden und Komöden1).
Als fahrende Leute sind die Mimen und Miminnen auch in
Indien ehrlos geblieben, wie sie es in Hellas und nachher im
griechisch-römischen Reiche nach dem Gesetze nun einmal waren,
die Ehrlosigkeit ist ihnen auch über das Weltmeer gefolgt.
Die indischen Miminnen waren, wie die griechischen, meistens
zugleich Hetären, trotzdem sie zum Teil verheiratet waren. Ihre
Männer waren nicht eifersüchtig, sondern zogen Vorteil aus den
Reizen ihrer Frauen. Die indischen Lexiken geben trocken und
ohne alle Malice für Ausdrücke wie Schauspieler, Mime das Syno-
nym „einer, der von seiner Frau lebtu. Unter dieser spezifisch
indischen Voraussetzung verstehen wir jetzt das alte Glossar, das
Mimus mit prepositus meretricum übersetzt, noch besser. Ich
erinnere auch an {xifjägtov = Bordell. Die griechischen Miminnen
standen da doch noch auf höherer moralischer Stufe wie die indi-
schen. Wer die Frau eines Mimen verführt, sagt Choricius, wird
ebenso bestraft wie irgend ein anderer Ehebrecher. Nach indi-
schem Gesetze stand auf Ehebruch mit einer Mimin eine sehr ge-
ringe Strafe, weil das gewöhnlich war (vgl. Levi a. a. 0. S. 391).
Die indischen Mimen waren in ihre sehr niedrige Kaste gebannt;
nie hätte ein vornehmer Mann, wie es seit Justinian gesetzlich
x) Allerdings wird der Mime Flavins Alexander Oxeides als Asionike
und Sieger in zahlreichen Agonen bezeichnet (Waddington Voyag. archeol.
No. 1652 b).
704 Achtes Kapitel.
erlaubt war, eine rechtliche Ehe mit einer Mimin eingehen können:
kein indischer Radscha hat je eine Mimin geheiratet, nie war eine
Mimin gar Kaiserin von Indien. Der strenge indische Kastengeist
gestattete auch der grofsen Künstlerin nicht, sich aus der Ehrlosig-
keit ihres Berufes zu erheben.
Wie im Römerreiche konnten auch in Indien die Mimen nicht
Zeugnis vor Gericht ablegen. Aber auch in Indien bildeten sie
trotz alledem das Entzücken des Volks, und die indischen Radschas
haben ebenso mit den hervorragenden Mimen intim verkehrt, wie
es König Philipp und Alexander, die Könige Syriens und Ägyptens
und wohl auch die indischen Diadochen thaten. König Vasumitra
mufste gar seine Leidenschaft für die Mimen mit dem Tode büfsen
(L6vi a. a. 0. S. 381), wie Kaiser Elagabalus nur durch die Ent-
lassung der Mimen aus seiner Umgebung einen gefährlichen Auf-
ruhr stillen konnte.
IV.
Tracht und Spiel der indischen Mimen.
Die indischen Schauspieler tragen nicht wie die griechischen
Tragöden fremdartige Prunkgewänder, auch keine Kothurne oder
den erhöhten Theaterschuh der Komöden. Sie erscheinen wie
die griechischen Mimen im wesentlichen in der Kleidung des
gewöhnlichen Lebens.
Vor allem tragen die indischen Schauspieler, wie es sich für
Mimen gehört, keine Maske. Dagegen haben sie von den griechi-
schen Mimen den Gebrauch der verschiedenartigsten Schminken
(pigmenta multicoloria, vgl. oben S. 600) übernommen. Die Be-
reitung und der Gebrauch der Schminke gehörte sehr wesentlich
mit zu den Künsten des indischen wie des griechischen Mimen.
Darüber haben wir sehr eingehende Angaben aus der indischen
Litteratur (vgl. Sylyain Le>i a. a. 0. S. 370 u. 388). Der [itpos
ysXoioov trat als Kahlkopf auf. Wir werden sehen, dafs sein
indischer Nachkomme desgleichen thut, ja wir werden noch den
Phallus wiederfinden, der nun einmal mit zur äufseren Er-
scheinung des Mimus gehört.
Indische Bühne. — Mimenbühne. 705
Bei den griechischen Mimen kam es vornehmlich auf das
Mienenspiel an, ich erinnere nur an den Ausdruck „gesticularia",
an den Mimen, der in Gebärde und Haltung Kaiser Vespasian
nachahmt, an den Mimen Vitalis, an Sannio den Grimassen-
schneider. Dasselbe ist bei den indischen Mimen der Fall. Sie
mufsten alle Empfindungen und Seelenstimmungen mit besonderen,
fein nüanzierten Gebärden ausdrücken. Es gab dafür in den
indischen Kunstlehren wahrhaft minutiöse Vorschriften. Die Be-
wegung der Hände, der Füfse, alles war aufs genaueste und bis
ins einzelnste hinsichtlich des mimischen Ausdruckes geregelt1).
Derartige Regeln für Mimen sind uns ja leider aus dem grie-
chischen Altertume nicht erhalten. Aber in der pseudolucianischen
Schrift über den Pantomimus (negl oQxijoeag) werden gleichfalls
die genauesten Anweisungen für mimisches Gebärdenspiel ge-
geben2). Dieses lebhafte Mienenspiel der indischen Mimen mufste
um so naturwahrer und ethologischer sein, als ja auch die
Weiberrollen, wie im griechischen Mimus und im Gegensatz zur
griechischen Komödie und Tragödie, durch Frauen gegeben wurden.
V.
Indische BUhne. — Mimenbühne.
Wir haben die Bühne der griechischen Mimen kennen ge-
lernt; auf einigen Pfählen in Brusthöhe ruht ein leichter Bretter-
x) Ich gebe zum Belege einige von den Beispielen, die Levi a. a. 0. S. 387
u. 3ß8 anführt: Tandis que Qakuntalä effrayee fuit devant Vabeille, eile exprime
sa crainte par des signes: <Elle secoue vivement la tite; sei Ibores tremblent; la
paume ouverte, les doigts itendus {sauf le pouce qui se recourbe et se fixe ä la bäte
de t index) eile retoume se» mains devant son visage > . . . . Les traiiis de mimique
ne se contentent pas d'enseigner les gestes de Convention, qui indiquent au speetateur
Vaction du personnage; ils de'crivent les manifestations exterieures des sentiments
avec autant de patience et de minutie que les ouvrages de rhitorique en mettent ä
cataloguer les sentiments meines. Qakuntalä exprime la honte de l'amour (grngä
ralajjäm rupayati): *Eüe de'tourne la tite; ses paupieres se rejoignent aux deux
bouts, la pupille est baissie et la paupikre retombe».
8) Es wäre interessant genug, wenn einmal diese detaillierten griechi-
schen und indischen Vorschriften über mimische Gestikulation im einzelnen
verglichen würden; e> liegt ja Material in Fülle vor.
Reich, Mimus. 45
706 Achtes Kapitel.
boden '). Als man dann später die mimische Hypothese zur Ver-
herrlichung von Festen und Gelagen gab, ward dasselbe Gerüst
im Festsaale aufgeschlagen. So spielten bei dem grofsen Feste,
das König Antiochus IV. von Syrien in Daphne im Jahre 168 vor
Christus gab, die Mimen im Saale vor der Festversammlung. Im
grofsen, steinernen Dionysostheater trennte sich der Mime, wie
wir sahen, von dem glänzenden, für die vornehme Tragödie und
Komödie bezeichneten scenischen Hintergrunde durch einen Vor-
hang, das siparium *). Vor diesem spielten die Mimen, hinter ihm
warteten sie auf ihr Stichwort. Dahinter werden zum Teil auch
die Musiker gestanden haben, die im Mimus sehr zahlreich waren.
Das Siparium war eine Art Gardine, die beim Heraustreten des
Schauspielers in der Mitte sich auseinanderschob, um dann wieder
zusammenzugehen2); es bildete zugleich für den Mimus den
scenischen Hintergrund. Genau so verhält es sich mit der indi-
schen Bühne. Grofse steinerne Theater, ja überhaupt ein eigent-
liches Theater hat es in Indien nie gegeben. Die Mimen haben
ja auch in Griechenland kein Bedürfnis darnach verspürt, sie
haben dort das steinerne Dionysostheater, das für Tragödie und
Komödie erbaut war, nur benutzt, weil es nun einmal da war.
Die wandernden indischen Mimenbanden liefsen sich von dem
Festgeber einen Hof oder einen Saal anweisen, an den indischen
*) Der Boden, auf dem die Mimen spielten, heifst niXfia ; so nennt ihn
Leontios in der vita Symeons. xal xärco iffraro tis to niX/xa onov enai£ov
ol filfxoi heifst es von Symeon; et stetit infra in area drei, ubi ludebant
mimi übersetzen die Bollandisten. Aber vom Cirkus ist gar keine Rede
sondern vom Theater. Wenn Symeon sich unten hinstellt auf den Bretter-
boden, auf dem die Mimen spielen, so haben wir ja eben hervorgehoben,
dafs dieser Boden etwa Brusthöhe zu haben pflegte (vgl. anch oben
S. 606, 611). Die Zuschauersitze stiegen aber amphitheatralisch an, und die
Mehrzahl der Zuschauer schauten von oben auf das „7i£X/xau. Wenn man
Symeon nicht auf dem Bretterboden bemerkt und nicht sieht, wie er den
Stein wirft, so stand er eben hinter dem Siparium versteckt, nur so konnte
er ja auch auf der Bühne geduldet werden. Die Bollandisten haben also
hier eine falsche Anschauung, jedenfalls aber wird das ntXfjLK nicht selten
ebenso wie im Theater auch im Cirkus aufgeschlagen sein, der ja gleichfalls
eine Heimstätte der Mimen war.
2) Vgl. die Ausführungen über das Siparium oben S. 608 — 612.
Indische Bühne. — Mimenbühne. 707
Fürstenhöfen war es gewöhnlich der grofse, prächtig ausgestattete
Musiksaal. Dort schlugen sie ihre Bühne auf, zu welcher der
Mimentrupp alles Erforderliche mit sich führte. Kräftige Pfähle
aus kostbarem Holze wurden zur Hälfte ihrer Höhe in die Erde
gegraben, darauf wurde ein Bretterboden gelegt, ganz wie bei
der alten Mimenbühne, auch die Brusthöhe stimmt etwa. Wie
die Mimenbühne verzichtet die indische Bühne auf Scenenmalerei,
der Ort der Handlung wird durch die Personen des Stückes an-
gedeutet Bald ist die Bühne ein Büfserhain, bald ein Fürsten-
palast, bald die Terrasse des Perlenschlosses, bald stellt sie den
Himmelssaal dar, bald gar die Region über den Wolken; wie im
Mimus wechselt die Scene, aber die Bühne bleibt unverändert
dieselbe. Den Hintergrund schliefst ein Vorhang ab, eine Art
Gardine. Hinter diesem Vorhang ist die Musik verborgen und
stehen die Schauspieler. Beim Hinaustreten eines Schauspielers
auf die Bühne wird der Vorhang in der Mitte auseinander-
geschlagen, vor diesem Vorhang spielten die Mimen. Soll ich
noch weiter beweisen, dafs er das velum mimicum, das siparium
ist? Nun gut, er heilst Yavanikä, der Ionische, der Griechische ').
*) Den Hinweis auf diesen entscheidenden Ausdruck verdanken wir
Windisch, der schon hervorhob, wenn der Vorhang der „ griechische" sei,
werde wohl auch mit ihm die ganze Bühneneinrichtung aus Griechenland
entlehnt sein (a. a. 0. S. 24 ff.). Nun hat diese aber nichts mit derjenigen der
griechischen Komödie zu thun. Komödie und Tragödie kennt in Griechenland
keinen Vorhang, am wenigsten aber einen Vorhang wie das Siparium. Bei
diesen himmelweiten Unterschieden schien Sylvain Levis Einspruch wohl be-
gründet (a. a. 0. S. 348 ff.)= Javani hiefsen nicht blofs die Ionier, die Griechen,
sondern im weiteren Sinne neben den Griechen auch alle Völker im Westen,
also auch Baktrier, Perser, Araber; da könnte Javanika also möglicherweise
einfach auch einen Perserteppich bedeuten, der von Griechen nach Indien
verhandelt, dort als Vorhang auf der Bühne diente. Die Perserteppiche
waren schon im Altertum berühmt. Nun, die Identität zwischen Yavanikä
und Siparium macht diese Möglichkeit zur Unmöglichkeit. Auch die mittel-
alterlichen mimi et ioculatores im lateinischen Westen Europas haben sich das
Siparium erhalten (vgl. oben S. 611, 612), und ein Rest davon findet sich noch
auf der altenglischen Bühne, die von der mittelalterlichen mimischen Gaukel-
bühne abstammt. Die Farbe des Sipariums wechselt in Indien je nach dem
Inhalt des Stückes; ist er erotisch, ist sie weifs, tragisch: schwarz, komisch :
45*
708 Achtes Kapitel.
Götter und Helden, Könige und Prinzen, Weise und Minister,
Göttinnen, Nymphen, Königinnen, Bettelmönche, Kaufleute, Ar-
beiter, Fischer, Spieler, Bettler, Henkersknechte und Totengräber,
und allerhand Lumpengesindel, Hetären und Kupplerinnen müssen
alle, woher sie auch kommen mögen, ob direkt aus Indras Himmel
oder aus der Winkelkneipe, durch den einen Schlitz im velum
mimicum in die Erscheinung treten. Das war, so seltsam es ist,
in Indien Sitte, weil es nun einmal auch im griechisch-römischen
Mimus Sitte war und weil die griechischen Mimentruppen alle
ihre Einrichtungen, Gewohnheiten und Gebräuche, ihre Art zu
erscheinen und zu spielen, ihre Verfassung und ihre Bühne nach
Indien verpflanzt haben. Ob sie allein die Hauptsache, den
Mimus, zu Hause gelassen haben?
VI.
Form des indischen und des mimischen Schauspiels.
Rätselhaft ist die Form des indischen Dramas. Wenn Win-
disch zum Schlüsse die Verschiedenheiten zwischen griechischer
Komödie und indischem Drama hervorhebt, so nennt er
vor allem diese Form: „In der griechischen Komödie war
auch der gewöhnliche Dialog in Versen. Das indische Drama
hat für den Dialog die Prosa. Dies begreift sich, wenn wir
bedenken, dafs die Inder kein Versmafs besafsen, das dem
leichten, einzeiligen iambischen Trimeter entsprach, in den sich
sogar zwei Personen teilen konnten. Es ist aber nicht ohne
Interesse, dafs vereinzelt, am Ende des 7. Aktes der Mriccha-
bunt, gewaltsam: rot u. s. w. Doch scheint die rote Farbe immer zu lässig
(Levi S. 374). So wird auf der altenglischen Bühne die Farbe des Vorhanges
und der Teppiche geändert; bei Trauerspielen sind sie schwarz, bei Lust-
spielen rot. Vermutlich wird die Farbe des Sipariums schon im alten
griechisch-römischen Mimus gewechselt haben; doch ist die Überlieferung
für solche intime Einzelheiten zu dürftig und lückenhaft. Das velum mimicum
bildet noch heute den scenischen Hintergrund in den indischen Volks-
schauspielen den Yätras (vgl. L6vi a. a. 0. S. 397).
Form des indischen und des mimischen Schauspiels. 709
katikä, das schöne Zwiegespräch zwischen Aryaka und Cänidatta
eine vollkommen korrekte Cärdulavikridita- Strophe bildet, wie
Stenzler erkannt hat. Vielleicht ist dies ein Nachklang von
Versuchen, die Griechen in der Versifikation des Dialogs nach-
zuahmen. Die Prosa des Dialogs kann aber auch beabsichtigt
sein als genauer der Wirklichkeit entsprechend, ein Gesichts-
punkt, der jedenfalls für das Präkrit der Dramen in Betracht
kommt. Es könnte endlich auch die Praxis der modernen ben-
galischen yäträs, in denen der Dialog der Improvisation über-
lassen ist (vgl. Wilson, Hindu Theatre II, p. 414), schon in die
älteste Zeit zurückgehn und die Ursache der Prosa im Dialog
des literaten Dramas geworden sein.
Der Dialog besteht aber bekanntlich nicht blofs aus Prosa,
sondern zum Teil aus Versen. Diese Verse haben bisweilen
einen sentenziösen Charakter, vorwiegend ist jedoch die ge-
bundene Form zum Ausdruck der gehobenen Stimmung und
der poetischen Gedanken des Zwiegesprächs gebraucht. An die
cantica bei Plautus und Terenz darf man nicht erinnern,
denn diese sind Monologe und wurden gesungen; mit den
canticis könnten höchstens die Singverse des suchenden Königs
im 4. Akt der Urvacj verglichen werden. Die Untersuchung
über die Entwickelung der Kunstformen der indischen Litteratur
ist mindestens noch nicht abgeschlossen. Der Prosa mit ein-
gestreuten Versen begegnen wir z. B. auch im Pancatantra und
in der Vetälapaiicavimcatikä. Es wird diese Kunstform eine
echt indische Erfindung sein, sie könnte aber im Drama neu
entstanden sein, als es galt den verifizierten griechischen
Dialog nachzuahmen: den ganzen Dialog zu versifizieren liefs
sich nicht durchführen, und so unterschied man zwischen der
gewöhnlichen und der gehobenen Rede und brachte eben nur für
die letztere die indischen Versmafse in Anwendung". (Windisch
a. a. 0. S. 101 und 102.)
Also die Form des Dialogs ist Prosa, die durch metrische
Stellen unterbrochen wird. Die Singstrophen in der Urvaci er-
innern Windisch an Plautinische cantica; ich setze die erste
Strophe hierher:
710 Achtes Kapitel.
„Von dem Weibchen getrennt, vom Wahnsinn berückt,
So dringt, mit Blütengezweig geschmückt
Der Bäume, das vorn um den Leib sich ihm wand,
Ins Dickicht der mächtige Elephant".
Die Plautinischen cantica sind aber Mimodieen. Diese
Liebesklagen des Königs Purüravas erinnern mit ihrer präch-
tigen, sinnberückenden Leidenschaft an die Mimodie „Des Mäd-
chens Klage". Solche Liebesklagen, wie sie in den indischen
Dramen in reizvollen Liedern erklingen, haben auch unablässig
durch die mimische Hypothese geschallt. Auch sonst giebt es
Arien in den indischen Dramen. Ich gebe als Beispiel das Lied
am Anfange des fünften Aufzuges der Qakuntalä:
„Denkst du nicht mehr, o Honigspender,
Der Knospe an dem Mangobaum,
Die deiner Liebe Unterpfänder
Im Kufs empfing, im Liebestraum?
Nach frischem Saft steht dein Verlangen?
Zur Lotusblüte ziehst du ein?
Wird dir's im neuen Haus nicht bangen?
Wirst du auch wahrhaft glücklich sein?
Die mimische Hypothese hat überhaupt einen etwas opern-
haften Charakter, ähnlich dem indischen Drama. Windisch hebt
hervor, die metrischen Stellen dienten besonders für sententiöse
Wendungen — nun wir kennen die metrischen Sentenzen des
Mimus — und zur Bezeichnung der sich hebenden Stimmung —
wie im Mimus.
Also das indische Schauspiel hat einen Prolog, dann wechseln
Prosa, metrischer Dialog und Lieder miteinander ab. Diese eigen-
tümliche Form hat allerdings nichts mit der antiken Komödie oder
gar Tragödie gemein, alles aber mit dem Mimus, für den sie
typisch ist. Diese Form haben die alten hellenischen Mimo-
graphen geschaffen, Philistions Vorgänger und, weil der türkische
Mimus ein Nachkomme des byzantinischen ist, zeigt er sie ähnlich
wie das indische Drama.
Form des indischen und des mimischen Schauspiels. 711
Der Mimus liebt es, den Dialekt der hohen und niederen
Personen zu unterscheiden ; neben dem gewähltesten, ja preziösen
Griechisch, wie es die vornehmen Personen, Könige und Götter
und vornehmen Damen reden, macht sich der Jargon der Gasse
mit den niedrigsten Pöbelausdrücken breit. Das ist ein unver-
brüchliches Gesetz der mimischen Hypothese, das man als solches
auch in Indien respektiert hat. Die vornehmen Personen im
indischen Drama sprechen das vornehme Sanskrit, die einfachen
Leute und die Frauen die Volkssprache Präkrit. Nun gab der
Mimus aber nicht die Volkssprache schlechthin, er wufste darin
fein zu nüanzieren und Dialekte zu unterscheiden. Da redeten
Gaetuler, Gallier, Kreter, die Etruskerin, Armenier, Araber, Juden
ihre besonderen Dialekte; wir haben auch einen solökisierenden
Odysseus. Wir wissen ja auch, wie schon die Aristophanische
Komödie, die soviel vom Mimus gelernt hat, Dialekte unter-
scheidet und den Böoter eben Böotisch, den Megarer Megarisch
und den Dorer Dorisch reden läfst, das hat der Mimus selbst
noch in seiner türkischen Metamorphose, dem Karagözspiel, bei-
behalten. So wird denn auch im indischen Drama die Volks-
sprache das Präkrit nach seinen verschiedenen Dialekten ge-
sprochen: Mägadhi, Qäkäri, Cändäli u. s. w.
Im Mimus pflegten, ganz im Gegensatz zur Tragödie und neuen
Komödie eine grofse Anzahl von Personen aufzutreten. Ganze
Scharen von Mimen und Miminnen füllten die Bühne. Auch das
indische Drama kennt keine Beschränkung in der Zahl der auf-
tretenden Personen; bei seiner dem Mimus gemäfsen ethologischen
Richtung schwelgt es in der Zeichnung zahlreicher Charakter-
figuren. 14 verschiedene Personen hat z. B. Mälatimädhava,
18 Urva^i, 20 Mälavikägnimitra, 25 Mudräräksasa, 28 Mriccha-
katikä.
Wir haben auf die wunderbare Mischung der vornehmen
mit den niedrigen Personen im griechischen Mimus hin-
gewiesen. Es geht von Göttern, Helden, Königen, Imperatoren,
Prätoren und Gerichtsherrn bis zum Strolch herunter und
der Mimus weifs alle diese Typen miteinander zu verbinden.
Genau so im indischen Drama, wo gleichfalls alle Skalen der
712 Achtes Kapitel.
sozialen Stufenleiter vom Gotte und Könige bis zum Lumpen
vertreten sind und wo selbst in einem so idealen und hoch-
gespannten Drama wie der Qakuntalä ein Polizeimeister uüd
zwei gewöhnliche Polizeikerle auftreten, die erst einen armen
Fischer erbärmlich verhauen und nachher mit ihm in die Kneipe
gehn, um gemeinsam einen Schnaps zu nehmen, den natürlich
der Fischer zu bezahlen hat.
Schnell wie im Mimus wechselt im indischen Drama der
Ort; der Mangel jeder Kulissenmalerei wie auf der griechischen
Mimenbühne ermöglicht das. Prächtig schildert der indische
Mimus bald den Bergwald, bald den Büfserhain, den könig-
lichen Lustpark oder die herrlichen Gemächer des Königs-
schlosses, in denen er sich befindet. Aber es ist immer
dieselbe kahle Scene, und so kostet es dem Mimen nur ein
paar Worte, um plötzlich am anderen Orte zu sein. Wenn
schon der griechische Mimus die Zuschauer vom Himmel durch
die Welt zur Hölle führt, so ist das indische Drama ebenso in
Indras Himmel, und auf den Bergspitzen des Himalaya wie auf
der Erde zu Hause. Auch das indische Drama erstreckt wie der
Mimus seine Handlung über mehrere Tage; ja er geht über diese
Freiheit des griechischen Mimus noch weit hinaus. Die Handlung
der Qakuntalä wie der Urvacj umfafst Jahre, an ihrem Anfange
sind die Heldinnen liebende Jungfrauen, an ihrem Ende die
Mütter munterer, heldenhafter Knaben.
Die klassischen Einheiten kennt also das indische Drama
so wenig wie der Mimus; es benutzt die Freiheiten, die ihm
der kühne Neuerer, der Biologe, geschaffen hat. Eigentümlich
sind dem Mimus die Kinderrollen, selbst diese Besonderheit zeigt
das indische Drama und zwar gerade in den ältesten Stücken.
In der Mrcchakatikä tritt Rohasena, das Söhnchen des Cärudatta
auf; in Kälidäsas Qakuntalä der kleine Sohn Duhsantas und
Qankuntalas, in der Urvagi der kleine Bogenschütze Ayus, Urvagis
und Purüravas Sohn ; und entsprechend der Gewohnheit des Mimus
sind diese Kinderrollen keineswegs unbedeutend. Auch die indi-
schen Mimen gewöhnten eben wie die griechischen ihre Kinder
schon früh an ein dreistes Auftreten auf der Bühne.
Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 713
vn.
Mrcchakatikä als mimische Hypothese.
Wir wollen den Vergleich zwischen Mimus und indischem
Schauspiel etwas eingehender an der Mrcchakatikä durchführen.
Wie im Mimus haben wir einen Prolog, wie im Mimus und
in allen indischen Dramen wechseln hier Vers und Prosa, vor-
nehme Sprache mit niederer Volkssprache und hier wieder ver-
schiedene Dialekte miteinander. Wie im Mimus mischen sich
vornehme mit niedrigen Personen. Da findet sich der königliche
Prinz Samsthänaka und sein Hofschranze, der Vita, ein vor-
nehmer, hochgebildeter, Sanskrit redender Herr; der Brahmane
Cärudatta und seine Gattin, Rohasena sein Söhnchen, der Thron-
prätendent Aryaka, ein Oberrichter, zwei Hauptleute der Stadt-
wache mit ihren Leuten, die reiche Bajadere Vasantasenä und
ihre kupplerische Mutter, so geht es immer tiefer herunter zum
Gerichtsschreiber und zum Pedell, zu den Bedienten, Zofen und
Mägden, ja zu den allerniedrigsten Leuten, den zwei Tschändälern,
den Henkern.
Wie im Mimus folgt ein Bild aus dem Leben dem anderen,
schnell ändert sich in kurzatmigen Auftritten die Scene, bald sind
wir vor, bald in des Brahmanen Cärudatta Haus, oder in Vasanta-
senäs Palast, bald in diesem, bald in jenem Zimmer oder im
Garten, dann bald wieder auf der Strafse oder im Parke
Puschpakaranda, im Gerichtssaale oder auf dem Wege zum
Hochgerichte. Ebenso ist wie im Mimus von Einheit der Zeit
keine Rede, die Handlung spielt sich nicht an einem sondern
an fünf Tagen ab. Auch die Einheit der Handlung ist nicht
gewahrt, es sind zwei Handlungen durcheinander geschlungen.
Die Haupthandlung ist eine Liebesgeschichte zwischen der
schönen und geistvollen Hetäre Vasantasenä. die ihrem lockeren
Gewerbe durch eine reine und heilige Leidenschaft abwendig ge-
macht wird, und dem tugendhaften Kaufmanne aus der Brahmanen-
kaste Cärudatta, der einst reich, durch seine grofse Mildherzigkeit
und Freigebigkeit verarmt ist Die ernsthafte Liebe der Hetäre
714 Achtes Kapitel.
zu einem schönen, aber armen Jünglinge, die bei ihrer hab-
süchtigen Mutter keine Billigung findet, ist ein altes, griechi-
sches Komödienmotiv. Das hat Windisch vortrefflich entwickelt1).
Auch im VII. Hetärenmimus Lukians findet sich dieses Motiv
wieder. Dort schilt die Mutter auf Musarion: „Wenn wir noch
so einen Liebhaber finden, Musarion, wie dieser Chaereas ist,
so können wir weniger nicht thun, als der Venus Pandemos
eine weifse Ziege, der Urania und der in den Gärten jeder
eine junge Kuh opfern, und die Plutodoteira über und über
mit Blumenkränzen behängen; wir werden auch ganz glücklich
und dreifach beseeligt sein. Das mufst du mir doch selbst
gestehn, dafs es ein freigebiger junger Herr ist! Wenn er,
seitdem du ihn kennst, auch nur mit einem Silbergroschen
hervorgerückt wäre! Nur ein Halstuch oder ein paar Schuhe,
oder ein Pommadetöpfchen wenigstens! Aber nichts! Nichts
als Entschuldigungen, und Versprechungen und weit hinaus-
geschobene Hofnungen, und das ewige „Wenn mein Vater —
Wenn ich Herr von meinen Erbgütern sein werde — dann ist
alles dein" — Sagst du nicht, er habe dir mit einem Eide
versprochen, dafs er dich sogar heirathen wolle? Musarion:
Ja, Mutter, das hat er mir bei den beiden Göttinnen und bei
der Polias geschworen!" Besonders empört ist die Mutter dar-
über, dafs Musarion zwei wohlhabende junge Leute, die reiche
Anerbietungen machten, abwies. „Wie behandeltest du neulich
den jungen Gutsbesitzer von Acharnä, den sein Vater mit
einem Fuder Wein in die Stadt zum Markte geschickt hatte?
Der hatte doch auch noch keinen Bart, aber einen desto
gespicktem Beutel; und so einen Landsmann, der dir von
seinem gelösten Gelde zwei baare Minen anbot, weisest du
verächtlich ab, und letzest dich dafür mit deinem Adonis
Chaereas! .... Nun, nun! Er ist freilich nur ein Bauer, und
riecht nicht zum besten. Aber was hattest du gegen den
Antipho, des Menekrates Sohn, einzuwenden, der eine Mine
geben wollte? Ist der nicht ein so feiner junger Herr aus der
J) a. a. 0. S. 31 ff.
Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 715
Stadt als Chaereas immer? Warum wurde auch der abgewiesen?"
Aber Musarion bleibt fest, sie will, wie ihre Mutter hämisch
sagt, fortan so keusch leben wie eine Ceres und hofft, dafs ihr
Geliebter Chaereas, der junge Edelmann, der Dinomache und
des Areopagiten Laches einziger Sohn, sie später heiraten werde.
Ähnlich wie diese Hetärenmama benimmt sich auch Vasanta-
senäs Mutter, die gern ihr Töchterchen an den Narren Samsthä-
naka verkuppeln möchte, der zugleich mit der Sänfte, die Vasanta-
sena abholen soll, einen Schmuck von hunderttausend Goldstücken
an Wert sendete (Beginn des vierten Aufzuges). Dieses Motiv
der reinen Liebe einer Hetäre ist zwar Mimus und Komödie ge-
meinsam, aber wie es hier durchgeführt wird, entspricht be-
sonders dem Mimus.
Bei allen Liebesgeschichten im Mimus ist Eifersucht das
treibende, den Knoten der Handlung schürzende Motiv. Eine
Eifersüchtige singt „Des Mädchens Klage", eine Eifersüchtige
ist die Zauberin bei Theokrit, eine Eifersüchtige (Zylonmog)
tritt im fünften Mimiambus des Herondas aul Der Zrjloivnog
ist eine stehende Figur in der mimischen Hypothese. Ich erinnere
an den „zelotypus Thymeles, stupidi collega Corinthi" bei Iuvenal
(vgl. oben S. 89 Anm. 3). Wie er den begünstigten Nebenbuhler
verfolgt, wie er die Zusammenkunft der Liebenden hintertreibt oder
stört, wie diese doch schliefslich an das Ziel ihrer Wünsche ge-
langen, wie er gefoppt, geprellt, gehänselt und geprügelt wird,
wie er sich dann später rächt, ist der Inhalt der Liebesgeschichten
im mimischen Drama. Der Zylöivrio; , der sich hier zwischen
die Liebenden stellt, ist der halbverrückte Samsthänaka, der
„ Schwager des Königs", der Qakära. Als rechter stupidus erntet
er bei seiner Liebesbewerbung um Vasantasenä nur ernste Zu-
rückweisung und Spott und schliefslich noch gar Prügel. Alle
seine Anschläge mifslingen kläglich. Gleich von vornherein
jagt er durch seine täppische Verfolgung die schöne Hetäre in
das Haus ihres geliebten Brahmanen. Voll Eifersucht trägt er
Maitreya „dem drolligen Freunde" des Cärudatta auf, dem Brah-
manen zu sagen, er solle die schöne Hetäre ihm ausliefern, oder
er, der Prinz, werde ihn aufs Äufserste verfolgen. In der That
716 Achtes Kapitel.
geht nun alles Unglück, was Cärudatta und Vasantasenä trifft,
von dem rachsüchtigen ZqXoivnog aus.
Denken wir an die Handlung im Giftmischermimus, auch
dort herrscht Liebe und Eifersucht. Die Dame wird aus ver-
schmähter Liebe und Eifersucht zur Giftmischerin, sie versucht
den Geliebten zu ermorden. Der „Eifersüchtige" in der Mrccha-
katikä wird zum Mörder an Vasantasenä. Der Mimus wie das
indische Schauspiel wird zur Kriminalgeschichte. An dem Gifte
stirbt im Mimus jemand anderes und die Übelthäterin beziehtet
den Jüngling, der sie verschmähte, des von ihr verübten Mordes.
So beschuldigt der eifersüchtige und verschmähte Qakära den
Brahmanen des Mordes an Vasantasenä. Im griechischen Mimus
wie im indischen Schauspiel folgt dann eine lang ausgesponnene,
mit aller biologischen Treue und Genauigkeit wiedergegebene
Gerichtsverhandlung mit Erhebung der Anklage, mit Zeugen-
verhör, mit Reden und Gegenreden, mit allen Wendungen des
Prozesses. Gerade solche Gerichtsscenen waren, wie wir sahen,
für den Mimus typisch1). Schon soll im Mimus das Todesurteil
ausgesprochen werden, da erscheinen die Ermordeten und Tot-
geglaubten wieder auf der Scene. Alles klärt sich auf, das Gift
war nur ein starkes Schlafmittel, Vasantasenäs Tod nur eine
starke Ohnmacht; den Scheintoten im Mimus führt ein weiser
und mitleidiger Arzt, die scheintote Vasantasenä ein frommer
und mitleidiger Mönch ins Leben zurück. Die Unschuld siegt,
der Held steht in Reinheit gerechtfertigt da; die eigentlichen
Übelthäter kommen in beiden Stücken ohne allzu harte Strafe
fort, und so schliefsen beide Schauspiele, obwohl die schwersten
Thaten geschehen sind, obwohl das schwärzeste Unheil schon
hereingebrochen war, dennoch mit der wolkenlosen Heiterkeit,
die dem Mimus eigentümlich ist.
In diese Haupthandlung der Mrcchakatikä ist noch eine
bedeutsame politische Nebenhandlung verflochten: die Thron-
entsetzung des schlechten Königs Palaka, des Schwagers des
bösen Narren Samsthänaka, durch den tapferen Hirtenjüngling
*) Vgl. oben S. 87 ff., 576, 577 u. ö.
Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 717
Aryaka. Dadurch erhält das ganze Drama einen bedeutsamen
politischen Hintergrund, alle brahmanischen Elemente sind dem
König Palaka übel gesinnt. Beständig wird auf des Herrschers
tyrannische Regierung gescholten. Windisch sagt (a.a.O. S. 41):
„Solcher Ausblick auf politische Verhältnisse war auch der grie-
chischen neueren Komödie nicht ganz fremd"; ganz und gar
allerdings nicht, aber dieses Betonen politischer Dinge wie in
der Mrcchakatikä ist der neueren Komödie allerdings ganz und
gar fremd, sie ist so unpolitisch, wie nur möglich und vermeidet
es auf die Händel der grofsen Welt Bezug zu nehmen. Aus-
nahmen bestätigen da nur die Regel.
Aber der Mimus nahm unaufhörlich auf das politische Leben
Bezug, das Publikum im Theater erwartete politische Anspielungen
von ihm; er wagte es, schlechte Herrscher, wie hier König Palaka
es ist, zu tadeln1). Selbst die Darstellungen des christologischen
Mimus sind viel weniger theologischer als politischer Natur, da sie
den Kampf des heidnischen Staates mit der Kirche schildern, wobei
der Mimus immer auf Seiten des Staates stand2). Wenn Aryaka
aus dem Gefängnis entrinnt, auf der Flucht begriffen erscheint,
wenn die königlichen Häscher auftreten, die ihn verfolgen, wenn
er ihnen glücklich in der Sänfte Cärudattas entkommt, so sind
derartige Scenen auch im Mimus gang und gäbe gewesen. Dort
fanden sich flüchtige Sklaven, die ihren Herren entrannen,
oder bankerotte Bankiers, die vor ihren Gläubigern ausrissen
(vgl. oben S. 71 und S. 586). Laureolus entrinnt dem Ge-
fängnis und ist auf beständiger Flucht vor seinen Häschern,
die hinter ihm her sind wie hier die Schergen König Palakas
hinter Aryaka. Schliefslich wird dann Aryaka, der arme Ver-
folgte, König, und da ihm Cärudatta auf der Flucht mit seiner
Sänfte einen so grofsen Dienst erwiesen hat, macht er ihn wieder
vornehm und reich und Vasantasenä, der er den Schleier über-
sendet, frei von dem Makel ihres Hetärenberufes. So trägt denn
auch das Ende dieser politischen Nebenhandlung dazu bei, die
1) Über die politische Richtung des Mimus Tgl. oben S. 182—193, 640—645.
2) Vgl. oben S. 80 ff.
718 Achtes Kapitel.
allgemeine Freude, die am Schlüsse eines Mimus nun einmal
herrschen soll, zu erhöhen; denn die Hetäre kann nun, wie es
sich Musarion in Lukians Hetärenmimus wünscht, ihres edlen
und vornehmen Geliebten rechtmäfsige Gattin werden.
Im Mimus herrscht nicht das furchtbar-erhabene Schicksal,
nicht die Aha, die ElpccQfiivrj der Tragödie. Der Mimus schildert
die wunderbaren Zufälle, die im Menschenleben in Wirklichkeit
garnicht selten sind, diese merkwürdigen Wendungen und Um-
schläge, dieses launische Walten des Glückes. Der Bettler wird
im Mimus plötzlich zum Millionär, der Millionär zum Bettler1).
Totgeglaubte stehen wieder auf aus dem Grabe, unschuldig Ver-
urteilte werden plötzlich als schuldlos erkannt. Es ist Fortuna,
es ist die Herrin Tyche, die hier unumschränkt regiert, bald
neidisch, bald auch wieder über die Mafsen freundlich und hold.
Dieselbe Herrin Tyche herrscht auch in unserem Drama. Schon
wird über Cärudatta das Richtschwert geschwungen, da erfolgt
plötzlich der Umschlag. Der arme Cärudatta wird gerettet und
wieder reich und glücklich, die tote Vasantasenä wird wieder
lebendig. Der Hirtenjüngling Aryaka wird König und König
Palaka verliert Thron und Leben, der Hauptmann der Stadt-
wache erhält alle Güter Sanisthänakas , der reiche Prinz aber
wird zum Bettler.
Im Mimus war beständig von der Herrin Tyche die Rede.
Ich habe oben die Verse Philistions über die Tyche angeführt2).
Ebenso wird „von dem Schicksal" im Sinne der Tyche gleich
im Prologe unseres Dramas gesprochen:
„In diesem Stück erscheinen
Cärudatta, ein junger verarmter Kaufmann brahmanischen
Standes in der Hauptstadt von Avanti.
Und in seine Tugenden verliebt Vasantasenä, die Hetäre, wie
der Frühling so an Schönheit.
Dieser Beiden kluge Wege, die zum Liebesfest hinführen, des
Prozesses Schlechtigkeit,
1) Vgl. oben S. 63, 71, 586.
2) S. 440, 441, 574, 589.
Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 719
Eines Bösewichts Natur und des Schicksals Macht, dies Alles
hat Fürst Qudräka, wie bekannt ist, dargestellt." (Windisch
a. a. 0. S. 71/72.)
Und am Schlüsse des Dramas spricht sich Cärudatta fast
mit Philistions Worten über die Tyche aus.
„Was soll des Köstlichen noch mehr entquellen
Des Glückes Füllhorn, was noch mehr gewinnen
Soll ich auf Lebens schnellbewegten Wellen?
Die einen reifst des Schicksals Sturm von hinnen,
Die einen leert's, die andern füllt's mit Gnade:
Es hebt, es stürzt — wie's gerade ihm zu Sinnen.
Des einen Glück — es ist des andern Schade,
Feindlicher Gegensatz auf jeder Seite,
Den Eimern gleich am Schicksalsbrunnenrade 1).tt
In den grofsen Zug der Handlung sind nun in unser Drama
mannigfache kleine Scenen eingefügt, mimische Skizzen, in denen
allerhand Typen auch niedrigster und widrigster Art vorkommen.
Denn auch von unserem Drama gilt die theophrastische Definition
des Mimus als einer „Mimesis des Lebens, die das sittlich
Erlaubte wie das Unerlaubte darstellt." Da ist die ausführ-
liche Schilderung des Diebes und Diebstahls des Goldkästchens.
Gerade Dieberei ist, wie wir sahen, ein besonderes Sujet des
Mimus. Wenn der Brahmane Qarvilaka in den technischen Aus-
drücken der Diebessprache redet, so geschieht das bei Laberius
gleichfalls2). Sehr biologisch ist die Spielerscene, auch im Mimus
kommen Spieler vor. Entsetzlich ist der Spielhalter in seiner
Härte und Geldgier. Sein Gewerbe kommt an Verworfenheit dem
des Kupplers gleich, und mit dreister Stirn bekennt er sich dazu.
Wie sagt Battaros, der Hurenwirt, vor Gericht bei Herondas
(zu Thaies gewandt):
2) Ich citiere aus der Mrcchakatikä, wo ich es nicht ausdrücklich
anders bemerke, nach der Übersetzung von Professor Hermann Camillo
Kellner, die ja jeder leicht zur Hand hat.
a) Gellius XVI, 7,3, Laberius . . . item in Fullone furem manuarium
appellat. Manuari, inquit, pudorem perdidisti.
720 Achtes Kapitel.
Du lachst? Ein Louis bin ich und leugn' es nicht,
Und Battaros ist mein Name, und Sisymbras
Der war mein Grofspapa und Sisymbriskos *)
Mein Vater, und Dirnen hielten sie allesammt.
Doch was die Männerkraft betrifft, bin ich
Getrost und sage: Heran, Thaies, es sei drum."
(II, 74—78, Crusius.)
Aber wenn der freche Schiffskapitän Thaies, der ihn so schnöde
behandelt hat, nur ordentlich bezahlen will, soll alles wieder
gut sein:
„Du liebst die Myrtale — was ist dabei!
Ich liebe Weizenbrot: das gieb mir, dann
Kriegst du das andre. Oder brennt dir was
Im Inneren lichterloh: beim Zeus, so stopfe
Den Preis dem guten Battaros in die Hand
Und nimm dein Eigenthum und quetsch' es wie
Du willst — du darfst es."
(H, 74—83, Crusius.)
Ähnlich sagt Mäthura. „Solches Geschwätz ist nicht am
Plalze, du Schurke, heraus mit besagten Goldstücken! Es ist
wahr, der Mäthura ist ein Schurke, spielt mit Lug und Trug,
hat vor keinem Menschen Scheu: wer aber aller guten Lebens-
art bar ist, das bist du!" (S. 56). Mit welchem echt mimi-
schem, ironischem Humor ist dieser Typus behandelt worden.
Mäthura überhäuft seinen bösen Schuldner, den Bader, mit
den schlimmsten Ehrentiteln, prügelt ihn halb tot, aber wie er
sein Geld erhält, ist er sofort wie verwandelt. „Dem edlen
Herrn meine Empfehlung, seine Schuld wäre damit abgemacht.
Er könne nun wiederkommen und die Freuden des Spieles wieder
geniefsen". Der Bader hat an diesen Freuden allerdings für
ewig genug; er wird buddhistischer Bettelmönch.
]) Diese Namen sind redend und typische Bezeichnungen für Kuppler
(vgl. darüber Kap.V, 3). Dieselbe eiserne Stirn wie Battaros pflegen ja auch die
Kuppler in der griechischen Komödie wie bei Plautus und Terenz zu zeigen.
Der Vidüsaka und der Sannio. 721
Wenn der entfliehende Gläubiger sieh in einem Tempel starr
hinstellt und eine Statue zu sein fingiert, so beweist Pulcinella
finto Statua und Karagöz, der zum Pfahle wird, dafs wir es
hier mit einer uralten Erfindung des Mimus zu thun haben,
auf den die italienische commedia dell' arte wie der türkische
Karagöz gleichmäfsig zuriickgehn. Die genaue ethologische
Schilderung des Richters und der Beisitzer des Gerichts, des
Schreibers, des Pedells, der ganzen Gerichtsverhandlung über-
haupt ist typisch für den Mimus, desgleichen das Vorführen von
Häschern und Henkern (vgl. oben S. 87 ff., 576, 577, 652 u. ö\).
Die weit ausgesponnene Scene des Hochgerichts in unserem
Drama hat ihresgleichen nur in den ausgedehnten Blutgerichts-
scenen des Mimus (vgl. oben S. 89).
So zieht eine biologische Scene nach der andern, ein mimi-
scher Typus nach dem andern an uns vorüber. Jede Scene, jeder
Typus läfst sich mit identischen aus dem griechisch-römischen
Mimus belegen. Lebhaft, ja unruhig, wie es dem Mimus zu-
kommt, ist der Gang der Handlung, unaufhörlich geschieht etwas
Neues. Unerwartetes.
VHI.
Der Vidüsaka und der Sannio.
Kommen wir noch einmal auf den Typus des Qakära zurück.
Er ist, wie wir sahen, der Zylönnoc des griechischen Mimus:
seine treibende Leidenschaft ist die Eifersucht, aus ihr ergeben
sich zugleich die eigentlichen Verwickelungen. Diese Rolle fällt
nun in der mimischen Hypothese durchaus dem stupidus zu.
dem Narren, dem Dümmling; er ist schliefslich immer der Ge-
peitschte und erhält gewöhnlich Prügel, wie auch Samsthänaka
gleich zu Anfang auf seiner Suche nach Vasantasenä von Maitreya
Prügel angeboten werden, die er zum Schlüsse in der Gerichts-
scene dann wirklich erhält. Der (^akära ist ein stupidus vom
reinsten Wasser, seine Narrheit ist geradezu grotesk. Wir kennen
die mimicae ineptiae der griechischen Narren. Unaufhörlich ver-
wechselt der stupidus die landläufigsten Begriffe, Wasser verlangt
Reich. Mimus. 4g
722 Achtes Kapitel.
er von Dionysos, Wein von den Nymphen. Derartige Ver-
drehungen werden in Bharatas Nätyasästra, der alten, grofsen
indischen Dramaturgie als für den Qakära typisch angegeben1).
So sagt er im ersten Aufzuge der Mrcchakatikä: „Meine Nase
ist freilich von Finsternis ganz vollgestopft, doch höre ich den
Kranzgeruch. Aber das Klingen des Schmuckes sehe ich
noch nicht", oder im achten Aufzuge: „Es ist aus mit dir, ganz
aus! Eine Hexe oder ein Dieb hat die Sänfte bestiegen und
sitzt noch drinnen. Ist's eine Hexe, dann werden wir be-
stohlen; ist'n Dieb, dann frifst er uns", und weiter: „Wie?
Schakale fliegen auf und die Krähen traben ab? Während
der Meister da mit den grofsen Augen gefressen und mit den
Zähnen angeguckt wird, will ich mich aus dem Staube machen".
Ganz richtig erinnert sich Huizinga bei diesen seltsamen Ver-
wechselungen und grotesken Verdrehungen des Qakära an die
Intermezzos moderner Cirkusklowns2). Wir werden im nächsten
Kapitel sehen, dafs der Klown, der Ioculator, der Jongleur
direkt vom alten (xfyos yslomv abstammt.
Gern zeigt der Qakära seine Bildung, ähnlich wie der
mimische Scholasticüs, der Dottore. Beständig wirft er mit
mythologischen Vergleichen aus dem Mahä-Bhärata und dem
Rämäyana um sich,- nur dafs ihm dabei unablässig die thörichte-
sten und lächerlichsten Verwechselungen der mythologischen
Personen und Fabelwesen begegnen (vgl. besonders den ersten
Aufzug, ersten und dritten Auftritt in Kellners Übersetzung S. 33
u. 41, sowie den achten Aufzug, vierten Auftritt. Kellner S. 143).
Schliefslich hält er gar den Hanumat, den wohlbekannten Affen-
häuptling im Rämäyana, für einen Berg. Dieser Art der Komik
bedient sich auch Petron, der in seiner biologischen Sittenschilde-
x) XXIV, 105. Ich gebe die Übersetzung Huizingas a. a. 0. S. 111:
Prachtig gekleed en getooid, zonder reden toornig en tveer bedaard, van läge af-
homst, het mdgadha-dialect spreitend, dat is de sakära, vol van verdraaiingen.
2) a. a. 0. S. 1^5: Het achtste bedrijf bestaat voor een groot deel uit de
zotheden van den sakära, levendig herinnerend aan een Intermezzo van hedendaagsche
circusclowns ; alleen is bij dat alles het type van den onberekenbaren, boosaardigen
half-idioot zeer treffend volgehouden.
Der Vidüsaka und der Sannio. 723
rung das Meiste und Beste dem Mimus verdankt; so erzählt Tri-
malchio, der sich wie der (^akära nicht wenig mit seiner Bildung
weifs, wenn er auch, wie er sich rühmt, nie einen Philosophen
gehört hat: „Diomedes und Ganymedes waren ein paar Brüder;
ihre Schwester war Helena. Agamemnon raubte sie und schob
der Diana eine Hirschkuh unter. Und so sagt jetzt Homer, wie
die Trojaner und Parentiner unter einander kämpfen. Er siegte
nämlich und gab seine Tochter Iphigenia dem Achill zur Frau.
Deswegen ist Ajax rasend geworden. (Petron ed. Buecheler3,
S. 39.) Wie in der Mrcchakatikä wird dieser burleske Zug der
mimischen Ethologie öfter vorgebracht. So heifst es an einer
anderen Stelle (Buecheler*, S. 33): Sage mir, mein lieber Aga-
memnon, kennst du die zwölf Arbeiten des Herkules auswendig,
und die Fabel (vom Odysseus), wie der Cyklop ihm mit einer
Zange den Daumen ausdrehte.
Wie bösartig die griechischen Mimendichter den ZtjXotvnog
schildern, lehrt uns das Beispiel der Eifersüchtigen im fünften
Mimiambus des Herondas, sie möchte den Gegenstand ihrer Liebe
aus Eifersucht beinahe ermorden, wie es der Qakära, soweit es
an ihm ist, wirklich thut. Der stupidus, der in der mimischen
Hypothese die Rolle des Ztiloivnog zu geben hatte, ist nicht
der lustige, er ist der verdrehte, der bösartige Narr, dem man
alle Prügel, die ihm erteilt werden, von Herzen gönnt. So ist
denn auch der Qakära, der Nachkomme des eifersüchtigen stupi-
dus, ein böser Narr, seine Bosheit und Narrheit ist so grofs,
dafs sie beinahe in Verrücktheit übergeht. Gerade wegen dieser
Unzurechnungsfähigkeit bleibt er immer noch ein lustiger mimi-
scher Typus und wird nicht einfach ein Scheusal. Er hat auch
noch allerhand andere nebensächliche Züge, mit denen der grie-
chische stupidus ausgestattet zu sein pflegte. Vor allem ist er
von einer geradezu grotesken Eitelkeit, Einbildung und An-
mafsung, er, der „Schwager des Königs" so eine Art „stolzer
Pappus"; das ist auch das Einzige an ihm, was ein wenig an
den miles gloriosus erinnert. Auch glaubt er alles zu können
und zu verstehen, wie Ardali o. Als ein rechter Ardalio hält der
(j'akära sich auch sehr ohne Grund für einen vorzüglichen Sänger.
46*
724 Achtes Kapitel.
Im dritten Auftritte des achten Aufzuges beginnt er zum Zeit-
vertreibe zu singen; da soll der Vita seine Stimme loben.
Der meint denn auch allerdings ironisch: er habe wie ein Gan-
dharver (wie einer von den himmlischen Musikanten) gesungen.
Ja, meint der Stupidus, er habe auch Kukuksbraten, wir würden
sagen Nachtigallenbraten, gegessen und seine Kehle mit zer-
lassener Butter und Sesamsöl geschmiert. Atticus, der Ardalio
bei Martial, ist auch besonders stolz auf seine Stimme: Et belle
cantas et saltas, Attice, helle (vgl. oben S. 151, Anm. 1). Wie Ardalio
scheint der Qakära auch für gutes Essen und Trinken zu sein ')
und ebenso wie dieser ist er sehr ä la mode und ein verrückter
Stutzer, dazu ist er unerdenklich feige (taQaiTOfievog).
Nun tritt im griechischen Mimus aber nicht nur der dumme
Narr, der eigentliche stupidus und fiooQÖg auf, es findet sich
immer ein Narrenpaar; neben dem stupidus der derisor, neben
dem morio der Sannio, der scurra, neben dem (icogog der
[läxog. Haben wir also im Qakära den „dummen Narren" des
Mimus wiedergefunden, bedeutet wirklich dieser Typus wie die
anderen oben besprochenen die Anpassung uralter, griechischer,
biologischer Typen an den indischen ßiog, dann müssen wir auch
den lustigen Narren, den scurra, den Sannio, den [tcoxog, den derisor
wiederfinden, dann mufs es auch im indischen Schauspiel ein
Narrenpaar geben.
In der That giebt es noch einen Narren in den indischen-
Dramen, den Vidüsaka, und das ist sogar der Hauptnarr. In der
Mrcchakatikä heifst er Maitreya und ist des Brahmanen Qärudatta
geringerer Freund; er ist überhaupt immer der drollige Parasit und
lustige Rat des Helden. Er hat mancherlei Narrenzüge auch mit
dem Qakära gemein. Wie dieser ist auch er erstaunlich feige.
Er möchte gern Qakuntalä sehen, von der ihm sein königlicher
Freund Duhsanta vorschwärmt, als er aber von den Gespenstern
hört, die in dem Büfserwalde umherschwärmen, in dem Qakuntalä
l) So meint er im zehnten Aufzuge höchst befriedigt: „Ein herzhaft -
säuerliches Allerlei von Fleisch, Kraut, Fisch, gekochtem Reis und Reismehl-
speise hab' ich in meinem Hause zu mir genommen."
Der Vidüsaka und der Sannio. 725
wohnt, verliert er völlig die Lust dazu. Wenn aber die Gefahr
vorüber ist, zeigt er wieder grofsen Mut und gewinnt sofort seine
alte Unverfrorenheit zurück, wie der (^akära.
Während bei dem Cakära der Hang zum guten Essen nur
gerade angedeutet wird, ist er beim Vidüsaka der herrschende
Charakterzug. Der Vidüsaka ist ein Fresser wie der Maccaroni
schlingende Pulcinell und Karagöz; er ist glutto, vorax, man-
ducus wie Ardalio, wie der lustige Narr im Mimus überhaupt.
Gleich im Anfange der Mrcchakatikä tritt dieser typische Zug
in dem elegischen Selbstgespräch Maitreyas deutlich hervor:
„Mit mir, Maitreya, ist's leider soweit gekommen, dafs ich mich
wirklich von Fremden einladen lassen möchte. Ach, du jämmer-
liche Lage! Wenn ich dich so vergleiche. Bis jetzt habe ich
mich so auffüttern lassen mit süfsduftenden Leckerbissen. Von
dem schönen Gelde des Herrn ^ärudatta wurde ja bei Tag und
Nacht geschmort und gebräkelt. Ach, damals standen drinnen
im Hause hundert Näpfe um mich herum, als ob ich ein Maler
wäre, und ich — ich fuhr nur so mit den Fingern darin herum,
schob alles dann weg, wenn ich ein bischen genascht hatte und
stellte mich dann hin, wie ein Ochse, der auf dem Markte wieder-
käut. * Er nimmt es Vasantasenä bitter übel, dafs sie ihm, ob-
wohl er soviel gute Sachen bei ihr sieht, nichts vorsetzt. Zu
Beginn des zweiten Aufzuges der Qakuntalä spricht er seinen
Arger über des Königs Liebhaberei für die Jagd aus, wobei es
weder etwas Gutes zu essen noch zu trinken gäbe. Im zweiten
Aufzuge von Vikramorvac,! meint der Vidüsaka, die Königin soll
dem Könige nur schnell zu essen geben, dann werde es mit ihm
wieder gut. Als der König im dritten Aufzuge begeistert die
Schönheit des Mondaufganges preist, stimmt der Vidüsaka bei:
Der Mond sähe aus wie ein Zuckerkuchen. Als er in Ratnaväli
auf die Worte eines sprechenden Star hören soll, erklärt er,
der Star sage, der König möchte dem Vidüsaka zu essen geben.
Am Ende des zweiten Aufzuges von Kälidäsas Mälavikägnimitra
fordert er zur Mittagszeit die Königin auf, rasch Trank und
Speise zu besorgen und beklagt sich beim König, dafs sein
Magen ihm vor Hunger brennt.
726 Achtes Kapitel.
Prügeln und Geprügeltwerden ist das Los der stupidi im
Mimus, auch die beiden indischen Narren entgehen dem nicht.
Gleich im Beginn der Mrcchakatikä werden, wie wir sahen, dem
Qakära vom Vidüsaka Schläge angeboten, in der Gerichtsscene
geraten dann die beiden stupidi wirklich aneinander und es ent-
spinnt sich eine ordentliche Prügelei. Mit Prügeln ist der Qakära,
wie es sich für einen Mimen gehört, gleich bei der Hand, erst
prügelt er den buddhistischen Bettelmönch, dann den Sthävaraka,
sein Dienerchen, wie er ihn nennt; Prügelscenen giebt es über-
haupt in der Mrcchakatikä für ein nach so hohen Zielen stre-
bendes Kunstwerk erstaunlich viele. Ich erinnere an die lang
ausgesponnene Prügelscene zwischen den Spielern, an die Prügelei
zwischen den beiden Hauptleuten der Stadtwache. Kurz durch
dieses indische Schauspiel schallt der alapittarum sonitus genau
so, wie er im grofsen Drama nur noch in der mimischen Hypo-
these erscholl. Der Hauptheld der Prügelscenen im griechischen
wie im indischen Mimus ist nun aber nicht der dumme, sondern
der lustige Narr, der Vidüsaka. Er führt unverbrüchlich sein
krummes Prügelholz mit sich herum wie der Sannio seine Pritsche.
Wie der Qakära ist auch der Vidüsaka ein wenig dumm,
er ist ja auch ein mimischer Narr. Besonders grotesk ist seine
Dummheit im fünften Aufzuge der Mrcchakatikä geschildert.
Ich setze die Scene hierher:
Diener (eintretend und sich umsehend): Ah, da sitzt Cäru-
datta in seinem Baumgarten; und da ist auch dieser
Schlingel. Also hin zu ihnen! Zum Geier, die Garten-
thür jist zu. Gut, ich will diesem Schlingel 'ne feine
Andeutung geben. (Er wirft einen Erdklumpen nach
Maitreya.)
Maitreya: Hoho, wer bewirft mich denn da mit 'nem Erd-
klumpen, als wäre ich ein eingehegter Apfelbaum?
Cärudatta: Die Tauben spielen auf dem Dach des Garten-
häuschens; die werden es wohl herabgeworfen haben.
M.: Na warte, du Thunichtgut, du Schelm von einer Taube,
warte nur, ich werde dich sofort mit meinem Stocke
Der Vidüsaka und der Sannio. 727
vom Dache 'runterhauen, wie 'ne reife Mangofrucht. (Er
hebt den Stock auf und rennt hinter der Taube her.)
C. (ihn bei der Brahmanenschnur haltend): Bleib! Was
soll das heifsen? Störe doch nicht diesen unschuldigen
Täuberich, der sich der Gesellschaft seines Weibchens
erfreut.
Kumbhilaka: Was? Die Taube sieht er, mich nicht? Da
mufs ich ihn noch mit einem Erdklumpen auf die Spur
bringen. (Er thut es.)
M. (nach der Richtung hinsehend): Ah, Kumbhilaka! Ich
komme gleich! (Er öffnet die Gartenthür.) Nun,
Kumbhilaka, immer näher, sei herzlich willkommen.
K.: Besten Grufs, Herr!
M. : Na, wo kommst du denn bei dem entsetzlichen Wetter her?
K.: Nun, sie ist da.
M.: Wa— as? Sie, wer?
K.: Sie, sie.
M.: Du Schlingel, was machst du nur immer Sisisi wie ein
Kornwucherer, der sich zur Zeit der Hungersnot die
Hände reibt?
K. : Und du, guter Freund, was machst du immer dein Wa-
wawa, wie ein Hund, der nach einem Stück Opferfleisch
herumschwänzelt?
M.: Na, endlich heraus mit der Sprache!
K. (für sich): Hm, gut, ich will es ihm so beibringen. (Laut)
Holla, Achtung! Ich will dir ein Rätsel aufgeben.
IL: Und ich dir noch eins auf deinen Schädel draufgeben.
K.: Nun, nun — höre nur erst! In welcher Jahreszeit be-
kommen die Mangobäume Knospen?
M.: Alberner Kerl, im Sommer doch natürlich!
K. (lächelnd): Grundfalsch!
M. (für sich): Ja, was soll ich nun sagen? (Überlegend)
Schön, ich will zu Cärudatta gehn und ihn fragen.
(Laut) Habe einen Augenblick Geduld! (Zu Cärudatta
tretend) Freund, eine Frage! In welcher Jahreszeit
schlagen die Mangobäume aus?
728 Achtes Kapitel.
C: Dummkopf! Im Vasanta!"
M. (zurückkehrend): Dummkopf, im Vasanta!
K.: Hm! Nun will ich dir noch 'ne zweite Frage aufgeben.
Wer besorgt die Bewachung wohlhabender Ortschaften?
M.: Die Wache, Freund!
K. (lachend): Wieder grundfalsch, Freund!
M. : Da stecke ich wahrhaftig wieder in dubio. (Überlegend)
Gut, ich will Cärudatta fragen. (Laut) Warte einen
Augenblick! (Zu Cärudatta) Freund, noch eine Frage!
Wer besorgt die Bewachung wohlhabender Ortschaften?
C: Die Senä, lieber Freund.
M. (zu Kumbhilaka) : Die Senä, du Esel !
K.: Nun stelle einmal beide Worte zusammen und sprich
sie schnell hintereinander aus.
M. : Senavasanta.
K.: Nicht doch! Umgedreht!
M. (dreht sich um): Senavasanta!
K.: 0 du Einfaltspinsel, du Dummkopf; die Füfse im Sprechen
sollst du umdrehen.
M. (sich auf den Füfsen umdrehend): Senavasanta.
K.: Nein, über so 'nen Einfaltspinsel! Die aus Silben und
Buchstaben bestehenden Wortfüfse sollst du umdrehen.
M. (nach längerem Nachdenken): Vasantasenä.
K.: Na endlich! Nun, die ist angekommen.
Das ist eine vollständige Clownscene, wie sie die mimischen
Narren aufzuführen liebten. Da fehlen nicht die mimischen Foppe-
reien, die Eulenspiegeleien, die wunderlichen Mifsverständnisse.
Besonders wie hier die Worte buchstäblich genommen werden,
erinnert ganz an die mimicae ineptiae im Philogelos, wo jemand
sich einen Mantel borgen will aufs Land (zu reisen), worauf der
dumme Dottore sagt, einen so langen Mantel habe er nicht
(No. 100), oder an den Scholasticus, dem ein sehr tiefer Brunnen
gezeigt wird mit der Bemerkung, aus dem hätten immer seine
Vorfahren getrunken, worauf er meint, dann müfsten sie aber
sehr lange Hälse gehabt haben (No. va).
• Der Vidüsaka und der Sannio. 729
Ja, nicht einmal die Lazzi der Mimen fehlen. Dahin ge-
hört es, wenn der Diener mit einem Erdklumpen nach Maitreya
wirft, wenn dieser sich den Anschein giebt, mit seinem mimi-
schen Prügelholze auf die beiden Tauben loszugehn, die garnicht
existieren. Werden im griechisch-römischen Mimus die Lazzi mit
Fliegen getrieben (vgl. oben S. 440), so vollführt sie der Narr im
indischen Drama mit den etwas poetischeren Bienen. In Harsas
Nägänanda ist Hochzeit gefeiert. Der Vidüsaka hat sich dabei ge-
hörig gütlich gethan. Er erscheint mit einem Blumenkranze auf dem
Haupte und ist mit Wohlgerüchen einparfümiert, nun umschwirren
ihn die Bienen und er vermag sich ihrer garnicht zu erwehren,
schliefslich verschleiert er sich wie eine Frau, um die lästigen
Bienen, die um seinen kahlen Kopf fliegen, los zu werden. An
diese mimischen Lazzi reiht sich dann gleich wieder ein neuer
mimischer Trik. Da nun der Vidüsaka als Frau verkleidet ist,
hält ihn der betrunkene Vita, der Parasit, für seine Geliebte
und fällt ihm um den Hals. Als er dann hinter dem Schleier
den häfslichen, dicken Narren findet, ist er sehr ungehalten,
der Vidüsaka wird dabei auch noch von der hinzukommen-
den Geliebten des Vita gehänselt. Es ist eine Scene wie im
türkischen Puppenspiel, als Baba Himmet den Schleier seiner
Braut hebt und zu seinem Ärger darunter den bärtigen Karagöz
findet und wie alle die zahlreichen Auftritte im Mimus, wo der
stupidus als Frau verkleidet erscheint1).
Aber bei all seiner Narrheit, Dummheit, Feigheit, Eitelkeit,
Gefräfsigkeit ist der Vidüsaka durchaus nicht direkt albern wie
der Qakära. Im Gegenteil, er zeigt nicht selten Schlauheit und
Mutterwitz, zumal wo es sich um seine Bequemlichkeit oder ums
Essen handelt. Er betrachtet die Welt von seinem niederen,
hausbacken- verständigen, nüchternen — im Gegensatz zur idealen,
hochgespannten Auffassung des Helden — etwas stupiden Stand-
punkt aus, dafür ist er eben der stupidus. Dabei hat er aber
nicht selten Recht mit seinen Beurteilungen, besonders was die
eifersüchtigen, über den verliebten König erzürnten Königinnen
i) Vgl. oben S. 648 u. 649.
730 Achtes Kapitel.
angeht. In Vasantasenä sieht er anfänglich nur die durch ihre
Buhlerinnenkünste reich gewordene Hetäre, die nun nach Cäru-
datta ihre Netze auswirft, um so höher erstrahlt dieser unge-
rechten Kritik gegenüber die Tugend der schönen Hetäre.
So ist denn der Vidüsaka in seinen Keden weniger dumm als
vielmehr naiv und lustig. Besonders gebraucht er gern, wie es ja ein
Charakteristikum des lustigen Narren im Mimus ist, Sprichwörter
und sprichwörtliche Redensarten. So sagt er im fünften Aufzuge
der Mrcchakatikä, es bleibt doch ein wahres Wort: „Ein Lotos-
stengel, der sich aus einer Zwiebel erhoben hätte, ein Kaufmann,
der nicht betrüge, ein Goldarbeiter, der kein Dieb wäre, eine
Dorfkneipgesellschaft, wo's ohne Prügel abginge und eine Buhlerin
ohne Habsucht, da kann man lange suchen", und weiter: „Na
ja, so eine Buhlerin wird nur unter Schmerzen abgeschüttelt,
wie'n Steinchen, das man sich in den Schuh getreten hat. Aber
Freund bedenke auch: Wo eine Buhlerin, ein Elefant, ein
Schreiber, ein Bettelmönch, ein Schwindler und ein Esel hausen,
da gedeiht nicht einmal Unkraut. Im Anfange des zweiten
Aufzuges der Qakuntalä meint er: „Auf der Beule ist ein Ge-
schwür gewachsen", und im vierten Aufzuge der Mälavikägni-
mitra: „Ja, Diebe und Verliebte scheuen den Mond". Sprich-
wörtliche Redensarten finden sich überhaupt in der Mrcchakatikä
häufig, weil das nun einmal die Art des Mimus ist; so sagt, um
nur ein Beispiel anzuführen, Cärudatta am Anfange des fünften
Aufzuges: „Übrigens heifst es im Sprichwort: Geld macht
Liebe, wer Schätze hat, hat auch ein Schätzchen". Der Diener
des Samsthänaka meint zu Vasantasenä im ersten Aufzuge: „Sei
doch etwas zuvorkommend gegen den Liebling des Königs. An
Fisch- und Fleischgerichten solls dir nicht fehlen. Und hat der
Hund Fisch und Fleisch, kümmert er sich nicht um's Aas."
Der Vidüsaka ist immer Brahmane. Jedenfalls war er das
schon in den alten Volksstücken, das heifst den indischen
Mimen, die am Anfange des indischen Dramas gestanden haben,
werden doch auch noch später in den indischen Possen Priester
aller Sekten unablässig verspottet. Der Mimus hat ja von jeher
die Geistlichkeit zur Zielscheibe seiner Witze gemacht: Auguren,
Der Vidüsaka and der Sannio. 731
Haruspices und Tempelhüter und in den nachchristlichen Jahr-
hunderten die christlichen Geistlichen, Bischöfe, Priester,
Mönche und Nonnen. Der mimische Narr glänzte als christ-
licher Glaubensheld. Unablässig mufste es den Mimen, wie wir
sahen, im griechischen Osten das ganze Mittelalter hindurch ver-
boten werden, in den Kleidern von Priestern, Mönchen und
Nonnen aufzutreten und genau so war es, wie wir noch zeigen
werden, im lateinischen Westen. Der Spott auf die Geistlichen
war also ein Charakteristikum des Mimus und ist es auch in
Indien geblieben.
Während sonst die Brahmanen Sanskrit sprachen, spricht
der Vidüsaka Präkrit, weil er eben aus den eigentlichen Volks-
stücken, den alten indischen Mimen stammt, in denen anfang-
lich wohl nur das Volksidiom gesprochen wurde. Huizinga
hat es scharfsinnig erschlossen, dafs der Vidüsaka von vorn-
herein viel burlesker und närrischer gewesen ist, als in der
Mrcchakatikä und den anderen vornehmen Dramen1). In der
That, wenn er auch in diesen Dramen alle Züge des lustigen
Narren im Mimus trägt, so sind sie hier doch feiner, die Farben
sind nicht ganz so grell, die Komik ist nicht ganz die namenlos
übermütige und freche des Mimus, sie ist gedämpft. Aber in
den indischen Volksstücken, den eigentlichen indischen Mimen,
*) In Bharata's hoofdstuk Siddhivyanjaka vinden wij het folgende omtrent
het lachen der toeschouwers : Het häsya, dat voortspruit uit de uitgelaten-
heid van den vidüsaka en uit den tooneeltoestel, dat moet tuet een schaterlach door
de toeschouwers worden ojygenomen. (Ns XXVII, 6-6) De grappen van den
vidüsaka, hier op (en lijn gesteld met vertooningen van bespottelijke decoratie en
dergelijke zaken, schijnen dus van bijster koddigen aard de zijn geweest. Dit be-
festigt het twaalfde hoofdstuk van Bharata (Ns XII, vs. 121), waar sprake is van
het spei of de actie van den vidüsaka: „Het spei van den vidüsaka is getooid met
drie soorten van häsya: dat van lichaam, van taal en van kleeding. Als hij op-
treedt met zijn groote fanden, kaalhoofdig, gebocheld, kreupel, met leelijk gelaat —
dat is lichamelijk häsya. Onder häsya van taal verstaut men onsamenhangend
gebazel, zinnelooze verdraaiingen en zotteklap. Als hij echter gelijk de reiger
gaat (met geveinsde diepzinnigheid). terwilj hij toeziet en rondziet, . . . ., dat is
häsya van kleeding". De veronderstelling, dat deze voorschriften zijn gemaakt in
een tijd, toen de vidüsaka meer uitsluitend hansworst icas dan in de ons bekende
stukken, schijnt mij niet te gewaagd. a. a. 0. S. 104 u. 105.
732 Achtes Kapitel.
ist er noch ganz der Hans Wurst des alten griechisch-römischen
Mimus.
Vor einem Jahre erklärte Pischel in der Abhandlung über
„Die Heimat des Puppenspiels", Hallische Rektorredenil, 1900,
der Vidüsaka sei identisch mit den modernen Figuren des Volks-,
insbesondere des Puppentheaters, mit Hans Wurst, Kasperle und
Pulcinella. Er erinnert gegenüber der gewaltigen Efslust des
Vidüsaka an „Jack Pudding % „Jean Potage", „Signor Maccaroni",
„Paprika Jancsi", „Pekelharing", „Pickleherring". Ich kann es mir
nicht versagen, Pischels eigene Worte hierher zu setzen: „Es ist
nach dieser Schilderung fast unnötig, Ihnen zu sagen, wer der
Vidüsaka ist': er ist der Hanswurst der Volksbühne, der Kasperle
des Puppentheaters. Alle Züge des indischen Lustigmachers kehren
bei dem europäischen wieder und zwar in so überraschender
Gleichheit, dafs an der Identität der Figuren kein Zweifel sein
kann." In dem Worte „Identität" liegt die Tragweite dieser
neuen Erkenntnis. Ich will hier weiter die Ausführungen des
grofsen Indologen im Wortlaut geben: „Solche Figuren werden
in so ausgesprochener einheitlicher Gestalt nicht selbständig an
verschiedenen Orten erfunden, sondern sie -haben eine Heimat
und wandern, wobei sie je nach dem Lande im Einzelnen um-
gestaltet werden".
Der Vidüsaka kann nun nicht von den modernen europäi-
päischen Typen abstammen, denn er ist viel älter als sie, also
stammen vielmehr die modernen Typen 'vom Vidüsaka ab? Aber
auf welchem Wege sollte das geschehen sei? Gewifs ähnelt der
Vidüsaka dem Hans Wurst, Pulcinell und Kasperle auf ein Haar,
aber ebenso ähnelt er auch dem alten ptfiog yeXoicov. Nur in
der äufseren Gestalt unterscheiden sich die modernen Typen
doch stark vom Vidüsaka. Der' Vidüsaka ist ein kleiner, dick-
bäuchiger Kerl, mit hervorstehenden Zähnen, bucklig, gelbäugig,
mit verzerrtem Gesicht, kahlköpfig1).
J) Ich gebe hierfür die Zusammenstellungen aus den indischen Quellen
bei Huizinga a. a. 0. S. 103 u. 104: „Een dwerg achtige, yebochelde brahmaan
met groote tanden, leelijk van gelaat, kaalhoofdig, geeloogig, aldus zij de vidüsaka
Der Vidüsaka und der Sannio. 733
Nun einen dicken Bauch wie der Vidüsaka tragen die
modernen burlesken Figuren im allgemeinen nicht, dafür trägt
ihn aber unbedingt der mimische Narr. Auch kahlköpfig wie
der Vidüsaka sind die modernen burlesken Figuren nicht, dafür
ist aber Kahlköpfigkeit das typische Zeichen des Narren im
Mimus, des kahlen Narren, des fioogög (fakaxQÖs, des mimus
calvus. Der Vidüsaka hat bei seiner dicken Figur ein etwas
fettthraniges Äufsere. Von derselben Art hat Ardalio, der
Schmutzfink, den Namen. Der Vidüsaka zeichnet sich durch
einen verzerrten Gesichtsausdruck aus, er nennt sich selbst ge-
legentlich einen gemalten oder roten Affen. Nun auch die
mimischen Narren haben einen verzerrten Gesichtsausdruck,
so z. B. der mimische Kahlkopf auf der Vase bei Watzinger,
der mit seinem verzerrten Gesicht und seinen grofsen Ohren
halb wie ein Esel, halb wie ein Affe aussieht. Ich erinnere
auch an die seltsam verzerrten Gesichter der Phlyakischen
Mimen, wie an die oben erwähnten Terrakotten von Mimen, wo
man nicht weifs, ob es verzerrte Menschengesichter oder Affen-
fratzen sind. Wenn der Vidüsaka buckelig ist, so ist das
Dossenus in der Atellane auch. Auch auf dem oben S. 583 be-
sprochenen Bilde fanden wir einen buckeligen mimus calvus.
Nur ein typisches Zeichen des Mimus scheint bei dem Vidüsaka
zu fehlen, der Phallus. Aber noch heute trägt ihn sein direkter
Nachkomme, der Semar im javanischen Puppenspiel, also hat
auch er ihn anfänglich getragen und erst später abgelegt, als
dieses groteske Merkzeichen garnicht mehr in das idealistische,
blumenhaft zarte indische Drama passen wollte. Kurz der Vidü-
saka ist auch äufserlich das Ebenbild des Mimus calvus; ja selbst
sein Name ist nur die Übersetzung des Hauptrollennamens des
Mimus. Vidüsaka heifst - Schlechtmacher ", „Tadler*, „Ver-
gedefinieerd' (Ns XXIV, 106). Bij Visvanatha: „De vidüsaka is genaamd naar
bloemen, de lente enz., lachwekkend door daden, lichaam, kleeding, taal enz., twistziek
en kunding in zijn eigen werk" (S. D. 79). „Zijn eigen werk, zegt de commentaar,
is eten enzu. Sägara beschrijft den vidüsaka als folgt: „ Kamer aad, catupatu of
wel vidüsaka noemt men den bewoner van het vrouvent immer, 's konings minister
van vermaak". (Geciteerd bij Ranganätha, comm. op. Vikr., p. 2fi.)
734 • Achtes Kapitel.
spötter'" (Pischel a. a. 0. S. 18), das ist die direkte Übersetzung
von derisor und pwxog ').
Dieser Vidüsaka ist allen anderen Personen gegenüber der
rechte [mZxos, er moquiert sich über sie auf Schritt und Tritt.
Wie schlecht urteilt er über Vasantasenä! Er ist bei aller An-
hänglichkeit im Grunde nie mit seinen vornehmen Freunden zu-
frieden. Besonders ärgert ihn deren Verliebtheit. Die Liebe des
Königs Duhsanta nennt er die Qakuntaläseuche. Immer hat er
etwas zu tadeln, obwohl er im Grunde der Seele nichts weniger
als böse, sondern sehr gutmütig ist. Wie weifs er sich über
Vasantasenäs Mutter lustig zu machen: wie spottet er „über
l) Über den derisor vgl. oben S. 93. 630. Als derisor pflegte der berühmte
Latinus aufzutreten (vgl. oben S. 54. 55). Derisores waren vor allem die San-
niones, die Grimassenschneider; auch der Vidüsaka ist ein grimassierender
Narr. Die Glossen geben, wie wir sahen (vgl. oben S. 484), für Sannio (sanna-
subsannator) die Übersetzung ftwxog. Davon kommt /uaxdotuai auch fuaxtCtü ver-
spotten, verhöhnen (besonders durch Nachäffen, wie es eben der fii/xog yeloiwv
thut); französisch se moquer, und ficSxog = französisch moqueur. Silvain
Levi giebt Vidüsaka mit querelleur, das streift an moqueur, was für Vidüsaka
die genaue Übersetzung ebenso wie für /uäxog wäre. Windisch übersetzt
Raisonneur (a. a. 0. S. 56). Der Spötter war eine stehende Figur schon im
uralten dorischen Mimus. Auf einem Vasenbilde des Asteas heilst einer der
Phlyaken zluxotQog d. h. eben derisor, fxwxog, Vidüsaka. Den Spötter Sannio
können wir im Mimus dann noch für die spätesten Zeiten nachweisen : Marius
Mercator erwähnt ihn im fünften Jahrhundert. Noch Eustathius, der uns
über den zum Puppenspiel gewordenen Mimus berichtet, kennt auch die
populären tCavvui: Eustathius zu Od. 1350, p. 1761, 21 sq.: 6 nao« t<£ xw-
/ut,x(ß KgccTivw aävvas' avtog [x£vtoi ov rov ivri&r} anlwg Srjlol, ällct rov [icogov,
ov iGcog f] xoivt] yläaaa rCavvov lallt, dögcct 6' dv eilfjip&m dnö w 'Aaiavöiv
aavvatv, ovg al Idiwrat, j&vvovg (sie!) xalovai, ßaoßaoixovg oviag xal (6g flxog
ivrj&etg dt' dnatSevaCav . . . Vgl. auch das Verbum T&vtdfa, das mit yelü,
dnatw erklärt wird, s. Du Cange s. v. Der Sannio ist also in dem byzan-
tinischen Mimus nie ausgestorben, seine direkten Nachkommen sind der tür-
kische derisor Karagöz und die beiden Zanni der italienischen Volks-
komödie. Wenn der Sannio bei Eustathius als uwoög und nicht als fiäxog
bezeichnet wird, so ist zu bedenken, dafs auch der Spötter immerhin ein
Narr ist, wenn auch kein dummer, sondern ein lustiger. Bei diesen Figuren
ist eben Narrheit und Klugheit in seltsam schillernden Farbentönen gemischt.
Über die derisores des dorischen Mimus vgl besonders Zielinski, Quaestiones
comicae S. 119.
Der Vidüsaka und der Sannio. 735
den grofsartigen Bauchumfang der unsauberen Hexe, die immer
trunken ist von Rum, Arak und Schnäpsen". Da haben wir zu
dem dickbäuchigen indischen Narren die dickbäuchige Alte aus
dem griechischen Mimus, die stets eine grofse Liebhaberin von
berauschenden Getränken ist (vgl. oben S. 499. 504 ff.).
Am schärfsten aber läfst der derisor seine Zunge los,
wenn er auf seinen Widerpart, den eigentlichen stupidus, den
Qakära stöfst. Wenn die beiden Narren aneinander geraten,
dann prasselt ein wahrer Hagel von Schimpfworten nieder. Da
haben wir die lustigen Schimpfscenen, welche die Narren im
Mimus zum besten geben, an denen der alte Mimus so reich
war, die auch im vornehmen Mimus des Herondas nicht fehlen.
Wie schimpft und prügelt der Schulmeister den Galgenstrick
Gryllos, wie schimpfen bei Sophron, Herondas und Theokrit die
Frauen auf die Mägde '), der Schuster auf seine Gesellen und der
Bordellwirt Battaros auf den frechen Schiffskapitän, der mit Ge-
walt in seine Kneipe eingebrochen ist. Als der Jude Philo vor
Kaiser Caligula steht und dieser die jüdischen Gesandten fragt,
warum sie kein Schweinefleisch äfsen und von allen Seiten
lustiger Spott und übermütiger Hohn auf die armen Beschnittenen
niederhagelt, da meint Philo, es sei ihnen so gegangen wie im
Mimus1). Wie fährt Maitreya im ersten Aufzuge der Mrccha-
katikä mit heftigen Scheltreden auf Samsthänaka los, der bei
der Verfolgung Vasantasenäs den Frieden des Hauses Cärudattas
stört. Schliefslich kommt es in der Gerichtscene zwischen beiden
nach allerhand Schimpfereien zu einer grofsen Prügelei, wie sie
nun einmal zwischen den Narren im Mimus üblich ist.
So wird der Spötter, der derisor, der Sannio selbst zum
Spotte. Ja wie Fallstaff macht der indische derisor sich über
sich selber lustig; wie Sokrates, der derisor omnium, der Etho-
loge, wendet er seinen Spott gegen sich selbst; er nennt sich
1) Vgl. darüber besonders Diels, Sitz.-B. d. Berl. Akad. 1892, 1, 17 ff., 387 ff.
2) Vergleiche oben S. 577 Anm. den treffenden Ausdruck bei Philo
XKTtt^Xtvce^öufyot xal xtoxouovuevot tiqos rwy «ir«rr«Äw»' a»? Iv &taiQtxo7s
fiiftots. Ich erinnere an die Schimpfwörter bei Laberius, an die Bezeichnung
mimica cavillatio für Mimus (vgl. oben S. 609).
736 Achtes Kapitel.
selbst einen genialten Affen, oder er meint: „Ich bin freilich
ein Brahmane, aber mir geht alles in die Quere. Wie im
Spiegel wird links zu rechts und rechts zu links" (Mrccha-
kat.ikä Aufzug I). Als der lustige Narr weckt er auch den Spott
und die Laune der anderen Personen im Mimus, alle haben ihren
Spafs mit ihm und foppen und hänseln ihn gern. So wird Mai- .
treya z. B. vom Diener der Vasantasenä gehänselt. Unablässig
macht man sich über seine Frefsgier, seine Feigheit lustig.
Die Identität des Vidüsaka mit dem mimus calvus, dem
Sannio ist eine absolute. Entweder ist der indische Narr der
Vater des griechischen oder umgekehrt. Nun, im sechsten
Jahrhundert nach Christus blühte Kälidäsa, der Klassiker
des indischen Dramas, aber im ersten Jahrhundert nach
Christus Philistion, der Klassiker des Mimus. Schon seit 300
vor Christus begann die mimische Hypothese sich im Orient
auszubreiten und schon viele Jahrhunderte früher hat der
(itfiog yskoiwv mit dickem Wanst und dem Phallus in den
kleinen burlesken, mimischen Volksdramen die jubelnde Menge
ergötzt. Wir finden ihn auf den Phlyakendarstellungen aus dem
vierten Jahrhundert vor Christus. Wir haben ihn dann weiter
hinauf verfolgt bis ins achte und neunte Jahrhundert und bis
in die vorgeschichtlichen Zeiten hinein, da er noch ein Genosse
der dickbäuchigen Naturdämonen war. Also der mimus calvus,
der fjbü)QÖ<; ifaXuxqos ist eine uralte griechische Schöpfung und
der Vidüsaka ist sein Nachkomme.
Damit ist auch die Frage gelöst, warum die modernen bur-
lesken Typen dem Vidüsaka erstaunlich ähnlich sehen, obwohl
doch in jenen Zeiten, in denen sie entstanden sind, das Abend-
land vom Oriente und noch gar vom fernen indischen und hinter-
asiatischen Oriente durch unübersteigbare Schranken getrennt war.
Weil sie Nachkommen des alten mimischen Narren sind,
zeigen sie mit dem Vidüsaka Familienähnlichkeit. Aber der
Vidüsaka ist des griechisch-römischen Mimus ältester Sohn und
seines Vaters leibhaftes Ebenbild1). »
*) Es kann nicht meine Sache sein, im einzelnen die Konsequenzen für
die Entwickelungsgeschichte des indischen Dramas zu ziehen und zu zeigen,
Der Vidüsaka und der Sannio. 737
Zum Schlüsse mag noch eine kleine Wortzusammenstellung
wie es sich nach den Gesetzen und Neigungen des indischen Geistes vom
Mimus aus weiter entwickelt und ausgestaltet und zu so wunderbarer
Blüte entfaltet hat; hier gilt es bescheiden vor den kundigen Indologen und
Sanskritisten zurückzutreten, vor deren Forum alles Weitere allein gehört.
Meine Pflicht ist es, hier nur noch auf die mannigfachen Eigenschaften des
Mimus hinzuweisen, die diese glänzende Entwickelung ermöglicht und be-
fördert haben. Scharfsinnig hat Sylvain Levi erschlossen, dafs in seiner
ältesten Epoche das indische Drama ein Volksschauspiel war, in dem nur
Präkrit gesprochen und das grofsenteils extemporiert wurde. Das war die
Epoche, als es noch ein einfacher Mimus war und von den Mimen auf der
Gaukelbühne unter freiem Himmel wie in Hellas vor dem jubelnden Volke
extemporiert wurde, als der Vidüsaka noch ganz und gar dasselbe burleske
Vieh mit dickem Bauch, Kahlkopf und selbst noch dem Phallus war, wie der
Sannio, der fitüxog, der mimus calvus. Aus dieser Epoche hat der indische
Narr auch noch die Volkssprache, das Präkrit, beibehalten, obwohl er als
Brahmane eigentlich Sanskrit sprechen müfste (vgl. darüber Pischel a. a. 0.
S. 19). Dieser Stufe des indischen Dramas steht später am nächsten
die Farce (Prahasana). Leider sind bisher nur zwei Farcen aus dem späten
Mittelalter publiziert, nämlich Dhürtasamägama von Kavi^ekhara-Iyotivicara
aus dem XV. Jahrhundert und des Iayadica H&syänava; aber es gab
auch ein Prahasana von Kälidäsa wie von Bäna. Also selbst die vollen-
detsten Dramatiker dichteten nebenbei noch weiter Mimen. Die Inhalts-
angabe der beiden erhaltenen Farcen steht bei Levi a. a. O. S. 252 folg.
Es treten darin die typischen Figuren des Mimus auf; Geistliche, Mönche,
Ärzte, Barbiere, Bajaderen, Kupplerinnen u. s. w. Der recitative Mimus ist
vertreten in der Form des Monologes (bhäna) (vgl. Sylvain Levi a. a. 0.
S. 255 u. 256).
In Rom blieb der Mimus so, wie er aus Hellas eingewandert war, ja
ob je eine römische Hypothese die Vollendung des biologischen Dramas
Philistions erreicht hat, ist sehr die Frage. Die Römer hatten nicht viel
aus eigenen Mitteln hinzuzuthun. In Indien aber gab es längst eine grofse
Litteratur. Der spezifisch indische Geist hatte sich in Hymnen und Epen,
in Lyrik, Roman, Novelle und Märchen prachtvoll entfaltet. Verächtlich
mochten die Hofdichter auf die Mimen herabblicken, wenn sie wie auf Markt
und Strafse ebenso im prachtvollen Musiksaal des Rajah ihre Gaukelbühne
aufschlugen und ihren Mimus vorführten, selbst wenn es eine grofse Hypo-
these war. Sahen sie die mimischen Narren und besonders den utäxog, so
war ihnen klar, dafs dieses dicke, burleske, freche, lustige Untier nicht in ihre
lieblichen, von allen Balsamdüften Indiens durchhauchten Dichtungen gehöre.
Wie wenig stimmte dazu ihre Neigung zu idealen, ja zarten und blumen-
haften Gefühlen, ihre Naturschwärmerei und gefühlvolle Naturschilderung
Reich, Mimus. 47
738 Achtes Kapitel.
stehen. Das Siparium heifst Yavanikä (Das Ionische, das Grie-
und ihre Richtung aufs Heroisch-Mythische! Und doch trat der freche
hellenische Kerl, der Kahlkopf mit dem Riesenwanste und dem Phallus auf
und schilderte den ßiog, wie er wirklich ist und stellte lachend die Narren
an den Pranger, dann mufste der Rajah lachen und es lachte sein Hof, und
der risus mimicus brauste durch das Königsschlofs von Ujjayinl, wie er
vielleicht zur selben Zeit im Theater von Alexandria oder von Antiochia
oder von Rom erscholl und den Gotenkönig Theodorich schüttelte, dafs er
Thränen lachte. Es half nichts, hier hatten die grofsen indischen Dichter
eine Weltmacht vor sich, die sich nicht ignorieren liefs.
Die mimische Hypothese ist ein festgefügter Bau. Jahrhunderte helle-
nischer Erfindung hatten ihn gefügt. Diese Form ist für die Ewigkeit ge-
schaffen, sie mufste bleiben und ebenso die Ethologie und Biologie und der
mimische Narr. Aber die Hypothese hatte im Laufe der Jahrhunderte in
Ägypten, Palästina und Syrien gewifs viel Orientalisches angenommen, . da
waren also manche Anknüpfungspunkte, sie hat ja sowieso die Richtung auf
das Nationale, ja das Lokale, sie ist eben Biologie. Auch die Neigung zum
Wunderbaren steckt in ihr, diese Zauberer, weisen Frauen, Hexen,
Dämonen, Gespenster des indischen Dramas fanden sich schon in der
Hypothese. Der mythologischen Richtung der Inder kam der mytho-
logische Mimus entgegen, der in den nachchristlichen Jahrhunderten, wie
wir oben sahen, überwog. Stellte er unaufhörlich die Liebesgeschichten
von Göttern und Göttinnen, Heroen und Nymphen dar, so that das nun das
indische Drama auch. Die etwas lockere, weite Form der Hypothese war
der Aufnahme eines neuen grofsen Inhaltes günstig und fähig. So drang
die vornehme indische Poesie in die Hypothese ein. Damit vollzog sich eine
wichtige Erhebung und Läuterung. Auch in dem vornehmen antiken klassi-
schen Drama hat ja von burlesken, niederen Anfängen aus ein änoas/nvvvea&ai
stattgefunden, wie Aristoteles in der Poetik bezeugt. Der sanfte, ideale,
gefühlvolle indische Geist gewinnt allmählich die Oberhand im Mimus. Die
übermütige burleske Parodie verschwindet aus dem mythologischen Mimus
ganz und gar, er wird eine ernsthafte Schilderung göttlicher Wunder,
Leiden und Thaten, schliefslich entwickelt sich so der Mimus zum Mysterium.
Das ist das Ende.
Das älteste indische Drama, die Mrcchakatikä, zeigt noch etwa zur
Hälfte den mimischen, realistisch-biologischen, zur Hälfte den zarten indischen
Geist. Sylvain Levi hat allerdings versucht, dieses Drama entgegen der ge-
samten bisherigen Auffassung bedeutend jünger zu machen und nach Kälidäsa
etwa zwischen Harsa und Bhavabhüti zu setzen. Das ist dann zugleich
ein glücklicher Schlag gegen Windisch und die Annahme des griechischen
Einflusses im indischen Drama, für welches besonders dieses älteste Drama
spricht. Nun, vor Kälidäsa lebte der Dramatiker Bhäsa, man nannte
Der Vidüsaka und der Sannio. 739
chische). Vidüsaka ist die Übersetzung von tu<äxog. Eine Bezeichnung
ihn das Lachen der Poesie. Allerdings, das ist der ridicnlus Philistion
auch, der Verfasser des Philogelos. Das Lachen der Poesie, das ist über-
haupt der Mimus, und als das hat er nach der griechisch-römischen
Auffassung immer gegolten. Wir haben uns also doch Bhäsa als einen
Dramatiker im Stile Cüdrakas zu denken, vielleicht noch etwas burlesker,
etwas mimischer. Er ist eben noch älter und dem Mimus noch näher. Pischel
hat Bhäsa als den Verfasser der Mrcchakatikä (Götting. Gel. Anz. 1883,
S. 1229 ff.) erweisen wollen, diesen glänzenden Einfall aber wieder zurück-
gezogen, weil er nach der Lage der Dinge nicht exakt bewiesen werden kann.
In Eälidäsas Qakuntalä überwiegt schon das spezifisch indische, das
idyllisch-erotische Element. Die Handlung, die in der Mrcchakatikä noch,
wie es sich für eine mimische Hypothese gehört, ein mächtig pulsierendes
Leben hat, beginnt in der Cakuntalä abzuflauen, sie wird von allerhand
fremden, an und für sich hochpoetischen Zuthaten erdrückt. Nur die
Mrcchakatikä ist mit Erfolg über die moderne Bühne geschritten und diesen
Erfolg, der beweist, dafs sie für alle Zeiten geschrieben ist,, verdankt sie
vor allem der Unverwüstlichkeit des Mimus und zugleich seiner internatio-
nalen Art. Mochte das indische Drama sich aber später auch noch so sehr
von dem Mimus entfernen, immer behielt es wenigstens die äufsere Form
der Hypothese, behielt die alte mimische Bühneneinrichtung, die alten Mimen
und vor allem den alten mimischen Narren, den Vidüsaka. dem noch heute
das Volk in Indien zujubelt.
Das indische Drama hat also nichts mit der griechischen Komödie zu
thun, und die Indologen, die sich, Pischel voran, so scharf und energisch
dagegen verwahrt haben, sind im Rechte. Dennoch konnte Windisch merk-
würdige Ähnlichkeiten aufweisen, Ähnlichkeiten, die hinreichend schienen,
griechischen Einfiufs zu erweisen und die dann unablässig diskutiert worden
sind. Nun, der Mimus ist der Ältervater der Komödie, und besonders die
neue attische Komödie hat unendlich viel von ihm ererbt und erlernt, wenn
sie auch immer ein klassisches Drama blieb mit der klassischen Bühnenein -
richtung und den klassischen Schauspielern. Also in jenen Ähnlichkeiten
zeigt sich allerdings, wie Windisch scharfsinnig erkannt hat. griechischer Ein-
fiufs, wenn ihn auch nicht die Komödie, sondern der Mimus ausgeübt hat
und auch allein ausüben konnte.
Seit Lassen und Benfey hat man versucht, das indische Drama mit der
uralten hymnischen und epischen Poesie in Beziehung zu setzen und hat ihm
mit genialer Kombination eine Entwickelungsgeschichte konstruiert. Diese
Konstruktion hat Levi besonders scharfsinnig und geistreich durchgeführt
(a. a. 0. S. 297—343). Die Hymnen des Rigveda sind grofsenteils dialogisch.
Teilte man den Dialog zwischen den Chören, so war ein Anfang zum Drama
gemacht. Ähnlich ist ja das griechisch-klassische Drama entstanden, aber das
47*
740 Achtes Kapitel.
für Schauspieler ist Kugilava. Weber bringt es mit cüä, Sitten,
hat auch einen Chor und das indische Drama bat keinen, wie der Mimus.
Dann kommt noch das Epos hinein, es ist vielfältig dialogisch -dramatisch;
teilten die Rhapsoden den Dialog unter einander, traten sie gar in ent-
sprechenden Kostümen auf, war das Drama fertig. Das scheint so logisch
und einfach. Aber von dem klassischen Drama der Griechen, das sich doch
gewifs an das Epos anlehnt, wissen wir genau, dafs es eine ganz andere Her-
kunft hat; Aristoteles hat sie gekennzeichnet. Die griechischen Rhapsoden
hatten stark schauspielerische Neigung (vgl. oben S. 547), aber nie sind sie
auf die Idee gekommen, sich in den Dialog zu teilen und sich entsprechende
Kostüme anzuziehen. Nein, die Schauspieler des klassischen Dramas waren
niemals Rhapsoden. Die Griechen rechneten das Epos sogar zum yivog
fiixiöv, zur halb erzählenden, halb dramatischen Poesie, aber sie wufsten
es genau, dafs aus dem halben Drama nie ein ganzes geworden ist und auch
garnicht werden konnte, die epische und dramatische Art schliefsen einander
aus, selbst da, wo sie sich zu berühren scheinen.
Die Rhapsoden in Indien waren, wenn sie nicht Brahmanen waren, doch
immer als Träger der mythischen Poesie angesehene Leute; das Drama be-
deutete noch eine Erhöhung ihrer Kunst, wie konnten sie da ehrlos werden ?
Die Darsteller des klassischen mythologischen Dramas in Hellas waren doch
auch durchaus würdige Bürger und behielten ihre bürgerliche Ehre, noch
Sophokles spielte auf der Bühne.
Wir haben die Entwickelung des Schauspielerstandes verfolgt, haben
den Gegensatz kennen gelernt zwischen den vornehmen Schauspielern des
klassischen Dramas und den Mimen. Nur die Mimen, die von den Gauklern
herstammen, waren ehrlos wie die indischen Schauspieler, nur sie duldeten
Weiber unter sich wie die indischen Schauspieler, nur sie blieben im Konnex
mit den Gauklern, denen sie gern ihre Bühne verstatteten, wie die indischen
Schauspieler auch (vgl. über das letztere Levi S. 382 ff.). Das Auftreten eines
Weibes auf der Bühne verstiefs ganz gegen die antiken, insbesondere die
orientalischen und indischen Auffassungen. Die Indier haben es einfach von
den fremden hellenischen Mimen übernommen. Aber allmählich ist bei den
Indern diese ihnen nur oktroyierte Sitte wieder abgekommen, man gab später
Weiberrollen durch junge Männer.
Wunderbar mischt sich im indischen Drama Humor und Ernst, Er-
habenes und Burleskes, vornehme und niedere Sprache. Wo findet sich dies
Prinzip in der alten Epik und Hymnologie, wo findet sich dort der Vidüsaka.
Die Epik ist durchaus einer grofsen, heldenhaften, tragischen Auffassung des
Daseins zugeneigt, wie kommt es, dafs trotzdem im indischen Drama haupt-
sächlich schmachtende Liebeshelden auftreten wie im Mimus? Wie kommt
es, wenn das indische Drama von dorther seinen Ursprung nahm, dafs es
Der Vidösaka and der Sannio. 741
in Verbindung, also wäre es etwa = y&okoyog, Sittenschilderer,
Mime?1) Sonst heifst Schauspieler nata, Schauspiel nätaka; nata
bedeutet etwa „mimischer Tänzer-4 -). Der Mimus ist aus dem
Tanze entstanden; ich erinnere an die unaufhörliche Verbindung
Mimen und Tänzer (jxZpot und dQxijatai), an die mimi saltantes,
an saltatricula = mima, ogx^tfjg = Pantomimus, gelegentlich
auch = Mimus. Cinaedologie = ÖQxrjoig dnaXq. Durch den mimi-
schen Gebärdentanz haben sich die griechischen Mimen und
Miminnen den Indern zuerst verständlich gemacht. Also wäre:
nata = Mime, nätaka = Mimus?8)
unverbrüchlich zum Schlüsse fröhlich enden muXs — selbst wenn schreck-
liche Dinge geschehen sind — wie im Mimus?
a) Vgl. das Petersburger Lexikon s. v. Ganz anders ist die Erklärung
des Wortes bei Sylvain Levi a. a. 0. S. 312 u. 313. Ich kann weder die Er-
klärung Webers noch die Levis sicher beurteilen.
2) Vgl. z. B. Windisch a. a. 0. S. 8: „Aber der Schauspieler hei/st nata,
das Schauspiel nätaka, und die Sanskritwurzel nrit, welche zu nat präkriti-
siert worden ist, bedeutet ohne Frage „Tanzen". Wir dürfen jedoch hier
nicht an unsere Tänze mit ihren schematischen, sich wiederholenden Schritt-
figuren denken, vielmehr bezeichnet nat hier die Kunst, durch Stellung und
rhythmische Bewegung des Körpers und seiner Glieder, durch Gebärden und
Mienen einen bestimmten Sinn auszudrücken. Diese Kunst konnte einerseits
verbunden mit Gesang und Musik auftreten. Die Mimik drückt dann in
ihrer Weise aus, was der Gesang in deutliche Worte fafsf Nun, jedenfalls
beweist der Name, dafs man die Mimik im indischen Schauspiel für die
Hauptsache angesehen hat — wie im Mimus.
3) Für den griechischen Einflufs in Indien, und zwar vornehmlich in
der bildenden Kunst, will ich hier noch auf das lehrreiche Buch von Albert
Grünwedel hinweisen „Buddhistische Kunst in Indien", 2. Auf! , Berlin 1900
(Handbücher der Königlichen Museen zu Berlin — Museum für Völkerkunde),
zumal auf den Abschnitt „Die Gandhära-Skulpturen (sog. graeco-buddhistische
Skulpturen)" S. 74 ff. Wenn Grünwedel a. a. 0. S. 76 bemerkt: „Griechische
Ideen und Erzählungen gingen in die buddhistischen Texte, indische Ver-
gleiche, Fabeln und Märchen in die abendländische Litteratur über. Ob die
griechische Schauspielkunst die indische blofs beeinflufst oder begründet hat,
mag dahingestellt bleiben. Diese Bestrebungen dauern bis in die römische
Kaiserzeit — etwa bis ins fünfte Jahrhundert — fort", so stellt er sich
offenbar den Einflufs des griechischen Dramas auf das indische nichts weniger
als unbedeutend vor. Ich verweise auch noch auf Ernst Curtius, „Die grie-
742 Achtes Kapitel.
Der dickbäuchige, phallische Semar im javanischen Puppen-
spiel ist des Vidüsaka Ebenbild und sein Nachkomme. Das hat
schon Serrurier bemerkt *), und Pischel hat es bestätigt (a. a. 0.
S. 21). Also ist der alte mimus calvus schliefslich von Indien
bis nach Indonesien gewandert und hat sich dort in seiner
ursprünglichen althellenischen, burlesken Gestalt erhalten. Wenn
einsehe Kunst in Indien". Gesammelte Abhandlungen II, S. 235—243, und
Goblet d'Alviella „Ce que l'Inde doit k la Grece", Paris 1897, sLes Grecs
dans l'Inde", Bruxelles 1897, „Des influences classiques dans l'art de l'Inde",
Bruxelles 1897. Doch giebt es hier eine ausgedehnte Litteratur besonders
in England, die vornehmlich nur den Spezialforscher interessiert.
*) Ausdrücklich erklärt sich Serrurier gegen die gewöhnliche Auffassung,
Semar und seine Söhne seien ursprüngliche Schöpfungen der javanischen
Phantasie.
Ze zijn te veel geacheveerd, te goed in hunne rol, en daarbij te populair om
niet een lange wordingsgeschiedenis achter zieh te hebben ; zulke figuren kamen maar
niet op eens pasklaar voor den dag.
Hoezeer Semar en de zijnen als zoodanig in de indische literatuur ontbreken,
zoo vind ik loch bij Lassen, Indische Alterthumskunde IV eene aanwijzing, die er
mij toe brengt aan deze tooneelfiguur voor een deel althans een indischen oorsprong toe
te kennen. Wij lezen aldaar op p. 829 het volgende: „De vidushaka is de indische
vertegenwoordiger van den germaanschen hansworst en den italiaanschen polichinel
of harlekijn" .... Zie ook Wilson, Theater der Hindu' s, Weimar 1828, p. 42.
Herkent men hierin niet punt voor punt de karaktertrekken van de pänäkaioan 's,
zooals die hier boven zijn geschilderd? Tot zelf de goddelijke oorsprong van Semar
vindt hare weergade in de hooge käste van den vidushaka De band
usschen Semar en de helden van het drama is te innig om te kunnen aannemen,
dat hij er in later tijd tusschen in geschoven is. En eenmaal zijn indische oor-
sprong vastgesteld, dunkt het mij niet onwaarschijnlijk, dat hij reeds van den
aanvang af met het drama verbanden is geweest, en dat de bewoners der streek,
vanwaar de waj angverhalen op de Iavanen zijn overgegaan, die overgeleverde ver-
holen nimmer anders hebben gekend dan in den toestand van tooneelstukken met
Semar en de zijnen als dramatisch element. (Kleine Ausgabe S. 38/9.)
Ganz recht, ohne den Hanswurst, den Sannio, ist eine mimische Hypo-
these ebenso undenkbar, wie ein indisches Drama, ein javanisches Puppen-
spiel oder ein Karagözstück, und in allen ist der Hans Wurst nicht etwa
später hinzugekommen, sondern er ist das urälteste Element. Der älteste
Spieler im Mimus ist eben der nifxog yelolmv. Im Bhäratiyanätyaäästra I, 63
heifst es: Den Helden schützt Indra, die Heldin Sarasvati, den Vidüsaka
die heilige Silbe Om, die übrigen Personen Siva. Also neben dem Helden
und der Heldin ist der Narr die wichtigste Person, wie im Mimus.
Der Vidnsaka und der Sannio. 743
bis auf unsere Tage Semar zugleich dem Karagöz merkwürdig
ähnlich ist, wie Serrurier hervorhebt (vgl. oben S. 691) und
Pischel gleichfalls bestätigt (a. a. 0. S. 21), so wissen wir, dafs
Karagöz des alten Sannio, des uüxo; Nachkomme ist, und da,
wie wir nun sehen, Semar dieselbe Abkunft hat, müssen sie sich
beide wohl gleichen. So ist der alte Mimus noch heute im
Oriente, in Nordafrika und in Ägypten, in Vorder- wie in Hinter-
asien, gewaltig.
NEUNTES KAPITEL.
Der Mimus im Occident.
Melius est deo placere quam histrionibus,
pauperum habere curam quam mimorum.
Alcuin.
I.
Der römische Mimus im Mittelalter.
Wie im Oriente der griechische Mimus das Mittelalter
hindurch geblüht hat und in seinen Kindern und Kindes-
kindern dort noch heute fortlebt, so hat im Occidente der
römische Mimus sich durch das lange Mittelalter hindurch
lebendig erhalten bis auf unsere Tage. Wie Philistion im grie-
chischen Osten zahlreiche Nachfolger hatte, Phoebus, Origanion,
Diogenes und die zahllosen Mimographen, deren Namen ver-
gessen sind, die in immer neuen Mimen die alten Typen und
Themen der mimischen Ethologie und Biologie den Wandlungen
des ßiog anpafsten und wohl auch neue dazu erfanden, so gab
es auch im lateinischen Westen in den nachchristlichen Jahr-
hunderten zahlreiche Mimographen.
Aus dem ersten Jahrhundert nach Christus lernten wir als
den berühmtesten mimischen Bühnendichter Catullus mit dem
„Laureolus", und dem „Gespenst (Phasma)" kennen1). Im
*) Fälschlich habe ich auf S. 76 u. 150 vom Laureolus des Lentulus ge-
sprochen. Dieser Irrtum rührt von Ziegler her, dem Grysar folgt; ich habe
ihn inzwischen oben S. 584 stillschweigend verbessert. Laureolus gehört dem
Catullus, das sagt Tertullian ausdrücklich: Ita depulsa quominus pergeret, nee
habens supervolare crucem, id est Horon, quia nullum Catulli Laureolum fueril
Der römische Mimus im Mittelalter. 745
zweiten Jahrhundert beherrschte Marullus die Bühne, dessen
Spott Kaiser Marc Aurel geduldig ertrug l). Ungefähr zu gleicher
Zeit dichteten auch die Mimographen Lentulus (Catinenses3) und
exercitata, ut destituta Passtoni illi suae in trica multiplici atque perplexa, omni
genere eins coepit adfligi e. q. s. (Advers. Valent. XIV). In dem Juvenal-
verse:
Laureolum velox etiam bene Lentulus egit (VIII, 187)
ist Lentulus nur der Hauptakteur. Da dieser Mimus schon unter Caligula
aufgeführt wurde (vgl. oben S. 150), hätte Lentulus, wenn er der Dichter des
Laureolus wäre, zu Juvenals Zeit tot oder zum mindesten ein hochbetagter
Greis sein müssen, der schwerlich in der Rolle des flinken Räubers hätte
glänzen können. Interessant ist, dafs hier Tertullian gegenüber den gnosti-
schen Lehren nach der Gewohnheit der Kirchenväter den Mimus heranzieht
und sich hier bei der gnostischen Auffassung der Passion an den Kreuzigungs-
mimus „Laureolus" erinnert. Unmittelbar vorher hat Tertullian die gnostische
Mythologie von den Äonen, deren einer Christus ist, mit der Tragödie und
dem mythologischen Mimus verglichen: Continet hie igitur ordo primam pro-
cessionem pariter et nascentium et nubentium et generantium Aeonum .... Ceterum
haec intra coetum Pleromatis decueurrisse dieuntur, prima tragoediae scena. Alia
autem trans siparium cothurnatio est, extra Pleroma dico. Diese Stelle ist
den oben S. 608, 609, Anm. für das velam mimicum angeführten hinzuzufügen.
Die trans siparium cothurnatio ist der mythologische Mimus. Ich habe oben
S. 582, 583 gezeigt, dafs in diesen Stücken die Mimen in der Kleidung der
Tragöden, also auch mit Cothurnen auftraten. Da nun aber Mimus und Puppen-
spiel auf das engste zusammenhängen, wird an derselben Stelle zum Ver-
gleiche mit der Gnosis ebenfalls das Puppenspiel herangezogen: Ut autem
tantum sigillarium extrinsecus quoque inornassent, satellites ei angelos
proferunt, par genus; si inter se, potest ßeri, si vero Soteri consubstantivos . . quae
erit eminentia eius inter satellites coaequales (Schlufs von cap. XII). Ähnlich
heifst es bald darauf (Cap. XVIII): Et primum . .. deum fingit hunc nostrum et
omnium, praeter haereticorum, patrem et Demiurgum . . . Ab illo enim; si tarnen
ab illo et non ab ipsa potius Achamoth, a qua oeculto, nihil sentiens eius, et velut
sigillario extrinsecus duetu in omnem operationem movebatur. Sigillarium
bedeutet die Puppe im Puppenspiel, vgl. Marc Aurel VII, 3: aiyiilaout vtvgo-
onaaiov/AEva.
«j Vgl. oben S. 188.
2) Vgl. Tertullian, De pallio IV: Qualis ille Hercules in serico Omphales
fuerit; iam Omphale in Herculis scorto designata descripsit. Sed et qui ante Tt/rin-
thium accesserat, pugil Cleomachus, post Olympiae cum incredibili mutatu de masculo
ßuxisset, intra cutem caesus et ultra, inter Fuüones iam Novianos coronandus,
meritoque mimographo Leiitulo in Catinensibus commemoratus, e. q. s.
746 Neuntes Kapitel.
Hostilius, die Tertullian als besonders hervorragend im mytho-
logischen Drama nennt1). Marullus und Lentulus galten dann
in den späteren Jahrhunderten als die eigentlichen grofsen
Dichter im römischen Mimus, über deren Leistungen man
Publilius Syrus und Decimus Laberius vergafs. So nennt Marius
Mercator im fünften Jahrhundert neben dem „einzigen Philistion"
unter den Lateinern Marullus und Lentulus und stellt ihren
Ruhm über den Martials und Petrons2). Auch Hieronymus
erwähnt beide in einem Atemzuge mit Philistion und läfst sich
herbei, ihren eleganten Ausdruck, wenn auch ironisch, zu loben
und Sabinianus tadelt er, weil er seine Freude vor allem an
Mimographen wie Lentulus habe3). Den Marullus erwähnt auch
Galen *). Der grofse Arzt bezeugt zugleich, dafs neben Marullus
noch ein Schwärm von Mimographen dichtete8). Mimographen
fanden sich nicht nur in Rom, sondern auch in den Provinzen.
So wurde in Spanien in Tarraco ein Stein mit dem Namen des
Mimographen Severianus gefunden6). Neben den berufsmäfsigen
Mimographen gab es noch vornehme Dilettanten wie z. B. Atticus,
Über Kleofiaxog 6 nvxxrfi vgl. oben S. 257. Es ist beachtenswert, dafs dieser
Faustkämpfer, der später ein Weichling und dann ein Cinaedologe und Mimo-
graph wurde, im lateinischen Mimus erwähnt wird. Erstaunlich ist, wie
häufig Tertullian des Mimus und des Puppenspiels gedenkt. Seine Kenntnis
war hier eine so genaue, dafs er z. B. selbst über die Sprache des Laberius
bis ins einzelne unterrichtet ist. Vgl. De pallio 1: Nam et arietem (non
quem Laberius reciprocicornem et lanicutem et testitrahum sed trabes viachina
est, quae muros frangere militat) nemini unquam adhuc libratum illa dicitur Carthago
studiis asperrima belli, prima omnium armasse e. q. s. Über die Erwähnung des
Mimus und des Puppenspiels bei Tertullian vgl. auch oben S. 672.
i) VgL oben 8. 111, 112.
2) Vgl. oben S. 474.
3) Vgl. unten S. 752.
4) Galen, üsqi avaxofxixäv ly/signomv VII, 12, 6 MaqvXXov xov fitfio-
yqä(fov nalg i&eQanev&r) xal £rj vvv fr*, xatiot yvfivio&etoyg avT<p noxt xr\g
xitodiag •
5) Galen. a.a.O. VII, 16: tovro /*ev ovv, eis ytXioionodav rois yQa-
(povoi rovg [Alfxovg xüv ytkotiov ä<fe(o&(o.
6) C. I. L. II, 4092. Deo Tutelae Aemilius Severianus mimographus posuit.
Der römische Mimus im Mittelalter. 747
den Martial verspottete, oder Nucula, den Cicero verhöhnte1).
Helvidius Priscus, der wegen seines Mimus „Paris und Oenone"
von Domitian hingerichtet wurde, gehörte zur höchsten römischen
Aristokratie2).
Die Leidenschaft, welche das römische Volk für den Mimus
zeigte, fühlten genau ebenso, wie wir sahen, die römischen
Kaiser3). Von den weströmischen Kaisern haben ja erst die
oströmischen, die byzantinischen Kaiser und Grofsen die Vorliebe
für den Mimus geerbt.
Wie die griechischen Kirchenväter im Orient gegen den
Mimus eiferten, so haben es die lateinischen im Occident gethan.
Haben wir dort aus späterer Zeit besonders das Beispiel des grofsen
Johannes Chrysostomus, so hier das des heiligen Augustinus und
Hieronymus4). Hieronymus ist gewifs nicht gut auf den Mimus
und das Theater zu sprechen. Paulinus, der ein Mönch geworden
ist, erkundigt sich bei ihm, dem grofsen Verteidiger der Askese,
*) Vgl. oben S. 149, 150, 151.
2) Vgl. oben S. 190.
3) Vgl. oben S. 193—204. Zu den dort mitgeteilten einzelnen Zügen
will ich noch hinzufügen, dafs litterarisch gerichtete Kaiser wie Hadrian ihr
Interesse für den Mimus bis auf die Einzelheiten der mimischen Sprache
besonders des Laberius erstreckten. Vgl. Charisius II, p. 124 L.: Obiter
divus Hadrianus sermonum primo quaerit an Latinum sit: quamquam inquit, apud
Laberium haec vox esse dicaiur, et cum Scaurus Latinum esse neget. Wenn hier
Hadrian untersucht, ob ein Ausdruck des Laberius auch rechtes Latein sei,
so ist das überhaupt ein bei Grammatikern beliebtes Thema. So ist das
berühmte Kapitel bei Gellius XVI, 7, in dem wir mancherlei aus den Mimen
des Laberius erfahren, betitelt: Quod Laberius verba pleraque licentius petu-
lantiusque finxit; et quod multis item verbis utitur, de quibus, an sint Latina quaeri
solet. Fronto, der Lehrer Marc Aureis, scheut sich nicht, in einem Briefe
an den Thronfolger den Mimographen Laberius, der zu seinen Lieblings-
schriftstellern gehörte, als Autorität zu citieren. Vgl. epist. in M. Caesarem
lib. I 6, p. 14 ed. Rom, lverum ut profecta quod ait noster Laberius, ad amorem
delenimenta esse deleramenta. beneficia autem veneficia.
4) Aus früheren Jahrhunderten haben wir unter den lateinischen Kirchen-
vätern als energische Feinde des Mimus und überhaupt des antiken Schau-
spiels Minucius Felix, Arnobius, Tertullian, Lactanz und Cyprian kennen ge-
lernt. Vgl. oben S. 109—116.
748 Neuntes Kapitel.
der Jahrelang in der Wüste von Chalcis, „ der syrischen Thebais ",
im Osten von Antiochia, als Einsiedler gelebt und schliefslich in
Bethlehem bei der Krippe des Herrn ein Mönchskloster ge-
gründet hatte, nach der besten Art, wie man als Mönch leben
könne, dabei läfst er sein Verlangen durchblicken, Jerusalem
und die heiligen Stätten aufzusuchen. Aber Hieronymus ermahnt
ihn, nicht dorthin zu kommen. Ein Mönch müsse in der
Einöde, in der Einsamkeit, in der Verborgenheit, nicht aber
in Jerusalem dem Herrn dienen, denn dort ist das Stelldichein
des ganzen Erdkreises. Dort drängt sich das Volk auf den
Strafsen, dort giebt es ein Rathaus und eine Militär-Komman-
dantur, Buhldirnen und vor allem Mimen und Possenreifser,
genau so wie in allen anderen Städten1). Hier haben wir also
zugleich wieder ein Zeugnis dafür, dafs der Mimus, wie wir
schon so oft hervorhoben, sich in allen Städten des griechisch-
römischen Reiches fand, selbst in dem hochheiligen Jerusalem
zur Zeit, als das Christentum bereits unbedingt herrschte. Dieser
Brief des Hieronymus an Paulinus stammt aus dem Ende des
vierten Jahrhunderts.
An einer anderen Stelle entrüstet sich Hieronymus dar-
über, dafs die christliche Obrigkeit die christlichen Kleriker
und Mönche von den Erbschaften ausschliefst, während sie selbst
solche verworfene Gesellen, wie die heidnischen Priester, Mimen,
Wagenlenker und Buhlerinnen zuläfst. Der Staat hatte eben
von jeher das Bestreben gehabt, eine Ansammlung des Vermögens
in der toten Hand, auch wenn es die der christlichen Kirche
war, zu vermeiden. Die Zusammenstellung mit heidnischen
!) Epistola LVIII. Ad Paulinum. Vallarsi I, S. 322 A.B.: Quod loquor,
non de Episcopis, non de Presbyteris, non de Clericis loquor, quorum aliud officium
est; sed de Monacho, et Monacho quondam apud saeculum nobili: qui iccirco pretium
possessionum suarum ad pedes Apostolorum posuit, docens pecuniam esse calcandam;
ut humiliter et secreto victitans, semper contemnat quod semel contemsit. Si Crucis
et Resurrectionis loca non essent in Urbe celeberrima, in qua curia, in qua aula
militum, in qua scorta, mimi, scurrae, et omnia sunt, quae solent in
caeteris urbibus etc.
Der römische Mimus im Mittelalter. 749
Priestern, Wagenlenkern und Hetären zeigt, wie wenig Hiero-
nymus den Mimen geneigt war1).
Die Witwe Salvina ermahnt er, um ihr Witwentum rein
und keusch zu bewahren, keine Pantomimen, die sich zu Weibern
entnerven, keine scenischen Künstler — damit sind vornehmlich
Mimen gemeint — in ihrer Umgebung zu dulden 2). Wir wissen
ja, mit welcher Vorliebe man Mimen und Pantomimen in vor-
nehmen Häusern hielt. Seine Freundin Marcella fordert der
Heilige auf, Rom zu verlassen mit seinem Lärm, seinen Gladia-
torenkämpfen in der Arena, mit seinem Cirkus und vor allem
mit seinem üppigen Theater3). Er denkt hier natürlich vor-
nehmlich an den Mimus mit seinen Liebesgeschichten und an
den Pantomimus. In der That erwähnt er wenige Zeilen vorher
den Pantomimus ausdrücklich4). Da ist also wieder ein Zeugnis
für die Fortdauer von Mimus und Pantomimus in Rom gegen
das Ende des vierten Jahrhunderts.
In der Streitschrift gegen Iovinian erklärt Hieronymus, durch
die fünf Sinne kehren wie durch ebenso viele Fenster die Laster
bei der Seele ein. Wenn jemand seine Freude hat am Cirkus
oder den Gladiatorenspielen, an der Geschmeidigkeit der Panto-
mimen, an der Schönheit der Frauen, an dem Glänze der Edel-
*) Epistola LH. Ad Nepotiannm Vallarsi I, S. 260 E, 261 A: Pudet dicere,
sacerdotes idolorum, mimi, et aurigae, et scorta, haereditates capiunt: solis Clericis
et Monachis hoc Lege prohibetur: et prohibetur non a persecutoribvs, sed a Principibus
Christianis.
*) Epistola LXXXIX. Ad Salvinam. Vallarsi I, S. 505 E, 506 A: Non
ambulet juxta te calamistratus Procurator, non histrio fractus in feminam, non cantoris
diabolici venenata dulcedo, non juvenis volsus et nitidus. Nihil artium scenicarum,
nihil tibi in obsequiis molle jungatur. Habeto tecum viduarum et virginum choros,
habeto tui sexus solatia.
s) Epistola XLIII. Ad Marcellam. Vallarsi I, S. 194 B.C.: Habtat tibi
Roma mos tumultus, arena saeviat, circus insaniat, theatra luxurient. et quia de
nostris dicendum est, matronarum quotidie visitetur senatus.
*) a. a. 0. S. 193D, E: Et quomodo in theatralibus scenis unus atque idem
histrio, nunc llerculem robustus ostendit, nunc moüis in Venerem frangitur, nunc
tremulus v» Cybelem: ita et nos ... tot habemus personarum similitudines. quot
peccata.
750 Neuntes Kapitel.
steine, der Kleider und des goldenen Geschmeides, dann erfüllt
sich das Wort des Propheten: Der Tod stieg ein durch die
Fenster (Jeremias 9, 21). Das Gehör hinwiederum wird durch
Musik angenehm umschmeichelt, durch den Vortrag von Ge-
dichten und Komödien, durch den feinen Witz und die lustigen
Intriguen im Mimus1).
Iovinian war in Rom gegen die absolute Askese aufgetreten
und hatte den Stand der Ehe dem der Jungfräulichkeit gleich-
gestellt unter dem Beifall aller mehr natürlich und irdisch
Gesinnten. Da läfst ihn Hieronymus hart an: „Natürlich hast
du eine grofse Gemeinde, alle Schmerbäuche, alle Stutzer und
vor allem alle Possenreifser (Mimen) und dann die Vornehmen
und Reichen2).
Seinen Gegnern wirft der Kirchenvater überhaupt gerne Vor,
dafs ihre Art ihn an den Mimus erinnere. Das war ja auch,
wie wir sahen, der gewöhnliche Vorwurf der katholischen Kirchen-
väter gegenüber den Ketzern, besonders den Arianern und den
Manichaeern. Wenn die Kirchenlieder des Arius an die Couplets
im Mimus gemahnten, so war dieser Vorwurf nicht einmal un-
berechtigt 3).
Wenn Hieronymus den Rufinus am schärfsten tadeln will,
so findet er, die Ausführungen seines einstigen Jugendfreundes
seien wahnsinnige Erfindungen und erinnerten an die Geschichten,
die man am Frühstückstisch oder beim Gastmahl sich erzählt
») Adversus Iovinianum II, 8. Vallarsi II, S. 336 C, D. 337 A: Si Circensi-
bus quispiam delectetur: si athletarum certamine: si mobilitate histrionum : si formis
mulierum: splendore gemmarum, vestium, metallorum, et caeteris huiuscemodi, per
oculorum fenestras animae capta libertas est, et impletur illud propheticum : Mors
intravit per fenestras vestras. Rursum auditus vario organorum cantu, et vocum
inflexionibus delinitur: et carmine Poetarum et Comoediarum, mimorumque ur-
banitatibus et strophis, quidquid per aures introiens, virilitatem mentis effeminat.
2) Adversus Iovinianum 11,37. Vallarsi II, S. 382 C: Eabes praeterea in
exercitu plures succenturiatos, habes scurras et velites in praesidiis, crassos, comtos,
nitidos, clamatores, qui te pugnis calcibusque defendant. Die scurrae sind hier
wohl die scurrae mimarii, wie ja auch inschriftlich scurra sich als Be-
zeichnung des Mimen findet.
3) Vgl. oben S. 135 ff.
Der römische Mimus im Mittelalter. 751
oder au den Mimus Philistions oder des Lentulus und Marullus1).
Damit nennt er die drei berühmtesten Mimographen der griechi-
schen und der lateinischen Welt. Den Lentulus und Marullus
hat er ja allerdings nicht in seine Tabelle der Weltgeschichte
aufgenommen, aber dem Philistion hat er diese Ehre denn doch
geglaubt nicht versagen zu dürfen2).
Der Diakon Sabinianus, der zu Rom durch einen Ehe-
bruch grofses Ärgernis erregt hatte und nur mit Mühe dem be-
trogenen Ehemann entgangen war, hatte sich im Kloster des
Hieronymus in Bethlehem mit einem Empfehlungsbriefe seines
Bischofs eingestellt. Hieronymus hatte ihn freundlich aufge-
nommen. Aber der verderbte Priester hatte ohne Rücksicht
auf die heilige Stätte des Herrn die erste günstige Gelegen-
heit benutzt, eine Nonne zu verführen und hatte eine höchst
verschmitzte Entführung geplant. Im letzten Augenblicke war
dieser ruchlose Plan verraten und vereitelt worden. Hiero-
nymus ruft voller Entrüstung aus, eine solche Schandthat könnte
kein Mimograph erfinden, kein Mime darstellen, kein Schau-
spieler in der Atellane vorführen3). Freilich werde Sabinianus
*) Vallarsi II, S. 514 A, B. Contra Rufinum cap. 20: Quaeso te,
amice carissime, ut in Ecclesiasticis tractatibus, ubi de veritate dogmatum quaeritur,
et de salute animarum nostrarum, majorum flagitatur auctoritas, huiuscemodi deli-
ramenta dimittas, et prandiorum coenarumque fabulas pro argumento non teneas
veritatis. Fieri enim potest, ut etiam si a me verum audisti, alius qui huius rei
ignarus est, dicat a te esse compositum : et quasi mimum Philistionis, vel Lentuli,
ac Marulli stropham eleganti sermone conßctam.
2) Vgl. oben S. 427, XI.
3) Vallarsi I, 1089 B, C: Epistola CXLVH. Ad Sabinianum: Proh nefas,
non possum ultra progredi. Prorumpunt singtdtus antequam verba, et indignatione
pariter ac dolore, in ipso meatu faucium spiritws coarctatur. Ubi mare illud elo-
quentiae Tullianaef ubi torrens fluvius Demosthenis ? Nunc profecto muH essetis
ambo, et vestra lingua torpesceret. Inventa est res, quam nulla eloquentia explicare
queat. Bepertum est Jacinus, quod nee mimus fingere, nee scurra ludere,
nee Atellanus possit effari. Diese Stelle enthält zugleich das letzte
Zeugnis für die Existenz der Atellane, die auch Tertullian (De spect. XVII.)
bezeugt: Hoc igitur modo etiam a theatro separamur, quod est privatum con-
sistorium impudicitiae, tibi nihil probatur, quam quod alibi non probatur. Ita
summa gratia eius dei spurcitia plurimum concinnata est, quam atellanus gesticulator
quam mimus etiam per mulieres repraesentat, serum pudoris exterminans.
752 Neuntes Kapitel.
wohl alle Vorwürfe in den Wind ' schlagen und darüber lachen
als ein eifriger Freund und Leser der alten Komödien, lyri-
schen Gedichte und der Mimen des Lentulus1).
Auch erinnert sich Hieronymus in seiner Polemik gern an
die Cirkulatoren, die niederen Mimen, die auf Markt und Strafse
ihr Wesen treiben. Ihnen gleichen die Unberufenen, die über
die heilige Schrift mitsprechen, die da lehren wollen, was sie
selber nicht verstehn2).
Scharf fährt der Heilige in seinem Briefe an Domnio „Über
die Bücher gegen Iovinian" auf einen Mönch los, der in Rom
ihm gegenüber für Iovinian Partei ergriffen hatte. Er nennt ihn
eine »Stütze der Plautus-Komödiantensippschaft" 3), der seine
Beden höchst elegant mit dem Salze der Komödie würzt4),
und seine Anhänger sollte man mit den Namen der Parasiten
in den Komödien als Leute wie Gnatho und Phormio kenn-
zeichnen. Fortan solle er nicht nur in den Winkeln und Kneipen
i) Vallarsi I, 1086 c. Epistola CXLVII, Ad Sabinianum cap. 3: Haec
tibi ridicula forte videantur, qui comoedis, et lyricis scriptoribus, et mimis Lentuli
delectaris: quamquam ne ista tibi quidem prae nimia cordis hebetudine intelligenda
concesserim.
2) Vallarsi I, 275 B,C, 276 A: Epist. LIII. Ad Paulinum, cap. 7:
Sola Scripturarum ars est, quam sibi omnes passim vindicant. „Scribimus indocti,
doctique poemata passim". Hanc garrula anus, karte delirus senex, hanc sophista
verbosus, hanc universi praesumunt, lacerant, docent, antequam discant. Alii addueto
supercilio, grandia verba trutinantes, inter mulierculas de sacris literis philo sophantur.
Alii diseunt, proh pudor, afeminis, quod viros doceant: et ne partim hoc sit, quadam
facilitate verborum, immo audacia edisserunt aliis, quod ipsi non intelligunt
Cap. 8. Puerilia sunt haec, et circulatorum ludo similia, docere quod ignores.
3) Vallarsi I, 236 D, E. Epistola L. Ad Domnionem : Eunc JDialecticum
urbis vestrae et Plautinae familiae columen, .... Auch sonst gebraucht Hiero-
nymus Gegnern gegenüber den Ausdruck plautinische Komödiantensippe.
S. 230 D, E : Inventae sunt Plautinae familiae.
4) Vallarsi I, 238 C. Epistola L. Ad Domnionem: Qui tantae in fermo-
cinando elegantiae est, ut Comico sale ac lepore conspersus sit. Ahnlich Contra
llufiuum I, 13. Vallarsi II, p. 469: audio praeterea te . . . Plautino in me sale
ludere; worin zugleich eine Anspielung an Horaz, De arte poetica v. 270 ff.
liegt:
at vestri proavi Plautinos et numeros et
laudavere sales. ■
Der römische Mimus im Mittelalter. 753
und in den Vorzimmern der Ärzte allerhand üble Nachrede
verbreiten, das können auch die Possenreifser, sondern eine
Schrift gegen Hieronymus verfassen, damit man doch etwas Greif-
bares habe '). Da ist es nun um so merkwürdiger, dafs wir bei
Hieronymus selber auf Schritt und Tritt Reminiscenzen aus
Terenz und Plautus begegnen*). Wie nahe aber Plautus den
Mimographen steht, ist oben S. 345 ff. entwickelt worden. Ja,
wenn Hieronymus seine allzu heftigen Streitschriften gegen
Iovinian verteidigt, vergleicht er sich gar mit einem Mimen, der
das mimische Prügelholz in der Faust auf dem Markte die
Narren auf den Hintern klopfe oder ihnen, wenn sie ihn beifsen
wollen, damit in die Zähne schlage*).
1) Vallarsi I, 239 E, 240 A. Epistola L. Ad Domnionem: Loquamur
scriptis, ut de nobis tacitus lector iudicet; ut quomodo ego discipulorum gregem
ductito , sie ex kuius nomine Gnathonici vel Phormionici vocentur .... (cap. V.)
Non est grande mi Domnion, garrire per angulos et medicorum tabcmas, ac de
mundo ferre sententiam: hie bene dixit, ille male: iste Scripturas novit, ille delirat:
iste loquax, ille infantissimus est. Ut de omnibus iudicet, cuius hoc iudicio meruit?
Contra quemlibet passim in triviis strepere, et congerere maledicta, non crimina,
scurrarum est. Gnathonici nach dem Parasiten Gnatho in Terenzens Eunuchns,
Phormionici nach Terenzens Phormio.
2) Siehe die Zusammenstellungen bei Lübeck, Hieronymus, quos noverit
scriptores et ex quibus hauserit S. 106—109, 110—115. In dem Briefe an
Eustochium, in welchem Hieronymus die berühmte Vision erzählt, wie er,
vor den Richterstuhl Gottes gefordert, sich als Christ erklärt und dann um
seiner klassischen Studien willen die Donnerworte vernehmen mufs : du lügst,
du bist kein Christ, du bist ein Ciceronianer, berichtet er auch von seiner
Leidenschaft für Plautus. Ad Eustochium 30, Vallarsi I, p. 115: post noctium
crebras vigilias, post lacrymas, quas mihi praeteritorum recordatio peccatorum ex
imis visceribus eruebat, Plautus sumebatur in manus. Vgl. hier die treffenden
Bemerkungen von Ebert, Geschichte der Litteratur des Mittelalters I,
S. 178 folg.
3) Vallarsi I, 957 B. Epistola CXXVÜ. Ad Principiam: Non mirum
si in plateis, et in foro rerum venalium, fictus ariolus stultorum verberet nates, et
obtorto fuste dentes mordentium quatiat. Wie die Mimen in den Hofhaltungen
und in reichen Häusern als Narren und Lustigmacher d. h. als Hofnarren
fungierten, so traten die niedrigsten unter ihnen als Volksnarren auf Märkten
und Strafsen auf. Wie der Spafsmacher im Mimus den stupidus mit seinem
Prügelholze auf den Hintern klopft, so thut es auch der mimische Circu-
lator, welcher mit der ihn umdrängenden Volksmenge spafst. Wird aber einer
Reich, Mimus. 4g
754 Neuntes Kapitel.
Doch auch sonst fällt unserem Kirchenvater, selbst wenn er
keine polemischen Tendenzen verfolgt, oft der Mimus ein.
So meint er, die Erzählung vom alten König David, für den ein
junges Mädchen gesucht wird, ihn zu erwärmen, erinnere an die
Erfindungen des Mimus und der Atellane1). In dem Briefe
an die vornehme Römerin Furia „über die Bewahrung des
Witwenstandes" schildert er die Gefahren einer zweiten Ver-
ehelichung. Wenn der neue Mann Kinder mit in die Ehe bringt,
wird sie bald als böse Stiefmutter verdächtigt werden. Sie mag
den Stiefkindern gegenüber noch so gütig sein, bald wird man
doch alle Gemeinplätze der Komöden, Mimographen und Rhetoren
gegen die grausame Stiefmutter deklamieren2). Stief- wie
von den Dummen, die er gepritscht hat, grob und will gar beifsen, so schlägt
er ihm mit seinem Prügelholze in die Zähne. Das hat auch Hieronymus
mit Iovinian gethan, als dessen Narrheit und Schändlichkeit gar zu grofs
wurde. Denselben Vergleich hat Hieronymus schon früher in der Streitschrift
gegen Iovinian fast mit denselben Worten gebraucht. Nur die Nutzanwendung
ist eine ganz andere. Iovinian solle nicht stolz sein auf seine grofse Ge-
meinde, die finde auch der Harlekin auf der Gasse. Jedenfalls schwebt hier
Hieronymus ein Bild aus dem Strafsenleben jener Zeit vor, in welchem Mimen
und Possenreifser offenbar eine grofse Rolle spielten. Vallarsi II, 380 B, C.
Quod multi acquiescunt sententiae tuae, indicium voluptatis est: non enim tarn te
loquentem probant, quam suis favent vitiis. In circulis platearum quotidie fictus
hariolus stultorum nates verberat, et obtorto fuste dentes mordentium quatit, nee
tarnen deest qui semper possit induci? et pro magna sapientia deputas, si plures
porci post te currant, quos gehennae sueeidiae nutrias?
1) Vallarsi 1 , 255 A , B. Epistola LH. Ad Nepotianum i Quod ne de
gentili tantum literatura proferre videamur, divinorum voluminum sacramenta cognosce.
David annos natus septuaginta, bellicosus quondam vir, senectute frigescente, non
poterat calefieri : Quaeritur itaque puella de universis finibus Israel Abisag Suna-
mitis, quae cum rege dormiret, et senile corpus calefaceret. Nonne tibi videtur, si
oeeidentem sequaris literam, vel ßgmentum esse de mimo, vel Atellanarum ludicra?
Frigidus senex obvolvitur vestimentis, et nisi complexu adolescentulae non tepescit.
2) Vallarsi I, 292 C, D. Epistola LIV. Ad Furiam: Quod si de priore
uxore sobolem Habens, domum te introduxerit ; etiam si clementissima fueris, omnes
Comoedi, et Mimographi, et communes Bhetorum loci, in novercam saevissimam de-
clamabunt. Si privignus languerit, et condoluerit caput, infamaberis ut venefica. Si
non dederis eibos, crudelis; si dederis, malefica diceris. Oro te, quid habent tantum
boni seeundae nuptiae, ut haec mala valeant compensare?
Der römische Mimus im Mittelalter. 755
Schwiegermütter gehörten wirklich, wie wir sahen, zu den be-
liebtesten Typen im Mimus. Hieronymus verrät hier eine gute
Kenntnis der mimischen Ethologie und Biologie. Überhaupt
erinnert die Art, wie er mit seinen Gegnern umspringt, wie
er ihre Fehler aufdeckt und sie ihrer Narrheit oder gar ihrer
Bosheit und Schändlichkeit überführt, wie er ihr Charakter-
bild mit scharfen Strichen zeichnet und allerhand ironisch-
satirische und ab und zu auch humoristische Lichter aufsetzt,
ein wenig an mimische Ethologie und Biologie. Niemand schil-
derte damals menschliche Typen und Lebensverhältnisse mit
solcher eindringlichen realistischen Schärfe und Lebenswahrheit,
wie es Hieronymus besonders in den Briefen thut, ausgenommen
— die Biologen und Ethologen seiner Zeit. So fühlt sich denn
Hieronymus selber während des Schreibens unablässig an Plautus
und Terenz wie an den Mimus seiner Zeit erinnert. Und wenn
er gern die Satiriker Horaz, Persius und Juvenal erwähnt und
sich ihrer Worte bedient, einmal sich auch auf Petron beruft1),
so werden wir im zweiten Bande im einzelnen ausführen, wie
nahe Beziehungen zwischen der Biologie und Ethologie der
Satiriker und realistischen Novellisten und Romanciers und der
der Mimographen bestanden haben.
In der Schrift gegen Iovinian giebt Hieronymus, um vom
Heiraten abzuschrecken eine längere Stelle aus Theophrasts
Buch „über die Ehe*; darin heifst es: „Die Frauen haben sehr
viele Bedürfnisse: kostbare Garderobe, Gold, Edelsteine, Luxus-
artikel, Zofen, schöne Möbel, Sänften und vergoldete Karossen.
Ganze Nächte dauert ihr Schwatzen und Klagen: die geht ge-
putzter aus; die wird von allen geehrt; ich Arme bin in der
Gesellschaft der Damen mifsachtet. Warum sahst du nach der
Nachbarin? Was sprachst du mit dem Mädchen? Was hast du
mir vom Markte mitgebracht? — Wir können keinen Freund
und keinen Gesellschafter haben. — Wenn ein Anderer uns
liebt, so argwöhnt sie schon, dafs man sie hasse .... Immer
mnfs man auf ihr Gesicht Acht geben und ihre Schönheit loben,
») Vgl. Lübeck a. a. 0. S. 160-167, 193, 195—199.
48*
756 Neuntes Kapitel.
damit sie nicht, wenn du eine Andre anschaust, glaube, dafs sie
dir mifsfalle. Man mufs sie „Madonna" rufen, ihren Geburtstag
feiern, bei ihrem Wohlsein schwören, ihr langes Leben an-
wünschen, ihre Amme ehren, ihren väterlichen Diener, . . . ihren
hübschen Begleiter, ihren wohlfrisierten Hausanwalt und ihren
zur langanhaltenden und gefahrlosen Befriedigung ihrer Lust
entmannten Verschnittenen. Denn unter allen diesen Namen
sind doch nur Ehebrecher versteckt. Wem immer sie zugethan
ist, den mufst du auch wider Willen ebenfalls lieben. Wenn
du ihr die Regierung des ganzen Hauses überträgst, so mufs du
ihr Sklave sein. Wenn du deiner eigenen Verfügung etwas vor-
behältst, so glaubt sie, du traust ihr nicht, das giebt dann Hafs
und Zank, und nimmst du nicht schnell Rat an, so giebt sie dir
Gift. Wenn du alte Weiber, Wahrsager, Zeichendeuter, Juwelen-
und Seidenstoffhändler zu ihr lassest, so ist ihre Keuschheit in
Gefahr; wenn du sie fern hältst, so klagt sie über ungerechten
Verdacht1)".
Wir haben hier eine biologische Schilderung, die an den
Stil der „Charaktere" erinnert und vor allem an den Mimus.
Wie sehr ja aber die „Charaktere" neben der Komödie vom
Mimus beeinflufst sind und ein wie grofser Kenner und Freund
des Mimus Theophrast war, wissen wir. Aufserdem ist die
ganze Stelle recht unpassend eingefügt. Hieronymus sagt aus-
drücklich, er will damit die Frauen vom Heiraten und beson-
ders von einer Wieder Verheiratung abschrecken; Theophrast aber
denkt hier gerade an die Männer. Hieronymus ist eben in
derartige ethologisch-biologische Darstellungen so verliebt, dafs
er sie anwendet, auch wenn sie nur halbwegs in seine Aus-
führungen passen2).
Auch aus eigenen Mitteln giebt Hieronymus gerne bio-
logische Skizzen. Ich erinnere an seine Schilderung der Haus-
') Adversus Iovinianum I, cap. 47. Vallarsi II, S. 313, 314, 315.
2) Sed quid faciam, quum mihi muH er es nostri temporis, Apostoli ingerant
auctoritatem ; et necdum elato funere prioris viri, memoriter digamiae praecepta de-
cantent? Ut quae Christianae pudicitiae despiciunt fidem, discant saltem ab Ethnicis
castitatem. Fertur aureolus Theophrasti über de nuptiis, e. q. s. Vallarsi II, 313 b.
Der römische Mimus im Mittelalter. 757
frau, die ganz in ihrem Berufe aufgeht, ohne viel an Gott zu
denken: Sie schminkt sich vor dem Spiegel, und dem Schöpfer
zur Schande will sie schöner sein, als sie von Natur ist. Da
schwatzen die Kleinen, da lärmt das Gesinde, da hängen die
Kinder an ihren Küssen und an ihrem Munde, es werden die
Ausgaben zusammengerechnet.- Vorbereitungen zum Fest getroffen.
Hier zerhacken Köche mit aufgekrämpten Ärmeln Fleisch, hier
flüstert die Schar der Weberinnen; inzwischen wird der Haus-
herr mit Gästen gemeldet. Sie durchfliegt wie eine Schwalbe
alle Gemächer, ob das Polster strotzt, ob man den Fufsboden ge-
kehrt, ob die Becher blank sind, ob das Mahl angerichtet ist1).
In der Mahnschrift an Eustochium - über die Bewahrung der
Jungfrauschaft* beschreibt Hieronymus die Verdorbenheit vieler
gottgeweihten Jungfrauen; nicht selten fallen sie und versuchen
es dann mit Abtreibungsmitteln. Das sind die, welche gerne
sagen: „Den Reinen ist Alles rein. Mir genügt mein gutes Ge-
wissen. Gott fordert ein reines Herz. Aber warum soll ich mich
von Speisen enthalten, die Gott zum Gebrauche geschaffen hat?"
— Und wenn sie sich einmal einen Rausch getrunken haben
und recht geistreich und witzig erscheinen wollen, fügen sie zum
Rausche die Gotteslästerung hinzu und sprechen: Fern sei es,
mich des Blutes Christi zu enthalten. Wenn sie aber eine mit
blassem und traurigem Antlitz einhergehen sehen, so nennen sie
sie gleich eine Elende, eine Manichäerin und zwar ganz folge-
richtig: denn bei solcher Lebensweise ist Fasten freilich eine
Ketzerei. Das sind die, welche bei ihrem Erscheinen öffentliches
Aufsehen machen und mit verstohlenem Augenwinken eine ganze
Heerde von jungen Männern nach sich ziehen — . Ein
nur schmaler Purpurstreifen am Kleide, das Haupt lose ge-
bunden, so dafs die Haare herabwallen, ein ordinärer Schuh,
der um die Schultern flatternde Überwurf2), kurze Ärmel,
x) Ad versus Helvidium, cap. 20. Vallarsi II, S. 228 B, C, D.
2) et super humeros . . . Maforte volitans. (Vallarsi I, 97 C.) Mafortium ist
eine spätere Bezeichnung für ricinium, das besonders die Weiber im Mimus
tragen (vgl. oben S. 578).
758 Neuntes Kapitel.
die an die Arme knapp anschliefsen, ein weichlicher Gang
mit schlotternden Knieen, darin besteht ihre ganze Jungfrau-
schaft1).
Überall zeigt sich bei Hieronymus Ethologie und Biologie,
wenn auch zu ernstem und heiligem Zwecke verwendet und den
heiligen Ermahnungen zu frommem und asketischem Wandel nur
gelegentlich beigemengt.
Aber sein ethologisch- biologisches Interesse führt den
Heiligen noch weiter. Mit dem realistischen Pinsel des Etho-
logen voll Ironie und bitterem Humor malt er in einem Briefe
(CXVII) eine gottgeweihte Jungfrau, die sich von ihrer Mutter
getrennt hat und wegen ihres Zusammenlebens mit einem
jungen, wohlgebildeten Mönche und wegen ihrer weltlich-leicht-
fertigen Gesinnung dem Verdachte und der üblen Nachrede
Thür und Thor öffnet. Die Mutter allerdings ist dieser Tochter
wert, sie lebt mit einem anderen Mönche.
„Ich höre", ruft er dem Mädchen zu, „du gehst mit Ver-
wandten hinaus aufs Land und besuchst die anmutigen Land-
häuser vor der Stadt; gewifs wirst du zur Unterhaltung für
eine Schwester oder Cousine mitgenommen, aber da ist eine
Nonne doch eine sonderbare Gesellschafterin. Natürlich suchst
du nicht etwa aus freien Stücken die Gesellschaft der Männer,
selbst nicht, wenn sie dir verwandt oder verschwägert sind.
Nimmst du auf diesen Ausflügen etwa deinen Liebhaber, den
Mönch, mit? So frech du bist, wirst du doch wohl nicht wagen,
ihn vor die Augen der Weltleute zu bringen. Da würde ja das
Hausgesinde auf euch ein Spottlied singen und alle würden mit
Fingern auf euch weisen; selbst die Cousine oder Schwester,
die ihn dir zu Liebe in deiner Gegenwart einen Heiligen und
einen Mönch nennt, wird, wenn sie sich nur ein wenig von dir
wegdreht, über diesen seltsamen Ehemann lachen. Gehst du aber
allein, so bewegst du dich in deinen dunkelen Kleidern unter
jungen Sklaven, unter verheirateten Frauen und solchen, die
heiraten wollen, unter leichtfertigen jungen Damen und jungen
!) Epistola XXII, ad Eustochium. Vallarsi I, S. 96 e, S. 97 A, B, C.
Der römische Mimus im Mittelalter. 759
Stutzern. Ein Dandy mit einem schmucken Bart reicht dir die
Hand und führt dich, wenn du ermüdet bist. Da giebt es zärt-
liche Händedrücke und entweder kokettierst du oder er."
Dann folgt ein üppiges Mahl mit Musik und Gesang. Selbst
eherne Charaktere, meint der geistliche Ethologe, werden durch
solche Reizungen verführt und gar erst diese verzärtelte, üppige
junge Dame. Selbst das grobe, schwarze Kleid verrät die ver-
schwiegenen Gedanken des Herzens, wenn es keine Falte hat, wenn
es auf der Erde hingeschleift wird, damit es gröfser erscheint; und
die geschlitzte Tunika läfst ab und zu sehen, was für ein üppig-
schöner Kern sich unter schlechter und dunkler Hülle birgt:
das Häfsliche wird verdeckt, das Schöne blofsgelegt. Auch der
schwarze und beim Gehen knarrende Stiefel lockt die Jünglinge
an. Die Brust wird mit Binden geschnürt und mit bunt be-
setztem Gürtel die Taille enger eingezwängt. Die Haare wallen
über die Stirne oder die Ohren herab. Der Mantel fällt bis-
weilen herab, um die weifsen Schultern zu entblöfsen, und als
ob sie nicht gesehen werden wollte, verbirgt sie schnell, was sie
doch absichtlich entblöfst hatte.
Da klagt dann der Bruder der jungen Dame, dafs ihm der
Mönch vorgezogen werde, ein junger Mann, der zwar nicht wohl
frisiert und in seidenen Kleidern einhergehe, der aber trotz seiner
Bufsgewänder recht üppig und weichlich sei. „Dieser habe —
ich gebe wieder Hieronymus' eigene Worte — selbst die Hand
auf der Börse, habe die Webestube unter sich, verteile die
Arbeiten des Tages, befehle dem Gesinde, besorge die not-
wendigen Einkäufe auf dem Markte. Er ist Verwalter und Herr,
hat auf die Dienste der Sklaven ein wachsames Auge, so dafs
alle Diener über ihn schelten . . . Jener nennt ihn einen
Schmeichler, dieser einen Betrüger, dieser wieder einen Erb-
schleicher, ein anderer hat wieder einen neuen Namen für
ihn. Sie prahlen, dafs er an deinem Bette sitze, bei deiner
Krankheit die Hebammen hole, das Geschirr herbeitrage,
die Wäsche warm mache, die Binden falte"1). Da haben wir
0 Epistola CXVn. Ad Matrem et Filiam. Vallarsi I, S. 786C-788D.
760 Neuntes Kapitel.
eine Kindbettschilderung, wie sie dem Mimus geläufig ist, und
es zeigt sich die Hebamme, die wir seit Sophron als Typus im
Mimus kennen. In diesem Tone geht der Brief weiter fort;
nach der Tochter wird die Mutter geschildert, die ihrer Tochter
würdig ist.
Diese Darstellung ist die Leistung eines bedeutenden Biologen,
eines rücksichtslosen Realisten, ja Naturalisten. So schildern die
religiöse Heuchelei, hinter der sich ein Abgrund der Sünde und
Schande verbirgt, moderne Romanciers, so schildert die Weiber
Petron und Juvenal, die, wie überhaupt die Satiriker, von Hiero-
nymus geschätzt werden, und gerade hier sind sie, wie wir zeigen
werden, bei den Mimographen in die Schule gegangen.
Da ist es nun interessant, dafs der Anlafs zu dieser Skizze
einfach fingiert ist. Allerdings sagt Hieronymus am Anfange des
Briefes, er schreibe ihn auf Veranlassung des Bruders dieses
Mädchens, der ihn unter Thränen darum gebeten ; in Wirklichkeit
ist das aber nur erdichtet, der Hintergrund des Ganzen nur er-
dacht, wie Hieronymus selber zugiebt1) und wie auch der Titel des
Briefes lehrt. Denn während sonst die Briefe des Hieronymus
stets einen bestimmt benannten Adressaten aufweisen, ist dieser
Brief betitelt „An eine Mutter und Tochter". Hieronymus
nennt keinen Namen, weil er an keine wirkliche Person denkt,
ja zum Schlüsse des Briefes sagt er, er habe sich gleich-
sam an einem Stoffe, wie er in den Schulen als Aufgabe gestellt
wird, üben wollen und darum auch alle Citate aus der heiligen
Schrift fortgelassen2). In der That, in der Rhetorenschule
waren solche verfängliche Themata sehr beliebt: von Schwieger-
3) Contra Vigilantium. Vallarsi II, 389 A : Sed iam tempus est ut ipsius
verba ponentes ad singula respondere nitamur. Fieri enim potest, ut rursum malignus
interpres dicat fictam a me materiam, cui rhetorica declamatione respondeam : sicut
illam quam scripsi ad Gallias, matris et fiiiae inter se discordantium.
2) Haec ad. brevem lucubratiunculam celeri sermone dictavi . . . quasi ad
scholasticam materiam me exercens . . simulque ut ostenderem obtrectatoribus meis,
quod et ego possim quidquid venerit in buccam dicere. Unde et de Scripturis pauca
perstrinxi; nee orationem meam, ut in caeteris libris facere solitus sum, illarum
floribus texui. Extemporalis est dietatio. (Vallarsi I, 790 E, 791 A, B.)
Der römische Mimus im Mittelalter. 761
müttern, die in ihre Schwiegersöhne, von Stiefmüttern, die in
ihre Stiefsöhne verliebt sind, von Jungfrauen, die durch
einen Unglücksfall in ein Bordell verschlagen werden und nun
hier von gottgeweihten Jungfrauen, die mit einem jungen Mönche
zusammen dem Herrn leben. Freilich hatte die Rhetorenschule
diese Sujets zum grofsen Teil aus dem Mimus übernommen1).
Solche mimischen Sujets behandelten in den späteren nach-
christlichen Jahrhunderten die Epistolographen überhaupt gerne,
wie wir später noch an dem Beispiele des Aristaenet genauer
zeigen werden.
Hieronymus studierte um die Mitte des vierten Jahrhunderts
in Rom; der letzte christologische Mimus, den wir aus Rom
nachweisen können, ist der des Genesius vom 25. August 303.
Ich erinnere daran, wie hier die christlichen Geistlichen ver-
spottet werden und wie der Biologe Genesius sich rühmt, alle
Einrichtungen und Gebräuche der Christen genau wiederzugeben,
da er den christlichen ßiog zu diesem Zwecke studiert habe:).
Noch 362 ward ein christologischer Mimus, wie es scheint in
Konstantinopel, aufgeführt ").
Aber selbst als das Heidentum völlig besiegt war, als nicht
mehr, da die Obrigkeit wie das Volk christlich geworden waren,
Tauf- und Kreuzigungsmimen vorgeführt werden konnten, liefsen
sich die Mimen nicht so ohne weiteres den kostbaren Stoff ent-
gehen, den ihnen von jeher die Geistlichen, mochten es nun
heidnische oder christliche sein, boten. Die Geistlichkeit blieb
einer der Zielpunkte ihres Spottes und unablässig treten im
Mimus Mönche und gottgeweihte Jungfrauen auf. Zugleich aber
ist das Hauptsujet des Mimus die Liebe in allen ihren Formen,
der erlaubten wie der unerlaubten. In welcher Weise man also
Mönche und Nonnen damals im Mimus in Beziehung zu ein-
ander gesetzt und verspottet, wie man sie nach Art des grofsen
Meisters Philistion ihrer Heuchelei und Tartüfferie überführt hat,
1) Vgl. oben S. 315 ff.
2) Vgl. oben S. 93.
3) Vgl. oben S. 85.
762 Neuntes Kapitel.
davon können wir aus Hieronymus eine gute Vorstellung ge-
winnen, obwohl hier der Kirchenvater ebenso gut von den Mimo-
graphen, wie die Mimographen von dem Kirchenvater gelernt
haben können.
Besonders müssen wir aber betonen, dafs Hieronymus seine
Bildung in den Rhetorenschulen erhalten hat, ebenso wie
Augustinus und Johannes Chrysostomus. Sie sind alle Rhetoren,
wenn es auch nur Augustin zum Professor der Beredsamkeit
gebracht hat. In den Rhetorenschulen liebte man, wie wir schon
hervorhoben, die Sujets des Mimus; dort erwog man die Frage,
ob Syrus oder Cicero beredter sei, dort ist auch der Vergleich
zwischen Philistion und Menander entstanden, dort verwendete
man gern die Sentenzen des Publilius Syrus und des Philistion.
In der That hat Hieronymus die Sprüche1 des Syrus in der
Schule gelesen und wohl auch auswendig gelernt. Denn wenn
er später gelegentlich solche Sentenzen — mögen sie nun direkt
von Publilius herstammen oder nur als publilianisch gegolten
haben — anwendet, so citiert er natürlich aus dem Gedächtnisse1).
Hieronymus ist auch ein grofser Liebhaber Senecas, des Philo-
sophen, den wir als Liebhaber der Sentenzen im Mimus und
J) Vgl. ep. CVII, ad Laetam 8. Vallarsi I, p. 685 c : Legi quondam in
scholis puer: Aegre reprehendas, quod sinis consuescere. Gruter, Bentley und
Ribbeck nahmen den Vers unter die sententiae Publilii Syrii auf. Wölfflin
warf ihn heraus, weil er nicht in den Handschriften der sententiae vorkommt,
findet aber mit Recht darin publilianischen Ton (vgl. Prolegomena von
Wölfflins Ausgabe S. 14). Ribbeck hat danach den Vers dann in der zweiten
Auflage der Fragm. com. rom. auch nur noch im Appendix sententiarum
vers 180 (S. 380). Er dürfte doch wohl wirklich in dem alten vollständigen
corpus Publilianum, das man zu Hieronymus' Zeit in den Schulen gebrauchte,
gestanden haben. Zwei Verse bei Hieronymus sind jedenfalls als publilianisch
direkt bezeugt: Ep. ad Paulin. LIII, 10. Vallarsi I, S. 281 B: Antiquum dictum
est: Avaro tarn deest quod habet, quam quod non habet. Ep. C, 15. Vallarsi I,
S. 627 B: Eget semper, qui avarus est: nescit mensuram, cui tantum deest quod
habet, quantum quod non habet. Adv. Jovin. I, 47. Vallarsi II, S. 314 D: Difßcile
custoditur, quod plures amant. \\ Tarn deest avaro quod habet, quam quod non habet.
(Bei Ribbeck, Fragm. com. rom. S. 357, Publili Syri sententiae 628, wo die
beiden Stellen aus Hieronymus fehlen.) maximo periclo custoditur quod multis
placet (326 bei Ribbeck).
Der römische Mimus im Mittelalter. 763
besonders im Mimus des Syrus kennen1). Überhaupt beurteilte
der gröfste Philosoph und zugleich der gröfste Tragiker seiner
Epoche seine Dichterkollegen im Fache des Mimus recht günstig.
Man vergalt ihm das später von Seiten der Schulmeister damit,
dafs man sich auch seinen philosophischen Schriften und besonders
seinen Aussprüchen und Sentenzen gegenüber gerne an den
Mimus mit seinen wunderlichen Redensarten erinnerte. Alles
das wird Hieronymus in der Schule von seinem Lehrer Donat
gehört haben, an dessen Erklärung des Terenz er sich später
noch mit Vergnügen erinnert.
So hat denn Hieronymus, der als Student in Rom den
Mimus unablässig auf dem Theater sah, und in seiner Jugend
schwerlich sich der allgemeinen Begeisterung für den Mimus hat
entziehen können, der in der Schule auf die grofsen Mimographen
hingewiesen wurde, in seinen Schriften sich unaufhörlich ihrer
und des Mimus wie der Komödie erinnert, sich gelegentlich selbst
wie ein mimischer Bajazzo vorkommt, welcher seine närrischen
Gegner mit dem mimischen Prügelholze ordentlich trifft, seinen
Pinsel nicht selten wohl recht tief in den mimischen Farbentopf
getaucht. In den Rhetorenschulen empfahl man ja auch die
Lektüre des Mimus als höchst geeignet für die Bildung des
Stiles. Diese gute Lehre hatte z. B. Seneca von seinem Vater
dem Rhetor erhalten und hat sie weislich befolgt, wie auch
Hieronymus.
Hier ist nun besonders der Brief an Eustochium merkwürdig.
Dort zieht Hieronymus im 28. Kapitel gegen die Geistlichen los,
die sich nur deshalb um die Würde des Presbyters oder Diakonen
bewerben, um mit desto gröfserer Freiheit die Damen besuchen
zu dürfen. Es sind die gröfsten Stutzer. Ihre ganze Sorge
richtet sich darauf, ob die Kleider auch schön parfümiert sind,
ob die Stiefel knapp und nett sitzen. Die Haare werden zu
Locken gebrannt, die Finger blitzen von Ringen, und damit die
*) Die Stelle aus Theophrasts Buch über die Ehe entnahm Hieronymus
wahrscheinlich aus Senecas Schrift über dasselbe Thema, wie schon Haase,
Seneca-Ausgabe HI, p. 428 ff. annahm.
764 Neuntes Kapitel.
schmutzige Strafse nicht ihre Füfschen besudele, schweben sie
nur so einher, ohne einen Fufstapfen zurückzulassen. Solch ein
Kleriker sieht aus wie ein Bräutigam. Vor allem studieren sie
die Lebensgewohnheiten der Damen. Schon frühmorgens erhebt
sich solch ein pflichtvergessener Geistlicher, stellt die Liste der
Visiten auf und dann dringt der lästige Alte beinahe bis ins
Schlafzimmer. Bekommt er ein Kissen zu Gesicht oder ein
elegantes Handtuch oder sonst ein Ausstattungsstück, so lobt er
es, bewundert es, betastet es und klagt, dafs er dergleichen
nicht besitze, wodurch er es nicht sowohl erhält, als her-
ausprefst, weil niemand den Stadtkourier beleidigen mag. Er
ist ein Wollüstling, ein Trinker, ein Feinschmecker, hat ein un-
verschämtes Maul und ist stets zum Schmähen bereit. Überall
läuft er herum, überall trifft man ihn zuerst. Alle Neuigkeiten
bringt er auf oder tratscht sie mindestens herum. Es ist eine
hübsche, mit feinen biologischen Zügen ausgestattete ethologische
Studie.
Aber dieser interessante Charaktertypus ist nicht von Hiero-
nymus zum ersten Male beschrieben ; er erinnert uns merkwürdig
an unseren alten Bekannten, den Ardalio; der läuft auch überall
in Rom herum oder ist auf der Visitentour begriffen, hat immer
etwas vor (nokvnQdyfKov), nur nichts Vernünftiges, ist glutto,
vorax, manducus wie dieser Priester und zugleich auch sehr auls
Geschenkebekommen versessen. Auch auf die Damen hat es
Ardalio abgesehen und ist ebenfalls wie dieser Priester ein
grofser Neuigkeitskrämer und ein lästiger Patron.
Eigentlich schwebt Hieronymus das Bild eines jungen
Priesters als Weiberjäger und Stutzer vor; da aber unter den
Ardalionen nach Martials Ausspruch der verhafsteste der senex
Ardalio ist und Ardalio besonders als Greis auf der Bühne be-
kannt war, so wird auch bei Hieronymus dieser Charaktertypus
plötzlich zum Greise (senex importunus)'). Vergessen wir nicht,
A) S. Hieronymi Epistola XXII, 28/29 in Migne, Patr. lat. Bd. 22,
S. 414; — 415: Sunt alii (de mei ordinis hominibus loquor) qui ideo Presbyteratum
et Diaconatum ambiunt, ut mulieres licentius videant. Omnis kis cura de vestibus,
si bene oleant, si pes laxa pelle non folleat. Crines calamistri vestigio rotantur;
Der römische Mimus im Mittelalter. 765
der Kirchenvater Justinus erinnert sich, wie wir oben S. 32
Anm. 3 u. S. 448 zeigten, bei einer ethologischen Schilderung, die
den Ardaliotypus zur Voraussetzung hat, direkt an den Mimus.
Hieronymus fährt nun an derselben Stelle in seiner eigen-
artigen Ethologie und Biologie weiter fort. Schildert er erst
die leichtfertigen Geistlichen, die in ihrer Art an die verwelt-
lichten Kleriker der Renaissance oder die Abb6s in der Zeit
Ludwigs XIV. gemahnen, so wendet er sich darauf der Schilderung
der Damenwelt zu und besonders der gottgeweihten Jungfrauen
und Nonnen. Er hat hier die vornehmsten Kreise Roms im
Auge, denen Eustochium von Geburt angehörte.
Vor allem warnt er Eustochium, die dem Herrn ewige Jung-
frauschaft gelobt hatte, vor den Jungfrauen und Wit.twen, welche
müfsig und neugierig in dem Hause der verheirateten Frauen
herumschnüffeln. Sie haben keine andere Sorge als für den
Bauch und was dem Bauch am nächsten steht. Die wenden
sich wohl an Eustochium und sagen: mein Liebchen, geniefse
doch deinen Reichtum — Eustochiums Mutter Paula war selbst
für römische Verhältnisse sehr reich — , freue dich des Lebens,
so lange du lebst. Hast du etwa für deine Kinder zu sparen?
Dem Weine zugethan und geil, wissen sie zu allem Schlechten
digiti de annulis radiant: et ne plantas humidior via aspergat, vix imprimunt summa
vestigia. Tales cum videris, sponsos magis aestimalo quam Clericos. Quidam in
hoc omne Studium vitamque posuerunt, ut matronarum nomina, domos, moresque
cognoscant. Ex quibus unum, qui hujus artis est princeps, brevüer strictimque descri-
bam: quo facilius magistro cognito, discipulos recognoscas. Cum sole festinus exurgit ;
salutandi ei ordo disponitur; viarum compendia requiruntur, et pene usque ad cubicula
dormientium, senex importunus, ingreditur. Si 'pulviUum viderit, si mantile elegans,
si aliquid domesticae suppeUectilis, laudat, miratur, attrectat, et se his indigere con-
querens, non tarn impetrat, quam extorquet: quia singulae metuunt Veredarium urbis
offendere. Huic inimica castitas, inimica jejunia: prandium nidoribus probat et
altili geranopepa, quae vulgo pipizo nominatur. Os barbarum et proeax, et in con-
vicia semper armatum. Quocumque te verteris, primus in fade est. Quidquid novum
insonuerit, aut auctor, aut exaggerator estfamae. Equi per horarum momenta mutan-
tur, tarn nitidi, tamque feroces, ut(a) Thracii regis illum putes esse germanum. Den
Hinweis auf diese Stelle verdanke ich einer hriefliehen Mitteilung Alfred
Schönes, der sich hier an den Mimus erinnert fühlte und mich zugleich auf
das in den Zusammenhang nicht passende senex importunus verwies.
766 Neuntes Kapitel.
zu verführen. Wir kennen diese trinksüchtigen, hexenartigen
Weiber, die in der Jugend buhlen und im Alter kuppeln, aus
dem Mimus zur Genüge. Damit nun aber gar kein Zweifel
bleibt, dafs Hieronymus mit mimischen Farben malt, sagt er
es einfach selber, indem er sich hier ausdrücklich an den
Mimus erinnert. Diese Jungfrauen und Matronen, meint er,
haben sich so dicke, rote Schminke aufgelegt, dafs ihre Stirne
noch röter ist wie die der Parasiten im Mimus1). Den Gebrauch
der Schminke von Seiten der Mimen haben wir oben S. 600
u. 704 besprochen; die Parasiten als Fresser und Trunkenbolde
hatten natürlich ein brennend rotes Trinkergesicht und darum
ordentlich Rot aufgelegt.
Dann kommen die verheirateten Damen an die Reihe, .die
sich für beredt halten und lyrische Gedichte machen. Vor allem
zieren sie sich mit der Sprache, und lassen bald mit ge-
schlossenen Zähnen, bald mit geöffneten Lippen und stammelnder
Zunge halbe Worte fallen und halten alles natürliche Sprechen
für bäurisch. Wir wissen, wie sehr der Mimus gerade die Sprache
der verschiedenen Klassen aufs genaueste nachäffte, und derartige
pröcieuses ridicules sind sicherlich besonders beliebte Typen im
Mimus gewesen, der nichts so gerne wie die Eigentümlichkeiten,
Heimlichkeiten, Fehler und Narrheiten der Weiber schildert.
Es ist eine erstaunliche Sache, einen so grofsen Kirchen-
schriftsteller als einen direkten Nachahmer des Mimographen
Philistion zu sehen. Das verdeutlicht recht den dämonischen
Einflufs, den der Theatermimus und insbesondere der Phili-
stionische — denn Philistion hat den Ardaliotypus geschaffen —
auch noch im 4. und 5. Jahrhundert besafs2). Wir haben ja gesehen,
!) rubore frontis attrito, parasitos vincunt mimorum. Vallarsi I, 114 A.
2) Wenn man weiter in der kirchlichen Litteratur nachspürt, wird man
in den christlichen Predigten und Briefen vielfältig den Einflufs des Mimus
aufweisen können. Hier stehen uns noch bei weiteren eindringenden Einzel-
forschungen schöne und wichtige Entdeckungen bevor. Der Sittenprediger
mufs eben die schlechten Sitten kennen, und niemand schilderte sie damals
so klar und so grell wie der Ethologe; der Prediger, der den ßios bessern
will, mufs seine übelen Auswüchse kennen, und die kannte damals niemand
so gut wie der Biologe: es lohnte sich, bei ihm in die Schule zu gehen.
Der römische Mimus im Mittelalter. 767
wie die Kirchenväter überhaupt sich unablässig 'an den Mimus
erinnern: wie sie der häretischen Richtung unaufhörlich vor-
werfen, ihre Auffassungen über Gott, Vater, Sohn und heiliger
Geist, über die Schöpfung und Erhaltung der Welt erinnerten
an die Erfindungen des Mimus. Hierin stehn die lateinischen
Kirchenväter nicht hinter den griechischen zurück, wie uns
schon das Beispiel Tertullians lehrte. Marius Mercator meint,
Bischof Julianus von Eclanum, der Pelagianer, spafse über
den katholischen Glauben im Stile der Mimographen, eines
Philistion, Marullus und Lentulus, und wenn die griechischen
Kirchenväter die Geschichte von Susanna an den Mimus erinnert,
so Hieronymus die vom greisen König David und der Sunamitin.
Ja, wenn Hilarius, der fromme Bischof von Poitiers (starb 366),
der die gallische Kirche wieder vom Pelagianismus zur ortho-
doxen Lehre bekehrte, über die heilige Trinität handelt und das
Verhältnis zwischen Gott Vater und Gott Sohn, die zwar zwei
besondere Personen und doch wiederum nur eine seien, erklären
will, warnt er davor, sich das im Stile des Mimus vorzustellen,
wo auch gelegentlich jemand die Gestalt und den Namen eines
anderen annimmt und doch derselbe bleibt. Ich erinnere hier
an die Verkleidungen und vor allem auch an die eigentlichen
Metamorphosen, selbst zu Tieren im Mimus. Hilarius hat den
Theatermimus seiner Zeit im Sinne; er spricht von „Mimen im
Theater" '). Welchen Eindruck mufs der Mimus auf diesen
Kirchenfürsten gemacht haben, wenn er bei der Erklärung der
allerheiligsten göttlichen Geheimnisse seiner nicht vergessen
kann! Erinnern sich die lateinischen Kirchenväter selbst der
christlichen Religion gegenüber an den Mimus, so ist ihnen die
heidnische Religion überhaupt gar keine Religion, sondern nur
ein „mimus religionis*.
]) St. Hilarii Episcopi opera (Ausgabe der Benediktiner Tom. II. De
trinitate, über VII, 206 e, 207a): lnseparabiles esse per naturalem similitudinem
Patrem et Filium, non possumus verbis aliis docere, nisi Filii. Non enim hie per
demutationem nominum atque specierum Filius, qui via est et veritas et vita, mimt's
theatralibus ludit: ut in assumto nomine se filium Dei nuneupet, in natura vero
Deum patrem, et unus ac solus personali demutatione se nunc in alio mentiatur.
768 Neuntes Kapitel.
Augustin (354 — 430) hat sich in seiner Jugend leidenschaft-
lich für die Schauspiele interessiert. Schon als Knabe fühlte er
sich dadurch im Lernen behindert und er spottet darüber, dafs
man dafür die Schuljungen schlägt, und doch nichts sehnlicher
wünscht, als dafs sie im späteren Leben so reiche und angesehene
Männer werden, dafs sie dem Volke Schauspiele geben können x).
Als Augustin dann als Jüngling die Hochschule in Karthago
bezog, besuchte er erst recht das Theater. Da sah er Tragödien
und vor allem den Mimus; er nahm leidenschaftlichen Anteil an
den Liebesgeschichten, die ja unablässig im Mimus vorgeführt
wurden, freute sich, wenn die Liebenden selbst durch List und
Trug und allerlei Schändlichkeiten an das Ziel ihrer Wünsche
gelangten und, wenn sie getrennt wurden, empfand er mit ihnen
Mitleid2).
In der That war das Theater in Karthago besonders
dem Mimus geweiht. Die grofsen afrikanischen Kirchenväter
Tertullian (2. saec.) wie Cyprian (3. saec), beide in Karthago
zu Hause, sind beide, wie wir sahen, besonders eifrige Kämpfer
gegen das Theater und den Mimus. Selbst in der ägyptischen
Pentapolis (Cyrenaica), deren Städte, durch die räuberischen
Einfälle der Barbaren (Maketen) bedroht, sehr heruntergekommen
waren, hatte sich der Theatermimus noch im fünften Jahrhundert
l) S. Augustini Confessionum über I, cap. 10 (16) ed. Raumer S. 14:
Poteram enim postea bene uti litteris, quas volebant ut discerem quocumque animo
Uli mei. Non enim meliora eligens, inobediens eram, sed amore ludendi, amans m
certaminibus superbas victorias, et scalpi aures meas falsis fabellis, quo prurirent
ardentius, eadem curiositate magis magisque per oculos emicante in spectacula ludosque
majorum; quos tarnen qui edunt, ea dignitate praediti excellunt, ut hoc pene omnes
optent parvulis suis; quos tarnen caedi libenter patiuntur, si spectaculis talibus im-
pediuntur a studio, quo eos ad talia edenda cupiunt pervenire.
3) S. Augustini Confessionum über III, cap. 1. 2, Raumer S. 40-42.
Veni Carthaginem ; et circumstrepebat me undique sartago flagitiosorum amorum ....
Rapiebant me spectacula theatrica, plena imaginibus miseriarum mearum, et
fomitibus ignis mei. Quid est quod ibi homo vult dolere, cum spectat luctuosa
atque tragica, quae tarnen pati ipse nollet? .... sed tunc in theatris congaudebam
amantibus, cum sese fruebantur per ßagitia, quamvis haec imaginarie gererent
in ludo spectaculi. Cum autem sese amittebant, quasi misericors contristabar ; et
utrumque delectabat tarnen.
Der römische Mimus im Mittelalter. 769
erhalten. Synesius, der Sophist, der Metropolitan der ägyptischen
Pentapolis (Cyrenaica), hat noch den Mimus Calvus auf der Bühne
gesehen ').
Fast zwei Jahrhunderte vor Augustin lebte Apuleius in
Afrika; er fühlt sich unablässig an Atellane und Mimus erinnert2).
Besonders bezeichnend ist eine Stelle in den Florida. Dort
denkt Apuleius in einem Proemium sich im Theater vor dem
Volke von Karthago stehend und mahnt, man solle sich nicht
durch die üppige Pracht des gtofsen Baues, nicht durch die
Erinnerung an die zahlreichen Schauspieler, Seiltänzer und
Gaukler davon abhalten lassen, nun auch dem Philosophen ein
ernstes Gehör zu schenken. Unter allen denen aber, die im
Theater auftreten, nennt er an erster Stelle den Mimen und
dann erst Komöden und Tragöden3). So sah auch Augustinus
im Karthagischen Theater vor allem den Mimus.
Wie einst Kaiser Augustus und Seneca4) vergleicht auch
Augustin das menschliche Dasein mit dem Mimus. Wie bald,
ruft er aus, müssen wir den nachfolgenden Geschlechtern. Platz
machen. Wenn die Kinder heranwachsen, sagen sie zu den Eltern,
gebt uns Raum, damit wir nun auch unsern Mimus aufführen
können. Denn das ganze menschliche Leben ist ein Mimus*).
Fulgentius, der Bischof von Ruspe iu Afrika, schreibt in seinem
*) Vgl. oben S. 523.
>) Vgl. oben S. 412 Anm. 1, 578 Anm. 1, 589 ff.
*) Lucii Apulei Madaurensis Apologia sive de Magia liber et Florida,
rec. Van der Vliet, Teubner 1900, S. 179, Cap. 18: praeterea in auditorio
hoc genus spectari riebet, non pauimenti marmoratio nee proscaenii contabulatio nee
scaenae columnatio, .... nee quod hie alias mimus halucinatur, comoedus sermocinatur,
tragoedus uoci/eratur, funerepus periclitatur, praestigiator furatur, histrio gesticulalur
ceterique omnes ludiones ostentant populo, quod cuiusque artis est: sed istis omnibus
supersessis nihil amplius spectari debet, quam conuenientium ratio et dicentis oratio.
*) Vgl. oben S. 72, 196.
5) S. Angustini Episcopi enarratio in Psalmum CXXVII, Ausgabe der
Benediktiner, Tom. IV, 1081 C, D: Nati enim pueri tamquam hoc dieunt parenti-
bus suis, Eia cogitate ire hinc, agamus et nos mimum nostrum. Mimus est enim
generis humani tota vita tentationis: quia dictum est, Universa vanitas omnis
homo vivens.
Reich, Mimus. 4Q
770 Neuutes Kapitel.
schnurrigen mythologischen Werke, das er in seiner sündigen
und noch sehr unreifen Jugend schrieb, um allerhand unverdaute
Schulweisheit zum Besten zu geben, diesen Vergleich dem „Philo-
sophen Kleobulos" zu1)- Das ist schwerlich jemand anderes als
Kleobulos von Lindos, einer der sieben Weisen. Da hat Ful-
gentius für diesen berühmten Vergleich einen ebenso berühmten
Erfinder aufgetrieben; wie er dazu gekommen ist, ist bei seiner
krausen Art ganz unnütz zu erörtern2). Jedenfalls haben wir
auch hier wieder einen afrikanischen Schriftsteller und zugleich
einen Verehrer Augustins, der sich an den Mimus erinnert fühlt.
Fulgentius starb 533.
Nach seiner Bekehrung war Augustin um so schlechter auf
das Theater und den Mimus zu sprechen.
„Fliehet, Geliebte, das Theater, das Eigentum des Teufels",
ruft er seiner Gemeinde zu. Kein guter Christ geht ins Theater,
nur die schlechten Christen thun das, thäten sie es nicht, so
ständen die Theater leer; denn die Minderzahl der Heiden und
Juden könnte allein den ungeheuren Raum nicht füllen3). An
den Schauspielen haben die Dämonen ihre Freude, an den Narr-
heiten und mannigfaltigen Schändlichkeiten im Theater, der
Raserei des Circus, der Grausamkeit des Amphitheaters mit
seinen Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen und besonders an der
') Fabii Planciadis Fulgentii V. C. Opera, rec. Eud. Helm. Leipzig 1S98.
Mitologiarum liber II, XIV, S. 56 : Denique (Jatinius augur dicere solitus || erat
diuersarum urbium honores somnialiter peragi urbicario mimologo et quamuis utraque
nihil agere dixerit, tarnen hoc Romae praestare uisus est, quod ex parte quidem
ueros honores, sed risorios et citius fugitiuos; credo enim quod Cleobuli philosophi
scntentiam legerat dicentis: fxifiog 6 ßCog, id est: mimus uita.
2) Ich verweise hier auf die scharfsinuige, das Problem der „Mito-
logiae" des Fulgentius zum Abschlufs bringende Abhandlung von Helm: Der
Bischof Fulgentius und der Mythograph. Rh. M. N, F. 54, 1899, S. 111 folg.
3) S. Augustini Episcopi sermo LXXXVIII. de verbis Evangelii Matth.
20. Ausgabe der Benediktiner Tom. V, 333 F, 334 A: Non enim solis vocibus com-
2?rimunt bonos Christianos malt, sed et malis operibus. Non vult bonus Christianus
ire spectare. Hoc ipsum quod f renal concupiscentiam suam, ne pergat ad theatrum,
clamat post Christum, clamat ut sanetur. Älii concurrunt, sed forte Pagani, forte
Iudaei. Immo vero tarn pauci essent in theatris, ut erubescendo discederent, si
Christiani ad theatra non accederent.
Der römische Mimus im Mittelalter. 771
Raserei, mit der die Zuschauer für einen Mimen, Schauspieler
oder Pantomimen Partei ergriffen1). Wer also ins Theater und
zum Mimus geht, opfert den Dämonen.
Wenn die Heiden, noch voll Freude über das Geschaute, aus
dem Theater kommen und sehen die Christen, die nicht hinein?
gegangen sind, so bedauern sie diese, weil sie soviel entbehren
müssen. Das ist ein sehr verkehrtes Mitleid und ein sehr un-
nützes Wohlwollen; denn in den Schauspielen sieht man nur
Verderbliches2). Aber die Macht des Schauspieles über die
Gemüter hat sich Augustin so eingeprägt, dafs er nicht wagt
zu sagen, es sollen überhaupt keine Schauspiele sein, sondern
er erklärt, wer der heidnischen Schauspiele entbehre, erhalte
dafür die christlichen. Gott läfst uns nicht ohne Schauspiele.
Ist es nicht ein grofses Schauspiel zu sehen, wie der Löwe
(der Teufel) durch das Blut des Lammes (Christi) bezwungen
wird?8) Ist es nicht ein grofses Schauspiel, wie der Christ
gegen die Sünde kämpft, Gott selber schaut vom Himmel diesem
erhabenen Schauspiele zu und feuert die Sieger an. Bei den
heidnischen Schauspielen sieht man im Pantomimus, wie Jupiter
buhlt und donnert, bei den christlichen den wahren Gott, wie
*) S. Augustini Episcopi Sermo CXCVIII. De Kalendis Januariis II. (Aus-
gabe der Benediktiner Tom. V, 632 C, D): lue auiem qui dixit, Nolo vos fieri
socios daemoniorum, voluit ut ab Ulis qui daemonibus serrirent, vita et moribus
separarentur. Etenim illa daemonia delectantur canticis vanitatis, delectantur
nugatorio spectaculo, et turpitudinibus rariis Hieatrorum, iiuania drei, crudelitate
amphitheairi, certaminibus animosis eorum, qui pro pestileiüibus hominibus Utes et
contentiones usque ad inimicitias suseipiunt, pro mimo, pro histrione, pro
pantomimo, pro auriga, pro venatore. Ista facientes, quasi thura ponunt daemoniis
de cordibus suis.
2) S. Augustini Episcopi enarratio in Psalmum CXLVII, Ausgabe der
Benediktiner Tom. IV, 1234 C, D.
3) S. Augustini Episcopi in Johannis Evangel., cap. I, traetatus VII
Ausgabe der Benediktiner Tom. III, 250 F, 251 A): Ecce speetacula Christianorum.
Et quod est amplius, Uli oculis carnis vident vanitatem, nos cordis oculis veritatem.
Ne putetis Fratres, quod sine speetaculis nos dimisit Dominus Deus noster: nam si
nulla sunt speetacula, cur hodie convenistist Ecce quod diximus, vidistis; et
exclamastis: non exclamaretis nisi vidissetis. Et magnum est hoc speetare per iotum
orbem terrarum, victum leonem sanguine Agni.
49*
772 Neuntes Kapitel.
er zur Keuschheit mahnt und das Heil lehrt. Dort sieht man
Juno als Gattin und Schwester Jupiters, hier die heilige Maria,
Jungfrau und Mutter zugleich. Dort sieht man den Seiltänzer,
hier schreitet Petrus über das Meer. Dort wird im Mimus die
Keuschheit verletzt, hier wird durch die keusche Susanna und
den keuschen Joseph die Begierde unterdrückt1).
Freilich den Thoren gefallen die Schauspiele Gottes und
Gott selber viel weniger als Mimus und Pantomimus'). Aber
Gott will auch nicht beklatscht werden wie ein Mime oder
Pantomime 3).
!) S. Augustini Episcopi, De Symbolo (Ausgabe der Benediktiner Tom. VI,
406 C, E, F, 407 A) : Quid nobis ire per multa? Breviter admonendi estis quid spev-
nere, et quid diligere deheatis. Fugite Dilectissimi spectacula, fugite caveas turpissimas
diaboli: Me vos vincula teneant maligni. Sed si oblectandus est animus, et spectare
delectat: exhibit vobis sancta maier Ecclesia vener anda ac salubria spectacula,
quae et mentes vestras oblectent sua delectatione, et in vobis non corrumpant, sed
custodiant fidem. Amator est quispiam circif Quid delectat in circo% . . . Alius
fortassis theatri amator admonendus sit, quid fugiat, et quo delectetur: ac sie
voluntatem speetandi non perdat, sed mutet. In theatris labes morum, discere turpia,
audire inlwnesta, videre perniciosa. Sed adjuvante Domino ea ex cordibus vestris
ßrmiter repellamus. Singula singulis comparemus. Illic intuentur speetatores pro-
positum nescio quem confictum Deum Iovcm, et adulterantem, et tonantem: hie
respieimus verum Deum Christum, castitatem docentem, immunditiam destruentem,
salubria praedicantem. Illic fingitur quod idem Iovis lunonem habeat sororem et
conjugem: hie praedicamus sanetam Mariam matrem simul et virginem. Illic Stupor
ingeritur visui, ex usu hominem in fune ambulantem: hie magnum miraculum,
Fetrum mare pedibus transeuntem. Illic per mimicam turpitudinem castitas
violatur: hie per castam Susannam castumque Ioseph libido comprimitur, mors
contemnitur, Deus amatur, castitas exaltaiur. Chorus illic et cantio Pantomimi illicit
auditum, sed expugnat sanum affectum: et quid tale nostro cantico comparan-
dum sit.
2) S. Augustini Episcopi in Psalmum XXXII. Sermo I (Ausgabe der
Benediktiner Tom. IV, 14 IC): Talibus hominibus infidelibus, impiis, iniquis (quod
piget dicere, sed tarnen dicam, nostis enim quam verum dicairi), 'facilius placet
pantomimus quam Deus.
3) S. Augustini Episcopi enarratio in Psalmum LIV. (Ausgabe der Be-
nediktiner Tom. IV, 372E, F): Laudo Deum, et in ipsa laude gaudeo: ipsius laude
gaudeo, quo laudato non erubesco. Non enim quemadmodum laudatur ab studiosis
theatricarum nugarum vel Auriga, vel Venator, rel quilibet histrio, et a laudatoribus
suis invitantur alii landatores, exhortantur ut paritcr clament; et cum omnes
Der römische Mimus im Mittelalter. , 73
Unablässig fallen Augustinus, während er die Nichtigkeit
der heidnischen Mythologie erweist, Scenen aus dem mythologi-
schen Mimus ein; die Götter der Heiden sind nicht besser als
die Götter im Mimus, eher schlechter, das ist der unaufhörliche
Refrain. So fragt er: „Haben etwa blofs die Dichter einen
bärtigen Jupiter und einen unbärtigen Merkur? Haben ihn nicht
auch die Priester? Oder haben dem Priapus nur die Mimen,
nicht auch die Priester einen enormen Phallus gegeben? ....
Und was wollten diejenigen, die Schmarotzer-Götter als Parasiten
an Jupiters Tisch beriefen anders als einen Mythus nach Art
des Mimus? Denn, wenn ein Mime gesagt hätte, Jupiter habe
Tellerlecker zu seinem Tische zugelassen, so hätte er offenbar
damit Lachen erregen wollen. Aber das sprach Varro und nicht
um die Götter zu verlachen, sondern um sie zu ehren." Dann
erzählt Augustinus weiter die bekannte, merkwürdige Fabel
von der Acca Larentia, die, von einem Tempelhüter in dem
Tempel des Herakles eingeschlossen, von dem Gotte im Schlafe
besucht und nachher mit grofsen Reichtümern beschenkt wird,
die sie dem römischen Volke vermacht. Wenn Derartiges im
Mimus vorkäme, so könnte man es zu den mythologischen Er-
findungen der Dichter rechnen, aber Varro erzählt es ganz ernst-
haft; die Mimen könnten sich bei Darstellung solcher Schänd-
lichkeit auf die ernsthafte heidnische Theologie berufen. Ja, die
heidnische Theologie erzähle solche Scheufslichkeiten, dafs sie
nicht einmal der sittenlose Mimus vorführen mag. Dieses ist im
wesentlichen der Inhalt des achten Kapitels im sechsten Buche des
„Gottesstaatesul). Im nächstfolgenden Kapitel (IX) macht sich
damaverint, plerumque illo victo omnes erubescunt. Non ita est Deus notier: laudetur
coluntate, ametur caritate.
1) Ich gebe hier noch die einzelnen Ausdrücke, die direkt auf den
Mimus hinweisen: „De civitate Dei", lib. VI, cap. 7 [C. V. 40, S. 284— 287J:
Numquid Priapo mimi, non etiam sacerdotes enormia pudenda fecerunt? An
aliter stat adorandus in loci» sacris, quam procedit ridendus in theatris? . . . quid
aliud quam viimica Sacra esse uolueruntf Kam parasitos Iovis ad convivium eins
adhibitos si mimus dixisset, utique risum quaesisse uideretur . . . ad fabulosam
theologiam dicerentur procul dubio pertinere et a civilis theologiae dignitate separaiula
iudicarentur. Cum uero haec dedecora non poetarum, sed populorum ; non mimorum,
774 Neuntes Kapitel.
Augustinus über die zahllosen Götter der Römer lustig, da jedem
noch so kleinen Thun oder Geschehen eine Gottheit vorstehe, so
dem Essen die Göttin Educa, dem Trinken die Göttin Potina. Das
seien eigentlich burleske Erfindungen, wie sie der Mimus liebe.
Wenn jemand seinem Kinde zwei Ammen geben wollte, von
welchen die eine ihm nur Speise, die andere ihm nur Trank zu
reichen hätte, so würde er in seinem Hause einen Eulenspiegel-
streich aufführen, wie sie im Mimus vorkämen1). In der That
hatte Varro hervorgehoben, man müsse genau wissen, was für
Kraft und Gewalt jeder einzelne unter den vielen Göttern habe,
damit man es nicht mache wie die Mimen, die zum Bacchus
um Wasser, zu den Nymphen um Wein beten. Das berichtet
gleichfalls Augustinus2). Im folgenden Kapitel des 6. Buches (X)
erzählt dann Augustinus nach Seneca die bekannte, rührende Anek-
dote von dem greisen Archimimen3).
Zu Augustins Zeit war jedenfalls noch gar keine Rede von
einem Rückgange des Interesses an dem grofsen mimischen
sed sacrorum; non theatrorum, sed templorum . . . non frustra histriones ludicris
artibus fingunt deorum quae tanta est turpitudinem . . . Itaque potius est unde gratiae
debeantur histrionibus , qui oculis hominum pepercerunt nee omnia speetaculis
nudauerunt, quae sacrarum aedium parietibus oeculuntur . . . quae sunt ergo illa
sacra, quibus agendis tales elegit sanetitas, quales nee thymelica in se admisit
obscenitasf Thymelica obscenitas erinnert an den Mimus; so ist der Mime
Genesius magister mimithimelae artis.
x) De ciuitate Dei, lib. VI, eap. 9 [C. V. 40, S. 289] : de ofßciis singulomm
deorum. Quid? ipsa numinum officia tarn uiliter minutatimque concisa, propter quod
eis dieunt pro uniuseuiusque proprio munere supplicari oportere, unde non quidem
omnia, sed multa iam diximus, nonne scurrilitati mimicae quam diuinae consonant
dignitatif Si duas quisquam nutrices adhiberet infanti, quarum una nihil nisi
escam, altera nihil nisi potum daret, sicut isti ad hoc duas adhibuerunt deas,
Educam et Potinam, nempe desipere et aliquid mimo simile in sua domo agere
uideretur.
2) De ciuitate Dei, lib. IV, cap. 22 [C. V. 40, S. 190]: Quid est ergo, quod
pro ingenti beneßcio Varro iaetat praestare se ciuibus suis, quia non solum commemorat
deos, quos coli oporteat a Bomanis, uerum etiam dicit quid ad quemque pertineat'? . . .
„Ex eo enim poterimus, inquit, scire quem cuiusque causa deum aduocare atque
inuocare debeamus, ne faciamus, ut mimi solent, et optemus a Libero aquam, a
Lymphis uinum."
3) Vgl. oben S. 71.
Der römische Mimus im Mittelalter. 775
Drama. Hieronymus bezeugt ja auch, wie wir soeben sahen, für
jene Zeit ausdrücklich die Existenz des Mimus in allen Städten
der Welt, in Jerusalem wie in Rom. Für Rom wird das Vor-
handensein des Mimus auf dem Theater auch durch Claudian
bestätigt, der in seinem Lobgedichte auf den Konsulatsantritt
des Manlius Theodorus (399) die Spiele beschreibt, die Rom
im Amphitheater und im Theater zu erwarten hat. Für das
Theater nennt er den Mimus voran, weil der eben die Haupt-
sache und dem Volke am liebsten war; dann folgt der Panto-
mimus, Komödie und Tragödie, und zum Schlufs die Gaukler,
die nun einmal damals durchaus zu den Vorstellungen im Theater
gehörten 2).
Auch Marius Mercator spricht, wie wir oben S. 474 sahen,
noch um die Mitte des 5. Jahrhunderts von dem Applaus, den
das Volk im Theater dem Mimus und dem erfolgreichen Mimo-
graphen spendet. Diese Anspielungen an den Mimus drängen
') Claudii Claudiani (XVII.) Pan. Dictus Maiilio Theodoro consuli, rec.
Julius Koch S. 138/39, Vers 311—330:
„Nee mottes egeant nota dulcedine ludi:
Qui laetis risutn salibus mocisse facetus,
Qui nutu manibusque loquax, cui tibia flatu,
Cui plectro piUsanda chelys, qui pulpüa soeco
Personat aut alte graditur maiore cothurno,
Et qui magna levi detrudens murmura tactu
Innumeras vocei segetis moderatus aenae
Intonet erranti digito penitusque trabali
Tecte laborantes in carmina concitet unda»,
Vel qui more avium sese iaculentur in auras
Corporaque aedificent celeri crescentia nexu,
Quorum compositam puer amentatua in areem
Emicet et vinetu plantae vel cruribus haeren»
Pendula Ubrato figat vetligia saltu.
Mobile ponderibus deteendat pegma redueti»
Inque chori speciem Spargentes ardua flammas
Scaena rötet uarios et fingat Mulciber orbis
Per tabulas impune vagus pietaeque citato
Ludant igne trabes et non permissa morari
Fida per innocuas errent incendia turres.
776 Neuntes Kapitel.
sich sogar in das nüchterne Geschichtswerk des Orosiusv eines
Schülers und Anhängers Augustins1).
Paulinus von Nola, ein Anhänger des heiligen Augustinus,
lobt den Mimen Cardamas, der sich von seiner gottlosen
Beschäftigung ganz abgewendet hat, ein Exorcist, ein Teufels-
banner, geworden ist und sich mit des Bischofs frugaler
Kost begnügen läfst. Ganz traut der Asket dem Mimen aller-
dings nicht, wenn er es sich nur nicht auf der Reise, die er
unternimmt, fern von der beschöflichen Tafel, bei seinen alten
Kollegen wohl sein läfst und statt als blasser Büfser sich wieder
als wohlgenährtes Weltkind zeigt2). Es handelt sich eben im
5. Jahrhundert nicht mehr darum, dafs die Mimen Christen,
sondern dafs sie Priester, Exorcisten, Mönche und Büfser werden.
Von einem Mimen, der durch seine Kunst ein reicher Mann
geworden war, wie die grofsen Mimen, von denen Choricius im
6. Jahrhundert erzählt, und ein lockeres Freudenleben mit ztoei
Konkubinen führte, wird im Pratum spirituale eine sehr erbau-
J) Pauli Orosii historiarum aduersum paganos VII, 42, 7— 8 [C. V. V,
S. 556/57]: quid de infelicissimo Attalo loquar, cui occidi inier tyrannos honor
et mori lucrum fuitf in hoc Alaricus imperatore facto infecto refecto ac defecto,
citius his omnibus actis paene quam dictis, mimum risit et ludum spectauit imperii.
Bei ihm finden wir auch eine Notiz von den Mimen, die mit dem Heere des
Königs Antiochus ziehen, Orosius V, cap. 10, 8 [C. V. V, S. 299/300]: Isdem
temporibus Antiochus, non contentus Babylona atque Ecbatana totoque Mediae imperio,
aduersus Phrahatem Parthorum regem congressus et uictus est. qui cum in exercitu
suo cenium milia armatorum habere uideretur, ducenta milia amplius calonum atque
lixarum inmixta scortis et histrionibus trahebat. Über Mimen bei den Heeren
siehe oben S. 193. 200—202. 530.
2) Paulini Nolani epistola XVIIII, cap. 4 [C. V. XXIX, p. 142, ed. de
Hartel] : sit nobis clausula commendatio Cardamatis, quem gratulamur de benedictione
manus tuae ita esse renouatum, ut in eo ante [dante] ridiculam mimici nominis
leuitatem nunc adsumpta de exorcistae nomine grauitas reuerentiam dederit. magis
tarnen admirati eo gauisi sumujs, quod etiam pristinae conditionis ingenium religioso
mutauit officio ; nam adsiduus mensulae nostrae particeps ita se ad mensuram nostri
gutturis artauit, ut nee holuscula nee pocula nostra uitauerit, quod poterit adtenuatione
sui corporis et oris pallore testari, nisi se forte, dum remeat, per iter laboriosum
retraetata suorum quondam calicum familiaritate reparauerit.
Der römische Mimus im Mittelalter. 777
liehe Bekehrungsgeschichte erzählt. Er verbringt den Rest seines
Lebens als Büfser in einem Turme zu Tharsus1).
Ja wir machen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts
sogar noch die Bekanntschaft eines Mimenprinzipals, des Archi-
mimen Masculas. Ihn wollte der Vandalenkönig Geiserich, wie
Victor, der Bischof von Vita (in der afrikanischen Provinz Byza-
cena) in seiner Geschichte der Verfolgungen der Katholiken durch
die arianischen Vandalenkönige Geiserich und Hunerich (aus dem
Jahre 486) erzählt, durch schwere Drohungen vom katholischen
Glauben abbringen. Masculas blieb aber standhaft und bewies,
dafs selbst ein Archimime ein guter Katholik sein könne. Er kam
dann in den Heiligenkalender so gut wie der Mime Genesius und die
anderen Mimen und Miminnen'). Also noch in der zweiten Hälfte
!) Migne, Bd. 74, S. 134b, c, d. Pratum spirituale, Caput. XXXII: Con-
versio et vita Babylae mimt, nee non Cometae et Xicosae coneubinarum eins.
Mimus quidam erat in Tharso Ciliciae, nomine Babylat: cremt autem Uli duae
coneubinae; nomen uni Cometa, nomen alteri Nicosa. Vivebat autem luxuriöse
agens omnia quae Uli daemon suggessisset. Die vero quadam ingressus ecclesiam,
audirit per dispensationem Dei sanetum Evangelium legi. Erat autem Uta lectio:
Poenitentiam agite, appropinquavit enim regnum coelorum (Matth. III). Compunctus-
que coepit cum lacrymis horrere, ac te miserum diecre pro his, quae pcccavcrat. Con-
festim igitur, egressus extra ecclesiam, vocacit duas amica» mos, dixitque Ulis : Scitis,
quomodo vobiscum luxuriöse vixerim, utque nunquam alteram plus quam älterem
dilexerrm itaque vestra sunt omnia quaeeunque ego acquisivi, aedpite insuper mea
omnia et dividite inter vos; ego enim ex nunc abrenuntio saeculo, et efficior monachus.
Illae autem ex uno ore responderunt ei cum lacrymis: Ad luxuriam et animarum
nostrarum interitum communieavimus tibi; nunc vero quando hoc Deo placitum
opusfacere vis, dimittis nos, et id solusfacis? pro/ecto non ita erit, sed etiam in bona
communicabimus tibi. Atque ita mimus quidem inefusit se in una turrium civitatis :
illae vero, venditis omnibus suis, erogatisque pauperibus, aeeipientes et ipsae religiosum
habitum. fecerunt sibi prope.turrem cellulam, et se ipsas pariter incluserunt. Hunc
et ego vidi, et ab eo valde aedißcatus sum; est enim vir valde humilis et clemensi
atque misericors. Scripsi autem et hoc pro utilitate legentium.
*) Victoris Vitensis, Üb. I, 47 (I, 15) [Corp. Vind. VII, 20]: Sed nee quen-
dam archimimum, nomine Masculan, debeo praeterire. Qui cum multis insidiis
premeretur, ut catholicam amitteret fidem, ipse cum rex postea blandiendo affatibus
saecularibus inuitabat, prominens multis tum diuitiis cumulandum, si uoluntati eius
auditum facilem commodasset. Qui cum fortis atque invictus maneret, iubet eum
subire sententiam capitalem, ita tarnen callidus oeculte praeeipiens, ut si in illa hora
778 Neuntes Kapitel.
des 5. Jahrhunderts gab es selbst in dem entlegenen Afrika,
selbst unter der Vandalenherrschaft Mimenprinzipale und also
auch Mimentruppen. Auch gedenkt Salvianus von Marseille in
seinem zwischen 439 und 451 verfafsten Werke De gubernatione
dei des Mimus als des grofsen Theaterstückes.
Es regten sich in jenen Zeiten, in denen durch die Völker-
wanderung unsägliche Not über das römische Reich hereinbrach,
allerhand Zweifel an dem göttlichen Weltregimente; es schien,
dafs Gott, der so entsetzliche Greuel durch die heidnischen Bar-
baren an den Christen verüben liefs, sich nicht mehr um die
Welt kümmere und alles gehen lasse, wie es eben wolle l).
Salvian aber erklärt diese Prüfungen mit der strafenden Bered-
samkeit eines Propheten des alten Bundes für ein göttliches
Strafgericht; denn die romanischen Christen und Katholiken
seien ganz und gar sittlich verdorben und verwahrlost und viel
schlechter als die heidnischen und häretischen Barbaren (Sachsen,
Franken, Gepiden und Hunnen, Goten und Vandalen). Vor allem
zeige sich ihre Lasterhaftigkeit in ihrer Vorliebe für den Cirkus,
für das Theater und insbesondere für den Mimus, während jene
Heiden viel sittlicher seien und keine Theater hätten 2). Von
dieser Leidenschaft für das Theater und den Mimus handelt das
uibrantis gladii pertimesceret ictum, magis cum occideret, ne martyrem gloriosum
fecisset; si autem fortem in confessione conspiceret, a gladio temperaret. Sed ille
ut columna immobilis Christo solidante fortis effectus confessor reuertitur gloriosus.
Et si martyrem inuidus hostis noluit facere, confessorem tarnen nostrum non potuit
uiolare. Dieser Archimimus Masculas kommt sonst noch wiederholt in
Matyrologien vor. Siehe die Nachweise hei Migne, Patrol. Lat. 58, S. 199;
auch Ruinarti in Historiam Persec. Vandal. Commentarius Historicus bei
Migne, Bd. 58, S. 359 ff.
') So beginnt gleich das erste Buch mit den Worten : Incuriosus a qui-
busdam et quasi neglegens hnmanorum actuum deus dicitur utpote nee bonos custodiens
nee coercens malos, et ideo in hoc saeculo bonos plerumque miseros, malos beatos esse.
(De gubernatione Dei 1, 1. C. V. VIII, S. 3.)
2) VI, 7. C. V. VIII, S. 134: Rursiim ergo necesse est redeamus ad illud, quod
saepe diximus: quid simile apud barbaros? ubi apud Mos circenses ubi theatra ubi
scelus diuersarum impuritatum, hoc est spei nostrae ac salutis excidiuml quibus ille
etsi, utpote pagani uterentur, minore tarnen culpa sacrae offensionis errabant, quia,
etsi esset impuritas uiaionis praeuaricatio tarnen non erat sacramenti.
Der römische Mimus im Mittelalter. 779
ganze sechste Buch, das noch dazu unter den acht Büchern „De
gubernatione dei" das umfangreichste ist. Ich setze einige
Hauptstellen hierher: „III. Weil es nun zuviel Zeit erfordert,
über alles zu sprechen, nämlich Amphitheater, Konzerte, Spiele,
Aufzüge, Wettkämpfe, Gladiatoren, Seiltänzer, Pantomimen und
dergleichen Scheufslichkeiten . . . , so will ich nur über die Schänd-
lichkeit in Cirkus und Theater reden x) . . . Sonst beschränken
sich die Laster auf ihr eigentümliches Gebiet, so schmutzige
Gedanken auf den Geist, unzüchtige Blicke auf die Augen, gott-
lose Reden auf die Ohren ... Im Theater aber bleibt keines
von Schuld frei, denn durch böse Gedanken wird der Geist,
durch Hören werden die Ohren, durch Blicke die Augen ge-
schändet . . . Wer kann ohne Verletzung der Schamhaftigkeit
jene Nachahmung schändlicher Dinge, jene Gemeinheit in Wort
und Ausdruck, jene Schmutzigkeit in den Bewegungen, jene
Lüsternheit in den Gebärden nennen? — Gemeint sind hier vor
allem Ehebruchsmimen und sonstige niedrige mimische Sitten-
stücke. — Wie frevelhaft sie sind, geht schon daraus hervor,
dafs sie nicht erzählt werden können. Einige Verbrechen,
sogar sehr grofse, kann man erwähnen und verdammen, ohne
die Ehrbarkeit zu verletzen, so Mord, Raub, Ehebruch, Kirchen-
raub und dergleichen mehr. Nur die Unreinheit der Theater
kann man ehrbarer Weise nicht einmal anklagen . . . Nur die
Schändlichkeit der Schauspiele macht die Schandthat für Schau-
spieler und Zuschauer gleich. Denn während die Zuschauer
solches billigen und mit Vergnügeu ansehen, verüben sie durch
Zuschauen und Billigen dasselbe. Fürwahr, für jene gilt beson-
ders das Wort des Apostels: „Des Todes wert sind nicht nur
jene, die solches thun, sondern auch die den Thätern zustimmen".
a) VI, 3. C. V. VIII, S. 128: et quidem quia longum est nunc de omnibus
dicere, amphitheatris scilicet odiis lusoriis pompis athletis petaminariis pantomimis
ceterisqae portentis, quae piget dicere . . . de solis circorum ac theatrorum impuri-
tatibus dico .... in theatris uero nihil horum reatu uacat, quia et concupiscentiis
unimi et auditu aures et aspectu oculi polluuntur .... solae theatrorum impuritates
sunt, quae honeste non possunt uel accusari .... et qui forte ad spectaculum puri
uenerant de theatro adulteri reuertuntur.
780 Neuntes Kapitel.
So treibt der Zuschauer bei jenen Darstellungen der Hurerei
(den Ehebruchsmimen und schlüpfrigen Pantomimen) im Geiste
Unzucht, und wenn auch Einzelne noch rein das Schau-
spiel besuchen, verlassen sie als Ehebrecher das Theater. Ja,
nicht nur treiben sie Unzucht, wenn sie zurückkehren, sondern
auch, wenn sie kommen. Denn eben dadurch, dafs Jemand
nach einer unlauteren Sache begehrt, wird er, dem unreinen
Gegenstande zueilend, selbst unrein. IV. So treiben es alle
oder fast alle, die Römer sind. Unter solchen Umständen
klagen wir, dafs die Gottheit uns vernachlässige, uns, die wir
solches thun; behaupten, Gott verlasse uns, da wir doch selbst
Gott verlassen. Stellen wir uns vor, Gott wolle gnädig auf uns
herabschauen. Siehe, unzählige Tausende von Christen verweilen
täglich in den Schauspielen bei schändlichen Dingen. Kann Gott
auf sie herabschauen, die im Cirkus ausgelassen, in den Theatern
unzüchtig sind? Oder verlangen wir vielleicht und halten es
nicht unter seiner Würde, dafs Gott, wenn er uns im Cirkus
und im Theater sehen soll, ebenfalls das mit uns anschaue, was
wir anschauen, und mit uns den Schändlichkeiten beiwohne, denen
wir beiwohnen? . . . Oder glauben wir etwa mit den 'Heiden an
einen eigenen Gott für Theater und Cirkus? Jene übten solches
aus, weil sie glaubten, ihre Götzen hätten Gefallen daran. Wie
aber wagen wir es, so zu handeln, da wir doch wissen, dafs
Gott solches hafst? . . . Christus also, o grauenhafter Wahn-
sinn, Christus opfern wir Rennen und Mimen, ganz besonders
dann, wenn wir von ihm eine Wohlthat empfangen, wenn er uns
Segen bescheert oder die Gottheit uns den Sieg über die Feinde
giebt?1). V. Christus also, o des grauenhaften Wahns, Christus
opfern wir Rennen und Mimen, Christus bringen wir für seine
x) VI, 4. C. V. VIII, S. 130: potest (deus) ad eos respicere, qui bacchantur in
circis qui moechantur in theatrisf an forte hoc uolumus et hoc dignum putamus ut,
cum in circis nos et in theatris deus uideat, ea quat nos aspicimus aspiciat quoque
ipse nobiscum et turpitudines, quas nos cernimus, cernat etiam ipse nobiscum ....
an forte in morem ueterum paganorum theatrorum et circorum nos dewni habere
arbitramur? .... Christo ergo (o amentia monstruosa!) Christo circenses oßerimus
et mimo8 ....
Der römische Mimus im Mittelalter. 781
Wohlthaten die Schändlichkeiten der Theater dar, Christus
weihen wir die Opfer schlüpfriger Schauspiele!1)... VI. In
den Schauspielen liegt gewissermafsen ein Abfall vom Glauben,
ein todbringendes Abweichen von seinen Symbolen und den
himmlischen Sakramenten. Welches ist das erste Bekenntnis
des Christen bei der heilspendenden Taufe? Doch Nichts anders,
als dem Teufel und seiner Pracht zu entsagen, von seinen Schau-
spielen und Werken sich zu trennen. Also Schauspiele und Ge-
pränge sind sogar nach unserem eigenen Bekenntnisse Werke-
des Teufels. Wie kannst du also, mein Christ, nach der Taufe
noch Schauspiele besuchen, die du als Werk des Teufels be-
kennst? Du hast einmal dem Teufel und seinen Schauspielen
entsagt, wisse also, dafs, wenn du mit Einsicht und Überlegung
zu den Schauspielen zurückkehrst, du zum Teufel zurückkehrst . . .
VII. Den Kirchen Gottes ziehen wir die Spiele vor, wir ver-
achten die Altäre und ehren die Theater. Wenn es sich gerade
trifft, was freilich oft der Fall ist, dafs an demselben Tage ein
kirchliches Fest und öffentliche Spiele gefeiert werden, so kann
ich mich fragend an das Gewissen eines Jeden wenden, welcher
Ort die meisten christlichen Männer zählt, die Stätte der
öffentlichen Spiele oder die Hallen Gottes? ob alle lieber nach
dem Tempel eilen oder zu dem Theater, lieber die Worte der
Evangelien hören oder die Gesänge der Bühne, lieber die Worte
des Lebens oder die Worte des Todes, lieber Worte Christi
oder Worte des Mimen? ... An dem Tage der verderblichen
Spiele kommen die. welche Christen heifsen, nicht nur nicht zur
Kirche, welche kirchlichen Feste auch gefeiert werden mögen,
sondern wenn sie zufällig, ohne es zu wissen, hineinkommen und
in der Kirche hören, es würden Spiele gefeiert, verlassen sie
dieselbe sofort. Der Tempel Gottes wird verachtet, um zum
Theater zu rennen2). VHI. Aber vielleicht kann man hierauf
1) VI, 5. C. V. VIII, S. 131: Christo eireenses offerimus et mimos, Christo
pro beneficiis suis theatrorum obscena reddimus ....
2) VI, 7. C. V. VIII, S. 134 : nos ecclesiis dei ludicra anteponimus, nos altaria
spernimu* et theatra honoramus .... quis locus maiores Christianorum rirorutn
782 Neuntes Kapitel.
erwidern, das geschehe nicht in allen Städten der Römer. Das
ist wahr. Ja, ich sage noch mehr, es geschieht nicht einmal
mehr dort, wo es früher immer geschah. Es geschieht nicht
mehr in der Stadt Mainz, weil sie zerstört und vernichtet ist.
Es geschieht nicht mehr in der Stadt Köln; denn sie ist von
Feinden voll. Es geschieht nicht mehr in der berühmten
Stadt Trier, denn sie liegt durch eine viermalige Zerstörung in
Trümmern. Es geschieht nicht mehr in den meisten Städten
Galliens und Spaniens . . . IX. Betrachtet man aber die Wünsche
der Menschen, so sind die alten Zustände noch überall da, wenn
sie in Wirklichkeit auch nicht mehr überall existieren, denn
allenthalben möchte das römische Volk sie wieder haben . . .
Was sage ich von Verlangen? Beinahe alle stillen ihr Verlangen,
wenn sie können. Denn wenn die Bewohner irgend einer Stadt
nach Ravenna oder Rom kommen, gehen sie mit dem römi-
schen Volke in den Cirkus oder mit den Bürgern Ravennas ins
Theater1) . . . Und da schmeicheln wir uns mit der Reinheit der
Sitten, mit der Seltenheit der Laster? Ich gehe noch weiter:
Nicht nur werden die schmutzigen und schändlichen Spiele wieder-
holt, wie es früher geschah, sondern es wird noch viel sündhafter
getrieben als früher ... An den meisten Orten unterhielt man
damals Schauspieler für schändliche Ergötzungen, aber Alles war
auch reich und überfüllt. Niemand bedachte den Aufwand des
Staates, Niemand die Kosten, weil man die Ausgaben nicht
spürte. Der Staat konnte sich selbst fragen, wie er viel durch-
bringen könne, da er Alles beinahe nicht unterzubringen ver-
mochte. Deshalb wurde der aufgehäufte Reichtum, der fasf
alles Mafs überschritt, zu Possen benutzt. Was soll man aber
jetzt sagen? Die frühere Fülle ist von uns gewichen, das Ver-
mögen vergangener Zeiten ist verschwunden, schon sind wir
arm, aber wir bleiben närrisch. XI. Man fragt vielleicht, wo-
copias habeat, cauea ludi publici an atrium dei, et templum omnes magis sectentur
an theatrum, dieta euangeliorum magis diligant an thymelicorum, uerba uitae an
uerba mortis, uerba Christi an uerba mimif . . . spernitur dei templum, ut curralur
ad tlieatrum . . .
r) VI, 9. C. V. VIII, S. 139: denique cuiuslibet ciuitatis incolae Bauennam
Der römische Mimus im Mittelalter. 783
hin das alles ziele? Wohin ohne Zweifel anders, als dafs man
Nichts für gering erachte, wodurch Gott beleidigt wird? Denn wir
sprechen von den öffentlichen Spielen, die unserer Hoffnung spotten,
unser Leben zur Thorheit machen; denn wenn wir im Theater
und in der Rennbahn uns belustigen, gehen wir verloren nach
jenem Worte der heiligen Schrift: „Der Thor begeht mit lachen-
dem Munde die Schandthat". . . . Alle Unreinheiten treibt ihr
in den Theatern '), alle Wollust auf den Ringplätzen, alle Zügel-
losigkeit in den Rennbahnen, alle Raserei auf den Schauplätzen.
Hier Unzucht, dort Frechheit, hier Unmäfsigkeit, dort Wahnsinn,
überall der Dämon, ja an allen einzelnen Orten, wo Schauspiele
gefeiert werden, alle dämonischen Ungeheuer zusammen ....
XII. Vielleicht aber werden wir, obschon durch das Glück ver-
dorben, im Unglück gebessert . . . Belagert ist die Stadt Rom
und erobert. Liefsen deshalb die Römer von ihrer Gottes-
lästerung und Thorheit ab? Barbaren haben Gallien über-
schwemmt. Sind, was Verderbtheit der Sitten anbelangt, die
Laster der Gallier nicht dieselben geblieben? Die Vandalen-
schaaren sind in Spaniens Ländereien eingedrungen. Das Ge-
schick der Spanier ist dadurch zwar anders geworden, aber nicht
ihre Lasterhaftigkeit . . . Barbarenvölker umtosten mit ihren
Waffen die Mauern von Cirta und Carthago, und die Cartha-
ginienser schwelgten in wahnsinniger Lust in den Rennbahnen,
wareu ausgelassen in dem Theater') . . . Wie gesagt, aufserhalb
und innerhalb der Mauern Lärm von Kämpfen und Schauspielen;
Stimmen von Sterbenden und Schwelgenden mischten sich, kaum
konnte man das Wehklagen des Volkes, welches in der Schlacht
fiel, und das Getöse des Haufens, welcher im Cirkus schrie,
aut Romam uenerint, pars sunt Rovumae piebü in circo pars sunt populi Rauen-
natis in theatro.
1) VI, 11. C.V. VIII, S. 142: nam dum in theatris et circis ludimus, deperimus
seeundum illud utique dictum sermonis sacri: stultus per risum operatur scelus . . ,
quiequid inmunditiarum est hoc erercetur in theatris.
2) VI, 12. C. V. VIII. S. 144: circumsonabant armis muros Cirtae atque Cartha-
ginis populi barbarorum, et ecclesia Carthaqiniensis insaniebat in circis, luxuriabat
in theatris.
784 Neuntes Kapitel.
von einander unterscheiden . . . XV. Nachdem die erste Stadt
Galliens dreimal durch fortgesetzte Zerstörung in den Staub ge-
sunken, die ganze Stadt ein Grabmal war, nahmen die Laster
trotz des Falles wieder zu . . . Überall lagen, wie ich es selbst
gesehen und ertragen habe , entblöfste Leichname beiderlei Ge-
schlechts, zerrissen,... von Vögeln und Hunden zerfleischt.
Verderben für die Lebenden war der Leichengeruch der Toten.
Der Tod hauchte den Tod aus . . . Was erfolgte hierauf, was
erreichte man hierdurch? Einige Vornehme, die den Untergang
überlebt, verlangten als das beste Hilfsmittel für die vernichtete
Stadt vom Kaiser Spiele . . . Also Spiele verlangt ihr Trierer?
Ich gestehe, ich habe Euch für sehr elend gehalten nach solchen
Niederlagen; aber ich sehe Euch noch in gröfserem Elend,, da
ihr Schauspiele verlangt. Ich glaubte, ihr hättet in den Nieder-
lagen nur Hab und Gut eingebüfst, aber ich wufste nicht, dafs
ihr auch Sinn und Verstand verloren hattet. Theater also wollt
ihr, einen Cirkus fordert ihr von der Regierung? . . . XVII. Ent-
sagen wir fortan dem früheren lasterhaften Leben, . . . fliehen
die Rasereien des Cirkus, verwünschen die Schändlichkeiten der
Spiele im Theater, weihen dem Herrn ein neues Leben1).
XVIII. Das also müfste Gott gegenüber den neuen Wohlthaten
geschehen; lafst uns aber sehen, was in Wirklichkeit geschieht.
Sofort eilt man zu den Spielen, fliegt zu den Rasereien, die
Bürger zerstreuen sich in den Theatern, das ganze Volk rast
in den Rennbahnen2)."
Die Schilderung Salvians ist überzeugend. Trotz aller
Not war die alte Leidenschaft für die Spiele, das Theater und
den Mimus den Römern und Romanen verblieben. Wenn
auch in den meisten Städten Galliens, wenn auch im west-
lichen Germanien, in Mainz, Köln und Trier, die Theater
in Trümmer gesunken oder bei der Not der Zeit geschlossen
waren, so standen zum mindesten noch in Marseille, Ravenna
J) VI, 17. C.V. VIII, S. 152: omnibus denique immunditiis bellum sanetum
indieimus, circorum insanias fugimus, foeditates theatralium ludorum execramur.
a) VI, 18. C.V. VIII, S. 152: ad ludos protinus curritur ad insanias con-
uolatur, in theatris populus diffunditur in circis plebs tota bacchatur.
Der römische Mimus im Mittelalter. 785
und Rom und sicherlich auch in vielen anderen, weniger ge-
schädigten Städten des Westens die Theater offen und auf ihnen
wurde wie früher das grofse mimische Schauspiel aufgeführt.
Das kränkt Salvian gerade am meisten, dafs man wie einst dem
Dionysos oder der Aphrodite nun, da man doch in christlichen
Zeiten lebt, sozusagen Christus auf dem Theater Mimen darbringt,
dafs man die Worte des Mimus besser behält, als die Worte des
Heils, dafs man lieber zum mimischen Schauspiel läuft als in
die Kirche. Und wenn man bei der allgemeinem Verelendung und
Verarmung auch nicht die kostspieligen Rennen im Cirkus oder
Tierhetzen und Gladiatorenspiele im Amphitheater geben konnte,
der Mimus war keineswegs so kostspielig.
Also für das fünfte Jahrhundert ist selbst iu den von den Bar-
baren am meisten überfluteten und geschädigten Provinzen desOcci-
dents, für Gallien und Spanien, der Theatermimus zu konstatieren,
wenn er auch schon sehr im Rückgange ist. Im sechsten Jahr-
hundert wird dann wohl der Mimus ganz und gar von den Theatern
verschwunden sein, die in Trümmer fielen, so dafs im siebenten
Jahrhundert der Spanier Isidor von Sevilla in seiner grofsen
Realencyklopädie vom Theater und vom Theatermimus als von
vergangenen Dingen redet, während die Mimen selber nach
seinem eigenen Zeugnis noch zu seiner Zeit existieren1). Am
') Ich setze zum Belege die Stelle aus Etbymologiarum lib. XVIII.
hierher: (Migne, Patrol. lat. 82, S. 657-660) Caput XLIL De theatro.
1. Theatrum est quo scena includitur, semicirculi ßguram habens, in quo Staates
omnes inspiciunt. Cujus forma primum rotuxda erat, sicut et amphüheatri, postea
ex medio amphitheatro theatrum factum est. Theatrum autem a tpectaculo nominatum
«7iö rrjc ötugtac, quod in eo populus stans desuper atque spectans ludos contem-
plaretur. 2. Idem rero theatrum, idem et prostibulum, eo quod post ludos exactos
meretrices ibi prostarenL Idem et lupanar vocatum, ab eisdem meretrieibus, quae
propter vulgati corporis vilitatem lupae nuncupabantur .... Caput XLIII. De
scena. 1. Scena autem erat locus infra theatrum in modum domus instructa cum
pulpito, quod pulpitum orchestra rocabatur, ubi cantabant comici, tragici atque salta-
bant histriones et mimi. Dicta autem scena Graeca appeüatione, eo quod in speciem
domus erat instructa. Unde et apud Hebraeos tabernaculorum dedicatio a simili-
tudine domiciliorum Scenopegia appeüabatur. Caput XLTV. De orchestra. 1. Or-
chestra autem pulpitum erat scenae, ubi saltator agere possei, out duo inter se dis-
putare. Ibi enim poetae comoedi et tragoedi ad certamen conscendebant, iisque
Reich, yimus. r.n
786 Neuntes Kapitel.
frühesten hat der Theatermimus jedenfalls im westlichen Ger-
canentibus, alii gestus edebant. Officio, scenica: tragoedi, comoedi, thymelici, histriones,
mimi et saltatores. Caput XLV. De tragoedis. 1. Tragoedi sunt qui antiqua
gesta atque facinora sceleratorum regum luciuoso carmine, speetante populo, concine-
bant. Caput XLVI. De comoedis. 1. Comoedi sunt qui privatorwm hominum
acta dictis atque gestu cantabant, atque stupra virginum et amores meretricum in
suis fabulis exprimebant. Caput XLVII. De thymelicis. 1. Thymelici autem erant
musici scenici, qui in organis et lyris et citharis, praecinebant. Et dicii thymelici,
quod olim in orchestra stantes cantabant super pulpitum quod thymele vocabatur.
Caput XL VIII. De histrionibus. 1. Histriones sunt qui muliebri indumento gestus
impudicarum feminarum exprimebant: ii autem saltando etiam historias et res gestas
demonstrabant. Dicti autem histriones, sive quod ab Istria id genus sit adductum,
sive quod perplexas historiis fabulas exprimerent, quasi histriones. Caput XLIX.
De mimis. 1. Mimi sunt dicti Graeca appellatione, quod rerum humanarum sint
imitatores. Nam habebant suum auctorem, qui antequam mimum agerent, fabulam
pronuntiaret. Nam fabulae ita componebantur a poefis, ut aptissimae essent motui
corporis. Caput L. De saltatoribus. Caput LI. Quid quo patrono agatur. Caput LH.
De amphitheatro. Caput LIII. De ludo equestri. Caput LIV. De retiariis.
Caput LV. De secutoribus. Caput LVI. De laqueariis. Caput LVII. De
velitibus. Caput LVIII. De serali certamine. Caput LIX. De horum ersecratione.
1. Haec quippe spectacula crudelitatis, et inspectio vanitatum non solum hominum
vitiis, sed de daemonum jussis instituta sunt. Proinde nihil esse debet Christiano
cum circensi insania, cum impudicitia theatri, cum amphitheatri crudelitate, cum
atrocitate arenae, cum luxuria ludi. Deum enim negat, qui talia praesumit, fidei
Christianae praeraricator effectus, qui id denuo appetit quod in lavacro jam pridem
renwntiavit, id est, diabolo, pompis et operibus ejus. Man bemerke scena erat,
orchestra erat, thymelici erant. Und wenn es heilst tragoedi sunt, comoedi
sunt, histriones sunt, so beruht das nur auf der Formel der Definition;
denn es heilst weiter: qui concinebant, qui exprimebant, sie existieren
eben nicht mehr. Wenn aber vom Theater im Tempus der Gegenwart
gesprochen wird, so beruht das darauf, dafs die Theater noch stehn; aber
man spielt nicht mehr darin und schaut nicht mehr zu, darum quod in eo
populus . . . contemplaretur, nicht contempletur, darum quod meretrices ibi pm-
starent, nicht prostent. Aber von den Mimen heifst es, quod rerum humanarum
.sint imitatores, Tempus der Gegenwart, weil sie noch gegenwärtig existieren.
Die Stelle über den Mimus ist ein zusammenhangloses Excerpt aus einer
gröfseren Stelle über den Theatermimus; die beiden „nam" sind sinnlos. Es
war vom Prolog und vom Mimographen darin die Rede. Mimographen und
einen Theatermimus mit einem Prologsprecher gab es aber damals nicht
mehr in Spanien; darum die Imperfekte habebant, pronuntiaret, com-
ponebantur. Dennoch ist die Erinnerung an das Theater und an diese
Schauspiele noch so frisch, dafs der gelehrte llealencyelopädist es für nötig
Der römische Mimus im Mittelalter. 787
manien aufgehört, nach der Schilderung Salvians am Anfange
des fünften Jahrhunderts. Bis dahin hat er aber in Köln, in
Mainz und Trier und doch wohl auch in anderen hervorragenden
Städten dort geblüht. In Rom und Italien dagegen hat der
Mimus als grofses Theaterstück noch im sechsten Jahrhundert
fortbestanden.
Im Jahre 533 ward durch Belisars Sieg über die Vandalen
Afrika wieder oströmische Provinz. Zweifellos wird der Mimus
unter den neuen, günstigeren Existenzbedingungen dort kräftig
weitergeblüht haben, wie in dem ganzen byzantinischen Orient;
war doch das benachbarte Ägypten und besonders Alexandria eine
Hochburg des Mimus. Im Jahre 647 fiel dann Afrika in die Ge-
walt der Araber. Was dann weiter mit dem Mimus in Afrika ge-
worden ist. läfst sich nicht sagen. Jedenfalls erweckt er dort
heute noch als mimisches Puppenspiel, als Karagöz, den Jubel
des Volke?.
Im 6. Jahrhundert warb Theodorich der Grofse. wie wir
(oben S. 143, 144) sahen, mit Mimenaufführungen auf dem Theater
um die Gunst der Römer. Auch an seinem Hofe hatte der Goten-
könig, wie wir später zeigen werden, Mimen als Spafsmacher
und Hofnarren. Vielfältig wird der Mimus im 6. Jahrhundert
nach dem Zeugnis des Cassiodor extemporiert sein, sicher sind
daneben auch die alten, berühmten mimischen Dramen eines
Philistion, Lentulus, Marullus, Hostilius und anderer gelegentlich
aufgeführt worden. Ausgaben dieser Dramen befanden sich noch
in den Händen der Zeitgenossen des Hieronymus (vgl. oben S. 752,
Anra. 1). In der That bezeichnet auch Ausonius (c. 310—395)
das Interesse am Mimus und die Lektüre von Mimen als selbst-
verständlich bei einem litterarisch interessierten Manne. Er
ermahnt den Freund, schnell za ihm zu eilen und seine Bücher,
vor allem die Mimen, zu Hause zu lassen, er fände bei ihm eine
ganze Bibliothek, darunter auch die Mimen des Cinaeodologen
und Ionicologen Sotades1). Auch die Dramen Philistions sind
hält, seine objektive Aufzählung mit der Mahnung zu schliefsen, ein Christ,
der daran seine Freude habe, verfalle dem Teufel.
') Ausonii epistulae XIV (in Mon. Germ, hist Auctt. antiqq. V, 2,
50*
788 Neuntes Kapitel.
ja sehr' lange in Abschriften verbreitet gewesen, noch im fünften
Jahrhundert liefs sie der Sophist Nicotychos vorlesen (vgl. oben
S. 204). Wenn im 6. Jahrhundert nach dem Zeugnis des Cho-
ricius die Sophisten auf dem Markte Mimen vortrugen, so mufsten
sie davon handschriftliche Exemplare besitzen1). Jedenfalls also
existierte im lateinischen Westen, zum mindesten in Italien, noch
im 6. Jahrhundert der Mimus als grofses Bühnenstück, wie er zu
derselben Zeit im, griechischen Osten in voller Macht und Herr-
lichkeit blühte und bis zum Ende des Mittelalters geblüht hat2).
Ob der Mimus noch über das sechste Jahrhundert hinaus
als grofses Theaterstück in Italien geherrscht hat, läfst sich
nicht mehr entscheiden. Darüber fehlen mir vorläufig alle
p. 172— 173) XIV (ad Paulum Lugdunensem):
attamen ut citius venias leviusque vehare,
historiam, mimos, carmina linque domi . . .
nobiscum invenies ln£<ov nolvfiOQqia nkrj&vv
yQctfificcTixdSv re nXoxdg xai koyodaidaMrjv,
Sdxxvkov TjQtpov xai aoiöonöXarv xoQiapßov, . . .
Gvv. @cd(j]S xw/uw avQfiara TeQXpij(6()t]g
GCOTCtdlXOV XS XlVaiSoV, iwVIXOV afMfOx£Q(0&tV.
') Vgl. oben S. 219.
2) Ich will hier noch einmal auf die Schliefsung der Theater durch
Justinian zurückkommen, welche überall mit dem Anspruch einer gesicherten
Thatsache von welthistorischer Bedeutung auftritt. Es scheint alles so schön
zusammenzustimmen. Wie Justinian die letzten Reste des Heidentums be-
seitigt, wie er die griechischen Philosophenschulen schliefst, so schliefst
er auch die Theater. Ich habe schon oben S. 684 und 685 gezeigt, dafs
diese Mafsregel zum mindesten vorübergehend war, und dafs in der späteren
Regierungszeit Justinians und unter den folgenden Kaisern die Theater überall
offen standen.
Malalas berichtet, die Cirkusparteien hätten im Jahre 525 unter Kaiser
Justin (als Justinian schon de facto regierte) wieder Unruhen erregt, und
zur Strafe wurden die Schauspiele aufgehoben und die Pantomimen aus dem
ganzen Orient verjagt aufser in Alexandria in Ägypten. Auch die olympischen
Spiele in Antiochia wurden verboten. Chronographia XVII. Bonner Aus-
gabe S. 417: xai in^Q&rjaav xa &t(ÖQia, xai ol oQ/rjaxal ix xfjg dvaxolrjg xai
ndvxeg i^cooia&rjOav, dl%a fxivxoi xfjg /usyälqg AXf^avÖQtiag xrjg TiQog Aiyvnxov.
'0 dt avxbg ßaaiXevg ixwkvas rov aytiiva xwv'Olvfxniwv nyog xa [iti tnixsltio&ai
iv 'Avxioxeiq dnd ivötxxiwvog td". So hob Kaiser Theodosius in Antiochia
Der römische Mimus im Mittelalter. 789
direkten historischen Zeugnisse, und ich wage nicht zu hoffen,
dafs sich solche noch finden werden, obwohl ich es nicht für ganz
zur Strafe für einen Aufruhr die Schauspiele auf (vgl. oben S. 146). Natür-
lich dauerte es damals nicht lange, so wurden in Antiochia wieder die
Theater geöffnet. Die Mafsregel Justinians trifft allerdings den ganzen Orient,
aber auch hier werden gleich Ausnahmen zugelassen.
Procop, der zweite Zeuge in der Sache, berichtet: die Fiskalität der
Krone hätte unter Justinian erschreckend zugenommen. Dafür giebt er zahl-
reiche Belege. Selbst die staatlichen Besoldungen der Professoren und Ärzte
wurden aufgehoben, und die Kommunalabgaben, welche die Städte im Interese
der Errichtung und Unterhaltung öffentlicher Gebäude und zur Veranstaltung
von Schauspielen erhoben, wurden einfach den Staatssteuern zugeschlagen.
Infolgedessen hatten seit längerer Zeit die Theater, Amphitheater und der
Cirkus Ruhe. Später liefs der Kaiser sogar in Byzanz die Schauspiele ein-
schlummern und gab nicht mehr dafür die gewohnten Summen aus dem
Staatsschatze her, obwohl zahlreiche Bürger von den Spielen ihre Nahrung
zogen. Infolgedessen herrschte allgemeine Trauer: Lachen und Freude waren
aus dem menschlichen Leben gewichen. Procop, Historia Arkana 26. Bonner
Ausgabe S. 143 4 : xal firjv xal oOovg ol rag noXttg otxovvrtg dndaag noXiri-
X(UV OCfiOlV T) dtülQTjTtXWV OIXO&tV 7lt7lotl]VTai 710QOVS ; xctl loviovg /uaayayioy
(fögoig dva/uT^ai roTg dtjuooioig hoXur]OE. xal ovn iargdiv iig r) 6i6aaxdXojf xo
Xombv lytvero Xoyog ovie Srjjuoaiag itg tu olxodouittg ngovoüv lo/vatv oisit
Xv%va raig nöXtaiv Iv 6tjfioa(co kxämy ovre rig r]v dXXr) nagaxpv/r) joig ravrag
olxovOi. xa rt ydg dtaiga xal InnoSgofiot xal xWTjyf'oia Ix rov tmnXtiorov
unavia rjgyH. ov dr] ol rr)v yvvaixa xfx^#a* 1« xal rtrgd(f&ai xal ntnat-
ätva&at £uv£ßairtv. vOTtgov öi ravia örj dgyttv iv Bv^avilto lx4Xivas rd &ed-
fiaza, rov [at] rd (ia)96ra xogrfl'fiv rb drjuöoiov, noXXoTg rs xal a^aSöv ri dva-
g(&/xoig ovotv, olg lv&4v6e 6 ß(og. r)v re lata re xal xoivrj Xvnrj x* xal xarrj-
(ffia, (üOntQ dXXo ri rwv an' oioavov tnioxqipaoai nd&og, xal ß(og näoir
dyiXaOTog. dXXo is ro nagänav ovitv t(f4otio roig dv>onoig h' tiirjyquaaiv,
01x01 tl ovat xal dyogaCovoi xdv rotg legoig Siargißovatv r\ avuifooai rt xal
Tid&ri xal xaivortgtav aTv/rjfidjwv v7itgßoXr].
Justinian brauchte eben für seine grofsen Eroberungspläne viel Geld,
und sein Finanzminister Johannes war ein Finanzgenie, der nahm, was
er bekommen konnte (vgl. hier die Ausführungen Geizers bei Krumbacher
a. a. 0. S. 930). Es mufsten also darunter, wie man heute sagen würde,
die Kulturaufgaben leiden und für das Theater und den Mimus war eben
kein Geld da. Wenn aber Städte und Privatpersonen trotz aller Not doch
noch ab und zu im Theater, bei der Leidenschaft des Volkes dafür, Mimen
aufführen liefsen, stand dem schwerlich etwas im Wege. Unter den späteren
Kaisern hat man dann offenbar die Gelder für das Theater und den Mimus
ihrer alten Bestimmung zurückgegeben; denn auf die Dauer mufste jede
790 Neuntes Kapitel.
ausgeschlossen halte. Die Herrschaft der Ostgoten in Rom
wurde durch Justinian vernichtet (544), Italien ward wieder ein
Bestandteil des römischen Reiches. Auch als die Langobarden
unter Alboin nach Italien zogen (568), blieb den Byzantinern
das Exarchat mit Ravenna, Rom und Venedig. Erst 749 er-
oberte der Longobarde Aistulf das Exarchat. Erst 786 nahm
die Herrschft der Byzantiner in Mittelitalien ein Ende und ost-
römisch blieben nur Neapel, Gaeta, Calabrien und das Gebiet
von Otranto. Hatte Theodorich noch im sechsten Jahrhundert
für die Römer Mimen auf dem Theater aufführen lassen, so
mögen die Byzantiner, bei denen ja immer der Theatermimus
in Blüte blieb, es auch noch im siebenten und achten Jahr-
hundert gethan haben. Ruft doch noch der Gesandte des Ost-
gotenkönigs Vitigis (vgl. oben S. 145) den Römern, die zu den
Byzantinern abgefallen waren, höhnend zu, von Byzanz wären
ja zu den Römern doch immer nur Schelme und Mimen ge-
kommen. Das Theater in Ravenna war noch im fünften Jahr-
hundert nach Salvians Schilderung berühmt, da mögen also dort
unter der byzantinischen Herrschaft auch in den folgenden Jahr-
hunderten Mimen gespielt worden sein, wie sie zu gleicher
Zeit im sechsten, siebenten und achten Jahrhundert in allen
Städten der Rhomäer in Byzanz und Thessalonich, in Antiochia
und Alexandria bis auf die kleinen griechischen Städte, Emesa
und andere herunter aufgeführt wurden. Noch am Ende des
achten Jahrhundert warnt Alcuin, wie wir gleich sehen werden,
einen jungen Freund vor den Mimen in Italien. Wie lange mag
Regierung unpopulär werden, die das nicht that, zumal wenn sie nicht wie
die des Justinian grofse äufsere Erfolge aufzuweisen hatte. Wie wenig es sich
im Jahre 525 um eine prinzipielle Schliefsung der Theater gehandelt hatte,
zeigt Malalas selbst; denn er berichtet, dafs wenige Jahre später, als ein Auf-
ruhr unter Justinian im Theater von Antiochia ausbrach, das Theater daselbst
zur Strafe geschlossen wurde (vgl. oben S. 146, Anm. 4). Also 525 werden
alle Theater im Orient aufser in Alexandria geschlossen und vier oder fünf
Jahre später steht das Theater in Antiochia wieder offen, wird aber zur
Strafe von neuem geschlossen. Kurz und gut, mit einem prinzipiellen Verbot
des Theaters unter Justinian, etwa aus christlich-kirchlichen Gründen, ist
es nichts.
Der römische Mimus im Mittelalter. 791
auch noch in dem byzantinischen Neapel der Mimus als grofses
Theaterstück existiert haben? Doch schliefslich sanken auch hier
wie überall die Theater in Trümmer, wenn auch vielleicht um
Jahrhunderte später als in Germanien,. Gallien und Spanien.
Mit den grofsen Theatern waren die letzten Reste des
klassischen Dramas, die sich dort noch notdürftig hier und da
behauptet haben mögen, unwiderbringlich verloren. Wenn sich
ein Tragöde mit seiner seltsamen Maske, dem Kothurne und
den schleppenden tragischen Gewändern in einer Taverne oder
vor dem Volke auf dem Markte hätte sehen lassen wollen, er
wäre dem Gelächter verfallen. Der Mime dagegen war ja von
vornherein in der Kneipe, auf Strafsen, Märkten, im Variete
oder im Prunksaale der Könige aufgetreten. Ihn kostete es
nichts, wieder von der grofsen Scene herabzusteigen; er gab von
seiner Kunst nicht einen Deut auf, wenn er sie fortan, wie er
einst gewöhnt war, in der Halle der Könige und Grofsen zur
Verherrlichung ihrer Feste oder auf dem Markte vor dem Volke
zum Besten gab. Seine Bühne war bald aufgeschlagen, einige
Pfähle, darüber ein Bretterboden und dahinter der mimische
Vorhang das siparium, so hatte er dieselbe Bühne wieder, die
ihm einst das grofse Dionysostheater gewährte, und was er selbst
zu Philistions Zeit allein als Bühnenausstattung verlangte, ein
wenig Hausgerät, einige Bänke, einen grofsen Kasten, das konnte
er später leicht auch in der Hofhaltung Dietrichs von Bern oder
Karls des Grofsen, oder des Brittenkönigs Alfred erlangen, wie
er es auch in derselben Epoche an den Höfen der indischen
Radschas erhielt.
Vergessen wir es nicht, an der Schwelle des Mittelalters
besafs der Mimus als das letzte, grofse Drama der Antike, als
das eigentliche Drama des griechisch-römischen Weltreiches, als
das internationale Weltdrama eine ganz erstaunliche Macht und
Fülle. Im 3., 4., 5. und 6. Jahrhundert erfüllte der Mimus die
ganze Erde, überall jauchzte ihm das Volk in rasender Be-
geisterung zu. In jeder gröfseren Stadt gab es hunderte von
Mimen, in der ganzen damaligen Kulturwelt also Hunderttausende.
Zu Hunderttausenden sind die Mimen ins Mittelalter hinüber-
792 Neuntes Kapitel.
gezogen. Dem Mimen war es gleichgültig, ob er seine lustigen
Stücklein in der Halle eines italischen Senators oder eines
fränkischen, gotischen oder spanischen Grafen zum Besten gab.
Was den Barbaren an Sprachkenntnis fehlte, das ersetzte des
Mimen lebhaftes Gebärdenspiel. Hatten sich die hellenischen
Mimen den Syrern und Ägyptern und später sogar den Indern
verständlich gemacht und vvufsten sie selbst den Türken das
Verständnis für ihre heitere Kunst zu eröffnen, hatten sie vor
Jahrhunderten vor den römischen Barbaren gespielt, die kein oder
wenig Griechisch verstanden, warum sollten nun nicht wieder die
römischen Mimen vor den keltischen und germanischen Barbaren
spielen. Schon mit Stilichos' Heer, das zum grofsen Teile aus
Germanen bestand, wanderten die Mimen. Zudem blieb ihnen ja
aufser dem vornehmen Publikum der barbarischen Fürsten und
Herren in den alten, römischen Kulturstaaten noch immer das
lateinisch redende Volk gewifs, und aufserdem sprachen die
Priester und Mönche ruhig weiter lateinisch. Noch der Archipoeta
ergrimmt darüber, wie er umsonst an das Thor der. Klöster an-
klopft, das sich den Mimen sofort öffnet1).
So gilt denn das ganze Mittelalter hindurch bei den itali-
schen Fürsten und Herren, wie bei den spanischen, bei den
fränkischen Königen, wie bei den französischen und englischen,
bei römischen Kaisern deutscher Nation, wie einst bei den alten
römischen Kaisern und bei den hellenischen Königen seit Philipp
dem Makedonen und Alexander und wie auch bei den indischen
Radschas die Regel, dafs es keine Feste geben könne, die nicht
der Mime durch sein Spiel verherrliche, oder wie Dio Chrysostomus
es ausdrückt, wer die Gunst des Volkes gewinnen wolle, müsse
Mimen aufführen lassen oder, wie die römischen Staatsmänner
') J. Grimm, „Gedichte des Mittelalters auf König Friedrich I. den
Staufer und aus seiner, sowie der nächstfolgenden Zeit". Berl. 1844, IV. Archi-
poeta 24, S. 56/57:
Eia nunc pontifices pietatis mire,
cum poeta soleat foris esurire,
mimi solent cameras vestras introire,
(jui nil sciunt facere preter insanire.
Der römische Mimus im Mittelalter. 793
meinten und wie es auch Cassiodor im Namen Theodorichs ver-
kündigt, ohne den Mimus müsse das Volk in der Not des Lebens
verzagen, oder wie der türkische Mime, der Hajaldschy, sagt:
Die Schmerzen des Volkes werden durch das Karagözspiel wie
durch Balsam gelindert.
Karl der Grofse hat diese Maxime ebenso beherzigt wie
Ludwig der Fromme, und alle ihre Nachfolger haben danach ge-
handelt, wie es ebenso die byzantinischen Kaiser thaten.
Am Hofe Karls war besonders sein vertrauter Rat An-
gilbert, den seine geistliche Stellung nicht gehindert hatte,
mit Bertha, einer Tochter Karls, eine geheime Ehe einzu-
gehen, ein besonderer Freund des Mimus. Er galt zugleich
als der gröfste Dichter in dem grammatisch-ästhetischen Kreise
Karls, darum ward er mit dem Namen Homerus bezeichnet.
Wiederholt beklagt der streng kirchliche Alcuin die weltliche
Richtung „Homers" und besonders, seine Neigung für die Mimen.
Die Partei der Asketen kämpfte bei Karl unablässig gegen den
Mimus; so wendet der Erzbischof von Lyon Leidradus sich in
einem Schreiben an Kaiser Karl gegen den Mimus1). Alcuin
wird in diesem Sinne unablässig thätig gewesen sein und schliefs-
lich überwog dieser Einflufs. Es ward ein Gesetz gegen den
Mimus erlassen, das natürlich ebensoviel gefruchtet hat. wie alle
1) Epistolae variorum Carolo magno regname scriptae 29 (Mon. Ger.
hist. Ep. IV, S. 540 1): Leidradus archiepiscopus Lugdunensis Carolo 1. imperatori
mittit de abrenunciatione diaboli opusculum. Domino gloriosissimo et vere piissimo
imperatori et in Christo victori ac triumphatori, invictissimo semper Augvsto Leidra-
dus, licet indignus, divina tarnen ditpensatione ac vestra miseratione Lugdunetuis
ecclesiae episcopus .... Velut cum teatrorum moles extruuntur et effodiuntur
fundamenta virtutum ; cum gloriosa est effusionis insania et opera m'uericordiae
deridentur; cum ex his quae dicitibus abundant, luxuriantur histriones, et necessaria
rix habent pauperes. Per .quinque sensus corporis Metropolis et an mentis capitur,
aspectu scilicet, auditu, gustu, odoratu et tactu [raucht G. ). Si circensibus quispiam
delectetur, si adletarum certamine, si mobilitate hystrionum, si j'ormis mulierum,
si splendore gemmarum, vestium, metallorum et caeteris kuiuscemodi, per oculorum
fenestras animae est capto libertas. XII. Rursum auditu, si vario organorum cantu
et vocum flexionibus delinitur, et carmine poetarum et comoediarum mimorumque
urbanitatibus et strophis et quicquid per aures introiens virilitatem mentis
effeminat. Leidradus folgt hier wortgetreu dem Hieronymus (vgl. oben 8.750).
794 Neuntes Kapitel.
die Gesetze, die schon seit Jahrhunderten auf Antrieb der Geist-
lichkeit gegen den Mimus gerichtet wurden. Freilich fürchtet
Alcuin in einem Briefe an den Abt Adalhart von Corvey
„Homer" werde erzürnt sein über diesen Erlafs; aber schon
Augustin habe gesagt, wer Schauspieler, Mimen^ und Tänzer in
sein Haus aufnähme,, der wisse nicht, was für eine Schaar un-
sauberer Geister ihnen folge *). Doch Adalhart antwortet, „Homer"
habe seiner alten Neigung für den Mimus entsagt. Darüber spricht
Alcuin in einem erneuten Schreiben an Adalhart seine Freude
aus. Die Mimen hätten Angilberts Seele nicht geringe Gefahr
gedroht, es sei merkwürdig, dafs Angilbert nicht gewufst habe,
dafs darunter seine Würde Schaden litt. Dieser Brief stammt
aus dem Jahre 801, fällt also 13 Jahre vor Angilberts Tod, der
814 starb.
Ludwig der Fromme mufste zwar trotz seiner kirchlich-
christlichen Richtung den Mimus dulden, persönlich aber
mochte er ihn nicht. Der Franke Theganus, ein vornehmer
Geistlicher in Trier, lobt in seinem Leben des heiligen Ludwig
(ca. 835 geschrieben) diesen frommen König. Er habe nie zu
Spafs und Fröhlichkeit geneigt und nur an den hohen Festen
zum Vergnügen des Volkes Mimen auftreten lassen. Aber wenn
das Volk auch seine Freude am Mimus an den Tag legte, der
König blieb immer ernst und zeigte nie beim Lachen seine
Zähne, obwohl er schöne weifse hatte, wie Theganus noch be-
sonders hervorhebt3).
J) Alcuini Albini epistolae 116 (in Mon. Alcuiniana, Wattenbach und
Dümmler, S. 478 u. 479): Alcuinus Adalhardum abbatem Corbeiensem reprehendit,
quod ad se neque accedat neque littteras mittat. Se febri impeditum fuisse, quo-
minus ad eum veniret. De Angilberto. (799 ante Ja). 10.) Vereor, ne Homerus
irascatur contra cartam prohibentem spectacula et diabolica figmenta. Quae omnes
sanctae scripturae prohibent, in tantum, ut legebam, sanctum dicere Augustinum :
Nescit homo, qui histriones et mimos et saltatores introducit in domum suam, quam
maqna eos inmundorum sequitur turba spirituum. Sed absit, ut in domo christiana
diabolus habeat potestatem. Olim tibi de kis scrijisi, optans salutem Icarissimi filii
toto cordis affectu; volens per te ßeri, quod per me non posse ßeri agnovi.
2) Theganus, Vita Hludowici imperatoris in Mon. Germ. hist. Scripto-
rum II, S. 595: Nunquam in risum exaltavit vocem suam, nee quando in
Der römische Mimus im Mittelalter. 795
Die Verbote des Mimus konnten um so weniger fruchten,
als gerade die Kirchenfürsten selber für das mimische Schauspiel
schwärmten. So schilt der Erzbischof von Lyon Agobert im
Jahre 836 auf die untreuen Prälaten und Geistlichen, die das
Kirchengut für die Mimen vergeuden und die Armen Hungers
sterben lassen1). Auch Alcuin fühlt sich veranlafst, den eng-
lischen Bischof Higbald daran zu mahnen, lieber für die Armen
zu sorgen als für die Schauspieler und Mimen*).
Auch zu jenen Zeiten erschienen die Mimen nicht nur in den
Hallen der Könige und verherrlichten ihre Feste, sondern durch-
zogen die ganze Welt und erfüllten sie von den grofsen Städten
herab bis zum kleinsten Dorfe. So berichtet der Mönch Milo,
der das Leben des heiligen Amandus in den Jahren 845 — 858
schrieb, von einem Spafsmacher, der Amandus in einem Dorfe
auf Antrieb des Satans verhöhnte. Diesen Spafsmacher nannte
das Volk „Mimus". Er fand den Lohn seiner Schändlichkeit,
der Teufel fuhr mit ihm zur Hölle3). Auch der Abt Ermenrich
summis fettivitatibus ad laetitiam populi procedebant themilici, scurri et mimi
cum coraulis et citharistis ad mensam coram eo, tunc ad mensuram ridebat populus
coram eo, ille nunquam nee dentes candidos suos in risu ostendit.
') Editio Stephani Baluzii, Paris 1666, S. 299. „Liber de dispensatione
ecclesiasticarum rerum" : epulatur cum divitibus epulantibus gaudens, ridensque, et
opus Domini non reeipiens, et quasi agens quae Deo placeant jueundatur, satiat prae-
terea et inebriat histriones, mimos turpissimosque et vanissimos joculares, cum pauperes
Ecclesiae fame discruciati intereant.
2) Alcuini Albini ep. 81. Alcuinus Higbaldum episcopum Lindisfarnensem
multa admonet. Memorat de Ecgfridi regis Merciorum obitu inopinato :
.... Melius est, pauperes edere de mensa tua, quam istriones. Wattenbach und
Dümmler S. 356.
3) Mon. hist. Germ. Poetae latini Bd. III, S. 600. — Milonis carmina
lib. IV, II. Vita S. Amandi.
70. Unus iners, facilis, male lubricus atque superbus,
Turpis et impurus scurrillia probra susurrans,
Quem merito vulgus vocitat cognomine Minimum.
Ubstitit infelix stolido bachante cachinno.
Sed mox arreptus miser atro daemone, plenus
75. $iio fuerat pridem, cum vitae risit alumnum,
Ipse suis matibus male sano membra furore
796 '. Neuntes Kapitel.
von Ellwangen, der im Jahre 874 nach Christus starb, erinnert
sich in einem Briefe an den Abt Grimald der Mimen. Alcuin
ermahnt einen jungen Freund und Schüler, der nach Italien zieht,
er möchte sich doch dort nur ja vor den Mimen in Acht nehmen,
es sei besser, Gott zu gefallen als den Mimen1).
Wie einst im Altertum, wurden die Mimen auch im Mittel-
alter den Damen gefährlich. Das zeigt der bekannte Schwank vom
„Schneekinde" aus dem Zeitalter der Ottonenr der modus Liebinc.
Ein Schwabe, ein Kaufmann aus Konstanz am Bodensee, unternimmt
eine Seereise. Inzwischen sind wandernde Mimen bei seiner Frau
eingekehrt, und als er nach zwei Jahren heimkehrt, kommt sie
ihm mit einem neuen Söhnlein entgegen und beichtet ihm, bei
einem Spaziergange in den Alpen habe sie ihren Durst mit
Schnee gelöscht und davon sei das Kind gekommen^).
Merkwürdig ist auch, was der Langobarde Liudprand von
dem byzantinischen Kaiser Romanos I. Lekapenos erzählt. Als
dieser für den jugendlichen Konstantinos Porphyrogennetos die
Discerpit scindit disrumpit diripit urit,
Anteque quam patulos Iferebi transcurrat hiatus,
Dat certum indicium, duce quo deductus abiret.
') Ep. 289. Wattenbach und Düminler, Monumenta Alcuiniana S. 872.
Alcuinus discipulum in Italia peregrinantem ad vitam rede agendam litterasque
colendas exhortatur. Studia olim communia in memoriam revocat.
Pater filio, pacificus peregrino, magister discipulo, socius socio peregrinationis
sempiternam salutem ...... Melius est Deo placere quam histrionibus, pauperum
habere curam quam mimorum. Sint tibi honesta convivia et convivae religiosi. Esto
senior in moribus, quamvis iunior in annis.
2) Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.— XII. Jahr-
hundert, herausgegeben von K. Müllenhoff und W. Scherer. 2. Aufl. Berlin
1873, S. 32:
Advertite, omnes populi, ridiculum
et audite quomodo
Suevum mulier et ipse illam defrudaret ....
Nee interim domi vacat coniux
. mimi juvenes seeuntur :
quos et immemor viri exulis excepit gaudens
atque' nocte proxima
praegnans Jilium iniustum fudit iusto die.
Der römische Mimus im Mittelalter. 797
Regierung übernommen (919—944) und mit List und Tücke von
den Grofsen des Reiches erlangt hatte, dafs man ihm die roten
Schuhe, das Symbol der kaiserlichen Würde, bewilligte, da ver-
langte er später auch die Krone; denn, erklärte er, er komme
sich buntscheckig wie ein Mime vor, wenn er mit seiner Fufs-
bekleidung wie ein Kaiser, mit seiner Kopfbedeckung aber wie
ein gemeiner Mann erscheine. Auch die Mimen liebten ja, sich
mit bunten Farben zu bemalen, aber er müsse dafür danken;
entweder wolle er mit den purpurfarbenen Sandalen und mit
der Krone erscheinen oder überhaupt auf den buntscheckigen
Anzug verzichten und fortan auch die purpurnen Stiefel ablegen x).
Diese Schilderung beweist, dafs die Mimen im Mittelalter genau
so buntscheckig auftraten wie im Altertum ; ich erinnere auch an
den centunculus, den bunten Harlekinsrock der mimischen Narren.
• Jedenfalls haben die Mimen das ganze Mittelalter hindurch das
Volk und die Fürsten mit ihren Späfsen, Schauspielen und Liedern
erheitert. Noch im spätesten Mittelalter ist von ihnen die Rede.
So berichtet der Mönch Donizo, Herzog Bonifacius von Etrurien
habe gelegentlich seiner Hochzeit mit Beatrice von Lothringen
die Mimen besonders reich beschenkt -)> und in der Chronik von
Asti heifst es, als Galeazzo Visconti die Tochter des Markgrafen
von Este in Mailand heiratete, seien an die Ioculatoren 7000
gute Kleider verteilt worden '). Bei dem Feste des Ritterschlags
*) Liudprandi Antapodosis Lib. III, 35 (in Mon. Germ, histor. Tom. V.
Script. 3 S. 310: visum est mihi histrionum mimorumve more ineedere,
qui ut ad risum facile turbas illieiant, variis sese depingunt colori-
bus. Risum denique aliis non solum, sed mihi etiam ipsi moveo, dum pedibus im-
peratorem, capite communem imiiari videar plebtm. Nam quae comoedia? mimus
quis melior? Gemeint sind nur byzantinische Mimen. Aber die abendländi-
schen Mimen können kaum auders ausgesehen haben, da Liudprand mit so
grofser Selbstverständlichkeit spricht. Variis sese depingunt coloribus = pig-
menti muhicoloribus bei Sidonius Apollinaris. Vgl. oben S. 426. VI. 600. 704.
2) Donizo monachus, vita Mathildis, lib. I, cap. 9. Mon. Germ, histor.
XIV, Script. XII. S. 366/367.
3) Chronicon Astense, cap. XIV (in Muratori; Rer. ltal. XI, 169/70):
Opera Maffei Visconti maxima fuerunt. Omnes Lombardi metuebant eum. Galeatius
tius filius cepit in uxorem sororem Marchionis de Este. Admirabües nuptiae pro
798 Neuntes Kapitel.
der Jünglinge aus dem Hause Malatesta und vieler anderer
Adligen zu Ariminum im Jahre 1324 hatten sich mehr als 1500
histriones eingefunden und waren reich beschenkt entlassen
worden1). So wird auch aus dem Jahre 1356 von einer fürst-
lichen Hofhaltung Kaiser Karls IV. berichtet, zu der zahlreiche
Mimen herbeiströmten und mit reichen Gaben bedacht wurden8).
Gelegentlich zeigten sich auch Kaiser und Könige gegen-
über den Mimen unfreundlich, das wird dann aber stets als
Ausnahmefall bemerkt. So liefs Heinrich IL im Jahre 1054 bei
seinem zu Ingelheim gefeierten Beilager mit der schönen Agnese
von Poitou die histriones nicht vor sich kommen, sondern ent-
liefs sie unbeschenkt3). Philipp August II. von Frankreich ver-
ea Mediolani jactae sunt, ad quas invitati fuerunt omnes Lombardi ; et tot data
fuerunt joculaloribus plus quam 1 000 Pannorum bonorum.
1) Annales-Caesenates (bei Muratori XIV. Rer. Ital. S. 114 1/2): De militia
Malatestorum et plurium aliorum. Millesimo CCCXX1V. die Dominico Festivitatis
Paschae Roxatae III. mensis Iunii. Magnifici et Potentes Domini Pandulphus Mala-
testa et Galeottus eius filius, Ferranlinus et Malatislinus eius Jilius sumse-
runt in Arimino cingulum militare. Triumphus quidem maximus fuit ibidem, ad
quorum honoranf iam concurrerunt Florentini, Perusini, Senenses, Bononienses, et omnes
Nobiles et Potentes de Tuscia, Marchia, Romandiola, et fere tota Lombardia ....
Fuit et iam multitudo histrionum circa mille quingentos et ultra.
2) M. Alberti, Argentinensis Chronicon (in „Germaniae historicorum
illustrium quorum plerique ab Henrico IV. imperatore usque ad annum
Christi 1400 — Tomus unus Christiani Urstisii Basiliensis fide et studio nunc
in lucem editus" pars altera p. 164): Anno Domini 1356 venu Carolus impe-
rator ad civitatem Metensem in adventu Domini: fueruntque ibi Principes, Electores
et Officiales sui ministrales. Imperii, quorum quilibet ministrabat Imperatori sedenti
in mensa, in officio seu ministerio suo proprio. Quilibet autem veniebat super equo,
usque ad mensam. Descendente vero de equo coram mensa, histrionibus et
mimis dabatur equus.
3) Herimannus (Contractus) Augiensis, Chronicon (in Mon. Germ, histor.
VII Script. 5. S. 124) ad annum 1043: Exin Agnetem Wilhelmi Pictaviensis
filiam, sponsam suam accipiens, et Mogontiaci reginam ungui faciens, regales apud
Ingelemheim nuptias celebravit, et in vano histrionum favore nihili pendendo, utile
cunctis exemplum, vacuos eos et moerentes dimittendo, proposuit .... Dasselbe be-
richtet Saxo, der Annalist, Annalista Saxo ad annum 1045 (in Mon. Germ,
histor. VIII. Auetores antiqq. 6, p. 687). . . . Deinde Agnetem Willehelmi Picta-
viensis prineipis filiam, reginam apud Mogontiam ungi faciens, regalibus sibi nupttis
Ingelenheim copulavit; unde infinitam multitudinem histrionum et ioculatorum sine
Der römische Mimus im Mittelalter. 799
ordnete, wie der Historiker Rigord berichtet, im Jahre 1185
cibo et muneribut vacuam et merentem abire permisit. Otto von Freisingen, Chron.
VI, 32 (M. G. H. Script. Bd. XX, S. 244), berichtet von derselben Sache mit
den Worten : omne balatronum et histrionum collegium, quod, ut assolet, eo conßuxerat,
racuum abire permisit, pauperibusque ea, quae membris diaboli subtraxerat, large
distribuit.
Hier sind Grysar einige Irrtümer begegnet, welche die eigentümliche
Art seiner Stadien für den Mimus illustrieren. Auf Seite 333 heifst es bei
ihm: „Agoberd, Erzbischof von Lyon, beklagt es in einem Briefe vom Jahre
83&. dafs der König wenig für die Kirche, desto mehr für die Komödianten
thue: inebriat histriones, mimos turpissimos et vanissimos ioculatore*. Hermann,
Contr. Chronic, ad. a. 1043, sagt beinahe im ähnlichen Sinne: ad solemnia
eiusmodi agmina mimorum et histrionum conßuunt, ac munera a principibus re-
ferunt." Man kann suchen, soviel man will, diese Stelle findet sich bei Heri-
mannus nicht, auch überhaupt nicht in irgend einer anderen Chronik. Da-
gegen citiert Muratori in den Antiquitates Italicae medii aevi Tom. II in der
Dissertatio vigesima noiia: De spectaculis et ludis publicis medii aevi auf
S. 843 B die eben angeführt^ Stelle aus Otto von Freisiugen; diese Stelle
hat dann Grysar S. 335 einfach aus Muratori abgeschrieben. Dann heifst es
hei Muratori an derselben Stelle weiter: Paria habet Rermannus Contractu*
ad Autatm MXLIH in fusiori editione illius Chronici. Quae cnnnia ottendunt tum
XI. Saeculo tantum, sed iamdiu inraluisse moretn, ut ad solemnia eiusmodi
spectacula agmina Mimorum et Histrionum conjluerent ac munera
a Principibus re/errent. Diese Worte Muratoris hat Grysar für die des
Herimannus angesehen und sich so dieses Zeugnis Herimanns zusammen-
geschmiedet. Die Quellen selber aufzusuchen gehört nicht zu seinen Ge-
pflogenheiten. Darum kann er auch oben sagen, Agoberd klage, dafs der
König die Mimen füttere: er hat diese Stelle wieder einfach ans Muratori
a. a. 0. S. S45 D abgeschrieben. Hätte er bei Agobert selbst nachgesehen,
so hätte ihn der Zusammenhang gelehrt, dafs gerade die Kirchenfürsten,
nicht der König gemeint sind (vgl. oben S. 795). Doch hier handelt es sich
um entlegene mittelalterliche Litteratur, aber selbst mit den alten lateinischen
Quellen geht Grysar nicht vorsichtiger um. Für ricinium giebt er (S. 270)
aus Festus das Citat: Ricinia autem portabani, quo aequiore habitu prodirent,
atque ut inde nomen ducerent. Ich habe Tage lang im Festus umsonst nach
diesem Citate gesucht und mich nicht wenig geärgert, endlich merkte ich,
dafs diese Belegstelle für ricinium wieder einfach Grysarsches Fabrikat ist
aus der Festusstelle (0. Müller S. 181): planipedes autem soecos nonporta-
bant, quo aequiore habitu prodirent: quo factum ut inde nomen ducerent Auf
S. -247 ist von dem „mit römischen Kognomen überscbriebenen, also doch
wohl römischen Mimus Natta" des Laberius die Rede, der bei Gellius XVI, 7
vorkommen soll. Dieser Mimus heifst aber Natal, und bei der Aufzählung
800 Neuntes Kapitel. '
den „histrionen" mit ihren verderblichen „verba ioculatoria"
der Mimen des Laberius (S. 294) giebt Grysar nachher selbst unter Berufung
auf Gellius XVI, 7 diesen Titel richtig und hat schon längst vergessen, dafs
er eben von einem seiner Vorgänger, der noch in einer alten Gelliusausgabe
Nata las, das einige hss. haben, den Mimus Natta acceptiert hat. Er hat
die Gelliusstelle eben garnicht angesehen. S. 328 ist von den verschiedenen
Theatern die Rede, die in Rom erbaut waren, dort heifst es weiter: „Plin.
H. N. XXXV, 38 bezeichnet uns sogar namentlich einen gewissen Publius als
den Erbauer einer Mimenbühne: Publius mimicae scenae conditorem etc.'1 Die
Stelle steht nicht, 38 sondern 58 und lautet richtig: Publilium Antiochium etc.,
und wenn Grysar die Stelle eingesehen und nicht blofs wieder abgeschrieben
hätte, hätte er gesehen, dafs hier nicht von irgend einem Baumeister einer
Mimenbühne, sondern von dem berühmten Mimographen Publilius Syrus die
Rede ist, dem der Ehrentitel conditor mimicae scenae beigelegt wird. Wie
Grysar mit den Quellen umgegangen ist, dafür habe ich schon oben ein' und
das andere Beispiel gegeben, und diese Beispiele lassen sich stark vermehren,
doch wozu (vgl. S. 69, 171, 426, VI, 433, 444 u. ö.). Von einer methodi-
schen Ausnutzung der Quellen, ja überhaupt nur von einem Nachschlagen
der Citate ist keine Rede, das meiste ist einfach von den Vorgängern ent-
lehnt, die wieder ihre Vorgänger benutzen, so sind die Stellen zur Geschichte
des Mimus wie abgegriffene Scheidemünze von Hand zu Hand, von Geschlecht
zu Geschlecht gegangen; an diesen Bettelpfennigen hat man sich so lange
genügen lassen und seine" Unkenntnis des Mimus gelegentlich mit pathetischen
Schimpfereien über seine Sittenlosigkeit und Armseligkeit verbrämt. Selb-
ständig scheint Grysar die lateinische Patrologie Mignes, wenigstens nach
den Indices, durchgearbeitet zu habeii. Aber diese unter theologischen Ge-
sichtspunkten verfafsten Indices sind für den Mimus natürlich ganz un-
genügend, zudem fehlen sie zum grofsen Teile überhaupt. Da war der
Liebe Müh' umsonst. Vollständiger, was den Mimus angeht, sind die In-
dices in den alten Einzelausgaben aus dem XVI, XVII und XVIII. Saecu-
lum, besonders in den Maurinerausgaben des Augustin und Johannes
Chrysostomus ; die hat aber Grysar natürlich wieder nicht' benutzt. Da-
gegen bieten die Indices bei Vallarsi und den Maurinern für Hiero-
nymus kaum ein einziges Mal das Wort „Mimus", und doch findet
man, wenn man Hieronymus genau durcharbeitet, den Mimus unablässig
erwähnt. Nur eine solche Durcharbeitung aller einschlägigen Quellen
konnte hier eine wissenschaftliche Grundlage liefern, aber darüber gehen
viele Jahre hin, und die hatte Grysar wohl nicht übrig. So hat dieses
ziemlich leichtfertige Machwerk mit seiner aus einer ganz ungenügenden
Kenntnis der Quellen resultierenden geringschätzigen, platten und banalen
Auffassung des grofsen mimischen Dramas jeden Fortschritt auf diesem
wichtigen litterarischen Gebiete gehindert, wo das Eingeständnis der Unwissen-
Der römische Mimns im Mittelalter. 801
sollten nicht mehr seine abgelegten Gewänder, sondern den
Armen gegeben werden1).
Diese Nachrichten über die Mimen stammen vorwiegend aus
dem westlichen Deutschland, aus Italien und Gallien. In diesen
Ländern waren seit dem ersten Jahrhundert nach Christus die
Mimen besonders zahlreich. Aber auch in Britannien sind sie
in der nachchristlichen Aera weit verbreitet gewesen. So be-
richtet Peter von Blois, an dem Hofe Heinrichs II. von England
hätten die Histrionen und Mimen besondere Geltung gehabt ).
Das bestätigt Johannes von Salisbury. Er lobt den Augustus,
der sich von seiuer Leidenschaft fürs Theater habe heilen lassen.
Ganz anders Nero, der trotz seiner Habsucht den Mimen und
Histrionen unermefsliche Schätze zufliefsen liefs und sie zu
Patriziern und Senatoren ernannte. In der That trieb Nero die
Leidenschaft für den Mimus bis zur Verrücktheit1). Nach Nero
heit und Unzulänglichkeit viel nützlicher gewesen wäre als dieses falsche
und ein wenig schwindelhafte Wissen, von dem man sich merkwürdiger Weise
allgemein imponieren liefs. Ich erinnere nur an Sathas Lobspruch (vgl. obeu
S. o83, Anm. 1). Teuffei wufste an Grysar nur zu tadeln, dafs er die Zeiten nicht
genug sondere. Du lieber Gott, wir haben ja allerdings den althellenischen,
alexandrinischen, griechisch-römischen und byzantinischen Mimus geschieden:
aber wir haben daneben gerade eine gewisse Stabilität in der Form der mimi-
schen Hypothese sowie in den mimischen Typen und Themen konstatieren
können; dieser Einwand, der kritisch und gelehrt klingt, beweist also nur,
dafs Teuffei noch weniger vom Mimus verstand wie Grysar und hier noch
oberflächlicher urteilte.
') Rec. d. histor. des Gaules et d. 1. France t. XVII. S. 21.
2) Petrus Blesensis, Epistolae (Migne, Patrol. lat. 207, pag. 49, Epi-
Stola XIV): .... Curritur ad meretrices et tabernacularios atriales, utjnquiratur
ab eis, quo princeps profecturus sit. Hoc enim genus curialium arcana palatii
Jrequenter novit. Regis enim curia/n sequuntur assidue histriones, candida-
trices, aleatores, dukorarii, caupones, nebulatores, mimt, barbatores . . . .
*) Polycraticus Lib. I, cap. VII. De dissimilitudine Augusti et Neronis
(ed. A. Giles, I, Oxford 1848, S. 41 ff.): Augusto tympanizante in caena, a
quodam milite probrose dictum est: Vides — ne ut cinaedus orbem digito tem-
peret? Cujus ille verbi percnssus amaritudine, os, manus et animum in aevum ab
hvjusmodi levitate suspendit; habuitque semper gratiam exprobranti. Sed lange secus
Nero .... Cum vero esset omnium avarissimus, adeo ut nullt quodcunque officium
delegaret, quin prosequeretur, Nosti quid mihi opus sit: aut illud subjiceret. Qui
Reich, Mimus. ci
802 Neuntes Kapitel.
und nicht nach Augustus, meint nun Johannes von Salisbury,
richteten sich zu seiner Zeit die Fürsten und das Volk in Eng-
land, sie seien durchaus Freunde der Mimen. Im Altertum gab
es allerdings würdige Schauspiele, denen auch ein ernsthafter
Mann mit Recht sein Interesse hätte zuwenden können. Das
lehre das Beispiel des Plautus, Menander und Terenz. Zu seiner
Zeit gäbe es aber nur die Mimen mit ihren sittenlosen Dar-
stellungen und die Gaukler. Sie würden mit Vorliebe selbst
in die vornehmsten Haushaltungen aufgenommen und niemand
kümmere sich darum, dafs sie von den Kirchenversammlungen
exkommuniciert seien und dafs darum auch ihren Gönnern das
ewige Verderben bevorstände1).
omnibus praeest, omnibus indiget: tarnen histrionibus et mimis pecunias infinitas
erogare non gravabatur; singulos jjrout quisque placuerat, amplissimae dignitatis
nomine subornabat, alios patriciosj alios senatores dicens. Hos illustrium spectabi-
liumve nominibus illustrabat.
l) Cap. 8. De Histrionibus et Mimis et Praestigiatoribus. Eum vero adhuc
aliqui pro parte imitantur, etsi foeditate illius nemo dignetur involvi, quum gratiam
suam histrionibus et mimis multi prostituant, et in exhihenda malitia eorum caeca
quadam et contemtibili magnißctntia, non tarn mirabiles, quam miserabiles Jaciunt
sumtus. lila tarnen aetas (ut sie interim dicam) honestiores habuit histriones, si
tarnen aliquo modo honestum est, quod omni nomine libero comprobatur indignum.
Nee tarnen histrionem assero turpiter in arte sua versari, etsi indubitanter turpe sit
esse histrionem. Et quidem histriones erant, qui gestu corporis arteque verborum, et
modulatione vocis, faetas aut fietas historias, sub aspectu publico referebant, quos
apud Plautum invenis et Menandrum, et quibus ars nostri Terentii innotescit. Porro
comicis et tragicis abeuntibus, quum omnia levitas oecupaverit, clientes eorum, comoedi
videlicet et tragoedi, exterminati sunt. Sed eos in servili conditione duntaxat ple-
rumque reperies. Quis vero eorum usus extiterit, poetica docens aperit.
Aut prodesse volunt, aut delectare poetae
Aut iueunda simul et idonea dicere vitae.
At nostra aetas prolapsa ad fabulas, et quaevis inania, non modo aures et cor
prostituit vanitati, sed oculorum et aurium voluptate, suam muleet desidiam, luxuriam
accendit, conquirens undique fomenta vitiorum ....
Vitanda est, inquit Ethicus, improba Siren
Desidia
At eam nostris prorogant histriones. Exoccupatis etenim mentibus surrepunt taedia,
seseque non sustinerent, si non alieuius voluptatis solatio muleerentur. Ad/nissa sunt
ergo speetacula et infinita tyrocinia vanitatis, quibus qui omnino otiari non possunt,
Der römische Mimus im Mittelalter. 803
Wie in den Kirchenversammlungen des griechischen Ostens
wird der Mimus in denen des lateinischen Westens stets von
neuem verflucht, und die Mimen werden unablässig weiter mit
Exkommunication bedroht, weil sie eben unaufhörlich weiter
existierten. So werden in der zweiten Synode von Arras im
Jahre 452 die christlichen Mimen, so lange sie ihren Beruf aus-
üben, von der Kommunion ausgeschlossen1). In den Kapitularien
Karls des Grofsen wird den Geistlichen ausdrücklich das Halten
von Mimen (Ioculatoren) untersagt2), desgleichen den Mimen und
Schauspielern verboten, in Kleidern von Priestern, Mönchen und
Nonnen aufzutreten3). Wir wissen, dafs genau dasselbe Verbot
pemiciosius occupentur. Satius enim fuerat otiarit quam turpiter occupari. Hinc
m im i, salii, vel saliares, balatrones, aemiliani, gladiatores, palaestritae, gignadii,
praestigiatores malifici quoque multi et tota joculatorum scena procedit. Quorum
adeo error invaluit, ut a praeclaris domibus non arceantur, etiam Uli qui obscenis
partibus corporis, oculis omnium eam ingerunt turpitudinem, quam erubescat videre
vel Cynicus. Quodque magis mirere, nee tunc ejiciuntur, qvando tumultuantes inferius
crebro sonitu aerem foedant, et turpiter inclusum, turpius produnt. Xumquid tibi
videtur sapiens, qui oculos, vel aures istis expanditP Quis tarnen libenter non videat
et rideat, quum praestigiatoris lotio perfusi ars deletur, et oculis, quos malitia sua
praestrinxerat, videndi facultas reparatur f Iucundum quidem est, et ab honesta non
recedit, vimm probum quandoque modesta hilaritate muleeri, sed ignominiosum est
gravitatem huiusmodi laseivia frequenter resolvi. Ab istis quoque speetaculis, et
maxime ab obscenis, viri arcendus est oculus, ne Incontinentia ejus, mentis quoque im-
pudicitiam fateatur . . . Sacrae quidem communionis gratiam histrionibus et mimis,
dum in malitia perseverant, ex auetoritate patrum non ambigis esse praeclusam.
Unde quid fautoribus eorum immineat colligis, si facientes. et consentientes pari
poena recolis esse plectendos. Qui donant, inquit, histrionibus, quare donanfi Hoc
utique in Ulis Jovent, in quo nequissimi sunt. Nempe qui nequitiam fovet, estne
bonusf Quum vero omnium istorum sit odibUis, illorum tarnen qui minus nocent,
malitia tolerabilior est.
') Harduin II, 774. De agitationibus sive theatricis, qui jideles sunt, placuit
eos, quamdiu agunt, a communione separari. Vgl. auch Hefele, „Concilien-
geschichte" II, 283.
J) Caroli Magni capitularia. Duplex legationis edictum 789 m. Martio
23 (M. G. h. Leges, sect. II, I, S. 64) 31. Ut episcopi et abbates et abbatissae
cupplas canum non habeant nee falcones nee aeeipüres nee ioculatores.
s) Caroli Magni capitularia, t. V, p. 1509 ed. Heineccius: Si quis ex
scenicis vestem sacerdotalem aut monasticam vel mulieris religiosae, vel qualicunque
ecclesiastico statu simUem indutus fuerit, corporali poena subsistat et exilio tradatur.
51*
804 Neuntes Kapitel.
gegen die Mimen im byzantinischen Osten erlassen werden mufste
(vgl. oben S. 134, Anm. 2). Im bayrischen Landfrieden vom Jahre
1244 und 1256 werden zusammen mit den Lotterpfaffen die
histriones und ihr weiblicher Anhang, Mimen und Miminnen,
spilman und spilwip, für aufserhalb des Friedens stehend erklärt1).
*) (Mon. Germ, histor. Leges Sect. IV, Constitutiones II, 577.) Pax
Bawarica 1244, Nr. 427, 1244 ante Jul. 25. 64 (61 L): De vagis et hystrioni-
bus. Item clericos tonsuram laycalem deferentes, videlicet vagos, et etiam laicos
istriones, mulieres secum per provinciam ducentes, et quoslibet ioculatores nisi in
sua parrochia innatos ponimus extra pacem.
Pax Bawarica 1256, Nr. 438 (S. 600), 1256 ante Nov. 11. (50. XXXIII.)
De vagis. Loterpfaffen mit dem langen hare und spilleut, di diu wip mit in furent
uzzerhalb ir pfarre, di sint uz dem fride.
Ähnlich werden in Kapitularien Ludwigs des Frommen oder "Kaiser
Lothars die histrionen und scurren für unfähig der Zeugenschaft vor Gericht
erklärt. M. G. hist. leg. II, 1. S. 334. Capitula singillatim tradita et Hludo-
wico pio vel Hlothario adscripta. — Capitulum ultimnm est secundae ad
Ansegisum appendicis in codice Paris. 10758. Originis incertae est. 8. De
non accipiendis qualibuscumque personis in iuditio, in accusatione et testimonio.
Hoc sancimus, ut in palatiis nostris ad accusandum et iudicandum et testimonium
faciendum non se exhibeant viles personae et infames, histriones scilicet, nugatores,
manzeres, scurrae.
Wenn im Mainzer Concilienbeschlufs aus derselben Epoche (847) (Ad-
ditamenta ad capitularia regum Franciae orientalis Nr. 248 in Mon. Germ,
histor. leges II, II, S. 179) von den Geistlichen verlangt wird: ante se ioca saecu-
laria vel turpia fieri non permittere, so sind damit die Späfse (ioca) der iocu-
lares, der filfxoi yeXotcov gemeint. Von diesen Späfsen der Mimen ist auch
in dem concilium Turonense wie Cabilonense die Rede. Turonense III
(813), Harduin IV, 1024. VII. Ab omnibus quaecumque ad aurium et ad
oculorum pertinent illecebras, unde vigor animi emolliri posse credatur, quod de
aliquibus generibus musicorum aliisque nonnullis rebus sentiri potest Dei sacer-
dotes abstinere debent: quia per aurium oculorumque illecebras, vitiorum turba ad
animam ingredi solet. Histrionum quoque turpium et obscoenorum nisolentias ioco-
tum et ipsi animo effugere ceterisqice sacerdotibus effugienda praedicare debent.
8. Sacerdotibus non expedit, saecularibus et turpibus quibuslibet interesse jocis;
venationes quoque ferarum vel avium minime sectentur.
Cabilonense, Chalons sur Saone 813, II, can. IX. Harduin IV, 1034.
IX. Ab omnibus oculorum auriumque illecebris sacerdotes abstinere debent: et camtm,
accipitrum falconum vel ceterarum huiusmodi rerum cur am parvi pendere: et h istrio-
num, sive scurronum et turpium seu obscenorum iocorum insolenüam non solum ipsi
respuant, verum etiam fidelibus respuendum percussant.
Der römische Mimus im Mittelalter. 805
Noch in der Pariser Synode vom Jahre 1212 oder 1213 wird es
den Bischöfen eingeschärft, am Anfang und Ende ihrer Mahlzeiten
müsse eine Lesung aus der heiligen Schrift stattfinden und bei
ihren Gastmählern dürften keine Mimen auftreten1). Das wird
ausdrücklich verboten, weil es gewifs ebenso die Regel war, wie bei
den Gastmählern der weltlichen Grofsen. Ich erinnere an den
Bischof von Ephesus, der auf die Schulter einer Mimin gestützt
zum Gastmahl kam (vgl. oben S. 154). In einem Concilien-
beschlufs von Ravenna vom Jahre 1238 wird hervorgehoben, zu
den weltlichen Festen bei der Erteilung des Ritterschlages und
bei Hochzeiten fänden sich gern die histrionen und ioculatoren
ein. Dann hätten die Laien die Gewohnheit angenommen, die
Mimen nach Beendigung des Festes zu den Geistlichen zu senden,
und diese verschwendeten nicht selten das Kirchengut an die
Mimen. Fortan aber müsse jeder Kleriker das Doppelte von
dem, was er von KircheDgeldern einem Histrionen gegeben habe,
den Armen aus seinem eigenen Vermögen darreichen'). So
glaubte schon im Altertum der Patriarch Dioscoros von Alexan-
dria ein reiches Vermächtnis, das den Armen gemacht war, besser
für die Mimen aufzuwenden (vgl. oben S. 154, 155). Auch Erz-
bischof Agobert führte Klage über das Kirchengut, das für die
1) Labbe XI (I), 77. V. Ut in menta eorum fiat sacra lectio Statuimus
etiam, ut in mensa, nahem in principio et in ßne, coram eis sacra lectio re-
citetur: et ne in mensa histriones, vel mimos vel eorum audiant instrumenta.
Ähnlich heifit es iu einem Hirtenbriefe Tom Jahre 1280 bei Montfaucon,
Catalog. manuscr. S. 1 158 : Nullus spectaculis aiiquibus quae aut in nuptiis aut in
scenis exhibentur, intersü.
2) Concilium Ravennate I, anno Christi 1286 (Labbe XI (U), 1238D, E,
1239 A, B) Capitula: Ne clerici ioculatores vel histriones a laicis trans-
missos recipiant. . . . cum laici decorantur cingulo militari, seu nuptias contrakunt,
ioculatores et histriones transmittunt ad clericost ut eis provideant
statuimus, ut nullus clericorum nostrae provinciae, quocumque fungatur honore vel
statu, a talibus ioculatores vel histriones transmissos recipiat, seu provideat
aliquid propter victum, etiam transeundo. Si quis autem contra fecerit duplum eius,
quod dederit ioculatori vel histrioni, restituere ecclesiae, a qua habet beneficium,
teneatur. per ipxum in MM pauperum convertendum.
806 Neuntes Kapitel.
Mimen vergeudet wurde (vgl. oben S. 795). Unaufhörlich wird
den Geistlichen ihre Freude an den Mimen und ihren Schau-
spielen von zeitgenössischen Satirikern vorgehalten. So klagt
der Archipoeta darüber, dafs die Geistlichen wohl die Mimen,
aber nicht ihn mit offenen Armen aufnehmen. Walther Mapes
spottet über die Kleriker, die für die Schauspiele immer
Zeit haben1). Noch gegen Ende des fünfzehnten, Jahrhunderts
werden Synodalbeschlüsse gegen die „mimi et ioculatores" er-
lassen 2).
Schliefslich fanden sich denn auch im lateinischen Westen
ebenso wie im byzantinischen Osten angesehene Geistliche, die
den Mimus und die Mimen nicht so ohne weiteres verwerfen
wollten, wie z. B. der heilige Thomas von Aquino (13. Jahr-
hundert)3). Ja, sogar die Päpste liefsen es sich gefallen, wenn
man ihr Erscheinen in einer Stadt mit Mimen und Spafsmachern
feierte. Als Pabst Hadrian VI. im Jahre 1522 von Spanien
nach Rom reiste, traten in dem spanischen Städtchen Calahorra
ihm zu Ehren Mimen auf. Das ist ungefähr dieselbe Zeit, in
x) Wright, Latin poems commonly attributed to Walther Mapes, p. 233
(de dirersis ordinibus hominum):
Clerici spectacula saepe visitabunti
tabulas non deserent, plateas calcabunt
et canem pacificum stantes excitabunt
libris tardabunt, ad ludos se properabunt.
2) So z. B. auf der Synode zu Olmütz VII (Hartzheim IV, 338): nullus
dericus . . . alicui joculatori seu mimo ex nupciis sibi transmisso per aliquem
aliquid dare praesumat. Ebenso Synod. Frising. 1480 (Hartzheim V, 512):
mimis, j oculatoribus, hystrionibus, buffbnibus seu hominibus artis lubrice
pretextu nuptiarum vel alterius similis cansae (rae) quidquam largiantur. Bei Helele
in der Conciliengeschichte findet sich unablässig das ganze Altertum und
Mittelalter hindurch die Erwähnung solcher Beschlüsse gegen das Theater
und die Schauspiele, insbesondere aber gegen die Mimen und Ioculatoren, so
1, 153, 747, III, 307, VI, S. 171, 212, 433, 591, 597, VII, 1, S. 414 u. 415, VII, 2,
S. 414, VIII, 6, besonders mit Anm. 3, 37, 201, 293.
3) Vol. II, 2 quaest. 168, art. 3: Histrionum officium non esse per se illici-
tum, dummodo moderate ludo utantur, id est non utendo illicitis verbis vel /actis
ad ludum.
Jongleur nnd Jongieresse. Mimus und Mima. 807
welcher die' Sultane der Türken ihre Feste durch den byzautini-
schen Mimus verherrlichten1).
IL
Jongleur und Jongieresse. Mimus und Mima.
Der Mime ist der yelooTonoiög, der ftTpog yeloi<*>v, davon
ist iocularis und ioculator die lateinische Übersetzung. Schon in
der Mitte des vierten Jahrhunderts bezeichnet Firmicus Materuus
in seiner Astrologie die Mimen als „scenische ioculatoren ■ *). So
steht in dem alten griechisch-lateinischen Glossar ptpoi; = iocu-
laris und im Mittellatein wird mimus und ioculator als identisch
neben einander gebraucht. Erzbischof Agobert (im neunten Jahr-
hundert) stellt mimos'turpissimosque et vanissimos ioculares zu-
sammen (vgl. oben S. 795, Anm. l)s).
l) Baluzii, Miscellaneorum lib. III, 364. Paris 1690. Itinerarium
Adriani VI. Pontificis maximi per Blasium Ortizium in Decretis Doctorem
Canonicumque Toletanum ac generalem Vicariam summa fide collectum.
IV. De honorifica receptione a Lucronensibus habita in Pontificis ad-
ventu .... Hinc in oppidum de Alcanadre profeetus, ibidem pernoctavit. Die
proxima, hora nona . in antiquam urbern Calagurrium receptus solenniter cum
mim 15 et larvis aliisque huiusmodi ludis, .iocunde comitatus in Ecclesiam cathe-
dralem.
') Hatbeseos lib. VIII, cap. 22 : Histriones faciet, pantomimos, ac scaenicos
ioculatores.
3) Du Cange citiert Lambertus Ardensis pag. 247: ministrantüms mimicis,
nebulonibus, yarcionibus, scurris et locularibus (s. v. iocularis); desgleichen (s. V.
Mimare) Lit. remiss. ann. 1361 in Reg. 91. Chartoph. reg. eh. 241: Bequisi-
rerunt unum mimum seu jugalatorem (sie) .... pro ludendo et spatiando seu
Mimando cum ipsis. Das Verbum mimare entspricht dem griechischen ptfio-
Xoytio&ai, das Strabo von den Atellanenspielern braucht (vgl. oben S. 281,
Anm. 1). Es ist eine mittellateinische Bildung; man bedurfte eines eigenen
Verbums für die Thätigkeit des Mimen, den man beständig vor sich sah, und
der einen so wichtigen Platz im mittelalterlichen Volksleben einnahm. Selbst
für die mimischen Spöttereien, Foppereien und Spafsmachereien, die losen
und übermütigen Reden und Narrheiten, die mimicae ineptiae und artes
mimicae bildete man ein besonderes Substantivum : mimaritiae. Der Abt
Pirminius (stnrb 758) sagt: Xullus Christ ianorum neque ad ecclesiam, neque in
domibust neque in trivio, nee in ullo loco balationes, cantationes, saltationes, Jocus
gQg Neuntes Kapitel.
In spanischen Concilienbeschlüssen werden gleichfalls die
juglars mit den Mimen identifiziert1).
Allmählich gaben die romanischen Sprachen vor dem griechi-
schen Lehnwort mimus dem echt lateinischen, auch in seiner
stammhaften Bedeutung noch den Romanen verständlichen, iocularis
und ioculator, altfransösisch jogleor (modern Jongleur), italienisch
giocolare, giocolatore, spanisch juglar, den Vorzug. Davon stammt
im Englischen Juggler, im Althochdeutschen gougaläri, coucaläri,
gouggiläri, Mittelhochdeutschen gougelaere, goukelaere, modern
Gaukler.
Nun scheint ja allerdings die Schauspielkunst, die eigentliche
Kunst des Mimen, sehr weit abzuliegen von den Fertigkeiten
der alten Jongleure. Von ihnen gab Tobler vor mehr als
25 Jahren in der formvollendeten Abhandlung „Spielmannsleben
im alten Frankreich" eine lebensvolle Schilderung., Ich kann
mir's nicht versagen, daraus eine besonders lehrreiche Stelle hier-
her zu setzen: „Der unbekannte Dichter der breit angelegten
Novelle „Flamenka" weifs kaum ein Ende zu finden, wo er aufzählt,
was beim Feste zu Ehren der in Bourbon eingetroffenen jungen
Gemahlin an Ohren- und Augenschmaus den Gästen geboten
worden sei: aufser den Liedern aller Gattung, der unabsehbaren
Reihe von erzählenden Gedichten ...... aufser den vielerlei In-
strumenten, die er ertönen läfst, der Fiedel, der Harfe, der
Flöte, der Pfeife, der Geige, der Rote, dem Dudelsack, der
Schalmei, der Mandoline, der Zither und einigen anderen, für
welche deutsche Namen fehlen, erwähnt er der Kunststücke, die
mit Messern ausgeführt werden, des Puppenspiels (wenn wir ihn
et lusa diabolica facere non praesumat. Mimaiitias et verba turpia et ama-
toria, vel luxuriosa, ex ore suo non proferat. (De singulis libris canonicis sca-
rapsus. Migne, Patr. lat. 89, pag. 1041 D.). Allerdings fielen bei den Liebes-
geschichten, welche die Mimen darstellten, verliebte und üppige Reden und
besonders im roheren Mittelalter mögen sie direkt schändlich gewesen sein.
Von Interesse ist hier wieder die Zusammenstellung von mimaritiae mit iocus.
>) In Conc. Tarracon. VIII, ann. 1317 inter Constit. Mss. reg. Aragon.:
Moneantur (clerici) quocl nee tafurarias exerceant bastaxi aive Iucglars mimi, etc. (bei
Du Cange s. v. ioculator).
Jongleur and Jongieresse. Mimus und Mima. 809
richtig verstehen), der Purzelbäume, des Kriechens am Boden,
des Tanzes mit einer Flasche, des Springens durch einen Reif;
kurz, wir dürfen ihm wohl glauben, wenn er am Ende seiner
Beschreibung sagt: Und von der Fidein lautem Schall, Vom
Lärmen der Erzähler all, War durch den Saal ein grosses
Brausen! — Jaquemet Saquesep, der die Geschichte des Castellans
von Coucy des breiteren erzählt hat, läfst bei ähnlicher Ge-
legenheit auch Hörner, Tamburine, Zimbeln ertönen, Ochsen und
Bären tanzen. Jean aus Cond6 klagt einmal über den geringen
Erfolg seines lehrhaften Dichtens und schätzt den „Spielmann"
glücklieh, dem es besser gelinge, „zum Ergötzen der Leute
einem Pferde, einem Bären, einem Hunde mancherlei Kunststücke
für die Dauer beizubringen ■tl).
Die Jongleure sind also vorwiegend Gaukler, Springer,
Tänzer, Bändiger und Abrichter von Tieren, daneben auch
Spielleute, Sänger und Erzähler; die Mimen dagegen sind Schau-
spieler.
Nun. wir haben gesehen, wie im vierten und fünften Jahr-
hundert v. Chr. der Stand der antiken Mimen aus dem der
Gaukler erwuchs, wie Gaukler und Mime noch später sich fried-
lich nebeneinander produzierten, wie selbst das grofse mimische
Drama neben sich die Produktionen der Gaukler im Dionysos-
theater duldete, ja wie gelegentlich allerhandi Gauklerkünste in
der mimischen Hypothese selber vorgeführt wurden. Ich denke
an den kahlen Narren mit dem unzerbrechlichen Schädel bei
Synesius, an das Blutspeien des Laureolus und seiner Räuber,
au den Hund, der im Mimus mitspielt. So ward die Verwandt-
schaft zwischen Mimen und Gauklern nie gänzlich aufgehoben.
') Im neuen Reich. Wochenschrift für das Lehen des deutschen Volkes.
Leipzig 1895. S. 327 u. 32 S. Die hübsche Legende, die Tobler hier von
einem alten Jongleur erzählt, der als Mönch die Jungfrau Maria weder mit
lateinischem Gebet und Gesang noch sonstiger mönchischer Kunst zu ehren
versteht und nun vor dem Bilde der Gebenedeiten ihr zu Ehren seine alten
Sprünge und Gaukeltänze machte, erinnert uns an den greisen Mimen, der
täglich auf dem Kapitol vor dem Standbild Juppiters diesem zur Ehre einen
Mimus aufführte (vgl. oben S. 71).
810 Neuntes Kapitel.
Im Mittelalter war das Niveau der Volksbildung arg herunter-
gedrückt, da pafsten sich die Mimen dem roheren Geschmacke
an und bevorzugten wieder mehr ihre ,alte Gaukelkunst, hatten
sie ja doch die Gaukelbühne des d^avfiatonoiog immer bei-
behalten.
So können wir uns nicht wundern, den alten Mimen, den
Jogleor als Tänzer, Springer, Gaukler, Messerwerfer, Bärenführer
und Tierbändiger wiederzufinden1).
Mit dem Gaukler wanderte schon im klassischen Altertum
die Gauklerin, mit dem Mimen die Mimin, mit dem Archimimen
die Archimimin, und als der Mimus zum Jongleur wurde, ward
die Mime zur Jongieresse. In einer Urkunde der Corporation
des menetriens ou joueurs d'instruments de la ville de Paris , vom
14. September 1321 2) werden neben Jongleurs auch jongleresses,
neben menestrels auch menestrelles genannt. Freilich hatte die
jongleresse auch neben der mimischen und der Gaukelkunst den
schlechten Ruf der niederen „Mimae" von diesen geerbt. So
hat denn jongleresse und das gleichbedeutende menestrelle
einen bösen Nebenbegriff3). In der oben genannten Uckunde
unterzeichnet mit den Jongleurs und Menestrels unter anderen
Miminnen eine Marguerite, mit dem Spottnamen la fame ou moine.
III.
Jongleure und Mimoden.
Wir haben die Mimen in Mimologen und Mimoden geschieden.
Die mittelalterlichen Mimen sind zum gröfseren Teile Mimoden.
J) Die einschlägigen Belegstellen dafür aus der altfranzösischen Litte-
ratur siehe bei Freymond, Jongleurs und Menestrels. Halle 1883. S. 1 6 folg.
2) Abgedruckt bei B. Bernhard, Recherches sur l'histoire de la Cor-
poration, des menetriers ou joueurs d'instruments de la ville de Paris.
Bibliotheque de l'ecole des chartes t. III, p. 384.
3) Vgl. darüber Freymond a. a. 0. S. 11. Nachrichten über Spilwip
giebt es aus dem frühesten Mittelalter. Vgl. Reiffenbergs Ausgabe der
Chronik Mouskets. Bd. I, p. CXXXIX.
Jongleure und Mimoden. 811
Neben den hellenischen Mimoden und Mimodinnen stand stets
ein Musikant oder eine Musikantin und begleitete die Arien mit
Flöten, Pauken oder Cymbeln (vgl. oben S. 612ff.). So spielten
die Jongleure und sangen dazu oder liefsen ihren Gesang auch
von anderen auf Instrumenten begleiten. In der „Reise Karls
des Grofsen* heifst es:
E cantent e vielent e rotent eil jugler
(V. 413 u. 837.)
Das Singen und Musizieren wurde allmählich zur Haupt-
sache1), doch haben noch bis in die späteste Zeit Spielleute mit
Musik und Gesang zugleich die alte, spezifisch mimische Kunst
verbunden. So heifst es in einem „ Instrumentum ■ vom Jahre
1482, das dem Spielmann Iter ausgefertigt war: Mihi nomen
Iterius trahens originem ex Brabardiae finibus mimia et cantu
victum aquiro*). Mimia ist aber nicht, wie Du Cange denkt, ein
mittellateinisches Wort, sondern findet sich schon, wie wir saheu,
im Griechischen bei Philo (vgl. oben S. 577 Anm.).
Die alten Mimoden, die sich zu Jongleuren und Menestrels
verwandelt hatten, bemächtigten sich dann, da sie nun einmal
im Mittelalter die Sänger nn? i%oxtjv waren, der uralten epischen
Poesie der Germanen und Kelten und verdrängten Barden und
Skalden. Schliefslich begannen sie gar selber an der Helden-
poesie weiter zu dichten, das heifst dann „Spielmannsepik'' und
diese Spielmannsepik schlägt am Ende wieder humoristische
Töne an, weil der Spielmann den alten Mimen nicht ganz ver-
leugnen konnte. Der Mime, der ioculator, wird eben im dunklen
Mittelalter, als die mönchisch gewordene Bildung sich von allem
Frohen, Heiteren. Volksmäfsigen als heidnischem Teufelsblendwerk
abwandte, der Träger der gesamten Volkspoesie.
Es ist eine hohe Kulturmission, die der Mime, der immer
etwas von dem alten, heidnischen Hellenentum beibehielt, im
Mittelalter erfüllt, der, nach der alten mimischen Devise qdvg
M Siehe die Nachweise bei Freymond a. a. 0. S. 15 ff.
2J Bei Du Cange s. v. mimia.
812 Neuntes Kapitel.
ßioq tö &JV, das Recht der Lebensfreude hochhielt, aus der alle
wahre Poesie und besonders alle Volkspoesie strömt. Da die
vornehme, gelehrte, schriftmäfsige Weisheit der Hellenen im
Staub der Bibliotheken, vergessen und begraben, moderte, er-
hielt wenigstens der niedere, burleske Mime, der wandernde
Gesell, etwas von der alten, heiteren hellenischen Welt — und
Lebensauffassung unter den Barbaren lebendig — so gut er es
vermochte.
Der Mime und Jongleur, als der Rhapsode des Mittelalters,
ist eine seltsame Erscheinung2), aber nicht so seltsam, dafs wir
2) Ich gebe hier einige Belegst'ellen, die intimere Kenner der Litteratur
des Mittelalters leicht werden vermehren können, für mimus = Musiker,
Sänger, Rhapsode. Als König Konrads Heer im Jahre 973 von den Sachsen
eine blutige Niederlage erlitten hatte, sangen nach Widukinds Zeugnis die
Mimen, welche Hölle wäre grofs genug, um alle die Toten aufzunehmen:
tarda caede Francos mulctati sunt, ut a mimis declamaretur, ubi tantus ille infernus
esset, qui tantam multitudinem caesorum capere posset. Widukindi, Res gestae
saxonicae Lib. I, 23. Mon. Germ. hist. V, S. 428. Du Cange teilt aus Nicolaus
de Braia das Lied eines Mimen auf König Ludwig VIII. von Frankreich
mit (s. v. ministelli S. 393) :
Dumque fovent genium geniali mutiere Bacchi,
Nectare commixto curas removente Lyaeo,
Principis a facie, citharae celeberrimus arte
Assurgit Mimus, ars musica quem decoravit.
Hie ergo chorda resonante subintulit ista:
Inclyte Rex Hegum, probitatis stemmate vernans,
Quem vigor et virtus extollit in aethera famae.
So singt der Mime das Lob des Königs in immer höheren Tönen, um
ihm zum Schlüsse die Freigebigkeit als die höhste Tugend zu empfehlen:
Es ist eine sonderbare Eselgeschichte, die im Asinarius vel Diadema
erzählt wird. Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten einen
Sohn, der von Gestalt ein Esel war, von Sinnen aber ein Mensch wie Lucius
im goldenen Esel. Dieser Eselmensch wollte durchaus das Saitenspiel er-
lernen und wendet sich an einen Zitherspieler, der ihn das lehren soll;
dieser Sänger und Musikant wird ein Mime und Spafsmacher geheifsen,
weil mimus und scurra eben zusammengehören; man sagte ja schon im alten
Latein scurra mimarius (vgl. oben S. 199, Anm 1). Der Esel bittet: esto
magister, ait, o citharista mens. Die Bitte wird abgelehnt: dixerat hoc MtMtti
tremit et tabescit asellus. Da fährt der Esel den citharista an:
Jongleure nnd Mimoden. 813
sie jetzt nicht erklären könnten. Aus der alten ionischen
Rhapsodie ging, da die Epik allmählich humoristisch wurde, die
quid tibi lecator de me, quid scurra videtur.
Es hilft nichts, der Esel will durchaus das Lautenschlagen lernen, und es
gelingt:
nunc mimi more satis arguto canit ort
nunc et informi palliee dtdce melos.
Überhaupt galt der Mime schon gegen Ende des Altertums als eine,
Art Musikant. So ist der Mime Philemon, über dessen Ende als Märtyrer
wir oben S. 179 ff. berichteten, auch ein Choraule. In den mittelalterlichen
Glossaren wird Choraule einfach mit Mime erklärt, so Gloss. Sang.: coraula,
mimus, cantator; Gloss. Vatic. : choraula mimus; Papias: choraule» prineeps,
ehori . . choraula cantator proprie qui cornu canit vtl mimus. So wird gar
Taillefer, der wackere normannische Sänger und Held, der in der Schlacht
bei Hastings den Angriff auf die Angelsachsen beginnen durfte, in Geffrei
Gainer's Estoire Engleis (Mon. hist. britannica, 1878, p. 827, V. 5271 ff.) ein
Jongleur genannt. In dem Carmen Widonis de Ea-tingae Proelio heifst er
dann entsprechend mimus und histrio (Mon. histor. brit. p. 856 ff. V In der
Summa de Poenitentia aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts
(abgedruckt in Huon de Bordeaux, chanson de ge^te par M. M. F. Guessard
et C. Grandmaison, Paris 1860, Preface p. VI u. VII) werden drei Arten von
Histrionen unterschieden. Da sind erstens die Histrionen, die da wunder-
liche Tänze aufführen unter allerhand obscönen Gebärden und sich ver-
stellen, gelegentlich auch wohl maskieren. Unter diesen etwas nngeschickten
Termini sind unzweifelhaft die mimischen Schauspieler gemeint. Der Mime
trägt ja nun an und für sich keine Maske, aber der Atellanenspieler, der
nächste Verwandte des Mimen, trägt sie, und im Eselmimus trat der Esel-
mensch doch auch maskiert auf. Desgleichen scheinen im mythologischen
Mimus die Götter Masken getragen zu haben (vgl. oben S. 583, 593, 681)
Die Pantomimen traten sogar immer maskiert auf Da ist es verständ-
lich, wenn die mittelalterlichen Mimen, als die einzigen überlebenden
Schauspieler der Antike, gelegentlich Masken tragen. Die zweite Gattung
von Histrionen zieht von Hof zu Hof, um hier Schmähungen über Ab-
wesende vorzubringen. Hier wird man gut thun, an Sotades den Cinaedo-
logen und Ionicologen zu denken, der am ägyptischen Hofe seine mimi-
schen Spottlieder auf die syrischen Könige und am syrischen Hofe auf die
ägyptischen Könige vortrug. Die dritte Gattung der Histrionen, die man auch
Ioculatoren nennt, sind die Sänger, wir sagen die Mimoden. Sie zerfallen
in zwei Kategorien. Die einen singen in den Kneipen und bei üppigen Ge-
lagen allerhand Schandlieder; das sind die (oSai nogrixai, wie die Kirchen-
väter die Mimodien und die cantica in den Hypothesen nannten. Die anderen
singen von den Thaten der Heiligen und der Helden. Diese letzteren Iocula-
814 Neuntes Kapitel.
ionische Mimodie hervor, der Rhapsode wurde zum Mimoden.
So können wir nun auch die umgekehrte Entwicklung in der
mittelalterlichen Epoche verstehen, da der Mimode sich zum
Rhapsoden zurückverwandelt.
Diese Spielleute, Epenerzähler, Sänger, Tänzer, Springer,
Tierbändiger, Zauberer waren gröfstenteils keine Spafsmacher,
keine Ioculatoren, wie konnte man sie also unter einem so gänz-
lich unpassenden Begriffe zusammenfassen? Nun, iocularis ist
eben der ptfiog ysXoiow und Mimen sind diese Leute, wenn auch
nur ihrem Ursprung nach, alle.
IV.
Die Jongleure als Ethologen.
Doch haben die Jongleure niemals den eigentlichen Beruf
des Mimen als Darsteller der verschiedenen menschlichen Typen
toren sind die einzigen unter den Histrionen, die man dulden darf. Ich
setze den Text hierher: Sunt eciam alii histriones qui nichil operantur, sed
curiose agunt, non habentes certum domicilium, sed circumeunt curias magnas et
locuntur opprobria et innominias (ignominias) de absentibus: tales et dampnabiles
sunt, quare prohibet apostolus cum talibus eibum sumere, et dieuntur tales scurrae
sive magi, quare ad nichil aliud utiles sunt nisi ad devorandum et ad male-
dicendum. Est tercium genus histrionum, qui habent instrumenta musica ad de-
lectandum homines; sed talium duo sunt gener a: quidam enim frequentant pötaciones
publicas et laseivas congregationes , ut content ibi laseivas cantilenas, et tales
dampnabiles sunt, sicut alii qui movent homines ad laseiviam. Sunt autem alii,
qui dieuntur joculatores, qui cantant gesta prineipum et vitas sanetorum, et
faciunt solacia hominibus in egritudinibus suis vel in angustiis suis, et non faciunt
innumeras turpitudines sicut faciunt saltatores et saltatrices et alii qui ludunt in
ymaginibus inhonestis, et faciunt videri quasi quedam fantasmata per incantationes vel
alio modo. Si autem non faciunt talia, set cantant gesta prineipum instrumentis suis,
ut faciant solatia hominibus, sicut dictum est, bene possunt sustineri tales, sicut ait
Alexander papa. Cum quidam joadator quereret ab eo utrum posäet salvare ani~
mam suam in officio suo, quesivit ab eo papa utrum sciret aliquod aliud opus unde
posset vivere. Respondit quod non. Permisit igitur dominus papa quod ipse viveret
de officio suo, dummodo abstineret a predictis laseivis turpitudinibus. Notandum
est quod omnes peccant mortaliter qui dant scurris vel lecatoribus vel predictis
histrionibus aliquid de suo. Histrionibus dare nichil aliud est quam per der e
etc. etc. (Ms. de la Bibl. Imp., Sorbonne, 1552, fol. 91 r° col. 2.)
Die Jongleure als Ethologen. 815
und zugleich als Spafsmacher ganz vergessen. In Herberts
Dolopathos, V. 6889, ist der jogleor ein Imitator, ein Lustig-
macher, ein Komiker1). Robert der Teufel, der, um seine Sünde
zu büfsen, sich von dem Abfall nährt, den die Hunde übrig lassen,
wird von Alt und Jung .zum Narren" gemacht, sie machen aus
ihm ihren „Jongleur* ■).
Zu den Aufgaben der Jongleure und Menestrels gehörte es,
die im Turnier verwundeten Ritter aufzuheitern. Dabei gaben
sie gerne mimische Charakterdarstellungen zum besten. Sie
machten den Dandy, den Eremiten oder den Pilger und gaben
besonders Parodien religiöser und kirchlicher Personen und
Handlungen J). In einem altfranzösischen Fabliau wird berichtet,
wie die Jongleure sich bemühen, den von dem Hausherrn aus-
gesetzten Preis zu erringen, einer spielt den Trunkenen, ein
anderer den Narren4). Im 14. Jahrhundert mimten Spielleute
in Oberitalien Typen von Engländern und Bretonen5).
') In Johannis de Alta Silva Dolopatos sive de rege et Septem sapienti-
bus, ed. H. Oesterley, StraM)urg 1873, dem Originale Herberts, p. 55, 24,
steht: quod riderit vel audierit imitari conatur, gestus comicos repraetentat, fran-
git verba ....
2) De Robert fönt lor jougleor
Petit et grant, taut rous puis dire
Cor ü let fait moult touent rire.
Vgl. Freymond a. a. 0. S. IS.
3) Bretel, Tournois de Chauvenci V. 4341:
Apres le vin s'entracointerent
Li uns a Vautre et eneerchierent
Qui seit faire le beguignage
L'ermite, le pelerignaige,
Le provencel, le robardel,
Berenglier ot le chapelet
Ou aueuns gieus pour esgaler ....
Das Spiel Berengier et le chapelet wird an derselben Stelle v. 4369 — 4462
eingehend beschrieben.
4) L'uns fet l'ivre, l'antres le sot (Montaiglon et Raynaud, Recueil d.
fabliaux 3, 204). Beide Typen waren sehr beliebt. Siehe den Nachweis bei
Freymond a. a. 0. S. 24.
8) Cibrario, Economia politica del medio evo Torino 1839, S. 233:
816 Neuntes Kapitel.
Der Pariser Dichter Rutebeuf verfafste um 1265 nach dem
Muster solcher ethologischen Vorführungen der Jongleure den
berühmten Dit de l'herberie ]): Ein ärztlicher Charlatan, ein
Quacksalber, kommt aus dem Orient, wo er den Sultan von
Ägypten kuriert hat, und will mit seinen unfehlbar wirkenden
Arzneien, die er endlos aufzählt, wie der Schustermeister bei
Herondas seine mannigfaltigen Sorten von Schuhwerk, nun auch
das ihn umdrängende Publikum beglücken.
In dem Monologe „Lob und Tadel der Frauen" rühmt sich
der Sprecher, allein die drei Rollen des Anklägers, Verteidigers
und Richters geben zu können; als Mal Embouche klagt er die
Frauen an, als Gentil- Courage verteidigt er sie, als Richter er-
klärt er sich für sie2).
Wie im Dit de Therberie trat im lakonischen Mimus der
Charlatan auf und pries seine wundersamen Arzneien. Seitdem
blieb der Arzt einer der beliebtesten Typen im Mimus3) und
dann in der attischen Komödie. Fremde Völkertypen darzu-
stellen war von jeher der Mimen besondere Lust, wie die Juden,
Araber, Armenier, Gaetuler, Galler, Etrusker des griechischen
und römischen Mimus, und die zahlreichen Völkertypen des
türkischen Karagöz zeigen. Desgleichen war der Betrunkene
eine der ältesten und lustigsten mimischen Figuren. Beliebter
als er war nur noch der Narr, der stupidus und tMogug, das
ist der „sot" der Jongleure.
Vom Stupidus, dem beschorenen Narren, übernahm der
der Jongleur sogar die Gewohnheit, sich kahl zu scheeren,
selbst dann, wenn er gar kein Narr, sondern ein Sänger oder
„Rappresentando i costumi delle compagnie i inglesi e bretoni" nach „conti dei
tesorieri generali di Savoia nel secolo XIV". Ich entnehme diese Notiz aus
Creizenach, Geschichte des neuen Dramas, Bd. I, S. 383.
*) So heilst es bei Montaiglon Nr. LXXX v. 150 von den Menestrels
und Jongleurs: Et li autres dit VErberie.
2) Vgl. Petit, Repertoire du Theatre comique en France au moyen-äge,
S. 261 folg., No. 216: Monologue fort joyeulx, auquel sont introduycts deux ad-
vocatz et ung juge, devant lequel est playdoye le bien et le mal des dames.
3) Vgl. oben S. 469, 658 u. ö.
Die Jongleure als Ethologen. 817
Musikant war, wie er sich ja auch ioculator, nach dem alten
(iipos ytXoiwv nannte, selbst da, wo er gar kein Spafsmacher
war1). Allerdings findet sich diese Sitte nicht durchgängig
und doch wohl mehr bei den Ioculatoren, die eigentliche Spafs-
macher waren2). Auch behielten die Jongleure viel von der
Tracht der Narren im Mimus. Ihre buntscheckige Kleidung
ähnelte dem Harlekinsrock des Mimen, dem centunculus8). Und
wenn Radulphus Glaber von dem sonderbaren und armseligen
Schuhwerk der Ioculatoren spricht, so trugen ja auch die Mimen
nur ganz dünne, niedrige Sohlen und hiefsen davon planipedes,
womit zugleich, wie die römischen Grammatiker meinen, ihre
niedere Art gekennzeichnet ist
1) Dafür giebt es eine grofse Anzahl von Zeugnissen. Gottfried von
Monmouth, Historia regum Britanniae (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts, ed.
San-Marte, Halle 1854, S. 123), lib. IV, cap. I: Cum ergo alterius modi aditum
non haberet: rasit capillos suos et barbam, cultumque ioculatoris cum
cythara cepit. Deinde intra contra deambulans, moduli* quos in lyra componebat,
»ese cytharittam exhibebat. Glabri Radulphi, Historiarum lib. IV, cap. IX
[Duchesne Historiae Francorum scriptores IV, S. 38, C/39, A]: Olim igitur circa
millesimum incarnati Yerbi annum, cum Rex Roberto* accepisset tibi Reginam Con-
stantiam a partibus Aquitaniae in coniugium, coeperunt confluere gratia eiusdem
Reginae in Fraudem atque Burgundiam, ab Aruernia et Aquitania hominet omni
leuitate vanissimi, moribus et veste dittorti, armis et equorum pha-
leris incompositi, a medio capitis nudati, histrionum more barbit
rasi, caligis et oereis turpissimi, fidei et pacis foedere omnino vaeui.
Wiederholt wird die Tonsur als Zeichen der Narrheit angegeben:
Mez regardez quel apostol!
ü est tondu comrne ung fol.
Martire de Saint Pere et de saint Pol Jubinal,
Mysteres inedits 1. 1, pag. 78.
2) Vgl. bei Montaiglon Fabliauxsammlung No. I, V. 54, No. 54, V. 208 ff.
3) So citiert Du Cange S. 422, Joannes Signiensis Episc. in Vita S. Beraldi
Episc. Marsorum : Alii quod proprie Iocularium est, ab utroque latere divisis, item
mixtis coloribus, vestimenta variabant (s. v. iocularis). Der buntscheckige Auf-
zug des Mimen ist für das späte Mittelalter auch bezeugt durch Liudprand
in der eigentümlichen Stelle seiner Antapodosis, die wir oben S. 797 näher
besprochen haben.
Reich, Mimus. 52
818 Neuntes Kapitel.
Neben dem grofsen dramatischen Mimus giebt es den recita-
tiven, ob es nun eine Mimodie oder Mimologie ist; er wird von
einem einzigen Sprecher in einer Kolle vorgetragen, ähnlich wie
der zweite Mimiambus des Herondas, in dem allein Battaros, der
Frauenwirt, vor Gericht spricht, oder wie Theokrits „Zauberinnen",
in denen allein Simaetha redet. Das ist dann dieselbe Form
des Mimus wie im Dit de l'herberie. Öfters aber wechselt der
Sprecher die Stimme und die Rolle, wie im „Lob und Tadel der
Frauen" und bringt mehrere Personen zur Darstellung, ähnlich
wie in des Herondas „Kupplerin", Schulmeister", „Schuster"
und den meisten übrigen Mimiamben, oder in Theokrits Adoniazusen
und seinen bukolischen Mimen1). Auf dem Gastmahle Trimalchios
!) Diese Ethologieen der mittelalterlichen Mimen und Ioculatoren
machen die Art des alten recitativen Mimus noch deutlicher. Petit bemerkt
zum „Lob und Tadel der Frauen" a. a. 0. S. 261 : Cette pikce offre une parti-
cularitt curieuse: eile etait jouee par un seul acteur qui remplissait trois rbles
differents. Cet acteur de" dar e se nommer Verconus; il vante la souplesse de son
talent et, pour en fournir la preuve, il s1 offre a plaider tout seul pour et contre
l'fionneur des Dames, et meme h figurer le Juge qui tranchera le differend. So
haben wir also vor diesem französischen recitativen Mimus noch ein Pro-
oemium, womit ja allerdings die dramatische Illusion gestört wird; aber da
nur ein Darsteller für mehrere Personen auftritt, ist diese Illusion im
recitativen Mimus ja von vornherein geopfert. Theokrit beginnt in den
meisten Mimen gleich mit dem Dialoge, gelegentlich aber durchbricht er
auch dieses dramatische Prinzip und läfst durch seinen Kecitator ein kleines
orientierendes Proemium im erzählenden Stile voranschicken. So lautet die
erzählende Einleitung im sechsten Idyll der BovxoXiaatan
Aätpvtg xal Aa^ioixaq.
AafxoiTag %(ü Aäipvis 6 ßovxöXog eis eva %(Öqov
räv ayiXav nöx\ "Agare, avväyayov rjs <?' o fiev avrcöv
71vqq6s, 6 d' rl[uye'vecos• tnl xquvciv di tiv' afiifoi
iCöfievoi fhe'Qeos fiiaoi äfiatt toikS' iteidov.
7tQccTos d" agl-aro Aaqvis, tnel xal 7iqätog iqiadev.
Darauf beginnt dann der dramatische Wettgesang.
Ja, dieser bukolische Mimus nähert sich soweit der Erzählung, dafs
sogar der Schlufs wieder episch wird: Damoetas küfste den Daphnis, sie
beschenkten sich gegenseitig und rings im üppigen Grase tanzten die Kälber.
Ebenso hat der achte bukolische Mimus „BovxoXiaoral, Acupvts xal MevaXxw;"
einen erzählenden Prolog und Epilog, und der elfte Mimus, „Der Kyklop",
Die Jongleure als Ethologen. 819
ergötzt man sich an diesen Pägnien, wie Plutarch sie nennt, an
den Scenen aus dem Leben der Vetturine und Marktschreier, also
auch der Charlatane, doch brauchen es nicht gerade, wie im Dit
de l'herberie, Ärzte zu sein. Der Mime Vitalis, der wahrscheinlich
an den Anfang des Mittelalters gehört, ist solch ein einzeln .auf-
tretender Ethologe und Vertreter des recitativen Mimus (vgl. oben
S. 599, Anm. 3). Die Jongleure haben also unter sich auch die
direkten Erben der alten hellenischen Ethologen gehabt, die mit
denselben mimischen Darstellungen das mittelalterliche Publikum
ergötzten, wie ihre Vorfahren die antike Welt. Nur haben diese
mimischen Pägnien des Mittelalters, von dem berühmten Dit de
l'herberie abgesehen, nicht, wie in der Antike, vornehme Dichter
gefunden, die sie kunstmäfsig gestalteten, und darum wissen
wir heute so wenig von ihnen.
hat gar zwei Prologe, eine Widmung an Aratos und dann eine epische Ein-
leitung über Polyphems Liebe zu Galatea. Dann erst folgt die dramatische
Mimodie, in der Polyphemos seine Liebe zu Galatea erklärt.
Die beiden Schlufszeilen sind wiederum erzählend:
„Also linderte sich damals Polyphemos die Liebe
Durch den Gesang, und schaffte sich Ruh', die mit Gold nicht erkauft wird."
(Mörike.)
Das 21. Idyll, „Der Fischer", ist gewifs durch und durch ein Mimus (vgl.
darüber oben S. 373 ff., über den Fischer als spezifisch mimische Figur vgl.
auch oben S.379, 664, 665). Aber auch dieser Mimus hat wieder zwei Prooemien,
das erste, eine Widmung an Diophantes. stellt Betrachtungen an über die
Armut als Erweckerin der Künste; das zweite schildert erzählend das Leben
der beiden alten Fischer, erst dann wird der Mimus mit dem Zwiegespräch der
Fischer rein dramatisch, um auch so zu endigen. Wäre der Mimus an und
für sich rein dramatisch, wäre er nur als Drama gedacht und nur als Drama
dargestellt, hätte Theokrit nie diese Form wählen können; er beherrschte
ja auch die scheinbar dramatische Form des recitativen Mimus nicht weniger
gut wie Herondas; dann wären die erzählenden Zuthaten unverständlich.
Aber wer den recitativen Mimus versteht, der begreift leicht, wie der
mimische Recitator durch kleine erzählende Erläuterungen erst in seinen
Zuhörern die rechte Stimmung erwecken, sie über die dramatische Situation,
in der er sich produziert, aufklären möchte. So thut es der Recitator des
französischen, so der des Theokriteischen Mimus.
52*
820 Neuntes Kapitel.
V.
Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus.
Dem modernen Gefühl erscheint der Hofnarr als etwas Un-
antikes, spezifisch Mittelalterliches. In Wahrheit aber kennt
das ausgehende Altertum den Hofnarren schon völlig in der aus-
geprägten Art, die er im Mittelalter und im Beginne der modernen
Zeit zeigt. Schon die Mimen, die am Hofe Philipps gerne
gesehen wurden, mögen dort als eine Art von Hofnarren ge-
golten haben. Später gab es an den Höfen der Diadochen grofse
Mimenbanden, die auf dem Hoftheater zu spielen hatten und auch
gelegentlich bei Gastmählern und Gelagen auftraten. Daneben
aber fanden sich noch mimische Einzeldarsteller, Logomimen,
Mimoden und Mimodinnen, an denen die Fürsten besonderes
Gefallen hatten und mit denen sie persönlich umgingen, wie
Antiochus der Zweite mit dem Logpmimen Herodot1). Sulla
hatte in seiner Gesellschaft Mimen und Mimoden, auch die
römischen Kaiser hatten gerne Mimen und mimische Spafsmacher
(scurrae mimarii) in ihrer nächsten Umgebung. Am Hofe des
Tiberjus gab es einen mimischen Spafsmacher, der Advokaten
ethologisch darstellte8). Wie sehr sich die römischen Kaiser den
Mimen geneigt zeigten, habe ich oben im einzelnen ausgeführt.
Wenn sie neben den grofsen Mimengesellschaften noch einzelne
Mimen besonders in ihre Nähe zogen, so wollten sie eben durch
deren Späfse und Narrenpossen ergötzt werden, sie mufsten ihnen
vor allein darum bei der Tafel aufwarten, wie es schon Sulla
liebte. Der unterhaltendste mimische Typus aber ist der Narr,
der mimus calvus, der ficogoc (fakaxgd^ der stupidus und morio.
In den grofsen Haushaltungen der Antike that man es den
fürstlichen Hofhaltungen nach und hielt gleichfalls ganze Mimen-
trupps, wie z. B. Trimalchio sich eine Schauspielerbande gekauft
hat, die er Atellanen spielen läfst, meistens aber begnügte man
*) Vgl. oben S. 193 Anm.
2) Vgl. oben S. 152, Anm. 2.
Die mittelalterlichen Hofnarren and die Moriones im Mimus. 821
sich mit einem einzelnen Mimus oder dem mimischen Narren,
der zum Haus- und Hofnarren wurde.
Diese mimischen Hofnarren hatten besonders, wie im Mittelalter,
bei Gelagen, Gastmählern und Gesellschaften für die Unterhaltung
der Gäste zu sorgen. Ein Gelage ohne die Aufführung eines mimi-
schen Schauspiels oder ohne die Narrenspäfse wenigstens eines
mimus calvus war ganz undenkbar. Wir finden z.B. diesen mimischen
Hofnarren auf einem Gastmahl, das Lukian, wie einem anderen, das
Alkiphron beschreibt, und wenn Plutarch von Gastmählern spricht,
kommt er sofort auf den Mimus zu reden. Diese Hofnarren1)
x) Vgl. auch Plinius, Ep. IX, 17: C. Plinios Genitori suo S. Beeepi litterat
tuas, quibus quereris taedio tibi fuisae quamris lautiaimam cenam, quia scurrae cinaedi
moriones mensis inerrabant. vis tu remittere aliquid ex rugü? equidem nihil tote
habeo, habentes tarnen fero. cur ergo non habeol quia nequaquatn me ut inexpectatum
festirumve delectat, siquid molle a cinaedo, petulans a scurra, (von der petulantia
der scurrae mimarii bei Gastmählern haben wir eben gehandelt) shdtum a
morione pro/ertur. Der Zoten reifsende Cinaede beim Gastmahl der römischen
Grofsen gehörte gleichfalls zu den Mimen, wenigstens wenn er, wie es nach
den Worten des Plinius den Anschein hat, ein Cinaedologe oder Iouicologe
war. Des Morio Dummheit erwies sich, wie im Mimus nicht selten, als fin-
giert. Vgl. Martial VIII, 13:
Morio dictus erat: viginti milibus emi.
Bedde mihi nummos, Gargiliane: sapit.
Flögel handelt sehr gründlich und systematisch von den Hofnarren
und Lu-tigmachern erstens bei den weltlichen Fürsten, deutschen, spanischen,
italienischen, französischen, englischen, niederländischen, ungarischen, polni-
schen, rus-i-chen, schwedischen, dänischen; zweitens bei den 'geistlichen
Herren, Päpsten, geistlichen Churfürsten, Cardinälen, Erzbischöfen, Äbten
uud Weltpriestern. Endlich kommt er auf die Volksnarren, und der erste
und älteste darunter ist Tyll Eulenspiegel. Von den Volksnarren der Antike
weifs Flügel noch nichts. Wir erinnern uns jetzt an die Bajazzos, die mit dem
Prügelholze in der Faust nach Hieronymus' Zeugnis ihre mimicae ineptiae
und Narrenteidungeu auf dem Markte verübten. Über die mancherlei Mimen
niederer Art, die auf Markt und Strafse ihr Wesen trieben, hat schon Otto Jahn
a. a. 0. mancherlei gesammelt (vgl. oben S. 540), auch ich habe darüber im
Mimusprogramm einiges angemerkt. Also auch die Antike hatte ihre Volks-
narren, welche die ineptiae der Mimenbühne auf Markt und Strafse ver-
legten. Gelegentlich wurden auch wirklich närrische Menschen, wie der
arme Irre Karabas. den man zum König im Mimus herausputzte und als
König verehrte, vom Pöbel, der nun einmal solch' einen Volksnarren haben
822 Neuntes Kapitel.
heifsen bei den Römern „moriones", nach dem [moqos, dem Narren
im Mimus.
mufs, dazu gestempelt. Wer diese Volksnarren der Antike kennt, wird auch
einen eigentümlichen Typus mönchischer Askese, „die Narren um Christi
willen", begreifen, deren Prototyp der Heilige Symeon Salos ist. Wir haben
oben (S. 684, 685 Anm.) aus seiner Vita den Streich berichtet, den er einem
Mimen spielt. Es sind die tollsten Narrenpossen und Narrenstreiche, die
dieser „syrische Till Eulenspiegel", wie ihn Geltzer a. a. 0. S. 30 treffend
nennt, zur Ehre Gottes verübt, und die Vita dieses Narren um Christi willen
ist trotz ihres ernsthaft - geistlichen Charakters ein echtes Volksbuch, wie
das vom Eulenspiegel voll derber Schwanke und Narrenteidungen. Die
Streiche des Narren erinnern stark an die mimischen Ränke und Künste,
Kabalen und Foppereien, die „artes mimicae". Unter dem Scheine der Narr-
heit hält Symeon die ganze Welt zum Besten, wie der derisor im Mimus.
Vor allem führt der Heilige wie dieser unablässig sein Prügelholz mit sich
herum, von dem er den ausgiebigsten Gebrauch macht. Natürlich fehlen
auch die Lazzi der mimischen Narren nicht. An einem Sonntage nahm er
Nüsse und warf damit unter die Gemeinde, die sich zum Gottesdienst ver-
sammelte, und als man ihn hinauswerfen wollte, lief er schnell auf die
Kanzel und zielte mit seinen Nüssen nach den Weibern auf den Emporen
(Migne 93, 1707 D). Bald stellte er sich hinkend, bald hielt er einem eilig
Vorübergehenden das Bein hin, sodafs er stürzte. Gelegentlich hielt er auch
förmliche Reden an den Mond (Migne 93, 1726 B). Auch ging er in die
Häuser der Reichen und spafste (nat&iv) und that so, als ob er die Mägde
küfste ; und als eine Magd schwanger wurde, entging er dem schwarzen Ver-
dacht nur durch ein göttliches Wunderzeichen. Migne 93, 1763 B. War
der Narr im Mimus beschoren, so war es der Narr um Christi willen als
Mönch ebenfalls. So liefsen sich denn die guten Bürger von Emesa diesen
geistlichen Clown Wohlgefallen, da er sich äufserlich fast garnicht von den
Bajazzos unterschied, welche die Späfse der Mimenbühne vor dem Volke auf
Markt und Strafsen trieben (vgl. oben S. 753, Anm. 3). Sein Hauptquartier hatte
der Narr in einer Schenke aufgeschlagen, wo er Bohnen verkaufte. Natür-
lich duldete der Wirt den Bajazzo gerne, denn er lockte ihm zahlreiche
Kundschaft an: 'Hv Sa lianXayxvog 6 xän^Xog, dioie noXXäxig ovSa rrjv Tf>o(pTjV
aiiTOV ISiSov, xuintQ noXXrjv 7iQ«aiv a/av Siä tov ZaXov. '£lg iv rä£ti yaq
/mtsiÖqov eXayov 7iQog aXXr\Xovg ol noXltaf "Aytofitv, nCco/Atv onov 6 2aX6g
(Migne a.a.O. S. 1712 A). Wenn dieser Wundermann sich auch auf der
Mimenbühne hinter dem Siparium herumtreibt (vgl. oben S. 685 Anm.),
so kann das nicht auffallen, von dort her hat er ja den gröfsten Teil
seiner „mimicae ineptiae" und seiner Lazzi her. Mag es nun mit der Gott-
seligkeit und Heiligkeit dieses eigentümlichen Gottesmannes sein wie es
wolle, jedenfalls zeugt diese Vita für die Gewalt, mit der das Christentum
Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus. 823
So kommt auch in Philistions Philogelos in einer vornehmen
damals alle Schichten des Volkes bis in die niedrigsten durchdrang, wollten
doch damals selbst die Clowns ihre Späfse zur höheren Ehre Gottes ausüben.
In der That sind dem Heiligen in seiner Clownmanier mancherlei Bekehrungen
zur orthodoxen Kirche gelungen, Bekehrungen, bei denen besonders das
mimische Prügelholz und allerhand scherzhafte Wunder eine Rolle spielten.
Wenn jemand Geld gestohlen ist, geht er zu dem Narren um Christi willen,
und gegen eine kleine Entschädigung entlarvt dieser den Dieb und nennt
den Ort, wo das Geld verborgen liegt. Allerdings übt solcherlei Kunst auch
Dossenus, der Charlatan in der Atellane. Jedenfalls können wir aus der
Schilderung dieses syrischen Till Eulenspiegel ersehen, warum gerade Syrien
die besten Komiker für den Mimus bot. Noch in der „veteris orbis de-
scriptio" heifst es: Tyrus und Berytos lieferten den Römern die besten
Mimen, Caesarea die besten Pantomimen, Heliopolis die besten Musiker.
Jedenfalls hat sich diese alte graeco-syrische Narrentradition, die so nahe
Zusammenhänge mit dem Mimus hat, in Emesa weiter erhalten, als Höms
ist es später das arabische Schiida, die Heimat der orientalischen Hans-
würste und Eulenspiegel.
Noch bekannter als Symeon ist in der katholischen Kirche der hl.
Andreas, „der Narr um Christi willen", dessen Narrheiten zum grofsen Teile
mit denen Symeons identisch sind. Stil und Sprache weisen diese Vita, die
Pater Conr. Janning (A. A. S. S. Mai T. VI, Corollarium p. 1*— 103*) 1886
herausgab, in sehr späte Zeiten. Symeon Salos erscheint als ein Mann der
Vorzeit; die Bulgaren haben schon die Hämushalbinsel besetzt; Janning
dachte an das zehnte Jahrhundert, freilich ist mit Leo dem Grofsen, der er-
wähnt wird, schwerlich Leo der Weise (886—911) gemeint. Vgl. Geizer,
Leontius von Neapolis, Leben des Heiligen Johannes des Barmherzigen, Erz-
bischofs von Alexandrien, S. XIII. Auch in der Vita des heiligen Narren
Andreas ist viel vom Theater und vom Mimus die Rede.
In einer Vision fühlt sich Symeon ins Theater entrückt, dort steht auf
der einen Seite eine Schaar Mohren, auf der anderen eine Menge Männer
in weifsen Kleidern, die mit einander ringen, und Symeon besiegt in heifsem
Ringen den Anführer der Schwarzen, es ist Satanas selber. Idno tov <f6ßov
<f* vnvco ßu&näiw aiayt&iis 6 Mctxdowg, ogä xai idov ort wv &täto(o, xai
r\v h t$ &>i fitoii tov 9tdiQoi . . . (a. a. 0. S. 6*B). Eine fromme Christin,
die beständig vom Satan versucht wird, sieht sich im Traume im Theater
des Hippodroms stehen und voll leidenschaftlichem Verlangen die Bildsäulen
umarmen, die sich dort befinden: nältv oirv brtqtt vixtI öoä iavri]v iv tü>
&laTQ(i> tov inTiodoouiov iarwaa xai aana^ouivri td ixuoe liddÄuar«, virtro-
fUrq irnb noqvtxrfi Inidvuias toi ovyytv£o9ai uvroig. (S. 62A.) Am Ende
seines Lebens verkündet Andreas Salos die Ereignisse vor dem Untergange
der Welt und dem letzten Gericht. Ehe der Antichrist in die Welt kommt,
g24 Neuntes Kapitel.
Haushaltung ein Narr {fiooQÖg) vor, an dessen körperlichen Reizen
wird ein schändliches Weib aus dem Pontus Namens Mondion in Byzanz
herrschen, eine Mime und Tänzerin; dann wird man in den Kirchen Tänze,
satanische Tragödien und Possenspiele (Mimen) aufführen : Töts dk . . . . dva-
örrjosTai yvvaiov ala%odv MovSiov ix xov JJovtov, . . . ßaxxtvrQia, rov diaßoXov
&vydTT)Q ... — Die Mime Pelagia heilst ähnlich nocörr) tüv nQUToxoQt-
oToiwr (vgl. oben S. 103, Anm. 1) — ... xal iv raig ixxXtjotaig eaovrai
dßeXyiai xal docoriai, . . . xa\ OQ%riasig, xal TQaywSCai oazavixal, xal /Ifvaa/nol
xai naCyvta. (S. 92 A.) Pater Jannig übersetzt ganz richtig: cavillationes
et nugae scurriles. Die Cavillationes sind eben die cavillatio mimica (vgl.
oben S. 609, Anm. 1). Kein Wunder, dafs unter der Mimin als Vor-
gängerin des Antichrist der Mimus 'in die Kirche dringt. In einer Vision
führt Andreas seinen Freund in die Hölle und zeigt ihm den Ort der Qual;
da sind die Seelen der Bösen in Tiere verwandelt. Die Mörder sind zu
Skorpionen geworden, die Zauberer und Giftmischer Schlangen, die Geilen
Schweine, die Diebe Wölfe, die Betrüger Füchse, die Kuppler Esel, die
Verläumder Raben u. s. v. u. s. w. Die Sänger in den Tragödien sind gar
zu Fröschen geworden, die Mädel vom Ballet zu Reihern und die jungen
Leute, die an Späfsen, am Lachen und am Mimus Gefallen finden, sind un-
reines, kriechendes Gewürm, Ungeziefer und Schlangenbrut geworden: zovg
TQaytpdovvras w? ßaTQU^org . . . rag oqxovfitvag yvvalxag cog tovs i(>(üöiovg, . . .
xal rd naiddota wg rotg naiyvioig, xal roTg ytXoCoig, xai ralg p ifxoX oylaig avv-
xvfovdov/ueva . . . rjyuTcu (og dxdo&aTa ionerd rijg yr\g, xal (ög rd xvwöaXa, xai
tag jd zwv ixidvüv yevvrjfiaTa. (S. 59* F.). Auf die jungen Leute ist der heilige
Narr überhaupt sehr schlecht zu sprechen, denn er mufste ihnen bei ihren
Gelagen nicht selten, ob er wollte oder nicht, als „stupidus" dienen, mit dem
sie dann dje schändlichsten Possen und Mimen aufführten. Vgl. a. a. 0.
S. 12 B. : vewTegiOral .-. öqafxövrtg . . ixqäiriOav airbv, xal Ovoavrsg tlaitaav
iv T<p tfovaxaoio), jvmovrtg airbv, xal naXtv xa&to9£vrtg inivov, pydtv rat
/iixaibi didovrtg. dXXd /udXXov xoOOovg xaid rov ai>%4vog fJiifioXoyovfisvoi
ervnrov. "Ors oiiv dnXetorag ot [icoool ixetvoi inat^av, (Sanniones irrisionibus
satanas nescii übersetzt Pater Janning) . . . Mwool, fiwool rl exw noifiaat. Die
jungen Leute führen eben mit dem armen Narren eine der übermütigen
Spott-' und Schimpfscenen aus dem Mimus auf, und Andreas mufs als stupi-
dus dabei die Prügel einnehmen. So führt Alarich, wie es bei Orosius heifst,
mit dem armen Scheinkaiser Attalus einen Mimus auf (vgl. oben S. 776,
Anm. 1). Und in dem neu entdeckten Fragment des Juvenal heifst aliis hunc
mimum: Mach' anderen solche Wippchen vor. Gegenüber fit^oXoyda&ai und
weiter oben fxtfioXoyia erinnere ich an die drei Mimologen, welche die Hypo-
these „Hecyra" vorführen. /ucfioXoytioüai gebraucht Strabo von Spielen der
Atellane, fiifioXoyCa und fjo,fioXöyr]fia findet sich bei Epiphanius (vgl. oben
S. 281, Anm. 1 — 3). In den Hermeneumata Monacensia und Montepessulana
Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus. 825
seine Herrin Gefallen findet, nachher aber wird alles von dem
werden die Mimologen als Schauspieler im Theater gekennzeichnet (vgl. oben
S. 226). Ich habe 'oben S. 286 den Mimologen Agathokiion erwähnt. Die
Inschrift aus Larnaka auf Cypern lautet:
Moxpaiov xövtg r,3t '-iya&oxi.^a nalöa xtxtv&fv '
AfftuolöyttiV näu(ov Ifojrov iv yttoiotv.
l4ya&oxki(ova ßtolöyov.
Revue archeol. N. S. XL1 1881 p. 124 und ' Oberhummer, Griech. Inschr. aus
Cypern, M. Akad. 1888 I, 310 u. 311. Über den Ausdruck Biologe für den
mimischen Schauspieler vgl. oben S. 265 ff. u. 284 ff. Ich füge hier die In-
schrift des Biologen Flavius Alexander Oxeides (Waddington, Voyage archeol.
1652b.) hinzu:
'H ßovli) xal 6 Jfjfiog hfifiyoiv fPlä(ßiov, *All$av$oov *ObiSr,v Nnxo^rtSia,
ßioXöy\ö)v Aaiovuxr\v, Siä re i^r iov fgyov vntooxriv xal ro x&iuiov toi
t)9ovs, vitXTjOarTa 6*i iv Aaia [äy]««mr; it)', tv Avxiu Ji xal üaucfvltu xg,
ßm/.f[v]iT}V dt Avtio^ojv xal 'Hoax/.iWTtör, yegovotaoTTjv di Miilrjoitov.
Ich habe oben S. 286 gezeigt, dafs der Ausdruck ßtolöyog ein Ehren-
titel für den Mimen ist, was durch die letzte Inschrift ja auch wieder
im vollsten Mafse bestätigt wird. Da nun 'Aya&oxUojv sowohl ein Bio-
loge wie Mimologe genannt wird, scheint also auch Mimologe eine
ehrende Bezeichnung gegenüber dem einfachen Mime zu sein. Ursprüng-
lich wurde von den Peripatetikern mit Mimodie und Mimologie der pro-
saische und lyrische Mimus geschieden, es ist das also mehr eine gelehrte
Terminologie. Iu der That ist der Ausdruck uiuoXoyog für den Mimen
nie usuell gewesen: wir kennen sonst noch die Mimologen der Hypothese
Hecyra und den Mimologen Tityros in dem byzantinischen Epigramm
(vgl. oben S. 156), in dem es ebenfalls Ehrentitel ist. Sonst kennen wir
zahlreiche Mimen und Miminnen; Choricius und Johannes Chrysostomus
nennen unablässig die pifiot, aber nie kommt es ihnen in den Sinn, sie
fit/jolöyoi zu nennen. Dennoch mufs dieses Wort auch im gewöhnlichen
Leben gelegentlich für den Schauspieler gebräuchlich gewesen sein. Darum
kann in der Vita Andreae Sali mit ihrem spät-byzantinischen Populär-Grie-
chisch von fiifiokcyytTa9at und (iiuokoyta gesprochen werden. Jedenfalls er-
giebt sich aus der Vita dieses Narren, die kulturhistorisch vom höchsten
Interesse ist, dafs im neunten und zehnten Jahrhundert es noch Theater
gab, deren Bühne mit Bildsäulen geschmückt war, also grofse stehende
Theater, ob blofs im Cirkus oder auch sonst, läfst sich so sicher nicht ent-
scheiden; einmal wird schlechthin „das Theater", ein anderes Mal „das
Theater im Cirkus- genannt. Auf der Bühne haben natürlich die Mimen
agiert, an deren uiuoXoyiai die jungen Leute eine so verwerfliche Freude
hatten. Da haben wir also wieder ein Zeugnis für die Existens der Theater
826 Neuntes KapiteL
dummen Narren dem Hausherrn verraten1). So hält sich Polyxena
und ihr Gemahl einen Narren, welcher der Herrin mit seinen
Possen beschwerlich fällt. Dieser Hofnarr wird ausdrücklich
„Mimus" genannt2).
Diese Sitte, einen Mimus als Narren zu halten, war in den
letzten Zeiten der Antike so gewöhnlich, dafs dieser Gebrauch
direkt ins Mittelalter übernommen wurde.
So erzählt Gregor von Tours von dem Hofnarren des
spanischen Königs Miro von Galicien eine seltsame Historie.
Der König ging mit seinem Gefolge in die Kirche des Heiligen
Martinus, und an dem Wege vor der Kirche war ein Spalier
mit herrlichen Weintrauben, die der Kirche und demnach dem
Heiligen Martin gehörten. Trotz der Warnung des Königs will
der Hofnarr, der den König mit seinen Späfsen aufzuheitern
pflegte, sich eine Traube abschneiden und siehe, der arme Narr
kommt nicht mehr mit der Hand von der Weintraube los. Da
half ihm kein Lachen und keiner von seinen Schalks- und Narren-
streichen, er empfand die furchtbarsten Schmerzen und schrie
laut um Hülfe, aber erst auf das inbrünstige, von einem Strom
von Thränen begleitete Gebet des Königs Miro ward der Narr
wieder frei und kam mit dem blofsen Schrecken davon. Dieser
Hofnarr heifst bei Gregor (Ende des sechsten Jahrhunderts) ein
und des Mimus bis in die letzte Zeit der byzantinischen Ära. So wird
sowohl der heilige Narr Symeon wie der heilige Narr Andreas mit dem
Mimus in Beziehung gebracht, und in der That ist Andreas derselbe komische
Volksnarr wie Symeon, dessen Streiche ihm zum Teil einfach beigelegt
werden, und hat viel von einem Bajazzo an sich. Auch die russische Kirche
kennt die Narren um Christi willen als eine Art sonderbaren mönchischen
Asketentumes. Vgl. Pelesz, Geschichte der Union der russischen Kirche
mit Rom I, S. 231 u. S. 594 ff.
!) Ich gebe diesen sehr bedenklichen Schwank griechisch. Nr. 251:
Olxodianoiva [aioquv olxfrrjv fyovaa tfufavrj xal idovoa aviov äo*oox£<fai.ov,
lni&V(ir\Ga0a aviov, yi/j.RQiov sig iö iiQQGomov ßalovaa Iva fxi] imyvtoO&rj,
auvinai^tv avxip. 6 dt £v iü) nai&iv GvvaarjX&ev avirj. xal tw öeanorij aw-
rj&cog noogyeXaiv ttnt' «xvqi, xvqi, iov oq^gttiv ißivrjOa, xal ij xv^ä »jv
2) Vgl. oben S. 152, Anm. 3.
Die mittelalterlichen Hofnarren nnd die Moriones im Mimus. #•_>:
Miraus 1). Allerdings kennen wir ja noch aus der zweiten Hälfte
des fünften Jahrhunderts einen Archimimus.
Sidonius Apollinaris berichtet in einem Briefe, in dem er
das Leben am Hofe Theodorichs des Grofsen schildert, bei der
Tafel des Königs wären Hofnarren aufgetreten. Er nennt sie
mimici. Aber Theodorich hätte nicht geduldet, dafs sie seine
Gäste durch Spöttereien verletzten2).
In der That war derartiges von den antiken Hofnarren und
Mimen leicht zu besorgen. Wie die Mimen auf dem Theater
gerne in den Stücken allerhand Foppereien, Kabalen, Betrügereien
und Ränke vorbrachten und lustige Schimpf-, Spott- und Prügel-
scenen aufführten, so suchten die mimischen Narren die gleichen
Späfse von der Bühne in das Gastmahl zu verlegen.
So foppt der mimus calvus in Lukians Gastmahl die Gäste
der Reihe nach und nennt den robusten Cyniker Aleidamas zum
Spafse ein Schofshündchen. Der Cyniker nimmt das übel und
es entspinnt sich eine Prügelei, die der Gesellschaft zur Be-
lustigung dient.
Jedenfalls wurden auch die mittelalterlichen Hofnarren durch-
aus nicht so streng in Zucht gehalten wie bei Theodorich die
„mimici".
Im Alamode Kehraus schildert Philander von Sittewald
l) S. Gregorii episcopi Turonensis de miraculis Sancti Martini lib. IV.
cap. VII. (Higne Bd. 71, S. 994 A, B): De uva apud Galliciam. . . . erat enim
mimus regis, qui ei per verba iocularia laetitiam erat solitus excitare. Sed non eum
adjutit cachinnus aliquis, neque praetigium artis suae; sed eogente dolore, voce*
äare eoepit ac dicere: Succurite tiri misero, subeenite oppresso, ferte Ucamen appenso,
et sancti antistitis Martini rirtuiem pro me depreeamini, qui tali exitu crueior . . .
>) Migne Bd. 58, S. 449, B. Sidonii Apollinaris Epistol. Liber I, III.
. . Circa nonatn recrudescit moles Uta regnand*. Redeimt pulsantes, redeunt svbtnorentes,
ubique litigiöses fremit ambitus: qui tr actus in vesperam, eoena regia interpetlante
rareseit, et per aulicos deineeps pro patronorum carietate dispergitur, usque ad tempus
coneubiae noctis exeubaturus. Sorte intromittuntur, quamquam raro, inter coenandum
mimici sales, ita ut nullus conti va mordaeü linguae feile feriatur. Sie tarne*
quod illic nee Organa hydraulica sonant, nee sub phonasco vocalium concentus medi-
tatxtm acroama simul intonat. Xullus ibi lyristes, choraules, mesochorus, tympa-
nistria, psaltria canit ....
828 Neuntes Kapitel.
(Moscherosch) mit Ingrimm ihre Impertinenz: „Indem kam einer
mit grofsem Gelächter in den Saal gelaufen, dafs ich wohl sähe,
er müsse entweder ein Spitzbub oder ein Schalksnarr seyn; der
stellte sich neben den König. Dieser Schalksnarr kam an mich,
zauste mir das Haar, griff mir in den Bart, wiewohl ich nicht
viel hatte, rupfte mich am Wamms und Hosen, mit kreischen
und ruffen, hieher Wälscher, hui Wälscher, hui ä la mode, hot
Zopf, Haar tropf, hui Laudel, jyst Faudel, Haar zottel, zu dir
Hottel, herum Lottel, hinum trottel u. s. f. Und viel des Verdriefs
mehr, dafs ich letzlich entrüstet sprach: mit Erlaubnii's, wenn
es nicht vor dem König wäre, und du nicht eben einer seiner
Diener einer wärest, ich wollte sagen, du hättest gelogen, wie
ein Schelm oder Dieb".
Ähnlich sucht der Narr der Polyxena seine Herrin im Dunkel
zu erschrecken, sie aber wirft dem Mimus einen eisernen Vasen-
ständer an den Kopf. Nicht anders hat man auch mit den
Narren im Mittelalter nicht selten kurzen Prozefs gemacht. Iwan
der Schreckliche von Rufsland freilich stiefs seinem Narren, der
ihn geärgert hatte, gleich ein Messer in die Kehle, dafs er starb.
Hofnarren wurden vom ausgehenden Altertum durch das
Mittelalter bis in die moderne Zeit hinein gehalten. Unter
Ludwig XIV. kamen sie in Frankreich ab *). Unter den Hofnarren
der Königin Elisabeth von England war der berühmteste Scoggan.
Noch am Hofe Karls I. von England findet sich ein Narr. Der
letzte wirkliche Hofnarr am preufsischen Hofe war bekanntlich
Gundling, der im bürgerlichen Leben Freiher, Geheimrat und
Präsident der Akademie der Wissenschaften war. Unter den
Päpsten war besonders Leo X., unter dem die Reformation durch
Luther begann, ein Freund der Hofnarren. Auch der Kardinal
Hypolite de Medici, wie der Kardinal Wolsey unter Heinrich VIII.
von England hielten Hofnarren2).
1) Der Hofnarr hatte bis dahin als fous en titre d'office ein ordentliches
Hofamt inne. Vgl. Flögel, Geschichte der Hofnarren S. 339.
2) Die Nachweise im einzelnen siehe bei Flögel, Geschichte der Hof-
narren, Liegnitz und Leipzig 1789.
Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus. 829
Diese ungeheure Folge der Narrengeschlechter, von denen
immer 'das folgende vom vorhergehenden die alten Narren-
theidungen, närrischen Streiche, Witze und Bosheiten lernte,
reicht also durch das Mittelalter bis in die Antike, bis zu den
Narren des Mimus1); Von diesen alten mimischen Moriones
stammte vornehmlich das ganze Narrenwesen her. Anfänglich
nannte man den Narren darum Mimus, als man später den
Mimen ioculator nannte, hiefs wieder auch der Hofnarr so1).
Die Narren sind auch immer dessen eingedenk geblieben,
dafs sie von Hause aus Mimen und Ethologen sind und haben
darum gerne in possierlichen und humoristischen Charakter-
darstellungen geglänzt. Ich gebe hier die Beschreibung dieser
Ethologie der Narren durch Garzoni3): „Zu unsern Zeiten ist
r) Flögel hat nach einem recht geistlosen Prinzipe seine fleifsig ge-
sammelten Materialien über die Narren aufgeschüttet, er reiht sie chrono-
logisch und geographisch und Dach den Herren, denen sie dienten, anein-
ander. Die Menge der Narren ist zwar grofs, aber sie treiben immer die-
selben oder sehr ähnliche Schalksstreiche, worauf Flögel kaum achtet. Viel-
fach fühlen wir uns an den Philogelos erinnert, desgleichen an Symeon Salos,
den griechisch-syrischen Eulenspiegel, der die Narrenteidungen der alten
mimischen Volksnarren um Christi willen weiter trieb, und überhaupt an die
Narrheiten der stupidi und uwool. Es sind sehr einfache, stets von neuem
wiederkehrende Motive, und darnach müfste ordnen, wer eine Geschichte der
Narren heute schreiben wollte. Uns interessieren sie nur soweit, als wir
ihrer bei der Entwicklungsgeschichte des Mimus, insbesondere der mimi-
schen Hypothese bedürfen, und wie nützlich sie dabei sein können, wird uns
gleich wieder das Shakespeare-Drama mit seinen Clowns lehren, aber dar-
über hinaus selbständig interessieren sie uns nicht. Die Geschichte der
Narren lehrt vorläufig nur, dafs, dafs sie im Altertum wie im Mittelalter,
wie auch in der modernen Zeit immer den Beifall des Pöbels fanden, ob
sie nun im Mimus auftraten oder aufserhalb desselben, ob sie wirklich
närrisch waren oder sich nur so stellten. Wer diese Geschichte schriebe,
müfste nicht nur ein Philologe, sondern auch ein Psychologe, sogar ein guter
Psychiater sein; dann könnte seine Behandlung des vorhandenen, sehr kost-
baren Materiales, das wir hier um ein beträchtliches ergänzt haben, höchst
belehrend für die Geistesgeschichte der Menschheit werden.
2) Wir haben oben S. 815, Anm. 2, den Ausdruck jogleor für den Narren
nachgewiesen.
3) Tomaso Garzoni Piazza universale, Discorso 118 übersetzt von Flögel
a. a. 0. S. 15 folg.
830 Neuntes Kapitel.
das Possenreifsen wiederum so hoch gestiegen, dafs man der
Schalksnarren an Herren Höfen und Tafeln mehr findet, haben
auch einen freiem Zutritt und mehr Gunst bei denselben, als
ansehnliche und ehrliche Leute. Man glaubt eine Hofhaltung
in Abnahme kommen, wo nicht ein Carafula, ein Gonella, ein
Boccafresca oder sonst ein unverschämter Possenreifser, die
ganze Gesellschaft der Höflinge und der Herren selbst mit kurz-
weiligen Reden, geschwinden Antworten, auch mit ziemlich groben
Zoten unterhält und lustig macht. Da sitzt oft Herr und Knecht,
sperren Maul und Nasen auf und hören dem Narren zu, der
allerhand Schnaken vorbringt; bald sagt er eines Bauern Testa-
ment her, welches er seiner Grethe hinterlassen; bald kommt er
auf ein Instrument des Ceci, welches in so lächerlichen Worten
abgefafst ist, dafs es Cocajus nicht ärger machen könnte; bald
erzählt er die krummen Sprünge, welche jenes Arztes Weib ihrem '
Manne zu Ehren in der Fastnacht gethan ; bald fällt er auf das
Gespräch M. Agresti mit der Togna S. Germani. Er redet von
den Gesetzen, wie ein Gratianus zu Bologna, von der Arzneikunst,
wie ein M. Grillus; perorirt auf gut pedantisch, wie ein Fidentius
Glotocrisus; spricht bergamaskisch, als wäre er der gröbste Bauer
in der ganzen Gegend. Bald macht er den Rektor Magnifikus
in der Stellung des Leibes, bald einen Spanier in höflichen
Gebehrden, bald einen Deutschen im Gange, bald einen Floren-
tiner im Reden und Schnarren, bald einen Neapolitaner im
Krähen. Mit einem Worte, er kann der ganzen Welt in Reden,
Gebehrden und Kleidern nachäffen. Er kann auch das Angesicht
fast auf tausenderlei Weise verändern und verstellen. Bald zieht
er die Augenbrauen ein, und verdreht die Augen, als wenn er
schielte; bald zieht er die Lippen so seltsam zusammen, dafs
man glaubt, er habe eine Mafke vor sein Angesicht gezogen;
bald reckt er die Zunge spannenlang heraus, wie ein durstiger
Schäferhund in der Hitze; bald streckt er den Hals, als wenn
er am Galgen hienge; bald zieht er ihn wieder ein, und biegt
den ganzen Leib zusammen, als wenn er den Teufel auf den
Schultern hätte; bald macht er einen krummen Rücken, wie ein
Mailändischer Reffträger; bald schlägt er die Arme übereinander,
Die Tracht der mittelalterlichen Hofnarren gleich der des mimus calvus. 831
als wenn er voller Andacht wäre: bald gehn ihm die Hände und
die Finger wie einem Gaukler. Bald streckt er sich wie ein
fauler Schlingel, bald geht er einher, wie ein Lastträger, bald
richtet er sich auf wie ein Esel. Überhaupt geht seine ganze
Kunst dahin, dafs man lachen soll; und wenn er anfängt zu
lachen, so mufs jedermann, der ihn ansieht, mit lachen. Dieses
sind die Tugenden der Possenmfser, um derentwillen sie bei
Fürsten und Herren lieb und angenehm sind, auch in Freuden
leben, und wohl begabt werden; da unterdessen ein gelehrter
Dichter, ein anmuthiger Redner und ein scharfsinniger Philosoph
im hintersten Winkel sitzen, und oft Noth leiden mufs.14
Vor allem ist der mittelalterliche Narr trotz aller Albernheit,
trotz aller mimicae ineptiae, die er vorbringt, im Grunde ein ver-
schmitzter und gescheidter Bursche, in dessen bodenloser Narr-
heit viel verborgener Witz und Gehalt steckt, wie in den Narr-
heiten in Philistions Philogelos. Eben weil er vom mimischen
Narren abstammt, ist er nicht blos ein stupidus, sondern zu-
gleich ein Sannio und derisor, der in der Narrenkappe straflos
die Narrheit der Welt verhöhnt. An diesem lustigen Kauze
entzündet sich auch der Witz der anderen, wie der Narr im
Mimus verspottet wird und zugleich der anderen spottet.
VI.
Die Tracht der mittelalterlichen Hofnarren gleich der des
mimus calvus.
Das wichtigste Kennzeichen des mimischen Narren war die
Kahlköpfigkeit; davon hatte er den Namen mimus calvus oder
ficogög (falaxqög. Synesius spricht im Lob der Kahlheit von dem
kahlen Mimen, der den Tag ein paar Mal zum Barbier geht1).
l) 4>alaxQ. tyx. 77 B: Tov Iv S(Ötqü) de av&Qtonov, os nollrjv xai
xalrjv 7$ ör)ua> öiargißrjv, f£cam xa&' ixäavrp/ ieoouyviav rü xaiaXaßövu
&fav öfcioSai. Ovrog emi uiv twv r^vij tfalaxoüv, ol twv Mb, ßaSi^cav
tnl ia xovgtTa xr\g rjuioas noiläxig- Ich will hier auch noch zu den
832 Neuntes Kapitel.
Noch heute sind Kagal Pahlavan, der persische, und der Vidüsaka,
der indische Narr, Kahlköpfe, weil sie Nachkommen des alten
mimischen Narren sind; weil das nun der mittelalterliche Hofnarr
gleichfalls ist, ist auch er beschoren.
Flögel a. a. S. 51 u. 52 bemerkt dazu: „dafs den Narren
ehemals die Köpfe beschoren worden, erhellet daraus, weil man
die Mönche wegen ihrer Tonsur mit den Narren verglichen hat.
So pflegte Johann Geiler von Kaisersberg zu sagen: die Fran-
cifcaner sind geschoren, wie die Narren, sind im Gesichte^bedeckt,
als unehrliche Schandbuben, und mit Stricken gebunden, wie
Diebe; und dieser Geiler war, wie bekannt, katholisch. Und
eben so schreibt Cornelius Agrippa: Die Mönche sind beschoren
wie die Narren. Es finden sich auch in den hogarthartigen
Holzstichen bei Lochers lateinischer Übersetzung von Bränts
Narrenschiff, einige Abbildungen von Narren mit heruntergezogener
Kappe, bei. welchen der kahle beschorene Kopf deutlich zu sehen
ist; als Blatt 39, der Narr, der in die Sonne sieht; und Blatt 68,
der Narr, der in den Spiegel sieht." Auch die Jongleure schoren
ja als Nachkommen der pZfjbot yslo'mv ihr Haupt.
Auf dem beschorenen Haupte trägt der mittelalterliche Hof-
narr eine spitze Narrenkappe, wie der mimus calvus, den spitzen
Apex, wovon er auch apiciosus hiefs. Auch der Hofnarr ist also
apiciosus, wie noch heute sein direkter Nachkomme, der Cirkus-
clown l). Den Narrenkolben, das mimische Prügelholz, trug gleich-
falls vor dem Narren schon der Mime.
Eine mehr gelegentliche Auszeichnung der Narrentracht ist
der Hahnenkamm, Eselsohren an der Narrenkappe, Schellen und
eine grofse Halskrause. Doch hat schon der antike Mime viel
vom Hahnentypus2). Wir kennen einen Ritter aus dem mytho-
logischen Mimus mit dem Hahnenkamm und einen dickbäuchigen
zahlreichen anderen Stellen anführen Artemidor. Onirocrit. L. I, C. 22.
SvQUO&at St Soxeh1 ttjv xe<fai.r\v oirjv nXi]V Alyvnrliov »tüv tSQtvOi xai ytlcozo-
noioTs xal tolg 'id-og tyovOi S-vgeio&cti icya&ov ....
i) Vgl. darüber oben S. 449, 579.
2) Vgl. hier auch die Nachweise bei Dieterich, Pulcinella S. 238 ff.
Der Mimus als Puppenspiel i. d. Händen d. mittelalterlichen Ioculatoren. 833
Mimen mit der Hahnennase1)- Auch die Hahnennase des Karagöz
wie des Pülcinell dürfte wohl auf der alten mimischen Über-
lieferung beruhen2). Was die Eselsohren angeht, so wollen wir
an den alten Eselmimus denken. Schellen und Kragen hat viel-
leicht erst das Mittelalter der Narrentracht hinzugefügt.
Da der Narr nun einmal bei der guten Gesellschaft des Mittel-
alters (wie der Antike) mit dazu gehört, so fehlt er auch nicht
auf den mittelalterlichen Bildern, die sie darstellen. Auf Mair
von Landshuts Bilde „Gesellschaft auf dem Balkon" (Wien
k. k. Kupferstichsammlung, abgebildet bei Schulz, Deutsches
Leben Nr. 138, S. 380 — 381) befindet sich der Narr, das mimische
Prügelholz in der Rechten, auf dem Haupt die Kappe mit den
langen, spitzen Ohren, in der Gesellschaft schöner Damen und
eines stolzen Herrn. Auf dem Bilde von Martin Jäsinger „Tanz
im Münchener Schlosse" (1500. a. a. 0. Nr. 177, S. 494— 495)
schaut der Narr mit Kappe und Eselsohren dem Tanze der Hof-
gesellschaft zu. Beide Narren dürften beschoren sein, da bei
ihnen nicht das Haar, wie bei den anderen Männern, angedeutet
ist, doch könnte es auch von der Narrenkappe verdeckt sein.
Auf dem Bilde von Israel von Meckenen „Die Tänzer" (a. a. 0.
Nr. 174, S. 490—491) springt der Narr unter anderen höchst
exaltierten Tänzern mit, in der Hand trägt er die Narrenpritsche,
vom Haupte ist ihm die Kappe bei der heftigen Bewegung herab--
geglitten, da sieht man deutlich, er ist ein beschorener Narr,
eine Art „mimus calvus".
VIL
Der Mimus als Puppenspiel in den Händen der mittelalterlichen
Ioculatoren.
Mit dem Hofnarren sind wir zur niedrigsten Stufe der mimi-
schen Kunst herabgestiegen. Wir erheben uns wieder und gelangen
zunächst zum mittelalterlichen Mimus als Puppenspiel. Wir sahen,
') Vgl. oben S. 583.
2) Vgl. darüber oben S. 676, 682.
Reich, Mimua. 53
834 Neuntes Kapitel.
dafs das Puppenspiel in Hellas uralt ist. Im byzantinischen
Osten und im Orient hat sich die Hypothese als Puppenspiel
erhalten bis zum Untergange von Byzanz, und in der Meta-
morphose des Karagözspiels bis auf unsere Tage; auch der Held
des persischen Puppenspiels, der Kagal Pahlawan, wie der des
indischen, der Vidusaka, wie der des javanischen Semar sind die
direkten Nachkommen des alten mimus calvus, des Helden im
griechischen Puppenspiel.
Wie wir im zwölften Jahrhundert für Byzanz das Puppen-
spiel durch Eustathius bezeugt erhalten (vgl. oben S. 672 u. 673),
so haben wir für den lateinischen Westen aus derselben Epoche
eine Abbildung des Puppenspiels, in dem Hortus deliciarum der
Herrad von Landsberg (Äbtissin von Hohenburg 1167— 1196) l).
Gerade die mittelalterlichen Mimen, die Ioculatoren, führten
solche Puppenspiele vor. Das wird bezeugt in der provengali-
schen Flamenca (13. Jahrhundert)2) wie im deutschen Wachtel-
märe, wo die Marionetten, die dort an Schnüren befestigt er-
scheinen, tatermanne genannt werden8). Die Ioculatoren trugen
diese Puppen (Kobolde) vielfältig unter dem Mantel und zogen
sie, wenn sie spielen wollten, hervor4). So erscheint Oriande
als Jongleur verkleidet bei einem Hochzeitsfeste, dem auch ihr
Geliebter Malegys beiwohnt, von dem sie lange Jahre getrennt
war. Sie zieht zwei herrlich gearbeitete Puppen hervor und läfst
sie auf einer schnell zum Theater hergerichteten Tafel tanzen;
die Puppen halten ein Liebesgespräch, zum Schlüsse küssen sie
sich, da erkennt Malegys die schöne Fee und küfst sie5).
2) Bei A. Schulz, Höfisches Leben im Mittelalter I, S. 118, wiedergegeben
nach Engelhard Herrad von Landsberg, Stuttgard 1818, Tafel V. Es sind
zwei geharnischte Gliederpuppen, die, durch Schnüre bewegt, mit einander
fechten. Darunter steht die Unterschrift: ludus monstrorum.
2) Vgl. oben S. 808.
3) Mafsmann, Denkmäler der dentschen Sprache und Litteratur. München
1828, 'S. 110.
4) Belegstelle hierfür ist besonders Hugo von Trimbergs Renner, v. 5065.
') Siehe die Ausgabe des Fragments bei Von der Hagen, Germania
VIII, S. 280.
Der Mimus als Puppenspiel i. d. Händen d. mittelalterlichen Ioculatoren. 835
Einen Marionettenkasten finden wir schon auf einer Miniatur-
abbildung aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einer
Handschrift des „Roman d'Alexandre"1). Dort schaut aus dem
Puppenkasten ein dickbäuchiger Herr mit einem kräftigen
Knittel heraus, ihm gegenüber befindet sich ein Weib. West-
wood sieht diese beiden Puppen als die Vorläufer von Punch
und Iudy an. Das ist an und für sich falsch, denn Punchs
Ahne ist niemand anders als Pulcinell und von Pulcinell ist im
14. Jahrhundert und noch dazu in England keine Rede. Aber
in diesem dickbäuchigen Herrn im Puppenspiel werden wir
unschwer den alten, dickbäuchigen Mimen erkennen; auch die
Helden des orientalischen mimischen Puppenspiels, Vidüsaka und
Semar, haben noch vom alten mimus calvus her den dicken
Bauch. Murner beschreibt in der Narrenbeschwörung (1512)
einen Puppenkasten, „ein Himmelreich". ' Auf ihm erscheint
Meister Isengrimm und stiehlt einer Beghine einen Braten, auch
schiefst er mit einem Bogen den Ehebrechern die Nasen ab, ein
Mönch wirft mit einem Kissen nach einer Äbtissin. Es sind die
alten Themen aus dem Mimus, die Bestrafung der Ehebrecher,
der Spott auf die Geistlichkeit, auf Mönche und Nonnen. Dafs
hier Meister Isengrimm als eine Person des Tierepos und der
Tierfabel im Puppenspiel auftritt, können wir jetzt, da uns die
nahen Beziehungen zwischen Mimus und Fabel deutlich geworden
sind (vgl. oben S. 442 — 444), ganz wohl verstehen').
Jedenfalls war der Mimus als Puppenspiel im lateinischen
Westen Europas ebenso beliebt wie im byzantinischen Osten.
Im Redentiner Osterspiel (1138 ff.) befiehlt der Teufel seinen
Dienern, unter den andern Verlorenen auch die Leute vor-
zuführen :
Die da spielen mit den Docken
Und den Thoren ihr Geld ablocken*).
J) Vgl. Westwood, Archeological Journal, Bd. V (London 1848), S. 198.
*) Vgl. A. Schultz, Deutsches Leben, S. 228.
*) Zweifelsohne war das Marionettenspiel im Mittelalter aufserordent-
53*
836 Neuntes Kapitel.
Also das Puppenspiel in den Händen der mittelalterlichen
Mimen, der Ioculatoren, war von vornherein ein Mimus, wie es
noch heute im Orient ein Mimus ist und im letzten Grunde
ist ja auch unser modernes Kasperle- und Pulcinellspiel nichts
anderes. Ich will hier nochmals an die Übersetzung von Tocha,
Marionette durch mima, in dem althochdeutschen Glossar hin-
weisen 1).
VIII.
Der Mimus am Ende des Mittelalters.
Adams de la Halle „Jeu de la feuillee".
Alle Leistungen der alten griechisch-römischen Mimen bis
zu den niedrigsten hinab haben die Jongleure beibehalten. Ob
sie auch wie diese ihre Vorfahren Schauspieler geblieben sind,
ob sie gelegentlich auch mimische Dramen weiter aufgeführt
haben, das ist nun die Frage.
Die mittelalterlichen Mimen treten, wie im Altertume, in
Scharen auf und haben auch Miminnen unter sich; sie wandern
wie in der Antike, in grofsen Gesellschaften, sie lieben es, Mimo-
logieen und ethologische Darstellungen vorzuführen und üben die
Künste der Mimesis in weitestem Umfange. Es wäre wunderbar,
wenn in diesen Gesellschaften jeder für sich allein gemimt, wenn
man sich nicht zur Aufführung ganzer Stücke vereinigt hätte,
zumal ja die Jongleure auf dem Puppentheater unablässig kleine
Dramen aufgeführt haben.
Wir hören von Verboten gegen Mimen und Miminnen, sie
sollen nicht in Gewändern von Mönchen und Nonnen auftreten,
also nicht in schauspielerischen Verkleidungen. Die Nachäffung
der Typen von Engländern und Bretonen durch Jongleure in Ober-
italien könnte wohl, wie schon Creizenach hervorhebt, in kleinen
lieh verbreitet; Magnin giebt dafür (histoire des Marionettes) eine ganze
Anzahl interessanter Belege, die sich aber noch sehr vermehren liefsen.
. l) Vgl. oben S. 674, Anm. 1.
Der Mimus am Ende des Mittelalters. „Jeu de la fenillee". 837
Dramen, d.h. also in Mimen, vor sich gegangen sein1). Aber
von dem Inhalte der mittelalterlichen Mimen erfahren wir sonst
nichts. Die Jongleure, die das mimische Schauspiel vorführten,
hatten, wie die griechischen Mimographen, die einst Philistions
Vorläufer waren, kein litterarisches Interesse und keine litterari-
schen Ansprüche, sie stellten in lustigen Stücklein die alten und
ewig jungen Typen und Themen dar, die sie von ihren griechisch-
römischen Vorfahren überkommen hatten. Das Ganze diente zur
Lust des Augenblicks und wurde natürlich extemporiert Der
stupidus in diesen Mimen, der sot, war noch ganz der alte mit
kahlem Kopf und mit grellbunter Tracht, vielleicht zierte ihn
auch noch der dicke <. Bauch, den ja auch noch die komische
Figur im mittelalterlichen Puppenspiel beibehalten hat. .
Wer sollte wohl diese Stücke aufschreiben. Möglich auch,
dafs anfänglich unter den Jongleuren eine Art Canevas schrift-
lich überliefert wurde, nachdem man extemporieren konnte. Im
6., 7. und 8. Jahrhundert sind unter den mittelalterlichen Mimen-
banden vielleicht auch noch Hypothesen von Marullus und Lentulus
und anderen berühmten Mimographen handschriftlich verbreitet
gewesen, wenigstens haben wir festgestellt, dafs noch im fünften
Jahrhundert n. Chr. die Mimen der alten berühmten Mimographen
gelesen wurden, dafs es also von ihnen handschriftliche Exem-
plare gab.
Später hat dann allein die mündliche Überlieferung ein-
gesetzt. Aber die lustigen alten Typen des Mimus, der stupi-
dus, der derisor, der Sannio, der Ardalio, der betrogene Ehe-
mann, der Zr\).6ivnoz, die verschmitzten Eheweiber, die schlaue
Vermittlerin und alle die anderen sind so unvergefslich, wie die
markantesten Scenen, in denen sie auftraten, die Ränke und
Possen, die sie sich spielten, ihre lustigen Foppereien und
Schimpfereien, Kabalen und Intriguen. So werden im Karagöz-
spiel die alten mimischen Charaktere und Sujets schon über vier
Jahrhunderte mündlich überliefert, und doch bleibt die Über-
lieferung konstant und äufserst selten wird einmal ein neues
>) a. a. 0. S. 383, Anm. 2.
838 Neuntes Kapitel.
Stück gedichtet und auch dieses setzt sich dann wieder aus den
uralten Elementen zusammen1).
Die Litteratur des Mittelalters steht unter dem Zeichen der
Geistlichen. Priester und Mönche haben sich weidlich an den
Mimen ergötzt, sie haben sich Ioculatoren und Hofnarren gehalten
und die Kirchenfürsten waren mit den mimischen Narren gut
Freund, aber den Inhalt der Mimen aufzeichnen, wie hätten sie
das thun sollen, ja dürfen? Wozu sollte man auch diese lustigen
Narrenteidungen aufschreiben, dafs sie aufhören könnten, war ja
garnicht zu befürchten, man beschimpfte und verbot sie ja offiziell
schon seit Jahrhunderten in Concilienbeschlüfsen und Synodal-
verordnungen ohne ihnen je etwas anhaben zu können. Wie
empört ist Alcuin, der fromme Lehrer Karls des Grofsen, über
die besondere Vorliebe, die Angilbert der „Homerus", der Eidam
Karls, der verheiratete Abt den Mimen zeigt, wie dringend mahnt
er ihn, davon abzulassen, bis er hört, Angilbert habe seinen
Lebenswandel gebessert.
Ja, dafs die Mimen, die alten Darsteller des Mimus, im
Mittelalter weiter gelebt haben, ist gar keine Frage. Ich habe
die zahlreichen Zeugnisse für ihre Fortexistenz angeführt2). Aber
wenn die Mimen weiter lebten, wie sollte dann der Mimus zu
Grunde gegangen sein?
Die Existenz des grofsen mimischen Dramas der Hypothese
ist mindestens für das vierte, fünfte und sechste Jahrhundert
n. Chr. nach den zahlreichen und deutlichen Zeugnissen, die wir
aufgefunden haben, erwiesen. Wenn also die mimischen Schau-
spieler im sechsten Jahrhundert ihre Existenz behaupteten, wenn
sie alle Stürme der Völkerwanderung überstanden hatten, warum
sollten sie plötzlich im siebenten, achten, neunten, zehnten Jahr-
*) Vgl. oben S. 668.
2) Schon Petit de Julleville hat sich wenigstens dieser Erkenntnis auch
ohne die ganze Masse der Zeugnisse zu kennen, nicht verschlossen; soviel
konnte man selbst aus Grysar und noch besser aus Magnin (Origines latines
du Theätre moderne), der Grysar vorangeht, lernen. Darum beginnt Petit
in seiner berühmten Geschichte der französischen Komödie den Band „Les
comediens" mit dem Kapitel „Les Jongleurs".
Der Mimus am Ende des Mittelalters. „Jeu de la feuillee". 839
hundert die Möglichkeit der Existenz verlieren und vor allem die
Möglichkeit, ihre alten mimischen Dramen vorzuführen. Ähnlich
haben wir wohl Kunde vom Fortleben der Mimen im Mittelalter
im byzantinischen Orient, und aus Choricius kennen wir derartige
mimische Hypothesen aus dem sechsten Jahrhundert, aber aus
der Folgezeit ist auch nicht eine einzige Nachricht über Sujet und
Inhalt einer byzantinischen Hypothese überliefert, wenn wir auch
gelegentlich von dem Mimus im Theater boren und uns Araber
und Armenier als neuer mimischer Typus genannt werden. Dann
setzt die reichliche Überlieferung erst wieder mit dem Nachkommen
des byzantinischen Mimus, dem Karagöz ein, und wir sehen, dafs
der byzantinische Mimus noch in seinen letzten jämmerlichen Aus-
läufern ein mehraktiges Stück, eine Hypothese ist. Aber erst
moderne Wissenschaft hat den Karagöz entdeckt, mittelalterliche
Betrachtungsweise hätte ihn spurlos vergehen und vergessen lassen.
In der That zeigen sich auch im lateinischen Westen die Spuren
des Mimus sofort wieder, sowie sich das Mittelalter seinem Ende
nähert und wieder mehr von einer eigentlich- litterarischen, von
der Geistlichkeit unabhängigen Überlieferung die Rede ist
Das älteste erhaltene komische Drama des Mittelalters stammt
von dem berühmten Trouvere Adam de la Halle, es ist das Spiel von
Adam oder von der Blätterlaube (Jeu d'Adam oder Jeu de la feuill6e)
(circa 1262; vgl. Petit, La comädie S. 19). In ihm erscheint Adam
selbst, sein Vater, Meister Heinrich, und fünf Bürger des Städtchen
Arras, Riquier, Hane, Guillot, Wal6s und Rainnel6s, auch zeigt
sich ein Arzt und ein vagabondierender Mönch. Adam ist seiner
Vaterstadt Arras und seiner reizenden Frau Marie überdrüssig;
sein Hunger nach ihren Reizen ist gestillt, und nun hat er grofse
Pläne, er will nach Paris gehen, um zu studieren. Sein Vater
ist nicht dagegen, will aber das nötige Geld nicht vorstrecken,
weil er alt und krank ist und es selber braucht. Jetzt tritt der
Arzt in Scene und meint, die Krankheit des Alten ist der Geiz.
Der Arzt wird mit einem Male die Hauptperson, eine Dame
kommt hinzu und konsultiert ihn und es folgt eine Art Sprech-
stunde. Da tritt auf einmal ein vagabondierender Kleriker, gleich-
falls eine Art Mediziner, herein, er führt eine Reliquie mit sich,
840 Neuntes Kapitel.
die imstande ist, alle Narrheit zu heilen. Sofort weist jeder
den andern darauf hin, aber nicht einmal der eigentliche Narr
Wal6s wird durch die Berührung geheilt. In dieser Nacht, in
der man spielt, sind die Feen gewöhnt, unter einer Blätterlaube
von den Bürgern von Arras ein Mahl anzunehmen. Aber der
Mönch mit seiner Reliquie hält Feen und Geister fern. Schnell
versteckt man ihn und schon vernimmt man das Brausen des
Geisterheeres; es erscheint Croquesos, der Diener Hellequins, des
Herrn der Geister, mit einer Liebesbotschaft seines Herrn für
die Fee Morgue. Plötzlich zeigt sich Morgue mit den Feen Arsile
und Maglore auf der Scene. Zum Unglück ist etwas an der
Tafelzurüstung für Maglore vergessen und während Morgue und
Arsile Glück und Segen wünschen, verflucht Maglore Riquier und
Adam. ' Zum Schlufs grofses Zechgelage, der Mönch .schläft dabei
ein und mufs zuletzt die Zeche bezahlen, und da er nichts hat,
die Reliquie zum Pfände lassen.
Magnin hat dieses Spiel zum ersten Male mit der aristo-
phanischen Komödie verglichen und Petit hat diesen Vergleich
geistvoll weiter durchgeführt (La comedie S. 19). Aber eins
ist gewifs, Adam de la Halle hat auch nicht ein Sterbens-
wort von Aristophanes gewufst. Was an diesem Drama vor-
nehmlich als aristophanisch erschien, die Sittenschilderung, die
Mischung des biologischen und märchenhaften Elementes, politische
und lokale Anspielung, Humor und Spott, ist nicht spezifisch aristo-
phanisch sondern mimisch. Aus Mimus und phallischem Chor-
gesang, lehrt Aristoteles und die altperipatetische Schule, setzt
sich die sogenannte alte attische Komödie zusammen. Vom Chor-
gesange ist im Jeu de Adam, so viele Personen auch darin auftreten,
keine Spur, von der alten Komödie findet sich nur das spezifisch
mimische Element dort, und um dieses mimischen Elementes willen
konnte man sich an die alte attische Komödie erinnert fühlen.
Die Darstellung des Ehelebens, wie sie sich bei Adam
findet, ist eines der wichtigsten Sujets des Mimus. Der Mimus
führte auch gerne solche stupidi vor, wie es der Narr bei
Adam ist, der Biologe liebte es, Personen aus dem ßiog zu
schildern, wie es Adam thut; der Mimus liebte es, Ärzte vor-
Der Mimus am Ende des Mittelalters. .Jeu de la feuülee". 841
zuführen in ihrer Praxis, wie bei Adam, und gerade wie diese
Ärzte mit Damen umgehen, hat der Mimus geschildert wie
Adam. Mönche hat von jeher der nachchristliche Mimus mit
Vorliebe auftreten lassen und wenn dieser Mönch mit seiner
Reliquie Wahnsinnige und Besessene heilen kann, so hat auch
der türkische Mime Karagöz ein geheimes Mittel, Verrückte zu
heilen und einmal erscheint er sogar in einer Irrenanstalt. Be-
sessene oder die als solche erscheinen oder behandelt werden,
fanden sich in der alten Komödie wie im alten Mimus. Wenn
Maglore wünscht, dafs Riquier, der nur noch ein Haar auf dem
Kopfe hat, ganz kahl wird, können wir uns vielleicht an den
mimus calvus erinnern, zumal auch die Ioculatoren dieses Zeichen
ihrer griechisch-römischen Vorgänger beibehalten haben. Auch
gelegentliche politische Anspielungen wie bei Adam finden sich
im Mimus, wenngleich der Mimus niemals wie die altattische
Komödie vornehmlich auf die Politik zugeschnitten ist oder gar
um ihretwillen gedichtet war. Das war aber auch nicht das
Spiel von Adam, es nimmt der Politik gegenüber genau dieselbe
Stellung ein wie der alte Mimus.
Dieses Spiel mit seiner Mischung des niedrig-realistischen
Elementes mit dem Phantastisch-Märchenhaften ist der Ethologie
und Biologie des Mimus am nächsten verwandt. Mimus und
Märchen gehören ja überhaupt nahe zusammen, schon die alt-
attische Märchenkomödie verdankt viel der uralten Neigung des
Mimus zum Märchenhaften ; ich erinnere auch an Gozzis Märchen-
mimus (vgl. darüber oben S. 332, 593, 680).
Zum Schlüsse kommt in diesem Drama noch Frau Fortuna
herein. Wir kennen sie genau aus dem alten griechisch-römischen
Mimus, die Herrin Tyche, die zuletzt die Zeche macht Ganz
ähnlich wie Adam von der „Fortune**, redet Philistion von
der Tyche. Ja fast wörtlich stimmt Adams Schilderung der
„Fortune" und ihres Rades mit derjenigen am Schlüsse von
Qudrakas Mimus der Mrcchakatikä überein1).
*) Ich gebe hier die altfranzösischen Verse in der modernisierten und
leicht verständlichen Form, die ihnen Petit, La comedie S. 26, giebt:
842 Neuntes Kapitel.
In Adams Dichtung zeigt sich der freie und kühne Geist
eines grofsen Poeten, der trefflich mit dem von den Ioculatoren,
den alten Mimen, überlieferten Schatze an mimischen Typen und
Themen umzugehen weifs und geistvoll das alte Gold zu funkel-
nagelneuen Münzen schlägt1).
IX.
Typen und Themen des Mimus in InterSude und Farce.
In einer englischen Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts
ist ein Interludium „De Clerico et puella" überliefert. Der
Clericus geht in Abwesenheit der Eltern zur Jungfrau Malkin
(Mariechen), aber er hat mit seiner Liebeswerbung wenig Glück.
Da geht er zur Kupplerin; doch die alte Hexe behauptet," sie
sei eine ehrbare Frau, die lieber singe und bete als mit solchen
Geschichten zu thun habe. Leider bricht da dieses Spiel ab3).
Wir haben hier wieder den alten Ehebruchs- oder Ver-
führungsmimus vor uns. Jungfer Malkin erinnert uns an Metriche
im ersten Mimiambus des Herondas, die den von der Kupplerin
angepriesenen Verführer so schnöde abweist, der Geistliche, der
sich hinter die alte Kupplerin, die Dame Gyllis bei Herondas,
die cata carissa des römischen Ehebruchsmimus, steckt, an den
edlen Gryllos, der mit Hilfe der Gyllis an das Ziel seiner
Wünsche zu gelangen hofft. Dieses Interludium steht also in
Fortune — a toute chose eile est commune — et tient tout le monde en sa
main — pauvre aujourd'hui, riche demain — ni ne sait point qui eile avance —
Pour ce, nul n'y ait confiance — si haut qu'il puisse etre monte; car il ne faut
qu'uh tour de roue — il lui convient descendre ä bas.
r) Ich will hier auf „Robrn und Marion", das zweite Drama Adams,
nicht näher eingehen, es ist ein Pastorale mit zahlreichen Couplets, eine
Art komischer Oper mit schäferlichen Masken, kurz, ein bukolischer Mimus,
während das Spiel von Adam ein biologischer Mimus ist. Gerade für den
bukolischen Mimus ist dem Mittelalter die Überlieferung, und zwar hier die
schriftmäfsige, niemals -abgerissen. Ich erinnere nur an den Eklogendichter
Naso am Hofe Karls des Grofsen. In jeder Hinsicht steht also das älteste
komische französische Drama, das wir kenneD, unter dem Zeichen des Mimus.
2j Vgl. Creizenach a. a. 0. S. 400.
Typen und Themen des Mimus in Interlude und Farce. 843
einer Handschrift aus dem Anfange des vierzehnten Jahrhunderts;
danach ist es sicher, dafs man schon im dreizehnten Jahrhundert
den mittelalterlichen Mimus Interludium nannte (vgl. Creizenach
a. a. 0. S. 400), und darum nennt Adam de la Halle seinen
Mimus zwar kein Interludium, aber doch einfach einen ludus
(jeu), und wir wissen, dafs man die Mimen auch ludiones hiefs.
Der Name Interlude blieb das Mittelalter hindurch erhalten.
Noch Königin Elisabeth hielt von ihrem Regierungsantritt an
eine Gesellschaft von 'Players of Enterludes' ') als königliche
Schauspielertruppe 8).
Warum nannte man den Mimus a Interludium?" Wir wissen,
wie reichlich in den vornehmen Haus- und Hofhaltungen des
Mittelalters für die Unterhaltung der Gäste gesorgt wurde; da
gab es eine grofse Masse von „ludi-1 und „ ludiones". Allen
diesen ludiones wurde Schweigen geboten; wenn das Interludium
vor sich gehen sollte, dann hörten die Fidein und Harfen auf,
die Mim öden sangen nicht mehr, der Puppenspieler schwieg
stille, die Bären durften nicht mehr brummen und die dressierten
Hunde- nicht mehr bellen, auch der Heldengesang verstummte.
Hinter der Gardine"5) traten die Ioculatoren, die Mimen, hervor
und führten, während die ludi schwiegen, ihr grofses Interludium
auf. Doch wenn die Ioculatoren wieder hinter ihrem velum
mimicum verschwunden waren, traten die anderen ludi von neuem
i) Vgl. Karl Elze, William Shakespeare S. 271.
2) Seine Blüte erlangte das Interlude in England durch John Heywood
am Hofe Heinrichs VIII ; dieses Spiel ist wie der alte Mimus voller Spott
gegen die Geistlichkeit.
*) Das Siparium fanden wir ja noch auf der englischen Bohne zu
Shakespeares Zeit, sie hat es von den alten players of enterludes. Wir
haben also allen Grund, das velum mimicum überhaupt bei dem Interlude
vorauszusetzen. Die mittelalterlichen Mimen haben eben dieses unerläßliche
Stück der Ausstattung beibehalten. Hart, Geschichte der Weltlitteratur II,
S. 97. giebt nach P. Albert, La litterature fran?aise, Paris 1891, die bild-
liche „Darstellung einer Possenscene auf der spätmittelalterlichen Volks-
bühne'". Deutlich sieht man hier den Vorhang, vor welchem gespielt wird,
das Siparium. Noch heute treten in primitiven Varietes die Gaukler hinter
der sich teilenden Gardine hervor.
844 Neuntes Kapitel.
in ihr Recht, und' es erhob sich im Saale das alte Brausen. So
traten an den Höfen der Diadochen ÖavpaTonoioi,, Musikanten
und Mimoden, in Scharen in dem grofsen Festsaale auf, bis die
mimische Hypothese, die alles Interesse auf sich zog, den übrigen
Spielen Schweigen gebot.
Der Name interludium für den alten Mimus scheint im
späteren Mittelalter wie im Beginne der neuen Zeit in allen
romanischen Ländern Geltung gehabt zu haben; in Spanien hiefs
das Interlude Entremesa. Cervantes wie Lope de Vega, die
grofsen Zeitgenossen William Shakespeares, haben eine ganze
Anzahl Entremesas gedichtet1).
Daneben kam der Name Farce auf2). Es sind genau 150
französische Farcen erhalten3), die alle nicht älter sind als das
1) Eine genaue Inhaltsangabe der Entremesas von Cervantes findet sich
bei J. L. Klein, Geschichte des Dramas IX, S. 375 ff. Im dritten Entremesa
„El viejo zeloso" (Der eifersüchtige Alte) haben wir den alten mimischen
Narren, den ^Aonmos, vor uns, mit all' den alten mimischen Zügen bis
ins einzelne und einzelste. Gegenüber dem sechsten Entremes „de la Eleccion
de los Alealdos de Daganzo" erinnern wir uns an Pappus Praeteritus oder
Punch candidate for Guzzledown. Kurz, die Typen und Themen des spani-
schen Entremes lassen sich bis ins einzelne hinein mit denen des Mimus be-
legen; aber das würde eine ganze Monographie, ja, bei der Fülle des aus
dem Mimus Überlieferten und Überkommenen, ein ganzes Buch erfordern.
2) Über den Ausdruck Farce, der als Bezeichnung für den Mimus vor-
läufig zuerst für das fünfzehnte Jahrhundert nachweisbar ist, vgl. Petit de
Julleville, La comedie et les moeurs en France au moyen-äge, Paris 1886,
S. 51 ff. Auch Du Cange, s.v. farsa, giebt nützliche Belege.
3) Petit de Julleville zählt im Repertoire du Theatre comique en France
au moyen-äge, Paris 1886, 148 auf. S. 106—258, Nr. 66-213. Inzwischen
haben sich zwei neue Farcen hinzugefunden. Vgl. Codd.( Ashburnhamiani
I, 63 ff. Und doch sind diese 150 Stücke nur der kleine Bruchteil eines
ungeheuren Reichtums. Wie es im griechisch-römischen Weltreiche einst
in allen grofsen Städten Mimographen gab, wie überall die Mimen, die das
Leben abspiegelten, in diesen lebensfrohen Zeiten wie Pilze aus der Erde
hervorschossen, so gab es in dem daseinsfreudigen Frankreich gegen Ende
des Mittelalters zahllose Farcendichter, und die Farcen blühten auf wie die
Blumen an einem Frühlingstage. Sehr gut bemerkt Petit de Julleville, La
comedie S. 57 : Quoique nous posstdions beaueoup de farces, peut-etre n'avons-
nous pas la centieme partie des pieces de ce genre compose'es au moyen-äge ....
Typen und Themen des Mimus in Interlude und Farce. 845
sechzehnte Jahrhundert, zum Teil sind sie in alten Drucken,
zum Teil handschriftlich überliefert. Doch hebt Creizenach
hervor, dafs diese Farcen grösstenteils wohl Überarbeitungen
von komischen Schauspielen viel früherer Jahrhunderte sind1).
Überall regt sich die Erkenntnis, dafs das komische Drama des
Mittelalters sehr viel älter ist, als es scheint, es ist eben der
uralte Mimus.
Wie im Mimus treten auch hier wieder alle Typen des
ßioq auf. Da sind vor allem die alten Handwerkertypen, der
Müller, der Schuster (wie bei Herondas), der Schneider, der
Kesselflicker, alle Typen des Marktes und der Strafse, die
Fischweiber (wie schon bei Epicharm), die Grünkraut- und
Gemüsefrauen — wie in den mimischen Scenen bei Petron.
Wie im alten Mimus zeigen sich Ärzte, Schulmeister mit ihren
Schülern, Advokaten, prahlerische Soldaten (vgl. besonders
Petit, Nr. 71, 86, 108, 114). Vor allem werden, wie es der
Mimus seit den ältesten Zeiten und besonders der christo-
logische Mimus liebt und wie es noch heute im indischen wie
im persischen und türkischen Mimus Sitte ist, die Geist--
liehen arg mitgenommen. Da erscheinen allerhand verliebte
Cleriker, verbuhlte Äbtissinnen und Nonnen. Nicht einmal
der copo compilatus, der betrogene Kneipwirt aus dem alten
Mimus fehlt, ebenso wenig fehlen die Industrieritter des Mimus,
die in den mimischen Scenen bei Petron eine so wichtige Rolle
spielen. Wie der Narr, der stupidus, im griechisch-römischen
Mimus, so spielt in der französischen Farce der Narr, der sot
oder wie er seit den ersten Zeiten des sechzehnten Jahrhunderts
heifst, der Badin, eine wichtige Rolle. Natürlich finden sich,
wie im alten Mimus und besonders der Atellane, allerhand Typen
des ländlichen Lebens in der Farce, Bauern und Bäuerinnen,
Knechte und Mägde.
Du Verdier s'exprime ainsi dans sa Billiotheque franeoise en 1585: *On ne
sauroit dire Us farces qui ont (te compose'es et imprimees, si grand en est le
nombre. Car au temps passe", chaseun se mesloit (Ten faire».
») a. a. 0. S. 431.
846 Neuntes Kapitel.
Den eigentlichen risus miraicus aber erwecken in diesen
Farcen die uralten mimicae ineptiae, diese drolligen Dummheiten
der Narren, die Eulenspiegeleien; die mimicae artes, die lustigen
Vermummungen und Betrügereien, die Kabalen und Ränke, die
praestigiae atque fallaciae, die Cicero als mimorum argumenta
kennzeichnet (vgl. oben S. 64, Anm. 2). So sind denn in der
französischen Farce wie im alten Mimus besonders allerhand
lustige Gaunereien und Diebstähle im Schwange. Das Ver-
suchsobjekt für solche Streiche ist besonders der Gastwirt, der
copo compilatus des alten lateinischen Mimus. Aber auch
sonst werden im französischen Mimus allerhand Gewerbtreibende
von ihren Kunden betrogen; so im neuen Pathelin (Nr. 157
bei Petit) ein Kürschner. In Nr. 72 bei Petit tritt ein Blinder
und sein Junge auf, die eine Wurst stehlen und dabei abgefafst
werden.
Wie es sich für einen Mimus gehört, liebt die französische
Farce allerhand politische Anspielungen, besonders über den Steuer-
druck wird geklagt, wie im sechsten Mimiambus des Herondas. Und
-wie der griechisch-römische Mimus gelegentlich in Anspielungen
die Verhältnisse der allerhöchsten Herrschaften berührte, so
auch der französische. So wurde im Jahre 1503 in einer Farce
vorgeführt, wie ein Hufschmied (marechal) eine Eselin (Anne)
beschlägt, dabei aber einen kräftigen Fufstritt erhält. Gemeint
war der Marschall von Rohan, der von der Königin Anna gestürtzt
wurde (vgl. Petit, Repertoire S. 357).
Der gröfste Wert der französischen Farcen für die Historie
in ihrer höchsten und letzten Form, d. h. der Entwicklungs-
geschichte der Menschheit, besteht in der Treue, mit der sie
die sozialen und politischen Verhältnisse des Mittelalters wider-
spiegeln, d. h. um antike Termini zu gebrauchen, in ihrer Bio-
logie; auch dem französischen Farceur gebührt der Ehrentitel
Biologe, wie dem Mimen. Petit de Julleville hat die Farce vor-
nehmlich unter diesem biologischen Gesichtspunkte behandelt,
das drückt sich sogar in dem Titel seines Werkes aus: La
comSdie et les moeurs en France au moyen-äge. So gründeten
die Peripatetiker auf den Mimus ihre Darstellung der „moeurs
Typen und Themen des Mimus in Interlude und Farce. 847
en Grece* und basierten zum Teil auf der mimischen Biologie
ihre hellenische Sittengeschichte, ihren Tßiog °ElXddoqu (vgl.
oben S. 319, 320).
Die Schwiegermutter, die sich schon in dem alexandrinischen
Mimus Hecyra wie im griechisch-römischen Mimus zeigt, spielt
auch eine arge Rolle in der Farce vom „Waschfafs". Es handelt
sich da, wie oft im Mimus, um die Herrschaft im Hause. Der arme
Jaquinot wird von seinem Weibe und seiner "Schwiegermutter
drangsaliert. Als Jaquinot sich nun beschwert, dafs ihm alle
weiblichen Arbeiten im Hause aufgehalst würden, rät die
Schwiegermutter, damit aller Zank und Streit aufhöre, solle er
sich ein Verzeichnis seiner Pflichten anlegen; da diktiert ihm
denn Frau und Schwiegermutter ein langes Register. So be-
giebt man sich an die Wäsche; aber Jaquinot zieht, während er
am Waschfafse steht, die Wäsche wohl allzu straff an und die
Frau purzelt ins Waschfafs. Als sie nun verlangt, er solle sie
herausziehen, sieht er seine Liste nach und findet das nicht
darin. — Cela n'est point a mon rollet. — Auch die Schwieger-
mutter kann ihrer Tochter nicht helfen; man ist wirklich allein
auf die Kräfte Jaquinots angewiesen und so müssen denn Frau
und Schwiegermutter ihn als den Herrn im Hause anerkennen.
Vgl. Petit, La comädie S. 321 ff. Es ist eben der alte Schwieger-
muttermimus.
Vor allem aber waren offenbar der Verführer, das junge
Mädchen oder die junge Frau, auf die sich seine Wünsche
richten, und die Vermittlerin die cata carissa des alten Mimus,
desgleichen der stupidus als betrogener Ehemann, besonders
beliebte Typen auch im späteren mittelalterlichen Mimus.
Wir finden sie ja schon im alten Interludium „De clerico et
puella" und ebenso in den alten niederländischen Mimen aus
dem späteren Mittelalter, die von den französischen Farcen
ihren Ursprung genommen haben. (Vgl. Creizenach a. a. 0.
S. 404.)
Herr Werrenbracht hat seine Frau im Verdachte der Un-
treue. Er begiebt sich aus dem Hause und läfst sich von
einem Krämer im Tragkorbe wieder in seine Wohnung bringen.
848 Neuntes Kapitel.
Richtig ist auch schon der Pfaffe bei seiner Frau. Er singt ein
Spottlied- auf den Hahnrei Werrenbracht, dann fordert er den
Krämer auf, auch ein Lied zu singen. Da singt der Krämer:
Herr Werrenbracht soll gleich aus seinem Korbe herauskommen
und den falschen Pfaffen durchprügeln, und das geschieht1).
Am lustigsten und verbreitesten unter allen diesen Ehe-
bruchsmimen ist nun die Farce von dem armen stupidus von
Ehemann, der bei seiner Frau ein Kind findet, dessen Herkunft
er sich nicht recht erklären kaun.
Dieses Thema findet sich schon im niederländischen Possen-
spiel (Creizenach S. 402); da beschwert sich Rüben bei seiner
Schwiegermutter, dafs seine junge Frau schon nach drei Wochen in
die Wochen gekommen sei. Die Schwiegermutter meint, er müsse
die drei Monate Brautstand und dazu die Tage und Nächte des
Ehestandes besonders rechnen, dann kämen neun Monate heraus.
Zum Schlüsse schwört sie, dafs ihre Tochter ebenso unschuldig
bei der Verheiratung war wie sie selbst. Das mufs dem guten
Rüben genügen.
Dasselbe Sujet behandelt ähnlich, wenn auch anders, die
französische Farce. Ein Mann hat seine Frau, die ihm mit ihren
unaufhörlichen Anforderungen an seinen Geldbeutel gar zu lästig
fiel, verlassen. Als er wiederkommt, sieht er mit Erstaunen,
wie viel besser seine Wohnung ausmöbliert ist, und wie er sich
über ein Stück der neuen Ausstattung nach dem anderen wundert
und fragt, wodurch sie das erlangt habe, erhält er die stereotype
Antwort: „Durch den Segen Gottes". Zum Schlufs bemerkt er
ein kleines Kindlein; auf die Frage: „Woher hast du das?"
lautet die Antwort gleichfalls: „Vom Segen Gottes"2).
So kommt im türkischen Mimus des Karagöz junge Frau,
des Dottore Hagievad Tochter, schon in der ersten Ehenacht in
die Wochen. Der Modus Liebinc bietet dasselbe Motiv. Es
sind „mimi juvenes", die da mit der Frau des entfernten Ehe-
') Vgl. Creizenach a. a. 0. S. 403.
2) Bei Petit, Repertoire Nr. 87: Colin gui loue et depite (maudit) dieu.
Vgl. auch Petit, La comedie S. 307 ff.
Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 849
mannes scherzen, weil eben in dem Schwanke der Inhalt eines
Mimus, mit dem damals die Zuschauer ergötzt wurden, wieder-
gegeben wird (vgl. oben S. 796).
Weil dieser Mimus in allen Ländern, in Deutschland, Frank-
reich, England, Italien und Spanien weit verbreitet war, darum
finden wir die Fabel vom Schneekinde auch in Litteraturen ver-
breitet1), die sonst nichts von einander entlehnen.
Es ist wunderlich, man hat bisher immer den alten Ehe-
bruchsmimus, wie er in griechisch-römischer Zeit die Bühnen
von Alexandria, Rom und Neapel, Konstantinopel, Babylon und
Antiochia, Paris, London, Köln, Mainz, Trier und aller anderen
Städte des griechisch-römischen Weltreiches beherrschte, als ein
spezifisches Zeichen der Sittenverderbnis der antiken Welt an-
gesehen und siehe da, nun treffen wir den gleichen Ehebruchs-
mimus als den Hauptbestandteil von Interlude, Entremesa und
Farce im Mittelalter wieder überall verbreitet. Sollen wir nun
dieselbe Sittenverderbnis auch für diese kräftigen, von der christ-
lichen Sittlichkeit beherrschten Nationen voraussetzen? Ach
nein! Die Sitten waren im Mittelalter unter den Germanen
und Franzosen, Engländern, Spaniern wohl bessere als in den
Zeiten der endenden antiken Kultur. Aber der mittelalterliche
Mimus knüpft doch nun einmal direkt an den Mimus der aus-
gehenden Antike an und darum mufste in ihm der Ehebruchs-
mimus überwiegen und die in ihm herrschende freche, realistisch-
burleske Auffassung von den Frauen, die so merkwürdig absticht
von der sonst im Mittelalter herrschenden schwärmerisch-minnig-
lichen, romantisch-idealistischen Frauenverehrung, die im Marien-
kultus gipfelt.
X.
Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin.
Wir wollen den Vergleich zwischen Mimus und Farce an der
Farce Nr. 129 bei Petit ein wenig genauer durchfuhren.
') Vgl. darüber Ebert a. a. 0. II, S. 346.
Reich, Mimus. ",.|
850 Neuntes Kapitel.
Ein Vater und eine Mutter unterhalten sich von ihrem
Sohne. Der Vater hat ihn zur besseren Ausbildung einem
Schulmeister übergeben. Nun hat die Mutter schlimme Neuig-
keiten zu berichten. Der Sohn hat so trefflich Latein ge-
lernt, dafs er nicht mehr Französisch zu sprechen versteht.
Da mufs man ihn doch gleich aus der Schule herausholen,
sonst verstehn ihn nicht einmal die Hunde mehr. Man macht
sich auf den Weg, holt unterwegs die Braut dieses seltsamen
Schülers und Raoul Machue, seinen Schwiegervater in spe, ab
und begiebt sich dann zum Schulmeister. In der That hat
der Schüler erstaunlich viel gelernt, er spricht nur Latein und
was für ein Latein1). Aber die Braut lehrt ihn nach vielen ver-
geblichen Bemühungen wieder Französisch sprechen, und so geht
man fröhlich heim zur Hochzeit.
Dieser Student, der ob der grofsen Schulweisheit alle Ver-
nunft verlernt hat, ist der alte Scholastikus Philistions, der
Dottore. Der Magister ist der Schulmeister des griechisch-
italischen Mimus. Bei Herondas schon spielt er seine Rolle
x) So sagt der Magister (Ancien theatre francais, publie par M. Viollet
Le Duc, Tome II. — Bibliotheque Elzevirienne 10, S. 344/45:
Responde: quod librum legis?
En frangoys.
Maistre Mimin:
Ego non dire,
Franchoyson jamais parlate;
Car ego oubliaverunt.
Le Magister:
Jamais je ne vy ainsi prompt
Ne d'estudier si ardant.
Auf die weiteren Fragen des Magister fährt dann der Schüler weiter in
seinem französischen Latein fort:
Mundo mirabilius
Avanturosus Lupare
Bonibus et non gaignare
Non durabo certambus
Et non emportabilibus u. S. W.
Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 851
im Mimiambus „Der Schulmeistert Dort besucht ihn die Mutter
seines Zöglings, wie ihn hier Mutter Lubine besucht Er ist
dort derselbe würdevolle Pedant, wie in der französischen Farce.
Bei Petron lernen wir in einer dem Mimus entlehnten Partie
zwei Schulmeister kennen, der eine ist ein fauler Kerl, der
andere aber lehrt seine Schüler mehr als er selber versteht.
Auch aus Philistions Philogelos kennen wir diese pedantischen
Schulmeister, noch Choricius sind sie bekannt. Gelegentlich
tritt auch Karagöz im türkischen Mimus als Schulmeister auf.
Wenn der Schüler in dem französischen Mimus, doch halt, in
der französischen Farce auch noch als Bräutigam auftritt und
sich ziemlich verliebt zeigt, so erinnere ich an den Scholastikus
in Philistions Philogelos, der von seiner Magd ein Kind hat
(Nr. 57, vgl. oben S. 462).
Dazu zeigt sich auch Form und Gestalt dieser Farce bis
ins einzelnste der mimischen Hypothese vergleichbar.
Allerdings findet sich nicht Prosa, sondern nur iambischer
Vers und Cantica gemischt, und zwar finden sich Couplets mitten
drin und am Schlüsse1). Auch in dem Mimus vom betrogenen
Ehemann, Herrn Werrenbracht, finden sich Couplets, und wenig-
stens für den Schlufs des spanischen Entremesas ist das Couplet
ganz unerläfslich.
*) So heifst es a. a. 0. S. 350, 351:
Scait-il plus chanter, voirement,
Pour nous rejouyr en allantf
Le Magister:
Jl faxt ragt.
Raulet:
Chantez avant.
(Ils chantent quelque chanson a plaisir.)
Und weiter heifst es S. 357:
Mon ßls, vien-fen vien :
Nous chanterons bien en allant.
Und zum Schlüsse (S. 359) steht:
ils chantent.
Leider sind diese Couplets nicht erhalten. Auch sonst findet sich in den
Farcen häufig zum Schlüsse: un chanson pour dire adieu.
54*
852 j Neuntes Kapitel.
Im spanischen Entremesa, das mit der Farce auf gleicher
Stufe steht, findet sich auch die Prosa. Also wenn das mittel-
alterliche Drama auch nur eine sehr minderwertige, sehr ein-
geschrumpfte Gestalt der mimischen Hypothese , zeigt, aus der
es entsprungen ist, so zeigt es sie doch immerhin noch deut-
lich genug.
Auch der freie Scenenweclisel, den der Mimus liebt, findet
sich in unserer Farce. Erst unterhält sich Mutter Lubine und
ihr Mann auf dem Lande. Dann erscheinen sie zusammen vor
Raoul Machue's Haus in der Stadt und endlich alle gemeinsam
bei dem Schulmeister in der Schule. Ebenso haben wir hier,
wie in der Hypothese, eine gröfsere Anzahl von Darstellern, näm-
lich sechs.
Doch wozu einen mühsamen Indicienbeweis dafür anstellen,
dafs diese Farce aus dem Mimus stammt und ein uralter Mimus
in französischer Form ist, dafs hat ja schon der alte französische
Mimograph gewufst, der den Hauptdarsteller in. diesem Mimus
als Maistre Mimin estudiant bezeichnete1). Der Hauptakteur in
dieser Farce ist also der Mime. Nun wohl, wir wissen ja, dafs noch
im neunten Jahrhundert nach Christus ausdrücklich bezeugt wird,
dafs das Volk einen Lustigmacher mimus nennt (vgl. oben S.795).
Es hat also auch noch in den späteren Jahrhunderten, da es ihn
einen ioculator, einen jogleor und Jongleur hiefs, was, wie wir
sahen, die direkte Übersetzung von (iipog yekoicov ist, nicht ver-
gessen, das jeder ioculator, jeder mimische Darsteller eben ein'
Mime ist. In der Farce von den „drei Pilgern" wird mit dem
Ausdruck „Mymin" der Spafsmacher bezeichnet2). Dafs Meister
Mime der Akteur in allen französischen Interludien und Farcen
ist, diese Erinnerung haben noch zwei andere französische Farcen
bewahrt. Bei Petit de Julleville a. a. 0. Nr. 130 findet sich eine
!) Bei Petit, Repertoire du Theatre comique, Paris 1886, Nr. 129, S. 156.
In den Farcensammlungen (Recueil du British Museum, Recueil Viollet-Leduc,
Recueil Edouard Fournier) lautet der Titel: Farce joyeuse de Maistre Mimin
ä six personnages, c'est assavoir le Maistre d'Escolle, maistre Mimin, estudiant;
Raulet, son pere; Lubine, sa mere; Raoul Machue et la Bru Maistre Mimin.
2) Les trois P61erins et Malice bei Petit No. 166.
Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 853
Farce zu drei Personen, nämlich: Maistre Mimin le Gouteux;
son varlet Richard le Pel6, sourd, et le chaussetier. Dann
giebt es noch eine alte Farce, betitelt: Le Testament de
Maitre Mimin (bei Julleville a. a. 0. Nr. 306)» Wir erinnern
uns an des toten Juppiters Testament und ähnliche ur-
alte Mimen1). Ganz richtig, Meister Mime hat ja das ganze
Mittelalter hindurch gespielt. Er spielte ja auch im indischen
Drama und spielt noch heute im türkischen Karagöz und als
Kacal Pahlavan in dem persischen Puppendrama und in der
Commedia deir arte und noch im deutschen Kasperlespiel *). Ihre
J) Petit de Julleville a. a. 0. S. 314 bemerkt dazu: Le nom de Maitre
Mimin parait avoir ete celui (Tun farceur celebre, ou peut-etre le sobriquet traditionnel
de plusieurs farceurs. Ei, freilich, der berühmteste aller Farceure, der Farceur
an sich, ist ja der mimus, der ioculator, der ftipos yeloltov, der maistre
Mimin.
3) Der Farce entspricht auf deutschem Boden das Fastnachtsspiel. Auch
hier wird es, nachdem die verschiedenen Typen und Themen des Mimus fest-
stehn, nicht schwer fallen, die alten mimischen Elemente im einzelnen nach-
zuweisen. Nur soweit die Fastnachtsspiele auf dem alten Mimus beruhen,
sind sie weiterer Entwickelung fähig gewesen. So bemerkt Creizenach a. a. 0.
S. 413: »Die einzige Abart des Fastnachtspieles, in der ein fruchtbarer
Kern zu weiterer Entwickelung lag, sind die Spiele, die auf komischen Er-
zählungen beruhen; hier wäre es wohl denkbar, dafs die bürgerlichen Fast-
nachtsspieler sich Anregungen aus dem Repertoire des fahrenden Volkes
holten." Ganz recht, das fahrende Volk sind eben die mimi et ioculatores.
Später wirkte dann auf das deutsche Drama auch der italisch-italienische
Mimus, die Commedia dell'arte und der Pulcinell. Schon im Jahre 1649
tritt in Nürnberg ein Italiener auf, 'so den Pollizinello mit kleinen Dockelein
agiret hat' (vgl. Dieterich, Pulcinella S. 271). Nach dem Bilde der Com-
media dell'arte schuf dann Stranitzki die Wiener Posse, und auf dieser
Grundlage ruht das Wiener Volksschauspiel, bis auf Raimund („Der Ver-
schwender"', „Der Bauer als Millionär", „Der Alpenkönig und der Menschen-
feind"), Nestroy (1802—1862) („Lumpaci vagabundus", „Der Unbedeutende",
„Die verhängnisvolle Wette", „Einen Jux will er sich machen*, „Freiheit
in Krähwinkel" u. a.), ja schliefslich wohl auch Anzengruber (1839 — 1889)
(„Der Pfarrer von Kirchfeld", „Der ledige Hof*, „Der Meineidbauer", „Die
Kreuzelschreiber", „Die Trutzige", „Der Fleck auf der Ehr'"). So hat denn
der Mimus seit den ersten Jahrhunderten nach Christus, da er als grofses
Theaterstück auf den Theatern von Mainz, Köln und Trier aufgeführt wurde,
seit den Zeiten des späteren Mittelalters, aljä er die burlesken Scenen im
854 Neuntes Kapitel.
Krönung erhielt die alte französische Farce in der Moliere-
komödie. Vortrefflich hat Petit de Julleville auseinandergesetzt,
wie das ernste, vornehme Drama in Frankreich nichts mit dem
alten Mysterium zu thun hat und wie es seit der Renaissance
aus dem antiken klassischen Drama sich neu entwickelte, wie
aber kein Einschnitt durch die Renaissance in der Entwickelung
der französischen Komödie gemacht ist und die aus der Farce,
das heifst wie wir es jetzt verstehen, aus dem alten gallischen
Mimus, sich konsequent entwickelte. Das Mysterium verschwand
vor der Tragödie, aber der Mimus blieb1). Moliere schuf den
deutschen Mysterium inspirierte (vgl. unten die nächste Anmerkung), nie
seinen Einflufs in Deutschland ganz verloren. Doch unsere vornehmen,
klassischen Dichter haben bei der dürftigen und niedrigen, ja rohen Art —
man denke an Hans Wurst — die der Mimus, so weitab von seiner eigent-
lichen Heimat zeigte, nie recht wie in den romanischen Ländern und wie in
England den Weg zu dem mimischen Volksschauspiel gefunden. Aber darum
haben wir auch nie eine Blüte der Komödie in Deutschland erlebt (vgl. hier-
über oben S. 335. 336).
J) Nur insoweit es ein Mimus ist, haben wir hier auf das mittelalter-
liche Drama geachtet. Da scheinen sich die Darstellungen der Passions-
geschichte, sowie die dramatischen Martyrien und die Mirakelspiele ganz
von selber auszuschliefsen. Was hat auch das heilig-ernste Mysterium mit
dem lustigen Mimus zu schaffen. Aus dramatischen Ansätzen in der gottes-
dienstlichen kirchlichen Handlung, besonders im Weihnachts- und Ostercyklus
aus kirchlichen* Wechselgesängen hat das Mysterium sich selbständig ent-
wickelt. Das ist die seit langem geltende Meinung, der auch Creizenach
in seiner „Geschichte des neueren Dramas" folgt. Diese Entwickelung
hat ein so schönes Analogon in der Entstehung der antiken klassischen
Tragödie aus der gottesdienstlichen Handlung, zudem war ja am Beginne
des Mittelalters Komödie und Tragödie tot, nicht einmal die ursprüngliche
Bedeutung der Namen verstand man mehr. Tragödie galt einfach als eine
traurige, Komödie als eine fröhliche Geschichte, den Hauptbegriff des Dramas
hatte man verloren. Ich erinnere an Dantes „Divina Comedia". Vgl. hier
Creizenach a. a. 0. 9 — IS und Cloetta, Beiträge zur Litteraturgeschichte des
Mittelalters und der Renaissance, I. Komödie und Tragödie im Mittelalter,
S. 144ff., S. 166ff. Im Neugriechischen heifst TQayovdw: ich singe und xb
TQayoiSi: Volkslied. Vgl. auch Sathas a. a. 0. rf. Also konnte das Mysterium
sich gar nicht an die antike dramatische Überlieferung anlehnen und mufste
sich eben unabhängig und selbständig entwickeln. Nun, das klassische Drama
Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 855
alten volksmäfsigen Mimus wieder aus seiner verkümmerten und
verschrumpften Gestalt zu seiner alten, blühenden Herrlichkeit
war allerdings tot und vergessen, aher das letzte grofse Drama der Antike,
der Mimus, war lebendig, und wenn man nicht einmal mehr recht wutste,
was comoedia und tragoedia, comoedi und tragoedi waren, was mimus und
mimi sind, wufste man genau, denn die sah man das ganze Mittelalter hin-
durch vor sich. Wie sollte sich also ein neues Drama unabhängig aus den
primitiven dramatischen Uranfängen heraus entwickeln, während daneben
ein ausgebildetes Schauspiel bestand, das noch dazu den Beifall des Volkes
wie der Höfe und verstohlen auch der Geistlichkeit hatte?
Zum ersten Male in der Weltgeschichte sind die Martyrien und
die göttlichen Geheimnisse des Christentums, seine Mysterien, Gnaden und
Wunder nicht von christlichen Priestern dramatisch vorgeführt worden,
sondern von heidnischen Mimen, allerdings nicht zur Erbauung. Das geschah
in den christologischen Mimen. Schließlich bekehrten sich die Mimen zum
Christentume, aber sie behielten ihre Gewohnheit , die Geistlichkeit auf
der Bühne vorzuführen und hier und da in den Gewändern von Mönchen
und Nonnen aufzutreten, bei. Bequemten sich die Mimen dazu, ihren
christologischen Mimus ins Ernsthafte zu wenden, so war der Mimus zum
Mysterium geworden. Und der Mimus nimmt ja in der That nicht selten
eine etwas ernsthafte Richtung, und die Mimen waren nicht selten sehr ernst-
hafte Christen, wie der Archimime Masculas, der standhafte afrikanische
Katholik Sie hätten ja in dem neuen Mysterium daneben noch das alte
burleske mimische Element beibehalten können, wie es das Mysterium ja
wirklich in ausgedehntem Mafse thirt. In der That hat sich ja auch,
wie wir sahen, in Indien durch immer stärkeres Hervorkehren des ernst-
haften, mythologisch-religiösen Elementes aus dem burlesken Mimus das
ernsthaft-heilige Mysterium entwickelt. Wie im Occidente kann es auch
dort des burlesken Elementes nicht ganz entbehren, das durch den alten
ftipo; ydoioiv, den Vidusaka, vertreten wird.
Doch dürfte im Abendlande diese Entwicklung aus dem Mimus nicht
so einfach und direkt vor sich gegangen sein. Denken wir an die mannig-
fachen Beziehungen der Kirche und der kirchlichen Litteratur zum Mimus,
an die Kirchenlieder des Arius, die nach dem Vorbilde von Mimodieen ver-
fafst waren, an den Vorwurf, die Arianer brächten mit ihrem dramatisch
bewegten Gottesdienste den Mimus in die Kirche. Arius kam hier ge-
schickt der mimischen Leidenschaft des Volkes entgegen, und schliefslich
folgte ihm die katholische Kirche, wenn auch mit grofser Vorsicht. Seiner
Thalia stellte man eine 'Avri&äXaa entgegen; man gab der gottesdienst-
lichen Handlung mehr dramatische Bewegung, gab den Wechselgesängen
Raum, schuf grofse Prozessionen, bei denen es nicht selten recht theatralisch
856 Neuntes Kapitel.
um zu einem grofsen biologischen Drama, einer mimischen Hypo-
these, wie es einst Philistions Drama war. Ihm half dabei das
herging. ,Was hier etwa von mimischer Form war, wurde ganz mit ortho-
doxem Inhalte erfüllt; aber hier und da regte sich doch der alte mimische
Geist; noch im Trullanum werden „Theatergesänge", d. h. Mimodieen, in der
Kirche verboten.
Erfüllte man die Mimodie mit christlichem Geiste, warum nicht auch
den Mimus? „Einen Ersatz für die alte Bühne", sagt Krumbacher (Ge-
schichte der Byzantinischen Litteratur2 S. 644 u. 645), „schuf das Christen-
tum .... durch dramatische Behandlung christlicher Stoffe und endlich durch
geistliche Aufführungen, aus denen später das abendländische Mysterienspiel
hervorwuchs .... Wenn Bischof Liutprand unter vielen anderen Anstöfsig-
keiten, die er bei den Griechen sah, auch die Verwandelung der Hagia
Sophia in ein Theater bemerkt, so kann er nichts anderes meinen, als eine
Art Mysterienspiel". Ganz gewifs, das Mysterienspiel sollte dem Volke ein
Ersatz für das weltliche Theater, d. d. in jenen Zeiten für den Miräus,
sein. Das Mysterium ist wenigstens im Oriente von vornherein sozusagen
als Konkurrenzunternehmen gegen den Mimus geschaffen, wie das Kirchen-
lied gegen die Mimodie, die aa^iaxa noQvixä, die (päal aararixaC. Anfangs
ist ja das Mysterium bei den Lateinern wenigstens, gemäfs seiner ursprüng-
lichen Bestimmung als Gegengift gegen den Mimus, auch streng ernst und
heilig gewesen; bei den Griechen scheint sich schon von vornherein dem
Mysterium viel Mimisch - Burleskes beigemischt zu haben, sonst hätte
Liutprand nicht solche Entrüstung gezeigt. Allmählich aber drängt sich
auch im occidentalischen Mysterium immer mehr und mehr das mimisch-
burleske Element in den Vordergrund. Das Volk wollte nun einmal überall
seinen seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden geliebten Mimus sehen, und
ohne Mimus erschien ihm das Mysterium fade.
Maria Magdalena, die schöne Büfserin, ist mit ihrer Üppigkeit und
Weltlust ganz im Stile der üppigen, verliebten jungen Frauen im Mimus ge-
schildert, neben ihr die Zofe, die cata carissa, und auch die alte Kupplerin
des Mimus. Wenn Maria Magdalena ihre Arie voll Liebeslust und Welt-
freude anhebt mit dem Refrain:
Seht mich an,
Jungen man,
Lat mich eu gevallen,
so haben wir eine der gewohnten Mimodieen, der cantica, wie sie die Mimi
et Ioculatores und vor allem die Jongleure und Menestrels das ganze
Mittelalter hindurch gesungen haben. Lustige Couplets erschallen ebenso
wie durch den Mimus auch durch das Mysterium. So singen im Mysterium
von Revello ebenso wie in der Vengeance die Matrosen während der Über-
fahrt ein lustiges Liebeslied. Auch der Knecht Rubin singt gelegentlich
Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 857
lebendige Vorbild des italisch-italienischen Mimus, der Conrmedia
zum Lobe seines Herrn, des Quacksalbers, ein Liedchen. Der Krämer, von
dem Maria Magdalena die Schminke kauft, gehört zu den uralten xünriloi
des Mimus, desgleichen sind sein Knecht Rubin und seine Frau uralte
mimische Typen. Ebenso fehlt, im Mysterium nicht der Gastwirt, der copo
des Mimus. Vor der Abendmahlscene pflegen die Jünger des Herrn mit
ihm mimisch -burlesk den Kostenpunkt zu erörtern; gelegentlich zanken
und prügeln sich gar die Jünger mit dem Gastwirt, es ist eben der copo
compilatus des Mimus. Im englischen Magdalenamysterium mufs der Wirt
vor der Thür seinen Wein anpreisen; seit dem Nikolas des Jean Dodel
waren solche mimischen Wirtshausscenen vor allem auch im französischen
Mysterium gang und gäbe. Wie im Mimus ward auch im Mysterium ge-
legentlich kräftig pokuliert und wurden allerhand Kneipwitze gerissen. Die
Arztscenen im Mysterium entsprechen gleichfalls ganz direkt denen im
Mimus. So zeigt der Knecht des Arztes Rubin in den Erlauer Spielen die
Zange, das chirurgische Messer und die Klystierspritze mit allerhand bur-
lesker Erklärung, wobei er nicht vergifst, recht marktschreierisch die ärzt-
lichen Grofsthaten seines Herrn aufzuzählen. Auch die Soldaten im Mysterium
sind Aufschneider und Prahler, wie sie es von jeher im Mimus waren, und
werden darum nicht selten arg verspottet. Eine Hauptfigur im Mimus war
der betrogene Ehemann, der Hahnrei, der CyloivTiog. Es scheint, als ob'
man ein ganz klein wenig unter diesem mimischen Gesichtspunkte den
frommen Joseph betrachtet hat. Gewöhnlich denkt man ihn sich ein wenig
stupide und zugleich etwas ältlich, wie es die betrogenen Ehemänner im
Mimus sind. In einem deutschen Weihnachtsspiel, ediert v. Piderit, Parchim
1869, in hessischer Mundart aus dem XV. Saeculum, zankt sich der alte
Joseph mit der Magd Hillegard, nachher giebt er ein paar alte Hosen her,
das Kind einzuwickeln; in einem anderen Mysterium kocht er für das Kind
Milch auf. Natürlich fehlen, wie im Mimus, bei diesen Darstellungen des
Ehelebens auch nicht die genauen Darstellungen des Wochenbettes. Wie
bei Sophron, im Karagöz und sonst im Mimus erscheinen Hebammen u. s. w.
Das sind die beliebten, alten, intimen Familienscenen aus dem Mimus. Wie
im Mimus zankt sich auch im Mysterium Ehemann und Ehefrau. Joseph
darf das natürlich nicht gegenüber der Himmelskönigin wagen; dafür er-
baute man sich desto mehr an den ehelichen Zankscenen zwischen Noah
und seiner Frau, die als böse Sieben galt. So ist im Mysterium von York
Frau Noah sehr beleidigt, weil ihr Gatte, ohne ihr etwas zu sagen, aus-
geblieben war und hundert Jahre lang im Walde an der Arche Noah
gezimmert hatte. In den Townley - Mysteries will sie durchaus nicht in
die Arche hinein; sie sitzt zornig auf einem Hügel an ihrem Spinnrad
und spinnt, aber schliefslich wird ihr der Sündflutregen doch zu viel.
Wir sahen schon, dafs die Noah -Legende und die eigentümliche Um-
858 Neuntes Kapitel.
deir arte, die ihrerseits sich wieder nach dem Vorbilde des alten
deutung, die sie bei den Gnostikern fand, alte Kirchenväter an den Mimus
gemahnte (vgl. oben S. 426. VII). Ein besonders beliebter Typus im Mimus
war schon seit vorchristlichen Zeiten der Jude, der noch heute im türkischen
Mimus seine seltsame Rolle spielt. So erscheint er denn auch im Mysterium
ganz mit den uralten mimisch-burlesken Zügen. Ich gebe hier Creizenachs
mafsgebende Darstellung a. a. 0. S. 205 ff. : „Der komische Effekt wurde, wie
es scheint, in erster Linie dadurch erzielt, dafs die Schauspieler Aussehen,
Sprache und Gebärdenspiel der jüdischen Bevölkerung beobachtend und
karrikierend wiedergeben, wie das ja schon in dem Weihnachtsspiel von
Benediktbeuren geschah, und dafs sie von Zeit zu Zeit den Judengesang
anstimmten (wie im Karagöz vgl. oben S. 666), der, wie es scheint, regel-
mäfsig eines Heiterkeitserfolges sicher war. Der Spott in diesen Scenen
war durchaus nicht harmloser Natur". Ich erinnere an die Klage Babi Abahus,
dafs nichts so sehr den Pöbel zum Lachen bringe, als wenn im Mimus der
Jude verspottet werde, sowie an Philo, der sich von Kaiser Caligula und
seiner Umgebung verhöhnt fühlte, wie man die Juden im Mimus höhnte
(vgl. oben S. 577 Anm.). Gewifs hat das Volk zur Zeit des mittelalterlichen
Mysteriums gegen die Juden dasselbe Übelwollen gefühlt, wie zur Zeit des
antiken Mimus — aber dafs man die Juden auf die Bühne brachte in der
uralten, mimisch -burlesken Gestalt, das hat das Mysterium doch wohl vom
Mimus.
Vor allem waren, wie wir gelernt haben, Diebesscenen im althellenischen
wie im alexandrinischen, im griechisch-römischen wie im byzantinischen, im
indischen und indonesischen wie im türkischen und arabischen Mimus be-
liebt, so liebt sie denn auch das Mysterium. In den englischen Townley-
Mysteries wird das Treiben der Hirten, denen die Engel die Erscheinung
des Herrn verkündigen, in der lustigsten Weise geschildert. Zuerst haben
wir eine Art bukolischen Mimus, allerhand Zank- und Streitscenen zwischen
den Hirten. Dann bringen sie dem Christuskinde ihre Verehrung dar.
Während sie dann schlafen, stiehlt der Schafdieb Mak einen Hammel aus
ihrer Herde. Seine Frau legt ihn in die Wiege, und Mak singt ein Wiegen-
lied, eine Art mimischen Canticums. Die Hirten halten bei dem Schafdiebe
Haussuchung; schon wollen sie gehen, da kommt einer von ihnen auf die
Idee, dem Kinde einen Kufs zu geben; er wundert sich über des Kindes
grofse Nase und siehe, es ist der vermifste Hammel. Eine echt mimisch-
burleske Scene.
Diese lustigen mimischen Betrügereien, Kabalen und Ränke, diese artes
mimicae, wie Petron sie nennt, nehmen im Mysterium einen breiten Raum
ein. Ja, selbst der geheiligten Person des Heilandes gegenüber wendet man
sie an. Im Donaueschinger Passionsspiele wird ihm beim ersten Verhöre ein
Stuhl hingesetzt, aber in dem Augenblicke, wie er sich setzen will, zieht
Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 859
byzantinischen Mimus, nach Konstantinopels Fall, neu entwickelt
hatte. Es sind zwei mächtige Ströme uralter, mimischer Über-
lieferung, die in Moliere zusammenflössen; darum ward er auch
der Franzosen gröfster „ Maistre Mimin".
ihm Malchus den Stuhl fort, so dafs er sich statt auf den Stuhl auf die Erde
setzt. So bemerkt Creizenach a.a.O. S. 201 : „Auch die Scene, in der
Jesus vor Herodes erscheint, giebt öfters Anlafs zu einer unwürdigen Posse.
Nach Lukas 26, 11 liefs Herodes dem Heilande ein weifses Kleid anlegen;
Petrus Comestor cap. 164 sagt: Herodes habe dies zur Verhöhnung gethan,
weil er Jesum für einen Narren gehalten habe. Dementsprechend wird die
Scene auch mehrmals in den Passionsspielen dargestellt. Bei Greban 23 398
sagt Herodes ausdrücklich, man solle einem seiner Narren das Kleid aus-
ziehen und es Jesu anlegen; im bretonischen Passionsspiele ist die Scene
mit einem kläglichen Monologe des Narren verbunden, der den Verlust seines
Kleides bejammert." Hier erscheint also Christus im weifsen Narrenkleid
als eine Art Mimus albus. Da der Narr im Mimus unerläßlich war, so findet
sich schließlich auch im Mysterium so der Narr des Pilatus. In manchen
französischen Mysterien tritt der alte mimische stüpidus, der sot, auf und
begleitet die Handlung mit seinen „mimicae ineptiae". So ist denn auch das
Mysterium mit seinen mimischen Narrheiten und Eulenspiegelstreichen erfüllt;
selbst die alten, burlesken mimischen Lazzi fehlen nicht. Auch auf die Teufel
mit ihren lustigen Sprüngen und Narrenteidungen, mit den rasselnden Prügeln,
die sie überall erhalten und austeilen, hat der alte stüpidus merklich abge-
färbt. Alle diese burlesken Dinge sind aus dem mittelalterlichen Mimus ins
Mysterium hinübergekommen, sie nehmen einen immer gröfseren Raum ein:
schliefslich werden ins Mysterium vollständige Mimen und Farcen einge-
schoben. Da mögen sich hier und da auch die alten fiiftoi yelodor, die
Ioculatores, unter die Darsteller der Mysterien gemischt haben. Ein Spiel
von dem Martyrium des Petrus und Paulus ward 1417 in Rom auf dem
Scherbenberge durch Jocatores" aufgeführt (vgl. Creizenach a. a. 0. S. 334).
In der Entwickelungsgeschichte des neueren Dramas lautet eines der
bedeutsamsten Kapitel, das noch ungeschrieben ist, „Mimus und Mysterium".
Ich wollte hier nur einige Gesichtspunkte andeuten, denn für die Auffassung
des Mimus ist nicht so sehr viel Neues aus dem Mysterium zu lernen, desto
mehr für die Auffassung des Mysteriums aus dem Mimus.
ZEHNTES KAPITEL.
Shakespeare.
Es sind keine Gedichte! Man glaubt
vor den aufgeschlagenen, ungeheuren
Büchern des Schicksals zu stehen „ in
denen der Sturmwind des be-
wegten Lebens saust.
Goethe.
I.
Mimische Elemente bei Shakespeare.
Seine herrliche Krönung erhielt das mittelalterliche Drama
am Beginne der modernen Zeit durch Shakespeare. Wir haben
die eigentümliche Form der mimischen Hypothese, den Wechsel
zwischen Prosa, Jambus und lyrischen Partieen, zwischen Mimodie
und Mimologie, zwischen Niedrigem und Hohem, zwischen Ernst
und Humor, Realistik und Phantastik an dem Beispiel des
Skakespeare-Dramas . erläutern können. Wie im Mimus findet
sich dort Prolog und Epilog mit dem „plaudite", das auch
Augustus von seinen Freunden verlangte, wenn er den „Mimus
vitae" recht gespielt habe. Wir fanden etwas vom uralten Esel-
mimus im Sommernachtstraum. Das märchenhafte Gift, das blofs
Scheintod erzeugt, ist der Kern der Fabel von Romeo und
Julia1) und diesen Kern schuf, wie wir jetzt wissen, der alte
') Vgl. hierüber die kurzen, aber höchst bedeutsamen Ausführungen von
Brandl, Shakespere S. 40, 41.
t Mimische Elemente bei Shakespeare. 861
Mimus. In Cymbeline fanden wir gleichfalls dieses sozusagen
mimische Gift. Die böse Stiefmutter wie der weise Arzt dort
entsprechen den gleichen Personen im Giftmischermimus, über-
haupt endet in Cymbeline alles ähnlich wie im alten Mimus.
Der Räuber war ein besonders beliebter Typus im Mimus. Auch
bei Shakespeare findet sich in „Die beiden Veroneser" eine Art
Räubermimus eingeschaltet und diese Räuber sind dort, wie es
sich für einen volksmäfsigen Mimus gehört, ehrenwerte Leute
und werden samt ihrem Hauptmann von den Fürsten in Gnaden
aufgenommen.
Einen typischen Charakter verleihen dem Shakespearischen
Drama die Clowns. Es sind die alten stupidi, die auch im Mimus,
selbst wenn es in ihm ernsthaft und grausig zuging, niemals
fehlten und für ihn so charakteristisch sind wie die Clowns für
Shakespeare. Wenn die Clowns gern als eigentliche Narren,
d. h. als Hofnarren erscheinen wie etwa der Narr in „König
Lear14 und in „Wie es euch gefällt" oder in „Was ihr wollt-
oder der Narr der Gräfin von Roussillon in „Ende gut, alles gut",
so erweisen sie sich damit von vornherein als direkte Nach-
kommen des alten mimischen Narren des pooQÖt; und morio. Die
mittelalterliche Sitte, in vornehmen Haushaltungen einen Narren
zu halten, stammt, wie wir sahen, direkt aus dem Altertum und
der antike Narr war eben der mimische stupidus und morio, der
die mimischen Späfse von der Bühne in die Haushaltung ver-
pflanzte, wird er doch noch im Mittelalter wie seine Schauspieler-
Kollegen „mimus" genannt. So sind denn auch die Narren in
den vornehmen englischen Haushaltungen wie sie Shakespeare
aus dem Leben kannte und als Clowns auf die Bühne brachte,
im letzten Grunde mimische Narren.
Die Clowns bei Shakespeare reden Prosa, wie sie es auch
im alten Mimus und in Philistions Philogelos thun. Gelegent-
lich fängt der Clown auch an zu singen und trägt lustige
Mimodieen vor, wie der alte stupidus es auch that und ab
und zu kommen aus dem Munde des Narren tiefsinnige Sen-
tenzen, wie sie sich auch im Mimus unablässig finden. Vor
allem reden die Clowns ebensolche erstaunlichen Narrheiten,
862 Zehntes Kapitel.
wie wir sie aus dem Mimus und Philistions Philogelos kennen,
und erwecken damit den risus mimicus. Aber nicht selten leuchtet
gerade aus diesen urdummen Aussprüchen verborgene Weisheit,
wie aus den mimicae inceptiae. Shakespeares Spruchweisheit ist
ebenso berühmt wie es die des Publius Syrus oder Philistion
war. Prügeln und geprügelt zu werden ist das Los der stupidi
wie der Clowns, in Shakespeares Dramen schallt der alapittarum
sonitus, und die Clowns üben die lustigen Schimpfereien, in denen
sie dem alten mimischen Narren gewachsen sind, die lustigen
Triks, Kabalen, Ränke, Foppereien und Betrügereien, die alten,
lustigen „artes mimicae".
Schliefslich führt in den beiden Veronesern der Clown
Launce gar seinen Hund Shrap vor und hält mit ihm ein selt-
sames, mit humoristischer Narrheit und pudelnärrischer Laune
erfülltes Gespräch. Wir erinnern uns an Hund, der im Mimus
mitspielt, allerdings mit Shrap wird nur gespielt, und der Phylax
im Giftmischermimus spielte selber ganz ernsthaft mit, so gut
war er dressiert. Der französische Mime, der Farceur, machte
freilich aus seinem Kater gar einen König1).
Die Ioculatoren zeigten sich im Mittelalter, ebenso wie die
alten ^avfiatonoiol gern mit dressierten Hunden, von ihrem
Gaukelwesen her haben die Mimen den Hund mit auf die Bühne
gebracht, sie werden auch im Mittelalter nicht die Spielgemein-
schaft mit ihm aufgehoben haben, so wenig wie ihre Nachkommen
die modernen Cirkusclowns. Shakespeare mochte den getreuen
Kameraden des antiken und mittelalterlichen Mimen und Gauklers,
der diesem sein Brot verdienen half, nicht mitleidslos verjagen
und diese gemütvolle Duldung hat ihm der vierbeinige Spiel-
kamerad im Mimus nach Kräften vergolten und hat ihm zu
einer Clownscene verholfen, wie sie sich so urdrollig und dabei
so hinreifsend gemütvoll kaum sonst wieder findet.
*) Farce nouvelle tres bonne et fort joyeuse de Jeninot qui fist un roy de son
chat par faulte lautre compagnon en criant: Le roy boit! et monsta sur sa maistresse
pour la mener a la messe, a trois personnaiges, c'est assavoir: le Mary, la Femme
et Jeninot. Recueil Viollet-Le Duc t. I, p. 289—304 bei Petit Nr. 122.
Fallstaff und der Narr im Mimus. 863
Wir können wohl sagen, dafs die Clownscenen aus dem alten
Mimus stammen. Sie waren auch für das mittelalterliche Drama
so unerläfslich, dafs nicht einmal das heilige, ernste Mysterium,
das an die Stelle der Erregung von „Furcht und Mitleid*, dem
grofsen Ziel (teXo;) des antiken klassischen Dramas, die Erregung
des Gefühls der absoluten Sündhaftigkeit, der Zerknirschung, der
Bufse und Reue setzen wollte, seiner ganz entbehren mochte.
Wir sahen ja schon, wie eng selbst das Mysterium mit dem
Mimus zusammenhängt und wie der Mimus schliefslich in ihm
mit Saus und Braus seinen Einzug hält. Auch der Narr Vice,
der in dem englischen Moralität sich mit Teufeln herumschlägt
und dabei kräftig sein mimisches Prügelholz gebraucht, ist ja
der alte mimische Narr.
IL
Fallstaff und der Narr im Mimus.
Wir können unmöglich den Vergleich zwischen dem Mimus
und den Shakespeare-Dramen für alle Stücke durchführen, das
würde weit über den Rahmen und Zweck unserer Unternehmung
hinausreichen; wir wollen diesen Vergleich nur für ein einziges
Stück durchführen, nämlich für „Die lustigen Weiber von
Windsor". Die Hauptperson darin ist Fallstaff, um ihn dreht
sich das ganze Stück, das ohne ihn alles Sinnes bar wäre. Die
Liebesgeschichte zwischen Fenton und Anne Page ist nur eine
Nebenhandlung, wie sie der Mimus, der ähnlich, wie es im Leben
geht, gerne allerhand Fäden durcheinander schlingt, liebt und
ebenso Shakespeare.
Fallstaff ist die eigentliche Inkarnation des alten Narren
im Mimus, er ist sozusagen der König aller Clowns. Er ist
eine Metamorphose des alten Jack Jugler. Wir haben schon
die Gleichung aufgestellt Jugler gleich Ioculator = iocularis =
ysXiatonowQ = ftTftog ysXoicov, also Fallstaff sse [tipos yf/.oicov.
In der That erinnert Fallstaff mit seinem dicken Bauche
und seinen niedrigen, fleischlichen Gelüsten an die dickbäuchigen
Narren im uralten hellenischen Mimus, auch an den dickbäuchigen
864 Zehntes Kapitel.
kahlköpfigen Vidüsaka und den dickbäuchigen Semar, die imhoi
yeXo'uav und yeXunonowi im indischen Drama und im indischen
und javanischen Puppenspiel. Denken wir an Philistions Ardalio,
er ist glutto, vorax, manducus, ein Fresser und Säufer; das ist
auch Karagöz, Kasperle und Pulcinell, der Vidüsaka und Semar.
Bei Fallstaff, als einem Nordländer und Germanen, überwiegt
das Trinken. Was steht doch auf der Rechnung, die ihm Poins
aus der Tasche zieht:
Item,
ein Kapaun ....
2
Schilling, 2 Pf.
n
- ' 4 „
VI
Sekt, 2 Mafs . . .
5
v 8 „
V
Sardellen und Sekt nach
dem Abendessen . .
2
r> 6 „
»
Brot ......
A r,
Ardalio ist, wie sein Name sagt, ein wenig Schmutzfink, er
wird eben von seinem vielen Schlemmen und Prassen ein etwas
fettiger Geselle sein, wie es auch noch unter seinen Nachkommen
der Vidüsaka und Semar ist. Prinz Heinrich sagt von Hans
Fallstaff: „Ruft mir das Rippenstück, ruft mir den Talgklumpen"
(König Heinrich IV., I. Teil, IL Aufzug, Scene 4) Und weiter:
„Ei, du grützköpfiger Wanst! du vernagelter Tropf! du ver-
wetterter, schmutziger, fettiger Talgklump en". So vieles Fett
macht Fallstaff feige und er ist bei aller Unverfrorenheit, die er
als echter mimischer Narr besitzt, durchaus leicht zu erschrecken
und ins Bockshorn zu jagen. Er ist lagatTÖfisvog wie Philistions
Ardalio und die mimischen Narren alle; ich erinnere auch an
die Feiglinge in Philistions Philogelos. Mit welcher Zuversicht
fällt Fallstaff über die feigen Krämer her und wie entsetzt nimmt
er Reifsaus, „brüllend wie ein Büffelkalb", als Prinz Heinrich
und Poins in ihrer Vermummung ihn scheinbar ernsthaft an-
greifen.
Vor allem zeigt Fallstaff die Haupteigenschaft des mimi-
schen Narren, er ist der noXvnQayficov wie Philistions Ardalio, ,
er ist ein Industrie- und Glücksritter, ähnlich wie Karagöz und
Pulcinell, „der auf der Dummheit der anderen bequem durchs
Fallstaff und der Narr im Mimus. 865
Leben reitet *'). Wie alle Beutelschneider im Mimus ist Fallstaff
von Hause aus ein armer Lump. Er ist so arm, wie es der
Parasit im Mimus immer ist oder wie es die spezifisch mimischen
Typen bei Petron, die Glücksritter Encolpios, Ascyltos und der
hungrige Poet Eumolpos sind, die sich durch allerhand Spitz-
bübereien ihr Brot verschaffen. Von Beutelschneiderei und Dieb-
stahl ist im Mimus beständig die Rede. Laberius verwendet für
das schändliche , stehlen" den hochanständigen Ausdruck „manuari*
aus der Diebessprache.
Als Fallstaff kein Geld hat, Frau Hurtig zu bezahlen, schlägt
er Lärm, er sei in ihrer Kneipe bestohlen worden, besonders
sein kostbarer Siegelring ist fort; es kommt aber heraus, dafs
dieser Ring aus Kupfer und kaum 8 Pfennig wert, und Fallstaff
überhaupt nicht bestohlen ist. Schliefslich verspricht er der
Wirtin, sie soll seine Lady werden und verschafft sich damit
bei ihr unbegrenzten Kredit; freilich, als sie ihr Geld wieder-
haben oder geheiratet werden will, steht die Sache schlimm.
Gelegentlich kommt es ihm auch nicht darauf an, bei Nacht auf
Raub auszugehen um Börsen mit Gewalt zu ergattern und den
Friedensrichter Schallow bringt er um tausend Pfund, indem er
ihm goldene Berge verspricht, wenn nur erst sein Heinz König
Heinrich sein wird. Wie einträglich ist nicht auch sein Werbe-
system. Er ist wirklich ein Beutelschneider, wie sie im Mimus
von jeher geschildert sind. Seine Einfälle erinnern überhaupt an
die des Karagöz und des Pulcinell und besonders an den alten
Mimus. So wie Fallstaff Schallow gegenüber, tritt Eumolpos im
Erbschleichermimus bei Petron als Herr über ungeheure Schätze
auf, nur dafs er sie nicht gerade zur Hand und zur Ver-
fügung hat, und reichlich strömen ihm die Gaben der Gimpel
zu, die bei ihm erbschleichen, wie Herr Schallow sich um Fall-
staffs Protektion mit tausend Pfund bewirbt. Das sind die prae-
stigiae und fallaciae, die als „mimorum argumenta" Cicero nennt,
das sind die „tricae* der Atellanen, von denen unser Ausdruck
„Intrigue" herkommt.
*) Brandl a.a.O. S. 121.
Reich, Mimus. 55
866 Zehntes Kapitel.
Der Narr im griechischen und römischen Mimus spielt nicht
eigentlich die erste Rolle, er ist ein mimus secundarum partium
und erscheint gewöhnlich als Parasit der Hauptperson, wie auch
der Vidusaka als Parasit des Helden auftritt. Auch Fallstaff ist
im „König Heinrich IV.", I. und II. Teil, der mimus secundarum
partium, der Parasit bei Prinz Heinrich und als rechter noXv-
ngäyficov und Beutelschneider weifs er seinen Herrn trefflich
auszunutzen.
So sagt Fallstaff zu Heinz: „Nein, ich lasse dir Gerechtig-
keit wiederfahren, du hast immer alles bezahlt."
Prinz Heinrich: „Ja, und anderswo auch, soweit mein bares
Geld reichte, und, wo es mir ausging: habe ich meinen
Kredit gebraucht."
Die Narren sind im Mimus, wie wir sahen, in zwei Typen
geschieden, den wirklich stupiden Narren, den eigentlichen stupidus
und fiwQÖg — wie Philistion im Scholasticus, dem Dottore, sein
Prototyp schuf oder die commedia dell' arte im Arlechino — und
den Derisor, in dessen Rolle gern der berühmte Mime Latinus
auftrat, den Spötter, den eigentlichen Spafsmacher, den scurra
und yeXcotonoiog, der nicht nur als Narr den anderen zum Spafse
dient, sondern sich ebenso und noch besser über die anderen
lustig zu machen versteht. Sein Prototyp ist Sannio, der mit
jeder Muskel seines Gesichts, ja seines ganzen Körpers lacht,
wie Cicero sagt. Er ist der eigentliche Lustigmacher, der rechte
fjbtfiog yeXoicov. Er ist zwar auch ein Narr, aber er weifs, dafs
er ein Narr ist und er weifs sogar auch, dafs die ganze Welt
närrisch ist und dafs er sie darum als Narr zum Narren halten
kann. Wir sahen, dafs zu dieser besonderen Sorte der mimischen
Narren auch der Vidusaka und Semar gehört, sowie der türkische
Karagöz, der Pulcinell und Kasperle. Und im Grunde gehören
auch die mittelalterlichen Hofnarren dazu, die unter der Maske
der Thorheit ihren Herrn nicht selten die Wahrheit sagten, und
vor allem auch die Clowns bei Shakespeare. Nur darum, weil er
diese unsterbliche mimische Narrheit vertritt, ist Fallstaff eine
unsterbliche Figur geworden, Fallstaff als der bedeutendste
Fallstaff und der Narr im Mimu.=. 867
moderne Vertreter des mimischen Narren, der zugleich ein Spötter,
ein Verhöhner der Narrheit, ein derisor, ein fxüxog ist.
Wie weifs Prinz Heinrich den guten Fallstaff zu verhöhnen ob
seiner absoluten Feigheit bei dem räuberischen Überfall auf die Kauf-
leute. Doch wie geschickt zieht sich der derisor aus der Schlinge.
Er habe Prinz Heinrich und Poins wohl erkannt, aber der Löwe
rührt den echten Prinzen nicht an. Mit welchem lustigen Hohne
überschüttet der derisor den Bardolph, als dieser sich erlaubt,
die Gewissensbisse 'des dicken Hans über seinen schlechten
Lebenswandel für sehr berechtigt zu erklären.
Fallstaff: Bessere du dein Gesicht, so will ich mein Leben
bessern. Du bist unser Admiralsschiff, du trägst
die Laterne, aber nicht im Hinterdeck, sondern sie
steckt dir in der Nase, du bist der Ritter von der
brennenden Lampe .... Du hast mir an die Tausend
Mark für Kerzen und Fackeln erspart, wenn ich mit
dir nachts von Schenke zu Schenke wanderte; aber
für den Sekt, den du mir getrunken hast, hätte ich
von dem teuersten Lichtzieher in Europa ebenso
wohlfeil Lichter haben können.
Bei dieser lustigen und unverschämten Art, mit welcher
der derisor jede Neckerei doppelt und dreifach heimzuzahlen ver-
steht, kommt es nicht selten zu wahren Zank- und Schimpfduetten.
Wie schilt Prinz Heinrich auf Fallstaff: ^Diese vollblütige Memme,
dieser Bettdrücker. die>er Pferderückenbrecher, dieser Fleisch-
bergu, Fallstaff dagegen: „Fort mit dir, du Hungerbild, du Aal-
haut, du getrocknete Rinderzunge, du Ochsenziemer, du Stock-
fisch, — o, hätte ich nur Odem, zu nennen, was dir gleicht! —
du Schneiderelle, du Degenfutteral, du erbärmliches Rapier"
(König Heinrich IV., I. Teil, H. Aufzug, Scene 4). Ich erinnere
auch an die Zankscene zwischen Fall>taff und Dortchen Laken-
reifser (König Heinrich IV . IL Teil, Akt H, Scene 4).
Dem Beispiel des grofsen derisors folgen seine Spiefsgesellen.
Wie foppt Bardolph Fallstaffs Pagen mit losen Stichelreden:
„Komm, du tugendhafter Esel, du verschämter Narr! Mufst du
55*
868 Zehntes Kapitel.
rot werden? Warum wirst du rot? Welch ein jüngferlicher
Soldat bist du geworden! Ist es so eine grofse Sache, die
Jungfernschaft eines Vier -Nösel- Krugs zu erobern? (König
Heinrich IV., II. Teil, IL Akt, Scene 4.) Aber der witzige Junge
bleibt dem Ritter von der brennenden Lampe nichts schuldig.
Mit ernster Mahnung sagt der Lord Oberrichter zu Fallstaff
(König Heinrich IV., IL Teil, IL Akt, Scene 1): „Nun, der Herr er-
leuchte dich! Du bist selbst ein grofser Narr", und doch mufs er
sich von diesem notorischen Narren, weil es nun einmal der alte
derisor und ioculator ist, der seit zwei Jahrtausenden schon die
Narrenfreiheit übt, verhöhnen lassen: „Was die Ohrfeige betrifft,
die euch der Prinz gab, so gab er sie wie ein roher Prinz und
ihr nahmt sie wie ein feinsinniger Lord. Ich habe es ihm ver-
wiesen und der junge Löwe that Bufse, freilich nicht in Sack
und in der Asche, sondern in altem Sekt und neuer Seide."
Wie kläglich geht es zum Schlüsse, da König Heinrich sich
von ihm wendet, dem alten Beutelschneider, dem noXvnQÜynwv,
trotz aller seiner Anschläge, Ränke und Künste; er ist der Ge-
preschte, wie es der Narr im Mimus ein für allemal ist. Doch
schnell wirft der derisor Spott und Hohn auf den thörichten
Friedensrichter Schallow, der ihm die tausend Pfund geborgt hat
und nun auch nicht eins davon wiedersieht.
Am lustigsten ist es, den feisten Narren im Kriege zu sehen,
der für ihn nur eine lustige Abwechselung und eine gute Er-
werbsquelle ist. Der mimische Narr, der mit Dickwanst und
Phallus, Helm und Schild hinter seinem jugendschlanken Helden
herzieht, auf dem S. 583, Anm. 3. besprochenen Bilde ist auch ein
Fallstaff im Kriege. Manchmal spielen die Mimen auch Krieg,
sagt Choricius (vgl. oben 'S. 583, Anm. 3).
Wie der mimische Narr durch Philistion in den Ardaliotypus
umgeschaffen wurde zu einem Prototyp des zerfahrenen, unruhigen
Lotterlebens in den höheren sozialen Kreisen seiner Zeit, so
mufs die Inkarnation des alten mimischen Narren und derisors
in der Person Fallstaffs durch Shakespeare das heruntergekommene
Rittertum in der Zeit der Königin Elisabeth zur Anschauung
bringen. Dieses Rittertum, das längst aller Ideale bar geworden
„Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus. 869
ist und nur nach Genufs ohne Mühe und Arbeit strebt, das da
glaubt, selbst in der verfetteten und versumpften Gestalt des
mimischen Narren den ehrlichen Bürgerweibern eine Ehre an-
zuthun, wenn es sie verführt, und das schliefslich als ein Haufen
schmutziger Wäsche ins Wasser geschüttet wird. Dafs der
mimische Narr hier als Ritter auftritt, kann uns, die wir seine
ganze Entwicklungsgeschichte übersehen, nicht wundern, war
er doch auch im mythologischen Mimus als Ritter aufgetreten
und hatte gar als Zeus, als Vater der ritterlichen Götter, mit
mächtigem Wanste bewehrt, den schönen Weibern und Töchtern
der Menschen nachgestellt.
So entspringen Fallstaff wie Ardalio, diese beiden berühm-
testen Metamorphosen des uralten mimischen Narren, einer im
letzten Grunde sehr ernsten Lebensauffassung und einer bei aller
Lustigkeit herben und strengen Biologie.
hl
„Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus.
Unter den zahlreichen Arten der mimischen Hypothese war,
wie wir wissen, besonders das Ehebruchsstück beliebt und solch
ein alter Ehebruchsmimus sind „Die lustigen Weiber von Windsor"
Zug für Zug und Punkt für Punkt. Da sind vor allem die
lustigen Eheweiber aus dem Mimus, die schlau dem Ehemann so
schöne Worte zu geben wissen, wie Ovid erzählt. Frau Page
und Frau Flut sind, wie die Eheweiber im alten Mimus, zu aller-
hand lustigen Ränken aufgelegt, bei denen ihre Ehre wenigstens
scheinbar in Gefahr gerät und ihre Männer wenigstens als be-
trogen erscheinen. Herr Flut ist denn auch unablässig um die
Treue seiner Frau besorgt; er ist eine typische Figur aus dem
Ehebruchsmimus: der Eifersüchtige, der ZriXonmog.
Mit welchem echt mimischen Humor, wie flammend ist Herrn
Fluts Eifersucht geschildert, die um so lustiger ist als sie voll-
kommen grundlos ist. Wie rast er: Amaimon klingt gut,
Lucifer gut, Barbason gut, und doch sind es Teufelstitulaturen,
die Namen böser Geister; aber Hahnrei? Hörnerträger? Der
870 Zehntes Kapitel.
Teufel selbst führt nicht solche Namen. Ich will dem Dinge zu-
vorkommen, mein Weib entlarven, mich an Fallstaff rächen.
Pfui, pfui, pfui! Hahnrei, Hahnrei, Hahnrei (zweiter Aufzug,
dritte Scene). Wilder hat gewifs kein Stupidus im Mimus ge-
tobt, wenn er seine Schande als betrogener Ehemann entdeckte
und mit wilden Flüchen seine Sklaven rief und nach seinem
Dolche schrie. Wie sagt Ovid:
Und wo ein Buhle den Mann durch etwas Neues betrogen
Wird beifällig geklatscht und ihm die Palme gereicht.
Auch hier wird der Zrjlözvnoc, Herr Flut, immer durch etwas
Neues betrogen und wenn er schon den allerdings sehr harm-
losen und selbst an der Nase herumgeführten Buhlen ertappt
zu haben glaubt, wird er durch die schlauen Weiber genasführt.
Wir haben schon auf die „perituri cista Latini", den grofsen
Kasten, in dem der Ehebrecher kriecht, als ein unerläfsliches
Requisit im alten Ehebruchsmimus hingewiesen. In unserem
Ehebruchsmimus ist der beinahe ertappte Ehebrecher, der peri-
turus Latinus, der gute Sir John; welche Todesangst befällt ihn,
da er von Frau Page hört, Flut kommt mit allen Gerichtsdienern
von Windsor, ihn bei seiner Frau zu suchen. Und die unerläfs-
liche cista des Ehebruchsmimus ist hier der grofse Waschkorb
mit schmutziger Wäsche, in den Fallstaff hineinkriecht. Er wird
im Korbe hinausgetragen und der thörichte Zrj&ÖTvnog hält natür-
lich vergeblich Haussuchung.
Dieser mimische Kasten kam auch im mittelalterlichen Mimus,
der Shakespeares Dramen vorangeht, besonders in der französi-
schen Farce unablässig vor, so wird er denn auch bei Shake-
speare zum stehenden Inventar. In „Cymbeline" läfst Jachimo
sich in einer grofsen Kiste in das Schlai'gemach der keuschen
Imogen tragen. Der Buhle im Korbe gehört zu den vielen Situa-
tionen des alten Mimus, die auch in Jahrtausenden nicht zu ver-
gessen sind.
Das nächste Mal, als Fallstaff wieder bei Frau Flut ist,
stürzt sich der arme Ztjlötvnog, der für seine Eifersucht so
stark gehänselt wird, wie nur je im Mimus ein betrogener Ehe-
„Die lustigeu Weiber von Windsor" ein Mimus. 871
mann, auf den Korb mit Wäsche, den er vergeblich durch-
sucht; denn dieses Mal wird er durch eine Verkleidung ge-
täuscht. Fallstaff entrinnt ihm, herausgeputzt als eine alte,
dicke Frau. Die Verkleidung von Männern zu Frauen ist eine
der gewöhnlichsten Trics im alten Mimus. Ich erinnere an den
Mann, der bei Laberius als Frau entlarvt, an einen andern, dem
sein Benehmen als Frau einstudiert wird; an Maccus virgo, an
Karagöz, der als Frau verkleidet von dem alten Baba Himmet
geheiratet werden soll, an Pulcinella gravido (vgl. oben S. 676).
Iu seiner blinden Wut fallt der arme Hahnrei, der es zur
Erhöhung des Spafses nur in seiner eigenen Einbildung ist, über
die vermeintliche alte Frau mit ordentlichen Prügeln her; denn
sie ist eine Hexe, eine Kartenlegerin, Besprecherin, Wahr-
sagerin und Zeichendeuterin. Wie fährt Flut während der Prügel
auf sie los: Du Zigeunerin, du Vettel, du Meerkatze, du garstiges
Tier! Fort mit dir, ich will dich wahrsagen und besprechen
lehren. Da haben wir die alte Hexe und Zauberin aus dem
Mimus, die, wie wir sahen, darin seit den urältesten Zeiten ein
stehender Typus ist. Wir haben gezeigt, wie diese Hexen gern
als dickbäuchige Vetteln erscheinen, eben wie wir hier die
dicke, alte Frau aus Brentford, die Hexe, in deren Kleidern
Faustan" steckt.
Zu diesen Hexen gehört vor allem die cata carissa, die
schlaue Kupplerin und Verführerin, das betrügerische, Zank und
Hader erregende alte Weib. Im Ehebruchsmimus war dieser
Typus unerläfslich; wie es sich gehört, findet er sich auch in
unserem Mimus hier. Es ist Frau Hurtig, die Haushälterin des
Doktor Caius; Frau Hurtig, die in „König Heinrich IV.14 einen
anderen typischen Posten im Mimus als Gastwirtin und zugleich
Aushälterin von Dortchen Lakenreifser bekleidet.
Hier spielt sie nun die pfiffige Mittelsperson, die einerseits
an Fallstaff die heuchlerischen Liebesbriefe von Frau Page und
Frau Flut besorgt, wie sie andererseits Herrn Fentons, wie des
Herrn Doktor Caius und schliefslich auch des Junkers Schmächtig
Liebeswerbung um Anne Page unterstützen soll Jedem redet
sie nach dem Munde und alle betrügt sie; sie ist im höchsten
872 Zehntes Kapitel.
Grade fallax wie die cata .und erregt dadurch Zank und Streit
Infolge ihrer Zwischenträgern fordert Doktor Caius den Pastor
Evans gär zum Duell.
Der Arzt spielt schon, wie wir sahen, im Dikelon, dem
alten lakedämonischen Mimus, mit allerhand fremdartigen Kede-
wendungen und Anpreisungen seiner Kunst eine Hauptrolle und
spielt sie dann weiter die ganze mimische Entwicklung hin-
durch; noch in Philistion Philogelos kommt er vor und ist
dort ganz derselbe Prahlhans1, Narr und Windbeutel, der aber
nebenbei eine sehr einträgliche Praxis hat, und es versteht zu
Gelde zu kommen, wie der französische Doktor Caius. Diesen
mimischen Typus des Arztes fanden wir ja auch in der Farce
und überhaupt im mittelalterlichen Mimus wieder. Hier geht
der gute Doktor auf Freiersfüfsen und mufs sich dabei zum
Narren machen lassen, wie es nun einmal des Arztes Los im
Mimus ist.
Ebenso lieferte von jeher, wie wir schon sahen, die Geist-
lichkeit dem Mimus allerhand lustige Typen. Und da Shake-
speares Phantasie mit den Figuren der alten mimischen Biologie
erfüllt ist, so liebt er es gleichfalls Typen der Geistlichkeit vor-
zuführen. Ich erinnere aufser an den Pastor Evans an Nathanael,
den Trottel von Dorfkurat in „Verlorener Liebesmüh". In „Was
ihr wollt" tritt Ehrn Matthias, der Pfarrer, auf und wird den
Hausmeister Malvolio, den man als närrisch eingesperrt hat,
durch geistliche Besprechung heilen. Was diese Beschwörung
eines Wahnsinnigen anlangt, so wollen wir an Karagöz denken,
der den sich wahnsinnig stellenden Tusun durch seine Be-
sprechung heilt: wir haben hier eben wieder ein uraltes mimi-
sches Sujet.
Pfarrer und Schulmeister gehören zusammen und nicht
selten übt der Pfarrer auch Schulmeisterfunktionen aus, so
Pastor Evans in den „Lustigen Weibern". Es ist eine höchst
drollige Schulscene. Herr Page meint, sein Wilhelm habe nichts
Ordentliches gelernt, und nun bittet Frau Page als besorgte
Mutter den Pastor Evans, ihn aus dem Donat zu überhören.
Frau Hurtig hört mit zu und, da sie horum harum horum hört,
,Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus. 873
meint sie, man solle dem Jungen nicht in der Schule von Huren
und ihren Haaren erzählen, so begleitet sie das Examen mit
ihren Glossen. Diese Form der Schulscene findet sich schon
genau so in dem mittelalterlichen französischen Mimus.
Schon bei Herondas kommt der Schulmeister vor, im
ersten Mimiambus; Schulmeisterscenen kennen wir auch aus
PhilistioDS „Philogelos ". Dort hört, wie hier Frau Hurtfg,
jemand dem Unterrichte zu und fragt dann den Schulmeister,
warum er nicht auch Zitherspielen lehre, und da der Schul-
meister meint, das verstehe er nicht, sagt der "Witzbold: ach,
das mache ja nichts aus, er lehre ja überhaupt, was er nicht
verstehe, ganz wie Pastor Evans, mit dessen Latein es auch sehr
bedenklich steht. Bei Petron kommen zwei mimische Schul-
meistertypen vor, der eine ist ein wenig träge, der andere aber
ist sehr eifrig, der lehrt mehr als er versteht, wie Pastor Evans.
Mehr zu lehren als man versteht, meint Hieronymus, der gute
Kenner der mimischen Ethologie und Biologie sei Sache der
scurrae, doch wohl mimarii (vgl. oben S. 752, Anm. 2). Der
Schulmeister kommt überhaupt bei Shakespeare wie in den alten
Mimen nicht selten vor, ich erinnere z. B. an den verdrehten
Schulmeister Holofernes in „Verlorener Liebesmüh" und an den
Schreiber und Schulmeister von Chatam Emanuel, den Cade in
„König Heinrich VI", Teil II, mit Feder und Tintenfafs um den
Hals hängen läfst.
Eine ganz besondere Art von Schulscenen findet sich in
„König Heinrich V." (Akt III, Scene IV), wo die schöne Katha-
rina von Frankreich von ihrem Hoffräulein Englisch lernt. In
der „Widerspenstigen Zähmung" stellen sich zwei Liebhaber der
Bianca ein, der eine als Lateinlehrer, der andere als Musik-
lehrer (Akt I, Scene 1), und schliefslich findet sich sogar ein
Magister (Akt IV, Scene 2), der den alten Herrn Vincentio vor-
stellen mufs und später als sein Doppelgänger diesem sein
eigenes Ich abstreitet. Wir haben die Herkunft dieses uralten
Motivs aus dem Mimus schon oben besprochen.
Ein besonders beliebter Typus im Mimus war der Huren-
wirt oder auch der Gastwirt, der copo, der gewöhnlich beides
874 Zehntes Kapitel.
in einem ist. Frau Hurtig als Gast- und Hurenwirtin kennen wir
schon. Der alte mimische copo ist in unserem Stück der Wirt
zum Hosenbande. In seiner Taverne wohnt Faustan", und in
ihr spielen mehrere Scenen, wie der Mimus überhaupt gerne in
der Taberne spielt. Dieser Wirt hält sich für einen grofsen
Pfiffikus und die beiden Scholastiker, den Pfarrer und den Arzt,
macht er auch schmählich zum Narren. Aber im Mimus tritt
der Gastwirt durchaus immer als der Geprellte auf, ich erinnere
an den Bordellwirt Battaros bei Herondas. Solch ein geprellter
Gastwirt findet sich auch in einer mimischen Tavernenscene bei
Petron, wo er erklärt, er werde den Spitzbuben Eumolp und
Encolp schon zeigen, dafs das Haus keiner Witwe — etwa wie
die Gastwirtin Hurtig im II. Teile von „Heinrich IV." — sondern
Marcus Mannicius (95. B. 3) gehöre. Für den geprellten Gastwirt
im Mimus hatte man den terminus technicus: copo compilatus
und auch der Schlauberger von Wirt zum Hosenbande ist schliefs-
lich ein solcher copo compilatus, als ihm seine Pferde gestohlen
sind, und er wird nun von dem vorher gefoppten Arzte und Pfarrer
arg verhöhnt. Lustige Spitzbübereien sind ja von jeher ein be-
liebtes Motiv im alten Mimus. So genügt denn auch Shakespeare
dieser eine Diebstahl in seinem Mimus noch nicht, es findet sich,
dafs Bardolph, Nym und Pistol den guten Junker Schmächtig bei
einem gemeinsamen Gelage betrunken gemacht und dann eine
ergiebige Visitation seiner Taschen vorgenommen haben, und
Fallstaff hat in Herrn Shallows Park gewildert.
Ich habe auf die zahlreichen Kinderrollen im Mimus und in
der Atellane hingewiesen. In diesem Mimus tritt der kleine
Page Falstaffs auf, ferner Wilhelm, Frau Pages Sohn, und dann
eine ganze Schar kleiner Kinder, die als Elfen verkleidet er-
scheinen.
Wie das ganze Thema und alle Typen dieses Shakespeare-
schen Mimus, so lassen sich auch alle Kabalen und Ränke in
ihm durchaus als die beliebten praestigiae et fallaciae des alten
Mimus erweisen. Und da die mimischen Triks immer weiter-
gehn, so mufs sich schliefslich Fallstaff gar ein Gehörn auf-
setzen und mufs sich, damit diesem im Grunde rein bio-
„Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus. 875
logischen Mimus doch auch nicht das phantastische Element
fehlt, das der Mimus so sehr liebt, sich zum gespenstischen,
wilden Jäger Herne umwandeln und Anna Page und allerlei
Kinder verkleiden sich als Feen. Das sind die fortgesetzten
Verkleidungen, die der alte Mimus so sehr liebte, so besucht
auch Herr Flut Sir Fallstaff als Herr Bach. Zwei von den ver-
kleideten Knaben, die absichtlich sich ganz der Jungfrau Anna
Page angeähnelt haben, werden von Doktor Caius und Junker
Schmächtig entführt. Es geht dem Doktor wie dem Junker
dabei ganz wie den gefoppten Liebhabern im alten Mimus,
denen ein Mann für eine Frau untergeschoben wird, wie auch
Baba Himmet mit dem als Braut verkleideten Karagöz. Als sie
genauer zusehen, entdecken sie an den Vermummten die Zeichen
des Mannes und Anna Page ist für sie verloren. Ähnlich findet
Mars, als er die Braut entschleiert, statt der jugeudschönen
Minerva die alte Hexe Anna Perenna.
Fallstaff aber wird nicht nur gefoppt, er wird auch aufs
ärgste gezwackt und geprügelt. Auch durch diesen Mimus schallt
der alapittarum sonitus und der Narr in ihm, Hans Fallstaff, ist
so gut ein alopus, wie es nur irgend ein Narr in einem alten
griechisch-römischen war und auch die lustigen Schimpfereien,
die ein Specificum des alten Mimus waren, fehlen hier durch-
aus nicht; ich erinnere an die amüsant-komische Art, wie Pastor
Evans auf Doktor Caius und Doktor Caius auf Pastor Evans
schimpft und beide nachher zusammen auf den spitzbübischen
Wirt, der sie genasführt hat; ich erinnere ferner an die Zank-
scene zwischen Junker Schmächtig und Shallow auf der einen,
und Fallstaff und den Seinigen auf der anderen Seite, oder den
Hagel von Schimpfworten, die Herr Flut auf die vermeintliche Hexe
von Brentford niederprasseln läfst. Zum Schlüsse sind denn bei
diesen unaufhörlich durchgeführten Foppereien, Kabalen, Ränken
und Spitzbübereien, die mit Verkleidungen, Lügen und Betrügen
und allen sonstigen artes mimicae ins Werk gesetzt werden,
alle Personen dieses lustigen Mimus gehänselt und genarrt. Vor
allem Fallstaff, der gefoppte Ehebrecher, auch Herr Flut, der
zwar ein getäuschter Ehemann, aber doch kein Hahnrei ist, auch
876 Zehntes Kapitel.
Doktor Caius so gut wie Pfarrer Evans ist geprellt und Junker
Schmächtig, desgleichen Herr Page, der Junker Schmächtig und
Frau Page, die Doktor Caius begünstigt; da sie sich gegenseitig
hinters Licht führen wollten, müssen sie es sich schon gefallen
lassen, dafs ihre Tochter Anne sie beide genarrt hat.
Wie einst von Philistion gerühmt wurde, er hätte die Welt
ihrer Narrheit überführt, so müssen wir dasselbe von diesem
Shakespearischen Mimus rühmen, der zum Schlüsse trotz aller
Kabalen, Ränke und Verwickelungen, wie es sich für einen guten
Mimus gehört, mit wolkenloser Heiterkeit und dem lauten risus
mimicus endet, den Herrn Fluts Worte entfesseln:
„Sir John,
Eu'r Wort an Bach macht Ihr nun dennoch gut,
Er geht zu Bett noch heute mit Frau Flut."
IV.
Philistion, Shakespeare und Qudraka.
Wir kennen den Mimus als das grofse biologische Drama
der ausgehenden Antike, als die herrschende dramatische Poesie
am Beginne des Mittelalters, wir haben ihn ins Mittelalter hin-
einverfolgt und durch das Mittelalter hindurch, wir wissen, dafs
„Meister Mime" noch der Spieler des Interludes wie der fran-
zösischen Farce ist.
Die players of interludes in England sind die alten Mimen,
sowie Jack Jugler im gleichnamigen Interlude durch den Namen
als ioculator und Mime gekennzeichnet ist. Sie treten auch noch
auf der alten mimischen Gaukelbühne auf.
Oft genug hat Shakespeare als Kind diese players of interludes
in Stratfort gesehen, wir können noch aus den Rechnungsbüchern
seines Vaters feststellen, wie viel dieser für die Mimen zu-
geschossen hat. So hat der gröfste Dramatiker der Neuzeit die
ersten dramatischen Anregungen in seiner Kindheit vom Mimus
erhalten. Man hat für „Die lustigen Weiber von Windsor"
Philistion, Shakespeare und Cüdraka. 877
nicht wie für die meisten anderen Stücke Shakespeares eine
bestimmte litterarische Quelle nachweisen können, aus der das
Stück in seinen Hauptzügen geflossen ist1). Man wird sie wohl
auch schwerlich finden.
Der mittelalterliche Mimus hat das griechisch-römische Ehe-
bruchsstück besonders bevorzugt. Solche lustigen Ehebruchs-
stücke hatte Shakespeare in seiner Jugend von den players of
interludes oft gesehen und aus ihnen formte er wieder eine
grofse, üppigblühende Hypothese. Nach einer allerdings sehr
unverbürgten Sage soll er das Stück auf Aufforderung der
Königin Elisabeth in ungefähr 14 Tagen verfafst haben, eine
kurze Zeit, aber nicht gerade allzu kurz, wenn man bedenkt,
dafs Shakespeare hier fast alle Motive und Personen aus dem
Mimus hat. Shakespeare kannte wahrscheinlich auch die com-
media delP arte, hat sie vielleicht sogar in ihrer Heimat, in Ober-
italien, gesehen (Über Shakespeares vermutliche Reise nach Ober-
italien vgl. Sarrazin, William Shakespeares Lehrjahre, Kap. V,
S. 118 ff., Shakespeare in Italien?), also den italisch-italienischen
Mimus, der vom byzantinischen Mimus befruchtet war. Shake-
speare hat auch ein besonderes Interesse am Puppenspiel gehabt,
das beweisen seine häufigen Anspielungen, und wir haben gezeigt,
dafs das Puppenspiel, das orientalische wie das occidentale, am
Beginne des Mittelalters vollständig dem Mimus gehörte und wohl
an seinem Ende ebenso. Also auch dort sprudelte für Shake-
speare seit seiner Kindheit der tiefe Born des Mimus*).
1) Die bekannte Novelle im Pecorone des Ser Giovanni, die ähnlich
auch Straparola und Michael Lindener in seiner Sahwanksammlung „Rast-
büchlein" (16. saec.) erzählt, die Tragödie des Herzogs Heinrich Julius von
Braunschweig „Tragedia von einer Ehebrecherin" sind trotz einer gewissen
Ähnlichkeit schwerlich Shakespeares Quelle ; sie gehen eben wie Shakespeare
auf den gleichen, uralten, mimischen Stoff zurück. Wie der Mimus gerne
als Novelle oder als Schwank in die erzählende Litteratur übergeht, soll im
nächsten Bande gezeigt werden.
2) Zu Shakespeares Zeit war das Puppentheater ganz besonders beliebt;
überall zogen die puppet players ebenso wie die Players of interludes herum
mit ihrem Puppenkasten und mimten darauf die alten Interludes und Morali-
878 Zehntes Kapitel.
Auch Shakespeare ist ein Ethologe und Biologe. Wenn
er sagt (Hamlet, III. Akt, Scene 1): „Der Zweck des Schau-
spiels war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vor-
zuhalten, der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr
eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den
Abdruck seiner Gestalt zu zeigen-', so kann man bei Shake-
speare-Kommentatoren, bei Ästhetikern und sonst die läng-
sten Betrachtungen über diese Worte lesen, die in der That
viel tiefen Sinn enthalten und zugleich Shakespeares Glaubens-
bekenntnis als Dramatiker. Setzen wir dafür die griechische
Formel, so können wir uns kürzer fassen: fiiftijatg ßiov %ä te
avyxsxdoQrjfiha neqU^uiv xal tä davyx(^Q1]'ia- Biologe ist der Mime
oder lateinisch: rerum humanarum imitator. Er hält dem ßiog,
d. h. bei Shakespeare der Natur, dem Jahrhundert, dem Körper
der Zeit, den Spiegel vor und das Bild, darin ist eben [tifirjcKg
ßiov; und die Tugend soll ihr eigenes schauen, ebenso wie die
Schmach. Shakespeare bekennt sich zur Ethologie genau wie
der Mime, der Ethologe. Also Ethologie und Biologie, aber un-
geschminkt und wahrhaftig, auch das Laster soll dargestellt
werden, mit allen seinen abschreckenden Zügen. Wie sagt doch
Seneca: soviel Laster gebiert unsere Zeit, dafs der Mimus sie
nicht einmal alle abkonterfeien kann. Choricius klagt: „Warum
tadelt ihr den Mimus, dafs er ebenso die Laster darstellt wie
die Tugenden; scheltet lieber auf die lasterhafte Welt; und
Africanus sagt von Daniel, der die beiden greisen Schufte in
der Geschichte von der keuschen Susanna ihrer Schurkerei so
schlagend überführt; er überführt sie, wie sonst kaum Philistion,
der Mimograph. Shakespeares Menschenkenntnis ist in der
täten, später auch die neuen Komödien und Tragödien; und der alte Narr
Vice spielte auf der Puppenbühne etwa die Rolle unseres Kasperle. Wieder-
holt erwähnt Shakespeare in seinen Schauspielen das Puppenspiel, und gern
zielt er in seinen Vergleichen und Anspielungen darauf. Sein Zeitgenosse
Ben Johnson brachte in der Komödie „The Bartholomew Fair" gar eine
puppet-schow auf die Bühne. Die Nachweise im einzelnen bei Magnin
a. a. 0. S. 204 ff.
Philistion, Shakespeare und £üdraka. 879
modernen Zeit sprichwörtlich, in der antiken war es die Philistions,
des Philosophen.
Gewifs hat auch das klassische Drama, insbesondere Seneca,
Shakespeare beeinflufst, aber vor allem das volksmäfsige, soge-
nannte nationale Volksdrama, eben der alte Mimus, der überall
das Landschafts- und das Lokalkolorit annimmt und sich darum
überall nationalisiert1). Als die Mimen des Herondas gefunden
wurden, begann man sofort von der erstaunlichen Ähnlichkeit
mit Shakespeare zu reden. Der Gauner Battaros bei Herondas
erinnerte schon Crusius an die Shakespearischen Galgenvögel
und ebenso Frau Gyllis, die Kupplerin*). Diese Ähnlichkeit
Shakespeares mit dem Mimus ist nun für uns keine zufällige
mehr, auch nicht blofs in einer ähnlichen Geistesrichtung be-
gründete.
Er ist wirklich ein Mimograph geworden, der grofse William
Shakespeare und hat mit lustigem Lachen und göttlichem Humor
eine grofse biologische Hypothese geschaffen, wie einst Philistion.
Bei ihm findet sich wieder der alte, strenge Realismus des mimi-
schen Biologen, der göttliche Humor und das laute Lachen, der
wunderbare Wechsel zwischen Scherz und Ernst, zwischen Bur-
leskem und Traurigem, zwischen Niedrigem und Hohem, wie es
sich alles einst bei Philistion fand. Sie sind die beiden gröfsten
Hypothesendichter der Weltliteratur, der mit unergründlichem
Humor begabte, tiefsinnige, grofse Brite und der ridiculus
Philistion, der Philosoph, der alte Klassiker des Mimus. Ihnen
1) Ulrici bemerkt („Shakespeares dramatische Kunsf I, S. 368): Sh.
nimmt entschieden Partei für das englische Volkstheater ... er verwirft jene
Bestrebungen, welche das in doppelter Beziehung durch seine plastische
Idealität wie durch seine Fremdartigkeit unnatürlich erscheinende Drama
der Alten zu beleben suchten." Nun, eine Wiederbelebung des Dramas der
Alten hat denn doch in gewisser Weise durch Shakespeare stattgefunden,
al-er weniger des klassischen, das Ulrici natürlich nur allein kennt, sondern
mehr des mimisch-biologischen, des antiken Yolk>dramas. Allerdings gilt
das natürlich nur für Shakespeares Lustspiele und die Schauspiele, die ihnen
näher stehn.
2) Vgl. Die Mimiambeu des Herondas. Deutsch. S. VII, IX. Unter-
suchungen S. 28.
880 Zehntes Kapitel.
beiden ward durch die Volksüberlieferung schon eine grofse
Fülle mimischer Ethologie und Biologie überliefert. Philistion
schuf daraus zuerst das grofse mimisch-biologische Drama in
seiner höchsten Vollendung und als dieses dann im Laufe des
Mittelalters tiefer und tiefer gesunken war, schuf zum zweiten
Male Shakespeare aus dem unzerstörbaren mimischen Kern ein
klassisches biologisches Schauspiel. Philistion dichtete länger
als anderthalb tausend Jahre vor Shakespeare, aber der Faden
zwischen beiden ist niemals abgerissen, auch wenn der grofse
William kein Sterbenswort davon wufste, dafs es jemals eine
mimische Hypothese und jemals einen Philistion gegeben habe.
Hie Menander, hie Philistion, sagten die Alten, hie Philistion,
hie Shakespeare, könnten wir Modernen sagen und das hätte dann
einen viel tieferen Sinn.
Wenn wir an die Dramen Philistions denken, nachdem wir
so mühsam ihren Charakter und ihre Eigenart, ihre Grofse und
ihren Wert festgestellt haben, an ihren Humor, ihre Satire und
Ironie, ihre biologisch-realistische und doch zugleich phantastisch-
humoristische Art, so könnten wir die These wagen, Philistion
sei der Shakespeare der Antike oder besser, der Brite sei der
Philistion der modernen Zeit.
Ein dritter gehört noch in diesen gröfsen Bund: Qüdraka.
Seit Wilsons Übersetzung der Mrcchakatikä erschien, hat dieses
Drama immer ein mafsloses Erstaunen hervorgerufen, das war
ja Shakespeare, Shakespeare wie er leibte und lebte. Alle Be-
urteiler waren darin einig, jeder kam auf Shakespeare zu sprechen,
die Ähnlichkeit war erstaunlich, auffallend, frappant.
Klein gab diesem Erstaunen zum ersten Male einen einiger-
mafsen entsprechenden, grofsartigen Ausdruck. Ich setze seine
Worte hierher (Geschichte des Dramas III, S. 87fif.): „Im Verlaufe
unseres Dramas . . . wird uns noch eine andere Familienähnlichkeit
überraschen und in Erstaunen setzen: Eine so tiefe Verwandtschaft
dieser indischen Dramen mit denen Shakespeares in Komposition,
in Charakteristik, in dem Kultus des Hochmenschlichen, eine so
grundinnerliche Wesens- und Formenverwandtschaft, dafs man
glauben sollte, eine ähnliche Ursprungserinnerung habe bei den
Philistion, Shakespeare und Qüdraka. ggj
Schöpfungen des gröfsten dramatischen Dichters mitgewirkt wie,
nach Plato, das göttliche Wissen und Schauen der menschlichen
Seele als ein Erinnerungsdenken der Urbilder zu gelten habe,
die sie in ihrem vorkörperlichen Zustande unmittelbar in Gott
geschaut, dafs man glauben sollte, diese Erinnerung an den
arischen Ursprung wäre in der Seele des gröfsten Poeten des
germanischen Völkerstammes beim Dichten seiner Dramen, gleich
einer mächtigen Wunderblume, gleich jener Lotos -Weltblume
aufgegangen, und hätte in seine Schöpfungen den heimatlichen,
zaubervollen Seelenduft und Wohlgeruch ergossen. Aus der
neuen Welt in unseren Erdteil verpflanzte Gewächse öffnen zur
Nachtzeit ihre Blüten, weil sie um dieselbe Tagesstunde in ihrem
Vaterlande blühen. Warum sollte man nicht denken dürfen,
dafs auch nach Jahrtausenden unter den entlegensten Himmels-
strichen Blüten der Poesie im Geiste sich erschliefsen, die den
Balsam ihres geschichtlicen Ursprungs, ihrer Stammeswurzel,
atmen? .... Unter allen uns bekannten indischen Dramen trägt
dies die Shakespeare-Signatur am sichtbarsten ausgeprägt. Das
älteste der vorhandenen indischen Schauspiele ist für uns zugleich
das bei weitem merkwürdigste, durch dramatisches Genie und
poetisch-tiefe Charakterzeichnung bedeutsamste der indischen
Bühne König Qüdrakas „Spielwagen a, als ältestes erhal-
tenes Drama der Inder, der Thespis-Spielkarren des romantischen
Kunstdramas, wird uns, auch schon bei summarischer Durch-
nahme desselben, diesen, von der Geschichte der dramatischen
Kunst, ohne Mitwissen der Dichter, an der alten Tragikomödie,
an dem griechisch-römischen Hetären-, Schmarotzer-, Kuppler-,
Hefenspiel, zu bewirkenden Läuterungsprozefs in einem bereits
so vorgeschrittenen Stadium vor Augen stellen, dafs sich uns,
bis zu Shakespeares Drama, nichts ähnliches darbieten wird, ja
dafs dieses, das Shakespeare-Drama, nach Stil, Ton und Form
gewürdigt, als eine Tragikomödie in König Qudrakas Geiste er-
scheinen darf, und nur als deren herrlichste, kunstvollkommenste
Entfaltung."
Es ist richtig, die Ähnlichkeit ist wunderbar und nicht
weniger wunderbar ist die Erklärung des geistreichen Litterar-
Reieh, Mimus. cg
882 Zehntes Kapitel.
historikers und Ästhetikers, eine mythische, dämonische Er-
innerung an die arische Urzeit, die platonische Lehre von den
Urbildern, die der Mensch yor seiner irdischen Existenz in Gott
gekannt habe, mufs herhalten, während sonst bei Klein klar und
deutlich, falls sich so grofse Ähnlichkeiten finden, auch die Ur-
sachen aufgedeckt werden. Es ist eben das Eingeständnis des
Unbegreiflichen oder wenigstens mit den Mitteln der damaligen
Wissenschaft, die Klein zur Verfügung standen, Unerklärbaren.
Klein kannte die Geschichte des gesamten Dramas bis ins ein-
zelndste, es hat nie ein Menschenhirn gegeben, in das die hundert-
tausend Dramen der Welt so wohlgeordnet hineingingen, wie in
das dieses genialen Kopfes, aber den Mimus kannte er nicht,,
oder doch er kannte ihn sehr gut — aus Ziegler, dem Vorgänger
Grysars1). Und so blieb in der grofsen Geschichte des Dramas
dieses Wunder eben als Wunder bestehen.
Das indische Drama soll allein eine Geburt des indischen
Genies, wie das Shakespeare-Drama das des englischen sein;
wenn man von mystischen, arischen Urerinnerungen absieht, haben
die beiden Genies soviel mit einander zu teilen wie der Engländer
mit dem Inder, den er heute knechtet, wie das nordische, neblige
England und das tropische, sonnige Indien; soviel Meere zwischen
England undlndien liegen, soviel Abgründe zwischen indischem
und englischem Volkscharakter. Und doch ist das Drama die
höchste Blüte des dichtenden Volksgeistes und diese beiden
Dramen sind einander so ähnlich, wie nie ein Inder einem
Engländer war.
Ja, allerdings Qüdraka und Shakespeare haben beide ein
Urbild gesehen, wenn auch nicht eins von den Urbildern Piatos,
nämlich den Mimus. Qüdraka gleicht Philistion, wie andererseits
Shakespeare Philistion gleicht, und sind zwei Gröfsen einer
Dritten gleich, so sind sie unter einander gleich2).
i) Vgl. oben S. 683 Anm. 1.
2) Seit Lessing zum ersten Male energisch auf Shakespeare hinwies,
brach trotz des heftigen Widerstandes der alten klassicistisch-französischen
Richtung im Drama ein wahrer Sturm der Begeisterung für Shakespeare
los. Das ist der Sturm, der vornehmlich durch die grofse Sturm- und
Drangperiode wehte, die unserer klassischen Litteratur vorausging. In
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 883
V.
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus.
Eine Nebenart des biologischen Mimus ist der bukolische,
das Idyll. Theokrit, der Begründer der Idyllendichtung hat sich
von vornherein als Mimograph gefühlt, als Schilderer des Lebens,
als Biologe. Wenn er mit allem Realismus der Darstellung die
seiner brausenden Jugend begriff Goethe die Biologie Shakespeares wohl,
die zugleich die Philistions ist, diese grofse mimische Biologie, die das Leben
in allen seinen Tiefen und seinen Höhen, mit seiner Tollheit und seiner
Narrheit, mit seinem Ernst und seiner tiefen Traurigkeit begreift und
dennoch darüber lachen kann voll Humor und darüber die klingelnde
Narrenkappe schwingen im jauchzenden risus mimicus. Später hatte
Goethe andere Ideale, als er Elassicist geworden; er behauptete, sich
von der Shakespearomanie befreit zu haben durch den Götz und durch den
Egmont. Und dann folgte Tasso und Iphigenie. In dieser seiner klassischen
Epoche hat er Shakespeare beinahe gefürchtet und fast erschien er ihm
wie ein schrecklicher Dämon. Aber im Faust findet sich doch wieder die
grofse und mächtige Biologie und Ethologie, die alte Mischung der Sprache
des Volkes und der Vornehmen, die von der Prosa zur höchsten lyrischen
Empfindung reicht, hier mischen sich wieder Götter, Dämonen, Menschen
und Fabelwesen. Seltsam schaut wie im alten Mimus allerhand Zauberspuk
in den realen ßiog hinein, und Mord und Totschlag, Giftmischerei, Gericht und
Hochgericht, Kneip- und Liebesscenen wechseln im bunten Durcheinander.
Da ist wieder die alte Ethologie und Biologie, humoristisch, realistisch
und phantastisch zugleich und doch dabei so ernsthaft. Freund Mephisto
hat sich zwar vornehm herausgeputzt und verkündet sich pathetisch und
mit hoher Philosophie als den Teil des Teils, der anfangs alles war. Im
Grunde aber ist er doch der alte, arme, dumme, gepritschte Teufel, der
schon in dem Interlude, dem mittelalterlichen englischen Mimus „The Devil
is he as~ als stupidus proklamiert wird, der vom alten Mimen so lustig im
Mysterium gespielt wurde und ebenso in der Moralität, wo er sich mit
Vice, dem alten mimischen stupidus, herumprügelt und selbst als stupidus
die erbärmlichsten Schläge bekommt. Auch Mephistopheles ist zuletzt
ein armer stupidus und fühlt sich ganz als solcher. Die Rosen, welche in
der Schlufsscene die Engel auf ihn werfen, brennen ihn ebenso wie den
Teufel im mittelalterlichen Mimus und Mysterium seine handfesten Prügel.
Die Sage vom Doktor Faust lernte Goethe in der Gestalt des Puppenspieles
kennen, und das Puppenspiel war von jeher die Domäne des Mimus. Der
Faust ist in der That mehr ein biologisches Schauspiel als eine klassische
Tragödie, aber das ist kein Tadel, sondern ein grofses ' Lob. Auch ein
Mysterium darf man ihn nennen, doch gehören Mimus und Mysterium von
jeher nahe zusammen.
56*
884 Zehntes Kapitel.
Bürgerweiber schildert, die zum Adonisfeste gehn (XV.) oder
das rasend verliebte, gefallene Bürgermädchen, das mit Zauber-
mitteln den ungetreuen Buhlen zu sich ziehen will (IL), oder
die Schwermut des Soldaten, der aus Eifersucht sein Schätzchen
geschlagen hat und nun zur Strafe für immer verlassen
ist (XIV.), wenn er das ärmliche Leben der Fischer und ihren
thörichten Aberglauben malt (XXL), so sind das biologische
Scenen wie sie ebenso Sophron, der Mimograph, Theokrits
grofses Vorbild, oder Herondas, der Mimograph, sein Rivale
dichtete. Auch bleibt Theokrit, wie es die Mimographen lieben,
gern in den niederen Kreisen des Lebens, und wenn er vor allem
Hirten und Hirtinnen, Fischer, Bauern, Knechte und Mägde zu
schildern beginnt, so verläfst er auch damit noch nicht die alt-
gewohnten Geleise des Mimus. Auch Sophron schilderte Bauern
und Fischer, und die oskische Abart des Mimus, die Atellane,
liebte ja vornehmlich das Landleben darzustellen. In diesen
mimischen Schilderungen herrschte der stärkste Realismus. Von
ihm ist auch Theokrit ausgegangen, aber dann machte er eine
grofse Erfindung. Statt einfach das Landvolk und das Landleben
in seiner Niedrigkeit und seinem Schmutze voll Ironie und Herzens-
kälte zu schildern wie es wirklich ist, beginnt er sich für das
Einfache und Natürliche an diesen niederen Verhältnissen zu
begeistern; er fängt an für Natur zu schwärmen und schon hat
er das Paradies, in das die überbildete, überreizte und über-
sättigte Menschheit sich stets von neuem flüchten kann, entdeckt.
Die Natur mit dem Rauschen heiliger Quellen, mit den Berg-
wäldern und sonnigen Bergeshalden und dem Blick aufs blaue
Meer, mit den Göttern, die sichtbarlich in ihr walten, mit Pan,
der um die Mittagszeit im Walde schläft und den man dann ja
nicht stören darf, mit den Nymphen und mit Demeter, die Büscheln
von Ähren und Mohn in beiden Händen freundlich lächelnd beim
Erntefeste dem fröhlichen Treiben zuschaut (VII.). In diese göttliche
Natur gehören nicht die mimischen Rüpel, die Bauernlümmel aus
der Atellane hinein, die können sie weder verstehen noch ge-
niefsen. Die Bauern, Hirten und Fischer des bukolischen Mimus
haben feinere Nerven, zartere Empfindungen, sie sind mehr den
Städtern angeglichen. Theokrit hat ihnen etwas von seinem
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 885
eigenen Herzen, von seiner eigenen Freude an der Natur ge-
geben, die ihm so herrlich leuchtet. Bei diesen Bauern bricht
das romantisch -idyllische Gefühl durch, so ist der Mimus zum
Idyll geworden, aber es bleibt doch immer viel von der Realität
der Verhältnisse gewahrt; das Theokritische Idyll bleibt eben
immer noch Biologie, bleibt immer noch ein Mimus.
Die Folgezeit hob dann an Theokrit das romantisch-idyllische
Element vor dem mimisch-biologischen hervor. Bei seinen Nach-
folgern und Nachahmern, bei Bion und Moschus, bei Vergil,
Calpurnius, Nemesianus in den Bucolica Einsiedlensia tritt der
Realismus der mimischen Biologie mehr und mehr zurück. Die Welt
der Hirten wird immer unwirklicher, idealistischer, romantischer
und unwahrer, immer im modernen Sinne idyllischer. Immer aber
behielt das Idyll die dramatische Grundform des Mimus, den Dialog,
die Wechselrede und den Wechselgesang bei. Vergils Bucolica
sind zweifelsohne nur auf die Rezitation berechnet wie Theokrits
oder des Herondas Mimus. Ein Rezitator trägt sie vor, aber
mit wechselnder Stimme und gewissermafsen in verschiedenen
Rollen. Auch der rezitative Mimus verleugnet nicht das drama-
tische Element und seinen Ursprung von dem eigentlichen mimi-
schen Drama, das nach Aristoteles und der peripatetischen Schule
die dritte Gattung unter den vier grofsen Gattungen des helleni-
schen Dramas ist1).
Im Grunde ist nun freilich, wie wir schon hervorhoben
(vgl. oben S. 15), der bukolische Mimus nur ein kleiner Neben-
schöfsling am grofsen Weltbaume des Mimus. Aber er hat in
der Entwickelung der Weltlitteratur einen aufserordentlichen
Vorteil vor den anderen Gattungen des Mimus voraus. Der
Mimus Theokrits mit seinem direkten Nachkommen, dem römi-
schen Idyll, blieb allein erhalten, das grofse mimische Drama,
J) Durch die Güte des Herrn Verfassers erhalte ich noch ganz kurz
Tor Thoresschlufs aus der Festschrift für Gomperz den Aufsatz von Crusius
,Die Anagnostikoi". Crusius plaidirt hier unter Hinweis auf die drei von
Watzinger veröffentlichten Mimologen und die Hypothesis Hecyra für seine
Auffassung von den Mimiamben des Herondas als „Dramolets". Ich werde
Veranlassung haben im zweiten Bande bei der Besprechung der Einwirkung
des dramatischen wie des rezitativen Mimus auf die antike Prosadichtung
näher auf die geistvollen und anregenden Bemerkungen einzugehen.
886 ' Zehntes Kapitel.
Philistion, Syrus, Laberius und alle die modernen Mimographen
der Griechen und Römer gingen verloren. Theokrits und vor
allem Vergils Eclogen sind doch mehr Gelehrten-Poesie, während
das grofse mimische Drama im eigentlichen Sinne Volkspoesie
war, und' der Gelehrten-Poesie haben sich die Gelehrten und vor
allem die Schulmeister angenommen und so blieb sie erhalten.
Wenn auch Theokrit im Mittelalter vergessen wurde, so blieb
doch Vergil durchaus lebendig und ebenso Calpurnius und Neme-
sianus, und in dieser Form hat dann der bukolische Mimus das
Mittelalter hindurch seine Wirkung äufsern können. Davon
zeugt z. B. der Bukoliker Naso, der am Hofe Karls des Grofsen
am Anfange des neunten Jahrhunderts seine grofse Ecloge dichtete.
Noch die Troubadours singen „Pastour eilen" und wenn der
berühmte Trouvere Adam de la Halle, von dem das erste komische
Drama in Frankreich stammt, im „Spiel von der Blätterlaube"
vom volksmäfsig überlieferten biologischen Mimus abhängig ist,
so folgt er in „Robin und Marion" dem litterarisch überlieferten
bukolischen Mimus. Das war etwa im Jahre 1262. So steht
also der bukolische Mimus, wie ich schon oben hervorhob, am
Anfange der modernen dramatischen Entwickelung in Frankreich.
Dieselbe Entwickelung zeigt sich auch in Italien, der eigentlichen
Wiege des modernen Dramas. Als Nachahmer Vergils dichtete schon
Petrarca (1304—1374) und Boccaccio (1313—1375) lateinische
Eclogen; im fünfzehnten Jahrhundert dichteten dann Bojardo und
die toskanischen Dichter Idyllen in italienischer Sprache und bald
schofs die italienische Bukolik üppig ins Kraut. Noch blieb die
italienische Ecloge ein wenig umfangreiches Werk, aber bei der
dem bukolischen Mimus von altersher innewohnenden dramati-
schen Kraft begann man diese Eklogen dramatisch aufzuführen,
wie man auch einst Vergils Eklogen auf dem römischen Theater
gab, obwohl sie ursprünglich nicht dafür bestimmt waren. Lang-
sam vergröfserte sich der Körper dieser kleinen bukolischen
Mimen, bis aus dem kleinen mimischen Paegnion das grofse
bukolische Drama, die bukolische, mimische Hypothese, welche
die moderne Ästhetik Pastoraldrama nennt, geworden war. Dieses
Wachstum aus den dramatischen Anlagen des bukolischen Mimus
heraus ist, sobald man diesen nicht mehr als von einem Rezitator
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 887
vorgetragenes Paegnion behandelte, sondern von mehreren Per-
sonen vorführen liefs, leicht verständlich.
Im Mimus Theokrits und ebenso Vergils sind häufig in der
einen Scene, welche der Mimus schildert, auch die Scenen, die
vorangehen, wie diejenigen, die noch etwa folgen werden, d. h.
eine ganze grofse dramatische Handlung angedeutet. Denken
wir an Theokrits Zauberinnen. Vorgeführt wird nur die Zauber-
scene, aber wir hören von zahlreichen früheren Scenen; da ist die
Scene wie Simätha von Klearista zum Ausgehn das Mäntelchen
borgt, da schaut sie einer Procession zu, da sieht sie Delphis,
da schickt sie die Thestylis zu ihm, um ihn zu sich zu bitten.
Dann folgt die Liebes- und Verführungsscene. Nun bedient sie
sich der Zaubermittel, und wir sind gespannt darauf, ob sie
helfen werden, vielleicht kommt Delphis, vielleicht söhnen die
Liebenden sich aus. Aber das Ganze hat eine so wilde, leiden-
schaftliche Färbung, ein glückliches Ende ist kaum zu erwarten;
leicht malt die Phantasie eines Dramatikers die düsteren Scenen
aus, die nun etwa folgen werden.
So entwickelte sich aus dem bukolischen Paegnion die grofse
bukolische Hypothese, die in Italien ihre Vollendung erreicht
mit Tassos Aminta (1573) und Guarinis Pastor fido (1585), diesen
beiden weltberühmten Hirtendramen. Bei den Spaniern gilt als
der älteste Dramatiker Juan de la Encina (1469—1534). Seine
kleinen dramatischen Schäferspiele, die am Hofe des Don Fadrique
de Toledo, ersten Herzogs von Alba, aufgeführt wurden, nannte
er nach Vergils Vorangange und zugleich dem der ältesten
italienischen Hirtendichter Eclogen. Seine Abhängigkeit von Vergil
ist um so gewisser, als die erste spanische Übersetzung von Vergils
Eclogen von ihm herrührt (vgl. von Schack a. a. 0. I, S. 149).
Die ältesten von diesen kleinen Hirtendramen schildern nun aber
nicht sicilische oder arkadische, sondern die bethlehemitischen
Hirten, denen die Ankunft des Herrn verkündet wird. Die erste
Ecloge Encinas ist zum Weihnachtsfest gedichtet. Es treten die
vier Evangelisten Juan, Mateo, Lucas und Marco auf, aber sie
sind zu Hirten geworden und Juan ist aufserdem noch eine
Maske für Juan de la Encina. Juan verkündet das Lob des
Herzogs von Alba und der Herzogin. Schäfer Mateo erweist
888 Zehntes Kapitel.
sich als Feind und Neider des Juan, aber wie er hört, der
Herzog nehme ihn in Lohn und Sold, wünscht er ihm Glück.
Nun finden sich auch Lucas und Marco ein. Lucas mit der
frohen Botschaft von der Geburt des Herrn. Die vier Hirten
brechen nach Bethlehem auf zur Krippe und zum Schlüsse singen
die vier ein Villancico.
In wunderlicher Weise verschmilzt hier das schäferliche und
das litterarische Element, ganz wie in Vergils Eclogen, nur dafs
hier aufserdem noch das geistliche Element hinzukommt. Die
zweite Ecloge Encinas handelt von den Leiden Christi. Die
dritte von der Auferstehung. In der sechsten Ecloge geht es
schon weltlicher, realistischer, lustiger, überhaupt mehr mimisch-
biologisch zu. Es sind mittelalterliche Krippen- und Mirakelspiele,
die hier im antiken bukolischen Stile behandelt werden; wieder
dringt der Mimus ins Mysterium. Vier Hirten Juan, Miguelejo,
Rodrigacho und Anton suchen in einer Felshöhle Schutz gegen
das böse Wetter, sie zünden sich ein Feuer an, wie es auch
Theokrits Hirten thun. Sie schimpfen auf das schlechte Wetter,
sprechen über den Tod eines Sakristans und zanken sich darum,
wer von ihnen sein Nachfolger werden soll. Es sind die alten,
lustigen, mimischen Zank- und Streitscenen. Dann wollen sie ein
Schock Kastanien unter sich verteilen, wobei es wieder zum
Streit kommt. Da entschliefst man sich die Kastanien auszu-
spielen und zu dem Zweck Trentin, etwa unser „Sechsundsechzig",
zu spielen. In dem Augenblicke kommt der Engel herein und
bringt die frohe Botschaft: Jubel über die Nachricht des ge-
putzten Burschen (garcon repicado), auf nach Bethlehem zum
Kinde mit den Geschenken, einem Zicklein, Milch, Käsen,
Butterstollen und einem hölzernen Napf. Hier überwuchert das
bukolische Element, das geistliche tritt stark zurück und wird
nebensächlich. Der Mimus verdrängt das Mysterium. In den
weiteren Eclogen des Encina handelt es sich dann allein um die
weltliche, sündige Liebe wie bei Vergil und Theokrit. So gleich
in der nächsten Ecloge. Der Hirt Mingo verläfst seine ver-
lobte Braut Menguilla und bewirbt sich um die Liebe der Hirtin
Pascuala, um die auch ein Edelknappe freit. Der Junker trägt
den Preis davon; doch mufs er ein Hirte werden. In Adams
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 889
de la Halle bukolischen Mimus wird das gleiche Thema behandelt,
aber der Junker wird von der Hirtin Marion verlacht. In einer
anderen Ecloge nimmt sich ein Hirte aus Liebesgram das Leben.
Schliefslich wird der bukolische Mimus des Encina, wie es sich
für einen rechten Mimus gehört, derb realistisch, das ist das
„Aucto (Auto) de Repelon (Rauf Auto)", in dem eine grofse
Prügelei zwischen Studenten und Hirten, die ihre Waren in die
Stadt zum Markte gebracht haben, geschildert wird1).
Wie der erste, so hat auch der gröfste spanische Dramatiker
Eclogen und Hirtendramen gedichtet. Schon in seinen Jugend-
jahren schrieb Lope de Vega zwei Schäferdramen „El verdadero
amante* und „La pastoral de Jacinto". Unter seinen späteren
bukolischen Schauspielen ist am berühmtesten „La Arcadia" 2).
Allerdings ist diese Arcadia nur eine verkürzte Dramatisierung
von Lopes gleichnamigem Pastoralroman, der wieder nur
eine Nachahmung von Cervantes' Pastoralroman „Galatea"
ist, der wieder seinerseits des Sannazaro „Arcadia" nach-
geformt ist. In einer Zuschrift an den Doktor Gregorio Lopez
Madera, Mitglied des obersten Staatsrates Sr. Majestät, rühmt
sich Lope, dafs La Arcadia nicht einfach die etwas rohen Buco-
lica Theokrits nachahme, wie es noch vor ihm der ruhmreiche
Lope de Rueda gethan habe, sondern schon höherem Ziele
nachstrebe. In der That liefert er eine bei weitem verwickeitere
Handlung '). Auch Calderon hat der bukolischen Dichtung seinen
Tribut gezollt. Sein Drama „El Golfo de las Sirenas" ist eine
Ecloga Piscatoria4).
Zu den ältesten englischen Dramen gehört John Lylys
(1554—1606) Pastoraldrama „Loves Metamorphosis" (1601 zuerst
gedruckt). Dieser schäferliche Geschmack des Euphuismus wirkt
auch stark bei Shakespeare nach.
Opitz, der Bahnbrecher der neueren deutschen Poesie, schuf
') Über Encina und seine Eklogen Tgl. Klein a, a. 0. Band IX. S. 1 — 33
und von Schack, „Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in
Spanien", I, S. 146—156.
8) Vgl. Ton Schack, a. a. 0. II S. 381.
3) Vgl. Klein, a. a. 0. IX S. 558.
*) Vgl. von Schack, a. a. 0. III S. 190.
390 Zehntes Kapitel.
nach italienischem Vorbilde ein mythologisch-schäferliches Sing-
spiel „Däphne", das 1627 in Torgau bei Gelegenheit der Ver-
mählung einer sächsischen Prinzessin aufgeführt wurde. Seitdem
wuchsen in Deutschland die bukolischen Dramen wie Pilze aus
der Erde, besonders von den litterarischen Orden, zumal der
Gesellschaft der Pegnitzschäfer gepflegt. Noch eins von den
Jugendwerken Goethes „Die Laune des Verliebten" ist ein
Schäferspiel.
Selbst zu den Serben und Kroaten ist die bukolische mimische'
Hypothese gelangt. Der ragüsaner Dramatiker Marin Drzic
(1520—1580) dichtete Pastoraldramen, Plautinische Komödien
und zwei biblische „Rappresentazioni", besonderen Beifall aber
fanden seine Hirtenspiele1). Im 16., 17. und zum Teil noch im
18. Jahrhundert waren alle europäischen Bühnen mit Hirten-
dramen geradezu überschwemmt. Die grofse, bukolische, mimische
Hypothese hatte dieselbe Gewalt und Ausbreitung erlangt, wie
die Hypothese überhaupt einst zur Zeit des griechisch-römischen
Weltreiches.
Wollte ich alle die modernen, dramatischen, bukolischen
Mimen aufführen, ich müfste Seiten und Seiten allein mit den
Titeln füllen ; denn sie zählen nach Hunderten. Doch wozu, wenn
man einige von diesen Hirtendramen kennt, kennt man sie alle;
denn unablässig kehren dieselben Typen, dieselben Sujets, die
gleichen Entwickelungen und Lösungen der Handlung, die gleichen
Erfindungen wieder, und fast für alle läfst sich Zug um Zug
das Vorbild oder mindestens die Anregung bei Vergil oder Theo-
krit nachweisen3). Immer findet sich da ein verliebter Hirt,
jung, schön und leidenschaftlich. Seine Schönheit ist immer
ganz aufserordentlich wie die des Daphnis bei Theokrit und
*) So bemerkt Vatroslav Jagic, „Die Aulularia des Plautus in einer
südslavischen Umarbeitung aus der Mitte des XVI. Jahrhunderts. Festschrift
für Johannes Vahlen, S. 620: „Das ragusanische Publikum des 16. Jahr-
hunderts . . . scheint den Pastoralspielen mit der mythologischen Romantik,
wobei Gesänge und Tänze vorkamen, mehr geneigt gewesen zu sein, als den
Piecen ohne solche Ingredienzen".
2) Über diese ewige Wiederholung der gleichen bukolischen Motive
wird schon in einem alten lateinischen Epigramm gespottet:
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 89 1
bei Longus. Er bricht immer in die heftigsten Klagen nicht
erhörter Liebe aus, wie Aminta bei Tasso oder der Hirt Theo-
krits, der Amaryllis sein Ständchen darbringt, oder Polyphem,
der über die spröde Galatea leidenschaftlich klagt. Manchmal
tönt er diese Klagen in der Einsamkeit liebegirrend aus, öfters
vertraut er sie einem Gefährten an wie Tassos Aminta seinem
Freunde Tirsi oder Theokrits Battos dem Freunde Milo (X.)
oder Theokrits Aeschines dem Freunde Thyonichus (XIV.). Die
Geliebte ist zuerst immer spröde wie Amaryllis oder Galatea oder
Silvia bei Tasso. Dann droht der verliebte Hirtenjüngling mit
dem Selbstmorde wie Tassos Aminta oder Theokrits verliebter
Hirt, der sich vor Amaryllis' Grotte niederwirft mit der Er-
klärung, mögen die Wölfe mich fressen (IV.) und der ver-
zweifelte Dämon bei Vergil (VIH, 58 ff.). Ja schliefslich führt
er gar diesen Selbstmord aus wie bei Theokrit der Liebhaber
des schönen Knaben (XXIH.) oder wie Tassos Aminta oder wie
der Hirt in Encinas1 Ecloge.
Die Hirtin ist bei Vergil und Theokrit, bei Calpurnius und
Nemesianus gewöhnlich nur ein Menschenkind, bei den modernen
bukolischen Dramatikern fast immer eine Nymphe. Aber die
Modernen geben auch ihren Hirten gern eine göttliche Ab-
stammung, von Pan oder irgend einem Flufsgotte oder gar
einem Olympier her, da mufs eben die Geliebte auch eine Natur-
gottheit werden. Aber auch bei Theokrit ist Daphnis ein gött-
licher Hirte und seine Geliebte ist eine Nymphe; Amaryllis haust
wie eine Waldnymphe in einer Berggrotte und Galatea ist eine
Najade, und wenn die Modernen gern noch Venus, Amor, Pan
und sonstige Gottheiten auftreten lassen, so erscheint ja Venus
Altno Theon Thyrti» orti sub colle Pelori,
semine disparili, Laurente Lacone Sabina —
vite Sabina, Lacon sulmost, sue cognita Laurens —
Thyrsis oves, vitulos Theon egerat, Alrno capeUas,
Almo puer pubesque Theon ei Thyrsis ephebus
canna Almo, Thyrsis stipula, Theon ore melodus.
Kais arnot Thyrsin, Glauce Almona, Xysa Theonem,
Nysa rosas, Glauce violas dat, lilia Nais.
Baehrens, P. L. M. IV, p. 112.)
892 Zehntes Kapitel.
in Person in der ersten Idylle Theokrits vor dem Hirten Daphnis,
und an Eros und Pan wird beständig erinnert; überall erscheint
Pan wenn auch unsichtbar gegenwärtig, wie auch in dem ganz
von Theokrit abhängigen Hirtenromane des Longus.
Gestört wird nun die Liebe des Hirtenjünglings durch
allerhand Nebenbuhler, die sich gleichfalls um die Liebe der
Nymphe bewerben. Solchen Nebenbuhler findet z. B. Aeschines
in dem jungen, hübschen Lykos oder Daphnis in des Longus
Hirtenroman in dem Rinderhirten Lampis, der die Chloe raubt.
In Tassos Aminta ist der Nebenbuhler ein Satyr, ein Satyr ist es
in den modernen Hirtendramen meistens, wenn es nicht ein
gewöhnlicher Bauerkerl ist, der mit seiner Bewerbung Spott
und Hohn erntet, genau wie der Satyr. Nun tritt ja der Satyr
nicht als Liebhaber im Theokriteischen Idyll auf, aber im
IV. Idyll wird von einem alten Hirten, der hinter dem Stalle
sich an eine junge Hirtin macht, gesagt, er sei Satyrn und
Panen vergleichbar. In einem Theokriteischen Epigramm (III.)
ist Daphnis in einer Höhle eingeschlummert. Da schleichen
Priap und Pan herein und wollen den hübschen Jungen ver-
gewaltigen. Moschus (VI.) erzählt von der Liebe des Pan zur
Echo, die ihrerseits einen Satyr liebt. Horaz spricht von Nym-
pharumque leves cum Satyris chori (carm. I.) und von dem Faune,
der den Nymphen folgt (carm. III, 18). Also auch diese
moderne Erfindung ist angeregt von der antiken Bukolik oder
der ihr nahestehenden Poesie. Auch die Art, wie die Hirten
geschildert werden, ist ganz die antike. Am vornehmsten ist
der Rinderhirt, dann kommt der Schafhirt, dann der Ziegenhirt.
Dieser hat wie bei Theokrit und Vergil immer einen schlechten
Charakter und ist ein Störenfried.
Diese Figuren, der verliebte Hirt und die spröde Hirtin,
und ihre Vertrauten, Freund und Freundin, denen sie ihre Liebe
klagen, finden sich bei allen Bukolikern typisch wie der feine,
junge Galan, der cultus adulter, und die kokette, junge Frau in
der mimischen Hypothese; die befreundete Nymphe, die meistens
zur Liebe rät, wie die Nymphe Dafne bei Tasso, die geschickt
zu vermitteln sucht, erinnert ein wenig an die cata carissa.
Jedenfalls sind diese Figuren des bukolischen Mimus ebenso
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 893
stereotyp die Jahrhunderte hindurch geblieben wie die des
biologischen Mimus.
Da Hirt und Hirtin aus Theokrit und Vergil stammen,
haben sie auch von dorther die Namen; so ist bei Tasso Aminta
und Tirsi nach Theokrits Amyntas (VII.) und Thyrsis (I.), Dafne
nach Daphnis und Mopso nach Vergils Mopsus (VII.) genannt.
Wie Theokrit und Vergil lieben es die Modernen sich und ihre
Freunde in Hirtenmasken zu stecken. Simichidas im VE. Idyll
ist Theokrit; Tirsi in Tassos Aminta ist Tasso selbst Dabei
wird auch gern auf die politischen und litterarischen Zeit-
ereignisse angespielt, wie es von jeher der Mimus that (vgl.
oben S. 182 ff.), und vor allem werden die Fürsten gepriesen.
Ich erinnere an Theokrits Lob des Ptolemäus, oder Vergils Lob
des Augustus. Wenn Tasso im Aminta mit deutlichem Hin-
weis auf Herzog Alfonso erklärt: Ein Gott habe ihm diese
Mufse gegeben (0 Dame, a me quest' otio ha fatto Dio), so ist
das die direkte Übersetzung von Vergils Schmeichelei für
Augustus: deus nobis haec otia fecit (Ecl. I, 6).
Kurz, ich könnte noch zahllose Züge anführen, die das
moderne Hirtendrama von Vergil und Theokrit hat, aber ich
würde damit nur beweisen, was man im grofsen und ganzen
schon immer gewufst hat, dafs am Anfange des modernen Hirten-
dramas Vergil und Theokrit stehen 1). Aber das hat man bisher
nicht gewufst, dafs der Idyllendichter Theokrit ein Mimograph
ist, und dafs somit am Anfange des modernen Hirtendramas der
Mimus, allerdings der bukolische, steht und dafs dieses also in
seiner erweiterten dramatischen Fügung nach antiker Termino-
l) Im zweiten Bande sollen in dem Abschnitte „Mimus und Roman"
die Entlehnungen des bukolischen Romans der Alten und der Modernen aus
dem bukolischen Mimus im einzelnen nachgewiesen werden. Denn der antike
bukolische Roman hat sich direkt aus dem bukolischen Mimus entwickelt.
Da nun aber die bukolischen Erfindungen und Voraussetzungen im modernen
Pastoraldrama dieselben sind wie im Pastoralroman, so wird dabei auch
noch im grösseren Zusammenhange die Entstehung des Hirtendramas aus
dem bukolischen Mimus mit weiteren Einzelzügen erläutert werden. Vor-
läufig weise ich darauf hin, dafs ich in De Alciphronis Longique aetate
S. 54—66 in des Longus Hirtenroman die Entlehnungen aus Theokrit auf-
gezeigt habe.
894 Zehntes Kapitel.
logie eine bukolische oder auch idyllische, mimische Hypo-
these ist.
Das Hirtendrama war schliefslich so unwahr, ja verlogen
und albern geworden, dafs es allmählich dem Spotte verfiel. Es
ist heute, wie es scheint, ganz aus der Mode gekommen, aber
noch Vofs dichtete Idyllen und seine „Luise" ist auf idyllischer
Grundlage erwachsen, noch Goethe singt vom Schäfer Thyrsis
und hat sogar ein Schäferspiel gedichtet. Noch Schiller wollte
ein Idyll schreiben.
Der Realismus der modernsten Dramatik erinnert vielfältig
an den biologischen Mimus, der das Leben schildert, wie es ist;
ijdug ßio; %6 £iyy ist die Devise des Biologen. „Es lebe das
Leben" ist der Titel eines berühmten modernen Dramas. Dieser
moderne Realismus scheint die Pastorale völlig auszuschliefsen.
Ein grofses Schauspiel der Jetztzeit giebt es nun aber doch,
das merkwürdige Parallelen zu dem bukolischen Mimus und dem
Pastoraldrama bietet: Gerhart Hauptmanns „Versunkene Glocke".
Der Realismus der antiken wie der modernen Biologen nimmt
eben schliefslich die Wendung zum Idyllischen. Die Nymphe des
Hirtendramas ist das „Waldfräulein" Rautendelein; der Satyr,
welcher der Nymphe folgt, ist der Waldschrat. Der Mensch,
der die Liebe der Nymphe erringt, ist Meister Heinrich, der
Glockengiefser, allerdings kein Hirte, sondern seinem äufseren
Berufe nach ein Handwerker. Der Waldschrat zeigt die Natur,
welche die Satyrn, die Pane und Faune in der antiken
Dichtung zeigen. Er ist aus dem Geschlechte des Priap, der
sich in seiner ganzen Nacktheit im Mimus zeigte. An die Antike
erinnert sich Hauptmann, wenn er ihn einen faunischen Wald-
geist nennt. Im übrigen hat der Waldschrat als rechter Satyr
Bocksfüfse. Seine freien Reden erinnern ein wenig an die Ob-
scönitäten im alten Mimus, dem biologischen wie dem bukoli-
schen, und die Üppigkeiten, die sich gleichfalls im modernen
Pastoraldrama, finden. Wie der Satyr in Tassos Aminta geht
er gern direkt auf sein Ziel los; so raubt er aus dem Reigen,
den Rautendelein mit ihren Gefährtinnen schlingt, eine Elfin,
und am liebsten ginge er Rautendelein selbst mit Gewalt
zu Leibe wie bei Theokrit Priap und Pan dem schlafenden,
Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 895
schönen Daphnis. Zwischen dem Satyr und dem Menschen, der
die Nymphe liebt, kommt es im Pastoraldrama nicht selten zu
argen Thätlichkeiten, wobei der Satyr meist den kürzeren zieht;
Meister Heinrich will den Waldschrat gar mit dem Schmiede-
hammer bedienen. Wenn hier an die Stelle der antiken Nymphe
das germanische Waldfräulein gesetzt wird, so hat auch diese
Neuerung schon das Pastoraldrama vor Hauptmann eingeführt.
Der ragusaner Pastoraldichter Marin Drzic setzte z. B. an die
Stelle der Nymphe die Vila, eine serbisch-kroatische Naturgottheit.
Seit Mannhardts Buche über die Wald- und Feldkulte der Ger-
manen wissen wir ja, wie sehr die niedrigen Elementargeister
überhaupt einander ähneln.
Die Nymphen, welche im Pastoraldrama die Heldin um-
geben, sind hier die Elfen, Rautendeleins Gespielinnen. Elfen
und Nymphen sind ja gleichfalls nach Mannhardt identisch. Die
alte Wittichen, „die Buschgrofsmutter", halb Hexe und Zauberin,
halb gebietender Naturgeist und Herrin der Dämonen, sowie
Nickelmann, der Wassergeist, gehören mit in diesen dämonischen
Kreis. Nickelmann gleicht den dickbäuchigen Fruchtbarkeits-
dämonen, den ältesten Darstellern des Mimus. Er hat dabei
etwas Cyklopisch-Unbehülfliches wie Polyphem, der um die schöne
Nymphe Galatea freit.
Der Pfarrer, der Schulmeister und der Barbier sind die be-
kannten Typen aus dem alten biologischen Mimus und auch
durchaus realistisch gehalten; der Wechsel zwischen dem schlesi-
schen Volksdialekt der Wittichen, der niederen Sprache des
Waldschrats, des Barbiers und des Schulmeisters und die lyrisch
gehobene Ausdrucksweise Heinrichs und Rautendeleins erinnert
etwas an die Art, wie die Sprache in der mimischen Hypothese
wechselt, bei Rautendeleins Lied könnte man an die Arien im
Mimus denken. Hauptmann nennt sein Schauspiel ein Märchen-
drama. Wir kennen den Märchenmimus mit seinen Metamorphosen,
seinen Göttern und Dämonen, Gespenstern, Zauberern und Hexen,
auch in der versunkenen Glocke wird viel gezaubert uud gehext.
Es sind uralte, verschollene Motive des bukolischen und zum
Teil auch des biologischen Mimus, insbesondere der neueren
Pastorale, die hier mit gewaltiger Erfindungskraft neu und
896 Zehntes Kapitel.
eigenartig gestaltet sind. Die grofse, moderne, realistische
Biologie ist hier wieder einmal in das bukolisch-idyllische Zauber-
land gezogen, in das die antike Biologie zum ersten Male Theo-
krit der Mimograph geführt hat.
VI.
Schlufsbetrachtung: Der Mimus als Grundlage der dramatischen
Weltliteratur soweit sie nicht klassisch oder klassizistisch ist.
Wir stehen am Ende der Entwickelungsgeschichte des Mimus,
wir haben gesehen, wie der Mimus sich von kleinen Anfängen
allmählich zu dem grofsen, biologischen Drama Philistions ent-
wickelt hat und haben auch die weiteren Schicksale dieses Dramas
bis zum Untergange von Byzanz verfolgt. Damit wäre der Ge-
schichte des griechisch-römischen Mimus — denn das ist unsere
eigentliche Aufgabe — soweit es möglich war, Genüge geschehen.
Aber die eigentümliche, internationale Natur des Mimus hat uns
mit Gewalt gezwungen, die Grenzen des Griechisch-Römischen
zu überschreiten und dem weitwandernden Mimen zum hohen
Norden wie zum fernsten Orient und zugleich durch die Jahr-
hunderte und Jahrtausende und durch alle Litteraturen zu folgen.
Wenn wir nun in den nächsten Kapiteln wieder nach Hellas
und Rom zurückkehren, so haben wir uns sehr bei den jener
Litteraturen kundigen Forschern zu bedanken, deren wegkundiger
Führung wir es allein verdanken, dafs wir den Pfaden des Mimus
auch in den für uns entlegenen Gegenden, Völkern und Zeiten
haben folgen können.
Zugleich scheint durch den Mimus die ganze dramatische
Entwickelung klar zu werden. Was das klassische Drama
der Griechen für die Weltliteratur bedeutet, war seit Jahr-
hunderten bekannt, nun haben wir zu lernen versucht, was
die andere Hälfte des griechischen Dramas, das biologische
Drama, dafür bedeutet. Zuerst entwickelte sich in Hellas das
klassische Drama, dann das mimisch-biologische. Als das grie-
chisch-römische Weltreich geschaffen war, das entweder alle
Kulturländer und Kulturvölker der Welt umfafste oder wenig-
stens mit ihnen wie mit den Indern und Chinesen in Beziehung
trat, war das klassische Drama verblüht. Der Mimus aber war das
Schlufsbetrachtung: Der Mimas als Grundlage d. dramat. Weltlitteratur. 897
Weltdrama, das internationale Drama geworden. Das klassische
Drama war am Beginne des Mittelalters längst von der Bühne
verschwunden, der Mimus herrschte absolut. Ja, man hatte später
in den Volkskreisen das klassische Volksdrama vollständig ver-
gessen und selbst in den gelehrten Kreisen verblafste die Er-
innerung mehr und mehr. Wenn die weitere dramatische Ent-
wicklung im Mittelalter an das antike Drama anknüpfen wollte,
so konnte sie überhaupt nur an den Mimus anknüpfen, weil er
allein existierte und das hat sie denn auch in Europa und Asien
gleichmäfsig gethan.
Der Mimus ist der Urquell des mittelalterlichen europäischen
Dramas wie des gesamten orientalischen Schauspiels geworden. Aus
dem Mimus heraus hat sich selbst das indische Mysterium entwickelt,
wie er auch noch im mittelalterlichen europäischen Mysterium
nachwirkt. Dann kam die Renaissance und mit ihr die Neu-
geburt von Tragödie und Komödie, das klassische Drama kam zu
seiner alten Ehre und übte einen ungeheuren Einflufs aus be-
sonders in Italien und Frankreich, aber auch in Spanien, Eng-
land und Deutschland. Von da ab dichtete man erst wieder von
neuem Tragödien und Komödien; wie oft erscheint fortan nicht
wieder Iphigenie, Medea, Klytemnästra, Orest, Achill, Hektor
und Agamemnon auf der Bühne. Diese Dinge sind allgemein
bekannt. Der griechische Einflufs ging von allgemein gekannten
Litteraturwerken aus, die modernen Poeten rühmten sich be-
ständig als Nachahmer der Griechen, der Litteraturhistoriker
brauchte nur auszusprechen, was sie ihm selber vorsagten, das
war kein tiefverborgenes Geheimnis, es lag alles klar am Tage.
Wie der Mimus einst dem klassischen Drama die Oberherr-
schaft auf der Bühne geraubt, so gewann es ihm diese in der
Zeit der Renaissance wieder ab, wie man im Mittelalter Komödie
und Tragödie völlig vergafs, so in der modernen Zeit den Mimus.
Aber in Shakespeare vereinigen sich beide Ströme der Über-
lieferung, der klassicistische wie der volksmäfsige, biologisch-
humoristische. So ward das grofse, sogenannte romantische
Drama geboren. In ihm ist der Einflufs des Mimus überwiegend.
Auch das indische Drama ist ja nicht klassisch, sondern roman-
tisch und in seinen Anfängen eine Metamorphose des Mimus.
Reich, Mimus. r.n
898 Neuntes Kapitel.
Damit ist das Problem von der Kontinuität der mensch-
lichen Geistesentwickelung im Drama im grofsen und ganzen
wohl entschieden. Alle die zahlreichen Dramen, die bisher, da
man allein die griechische Komödie und Tragödie als beherr-
schenden Faktor in der dramatischen Weltentwickelung kannte,
selbständig zu sein schienen, vor allem die Dramen des Mittel-
alters und die Dramen des fernen Orientes, erweist die Ent-
wicklungsgeschichte des Mimus als im letzten Grunde abhängig
vom Drama der Hellenen. Es giebt keine dramatische Poesie
in der Welt aufserhalb des hellenischen Einflusses. Es giebt
also keine verschiedenen Schöpfungscentren in der dramatischen
Poesie, es giebt nur ein einziges und das liegt in Hellas, und
von dort strahlte das Drama gleichmäfsig nach allen Richtungen
aus nach Europa, Asien und Afrika. Nur der griechische Geist
mit seiner leidenschaftlich-genialen Neigung zur plastisch-körper-
lichen Darstellung der Ideen liefs die Poesie zur Plastik werden,
schuf die höchste Blüte des Menschengeistes, das Drama1).
*) Von jeher haben die besten Kenner der verschiedenen dramatischen
Nationallitteraturen bei den Anfängen des modernen Dramas an den Mimus
gedacht, so der vortreffliche Kiccoboni für die italienische Komödie, der
schon zu ziemlich sicheren Resultaten gelangte (die wichtige Gleichung Zanni-
Sanniones verdanken wir ihm), so Weinhold für die komischen Scenen im
Mysterium (vgl. oben S. 45), von Schack für das spanische Drama; vgl. Ge-
schichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien Bd. I, S. 32 ff.);
Sibilet für die französische Farce (vgl. oben S. 39 Anm. 1), Petit de Julleville
wollte wenigstens die modernen Schauspieler von den alten Mimen herleiten
(vgl. oben S. 838 Anm. 2). Besonders für die Beziehungen des Mimus zu
den Anfängen des spanischen Dramas — ich erinnere an Encinas Eclogen
und den bukolischen Mimus — wird eindringende Specialforschung noch viel
Neues und Wichtiges lehren. So berichtet die Cronica des Condestables
Miguel Lucas de Iranzo, dieser habe 1458—1471 momos (d.h. mimos)
representaciones y mysteriös aufführen lassen. Vgl. Klein a. a. 0. IX S. 1 1
Anm. 1. Sehr gut bemerkt Creizenach, der in seiner Geschichte des
modernen Dramas einen Abschnitt (VI, 6) „Mimus und Farce" über-
schreibt: „Viel wichtiger für die Geschichte des neuen Dramas wäre es,
wenn wir nachweisen könnten, dafs die Mimi, diese in der römischen Kaiser-
zeit so beliebten Possenspiele, von den Lustigmachern in das Mittelalter
hinübergerettet worden wären und so auf die Form des komischen Dramas
mittelbar eingewirkt hätten, die wir am Ausgange dieser Epoche an zahl-
reichen Beispielen vorfinden. Es begegnen uns hier allerdings manche Eigen-
Schlufsbetrachtung: Der Mimus als Grundlage d dramat. Weltliteratur. 899
Wohl haben wir überall auf der Erde den mimischen Tanz,
den Urquell des Mimus nachgewiesen; haben selbst zeigen können,
wie dieser hier und da sogar wie in Hellas von Fruchtbarkeits-
dämonen in Gestalt der phallischen griechischen Elementargeister,
der Prototypen des mimischen Schauspielers ausgeübt wird.
Aber wenn sich hier auch überall der grofse Menschheitsgedanke
des Mimus und des Dramas überhaupt im Keime regt, so ist er
eben überall auch im Keime stecken geblieben.
Vergessen wir es nicht, selbst die genialen Griechen haben
fast ein Jahrtausend gebraucht, um die letzte, höchstvollendete
Gestalt des Mimus in dem biologischen Drama Philistions zu
schaffen. Dann haben sie allerdings auch mit dieser Schöpfung,
mit dieser mimischen Ethologie und Biologie so sehr den Kern
alles Menschlichen getroffen und ihn so sehr von allem nur zu-
fällig Anhaftenden befreit, dafs der Mimus sich fortan überall
akklimatisieren und nationalisieren konnte, überall leicht Heimats-
recht erhielt.
Den mimischen Narren der Hellenen begrüfsten die Inder
ebenso jubelnd als den ihren, wie es Araber und Türken, Syrer
und Ägypter, Lateiner, Slaven, Kelten und Germanen thaten und
überall war er schnell ein beliebter Volksgenosse und redete die
Sprache des Volkes. Riesengrofs richtet sich vor uns der grie-
chische mimische Narr auf, der pTnog yekoiwv, der ftoigdg <faXa-
x(>oc, der yskcoxo^oiög, der mimus calvus, der alopus, der sannio,
der turpio, der pdöxos, der derisor, der scurra, der Vidüsaka, der
Semar, der Kacal Pahlavän, der Karagöz, der Pulcinell, der Kas-
tümlichkeiten, die an den Mimus erinnern". (I S. 3S6— 387.) Dennoch kommt
er nach Hervorhebung einiger markanter Ähnlichkeiten zum Schlüsse: „Es
handelt sich also hier nur um eine Möglichkeit, die indes nicht ohne weiteres
von der Hand zu weisen isf. Soweit konnte die Forschung schon selbst auf
Grundlage der erbärmlichen, nicht den zehnten Teil des vorhandenen mimi-
schen Materiales bietenden Kompilation von Grysar, der die wahre Be-
deutung des Mimus auch im entferntesten nicht einmal ahnte, gelangen. Da
nun das grofse mimische Material zum Vergleiche mit der modernen Ent-
wicklung vorliegt, dürfen wir von den Spezialkennern und Forschern auf
dem Gebiete der neueren Nationallitteraturen, hier, wo der Altphilologe nur
unsicher tastend das Gröfste und Gröbste findet, weitere wichtige Belehrung
auch im einzelnen erhoffen.
57*
900 Zehntes Kapitel. Schlufsbetrachtung.
perle, der Hans Wurst, der iocularis, der Ioculator, der Jack
Juggler, der Fallstaff, der Maistre Mimin und mit was für Namen
man sonst ihn nennt. Unablässig hält er der Welt den Spiegel
vor und lacht humorvoll über ihre Narrheit, über ihr Glück
und über ihr Wehe, über das launische Regiment der Herrin
Tyche, der Frau Fortuna, er, der Ethologe und Biologe, der
derisor. Wunderlich genug sieht er aus mit seinem dicken
Bauche und dem kahlen Schädel und dem häfslichen, seltsam
verzogenen Gesichte, fast wie Sokrates, der Ethologe, der
derisor omnium. Mit den Füfsen steht er auf der Erde, aber
sein Haupt reicht bis zum Zenith, und wenn er sein gellendes,
lautes, lustiges Lachen, den risus mimicus erhebt, dann lacht
alles Volk auf der weiten Erde und zugleich schallt es durch
die sieben Himmel der Weltliteratur.
Gemäfs seiner grofsen Bedeutung mufs der Mimus auch
aufserhalb des Dramas einen mächtigen Einflufs ausgeübt haben;
wir fanden, während wir die peripatetische Theorie vom Mimus
entwickelten, deutliche Spuren des Mimus in Theophrasts „Cha-
rakteren" in der peripatetischen Kulturgeschichte, die nach der
mimischen Biologie ßiog lEXXäöog sich nannte, in der griechischen
und römischen Rhetorik, ferner bei Seneca undPlato, im sokratischen
Dialog, in Fabel (Phaedrus) und Epigramm (Martial) im Philo-
gelos und den Facetienbüchern, im christlichen Kirchenliede wie
bei christlichen Apologeten, Sittenpredigern, Dogmatikern und
Epistolographen, insbesondere bei Hieronymus. Aber der Mimus
richtet sich zu so riesengrofser Bedeutung vor uns auf, dafs das
alles nicht genügen kann, wir werden mehr finden, noch viel mehr.
Wir gelangten bei der Entwickelung der peripatetischen
Theorie vom Mimus zuletzt zu Sokrates, dem Ethologen, als
dem Ausgangspunkte. Darum wollen wir bei dem Nachweis der
praktischen Einwirkung des Mimus auf die hellenisch-römische
Litteratur — soweit diese nicht dramatisch ist — , dem wir den
zweiten Teil unserer Untersuchung widmen, wieder von Sokrates
ausgehen; denn kein Einzelner hat einen gröfseren Einflufs auf die
antike Litteratur und damit auf die Litteratur der Welt ausgeübt,
wie dieses dämonische Genie, das nie eine Zeile geschrieben hat.
Druck Ton W. Pormetter in Berlin
PN Reich, Hermann
1942 Der Minus
RA
Bd.l
T.2
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
mm
i:4»
WM
&'ti@w.