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Full text of "Das Gebet; eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung"

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UNIVERSITY  LIBRARY 
UNIVERSITY  OF  CALIFORNIA,  SAN  DIEGO 

from  the  collection  of 
Professor  Koppel  S.  Pinson 


DAS  GEBET 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  Recht  der  Übersetzung,  vorbehalten. 
Copyright  1919  by  Ernst  Reinhardt,  München. 


Druck  von  C.  Brügel  Sf  Sohn  in  Ansbach. 


DAS  GEBET 

EINE  RELIGIONSGESCHICHTLICHE 

UND  RELIGIONSPSYCHOLOGISCHE 

UNTERSUCHUNG 

VON 

FRIEDRICH  HEILER 

DR.    PHIL.,     PKIVATDOZENT     DER    ALLGEMEINEN    RELIGIONSWISSENSCHAFT 
AN  DER  UNIVERSITÄT  MÜNCHEN 


2.  VERMEHRTE    UND   VERBESSERTE   AUFLAGE 


MÜNCHEN     1920 
VERLAG    VON    ERNST    REINHARDT 


Meinem  Onkel 

Herrn 

Friedrich  Schilling 

Direktor  der  Fürstlich-Oettingen-Wallerstein'schen  Domänen 

in  Dankbarkeit 

gewidmet. 


., Oratio    iusti  clavis  est  coeli.       Ascendit 
preratio  et   descendit  miseratio  Dei." 

Augustinus,  (De  temp.  serm.  226. ) 

,,Dies  Gebet  hat  große  Kraft,  das  ein 
Mensch  leistet,  mit  aller  seiner  Macht. 
Es  machet  ein  sauer  Herze  süße,  ein  traurig 
Herze  froh,  ein  arm  Herze  reich,  ein  dumm 
Herze  weise,  ein  blöd  Herze  kühne,  ein 
krank  Herze  stark,  ein  blind  Herze  sehend, 
eine  kalte  Seele  brennend.  Es  ziehet  her- 
nieder den  großen  Gott  in  ein  klein  Herze: 
es  treibet  die  hungrige  Seele  hinauf  zu  dem 
vollen  Gotte." 

Mechthild  von  Magdeburg  (Offb.  VI 3). 

„Was  das  Gebet  für  Kraft,  Eigenschaft 
und  Tugend  an  sich  habe,  werden  wir,  hab 
ich  Sorge,  nicht  genugsam  können  heraus- 
streichen, denn  so  schlicht  und  einfältig  es 
klinget,  so  tief,  reich  und  weit  ist  es,  daß 
niemand  es  ergründen  kann." 

Luther  (Ausl.  d.17.  Kap.  Job..,  Erl.  50.  100). 


Vorwort  zur  i.  Auflage. 

„Beten  ist  ein  seltsam  Werk,"  hat  einer  der  großen  religiösen  Genien 
gesagt,  einer,  der  in  der  Welt  des  Gebets  heimisch  war.  In  der  Tat  gibt 
es  im  weiten  Reich  der  Religion  und  Frömmigkeit  kein  seltsameres 
und  wundervolleres  Phänomen  als  das  Gebet.  Dem  religiösen  Menschen 
ist  das  Gebet  das  Alpha  und  Omega  aller  Frömmigkeit,  die  selbstver- 
ständlichste und  notwendigste  Lebensäußerung,  die  Quelle  aller  geistigen 
Freudigkeit  und  sittlichen  Kraft.  ,, Eines  Christen  Handwerk  ist  Beten." 
„Du  bist  kein  Christ,  wenn  du  kein  Beter  bist,"  so  lehren  uns  die  großen 
Frommen.  Dem  von  naturwissenschaftlicher  Aufklärung  und  philo- 
sophischer Kritik  gesättigten  modernen  Bildungsmenschen  hingegen 
erscheint  das  Gebet  als  ein  törichter,  kindlicher  Aberglaube,  geboren 
aus  der  Unkenntnis  der  strengen  Naturgesetzlichkeit  und  aus  einem 
niederen  selbstsüchtigen  Verlangen,  ein  Aberglaube,  den  der  geistig 
und  sittlich  Starke  überwunden  hat.  „Derjenige,  welcher  schon  Fort- 
schritte im  Guten  gemacht  hat,  hört  auf  zu  beten,"  so  hat  der  Philosoph 
von  Königsberg  geurteilt,  den  man  als  den  größten  Denker  der  Neuzeit 
zu  preisen  pflegt.  So  ist  das  Gebet  jenes  religiöse  Phänomen,  an  dem 
sich  die  Geister  scheiden.  Hier  wird  die  abgründige  Kluft  erkennbar, 
die  zwischen  der  lebendigen  christlichen  Frömmigkeit  und  dem  modernen 
Danken  gähnt.  Daß  wir  uns  dieses  fundamentalen  Gegensatzes  nicht 
klar  bewußt  sind,  liegt  vor  allem  daran,  daß  die  Theologie  beider  Kon- 
fessionen das  ernstliche  Studium  des  Gebets  allzusehr  vernachlässigt 
hat.  War  es  die  bange  Ahnung  des  unvermeidlichen  Konfliktes  mit 
der  modernen  Philosophie,  die  sie  davor  zurückschreckte?  Besaß  sie 
nicht  den  Mut,  offen  einzustehen  für  die  irrationale  Eigenart  des  Gebets, 
wider  das  Denken  zu  fechten  für  das  Recht  des  Lebens  ?  Oder  trübte 
die  alte  Binde  des  Intellektualismus  und  Rationalismus  ihren  Blick, 
daß  sie  das  im  Gebet  sich  offenbarende  Leben  in  seiner  wunderbaren 
Urgewalt  und  geheimnisvollen  Tiefe  nicht  zu  schauen  vermochte  ?  Oder 
war  es  eine  zarte  Scheu,  die  sie  davor  zurückhielt,  das  Heimlichste  und 
Heiligste,  das  Innigste  und  Persönlichste,  das  es  in  der  Religion  gibt, 
zum  Gegenstand  nüchterner  wissenschaf  tlicher  Untersuchung  zu  machen  ? 
Oder  schreckten  sie  die  Schwierigkeiten,  die  sich  dem  in  den  Weg  stellen, 
der,  von  wissenschaftlichem  Interesse  getrieben,  einzudringen  sucht  in 
die  geheimnisvolle  Welt  des  Gebets  ? 

Diese  Schwierigkeiten  hat  vielleicht  niemand  mehr  gefühlt  wie  der 
Verfasser  dieser  Studie,  als  er,  einer  Anregung  seines  hochverehrten 
Lehrers  Dr.  Aloys  Fischer  ,  Professors  der  Philosophie  und  Pädagogik 


VIII  Vorwort 

an  der  Universität  München  folgend,  sich  an  dieses  kühne  Unternehmen 
heranwagte.  Das  quellenmäßige  Material  ist  unendlich  reich  und  mannig- 
faltig und  doch  an  den  wichtigsten  Punkten  überaus  spärlich  und  dürftig. 
Es  war  für  den  Verfasser  eine  lockende  Versuchung,  das  wirre  Vielerlei 
des  Stoffes  historisch  zu  begrenzen,  indem  er  die  Untersuchung  auf 
ein  ihm  philologisch  vertrautes  Gebiet  des  Orients  (das  indische  oder 
babylonische)  oder  eine  Epoche  der  christlichen  Religion  einengte. 
Allein  wie  große  Vorteile  eine  solche  Spezialisierung  der  religions- 
geschichtlichen Arbeit  mit  sich  gebracht  hätte,  so  wäre  der  r  e  1  i  g  i  o  n  s- 
wissenschaf  tliche  Ertrag  einer  solchen  Untersuchung  ein  relativ  geringer 
gewesen;  die  Studie  wäre  über  eine  Zusammenstellung  sporadischer 
und  fragmentarischer  Gebetsdokumente  und  eine  Aufzeigung  bestimmter 
geschichtlicher  Zusammenhänge  nicht  weit  hinausgekommen.  „Wer 
eine  Religion  kennt,  kennt  keine".  Dieses  Wort  des  bahnbrechenden 
Indologen  und  Religionshistorikers  Max  Müller  hat  hier  volle  Geltung. 
Die  bunte  Mannigfaltigkeit  der  Gebetstypen  wie  das  Wesen  des  Gebets 
wird  niemals  an  der  Religion  eines  Volkes,  einer  Zeitepoche, 
einer  religiösen  Gemeinschaft  ersichtlich.  So  blieb  dem  Verfasser 
nur  der  eine  mühevolle  Weg,  auf  dem  unabsehbar  weiten  Felde  der 
außerchristlichen  und  christlichen  Religionsgeschichte  die  charak- 
teristischen Typen  des  Gebets  aufzusuchen,  die  mannigfachen  Erschei- 
nungsformen des  Gebets  überall  dort  zu  studieren ,  wo  sie  uns  in  typischer 
Schärfe  entgegentreten.  Schwieriger  noch  als  die  Gewinnung  und 
Sichtung  der  zerstreuten  Dokumente  war  die  psychologische  Bewälti- 
gung und  Durchdringung  des  vielgestaltigen  Stoffes.  Wenn  es  gilt,  das 
tiefe  und  geheimnisvolle  religiöse  Erleben  zu  verstehen  und  verdol- 
metschen, dann  versagen  all  die  kunstvollen  Methoden  der  empirischen 
Gesetzespsychologie.  Die  moderne  Religionspsychologie  hat,  soweit  sie 
nach  „exakter"  Methode  die  religiösen  „Bewußtseinsvorgänge"  er- 
forschen wollte,  uns  keinen  Schritt  näher  zum  Verständnis  der  lebendigen 
Religion  geführt.  Die  echte  Religionspsychologie  besteht  nicht  in  einer 
gefühllosen  Anatomie  der  religiösen  Psyche,  sondern  in  einem  intuitiven 
Nachfühlen  fremden  religiösen  Erlebens.  Ohne  persönliches  religiöses 
Erleben  und  ohne  feinste  Empfänglichkeit  für  religiöse  Werte  ist  eine 
fruchtbare  religio  ns  psychologische  Untersuchung  unmöglich.  Einem 
Religionsforscher,  der  seinem  Forschungsgegenstand  nicht  wie  einem 
Heiligtum  mit  den  religiösen  Urgefühlen  der  ehrfürchtigen  Scheu  und 
Bewunderung  gegenübertritt,  dem  wird  das  Wunderland  der  Religion 
immer  verschlossen  bleiben.  Die  Eigenart  der  Religion  ist  es,  die  eine 
solche  Einstellung  zum  wissenschaftlichen  Erfordernis  macht.  Aber  so 
notwendig  es  ist,  daß  der  Religionspsychologe  nicht  als  kühler  Beobachter 
außerhalb  der  Religion  steht,  sondern  in  ihr  lebt  und  mit  ihr  fühlt, 
ebenso  notwendig  ist  es,  daß  er  seinen  Standpunkt  in  souveräner  Freiheit 
über  den  einzelnen  Religionen  und  Konfessionen  nimmt.  Das  echte  und 
tiefe  Frömmigkeitsleben  beschränkt  sich  nicht  auf  eine  bestimmte 
christliche  Konfession,  ja  nicht  einmal  auf  die  christliche  Religion, 
sondern  strömt  kraftvoll  und  warm  durch  die  ganze  Christenheit,  ja 
durch  die  ganze  Menschheit.    Nur  der,  welcher  den  mannigfachen  Reli- 


Vorwort  IX 

gionen  und  religiösen  Gemeinschaften  in  voller  Unbefangenheit  gegen- 
übersteht, ist  imstande,  den  individuellen  Sondergeist,  den  das  religiöse 
Leben  in  allen  Religionen  und  Konfessionen  offenbart,  zu  erfassen  und 
zu  würdigen.  Es  ging  auch  nicht  an,  die  großen  Beter  nach  konfessionellen 
Kategorien  zu  ordnen  und  die  kanonisierten  katholischen  Heiligen  von 
anderen  Frommen,  die  christlichen  Mystiker  von  den  außerchristlichen , 
die  alt-  und  neutestamentlichen  Persönlichkeiten  von  den  Reformatoren 
scharf  zu  trennen;  der  Wunsch  einer  solchen  künstlichen  Einteilung, 
der  dem  Verfasser  wiederholt  von  katholischen  Theologen  geäußert 
wurde,  durfte  keine  Beachtung  finden.  Die  Klassifikation  der  Haupt- 
typen der  Frömmigkeit  darf  nicht  auf  Grund  solcher  äußerer  Kriterien 
erfolgen,  sondern  muß  sich  ausschließlich  auf  innere  psychologische 
Merkmale  stützen.  Weil  es  dem  Verfasser  einzig  und  allein  darauf 
ankam,  das  Gebet  in  der  Mannigfaltigkeit  seiner  Erscheinungsformen 
und  in  seinem  tiefsten  religiösen  Wesensgrunde  darzustellen,  darum 
mußte  er  alle  kirchlich-theologischen  Gesichtspunkte  —  mögen  sie  bei 
anders  gestellter  Aufgabe  noch  so  berechtigt  sein  —  fallen  lassen.  Weil 
sein  Ziel  kein  anderes  war  als  die  lebenswahre  und  anschauliche  Deskrip- 
tion  des  zentralen  religiösen  Phänomens,  darum  mußte  er  sich  auf  die 
geschichtliche  und  psychologische  Untersuchung  beschränken  und 
ebenso  auf  eine  apologetische  Rechtfertigung  wie  auf  eine  philosophische 
Kritik  des  Gebets  verzichten.  Es  gilt  das  religiöse  Leben  in  seiner 
ursprünglichen  Eigenart,  seiner  irrationalen  Wertfülle  und  geheimnis- 
vollen Wundermacht  zu  begreifen  und  selbst  innerlich  von  ihm  er- 
griffen zu  werden.  Indem  der  Verfasser  diesem  Ziele  nachstrebte,  glaubte 
er  in  gleicher  Weise  einer  lebendigen  Religion  wie  einer  die  objektive 
Erkenntnis  der  Wirklichkeit  suchenden  Wissenschaft  zu  dienen.  — 

Die  gegenwärtig  herrschende  empfindliche  Papierknappheit  machte 
es  nötig,  alle  mehr  an  der  Peripherie  des  Themas  liegenden  Abschnitte 
auszuscheiden  und  einer  späteren  gesonderten  Veröffentlichung  vor- 
zubehalten. Das  umfangreiche  Kapitel  über  den  Zauberspruch,  seine 
Formen,  seine  Entstehung  und  seine  Beziehungen  zum  Gebet,  schien 
im  Zusammenhang  der  Typen  des  Gebets  entbehrlich,  da  der  Verfasser 
durch  seine  Untersuchung  zu  einer  Ablehnung  der  modernen  Theorien 
von  der  Priorität  des  Zauberspruches  und  der  Genesis  des  Gebets  aus 
dem  Zauberspruch  geführt  wurde.  Das  Kapitel  über  die  buddhistische 
Versenkimg,  eine  Erweiterung  eines  in  der  Kuhn-Festschrift  veröffent- 
lichten Aufsatzes,  dürfte  sich  besser  für  eine  selbständige  philologische 
Monographie  eignen.  Der  Abschnitt  über  die  Möglichkeit  einer  kausal- 
psychologischen Erklärung  der  seelischen  Wirkungen  des  Gebets  durfte 
von  dieser  Untersuchung  losgetrennt  werden,  die  ja  den  Hauptzweck 
hat,  dem  Leser  einen  lebendigen  Eindruck  von  dem  bunten  Formen- 
reichtum und  der  irrationalen  Urgewalt  des  Gebets  zu  vermitteln. 
Durch  die  Ausscheidung  dieser  zur  Randzone  des  Themas  gehörenden 
Probleme  und  durch  die  straffe  Konzentration  auf  die  Darstellung  der 
Haupttypen  und  des  Wesens  des  Gebets  dürfte  das  vorliegende  Werk 
nicht  nur  nichts  verloren,  sondern  sogar  an  innerer  Geschlossenheit 
gewonnen  haben.      Die  Fülle  von  Problemen,  welche  das   Gebet,  der 


X  Vorwort 

Mittelpunkt  aller  Frömmigkeit,  der  religionsgeschichtlichen  und  religions- 
psychologischen Forschung  stellt,  kann  unmöglich  in  einem  Werk 
erschöpfend  behandelt  werden ;  die  vorliegende  Untersuchung  sollte  vor 
allem  die  allgemeine  Grundlage,  die  ,Prolegomena'  zu  einer  ins  Detail 
eindringenden  Geschichte  des  Gebets  bilden,  von  der  der  Verfasser 
selbst  bestimmte  Teilgebiete  (zunächst  die  christliche  Gebetsfrömmig- 
keit des  Mittelalters  und  die  mystische  Versenkung  im  Buddhismus) 
bearbeiten  will.  Nichts  würde  er  mehr  begrüßen,  als  wenn  er  anderen 
Forschern  zur  näheren  Untersuchung  des  Gebets  innerhalb  ihres  philo- 
logischen oder  historischen  Fachgebiets  die  Anregung  und  Handhabe 
geboten  hätte. 

Herrn  Professor  Dr.  Aloys  Fischer  sage  ich  vielen  Dank  für  die 
Veranlassung  dieses  Werkes  sowie  für  die  zahlreichen  Anregungen,  die 
ich  in  seinen  Vorlesungen  über  allgemeine  und  spezielle  Psychologie 
empfing.  Wertvolle  religionsgeschichtliche  Fingerzeige  für  meine  Unter- 
suchung fand  ich  in  den  Schriften  des  großen  schwedischen  Religions- 
historikers Nathan  Söderblom.  Viele  sachliche  Anregungen  ver- 
danke ich  meinem  Bruder  Joseph  Heiler. 

München,  27.  Januar  1918. 


Vorwort  zur  II.  Auflage. 

Früher,  als  es  dem  Verfasser  wünschenswert  war,  wurde  die  Heraus- 
gabe einer  Neuauflage  des  vorliegenden  Werkes  notwendig.  Die  Pläne 
einer  umfassenden  Erweiterung  und  durchgreifenden  Umarbeitung, 
mit  denen  ich  mich  trug,  konnte  ich  in  der  kurzen  Zwischenzeit  der  ersten 
und  zweiten  Auflage  nicht  verwirklichen.  Doch  habe  ich  (besonders  in 
der  Darstellung  des  mystischen  und  prophetischen  Gebets)  zahlreiches 
neues  Material  eingefügt  und  viele  sachliche  und  formale  Verbesserungen 
angebracht,  so  daß  trotz  häufiger  Anwendung  von  Kleindruck  diese  Auf- 
lage einen  Zuwachs  von  nahezu  90  Seiten  erfuhr.  Neu  geschrieben 
wurden  zahlreiche  Absätze  der  Kapitel  F  I  (Das  Gebet  der  religiösen 
Genien)  und  F  II  (Allgemeine  Charakteristik  der  beiden  Haupttypen  der 
persönlichen  Frömmigkeit)*.  Nicht  entschließen  konnte  ich  mich  den 
geschichtlich-psychologischen  Rahmen  des  Werkes  zu  überschreiten  und 
meine  persönliche  religiöse  Stellung  zum  Gebet  in  diesem  Buche  ausdrück- 
lich auszusprechen  bezw.  religionsphilosophisch  zu  begründen,  wie  das 
manche  meiner  Leser  offen  oder  heimlich  wünschten.  Doch  habe  ich 
—  nicht  ohne  Bedenken  —  eine  in  einer  schwedischen  Landgemeinde  ge- 
haltene Sonntagspredigt  über  „Das  Geheimnis  des  Gebets"  veröffent- 


*  Die  meisten  Quellenbelege  aus  antiken  Autoren  hat  der  Verfasser  in  der 
neuen  Auflage  deutsch  wiedergegeben,  die  lateinischen,  französischen  und  englischen 
Zitate  hat  er  auf  vielfachen  Wunsch  ebenfalls  übersetzt,  mit  einigen  Nachträgen 
und  Berichten  versehen  und  als  Anhang  gesondert  herausgegeben.  (Siehe  An- 
merkung des  Verlages  am  Schlüsse  des  Sachregisters  Seite  558.; 


Vorwort  XI 

licht  („Kanzelreden  in  schwedischen  Kirchen",  München  1919,  Verlag 
von  Chr.  Kaiser),  die  demnächst  in  dei  veränderten  Fassung,  in  der  ich 
sie  bei  einem  akademischen  Gottesdienst  hier  in  Uppsala  hielt,  auch 
schwedisch  erscheinen  wird;  aus  ihr  mögen  jene  Leser  dieses  Buches,  die 
von  mir  mehr  wünschten  als  eine  rein  wissenschaftliche  Behandlung  des 
Gegenstandes,  meine  persönliche  Anschauung  erfahren;  diese  dürfte  je- 
doch für  alle,  welche  zwischen  den  Zeilen  dieses  Buches  zu  lesen  verstehen, 
nicht  neu  und  überraschend  sein. 

Eine  ganz  besondere  Freude  ist  es  mir,  das  Vorwort  dieser  Ausgabe 
an  dem  Wirkungsorte  des  Mannes  schreiben  zu  können,  der  für  meine 
innere  Entwicklung  und  für  die  Abfassung  dieses  Buches  am  meisten 
bedeutet  hat  und  dessen  freundliche  Besprechung  am  literarischen  Erfolg 
dieser  Erstlingsarbeit  besonderen  Anteil  hat,  Nathan  Söderblom; 
ihm  sei  auch  an  dieser  Stelle  der  innigste  Dank  ausgesprochen.  Des- 
gleichen sage  ich  herzlichen  Dank  all  den  vielen,  welche  dieses  Buch  wohl- 
wollend beurteilten  und  durch  ihre  kritischen  Ausstellungen  wertvolle 
Winke  zur  Verbesserung  gegeben  haben.  Für  freundliche  private  Hin- 
weise schulde  ich  besonderen  Dank  den  Herren  Universitätsprofessoren 
D.  Dr.  Rudolf  Otto  (Marburg),  D.  Dr.  Heinrich  Scholz  (Kiel), 
Lic.  Fernand  Menegoz  (Straßburg),  den  Herren  Pfarrern  Dr.  Karl 
Anton  (Wallstadt,  Baden),  Wolt  Meyer  (Fessenheim,  Schwaben), 
vor  allem  aber  dem  ausgezeichneten  Lutherkenner  Pfarrer  D.  Hermann 
Steinlein  (Ansbach),  der,  keine  Mühe  scheuend,  mir  auf  seinem  Spe- 
zialgebiete in  jeder  Weise  behilflich  war.  Bei  der  Korrektur  unter- 
stützten mich  in  aufopfernder  Arbeit  mein  Onkel,  Herr  Anton  Schil- 
ling, mein  Bruder  Josef  H  e  i  1  e  r  und  mein  Schüler  H?rrstud.theol.  Adolf 
Köberle  (der  Neffe  des  früh  verstorbenen  altestamentlichen  Forschers 
Justus  Köberle,  dem  wir  die  bedeutsamste  Abhandlung  über  das  israeli- 
tische Gebet  verdanken).  Letzterer  hat  zusammen  mit  seiner  Schwester 
Sophie  das  Register  dieser  Auflage  bearbeitet.  Ihnen  allen  sei  für  ihre 
Bereitwilligkeit  und  Mühe  herzlich  gedankt. 

Uppsala,  im  Hause  des  Universitätsprofessors  D.  Einar  Billing, 
am  Gedächtnistage  der  heiligen  Birgitta  von  Schweden,  7.  Oktober  1919. 

Der  Verfasser. 


Inhaltsverzeichnis. 


Einleitung. 

I.  Das  Gebet  als  das  zentrale  Phänomen  der  Religion     .  i — 4 
II.  Die  bisherige  religionswissenschaftliche  Untersuchung 

des  Gebets 4—16 

1 )  Religionsgeschichte  4.  2 )  Vergleichende  Religionswissenschaft  7. 
3)  Religiouspsychologie  13.     4)  Religionsphilosophie  15. 

III.  Aufgabe  und  Methode  der  Religionswissenschaft     .     .       16 — 26 

1)  Der  Gegenstand  der  Religionswissenschaft  16.  2)  Die  Gliede- 
rung der  religionswissenschaft  Hohen  Untersuchung  22. 

IV.  Die  Quellen  für  eine  Untersuchung  des  Gebets       .     .       26 — 37 

1 )  Gebete  27  (von  anderen  gehörte  und  aufgezeichnete  Gebete  28; 
selbst  aufgezeichnete  Gebete  28;  mitgeteilte  Gebete  30;  Gebetsbei- 
spiele 31;  Gebetsformulare  31;  Gebetsdichtungen  33;  nachgeahmte 
Gebete  von  Dichtern  33.  2)  Salbstzeugnisse  über  das  Gebet  34 
(Gebetsanweisungen  großer  Beter  34;  Salbstzeugnisse  von  Mystikern 
35;  Gsbetstheologien  36);  3)  Reine  Fremdzeugnisse  (über  den  Körper- 
ausdruck des  Gebets)  36. 

Die  Typen  (Hauptformen)  des  Gebets. 

A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 38 — 132 

I.  Vorbemerkungen ■ 38—47 

IT.  Anlaß  und  Motiv  zum  Gebet 38  —  47 

1)  Die  Not  43.  2)  Der  Wunsch  43.  3)  Das  regelmäßige  Gebet  43. 
4)  Das  altruistische  Mitgefühl  44.  5)  Die  Dankbarkeit  45.  6)  Die 
Ehrfurcht  vor  dem  Heiligen  46.     7)  Der  Enthusiasmus  47. 

III.  Form  des  Gebets 47  -53 

1)  Naturlaute  47.     2)  Freiesund  gebundenes  Gebet  48.     3)  Ge- 
U'tsruf  und  Gebetsgespräch   51. 
IV.  Die  Person  des  Beters.  Individuum  und  Gesellschaft  im  primitiven 

Gebet 53-5» 

1)  Kollektivgebet  53.  (Stellvertretende  Vorbeter   54;  Respon- 
sorium  55;  Chorgebet  55.)     2)  Individuelles  Gebet  56  (in  eigener 
Angelegenheit  56  stellvertretendes  Priestergebet  56).    3)Zwischen- 
forra  57.    4)  Prioritätsproblem   57. 
V.    Inhalt  des  Gebets 58  —  08 

1)  Anrufung  58.  2)  Klage  59.  3)  Bitte  60  (Leben  und  Ge- 
sundheit 6]  ;  Schutz  61  ;  Nahrung  62;  Wachstum  der  Felder  63; 
Gedeihen  der  Herden  63;  Kinderreichtum  63;  Reichtum  64; 
Schutz  des  Eigentums  64;  Sieg  und  Beute  64;  Gelingen  des  Zau- 
bers 05;  viele  Wünsche  65;  egoistische  und  antisoziale  Wünsche 
66;  höhere  Werte  66;  generelle  Bitte  67;  Fortleben  des  primi- 
tiven Bittgebets  in  den  antiken  Religionen  67).  4)  Fürbitte  69 
(für  Weib  und  Kind;  für  Sippschaft,    Häuptling,  Freunde;   für 


XIV  Inhaltsverzeichnis 


Fremde  69;  für  Tote  70).  5)  Opfer,  Opferspruch  und  Gelübde 
71.  (Verbindung  von  Gebet  und  Opfer  71 ;  Speiseopfer  und  sein 
Sinn  72;  Geschenkopfer  74;  Ersatzopfer  74;  survivals  75;  Opfer- 
mahl 75;  Opfergebete  75;  Sinn  des  Gelübdes  79;  primitive  und 
antike  Gelübde  79.)  6)  Mittel  der  Überredung  80.  (Gruß  80; 
Lobpreis  81 ;  Appell  an  das  Interesse  des  Gottes  82 ;  Beschimpfung 
und  Drohung  83;  Selbstlob  85;  Appell  an  das  Mitleid  des  Gottes 
86;  Entschuldigung  und  Beschwichtigung  87;  Sündenbekenntnis 
87;  das  stürmische  und  anhaltende  Gebet  89.)  7)  Aussprache  des 
Abhängigkeitsgefühls,  der  Zuversicht  und  Ergebung  89.  (Hinweis 
auf  die  eigene  Ohnmacht  und  Gottes  Macht  90;  Berufung  auf 
Gottes  frühere  Hilfe  91;  auf  das  Kindschaftsverhältnis  91;  reine 
Äußerungen  religiöser  Gewißheit  und  Zuversicht  91;  Aussprache 
der  Ergebung  93;  Ansätze  zu  mystischer  Kontemplation  94.) 
8)  Dankgebet  95.  (Form  der  Danksagung  96;  Gegenstand  des 
Dankes  96;  Dankopfer  97;  Opferspruch  97;  Verbindung  der 
Bitte  mit  dem  Dank  97.) 

VT.   Gebetshaltung  und  Gebetsgestus 98—  10c» 

1)  Mimik  des  Beters  98.  2)  Psychologischer  Ursprung  der 
Körper-  und  Händehaltung  beim  Gebet  98.  3)  Die  Körperhal- 
tungen 1 00.  (Stehen ;Knien,  Hocken,  Sichniederwerfen,  Verbeugung, 
Drehung,  Hüpfen.)  4)  Die  Händehaltungen  101.  (Erheben  und 
Ausbreiten  der  Arme,  Anlegen  der  Hände  an  den  Kopf,  Hände- 
klatschen, Beklopfen  der  Brust,  des  Erdbodens,  Händefalten,  In- 
einanderlegen  der  Hände;  Kreuzen  der  Hände,  Berührung  des 
Götterbilds    oder   Altars,   Küssen    des   Kultobjekts,   Kußhand.) 

5)  Entblößungen  104  (der  Füße,  des  Hauptes,  des  Oberkörpers, 
des  ganzen  Körpers).  6)  Verhüllung  (von  Haupt  und  Händen)  105. 

6)  Die  psychologische  Deutung  der  einzelnen  Gebetshaltungen  und 
-gesten  105.  7)  Zusammenhang  mit  den  profanen  Gruß-  und  Hul- 
digungsformen 107. 

VIT.   Oie  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen 109     120 

1)  Natur-  und  Tätigkeitsgeister  109.  (Naturgeister,  Tiergötter, 
Werkzeuge  110;  Fetische,  Idole,  Schutzgeister  m;  Krankheits- 
geister, Sondergötter  112;  Lokalgottheiten  113;  Wirkungskreis 
dieser  Wesen  113;  synkretistische  Gottheiten  von  umfassendem 
Machtbereich  115.)  2)  Ahnengeister  (Väter  und  Häuptlinge)  116. 
3)  Die  „hohen  Götter",  „Urväter"  113  (Wissenschaftliche  Problem- 
stellung 119;  ihre  Funktion  als  Schöpfer,  Stifter,  Gesetzgeber, 
Schicksalslenker  und  Sittlichkeitswächter  119;  geistiger  Charakter 
120;  Namen  121 ;  Fehlen  eines  organisierten  Kults  121;  Gebet  an  sie 
122;  deistische  Verkümmerung  des  Urväterglaubens  124.  4)  In- 
terzession 126.  5)  Intervention  128.  6)  Gebet  an  mehrere  Gott- 
heiten   128.      7)  Das  Prioritätsproblem    129. 

VII f..  Die  dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottesvorstellung 131  — 139 

1)  Übersinnlichkeit  131.  2)  Übersinnliche  Macht  131.  3)  An- 
thropomorphismus  133.  4)  Der  Glaube  an  die  Präsenz  Gottes: 
Gebetsort  und  Gebetsrichtung  135.  (Gebet  vor  Naturobjekten  137; 
im  Tempel  137;  Wallfahrt  137;  Richtung  zum  Himmel,  nach 
Osten,  zum  Tempel   138.) 

IX.  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  .        139—147 

i)  Der  Glaube  an  die  reale  Einwirkung  des  Gebets  auf  Gott 
139.  2)  Der  Reflex  eines  irdischen  Sozialverhältnisses  140.  (Ver- 
wandtschaftsverhältnis 141;  Untertanenverhältnis  144.)  3)  Die 
Äußerung  des  Sozialverhältnisses  in  der  Gebetsstimmung  145. 
(Furcht  145;  Feierlichkeit  146;  Herzlichkeit  und  Zuversicht  146.) 

X.  Zusammenfassende  Charakteristik.    Die  Bedeutung  des  primitiven 

Gebots  147—149 


Inhaltsverzeichnis  XV 


ß.  Die  rituelle  Gebetsformel 147 — 149 

Die  Bindung  des  kultischen  Gebets  bei  kulturarmen  Völkern 
und  antiken  Kulturvölkern  150;  die  Entstehung  der  rituellen  Ge- 
betsformel aus  dem  freien  Gebet  151;  die  Verbindlichkeit  des 
Wortlauts  151;  die  Stabilität  der  Ritualformel  151;  priesterliehe 
Neusehöpfungen  152;  Regelung  des  Vortrags  152;  Inhalt  153; 
die  Person  des  rituellen  Beters  (Priester  und  Beamte)  154;  Me- 
chanisierung des  Gebets  154;  juridisches  Verhältnis  des  Menschen 
zu   Gott   155;   Verkümmerung  des  religiösen  Lebens   156. 

C.  Der  Hymnus        157 — 181 

I.  Das  primitive  Gebetslied 157 — 161 

1)  Formale  Elemente  157  (Rhythmus  157;  Gleichklang  158; 
Strophenbau  und  Parallolismus  der  Glieder  15S;  Musik  und  Tanz 
159).  2)  Inhalt  (Hervortreten  des  Lobpreises)  160.  3)  Verhältnis 
zum  primitiven  Gebet  160. 

II.  Der  priesterliche  Kult- und  Beschwörungshymnus  .  .  161 — 182 
1)  Vorbemerkungen  161.  (Charakteristik  der  antiken  Ritual- 
religionen 161;  geschichtlicher  Überblick  162.)  2)  Zweck  (kul- 
tisch-rituell) 164.  3)  Verfasser  (Priester  und  Priesterschulen) 
165.  4)  Form  166  (unpersönlich-stereotyper  Charakter  166;  poe- 
tische Struktur  167.)  5)  Inhalt  168,  a)  Lobpreisung  170.  (Auf- 
zählung der  Ehrennamen  172;  Verherrlichung  der  Macht  und 
Güte  des  Gottes  173;  Huldigungsphrasen  173;  henotheistische  Er- 
hebung 173;  Schmeichelei  173;  Bitte  um  irdische  Glücksgüter 
173.)  b)  Klage  und  Bitte  um  Sündenvergebung  175.  6)  Die  im 
Hymnus  angerufenen  Götter  (synkretistischer  Charakter)  177. 
7)  Die  dem  Ku  thymnus  zugrundeliegende  Göttervorstellung  (pri- 
mitiver Anthropomorphismus)  179.  8)  Das  im  Hymnus  sich 
äußernde  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  (höfisch-zeremoniöser 
Verkehr  mit  dem  Gott)  180.     9)  Schlußcharakteristik  181. 

II J.  Der  literarische  Hymnus 182—190 

1)  Entstehung  aus  der  Ritualpoesie  182.  2)  Individueller  Cha- 
rakter 183.  3)  Verfasser  (Laien)  184.  4)  Inhalt  185  (Natur- 
betrachtung 185;  ethische  Züge  187;  mystische  Gottsehnsucht 
187).  5)  Die  zugrundeliegende  Gottesvorstellung  (keimhafter 
Pantheismus)  189.  6)  Vergleich  mit  den  israelitischen  Psalmen 
189.     7)   Würdigung  190. 

I>.  Das  Gebet  in  der  Religion  der  hellenischen  Vollkultur     .    191 — 200 

1)  Charakteristik  der  homerischen  Religion  191,  der  klassisch-helleni- 
schen Religion  191.  2)  Durchdringung  des  ganzen  Lebens  durch  den 
Opfer-  und  Gebetskult  193.  3)  Keine  rituelle  Formgebundenheit  des 
Betens  194.  4)  Inhalt  des  Gebets  194  (ethische  Bitten  196;  soziale 
Bitton  196;  eudämonistische  Bitten  196;  Fluchgebete  197;  generelle 
Bitten  198.)  5)  Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Polytheis- 
mus. Stellung  des  Zeus,  Anthropomorphismus  der  Götter)  198.  6)  Das 
Verhältnis  zu  der  Gottheit  ein  Freundschaftsverhältnis  200.  7)  Wür- 
digung 200. 

E .  ( rebetskritik  und  Gobetsideale  des  philosophischen  Denkens    200 — 219 

I.   Inhalt  des  philosophischen  Gebets.     Das  ethische  Gebetsideal     .       200—208 
Kritik  des  naiven  Eudämonismus  203;  Beschränkung  des  Bitt- 
gebets auf  die  ethischen  Werte  204;  generelle  Fassung  des  Bitt- 
gebots 205;  das  Ergebungsgebet  206;  die  kontemplative  Anbetung 
207;  die  ethische  Gesinnung  und  Tat  als  das  wahre  Gebet  208. 

II.  Die  met aphysischcGebetskritik  und  das  metaphysische  Gebetsideal       209—210 

1)  Kritik    (der   anthropomorphen    Gottesvorstellung    210;    des 
Glaubens  an  dio  Präsenz  Gottes  210;  des  Glaubens  nn  eine  Ein- 


XVI  [Inhaltsverzeichnis 


Wirkung  auf    Gott   210;   des  sozialen   Verkehrs  mit    Gott   211). 

2)  Philosophische  Urndeutungen  und  Surrogate  des  Gebets  213. 
(Pietät  gegen  die  religiöse  Tradition  213;  inkonsequente  Haltung 
213;  symbolische  Fassung  des  Gebets  214;  Auflösung  des  Gebets 
in  die  Betrachtung  215;  pädagogische  Wertung  des  Gebets  216; 
theistische  Rechtfertigung  des  Glaubens  an  die  Gebetserhörung 
216;  Charakteristik  des  philosophischen  Gebetsideals  217.) 

.   Das  Gebet  in  der  individuellen  Frömmigkeit  der  großen 
religiösen  Persönlichkeiten 220 — 409 

I.  Eigenart  des  Gebets  der  religiösen  Genien       .     .     .     220 — 247 
Gemeinsame  Züge  mit  dem  primitiven  Gebet  220.   —  Unter- 
schiede von  den  übrigen  Gebetstypen:   1)  Loslösung  des  Gebets 
vom  Opferkult  221.    2)  Der  ständige  Gebetsverkehr  mit  Gott  222. 

3)  Das  Gebet  als  göttliche  Gnadeneingebung  224.  4)  Die  Übung 
des  Gebets  227.  5)  Das  Gebet  als  Selbstzweck  228.  6)  Das  Gebet 
als  Aussprache  229.  7)  Geistiger  Charakter  des  Glaubens  an 
Gottes  Präsenz;  die  Einsamkeit  des  Gebets  229.  8)  Der  Glaube 
an  ein  Gebetsideal  232.  9)  Geschichtlicher  Zusammenhang  des 
Gebetslebens  der  großen  Frommen  232;  die  Hauptlinien  dieses 
Zusammenhangs  234.  —  Das  Christentum  als  die  Religion  des 
Gebets  schlechthin  235.  —  Überblick  über  die  Geschichte  des  in- 
dividuellen Gebetslebens  im  Judentum  und  Christentum  236 
(Moses  237;  Jeremias  237;  die  Psalmdichter  238;  Jesus  239;  Paulus 
240;  Augustinus,  Bernhard  v.  Clairvaux,  Franz  v.  Assisi  241; 
Theresa  244;  Luther  244.) 

II.  Allgemeine  Charakteristik  der  beiden  Haupttypen  der 
persönlichen  Frömmigkeit:  Mystik  und  prophetische 
Frömmigkeit 248 — 283 

1)  Die  historische  Genesis  250.  2)  Das  psychische  Grunderleb- 
nis 250.  3)  Weitere  psychologische  Charakteristika  257.  4)  Die 
Gottesvorstellung  259.  5)  Die  Wertung  der  Geschichte  262. 
6)  Die  Stellung  zur  Autorität  265.  7)  Sünde  und  Heil  267. 
8)  Die  Stellung  zur  Ethik  269.  9)  Die  Stellung  zur  sozialen  Ge- 
meinschaft 272.  10)  Die  Stellung  zu  Kultur  und  Welt  276. 
11)  Die  Jenseitshoffnung  279.  12)  Monismus  der  Mystik  —  Dua- 
lismus der  prophetischen  Religion  281.  13)  Schlußcharakteristik 
282. 

III.  Das  Gebet  in  der  Mystik 284 — 34b 

1)  Vorbemerkungen  284.  2)  Motiv  und  Zweck  des  Gebets  285 
(Das  Gebet  als  Stufe  zur  Vereinigung  mit  Gott  286;  naives  Beten 
als  Affektentladung  287;  die  Meditation  288). 

3)  Form  des  Gebets  (Gebetsformeln  288;  das  wortlose  Gebet 
des  Herzens  288). 

4)  Wesen  und  Inhalt  des  mystischen  Gebets:  der  Aufstieg  der 
Seele  zum  höchsten  Gut  290.  a)  Konzentration  291  (Bitte  um 
Loslösung  von  der  Welt  292,  um  Beruhigung  der  Affekte  292; 
um  Ruhe  in  Gott  293,  um  Gleichförmigkeit  mit  Gottes  Willen 
294,  um  Gottesliebe  295,  um  Gottschauen  295,  um  Gotteinigung 
296).  b)  Kontemplation  297  (reine  ästhetische  Betrachtung  299; 
Lobpreis  und  Dank  301 ;  Hingabe  und  Ergebung  302;  Betrachtung 
des  eigenen  Unwertes  und  des  göttlichen  Gnadenwunders  304). 
c)  Verwerfung  des  Bittens  um  irdische  Güter  307. 

5)  Die  Stufen  des  Gebets  bzw.  der  Versenkung  309  (Bedeutung 
der  Konstruktion  einer  Gebetsskala  310;  die  Meditation  als  erste 
Gebetsstufe  310;  das  Gebet  der  Ruhe  311;  das  Gebet  der  Wonne 
bzw.  des  Gleichmuts  314;  die  Ekstase  als  Gipfel  der  Gebetsleiter 


Inhaltsverzeichnis  XVII 


6)  Die  dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottesvorstellung  317. 

7)  Die  Erfahrung  der  Präsenz  Gottes  im  Gebet  318. 

8)  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  von  Mensch  und 
Gott  319. 

9)  Die  Gebetsanweisung  320. 

Die  Varianten  des  mystischen  Gebets 322 — 346 

a)  Die  kultisch-sakramentale  Mystik  322  (Sinnliche  Stütze  der 
mystischen  Kontemplation  322;  die  hinduistische  Kultmystik  324; 
die  synkretistischen  Mysterienkulte  324;  die  christliche  Sakra- 
mentsmystik  325;  die  mystischen  Kommuniongebete   ;26.) 

b)  Die  Brautmystik  331  (Idee  der  geschlechtlichen  Vereinigung 
mit  der  Gottheit  in  der  primitiven  Religion  331;  das  religiöse 
Brautsymbol  in  der  alten  Kirche  332;  die  mittelalterliche  Braut- 
mystik 332;  psychologische  Erklärung  der  mystischen  Brautsym- 
bolik 333;  das  Gebet  in  der  Brautmystik  334;  die  Gebetsanrede 
337,  die  Liebessehnsucht  337,  Liebesseligkeit  339,  das  Verhältnis 
der  betenden  Brautmystiker  zu   Gott  340;  Charakteristik  341.) 

c)  Die  quietistische  Mystik  341  (Geschichtliche  Vorbemerkung 
341;  psychologische  Eigenart  der  quietistischen  Mystik  342;  das 
wortlose  Herzensgebet  343 ;  die  Indifferenz  des  Inhalts  des  Gebets 
344;  Verwerfung  des  Bittens  und  Dankens  344,  Charakteristik 
345-) 

d)  Die  Versenkung  im  Buddhismus  345. 
Schlußcharakteristik  des  mystischen  Gebets  346. 

IV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit     .     .     347 — 409 

1)  Anlaß  und  Motiv  zum  Gebet  348  (Beispiele  spontanen  Betens 
348;  psychologische  Analyse  des  Motivationserlebnisses  350;  die 
Spontaneität  des  Gebets  352;  das  regelmäßige  Gebet  354.) 

2)  Form  des  Gebets  354  (Freies  Beten  354;  der  Gebrauch  von 
Gebetsformeln  355;  Kürze  des  spontanen  Gebets  356;  lautes  Beten 
357;  das  „unaussprechliche  Seufzen"  357.) 

3)  Inhalt  des  Gebets  358.  a)  Die  Klage  und  Frage  359.  b)  Die 
Bitte  360  (um  individuelle  religiöse  Werte  361,  individuelle 
ethische  Werte  365;  soziale  religiös-ethische  Werte:  die  Fürbitte 
366;  überindividuelle  religiös-ethische  Werte:  die  Reichgottesbitte 
368;  eudämonistische  Werte  369.)  c)  Mittel  der  Überredung 
372  (Huldigung  372;  Appell  an  Gottes  Interesse  373;  Erinnerung 
an  Gottes  frühere  Wohltaten  374;  Berufung  auf  Gottes  Ver- 
heißung 374;  Berufung  auf  die  göttlichen  Heilstatsachen  375; 
Berufung  auf  die  eigene  Frömmigkeit  376;  Bestürmen  Gottes  376.) 
d)  Aussprache  der  Ohnmacht  und  Abhängigkeit,  Bekenntnis  der 
Sündhaftigkeit  378.  e)  Aussprache  der  Zuversicht  379.  f)  Aus- 
sprache der  Ergebung  384.  g)  Dank  389.  h)  Lobpreis  391. 
i)  Sehnen  und  Schauen  392. 

4)  Die  dem   Gebet  zugrundeliegende  Gottesvorstellung  393. 

5)  Der  Glaube  an  Gottes  Präsenz  im   Gebet  394. 

6)  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  von  Mensch  und 
Gott  397  (Die  Idee  einer  Einwirkung  auf  Gott,  der  Glaube  an  die 
„Gebetserhörung"  397;  der  Reflex  eines  irdischen  Sozialverhält- 
nisses  400;  Freundesverhältnis  400;  Dienerverhältnis  400;  Kindes- 
verhältnis 401 ;  die  Äußerung  des  Gebetsverhältnisses  in  der  Ge- 
betsstimmung 403.) 

7)  Die  Gebetsnormen  der  prophetischen  Frömmigkeit  404  (Der 
Protest  gegen  das  mechanische  Beten  404;  der  Kampf  für  das 
freie  Gebet  405 ;  die  Polemik  gegen  das  gesetzliche  und  verdienst- 
liche  Gebet  406;  die  positive  Gebetsanleitung  407.) 

8)  Vergleich  des  mystischen  und  prophetischen  Gebets  407. 


XVIII  Inhaltsverzeichnis 


G.  Das    individuelle    Gebet   großer    Männer    (Dichter    und 

Künstler) 410 — 420 

I.  Der   kontemplativ-ästhetische   Typ    (die   ästhetisch- 
romantische Mystik) 410 — 414 

Verwandtschaft  und  Unterschied  dieser  Frömmigkeit  von  der 
echten  Mystik  411 ;  Gebet  und  Anbetung  als  Naturbetrachtung  4 12. 

II.  Der  affektiv-ethische  Typ 415 — 420 

Motiv  des  Gebets  415;  Inhalt  415  (Bitte  um  ideale  Werte  415, 
um  religiöse  Werte  416;  um  eudämonistische  Güter  416;  Aus- 
sprache der  Zuversicht  und  Ergebung  417;  der  Glaube  an  die 
Gebetserhörung  418.)    Würdigung  419. 

H\  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 421 — 477 

1)  Zusammenhang  mit  dem  individuellen  Gebetsleben  der  pro- 
phetischen Persönlichkeiten  421. 

2)  Geschichtlicher  Überblick  422.  (Entstehung  des  Gemeinde- 
gebets im  jüdischen  Exil  423;  das  Gemeindegebet  im  nachexili- 
schen  Judentum  424;  im  Urchristentum  424;  in  der  alten  Kirche 
425;  die  liturgische  Reform  des  4.  Jahrhunderts  426;  Abschluß 
der  Entwicklung  im  7.  Jahrhundert  428;  die  Reform  des  Ge- 
meindegottesdienstes im  16.  Jahrhundert  428;  Pietismus  und 
Rationalismus  429;  die  agendarische  Reform  im  19.  Jahrhundert 
429;  das  Agendenproblem  der  Gegenwart  429;  Spuren  eines  gottes- 
dienstlichen Gemeindegebets  außerhalb  des  Judentums  und  Chri- 
stentums 430.) 

3)  Motiv  und  Zweck  des  gottesdienstlichen  Gemeindegebets  431 
(Ausdruck  des  gemeinsamen  Heilsbewußtseins  und  Hei  sverlangens 
431 ;  die  „Erbauung"  432;  die  pädagogische  Anleitung  zum  wahren 
Gebet  432;  Schriftlesung  und  Predigt  als  Vorbereitung  zum  Ge- 
meindegebet 433;  die  Erstarrung  des  Gemeindegebets  zur  sakralen 
Institution  434.) 

4)  Die  Form  des  gottesdienstlichen  Gemeindegebets  434.  a)  Die 
Person  des  Beters:  allgemeines  Laiengebet  und  priesterliches  Amts- 
gebet 434.  b)  FreiesBeten  in  der  altenKircbe  435  ;  Musterformulare 
436;  die  bindende  liturgische  Formel  437;  der  Protest  der  christ- 
lichen Sekten  gegen  die  Bindung  des  gottesdienstlichen  Gebets 

438.  c)  Sprache  und  Stil  des  gottesdienstlichen  Gemeindegebets 

439.  d)  Die  Teilnahme  der  Gemeinde  am  Gebet  des  Vorbeters 
441;  ( Gebetsauf f orderung  441;  Antiphonie  441;  Responsorium 
441;  Amen  442;  Chorgebet  443;  Chorgesang  443.) 

5)  Der  Inhalt  des  gottesdienstlichen  Gemeindegebets  444. 
a)  Lobpreis  und  Danksagung  444  (Betrachtung  der  Größe  und 
Macht  Gottes  446;  Danksagung  für  das  Heil  447;  das  episch- 
heilsgeschichtliche  Dankgebet:  im  Judentum  448;  im  alten 
Christentum  450;  die  Präfation  der  abendländischen  Messe  451; 
die  Präfation  in  den  evangelischen  Kirchen  451).  b)  Das  Sünden- 
bekenntnis und  die  Vergebungsbitte  452.  c)  Die  Bitte  454  (die 
Reichgottesbitte:  im  Judentum  454;  im  Urchristentum  454;  die 
Bitte  für  die  Kirche  456;  die  Bitte  um  individuelle  religiös- 
ethische  Werte:  im  Judentum  und  in  der  alten  Kirche  455;  in 
der  römischen  Liturgie  456;  in  den  evangelischen  Kirchen  457.) 
d)  Die  Fürbitte  458  (für  die  notleidenden  Brüder  459;  für  die 
kirchlichen  Amtsträger  459;  für  die  weltliche  Obrigkeit  460; 
für  Heiden,  Juden  und  Ketzer  460;  für  die  Toten  462.  e)  Die 
Schlußdoxologie  463  (jüdische  Doxologien  463;  christologische 
464;  trinitarische  464). 

6)  Die  Gebetsanrufung  im  christlichen  Gemeindegebet  464 
(Gebet  zum  „Vater  Jesu  Christ"  465;  „in"  und  „durch"  Christus 
465 ;  Jesu  Mittlerstellung  465 ;  Gebete  an  Christus  465.) 


Inhaltsverzeichnis  XIX 


7)  Die  Idee  des  gottesdienstlichen  Gemeindegebets  467  (Der 
Glaube  an  die  Präsenz  Gottes  467;  Lobpreis  und  Dank  als  „Opfer" 
467;  der  Glaube  an  die  Macht  des  gemeinsamen  Bittgebets  468; 
Vergleich  mit  dem  mystischen  und  prophetischen  Gebet  468.) 

8)  Besondere  Ausprägungen  des  gottesdienstlichen  Gemeinde- 
gebets  469.  a)  Das  gottesdienstliche  Gebet  im  Urchristentum :  das 
Mysterium  der  Mittelpunkt  des  Gemeindegottesdienstes  470.  b)  Das 
gottesdienstliche  Gemeindegebet  in  der  katholischen  Kirche:  der 
Gottesdienst  als  Mysterienliturgie  471 ;  als  Opfer  472;  Verdrängung 
des  Gemeindegebets  in  die  peripheren  Gottesdienstfoimen  472. 
c)  Das  gottesdienstliche  Gebet  im  synagogalen  Judentum  und  in 
den  evangelischen  Kirchen  und  Sekten:  der  reine  Wortgottes- 
dienst 474. 

J.   Das  individuelle  Gebet  als  religiöse  Pflicht  und  gutes  Werk 

in  den  Gesetzesreligionen 478 — 485 

1)  Eigenart  der  Gesetzesreligionen  478.  2)  Geschichtlicher  Über- 
blick 479.  a)  Judentum  (Schma  und  Schmone  'Esre).  b)  Islam 
(salät)  479.  c)  Mazdaismus  480.  d)  Christentum  (Pflicht-,  Büß-, 
Ablaßgebet)  480.  3)  Die  Form  des  gesetzlichen  Gebets  (Verbind- 
lichkeit des  Wortlauts,  Wiederholung)  480.  4)  Inhalt  des  gesetz- 
lichen Gebets  481  (Bekenntnis  und  Selbsteinschärfung  der  Pflicht 
481;  Lobpreis  482;  Bitte  482.)  5)  Die  Idee  des  gesetzlichen  und 
verdienstlichen  Gebets  als  einer  in  sich  wertvollen  Leistung  an 
Gott  482;  der  primitive  Opfergedanke  482;  der  Zaubergedanke 
483.  6)  Schlußcharakteristik  483  (Gefahr  des  Formalismus  484; 
religiöser  Charakter  des  mechanischen  Betens  484;  pädagogische 
Bedeutung  485.) 

Das  Wesen  des  Gebets. 

1)  Zusammenfassender  Rückblick  über  die  Typen  des  Gebets 
486;  Mannigfaltigkeit  der  Gebetsfoimen  486. 

2)  Das  Wesen  des  Gebets  488  (Primäre  und  sekundäre  Gebets- 
typen 488;  die  motivationspsychologische  Wurzel  des  Gebets  489; 
die  phänomenologischen  Merkmale  des  Gebets:  a)  der  Glaube  an 
Gottes  Persönlichkeit  490.  b)  der  Glaube  an  Gottes  unmittelbare 
Gegenwart  491,  c)  der  lebendige  Verkehr  mit  Gott  491,  d)  der 
Reflex  eines  irdischen   Sozialverhältnisses  491;  Definition  491.) 

3)  Das  Wesen  der  Anbetung  492  (die  religiöse  Anbetung  492; 
die  Anbetung  außerhalb  des  religiösen  Lebens  492;  Definition 
493.) 

4)  Das  Wesen  der  Andacht  493  (Andacht  innerhalb  und  außer- 
halb des  religiösen  Lebens  493;  Definition  493.) 

5)  Unterschied  des  Gebets  von  der  Anbetung  und  Andacht  494. 

6)  Warum  das  Gebet  der  Mittelpunkt  aller  Religion  ist  494. 

Literaturverzeiclmis 497 — 503 

Anmerkungen 504 — 541 

Register 542—558 


Einleitung. 

I.   Das  Gebet  als  das  zentrale  Phänomen  der  Religion. 
Religiöse    Menschen    und    Religionsforscher,    Theologen    aller    Kon- 
fessionen und  Richtungen  stimmen  in  dem  Gedanken  überein,  daß  das 
Gebet  das  zentrale  Phänomen  der  Religion,  der  Feuerherd  aller  Fröm- 
migkeit sei.     Der  Glaube  ist  nach  Luthers  Urteil  nichts  anderes 
„denn  eitel  Gebet".     „Wer  nicht  betet  noch  Gott  anruft  in  seiner  Not, 
der  hält  ihn  gewißlich  nicht  für  einen  Gott,  gibt  ihm  auch  nicht  seine 
göttliche  Ehre."1     Der  große  evangelische  Mystiker  Johann  Arndt 
betont  immer  wieder:  „Ohne  Gebet  findet  man  Gott  nicht;  das  Gebet 
ist  ein  solches  Mittel,  dadurch  man  Gott  suchet  und  findet."  2     Der 
Restaurator     der     evangelischen    Theologie     des     19.     Jahrhunderts, 
Schleiermacher,  sagt  in  einer  Predigt :  „Fromm  sein  und  Beten, 
das    ist   eigentlich     ein    und    dasselbe."  3       Der   romantische    Dichter 
Novalis  bemerkt:  „Beten  ist  in  der  Religion,  was  Denken  in  der 
Philosophie  ist.    Beten  ist  Religion-machen.     Der  religiöse  Sinn  betet, 
wie  das  Denkorgan  denkt."  4    Denselben  Gedanken  spricht  der  geniale 
evangelische   Dogmatiker   Richard   R  o  t  h  e  in  theologischer  Formu- 
lierung aus :  „Der  religiöse  Trieb  ist  wesentlich  Gebetstrieb.   Es  ist  in  der 
Tat  gerade  das  Beten,  worauf  wesentlich  der  religiöse  Lebensprozeß 
des  Individuums  beruht,  der  Prozeß  der  sich  allmählich  vollziehenden 
reellen  Einwohnung  Gottes  in  dem  menschlichen  Individuum  und  das 
religiöse  Leben  des  letzteren.    Deshalb  wird  mit  Recht  der  Nichtbetende 
als  religiös  tot  betrachtet."  5    Einer  der  hervorragendsten  evangelischen 
Theologen   der   Gegenwart,    Adolf   D  ei  ß  mann,   urteilt:    „Religion 
ist  überall  da,  wo  sie  im  Menschen  lebendig  ist,  Gebet."6     Der  tief- 
religiöse  Philosoph  Gustav  Theodor    Fechner    sagt    in    eindrucks- 
voller   Weise:     „Nimm    das    Gebet   aus    der   Welt,    und    es    ist,    als 
hättest  du  das  Band  der  Menschheit  mit  Gott  zerrissen,  die  Zunge  des 
Kindes  gegenüber  dem  Vater  stumm  gemacht."  7     Cornelius  Petrus 
T  i  e  1  e  ,  einer  der  Väter  der  vergleichenden  Religionsgeschichte,  äußert 
sich  ähnlich:  „Wo  das  Gebet  gänzlich  verstummt  ist,  da  ist  es  um  die 
Religion  selbst  geschehen."  8     Mit  diesem  Urteil  deckt  sich  der  Satz 
des  berühmten  Religionsphilosophen  Auguste  S  a  b  a  t  i  e  r :   „Wo  das 
Herzensgebet  nicht  ist,  da  ist  auch  keine  Religion."  9  Der  bahnbrechende 
Religionspsychologe  William  James  pflichtet  dieser  Äußerung  Saba- 
tiers  bei.  10     Ein  gefeierter  katholischer  Apologet  (Hettinger)  be- 
zeichnet das  Gebet  als  „die  erste,  höchste  und  feierlichste  Erscheinung 
und  Betätigung  der  Religion"  n,  ein  volkstümlicher  katholischer  Er- 
bauungsscbriftsteller   (Alban    Stolz)   nennt   es    „das    Blut   imd   den 

Das  Gebot  1 


2  Einleitung 

Blutumlauf  im  religiösen  Leben" 12,  ein  Theologe  deT  Gesellschaft 
Jesu  (M.  Meschler)  heißt  es  „die  Seele  des  öffentlichen  Gottes- 
dienstes und  das  Hauptgnadenmittel  für  das  innere  Leben"  13.  Ein 
scharfsinniger  Bibelkritiker  (Julius  Wellhausen)  sieht  im  Gebet 
„die  einzig  adäquate  Form  des  Glaubensbekenntnisses"  14;  ein  anderer 
alttestamentlicher  Forscher  „die  schlechthin  notwendige  Betätigung 
des  religiösen  Lebens,  das  unbewußte,  unentbehrliche  Atmen  der  reli- 
giösen Seele"  (E.  K  a  u  t  z  e  c  h) 15,  ein  dritter  „die  natürliche  und 
notwendige  Lebensäußerung  jeder  Religion"  (R.  Kittel)16.  Ein 
neu  testamentlicher  Theologe  charakterisiert  es  als  „den  Höhepunkt  des 
religiösen  Prozesses  im  Menschen",  „den  unmittelbarsten  Ausdruck  des 
religiösen  Verhältnisses  zwischen  Mensch  und  Gott"  (Paul  Christ)17. 
Ein  Kirchenhistoriker,  der  dem  Gebet  im  Frühchristentum  sorgfältige 
Studien  widmete,  redet  vom  Gebet  als  dem  „Atem  aller  Frömmigkeit" 
(Eduard  von  der  Goltz)18,  ein  anderer,  der  die  Gebetsliteratur  des 
Reformations Jahrhunderts  untersuchte,  nennt  es  „die  Seele  und  den 
eigentlichen  Pulsschlag  der  Religiosität"  (Paul  A  1  t  h  a  u  s)  19.  Für 
einen  konservativen  evangelischen  Dogmatiker  ist  das  Gebet  „das 
spezifische  Mittel  um  religiöse  Lebenskräfte  zu  schöpfen,  die  spezifische 
Arzenei  gegen  die  religiöse  Ohnmacht"  (Richard  R  o  t  h  e)  20,  eines  der 
„Grundstücke  aller  echten  Frömmigkeit",  der  „Herzpunkt  des  per- 
sönlichen Christentums"  (Kahler)21;  für  einen  modernen  Dogmatiker 
ist  es  „die  wesentliche  und  charakteristische  Äußerung  des  religiösen 
Bewußtseins"  (Samuel  Eck)  22,  „das  Urphänomen  der  Religion",  „die 
Urtatsache  des  religiösen  Lebens"  (Fernand  Menegoz)23.  Ein 
klassischer  Philologe  bezeichnet  das  Gebet  als  „die  einfachste  und  un- 
mittelbarste Weise,  wie  sich  der  Mensch  in  Beziehung  zur  Gottheit 
setzt"  (Karl  Friedrich  Hermann)24.  Ein  Religionshistoriker  nennt 
es  „die  natürlichste  Äußerung  des  religiösen  Menschen,  der  die  Gemein- 
schaft der  Gottheit  sucht"  (T  i  e  1  e) 25;  ein  Religionsphilosoph  erblickt 
in  ihm  „die  Seele  der  Religion";  durch  das  Gebet  unterscheidet  sich 
nach  seiner  Anschauung  das  religiöse  Phänomen  von  andern  ihm  ähnlichen 
oder  verwandten,  wie  dem  moralischen  oder  ästhetischen  Gefühl 
(Auguste  Sabatier)26.  Und  selbst  der  radikalste  unter  den  Reli- 
gionskritikern, Feuerbach,  der  alle  Religion  zur  Illusion  stempelte, 
erklärt:  „Das  tiefste  Wesen  der  Religion  offenbart  der  einfachste  Akt 
der  Religion  —  das  Gebet"  27. 

So  besteht  nicht  der  leiseste  Zweifel  darüber,  daß  das  Gebet  das  Herz 
und  der  Mittelpunkt  aller  Religion  ist.  Nicht  in  den  Dogmen  und 
Institutionen,  nicht  in  den  Riten  und  ethischen  Idealen,  sondern  im 
Beten  erfassen  wir  das  eigentlich  religiöse  Leben.  In  den  Gebetsworten 
dürfen  wir  die  tiefsten  und  intimsten  Regungen  der  frommen  Seele 
belauschen.  „Betrachtet  die  Gebete  der  Heiligen  aller  Zeiten,  und  ihr 
habt  ihren  Glauben,  ihr  Leben,  ihre  Triebfeder,  ihr  Werk",  sagte  der 
berühmte  calvinische  Prediger  Adolphe  Monod28.  Die  bunte  Welt 
der  religiösen  Vorstellungen  und  Handlungen  ist  stets  nur  der  Reflex 
des  persönlichen  religiösen  Lebens.  All  die  verschiedenen  Ge- 
danken   von    Gott,    Schöpfung,    Offenbarung,     Erlösung,    Gnade   und 


I.  Das  Gebet  als  das  zentrale  Phänomen  der  Religion  3 

Jenseits  sind  Kristallisationsprodukte,  in  denen  das  reich  flutende 
religiöse  Erleben,  das  Glauben,  Hoffen  und  Lieben,  feste  Gestalt  gewinnt. 
All  die  mannigfachen  Riten  und  Sakramente,  die  Weihen  und  Reinigun- 
gen, die  Opfer  und  heiligen  Mahlzeiten,  die  heiligen  Tänze  und  Prozes- 
sionen, all  die  Werke  der  Askese  und  Sittlichkeit  sind  nur  der  mittelbare 
Ausdruck  des  inneren  frommen  Erlebens:  der  Ehrfurcht  und  des  Ver- 
'  trauens,  der  Hingabe,  Sehnsucht  und  Begeisterung.  Im  Gebet  hingegen 
enthüllt  sich  dieses  Erleben  unmittelbar ;  das  Gebet  ist,  wie  Thomas 
von  Aquin  sagte,  ,,im  eigentlichen  Sinn  die  Betätigung  der  Religion" 
(oratio  est  proprie  religionis  actus)  29,  oder  wie  Sabatier  sich  treffend 
ausdrückte,  „Religion  in  Aktivität,  d.  h.  wirkliche  Religion"  30  oder 
wie  Biedermann  es  formulierte  „der  religiöse  Prozeß  in  seiner 
unmittelbarsten  Wirklichkeit"  31. 

Das  Verhältnis  von  Religion  und  Gebet  wird  treffend  von  dem  katholischen 
Theologen  Joseph  Zahn  umsehrieben:  „Religion  und  Gebet  fallen  nicht  zu- 
sammen, aber  sind  miteinander  veibunden  wie  Leben  und  Atmen,  wie  Geist 
und  Sprache.  So  wenig  es  eine  echte  Religion  gibt  ohne  die  Gottesidee  und  ohne 
den  Ewigkeitsgedanken,  so  wenig  gibt  es  ein  echtes  religiöses  Leben  ohne  Gebets- 
leben. Das  Gebet  ist  das  Offenbarwerden  des  Gottesbesitzes,  der  im  Jenseits 
sich  vollendet,  im  Diesseits  aber  sich  anbahnt  in  Glauben,  Hoffen,  Lieben.  Gottes- 
glauben, Gottvertrauen,  Gottesliebe,  in  heiliger  Gemeinsamkeit  verbunden  und 
lebendig  geworden  in  Geist  und  Gemüt,  ausgesprochen  laut  vor  der  Gemeinde 
oder  still  vor  Gott  allein,  mit  oder  ohne  Wortsprache  —  das  ist  das  Gebet,  wie 
es  als  heilige  Übung  in  ununterbrochener  Kette  von  den  Gottesfreunden  aller 
Zeitenfolge  ist  gepflegt  worden.  Und  wenn  es  gilt,  den  Weg  anzugeben,  auf 
welchem  die  Religion  ihren  Segen  an  die  Menschheit  vermittelt,  so  kann  auch 
die  höchste  theologische  Spekulation  und  die  glänzendste  Form  der  religiösen 
Beredsamkeit  sich  nicht  vergleichen  mit  dem  echten,  schlichten,  herzenswarmen 
Gebete.  Im  Gebete  kommt  die  Erkenntnis  der  religiösen  Wahrheit  zu  unmittel- 
barer Fruchtbarkeit,  fließt  der  Strom  der  Tröstung  über  die  Erde,  quillt  die 
sittliche  Kraft,  die  dem  religiösen  Gedanken  innewohnt,  in  die  Seelen,  besiegelt 
sich  das  Band,  welches  die  Menschen  mit  ihrem  Gott  vereint,  aber  zugleich  auch 
miteinander  zu  einer  großen  Familie  zusammenschließt.  Wer  darum  in  keiner 
Weise  betet,  von  dem  ist  zu  sagen,  daß  er  aus  dem  Vaterlande  der  Menschheit, 
aus  dem  Quellenbereiche  der  religiösen  und  sittlichen  Hoheit  fortgegangen  ist 
in  die  Fremde.  Wem  aber  der  Begriff  des  Gebetes  ungeläutert  oder  halbver- 
standen ist,  der  ist  notwendigerweise  mit  seinen  religiösen  Begriffen  noch  nicht 
ins  reine  gekommen.  Und  wenn  sich  wirklich,  wie  oben  gesagt  wurde,  Religion 
und  Gebet  verhalten  wie  Leben  und  Atem,  Geist  und  Sprache,  und  wenn  zweifels- 
ohne gesundes  Leben  und  gesundes  Atmen,  hohes  Geistesleben  und  edle,  reiche 
Sprache  sich  zusammenfinden,  dann  darf  wohl  die  rechte  Auffassung  und  Übung 
des  Gebets  als  ein  Gradmesser  des  religiösen  Lebens  gelten  und  es  kann  von  der 
wahren  Höhenstufe  des  Gebetslebens  ein  Schluß  gezogen  werden  auf  die  Voll- 
endung des  ganzen  religiösen  Standes."  "  Dieselben  Gedanken  spricht  der 
evangelische  Dogmatiker  A.  Schlatter  in  knappen  und  kraftvollen  Worten 
aus :  „Da  das  Gebet  derjenige  Akt  ist,  durch  den  wir  unser  Wollen  zu  Gott  wenden, 
besteht  die  Religion  vor  allem  im  Gebet.  Religiös  sein  heißt  beten  können; 
irreligiös  sein  heißt  unfähig  zum  Gebet  sein.  Der  Kampf  um  die  Religion  ist 
der  Kampf  um  das  Gebet;  die  Theorie  der  Religion  ist  die  Philosophie  des  Gebets. 
Normales  Gebet  ist  normale  Religion,  verdorbenes  Gebet  verfälschte  Religion."  33 

Weil  also  das  Gebet  die  elementare  und  notwendige  Äußerung  des  reli- 
giösen Lebens  ist,  darum  ist  es  nach  einem  Worte  des  evangelischen 
Theologen  P  a  1  m  e  r  „für  Personen  und  Systeme  immer  der  vollkommen 
richtige  Maßstab,  woran  das  Dasein  oder  Nichtdasein  der  Religion, 
sowie  der  Grad,  in  welchem  Religion  ihnen  innewohnt  oder  bei  ihnen 


Einleitung 


möglich  ist,  gemessen  werden  muß"  34.  Dasselbe  betont  Karl  Girgen- 
s  o  h  n  in  seinen  tiefsinnigen  Reden  über  die  christliche  Religion:  „Das 
Gebet  ist  ein  völlig  zutreffender  Gradmesser  für  das  religiöse  Leben 
der  Seele.  Wenn  man  wüßte,  was  und  wie  ein  Mensch  betet,  so  würde 
man  seinen  ganzen  Besitz  an  Religion  klar  überschauen  können.  Wenn 
der  Mensch  ohne  Zeugen  mit  seinem  Gott  redet,  dann  steht  die  Seele 
unverhüllt  vor  ihrem  Schöpfer.  Was  sie  dann  zu  sagen  hat,  zeigt  ganz 
deutlich,  wie  arm  oder  reich  sie  ist"  35.  Im  Gebet  enthüllen  sich  aber 
nicht  nur  die  religiösen  Unterschiede  einzelner  Menschen,  sondern 
ganzer  Völker,  Zeiten,  Kulturen,  Kirchen  und  Religionen.  Auguste 
Sabatier  bemerkt :  „Nichts  offenbart  uns  besser  den  sittlichen  Wert 
und  die  geistige  Würde  eines  Kultus  als  die  Art  des  Gebets,  welches  er 
auf  die  Lippen  seiner  Anhänger  legt"  36.  A  1 1  h  a  u  s  schreibt  in  der 
Einleitung  zu  seiner  Studie  über  die  Gebetsliteratur  im  Reformations- 
zeitalter: „Das  Gebet  ist  wie  kaum  etwas  anderes  das  zuverlässigste 
Erkennungsmerkmal  der  spezifischen  Frömmigkeit."  „Nächst  dem 
geistlichen  Liede  spiegelt  sich  im  Gebete  die  Eigenart  des  religiösen 
Lebens  einer  bestimmten  Entwicklungsstufe  am  deutlichsten  wider."  37 
Farneil,  wohl  der  hervorragendste  englische  Religionshistoriker  der 
Gegenwart,  schickt  seiner  Skizze  über  die  Entwicklung  des  Gebets  den 
Satz  voraus:  „Keine  religiöse  Äußerung  des  Menschen  offenbart  so 
klar  die  verschiedenen  Auffassungen  vom  göttlichen  Wesen,  welche  die 
einzelnen  Völker  in  den  verschiedenen  Stadien  ihrer  Entwicklung  hatten, 
keine  spiegelt  so  lebendig  die  äußere  und  innere  Geschichte  des  Menschen 
wider  als  die  Gebetsformeln."  38  Eben  deshalb  gibt  es  nach  einem 
treffenden  Worte  Deißmanns  „für  den  Erforscher  der  Religion  und 
der  Religionen  keine  lehrreicheren  Quellen  als  die  Gebete  und  die  Zeug- 
nisse über  das  Gebet.  Sie  charakterisieren  eine  Religion,  eine  religiöse 
Schicht,  einen  Frommen  besser  als  Mythologie,  Legende,  Dogma,  Moral 
oder  Theologie."  Man  könnte  geradezu  „Religionsgeschichte  schreiben 
als  Geschichte  des  Betens"  39.  Derselbe  Gedanke  wurde  schon  früher 
von  Auguste  Sabatier  ausgesprochen :  „Eine  Geschichte  des  Gebets 
wäre  wohl  die  beste  Geschichte  der  religiösen  Entwicklung  des  Men- 
schen." 40  Und  Montalembert  hat  in  der  Einleitung  zu  seinem 
berühmten  Werk  über  die  Mönche  des  Abendlandes  den  Satz  geschrieben : 
„Ich  kann  mir  keine  schönere  Aufgabe  denken  als  die  Geschichte  des 
Gebets,  d.  h.  die  Geschichte  dessen,  was  die  Kreatur  zu  ihrem  Schöpfer 
gesprochen  hat,  eine  Geschichte,  die  uns  lehren  würde,  wann  und  warum 
und  wie  der  Mensch  dazu  gekommen  ist,  Gott  all  sein  Elend  und  sein 
Glück,  all  sein  Bangen  und  Sehnen  zu  enthüllen."  41 

II.  Die   bisherige   religionswissenschaftliche 
Untersuchung    des    Gebets. 

Aus  der  zentralen  Stellung,  welche  das  Gebet  im  religiösen  Leben  der 
Menschheit  einnimmt,  sollte  man  schließen,  daß  die  Untersuchung  des 
Gebets  einen  der  hauptsächlichen  Gegenstände  theologischer  und  reli- 
gionswissenschaftlicher Forschung  bildete.    Wer  das  glaobt,  wird,  wenn 


II.   Die  bisherige  religionswissenschaftliche  Untersuchung  des    Gebets  5 

er  die  theologische  Literatur  durchmustert,  sich  bitter  enttäuscht  fühlen. 
Deißmann  erhebt  mit  beredten  Worten  darüber  Klage,  daß  Jesu 
Gebet  so  gut  wie  niemals  zum  Gegenstand  der  Untersuchung  gemacht 
worden  sei.  „Als  sei  es  etwas  Selbstverständliches,  jedenfalls  nichts 
Charakteristisches,  haben  die  Forscher  das  Gebetsleben  Jesu  zwar  nicht 
ignoriert,  aber  fast  ganz  in  den  Hintergrund  gestellt.  Es  gibt  über 
dieses  —  wenn  wir  uns  auf  dem  Boden  der  Religionsgeschichte  befinden 
—  zentrale  Thema  nicht  den  hundertsten  Teil  der  wissenschaftlichen 
Literatur,  die  über  bestimmte  Einzelheiten  aus  dem  Leben  Jesu  vor- 
liegt ....  Die  Forschung  über  den  Begriff  ,Menschensohn'  in  allen 
Ehren !  Wer  aber  das  Beten  Jesu  ignoriert  oder  bloß  in  einer  Anmerkung 
abmacht,  der  bleibt  vor  dem  Vorhange  stehen,  anstatt  das  Sanctissimum 
zu  betreten."  42  Was  die  großen  kirchlichen  Väter  und  die  Reformatoren 
über  den  einen  und  dreieinigen  Gott,  über  Gnade,  Erlösung,  Recht- 
fertigung, Kirche  und  Sakramente  grübelten  und  stritten,  ist  in  zahl- 
losen Abhandlungen  untersucht  worden;  aber  nur  selten  kam  jemand 
auf  den  Gedanken,  ihrem  eigentlichen  Frömmigkeitsleben,  ihrem 
Glauben  und  Beten,  ihrem  Meditieren  und  Kontemplieren  nachzugehen. 
Über  die  Konzilienbeschlüsse  und  die  päpstlichen  Bullen,  über  die  end- 
losen Kontroversen  zwischen  Staat  und  Kirche,  über  die  Entstehung 
und  die  Schicksale  der  Sekten,  über  die  Entwicklung  der  Riten,  Sakra- 
mente und  Liturgien,  über  die  Echtheit  von  Legenden  existiert  eine 
unübersehbare  Literatur;  aber  das  Gebetsleben  der  großen  Heiligen 
wie  das  Gebet  der  Volksfrömmigkeit  haben  die  Kirchenhistoriker  beider 
Konfessionen  nahezu  ganz  vergessen.  Gewiß  erklärt  sich  diese  auf- 
fällige Vernachlässigung  der  Untersuchung  des  Gebets  zum  Teil  aus 
der  relativen  Spärlichkeit  primärer  Zeugnisse  und  aus  der  außerordent- 
lichen Schwierigkeit  der  Quellenverweitung;  der  Hauptgrund  scheint 
jedoch  in  einem  unbemerkten  Nachwirken  des  scholastischen  Intellek- 
tualismus wie  des  aufklärerischen  Rationalismus  zu  liegen,  die  beide  in 
einseitiger  Weise  auf  die  religiöse  Vorstellung  und  theologische  Lehre, 
nicht  auf  das  religiöse  Erleben  in  seiner  Ursprünglichkeit  und  Unmittel- 
barkeit, gerichtet  sind;  die  religiöse  Vorstellung  ist  ja  nur  die  eine 
Komponente  des  religiösen  Erlebens,  der  theologische  Begriff  die 
logische  Klärung  des  religiösen  Vorstellungsinhalts.  In  diesem  Intellek- 
tualismus ist  ja  auch  ein  Grund  dafür  zu  suchen,  daß  wir  bis  heute  nur 
eine  christliche  Kirchen-  und  Dogmengeschichte,  aber  keine  christliche 
Religions-  und  Frömmigkeits  geschichte  besitzen. 

Hans  Preuß  leitet  seine  feinsinnige  Studie  über  Lutheis  Frömmigkeit  mit 
den  treffenden  Worten  ein:  „Die  Geschichte  der  christlicher]  Frömmigkeit 
ist  noch  nicht  geschrieben  wenden.  Ja  es  fehlen,  während  es  schon  längst  klas- 
sische Darstellungen  der  Geschichte  des  Dogmas,  der  christlichen  Kunst,  des 
Kirchenrechts  gibt,  für  eine  Geschichte  der  christlichen  Frömmigkeit  ?ogar  noch 
die  wichtigsten  Vorarbeiten.  Dies  ist  um  so  veiwunderlic  her,  als  die  Ficmmigkeit 
doch  die  Quelle  aller  dieser  anderen  Stücke  christlicher  Kultur  gewesen  ist. 
Man  vergaß  angesichts  des  bi  eil  flutenden.  Schiffe  tragenden  und  Wcikc  treibend«  D 
Stromes,  nach  seinem  Ursprung  hoch  droben  im  Gebirge  zu  fragen,  wo  seine 
Anfänge  versteckt  und  übeiwucheit  aus  dem  Sande  sickerten  oder  aus  ihm  Felsen 
sprangen."  *3 


6  Einleitung 

Mehr  Beachtung  als  in  der  Theologie  hat  das  Gebet  in  den  jüngeren 
Disziplinen  der  allgemeinen  Religionsgeschichte  und  der  Religions- 
psychologie gefunden.  Gleichwohl  nimmt  die  Untersuchung  des  Gebets 
auch  in  diesen  nicht  jenen  Raum  ein,  welcher  seiner  zentralen  Stellung 
in  der  Religion  entspräche.  Denn  auch  sie  befassen  sich  viel  mehr  mit 
den  religiösen  Vorstellungen  und  Bräuchen,  den  Mythen,  Dogmen  und 
Riten,  als  mit  dem  eigentlichen  religiösen  Leben,  das  nicht  in  bloßen 
Gedanken  über  Gott  und  Jenseits,  nicht  in  bloßen  Kulthandlungen  und 
sittlichen  Taten  besteht,  sondern  in  einem  Verkehr  mit  dem  Heiligen, 
einem  Umgang  und  einer  Gemeinschaft  mit  Gott. 

Im  Jahre  1902  schrieb  der  französische  Psychologe  Da  Costa  Guimaraens: 
„Beten  ist  etwas  so  Menschliches  und  Alltägliches,  daß  man  staunen  muß,  keine 
Erwähnung  in  der  psychologischen  Literatur  zu  finden.  Die  Ethnographen  und 
Soziologen  liefern  uns  umfangreiche  Abhandlungen,  leider  befassen  sie  sich  nicht 
mit  dem  Gebet,  das  doch  ein  integrierender  Bestandteil  eines  öffentlichen  Kults 
ist."  44  Die  älteren  Forscher  betrachteten  das  Gebet  als  ein  völlig  durchsichtiges, 
selbstverständliches  Phänomen,  so  daß  sie  sich  der  Mühe  einer  eindringenden 
Untersuchung  enthoben  glaubten.  So  schrieb  der  berühmte  Anthropologe  Tylor: 
„Die  Natur  des  Gebetes  ist  so  einfach  und  allbekannt,  daß  sein  Studium  nicht 
eine  so  große  Zahl  von  Tatsachen  und  Argumenten  erfordert,  wie  sie  bei  Riten 
von  verhältnismäßig  weit  geringerer  Bedeutung  aufgewendet  werden  müssen."  45 
Selbst  ein  so  glänzendes  Werk  wie  Robertson  Smiths  Monographie  über  die  Reli- 
gion der  Semiten,  das  bahnbrechend  für  die  Erforschung  des  Opfers  war,  widmet 
dem  Gebet  keinen  Abschnitt;  in  dem  reichen  Inhaltsverzeichnis  fehlt  das  Stich- 
wort „Beten"  oder  „Gebet"! 

Unter  vierfachem  Gesichtspunkt  ist  bisher  dasGebet  Objekt  wissen- 
schaftlicher Untersuchung  geworden :  unter  dem  Gesichtspunkt 
der  speziellen  philologischen  und  der  allgemeinen  Religionsgeschichte, 
der  vergleichenden  Religionswissenschaft,  der  Religionspsychologie  und 
R  eligionsphilosophie . 

1  a)  Die  klassischePhilologie  kann  sich  rühmen,  zahlreiche  religions- 
historische Monographien  über  dasGebet  geliefert  zu  haben.  Als  ältere  Arbeiten 
seien  erwähnt:  Matthaei  Brouerii  de  Niedeck,  De  populorum  veterum  ac 
recentiorum  adorationibus  dissertatio,  Amsterdam  1713  (das  Büchlein  behandelt 
vornehmlich  die  Gebetshaltungen,  -gesten  und  -sitten  der  Griechen  und  Römer); 
Frid.  Snedorf  ,  De  hymnis  veterum  Graecorum,  Leipzig  1796;  Siebeiis, 
De  hominum  heroicae  et  homericae  aetatis  precibus  ad  deos  missis,  Budissae  1806  ; 
Jos.  Joh.  Dickinson,  Quid  veteribus  de  precandi  ad  deiim  officio  placuerit. 
Berlin  1841.  Nägelsbach  schenkt  in  seiner  „Homerischen  Theologie" 
(Nürnberg  1840)  und  „Nachhomerischen  Theologie"  (Nürnberg  1857)  auch  dem 
Gebet  eingehendere  Aufmerksamkeit;  ebenso  Schoemann  im  zweiten  Band 
seiner  „Griechischen  Altertümer"  (neu  bearbeitet  von  Lipsius  1902,  262  ff.). 
E.  v.  Lasaulx  (Über  die  Gebete  der  Griechen  und  Römer,  Sommerkatalog 
der  Würzburger  Universität  1842  =  Studien  des  klassischen  Altertums  137  ff. ) 
gibt  einen  kurzen,  mit  religionswissenschaftlichem  Veiständnis  geschriebenen 
Überblick  über  den  Inhalt  und  die  äußeren  Gebräuche  beim  Gebet  der  Griechen 
und  Römer.  Leopold  Schmidt  entwirft  in  seiner  Ethik  der  Griechen  (Berlin 
1882,  I  84  ff.,  II  31  ff.)  ein  treffendes  Bild  von  der  Gebetsfrömmigkeit  des  Hellenen 
in  der  klassischen  Epoche  des  5.  Jahrhunderts.  Fr.  Adami,  De  poetis  scaenicis 
Graecis  hymnorum  sacrorum  imitatoribus  (Jahrb.  f.  klass.  Philol.  Suppl.  Bd.  26, 
1901,  215  ff.)  vermittelt  einen  guten  Einblick  in  das  kultische  Gebetslied  der 
Griechen.  K.  Ziegler  (De  precationum  apud  Graecos  formis  quaestiones 
selectae,  Diss.,  Breslau  1905)  untersucht  an  einem  reichen  Material  die  gram- 
matischen Formen  der  grie  hischen  Gebete.  P.  Chötelat,  De  precatione 
apud  poetas  Graecos  et  Latinos  1877  war  mir  nicht  zugänglich.  Von  höherer 
religionswissenschaftlicher    Bedeutung    ist    die    reichhaltige    und    übersichtliche 


II.  Die  bisherige  religionswissenschaftliche  Untersuchung  des  Gebets  7 

Abhandlung  von  A  u  s  f  e  1  d  ,  De  Graecorum  precationibus  quaestiones,  Jahrb. 
f.  klass.  Philol.  Suppl.  Bd.  28,  1903,  505  ff.,  die  ein  anschauliches  Bild  von  dem 
Inhalt  der  griechischen  Gebete  (Anrufung,  Bitte,  Opferspruch,  Überredung)  gibt 
und  das  Problem  des  Zusammenhanges  des  Gebets  mit  dem  Zauberspruch  ständig 
berücksichtigt.  G.  A  p  p  e  1  s  Werk  De  Romanorum  precationibus  (RGW  VII  2, 
Gießen  1909)  zeichnet  sich  ebenso  durch  Reichtum  des  Stoffes  wie  durch  Fülle 
der  Gesichtspunkte  aus.  Gebetshaltung  und  Gebetsgestus  der  Griechen  und 
Römer  sind  untersucht  von  E.  Voullieme,  Quomodo  veteres  adoraverint, 
Diss.,  Halle  1887,  C.  Sittl,  Die  Gebärden  der  Griechen  und  Römer,  Leipzig 
1890,  174  ff.  sowie  in  Daremberg-Saglio,  Dictionnaire  des  Antiquites 
Grecques  et  Romaines,  Paris  1872  ff.,  Adoratio.  Die  Sitte  des  lauten  und  leisen 
Betens,  die  für  das  Problem  des  Verhältnisses  von  Gebet  und  Zauberspruch 
Bedeutung  besitzt,  wird  von  S.  Sudhaus  in  einem  hübschen  Aufsatz  (Lautes 
und  leises  Beten,  ARW  IX  185  ff.)  beleuchtet.  In  die  formelhafte  Gebetssprache 
der  Griechen  führt  ein  lesenswerter  Aufsatz  von  R.  Wünsch  ein  (Ein  Dank- 
opfer an  Asklepios,  ARW  VII  95  ff. ).  E,  Norden,  Agnostos  Theos,  Leipzig 
1913,  Kap.  II  (S.  143  ff.):  Untersuchungen  zur  Stilgeschichte  der  Gebets-  und 
Prädikationsformeln,  beleuchtet  unter  Verwertung  eines  reichen  religions- 
geschichtlichen Materials  die  feststehenden  sprachlichen  Formen  des  liturgi- 
schen Gebets  und  kultischen  Gebetsliedes.  Einen  Einblick  in  die  Gebetskritik 
und  die  Gebetsideale  der  antiken  Philosophie  gewährt  die  sorgfältige  Studie 
von  Heinrich  Schmidt,  Veteres  philosophi  quomodo  iudicaverint  de  precibus 
RGW,   Gießen  1907. 

b)  Das  Gebet  in  den  orientalischen  Religionen  ist  bis  jetzt  wenig  unter- 
sucht worden.  Über  die  ägyptischen  Hymnen  und  Zaubersprüche  geben  einige 
Aufschlüsse  A.  Wiedemann  (Magie  und  Zauberei  im  alten  Ägypten,  AO  VI, 
4  Leipzig  1905)  und  A.  Ermann  (Die  ägyptische  Religion,  Handbücher  des 
K.  Museums  zu  Berlin  1909).  H.  Zimmern  (Babylonische  Hymnen  und  Gebete, 
AO  VII,  3,  Leipzig  1905;  vgl.  Babylonische  Hymnen  und  Gebete,  2.  Auswahl 
ebenda  XIII  1,  Leipzig  1911)  gibt  an  der  Hand  ausgewählter  Texte  eine  religions- 
geschichtliche Charakteristik  der  babylonischen  Kult-  und  Beschwörungshymnen. 
M.  Jastrow  (Die  Religion  Babyloniens  und  Assyriens,  Gießen  1905 — 1912) 
bietet  eine  reiche  Auswahl  von  Hymnen  und  Klageliedern  mit  Kommentar;  er 
sucht  hierbei  aufzuzeigen,  wie  das  Gebet  und  die  hymnische  Lobpreisung  aus 
der  Beschwörung  herauswachsen.  Die  Eigenart  der  vedischen  Hymnen  und 
Zauberlieder  ist  am  trefflichsten  von  H.  Oldenberg  (Die  Religion  des  Veda, 
Berlin  1917  z)  und  von  M.  Winternitz  (Geschichte  der  indischen  Literatur  I, 
Leipz.  1909)  gekennzeichnet  worden.  Oldenbergs  klassisches  Werk  enthält  auch 
überaus  feinsinnige  Ausführungen  über  das  Verhältnis  von  Gebet  und  Zauber- 
spruch. Die  Versenkung,  die  in  der  buddhistischen  Heilslehre  jene  Rolle  spielt, 
die  in  anderen  Religionen  dem  Gebet  zukommt,  ist  erstmals  von  E.  Burnouf 
(Les  quatre  degr^s  du  dhyäna  in  Le  Lotus  de  la  bonne  loi  1852,  App.  XIII  p.  800  ff. ) 
untersucht  worden.  Er  beschreibt  auf  Grund  des  spärlichen  Quellenmaterials, 
das  damals  vorlag,  die  einzelnen  Versenkungsstufen  und  beurteilt  sie  mit  gutem 
psychologischem  Verständnis.  Verfasser  selbst  hat  in  einer  religionsgeschicht- 
lnhen  Studie  die  buddhistischen  Versenkungsstufen  nach  den  Quellen  dargestellt 
und  psychologisch  gedeutet,  ihren  präbuddhistischen  Ursprung  aus  dem  Yoga 
aufgezeigt  und  einen  Vergleich  mit  den  Gebetsstufen  der  christlichen  Mystik 
gezogen.  (F.  Heiler,  Die  buddhistischen  Versenkungsstufen,  Aufsätze  zur 
Kultur-  und  Sprachgeschichte,  vornehmlich  des  Orients,  Ernst  Kuhn  zum  70.  Ge- 
burtstag gewidmet,  1916,  357 — 387;  bedeutend  erweitert  und  schließend  mit 
einer  Parallele  zwischen  Buddha  dem  Meister  der  Versenkung  und  Jesus  dem 
Meister  des  Gebets:  Die  buddhistische  Versenkung.  Eine  religionsgeschichtliche 
l  Ht  ersuchung,  München  1918).  A.  Rouss  el  ,  De  la  priere  chez  les  Hindous, 
Le  Museon  VIII  (1889)  563  ff.;  IX  (1890)  113  ff.  209  ff.  438  ff.  542  ff.  bietet 
eine  Übersetzung  einer  Sammlung  hinduist  Lacher  Hymnen  (Brhadstotrarat- 
nanäkara)  nebst  einer  lesenswerten  Einleitung  über  das  gewöhnliche  Volks-  und 
Priestergebet  der  Hindu.  W.  D  i  1  g  er  ,  Das  Gebet  der  Hindu,  Evang.  Missions- 
magazin N.  F.  37  (1893)  1  ff.  57  ff.  behandelt  das  Gebet  der  alten  vedischen  Zeit 
wie  das  tägliche  Beten  der  heutigen  Brahmanen. 


8  Einleitung 

c)  Nächst  der  griechischen  Religion  ist  am  eingehendsten  das  Gebet  in  der 
israelitischen  Religion  untersucht  worden;  ist  doch  das  Alte  Testament 
geradezu  „eine  Urkunde  des  Gebetslebens  zu  nennen"  (M.  Kahler)  46.  An  ver- 
alteten Monographien  seien  aufgeführt:  Saubertus,  De  ritu  precandi  veterum 
Ebraeorum,  Helmstadt  1663 ;  Joh.  Joach.  Schröder,  De  precibus  Hebraeorum, 
Marburg  1727;  Fr.  Rehm,  Historia  precum  biblicarum,  Göttingen  1814.  Die 
Arbeit  von  A.  Schmöger,  Das  Gebet  im  Alten  Testament,  Innsbruck  1913, 
bietet  lediglich  eine  Zusammenstellung  von  Bibelstellen  ohne  tieferes  geschicht- 
liches Verständnis.  Die  fortschreitende  Entwicklung  und  Vertiefung  des  Gebets 
in  der  israelitischen  Religion  wird  herausgehoben  von  F.  Caldesaignes, 
La  priere  dans  la  religion  de  Jehovah,  ses  antecedents,  sonhistoire,  Cahors  1889, 
M.  Kegel,  Das  Gebet  im  Alten  Testament,  Gütersloh  1908,  am  besten  von 
J.  Köberle,  Die  Motive  des  Glaubens  an  die  Gebetser  hörung  im  Alten  Testa- 
ment, Festschrift  der  Erlanger  Universität  1901,  I  251  ff.  Köberles  lebendige 
und  tiefgründige  Ausführungen  sind  das  Beste,  was  bisher  über  das  alttestament- 
liche  Gebet  geschrieben  wurde.  J.  Döllers  Untersuchung  (Das  Gebet  im 
Alten  Testament  in  religionsgeschichtlicher  Beleuchtung,  Wien  1914)  zieht  reiches 
und  wertvolles  Material  aus  anderen  Religionen  heran;  ein  Mangel  liegt  jedoch 
darin,  daß  sie  sich  vorzugsweise  nur  mit  den  äußeren  Gebetssitten  befaßt  und 
dem  Motiv  und  Inhalt  des  Gebets,  zumal  des  Gebets  der  prophetischen  Persön- 
lichkeiten und  der  Psalmen,  zu  wenig  Aufmeiksamkeit  schenkt.  Die  ein- 
gehendste Darstellung  des  israelitischen  Gebets  verdanken  wir  A.  Greif  f 
(Das  Gebet  im  Alten  Testament,  Alttest.  Abh.  V  3,  Münster  1915).  Er  unter- 
sucht zunächst  Etymologie  und  Gebrauch  der  hebräischen  Ausdiücke  für  , .Beten", 
überblickt  die  äußeren  Gebetssitten  in  Israel  und  verfolgt  sodann  die  formelle 
und  ideelle  Entwicklung  des  alttestamentlichen  Gebets.  O.  Liunggren, 
Bönen  i  Gamla  Testamentet,  Lund  1914  war  mir  nicht  zugänglich.  Henry  Roy 
(Das  Gebetsleben  im  Psalter,  Monatsschrift  für  Pastoraltheologie  7  [1911]  143  ff.) 
gibt  eine  feinfühlige  psychologische  Analyse  des  Betens  der  Psalmisten.  Einen 
Vergleich  zwischen  dem  Gebet  der  Psalmen  und  dem  neutestamentlichen  Gebet 
stellt  T  h  e  e  1  an  (Das  Gebet  im  Alten  Testament  im  Lichte  des  Neuen  betrachtet, 
Königsberg  1889).  An  Aufsätzen  über  das  alttestamentliche  Gebet  in  Sammel- 
werken seien  genannt:  F.  B  u  h  1  in  REPTh  6,  393  f. ;  H.  Schmidt  in  RGG  II 
1150  ff.;T.  K.  Cheyne  in  Cheynes  Encydopedia  Biblica  III  3823  ff.;  C.  R. 
Bernard  in  Hastings  Dictionary  of  the  Bible  IV  39  ff.,  H.  Lesetre  in 
Vigouroux'  Dictionnaire  de  la  Bible  V  663  ff. ;  M.  M.  Harris  in  Jewish  Ency- 
dopedia X  164  ff.  Eine  Skizze  über  das  Gebet  in  der  späteren  jüdisch-rabbinischen 
Literatur  bietet  J.  D.  Eisenstein  in  Jewish  Encydopedia  X  166  ff.  Das 
begeistert  geschriebene  Büchlein  von  Nahida  R  em  y  ,  Das  Gebet  in  Bibel  und 
Talmud,  Berlin  1892  trägt  apologetischen  Akzent.  Das  monumentale  Werk  von 
Ismar  E  1  b  o  g  e  n  ,  Der  jüdische  Gottesdienst  in  seiner  geschichtlichen  Ent- 
wicklung,  Leipzig  1913,  enthält  eine  gründliche  und  feinsinnige  Darstellung  der 
Entwicklung  des  jüdischen  Gemeindegebets. 

d)  Das  islamische  Pflichtgebet  (saldt)  wurde  von  M.  Grünert  zum 
Gegenstand  einer  Rektoratsrede  gewählt  (Das  Gebet  im  Islam,  Prag  1911).  Be- 
achtenswerte Gesichtspunkte  für  das  Verständnis  des  islamischen  Gebets  bringt 
H.  W  i  e  s  e  1  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  einer  alten  muhammedanischen 
Gebetssammlung  (Achmed  ibn  Tajmija,  Das  Buch  des  frommen  Woites.  Diss. 
Berlin  1914).  J.  Goldziher  (Zauberelemente  im  islamischen  Gebet,  Orien- 
talische Studien  Theodor  Nöldeke  zum  70.  Geburtstag  gewidmet,  Gießen  1906, 
I,  303  ff.)  will  in  den  formelhaften  Worten  und  den  rituellen  Gesten  des  muham- 
medanischen Gebets  —  des  Pflichtgebets  wie  des  Privatgebets  —  Reste  von 
Zauberworten,  Beschwörungen  und  Zauberhandlungen  aufdecken.  A.  J.  Wen- 
sinck  (Animismus  und  Dämonenglauben  im  Untergrunde  des  jüdischen  und 
islamischen  Gebets,  Der  Islam  IV,  1913,  219  ff.)  führt  ebenfalls  die  islamischen 
wie  die  spät  jüdischen  Gebetsriten  auf  magische  Wurzeln  zurück.  E.  Mittwoch, 
Zur  Entstehungsgeschichte  des  islamischen  Gebets  und  Kultus  (Abh.  d.  Berl. 
Ak.  d.  Wiss.  1913  phil.-hist.  Kl.)  beleuchtet  die  jüdischen  Einflüsse,  welche  bei 
der  Entstehung  und  Ausgestaltung  des  muhammedanischen  Einzel-  und  Ge- 
meindegebets wirksam  waren. 


II.  Die  bisherige  religionswissenschaftliche  Untersuchung  des  Gebets         9 

e)  Man  hat  das  Christentum  mit  Recht  als  die  „Religion  des  Gebets" 
(Döllinger  47.  Bousset 4B),  als  „die  eigentliche  Heimat  des  persönlichen  Gebets' 
(Söderblom  49)  bezeichnet.  Um  so  paradoxer  ist  die  Tatsache,  daß  das  Gebet 
im  Christentum  seltener  untersucht  worden  ist  als  das  Gebet  in  der  griechischen 
und  israelitischen  Religion.  Die  Schrift  von  Paul  Christ  (Die  Lehre  des  Gebets 
nach  dem  Neuen  Testament  1886)  verbindet  mit  der  historischen  Darstellung 
eine  religionsphilosophische  Würdigung  des  neutestamentlichen  Gebetsideals. 
Das  umfassende  Werk  von  Eduard  von  der  Goltz  (Das  Gebet  in  der  ältesten 
Christenheit,  Leipzig  1901)  behandelt  in  gleicher  Weise  das  individuelle  Gebets- 
leben der  schöpferischen  Persönlichkeiten  des  Urchristentums  wie  das  feierliche 
Gemeindegebet,  das  Gebet  der  Volksfrömmigkeit  wie  die  theologischen  Gebets- 
normen eines  Clemens  von  Alexandrien  und  Origenes.  Es  vereint  eine  ins  Detail 
dringende  historische  Sorgfalt  mit  einem  tiefen  psychologischen  Verständnis. 
Rene  P  f  e  n  d  e  r  (De  la  priere  juive  ä  la  priere  chrelienne.  Etüde  psychologique 
de  la  priere  dans  l'eglise  apostolique.  Genf  1905)  beleuchtet  den  Übergang  des 
spätjüdischen  Gebets  in  das  christliche;  als  der  eigentliche  Schöpfer  des  christ- 
lichen Gebets  erscheint  Paulus.  Einen  zusammenfassenden  Überblick  über  das 
Gebetsleben  im  neutestamentlichen  Zeitalter  bietet  Jülich  er  (Gebet  im 
Neuen  Testament,  RGG  II  1175  ff.).  Eine  knappe  und  lebendige  Darstellung 
des  Gebetslebens  Jesu  gibt  H.  K  o  e  n  i  g  (La  priere  dans  l'enseignement  de 
Jesus,  Paris  1888,  These).  Eugene  Gu  i  t  on  (Pourquoi  prier,  Genf  1908,  These) 
beleuchtet  im  Anschluß  an  Ren£  Pfender  den  Unterschied  des  Gebets  Jesu  vom 
alttestamentlichen  und  iabbinischen  Gebet.  Die  Studie  von  J.  Margret  h 
(Das  Gebetsleben  Jesu  Christi  des  Sohnes  Gottes,  Münster  1902)  behandelt  haupt- 
sächlich die  christologischen  Probleme  und  Apoiien,  welche  der  katholischen 
Dogmatik  aus  der  Tatsache  ei  wachsen,  daß  Jesus,  die  zweite  Person  der  Gottheit, 
schlicht  wie  ein  Mensch  betet.  Als  das  Schönste  und  Tiefste,  was  je  von  einem 
Historiker  oder  Psychologen  über  das  Gebet  geschrieben  woiden  ist,  muß  Adolf 
Deißmanns  , Skizze'  über  den  Beter  Jesus  gelten.  (Der  Beter  Jesus.  Ein 
vergessenes  Kapitel  der  neutestamentlichen  Theologie,  Chi  istliche  Welt  XIII, 
1899,  701  ff. ;  abgedruckt  in  Evangelium  und  Urchristentum,  Beiträge  zur  Weiter- 
entwicklung der  christlichen  Religion,  München  1905,  95  ff.)  Sie  offenbart  eine 
wundervolle  psychologische  Feinfühligkeit  und  künstlerische  Darstellungskraft. 
Die  sorgsame  Studie  von  August  Werner  (Die  Gebete  Jesu  und  die  Lehre 
Jesu  vom  Gebet,  Jahrbücher  für  protestantische  Theologie  1881,  385 — 413) 
bleibt  weit  hinter  ihr  zurück.  Ein  wirksames  Gegenstüc  k  zu  Deißmanns  Zeichnung 
des  Beters  Jesu  bildet  die  eindi ucksvolle  Predigt  über  das  Gnadengebet  bei  Paulus 
(Roe.  8,  26),  die  derselbe  Verfasser  bei  einem  akademischen  Gottesdienst  in  Berlin 
hielt  (abgedruckt  im  „Evangelischen  Wochenbrief",  Neue  Folge  71/72  [1918], 
2  ff.);  sie  wirft  helles  Licht  auf  eine  wenig  beachtete  Seite  des  religiösen  Innen- 
lebens. Eine  fesselnde  Darstellung  vom  Gebetsleben  des  Völkerapostels  ist  in 
der  prächtigen  Paulusmonographie  H.  W  e  i  n  e  1  s  enthalten  (Paulus,  der  Mensch 
und  sein  Werk,  Tübingen  1904,  97  ff.).  A.  Junckers  Schriftchen  (Das  Gebet 
bei  Paulus,  Biblische  Zeit-  und  Streitfragen.  Berlin  1905)  bringt  brauchbare 
Gesichtspunkte,  ist  jedoch  durch  eine  unnötige  Polemik  belastet.  K.  Böhmes 
origineller  Aufsatz  über  das  „paulinische  Gebet"  (Protestantische  Monatshefte  VI, 
1902,  426  ff.)  konstruiert  einen  künstlichen  Gegensatz  zwischen  der  Gebetsweise 
des  synoptischen  Jesus  und  der  des  Apostels  Paulus.  Th.  Schermann  (Grie- 
chische Zauberpapyri  und  das  Gemeinde-  und  Dankgebet  im  1.  Klemensbrit  f , 
TU  III  4,  Leipzig  1909)  zieht  einen  lehrreichen  Vergleich  zwischen  dem  liturgisch«  n 
Gebet  der  altchristlichen  Gemeinde  und  den  Preisgebeten  der  hellemetischen 
Mystik,  die  in  den  magischen  Papyri  überliefert  worden  sind.  Otto  Holtz- 
m  a  n  n  (Die  täglichen  Gebetsstunden  im  Judentum  und  Urchristentum,  Zeit- 
schrift für  neutestament.  Wissenschaft  12.  1911,  90  ff.)  erörtert  die  von  Harnack 
(Ausgabe  der  Didache  1884,  27  f.)  gestellte  verwickelte  Frage  nach  der  Zeit, 
zu  welcher  im  Judentum  und  Urchristentum  das  tägliche  Pflichtgebet  stattfand. 
Von  der  Goltz  (Tischgebete  und  Abendmahlsgebete  in  der  altgriechischen 
und  altchristlichen  Kirche,  TU.  N.  F.  XIV  2a,  Leipzig  1905)  geht  den  Spurer 
des  jüdischen  Tischsegens  in  den  altchristlichen  Eucharistiegebeten  nach  und 
zeigt,    wie   auch    umgekehrt    eucharistische    Gebetsmotivc   sich    in    griechischen 


1 0  Einleitung 

Tischgebeten  finden.  Der  ursprüngliche  Charakter  der  Eucharistie  als  einer 
gemeinschaftlichen  Mahlzeit  wird  hierdurch  in  helles  Licht  gerückt.  Peters, 
Gebet  in  F.  X.  Kraus,  Realenzyklopädie  der  christlichen  Altertümer  I  1882, 
550  ff.  behandelt  das  altchristliche  Gebet  auf  Grund  der  archäologischen  Doku- 
mente. J.  P.  Kirsch  (Die  Akklamationen  und  Gebete  der  altchristlichen 
Grabinschriften,  Köln  1897)  beleuchtet  die  an  Gott,  Christus  und  die  Märtyrer 
gerichteten  Katakombengebete  für  die  Verstorbenen  und  stellt  ihre  Beeinflussung 
durch  das  liturgische  Gebet  fest.  K.  M  i  c  h  e  1  (Gebet  und  Bild  in  frühchristlicher 
Zeit,  Studien  über  christliche  Denkmäler,  1,  Leipzig  1002)  erbringt  den  Nach- 
weis dafür,  daß  die  populären  altchristlichen  Gebetsformeln  auf  die  darstellende 
Kunst  der  vornicänischen  Zeit  einen  nicht  unerheblichen  Einfluß  ausgeübt  haben. 
Äußerungen  von  alten  Kirchenschriftstellern  und  Kirchenvätern  über  das  Gebet 
sind  zusammengestellt  von  Gottfried  Arnold  („Von  dem  Gebet  der  ersten 
Christen  zu  Gott"  in  seiner  Schrift:  Die  erste  Liebe  d.  i.  wahre  Abhandlung  der 
ersten  Christen  nach  ihrem  lebendigen  Glauben  und  heiligen  Leben,  Altona  1722, 
156 — 170),  J.  A.  W.  Neander  (Denkwürdigkeiten  aus  der  Geschichte  des 
Christentums  und  christlichen  Lebens,  Berlin  1823,  I  2,  80  ff.  II  157  ff.),  C.  J. 
Hefele  („Zur  Archäologie  des  häuslichen  und  Familienlebens  der  Christen" 
in  den  Beiträgen  zur  Kirchengeschichte,  Archäologie  und  Liturgik,  Tübingen 
1864,  II  332 — 349).  Die  Schrift  von  O.  Dibelius  (Das  Vaterunser,  Umrisse 
zu  einer  Geschichte  des  Gebets  in  der  alten  und  mittelalterlichen  Kirche,  Gießen 
1903)  enthält  drei  Einzelabhandlungen.  Die  erste,  religionsgeschichtlich  wert- 
vollste, untersucht  die  theologischen  Gebetstheorien  eines  Clemens  von  Alexan- 
drien,  Origenes  und  Gregor  von  Nyssa;  die  zweite  betrachtet  die  Vaterunser- 
exegese der  griechischen  Theologen;  die  dritte  zieht  einen  literargeschichtlichen 
Vergleich  der  Vaterunsererklärung  Luthers  mit  patristisc  hen  Auslegungen.  Spezielle 
„Untersuchungen  zur  Geschichte  der  griechischen  Vaterunserexegese"  hat  G. 
Walther  (TU  40,  3  Leipzig  1914)  angestellt.  Dem  Gebetsleben  der  katholischen 
Mystiker  schenken  J.  Chapman  in  seiner  lehrreichen  Skizze  über  die  Ge- 
schichte der  christlichen  Mystik  (Mysticism  Christian,  Koman-Catholic,  ERE  IX 
90  ff.)  und  Joseph  Zahn  in  seiner  reichhaltigen  „Einführung  in  die  christliche 
Mystik"  (Paderborn  1908,  1 37 — 270)  besondere  Aufmerksamkeit.  Die  komplizierte 
Gebetstechnik  und  Gebetstheorie  der  neueren  katholischen  Mystik  hat  durch  den 
Jesuiten  Auguste  Poulain  (Des  gräces  d'oraison,  Paris  1901  und  öfter;  deutsch: 
Die  Fülle  der  Gnaden.  Ein  Handbuch  der  Mystik,  Freiburg  1909)  eine  psycho- 
logische Darstellung  gefunden.  Die  Gebets-  und  Versenkungsmethode  der  hesy- 
chiastischen  Mönche  der  Ostkirche  hat  B.  Schmidt  zum  Gegenstand  einer 
Dissertation  gemacht  (Das  geistige  Gebet.  Eine  Untersuchung  zur  Geschichte 
der  griechischen  Mystik,  Halle  1916).  „Die  verschütteten  Schatzkammern  des 
mittelalterlichen  Gebetslebens  sind  fast  noch  gar  nicht  wieder  aufgeschlossen 
worden.  Wir  wissen  recht  wohl,  wie  man  im  Mittelalter  lehrte  und  lebte,  sang 
und  dichtete,  malte  und  baute,  aber  wie  dasselbe  betete,  davon  wissen  wir  noch 
sehr  wenig"  (M.  Huttier)  ß0.  Eine  besondere  Heimstätte  mystischer  Gebets- 
frömmigkeit waren  im  Mittelalter  die  Klöster  der  Dominikanerinnen.  Es  ist 
ein  Verdienst  des  Dominikaners  H.  W  i  1  m  s,  das  Gebetsleben  dieser  Nonnen 
untersucht  zu  haben  (Das  Beten  der  Mystikerinnen,  dargestellt  nach  den  Chroniken 
der  Dominikanerinnenklöster,  Quellen  zur  Geschichte  des  Dominikanerordens  in 
Deutschland,  Leipzig  1916).  Man  vermißt  jedoch  die  Heranziehung  bedeutsamer 
Selbstbekenntnisse  mittelalterlicher  Dominikanerinnen  und  ein  tieferes  psycho- 
logisches Eindringen  in  das  geschichtliche  Material.  „Der  Versuch,  die  Ent- 
wicklung der  Gebetbücher  darzulegen,  gleicht  dem  Wagnis  in  einen  Urwald  ein- 
zudringen, durch  den  kein  Pfad  gebahnt  ist;  denn  die  Zahl  der  Gebetbücher  ist 
unübersehbar,  und  eine  Zusammenstellung  derselben  wurde  noch  nie  versucht." 
Der  Jesuit  Stephan  B  e  i  s  s  e  1  ,  der  die  angeführten  Worte  schrieb,  versuchte 
das  in  einer  Reihe  von  Aufsätzen  (Zur  Geschichte  der  Gebetbücher,  Stimmen 
von  Maria  Laach  77  (1909)  28  ff.  169  ff.  274  ff.  397  ff.),  beschränkt  sich  jedoch 
auf  die  katholischen,  und  zwar  die  für  Laien  bestimmten  Andachtsbücher  des 
Abendlandes,  deren  älteste  Form  die  „Psalterien"  des  frühen  Mittelalters  dar- 
stellen. Sein  Ordensgenosse  Franz  H  o  t  z  y  (Zur  deutschen  Gebetsliteratur  des 
ausgehenden  Mittelalters,  Sonderdruck  aus  dem  Jahresbericht  des  Gymnasiums 


II.  Die  bisherige  religionswissenschaftliche  Untersuchung  des  Gebets       11 

zu  Kalksburg  1913)  gibt  eine  kurze  Darstellung  der  geschichtlichen  Entwicklung 
der  mittelalterlichen  Gebetsliteratur  und  bespricht  sodann  zwei  noch  ungediuckte 
deutsche  Gebetbücher  des  späten  Mittelalters.  Einen  Einblick  in  die  spätmittel- 
alterliche Laienfrömmigkeit  gewährt  Klapper  (Das  deutsche  Privatgebet  im 
ausgehenden  Mittelalter,  Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  der  deutschen 
Geschichts-  und  Altertumsfreunde  62,  1914,  216  ff.)  Über  die  spätmittelalter- 
lichen Gebetbücher  und  das  Verhältnis  des  Lutherschen  .Betbüchleins'  zu  ihnen 
orientieren  auch  P.  Cohors  und  A.  G  ö  t  z  e  in  ihrer  Vorrede  zu  letzterem  in 
der  Weimarer  Ausgabe  der  Werke  Luthers  (10  II,  331  ff.).  Luther  gehört  zu 
den  gewaltigsten  Betern  der  Religionsgeschichte;  um  so  vei wunderlicher  ist  es, 
daß  in  der  Riesenliteratur  über  seine  Persönlichkeit  und  Lehre  seine  Gebets- 
frömmigkeit nahezu  unbeachtet  blieb.  Es  ist  das  hohe  Verdienst  eines  prak- 
tischen Theologen,  diese  vergessene  Seite  im  Bilde  des  deutschen  Refoimators 
hervorgekehrt  zu  haben.  Superintendent  Dietrich  Vorwerk  hat  im  ersten 
Abschnitt  seines  umfangreichen  Werkes  über  „Gebet  und  Gebetserziehung" 
(Schwerin  1913,  Band  I:  Gebetstatsachen  und  Gebetsforschung  S.  1 — 335)  ein- 
gehend, wenn  auch  nicht  erschöpfend,  „Luther  als  Beter  und  Gebetserzieher" 
dargestellt.  (Das  Werk  wurde  mir  leider  erst  nach  dem  Erscheinen  der  ersten 
Auflage  meines  Buches  bekannt.  Um  so  erfreulicher  war  mir  die  Feststellung, 
daß  meine  Auffassung  von  Luthers  Gebetsfrömmigkeit  im  wesentlichen  mit  der 
Auffassung  Vorwerks  übereinstimmt.)  Die  kleine  Schrift  desselben  Verfassers 
(Luthers  Gebetsleben  als  Wegweiser  für  das  Gebetsleben  unserer  Zeit,  Schwerin 
1917)  ist  ein  volkstümlicher  Auszug  aus  dem  großen  Werk;  sie  ist  die  einzige 
Schrift  über  Luthers  Beten  in  der  zahlreichen  Lutherliteratur,  die  anläßlich  des 
Reformationsjubiläums  erschien !  Nicht  hoch  genug  kann  die  sorgfältige  Quellen- 
untersuchung von  Paul  Althaus  (Zur  Charakteristik  der  evangelischen  Gebets- 
literatur im  Reformations  Jahrhundert,  Leipzig  1914)  eingeschätzt  werden.  Ein- 
mal eröffnet  sie  einen  genauen  Einblick  in  die  Entstehung  und  Bedeutung  des 
literarischen  Gebetes.  Sodann  hat  sie  eine  bisher  unbeachtete  Tatsache,  die 
für  die  Geschichte  der  christlichen  Frömmigkeit  von  großer  Bedeutung  ist,  ins 
Licht  gerückt.  Bei  Beginn  der  Reformation  verschwindet  in  den  evangelischen 
Kirchen  mit  einem  Schlage  die  im  Mittelalter  herrschende  mystisc  h-augustinische 
Gebetsweise  und  an  ihre  Stelle  tritt  eine  exklusiv  an  der  Bibel  orientierte  Gebets- 
frömmigkeit. Nach  der  Gegenreformation  aber  sickert  die  mystisch-mittelalter- 
liche Gebetsart  allmählich  aus  der  katholischen  Erbauungsliteratur  in  die  evan- 
gelische ein  und  bereits  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts  dominiert  sie  in  der  ganzen 
evangelischen  Welt.  Schleiermachers  Gebetstheologie,  welche  den  Übergang 
von  der  rationalistisch-moralistischen  Umdeutung  des  Gebets  zu  einer  tieferen 
psychologischen  Auffassung  bildet  und  eine  Annäherung  an  das  biblische  Gebets- 
ideal bringt,  ist  mit  feinem  geschichtlichen  Verständnis  und  treffender  sachlicher 
Kritik  von  Fernand  M  e  n  e  g  o  z  behandelt  worden  (Das  Gebetsproblem  im 
Anschluß  an  Schleiermachers  Predigten  und  Glaubenslehre  neu  gestellt  und 
untersucht,  Leipzig  1911). 

Eine  Gesamtgeschichte  des  christlichen  Gebets  ist  ein  ,pium  desiderium', 
dessen  Verwirklichung  noch  in  weiter  Ferne  liegt.  Die  Schrift  von  C.  E.  Tau- 
berth,  Die  christliche  Lehre  vom  Gebet  historisch-exegetisch  bearbeitet, 
Würzen  1855)  ist  eine  kommentierte  Zitatensammlung  aus  dem  Alten  und  Neuen 
Testament  wie  aus  den  Schriften  der  alten  Kirchenväter  und  der  Reformatoren. 
Die  schwachen  Umrisse  einer  Geschichte  des  christlichen  Gebets  sind  erkennbar 
bei  Chr.  E.  Luthardt,  Kompendium  der  theologischen  Ethik,  Leipzig  1896, 
241  ff.  E.  von  der  Goltz  versucht  in  großen  Zügen  die  Entwicklung  des  Privat- 
gebets wie  des  Liturgischen  und  klösterlichen  Gebets  vom  Urchristentum  bis  in 
das  Aufklärungszeitalter  zu  zeichnen  (Gebet,  geschichtlich  in  RGG  II  1141  ff.). 
Daß  diese  Überblicke  erhebliche  Lücken  und  Ungenauigkeiten  aufweisen,  ist 
bei  dem  Mangel  eindringender  Spezialuntersuchungen  nicht  anders  möglich. 

f )  Als  erster  Versuch  einer  allgemeinen  religionsgeschicht- 
lichen Darstellung  des  Gebets  hat  das  Büchlein  von  C.  F.  Stau  dl  in, 
Geschichte  der  Vorstellungen  und  Lehren  von  dem  Gebete,  Göttingen  1824,  noch 
heute  eine  gewisse  Bedeutung.  Stäudlin  behandelt  das  Gebet  in  der  griechischen, 
römischen  und  besonders  in  der  israelitischen  Religion  und  verfolgt  das  Gebet 


12  Einleitung 

im  Christentum  von  Jesus  bis  Kant.  Er  zeichnet  freilich  keine  inneren  geschicht- 
lichen Entwicklungslinien,  was  er  bietet  ist  vielmehr  eine  lose  Aneinanderreihung 
von  Gebeten  und  normativen  Äußerungen  über  das  Gebet.  Noch  umfassenderes, 
freilich  vielfach  geringwertiges  Material  bringt  O.  G  r  u  b  er  bei  (Gebet  in  Ersch- 
Gruber,  Allgemeine  Enzyklopädie  der  Wissenschaften  und  Künste  I  55,  Leipzig, 
1852,  203 — 246).  Er  untersucht  zunächst  das  Gebet  in  den  polytheistischen, 
sodann  in  den  monotheistischen  Religionen  (Islam,  Judentum  und  Christentum). 
Die  imponierende  Fülle  an  Stoff  ist  nur  ungenügend  gegliedert;  es  fehlen  alle 
tieferen  religionswissenschaftlichen  Gesichtspunkte. 

2.  Stäudlins  und  Grubers  Versuch  einer  Universalgeschichte  des  Gebets  ist 
nicht  wieder  aufgenommen  worden.  Die  neueren  Religionshistoriker  haben  mehr 
und  mehr  erkannt,  daß  „eine  Geschichte  des  Gebets  im  strengen  Sinn  des  Wortes 
sich  nicht  schreiben  läßt "  (Dibelius)  61.  Stäudlin  war  sich  dessen  irgendwie  bewußt, 
wenn  er  seinem  Buche  den  Titel  „Geschichte  der  Vorstellungen  und  Lehren  von 
dem  Gebete"  gab.  Was  dem  Historiker  faßbar  ist,  sind  die  Objektivierungen 
des  Gebets,  die  Gebetsfoimeln.  Gebetskompositionen,  die  das  Gebet  begleitenden 
Riten  wie  die  theoretischen  Äußerungen  über  das  Gebet.  Ihre  geschichtliche 
Entwicklung  läßt  sich  ebenso  leicht  aufzeigen  wie  die  Entwicklung  einer  Foim 
der  Wirtschaft  oder  des  sozialen  Lebens.  Aber  auch  das  Gebet  selbst,  als  ursprüng- 
liche seelische  Äußerung,  zeigt  in  der  Geschichte  der  Religion  einen  ideellen  Ent- 
wicklungsgang, eine  fortschreitende  Bereicherung,  Vertiefung  und  Verfeinerung 
des  religiösen  Erlebens.  Diese  ideelle  Entwicklung  des  Gebets  ist  in  ihrer  Totalität 
niemals  an  einer  Einzelreligion  erkennbar,  sie  kann  deshalb  nicht  restlos  von  dem 
Historiker  erfaßt  werden.  Sie  herauszustellen,  müht  sich  die  vergleichende 
Religionswissenschaft.  Sie  will  vor  allem  die  Urform  des  Gebets 
und  die  Gesetzmäßigkeit  seiner  Entwicklung  erfassen. 

a)  Die  ersten  Ansätze  zu  einer  Darstellung  des  Gebets  unter  dem  Gesichtspunkt 
der  vergleichenden  Religionswissenschaft  finden  sich  bei  Tobias  P  f  a  n  n  e  r 
(Systema  theologiae  gentilis  purioris,  Bäte!  16J-9),  der  fieilich  über  einen  Ver- 
gleich des  Gebets  bei  den  antiken  Völkern  und  im  Christentum  nie  ht  hinauskommt. 
Nicht  viel  weiter  führt  Simons  „Historisch-kritischer  Versuch  über  des  Gebet, 
besonders  über  das  Tischgebet  alter  und  neuer  kultivierter  und  unkrrltivierter 
Völker"  (Nürnberg  1799).  Einen  bedeutsamen  Fortschritt  zeigt  die  „Geschichte 
der  Gebete,  Anbetungen  und  Eide",  die  C.  Meiners  dem  2.  Bande  seiner 
„Allgemeinen  kritischen  Geschichte  der  Religionen"  (Hannover  1806/07)  ein- 
gefügt hat,  einem  großzügigen  und  reichhaltigen  Weike,  das  der  Vergessenheit 
entrissen  zu  werden  verdient.  Meiners  hat  als  erster  mit  Geschick  die  Methode 
des  generellen  Vergleichs  gehandhabt.  Die  Religion  der  Natui Völker  wild  ebenso 
herangezogen  wie  die  Religion  der  antiken  Kulturvölker  und  die  europäische 
Volksreligion.  Leider  wird  die  Frömmigkeit  der  religiösen  Genien  völlig  außer 
acht  gelassen.  Auch  bietet  Meiners  nur  einen  Vergleich  und  eine  Deutung  der 
verschiedenen  Daten,  ohne  zur  Aufzeigung  einer  inneren  Entwicklung  des  Betens 
wie  der  Religion  überhaupt  fortzuschreiten.  Jak.  Grimm,  Über  das  Gebet,  Kleine 
Schriften  II  Berlin  1865,  439  ff.  bietet  hauptsächlich  eine  Zusammenstellung  der 
mit  mimetischen  Zauberriten  veibundenen  volkstümlichen  Regengebete  wie  eine 
sprachwissenschaftliche  Untersuchung  des  Gebrauchs  des  Aoristes  beim  Gebet. 

b)  Wie  Meiners,  so  beschränkt  auch  die  neuere  vergleichende  Religions- 
wissenschaft ihre  Untersuc  hung  voi  wiegend  auf  die  Anfänge  der  Religion  und  ihre 
älteren  Entwicklungsphasen.  Das  Gebetsleben  der  großen  schöpferischen  Persön- 
lichkeiten wird  fast  völlig  außer  acht  gelassen.  E.  B.  Tylor  gibt  im  2.  Teil 
seines  berühmten  Werkes  über  die  primitive  Kultur  (Die  Anfänge  der  Kultur, 
übers,  von  Sprengel  und  Poske  1873  II,  365  ff.)  eine  durch  Beispiele  illustrierte 
Darstellung  des  Betens  der  Naturvölker  und  zieht  einen  Vergleich  mit  der  Gebets- 
weise der  antiken  Nationen.  Frisch  und  gedankentief  sind  die  kurzen  Ausführungen 
über  das  Gebet  bei  C.  P.  T  i  e  1  e  (Einleitung  in  die  Religionswissenschaft,  übers, 
von  G.  Gehrich  II,  1901,  110  ff.),  die  auch  die  individuelle  Gebetsfrömmigkeit 
berücksichtigen.  Anregend  sind  die  auf  hübsche  Beispiele  gestützten  Gedanken 
bei  D.  B  r  i  n  t  o  n  ,  Religion  of  Primitive  Peoples  1897,  107  ff.  Auch  E.  Wester- 
ma  r  c  k  (Ursprung  und  Entwicklung  der  Moralbegriffe  II,  1908,  517  ff.)  widmet 
dem  primitiven  Gebete  seine  Aufmerksamkeit. 


II.  Die  bisherige  religionswissenschaftliche  Untersuchung  des  Gebets         13 

c)  Während  die  ältere  Religionswissenschaft  im  naiven  Bittgebet  die  Urform 
des  Gebets  erblickt  hatte,  sucht  eine  große  Zahl  neuerer  Religionshistoriker  in 
der  Beschwörung  und  im  Zauberspruch  das  Protoplasma  des  Gebets.  L.  Ma- 
r  i  1 1  i  e  r  ,  Evolution  du  sacrifice  et  de  la  priere  (Art.  Religion,  in  La  grande 
Encyclop^die  28,  351  ff. ),  V  i  e  r  k  a  n  d  t  ,  Die  Anfänge  der  Religion  und  Zauberei 
(G  92,  61  ff.),  M.  P.  Nilsson,  Primitive  Religion  (RgVb  1911,  80  ff.)  und 
E.  Lehmann,  Inledning  tili  Religionsvetenskapen  (Stockholm  1914,  135  ff.; 
vgl.  RGG  II,  538)  haben  die  Ableitung  des  Gebets  aus  dem  Zauberwesen  ver- 
treten. R.  R.  M  a  r  e  1 1 ,  Prom  spell  to  prayer  (F  1904,  132  ff.  =  The  Treshold 
of  Religion  London  1914,  29  ff. ;  vgl.  Art.  Prayer  in  EB  22,  216  ff. )  sucht  in  psycho- 
logisch interessanten  Ausführungen  darzutun,  wie  die  Gebetsanrufung  an  die 
Gottheit  aus  der  bloßen  Wunschäußerung  und  der  Beschwörung  herauswächst. 
An  einem  reichen  Material  aus  den  primitiven  und  antiken  Religionen  sucht  in 
ähnlicher  Weise  L.  R.  Farnell  (The  Evolution  of  Prayer  in  ,The  Evolution 
of  Religion',  London  1905,  164  ff.)  das  Hervorgehen  des  Gebets  aus  dem  Zauber- 
spruch zu  beleuchten.  Er  schenkt  auch  den  geläuterten  Formen  des  Gebets 
Beachtung.  F.  B.  Jevons  ,  The  Idea  of  God  in  Prayer  (in  The  Idea  of  God 
in  Early  Religion,  Cambridge,  1911,  108 — 151)  will  zeigen,  daß  mit  der  fort- 
schreitenden Differenzierung  des  Gottesglaubens  Gebet  und  Zauberspruch,  die 
ursprünglich  in  einem  gemeinsamen  Komplex  verbunden  waren,  auseinandertreten. 

d)  Alle  erwähnten  Untersuchungen  beschränken  sich  fast  ausschließlich  auf 
die  Anfänge  und  die  älteren  Entwicklungsstadien  des  Gebets.  Das  Verdienst, 
alle  Typen  oder  Entwicklungsformen  des  Gebets  zuerst  überblickt  zu  haben, 
kommt  M.  Müller  zu,  einem  der  Begründer  der  vergleichenden  Religions- 
wissenschaft (On  Ancient  Prayer,  Extracts  from  Lectures  delivered  at  Oxford 
in  Semitic  Studies  in  Memory  of  Alex.  Kohut.  Berlin  1897,  1  ff.).  An  der  Hand 
ausgewählter  Beispiele  unterscheidet  er  das  Gebet  in  der  „ethnischen",  in  der 
„nationalen"  und  in  der  „individuellen"  Religion. 

3.  Die  verschiedenen  religionspsychologischen  Untersuchungen 
des  Gebets  zeigen  deutlich  die  verwirrende  Mannigfaltigkeit  der  Methoden,  nach 
denen  diese  junge  Wissenschaft  arbeitet. 

a)  Wundts  völkerpsychologische  Religionspsychologie  bietet 
eine  psychologische  Vertiefung  der  religionswissenschaftlichen  Theorien  der  ver- 
gleichenden Anthropologie  und  Ethnologie.  Der  genetischen  Ableitung  des  Gottes- 
glaubens aus  dem  Dämonenglauben  entspricht  die  Zurückführung  des  Gebets 
auf  die  Beschwörung  (Völkerpsychologie  II:  Mythus  und  Religion  1905 — 1909, 
21917,  s.  Index  daselbst;  Elemente  der  Völkerpsychologie,  Leipzig  1912).  Das 
Wundtsche  Evolutionsschema:  Beschwörung  —  Bitt-  und  Dankgebet  —  Buß- 
gebet —  Lobpreisung  ist  eine  glänzende  Konstruktion,  die  aber  weder  dem  tat- 
sächlichen Entwicklungsgang  völlig  entspricht,  no  h  alle  Entwicklungsfo  men 
des  Gebets  umfaßt.  Das  Gebet  als  individuelle  Frömmigkeitsäußerung  des 
religiösen  Genius  bleibt,  dem  völkerpsychologischen  Prinzip  entsprechend,  unbe- 
rücksichtigt. 

b)  Auch  die  individualpsychologischen  Untersuchungen  des 
Gebets  zeigen  hinsichtlich  des  Gegenstandes  wie  der  Methode  die  größtmögliche 
Verschiedenheit.  Frank  Orman  Beck  (Prayer,  A  Study  in  its  History  and 
Psychology,  AJRP  II  1906,  107  ff.)  wendet  das  Fragebogenverfahren  an,  schickt 
aber  eine  gedrängte  geschichtliche  Übersicht  über  die  verschiedenen  Typen  des 
Gebets  voraus.  J.  B.  P  r  a  1 1  (The  Psychology  of  Religious  Belief,  New  York  1907, 
271  ff.)  beleuchtet  auf  Grund  einer  Umfrage  Motiv  und  Wirkung  des  Betens. 
Die  beste  und  ergiebigste  Untersuchung  nach  der  Fragebogenmethode  hat  Robert 
Ostermann  angestellt  (Contribution  ä  l'^tude  expe>imentale  de  la  priere 
rlinUienne,  These,  Genf  1907).  Einen  sorgfältig  detaillierten  Fragebogen  hat 
H.  Lehmann  ausgearbeitet  („Über  die  Disposition  zum  Gebet  und  zur  An- 
dacht, Vorschläge  und  Materialien  zu  einer  religionspsychologischen  Unter- 
suchung nach  der  Erhebungsmethode",  Zeitschr.  f.  angew.  Psych.  X  und  Sonder- 
druck). Der  Neurologe  S.  W.  Ranson  (Studies  in  the  Psychology  of  Prayer 
AJRP  I,  1906/07,  129  ff.)  beschränkt  seine  Untersuchung  auf  die  Analyse  von 
mystisch-kontemplativen  Gebeten.  Da  Costa  Guimaraens  (Le  besoin 
de  prier,  R  Ph  54,  1902,  390  ff.)  untersucht,  in  den  Bahnen  Ribots  und  Murisiers 


1 4  Einleitung 

wandelnd,  das  Motiv  des  Gebets  rein  gefühlspsychologisch,  mit  einer  Vorliebe 
für  pathologische  Phänomene.  „Beten  heißt  ein  bestimmtes  Bedürfnis  befriedigen" 
lautet  seine  sehr  seichte  Definition.  Die  Unzulänglichkeit  der  auf  jede  Phäno- 
menologie verzichtenden  generellen  Gesetzespsychologie  für  die  religionswissen- 
schaftliche Forschung  1  ritt  in  dieser  an  Geschmacklosigkeiten  nicht  freien  Arbeit 
besonders  deutlich  hervor.  Man  wird  dieser  Methode,  die  sich  lediglich  auf  Grenz- 
probleme zwischen  der  allgemeinen  Psychologie  und  der  eigentlichen  Religions- 
psychologie einstellt,  gewiß  nicht  die  psychologische,  wohl  aber  die  religions- 
wissenschaftliche Bedeutung  absprechen  müssen.  Mit  Recht  kämpft  Wobbermin 
gegen  diese  die  französische  und  amerikanische  Religionspsychologie  beherrschende 
Methode  an.  E.  Dürr  (in  Ebbinghaus-Dürr,  Grundzüge  der  Psycho- 
logie II,  557  ff.)  wendet  seine  Aufmerksamkeit  den  psychischen  Wirkungen  des 
Gebets  zu,  überschreitet  jedoch  die  der  Psychologie  gesteckten  empirischen 
Grenzen  und  schließt  wertphilosophische  Betrachtungen  vom  psychobiologischen 
bzw.  psychohygienischen  Gesichtspunkt  an.  Eine  gründliche,  auf  ein  reiches 
Tatsachenmaterial  gestützte  Untersuchung  ist  das  Werk  des  französischen  Psycho- 
logen J.  Segond:  La  priere,  Etüde  de  Psychologie  religieuse,  Paris  1911.  Es 
bietet  eine  psychologische  Analyse  der  verschiedenen  Momente  des  Gebets  (Samm- 
lung, Aspiration.  Hingabe,  Monolog,  Dialog,  Bitte  und  Fürbitte)  sowie  einen 
geschichtlichen  Überblick  über  das  Gebet  in  den  verschiedenen  Religionen.  Das 
Fehlen  einer  umfassenden  Klassifikation  der  verschiedenen  Foimen  bzw.  Ent- 
wicklungsstufen des  Gebets,  sowie  die  einseitige  Heranziehung  mystischer  Gebets- 
dokumente im  psychologischen  Teil  bedingen  notwendig  einen  unzureichenden 
Einblik  in  die  Typik,  das  Wesen  und  die  Psychogenesis  des  Gebets.  Ungleich 
ärmer  an  Material,  aber  in  methodischer  Hinsicht  wertvoller  ist  die  Dissertation 
einer  amerikanischen  Dame,  A.  L.  Strong,  A  Consideration  of  Prayer  from 
the  Standpoint  of  Social  Psychology,  Chicago  1908.  Mit  Hilfe  eines  völlig  unge- 
nügenden Materials,  ohne  Kenntnis  der  eigentlich  charakteristischen  Quellen  und 
unter  Ignorierung  des  Gebets  der  schöpferischen  religiösen  Genien,  gewinnt 
Strong  mit  einem  sicheren  psychologischen  Instinkt  eine  annähernd  richtige 
Typik  des  Gebets.  Das  Beten  des  naiven  Menschen  wird  als  ..undiscriminating 
form"  der  „discriminating  foim"  des  Betens  in  der  persönlichen  Frömmigkeit 
gegenübergestellt.  Die  beiden  Haupttypen  des  individuellen  Betens  werden  als 
,,contemplative  or  aesthetic  typ"  und  als  „practieal  or  ethical  typ"  auseinander- 
gehalten; das  liturgische  Gemeindegebet  wird  mit  einem  gewissen  Recht  als  eine 
Mischung  dieser  beiden  Typen  charakterisiert.  Reiches  religionspsychologisches 
Material  enthält  der  erste  Band  des  schon  erwähnten  großen  Werkes  von  Dietrich 
Vorwerk  (Gebet  und  Gebetserziehung,  Schwerin  1913  I:  Gebetstatsachen 
und  Gebetsforschungen);  die  organische  Gliederung  und  psychologische  Durch- 
dringung der  Stoffülle  ist  jedoch  dem  verdienstvollen  Verfasser  nicht  voll  ge- 
glückt. Dankenswert  ist  auch  die  psychologische  Darstellung  des  Gebetslebens 
der  Kinder,  welche  im  zweiten  Band  dieses  Werkes  („Gebetserziehung")  ent- 
halten ist  und  eine  Ergänzung  in  einer  kleinen  Schrift  desselben  Autors  findet 
(Kindergebet  und  Kinderpsychologie  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Be- 
dürfnisse des  Kindergottesdienstes,  Schwerin  1913).  Die  preisgekrönte  Schrift 
von  H.  W  i  r  z  ,  Die  Psychologie  des  Gebets  unter  der  Lebensgestaltung  der 
Gegenwart,  Haarlem  1914,  bietet  manch  wertvolle  Gedanken  über  das  Wesen 
und  die  Psychogenesis  des  Gebets.  Sie  gleitet  jedoch  ständig  in  wertphilosophische 
Erörterungen  hinüber.  Ihr  eigentlicher  Zweck  ist  auch  nicht  eine  empirische 
Untersuchung  des  Gebets,  sondern  die  Verkündigung  eines  dem  modernen  Geistes- 
leben angepaßten  Gebetsideals  bzw.  Gebetssurrogats.  Die  fesselnde  Schrift  von 
Emil  Lu  c  k  a  ,  Grenzen  der  Seele,  Berlin  19178,  II:  Stufen  der  Genialität,  enthält 
ein  geistvolles  Essay  über  die  seelischen  Wurzeln  des  Gebets  (Kap.  5  S.  149  ff.: 
das  Gebet). 

c)  Die  Psychologie  des  liturgischen  Gebets  der  katholischen  Kirche 
wird  in  feiner  Weise  von  R.  Quardini  behandelt  (Vom  Geist  der  Liturgie, 
»Ecclesia  orans'  Bd.  1,  Freiburg  1918,  1  ff.);  das  Gemeindegebet  des  evangelischen 
Gottesdienstes  wird  von  Karl  Anton  (in  seiner  vortrefflichen  Schrift  „Ange- 
wandte Liturgik",  Praktisch-theologische  Handbibliothek  23,  Göttingen  1919, 
117  ff.)  in  psychologische  Beleuchtung  gerückt. 


II.  Die  bisherige  religionswissenschaftliche  Untersuchung  des  Gebets  15 

4.  Die  religionsphilosophische  Untersuchung  des  Gebets  erfolgte 
in  dreifacher  Richtung. 

a)  E.  v.  Hart  mann  (Die  Religion  des  Geistes,  Berlin  1882,  319  ff.),  O. 
Pf  leiderer  (Religionsphilosophie  auf  geschichtlicher  Grundlage,  Berlin  1896 
3.  A.  657  ff.),  A.  Sabatier  (Religionsphilosophie  auf  psychologischer  und 
historischer  Grundlage,  übers,  v.  Baur,  Freiburg  1898,  100  ff.)  und  A.  Dorner, 
Grundriß  der  Religionsphilosophie,  Leipzig  1903,  306  ff.)  suchen  unter  Verwertung 
von  spärlichen  empirischen  Daten  im  Hinblick  auf  ein  Gebetsideal  die  stufenweise 
Entwicklung  des  Gebets  herauszuarbeiten.  Die  drei  letzteren  erblicken  die  Ideal- 
form des  Gebets  in  dem  christlichen  „Nicht  mein,  sondern  dein  Wille  geschehe!", 
während  E.  v.  Hartmann  sie  entsprechend  seinem  Ideal  einer  monistischen 
Immanenzreligion  in  der  mystisch-quietistischen  Versenkung  in  das  eigene  Ich, 
im  reinen  Monolog  sucht.  Es  handelt  sich  hier  überall  um  eine  geschichts- 
philosophische  Konstruktion,  der  weniger  eine  historische  oder  psycho- 
logische als  eine  axiologische  Bedeutung  zukommt. 

b)  Die  zweite  Aufgabe,  welche  die  Religionsphilosophie  sich  stellt,  ist  die 
phänomenologische  Erfassung  des  Wesens  des  Gebets.  Sie  wurde  am 
glücklichsten  von  Rauwenhoff  (Religionsphilosophie,  übers,  v.  Hanne, 
Braunschweig  1889,  583  ff.),  E.  Guiton  (Pourquoi  prier,  Genf  1908)  und  F. 
M  e  n  e  g  o  z  (Das  Gebetsproblem  im  Anschluß  an  Schleiermachers  Predigten 
neu  gestellt  und  untersucht,  Leipzig  1911)  durchgeführt,  die  alle  modernen  Wert- 
gesichtspunkte ausschließen.  Andere  Religionsphilosophen  hingegen,  wie  S  a  b  a  - 
t  i  e  r  (a.  a.  O.  100  ff. )  und  R.  S  e  y  d  e  1  (Religionsphilosophie  im  Umriß,  Freiburg- 
Leipzig  1893,  371  ff.)  verbinden  mit  der  Wesensbestimmung  des  Gebets  eine 
Wertbestimmung.  Wie  die  meisten  philosophischen  Definitionen  des  Wesens 
der  Religion  nichts  anderes  sind  als  eine  Formulierung  des  Ideals  der  Religion, 
das  sich  in  der  Geschichte  immer  mehr  verwirklicht  (Schleiermaeher,  Sabatier, 
Herrmann),  so  haben  auch  die  erwähnten  religionsphilosophischen  Wesens- 
bestimmungen des  Gebets  axiologisch-normativen  Charakter. 

c)  Das  metaphysische  Problem  einer  realen  Einwirkung  des  Menschen  auf 
Gott  im  Gebet  wurde  schon  in  der  Antike  empfunden  (Seneca,  nat.  quaest.  II, 
37)  und  in  der  christlichen  Theologie  seit  Origines  (De  oratione,  Mi  P  Gr  11,  137  ff.) 
immer  wieder  zu  lösen  unternommen.  Es  handelt  sich  um  ein  Grenzproblem  der 
Religionsphilosophie  und  der  theologischen  Dogmatik.  An  neueren  Spezial- 
arbeiten  zu  dieser  Frage  seien  genannt:  A.  Bolliger,  Die  theoretischen  Vor- 
aussetzungen des  Gebets  und  deren  Vernünftigkeit  1891;  Ernest  Simyan, 
De  l'exaucement  de  la  priere  au  point  de  vue  philosophique  (These)  Genf  1894; 
A.  S  u  j  o  1 ,  De  l'exaucement  de  la  priere  au  point  de  vue  philosophique  (These) 
Genf  1895;  Franz  Schmidt,  Die  Wirksamkeit  des  Bittgebets,  Brixen  1895; 
A.  Philippot,  Essai  philosophique  sur  l'efficacite"  de  la  priere  (These)  Paris 
1898;  Jaques  Monsabr^,  La  priere,  Philosophie  et  theologie  de  la  priere, 
Paris  1906;  Martin  Kahler,  Berechtigung  und  Zuversichtlichkeit  des  Bitt- 
gebets (Angewandte  Dogmen,  Leipzig  1908,  234  ff. );  W.  Wa  1  th  e  r  ,  Die  Gebets- 
erhörung.  Wie  ist  sie  zu  denken,  Leipzig  1911 ;  F.  T  h  o  m  i  n  ,  Welt  ordnung  und 
Bittgebet,  Mainz  1912;  W.  Veit,  Hat  Beten  Sinn?  (Die  Religion,  Frankfurter- 
Vorträge  VII.  Reihe,  Frankfurt  191 4,  72  ff.);  K.  Weinrich,  Gebetserhörung, 
Zeitschrift  für  Theologie  und  Kirche  1916,  231  ff.;  Arnold  G  il  g  ,  Das  Problem 
des  Gebets,  Internationale  kirchliche  Zeitschrift  1916,  262  ff.  Eine  besondere 
Bedeutung  kommt  der  kleinen  oben  ei  wähnten  Schrift  von  Fernand  M^negoz 
zu,  welche  die  alte  intellektualistische  Problemstellung  a  linrine  abweist  und 
dem  irrationalen  Charakter  des  Gebets  vollauf  gerecht  wird.  Sie  ..läßt  dem 
Leben  den  Vortritt  vor  dem  abstrakten  Denken"  und  „findet  den  Mut,  diese 
Urtatsache  des  religiösen  Lebens  in  ihrer  ganzen  Irrationalität  und  mit  all  ihren 
Härten  zu  erkennen  und  darzustellen"  (S.  62.   64). 

Die  bisherige  wissenschaftliche  Untersuchung  des  Gebets  offenbart 
eine  verwirrende  Mannigfaltigkeit  von  Ausgangspunkten  und  Methoden. 
Ethnologen  und  Kulturforscher,  Orientalisten  und  klassische  Philologen, 
Bibelexegeten  und  Kirchenhistoriker,  Religionshistoriker  und  Dogmati- 


16  Einleitung 

ker,  Psychologen  und  Philosophen  mühten  sich  in  die  geheimnisvolle 
Welt  des  Gebets  einzudringen.  Aber  nur  wenigen  gelang  es,  das  Sanctis- 
simum  des  Betens  zu  betreten,  in  die  Seele  des  Beters  zu  schauen,  sein 
innerstes  Bangen  und  Beben,  Sehnen  und  Verlangen,  Glauben  und 
Vertrauen  zu  belauschen.  Die  meisten  Forscher  blieben  im  Vorhofe 
stehen  und  ahnten  kaum  die  Wunder,  die  im  Heiligtum  der  betenden 
Seele  vor  sich  gingen.  Die  Historiker  und  Philologen  sahen  zumeist  nur 
die  äußeren  Hüllen  des  Gebets,  die  stereotypen  Formeln  und  prunkvollen 
Dichtungen,  die  konventionellen  Gebärden  und  rituellen  Handlungen; 
aber  sie  erfaßten  nicht  das  Leben,  das  all  diese  Formen  sich  schuf.  So 
sehr  verkannten  viele  die  Leidenschaf t  und  Inbrunst  des  Gebets,  daß  sie 
seine  Wurzel  im  Zauberspruch  suchten,  diesem  größten  aller  religiösen 
Erstarrungsphänomene;  im  Tode  suchten  sie  den  Ursprung  des  kräf- 
tigsten und  reinsten  Lebens.  Auch  die  Psychologen,  die  berufenen 
Interpreten  der  tiefen  religiösen  Erlebnisse,  enthüllten  uns  nicht  das 
Geheimnis  des  betenden  Geistes.  Die  einen  befragten  nicht  die  großen 
Beter,  sondern  glaubten  im  Gebet  moderner  Durchschnittsfrommer  zu 
erkennen,  was  Beten  sei;  andere  profanierten  mit  ihrer  mechanistischen 
Gesetzespsychologie  das  tiefste  Mysterium  der  Religion.  Nur  wenige 
Forscher  —  es  waren  nicht  Fachpsychologen,  sondern  Theologen  — sind 
mit  genialem  Blick  in  die  Tiefen  persönlichen  Betens  gedrungen :  Köberle, 
Deißmann,  Weinel,  von  der  Goltz,  A.  Sabatier,  Menegoz,  Tiele.  Aber 
keiner  von  ihnen  hat  dem  Gebet  eine  umfassende  religionswissenschaft- 
liche Untersuchung  gewidmet.  Ehe  wir  eine  solche  wagen,  ist  eine  Be- 
sinnung auf  die  Aufgabe  und  Methode  der  Religionswissenschaft  wie 
eine  Umschau  über  die  uns  zur  Verfügung  stehenden  Quellen  unerläßlich. 
Nur  so  gewinnen  wir  in  dem  bunten  Wirrwarr  des  Stoffs,  der  Methoden 
und  Theorien  eine  sichere  Orientierung. 

III.  Aufgabe  und  Methode  der  Religionswissen- 
schaft52. 
1.  Der  Gegenstand  der  Religionswissenschaft. 
Das  Objekt  der  Religionsgeschichte,  wie  der  Geschichte  überhaupt, 
ist  stets  ein  individuelles,  örtlich  und  zeitlich  scharf  umgrenztes  Ge- 
bilde. Die  Religionsgeschichte  untersucht  mit  den  Mitteln  der  philo- 
logischen Wissenschaft  die  Religion  eines  bestimmten  Volkes  (der 
Ägypter,  Babylonier,  Chinesen),  einer  bestimmten  Rasse  (der  Bantu, 
Semiten,  Indogermanen),  einer  bestimmten  Epoche  (der  vedischen  Zeit, 
des  nachexilischen  Judentums,  des  Urchristentums,  des  Reformations- 
zeitalters), einer  bestimmten  Kirchengemeinschaft  oder  Sekte  (des 
japanischen  Sukhävati-Buddhismus,  der  Mithrasmysterien,  des  calvini- 
schen Protestantismus,  der  Quäker),  das  Frömmigkeitsleben  einer 
schöpferischen  Einzelpersönlichkeit  (Buddha,  Plotin,  Jesus,  Paulus, 
Augustinus,  Luther,  Schleiermacher)  oder  eine  viele  Richtungen,  Strö- 
mungen und  Persönlichkeiten  umfassende  Weltreligion  (den  Buddhismus, 
Islam)  oder  Weltkirche  (Katholizismus).  Die  Religionswissenschaft  hat 
-es  hingegen  im  Unterschiede  von  der  speziellen  und  allgemeinen  Reli- 


III.  Aufgabe  und  Methode  der  Religionswissenschaft  17 

gionsgeschichte  nicht  mit  den  einzelnen  Religionen  und  religiösen  Persön- 
lichkeiten zu  tun,  sondern  mit  der  Religion  überhaupt.  Sie  sucht  zu 
ergründen,  was  Religion  ist,  wie  sie  im  Seelenleben  des  Menschen  ent- 
steht und  im  Gemeinschaftsleben  der  Menschen  sich  fortbildet,  was 
sie  für  unser  Geistes-  und  Kulturleben  bedeutet.  Auf  zwei  völlig  ver- 
schiedenen Wegen  sucht  die  heutige  Religionswissenschaft  in  das  Ge- 
heimnis der  Religion  einzudringen :  auf  dem  Wege  der  Völkerpsychologie 
und  Religionsvergleichung  wie  auf  dem  Wege  der  individualpsycholo- 
gischen Analyse.  Gegenstand  der  völkerpsychologischen  (anthropolo- 
gischen, ethnologischen,  soziologischen)  und  vergleichend-historischen 
Religionsforschung  sind  die  Anfänge  und  die  Entwicklung  der  Religion. 
Die  psychologische  Genesis  und  die  historische  Weiterbildung  des  reli- 
giösen Phänomens  wird  konstruiert  auf  Grund  des  generellen  Vergleichs 
der  Daten,  welche  die  religiösen  Vorstellungen  und  Riten  der  heutigen 
Naturvölker  und  der  antiken  Kulturvölker  liefern.  Gegenstand  der 
individual-psychologischen  Religionsforschung  ist  das  reichdifferenzierte 
religiöse  Innenleben  individueller  Persönlichkeiten  einer  hochentwickelten 
Kulturepoche  —  sowohl  religiöser  Genien  wie  religiöser  Durchschnitts- 
menschen — ,  die  spontan  oder  auf  Grund  psychologischer  Befragung 
ihre  religiösen  Erlebnisse  in  Selbstzeugnissen  niedergelegt  haben.  Keiner 
der  beiden  Forschungsmethoden  gelingt  es,  des  religiösen  Phänomens 
vollständig  habhaft  zu  werden.  Die  eine  Methode  geht  gerade  an  den 
reichsten  und  reinsten  Ausprägungen  des  Religiösen  achtlos  vorüber, 
die  andere  abstrahiert  das  religiöse  Erleben  von  allen  historischen  und 
soziologischen  Voraussetzungen.  Gewiß  werden  durch  beide  Methoden 
wertvolle  wissenschaftliche  Erkenntnisse  zutage  gefördert.  Aber  nur 
eine  Untersuchung  aller  Erscheinungsformen  und  Typen  des  Religiösen 
vermag  das  Fundament  einer  Religionsphilosophie,  einer  Wesens- 
bestimmung und  Wertung  der  Religion  abzugeben. 

Den  Ausgangs-  und  Mittelpunkt  der  Religionswissenschaft  muß  stets 
die  reine,  naive  Religion  bilden.  Die  Religion  muß  vor  allem  an 
ihren  Quellen  und  Höhepunkten  studiert  werden,  dort,  wo  sie  spontan 
und  frei  mit  produktiver  Kraft  aus  starken  seelischen  Erlebnissen 
hervorbricht,  wo  sie  noch  nicht  erstarrt  ist  in  stabilen,  konventionellen 
Kultformen  und  noch  nicht  überwuchert  durch  das  ausdeutende  mytho- 
logische Denken  oder  die  klärende  philosophisch-theologische  Spekulation . 
Naive  Religion  ist  mit  urwüchsiger  Lebendigkeit  wirksam  im  Kult  der 
heutigen  primitivenVölker,  deren  Ursprünglichkeit  im  Denken 
und  Leben  durch  geschichtliche  Fortschritte  und  Rückbildungen  relativ 
wenig  berührt  worden  ist.  Naive  Religion  lebt  ebenso  in  der  Volks- 
frömmigkeit aller  Jahrhunderte  und  aller  Kulturen.  Denn  ,,die 
Frömmigkeit  der  Massen  ist  unveränderlich  wie  das  Wasser  in  den 
Tiefen  des  Meeres,  sie  wird  von  den  Oberströmungen  weder  mitgerissen 
noch  erwärmt"  (Cumont)63.  Die  kanaanäisch-israelitische,  die  griechische, 
die  hinduistische,  die  christlich- mittelalterliche  Volksreligion  sind  Bei- 
spiele dafür,  wie  unter  der  Decke  hoher  Kulturen  und  Religionen  die 
religiösen  Urtriebe  mit  unüberwindlicher  Gewalt  fortleben.  Ja  noch 
in  der  katholischen  und  evangelischen  Volksfrömmigkeit  unserer  Tage 

Das  Oebet  2 


18  Einleitung 

ist  der  primitive  religiöse  Realismus  mit  unverminderter  Kraft  lebendig; 
die  großen  Bewegungen  der  Reformation,  des  Pietismus  und  Rationalis- 
mus, die  über  die  protestantischen  Kirchen  gegangen  sind,  haben  an 
der  urwüchsig-primitiven  Religion  der  Bauern  so  wenig  geändert,  daß 
evangelische  Geistliche,  die  sich  eingehend  mit  religiöser  Volkskunde 
beschäftigten,  allen  Ernstes  die  Frage  aufwarfen:  „Ist  denn  unser  Volk 
überhaupt  jemals  zum  Christentum  bekehrt  worden?"54  Wertvolle 
Ergänzungen  zu  dem  lebendigen  Bild  von  naiver  Religion,  das  aus  dem 
Kult  primitiver  Völker  und  der  Volksfrömmigkeit  zu  gewinnen  ist, 
bieten  die  in  literarischen  oder  monumentalen  Dokumenten  fragmen- 
tarisch überlieferten  antiken  Kulte,  in  deren  festen  und  sakro- 
sankten Ritualhandlungen  und  -Worten  die  primitiven  religiösen 
Schöpfungen  prähistorischer  Zeiten  sich  versteinert  haben.  Lehrreiche 
Analogien  zur  primitiven  Religion  bietet  schließlich  die  Frömmigkeit 
des  Kindes,  soweit  sie  sich  spontan  äußert  und  nicht  auf  dem  Wege 
der  Nachahmung  und  Unterweisung  von  den  Erwachsenen  übernommen 
ist.  Wie  im  Denken  und  Reden,  im  Gestus  und  Handeln,  im  Spiel  und 
im  künstlerischen  Schaffen,  so  vollzieht  sich  auch  im  religiösen  Vor- 
stellen und  Tun  des  Kindes  die  Genesis  und  Fortbildung  des  Ursprüng- 
lichen, Primitiven  von  neuem.  Alle  diese  Äußerungen  und  Nieder- 
schläge primitiver  Religion  ermöglichen  uns  eine  blasse  Ahnung  von 
der  Urschöpfung  des  Religiösen,  die  sich  in  der  Urmenschheit  voll- 
zogen haben  muß. 

Die  primitiven  Äußerungen  des  religiösen  Erlebens  reichen  allein 
nicht  aus,  um  ein  vollständiges  und  zutreffendes  Bild  von  naiver  Religion 
zu  gewinnen.  Einmal  sind  zahlreiche  religiöse  Handlungen  bei  den 
Naturvölkern  wie  in  den  Volksreligionen  bereits  zur  konventionellen, 
bisweilen  sogar  unverständlichen  Sitte  geworden,  die  um  ihrer  selbst 
willen  geübt  wird.  Es  darf  keineswegs  jede  kultische  Handlung  als 
spontane  religiöse  Äußerung  interpretiert  werden.  Schon  innerhalb  der 
primitiven  Welt,  geschweige  denn  in  der  antiken  Kulturwelt,  muß  mit 
umfassenden  Verkümmerungsprozessen  ebenso  gerechnet  werden  wie 
mit  Höherbildungen.  Ferner  sind  die  Dokumente  der  primitiven  Religion 
immer  nur  objektiver,  äußerer,  niemals  subjektiver  Natur;  sie  enthüllen 
uns  nie  das  eigentliche  religiöse  Erleben;  dieses  selbst  müssen  wir  erst 
aus  den  kultischen  Handlungen,  den  sie  begleitenden  Worten  und  der 
sie  veranlassenden  Situation  erschließen.  Endlich  ist,  entsprechend  der 
Undifferenziertheit  des  ganzen  Kulturlebens,  die  primitive  Religion  so 
unauflöslich  verbunden  und  vermengt  mit  der  mythischen  Weltan- 
schauung, mit  den  sozialen  Institutionen,  vor  allem  aber  mit  dem 
Zauberwesen,  daß  die  moderne  Religionswissenschaft  sie  fortgesetzt 
mit  diesen  heterogenen  Bestandteilen  der  primitiven  Kultur  verwechselte. 
Um  deshalb  das  eigentlich  Religiöse  aus  dem  Knäuel  primitiven  Denkens 
und  Handelns  herauszulösen,  um  das  Naive,  Spontane  von  dem  Über- 
nommenen, Gebundenen,  Konventionellen  zu  scheiden,  um  das  in  den 
Kulthandlungen,  Kultworten  und  in  den  religiösen  Vorstellungen  sich 
äußernde  seelische  Erleben  zu  enträtseln,  müssen  wir  uns  an  die  großen 
religiösen  Genien  wenden,  die  uns  ihre  reichen  und  fein  differenzierten, 


III.  Aufgabe  und  Methode  der  Religionswissenschaft  19 

schöpferischen  Erfahrungen  in  direkten  und  indirekten  Selbstzeugnissen 
eröffnet  haben.  Erst  durch  die  Untersuchung  ihres  Frömmigkeitslebens 
gelingt  es  uns,  die  naive  Religion  des  primitiven  Menschen,  sein  innerstes 
religiöses  Fühlen  ganz  zu  verstehen.  Die  Psychologie  nennt  dieses 
Verfahren  die  ,umformende  Analyse',  die  darin  besteht,  daß  die  Keim- 
form eines  Erlebnisses  aus  der  voll  entwickelten,  durchsichtigen  Form 
desselben  Erlebnisses  gedeutet  wird.  Solange  die  Religionswissenschaft 
die  primitive  Religion  aus  dieser  selbst,  ohne  den  Vergleich  mit  dem 
Frömmigkeitsleben  der  großen  religiösen  Persönlichkeiten  verstehen 
und  erklären  will,  wird  sie  stets  im  Dunkeln  tappen  und  außerstande 
sein,  Licht  in  die  Fragen  von  der  Entstehung  der  Religion  und  ihrem 
Verhältnis  zur  Magie  zu  bringen. 

Unter  großen  religiösen  Persönlichkeiten  sind  jene 
Persönlichkeiten  zu  verstehen,  deren  geistiges  Wertleben  im  religiösen 
Erleben  aufgeht  oder  gipfelt  und  denen  in  der  Geschichte  der  Religion 
schöpferische  Bedeutung  zukommt:  die  Mystiker  und  Seher,  die  Pro- 
pheten, Prediger  und  Missionare,  die  Reformatoren  und  Stifter.  Obenan 
stehen  jene  Persönlichkeiten,  die,  hervorgegangen  aus  der  bildungs- 
armen Unterschicht,  im  religiösen  Gedanken  völlig  aufgehen,  die  keinerlei 
Bedürfnis  fühlen,  ihre  religiösen  Ideen  mit  den  wissenschaftlichen  Er- 
kenntnissen und  den  Kulturidealen  ihrer  Zeit  zu  versöhnen,  die  über 
alles  philosophische  Begreifenwollen  des  Weltzusammenhanges  schlecht- 
hin erhaben  sind:  die  alt-  und  neutestamentlichen  Persönlichkeiten, 
Franziskus  von  Assisi,  Luther,  John  Bunyan,  George  Fox,  die  mystischen 
Nonnen,  die  dichtenden  Süfi.  Wenn  einzelne  von  ihnen  philosophische 
Begriffe  verwerten,  so  geschieht  es  nur  zur  begrifflichen  Klärung  und 
dialektischen  Behauptung  des  religiösen  Wahrheitsbesitzes.  Die  absolute 
religiöse  Selbstgewißheit  steigert  sich  häufig  zu  einer  schroffen  Absage 
gegen  alles  metaphysische  Philosophieren:  man  denke  an  Pauli  harte 
Worte  gegen  die  Weisen  und  Verständigen,  an  Luthers  überlegenen 
Spott  über  die  , Närrin'  und  ,Hure'  Vernunft,  an  Pascals  Irrationalismus, 
Kierkegaards  Paradox,  Buddhas  Agnostizismus.  Es  ist  tief  bedeutsam, 
daß  die  Frömmigkeit  der  größten  religiösen  Genien  eine  völlig  naive, 
unreflektierte,  untheologische  Laienfrömmigkeit  war.  Gerade  der 
Handwerker-  und  Bauernstand  war  an  großen  Frommen  stets  reich 
gesegnet:  Arnos  der  Rinderhirt,  Jesus  der  Zimmermann,  Paulus  der 
Zelttuchweber,  Muhammed  der  Schafhirt,  Käbir  der  Weber,  Bunyan 
der  Kesselflicker,  Fox  der  Gerbergeselle,  Tersteegen  der  Seidenband- 
wirker. Neben  diesen  ganz  schlichten,  von  aller  metaphysischen  Pro- 
blematik unberührten  Frommen  stehen  die  großen  reflektierenden 
religiösen  Persönlichkeiten,  die  von  einem  starken  philosophischen 
Drang  beseelt  sind,  ohne  daß  deshalb  ihre  Herzensfrömmigkeit  an  Tiefe, 
Lebendigkeit  und  Innigkeit  etwas  einbüßt.  Trotz  des  gewaltigen 
Hanges  zur  metaphysischen  Spekulation  und  zur  logischen  Durch- 
dringung des  religiösen  Gedankengehaltes  rückt  niemals  das  Religiöse 
von  seiner  Stellung  als  höchster  Wert  herab,  so  daß  an  seine  Stelle 
die  reine,  begriffliche  Wahrheit  als  letztes  Ideal  träte.  Es  sind  dies  die 
großen    spekulativen    Mystiker,    die    Männer    der    Upanischaden,    ein 


20  Einleitung 

Rämänuja,  Plotin,  Eckhart,  Böhme  und  die  großen  Theologen,  ein 
Origenes,  Augustinus,  Thomas  v.  Aquin,  Calvin  und  Schleiermacher, 
Newman  und  Schell,  ein  Algazäli  im  Islam.  In  ihren  Predigten,  beson- 
ders aber  in  ihren  Selbstbekenntnissen  und  Gebeten  lebt  naive  Religion ; 
das  spekulative  Moment,  das  ihre  Lehrschriften  beherrscht,  tritt  zurück. 
Die  Divergenz  des  persönlichen  Frömmigkeitslebens  von  der  theologischen 
Doktrin  ist  unverkennbar,  wenn  wir  den  Hymnus  des  Thomas  von 
Aquin  ,,Adoro  te  devote"  den  nüchternen  Beweisen  und  Deduktionen 
der  Summa  oder  die  Lieder  der  altlutherischen  Theologen  ihren  pole- 
mischen und  scholastischen  Schriften  gegenüberstellen.  Aufgabe  der 
Religionspsychologie  ist  es,  bei  den  großen  Theologen  und  Dogmatikern 
immer  wieder  den  Zugang  zu  finden  zum  Menschen,  Helden,  Dichter 
und  Kind  in  ihnen. 

Die  moderne  Religionspsychologie  hat  zum  Teil  Selbstzeugnisse 
von  allen  möglichen  anonymen  Durchschnittsmenschen  und  exaltierten 
Psychopathen  aufgehäuft  und  aus  ihnen  die  Gesetzmäßigkeit  des  religiösen 
Erlebens  zu  erfassen  gesucht.  Sie  hat  dabei  ohne  weiteres  Methoden, 
die  zur  Erforschung  des  generellen  Psychischen  äußerst  fruchtbar  sind, 
auf  die  Untersuchung  von  Phänomenen  angewandt,  die  der  allgemeinen 
Psychologie  nicht  mehr  zugänglich  sind.  Alle  seelischen  Vorgänge  aber, 
aus  denen  die  höchsten  geistigen  Kulturwerte  geboren  werden,  das 
religiöse  Erleben  ebenso  wie  das  philosophische  Denken  und  das  künst- 
lerische Schaffen,  müssen  erstlich  und  letztlich  an  den  schöpferischen 
Persönlichkeiten  studiert  werden.  Darum  kann,  wie  Söderblom  mit 
Recht  gesagt  hat,  „die  Religionspsychologie  nicht  vorwärtskommen, 
ohne  sich  auf  die  großen  Genien  und  die  tiefen  Geister  im  Reich  der 
Frömmigkeit  zu  konzentrieren"  55.  Es  ist  ein  unter  Psychologen  weit 
verbreiteter  Irrtum  zu  glauben,  daß  die  durch  detaillierte  (schriftliche 
oder  mündliche)  Fragen  gewonnenen  Selbstzeugnisse  eine  reichere, 
ergiebigere  und  zuverlässigere  Quelle  seien  als  die  geschichtlichen, 
literarischen  Dokumente  der  Frömmigkeit  der  großen  Persönlichkeiten. 
Freilich  sind  nicht  alle  Dokumente  von  gleichem  psychologischen  Wert ; 
hier  gilt  es  vor  allem  den  Wert  der  mannigfachen  literarischen  Selbst- 
und  Fremdzeugnisse  abzustufen.  Sodann  genügt  niemals  ein  willkür- 
liches Herausgreifen  von  bestimmten  Persönlichkeiten,  sondern  es 
müssen  möglichst  alle  großen  Genien  herangezogen  werden,  da  natur- 
gemäß die  literarischen  Dokumente  über  einzelne  Persönlichkeiten  nie 
ein  religiöses  Phänomen  vollständig  und  nach  allen  Seiten  beschreiben, 
somit  die  von  verschiedenen  Geistern  stammenden  Zeugnisse  sich 
gegenseitig  ergänzen  müssen. 

Auf  naive,  unreflektierte  Religion  stoßen  wir  auch  im  Leben  solcher 
Persönlichkeiten,  deren  produktives  Schaffen  einer  anderen  Sphäre  von 
Werten  angehört  als  der  religiösen.  Gerade  die  großen  Dichter 
und  Künstler  (Dante  und  Goethe,  Michelangelo  und  Dürer,  Beet- 
hoven und  Haydn),  aber  auch  geniale  Staatsmänner  (Gustav 
Adolf,  Oromwell,  Bismarck),  Entdecker  (Columbus),  Naturforscher 
(Newton)  und  Strategen  (Tilly,  Ziethen,  Hindenburg)  offenbaren  eine 
unmittelbare  Herzensfrömmigkeit,  die  ganz  überraschende  Parallelen 


III.  Aufgabe  und  Methode  der  Religionswissenschaft  21 

zur  Frömmigkeit  der  religiösen  Genien  bietet.  Hier  liegt  ein 
interessantes,  von  Theologen  und  Psychologen  kaum  beachtetes 
Forschungsgebiet,  obgleich  die  Zeugnisse  nicht  überreich  fließen  und 
oft  nur  in  kurzen,  aber  kernigen  und  charakteristischen  Äußerungen 
bestehen. 

Die  naive  Religion,  deren  Merkmale  ungebrochene  Kraft,  freie  Spon- 
taneität und  Produktivität  sind,  ist  der  zentrale  Gegenstand  der  Reli- 
gionswissenschaft. Aber  daneben  ist  die  Untersuchung  der  sekun- 
dären Phänomene  unbedingt  erforderlich:  hinter  dem  urwüchsigen, 
individuellen  Erleben  dürfen  jene  religiösen  Gebilde  nicht  vergessen 
werden,  die  teils  auf  der  Gemeinschaft  religiöser  Individuen 
(der  Mythus,  der  Ritus,  die  Liturgie,  das  Gesetz),  teils  auf  der  Ver- 
bindung der  Religion  mit  dem  philosophischen  Denken  (die 
rationale  Reformreligion)  oder  auf  beiden  zugleich  (das  kirchliche  Dogma) 
beruhen.  Auch  die  Erstarrungs-  und  Zersetzungs-Phänomene  müssen 
Gegenstand  religionswissenschaftlicher  Untersuchung  werden.  Von 
dem  steifen  Ritualwesen  wie  von  den  rationalen  und  moralistischen 
Surrogaten  philosophischer  Reformreligion  hebt  sich  die  naive,  reine 
Religion  in  völliger  Anschaulichkeit  und  Klarheit  ab.  Die  Genesis  der 
festen,  an  eine  religiöse  Gemeinschaft  gebundenen  Kultformen  aus  dem 
individuellen  Erleben,  ihre  Wandlungen  im  Laufe  der  Geschichte  und 
ihre  Bedeutung  für  die  Frömmigkeit  des  Einzelnen,  der  Einfluß  des 
individuellen  Frömmigkeitslebens  wie  der  Volksreligion  auf  die  Formu- 
lierung der  kirchlichen  Dogmen  —  überall  stecken  hier  psychologische 
und  soziologische  Probleme.  Nur  wenige  Menschen  zeigen  in  ihrem 
religiösen  Leben  schöpferische  Selbständigkeit.  Die  Frömmigkeit  der 
meisten  ist  ein  ,,second-hand  religious  life"  (James),  das  sich  am  Er- 
leben der  religiösen  Genien  orientiert,  ungleich  häufiger  aber  an  der 
durch  eine  religiöse  Gemeinschaft  (Volk,  Kirche,  Sekte)  getragenen 
Tradition.-  Die  großen,  produktiven  Persönlichkeiten  schaffen  die  klas- 
sischen Muster  religiöser  Erfahrung,  die  dann  für  die  vielen  Durch- 
schnittsformen zur  Gestaltung  ihres  Frömmigkeitslebens  wie  zum 
Ausdruck  ihrer  Erlebnisse  dienen.  Aber  auch  im  Erleben  der  schöp- 
ferischen Geister  spielt  die  Nachfolge  eine  nicht  zu  unterschätzende 
Rolle.  Man  denke  daran,  was  Moses  und  die  Propheten  für  Jesus, 
Jesus  für  Franziskus,  Paulus  und  Augustinus  für  Luther  bedeuteten. 
Hierin  freilich  liegt  ein  wichtiger  Unterschied,  daß  die  großen  Frommen 
ihr  religiöses  Leben  nicht  an  sachlichen  Autoritäten  und  Über- 
lieferungen, sondern  an  den  individuellen  Erfahrungen  überragender 
Persönlichkeiten  normieren ;  denn  alle  Frömmigkeits- 
traditionen spiegeln  den  Typ  persönlichen  Erlebens,  der  in  ihnen 
feste,  normative  Gestalt  gewonnen  hat,  nur  in  getrübter  Form  wider. 
Die  Religionswissenschaft  ist  also  genötigt,  unter  Heranziehung  der 
Soziologie  den  Phänomenen  der  religiösen  Nachahmung  und  Nachfolge, 
der  Frömmigkeitstraditionen  und  der  religiösen  Gemeinschaftsbildung 
ihre  Aufmerksamkeit  zu  schenken. 

Alle  Psychologie  gründet  in  der  Selbstbeobachtung;  auch 
die  Religionspsychologie  kann  ihrer  nicht  entraten,  obgleich  man  auf 


22  Einleitung 

ihr  allein  keine  Religionspsychologie  aufbauen  kann.  Dazu  ist  das 
religiöse  Erleben  eines  modernen  Menschen  meist  zu  unproduktiv, 
inhaltsarm,  reflektiert  und  kraftlos.  Aber  wir  müssen,  soferne  wir  einer 
unmittelbaren  und  kräftigen,  in  Meditation  und  Gebet  lebendigen 
Frömmigkeit  ermangeln,  wenigstens  die  Keime  und  Ansätze  zu  echtem 
religiösen  Erleben  und  die  Erinnerungen  an  völlig  naive  Frömmigkeits- 
äußerungen, besonders  Kindheits-  und  Jugenderinnerungen,  benützen, 
um  mittels  des  realen  oder  hypothetischen  Nachfühlens  zu  einem  Ver- 
ständnis naiver  Frömmigkeit  zu  gelangen.  Die  Selbstbeobachtung  ist 
also  eine  unentbehrliche  Voraussetzung  aller  Religionspsychologie. 
Wer  niemals  selbst  einen  religiösen  Impuls  gespürt  hat,  wird  nie  in  die 
an  Wundern  und  Rätseln  so  reiche  Welt  der  Religion  eindringen.  Was 
der  dänische  Bischof  M  o  n  r  a  d  vom  Gebet  sagte,  gilt  von  der  Religion 
überhaupt:  „Das  Gebet  ist  eine  Welt  für  sich,  nur  denen  bekannt, 
die  in  ihr  leben"  56. 

Zum  Studium  der  Religion  als  eines  individuellen  wie  sozialen  Phä- 
nomens kommt  in  erster  Linie  das  reiche  geschichtliche  Material  in 
Betracht,  das  Fragebogen  verfahren  kann  nur  als  Ergänzung  des 
letzteren  dienen ;  nur  dort  wo  dieses  erhebliche  Lücken  und  Vieldeutig- 
keiten aufweist,  ist  die  Umfrage  am  Platz.  Die  systematische  Erhebung 
mittels  Fragebogen  ist  vor  allem  nützlich  zur  Gewinnung  von  voll- 
ständigem und  sicherem  Material  über  das  religiöse  Leben  des  Wilden, 
des  Kindes  und  des  Bauern;  in  diesem  Fall  regt  der  Fragebogen  die 
Fremd  beobachtung  an.  Die  moderne  Religionspsychologie  ver- 
wendet jedoch  den  Fragebogen  fast  ausschließlich  zur  Gewinnung  von 
Selbst  Zeugnissen  über  das  individuelle  religiöse  Erleben  moderner 
Menschen.  Für  die  Kenntnis  der  Gegenwartsreligion  liefern  solche 
Fragebogenergebnisse  neben  den  spontan  erfolgenden  literarischen 
Selbstzeugnissen  wertvollen  Stoff.  Aber  es  ist  verkehrt,  auf  diesem 
Wege  eine  Psychologie  des  religiösen  Erlebens  überhaupt  erreichen  zu 
wollen.  Die  wesentlichen  Züge  des  religiösen  Phänomens  sind  nur  am 
naiven  Erleben  ersichtlich;  die  Religion  der  Gegenwartsmenschen  ist 
jedoch  allzusehr  von  heterogenen  Bestandteilen  durchsetzt,  von  philo- 
sophischer Weltanschauung  und  ästhetischem  Genießen,  als  daß  man 
an  ihr  reine,  unverfälschte  Frömmigkeit  studieren  könnte. 

2.  Die  Gliederung  der  religionswissenschaftlichen  Untersuchung. 
Den  grundlegenden  Teil  der  Religionswissenschaft  bildet  die  rein 
empirische,  geschichtliche  und  psychologische 
Untersuchung  der  Religion  als  einer  der  großen  menschlichen  Kultur- 
schöpfungen. Diese  Untersuchung  darf  nicht  belastet  sein  von  Wert- 
urteilen oder  metaphysischen  Deutungen.  Zwar  ist  es  eine  psycho- 
logische Unmöglichkeit,  das  religiöse  Leben  zu  studieren,  ohne  irgendwie 
zu  ihm  Stellung  zu  nehmen.  Spinozas  Grundsatz:  „Ich  will  die  Hand- 
lungen und  Neigungen  der  Menschen  analysieren,  als  wenn  es  sich  um 
Linien,  Flächen  und  Körper  handelte",  läßt  sich  bei  der  Untersuchung 
der  Religion  nicht  durchführen.  Denn  diese  ist  eine  werthaltige,  kul- 
turelle Erscheinung.     Gerade  das  Studium  der  verschiedenen  Typen 


III.  Aufgabe  und  Methode  der  Religionswissenschaft  3 

des  religiösen  Lebens  reizt  auf  Schritt  und  Tritt  zu  einer  wertenden 
Stellungnahme.  Der  Religionspsychologe  kann  nicht  bloßer  Seelen- 
geometer  und  Seelenanatom  sein.  Die  Forderung  streng  empirischer 
Einstellung  darf  keinen  Verzicht,  sondern  nur  eine  Zurückschiebung 
der  Stellungnahme  zur  Religion  hinter  die  empirische  Erforschung  be- 
deuten. Es  gilt  nur  während  der  historischen  und  psychologischen 
Untersuchung  die  sich  aufdrängenden  Werturteile  zurückzustellen,  da 
sie  die  Reinheit  der  Einfühlung  in  fremdes  Erleben  gefährden. 

Die  grundlegende  Aufgabe  der  empirischen  Untersuchung  der  Religion 
ist  die  Typenlehre  d.h.  die  Klassifikation,  Deskription  und  Analyse 
der  verschiedenen  Formen  der  Religion  bzw.  einer  Erscheinung  der 
Religion.  Die  Typisierung  darf  jedoch  nicht,  wie  es  die  Religions- 
philosophie (Hegel,  Caird,  Pfleiderer,  Eduard  v.  Hartmann,  Auguste 
Sabatier)  tut,  nach  Wertgesichtspunkten  erfolgen,  sondern  ausschließlich 
nach  geschichtlichen  und  psychologischen  Merkmalen.  Ohne  sorg- 
fältige, ins  Detail  dringende  historische  Untersuchung  ist  die  Analyse 
der  einzelnen  Typen  unmöglich.  Die  Typenlehre  fällt  mit 
der  vergleichenden  Religionsgeschichte  zusam- 
men, soweit  diese  alle  Erscheinungsformen  der  Religion,  nicht  nur 
die  niederen,  ins  Auge  faßt  (Max  Müller,  Tiele,  Söderblom,  Edvard 
Lehmann).  Die  Aufeinanderfolge  dieser  Typen  darf  jedoch  nicht  als 
einheitliche,  historische  Entwicklungslinie  betrachtet  werden;  es  ist 
nicht  so,  als  ob  immer  der  folgende  Typ  genetisch  aus  dem  voran- 
gehenden hervorwüchse.  Nur  verschiedene  dieser  Typen  stehen  mit- 
einander in  einem  historisch-genetischen  Verhältnis.  So  entwickelt 
sich  die  antike  Kultur-  und  Nationalreligion  aus  der  primitiven,  die 
Mystik  wächst  auf  dem  Boden  einer  hochentwickelten  Kulturreligion, 
während  der  Mutterschoß  der  prophetischen  Religion  die  primitive  ist. 
Diese  Typisierung  darf  sich  auch  bei  der  monographischen  Unter- 
suchung eines  bestimmten  religiösen  Phänomens  (z.  B.  des  Glaubens, 
der  Gottes  Vorstellung,  des  Sünden-  und  Gnadenbewußtseins,  der  Jenseits- 
hoffnung, des  Opfers  und  des  Gebets)  nicht  ausschließlich  auf  die  Unter- 
suchung dieses  einen  Phänomens  stützen,  sondern  es  muß  die  Kor- 
relation zu  den  anderen  Äußerungen  der  Religion  ins  Auge  genommen 
werden.  Diese  Typenlehre  macht  erst  eine  fruchtbare  Untersuchung 
der  Religion  bzw.  einer  religiösen  Erscheinungsform  innerhalb  eines 
bestimmten  Kulturkreises  oder  einer  religiösen  Gemeinschaft  möglich. 
Die  vergleichende  psychologische  Untersuchung  ist  im  Grunde  die 
Voraussetzung  für  die  auf  ein  individuelles  Gebilde  abzielende  historische 
Einzelforschung.  Es  wäre  verfehlt  und  würde  zu  unzulänglichen 
Ergebnissen  führen,  wollte  man  ohne  vorausgehende  allgemeine  Formen- 
lehre, lediglich  auf  Grund  des  vorliegenden  philologischen  Materials, 
eine  Sonderdarstellung  des  Gebets  innerhalb  der  babylonischen,  indischen 
oder  griechischen  Religion  oder  innerhalb  des  mittelalterlichen  Christen- 
tums versuchen.  Erst  durch  die  vergleichende  Untersuchung  fällt 
Licht  auf  die  vielfach  fragmentarischen  und  dunklen  Dokumente  gerade 
der  antiken  Religionen.  Natürlich  wird  durch  philologisch-historische 
Einzelarbeiten   die   psychologische   Darstellung   im    Detail    bereichert, 


24  Einleitung 

ergänzt  und  zum  Teil  modifiziert.  Zwischen  der  generellen,  kompara- 
tiven Forschung,  die  auf  das  religiöse  Phänomen  als  solches  abzielt ;  und 
der  individuellen  historischen  Forschung,  die  das  religiöse  Phänomen 
in  einer  begrenzten  Ausprägung  zu  erfassen  sucht,  muß  ein  wechsel- 
seitiger Austausch  stattfinden,  der  nach  beiden  Seiten  hin  frucht- 
bringend wirkt. 

An  dem  echten,  reinen,  naiven  Erleben,  das  durch  die  typisierende 
Darstellung  aus  der  Fülle  sekundärer  Bildungen  unzweideutig  hervor- 
tritt, werden  die  Wesenszüge  des  religiösen  Phänomens  sichtbar.  Die 
Phänomenologie  der  Religion  (das  Wort  im  Sinne  der 
Husserl'schen  Philosophie  gebraucht)  sucht  die  religiöse  ,Urmeinung' 
zu  klären  und  so  das  Wesen  (,Eidos')  alles  Religiösen  zu  erfassen. 
Als  das  Wesen  der  Religion  enthüllt  sich  der  phänomenologischen  Unter- 
suchung der  Glaube  an  die  Präsenz  einer  transzendenten  Wirklichkeit 
und  an  eine  tatsächliche  Berührung  und  Verbindung  des  Menschen  mit 
dieser  höheren  Wirklichkeit. 

Die  Religionspsychologie  im  engeren  Sinne  (generelle, 
kausale  Psychologie)  sucht  die  das  individuelle  religiöse  Erleben  be- 
herrschende Gesetzmäßigkeit  zu  fixieren,  Motiv,  Verlauf  und  Wirkung 
eines  religiösen  Erlebnisses  herauszustellen.  Das  Problem  eines  die 
seelischen  Abläufe  bestimmenden  transzendenten,  übernatürlichen 
Einflusses  ist  aus  diesem  Zusammenhang  auszuscheiden.  Diese  kausal- 
psychologische Untersuchung  der  Religion  bezieht  sich  auf  alle  indi- 
viduellen seelischen  Vorgänge  im  religiösen  Erleben,  auf  die  produktiven 
ebenso  wie  auf  die  reproduktiven,  auf  die  naiven,  spontanen  Äußerungen 
der  Frömmigkeit  ebenso  wie  auf  die  bewußten,  reflektierten.  Bei  der 
Untersuchung  der  produktiven  Vorgänge  muß  die  Religionspsychologie 
in  enger  Fühlung  mit  der  Psychologie  des  kulturschöpferischen  Geistes- 
lebens überhaupt  bleiben:  des  philosophisch-metaphischen  Denkens 
und  vor  allem  des  künstlerischen  Schaffens.  Das  religiöse  Erleben 
zeigt  sich  von  derselben  Gesetzmäßigkeit  beherrscht,  die  das  gesamte 
menschliche  Geistesleben  trägt.  Nirgends  tritt  dieser  Zusammenhang 
so  deutlich  zutage  als  in  den  produktiven  Erlebnissen  der  religiösen 
und  der  künstlerischen  Inspiration. 

Die  Soziologie  der  Religion  erforscht  das  religiöse  Phänomen 
nach  der  sozialen  Seite.  Sie  sucht  die  verschiedenen  Formen  des  reli- 
giösen Gemeinschaftslebens,  seine  Motive  und  seine  Bedeutung  für 
das  individuelle  Frömmigkeitsleben  herauszustellen. 

Mit  der  geschichtlichen,  phänomenologischen,  psychologischen  und 
soziologischen  Untersuchung  des  Religiösen  erschöpft  sich  die  Religions- 
wissenschaft nicht;  vielmehr  muß  sich  auf  der  empirischen  Religions- 
forschung eine  Religionsphilosophie57  aufbauen,  die  jedoch 
nicht  in  metaphysischen  Spekulationen  über  Gott  und  Unsterblichkeit 
besteht,  sondern  in  einer  philosophischen  Untersuchung  der  Religion 
als  einer  menschlichen  Bewußtseinsschöpfung.  Die  Erkenntnis- 
theorie der  Religion  holt  aus  der  bunten  Tatsächlichkeit  seelischen 
Erlebens  das  im  Wesen  der  menschlichen  Vernunft  gründende  apriorische 
Gesetz  der  religiösen  Ideenbildung  heraus.  Die  Wertphilosophie 


IV.   Die   Quellen  für  eine  Untersuchung  des  Gebets  25 

der  Religion  staffelt  die  einzelnen  historischen  Religionsbildungen  wie 
die  großen  Religionstypen  nach  ihrem  Werte  und  fragt  nach  dem  Zu- 
kunftsideal der  Religion,  das  die  in  den  verschiedenen  Religionen  und 
religiösen  Typen  steckenden  unvergänglichen  Werte  in  sich  fassen  soll. 
Der  Wertmaßstab  darf  nur  in  sekundärer  Weise  anderen  Wertsphären 
entnommen  sein;  so  kommt  der  Religion  ein  biologischer,  ethischer, 
ästhetischer,  rationaler  und  allgemein  kultureller  Wert  zu.  Primär  muß 
jedoch  der  für  die  Wertung  ausschlaggebende  Gesichtspunkt  aus  dem 
religiösen  Erleben  selbst,  und  zwar  dem  naiven,  gewonnen  werden. 
Die  Religionswissenschaft  wird  gekrönt  von  einer  Metaphysik 
der  Religion  ,  welche  nach  der  Realität  des  von  der  Phänomeno- 
logie herausgestellten  Glaubens  an  ein  Transzendentes  und  Absolutes 
und  an  die  Verbindung  des  Menschen  mit  ihm  fragt.  Es  ist  dies  das 
wichtigste  und  brennendste  Problem  der  Religionsphilosophie,  freilich 
auch  das  schwierigste,  das  in  eine  Auseinandersetzung  mit  den  mannig- 
fachen, metaphysischen  und  antimetaphysischen,  philosophischen  Welt- 
auffassungen hineinführt.  Ist  der  religiöse  Glaube  an  Gott  Illusion 
oder  Realität?  Die  Frage  nach  der  Existenz  und  dem  Wesen  Gottes 
ist  nur  die  Voraussetzung  zur  Bearbeitung  des  zentralen  Problems : 
Ist  die  Religion,  die  ja  nicht  eine  theoretische  Überzeugung  von  Gott, 
sondern  ein  wechselseitiges  Verkehrsverhältnis  von  Mensch  und  Gott 
bedeutet  (Offenbarung,  Selbstmitteilung  Gottes  an  den  Menschen  und 
Umgang,  Gemeinschaft  des  Menschen  mit  Gott  in  Gebet,  Kultus  und 
Sittlichkeit),  Wirklichkeit  oder  psychologische  Selbsttäuschung?  Ist 
die  Religion  vom  Himmel  oder  von  der  Erde,  Gottes  Schöpfung  oder 
des  Menschen  Erfindung  ?  Läßt  sich  das  religiöse  Erleben  restlos  aus 
psychologischen  Voraussetzungen  begreifen,  wie  Feuerbach,  Wundt 
und  Leuba  meinen,  oder  ist  das  entscheidende  Agens  das  Wirken  des 
Gottesgeistes  in  der  Seele  des  Menschen,  wie  die  großen  Genien  im 
Reich  der  Frömmigkeit  übereinstimmend  bekennen  ?  Und  stellt  der 
in  den  psychischen  Abläufen  wirksame  übernatürliche  Einfluß  eine 
Sonderkausalität  dar,  die  auf  wunderbare  Weise  neben  und  über  den 
natürlichen  Vorgängen  am  Werke  ist,  wie  die  scholastische  Gnadenlehre 
glaubte,  oder  ist  der  transzendente  Faktor,  das  Wunder,  in  der  gesetz- 
mäßig ablaufenden  seelischen  Erfahrung  und  geschichtlichen  Ent- 
wicklung selbst,  nicht  hinter  und  über  ihr  zu  suchen,  wie  ein  evolutio- 
nistischer  und  deterministischer  Panentheismus  annimmt  ?  Oder  liegt 
das  Übernatürliche  in  dem  Schöpferischen,  Neuen  des  religiösen 
Erlebens,  das  aus  unergründlichen  Tiefen  aufsteigt  und  nur  aus  einem 
umfassenden,  lebendigen  metaphysischen  Zusammenhang  verständlich 
wird  ?  Für  alle  diese  Fragen  metaphysischer  wie  wertphilosophischer 
Natur  versagen  die  streng  wissenschaftlichen  Methoden;  die  Lösungs- 
versuche werden  immer  mehr  oder  weniger  subjektiven  Charakter 
tragen  und  können  nicht  Anspruch  auf  Allgemeingültigkeit  erheben. 
Gleichwohl  müssen  diese  Probleme  immer  wieder  von  neuem  gestellt 
und  angegriffen  werden;  auch  der  Historiker  und  Psychologe,  dessen 
Interesse  vorwiegend  auf  das  Verständnis  konkreter  Wirklichkeiten 
gerichtet  ist,  wird  einem  exklusiven  religionswissenschaftlichen  Empiris- 


2  6  Einleitung 

mus  nie  das  Wort  reden.  Denn  es  handelt  sich  in  diesen  religions- 
philosophischen  Fragen  um  nichts  Geringeres  als  um  das  philosophische 
Recht  der  Religion,  um  ihren  Sinn  und  Wert  im  Ganzen  unseres  Lebens. 

Die  vorliegende  Studie  beschränkt  sich  auf  die  Klassifikation,  De- 
skription  und  Analyse  der  einzelnen  Typen  des  Gebets  und  schließt 
mit  der  Phänomenologie  d.  h.  der  Wesensbestimmung  des  Gebets  ab. 
Die  kausalpsychologische  Untersuchung  des  Gebets  d.  h.  die  Erforschung 
der  die  Gebetserlebnisse  (Motiv,  Verlauf  und  Wirkung  des  Gebets) 
beherrschenden  allgemeinen  Gesetzmäßigkeit  wurde  aus  äußeren  und 
inneren  Gründen  ausgeschieden  und  einer  selbständigen  Behandlung 
vorbehalten.  Es  handelt  sich  hierbei  um  einen  neuen  Problemkreis,  der 
eine  andere  methodologische  Einstellung  fordert.  Auch  bestünde  die 
Gefahr,  daß  durch  die  Anfügung  einer  gesetzespsychologischen  Unter- 
suchung der  lebendige  Eindruck  von  der  irrationalen  Eigenart  des 
Gebets,  den  die  Typik  und  Phänomenologie  vermittelt,  verwischt 
würde.  Auch  die  gesamte  religionsphilosophische  Problemgruppe  ge- 
langt hier  nicht  zur  Besprechung.  Ihre  Behandlung  würde  eine  stete 
Anknüpfung  und  Auseinandersetzung  mit  der  allgemeinen  Philosophie 
(Erkenntnistheorie,  Ethik  und  Metaphysik)  verlangen.  Es  war  jedoch 
nötig,  einen  methodologischen  Aufriß  der  gesamten  Religionswissen- 
schaft zu  geben,  um  deutlich  hervortreten  zu  lassen,  wie  sich  die  vor- 
liegende Untersuchung  des  Gebets  in  den  Gesamtplan  der  Religions- 
wissenschaft eingliedert. 

IV.  Die  QuellenfüreineUntersuchungdes  Gebets. 

Das  Gebet  ist  jene  Äußerung  religiösen  Erlebens,  „wo  sich  das  Leben 
und  Weben  echter  Frömmigkeit  am  deutlichsten  offenbart  und  zugleich 
am  scheuesten  verhüllt"  (Deißmann)  58.  Echtes,  persönliches  Beten 
verbirgt  sich  in  zarter  Keuschheit  vor  profanen  Augen  und  Ohren. 
Schon  primitive  Menschen  sind  äußerst  spröde  und  zurückhaltend  in 
Mitteilungen  über  ihr  religiöses  Leben.  Manche  Forscher  und  Missionare 
weilten  jahrelang  unter  Naturvölkern,  bis  es  ihnen  gelang,  etwas  über 
ihr  religiöses  Denken  und  Tun  zu  erfahren  oder  gar  ihre  Gebete  zu 
belauschen  59.  Was  vom  primitiven  Menschen  gilt,  gilt  noch  mehr  von 
den  individuellen  Frommen.  Das  persönliche  Gebetsleben  der  religiösen 
Genien  spielt  sich  in  der  Verborgenheit  ab.  ,,Das  Religiöse",  sagt 
Kierkegaard,  ,,ist  etwas  so  Heimliches,  daß  man  wie  ein  junges 
Mädchen  erröten  könnte,  wenn  uns  einer  beim  Beten  überraschte."  60 
Mövog  TiQÖg  [lövov  (als  Einsamer  vor  dem  Einsamen)  steht  nach  einem 
Worte  Plotins  61  der  Beter  vor  seinem  Gott.  Wenn  darum  die  großen 
Frommen  beten  wollen ,  fliehen  sie  in  die  Einsamkeit,  ins  stille  Kämmerlein 
oder  in  die  freie  Natur.  Was  sie  in  solchen  einsamen  Stunden  betend 
vor  ihrem  Gott  ausgeschüttet  haben,  hat  fast  nie  eines  Menschen  Ohr 
belauscht  und  eines  Menschen  Griffel  festgehalten.  Wohl  haben  sie 
im  Kreise  ihrer  Jüngergemeinde  von  den  Geheimnissen  ihres  Gebets- 
lebens geredet,  haben  ihre  Schüler  gelehrt,  wie  und  was  man  beten 
solle;  aber  fast  nie  hat  in  Gegenwart  anderer  ihr  Mund  sich  geöffnet,  um 


IV.   Die   Quellen  für  eine  Untersuchung  des  Gebets  27 

traute  Zwiesprache  zu  halten  mit  ihrem  Gott.  Paulus  mahnt  in  seinen 
Briefen  oft  zum  Gebet,  bisweilen  enthüllt  er  etwas  von  der  Art  seines 
Betens  und  von  seinen  geheimnisvollen  und  wunderbaren  Gebets- 
erfahrungen —  aber  er  ,,ist  zu  keusch  gewesen,  selbst  in  vertrauten 
Briefen  seinen  Gemeinden  schriftlich  etwas  im  eigentlichen  Sinne  vor- 
zubeten"  (Weinel)  62.  Wohl  kennen  wir  Tausende  und  Abertausende 
von  Gebeten,  die  in  Stein  gemeißelt  oder  in  Lettern  gedruckt  uns  über- 
liefert sind,  Gebete  aus  uralten  Tempelbibliotheken  und  Gebete  in 
modernen  Erb  uungsbüchern,  wohl  hören  wir  von  den  Altären  und 
Kanzeln  feierliche  Gebetsworte,  das  liturgische  Erbgut  der  christlichen 
Kirche.  Aber  das  alles  sind  nicht  echte,  spontane  Gebete,  wie  sie  aus 
der  tiefsten  Not  und  der  innigsten  Sehnsucht  eines  Menschenherzens 
hervorbrechen;  denn  diese  aus  dem  geschieh tslosen  Augenblick  ge- 
borenen Gebete  reden  eine  andere  Sprache;  ja  bisweilen  reden  sie  über- 
haupt nicht,  denn  sie  sind  gar  nur  ein  schweigendes  Anbeten  und  Schauen 
oder  ein  stummes  Seufzen  und  Sehnen.  Jene  formelhaften  und  lite- 
rarischen Gebete  sind  nur  der  schwache  Widerschein  des  ursprünglichen, 
reinen  Herzensgebetes.  Die  meisten  Quellen  über  das  Gebet  sind  also 
nur  indirekte  mittelbare  Zeugnisse :  Andeutungen  über  Gebetserlebnisse 
und  Anleitungen  zum  Gebet  einerseits,  Gebetsformeln  und  Gebets- 
dichtungen andererseits.  Es  ist  darum  kein  Leichtes,  ein  genaues  Bild 
über  das  wirkliche  Beten  zu  erhalten.  Und  doch  glückt  uns  das,  wenn 
wir  die  mannigfachen  Gebetsdokumente  sorgfältig  zusammenlesen  und 
nach  ihrem  psychologischen  Werte  abstufen  und  wenn  wir  sie  zudem 
ergänzen  durch  die  individuellen  und  generellen  Äußerungen  über 
das  Beten,  die  wir  aus  dem  Munde  großer  Beter  besitzen. 

1.  Gebete. 
Die  aus  gewaltigen  seelischen  Erschütterungen  geborenen  Gebete  sind 
beim  primitiven  Menschen  stets,  bei  den  großen  Frommen  sehr  häufig 
laute  Rufe  zu  Gott.  Bisweilen  gelingt  es  —  zufällig  oder  absichtlich  — 
anderen  Menschen,  den  Beter,  der  sich  allein  mit  seinem  Gott  glaubt, 
zu  belauschen  und  seine  Gebetsworte  nachher  schriftlich  zu  fixieren. 
Oder  die  Not  und  der  Jubel  des  Herzens  sind  so  groß,  daß  der  Mensch 
vor  anderen,  ja  sogar  vor  breiter  Öffentlichkeit  unwillkürlich  in  einen 
Gebetsruf  ausbricht.  Der  Eindruck  solcher  leidenschaftlichen  und  innigen 
Gebete  auf  die  Hörer  ist  so  tief  und  nachhaltig,  die  Worte  selbst  sind 
so  knapp  und  prägnant  formuliert,  daß  sie  sich  dem  Gedächtnis  unaus- 
löschlich einprägen  und  so  eine  genaue,  unveränderte  Wiedergabe 
ermöglichen.  Missionare  und  Ethnographen  haben  nicht  selten  Wilde 
bei  spontanen  Gebeten  heimlich  oder  offen  beobachtet  und  die  Worte 
nachträglich  aufgezeichnet  63.  Auch  von  den  größten  Betern  sind 
solche  laute  Gebetsrufe  überliefert.  Von  Jesus  besitzen  wir  vier  Gebete, 
die  gerade  den  Höhepunkten  seines  Erlebens  entstammen;  sie  wurden 
von  seinen  Jüngern  gehört  und  von  Mund  zu  Mund  fortgepflanzt,  bis 
sie  schließlich  in  den  Evangelien  niedergeschrieben  wurden.  (Trotzdem 
sie  erst  nach  Jahren  aufgezeichnet  wurden,  ist  ihre  Echtheit  doch 
voll  verbürgt.     Jesus  Gebetsanrede  in  Gethsemanc  ,,Abba"  und  sein 


28  Einleitung 

Angstschrei  am  Kreuze  „Eloi"  wurde  von  der  Urgemein  de  in  so  skla- 
vischer Treue  überliefert,  daß  sie  selbst  der  griechische  Evangelien- 
übersetzer im  semitischen  Wortlaut  wiedergibt.)  Ein  Reicher  von 
Assisi  lud  den  heiligen  Franz  ein,  in  seinem  Hause  zu  nächtigen,  in 
der  Absicht,  ihn  bei  seinem  Beten  zu  behorchen;  und  er  hörte,  wie  er 
die  ganze  Nacht  hindurch  die  inbrünstigen  Worte:  „Mein  Gott  und 
mein  alles!"  wiederholte.  Durch  diese  Gebetsinnigkeit  wurde  er  so  tief 
ergriffen,  daß  er  sogleich  ein  Jünger  des  Heiligen  wurde  64.  Auch  der 
Lieblings  jünger  des  Armen  von  Assisi,  Bruder  Leo,  konnte  ihn  einmal 
in  der  nächtlichen  Waldeinsamkeit  des  Alvernergebirges  beim  Beten 
belauschen  65.  Marabotto,  der  Beichtvater  der  heiligen  Katharina  von 
Genua,  versteckte  sich  einmal  in  deren  Kammer;  sie  betrat  dieselbe, 
verschloß  sie,  wie  gewohnt,  und  begann  dann  mit  kläglicher  Stimme 
und  unter  Tränen  zu  beten.  Marabotto  gibt  dieses  Gebet  in  der  Bio- 
graphie der  Heiligen  wieder  66.  Katharina  von  Siena  wurde  oft  plötzlich 
von  einem  ekstatischen  Zustand  überfallen  und  sprach  dann  mit  lauter 
Stimme  glühende  Gebete,  welche  die  Anwesenden  zu  Tränen  rührten. 
Die  Gebete  wurden  von  diesen  nachträglich  aufgezeichnet  67.  Veit 
Dietrich  schreibt  an  Melanchthon  von  Luther:  „Es  hat  mir  einmal 
geglückt,  daß  ich  ihn  von  Herzen  mit  heller  Stimme  beten  hörte." 
Dann  schildert  er  Luthers  Gebetsweise  und  den  gewaltigen  Eindruck, 
den  er  vom  Gebet  dieses  Mannes  empfing  68.  Oliver  Cromwell  sprach 
zwei  Tage  vor  seinem  Tode  mit  lauter  Stimme  ein  inniges  Gebet,  das 
von  seinen  Angehörigen  vernommen  und  dessen  ungefährer  Wortlaut 
von  seinem  Kammerdiener  Harvey  behalten  wurde  69.  Diese  dem 
Zufall  zu  verdankenden  Fremdzeugnisse  sind  die  wertvollsten  Selbst- 
zeugnisse, weil  sie  „das  formlos  Tatsächliche  in  momentaner  Gegenwart 
festhalten"  70;  sie  sind  freilich  auch  die  spärlichsten. 

Daneben  stehen  solche  spontane  Gebete,  die  vom  Beter  selbst 
aufgezeichnet  wurden.  Die  schriftlich  fixierten  Worte  decken 
sich  aber  nicht  vollständig  mit  den  im  Gebet  gesprochenen.  Die  Auf- 
zeichnung bringt  bereits  eine  Stilisierung  der  echten  Gebetsworte  mit 
sich;  was  im  wirklichen  Gebet  wortloses  Fühlen,  Sehnen  und  Vorstellen 
ist,  wird  in  Worte  gekleidet,  das  stimmungsgemäß  Erlebte  in  die  allen 
verständliche  Sprache  übersetzt,  alles  Verworrene  und  Unausgeglichene 
harmonisiert,  die  sprunghaft  sich  aneinander  reihenden  Gedanken- 
fragmente verknüpft.  Es  liegt  etwas  Wahres  in  dem  übertriebenen 
Diktum  Bunyans:  „Ein  Mensch,  der  wirklich  betet,  wird  nachher  nie 
imstande  sein,  mit  dem  Munde  oder  mit  der  Feder  die  unaussprech- 
lichen Wünsche,  Gefühle,  Regungen  und  Begierden  auszudrücken, 
die  im  Gebet  zu  Gott  aufstiegen  71."  Wo  ein  Beter  sein  innig- 
stes Beten  in  Worte  hüllt  und  niederschreibt,  da  fühlt  er  nur  zu  tief, 
daß  die  geschriebenen  Gebetsworte  nur  ein  matter  Widerschein  des 
flammenden  Herzensgebetes  sind.  Mechthild  von  Magdeburg  fügte 
an  den  Schluß  ihres  feurigsten  Liebesgebetes  die  Bemerkung:  „Das 
sind  die  Worte  des  Sanges  der  Minnestimme;  aber  der  süße  Herzens- 
klang mußte  wegbleiben,  denn  den  vermag  keine  irdische  Hand  zu 
schreiben."  72 


IV.  Die   Quellen  für  eine  Untersuchung  des  Gebets  29 


Manche  Gebete  sind  unmittelbar  nach  dem  gesprochenen 
Gebet,  noch  im  Ausklang  und  Nachhall  der  Gebetsstimmung  nieder- 
geschrieben. So  ist  das  Preisgebet,  das  Franz  von  Assisi  nach  der  Stig- 
matisierung sprach,  von  ihm  selbst  in  einer  an  Bruder  Leo  bestimmten 
Karte  unmittelbar  darnach  aufgezeichnet  worden  73.  Hierher  gehören 
auch  die  kurzen  Gebetsrufe  im  Memorial  Pascals,  das  er  in  einem  Augen- 
blick höchster  enthusiastischer  Erregung  flüchtig  niederschrieb.  Un- 
gleich häufiger  ist  die  gedächtnismäßige  Aufzeichnung 
echter  Gebete  in  Autobiographien  und  Selbstbekenntnissen;  der  Wort- 
laut solcher  Gebete  dürfte  nur  dann,  wenn  es  sich  um  ganz  kurze  Rufe 
handelt,  völlig  unverändert  erhalten  sein.  Solche  Gebete  sind  in  den 
Bekenntnissen  und  Verkündigungen  alttestamentlicher  Propheten  (Arnos, 
Jeremia)  74  und  in  den  Briefen  und  Selbstbiographien  religiöser  Men- 
schen der  neueren  Zeit  (Ignatius  v.  Loyola,  George  Fox,  John  Bunyan, 
Johann  Heinrich  Wichern)  enthalten. 

In  religiösen  Schriften  findet  sich  noch  eine  andere  Art  selbstaufge- 
zeichneter Gebete,  deren  Quellen  wert  gleichfalls  ein  hoher  ist;  es  sind 
dies  jene  Gebete,  die  in  einem  Zustande  der  Inspiration  niedergeschrieben 
werden,  die  dem  frommen  Schriftsteller,  wenn  er  bei  der  Erinnerung 
an  Gottes  Gnade  oder  an  die  eigene  Sündigkeit  und  Ohnmacht  in  Gebets- 
stimmung gerät,  spontan  in  die  Feder  fließen.  Solche  Gebete  sind 
literarische  Gebete,  aber  gleichwohl  echte  Gebete,  nicht  absichtlich 
komponierte  Formulare,  wenn  sie  auch  nicht  mit  redendem  Munde, 
sondern  mit  schreibendem  Griffel  gebetet  worden  sind.  Bei  Jeremia  geht 
die  Erzählung  von  den  bewegten  Schicksalen  seines  Prophetenberufes 
oft  unvermittelt  in  die  spontane  Anrede  an  Jahwe  über  75.  Die  bangen 
Zweifel  und  Fragen,  die  den  Urheber  des  Hiobbuches  martern,  entladen 
sich  oft  in  leidenschaftlichen  Gebetsrufen  zu  Gott  76.  Bischof  Clemens 
von  Rom  gleitet  in  seinem  ersten  Briefe  an  die  Korinther  (c.  59  f.) 
aus  der  ernsten  Paränese  in  die  Gebetsanrede  an  Gott  hinüber  —  mitten 
im  Satz  erfolgt  der  Übergang  —  und  richtet  ein  feierliches  Dank-  und 
Bittgebet  an  Gott,  wie  er  es  ähnlich  in  der  gottesdienstlichen  Ver- 
sammlung seiner  Gemeinde  zu  sprechen  pflegte.  Augustinus  schickt  den 
tiefsinnigen  philosophischen  Erörterungen  seiner  Soliloquien  (I,  1)  ein 
enthusiastisches  Gebet  zu  Gott,  der  Quelle  aller  Wahrheit,  Güte  und 
Schönheit,  voraus.  Symeon,  der  Neue  Theologe,  eröffnet  seine 
wundervollen  s'Qojrsg  tibv  O-eIcjv  vpvcov  mit  einem  kraftvollen  Gebet 
zum  heiligen  Geist  77.  Luthers  Vorrede  zu  seinem  Genesis-Kommentar 
klingt  in  einem  Gebet  um  das  baldige  Kommen  des  Gottesreiches  aus. 
Tersteegen  leitet  seine  Brief  Sammlung  mit  einem  Gebet  ein,  in  dem  er 
seine  restlose  Willenshingabe  an  Gott  bekundet.  Der  Verfasser  der 
neutestamentlichen  Apokalypse  schließt  seine  flammenden  Zukunfts- 
bilder mit  einem  inbrünstigen  Seufzer  an  den  erhöhten  Herrn  (21  20; 
vgl.  1.  Kor.  16  23).  Bonaventura  endet  sein  Breviloquium  mit  einem 
sehnsüchtigen  Gebet  um  Vollendung  der  Gottesliebe  (7,  7),  Franz  von 
Assisi  boschließt  seinen  Brief  an  das  Generalkapitel  mit  einem  Gebet  78. 

Selbstaufgezeichnete  Gebete  enthalten  vor  allem  die  religiösen  Selbst- 
bikenntnisse,  die  Konfessionen  Augustins  und  die  Autobiographien  der 


30  Einleitung 

heiligen  Gertrud  von  Helftä,  Theresa  di  Jesu  und  Madame  Guyon. 
Sie  sind  im  Grunde  nur  große  Gebete;  denn  sie  sind  nicht  an  Menschen, 
sondern  an  Gott  gerichtet.  Der  augustinische  Ausdruck  confessio  be- 
deutet nicht  so  sehr  eine  Selbstenthüllung  vor  den  Menschen  als  vielmehr 
ein  an  Gott  gerichtetes  Lob-,  Dank-  und  Bußgebet:  ,,et  nunc,  Domine, 
confiteor  tibi  in  litteris"  (Conf.  IX  13).  Das  Motiv,  das  Augustinus  wie 
Theresa  zur  Abfassung  ihrer  Selbstbekenntnisse  drängte,  war  zweifellos 
ein  echtes  Gebetsmotiv:  das  Streben  nach  Aussprache,  Selbstoffen- 
barung vor  dem  Allerhöchsten.  Die  zahllosen  reinen  Gebete,  in  welche 
immer  wieder  die  im  Gebetsstil  verfaßte  Erzählung  und  Selbstanalyse 
hinübergleitet,  geben  uns  eine  anschauliche  Vorstellung  von  dem  wirk- 
lichen Gebetsleben,  das  sie  als  Einsame  mit  Gott  lebten.  Noch  stärker 
tritt  der  literarisch-dichterische  Charakter  in  jenen  Gebeten  hervor, 
die  in  den  mystischen  Dialogen,  vor  allem  in  den  Offenbarungen  der 
Mechthild  von  Magdeburg  und  in  der  , Nachfolge  Christi'  des  Thomas 
von  Kempen  enthalten  sind.  Der  mystische  Gebetsverkehr  mit  Gott 
wird  hier  als  Wechselgespräch  der  Seele  mit  Christus  dargestellt.  Aber 
durch  diese  poetische  Hülle  hindurch  schauen  wir  das  leidenschaftliche 
und  sehnsüchtige  Beten  dieser  liebessiechen  Nonne  und  dieses  gott- 
innigen Mönchs  und  die  wunderbaren  Erfahrungen,  die  ihnen  im  Gebet 
aufgingen.  Typische  Beispiele  literarischer  Gebete,  welche  aber  doch 
getreu  das  persönliche  Herzensgebet  widerspiegeln,  sind  das  Pater- 
noster' der  Margaretha  Ebner  und  die  ,Exercitia  spiritualia'  der  Gertrud 
von  Helftä;  auf  höchst  originelle  Weise  hat  die  letztgenannte  Heilige 
in  Anlehnung  an  das  kirchliche  Ritual  (Taufritual,  Ritual  der  klöster- 
lichen Einkleidung,  der  Profeßablegung  und  Profeßerneuerung)  und 
an  die  kirchlichen  Tagzeiten  ein  mystisches  Idealritual  für  Nonnen 
gedichtet  und  in  ihm  ihr  persönlichstes  Gebetsleben  literarisch  aus- 
gehaucht. In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  das  berühmte  Pascal- 
sche  Gebet  um  rechten  Gebrauch  der  Leiden  79,  das  zweifellos  eine 
literarische  Schöpfung  ist,  aber  gleichwohl  zu  den  echten  Gebeten  und 
nicht  zu  den  Gebetskompositionen  gezählt  werden  muß;  denn  es  ent- 
springt einem  wirklichen  Gebetsmotiv:  durch  die  Abfassung  dieses 
Gebets  sucht  er  sich  innerlich  mit  seinen  schweren  körperlichen  Leiden 
auseinanderzusetzen.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  in  diesem  literarischen 
Gebet  seine  wirklichen  Gebete  in  eine  abgerundete  und  ästhetische  Form 
gebracht  sind.  Aber  schon  innerhalb  der  antiken  Welt  ist  eine  solche 
Selbstaufzeichnung  von  Gebeten  etwas  häufiges:  es  sind  jene  Gelübde, 
Dank-  und  Fluchgebete,  die  der  Beter  an  die  Tempelwände  geritzt  oder 
auf  Papyrus,  Erz  oder  Blei  niedergelegt  hat  und  die  trotz  aller  Schemat 
uns  in  die  konkreten  Wünsche  und  Anliegen  des  antiken  Mensche 
blicken  lassen. 

Zu  den  von  anderen  gehörten  und  den  selbst  niedergeschriebenen  Ge- 
beten treten  solche,  die  von  dem  Beter  spontan  oder  auf  ausdrückliche 
Befragung  hin  mitgeteilt  und  dann  von  fremder  Hand  aufgezeichnet 
werden.  Auf  diesem  Wege  ist  die  Mehrzahl  der  Gebete  gewonnen 
worden,  die  wir  von  primitiven  Stämmen  besitzen.  Bisweilen  ließen 
auch  Forscher,  die  dem  Gebet  eines  Wilden  zugehört  hatten,  hernach 


IV.  Die    Quellen  für  eine  Untersuchung  des  Gebets  31 

dieses  von  dem  Beter  wiederholen  und  diktieren  80.  (Bei  bloß  mitgeteilten 
Gebeten  primitiver  Stammesangehöriger  besteht  stets  die  Möglichkeit, 
daß  es  sich  um  formelhafte  Gebete  handelt.)  Auf  dieselbe  Weise  sind 
auch  von  großen  religiösen  Persönlichkeiten  Gebete  überliefert.  So 
beruhen  die  Gebete,  die  Elsbeth  Stagelin  ihrer  Seusebiographie  berichtet, 
auf  den  persönlichen  Mitteilungen,  die  Seuse  seiner  geistlichen  Tochter 
gemacht  hat.  Von  Wert  sind  schließlich,  bei  dem  Mangel  genauer  An- 
gaben, auch  jene  Dokumente,  in  denen  der  Inhalt  eines  Gebets  nur 
referiert  oder  angedeutet  ist.  Hierher  gehört  Jesu  Gebet  für 
Petrus,  Pauli  Gebet  um  Befreiung  vom  Fleischesstachel,  seine  Für- 
bitten für  die  jungen  Christengemeinden  81  sowie  die  summarischen 
Inhaltsangaben  der  liturgischen  Gebete,  wie  sie  sich  bei  altchristlichen 
Schriftstellern  finden. 

Neben  den  „gebeteten"  Gebeten  steht  eine  zweite  größere  Gruppe 
von  Gebetsquellen :  die  verfaßten,  komponierten,  gedichteten 
Gebete,  die  fast  ausnahmslos  literarischer  Natur  sind.  Obenan 
stehen  die  teils  individuellen,  häufiger  generellen  Gebetsbei- 
spiele, die  den  Zweck  haben,  anderen  eine  seelsorgerliche  Anleitung 
zum  Gebet  zu  geben.  Die  wichtigste  solche  Gebetsan Weisung  ist  die- 
jenige, die  Jesus  nach  dem  Brauch  jüdischer  Rabbinen  seinen  Jüngern 
gab:  das  Vaterunser.  Es  ist  keineswegs  bestimmt  als  „Grundlage  einer 
unpersönlichen  Liturgie  für  einen  neuen  Kultus;  vielmehr  hat  Jesus 
als  Beter  die  Seinen  durch  dieses  Paradigma  beten  gelehrt"  (Deißmann)82. 
Wir  hören  zwar  in  den  Vaterunserbitten  nicht  ihn  selbst,  wie  er  Zwie- 
sprache hält  mit  seinem  Vater;  und  doch  sind  sie  ein  unschätzbares 
Zeugnis  von  seinem  Beten.  Denn  Jesus  hat  hier  „sein  Bestes  gegeben, 
die  reichen  Früchte  seiner  eigenen  Gebetserfahrung"  82.  Auch  Muham- 
med  gab  seinen  Anhängern  Gebetsbeispiele.  So  kam  einst  Abu  Bekr 
zum  Gesandten  Gottes  und  sprach:  „Lehre  mich  eine  du'a  (ein  freies 
Gebet),  das  ich  bei  der  salät  (dem  täglichen  Pflichtgebet)  beten  soll." 
Da  lehrte  ihn  der  Prophet  ein  Gebet  um  Sündenvergebung  83.  Auch 
von  Luther  besitzen  wir  solche  Gebetsparadigmen  für  individuelle, 
konkrete  wie  für  generelle  Fälle.  So  wenn  er  in  einem  Trostbrief  „an 
die  Christen  aus  Oschatz,  die  von  Herzog  Georgen  um  des  Evangelii 
willen  verjagt  worden  waren"  sie  zu  demütigem  Beten  anweist  84  oder 
wenn  er  in  seinen  Schriften  ganz  schlicht  und  spontan  angibt,  wie  ein 
frommer  Regent,  ein  Hausvater,  ein  Ackersmann,  eine  Magd  oder 
junge  Leute,  die  sich  in  den  Ehestand  begeben  wollen  85,  zu  Gott  in 
ihren  Anliegen  beten  sollen.  Auch  diese  Gebete  sind,  obgleich  sie  , ver- 
faßt' sind,  von  seinen  echten  .gebeteten'  Gebeten  in  keiner  Weise  unter- 
schieden; sie  beruhen  auf  der  Fähigkeit,  fremde  Bedürfnisse,  Anliegen 
und  Nöte  wie  die  eigenen  zu  erleben  und  aus  diesem  Sicheinfühlen 
heraus  mit  derselben  Natürlichkeit  und  Herzlichkeit,  die  das  eigene 
Beten  zeigt,  eine  hypothetische  Bitte  zu  formulieren. 

Der  Charakter  der  absichtlichen  Komposition  tritt  viel  stärker  als  in 
den  Gebetsparadigmen  in  den  zu  rituellen  und  liturgischen  oder 
privaterbaulichen  Zwecken  geschaffenen  Ge- 
betsformularen hervor.    Hierher  gehören  die  von  den  Priestern 


32  Einleitung 

der  antiken  Religionen  verfaßten  Opfer-  und  Ritualgebete,  die  über- 
wiegende Mehrheit  der  in  der  jüdischen  Synagoge  wie  in  den  christ- 
lichen Kirchen  gebrauchten  liturgischen  Gebete  und  die  zahllosen 
Gebete,  die  in  den  Gebet-  und  Erbauungsbüchern  der  christlichen  Kon- 
fessionen zu  lesen  sind.  Der  Quellenwert  dieser  Gebetsformulare  für 
die  Kenntnis  des  individuellen  Gebetslebens  ist  ein  sehr  abgestufter. 
Unter  ihnen  befinden  sich  solche,  in  denen  ein  spontanes,  schöpferisches 
und  tiefes  Beten  individueller  Persönlichkeiten  sich  unverkennbar 
verrät.  Dies  trifft  auf  manche  altchristliche  Gebete  zu,  einen  Teil  der 
orationes  des  Anselm  von  Canterbury,  auf  die  liturgischen  Gebete,  die 
von  Calvin  verfaßt  sind,  auch  auf  die  Gebetbücher  der  ersten  Hälfte 
des  Reformationsjahrhunderts.  (Freilich  sind  auch  diese  persönlich 
gefärbten  literarischen  Gebete  nicht  immer  der  reine  Reflex  des 
wirklichen  Betens  ihrer  Verfasser;  sie  sind  oft  nur  die  reife  Frucht  ihres 
Gebetslebens,  aber  sie  enthüllen  uns  nicht  die  verborgenen  Kämpfe 
und  Auseinandersetzungen,  die  inneren  Spannungen,  das  Auf-  und  Ab- 
wogen der  Affekte  und  Stimmungen,  das  dem  echten  Beten  eigen  ist; 
sie  sind  der  Ausklang  ihres  Betens,  aber  nicht  ihr  Beten  selbst.)  Daneben 
stehen  die  vielen  Gebete,  deren  Charakter  als  bewußte,  absichtliche 
Elaborate  und  Kunstprodukte  auf  den  ersten  Blick  ersichtlich  sind. 
Sie  sind  in  der  Form,  wie  sie  niedergeschrieben  wurden,  nie  vorher 
gebetet  worden,  sondern  erdacht,  ersonnen,  zum  Gebrauch  für  viele 
verfaßt,  „verfertigt",  wie  ein  Gebetbuchverfasser  des  16.  Jahrhunderts 
in  der  Vorrede  sagt  86,  oder  wie  Luther  sich  drastisch  ausdrückte,  „hinter 
dem  Ofen  erdichtet"  87.  Während  die  echten  Gebete  durch  eine  kraft- 
volle Knappheit  sich  auszeichnen,  zeigen  die  verfaßten  Gebete  eine 
Weitschweifigkeit  und  Breite  des  Ausdrucks,  die  bisweilen  ermüdet. 
Während  das  spontane  improvisierte  Beten  eine  gewisse  Sprunghaftig- 
keit  und  Abgerissenheit  der  Gedankenfolge  offenbart,  weisen  die  ver- 
faßten Gebete  klare  und  durchsichtige  Disposition,  logischen  Gedanken- 
aufbau und  innere  Gliederung  auf.  Spontanes  Beten  verrät  sich  in 
einer  schlichten  und  freien  Natürlichkeit  des  Ausdrucks,  die  literarischen 
Gebetselaborate  sind  kenntlich  an  dem  kunstvollen  Periodenbau,  der 
Bilderfülle,  dem  rhetorischen  Prunk  88.  Naives  Beten  ist  ungetrübt 
durch  alle  Reflexion,  wirkliches  Bitten  und  Danken,  die  erdachten 
Gebete  sind  reflektierend,  betrachtend,  dozierend,  predigend.  Echtes 
Beten  ist  spontaner  Ausdruck  des  eigenen  Erlebens  oder  doch  die  Frucht 
des  Selbsterlebten  und  Selbsterrungenen,  die  künstlich  komponierten 
Gebete  sind  für  die  anderen  Menschen  bestimmt,  die  sie  erbauen,  be- 
lehren, religiös-ethisch  beeinflussen  sollen,  sie  sind  mehr  dogmatische 
Katechesen,  Sittenpredigten,  Homilien.  Ja,  die  meisten  dieser  künstlich 
gemachten  Gebete  sind  nicht  einmal  das  selbständige  Werk  der  Gebet- 
buchautoren. Die  Untersuchung  von  A  1 1  h  a  u  s  hat  ganz  überraschendes 
Licht  auf  die  kompilatorische,  bisweilen  sogar  plagiathafte  Abfassung 
von  Gebetbüchern  geworfen.  Die  Gebetsformulare  werden  aus  älteren 
Gebetssammlungen  entnommen,  abgeschrieben,  kombiniert  oder  flüchtig 
überarbeitet.  Verbreitete  Gebetbücher  aus  der  vor-  und  nachreformato- 
rischen  Zeit  sind  wenig  produktiv,  so  die  Werke  des  Prager  Kanzlers 


IV.  Die   Quellen,  für  eine  Untersuchung  des  Gebets  33 

Joh.  v.  Neumarkt,  des  Erasmus  v.  Rotterdam,  des  Petrus  Canisius, 
die  anonymen  Erbauungsbücher  des  Hortulus  animae,  der  Meditationes 
Augustini  usw.,  die  evangelischen  Gebetbücher  von  Habermann,  Kegel, 
Musculus  89.  Als  Dokumente  naiver  Gebetsfrömmigkeit  kommen  diese 
komponierten,  geschweige  denn  die  kompilierten  Gebete  nicht  in  Be- 
tracht; aber  sie  sind  doch  der  deutliche  Reflex  des  jeweiligen  Frömmig- 
keitslebens, wie  ein  Vergleich  der  mittelalterlichen,  reformatorischen, 
pietistischen  und  rationalistischen  Gebetbücher  beweist.  Die  literari- 
schen Gebetskompositionen  sind  darum  die  Hauptquelle  zur  Fest- 
stellung des  Betens  innerhalb  der  verschiedenen  Epochen,  Kulturen 
und  religiösen  Gemeinschaften.  In  ihnen  erfassen  wir  gerade  die  festen 
Frömmigkeitstraditionen  und  werden  so  einerseits  in  das  Gebetsleben 
der  großen  Persönlichkeiten  eingeführt,  welche  den  Anstoß  zur  Bildung 
solcher  Überlieferungen  gaben,  und  andererseits  in  die  an  die  formel- 
haften Gebetsmuster  sich  klammernde  Frömmigkeit  der  Durchschnitts- 
menschen. 

Zu  den  Gebetsparadigmen  und  Gebetsformularen  tritt  als  dritte 
Gruppe  der  verfaßten  Gebete  die  Gebetsdichtung,  in  welcher 
das  liturgische  oder  erbauliche  Gebet  sich  in  ein  künstlerisches  Gewand 
hüllt.  Den  schematischen,  nach  festen  Mustern  geschaffenen  antiken 
Kulthymnen  kommt  als  Gebetsdokument  eine  ähnliche  Bedeutung  zu 
wie  dem  rituellen  prosaischen  Gebetsformular.  Als  Zeugnis  echten, 
individuellen  Betens  ist  zum  Teil  die  aus  persönlichen  Gebetserlebnissen 
geborene  künstlerische  Gebetspoesie  zu  betrachten:  die  Hymnen  der 
individualisierten  Endphase  der  antiken  Religionen,  die  Psalmen  des 
Alten  Testaments,  die  lateinischen  Hymnen  des  christlichen  Altertums 
und  Mittelalters,  die  Kirchenlieder  der  verschiedenen  Landessprachen. 
Aber  nur  ein  Teil  dieser  geistlichen  Lieder  ist  der  selbständige  Ausdruck 
einer  persönlich  erlebten  Gebetsstimmung,  viele  sind  nur  Umdichtungen 
von  Prosagebeten.  So  schöpfen  nicht  wenige  Dichtungen  eines  Johann 
Heermann  und  Gerhard  Tersteegen,  ja  sogar  manche  Lieder  eines  Paul 
Gerhardt  aus  der  zeitgenössischen  Gebetsliteratur  ihren  Inhalt  90. 
Aber  darüber  besteht  kein  Zweifel,  daß  der  Sonnenhymnus  des  Ichenaton 
und  der  Psalm  Miserere,  das  ,,Veni  Sancte  Spiritus"  des  französischen 
Königs  Robert  und  das  „Salve  caput  cruentatum"  des  hl.  Bernhard, 
das  „Dies  irae"  des  Thomas  von  Celano  und  das  „Adoro  te  devote"  des 
Thomas  von  Aquin,  die  i:Q(i)Teg  x(bv  d-eiov  v^ivoiv  Symeons  des  Neuen 
Theologen  und  die  Gebetslieder  Luthers  oder  die  in  allen  Tempeln 
Südindiens  rezitierten  feurigen  Hymnen  des  Tamilmystikers  Mänikka 
Väschagar  zu  den  wirklichen,  nicht  zu  den  gemachten  Gebeten  zu 
zählen  sind.  Hier  reden  nicht  Literaten  und  Buchschreiber,  sondern 
große  Beter.  Wir  brauchen  nur  die  dichterische  Form  und  den  künst- 
lerischen Rhythmus  zu  abstrahieren  und  wir  lauschen  auf  die  vollen 
Klänge  eines  frischen  und  kraftvollen  Herzensgebetes. 

Eine  vierte  Variante  des  literarischen  Gebets  bildet  das  nach- 
geahmte Gebet,  das  sich  in  den  Epen  und  Dramen  der  großen 
Dichter  findet.  Der  Dichter  ist  wie  der  bildende  Künstler  der  fein- 
sinnige Psychologe,  der  die  zartesten  und  heimlichsten  Regungen  des 

Das  Gebet.  3 


34  Einleitung 

Herzens  kennt  und  verdolmetscht.  Die  Gebete,  die  er  seinen  Helden 
in  den  Mund  legt,  sind  zwar  niemals  in  dieser  Form  von  eines  Menschen 
Lippen  gekommen;  und  doch  sind  sie  der  lebendigen  Wirklichkeit 
abgelauscht,  „gebetete"  Gebete,  nicht  „gedichtete"  Gebete.  Sind  die 
Gebetsformulare  der  Priester,  Theologen  und  Erbauungsschriftsteller 
mehr  das  Spiegelbild  des  Gebetsgeistes  einer  bestimmten  Kultur- 
schicht, Frömmigkeitsepoche  oder  religiösen  Gemeinschaft,  so  sind  die 
Gebete  der  genialen  Dichter  mehr  die  unmittelbaren  Dokumente  der 
schlichten  Herzensfrömmigkeit  des  naiven  Menschen.  Wenn  man  an 
die  urwüchsigen  Gebete  bei  Homer  und  den  hellenischen  Tragikern 
denkt  oder  an  das  „Neige,  du  Schmerzensreiche"  des  Gretchens  in 
Goethes  Faust  oder  an  den  Hymnus  „Vergine  madre"  in  Dantes  Paradiso, 
so  wird  man  die  Gebete  in  den  Schöpfungen  der  großen  Dichter  zu  den 
erstklassigen  Gebetszeugnissen  stellen. 

2.  Selbstzeugnisse  ü  ber  das  Gebet. 

„Wie  von  Angesicht  zu  Angesicht  konnten  wir  den  Beter  in  seinen 
eigenen  Gebeten  sehen.  In  den  Worten  an  die  Jünger,  die  vom  Beten 
handeln,  sehen  wir  ihn  noch  einmal  wie  im  Spiegel"  (Deißmann)  91! 
Die  wichtigsten  Gebetsdokumente  sind  stets  die  Gebetsworte  selbst: 
aber  sie  bedürfen  zur  richtigen  Interpretierung  einer  Ergänzung  durch 
die  Äußerungen  großer  Beter  über  das  Gebet;  diese  enthüllen  dem 
Psychologen  noch  deutlicher  die  beim  Gebet  sich  abspielenden  seelischen 
Vorgänge:  Motiv,  Gefühlsverlauf  und  Wirkung.  Freilich  haben  die 
großen  Genien  nicht  allzu  häufig  in  der  ersten  Person  von  ihren  Gebets- 
erlebnissen erzählt:  Demut  und  religiöser  Zartsinn  hält  sie  zumeist 
davon  ab,  im  Ichstil  eine  detaillierte  Schilderung  von  den  intimsten 
seelischen  Regungen  zu  geben;  ja  sie  wagen  es  oft  gar  nicht,  in  die 
geheimnisvolle  Dämmerung,  in  die  das  Allerheiligste  ihres  Gottes- 
umganges gehüllt  ist,  mit  dem  grellen  Lichte  der  beobachtenden  Analyse 
hineinzuleuchten;  sie  verbergen  nicht  selten  ihr  heimlichstes  Gebets- 
leben vor  der  eigenen  Reflexion  ebenso  wie  vor  den  Fragen  anderer 
Menschen.  Ihre  kostbaren  Selbstzeugnisse  verstecken  sich  hinter  ihren 
generellen  und  normativen  Äußerungen  über  das  wahre  Beten.  In 
dem  Gebetsideal,  das  die  großen  Beter  verkündet  haben,  haben  sie 
uns  ein  Bild  ihres  Betens  gezeichnet.  Wenn  wir  die  Hülle  des  Normativen 
und  Polemischen  abstreifen,  haben  wir  ein  echtes  Selbstzeugnis  in 
Händen.  Der  Begriff  des  Selbstzeugnisses  darf  nicht,  wie  es  die  heutigen 
Religionspsychologen  zumeist  tun,  auf  die  direkte,  schon  psychologisch 
gefärbte  Beschreibung  und  Analyse  von  religiösen  Zuständen  und  Er- 
fahrungen beschränkt  werden.  Verwertet  doch  auch  die  Psychologie  des 
künstlerischen  Schaffens  die  Meisteranweisungen  der  großen  Künstler 
als  eine  erstklassige  Quelle. 

Obenan  stehen  die  möglichst  un theologischen,  unproblematischen  und 
unsystematischen  Gebetsanweisungen  großer  Beter,  die 
der  psychologischen  Absichtlichkeit  entbehren.  Jesus  hat  in  den  kurzen 
und  zerstreuten  Worten  über  das  wahre  und  falsche  Beten  sein  Selbst 


IV.  Die   Quellen  für  eine  Untersuchung  des  Gebets  35 

gezeichnet.  Seine  schroffe  Kritik  an  der  Gebetspraxis  der  Scheinheiligen 
und  Heiden  öffnet  den  Ausblick  auf  die  Art  seines  Betens.  An  den 
Ecken  und  Straßen  beten  die  Heuchler,  er  betet  im  Kämmerlein.  Wort- 
reiche Liturgien  plappern  die  Heiden  und  Pharisäer;  seine  Gebete  sind 
knapp.  Durch  seine  Worte:  „Du  aber,  wenn  du  betest"  .  .  .  hindurch- 
blickend, sehen  wir  ihn  selbst  an  jenen  einsamen,  wüsten  Stätten  während 
der  Nacht  auf  den  Knien  liegen.  Seine  Forderung  für  die  Feinde  zu 
beten,  entstammt  seinem  eigenen  Gebetsleben:  noch  am  Kreuze  bittet 
er  für  seine  Mörder  92.  Aus  seiner  energischen  Mahnung  zum  stürmischen 
Beten  und  aus  den  Worten  der  Verheißung  ,  die  er  den  gläubigen  Betern 
gibt,  redet  seine  eigene  kindliche  Zuversicht  und  unerschütterliche 
Erhörungsgewißheit.  Wenn  Augustinus  im  Brief  an  die  Witwe  Proba 
(ep.  130)  ein  spiritualistisch.es  Gebetsideal  entwirft,  ob  enthüllt  er  sein 
eigenes  rein  geistiges  Beten.  Wenn  Nilus  Sinaita  in  seinen  Apothegmen 
den  Wüstenmönchen  Weisungen  für  ihr  Beten  gibt  93,  so  läßt  er  uns 
in  sein  eigenes  Gebetsleben  einen  Blick  tun.  Wenn  Luther  ,,die  Weise, 
wie  man  beten  soll"  angibt  oder  die  „Stücke,  die  zum  rechten  Gebet 
not  sind"  94,  aufzählt,  so  erfahren  wir  im  Grunde  nur  von  seinem 
eigenen  Beten  und  Glauben.  In  dem  „Discours  touching  prayer"  des 
englischen  Baptisten  John  Bunyan  offenbart  sich,  obgleich  er  schon 
eine  bei  Luther  fehlende  Systematik  zeigt,  die  wundervolle  Affektivität 
und  Spontaneität,  die  das  Gebetsleben  dieses  Kesselflickers  auszeichnet. 

Reflektierter  imd  absichtlicher  als  diese  völlig  naiven  Selbstzeugnisse 
sind  die  generellen  und  normativen  Äußerungen  der 
großen  neueren  Theologen  und  Prediger,  die  sich  in 
ihren  Predigten  oder  religiösen  Schriften  finden  (Schleiermacher,  Tholuck, 
Monod,  Robertson).  Doch  bedingt  der  individualistische  Geist  der 
Neuzeit  eine  vertiefte  und  verfeinerte  psychologische  Beobachtung  und 
Schilderung  religiöser  Erlebnisse.  Eine  Perle  in  der  neueren  religiösen 
Literatur  ist  das  Büchlein  des  dänischen  Bischofs  Monrad:  „Aus  der 
Welt  des  Gebets",  das  ebenso  das  Dokument  einer  schlichten  Herzens- 
frömmigkeit wie  einer  treffsicheren  religiösen  Psychologie  ist. 

Die  Selbstzeugnisse  der  Mystiker  über  das  Gebet, 
seien  sie  nun  individuelle  Berichte  oder  kollektive  Gebetsanleitungen, 
nehmen  eine  Sonderstellung  ein.  Die  Mystik  führt  den  Menschen  in 
sein  Inneres  zurück,  die  stete  Innenkonzentration  und  Selbstversenkung, 
die  Beschäftigung  mit  sich  selbst  führt  von  selbst  zu  echter,  psycholo- 
gischer Selbstbeobachtung.  So  kommt  es,  daß  die  Äußerungen  mystischer 
Persönlichkeiten  —  soweit  sie  nicht  an  den  naiven  Phantasievorstellungen 
der  Brautsymbolik  hängen  bleiben  —  vielfach  einen  psychologisieren- 
den  Charakter  haben.  Gerade  die  buddhistischen  Mönche  und  die 
christlichen  quietistischen  Mystiker  haben  die  psychologische  Selbst- 
besinnung bis  zur  Virtuosität  ausgebildet.  Die  heilige  Theresa  steht 
mit  ihren  meisterhaften  Analysen,  von  denen  jeder  moderne  Psychologe 
lernen  kann,  unter  allen  Mystikern  unübertroffen  da,  man  könnte  sie 
als  die  Psychologin  unter  den  Heiligen  bezeichnen;  gleichwohl  wird  bei 
ihr  durch  die  psychologische  Selbstbeobachtung  die  Naivität  und  Inten- 
sität des  Erlebens  nicht  beeinträchtigt.     Sie  hat  es  fertig  gebracht  zu 


3  6  Einleitung 

erleben  und  gleichzeitig  das  Erlebte  zu  beobachten.  Sie  beschreibt 
ihre  mystischen  Gebetszustände,  während  sie  dieselben  erlebt;  und  es 
ist  ihr  dabei,  „als  hätte  sie  ein  Muster  vor  sich  und  zeichnete  es  ab  95". 
Es  ist  jedoch  ein  Fehler,  in  den  die  Religionspsychologen  gerne  ver- 
fallen, die  mystischen  Selbstzeugnisse  um  ihres  psychologischen  Charak- 
ters willen  zur  Hauptquelle  ihrer  Untersuchungen  zu  machen;  sie  ver- 
gessen dabei,  daß  sie  in  diesen  psychologisierenden  Dokumenten  nur 
den  einen  großen  Typ  individueller  Frömmigkeit  vor  sich  haben.  Der 
religionspsychologische  Quellenwert  der  von  prophetischen  Persönlich- 
keiten stammenden  rein  normativen  Selbstzeugnisse  ist  keineswegs  im 
Vergleich  zu  den  mystischen  Selbstbekenntnissen  ein  geringerer;  wenn 
sie  auch  jeder  psychologischen  Absichtlichkeit  ermangeln,  so  veran- 
schaulichen sie  doch  sehr  oft  —  man  denke  an  Luther  und  Bunyan  ■ — 
die  inneren  Erlebnisse  mit  einer  erstaunlichen  sprachlichen  Plastik. 
Nur  sekundäre  Bedeutung  kommt  den  G  ebetstheologienzu, 
wie  sie  in  den  zahlreichen  ,de  oratione'  betitelten  systematischen  Ab- 
handlungen von  Origenes,  Tertullian,  Cyprian,  Alexander  von  Haies, 
Thomas  von  Aquin,  Suarez,  Melanchthon,  Calvin  und  vielen  anderen 
Theologen  vorliegen.  Sie  sind  zumeist  von  einer  philosophisch  orientier- 
ten Problematik  bestimmt ;  an  das  naive  religiöse  Erleben  treten  ethische 
imd  rationale  Gesichtspunkte  heran.  Aber  auch  dann,  wenn  die  theo- 
logische Norm  nicht  von  außerreligiösen,  philosophischen  Motiven  be- 
stimmt, sondern  aus  dem  wirklichen  Frömmigkeitsleben  abstrahiert 
ist,  kann  der  Normgedanke  so  gesteigert  sein,  daß  das  Gebets  ideal 
sich  mit  dem  Gebets  leben  nicht  mehr  vollständig  deckt,  wie  das 
bei  den  großen,  untheologischen  Betern  der  Fall  ist  96.  Doch  bieten 
solche  Gebetstheologien  manche  Anhaltspunkte  für  unsere  Kenntnis 
von  der  Frömmigkeit  des  Verfassers,  bisweilen  auch  wie  der  dem  Gebet 
gewidmete  Abschnitt  in  der  Jnstitutio  religionis  christianae'  Calvins 
wertvolle  psychologische  Fingerzeige. 

3.  Reine  Fremdzeugnisse. 

Das  reine  Fremdzeugnis  —  die  von  anderen  gehörten  und  festge- 
haltenen Gebetsworte  sind  im  Grunde  ja  Selbstzeugnisse  —  gibt  Be- 
obachtungen über  den  Körperausdruck,  die  Mimik,  Geste  und  Haltung 
des  Betenden  wieder.  Dieses  Fremdzeugnis  ist  teils  literarischer 
Bericht,  teils  künstliche  Darstellung.  Notizen  über  die  konventionellen 
Körperhaltungen  beim  Gebet  enthalten  die  Berichte  von  Ethnographen 
wie  von  antiken  Schriftstellern.  Über  den  individuellen  Körperausdruck 
konkreter  Gebetserlebnisse  großer  Beter  (z.  B.  Jesu  und  des  hl.  Franz) 
besitzen  wir  einige  spärliche  Notizen.  Wichtiger  und  ergiebiger  für 
die  Kenntnis  des  Körperausdrucks  sind  die  künstlerischen 
Darstellungen  von  Betern  in  der  antiken,  mittelalterlichen  und  modernen 
Malerei  und  Plastik96.  Gewiß  bezeugen  die  Werke  religiöser  Kunst  auch 
den  traditionellen  und  konventionellen  Gebetsgestus,  aber  sie  verraten 
uns  gerade  jene  individuellen  Ausprägungen  des  religiösen  Erlebnisses, 
vor  allem  im  Mienenspiel,  die  von  den  literarischen  Berichten  nur  un- 


IV.  Die   Quellen  für  eine  Untersuchung  des  Gebets  37 

vollkommen  beschrieben  werden  können.  Nichts  beweist  den  Quellen- 
wert der  künstlerischen  Darstellungsn  für  das  Studium  der  das  innere 
Erleben  begleitenden  Ausdrucksvorgänge  besser  als  der  Umstand,  daß 
die  beiden  Haupttypen  individuellen  Betens :  der  kontemplativ-mystische 
und  der  affektiv-prophetische  in  den  Darstellungen  betender  Menschen 
durch  die  Plastik  und  Malerei  wiederkehren. 


Die  Typen  des  Gebets. 
A.   Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen. 

I.  Vorbemerkungen. 

Das  spontane,  freie  Bittgebet  des  naiven  Menschen  stellt  den  Prototyp 
alles  Betens  dar:  es  ist  ein  Nachhall  jenes  Urgebetes,  das  einst  —  wir 
wissen  nicht,  wo  und  wann  —  von  den  Lippen  des  vorgeschichtlichen 
Menschen  sich  losriß  und  den  Gebetsverkehr  zwischen  dem  Menschen 
und  der  Gottheit  eröffnete;  es  ist  aber  zugleich  eine  Antizipation  jener 
grandiosen  Gebetsschöpfungen,  die  sich  auf  den  Gipfelpunkten  des 
Erlebens  der  religiösen  Genien  vollzogen.  Am  reinsten  erfassen  wir 
es  im  Beten  der  Primitiven;  in  den  Volksreligionen  hochentwickelter 
Kulturvölker  lebt  es  mit  urwüchsiger  Kraft  und  Naivität,  ist  aber  durch 
das  formelhafte  Gebet  und  die  mannigfachen  festen  Formen  der  Be- 
schwörung und  des  Zauberspruches  stark  zurückgedrängt.  In  den 
formelhaften  Gebeten  antiker  Kulte,  deren  hohes  Alter  sich  schon  in 
der  archaischen  Sprache  verrät  und  deren  anspruchslose,  knappe  Fas- 
sung nicht  auf  das  Werk  dichtender  Priester  hinweist,  haben  sich  die 
spontanen  Gebetsschöpfungen  prähistorischer  Zeiten  erhalten.  (Oft 
sind  sie  uns  nicht  selbständig  überliefert  worden,  sondern  haben  sich 
unter  die  Zauberliteratur  verirrt,  oder  sie  sind  in  die  Hymnendichtungen 
aufgenommen  worden.)  Aber  auch  manche  Hymnen  z.  B.  des  Rigveda 
und  dichterische  Gebete  wie  bei  Homer  und  den  hellenischen  Tragikern 
verraten  sich  an  der  köstlichen  Naivität  und  an  der  Frische  ihrer  Sprache 
als  Widerhall  echten  Betens.  Die  Darstellung  des  Urphänomens  des 
Gebets  nach  diesen  Quellen  unterliegt  jedoch  außerordentlichen 
Schwierigkeiten . 

1.  Die  Stämme,  die  wir  unter  den  eingebürgerten,  aber  nicht  völlig 
zutreffenden  Sammelnamen  , Primitive',  ,Naturvölker',  ,savages',  ,peuples 
non  civilises'  zusammenfassen,  sind  in  ihrem  Kulturleben  zum  aller- 
geringsten Teil  wirkliche  ,Primitive'  x  und  wirkliche  , Naturvölker1 
—  nur  auf  ganz  wenige  von  der  übrigen  Kulturwelt  abgeschiedene 
Stämme  trifft  das  annähernd  zu  2  —  sie  zeigen  vielmehr  eine  ganze 
Reihe  von  Kulturstufen,  Kulturschichten  und  Kulturkreisen.  Während 
die  ältere  Religionswissenschaft  bzw.  Kulturforschung  im  weiteren 
Sinne  die  Stämme  Amerikas,  Afrikas  und  Austronesiens  als  Träger 
einer  relativ  einheitlichen  , primitiven'  Kultur  betrachtete,  die  Elemente 
dieser  ,primitiven'  Kultur  mit  solchen  der  antiken  Kulturen  kombinierte 
und  von  anderen  antiken  Kulturelementen  schied  und  so  glänzende 
Entwicklungsschemata    konstruierte,     hat    die     neuere    ethnologische 


I.   Vorbemerkungen  39 


Schule  deutlich  dargetan,  daß  schon  die   ,primitive  Kultur'  eine  Fülle 
von  Kultur bildungen  aufweist.  Es  ist  ein  gewaltiger  Unterschied  zwischen 
der  Kultur  eines  Weddapygmäen,  eines  Zentralaustraliers,  eines  west- 
afrikanischen   Negers    und    eines    nordamerikanischen    Indianers,    wie 
schon  eine  laienhafte  Vergleichung  erkennen  kann.    Auch  die  religiösen 
Vorstellungen  und  Kulte  zeigen  ganz  erhebliche  Differenzen  und  Niveau- 
unterschiede.   Die  erwähnte  kulturhistorische'  Ethnologenschule  sucht 
mit  einem  staunenswerten  Aufwand  an  Scharfsinn  in  äußerst  mühe- 
voller Kleinarbeit  die  verschiedenen  Kulturkreise  und  -schichten  der 
niederen  Rassen,  die  sich  in  mannigfacher  Weise  kreuzen,  kombinieren 
und  überlagern,  bloßzulegen  und  so  ein  historisch  gesichertes,  nicht 
auf   bloße  subjektive   Evolutionsschemata  aufgebautes   Bild   von   der 
Entwicklung    der    verschiedenen    Kulturphänomene    (der    Wirtschaft, 
Wohnung,    Technik,   Gesellschaft,   Sitte,  Kunst  und  Religion)  zu  ge- 
winnen 3.     Die  Methode  dieser  kulturgeschichtlichen  Völkerkunde  hat 
zweifellos  den  Vorzug  vor  der  völkerpsychologisch-evolutionistischen 
Kulturforschung.     Doch  ist  heute  die  Kultur kreistheorie  im  Einzelnen 
noch  zu  wenig  gesichert  und  zu  hypothetisch,  das  Problem  des  Ver- 
hältnisses von  , Elementargedanke'  und  Übertragung'  zu  umstritten, 
als   daß   sie   einer  religionswissenschaftlichen   Untersuchung   Anhalts- 
und Stützpunkte  bieten  könnte.     Das  interessante  Problem,  inwiefern 
schon  innerhalb  der  primitiven  Welt  das  Gebet  hinsichtlich  des  Grades 
der    Spontaneität   und   Freiheit,   des    Inhalts,   der   tragenden    Gottes- 
vorstellung und  des  Verhältnisses   zu   Beschwörung  und  Zauberwort 
mannigfache  Abstufungen  zeigt,  ist  heute  noch  nicht  spruchreif;   es 
setzt  einen  noch  gründlicheren  Ausbau  der  kulturhistorischen  Ethnologie 
voraus.     Überdies  besteht  ein  inneres  Recht,  zusammenfassend  von 
einer  primitiven  Kultur  zu  reden  und  sie  der  antiken  Hochkultur  gegen- 
überzustellen,  obschon   die  primitive   Kultur  eine   Reihe  von    Stufen 
umfaßt  und  die  antike  Kultur  zahlreiche  primitive  Reste  in  sich  birgt. 
Der  fundamentale  Unterschied  liegt  in  der   Schriftlosigkeit 
der   niederen    Rassen    und   in    dem    Schriftbesitz   der   antiken 
Völker4.     Dieser  Unterschied  ist  für  die  Religion  und  ganz  besonders 
für  das  Beten  von  unermeßlicher  Bedeutung;  die  schriftliche  Fixierung 
ritueller  Gebete  und  Hymnen  bedingt  eine  Bindung  des  freien  Betens, 
die  in  demselben  Umfang  bei  schriftlosen  Völkern  nicht  möglich  ist. 
Schon  dieses  eine  Moment  —  ganz  abgesehen  von  der  Gleichförmigkeit 
des  Inhalts  aller  primitiven  Gebete  —  berechtigt  zu  einer  einheitlichen 
Zusammenfassung  aller  Naturvölker  in  der  folgenden  Darstellung  des 
naiven  Betens  des  primitiven  Menschen. 

Eine  zweite  Schwierigkeit  steckt  in  dem  Problem  von  der  Bedeutung 
des  Individuums  für  die  Entwicklung  der  Kultur  und  der  Religion. 
Nach  der  herkömmlichen  Anschauung,  die  von  Wundt  und  Durkheim  5 
lehrhaft  zugespitzt  wurde,  ist  Träger  eines  religiösen  Gedankens  oder 
Ritus  immer  nur  die  Gesellschaft  (Familie,  Clan,  Stamm),  aber  nie  der 
Einzelne.  Gewiß  ist  die  soziale  Gebundenheit  des  primitiven  Menschen 
gerade  in  religiösen  Dingen  eine  sehr  starke,  aber  ebenso  unzweifelhaft 
ist,  daß  es  schon  in  der  primitiven  Gesellschaft  schöpferische  Individuen 


40  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

gibt,  die  über  das  durchschnittliche  Niveau  hinausragen  und  von  denen 
der  kräftigste  Anstoß  zur  kulturellen  Fortentwicklung  ausgeht  6.  Auch 
die  religiöse  Begabung  der  primitiven  Menschen  ist  eine  abgestufte; 
neben  den  im  traditionellen  Geleise  einhertrottenden  Durchschnitts- 
frommen stoßen  wir  auch  auf  solche  Individuen,  deren  Frömmigkeit 
einen  —  wenn  auch  nur  schwachen  —  individuellen  Zug  besitzt.  Die 
ethnographischen  Forscher,  welche  an  Ort  und  Stelle  einen  primitiven 
Stamm  beobachteten,  haben  freilich  bis  heute  zumeist  auf  das  Indi- 
viduelle, Persönliche  kaum  geachtet,  sondern  ihre  Aufmerksamkeit  fast 
nur  auf  das  Generelle,  Soziale  und  Konventionelle  gerichtet,  das  natur- 
gemäß viel  leichter  faßbar  ist. 

Damit  hängt  auch  zusammen,  daß  die  Ethnographen  das  Gebet  als 
spontanen  und  formlosen  Herzenserguß  viel  seltener  beobachtet  und 
aufgezeichnet  haben  als  die  schon  irgendwie  formelhaften  Gebete,  die 
Gemeingut  einer  sozialen  Gesamtheit  sind.  Manche  Forscher  schweigen 
völlig  über  das  Beten  der  Wilden  oder  begnügen  sich  mit  andeutenden 
Hinweisen  und  ungenauen  Berichten.  Sie,  die  zweifellos  bisweilen  in 
der  Lage  waren,  solche  Gebete  zu  hören  oder  zu  erfragen,  haben  wohl 
die  ausführliche  Mitteilung  von  Gebeten  oder  die  nähere  Beschreibung 
des  Gebetsgestus  für  zu  banal  und  uninteressant  gehalten,  da  es  sich 
um  scheinbare  Selbstverständlichkeiten  handelt.  In  vielen  Fällen 
freilich  beruht  das  Schweigen  über  das  Beten  eines  Volkes  oder  sogar 
die  kategorische  Behauptung,  daß  ein  bestimmter  Stamm  das  Gebet 
überhaupt  nicht  kenne,  auf  der  taktvollen  Zurückhaltung  der  Primitiven 
über  ihr  religiöses  Denken  und  Leben  7.  Die  meisten  ethnographischen 
Notizen  sagen  uns  auch  nichts  darüber,  ob  und  wieweit  ein  mitgeteiltes 
Gebet  spontan-augenblicklich  oder  regelmäßig-wiederkehrend,  frei- 
improvisiert oder  traditionell-gebunden  ist.  Bisweilen  ist  dies  aus  dem 
Zusammenhang  zu  erschüeßen,  auch  schärft  der  stete  Vergleich  einer 
großen  Zahl  von  Gebeten  den  Blick  für  das  Spontane  und  das  Kon- 
ventionelle. Da  aber  die  uns  mitgeteilten  Gebete  fast  nie  das  Werk 
bewußt  schaffender  und  dichtender  Priester  sind,  sondern  auch  dann, 
wenn  sie  bereits  formelhafte  Starre  zeigen,  nur  in  verfestigter  Form 
ein  ursprünglich  spontanes  und  freies  Gebet  darstellen,  können  sie 
unbedenklich  als  Quelle  naiven  Betens  verwertet  werden.  Die  meisten 
oder  doch  sehr  zahlreiche  von  Ethnographen  aufgezeichneten  Gebete 
scheinen  jedoch  gar  nicht  formelhafter  Natur  zu  sein,  sondern  stellen 
eine  Zwischenform  zwischen  dem  völlig  freien  und  völlig  gebundenen 
Gebet  dar.  Die  in  der  ethnographischen  Literatur  sich  findenden  Gebete 
niederer  Stämme  dürfen  also  als  zuverlässige  Quellen  für  unsere  Dar- 
stellung des  primitiven  Betens  gelten. 

2.  Das  interessante  Material,  das  die  Volksfrömmigkeit  aller  Jahr- 
hunderte bietet,  ist  schwer  zugänglich.  Eine  Sammlung  der  zerstreuten 
Notizen  und  Hinweise  bei  Historikern  und  zeitgenössischen  Schrift- 
stellern, die  — ■  von  sachlichem  und  polemischem  Interesse  beseelt  — 
über  Äußerungen  des  Volksglaubens  und  -Aberglaubens  sich  aus- 
sprechen, wäre  sehr  lohnend.  Die  in  den  Ländern  germanischer  Zunge 
seit  fast  einem   Jahrhundert  eifrig  gepflegte  Folkloristik  befaßt  sich 


IL  Anlaß  und   Motiv  zum    Gebet  41 

ähnlich  wie  die  Ethnographie  fast  ausschließlich  mit  den  Sitten  und 
Bräuchen  des  Volkes,  die  ein  festes,  durch  die  Wandlungen  der  Zeit 
wenig  berührtes  Traditionsgut  bilden,  hat  aber  der  spontan  sich  äußern- 
den, aus  den  konkreten  persönlichen  Nöten  geborenen  Frömmigkeit 
so  gut  wie  keine  Aufmerksamkeit  geschenkt.  Erst  die  ganz  junge  Reli- 
giöse Volkskunde',  die  einen  Zweig  der  religionspsychologisch  so  frucht- 
baren praktischen  Theologie  (des  Protestantismus)  bildet,  hat  sich  auf 
die  Sammlung  und  psychologische  Deutung  dieser  Tatsachen  geworfen ; 
doch  ist  das  bis  jetzt  gewonnene  Material  noch  relativ  spärlich.  Die 
katholische  Volksfrömmigkeit,  die  noch  reicheren  Stoff  bietet,  ist 
leider  überhaupt  noch  nicht  Gegenstand  wissenschaftlicher  Unter- 
suchungen geworden,  obgleich  die  primitive  Religion  im  Katholizismus 
einen  viel  kräftigeren  Nährboden  besitzt  als  im  Protestantismus.  Die 
äußeren  Formen  der  Volksreligion  tragen  zwar  stets  das  Gepräge  der 
jeweils  herrschenden  Kultur-,  National-  oder  Universalreligion;  aber 
wenn  wir  in  die  inneren  Absichten  und  religiösen  Meinungen  der  naiven 
Menschen,  die  in  diesen  Formen  ihr  elementares  religiöses  Sehnen  aus- 
leben, eindringen,  so  tritt  uns  das  Primitive  in  seiner  wunderbaren 
Urgewalt  un verhüllt  entgegen. 

3.  Eine  Schwierigkeit  bietet  schließlich  noch  die  Verwertung  antiker 
Gebetsformeln,  in  denen  sich  das  ehedem  spontane  Beten  zu  festen 
Gestalten  kristallisiert  hat.  Die  heutige  kulturgeschichtliche  Forschung 
ist  noch  nicht  soweit  gekommen,  die  in  den  primitiven  Rassen  auf- 
gedeckten Kulturschichten  mit  den  ältesten  Schichten  der  in  der  Nacht 
der  Prähistorie  sich  verlierenden  antiken  Kulturen  zu  vergleichen. 
Solange  dies  nicht  geschehen  ist,  ruht  die  Zusammenstellung  primitiver 
und  antiker  Kulturelemente  auf  unsicheren  Füßen.  Schon  jetzt  aber 
ist  es  wahrscheinlich,  daß  selbst  die  ältesten  Schichten  der  antiken 
Kulturen  noch  jünger  sind  als  die  verschiedenen  Kulturschichten  primi- 
tiver Rassen.  Die  ganze  materielle  Kultur  ist  ungleich  komplizierter 
als  die  der  niederen  Stämme,  die  Religion  hat  viel  von  ihrer  ursprüng- 
lichen Naivität  eingebüßt,  das  Kultwesen  an  Pracht  und  Ausdehnung 
gewonnen.  Aber  die  archaischen  Ritualformeln  und  die  in  den  literari- 
schen Gebeten  immer  wiederkehrenden  stereotypen  Redensarten  („höre 
mich"  usw.)  reichen  ebenso  wie  die  konventionellen  Gebetshaltungen 
und  Gebetsgesten  in  die  vorgeschichtliche,  schriftlose  Zeit  zurück  und 
dürfen  so  als  Dokumente  primitiver  Religion  verwertet  werden. 

II.  Anlaß  und  Motiv  zum  Gebet. 
1.  Den  ursprünglichen  Anlaß  zum  Gebet  bildet  stets  eine  augenblick- 
liche konkreteNotlage,in  der  die  elementaren  Lebensinteressen 
eines  Einzelnen  oder  einer  Gruppe  schwer  bedroht  sind:  Dürre  und 
Hungersnot,  Lebensgefahr  in  Sturm  und  Gewitter,  Angriffe  von  Feinden 
und  wilden  Tieren,  Krankheit  und  Seuche,  aber  auch  Beschuldigung  und 
Anklage  wie  die  Schmach  der  Kinderlosigkeit  drängen  den  naiven  Men- 
schen spontan,  mit  innerer  Gewalt  zum  Gebet  an  die  höheren  Wesen 
(konkrete  Einzelbeispieles,  u .  Abs.  V :  Inhalt  des  Gebets  S .  6 1  f  f . ) .  Die  durch 
solche  Situationen  bedingten,  seelischen  Erlebnisse,  welche  das  Gebet 


42  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


motivieren,  charakterisieren  sich  als  momentane  Affekte  (bisweilen 
auch  habituelle  oder  Daueraffekte)  von  hoher  Intensität:  Furcht, 
Schrecken,  Entsetzen,  Angst,  Ärger,  Zorn,  Haß,  Kummer,  Gram,  Sorge. 
Das  Affektleben  des  primitiven  Menschen  ist  weit  reizempfindlicher, 
gesteigerter  und  ungebändigter  als  das  des  unter  zahlreichen  Hem- 
mungen lebenden  Kulturmenschen.  „Der  kleinste  Reiz  genügt,  eine 
ganz  un verhältnismäßige  Entladung  zu  bewirken  1."  Durch  den  Affekt 
betroffen,  äußert  sich  der  Wille  zum  Leben,  der  instinktive 
Lebenstrieb  in  einem  leidenschaftlichen  Streben  und  drängenden  Ver- 
langen nach  Erhaltung  des  Lebens,  Befreiung  aus  der  gegenwärtigen 
»Situation,  Abwendung  der  Gefahr.  Das  Bewußtsein  der  gänz- 
lichen Ohnmacht  und  vollen  Abhängigkeit  von  höheren,  mäch- 
tigeren, in  die  Schicksale  des  Menschen  mit  starker  Hand  eingreifenden 
Wesen  trägt  das  ganze  Leben  des  primitiven  Menschen.  Im  Augenblick 
der  Gefahr  und  Not  erwacht  es  mit  einer  vorher  nie  vorhandenen  Leben- 
digkeit. Die  Verbindung  des  Abhängigkeitsgefühls  mit  dem  Selbst- 
behauptungsstreben läßt  die  Hoffnung  keimen:  das  Wesen,  das 
Herr  über  mein  Schicksal  ist,  kann  mir  auch  helfen  und  mich  retten. 
Diese  Zuversicht  drängt  spontan  und  unbewußt  zur  Anrufung  der  Gottheit 
und  zur  Bitte  um  Hilfe.  Wo  diese  Zuversicht  nicht  mehr  lebendig  ist, 
aber  das  Abhängigkeitsgefühl  gleichwohl  den  Menschen  erfüllt,  steht  an 
Stelle  der  zuversichtlichen  Bitte  die  verzweifelte  Klage,  in  der  er  nicht 
fleht  und  fordert,  sondern  nur  seine  Not  und  seinen  Jammer  vor  der 
Gottheit  ausschüttet.  Alle  diese  Vorgänge  spielen  sich  in  der  Seele  des 
Primitiven  natürlich  nicht  im  aufeinanderfolgenden  Nacheinander  ab, 
sondern  verschlingen  und  durchdringen  sich  gegenseitig  in  einem  ein- 
heitlichen Gesamterlebnis.  Doch  ist  es  auch  möglich,  daß  Furcht  und 
Hoffnung  eine  Zeitlang  alternieren,  bis  schließlich  das  Vertrauen  so  stark 
wird  und  bittende  Worte  von  den  Lippen  des  gequälten  Menschen  sich 
losreißen.  Man  könnte  darum  die  Furcht  als  das  treibende,  die  Hoffnung 
als  das  auslösende  Motiv  des  Gebets  bezeichnen. 

Der  Glaube  an  das  Vorhandensein  übernatürlicher, 
anthropomorpher  Wesen  muß  schon  vorbereitet  sein,  ehe 
der  Mensch  in  gewaltigen  seelischen  Erschütterungen  durch  die  Gebets- 
anrufung mit  ihnen  ein  Verhältnis  anknüpft  —  oder  in  der  Sprache  des 
religiösen  Menschen  ausgedrückt:  Gott  muß  sich  dem  Menschen  ge- 
offenbart haben,  ehe  der  Mensch  seinerseits  zu  ihm  kommt;  Gott  selbst 
muß  den  Verkehr  mit  der  Menschheit  eröffnen.  Es  ist  nicht  möglich, 
daß,  wie  Schopenhauer 2  und  Feuerbach  meinten,  der  Götterglaube 
lediglich  durch  eine  Projektion  des  Wunsches  entstanden  sei  oder  daß, 
wie  der  antike  Dichter  glaubte,  die  Furcht  allein  die  Götter  geschaffen 
habe  3.  Eduard  v.  Hartmann  schon  hat  richtig  erkannt,  daß  der  seelische 
Vorgang,  in  dem  sich  Furcht,  Hoffnung  und  Glückseligkeitsverlangen 
verbinden,  „nur  in  dem  Sinne  als  theogonischer  Prozeß  bezeichnet 
Werden  darf,  daß  er  die  schon  vorhandenen  Bewußtseinsobjekte  zu 
Objekten  des  religiösen  Verhältnisses,  d.  h.  zu  Göttern  macht".  ,,So 
wenig  die  instinktive  Anwendung  des  Kausalitätsgesetzes  allein  imstande 
ist '■  den  so  erschlossenen  Ursachen  den  Stempel  der  Göttlichkeit  auf- 


II.   Anlaß  und  Motiv  zum  Gebet  43 


zuprägen,  ebensowenig  vermag  die  unter  dem  Zwange  des  Wunsches 
leere  Hirngespinste  produzierende  Einbildungskraft  des  Menschen  die 
Basis  eines  religiösen  Verhältnisses  zu  bieten;  beide  müssen  einander 
ergänzend  entgegenkommen,  aber  die  Erkenntnis  von  Objekten  muß 
der  Anknüpfung  eines  religiösen  Verhältnisses  an  sie  vorangehen,  Wenn 
das  religiöse  Verhältnis  die  unentbehrliche  Gewißheit  erlangen  soll,  auf 
dem  Boden  realer  Wahrheit  zu  stehen"  4.  Der  Mensch  muß  also  bereits 
eine  Vorstellung  von  Gott  besitzen ;  das  in  der  Not  erwachende  Gefühl 
der  Ohnmacht  und  Abhängigkeit  kann  nur  diese  Vorstellung  zur  festen 
Überzeugung  erheben,  aber  nicht  aus  dem  Nichts  hervorrufen.  Den 
Gottesglauben  übernehmen  die  Menschen  von  der  Gemeinschaft,  in  der 
siegeboren  wurden  ;wie  er  aber  erstmals  entstand,  kann  hier  nicht  erörtert 
werden;  er  floß  unzweifelhaft  aus  einer  ganzen  Reihe  psychologischer 
Quellen  5. 

2.  „Not  lehrt  beten."  Ist  aber  einmal  durch  die  Not  der  Gebets- 
verkehr mit  dem  höheren  Wesen  eröffnet  und  ist  dem  Gebet  Hilfe  und 
Rettung  gefolgt,  so  führt  den  Menschen  in  Zukunft  nicht  nur  die  Be- 
drohung des  nackten  Lebens  zum  Gebet,  sondern  auch  das  Verlangen 
nach  Lebenssteigerung,  -erhöhung  und  -bereicherung.  Der  primitive 
Jäger  verlangt  Glück  auf  der  Jagd,  der  Fischer  reichen  Fang,  der  Kauf- 
mann reichen  Gewinn,  der  Herdenbesitzer  großen  Viehstand,  der  Acker- 
bauer glückliche  Ernte,  der  Reisende  glückliche  Fahrt  und  Heimkehr, 
der  abenteuerfrohe  Kämpfer  reiche  Siegesbeute,  der  vornehme  Häupt- 
ling zahlreiche  Sklaven  (Einzelbeispiele  u.  Abs.  V:  Inhalt  des  Gebets). 
So  tritt  als  zweites  Gebetsmotiv  zum  Affekt  der  Wunsch;  die  Grund- 
bedeutung eines  der  griechischen  Wörter  für  , Beten'  (evxEOÖai)  ist 
,Wünschen'.  Da  die  Erfüllung  des  Strebens  und  Begehrens  nicht  in  der 
Hand  des  Menschen  steht,  regt  sich  das  Abhängigkeitsgefühl ;  aber  das 
Bewußtsein,  daß  alles  Glück  vom  Willen  höherer  Wesen  abhängt,  die 
schon  in  Not  geholfen  haben,  entzündet  die  Zuversicht,  welche  dann 
die  naive  Äußerung  des  Wunsches  in  der  Bitte  an  den  Gott  auslöst. 
Auch  hier  ist  der  Anlaß  ein  konkreter,  augenblicklicher.  Wenn  der 
Primitive  auf  die  Jagd  geht,  bittet  er  um  Wild,  wenn  er  sät,  um  gute 
Ernte:  der  aufsteigende  Wunsch  setzt  sich  spontan  in  ein  Gebet  um. 
Der  Unterschied  von  dem  motivierenden  Erlebnis  im  ersten  Falle  besteht 
lediglich  in  der  geringeren  affektiven  Intensität  und  in  dem  Zurück- 
treten des  Unlustcharakters. 

3.  Die  konkreten  Anlässe  zum  Gebet  wiederholen  sich  immer  wieder, 
die  zum  Gebet  treibenden  Bedürfnisse  bleiben  stets  dieselben.  So 
kommt  es,  daß  der  primitive  Mensch  nicht  erst  wartet,  bis  er  in  Not 
gerät  oder  einen  Wunsch  hegt,  sondern  regelmäßig  seine  dauernden 
Bedürfnisse  und  Wünsche  in  genereller,  zusammenfassender  Form  den 
hohen  Wesen  vorträgt.  So  treten  neben  die  außerordentlichen  Anlässe 
zum  Gebet  die  regelmäßigen,  gewöhnlichen,  wie  sie  vor 
allem  der  Wechsel  der  Zeiten  bietet :  Sonnenaufgang  und  Sonnenunter- 
gang, der  Wechsel  der  Monde  und  Jahreszeiten,  Aussaat  und  Ernte 
Morgen-  und  Abendgebet  ist  nicht  etwa  bloß  im  Christentum  oder  bei 
antiken  Völkern,  wie  den  Ägyptern  6,  Griechen  7  und  Römern  8  üblich, 


44  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

sondern  bei  zahllosen  primitiven  Stämmen.  Jeder  Ovambo  (Südafrika) 
tritt  morgens  vor  das  Tor  seiner  Werft,  spuckt  gegen  die  Sonne,  wirft 
ihr  eine  Hand  voll  Blätter  oder  Gras  zu  und  spricht  dabei  seine  Wünsche 
aus  9.  Der  Dschagganeger  spuckt  am  Morgen  viermal  gegen  die  Sonne 
und  spricht:  ,,0  Ruwa,  schütze  mich  und  die  Meinen!"10  Und  der 
hamitische  Masai  betet  jeden  Morgen:  „Gott  meines  Elends,  gib  mir 
Essen,  gib  mir  Essen,  gib  mir  Milch,  gib  mir  Kinder,  gib  mir  viele  Rinder, 
gib  mir  Fleisch,  mein  Vater!"  n  Das  Auftreten  des  Neumonds  ist  bei 
den  Bantustämmen  ein  steter  Anlaß  zum  Gebet 12.  Wenn  die  Plejaden 
zurückkehren,  versammeln  sich  die  Hottentotten  und  fassen  ihre  ele- 
mentarsten Bedürfnisse  in  der  Bitte  zusammen:  ,,0  Tiqua,  Vater  über 
unseren  Häuptern,  gib  uns  Regen,  daß  die  Früchte  reifen  und  daß  wir 
reichlich  Nahrung  haben,  sende  uns  ein  gutes  Jahr!"13 

4.  Die  Glieder  der  primitiven  Gesellschaft  sind  ursprünglich  durch 
ein  starkes  Zusammengehörigkeitsgefühl  und  durch  einen  opferbereiten 
Altruismus  untereinander  verbunden .  Das  soziale  Mitfühlen  äußert  sich 
nicht  nur  im  Gebet  in  gemeinsamer  Not,  sondern  auch  im  wechsel- 
seitigen Fürbittegebet  der  Glieder  eines  sozialen  Kreises,  vor  allem  der 
Familie,  aber  auch  des  Clans  und  Stammes.  Der  Einzelne  erlebt  die 
Not  und  das  Bedürfen  des  mit  ihm  sozial  verbundenen  Menschen  wie 
seine  eigene  und  aus  diesem  altruistischen  Fühlen  heraus  bittet  er  zu 
den  hohen  Wesen  für  dessen  Glück  und  Wohl.  Ja  sogar  über  die  Grenzen 
des  engen  Stammeskreises  hinaus  reicht  das  zoziale  Fühlen ;  nicht  selten 
lesen  wir  von  herzlichen  Gebeten,  welche  Angehörige  primitiver  Rassen 
für  stammes-  und  rassenfremde  Europäer,  die  ihr  Vertrauen  und  ihre 
Zuneigung  gewonnen  hatten,  zu  ihren  Göttern  sprachen.  „Ich  und  der 
weiße  Mann,"  heißt  es  in  der  Fürbitte  eines  afrikanischen  Häuptlings, 
„wir  stehen  uns  so  nahe,  als  wenn  wir  von  einer  Mutter  wären."  14 
Der  primitive  Mensch  ist  wohl  ein  naiver  Eudämonist,  aber  —  soweit 
er  nicht  schon  die  Primitivität  durch  Einflüsse  der  verschiedensten 
Art  verloren  hat  —  kein  roher,  antisozialer  Egoist,  wie  ihn  manche 
anthropologische  Schilderungen  hinstellen.  Wir  müssen  also  das  al- 
truistische Mitgefühl  unter  die  Motive  des  primitiven  Gebets 
aufnehmen. 

5.  Es  ist  eine  oft  aufgestellte  Behauptung,  daß  die  kulturarmen 
Stämme  Dankbarkeit  und  Danksagung  nicht  kennen,  infolgedessen 
auch  ein  Dankgebet  in  ihrem  religiösen  Leben  nicht  möglich  sei.  Man 
verweist  auf  primitive  Sprachen,  die  eine  Vokabel  für  Danken  nicht 
besitzen  15,  man  erinnert  an  den  reichen  Wortschatz  des  Rigveda,  in 
dem  ein  Wort  für  Danken  fehlt.  Es  läßt  sich  auch  nicht  leugnen,  daß 
„der  Dank  als  ausgesprochene  Verkehrsform  durchaus  nicht 
Allgemeingut  der  Menschheit  ist"  (Schurtz),  obgleich  er  unter  zahl- 
reichen Naturvölkern  zu  den  stehenden  Umgangsformen  gehört.  Überall 
dort,  wo  ein  primitiver  Kommunismus  herrscht,  besteht  wenig  Anlaß 
zu  Dankesbezeugungen.  Gleichwohl  ist  es  fraglos,  daß  das  Gefühl  der 
Dankbarkeit  zu  den  elementaren  sozialen  Gefühlen  gehört,  die  dem 
Menschen  als  einem  Gesellschaftswesen  eigen  sind,  und  daß  dieses 
Gefühl  sich  in  Gestus,  Miene  und  Rede  äußert.   Manchen  Stämmen  wie 


II.   Anlaß  und  Motiv  zum  Gebet  45 

den  Dajak  wird  von  Forschern  sogar  ein  großes  Gefühl  der  Dankbarkeit 
nachgerühmt,  andere  z.  B.  die  westafrikanischen  Stämme  üben  die 
Dankesbezeugung  bis  zum  Übermaß  16.  So  gehört  denn  auch,  wie  aus 
zahlreichen  Belegen  hervorgeht,  das  Gefühl  freudiger  Dankbarkeit 
zu  den  Gebetsmotiven.  Nur  selten  freilich  geht  die  Freude  unvermittelt 
und  direkt  in  ein  Dankgebet  über.  Wenn  der  Herero  ein  unverhofftes 
Glück  in  die  Hände  fällt,  stehen  sie  staunend  still,  sehen  gen  Himmel 
und  rufen:  „Ndjambi  Karunga!"  (Name  des  Himmelsgottes)17;  hier 
haben  wir  einen  spontanen,  aus  einem  freudigen  Affekt  quellenden 
Jubelruf,  der  nur  in  der  Anrufung  besteht.  Sonst  aber  geht  dem  Dank- 
gebet meist  die  Bitte  voraus;  die  dankbare  Stimmung  bezieht  sich 
auf  die  erflehte  Befreiung  aus  einer  Not  oder  die  erbetene  Erfüllung 
eines  positiven  Wunsches.  Das  Gefühl  der  Freude,  des  Beglücktseins 
verbindet  sich  mit  dem  Bewußtsein  der  Abhängigkeit :  nicht  sich  selbst 
oder  anderen  Menschen,  sondern  dem  übermenschlichen  Wesen,  zu 
dem  er  zuerst  gefleht  und  dem  er  geopfert  hatte,  verdankt  der  Mensch 
die  Rettung  seines  Lebens,  die  Gewährung  von  Nahrung  und  Besitz. 
Ein  afrikanischer  Pygmäe,  der  Glück  bei  der  Suche  nach  Nahrung  hatte, 
betet:  „Waka,  du  hast  mir  diesen  Büffel,  diesen  Honig,  diesen  Wein 
gegeben."  18  Auch  hier  ist,  wie  bei  der  Bitte,  der  Anlaß  ein  konkreter 
und  momentaner.  Aber  wie  zum  Bitten,  so  haben  sich  auch  zum  Danken 
regelmäßige  Anlässe  herausgebildet.  Der  Primitive  war 
ursprünglich  Jäger  und  Pflanzensammler;  beim  Suchen  der  Nahrung 
war  er  auf  das  Finderglück  angewiesen;  das  Bewußtsein,  hinsichtlich 
der  Stillung  des  Nahrungsbedürfnisses  völlig  von  einer  höheren  Macht 
abhängig  zu  sein,  drückt  sich  am  tiefsten  darin  aus,  daß  er  für  Speise 
und  Trank  dankt.  Die  regelmäßige  Wiederkehr  des  Anlasses  bedingte 
die  Entstehung  der  Sitte  des  Tischgebets,  das  bei  verschiedenen  primi- 
tiven Stämmen  zur  Regel  geworden  ist.  Batchelor  äußert,  er  sei  sehr 
überrascht  gewesen,  als  er  viele  Ainu  (die  Urbevölkerung  von  Japan) 
vor  dem  Essen  danken  sah.  Auch  traf  er  nie  einen  Ainu,  der  nicht  vor 
dem  Weintrinken  die  Gottheit  begrüßte  und  ihr  für  ihre  Wohltat 
dankte  19.  Diese  fromme  Sitte  des  Tischsegens  ist  also  schon  ein  primi- 
tiver Brauch,  der  in  Griechenland  20  und  Rom  21  wie  im  Mazdaismus 
und  in  Israel  fortlebte  und  von  der  fortschreitenden  Frömmigkeit  ver- 
tieft und  verlebendigt  wurde.  Einen  regelmäßigen  Anlaß  zum  Dank- 
gebet bildet  vor  allem  auch  die  Ernte.  Die  afrikanischen  Dinka  bringen 
ihrem  Schöpfer  Dengdid  die  Erstlingsfrüchte  dar  und  danken  ihm  22. 
In  China,  wo  die  primitiven  Rtligionsformen  mit  großer  Treue  bis  in 
die  geschichtliche  Zeit  sich  erhalten  haben,  fanden  stets  nach  der  Ernte 
Dankgebete  statt 23.  Das  , Erntedankgebet'  findet  noch  heute  in  den 
christlichen  Kirchen  statt. 

Gewiß  vermischt  sich  in  vielen  Fällen  die  reine  Gesinnung  der  Dank- 
barkeit beim  Danksagen  mit  der  naiv-eudämonistischen  Absicht,  durch 
Dankesäußerung  sich  die  künftige  Wohlgeneigtheit  des  Gottes  zu  sichern ; 
doch  wäre  es  ungerechtfertigt,  deshalb  das  Dankgebet  für  nichts  weiteres 
zu  betrachten  als  ein  absichtliches,  aus  dem  vorausberechnenden  Egois- 
mus   geborenes  Mittel  zur  Gewinnung  neuer  göttlicher  Gunstbeweise. 


46  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


Erst  dort,  wo  das  Opferwesen  das  religiöse  Leben  beherrscht  und  zu 
einem  förmlichen  Handel  mit  den  übersinnlichen  Mächten  wird,  tritt 
das  Danken  zurück ;  der  Mensch  glaubt,  auf  Grund  seiner  Opferleistungen 
den  Gott  zur  Erfüllung  seiner  Wünsche  verpflichtet  zu  haben,  so  daß 
er  ihm  dafür  nicht  noch  dankbar  zu  sein  braucht.  Daraus  dürfte  es 
sich  erklären,  daß  in  den  großen  antiken  Religionen,  die  ja  Opferreligionen 
sind,  das  Dankgebet  uns  viel  seltener  begegnet  als  bei  primitiven 
Stämmen  24. 

6.  Bei  der  Bitte  und  Danksagung  treibt  den  Menschen  sein  eigenstes 
Interesse  zu  Gott;  aber  schon  im  Beten  des  primitiven  Menschen  ist 
jene  Form  des  Gebets  angedeutet,  die  in  der  Mystik  ihre  höchste  Voll- 
endung erreicht:  die  selbstvergessene,  in  Gott  versunkene  Anbetung. 
Neben  der  Not  mid  Dankbarkeit  steht  als  Gebetsmotiv  die  Ehrfurcht 
vor  dem  Heiligen,  dem  ,Numinosum''  und  ,Fascinosu7n  ;  es  ist  jenes 
spezifisch  religiöse  Urgefühl  oder  jener  Uraffekt  der  bangen  Scheu  und 
entzückten  Bewunderung,  aus  dem  die  Vorstellung  von  der  geheimnis- 
vollen, wunderbaren  ,Macht',  der  zauberhaften  ,Kraft',  dem  ,Jfawa'  und 
,Tabul  geboren  wurde,  eine  der  wichtigsten  Wurzeln  des  Gottesglaubens; 
es  ist  ein  Mischaffekt  oder  besser  ein  undifferenzierter  Affekt,  der  Furcht 
und  Hoffnung,  Angst  und  Zuversicht,  Schauer  und  Wonne,  Zittern  und 
Staunen  umfaßt 25.  Die  englische  Sprache  hat  hiefür  einen  annähernd 
zutreffenden  Terminus  in  dem  unübersetzbaren  AVorte  ,awe\  Bei 
vielen  Völkern  entlädt  sich  dieser  religiöse  Affekt  in  einem  spontanen 
Ausruf:  die  ,,Macht"bezeichnungen  der  verschiedenen  Naturvölker: 
,Mana',  ,Tabu',  ,Wakanda',  ,Manitu'  usw.  26  gehen  ursprünglich  auf 
spontane,  aus  dem  religiösen  Affekt  hervorbrechende  Rufe  zurück,  die 
aber  noch  keine  Gebetsanrede  in  sich  schließen,  weil  die  gegenständliche 
Voraussetung  des  Affekts,  das  Heilige,  nicht  die  Züge  menschlicher 
Persönlichkeit  trägt.  Aber  dort,  wo  die  Vorstellung  von  der  ,Macht' 
sich  mit  der  personifizierenden,  animis tischen  Apperzeption  verbindet, 
wo  ,Mana 'glaube  und  Geisterglaube  sich  paaren,  kann  aus  der  ehr- 
fürchtigen Scheu  die  Gebetsanrede  hervorgehen.  Wenn  der  primitive 
Mensch  an  einem  Objekt  vorübergeht,  in  dem  ein  mächtiges  Geistes- 
wesen, ein  Numen  haust,  so  bezeugt  er  ihm  seine  Ehrfurcht  durch  ein 
paar  Worte  der  Begrüßung  und  Verehrung  und  legt  eine,  wenn  auch 
nur  symbolische  Opfergabe  nieder.  Kein  Herero  geht  an  dem  heiligen 
Schöpfungsbaume  vorüber,  ohne  wenigstens  einen  Stein  an  seinem 
Fuße  niederzulegen  mit  den  Worten:  „Vater,  sei  gegrüßt!"27  Oder 
er  wagt  es  gar  nicht,  ihn  mit  ,,du"  anzureden,  sondern  spricht  nur,  ehr- 
furchtsvoll meditierend:  „Der  Allvater,  er  ist  heilig,  unnahbar."  28  Auch 
hier  stehen  den  zufälligen  Anlässen,  bei  denen  der  Mensch  einem  gött- 
lichen Wesen  begegnet,  regelmäßige  Anlässe,  bei  denen  er  dem  Gott 
seine  Ehrfurcht  und  Anbetung  erweist,  gegenüber.  Wenn  der  Tag 
dämmert,  gehen  die  Khoikhoi  hinaus  und  beten,  das  Angesicht  gegen 
Osten  gekehrt:  „0  Tsui-goa!  (Himmelsgott,  Allvater)."29  Und  die 
Ana-Leute  in  Atakpame  treten  jeden  Tag  ehrerbietig  vor  den  heiligen 
Stab  des  höchsten  Gottes,  in  dem  dieser  Gebete  und  Opfer  entgegen- 
nimmt, knien  nieder,  berühren  mit  der  Stirne,  dann  mit  dem  Kinn 


III.  Form  des  Gebete  47 


den  Boden,  klatschen  in  die  Hände  und  sprechen :  „Guten  Morgen  heute, 
Vater!"30  Gewiß  dient  der  Gruß  häufig  als  die  höfliche  Einleitung 
einer  Bitte  an  den  Gott,  in  diesen  Fällen  aber  steht  er  völlig  selbständig, 
als  eine  feierliche,  andachtsvolle  Anbetung.  Noch  in  der  Volksreligion 
der  hellenistisch-römischen  Welt  lebt  die  fromme  Sitte,  beim  Vorüber- 
gehen an  einem  Heiligtum  anbetend  einige  Augenblicke  stille  zu  stehen. 
Apulejus  erzählt  uns:  „Fromme  Wanderer  verweilten,  wo  sie  auf  ihrem 
Wege  einen  heiligen  Hain  antrafen  oder  einen  blumenbekränzten  Altar, 
eine  laubumschattete  Höhle,  eine  mit  Hörnern  behängte  Eiche,  eine 
mit  Fellen  geschmückte  Buche,  einen  eingehegten  Hügel,  einen  mit 
der  Axt  zum  Bilde  behauenen  Baumstumpf,  einen  von  Opferspenden 
dampfenden  Rasen,  einen  mit  Wohlgerüchen  beträufelten  Stein." 31 
Der  Mystiker  versenkt  sich  in  eine  unsinnliche,  geistige  Welt,  des  primi- 
tiven Menschen  Kontemplation  klammert  sich  an  ein  sinnliches  Objekt. 
Aber  wenn  wir  den  Herztönen  dieser  naiven  Beter  lauschen  könnten, 
so  würden  wir  dasselbe  wonne-  und  schaudervolle  Erlebnis  des  ,Heiligen', 
des  ,summum  bonum'  entdecken,  an  dem  die  Seele  des  Mystikers  sich 
entzückt. 

7.  Auch  jene  andere  Form  des  mystischen  Betens  scheint  schon  in  der 
primitiven  Religion  keimhaft  vorhanden  zu  sein:  der  enthusiastisch- 
ekstatische Lobpreis.  Die  Ekstase  ist  sowohl  als  Erlebnis  einzelner 
physiologisch  abnormer  Individuen  wie  als  Massenepidemie  in  der  primi- 
tiven und  antiken  Welt  nichts  Seltenes ;  die  Mystik  hat  sie  nur  aus  dem 
physischen  Rausch,  der  durch  allerhand  Narkotika  hervorgerufen  wird, 
zu  dem  sublimsten  geistigen  Erlebnis  erhoben,  zu  der  Erfahrung  von 
der  Identität  des  reinen,  weltabgeschiedenen  Ich  mit  dem  Unendlichen, 
Ewigen.  Aber  die  religiöse  Deutung  ist  hier  wie  dort  dieselbe:  Ekstase 
heißt  Heraustreten  aus  dem  gewöhnlichen  Leibesleben  und*  Besessen-, 
Erfüllt-,  Verschlungenwerden  von  einem  Übermenschlichen,  Gött- 
lichen. Darum  können  auch  die  lauten  Rufe,  in  denen  ekstatische 
Gottbegeisterung  sich  kundgibt,  Gebets-  und  Preisrufe  an  die  Gottheit 
sein.  Es  scheint,  daß  die  kurzen  Schlußrufe  antiker  Hymnen  ursprüng- 
lich ekstatische  Jubelruf  e  waren :  das  triumpe  römischer  Gebete 32, 
das  hailly  altmexikanischer  Hymnen  33,  der  Refrain  des  altgriechischen 
Dionysosliedes  ä'Zie  tccvqe  34.  Auch  das  tul-tul-Kxxien  beim  skandi- 
navischen Julfeste  gehört  wahrscheinlich  in  diesen  Zusammenhang. 
So  dürfen  wir  auch  den  ekstatischen  Enthusiasmus  zu  den  Gebets- 
motiven rechnen,  obgleich  naturgemäß  entzückte  Begeisterung  und 
ehrfürchtige  Scheu  viel  seltener  zur  Gebetsaussprache  treiben  als  Not 
und  Dankbarkeit. 

III.  Form  des  Gebets. 
1.  Rudimente  einer  vorhistorischen  Form  der  Anrufung,  die  in  eine 
Zeit  zurückreichen  dürften,  in  der  die  menschliche  Sprache  noch  un- 
entwickelt war,  sind  die  reinen  Naturlaute  des  Schnalzens,  Pfeif  ens 
und  Brüllens,  die  sich  in  manchen  antiken  Kulten  und  primitiven 
Gebetssitten  konserviert  haben.  Im  Verkehr  mit  den  Tieren  ist  Schnalzen 
und  Pfeifen  noch  heute  eine  übliche  Verständigungsform.     Wenn  bei 


48  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

den  Batak  das  Opfer  an  den  ,tondi'  (Lebensgeist)  fertig  ist,  schnalzt 
der  Familienvater  mit  der  Zunge,  um  ihn  herbeizurufen  und  spricht 
dann  sein  Gebet 1.  Noch  im  5.  Jahrhundert  ist  in  Griechenland  der 
Homzvofiög  nachweisbar:  er  dient  im  Volksglauben  dazu,  um  die 
Blitzgottheit  gnädig  zu  stimmen.  In  den  Wespen  des  Aristophanes 
spricht  Zeus:  „wenn  ich  blitze,  dann  schnalzen  sie"  (626).  Plinius  be- 
zeichnet es  als  übereinstimmenden  Brauch  der  Völker  „die  Blitze  durch 
Schnalzen  anzubeten"  (hist.  nat.  28,  25).  Bei  den  afrikanischen  Duala 
beginnt  der  Beter  mit  einem  langgezogenen  Pfiff,  damit  der  Gott  auf 
ihn  aufmerksam  werde,  und  nach  jedem  Satz  wird  der  Pfiff  wiederholt, 
„damit  er  nicht  wieder  einschlafe"  2.  Das  Gebet  der  Ostjaken  besteht 
nach  der  Aussage  eines  Reisenden  in  einem  Pfeifen,  „so  wie  man  einem 
Hunde  pfeift"  3.  In  den  Kultbräuchen  des  hellenistischen  Synkretismus, 
in  denen  Uraltes  wieder  neu  auflebt,  ist  der  nonnvcfiög  und  ovQio/iög 
bezeugt,  so  in  der  berühmten,  von  Dieterich  entdeckten  Mithrasliturgie  4. 
Auch  der  wort-  und  formlose  Schrei  an  die  Gottheit,  der  zweifellos  eine 
Urform  des  Gebets  darstellt,  findet  sich  bei  heutigen  Naturvölkern. 
Wenn  bei  den  Ewe  (Westafrika)  eine  Seuche  ausbricht,  erheben  sie 
ein  klägliches  Geschrei,  daß  die  trowo  (Geister)  sie  retten  mögen,  ohne 
daß  ein  eigentliches  Gebet  gesprochen  wird  5.  Auch  die  ölolvyfj  der  zu 
Athene  betenden  Frauen  in  der  Illias  ist  ein  solch  formloses,  durch- 
einanderwogendes Rufen  6. 

2.  Das  aus  Affekten  und  Wünschen  hervorquellende  Gebet  ist  ursprüng- 
lich ein  freier  Herzenserguß,  ein  unmittelbarer  Ausdruck  der  seelischen 
Erregung.  Die  Gebets worte  sind  darum  gänzlich  ungebunden, 
nicht  formelhaft,  nicht  prämeditiert,  sondern  improvisiert.  Der  Beter 
übernimmt,  entlehnt  seine  Worte  nicht  anderen,  sie  bieten  sich  ihm 
ganz  von  selbst  dar,  er  redet  aus  dem  Herzen,  in  impulsiven  eigenen 
Worten,  ganz  entsprechend  der  augenblicklichen  Situation  und  den 
konkreten  Umständen.  Marc  Aurel  spricht  treffend  im  Hinblick  auf 
das  Gebet  der  alten  Athener  von  einem  unlibg  aal  itev&EQCog  eßzeoüai 
(„schlichten  und  freien  Beten"  V  7).  So  ist  das  Gebet  eine  freie  Schöp- 
fung des  Augenblicks,  aber  ein  selbständiger,  schöpferischer  Akt  des 
Betenden.  Bei  keinem  Stamm  auf  der  Erde  dürfte  dieses  freie,  unmittel- 
bar aus  dem  Affekt  geborene  Gebet  fehlen ;  bei  den  kulturell  am  tiefsten 
stehenden  Völkern,  manchen  Pygmäen-  und  Pygmoidenstämmen, 
scheint  es  noch  heute  die  einzige  Form  des  Betens  überhaupt  zu  sein. 
S  k  e  a  t  bezeugt  von  den  pygmoiden  Ureinwohnern  der  malaiischen 
Halbinsel,  daß  sie,  von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen,  noch  nicht  die 
Stufe  „feststehender  Gebetsformeln"  erreicht  haben;  „der  Bittsteller 
begnügt  sich  gewöhnlich  damit,  seinen  Wunsch  in  Sätzen  der  gewöhn- 
lichen Umgangssprache  (quasi-conversational  phrase)  den  großen  Gott- 
heiten seines  Stammes  auszusprechen."  7  Es  ist  darum  völlig  richtig, 
wenn  P.  Wilhelm  Schmidt  von  den  Pygmäenvölkern  schreibt : 
„In  der  Religion  sind  feststehende  äußere  Formen  und  Formeln  noch 
wenig  entwickelt.  Das  religiöse  Leben  scheint  sich  vielmehr  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  regel-  und  formlos  zu  äußern,  oder  vielmehr  die 
Form  seines  Ausdruckes  wechselt  nach  Person,  Zeit,  Ort,  Veranlassung 


III.    Form  des    Gebets  49 


fast  in  demselben  Umfang  wie  die  spontanen  Äußerungen  des  sonstigen 
Geistes-  und  Gemütslebens,  von  dem  es  noch  nicht  durch  besondere 
Schranken  als  eine  eigene  Abteilung  desselben  allseitig  abgegrenzt  ist."  8 
Überall  dort,  wo  uns  Ethnographen  berichten,  daß  sie  keinerlei  Spuren 
von  Gottesdienst,  Gebet  und  religiösen  Vorstellungen  gefunden  hätten, 
dürfen  wir  vermuten,  daß  sich  das  gesamte  religiöse  Leben  noch  in 
einem  formlosen,  präliturgischen  Zustand  befindet  und  deshalb  der  Be- 
obachtung schwer  zugänglich  ist.  Alles  ist  eben  „unter  dem  Einfluß  des 
stets,  und  bei  diesen  Kindheitsvölkern  mehr  noch  als  bei  anderen, 
wechselnden  Affekts  zurückgehalten"  9.  Auch  bei  zahllosen  höher  ent- 
wickelten Stämmen  ist  das  freie  Beten  neben  dem  irgendwie  fest  ge- 
wordenen rituellen  ausdrücklich  bezeugt 10;  gerade  jene  höchsten  Wesen, 
die  keinen  organisierten  Kult  besitzen :  die  Urväter,  Himmels-  und 
Schöpfergottheiten  werden  in  Zeiten  der  Not  in  freien  Gebetsworten 
angerufen.  (S.  u.  S.  118  ff.)  Eine  wertvolle  Parallele  zu  dem  freien 
Beten  der  Primitiven  bieten  ihre  Arbeitsgesänge,  die  keineswegs  stets  an 
traditionelle  feste  Formen  gebunden  sind.  Sibree  schreibt  von  den 
Hova  auf  Madagaskar:  „Die  Ruderer  vertreiben  sich  häufig  die  Zeit  mit 
dem  Gesang  ihrer  Kanulieder,  in  denen  einer  von  ihnen  meist  ein  im- 
provisiertes Rezitativ  vorträgt,  das  sichnichtseltenauf  Erlebtes  bezieht."11 
Auch  die  Totenklage  wird  bei  manchen  Stämmen,  wie  bei  südameri- 
kanischen Indianervölkern  improvisiert 12. 

Das  völlig  freie  Beten  ist  nie  in  der  Geschichte  der  Religion  völlig 
erstorben:  auch  durch  die  Bildung  fester  gottesdienstlicher  Formen 
konnte  es  nicht  verdrängt  werden.  Bei  manchen  primitiven  Stämmen 
werden  zwar  die  ungebundenen,  individuellen  Gebetsrufe  an  höhere 
Wesen  nicht  zu  der  Stammesreligion,  d.  h.  zu  den  heiligen  sozialen 
Riten,  den  festgeregelten  sakralen  Einrichtungen  gerechnet 13,  aber 
diese  Tatsache  beweist,  daß  das  gebundene,  reguläre  Kultwesen  den 
religiösen  Instinkten  nicht  genügt.  Die  Mannigfaltigkeit  individueller 
Nöte  und  Bedürfnisse  sorgte  dafür,  daß  selbst  in  den  großen  antiken 
Ritual-  und  Priesterreligionen  Ritualformel  und  Kulthymnus  das  freie 
Gebet  nicht  völlig  verschlingen  konnten.  Gerade  deshalb,  weil  hier 
das  Beten  zur  Amtssache  des  Priesters  geworden  war,  trieb  die  tiefe 
persönliche  Not  den  Einzelnen  immer  wieder  dazu,  auf  eigene  Faust 
und  völlig  selbständig  sich  an  die  Gottheit  zu  wenden.  Zumal  im  Gelübde 
hat  sich  —  entsprechend  dem  stets  wechselnden  Opfergegenstand  — 
das  freie  Beten  in  seiner  ursprünglichen  Ungebundenheit  erhalten. 
Noch  heute  pflegt  der  naive  Mensch  in  seinen  eigensten  Angelegen- 
heiten und  Nöten,  in  Krankheit,  Angst  um  Gatten  und  Kinder,  Ge- 
witter und  Lebensgefahr,  Wasser-  und  Feuernot  nicht  ein  Vaterunser 
oder  ein  anderes  eingelerntes  Gebet  zu  sprechen,  sondern  in  freien, 
leidenschaftlichen  Worten  zu  Gott  und  den  lieben  Heiligen  zu  flehen  14. 

Durch  die  regelmäßige  Wiederkehr  der  Gebetsanlässe  bildet  sich  all- 
mählich ein  Schemades  Gebets  aus :  die  formalen  Umrisse,  die 
Aufeinanderfolge  der  Gedanken,  bestimmte  Redewendungen  verfestigen 
sich ;  der  Wortlaut  freilich  variiert  den  augenblicklichen  Sonderumstän- 
den gemäß.     Das  Gebet,  „dessen  Ausdrucksweise  anfangs  ebenso  frei 

Das  Gebot  4 


50  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

und  biegsam  war  wie  etwa  die  Bitte  an  einen  lebenden  Patriarchen  und 
Häuptling"  (Tylor) 15,  beginnt  sich  zu  verhärten,  tritt  in  den  Prozeß 
der  Liturgisierung  und  Ritualisierung  ein.  Man  kann  hier  von  einem 
halbfreien  oder  halbstarren,  labilen,  variablen  Gebet 
reden  16.  Ein  formelhaftes  Schema  des  Gelübdes  bei  den  heutigen 
Syriern  lautet:  „Ich  brauche  das  und  das,  und  wenn  du  mir  das  tust, 
dann  will  ich  dir  ein  Opfer  bringen."  17  Die  meisten  Gebete  primitiver 
Stämme,  die  in  gemeinsamen  Anliegen  gesprochen  werden,  gehören 
dieser  Zwischenform  an. 

Die  fortschreitende  Verhärtung  des  gesamten  Kultuswesens  führt 
schließlich  zur  völligen  Erstarrung  der  ursprünglich  freien  Gebetsworte 
in  einer  fixierten,  stereotypen  Gebetsformel,  deren  Wort- 
laut sakrosankt  ist  (s.  u.  S.  150  ff.). 

Das  Moment  der  Spontaneität  und  Affektivität  schließt  die  Gebunden- 
heit des  Ausdrucks  und  der  Rede  nicht  durchweg  aus.  Häufig  greift  ein 
Mensch  in  der  Not  ganz  unbewußt  und  unbeabsichtigt  zu  einer  formel- 
haften Gebetsrede  oder  besser:  die  Formel  bietet  sich  ihm  selbst  dar; 
er  schüttet  in  ihr  seinen  Affekt  aus.  Die  feste,  unpersönliche  Formel 
wird  hier  von  persönlichem  Leben  erfüllt.  Gerade  die  kurzen  Stoß- 
gebetlein: „Hilf  mir!  Erhöre  mich!  Erbarme  dich  meiner!"  sind  fest- 
stehende, formelhafte  Redensarten  —  und  quellen  doch  aus  der  Tiefe 
der  Seele.  Die  Scheltnamen  und  Verwünschungen,  mit  denen  ein  in 
Zorn  Geratener  seine  Nebenmenschen  überschüttet,  sind  ja  auch  zumeist 
abgegriffene  Wendungen,  obgleich  der  affektive  Charakter  unzweifelhaft 
ist.  Der  Affekt  oder  Wunsch  assoziiert  aus  dem  gedächtnismäßig  vor- 
handenen Wort-  und  Formelschatz  bestimmte  Reden  und  entlädt  sich 
in  ihnen  ganz  unwillkürlich.  Dieselbe  Verbindung  von  affektiver  Spon- 
taneität und  konventioneller  Gebundenheit  zeigt  das  ganze  Ausdrucks- 
leben, Gestus  und  Mimik  des  Menschen.  Ja  selbst  regelmäßige  Gebete, 
die  eine  traditionelle,  unantastbare  Form  besitzen,  brauchen  deshalb 
nicht  der  Gefühlsbetontheit  oder  des  Affektcharakters  zu  entbehren. 
Die  altertümlichen  Gebete,  welche  die  Kekchiindianer  bei  bestimmten 
Anlässen  verrichten,  wurden  mit  einer  Andacht,  Innigkeit  und  Herzlich- 
keit gesprochen,  die  den  europäischen  Gewährsmann  in  Staunen  ver- 
setzte 18. 

3.  Die  ursprünglichen  Gebete  sind  als  elementarer  Ausdruck  von 
Affekten  durch  gedrungene  Knappheit  und  kraftvolle  Kürze  aus- 
gezeichnet. Sie  enthalten  nur  die  Anrufung  der  Gottheit  und  eine 
klagende  Frage,  einen  kurzen  Hilferuf  oder  eine  schlichte  Bitte.  Das 
erste  Gebet  in  Worten  war  darum  zweifellos  ein  erschütternder  Angst- 
schrei an  ein  höheres  Wesen. 

„Hilf  uns,  Paia  Njambe!"  rufen  die  westafrikanischen  Stämme  zum  Urvater 
iu  Not  und  Gefahr  19.  Die  Katchins  in  Birma  schreien  in  der  Not  zum  höchsten 
Gott:  „Karai  Kasang,  blicke  auf  mich!"  „Karai  Kasang,  hilf  mir!"  „Karai 
Kasang,  rette  mich!"  Wer  eines  Vergehens  beschuldigt  wird,  ruft:  „O  Karai 
Kasang!  Schau  doch!  O  Karai  Kasang,  ich  lüge  nicht!  O  Karai  Kasang,  ich 
stehle  nicht!  O  Karai  Kasang,  ich  bin  unschuldig."  20  Das  Schwurgebet  der 
Xosakaffern  lautet:  „Tixo  (Urvater),  hilf  mir!"  oder  besteht  gar  nur  aus  der 
Aussprache  des   Gottesnamens.     Wenn  sie  durch  einen  Fluß  gehen,  werfen  sie 


III.  Form  des  Gebets  51 


einen  Stein  hinein  und  bitten:  ,,Fluß,  friß  mich  nicht!"  21  „Hör  auf!"  rufen  die 
vom  Unwetter  geängstigten  Semang  zum  Himmelsgott  Kari  empor  22,  „O  Gott 
Perkun,  verschone  uns!"  beteten  die  alten  Preußen  beim  Gewitter  23.  Wenn  es 
bei  den  südafrikanischen  Baronga  donnert,  schickt  man  die  Kinder  hinaus  und 
läßt  sie  zum  Himmelsgott  Tilo  beten:  „Geh  fort!  Belästige  uns  nicht!  Wir  sind 
besorgt.  Geh  und  brülle  weit  weg!"  2*  Ein  Bantustamm  betet:  „Gott,  gib  uns 
Regen,  gib  uns  Regen  und  zürne  uns  nicht  weiter!"  25  Die  alten  Athener  flehten: 
fioov  icrov,  <L  <fiks  Zev,  xarä  rag  ägovQCtg  rag  xdv  'Ad-rjvaccov  („Laß  regnen,  regnen, 
lieber  Zeus,  auf  die  Fluren  der  Athener")  26.  „Vater  Sonnengeist,  sende  deine 
Sonne  auf  uns  nieder"  beten  die  afrikanischen  Kiziba  27;  der  Refrain  eines 
athenischen  Kinderliedes,  in  dem  ein  altes  Gebet  fortlebt,  lautet:  „Komm  ferner- 
hin, liebe  Sonne!"  (£?«£■,  Co  (flk'  i}Xie)28  Die  Mysten  der  eleusinischen  Mysterien 
sprachen  folgenden  uralten  Spruch:  „i>E  xve",  „Regne,  empfange!"  Dabei  blickten 
sie  beim  ersten  Wort  zum  Himmel,  beim  zweiten  zur  Erde  29.  „Komm,  Reis- 
mutter, ach  komm  ins  Feld!"  30  bitten  die  Karenen  in  Birma  und  zu  Demeter 
sang  man  in  Hellas  bei  der  Ernte:  „Schick  uns  dicke  Garben,  Garben  schick 
uns!"  (nXsZaiov  oMov  ovXov  Zei  tovXov  lei)  31  „Guter  Geist,  gib  Büffel,  Büffel, 
Büffel,  dicke  Büffel,  gib  uns,  guter  Geist!"  ist  ein  Indianerwunsch32;  und  die  Hotten- 
totten beten  zum  Urvater  Heitsi-Eibib,  wenn  sie  an  seinem  Grab  vorübergehen: 
„Heitsi-Eibib,  gib  uns  viel  Vieh!"  33  „Leute  vom  Haus,  Kinder!"  rufen  die 
Amazulu  zu  den  Ahnen  3*.  ..Mars  vigila!"  lautet  in  lakonischer  Kürze  die 
Mahnung  des  ins  Feld  ziehenden  römischen  Heerführeis  an  den  Schlachtengott  35. 

Diese  kurzen  Gebetsrufe  werden  bisweilen  ein  einziges  Mal  ausge- 
sprochen, zumeist  aber  zweimal  und  noch  öfter  in  derselben  Fassung, 
in  einem  natürlichen  Rhythmus  wiederholt.  Der  Affekt  entlädt  sich 
nicht  in  einer  einmaligen  Aussprache  der  Bitte,  sondern  erst  nach  mehr- 
maliger Wiederholung.  Das  Gebet  des  Euahlayi-Medizinmannes  an 
den  Urvater  Baiame  um  langes  Leben  wird  mehrmals  flehentlich 
gesprochen  36.  Die  Gebete  der  Ana  in  Atakpame  an  das  höchste  Wesen 
Buku  werden  oft  mehrmals  mit  denselben  Worten  wiederholt  37.  Das 
Gebet  um  Regen  wiederholt  die  Priesterin  der  Magandscha  so  lange, 
bis  die  Opferzeremonie  vollendet  ist  38. 

Ursprünglich  bestand  das  Gebet  nur  in  der  Anrufung  und  dem  Hilfe- 
ruf oder  der  Bitte,  die  in  derselben  Form  wiederholt  wurde;  im  Augen- 
blicke der  höchsten  Not  vollzieht  sich  die  Urschöpfung  des  Gebets 
immer  wieder  in  dieser  Weise.  In  den  meisten  Fällen  jedoch  wird  die 
Bitte  mehrfach  variiert  und  umrahmt  von  allerhand  Redensarten  und 
Hinweisen,  welche  die  Gottheit  zur  Erhörung  geneigt  machen  sollen. 
So  wird  durch  die  Wiederholung  und  Begründung  aus  dem  kurzen 
Gebetsruf  ein  breites  Gebetsgespräch,  das  bisweilen  eine 
ermüdende  Weitschweifigkeit  zeigt.  Die  paar  Gedanken,  die  sich  in 
zwei  oder  drei  Sätzen  aussprechen  ließen,  werden  immer  wieder  mit 
geringen  formellen  Variationen  wiederholt.  Die  von  Ethnographen 
wiedergegebenen  bündigen  Gebete  sind  oft  bloße  Auszüge,  in  Wirklich- 
keit sind  die  Gebete  viel  länger  und  breiter.  Das  folgende  Gebet  eines 
Kikuyuhäuptlings  (Ostafrika)  für  den  Ethnographen  Routledge  und 
seine  Gattin,  das  phonographisch  aufgenommen  wurde,  darf  als  typisches 
Paradigma  für  die  Form  primitiven  Betens  gelten : 

..O  Gott,  nimm  dieses  Opfer  an.  denn  der  weiße  Mann  ist  zu  meiner  Heim- 
stätte gekommen.  Wenn  der  weiße  Mann  krank  wird,  so  laß  weder  ihn  noch  seine 
Frau  sehr  krank  werden.  Der  weiße  Mann  ist  aus  seiner  Heimat  über  das  Wasser 
zw  uns  gekommen;  er  ist  ein  guter  Mann;  er  behandelt  die  Leute  gut,  die  für  ihn 
arbeiten;  laß  sie  nicht  mit  ihm  streiten.     Wenn  der  weiße  Mann  und  seine  Fraxi 


52  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

krank  wird,  so  laß  sie  nicht  sehr  krank  werden,  denn  ich  und  der  weiße  Mann 
haben  uns  vereinigt,  dir  zu  opfern.  Laß  sie  nicht  sterben,  denn  wir  opfern  dir 
einen  sehr  fetten  Bock.  Der  weiße  Mann  ist  aus  der  Ferne  zu  uns  gekommen, 
und  nun  hat  er  ein  Übereinkommen  mit  mir  getroffen,  dir  zu  opfern.  Wohin  er 
auch  immer  geht,  laß  ihn  nicht  sehr  krank  werden,  denn  er  ist  gut  und  ist  auch 
außerordentlich  wohlhabend,  und  ich  bin  auch  gut  und  reich  und  ich  und  der 
weiße  Mann,  wir  stehen  uns  so  nahe,  als  wären  wir  von  einer  Mutter.  Gott,  wir 
haben  ein  großes  Schaf  für  dich  bestimmt ;  der  weiße  Mann  und  seine  Frau  und 
ich  und  mein  Volk,  wir  werden  dir  an  dem  Stamm  eines  Baumes  ein  Schaf  opfern 
—  ein  sehr  wertvolles  Schaf.  Laß  mich  nicht  sehr  krank  werden,  denn  ich  habe' 
ihn  gelehrt,  dir  zu  opfern,  als  wenn  er  ein  richtiger  Mkikuyu  wäre."  39 

In  einem  eigentümlichen  Rhythmus  wiederholt  und  variiert  ein  Algonkin- Gebet 
dieselben  Worte.  Das  Gebet  wurde  von  den  alten  Männern  eines  Dorfes  an  P. 
Allouez  gerichtet,  den  die  Indianer  (die  nie  einen  Weißen  gesehen  hatten)  als 
Manitu  d.  i.  ein  göttliches  Wesen  betrachteten:  „Fürwahr,  das  ist  gut,  Schwarz- 
kleid, daß  du  uns  besuchst.  Habe  Mitleid  mit  uns !  Du  bist  ein  Manitu,  wir  geben 
dir  zu  rauchen.  —  Die  Neudovessies  und  Irokesen  verschlingen  uns.  Hab  Mitleid 
mit  uns!  —  Wir  sind  oft  krank:  unsere  Kinder  sterben,  wir  sind  hungrig.  Hab 
Mitleid  mit  uns!  Höre  mich,  o  Manitu.  Ich  gebe  dir  zu  rauchen.  —  Möge  die  Erde 
uns  Korn  bringen;  mögen  die  Flüsse  uns  Fische  geben;  möge  uns  keine  Krankheit 
treffen;  möge  uns  kein  Hunger  quälen!  Höre  uns,  o  Manitu,  wir  geben  dir  zu 
rauchen."  40  Das  Gebet  der  Cora-Indianer  an  den  Flußgott  variiert  immer  von 
neuem  die  paar  Gedanken:  „Hier  komme  ich,  Tschakan,  du  fügst  mir  Schaden  zu. 
Hier  bringe  ich  dir  etwas,  damit  bitte  ich,  du  mögest  mir  nicht  schaden.  Hier  ist 
Pinole  und  gesponnene  Baumwolle,  das  gebe  ich  dir.  Hier  hat  euch  Gott,  unser 
Vater,  unsere  Mutter  und  unser  älterer  Bruder  gelassen.  Das  tat  er.  Dies  bringe 
ich  dir  hier,  damit  du  mir  nicht  Schaden  zufügest.  Möchten  die  Haustiere  gut 
trinken,  ohne  daß  du  ihnen  schadest.  So  sei  es.  Hier  übergebe  ich  es  dir ;  nimm 
es  in  Empfang.  Mit  dieser  (Opfergabe)  bitte  ich  darum.  So  sei  es.  Wenn  du 
hier  existierst,  so  weiß  ich  doch  nichts  von  dir,  du  aber  hörst  mich  gut.  Ich  bitte 
dich,  du  möchtest  mir  nicht  irgendwie  schaden.  Als  Entgelt  für  diese  (Opfer- 
gabe) verschone  mich,  wenn  du  mich  nicht  erhören  willst.  So  sei  es.  Hier  lege 
ich  es  dir  zusammen.     Mit  dieser  Gabe  bin  ich  hergekommen."  41 

In  Mkulwe  (Ostafrika)  wird  das  „Gebetszwiegespräch"  mit  Gott  und 
den  Ahnen  häufig  in  die  Länge  gezogen  42.  Das  Gebet,  das  ein  Indianer- 
häuptling beim  Antritt  einer  Seefahrt  sprach,  dauerte  nach  der  Schätzung 
des  Beobachters  fünf  bis  zehn  Minuten  43.  Die  Baronga  haben  sogar  ein 
eigenes  Wort  (bukutjela)  für  ein  langes,  ,sich  hinschlängelndes'  Gebet, 
in  dem  der  Offiziant  immer  wieder  das  gleiche  sagt  44.  Weil  das  Beten 
des  Primitiven  der  getreue  Reflex  des  sozialen  Verkehrs  ist,  darum  ent- 
spricht auch  die  Breite  und  häufige  Wiederholung  in  der  Gebetsrede 
genau  seiner  Gewohnheit  im  Alltagsleben.  „Bis  tief  in  die  Nacht  hinein 
pflegt  in  den  Dörfern  südamerikanischer  Indianer  oder  der  Neger  das 
herzerfreuende  Geschwätz  zu  dauern,  dessen  geistiger  Inhalt  und  Gewinn 
sich  vielleicht  in  ein  paar  kurzen  Sätzen  genügend  darstellen  ließe." 
Dieselbe  Beobachtung  können  wir  machen,  wenn  wir  die  Briefe  schlichter 
Leute  vom  Lande  lesen  (von  Eltern  an  ihre  fernen  Kinder,  von  Soldaten 
an  ihre  Frauen  und  Eltern  in  der  Heimat):  eine  stete  Wiederholung 
eines  und  desselben  Inhalts.  „Hier  muß  etwas  wirksam  sein,  das  die 
Mühe  des  Sprechens  reichlich  aufwiegt,  es  muß  durch  das  Reden  etwas 
erreicht  werden,  was  ein  Gefühl  innerer  Befriedigung  erzeugt:  das  Reden 
dient  zur  Herstellung  des  Gemeinsamkeitsgefühls"  (Schurtz)  45. 

Im  Gebet  des  Kikuyuhäuptlings  ist  das  ,Viele-Worte-machen'  noch 
ein  völlig  naives,  ungekünsteltes  Plaudern,  frei  von  aller  Phrase,  im 


IV.  Die  Person  des  Beters  53 

anspruchslosen,  schlichten  Konversationsstil.  Auch  der  Bilderreichtum 
und  die  reizvolle  Poesie  mancher  primitiver  Gebete  ist  kein  Symptom 
mangelnder  Naivität  und  beweist  keineswegs,  daß  diese  Gebete  das  Pro- 
dukt bewußt  schaffender  Dichtkunst  sind ;  es  beruht  vielmehr  auf  einer 
Lebendigkeit  der  Phantasie,  wie  sie  gerade  höher  entwickelten  Natur- 
völkern wie  den  Indianern  und  Bantu  eigen  ist.  „Der  Geist  der  Bantu- 
völker",  schreibt  Missionar  Junod,  „zeichnet  sich  durch  die  Lebendig- 
keit der  Phantasie  und  durch  große  Feinheit  aus,  mit  der  Ähnlichkeiten 
zwischen  den  Dingen  aufgefaßt  werden.  Der  Neger  spricht  sehr  gern 
in  Bildern.  Nichts  Seltsameres  gibt  es,  als  den  Ansprachen  der  einge- 
borenen (christianisierten)  Prediger  zuzuhören,  die  den  pittoresken  Zug 
ihrer  Umgangssprache  treu  bewahren."  46  Es  gibt  jedoch  auch  niedere 
Stämme,  die  im  sozialen  Verkehr  mit  den  gesellschaftlich  höher  Stehen- 
den bewußt  die  Phrase  kultivieren.  „Kein  Batak",  erzählt  Missionar 
Warneck,  „sagt  klipp  und  klar,  was  er  haben  will,  sondern  man  häuft 
schöne  Worte.  Es  würde  vielfach  unhöflich  sein,  wenn  man  diese  phrasen- 
hafte Umrahmung,  die  uns  Europäer  so  schal  und  überflüssig  dünkt, 
weglassen  wollte."  Beim  Opfergebet  nimmt  darum  die  Phrase  den- 
selben breiten  Raum  ein,  „wie  bei  jeder  Bitte,  die  man  einem  Häuptling 
vorträgt."  „Die  Götter  beanspruchen  dieselbe  wortreiche,  in  wohl- 
gestellte und  sorgfältig  auswendig  gelernte  Redensarten  eingeklammerte 
Rede  Übung  wie  jeder  angesehene  Mann.  Je  länger  die  Gebetsformel, 
um  so  größere  Ehre  dem,  an  den  sie  adressiert  ist.  Darum  sucht  man 
bei  einem  gemeinsamen  Opfer  denjenigen  als  Beter  aus,  der  am  ge- 
schicktesten die  Worte  zu  setzen  und  sie  mit  schönen  Redensarten  und 
sprichwörtlichen  Wendungen  und  Gleichnissen  geschmackvoll  zu  ver- 
zieren vermag.  ,Denn  die,  denen  man  opfert,  lieben  ein  langes  Gebet.' 
Man  würde  sie  beleidigen,  wenn  man  kurz  und  bündig  sein  Anliegen 
vorbringen  würde.  Darum  zieht  der  Zauberer  sein  Gebet  möglichst 
in  die  Länge,  bisweilen  fast  einen  halben  Tag:  ,Denn  sie  meinen, 
sie  werden  erhört,  wenn  sie  viele  Worte  machen.'  "  47  Hier  droht  die 
rhetorische,  künstliche  Komposition  das  naive  Beten  zu  ersticken, 
obgleich  es,  wie  die  Gebete  der  Batak  zeigen,  noch  nicht  völlig  ver- 
drängt ist.  Hier  ist  das  Gebet  auf  dem  Wege,  aus  der  schlichten  Aus- 
sprache zum  absichtlichen  Werk  zu  werden.  Ihre  Vollendung  erlangt 
die  Rhetorik,  die  Prunkhaftigkeit  und  Breite  des  Stils  in  den  antiken 
Prosaritualgebeten  und  Kulthymnen,  die  bewußte  literarische  Elaborate 
der  Priester  sind. 

IV.  Die  Person  des  Beters. 

Individuum   und  Gesellschaft  im  primitiven  Gebet. 

1.  Die  zum  Gebet  drängende  Not  ist  innerhalb  der  primitiven  Welt 
zumeist  nicht  die  Not  eines  Einzelnen,  sondern  einer  ganzen  Gruppe; 
darum  betet  zumeist  nicht  ein  Individuum,  sondern  eine  Gesamtheit 
von  sozial  verbundenen  Individuen:  die  Familie,  die  den  engsten  und 
ursprünglichen  gesellschaftlichen  Verband  darstellt,  die  Sippschaft, 
die  Dorfgemeinde,  der  Stamm,  der  Clan,  der  Männerbund.  Die  älteste 
Form    des    kollektiven    Gebets    ist   zweifellos   in    dem  chaotisch 


54  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


durcheinanderwogenden  Rufen  einer  Gruppe  von  Menschen  zu  suchen, 
das  in  Augenblicken  höchster  gemeinsamer  Not  spontan  sich  erhebt. 
Diese  Form  des  gemeinsamen  Gebets,  das  chaotischeMassen- 
gebet,  findet  sich  bei  den  heutigen  Naturvölkern  äußerst  selten  l. 
Wie  im  profanen  Verkehr  mit  fremden  Stämmen  und  Machthabern,  so 
spricht  auch  im  religiösen  Verkehr  mit  den  höheren  Mächten  eine  Gruppe 
von  Menschen  ihre  gemeinsamen  Wünsche  und  Anliegen  durch  den 
Mund  der  Person  aus,  die  ihren  Mittelpunkt  bildet.  Die  anderen  Glieder 
des  gesellschaftlichen  Verbandes  drücken  iher  Wünsche  stumm  durch 
ihre  Anwesenheit  wie  durch  Gestus  und  Körperhaltung  aus.  In  den 
Angelegenheiten  der  Familie  betet  der  Familienvater2.  In  der 
ostafrikanischen  Landschaft  Mkulwe  ist  es  sogar  ausschließlich  das 
Recht  des  Familienoberhauptes,  sowohl  in  seinen  eigenen  Angelegen- 
heiten, wie  auch  in  denen  seiner  ganzen  Familie  oder  einzelner  Glieder 
derselben  Gebete  zu  sprechen  3.  Im  Namen  der  Dorfgemeinde  oder  des 
Stammes  betet  der  Dorf-  und  Stammes  h  äuptling.  Diese  sozio- 
logische Form  des  Gebets  ist  die  allerhäufigste  bei  den  kulturarmen 
Völkern  4.  Bei  Stämmen,  die  nicht  monarchisch,  sondern  oligarchisch 
organisiert  sind,  betet  einer  der  Ältesten  5.  Wo  die  religiösen  Funktionen 
in  den  Händen  besonderer  Priester  liegen,  betet  der  Priester  im 
Namen  und  Auftrag  der  Gesamtheit.  Bei  den  Weddapygmäen  auf 
Ceylon  befindet  sich  in  jeder  Gemeinde  ein  Mann  (Schamane),  der  die 
erforderliche  Macht  und  Kenntnis  hat,  die  Totengeister  anzurufen  6. 
Bei  den  Katchin  in  Birma  betet  gewöhnlich  der  Priester  für  alle,  für 
Häuptlinge  und  das  ganze  Volk  7.  Bei  den  ostafrikanischen  Ewe  werden 
die  Gebete  in  gemeinsamer  Angelegenheit  stets  von  den  Priestern  der 
betreffenden  Gottheit  verrichtet  8.  In  der  Ilias  (I  94;  V  75)  heißt  der 
Priester  schlechthin  äQf]TtjQ  (, Beter').  Das  stellvertretende  Gebet  des 
Amtspriesters  für  eine  soziale  Gemeinschaft  ist  jedoch  viel  jünger  als 
das  des  Familien-,  Dorf-  oder  Stammesoberhauptes.  Der  Vollzug  der 
kultischen  Handlungen  durch  professionelle  Priester  setzt  bereits  eine 
gewisse  Loslösung  der  Religion  von  dem  profanen  Leben  voraus;  wie 
der  Zauberer  die  magischen  Funktionen  des  Familienvaters  und  Häupt- 
lings, so  übernahm  der  Priester  die  religiösen  Funktionen :  die  des  Opfers 
und  Gebets.  Dieser  Übergang  des  gesamten  Kults  in  die  Hände  von 
Berufspriestern  bedingt  eine  starke  Bindung  des  religiösen  Lebens 
und  eine  Zurückdrängung  des  freien  Verkehrs  mit  der  Gottheit. 

Die  bevorrechteten  Personen,  welche  stellvertretend  im  Namen  einer 
Gruppe  beten,  sind  fast  ausschließlich  Männer.  Nur  bei  wenigen, 
zweifellos  mutterrechtlich  organisierten,  Stämmen  (z.  B.  bei  den  afri- 
kanischen Magandscha)  treten  Frauen  (hier  die  Schwester  des  Häupt- 
lings) als  Vorbeterinnen  auf  9.  Bei  manchen  Völkern  ist  sogar  den 
Frauen  jede  Teilnahme  an  religiösen  Riten  verboten,  so  bei  den  Mela- 
nesiern  und  den  Ainu  in  Japan  10.  Bei  anderen  wie  bei  den  Galla  be- 
sitzen die  Frauen  gesonderte  Gebetsformulare  u.  In  der  griechischen 
und  römischen  Religion  galt  im  allgemeinen  die  Regel  (welche  freilich 
auch  von  Ausnahmen  durchbrochen  wurde),  daß  der  Gott  einen  Priester, 
die  Göttin  eine  Priesterin  verlangte  12. 


IV.   Die  Ferson  des  Beters  (Kollektivgebet)  55 

Während  der  Häuptling  oder  Priester  das  allgemeine  Anliegen  dem 
Gotte  vorträgt,  lauschen  die  Anwesenden  seinen  Gebetsworten  mit  an- 
dächtigem Schweigen.  Missionar  Merensky  erzählt  von  einer  Gebets- 
versammlung der  Konde  am  Nyassasee:  „Es  herrschte  Totenstille; 
man  hätte  gehört,  wie  ein  Blatt  zur  Erde  fiel 13."  Bei  manchen  Stämmen 
schickt  der  Beter  seinen  Worten  sogar  die  ausdrückliche  Aufforderung 
zum  Schweigen  voraus.  Wie  der  römische  Priester  seine  Ritualhandlung 
mit  einem  „favete  Unguis"  eröffnete  14,  so  spricht  der  Kaffernhäuptling 
bei  Beginn  der  Opferhandlung:  ,, Alles  sei  still!"  15  Aber  nicht  nur  mit 
andachtsvollem  Schweigen  und  mit  ehrfürchtigen  Gesten  nimmt  die 
Gemeinde  am  Gebet  ihres  Oberhauptes  oder  Priesters  Anteil,  sie  betet 
selbst,  indem  sie  die  Schlußworte  des  Vorbeters  in  einem  gemeinsamen 
chorischenResponsorium  aufnimmt  oder  den  Gebetsworten 
mit  einer  formelhaften,  zustimmenden  Redewendung  antwortet.  Der 
Wechsel  von  Gebet  und  Responsorium,  von  Beter  und  Gemeinde,  wie 
ihn  die  jüdische  und  christliche  Liturgie  zeigt,  ist  schon  eine  Eigen- 
tümlichkeit des  primitiven  Betens.  Dieser  Wechsel  von  Einzelrede 
und  Massenrede  findet  jedoch  nicht  nur  im  Gebet,  sondern  auch  im 
profanen  Leben  statt.  Bei  der  Totenklage  der  südamerikanischen 
Betoyes  beginnt  die  Witwe  oder  der  Witwer  den  Klagegesang:  „Wir 
sind  unglücklich!  Er  ist  tot!  Wir  sind  unglücklich!"  Alle  Anwesenden 
wiederholen  dieselben  Worte  im  selben  Ton  16.  Bei  den  Volksversamm- 
lungen am  unteren  Kongo  ist  es  üblich,  daß  der  jedesmalige  Redner 
einen  Satz  bis  zum  letzten  Wort  vollendet  und  dann  innehält ;  das  letzte 
Wort  muß  von  der  aufmerksam  lauschenden  Zuhörerschaft  erraten  und 
im  Chor  nachgesprochen  werden  17. 

Bei  den  Ruanda  betet  der  Familienvater  zum  Heilbringer  Ryangombe,  die 
andern  wiederholen  denselben  Spruch  gemeinsam  18.  Bei  den  Magandscha  betet 
die  Priesterin:  „Höre  du,  o  Mpambi,  und  sende  uns  Regen!"  Das  Volk  antwortet 
mit  leisem  Klatschen  und  singendem  Ton:  „Höre,  o  Mpambi!"  19  Bei  den 
Opfern  der  Amazulu  eröffnet  der  Häuptling  sein  Gebet  mit  den  Worten:  ..All 
Heil,  Geister  unseres  Stammes"  und  alle  Anwesenden  respondieren:  „All  Heil!"  20 
Beim  Opfergebet,  das  eine  Gallajungfrau  spricht,  wird  von  den  Zuhörern  der 
Refrain  gesprochen:  „Ich  bringe  dir  ein  Opfer  dar,  o  Gorobba,  beschütze  deine 
Dienerin!"  R.  „Beschütze  sie!"  „Laß  mich  gesund  leben  im  Schöße  meiner 
Familie  und  laß  mich  lang  leben!"  R.  „Laß  sie  lange  leben !"  21  Auch  in  Griechen- 
land läßt  sich  eine  ähnliche  Sitte  aufweisen.  Ein  Gebet  des  Tempeldieners  in 
den  Mimiamben  des  Herondas  (IV  85)  schließt  mit  den  Worten:  lij  h),  ITairjov,  u>de 
zavz'  etrj :  („o,  o  Heilandgott!  so  mög'  es  sein!");  der  Chor  der  Umstehenden  nimmt 
dieses  Schlußwort  auf:  eitj  ydg  („so  sei  es  denn!")  ".  Bei  den  Kikuyu  antwortete 
die  Gesamtheit  dem  Betenden  in  Intervallen:  Nga-na  (Amen)  und  Sa-i  (höre, 
höre!).  Routledge  fügt  bei:  „die  Versammlung  glich  in  dieser  Hinsicht 
völlig  einer  Gebetsversammlung  von  Dissenters."  23  Bei  den  Flußnegern  Kameruns 
antwortet  der  Chor  den  betenden  Häuptlingen  mit  dem  kurzen  Ruf  woa  2i.  Das 
hebräische  Volk  ruft  am  Schlüsse  des  Gebets  seines  Herrschers  oder  Führers : 
„Amen"  d.  h.  wahrlich,  gewiß,  um  die  Bestätigung  und  Zustimmung  zu  seinen 
Worten  auszudrücken  25.  Bei  den  Algonkin  besteht  das  gemeinsame  Respon- 
sorium nur  in  einem  beifälligen  Murmeln,  mit  dem  die  Anwesenden  die  Worte 
des  redenden  Ältesten  begleiten  26. 

Während  die  kurzen  chorischen  Responsorien  fast  stets  formelhaft 
gebunden  sind,  sind  die  Worte,  welche  der  Familienvater  oder  Häupt- 
ling spricht,  oft  improvisiert  und  frei.    In  ähnlicher  Weise  wechselt  ja 


56  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

auch  in  den  Arbeitsgesängen  mancher  Stämme  ein  improvisierter  Text 
mit  einem  traditionellen,  stereotypen  Refrain  27. 

Relativ  selten  findet  sich  bei  primitiven  Stämmen  das  von  einem 
Chor  gemeinsam  gesprochene  Gebet,  das  stets  eine  feste 
und  unveränderliche  Form  voraussetzt.  Solche  Gemeindegebete  werden 
zumeist  im  Rhythmus  gesungen  28.  Es  ist  möglich,  daß  der  Gesang, 
dem  ja  der  primitive  Mensch  eine  geheimnisvolle  Zauberkraft  zuschreibt, 
in  manchen  Fällen  aus  magischen  Motiven  beim  Gebet  angewendet 
wurde.  Zumeist  aber  dient  das  Singen  der  Gebetsworte  einem  prak- 
tischen Zwecke:  es  will  einen  regelmäßigen,  geordneten  Vortrag  der 
Gebetsworte  durch  eine  Gruppe  von  Menschen  ermöglichen. 

2.  Das  individuelle  Gebet,  das  ein  einzelner  Mensch  in  seiner 
eigenen,  persönlichen  Not  spricht,  tritt  bei  primitiven  Stämmen  hinter 
dem  kollektiven  zurück,  aber  fehlt  fast  nirgends.  Wer  von  einem  Ge- 
wittersturm überrascht  wird,  wer  in  Lebensgefahr  schwebt,  wer  be- 
schuldigt wird,  wer  von  Krankheit  gequält  wird,  schickt  leidenschaftliche 
Rufe  zu  den  hohen  Wesen  empor.  Die  schwangere  Frau  betet  um  glück- 
liche Entbindung,  die  Kinderlose  fleht  um  Kindersegen,  der  Jüngling 
heischt  Rat  in  Heiratsangelegenheit.  Wer  allein  auf  die  Jagd  geht, 
bittet  für  sich  um  Glück,  wer  eine  Handelsreise  antritt,  betet  um  gute 
Geschäfte.  Wer  an  einem  heiligen  Orte  vorübergeht,  fleht  um  sein  Heil 
oder  spricht  ein  paar  Worte  des  Grußes.  Wie  der  Einzelne  in  Not  und 
Angst  in  eigenem  Interesse  bittet,  so  dankt  er  auch  für  das  Glück,  das 
ihm  zuteil  geworden,  für  Rettung  aus  Lebensgefahr,  Erlangung  von 
Nahrung,  reichen  Gewinn.  Der  Individualismus  des  Betens  geht  bei 
nordamerikanischen  Indianerstämmen  sogar  so  weit,  daß  der  Einzelne 
sich  zum  Gebet  in  die  Einsamkeit  zurückzieht.  So  entfernt  sich  der 
Osage  von  seinem  Lager  oder  seinen  Genossen,  wenn  er  sein  Morgen- 
gebet verrichtet  29.  Die  Omaha-Jünglinge  suchen,  ehe  sie  mannbar 
werden,  einsame  Plätze  auf,  wo  sie  fasten  und  zu  Wakanda  schreien, 
um  seine  Hilfe  zu  erlangen  30  —  ,geistliche  Exerzitien'  bei  einem  primi- 
tiven Volke.  In  den  antiken  Religionen,  in  denen  in  gemeinsamen 
Angelegenheiten  der  Berufspriester  oder  Staatsbeamte  betet,  tritt  das 
Beten  des  Einzelnen  in  persönlichen  Anliegen  stärker  hervor  als  bei  den 
Naturvölkern.  Ein  Grund  hierfür  ist  auch  darin  zu  suchen,  daß  die 
sozialen  Verbände,  die  Dorf-  und  Stammesgemeinden,  sich  stark  er- 
weitern und  infolgedessen  die  gemeinsamen  Interessen  sich  verringern. 
Die  typische  Form  des  primitiven  Kollektivgebets:  die  Gebetsver- 
sammlung, in  der  der  Häuptling  das  Wort  führt  und  die  Gemeinde 
antwortet,  verschwindet  bei  den  antiken  Kulturvölkern  fast  vollständig. 

Die  bevorrechteten  Individuen  treten  nicht  nur  als  stellver- 
tretende Beter  im  Auftrag  einer  Gruppe  auf,  sondern  auch  im 
Spezialauf  trag  eines  Einzelnen  in  dessen  persönlichen 
Anliegen.  So  betet  bei  afrikanischen  Stämmen  der  Häuptling  im  Namen 
eines  Kranken  um  dessen  Gesundung  31.  Aber  auch  den  Schamanen, 
Zaubardoktor,  Medizinmann,  betraut  man  mit  dem  Gebet;  bei  Bantra- 
stämmen  betet  der  ,Medizinmann'  für  ein  neugeborenes  Kind,  für  einen 
Kranken  wie  für  d^n,  der  auf  Rsisen  geht  32.    Vor  allem  aber  ist  es  der 


IV.  Die  Person  des  Beters  (Individuelles   Gebet)  57 

Opferpriester,  den  man  mit  dem  Gebet  in  Privatangelegenheiten  beauf- 
tragt; er  steht,  in  ständigem  Verkehr  mit  der  Gottheit,  er  ist  ihr  ge- 
treuer Diener;  weil  er  ihr  näher  steht  als  der  gewöhnliche  Mensch,  der 
Laie,  kann  er  viel  besser  als  letzterer  auf  sie  einwirken  und  die  Erfüllung 
des  Gebetswunsches  erlangen.  Wie  beim  gemeinsamen  Gebet,  so  pflegt 
auch  hier  der  Bittsteller  und  Opferspender  dem  kultischen,  aus  Gebet 
und  Opfer  bestehenden  Akt  des  Priesters  beizuwohnen.  Bei  den  heutigen 
Naturvölkern,  die  zumeist  nur  Zauberer  und  Wahrsager,  aber  keine 
amtsmäßigen  Opferpriester  besitzen,  ist  diese  Form  des  individuellen 
Gebets  selten.  Sie  findet  sich  vor  allem  bei  den  in  religiöser  Hinsicht 
über  das  Durchschnittsniveau  primitiver  Religion  hinausragenden 
westafrikanischen  Ewestämmen,  bei  denen  die  Priester  sowohl  den 
Häuptlingen  wie  den  Zauberdoktoren  gegenüber  eine  völlig  selbständige 
Stellung  einnehmen,  ohne  jedoch  wie  bei  antiken  Völkern  kastenartig 
organisiert  zu  sein.  Bei  den  Ewe  „bringt  der  Priester  alle  Anliegen  im 
Gebet  vor  den  tro.  Der  ganze  Verkehr  der  Eweer  mit  ihren  Göttern 
kann  nur  durch  den  Priester  vermittelt  werden.  In  jeder  Lebenslage 
kommt  deswegen  der  Eweer  einem  hilflosen  Kinde  gleich  zum  Priester, 
um  durch  ihn  sein  Anliegen  vor  den  tro  zu  bringen"  33.  Das  Priester- 
gebet und  Priesteropfer  im  Sonderauftrag  eines  Einzelnen  ist  besonders 
häufig  in  der  altindischen  Religion:  der  Brahmane  vollzieht  den  kul- 
tischen Akt,  während  der  Auftraggeber,  der  „Herr  des  Opfers",  seine 
Gattin  und  Familie,  präpariert  durch  asketische  und  kathartische 
Handlungen,  beim  Opfer  anwesend  sind.  Noch  im  heutigen  Indien 
richtet  man  nach  dem  Bericht  des  Missionars  Roussel  „individuelle 
Gebete  an  die  Gottheit  nur  durch  Vermittlung  der  Brahmanen.  Man 
wohnt  der  Rezitation  bei  oder  auch  nicht,  das  ist  einerlei;  denn  das 
Gebet  des  Brahmanen  ist  das  einzige,  das  von  Gott  erhört  werden  kann."34 
In  der  Volksreligion  aller  Jahrhunderte  wird  der  Priester  als  bevor- 
rechteter Beter  betrachtet;  weil  er  im  steten,  unmittelbaren  Kontakt 
mit  der  Gottheit  steht,  besitzt  sein  Gebet  eine  ungleich  höhere  Kraft 
als  das  der  übrigen  Menschen,  die  von  ihm  vollzogene  Opferhandlung 
ist  viel  wirksamer  als  die  Opfergabe,  die  der  Einzelne  darbringt. 

3.  Eine  Zwischenform  zwischen  dem  Einzelgebet  und  dem 
Kollektivgebet  besteht  darin,  daß  bei  einem  gemeinsamen  kultischen 
Anlaß  die  Einzelnen  nacheinander  ein  Gebet  sprechen.  So  treten  bei 
der  geheimen  Jünglingsweihe  der  Karesau-Insulaner  die  Männer  der 
Reihe  nach  heran  und  sprechen  mit  lauter  Stimme  eine  Gebetsformel  35. 
Bei  einem  zeremoniellen  Biertrinken  der  Kikuyu  steht  einer  nach 
dem  anderen  zum  Gebet  auf,  während  die  übrigen  ihm  respondieren  36. 

Es  erhebt  sich  nun  das  Problem,  welcher  Form  des  Gebets,  dem 
individuellen  oder  sozialen  Gebet  die  Priorität  zukommt.  Die 
heutigen  Naturvölker  weisen  zumeist  beide  Formen  neben  einander  auf, 
wobei  das  gemeinsame  Gebet  immer  die  Tendenz  offenbart,  feste, 
formelhafte  Gestalt  anzunehmen.  Das  individuelle  Beten  hingegen 
behält  zumeist  auch  dann  seine  ursprüngliche  Ungebundenheit  und 
Elastizität,  wenn  das  gemeinsame  und  das  stellvertretende  Beten  längst 
in  der  zeremoniösen  Gebundenheit  erstarrt  ist.     Die  Prioritätsfrage  ist 


58  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


wie  alle  Ursprungsfragen  nicht  mit  Sicherheit  zu  beantworten.  Es  ist 
jedoch  wahrscheinlich,  daß  das  Gebet  Einzelner  in  individuellen  Nöten 
älter  ist  als  das  völlig  form-  und  regellose  chaotische  Gebet  einer  Gruppe37. 
Auch  das  formlose  Kollektivgebet  geht  letzten  Endes  auf  ein  betendes 
Individuum  zurück;  denn  es  ist  wohl  stets  ein  Einzelner  gewesen,  der 
zuerst  einen  Gebetsruf  ausstieß,  den  dann  die  ganze  Gruppe  völlig 
spontan  und  frei  aufnahm  und  in  wirrem  Durcheinander  wiederholte 
oder  auch  variierte.  In  den  gemeinsam  gesprochenen  Gebeten  oder 
Gebetsresponsorien  leben  diese  ehedem  freien  Massenrufe  in  regulari- 
sierter,  fester  Form  fort. 

V.  Inhalt  des  Gebets. 

Der  hervorstechendste  Zug  des  primitiven  Gebets  ist  die  Naivität, 
das  völlig  unbefangene  und  ungehemmte  Aussprechen  alles  dessen,  was 
sich  in  der  Seele  des  Betenden  regt,  der  Angst  und  Not  ebenso  wie  des 
Wunsches,  der  Zuversicht  wie  des  Ärgers  und  Unmuts.  L'Houet  definiert 
in  seiner  Psychologie  des  Bauerntums:  „Naivität  ist  das  unbefangene 
Offenbaren  eines  seelischen  Inhalts  nach  seiner  guten  wie  seiner  schlech- 
ten Seite,  gemäß  des  Bibelwortes:  ,Wovon  das  Herz  voll  ist,  geht  der 
Mund  über.'  Naivität  ist  die  Übereinstimmung  des  Redens  und  Handelns 
bei  einem  Menschen  mit  seinem  Denken.  Naivität  ist  Einfalt  im  ur- 
sprünglichen Sprachsinn  des  Wortes,  .  .  .  Konsonanz  zwischen  des 
Menschen  Innen-  und  Außenleben."  x  Das  Beten  des  primitiven  Menschen 
ist  ein  wirkliches,  restloses  „Ausschütten  des  Herzens  vor  Gott",  wie 
das  alttestamentliche,  im  1.  Buche  Samuelis  (1,  15)  zuerst  gebrauchte 
Bild  mit  einer  wunderbaren  psychologischen  Treffsicherheit  sagt. 

1.  Anrufung. 
Jedes  Gebet  wird  eingeleitet  durch  die  Anrufung  des  göttlichen 
Wesens,  die  Nennung  des  Eigen-  oder  Gattungsnamens,  der  jedem 
solchen  Wesen  beigelegt  ist.  Der  Mensch  will  dadurch  den  Gott  auf 
seine  Anwesenheit  aufmerksam  machen  oder,  wenn  er  in  der  Ferne 
weilt,  ihn  geradezu  herbeirufen  2.  Der  Hebräer  nennt  diese  jede  kultische 
Handlung  einleitende  Anrufung  das  zäkar  oder  qärä  besem  Jahwe  „Jahwe 
beim  Namen  rufen"  3,  der  Grieche  bezeichnet  sie  als  xctkelv,  ijnxctlsiv, 
TictQCtxalelv ,  der  Römer  ,vocare\  ,invocare\  ,advocarel  4.  Der  Nen- 
nung des  Gottesnamens  geht  bisweilen  ein  lauter  Schrei  voraus ;  id)  idi 
ttsol  öeai  te  beginnt  ein  Gebet  bei  Äschylus  (Sept.  86);  ii]  iij  üairjov 
lautet  die  Gebetsanrufung  in  den  Mimiamben  Herondas  (IV  82.  85). 
Oft  wird  auch  der  Namennennung  ausdrücklich  die  Bitte  beigefügt, 
der  Gott  möge  auf  die  Worte  des  Beters  achten.  „Merk  auf!"  (Ewe), 
„höre!"  (Ainu,  Galla,  Magandscha).  K?.v&i  („höre!")  ist  die  stehende 
Einleitung  der  homerischen  Gebete 5.  „Höre  mich"  (Galla),  „höre 
uns",  „hört,  hört  auf  unsere  Stimme"  (Batak),  „höre  meine 
Rede",  „höre  das  Wort  meines  Mundes",  „höre  mein  Flehen"  (Assyrer), 
„ich  rufe  dich"  (Batak),  „ich  rufe  zu  dir,  antworte  mir"  (Ewe)  6  —  alle 
diese  primitiven  Gebetsformeln  sind  uns  aus  der  Sprache  des  Psalmisten 
vertraut.    Bisweilen  ist  der  Beter  so  höflich,  daß  er  sich  förmlich  ent- 


V.   Der  Inhalt  des  Gebets  (Anrufung,  Klage)  59 

schuldigt  und.  nur  für  einen  Augenblick  um  Aufmerksamkeit  bittet. 
,,Nur  ein  Wort  sei  hörbar,  ein  Wort  nur,  wenn  du  wirklich  achtgeben 
magst"  (Coraindianer)  7.  Dem  Gottesnamen  wird  häufig  ein  Wort 
beigefügt,  das  die  soziale  Relation,  in  welcher  der  Mensch  zu  den  über- 
menschlichen Wesen  zu  stehen  glaubt,  charakterisiert,  zumeist  eine 
Verwandtschaftsbezeichnung,  die  manchmal  sogar  die  Namensnennung 
völlig  ersetzt  (Vater,  Mutter,  Oheim,  Großvater,  Großmutter,  Herr, 
Häuptling).  Oder  es  werden  mehrere  solcher  Anreden  gehäuft :  ,,0  Gott, 
du  mein  Herr,  du  meine  Mutter,  du  mein  Vater,  du  Herr  der  Berge  und 
Täler!"  (Kekchiindianer)  8.  Die  Anrede  enthält  häufig  einen  Hinweis 
auf  den  Wohnort  des  Gottes,  zumeist  bei  den  im  Himmel  weilenden 
Urvätern. 

„0,  du  großer  Geist  dort  oben!"  (Mkulwe,  Delawaren),  ,,o  Gott,  der  du  oben 
bist!"  (Wanyika),  ,,du  Schwarzer  dort  oben!"  (Galla),  „o  Herr  in  der  Höhe!" 
(Navahoeindianer),  ,, unser  Vater  zu  unseren  Häuptern!"  (Hottentotten),  ,,o 
großer  Gott,  der  du  in  der  Höhe  bist!"  (Ewe),  ,,o  Gott,  der  du  im  höchsten  Himmel 
wohnst!"  (Ainu)  9.  Zev  xidiate,  /ue'yiore,  aid-egv  vaiuiv  („Zeus,  ruhmreichster, 
größter,  der  du  im  Himmel  weilst!")  (Ilias  II  412). 

So  ertönt  schon  das  christliche:  „der  du  bist  im  Himmel"  von  den 
Lippen  primitiver  Beter.  Bisweilen  spricht  sich  in  der  Gebetsanrede 
auch  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  eines  Stammes  mit  seinen 
Göttern  aus.  „Unser  Kalunga!"  betiteln  die  Ovambo  im  Gebet  den 
Schöpfer10.  „Gott  unserer  Heimat!"  „trow  (=  Geist)  unserer  Väter, 
trow  unserer  Mütter!"11  —  diese  Apostrophe  der  westafrikanischen 
Ewe  erinnert  an  die  Gebetsanrede  der  Israeliten.  „Jahwe,  du  Gott 
Israels,  du  Gott  unserer  Väter!"  12  Aber  auch  die  anbetende  Ehrfurcht 
und  die  herzliche  Zuversicht  finden  in  der  Anrufung  ihren  Ausdruck: 

„Großer  Nyambi!"  (Kongo),  „großer  Manitu!"  (Ottowäer),  „großer  Quahootze!" 
(Nootka- Indianer),  „du  großer  und  mächtiger  Hawu!"  (Ewe).  „großer  Häuptling, 
mächtiger  Häuptling!"  (Kaffern),  „erhabener  Geist!"  (Bewohner  am  Tanganjika- 
see),  „erhabene  Toten!"  (Kamerun),  „erhabene  Himmelstochter!"  (Sumerer), 
„erhabene  Göttin!"  (Assyrer),  „erhabene  (növvia)  Hera!"  (Griechen),  „hehre 
Göttin!"  (Ainu),  „unschuldiger  Gott!"  (Duala),  „ehrwürdiger  Vater,  verehrungs- 
würdiger Mann!"  (Santeeindianer)  13,  „erbarmender  Vater!"  (Papua),  „baim- 
herzige  Mutter!"  (Assyrer),  „guter  Geist!"  (Indianer),  ..gütiger  Gott!"  (Mkulwe), 
,. teure  Gottheit!"  (Ainu);  „lieber  (tpike)  Zeus!"  „lieber  Helios!"  „lieber  Apollo!" 
„lieber  Artemis!"  beteten  die  Griechen,  „lieber  Donner!"  sagte  der  livländische 
Bauer  des  17.  Jahrhunderts  und  noch  heute  apostrophieren  schwäbische  Bauers- 
leute in  spontanen  Gebeten  den  gekreuzigten  Heiland  als  „lieb's  Herrgottle!", 
oberbayerische  die  Mutter  Gottes  als  „lieb's  Himmelmut  teil!"  14 

2.  Klage  und  Frage. 
Manche  primitive  Gebete  enthalten  keine  eigentliche  Bitte,  sondern 
bestehen  aus  einer  an  die  Gottheit  gerichteten  leidenschaftlichen  Klage, 
einer  feierlichen  Beteuerung,  einer  unwilligen,  vorwurfsvollen  Frage: 
„0  Karai  Kasang!  Schau  doch!  0  Karai  Kasang,  ich  lüge  nicht,  o 
Karai  Kasang,  ich  stehle  nicht,  o  Karai  Kasang,  ich  bin  unschuldig" 
rufen  die  Katchins,  wenn  man  gegen  sie  eine  Anschuldigung  erhebt. 
„0  Karai  Kasang,  siehe,  wie  man  mich  verspottet!"  15  klagen  sie,  wenn 
sie  verhöhnt  werden.  „Tsui-Goatse,  du  allein  weißt,  daß  ich  ohne 
Schuld  bin,"  lautet  die  Beteuerungsformel  der  Khoikhoi.  Wenn  sie 
in  Angst  sind,  fragen  sie  seufzend:  „Tsui-goatse,  was  habe  ich  getan, 


63  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


daß  ich  so  strenge  gestraft  werde?"16  Wenn  es  donnert,  rufen  die 
Amazulu  angstvoll:  ,,0  Herr,  was  haben  wir  zerstört?  Was  haben  wir 
für  eine  Sünde  begangen  ?  Wir  haben  keine  Sünde  begangen."  17  Wenn 
einem  Baronga  die  Divination  enthüllt  hat,  daß  Geister  seiner  Haus- 
kapelle ihm  eine  Krankheit  verursacht  haben,  dann  kommt  er  zum 
Altar  und  fragt  seufzend :  ,,Ba  Ngoni,  warum  seid  ihr  auf  mich  zornig  ?"  18 
Die  Probleme  der  Theodizee,  die  später  in  erschütternden  Gebetsrufen 
von  Theognis,  dem  sophokleischen  Ödipus  und  von  Hiob  formuliert 
wurden,  sind  schon  in  uralter  Zeit  in  solch  angstvollen  Fragen  aus- 
gesprochen worden.  Das  furchtbare  Problem  des  Leidens,  des  unerhörten 
Gebets,  des  Todesrätsels  hat  schon  das  Herz  primitiver  Menschen 
gequält.  In  den  Trauergesängen  klagen  die  Kongoneger  vor  dem  Urvater 
Nzambi :  ,,0  du  großer  Nzambi,  deine  Schöpfung  ist  gut,  aber  ein  Elend 
bereitest  du  uns  durch  den  Tod !  Du  hättest  statt  dessen  es  so  machen 
sollen,  daß  wir  nie  sterben  müßten.  0  Nzambi,  wir  haben  große  Trauer  !"19 
Oft  geht  die  schmerzvolle,  klagende  Frage  der  Bitte  voraus.  „0  Herr, 
hast  du  mich  denn  gar  nicht  lieb  ?  Führe  mir  doch  den  Gnu-bock  in 
den  Weg!"  20,  fleht  der  hungernde  Buschmann.  Und  wenn  sein  Kind 
krank  darniederliegt,  betet  er  zum  Urvater  Hue:  „Warum  ist  mein 
Sohn  krank?  Mache  ihn  doch  wieder  gesund!"  21  Die  die  Bitte  ein- 
leitende Klage  wächst  sich  oft  zu  einem  ausführlichen  Bericht, .  einer 
ganzen  Erzählung  aus,  die  den  Gott  informieren  will.  Wenn  die  Bran- 
dung an  der  Küste  des  Kru -Landes  (Westafrika)  sehr  stark  ist  und  die 
Leute  nicht  fischen  können,  gehen  sie  in  Scharen  an  den  Strand  und 
berichten  davon  dem  großen  Gott;  dabei  erklären  sie  ihm  ganz  genau 
alle  Umstände  dieses  Falles  —  wie  die  Frauen  und  Kinder  Nahrung 
brauchen  und  die  Nahrung  vom  Fischfang  abhängig  ist,  gerade  so, 
wie  wenn  sie  sich  an  einen  großen  Richter  wendeten,  der  keine  persön- 
liche Kenntnis  von  menschlichen  Angelegenheiten  hat  22. 

3.  Bitte. 
Kern  und  Mittelpunkt  alles  Betens  ist  das  Bitten,  von  dem  es  ja 
seinen  Namen  hat 1.  Ziel  und  Zweck  der  B  i  1 1  e  ist  stets  die  Behauptung, 
Kräftigung  oder  Steigerung  des  natürlichen,  gesunden  Lebenswillens, 
die  Befriedigung  elementarer  Lebensbedürfnisse.  Sie  hat  teils  negativen 
Sinn,  wenn  sie  Befreiung  von  einem  Übel  oder  Bewahrung  vor  einer 
Gefahr  erstrebt,  teils  positiven  Sinn,  wenn  sie  auf  Gewährung  von 
Gütern  und  Vorteilen  abzielt.  Gegenstand  der  Bitte  sind  darum  fast 
ausschließlich  eudämonistische  Güter,  Nützlichkeitsweite.  Auch  die 
ästhetischen  und  sozialethischen  Werte,  die  hie  und  da  Objekt  der 
Bitte  sind,  tragen  stets  eudämonistische  Färbung.  Gewiß  erlebt  der 
Primitive  ethische  Werte,  ja  er  erlebt  sie  sogar  unter  einem  religiösen 
Gesichtspunkt :  die  souveräne  Gültigkeit  der  ethischen  Forderung  setzt 
sich  ihm  um  in  eine  Willensäußerung  des  höchsten  Gottes.  Nach  dem 
Glauben  zahlloser  primitiver  Stämme  hat  der  Urvater  und  Schöpfer 
den  Menschen  eine  Reihe  sittlicher  Gebote  eingeschärft  2.  „Mit  aller 
Vorsicht  vor  einem  gewaltsamen  Anachronismus  könnte  man  hier 
von  einem  gewissen  Moralismus    im  Gebiete  der  Primitivität   reden" 


V.    Inhalt  des  Gebets  (Bitte)  61 


(Söderblom)  3.  Aber  trotz  des  Glaubens  an  die  Göttlichkeit  des 
Sittengesetzes  wird  das  Sittliche  um  des  Sittlichen  willen  fast  nie 
Gegenstand  eines  Gebets;  denn  das  Sittliche  erscheint  immer  nur  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  sozialen  bzw.  göttlichen  Verpflichtung;  das 
persönliche  Werterlebnis  erreicht  nicht  jene  Intensität,  die  imstande 
wäre,  analog  den  Affekten  und  Wünschen  eine  Bitte  zu  motivieren. 

Ist  der  Anlaß  zum  Gebet  ein  konkreter,  so  ist  die  Bitte  ganz  konkret 
gefaßt  und  bezieht  sich  lediglich  auf  das  augenblickliche  Bedürfnis,  ist 
der  Anlaß  zum  Gebet  ein  regulärer,  so  wird  die  Bitte  generell  formuliert; 
der  Beter  spricht  dann  nicht  nur  einen  Wunsch  aus,  sondern  faßt 
eine  Reihe  auf  allgemeine  Bedürfnisse  sich  beziehender  Wünsche  in 
genereller  Weise  zusammen. 

An  der  Spitze  der  primitiven  Gebetsgegenstände  stehen  Leben  und  Ge- 
sundheit. Wenn  ein  Indianer  in  Lebensgefahr  schwebt,  so  fleht  er  zu  seinem 
Gott:  „Sei  friedlich  und  tue  mir  kein  Leid  an!"  4  Wenn  die  Melanesier  sich  bei 
Ungewitter  auf  der  See  befinden,  flehen  sie  zu  den  Ahnengeistern:  „Rettet  uns 
in  der  Tiefe,  rettet  uns  aus  dem  Sturm,  bringt  uns*zur  Küste!"  5  Ein  von  Kopf- 
schmerzen geplagter  Sia-Indianer  fleht:  ..O  Vater,  ich  habe  Kopfweh,  es  drückt 
mein  Herz.  Ich  bezahle  dich  mit  diesem  Mahle;  ich  gebe  es  dir  als  Nahrung 
und  werde  dir  dankbar  sein,  wenn  du  meine  Krankheit  wegnimmst."  6  Ein  von 
Krankheit  gequälter  Ainu  betet:  ,,0  Weidegott,  der  du  mein  Rückgrat  bist, 
eile  mich  zu  heilen  und  mache  mich  stark.  O  du  teure  Gottheit,  ich  bin  krank 
und  mein  Leib  ist  schwach,  bitte,  hilf  mir  bald."  7  Der  Primitive  bittet  aber 
nicht  nur  in  solchen  Augenblicken  um  Leben  und  Gesundheit,  in  denen  diese 
gefährdet  sind,  sondern  bei  allen  möglichen  Anlässen:  „Gib  mir  Kraft  und  Leben, 
Waka!"  (Afrikanische  Pygmäen)  8.  „Ich  bitte  dich,  daß  du  mir  langes  Leben 
gibst"  (Siouxindianer)  9.  „Wir  bitten  um  Leben"  (Marschallinsulaner)  10.  „Er- 
halte uns  das  Leben!"  (Dschagganeger)  ll.  „Verlängere  mein  Leben!"  (Galla)  ia. 
„Schenke  Leben!"  „Schenke  langes  Leben!"  fleht  wiederholt  der  sumerische 
Priesterkönig  Gudea  zu  seinen  Schutzgöttinnen.  „Erhalte  mein  Leben!  Schenke 
mir  langes  Leben !  Schenk  mir  ein  Leben  bis  auf  ferne !  Verlängere  meine  Tage ! 
Dehne  aus  meine  Tage!"  beten  die  babylonischen  Könige  13.  „Gib  langes  Leben!" 
ruft  der  Sänger  des  Rigveda  zur  Göttin  der  Morgenröte;  „verlängere unser  Leben!" 
zum  Feuergott  Agni 14.  „Erhaltet  mir  das  Leben  und  schenkt  mir  Gesundheit!" 
ruft  der  Dschagga  zu  seinen  Ahnen  15.  „Laß  mich  leben  und  gesund  bleiben!" 
heißt  es  in  einem  babylonischen  Hymnus  16.  „Gib,  daß  wir  gesund  bleiben!" 
flehen  die  Ewe  17.  „Gib  uns  Gesundheit!"  (Galla).  „Gebt  mir  Gesundheit  nach 
eurer  Barmherzigkeit!"  (Xosakaffern).  „Ich  bitte  um  einen  gesunden  Leib,  daß 
ich  angenehm  lebe"  (Amazulu).  „Bewahre  uns  vor  Krankheiten!"  (Galla)  18. 
„Gib  deinen  Kindern  Leben  und  Gesundheit!"  beten  die  Peruaner19.  „Laß 
mich  gesund  bleiben!  Gesundheit  und  Freude  verleihe  mir  als  Geschenk!"  sind 
auch  die  Gebetswünsche  babylonischer  Könige  20.  Zur  Gesundheit  gehört  für 
den  Primitiven  die  Leibesstärke ;  darum  fleht  er  um  sie  besonders  in  seinen  Gebet  en. 
„Mögen  die  Muskeln  der  Arme  und  Beine  stark  sein!  Mögen  die  Sehnen  des 
Schenkels,  der  Kniekehle,  des  Armes  stark  werden!"  (Ewe)  21.  „Kaffernkorn 
soll  unserem  Leib  helfen,  daß  wir  dick,  nicht  dünn  werden!"  (Baronga)  22.  „Gib 
mir  Stärke  des  Leibes!"  (Siouxindianer)  23.  Ja,  die  Ewe  sprechen  sogar  im  Gebet 
den  paradoxen  Wunsch  aus,  daß  der  Alkohol  an  ihnen  keine  schädigenden  Wir- 
kungen ausüben  möchte:  „Mawu  Sogble!  Gib,  daß  der  Branntwein  mich  nicht 
betrunken  macht."  24 

Der  Wilde  kennt  die  Gefahren  und  Schwierigkeiten  der  Reise  7.\\  Wasser  und 
zu  Land;  darum  erbittet  er  vor  ihrem  Antritt  den  göttlichen  Schutz.  „O  Oki. 
der  du  in  diesem  Orte  wohnst,  ich  opfere  dir  Tabak.  Hilf  uns,  rette  uns  von 
Schiffbruch,  verteidige  uns  gegen  unsere  Feinde,  gib  uns  gutes  Geschäft  mal 
bringe  uns  glücklich  in  die  Heimat!"  lautet  das  .1t  innarium'  der  Huronen  25. 
Die  Wanyika  beten  auf  der  Karawanenfahrt:  „O  Gott,  der  du  oben  bist  !  Siehe. 
ich  befinde  mich  auf  Reisen.     Wohlan,  o  Gott,  schütze  mich!    Möge  ich  Gewinn 


62  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

machen,  der  ich  mich  auf  Handelsfahrt  befinde!  Habe  Mitleid  mit  mir,  daß 
ich  gesund  und  heil  zurückkehre."  26  Der  Ewe-Händler.  der  bei  Vollmond  eine 
Handelsreise  antritt,  betet:  „O  Vollmond,  errette  mich  auf  diesem  Wege  und 
hilf  mir  auf  meiner  Handelsreise!  Gib,  daß  die  Leute  meine  Waren  kaufen! 
Gib  nicht  zu,  daß  ich  auf  meiner  Handelsreise  krank  werde!  Hab  recht  acht 
auf  mich,  daß  ich  wohlbehalten  nach  Hause  zurückkehre!  Laß  mich  von  keinem 
Unglück  betroffen  werden!"  27  Der  Siouxindianer  opfert  auf  seiner  Reise  der 
Sonne  Tabak  und  spricht  dabei:  ,,0  Wakanda,  der  du  die  Sonne  bist!  Hier  ist 
Tabak.  Ich  möchte  deinem  Laufe  folgen.  Laß  es  so  sein!  Gib,  daß  mir  nur 
Gutes  begegne  und  laß  weit  weg  sein  alles,  was  mir  Unglück  und  Schaden  bringen 
könnte!"  28  Die  Toradja  auf  Celebes  beten:  ,,Wir  reisen  dort  drüben  hin;  macht 
unsere  Wege  gerade,  gebt  uns  Sonnenschein!"  29  Die  mittelamerikanischen 
Kekchiindianer  bitten:  „Beseitige  die  verletzenden  Steine,  die  verletzenden 
Baumstämme,  die  verletzenden  Schlingpflanzen,  beseitige  sie,  entferne  sie  von 
meinem  Wege,  daß  ich  nicht  stürze."  30  Wenn  die  Schiffer  am  Tanganjikasee  ihie 
schwankenden  Boote  besteigen,  flehen  sie:  ,,0  Geist,  gib  uns  einen  ruhigen  See, 
wenig  Winde,  wenig  Regen,  laß  die  Boote  gehen  gut,   gehen  schnell!"  31 

Der  Schutz  und  die  Obhut  Gottes  ist  dem  nach  Lebenssicheiheit  verlangenden 
primitiven  Menschen  nicht  minder  wichtig  und  unentbehrlich  wie  dem  alttestament- 
lichen  Frommen,  der  nur  unter  den  Fittichen  Jahwes  sich  wohlgeborgen  weiß. 
Die  Khonds  von  Orissa  beten:  „Am  Morgen  erheben  wir  uns  vor  Sonnenaufgang 
zu  unserer  Arbeit  und  besorgen  die  Saaten.  Beschütze  uns  vor  dem  Tiger  und 
vor  der  Schlange  und  vor  den  Steinen  des  Anstoßes."  32  Wenn  sich  die  Nacht 
herniedersenkt,  flehen  die  auf  der  Jagd  befindlichen  Ainumänner  vor  ihrem 
improvisierten  Nachtlager:  ,,0  Göttin  des  Feuers,  wache  über  uns  des  Nachts!"  33 
Die  Dschagganeger,  die  eine  neue  Hütte  beziehen,  tun  dies  nicht,  ohne  den  gött- 
lichen Schutz  darauf  herniederzuflehen:  ,,0  Herr,  schütze  uns  in  diesem  Hause!"  3* 
An  alttestamentliche  Psalmworte  werden  wir  durch  das  Gebet  der  afrikanischen 
Malinke  erinnert:  „Möchte  ich  Frieden  haben  bei  meinem  Eingang!  Möchte  ich 
Frieden  haben  bei  meinem  Ausgang!  Während  der  Nacht  sei  mir  gnädig!  Be- 
wahre uns  vor  den  bösen  Menschen  am  Tage!"  35 

Zu  den  wichtigsten  Gegenständen  des  Gebets  gehört  die  Erlangung  der  Nah- 
rung, gerade  bei  jenen  Stämmen,  die  noch  nicht  Ackerbauer  und  Viehzüchter, 
sondern  Pflanzensammler,  Jäger  und  Fischer  sind.  Die  Buschmänner  beten 
zum  Urvater  Cagn,  der  alle  Dinge  gemacht  hat:  „O  Cagn!  O  Cagn!  Sind  wir 
nicht  deine  Kinder,  siehst  du  nicht  unsern  Hunger  ?  Gib  uns  Nahrung!  '36  Wenn 
ein  Autmoine  (Kanada)  Nahrungsmangel  leidet,  spricht  er,  gegen  Osten  sich 
wendend:  „Unsere  Sonne,  gib  uns  zu  essen!"  Dann  geht  er  auf  die  Jagd37. 
Wenn  ein  Namaqua-Buschmann  ein  Opfer  „dem  alten  Mann  des  Wassers"  bringt, 
sagt  er:  „O  Grossvater,  Sohn  eines  Buschmannes,  gib  mir  das  Fleisch  des  Rhino- 
zeros, des  Gemsbocks  oder  des  Zebra  oder,  was  ich  sonst  zu  haben  begehre."38 
Der  Ewe,  der  bei  Vollmond  auf  die  Jagd  geht,  betet:  „O  Vollmond,  gib,  daß 
ich  Wild  finde,  das  ich  in  diesem  Busch  erlegen  kann.  Suche  mir  Wild,  daß 
ich  es  erlege!"39  Die  Hottentotten  rufen:  „Laß  mich  Honig  und  Wurzeln  finden." 
„Gib  uns  viel  Honig,  gib  Gras  unserem  Vieh,  damit  wir  viel  zu  essen  haben."40 
Ein  Duala  flehte:  „Gib  uns  Fisch  und  Palmkern  und  sonstiges  Essen!"41  Im 
täglichen  Morgengebet  der  Massai  heißt  es:  „Laß  mich  nun  auch  diesen  Tag 
finden,  womit  ich  mich  sättige.  Gott  meines  Elends,  gib  mir  Essen,  gib  mir 
Milch,  gib  mir  Fleisch,  mein  Vater!"42  Die  auf  Fischfang  gehenden  Melanesier 
beten:  „Wenn  du  mächtig  bist,  Daula,  lege  einen  Fisch  oder  zwei  in  dieses  Netz 
und  lasse  diese  dort  sterben."43  Die  Ainu-Fischer  bitten:  ,0  du  großer  Gott, 
der  du  über  dem  Wasser  gebietest!  O  Wassergottheit,  wir  gehen  jetzt  Fische 
fangen.  Bitte,  gib,  daß  wir  Fische  fangen!  O  gib,  daß  wir  heute  viele  Fische 
fangen!"44  Die  Eskimo  von  Point  Barrow  werfen,  wenn  sie  einen  Fluß  erreichen, 
ein  Stückchen  Tabak  hinein  und  rufen  dabei  aus:  „Gute  Geister,  laßt  mich  viele 
Fische  fangen!"46 

In  tropischen  Ländern  ist  ein  Trunk  Wasser  oft  noch  schwerer  zu  erlangen 
als  Nahrung.  In  Zeiten,  wo  die  Quellen  und  Wasserläufe  versiegen  und  Durst 
die  Menschen   quält,   flehen  die   Ewe  um  einen  kühlenden  Wassertrunk:    „Das 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Bitte)  63 

Herz  deiner  Kinder  ist  heiß  geworden.  Sie  sind  durstig  und  müssen  sterben. 
Darum  sind  wir  gekommen  und  bitten  dich,  du  wollest  uns  ein  wenig  Kühlung 
verschaffen  —  eine  Kühlung,  die  bis  an  die  Kehle  reicht."46 

Die  Sorge  um  das  tägliche  Brot  treibt  den  Primitiven  dazu,  um  das  Wachs- 
tum und  den  Schutz  der  Pflanzen  und  Saaten  zu  beten.  Der  Kekchiindianer 
bittet  den  Herrn  der  Berge  und  Täler,  den  kostbaren  Maissamen  vor  Schädlingen 
zu  behüten.  ,,Es  schmerzt  dich  nicht,  es  macht  dir  keine  Mühe,  ihn  zu  beschirmen 
vor  allem,  was  ihm  widerfahren  kann.  Mögest  du  alle  deine  (ihm  schädlichen) 
Kinder  (Pflanzen  und  Tiere)  verstecken  und  befestigen!"47  Die  Khonds  von 
Orissa  beten:  „Laß  die  Saaten  den  fressenden  Vögeln  wie  Erde  erscheinen  und 
den  fressenden  Tieren  der  Erde  wie  Steine!"48  Die  Wanyika  rufen  bei  der  Felder- 
bestellung den  höchsten  Gott  und  die  Ahnen  an:  ,,0  Mulungu,  ich  bitte  dich. 
Ich  bebaue  dieses  Feld;  ich  tue  es  um  Nahrung  zu  erlangen,  damit  ich  gesund 
bleibe.  O  ihr  Ahnen !  Ich  bebaue  dieses  Feld.  Möge  das  Korn  reichlich  sprießen 
auf  diesem  Feld!"49  Ehe  die  Jabim  auf  Deutsch-Neuguinea  die  ersten  Taro  ins 
Feld  setzen,  rufen  sie  die  Geister  der  Verstorbenen  an:  ,,Wenn  wir  unsere  Taro 
in  die  Erde  pflanzen,  laßt  sie  alle  üppig  werden."60  Die  Samoaner  beten:  „Laßt 
unsere  Pflanzungen  fruchtbar  sein,  laßt  Futter  wachsen,  möge  Überfluß  herrschen 
an  Nahrung  für  uns,  eure  Geschöpfe!"51  „Schick  uns  große  Garben!"  lautet 
das  altgriechische  Erntegebet  an  die  Fruchtbarkeitsgöttin  Demeter52.  „Schüttle 
dich,  Großmutter,  schüttle  dich,  laß  den  Reis  steigen,  bis  er  so  groß  ist  wie  ein 
Hügel,  so  groß  wie  ein  Berg.  Schüttle  dich,  schüttle  dich!"53  beten  die  Karenen 
in  Birma  zu  der  Reisgöttin.  Weil  alle  Fruchtbarkeit  und  aller  Erntesegen  in 
heißen  Ländern  vom  Regen  abhängt,  bittet  der  Primitive  mit  solcher  Innigkeit 
und  Dringlichkeit  um  den  Regen:  „Gib  uns  Regen,  o  Häuptling,  damit  der 
Reis  wächst!"  (Amazulu)64.  „Mein  Vater  Meergeist!  Sende  deinen  Regen  auf 
meine  Saaten,  sie  mögen  genesen!"  (Kiziba)65.  „Es  ist  sehr  trocken  und  wir 
müssen  hungern.  Gott,  unser  Vater,  wir  bitten  dich,  sieh  unser  Elend  an  und  gib, 
daß  es  auf  unsere  Feldfrüchte  regne.  Gib,  daß  es  heute,  noch  heute  regnet," 
flehen  die  Ewe  in  Zeiten  der  Dürre56.  Zu  den  herzlichsten  Gebeten  in  der  primi- 
tiven Welt  gehört  das  folgende  Gebet,  das  der  Häuptling  der  afrikanischen  Konde 
bei  großer  Trockenheit  spricht:  „Mbamba!  Kiara!  Du  hast  uns  Regen  ver- 
weigert, schenke  uns  Regen,  daß  wir  nicht  sterben!  Rette  uns  vom  Hungertod! 
Du  bist  ja  unser  Vater  und  wir  sind  deine  Kinder  und  du  hast  uns  geschaffen; 
weshalb  willst  du,  daß  wir  sterben?  Gib  uns  Mais,  Bananen  und  Bohnen!  Du 
hast  uns  Beine  gegeben  zum  Laufen,  Arme  zum  Arbeiten  und  Kinder  auch,  gib 
uns  auch  Regen,  daß  wir  ernten  können."67  An  dieses  Gebet  klingt  das  Gebet  der 
Wanyika  an:  „O,  Gott!  Gib  uns  Regen!  Wir  sind  in  Not,  wir  leiden  und  wir 
sind  doch  deine  Kinder.  Wohlan,  gib  uns  Regenwolken,  damit  die  Leute  Nahrung 
erlangen,  wir  bitten  dich,  o  Gott,  du  unser  Vater."58 

Viehzüchtende  Stämme  bitten  um  reichen  Zuwachs  und  um  Gedeihen 
ihrer  Herden.  „Gib  uns  viel  Vieh!"  (Hottentotten).  „Gib  mir  viele 
Rinder!"  (Masai).  „Gib  mir  Ziegen,  gib  mir  Schafe!  Möge  ich  reich  werden!" 
(Kikuyu).  „Guter  Geist,  gib  Büffel,  dicke  Büffel!"  (Indianer).  „Ich  bitte  um 
Rinder,  daß  sie  diese  Hürde  füllen!"  (Amazulu).  „Sei  gnädig  meinen  Herden 
und  mehre  sie!"  (Galla)59.  „Wenn  der  Frühling  naht,  laß,  o  Gott,  die  drei  Arten 
Vieh  auf  die  drei  Wege  hinaus,  schütze  sie  vor  tiefem  Schlamm,  Bären,  Wölfen 
und  Dieben!"  (Tscheremissen)60. 

Kinderreichtum  stellt  der  Primitive  so  hoch  wie  großen  Viehbesitz. 
Gar  oft  bittet  er  in  einem  Atemzug  um  Korn,  Vieh  und  Kinder:  ..Ich  bitte  dich, 
daß  ihr  meinen  Kraal  mit  Vieh,  meine  Scheune  mit  Korn,  meine  Häuser  mit 
Kindern  füllt"  (Xosakaffern)81.  „Gib  mir  Ziegen,  gib  mir  Schafe,  gib  mir  Kinder!" 
(Kikuyu)62.  „Gib  uns  Kinder,  Tabak,  Korn,  Kühe,  Ochsen  und  Schafe!"  (Galla).8* 
„Gib  mir  doch  Kinder  und  Häuser  und  Pisang  und  Fisch  und  Palmkern  und 
sonstiges  Essen!"  (Duala)64.  „Bringe  uns  Reichtum,  Speise  und  männlichen 
Nachwuchs!"  bittet  ein  vedischer  Priestersänger86.  Die  Ruanda  beten  zu  den 
Ahnen:  „Hilf  unseren  Frauen,  gib  ihnen  Fruchtbarkeit!"68  Der  Galla  betet: 
„O  Geber,  gib  Menschen!  O  Geber,  gib  mir  Kinder!  O  Gott,  laß  sie  mir  ge- 
deihen!"87    In  den  Gebeten  der  babylonischen  Könige  treffen  wir  immer  wieder 


64  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


die  Bitte  um  Nachkommenschaft.  , .Reiche  Nachkommenschaft  schenke  mir!' 
„Laß  mich  gesättigt  werden  mit  Nachkommenschaft!"  „Vermehre  meinen 
Samen,  dehne  aus  meine  Nachkommenschaft,  unter  meinen  Nachkommen  laß 
gedeihen  die  Geburt!"88  Die  Batak  sehen  aber  nicht  bloß  auf  die  Quantität, 
sondern  auch  auf  die  Qualität  der  Nachkommenschaft ;  darum  bitten  sie:  „Groß- 
vater, gib  uns  kriegerische  Söhne,  Männer  des  Rats  und  Vorkämpfer!  Gib  uns 
Töchter,  die  einen  großen  Topf  kochen  können,  die  geschickt  sind  im  Weben, 
willig  zum  Schenken.  Die  Sterne  sind  zahlreich,  es  ballen  sich  die  Wolken;  so 
seien  die  Söhne  zahlreich,  und  es  mögen  sich  mehren  die  Töchter!"69  Weil  Kinder- 
losigkeit als  Schmach  empfunden  wird,  fleht  die  kinderlose  Frau  gar  innig  um  ein 
Kind  —  wie  im  Alten  Testament  Hanna,  Elis  Gattin.  „Ich  bitte  dich,  du  wollest 
mir  ein  Kind  schenken,  daß  auch  ich  mich  unter  meinen  Familiengliedern  freuen 
darf!"  (Ewe)70.  Oder  es  betet  der  Priester  im  Namen  des  kinderlosen  Ehepaares: 
„Tro  unserer  Väter!  Diese  deine  Kinder  sind  zu  mir  gekommen  mit  der  Bitte, 
ich  solle  sie  zu  dir  führen.  Sie  haben  Hunger  nach  einem  Kind  und  bitten  des- 
wegen, du  mögest  zuGott  gehen,  dort  einKind  holen  und  es  dieserFrau  schenken!"71 

Alle  Bedürfnisse,  welche  der  Fortschritt  der  materiellen  Kultur  mit  sich  bringt, 
werden  ins  Gebet  aufgenommen.  Die  Ewe  bitten  einen  Flußgeist:  „Gib  uns 
Kleider  zum  Anziehen  und  gib  Kaurimuscheln  !"72  Der  Duala  betet :  „Vergiß 
nicht,  o  Gott,  mir  eine  europäische  Lampe  zu  geben  und  öl  dazu!"73  „Vermehren 
möge  sich  die  Zahl  der  Sklaven  und  Sklavinnen!"  ist  ein  Gebetswunsch  vor- 
nehmer Ewe74.  Ja  sogar  um  Silber  und  Gold  beten  manche  wilden  Stämme75. 
Wo  sich,  wie  bei  den  Ewe  ein  Kaufmannsstand  gebildet  hat,  da  betet  der  Händler 
vor  dem  Antritt  seiner  Geschäftsreise  um  reichen  Absatz.  „O  Vollmond, 
errette  mich  auf  diesem  Wege  und  hilf  mir  auf  meiner  Handelsreise.  Gib,  daß 
die  Leute  meine  Ware  kaufen!"76  Ähnlich  betet  der  Tami  auf  Neuguinea,  der 
sich  auf  Handelsfahrt  begibt:  „Begleite  mich  auf  der  Reise  und  sorge,  daß  ich 
gute  Geschäfte  mache!"77 

Auch  der  Schutz  des  Eigentums  gegen  Diebe  bildet  bisweilen  einen 
Gegenstand  der  Bitte.  Die  Karenen  beten  zur  Erntegöttin:  „Großmutter, 
du  behütest  mein  Feld,  du  wachst  über  meine  Pflanzung.  Gib  acht  auf  Menschen, 
die  das  Feld  betreten,  sieh  dich  scharf  um  nach  Leuten,  die  hereinkommen.  Wenn 
sie  kommen,  so  binde  sie  mit  dieser  Schnur,  binde  sie  mit  diesem  Seil  und  lasse 
sie  nicht  wieder  fort!"78  Und  hat  sich  jemand  an  fremdem  Besitz  vergriffen, 
so  dient  bisweilen,  sofern  man  nicht  irgendeinen  Zauber  bereit  hat,  das  Gebet 
dazu,  den  bösen  Dieb  zu  entlarven.  Bei  den  südafrikanischen  Baronga  redet 
in  diesem  Falle  der  Medizinmann  den  Himmelsgott  Tilo  an:  „0  Himmel,  du 
bist  es,  der  Augen  hat,  die  ebenso  gut  bei  Tag  und  Nacht  sehen.  Sie  haben  meine 
Güter  gestohlen  und  sie  leugnen  es !  Komme  und  entdecke  sie ;  mögen  sie  ver- 
nichtet werden!"79 

Wird  ein  Stamm  von  Feinden  überfallen,  so  flehen  die  Angegriffenen  um 
Hilfe  zu  ihrem  Gott.  So  beten  die  Konde  am  Nyassasee:  „Die  Feinde  kommen, 
o  Gott,  stärke  unsere  Arme,  gib  uns  Kraft!  Gib  deinem  Volk,  deinen  Kindern 
starke  Herzen,  damit  der  Feind  nicht  unsere  Frauen  raube  und  das  Vieh,  das 
du  uns  gegeben  hast!"80  Die  Anloer  (Südtogo)  bitten  ihren  Gott,  an  der  Spitze 
ihres  Heeres  voranzuziehen:  „Wir  waren  zu  Hause  und  hörten  plötzlich,  daß 
es  Krieg  gebe.  Du  bist  unser  aller  Haupt.  Deswegen  sind  wir  zu  dir  gekommen, 
um  dich  zu  bitten,  du  wollest  uns  in  dem  Krieg  voranziehen  und  ihn  für  uns  führen. 
Sammle  deshalb  deine  Krieger  um  dich,  damit  sie  diesen  Krieg  für  uns  führen, 
denn  wir  haben  keine  Kraft."81  Die  Galla  beten  alltäglich:  „Wenn  die  Feinde 
kommen,  laß  deinen  Wurm  auf  der  Erde  nicht  zugrunde  gehen,  halte  deine  Hand 
über  ihm!"82  Aber  auch  zum  Angriffskrieg,  sei  es  nun  ein  Rachekrieg  oder  ein 
Eroberungskrieg,  erbittet  man  von  Gott  Siegesglück.  Der  indianische  Osage 
betet:  „Wakonda,  erbarme  dich,  ich  bin  sehr  arm;  gib  mir  Erfolg  gegen  meine 
Feinde,  damit  ich  den  Tod  meiner  Freunde  rächen  kann!  Möge  es  mir  vergönnt 
sein,  Skalpe  zu  nehmen,  Pferde  zu  nehmen  usw."8,3  Ganz  ähnlich  betet  ein 
kriegerischer,  beutesüchtiger  Siouxindianer :  „Ich  möchte  einen Pawnee  töten,  ich 
möchte  Pferde  bei  der  Heimkehr  mitbringen,  ich  habe  Freude  daran,  den  Feind  in  den 
Staub  zuwerfen."84  DieNootkaindianer  beten:  „Großer  Quahootze,  laß  mich  leben, 
nicht  krank  sein,  den  Feind  finden,  ihn  nicht  fürchten,  ihn  schlafend  finden  und 


V.   Inhalt  des  Gebets  (Bitte)  65 

eine  große  Menge  von  ihm  töten."85  Im  Kriegsgebet  der  Delawaren  überwiegt 
die  Sehnsucht  nach  glücklicher  Heimkehr  zur  Familie:  ,,Laß  es  mir  in  diesem 
Unternehmen  gelingen,  daß  ich  meinen  Feind  erschlage  und  heimbringe  die  Sieges- 
zeichen zu  meiner  teuren  Familie  und  meinen  Freunden,  daß  wir  uns  miteinander 
freuen.  Gib  nur  Mut  und  Stärke,  meinem  Feind  entgegenzugehen,  vergönne 
mir  zurückzukehren  zu  meinen  Kindern,  meinem  Weib  und  meinen  Verwandten. 
Habe  Mitleid  mit  nur  und  behüte  mein  Leben,  o  ich  will  dir  ein  Opfer  darbringen."88 
Von  den  Batak  wird  der  Krieg  als  ein  Gottesurteil  angesehen.  Vor  der  Schlacht 
appellieren  beide  Parteien  an  Gott,  tragen  ihm  ihre  Sache  vor  und  rufen:  „Wäge 
gerecht."87 

Man  bittet  Gott  nicht  bloß  um  Hilfe  und  Gaben,  sondern  man  fragt  ihn  auch 
um  Rat,  den  man  auf  dem  Wege  der  Divination,  des  Traumes  und  Orakels 
zu  erlangen  hofft.  So  betet  der  Batakjüngling,  der  heiraten  will,  vor  er  schlafen 
geht,  um  einen  divinatorischen  Traum:  „Verkündigt  mir  doch  einen  guten  Traum, 
einen  heilsamen  Traum,  den  das  Gemüt  festhält,  den  der  tondi  (Lebensgeist, 
Seele)  annimmt!  Wenn  ich  die  Tochter  des  N.  N.  wirklich  heiraten  soll,  daß  sie 
Genossin  meines  Wohlergehens,  Genossin  meines  Wohlstandes  werden  soll,  und 
wir  zusammen  alt  werden,  dann  sagt  es  mir  an,  Großväter!"88  Der  sumerische 
Priesterkönig  Gudea  ruft  zur  Göttin  Nina  um  Erklärung  seiner  Träume:  ,,0 
Mutter,  deute  die  Träume!"89  In  diesen  Anfragen  bei  den  hohen  Wesen  liegt 
die  eine  Wurzel  des  bei  den  antiken  Völkern  so  eifrig  gepflegten  Orakelwesens. 

Es  ist  wunderlich  genug,  daß  der  primitive  Mensch  bisweilen  die  hohen  Mächte 
um  das  Gelingen  einer  Zauberhandlung  anruft,  die  doch  aus 
sich  selbst  den  gewünschten  Effekt  hervorbringen  sollte;  es  spricht  sich  hier  ein 
tiefes  Mißtrauen  gegen  die  eigene  Kraft  und  ein  starkes  Gefühl  der  Abhängigkeit 
aus.  In  Australien  ruft  man  die  Urwesen  Mura-Mura  an,  daß  der  imitative 
Regenzauber,  den  man  dann  vornimmt,  glücke90.  Der  Ewepriester  betet  zum 
Himmel:  „Ich  habe  keinen  Speichel  (Speichel  gilt  als  Sitz  der  Seele  zauber- 
kräftig) im  Mund.  Du  bist  der  Besitzer  des  Speichels.  So  komm  nun  und  spritze 
deinen  Speichel  über  diese  Medizin!"91  Und  der  Barongamedizinmann  betet 
zu  den  Ahnen,  daß  die  Medizin,  die  er  für  ein  neugebornes  Kind  gebraut  hat, 
kräftig  sei.  „Dies  ist  das  Kind,  möge  es  wachsen!  Möge  es  durch  meine  Medizin 
wachsen.  Ihr  habt  mir  diese  Arzneien  gegeben.  Mögen  sie  es  gegen  Krank- 
heiten schützen,   damit  niemand  sagen  kann,   sie  habe  keine   Kraft!"92 

Es  ist  ein  Symptom  von  Naivität,  wenn  der  primitive  Beter  mit  einer  unbe- 
fangenen Unverschämtheit  seine  Gebetswünsche  möglichst  hoch  hinaufschraubt. 
In  seinen  regelmäßigen  Gebeten  trägt  er  nicht  einen,  sondern  gar  viele  Wün- 
sche seinem  Gott  vor.  Die  Kikuyu  beten:  „Die  Wolken  mögen  viel  Regen  geben, 
unsere  Weiber  mögen  fruchtbar  sein,  keine  Krankheit  möge  unseren  Kindern 
nahe  kommen,  unsere  Herden  mögen  fett  werden  und  sich  mehren  und  unsere 
Güter  mögen  zahlreich  sein!"93  Größer  ist  der  Wunschzettel  des  ostafrikanischen 
Mensavolkes.  Wenn  man  bei  Neumond  zum  erstenmal  den  Mond  sieht,  sagt 
man  zu  ihm:  „Sei  uns  ein  Freuden-  und  Glücksmonat!  Möge  der  Junge  sich 
stark  wachsen  und  der  Erwachsene  stark  bleiben!  Das  schwangere  Weib  möge 
gebären,  die,  welche  geboren  hat,  möge  das  Kind  säugen!  Der  Fremde  erreiche 
sein  Ziel  und  die  Einwohner  mögen  sicher  wohnen  in  ihrem  Haus!  Das  draußen 
weidende  Rind  möge  glücklich  wiederkehren!  Sei  uns  ein  Saat-  und  Kälber- 
monat! Sei  uns  ein  erfrischender  Gesundheitsmonat!"94  Nicht  eine  hyperbolische 
Rhetorik,  sondern  ein  ungezügeltes  eudämonistisches  Begehren  redet  aus  den 
Gebeten  der  Khonds  von  Orissa:  „Laß  unsere  Saaten  soviel  Frucht  zurückgeben, 
daß,  so  viel  auf  den  Boden  fällt  und  übersehen  wird  und  so  viel  beim  Nachhause- 
fahren  liegen  bleibt,  daß  im  nächsten  Jahr,  wenn  wir  ausgehen  zu  säen,  die 
Felder  und  Wege  wie  ein  junges  Kornfeld  erscheinen."  „Laß  unsere  Herden 
so  zahlreich  werden,  daß  wir  sie  nicht  mehr  bergen  können,  gib  uns  einen  so  reichen 
Kindersegen,  daß  die  Sorge  um  sie  unseren  Eltern  zu  schaffen  macht,  wie  man 
an  ihren  verbrannten  Händen  sehen  wird;  laß  unsere  Köpfe  beständig  gegen 
eherne  Töpfe  stoßen,  die  in  zahlloser  Menge  von  der  Decke  herabhängen,  laß  die 
Ratte  ihre  Nester  aus  den  Abfällen  von  Scharlachtuch  und  Seide  bauen,  laß 
alle  Aasvögel  des  Landes  auf  den  Bäumen  unseres  Dorfes  versammelt  sein  wegen 
des  vlehs,  das  dort  jeden  Tag  geschlachtet  wirdl""     Hier  gleitet  das  Bitten  ins 

Das  Gebot  5 


66  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


Träumen  hinüber,  das  Wünschen  steigert  sich  zum  Schwelgen  in  den  Wunsch- 
phantasien  von  einem  üppigen  Schlaraffendasein. 

Die  Naivität  des  primitiven  Betens  verrät  sich  auch  darin,  daß  der  Egois- 
mus ganz  ungeschminkt  zutage  tritt.  Man  scheut  sich  nicht,  das  Unheil,  dem 
man  selbst  durch  die  Hilfe  der  Götter  zu  entgehen  sucht,  auf  andere  Menschen 
herabzuwünschen.  Die  Schiffer  am  Tanganjikasee  beten  zum  Seegeist,  indem 
sie  Perlen  opfern:  ..Du  erhabener  Geist,  du  großer  Herrscher,  du  nimmst  alle 
Menschen,  du  tötest  alle  Menschen;  laß  uns  nur  ungeschoren!"*6  Ein  Ewepriester, 
der  zu  einem  tro  um  Genesung  eines  Kranken  fleht,  spricht:  ,,Gehe  hin  und  lege 
die  Krankheit  auf  jemand,  der  Böses  tut."  Die  Ewe  suchen  auch  das  ihnen 
drohende  Unheil  auf  die  verhaßten  Europäer  abzuschieben:  „Möge  es  hinfahren 
\ind  den  Weißen  zustoßen,  die  auf  dem  Meere  sind!"*'  Ganz  ähnlich  bittet  der 
Sänger  des  Rigveda  den  Gott  Indra:  ,, Jeden  anderen,  nur  nicht  uns  schädige!"** 
Der  in  Süddeutschland  geläufige  Spruch:  „Heiliger  Florian,  beschütze  unsere 
Häuser,  zünd'  andere  dafür  an!"  ist  keine  üble  Parodie  des  primitiven  Gebets- 
egoismus. 

Weil  das  Beten  eine  spontane  Äußerung  eines  Wunsches  ist,  darum  werden 
auch  solche  Wünsche,  die  unmoralisch  sind  und  von  einer  reineren  Frömmig- 
keit als  irreligiös  gebrandmarkt  werden,  zum  Gegenstand  der  Gebetsbitte.  Missions- 
bischof Le  Roy  berichtet  von  den  Bantu  und  Negrillo:  „Man  bittet  nicht  nur, 
daß  man  etwas  Gutes  erlange  oder  etwas  Schlechtes  entferne,  sondern  auch, 
daß  die  Rache  glücke,  daß  man  sich  fremden  Eigentums  bemächtige,  ohne  erwischt 
zu  werden,  daß  man  seine  Feinde  töte."'*  An  das  antike  nagaöidövai  tolg  x&0Vl°lS 
(die  Übergabe  an  die  Götter  der  Unterwelt)  erinnert  das  Fluchgebet  eines  Ewe 
an  einen  tro:  „Denjenigen,  der  die  mir  verloren  gegangene  Sache  genommen 
hat.  übergebe  ich  mit  allen  seinen  Angehörigen  in  deine  Hand!  Bestrafe  sie  für 
mich!"101  Wenn  man  aber  selbst  die  Rache  des  Feindes  und  Schädigers  in  die 
Hand  nimmt,  dann  betet  man  etwa  wie  in  Ruanda:  „Wenn  ich  mit  meinem 
Feinde  auf  dem  Wege  zusammentreffe,  möge  ich  ihn  wie  einen  schlechten  Hund 
niederschlagen!"102  Wo  die  Schädeljagd  (die  übrigens  religiösen  Zwecken  dient) 
im  Schwange  ist,  bittet  man  um  Glück  bei  diesem  grausamen  Geschäft.  Auf 
der  Insel  Nias  spricht  der  Priester,  bevor  die  Kopfjäger  ausziehen,  ein  langes 
Gebet  zu  den  Ahnen,  das  in  der  Bitte  gipfelt:  „Gib  du  ihnen  einen  guten  Fang!"10* 
Man  muss  jedoch  in  Anbetracht  des  die  Gesellschaft  ursprünglich  beseelenden 
Zusammengehörigkeitsgefühls  es  verneinen,  daß  auf  der  Urstufe  des  Gebets  die 
Bitte  um  Glück  bei  Raub,  Diebstahl  und  Mord104  zum  Inhalt  des  Gebets  gehörte; 
nur  das  aus  Zorn  und  Haß  geborene  Rachegebet  gegen  den  Feind  des  einzelnen 
und  vor  allem  der  Gruppe  wird  man  zum  ursprünglichen  Inhalt  der  Gebete  rechnen 
müssen.  Es  ist  unzweifelhaft,  daß  schon  der  tief  stehende  Pygmäe  gegen  den, 
der  es  wagt,  ihm  ein  erbeutetes  Wild  zu  rauben  oder  an  seinem  Weib  sich  zu  ver- 
greifen, ein  Fluchgebet  schleudert  und  um  das   Gelingen  blutiger  Rache  betet. 

Über  dieser  breiten  Unterschicht  rein  eudämonis tischer  Werte,  die 
den  Hauptinhalt  des  primitiven  Betens  bilden,  erhebt  sich  eine  dünne 
Oberschicht  höherer  Werte:  intellektueller,  ethischer,  sozialer 
und  ästhetischer  Werte,  die  jedoch  noch  immer  einen  eudämonistischen 
Einschlag  offenbaren.  Nur  solche  Stämme,  deren  Kulturleben  bereits 
stärker  differenziert  und  höher  entwickelt  ist,  machen  diese  Werte  zum 
Gegenstand  des  Gebets. 

Bei  den  Tobabatak  ist  das  Gefühl  vom  Wert  der  eigenen  Persönlichkeit  so 
stark,  daß  sie  um  Wertschätzung  durch  die  anderen  beten.  „Heilige  und  ver- 
herrliche uns,  damit  unser  Ansehen  sei  wie  das  der  Angesehenen,  unser  Glück 
wie  das  der  Glücklichen,  wie  das  Ansehen  der  Fürsten  flußauf,  flußab!"195  Die 
Ewe  bitten  Mawu  Sozda,  die  Mutter  der  Menschen,  um  Eintracht  und  fried- 
liches Zusammenleben.  „Möge  Frieden  haben  die  Welt!  Möge  zusammenpassen 
die  Kalebasse  mit  dem  Topf  (d.  h.  Mann  und  Frau  in  Friede  leben)!  Möge  zu- 
sammenpassen ihr  Kopf  und  jedes  böse  Wort  weit  hinaus  in  den  Busch  und  un- 
betretenes Land  gehen!"     „Möge  zusammenpassen  unser  Kopf!"  heißt  es  auch 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Bitte)  67 

in  einem  anderen  Ewegebet10'.  „Gib  uns  Friede  mit  unserer  Nachbarschaft!', 
rufen  die  Ruanda  zu  ihrem  Ahnen107.  Nach  dem  Tode  eines  Familiengliedes 
betet  bei  den  Baronga  der  älteste  Bruder  zu  den  Göttern,  ,.die  Familie  zu  segnen, 
üble  Gefühle  oder  Streit  abzuwenden"108  Die  Malinke  beten:  ,,Für  die  Mächtigen 
der  Welt  mache,  daß  ich  das  Wasser  bin,  mit  dem  sie  sich  waschen!  Mache  nicht, 
daß  ich  das  Wasser  bin,  das  sie  trinken!"  (d.  h.  mache,  daß  ich  in  Frieden 
lebe  mit  den  Mächtigen,  daß  ich  nicht  von  ihnen  unterdrückt  werde!)100  Der 
Siouxindianer  schätzt  die  innere  Gemütsruhe  und  Harmonie,  darum  bittet 
er:  „Laß  nicht  Ärger  in  mein  Herz  einziehen!"110  Die  afrikanischen  Yebu  bitten 
um  „Glück  und  Weisheit"111,  die  Tscheremissen  um  „Glück  und  Verstand"112. 
Die  indianischen  Navahoes  sind  ein  ausgesprochen  ästhetisch  veranlagtes  Volk, 
darum  verlangen  sie  nach  Schönheit  des  eigenen  Leibes  wie  der  ganzen 
Welt.  „O  Herr  in  der  Höhe,  dessen  Jugend  unsterblich  ist,  du  Herrscher  dort 
oben,  ich  habe  dir  ein  Opfer  dargebracht,  erhalte  meinen  Leib  und  meine  Glieder 
schön,  laß  alles  erfüllt  werden  mit  Schönheit!"113  Bei  den  hamitischen  Galla 
Nordafrikas  stossen  wir  auch  auf  ethische  Gebetsbitten,  die  aber  nicht  selbst- 
ständig, sondern  im  Zusammenhang  von  rein  eudämonistischen  Bitten  vorgetragen 
werden.  (Einflüsse  von  benachbarten  höher  entwickelten  Kulturvölkern  sind 
möglich,  aber  keineswegs  sicher.)  „Wenn  ich  zufrieden  bin,  halte  mich  von 
Übermut  ab",  heißt  eine  Stelle  im  Morgengebet;  hier  schon  redet  die  Hybrisfurcht, 
die  für  die  griechische  Religion  so  charakteristisch  ist.  Und  im  Abendgebet 
fleht  der  Galla:     „Halte  mich  zum  Guten!"114 

Wo  die  animistischen  Vorstellungen  über  das  Leben  nach  dem  Tode  sich  zum 
(Hauben  an  ein  eudämonistisches  Glücksreich  fortgebildet  haben,  wird  auch  das 
jenseitige  Glück  zum  Gegenstand  des  Gebets.  So  beten  die  Galla  (die 
hierin  wohl  vom  Islam  oder  von  dem  christlichen  Abessynien  beeinflusst  sind): 
..O  Wak,  nimm  uns  zu  dir  und  führe  uns  in  den  Garten,  führe  uns  nicht  zum 
Satan  und  nicht  ins  Feuer!"118 

Eine  weitere  Fortbildung  primitiven  Betens  liegt  in  der  völligen  Generalisierung 
des  Gebetsgegenstandes:  der  Beter  spricht  nicht  einen  konkreten  Wunsch  aus, 
faßt  auch  nicht  mehrere  konkrete  Wünsche  in  einem  Gebet  zusammen,  sondern 
trägt  eine  , abstrakte'  Bitte  vor;  hier  ist  bereits  das  philosophische 
Gebetsideal  angedeutet,  in  dem  alles  detaillierte  Bitten  um  eudämonistische 
Güter  verpönt  ist.  Doch  ist  hier  das  abstrakt  formulierte  Gebetsziel,  das  , Glück', 
der  , Segen',  das  Gute',  Gottes  , Gunst',  stets  in  eudämonistiseher  Richtung,  nicht 
in  geistiger  gedacht.  „Nimm  die  Opfer  an,  daß  mich  kein  Unheil  treffe!"116 
(Flußneger  Kameruns).  „Gib  uns  Gutes  und  wache  über  uns!"  „Segne  uns 
gnädig!"  (Ainu)117.  „Schau  auf  mich  und  sei  immer  mit  mir,  daß  ich  glücklich 
lebe!"  (Amazulu)118.  „Ich  bete  zu  euch  um  guten  Fortgang  und  Glück."  (Xosa- 
Icaffern)119.  „Gib.  daß  ich  mich  freue!"  (Ewe)120.  „Es  ist  nicht  Gebet  um  Essen, 
nicht  Gebet  um  Trinken,  es  ist  Gebet  für  Wohlergehen,  ich  rufe  um  Wohlstand" 
(Batak)121.  „Oallihr  Wakanda,  ich  bitte  euch  um  eure  Gunst"  (Sioux-Indianer)122. 
Die  Khonds  von  Orissa,  die  in  ihren  Gebeten  sich  in  so  ausschweifende  Wunsch- 
phantasien ergehen,  setzen  am  Schluß  ganz  kleinlaut  hinzu,  wie  wenn  sie  irre 
geworden  wären  an  ihren  mannigfachen  Wünschen:  „Wir  wissen  nicht,  was 
gut  ist  und  warum  wir  bitten  sollen.     Du  weißt,  was  gut  ist,  gib  es  uns!"123 

Auch  die  Sehnsucht  nach  Gemeinschaft  mit  einem  göttlichen  Wesen,  das 
Verlangen  nach  der  Schutz,  Sicherheit  und  Seligkeit  spendenden  Nähe  und  G  e- 
genwart  Gottes,  das  aus  manchen  Psalmen  redet  und  alle  Mystiker  be- 
seelt, ist  innerhalb  fortgeschrittener  Naturvölker  nicht  völlig  unbekannt.  So 
betet  ein  Ewepriester  zu  einem  tro:  „Laß  mich  bei  dir  bleiben  und  bleibe  du 
bei  mir!"124  Die  Galla  sprechen  in  ihrem  Abendgebet  wiederholt  die  Bitte  aus: 
..Zu  dir,  o   Gott,  bin  ich  geflohen,  fliehe  du  nicht  vor  mir!"128 

Der  primitive  Eudämonismus  desBetens  lebt  in  den  großen  antiken 
Religionen  mit  unverminderter  Kraft  und  Urwüchsigkeit  fort, 
vor  allem  in  der  Volksreligion,  aber  auch  in  der  offiziellen  Ritua'.religion, 
die  in  den  Händen  der  Priester  oder  Staatsbeamten  ruht;  nur  die 
Hymnenpoesie  macht  zum  Teil  eine  Ausnahme.    In  den  umfangreicher: 


A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


Azteken  gebeten,  die  von  Sahagun  erhalten  wurden,  ist  die  Bitte 
um  die  moralische  Besserung,  die  ,geistliche  Gabe'  sehr  selten.  Gesund- 
heit, Ernte,  Regen,  Befreiung  von  Hungersnot,  Schutz  vor  Gefahren, 
Krankheiten  und  Niederlagen,  sind  die  festen,  unveränderlichen  Gegen- 
stände des  Bittens  126.  Die  chinesischen  Gebete  um  Regen  und 
gute  Ernte,  um  Reichtum  und  langes  Leben  unterscheiden  sich  nicht 
von  den  primitiven  127.  Die  babylonischen  und  assyrischen 
Könige  beten  wohl  bisweilen  um  höhere  Werte,  wie  um  Gottesfurcht 
und  gerechte  Regierung.  Was  sie  von  ihren  Göttern  in  erster  Linie 
erflehen,  sind  stets  irdische  Glücksgüter:  „langes  Leben",  „reiche 
Nachkommenschaft",  „Gesundheit",  „Herzensfreude"  und  „heiterer 
Sinn",  „Lebenskraft  in  Fülle",  „Festigkeit  des  Throns  und  andauernde 
Regierung",  „Niederwerfung  der  Feinde  und  Eroberung  des  Feindes- 
landes" 128.  In  der  altisraelitischen  Volks  religion  betete 
man  um  Erhaltung  des  Lebens,  Kinder,  Hilfe  gegen  Bedrücker,  Be- 
freiung von  Landplagen,  Herrschaft  und  Sieg,  Vernichtung  der  Feinde, 
Zeichen  und  Wunder  129.  Nicht  anders  war  es  im  alten  Indien.  Wie 
primitiv  klingt  folgendes  Gebet  aus  dem  Sämaveda:  „Blitzschleudernder 
Indra,  alle  guten  Dinge  bringe  mit  beiden  Händen  zu  uns.  .  .  Über- 
schütte mich  mit  großem  Reichtum,  mit  Besitz  von  Vieh,  denn  du  bist 
groß."  130  Aber  auch  im  Rigveda  können  wir  all  die  primitiv-eudämoni- 
stischen  Bitten  finden:  Langes  Leben  und  Wohlsein,  kräftige  Söhne, 
Nahrung,  Reichtum  an  Rindern  und  Rossen,  an  Wagen  und  Gold, 
Schutz  vor  Feinden  und  Sieg  über  sie.  Nur  selten  wird  um  solche  Werte 
wie  um  rechtes  Denken  oder  darum  gebetet,  daß  man  nicht  tun  möge, 
was  die  Götter  strafen  m.  Die  Bitten  um  Tilgung  der  Schuld  in  assy- 
rischen und  vedischenHymnen  entspringen  fast  nie  einer  echten ,  ethischen 
Selbstverurteilung  oder  einem  religiösen  Sündengefühl,  sondern  be- 
zwecken zumeist  nur  die  Befreiung  von  Krankheit,  die  Beseitigung 
eines  Fluches.  Die  homerischen  Helden  beten  um  Hilfe  in  der 
Not,  aber  so  gut  wie  nie  um  ein  sittliches  Charisma  132.  Xenophon 
bittet  um  „Gesundheit,  Leibesstärke,  Ehre  bei  der  Bürgerschaft,  Ver- 
träglichkeit mit  den  Freunden,  Heil  im  Kriege  und  Reichtum"  (Oec.  11, 
8)  —  lauter  Gegenstände,  die  uns  im  Gebet  der  Naturvölker  begegneten. 
Der  athenische  Staat  betete  für  die  Gesundheit  und  das  Wohl  des 
athenischen  Volkes,  für  Weiber  und  Kinder  und  das  ganze  Land  133. 
Der  Gebetsgeist  des  römischen  Volkes  offenbart  sich  in  dem  Gebets- 
wunsche Tibulls:  ,,Jo  messes  et  bona  vina  date"  („gebt  reiche  Ernte 
und  guten  Wein!"  I  1,  24).  Das  Beten  der  antiken  Menschen  ist,  — 
soweit  es  wirkliches  Beten,  nicht  bloß  feierliche  Rezitation  von  rituellen 
Formeln  und  Hymnen  ist  —  primitives  Beten.  Auch  hier  zeigt  sich, 
was  auch  die  Vergleichung  anderer  Elemente  beweist,  daß  innerhalb 
der  großen  antiken  Kulturen  die  Religion  nicht  innerlich,  sondern  nur 
äußerlich  fortgebildet,  nicht  nach  der  Tiefe,  sondern  nur  nach  der  Breite 
entwickelt  worden  ist,  daß  also  die  antiken  Religionen  nichts  anderes 
sind  als  primitive  Religionen,  nur  stark  kompliziert,  durch  äußere  Pracht 
verbrämt,  von  Ritualismus,  Mythologie,  Astrologie  und  Magie  über- 
wuchert.    Lediglich  die  Religion  der  hellenischen  Voll  kultur  nimmt 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Fürbitte)  69 

unter  den  antiken  Religionen,  wie  später  gezeigt  wird,  eine  Sonder- 
stellung ein;  sie  hat  in  der  Tat  das  Primitive  innerlich  fortgebildet, 
vertieft  und  gereinigt;  aber  auch  sie  erhebt  sich  nicht  zu  einer  neuen 
Stufe  des  religiösen  Gedankens. 

Die  christlichen  Gebetsideale  haben  das  Beten  der  naiven 
Volks  massen,  vor  allem  das  der  Landbevölkerung,  vielfach  nur  ober- 
flächlich berührt.  Das  spontane  Gebet  altchristlicher  Volkskreise  an 
die  Märtyrer  bewegt  sich  genau  in  denselben  Bahnen,  in  denen  das 
antike  Gebet  überhaupt  sich  bewegte;  die  Gefühle  der  Verehrung,  der 
Anbetung,  ja  selbst  der  Dankbarkeit  kommen  in  ihm  nur  selten  zum 
Ausdruck;  es  ist  im  wesentlichen  Bittgebet,  „Bitte  um  Leben  und 
Glück"  134.  Das  Beten  der  heutigen  katholischen  und  evangelischen 
Bauern  wie  das  der  mittelalterlichen  ist  —  soweit  es  völlig  spontan 
und  frei  ist  —  vielfach  unverfälschtes  primitives  Beten.  Die  bekannten 
primitiven  Gebetsgegenstände  —  Leben  und  Gesundheit,  Regen  und 
Sonnenschein,  Erntesegen  und  Glück  bei  allen  Unternehmungen  — 
kehren  allenthalben  wieder  135. 

4.  Fürbitte. 

Die  aus  sozialen  Gefühlen  hervorgehende  Fürbitte  nimmt  in 
den  Gebeten  des  Primitiven  einen  breiteren  Raum  ein ,  als  wir  erwarten . 
Sie  bezieht  sich  vor  allem  auf  die  Glieder  der  eigenen  Familie. 

Der  Familienvater  betet  für  Weib  und  Kind,  bei  konkreten  Anlässen 
sowohl  wie  bei  den  regelmäßigen  Gebeten.  Der  Ku-Buschmann  ruft  zum  Urvater 
Hue:  „Warum  ist  mein  Sohn  krank?  Mache  ihn  doch  wieder  gesund!"1  Tritt 
in  Mkulwe  ein  Kind  eine  längere  Reise  an,  so  wendet  sich  der  Vater  an  den  höchsten 
Gott:  „Dein  Geschöpf,  o  Nguluwi,  schütze  es!  Es  geht  fort;  erfreue  es!  Es 
gehe,  es  komme  an,  wo  es  hingeht  Güter  zu  suchen;  möge  es  nicht  krank  werden, 
möge  es  gesund  sein  am  Leibe.  Wo  es  geht,  wo  es  hinkommt,  möge  es  plaudern 
(d.  h.  Freunde  finden)"2  Besonders  offenbart  sich  die  elterliche  Fürsorge,  wenn 
die  Tochter  sich  verlobt  oder  verheiratet.  Bei  den  Ainu  spricht  der  Brautvater 
bei  der  Verlobung  zur  Feuergottheit  ein  Gebet  für  Tochter  und  Schwiegersohn: 
„Wir  haben  hier  und  jetzt  festgesetzt,  unseren  Sohn  und  unsere  Tochter  zu  ver- 
heiraten, darum,  o  Göttin  des  Feuers,  höre  du  und  sei  du  dabei  Zeugin.  Bewahre 
dieses  Paar  vor  Krankheit  und  wache  über  sie,  daß  sie  alt  werden!"3  In  Mulera 
Ruanda  betet  der  Familienvater  bei  der  Brautwerbung  zu  seinem  Ahnen:  „O  du 
Geist  meines  Vaters,  Großvater  meiner  Tochter,  sei  uns  gnädig,  sei  ihr  günstig, 
verfolge  nicht  die  Tochter,  töte  nicht  den  Mann!  Gib  ihr  guten  Willen,  daß 
sie  den  Mann  verstehe  und  nicht  träge  sich  hinsetze!"4  Wenn  bei  den  Schilluk 
ein  Vater  seine  Tochter  verheiraten  will,  so  führt  er  sie  ans  Grab  des  Ahnen  und 
spricht:  „Herr,  hier  bringe  ich  dir  mein  Kind,  segne  es!  Du  weißt,  ob  seine 
Wege  gerade  sein  werden  oder  ob  ihm  Unglück  bevorsteht.  Wenn  du  nur  willst, 
so  wird  mein  Kind  glückselig  sein.  Ich  opfere  auch  ein  Schaf  lein ;  sein  Blut  wird 
durch  die  Erde  zu  dir  dringen  und  für  mich  und  mein  Kind  sprechen."5  Eine 
rührende  Fürsorge  und  Anhänglichkeit  spricht  aus  dem  Kriegsgebet  des  Dela- 
waren:  „O  du  großer  Geist  dort  oben,  habe  Mitleid  mit  meinen  Kindern  und 
meinem  Weib!  Verhüte,  daß  sie  meinetwegen  trauern!"8  Der  opfernde  afri- 
kanische Pygmäe  fleht  zu  Waka:  „Gib  mir  Kraft  und  Leben  und  daß  meinen 
Kindern  nichts  Böses  zustoße!"7  Der  auf  Reisen  gehende  Ewe-Kaufmann  bittet 
nicht  nur  um  gutes  Geschäft  und  glückliche  Fahrt,  sondern  gedenkt  auch  liebevoll 
seiner  Gattin  und  Kinder:  „Laß  mich  von  keinem  Unglück  betroffen  werden 
und  gib,  daß  meine  Frau  und  meine  Kinder  gesund  bleiben !" 8  Der  Dschagganeger 
betet  bei  seinem  Morgengebet  täglich  für  seine  Angehörigen:  „O  Ruwa,  schütze 
mich  und  die  Meinen!"*     Selbst   dort,  wo  Polygamie  herrscht,  fehlt  nicht   da.« 


70  A.   Das  naive  Beten  des  primitiven  Mensehen 


enge  familiäre  Zusammengehörigkeitsgefühl,  das  sich  unwillkürlich  im  Fürbitte- 
gebet ausatmet.  So  betet  ein  Ewe  zu  Mawu  Sodza:  „Heute  übergebe  ich  dir 
mein  Leben,  meine  Kinder  und  alle  meine  Frauen.  Habe  acht  auf  sie!"  Ein 
anderer  betet:  „Gib  mir  selbst,  meinen  Geschwistern  väterlicherseits  und 
allen  Geschwistern  mütterlicherseits  Gesundheit!"10  Charakteristisch  ist  bei 
diesen  Gebeten,  daß  das  liebe  Ich  natürlich  vorne  steht,  dann  erst  kommen  die 
anderen.  Auch  der  gute  Kikuyuhäuptling,  der  so  lieb  für  den  Europäer  betet, 
redet  immer  nur:  „ich  und  der  weiße  Mann."11  Der  naive  Egoist  denkt  an 
sich  selbst  zuerst. 

Die  Fürbitte  umfaßt  bisweilen  die  ganze  Sippschaft,  ja  sie  reicht 
noch  über  den  Kreis  der  Verwandten  hinaus.  Das  Gebet,  das  bei  der  geheimen 
.Jünglingsweihe  der  Karesauinsulaner  jeder  Mann  spricht,  klingt  universalistisch : 
„O  Wonekau  (höchstes  Wesen),  du  schwebe,  siehe  und  schaue  auf  meine  Frau, 
meine  Kinder,  meine  Mütter,  meine  Väter,  meine  Schwestern,  meine  Brüder, 
meine  Tanten,  meine  Onkel,  meine  Vettern,  meine  Freunde,  meine  Menschen!"18 
Der  primitive  Stamm  betet  für  seinen  Häuptling  ,  dem  er  treu  ergeben  ist. 
Die  Baronga  bitten  die  Ahnen,  dem  Häuptling  Weisheit  und  Stärke  zu  geben, 
damit  er  Erfolg  habe  bei  seiner  Herrschaft  über  das  Dorf13.  In  Westafrika  beten 
die  Frauen  für  den  erkrankten  König  zum  Mondgott,  er  möchte  ihn  doch  vor 
dem  Tode  erretten14.  Auch  im  alten  China  betet  das  Volk  zum  Himmel  für  den 
Kaiser15.  Der  Primitive  betet  auch  für  seine  Freunde,  die  er  schätzt,  und 
für  alle,  die  ihm  einen  Dienst  erwiesen  oder  ihm  Gutes  taten.  Wenn  bei  den 
Ainu  jemand  krank  ist,  geht  ein  Freund  in  den  Wald  und  betet  zu  einem  guten 
Baumgott,  daß  er  ihn  heile16.  Wenn  die  Jabim  auf  Neuguinea  die  Taro  anpflanzen, 
gedenken  sie  im  Gebet  an  die  Ahnen  all  derer,  die  ihnen  beim  Bearbeiten  des  Bodens 
behilflich  waren:  „Schafft,  daß  die  Taro  der  Leute,  die  uns  beim  Feldschlagen 
geholfen,  gut  gedeihen!"17 

Keineswegs  selten  ist  das  Gebet  wilder  Stämme  für  einen  fremden  Euro- 
päer, der  ihr  Zutrauen  zu  gewinnen  verstand.  Das  innige  Gebet,  das  der  Kikuyu- 
häuptling fürRoutledge  und  seine  Gattin  sprach,  wurde  bereits  erwähnt  (s.  o.  S.  51  f.). 
Bei  Stanleys  Fahrt  warfen  seine  Führer,  Leute  des  Königs  Komah  der  Waganda, 
Perlen  in  den  See  und  beteten:  „Sei  dem  weißen  Manne  gnädig,  o  Nyansa,  ich 
ermahne  dich,  verleihe  ihm  eine  sichere  und  glückliche  Fahrt  über  die  weiten 
Gewässer!"18  Auch  Sarasin  erzählt  von  seiner  Reise  in  Celebes,  daß  ein  Ein- 
geborener ihnen  den  Weiterweg  segnen  wollte,  da  ein  steiler  Aufstieg  in  hohes 
Bergland  bevorstand.  „Er  setzte  sich  zum  Flusse  hin  und  hielt  ein  langes  Gebet 
zu  den  Göttern  unter  und  über  der  Erde,  zu  den  Geistern  der  Bäume  und  Flüsse, 
daß  sie  uns  gnädig  sein  möchten  auf  unserer  Reise  und  daß  uns  kein  Unwetter, 
kein  Unfall  zustoßen  möge."19 

Über  den  Tod  hinaus  reicht  die  Fürsorge  für  die  Menschen,  mit  denen  man 
während  des  Lebens  enge  verbunden  war.  Dort,  wo  die  Vorstellung  eines  jen- 
seitigen Ortes  der  Glückseligkeit  lebendig  ist,  —  das  trifft  nur  auf  einen  Teil  von 
Naturvölkern  zu,  bei  anderen  gilt  das  Fortleben  nach  dem  Tode  als  Weilen  im 
Ahnengrab,  oder  als  Reinkarnation  —  wird  wohl  für  den  Verstorbenen 
gebetet.  Von  den  auf  niederer  Kulturstufe  stehenden  Euahlayi  in  Australien 
ist  das  ausdrücklich  belegt.  Christliche  Missionseinflüsse  hält  die  Gewährsmännin 
(Miss  Langloh-Parker)  für  ausgeschlossen.  Wenn  ein  in  die  Stammesmysterien 
eingeweihter  Mann  stirbt,  so  betet  man  zum  Urvater  Baiarne,  er  möchte  dem  Toten 
Eintritt  in  ,Bullima'  (Himmel)  gewähren,  da  er  die  Gesetze  des  ,Boorah'  (Ritual) 
beobachtet  habe.  (Nur  dem  ,Mysten'  steht  das  selige  Los  im  Jenseits  in  Aus- 
sicht, während  der  !'  neingeweihte  wandern  muß,  bis  er  auf  Erden  wiedergeboren 
wird.  )20  Die  südamerikanischen  Warrau- Indianer  beten  beim  Tode  eines  Stammes- 
gliedes: ,,0  Jawahu,  du  hast  ihn  mit  Gewalt  von  uns  genommen,  er  wäre  sonst 
nimmer  von  seinem  Feld,  von  den  Seinen  gegangen.  Bringe  ihn  zu  seinen  Freunden, 
die  du  uns  vor  ihm  geraubt,  damit  er  Aguti  und  Affen  kann  jagen,  damit  er  Yams, 
Ca  sada  auch   findet."21 

Weil  der  Mensch  dem  ihm  Nahestehenden  immer  nur  das  wünscht,  was  er 
selbst  zu  erlangen  begehrt,  darum  bilden  auch  das  Objekt  der  Fürbitte  nur  Glücks- 
Küter,  es  kehren  hier  dieselben  eudämonistischen  Werte  wieder;  die  den  Inhalt 


V.   Inhalt  des  Gebets  (Opfer)  71 


der  Bitte  bilden:  Leben,  Gesundheit,  Kinderreichtum,   Glück  auf  Erden  und  im 
Jenseits. 

5.  Opfer,  Opferspruch  und  Gelübde. 

Das  Gebet  war  ursprünglich  eine  selbständige,  vom  Opfer  gänz- 
lich unabhängige  Größe  und  ist  es  noch  immer  dann,  wenn  im  Augen- 
blick übermächtiger  seelischer  Erregung  ein  Hilfe-  oder  Dankruf  zu 
Gott  emporsteigt.  Wenn  aber  das  Gefühl  der  Not  und  die  Furcht  der 
Inbrunst  des  Wunsches  und  der  Glut  der  Hoffnung  weicht,  dann  stellt 
sich  im  Menschen  der  Gedanke  ein,  die  übermenschliche  Macht,  die 
ja  so  menschlich  denkt  und  fühlt  wie  er  selbst,  durch  ein  Geschenk  zu 
gewinnen.  Er  weiß  ja,  wie  auch  unter  den  Menschen  Gaben  und  Ge- 
schenke die  Herzen  zu  öffnen  vermögen.  Zu  den  Mächtigen  dieser 
Erde  pflegt  er  nicht  mit  einer  Bitte  zu  treten,  ohne  gleichzeitig  durch 
die  Überreichung  einer  Gabe  seine  Geneigtheit  zu  erkaufen.  Noch  im 
heutigen  Volkstum  ist  der  Glaube  tief  eingewurzelt,  daß  man  von 
niemand  umsonst  große  Gunstbezeugungen  und  Gnadenerweise  erhoffen 
dürfe.  Was  aber  für  den  Verkehr  mit  den  Menschen  gilt,  das  gilt  noch 
mehr  für  das  Verhältnis  zu  den  übersinnlichen  Mächten.  ,,Nie  sollt 
ihr  euch  Jahwe  mit  leeren  Händen  nahen!"  lautet  ein  Spruch  des  Deu- 
teronomiums  1,  in  dem  der  primitive  Glaube  an  die  Unerläßlichkeit  des 
Opfers  zur  Erlangung  der  göttlichen  Gunst  klar  ausgesprochen  ist. 
Bei  den  Griechen  war  der  Gedanke  der  Umstimmung  der  Götter  durch 
Geschenke  (nsiüeiv  dcoga  y.al  d-eovg)  geradezu  sprichwörtlich  2,  und 
auch  der  römische  Dichter  Ovid  singt: 

Munera,  crede  mihi,  capiunt  hominesque  deosque; 

Placalur  donis  Jupiter  ipse  datis3. 
(,, Glaub  mir,  es  werden  durch  Gaben  die  Götter  und  Menschen  gewonnen, 
Opfer  besänftigen  selbst  Jupiters   zürnendes  Herz.") 

Der  naive  Mensch  stellt  sich  eben  seinen  Gott  als  denselben  auf  Besitz 
und  Genuß  erpichten  Egoisten  vor,  der  er  selbst  ist.  Darum  gilt  es,  ihn 
durch  die  Darbringung  eines  nützlichen  oder  wertvollen  Gegenstandes 
in  eine  gebefreudige  Stimmung  zu  versetzen,  ihm,  wie  ein  Ewepriester 
in  seinem  Gebet  treuherzig  heraussagt,  „die  Brust  warm  zu  machen"  *. 
So  wächst  aus  dem  Gebet  das  Opfer  heraus,  als  ein  Mittel,  um  ihm 
Nachdruck  und  durchschlagende  Kraft  zu  verleihen  5.  Jakob  Grimm 
hat  nicht  mit  Unrecht  das  Opfer  als  „ein  mit  Gaben  dargebrachtes 
Gebet"  definiert.  „Wo  zum  Gebet,  da  fand  sich  auch  Anlaß  zum  Opfer." 
Köberle  bezeichnet  das  Opfer  als  „ein  versinnlichtes  Gebet"6. 
Auguste  Sabatier  sagt:  „Das  Opfer  war  ursprünglich  nur  eine 
Form  des  Gebets."  7  Gebet  und  Opfer  gehen  eine  enge  Verbindung 
miteinander  ein  8:  fast  alle  Gebete  der  Naturvölker  wie  der  antiken 
Völker  werden  von  Opfern  begleitet  und  unterstützt,  oder  es  wird 
wenigstens  für  die  Zukunft  ein  solches  in  Aussicht  gestellt;  nur  die 
kurzen  impulsiven  Hilferufe  und  Angstschreie  machen  eine  Ausnahme. 
Schon  die  Terminologie  weist  auf  eine  enge  Verbindung  von  Gebet  und 
Opfer  hin.  Im  Griechischen  /Litt},  Uooofiai  —  lateinisch  litare 
wechselt  die  Bedeutung  , Opfer'  und  , Gebet'  ö.  Das  hebräische  'ätar 
, beten'  bedeutet  ursprünglich  ,opfern'.     Im  Arabischen  bedeutet  lasara 


72  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

sowohl  eine  bestimmte  Gebetszeit  als  auch  ,Gabe',  , Geschenk'  10.    Das 
hebräische    minchä    , Geschenk',    , Speiseopfer'    wurde   später   als    Be- 
zeichnung für  das  Nachmittagsgebet  verwendet  n. 

Das  Gebet  ist  eine  der  Wurzeln  des  Opfers  und  es  ist  zweifellos  älter 
als  dieses  letztere.  Es  gibt  noch  unter  den  heutigen  niederen  Rassen 
solche  (z.  B.  die  australischen  Euahlayi 12  und  andere  australische 
Stämme),  in  denen  wohl  das  Beten,  aber  nicht  das  Opfern  bekannt  ist. 
Und  es  gibt  göttliche  Wesen,  zu  denen  man  wohl  in  Gefahr  und  Not 
betet,  die  aber  keine  Opfer  empfangen;  es  sind  dies  jene  rätselhaften, 
monotheistisch  erscheinenden  Urväter  und  Schöpfer,  die  ,high  gods', 
wie  sie  Andrew  Lang  benannt  hat,  die  bei  vielen  primitiven  Stämmen 
keinen  eigentlichen  Kult  besitzen  und  darum  im  praktischen  religiösen 
Leben  hinter  die  opferhungrigen  Geister  und  Ahnen  ganz  zurücktreten. 
(S.  u.  S.  118  ff.) 

Ursprünglich  stand  das  Opfer  ganz  im  Dienste  des  Gebets.  „Das  ist 
unser  Gruß,  mit  dem  wir  bitten,"  heißt  es  von  den  Opfergaben  in  einem 
Batakgebet 13.  Allmählich  aber  stieg  es  von  der  dienenden  Stellung  in 
die  herrschende  empor;  schon  bei  manchen  kulturarmen  Stämmen,  vor 
allem  aber  bei  den  antiken  Kulturvölkern  steht  es  im  Zentrum  der 
Religion,  während  das  Gebet  in  eine  periphere  Stellung  zurückgedrängt 
ist.  Von  den  Batak  auf  Sumatra  schreibt  Warneck,  daß  das  reiche 
Opferwesen  „der  eigentliche  Kern  der  Religion  und  des  Kultus  sei"  14. 
Wo  aber  das  Opfer  dominiert,  ist  eine  Niveausenkung  der  Religion 
unvermeidlich.  Das  Gefühl  der  völligen  Abhängigkeit  von  Gott,  welches 
den  Beter  beseelt,  wird  durch  den  Gedanken  einer  Leistung  an  Gott, 
die  diesen  zu  einer  Gegenleistung  verpflichtet,  geschwächt;  es  wird 
gänzlich  verdrängt  durch  den  Glauben,  daß  die  Götter  vom  Opfer  der 
Menschen  leben,  also  vom  Menschen  abhängig  sind  15.  So  tritt  im 
Opferhandel  häufig  an  die  Stelle  der  Unterordnung  unter  Gott  die 
Gleichordnung  mit  ihm  oder  gar  die  Überordnung  über  ihn. 

Das  Opfer,  von  dem  das  Gebet  begleitet  wird,  ist,  wie  schon  in  man- 
chen Sprachen  der  Name  sagt  (assyrisch  nindabü  =  Gabe,  griechisch 
<)6)qov,  doiQEä)  eine  Gabe,  ein  Geschenk  des  Menschen  an  Gott,  das 
ihn  zur  Erfüllung  des  Gebetswunsches  bewegen  soll.  P  1  a  t  o  definiert: 
„Opfern  heißt  den  Göttern  Gaben  bringen,  Beten  heißt  die  Götter 
bitten."16  Ähnlich  sagt  der  Anthropologe  Tylor:  „Wie  das  Gebet 
eine  Bitte  ist,  die  man  an  die  Gottheit  wie  einen  Menschen  richtet, 
so  ist  das  Opfer  ein  Geschenk,  das  man  der  Gottheit  darbringt,  als  ob 
sie  ein  Mensch  wäre."  17 

Die  Gaben18  sind  so  verschieden  und  mannigfaltig  wie  die  Lebensbedürfnisse 
des  Menschen :  alles,  was  der  Mensch  zum  Leben  braucht  oder  was  sein  Leben  zu 
bereichern  und  verschönern  imstande  ist,  wird  auch  den  übersinnlichen  Wesen 
dargebracht.  Nirgends  im  religiösen  Kult  spiegelt  sich  die  materielle  Kultur  eines 
Volkes  oder  einer  Zeit  so  deutlich  wie  in  den  Gegenständen  des  Opfers.  Das 
häufigste  und  gebräuchlichste  Opferobjekt  ist  Speise  und  Trank.  Was 
der  Mensch  selbst  geniesst,  das  bietet  er  den  Göttern  gleichfalls  an.  Stämme, 
die  auf  der  Stufe  des  Pflanzensammlers  stehen,  bringen  den  höheren  Geistwesen 
von  den  Pflanzen  dar,  die  sie  finden  (Zwiebel,  Knollen,  Wurzeln,  wilden  Honig, 
Blätter  von  Pflanzen  und  Nüsse).  Aber  was  man  ursprünglich  opferte,  weil  man 
nichts  Besseres  besaß,  das  pflegte  man  noch  immer  darzubringen,  als  der  Port> 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Opfer)  73 

schritt  der  äußeren  Kultur  auch  das  Opferwesen  bereichert  hatte.  Die  primitive 
Nahrungsweise  lebt  als  heilig  im  Opferkult  fort,  nachdem  sie  längst  aufgegeben 
ist.  Nachdem  der  Mensch  gelernt  hatte,  den  Boden  zu  bebauen,  setzte  er  den 
Göttern  die  Erzeugnisse  des  Ackers  vor:  Garben  und  Körbe  voll  Korn,  Reis, 
Mais,  Früchte  in  unzubereitetem  Zustand,  später  auch  in  gekochtem  Zustand. 
Jäger  opferten  von  dem  erlegten  Wild,  Fischer  von  ihrem  Fischfang,  viehzüchtende 
Stämme  von  ihren  Rinder-,  Schaf-,  Schweine-,  Ziegen-  und  Pferdeherden;  die 
ältesten  Opfer  der  antiken  Kulturvölker  (Chinesen,  Sumerier,  Ägypter,  Semiten, 
Indogermanen)  sind  Haustiere.  Auch  das  Fleisch  der  Tiere  wird  ursprünglich 
in  der  Form  dargebracht,  in  der  es  die  Menschen  selbst  verzehren.  Das  Verbrennen 
des  Opfertieres  oder  das  Ausgießen  des  Blutes  sind  jüngere,  aus  einem  magischen 
Ritus  übernommene  Formen  der  Opferdarbringung.  In  jenen  Stämmen,  in 
denen  die  magische  Vorstellung  von  der  , Lebenskraft'  getöteter  Menschen  die 
Anthropophagie  aufkommen  ließ,  wird  den  Göttern  auch  Menschenfleisch  auf- 
getischt —  eine  Sitte,  die  im  Opferkult  antiker  Völker  noch  fortdauerte,  als  jener 
rohe  Brauch  längst  verschwunden  war.  Aber  nicht  nur  trockene  Nahrung  wird 
dem  Gott  vorgesetzt,  sondern  auch  Trank,  den  man  in  Gefäßen  darbringt  oder 
auf  den  Boden  ausgießt  (assyr.  nikü,  onoväi].  libatio).  Neben  den  natürlichen 
Getränken  (den  ytjipdkioi,  anovSai  der  Griechen) :  "Wasser,  Milch  von  Pflanzen  und 
Tieren,  die  älter  sind,  stehen  die  mannigfachen  Rauschgetränke,  Bier,  Met  und 
Wein,  die  auf  die  verschiedenste  Art  zubereitet  sind. 

Der  primitive  Opferer  ist,  wenn  er  Speise  und  Trank  dem  Gotte  bringt,  von 
der  Vorstellung  beseelt,  daß  die  Opfergabe  wirklich  von  dem  Gotte  genossen 
wird.  ,,Die  Götter  verzehren  die  Hekatombe"  (Ilias  IX  535).  Der  gänzlich 
anthropomorph  vorgestellte  Gott  teilt  mit  dem  Menschen  die  elementaren  sinn- 
lichen Bedürfnisse,  er  hungert  und  dürstet;  er  hat  „Lust  zu  essen"18  (Xosakaffern) 
und  „Freude  am  Wein"  (Ri  9.  13),  darum  kann  ihn  der  Mensch  am  besten  für 
seine  Zwecke  gewinnen,  wenn  er  ihm  ,,den  Bauch  füllt".  Daß  der  primitive 
Mensch  ganz  naiv  glaubt,  die  Götter  verzehrten  wirklich  das  Dargebrachte,  geht, 
abgesehen  von  den  unzweideutigen  Opfersprüchen,  schon  aus  der  Tatsache  hervor, 
daß  man  in  alter  Zeit  die  Gabe  der  Gottheit  in  derselben  Form  darbrachte,  wie 
die  Menschen  sie  genossen:  das  Korn  als  Brot,  die  Trauben  als  Wein,  die  Oliven 
als  öl,  die  Tiere  geschlachtet  und  zubereitet.  Aber  auch  die  Reflexionen,  die 
höher  entwickelte  Stämme  über  das  Opfer  anstellen,  sind  ein  Beweis  für  die 
primitive  Vorstellung  des  Opfers  als  einer  Götterspeisung.  Gewiß  haben  die 
Menschen  ursprünglich  den  übersinnlichen  Wesen  Speiseopfer  gebracht,  ohne 
sich  eine  Vorstellung  darüber  zu  machen,  wie  der  Empfänger  sie  nehmen  und 
benützen  kann.  In  vielen  Fällen  war  gar  kein  Anlaß  zu  irgendwelchen  kritischen 
Überlegungen  geboten.  Die  irgend  einer  Naturgottheit  dargebrachten  Speise- 
und  Trankopfer  werden  ja  tatsächlich  von  den  Elementen  verschlungen.  Flüsse 
und  Seen  nehmen  die  Opfergabe  in  sich  auf,  das  Feuer  verzehrt  sie,  der  Wind 
trägt  sie  fort,  die  in  der  Erde  vergrabene,  für  die  unterirdischen  Mächte  bestimmte 
Speise  vermodert,  die  auf  die  Erde  hingegossene  Libation  vertrocknet.  Aber 
die  auf  dem  Opferplatze  hingestellten  Nahrungsmittel  und  Getränke  werden  von 
den  Göttern  nicht  berührt.  Die  ausgebildete  animistische  Weltanschauung, 
nach  der  jedes  lebende  und  leblose  Objekt  eine  übersinnliche  Seelensubstanz 
von  sublimer,  aber  doch  materieller  Beschaffenheit  besitzt,  lieferte  dem  f ragenden 
Primitiven  eine  Erklärung.  Die  Geister  und  Götter  verzehren  nicht  die  äußere, 
grob-materielle  Hülle,  sondern  nur  das  ,Bild',  die  , Seele',  den  , Lebenshauch', 
die  unsichtbare  Quintessenz  der  Opferspeise  und  des  Opfertrankes.  Oder  man 
beschränkt  den  Opfergenuß  auf  die  sublimste  Form  des  Genießens,  atif  den  Ge- 
ruch: „Die  Geister  belecken  das  Fett  und  beriechen  dessen  Rauch",  sagen  die 
Xosakaffern20.  Auch  Jahwe  genießt  nach  althebräischer  Vorstellung  das  Opfer, 
dadurch  daß  er  seinen  Duft  riecht21.  Andere  Stämme  greifen  zum  Feuer,  (das 
bei  den  Beschwörungsriten  zur  Abwehr  dämonischer  Machte  dient),  und  ver- 
brennen das  Opfertier  ganz  oder  bestimmte  Teile,  damit  der  aufsteigende 
Rauch  die  , Seele'  des  Opfers  eniportrage  zu  den  überirdischen  Wesen.  (Das 
Brandopfer  ist  jedoch  gegenüber  dem  bloßen  Hinstellen  der  Opfergaben  sekundär.) 
Weil  nach  der  Anschauung  zahlreicher  Völker  das  Blut  der  Sitz  des  Lebens  ist. 
so  empfangen  die   Götter  das  Leben  eines  Menschen  oder  Tieres  dadurch,  daß 


74  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


man  für  sie  das  Blut  ausströmen  läßt.  So  bestand  das  altsemitische  Opfer  in  dem 
,, Hervorbrechenlassen  des  Blutes".  Aber  darüber  kann  kein  Zweifel  sein,  daß 
nach  primitiver  Vorstellung  das  Speise-  und  Tiankopfer  dem  realen  Genüsse 
durch  den  Gott  dient. 

Es  gibt  jedoch  auch  hohe  Wesen,  die  nach  der  Aussage  primitiver  Stämme 
weder  essen  noch  trinken  und  gleichwohl  Opfer  empfangen:  die  Urväter  oder 
Schöpfergottheiten,  die  eine  Sonderstellung  in  der  religiösen  Vorstellungswelt 
der  Primitiven  einnehmen.  Die  birmanischen  Katchins  stellen  ihren  Urvater 
Karai  Kasang  ausdrücklich  in  Gegensatz  zu  den  opfergierigen  niederen  Geistern. 
Sie  bringen  ihm  nur  Früchte  und  Fische  dar,  aber  schlachten  ihm  keine  Tiere, 
weil  er  angeblich  kein  Fleisch  ißt.  Gleichwohl  bringt  man  ihm  Tiere  dar,  die 
man  jedoch  nicht  tötet,  sondern  zum  Zeichen,  daß  sie  in  seinen  Besitz  übergehen, 
frei  laufen  läßt22.  Hier  kann  darum  nk  ht  die  Vorstellung,  daß  dem  Gott  mensch- 
liche Nahrung  nötig  und  willkommen  sei,  wirksam  sein.  Hier  ist  das  Opfer  nicht 
«ine  Götterspeisung,  die  dazu  dient,  die  mächtigen  Wesen  in  gute  Laune  zu  ver- 
setzen, sondern  ein  Huldigungsakt,  ein  Ausdruck  der  Verehrung,  eine  Anerkennung 
der  Abhängigkeit  von  Gott.  Gewiß  sind  auch  hier  eudämonistische  Motive  wirk- 
sam ;  trotzdem  läßt  sich  der  Unterschied  zwischen  Speise  opfer  und  Aner- 
kennung« opfer  nicht  verwischen :  hier  dient  die  Gabe  nicht  zur  Befriedigung 
der  Bedürfnisse  der  Gottheit,  zum  Kauf  göttlicher  Gunsterweise,  sondern  gilt 
mehr  als  eine  Gott  schuldige  Pflicht  der  Verehrung.  Das  Nebeneinander  beider 
Opferauffassungen  zeigt  sich  sehr  deutlich  in  den  griechischen  Opferbenennungen: 
den  JÄpa  und  dorsal  stehen  die  zi/ual,  ftagiTeg,  yiya  gegenüber23. 

Weil  die  Götter  menschlich  vorgestellt  werden,  will  ihnen  der  Mensch  nicht 
bloß  Speise  und  Trank  bringen,  sondern  ihnen  alle  die  Genüsse  und  Freuden 
verschaffen,  die  ihm  selbst  das  Leben  verschönern.  Auf  der  tiefsten  Kulturstufe 
freilich  bilden  Nahrung  und  Trank  den  einzigen  Gegenstand  des  Opfers.  Aber 
mit  dem  Fortschritt  des  materiellen  Lebens  nimmt  der  Umfang  der  Opfergegen- 
stände immer  zu.  Schon  primitive  Stämme  bringen  den  höheren  Wesen  Bauch- 
opfer von  Tabak  und  wohlriechenden  Harzen,  Blumen,  Perlen,  Muscheln,  Federn, 
Kleider,  Stoffe.  Tücher,  Waffen,  Juwelen,  Schmuckgegenstände,  Silber  und  Gold. 
Noch  häufiger  sind  solche  Weihgeschenke  (ära^T^ara)  bei  den  antiken 
Kulturvölkern. 

Das  Opfer  war  ursprünglich,  ein  Gelegenheitsgeschenk,  allmählich  wurde  es 
zu  einem  regelmäßigen  Tribut.  In  einigen  der  antiken  Beligionen,  vor  allem  in 
der  ägyptischen,  aber  auch  in  der  römischen  wird  die  Darbringung  der  Opfer 
zu  einer  vollständigen  Verpflegung,  Verköstigung  und  Bedienung  des  Gottes, 
die  in  den  Händen  der  Priester  ruht.  Der  in  der  Götterstatue  gegenwärtig  gedachte 
Gott  führt  dasselbe  Herrenleben  wie  Pharao.  Seine  Diener,  die  Priester,  besorgen 
die  Toilette,  servieren  die  auserlesensten  Gerichte  aus  der  Holküche,  die  feinsten 
Weinmarken  aus  der  Hofkellerei,  und  die  Tempelsängerinnen  als  seine  Harems- 
damen musizieren  dem  Gott  mit  dem  Sistrum  etwas  vor.  Der  sinnliche  Realismus, 
der  dem  Gedanken  der  Götterspeisung  zugrundeliegt,  hat  hier  in  Ägypten,  wo 
die  materielle  Kultur  eine  staunenswerte  Höhe  erreicht  hatte,  ein  umfassendes 
Kultwesen  erzeugt. 

Nicht  immer  ist  der  Mensch  in  der  Lage,  den  hohen  Wesen  Opfer  darzubringen; 
in  vielen  Fällen  scheuen  sich  Stämme  und  Völker,  die  auf  einer  höheren  Kultur- 
stufe angelangt  sind,  die  grausamen  Opfer  der  alten  Zeit  fortzuführen,  oder  der 
Egoismus  der  Menschen  will  an  den  Menschen  einsparen.  Auch  dämmert  bei 
vielen  Stämmen  schon  die  Anschauung,  daß  die  Opfer  gar  nicht  zur  Speisung 
der  Götter  dienen,  sondern  nur  ein  Zeichen  der  Ehrfurcht,  Abhängigkeit  und 
Dankbarkeit  seien24.  Alle  diese  Motive  erklären,  daß  an  die  Stelle  älterer  Opfer 
von  Speisen,  Getränken  und  sonstigen  Wertgegenständen  Ersatzopfer  oder 
symbolische  Opfer  von  geringerem  Wert  treten.  Anstatt  der  Menschen 
werden  Tiere  oder  Teile  bzw.  Ausscheidungen  des  Menschen  dargebracht:  Finger, 
Haare,  Speichel,  Blut,  (Haare,  Speichel  und  Blut  sind  Seelentiäger  darum  be- 
sonders zum  Ersatz  geeignet)  oder  gar  nur  Bilder.  Manche  Stämme  scheuen 
sogar  vor  einer  Täuschung  der  Geister  nicht  zurück.  Der  Tami  auf  Neuguinea 
wählt  die  mindeste  Opfergabe  und  versucht,  ,,ob  er  nicht  den  Geist  wie  einen 
dummen  Teufel  betrügen  kann"25.     Die  Batak  geben  den  gewöhnlichen  Toten- 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Opfer)  75 

geistern  Opfer,  die  nicht  eßbar  sind,  erklären  ihnen  beim  Darbringen,  es  seien 
wohlschmeckende  Speisen.  So  sagt  man,  man  bringe  das  Herz  eines  Tieres  und 
gibt  statt  dessen  eine  Bananenblüte,  man  offeriert  eine  Leber,  gibt  aber  Scherben ; 
man  erklärt  einen  weißen  Büffel  zu  opfern,  bringt  aber  nur  ein  Ei  dar26.  Die 
Baronga  dedizieren  laut  Opferspruch  einen  Ochsen,  in  Wirklichkeit  ist  es  aber 
nur  eine  Henne,  die  sie  opfern27. 

Auch  beim  Ersatzopfer  ist  der  ursprüngliche  Sinn  des  Opfers  als  Gabe,  Ge- 
schenk an  die  Gottheit  nicht  vei  wischt.  In  diesem  ursprünglichen  Sinn  lebt 
auch  die  Opferidee  durch  alle  Jahrhunderte  bis  in  die  Gegenwart  in  der  Volks- 
religion fort.  Im  alten  Christentum  brachte  das  Volk  den  Märtyrern  dieselben 
Gaben  dar,  die  der  antike  Mensch  seinen  Göttern  widmete28.  Allmählich  aber 
sind  die  Objekte  des  Opfers  andere  geworden.  Zwar  lebt  im  europäischen  Folklore 
noch  heute  das  Speiseopfer  in  dürftigen  Resten  fort;  Weihgeschenke  schmücken 
noch  heute  die  Wände  der  Wallfahrtskirchen.  Aber  die  eigentliche  religiöse 
Funktion  des  Opfers  haben  andere  fromme  Handlungen  übernommen29:  der 
Kirchenbesuch,  die  Teilnahme  an  kirchlichen  Kulthandlungen,  die  Wallfahrten, 
Schenkungen  und  Stiftungen  an  die  Kirche  (, Opferstock'),  das  Anzünden  von 
, Opferkerzen',  das  Beten  bestimmter  Formeln,  das  Fasten  und  das  Spenden  von 
Almosen,  —  kurz  alles  was  als  verdienstliches  Werk,  als  Leistung  an  Gott  mit 
der  Hoffnung  auf  Gegenleistung  und  Gebetserhörung  geübt  wird,  ist  Opfer  im 
primitiven  Sinne;  auch  wenn  die  äußeren  Formen  gänzlich  andere  sind,  so  sind 
doch  die  Meinungen  und  Absichten,  die  den  naiven  Frommen  dabei  beseelen,  ganz 
dieselben,  die  den  primitiven  und  antiken  Menschen  beim  Opfern  beherrschen. 
Die  Lehre  von  der  , Verdienstlichkeit'  der  »guten  Werke'  in  den  großen  Gesetzes- 
religionen des  Mazdaismus,  Judentums,  Islam  und  Katholizismus  ist  im  Grunde 
nur  eine  Ethisierung  und  Sublimierung  des  primitiven  Opfergedankens.  Die 
wesentliche  Idee  einer  positiven  konkreten  Leistung  an  Gott,  die  einen  Anspruch 
auf  eine  Gegenleistung  von  seiten  Gottes  bedingt,  ist  dieselbe  geblieben. 

Die  Idee  der  Gabendarbringung  ist  nicht  die  einzige,  welche  im  primitiven 
und  antiken  Opfer  wirksam  ist;  vielmehr  verbindet  sich  mit  ihr  häufig  die  K  o  m- 
munionidee.  Man  bringt  der  Gottheit  nicht  nur  Gaben  dar,  um  ihre  Huld 
zu  erlangen  und  ihren  Groll  zu  beschwichtigen,  sondern  man  lädt  sie  auch  als 
Gast  zu  dem  gemeinsamen  festlichen  Mahle,  das  die  Familie,  die  Sippe  oder  der 
Stamm  ihr  zu  Ehren  feiert.  Die  Festgenossen  wollen  durch  dieses  Zusammen- 
essen und  Zusammentrinken  sich  mit  der  mächtigen  Gottheit  vergemeinschaften, 
das  innige  soziale  Band,  das  sie  untereinander  wie  mit  jener  verknüpft,  festigen, 
die  geheimnisvolle  Kraft  der  Gottheit  durch  das  Essen  von  der  heiligen  Opfer- 
speise in  sich  aufnehmen.  Diese  Opfervorstellung  findet  sich  bei  primitiven 
Stämmen30  und  antiken  Völkern31,  sie  ist  besonders  ausgeprägt  in  der  altsemi- 
tischen Religion32.  Sie  ist  aber  der  Idee  der  Gabendarbringung  keineswegs  ent- 
gegengesetzt. Wie  bei  der  Darbringung  von  Speise  und  Trank  handelt  es  sich 
auch  beim  Opfermahl  um  eine  Speisung  des  Gottes;  der  Unterschied  besteht 
lediglich  darin,  daß  die  Menschen  mit  ihrem  Gotte  zusammenspeisen  und  so 
seine  Tischgenossen  werden.  Die  mystische  Kommunionidee  schließt  sich  an 
die  eigentliche  Opferidee  unmittelbar  an;  das  Opfermahl  ist  eine  Variante  der 
bloßen  Opferdarbringung.  Es  ist  darum  zweifellos  xinrichtig,  im  heiligen  Mahl 
die  Urform  des  Opfers  zu  erblicken,  wie  es  Pfleiderer  unter  Berufung  auf  Ro- 
bertson Smith  getan  hat;  es  handelt  sich  nur  um  eine  Weiterbildung  des  schlichten 
Gabenopfers. 

Weil  das  Opfer  ganz  im  Dienste  des  Gebetes  steht,  darum  wird  in  der 
dem  Opfer  vorausgehenden  oder  es  begleitenden  Bitte  ausdrücklich  auf 
die  dargebrachte  Gabe  oder  das  veranstaltete  Mahl  Bezug  genommen. 
Wohl  gibt  es  Gebete,  in  denen  auf  das  gleichzeitige  Opfer  nicht  hin- 
gewiesen|wird  33,  ja  es  gibt  sogar  Stämme,  die  stumm  und  wortlos,  nur 
mit  einer  ehrfürchtigen  und  bittenden  Geste  ihre  Gabe  überreichen  34. 
Aber  zumeist  wird  die  Opferdarbringung  ausdrücklich  kommentiert. 
Warneck  schreibt  von  den  Tobabatak:  ,, Jedes  Opfer,  klein  oder  groß, 


76  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


muß  von  einem,  wenn  auch  kurzen  Gebetsruf  begleitet  sein,  das  den 
Zweck  hat,  das  Opfer  zu  überreichen  und  die  Bedeutung,  mit  der  man 
sich  bittend  naht,  darzulegen.  Dieses  begleitende  Gebet  ist  ursprünglich 
die  Hauptsache  beim  Opfer  und  nimmt  bei  größeren  Feierlichkeiten 
einen  breiten  Raum  ein,  denn  es  macht  die  Gabe  erst  recht  zu  dem, 
was  sie  sein  soll,  eine  Unterstützung,  ein  Akt  der  Höflichkeit  des  geringen 
Bittenden,  mit  dem  er  seiner  Bitte  Nachdruck  verleiht."  35 

Die  Opfergebete  werden  zumeist  nicht  von  einer  so  leidenschaftlichen 
Erregung  getragen  wie  die  Hilferufe,  die  ein  Geängstigter  in  der  Not 
ausstößt.  Die  Stimmung  ist  relativ  gleichförmig  und  offenbart  eine 
gewisse  zeremonielle  Feierlichkeit. 

Der  Opferspruch  stellt  seiner  Form  nach  meist  einen  kurzen 
Hinweis  auf  das  Opfer  dar,  an  den  sich  unmittelbar  eine  kurze  Bitte 
anschließt.  In  ausführlichen  Gebeten  wird  oft  nur  mit  ein  paar  Worten 
auf  die  Gabe  hingedeutet.  Häufig  aber  macht  der  Beter  den  Gott 
wiederholt  auf  das    Opfer  aufmerksam. 

Der  Inhalt  des  eigentlichen  Opferspruches  besteht  oft  nur  darin,  daß  man  ihn 
auf  das  Opferobjekt  aufmerksam  macht,  daß  man  ihm  sagt,  das  Geschenk  sei 
für  ihn  bestimmt.  „Hier  ist  dein  Widder!"  (Ewe)36.  „Hier  ist  euer  Ochse.  Hier 
ist  euer  Essen."  (Amazulu)37.  ,,Hier  ist  ein  Sirihpriemchen  und  ein  Stück  Fuja, 
die  ich  euch  gebe"  (Kabosenja)38.  ,.Ich  habe  dir  ein  Opfer  gebracht"  (Navahoes)39. 
„Ich  opfere  dir  Tabak"  (Huronen)49.  „Ich  opfere  auch  ein  Schäflein."  (Schilluk 
in  Ostafrika)41.  „Ein  klein  wenig  deines  Essens,  deines  Trinkens  gebe  ich  dir. 
Und  es  ist  nicht  vieles  und  gutes,  was  ich  dir  gebe."     (Kekchiindianer)42. 

Der  Opferhinweis  besteht  oft  in  einer  Bitte,  die  gebrachte  Gabe  zu  beachten 
oder  in  Empfang  zu  nehmen.  „Aronhiate  (Himmel),  sieh  mein  Opfer  an."  (Hu- 
ronen)43. „Seht  den  großen  Hahn  für  euch!  Das  ist  euer  Opfer  für  den  Tag, 
das  ist  euer  Opfer  für  die  Nacht."  (Malinke)44.  „Sieh  da,  was  dir  deine  Kinder 
und  Geschöpfe  opfern.  Empfange  es  und  sei  nicht  gegen  sie  erzürnt."  (Peruaner)46. 
„Die  Hand  opfert,  o  nimm  die  Körbchen  vom  Baum  herunter,  wir  bitten  um 
Leben."  (Marschallinsulaner)48.  „Ihr  Geister  der  Vorfahren,  nehmt  dies  Opfer 
an,  es  ist  eure  Speise."  (Xosakaffern)47.  „0  Großvater,  Väterchen  datu  hat 
angegeben,  daß  du  ein  Opfer  haben  mußt,  damit  es  gut  gehe.  Hier  ist  es,  nimm 
es  an!  Hilf  uns,  segne  uns!  Sei  freundlich  und  nimm  es  an!"  (Tobabatak)48. 
„Nehmt  den  Hahn,  den  ich  hier  opfere,  als  Zukost  an."  (Herondas,  Mimiamben 
IV  13);  „Nimm  an  die  Opfertiere!"  (Aristophanes,  Lysistrate  204). 

Weil  der  Primitive  glaubt,  daß  das  Opfer  wirklich  zur  Nahrung  der  über- 
sinnlichen Wesen  diene,  fordert  er  diese  bei  der  Darbringung  nicht  selten  aus- 
drücklich auf,  das  Gebrachte  zu  essen  und  zu  trinken.  „Erbarmender  Vater! 
Hier  ist  etwas  Speise  für  dich ;  verzehre  sie ;  sei  uns  gnädig  um  dieser  Gabe  willen !" 
(Papua  auf  Tanna)49.  „Hier  bringen  wir  unseren  Yams,  nehmt  ihn  in  Empfang 
und  eßt  ihn.  Ihr  sollt  essen,  bevor  wir  essen."  (Ewe)60.  Wenn  ein  Hurone  in 
Gefahr  ist,  wirft  er  eine  Handvoll  Tabak  ins  Feuer,  wobei  er  ruft:  „Da  nimm 
und  rauche,  sei  friedlich  und  tue  mir  kein  Leid  an!"61  Und  wenn  die  Tami  auf 
Neuguinea  eine  Zigarre  einem  Geist  dedizieren,  fügen  sie  bei:  „Da  lege  ich  dir 
eine  Zigarre  her,  rauche  sie  und  treibe  mir  hernach  Fische  zu!"62 

Bei  solchen  göttlichen  Wesen,  die  auf  Erden  weilen  und  denen  der  Mensch 
an  ihrem  Wohnorte  opfern  kann,  genügt  die  Bitte  um  Annahme  und  Genuß  de 
Opfergaben;  aber  solche  Wesen,  die  nicht  unmittelbar  den  Menschen  nahe  sind, 
sondern  in  weiter  Ferne  sich  aufhalten,  pflegt  man  ausdrücklich  aufzufordern, 
an  den  Opferplatz  herbeizukommen  und  von  den  Opfergaben  Besitz  zu  ergreifen. 
Vor  allem  lädt  man  die  Gottheit  ein,  der  zu  Ehren  man  ein  Festmahl  veranstaltet. 
Ein  Moanu  auf  den  Admiralitätsinseln  ladet  also  den  Gott  ein:  „Vater!  sieh  da 
das  dir  gehörige  Sagobrot !  komm  herab  zu  meinem  Sagobrot"63.    Ein  Ainu  betet: 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Opferspruch)  77 

„O  Schöpfer  der  Welt,  steige  herab  und  nimm  diesen  Wein  in  Empfang".54  Bei 
den  birmanischen  Katchin  werden  der  höchste  Gott  Karai  Kasang  und  die  Geister 
mit  folgenden  Worten  zu  einem  großen  Opfer  aufgefordert:  „O  Karai  Kasang, 
Schöpfer  aller  Geister,  Vater  aller  Menschen,  komm  und  setze  dich  auf  diesen  Lehn- 
stuhl ;  alle  Opfer  auf  dem  Balkon  sind  für  dich ;  iß  und  trink,  was  du  gerne  hast ;  auch 
ihr,  große  Nats,  Söhne  und  Enkel  des  Karai  Kasang,  kommt  in  Gesellschaft  mit 
eurem  Vater  und  empfangt  die  aufgestellten  Geschenke!"  Der  Einladung  folgt 
natürlich  die  Bitte:  ,,Und  nun  Karai  Kasang,  gewähre  uns  Reis,  Büffel,  Silber" 
usw.55  Der  einladende  Ruf  eines  Batak  an  den  Ahnengeist  lautet:  ,,Sumangot 
der  Großmutter,  S.  des  Großvaters!  Ich  rufe  dich,  ich  lade  dich  ein58."  Das 
Herbeirufen  des  Gottes  zum  Opfer  läßt  sich  auch  als  eine  urindogermanische 
Sitte  nachweisen:  der  Gott  wird  aufgefordert,  auf  einem  Grasbündel,  das  auf 
die  Erde  gestreut  wird  (Sanskrit  barkis,  Avesta  baresman),  während  des  Opfer- 
aktes Platz  zu  nehmen57.  Mit  den  Worten:  „Laßt  euch  nieder  bei  unserem  Opfer!" 
lädt  der  parsische  Opferpriester  die  himmlischen  Wesen  zum  Opfermal  ein58. 
D.ecp  ösvze  (kommt  gnädig  hierher!")  ruft  der  Opferpriester  in  den  Mimiamben 
des  Herondas  (IV  II).  Sehr  häufig  ergeht  an  ein  oder  mehrere  göttliche  Wesen 
gleichzeitig  mit  derEinladung  dieBitte,  ihreGenossen  zum  Opfermahl  mitzubringen. 
Bei  der  Brautwerbung  betet  der  Familienvater  der  Ruanda:  ,,0  Vater,  Großvater 
meiner  Tochter,  sieh  an  diesen  Ochsen,  den  wir  dir  opfern;  geh  auf  die  Berge, 
rufe  her  deine  Knechte,  sammle  zum  Schmaus  deine  Leute,  deine  Krieger;  hier 
ist  dein  Ochse,  von  den  deinen  dir  erkoren;  setze  dich  hin,  iß  ihn  auf,  du  und 
die  deinigen."59  Die  Baronga  beten  zu  den  göttlichen  Vorfahren:  „Ihr  unsere 
Götter,  und  ihr  N.  N.,  hier  ist  unser  Opfer.  Jetzt  haben  wir  euch  diese  Gaben 
gebracht.  Ruft  eure  Ahnen  N.  N„  ruft  auch  die  Götter  dieses  kranken  Knaben." 60 
Die  Amazulu:  ,,Hier  ist  eure  Nahrung.  All  ihr  Geister  unseres  Stammes,  ladet 
euch  gegenseitig  ein!  Ich  sage  nicht:  N.  N.  Hier  ist  deine  Nahrung,  denn  ihr 
seid  eifersüchtig,  sondern  du  N.  N.,  der  du  diesen  Mann  krank  gemacht  hast, 
rufe  alle  Geister;  kommt  ihr  alle,  um  diese  Speise  zu  verzehren!"61  Mit  ähnlichen 
Worten  ladet  der  Priester  der  Batak  die  Mächtigen  ein:  ,,0  Großvater  Boraspati 
ni  tano  und  ihr  sombaon  (Lokalgeister)!  Ruft  euch  gegenseitig  herbei  ihr  Götter, 
denn  ich  kann  euch  nicht  alle  nennen"  usw.62 

In  allen  diesen  Fällen  reiht  sich  die  Bitte  ganz  selbstverständlich  an  den  Opfer- 
spruch, der  eine  schlichte  Bitte  um  Aufnahme  oder  eine  Einladung  enthält.  Manch- 
mal aber  verweist  der  Beter  auf  seine  Gabe  mit  besonderem  Nachdruck; 
er  belehrt  den  Gott  darüber,  daß  sein  Opfer  etwas  Besonderes  ist.  „Wir  werden 
dir  ein  Schaf  opfern,  ein  sehr  wertvolles  Schaf,"  kündigt  der  Kikuyuhäuptling 
dem  Urvater  Ngai  an62.  Und  ein  Baronga-Dorfhäuptling  empfiehlt  sein  Opfer 
mit  den  Worten:  „Du  Mombo-wa-Ndlofu,  Herr  dieses  Landes,  der  du  es  deinem 
Sohne  Makundju  gegeben  hast  usw.  Schaue  auf  mein  Opfer!  Ist  es  nicht  ein 
schönes  Opfer?  Ich  bin  hier  ganz  allein.  Wenn  ich  es  nicht  mitgebracht  hätte, 
wer  hätte  dir  etwas  gegeben?  Ist's  nicht  so?"64  Manchmal  betrachtet  der  pri- 
mitive Mensch  das  Opfer  nicht  mehr  als  schlichte  Gabe,  sondern  als  Kaufpreis 
göttlicher  Gunst.  „Tschakan"  (Flußgott),  fleht  der  Coraindianer,  „hier  bringe 
ich  dir  diese  Gabe.  Hiermit  bezahle  ich  dich,  daß  du  mir  die  Erlaubnis  gibst 
zu  baden."85  Bisweilen  aber  pocht  der  Bittsteller  sehr  kräftig  auf  seine  Leistung 
und  macht  den  Gott  darauf  aufmerksam,  daß  er  nun  einen  rechtlichen  Anspruch 
auf  Gegenleistung  hat.  „Wenn  dir  jemand  etwas  gegeben  hat,  was  du  gegessen 
hast,  dann  mußt  du  auch  ihm  wieder  etwas  geben,  daß  er  essen  kann",  sagt  ein 
opfernder  Ewepriester  zu  einem  tro68.  Einen  noch  stärkeren  Akzent  trägt  das 
,do  ut  des'  in  dem  Wort  des  indischen  Sängers:  „Hier  ist  das  Opfer,  wo  sind  deine 
Gaben?"67 

Neben  diesen  Opfersprüchen,  in  denen  der  Fromme  auf  den  Wert  der  dar- 
gebrachten Gaben  pocht,  stehen  solche  Opfergebete,  in  denen  der  Opfernde  sich 
wegen  der  Geringfügigkeit  seiner  Gabe  entschuldigt.  Der  Kekrlii- Indianer  betet 
schüchtern  und  zaghaft  bei  der  Maissaat:  „Ein  klein  wenig  deines  Essens,  deines 
Trinkens  gebe  ich  dir;  es  ist  nichts,  was  ich  dir  gebe."  Und  bei  einer  anderen 
Gelegenheit  spricht  er:  „Jetzt  habe  ich  ein  klein  wenig  deines  Essens,  deines  Trin- 
kens gebracht.     Es  ist  ja  nicht  vieles  und  gutes,  was  ich  dir  gebe.     Vielleicht  einen 


78  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

halben,  vielleicht  einen  viertel  Real  habe  ich  gewechselt,  habe  ich  geliehen  in 
meiner  Kleinheit,  meiner  Armut."  Hier  spricht  sich  jene  tiefere  Auffassung  aus, 
nach  der  das  Opfer  nur  ein  schlichtes  Symbol  scheuer  Ehrfurcht,  kindlicher  Demut, 
ein  Zeichen  des  guten  Willens  ist.  Nicht  um  kostbarer  und  massenhafter  Gaben 
willen  erhört  Gott  ein  Gebet  und  Opfer,  sondern  um  der  aufrichtigen  Gesinnung 
des  Betenden  und  Opfernden:  „Es  ist  nicht  wegen  meiner  Kleinheit,  meiner 
Armut,  was  du  auch  tuest,  so  zeigt  es  aber  vielleicht  meine  Kleinheit,  meine  Armut, 
was  ich  schaffe."*8  In  den  Mimiamben  des  Herondas  (IV  14  ff.)  entschuldigt 
«ich  die  Opfernde  mit  den  Worten : 

,,Denn  spärlich  fließt  ja  unser  Brünnlein  nur  — 
Sonst  hätten  wir  dir  ein  Rind  oder  'ne  Mastsau' 
Mit  Speck  gepolstert,  keinen  Hahn,  als  Kurlohn 
Gebracht."     (Übs.   v.  O  Crusius.) 

Die  sophokleische  Elektra  entschuldigt  sich  vor  Apoll,  daß  sie  ohne  Gabe 
mit  bloßen  Bittworten  vor  ihn  trete: 

„Allein  mit  dem,  was  ich  besitze,  o  Apoll. 
Fleh'  ich,  werfe  mich  nieder,  bete."69 

Ursprünglich  bringt  der  Mensch,  wenn  er  bittend  seine  Hände  zum 
Gott  erhebt,  ein  Geschenk  dar,  um  ihn  für  seine  Wünsche  zu  gewinnen. 
Aber  nicht  immer  wird  ihm  die  Erfüllung  seiner  Bitte  zuteil.  Er  ist 
gewitzigt;  er  traut  dem  Gott  nicht  mehr  recht.  Darum  will  er  sich 
nicht  vergeblich  in  Auslagen  stürzen,  er  will  erst  die  Hilfe  des  Gottes 
erfahren  und  dann  erst,  zum  Lohn  und  Dank  dafür,  das  Opfergeschenk 
darbringen.  So  stellt  er  denn  dem  Gott  bedingungsweise,  für  den  Fall, 
der  Erfüllung  des  Gebetswunsches  ein  Opfer  in  Aussicht,  er  verspricht, 
,gelobt'  ein  Geschenk.  Oft  verbindet  er  mit  diesem  Gelübde  die  Dar- 
bringung einer  kleinen,  im  Verhältnis  zur  versprochenen  Gabe  minder- 
wertigen Opferspende,  gleichsam  als  Angeld  des  eigentlichen  Opfers  70. 
Das  G  e  1  ü  b  d  e  ist  zweifellos  jünger  als  das  schlichte  Opfergebet.  Die 
kindliche  Zuversicht  auf  die  Wirksamkeit  des  Geschenkes  ist  bereits 
etwas  erschüttert.  „Man  sucht  die  Götter  durch  ein  Versprechen  zu 
reizen  und  ist  klug  genug,  eine  vielleicht  vergeblicheGabe  zu  vermeiden."71 
Das  Gefühl  der  Abhängigkeit  ist  dadurch  geschwächt,  daß  der  Mensch 
mit  den  höheren  Wesen  handelt  und  feilscht,  also  nicht  mehr  unter 
ihnen,  sondern  auf  gleicher  Stufe  steht.  Oft  wird  aus  der  demütigen 
Bitte  und  ehrfürchtigen  Geschenkdarbringung  ein  gewöhnliches  Kauf- 
mannsgeschäft. „Gib  mir  —  dann  geb  ich  dir"  (dehi  me  —  dadämi  te) 
heißt  es  in  einem  indischen  Opfertext  72.  „Wenn  du  eilst  (mit  der  Er- 
hörung), können  auch  wir  eilen.  Wenn  du  aber  hinkst,  so  müssen  auch 
wir  hinken"  beten  die  Ewe  73.  Der  sekundäre  Charakter  des  Gelübdes 
geht  schon  daraus  hervor,  daß  es  sich  erst  bei  den  höherstehenden 
, Naturvölkern'  findet:  bei  den  nordamerikanischen  Indianern,  den 
Bantu  und  Malaien,  während  die  auf  tieferer  Kulturstufe  stehenden 
Stämme  nur  durch  die  ein  gleichzeitiges  Opfer  unterstützte  Bitte  kennen. 
In  der  ältesten  Epoche  der  indischen  Religion  sind  Gelübde  noch  sehr 
selten,  erst  in  der  nachvedischen  brahmanischen  Periode  werden  sie 
häufiger.  An  der  späteren  Entstehung  des  Gelübdes  kann  darum  nicht 
gezweifelt  werden. 

Eine  kinderlose  Ewefrau  gelobt:   „Ich   bitte  dich,   du  wollest   mir  ein  Kind 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Gelübde)  79 


sr.henken.  Wenn  du  meine  Bitte  erfüllst,  so  will  ich  dir  mit  einer  Ziege  danken." 7* 
Beim  Auszug  in  die  Schlacht  betet  der  Ewepriester:  „Hab  Acht  auf  die  Kinder, 
daß  ihnen  nichts  Schlimmes  widerfährt.  Wenn  sie  aus  dem  Kriege  zurückkommen, 
so  werde  ich  dir  mit  Palmwein  und  zwei  Hähnen  danken."76  Der  Dschagganeger 
macht  bei  der  Krankheit  eines  Familiengliedes  ein  Gelübde.  „Du  Geist  X.  X., 
der  du  diesen  Menschen  ergriffen  hast;  mache  ihn  gesund,  so  werde  ich  erkennen, 
daß  du  es  bist  und  dir  dann  eine  Ziege  spenden."  Wird  es  aber  mit  dem  Kranken 
schlechter,  dann  wird  sogleich  ein  Opfer  gebracht  und  für  den  Fall  der  Genesung 
noch  ein  zweites  in  Aussicht  gestellt.  ,,Hier  ist  die  Ziege,  mein  Vater,  wende 
doch  deine  Augen  auf  den  Kranken,  daß  er  gesund  werde!  Erhöre,  erhöre,  o 
König,  o  Erde,  o  Himmel,  laß  dich  ei  bitten.  Wenn  du  es  bist,  der  ihn  ergriffen 
hat,  so  mache  ihn  nun  gesund,  Herr,  dann  wirst  du  noch  ein  anderes  (Stück 
Kleinvieh)  erhalten."78  Ein  Batak-Vater  betet:  „Wenn  du  es  bist,  Vater,  dann 
tue  doch  nicht  so  zu  diesem  Kranken.  Wenn  du  von  uns  ein  Opfer  haben  willst, 
fordere  es  nicht  auf  diese  Weise  .  .  .  Laß  uns  einen  Bund  machen :  Wenn 
du  diesen  Kranken  gesund  machst,  dann  wollen  wir  dir  ein  wohlschmeckendes 
Opfer  bringen,  wie  du  es  gewohnt  bist."77  Ein  Siouxhäuptling  spricht  beim 
Auszug  zum  Krieg  zur  Sonne  Wakanda:  „Ich  verspreche  dir  ein  Kattunhemd 
und  einen  Rock,  Wakanda.  Ich  werde  dir  auch  eine  Decke  schenken,  wenn  du 
mich  heil  und  gesund  nach  Hause  kommen  lassest,  nachdem  ich  einen  Pawnee 
getötet  habe."78  Ein  Missionar  schildert  uns  ausführlich,  in  welcher  Form  bei 
den  Ruanda  die  einer  religiösen  Geheimgesellschaft  angehörenden  Männer  Ge- 
lübde darbringen.  Der  Bittsteller  setzt  dem  göttlichen  Wesen  einen  Krug  mit 
Bier  gemischten  Wassers  vor  und  berichtet  über  seine  Notlage:  „Du  weißt,  L'ang- 
ombe,  meine  Ernte  scheint  kläglich  auszufallen.  Die  Regengüsse  sind  selten 
(oder  allzureichlich),  die  Frau,  die  ich  schon  vor  vier  Jahren  zu  mir  genommen 
habe,  gebärt  nicht,  oder:  meine  Kinder  sind  krank  oder:  der,  dessen  Dienste  ich 
mich  gewidmet  habe,  hat  meinen  Wünschen  nicht  entsprochen  —  keine  Kuh! 
Erscheint  mich  vergessen  zu  haben;  ja  du  weißt  es."  Nun  werden  die  Bedingungen 
formuliert,  unter  denen  der  Gott  ein  Opfer  erhält:  „So  höre  denn:  Wenn  dvi 
meine  Kornböden  füllst,  wenn  du  meine  Gattin  fruchtbar  machst,  wenn  du  die 
Meinen  heilst,  wenn  ich  von  meinem  Schutzherrn  das  erhalte,  was  mich  zu  ihm 
hingeführt  hat,  so  höre  denn!"  Jetzt  folgt  die  Aufzählung  der  Opfergaben,  die 
der  Gott  erhält,  wenn  er  sich  willfährig  zeigt.  „Im  Hause  haben  wir  dein  Gefäß 
beiseite  gesetzt;  es  ist  wohl  gewaschen;  es  bleibt  nur  mehr  dazu  da  um  es  mit 
ngoza  zu  füllen.  Ich  schwöre  dir.  im  kommenden  Jahr  (oder  früher  oder  später) 
werde  ich  dir  zu  Ehren  soviel  Bananenwein  oder  soviel  marwa  ausgießen,  daß 
sich  alle  Leute  der  Umgegend  sättigen  können.  Ja  noch  mehr,  ich  versichere 
dich,  daß  alle  die,  welche  an  meinem  Hause  vorüber  gehen  werden,  wenn  sie  von 
Bugoyi  oder  Nanze  kommen,  sich  nicht  über  Durst  bei  deinem  intango  beklagen 
brauchen.  Ich  habe  auch  eine  unfruchtbare  Kuh;  man  wird  sie  dir  zu  Ehren 
töten.  Ich  habe  einen  prächtigen  Stier,  man  wird  ihn  dir  zu  Ehren  töten."  Der 
Beter  fügt  eine  allgemeine  Bitte  bei:  „Sei  also  gnädig!  Erhöre  mein  Gebet!  Be- 
schütze mich  vor  den  Geistern!  Entferne  alle  die,  welche  mir  schaden  wollen" 
usw.  Dann  wiederholt  er  noch  einmal  das  bedingte  Versprechen  und  bekräftigt 
es  durch  den  Hinweis  auf  einen  Zeugen  und  durch  eine  schaurige  Selbstverfluchung. 
„Wenn  du  mir  also  das  gewährst,  um  was  ich  dich  gebeten  habe,  werde  ich  dir 
meinerseits  das,  was  ich  dir  versprochen  habe,  opfern.  Übrigens  hier  ist  mein 
Zeuge  (er  läßt  einen  Verwandten  oder  Freund  herbeitreten);  und  wenn  ich  trotz 
meines  Schwäres  meinen  Verpflichtungen  untreu  werde,  möge  ich  durch  das 
Schwert  des  L'angombe  getötet  werden!"79 

In  der  gleichen  Weise  macht  man  auch  bei  den  antiken  Völkern  Gelübde. 
Jephtha  gelobt  Jahwe:  „Wenn  du  in  der  Tat  die  Ammoniter  in  meine  Gewalt 
gibst,  so  soll,  wer  immer  aus  der  Türe  meines  Hauses  mir  entgegenkommt,  wenn 
ich  wohlbehalten  von  den  Ammonitem  zurückkehre.  Jahwe  angehören  und  ich 
will  ihn  als  Brandopfer  darbringen"  (Ri  11,  29  ff.).  Und  die  kinderlose  Hanna 
spricht:  „Jahwe  der  Heerscharen!  Wenn  du  dich  um  das  Elend  deiner  Magd 
bekümmerst  und  meiner  gedenkst  und  deiner  Magd  einen  männlichen  Sproß 
schenkst,  so  will  ich  ihn  Jahwe  übergeben  für'  Bein  ganzes  Leben  und  kein  Scheer- 


80  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

messer  soll  je  auf  sein  Haupt  kommen"  (I  Sem.  I,  11).     Diomedes  spricht  in  der 
Ilias  zur  Göttin  Athene: 

„So  nun  wollest  du  mir  auch  beistehn  und  mich  behüten! 
Dir  gelob  ich  ein  jähriges  Rind,  breitstirnig  und  fehllos, 
Ungezähmt,  das  nimmer  ein  Mann  zum  Joche  gebändigt: 
Dieses  gelob'  ich  zum  Opfer,  mit  Gold  die  Hörner  umziehend."  8o 

(Übs.  J.  H.  Voß) 
Appius  Claudius  betet  zur  Kriegsgöttin:  „Bellona,  si  hodie  nobis  victoriam  duis, 
ast  ego  tibi  templum  voveo"  (,,Belona,  wenn  du  uns  heute  den  Sieg  schenkst, 
dann  gelobe  ich  dir  einen  Tempel."81)  In  der  Volksreligion  aller  Jahr- 
hunderte spielt  das  Gelübde  eine  wichtige  Rolle.  Die  Gelübde,  die  man  im  6. 
Jahrb.  christlichen  Heiligen  machte,  lauten  ganz  ähnlich  wie  die  der  Griechen 
und  Römer.  ,, Hilf  mir,  erhöre  meine  Bitte,  so  will  ich  dir  dies  oder  das  schenken."8* 
Noch  heute  macht  man  im  semitischen  Orient  Gelübde  in  dei  selben  Weise  wie 
1000  Jahre  vor  Christus.  Die  Fellachen  geloben  demWeli  eine  Menge  Korn  unter 
der  Voraussetzung,  daß  er  ihnen  reiche  Ernte  gewähre.  Eine  Syrerin,  die  von 
der  Sehnsucht  nach  einem  Kind  gequält  wurde,  versprach  dem  Nebi  Daüd  ein 
fettes  Schaf,  wenn  er  ihr  einen  Sohn  schenke.  Zuweilen  gelobt  ein  Mann,  wenn 
der  Heilige  einen  Sohn  gewähre,  das  Gewicht  desselben  in  Silbermünzen  darzu- 
bringen. Eine  muhammedanische  Syrerin  gelobte  dem  Mär  Eljä,  daß  sie  ihren 
Knaben,  wenn  er  genese,  in  die  Kirche  bringen  und  dort  taufen  lassen  wolle. 
Eine  solche  Formel  des  Gelübdes  lautet:  „Prophet  Gottes!  O  Ssafa!  Laß  mir 
diesen  Knaben  und  ich  will  dir  ein  Opfer  bringen."  Eine  andere:  „Ich  brauche 
das  und  das  und  wenn  du  das  und  das  mir  tust,  dann  will  ich  dir  einOpfer  bringen."  83 
In  der  schlichten  Bauernfrömmigkeit  nehmen  noch  heilte  die  Gelübde  einen 
breiten  Raum  ein.  In  katholischen  Ländern  gelobt  man  Stiftungen  an  die  Kirche, 
vor  allem  aber  Wallfahrten  an  heilige  Stätten.  Ein  biederer  Algäuer  versprach, 
als  er  ins  Feld  rückte,  der  Mutter  Gottes,  zu  Fuß  nach  Altötting  zu  wallfahren, 
wenn  er  wieder  glücklich  nach  Hause  käme.  Aber  auch  in  der  evangelischen 
Bauernreligion  bildet  das  Gelübde  einen  integrierenden  Bestandteil.  In  der 
Lebensgeschichte  eines  friesischen  Bauern  heißt  es:  „Wenn  einmal  ein  Unglück 
kam,  dann  hatte  er  die  feste  Zuversicht,  daß  ein  ernstliches  Gebet  von  Gott 
erhört  würde.    Er  tat  es  jedesmal  und  gelobte  dazu  etwas  in  den  Gotteskasten."84 

6.  Mittel  der  Überredung. 

Der  primitive  Mensch  sucht  seinen  Gott  nicht  nur  durch  den  Hinweis 
auf  ein  reales  Opfergeschenk  für  sich  zu  gewinnen,  ihn  umzustimmen 
und  günstig  zu  beeinflussen,  sondern  er  benützt  hiezu  alle  möglichen 
Mittel  der  Überredung.  Oft  verrät  er  dabei  eine  bewundernswerte 
Raffiniertheit;  er  ist  höflich  gegen  die  hohen  Mächte,  er  schmeichelt 
ihnen,  er  zeigt  ihnen,  daß  die  Erfüllung  der  Bitte  in  ihrem  eigensten 
Interesse  liege;  ja,  wenn  das  nicht  hilft,  greift  er  zu  Drohungen.  Er 
beruft  sich  auf  ihre  Macht,  ihre  bisherige  Hilfe,  auf  das  soziale  Band, 
das  Menschen  und  Götter  miteinander  umschlingt.  Er  streicht  sich 
selbst  heraus,  aber  er  jammert  und  heult  ihnen  oft  auch  vor.  Er  be- 
stürmt sie  fortgesetzt,  bis  sie  nachgeben.  Er  klagt  sich  selbst  an,  ver- 
demütigt sich,  entschuldigt  sich  und  fleht  um  Verzeihung.  Alle  Rede- 
künste, mit  denen  er  im  Verkehr  mit  seinen  Mitmenschen  und  besonders 
den  Machthabern  seinen  Vorteil  zu  erringen  sucht,  wendet  er  auch  im 
Verkehr  mit  den  übersinnlichen  Mächten  an,  um  seiner  Bitte  Gehör 
zu  verschaffen. 

Die  Bitte  wird  nicht  selten  eingeleitet  durch  ein  Grußwort,  das 
bei  der  profanen  Begrüßung  gebraucht  wird  oder  der  gewöhnlichen 
Grußformel  nachgebildet  ist.   Im  alltäglichen  Leben  „drücken  die  Gruß- 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Überredung)  81 

worte  Freundschaft,  Ehrfurcht  oder  Hingebung  aus,  am  häufigsten 
aber  bestehen  sie  aus  Segenswünschen"  (Schurtz)  1.  Dasselbe  gilt  von 
den  am  Anfang,  hie  und  da  auch  am  Schlüsse  eines  Gebetes  stehenden 
Begrüßungen. 

H  „Sei  willkommen"  beginnt  das  Gebet  der  Hottentotten  an  den  Neumond9. 
Mit  den  Worten:  „Gruß!  Gruß!"  fangen  einige  Anrufungen  der  Wedda  auf 
Ceylon  an.  „Heil!"  oder  „langes  Leben!  langes  Leben!"  sind  die  Einleitungs- 
worte anderer  Opfergebete.3  „Bleibe  gesund!"  lautet  ein  Gebetsgruß  der  Dschag- 
ga4.  „All  Heil,  Geister  unseres  Stammes!"  ruft  der  Häuptling  der  Amazulu 
beim  Ahnenopfer  und  die  ganze  Opferversammlung  nimmt  seinen  Ruf  auf5. 
Mit  der  Formel  „Begrüßung  sei  dir!  Anbetung  dir!  Heil  dir!"  heben  die  ägyp- 
tischen Hymnen  an6.  Xalpois,  ywaTge  sind  alte  Formeln  der  griechischen  Epiklesis7. 
Wenn  die  alten  Araber  ein  Heiligtum  betraten,  stimmten  sie  das  obligate  Jauchzen 
(tahlil)  an;  im  heutigen  Islam  ist  diese  Sitte  auf  das  bloße  Aussprechen  der  Hul- 
digungsformel labbaika  „zu  Befehl",  „zu  Diensten"  beschränkt8.  Die  in  ägyp- 
tischen Texten  oft  erwähnte  Sitte  des  hnw,  bei  der  man  sich  kniend  mit  geballten 
Fäusten  die  Brust  schlug,  scheint  dem  arabischen  tahlil  zu  entsprechen9.  Wenn 
ein  Baronga  die  Hauskapelle  betritt  um  seinen  Geistern  zu  opfern  oder  ihnen 
ein  Anliegen  vorzutragen,  spricht  er,  indem  er  in  beide  Hände  klatscht:  „Guten 
Morgen,  Ba-Ngoni!"10  Und  noch  in  der  jüngsten  Zeit  begann  man  in  Mecklenburg, 
wenn  man  dem  Holunderbaum  ein  Speiseopfer  brachte,  das  Opfergebet  mit  den 
Worten:  „Gun  Dag,  gräun  Marie!"11 

Der  anthropomorph  gedachte  Gott  hat  nicht  nur  Freude  an  Speise 
und  Trank  und  schönen  Geschenken,  sondern  er  hat  es  auch  gerne, 
wenn  man  in  ehrenden  Worten  seinen  Wert  anerkennt  und  so  sein 
Selbstgefühl  steigert.  Deshalb  packt  ihn  der  Mensch  bei  seiner  schwachen 
Seite:  er  schmeichelt  seiner  Eitelkeit,  weil  er  weiß,  daß  er  dann  besser 
zum  Geben  aufgelegt  ist.  Gewiß  gibt  es  auch  in  der  primitiven  Welt 
spontane  Lobesäußerungen,  die  einer  echten  Gottbegeisterung  und 
Ehrfurcht  vor  dem  Gott  entspringen  und  nicht  einen  egoistischen  Neben- 
zweck verfolgen.  Aber  die  ehrenden  und  huldigenden  Worte,  die  in 
gewöhnliche  Bittgebete  eingestreut  sind,  stehen  ganz  im  Dienste  der 
Bitte  und  wollen  nur  die  übermenschlichen  Wesen  in  gute  Laune  ver- 
setzen, daß  sie  gerne  und  bald  das  Gebet  erhören. 

„Denn  auch  den  hehren  Göttern  ist  dies  eigen  stets, 
Wenn  sie  geehrt  von  Menschen  werden,  freu'n  sie  ich."  (Euripides)14 

In  den  Gebeten  der  Vedda-Pygmäen  an  die  Verstorbenen  swerden  deren  Taten 
und  Heldenhaftigkeit  gefeiert.  So  wird  der  Totengeist  eines  großen  Nimrod 
gepriesen  als  „ständig  gehend  von  Hügel  zu  Hügel,  die  Spuren  des  herrlichen 
Sambartieres  von  Fußspur  zu  Fußspur  verfolgend."13  In  den  Gebeten  an  die 
Ahnen  zählen  viele  Bantustämme  ihre  Ehrennamen  auf,  die  sie  im  Kampf  mit 
den  Feinden  sich  erwarben,  und  preisen  ihre  Taten,  die  sie  zu  Lebzeiten  vollbracht. u 
Ein  Missionar  schreibt  von  den  Dschagganegern:  „Es  gibt  ein  Lobpreisen  und 
ein  Rühmen  der  Geister,  aber  nur  in  Verbindung  mit  Bitten  oder  bei  eidlichen 
Versicherungen."  „O  wunderbare,  o  Berg  des  Alten,  o  Stolz  des  Landes,  o  Zierde 
des  Ostens!"  sind  rühmende  Epitheta,  die  der  Dschagga  den  Geistern  gibt16. 
„Ihr  Geister  der  Vorfahren,  die  ihr  so  große  und  edle  Taten  für  uns  verrichtet 
habt"  beginnt  ein  Gebet  der  Xosakaffern1'.  Die  Amazulu  weisen  in  ihrem  Gebet 
ausdrücklich  auf  die  Lobeserhebungen  hin,  mit  denen  sie  den  Ahnengeistern 
Freude  machen.  „Wir  preisen  dich  mit  allen  Ehrennamen,  wir  erzählen  deine 
Großtaten.  Zürne  uns  nicht  mehr !'" 7  Auch  hinter  den  kurzen,  ehrenden  Epitheta, 
die  der  Anrede  beigefügt  werden,  „großer",  „gütiger",  „Herr!"  kann  sich  bis- 
weilen schmeichlerischer,  serviler  Sinn  verstecken,  obgleich  sie  ursprünglich 
ein  unwillkürlicher  Ausdruck  des  Abhängigkeitsgefühls  und  der  Zuversicht,  sind. 
Wie  es  sich  lohnt,  den  Göttern  klingende  Ehrentitel  zu  geben,  zeigt  ein  hübsches 
Das  Gebet.  6 


82  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

chinesisches  Geschichtchen.  Inmitten  der  heißesten  Jahreszeit  trat  in  Sutschau 
plötzlich  starker  Schneefall  ein.  In  seinem  Schrecken  begab  sich  das  Volk  in 
den  Tempel  des  Prinzen  Erde,  um  zu  beten.  Da  sagte  einer  von  den  Geistern: 
,,Ihr  sprecht  mich  jetzt  als  ,Euer  Gnaden'  an;  nennt  mich  doch  , Exzellenz' I 
Ich  bin  zwar  nur  eine  untergeordnete  Gottheit,  aber  es  wird  sich  wohl  lohnen." 
Das  Volk  tat  so  und  siehe,  der  Schneefall  hörte  gleich  auf18. 

Daß  man  den  übersinnlichen  Wesen  schmeichelt  und  huldigt,  setzt 
bereits  eine  Entwicklung  des  Selbstgefühls  voraus:  erst  mußten  die 
Menschen  selbst  Freude  an  Ruhmreden  und  schönen  Titeln  haben,  ehe 
sie  dies  ihren  Göttern  zutrauten.  Darum  finden  sich  Lobpreisungen 
in  Verbindung  mit  Bitten  fast  nur  bei  den  höherstehenden  Bantu  und 
Malaien,  ebenso  bei  den  antiken  Völkern,  während  primitivere  Stämme 
ihre  Bitten  noch  nicht  mit  Lobessprüchen  aufputzen. 

Der  Gott  des  Primitiven  ist  derselbe  naive  Egoist  wie  dieser  selbst, 
darum  benützt  der  Mensch  den  Egoismus  des  Gottes  als  Mittel  zur 
Befriedigung  seines  eigenen :  er  appelliert  an  sein  persön- 
liches Interesse,  er  erklärt  ihm,  daß  die  Erfüllung  seines  Wun- 
sches in  seinem  eigenen  Vorteil  liegt.  Die  Segnungen ,  die  er  den  Menschen 
zuteil  werden  läßt,  kommen  ihm  selbst  wieder  zugute  in  der  Form  von 
Opfergaben. 

Die  Dschagga  beten  beim  Auszug  in  den  Krieg:  „Ruwa,  mein  Häuptling, 
mögest  du  mich  an  die  Hand  nehmen  und  sicher  führen !  Gewähre  mir  auch  ein 
Rind,  Häuptling,  damit  ich  dir  ein  Opfer  bringe."19  Die  Hottentotten  beten: 
„O  Heitsi-Eibib,  du  unser  Großvater,  laß  mich  glücklich  sein,  laß  mich  Honig 
und  Wurzeln  finden,  daß  ich  dich  wieder  beglücken  kann."80  Die  Ewe  bitten: 
,,0  Kapele  merk  auf!  Gib,  daß  wir  gesund  bleiben,  damit  wir  später  wieder  zu 
dir  kommen  und  etwas  Palmwein  auf  die  Erde  gießen  können!"21  Die  Khonds 
von  Orissa  sagen:  ,, Erinnere  dich,  daß  mit  unserem  Ertrag  auch  deine  Verehrung 
wächst  und  daß  die  Verminderung  desselben  auch  die  Verminderung  deiner 
heiligen  Riten  nach  sich  zieht.""  Ein  Xosakaffer  fleht :  „Ich  bitte,  daß  ihr  (Ahnen- 
geister) meinen  Kraal  mit  Vieh,  meine  Scheune  mit  Korn,  meine  Häuser  mit 
Kindern  füllt,  damit  ihr  uns  nie  aus  dem  Gedächtnis  kommt.'.23  Die  Polynesier 
beten:  ,,Wir  haben  nichts  Besseres,  gebt  uns  Besseres,  dann  sollt  ihr  davon 
kriegen."24  Ein  Dschagga  belehrt  die  Geister:  „Erhaltetmir  das  Leben  und  schenkt 
mir  Gesundheit!  Oder  wie  soll  ich  es  denn  sonst  nach  eurer  Meinung  machen  ?  Habt 
Geduld,  ich  will  Gras  schneiden,  bis  ich  eine  Ziege  als  Futterlohn  erhebe,  die  werde 
ich  eueh  spenden.  Wenn  ihr  mich  so  bedrängt,  werdet  ihr  dann  etwas  erhalten  ?  Un- 
möglich! Ihr  werdet  von  euresgleichen  ausgelacht  werden.  So  behütet  mich  denn, 
dann  werdet  ihr  das  Eurige  erhalten."28  Noch  mehr  Worte  der  Überredung  wendet 
ein  Zulukaffer  auf,  um  seine  Ahnen  zu  reizen,  daß  sie  ihm  Reichtum  gewähren: 
„Ich  bitte  euch,  daß  ich  Rinder  bekomme  und  Kinder  und  Weiber,  von  denen 
ich  Kinder  erhalte,  damit  euer  Name  nicht  zugrunde  geht,  sondern 
damit  man  noch  sage:  das  ist  das  Dorf  des  so  und  so  dort.  Denn  wenn  ich  keine 
Kinder  bekomme,  dann  wird  es  nicht  heißen:  das  ist  das  Dorf  des  so  und  so  dort. 
Wenn  ich  allein  bin,  kann  es  sein,  daß  ich  lange  auf  Erden  lebe;  wenn  ich  aber 
keine  Kinder  habe,  ist  es  bei  meinem  Tod  mit  meinem  Namen  aus;  dann  werdet 
ihr  in  schöner  Verlegenheit  sein,  wenn  ihr  Grashüpfer  essen  müßt ;  denn  bei  meinem 
Tod  ist  es  mit  meinem  Dorfe  aus  und  ihr  werdet  keinen  Platz  mehr  haben,  den 
ihr  betreten  könnt;  ihr  müßt  dann  vor  Kälte  in  den  Bergen  sterben."26  Hier 
richtet  sich  der  Apell  ebenso  an  das  Ehrgefühl  des  Gottes  wie  an  seine  Sorge  um 
den  Lebensunterhalt,  den  ihm  die  Opfer  der  Menschen  garantieren.  In  den 
Khasibergen  in  Assam  betet  der  Priester:  „Dir  gehört  dies  Opfer.  Mögen  wir 
glücklich  leben,  gesund  sein  und  uns  vermehren,  mögen  die  Könige  emporkommen, 
möge  ihre  und  des  Landes  Ehre  wachsen  und  zunehmen  und  die  Kinder  des 
Landes  sich  ausbreiten,  um  zu  vermehren  deinen  Namen  und 
deine    Ehre!"     ,,0  Gott,  Herr  und  Schöpfer,  gib  Glück  und  Wohlfahrt  auch 


V.   Inhalt  des  Gebets  (Überredung)  83 


mir,  dem  Priester,  damit  immer  größer  werde  meine  Danksagung  und  Hingabe 
an  dich."27  Primitive  Urwüchsigkeit  redet  aus  dem  an  das  erwähnte  Kaf fern- 
gebet anklingenden  Gebet  des  äschyleischen  Orest  an  Zeus: 

..Hast  du  dem  frommen  Könige,  der  dich  ehrte 

Also  die  Sprossen  weggetilgt,  wer  streut 

Aus  vollen  Händen  dir  die   Gabe  noch  ?   .  .   . 

Der  königliche,  der  verdorrte  Stamm 

Läßt  deinen  Altar  frei  an  deinem  Feste"  (Choeph.  255  ff.). 
Eteokles  ruft  in  den  Sieben  gegen  Theben: 

,. Helft  uns,  ihr  Ewigen!     Es  frommt  auch  euch, 
Denn  eine  Stadt  in  Glück  verehrt  die  Götter"  (76  f.). 
Die  Tempel  sind  bei  den  antiken  Völkern  die  Wohnstätten  der   Götter ;   wird 
eine  Stadt  zerstört  samt  ihren  Tempeln,  so  werden  sie  obdachlos.     Darum  er- 
innert der  Chor  der  frommen  Thebanerinnen  die  Götter  daran,  was  ihnen  beim 
Untergang  ihrer  vom  Feind  bedrängten   Stadt  droht. 

., Gedenkt  der  heil'gen  Tempel!  Denkt  ihr  derer. 
So  müßt  ihr  helfend  eurem  Volke  nah'n"28. 
Um  den  Ehrgeiz  des  Gottes  zu  stacheln,  verweist  der  Beter  bisweilen  auf  andere 
Götter,  die  dem  Menschen  Hilfe  zuteil  werden  ließen.  .,Alle  jene,  welche  Erfolg 
haben,  haben  es  durch  die  Hilfe  ihrer  Götter",  halten  die  Baronga  ihren  Ahnen 
vor*'.  Und  ein  Zulu  sagte  ihnen  vorwurfsvoll :  , .Andere  Amadhlozi  (^hnengeister) 
segnen  ihre  Leute."30  Wenn  bei  Vollmond  ein  Ewekaufmann  auf  Reisen  geht, 
betet  er:  ,,0  Mond!  Als  deine  Brüder  voll  waren,  da  war  ich  gesund  und  es  ist 
nur  nie  etwas  Schlimmes  zugestoßen.  Nun  bist  auch  du  voll,  und  wenn  mir 
etwas  Schlimmes  zustößt,  so  wird  man  es  von  dir  fordern.  Ich  bitte  dich,  hab 
recht  Acht  auf  mich  !"31  Man  malt  auch  dem  Gott  aus,  wie  man  bei  vertauschten 
Rollen  tun  würde.  ,.Wäre  ich  du.  o  Agni,"  sagt  der  Sänger  des  Rigveda,  „und 
wärest  du  ich,  so  würden  deine  Wünsche  in  Erfüllung  gehen."  „Wärest  du, 
Agni,  der  Sterbliche  und  ich  der  Unsterbliche  von  Mitras  Glanz,  so  würde  ich 
dich  nicht  dem  Unglück  und  Elend  preisgeben,  nicht  würde  mein  Lobsänger 
bedürftig  und  schlecht  gestellt  sein,  o  Agni,  nicht  so  erbarmungswürdig."32  Man 
appelliert  auch  an  die  Selbsttreue  des  Gottes,  man  erinnert  ihn  daran,  daß  es 
höchst  inkonsequent  wäre,  die  Bedürfnisse  der  Menschen,  die  sie  erschaffen  haben, 
nicht  zu  erfüllen.  Die  Khonds  beten:  ,,0  Boora  Pennu!  D  u  erschufst  uns  und 
legtest  uns  die  Eigenschaft  des  Hungers  bei,  daher  war  Getreidenahrung  für 
uns  notwendig  und  daher  waren  notwendig  für  uns  fruchttragende  Felder."33 
Die  Flußneger  Kameruns  sagen  zum  höchsten  Gott  Obaschi:  „Da  du,  o  Gott, 
verfügt  hast,  daß  wir  Weiber  heiraten  sollen,  so  hilf  uns  auch,  daß  mein  Weib, 
das  zur  Stunde  krank  darniederliegt,  bald  gesund  wird."34 

Aber  nicht  nur  freundliche  Worte  gebraucht  der  primitive  Mensch, 
um  die  höheren  Mächte  zur  Erfüllung  seiner  Wünsche  zu  bewegen. 
Der  Appell  an  das  eigene  Interesse  der  Götter  geht  nicht  selten  über 
in  die  offene  Drohung.  Vor  allem  kündigt  er  ihnen  den  Entzug 
der  Opfermahlzeiten  an;  denn  dadurch  glaubt  er  ihre  tiefsten  Lebens- 
interessen zu  treffen. 

Ein  köstliches  Dokument  der  Naivität  ist  folgendes  Zulugebet:  „Wann  haben 
wir  es  unterlassen  zu  opfern  und  deine  Ehrennamen  zu  wiederholen?  Warum 
bist  du  denn  so  knauserig?  Besserst  du  dich  nicht,  dann  werden  wir  alle  deine 
Ehrennamen  in  Vergessenheit  geraten  lassen.  Was  ist  dann  dein  Los  ?  Dann 
kannst  du  gehen  und  Grashüpfer  essen!  Bessere  dich,  sonst  vergessen  wir  dich! 
Was  nützt  denn  das.  wenn  wir  schlachten  und  dich  mit  deinen  Ehrennamen 
preisen?  Du  verschaffst  uns  ja  weder  Saat  noch  Viehreichtum!  Du  erweisest 
uns  keinen  Dank  für  alle  unsere  Mühe.  Ganz  und  gar  wollen  wir  dich  verstoßen 
und  zu  anderen  Menschen  sagen,  daß  wir  überhaupt  keine  Ahnengeister  haben. 
Das  ist  dann  dein  Schaden.  Wir  sind  über  dich  ärgerlich.  "36  Ein  alter  ägyptischer 
Text  enthält  folgende  Drohung  an  die  Götter:  „Wenn  ihr  den  Toten  nicht  mit 
seiner  Familie  zusammenführt,  da  raubt  man  die  erlesenen  Fleischstücke  von 
den  Altä-en  der  Götter,  man  opfert  keine  Brote  mehr,  mau  mischt  kein  Weißbrot 


84  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

mehr  und  kein  Fleischstück  wird  mehr  vom  Schlachtbock  dem  Gott  dargebracht.38 
Ein  Muslim,  der  ein  verlorenes  Kamel  gesucht  hatte,  drohte  Allah:  „Ich  beschwöre 
dich,  wenn  du  es  mir  nicht  wieder  verschaffst,  werde  ich  dich  nicht  mehr  an- 
beten."37 Ähnliche  Drohungen  an  Gott  kann  man  bisweilen  noch  heute  aus 
dem  Munde  naiver  Menschen  vernehmen. 

Selbst  vor  harten  Vorwürfen  und  wilden  Schmähungen 
schrecken  die  primitiven  Beter  nicht  zurück.  Warneck  berichtet  von 
den  Batak:  ,, Leute,  dis  sich  im  Unglück  befinden,  fluchen  Gott  und 
überhäufen  ihn  mit  Vorwürfen."  38  Junod  schreibt  von  den  Baronga : 
,,Wenn  ein  großes  Mißgeschick  der  Anlaß  zum  Gebet  ist,  geht  der  Bitte 
voraus  oder  folgt  ihr  eine  regelrechte  Beschimpfung  der  Götter. 
Man  hat  sogar  zwei  Termini,  um  diesen  seltsamen  Teil  des  Gebets  zu 
bezeichnen:  rukatela,  das  wirkliche  Wort  für  Schimpfen  und  holobela, 
,die  Götter  schelten'  "  39. 

„Ihr  seid  unnütz,  ihr  Götter!"  lautet  ein  solches  Schimpfgebet,  ,,ihr  macht 
uns  nur  Verdruß!  Denn  obgleich  wir  euch  Opfer  bringen,  hört  ihr  nicht  auf  uns! 
Wir  sind  von  allem  beraubt .  Ihr  seid  von  Haß  erfüllt.  Ihr  bereichert  uns  nicht!"39 
Ein  Zuluhäuptling  hält  den  Ahnen  eine  förmliche  Sittenpredigt:  „Ist  es  Recht, 
daß  Leute  wie  ihr,  beständig,  statt  in  anständiger  Weise  Nahrung  zu  verlangen, 
zu  uns  in  der  Form  von  Krankheiten  kommt  ?  Ist  das  anständig  ?  Nein !  Merkt 
ihr  denn  nicht,  daß  ihr  heute  blamiert  dasteht,  nachdem  euch  der  Zauberer  heraus- 
gebracht hat."  „Ich  wundere  mich  sehr,  daß  ihr,  die  ihr  so  mächtige  Taten  voll- 
brachtet, nun  ständig  als  Diebe  kommt;  ihr  pflegtet  doch  sonst  alles  offen  zu 
tun.  Macht  diesen  verstohlenen  Besuchen  ein  Ende!  Kommt  offen,  daß  ich 
euch  sehe,  denn  das,  was  ihr  verlangtet,  will  ich  nicht  verweigern."40  Die  home- 
rischen Beter  scheuen  sich  nicht,  dem  Mißgeschick  sendenden  Zeus  harte  Vor- 
würfe zu  machen.  In  der  Ilias  (XII  164)  ruft  Asios.  wie  die  Achäer  beim  Sturm 
nicht  weichen,  erzürnt  zu  ihm: 

„Vater  Zeus,  ja  wahrlich  auch  du  wardst  uns  zum  Betrüger!" 

In  der  Odysse  (XX  201  ff.)  bricht  Philötios,  wie  er  dem  Dulder  Odysseus  die 
Hand  reicht,  in  den  Klageruf  an  Zeus  aus: 

„Vater  Zeus,  du  bist  doch  vor  allen  Unsterblichen  grausam! 
Du  erbarmest  dich  nicht  der  Menschen,  die  du  gezeugt  hast, 
Sondern  verdammst  sie  alle  zu  Not  und  schrecklichem  Jammer." 
Chinesen  schmähten  ein  Idol,  von  dem  sie  vergeblich  Hilfe  erbeten  hatten,  mit 
den  Worten:  „Wie,  wir  lassen  dich  hündischen  Geist  in  einem  prächtigen  Tempel 
wohnen  ?    Wir  schmücken  dich,  bringen  dir  Speisen  und  Weihrauch  im  Überfluß 
und  nach  allen  diesen  Ehrenerweisen  bist  du  so  undankbar,  daß  du  uns  das  nicht 
gibst,  was  wir  brauchen?"41      Die  Neapolitaner  schalten  den  heiligen  Januarius 
einen  vecchio  ladrone.  einen  birbone  und  scelerato,  weil  er  eine  Lavaflut  des  Vesuv 
nicht  verhinderte42.     Pastor  Gerade  erzählt  von  einem  protestantischen  Bauern, 
der  bei  einer  anhaltenden  Dürre  ganz  wütend  zum  Himmel  schrie:   „Du  ver- 
fluchter lieber  Gott!"  und  mit  geballter  Faust  nach  oben  zeigte43.     Ja,  es  ist 
sogar  nichts  Seltenes,  daß  die  Fetische  und  Götterbilder  tätlich  mißhandelt  und 
verunedelt  werden.     Die  alten  Arkadier  prügelten  ihren  Pan,  wenn  sie  mit  leeren 
Händen  von  der  Jagd  heimkehrten44. 

Eine  reinere  Frömmigkeit  sieht  in  der  Bedrohung  und  Schmähung 
der  göttlichen  Wesen  eine  Blasphemie,  weil  hier  das  religiöse  Verhältnis 
zur  Gottheit,  das  ein  Verhältnis  der  Abhängigkeit  ist,  auf  den  Kopf 
gestellt  wird.  Aber  man  darf  diese  impulsiven  Äußerungen  beim  primi- 
tiven Menschen  nicht  allzu  tragisch  nehmen.  Bei  ihm  entladen  sich  die 
Affekte  viel  stärker  und  ungehemmter  als  beim  Kulturmenschen,  der 
heftige  seelische  Erregungen  zurückzudämmen  vermag.  Zudem  werden 
alle  sozialen  Verkehrsformen  zwischen  Mensch  und  Mensch  auf  den 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Überredung)  85 


Verkehr  mit  den  übermenschlichen  Wesen  übertragen.  WiemanDrohungen 
und  harte  Worte  benützt,  um  seine  Forderungen  bei  anderen  Menschen 
durchzusetzen,  so  versucht  man  es  mit  diesen  Mitteln  auch  bei  den 
Göttern,  wenn  die  feinen  Überredungskünste  versagen.  Aber  das  Ab- 
hängigkeits-  und  Ohnmachtsgefühl  sitzt  zu  tief  im  Menschen,  als  daß 
er  dauernd  bei  einer  feindseligen  Haltung  gegen  die  höheren  Wesen  ver- 
harren oder  den  Verkehr  mit  ihnen  völlig  abbrechen  würde.  Sobald  der 
Affekt  des  Ärgers  sich  gelegt  hat,  kehrt  das  religiöse  Abhängigkeits- 
gefühl wieder.  Oft  schlägt  sogar  in  einem  und  demselben  Gebet  die 
wilde  Drohung  in  die  demütige  Bitte  über. 

Missionar  Nassau  sah  in  Westafrika,  wie  eine  Frau  auf  die  Straße  stürzte, 
indem  sie  abwechselnd  die  Geister  schalt  und  sie  in  einem  Atem  zu  überreden 
suchte,  das  Kind,  das  sie  mit  Krämpfen  plagten,  zu  verlassen46.  In  dem  an- 
geführten Gebet  der  Baronga  folgt  unmittelbar  auf  die  vorwurfsvollen  Reden  eine 
freundliche  Einladung  zum  Opfer:  „Jetzt  haben  wir  euch  diese  Gaben  gebracht. 
Ruft  eure  Ahnen.  Kommt  hierher  zum  Altar!  Esset  und  verteilet  unter  euch 
unseren  Ochsen  nach  eurer  Weisheit!"46  Ein  Gebet  der  Xosakaffern  an  die 
Ahnen  beginnt  mit  der  vorwurfsvollen  Frage:  ,,Ist  es  recht,  daß  ihr  fortwährend 
Krankheit  einkehren  laßt  und  Fleisch  fordert?  Seht  ihr  denn  nicht,  daß  ihr 
heute  von  mir  als  Urheber  der  Krankheit  angeklagt  werdet?"  Die  Vorwürfe 
brechen  ab  und  es  folgt  der  Opferspruch  und  ein  Wort  der  Anerkennung  gänzlicher 
Abhängigkeit:  „Da  habt  ihr  euer  Opfer.  Wir  wollen  euch  nichts  vorenthalten, 
denn  wir  haben  von  euch  alles,  was  wir  brauchen:  Vieh.  Korn  und  Rinder."47 

Ein  wirksames  Mittel  zur  Gewinnung  göttlicher  Gunst  ist  das  Selbst- 
1  o  b:  der  Gott  muß  doch  viel  lieber  erhören,  wenn  er  weiß,  was  für  ein 
trefflicher  Mensch  der  Bittsteller  ist.  Man  hält  ihm  vor,  wie  man  auf 
ihn  stets  aufmerksam  bedacht  war,  wie  man  ihm  stets  Freude  durch 
Opfergaben  und  Lobpreisungen  gemacht  habe. 

.jWir  haben  dir  keine  Schande  bereitet,  Bier  und  Milch  haben  wir  dir  nicht 
vorenthalten"  (Ruanda)48.  „Beschuldige  uns  nicht,  daß  wir  dich  vernachlässigen! 
Wann  in  aller  Welt  haben  wir  unterlassen,  dich  zu  preisen  und  dir  Fleisch  und 
öl  anzubieten?"  (Amazulu)49.  Zu  den  Gebeten  der  Griechen  gehören  die  9-voiüv 
äva/uvrjaeig.  Die  Beter  der  homerischen  Dichtungen  erinnern  die  Götter  häufig 
an  die  reichen  Opfer,  die  sie  ihnen  gebracht  haben.  So  betet  Odysseus  zu  den 
Nymphen : 

„Nymphen  des  heiligen    Quells.  Zeus'  Töchter!     Hat  jemals  Odysseus 
Lenden  mit  Fette  bedeckt   von  jungen  Ziegen  und  Lämmern 
Euch  zur  Ehre  verbrannt,  so  erfüllt  mein  heißes  Verlangen."49 

Der  Chor  der  Thebanerinnen  ruft  in  den  äschyleischen  ., Sieben  gegen  Theben:' 
„Gedenket  doch  der  vielen  Opferwerke. 
Welche  die  Stadt  euch  brachte."  (179  f.). 

Bei   Sophokles  betet  Elektra  zu  Apoll: 

..O  Herr  Apollo,  höre  gnädig  doch  auf  sie 

Und  auch  auf  mich,  die  mit  freigieb'ger  Hand  so  oft 

Dir  opferte  von  allem,  was  mein  eigen  war"   (1376  ff.) 

Auch  die  Berufung  auf  die  eigene  sittliche  Tüchtigkeit  ist  in  primi- 
tiven Gebeten  nichts  Seltenes.  Von  den  Göttern  stammen  ja  die  sitt- 
lichen Gesetze,  sie  sind  Wächter  und  Rächer  der  sittlichen  Ordnungen. 
Darum  muß  es  ihnen  eine  Freude  sein,  zu  hören,  wie  die  Menschen  ihre 
Gebote  befolgen. 

Bei  den  Ein  weih  ungszeremonien  der  Euahlayi  richtet  der  älteste  Medizinmann 
ein  (iebet  an  den  Urvater  Baianie  mit  der  Bitte,  ihnen  langes  Leben  zu  verleihen. 


86  A.  Das  naive  Beten  des   primitiven  Menschen 


da  sie  sein  Gesetz  beobachtet  hätten,  wie  der  Vollzug  der  Initiationsiiten  zeige51. 
„Du  weißt",  erzählte  ein  Dualaneger  dem  höchsten  Gott  Nyambe,  ,.daß  ich  noch 
nie  gestohlen,  noch  nie  getötet,  noch  nie  die  Ehe  gebrochen  habe.  Ich  habe 
immer  die  Wahrheit  geredet,  habe  mein  Weib,  das  ich  gekauft,  und  meinen  Sklaven 
ganz  bezahlt  und  bin  nichts  schuldig  geblieben.  0  unschuldiger  Gott,  du  weißt, 
daß  ich  kein  neidisches  Auge  habe  auf  meines  Nachbarn  Haus,  Weib,  Sklaven, 
auch  nicht  auf  seinen  Pisang.  nicht  auf  seine  Ziegen,  seine  Palmkerne  und  nicht 
auf  seine  neue  Kappe,  die  er  sich  kürzlich  gekauft  hat."52  Ähnliches  hörte  Miss 
Kingsley  bei  den  westafrikanischen  Stämmen  an  der  Bucht  von  Panavia.  ,,Dort 
geht  bei  jedem  Neumond  der  Häuptling  eines  Dorfes  hinaus  und  steht  allein  im 
Freien  und  redet  mit  dem  Urvater  Anyambie.  Er  eröffnet  stets  die  Anrede  an 
den  großen  Gott  mit  einem  Katalog  seiner,  des  Häuptlings  Vorzüge,  indem  er 
sagt:  ,Ich  bin  der  Vater  meines  Volkes,  ich  bin  ein  gerechter  Mann,  ich  komme 
mit  allen  Menschen  gut  aus.'  Der  Bericht  des  Häuptlings  ist  naturgemäß  sehr 
lange.  Beim  ersten  Anhören  muteten  mich  diese  Kataloge  der  Vorzüge  des 
Häuptlings  komisch  an  und  ich  sagte  einmal:  ,Warum  nehmt  ihr  denn  nicht 
jemand  anderen,  der  für  euch  das  sagt;  das  Selbstlob  in  dieser  unverschämten 
Weise  muß  doch  für  euch  etwas  sehr  Unangenehmes  sein.'  ,0  nein',  sagte  der 
Häuptling,  ,und  überdies  weiß  kein  Mensch,  wie  gut  er  ist,  außer  er  selbst."58 
Der  Ägypter  der  alten  Zeit  versichert  seinen  Gott  immer  seiner  Trefflichkeit54, 
der  Sänger  des  Veda  unterstützt  seine  Bitte  durch  die  Erinnerung  an  seinen 
Eifer58.  Wie  man  durch  Eigenlob  die  Bitte  in  eigener  Angelegenheit  ausstaffiert, 
so  sucht  man  durch  das  Lob  des  anderen  der  Fürbitte  kräftige  Resonanz  zu  ver- 
schaffen. ,,Der  weiße  Mann  ist  gut  und  sehr  wohlhabend",  sagte  der  Kikuyu- 
häuptling56.  Im  Gebet  der  Euahlayi  für  den  Verstorbenen  wird  ausdrücklich 
hervorgehoben,  daß  er  die  Ritualgesetze  beobachtet  habe57. 

Sehr  häufig  verbindet  sich  mit  dem  Gebet  ein  Appell    an    das 
Mitleid  des  Gottes.   Wie  die  Menschen  weich  zu  werden  pflegen, 
wenn  man  ihnen  von  seiner  Not  und  Dürftigkeit  vorjammert,  so  sollen 
auch  die  höheren  Mächte  durch  herzergreifende  Klagerufe  weich  ge- 
stimmt werden. 

,,Hab  Mitleid  mit  meinem  Kind  und  meinem  Weibe!"  „Hab  Mitleid  mit  mir!' 
(Delawaren,  Omaha,  Huronen,  Wanyika).  „Hab  Mitleid  mit  uns!"  (Algonkin, 
Ainu).  „Erbarme  dich,  ich  bin  sehr  arm"  (Osagen).  „Ich  bin  arm,  beschütze 
mich!"  (Mkulwe)58.  „Hab  Mitleid"  fleht  Odysseus  zur  mächtigen  Flußgottheit 
(Od.  V  450);  „erbarm  dich  mein"  spricht  Elektra  zu  ihrem  toten  Vater59.  „Sei 
gnädig,  Herrscher!  Hab  Erbarmen!"  ruft  wiederholt  der  vedische  Sänger  zu 
Varuna  (RV  VII  89).  „Hab  Erbarmen!"  ruft  ein  babylonischer  Beter  zu  Marduk, 
ein  assyrischer  Beter  zu  Ischtar60. 

Bei  vielen  Indianerstämmen  gehört  das  Heulen  und  Jammern  zum 
Gebet.  Der  betende  Osage  heult  nach  dem  Zeugnis  Mac  Coy's  „mit  vor- 
gegebenem oder  wirklichem  Weinen  mit  ungewöhnlich  lauter  Stimme 
und  in  winselndem  Ton  ein  Gebet."  62  Dorsey  zählt  zu  den  ,accessories' 
des  Gebets  bei  den  Sioux-  und  Dakotastämmen  das  zeremonielle 
Heulen  und  Schreien"  63.  Wenn  bei  den  Römern  in  Not  und  Gefahr 
der  Senat  eine  supplicatio  der  Matronen  anordnete,  warfen  sie  sich  auf 
den  Boden  und  heulten  64.  In  der  altchristlichen  Volksreligion  bilden 
die  Tränen  „eine  nahezu  obligatorische  Zugabe"  zu  einem  jeden  Gebet 
an  die  Märtyrer.  Die  Bittenden  vergießen  mitunter  ganze  Ströme  von 
Tränen  und  benetzen  mit  ihnen  das  Grab  des  Heiligen  65.  Aber  man 
darf  diesem  Jammern,  Winseln  und  Weinen  ebensowenig  uneinge- 
schränkten Glauben  schenken  wie  dem  Selbstlob,  das  sich  der  primitive 
Beter  spendet.  Wie  im  Verkehr  mit  seinen  Mitmenschen,  so  benützt 
er  auch  im  Verkehr  mit  den  übersinnlichen  Wesen  die  Übertreibung  und 


V.  Inhalt  des  Gebens  (Überredung}  87 

Aufbauschung,  um  nur  seine  Zwecke  zu  erreichen.  Aber  er  tut  das  alles 
nicht  völlig  absichtlich,  auf  Grund  von  Reflexionen  und  Überlegungen, 
sondern  er  greift  unbewußt  zu  allen  möglichen  Mitteln  der  Beeinflussung, 
die  sich  ihm  von  selbst  darbieten.  Man  kann  darum  hier  so  wenig  wie 
bei  den  überschwänglichen  Lobpreisungen  des  Gottes  und  dem  Selbst- 
lob von  Unehrlichkeit  und  Heuchelei  reden;  denn  die  dabei  unter- 
laufende Übertreibung  ist  unwillkürlich  durch  die  Stärke  des  Wunsches 
und  die  Inbrunst  der  Hoffnung  eingegeben. 

Unglück  und  Not,  vor  allem  Krankheit  ist  für  den  primitiven  Menschen 
eine  Folge  des  Zornes  eines  höheren  Wesens,  den  man  auf  irgendeine 
Weise,  sei  es  durch  Verletzung  eines  Ritualgebotes,  sei  es  durch  die 
Übertretung  der  von  Gott  gesetzten  ethischen  Ordnung,  erregt  hat. 
Unglück  ist  nach  dem  primitiven  Vergeltungsglauben  Strafe  und  Rache 
eines  übernatürlichen  Wesens,  das  —  oft  völlig  unabsichtlich  —  von 
dem  Menschen  beleidigt  und  erzürnt  wurde,  ja  das  sogar,  weil  es  ein 
launisches,  unberechenbares  Wesen  ist,  bisweilen  grundlos  zürnt.  Darum 
sucht  der  Mensch,  gefoltert  von  Furcht  und  Angst,  den  Groll  der  Mäch- 
tigen durch  begütigende  Worte  zu  besänftigen.  Er  sucht  sich  zu  recht- 
fertigen und  zu  entschuldigen.;  er  sagt  ihnen,  sie  hätten  doch  keinen 
Grund,  ihm  böse  zu  sein. 

„Wenn  du  der  begu  (Totengeist)  des  N.  N.  bist,  den  wir  begraben  haben,  so 
nähere  dich  uns  nicht.  Nicht  wir  sind  es,  die  deiner  überdrüssig  sind,  wir  haben 
dich  lieb.  Zürne  dem  begu,  der  dich  geholt  hat"  (Batak)66.  , .Nicht  ich  habe  ge- 
boten, daß  ihr  endetet,  Gott  wollte  nicht  über  die  Tage  hinaus,  die  er  bewilligte. 
Seid  nicht  irgendwie  böse  auf  mich!"  beten  die  Coraindianer  zu  ihren  Ahnen67. 
Wenn  die  Chinesen  ein  Götterbild  beschimpft  haben,  weil  der  Gott  ihre  Bitte 
zuerst  nicht  erhörte,  sie  aber  nachträglich  erfüllt  wurde,  tragen  die  Priester  es 
in  den  Tempel  zurück  und  entschuldigen  sich  wegen  des  Vorgefallenen.  ,,Es 
ist  wahr,  wir  waren  etwas  voreilig;  allein  warum  zögertest  du  so  lange  ?"  Warum 
mußten  wir  dich  erst  schlagen?  Warum  erhörtest  du  unsere  Bitten  nicht  aus 
eigener  Bewegung?  Allein,  was  geschehen  ist,  ist  geschehen,  laßt  uns  das  Ver- 
gangene vergessen!  Wir  wollen  dich  von  neuem  vergolden,  wenn  du  uns  nichts 
nachträgst."68  ,,Wir  haben  vergessen,  dir  zu  opfern"  entschuldigen  sich  die 
Toradja  einem  Krankheitsgeiste  gegenüber69.  Der  Ewepriester,  der  im  Namen 
seines  Mandanten  zu  einem  tro  betet,  versichert  ihm,  daß  das  rituelle  Vergehen 
ohne  Wissen  und  Willen  geschehen  sei.  „Dieser  Mann  hat  es  nicht  gewußt,  als 
er  gegen  dich  gesetzlos  gehandelt  hat.  Laß  nun  deine  Hand  von  ihm  ab,  daß  er 
wieder  gesund  werde."  „Ich  bitte  dich,  vergib  es  ihm;  er  ist  noch  ein  Kind  und 
wußte  nicht,  was  er  tat."70  Ein  vedischer  Sänger  ruft  zu  Varuna:  „Durch  die 
Schwäche  meiner  Einsicht  bin  ich  fehlgegangen,  du  Reiner"  (RV  VII  89,  3). 

Der  sich  sündig,  d.  h.  als  ,Kind  des  Zornes'  fühlende  Mensch  verlegt  sich  oft 
gar  nicht  auf  Ausreden  und  Entschuldigungen,  sondern  gesteht  offen  vor  seinem 
Gott  seine  Schuld  ein.  Wenn  bei  den  Batak  jemand  erkrankt  ist  und  der  Zauber- 
priester festgestellt  hat,  daß  der  tondi  (Lebensgeist)  sich  beleidigt  fühle  und  man 
ihm  frexindlich  zureden  müsse,  bietet  der  Kranke  ihm  Siri  an  und  spricht:  „Das 
ist  das  Wort  meines  Siri,  das  spricht  zu  seinem  tondi:  ich  habe  gegen  dich  gefehlt 
so  und  so.  Meine  Anbetung  deinem  tondi!  Dies  ist  ein  Angeld,  Beweis  meiner 
Schuld."71     „Ich  bin  im  Unrecht",  bekennt  ein  Ewe  dem  Himmelsgott  Mawu7*. 

Mit  dem  Schuldbekenntnis  verbindet  sich  die  demütige  Bitte  um  Vergebung, 
um  Ablassen  vom  Groll  und  Unwillen,  Erneuerung  der  alten  Freundschaft.  „Zürne 
mir  nicht,  hasse  mich  nicht,  sei  mir  barmherzig  und  hab  Mitleid  mit  mir!"  (Ka- 
renen)73.  „Hier  bringe  Ich  dir  die  Gabe,  welche  du  von  mir  haben  wolltest,  damit 
du  mir  nicht  mehr  zürnest.  Hab  nun  wieder  ebenso  Acht  auf  mich,  wie  du  es  früher 
gehabt  hast!"  (Ewe)74.      „Ihr  zürnet  uns  .   .   .   und  in  eurem   Zorn  habt  ihr  das 


88  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


Kind  uns  entrissen.  Laßt  euch  daran  genügen  und  begrabt  euren  Zorn!"  (Du- 
faure-Insulaner  auf  Neuguinea)76.  Der  Batakpriester  bittet  für  seinen  Klienten: 
„Wenn  etwa  dieser  hier  einen  Fehler  begangen  hat,  habt  Mitleid,  rechnet  es  ihm 
nicht  zu!"7* 

Bisweilen  stützt  ein  guter  Vorsatz  die  Bitte  um  Verzeihung.  „Ich  will  mich 
bessern",  verspricht  der  Batak  seinem  tondi77.  ,,Er  wird  sich  nie  wieder  gegen 
dich  versündigen",  versichert  der  Ewepriester  von  seinem  Schützling78. 

Die  Sslbstanklage  und  Selbstverdemütigung  weitet  sich  bei  manchen 
primitiven  Stämmen  zu  einem  detaillierten  Sündenbekenntnis  aus.  Die 
Beichte  vor  einem  Freunde,  einem  Zauberer  oder  Priester  ist  bei  Natur- 
völkern nichts  Seltenes:  sie  geht  zumeist  zauberhaften  rituellen  Hand- 
lungen voraus,  die  der  Entfernung  des  gefährlichen  Sündenstoffes  (tabu) 
dienen.  Aber  auch  die  ,confessio  coram  deo1,  verbunden  mit  direkter 
Gabetsanrede  an  Gott,  ist  bei  Primitiven  nicht  unbekannt. 

In  der  Landschaft  Mkulwe  (Ostafrika)  sucht  man  in  Not  und  Gefahr  durch 
das  vollständige  Sündenbekenntnis  sich  zu  reinigen  und  sich  so  der  Hilfe  und 
Rettung  Gottes  zu  versichern.  Bei  der  lebensgefährlichen  Erkrankung  eines 
Familiengliedes,  wenn  eine  Frau  sich  in  schweren  Geburtsnöten  befindet,  vor 
einem  gefährlichen  Flußübergang  beichtet  jedes  Glied  der  Sippschaft  öffentlich 
seine  Sünden,  beim  Antritt  einer  längeren  Reise  beichtet  der  Einzelne  öffentlich 
vor  der  versammelten  Verwandtschaft.  Man  nimmt  eine  Schwinge  in  die  Handr 
legt  Splitter  und  Stroh  hinein,  durch  die  die  Sünden  versinnbildet  werden  sollen, 
und  spricht  das  kurze  Bußgebet:  „Verzeihe  mir,  gütiger  Nguluwi  (Schöpfer- 
gott)! Ich  habe  gar  keine  andere  Sünde."  Nun  folgt  die  ins  konkrete  Detail 
gehende  Sündenaufzählung:  „Ich  bin  gegangen  mit  einem  Weib.  (Ehebruch)  — 
Ich  habe  verzaubert  einen  Menschen.  —  Ich  habe  abgetrieben  Leibesfrucht.  — 
Ich  habe  gebrochen  ein  Gelübde.  —  Ich  habe  nicht  teilgenommen  am  (rituellen) 
Opfer.  —  Ich  habe  geschlagen  Vater  und  Mutter.  —  Ich  habe  verachtet  das  Wort 
des  Alten  (Vaters).  —  Ich  habe  mich  geschlagen  mit  meinem  Bruder  (oder  Ver- 
wandten). —  Ich  habe  verleumdet  mit  Lüge.  —  Ich  habe  begehrt  zu  gehen  mit 
nächsten  Verwandten  (Incest).  —  Ich  habe  gestohlen.  —  Ich  habe  keine  andere 
Sünde."  Eine  Bitte  schließt  die  Beichte:  „Ich  bin  arm,  schütze  mich,  Nguluwi!" 
Nun  schleudert  man  die  Holzsplitter  und  Strohhälmchen  in  die  Luft  mit  den 
Worten:  „Alle  Sünden  sind  fortgegangen  mit  dem  Wind."7* 

Die  Selbstanklage  und  Selbstverdemütigung  vor  den  höheren  Wesen 
ist  nicht  Selbstzweck,  sondern  Mittel  zum  Zweck.  Der  Beter  sucht 
nicht,  getrieben  von  einem  echten  Sündengefühl,  Befreiung  von  der 
Schuld  und  sittliche  Erneuerung,  sondern  sein  Trachten  geht  zunächst 
dahin,  das  Unglück,  das  über  ihn  gekommen  ist,  zu  beseitigen  oder  der 
Gefahr,  die  ihm  droht,  zu  entgehen.  Nicht  sittliche  Werturteile  sind 
das  Motiv  des  Sündenbekenntnisses  und  der  Bitte  um  Sündenvergebung, 
sondern  unlustvolle  Affekte,  nicht  ethisch,  sondern  eudämonistisch  ist 
das  Ziel  solcher  Gebete.  Man  kann  darum  im  Bußgebet  keine  selbstän- 
dige, neben  dem  Bitt-  und  Dankgebet  stehende  Gebetsgattung  erblicken, 
sondern  nur  eine  Variante  des  Bittgebets  oder,  besser  gesagt,  ein  Mittel 
zur  Umstimmung  einer  höheren  Macht,  eine  Unterstützung  der  Bitte 
um  Bef reimig  oder  Bewahrung  vom  Unheil.  Überdies  bezieht  sich  das 
Sündengeständnis  und  die  Vergebungsbitte  gar  nicht  ausschließlich 
auf  Übertretungen  der  ethischen  Ordnungen,  sondern  in  gleicher  Weise 
auf  rituelle  Verfehlungen.  Die  von  Priestersängern  verfaßten  antiken 
(babylonischen  und  vedischen)  Bußpsalmen  stellen  dem  Inhalt  und 
der  Abzweckung  nach  gegenüber  diesen  primitiven  Bußgebeten  nichts 


V.   Inhalt  des  Gebets  (Aussprache  der  Abhängigkeit)  89 


Neues  dar;  auch  sie  dienen  zur  Besänftigung  des  durch  rituelle  oder 
ethische  Vergehen  erregten  göttlichen  Zornes,  zur  Befreiung  von  Krank- 
heit und  Übel.  Gleichwohl  klingt  hier  wie  in  den  primitiven  Gebeten 
um  Sündenvergebung  das  echte  religiöse  Sündengefühl,  das  nieder- 
drückende Bewußtsein  der  Schwäche,  Kleinheit  und  Nichtigkeit,  das 
quälende  Gefühl  des  ethischen  Unwertes  schon  an. 

Der  primitive  Beter  wird  nicht  müde  zu  flehen,  auch  dann,  wenn  die 
Erfüllung  seines  Wunsches  nicht  sogleich  erfolgt.  Ja,  er  glaubt  fest, 
daß  das  anhaltende,  stürmische,  aufdringliche  Gebet 
schließlich  doch  den  Gott  bewegen  wird,  der  Bitte  Gehör  zu  schenken. 
Wenn  bei  den  afrikanischen  Konde  trotz  ihres  inbrünstigen  Gebets  die 
sengende  Dürre  anhält  und  der  ersehnte  Regen  ausbleibt,  so  gehen  die 
Leute  immer  wieder  hin,  um  wieder  ebenso  zu  beten,  bis  sie  erhört 
werden  80.  Bei  den  Omaha  in  Nordamerika  pflegten  die  zum  Krieg 
gewählten  Führer  unaufhörlich,  bei  Tag  und  Nacht  zu  schreien:  ,,0 
Wakanda!  Hab  Mitleid  mit  mir!  Hilf  mir  in  dieser  Not!"  81  Eine 
Tiroler  Bauernfrau  erzählte,  daß  sie  unablässig  vor  einem  Christusbilde 
gebetet  habe,  so  lange,  bis  es  ihr  gelang,  ,,unsern  Herrgott  zum  Nach- 
geben zu  bringen"  und  ihr  Mann  gesund  wurde;  und  sie  rühmte  sich 
ihres  energischen  Gebetes  82.  Gewiß  verfolgt  dieses  unverdrossene 
Bedrängen  und  Bestürmen  den  Zweck,  den  sich  hart  und  unnachgiebig 
zeigenden  Gott  zu  erweichen  und  umzustimmen,  ihn  solange  zu  be- 
lästigen, bis  er  schließlich  aus  Überdruß  über  das  stete  Betteln  die 
Bitte  erfüllt  —  als  ein  Jatigare  deos'  charakterisieren  die  Römer  dieses 
unverschämte  Beten  83.  Aber  es  ist  zweifellos  mehr  als  ein  bloßes  Über- 
reden- und  Beeinflussenwollen ;  es  drückt  sich  in  ihm  eine  unverwüstliche, 
starke  Zuversicht  zu  den  höheren  Wesen  aus,  die  auch  dann  nicht  zu- 
sammenbricht, wenn  der  leidenschaftliche  Wunsch  nicht  alsbald  seine 
Befriedigung  findet.  Es  ist  bedeutsam,  daß  gerade  dieser  Zug  naiven 
Betens  in  der  Gebetsfrömmigkeit  der  prophetischen  Persönlichkeiten 
stark  hervortritt. 

7.  Aussprache  des  Abhängigkeitsgefühls,  der 
Zuversicht  und  Ergebung. 
Schon  im  Gruß  und  in  der  Lobpreisung,  in  der  Selbstanklage  und 
der  Bitte  um  Vergebung  der  Schuld,  die  primär  der  Überredung  und 
Gewinnung  der  höheren  Mächte  dienen,  kündet  sich  noch  ein  Zweites, 
Höheres  an,  das  über  das  bloß  Eudämonistische  und  Egoistische  hinaus- 
führt: Ehrfurcht  und  Bewunderung,  Demut  und  Zuversicht.  Aber 
noch  deutlicher  tritt  dieses  Höhere  in  der  Berufung  auf  Gottes  Macht, 
auf  seine  bisherige  Hilfe  und  seine  Vaterschaft  hervor.  Auch  diese 
bezweckt  zunächst  nichts  anderes  als  eine  Einwirkung  auf  Gott,  eine 
Unterstützung  der  Bitte;  der  Beter  erinnert  ihn  an  seine  Macht,  an 
seine  frühere  Güte  und  Hilfsbereitschaft  und  an  seine  enge  soziale 
Zusammengehörigkeit  mit  den  Menschen,  damit  er  helfe  und  spende. 
Aber  ohne  daß  der  Beter  es  beabsichtigt,  wird  aus  einem  .Mittel  der 
Überredung,  einem  Appell  an  Gott,  einer  Berufung  auf  Gründe,  einer 
Motivierung  der  Bitte  de)-  selbständige  Ausdruck  der  beiden  religiösen 


90  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


Grundgefühle :  des  Abhängigkeitsgefühls  und  der  Zuversicht.  So  ver- 
nehmen wir  mitten  in  primitiven  Bittgebeten  Klänge  wie  einer  höheren 
und  reineren  Frömmigkeit,  die  uns  zunächst  überraschen.  Aber  es 
reden  hier  nur  jene  religiösen  Urgefühle,  die  unausgesprochen  allen 
Gebeten  und  allen  religiösen  Handlungen  zugrunde  liegen :  Demut  und 
Vertrauen. 

Der  Bittende  hält  dem  Gott  die  eigene  Ohnmacht  und  seine  souveräne  Macht 
vor;  er  erinnert  ihn  daran,  daß  der  Mensch  sich  nicht  helfen  kann,  daß  es  aber 
Gott  ein  Leichtes  sei,  die  menschlichen  Bitten  zu  erfüllen.  ,,Wir  haben  keine 
Kraft",  bekennen  die  Anloer,  wenn  sie  von  Feinden  überfallen,  ihren  Gott  bitten, 
sich  an  die  Spitze  ihres  Heeres  zu  stellen1.  ,, Nicht  ich  kann  die  Berge  ausbessern, 
nicht  ich  kann  die  Hügel  heilen",  sagt  der  Karener,  wenn  er  in  unfruchtbaren 
Zeiten  um  das  Wachstum  der  Felder  bittet2.  „Tue  du  es,  denn  ich  bin  dazu  nicht 
imstande;  ich  kann  es  nicht  tun!"  betet  ein  Schamane  bei  den  Coraindianern 
in  Krankheit3.  ,,Wir  aber  —  Kinder  sind  wir,  die  nichts  zu  tun  vermögen.  Du 
bist  der  Besitzer  der  Kraft  .  .  .  Ich  habe  keinen  Speichel  im  Munde.  Du  bist 
Besitzer  des  Speichels",  spricht  ein  Ewepriester,  wenn  er  zu  Mawu  um  gute  Wir- 
kung seiner  Medizin  fleht4.  „Ihr  allein  seid  mächtig",  gesteht  der  Cora-In dianer5. 
Die  Watjeneger  auf  den  karaibischen  Inseln  beten  täglich:  ,,0  Gott,  ich  kenne 
dich  nicht,  du  aber  kennst  mich;  deine  Hilfe  ist  mir  notwendig."6  Ein  Schilluk- 
vater  betet  bei  der  Verlobung  seiner  Tochter:  „Wenn  du  nur  willst,  so  wird  mein 
Kind  glückselig  sein."7  Ein  Indianerhäuptling  sprach  beim  Antritt  einer  Seefahrt: 
„Du  hast  diesen  See  gemacht  und  hast  uns  geschaffen,  deine  Kinder,  du  kannst 
Ruhe  halten  auf  diesem  Wasser,  bis  wir  glücklich  und  gesund  darüber  hinweg- 
gefahren sind."8  Wenn  der  Kekchiindianer  auf  Reisen  ist,  ruft  er  des  Abends 
zu  seinem  Tzultacca  der  Berge  und  Täler  um  Nahrung  für  den  kommenden  Tag: 
„Es  schmerzt  dich  nicht,  es  macht  dir  keine  Mühe,  mir  zu  geben  allerlei  große 
Tiere,  kleine  Tiere,  den  wilden  Pfau,  den  wilden  Fasan,  das  Wildschwein,  zeige 
es  mir  also,  öffne  mir  die  Augen,  nimm  sie  und  setze  sie  auf  meinen  Weg!"  „In 
deiner  Macht,  in  deinem  Sein  ist  alles  Mögliche  im  Überfluß;  von  allem  möchte 
ich  haben."  Ganz  ähnlich  betet  er  bei  der  Aussaat  des  Maises:  „Jetzt,  o  mein 
Gott,  bin  ich  vor  deinen  Füßen,  vor  deinen  Händen,  damit  mein  Mais  empor- 
sprosse. Laß  ihn  axifkeimen!  ...  Es  schmerzt  dich  nicht,  es  macht  dir  keine 
Mühe,  ihn  zu  beschirmen  vor  allem,  was  ihm  widerfahren  kann."9  An  das  Wort 
des  Kekchiindianers :  „es  macht  dir  keine  Mühe",  klingt  die  Motivierung  der 
Bitte  bei  Theognis  ((14)  an:  aol  fiiy  xovto,  d-sd,  oiaixqov,  iuol  öh  fisya.  („Dir,  o  Göttin, 
ist  dies  ein  Kleines,  mir  aber  ein  Großes.")  Die  Konde  beginnen  ihr  Gebet  um 
Regen  mit  der  demütigen  Anerkennung:  „Du  hast  uns  Regen  verweigert."10 
„Du  hast  es  getan,  kein  anderer  hat  es  gemacht.  Du  hast  es  getan,  mein  Vater!" 
„Du  hast  mich  auf  der  Welt  gelassen,  du  hast  es  getan  und  es  eingerichtet",  be- 
kennt der  Cora-Indianer11.  Der  Siouxindianer  betet  auf  der  Reise:  „O  Wakanda, 
der  du  die  Sonne  bist !  Auf  dieser  Insel  (der  Welt)  lenkst  du  alles,  was  sich  bewegt, 
auch  die  Menschen,  und  wenn  du  einem  bestimmt  hast,  daß  sein  letzter  Tag  auf 
Erden  gekommen  ist,  dann  ist  es  so.  Es  kann  nicht  aufgeschoben  werden.  Darum, 
o  Wakanda,  bitte  ich  um  deine  Gunst."12  Die  Galla  sind  tief  durchdrungen  von 
der  absoluten  Macht  Gottes:  „Wie  wir  einen  Wurm  auf  der  Erde  töten  können, 
so  kannst  du,  wenn  du  willst,  uns  auf  der  Erde  durch  einen  Tritt  vernichten."13 
In  dem  Gebet  des  sumerischen  Priesterfürsten  Gudea  spricht  sich  ebenso  die 
Anerkennung  der  souveränen  Macht  Gottes  wie  die  frohe  Zuversicht  auf  seine 
Güte  aus:  „Vor  dem  Volk,  auf  das  du  blickst,  ist  überreich  deine  Macht;  des 
frommen  Menschen,  auf  den  du  blickst,  dessen  Leben  ist  verlängert."14  In  dem 
Gebet,  das  die  Madagassen  an  die  Erde  richten,  verschwindet  die  Bitte  ganz 
hinter  der  Aussprache  der  völligen  Abhängigkeit,  in  der  der  Mensch  gegenüber 
dieser  großen  Gottheit  sich  fühlt.  „Hab  Erbarmen  mit  mir,  o  Erde!  Du  bist 
es,  auf  der  ich  wohne,  du  bist  es,  die  mir  Speise  gibt,  du,  die  mir  Wasser  gibt  zum 
Trinken,  du,  die  mir  gibt,  womit  ich  mich  kleiden  kann.  Sei  barmherzig  gegen 
mich,  o  Erde!  Du  nimmst  von  mir  weg  meine  Gattin,  ohne  die  ich  mich  nicht 
behelfen  kann;  du  nimmst  mir  weg  meine  Kinder,  die  meine  Freude  sind;  du 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Aussprache  der  Zuversicht)  91 

nimmst  meine  Freunde,  die  mir  teuer  sind;  auch  meine  Eltern  nimmst  du  weg."1* 
Der  Beter  fleht  und  fordert  hier  kaum,  er  erkennt  nur  voll  Demut  und  Ehrfurcht 
an,  daß  all  sein  Glück  und  Unglück  von  der  Hand  der  souveränen  göttlichen 
Macht  kommt. 

In  der  Berufung  auf  die  bisherige  Hilfe  und  Gnade  der  Gott- 
heit drückt  der  Beter  zugleich  sein  Vertrauen  auf  Erhörung  des  Gebets  auch  im 
gegenwärtigen  Falle  aus.  „Du  hast  unseren  Vorfahren  schon  Speise  gegeben", 
erinnern  die  Ewe  einen  tro18.  ,,Von  Anfang  an  haben  wir  nur  durch  deine  Gunst 
gelebt.  Laß  uns  auch  in  Zukunft  davon  teilhaftig  sein!"  beten  die  Khonds17. 
Der  Dschagga  spricht  in  seinem  Morgengebet  zum  Urvater  Ruwa:  „Du  hast  mich 
in  dieser  Nacht  beschirmt.  Beliebe  mich  auch  tagsüber  zu  beschirmen  und  laß 
es  mir  nicht  fehlen  an  etwas  zum  Sattwerden,  o  Häuptling."18  Die  alttestament- 
lichen  Patriarchen  erinnern  Jahwe  an  alle  „Wohltaten  und  alle  Treue,"  die  er 
bisher  ihnen  erwiesen19.  Der  vedische  Sänger  unterstützt  seine  Wünsche  durch 
die  Erinnerung  an  die  früheren  Wohltaten  des  Gottes20.  In  der  Ilias  erinnert 
der  Priester  Chryses  Apoll  an  seine  früheren  Gebetserhörungen. 

,,Höre  mich,   Gott,  der  du  Chrysa  mit  silbernem  Bogen  umwandelst,  .  .  . 
So  wie  du  schon  zuvor  mich  hörtest,  als  ich  dich  anrief."21 
Diomedes  mahnt  die  Göttin  Athene  an  den  Beistand,  den  sie  früher  schon  ihm 
wie  seinem  Vater  lieh : 

„Höre,  des  ägiserschütternden  Zeus  unbezwungene  Tochter! 
Wenn  du  mir  je  und  dem  Vater  mit  sorgsamer  Liebe  genahet 
Im  feindseligen  Streit*  so  lieb'  nun  auch  mich,  o  Athene."22 
Noch  tiefer  spricht  sich  die  herzliche  Zuversicht  aus  in  der  Berufung 
auf  das  Kindschaftsverhältnis,  in  dem  der  Mensch  zu  den  hohen 
Mächten  zu  stehen  glaubt.  „Rette  uns,  vor  dem  Hungertod,  du  bist  ja  unser 
Vater  und  wir  sind  deine  Kinder  und  du  hast  uns  geschaffen"  beten  die  Konde 
bei  anhaltender  Dürre23.  Ganz  ähnlich  flehen  die  Wanyika:  „O  Gott!  gib  uns 
Regen!  Wir  sind  in  Not,  wir  ermatten,  wir  deine  Kinder."24  Die  Ewe:  „Gib 
uns  noch  heute  Regen!  Wir  sind  ja  deine  Kinder,!"25  Die  Basuto:  „Herr!  Wir 
deine  Kinder,  sind  gekommen,  dich  anzurufen."28  Die  Hottentotten:  „Bist  du 
nicht  unser  Vater,  du  Vater  der  Väter,  du  Tsui-goa  ?"  „Bist  du  nicht  unser 
Urgroßvater,  du  Heitsi-Eibib!"27  „Wenn  wir  gegen  dich  gesündigt  haben,  so 
vergib  uns.  Eine  Mutter  schlägt  ihr  Kind  nicht  auf  den  Bauch",  sagen  die  Ewe 
bei  großer  Trockenheit.  Und  ein  Ewepriester  bittet  für  seinen  Schützling,  der 
eine  rituelle  Sünde  begangen  hat:  „Hab  Acht  auf  diesen  Mann,  der  ja  doch  dein 
eigenes  Kind  ist."28  Selbst  die  auf  so  tiefer  Kulturstufe  stehenden  Buschmänner 
berufen  sich  in  ihrem  Gebetsruf  an  den  Urvater  auf  ihr  Kindschaftsverhältnis 
zu  ihm:  „0  Cagn,  sind  wir  nicht  deine  Kinder  ?  Siehst  du  nicht  unseren  Hunger  ? 
Gib  uns   Nahrung!"29 

Bei  dem  Appell  an  Gottes  Vaterschaft  ist  die  Tendenz  einer  Ein- 
wirkung auf  den  Gott  noch  wirksam.  Aber  wir  stoßen  in  den  Gebeten 
mancher  höherstehender  Naturvölker  30  auch  auf  reine  Äußerun- 
gen religiöser  Gewißheit  und  Zuversicht,  bei  denen 
jeder  egoistische  Gedanke  an  eine  Umstimmung  und  Überredung  fehlt. 
Der  Beter  atmet  nur  in  der  frohen  Gewißheit,  unter  dem  Schutze  des 
Allerhöchsten  geborgen  zu  sein.  Aber  diese  Aussprache  des  Vertrauens 
steht  doch  mit  der  naiven  Bitte  in  innerem  Zusammenhang,  wächst 
aus  ihr  mit  natürlicher  Selbstverständlichkeit  heraus.  Die  Hoffnung 
und  Zuversicht,  die  schon  als  Motiv  des  Betens  wirksam  ist,  verdrängt 
alle  Sorge  und  Furcht,  sie  steigert  sich  bis  zur  freudigen  Gewißheit,  so 
daß  aus  dem  Wünschen  und  Verlangen  ein  inneres  Haben  und  Besitzen 
wird.  Mitten  im  Gebet  vollzieht  sich  unbeabsichtigt  im  Frommen  eine 
affektpsychologische  Metamorphose.  Der  Beter  wird,  nachdem  er  seine 
Not  ausgeschüttet  und  seine  Wünsche  ausgesprochen  hat,  von  solcher 


92  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

Zuversicht  erfüllt,  daß  ihm  die  Erhörung  seines  Gebets  zur  unzweifel- 
haften Gewißheit  wird. 

Ein  Zulu  sagte:  ., Hierauf  (nach  dein  Gebet  an  den  Ahnen  um  Beseitigung  der 
Krankheit)  fassen  sie  Mut,  weil  sie  ihn  verehrt  haben,  indem  sie  sagen:  „Er  hat 
gehört,  er  wird  kommen  und  unsere  Krankheiten  behandeln  und  sie  werden 
aufhören."31  Die  durch  die  Gebetsaussprache  bedingte  Stimmung  der  Zuversicht 
bewirkt  nicht  selten  eine  furchtlose  Entschlossenheit,  einen  männlichen  Mut 
mitten  in  der  größten  Gefahr.  John  Tanner  erzählt  uns  von  einer  alten  Irokesen- 
frau, die  während  der  Fahrt  auf  dem  See  im  Schiff  lein  schlief;  von  einem  fürch- 
terlichen Sturm  geweckt, ,, stand  sie  auf  und  richtete  mit  lauter  Stimme  ein  inniges 
Gebet  an  den  großen  Geist,  fing  dann  an  mit  erstaunenswerter  Lebhaftigkeit 
zu  rudern,  ermahnte  uns  auszuharren  und  zeigte  W..  wie  er  das  Kanot  lenken 
mußte."32 

Alles  naive  Beten  und  Sichaussprechen  erhöht  somit  die  Lebens- 
zuversicht dadurch,  daß  sich  in  ihm  eine  seelische  Umwandlung,  ein 
Übergang  von  der  bangen  Furcht  und  quälenden  Sorge  zur  frohen, 
ruhigen  Hoffnung  vollzieht.  Aber  es  ist  ein  Zeichen  eines  bereits  stark 
differenzierten  seelischen  Erlebens,  wenn  nicht  nur  die  unlustvollen 
Affekte  und  heißen  Wünsche,  sondern  auch  die  feineren  Gefühls- 
regungen und  Stimmungen:  das  stille  Gewiß-  und  Getrostsein  in  dem 
Gebet  selbständigen  sprachlichen  Ausdruck  erlangen. 

Das  Abendgebet,  das  die  Kekchi- Indianer  a\if  der  Wanderung  sprechen,  be- 
ginnt wie  die  anderen  primitiven  Gebete  mit  einem  Opferhinweis,  an  den  sich 
die  Bitte  um  Nahrung  für  den  morgigen  Tag  reiht.  „Du,  o  Gott,  du  Herr  der 
Berge  und  Täler!  Ein  klein  wenig  deines  Essens,  deines  Trinkens  habe  ich  dir 
gegeben.  Jetzt  gehe  ich  vorüber  unter  deinen  Füßen,  unter  deinen  Händen,  ich, 
ein  Reisender."  Die  Bitte  wird  gestützt  durch  die  Berufung  auf  Gottes  Macht 
und  Reichtum.  ,,Es  schmerzt  dich  nicht,  es  macht  dir  keine  Mühe,  mir  zu  geben 
allerlei  große  Tiere,  kleine  Tiere,  du  mein  Vater!  Du  hast  eine  Menge  Tiere, 
den  wilden  Pfau,  den  wilden  Fasan,  das  Wildschwein;  zeige  mir  also,  öffne  mir 
die  Augen,  nimm  sie  und  setze  sie  auf  meinen  Weg!"  Dieser  Gedanke  erhöht  im 
Betenden  die  Hoffnung  und  läßt  ihm  die  Freude  des  Jagdglückes  antizipieren: 
„Ich  sehe,  ich  schaue  sie  dann;  ich  bin  unter  deinen  Füßen,  unter  deinen  Händen; 
ich  bin  im  Glücke,  du  Herr  der  Berge  und  Täler."  Er  wiederholt  die  Berufung 
auf  Gottes  Macht  und  den  Wunsch:  „In  deiner  Macht,  in  deinem  Sinn  ist  alles 
Mögliche  im  Überfluß;  von  allem  möchte  ich  haben!"  Nun  schiebt  sich  eine 
Betrachtung  über  seine  Lage  ein:  „Heute  muß  ich  vielleicht  meinen  Maiskuchen 
trocken  essen  und  ich  bin  doch  in  einem  reii  hen  Jagdgelände;  es  möge  Gott  sehen, 
daß  es  hier  nichts  Lebendes  gibt,  vielleicht  nur  einen  wilden  Pfau  bringe  ich, 
schleppe  ich  her.  Jetzt  sehe,  schaue  ich  auch,  du  mein  Gott,  du  meine  Mutter, 
du  mein  Vater!"  Er  entschuldigt  sich  wegen  der  geringfügigen  Opfergabe.  „Nur 
das  ist  es,  was  ich  sage,  was  ich  denke:  Es  ist  ja  nicht  Vieles  und  Gutes  deines 
Essens,  deines  Trinkens,  was  ich  hergeschleppt  habe."  Nun  verstummen  alle 
Wünsche;  es  ist  vergessen  alle  Sorge;  der  Gedanke  an  die  väterli«  he  und  mütter- 
liche Fürsorge  des  Gottes  erfüllt  ihn  mit  tiefer  Zuversicht.  „Und  mag  es  nun  so 
oder  so  sein,  was  ich  sage,  was  ich  denke,  ist:  Gott,  du  bist  meine  Mutter, fdu  bist 
mein  Vater."  Geborgen  in  den  Händen  seines  Tzultacca,  legt  er  sich  zur  Ruhe. 
..Jetzt  werde  ich  also  schlafen  unter  deinen  Füßen,  unter  deinen  Händen,  du  Herr 
der  Berge  und  Täler,  du  Herr  der  Bäume,  du  Herr  der  Schlinggewächse."  Auch 
um  den  kommenden  Tag  ist  ihm  nicht  bange :  „Morgen  ist  wieder  der  Tag,  morgen 
ist  wieder  das  Sonnenlicht.  Ich  weiß  nicht  mehr,  wo  ich  dann  sein  werde.  Wer 
ist  meine  Mutter,  wer  ist  mein  Vater?  Nur  du,  o  Gott, 
Du  siehst  mich,  du  beschützest  mich  auf  jedem  Wege, 
in  jeder  Dunkelheit,  vor  jedem  Hindernis,  das  du  verstecken,  das  du  beseitigen 
mögest,  du  o  Gott,  du  mein  Herr,  du  Herr  der  Berge  und  Täler!"  „Nur  das  ist 
es,  was  ich  sage,  was  ich  denke,  sei  es  nun,  daß  es  mehr,  sei  es,  daß  es  nicht  mehr 
sein  sollte,  was  ich  gesagt  habe:  Du  erträgst,  du  vergissest  meine  Verfehlungen."3* 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Aussprache  der  Ergebung)  93 


An  das  poesievolle  Abendgebet  der  Kekchi-Indianer  klingt  das  Abendgebet 
der  nordafrikanischen  Galla  an.  Es  hebt  an  mit  der  Bitte  um  Schutz:  ,.0  Gott, 
du  hast  mich  den  Tag  in  Friede  verbringen  lassen,  laß  mich  auch  die  Nacht  in 
Friede  verbringen,  o  Herr,  der  du  keinen  Herrn  über  dir  hast."  Betrachtend 
und  bewundernd  steht  der  Beter  vor  Gottes  Größe.  ,,Es  gibt  keine  Stärke  außer 
in  dir,  du  allein  hast  keinerlei  Verpflichtung."  Der  Gedanke  an  Gott  stimmt  ihn 
zuversichtlich  und  sorglos.  ,,In  deiner  Hand  verbringe  ich  den  Tag,  in  deiner 
Hand  verbringe  ich  die  Nacht.     Du  bist  meine  Mutter,  du  bist  mein  Vater !"s* 

Es  weht  über  diesen  schlichten  Nachtgebeten  niederer  Stämme  der- 
selbe wundervolle  Hauch  der  Zuversicht  und  Ruhe,  der  das  aus  Psalmen- 
worten gebildete  offizielle  Abendgebet  der  katholischen  Kirche,  das 
,Completorium',  beseelt.  Ein  unerschütterliches  Vertrauen  auf  den 
göttlichen  Schutz  spricht  sich  im  Kriegsgebet  eines  Ewestammes  aus. 

„Wir  waren  zu  Hause  und  hörten  plötzlich,  daß  es  Krieg  gebe.  Du  bist  unser 
aller  Haupt.  Deswegen  sind  wir  zu  dir  gekommen,  um  dich  zu  bitten,  du  wollest 
uns  in  den  Krieg  voranziehen  und  ihn  für  uns  führen.  In  unserer  Heimat  Anlo 
gibt  es  keinen  Wald,  worin  wir  uns  verstecken  könnten.  Du,  o  Nyigbla  unserer 
Vorfahren,  d  u  bist  der  Wald,  in  dem  wir  uns  bergen.  Sammle 
du  deswegen  alle  deine  Krieger  um  dich,  damit  sie  diesen  Krieg  für  uns  führen; 
denn  wir  haben  keine  Kraft."35  In  Worten  unzweifelhafter  Erhörungsgewißheit 
gipfelt  folgendes  Gallagebet.  das  in  einer  Familie  nach  einer  blutigen  Fehde  auf- 
kam, durch  welche  diese  schweren  Schaden  erlitten  hatte:  ..Wenn  ich  dir  lieb 
bin,  so  befreie  mich,  ich  bitte  dich  von  ganzem  Herzen.  Wenn  ich  nicht  von 
Herzen  zu  dir  bete,  erhörst  du  mich  nicht;  ich  bitte  dich  aber  von  ganzem  Herzen, 
so  weißt  du  es  und  bist  mir  gnädig."36  Das  paradoxe  Gefühl  absoluter  Lebens- 
sicherheit trotz  der  völligen  Unsicherheit  aller  Verhältnisse  spricht  sich  im  Morgen- 
gebet der  Tambuneger  auf  den  karaibischen  Inseln  aus:  ,,Gott  hilf  uns;  wir  wissen 
nicht,  ob  wir  morgen  noch  leben,  w  i  r  sind  in  deiner  Hand."37  In  einem 
Gebet  der  Cora-Indianer  wird  die  bange,  ungewisse  Frage  von  dem  Ausdruck 
fester  Zuversicht  abgelöst.     ..Was  wirst  du  tun?  - —  Wir  vertrauen  auf  dich."38 

Das  Abhängigkeitsgefühl  und  das  Vertrauen  erlangt  bisweilen  — 
freilich  äußerst  selten  —  bei  Naturvölkern  eine  solche  Reinheit  und 
Stärke,  daß  alle  Eigenwünsche  zusammenbrechen  und  der  Mensch  voll 
Zuversicht  und  Trost  sich  ganz  der  Hand  des  höheren  Wesens  überläßt. 
So  ist  auch  das  Gebet  der  Ergebung,  das  so  oft  als  das  Ideal  alles 
Betens  gepriesen  worden  ist,  in  der  primitiven  Welt  in  einigen  Ansätzen 
vorhanden.  Der  Jesuitenpater  de  Smet  erzählt  von  einem  Indianer,  der 
drei  Tabakspfeifen  verloren  hatte  —  einen  größeren  Verlust  kann  sich 
der  Indianer  nicht  denken  —  und  in  seiner  Not  sich  an  den  großen 
Geist  wandte:  ,,0  großer  Gott,  du,  der  du  alles  siehst  und  alles  auf- 
hebst, gib,  ich  bitte  dich,  daß  ich  finde,  was  ich  suche!"  Er  spricht 
treuherzig  den  brennenden  Wunsch,  der  ihn  erfüllt,  seinem  Gotte  aus. 
Nun  verstummt  das  Verlangen,  er  stellt  die  Erfüllung  der  Bitte  dem 
großen  Geist  anheim,  sein  Wille  fügt  sich  dem  Willen  des  großen  Gottes: 
„Doch  möge  dein  Wille  geschehen!''  (,,and  yet  let  thy  will 
be  done!"  gibt  der  Gewährsmann  seine  Gebetsworte  wieder)  39.  Hier 
klingt  die  Bitte  in  der  Ergebung  aus.  Das  höchste  und  reinste  Gebet, 
das  die  Religionsgeschichte  kennt,  kommt  hier  von  den  Lippen  eines 
frommen  Natur kindes. 

Ein  Opfergebet  der  Akovi-Ewe  lautet:  ,,Gott  Sodza.  Mutter  des  Palmweins 
und  Mutter  der  Tiere!  Gibst  du  dem  Menschen,  so  gibst  du  ihm,  übergehst  du 
den  Menschen,  so  übergehst  du  ihn.  Deine  Größe  erhöhe  ich.  deinen  Willen  liebe 
ich.    Du  Regenspender,  du  Samstaggeborner!    Du  Schiff  voll  der  buntesten  Fülle, 


94  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


du  Schrecken  der  Händler  und  Glück  der  Ackerleute."  Ganz  ähnlich  lautet  das 
Gebet  der  Ho.  eines  anderen  Ewestammes:  ,,0  Mawu  Sodza,  Mutter  der  Menschen, 
Mutter  der  Tiere!  Gibst  du  den  Menschen,  so  gibst  du  den  Menschen;  ver- 
weigerst du  den  Menschen,  so  verweigerst  du  den  Menschen.  In  deiner  Größe 
bin  ich  groß,  m  i  t  dem,  was  du  willst,  stimme  ich  üb  er  ein."48 
Eine  Kekchifrau  klagt  beim  Tode  ihres  Mannes:  „Du  bist  gestorben,  du  mein 
Gatte.  Du  hast  mich  verlassen,  du  bist  entschwunden,  du  bist  tot;  ich  weiß 
nicht  mehr,  ob  ich  wieder  Chile  oder  Salz  versuchen  werde  zum  Würzen,  zum 
Angenehmmachen,  ob  ich  es  finde  oder  nicht,  ich  bin  nur  ein  einzelnes  Weib, 
ich  bin  zurückgeblieben."  Nun  wird  in  überraschender  Weise  die  Totenklage 
durch  ergebungsvolle,  demütige  Worte  an  Gott  abgelöst;  die  Unglückliche  beugt 
sich  unter  seinen  Willen:  ,,Wie  werde  ich  wieder  halbe  Reales  (Münzen)  bekommen  ? 
Ich  will  hingehen  in  der  Kleinheit,  in  der  Armut ;  ich  frage  nicht  darnach, 
omein  Gott,  du  hast  vielleicht  die  Seele  meiner  Mutter, 
(d.  h.  meines  Ernährers),  meines  Gatten  gewollt."41  Ein  langes  Galla- 
gebet,  das  mit  einer  Bitte  beginnt  und  dann  in  eine  Klage  und  Danksagung  über- 
geht, schließt  mit  Worten  der  Ergebung.  .,Ein  einziger  schlechter  Mensch  hat 
alle  Menschen  aus  ihrer  Wohnung  vertrieben;  die  Mutter  und  die  Kinder  hat  er 
wie  eine  Herde  Truthühner  dahin  und  dorthin  zerstreut;  der  mörderische  Feind 
riß  das  schön  gelockte  Kind  aus  dem  Arm  seiner  Mutter  und  erwürgte  es.  Dies 
alles  hast  du  geschehen  lassen,  warum  hast  du  es  ge- 
tan? Du  weißt  es.  Du  hast  die  Saaten  uns  wachsen  lassen  und  sie  unserem 
Auge  gezeigt;  der  hungrige  Mann  schaut  sie  an  mit  seinem  Auge  und  ist  getrost. 
Wenn  das  Getreide  blüht,  schickst  du  Schmetterlinge  und  Heuschrecken 
hinein,  Heuschrecken  und  Tauben ;  alles  kommt  aus  deiner  Hand, 
die  läßt  es  geschehen;  warum  du  alles  so  machst, 
weißt     du."42 

Schon  in  manchen  primitiven  Gebeten  vollzieht  sich  ein  Übergang 
der  Rede  mit  Gott  in  das  Selbstgespräch,  des  Lobes,  der  Aussprache 
der  Demut  und  Zuversicht  in  die  Meditation  und  Kontemplation.  Der 
Beter  vergegenwärtigt  sich  Gottes  Nähe,  Größe,  Macht,  Güte  und 
Schutz. 

Du  unschuldiger  Nyambe,  du  weißt  alles,  kennst  meinen  Namen,  weißt,  wo 
ich  bin  und  hörst  mich",  betet  der  Duala43,  und  der  Cora-Indianer  reflektiert  im 
Gebet  an  den  Flußgott:  „Wenn  du  hier  existierst,  so  weiß  ich  doch  nichts  von  dir, 
du  aber  hörst  mich  gut."44  Wenn  der  Kekchi- Indianer  an  einem  Berge  oder  Paß 
angekommen  ist,  betet  er:  „Du.  o  Gott,  o  Herr  der  Berge  und  Täler,  ich  bin  müde 
angekommen  vor  deinem  Mund,  vor  deinem  Angesichte,  du  meine  Mutter,  du 
mein  Vater.  Nur  du  bist  meine  Mutter,  mein  Vater,  du  Herr  der  Berge,  du  Herr 
der  Täler.  Müde  bin  ich  vor  deinem  Munde,  vor  deinem  Angesichte."45  „Gott 
der  Herr,  du  bist  über  mir,  ich  bin  unter  dir"  beginnt  ein  Gallagebet48.  Schon 
primitive  Beter  stellen  sich  den  Kontrast  von  Gottes  Unendlichkeit  und  des 
Menschen  Nichtigkeit,  in  den  sich  die  Mystik  versenkt,  vor  Augen:  ..Ihr  seid  groß 
und  wir  sind  geringe  Leute."47 

So  zeigt  schon  das  Gebet  primitiver  Stämme  den  in  der  individuellen 
Frömmigkeit,  zumal  in  der  Mystik  hervortretenden  merkwürdigen 
Doppelcharakter  und  Doppelzweck  des  Gebets.  Das  Gebet  ist  wirk- 
liches Reden  mit  einem  anderen,  gegenwärtig  gedachten  und  menschlich 
vorgestellten  Wesen,  Anrede  an  ein  Du  —  und  zugleich  Selbstgespräch, 
Reden  zu  sich  selbst;  im  Gebet  sucht  der  Mensch  eine  reale  Einwirkung 
auf  die  Gottheit,  er  sucht  sie  zur  Hilfe  und  zur  Gewährung  seiner  Wünsche 
zu  bewegen  —  und  gleichzeitig  sucht  er  unbewußt  auf  sich  selbst  ein- 
zuwirken durch  die  Vergegenwärtigung  dessen,  was  für  ihn  Gott  be- 
deutet, sein  eigenes  Lebensgefühl  zu  behaupten,  erneuern  und  erfrischen. 


V.  Inhalt  des  Gebets  (Danksagung)  95 

8.  Danksagung. 

Während  die  Aussprache  der  Abhängigkeit  und  Zuversicht  im  Grunde 
nur  ein  Teil  des  Bittgebets  ist,  ist  die  Danksagung  eine  selbständige 
Gebetsform  neben  der  Bitte  und  Fürbitte.  Das  Dankgebet  besteht  in 
der  demütigen  und  frohen  Anerkennung,  daß  Gott  dem  Menschen  eine 
Hilfe  oder  Gabe  —  sei  es  auf  ausdrücklichen  Wunsch  oder  unerwartet  — 
zuteil  werden  ließ.  Es  ist  dabei  gar  nicht  nötig,  daß  der  Beter  ein  eigenes 
Wort  für  danken  gebraucht ;  viele  Sprachen  besitzen  ein  solches  gar 
nicht,  obgleich  tatsächlich  das  Danken  in  Worten  geübt  wird;  es  liegt 
überall  dort  Dank  vor,  wo  man  dem  Geber  ausdrücklich  erklärt,  daß 
man  dies  oder  jenes  Gute  von  ihm  empfangen  hat.  In  der  Sprache  der 
afrikanischen  Kiziba  wird  das  Wort  ,danke'  überhaupt  nur  durch  die 
Phrase  ,,du  hast  es  gemacht"  wiedergegeben  1. 

,,Waka,  du  hast  mir  diesen  Büffel,  diesen  Honig,  diesen  Wein  gegeben",  ist 
das  Dankgebet  eines  afrikanischen  Pygmäen2.  „Du  hast  mich  errettet,  o  Gott", 
spricht  ein  Konde,  wenn  er  einer  großen  Gefahr  entgangen  ist8.  Der  vom  Kriegs- 
zug glücklich  zurückgekehrte  Dschagga  spricht:  ..Du  Gott  (Ahne),  hast  mich 
mit  Vieh  bereichert,  mich  geleitet  und  erhalten,  so  daß  ich  heimgekehrt."4  „Du 
hast  mich  aus  diesem  Streit  gerettet",  sagte  ein  Ewe,  dem  ein  Fluchzauber  geglückt 
ist8.  Bei  der  Maisernte  betet  der  Kekchi- Indianer :  ,,Ich  habe  vieles  und  gutes 
von  meinem  Essen,  meinem  Trinken ;  du  hast  es  geschenkt  meiner  Seele,  meinem 
Leibe,  du  meine  Mutter."  Und  wenn  er  auf  der  Reise  vom  Regen  durchnäßt 
wurde  und  nun  die  Sonne  wieder  erblickt,  ruft  er  ihr  frohen  Herzens  zu:  „Du 
mein  Gott,  du  Herr  Sonne,  gar  lieblich  blickst  du,  und  der  hündische  Regen,  er 
sieht  nicht  auf  seine  Armen,  aber  du,  o  Herr  Sonne,  auch  du  hast  deine  Armen."8 
In  den  Mimiamben  des  Herondas  dankt  der  Priester  dem  Asklepios  mit  den 
Worten:  „Du  hast  die  Krankheiten  abgewischt,  indem  du,  o  Herr,  deine  gütigen 
Hände  ausstrecktest"  (IV  17  f.).  Bei  Stämmen,  die  ein  bestimmtes  Wort  für 
Danken  oder  eine  Redewendung  hierfür  besitzen,  verbindet  man  diese  mit  der 
Anerkennung:  ,,0  Dzake!  Wir  danken  dir,  denn  du  hast  uns  in  unserer  Arbeit 
geholfen,  daß  der  Yams  groß  wurde."  (Ewe)7.  „Geister,  wir  danken  euch  für 
diese  erfolgreiche  Jagd."  (Xegritos  auf  den  Philippinen)8.  „O  du  Getreidegott, 
wir  verehren  dich.  Du  bist  sehr  gut  in  diesem  Jahr  gewachsen  und  dein  Geschmack 
wird  süß  sein.  Du  bist  gut.  Die  Gottheit  des  Feuers  wird  froh  sein  und  wir  alle 
werden  uns  sehr  freuen.  0  du  Gott,  o  du  göttliches  Korn,  ernähre  du  das  Volk. 
Ich  nehme  nun  an  dir  teil.     Ich  verehre  dich,  ich  danke  dir"  (Ainu)'. 

Der  Gegenstand  des  Dankgebets  ist  derselbe  wie  der  der  Bitte : 
die  Befriedigung  elementarer  Bedürfnisse  und  Wünsche. 

Man  dankt  für  die  Rettung  oder  Erhaltung  des  Lebens.  „Du  hast  mich  er- 
rettet, o  Gott"  (Konde)10.  „Ihr  habt  mich  am  Laben  erhalten,  so  daß  ich  bis  an 
den  heutigen  Tag  gelangte"  (Dschagga)11.  Man  dankt  für  Sonnenschein  nach 
strömendem  Regen  (s.  oben),  für  Rückkehr  vom  Feldzug  und  Beute  (s.  oben.), 
für  glückliche  Reise.  „Ich  bin  hierher  gekommen,  du  siehst  es,  du  allmächtiges 
Kreuz",  spricht  der  Kek -hi-Indianer,  wenn  er  auf  der  Wanderung  auf  einem  Paß 
ein  Kreuz  findet;  „ich  bin  nicht  krank  geworden,  ich  bin  nicht  gefallen.  Darum 
will  a\ich  mein  Herz  fröhlich  sein."12  Die  Ewe-Kaufleute  danken  dem  Marktgott 
für  reichen  Absatz:  „Du  bist  es,  unter  dem  ich  meine  Marktware  aufstelle.  Du 
gibst  nicht  zu,  daß  mir  meine  Waren  bleiben.  So  bringe  ich  dir  heute  meine 
Geschenke  dar,  um  dir  zu  danken."13  Die  Amazulu  danken  sogar  den  Ahnen, 
wenn  sie  niesen  müssen,  denn  das  Niesen  gilt  als  Zeichen  der  Gesundheit:  „Ihr 
l^eute  vom  Haus,  ich  habe  dieses  Glück  gewonnen,  das  ich  wünschte."14  Wie 
man  um  das  Gelingen  der  Rache  bittet,  so  dankt  man  auch  bisweilen  dafür  (s.  o. ). 
Aber  den  hauptsächlichsten  Gegenstand  des  Dankgebetes  bildet  die  Erlangung 
der  Nahrung.  Man  sagt  Dank  für  die  Pflanzen  und  Früchte,  die  man  findet, 
und  seien  es  nur  die  reifen  Nüsse  eines  Baumes;  für  das  Jagdglück,  vor  allem 


96  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

aber  für  den  Ertrag  der  Felder,  den  Emtesegen.  Viehzüchtende  Stämme  danken 
auch  für  Vermehrung  ihres  Viehbesitzes  (s.  u.).  Auch  bei  den  täglichen  Mahlzeiten 
erinnert  man  sich  der  schenkenden  Güte  der  Gottheit:  ,,Herr  Gott,  du  hast  uns 
dies  gegeben,  du  hast  es  wachsen  lassen",  beteten  die  Watje  (die  von  der  west- 
afrikanischen Küste  nach  den  karaibischen  Inseln  verpflanzt  worden  waren)15. 
Wie  das  Bittgebet  oft  eine  ganze  Reihe  von  Wünschen  zxisammenfaßt,  so  wird 
bei  regelmäßigen  Gebetsanlässen  manchmal  auch  für  all  das  gedankt,  was  man 
von  Gott  empfangen  zu  haben  glaubt.  „Gott,  du  hast  die  Tiere  und  Menschen 
geschaffen,  alle  wie  sie  avif  der  Erde  sind;  auch  das  Getreide  auf  dieser  Erde  hast 
du  geschaffen,  daß  wir  davon  leben  sollen,  wir  haben  es  nicht  getan.  Du  hast 
uns  Stärke  gegeben,  du  hast  uns  Vieh  und  Samen  geschenkt  und  unserem  Vieh 
Stärke  verliehen,  wir  haben  damit  gearbeitet  und  die  Saat  ist  gewachsen.  Du  hast 
uns  das  Getreide  wachsen  lassen  und  die  Menschen  wurden  satt"  (Galla)16. 

Wie  die  Bitte,  so  wird  auch  die  Danksagung  fast  stets  von  einer  Gaben- 
darbringung  begleitet.  Während  aber  die  Bitte  ursprünglich  selbständig 
war  und  erst  später  durch  das  Opfer  unterstützt  wurde,  ist  das  Dank- 
gebet —  wenigstens  die  Danksagung  für  erlangte  Nahrung  ■ —  von 
Anfang  an  an  ein  Opfer  gebunden.  Von  allem  Eßbaren  bringt  der 
Mensch  den  höheren  Mächten,  vor  allem  dem  Urvater  und  Schöpfergott, 
die  Erstlinge  dar:  von  den  Früchten,  die  er  im  Urwald  findet,  von  den 
wilden  Tieren,  die  er  auf  der  Jagd  erlegt,  von  dem  Erntesegen  seiner 
Felder,  von  dem  Ertrag  seiner  Herden,  von  den  berauschenden  Ge- 
tränken, die  er  bereitet.  Diese  ,Primitialopfer',  die  auf  der  ganzen 
Erde  verbreitet  sind  und  sich  gerade  bei  den  kulturell  so  tiefstehenden 
Pygmäen  Völkern  als  einzige  Form  des  Opfers  finden  sollen  17,  werden 
von  Aristoteles  und  von  manchen  neueren  Religionsforschern  (Brinton, 
P.  Wilhelm  Schmidt)  als  das  Urphänomen  des  Opfers  betrachtet 18. 
Sicher  ist,  daß  sie  aus  anderen  Motiven  und  Vorstellungen  entspringen 
als  die  gewöhnlichen  Gaben-  und  Geschenkopfer,  die  zur  Speisung 
oder  doch  Erfreuung  der  hohen  Wesen  bestimmt  sind.  Die  Erstlings- 
opfer sind  schlichte  Verehrungs-,  Anerkennungs-  und  Dankopfer,  obgleich 
naturgemäß  die  andere  Opfervorstellung  sich  mit  dieser  heterogenen 
leicht  verbinden  kann.  Auch  in  der  alttestamentlichen  Religion  kon- 
kurrieren beide  Opferideen  19.  Der  Fromme  bezeugt  durch  die  Dar- 
bringung der  Erstlinge,  daß  er  Speise  und  Trank  der  Güte  der  Gottheit 
verdankt,  er  anerkennt  seine  vollständige  Abhängigkeit  von  den 
hohen  Mächten  und  deren  souveränes  Eigentumsrecht  über  das,  was 
ihm  zuteil  ward  20. 

Die  westafrikanischen  Tschi  bringen  dem  höchsten  Wesen  Onyame  regel- 
mäßig Erstlingsopfer  dar;  beim  Palmweint  linken  gießen  sie  einige  Tropfen  aus, 
beim  Reisessen  werfen  sie  einige  Körner  auf  den  Boden;  und  wenn  man  sie  fragt, 
warum  sie  das  tun,  sagen  sie:  „um  Gott  zu  danken."21  Von  Wichtigkeit  ist, 
daß  bei  den  Primitialopfern  im  Unterschied  von  den  Speise-  und  Gabenopfern, 
nur  unbedeutende  Mengen  dai  gebracht  werden.  Ein  afrikanischer  Pygmäe  er- 
zählte: „Wenn  ich  einen  Büffel  töte,  nehme  ich  ein  kleines  Stück,  das  Beste, 
ich  lege  es  aufs  Feuer,  das  andere  esse  ich  mit  meinen  Kindern.  Wenn  ich  Honig 
finde,  trage  icli  nichts  davon  weg,  bevor  ich  ein  wenig  davon  in  den  Wald  und 
gen  Himmel  geworfen  habe.  Und  wenn  ich  Palmwein  habe,  muß  ich  zuerst  ein 
wenig  auf  die  Erde  gießen."22  Wenn  die  Negritos  des  nördlichen  Luzon  ein  Tier 
schlachten,  schneiden  sie  jedesmal  ein  Stückchen  Fleisch  heraus  und  werfen 
es  gegen  den  Himmel23.  Wenn  die  afrikanischen  Nkulapygmäen  von  einem 
Baum  die  reifen  Nüsse,  „das  Geschenk  Gottes"  holen,  pflücken  sie  eine  gute  und 
eine  schlechte  Nuß  ab  und  verbrennen  beide,  wobei  sie  ums  Feuer  tanzen  und 


V.   Inhalt  des  Gebets  (Dank)  97 


Gott  danken24.  Wenn  der  Barongahäuptling  den  Tabak  zum  Schnupfen  gemahlen 
hat,  legt  er  zwei  kleine  Löffel  in  den  Topf,  einen  für  die  väterlichen,  den  anderen 
für  die  mütterlichen  Ahnengötter25. 

Neben  den  Primitialopfern  stehen  solche  Dankopfer,  die  man  bei 
Rettung  des  Lebens  und  anderen  glücklichen  Anlässen  darbringt,  des- 
gleichen solche,  die  die  Einlösung  eines  Gelübdes  bedeuten,  also  be- 
dingte Opfer  sind  26.  Hier  tritt  wieder  der  dem  Bittopfer  eigene  Gaben- 
und  Geschenkcharakter  stärker  hervor.  Doch  gibt  es  auch  Gelobungs- 
opfer,  die  einen  bloßen  Akt  der  Verehrung  darstellen.  Die  Malinke 
überreichen  ihrem  höchsten  Wesen  den  gelobten  Gegenstand,  dann 
aber  geben  sie  ihn  Armen,  Freunden  und  Kindern,  die  unter  Aussprache 
einer  Segensformel  die  Speisen  essen  27. 

Auch  das  Dankopfer  wird  wie  das  Bittopfer  durch  einen  kurzen 
Opferspruch  kommentiert,  durch  einen  Hinweis  auf  das  Dargebrachte 
oder  auch  eine  Einladung  zur  Annahme. 

Der  afrikanische  Pygmäe  spricht  beim  Erstlingsopfer:  „Waka,  du  hast  mir 
diesen  Büffel,  diesen  Honig,  diesen  Wein  gegeben;  da  hast  du  deinen  Anteil."28 
Das  Dankgebet  der  Negritos  auf  den  Philippinen  für  die  Jagdbeute  lautet:  ,, Geister, 
wir  danken  euch  für  diese  erfolgreiche  Jagd.  Hier  ist  euer  Anteil  an  der  Jagd."29 
Die  Ewe  beten  zu  einem  Flußgeist:  ,,0  Dzake!  Wir  danken  dir,  denn  du  hast 
uns  in  unserer  Arbeit  geholfen,  daß  der  Yams  groß  wurde.  Du  sollst  deswegen 
essen,  ehe  wir  essen.  Hier  bringe  ich  dir  dein  Teil."30  Bei  den  Bukaua  auf  Deutsch- 
Neuguinea  wird  bei  der  Ernte  von  dem  Festschmaus  etwas  in  eine  Kokosnuß- 
schale gelegt  und  den  Geistern  der  Vorfahren  dediziert:  ,,So,  die  ihr  unser  Feld 
gehütet  habt,  wie  wir  euch  baten,  da  habt  ihr  auch  etwas.  "31  Die  Baronga  sprechen 
bei  der  Darbringung  der  ersten  Früchte:  „Hier  ist  das  neue  Jahr  gekommen. 
Ihr  Götter  sollt  den  Vorrang  vor  uns  haben.  Euch  gehören  die  Erstlinge  und  erst 
in  zweiter  Linie  uns."32  Oft  werden  sogar  dem  das  Dankopfer  begleitenden 
kurzen  Spruch  keinerlei  Worte  der  Anerkennung  und  Dankesphrasen  beigefügt. 
Wenn  die  Negritos  des  nördlichen  Luzon  beim  Schlachten  ein  Stückchen  Fleisch 
gegen  den  Himmel  schleudern,  sagen  sie  nur:  „Dieses  auch  dir!"33  Die  Tarni 
auf  Deutsch-Neuguinea  bringen  bei  Festmahlzeiten  oder  Fleischmärkten  dem 
Urvater  Anuto  die  erste  Portion  dar.  Man  legt  eine  Kleinigkeit  der  Speise  in 
ein  Körbchen  und  ruft  dazu:  „Dies  ist  Anutos  Teil."  Dann  wird  das  Körbchen 
im  Walde  niedergelegt34.  Wenn  der  Baronga  schnupft,  streut  er  den  Ahnen  ein 
wenig  Tabak  und  spricht  dabei:  „Hier  ist  ein  wenig  Tabak,  kommt  alle  und 
nehmt  diese  Prise  und  zürnt  mir  nicht,  wenn  ich  schnupfe  und  sagt  nicht,  daß 
ich  euch  eures  Anteils  beraube."35 

Weil  der  naive  Beter  stets  eine  kindlicher,  treuherziger  Egoist  ist, 
läßt  er  die  Gelegenheit  der  Danksagung  nicht  vorübergehen,  ohne  ein 
paar  Wünsche,  die  er  auf  dem  Herzen  hat,  dem  Gott  auszusprechen 
oder  um  künftige  Geneigtheit  und  Hilfe  zu  bitten. 

..(üb  mir  noch  Kraft  und  Leben,  und  daß  meinen  Kindern  nichts  Böses  zu- 
stoße!" fü^t  der  afrikanische  Pygmäe  seinem  Dank  bei38.  „Du  hast  mich  ge- 
rettet, o  Gott,  rette  mich  immer",  betet  ein  der  Gefahr  entronnener  Kunde37. 
Wenn  die  Dinka  (Ostafrika)  ihrem  Schöpfer  Dengdid  die  ersten  Prü  hte  dar- 
bringen, bitten  sie:  „Vater,  der  du  uns  diese  Flüchte  gegeben,  segne  uns  und 
unsere  Kröcht e."38  Die  Bukaua  auf  Neuguinea  reihen  an  ihren  Dank  für  die 
glückliche  Ernte  die  Bitte:  „Nun  sehe  uns  auch  ferner'  freundlich  an!"39  Das 
Erntedankgebet  der  Kwe  an  Dzake  schließt  mit  der  Bitte:  ..Wir  bitten  dich, 
gib,  daß  das  neue  Jahr,  das  aunherankomxni .  uns  gesunderreicht,  damit  wir  wieder- 
kommen und  dir  Neues  bringen  dürfen."40  Der  Ewe-Kaufmann,  der  auf  dem 
.Markte  ein  gutes  (ieschäft  gemacht  hat,  will  noch  größeren  Gewinn,  darum  folgt 
dem  Dankgebet  der  Wunsch:  „Half  mir  nun  weiter-  und  ziehe  die  Leute  aus  der 
Ferne  heran,  damit  sie  kommen  und  meine  Marktwaren  kaufen."41    Der  Dschagga, 

Das  Gebet.  7 


98  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

der  eine  Ziege  opfert  und  für  Erhaltung  des  Lebens  dankt,  schließt  sein  Gebet 
mit  den  Worten:  „Erhaltet  mich  auch  fernerhin  und  verleiht  mir  andere  (Stücke 
Kleinvieh),  so  sollt  ihr  wieder  Gaben  erhalten."42  Die  frommen  Frauen,  die  in 
den  Mimiamben  des  Herondas  dem  Asklepios  für  die  Befreiung  von  Krankheiten 
danken,  fügen  ihrem  Gebet  folgende  Bitte  an,  die  wörtlich  mit  obigem  Ewegebet 
übereinstimmt: 

,,.Ta,  mag's  gescheh'n,  Allmächtiger  du,  und  möchten 

Wir  kerngesund,  um  größere  Opfer  dir 

Zu  bringen,  wiederkommen,  Ehemänner 

Mit  uns  und  Kinder"  (IV  86  ff.  übs.  v.  0.  Crusius). 
Bei  den  Ewe  kommt  es  sogar  vor,  daß  man  für  Befreiung  von  einem  Übel 
höflich  dankt  und  gleichzeitig  sich  derartige  Heimsuchungen  für  die  Zukunft 
energisch  verbittet.  ,,Dein  Sklave",  betet  der  Priester  zum  tro,  „ist  gekommen, 
um  dir  zu  danken.  Du  beschützest  die  Menschen  von  altersher.  Das,  was  ihm 
jetzt  zustieß,  muß  das  letzte  Mal  gewesen  sein.  Unter  keinen  Umständen  darf 
es  ihm  ein  zweites  Mal  begegnen.  Möge  es  hinfahren  und  den  Weißen  zustoßen, 
die  auf  dem  Meere  sind  .  .  .  Wir  sind  gekommen,  um  dir  zu  danken.  Mögest  du 
ein  hilfreicher  Zauber  sein,  der  stets  auf  uns  Acht  hat."43 

VI.  Gebetshaltung  und  Gebetsgestus1. 

Wie  die  Rede  nur  eine  von  den  Ausdrucksfunktionen  des  Psychischen 
ist  und  ihr  stets  die  Körperhaltung,  die  Miene  und  Geste  zur  Seite 
gehen,  so  besteht  auch  das  Gebet  nicht  nur  in  gesprochenen  Worten, 
sondern  ist  immer  begleitet  von  einer  bestimmten  Körperhaltung,  be- 
stimmten Körperbewegungen,  einem  bestimmten  Mienenspiel.  Ja,  wenn 
es  richtig  wäre,  daß  die  Gebärdensprache'  älter  ist  als  die  ,Lautsprache', 
so  könnten  wir  annehmen,  daß  der  Gebetsgestus  älter  ist  als  das  Gebets- 
wort, daß  das  Gebet  ursprünglich  nur  in  bestimmten  Gebärden  bestand, 
denen  erst  später,  nach  dem  Fortschritte  der  Sprache,  die  Laute  und 
Worte  zur  Seite  treten.  In  der  Tat  wird  von  südamerikanischen  Stäm- 
men erzählt,  daß  sie  stumm  beten,  daß  sie  nur  mit  ehrfürchtigen  Ge- 
bärden zu  den  höheren  Wesen  flehen  und  ihnen  Gaben  bringen  2.  Die 
australischen  Yuin  erheben  in  ihren  Stammesmysterien  Hände  und 
Waffen  zum  Urvater  im  Himmel  —  sie  beten  wortlos  3.  Die  Frage,  ob 
die  Gebärde  dem  Laut,  die  Gebetsgeste  dem  Gebet  vorangeht,  kann 
hier  nicht  entschieden  werden.  Fest  steht,  daß  wir  überall  dort ,  wo 
wir  das  Gebet  finden,  auch  einen  bestimmten  Gebetsgestus  antreffen. 
Tiefe  seelische  Erlebnisse,  wie  sie  ursprünglich  dem  Gebete  zugrunde 
liegen,  pflegen  ja  nicht  nur  eine  Seite  des  körperlichen  Ausdrucks- 
systems, sondern  das  ganze  Ausdruckssystem  zu  ergreifen.  Am  deut- 
lichsten und  reinsten  äußern  sich  die  mannigfaltigen  und  wechselnden 
Affekte,  Stimmungen,  Gefühle,  Wollungen  und  Wünsche,  die  in  der 
Seele  des  Betenden  sich  tummeln,  im  Mienenspiel;  hier  verraten  sich 
Furcht  und  Angst,  Kummer  und  Sorge,  Ehrfurcht  und  Bewunderung, 
Staunen  und  Entzücken,  Sehnsucht  und  Hingabe,  Verlangen  und  Be- 
gehren, Zuversicht,  Hoffnung  und  Vertrauen.  Aber  diese  fein  dif- 
ferenzierten Ausdrucksbewegungen  der  Gebetserlebnisse  in  der  Mimik 
sind  uns  nicht  faßbar.  Wir  müssen  sie  ebenso  wie  die  das  Gebet  moti- 
vierenden, es  begleitenden  und  aus  ihm  hervorgehenden  Erlebnisse 
selbst  erst  aus  den  Gebetsworten  erschließen.  Nur  die  bildende  Kunst 
antiker  Völker,  vor  allem  der  Hellenen,  gibt  uns  eine  schwache  Ahnung 


VI.   Gebetshaltung  und    Gebetsgestus  99 

vom  Gesichtsausdruck  des  primitiven  Beters;  aber  sie  vermag  immer 
nur  den  Ausdruck  einer  Erlebnisseite  oder  Erlebnisphase  des  Betens 
festzuhalten,  nicht  jedoch  den  in  der  Mimik  sich  spiegelnden  Wechsel 
der  Gefühle.  Was  uns  die  schriftlichen  Zeugnisse  über  das  Mienenspiel 
primitiver  Beter  berichten  ist  äußerst  kärglich:  daß  sie  den  Blick 
sehnsüchtig  zum  angerufenen  Wesen  empor  oder  demütig  zur  Erde 
niederrichten,  daß  sie  unter  Tränen  oder  mit  lautem  Weinen  beten  — 
das  ist  alles.  Daß  die  literarischen  Dokumente  über  die  Mimik  primitiven 
Betens  so  dürftig  sind,  beruht  darauf,  daß  die  Mimik  im  Körperausdruck 
das  Spontanste  und  Individuellste  ist,  von  keiner  Regel  oder  Konvention 
gebunden :  sie  ist  frei,  freier  noch  als  die  Rede.  Während  die  Worte  sich 
zur  festen  Formel  verhärten,  während  die  Körperbewegungen  in  der 
zeremoniellen  Gebärde  erstarren,  bleibt  das  Mienenspiel  das  im  Beten 
ewig  Lebendige,  der  unmittelbare  Ausdruck  der  lebendigen  Gefühle, 
Stimmungen  und  Affekte. 

Unendlich  mehr  als  von  der  Mimik  des  primitiven  und  besonders  des 
antiken  Beters,  wissen  wir  von  seiner  Körperhaltung  und  seinen  Gesten. 
Sie  sind  ursprünglich  ebenso  frei  wie  Rede  und  Mienenspiel.  Aber  viel 
rascher  als  die  Gebetsworte  sich  in  der  Gebetsformel  verfestigen,  werden 
die  Gebetshaltung  und  Gebetsgeste  zur  konventionell  gebundenen  Form, 
zur  rituellen  Zeremonie  zur  verpflichtenden,  durch  den  mos  maiorum 
geheiligten  Sitte.  Das  Gebet  ist  ein  Verkehr  mit  der  Gottheit,  der  sich 
in  denselben  Formen  vollzieht,  wie  der  soziale  Verkehr  der  Menschen 
untereinander.  Der  Betende  verfiel  ursprünglich  spontan  und  unbewußt 
in  dieselben  Körperstellungen  und  -bewegungen,  die  er  in  analogen 
Fällen  im  Verkehr  mit  Menschen,  mit  den  Eltern,  dem  Herrn  oder  dem 
Häuptling  einnahm:  wollte  er  den  Gott  bitten,  so  hob  er  die  Hände 
empor,  wie  er  es  tat,  wenn  er  den  Eltern  eine  Bitte  vortrug;  wollte  er 
ihm  seine  Ehrfurcht  bezeugen,  so  warf  er  sich  zur  Erde  nieder,  wie  er 
es  vor  dem  Häuptling  zu  tun  pflegte;  wollte  er  vor  den  Gott  hin  treten, 
so  begrüßte  er  ihn  in  derselben  feierlichen  Weise,  wie  er  einen  Macht- 
haber oder  Gast  zu  begrüßen  gewohnt  war.  So  wurden  unbewußt  be- 
stimmte Haltungen  und  Gebärden  aus  dem  profanen  Gesellschafts- 
leben in  den  Gebetsverkehr  mit  der  Gottheit  übertragen.  Schon  im 
profanen  Leben  waren  sie  feste,  gewohnheitsmäßige  Verkehrsformen, 
wie  an  den  Grußsitten  deutlich  ist;  in  die  religiöse  Sphäre  übertragen, 
erlangten  sie  bald  religiösen  Verpflichtungseharakter,  es  wurde  ihnen 
das  Stigma  des  Heiligen  aufgeprägt.  Aus  dem  profanen  Gestus  entstand 
so  ein  spezifischer  Gebetsgestus.  Beschleunigt  wurde  dieser  Erstarrungs- 
prozeß dort,  wo  das  religiöse  Verhältnis  zu  Gott  als  ein  Untertanen- 
verhältnis gedacht  war :  wie  im  Verkehr  mit  einem  irdischen  Herrscher 
mußte  man  sich  auch  im  Verkehr  mit  der  Gottheit  peinlich  an  das 
Höflichkeitszeremoniell  halten.  Während  die  Gebetsworte  dem  jeweiligen 
Anlaß  und  den  verschiedenen  Nöten  und  Bedürfnissen  gemäß  wechsel- 
ten, blieben  die  Gebetshaltung  und  Gebetsgeste  dieselben.  Nur  in 
Augenblicken  höchster  Not  fleht  der  Mensch  zu  Gott  gänzlich  un- 
zeremoniös,  formlos  in  der  Geste  ebenso  wie  in  der  Rede.  Hier  schafft 
der  Augenblicksaffekt  einen  individuellen  Gebetsgestus,  der  sich  spontan 


100  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


an  einen  profanen  oder  religiösen  Gestus  anlehnen  mag,  der  aber  ebenso 
frei  ist  wie  das  Augenblicks  wort,  in  dem  ein  bedrängtes  Herz  sich  Luft 
macht. 

Ehe  wir  nach  dem  Sinn  und  Ursprung  der  einzelnen  Gebetshaltungen  und 
-gesten  fragen,  müssen  wir  eine  dürre  Aufzählung  der  verschiedenen  Gebetssitten 
vorausschicken.  Da  die  Nachrichten  über  den  Gebetsgestus  und  die  Gebetshaltung 
von  Naturvölkern  überaus  spärlich  und  dürftig  sind,  müssen  wir  hier  vor  allem 
die  literarischen  Dokumente  der  antiken  Völker  verwerten.  Zugleich  ist  es  nötig, 
kurz  darzutun,  wie  die  uralten  Gebetssitten  im  christlichen  Beten  fortleben. 
Da  ich  die  Körperhaltung  beim  Gebet  bereits  in  einem  Aufsatz  in  der  Hommel- 
Festschrift  behandelt  habe,  muß  ich  für  alles  philologische  Detail  dorthin  ver- 
weisen4. 

Die  gewöhnlichste  Körperstellung  beim  Gebet  ist  die  stehende.  Der 
Beter  steht  aufreiht,  das  Antlitz  der  angerufenen  Gottheit  zukehrend.  So  beten 
die  meisten  kulturarmen  Völker,  so  beteten  zumeist  die  Kultvirvölker  der  Antike. 
Stehend  beteten  auch  die  alten  Christen  am  Sonntag  und  in  der  Osterzeit5.  (Die 
stehenden  ,Oranten'  der  Katakombenbilder  sind  Selige  im  Himmel,  also  Auf- 
erstandene, in  der  ewigen  Sonntags-  und  Osterfeier  Begriffene.  >  Das  Stehen  ist 
durch  alle  Jahrhunderte  hindurch  die  liturgische  Gebetshaltung  der  christlichen 
Kirche  geblieben.  Die  hervorragende  Rolle,  welche  die  stehende  Gebetshaltung 
spielt,  läßt  sich  auch  sprachgeschichtlich  dartun.  lAmtda  d.  h.  Stehen  heißt  das 
jüdische  , Achtzehngebet',  weil  es  stehend  gebetet  werden  muß,  upasthäna  d.  h.# 
Sichhinstellen  ist  in  der  brahmanischen  Terminologie  die  Bezeichnung  für  die 
Adoration  eines  heiligen  Objektes.  Im  Sumerischen  bekommt  , Stehen',  Ein- 
treten'  (gub)  geradezu  die  Bedeutung  ,Bitten',  ,Beten'. 

Nächst  der  stehenden  Gebetshaltung  treffen  wir  am  häufigsten  die  kniende. 
Sie  begegnet  uns  bei  manchen  Naturvölkern,  wie  bei  den  Sumerern,  Babyloniern, 
Ägyptern,  Israeliten,  Griechen,  Römern  und  Indern.  Die  ägyptischen  Beter 
stellten  ein  Knie  hoch,  das  andere  ruht  auf  der  Erde.  Kniend  scheinen  stets  die 
babylonischen  Bußgebete  verrichtet  worden  zu  sein.  Die  Römer  ließen  beim 
Gebet  bald  ein,  bald  beide  Knie  nieder.  Die  alten  Christen  knieten  beim  Gebet 
an  Wochentagen;  diese  kniende  Körperhaltung  wurde  zur  gebräuchlichsten  Ge- 
betshaltung der  privaten,  christlichen  Frömmigkeit. 

Mit  den  Knien  verwandt  ist  die  hockende,  kauernde  oder  sitzende  Ge- 
betsstellung. Sie  findet  sich  bei  nicht  wenigen  niederen  Stämmen  wie  bei  ver- 
schiedenen antiken  Völkern.  Die  Griechen  beteten  zu  den  chthonischen  Göttern 
in  einer  halb  sitzenden,  halb  knienden  Stellung.  Bei  den  Römern  durften  betende 
Frauen  gleich  Trauernden  und  Schutzflehenden  am  Boden  kauern.  Die  sitzende 
Gebetshaltung  war  auch  bei  den  indischen  Brahmanen  üblich.  Yoga  und  Buddhis- 
mus übernahmen  sie  als  Meditationshaltung  (äsana)6. 

Dem  Gebet,  das  stehend  oder  kniend  gesprochen  wird,  geht  häufig  die  Proster- 
nation, das  Sich  niederwerfen  zur  Erde,  voraus.  Dabei  wird  der  Boden 
mit  den  Händen  und  dem  Kopfe  (Kinn,  Mund,  Nase  oder  Stirne)  berührt.  Diese 
Gebetsstellung  ist  bei  verschiedenen  primitiven  und  bei  den  meisten  antiken 
Völkern  (den  Sumerern,  Babyloniern,  Ägyptern,  Israeliten,  Römern,  Indern) 
üblich;  wir  treffen  sie  heute  noch  im  chinesischen  Kult7;  sie  ist  auch  eine  der 
verschiedenen  Körperstellungen,  die  für  das  mohammedanische  Pflichtgebet 
vorgeschrieben  sind.  Auch  im  alten  Christentum  war  es  Sitte,  sich  vor  den  Gräbern 
und  Reliquien  ganz  auf  den  Boden  zu  werfen.  Diese  vielgeübte  Adorationsweise 
ließ  ihre  Spuren  auch  in  der  Sprachgeschichte  zurück.  Die  babylonische  Wendung 
labanu  appa,  sich  niederwerfen  (eigentlich  ,,die  Nase  platt  machen")  gewann  die 
Bedeutung  , beten';  das  hebräische  Wort  histachawäh  sich  zur  Erde  werfen,  wurde 
zum  gewöhnlichen  Terminus  für  .Anbeten'.  Aus  der  Bezeichnung  einer  viel 
geübten  Gebetshaltung  wurde  im  Christentum  das  Wort  humilis  ein  Terminus 
für  die  innere  Haltung  des  Frommen  gegenüber  Gott.  Dieselbe  sprachgeschicht- 
liche Entwicklung  durchlief  das  assyrische  Adjektiv  asru  (von  asäru,  sich  nieder- 
werfen), das  die  Bedeutung  , demütig'  gegenüber  der   Gottheit  erlangte. 

In  all  diesen  Fällen  ist  das  Sichniederwerfen  und  Berühren  des  Bodens  nur 
vorübergehend;   die  eigentliche   Gebetshaltung  ist   kniend  oder  stehend.      Aber 


VI.   Gebetshaltung  und  Gebetsgestus  101 

es  kommt  auch  vor,  daß  man  hingeworfen  zur  Erde,  liegend  betet ;  die  Proster- 
nation wird  hier  zur  Gebetsgrundstellung.  Diese  merkwürdige  Gebetshaltung 
ist  von  einigen  Naturvölkern  wie  von  den  Israeliten  und  Römern  bezeugt. 

Statt  der  Prosternation  kann  die  Inklination  dem  Gebet  vorausgehen  oder 
es  begleiten,  die  Verbeugung  des  Oberkörpers  oder  das  Neigen  des  Hauptes, 
eine  bei  manchen  kulturarrnen  Völkern  und  bei  den  Sumerern,  Babyloniern, 
Hebräern,  Indern,  Römern  und  Germanen  übliche  Gebetssitte.  Das  altindische 
und  avestische  Wort  für  , Anbetung'  (namas)  leitet  sich  etymologisch  vom  , Sich- 
neigen' {narrt)  ab,  die  Bezeichnung  des  islamischen  Pflichtgebetes  (salät)  vom 
..Krümmen  des  Rückgrats"   (salaj). 

Neben  der  Prosternation  und  Inklination  steht  als  dritte  Form  der  das  Gebet 
einleitenden  Körperbewegung  die  Ganzdrehung  des  Körpers  (circumagere 
corpus),  eine  besonders  bei  den  Römern  und  Kelten  übliche  Gebetssitte.  Die 
Drehung  erfolgte  bei  den  Römern  nach  rechts,  bei  den  Galliern  nach  links.  Dieses 
circumagere  corpus  beim  Gebet  geht  zweifellos  auf  eine  ältere,  weitverbreitete 
Adorationssitte  zurück,  das  Umkreisen  eines  Kultobjekts.  Das  Sichumdrehen 
ist  im  Grunde  nur  ein  „verkleinerter  Umgang".  In  Indien,  Griechenland  und 
Rom  spielt  der  sakrale  Rundgang  eine  bedeutsame  Rolle.  Spuren  des  Umgangs 
bzw.  der  diesen  ersetzenden  Körperdrehung  lassen  sich  auch  in  der  babylonischen 
Religion  aufweisen. 

Eine  seltsame,  aber  sicher  sehr  alte  Gebetssitte  ist  das  Hüpfen  während 
des  Gebetes.  Bei  den  Trisagion  des  Schmone  'Esre  springen  die  Juden  dreimal 
in  die  Höhe;  dasselbe  geschieht  an  einer  bestimmten  Stelle  des  Morgengebetes8. 
Clemens  von  Alexandrien  erklärt  (Strom.  VII  7,  40):  ,,Wir  heben  die  Füße  in  die 
Höhe  bei  dem  das  Gebet  beendenden  gemeinsamen  Ausrufe".  Es  handelt  sich 
ohne  Zweifel  um  den  Rest  einer  primitiven  Gebetssitte,  die  im  Spätjudentum 
beibehalten  und  vom  Frühchristentum  übernommen  wurde. 

Unter  den  mannigfaltigen  Händehaltungen  beim  Gebet  erscheint 
als  die  häufigste  und  ursprünglichste  das  E  r  h  eben,  Hochhalten  oder  Aus- 
breiten, Ausstrecken  der  (meist  geöffneten)  Hände:  die  Handflächen  werden 
dabei  stets  dem  angerufenen  Wesen  zugekehrt.  Die  australischen  Yuin  heben 
bei  den  Initiationsmysterien  Hände  und  Waffen  zum  Himmel  empor9.  Die  dem 
betenden  Häuptling  respondierenden  Kikuyuleute  halten  die  Hände  hoch10. 
Die  Massai  beten  zu  Ngai  mit  erhobenen  Händen,  in  denen  sie  Grasbüschel  halten11. 
Die  Siouxindianer  ,. erheben  beim  Gebet  die  Arme,  indem  sie  die  Handflächen 
gegen  das  Objekt  oder  das  angeredete  Wesen  richten;  hierauf  senken  sie  die  Hände 
abwärts  gegen  die  Erde  zu,  ohne  jedoch  das  Objekt  oder  die  Person  zu  berühren."12 
Die  ägyptischen  Determinative  für  , anbeten'  (<5w3,  Isw)  zeigen  einen  Mann  mit  er- 
hobenen Händen.  Auf  zahlreichen  ägyptischen  Tempelbildern  halten  die  Beter 
beide  Hände  in  der  Höhe  des  Gesichtes  erhoben,  die  Handflächen  sind  stets  der 
angerufenen  Gottheit  zugekehrt13.  In  einer  Serie  babylonischer  Hymnen  kehrt 
regelmäßig  die  Aufforderung  wieder,  bei  der  Rezitation  die  Hand  zu  erheben 
(su-il-la  —  semitisch  m§  käti)1*.  In  den  assyrischen  Königsinschriften  begegnet 
uns  häufig  die  Wendung:  „ich  erhob  meine  Hände  und  betete  zu  N.  N."15  Der 
Ausdruck  ,, Handerhebung"  (nis  käli)  bekommt  die  Bedeutung  von  , Gebet'16. 
Die  geöffneten  Handflächen  werden  dem  angerufenen  Gott  zugekehrt;  so  heißt 
es  in  einer  Inschrift:  ,,es  öffnete  Assurbanipal  seine  Hände  und  trat  vor  Nebo 
seinen  Herrn"  (KB  III  2,  138).  ,Die  Hände  ausstrecken'  und  die  , Hände  er- 
heben' sind  bei  den  Israeliten  geläufige  Termini  für  Beten  —  ein  Zeichen  für  die 
Häufigkeit  und  das  hohe  Alter  dieses  Gebetsgestus17.  Wie  schon  das  Wort  kappaim 
(die  hohlen  Hände,  Handflächen)  andeutet .  richtete  man  die  Handflächen  nach 
dem  Wohnsitz  der  Gottheit,  nach  dem  Himmel  oder  dem  Heiligtum.  In  dem 
freien  Gebet  der  Muslime  {du'a)  ist  der  alte  arabische  Gestus  des  Emporhebens 
und  Ausstreckens  der  Hände  in  Geltung  geblieben18.  Die  Griechen  hielten  beim 
Beten  die  Hände  empor  (ave'/eiv,  aiQtiv  /eipag19.  Ausdrücke,  welche  geradezu  die 
Bedeutung  , Beten'  gewinnen)  oder  streckten  sie  aus  (ävateivetv,  doiyeiv  xeioag)20. 
Die  Römer  streckten  heim  Gebe!  ebenfalls  die  Hände  aus  oder  erhoben  sie  (rnayius 
bzw.  paltnas  tendere,  tollere)21.  Die  Hände  wunlen  dabei  leicht  zurückgebogen, 
man  sprichl   deshalb  von  xeiQlS  eVruat,  manus  supinae22.     Die  Handflächen  wurden 


102  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

stets  dem  Wohnort  des  Gottes  (Himmel,  Tempel,  Meer)  zugekehrt23.  Aus  den 
Avesta  geht  hervor,  daß  die  Erhebung  der  Hände  auch  der  altpersische  Gebets- 
gestus  war24.  In  den  Katakomben  werden  die  Beter  mit  ausgebreiteten  Armen 
dargestellt25.  Das  Ausbreiten  der  Arme,  der  Gebetsgestus  der  Israeliten,  Griechen 
und  Römer,  wurde  so  zum  christlichen  Gebetsgestus,  von  den  alten  Kirchen- 
schriftstellern  als  Nachahmung  des  Gekreuzigten  sinnig  gedeutet26.  Im  zweiten 
christlichen  Jahrtausend  tritt  es  hinter  dem  Händefalten  immer  mehr  zurück 
und  erhielt  sich  als  feststehender  Gebetsgestus  nur  in  der  Liturgie.  Als  individuelle, 
durch  den  Affekt  spontan  erzeugte  Gebetsgebärde  lebt  es  bis  heute  fort,  wie  man 
an  Wallfahrtsorten  beobachten  kann. 

Neben  dem  Emporheben  beider  Arme  ist  auch  das  Hochhalten  eines 
Armes  als  Gebetsgebärde  bezeugt.  Auf  ägyptischen  Tempelbildern  erhebt 
der  Beter  häufig  nur  eine  Hand,  die  andere  hält  eine  Opfergabe,  ein  Kultsymbol 
oder  ein  Sistrum27.  Ähnliche  Darstellungen  treffen  wir  auch  in  Babylonien.  Häufig 
finden  wir  auch  einen  Schutzgott  dargestellt,  der  vor  einer  Gottheit  steht  und 
mit  einer  Hand  einen  menschlichen  Adoranten  hält.  Beide,  der  Mensch  und  sein 
Fürsprecher,  wenden  die  eine  erhobene  Hand  dem  Gotte  zu28.  Auf  manchen 
griechischen  Opferdarstellungen  streckt  der  Opfernde  seine  Schale  als  das  Wich- 
tigere mit  der  Rechten  vor,  während  er  die  Linke  erhebt29.  Der  gerüstete  Krieger 
hält  stets  die  Rechte  allein  empor,  da  die  Linke  die  Waffe  trägt30.  In  all  diesen 
Fällen  ersetzt  die  Erhebung  der  einen  Hand  die  regelmäßige  Erhebung  beider 
Hände.  Es  kommt  jedoch  au<h  vor,  daß  nur  eine  Hand  erhoben  wird,  obgleich 
die  andere  Hand  frei  ist.  Auf  manchen  ägyptischen  Bildern  erhebt  der  Beter  die 
eine  Hand,  die  andere  läßt  er  in  spannungslosem  Zustand  nach  abwärts  fallen31. 
Wenn  die  Griechen  einem  Altar  oder  Götterbild  gegenübertraten,  erhoben  sie 
häufig  nur  die  rechte  Hand  mit  gespreizten  Fingern32. 

Eine  seltsame  Gebetsgeste  ist  die  Haltung  beider  Hände  über 
dem  Kopfe.  Die  Einwohner  des  Reiches  Candy  und  andere  Völker  des  süd- 
lichen Asiens  halten  beim  Beten,  selbst  wenn  sie  auf  der  Erde  hingestreckt  liegen, 
die  Hände  über  dem  Haupte  empor33.  Auch  das  Anlegen  einer  Hand 
an  den  Kopf  findet  sich  als  Gebetsgestus.  Die  Tehuelchen  von  Patagonien 
legen,  wenn  sie  an  bestimmten,  von  Totengeistern  bewohnten  Wäldern,  Flüssen 
oder  Felsen  vorübergehen,  die  Hand  an  den  Kopf  und  murmeln  ein  paar  Worte34. 
Die  galatischen  Taskodrugiten  legten  beim  Beten  den  rechten  Zeigefinger  an 
die  Nase35;  ebenso  die  in  Phrygien  entstandene  Sekte  der  Kataphryges  oder 
Quintiliani36. 

Sehr  häufig  wird  das  Gebet  eröffnet,  begleitet  oder  geschlossen  mit  Hände- 
klatschen oder  Aneinanderschlagen  der  Handflächen.  Beim  Morgengruß 
an  die  Gottheit  schlagen  verschiedene  Bantustämme  in  die  Hände37.  Mit  Hände- 
klatschen empfängt  man  im  Kongo  den  Neumond38.  Bei  den  Ewe39  ist  ähnlich 
wie  in  Israel  Händeklatschen  beim  Dankgebet  üblich.  ,,Ihr  Völker  alle,  klatschet 
in  die  Hände",  ruft  noch  der  Psalmist  aus40.  Aber  auch  beim  Bittgebet  ist  diese 
Gebetsgeste  gebräuchlich.  Von  den  Kiziba  wird  das  Gebet  an  den  Sonnengeist 
und  an  den  Meergeist  mit  emporgestreckten  Armen  und  unter  Aneinanderschlagen 
der  Handflächen  gesprochen41.  Wenn  am  Nyassa  der  Häuptling  das  Gebet 
spricht,  schlagen  alle  Leute,  die  ihn  umgeben,  rhythmisch  in  die  Hände42.  Wenn 
der  Häuptling  der  Flußneger  Kameruns  sein  Opfe  gebet  gesprochen  hat,  klatscht 
er  in  beide  Hände43. 

Uralt  ist  das  noch  in  der  heutigen  Frömmigkeit  übliche  Klopfen  an  die 
Brust.  In  Ägypten  schlug  man  sich  beim  ekstatischen  Jauchzen  (hnw)  mit 
der  geballten  Faust  die  Brust44.  In  Israel  klopft  der  um  Gnade  flehende  Sünder 
demütig  an  seine  Brust  (Lk  18,  13).  In  Rom  gehört  zum  Gelübde,  daß  man, 
so  oft  das  Wort  ego  vorkommt,  die  Brust  berührt45.  Walafrid  Strabo  tadelt 
noch  im  9.  Jahrhundert,  daß  manche  sich  im  Gebet  mit  Fäusten  die  Brust 
schlugen46.  Noch  affektvoller  als  das  Klopfen  an  die  Brust  ist  das  Schlagen  des 
Hauptes  od-r  das  Zerraufen  der  Haare,  zu  dem  die  Beter  in  höchster  Not  oder 
Verzweiflung  greifen.  Wenn  in  Rom  vom  S±nat  eine  supplicatio  angeordnet 
war,  rauften  sich  die  Frauen  das  Haar,  zerkratzten  die  Wangen  und  schlugen 
die  Schultern47.  Alle  diese  leidenschaftlichen  Gebärden  entstammen  den  Se- 
pulchralriten. 


VI.   Gebetshaltung  und  Gebets gestus  103 

Beim  Gebet  an  die  Mutter  Erde  und  an  die  chthonischen  Mächte  richteten 
Griechen  und  Römer  die  Hände  abwärts:  „Die  Götter  der  Unterwelt  rufen  wir 
mit  zur  Erde  gesenkten  Händen  an",  sagt  der  Erklärer  der  Äneis48.  Meist  aber 
berühren  oder  beklopfen  sie  den  Erdboden.  Ein  römisches  Ritual 
enthält  die  Anweisung  für  das  Gebet  des  Diktators:  „Cum  Tellurem  dicit,  manibus 
terram  tangit".49  Zumal  beim  Fluchgebet,  das  an  die  Toten  und  Unterwelts- 
götter  gerichtet  wurde,  schlug  man  mit  den  Händen  den  Boden  oder  stampfte 
mit  dem  Fuße  auf  die  Erde50.  Noch  heute  schlagen  in  Griechenland  und  Neapel 
fluchende  Weiber  mit  der  flachen  Hand  auf  den  Boden51. 

Das  Händefalte  n52,  der  gewöhnliche  christliche  Gebetsgestus,  findet  sich 
schon  in  alter  Zeit  bei  den  Indern  {anjali).  In  der  Bhagavadgitä  faltet  Arjuna 
beim  Gebet  an  Krischna  die  Hände  (XI  14,  35).  Nach  dem  Mahävagga  (I  5.  5) 
erhebt  Brahma  bittend  seine  gefalteten  Hände  zu  Buddha63.  Auf  hinduistischen 
Reliefs  und  Statuen  halten  die  Adoranten  die  Hände  zusammengelegt  vor54. 
Das  Händefalten  beim  Gebet  findet  sich  bei  den  Tibetanern55  und  Japanern65. 
Es  begegnet  uns  auch  auf  einem  sumerischen  Tonrelief,  auf  dem  die  Göttin  Ba'u 
sich  für  einen  Adoranten  bei  ihrem  Gemahl  Ningirsu  verwendet67.  Das  Hände- 
falten scheint  der  altgermanische  Gebetsgestus  gewesen  zu  sein;  mit  dem  Sieg 
des  Germanentums  drang  es  in  das  Christentum  ein  und  wurde  allmählich  zur 
Gebetsgebärde  des  ganzen  christlichen  Abendlandes.  Zuerst  ist  es  in  altfränkischen 
Grabdenkmälern  des   7.   Jahrhunderts  nachweisbar  H 

Mit  dem  Händefalten  berührt  sich  das  Ineinanderlegen  der  Hände 
und  das  Verschlingen  der  Finger,  Gebetsgesten,  die  noch  heute  bei  uns 
gebräuchlich  sind.  Erstere  Händehaltung  findet  sich  auf  den  sumerischen  Gudea- 
statuen;  die  Fläche  der  einen  Hand  ruht  auf  dem  Rücken  der  anderen59.  Das 
Ineinanderschlingen  der  Hände  wird  von  römischen  Schriftstellern  als  Gebets- 
gestus bezeugt60,  doch  scheint  es  hier  eine  mehr  magische  Bedeutung  zu  haben. 
Das  erste  monumentale  Zeugnis  ist  ein  dem  5.  Jahrhundert  entstammender 
Sarkophag  in  einer  Katakombe  zu  Syrakus,  der  eine  mit  verschlungenen  Fingern 
vor  Maria  hockende  Frau  zeigt81.  Das  erste  literarische  Dokument  dieses  Gestus 
bietet  die  bekannte  Erzählung  von  dem  Gebet  der  heiligen  Scholastika 62. 

Eine  ruhende  Gebetsgeste  wie  das  Händefalten  ist  das  Kreuzen  der 
Hände  auf  der  Brust.  Es  wurde  von  den  Arabern  und  Türken  geübt 
und  drang  aus  dem  Orient  in  die  Ostkirche  ein83.  Auch  bei  den  parsischen  Mazda- 
anbetern ist  diese  Gebetshaltung  gebräuchlich.  In  der  mystischen  Frömmigkeit 
des  Abendlandes  ist  sie  beim  Beten  und  Betrachten  sehr  beliebt. 

Seltsamerweise  wurde  auch  das  Kreuzen  der  Hände  auf  dem 
Rücken  als  Adorationshaltung  geübt.  Hierauf  spielt  zweifellos  die  Notiz 
des  Tacitus  an,  daß  die  Germanen  einen  heiligen  Hain  nicht  anders  als  , gefesselt' 
beträten64.  Callimachus  erzählt,  daß  die  in  Delos  landenden  Kaufleute,  die  sich 
den  Segen  Gottes  für  ihr  Geschäft  erbaten,  um  den  Altar  herumliefen  und  dann 
mit  den  Händen  auf  dem  Rücken  v.u  einem  nahen  Ölbaum  gingen,  um  etwas  von 
dessen  Rinde  abzubeißen85. 

Bei  all  den  erwähnten  Händehaltungen  und  -bewegungen  ist  die  Distanz  des 
Beters  vom  Gotte  gewahrt.  Es  gibt  aber  auch  solche  Gebetsgesten,  die  den  Beter 
in  unmittelbare  Berührung  mit  der  sinnlich  gegenwär- 
tigen Gottheit  bringen.  Bei  den  semitischen  Völkern  war  die  Sitte  ver- 
breitet, die  Idole  zu  streicheln;  mit  der  Hand  über  sie  hinzufahren. 
Die  heidnischen  Araber  nannten  diesen  Gestus  tamassuch**,  die  Hebräer  chilld 
et  pene  ein  Ausdruck,  der  geradezu  die  Bedeutung  ,Gott  um  Gnade  anflehen', 
, beten'  bekam87.  Die  Römer  berührten  oder  umfaßten  gerne  beim  Gebet 
den  Altar88.  Häufig  umfingen  die  Beter  die  Hände  oder  Kniee  der  Göttersta- 
tuen  —  eine  Sitte,  die  naturgemäß  viel  jünger  ist  als  die  Umarmung  des  Opfer- 
altars. Ein  assyrisches  Ritual  gibt  die  Anweisung:  „Du  sollst  niederfallen  und 
die  Hände  des  Gottes  ergreifen."*9  Ein  assyrischer  Hymnensänger  fleht:  „Der 
ich  die  Göttin  Ninua  an  den  Füßen  faßte,  in  der  Schar  meiner  Feinde  mögest 
du  mich  nicht  verlassen."70  Valerius  BlaccUs  singt:  „Haeserat  auratae  genibus 
Medea  Minervae."7'  Eine  verbreitete  Gebetssitte  ist  das  K  üssen  des  Kult- 
objektesoder Idols.  Die  Kanaanäer  küßten  die  Idole  und  Tierbilder  ihrer  ba'alim7-, 
die  alten  Araber  küßten  die  Bilder  ihrer  Hausgötter  beim  Betreten  und  Verlassen 


104  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

der  Häuser,  die  Mekkaner  den  schwarzen  Stein,  die  Kaäba73,  die  Griechen  die 
heilige  Eiche  des  Zeus  zu  Ägina74.  Die  Lippen  wie  das  Kinn  der  Erzstatue 
des  Herakles  zu  Agrigent  waren  zu  Ciceros  Zeiten  durch  vieles  Küssen  stumpf 
geworden76.  Im  Tempel  küßte  der  betende  Römer  den  Statuen  Hände  und 
Füße74.  Altchristliche  Fromme,  die  zu  den  Märtyrern  beteten,  küßten  ihre 
Gräber77;  die  Christen  der  morgenländischen  Kirchen  küssen  noch  heute  die 
Heiligenbilder.  Ferne  am  Himmel  wohnenden  Gottheiten  sendet  man  Kuß- 
hände. So  warf  man  in  Peru  der  Sonne  Küsse  zu78.  Die  Semiten  verehrten 
in  gleicher  Weise  Sonne  und  Mond79.  In  Griechenland  und  Italien  gebührte  die 
Kußhand  allen  Gestirngottheiten,  dem  Helios,  der  Selene  und  den  Sternen,  selbst 
den  Winden80.  Beim  Eintritt  in  den  Tempel  verehrte  man  in  Rom  den  ßoti 
nicht  selten  durch  eine  Kußhand81.  Sonst  erwiesen  die  Alten  mit  diesen  Gebärden 
allen  heiligen  Gegenständen,  die  sie  nicht  berührten,  Altäre,  Steinen,  Hainen, 
Statuen  ihre  Verehrung,  vor  allem  beim  Vorübergehen82.  Nichts  beweist  die 
Verbreitung  der  Gebetssitte  des  Kusses  und  der  Kußhand  so  sehr  wie  der  Um- 
stand, daß  der  griechische  Terminus  für  , anbeten'  (ngoaxwelp)  ursprünglich  ,küssen', 
der  lateinische  Terminus  adorare  , Kußhand'  (die  Hand  zum  Munde  führen)  be- 
deutet. Ebenso  bedeutet  das  sumerische  Wort  sub  (babylonisch  suppü)  ,, beten" 
ursprünglich  .Kußhand';  das  Ideogramm  setzt  sich  zusammen  aus  den  Zeichen 
für  ,Mund'  und  ,Hand',  bedeutet  also  wie  das  lateinische  adorare  ,,die  Hand 
zum  Munde  führen".  Die  Sitte  der  Kußhand  hat  sich  in  der  europäischen  Volks- 
religion zäh  erhalten.  Sie  findet  sich  bei  den  Spaniern  und  Neapolitanern83. 
1  n  Schwaben  werfen  heute  noch  fromme  Bauersleute  dem  Kruzif  ix  wie  den  Heiligen- 
statuen beim  Vorübergehen  Kußhände  zu.  In  Steiermark  zeigt  man  den  kleinen 
Kindern,  sobald  sie  verstehen  gelernt,  die  Bilder  von  Christus  und  Maria  und 
lehrt  sie  ,,ein  Busserl  hinaufgeben  zum  Himmelvaler  und  zur  Himmelmutter."84 

Weit  verbreitet  ist  die  Sitte  der  Entblößung  freilich  nur  bei  Völkern, 
bei  denen  das  Kleidungswesen  schon  stark  entwickelt  ist.  Man  entledigt  sich 
vor  allem  der  Schuhe,  wenn  man  ein  Heiligtum  zum  Gebet  betritt  oder  einen 
kultischen  Akt  vollzieht.  In  Peru  zog  man  bei  der  Anbetung  der  Sonne  die  Schuhe 
aus85.  Die  Israeliten  pflegten  beim  Betreten  heiliger  Stätten  die  Sandalen  aus- 
zuziehen88. Die  Samaritaner  betreten  de  i  heiligsten  Fleck  auf  dem  Garizim 
barfuß,  ebenso  die  Araber  die  heiligste  Stätte  auf  dem  Serbel87.  Die  Mohamme- 
daner legen  die  Schuhe  ab,  wenn  sie  feierlich  beten  oder  die  Moschee  betreten. 
Die  griechischen  Tempelinschriften  mahnen  den  Tempelbesucher,  unbeschuht 
das  Heiligtum  zu  betreten88.  Die  Barfüßigkeit  ist  in  Griechenland  und  Rom  bei 
der  Opferdarbringung  und  sonstigen  Kultakten,  besonders  bei  Prozessionen  er- 
forderlich89. Römische  Frauen  beteten  nudis  pedibus  zu  Jupiter  um  Regen90. 
Wie  man  die  Füße  entblößt,  wenn  man  an  heiliger  Stätte  betet,  so  entblößt  man 
auch  das  Haupt,  wenn  man  vor  dem  Angesichte  Gottes  steht.  Die  Griechen91 
wie  die  Germanen 92  beteten  entblößten  Hauptes.  Noch  heute  pflegen  wir  die  Kopf- 
bedeckung abzunehmen,  wenn  wir  eine  Kirche  betreten  oder  beten.  Die  Ent- 
blößung des  Oberkörpers  bzw.  der  Schultern  ist  eine  vielgeübte  Gebetssitte;  sie 
findet  sich  ebenso  im  alten  und  neuen  Indien93  wie  in  der  antiken  Mittelmeer- 
welt94. Auch  ein  assyrisches  Ritual  fordert  die  ».Entblößung  der  Arme"  bei  der 
Hymnenrezitation96.  Aber  nicht  nur  die  Entblößung  bestimmter  Körperteile, 
sondern  auch  die  vollständige  Nacktheit  bzw.  die  Entblößung  bis  auf  den  Hüften- 
schurz begegnet  uns  im  Kult  der  Völker98,  beim  Gebet  und  Opfer,  beim  Umlauf 
und  Tanz,  bei  der  Inkubation  und  Prophet ie  und  besonders  beim  Totenkult. 
Als  mit  dem  Fortschritt  des  ethischen  und  ästhetischen  Gefühls  die  sakrale  Nackt- 
heit aus  dem  öffentlichen  Kult  verbannt  worden  war,  blieb  sie  in  dem  geheimen 
Mysterienkult  erhalten97.  Im  Folklore  und  in  der  Magie98  lebt  sie  bis  in  die 
Gegenwart  fort.  Die  erschreckende  Rolle,  welche  Nackheit  und  Entblößung 
in  der  Magie  und  im  volkstümlichen  Aberglauben  spielen,  weist  auf  eine  uralte 
Kultgewohnheit  hin,  die  nun  wie  viele  andere  unter  der  Decke  der  Kultur  sich 
fortfristet. 

Seltsamerweise  treffen  wir  beim  Beten  der  Völker  auch  die  entgegengesetzte 
Sitte,  die  Verhüllung,  vor  allem  die  Hauptverhüllung.  Der  Priester  der 
Katchin  trägt  beim  Gebet  eine  Kopfbedeckung99.  Die  Perser  beteten  bedeckten 
Hauptes100;    ebenso  beteten  und  opferten  die  Römer  stets  capile  velato101.     Die 


VI.   Gebetshaltung  und  Gebetsgestus  105 

Frommen  des  Alten  Testamentes  verhüllten  ibr  Haupt  bei  Theophanien102.  In 
der  nachexilischen  Zeit  bildete  sich  die  Sitte  aus,  beim  Gebet  den  Kopf  mit  dem 
Gebetsmantel,  der  Tallith  d.  i.  der  Schützenden  zu  umgeben103.  Noch  der  Apostel 
Paulus  schärft  den  korinthischen  Frauen  ein,  nur  mit  verhülltem  Haupte  zu  beten, 
während  ihm  die  Hauptverhüllung  des  Mannes  als  schändlich  erscheint  (1.  Kor. 
II,  4  f.).  Die  Muslim  bedecken  beim  Gebet  mit  dem  Turban  Scheitel,  Ober-  und 
Hinterkopf;  desgleichen  ist  es  im  Islam  Vorschrift,  daß  der  Oberkörper  beim  Gebet 
bedeckt  ist104.  Die  Chinesen  halten,  wenn  sie  vor  Göttern  und  Geistern  erscheinen, 
eine  Tafel  von  Jaspissteinen  vor  den  Mund105.  Die  Parsen  verhüllen  beim  Kult 
den  Mund  mit  einem  viereckigen  Stück  Zeug,  dem  Paitidhäna  (neupers.  Penom)106. 
Neben  der  Haupt-  und  Mundverhüllung  steht  die  Hand  verhüllung.  Der 
Göttin  Fides  opferten  die  Römer  mit  verhüllter  Hand107.  In  hinduistischen 
Kulten  ist  der  Gebetshandschuh  gebräuchlich108.  Die  Perserpriester  tragen  beim 
Feuerkult  Handschuhe.  In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  die  jüdische 
Sitte  des   Gebetsiiemens. 

All  diese  Gebetshaltungen,  Gebetsgesten  und  Gebetssitten  sind  das 
Vermächtnis  uralter  Zeiten.  Sie  gehören  zu  jenen  Formen  der  Religion, 
die  sich  am  treuesten  durch  Jahrhunderte,  ja  Jahrtausende  hindurch 
erhalten  haben.  Eben  deshalb,  weil  sie  nicht  spontane  Ausdrucksformen 
individuellen  religiösen  Erlebens  sind,  sondern  festes  Traditionsgut  von 
Stämmen,  Völkern  und  Rassen,  ist  die  Deutung  ihres  Sinnes  und  die 
Aufdeckung  ihres  Ursprunges  nicht  ganz  einfach.  Die  alten  religiösen 
und  religionsgeschichtlichen  Interpreten  dieser  Gebetssitten  entdeckten 
in  ihnen  eine  sinnige  Symbolik:  in  den  verschiedenen  Gebetsstellungen 
und  Gebetsgesten  symbolisiert  sich  das  eigentümliche  Verhältnis  des 
Menschen  zur  Gottheit;  in  ihnen  kommen  die  elementaren  religiösen 
Gefühle  der  Ohnmacht,  Abhängigkeit  und  Sehnsucht  zum  Ausdruck. 

Augustinus  schon  sagt:  ,.Die  Betenden  tun  mit  ihren  leiblichen  Gliedern, 
was  Schutzflehenden  geziemt,  wenn  sie  die  Knie  beugen,  wenn  sie  die  Hände 
ausbreiten  oder  sonst  etwas  Sichtbares  machen."109  Jak.  Grimm  sagt:  Die  Ge- 
bärden beim  Gebet  zeigen,  .,daß  der  Mensch  dem  mächtigen  Gotte,  seinem  Sieger 
sich  als  wehrloses  Opfer  darbietet  und  unterwirft."110  ,.Man  nimmt",  urteilt 
Chantepie  de  la  Saussaye,  „dieselben  Stellungen  ein,  zu  welchen 
man  als  Schutzflehender  mächtigen  Herrschern  gegenüber  verpflichtet  ist."111 
,.Das  Stehen",  sagt  der  Bibelforscher  Delitzsch,  ,,ist  Ausdruck  der  Ehrfurcht , 
Untertänigkeit,  Dienstbereit  schaff,  wie  der  Diener  steht  vor  seinem  sitzenden 
Herrn,  wie  die  Engel  stehen  vor  Gottes  Thron."112  Das  ,. Sichhinwerfen"  urteilt 
Edvard  Lehmann,  ,,das  Berühren  der  Erde  mit  der  Stirne  und  das  Knien 
sind  alles  Stellungen  der  Unterwerfung  und  Wehrlosigkeit."113  Im  Händeerheben 
und  Händeausstrecken  drückt  sich  nach  der  Ansicht  Westphals  das  Verlangen 
aus,  die  erwünschte  Gabe  von  der  Gottheit  entgegenzunehmen,  da  man  die  innere 
Hand  dahin  streckte,  wo  man  sich  die  Gottheit  befindlich  dachte.  ..Durch  das 
Ausstrecken  der  Arme",  sagt  Meiners,  ,, suchte  man  die  zögernden  Wohltaten 
und  in  großen  Nöten  die  schleunige  Hilfe  der  Götter  herabzuziehen."114  V  o  u  1  - 
1  ieme  hingegen  meint:  ,,Die  Betenden  strecken  die  Hände  zum  Himmel  und 
zu  den  Göttern,  nicht  um  die  von  den  Göttern  erflehten  Geschenke  entgegenzu- 
nehmen, sondern  um  die  Götter  selbst  gleichsam  zu  berühren  und  ihre  Knie 
schmeichlerisch  zu  umfangen  und  sie  so  zur  Erhörung  der  Bitten  geneigt  zu 
machen115."  Greiff  vollends  schreibt:  ,,Das  Ausstrecken  der  Hände  zum 
Himmel  ist  aus  «lern  Gefühl  des  Versinkens  zu  verstehen.  Wie  das  Kind  seine 
Hände  zur  Mutter  hinaufstreckt,  so  der  Bete  zu  Gott,  damit  er  ihn  aus  dem 
unglücklichen  Zustand  gleichsam  au  den  Händen  heraufziehe."118  ..Das  Hände- 
falten", sagt  Matthias  Claudius,  ,,ist  eine  feine  äußerliche  Zucht  und  sieht 
so  aus,  als  wenn  sieh  einer  auf  Gnade  oder  Ungnade  übergibt  und  's  Gewehr 
streck»."117     ,,In  sinniger  Weise  kommt  ",  wie  D  ö  11  e  r  glaubt,  ,, im  EEändefalten 


106  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

zum  Ausdruck,  daß  man  sich  vor  Gott  gebunden  und  ganz  von  ihm  abhängig 
glaubt."118  Ähnlich  urteilt  Edvard  Lehmann:  ,,Die  zusammengelegten  oder 
gefalteten  Hände  deuten  zugleich  wie  die  kreuzgelegten  Arme  des  orientalischen 
Grußes  die  Wehrlosigkeit  oder  gewollte  Untätigkeit  an."119  ,,Die  Entblößung 
des  Hauptes  war  gewiß",  wie  Jakob  Grimm  sagt,  „von  frühe  her  unter  unseren 
Vorfahren  eine  Ehrenbezeugung,  die  gleich  dem  Neigen  der  Gottheit  wie  Königen 
und  Vornehmen  erwiesen  wurde."120 

Die  neueren  Religionshistoriker,  welche  die  Wurzel  der  religiösen 
Phänomene  in  der  Sphäre  des  Magischen  suchen,  erklären  die  Gebets- 
gesten als  magische  Praktiken,  die  den  Zweck  haben,  durch  Zauber- 
zwang sich  die  wertvolle  Macht  der  Gottheit  zu  sichern  oder  sich  gegen 
ihre  gefährliche  Macht  zu  schützen. 

Schon  Meiners  hatte  behauptet,  daß  die  cireumactio  corporis  magischen 
Ursprungs  sei;  sie  entspringe  der  Absicht,  ,,alle  die  Beschwörungen  und  Zauber- 
werke aufzufangen,  welche  auf  die  Götter  fallen  können  und  gleichsam  einen  Kreis 
um  dieselben  zu  ziehen."121  Die  neueren  Forscher  dehnen  die  magische  Deutung 
auch  auf  die  Händehaltung  des  Betenden  aus.  Der  Islamforscher  Goldziher 
erblickt  in  dem  Emporheben  der  Hände  bei  dem  muhammedanischen  Gebet 
einen  Zusammenhang  mit  uralten  Zaubergesten.  Die  erhobenen  Hände  seien 
ein  Fluchgestus  und  dienten  zur  Abwehr  böser  Geister122.  Das  Händefalten 
hatte  nach  der  Anschauung  von  Schultze  in  der  griechisch-römischen  Welt 
die  Bedeutung  des  Bindens :  man  wollte  die  Dämonen  an  ihrem  Orte  zurück- 
halten oder  sie  zwingen,  dem  Betenden  zu  gehorchen123.  Das  Umfassen  des  Altars 
und  das  Streicheln  des  Idols  geht  nach  A  p  p  e  1  s  und  D  ö  1 1  e  r  s  Hypothese 
auf  den  Glauben  zurück,  daß  man  durch  Berührung  die  Götter  zwingen  könne, 
dem  Wunsche  des  Menschen  zu  willfahren124.  Das  Schwingen  mit  dem  Körper, 
das  Händeklatschen,  Hüpfen  und  Springen  beim  Gebet  ist  nach  E.  Lehmann 
„ekstatischen  Ursprungs"125  —  die  Ekstase  galt  als  Erfülltwerden  von  göttlicher 
Macht,  ein  Besessenwerden  von  Geistern.  Das  Ablegen  der  Schuhe  und  Kleider 
wird  auf  das  Streben  des  Menschen  zurückgeführt,  die  unmittelbare  Einwirkung 
des  göttlichen  Zauberfluidums  auf  seinen  Körper  zu  ermöglichen.  Die  kultische 
Barfüßigkeit  erklärt  sich  nach  Wächter  aus  dem  Glauben,  daß  der  ,,mit 
Bändern  am  Fuß  befestigte  Schuh"  eine  „bindende,  hindernde  Kraft"  sei188. 
D  öl  ler  sieht  in  dieser  Sitte  einen  „Rest  der  sakralen  Nacktheit."127  Ebenso 
meint  Weinhold,  die  Vorschrift  der  Barfüßigkeit  sei  lediglich  „eine  Be- 
schränkung der  Entblößung  des  ganzen  Leibes  auf  einen  Teil."128  Die  religiöse 
Nacktheit  selbst  wird  von  Wächter  aus  der  „Furcht  vor  der  hemmenden 
Wirkung  des  Gewandes"  abgeleitet129.  Nach  Heckenbach  hat  sie  „lustrale 
Bedeutung";  die  Alten  glaubten,  daß  alle  Fesseln  und  mit  ihnen  alles,  was  am 
Körper  unrein  war,  gelöst  werden  müsse130.  Ähnlich  urteilt  Weinhold:  „Der 
ganze  Mensch  muß  sich  der  vom  Verkehr  mit  dem  Irdischen  befleckten  Hüllen 
vor  dem  Göttlichen  entledigen."131  Die  Hauptverhüllung  wird  als  Schutzvor- 
kehrung gegen  Dämonen  gedeutet.  Wensinck  führt  diese  Gebetssitte  auf  die 
Vorstellung  zurück,  daß  die  Dämonen  durch  den  Hinterkopf  eindringen132.  S  a  m- 
t  e  r  weist  auf  die  Anschauung  hin,  daß  man  den  Anblick  der  Geister  meiden 
müsse133.  Eitrem  sagt:  „Die  Verhüllung  will  nicht  gewünschte  Seelen  und 
Geister  weghalten.  Man  verhüllt  vor  allem  die  Augen,  die  Ohren,  die  Nase  und 
den  Mund,  aber  nicht  zum  mindesten  das  Haar.  Das  wallende  Haar  der  Frauen 
war  den  Angriffen  der  Dämonen  besonders  ausgesetzt."134 

Die  ältere  symbolisch-soziale  Deutung  erscheint  in  den  meisten 
Fällen  als  die  naheliegendste  und  natürlichste.  Doch  enthält  auch  die 
magische  Erklärung  verschiedener  Gebetssitten  zweifellos  ein  richtiges 
Element.  Beide  Deutungen  haben  jedoch  vergessen,  die  profanen 
Grußsitten  zum  Vergleich  heranzuziehen.  Der  Grußgestus 
liefert   uns   erst   den    Schlüssel    zum    Verständnis 


VI.   Gebetshaltung  und    Gebetsgestus  107 

des  Gebetsgestus.  All  die  Körperstellungen,  Händehaltungen 
und  sonstigen  Sitten  beim  Gebet  sind  auch  als  Gruß-  und  Huldigungs- 
formen im  profanen  Gesellschaftsverkehr  bezeugt. 

Die  Anbetung  Jahwes  im  Heiligtum  erfolgte  bei  den  Israeliten  in  derselben 
Weise,  wie  ein  Herrscher  oder  Vornehmer  begrüßt  wurde.  Die  profane  Huldigung 
trägt  sogar  denselben  Namen  wie  die  religiöse  Anbetung  (hehr,  histachawä, 
ngoaxweiv)136.  Die  verschiedenen  Körperhaltungen:  Aufstehen.  Stillstehen,  Sich- 
niederwerfen, Sichverneigen,  Niederknien  und  Niedersitzen  finden  sich  in  den 
Grußsitten136.  Der  Kaffer  bestreut  beim  Gruß  sein  Haupt  mit  Staub,  anderswo 
ist  das  Aufheben  des  Staubes  durch  bloßes  Berühren  des  Erdbodens  angedeutet 
—  gleichfalls  eine  verbreitete  Gebetssitte.  Das  der  circumactio  corporis  zugrunde- 
liegende Umkreisen  ist  eine  im  Orient  und  Okzident  übliche  Begrüßung  des  Herr- 
schers. Durch  dreimaliges  Umgehen  ehrte  man  die  persischen  Großkönige  und 
später  die  römischen  Cäsaren ;  dreimal  umging  der  Kelte  Vercingetorix  den  Sessel 
Cäsars,  um  ihm  seine  Unterwerfung  zu  bezeugen  (Plut.  Caes.  27);  dreimal  umritten 
die  mittelalterlichen  Vasallen  das  Gerüst,  auf  dem  der  Kaiser  saß  (,,Berennen 
des  kaiserlichen  Lehnstuhls")137.  Das  Umkreisen  ist  auch  eine  Ehrung,  die  man 
den  Toten  erweist138.  Auch  die  typischen  Händehaltungen  im  Gebet  treffen  wir 
als  Grußgesten.  Die  grüßenden  Indianer  halten  die  Arme  hoch,  die  grüßenden 
Bantu  klatschen  in  die  Hände,  die  grüßenden  Orientalen  kreuzen  die  Hände  über 
die  Brust.  Der  byzantinische  Untertan  erweist  dem  Kaiser  seine  Ehrfurcht  durch 
Kreuzen  der  Arme  auf  der  Brust  (aiavgoyegidZeod-ai.)  Beim  ehrerbietigen  Gruße 
faltete  man  im  alten  Indien  die  Hände.  Gefaltete  Hände  gehören  zur  iranischen 
Huldigung.  Im  frühen  Mittelalter  ist  das  Händefalten  eine  häufige  Form  der 
Huldigung  der  Vasallen  vor  dem  Lehensherrn,  der  niederen  Geistlichen  vor  dem 
Bischof139.  Die  Umarmung  ist  eine  Lieblingsform  des  Grußes  in  Ausstralien. 
Das  zärtliche  Streicheln  kommt  bei  den  japanischen  Ainu  als  Grußform  vor.  Der 
Kuß  auf  Mund,  Wangen  und  Stirne  ist  im  europäischen  Kulturkreise  beliebt; 
er  entstand  als  Grußform  wahrscheinlich  in  Persien  und  drang  von  hier  ins  Abend- 
land ein140.  Der  Nasenkuß  findet  sich  als  Grußform  in  Ozeanien  und  China. 
Bei  größerer  Entfernung  treten  an  Stelle  der  körperlichen  Berührung  Wink  und 
Kußhand.  Zahlreiche  Grüße  stellen  eine  teilweise  Entblößung  des  Körpers  dar: 
der  Orientale  entledigt  sich  der  Sandalen,  der  afrikanische  Neger  entblößt  die 
Schultern  oder  den  ganzen  Oberkörper,  der  Europäer  nimmt  die  Kopfbedeckung 
ab.  Der  Besiegte  erscheint  im  alten  Orient  vor  seinem  Sieger  nackt  oder  nur  mit 
dem  Lendenschurz  bekleidet141.  Aber  auch  die  Haupt-  und  Handverhüllung 
lassen  sich  als  Grußsitte  nachweisen.  Der  Tubu,  der  einem  Fremden  begegnet, 
umhüllt  sorgsam  sein  Gesicht  mit  dem  Turban,  so  daß  nur  die  Augen  sichtbar 
sind.  Auf  Java  und  Borneo142  legen  die  grüßenden  Frauen  die  Hände  vor  das 
Gesicht.  In  China  hält  man  bei  der  Begrüßung  des  Kaisers  eine  Tafel  aus  Jaspis- 
steinen vor  den  Mund143.  Die  Perser  verhüllten  die  Hände  bei  der  Huldigung 
vor  dem  König.  Noch  heute  tragen  die  Europäer  bei  feierli  hen  Anlässen  Hand- 
schuhe. 

Die  verschiedenen  Grußsitten  und  -gebärden  sind  Ausdrucksformen 
von  Sozialgefühlen  147,  jenen  Gefühlen,  die  der  Grüßende  gegenüber 
dem  Begrüßten  hegt.  Wohlgefallen,  Zuneigung,  Freundschaft,  Streben 
nach  Vereinigung  offenbaren  sich  in  den  Grußformen,  in  welchen  eine 
körperliche  Berührung  erfolgt,  im  Umarmen,  Streicheln  und  Küssen. 
Die  Freude  über  die  Begegnung  kommt  im  Händeklatschen  zum  Aus- 
druck. Diese  Grußform  bildet  den  Übergang  zwischen  den  Freund- 
schaftsgrüßen zu  den  Respektsgrüßen,  den  Ehren- und  Unterwürfigkeits- 
bezeugungen; der  Grüßende  steht  zum  Begrüßten  im  Verhältnis  der 
Unterordnung.  Im  Stillestehen  äußert  sich  gewollte  Passivität.  In  den 
verschiedenen  Verkleinerungen  des  Körpers,  im  Sichniederwerfen,  Sich- 
verbeugen, im  Knien,  Kauern  und  Sitzen  verrät  sich  das  Bewußtsein 


108  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

der  eigenen  Kleinheit,  Nichtigkeit  und  Ohnmacht.  Das  Bestreuen  des 
Hauptes  mit  Staub  und  das  Berühren  des  Erdbodens  will  die  Niedrigkeit 
und  Verworfenheit  des  Grüßenden  zum  Ausdruck  bringen.  Das  Hände- 
erheben,  Händekreuzen  und  Händefalten  sind  Zeichen  der  Wehrlosig- 
keit,  Abhängigkeit,  des  Verhaftetseins  an  den  Mächtigen  und  Starken. 
Reiche  und  vollständige  Kleidung  bedeutet  Vornehmheit,  teilweise 
Nacktheit  Armut  und  niederen  Stand  148.  Völlige  Entkleidung  ist  eine 
Demütigung,  zu  der  sich  der  Besiegte  verstehen  muß. 

Aber  noch  ganz  andere  Vorstellungen  und  Absichten  liegen  den 
Grußsitten  zugrunde.  Manche  von  ihnen  sind  nicht  nur  oder  überhaupt 
nicht  Äußerungen  von  Sozialgefühlen,  sondern  wurzeln  in  dem  über 
das  Leben  des  Primitiven  sich  ausbreitenden  Glauben  an  die  Zauber- 
macht.  Der  Fremde  und  Unbekannte  ist  ebenso  wie  der  Herrscher  und 
Häuptling  mit  ,Macht'  erfüllt;  alles  Neue,  Ungewöhnliche,  Außer- 
ordentliche, wie  alles  Große,  Gewaltige  und  Wunderbare  weckt  im 
Primitiven  Furcht  und  Zuversicht,  Ehrfurcht  und  Staunen;  es  ist  für 
ihn  ,Macht',  wertvoll  und  gefährlich  zugleich,  mana  und  tabu.  Ja,  in 
jedem  Menschen  wohnt  solche  Macht,  die  Lebenskraft,  der  zauberhafte 
Seelenstoff,  wie  er  in  den  Haaren  und  in  den  Nägeln,  im  Blut,  im  Hauch 
und  im  Speichel  sinnenfällig  ist.  Im  Kusse  und  im  Beriechen  wird  man 
der  kraftvollen  Seelenmaterie  des  anderen  teilhaftig;  durch  die  Be- 
rührung mit  der  Hand  entsteht  ein  geheimnisvoller  Kontakt  mit  dem 
Mana,  dem  elektrischen  Zauberfluidum  des  anderen.  Wie  durch  gemein- 
sames Trinken  aus  gleichem  Becher,  so  entsteht  auch  durch  den  Kuß 
ein  magisches  Bündnis;  durch  den  gegenseitigen  Austausch  des  Seelen- 
stoffes sind  die  beiden  einander  verhaftet;  keiner  wagt  es,  dem  anderen, 
der  nun  Macht  über  sein  Leben  erlangt  hat,  zu  schaden.  Noch  auf 
andere  Weise  vermag  der  Primitive  sich  gegen  die  im  Fremden  und  im 
Häuptling  steckende  gefährliche  Macht,  gegen  das  Fremdlingstabu  und 
Häuptlingstabu  zu  sichern  und  schützen.  Wie  der  Zauberer  und  Be- 
schwörer um  ein  mit  Zauberkraft  geladenes  Objekt  einen  Kreis  be- 
schreibt, so  umkreist  der  Grüßende  den  Fremdling  oder  Häuptling, 
um  dessen  Tabu  in  diesen  umgrenzten  Raum  zu  bannen  und  seine  Fern- 
wirkung zu  verhindern.  Er  verhüllt  sein  eigenes  Haupt  oder  legt  wenig- 
stens die  Hand  an  dasselbe,  auf  daß  die  schädigende  und  tötende  Zauber- 
kraft des  anderen  nicht  in  sein  Haupt,  den  Sitz  des  Lebens,  eindringe. 

Das  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  ist  ein  Reflex  des  sozialen  Ver- 
hältnisses von  Mensch  zu  Mensch.  Dieselben  Sozialgefühle,  die  der 
Mensch  seinem  Mitmenschen  gegenüber  hegt,  hegt  er  auch  gegenüber 
der  Gottheit:  Zuneigung,  Freundschaft,  Ehrfurcht,  Demut,  Unter- 
tänigkeit. Aber  die  Gottheit  ist  nicht  nur  ein  menschenähnliches  Wesen, 
sondern  wie  der  Fremdling  und  Herrscher  auch  ,Macht',  Mana  und  Tabu, 
gegen  das  der  Mensch  sich  schützen  muß.  So  kommt  es,  daß  sowohl  die 
sozialen  wie  die  magischen  Grußgesten  in  den  Gebetsverkehr  mit  der 
Gottheit  übernommen  wurden 147.  (Doch  scheinen  die  magischen 
Grußgesten  viel  später  zu  Gebetsgesten  geworden  zu  sein  als  die  sozialen, 
was  daraus  hervorgeht,  daß  sie  sich  als  Gebetsgesten  meist  nur  bei  den 
antiken  Völkern,  aber  selten  bei  den  Naturvölkern  finden.)   Die  Gleich- 


VII.  Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  109 

heit  oder  Ähnlichkeit  der  Gefühle  und  Vorstellungen  bedingte  die  An- 
wendung der  diesen  Gefühlen  und  Vorstellungen  zugeordneten  Aus- 
drucksformen. Diese  Übertragung  profaner  Grußsitten  in  das  Gebiet 
des  religiösen  Kults  mag  in  manchen  Fällen  eine  differenzierende  Rück- 
wirkung auf  den  profanen  Gesellschafts  verkehr  ausgeübt  haben.  Jene 
Grußgesten  und  -sitten,  die  zu  religiösen  Grußgesten  und  -sitten,  zu 
Gebetsformen  geworden  waren,  verschwanden  bisweilen  aus  dem  profanen 
Leben.  Das  Divergieren  von  Gebetsgestus  und  Grussgestus  bei  ver- 
schiedenen Völkern  dürfte  hierin  seinen  Grund  haben  148. 

Sämtliche  Gebetsgebärden  und  -sitten  gehen  also  auf  profane  Gesten 
und  Verkehrsformen  zurück,  vor  allem  auf  die  Grußsitten.  Es  gibt 
ursprünglich  keine  spezifische  Gebetsstellung  und  Gebetsgebärde,  die 
der  besondere  Ausdruck  religiöser  Gefühle  oder  magischer  Vorstellungen 
wäre.  Schon  die  Sprache  bezeugt,  daß  eine  ausschließlich  für  die 
übernatürlichen  Wesen  bestimmte  Huldigung  und  Verehrung  nicht 
besteht.  Die  Termini  für  ,anbeten'  (hebr.  hiMachawä, ,  babylonisch 
Zukennu,  indisch -altpersisch  nam,  griechisch  tcqooxvveiv,  lateinisch  vene- 
rari,  adorare)  werden  in  gleicher  Weise  auf  Menschen  und  Götter  ange- 
wendet149. Die  magische  Deutung  hat  den  Zusammenhang  mit  den 
Grußsitten  völlig  übersehen,  die  symbolische  Theorie  hat  ihn  nicht 
entschieden  genug  hervorgehoben.  Die  meisten  Gebetsstellungen  und 
-gesten,  die  man  bisher  als  B  i  1 1  gesten  interpretiert  hat,  sind  in  Wirk- 
lichkeit Grußgesten.  Nur  das  Ausbreiten  und  Falten  der  Hände 
mag  bei  manchen  Stämmen  als  profaner  Bittgestus  geübt  und  dann 
zum  Gebetsgestus  erhoben  worden  sein. 

Dem  lebendigen  Wort  und  dem  lebendigen  Mienenspiel  gegenüber 
erscheint,  wie  wir  bemerkten,  die  Körperstellung  und  Gebärde  beim 
Gebet  als  eine  starre,  traditionelle  und  konventionelle  Form.  Die 
Worte,  in  denen  der  Beter  sein  Herz  ausschüttet,  sind  stets  neu,  aus 
der  Not  der  Gegenwart  geboren;  in  seinem  Antlitz  spiegelt  sich  der 
flüchtige  Augenblicksaffekt ;  aber  seine  Körperstellung  und  seine  Hände- 
haltung sind  dieselben,  mit  denen  schon  vor  Jahrhunderten  und  Jahr- 
tausenden Menschenkinder  gebetet  haben.  Der  Gebetsgestus  stammt 
aus  grauer  Urzeit,  unverändert  hat  er  sich  bis  in  die  Gegenwart  fort- 
geerbt —  ein  lebendiges  Zeugnis  von  dem  dramatischen  Realismus, 
der  dem  Gebetsverkehr  des  Primitiven  mit  seinem  Gott  eigen  ist. 

VII.    Die    im     Gebet    angerufenen    höheren   Wesen. 

I.  Die  Wesen,  an  die  der  primitive  Mensch  sich  bittend  und  an- 
betend wendet,  sind  gar  viele  und  von  mannigfacher  Art.  Bei  vielen 
Naturvölkern  richtet  man  Gebete  und  Bitten  in  erster  Linie  an  die 
verschiedenen  Naturgeister  und  Naturgötter,  höhere,  mächtige 
Wesen,  die  mit  einem  wahrnehmbaren  oder  kleineren  Naturobjekt 
verbunden  sind,  in  ihm  wohnen  und  wirken.  Alle  Gegenstände  und 
Erscheinungen  der  Natur,  die  dem  primitiven  Menschen  auffällig  sind, 
die  in  ihm  starke  Affekte  der  Furcht,  Ehrfurcht,  Bewunderung  und 
Hoffnung  auslösen,  die  ihm  Glück  und  Nutzen  verheißen  oder  Unglück 


HO  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


und  Gefahr  zu  bringen  drohen,  können  Objekte  des  Gebets  und  der 
Anbetung  werden :  ein  seltsam  geformter  Stein,  ein  aufragender,  zackiger 
Fels,  ein  schneebedeckter,  riesenhafter  Bergesgipfel;  ein  rauschender 
Quell,  der  den  Menschen  erquickt,  ein  sprudelnder  Bach,  der  den  Feldern 
Fruchtbarkeit  spendet,  ein  gewaltiger  Strom,  der  über  die  Ufer  tritt, 
ein  trügerischer  See,  der  so  manches  Opfer  in  seine  Tiefe  zog;  ein  alt- 
ehrwürdiger gewaltiger  Baum,  der  reichen  Schatten  spendet,  ein  immer- 
grüner Stamm,  ein  heilkräftiges  Kräutlein,  das  nährende  und  keimende 
Saatkorn;  das  körn  tragende  Feld,  dessen  Fruchtbarkeit  man  sich  in 
einer  dieses  Feld  bewohnenden  Gottheit  konzentriert  denkt,  der  Blitz- 
strahl, der  zuckend  zur  Erde  fährt,  der  Donner,  der  mächtig  durch 
die  Lüfte  hallt,  der  wehende  Wind,  der  krachend  durch  die  Äste  des 
Waldes  fährt  und  über  die  weiten  Steppen  eilt,  das  flackernde  Feuer, 
das  der  menschlichen  Arbeit  eine  Quelle  unendlichen  Segens  ist,  zu- 
gleich ein  Schutz  wider  wilde  Tiere  und  böse  Geister;  der  mütterliche 
Erdboden,  dem  nach  primitiver  Vorstellung  alles  vegetative  und  ani- 
malische Leben  entspringt  und  in  den  alles  Lebendige  wieder  zurückkehrt, 
die  leuchtende  Sonne,  die  Wärme,  Licht  und  Wachstum  spendet, 
der  strahlende  Mond,  der  das  nächtliche  Dunkel  erhellt,  die  Sterne, 
die  am  Nachtfirmamente  funkeln.  Neben  den  in  der  leblosen  und 
vegetativen  Natur  wirkenden  Geistwesen  stehen  die  Tiergötter: 
Lebewesen,  die  ob  ihrer  Größe  auf  die  Menschen  Eindruck  machen, 
wie  der  Elefant,  solche,  die  ihnen  ob  ihres  unheimlichen  Aussehens 
Furcht  einflößen,  besonders  die  Schlange,  sodann  die  verschiedenen 
Totemtiere,  mit  denen  eine  straff  organisierte  Gruppe  (,Clan')  sich  enge 
verbunden  fühlt  und  die  bisweilen  auch  als  Urheber  und  Schöpfer 
des  Clans  gelten. 

Nicht  nur  tote  und  beseelte  Naturgegenstände  redet  der  primitive 
Mensch  im  Gebete  an  und  bringt  ihnen  Opfer  dar,  er  verehrt  sogar 
die  Werke  seiner  eigenen  Hände  als  göttliche  Wesen . 
Auch  in  den  durch  menschliche  Kunst  verfertigten  Objekten,  die  zum 
menschlichen  Leben  und  Schaffen  in  nützliche  Beziehung  treten,  offen- 
bart sich  die  Tat  und  die  Macht  eines  übermenschlichen  Wesens.  So 
bringt  der  Ewer  bei  der  jährlichen  Yamsernte  dem  Buschmesser  und 
der  Axt,  dem  Hobel,  der  Säge  und  der  Schelle,  kurz  allen  in  seinem 
Dienste  stehenden  Werkzeugen  Opfer  dar1.  Bei  den  Toba-Batak 
opfert  der  Schmied  dem  Eisen;  auch  den  eisernen  Geräten,  der  Hacke, 
dem  Messer,  dem  Schwert,  der  Lanze;  der  Fischer  opfert  seinem  Kanoe, 
der  Jäger  seiner  Flinte;  der  Zimmermann  seinen  Werkzeugen;  die 
Familie  der  Seele  des  häuslichen  Herdes.  Im  heutigen  Jndien  beginnen 
die  Arbeiter  ihr  Tagwerk  mit  der  Anbetung  ihrer  Werkzeuge;  der  Ar- 
beiter wirft  sich  vor  seinem  Spaten  oder  seinem  Pflug  nieder,  der  Holz- 
hauer vor  seiner  Axt2.  Vor  allem  aber  betrachtet  der  Primitive  gerne 
die  mannigfachen,  von  übernatürlicher,  wertvoller  Zaubermacht  (Mana) 
erfüllten  Objekte  und  Präparate  als  von  menschenähnlichen  Geist- 
wesen beseelt  und  bewohnt  und  ruft  deshalb  diese  übernatürlichen 
Träger  bittend  und  anbetend  an.  Solche  kraftbegabte  Gegenstände 
können   die   Opfergeräte  sein,   sowie  sonstige  beim   Kult  verwendete 


VII.  Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Naturgeister)  111 


Instrumente,  Zauberstäbe,  besonders  aber  Fetische.  Unter  einem 
Fetisch  ist  dem  ursprünglichen  Wortsinn  nach  (portugiesisch  feitigo 
von  factitius)  ein  machtgeladenes,  zauberkräftiges  Objekt  zu  ver- 
stehen, das  vom  Menschen  selbst  künstlich  ,gemacht',  verfertigt  bzw. 
zubereitet  und  zugerichtet  wird ;  im  Gegensatz  dazu  werden  die  Natur- 
gegenstände (Steine,  Bäume,  Gewächse)  in  ihrer  ursprünglichen  natur- 
haften Gestalt  als  machterfüllte,  geistbeseelte,  übernatürliche  Wesen 
angesehen  und  verehrt.  Ein  solcher  Fetisch  kann  in  einem  zugeformten 
Stein  oder  Holz  bestehen  oder  auch  in  einem  alle  möglichen  zauber- 
kräftigen Substanzen  enthaltenden  Bündel  wie  dem  nkisi  der  Kongo- 
neger3. Oft  wird  ein  Stein  oder  Holz  so  zugeformt,  daß  in  ganz  rohen 
Umrissen  menschenähnliche  Züge  hervortreten.  So  verfertigen  die 
japanischen  Ainu  aus  Bäumen  Schnitzbilder,  die  sie  dann  als  Fetische 
(inao)  verehren  und  anbeten4.  Während  die  Fetische  trotz  aller 
künstlichen  Bearbeitung  und  Zubereitung  letzten  Endes  doch  nur  über- 
natürliches ,Mana  besitzende  Naturdinge  sind,  sind  die  Idole  und 
Götterbilder,  die  auf  höherer  Kulturstufe  aus  den  rohen  Fe- 
tischen herauswachsen,  eine  freie  künstlerisch-schöpferische  Gestaltung 
von  Phantasievorstellungen  über  die  stark  anthropomorphisierten  über- 
sinnlichen Mächte.  Diese  künstlerische  Darstellung  setzt  stets  einen 
Fortschritt  im  mythologischen  Denken  voraus.  Doch  lebt  der  natur- 
hafte Charakter  der  mächtigen  Wesen  auch  in  den  künstlerischen 
Idolen  fort.  Das  Material,  aus  dem  die  griechischen  Hermessäulen  ver- 
fertigt werden ,  ist  stets  Stein .  Die  Tier  köpf  e  der  Götterbilder  in  Ägypten 
beweisen  den  ursprünglich  tierischen  Charakter  der  Götter. 

Nicht  nur  Naturdinge  und  Naturerscheinungen,  in  denen  sich  ge- 
heimnisvolle Macht  und  Lebenskraft  offenbart,  werden  zu  Kultobjekten, 
man  opfert  und  betet  auch  zum  Seelenstoff,  der  dem  mensch- 
lichen Leibe  Leben,  Kraft  und  Gesundheit  spendet,  einer  feinmateriellen 
Kraftsubstanz,  die  man  sich  zu  erhalten  sucht  und  die  man  auf  alle 
mögliche  Weise  kräftigen  und  fördern  will  dieser  Glaube  und  Brauch, 
ist  besonders  in  den  malaiischen  Völkern  lebendig  ist.  Diese  Lebens- 
kraft, Lebensmaterie  ist  „eine  Art  Mensch  im  Menschen",  so  der  tanoana 
der  Toradja,  der  kala  der  Karenen,  der  tondi  der  Batak5.  Der  genius, 
den  jeder  altrömische  Mann  besaß,  wie  die  juno,  die  jede  römische 
Frau  hatte,  sind  nichts  anderes  als  die  unsichtbare,  Lebenskraft  ver- 
leihende Seelenmaterie.  Die  kultische  Verehrung,  die  man  ihr  erwies, 
um  sie  zu  sichern  und  steigern,  brachte  es  mit  sich,  daß  aus  einem 
individuellen,  übersinnlichen  Seelenstoff  ein  persönlicher,  göttlicher 
Schutzgeist  wurde,  wie  die  Entwicklung  der  römischen  Genius- 
vorstellung lehrt. 

Neben  den  Naturmächten  stehen  als  zweite  große  Gruppe  über- 
natürlicher Wesen  die  Tätigkeitsgötter.  Diese  sind  nicht  wie 
die  verschiedenen  Naturgottheiten  an  bestimmte  sichtbare  Objekte 
unzertrennlich  gebunden,  sondern  an  sich  völlig  unsichtbar,  sichtbar 
und  greifbar  nur  in  den  Wirkungen,  die  von  ihnen  ausgehen.  Seltsame 
und   plötzliche   Erkrankungen   werden   auf   das   Wirken   unheimlicher 


112  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


Geister  zurückgeführt,  die  in  den  Leib  des  Kranken  fahren  oder  auf 
andere  Weise  das  Übel  hervorrufen .  Sehr  häufig  denkt  sich  der  Primitive 
diese  unholden  Geisteswesen  als  in  der  Luft  hausend  und  durch  die 
Luft  in  den  menschlichen  Körper  gebracht,  gleich  als  ahnte  er  die  Be- 
deutung der  atmosphärischen  Luft  für  die  Verbreitung  und  Übertragung 
der  Krankheitskeime.  Diese  Krankheitsgeister  sind  zumeist 
nur  wilde  Dämonen,  von  verschwommenem,  mehr  unpersönlichem 
Charakter,  ohne  Zahl  und  Name;  nicht  selten  aber  nehmen  sie  schärfer 
umrissene,  persönlichere  Züge  an  und  werden  aus  unbestimmten  Geistern 
zu  Sondergöttern,  die  einen  bestimmten  Macht-  und  Wirkungskreis 
haben:  Die  Büro  kennen  einen  , Blatterngott'6,  die  Haidaindianer 
einen  Dämon  der  Pestilenz,  einen  Dämon  der  Pocken  und  einen  solchen 
des  gewaltsamen  Todes7,  die  Römer  verehrten  eine  Göttin  Febris.  In 
den  meisten  Fällen  sucht  man  sich  dieser  unheimlichen  Gäste  durch 
Beschwörungshandlungen  und  -worte  zu  entledigen,  man  sucht  sie  auf 
alle  mögliche  Weise  zu  verjagen  und  zu  verscheuchen,  aber  wendet  sich 
an  sie  auch  mit  demütigem  Flehen  und  mit  Opfergaben,  beseelt  von 
dem  tiefen  Gefühl  völliger  Abhängigkeit. 

Eine  andere  Klasse  der  Tätigkeitsgötter  bilden  die  ,departemental 
gods'  (Andrew  Lang),  die  Patron-,  Funktions-,  oder  , Sondergötter' 
(Usener)8,  die  mit  keiner  Naturerscheinung  in  Beziehung  stehen,  sondern 
bestimmte  menschliche  Tätigkeiten  und  Beschäftigungen  lenken  und 
überwachen,  ihre  übernatürliche  Ursache  darstellen.  Die  verbreite tsten 
dieser  Patrongötter  sind  die  Kriegsgötter,  die  sich  auch  bei  höher  ent- 
wickelten Naturvölkern  wie  den  afrikanischen  Ewe  und  den  Polynesiern 
finden9.  Die  Haida-Indianer  kennen  eine  , Eigentumsfrau',  von  der 
aller  Reichtum  kommt10.  Der  Ewe-Kaufmann  verehrt  die  ,Marktgott- 
heit'11  wie  der  römische  Händler  den  Mercurius.  Einen  unerschöpflichen 
Reichtum  von  stets  neu  entstehenden  Sonder-  und  Patrongöttern  be- 
sitzen die  griechische,  altrömische  und  altlitauische  Religion.  Fast  bei 
jeder  menschlichen  Handlung,  von  der  Wiege  bis  zum  Grabe,  beim 
täglichen  Tun  und  Treiben  wie  bei  selten  vorkommenden  Gelegenheiten 
rief  der  Grieche  eine  eigene  Gottheit  an,  die  hier  und  nur  hier  hilft.  So 
opferte  man  in  Athen  an  dem  Frauenfeste  der  Thesmophorien  der  Kalli- 
geneia,  d.  h.  der  schöne  Geburt  Verleihenden.  Kurotrophos,  die  Kind- 
ernährerin, schützt  das  Wachstum  der  Kinder.  Die  jungen  Athener 
rufen,  wenn  sie  beim  Eintritt  in  das  mündige  Alter  den  Ephebeneid 
leisten,  Thallo  an,  die  der  Jugend  Blühen  und  Gedeihen,  Auxo,  die 
Wachstum  verleiht,  Hegemone,  die  Geleiterin.  Paian  oder  Paieon, 
Jaso,  Akesios,  Panakeia  waren  Gottheiten  des  Heilens12.  Bei  den 
Römern  steht  jede  einzelne  Handlung  in  der  bäuerlichen  Beschäftigung 
unter  dem  Patronat  einer  Spezialgottheit.  Sterculinus  sorgt  für  die 
Düngung  des  Ackers,  Veruactor  für  das  erste  Durchackern  des  Brach- 
feldes, Reparatur  für  das  zweite,  Imporcitor  für  das  dritte,  Insitor  für 
das  Säen;  so  geht  es  fort  bis  zum  Messor,  der  der  Schnittertätigkeit 
vorsteht,  Convector,  der  die  Einfahrt  des  Getreides,  zu  Terensis,  der 
das  Ausdreschen  unter  sich  hat,  und  Tutulina,  welche  das  eingeheimste 
Korn   aufbewahrt.       Beim   Fluropfer    hatte  der  jlamen  außer    Tellus 


VII.   Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Sonder-  und  Lokalgötter)   113 

und  Ceres  zwölf  solche  ländliche  Sondergötter  anzurufen13.  Die 
Gottesstimme,  welche  die  Römer  vom  Heranrücken  der  Gallier 
unterrichtete,  erhielt  als  Aius  Locutius  einen  Altar;  die  Gottheit,  welche 
die  Umkehr  Hannibals  veranlaßte,  bekam  unter  dem  Namen  Rediculus 
ein  Heiligtum.  Neue  Gottheiten  entstehen  im  religiösen  Glauben  der 
Völker  unauf höflich  — ■  noch  im  heutigen  Hinduismus  können  wir  dieses 
theogonische  Schauspiel  beobachten14.  Aber  bei  den  meisten  Völkern 
sind  diese  neu  auftauchenden  Gottheiten  an  konkrete  Objekte  der 
Natur  und  Kunst  gebunden.  Daß  die  Griechen,  Römer  und  Litauer 
so  zahlreiche  Tätigkeits-  und  Patrongötter  schufen,  beruht  zweifellos 
auf  dem  gerade  diesen  indogermanischen  Völkern  eigentümlichen  ab- 
strakten Charakter  des  Vorstellens,  „dem  tiefen  Gefühl  des  Allgemeinen 
in  dem  Besonderen15. 

Eine  Variante  der  Patrongötter  bezeichnen  die  eigentlichen  ,L  o  k  a  1- 
gottheiten'.  die  &soi  nohovxoi  oder  iyx&Qtoi,  die  jedoch  im  Unter- 
schied von  den  Tätigkeitsgöttern  in  enger  Beziehung  zu  bestimmt  um- 
grenzten Orten  und  Ländern  stehen.  Bei  den  Kekchi-In dianern  hat 
jedes  Dorf  seinen  eigenen  Tzultaccä,  den  „Herrn  der  Berge  und  Täler", 
dem  man  opfert  und  zu  dem  man  betet16.  Im  ältesten  Ägypten  „besaß 
jede  Stadt,  jedes  Dorf,  jeder  Flecken  seine  eigene  Schutzgottheit, 
seinen  Heiligen.  An  ihn  wandten  sich  die  Bewohner  in  den  Tagen  der 
Not  und  Gefahr,  hilfeflehend.  Seine  Gunst  suchten  sie  durch  Opfer 
und  Gebete  zu  gewinnen.  In  seiner  Hand  lag  das  Wohl  und  Wehe  der 
Gemeinde:  er  war  der  Herr  der  Gegend,  der  ,städtische  Gott',  der, 
gleich  einem  weltlichen  Fürsten,  die  Geschicke  seiner  Schutzbefohlenen 
lenkte  und  ihr  Leben,  ihr  Hab  und  Gut  gegen  äußere  Feinde  verteidigte. 
So  eng  war  der  Gott  mit  seiner  Ortschaft  verbunden,  daß  er  häufig 
nicht  einmal  einen  eigenen  Namen  besaß,  sondern  kurzweg  nach  der 
Kultstätte,  die  ihm  gehörte,  oder  an  der  er  sich  offenbarte,  bezeichnet 
wurde".17  Bei  den  westsemitischen  Stämmen  verehrte  jede  Stadt  und 
jeder  Ort  eine  mehr  oder  minder  anonyme  Ortsgottheit  als  El  (Macht), 
Dan  (Richter),  Melekh  (König),  besonders  aber  unter  der  Bezeichnung 
Ba'al  (Herr).  Häufig  wird  das  appellative  Wort  für  Gott  durch  die 
Ortsbestimmung  zum  Eigennamen  der  Gottheit  (Ba'al-Peor,  Herr  von 
Peor,  Melkhart,  König  der  Stadt).18  In  Griechenland  hatte  jede  Stadt 
und  jedes  Dorf  seine  eigene  Gottheit,  die  ihren  Verehrern  und  nur  diesen 
Schutz  gewährte.19  Bei  den  Römern  hatte  jede  Stadt,  jeder  Gau,  ja 
jede  Straße  und  jedes  Grundstück  seinen  lar  als  Orts-  und  Schutzgeist, 
jedes  Haus  seinen  lar  familiaris  genau  so  wie  jeder  Mann  seinen 
genius  besaß20. 

Alle  diese  höheren  Wesen  sind  in  ihrem  Wirken  nicht  völlig  unbe- 
schränkt, sondern  an  ein  genau  umschreibbares  Gebiet  gebunden:  die 
Naturgeister  an  das  betreffende  Naturphänomen,  die  Tätigkeits-  und 
Patrongötter  an  die  unter  ihrer  Aufsicht  stehenden  Handlungen  und 
Beschäftigungen,  die  Lokalgottheiten  an  die  ihnen  gehörigen  Orte 
und  Länder.  Ihre  Macht  ist  also  nicht  absolut,  sondern  auf  den 
ihnen     eigentümlichen    Wirkungsbereich     begrenzt.       Eben     deshalb 

Das  Gebet  8 


114  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

pflegt  man  sich  an  sie  nicht  in  jeder  beliebigen  Angelegenheit  zu 
wenden,  sondern  nur  in  solchen  Anliegen,  die  in  ihren  Wirkungsbereich 
einschlagen,  nur  mit  solchen  Wünschen  und  Bitten,  deren  Erfüllung  in 
ihrer  Macht  liegt. 

Die  Götter  der  Gebirgspässe  ruft  der  Kabosenja  um  glückliche  Reise  an,21 
den  tro  eines  Teiches  bittet  der  Ewe  um  Regen,22  zur  , Göttin  des  Wassers'  betet 
der  Ainu,  wenn  er  aus  der  sprudelnden  Quelle  Wasser  schöpft.23  „Fluß,  friß  mich 
nicht",  fleht  der  Xosakaffer,  wenn  er  einen  Fluß  durchschreitet.24  „Du  mögest 
mir  die  Erlaubnis  geben  zum  Baden  und  Fischfangen,  ohnemir  Schaden  zuzufügen" 
ist  die  Bitte  der  Cora-Indianer  an  den  Flußgott  Tschakan26.  Die  Ainu  rufen  den 
, großen  Gott',  der  über  die  Wasser  gebietet,  um  reichen  Fischfang  an26.  Der 
Eweptiester  richtet  an  den  tro  eines  Baches  ein  Sühnegebet,  wenn  j  mand  durch 
Wasserschöpfen  mit  verrußtem  Topfe  ihn  beleidigt  hat27.  Die  Schiffer  am  Tangan- 
jkasee  flehen,  wenn  sie  ihre  Boote  besteigen,  zum  Seegeist  um  Verschonung  des 
Lebens28.  Zur, Reismutter'  beten  die  Karenen  um  Wachstum  des  Reises  undSchutz 
des  Feldes  vor  Dieben2*,  zur  Korngöttin  Demeter  die  Griechen  um  dicke  Garben30 
Der  Getreidegottheit  danken  die  Ainu  für  die  reiche  Ernte,  die  sie  gespendet31. 
Zum  schützenden  und  Unheil  wehrenden  Feuer  richten  die  auf  der  Jagd  befind- 
lichen Ainu  ihr  Nachtgebet,  vom  heiligen  Herdfeuer  erflehen  sie  häusliches  Fa- 
milienglück32. Die  gebärende  und  nährende  , Mutter  Erde'  wurde  von  den  Griechen 
um  Kindersegen  und  Fruchtbarkeit  der  Felder  angerufen.33  Zur  Sonne  fleht 
der  afrikanische  Kiziba,  daß  sie  scheine,84  der  Cora-Indianer  bittet  sie,  dafür  zu 
sorgen,  daß  die  Flüsse  den  Feldern  keinen  Schaden  zufügen;35  der  Kekchi-Indianer 
dankt  ihr,  Wenn  sie  nach  heftigem  Regen  strahlend  die  Wolken  durchbricht.3* 
Den  , Häuptling'  Elefant  flehen  die  Kaffern  an,  daß  er  sie  nicht  zertrete  und  töte.37 
Wenn  die  zentralaustralischen  Warramunga  sich  der  Höhle  nahen,  in  der  die 
Riesenschlange  Wollunqua  haust,  bitten  sie  dieselben,  sie  möchte  ihnen  doch 
keinen  Schaden  zufügen. 38  Die  Haida-Indianer  bitten  die  übernatürlichen  Seetiere 
um  guten  Fang,  das  Käuzchen  rufen  sie  um  trockenes  Wetter  an.39  In  zahlreichen 
Stämmen  bitten  die  Jäger  die  Geister  der  erlegten  Jagdtiere  um  Entschuldigung, 
daß  sie  sie  getötet  haben.40  In  ähnlicher  Weise  erfleht  man  auch  beim  Fällen 
von  Bäumen  Verzeihung  von  den  Baumgeistern. 41  Die  Karenen  bitten  den  Seelen- 
stoff zurückzukehren,  wenn  sie  fürchten,  er  habe  den  Leib  verlassen.42  Bei  Schwer- 
geburten opfern  die  Batak  der  Kinderseele  und  bitten  sie,  doch  zu  kommen.43 
Zu  den  gefürchteten  Krankheitsgeistern  fleht  man,  daß  sie  fortgehen  oder  fern- 
bleiben möchten.44  Zu  den  Spezial-  und  Patrongöttern  betet  man  nur  in  den 
Anliegen,  die  ihr  Wirken  und  ihre  Macht  betreffen,  zum  Kriegsgott  um  Siegesglück, 
zum  Handelsgott  um  gute  Geschäfte,  zum  Glücksgott  um  Erfolg,  zum  Hausgeist 
um  Gesundheit  und  Wohlstand  der  Familie.  Zu  den  Lokalgottheiten  betet  man 
nur  innerhalb  ihres  begrenzten  Territoriums.  Antike  Reisende  und  Kaufleute 
pflegten,  wie  aus  zahlreichen  Inschriften  hervorgeht,  in  fernen  Ländern  nicht  ihre 
heimischen  Götter,  sondern  die  dort  herrschenden  Lokalgottheiten  um  Schutz 
und  Glück  anzuflehen.  Ein  römischer  Kaufmann,  der  mit  Tongeschirren  nach 
Britannien  handelt,  macht  auf  der  Insel  Waleheren  der  dortigen  Göttin  Nehalennia 
„wegen  der  Erhaltung  seiner  Waren  in  gutem  Zustand"  ein  Gelübde.45  Die 
mittelamerikanischen  Kekchi-Indianer  beten  zum  Tzultaecä,  dem  ,Herrn  der 
Berge  und  Täler',  nur  in  den  heimatlichen  Gefilden  und  im  heimischen  Urwald; 
sobald  sie  aber  in  ein  Gebiet  kommen,  in  dem  sich  christliche  Wegkreuze  befinden, 
beginnen  sie  sogleich  zum  ,Vater  Kreuz'  zu  rufen.  In  Gebieten  hingegen,  in  denen 
sich  auch  keine  solchen  Kreuze  befinden,  geben  sie  ihre  täglichen  Gebete  und 
Opfer  auf  und  werden  mit  einem   Schlag  religionslos.46 

Ursprünglich  werden  also  die  Natur-  und  Tätigkeitsgötter  nur  in 
den  sie  betreffenden  Spezialangelegenheiten,  die  Ortsgötter  nur  inner- 
halb ihres  Territoriums  angerufen,47  die  Stammes-,  Volks-  und  National- 
götter nur  von  ihrem  Stamm  oder  Volk,  die  Familiengötter  von  ihren 
Familien,  die  Genien  nur  von  den  in  ihrem  Schutze  stehenden  Individuen. 


VII.  Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  115 

Wenn  aber  ein  Naturgeist,  ein  Fetisch  oder  ein  Sondergott  die  Gebete 
seiner  Verehrer  erhört  und  für  ihre  Opfergaben  sich  erkenntlich  erweist, 
so  wächst  die  Schar  der  Verehrer;  man  beginnt  zu  ihm  in  allen  mög- 
lichen Angelegenheiten  sich  zu  wenden:  sein  Machtgebiet  erweitert 
sich,  er  streift  seinen  Spezialcharakter  ab  und  wird  ein  Helfer  und 
Erhörer  im  allgemeinen.48  Man  betet  nun  zum  Gebirgsgott  um  Ge- 
sundheit,49 zum  Geist  eines  Teiches  um  Kindeireichtum.:(!  zum  Erdgott 
um  langes  Leben,  Stärke  des  Leibes  und  reiche  Siegesbeute.51  zur  Sonne 
um  Nahrung,52  zum  Neumond  um  Gesundheit  und  Stärke,  Wachstum 
der  Felder,  Viehreichtum  und  Kindersegen.53  Das  zweite  Moment, 
das  die  Erweiterung  des  Wirkungskreises  und  Machtbereiches  eines 
Gottes  bedingt,  ist  der  Synkretismus  der  verschiedenen  Einzelgötter 
zu  großen  Göttergestalten.  Ansätze  zu  diesem  Verschmelzungsprozeß 
finden  sich  schon  bei  manchen  höher  entwickelten  Naturvölkern;  als 
umfassender  religionsgeschichtlicher  Vorgang  spielt  er  sich  jedoch  erst 
in  den  antiken  Religionen  ab.  Der  Synkretismus  der  Göttervorstellungen 
ist  sogar  das  typische  Merkmal  der  antiken  Götteridee  im  Gegensatz 
zur  primitiven.  Fast  alle  die  großen  Göttergestalten  des  assyrischen, 
ägyptischen,  vedischen,  griechischen,  römischen  und  mexikanischen 
Pantheons  sind  das  Produkt  eines  gewaltigen  Synkretismus.  Die  örtlich 
gebundenen  Naturgeister  verbinden  sich  zu  einem  einheitlichen  Natur- 
gott. Die  Lokalgottheiten  und  Patrone  vermischen  sich  mit  den  ver- 
schiedensten Naturmächten,  mit  Steinen,  Bäumen,  Tieren  und  Ge- 
stirnen. Eines  der  wichtigsten  Momente  im  antiken  Synkretismus  ist 
die  Vereinigung  der  örtlich  begrenzten  Naturgeister  und  Patrone  mit 
den  mythischen  Heroengestalten.  Es  ist  eine  feinsinnige  Beobachtung 
Wundts,  daß  die  großen  anthropomorphen  Göttergestalten  der  Kultur  - 
und  Nationalreligionen  aus  einer  Verschmelzung  des  Idealmenschen  mit 
dem  zauberstarken,  naturhaften  Dämon  hervorgingen :  der  Dämon  erhebt 
den  Helden  ins  Übermenschliche,  der  Held  verleiht  dem  Dämon  die 
Züge  einer  individuellen  menschlichen  Persönlichkeit.54  Wenn  solche 
große  und  mächtige  Götter  einmal  entstanden  sind,  dann  saugen  sie 
die  zahllosen  kleinen  Natur-  und  Lokalgottheiten  auf,  übernehmen  ihre 
Funktionen.  Durch  die  von  politischen  Eroberungen  oder  friedlichen 
Kulturbeziehungen  herbeigeführten  Völkermischungen  vollzog  sich  auch 
eine  Verschmelzung  der  verschiedenen  Volks-,  Stammes-  und  Stadt- 
gottheiten.55 Mit  der  Erhebung  Thebens  zur  Hauptstadt  Oberägyptens 
tritt  der  thebanische  Stadtgott  Amon  in  unlösliche  Verbindung  mit 
dem  Sonnengott  Ra,  dem  Hauptgott  des  Reichs.  Der  israelitische 
Jahwe  verschmilzt  nach  dem  Eindringen  der  Israeliten  in  Kanaan  mit 
den  kanaanäischen  ba'alim.  Die  griechische  Liebesgöttin  Aphrodite 
wird  bei  der  Hellenisierung  der  römischen  Kultur  mit  der  latinischen 
Gartengöttin  Venus  identifiziert. 

Alle  diese  synkretistischen  Vorgänge  haben  zur  Folge,  daß  man  die 
großen  Götter  in  den  mannigfaltigsten  Nöten  des  Lebens,  nicht  nur 
in  ganz  speziellen  Anliegen  anruft.  Doch  obgleich  ihr  Machtgebiet 
nicht  wie  das  der  primitiven  Natur-  und  Sondergötter  eng  begrenzt  ist, 
so  besitzt  ein  jeder  von  diesen  doch  einen  bestimmten  Wirkungskreis, 


116  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

in  dem  er  vornehmlich  seinen  Machteinfluß  geltend  macht.  Darum 
werden  sie.,  wenn  auch  keineswegs  ausschließlich,  so  doch  vorzugs- 
weise in  den  Angelegenheiten,  die  ihr  Machtgebiet  betreffen,  angerufen. 
Zeus  bleibt  allzeit  der  große  Himmelsgott,  zu  dem  man  um  Regen 
fleht,  Neptun  der  Meeresbeherrscher,  den  die  Seefahrer  anrufen,  Mars 
der  Soldatengott,  zu  dem  Heer  und  Volk  um  Kriegsglück  beten,  Marduk 
oder  Asklepios  der  weise  Heilgott,  an  den  der  Kranke  sich  wendet, 
Ischtar,  Isis,  Artemis  und  Diana  sind  die  großen  Muttergöttinnen,  zu 
denen  kreißende  Frauen  ihre  Zuflucht  nehmen.56 

In  der  Volksreligion  aller  Jahrhunderte  wendet  man  sich  in  den 
besonderen  Anliegen  an  die  verschiedenen  großen  und  kleinen  Spezial- 
götter,  die  in  ihrem  eigenen  Machtgebiet  am  besten  helfen  und  wirken 
können.  Gerade  dadurch  erweisen  sich  nicht  wenige  Heilige  der  katho- 
lischen und  mohammedanischen  Volksreligion  als  die  wirklichen  Nach- 
folger vorchristlicher  und  vorislamischer  Götter,  vor  allem  der  Sonder- 
götter, daß  sie  zumeist  in  Spezialanliegen  und  Spezialnöten  um  Hilfe 
angerufen  werden:  St.  Wendelin  bei  Viehseuchen,  St.  Blasius  bei  Hals- 
weh, St.  Lucia,  Ottilia  und  Klara  in  Augenleiden,  St.  Apollonia  gegen 
Zahnschmerzen,  St.  Rochus  gegen  die  Pest,  St.  Florian  in  Feuersgefahr; 
St.  Antonius  hilft  Verlorenes  wiederfinden,  St.  Andreas  schenkt  den 
Frauen  Kinder,  St.  Katharina  verhilft  den  Mädchen  zu  Männern, 
St.  Valentin  ist  der  Heilige  der  Verliebten,  die  Gottesmutter  ist  die 
mächtige  Helferin  der  Frauen  in  Geburtsnöten.57 

2.  Neben  den  Naturgottheiten,  den  Tätigkeits-  und  Patrongöttern 
stehen  als  zweite  große  Klasse  der  durch  Gebet  und  Opfer  verehrten 
übermenschlichen  Wesen  die  Ahnengeister;  bei  vielen  Völkern 
und  Völkergruppen  bilden  die  Geister  der  Vorfahren  nahezu  den  aus- 
schließlichen Gegenstand  der  religiösen  Verehrung,  so  bei  den  afri- 
kanischen Bantuvölkern  und  den  indonesischen  Stämmen:  der  Ahnen- 
kult droht  bei  ihnen  zur  Religion  schlechthin  zu  werden.58  Untei  den 
Kulturvölkern  sind  es  die  Chinesen,  bei  denen  die  Verehrung  der  gött- 
lichen Ahnen  den  wichtigsten  Platz  im  religiösen  Leben  inne  hat.  Bei 
anderen  Völkerfamilien  hingegen  ist  der  Kult  der  Verstorbenen  nur 
relativ  schwach  entwickelt,  so  bei  den  nordamerikanischen  Indianern 
und  bei  der  semitischen  Rasse.  In  der  Religion  der  Urindogermanen 
nahm  der  Ahnenkult  einen  breiten  Raum  ein,  in  historischer  Zeit  trat 
er  aber  immer  mehr  zurück. 

Die  Familie  verehrt  vor  allem  ihr  verstorbenes  Oberhaupt,  den 
Vater.  Ein  Zulukaffer  erzählt:  „Die  Schwarzen  verehren  nicht  alle 
Amatongo  unterschiedslos,  d.  h.  alle  Toten  ihres  Stammes.  Das  Haupt 
eines  jeden  Hauses  wird  von  den  Kindern  dieses  Hauses  verehrt;  denn 
sie  kennen  nicht  die  Ahnen,  welche  gestorben  sind,  noch  ihre  Ehren- 
namen. Aber  ihr  Vater,  den  sie  kennen,  ist  das  Haupt;  mit  dem  sie 
in  ihrem  Gebet  beginnen  und  aufhören,  denn  sie  kennen  ihn  am  besten 
und  seine  Liebe  für  die  Kinder;  sie  erinnern  sich  seiner  Güte  gegen  sie 
während  seines  Lebens;  (sie  sagen:)  er  wird  uns  genau  so  behandeln, 
nachdem  er  tot  ist  (wie  zu  seinen  Lebzeiten) ;  wir  wüßten  nicht,  warum 
er  auf  andere  außer  uns  schauen  sollte;  er  wird  auf  uns  allein  schauen."59 


VII.   Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Ahnen)  117 

Im  alten  Griechenland  verehrte  man  den  toten  Vater  mit  Gebet 
und  Opfer;  die  Lebendigkeit  und  Innigkeit  des  Gebetsverkehrs  der 
Kinder  mit  dem  verstorbenen  Vater  spiegelt  sich  nirgends  so  deutlich 
wie  im  ,Totenopfer'  des  Aeschylus.60  Nach  dem  Vater  verehrt  man 
auch  die  Mutter,  die  verstorbenen  Großeltern,  Geschwister  und  Kinder, 
ja  die  ganze  Sippschaft.  In  den  an  die  Ahnen  gerichteten  Opfergebeten 
wird  oft  der  ganze  Familienstammbaum  aufgezählt.  Der  opfernde 
Baronga  ruft  zuerst  seinen  Vater  und  bittet  ihn,  seinen  Großvater  zu 
bringen,  diesen,  daß  er  seine  Ahnen  bringe  usw.,  bis  der  Letzte  genannt 
ist.  Die  Ahnen  der  Hauptlinie  werden  dann  ausgesandt,  alle  Abge- 
schiedenen der  Seitenlinien  zu  rufen.61  Die  Amazulu  wenden  sich  oft 
in  genereller  Weise  an  alle  unmittelbaren  Vorfahren  und  ruft  sie  als 
„unsere  Leute"  oder  ,, Leute  vom  Haus"  an.62  Im  Ahnenkult  der 
Batak  spielen  die  Vorfahren  größerer  Sippenverbände  eine  besondere 
Rolle.  Ihnen  zu  opfern  tun  sich  die  ganze  Verwandtschaft  oder  mehrere 
Sippen  zusammen,  was  seltener,  aber  mit  feierlichem  Zeremoniell  ge- 
schieht.63 Der  ganze  Stamm  opfert  bei  vielen  Völkern  dem  verstorbenen 
Häuptling  und  seinen  Vorvätern.  Bedeutende  und  einflußreiche  Men- 
schen, besonders  mächtige  Zauberer,  die  ob  ihres  reichen  ,Mana',  ihrer 
geheimnisvollen  Zauberkraft  geachtet  und  gefürchtet  werden,  werden 
nach  ihrem  Tode  durch  Opfer  und  Anrufungen  auch  außerhalb  ihrer 
Familie  verehrt.  Der  Totengeist  eines  starken  und  erfahrenen  Mannes 
bleibt  bei  den  Veddas  in  dauernder  Erinnerung  und  empfängt  beständig 
Opfer,  auch  nach  dem  Tode  der  näheren  Verwandten.64  Codrington 
schreibt  von  dem  Totenkult  der  Melanesien  ,,Man  darf  nicht  meinen, 
daß  jeder  Totengeist  Gegenstand  der  Verehrung  wird.  Ein  Mensch 
in  Gefahr  mag  wohl  seinen  Vater,  Großvater  oder  Oheim  anrufen,  die 
nahe  Verwandtschaft  ist  Grund  genug  dazu.  Aber  der  Totengeist, 
den  man  allgemein  verehrt,  ist  der  Geist  eines  Mannes,  der  zu  seinen 
Lebzeiten  mana  besaß ;  die  Seelen  der  gewöhnlichen  Menschen  dagegen 
sind  die  gewöhnliche  Herde  von  Geistern,  Nullen  vor  wie  nach  dem 
Tod."65  Hier  erkennen  wir  die  Ansätze  zum  Heroenkult,  der  bei  den 
Griechen  eine  mächtige  Entwicklung  nahm66  und  der  eine  der  Wurzeln 
der  altchristlichen  Heiligenverehrung  ist.  So  wird  also  nicht  allen 
Verstorbenen  unterschiedslos  religiöse  Verehrung  zuteil,  sondern 
nur  den  Vorfahren  und  Familienmitgliedern 
einerseits  und  den  durch  soziale  Würde  oder  magische 
Kraft  hervorragenden  Individuen  andererseits.  Das 
,profanum  volgus'  der  Totengeister  hingegen  ist  nicht  Gegenstand  eines 
religiösen  Verhältnisses,  in  dem  nicht  nur  die  Furcht,  sondern  auch 
die  Zuversicht  waltet;  man  fürchtet  vielmehr  diese  als  feindliche,  bös- 
artige Wesen,  man  sucht  sich  ihrer  durch  die  Beschwörung  zu  erwehren 
oder  man  bringt  ihnen  Opfer,  um  sie  zu  beschwichtigen  und  sie  sich 
so  vom  Leibe  zu  halten.67 

Die  Geister  der  Vorfahren  werden  besonders  häufig  bei  Krankheits- 
fällen in  der  Familie  angerufen,  da  gilt  ihr  Zorn  als  die  Ursache  solchen 
Unglückes68.     Aber  sie  sind  dem  primitiven  Menschen  nicht  nur  Ver- 


118  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

hänger  von  allerlei  Unheil,  sondern  auch  Spender  von  Glück  und  Segen. 
„Der  Vater  ist  für  die  Schwarzen  ein  großer  Schatz,  auch  wenn  er 
tot  ist,"  sagte  ein  Zulukaffer  zu  Bischof  Callaway.f;!'  Man  ruft  darum 
die  Ahnen  vor  allem  um  Glück,  Reichtum  und  Erfolg  für  die  Familie 
an;  man  fleht  zu  ihnen  in  Todesgefahr  um  Rettung,  man  erbittet  von 
ihnen  Gesundheit  und  angenehmes  Leben,  Reichtum  an  Korn,  Vieh 
und  Nachkommen,  Friede  mit  der  Nachbarschaft  usw.  Man  erbittet 
ihren  besonderen  Segen  dann,  wenn  ein  Kind  des  Hauses  eine  Ehe 
zu  schließen  gedenkt.70  Weil  die  Ahnengeister  bei  vielen  Stämmen 
auch  als  Spender  des  Wachstums  und  Erntesegens  geschätzt  werden, 
werden  ihnen  unter  Dankgebeten  Erstlingsopfer  dargebracht.71  Der 
Wirkungskreis  und  Machtbereich  der  göttlichen  Vorfahren  ist  also  er- 
heblich weiter  als  der  der  Naturgeister,  Tätigkeitsgötter  und  Schutz- 
patrone, die  an  ein  begrenztes  Gebiet  gebunden  sind. 

3.  Mit  den  mannigfachen  Natur-  und  Tätigkeitsgöttern  wie  den 
Ahnengeistern  erschöpfen  sich  noch  nicht  die  übermenschlichen  Wesen, 
zu  denen  der  naive  Naturmensch  mit  Geschenken  und  Gebeten  sich 
wendet,  um  Hilfe  in  der  Not  und  Erfüllung  seiner  Wünsche  zu  erlangen. 
Hinter  und  über  diesen  Wesen,  die  in  die  Geschicke  des  Menschen  mit 
mächtiger  Hand  eingreifen,  stehen  in  der  religiösen  Vorstellungswelt 
zahlloser  niederer  Stämme  in  allen  Erdteilen  seltsame  und  geheimnis- 
volle übernatürliche  Gestalten,  die  , hohen  Götter'  (high  gods), 
die  Ur wesen,  die  von  jenen  niederen  Geistern  sich  deutlich  abheben. 
In  der  gegenwärtigen  Ethnologie  und  Religionswissenschaft  sind  sie  der 
Gegenstand  eines  erregten  Meinungswechsels  geworden.  Der  Forscher, 
welcher  diesen  Geisterkampf  entzündet  hat,  ist  der  schottische  Folklorist 
und  Literarhistoriker  Andrew  Lang.72  Er,  der  früher  eine  scharfe 
Polemik  gegen  den  verschleierten  Urmonotheismus  Max  Müllers 
geführt  und  für  eine  evolutionistische  Ableitung  der  höheren  Formen 
des  religiösen  Bewußtseins  aus  den  niederen  und  roheren  eingetreten 
war,  nahm  später,  überwältigt  von  den  zahlreichen  Berichten  über 
höhere  Gottesvorstellungen  primitiver  Stämme,  den  Kampf  gegen  die 
animistische  Erklärung  der  Religion  auf,  wie  sie  in  klassischer  Weise 
von  dem  Oxforder  Anthropologen  Tylor  formuliert  worden  war. 
Älter  als  der  Glaube  an  Naturgeister  und  Ahnen  erschien  ihm  der  Glaube 
an  „ein  übermenschliches  Wesen,  das  immerdar  besteht,  einen  schaffenden 
Geist,  einen  Wächter  für  moralische  Regeln";  denAnimismus  und 
Manismus  betrachtete  er  als  Produkte  eines  Verkümmerungsprozesses, 
während  die  Urform  der  Religion  als  ein  ethischer  Monotheismus  sich 
ihm  darstellte.  Längs  vielumstrittene  Theorie,  die  sich  vor  allem  auf 
die  religiösen  Vorstellungen  der  Südostaustralier  stützte,  wurde  durch 
den  gelehrten  Erforscher  der  austronesischen  Stämme  und  der  Pygmäen 
P.  Wilhelm  S  c  h  m  i  d  t73  weiter  geführt  und  durch  sorgfältige  ethno- 
logische Untersuchungen  unterbaut.  Man  hat  mit  einem  gewissen 
Recht  behauptet,  daß  beide  die  Primitiven  sowohl  wie  die  Urwesen, 
an  die  diese  glauben,  idealisiert  hätten  —  Lang  mit  einer  Vorliebe  für 
das  Romantische,  P.  Schmidt  in  einem  theologischen  Interesse  an  der 
Theorie  des  Urmonotheismus.    Gleichwohl  bezeugen  es  ganz  schlicht 


VII.   Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Urväter)  119 


die  Tatsachen,  daß  jene  ,high  gods'  in  der  religiösen  Vorstellungswelt 
der  Naturvölker  eine  Sonderstellung  einnehmen  und  weder  mit  dem 
Geisterglauben  noch  mit  dem  Ahnenkult  in  einem  genetischen  Zu- 
sammenhang stehen.  Helles  Licht  wurde  auf  die  Vorstellung  vom 
Urheber  durch  die  tiefschürfenden  Untersuchungen  Nathan  S  ö  d  e  r- 
b  1  o  m  s74  geworfen.  Ihm  ist  es  geglückt,  die  Wurzel  dieses  beiden 
primitiven  Stämmen  weit  verbreiteten  Glaubens  aufzudecken.  Wir 
müssen  uns  hier  näher  mit  diesen  Gottesgestalten  vertraut  machen, 
da  ihre  Kenntnis  zu  der  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Ursprung 
und  der  Urform  des  Gebets  unbedingt  erforderlich  ist. 

Die  .high  gods'  (Lang),  .supreme  beings'  (Marett).  ,höchsten  Wesen',  Himmels- 
götter' (P.  Schmidt),  .Allväter',  .Urväter'  oder  .Urheber'  (Söderblom),  wie  man 
sie  immer  bezeichnen  mag.  tragen  einen  ganz  anderen  Charakter  als  die  die  Natur 
oder  ein  bestimmtes  Gebiet  menschlicher  Tätigkeit  beherrschenden  Mächte.  Sie 
stehen  dem  Menschen  ferner  als  die  Naturgeister  oder  Ahnen  aber  sie  überragen 
diese  an  Größe,  Macht  und  Hoheit.  Ihr  Wirken^iegt  nicht  ausschließlich  in  der 
Gegenwart  wie  das  Wirken  der  Natur-  und  Tät'gkeitsgötter,  sondern  vor  allem 
in  grauer  Vergangenheit,  in  ferner  Urzeit.  Sie  sind  —  das  ist  ihr  hervorstechendster 
Charakterzug  —  Schöpfer  und  Urheber  alles  Seienden;  Himmel  und 
Erde.  Pflanzen,  Tiere  und  der  Mensch  sind  das  Werk  ihrer  Hände.  Aber  nicht 
nur  die  anorganische  und  organische  Natur,  nein,  auch  die  gesamte  materielle 
und  geistig-soziale  Kultur:  Wirtschaft,  Technik  und  Kunst,  Sprache  und  Sitte, 
Gesellschaftsordnung.  Religion  und  Magie,  alles  wird  auf  das  virsächliche  Wirken 
jener  hohen  Gottheiten  zurückgeführt.  Die  Urväter  sind  nicht  nur  Schöpfer, 
sondern  auch  Stifter  und  Gesetzgeber.  Sie  sind  Kulturheroen,  , Heil- 
bringer',  wie  die  modernen  Ethnologen  sagen,  vor  allem  aber  sittliche  Gesetz- 
geber; die  absolut  gültigen  sozialethischen  Ideale  des  primitiven  Stammes  er- 
scheinen als  die  verpf  licht  enden  Gebote  des  Schöpfers.  So  enthält  schon  die 
primitive  Vorstellung  vom  Urheber  die  beiden  Elemente  des  voll  ausgebildeten 
Gottesbegriffs:  Gott  ist  die   Quelle  alles  Seienden  wie  aller  Werte. 

Bei  manchen  Stämmen  liegt  das  Wirken  der  Urväter  ausschließlich  in  der 
grauen  Vorzeit,  sie  sind  Urzeitwesen,  die  einst  Großes  und  Segensvolles  voll- 
bracht haben,  aber  keine  Gegenwartsgötter,  die  mit  mächtiger  Hand  die  Geschicke 
des  Menschen  gestalten.  Manche  dieser  Ursprungsgottheiten  sind,  nachdem  sie 
ihr  Werk  vollendet  haben,  in  ein  anderes  Land  gezogen,  um  dort  zu  wirken  und 
zu  schaffen.  Aber  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Naturvölker  ist  das  höchste 
Wesen  mehr  als  Urheber  und  Schöpfer.  Stifter  und  Gesetzgeber  in  ferner  Ver- 
gangenheit, er  ist  zugleich  Erhalter  seines  Werkes,  Schicksals- 
gott, Wächter  über  seine  Gebote.  Diese  Seite  im  Bilde  des  Urvaters  hat  Söder- 
blom zu  wenig  hervortreten  lassen.  Tira-wa,  das  höchste  Wesen  der  Pawnee- 
Indianer  wird  auch  genannt:  „die  Kraft  dort  oben,  die  die  Welt  bewegt  und  alle 
Dinge  überwacht."  75  Das  Bewußtsein  der  universellen  Abhängigkeit  von  dem 
höchsten  Gotte  äußert  sich  schon  in  den  abgegriffenen  Sprichwörtern  und  Redens- 
arten  der  Alltagssprache.  „Was  Kuwa  dir  bestimmt  hat,  das  trifft  dich  auch," 
sagen  die  Dschagganeger.  7e  ,,Es  steht  bei  Lowalangi,"  ist  ein  Sprichwort  der 
Niasser.  77  ,,Cuok  hat  dich  gebracht,  Cuok  hat  dich  erhalten,  es  führe  dich  Cuok," 
sind  die  bei  den  zentralafrikanischen  SchiUuk  gebräuchlichen  Grußformeln.  7' 
Wenn  einem  Omaha-  oder  Kansa-Indianer  ein  unerhofftes  Glück  zufällt,  pflegt 
man  zu  sagen:  „Wakanda  (das  höchste  Wesen)  hat  ihm  beigestanden,  Wäkanda 
kennt  ihn,  Wakanda  hat  für  seine  Leute  gesorgt."  79  Gottes  Schicksalsmacht  ist 
doppelseitig:  Glück  und  Unglück,  Reichtum  und  Armut.  Segen  und  Fluch,  Leben 
und  Tod  —  alles  kommt  aus  seiner  Bland.  Kuwa,  heißt  es  bei  den  Dschagga- 
negern,  ,,hat  Reiche  und  Arme,  (teile  und  Krüppel  gesetzt."  H"  Der  Glaube,  «laß 
di-v  höchste  Goti  Urheber  des  guten  wie  bösen  Geschickes  ist,  tritt  sein- anschaulich 
hervor  in  der  Vorstellung  der  südafrikanischen  Ovambo  von  dem  Schöpfer  Kalunga. 
Dieser  trägt  in  einem  Gürtel  zwei  große  Korbe.  Sieh!  er  blenschen,  die  nach 
seinem  Sinne  tun,  so  nimmt  ei'  aus  dem  Korbe  des  Guten  Kaffeinkorn  und  andere 


120  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


dem  Menschen  wertvolle  Dinge  und  streut  sie  ihnen  aus.  Gefällt  ihm  das  Treiben 
der  Menschen  nicht,  dann  holt  er  aus  dem  Korbe  des  Bösen  oipute  und  streut 
sie  aus;  dann  gibt  es  Hunger,  Mißwachs,  Krankheit  und  Unglück  81.  Nach  der 
Anschauung  der  Bewohner  von  Mkulwe  (Ostafrika)  kommt  von  Nguluwi,  dem 
höchsten  Gotte,  alles  Gute:  Kindersegen,  Regen,  Nahrung,  Glück  bei  jedem 
Unternehmen,  bei  der  Jagd  und  Fischerei,  Gesundheit,  Hilfe  zur  Beseitigung 
eines  persönlichen  Feindes  durch  Gewalt  und  Zauberei.  Mißerfolg  hingegen, 
Krankheit.  Hunger,  Not  und  vorzeitigen  Tod  verhängt  er  als  Strafe  für  Ver- 
gehen. 82  Lowalangi,  das  höchste  Wesen,  hat  nach  dem  Glauben  der  Niasser  ,, Macht 
über  Leben  und  Tod,  Segen  und  Fluch,  Reichtum  und  Armut".  83  Weil  der 
Urvater  am  oder  im  Himmel  wohnend  gedacht  wird,  oder  sogar  mit  dem  Himmel 
identifiziert  wird,  werden  auf  ihn  mit  Vorliebe  die  atmosphärischen  Erscheinungen 
zurückgeführt;  Sonnenschein  und  Regen,  Dürre  und  Unwetter  kommen  von 
ihm.  Im  Wind  spürt  man  seinen  Atem,  im  Donner  hört  man  das  Grollen  seiner 
Stimme  oder  das  Rasseln  seines  Schwirrholzes,  im  Blitz  sieht  man  die  Feuer- 
brände,  die  er  schleudert.  Schwere  Krankheiten,  für  die  man  keine  natürliche 
Ursache  weiß,  wie  verheerende  Seuchen  gelten  als  vom  höchsten  Gotte  gewirkt. 
„Wenn  Ruwa  erzürnt  ist,"  lautet  ein  Dschaggasprichwort,  , .sterben  alle  Länder 
aus."  84  Am  tiefgreifendsten  äußert  sich  Gottes  absolute  Macht  darin,  daß  er 
Herr  ist  über  Leben  und  Tod.  „Ruwa  bestimmt  die  Grenzen  des  Lebens",  heißt 
es  bei  den  Dschagganegern.  8S  Stirbt  ein  Herero,  so  sagt  man:  ,,Ndjambe  Karunga 
hat  ihn  gerufen."  86  Stirbt  jemand  bei  den  Ewe  eines  natürlichen  Todes,  dann 
sagt  man:  ,,Mawu  hat  ihn  gerufen,  Mawu  hat  ihn  f  ort  genommen. "  87  ,,Nzambi 
hat  ihn  gegessen,"  sagen  die  Bab wende  bei  Todesfällen;  88  „Nazambi  hat  ihn 
geraubt,  genommen,  gefangen,"  sind  die   Redensarten  der  Kongoneger  89. 

Die  hohen  Wesen,  welche  den  Menschen  sittliche  und  rituelle  Gebote  gegeben 
haben,  wachen  über  ihre  Ausführung  und  strafen  den,  der  sie  übertritt.  Die 
Schöpfergottheiten  der  austronesischen  Völker90  tragen  un  verkennbar  den 
Charakter  von  Sittlichkeitswächtern.  Auch  das  Schicksalswirken  der 
afrikanischen  Himmelsgötter  entbehrt  nicht  eines  gewissen  ethischen  Einschlags; 
dem  Verhalten  der  Menschen  entsprechend,  senden  sie  Glück  zum  Lohne,  Un- 
glück zur   Strafe. 

Anthropomorphe  Züge  fehlen  im  Bilde  des  Urvaters  nicht.  Bei 
vielen  Stämmen  wird  er  als  Greis  oder  großer  Mann  mit  langem  Bart  vorgestellt. 
Die  high  gods  haben  meist  Weiber  und  Kinder.  Ob  ihrer  Zaubermacht  werden 
die  Urväter  oft  als  Medizinmänner,  und  Zauberhäuptlinge  vorgestellt.  Anderer- 
seits aber  frappiert  uns  die  Reinheit,  Geistigkeit  und  Erhabenheit  des  Urväter- 
glaubens mancher  Stämme.  Routledge  gibt  uns  einige  Äußerungen  von  Kikuyu- 
leuten  über  ihren  höchsten  Gott  Ngai  wieder :  ,,Ngai  hat  weder  Vater  noch  Mutter, 
weder  Weib  noch  Kind;  er  hat  keine  Boten,  er  selbst  tut  all  sein  Weik;  er  ißt 
nicht  ;er  ist  weder  ein  Kind  noch  ein  alter  Mann;  er  ist  derselbe  heute  wie  gestern."'1 
Der  Urvater  ist  unerschaffen,  niemals  geboren,  ewig.  9a  Nach  dem 
Glauben  mancher  Naturvölker  trägt  er  den  Grund  seiner  Existenz  in  sich  selbst; 
er  ist  causa  s  u  i.  Atnatu,  das  Urwesen  der  australischen  Kaitisch,  machte 
sich  selbst  und  gab  sich  selbst  seinen  Namen.  93  Nurali  ist  nach  der  Anschauung 
der  Murray-Rivet -Australier  , selbstentstanden'.  94  Der  Urvater  einiger  Völker 
ist  allwissend  gedacht  er  schaut  selbst  die  Gedanken  der  Menschen  96. 
Er  ist  in  gewissem  Sinn  allgegenwärtig.  ,,  Glaube  nicht,"  sagt  ein  mada- 
gassisches Sprichwort,  ,,daß  du  allein  seiest  im  Schweigen  des  Tales,  Gott  ist 
über  deinem  Haupte."  96  Zwar  ist  er  nie  unräumlich  vorgestellt,  aber  der  lichte, 
weite  Himmel  ist  seine  Wohnung.  An  seine  Gestalt  knüpft  sich  gerne  eine  reiche 
Himmelsmythologie.  Weisheit  und  Güte  ist  jene  Eigenschaft,  welche  die 
Primitiven  übereinstimmend  den  high  gods  zuschreiben.  Karai  Kasang  der  bir- 
manischen Katchin  ist  ein  gutes  Wesen,  das  Wohltaten  spendet,  ohne  dafür 
Gegengaben  zu  fordern.  97  Puluga  der  Andamanen  ist  mitleidig  gegen  Leidende 
und  Bedrängte  und  hilft  ihnen.  98  Buku,  das  höchste  Wesen  der  Ana,  ist  gütig, 
wohltätig  und  nachsichtig,  ohne  Falsch  und  weise  99.  Ruwa  der  Dschagga  er- 
scheint den  opferhungrigen,  stets  fordernden  Geistern  gegenüber  als  der  milde, 
hochherzige  Spender.  loe  Anuto  der  Tanii  auf  Neuguinea  ist  gut,  man  braucht 
ihn  nicht  zu  fürchten.  101    Ngai  der  Kikuyu  „liebt  einen  jeden"102. 


VII.    Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Urväter)  121 


Die  Namen,  welche  jene  höchsten  Wesen  in  der  Sprache  der  Primitiven 
tragen,  sind  verschiedene.  Bisweilen  nennt  man  sie  ,  Himmelsmensch, 
, Himmelshäuptling  oder  schlechthin  ,Himmel'.  Im  letzten  Fall, 
übertrug  man  die  Bezeichnung  des  Aufenthaltsortes  auf  den,  der  darin  wohnt. 
Nicht  selten  heißt  er  schlechthin  ,Macht',  ,mächtig'  (Nzambi,  Nyambie 
Maweza,  Leza,  Kalunga,  Tilo  usw.  der  Bantuvölker,  Wakanda  und  Manitu  der 
nordamerikanischen  Indianer,  Ngai  der  Kikuyu).  103  Die  Montauk  auf  Long 
Island  nannten  ihr  höchstes  Wesen  Cauhtuntoowut,  d.  h.  „einer,  der  mit  höchster 
Macht  ausgestattet  ist".  104  Bei  australischen  wie  afrikanischen  Völkern  heißt 
das  höchste  Wesen  ,M  a  c  h  e  r'  —  ein  Terminus,  der  seinen  Charakter  als  Schöpfer 
der  Welt  und  des  Menschen  bezeichnet.  Aber  der  älteste  und  verbreitetste  Name 
der  ,hohen  Götter'  ist  der  Vater  name.  Mungan,  ,Vater'  oder  Mungan  ngaua, 
,unser  Vater'  heißt  das  höchste  Wesen  der  Kurnai,  Mami  ngorak  oder  ngata 
, unser  Vater'  ist  das  Epitheton  Bunjils  bei  den  australischen  Victoriastämmen.  105 
Die  Ku-Buschmänner  rufen  Huwe,  den  Schöpfer  und  Erhalter  aller  Dinge  als 
Ba  ,Vater'  an.  106  Die  afrikanischen  Mpongwe  und  Benga  nennen  ihn  Reri  yajio, 
.unser  Vater'.  107  Die  westafrikanischen  Bantustämme  verehren  den  Schöpfer 
als  Vater.  Fragt  man  sie  nach  dem  Geheimnis  ihres  höchsten  Gottes,  so  erhält 
man  die  Antwort:  „Njambi.  der,  welcher  uns  machte,  er  ist  unser  Vater."  los 
,Unser  hoher  Vater'  (Tamai-Tingei)  nennen  ihn  die  Bahanstämme  auf  Borneo,10'J 
,Vater  aller  Menschen'  die  birmanischen  Katchin.  110  , Allvater'  nennen  die  austra- 
lischen Euahlayi  und  die  mittelamerikanischen  Zuni  den  Schöpfer  in  ihren  My- 
sterien. m  , Geistvater',  , Unser  Vater  allerort'  bezeichnen  ihn  die  Pawnee- 
Indianer.  112  ,Urvater  der  Wesen',  .Urvater  der  Dinge'  heißt  er  in  der  Kosmogonie 
der  Delawaren.113  ,Vater  Himmel'  (vedisch  Dyaus  pitä,  griechisch  Zevg 
naiiß,  römisch  Jupiter)  hieß  das  höchste  Wesen  der  Urindogermanen.  m  Der 
Vatername  des  höchsten  Gottes  ist  der  Ausdruck  der  absoluten  Abhängigkeit 
des  Menschen  von  ihm,  zugleich  der  Ausdruck  der  Ehrfurcht  und  des  Vertrauens. 
Der  Mensch  verdankt  jenem  hohen  Wesen  Leben  und  Dasein,  er  blickt  zu  ihm 
mit  denselben  Gefühlen  empor  wie  das  Kind  zum  Vater,  wie  der  Jüngling  zu  den 
Alten,  die  er  respektvoll  mit  diesem  Ehrennamen  anredet,  wie  der  Stammes- 
zugehörige zum  Stammeshäuptling.  Wenn  wir  näher  zuhorchen,  so  klingt  uns 
dieses  ,Vater'  und  ,unser  Vater'  wie  ein  „Präludium  des  christlichen  Gottes- 
glaubens   aus  ferner  Urzeit".  115 

Hehre  erhabene  Wesen  sind  in  der  Tat  diese  uns  so  seltsam  anmutenden  Ur- 
väter der  Primitiven;  ,high  gods'  hat  sie  A.  Lang  mit  Recht  bezeichnet.  Aber 
„die  Hoheit  dieser  Wesen  kontrastiert  mit  der  geringen  Bedeutung,  die  sie  in 
der  Religion  der  Primitiven  neben  den  näheren,  wirksameren  und  gefährlicheren 
Wesen  haben,  mit  denen  man  im  Kult  unaufhörlich  zu  rechnen  hatte,  den  Seelen 
Verstorbener,  den  Ahnen,  den  Geistern  und  den  Naturgottheiten"  (Söderblom).  u* 
Die  Urväter  besitzen  gewöhnlich  k  e  i  n  e  n  in  regelmäßigen  Opfern  und  Gebeten 
bestehenden,  organisierten  Kult  wie  die  zahlreichen  anderen  übersinn- 
lichen Wesen.  Wohl  ist  in  den  Mysterien  der  Australier  immer  wieder  die  Rede 
von  den  Urvätern,  die  sie  eingesetzt;  in  den  heiligen  Gesängen,  von  denen  die 
Riten  begleitet  werden,  wird  ihr  Name  genannt;  der  Mysterien-Häuptling,  der 
den  Kandidaten  die  Geheimlehre  enthüllt,  verkündet  ihnen  feierlich  die  Taten, 
die  der  Urvater  einst  vollbracht,  und  die  Gesetze,  die  er  gegeben.  Im  Jeraeil,  (Irr 
Mysterienfeier  der  Kurnai,  weist  der  Häuptling  die  Jünglinge  mit  dem  Speer 
nach  dem  Himmel,  der  Wohnung  des  Mungan  ngaua,  indem  er  spricht :  schau 
dorthin!  117  Im  Kuringal,  der  Mysterienfeier  der  Yuin,  werden  Waffen  und 
Hände  zu  Daramulum  nach  dem  Himmel  erhoben.  118  Es  herrscht  eine  Gebet  s- 
stimmung  in  diesen  australischen  Mysterien.  Aber  der  Gewährsmann,  der  Zeuge 
dieser  heiligen  Schauspiele  war,  berichtet  uns  nichts  von  Gebeten  und  Opfern, 
Bei  zahllosen  niederstehenden  Völkern  treffen  wir  den  Glauben  an  ein  höchstes 
Wesen,  aber  man  versichert  uns,  daß  i  hm  keine  regelrechten  Opfer  dargebracht 
würden.  Ahone,  der  Schöpfer,  der  alle  Menschen  mit  Gütern  versorgt,  empfängt 
von  den  Virginia-Indianern  keine  Opfer  1I».  Die  Herero  bringen  dem  Kalunga 
keine  Opfer.  Miss  Kingsley  berichtet:  „Es  besteht  kein  organisierter  Kult  für 
Xyjirubi  in  Westafrika."  l,°  Dasselbe  sagt  Missionar  Raum  von  den  <>stafiikanis<  In  n 
Dschagga:  „Bin  eigentlicher  Kultus  wird  Ruwa  nicht  gewidmet."  121  „Die  Schilluk 


122  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

in  Äquatorialafrika  fühlen  sich,"  wie  P.  Hofmayr  erzählt,  ,,gar  nicht  verpflichtet, 
ihrem  Schöpfer  und  Herrn  irgendwelche  eigentliche  Verehrung  darzubringen."  lM 
Aber  selbst  bei  solchen  Stämmen,  die  dem  höchsten  Gott  durch  Opfer  Verehrung 
erweisen,  tritt  sein  Kult  hinter  dem  der  niederen  Natur-  und  Totengeister  sehr 
zurück.  Die  Katchin  in  Birma,  berichtet  P.  Gilhodes,  erweisen  dem  Karai  Kasang, 
dem  größten  Gott,  der  alles  gemacht  hat,  keine  Verehrung,  die  höher  oder  gleich- 
wertig wäre  der  Verehrung  der  Nats  (Geister).  123  Wo  ein  regulärer  Kult  des 
höchsten  Wesens  besteht,  unterscheidet  er  sich  auch  unverkennbar  von  dem  der 
niederen  Mächte  und  Geistwesen.  Bei  vielen  Stämmen  bringt  man  den  Urvätern 
die  Erstlingsopfer  dar,  die  Dankopfer  sind  —  die  Opfer,  welche  man  den  Natur- 
geistern und  Ahnen  bringt,  sind  vorwiegend  Bittopfer.  Bei  manchen  Völkern, 
wie  bei  den  Katchin,  sind  die  Opfer  an  den  höchsten  Gott  ausschließlich  unblutig 

—  die  Geister  hingegen  heischen  blutige  Schlachtopfer.  Die  den  Urvätern  ge- 
brachten Opfer  sind  meist  nur  ein  schlichtes  Zeichen  der  Verehrung  und  Dank- 
barkeit, sie  bestehen  aus  geringen  Mengen;  denn  sie  dienen  nicht  zur  Speisung  124 

—  die  Geister  hingegen  sind  hungrige  Wesen,  sie  haben  Lust  zu  essen  und  zu 
trinken;  ihnen  bringt  man  große  Mengen,  auf  daß  sie  sich  sättigen  und  so  den 
Menschen  gnädig  seien. 

So  sind  jene  ,high  gods'  trotz  ihrer  Größe  und  Erhabenheit  nicht 
Gegenstand  eines  reichen  Opferkults  wie  die  zahlreichen,  den  Menschen 
nahestehenden  Naturgeister  und  Totenseelen.  Weil  man  ihnen  keine 
regelmäßigen  Gaben  und  Opfer  widmet,  darum  richtet  man  an  sie 
nur  selten  regelmäßige  Gebete,  während  man  sich  an  die  niederen 
Mächte  in  den  mannigfachsten  Nöten  und  Anliegen  mit  Bitten  wendet. 
Die  Missionare  und  Ethnographen  bezeugen  uns  von  den  meisten  Natur- 
völkern ,  daß  das  Gebet  an  die*  höchsten  Wesen  etwas 
relativ  Seltenes  ist,  ja  von  manchen  Stämmen  wird  behauptet, 
daß  jene  high  gods  überhaupt  nicht  im  Gebet  angerufen  würden  125. 
Es  ist  wahr,  nicht  allzu  oft  hören  wir  von  feierlichen  Gebeten  eines 
Stammes  an  den  Urvater  und  Schöpfergott  —  und  doch  würde  es  den 
Tatsachen  widersprechen,  wollten  wir  annehmen,  daß  der  Primitive 
sich  nie  oder  nur  ausnahmsweise  an  jene  hohen  Wesen  bittend  wende. 
„Man  wendet  sich  bisweilen  an  sie,  von  Not  und  Gefahr  gedrängt. 
Solche  Gebetsrufe  sind  viel  eher  impulsive  Äußerungen  einer  Seele, 
die  sich  bedrückt  fühlt  und  sich  vergebens  an  die  Mittel  der  offiziellen 
Religion  gewendet  hat,  als  Sache  der  Gesellschaft,  das  heißt  nicht  Religion 
im  Sinne  von  geordneten  Riten  und  Mysterien  126."  Söderbloms 
Worte  treffen  den  Kern  der  Sache.  Das  Gebet  an  den  Urvater  ist  zu- 
meist der  spontane  und  formlose  Erguß  eines  Einzel- 
nen .nichtdiegeordneteÄußerungeinersozialen 
Gesamtheit.  Was  uns  Missionare  und  Ethnographen  von  der 
Religion  der  Primitiven  erzählen,  bezieht  sich  zum  größten  Teil  auf 
die  religiösen  Riten  und  Vorstellungen,  soweit  sie  streng  sozial  gebunden, 
innerlich  an  eine  Gemeinschaft  von  Individuen  als  ihren  Träger  gekettet 
sind.  Aber  gerade  hier  im  Gebet  an  das  höchste  Wesen  enthüllt  sich 
uns  die  individuelle  Religion  des  Primitiven  in  ihrer  ganzen 
Inbrunst  und  Leidenschaft.  Von  den  verschiedensten  Stämmen  wird 
übereinstimmend  bezeugt,  daß  sie  in  Not  und  Gefahr  spontan  und  unge- 
bunden, ohne  Opfer  und  Gelübde,  jene  hohen  Wesen  um  Hilfe  und 
Rettung  anrufen. 

Wenn  das  Leben  gefährdet  ist,  wendet  man  sich  an  den,  der  Herr  ist  über 
Leben  und  Tod,  an  den  Schöpfer,  den  höchsten  Gott.   Wenn  Hungersnot  herrscht, 


VII.    Die  iin  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Urväter)  123 

fleht  der  Buschmann  um  Nahrung  zu  Cagn,  dem  Urvater.  127  Wenn  ein  Gewitter- 
sturm tobt,  schreit  der  afrikanische  Pygmäe  zum  höchsten  Wesen  um  Hilfe.  128 
Wenn  bei  den  Katchin  jemand  ins  Wasser  fällt,  wendet  er  sich  bittend  an  Karai 
Kasang.  129  Wenn  die  Sumos-  und  Mosquitos- Indianer  mit  ihrem  schwankenden 
Boot  gefährliche  Stromfälle  passieren,  nehmen  sie  zu  Davan  Eisi,  , Meister  Vater', 
dem  sie  sonst  nie  opfern,  ihre  Zuflucht.  130  ,,Bei  den  Batak,"  berichtet  Warneck 
„glaubt  man  das  Geschick  des  Menschen  von  debata  (Gott)  abhängig,  appelliert 
an  sein  Erbarmen,  wendet  sich  in  Stoßseufzern  an  ihn.  ruft  ihn  an  in  Zeiten  der 
Not,  ohne  jegliche  Darbringung  von  Opfer."  m  „Ganz  selten,'  sagt  Missionar 
Nassau,  „und  nur  in  der  äußersten  Not  richtet  der  Westafrikaner  einen  Appell 
an  Gott."  132  Miss  Kingsley  schreibt:  „Wenn  es  dem  Bantu  schlecht  geht,  wenn 
der  Fluß  gewaltig  anschwillt  und  sein  Haus  und  seine  Pflanzungen  wegschwemmt, 
wenn  die  Pocken  im  Lande  herrschen  und  Tag  und  Nacht  die  Leichen  den  Fluß 
hinabschwimmen  und  sich  stauen  und  seine  am  Ufer  angelegten  Kanoen  und  seine 
Fischfallen  verstopfen,  wenn  dann  schließlich  die  Klage  über  die  Opfer  der  Seuche 
Tag  und  Nacht  in  seinem  Dorfe  laut  wird,  dann  wird  er  sich  erheben  und  diesen 
großen  Gott  (Nzambi)  anrufen,  im  Schrecken,  toll  vor  Verzweiflung,  er  möchte 
doch  hören  und  dem  bösen  Werk  der  niederen  Geister  Einhalt  tun."  133  Die 
Karesauinsulaner  beten  nur  selten  zu  Wonekau,  dem  höchsten  Wesen.  Es  ge- 
schieht jedoch,  wenn  ein  Kind  von  seinen  Eltern  weggegangen;  dann  gehen  Eltern 
und  Geschwister  in  den  Wald  und  rufen  zu  Wonekau,  er  möge  das  Kind  zurück- 
führen. 134  Die  Kikuyu  rufen  zu  Ngai  in  Zeiten  der  Dürre  oder  bei  großem  Un- 
glück, bei  den  kleinen  Übeln  des  Alltags  hingegen  wenden  sie  sich  an  die  Ahnen- 
geister. 13S  Die  Siouxindianer  beten  nach  dem  Zeugnis  Dorseys  zu  Wakanda, 
dem  höchsten  Wesen,  nicht  wegen  Kleinigkeiten  wie  wegen  des  Fischfangs,  sondern 
nur  bei  wichtigen  Angelegenheiten  wie  bei  einem  Feldzug  oder  beim  Antritt 
einer  Reise.  138  Die  Dschagganeger  flehen  zu  Ruwa  erst  dann,  wenn  alles  Opfern 
und  Beten  zu  den  Geistern  nichts  genützt  hat;  137  ebenso  rufen  die  Yoruba  zu 
Olorun,  dem  höchsten  Gott,  erst  dann,  wenn  die  anderen  Gottheiten  ihre  Hilfe 
versagt  haben.  138 

So  sind  es  also  nur  die  großen  Nöte  und  wichtigen  An  - 
liegen  im  Leben,  in  denen  die  niederen  Völker  zum  Schöpfer  selbst 
ihre  Zuflucht  nehmen ;  er  ist  die  höchste  und  letztelnstanz  , 
an  die  sie  dann  appellieren,  wenn  die  Bitte  an  die  niederen  Stellen 
erfolglos  blieb. 

Die  Urväter  sind  sittliche  Gottheiten,  Hüter  des  Gesetzes,  Schirmer 
der  Wahrheit  und  des  Rechts.  An  sie  wendet  man  sich,  wenn  es  gilt, 
die  Heilighaltung  der  Eide  oder  Bündnisse  zu  sichern,  oder  wenn 
es  gilt,  seine  Unschuld  zu  beteuern. 

Die  birmanischen  Katchin  rufen  Karai  Kasang  als  Zeugen  ihrer  U/nschuld  an. 
wenn  man  gegen  sie  eine  Anklage  erhebt  13'.  Die  Xosakaffern  rufen  zu  Tixo 
beim  feierlichen  Schwüre.  140  Auf  Tenimbar  und  Luang  Sermata  wird  das  höchste 
Wesen  beim  Friedensschlüsse  angerufen;  vor  ihm  wird  von  den  sich  befehdenden 
Parteien  die  feierliche  Erklärung  abgegeben:  „0  Duadilah,  es  soll  zusammen 
gespeist  werden  von  jenen,  die  früher  uneinig  waren."  141 

Wie  der  Primitive  in  schwerer  Not  zum  höchsten  Wesen  fleht,  so 
dankt  er  ihm  im  Glücke.  Innige  Dankesworte  sendet  er  zu  ihm 
empor,  wenn  er  ihm  zum  Zeichen  der  Anerkennung  die  Erstlingsopfer 
darbringt.  Wo  das  Primitialopfer  an  den  höchsten  Gott  als  dauernder 
Brauch  sich  einbürgerte,  dort  wurde  auch  der  Gebetsverkehr  mit  ihm 
ein  regelmäßiger,  nicht  auf  außerordentliche  Anlässe  beschränkter. 
So  mag  es  gekommen  sein,  daß  bei  nicht  wenigen  Kuturvölkern  der 
Urvater  Gegenstand  eines  wirklichen  Stammeskults  geworden 
ist,  wie  der  Tangaroa  der  Polynesier.  Auch  jene  antiken  Göttergestalten, 


124  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


hinter  denen  primitive  Urväter  und  Himmelsgötter  sich  verbergen,  wie 
der  chinesische  Hoang-tien  Schang-ti  oder  der  vedische  Varuna,  der 
griechische  Zeus  oder  der  römische  Jupiter,  sind  ausgesprochen  nationale 
Kultgottheiten,  denen  ein  Opferritual  gewidmet  ist 142. 

Bei  den  einen  Stämmen  trat  im  Laufe  der  Entwicklung  der  Urvater 
immer  stärker  hervor;  wie  den  anderen  übersinnlichen  Wesen  und 
Mächten  dienten  sie  schließlich  auch  ihm  mit  einem  reichen,  geregelten 
Opferritual.  Aber  auch  der  gegenteilige  Entwicklungsgang  läßt  sich 
nicht  selten  aufweisen.  Weil  diese  hohen  Wesen  kein  geordnetes  Opfer- 
ritual besaßen  wie  die  Naturgeister  und  Ahnen,  darum  traten  sie  hinter 
diese  ständig  verehrten  Mächte  zurück  und  verschwanden  schließlich 
völlig  aus  dem  religiösen  Bewußtsein.  Weil  man  nicht  regelmäßig  zu 
ihnen  betete,  rief  man  sie  schließlich  überhaupt  nicht  mehr  an.  Gewiß 
müssen  wir  all  jene  ethnographischen  Notizen  sehr  vorsichtig  beurteilen, 
welche  besagen ,  daß  zu  dem  obersten  Gott  eines  Stammes  überhaupt 
nicht  gebetet  werde;  in  vielen  Fällen  fehlt  nur  das  regelmäßige,  formel- 
haft gebundene  Gebet,  man  betet  zu  ihm  spontan  und  frei.  Aber  wir 
besitzen  einwandfreie  Zeugnisse  dafür,  daß  bei  manchen  Stämmen  tat- 
sächlich so  gut  wie  niemals  ein  Gebet  zum  höchsten  Gott  gerichtet 
wird.  143  Auch  werden  interessante  Äußerungen  von  Wilden  uns  mit- 
geteilt, die  uns  die  Gründe  für  die  Seltenheit  oder  das  gänzliche  Fehlen 
von  Gebeten  an  den  Urvater  aufschließen.  Es  sind  hauptsächlich  zwei 
Gründe,  welche  die  Vernachlässigung  der  ,high  gods'  erklären,  der 
Glaube  an  ihre  Erhabenheit  und  Ferne  wie  der  Glaube  an  ihre  Güte. 
In  der  Vorstellung  vieler  primitiver  Völker  trägt  der  Urvater  einen 
durchaus  deistischen  Charakter;  er  schuf  die  Welt  und  den  Men- 
schen, und  als  er  sein  Schöpferwerk  vollbracht  hatte,  zog  er  sich  von 
der  Welt  zurück  und  lebt  jetzt  in  weltferner  Erhabenheit  als  ein  deus 
otiosus  („müßiger  Gott"),  gleichgültig  gegen  den  Lauf  der  Welt  und 
das  Geschick  des  Menschen.  144 

,,Er  machte  uns,"  lautet  die  Ansicht  der  westafrikanischen  Bantu,  „aber  nach- 
dem er  uns  gemacht  hatte,  verließ  er  uns;  er  kümmert  sich  nicht  um  uns;  er  ist 
weit  von  uns.  Warum  sollten  wir  uns  um  ihn  kümmern?  Er  hilft  und  schadet 
uns  nicht."  146  Die  Waganda  und  Wanyore  erweisen  Katonda,  dem  höchsten 
Wesen,  das  die  Welt  und  Menschen  erschaffen  hat,  keine  Verehrung,  da  es,  wie 
sie  glauben,  viel  zu  hoch  steht,  um  sich  um  die  Menschen  zu  kümmern.  14*  Aber 
auch  bei  anderen  Stämmen  als  den  Bantu  finden  wir  diesen  „great  indifferent 
and  neglected  god"  (Miss  Kingsley).  147  Den  australischen  Euahlayi  erscheinen 
täglich  gesprochene  Gebete  an  den  Urvater  Baiame  als  Torheit,  ja  geradezu  als 
eine  Beleidigung  gegen  ihn.  Er  weiß  alles,  wozu  ihn  durch  Wiederholung  ermüden, 
wozu  die  Ruhe  stören,  die  er  nach  seinen  Erdenmühen  genießt?  148 

Während  das  höchste  Wesen  in  weiter  Ferne  weilt,  sind  die  zahl- 
reichen Naturmächte,  Patrone,  Ahnengeisterund  Dämonen  den  Menschen 
stets  nahe;  während  jenes  nur  selten  in  den  Weltlauf  eingreift,  sind 
diese  stets  tätig  und  wirksam.  Jenes  ist  ein  hehres  Geisterwesen,  diese 
sind  wirkliche  Mächte;  allstündlich  erfahren  die  Menschen  ihre  Ab- 
hängigkeit von  ihnen;  zu  ihnen  beten  sie  in  ihren  Nöten,  von  ihnen 
erflehen  sie  Gunst  und  Gnade.  Die  Ahnen  sind  ihnen  von  ihren  Leb- 
zeiten her  vertraut,  ihr  Bild  hat  sich  unauslöschlich  ihrer  Erinnerung 
eingeprägt ;  den  Urvater  und  Schöpfer  hingegen  hat  niemand  geschaut, 


VII.    Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Urväter)  125 

nur  die  Vätersage  hat  ihnen  Kunde  von  ihm  gebracht.  Was  Wunder, 
daß  sie  im  Gebet  sich  allererst  an  jene  höheren  Wesen  wenden,  die 
ihnen  von  Angesicht  bekannt  sind  ? 

Der  zweite  Grund  für  die  Vernachlässigung  des  höchsten  Wesens  ist 
die  Überzeugung  von  seiner  Güte  und  Milde  einerseits  und  anderer- 
seits die  Furcht  vor  den  zahlreichen  bösen  Geistern.  All  die  Übel,  die 
den  Primitiven  täglich  treffen,  vor  allem  Krankheit  und  unnatürlicher 
Tod,  sind  ein  Werk  übersinnlicher  Wesen,  die  es  stets  darauf  abgesehen 
haben,  dem  Menschen  Schaden  zuzufügen.  Er  wehrt  sich  gegen  diese 
bösen  Dämonen  mit  Beschwörungspraktiken  aller  Art,  er  verscheucht 
sie  mit  Feuer,  mit  Lärm  und  mit  Drohworten  — aber  er  sucht  auch  sie 
zu  begütigen  durch  demütig  flehende  Worte  und  sie  günstig  zu  stimmen 
durch  Opfergaben  aller  Art.  Doch  diese  Unholde  sind  unersättlich; 
immer  wieder  senden  sie  Krankheit  und  sonstige  Übel  und  immer  wieder 
muß  er  ihren  Opferhunger  stillen.  An  sie  wendet  er  sich  zunächst  im 
Unglück;  denn  sie  sind  dessen  Urheber.  Zu  ihnen  betet  er  in  seiner 
Not,  nicht  zu  dem  hehren,  milden  Geist,  der  im  Himmel  thront. 

Auf  die  Frage:  „Warum  opfert  ihr  denn  nicht  dein  Ndjambi?"  antworten  die 
Herero:  „Warum  sollen  wir  ihm  denn  Opfer  bringen,  er  tut  uns  doch  nichts  Böses 
wie  unsere  Ovakuru  (Geister)?"  14*.  Die  Tembe,  ein  Sakei-Stamm,  richten  an 
Samor,  das  höchste  Wesen,  keine  Gebete,  da  er  stets  freundlich  gesinnt  ist,  den 
Gott  der  Unterwelt  aber  verehren  sie  und  rufen  ihn  an,  weil  er  schaden  kann  1S0. 
Ahone,  der  Schöpfer  und  Regierer  der  Welt,  der  alle  Menschen  mit  Gütern  ver- 
sieht und  ihnen  nichts  Böses  tut,  erhält  von  den  Virginia- Indianern  keine  Opfer; 
Okeus  hingegen,  der  Krankheit  und  Unwetter  schickt,  hat  Tempel,  Opfer  und 
Priester  m.  P.  Brigaud  schreibt  von  den  Karenen  in  Pinna:  „Der  Karene  betet 
Gott  nicht  an,  bringt  ihm  weder  Opfer  noch  Verehrung  dar  und  bittet  ihn  um 
nichts.  Er  läßt  sich  eben  nur  von  der  Furcht  beeinflussen,  und  da  er  von  Gott 
die  Überzeugung  hat,  dieser  sei  gut  und  gerecht,  man  habe  von  dessen  väterlicher 
Milde  nichts  zu  befürchten,  so  läßt  er  ihn  auch  gänzlich  beiseite  liegen."  158  Die 
Sikkhim  im  Himälaya  bringen  nur  den  bösen  Geistern  Ehrenbezeugungen  und 
opfern  ausschließlich  ihnen.  „Wozu  auch,"  sagen  sie,  „sollten  wir  uns  an  die 
guten  Geister  wenden,  die  uns  doch  nie  etwas  zu  leide  tun?  Die  Teufel  dagegen 
hausen  überall  auf  den  Felsen  und  Bergen  und  sinnen  beständig  auf  unser  Ver- 
derben; sie  muß  man  also  durch  Opfer  und  Gebete  versöhnen."  163  Thomas 
Campanius  Holm  erzählt  von  den  Algonkin  Nya  Sveriges :  „Sie  sagen :  .Der  oberste 
Gott  im  Himmel,  er  ist  nicht  böse,  er  tut  uns  weder  Übles  noch  Gutes,  darum 
können  wir  ihn  auch  nicht  anbeten'.  Aber  von  den  Bösen  sagen  sie:  ,Der  Teufel, 
unser  Oberster,  ist  böse;  wenn  wir  nicht  tun,  was  er  befiehlt,  so  verwundet, 
zerreißt  und  tötet  er  uns'.  Deswegen  verehren  sie  Gott  nicht  und  rufen  ihn  nicht 
an ;  aber  vor  dem  Bösen  haben  sie  Furcht  und  opfern  ihm,  damit  er  ihnen  keinen 
Schaden  zufüge."  15* 

Das  Zurücktreten  des  Urvaters  hinter  die  Natur-  und  Ahnengeister 
im  Opferkult  hat  zur  Folge,  daß  seine  Gestalt  bei  vielen  Stämmen  aus 
dem  religiösen  Leben  völlig  verschwindet  und  fast  nur  noch  in  der 
heiligen  Sage  und  in  stereotypen  frommen  Redensarten  des  Alltags 
fortlebt. 

„Kai  i.  das  Im  liste  Wesen  der  Semang  auf  Malakka",  schreibt  Skeat,  ..kann  am 
besten  als  eine  mythologische  Person  betrachtet  werden;  eine  wirkliche  Ver- 
ehrung fehlt  ihm."  158  Missionar  Nassau,  der  jahrzehntelang  bei  den  westafri- 
kanischen Bunin  wirkte,  sagt:  „Ihr  Gottesglaube  ist  meist  nur  eine  Theorie;  es 
isl  ein  übernommener  Glaube,  aber  beeinflußt  nicht  ihr  L  Den."  ii!  „Olorun, 
der  höchste   Gott    der    Yoruba,  lebt,"  wie  Frobenius  sagt,  „mehr  im   Sprichwort 


126  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

wie  in  der  Anschauung  oder  im  Kulte."  158  Von  den  Schilluk  bezeugt  P.  Hof- 
mayr,  daß  sie  den  Namen  des  höchsten  Wesens  Cuok  sehr  selten  außer  in  den 
gewöhnlichen  Grußformeln  nennen.  159  Über  den  Himmelsgott  der  Dschagga- 
neger  schreibt  Raum:  ,,Ruwa  droht  oft  zu  einer  bloßen  Idee  oder  Ahnung  sich  zu 
verflüchtigen,  die  keine  praktische  Bedeutung  besitzt.  Bei  den  Aussagen  über 
Ruwa  handelt  es  sich  mehr  um  Gottessagen."  160 

Wenn  wir  die  Vorstellungen  der  verschiedenen  Stämme  von  dem 
höchsten  Wesen  überschauen,  so  treten  deutlich  drei  Gruppen  hervor: 
1.  high  gods,  die  (außer  den  Primitialopfern)  keine  Opfer  empfangen, 
zu  denen  man  in  der  Not  spontan,  frei  und  formlos  betet;  2.  hig  h  go 
an  die  Opfer  und  Gebete  gerichtet  werden  wie  an  alle  anderen  Mächte, 
die  Objekt  eines  eigentlichen  Kults  sind;  3.  high  gods,  denen  man  keine 
Opfer  bringt  und  zu  denen  man  nie  oder  fast  nie  betet.  Die  Wesen  der 
zweiten  Gruppe  sind  Kultgottheiten  genau  so  wie  die  anderen  Götter 
und  Geister,  die  der  primitive  oder  antike  Mensch  verehrt.  Die  Wesen 
der  dritten  Gruppe  sind  ,dii  otiosi'  deistischer  Wesensart,  denen  nur 
eine  theoretische  Bedeutung  im  religiösen  Vorstellungskreis,  jedoch  keine 
praktische  Bedeutung  im  religiösen  Leben  zukommt.  In  keiner  dieser 
beiden  letzten  Gruppen  dürften  wir  das  ursprüngliche  Bild  des  höchsten 
Wesens  erfassen.  Die  Verehrung  des  Urvaters  mit  Opfern  dürfte  auf 
einem  fortschreitenden  Entwicklungsprozeß  beruhen :  der  Kult  und  das 
Opferritual  der  Naturgötter  und  Ahnen  wurde  auf  den  höchsten  Gott 
übertragen.  Der  deistische  Charakter  des  Urhebers  hingegen  erscheint 
als  das  Resultat  einer  Rückbildung,  eines  Verkümmerungsprozesses :  das 
höchste  Wesen  wurde  von  den  dem  Menschen  näherstehenden  Geistern 
verdrängt;  um  sein  Bild,  ehedem  lebendig  im  Glauben  des  Primitiven, 
hüllt  sich  das  Dunkel  der  Sage;  der  die  Welt  beherrschende  Schicksals- 
gott wurde  zum  bloßen  Demiurgen,  ,Urheber',  dessen  Macht  und  Werk 
der  Vorzeit  angehörte.  So  schwand  das  ehedem  lebendige  Gefühl  seiner 
Nähe,  das  ehedem  tiefe  Bewußtsein  der  vollen  Abhängigkeit  von  seiner 
Macht;  man  hörte  auf,  zu  ihm  zu  beten.  Es  fehlt  nicht  an  Zeugnissen 
dafür,  daß  der  Gebetsverkehr  mit  dem  Schöpfergott  in  vergangenen 
Zeiten  reicher  und  lebendiger  war  wie  in  der  Gegenwart.  161  Trübe 
Erinnerungen  daran  haben  sich  bisweilen  in  der  Sage  erhalten.  Die 
Andamanesen  erzählen  sich  von  Puluga,  daß  er  früher  mit  den  Menschen 
verkehrte 162  —  eine  schwache  Erinnerung  daran,  daß  ehedem  die 
Menschen  durch  das  Gebet  in  trautem  Umgang  und  lebendiger  Gemein- 
schaft mit  ihrem  Schöpfer  standen.  Bei  verschiedenen  Bantu- 
stämmen  findet  sich  der  Glaube,  Gott  habe  seine  Schöpfung  der  Herr- 
schaft der  Geister  überlassen  163  —  ein  primitiver  theologischer  Versuch, 
das  Zurücktreten  des  Urvaters  im  Glauben  und  in  der  Verehrung  zu 
erklären. 

4.  Interzession. 

Das  Gefühl  der  Erhabenheit  und  Majestät  des  höchsten  Gottes  kann 
so  stark  sein,  daß  der  Mensch  nicht  wagt,  mit  ihm  in  unmittelbaren 
Verkehr  zu  treten.  Wie  er  manchmal  sich  nicht  direkt  mit  einer  Bitte 
an  den  Herrscher  und  Häuptling  wendet,  sondern  dessen  Freunde  und 
Diener  bittet,  sein  Anliegen  vor  dessen  Thron  zu  bringen,  so  richtet 


VII.  Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  (Interzession)  127 

er  auch  an  den  Gott  des  Himmels  sein  Gebet  nicht  persönlich  und  un- 
mittelbar, sondern  ruft  die  niederen  Gottheiten  um  Fürsprache  an.  In 
vielen  Fällen  steht  diese  Bitte  um  Fürsprache  der  persönlichen  Bitte 
an  das  höchste  Wesen  nur  zur  Seite.  Man  trägt  diesem  seine  Bitte  vor, 
zugleich  aber  wendet  man  sich  an  die  unteren  Götter,  auf  daß  diese 
bei  ihm  ihr  Wort  für  den  Bittenden  einlegen.  Dasselbe  pflegt  man  ja 
auch  auf  Erden  zu  tun;  man  bittet  einen  Freund  des  Herrschers,  das 
Bittgesuch,  das  man  an  diesen  gerichtet  hat,  zu  befürworten. 

Eine  Euahlayi-Frau  sandte  bei  Dürre  ihren  Schutzgeist  zum  Urvater  Baiame. 
auf  daß  er  ihm  sage,  das  Land  bedürfe  des  Regens.  164  Die  Konde  am  Nyassa- 
See  riefen  bei  einer  Viehpest  zu  den  Ahnen:  ..Erhöret  das  Wort,  das  ich  rede! 
Fallet  nieder  vor  Gott  und  sagt :  Weshalb  soll  das  Vieh  Muakorobos  sterben  ? 
Die  Seuche  möge  weichen!"  1S5  Die  Eweer  bringen  Gebete  und  Opfer  an  Mawu 
durch  seinen  Sohn  Sogble,  den  Blitzgott:  ,,0  roter  Sogble.  komm  und  empfange 
diese  Gabe  für  deinen  Vater,  den  großen  Gott !"  ,,0  Sogble,  höre  auf  meine  Stimme 
und  gehe  zum  großen  Gott,  daß  er  mir  helfe,  mich  segne  und  alles  wohl  gelingen 
lasse!"  188  Nach  der  Anschauung  der  Bewohner  von  Mkulwe  haben  die  wazimu 
(Seelen  der  Verstorbenen)  großen  Einfluß  bei  Xguluwi,  dem  Schöpfer  und  Him- 
melsgott. Alltäglich  bitten  sie  ihre  Ahnen  um  Fürbitte:  „Du,  Vater,  schütze 
mich,  und  du,  Mutter,  schütze  mich,  du  Großvater  N.  ,ihr  Großväter  alle,  schützt 
mich,  fallt  für  mich  bittend  nieder  bei  Gott,  daß  ich  wohl  sei!"  Als  die  einfluß- 
reichsten Fürsprecher  bei  Gott  gelten  die  verstorbenen  Häuptlinge,  maleza  ge- 
nannt. Um  Regen  zu  erlangen,  opfert  der  Häuptling  an  ihrem  Grabe  und  erfleht 
ihre  Fürsprache:  „Du  Vater  Luiwa  schütze  mich;  ihr  Väter  alle  des  Landes, 
schützt  mich,  erbittet  mir  Regen  bei  Xguluwi!"  187  Der  Opferpriester  der  Jap 
(deutsche  Südsee)  ruft,  immer  aufsteigend,  die  ganze  Kette  seiner  Amtsvorgänger 
an,  daß  sie  sein  Gebet  weitergeben  an  den  jeweiligen  Vorgänger.  Ist  das  Namen- 
register erschöpft,  so  wendet  er  sich  in  genereller  Weise  an  alle  übrigen  Vorgänger, 
daß  sie  den  kan  (Geist)  des  taliu  bitten  sollen,  und  dieser  Margigi  seine  Mutter 
und  dieser  die  Bewohner  von  Sipin  und  diese  schließlich  das  höchste  Wesen,  den 
Himmelshäuptling  Yelafaz.  Seine  Gebetsanrufung  durchläuft  so  die  ganze 
,hierarchia  coelestis':  ,,0  Tamang,  du  mögest  Giliken  bitten,  er  möge  Ken  bitten, 
er  möge  Tämaniad  bitten,  er  möge  Tämanin  bitten,  er  möge  die  Seligen  bitten 
sie  mögen  Uezrei  bitten,  er  solle  Margigi  bitten,  sie  solle  die  von  Sipin  bitten,  sie 
sollen  Yelafaz  bitten."  16s  Doch  nicht  allein  an  den  Schöpfer  und  Himmelsgott, 
sondern  auch  an  andere  höhere  Gottheiten  wendet  man  sich  durch  Fürbitter  und 
Mittelspersonen.  Die  Ainu  rufen  zum  Feuer:  ,,0  Gott  des  Feuers,  bitte  die  Götter, 
uns  Erfolg  zu  geben!"  18'  Die  Cora-Indianer  rufen  die  jüngst  Verstorbenen  als 
Fürsprecher  bei  den  Gottheiten  und  den  , Alten',  d.  h.  den  früher  Verstorbenen 
an.  ,,So  tut  es  denn  und  bittet  für  mich  um  Leben,  damit  ich  darin  Leben  habe 
und  (noch)  einen  Tag  hier  zubringe."  l7°  Die  alten  sumerischen  Priesterfürsten 
rufen  ebenso  wie  die  späteren  assyrischen  Könige  niedere  Gottheiten  um  ihre 
Vermittlung  bei  den  höchsten  Göttern  an.  ,,0  Annunaki  zu  meiner  Seite,  möchtet 
ihr  ein  Gebet  (vor  Ningirsu)  aussprechen!"  (Gudea  Cyl.  B  II  6).  „Möge  sein 
Gott  Ninsach  für  sein  Leben  in  künftigen  Tagen  si<  h  vor  Ningirsu  niederwerfen." 
(Urukagina).  ,,Enlil,  der  König  der  Länder,  möge  Anu,  seinem  geliebten  Vater, 
meine  Bitte  sagen,  meinem  Leben  Leben  zuzufügen"  (Lugal-zagiz)  171.  „Nieder- 
werfung der  Gegner  und  Zerstörung  des  Landes  meiner  Feinde  sprich  aus  vor 
Schamasch,  demKönig  des  Himmels  und  der  Erde,  alljährlich."  „Vor  Mardurk, 
dem  König  des  Himmels  und  der  Erde,  dem  Vater,  deinem  Erzeuger,  mache 
angenehm  meine  Taten,  bitte  um   Gnade  für  mich"   (Nebukadnezar)  l72. 

Die  Anrufung  niederer  Geister  als  Mittler  und  Fürsprecher  bei  höheren 
Gottheiten  oder  beim  höchsten  Gott  ist  zweifellos  eine  sekundäre  Er- 
scheinung. Als  das  kindliche  Zutrauen  zu  Gott  schwand  und  man  be- 
gann, Gott  als  schwer  zugänglichen,  souveränen  Herrscher  vorzustellen, 
da  suchte  man,  irdisch-sozialen  Analogien  gemäß,  durch  die  Vermittlun 


128  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

solcher  Wesen,  die  einerseits  Gott  nahe  standen  und  andererseits  den 
Menschen  vertraut  waren,  vor  allem  der  Ahnen,  Gottes  Gunst  und  Gnade 
zu  erlangen.  Aber  es  ist  bedeutsam,  daß  der  Gedanke  der  ,intercessio 
sanctorumi  schon  bei  den  schriftlosen  Stämmen  Australiens,  Afrikas 
und  Austronesiens  wie  bei  den  ältesten  Kulturvölkern  sich  findet.  Er 
wurzelt  in  der  im  ganzen  religiösen  Leben  sich  offenbarenden  Tendenz, 
auf  das  Verhältnis  zu  Gott  die  Verhältnisse  des  sozialen  Lebens  zu 
übertragen.  Die  Anrufung  der  Fürbitte  der  Heiligen  und  Engel,  die 
in  den  großen  monotheistisch-prophetischen  Religionen,  im  nach- 
exilischen  Judentum,  im  Christentum  und  im  Islam  eine  hervorragende 
Rolle  spielt,  erweist  sich  somit  als  uralte,  in  menschlichen  Anlagen  und 
Bedürfnissen  tief  begründete  Form  des  religiösen  Verkehrs  mit  Gott. 

5.  Intervention. 
Seltsamerweise  treffen  wir  in  der  Religion  von  Naturvölkern  auch  die  umge- 
kehrte Erscheinung.  Man  wendet  sich  an  die  höheren  Götter  und  erfleht  von 
ihnen  eine  Einwirkung  auf  die  niederen.  So  betet  der  Cora- Indianer  zum  Morgen- 
stern: „Möchtest  du  es  mitteilen  deinen  jüngeren  Brüdern,  den  Tschakate- Göttern 
(Flußgöttern)!"  Oder  er  bittet  die  Sonne  um  ihre  Intervention  bei  den  Fluß- 
göttern: ,,Du  verstehst  sie  und  weißt  über  sie  Bescheid.  Du  mögest  ihnen  sagen, 
sie  möchten  nichts  Übles  gegen  mich  sinnen.  Diese  Gabe  mögest  du  ihnen  ein- 
händigen!" Und  zu  der  Unterweltsgöttin  Tetewan,  der  Mutter  der  Flußgötter, 
ruft  er:  „Sage  also  deinen  Söhnen,  den  Tschakate:  sie  möchten  mir  keinen  Schaden 
zufügen,  sie,  die  das  Wasser  in  Obhut  haben."  173  In  babylonischen  Hymnen 
bittet  häufig  ein  gequälter  Mensch  eine  mächtige  Gottheit,  ihm  seinen  Schutz- 
gott oder  seine  Schutzgöttin,  die  ihm  zürnt,  zu  versöhnen.  174 

6.  Gebet  an  mehrere  Gottheiten. 
Ursprünglich  richtete  wohl  der  Mensch  sein  Gebet  nur  an  einen  Gott  oder 
doch  nur  an  e  i  n  e  Götterklasse  wie  die  Ahnen.  Wo  aber  ein  Stamm  zur  Bildung 
eines,  wenn  auch  noch  so  primitiven  Pantheons  fortgeschritten  ist,  ruft  man 
—  zumal  bei  feierlichen  liturgischen  Akten — nicht  selten  in  einem  und  demselben 
Gebet  mehrere  Götter  an,  die  ganz  verschiedenen  Kategorien  angehören.  Bei 
verschiedenen  afrikanischen  Stämmen  ruft  man  im  gleichen  Gebet  den  höchsten 
Gott  wie  die  Ahnen  an.  Ein  Gebet  der  Wapokomo  hebt  an  mit  den  Worten : 
,,0  Gott,  wir  bitten  dich!  0  Totengeister,  wir  bitten  euch!  O  Ahnen,  wir  bitten 
euch!"  175  Ein  Ewe-Gebet  beginnt  mit  der  Anrede:  „Sodza,  Gott  unserer  Heimat. 
Mutter  der  großen  Gemeinde,  ihr  trowo  (Naturgeister)  unserer  Heimat!"  178  Ein 
Batak-Gebet  fängtan  mit  der  Anrufung:  ,,0  Großvater  Boraspati  ni  tano  (Erdgott) 
und  ihr  sambaon  (Lokalgeister)!"177  Die  Cora-Indianer  rufen  in  einem  Gebet 
die  Sonne,  die  Erdgöttin,  den  Morgenstern  und  die  Ahnen  an.  17S  Ein  Gebet 
in  den  „Sieben  gegen  Theben"  beginnt  mit  der  feierlichen  Apostrophe: 

„0  Zeus,  o  Erde  und  ihr  städt'schen  Götter  all!" 
Oft  wird  eine  lange  Reihe  von  göttlichen  Wesen  bei  Beginn  des  Gebets  angerufen. 
,,Es  ist  eine  Eigentümlichkeit  vieler  Opfergebete  der  Tobabatak,  daß  darin  nicht 
nur  die  Gottheit  oder  der  eine  Ahne  oder  begu  angerufen  wird,  mit  dem  man  es 
gerade  zu  tun  hat,  sondern  daß  man  die  ganze  Schar  der  Götter  und  Geister  mit 
ihm  zusammenruft:  die  fünf  Obergötter,  Boraspati  ni  tano  (Erdgott),  die  Wasser- 
gottheiten, verschiedene  samban  (Lokalgeister),  alle  möglichen  begu  (Toten- 
geister) und  Heroen,  eine  Menge  Namen.  Es  liegt  wohl  die  Besorgnis  zugrunde, 
es  könne  sich  irgend  ein  Begu  übergangen  fühlen  und  unangenehm  berührt  wer- 
den." 180  Die  Griechen  riefen  in  der  Not  bisweilen  zu  zahlreichen  Gottheiten. 
Das  Chorgebet  der  Thebanerinnen  in  den  „Sieben  gegen  Theben"  des  Äschylus 
(116  ff.)  spiegelt  trefflich  das  spontane  individuelle  wie  das  feierliche  liturgische 
Gebet  der  Griechen  an  viele  Einzelgötter  wieder.  Das  Devotionsgebet,  das 
der  römische  Konsul  Decius  Mus  in  der  Not  des  Landes  sprach,  beginnt  mit  der 
Anrufung:  „Jane,  Juppiter,  Mars  pater,  Quirine,Be!lona,  di  Novensiles,  di  Indi- 
getes,  divi,  quorum  est  potestas  nostrorum  hostiumque,  dique  Manes!"  181    Wird 


VII.    Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen  129 

nach  jeder  Namensnennung  dieselbe  kurze  Bitte  in  einförmiger  Weise  wiederholt, 
so  nennen  wir  ein  solches  Gebet  an  viele  höhere  Wesen  , Litanei'.  Schon  schriftlose 
Völker  wie  die  Cora-Indianer  rezitierten  solche  Litaneien  bei  ihren  religiösen 
Festen.  Allein  während  die  anderen  an  mehrere  Gottheiten  gerichteten  Gebete 
noch  spontan  und  frei  sein  können,  sind  die  Litaneien  stets  feststehende,  streng 
gebundene  Gebets  formein;  sie  gehören  darum  nicht  in  den  Zusammenhang 
des  naiven   Gebets  der  Primitiven. 

7.  Das  Prioritätsproblem. 

Eine  große  und  bunte  Schar  übersinnlicher  Mächte  ist  es,  zu  denen 
der  primitive  Mensch  um  Hilfe  und  Glück  betet.  Aber  zu  all  den  mannig- 
fachen Natur-  und  Elementargeistern,  Tätigkeits-  und  Sondergöttern 
fleht  er  nur  in  jenen  Anliegen,  die  das  eng  umgrenzte  Machtgebiet  dieser 
Wesen  betreffen.  Umfassender  ist  der  Wirkungskreis  der  Lokalgötter 
und  Ahnen;  vor  sie  bringt  man  die  verschiedensten  Nöte  und  Wünsche, 
die  Anliegen  der  Familie,  des  Dorfes,  der  Stadt,  des  Gaues;  aber  auch 
ihr  Wirken  ist  nicht  unbegrenzt;  zu  den  Ahnen  beten  immer  nur  die 
Kinder  und  Kindeskinder,  zu  den  Lokalgottheiten  nur  der,  welcher  in 
ihrem  Bereiche  weilt.  Nur  das  Wirken  des  höchsten  Gottes,  des  Schöpfers, 
ist  schrankenlos,  seine  Machtsphäre  kennt  keine  Grenzen.  Zu  ihm  kann 
man  in  allen  Anliegen  seine  Zuflucht  nehmen,  zu  ihm  kann  man  aller- 
orts und  allezeit  beten.  Wie  seine  Macht  und  sein  Wirken,  so  sind  auch 
die  Gebetsanliegen,  mit  denen  man  zu  ihm  kommt,  universell,  so  reich 
und  verschieden  wie  die  Nöte  und  Bedürfnisse  des  Menschen.  Aber  es 
sind  fast  stets  die  wichtigsten  Anliegen,  die  den  Gegenstand  des  Gebets 
an  ihn  bilden  —  die  kleinen  und  kleinsten  Wünsche  und  Launen  des 
Tages  trägt  man  den  niederen  Göttern  vor  — ;  aber  sie  erstrecken  sich 
über  das  ganze  Leben  des  Menschen,  umfassen  die  ganze  Natur.  Der 
Gegensatz  zu  jenen  übersinnlichen  Mächten,  die  nur  einem  Teil  der 
Natur  oder  des  Menschenlebens  vorstehen,  ist  so  deutlich  wie  möglich. 
War  er  es,  der  Schöpfer  Himmels  und  der  Erde,  der  Herr  über  die 
Natur  und  die  Geschicke  des  Menschen,  zu  dem  der  schwache  Mensch, 
gedrängt  von  Not  und  Gefahr,  zuerst  seine  bittende  Stimme  erhob  ? 
oder  rief  er  zuerst  zu  den  Geistern  der  Natur  oder  zu  seinen  Ahnen  ? 
An  der  Beantwortung  dieser  Frage  hängt  die  Lösung  des  Problems 
nach  dem  Ursprung  und  der  Urform  des  Gebets.  Dieses  Problem  aber 
ist  nur  ein  Teilproblem  des  großen  Problems  vom  Ursprung  des  Gottes- 
glaubens. Eine  nähere  Erörterung  dieses  Problems  kann  an  dieser 
Stelle  nicht  erfolgen.  Die  Antwort,  welche  auf  diese  Frage  gegeben 
wird,  enthält  stets  eine  geschichtsphilosophische  Kon- 
struktion, keine  strenge  geschichtliche  oder  psy- 
chologische Erkenntnis.  Immerhin  kann  die  Religions- 
wissenschaft nicht  darauf  verzichten,  eine  solche  hypothetische  Kon- 
struktion vorzunehmen.  Darum  sei  die  Anschauung  des  Verfassern 
über  die  Entstehung  des  Gebets  an  die  verschiedenen  höheren  Wesen 
kurz  skizziert.  Eine  nähere  Ausführung  dieser  Gedanken  wird  seine 
Untersuchung  über  „Gebet  und  Zauberspruch"  bringen. 

Verschiedene  Momente  weisen  darauf  hin,  daß  ursprünglich  das  Gebet 
ausschließlich  an  den  höchsten  Gott  Himmels  und  der  Erde  gerichtet 

Das  Gebot  9 


130  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 


wurde.  Der  Glaube  an  ein  höchstes  Wesen  hat  eine  doppelte  Wurzel 
im  Seelenleben  des  Urmenschen.  Er  ist  einmal  geboren  aus  der  großen 
Frage,  die  schon  den  Primitiven  beschäftigte:  Woher  stammt  die  Welt, 
woher  der  Mensch  ?  Aber  noch  tiefer  und  wichtiger  als  diese  theoretische 
Wurzel  des  Gottesglaubens  ist  die  andere,  praktische.  Der  primitive 
Mensch  ist  durchdrungen  von  dem  Gefühl  der  absoluten  Ohnmacht  und 
Abhängigkeit;  man  kann  dieses  Gefühl,  das  Furcht  und  Hoffnung, 
Angst  und  Zuversicht  umschließt,  sein  Lebensgrundgefühl  nennen.  Aus 
diesem  universellen  Abhängigkeitsgefühl  geht  der  Glaube  an  einen  Vater 
aller  Menschen  hervor  —  das  höchste  Wesen,  das  die  Naturvölker 
verehren,  gilt  allenthalben  als  Vater.  An  diesen  Urvater  wandte  sich 
der  Mensch  in  jeder  Not,  ihm  dankte  er  in  allem  Glück.  Als  Zeichen 
der  Anerkennung  und  Dankbarkeit  brachte  er  ihm  die  Erstlinge  von 
Speise  und  Trank,  von  der  Jagdbeute  und  den  Feldf rächten  dar. 

Zum  Gebet  und  Erstlingsopfer  an  den  Urvater  trat  sehr  frühe  die 
Anrufung  und  Gabendarbringung  an  die  Ahnen.  Das  Gebet  an  die 
verstorbenen  Eltern  und  Großeltern  ging  wahrscheinlich  aus  der  Toten- 
klage hervor,  das  Opfer  an  sie  aus  der  Totenspeisung.  Bei  den  meisten 
Völkern  erfolgt  die  Totenklage  in  der  Du-Anrede.  Der  Klage  über  den 
Weggang  und  dem  Wunsche  „komm  wieder"  fügte  man  schließlich  die 
Bitte  um  Hilfe  zu.  So  entstand  ein  Gebetsverkehr  zwischen  den  Nach- 
kommen und  Ahnen,  analog  dem  Gebetsverkehr  zwischen  Mensch  und 
Schöpfer.  Am  Grabe  des  Verstorbenen  setzte  man  Speise  und  Trank 
nieder,  deren  der  Tote  ebenso  wie  der  Lebende  bedurfte.  Zu  der  regel- 
mäßigen Speisung  trat  die  Darbringung  außerordentlicher  Gaben  hinzu, 
mit  denen  man  die  Bitten  an  die  mächtigen  Toten  unterstützte.  So 
entstand  das  Speiseopfer,  das  einen  völlig  anderen  Sinn  hat  als  das 
dem  Schöpfer  gewidmete  Primitialopfer. 

Während  das  Gebet  an  den  Schöpfer  und  an  die  Ahnen  selbständig 
entstand,  erscheint  das  Gebet  an  die  Naturgeister  und  Naturgötter  als 
etwas  Sekundäres.  Die  Naturobjekte,  die  mit  Gebet  und  Opfer  ver- 
ehrt werden,  sind  zum  größten  Teil  Mana-  oder  TWm-Objekte,  an  denen 
dem  Primitiven  das  Erlebnis  des  ,Heiligen',  des  ,Numinösen'  aufleuchtete. 
Sie  scheinen  erst  unter  dem  Einflüsse  des  Ahnenkults  und  der  Ver- 
ehrung des  höchsten  Wesens  aus  unpersönlichen  mit  übernatürlicher  Macht 
begabten  Objekten  zu  persönlichen  Geistwesen,  d.  h.  zu  Göttern  ge- 
worden zu  sein.  Nachdem  sich  die  Anthropomorphisierung  der  Mana- 
Objekte  vollzogen  hatte,  richtete  man  an  sie  Gebete  und  Opfer  wie 
ehedem  an  die  Ahnen  und  an  den  Schöpfer. 

Noch  jünger  als  der  Kultus  der  Natur  mächte  ist  die  Verehrung  der 
Lokalgottheiten  und  Patrongötter.  Die  Lokalgötter  sind  wohl  aus  einer 
Verschmelzung  der  Ahnen  und  Heroen  mit  bestimmten  Naturgeistern 
und  dem  höchsten  Wesen  entstanden.  Die  Vorstellung  der  Patron-, 
Funktions-  und  Sondergötter  ist  eine  sehr  junge  Neubildung;  sie  setzt 
bereits  eine  sehr  starke  Abstraktionsfähigkeit  voraus. 

So  drängt  sich  uns,  wenn  wir  die  Urgeschichte  des  Gebets  zu  rekon- 
struieren versuchen,  eine  geschichtsphilosophische  Perspektive  auf,  die 
den  herkömmlichen  Theorien  von  der  Genesis  der  Gottesidee  entgegen- 


VIII.  Die  dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottesvorstellung  131 

gesetzt  ist.  Nicht  zu  einer  Vielheit  von  Geistwesen  wendet  sich  der 
betende  Urmensch,  sondern  zu  dem  einen  Gotte,  dem  Urvater,  dem 
Herrscher  über  Himmel  und  Erde.  Darum  kann  der  Polydämonismus 
nicht  die  Wurzel  der  Religion  sein.  Die  Wurzel  der  Religion  ist  vielmehr 
—  soweit  wir  nach  dem  heute  vor  uns  ausgebreiteten  religionsgeschicht- 
lichen Material  schließen  können  —  eine  doppelte:  einmal  der  Glaube 
an  ein  höchstes  Wesen,  den  Schöpfer  und  Schicksalslenker,  den  Gesetz- 
geber und  Richter,  zu  dem  man  im  Gebet  ruft  und  den  man  mit  Dank- 
opfern ehrt,  also  ein  primitiver  ,Monotheismus',  und  andererseits  der 
Glaube  an  die  geheimnisvolle  übernatürliche  ,Macht',  die  man,  sofern 
sie  wertvoll  ist,  zu  gewinnen  sucht  oder  gegen  die  man,  wenn  sie  ge- 
fährlich ist,  sich  zu  schützen  trachtet,  der  Glaube  an  das  ,Heilige' 
(Mana,  Tabu),  das  in  Menschen  und  Dingen  sich  verkörpert,  also  ein 
keimhafter  ,Pantheismus'.  Zum  Urvater-  und  Machtglauben  trat  frühe 
der  Geisterglaube  und  Totenkult,  der  aus  dem  Funeralwesen  hervor- 
wuchs. Dem  Urvaterglauben  entstammt  das  Gebet  und  Erstlings opf er, 
aus  dem  ,Macht'glauben  ging  das  komplizierte  Riten-  und  Zauberwesen 
hervor.  Aus  dem  Totenkult  wuchs  einerseits  das  Beschwörungswesen, 
andererseits  das  sich  immer  steigernde  Opferwesen  heraus.  Das  Gebet 
ist  also  die  große  Schöpfung  eines  primitiven  ,Monotheismus' ;  nur  dort, 
wo  der  Eingottglaube  in  voller  Kraft  lebendig  wurde,  in  der  Frömmigkeit 
der  religiösen  Genien,  war  darum  die  Vollendung  des  Gebets  möglich. 

VIII.  Die  dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottes- 
vorstellung. 
1.  Die  höheren  Wesen,  an  die  der  primitive  Mensch  glaubt  und  die 
er  verehrt,  sind  übersinnlich.  Zwar  sind  sie  stets  —  bald  enger,  bald 
loser  —  an  ein  sinnlich  wahrnehmbares  Naturobjekt  gebunden,  das  ihr 
Wohnsitz  oder  Wirkungsbereich  ist;  übersinnlich  aber  sind  sie 
immer,  einerseits  insofern  sie  niemals  mit  einem  Naturobjekt  völlig 
zusammenfallen,  mit  ihm  identisch  sind;  andererseits  insofern  sie  trotz 
ihrer  anthropomorphen  Wesensart  nie  mit  der  sinnlichen  Physionomie 
des  lebenden  Menschen  wahrnehmbar  sind.  Ein  Gott  trägt  nie  —  es 
sei  denn  ein  menschgewordener  Gott  —  eine  menschliche  Gestalt  und 
ein  menschliches  Antlitz.  Diese  Übersinnlichkeit  ist  jedoch  nicht  das 
Wesensmerkmal  eines  Gottes.  In  Stämmen,  bei  welchen  der  auf  der 
ganzen  Welt  zu  findende  ,Animatismus'  und  ,Animismus'  zum  ,Pan- 
psychismus'  erweitert  worden  ist,  hat  jeder  Stein,  jede  Pflanze,  jeder 
Baum,  jeder  Fluß,  jeder  See,  jedes  Tier,  ja  jedes  Gerät  seinen  , Geist', 
seine  , Seele',  seine  unsichtbare,  übersinnliche  Substanz  von  fein- 
materieller Beschaffenheit;  die  ganze  Natur  wird  von  Geistern  durch- 
waltet. Weil  der  naive  Mensch  all  diese  leblosen  und  lebenden  Objekte 
personifiziert,  redet  er  mit  ihnen  wie  mit  seinesgleichen ;  dasselbe  kann 
man  noch  heute  beim  Kinde  beobachten.  Aber  dieses  Reden  ist  kein 
Beten,  diese  Geistwesen  sind  keine  Götter,  zu  denen  der  Mensch  in  ein 
kultisches  Verhältnis  tritt.  Nur  einigen  von  diesen  Geistern  bringt  er 
Opfer  dar  und  betet  zu  ihnen,  zu  jenen,  von  deren  Macht  er  sich  ab- 
hängig weiß,  denen  gegenüber  er  sich  ohnmächtig  fühlt.      Gott  und 


132  A.    Das  naive    Beten  des    primitiven    Menschen 


Dämon  sind  dem  primitiven  Menschen  nicht  bloß  übersinnliche  Geist- 
wesen, die  existieren,  aber  den  Menschen  nicht  weiter  kümmern,  sondern 
Wesen,  die  Macht  besitzen  und  diese  Macht  den  Menschen  fühlen  lassen. 

2.  Nicht  in  der  Übersinnlichkeit  liegt  das  Wesensmerkmal  der  Gott- 
heit, sondern  in  ihrer  übernatürlichen  und  übermenschlichen  Macht, 
Kraftfülle,  ,Heiligkeit' 1.  Es  ist  ihr  geheimnisvolles,  wunderbares,  zauber- 
haft wirksames  ,Mana'  2,  vermöge  dessen  sie  den  Naturlauf  wie  des 
Menschen  Schicksal  lenken  und  gestalten  3.  Mana  ist  eine  Quelle  des 
Segens,  eine  Lebenskraft;  aber  Mana  kann  auch  schädlich  und  ver- 
derblich wirken,  kann  Fluch  bringen,  diese  seine  negative  Seite  tritt 
in  dem  polinesischen  Wort  ,Tabu\  , Gefährlichkeit'  hervor.  Ob  dieser 
doppelseitigen  Macht  können  die  Götter  schenken  und  verweigern, 
geben  undnehmen  ,nützenundschaden ,  segnen  undf  luchen  (vgl  .o.S.119f.). 
Diese  in  entgegengesetzter  Richtung  wirksame  Macht  eines  Gottes  kann 
auf  ein  kleines  Teilgebiet  der  Natur  oder  der  menschlichen  Lebens- 
interessen beschränkt  sein,  wie  bei  den  Natur-  und  Sondergöttern, 
oder  sie  kann  die  ganze  Natur  und  das  ganze  Menschenleben  umspan- 
nen wie  bei  den  Ahnen  und  höchsten  Wesen;  immer  aber  ist  es  die 
wunderbar-zauberhafte  Macht  des  übersinnlichen  Wesens,  die  dem 
Betenden  vor  der  Seele  steht  und  ihn  mit  Angst  und  Bewunderung, 
Furcht  und  Hoffnung,  Schauer  und  Zuversicht  erfüllt. 

3.  Die  Macht  ist  nur  eine  Komponente  der  das  Gebet  tragenden 
Gottesvorstellung.  Die  Macht  allein  bildet  nicht  das  Wesen  eines  Gottes, 
zu  dem  man  im  Gebet  ruft.  Der  Primitive  kennt  eine  Unzahl  mit  Macht 
erfüllter,  mit  Zauberkraft  geladener  Objekte  und  Lebewesen:  heilige 
Steine,  heilige  Pflanzen,  heilige  Bäume,  heilige  Tiere,  heilige  Kultgeräte, 
heilige  Waffen,  heilige  Orte.  Diesen  heiligen  Objekten  steht  er  mit 
denselben  Gefühlen  und  Vorstellungen  gegenüber,  die  ihn  im  Verkehr 
mit  den  Göttern  beseelen :  naht  er  sich  ihnen,  so  überkommen  ihn  Zittern 
und  Staunen,  Scheu  und  Bewunderung,  Angst  und  Zuversicht.  Diese 
Objekte  sind  ihm  etwas  Übernatürliches,  Geheimnisvolles,  Rätselhaftes, 
,Numinöses'.  Sie  sind  ihm  eine  Quelle  der  Kraft,  des  Lebens  und  Glückes, 
aber  auch  etwas  Gefährliches,  ein  ,noli  me  tangere',  Verderben  bringend 
über  den,  der  unbefugt  damit  in  Berührung  kommt;  sie  sind  beides: 
Mana  und  Tabu  zugleich.  ,Heilige'  Gegenstände  besitzen  eine  uner- 
meßliche Bedeutung  im  religiösen  Leben  des  Primitiven ;  er  verehrt  sie 
in  andachtsvoller  Scheu  und  doch  betet  er  nicht  zu  ihnen :  weder 
bittet  er  sie,  noch  dankt  er  ihnen.  Sie  sind  unpersönlich;  darum 
kann  er  zu  ihnen  nicht  in  ein  persönliches  Gebetsverhältnis 
treten.  Um  Objekt  des  Gebets  zu  sein,  muß  die  , Macht',  das  ,Numen', 
von  einem  Persönlichen  getragen  sein ;  sie  kann  nicht  bloß  ruhend 
sein,  sie  muß  wirkend  sein,  durchwaltet  und  beherrscht  von  einem 
persönlichen  Willen.  Erst  die  Verbindung  der  ,Mana'-Vorstellung  mit 
dem  personifizierenden  Animismus'  —  in  Rudolf  Ottos  Terminologie 
ausgedrückt:  die  Rationalisierung'  des  irrationalen'  in  der  Idee  des 
Göttlichen  —  schafft  die  Voraussetzung  zum  Gebet;  ein  übersinnliches, 
mit  übernatürlicher  nnd  übermenschlicher  Macht  ausgestattetes,  men- 
schenähnliches Wesen  ist  Gegenstand  des  Gebets  und  Opfers,  ist  ein 


VIII.   Die  dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottesvorstellung  133 

Gott.  Wie  die  Macht  im  Zauberhäuptling  oder  Medizinmann  als  in 
einem  sinnlichen  Menschenwesen  konzentriert  ist,  so  ist  sie  im  Gott  als 
in  einem  übersinnlichen,  menschenähnlichen  Wesen  konzentriert.  Das 
dritte  Wesensmerkmal  des  im  Gebet  angerufenen  Gottes  ist  also  der 
Anthropomorphismus.  Nur  zu  einem  Wesen,  das  dem  Men- 
schen gleicht,  kann  der  Mensch  beten.  Der  Gott  besitzt  in  der  Vor- 
stellung des  Beters  dieselbe  psychologische,  vor  allem  dieselbe  psychische 
Struktur  wie  der  Mensch,  er  ist  ,,nach  seinem  Bild  und  Gleichnis" 
geschaffen. 

Die  Gottheiten  des  Primitiven  sind  nie  unkörperlich  oder  immateriell, 
sie  haben  einen  materiellen  Leib,  mag  dieser  nun  zoomorph  oder 
häufiger  anthropomorph  gedacht  sein.  Sie  stehen,  wie  der  Mensch,  in 
einem  bestimmten  Lebensalter;  die  Ehrfurcht  vor  ihnen  bringt 
es  mit  sich,  daß  man  sie  sich  zumeist  als  bejahrt  vorstellt:  man  ruft 
sie  als  , Vater',  ,Mutter',  , Großvater'  oder  , Großmutter'  an.  Sie  sind 
fast  stets  geschlechtlich  differenziert:  Götter  oder 
Göttinnen.  Bisweilen  freilich  stellt  man  sie  sich  als  androgyn  vor;  J 
in  ihrem  doppelgeschlechtlichen  Charakter  sucht  man  das  Geheimnis 
ihrer  Entstehung  und  schöpferischen  Zeugungskraft.  Sie  besitzen 
dieselbe  Sinnesorganisation  wie  der  Mensch,  nur 
noch  gesteigert  und  verfeinert,  „eine  der  unsrigen  inhaltlich  gleich- 
artige, nur  formell  überlegene,  potenzierte  Sinnlichkeit"  9.  Die  alt- 
testamentliche  Sprache  hat  den  sinnlichen  Anthropomorphismuo  der 
primitiven  Gottesvorstellung  in  wundersamer  Weise  konserviert,  wenn 
sie  von  Gottes  Augen  und  Ohren,  von  seinem  Mund  und  seinen  Händen 
spricht :  Der  Gott  sieht,  hört  und  riecht,  er  nimmt  mittels  seiner 
Sinnesorgane  wahr  wie  jeder  Mensch.  Der  Mensch  tritt  mit  ehrfurchts- 
voller Haltung  und  Geste  vor  ihn  im  Gebete  hin  —  Gott  sieht  ihn,  er 
ruft  ihn  bei  seinem  Namen  an  —  Gott  hört  seine  Stimme.  Mit  lauter 
Stimme  betet  der  Primitive  zu  seinem  Gott,  er  ,ruft',  , schreit',  damit 
sein  flehendes  Wort  an  des  Gottes  Ohre  dringe.  Mit  der  Fähigkeit 
sinnlich  wahrzunehmen  ist  für  den  Gott  auch  die  Fähigkeit  gegeben, 
sinnlich  zu  genießen.  Auch  der  Gott  verlangt  nach  Speise  und 
Trank,  ja  selbst  nach  geschlechtlichem  Genuß;  weil  er  dieselbe  Sinnes- 
organisation besitzt  wie  der  Mensch,  hat  er  auch  dieselben  animalischen 
Triebe  und  Bedürfnisse  wie  dieser:  den  Nahrungs-  und  Geschlechts- 
trieb. Schreitet  die  materielle  Kultur  fort,  so  steigern  und  verfeinern 
sich  auch  die  Bedürfnisse  der  Götter;  dann  fordern  sie  prachtvolle 
Wohnungen,  schmucke  Kleidung,  elegante  Toilette,  auserlesene  Tafel- 
freuden, Wohlgerüche  und  Blumen,  musikalische  Konzerte  und  dich- 
terische Vorträge.  Der  Befriedigung  all  der  sinnlichen  Bedürfnisse  der 
Götter  dienen  die  Opfer ;  dem  Nahrungsbedürfnis  das  Speise-  und  Trank- 
opfer, dem  Luxusbedürfnis  die  Darbringung  von  wertvollen  Geschenken 
aller  Art,  dem  ästhetischen  Bedürfnis  die  Hymnenpoesie,  dem  sexuellen 
Bedürfnis  das  in  mannigfachen  Symbolen  sich  vollziehende  Keusch- 
heitsopfer. 5 

Die  Fähigkeit  der  sinnlichen  Wahrnehmung  eignet  allen  göttlichen 
Wesen  an,  an  die  der  Primitive  Gebete  richtet ;  nicht  jedoch  die  Fähigkeit 


134  A.   Das  naive    Beten  des  primitiven  Menschen 

des  sinnlichen  Genusses.  Diese  gröberen  anthropomorphen  Züge  fehlen 
fast  stets  in  dem  hehren  Bilde  der  Urväter;  diese  sind  erhaben  über 
die  leiblichen  Bedürfnisse  des  Menschen;  sie  fordern  weder  Speise- 
noch  Trankopfer.  Bei  primitiven  Stämmen  sind  es  meist  nur  die  Natur- 
geister und  die  Ahnen,  denen  man  solche  Opfer  bringen  muß.  Vor 
allem  aber  sind  es  die  großen  Nationalgötter  der  antiken  Kult-  und 
Priesterreligionen,  in  deren  Bild  der  Anthropomorphismus  des  sinn- 
lichen Genießens  in  raffinierter  Weise  ausgeprägt  ist;  ihnen  ist  ein  um- 
fassendes, luxuriöses  Opferritual  gewidmet. 

Der  Gott  des  primitiven  Beters  hat  nicht  nur  dieselbe  Sinnesorgani- 
sation wie  der  Mensch,  nein,  was  noch  wichtiger  ist,  sein  Seelen- 
leben ist  genau  wie  das  des  Menschen:  dasselbe  Wahrnehmen,  Vor- 
stellen und  Denken,  dieselben  Gefühle  Stimmungen  und  Affekte,  das- 
selbe Begehren  und  Wollen,  dasselbe  Lebens-  und  Selbstgefühl.  Wie 
er  die  Menschen  sieht  und  hört,  so  stellt  er  sich  ihr  Tun  und  Treiben 
vor,  er  erinnert  sich  ihrer  früheren  Taten ,  er  erwägt  und  überlegt  ( ,  ,spricht 
in  seinem  Herzen"),  er  freut  sich  (,, seine  Brust  wird  warm"),  wenn  die 
Menschen  seine  Gebote  halten  oder  wenn  sie  ihm  Gaben  und  Geschenke 
bringen,  er  fühlt  sich  geehrt,  wenn  die  Menschen  seine  Macht  anerkennen 
und  seine  Taten  preisen,  er  wird  von  Zuneigung  und  ,Liebe'  zu  denen 
erfüllt,  die  ihm  gehorchen,  ihn  anbeten  und  verehren,  er  hat  , Mitleid', 
,erbarmt  sich'  dessen,  der  in  Not  und  Elend  ihn  um  Hilfe  anfleht.  Aber 
auch  die  unlustvollen  Affekte  des  Menschen  sind  ihm  nicht  fremd.  Zorn, 
Ingrimm,  Groll  erfaßt  ihn,  wenn  der  Mensch  seinen  Kult  und  seine 
Gesetze  mißachtet,  wenn  er  den  Gott  vernachlässigt,  wenn  er  ihn  be- 
leidigt'. Bisweilen  überkommt  ihn  sogar  Reue,  den  Menschen  erschaffen 
zu  haben;  er  sinnt  Rache  wider  die  Missetäter.  Sein  Zorn  kann  sich 
zum  dauernden  Haß  gegen  einen  Menschen  verhärten.  Aber  nicht 
immer  ist  sein  Zürnen  ein  gerechtes  Zürnen.  Die  niederen  Geisteswesen 
zumal  sind  unberechenbar  in  ihren  Launen,  grundlos  bringen  sie  Unheil 
über  den  Menschen.  Doch  auch  den  zürnenden  Gott  kann  der  Beter 
versöhnen,  seinen  Groll  beschwichtigen:  Gott  ,verzeiht'  und  vergibt 
dem  Menschen,  der  sich  demütig  vor  ihm  in  den  Staub  wirft  und  offen 
seine  Schuld  bekennt.  Er  kann  Gott  gewinnen,  ihn  umstimmen,  ihn 
begütigen.  „Dein  Herz  werde  kühl,"  heißt  es  in  einem  Bußgebet  der 
Ewe  6.  „Es  beruhige  sich  dein  Herz,  es  besänftige  sich  dein  Gemüt," 
heißt  es  immer  wieder  in  den  assyrischen  Klageliedern  7.  Das  Wort 
,besänftigen'  (nuhhu)  bekommt  im  Assyrischen  geradezu  die  Bedeutung 
,beten'.  Wie  in  der  Seele  des  Menschen,  so  wechseln  auch  bei  Gott  die 
Stimmungen,  Affekte  und  Entschlüsse.  Die  Veränderlich- 
keit Gottes  ist  eine  wesentliche  Voraussetzung 
des  primitiven  Gebets.  Wie  einem  Menschen  trägt  man  ihm 
eine  Bitte  vor,  er  kann  sich  vom  Beter  bestimmen  lassen  und  seinen 
Wunsch  erfüllen ;  weil  er  aber  wie  der  Mensch  einen  freien  Willen  hat, 
kann  er  den  Bittsteller  auch  abweisen,  die  Hilfe  verweigern,  das  Gnaden- 
geschenk versagen.  So  gleicht  des  Gottes  Seelenleben  nach  der  intel- 
lektuellen wie  nach  der  emotionellen  Seite  völlig  der  menschlichen 
Psyche. 


VIII.   Die  dem  Gebet  zugrundeliegende   Gottesvorstellung  (Gebetsort)   135 

Der  Anthropomorphismus  der  Gottesvorstellung  umfaßt  außer  des 
physischen  und  psychischen  auch  die  soziale  Seite.  Wo  ein  primitives 
Pantheon  sich  gebildet  hat,  beginnt  man  sogleich  die  höheren  Wesen 
nach  sozialen  Kategorien  zu  ordnen :  meist  stehen  sie  zu  einander  in 
einem  genealogischen  Verhältnis.  Schon  die  Urväter  der  verschiedensten 
Stämme  haben  Mütter,  Brüder,  Weiber  und  Kinder.  Bei  den  Bantu- 
völkern,  in  deren  religiösen  Vorstellungskreis  das  höchste  Wesen  und 
die  Geister  oder  Ahnen  scharf  auseinandertreten,  gelten  die  niederen 
Geister  als  Kinder,  als  Hofstaat  oder  als  Polizeiorgane  des  obersten 
Gottes  8.  Diese  Vorstellung  von  einer  sozialen  Rangordnung  der  gött- 
lichen Wesen  ist  die  Voraussetzung  für  die  Anrufung  von  Mittlern  und 
Fürbittern.  In  den  antiken  Religionen,  in  welchen  eine  reiche  mytho- 
logisch-theologische Spekulation  den  nationalen  Götterglauben  um- 
rankte und  umwucherte,  kommt  der  sozialen  Rangordnung  der  Götter 
eine  noch  größere  Bedeutung  zu. 

Der  Gott  der  Primitiven  ist  ein  Mensch,  nur  größer,  mächtiger  und 
seliger  wie  der  Erdenbewohner.  Sein  anthropomorpher  Charakter  be- 
dingt seine  relative  Endlichkeit  und  Beschränktheit.  All  die 
Prädikate,  welche  eine  philosophische  Theologie  ,via  negationis'  und 
,via  eminentiae'  zu  gewinnen  sucht  um  Gottes  Wesen  zu  umschreiben, 
fehlen  in  der  Gebetsvorstellung  des  primitiven  Menschen  oder  sind  — 
wie  in  der  Vorstellung  vom  Urvater  —  nur  angedeutet.  Der  Gott  des 
primitiven  Beters  ist  nicht  allgegenwärtig  und  raumlos,  sondern  an 
einen  räumlichen  Ort,  an  ein  sinnliches  Objekt  unlöslich  gebunden.  Er 
ist  nicht  allwissend,  sondern  muß  erst  vom  Menschen  über  sein  Anliegen 
informiert  werden.  Er  ist  nicht  allmächtig,  sondern  seine  Macht  ist 
auf  einen  speziellen  Wirkungskreis  beschränkt,  auf  einen  Naturgegen- 
stand oder  eine  Naturerscheinung,  ein  Gebiet  menschlicher  Betätigung, 
eine  begrenzte  Gegend,  einen  Kreis  menschlicher  Individuen.  Er  ist 
nicht  allgütig  und  allgerecht,  sondern  bisweilen  launisch,  eifersüchtig, 
rachgierig,  haßerfüllt.  Er  ist  nicht  unveränderlich;  er  ändert  seine 
Pläne  und  faßt  neue,  er  ist  menschlicher  Beeinflussung  und  Überredung 
zugänglich;  er  erhört  des  Menschen  Bitte  auf  Grund  des  Gebets  und 
Opfers,  was  er  ohne  dieses  nicht  getan  hätte.  Nur  die  Urväter  ragen 
über  die  Masse  der  streng  anthropomorphen  Geister  und  Götter  hinaus : 
zwar  kann  man  fast  all  diese  menschlich-allzumenschlichen  Züge  auch 
in  ihrem  Bilde  finden;  aber  ihr  Anthropomorphismus  ist  doch  feiner, 
milder,  reiner,  bezieht  sich  mehr  auf  die  psychische,  als  auf  die  physisch- 
materielle Seite.  Das  höchste  Wesen  ist  geistiger  und  erhabener  als 
die  bunte  Schar  der  Naturgeister,  der  Tätigkeitsgötter  und  der  Ahnen. 

4.  Der  Glaube  an  die  Präsenz  Gottes. 
(Gebetsort  und  Gebetsrichtung.) 

Das  Gebet  ist  nicht  ein  bloßer  unbestimmter  Hilferuf,  den  der  Mensch 
in  der  Not  ausstößt,  sondern  stets  Anrede  an  ein  Du,  an  ein  anderes 
Wesen,  das  ihm  gegenwärtig  oder  nahe  ist,  das  ihn  sieht  und  hört.  Der 
primitive  Beter  ist  durchdrungen  von  dem  lebendigen  Gefühl  der  un- 


136  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

mittelbaren,  realen  Gegenwart  Gottes.  Stade,  der  gründliche  Kenner 
der  israelitischen  Religion,  sagt  treffend:  „Den  antiken  Menschen  unter- 
scheidet die  Empfindung  der  Nähe  Gottes  vom  modernen."  10  Mark 
Aurel  verdolmetscht  diese  antike  Auffassung,  wenn  er  sagt:  „Wir  beten, 
opfern  und  schwören  nur  in  der  Voraussetzung,  daß  die  Götter  gegen- 
wärtig sind  und  mit  uns  leben"  (&<;  fiQÖg  naQÖvrag  xai  ov/ißiovviag  rovg 
»eovg  VI  44). 

Der  Gott  des  Primitiven  ist  stets  an  ein  sichtbares  Objekt,  an  einen 
sinnlich  wahrnehmbaren  Ort  gebunden.  Er  wohnt  und  weilt  an  einem 
bestimmten  Platze,  er  hat  einen  bestimmten  Aufenthaltsort  n,  sei  es 
nun  ein  grünender  Baum  oder  eine  ragende  Bergeshöhe,  ein  roher 
Fetisch  oder  eine  kunstvolle  Statue,  ein  von  Menschenhänden  erbautes 
Haus  oder  der  weite,  lichte  Himmel.  Darum  ,geht'  der  Mensch,  den  die 
Not  drückt,  oder  der  Wunsch  drängt,  zu  seinem  Gott,  er  ,eilt'  zu  ihm, 
er  ,kommt'  zu  ihm,  er  ,naht'  ihm,  er  , tritt'  vor  ihn,  wie  das  bittende 
Kind  vor  den  Vater,  der  flehende  Untertan  vor  den  Häuptling.  „Wir 
sind  zu  dir  gekommen,  um  dich  zu  bitten,"  heißt  es  in  einem  Ewegebet ;  12 
der  äschyleische  Chor  der  Thebanerinnen  spricht:  „Wir  nah'n  dir  im 
Gebet,  Erhörung  heischend".     (142  f.). 

Zu  den  Naturgeistern  betet  man  an  den  Plätzen,  an  denen  sie  ihren 
Wohnsitz  haben;  man  geht  in  den  Wald  hinaus,  um  zu  einem  segen- 
spendenden Baumgeist  zu  flehen;  man  eilt  an  das  Ufer  des  Flusses, 
Teiches,  Sees  oder  Meeres,  um  dem  Wassergott  ein  Anliegen  vorzu- 
tragen, man  schleicht  sich  vor  die  Höhle  eines  Tigers  oder  einer  Schlange, 
um  diese  mächtigen  Tiergottheiten  um  Gnade  zu  bitten.  An  den  gefähr- 
lichen Paßübergängen  erfleht  man  glückliche  Fahrt  von  den  tückischen 
Berggeistern.  Zu  den  Dorf-  und  Gaugöttern  betet  man  nur  innerhalb 
des  von  ihnen  beherrschten  Territoriums.  Nur  im  heimischen  Urwald 
wendet  sich  der  Kekchi-Indianer  an  Tzultaccä,  den  ,Herrn  der  Berge 
und  Täler' ;  wenn  er  an  einem  Bergpaß  angelangt  ist,  spricht  er  zu  ihm : 
„Müde  bin  ich  vor  deinem  Munde,  deinem  Angesichte."  13  Zu  einem 
Fetisch,  Idol  oder  einem  kultischen  Symbol  betet  man  nur  dort,  wo 
sie  aufgestellt  sind.  Dort,  wo  christliche  Wegkreuze  errichtet  sind, 
betet  der  Kekchi-Indianer  zum  „Vater  Kreuz":  „Ich  bin  hierher  ge- 
kommen, du  siehst  es,  du  allmächtiges,  heiligstes  Kreuz":  du,  oGott,  du 
allmächtiges,  heiligstes  Kreuz,  du  bist  bei  mir.  Du  bist  hier  an  der 
Seite  14."  Zu  den  Ahnen  betet  man  an  ihrem  Grabe  oder  vor  einem 
künstlichen  Objekte,  in  denen  man  sie  sich  gegenwärtig  denkt.  So 
beten  die  Ewe  zu  ihren  Ahnen  vor  dem  ,Ahnenstuhl',  15  die  Chinesen 
vor  den  ,  Ahnen  tafeln'.  Die  mächtigen  Totengeister,  die  in  der  Erde 
hausen,  ruft  man  an,  indem  man  den  Erdboden  beklopft.  Bei  den  Herero 
begibt  sich  der  Häuptling  in  Not  zum  Grabe  des  Ahnen,  klopft  mit  dem 
Ahnenstab  des  Toten  auf  das  Grab  und  ruft:  „hu,  hu,  hu!"  dann  spricht 
er  das  Gebet 16.  Bevor  man  bei  den  Kaileuten  auf  Deutsch-Neuguinea 
auf  die  Jagd  geht,  tritt  einer  der  nächsten  Verwandten  an  das  Grab  des 
Toten,  weckt  den  schlafenden  Geist  durch  leichtes  Stampfen  mit  dem 
Fuß  und  bittet  ihn  um  gute  Beute  17.  Wenn  die  Griechen  die  chthonischen 
Götter  um  Hilfe  anriefen,  klopften  sie  mit  den  Händen  oder  stampften 


VIII.   Die  dem  Gebet  zugrundeliegende   Gottesvorstellung  (Gebetsort)    137 


mit  den  Füßen  auf  den  Erdboden,  um  jene  auf  ihr  Gebet  aufmerksam 
zu  machen  18. 

Ursprünglich  betete  und  opferte  man  unter  freiem  Himmel;  als 
die  Kultur  des  Wohnungsbaues  fortgeschritten  war,  fing  der  Mensch 
an,  den  göttlichen  Wesen  Wohnstätten  zu  errichten.  Die  Karenen 
bringen  der  Reismutter  ihre  Opfergaben  und  beten  zu  ihr  in  einer  kleinen 
Hütte  auf  dem  Reisfelde.  19  Die  Ewe  opfern  und  beten  zu  einem  tro 
(Naturgeist)  im  tro-Heim.  20  Vor  allem  aber  errichtet  man  solche  Wohn- 
stätten den  in  einem  Kultobjekt  oder  Idol  gegenwärtigen  Gottheiten. 
Die  Ewe  bauen  für  den  Ahnenstuhl,  den  Sitz  ihrer  Vorfahren,  eine 
besondere  Hütte.  Dort  betet  man  bei  Ausbruch  eines  Krieges  oder  beim 
Antritt  einer  Handelsreise,  dorthin  bringt  man  Kranke.  21  Die  Stifts- 
hütte, welche  die  heilige  Lade,  Jahwes  Wohnstätte,  in  sich  barg,  war 
für  die  alten  Israeliten  der  Ort  des  Gebets.  Josua  warf  sich  vor  der 
Lade  Jahwes  nieder  und  betete  (Jos.  7  6).  Elkana  zog  Jahr  für  Jahr  von 
seinem  Wohnort  hinauf  nach  Silo,  um  dort  in  der  Stiftshütte  vor  Jahwe 
zu  beten  und  zu  opfern  (1  Sm.  1  3).  Hanna,  Elis  Frau,  ging  in  die  Stifts- 
hütte um  zu  beten;  „sie  trat  vor  Jahwe"  (1  Sm  1  9).  Mit  dem  Fort- 
schritt der  äußeren  Kultur  trat  an  die  Stelle  der  Gotteshütte  das  Gottes- 
haus; wie  der  Fürst  und  die  Mächtigen  dieser  Erde  mußte  nun  auch 
Gott  in  einem  prachtvollen  Steinbau  Wohnung  nehmen,  im  Tempel. 
In  Ägypten  und  Assyrien  ward  der  Tempel  dem  Königspalaste  nach- 
gebildet: jeder  Tempel  hatte  einen  Thronsaal,  ein  Göttergemach,  ein 
Allerheiligstes ;  hier  wird  das  Idol,  das  Götterbild  aufbewahrt,  im  ägyp- 
tischen Tempel  in  einer  Art  Tabernakel.  Das  alte  Testament  hat  uns 
den  bedeutsamen  Übergang  des  Gotteshauses  von  der  Hütte  zum 
Tempel  in  Israel  ausdrücklich  überliefert;  Salomo  erbaute  mit  allen 
Mitteln  orientalischer  Tektonik  einen  Tempel  zu  Jerusalem  und  brachte 
dorthin  die  heilige  Lade,  in  der  er  selbst,  der  Jahwe  der  Heerscharen, 
wohnte  (1  Kg  8  4  ff.).  Wo  menschliche  Kunst  den  Göttern  einen  Tempel 
errichtet  hat,  wird  dieser  zur  vornehmsten  Gebetsstätte,  obwohl  die 
alte  Sitte,  unter  freiem  Himmel  und  an  heiligen  Naturstätten  zu  beten 
und  opfern,  daneben  fortlebt  und  sich  gerade  im  Glauben  und  Aber- 
glauben des  Volkes  zäh  erhält.  Wer  ein  Anliegen  hat,  der  geht  in  den 
Tempel,  um  es  dort  dem  Gotte  vorzutragen.  In  Assyrien  und  Ägypten 
ließen  sich  Kranke  in  den  Tempel  tragen,  um  dort  Sündenvergebung 
und  Heilung  zu  erflehen.  22  Der  Tempel  auf  Sion  ist  der  Ort,  wo  der 
fromme  Israelit  seine  Nöte  vor  Jahwe  ausschüttet:  23  denn  Jahwe  selbst 
wohnt  im  Tempel.  „Keine  Vorstellung  ist  im  Alten  Testament  so  nach- 
drücklich und  mannigfach  bezeugt  als  diejenige  vom  Wohnen  Gottes 
im  Tempel  zu  Jerusalem"  (Westphal).  24 

In  dem  Glauben  an  die  örtliche  Präsenz  und  Gebundenheit  des  Gottes 
wurzelt  die  Sitte  des  Wallfahrens;  die,  welche  von  der  Wohnstätte 
des  Gottes  ferne  weilen,  pilgern  zu  ihr,  sei  es  um  ein  bestimmtes  An- 
liegen vor  ihn  zu  bringen,  sei  es  um  an  den  zu  seinen  Ehren  gefeierten 
Festen  teilzunehmen.  Bei  primitiven  Völkern  ist  diese  Sitte  kaum  nach- 
zuweisen. Sie  setzt  in  doppelter  Hinsicht  einen  starken  Kulturfortschritt 
voraus :  sie  ist  nur  dort  möglich,  wo  eine  größere  nationale  Gemeinschaft 


138  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen 

aus  den  engen  Sippen,  Clan-  und  Stammesverbänden  sich  gebildet  hat, 
wo  ferner  geordnete  Verkehrsverhältnisse  geschaffen  sind.  Die  Anfänge 
der  Wallfahrt  freilich  finden  sich  schon  bei  höher  stehenden  Natur- 
völkern. So  wallfahrten  die  westafrikanischen  Ana  von  Atakpame  zu 
Buku  (dem  höchsten  Wesen)  nach  Adele;  die  Pilgerfahrt  ist  hier  sogar 
von  einem  ,Heiligkeitsgesetz',  einem  Taburitual  umgeben  25.  Einen  wich- 
tigen Platz  nimmt  das  Wallfahrten  in  der  Frömmigkeit  der  antiken 
Völker  ein,  zumal  bei  den  Griechen,  deren  Stadtstaaten  miteinander  in 
regem  Verkehrsaustausch  standen.  Man  pilgerte  zu  den  Orakelstätten, 
um  sich  Rat  in  Schwierigkeiten  zu  erholen ;  Kranke  reisten  zu  den  be- 
rühmten Heiligtümern  des  Asklepios,  um  Gesundung  zu  erlangen.  Die 
frommen  Israeliten  zogen  nach  der  Zentralisierung  des  Kults  durch  die 
deuteronomische  Reform  dreimal  im  Jahre  zum  Sionstempel  nach 
Jerusalem  hinauf,  um  Jahwe  zu  schauen,  um  zu  ihm  zu  beten  und  ihm 
Opfer  zu  bringen.  26 

Aber  nicht  immer  ist  der  Mensch,  wenn  die  Not  ihn  quält  und  drängt, 
imstande,  zum  Wohnort  des  Gottes  zu  eilen;  auch  gibt  es  hohe  Wesen, 
die  hier  nicht  auf  Erden  weilen,  sondern  hoch  oben  am  oder  im  Himmel : 
die  strahlende  Sonne,  der  blinkende  Mond,  die  glitzernden  Sterne,  der 
Urvater  , Himmelsmensch',  Himmelshäuptling',  ,Vater  im  Himmel'. 
Wenn  man  zu  den  Gestirngottheiten  oder  zum  Himmelsgott  betet, 
wendet  man  unwillkürlich  den  Blick  und  die  Hände  gen  Himmel.  27  Ter- 
tullian  sieht  in  dieser  weitverbreiteten  Sitte  ein  überwältigendes  Zeugnis 
dafür,  daß  die  Menschenseele  von  Haus  aus  christlich  sei.  28  Im  Juden- 
tum und  Christentum  lebt  diese  uralte  Sitte  bis  heute  fort:  ,,Zu  dir 
erhebe  ich  meine  Augen,  der  du  im  Himmel  wohnst."  *29  Beim  Morgen- 
gebet richten  viele  Stämme  den  Blick  gegen  die  aufgehende  Sonne.  30 
Auf  diese  Hinwendung  zur  aufgehenden  Sonne  mag  die  weit  verbreitete 
Sitte  der  Gebetsorientierung  zurückgehen.  Ursprünglich  richtete  man 
nur  beim  Gebet  an  die  aufsteigende  Sonne  die  Augen  nach  Osten,  später 
beim  Gebet  im  Freien  überhaupt,  schließlich  beL  jedem  Kultakte.  Die 
australischen  Euahlayi  beten,  den  Blick  nach  Osten  gekehrt.  31  Im 
alten  Mexiko  war  man  beim  Gebet  gewöhnlich  nach  Osten  gekehrt.32 
Nach  dem  Zeugnis  des  Lucian  beteten  die  Inder  nach  der  aufgehenden 
Sonne  gerichtet.  33  Dasselbe  taten  die  Ägypter  nach  dem  Bericht  des 
Apulejus.  34  Die  babylonischen  Priester  wandten  sich  bei  allen  religiösen 
Handlungen  mit  dem  Gesicht  nach  Osten.  35  Die  Römer  kehrten  nach 
Vergil  beim  Beten  das  Antlitz  nach  Osten.  36  Das  Christentum  über- 
nahm die  alte  Sitte  der  Gebetsorientierung  und  deutete  sie  heilsgeschicht- 
lich um:  das  ,ex  Oriente  lux'  hatte  nun  einen  höheren,  geistigen  Sinn.  37 
Nach  einem  Heiligtum,  in  dem  ein  Gott  wohnt,  blickt  man,  wenn  man 
aus  der  Ferne  zu  ihm  beten  will.  Die  Römer  kehrten  beim  Gebet  an 
Jupiter  sich  bisweilen  gegen  den  weithin  sichtbaren  Tempel  auf  dem 
Kapitol. 38  Die  Samaritaner  beteten  in  der  Richtung  zum  Berge 
Garizim,  wo  Jahwe  nach  ihrem  Glauben  wohnte.  39  Nachdem  in  Juda 
durch  die  deuteronomische  Reform  der  lokale  Höhenkult  abgeschafft 
und  der  ganze  Kult  in  Jerusalem  konzentriert  war,  richtete  man  beim 
Gebet  stets  das  Angesicht  nach  dem  Heiligtum  auf  Sion,  der  Stätte 


IX.   Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott      139 

Jahwes!  „Erhebet  eure  Hände  zum  Heiligtum  und  preiset  Jahwe!"40 
Die  im  Zweiströmeland  verbannten  Juden  wenden  betend  den  Blick 
nach  der  Heimat,  nach  Jerusalem,  zum  Tempel  auf  dem  Sion. 
Daniel  betete  im  Obergemach  in  der  Richtung  nach  Jerusalem 
bei  geöffnetem  Fenster  (Dan  65ll).  Mohammed  hatte  ursprünglich,  der 
jüdischen  Sitte  gemäß,  die  Gebetsrichtung  nach  Jerusalem  geboten. 
Nach  dem  Bruche  mit  dem  Judentum  führte  er  die  Gebetsrichtung 
(kibla)  nach  Mekka  ein,  der  heiligen  Stadt,  in  welcher  seine  Väter  schon 
den  alten  Steinfetisch  der  Ka'aba  als  Allahs  Wohnsitz  verehrten.  41 

Die  Gebetsrichtung  ruht  auf  demselben  Glauben  wie  das  Beten  an 
einem  bestimmten  Orte :  auf  der  Vorstellung  von  der  lokalen  Gebunden- 
heit des  Gottes.  Das  Bewußtsein  der  Gegenwart  und  Nähe  Gottes  ist 
im  Beter  in  gleicher  Weise  lebendig,  wenn  er  am  irdischen  Wohnsitze 
des  Gottes  betet,  wie  wenn  er  zum  Himmel  die  Augen  erhebt  oder  aus 
weiter  Ferne  nach  dem  heimatlichen  Tempel  seine  sehnsüchtigen  Blicke 
sendet.  Schon  die  Etymologie  des  arabischen  Wortes  für  Gebets- 
richtung {kibla  von  Icabala)  weist  darauf  hin,  daß  der  aus  der  Ferne 
nach  dem  Wohnort  des  Gottes  blickende  Beter  sich  diesem  ,nahe\ 
, gegenüber'  fühlt.  Dieses  Bewußtsein  der  realen,  sinnenfälligen  Präsenz 
Gottes  hält  im  Betenden  die  beiden  religiösen  Uraffekte  lebendig: 
Furcht  und  Hoffnung,  Angst  und  Zuversicht.  Der  Mensch  steht  vor 
Gott,  Gott  sieht  seine  bittenden  Hände,  er  hört  seine  flehenden  Worte. 
Der  Mensch  ist  ohnmächtig,  er  kann  sich  nicht  selbst  helfen,  aber  Gott 
hat  Macht,  er  allein  kann,  wenn  er  will,  ihm  helfen.  Des  Menschen 
Schicksal  ruht  ganz  in  Gottes  Händen.  Von  Schauer  und  Ehrfurcht 
wird  der  Mensch  erfüllt,  der  sich  bewußt  ist  in  der  Gegenwart  des  großen 
und  mächtigen  Gottes  zu  atmen;  aber  frohe  Zuversicht  erwacht  in 
seinem  Herzen,  wenn  er  weiß,  der  große  und  mächtige  Gott,  der  Helfer 
und  Retter,  ist  mir  nahe,  seine  Macht  bringt  mir  Heil. 

IX.  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  des 
Menschen  zu  Gott. 
Das  Gebet  des  Primitiven  ist  kein  Selbstgespräch,  keine  Meditation, 
sondern  ein  Rufen  zu  Gott,  ein  Reden  mit  Gott.  l  Dem  Ich  steht  ein  Du : 
gegenüber,  dem  Menschen  ein  anderes  menschenähnliches  WTesen ;  beide 
das  Ich  und  das  Du,  der  Mensch  und  der  andere  treten  zu  einander  in 
eine  Beziehung,  in  ein  Verhältnis,  es  entsteht  ein  innerer  Kontakt 
zwischen  beiden.  Das  Gebet  ist  ein  soziales  Phänomen. 
Im  Gebet  spielt  sich  ein  realerVerkehr,  ein  Umgang,  ein 
Austausch  des  Menschen  mit  dem  gegenwärtigen 
Gott  ab.  Dem  anthropomorphen  Charakter  Gottes  entsprechend, 
vollzieht  sich  dieser  Verkehr  ganz  in  den  Formen  des  gesellschaftlichen 
Verkehrs  der  Menschen  untereinander.  Das  Gebet  ist  in  allem  der 
Reflex  der  menschlichen,  sozialen  Beziehungen  und  Verhältnisse.  Das 
hauptsächlichste  Mittel,  um  mit  dem  anderen  Menschen  in  Beziehung 
zu  treten,  ihm  seine  inneren  Erlebnisse  , mitzuteilen',  ist  die  Rede.  In 
der  Rede  bringt  der  Mensch  seine  Vorstellungen,  Stimmungen,  Gefühle, 
sein  Begehren,  Wünschen  und  Wollen  dem  anderen  Menschen  zum 


140  A.   Das  naive   Beten  des  primitiven  Menschen 

Ausdruck.  Die  Rede  ist  auch  das  Mittel,  durch  das  der  Mensch  den 
höheren  Wesen  das,  was  ihn  in  seiner  Seele  bewegt,  mitteilt.  So  mannig- 
faltig die  Formen  menschlicher  Rede  sind,  so  vielgestaltig  sind  auch 
die  Formen  des  Gebets:  Anrufung  und  Anrede,  Gruß  und  Segens- 
wunsch, Klage  und  Bitte,  Lob  und  Dank,  Einladung,  Lockung  und 
Überredung,  Drohung  und  Beschimpfung,  Anklage  und  Entschuldigung 
—  alle  Arten  der  menschlichen  Rede  kehren  im  Gebet  wieder.  Wie  des 
Menschen  Rede  nicht  bloße  Aussprache,  Mitteilung  ist,  sondern  auch 
eine  reale  Einwirkung  ,  eine  Gewinnung  bzw.  Umstimmung 
des  anderen  bezweckt,  so  dient  das  Gebet  vor  allem  dazu,  Gott  zur 
Gewährung  der  Hilfe  oder  zur  Erfüllung  des  menschlichen  Wunsches 
zu  bewegen.  Von  einem  Öeovg  evxalg  naQÜyeo&cti  (,, Umlenken  der 
Götter  durch  Gebete")  redet  Plato.  2  Der  Dichter  der  Ilias  sagt  mit 
großer  Anschaulichkeit: 

„Oft  wenden  sich  selber  die  Götter  .... 
Diese  vermag  durch  Räuchern  und  demutsvolle  Gelübde, 
Durch  Weinguß  und   Gedüft  der   Sterbliche  umzulenken, 
Flehend,  nachdem  sich  einer  versündiget  oder  gefehlet."  3 

Alle  die  groben  und  feinen  Mittel  der  Überredung,  die  der  Mensch  an- 
wendet, um  auf  seinen  Nebenmenschen  einzuwirken  und  ihn  sich  will- 
fährig zu  machen,  gebraucht  auch  der  Beter,  um  Erhörung  von  seinem 
Gott  zu  erlangen.  Wie  im  Verkehr  mit  Menschen,  so  geht  auch  im 
Gebetsverkehr  mit  Gott  der  Rede  die  Geste  zur  Seite.  Der  Gebetsgestus 
ist  wie  die  Gebetsrede  beides  zugleich :  Ausdruck  der  den  Betenden 
beseelenden  Gefühle:  der  Ehrfurcht  und  Ohnmacht,  der  Sehnsucht  und 
des  Verlangens,  der  Freude  und  Liebe  wie  Mittel  zur  Einwirkung  auf 
Gott;  durch  Höflichkeits-  und  Demutsbezeugungen  gilt  es,  Gottes 
Gunst  sich  zu  erwerben. 

Die  Vorstellung  einer  realen  Einwirkung  des  menschlichen  Gebets 
auf  den  Willen  der  Gottheit  bildet  auch  die  Voraussetzung  des  Glaubens 
an  die  Gebetserhörung,  eines  Glaubens,  mit  dem  das  naive 
Beten  steht  und  fällt.  Auf  den  Inschriften  antiker  Tempel  wie  auf  den 
Votivtafeln  moderner  Wallfahrtskirchen  —  überall  begegnet  uns  das 
schlichte  Bekenntnis  bedrängter  Menschen,  die  zu  Gott  um  Hilfe  riefen 
und  denen  Erfüllung  ihres  Gebetswunsches  zuteil  wurde.  „Ich  habe 
demütig  gebeten  und  Nannar,  mein  König,  hat  mich  erhört,"  gesteht 
ein  altbabylonischer  Herrscher,4  und  in  ähnlichen  Worten  dankt  ein 
unzähliger  Chor  von  Betern.  Sie  alle  sind  überzeugt,  durch  das  Gebet 
des  Gottes  Willen  gewonnen  oder  umgestimmt  zu  haben,  auf  Grund  des 
Gebets  erlangt  zu  haben,  was  ohne  dieses  ihnen  versagt  geblieben  wäre.  5 

Das  soziale  Verhältnis,  in  dem  der  betende  Mensch  zu  Gott  steht,  ist 
ein  Verhältnis  der  Unterordnung  und  Abhängigkeit:  Gott  ist  größer 
und  mächtiger  als  der  Mensch,  in  seiner  Macht  steht  des  Menschen 
Geschick.  Dieses  Abhängigkeitsverhältnis  ist  immer  der  getreue 
Reflex  eines  irdischen  Sozialverhältnisses,6  meist 
eines  Verwandtschaftsverhältnisses  oder  auch  eines  Untergebenen- 
verhältnisses. Dieses  das  Gebet  tragende  soziale  Verhältnis  spricht 
sich  fast  stets  schon  in  der  Gebetsanrede  aus. 


IX.  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott       141 

„Die  Idee  der  Verwandtschaft  zwischen  Mensch  und  Gott", 
sagt  Farneil,  „gehört  zum  Alphabet  des  echten  Gebets."  „In  den  Litur- 
gien der  primitiven  wie  der  fortgeschrittenen  Religion  wird  die  Gottheit 
gewöhnlich  in  den  Verwandtschaftsbeziehungen  angeredet."  7  Dorsey 
bezeugt,  daß  zu  jedem  Indianergebet  „die  Anwendung  des  Verwandt- 
schaftsterminus" gehöre.  8  Das  ursprünglichste  Verhältnis  des  Menschen 
zu  Gott  ist  das  Kindschaftsverhältnis. 

Mä  rü,  Mä  rä,  ßöav  |   „Mutter  Erde,  Mutter  Erde,  das  Geschrei, 

ipoßEQov  &7iöiQE7tE-  Das  furchtbare,  wende  ab ; 

(L  nä,  rag  nal,  Zev9.  |    O  Vater,  der  Erde  Sohn,  Zeus!" 

„Aus  den  Schutzflehenden  des  Aeschylus  tönt  uns  das  wiederholte 
Gebet  des  Chores  entgegen  wie  ein  Klang  aus  geheimnisvoller  Tiefe 
einer  Religion,  die  nicht  mehr  im  Lichte  des  Tages  den  herrschenden  Ton 
angibt.  Es  sind  Worte  der  primitiven  Sprache,  Lallformen  für  Vater 
und  Mutter.  Es  sind  auch  Lallformen  primitiver  Religion.  Sie  er- 
findet kein  Dichter;  das  attische  Volk  kannte  solch  Gebet."10  Das 
Verhältnis  des  betenden  Menschen  zu  Gott  als  Kindesverhältnis  zum 
Vater  ist  ein  religiöses  Urphänomen.  In  dieser  Gebetsanrede  an 
Gott  reichen  Pygmäen  und  Australier,  Bantuvölker  und  Indianer  den 
Griechen  und  Römern,  Assyrern  und  Indern  die  Hände.  Den  Schöpfer 
und  Himmelsgott,  den  geheimnisvollen  Urheber  nennen  die  Primitiven 
Vater  (s.  o.  S.  121),  mit  dem  Vaternamen  rufen  sie  ihn  im  Gebet  an; 
auf  ihr  Kindschaftsverhältnis  zu  ihm  pochen  sie  in  ihren  Bitten.  „Bist 
du  nicht  unser  Vater?"  „Sind  wir  nicht  deine  Kinder?"  „Du  bist 
unser  Vater  und  wir  sind  deine  Kinder."  (S.  o.  S.  91).  Der  Vatername 
ist  bei  vielen  Völkern  ein  Respektsname  und  Ehrentitel.  Die  Australier 
nennen  jeden  Mysteriengenossen,  verschiedene  südamerikanische  Stämme 
jeden  alten  Mann  ,Vater'.  n  Diese  ausgiebige  Anwendung  des  Vater- 
namens als  Ehrennamens  mag  der  Hauptgrund  dafür  sein,  daß  außer 
dem  Urvater  und  Schöpfer  wie  dem  verstorbenen  leiblichen  Vater  die 
verschiedensten  Göttergestalten  im  Gebet  als  , Vater'  angerufen  werden. 
Ahnen-  und  Naturgeister,  Baum-  und  Wassergottheiten,  Gestirne,  die 
leuchtende  Sonne,  der  glänzende  Mond,  der  heimatliche  ,Herr  der  Berge 
und  Täler',  selbst  Kultobjekte,  Fetische  und  Zauberstäbe  werden  von 
Naturvölkern  so  angeredet.  12  „Du,  o  Agni,  bist  unser  Vater,  wir  sind 
deine  Verwandten,"  betet  der  Sänger  des  Rigveda  zum  Feuergott 1S. 
näxEQ  iialr\ov  riefen  die  Griechen  zu  Asklepios.  14  Im  Gebet  der 
Römer  führten  Jupiter,  Janus,  Liber,  Mars,  Neptun,  Quirinus  und 
Saturnus  das  Ehrenprädikat  pater,  parens  oder  genitor.  15  Eine  reine 
Gebetsfrömmigkeit  und  eine  geläuterte  Gebetsauffassung  erheben 
Protest  dagegen,  daß  der  Vatername  im  Gebet  vielen  Göttern  und  sogar 
Fetischen  und  Idolen  beigelegt  wird;  aber  diese  Proteste  sind  zugleich 
Zeugnisse  für  das  zähe  Fortleben  des  primitiven  Betens.  Jeremias,  der 
große  Beter,  ruft  aus:  „Es  sollen  sich  schämen  die  vom  Hause  Israel 
samt  ihren  Königen,  ihren  Priestern  und  ihren  Propheten,  sie,  die  zum 
Holzbild  sagen:  ,Mein  Vater  bist  du!'  und  zum  Steingötzen:  ,Du  hast 
mich  geboren'  "  (2,  26).  Für  den  Apologeten  Lactantius  wird  die  An- 
wendung  des  Vaternamens  im    Gebet  zu  verschiedenen    Göttern   ein 


142  A.   Das  naive   Eeten  des  primitiven  Menschen 

gewichtiges  Argument  für  die  Widersinnigkeit  und  Widernatürlichkeit 
des  Vielgötterglaubens. 

„Daß  die  Verehrung  vieler  Götter  nicht  der  Natur  entspricht,  kann  schon 
aus  der  Tatsache  erschlossen  und  verstanden  werden,  daß  ein  jeder  Gott,  der 
vom  Menschen  verehrt  wird,  in  den  feierlichen  Riten  und  Gebeten  als  Vater 
angeredet  werden  muß;  nicht  nur  der  Ehren  sondern  der  Vernunft  halber,  weil 
er  älter  ist  als  der  Mensch  und  weil  er  Leben,  Heil  und  Nahrung  gewährt  wie  ein 
Vater.  Deshalb  wird  Jupiter  von  den  Betenden  Vater  genannt,  ebenso  Saturnus, 
Janus,  Liber  und  die  übrigen  nacheinander.  Dies  verspottet  Lucilius  im  Rate 
der   Götter: 

ut 
nemo  sit  nostrum,  quin  aut  pater  optimus  divum 
aut  Neptunus  pater,  Liber,  Saturnus  pater,  Mars, 
Janus,   Quirinus  pater  siet  ac  dicatur  ad  unum. 

(„daß 
niemand  unter  uns  ist,  weder  der  beste   Göttervater 
noch  Vater  Neptun,  Liber,  Vater  Saturnus,  Mars, 

Janus,    Quirinus,  der  nicht  Vater  wäre  und  zugleich  genannt  würde.") 
Wenn  also  die  Natur  nicht  duldet,  daß  einer  viele  Väter  hat  (denn  nur  von  einem 
wird  er  gezeugt),  dann  ist  die  Verehrung  vieler  Götter  gegen  die  Natur."  16 

, Mutter'  und  ,Mütter'  sind  von  altersher  Bezeichnungen  von  Gott- 
heiten, die  als  der  Menschen  und  alles  Lebens  Spenderinnen  verehrt 
werden;  17  vor  allem  die  Erde,  deren  Mutterschoß  alles  vegetative  und 
animalische  Leben  gebiert.  Zur  , Mutter'  Tetewan  rufen  die  Cora- 
indianer  18  heute  wie  ehedem  die  Inder  zur  Prthivi  mätä,  19  die  Griechen 
zur  Ge  Meter,  20  die  Römer  zur  Tellus  mater,  Terra  mater,  Ceres  mater.  21 
,Mutter'  (ama)  nannten  die  Babylonier  die  verschiedenen  Vegetations- 
göttinnen, Nin-mach  und  Gula,  22  die  Assyrer  ihre  Stadtgöttin  Ischtar, 
die  all  die  anderen  Muttergöttinnen  verdrängte;  23  zur  Mutter  Astarte 
(Ummu  lAttar)  beteten  die  alten  Araber;  eine  ,große  Mutter'  verehrten 
die  Karthager.  24  Wie  der  Vatername,  so  wird  auch  der  Muttername 
als  Ehren-  und  Respektstitel  gebraucht.  25  So  kommt  es,  daß  auch 
andere  weibliche  Gottheiten  wie  Erd-  und  Fruchtbarkeitsgöttinnen  als 
,Mütter'  angerufen  werden,  z.  B.  die  Mondgöttin  der  Cora-Indianer.  26 
In  Mkulwe  legt  man  sogar  dem  Schöpfergott  Nguluwi  wegen  seiner 
Güte  häufig  den  Titel  , Mutter'  bei,  obgleich  er  männlich  gedacht  ist. 
Ja,  selbst  den  bösen  Geist  nennt  man  bisweilen  „Mutter  Blattern", 
um  ihn  zu  besänftigen.  27  Wie  die  Vateranrede,  so  ist  auch  die  Mutter- 
anrede der  Gottheit  ein  religiöses  Urphänomen,  das  uns  auf  der  ganzen 
Erde  begegnet.  Im  christlichen  Marienkult  ist  dieses  Urphänomen,  das 
Verhältnis  des  Menschen  zur  Gottheit  als  Kindesverhältnis  zur  Mutter, 
zu  neuem  Leben  erwacht  —  religiös  vertieft,  sittlich  geläutert,  ästhetisch 
verklärt.  Es  sind  religiöse  Urlaute,  primitive  Gebetsklänge,  die  uns 
aus  vielen  Marienliedern  entgegentönen: 

„Du  bist  ja  die  Mutter, 
dein  Kind  will  ich  sein."  28 

Bei  manchen  Völkern  —  den  mittelamerikanischen  Indianern,  den 
Sumerern  und  Ägyptern  —  treffen  wir  die  merkwürdige  Tatsache,  daß 
in  der  Gebetsanrede  an  ein  und  dasselbe  göttliche  Wesen  der  Vater- 
und  Muttername  gebraucht  ist.  „Du  meine  Mutter,  du  mein  Vater!" 
sagen  die  Keckchiindianer  zu  Tzultacca,  dem  Herrn  der  Berge  und 


IX.   Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott      143 

Täler.  „Wer  ist  meine  Mutter,  wer  ist  mein  Vater?  Du  gewiß."  29 
Der  Ägypter  redet  Isis  an:  ,,0  mein  Vater,  mein  Bruder,  meine  Mutter 
Isis!"  30  Der  sumerische  An  (Himmel)  wird  als  ama-a-a  ?Mutter- Vater' 
bezeichnet,  ein  Name,  der  auch  auf  andere  Gottheiten  übertragen 
wurde.  So  betet  Gudea  zu  Ga-tum-dug:  „Ich  habe  keine  Mutter,  du 
bist  meine  Mutter,  ich  habe  keinen  Vater,  du  bist  mein  Vater,  in  deinem 
Herzen  hast  du  mich  empfangen,  du  hast  mich  geboren  in  dem  Tempel" 
(Cyl.  A  III  6  ff.).  Und  in  einem  Gebet  an  Marduk  heißt  es:  „Wie  ein 
Vater  und  eine  Mutter  weilst  du  bei  dem  Volke."  31  Wollten  diese 
Beter  die  Ehrentitel  häufen  ?  Oder  dachten  sie,  daß  des  Gottes  Güte 
die  Fürsorge  des  Vaters  und  die  Liebe  der  Mutter  umfasse  ?  Oder  waren 
sie,  wie  Radau  von  den  Sumerern  feststellt,  von  der  Vorstellung  des 
androgynen  Charakters  der  Gottheit  geleitet  ?  Die  Frage  ist  für  unseren 
Zusammenhang  belanglos.  Von  Wichtigkeit  ist  nur  die  Tatsache,  daß 
auf  der  ganzen  Erde  die  Menschen  zu  den  göttlichen  Wesen  im  Kindes- 
verhältnis zu  stehen  glauben,  daß  sie  im  Gebet  mit  ihnen  reden  wie 
Kinder  mit  ihren  Eltern. 

In  der  Ehrfurcht  vor  den  höheren  Wesen  ist  es  begründet,  daß  man 
ihnen  gegen  übertritt  wie  junge  Leute  den  Alten.  , Großvater' 
und  , Großmutter'  sind  bei  Naturvölkern  häufige  Gebetsanreden. 
Bei  den  Siouxindianern  werden  männliche  Gottheiten  als  , Großväter', 
weibliche  als  , Großmütter'  angerufen.  32  Die  Hottentotten  nennen  ihren 
Urvater  Tsui-Goab  , Großvater'.  33  Die  Batak  reden  alle  Obergötter 
und  Lokalgötter  als  , Großväter'  an.  34  Für  die  Siouxindianer  ist  der 
mächtige  Erdgott  ein  , Großvater'.  35  Die  Melanesier  rufen  die  mäch- 
tigen Totengeister  als  Großväter  an.  36  Die  reichen  Erntesegen  spen- 
dende Reisgöttin  gilt  den  Karenen  als  Großmutter.  37  „Großvater, 
verehrungswürdiger  Mann!"  beten  die  Santee-Indianer  zum  Büffel.38 
Die  Büro  reden  selbst  einen  gefährlichen  Krankheitsgeist  mit  diesem 
Respektsnamen  an  —  ,,geh  fort,  Großvater  Blattern;"39  die  Omaha- 
In dianer  bezeichnen  mit  diesem  Ehrentitel  einen  Fetisch.  40  Auch  die 
Anrede  ,0  h  e  i  m'  und  , älterer  Bruder'  findet  sich  bisweilen  in 
primitiven  Gebeten.  In  den  australischen  Mura-Gesängen  soll  die  An- 
rede „Vater,  Großvater,  Onkel,  älterer  Bruder"  gebraucht  werden.  41 
Der  Cora-Indianer  ruft  den  Morgenstern  als  , älteren  Bruder'  an.  42  „Du 
bist  mein  Bruder,"  spricht  ein  Ägypter  zu  Isis.  43  Theophore  Namen 
wie  Achmelech  (, Bruder  des  Königs'  d.  h.  Gottes),  Chatmelech  (, Schwester 
des  Königs')  lassen  darauf  schließen,  daß  auch  bei  den  Phönikern  bis- 
weilen das  Verhältnis  zur  Gottheit  als  ein  Geschwisterverhältnis  be- 
trachtet wurde.  44  Auch  die  Anrede  ,Freund'  an  die  Gottheit  fehlt 
nicht,  obgleich  das  Freundschaftsverhältnis  zu  Gott  viel  seltener  ist 
wie  das  Verwandtschaftsverhältnis.  Einzelne  Amazulustämme  reden 
den  Urvater  Unkulunkulu  als  Freund  an.  45  Bei  den  Aschanti  ist  der 
eine  Name  für  den  Urvater    Yankumpon  ,mein  Freund'.  46 

Viel  häufiger  als  das  Freundosverhältnis,  aber  seltener  als  die  Ver- 
wandtschaftsbeziehungen spricht  sich  im  Gebet  zu  Gott  das  Unter- 
tanenverhältnis aus.    Alle  möglichen  Gottheiten  werden  vom  primitiven 


144  A.   Das  naive    Beten  des  primitiven  Menschen 

Beter  als  ,Herr',  ,Herrscher'  und  , Häuptling'  angerufen. 
„Großer  Herrscher!"  nennen  die  Schiffer  am  Tanganjikasee  den  See- 
geist. 47  Die  kriegerischen  Omaha-Indianer  rufen  den  Donner  als  ,Führer' 
und  ,Feldherrn'  an.  48  Die  Dschagga  nennen  den  Schöpf ergott  Ruwa 
im  Gebet  ,Häuptling'.  49  ^Großer,  weißer  Häuptling!"  reden  die  afri- 
kanischen Sotho  Thulare,  ,den  Spender  des  Regens  im  Winter'  an.  50 
„Dein  Sklave  ist  gekommen,  um  dir  zu  danken,"  heißt  es  in  einem 
Ewegebet  an  einen  tro.  51  „Großer  Häuptling,  mächtiger  Häuptling!" 
ruft  der  Kaff  er  zum  Elefanten.  52  ,Herr'  ist  für  den  Kongoneger  auch 
ein  Fetisch.  53  „0  Herr!"  redet  der  Dschagganeger  den  Hausgeist  an.  54 
der  Schilluk  den  Ahnen.  55  '"Avd%  und  ävaooa  sind  altertümlich, 
Gebetsanreden  an  göttliche  Wesen  bei  den  Griechen.  56  „0  meine 
Herrin!"  redet  Gudea  die  Göttin  Ga-tum-dug  an.  „Mein  König!" 
spricht  er  zu  Ningirsu.  Er  bezeichnet  sich  im  Gebet  als  ,Knecht  der 
Göttin',  als  ihren  ,geliebten  Diener'.  57  Domina  und  regina  heißen  die 
römischen  Göttinnen.  58  Nirgends  aber  spielt  das  Untertanen  Verhältnis 
zur  Gottheit  eine  bedeutendere  Rolle  als  in  den  semitischen  Religionen,  59 
obgleich  auch  in  ihnen  das  Kindschaftsverhältnis  das  Ursprüngliche 
war.  Das  Knechtschaftsverhältnis  zu  Gott  ist  sogar  eine  Wesenseigen- 
tümlichkeit der  semitischen  Religion  im  Gegensatz  zur  indogermanischen. 
Schon  die  westsemitischen  Gottesnamen  (Ba'al,  Adon,  Melech,  Rabbat) 
beleuchten  die  Beziehung  des  Menschen  zur  Gottheit.  Die  Gottes- 
verehrung ist  für  den  alten  Semiten  ein  Knechtschaftsdienst.  Spricht 
der  Römer  von  einem  colere,  der  Grieche  von  einem  Ü£Q(m£V£iv  der 
Götter,  so  bezeichnet  der  Hebräer  den  Kult  schlechthin  als  ein  'äbad 
, Sklave  sein',  , Knechtesdienst  tun'.  60  Im  Arabischen  bedeutet  dieselbe 
Wurzel  ('abada)  , anbeten'.  Im  Gebet  wird  Gott  als  ,Herr'  (babylonisch 
belu,  hebräisch  Adonai),  die  Göttin  als  ,Herrin'  (beltu)  angeredet;  die 
babylonische  Anrede  ,mein  Herr',  , meine  Herrin'  (belitija  =  Madonna) 
bringt  die  enge  Zusammengehörigkeit  des  einzelnen  Menschen  mit  Gott 
zum  Ausdruck.  Das  religiöse  Verhältnis  ist  hier  individualisiert:  wie 
ein  Sklave  an  seinen  Herrn,  so  ist  der  Mensch  an  seinen  Gott  gebunden, 
seinem  souveränen  Willen  unterworfen.  Der  fromme  Israelit  betrachtet 
sich  im  Gebet  als  Knecht  Jahwes,  die  fromme  Israelitin  als  seine  Magd.  61 
Das  Verhältnis  von  Mensch  zu  Gott,  das  stets  einem  sozialen  Ver- 
hältnis der  Menschen  untereinander  gleicht,  ist  im  Gebet  eines  der  Ab- 
hängigkeit oder  Unterordnung.  Im  Gelübde  hingegen  vollzieht  sich 
meist  eine  Niveau  Verschiebung.  Gott  und  Mensch  stehen  auf  der- 
selben Stufe,  wie  zwei  Menschen,  die  einen  Tausch  vornehmen.  Der 
Mensch  verspricht  Gott  eine  Leistung  und  fordert  von  ihm  eine  Gegen- 
leistung: do  ut  des.  Das  Bewußtsein  der  Abhängigkeit  von  Gott  ist 
hier  nicht  aufgehoben,  aber  der  Mensch  fühlt  sich  nicht  schlechthin' 
abhängig.  Das  Abhängigkeitsverhältnis  ist  vielmehr  ein  doppelseitiges : 
jeder  der  beiden  Beteiligten  ist  von  dem  andern  abhängig;  jeder  von 
beiden,  Gott  wie  Mensch,  ist  Gebender  und  Nehmender  zugleich.  Hier 
tritt  an  Stelle  der  Unterordnung  die  Gleichordnung  von  Gott  und 
Mensch ;  aber  auch  hier  spiegelt  sich  eine  irdisch-soziale  Relation  wider ; 
nicht  Kind  und  Eltern,  nicht  Sklave  und  Herr;  nicht  Untertan  und 


IX.  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott     145 

Häuptling  stehen  einander  gegenüber,  sondern  zwei,  die  einen  Kauf- 
vertrag abschließen,  ein  Handelsgeschäft  machen. 

Die  Art  des  sozialen  Verhältnisses  zu  Gott  äußert  sich  unverkennbar 
in  der  Gebets  Stimmung.  Die  Gelübde  sind  die  stimmungslosesten 
Gebete:  Ehrfurcht,  Demut  und  Vertrauen  treten  zurück,  der  Mensch 
denkt  nur  an  sein  Interesse,  handelt  und  feilscht.  Ganz  anders  ist  die 
Gebetsstimmung  im  Gebet  zum  Herrn.  Demut  und  Furcht  erfüllen 
den  Beter ;  er  ist  durchdrungen  vom  Bewußtsein  der  Größe  und  Macht 
des  Herrn,  niedergeschmettert  vom  Gefühl  gänzlicher  Abhängigkeit.  Er 
zeigt  sich  höflich,  unterwürfig,  devot,  bisweilen  verfällt  er  sogar  in 
kriechenden  Servilismus.  Vertrauen  und  Zuversicht  fehlen  nicht,  aber 
sie  treten  zurück  hinter  dem  Furcht-  und  Kleinheitsgefühl.  So  beteten 
die  alten  Semiten,  so  beten  die  Semiten  im  Orient  heute  noch.  So 
beten  auch  unsere  heutigen  Bauern  zu  Gott.  Nach  dem  Zeugnis  eines 
geistlichen  Volkskenners  ist  „Gott  dem  Landmann  im  allgemeinen  der 
zu  fürchtende  Gebieter,  Herrscher  und  Richter  der  Welt".  „Gott  ist 
für  ihn  mehr  sein  gnädiger  Herr,  der  wie  andere  gnädige  Herren  auch 
zuweilen  recht  ungnädig  sein  kann."  „Gottes  furcht  ist  und  bleibt 
dem  Bauern  die  zutreffendste  Bezeichnung  der  Religiosität"  (Pastor 
Gebhardt.)  62  Anders  wieder  ist  die  Gebetsstimmung,  wenn  der  Beter 
nur  erfüllt  ist  vom  Gefühl  der  Größe  und  Erhabenheit  seines  Gottes, 
wenn  knechtische  Furcht  ihm  ebenso  ferne  ist  wie  herzliches  Kindes- 
vertrauen. Über  solchem  Gebet  liegt  ein  feierlicher  Ernst,  eine  würde- 
volle Gemessenheit.  Es  fehlt  aller  Überschwang  der  Affekte..  Miss 
Kingsley  hat  solche  Gebete  bei  einem  westafrikanischen  Bantustamm 
in  der  Bucht  von  Panavia  gehört  und  den  Eindruck,  den  sie  dabei 
empfangen,  beschrieben.  63 

„An  jedem  Neumond  geht  der  Häuptling  eines  Dorfes  hinaus  und  redet  zu 
Anyambie,  dem  höchsten  Wesen.  Er  preist  ihn  nicht,  er  bittet  ihn  nicht,  in  die 
menschlichen  Angelegenheiten  einzugreifen,  er  ersucht  ihn  nur  auf  die  Geister 
zu  achten,  die  er  als  Gott  besser  als  ein  Mensch  lenken  kann,  und  sie  von  seinem 
Dorfe  fernzuhalten;  aber  immer  eröffnet  er  seine  Rede  an  den  großen  Gott  mit 
einer  Aufzählung  seiner,  des  Häuptlings  Vorzüge.  Beim  ersten  Anhören  machte 
diese  Aufzählung  der  Vorzüge  des  Häuptlings  auf  mich  einen  komischen  Ein- 
druck. Aber  allmählich,  nachdem  ich  der  schweigende  Zeuge  mehrerer  dieser 
Reden  mit  dem  großen  Gott  geworden  war,  erschien  mir  die  Sache  wirklich  groß- 
artig. Da  stand  der  große  Mann  allein,  bewußt  des  Gewichts  der  Verantwortlich- 
keit, die  er  für  das  Leben  und  Glück  seines  Volkes  hatte,  und  redete  ruhig,  stolz. 
ehrfürchtig  zu  dem  großen  Gott,  von  dem  er  wußte,  daß  er  die  Welt  regiere. 
Er  war  wie  ein  großer  Diplomat,  der  mit  einem  anderen  großen  Diplomaten  von 
einer  fremden  Macht  redete;  da  war  kein  Winseln  und  Betteln  dabei.  Die  grandeur 
seines  Auftretens  bezauberte  mich."  Dieselbe  feierliche  Stimmung  anbetender 
Ehrfurcht  liegt  über  den  Gebeten  des  sumerischen  Priesterkönigs  Gudea.  „Als 
ein  Diener  voll  Ehrfurcht  für  seine  Herrin,  hat  er  die  Majestät  seiner  Herrin  er- 
kannt," bekennt  er  auf  einer   Statue  (E  2,   1    ff.). 

Wieder  anders  ist  die  Gebetsstimmung  dort,  wo  das  Verhältnis  zur 
Gottheit  als  Kindes  Verhältnis  gedacht  ist.  Wohl  ist  der  Vatornanie 
in  manchen  primitiven  Gebeten  eine  bloße  Höflichkeitsphrase,  nicht 
der  Ausdruck  wirklichen  Kindersinnes;  oft  ist  die  Freundlichkeit  und 
Herzlichkeit  im  Gebet  nur  halb  echt,  mitbestimmt  von  dem  selbstischen 
Streben,  Gott  für  sich  zu  gewinnen.    Aber  in  vielen  primitiven  Gebeten 

Das  Gebot  10 


146  A.    Das  naive  Beten  des  primitiven    Menschen 

besitzt  der  Vater-  und  Mutternamen  seelische  Resonanz.  Aus  zahl- 
reichen Gebeten  an  die  Ahnen,  an  die  lebenspendende  Muttergöttin, 
an  den  hehren  Urvater  redet  eine  Innigkeit  und  Herzlichkeit,  die  aus 
einem  wirklichen  Kindschaftsverhältnis  zur  Gottheit  entspringt.  Wir 
müssen  das  moderne  Vorurteil  ablegen,  daß,  wie  Alfred  M  a  u  r  y  sagte. 
„die  Furcht  der  Vater  der  Religion,  die  Liebe  ihre  spätgeborene  Tochter" 
sei  66.  Der  wirkliche  Primitive  ist  kein  ,Wilder',  kein  ,Unzivilisierter% 
kein  halbtierisches  Wesen,  dessen  seelische  Triebfedern  nur  Furcht  und 
selbstsüchtiges  Begehren  sind,  sondern  ein  „unverfälschtes  Naturkind 
von  liebenswürdigem  Wesen".  Koch-Grünberg  schreibt  über 
die  kulturell  tiefstehenden  südamerikanischen  Indianer:  „Sieht  der 
Indianer  bei  einem  längeren  Zusammensein,  daß  ihm  der  Weiße  wohl 
will,  so  verschwindet  rasch  sein  Mißtrauen,  und  seine  wahre,  liebens- 
würdige Natur  kommt  zum  Vorschein.  Er  gibt  sich,  wie  er  in  Wirklich- 
keit ist,  als  ein  unter  normalen  Verhältnissen  harmloses  Naturkind 
und  belohnt  in  der  Regel  die  Güte  des  Weißen  mit  seinem  vollen  Ver- 
trauen." 65  Wie  der  Primitive  im  Verkehr  mit  jenen  Menschen  sich 
gibt,  deren  Güte  er  erfahren,  so  gibt  er  sich  auch  im  Verkehr  mit  den 
übernatürlichen  Wesen,  an  deren  Güte  er  glaubt.  Dieselbe  Herzlichkeit 
und  Vertraulichkeit,  die  er  gegenüber  den  Eltern  und  Verwandten  zeigt, 
offenbart  er  auch  im  Gebet  gegenüber  jenen  hohen  Wesen,  die  ihm  als 
Vater  oder  Mutter,  Großvater  oder  Großmutter  gelten.  Er  redet  wie 
das  Kind  zu  den  Eltern:  in  voller  Unbefangenheit  —  er  spricht  sich 
rückhaltlos  aus,  er  ,schüttet  sein  Herz  aus' ;  in  schlichter  Vertraulichkeit 
—  Gott  ist  ihm  kein  Fremder,  er  kennt  ihn  wohl;  mit  ungekünstelter 
Herzlichkeit  ■ — ■  er  liebt  ihn,  weil  er  seine  Güte  schon  oft  erfahren  hat; 
mit  inniger  Zuversicht  —  er  vertraut  auf  ihn,  er  baut  auf  seine  Macht 
und  seine  Freundlichkeit.  Europäische  Missionare  und  Ethnographen , 
die  Augen-  und  Ohrenzeugen  von  primitiven  Gebeten  gewesen,  schildern 
uns  den  tiefen  Eindruck,  den  diese  auf  sie  machten. 

„Der  Galla,"  bezeugt  Paulitschke,  „wendet  sich  gerne  und  vertraulich 
an  seinen  Gott."  „Die  kurzen  Anrufungen  beim  Opfer  erfolgen  in  sehr  vertrau- 
licher Fomi."  66  John  T  a  n  n  e  r  ,  der  dreißig  Jahre  unter  den  Irokesen  weilte, 
schildert  uns  zwei  Gebete,  die  er  bei  der  Fahrt  auf  einem  See  gehört.  „Mitten 
im  See  wurden  wir  von  einem  argen  Sturm  überrascht.  Wir  hielten  uns  schon 
verloren  und  schrien  laut  auf.  Da  erwachte  plötzlich  die  alte  Frau,  stand  auf, 
lichtete  mit  lauter  Stimme  ein  inniges  Gebet  an  den  großen  Geist,  fing  dann 
an  mit  erstaunenswerter  Lebhaftigkeit  zu  rudern  und  ermahnte  uns  auszuharren." 
Ein  zweites  stimmungsvolles  Bild:  „Kaum  waren  wir  200  Schritt  weit  (vom 
Lande)  gerudert,  da  hielten  alle  Kanots  an,  und  der  Häuptling  richtete  mit  lauter 
Stimme  ein  Gebet  an  den  großen  Geist,  damit  derselbe  einen  gnädigen  Blick 
auf  uns  werfen  möchte.  ,Du  hast  diesen  See  gemacht  und  hast  auch  uns  geschaffen, 
deine  Kinder,  du  kannst  Ruhe  halten  auf  diesem  Wasser,  bis  wir  glücklich  und 
gesimd  darüber  hinweggefahren  sind.'  Ich  entsinne  mich,  daß  die  Anrufung, 
welche  der  Häuptling  an  den  großen  Geist  richtete,  mir  sehr  eindrucksvoll  vor- 
kam und  einen  tiefenEindruck  auf  mich  machte.  Sie  hatten  sich  in  ihren 
gebrechlichen  Fahrzeugen  einem  ungeheuren  See  anvertraut  und  fühlten  darum 
um  so  mehr,  wie  sehr  sie  in  der  Gewalt  des  Wesens  waren,  das  Wind  und  Wellen 
beherrschte."67  Mit  beredter  Sprache  gibt  Sa  p  per  die  Eindrücke  wieder, 
die  er  von  den  Gebeten  der  Kekchi-Indianer  an  ihren  Tzultaccä  der  Berge  und 
Täler  empfing.  „Es  liegt  ein  unterwürfiger  Respekt  in  der  Art,  wie  der  Indianer 
vor  die  Bildnisse  (des  christlichen)  Gottes  und  der  Heiligen  hintritt  und  zu  ihnen 


X.   Zusammenfassende  Charakerist  ik  147 


betet.  Wenn  er  vor  ihnen  spricht,  so  hat  man  stets  das  Gefühl,  als  ob  er  in  Ge- 
danken devote  Bücklinge  vor  denselben  machte.  Wie  so  anders  ist  es,  wenn  er 
in  feierlich  stiller  Tropennacht  aus  dem  einsamen  Lager  im  Urwald  hervortritt 
nach  der  Richtung  hin.  in  welcher  am  nächsten  Morgen  der  Marsch  fortgesetzt 
werden  soll,  wenn  er  nun  auf  einem  großen  grünen  Blatt  über  mitgebrachten 
glühenden  Kohlen  sein  Kopalharz  verbrennt  und  dazu  sein  altgewohntes  Gebet 
an  Tzultaccä  spricht.  Da  zeigt  sich  das  Vertrauen  des  Mannes,  daß  sein  heimischer 
Gott  ihm  auch  helfen  werde,  er,  der  alle  seine  Nöte  und  Bedürfnisse  soviel  besser 
kennt  als  der  stolze,  fremde  Christengott.  Lag  für  mich  schon  auf  gewöhnlicher 
sicherer  Wanderung  etwas  Weihevolles  in  der  Art,  wie  der  Indianer  frei  und 
vertrauend  sich  an  s  e  i  n  e  n  Gott  wandte,  so  werde  ich  den  tiefenEin- 
d  ruck  nie  vergessen,  den  ich  empfing,  als  einst  in  den  wilden  Urwäldern  von 
British  Honduras  nach  bangem  Tage  des  Hungers  in  dämmernder  Abendstunde 
der  älteste  meiner  indianischen  Begleiter  mit  lauter  Stimme  seinen  Tzultaccä 
anrief  und  um  Jagdbeute  anflehte,  obgleich  er  das  vorschriftsmäßige  Opfer  nicht 
darzubringen  vermochte.  Und  als  noch  in  derselben  Nacht,  zum  erstenmal  wieder 
nach  langer,  langer  Zeit,  in  der  Nähe  das  häßliche,  meinen  Ohren  nun  höchst 
melodisch  klingende  Geschrei  eines  Büffelaffen  ertönte,  da  konnte  ich  mich  des 
ketzerischen  Gedankens  nicht  erwehren,  daß  der  liebe  Gott  das  vertrauensvolle 
Gebet  des  Menschen  erhöre,  auch  wenn  es  nicht  gerade  an  seine  Adresse  ge- 
richtet ist."  68 

So  verleiht  die  Art  des  sozialen  Verhältnisses,  in  dem  der  Beter  zur 
Gottheit  zu  stehen  glaubt,  der  Gebetsstimmung  eine  ganz  bestimmte 
Färbung.  Die  Wahl  der  Worte,  der  Klang  der  Stimme,  das  Mienenspiel 
des  Gesichtes,  Körperhaltung  und  Geste  sind  verschieden  je  nach  der 
durch  das  eigentümliche  Verhältnis  zur  Gottheit  bedingten  Gebets- 
stimmung. Diese  feinen  Variationen  psychologisch  zu  erfassen,  ist 
nieht  möglich,  da  das  Beobachtungsmaterial  fehlt.  Es  genügt,  fest- 
stellen zu  können,  daß  das  Sozialverhältnis  zu  Gott  die  Gebetsstimmung 
und  das  ganze  Ausdruckssystem  zu  variieren  vermag. 

X.  Zusammenfassende  Charakteristik. 
Die  Bedeutung  des  primitiven  Gebets. 
Das  Gebet  des  Primitiven  ist  unmittelbarer  Ausdruck  tiefer,  seelischer 
Erlebnisse;  es  quillt  spontan  aus  der  Not  oder  dem  Dankgefühl;  die 
übermächtige  Erregung  bricht  in  freien  Worten  der  Klage  und  Bitte, 
des  Lobes  und  Dankes  durch.  Nirgends  äußert  sich  die  Freude  am 
Leben,  der  Drang  nach  Steigerung  und  Bereicherung  des  Lebens,  kurz 
der  gesunde  Wille  zum  Leben,  der  jedes  Naturkind  beseelt,  so  rein  und 
stark  wie  im  Gebet.  Leben  und  Glück  erbittet  der  Primitive  von  seinem 
Gott;  nach  Irdischem  und  Vergänglichen  ist  sein  Trachten  im  Gebet 
gerichtet.  Mit  Verachtung  sieht  der  Philosoph  und  Mystiker  auf  dieses 
Bitten  um  Leben  und  Gesundheit,  um  Nahrung  und  Reichtum  herab 
und  verwirft  es  als  eudämonistisches  Beten.  Und  doch  muß  jeder,  der 
auf  die  Herztöne  dieser  Beter  lauscht,  innerlich  ergriffen  werden  von 
ihrer  Inbrunst  und  Leidenschaft.  Diese  Verbindung  von  tiefstem  Ab- 
hängigkeitsgefühl und  höchstem  Lebensdrang  hat  in  der  Tat  etwas 
Wundervolles  an  sich.  In  der  Lebendigkeit  des  Affektlebens  wurzelt 
der  konkrete  Realismus  der  dem  Gebet  zugrundeliegenden  Gottes- 
vorstellung, der  die  philosophische  Kritik  herausfordert.  Das  Gebet 
des  Primitiven  ist  keine  Meditation,  sondern  ein  Umgang  mit  dem 
gegenwärtigen,  lebendigen   Gott.      Ein  dramatischer  Realismus  eignet 


148  A.  Das  naive  Beten  des  primitiven   Menschen 


allem  urwüchsigen  Beten.  Alle  die  drei  Hauptmerkmale  des  primitiven 
Gebets  —  Affektivität,  Eudämonismus  und  Realismus  —  lassen  sich 
zurückführen  auf  die  Naivität  des  primitiven  Menschen:  Gebetswort 
und  Gebetsgestus  sind  der  echte,  unmittelbare  Ausdruck  dessen,  was  er 
erlebt.  Sein  Beten  ist  von  keiner  intellektuellen  Problematik  belastet. 
Er  reflektiert  nicht  über  die  metaphysischen  Voraussetzungen  des 
Gebets,  die  Existenz  der  höheren  Wesen  oder  die  Möglichkeit,  zu  ihnen 
in  ein  soziales  Verhältnis  zu  treten.  Gewiß  ist  das  Grübeln  und  Sinnen 
über  den  Ursprung  der  Welt  und  über  die  Rätsel  des  Lebens  dem  Primi- 
tiven nicht  fremd,  das  lehren  seine  Mythen,  das  lehren  vor  allem  seine 
Vorstellungen  vom  Urvater  und  Schöpfer.  Bei  manchen  Naturvölkern 
treffen  wir  sogar  merkwürdige  Reflexionen  über  die  Art  und  Weise, 
in  denen  die  höheren  Wesen  die  Opfer  genießen.  Aber  das  Beten  des 
Primitiven  ist  frei  von  aller  Reflexion  und  Spekulation.  Das  Gebet  ist 
die  spontanste  religiöse  Lebensäußerung,  erhaben  über  alles  Denken 
und  Grübeln.  Der  Beter  fragt  nicht,  untersucht  nicht,  zweifelt  nicht, 
sondern  tritt  mit  Gott  in  Verkehr,  ruft  ihn  an  und  schüttet  ihm  sein 
Herz  aus.  Er  handelt  mit  des  Lebens  eigenem  Recht.  Die  Irrationalität 
der  Religion,  ja  des  Lebens  überhaupt,  tritt  uns  nirgends  so  gewaltig 
vor  Augen  wie  im  Gebet. 

Das  Gebet  des  Primitiven  ist  ein  schwacher  Nachhall  jenes  Gebets,  das 
von  den  Lippen  des  Urmenschen  kam.  Wir  ahnen  hier  die  Kraft  und 
Leidenschaft  der  Urreligion.  Alle  Religion,  soweit  sie  lebendig  ist, 
offenbart  dieselbe  Kraft  und  Innigkeit  der  Urreligion,  sie  ist  im  Grunde 
nur  eine  Wiederholung  der  Urschöpfung  der  Religion.  Will  man  es 
theologisch  ausdrücken,  so  muß  man  sagen:  aller  Glaube,  alle  Religion 
wurzelt  in  der  Uroffenbarung.  Alles  naive  Beten  —  nicht  nur  das 
Beten  der  Volksmassen,  sondern  gerade  das  Beten  der  großen  Genien, 
der  Propheten  und  Heiligen,  der  Dichter  und  Künstler  —  ist  im  Grunde 
nur  primitives  Beten;  es  zeigt,  wie  die  spätere  Untersuchung  heraus- 
stellen wird,  dieselbe  innere  Struktur;  ja  der  prophetische  Typ  des 
individuellen  Gebets  gleicht  trotz  fundamentaler  Unterschiede  dem 
primitiven  Gebet  in  allen  Wesenszügen,  im  Motiv,  in  der  Form,  im 
Inhalt,  in  der  zugrundeliegenden  Gottes  Vorstellung,  in  der  Relation 
zwischen  Mensch  und  Gott. 

In  der  Frömmigkeit  des  naiven  Menschen  und  des  großen  religiösen 
Genius  lebt  die  Urform  der  Religion  immer  wieder  auf.  Aber  noch  in 
anderer  Weise  lebt  sie  durch  alle  Jahrhunderte  fort.  Die  religiöse  Termi- 
nologie bleibt  dieselbe,  auch  wenn  die  durch  sie  bezeichneten  Inhalte 
längst  eine  Wandlung  und  Läuterung  erfahren  haben.  In  der  Gebets- 
terminologie und  Gebetssprache  hat  sich  der  ursprüngliche  sinnliche 
Realismus  des  primitiven  Betens  bis  heute  erhalten.  Wir  ,rufen'  und 
,schreien'  zu  Gott  —  der  Primitive  betet  stets  laut,  auf  daß  der  Gott 
ihn  höre.  In  der  Not  ,eilen'  wir  zu  Gott  —  der  Primitive  läuft  zu  der 
Stätte,  wo  sein  Gott  wohnt.  Wir  ,treten'  mit  Beten  ,vor  Gott'  —  der 
primitive  Beter  ist  durchdrungen  vom  Bewußtsein  der  sinnlichen  Gegen- 
wart Gottes.  Wir  , werfen  uns  nieder  vor  Gott'  —  der  primitive  Beter 
wirft  sich  wirklich  in  den  Staub;  die  ursprüngliche  Gebetsstellung  lebt 


X.  Zussammen fassende  Charakteristik  149 

jetzt  als  frommes  Bild.  fort.  Im  Salve  Regina  beten  fromme  Katholiken 
zur  Gottesmutter:  „Zu  dir  rufen  wir  seufzend  und  weinend"  —  der 
Primitive  betet  unter  Seufzern  und  Tränen;  das  ögcjfievov  ist  zum 
leyöfievov  geworden.  Wir  leiten  jedes  Gebet  ein  mit  einer  Anrede  an 
Gott  —  der  Primitive  ruft  Gott  mit  seinem  Namen  an,  daß  er  auf  ihn 
aufmerksam  werde.  Wir  sprechen  zu  ihm  ,,mein  Gott!",  „unser  Gott!", 
„lieber  Gott!",  „guter  Gott!"  —  für  den  Primitiven  drücken  diese 
Worte  das  Zusammengehörigkeitsgefühl  und  das  herzliche  Vertrauen 
aus.  Wir  nennen  Gott  ,Vater,  ,Herr'  und  ,König',  Maria  betiteln  die 
betenden  Katholiken  als  ,Mutter'  ,Herrin'  und  ,Königin'  —  der  Primitive 
steht  zu  seinem  Gott  im  Kindes-  oder  Untertanen  Verhältnis.  Wir  bitten 
Gott:  „Höre!"  „Erhöre!"  „Neige  dein  Ohr  meinem  Flehen!"  rufen 
wir  mit  dem  Psalmisten  —  der  Primitive  ist  beseelt  von  dem  Glauben 
an  Gottes  Fähigkeit,  sinnlich-menschlich  wahrzunehmen.  Mit  einem 
Psalmworte  beten  wir:  „Gott,  komme  mir  zu  Hilfe!"  „Herr,  eile  mir 
zu  helfen!"  —  der  Primitive  ruft  den  in  der  Ferne  weilenden  Gott,  daß 
er  herbeieile  und  durch  seine  Gegenwart  helfe.  Unsere  kurzen,  stereo- 
typen Gebetsrufe:  „Erhöre  uns!",  „Steh  uns  bei!",  „Gib  uns,  schenke 
uns!",  „Erbarme  dich  unser!"  sind  keineswegs  erst  Schöpfungen  des 
Psalmisten,  sondern  uralte  primitive  Gebetsrufe.  Die  Gebete  der  römi- 
schen Meßliturgie:  „Suscipe/"  „Accepta  habeas /"  „Offerimus  tibi/" 
(„Nimm  hin",  „empfange",  „wir  opfern  dir")  sind  uralte  primitive 
Opfersprüche. 

Wie  in  der  Gebetssprache,  so  haben  sich  auch  in  der  Gebetshaltung 
und  im  Gebetsgestus  die  Urformen  des  Betens  treu  erhalten.  Für  ein 
Beten  im  ,  Geist  und  in  der  Wahrheit'  sind  alle  Körperstellungen  und 
Händehaltungen  nebensächlich.  Und  doch  haben  die  großen  Beter 
die  aus  primitiver  Zeit  überkommenen  Gebetssitten  bewahrt.  Stehen 
und  Knien,  Händeausbreiten,  Händefalten  und  Händekreuzen,  Blick 
zum  Himmel,  Entblößen  des  Hauptes  wurden  zu  den  Gebetssitten 
des  christlichen  Abendlandes.  Die  alte  Gebetsstellung  des  Hockens  ist 
im  Buddhismus  zur  Kontemplationsstellung  geworden.  So  halten  die 
beiden  höchsten  Religionen  der  Erde  in  ihren  äußeren  Gebetsformen 
treu  an  dem  Erbe  der  primitiven  Religion  fest. 


B.  Die  rituelle  Gebetsformel. 

Das  Gebet  ist  ursprünglich  eine  spontane  Affektentladung,  ein  freies 
Ausschütten  des  Herzens.  Im  Laufe  der  Entwicklung  wird  es  zu  einer 
feststehenden  Formel,  die  der  Mensch  affekt-  und  stimmungslos,  herz- 
und  gedankenlos  rezitiert.  Ursprünglich  ist  das  Gebet  ein  trauter  per- 
sönlicher Umgang  mit  Gott,  allmählich  wird  daraus  eine  starre,  un- 
persönliche Kultform,  ein  durch  den  mos  maiorum  geheiligter  Ritus. 
Ursprünglich  quillt  das  Gebet  unmittelbar  aus  tiefster  Not  oder  höchstem 
Glück,  später  ist  es  an  feste,  regelmäßig  wiederkehrende  Anlässe  ge- 
bunden .  Ursprünglich  ist  das  Gebet  der  formlose  Ruf  eines  Bedrückten 
oder  Beglückten,  begleitet  höchstens  von  einer  schlichten  Gabe  und 
Spende,  später  ist  es  der  unveräußerliche  Bestandteil  eines  komplizierten 
Rituals,  verbunden  mit  mannigfaltigen  Reinigungen,  Opfern,  Prozes- 
sionen, Tänzen  und  Weihen.  Ursprünglich  ist  das  Gebet  die  persönliche 
Äußerung  eines  Individuums  oder  des  Hauptes  einer  Gruppe,  später 
wird  es  zum  unpersönlichen  Amtsgeschäft  der  Priester.  Schon  bei 
Naturvölkern  vollzieht  sich  dieser  Erstarrungs-  und  Mechanisierungs- 
prozeß, der  aus  dem  freien  Gebet  die  genau  fixierte  Gebetsformel  hervor- 
gehen läßt.  Am  Feste  der  Erstlingsfrüchte  spricht  der  Buschmann- 
Häuptling  ein  Gebet,  das  jährlich  in  derselben  Weise  wiederholt  wird.  x 
Die  Weddas  auf  Ceylon  besitzen  zahlreiche  Gebetsformeln,  welche  der 
Schamane  rezitiert  und  der  Schamanenschüler  auswendig  lernt.  2  Die 
Bantu  und  Negrillo  besitzen  nach  dem  Zeugnis  von  Le  Roy  neben  den 
freien  Gebeten  ,, formelhafte'',  ,,die  geheiligt  sind  durch  den  Gebrauch, 
welche  die  Kultdiener  bei  bestimmten  Anlässen  rezitieren."  3  Von  den 
Baronga  schreibt  Junod:  „Die  meisten  Gebete  tragen  einen  extrem 
liturgischen  Charakter.  Jeder  weiß,  was  bei  einer  bestimmten  Gelegen- 
heit, beim  regelmäßigen  Opfer  zu  sagen  ist.  Das  persönliche  Element 
fehlt  fast  völlig."  4  Die  Batak  besitzen  feststehende  Gebetsformeln, 
welche  von  den  Zauberern,  Opferpriestern  oder  Häuptlingen  hergesagt 
werden.  5  Die  Melanesier  unterscheiden  ausdrücklich  die  spontane, 
formlose  Anruf img  der  Ahnen  von  dem  tataro,  der  strenggebundenen 
Gebetsformel.  6  Einen  noch  viel  breiteren  Raum  nehmen  die  Gebets- 
formeln im  Kult  der  antiken  Völker  ein,  vor  allem  in  der  vedisch-brahma- 
nischen  Religion,  welche  das  größte  Ritualbuch,  den  Yajurveda,  besitzt,  7 
in  der  ägyptischen  Religion,  in  der  die  alten  Gebetsformeln  zu  Zauber- 
worten geworden  sind,  in  der  römischen  Religion,  in  welcher  die  formale 
Gebundenheit  des  Betens  am  strengsten  durchgeführt  ist.  8 

Wie  ist  das  Gebet  aus  einem  freien  Herzenserguß  zur  unbeweglichen, 
starrenForm  geworden  ?  Wie  schon  oben  (S.  49f.)bemerkt  wurde,  vollzog 
sich  dieser  Entwicklungsgang  nicht  direkt,  sondern  über  eine  Zwischen- 
etappe.    Das  biegsame,  elastische  Schema,  das  in  freier  Weise  dem 


B.   Die  rituelle    Gebetsforrnel  151 


konkreten  Augen blieksbedürfnis  angepaßt  wird,  ist  das  Bindeglied 
zwischen  der  spontanen,  formlosen  Affektäußerung  und  der  genau 
fixierten  Formel,  die  als  Traditionsgut  weitergegeben  wird.  Die  diesen 
Erstarrungsprozeß  bedingenden  bzw.  begünstigenden  Momente  sind 
die  häufige  Wiederkehr  des  Gebetsanlasses  wie  die  enge  Verbindung 
mit  bestimmten  Ritualhandlungen.  Die  kultischen  Handlungen  ver- 
festigen sich  ungeheuer  rasch  zu  heiligen  Riten ;  durch  die  Verbindung 
mit  ihnen  wird  auch  das  sie  begleitende  Gebet  in  diesen  Verfestigungs- 
prozeß hineingerissen.  Als  sekundäre  Momente  kommen  in  Betracht 
ein  wachsendes  Gefühl  der  Unsicherheit  gegenüber  der  Gottheit,  das 
sich  nur  bei  festen  Formeln  beruhigt,  sowie  der  Mangel  selbständiger 
Ausdrucksfähigkeit,  der  zur  Benützung  von  Formularen  zwingt. 

Die  Anlässe  zum  formelhaften  Gebet  sind  zumeist  regulär;  besonders 
sind  es  die  großen  Feste,  zu  deren  Ritual  bestimmte  Gebetsformeln 
gehören.  Man  verwendet  solche  aber  auch  bei  außerordentlichen  Ge- 
legenheiten, in  konkreten  Nöten  und  Anliegen.  Die  Gebetsformel  dient 
zumeist  als  Begleitung  einer  Opferdarbringung,  eines  Weihe-  oder  Reini- 
gungsaktes 9.  Daneben  gibt  es  auch  selbständige  Gebetsformeln,  die 
nicht  einem  Opfer-  oder  Lustralritual  angehören,  z.  B.  die  Morgen-  10 
und  Abendgebete,  die  der  Einzelne  regelmäßig  verrichtet. 

Die  Gebetsformel  ist  stereotyp,  streng  verbindlich;  der  Wortlaut  ist 
unantastbar,  sakrosankt;  kein  Beter  darf  sich  anmaßen,  an  den  Worten 
irgendetwas  zu  ändern  n,  so  wenig  er  sich  unterstehen  darf  eine  Modi- 
fikation der  heiligen  Opfer-,  Sühne-,  oder  Weihehandlung  vorzunehmen- 
Mit  peinlicher  Sorgfalt  achteten  die  Römer  auf  die  korrekte  Rezitation, 
der  Gebetsformel.  Damit  der  Liturge  jedes  Wort  an  der  richtigen  Stelle 
sprach  und  nicht  etwa  Worte  miteinander  vertauschte,  las  der  Pontifex 
oder  ein  Beamter  ihm  die  überlieferte  Formel  vor.  12  Ein  Abweichen 
vom  Wortlaut  macht  das  Gebet  und  den  ganzen  rituellen  Akt  ungültig. 
Nach  Cicero  lautet  das  römische  Axiom:  ,,Si  aedilis  verbo  aut  simjyuvio 
aberraverit,  ludi  non  sunt  rite  facti''''  („Wenn  der  Ädile  auch  nur  bei 
einem  Worte  oder  Opferguß  einen  Fehler  macht,  dann  sind  die  heiligen 
Spiele  nicht  richtig  vollzogen.")  13 

Die  rituelle  Formel  besitzt  eine  ungeheuere  Stabilität.  Unverändert 
wird  sie  durch  Jahrhunderte  weitergegeben.  Die  ägyptischen  Kult- 
bücher der  hellenistisch-römischen  Epoche  reproduzieren  getreu  die 
alten  Ritualtexte,  die  ehemals  an  die  Wände  der  Pyramiden  geschrieben 
Maren.  ,,Noch  unter  den  Cäsaren  vollzieht  man  mit  peinlicher  Sorgfalt 
die  alten  Zeremonien,  die  aus  den  Anfängen  der  ägyptischen  Geschichte 
stammen  und  deren  kleinstes  Wort  und  unscheinbarste  Geste  ihre 
Bedeutung  haben  "  (Cumont).  14  Die  altheiligen  Gebetsformeln  sind 
noch  im  Gebrauch,  nachdem  die  religiösen  Anschauungen  sich  längst 
gewandelt  haben.  Ja  man  fährt  fort,  sie  zu  rezitieren,  auch  wenn  ihre 
Sprache  nicht  mehr  verstanden  wird.  Noch  in  der  römischen  Kaiserzeit 
wurden  altlateinische  Gebete  gesprochen,  die  selbst  den  Priestern 
•iänzlich  unverständlich  waren  15.  Ja  selbst  in  fremde  Sprachgebiete 
werden  bisweilen  solche  altheilige  Gebetsformeln  verpflanzt.  So  beten 
die  Wadschagga  das  Morgengebet  in  der  Masaisprache.  16    In  den  hei- 


152  Die  rituelle  Gebetsformel 

lenistischen  Isismysterien  bedient  sich  der  Priester  beim  heiligsten 
Akt,  bei  der  Tabernakelöffnung,  der  ägyptischen  Sprache.  16  Die  Fort- 
dauer der  alten  Ritualformeln  trotz  des  Fortschritts  der  Sprache  oder 
der  Übernahme  durch  andersredende  Völker  bedingt  die  Entstehung 
ganzer  Sakralsprachen.  Die  älteste  Sakralsprache  ist  das  Sumerische, 
das  den  semitischen  Assyrern  und  Babyloniern  stets  als  heilig  galt. 

Neben  jenen  Gebetsformeln,  die  aus  ehedem  freien  Gebeten  heraus- 
wuchsen und  dann  unverändert  fortgeerbt  wurden,  stehen  solche,  die 
für  bestimmte  Zwecke  erst  neu  geschaffen  wurden.  Diese  sind  jedoch 
keine  freien  Gebete,  eingegeben  von  dem  Affekt  des  Augenblicks,  sondern 
absichtlich  verfaßt,  komponiert  oder  doch  prämeditiert  nach  dem 
Muster  anderer  Gebetsformeln.  Sie  sind  meist  das  Elaborat  bewußt 
schaffender  Priester  oder  Beamten.  Die  Fassung  solcher  Gebete  muß 
strengen  Anforderungen  genügen.  Der  Offiziant  der  Batak  muß  sich 
der  gewähltesten  Ausdrücke  bedienen.  17  In  China  wurden  bei  feier- 
lichen Opferzeremonien  die  Gebete  niedergeschrieben  und  abgelesen.  18 
Die  römische  Gebetsformel  mußte  schriftlich  fixiert  und  in  wörtlicher 
Übereinstimmung  mit  dem  geschriebenen  Formular  vorgetragen  wer- 
den; 19  den  Gebetsworten  mußte  eine  offizielle  Feierlichkeit  eigen  sein. 
„Besondere  Sorgfalt  verlangt  aber  auch  die  Fassung  des  speziellen 
Inhalts  des  Einzelgebets,  für  welches  vor  allem  die  Regel  gilt :  „in  precibus 
nihil  esse  ambiguum  debet"  (,,in  den  Gebeten  darf  nichts  zweideutig 
sein");  da  alle  aus  dem  ins  sacrum  sich  ergebenden  Rechtsfragen  nach 
dem  ins  strictum  entschieden  wird  und  für  sie  der  Grundsatz  gilt:  „uti 
Lingua  nuncupasset,  ita  ins  esto"  („wie  die  Zunge  es  ausgesprochen, 
so  soll  es  gelten!"),  so  muß  der  Wortlaut  des  Gebets  so  gefaßt  sein, 
daß  weder  Art  und  Umfang  der  dem  Gott  gelobten  Darbringung  noch 
der  Inhalt  der  von  diesem  erwarteten  Gegenleistung  den  geringsten 
Zweifel  zuläßt"  (Wissowa).  20 

Dadurch,  daß  die  in  den  verschiedensten  Anliegen  ausgesprochenen 
Gebetswünsche  Formelcharakter  erlangen,  daß  ferner  für  bestimmte 
Anlässe  neue  Formeln  verfaßt  werden,  entsteht  allmählich  ein  ganzes 
System  von  Gebetsformularen,  die  dann  Fall  für  Fall  ausgewählt  werden. 
Die  großen  antiken  Priesterreligionen  haben  für  alle  Nöte  und  Bedürf- 
nisse ein  spezielles  Opferritual  und  Gebetsformular.  ,,Die  rituelle  Kunst 
hatte  mehr  und  minder  jeden  Wunsch  vorhergesehen  und  für  ihn  die, 
wenn  auch  noch  so  geringe  Opferspende  samt  dem  dazu  gehörigen 
Spruch  festgestellt;  überall  ein  fertiges  liturgisches  Formular"  (Olden- 
berg)  21.  Die  umfassendste  Sammlung  von  solchen  Gebets-  und  Opfer- 
formularen stellt  der  indische  Yajurveda  dar;  doch  enthält  er  neben 
eigentlichen  Gebetsformeln  zahlreiche  andere  Formeln,  die  wir  der 
Sphäre  des  Zauberspruches  zuweisen  müssen. 

Wie  der  Wortlaut,  so  ist  auch  der  Vortrag  durch  strenge  Vorschriften 
geregelt.  Bei  den  zeremoniellen  Batakgebeten  darf  kein  Wort  falsch 
ausgesprochen  oder  betont  werden  22.  Die  Gebetsformeln  der  Römer 
müssen  deutlich  und  ausdrucksvoll  rezitiert  werden.  Jedes  Versprechen 
oder  Stocken  macht  das  Gebet  wirkungslos.  23 


B.    Die  rituelle   Gebetsforniel  153 

Die  feierliche  Rezitation  ist  die  häufigste  Vortragsform  der  Gebets- 
formel. Daneben  findet  sich  auch  das  Singen  des  Gebets.  Nach  Le  Roy 
werden  die  Gebetsformeln  der  Bantu  und  Negrilo  teils  gesprochen,  teils 
gesungen  24.  Der  Gesangsvortrag  setzt  stets  einen  genau  festgesetzten 
Text  voraus .  Auch  das  Murmeln  der  Gebetsformel  ist  bezeugt ;  so  wird 
der  Opferspruch  in  der  vedisch-brahmanischen  Religion  vom  Opfer- 
priester gemurmelt.  25  Es  scheint,  daß  die  Vortragsweise  der  Zauber- 
formel auf  die   Gebetsformel  übertragen  wurde. 

Der  zeremoniöse  Charakter  einer  rituellen  Handlung  verlangt,  daß 
die  opfernde  und  betende  Amtsperson  nicht  im  Alltagskleide,  sondern 
im  Festgewande  oder  gar  in  einer  besonderen  liturgischen  Tracht  vor 
der  Gottheit  erscheint.  Der  Priester  der  birmanischen  Katchin  betet 
am  Jahresfeste  in  zeremonieller  Kleidung  und  Kopfbedeckung.  26  Bei 
größeren  Opfern  der  Batak  legen  der  Beter  und  die  Opferer  Festkleider 
und  Schmuck  an  (nur  bei  den  kleinen  Hausopfern  ist  dies  nicht  nötig). 
Die  feierlichen  Batakopfer  sind  nicht  nur  von  einem  steifen  Zeremoniell, 
sondern  von  einem  komplizierten  Taburitual  umgeben;  eine  Unmenge 
von  Heiligkeitsvorschriften  muß  beachtet  werden,  soll  nicht  alles  ver- 
geblich sein.  Der  Opfernde  darf  nicht  mit  dem  Schatten  eines  Menschen 
oder  Gegenstandes  in  Berührung  kommen.  Seine  Kleidung  muß  rein, 
das  Gesicht  gewaschen,  das  Haar  geglättet  sein.  Während  der  Feier 
darf  er  nicht  gähnen,  nicht  ausspucken,  seine  Kleidung  darf  nicht 
in  Unordnung  kommen.  Niemand  darf  ihn  berühren  oder  an- 
reden oder  seinen  Namen  nennen.  Am  Opfertage  darf  niemand 
grobe  Arbeit  verrichten.  Acht  Tage  lang  nach  dem  Opfer  muß  sich  der 
Opferherr  und  der  Opferpriester  jeder  Verwünschung  enthalten.  27 
Umgeben  von  einer  Unzahl  solcher  Tabugesetze,  muß  das  Gebet  not- 
wendig seinen  ursprünglichen  Charakter  als  Rede  mit  Gott  verlieren 
und  zu  einem  zauberhaft  wirksamen  Ritus  analog  den  vielen  anderen 
herabsinken. 

Der  Inhalt  des  rituellen,  gebundenen  Gebets  ist  im  Grunde  derselbe 
als  der  des  naiven,  freien  Gebets,  dessen  Erstarrungsform  es  darstellt. 
Auch  in  ihm  ist  der  Kern  die  Bitte  um  irdische  Güter,  die  Einladung 
zum  Opfer  oder  das  Gelübde.  Aber  die  Anrede  ist  viel  wortreicher, 
Huldigung  und  Lob  stehen  im  Vordergrund,  die  naiven  Mittel  der 
Überredung  treten  zurück.  Ein  besonderer  Wert  wird  auf  die  Nennung 
des  richtigen  Namens  oder  Ehrentitels  gelegt.  In  China  muß  jedes 
höhere  Wesen  von  den  Gebetsbeamten  mit  dem  rechten  Titel  benannt 
werden,  der  Himmel  heißt  ,erhaboner  Himmel',  ,hoher  Herr',  der  Ahn- 
herr , hoher  Ahn',  die  Erde  fürstliche  Erde'  usw.  28  Weil  man  in  Rom 
über  die  richtigen  Namen  und  Titel  der  Gottheit  in  Ungewißheit  war, 
so  fügte  man  der  Invokation  die  vorsichtige  Bemerkung  bei:  .,sive 
deus  es  sive  dea  es"  („magst  du  ein  Gott  sein  oder  eine  Göttin");  und 
die  aufgezählten  Namen  und  Prädikate  beschloß  man  mit  dem  Satz: 
„seu  quo  nomine  vis  appellari"  (,,oder  mit  welchen  Namen  du  sonst 
genannt  sein  willst").  29 

Eine  Eigentümlichkeit  der  komponierten  rituellen  Gebete  ist  die  An- 
rufung mehrerer  oder  vieler  höherer  Wesen  30.    Wir  treffen  sie  schon  bei 


154  f{-   Die  rituelle  Gebetsformel 

Naturvölkern,  zumal  in  den  Gebeten  der  Baronga  und  Batak,  welche  den 
Übergang  vom  naiven,  freien  zum  rituellen,  fixierten  Gebet  darstellen. 
(S.  o.  S.  128)  Wird  nach  der  Anrufung  einer  jeden  Gottheit  dieselbe 
stereotype  Formel  wiederholt,  so  nennen  wir  ein  solches  gebundenes 
Gebet  eine  Litanei.  Die  Cora-lndianer  rezitieren  solche  Litaneien  all- 
jährlich am  Fruchtbar keitsfeste.  31  Besonders  häufig  begegnen  sie  uns 
in  den  babylonischen  Bußritualen  (s.  u.  S.   175 f.). 

Das  gebundene  Gebet  ist  zumeist  das  Gebet  einer  Gruppe  —  eines 
Stammes,  einer  Stadt,  eines  Volkes  —  durch  den  Mund  ihres  priester- 
lichen Stellvertreters.  Daneben  gibt  es  solche  formelhafte  Gebete,  die 
ein  Priester  in  besonderem  Auftrage  eines  Einzelnen  verrichtet.  Wohl 
gibt  es  auch  Gebetsformeln,  die  der  Laie  spricht,  z.  B.  die  täglichen 
Gebete  (Morgen-,  Abend-  und  Tischgebet)  oder  die  regelmäßigen  Opfer- 
gebete an  die  Ahnen,  die  jeder  Hausvater  verrichtet.  :52  Aber  die  eigent- 
lichen Ritualgebete,  von  welchen  die  Opfer  oder  andere  rituelle  Hand- 
lungen begleitet  werden,  werden  nur  vom  Priester  oder  dem  als  Priester 
fungierenden  Herrscher  oder  Beamten  rezitiert.  Die  formelhaften  Gebete 
bei  den  Batak  werden  vom  Zauberer  oder  vom  Opferpriester,  bisweilen 
auch  vom  Häuptlinge  gesprochen.  33  Bei  den  Katchin  sind  die  eigent- 
lichen Gebetsformeln  Sache  des  Priesters,  der  für  Häuptling  und  Volk 
betet.  34  In  China  wie  in  der  hellenischen  Polis,  wo  ein  eigentlicher 
Priesterstand  fehlt,  werden  die  rituellen  Gebete  an  den  Festen  oder  bei 
außerordentlichen  Anlässen  von  den  Staatsbeamten  gesprochen.  Die 
Chinesen  unterscheiden  sogar  zwei  Kategorien  von  Gebetsbeamten :  den 
,großen  Beter'  und  die  ,kleinen  Beter'  entsprechend  den  großen  und 
kleinen  Opferzeremonien.  Diese  liturgischen  Ehrenämter  werden  seit 
alter  Zeit  gewissen  Staatsbeamten  ad  hoc  übertragen.  35  Im  alten  Rom 
sind  die  Ritualgebete  teils  Sache  eines  Priesterkollegiums  (pontifices, 
augures,  Salii),  teils  Sache  der  Beamten  (des  Konsuls  oder  Aedilen). 
Bei  den  feierlichen  indigitamenta  sprach  der  Pontifex  dem  Priester  oder 
Beamten,  der  indigitabat,  die  überlieferte  Formel  vor  {praeibat).  36 
Im  alten  Indien  waren  die  Brahmanen  „die  Inhaber  der  Kunst  des 
rechten  Opferns  und  Betens".  37  Als  später  das  Ritual wesen  sich  immer 
mehr  komplizierte,  wurde  das  Opfergebet  die  Aufgabe  des  adhvaryu; 
er  vollzog  die  eigentliche  Opferhandlung  und  murmelte  den  Opferspruch. 
Der  Brahmane  hingegen  überwachte  als  Oberpriester  den  korrekten 
Vollzug  der  ganzen  heiligen  Handlung.  38  Das  Beten  wird  so  zur  nüch- 
ternen Amtssache,  zum  priesterlichen  Geschäft. 

Das  Beten  ist  ursprünglich  ein  unmittelbarer  Verkehr,  Umgang,  Aus- 
tausch des  Menschen  mit  Gott.  Ist  es  aber  in  der  stereotypen  Ritual- 
formel erstarrt,  so  droht  das  Bewußtsein  der  Gegenwart  Gottes  und 
des  Kontaktes  mit  ihm  sich  zu  verlieren.  Wo  nicht  mehr  starke  Gefühls- 
regungen wirksam  sind,  schwindet  die  innere  Anteilnahme.  Die  Gebets- 
formeln werden  entweder  mit  zeremonieller  Steifheit  und  offizieller 
Kälte  rezitiert  oder  rein  mechanisch  heruntergeplappert .  Das  mechanische 
Beten  ist  seelenlos,  gedanken-  und  stimmungslos.  Der  Liturg,  der  die 
Formel  spricht,  konzentriert  seine  Aufmerksamkeit  ängstlich  darauf, 
keinen  Fehler  zu  machen,  nichts  auszulassen,  jede  Silbe  richtig  zu  be- 


B.  Die  rituelle   Gebetsformel  155 


tonen.  Die  beiwohnende  Menge  der  Laien  ist  von  frommer  Scheu  vor 
dem  Unverstandenen  und  Geheimnisvollen  erfüllt,  oft  aber  ignoriert 
sie  in  andachtsloser  Weise  den  Kultakt.  „Die  Aufmerksamkeit  der 
zuhörenden  Menge,"  sagt  Warneck  von  den  Batakopfern,  „läßt  viel 
zu  wünschen  übrig.  Andacht  ist  für  die  Wirkung  des  Opfergebetes 
nicht  erforderlich.''  39  Gilhodes  erzählt  von  den  Katchin:  Der  Priester, 
der  die  liturgischen  Gebete  spricht,  „ist  wohl  der  einzige,  der  auf  das, 
was  er  sagt,  ein  wenig  aufpaßt.  Die  Beiwohnenden  beschäftigen  sich 
mit  etwas  anderem;  die  Kinder  ergötzen  sich,  die  Erwachsenen  trinken 
Bier,  rauchen  Opium  und  unterhalten  sich".  40  Ähnliches  berichtet 
Junod  von  den  Baronga.  „Die  Gebete  an  die  Ahnen  offenbaren  nicht 
viel  religiöses  Fühlen  und  sind  in  gewisser  Hinsicht  gänzlich  frei  von 
Ehrfurcht.  Während  des  Opfers  lachen  die  Eingeborenen,  sprechen  mit 
lauter  Stimme,  tanzen,  singen  obszöne  Lieder,  unterbrechen  sogar  das 
Gebet  mit  ihren  Bemerkungen  und  beschimpfen  sich  gegenseitig  wegen 
Familienangelegenheiten.  Der  Offiziant  selbst  spricht  in  monotoner 
Weise,  gerade  nach  vorne  starrend,  in  gänzlicher  Gleichgültigkeit.  Es 
ist  nichts  in  seinem  Benehmen,  was  Ehrfurcht  oder  Respekt  verrät."  41 

Ursprünglich  ist  das  Gebet  wie  das  Opfer  ein  Mittel  des  Menschen, 
um  auf  Gott  einzuwirken  und  ihn  zur  Erfüllung  seiner  Wunsche  zu 
bestimmen.  Durch  die  Ritualisierung  und  Mechanisierung  wird  es  zu 
einer  in  sich  selbst  wertvollen  und  wirksamen  Formel.  Die  Form,  nicht 
der  Inhalt  des  Gebets  bewirkt  die  Erhörung.  Der  Beter  braucht  nur 
auf  die  korrekte  Rezitierung  der  Formel  achten,  und  er  darf  gewiß  sein, 
daß  seine  Wünsche  in  Erfüllung  gehen.  Die  innere  Anteilnahme  an  den 
Gebetsworten,  die  Stimmung  der  Ehrfurcht,  das  Abhängigkeitsgefühl, 
das  Vertrauen,  kurz  alles  seelische  Erleben  ist  nebensächlich  und  ent- 
behrlich. Die  formelle  Korrektheit  ist  die  ausschließliche,  aber  unum- 
gängliche Bedingung  für  die  Wirksamkeit  des   Gebets. 

Im  naiven  Beten  äußert  sich  stets  ein  lebendiges  soziales  Verhältnis 
zwischen  Mensch  und  Gott,  vor  allem  ein  Venvandtschaftsverhältnis. 
Wo  aber  das  Gebet  in  der  formelhaften  Gebundenheit  erstarrt  und  zu 
einem  Stück  im  festgeregelten  Sakralsystem  wird,  tritt  unvermeidlich 
eine  Erkaltung  und  Entfremdung  der  Beziehungen  ein.  An  die  Stelle 
dos  ungezwungenen  Verkehrs  mit  der  Gottheit  tritt  ein  steifes,  zere- 
monielles Form wesen.  Warneck  schreibt  von  dem  Opferkult  der  Batak: 
„Das  bunte  und  reiche  Zeremoniell  bewegt  sich  in  den  Formen,  die 
auch  die  Menschen  im  gesellschaftlichen  Leben  untereinander  beobachten. 
Denn  der  Kodex  der  Höflichkeit  und  des  guten  Tones  in  allen  Lebens- 
lagen ist  durch  Herkommen  und  Sitte  bis  ins  Einzelne  festgelegt." 
„Beobachtung  der  Sitte  ist  viel  wichtiger  als  spontaner  freier  Herzens- 
erguß." 42  Noch  steifer  ist  das  juridische  Verhältnis  zur  Gottheit,  das 
sich  im  Beten  der  Römer  so  scharf  ausprägt.  Der  Mensch  steht  zu  den 
Göttern  in  einem  Rechtsverhältnis,  in  dem  alle  Leistung  und  Gegen- 
leistung genau  abgemessen  ist.  Das  Gebet  ist  die  zur  Ritualhandlung 
gehörende  notarielle  llcchtsurkunde,  die  mit  juristischer  Sachlichkeit, 
Schärfe  und  Trockenheit  abgefaßt,  aufgezeichnet  und  von  einer  Amts- 
person verlesen  wird.     Es  ist.  wie  Wissowa  treffend  sagt,  „die  zu  jeder 


156  B.  Die  rituelle   Gebets  forme  1 


sakralen  Handlung  nötige  mündliche  Erklärung,  die  das  sakrale  Rechts- 
geschäft von  seiten  des  Sterblichen  perfekt  macht  und,  wenn  in  richtiger 
Form  abgegeben,  zugleich  die  Gottheit  in  dieses  einzutreten  zwingt." 
„Da  so  eine  Bindung  der  Gottheit  durch  den  Sterblichen  erfolgt,  kann 
man  geradezu  von  einer  ,legum  dictid'  auf  seiten  des  letzteren  reden."  43 
Dieses  durch  zeremonielle  Steifheit  oder  juristischen  Formalismus  ge- 
bundene Gebet  ist  noch  ein  wirkliches  Gebet;  es  spiegelt  noch  irdisch- 
soziale Verkehrsformen  wieder.  Der  Mensch  sucht  irdischen  Analogien 
gemäß  durch  Einhaltung  des  Höflichkeitszeremoniells  oder  durch  einen 
rechtlichen  Vertrag  die  höheren  Wesen  zu  bewegen  und  zu  zwingen, 
seinen  Wünschen  zu  willfahren.  Aber  die  Erfüllung  der  Bitte  liegt 
selbst  nach  der  römischen  Auffassung  noch  im  freien  Willen  der  Gottheit. 
„Vorausgesetzt,  daß  der  die  Handlung  vornehmende  Augur  die  richtige 
Formel  anwendet  und  bei  ihrem  Vortrag  keinerlei  Verstoß  begeht,  ist 
die  Gottheit  gehalten,  ihre  Zustimmung  ■ —  falls  sie  sie  über- 
haupt erteilen  will  —  eben  in  der  erbetenen  und  nicht  in  einer 
anderen  Form  kundzugeben"  (Wissowa).  43  Die  durch  die  Gebets- 
formel bewirkte  Bindung  der  Gottheit  ist  eine  relative,  keine  absolute. 
Aber  hier  vollzieht  sich  bereits  der  Übergang  der  Gebetsformel  in  die 
echte  Zauberformel.  Die  Gebetsformel  verliert  völlig  den  Gebets- 
charakter und  sinkt  zum  Zauberspruch  herab,  wenn  den  Gebetsworten 
eine  unfehlbare,  immanent-magische  Kraft  zugeschrieben  wird, 
durch  die  entweder  ein  absoluter  Zwang  auf  die  höheren  Wesen  aus- 
geübt wird  oder  gar  unter  Ausschaltung  jeder  Tätigkeit  der  höheren 
Wesen  der  Wunsch  des  Rezitierenden  direkt  und  automatisch  realisiert 
wird. 

Wo  das  Riten-  und  Formelwesen  um  sich  greift,  wird  das  spontane 
und  freie  Beten  des  Einzelnen  immer  mehr  zurückgedrängt.  Der  Mensch 
glaubt,  genug  getan  zu  haben,  wenn  er  die  traditionellen  Riten  vollzieht, 
die  Tabuvorschriften  beachtet  und  die  heiligen  Formeln  fleißig  rezitiert. 
Befindet  sich  jemand  in  einer  konkreten  Notlage  oder  hat  jemand  ein 
besonderes  Anliegen  auf  dem  Herzen,  so  geht  er  zum -Priester  oder 
Zauberer,  daß  er  aus  seinem  reichen  Formelschatze  eine  passende, 
kräftige  Formel  auswähle  und  an  seiner  Statt  unter  Opferdarbringung 
rezitiere.  Das  religiöse  Leben  in  seiner  unmittelbaren  Kraft  und  Unge- 
bundenheit  wird  so  unterdrückt  und  erstickt.  Die  spontanen  Äußerungen 
des  religiösen  Bewußtseins  werden  auf  ein  Minimum  reduziert.  Aber 
sterben  kann  das  freie  Gebet  nie,  weil  die  religiösen  Urgefühle  nicht 
sterben  können.  Tiefe  Nöte  und  heiße  Wünsche  geben  dem  Individuum 
immer  wieder  die  Kraft,  den  ganzen  Wust  von  Riten  und  Formeln  zu 
vergessen  und  durch  einen  leidenschaftlichen  Gebetsruf  sich  den  un- 
mittelbaren Weg  zu  Gott  zu  bahnen. 


C.  Der  Hymnus. 

j 

In  der  religiösen  Literatur  der  meisten  antiken  Völker,  der  Inder, 
Sumerer,  Babylonier,  Ägypter,  der  alten  Mexikaner  und  Peruaner 
nimmt  der  Hymnus  einen  wichtigen  Platz  ein.  Er  ist  jedoch  keine 
literarische,  sondern  eine  kultische  Größe,  ein  Stück  des  komplizierten 
Rituals,  das  den  antiken  Kulturreligionen  eigen  ist.  Seinem  Zweck  und 
seiner  Form  nach  ist  der  Hymnus  ein  Gebet;  man  redet  in  ihm  eine 
Gottheit  an,  man  wendet  sich  an  ein  höheres  Wesen,  dessen  Gunst 
man  gewinnen  will.  Und  doch  ist  der  Hymnus  etwas  anderes  als  das 
schlichte  Bitt-  oder  Dankgebet  des  naiven  Frommen,  ja  selbst  etwas 
anderes  als  die  feierliche  Gebetsformel,  die  der  Priester  bei  einer  Ritual- 
handlung spricht.  Wie  schon  die  Bedeutung  des  Wortes  Hymnus  zeigt, 
unterscheidet  sich  der  Hymnus  vom  Gebet  durch  seine  Form  wie  seinen 
Inhalt.  Er  ist  ein  Gesang,  ein  Lied,  also  ein  poetisches  Gebilde,  ein 
Gedicht,  ein  Kunstwerk.  Er  ist  weiterhin  ein  Lob-  oder  Preis  lied ; 
Klage,  Bitte,  Überredung  und  Dank  treten  zurück  hinter  dem  Lob- 
preis der  Größe  und  Macht  des  Gottes,  bisweilen  fehlen  sie  völlig.  In 
seiner  vollentwickelten  Form  ist  der  Hymnus  ein  Charakteristikum  der 
großen  antiken  Ritualreligionen ;  die  Ansätze  zum  Hymnus  finden  wir 
aber  bereits  bei  den  Naturvölkern  wie  bei  jenen  antiken  Völkern,  welche 
nicht  zur  Bildung  eines  komplizierten  Sakralsystems  fortgeschritten  sind  . 

I.  Das  primitive  Gebetslied. 

1.  Die  formalen  Elemente  des  Hymnus,  Rhythmus  und  Gleichklang, 
Parallelismus  membrorum,  Stichenbau  und  Strophengliederung  be- 
gegnen uns  bereits  in  manchen  primitiven  Gebeten. 

Ein  natürlicher  Rhythmus  schwingt  schon  in  den  kurzen,  mehrmals  wieder- 
holten Gebetsrufen,  die  wir  als  die  ursprüngliche  Form  des  Gebetes  bezeichneten. 
,, Guter  Geist,  gib  Büffel,  Büffel,  Büffel,  dicke  Büffel  gib  uns,  guter  Geist!"  1 
lautet  ein  Indianergebet.  Uralt  sind  die  beiden  früher  schon  erwähnten  Gebete 
der  Athener  an  Zeus  und  Demeter,  welche  die  Rhythmik  primitiven  Betens  gut 
veranschaulichen: 

ioov,  $001',  o)  cpü.e  Zev,  xaxä  rag  äoovoag  tag  zibi>  'A&rjvaicov. 

(,, Regne,  regne,  o  lieber  Zeus,  herab  auf  die  Fluren  der  Athener!")  2 

nXelozov  ovXov  ov'/.ov  ist-  XovXoi'  Zet. 

(Große  Garben,   Garben  schicke,   Garben  schicke!")  s 

In  vorhistorische  Zeit  reicht  wohl  das  Lied  der  römischen  Arvalbrüder  zurück: 

,,Enos,  Lases,  iuvate 

Neve  lueruern.    \[ns.   sins   incurrere  in  pleoris. 
Satur  furere,  Mars,  Urnen  sali,  sta,  Berber. 
Seniums  altemei  advocapil  cunctos, 
Enos,   Marina  r.   iuvate! 
Triumpe,  triumpe,  triumpe!"  4 


158  .01.  J)as  primitive   Gebetslied 


(„Wohlan,  Laren,  helfet! 

Laß  nicht  Seviche  und   Ruin   befallen  die  Menge! 

Sei  satt   (=   habe  genug),  Hais,  spring  über  die   Grenze,  bleib  stehen,  Berber 

(=   Mars)! 
Alle  Geister  wird  er  im  Wechselgesang  anrufen. 
Wohlan,  Marmar  (=   Mars),  hilf! 
Triumph !     Triumph !     Triumph ! " ) 

Derselbe  kräftige  Rhythmus  zeichnet  das  altgriechische  Dionysoslied  aus.  in 
dem  der  wilde  bacchantische  Gott  zum  Kommen  aufgefordert  wird: 

'EXd-Eiv,  ■iJQco  /liövvae, 
"" Hkelov  (?)  i-g  vabv  äyi'öv, 
abv  XaoiTsaoiv  ig  vaöv, 
ttp  ßoeip  jtoöi  &v<or, 
äi-ie  iavQ£,   ti^ie  tavQe.  s 
(,. Komme,  du  Held  Dionysos, 
In  den  heiligen  Tempel  von  Elis, 
Mit   den  Charitinnen  in  den  Tempel. 
Mit  dem  Stierfuß  stampfend, 
Du  edler  Stier!     Du  edier  Stier!") 
Der  Gleichklang  kommt  zur  Geltung  in  dem  althebräischen  Kultliede,  das  man 
sang,  wenn  man  die  heilige  Lade  Jahwes  mit  in  die  Schlacht  nahm  (Num  10,  35): 
qütnd,  Jahwe,  icejäpkusü    'ojebekhä  wejdnusü    mesan'ekhä  mippdnekhd. 
(„Steh  auf,  Jahwe,  daß  zerstieben  deine  Feinde  und  daß  fliehen  deine  Hasser, 
vor  deinem  Angesicht!") 

Während  in  den  kurzen  Gehetsformeln  und  Kultliedern  Rhythmus  und  Gleich- 
klang hervortreten,   zeigen  längere    Gebete   den  Parallelismus  membrorum  und 
Strophen.  Als  erstes  Beispiel  diene  das  Gebet  der  Kekchiindianer  vor  der  Maisernte 
..Du  o   Gott,  du  mein  Herr, 
du  meine  Mutter,  du  mein  Vater, 
du  Herr  von  Berg  und  Tal. 

Jetzt  und  ebenso  in  drei  Sonnen,  in  drei  Tagen 

werde  ich  beginnen  mit  dem  Zusammenlesen  meines  Maises 

vor  deinem  Mund,  vor  deinem  Angesicht, 

du  Herr  der  Berge  und  Täler, 

zeig  ihn  mir  also  vor  meinem  Leib,  vor  meiner  Seele. 

Ein  klein  wenig  deines  Essens,  deines  Trinkens  gebe  ich  dir; 

es  ist  (fast)  nichts,  was  ich  dir  gebe: 

aber  ich  habe  Vieles  und  Gutes 

von  meinem  Essen,  meinem  Trinken; 

du  hast  es  gezeigt  meiner  Seele,  meinem  Leibe, 

du  meine  Mutter,  du  mein  Vater. 

Ich   fange  also  mit  dem  Ernten  an, 

ich  werde  aber  heute  nicht  mit  dem  Ernten  fertig 

vor  deinem  Munde,  vor  deinem  Angesichte. 

Wer  weiß,  wie  viele  Sonnen,  wie  viele  Tage  ich  ernte; 
es  geht  nicht  schnell  im  Unkraute  zusammenzusuchen, 
ich  vollbringe  es  wohl  nur  langsam. 

Wer  weiß,  bis  wann  ich  zu  dir  sprechen  kann, 
du  meine  Mutter,  du  mein  Vater, 
du  Engel,  Herr  der  Berge  und  Täler. 

Ich  werde  wieder  zu  dir  beten, 
warum  denn  nicht,  du  mein  Gott."6 

Noch  schärfer  ist  der   Parallelismus   der    Glieder  in   manchen   Opfergebeten   der 
Batak  durchgeführt. 


Ol.   Das  primitive  Gebetslied  (Form)  159 

..Eines   Sinnes  mit  unserem   Großvater,    dem  großen   Gott, 
der  den  Leib  bildet,  der  die  Brust  breit   macht, 

der  die  Waden  feist  macht.  der  die  Finger  schlank  macht, 

der  den  Kopf  rund  macht,  hell  das  Auge,  hörend  das  Ohr, 

Hörend  sei  dein   Ohr,  hell  dein  Auge, 

uns  zu  bewachen,  daß  wir  gesund   und  wohlauf. 

Gib  uns  doch  Söhne,  die  kriegerisch,      Männer  des  Rats  und  Vorkämpfer. 

Gib  uns  Töchter,  die  da  kochen  können     einen  großen  Topf, 

die  geschickt  sind   zu  weben,  willig  zu  schenken. 

Zahlreich  sind  die  Sterne,  es  ballen  sich  die  Wolken, 

So  seien  die   Söhne  zahlreich  und  mögen  sich  mehren  die  Töchter."  7 

Religiöse  Innigkeit  und  poetische  Schönheit  vereint  das  folgende  Khoikhoigebet, 
das  an  den  Urvater  und  Himmelsgott  Tsuigoa  gerichtet  ist.  Mit  Recht  bemerkt 
Max  Müller,  daß  es  „kaum  tiefer  steht  als  manche  Hymnen  des  Veda  und 
Avesta". 

..Du,  o  Tsuigoa, 

du   Vater  der  Väter, 

du  bist  unser  Vater. 

Laß  die  Donnerwolke  strömen, 
Laß  unsere  Herden  leben, 
laß  uns  leben! 

Fürwahr,  ich  bin  gar  schwach 

vor  Durst,  vor  Hunger. 

O  daß  ich  doch  die  Früchte  des  Feldes  essen  möchte! 

Bist  du  nicht  unser  Vater, 
der  Vater  der   Väter, 
du  Tsuigoa  ? 

O  daß  wir  dich  preisen  mögen! 

()  daß  wir  dir  wieder  zurückgeben  mögen! 

Du   Vater  der  Väter, 
du,  o  Herr, 

du  Tsuigoa."  8 

Dem  poetischen  Charakter  entsprechend,  werden  diese  hymnenartigen 
Gebete  vielfach  gesungen.  So  tragen  die  Khoikhoi  ihre  Gebetslieder 
zu  Ehren  der  Urväter  Tsuigoa  und  Heitsieibib  wie  des  Neumondes 
singend  und  tanzend  unter  Begleitung  einer  primitiven  Schilfrohrmusik 
vor.  9  Auch  von  anderen  Bantustämmen  ist  dies  bezeugt.  So  schreibt 
Bischof  Le  Roy:  ,,Die  Bantu  haben  Hymnen  und  Gesänge,  die  von 
Tanz  und  Musik  bagleitet  werden.  Diese  Tänze  werden  meist  nachts 
bei  Mondschein  aufgeführt,  bei  Tag  in  großen  Hütten.  Die  Hymnen 
müssen  sehr  alt  sein,  ihr  Sinn  ist  uns  heute  bisweilen  unverständlich; 
übrigens  geben  sich  die  Neger,  die  die  Tänze  aufführen,  offensichtlich 
selbst  wenig  Mühe  sie  zu  verstehen.  In  der  außerordentlichen  Exaltation, 
in  der  sie  sich  befinden,  sind  sie  vor  allem  bestrebt,  den  Rhythmus 
einzuhalten  und  die  Melodie;  zu  beachten.  Die  meisten  dieser  mit  Leiden- 
schaft und  Überzeugung  wiederholten  Gesten  sind  in  ihrer  Einfachheit 
und  wilden  Energie  äußerst  eindrucksvoll  und  bilden  unvergeßliche 
Szenen  für  den,  der  ihr  Zeuge  war."  10 


160  C  I.   Das  primitive   Gebetslied 


2.  Aber  nicht  nur  die  poetische  Form  und  die  Art  des  Vortrags  zeigen 
die  Annäherung  dieser  Gebete  und  Lieder  an  die  antiken  Kulthymnen, 
auch  der  Inhalt  weist  häufig  hymnische  Elemente  auf.  Der  Lobpreis, 
der  in  den  primitiven  Gebeten  nur  zur  Unterstützung  der  Bitte  dient, 
tritt  stärker  hervor.  Enthusiastische  Jubelrufe  bilden  den  wirkungs- 
vollen Abschluß  des  griechischen  Dionysosliedes  wie  des  altitalischen 
Liedes  der  Arvalbrüder.  Zahlreiche  Batakgebete  häufen  die  ehrenden 
Epitheta  des  Gottes,  in  welchen  seine  Macht  und  sein  Wirken  geschildert 
wird,  genau  so  wie  es  in  den  antiken  Kulthymnen  geschieht. 
„Beschütze  uns,   Großvater,  uns  zu  schirmen. 

Muladjadi,  der   Große,  Ursprung  der  Macht,  Ursprung  der  Schöpfung, 
der  da  breitschlägt  den  Schädel,  aushöhlt  das  Ohr,  rund  macht  das  Herz, 
ausbreitet  die  Leber,  auseinanderspaltet  die  Finger." 
Ein  anderes  Opfergebet  beginnt  mit  dem  schwulstigen  Lobpreis: 

,, Großvater!     Du  bist  es  also, 

Der  aufhebt  und  es  blitzt, 

Der  sich  herumdreht  und  es  kommt  Wind. 

Der  sich  wendet  und  es  kommt  Erdbeben,  .  .  . 

Der  Niederlage  bewirkt. 

Du  bist  also  der  Großvater, 

Der  Gras  als  Haare,  Bäume  als  Rippen, 

Steine  als  Knochen,  Lehm  als  Fleisch  hat. 

Du  bist  also  der  Ursprung  des  Grases, 

Ursprung  des  Rotang,  Ursprung  der  Schlingpflanze."  n 
Hier  treffen  wir  bereits  die  breite,  schwerfällige  und  dunkle  Ausdrucks- 
weise, die  unlebendige  und  langweilige  ,Poesie',  die  uns  in  dem  größten 
Teil  der  vedischen,  assyrischen  und  ägyptischen  Hymnen  entgegenstarrt. 
Die  wesentlichen  formalen  und  materiellen  Elemente  des  Hymnus 
lassen  sich  schon  in  den  Gebeten  und  Gebetsformeln  primitiver  Völker 
herausstellen.  Gleichwohl  können  wir  hier  nur  von  Ansätzen  zum 
eigentlichen  Hymnus  reden.  Alle  angeführten  Beispiele  —  die  letzten 
abgesehen  —  sind  echte  Gebete,  in  ihrem  Zentrum  steht  die  Bitte,  der 
Lobpreis  ist  nicht  der  Hauptinhalt,  sondern  bildet  nur  Umrahmung  dei 
Bitte.  Auch  ist  der  formale  Unterschied  dieser  Gebete  von  der  freien 
Sprechsprache  des  Alltags  zu  gering,  als  daß  wir  sie  als  Gebetspoesie 
scharf  von  der  Gebetsprosa  trennen  körinen.  Was  uns  in  den  Gebeten 
von  Naturvölkern  als  poetisch  eischeint,  findet  sich  auch  in  der  ge- 
wöhnlichen Umgangssprache  dieser  Stämme.  Die  Eigentümlichkeit 
der  Kekchigebete,  einen  bestimmten  Gedanken  in  einem  zweiten  er- 
klärenden Sätzchen  mit  anderen  Worten  zu  wiederholen,  bemerkt  man 
auch  in  der  Umgangssprache  dieses  Indianerstammes  12.  Aus  den  Batak- 
gebeten  „klingt  die  ganze  angeborene  Redegewandtheit  des  Batak  und 
seine  Vorliebe  für  wohlklingende  Wendungen.  Parallelismen,  Allite- 
rationen, Häufung  von  Synonymen  und  Wortspielen."  13  Dieser  Um- 
stand weist  darauf  hin,  daß  die  hymnenartigen  Gebete  primitiver  Völker 
im  Gegensatz  zu  den  antiken  Hymnen  nicht  das  Werk  bewußt  schaffender 
Dichter-Priester  sind,  sie  sind  vielmehr  teils  Gelegenheitsgedichte,  von 
dichterisch  begabten  Individuen  improvisierte  Rezitative,  wie  die  Batak- 
gebete; teils  sind  sie  überhaupt  nicht  das  Produkt  dichtender  Individuen, 
sondern  nur  eine  Erweiterung  und  poetische  Gestaltung  überlieferter 
Gebetsworte.     Der  Kern  des  angeführten  Dionysosliedes  ist  der  kurze 


C  II.     Der  priesterliche  Kult-  und  Beschwörungshymnus  161 


Refrain:  a^is  ravQE.  Dieser  exstatische  Jubelruf,  hervorgestoßen  vom 
Chor  der  trunkenen  Bachantinnen,  und  die  kurze  Einladung,  die  ihm 
vorausging  (ild-elv),  wurden  miteinander  verbunden  und  zu  einem 
poetischen  Gebilde  erweitert.  So  entstand  aus  dem  orgiastischen  Toben 
gottrunkener  Weiber  ein  kunstvolles  Kultlied,  das  ein  Chor  sang.  Aber 
nicht  eine  individuelle  Dichterpersönlichkeit  hat  aus  diesen  enthusiasti- 
schen Rufen  bewußt  und  absichtlich  ein  Gedicht  geschaffen,  die  Fort- 
bildung und  Umgestaltung  der  ursprünglichen  Gebetsworte  zum  hymnen- 
artigen Lied  erfolgte  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  spontan  und  un- 
bewußt durch  die  Mitwirkung  vieler  Individuen.  Die  freien  und  unge- 
bundenen Worte  werden  rhythmisiert,  besser  gesagt,  der  natürliche 
Rhythmus,  der  den  kurzen,  mehrmals  wiederholten  Gebetsrufen  eigen 
ist,  wird  zum  kunstmäßigen  Rhythmus  gesteigert.  Träger  dieses  Ent- 
wicklungsprozesses ist  nicht  ein  Individuum,  sondern  eine  Mehrheit  von 
Individuen  —  in  diesem  Punkte  behält  Wundts  völkerpsychologischer 
Grundgedanke  sein  Recht.  Alle  diese  Momente  zwingen  zu  der  Fest- 
stellung, daß  auf  einer  primitiven  Religionsstufe  von  eigentlichen 
Hymnen  nicht  geredet  werden  kann,  sondern  nur  von  Ansätzen  zum 
Hymnus,  wie  sie  im  einfachen  Kultlied  und  im  poetischen  Gebet  vor- 
liegen. 

II.    Der   priesterliche    Kult-   und  Beschwörungshymnus. 
1.  Vorbemerkungen. 

Die  entwickelte  Hymnenpoesie  ist  eines  der  typischen  Merkmale  der 
großen  antiken  Kulturreligionen.  Die  antiken  Kulturreligionen  stellen 
den  zweiten  großen  Typ  der  Religion  dar.  Die  Wurzel,  der  sie  ent- 
sprossen sind,  ist  die  primitive  Religion.  Ja  man  kann  sagen,  daß  sie 
in  ihrem  Wesen  selbst  nichts  anderes  sind  als  primitive  Religion;  denn 
sie  enthalten  dieser  gegenüber  kein  wesentlich  neues  Element.  Die 
Elemente  der  primitiven  Religion  sind  nicht  nach  der  Höhe  und  Tiefe, 
sondern  nur  nach  der  Breite  fortgebildet.  Der  Fortschritt  der  materiellen 
Kultur  bringt  es  mit  sich,  daß  auch  die  religiösen  Vorstellungen  und 
Riten  reicher,  mannigfaltiger  und  prächtiger  werden.  Die  antiken 
Religionen  sind  nicht  mehr  Stammesreligionen,  sondern  National 
religionen,  getragen  von  einer  umfassenden  Staatsorganisation.  Die 
Verbindung  zahlreicher  Stämme  und  Städte  zu  einem  einheitlichen 
Reiche  bedingt  eine  Vermengung  der  verschiedenen  Stammes-  und 
Stadtkulte,  einen  Synkretismus  der  Göttervorstellungen  wie  der  Riten. 
Das  Ritual  nimmt  gewaltige  Dimensionen  an  und  wird  von  äußerem 
Glanz  umgeben.  Das  Opferwesen  tritt  in  den  Mittelpunkt  des  Kults, 
die  Kathartik  wird  immer  mehr  ausgedehnt.  Es  entsteht  ein  kompli- 
ziertes, bis  ins  Detail  geregeltes  Sakralsystem,  dessen  sorgsame  Be- 
obachtung als  unerläßlich  für  das  Heil  des  Landes  betrachtet  wird. 
Prunkvolle  Tempelbauten  dienen  als  Götterpaläste  und  als  Kultstätten. 
Der  Wohnsitz  der  großen  Götter  sind  nicht  mehr  Naturobjekte  und 
rohe  Fetische,  sondern  künstlerische  Idole  von  überwiegend  anthro- 
pomorphem  Charakter.    Eine  kastenartig  organisierte  Priesterschaft  be- 

Das  Gebet  11 


162  C  II.  Der   priesterliche  Kult-  und  Beschwörungshymnus 

sorgt  den  Kultus;  sie  ist  bestrebt,  das  Ritual  zu  erweitern  und  erläutern; 
theologische,  kosmogonische  und  astrologische  Spekulation  blüht  neben 
der  liturgischen  Rubrizistik.  Divination,  Orakelkunst  und  Magie  wird 
von  den  Priestern  emsig  gepflegt  und  mit  dem  Kult  aufs  engste  ver- 
quickt. Im  Wüste  dieses  Zauberwesens  droht  die  Religion  schließlich 
erstickt  zu  werden.  Die  antiken  Ritual-  und  Priesterreligionen  besitzen 
keine  schöpferischen,  aufwärts  treibenden  religiösen  Kräfte,  ihr  immer 
in  die  Breite  wuchernder  Synkretismus  trägt  den  Keim  des  Zerfalls  in 
sich.  Religionsgeschichtlich  betrachtet,  sind  die  antiken  Priester- 
religionen kein  Fortschritts-,  sondern  ein  Dekadenzphänomen ;  trotz 
alles  äußeren  Prunkes  sind  sie  das  Produkt  eines  umfassenden  Ver- 
kümmerungsprozesses. Eingesetzt  hat  dieser  Degenerationsprozeß  bei 
den  Naturvölkern,  aber  in  den  antiken  Kulturreichen  ist  er  zu  Ende 
geführt  worden.  Wo  sich  lebendige  religiöse  Kräfte  in  ihnen  regten, 
erfolgte  eine  innere  Loslösung  von  der  offiziellen  Kultreligion;  dann 
erhob  sich  pantheistische  Spekulation,  ästhetische  Naturbetrachtung 
oder  asketisch-mystisches  Heilsstreben  über  das  verworrene  System  der 
Mythen  und  Riten. 

In  vier  Gebieten  entwickelte  sich  aus  primitiven  Stammeskulten 
ein  ausgedehntes  Sakral wesen :  in  Indien  und  Mittelamerika,  am  Nil  wie 
im  Zweiströmeland.  Die  vorkolumbische  mexikanisch-peruanische,  die 
ägyptische,  die  sumerisch-babylonisch-assyrische  und  die  vedisch- 
brahmanische  Religion  sind  die  großen  Priester-  und  Ritualreligionen. 
Sie  alle  besitzen  eine  umfassende  Ritualliteratur,  die  Schöpfung  ihrer 
Priesterschulen.  Die  Religionen  anderer  antiker  Völker,  der  Italer, 
Kelten  und  Germanen,  der  Kappadokier  und  Phöniker  erheben  sich 
zwar  über  das  Niveau  der  primitiven  Religion  und  nähern  sich  dem 
Typ  der  priesterlichen  Ritualreligion.  Aber  ihr  Kultwesen  ist  doch  zu 
einfach,  ihre  Ritualliteratur  zu  rudimentär,  als  daß  wir  sie  wie  jene 
Religionen  als  Ritualreligionen  charakterisieren  könnten.  Die  alt- 
griechische wie  die  altchinesische  Religion  haben  manche  Züge  mit  den 
typischen  Ritualreligionen  gemeinsam.  Die  Göttervorstellungen,  die 
Mythen,  die  Opferriten,  die  kultischen  Zeremonien  zeigen  mannigfache 
Berührungspunkte  mit  jenen.  Aber  der  Unterschied  ist  zu  gewaltig, 
als  daß  wir  diese  beiden  Religionen  jenem  Typ  zurechnen  könnten. 
Vor  allem  ist  in  ihnen  der  Zusammenhang  mit  der  primitiven  Religion 
viel  enger  als  bei  jenen;  die  primitiven  Riten  haben  in  China  wie  in 
Griechenland  viel  mehr  ihre  ursprüngliche  Einfachheit  bewahrt  als  in 
Indien,  Babylonien  oder  Ägypten.  Der  Hauptgrund  hierfür  ist  das 
Fehlen  einer  organisierten  Priesterkaste.  In  Griechenland  waren  die 
Priester  Staatsbeamte,  in  China  die  Staatsbeamten  Priester.  Eben 
deshalb,  weil  ein  festgeschlossener  Priesterstand  fehlte,  war  hier  wie 
dort  die  Entstehung  eines  komplizierten  Sakralsystems  und  einer  aus- 
gedehnten Ritualliteratur  unmöglich.  Die  griechische  wie  die  chinesische 
Religion  blieben  vor  aller  mythologischen  und  ritualistischen  Verworren- 
heit bewahrt;  beide  besaßen  die  Möglichkeit,  ohne  gewaltsamen  Bruch 
oder  negative  Reaktion  gegen  das  Erbe  der  Vergangenheit  zu  höheren 
religiösen  Vorstellungen  fortzuschreiten. 


1.  Vorbemerkungen  163 


Ein  Stück  der  ausgebreiteten  antiken  Ritualliteratur  bilden  die 
Hymnen.  Die  Hymnenpoesie  begegnet  uns  in  ähnlichen  Formen  in 
der  altmexikanischen 14  und  altperuanischen  Religion,  in  der  ägyp- 
tischen, 15  der  sumerisch-babylonisch-assyrischen 16  und  der  vedisch- 
brahmanischen  Religion.  17  In  der  italischen  wie  in  der  althebräischen 
Religion  scheint  die  Hymnenpoesie  nicht  über  das  einfache  Kult-  und 
Gebetslied  hinausgekommen  zu  sein.  Auch  die  religiöse  Poesie  der 
Chinesen  und  Griechen  kann  nicht  auf  eine  Stufe  mit  der  Hymnen- 
dichtung der  genannten  Völker  gestellt  werden.  Die  religiösen  Oden, 
die  im  4.  Buche  des  kanonische  Gültigkeit  besitzenden  Schi-King  (,Buch 
der  Lieder')  gesammelt  sind,  tragen  einen  gewissen  weltlichen  Anstrich; 
der  Gebetscharakter  ist  völlig  verwischt,  sie  unterscheiden  sich  von 
den  Hymnen  des  Rigveda  ebenso  sehr  wie  der  kanonische  Li-Ki  (,Buch 
der  Zeremonien')  von  den  vedischen  Brähmana.  Die  Hymnenpoesie 
der  Griechen 18  bewegt  sich,  soweit  sie  liturgischen  Zwecken  dient, 
größtenteils  in  den  Bahnen  des  schlichten  Kultliedes;  soweit  sie  wirk- 
liche Hymnen  p  o  e  s  i  e  ist,  ist  sie  meist  literarisch,  dient  nicht  den 
praktischen  Zwecken  des  Kults;  auch  überragt  sie  an  religiöser  Tiefe 
und  dichterischer  Kraft  weit  die  orientalische  Ritualdichtung.  Zum 
Typ  des  antiken  Kulthymnus  sind  hingegen  die  avestischen  Gesänge 
(  Yasna)  zu  zählen.  Zwar  ist  der  avestische  Mazdaismus  analog  der 
nachexilisch- jüdischen  Religion  eine  aus  einer  prophetischen  Offen- 
barungsreligion entsprungene  Gesetzesreligion;  aber  ungleich  mehr  wie 
das  Judentum  hat  sich  der  spätere  Zoroastrismus  in  der  Gottesvorstellung 
im  Opferkult,  im  Taburitual  und  auch  in  der  liturgischen  Poesie  der 
antiken  Ritualreligion  genähert. 

Als  die  Hymnen  des  Rigveda  vor  fünfzig  Jahren  dem  Verständnis  des 
Abendlandes  erschlossen  worden  waren,  berauschte  man  sich  an  der 
Gottbegeisterung  dieser  Sänger  und  an  dem  dichterischen  Schwung  ihrer 
Lieder;  man  entdeckte  in  ihnen  die  religiöse  und  poetische  Blüte  eines 
jugendfrischen  Volkes;  man  bewunderte  ebenso  die  erhabenen  Gottes- 
vorstellungen, die  einen  urwüchsigen  Monotheismus  zu  enthalten 
schienen,  wie  die  künstlerische  Gestaltungskraft,  die  einer  phantasie- 
vollen Naturbetrachtung  entsprungen  schien.  Als  dann  die  in  Keil- 
schrift auf  Tontäfelchen  eingegrabenen  Hymnen  und  Klagelieder  der 
Babylonier  aus  dem  Schutt  uralter  Tempelbibliotheken  ans  Licht  ge- 
bracht und  enträtselt  wurden,  da  glaubte  man  die.  Vorlage  der  israe- 
litischen Psalmen  gefunden  zu  haben,  das  hehre  Urbild  jener  Preis- 
gesänge, Bitt-  und  Dankgebete  und  Bußlieder,  die  noch  heute  in  den 
christlichen  Kirchen  erklingen  und  in  christlichen  Herzen  widerhallen. 
Aber  die  neuere  literar-  und  religionsgeschichtliche  Forschung  hat 
mit  rauher  Hand  den  romantischen  Nimbus  zerstört,  mit  dem  die  Be- 
geisterung der  Entdecker  die  vedische  und  assyrische  Hymnendichtung 
umgeben  hatte.  Sie  hat  es  als  unzweifelhaft  herausgestellt,  daß  die 
Masse  der  altindischen,  altägyptischen  und  altbabylonischen  Hymnen 
weder  religiöse  Poesie  noch  Naturpoesie  ist,  sondern  priesterliche  Ritual- 
dichtung; sie  entstammen  nicht  der  drängenden  Leidenschaft  schöpfe- 
rischer, religiöser  oder  dichterischer  Genien,  sondern  sind  das  absieht- 


164  C  II.   Der  priesterliche  Kult-  und  Beschwörungshymnus 

liehe  Werk  dichtender  Priester,  welche  kunstvoll  aufgeputzte  Texte 
zur  Rezitation  bei  Ritualhandlungen  und  Beschwörungen  verfertigten. 

2.  Zweck. 
Der  antike  Hymnus  ist  K  u  1 1  hymnus ;  er  ist  nicht  wie  der  literarische 
Hymnus,  die  religiöse  Ode,  die  wir  später  kennen  lernen  werden,  Selbst- 
zweck, sondern  —  wie  ursprünglich  alle  Kunst  —  Mittel  zum  Zweck;  er 
ist  geschaffen  für  praktische  rituelle  Zwecke.  Wie  in  der  primitiven 
Religion  jedes  Opfer  von  einem  Gebet  begleitet  wird,  so  wird  in  den 
antiken  Religionen  jeder  feierliche  rituelle  Akt,  sei  es  nun  eine  Opfer- 
darbringung,  eine  Weihehandlung,  eine  Prozession,  eine  Reinigungs- 
zeremonie, eine  Sühnehandlung,  ja  selbst  eine  Beschwörung,  durch  die 
Rezitation  eines  Hymnus  begleitet.  Die  ägyptischen  Hymnen  waren, 
wie  Wiedemann  feststellt,  „dazu  bestimmt,  mehrfach  Verwendung  zu 
finden  und  im  Verlaufe  der  kultischen  Handlungen  oder  Zaubervoll- 
ziehung regelmäßig  vorgetragen  zu  werden".  19  Die  in  den  Pyramiden- 
texten eingefügten  Hymnen  gehören  nach  der  Meinung  Breasteds  zu 
alten  Tempelritualen.  20  Nicht  wenige  ägyptische  Hymnen  sind  zu  dem 
Zwecke  gedichtet,  um  von  den  Toten  rezitiert  zu  werden;  man  legt 
sie  ihnen  in  den  Sarg  oder  schreibt  sie  an  die  Wände  ihrer  Grabkammern, 
auf  daß  sie  durch  diese  Preis-  und  Gebetsgesänge  das  Herz  der  Götter 
gewinnen  und  so  ein  glückliches  Leben  in  der  anderen  Welt  sich  sichern 
mögen.  21  Die  babylonischen  Hymnen  sind  nach  Zimmern  „als  be- 
gleitende Gebete  bei  Opfern  und  sonstigen  Kulthandlungen  aufzu- 
fassen"; 22  ihr  Zweck  ist,  wie  Otto  Weber  sich  ausdrückt,  „ein  rein 
liturgischer,  gottesdienstlicher;  sie  sind  Bestandteile  des  Rituals";  „sie 
erweisen  sich  ihrem  Inhalt  nach  deutlich  als  Festhymnen,  dazu  be- 
stimmt, bei  Götterfesten,  vornehmlich  dem  Neujahrsfest  vorgetragen 
zu  werden."  23  Auch  die  babylonischen  Bußpsalmen  sind  nicht  indi- 
viduelle religiöse  Ergüsse,  sondern  ein  Stück  des  Rituals,  verbunden 
mit  Reinigungs-,  Sühne-  und  Beschwörungszeremonien.  Dieses  Klage- 
und  Sühneritual  war  „ursprünglich  für  öffentliche  Anlässe  und  sodann 
für  die  Herrscher  bestimmt",  später  wurde  es  auch  in  den  privaten 
Nöten  einzelner  Menschen  angewendet.  24  Die  vedischen  Hymnen 
werden  von  Oldenberg  als  „liturgische  Poesie"  charakterisiert;  sie  sind 
„Opfergesänge  und  Litaneien,  mit  welchen  die  Priester  der  vedischen 
Arier  auf  tempellosem  Opferplatz,  an  den  rasenumstreuten  Opferfeuern 
ihre  Götter  anriefen;"  der  Sänger  des  Rigveda  „dichtet  in  altererbter 
Weise  für  die  Opferfeiern,  vor  allem  für  das  große  und  prunkvolle  Soma- 
opfer".  25  Ebenso  haben  die  altmexikanischen  Hymnen  eine  praktisch- 
kultische Zweckbestimmung;  sie  werden  zum  größten  Teil  bei  den 
großen  Götterfesten  vorgetragen.  *26  Auch  die  theogonischen  und  kos- 
mogonischen  Epen  der  antiken  Völker,  die,  wie  Wundt  treffend  bemerkt 
hat 27,  nicht  als  selbständige  Mythen  entstanden,  sondern  aus  der 
Hymnenpoesie  herausgewachsen  sind,  dienen  wie  die  Hymnen  kultischen 
Zwecken.  Die  kosmogonischen  Hymnen  des  Rigveda  wurden,  wie  aus 
dem  Text  erschlossen  werden  kann,  beim  Opfer  reduziert.  Die  baby- 
lonisch-assyrischen Mythen  waren  feste  Bestandteile  des  Rituals.    Das 


2.  Zweck  —  3.  Verfasser  165 

babylonische  Weltschöpfungsepos  mußte  beim  Wiederaufbau  eines 
Tempels  vorgetragen  werden ;  das  Epos  von  Ischtars  Hadesfahrt  wurde 
am  Tammuzfeste  im  Zusammenhang  mit  einem  Totenweihopfer  von 
einem  Priester  rezitiert.  28  So  ist  das  mythische  Epos  wie  der  Hymnus 
zur  Ritualliteratur  zu  zählen. 

3.  Verfasser. 

Der  Hymnus  ist  im  Unterschied  vom  naiven  Gebet  kein  spontaner 
und  freier  Herzenserguß  in  der  Not  oder  im  Glück,  auch  nicht  eine 
gebundene  Gebetsformel,  in  der  ehedem  freie  Gebetsworte  sich  kristal- 
lisiert haben ;  er  stellt  auch  nicht  wie  das  Kultlied  eine  bloße  Rhythmi- 
sierung und  Versifizierung  eines  Prosagebets  dar.  Der  Hymnus  ist  viel- 
mehr von  individuellen  Persönlichkeiten  absichtlich  ersonnen,  will- 
kürlich verfaßt,  künstlich  komponiert.  Der  Dichter  hat,  wie  ein  treffendes 
Bild  wort  des  Rigveda  sagt,  das  Lied  „gezimmert  wie  ein  geschickter 
Werkmeister  einen  Streitwagen";  er  hat  es  sorgsam  geprüft,  von  allen 
Kunstfehlern  befreit,  „wie  man  Korn  mit  der  Schwinge  reinigt".  29  So 
ist  der  Hymnus  ein  Elaborat,  ein  Dichtwerk,  ein  Kunstprodukt.  Die 
Verfasser  der  Hymnen  sind  jene  Männer,  denen  die  Regelung  und  Aus- 
führung des  gesamten  Kultwesens  obliegt,  die  Priester.  „Nur  in  den 
engen  und  abgeschlossenen  Kreisen  priesterlicher  Opfertechnik  konnte 
eine  solche  Poesie  entstehen"  (Oldenberg).  30  Nur  Priester  besitzen 
eine  solche  Vertrautheit  mit  dem  komplizierten,  theologischen,  mytho- 
logischen und  liturgischen  System,  das  den  Hymnen  zugrunde  liegt. 
Während  das  Kultlied  Volksdichtung  ist,  ist  der  Hymnus  Priester- 
dichtung. Die  Dichterpersönlichkeiten,  welche  die  Hymnen  geschaffen 
haben,  nennen  sich  fast  nie  mit  Namen.  Nur  in  dem  Rigveda  ist  öfters 
von  Familien  und  Geschlechtern  wie  denen  des  Vasishtha  und  Vicvämitra 
die  Rede,  in  welchen  die  Sängerkunst  erblich  war.  31  Wir  dringen  darum 
niemals  zu  der  Persönlichkeit  des  Dichters  vor;  alle  antiken  Hymnen 
sind  für  uns  unpersönliche,  literarische  Dokumente.  32 

Nicht  nur  der  Dichter  der  Hymnen,  sondern  auch  die  Vortragenden 
sind  Priester.  Während  das  Gebets-  und  Kultlied  von  einem  Laienchor 
gesungen  wird,  wird  der  Kulthymnus  von  einem  Priester  rezitiert  oder 
gesungen.  Im  brahmanischen  Opferwesen  ist  es  der  hotr  (,Anrufer'), 
der  die  rcas,  die  Lobgesänge  des  Rigveda,  vorträgt,  während  der  udgdtr 
(, Sänger')  bestimmte  rigvedische  Verse,  die  im  Sämaveda  zusammen- 
gestellt sind,  nach  einer  bestimmten  Melodie  singt.  88  Ob  die  altägyp- 
tischen  Hymnen  vom  Priester  gesprochen,  gesungen  oder  melodramatisch- 
rezitiert wurden,  ist  nicht  festgestellt.  34  Wir  wissen  nur,  daß  in  den 
ägyptischen  Isismysterien  zu  Rom  beim  täglichen  Gottesdienst  die 
Hymnen  vom  Priester  angestimmt  und  von  Flötenspielern  begleitet 
wurden.  35  Die  babylonischen  Kulthymnen  wurden  von  einem  Priester 
bzw.  Priesterchor  unter  Musikbegleitung  vorgetragen,  wie  schon  aus 
der  stehenden  Bezeichnung  er-sem-ma  (semitisch  sigü  hal-hallati) , 
,Flötenpsalm'  zu  schließen  ist.  3ß  Welche  Musikinstrumente  beim 
Hymnen  Vortrag  Verwendung  fanden,  verrät  ein  alter  Text,  in  dem  es 
heißt:  „Die  Liturgen  sollen  eine  Melodie  zur  Lyra  singen ;  zu  der  heiligen 


166  C  II.    Der  priesterliche  Kult-    und  Beschwörungshymnus 

Trommel  und  zum  heiligen  Tamburin  sollen  sie  singen ;  zu  der  Doppelflöte 
und  zur  Sackpfeife  sollen  sie  singen."  37  Im  Gegensatz  zu  den  Kult- 
hymnen wurden  die  Beschwörungshymnen  ohne  begleitende  Musik 
heruntergesagt.  38 

Neben  der  Auffassung  und  Rezitation  der  Hymnen  obliegt  als  dritte 
Aufgabe  den  Priestern  die  treue  Überlieferung  der  komponierten  und 
durch  den  rituellen  Gebrauch  geheiligten  Hymnen.  Der  Brahmanen- 
schüler  mußte  all  die  überlieferten  Texte  aufs  Wort  auswendig  lernen. 
In  den  assyrischen  und  babylonischen  Priesterschulen  wurden  die 
uralten  Preisgesänge  und  Klagelieder  immer  wieder  sorgfältig  abge- 
schrieben und  nur  unbedeutende  Änderungen  an  ihnen  vorgenommen. 
Wir  treffen  gelegentlich  einen  Hymnus  in  drei  Abschriften',  von  denen 
die  erste  aus  dem  dritten  Jahrhundert,  die  zweite  aus  der  Bibliothek 
Assurbanipals,  die  dritte  aus  der  Asarzidenzeit  stammt  —  ein  Beispiel 
dafür,  mit  welch  sklavischer  Treue  die  Hymnen  von  den  Priestern 
durch  zwei  Jahrtausende  hindurch  überliefert  wurden.  39  Nachdem 
sich  im  Laufe  der  Zeiten  eine  große  Masse  von  Gesängen  angehäuft 
hatte,  ordneten  die  Priester  die  Hymnen  unter  bestimmten  Gesichts- 
punkten. So  sind  die  rigvedischen  Hymnen  in  mandala  („Kreise") 
eingeteilt.  In  ähnlicher  Weise  sind  die  Hymnen  der  babylonischen 
Tempelbibliotheken  zu  , Serien'  zusammengestellt.  Diese  Systemati- 
sierung dürfte  vor  allem  aus  den  liturgischen  Bedürfnissen  hervor- 
gegangen sein.  40  Nach  Langdons  Hypothese  erfolgte  die  Klassifikation 
der  babylonischen  Hymnen  nach  dem  Musikinstrument,  das  zur  Be- 
gleitung beim  Vortrag  diente.  41 

4.  For  m. 
Vergleichen  wir  die  einzelnen  Hymnen  der  verschiedenen  Ritual- 
religionen miteinander,  so  fällt  uns  sogleich  ihre  durchgängig  stereotype, 
schematische  Form  auf.  Es  enthüllt  sich  in  ihnen  nicht  eine  Mannig- 
faltigkeit scharf  ausgeprägter  Individualitäten,  sondern  ein  starres, 
rituelles  Schema.  Dieser  unpersönliche  Zug  der  antiken  Hymnen  ent- 
spricht durchaus  der  Anonymität  der  Verfasser.  In  der  Beurteilung 
der  schematisch-unpersönlichen  Art  der  antiken  Hymnenpoesie  stimmen 
die  verschiedenen  philologischen  Literaturhistoriker  der  Gegenwart  in, 
auffallender  Weise  überein.  Die  ägyptischen  Hymnen  der  alten  Zeit 
sind  nach  Ermans  Urteil  „mit  wenig  Ausnahmen  alle  nach  demselben 
Schema  verfertigt".  42  „Die  Hauptmasse  der  babylonischen  Hymnen", 
urteilt  Zimmern,  „trägt  in  der  Regel  einen  noch  recht  typischen,  kon- 
ventionellen Charakter  und  weist  wenig  individuelle  Züge  auf." 43 
Selbst  jene  Hymnen,  deren  Verfasser  und  historischen  Anlaß  wir  kennen 
und  die  als  Gelegenheitsgedichte  gelten  müssen,  sind,  wie  Otto  Weber 
sich  äußert,  durchaus  „unpersönlich";  sie  „tragen  unverkennbar  die 
Merkmale  überlieferter,  starrer  Form",  „arbeiten  mit  dem  ganzen 
feststehenden  Apparat  von  Wendungen  und  Gedanken,  die  auch  die 
anonymen  Stücke  beherrschen",  „sie  sind  den  Vorbildern  in  den  Biblio- 
theken und  Archiven  entnommen".  44  Auch  die  ergreifenden  Klage- 
lieder und  Bußpsalmen,  die  als  der  unmittelbare  Ausdruck  persönlicher 


4.  Form  167 

Not  und  Sehnsucht  erscheinen,  sind,  wie  Jastrow  betont,  „nach  einer 
gewissen  Schablone  oder  besser  ausgedrückt,  nach  gewissen  Schablonen 
abgefaßt";  es  kehren  in  ihnen  dieselben  „stereotypen  Formeln"  immer 
wieder.  45  Den  meisten  Gesängen  des  Rigveda  haftet  nach  Winternitz 
eine  „außerordentliche  Eintönigkeit"  an.  „Es  sind  immer  dieselben 
Redewendungen,  mit  denen  ein  Gott  wie  der  andere  als  groß  und  ge- 
waltig gepriesen  wird,  immer  dieselben  Formeln,  mit  denen  der  Opfer- 
priester um  Rinderschätze  und  Reichtümer  zu  den  Göttern  fleht." 
Sehr  viele  Stücke  der  Rigveda-Samhitä  sind  „von  priesterlichen  Sängern 
recht  handwerksmäßig  zusammengeleimt  worden".  46  E.  Lehmann  sagt: 
„Die  Dichtung,  aus  der  unser  Veda  hervorgegangen,  war  schon  zu  einer 
Art  Gewerbe  geworden;  die  Verskunst  wurde  in  Dichterschulen  nach 
bestimmter  Technik  gelernt;  der  dichterische  Apparat  ist  fertig  aus- 
gebildet, und  es  gilt  jetzt,  ihn  so  gescheit  und  sinnreich  wie  möglich 
anzuwenden  .  .  .  Daß  bei  dieser  Methode  Mittelmäßiges  herausge- 
kommen ist,  liegt  auf  der  Hand,  der  größte  Teil  der  vedischen  Dichtung 
ist  formell  und  dürr,  gedankenarm  und  gesucht  und  selbst  für  den  Inder 
schwerfällig  und  dunkel."  47  In  ähnlicher  Weise  sind  nach  Lehmanns 
Urteil  auch  die  avestischen  Yascht,  Lobgesänge  an  die  Yazatas,  „breit, 
wenig  kunstvoll,  oft  ganz  trivial".  48 

Die  poetische  Struktur  der  antiken  Hymnen  ist  nicht  immer  mit 
strenger  Konsequenz  durchgeführt.  Die  Kunstmittel,  welche  die  priester- 
lichen Sänger  anwenden,  sind  zum  Teil  dieselben,  die  wir  schon  in  den 
hymnenartigen  Gebeten  primitiver  Völker  trafen.  Die  ägyptischen 
Hymnen  zeigen  „Alliterationen,  strophische  Anordnung,  Parallelismus 
der  Glieder.  Diese  treten  aber  nicht  gesetzmäßig  in  strenger  Gebunden- 
heit auf,  sondern  werden  nur  gelegentlich  angewendet,  um  der  Form 
des  Ganzen  einen  höheren  Schwung  zu  geben".  49  Die  Form  der  baby- 
lonischen Hymnen  ist  dieselbe,  die  auch  die  epischen  Literaturwerke 
beherrscht,  „freilich  hier  wie  dort  keineswegs  immer  streng  durch- 
geführt". „Speziell  der  lyrischen  Poesie  eigen  ist  die  Einteilung  größerer 
Texte  in  Perioden  und  Strophen  von  verschiedenem  Umfang."  Am 
häufigsten  ist  folgendes  Gliederungsschema  angewendet:  „eine  Strophe, 
bestehend  aus  zwei  Versen,  jeder  Vers  aus  zwei  Halbversen,  jeder  Halb- 
vers aus  zwei  Hebungen".  50  Auch  in  der  vedischen  Poesie  begegnet 
uns  die  Strophenbildung.  Doch  ist  die  Struktur  der  alt-indischen 
Hymnen  insofern  komplizierter,  als  die  Silbenzahl  der  Zeilen  feststeht, 
während  dem  Rhythmus  nur  eine  sekundäre  Bedeutung  zukommt.  51 

Dem  Gebetscharakter  des  Hymnus  entspricht  es,  daß  er  ursprünglich 
in  der  zweiten  Person  abgefaßt  wurde.  Die  Epitheta  des  Gottes  sind 
Vokative.  Aber  die  Aufzählung  zahlreicher  Namen  und  Prädikate  imd 
die  epische  Schilderung  der  Taten  des  Gottes  läßt  nicht  selten  den 
Dichter  vergessen,  daß  er  zum  Gotte  redet:  unwillkürlich  gleitet  er  bei 
der  Betrachtung  und  Schilderung  aus  der  ,Du'-Anrede  in  den  Bericht 
hinüber.  Der  Übergang  von  der  zweiten  Person  in  die  dritte  findet 
sich  in  der  ägyptischen  und  babylonischen  Hymnenpoesie,  häufiger 
noch  in  der  vedischen  Dichtung;  hier  „ändert  die  Rede  fortwährend 
ihre  Richtung;  sie  schwankt  hin  und  her  zwischen  der  Anrede  an  den 


168  C  II.  Der  priesterliche   Kult-  und  Beschwörungshymnus 

Gott  mit  Du  und  der  in  der  dritten  Person  sich  bewegenden  Erzählung 
von  dem  Gott".  52  In  den  mexikanischen  Hymnen  hingegen  überwiegt 
die  Fassung  in  der  dritten  Person ;  nur  selten  erhebt  sich  der  Beter  zur 
unmittelbaren  Gebetsanrede.  In  manchen  assyrischen  53  und  mexi- 
kanischen 54  Hymnen  ergreift  die  Gottheit  selbst  das  Wort  zum  glän- 
zenden Selbstpreis.  Andere  mexikanische  55  und  vedische  56  Hymnen 
sind  in  der  Form  eines  dramatischen  Dialogs  abgefaßt;  es  wechselt  die 
Rede  des  Priestersängers  mit  der  Rede  eines  oder  mehrerer  Götter. 

5.  Inhalt. 

Den  zentralen  Inhalt  des  Hymnus  bildet  die  Lobpreisung  des 
Gottes.  Als  die  älteste  Form  der  Lobpreisung  dürfte  die  Aufzählung 
der  Ehrentitel  und  Beinamen  eines  Gottes  gelten.  Der  Lobpreis  der 
Ahnen,  den  afrikanische  Bantustämme  mit  ihren  Opfergebeten  ver- 
binden, besteht  lediglich  in  der  Nennung  ihrer  Ehrennamen  (s.  o.  S.  81). 
Die  Griechen  wie  die  Mazedonier  besaßen  primitive  Kulthymnen,  die 
lediglich  aus  der  Aufzählung  von  Namen  und  Prädikaten  bestanden.  57 
Zahlreiche  ägyptische  und  babylonische  Hymnen  enthalten  auf  weite 
Strecken  hin  nur  eine  dürre  Aneinanderreihung  von  ehrenden  Epitheta, 
Kultstätten  und  Kultsymbolen  des  Gottes,  von  schwerfälligen  und 
dunklen  mythologischen  Anspielungen. 

Ein  altägyptischer  Hymnus  an  Osiris  lautet:  „Heil  Dir,  Osiris,  Herr  der  Ewig- 
keit, König  der  Götter,  der  viele  Namen  hat  und  prächtige  Gestalten  und 
geheimes  Wesen  in  den  Tempeln.  Er  ist  der  (Gott)  mit  dem  herrlichen  Ka  in 
Busiris  und  mit  großer  Pracht  in  Letopolis,  der  Herr  des  Lobpreises  in  dem 
Busirisgau,  der  den  Speisen  vorsteht  in  Heliopolis.  der  Herr  des  Gedenkens  in 
Schuti,  die  geheimnisvolle  Seele,  der  Herr  von  Kreret,  prächtig  im  Memphisgau, 
die  Seele  des  Ra  und  sogar  sein  Leib,  der  in  Ehnas  wohnt,  den  man  herrlich  preist 
in  Na'ret,  das  entstanden  ist  um  seine  Seele  zu  erhöhen,  der  Herr  der  Großhalle 
in  Schmu  und  mit  gewaltiger  Kraft  in  Schashotep,  Herr  der  Ewigkeit  inAbydos 
der  im  Friedhof  auf  seinem  Throne  sitzt,  dessen  Name  dauert  im  Munde  der 
Menschen."  58 

Die  babylonischen  Hymnen  gleichen  den  ägyptischen  nach  Form  und 
Inhalt,  nicht  selten  treffen  wir  sogar  dieselben  Prädikate  der  Götter. 
Doch  zeigt  die  babylonische  Hymnenpoesie  gegenüber  dem  Wirrwarr 
der  ägyptischen  eine  größere  Einfachheit  und  Gleichmäßigkeit  in  der 
Aneinanderreihung  der  Titel  und  Namen.  In  den  altsumerischen  Hymnen 
enthält  eine  Verszeile  meist  einen  Ehrennamen;  so  kommt  es,  daß  im 
Sumerischen  das  Wort  mu  (,Name')  die  Bedeutung  ,Linie',  , Zeile1 
erhielt.  59  Ein  uralter  Hymnus  an  den  Mondgott  Sin  beginnt  mit  den 
Worten : 

,,0  Herr,  Haupt  der  Götter,  der  allein  auf  Erden  und  im  Hinunel  erhaben  ist; 

Vater  Nannar,  Herr  An-äar,  Haupt  der   Götter, 

Vater  Nannar,  Herr,  großer  Anu,  Haupt  der  Götter, 

Vater  Nannar,  Herr,   Sin,  Haupt  der   Götter, 

Vater  Nannar,  Herr  von  Ur,  Haupt  der   Götter, 

Vater  Nannar,  Herr  von  E-gi§-sirgal,  Haupt  der   Götter, 

Vater  Nannar,  dessen  Königsherrschaft  äußerst  vollkommen  ist,  Herr  der 
Götter, 

Vater  Nannar,  der  in  großer  Majestät  einherschreitet,  Herr  der  Götter."60 

Die  vedische  Opferreligion  kennt  keine  Tempel,  keine  Kultstätten, 
keine  Kultsymbole.    Wie  in  der  arischen  Urzeit  opferte  man  auf  freien 


5.    Inhalt  (Lobpreisung)  169 


Plätzen  den  Göttern,  die  noch  viel  enger  mit  dem  Naturgeschehen  ver- 
knüpft waren  als  die  synkretistischen  Tempelgottheiten  in  Ägypten  und 
Babel.  Gleichwohl  häufen  auch  die  vedischen  Opferpriester  tiefsinnige 
Prädikate.  So  wird  Agni,  der  Gott  des  priesterlichen  Opferwesens  mit 
folgenden  Worten  gepriesen : 

„Das  Haupt  des  Himmels,  den  Heim  der  Erde,  Agni  Vaicvänara,  den  im 
heiligen  Gesetz  geborenen,  den  Weisen,  den  Allherrscher,  den  Gast  der  Menschen 
schufen  die  Götter  als  Gefäß  für  ihren  Mund.  Dem  Nabel  der  Opfer,  dem  Sitz 
der  Reichtümer,  dem  großen  Schöpfereimer  jauchzten  sie  entgegen;  die  Götter 
schufen  Vaicvänara,  den  Wagenlenker  der  Opfer,  des  Opfeis  Wahrzeichen." 
„Geboren  leuchtet  Agni  sichtbar  auf,  der  Renner,  der  Weise,  von  den  Sehern 
gepriesen,  der  gabenreiche,  den  die  Götter  bei  den  Opferwerken  als  verehrungs- 
würdigen allkundigen  Opferführer  einsetzten."  81 

Die  sinnlose  Häufung  von  Namen,  Titeln,  Prädikaten  ist  die  un- 
lebendigste Form  des  hymnischen  Lobpreises.  Etwas  lebendiger,  an- 
schaulicher und  farbenreicher  wird  der  Lobgesang,  wenn  der  Sänger 
des  Gottes  Wesen  und  Wirken,  seine  Größe  und  Macht,  Schönheit  und 
Güte  betrachtend  sich  vergegenwärtigt. 

Ein  sumerischer  Priester  besingt  die  Macht  des  Gewitter-  und  Kriegsgottes 
Ninib:  „Du  Held,  gewaltig,  gar  mächtig,  ausgestattet  mit  furchtbarer  Schreck- 
lichkeit; Ninib,  gewaltig,  Sturmflut,  großer  Sturm,  tapfer  in  Schlachten,  du 
strenger,  der  du  die  Feinde  unterwirfst,  ihre  Städte  zerstörst  und  ihre  Mengen 
(Einwohner)  vernichtest;  Ninib,  großer  Bergochse,  Stier  von  außerordentlicher 
Macht,  großer  Wall,  der  Schutz  gewährt;  Sturmflut,  die  dem  Feindeslande  Zittern 
verursacht,  du  ohnegleichen."  62 

Zum  Vergleich  diene  ein  altmexikanischer  Hymnus  an  den  Kriegsgott  Huitzi- 
lopochtli:  „Ein  Zauberer,  ein  Schrecken,  ein  Anstifter  des  Streites,  ein  Betrüger, 
ein  Erreger  des  Krieges,  ein  Lenker  der  Schlachten,  ein  Herr  der  Schlachten,  von 
dem  man  sagt,  daß  er  schleudere  seine  Flammenschlange,  seinen  Feuerstock, 
dessen  Mittel  Krieg,  Blut  und  Brand."  „Er  ist  ein  Schrecken  für  Mixteca,  er 
allein  zerstörte  die  Picha-Huastaca,  er  besiegte  sie  .  .  .  Wenn  er  laut  aufjauchzt, 
flößt  er  gewaltigen  Schrecken  ein,  der  göttliche  Schleuderer,  der  Gott,  der  sich 
selbst  dreht  im  Kampfe."  83 

Der  vedische  Indra  ist  zugleich  Gewitter-  und  Kriegsgott.  In  zahllosen  Hymnen 
besingt  man  ihn  als  Regenspender :  „Du  schlugst  den  Drachen,  der  die  Wasser 
umlagerte;  du  grubst  die  Bahnen  (der  Flüsse),  die  alle  tränken."  „Durch  viele, 
im  Lied  gefeierte  Frühlinge  und  Herbste  hier  hat  Indra,  nachdem  er  Vitra  er- 
schlagen, die  Flüsse  freigelassen.  Indra  erbohrte  die  umlagerten,  bedrängten 
Wasserläufe,  daß  sie  für  die  Erde  sich  ergossen."  Aber  er  ist  nicht  bloß  Regengott, 
sondern  auch  Schlachtengott.  ..Ohne  den  die  Menschen  nicht  siegen,  den  sie 
im  Kampf  zu  Hilfe  rufen,  der  einem  jeden  sich  gewachsen  zeigte,  der  das  Uner- 
schütterliche erschüttert,  das.  ihr  Menschen,  ist  India."  64  Agnis  Macht  wird 
wie  die  Macht  so  vieler  ägyptischer  und  babylonischer  Götter  unter  dem  Bilde 
des  Stiers  verherrlicht:  „Ein  Stier  mit  tausend  Hörnern,  stark  wie  ein  Stier, 
stehsl    du  allen  anderen   durch  seine   Kraft  voran."  6S 

Die  Erzählung  der  Machttaten  und  mythischen  Schicksale  des  Gottes 
tritt  in  manchen  Hymnen  so  sehr  in  den  Vordergrund,  daß  der  Hymnus 
in  ein  mythologisches  Epos  sich  aufzulösen  droht.  Zahlreiche  vedische 
Hymnen  an  Indra  und  Agni,  ägyptische  an  Osiris,  haben  ausgesprochen 
mythisch-epischen  Charakter.  Die  Hymnenpoesie  ist  darum  die  Haupt- 
quelle der  Mythologie;  ohne  sie  würden  wir  unendlich  wenig  von  dem 
bunten  Mythengewirr  der  antiken  Priesterreligionen  wissen.  Aber  es 
ist  im  Gebetscharakter  des  Hymnus  begründet,  daß  nur  selten  ein 
Göttermythos   vollständig   erzählt   wird;   auch   die   epischen    Hymnen 


1 70  C  II.   Der  priesterliche   Kult-  und  Beschwörungshymnus 

begnügen  sich  mit  allgemeinen  Hinweisen  oder  mit  der  Wiedergabe 
bestimmter  Einzelszenen;  der  Mythus  als  Ganzes  ist  stets  als  bekannt 
vorausgesetzt.  Nur  in  den  theogonischen  und  kosmogonischen  Epen, 
die  aus  der  Hymnenpoesie  hervorwuchsen  und  wie  diese  zu  rituellen 
Zwecken  verwendet  wurden,  werden  die  Mythen  ausführlicher  wiederge- 
gegeben. 

Neben  den  Lobpreis  der  göttlichen  Macht  tritt  die  Hervorhebung  der 
göttlichen  Güte.  Die  Gottheit  wird  als  Schenkerin  und  Helferin  gefeiert. 

„Sie  ist  unsere  Mutter,  die  Erdgöttin,"  heißt  es  in  einem  altmexikanischen 
Hymnus  an  Teteoinan,  „sie  schenkt  Nahrung  den  wilden  Tieren  in  der  Wüste 
und  läßt  sie  leben.  So  seht  ihr  sie  denn  als  ein  ewig  lebendiges  Vorbild  der  Frei- 
gebigkeit gegen  alle  Wesen."  06  Ein  ägyptischer  Hymnus  preist  den  Sonnengott: 
„Heil  dir,  Re,  Herr  des  Rechts,  der  das  Gebet  des  Bedrängten  erhört,  gütigen 
Herzens,  wenn  jemand  nach  ihm  ruft,  der  den  Geängstigten  vor  dem  Gewalt- 
tätigen schützt,  der  den  Armen  und  in  Not  Geratenen  richtet  (um  ihn  vor  Unge- 
rechtigkeit zu  schützen)."  "  Mit  ähnlichen  Worten  rühmt  ein  babylonischer 
Sänger  den  Gott  Ninib:  „Du  entscheidest  das  Gericht  der  Menschen;  du  leitest 
den  Irregehenden,  der  voll  Drangsal  ist;  du  ergreifst  die  Hand  des  Schwachen,,  den 
Niedergedrückten  erhebst  du;  den  Leib  dessen,  der  der  Unterwelt  entgegengeht, 
führst  du  zurück;  den  Sünder  erlösest  du  von  seiner  Sünde;  gegen  wen  sein  Gott 
erzürnt  ist,  dem  gewährst  du  später   Gnade."  68 

In  einem  rigvedischen  Hymnus  wird  der  Priestergott  Brahmanaspati  ob  seiner 
Fürsorge  für  die  ihm  dienenden  Brahmanen  gefeiert:  „Du,  Brahmanaspati,  ver- 
drängst Schmähung  und  Finsternis  und  besteigst  den  lichten  Wagen  der  Ordnung, 
den  furchtbaren,  der  die  Feinde  schädigt,  die  Rakshas  schlägt,  den  Kuhstall 
spaltet,  das  Licht  gewinnt.  Mit  trefflichem  Rat  leitest  du,  schützest  du  den  Men- 
schen. Wer  dir  huldigt,  den  wird  Bedrängnis  nicht  treffen.  Du  versengst  den 
Feind  des  Brahman,  vernichtest  seinen  Zorn.  Das  ist  deine  Größe,  Brhaspati. 
Nicht  hat  Bedrängnis,  nicht  Gefahr,  wo  immer  her,  nicht  Bosheit  oder  Falschheit 
den  bezwungen  (der  dir  huldigt).  Alle  Ränkesüchtigen  hältst  du  von  dem  ferne, 
den  du,  Brahmanaspati,  als  guter  Hirt  beschirmst."  B9 

Schon  der  primitive  Beter  schickt  häufig  seiner  Bitte  Gruß-  und 
Segensworte  voraus,  einen  noch  breiteren  Raum  nehmen  sie  in  den 
antiken  Hymnen  ein. 

„Heil  dir!"  ruft  der  ägyptische  Priestersänger  seinem  Gott  bei  jedem  neuen 
Abschnitte  seines  Preisgesanges  entgegen.  70  Die  babylonischen  Dichter  verbinden 
mit  dem  Lobpreis  nicht  selten  einen  Segenswunsch:  „Enlil  mache  dich  groß, 
möge  Ea  dich  erhöhen,  mögen  die  Götterscharen  dich  segnen,  mögen  die  großen 
Götter  dein  Herz  erfreuen."  71 

Mannigfach  sind  die  Redensarten,  mit  denen  der  Sänger  dem  Gott 
seine   Huldigung  und   Verehrung   zum   Ausdruck   bringt.      Indikativ, 
Kohortativ,  Imperativ  und  Interrogativ  sind  die  sprachlichen  Formen, 
die  hierbei  angewendet  werden. 

„Agni  verehre  ich."  „Dir  nahen  wir,  Agni,  und  bringen  dir  Verehrung  dar" 
(Rigveda).  72  „Deinen  Namen  will  ich  nennen,  deine  Größe  verkünden,  in  Demut 
will  ich  dir  huldigen"  (babylonischer  Hymnus).  73  „Laßt  uns  mit  Verneigung  den 
starken  Indra  verehren,  den  gewaltigen,  hohen!"  (Rigveda).  74  „Laß  mich  deine 
Gottheit  verehren,  in  Demut  dir  huldigen!  O  Gott,  laß  mich  deine  Stärke  ver- 
künden! O  Gott,  laß  mich  deine  Größe  preisen!"  (babylonischer  Hymnus).  7S 
..Sing  dem  Starken  mit  diesen  Liedern,  preise  den  Parjanya  und  huldige  ihm  mit 
Verehrung!"  (Rigveda)  76.  „Erweiset  Verehrung  dem  Re,  dem  Himmel  des 
Himmels,  dem  Fürsten,  der  die  Götter  schuf.  Betet  ihn  an  in  seiner  schönen 
Gestalt  beiseinemErscheinen  in  der  Manzet-Barke"  (ägyptischer  Sonnenhymnus).77 
„Wer  ist,  dessen  Mund  deine  Gerechtigkeit  nicht  verkündet,  der  deine  Majestät 
nicht  preist,  deine  Herrschaft  nicht  verherrlicht  ?"  (babylonischer  Marduk- 
hymnus).  78 


5.  Inhalt  (Lobpreisung)  171 


Der  Sänger  schmeichelt  dem  Gotte  am  meisten  dadurch,  daß  er  ihn 
als  den  größten  und  mächtigsten  aller  Götter  preist.  „Huitzilopochtli 
ist  der  Erste  im  Rang,  keiner,  keiner  ist  ihm  gleich,"  heißt  es  in  einem 
mexikanischen  Hymnus.  79  Jeder  der  großen  ägyptischen  Götter  ist, 
wenn  beim  Hymnus  die  Reihe  an  ihn  kommt,  der  erste  unter  den  Göttern. 
Jeder  Gott,  an  den  der  assyrische  Priestersänger  sich  wandte,  war,  wie 
unbedeutend  er  auch  sein  mochte,  für  ihn  in  diesem  Augenblick  der 
größte  unter  den  Göttern.  81  Ebenso  wird  im  Rigveda  jeder  Gott  ge- 
legentlich als  der  erste  und  höchste  aller  Götter  gepriesen.  82 

Mit  beredten  Worten  feiert  ein  babylonischer  Priesterdichter  der  Mondgott: 
,, Welcher  Gott  erreicht  deine  Fülle? 
Wer  ist  im  Himmel  erhaben  ?     Du  allein  bist  erhaben. 
Wer  auf  Erden  ist  erhaben  ?     Du  allein  bist  erhaben  .... 
Herr,  im  Himmel  an  Herrschaft,  auf  Erden  an  Herrschaft,  unter  den  Göttern, 

deinen  Brüdern  ist  dir  keiner  gleich. 
Herr  des  erhabenen   Göttergemachs,  dessen  Befehl  nichts  gleichkommt,  dessen 
Göttlichkeit  unvergleichlich  ist."  83 

Für  den  Hymnendichter  ist  der  aufgerufene  Gott  Vater  und  König  der  Götter. 
En-lil  ist  der  Herr  „der  Herren",  der  „Vater  der  großen  Götter",  Assur,  der  „Herr 
der  Götter",  Ischtar  die  „höchste  der  Göttinnen",  die  „Königin  der  Göttinnen", 
die  „Befehlshaberin  der  Götter";  „unter  den  Göttinnen  ist  keine  ihr  gleich;  kein 
Gott  nähert  sich  ihrer  Macht".  84  Amon-Ra  ist  „Vater  der  Götter",  „Fürst" 
und  „Oberhaupt  aller  Götter",  der  einzige  „König  unter  den  Göttern".  Osiris 
ist  „König  der  Götter",  „Leiter  der  Götterschaft",  „der  erst  (geborene)  Große 
von  seinen  Brüdern,  der  älteste  der  Götterschaft",  „Fürst  der  Götter",  „König 
der  Könige,  Herr  der  Herren,  Herrscher  der  Herrscher".  85  Ein  vedischer  Sänger 
schmeichelt  dem  Indra:  „Die  Götter  ließen  wie  Greise  nach  in  ihrer  Kraft.  Du, 
Indra,  wurdest  der  Allherrscher."  88  Weil  der  im  Hymnus  gefeierte  Gott  der 
höchste  ist,  ist  er  auch  der  ewige,  universelle  Gott,  dessen  Macht  Himmel  und 
Erde  umfaßt,  dessen  Wirken  keine  Schranken  kennt.  Re  ist  „Herr  des  Himmels, 
Herr  der  Erde,  Herr  der  Ewigkeit,  Herrscher  der  Unendlichkeit"  87.  Schamasch 
ist  „Herr  über  das  Schicksal  der  Erde"  88,  Enlil  ist  „Bestimmer  aller  Geschicke", 
„Herrscher  des  Himmels  und  der  Erde",  Marduk  „König  des  Himmels  und  der 
Erde";  „Himmel  und  Erde  sind  dein",  ruft  bewundernd  der  Dichter  aus.  Ischtar 
wie  Damkina  ist  „Herrin  des  Himmels  und  der  Erde"  89. 

Als  henotheistischen  Universalgott  preist  der  Sänger  den  angebeteten  Gott  mit 
den  Prädikaten  der  verschiedensten  Götter.  Amon-Re  und  Osiris,  Sin,  Nergal, 
Enlil  und  Marduk  tragen  die  Züge  vieler  Götter,  sie  ähneln  einander  zum  Ver- 
wechseln. In  einem  Marduk-Hymnus  heißt  es  sogar:  „Du  trägst  die  Macht  Anus, 
<li"  Macht  Enlils,  die  Macht  Eas,  Herrschaft  und  Majestät."  90  Zu  der  umfassenden 
Macht  und  Wirksamkeit,  welche  die  Hymnendichter  ihren  Göttern  zuschreiben, 
gehört  vor  allem  die  Schöpfertätigkeit.  Zahlreiche  in  den  Hymnen  angerufene 
(iötter  werden  als  „Urgötter,  Weltenschöpfer  und  Weltenbildner"  gefeiert.  Amon- 
Re  ist  im  Hymnus  derjenige,  „der  das  Existierende  hervorgebracht  und  das 
Seiende  geschaffen  hat,  der  den  Himmel  aufgehängt  und  den  Erdboden  befestigt 
hat",  „aus  dessen  Augen  die  Menschen  kamen,  auf  dessen  Mund  die  Götter  ent- 
standen, der  die  Weide  (für)  die  Viehherden  schuf  und  den  Lebensbaum  für  die 
Menschen."  91  Der  Mondgott  Sin  ist  „der  Erzeuger  aller  Dinge,"  „der  Erzeuger 
der  Götter  und  Menschen":  Marduk.  der  Lukalgott  von  Babel,  ist  „der  Erneuerer 
des  Himmels,  Büdner  der  Eide",  die  Muttergöttin  Ischtar  die  „Erzeugerin 
der  Götter"  und  „die  Erzeugerin  (\cs  Weltalls"  92.  Der  vedische  Gott  des  Opfer- 
feuers Agni  ist  ..der  Scher,  der  voller  Weisheit  die  Räume,  des  Himmels  lichte 
Sphären  ausmaß,  der  alle  Wesen  geschaffen  hat"  93,  Indra,  der  Wettergott,  ist 
derjenige,  der  „die  schwankende  Erde  befestigte,  die  bewegten  Berge  beruhigte, 
<b-v  den  Luftraum  erweiterte  und  den  Himmel  stützte"  94.  Der  Gott,  der  den 
Hymnendiehter  verherrlicht,  isi  bisweilen  noch  mehr  als  die  Ursache  allen  Seins, 
er  ist  die  Ursache  seiner  seihst,  causa  sui;  er  hat  sich  selbst  erzeugt.     „Das  ist 


172  CIL  Der  priesterliche  Kul1>  und  Beschwörungshymnus 

Re  Harachte",  heißt  es  in  einem  ägyptischen  Hymnus  an  den  Sonnengott,  „der 
göttliche  Jüngling,  der  Erhe  der  Ewigkeit,  der  sich  selbst  erzeugt  und  sich  selbst 
gebiert,  der  aus  dem  Wasser  hervorging  und  sich  aus  dem  Nun  herauszog,  der 
sich  selbst  wartete  und  seine  Geburt  selbst  besorgte.  '  Und  in  einem  Hymnus 
an  Amon-Re  heißt  es:  „Du  bist  Ptah,  du  bildetest  deine  Glieder;  (du  bist  es), 
der  sich  erzeugt,  ohne  gezeugt  zu  sein."  9S  In  einem  babylonischen  Hymnus 
wird  Sin  als  „selbsterzeugte,  vollentwickelte  Frucht"  betitelt  96.  Und  in  einem 
mexikanischen  Hymnus  wird  Tlaloc,  der  Regen-  und  Gewittergott  gepriesen: 
„Du  hast  dich  selbst  gemacht,  wer  darf  dir  trotzen?"  97 

Höchster  Gott,  Vater  und  König  der  Götter;  Schöpfer  Himmels  und 
der  Erde,  Allursache,  Selbstursache  —  das  Größte,  Wunderbarste,  ja 
das  Paradoxeste,  was  der  Sänger  sich  erdenken  kann,  sagt  er  im  Hymnus 
vom  Gotte  aus.  Der  Glanz  des  gefeierten  Gottes  überstrahlt  alle  übrigen 
Götter,  stellt  sie  insgesamt  in  Schatten.  Die  anderen  Götter  erkennen 
selbst  die  Größe  des  vom  Dichter  gepriesenen  Gottes  an,  sie  huldigen 
ihm,  neigen  sich  ehrfurchtsvoll  vor  ihm,  jubeln  ihm  zu,  sie  beten  ihn 
an,  wie  die  Menschen  und  mit  den  Menschen  beten  sie  zu  ihm. 

„Himmel  und  Erde  verneigen  sich  ihm"  (vedischer  Indrahymnus).  98  „Dir 
jauchzen  alle  Götter,  Unsterblicher,  wie  einem  Kinde  bei  der  Geburt  entgegen." 
„Alle  Götter  neigten  sich  ehrfurchtsvoll  vor  dir,  o  Agni"  (Rigveda).  99  „Die 
Neunheit  (der  Götter)  betet  ihn  an,  und  die  Bewohner  von  Duat  küssen  die  Erde, 
und  die  Unterweltlichen  verneigen  sich ;  die  Verstorbenen  jubeln,  wenn  sie  ihn 
sehen,  die  dortigen  (im  Jenseits  befindlichen)  erweisen  ihm  Ehrfurcht  und  die 
beiden  Länder  zusammen  preisen  ihn,  wenn  seine  Majestät  sich  naht"  (ägyptischer 
Osirishymnus).  , Anbetung  dir!  sagen  sie  alle;  Lobpreis  dir,  weil  du  mit  uns  um- 
gehst. Erdküssen  dir,  (weil)  du  uns  geschaffen  hast.  Die  Götter  verneigen  sich 
vor  deiner  Majestät  und  erhöhen  die  Macht  ihres  Schöpfers  jauchzend  beim  Heran- 
nahen ihres  Erzeugers"  (ägyptischer  Hymnus  von  Amon-Ra).  „Isis  und  Nephtys 
beten  dich  an"  (ägyptischer  Sonnenhymnus).  „Alle  Götter  beten  zu  Thot"  (ägyp- 
tischer Hymnus)  10°.  „Bei  dem  Gedenken  an  deinen  Namen  beben  Himmel  und 
Erde,  die  Götter  beben,  die  Annunaki  zittern.  Dein  mächtiger  Name  erschreckt 
die  Menschheit.  Alle  Menschen,  die  beseelte  Kreatur,  die  Menschheit  huldigt 
deiner  Macht"  (assyrischer  Ischtarhymnus)  m.  „Es  beugen  sich  vor  dir  die  großen 
Götter"  (babylonischer  Sin-Hymnus)  102.  „Die  Versammlung  der  großen  Götter 
steht  vor  dir  und  fleht  dich  an  zu  deinen  Füßen"  (assyrischer  Sin-Hymnus)  103 

Aus  der  bunten  Mannigfaltigkeit  der  hymnischen  Lobpreisungen 
heben  sich  deutlich  zwei  Hauptformen  der  Götterverherrlichung  heraus : 
die  Häufung  von  Ehrenprädikaten,  Kultnamen  und  mythologischen 
Anspielungen  einerseits  und  andererseits  die  henotheistische  Erhebung 
des  Gottes  zum  Universalgott.  In  beiden  Formen  offenbart  sich  dasselbe 
Streben  des  Phantasievorstellens  nach  dem  Maßlosen,  Grellen,  Bunten, 
Massigen,  ja  Grotesken,  das  nach  unserem  ästhetischen  Urteil  dieser 
Poesie  den  künstlerischen  Wert  nimmt.  Oldenberg  sagt  sehr  fein  von 
den  vedischen  Hymnen:  „Diese  Preislieder  erinnern  an  die  Körper, 
welche  die  altindische  Plastik  gebildet  hat,  unter  deren  undurchgearbei- 
teten  Fleischmassen  es  kein  Knochengerüst  zu  geben  scheint." 104 
Aber  es  fehlt  den  antiken  Priesterhymnen  nicht  nur  Klarheit,  Maß  und 
Harmonie,  es  fehlt  ihnen  vor  allem  die  innere  Wahrhaftigkeit.  Die 
gehäuften  und  überschwänglichen  Lobpreisungen  sind  nicht,  wie  sie 
rein  äußerlich  erscheinen,  der  spontane  dichterische  Ausdruck  religiöser 
Begeisterung,  echter,  erlebter  Wertgefühle,  sondern  entspringen  einem 
raffinierten  Egoismus ;  sie  sind  klug  ersonnene  schmeichlerische  Redens- 


5.   Inhalt  (Lobpreisung)  173 


arten  und  Ergebenheitsphrasen,  durch  die  man  der  Eitelkeit  des  Gottes 
frönt,  um  so  seine  Gunst  zu  gewinnen.  105  Hier  redet  und  dichtet  kein 
kindlich  frommes  Gemüt,  das  kontemplierend  sich  in  Gottes  Größe  und 
Macht,  Schönheit  und  Liebe  versenkt  und  dabei  von  Staunen  und 
Entzücken  ergriffen  wird,  hier  redet  nur  ein  höfisch-serviler  Geist,  eine 
geschickt  drapierte  eudämonistische  Begehrlichkeit.  Die  Sitte  der 
rigvedischen  Hymnen,  den  angerufenen  Gott  als  ersten  und  höchsten 
aller  Götter  zu  preisen,  ist,  wie  Winternitz  sagt,  „eine  Art  Schmeichelei, 
durch  die  man  sich  den  Gott  gewogen  machen  will,  ähnlich  wie  spätere 
Hofdichter  manches  kleine  Fürstchen  als  Weltbeherrscher  gefeiert 
haben"  106.  Wenn  die  ägyptischen  Hymnendichter  von  ihren  gefeierten 
Göttern  behaupten,  sie  hätten  die  Welt  erschaffen,  so  haben  wir  nach 
dem  Urteil  Wiedemanns  darin  „nur  eine  schmeichlerische  Redensart  zu 
sehen.  Der  jeweilige  Schreiber  oder  Sprecher  glaubte  sich  durch  solche 
Lobeserhebungen  den  Gott,  dessen  er  gerade  bedurfte,  gewogen  zu 
machen.  Er  verfuhr  ihm  gegenüber  genau  so,  wie  er  es  bei  irdischen 
Beamten  und  Fürsten  zu  tun  gewohnt  war.  Auch  deren  Gunst  trachtete 
man  im  alten  wie  im  heutigen  Orient  am  liebsten  durch  die  allerunter- 
tänigste  Schmeichelei  zu  gewinnen  und  war  dabei  im  allgemeinen  des 
Erfolges  sicher".  lü7  In  der  schmeichlerischen  Lobrederei  ist  eine  weitere 
Eigentümlichkeit  des  Hymnus  begründet,  die  dunkle,  tiefsinnige  Rede- 
weise, die  Geheimnistuerei.  „Man  muß  des  Gottes  Wesen  als  reich  an 
tiefen  Geheimnissen  schildern,  die  es  mit  Geschick  halb  zu  verbergen 
und  halb  zu  enthüllen  gilt  (Oldenberg).  108  Wie  man  einem  orientalischen 
Herrscher  nicht  nur  mit  klaren,  unzweideutigen  Lobsprüchen,  sondern 
auch  mit  versteckten,  dunklen  Andeutungen  schmeichelt,  so  kleidet 
man  auch  die  Verherrlichung  des  Gottes  gerne  in  den  Mantel  des  Ge- 
heimnisses :  das  nur  halb  enthüllte  Geheimnisvolle  erscheint  eben  noch 
größer  und  wunderbarer  als  alle  völlig  enthüllte  Pracht  und  Herrlichkeit. 
All  die  volltönenden  Huldigungsphrasen,  Ruhm-  und  Schmeichel- 
reden des  Hymnus  sind  nicht  Selbstzweck,  sondern  Mittel  zum  Zweck. 
Der  dichtende  oder  rezitierende  Priester  will  im  Lobpreis  des  Gottes 
nicht  seinen  religiösen  Enthusiasmus  ausschütten,  er  will  vielmehr  den 
Gott  bewegen,  daß  er  seinem  Sänger  reiche  Gaben  schenke.  Hinter 
dem  prunkvollen  Gotteslob  versteckt  sich  dieselbe  ungezügelte  Begehr- 
lichkeit nach  irdischen  Glücksgütern,  die  den  primitiven  Beter  beseelt. 
Im  Hintergrund  des  Hymnus  steht  auch  immer  die  Bitte  um  die 
gleichen  eudämonistischen  Güter,  nach  denen  der  primitive  Beter  ver- 
langt. Aber  während  der  naive  Mensch  seine  Wünsche  ohne  viele  Um- 
schweife offen  und  gerade  heraussagt,  naiv  und  treuherzig  ausspricht, 
was  ihn  drängt  und  bewegt,  verbirgt  der  priesterliche  Hymnensänger 
sein  Anliegen  unter  einem  Schwall  von  Huldigungen  und  Schmeicheleien, 
er  flicht  nur  vorsichtig  in  den  Hymnus  eine  kurze  Bitte  bei.  Die  Bitte 
ist  ganz  eingebettet  in  den  Lobpreis,  so  daß  es  den  Anschein  hat,  als 
sei  sie  etwas  Nebensächliches.  In  Wirklichkeit  aber  ist  sie  dem  Sänger 
die  Hauptsache,  nur  daß  er  es  geschickt  versteht,  den  Gott  hierüber 
zu  täuschen.  In  der  Rolle  des  Lobsängers  glaubt  der  Dichter  eher  Er- 
füllung seiner  Wünsche  zu  erlangen,  als  in  der  Rolle  des  Bittstellers. 


174  0  II.  Der  priesterliche  Kult-  und  Beschwörungshymnus 

Bisweilen  freilich  fällt  er  in  seiner  Redseligkeit  aus  der  Rolle  und  sagt 
in  plumper  Naivität  heraus,  worum  es  ihm  bei  all  seinen  Lobreden 
eigentlich  zu  tun  ist.  So  heißt  es  in  einem  Marduk-Hymnus :  ,,Da  ich 
dir  glänzend  gehuldigt  habe,  laß  mich  gesättigt  werden!"  109  Und  in 
mehreren  Indrahymnen  heißt  es:  „Nun  gepriesen,  nun  besungen,  laß 
reichlich  deinem  Sänger  stromgleich  die  Speisen  fließen!"110  In  den 
meisten  Hymnen  steht  die  Bitte  am  Schlüsse  der  Lobpreisung.  Die 
meisten  babylonischen  Hymnen  „klingen  nur  zum  Schluß  in  ein  kurzes 
Gebet,  oft  nur  von  wenigen  Zeilen  aus".  m  Im  Rigveda  „pflegt  die 
Bitte  um  Gaben,  welche  man  von  dem  durch  solches  Lob  befriedigten 
Gott  erhofft,  sich  kurz  an  jenes  anzuschließen".  112  Doch  wird  bis- 
weilen in  vedischen  wie  ägyptischen  Hymnen  die  Bitte  zwischen  die 
Lobpreisungen  eingeschoben.  Sie  kann  sogar,  wie  manche  ägyptische 
und  zahlreiche  mexikanische  Hymnen  zeigen,  gänzlich  fehlen,  ohne  daß 
deshalb  der  Hintergedanke,  Gunsterweise  des  Gottes  zu  erlangen,  fehlen 

würde. 

Der  Gegenstand  der  Bitte  ist  derselbe  wie  im  Beten  des  Primitiven:  Leben, 
Gesundheit,  Nahrung,  Reichtum  an  Vieh  und  Kindern,  Vernichtung  der  Feinde 
und  Siegesbeute.  U3  Wenn  konkrete  Wünsche  ausgesprochen  werden,  werden 
mehrere  zusammengefaßt.  „Bringe  uns  Reichtum,  Speise  und  männlichen  Nach- 
wuchs!" fleht  ein  rigvedischer  Dichter  zu  Agni.  U4  Noch  häufiger  aber  ist  der 
Gebets  wünsch  generell  gefaßt;  „von  den  Gütern  ist  meist  in  ziemlich  allgemeinen 
Ausdrücken  die  Rede,  wie  das  dem  wenig  individuellen  Charakter  jener  litur- 
gischen Poesie  entspricht".  115  Ein  sumerischer  Hymnendichter  betet  für  seinen 
König  zu  Ninib:  „Deinen  heiligen,  königlichen  Thron,  o  mögest  du  ihn  segnen! 
Den  Gimil-Sin,  mögest  du  ihn  segnen,  Ninib,  ein  Leben  langer  Tage  bestimme 
ihm!"  „Mögest  du  sein  großer  Wall  sein;  mögest  du  mit  gnädigen  Augen  auf 
ihn  blicken!"  llt  In  einem  babylonischen  Hymnus  an  En-me-sar-ra  betet  ein 
Herrscher:  „Laß  mich,  den  Fürsten,  deinen  Diener,  vor  deiner  großen  Gottheit 
auf  ferne  Tage  mit  Gunst  genannt  sein!"  1W  Ein  für  den  Monat  Nisan  bestimmter 
babyolnischcr  Festhymnus  enthält  die  Bitte:  „Beachte  die  zu  dir  erhobenen 
Hände!  Deiner  Stadt  Babylon  gewähre  Gnade!  Auf  E-sag-ila,  dein  Haus,  wende 
dein  Antlitz !  Den  Söhnen  Babylons,  deinem  Volk  insgesamt  gewähre  die  Hilfe."  ll9 

Einfacher  als  die  im  schwülstigen  orientalischen  Hofstil  formulierten  Bitten 
vieler  babylonischer  Hymnen  sind  die  kurzen  Gebete,  die  in  die  Hymnen  des 
Rigveda  eingestreut  sind :  „Sei  dem  Opferherrn  nilfreich!"  „Gib  Kind  und  Kindes- 
kindern Segen  und  Heil !"  lauten  die  Bitten  an  Agni;  zu  den  Maruts  (Windgöttern) 
fleht  ein  Dichter:  „Gewähret  uns  die  erfreuende,  Glück  bringende  Gabe,  um  die 
wir  euch  bitten,  mit  der  ihr  für  Kind  und  Kindeskinder  unerschöpfliches  Saatgut 
herbeibringt!"  11B  Wie  die  Lobpreisung  nicht  selten  nicht  in  der  Duanrede,  sondern 
in  der  Erzählungsform  gefaßt  ist,  so  wird  auch  die  den  Hymnus  abschließende 
Bitte  bisweilen  in  der  Form  des  Segens  ausgesprochen.  So  heißt  es  in  einem 
Agni-Lied:  „Vaicvänara  sei  gnädig  uns  zu  helfen,  der  Unsterbliche  sei  gnädig 
uns  zu  helfen!"  120 

Die  vedischen  Hymnen  sind  Opfergesänge;  viele  von  ihnen  enthalten  analog 
den  primitiven  Opfergebeten  eine  Einladung  der  Götter  zur  Opfermahlzeit.  „Dich, 
Brahmanaspati,  den  Herrn  der  Scharen,  rufen  wir.  Uns  erhörend  mit  deiner 
Hilfe,  setze  dich  auf  deinen  Sitz!"  „Komm  zu  unserem  Opfer  mit  deinen  hundert 
Gespannen,  mit  deinen  tausend  komm  zum  Mahl,  Väyu,  zu  den  Opfergaben,  zum 
Mahl.  Dein  ist  dieser  Anteil,  der  jahreszeitgemäße,  von  gleichem  Strahl  wie  die 
Sonne."  121  Häufig  wird  der  Gott  des  heiligen  Opferfeuers,  Agni,  aufgefordert, 
die  Götter  herbeizuholen.  (Vgl.  o.  S.  77.)  „Eben  geboren,  führe,  Agni,  die  Götter 
hierher  für  den,  der  die  Opferstreu  geschnitten  hat."  „Führe,  du  Sühnender, 
Leuchtender,  die  Götter  herbei  zu  unserem  Opfer  und  Opfermahl!"  121  Wie  die 
in  die  Hymnen  eingeschobenen  Grußworte  und  konkreten  Bitten,  so  sind  auch 
diese  Opfersprüche  echte,  viel  gebrauchte  Gebetsworte,    die  von  den  Hymnen- 


5.  Inhalt  (Klage)  175 


sängern  nur  poetisch  verbrämt  wurden.  Der  Dichter  ist  nicht  bloß  von  derselben 
Tendenz  beseelt  wie  der  primitive  Beter;  er  benützt  sogar  dieselben  oder  ähnliche 
Gebetsworte,  wenn  er  die  Götter  bittet  und  zum  Opfer  lädt. 

Im  Hymnus  tritt,  wie  wir  sehen,  die  Bitte  ganz  zurück;  die  Klage  , 
dieses  wesentliche  Element  primitiven  Betens,  fehlt  völlig.  Einen  viel 
breiteren  Raum  nehmen  Bitte  und  Klage  in  dem  Büß-  oder  Sühne- 
lied ein.  Der  Rigveda  weist  eine  stattliche  Zahl  von  Buß- 
psalmen auf,  die  meist  an  den  strengen  und  gerechten  Richtergott 
Varuna  sich  wenden.  In  der  religiösen  Literatur  der  Babylonier  und 
Assyrer  bilden  die  Büß-  und  Klagelieder,  die  ursprünglich  an  den  En-lil 
und  die  Nin-lil  von  Nippur,  später  auch  an  andere  Götter,  vor  allem 
an  die  assyrische  Madonna  Ischtar,  gerichtet  wurden,  122  einen  eigenen 
Literatur  zweig.  Während  die  vedischen  und  vor  allem  die  babylonisch- 
assyrischen Bußpsalmen  eine  ganze  Gattung  der  Hymnendichtung  dar- 
stellen, lassen  sich  in  der  ägyptischen  Hymnenpoesie  nur  Ansätze  zu 
Bußpsalmen  feststellen.  123  Auch  die  Klagelieder  und  Bußpsalmen  sind 
echte  Hymnen.  Sie  dienen  wie  die  anderen  Hymnen  kultischen  Zwecken, 
werden  wie  diese  von  Priestern  gedichtet  und  rezitiert,  sie  zeigen  dieselbe 
poetische  Struktur;  sie  enthalten  auch  dieselben  ermüdenden  Lob- 
preisungen, Ruhm-  und  Schmeichelreden  wie  die  anderen  Hymnen. 
Aber  während  sich  in  diesen  an  die  Lobpreisung  nur  eine  kurze  generelle 
Bitte  anreiht,  folgt  ihr  hier  eine  breite  Klage.  Wie  der  Lobpreis,  so 
besteht  auch  die  Klage  vielfach  nur  aus  endlosen  Wiederholungen  einer 
und  derselben  stereotypen  Wendung;  auch  in  der  Klage  werden  die 
Götter-,  Tempel-  und  Ortsnamen  gehäuft. 

So  heißt  es  in  einem  solchen  Klagelied  an  Ba-u: 
.,Die  mächtige  Herrin  Nin-lil  ruft  unter  Wehgeschrei  den  Wehruf  über  die  Stadt. 
Die  glänzende  Herrin  von  Nippur  ruft  usw. 
Die  Herrin  von  E-äu-me-du  ruft  usw. 
Die  Herrin,  die  das  Leben  hält,  ruft"  usw.  124 

Neben  diesen  unlebendigen  litaneienartigen  Klagen  stehen  äußerst  an- 
schauliche, ergreifende  Schilderungen  der  Not;  freilich  sind  auch  die 
treffenden  Bilder  vielfach  stereotyp,  sie  sind  zumeist  nicht  die  indi- 
viduelle Erfindung  eines  Dichters,  sondern  gehören  dem  traditionellen 
Formelschatz  der  Priesterschulen  an. 

Das   folgende   Klagelied  schildert   die   durch   eine  Belagerung  hervorgerufene 
Hungersnot  und  Verwirrung  der  Stadt  Nippur: 
„Die  Stadt  von  Nahrung  abgeschnitten,  von  Not  gedrückt, 
In  der  der  nach  Essen  Verlangende  durch  Mangel  an  Nahrung  verhungert, 
In  der  man  statt  des  Gemahls  den  Sohn  als  ,mein  Gemahl'  anredet, 
Das  Töchterlein  als  ,mein  Sohn*  anredet, 
Die  Magd  als  ,mein  Brüderchen'  anredet, 

In  der  Stadt,  wo  die  Mutter  ein  neugeborenes  Mägdlein  als  ,mein  Söhnchen'  anredet, 
Das  junge  Töchterchen  als  ,mein  Väterchen'  anredet. 
Wo   Jammer  in  den  Straßen  herrscht  und  Brand  angesteckt  wird, 
Wo  man  klein  und  groß  niedermetzelt  .... 
Ihre   Pracht   hat  der  Feind  weggenommen, 
Ihren  herrlichen   Glanz  hat  das  Feuer  vernichtet, 
Fröhlichkeit  ist  im    Sturm  dahingegangen; 
Die  Straßen  sind  verödet."  126 

Das  folgende  Klagelied  schildert  mit  beredten  Worten  die  Not  eines  einzelnen 
Herrschers : 


176  C  II.   Der  priesterliche   Kult-  und  Beschwörungshymnus 

,, Während  die  Schwachen  stark  wurden,  wurde  ich  schwach, 

Überwältigt,  bin  ich  gleich  einer  Flut  von  einem  unheilvollen  Wind  getrieben. 

Es  fliegt  und     entflieht  mein  Herz  gleich  einem  Vogel  des  Himmels, 

Ich  wehklage  gleich  einer  Taube  bei  Nacht  und  Tag, 

Ich  bin  verwüstet  und  weine  bitterlich. 

Mit  Weh  ist  mein  Gemüt  schmerzerfüllt  .... 

Als  ob  ich  meinen  Gott  und  meine  Göttin  nicht  fürchtete,  bin  ich  in  Not  geraten, 

Krankheit,   Siechtum,  Verderben  und  Verwüstung  haben  mich  befallen, 

Drangsal,  Unmut,  Unwillen  und  Zornesfülle, 

Grimmiger  Zorn  aller  Götter  und  Menschen, 

Ich  erlebe,  o  meine  Herrin,  traurige  Tage,  bedrängnisvolle  Monate,   Jahre  der 

Drangsal, 
Ich  erlebe,  o  meine  Herrin,  eine  Regierung  der  Verwirrung  und  Empörung. 
Tod  und  Not  haben  mich  zugrunde  gerichtet. 
Vernichtet  ist  meine  Kultstätte,  vernichtet  mein  Heiligtum, 
Über  mein  Haus,  Tor  und  Gefild  ist  Leid  ausgegossen. 
Meines   Gottes  Antlitz  hat  sich  anderswohin  gewendet, 
Meine   Stärke  ist  aufgelöst,  meine  Macht  gebrochen, 
Es  harren  auf  dich,  o  meine  Herrin,  auf  dich  sind  meine  Ohren  gerichtet."  12u 

Wie  in  manchen  primitiven  Gebeten,  so  erhebt  sich  bisweilen  auch 
in  den  Bußliedern  die  Klage  zur  wehmütigen  Frage  an  die  Gottheit. 
So  ruft  ein  babylonischer  Dichter  zu  Enlil: 

„Herr  des  Landes,  Enlil,  weitsinniger,  wie  lange  noch  wird  dein  Herz  sich  nicht 

beruhigen  ? 
Vater  Enlil,  wie  lange  noch  werden  deine  Augen,  die  (alles)  schauen,  nicht  ruhen  ? 
Wie  lange  noch  wirst  du  deinen  Kopf  wie  mit  einem  Kleide  bedeckt  halten  ? 
Wie  lange  noch  wirst  du  dein  Angesicht  deinen  Lenden  zuwenden  (d.  h.  nicht 

auf  mich  blicken)? 
Wie  lange  noch  wirst  du  dein  Herz  wie  ein  Gefäß  bedeckt  halten  ? 
Gewaltiger,  wie  lange  noch  wirst  du  dein  Herz  in  die  Ohren  stecken?"  127 

Wie  die  hymnische  Lobpreisung,  so  hat  auch  die  Klage  die  Tendenz 
aus  der  Gebetsrede  in  die  Betrachtung  überzugehen.  Wie  der  Lob- 
sänger sich  die  Größe,  Macht  und  Schönheit  des  Gottes  sich  vergegen- 
wärtigt, so  versenkt  sich  der  Klagedichter  in  sein  oder  seines  Volkes 
Leid;  dort  ist  der  Blick  auf  ein  fremdes  Ich  gerichtet,  hier  wendet  er 
sich  auf  das  eigene  Ich.  Der  Hymnus,  der  die  Taten  des  Gottes  besingt, 
wird  zum  mythischen  Epos;  das  Klagelied,  das  des  Herzens  Not  und 
Jammer  schildert,  erhebt  sich  zur  religiösen  Lyrik. 

Die  in  den  Klageliedern  ausgesprochene  Bitte  richtet  sich  vornehmlich 
auf  die  Befreiung  aus  schwerer  Not,  sei  es  nun  die  Not  des  ganzen  Landes, 
Krieg,  Hunger,  Seuchen,  sei  es  die  Not  eines  Einzelnen,  Krankheit  oder 
Siechtum.  Aber  wie  in  den  anderen  Hymnen,  so  wird  auch  in  den  Buß- 
psalmen die  Bitte  zumeist  nur  generell  formuliert.  Alles  Elend  und 
Mißgeschick,  das  über  den  antiken  Menschen  kommt,  erscheint  ihm 
als  Strafheimsuchung  des  Gottes,  als  Ausfluß  seines  Zornes.  Darum 
fleht  der  Sänger  der  Klagelieder,  daß  der  Gott  seinen  Groll  aufgebe 
und  sich  wieder  gnädig  seinem  Verehrer  zuwende. 

„Es  besänftige  sich  dein  Gemüt,  es  beruhige  sich  dein  Herz!"  „Ruhe  endlich!" 
sind  die  stereotypen  Wendungen,  die  in  den  babylonisch-assyrischen  Klage- 
liedern unzählige  Male  wiederkehren.  „Verkünde  Versöhnung!"  „Wende  dich 
um,  kehre  zurück!"  „Gewähre  mir  Gnade!"  128  sind  andere  gebräuchliche  Redens- 
arten. „Sei  gnädig,  gib  Gnade!"  ruft  der  vedische  Dichter  in  seinen  Bußpsalmen 
zu  Varuna.  129  Der  Zorn  der  Gottheit  wurde  durch  ein  bewußtes  oder  unbewußtes, 
sittliches  oder  rituelles  Vergehen  erregt;  deshalb  fleht  der  Mensch,  daß  Gott  ihm 


5.   Inhalt  (Klage)  177 


diese  Sünde  vergebe,  sie  vergesse  und  tilge.  „Vergib  mein  Vergehen!"  „Meine 
vielen  Schlechtigkeiten  zerreiße  wie  ein  Gewand!"  „Lösch  aus  meine  Schuld!" 
„Befreie  von  dem  Vorgehen,  tilge  dieSchuld!"  130  heißt  es  in  babylonisch-assyrischen 
Klageliedern.  Und  in  einem  Varunahymnus  steht  die  Bitte:  „Was  immer  wir 
Menschen  am  Geschlecht  der  Götter  begehen,  Varuna,  wenn  wir  deine  Gesetze 
übertreten  haben,  nicht  schädige  uns  wegen  dieser  Sünde."  131 

Sünde  und  Schuld  ist  hier  eine  Beleidigung  der  Gottheit,  die  der 
Mensch  wissentlich  oder  unwissentlich  begangen  hat,  und  durch  die  er 
ihren  Zorn  auf  sich  lädt.  Mit  dieser  Vorstellung  verbindet  sich  beim 
primitiven  Menschen  noch  eine  völlig  andere.  Sünde  ist  auch  ein  Fluch, 
der  auf  ihm  lastet,  ein  Bann,  der  sich  über  ihn  gelegt  hat,  eine  Be- 
fleckung, die  ihn  verunreinigt,  ein  Aussatz,  der  seinem  Leib  anhaftet. 
Sünde  ist  auch  eine  gefährliche,  schädigende  Kraftsubstanz,  ein  Gift- 
stoff, der  in  seinem  Körper  wühlt,  ein  Tabu,  das  in  ihm  steckt,  eine 
magische  Fessel,  die  ihn  bindet.  Der  Beseitigung  des  unheilvollen 
Sündentabus  dient  das  ganze  System  der  kathartischen  Riten.  Aber 
der  Mensch  wendet  sich  auch  im  demütigen  Gebet  zu  der  Gottheit, 
auf  daß  sie  ihn  vom  magischen  Band  der  Sünde  befreie.  In  den  baby- 
lonisch-assyrischen wie  in  den  rigvedischen  Bußpsalmen  begegnet  uns 
immer  wieder  die  Bitte  um  Lösung  der  ,Sündenfessel'  —  das  Bild  lebt 
noch  in  unserer  religiösen  Sprache  fort. 

In  einem  Klagelied  fleht  der  Dichter  die  Ischtar  an:  „Löse  auf  meinen  Bann! 
Löse  meine  Schuld,  mein  Vergehen,  meine  Missetat  und  Sünde."  In  einem  anderen 
Bußpsalm  betet  der  Priester  für  den  Sünder:  „öffne  seine  Bande,  befrei  ihn  von 
seinen  Fesseln."  „Lockere  seine  Fessel,  damit  er  schleunigst  aufatme."  132  Zu 
Varuna  ruft  der  Sänger:  „Löse  jede  begangene  Sünde  von  uns!"  „Welche  Sünde 
wir  immer  gegen  den  Eidam  begangen  haben,  diese  löse  von  uns,  o  Varuna!" 
„Löse,  o  Varuna,  die  oberste  Fessel  von  uns,  löse  die  unterste,  löse  die  mittlere."  13:i 

Wie  in  den  primitiven  Gebeten  (s.  o.  S.  87  f.)  wird  die  Bitte  um  Vergebung  der 
Sünde  und  Lösung  der  Schuld  bisweilen  von  einem  Sündengeständnis  begleitet. 
Ein  babylonischer  Büßer  gesteht:  „Viel  sind  meiner  Sünden,  die  ich  gesündigt 
allesamt."  In  einem  anderen  Bußpsalm  wird  mehrmals  das  demütige  Sünden- 
bekenntnis wiederholt:  „O  Herr,  meine  Vergehen  sind  viele,  groß  sind  meine 
Sünden."  In  einem  Bußgebet  an  die  Schutzgottheiten  kehrt  immer  wieder  das 
Geständnis:  „Meine  Vergehen  sind  siebenmal  sieben."  13*  Dem  offenen  Sünden- 
bekenntnis schließt  sich  bisweilen  eine  Entschuldigung  an:  nicht  böser  Wille, 
sondern  Unwissenheit  sei  die  Ursache  der  Verfehlung  gewesen.  „Als  ich  noch 
klein  war,  sündigte  ich."  Oder  der  Beter  erklärt,  sich  keiner  Schuld  bewußt  zu 
sein:  „Das  Vergehen,  das  ich  begangen,  kenne  ich  nicht.  Die  Sünde,  die  ich  getan, 
kenne  ich  nicht".  13<s 

Klage,  Sündenbekenntnis,  Entschuldigung  und  Bitte  um  Vergebung 
dienen  demselben  Zweck  wie  die  Huldigung  und  Lobpreisung ;  sie  wollen 
die  Gnade  und  Gunst  der  Gottheit  gewinnen.  Der  Beter  will  das  Mitleid 
des  Gottes  erwecken  und  seinen  Zorn  beschwichtigen.  Der  Bußpsalm 
ist  seiner  inneren  Tendenz  nach  ebenso  wie  der  Hymnus  ein  Bittgebet 
im  primitiven  Sinne.  Wie  der  Lobsänger  durch  überschwenglichen  Preis 
und  durch  Schmeichelei,  so  sucht  der  Bußdichter  durch  Klage  und 
Schuldbekenntnis  sich  Gottes  Huld  zu  sichern. 

6.  Die  im  Hymnus  angerufenen  höheren  Wesen. 
Die  Wesen,  an  die  der  priesterliche  Dichter  im  Hymnus  und  Buß- 
psalm sich  wendet,  sind  die  synkretischen  Göttergestalten  des  umfassenden 

Das  Gebet  12 


178  CIL  Der  priesterliche  Kult-  und  Beschwörungen ymnus 

Pantheons,  das  die  antiken  Ritualreligionen  gebildet  haben.  Fast  alle 
diese  Gottheiten  zeigen  meist  noch  deutlich  ihren  ursprünglichen  Cha- 
rakter als  Natur-,  Lokal-  oder  Tätigkeitsgötter.  Der  ägyptische  Ra  ist 
ursprünglich  ein  Sonnengott,  der  vedische  Indra  ein  Sturm-  und  Wetter- 
gott, die  ägyptische  Isis  wie  die  assyrische  Ischtar  sind  Muttergöttinnen, 
die  alles  vegetativ.;  und  animalische  Leben  hervorbringen,  der  alt- 
indische Agni  ist  der  Gott  des  flackernden  Herd-  und  Opferfeuers,  der 
thebanische  Amon  und  der  babylonische  Marduk  sind  ehedem  Lokal- 
götter gewesen,  der  ägyptische  Thot,  der  Gott  der  Schreibkunst  und 
Weisheit,  ist  ein  ausgesprochener  Tätigkeits-  oder  Patrongott.  Aber 
das  ursprüngliche  Wesen  dieser  Gottheiten  stellt  nur  den  Grundton 
in  ihrem  Bilde  dar,  der  bald  mehr,  bald  weniger  von  anderen  Farben 
überdeckt  ist.  Diese  Göttergestalten  nahmen  die  Tätigkeiten  und 
Funktionen  zahlreicher  anderer  Götter,  Naturgeister,  Lokalgötter, 
Sondergötter  und  Heroen  in  sich  auf,  so  daß  ihr  eigentlicher  Charakter 
mehr  oder  weniger  verblaßte,  bisweilen  sogar  bis  zur  Unkenntlichkeit 
entstellt  wurde.  So  ist  es  uns  heute  unmöglich,  die  ursprüngliche  Eigen- 
art des  ägyptischen  Osiris  mit  Sicherheit  zu  bestimmen.  Dieser  Syn- 
kretismus der  Göttervorstellung  beruht  auf  einem  natürlichen  religions- 
geschichtlichen Prozeß,  dessen  treibende  Kräfte  an  früherer  Stelle  be- 
sprochen wurden.  (S.  o.  S.  115  f.)  Die  rituelle  Hymnenpoesie  brachte 
noch  eine  künstliche  Steigerung  dieses  Synkretismus.  Um  dem  ange- 
rufenen Gott  zu  schmeicheln,  häufen  die  Priester  die  überschwänglichen 
Prädikate  und  preisen  ihn  als  den  höchsten  aller  Götter.  So  werden 
ihm  „nicht  nur  die  Vorzüge  vieler  anderer  Götter  beigelegt,  sondern 
auch  Charaktere,  Funktionen  und  Erlebnisse  derselben  ganz  kritiklos 
in  sein  Bild  eingefügt."  136  Daraus  erklärt  sich  der  verschwommene , 
wenig  individuelle  Charakter  der  in  den  Hymnen  gepriesenen  Gott- 
heiten. Sie  sind  einerseits  anthropomorpher  als  die  höheren  Wesen, 
zu  denen  der  primitive  Mensch  betet,  weil  sie  sich  der  Naturgebundenheit 
mehr  oder  weniger  entrissen  haben,  andererseits  aber  raubt  ihnen  wieder 
der  wirre  Synkretismus  die  schärfere  Individualisierung,  die  ihnen  die 
Loslösung  vom  Naturuntergrunde  gebracht  hatte. 

Weil  das  Machtgebiet  dieser  synkretistischen  Götter  in  keine  Grenzen 
eingeengt  ist,  beten  zu  ihnen  die  Hymnensänger  um  die  verschiedensten 
Glücksgüter.  Die  schlichten  Leute  aus  dem  Volke  flehen  freilich  — 
soweit  sie  sich  überhaupt  an  diese  zum  offiziellen  Priesterkult  gehörenden 
Gottheiten  wenden  —  auch  sie  vorwiegend  in  ganz  bestimmten  Nöten 
an.  (S.o.  S.  116.)  Die  Volksreligion  hat  eben  die  ursprüngliche  Wesensart 
der  Götter  treuer  bewahrt  als  die  rituelle,  theologische  Priesterreligion. 

Der  Universalismus  der  in  der  Hymnenpoesie  angebeteten  Götter 
fordert  einen  Vergleich  mit  den  hehren  Gestalten  der  primitiven  ,Ur- 
väter'  heraus.  Auch  sie  gelten  als  ,höchste  Wesen',  als  Schöpfer  alles 
Seienden,  als  Herren  Himmels  und  der  Erde.  Auch  zu  ihnen  betet  der 
Mensch  um  die  verschiedensten  Gegenstände  und  bei  den  verschiedensten 
Anlässen.  Dennoch  springt  der  Unterschied  zwischen  den  primitiven 
Urvätern  und  den  großen  Göttern  der  antiken  Religionen  beim  ersten 
Blick  in  die  Augen.     Die  ,high  gods'  der  Naturvölker  sind  durchaus 


7.  Die   Gottesvorstellung  179 


einfache  Wesen,  so  einfach  wie  die  Naturgeister  und  die  Ahnen;  die 
antiken  Götter  hingegen  sind  komplizierte  Gestalten,  hervorgegangen 
aus  der  Vermischung  zahlreicher  Einzelgötter.  Die  Urväter  der  Primi- 
tiven sind  wirkliche  Schöpfergottheiten  und  Weltbeherrscher,  die 
Schöpfertätigkeit  ist  ihre  wesentliche  Tätigkeit ;  die  antiken  Götter  hin- 
gegen —  der  Varuna  des  Veda  ausgenommen  —  sind  keine  Schöpfer- 
gottheiten, der  Dichter  sucht  ihnen  nur  zu  schmeicheln,  indem  er  sie 
zu  Weltschöpfern  erhebt.  In  den  primitiven  Gebeten  an  den  Urvater 
redet  eine  ehrliche  Überzeugung,  in  den  antiken  Kulthymnen  ist  die 
Lobpreisung  des  Gottes  als  Schöpfers  eine  nicht  ernst  gemeinte  Phrase. 
In  den  eigentlichen  Kulthymnen  wird  stets  nur  ein  Gott  angerufen ; 
diese  Ausschließlichkeit  ist  schon  durch  die  ganze  Tendenz  des  Hymnen- 
dichters gefordert.  In  manchen  vedischen  Opfergesängen  werden  der 
Reihe  nach  sämtliche  Götter  des  vedischen  Pantheons  mit  Namen 
angerufen.  137  Der  Beter  fürchtet  den  Zorn  einer  Gottheit  auf  sich  zu 
laden,  wenn  er  übersieht,  sie  zum  Opfermahl  einzuladen.  Einige  avestische 
Yascht  sind  bloße  Namenlisten,  aus  weitläufigen  Anrufungen  der 
Götter  und  Geister  bestehend.  138  In  vielen  babylonisch-assyrischen 
Klageliedern  wendet  sich  der  Sänger  an  eine  Vielzahl  von  Gottheiten ; 
der  Namennennung  folgt  in  Litaneiform  die  einförmige  Bitte.  Manche 
Texte  zählen  lediglich  die  Namen  auf  und  fügen  ihnen  erläuternde 
Epitheta  bei.     So  heißt  es  in  einem  Bußpsalm: 

„Enlil  und  seine  Gemahlin  Ninlil,  Ninib  und  Gula,  Ea,  Damkina,  En-mul. 
Nin-mul,  Nusku  von  erhabener  Macht,  Schutzgeist  von  E-kur,  Mutter  des  Hauses 
der  Sa-dar-nunna ;  Sir,  Schutzgeist  von  E-iarra,  gnädiger  Lamassu  von  erhabenem 
Glanz."  So  geht  die  schier  endlose  Kette  der  Götternamen  fort,  bis  mit  einer 
generellen  Anrufung  aller   Götter  geschlossen  wird: 

,,Die  Götter  des  Himmels,  die  Götter  der  Erde, 
Die  großen  Götter  —  ihrer  fünfzig, 

Die  Götter  der  Schicksalsbeschwörung  —  ihrer  sieben. 
Die  Annunaki  des  Himmels  —  ihrer  dreihundert. 
Die  Annunaki  der  Erde  —  ihrer  sechshundert."  13* 

Der  vom  Unglück  Heimgesuchte  zählt  alle  Götter  auf,  um  den  Gott, 
der  ihm  grollt  und  den  er  nicht  kennt,  nicht  zu  übersehen,  oder  er  ruft 
alle  Gottheiten  zu  Hilfe,  damit  sie  den  Grimm  des  einen  strafenden 
Gottes  besänftigen. 

7.  DiedemKulthymnus   zugrundeliegende  Gottes- 
vorstellung. 

Die  Götter,  an  die  der  priesterliche  Dichter  sich  im  Hymnus  wendet, 
besitzen  denselben  anthropomorphen  Charakter  wie  die  Naturgeister, 
Lokal-  und  Sondergötter,  zu  denen  der  Primitive  betet.  Was  Olden- 
berg  von  den  vedischen  Göttern  sagt,  gilt  von  den  Göttern  der  antiken 
Ritualreligionen  überhaupt:  „Sittliche  Erhabenheit,  Heiligkeit  im 
Sinne  unserer  Religion  liegt  dem  Wesen  dieser  himmlischen  Herren  im 
ganzen  ziemlich  ferne.  Sie  sind  erregbar,  launenhaft,  überwiegend  von 
einer  nicht  ganz  zuverlässigen  Gutmütigkeit;  tückische,  gefährliche 
Gesellen  fehlen  unter  ihnen  nicht.  Um  ihre  Gunst  zu  gewinnen,  ist  es 
nicht  so  wesentlich,  Tugenden  zu  üben,  als  vielmehr  sie  reichlich  zu 


180  C  II.   Der  priesterliche  Kult-  und    Beschwörungshymnus 

speisen,  prächtige  Trinkgelage  zu  veranstalten,  durch  kunstvolle  Lob- 
lieder ihnen  zu  schmeicheln."  140  Der  letzte  Punkt  zeigt  den  Fort- 
schritt gegenüber  der  primitiven  Gottesvorstellung.  Die  Götter  sind 
stets  nach  dem  ^Bild  und  Gleichnis'  des  Menschen  gedacht.  Mit  dem 
Fortschritte  der  Kultur  schreiten  auch  die  Göttervorstellungen  fort; 
steigern  und  verfeinern  sich  die  Genüsse  der  Menschen,  so  steigert 
und  verfeinert  sich  in  der  Vorstellung  des  Menschen  auch  das 
Genießen  der  Götter.  Die  Götter  fordern  dann  nicht  bloß  Speise  und 
Trank,  sondern  auch  ästhetische  Freuden  und  glänzende  Ruhmreden, 
die  ihr  Selbstgefühl  steigern.  „Dir,  o  Agni,"  heißt  es  im  Rigveda,  „soll 
das  süßeste  Wort,  dir  dieses  Lied  gehören,  als  Freude  für  das  Herz."  141 
Die  kunstvollen  Hymnen,  welche  die  Priester  ihnen  zu  Ehren  dichten 
und  vortragen ,  erfreuen  und  stärken  die  Götter  genau  so  wie  die  Speise- 
und  Trankopfer.  Die  Verherrlichung  ihrer  Macht  und  Güte  weckt  in 
ihnen  Lust  und  Mut  zu  neuen  Machttaten  und  Hulderweisen.  Wie  die 
Menschen,  so  haben  auch  die  Götter  Wohlgefallen  an  klingenden  Phrasen, 
an  schwungvollen  Reden,  an  überraschenden  Wortspielen,  am  Rhythmus 
und  Gleichmaß  der  Gedichte.  So  wird  der  Hymnus  zu  einer  „von 
Herzen  gezimmerten  Opferspeise",  wie  ein  treffendes  rigvedisches 
Bildwort  besagt.  Die  prunkvoll  aufgeputzten  Gesänge  erfüllen  den 
vedischen  Gott  „wie  die  großen  Strömeden  Indus",  142  sie  umschmeicheln 
und  umarmen  ihn  wie  die  Gattin  den  Gatten,  die  Liebende  den  Ge- 
liebten, sie  stärken  ihn  wie  der  heilige  Rauschtrank  des  Soma.  143  So 
liegt  auch  dem  Hymnus  derselbe  Anthropomorphismus  der  Gottesvor- 
stellung zugrunde,  der  die  Voraussetzung  für  das  primitive  Gebet  bildet 

8.  Das  im  Hymnus  sich  äußernde  Verhältnis  des 
Menschen  zu  Gott. 

Dem  kultischen  Zweck,  zumal  der  engen  Verbindung  mit  dem  Opfer 
entspricht  es,  daß  der  Hymnus  weder  eine  Meditation  noch  eine  Homilie, 
weder  ein  Monolog  noch  ein  Epos  ist,  sondern  ein  wirkliches  Gebet. 
Nicht  an  menschliche  Hörer  wendet  sich  der  Sänger,  sondern  an  einen 
Gott.  Schon  seiner  äußeren  Gestalt  nach  ist  der  Hymnus  zumeist  ein 
Gebet;  die  verschiedenen  Formen  und  Teile  des  Gebets:  Anrufung, 
Klage,  Bitte,  Lob,  Überredung  kehren  in  ihm  wieder.  Aber  auch  dann, 
wenn  die  Du-Anrede  an  den  Gott  nicht  konsequent  durchgeführt  ist 
oder  sogar  völlig  fehlt,  ist  der  Gebetscharakter  des  Hymnus  doch  un- 
zweifelhaft. Durch  das  Fehlen  der  äußeren  Gebetsform  wird  die  innere 
Gebetstendenz  des  Kulthymnus  nicht  aufgehoben. 

Wie  im  primitiven  Gebet,  so  spielt  sich  auch  im  Hymnus  ein  realer 
Verkehr  des  Menschen  mit  dem  gegenwärtigen  Gotte  ab.  Der  Beter 
versucht  eine  Einwirkung  auf  den  Gott,  er  will  ihn  für  sich  gewinnen 
oder  ihn  umstimmen  und  wendet  zu  diesem  Zwecke  jene  Mittel  der 
Rede  an,  die  er  auch  im  Verkehr  mit  Menschen  benützt,  um  seine  Ziele 
zu  erreichen.  Wie  das  Verhältnis  des  primitiven  Beters  zu  Gott,  so  ist 
auch  das  Verhältnis  des  Hymnendichters  zu  dem  gefeierten  Gotte  der 
Widerschein  eines  menschlich-irdischen  Gesellschaftsverhältnisses ; 
freilich    nicht    eines    Kindschafts-  oder    Verwandtschaftsverhältnisses. 


8.  Verhältnis  zu  Gott  —  9.   Schlußcharakteristik  181 

Wenn  in.  manchen  ägyptischen  und  assyrischen  Hymnen  in  der  Gebets- 
anrede der  Vater-  oder  Muttername  gebraucht  wird,  so  ist  das  nur  eine 
uralte  Gebets tradition  oder  eine  geschickt  gewählte,  schmeichelhafte 
Phrase.  Das  Verhältnis  des  priesterlichen  Dichters  zum  angerufenen 
Gott  spiegelt  das  Verhältnis  der  orientalischen  Höflinge  zu  ihrem 
Herrscher  wider.  Mit  ähnlichen  schwulstigen  Schmeicheleien  und  Er- 
gebenheitsphrasen überhäuften  die  ägyptischen  Hofbeamten  den  Pharao, 
die  babylonischen  Gaufürsten  und  Priester  ihren  Großkönig.  Das 
Verhältnis  des  Hymnendichters  zu  dem  gepriesenen  Gott  ist  ebensowenig 
wie  das  eines  Hofmannes  zu  dem  mächtigen  Despoten  ein  echtes,  unbe- 
fangenes Vertrauensverhältnis,  sondern  steif,  offiziell,  zeremoniös.  Da 
ist  keine  kindliche  Herzlichkeit,  keine  Zuversicht,  keine  Sehnsucht  und 
Begeisterung.  Schon  der  Umstand,  daß  der  Dichter  viele  Gottheiten 
besingt,  schließt  eine  volle  Hingebung  an  den  angebeteten  Gott  aus. 
„Man  kann,"  bemerkt  Oldenberg,  ,, nicht  zu  einem  Gott  so  reden,  wie 
der  alttestamentliche  Dichter  zu  Jahwe  redet,  wenn  man  weiß,  daß  im 
nächsten  Augenblick  die  Opferordnung  die  Besingung  eines  anderen 
und  dann  alsbald  wieder  eines  anderen  Gottes  verlangen  wird.  Das 
Verhältnis  zwischen  Mensch  und  Gott  kann  hier  nicht  leicht  über  eine 
gewisse  Kühlheit  und  Äußerlichkeit  hinauskommen."  144 

9.  Schlußcharakteristik. 
Überschauen  wir  die  rituelle  Hymnendichtung  der  verschiedenen 
antiken  Religionen  und  vergleichen  wir  sie  mit  dem  naiven  Beten  des 
primitiven  Menschen,  so  zeigt  sich  deutlich,  daß  der  Kulthymnus  seinem 
Wesen  nach  primitives  Beten  ist.  Sein  Inhalt  weist  gegenüber  dem 
primitiven  Gebet  keine  wesentlich  neuen  Elemente  auf :  auch  Lob  und 
Klage  gehören,  wie  wir  sahen,  zum  primitiven  Beten;  im  Hymnus  und 
Bußpsalm  nehmen  sie  zwar  den  meisten  Raum  ein,  aber  sie  sind  ebenso 
wie  bei  jenen  nur  Überredungsmittel,  welche  die  Bitte  stützen  sollen. 
Dem  Hymnus  liegt  dieselbe  anthropomorphe  Gottesvorstellung  zu- 
grunde wie  dem  primitiven  Gebet,  den  Hymnendichter  und  -sänger 
beseelt  dieselbe  Absicht  wie  den  naiven  Beter;  es  gilt  den  Gott  zu  ge- 
winnen, daß  er  helfe  und  schenke,  schenke  im  Übermaß.  Während  so 
der  Hymnus  dieselbe  innere  Eigenart  besitzt  wie  das  Gebet  des  Primi- 
tiven, offenbart  er  in  zweierlei  Hinsicht  einen  Unterschied.  Ein  Fort- 
schritt liegt  in  der  formalen  Seite:  die  dichterisch-künstlerische  Fassung 
der  Lobpreisung  ist  bedingt  durch  den  Fortschritt  der  allgemeinen 
Kultur,  der  eine  Steigerung  und  Verfeinerung  des  ästhetischen  Wert- 
fühlens  mit  sich  bringt.  Diesem  formalen,  äußeren  Fortschritt  steht 
gegenüber  ein  innerer  Rückschritt.  Die  Hymnenpoesie  hat  ebenso  wie 
das  rituelle  formelhafte  Prosagebet  im  ganzen  die  urwüchsige  Frische 
und  Naivität  eingebüßt,  die  das  auszeichnende  Merkmal  des  primitiven 
Betens  bildet  und  die  auch  im  primitiven  Kultlied  noch  spürbar  ist. 
Trotz  des  äußeren  dichterischen  Prunkes  ist  darum  der  Kulthymnus 
ebenso  wie  das  komplizierte  Mythensystem  und  das  priesterliche  Ritual 
der  antiken  Völker  ein  Degenerationsprodukt.  Die  antike  Ritualpoesie 
ist  „der  Schlußstein  einer  sehr  langen  Entwicklung"  (Pischel)  146,  einer 


182  C  III.    Der  literarische  Hymnus 

Entwicklung,  in  der  das  religiöse  Denken  und  Leben  seiner  ursprüng- 
lichen Kraft  und  Tiefe  verlustig  ging.  Die  Gottesvorstellung,  der  Mythus, 
der  Gebetsverkehr  mit  Gott  verraten  durchgängig  „einen  Verfall  und 
ein  Altern  des  geistigen  Lebens,  wo  Schulmethode  und  Pedanterie  das 
Denken  vorwiegend  beherrschen,  wo  der  Glaube  zur  Theorie,  der  Kultus 
zum  Ritual  geworden"   (Edvard  Lehmann).  146 

Als  Stück  des  priesterlichen  Rituals  partizipiert  der  Kulthymnus  an 
dem  Heiligkeitscharakter,  der  diesem  eigen  ist.  Voll  Ehrfurcht  und 
Bewunderung  lauschten  die  Epigonen  den  Worten  der  aus  alter  Zeit 
überlieferten  Kulthymnen.  Nirgends  erreichte  die  Wertschätzung  der 
Ritualdichtung  eine  solche  Höhe  wie  im  alten  Indien.  Der  Rigveda 
erlangte  kanonische  Geltung;  seine  Hymnen  sind  ,inspiriert' ,  sind 
, Offenbarung',  sruti,  d.  h.  das,  was  die  heiligen  Barden,  die  rshi  in  ferner 
Vorzeit  aus  dem  Munde  der  Götter  hörten.  In  Ägypten  und  im  Zwei- 
strömeland erreichten  die  Hymnensammlungen  zwar  nicht  den  Charakter 
inspirierter  Offenbarungsbücher.  Trotzdem  war  ihre  Wertung  keines- 
wegs geringer;  man  schrieb  den  Hymnen  zauberhafte  Kraft  zu,  eine 
Anschauung,  die  wir  auch  im  alten  Indien  antreffen.  Wie  das  Opfer 
zur  Zauberhandlung  wurde,  so  sank  der  Hymnus  aus  einem  Gebet  zum 
Zauberspruch  herab,  der  dann  auch  außerhalb  des  Kults  zu  allerlei 
magischen  Praktiken  benützt  wurde.  So  wurde  die  rituelle  Hymnen- 
poesie in  den  großen  Entartungsprozeß  hineingezogen,  der  die  antiken 
Ritualreligionen  zu  verworrenen  Zaubersystemen  verkümmern  ließ  und 
so  ihre  Auflösung  vorbereitete.  Gleichwohl  wurde  sie  auch  der  Aus- 
gangspunkt einer  individuellen  religiösen  Poesie,  die,  losgelöst  vom 
Ritual,  einen  höheren  und  reineren  Frömmigkeitstyp  schuf. 

III.  Der  literarische  Hymnus. 
Die  überschwänglichen  Lobpreisungen  des  Hymnus  dienten,  wie  wir 
sahen,  ursprünglich  dazu,  den  jeweils  angerufenen  Gott  sich  geneigt  zu 
machen;  sie  waren  lediglich  eine  captatio  benevolentiae,  eingegeben 
vom  egoistischen  Wunsche  nach  Erlangung  von  Hilfe  und  Gunst- 
erweisen. Aber  das  konzentrierte  Streben,  in  immer  neuen  Formen  des 
Gottes  Macht,  Güte  und  Schönheit  zu  verherrlichen,  bedingte  in  tieferen 
Naturen  einen  Wandel  der  psychischen  Motive.  Der  gefeierte  Gott 
wird  durch  die  übertreibenden  Lobpreisungen  in  der  Vorstellung  des 
Dichters  wie  des  Hörers  immer  größer  und  herrlicher.  Die  betrachtende 
Vergegenwärtigung  des  Wesens  und  Wirkens  der  Gottheit  läßt  den 
Sänger  ästhetische  Werte  im  Bilde  des  Gottes  entdecken  und  genießen. 
Die  Vorstellung  Gottes,  dessen  Wert-  und  Erhabenheitscharakter  der 
Sänger  absichtlich  und  künstlich  gesteigert  hatte,  wirkt  so  auf  dessen 
Erleben  zurück,  und  weckt  in  ihm  spontane,  echte  Wertgefühle:  Ehr- 
furcht, Bewunderung,  Staunen,  Entzücken,  Sehnsucht,  Hingabe. 147 
Die  henotheistische  Erhebung  des  angebeteten  Gottes,  geboren  aus 
schmeichlerischer  Gefälligkeit,  erregt  im  Beter  echte  Gottesliebe:  er 
erlebt  den  Gott,  den  er  angerufen,  als  höchsten  Wert.  Diese  tiefen 
seelischen  Erlebnisse  drängen  in  künstlerisch  begabten  Frommen  zu 
neuen,  selbständigen  Ausdrucksformen:  die  alten  stereotypen  Epitheta 


Form  183 

und  Huldigungsphrasen  genügen  nicht,  um  die  quellenden  Affekte  und 
Gefühle  des  von  seinem  Gott  Ergriffenen  auszudrücken;  so  besingt  er 
den  Gott  in  neuen  individuellen  Hymnen,  die  er  nach  Analogie  der 
alten  Kulthymnen,  unter  Verwendung  derselben  poetischen  Kunstmittel 
dichtet.  Aus  der  traditionellen  Ritualpoesie  wächst  auf  diese  Weise 
eine  individuelle  Hymnenpoesie  heraus,  die  den  Zusammenhang  mit 
der  älteren  Kultpoesie  noch  deutlich  offenbart,  aber  nach  Form  und 
Inhalt  einen  selbständigen  Typ  der  Hymnendichtung  darstellt.  Bis- 
weilen (z.  B.  in  manchen  ägyptischen  Hymnen)  treffen  wir  beide  Dich- 
tungsarten nebeneinander ;  der  Dichter  ringt  noch  mit  dem  traditionellen 
Schema,  aber  er  vermag  sich  ihm  nicht  völlig  zu  entwinden. 

In  allen  priesterlichen  Ritualreligionen,  im  alten  Mittelamerika  und 
im  vedischen  Indien,  in  Ägypten  und  in  Assyrien  löste  sich  eine  freie, 
literarische  Hymnenpoesie  von  der  Ritualdichtung  ab.  In  Ägypten 
können  wir  sogar  den  Zeitpunkt  hiefür  bestimmen :  in  der  zweiten  Hälfte 
des  neuen  Reiches  vollzieht  sich  der  Umschwung:  „Der  frische  Zug, 
der  in  dieser  Epoche  das  ägyptische  Leben  durchweht,  ruft  eine  religiöse 
Dichtung  hervor,  in  der  das  Fühlen  und  Empfinden  des  Einzelnen  frei 
sich  ausspricht"  (Erman).  148  Auch  in  Griechenland  ging  aus  der 
Kultpoesie  eine  literarische  Hymnenpoesie  hervor;  ,,die  Hymnen- 
dichtung in  Griechenland  muß  im  8.  Jahrhundert  einen  lyrischen 
Charakter  erhalten  haben."  (Holwerda) 149  Die  berühmtesten  dieser 
griechischen  Hymnen  sind  jene,  die  unter  Homers  Namen  bekannt 
sind.  Im  Unterschied  von  der  literarischen  Hymnenpoesie  der  genannten 
Ritualreligionen  schloß  sich  die  griechische  unmittelbar  an  das  einfache 
Kultlied  an,  da  die  griechische  Religion  eine  eigentliche  Ritualpoesie 
analog  der  indischen  oder  ägyptischen  nicht  besitzt. 

Die  individuelle  Hymnendichtung,  die  aus  der  schematischen  Kult- 
hymnenpoesie herauswuchs,  ist  im  Gegensatz  zu  dieser  rein  literarischer 
Natur.  Der  Sänger  dichtet  nicht  für  die  Zwecke  des  Kultus ;  der  Hymnus 
ist  nicht  dazu  bestimmt,  ein  Opfer,  eine  Weihe-  oder  Sühnezeremonie 
zu  begleiten,  sondern  er  ist  der  selbständige,  spontane  Ausdruck  der  in. 
der  Seele  des  Dichters  sich  drängenden  Gefühle,  Stimmungen  und  Affekte, 
Unter  den  babylonischen  und  assyrischen  Priestern,  schreibt  Jastrow 
„gab  es  gewiß  manche,  die  entweder  durch  ihr  frommes  Gemüt  angeregt 
oder  durch  schriftstellerisches  Talent  ermutigt,  Hymnen  verfaßten,  ohne 
den  bestimmten  Zweck  ihrer  Verwertung  beim  Gottesdienst  im  Auge 
zu  haben  —  gleich  den  Psalmendichtern  des  Alten  Testaments,  bei 
denen  der  rein  religiöse  Sinn  augenscheinlich  das  Hauptmotiv  bildete, 
wenn  auch  später  die  Sammlung  selbst  zu  rein  gottesdienstlichen  Zwecken 
redigiert  wurde."  Freilich  ist  es  nicht  immer  leicht,  zwischen  Kult- 
hymnus und  literarischem  Hymnus  zu  unterscheiden;  „einen  fest- 
stehenden Maßstab  gibt  es  nicht."  15°  Otto  Weber  urteilt:  „Viele  baby- 
lonische Hymnen  sind  gewiß  wie  die  hebräischen  Psalmen  ursprüngliche, 
spontane  Ausflüsse  persönlicher  Stimmungen."  Wir  haben  ein  Recht, 
aus  der  Reihe  der  Klagelieder  und  Bußpsalmen  „literarische  Psalmen 
auszuscheiden  in  Rücksicht  auf  den  Umstand,  daß  diese  letzteren 
keinerlei   Beziehung   zum   praktischen   Kultus   verraten,   während   die 


184  CHI.  Der  literarische  Hymnus 

ersteren  durch  innere  und  äußere  Anzeichen  ihren  engen  Zusammen: 
hang  mit  dem  gottesdienstlichen  Gebrauch  bekundeten.  Wir  haben 
es  vielmehr  offenbar  mit  rein  literarisch  zu  wertenden  Erzeugnissen  zu 
tun,  und  zwar  mit  solchen,  die  nicht  nur  ursprünglich,  sondern  wie  es 
scheint,  für  alle  Zeiten  als  rein  literarische  Denkmäler  betrachtet  und 
überliefert  und  nie  in  den  gottesdienstlichen  Zusammenhang  eingefügt 
worden  sind."  151  Ein  Teil  der  vedischen  Hymnen  sind  nach  Winternitz 
„unabhängig  von  allem  Opferrituell  als  die  naiven  Äußerungen  eines 
frommen  Götterglaubens,  als  die  Herzensergüsse  gottbegeisterter  Sänger 
entstanden;  in  ihnen  weht  der  Hauch  echter,  urwüchsiger,  religiöser 
Poesie."152  Auch  die  orphischen  und  homerischen  Hymnen  sind  nach 
dem  Urteil  eines  Fachgelehrten  „nicht  liturgische  Gesänge"  (Bau- 
meister). 153  Es  ist  jedoch  nicht  ausgeschlossen,  daß  Hymnen,  die  ur- 
sprünglich nicht  zu  Kultzwecken  geschaffen  worden  waren,  sekundär 
zu  solchen  benützt  wurden,  wie  das  bei  den  israelitischen  Psalmen  der 
Fall  war.  So  vermutet  Jastrow,  daß  das  ergreifende  Klagelied  des 
assyrischen  Hiob  von  einem  Priester  am  Versöhnungstag  rezitiert 
wurde.  154  Roeder  schließt  aus  der  großen  Zahl  der  Stellen,  an  denen 
der  Sonnenhymnus  des  Ichenaton  überliefert  ist,  daß  er  „das  Bekennt- 
nislied der  Atongemeinde"  ist.  „Wenn  nicht  bei  jedem  Gottesdienst, 
so  ist  er  gewiß  bei  den  großen  Feierlichkeiten  wie  ein  Tedeum  gesungen 
worden."  156 

Die  Verfasser  der  Kulthymnen  sind  stets  Priester,  die  für  rituelle 
Zwecke  dichten.  Die  literarische  Hymnenpoesie  hingegen  erscheint  als 
Laienschöpfung.  Hier  sprechen  religiös  und  dichterisch  produktive 
Männer  der  Bildungsschicht,  Fürsten  und  Ritter,  Künstler  und  Beamte. 
Die  peruanischen  Inkas  dichteten  schwungvolle  Hymnen,  deren  religiöse 
Reinheit  und  Tiefe  uns  überrascht.  156  Um  1400  v.  Chr.  dichteten  zwei 
ägyptische  Architekten,  Suti  und  Hör,  die  von  Amenophis  III.  in 
Theben  beschäftigt  waren,  einen  feurigen  Sonnenhymnus,  der  auf  einer 
im  britischen  Museum  befindlichen  Stele  uns  erhalten  ist.  157  Der  be- 
geisterte Preisgesang  auf  Aton  ist  das  Werk  des  Königs  Amenophis  IV. 
Ichenaton,  des  großen  Reformators  der  ägyptischen  Religion.  158  Die 
hymnischen  Gebete,  die  man  in  den  vornehmen  Gräbern  von  Teil 
el-Amarna  fand,  sind  nicht  priesterliche  Elaborate,  sondern  entstammen 
dem  Adel  und  der  Beamtenschaft  des  Ichenaton.  159  Aus  der  Zeit 
Ramses  II.  sind  prächtige  hymnische  Gebete  erhalten,  die  von  einem 
nach  Nubien  verbannten  Beamten  verfaßt  sind.  160  In  dem  Klage- 
gesang des  assyrischen  Hiob  redet  ein  König  von  seinen  Leiden  und 
Drangsalen.  161  Wir  dürfen  auch  vermuten,  daß  die  rein  literarischen 
Hymnen  des  Rigveda  nicht  von  Brahmanen,  sondern  von  Angehörigen 
der  Kriegerkaste  (Ksatrya)  stammen.  Der  Umstand,  daß  Laien  die 
Verfasser  dieser  Hymnen  sind,  bedingt  den  freien,  persönlichen  Charakter, 
der  ihnen  im  Unterschied  von  den  priesterlichen  Ritualhymnen  eigen  ist. 
Nur  Laien  waren  imstande,  sich  den  drückenden  Priestertraditionen 
zu  entreißen  und  neue  Ausdrucksformen  des  religiösen  Erlebens  zu 
schaffen. 

Die   literarische    Laienpoesie   unterscheidet   sich    von    der   rituellen 


Verfasser  — -  Inhalt  185 


Priesterpoesie  schon  in  der  Form.  Sie  ist  nicht  wie  diese  in  der  schwer- 
fälligen, schwulstigen  Sakralsprache,  sondern  in  der  leichten,  beweg- 
lichen Sprechsprache  abgefaßt.  Seit  der  zweiten  Hälfte  des  neuen 
Reiches  sind  die  ägyptischen  Hymnen  nicht  mehr  in  der  archaischen 
Sprache  der  alten  Literatur,  sondern  in  der  modernen  Umgangssprache 
gedichtet.  162  Von  der  Monotonie  der  Kulthymnen  sticht  die  Frische 
und  Farbenpracht  der  literarischen  Hymnen  ab;  dort  nüchterne  Sche- 
matik,  hier  individuelle  Kraft  und  Originalität;  dort  plumpe  und  grelle 
Bilder,  hier  anschauliche  und  packende  Vergleiche;  dort  ein  Hang  zum 
Maßlosen,  Verworrenen,  Grotesken,  hier  Klarheit,  Maß  und  Harmonie. 
Die  individuelle  Hymnenpoesie  ist  im  Gegensatz  zur  Ritualdichtung 
urwüchsige  Naturpoesie.  Die  priesterlichen  Dichter  häufen  stereotype 
Epitheta,  Titel,  Namen,  dunkle  mythologische  Andeutungen,  Huldigungs- 
formeln und  Ergebenheitsphrasen  —  die  literarischen  Hymnendichter 
versenken  sich  kontemplierend  in  das  Naturgeschehen,  in  dem  sie  des 
Gottes  Wesen  und  Wirken  erkennen,  sie  konzentrieren  sich  auf  die 
ästhetischen  Werte,  die  in  den  Naturobjekten  und  im  gesetzmäßigen 
Naturlauf  verkörpert  sind;  der  Gedanke,  daß  in  und  hinter  dem  Natur- 
geschehen ein  übernatürliches,  göttliches  Wesen  waltet,  verbindet  mit 
den  ästhetischen  Wertgefühlen  die  religiösen  Wertgefühle  anbetender 
Ehrfurcht  und  Bewunderung.  Meist  ist  es  die  Sonne,  deren  Schönheit 
und  Segenskraft  der  Dichter  betrachtet  und  lobpreist.  Als  das  schönste 
der  zahlreichen  Sonnenlieder  kann  der  Hymnus  des  ägyptischen  Königs 
Ichenaton  gelten.  Er  hebt  an  mit  einer  Schilderung  des  Sonnenauf - 
und  Untergangs: 

„Du  erglänzest  schön  im  Himmelshorizont,  du  lebender  Aton,  der  am  Uranfang 
lebte.  Wenn  du  aufgehst  am  östlichen  Horizont,  so  erleuchtest  du  jedes  Land 
durch  deine  Schönheit.  Wenn  du  herrlich  und  groß  und  glänzend  und  hoch  über 
jedem  Lande  bist,  umarmen  deine  Strahlen  die  Länder  bis  zum  Ende  alles  dessen, 
das  du  geschaffen  hast  .... 

Gehst  du  zur  Ruhe  im  westlichen  Horizont,  so  liegt  die  Erde  in  Finsternis, 
als  wäre  sie  gestorben.  Man  schläft  in  den  Zimmern  mit  verhülltem  Kopf,  kein 
Auge  sieht  das  andere;  wird  alle  ihre  Habe  weggenommen,  die  unter  ihren  Füßen 
liegt  —  sie  merken  es  nicht.  Jeder  Löwe  kommt  aus  seiner  Höhle,  und  die  Erde 
liegt  schweigend  da;  denn  der  Schöpfer  der  Menschen  ruht  in  seinem  Horizonte. 

Gehst  du  morgens  im  Horizonte  auf  und  erglänzest  als  Aton  am  Tage,  so  ver- 
treibst du  die  Finsternis  und  spendest  deine  Strahlen.  Die  beiden  Länder  freuen 
sich  dann ;  sie  erheben  sich  und  treten  auf  die  Füße  —  du  hast  sie  erhoben !  Man 
wäscht  seine  Glieder,  ergreift  seine  Kleider,  und  ihre  Arme  beten  dein  Erscheinen 
an.  Die  ganze  Erde  nimmt  ihre  Arbeit  auf.  Alles  Vieh  freut  sich  über  sein  Gras, 
die  Bäume  und  Gräser  werden  grün.  Geflügel  und  Vögel  (kommen)  aus  ihren 
Nestern,  ihre  Flügel  sogar  beten  deinen  Ka  an.  Alle  Ziegen  springen  auf  die  Beine, 
die  Vögel  und  alles  Fliegende  —  sie  beginnen  zu  leben,  wenn  du  ihnen  aufgehst. 
Die  Schiffe  fahren  stromab  und  wieder  stromauf,  jeder  Weg  ist  geöffnet  durch 
dein  Erscheinen;  selbst  die  Fische  im  Strom  springen  auf  dich  zu,  denn  deine 
Strahlen  reichen  tief  in  den  Ozean  hinein."  163 

Der  Lauf  der  Sonne  wird  in  einem  babylonischen  Hymnus  geschildert,  der 
freilich  an  poetischer  Frische  an  den  Atonhymnus  nicht  heranreicht: 

„Die  mächtigen  Gebirge  sind  erfüllt  von  deinem  Glänze, 

Deine  Helligkeit  füllt  und  überwältigt  alle  Länder, 

Du  erreichest  die  Gebirge,  überschauest  die  Erde, 

An  den  äußersten  Endpunkten  der  Erde,  mitten  im  Himmel  schwebst   du, 

Die  Einwohner  der  ganzen  Welt  überwachst  du    .... 


186  C  III.    Der    literarische  Hymnus 

Du  schreitest  regelmäßig  über  die  Himmelsbahn, 

Um  die  Erde  zu  erleuchten,  kommst  du  täglich  .... 

Du  überschreitest  das  weite,  ausgedehnte  Meer, 

Dessen  Tiefe  die  Himmelsgötter  nicht  kennen. 

O  Schamasch,  dein  Glanz  reicht  bis  in  die  Tiefe  hinein, 

Dein  Licht  durchdringt  die  Meereswogen  .... 

Welche  Gebirge  sind  nicht  bedeckt  durch  deinen  Glanz, 

Welche  Weltteile  sind  nicht  beleuchtet  durch  das  Aufflammen  deines  Lichtes! 

Du  erleuchtest  die  Dunkelheit,  erleuchtest  die  weite  Erde, 

Erhellest  den  Tag,  bringst  auf  die  Erde  herab  die  Hitze  am  Mittag, 

Machst  die  weite  Erde  erglühen  wie  ein  Flammenmeer. 

Du  kürzest  die  Tage  und  verlängerst  die  Nächte, 

Bringest  herbei  Kälte,  Frost,  Schauer  und  Schnee."  164 

Die  Morgenröte  (Usas)  wird  von  rigvedischen  Sängern  in  prachtvollen  Liedern 
besungen : 

..In     Majestät  aufstrahlt  die  Morgenröte 
Weiß  glänzend  wie  der  Wasser  Silberwogen, 
Sie  macht  die  Pfade  schön  und  leicht  zu  wandeln 
Und  ist  so  gut  und  mild  und  reich  an  Gaben. 

Ja,  du  bist  gut,  du  leuchtest  weit,  zum  Himmel 
Sind  deines  Lichtes  Strahlen  aufgeflogen. 
Du  schmückest  dich  und  prangst  mit  deinem  Busen. 
Und  strahlst  voll  Hoheit,   Göttin  Morgenröte. 

Es  führt  dich  ein  Gespann  von  roten  Kühen, 
Du  sel'ge,  die  du  weit  und  breit  dich  ausdehnst. 
Sie  scheucht  die  Feinde  wie  ein  Held  mit  Schleudern, 
Und  schlägt  das  Dnukel  wie  ein  Wagenkämpfer. 

Bequeme  Pfade  hast  du  selbst  auf  Bergen 
Und  schreitest,  selbst  erleuchtend,  durch  die  Wolken"  1S5  .  .  . 
Zur  Betrachtung  des  Naturwirkens  der  Gottheit  tritt  die  Versenkung 
in  ihre  lebenspendende  und  helfende  Güte.     Der  große  Atonhymnus 
preist  den  Sonnengott  als  Schöpfer  und  Erhalter  alles  Lebendigen: 

„Du  (bist  es),  der  die  Gezeugten  in  den  Frauen  ernährt  und  dem  Kinde  im 
Leibe  seiner  Mutter  Leben  gibt;  der  es  beruhigt,  so  daß  es  nicht  weint  —  du 
Wärterin  im  Mutterleibe!  (Du  bist  es),  der  den  Atem  spendet,  um  jedes  (Kind) 
zu  beleben,  das  er  geschaffen  hat,  wenn  es  aus  dem  Mutterleibe  an  das  (Licht) 
kommt  am  Tage  seiner  Geburt;  du  öffnest  seinen  Mund  bei  dem  (ersten)  Geschrei 
und  sorgst  für  seinen  Unterhalt.  Sitzt  das  Küken  im  Ei  und  piept  an  der  Schale, 
so  gibst  du  ihm  Luft,  um  es  zu  beleben;  du  schaffst  ihm  Kraft,  um  das  Ei  zu 
zerbrechen  .... 

Wie  zahlreich  ist,  was  du  schufst!  ...  Du  schufst  die  Erde  nach  deinem 
Wunsche,  als  du  allein  warst,  mit  Menschen,  Herden  und  allem  Vieh  und  allem, 
das  auf  der  Erde  ist  und  auf  seinen  Füßen  geht  und  das  schwebt  und  fliegt  auf 
seinen  Flügeln.  Die  Fremländer  von  Syrien  und  Kusch  und  das  Land  Ägypten 
—  du  setzest  jeden  Mann  (in  ihnen)  an  seinen  Platz  und  sorgst  für  ihren  Unterhalt, 
so  daß  jeder  einzelne  seine  Nahrung  hat  .... 

Du  schaffst  den  Nil  in  der  Unterwelt  und  führst  ihn  herbei  nach  deinem  Be- 
lieben, um  die  Menschheit  zu  beleben  —  denn  du  bist  es  ja,  der  sie  dir  schafft, 
du  ihrer  aller  Herr  .... 

Alle  Fremdländer  sind  glücklich,  denn  du  lassest  sie  leben.  Du  setzest  einen 
Nil  (d.  i.  den  Regen)  an  den  Himmel,  damit  er  zu  ihnen  hinabsteige  und  Wogen 
auf  den  Bergen  wie  den  Ozean  erzeuge,  um  ihre  Äcker  bei  ihren  Städten  zu  über- 
fluten.    Wie  gütig  ist  deine  Fürsorge,  du  Herr  der  Ewigkeit!  .  .  . 

Du  schufst  die  Jahreszeiten,  um  alles,  was  du  schufst,  zu  beleben:  den  Winter, 
um  sie  zu  kühlen,  die  Hitze,  damit  sie  dich  auskosten.  Du  hast  den  fernen  Himmel 
geschaffen,  um  an  ihm  aufzugehen  und  alles  zu  sehen,   was  du  geschaffen  hast. 


Inhalt  187 

Du  bist  einzig,  wenn  du  aufgehst  in  deiner  Gestalt  als  lebender  Aton,  wenn  du 
glänzest  und  leuchtest,  wenn  du  dich  entfernst  und  zurückkehrst.  Du  schaffst 
Millionen  von  Erscheinungen  durch  dich,  wenn  du  auch  allein  bist;  Städte,  Orte 
und  Felder,  Weg  und  Strom  —  alle  Augen  insgesamt  blicken  auf  dich,  wenn  du, 
der  Aton  des  Tages,  über  der  Erde  bist."  148 

Der  assyrische    Schamasch-Hymnus   feiert   die  helfende    Güte   des    Gottes: 
,, Jeder,  wer  er  auch  sei,  ist  in  deiner  Obhut. 
Du  leitest  ihre  Rechtssprüche,  die   Gebundenen  befreist  du. 
Du  erhörest,  o  Schamasch,  Flehen,   Gebet  und  Anrufung, 
Demütigung,  Verbeugung,  Verehrung  und  Niederwerfung. 
Mit  lauter  Kehle  schreit  der  Elende  zu  dir; 
Der  Schwache,  Kraftlose,  Bedrängte,  Niedergetretene, 
Mutter,  Frau  und  Magd  flehen  dich  beständig  an. 
Der  entfernt  von  seiner  Familie  weilt,  fern  von  seiner  Stadt, 
Der  Hirt  beim  Einbringen  des  Feldertrags  fleht  zu  dir." 
In  dieser  Weise  fährt  das  Preislied  fort  und  zählt  alle  diejenigen  auf,  die  zum 
Sonnengott  um  Hilfe  und   Gnade    flehen;    der    Reisende,    der    Kaufmann,    der 
Jäger,  der  Hirt,  der  Weise,  der  von  Räubern  Überfallene  —  alle  werden  von 
Schamasch  erhört.  167  Die  liebende  Fürsorge  des  Gottes  wird  gerne  in  ägyptischen 
und  assyrischen  Hymnen  unter  dem  Bilde  des  , guten  Hirten'  gepriesen.     So  heißt 
es  in  dem  erwähnten  Schamaschhymnus:  „Alles  erschaffene  Wesen  weidest  du 
insgesamt,  du  bist  der  Hirte  alles  dessen,  was  droben  und  unten  ist"  168 

Dieselbe  Stimmung  dankbarer  Bewunderung  spricht  aus  dem  homerischen 
Hymnus  an  Gaia: 

„Allmutter  Erde,  dich  festgegründete  will  ich  besingen, 

Älteste  unter  den  Göttern,  du  weidest  alles  auf  Erden, 

Alles,  was  in  deinem  göttlichen  Schöße  sich  regt  und  im  Meere 

Und  in  der  Luft,  das  alles  nähret  sich  von  deiner   Gabe. 

Aus  dir  erstehen  gar  herrliche  Kinder  und  schöne  Früchte. 

Holde,  es  stehet  in  deiner  Macht  zu  geben,  zu  nehmen 

Leben  den  sterblichen  Menschen.     O  selig,  den  du  da  würdigst 

Deiner  Gnade  und  Huld,  denn  alles  gewährst  du  ihm  reichlich. 

Herrliche  Ähren  traget  das  Kornfeld,  und  auf  den  Wiesen 

Weiden  gar  kräftige  Rinder,  im  Haus  wohnen  adlige  Männer. 

Diese  lenken  mit  weisen  Gesetzen  die  Stadt,  wo  gar  schöne 

Frauen  wirken  und  schaffen,  wo  Glück  und  Reichtum  nicht  schwinden. 

Jünglinge  schreiten  einher,  voll  Stolz,  in  Frohsinn  und  Freude, 

Jungfrauen  eilen,  mit  Blüten  gezieret,  zum  freudigen  Reigen, 

Spielen  und  hüpfen  auf  weichem,  mit  Blumen  gesprenkeltem  Grase. 

Ihnen  scher kest  du  Huld,  hehre  Frau,  du  neidlose  Gottheit. 

Heil  dir,  du  Mutter  der  Götter,  du   Gattin  des  sternreichen  Himmels"  l*9 

Die  individuelle  literarische  Hymnenpoesie  offenbart  einen  kräftigen, 
ethischen  Zug ;  der  Sänger  preist  seinen  Gott  als  Schirnier  und  Wächter 
des  Guten,  als  Rächer  und  Bestraf  er  des  Bösen.  So  heißt  es  in  dem 
erwähnten  Schamasch-Hymnus : 

„Wer  auf  Schlechtigkeit  sinnt,  dessen  Hörn  zerstörst  du, 

Wer  beim  Feststellen  der  Grenzen  auf  Abänderung  des  Besitzes  bedacht  ist, 

Den  ungerechten  Richter  hältst  du  durch  Gefangenschaft  zurück, 

Der  Bestechung  annimmt,  der  nicht  recht  leitet,  dem  legst  du  Sünde  auf. 

Derjenige,  der  keine  Bestechung  annimmt,  der  für  die  Bedrückten  besorgt  ist, 

Ist  dem  Schamasch  wohlgefällig,  dessen  Leben  wird  verlängert." 

„Der  Samen  derer,  die  ungerecht  handeln,   wird  nicht  gedeihen, 

was  ihr  Mund  in  deiner   Gegenwart  ausspricht, 

Wirst  du  zerstören,  was  aus  ihrem  Munde  hervorgeht,  wirst  du  auflösen. 

Du  kennst  i.ire  Übertretungen,  den  Ausspruch  des  Schlechten  verwirfst  du."  l7° 

Die  Betrachtung  der  Größe,  Güte  und  Schönheit  des  Gottes  weckt 
bisweilen    im  Dichter  eine  mystische  Sehnsucht  nach  seiner  beglücken- 


188 


C  III.    Der  literarische    Hymnus 


den  Gegenwart  und  Nähe.     An  alttestamentliche  Psalm worte  klingen 
zwei  Hymnen  der  peruanischen  Inka  an. 


..O  Virachoca!     Herr  des  Universums 

Seiest  du  nun  männlich, 

Seiest  du  weiblich, 

Herr  der  Hitze,  Herr  der  Zeugung! 

Reicht  Orakelkunst  hin 

Um  zu  erfahren,  wo  du  weilst? 

Bist  du  ferne,  wo  weilst  du  ? 

Magst  du  dort  oben  sein, 

Magst  du  sein  bei 

Deinem  Herrscherthron  und  -scepter, 

O  hör  mich! 

Von  der  Himmelshöhe, 

Von  der  Meerestiefe, 

Wo  immer  du  weilst, 

O  Schöpfer  der  Welt, 

O  Erschaffer  des  Menschen, 

O  Herr  aller  Herren ! 

Zu  dir  allein, 

Mit  schwachen  Augen, 

Voll  Sehnsucht  dich  z\i  erkennen, 


II. 


..Komm  doch, 
Groß  wie  die  Himmel, 
Herr  über  die  Erde, 
Schöpfer  aller  Dinge, 
Schöpfer  des  Menschen! 
Immer  bete  ich  dich  an 


Komm  ich  zu  dir, 

Dich  zu  erkennen, 

Dich  zu  verstehen. 

Du  siehst  mich, 

Du  kennst  mich. 

Sonne  und  Mond, 

Tag  und  Nacht, 

Frühling  und  Winter, 

Sie  alle  eilen, 

Getreu  deinem  Befehl, 

Von  bestimmten  Orten 

An  ihre  Bestimmung; 

Rechtzeitig  kommen  sie  dorthin, 

Wo  immer  du  befiehlst, 

Du  hältst  sie  fest. 

O  höre  mich! 

Mach  mich  zu  deinem  Auserwählten! 

Dulde  nicnt, 

Daß  ich  ermatte, 

Daß  ich  sterbe!" 


Dich  suche  ich, 

Auf  daß  ich  dich  schaue, 

Wie  zum  Flusse, 

Wie  an  die    Quellen 

Eilend,  voll  Durst.'*  171 


In  ägyptischen  Hymnen  finden  sich  Ausdrücke  der  Liebe  zu  Gott,  der 
Hingabe  an  ihn,  der  Zuversicht  zu  ihm.  Gott  ist  der  Mastbaum,  der 
den  Winden  trotzt,  er  ist  der  Pilot,  der  die  Untiefen  kennt,  „der  süße 
Brunnen  für  den  Durst  in  der  Wüste".  „Amon  Ra,"  singt  ein  Dichter, 
„ich  liebe  dich  und  habe  dich  in  mein  Herz  geschlossen  .  .  .  Ich  folge 
nicht  der  Sorge  meines  Herzens,  was  Amon  gesagt  hat,  gedeiht."  Manche 
Worte  dieser  Hymnendichter  könnten  ebensogut  in  einem  israelitischen 
Psalme  stehen.  .So  steht  in  dem  erwähnten  Hymnus  das  Wort  des 
Vertrauens:  „Du  wirst  mich  erretten  aus  dem  Munde  der  Menschen 
am  Tage,  wo  er  Lüge  redet."  172 

Die  Bitte  tritt  auch  im  literarischen  Hymnus  hinter  der  lobpreisen- 
den Betrachtung  zurück.  Sie  ist  meist  kurz  und  generell  gefaßt.  Ihr 
Gegenstand  sind  noch  irdische  Glücksgüter,  keine  geistigen  Gnaden. 
Doch  ist  der  Eudämonismus  stets  geläutert,  wie  es  dem  verfeinerten 
Wertfühlen  der  Hymnendichter  entspricht.  Der  vedische  Sänger  bittet 
die  Morgenröte  um  „Gedeihen  und  Reichtum".  173  Der  peruanische 
Inka  fleht,  daß  er  nicht  sterbe.  174  Der  ägyptische  Aton-Hymnus  endet 
mit  einem  Gebet  des  Königs  für  sein  und  seiner  Gattin  Heil.  175  Die 
schwungvollen  Varuna-Hymnen  schließen  mit  der  Bitte  um  Vergebung 
der  Schuld.  176    „Strafe  mich  nicht  wegen  meiner  vielen  Sünden!"  fleht 


Inhalt   —  Gottesvorstellung  189 


ein  ägyptischer  Dichter.  177     Der  homerische  Hymnus  an  Gaia  klingt 
aus  in  der  kindlichen  Bitte: 

., Schenk  für  dies  Lied  dem  Sänger  voll  Gnade  sorgloses  Leben, 
Dann  werd  ich  deiner  in  neuen,  herrlichen  Liedern  gedenken." 

Die  Götter,  die  in  den  literarischen  Hymnen  gepriesen  werden,  sind 
zum  größten  Teil  ausgesprochene  Naturgottheiten,  die,  von  dem  mytho- 
logischen Synkretismus  relativ  wenig  berührt,  ihren  ursprünglichen 
Charakter  treu  bewahrt  haben.  Allen  voran  steht  die  Sonne,  an  die  der 
größte  Teil  der  individuellen  Hymnenpoesie  gerichtet  ist.  Im  Gegensatz 
zu  den  synkretistischen  Kultgöttern,  welche  die  priesterliche  Ritual- 
poesie besingt,  sind  diese  Gottheiten  der  Natur  wenig  anthropomorph, 
sie  verlieren  sich  in  dem  unpersönlichen  Naturgeschehen.  Treffen  wir 
in  den  Kulthymnen  einen  Henotheismus,  so  zeigen  die  Naturhymnen,  vor 
allem  die  Sonnenlieder,  einen  keimhaften  Pantheismus.  Das  Verhältnis 
in  dem  der  Sänger  zur  Gottheit  der  Natur  steht,  ist  ein  viel  innerlicheres 
als  jenes,  das  zwischen  dem  Priesterdichter  und  den  Kultgottheiten 
besteht.  Er  will  nicht  durch  Schmeicheleien  ihre  Gunst  sich  sichern, 
sie  umstimmen  —  die  Bitte  ist  etwas  Nebensächliches;  der  Lobpreis 
ist  nicht  Mittel  zum  Zweck,  sondern  Selbstzweck.  Der  Dichter  ver- 
senkt sich  in  die  göttliche  Wunderwelt,  er  geht  auf  in  der  Kontemplation 
der  göttlichen  Größe  und  Erhabenheit,  er  wird  eins  mit  dem  kontem- 
plierten  Objekte.  Es  weht  ein  mystischer  Hauch  in  der  individuellen 
Hymnenpoesie  der  antiken  Völker.  Der  Grundgedanke  aller  Mystik, 
daß  des  Menschen  Seele  eins  ist  mit  Gott,  blitzt  im  Enthusiasmus  dieser 
Hymnendichter  auf.  ,,Du  bist  Aton,  der  ewig  lebt,"  heißt  es  im  kleinen 
Atonhymnus  des  Ichenaton,  ,,und  ich  bin  ein  Teil  von  dir."  178  Gleich- 
wohl kann  hier  nur  von  einem  Ansatz  zur  Mystik  gesprochen  werden. 
Es  fehlt  in  diesen  Hymnen  die  der  mystischen  Frömmigkeit  wesent- 
liche negative  Wertung  von  Welt  und  Leben;  der  kräftige,  gesunde 
Eudämonismus,  der  sich  mit  der  Naturbegeisterung  verbindet,  ist  mit 
reiner  Mystik  unvereinbar.  Der  Frömmigkeitstyp,  den  die  literarische 
Hymnenpoesie  darstellt,  berührt  sich  enge  mit  jenerVariante  mystischer 
Religiosität,  die  wir  als  , ästhetische  Mystik'  später  (Kap.  G)  behandeln 
werden . 

Die  Anklänge  der  literarischen  Hymnen  an  die  israelitischen  Psalmen 
sind  unverkennbar.  Auch  diese  sind  ursprünglich  rein  literarischer 
Natur,  unmittelbarer  Ausdruck  der  den  Dichter  beseelenden  religiösen 
Gefühle.  Auch  sie  sind  aus  der  Kultpoesie  hervorgegangen.  179  Die 
Preisgesänge,  in  denen  die  ganze  Natur  zum  Lobe  Jahwes  aufgefordert 
wird,  ähneln  manchmal  den  ägyptischen  Sonnenliedern,  die  Bittgebete 
und  Bußlieder  weisen  nicht  selten  eine  wörtliche  Übereinstimmung 
mit  den  individuelleren  babylonischen  Klageliedern  auf.  18°  Es  ist  un- 
zweifelhaft, daß  die  hebräische  Psalmendichtung  in  formaler  Hinsicht 
sich  an  die  literarische  Hymnenpoesie  Ägyptens  und  vor  allem  Baby- 
loniens  anlehnt.  Trotzdem  gehört  der  israelitische  Psalter  nicht  in 
diesen  Zusammenhang.  In  den  Psalmen  des  Alten  Testamentes  lebt  ein 
völlig  anderer  Gebetsgeist  als  in  den  individuellen  Hymnen  Ägyptens. 
Assyriens  und  Indiens;  in  ihnen  hat  das  prophetische  Beten  des  Jeremia 


190  CHI.   Der  literarische  Hymnus 

seinen  dichterischen  Ausdruck  gefunden.  Wir  müssen  darum  die  Gebete 
des  Psalters  im  Zusammenhang  mit  dem  prophetischen  Gebetstyp 
behandeln.  So  wenig  wie  die  jüdischen  Psalmen  gehören  hierher  die 
Hymnen  des  Tamildichters  Mänikka-Väsagar,  die  heute  in  allen 
Schivatempeln  Südindiens  rezitiert  werden.  Sie  sind  der  echte  Aus- 
druck mystischen  Betens  und  werden  an  späterer  Stelle  erwähnt  werden. 
Die  literarische  Hymnenpoesie  ist  ,,der  Anfang  einer  innerlichen 
Religion"  (Erman).  181  Aus  dem  Gewirr  der  Mythen,  Riten  und  Zauber- 
praktiken der  antiken  Priesterreligionen  stieg  verheißungsvoll  eine 
schlichtere,  reinere  Frömmigkeit  empor.  Die  Gottesvorstellung  entriß 
sich  den  Schranken  des  Anthropomorphismus  und  befreite  sich  von 
den  Fesseln  des  Mythus.  Der  Mensch  trat  zu  Gott  in  ein  innerliches 
Verhältnis ;  an  die  Stelle  selbstischen  Begehrens  traten  Gottbegeisterung, 
Gottesliebe  und  Gottvertrauen,  an  die  Stelle  äußerer  Ritualakte  echtes 
inneres  Erleben.  Aber  diese  neue  verinnerlichte  Religion  besaß  nicht 
die  Kraft  zur  Expansion  und  Fortentwicklung.  In  Indien  und  Baby- 
lonien  lebte  sie  nur  in  einzelnen  schöpferischen  Dichterpersönlichkeiten 
und  wurde  nicht  Besitz  einer  größeren  Religionsgemeinschaft.  Nur  in 
Ägypten  ward  sie  durch  die  kühne  Reformtat  des  Ichenaton  zum  Gemein- 
gut der  gebildeten  Schichten  des  Reichs.  Aber  auch  hier  war  sie  nur 
eine  vorübergehende  Episode;  noch  ehe  sie  zur  vollen  Entfaltung  kam, 
nahm  sie  ein  Ende.  Der  Grund  ihres  raschen  Zerfalls  ist  darin  zu  suchen, 
daß  das  ästhetische  Moment  das  Übergewicht  über  das  religiöse  hatte; 
weil  ihr  die  religiöse  Einseitigkeit  und  Herbheit  fehlte,  vermochte  sie 
sich  nicht  gegenüber  der  alten  Ritualreligion  zu  behaupten.  Nur  die 
mystische  Erlösungsreligion  wie  die  prophetische  Offenbarungsreligion 
besaßen  die  innere  Kraft,  der  Kultreligion  sich  zu  entreißen  und  in 
stetem  Vorwärtsschreiten  zu  ungeahnten  Höhen  emporzusteigen. 


D.  Das  Gebet  in  der  hellenischen  Kulturreligion.1 

Wie  die  prophetisch-israelitische  Religion,  so  nimmt  die  hellenische 
Religion  unter  den  Religionen  der  Erde  eine  Sonderstellung  ein.  Während 
die  großen  antiken  Ritualreligionen  nur  durch  die  synkretistische  Kompli- 
ziertheit und  den  äußeren  Prunk  des  Sakralsystems  sich  über  die  primitive 
Religion  erhoben,  wuchs  in  Griechenland  aus  den  primitiven  Stammes- 
und Stadtkulten  spontan  —  ohne  einen  gewaltsamen  Bruch  mit  der 
Vergangenheit  und  ohne  die  bewußte  Reformarbeit  eines  philosophischen 
oder  religiösen  Genius  —  eine  reinere,  freiere  und  tiefere  Frömmigkeit 
heraus.  Die  erste  Etappe  dieses  religiösen  Fortschrittes  bilden  die  home- 
rischen Gesänge  der  Ilias  und  Odyssee.  2  Hier  redet  die  kräftige,  naive 
Religion  des  lebensfrohen  jonischen  Rittertums.  Wohl  steht  sie  noch 
ganz  im  Bannkreis  des  primitiven  Eudämonismus ;  aber  der  Unterschied 
dieser  freigeistigen  Ritterreligion  von  der  primitiven  Volksreligion,  die 
sich  in  Griechenland  durch  alle  Jahrhunderte  hindurch  erhielt,  ist  ein 
ganz  gewaltiger.  Die  Götter  sind  losgelöst  von  ihrer  ursprünglichen 
Natur-  oder  Ortsgebundenheit,  stark  anthropomorphisierte,  individuelle 
Gestalten  mit  scharf  umrissenen  Charakterzügen .  Der  olympische  Zeus 
mit  seinem  Götterstaat  ist  das  Spiegelbild  eines  jonischen  Fürsten,  um 
den  sich  seine  Ritter  scharen.  Gebet  und  Opfer  sind  die  einzigen  Formen 
des  Kults,  in  denen  die  homerischen  Helden  mit  ihren  Göttern  ver- 
kehren. All  die  Riten  der  Mantik,  Kathartik  und  Magie,  die  einen 
wesentlichen  Bestandteil  der  Volksreligion  und  selbst  der  offiziellen 
Kulte  bilden,  treten  zurück.  Über  die  Furcht  vor  den  unheimlichen 
Totengeistern,  die  in  jeder  Volksreligion  lebendig  ist,  sind  Homers 
Helden  erhaben.  Wie  in  Israel  der  Glaube  an  Jahwes  einzige  Macht, 
so  schwächte  in  Jonien  eine  aufgeklärte  Freigeistigkeit  die  Toten  zu 
wirkungslosen  unterirdischen  Schatten  ab. 

Ihre  Vollendung  und  Vertiefung  erfuhr  die  olympische  Religion  der 
homerischen  Gesänge  in  der  hellenischen  Vollkultur  des  5.  Jahrhunderts.3 
Äschylus,  Sophokles,  Pindar,  Xenophon  und  Plato  sind  die  Wortführer 
der  vergeistigten  Religiosität,  welche  die  gebildeten  Schichten  des 
griechischen  Volks  in  seiner  klassischen  Epoche  durchdrang.  Hatten 
die  Dichter  der  homerischen  Gesänge  die  Volksreligion  erweitert  und 
geläutert,  indem  sie  ein  gemeinhellenisches  Pantheon  schufen  und  den 
Kult  aus  seiner  Verflochtenheit  mit  dem  Zauberwesen  befreiten,  so 
haben  jene  Männer  sie  verinnerlicht  und  versittlicht.  Die  enge  Fühlung 
mit  dem  lebendigen  Kultwesen  des  Staates  bürgte  dafür,  daß  diese  Ver- 
innerlichung  der  traditionellen  Religion  nicht  auf  eine  Entleerung  und 
Verflüchtigung  hinauslief. 

Das  Gefühl  vollständiger  Abhängigkeit  von   höheren  Mächten    ist  in 


192  I».   Das   Gebet   in  der  hellenischen   Kulturreligion 


jeder  Religion  lebendig;  aber  in  keiner  Religion  der  Erde  —  von  der 
israelitisch-christlichen  abgesehen  —  ist  dieses  religiöse  Grundgefühl  so 
universell,  das  ganze  Denken  und  Leben  durchherrschend  wie  in  der 
hellenischen.  „Was  ist  ohne  dich  den  Sterblichen  erreichbar?"  heißt 
es  in  einem  Gebet  der  äschyleischen  Schutzflehenden  (823).  „Alles 
kommt  dem  Menschen  von  Gott.  Seine  äußere  Gestalt,  seine  Kraft  und 
Schönheit,  sein  inneres  Wesen,  Verstand  und  Charakter :  alles  ist  göttliche 
Gabe.  Was  das  Leben  wechselnd  darbietet,  in  Schicksalen,  an  äußeren 
Gütern,  dem  Einzelnen  und  den  Gemeinschaften  der  Menschen:  der 
Gott  hat  es  gegeben.  .  .  .  Der  Grieche  fühlte  im  tiefsten  Herzen,  wie 
bald  er  überall  auf  die  Grenzen  seines  eigenen  Vermögens  stieß,  w;e  eng 
der  Kreis  sei,  in  dem  sich  sein  bewußter  Wille  und  zielsetzender  Verstand 
tätig  regen  könne.  Alles,  was  jenseits  dieses  Kreises  liegt,  was  dem 
Menschen  kommt  ohne  sein  Zutun,  ja  ohne  sein  vorhergehendes  Bewußt- 
sein, das  verdankt  er  göttlichen  Mächten.  Das  ist  aber  in  der  Fülle  des 
Bleibenden  und  des  momentan  Vorübergehenden  der  größte  Teil,  fast 
der  ganze  Inhalt  des  Lebens"  (Rohde)  4.  Mit  dem  Universalismus  des 
Abhängigkeitsgefühls  hängt  zusammen,  daß  die  Götter  nicht  nur  Schick- 
salsmächte sind,  sondern  ebenso  Träger  der  Kulturideale,  zuvorderst 
der  ethischen.  Die  griechische  Religion  des  5.  Jahrhunderts  ist  eine 
ausgesprochen  ethische  Religion,  wie  die  prophetische  Religion  Israels. 
Während  wir  bei  Homer  kaum  Ansätze  zu  einer  Ethisierung  der  Frömmig- 
keit entdecken,  sind  der  Gottesglaube  und  die  Gottesverehrung  der 
klassischen  Religion  durchaus  von  ethischen  Idealen  bestimmt.  Zwar 
treten  in  vielen  primitiven  Religionen  die  Götter  —  zumal  die  Urväter  — 
als  sittliche  Gesetzgeber  und  Wächter  auf ;  aber  in  Hellas  wurden  unter 
dem  Einfluß  des  fortschreitenden  autonomen  ethischen  Wertgefühls 
„die  Götter  selbst  versittlicht"  (Rohde)  5,  das  sittliche  Denken  und 
Tun  wird  zum  Gottesdienst,  evosßsia  (Frömmigkeit)  und  owcpQo- 
avvri  (Besonnenheit)  6  fallen  zusammen.  Diese  Ethisierung  der 
Religion  vollzog  sich  jedoch  nicht  auf  Grund  bewußter  philosophischer 
Kritik  und  Reform  der  Volksreligion,  sondern  auf  Grund  einer  spon- 
tanen Verfeinerung  und  Steigerung  des  religiös-sittlichen  Wertfühlens. 
Aber  nicht  nur  das  Ethische  wird  zum  religiösen  Wert,  zum  Heiligen, 
nein,  der  ganze  Umkreis  kultureller  Werte,  alles,  was  zum  Ideal  der 
xaXoxäyalHa  („Schönheit  und  Güte")  gehört,  empfängt  eine  religiöse 
Weihe:  das  soziale  Gemeinschaftsleben,  das  künstlerische  Schaffen, 
das  wissenschaftliche  Erkennen,  ja  selbst  der  frohe  Lebensgenuß.  Die 
hellenische  Religion  ist  die  Kulturreligion  überhaupt,  sie 
besaß  die  Kraft,  sich  mit  allen  Kulturwerten  zu  vermählen  und  so  das 
ganze  soziale  und  geistige  Leben  zu  durchdringen.  „Der  Grieche", 
sagt  der  Religionshistoriker  Farnell,  „trachtete  stets  darnach,  in  seiner 
Religion  für  alles,  wofür  er  begeistert  war,  einen  Platz  zu  finden;  eben 
deshalb  spiegelt  die  griechische  Religion  so  lebendig  die  Gefühle  und 
Stimmungen  des  Individuums  wider."  7  Mit  dieser  Vielseitigkeit  ver- 
eint die  hellenische  Religion  eine  innere  Abgeklärtheit  und  Harmonie, 
ein  Gleichmaß  der  seelischen  Kräfte.  Sie  kennt  keine  synkretistische 
Verworrenheit,  keinen  massigen  Prunk  wie  die  orientalischen  Ritual- 


Eigenart  der  griechischen  Religion  193 

religionen,  keine  Unterbindung  des  gesunden  Affektlebens,  keine  aske- 
tische Weltverachtung  wie  die  indischen  Erlösungsreligionen,  keine 
drängende  Leidenschaft,  keinen  verzehrenden  Eifer  für  Gottes  heiligen 
Willen  wie  die  israelitische  Prophetenreligion,  keine  unbändige  Reich- 
gottessehnsucht wie  die  christliche  Urgemeinde.  Die  echte  griechische 
Frömmigkeit  kennt  auch  kein  mystisches  Streben  nach  seligem  Eins- 
werden mit  Gott  in  der  Ekstase,  nach  Aufhebung  der  individuellen 
Schranken  jenseits  des  Bewußtseinslebens:  [iexqov  (Maß)  und 
üoifpQoavvr}  (Besonnenheit)  sind  ihre  Ideale;  8  Affektivität  und 
Affektlosigkeit,  prophetische  Herbheit  und  mystische  Gelassenheit 
sind  ihr  fremd.  Sie  ist  im  Unterschied  von  der  prophetischen  Offen- 
barungsreligion und  von  der  mystischen  Heilsreligion  eine  ,natürliche' 
Religion,  freilich  nicht  eine  aus  philosophischer  Kritik  geborene  Ver- 
nunf treligion ,  sondern  naive,  primitive  Religion,  nur  ethisch  vertieft 
und  ästhetisch  verklärt. 

Die  Eigenart  der  hellenischen  Religion  enthüllt  sich  nirgends  so 
deutlich  wie  im  Gebet.  Das  universelle  Abhängigkeitsgefühl,  das  den 
Griechen  der  klassischen  Kulturepoche  beseelt,  spricht  sich  am  tiefsten 
darin  aus,  daß  er  bei  jeder  Angelegenheit  die  Götter  unter  Opfern  um 
Hilfe  und  Beistand  anruft.  „Der  Opfer-  und  Gebetsdienst  durchdringt 
alle  Verhältnisse  des  griechischen  Volkes  in  merkwürdiger  Ausdehnung ; 
keine  religiöse  Lehre  steht  für  das  öffentliche  und  häusliche  Leben 
fester,  als  daß  alles  mit  der  Gottheit,  das  ist  mit  Gebet  und  Opfer  be- 
gonnen werden  müsse"  (Nägelsbach).  9  Xenophon  legt  dem  Cristobul 
die  Worte  in  den  Mund:  „Ein  treffend  Wort  sprichst  du,  o  Sokrates,  wie 
mir  dünkt,  aus,  wenn  du  empfiehlst,  ein  jegliches  Werk  mit  den  Göttern 
zu  beginnen ;  denn  die  Götter  sind  die  Herren  über  alle  friedlichen  und 
kriegerischen  Werke".10  Und  der  platonische  Timäus  sagt:  „Für- 
wahr, o  Sokrates,  alle,  die  nur  ein  bißchen  Weisheit  besitzen,  rufen 
beim  Beginn  eines  jeden  Werkes,  mag  es  wichtig  oder  unwichtig  sein, 
überall  und  allezeit  Gott  an."  u  Das  Gebet  bildet  den  Anfang  aller 
öffentlichen  Handlungen,  der  Volksversammlungen,  Feste,  Gerichts- 
verhandlungen, Bündnisse,  Verträge  und  Kriege. 12  Die  attischen 
Redner  riefen  bei  Beginn  ihrer  Reden  die  Götter  an  13,  die  athenischen 
Ratsherrn  beteten  beim  Eintritt  ins  Rathaus  in  der  dort  befindlichen 
Kapelle  des  Zeus  und  der  Athene  vom  Rate.  u  Bei  freudigen  politischen 
Ereignissen  wie  bei  kriegerischen  Erfolgen  wurden  Dankfeste  {yaQiaitjQia) 
veranstaltet,  die  mit  Opfern,  Dankgebeten  und  Liedern  verbunden 
waren.  15  Eine  nicht  minder  wichtige  Stelle  nahm  das  Gebet  im  Privat- 
leben ein.  Jede  Berufsklasse  ruft  beim  Beginn  ihrer  Tätigkeit  ihre 
Patrongötter  an.  16  Die  unscheinbarsten  profanen  Handlungen  erhalten 
durch  Gebet  und  Opfer  eine  religiöse  Weihe.  Ischomachus,  die  Haupt- 
person im  Xenophontischen  Oeconomicus,  beginnt  den  Unterricht 
seiner  Gattin  in  der  Haushaltungskunde  nicht  eher,  als  nachdem  er 
gebetet  hat,  daß  ihm  sein  Lehren,  ihr  das  Lernen  zum  Heil  gereichen 
möge.  17  Die  Athener  beteten  selbst  bei  der  Öffnung  des  Weinfasses 
und  Probe  des  jungen  Weines,  auf  daß  der  edle  Trank  ihnen  zum  Heile 
gereiche.  18    Die  primitive  Sitte  des  regelmäßigen  Morgen-,  Abend-  und 

Das  Gebet  13 


194  D.    Das  Gebet  in  der  hellenischen  Kulturreligion 

Tischgebetes  ist  stehender  Brauch  der  hellenischen  Frömmigkeit.  Hesiod 
spricht  von  täglichen  Morgen-  und  Abendopfern  (opp.  338).  Sokrates 
richtet  im  Symposion  Piatons  (220  D)  am  Morgen  ein  Gebet  an  die 
Sonne.  Plato  bezeugt  im  10.  Buche  der  Gesetze  (887  E),  daß  die  Hellenen 
wie  Nichthellenen  beim  Aufgang  der  Sonne  und  des  Mondes  wie  bei 
ihrem  Untergang  anbetende  Ehrfurcht  bezeugen.  Der  Mahlzeit  ging 
ein  Gebet  voraus  oder  folgte  ihr  nach;  wie  das  Tischgebet  der  Natur- 
völker wurde  es  meist  von  einer  primitiven  Opferspende  (onovdfj) 
begleitet 19. 

Die  Lebendigkeit  und  Innerlichkeit  der  griechischen  Religion  schließt 
eine  Erstarrung  des  Betens  in  der  Ritualformel  aus.  Wohl  kannte  man 
auch  in  Griechenland  feststehende  Gebetsformulare,  die  im  öffentlichen 
Kult  gebraucht  wurden.  Aber  im  Unterschied  von  der  römischen  Re- 
ligion ist  die  Erhörung  des  Gebets  nie  an  die  strenge  Einhaltung  des 
Wortlautes  gebunden.  „Der  Gedanke,  daß  eine  bestimmte  Fügung  der 
Worte  für  die  Erfüllung  des  Gebets  von  entscheidender  Bedeutung  sei, 
ist  dem  öffentlichen  griechischen  Gottesdienst  fremd  und  mußte  es  nach 
dessen  ganzen  Charakter  sein."  (0.  Gruppe)  20  Der  persönliche  Charakter 
der  hellenischen  Religion  duldete  nicht,  daß  das  lebendige  Gebetswort 
zur  toten,  unpersönlichen  Zauberformel  verkümmerte.  Weil  die  grie- 
chische Religion  im  Gegensatz  zu  den  großen  orientaüschen  Religionen 
nicht  zu  einem  komplizierten  Ritualsystem  sich  erweiterte,  bewahrte 
auch  das  kultische  Gebet  seinen  schlichten,  ursprünglichen  Charakter. 
Während  das  offizielle  Gebet  im  öffentlichen  Kult  eine  gewisse,  innerlich 
notwendige  Gebundenheit  aufweist,  scheint  das  individuelle  Privatgebet 
der  intellektuellen  Schichten  über  alle  Formelhaftigkeit  erhaben  ge- 
wesen zu  sein.  Soweit  wir  aus  den  dürftigen  literarischen  Dokumenten 
schließen  können,  zeichnete  sich  die  Gebetsfrömmigkeit  der  gebildeten 
Hellenen  durch  dieselbe  Spontaneität  und  Freiheit  aus,  die  wir  im 
Gebetsleben  der  großen  israelitischen  und  christlichen  Persönlichkeiten 
treffen.  Marc  Aureis  (V  7)  Charakteristik  des  athenischen  Betens  als 
tcTiXdtg  xai  itev&EQwg  evxeg&cu  (schlichten  und  freien  Betens)  gilt  für 
die  hellenische  Religion  überhaupt.  Die  Gebetsworte  sind  der  un- 
mittelbare Ausdruck  der  erlebten  Stimmungen,  Wünsche  und  Wert- 
gefühle. 

Dem  Reichtum  seelischen  Erlebens,  der  in  der  griechischen  Religion 
sich  offenbart,  entspricht  die  Mannigfaltigkeit  der  Gegenstände,  um  die 
der  Grieche  im  Gebet  fleht.  Alles,  was  er  als  wertvoll  und  ideal  erlebt, 
spricht  er  im  Gebet  vor  seinen  Göttern  aus.  Der  primitive  Mensch  betet 
nur  um  Glücksgüter;  die  Bitte  um  sittliche  Werte  ist  ihm  fremd.  Alle 
antiken  Religionen,  die  chinesische,  vedische,  babylonische,  ägyptische 
und  altamerikanische,  die  altrömische  und  die  griechisch-homerische 
Religion  stehen  noch  im  Bannkreis  des  rein  eudämonistischen  Betens; 
das  ethische  Wertgefühl  hat  hier  nur  selten  jene  Kraft  erlangt,  um 
analog  dem  elementaren  Lebensgefühl  eine  Bitte  zu  motivieren.  In  der 
Religion  der  hellenischen  Vollkultur  vollzog  sich  ähnlich  wie  in  der 
israelitischen  Prophetenreligion  eine  umfassende  Ethisierung  des  reli- 
giösen Erlebens;  hier  wie  dort  rückt  die  Bitte  um  ethische  Werte  ins 


Form  —  Inhalt  195 


Zentrum  des  Betens.  Callimachus  stellt  an  die  Spitze  seines  Gebets  die 
Bitte  um  sittliche  Tüchtigkeit:  „Gib  Tugend  und  Reichtum,  gib  Tugend 
und  Glück."  21  Hesiod  erblickt  in  der  Bitte  um  das  stete  innere  Fest- 
halten am  ethischen  Ideal  das  beste  Gebet.  Im  Wettstreit  mit  Homer 
richtet  er  an  diesen  die  Frage: 

„Was  ist  das  Beste,  um  das  man  beten  soll  zu  den   Göttern?" 
Homer  antwortet: 

..Wohlgesetzlich  zu  sein  (eßvofiov  elvat)  in  seinem  Herzen  auf  immer". 

Die  religiösen  und  sittlichen  Ideale  faßt  der  Hellene  in  den  Worten 
ao)(pgoavvi]  (Besonnenheit,  Tugendhaftigkeit)  und  svoeßsia  (Frömmig- 
keit) zusammen;  beide  bilden  einen  wichtigen  Gegenstand  der 
Bitte.  In  dem  Totenopfer  des  Äschylus  bittet  Elektra  ihren  ver- 
storbenen Vater: 

„Laß  selber  mich  ein  tugendhafter  Weib 
Als  meine  Mutter  werden  und  viel  frömmer"  (142  f. ). 
Beschieden  sei  mir  Besonnenheit, 
der  Götter  herrlichstes  Geschenk," 
betet  der  Chor  in  der  Medea  des  Euripides  (635  f.).  Für  den  Sokrates 
im  platonischen  Phädrus  wird  das  ethische  Persönlichkeitsideal  zu 
einem  Gebetsanliegen ;  seine  Bitte:  „0  lieber  Pan  und  alle  hier  weilen- 
den Götter,  laßt  mich  innerlich  schön  werden"  (doirjze  [tot  xalco 
yeveo&ai  rävdo&ev  279  B)  ist  das  reifste  Gebet  des  hellenischen 
Geistes.  Im  Gebet  der  Spartaner  kommt  die  ihnen  eigene  herbe, 
willensmäßige  Festigkeit  zum  Ausdruck;  sie  bitten  nach  Plutarchs 
Zeugnis  um  die  Kraft,  Unrecht  mit  männlicher  Standhaftigkeit 
zu  ertragen  {ddntetodtu  dvvaod-ai).  23  Ein  tiefes  Gefühl  der  sitt- 
lichen Ohnmacht  und  Sündenhaftigkeit,  das  die  größten  christlichen 
Genien  nach  Gnade  und  Vergebung  seufzen  ließ,  ist  dem  Griechen  fremd. 
Aber  wenn  er  sich  eines  konkreten  Fehltrittes  oder  Pflichtversäumnisses 
bewußt  ist,  oder  wenn  er  fürchtet,  die  Götter  durch  ein  unbedachtes 
Wort  verletzt  zu  haben,  ruft  er  sie  um  Vergebung  an.  Simonides  betet 
zu  Zeus :  „Wenn  ich  nun  in  kühner  Rede  bitte  und  Recht  für  uns  heische, 
verzeih  mir."  24  Und  bei  Xenophon  mahnt  Sokrates:  „Bist  du  besonnen, 
mein  Sohn,  so  flehe  zu  den  Göttern,  daß  sie  dir  verzeihen,  falls  du  deine 
Mutter  nicht  genug  geachtet  hast."  25 

Keine  Religion  der  Welt  hat  die  natürlichen  Formen  des  menschlichen 
Gemeinschaftslebens  mehr  geadelt  und  geheiligt  wie  die  hellenische.  Der 
soziale  Sinn  des  Hellenen  atmet  sich  im  Fürbittegebet  aus.  Zu  den 
schönsten  griechischen  Gebeten  gehört  das  Fürbittegebet,  mit  dem  die 
sterbende  Alkestis  bei  Euripides  ihre  Kinder  der  häuslichen  Herdgöttin 
Hestia  übergibt: 

„O  Herrin,  nun  steig'  ich  hinab  in  Plutons  Reich, 

Zum  letzten  Male  knie'  ich  bittend  hier  vor  dir, 

Beschütze  die  verwaisten  Kleinen:  gib  dem  Sohn 

Ein  trautes  Weib,  der  Tochter  einen  edlen  Mann. 

O  laß  sie  nicht  wie  mich,  die  Mutter,  sterben  hin, 

Hinscheiden  allzu  früh;  in  Glück  und  Wohlergehen 

LaßbringensieihrLebenhinimHeimatland"(163ff.  übs.  nachBernstädt). 

Ein  griechischer  Erziehungsbeamter  von  Cos  betet  im  2.  Jahrhundert 
auf  einer  Inschrift  um   „Gesundheit  und  tugendhaftes  Verhalten  der 


196  D.  Das  Gebet  in  der  hellenischen  Kulturreligion 


Knaben"  26  Die  Hochschätzung  der  Polis,  des  Stadtstaates,  drückt  sich 
in  den  Fürbittegebeten  aus,  die  der  Einzelne  für  seine  Polis  spricht. 
Bei  Athenäus  sind  uns  zwei  Tischgebete  überliefert,  eines  an  Athene, 
das  andere  an  Demeter  und  Persephone  gerichtet,  in  denen  die  Tisch- 
genossen Heil  und  Segen  für  ihre  Vaterstadt  erflehen: 

„Pallas  Athene,  schaumgebor 'ne  Herrin, 

Bewahre  diese  Stadt  und  ihre  Bürger 

Vor  Zwietracht  und  vor  allen  Übeln 

Und  auch  vor  frühem  Tod,  du  und  dein  Vater." 

,.Beim  Festmahl  sing  ein  Lied  ich  auf  Demeter, 

Des  großen  Totengotts  olymp'sche  Mutter, 

Mit  ihr  seist  du  gegrüßt,  Persephone. 

Tochter  des  Zeus!     So  schützet  diese  Stadt!"27 

Noch  in  anderer  Weise  als  im  Fürbittegebet  offenbart  sich  der  soziale 
Charakter  der  griechischen  Religion.  Die  evvota,  die  Verträglichkeit 
mit  den  Freunden,  ist  ein  wichtiger  Gegenstand  des  Gebets.  28  Aber 
auch  die  Bitte  um  individuelle  ethische  Werte  zeigt  einen  sozialen 
Einschlag.  Pindar  ruft  Zeus  an,  ihn  auf  den  Pfaden  des  Guten  zu  führen, 
damit  er  einen  guten  Nachruhm  seinen  Kindern  hinterlasse: 

,, Vater  Zeus,  auf  rechten  Pfaden 

Laß  durch's  Leben  stets  mich  wandern 

Bis  zum  Tod,  daß  meinen  Kindern 

Ich  nicht  üblen  Ruf  anhefte"  (Nem.  8,  35). 

Die  ethischen  und  sozialethischen  Werte  stehen  im  Gebet  der  Griechen 
obenan;  aber  im  Unterschied  von  dem  philosophisch-moralistischen 
Gebetsideal  beschränkt  sich  das  Gebet  nicht  auf  jene  Werte,  sondern 
umfaßt,  der  Weite  hellenischen  Wertfühlens  entsprechend,  alle  Ideale 
und  Güter.  Plutarch  spricht  noch  die  Gedanken  der  klassischen  Zeit 
aus,  wenn  er  sagt:  „Um  alle  Güter  müssen  die  Verständigen  zu  den 
Göttern  flehen."  29  Es  ist  das  sicherste  Symptom  der  Naivität  der 
griechischen  Religion,  daß  im  Gebet  neben  den  ethischen  Werten  die- 
selben eudämonistischen  Werte  stehen,  um  die  der  primitive  Mensch 
bittet'.  Das  Gebet  des  Callimachus  veranschaulicht  sehr  schön  dieses 
Nebeneinander  von  ,geistigen'  und  , weltlichen'  Gütern: 

SiSov  d'&Qexriv  r'  äyevög  ze  .  .  .  dldov  ägsi^y  te  xal  ökßov. 
„Gib  Tugend  und  Reichtum,  .  .  .  gib  Tugend  und  Glück" 
Ischomachus  zählt  im  Xenophontischen  Oeconomicus  als  Gebets- 
gegenstände auf:  „Gesundheit,  Leibesstärke,  Ansehen  in  der  Stadt, 
Verträglichkeit  mit  den  Freunden,  Heil  im  Kriege,  Zuwachs  an  Reich- 
tum." 30  Der  gute  Ruf  scheint  den  Griechen  ein  besonderer  Wert  ge- 
wesen zu  sein,  weil  er  um  ihn  besonders  bittet.  Solon  betet  zu  den 
Musen : 

„Glück  lasset  mich  von  den  Göttern,  den  seligen,  allzeit  erlangen 
Und  in  der  Sterblichen  Schar  trefflichen  Rufs  mich  erfreu'n."  31 

Sogar  ein  Töpfer  aus  Mesopontum  betet  im  5.  Jahrhundert,  daß  er 
„einen  guten  Ruf  bei  den  Menschen  habe"  32.  Auch  der  Reichtum  an 
materiellen  Gütern  gilt  dem  griechischen  Weisen  als  erstrebenswert. 
Der  platonische  Sokrates  betet  um  Reichtum  an  Gold,  freilich  mit 
einer  Einschränkung :  „Des  Goldes  Menge  sei  mir  so  viel,  als  kein  anderer 


Inhalt  197 

tragen  und  nehmen  kann  als  der  Besonnene"  (Phädr.  279  C).  Die 
Jugendfrische  und  Schönheit  des  Körpers  ist  dem  Hellenen  ein  hohes 
Gut;  darum  fleht  er  zur  Göttin  der  Jugendschöne  um  Aufschub  des 
Alterns:  dvdßale  dvco  xb  yfjQag,  to  xahä  'AcpQodiza  („schieb  auf  das 
Greisenalter,  du  schöne  Aphrodite")  33.  Selbst  der  edle  Liebesgenuß 
wird  zum  Objekt  des  Betens.  Xenophon  empfiehlt,  Aphrodite  zu  bitten, 
daß  sie  liebreizende  Worte  und  Taten  eingebe.  34 

Am  unverhülltesten  tritt  die  Naivität  der  hellenischen  Religion  in 
dem  Fluch-  oder  Rachegebet  entgegen.  Zwar  entstammen  die  stereo- 
typen Fluchformeln,  die  auf  Stein  und  Blei  geschrieben  in  die  Tiefe 
des  Erdbodens  gesenkt  wurden,  der  Volksreligion  einer  späteren  Zeit, 
in  der  die  schwarze  Magie  immer  wilder  wucherte.  Aber  auch  in  dem 
offiziellen  Kult  wie  in  der  Privatreligion  der  klassischen  Epoche  nimmt 
der  Fluch  einen  breiten  Raum  ein.  Für  den  Griechen  war,  wie  Leopold 
Schmidt  sagt,  „die  Übung  der  Gerechtigkeit  so  sehr  die  hervortretendste 
Seite  in  dem  Walten  der  Gottheit,  daß  ein  Streben  nach  Einklang  mit 
ihrem  Willen,  welches  ihre  strafende  Tätigkeit  unberührt  gelassen 
hätte,  ihm  unverständlich  gewesen  wäre  .  .  .  Daher  die  häufigen 
Gebete  um  das  Verderben  der  Frevler,  welche  wir  als  Verfluchungen 
zu  bezeichnen  uns  gewöhnt  haben,  während  der  Grieche  die  Begriffe 
Gebet  und  Fluch  in  einem  Ausdruck  dqd  zusammenfaßte."  35  Muster- 
beispiele des  hellenischen  Rachegebets  geben  die  Tragiker.  Elektra 
ruft  im  Totenopfer  des  Äschylus: 

„Zeus,  Zeus,  der  aus  den  Gräbern  du  empor 

Der  alten  Ate  Rachegeister  schickst, 

Nun  triff,  o  triff  die  frevelhafte  Hand"   (381   ff.) 

„O   Götter,  gebet  unsrer  Rache  Recht"  (462  übers.  Wolzogen). 

Der  sophokleische  Philoktet  betet: 

„Du  heim'sche  Erde  und  ihr  Götter  droben  all 

Im  Himmel,  rächet,  rächet,  aber  balde,  bald 

Sie  allesamt,  wenn  ihr  ein  Mitleid  habt  mit  mir"  (1040  ff.). 

Der  Unterschied  der  klassisch-hellenischen  Frömmigkeit  von  den 
beiden  reinsten  Ausprägungen  der  hohen  Religion,  der  Religion 
Jesu  und  der  Erlösungslehre  Buddhas,  springt  hier  besonders  deutlich 
in  die  Augen.  Der  buddhistische  Bettelmönch,  der  die  ,Übung  des 
Wohlwollens'  (mettä-bhdvanä)  vornimmt,  dehnt  den  Wunsch:  „Mögen 
alle  höheren  Wesen  glücklich  sein,  frei  von  Sorge,  Krankheit  und  Pein" 
auch  auf  seine  Feinde  aus.  36  Jesus  stellt  an  seine  Jünger  die  kühne, 
unerfüllbar  erscheinende  Forderung:  „Segnet  die,  so  euch  fluchen, 
betet  für  die,  so  euch  verfolgen  und  verleumden!"  (Luk.  6,  28).  Der 
Hellene  ruft  auf  seine  Feinde  und  Übeltäter  des  Gottes  Rache  herab, 
vom  sicheren  Glauben  erfüllt,  daß  des  Gottes  strafende  Gerechtigkeit 
seinen  Fluch  verwirkliche,  im  vollen  Bewußten  seines  sittlichen  Rechtes: 
()ixav  d'ii;  ddlxcjv  dnatrcij  („Recht  von  den  Ungerechten  heisch'  ich")  — 
liQdaavii  Tia&elv  („dem  Übeltäter  Leiden!").37  Er  spricht  unbe- 
fangen den  ihn  drängenden  Wunsch  nach  Vernichtung  des  Feindes 
aus.  Buddha  und  Jesus  fordern,  daß  man  den  natürlichen  Affekt 
nicht  nur   unterdrücke,    sondern    sogar    zum    gegenteiligen    Wunsche 


198  D.    Das   Gebet  in  der  hellenischen  Kulturreligion 

sich  erhebe,  daß  man  segne  statt  zu  fluchen.  Der  Glaube  an  ein  religiöses 
Ideal  —  im  Buddhismus  ist  dieses  Ideal  die  Affektlosigkeit  (virdga),  im 
Christentum  die  universelle  Nächstenliebe  —  hat  hier  wie  dort  die 
urwüchsige  Naivität  des  Racheverlangens,  die  noch  in  der  hellenischen 
Religion  lebendig  ist,  zerstört  und  an  ihre  Stelle  eine  paradoxe  Seelen- 
stimmung gesetzt. 

Schon  bei  Naturvölkern  treffen  wir  nicht  selten  generell  gefaßte  Bitt- 
gebete. In  den  griechischen  Gebeten  wird  die  Bitte  häufig  allgemein 
formuliert.  Die  Spartaner  beteten  ganz  schlicht  „um  das  Schöne  zum 
Guten"  (td  xcdä  inl  tolg  dya&ois).  38  Ein  anonymer  Dichter  ruft 
zu  Zeus: 

„König  Zeus,  gib   Gutes,  gebeten,  doch  auch  ungebeten, 
Schlimmes  aber  halt'  fern,  ob  wir  gleich  bitten  darum".  39 

Überall  umfaßt  hier  die  generelle  Bitte  ethisch-überpersönliche  und 
eudämonistisch-persönliche  Werte.  Doch  zeigt  meist  schon  die  For- 
mulierung (rä  dya&d,  xd  xaXd,  zä  £o&kd)  das  Überwiegen  des  Ethischen 
und  Ästhetischen. 

Alle  echten  hellenischen  Gebete  offenbaren  jene  Abgeklärtheit,  Har- 
monie, jenes  innere  Gleichmaß,  das  zur  Wesensart  des  griechischen 
Geistes  gehört.  Die  Leidenschaft  der  großen  israelitischen  Beter  ist  dem 
Griechen  fremd;  das  Gebet  ist  kein  impulsives  „Ausschütten  der  Seele", 
wie  das  alttestamentliche  Bibelwort  sagt,  kein  Rufen  zu  Gott  „aus  der 
Tiefe".  Auch  im  Beten  muß  der  Mensch  seine  Affekte  mildern,  den 
ungestümen  Drang  zurückdämmen.  In  den  Schutzflehenden  desÄschylus 
mahnt  der  Halbchor  den  anderen  „maßvoll  zu  beten",  da  dieser  in 
seiner  unbändigen  Leidenschaft  die  Ehrfurcht  vor  der  Gottheit  zu  ver- 
letzen droht:  //etqiov  vvv  enog  ed%ov  („maßvoll  nun  sprich  das 
Gebet",  1060).  Wenig  Worte  charakterisieren  die  Eigenart  des  grie- 
chischen Gebetsgeistes  besser  wie  dieses  Dichterwort. 

Wie  bei  primitiven  Völkern,  so  sind  es  auch  in  Hellas  vielerlei  Gott- 
heiten, an  die  sich  der  Mensch  im  Gebet  wendet.  Wie  die  Religionen 
des  Orients,  so  besitzt  auch  die  griechische  Religion  ein  buntes,  reich- 
gegliedertes  Pantheon.  In  ihrer  klassischen  Epoche  regen  sich  keine 
monotheistischen  Tendenzen;  keine  schöpferische  Tat  eines  religiösen 
Genius  rückte  an  die  Stelle  der  zahlreichen  Einzelgötter  den  einen  Gott 
Himmels  und  der  Erde.  Der  Grieche  betet  darum  zu  den  verschiedensten 
höheren  Wesen,  zu  Naturgottheiten,  Tätigkeitsgöttern,  Lokal-  und 
Patrongöttern.  Die  fortschreitende  Kulturentwicklung  hat  zwar  in 
Hellas  die  zahllosen  Geister  und  Götter  der  einzelnen  Städte,  Gaue  und 
Inseln  zu  großen  nationalen  Göttern  verschmolzen ;  aber  der  Synkretis- 
mus der  hellenischen  Göttergestalten  läßt  sich  mit  dem  der  orientalischen 
Götter  nicht  vergleichen;  die  ursprüngliche  Sonderart  schimmert 
überall  deutlich  durch. 

Auch  die  hellenischen  Götter  sind  keine  Universalgottheiten,  sondern 
in  ihrem  Wirken  auf  ein  bestimmtes  Gebiet  der  Natur  oder  mensch- 
lichen Tätigkeit  beschränkt.  Darum  wendet  sich  der  Grieche  genau  so 
wie  der  Primitive  in  konkreten  Nöten  und  Wünschen  nicht  an  eine 


Gottesvorstellung  199 


beliebige  Gottheit,  sondern  an  jene,  in  deren  Macht  die  Erfüllung  des 
Wunsches  liegt  oder  deren  Stätte  er  nahe  ist.  „Penelope  fleht  Artemis, 
die  Entsenderin  der  raschtötenden  Pfeile,  um  den  Tod  an;  die  von 
Agamemnon  abgesandten  Helden  bitten,  während  sie  an  dem  Gestade 
des  Meeres  dahinschreiten,  den  Gott  Poseidon,  daß  es  ihnen  gelingen 
möge,  den  trotzigen  Achill  zu  versöhnen ;  auf  die  nahe  Höhle  der  Nymphen 
aufmerksam  gemacht,  richtet  Odysseus  nach  seiner  Ankunft  auf  seiner 
heimatlichen  Insel  seine  Aufrufung  an  diese."  „In  der  attischen  Periode 
waren  die  Bestimmungsgründe  bei  der  Wahl  der  angerufenen  Götter 
von  denen,  die  sich  in  den  homerischen  Gedichten  erkennen  lassen, 
wohl  nicht  wesentlich  verschieden."  40  Eine  Stelle  in  Arrians  Schrift 
über  die  Jagd  gibt  zweifellos  die  Gewohnheiten  der  klassischen  Zeit 
wieder.  „Die  Seefahrer  sollen  sich  bei  dieser  Gelegenheit  an  die  Meeres- 
gottheiten wenden,  die  Bebauer  des  Landes  an  Demeter,  Köre  und 
Dionysos  ,  die  Handwerker  an  Athene  und  Hephästos,  die  mit  der  Er- 
ziehung Beschäftigten  an  Apollon,  die  Musen,  Mnemosyne  und  Hermes, 
die  Pfleger  erotischer  Dinge  an  Aphrodite,  Eros,  Peitho  und  die  Chariten, 
die  Jäger  an  Artemis,  Apollon,  Hermes,  Pan,  die  Nymphen  und  andere 
Gottheiten  des  Gebirges."  41  Über  den  zahllosen  Einzelgöttern  steht 
Zeus,  der  Vater  der  Götter  und  Menschen,  der  Himmelsgott  und  Schick- 
salslenker, der  Wächter  der  Eide,  der  Schirmer  der  Schutzflehenden. 
Er  ist  ähnlich  dem  vedischen  Varuna  und  dem  chinesischen  Hoang-tien 
schang-ti  ein  primitiver  ,Urvater'  und  ,Himmelsgott'.  Während  man 
sich  an  die  übrigen  Götter  nur  in  bestimmten  Angelegenheiten  wendet, 
ruft  man  zu  ihm  bei  den  allerverschiedensten  Anlässen.  Die  Gebete  um 
ethische  Werte  scheint  man  mit  Vorliebe  an  ihn  gerichtet  zu  haben. 
Die  Anrufung  mehrerer  oder  aller  Gottheiten,  wie  wir  sie  häufig  bei  den 
Dichtern  finden,  42  fand  ursprünglich  wohl  nur  im  feierlichen  kultischen 
Gebet  statt  und  drang  später  auch  in  das  Privatgebet  ein. 

Die  Götter,  zu  denen  die  Griechen  beten,  tragen  dieselbe  anthro- 
pomorphe  Struktur  wie  die  höheren  Wesen,  zu  denen  die  Primitiven 
beten;  sie  sind  dv&Qü)Tioq)vEig,  dvÖQcorzoEidrfg  (,menschenförmig" 
,menschenähnlich'),  wie  sie  bei  Herodot  und  Aristoteles  genannt 
werden.  43  Zwar  hat  der  reife  religiöse  Geist  der  klassischen  Zeit  die 
leichtfertigen  und  abenteuerlichen  Züge  im  homerischen  Götterbilde 
beseitigt.  Aber  die  Götter  bleiben  stets  persönliche,  denkende,  wollende 
und  fühlende  Wesen,  die,  trotzdem  sie  an  Macht  und  Seligkeit  den 
Menschen  überragen,  in  ihrem  Seelenleben  dem  des  Menschen  gleichen. 
Sie  lösen  sich  nie  in  unpersönliche  Naturkräfte  auf.  Weil  die  Götter 
menschenähnliche  Wesen  sind,  kann  der  Mensch  zu  ihnen  in  ein  per- 
sönliches Verhältnis  treten.  Im  Gebet  findet  ein  inniger  Verkehr  des 
Menschen  mit  dem  gegenwärtigen  Gott  statt.  Nirgends  ist  dieser  dem 
griechischen  Gebet  zugrunde  liegende  Gedanke  schöner  ausgesprochen 
als  im  Hippolytos  des  Euripides  (85  f.),  wo  der  betende  Held  zu  Artemis 
spricht : 

„Ich  bin  mit  dir  zusammen  und  antworte  dir, 

Ich  lausch  auf  deine   Stirnm',  seh   ich  auch  nicht   dein  Aug." 


200  D.    Das    Gebet   in  der  hellenischen  Kulturreligion 

Derselbe  Gedanke  kehrt  wieder  im  platonischen  Gastmahl,  wo  Eryxy- 
machos  den  aus  Gebet,  Opfer  und  Mantik  bestehenden  Kult  als  f]  tieqi 
&eovg  xe  xai  dv&Qü)7iovg  TiQÖg  ällrjkovs  xoivovia  ( ,  ,die  wechselseitige  Gemein- 
schaf t  zwischen  Göttern  und  Menschen"  (  Symp.  1 88  C)  definiert.  Im  Ver- 
hältnis des  Menschen  mit  der  Gottheit  kehrt  stets  eine  irdisch-soziale  Re- 
lation wieder.  Ab  nicht  im  Untertanenverhältnis  fühlt  sich  der  griechi- 
sche Beter  seinem  Gott  gegenüber  —  der  freie  Hellene  beugt  sich  nicht  wie 
der  Semite  als  Sklave  unter  die  Gottheit,  er  steht  zu  ihr  auch  nicht  im 
vertraulichen  Kindschaftsverhältnis  wie  der  Christ  zu  dem  gnädigen 
Vatergott.  Das  Verhältnis  der  Griechen  zu  Gott,  das  sich  im  Gebet 
ausspricht,  erscheint  vielmehr  als  Freundschaftsverhältnis.  Die  Hellenen 
waren  Virtuosen  der  Freundschaft ;  die  Eigenart  der  sozialen  Beziehungen 
spiegelt  sich  im  Verkehr  mit  der  Gottheit  wider.  Eine  männlich-freie, 
offene  Haltung  nimmt  der  Betende  und  Opfernde  ein.  Mit  respekt- 
voller Hochachtung  paart  sich  gemessene  Würde,  stolzes  Selbstbewußt- 
sein. Schon  in  der  Körperstellung  kommt  dies  zum  Ausdruck:  kniende 
Haltung  oder  völliges  Sichniederwerfen  kennt  der  Grieche  nicht ;  stehend 
erhebt  er  seine  Hände  zu  den  angerufenen  Göttern.  Auch  im  Verkehr 
mit  ihnen  gilt  es  Maß  zu  halten,  die  Extreme  zu  vermeiden.  Servile 
Untertänigkeit,  erniedrigende  Schmeichelei  und  Bettelei  verachtet  der 
Hellene  als  barbarisch. 44  Aber  auch  das  Selbstbewußtsein  hat 
seine  Schranken:  Selbsterhebung  (vftQig)  ist  der  schwerste  Frevel 
wider  die  Götter,  die  Sünde  der  Sünden.  Wehe  dem,  der  nach 
Gottgleichheit  strebt:  [iq  (lärsve  Zevg  ysvio&ai  („trachte  nicht  Zeus  zu 
werden").  45 

Das  Gebet  der  Griechen  ist  naives,  primitives  Beten:  der  urwüchsige, 
gesunde  Eudämonismus,  die  Anrufung  vieler  Gottheiten,  der  Realismus 
der  Gottesvorstellung  und  des  Verkehrs  mit  Gott  —  alle  Eigentümlich- 
keiten des  primitiven  Gebets  kehren  wieder.  Und  doch  steht  das  he  - 
lenische  Gebet  unendlich  höher  wie  das  Bitten  des  Primitiven;  in  ihm 
öffnet  sich  eine  Welt  höherer  Werte.  Auch  die  Realisierung  der  Persön- 
lichkeits- und  Kulturideale  ist  von  der  Macht  der  Götter  abhängig; 
darum  erfleht  der  Hellene  „alles  Gute  und  Schöne"  von  ihnen,  die  hel- 
lenische Kulturbegeisterung  atmet  sich  im  Gebet  aus.  Diese  innige  Ver- 
bindung der  Religion  mit  dem  Kulturleben  ist  der  Vorzug  der  griechischen 
Frömmigkeit,  zugleich  aber  auch  ihr  Verhängnis.  Mit  dem  Untergang 
der  Kultur,  deren  Teil  sie  war,  mußte  auch  sie  untergehen.  Nur  in 
der  Renaissancereligion  war  ihr  eine  schwache  Nachblüte  beschieden. 
Mit  der  Erneuerung  des  klassischen  Geisteslebens  flackerte  sie  nochmals 
empor;  in  der  Gebetsfrömmigkeit  der  dichtenden  und  schaffenden 
Renaissancemenschen  lebt  das  naive  hellenische  Beten  auf.  Aber  der 
Untergang  war  unausbleiblich;  die  hellenische  Religion  starb,  wie  all 
die  großen  Ritualreligionen  des  Ostens  sterben  mußten,  trotzdem  sie 
diese  an  Tiefe  und  Reinheit  überragte.  Nur  den  übernationalen  und 
überkulturellen  Religionen,  den  mystischen  Erlösungsreligionen  und 
den  prophetischen  Offenbarungsreligionen  kommt  Unvergänglichkeit 
in  der  Geschichte  zu.    Wo  die  Religion  zur  vollen  Entfaltung  kommt, 


Schlußcharakteristik  201 

fordert  sie  mit  innerer  Lebensnotwendigkeit  unerbittlich  den  Primat 
im  Geistesleben.  Die  Verflochtenheit  der  Religion  im  allgemeinen 
Kulturleben  ist  der  primitiven  Religion  eigen.  Die  großen  religiösen 
Genien  erheben  sich  über  die  primitive  Religion  dadurch,  daß  sie  die 
Religion  aus  der  Umklammerung  der  Kultur  losreißen  und  über  sie 
erheben.  Die  hellenische  Religion  ist  darum  primitive  Religion,  freilich 
in  ihrer  reinsten  und  edelsten  Form;  aber  sterbend  gebar  sie  aus  sich 
eine  überkulturelle  und  übernationale  Religion,  die  mystische  Erlösungs- 
religion  des  Neuplatonismus. 


E.  Gebetskritik  und  Gebetsideale  des 
philosophischen  Denkens. 

Die  primitive  kultische  Religion  ist  der  Boden  der  religiösen  Negation. 
Das  philosophische  Denken,  mag  es  nun  metaphysisch  oder  antimeta- 
physisch, ethisch  oder  erkenntnistheoretisch,  idealistisch  oder  materia- 
listisch, theistisch  oder  deistisch,  pantheistisch  oder  atheistisch  gerichtet 
sein  —  immer  steht  es  in  einem  inneren  Widerspruch  zu  der  naiven 
Frömmigkeit  des  primitiven  Menschen.  Der  urwüchsige  Eudämonismus, 
der  alle  Äußerungen  primitiver  Religion  beseelt,  wie  der  anthropomorphe 
Realismus,  der  die  Gottes  Vorstellung  des  Primitiven  beherrscht,  fordern 
mit  innerer  Notwendigkeit  die  philosophische  Kritik  heraus.  Diese 
Kritik  schreitet  aber  nur  selten  zu  einer  völligen  Absage  an  die  Religion 
fort.  Nur  der  konsequente  Materialismus  und  Positivismus  verwirft 
von  vornherein  alles  Religiöse  als  Trug  und  Irrtum,  doch  sucht  er  zumeist 
dieses  Verwerfungsurteil  durch  eine  nachhinkende  psychologische  Ab- 
leitung der  Religion  zu  stützen  (Sophisten,  Hume,  Feuerbach).  Die 
idealistische  Philosophie  hingegen  —  mag  nun  ihr  Idealismus  ein  meta- 
physischer, erkenn tnis theoretischer  oder  ein  ethischer  sein hat  trotz 

aller  Gegensätze  etwas  mit  der  Religion,  auch  der  primitiven,  gemein- 
sam: den  Glauben  an  eine  Welt  des  Übersinnlichen  hinter  der  Welt 
der  Erscheinungen,  an  eine  Welt  höherer  Werte  über  der  Welt  der 
profanen  Alltagsinteressen.  In  dieser  zwiespältigen  Stellung  zur  Religion, 
dem  Widerspruch  gegen  sie  einerseits  und  ihrer  Wertschätzung  anderer- 
seits, gründet  das  Streben  der  idealistischen  Philosophie  nach  einer 
Umgestaltung  der  empirischen  Religion  in  eine  Idealreligion.  Das  philo- 
sophische Denken  sucht  die  traditionelle  kultische  Religion  zu  ethisieren 
und  rationalisieren,  indem  sie  den  Eudämonismus  aus  der  Frömmigkeit 
verbannt,  die  Gottesvorstellung  von  allen  anthropomorphen  Zügen 
reinigt  und  an  die  Stelle  des  Kults  die  Verwirklichung  sittlicher  Werte 
im  individuellen  und  sozialen  Leben  rückt.  Diese  ethisch-rationale 
Idealreligion  ist  keine  naive  Religion,  sondern  eine  Reformreligion, 
geboren  aus  der  bewußten  Kritik  an  der  naiven  Frömmigkeit,  keine 
reine  Religion,  sondern  eine  philosophische  Religion,  eine  ,Religion 
innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft'  (Kant),  orientiert  an  den 
Normen  der  philosophischen  Erkenntnistheorie,  Metaphysik  und  Ethik. 
Die  Beziehung  der  philosophischen  Reformreligion  zu  der  lebendigen 
Religion  ist  bald  enger,  bald  loser;  der  Pietät  eines  Konfutse  gegen  die 
religiöse  Tradition  und  der  Anpassungsfähigkeit  der  Stoa  an  die  Volks- 
religion steht  gegenüber  die  schroffe  Abweisung  der  naiven  Frömmigkeit 
durch  Xenophanes  und  Fichte;  mit  der  religiösen  Wärme  und  prophe- 


Inhalt  des  philosophischen   Gebets  203 

tischen  Wucht  eines  Sokrates  kontrastiert  das  abstrakte  und  nüchterne 
Religionsideal  eines  Seneca  und  Kant.  Aber  all  diese  Denker  haben 
dies  gemeinsam,  daß  sie  der  wirklichen  Religion  die  von  ihnen  konstruierte 
Idealreligion  als  wahre,  reine,  echte  und  allgemeingültige  Religion 
gegenüberstellen . 

Der  urwüchsige  Eudämonismus  und  kräftige  Realismus  der  naiven 
Religion  offenbart  sich  nirgends  so  deutlich  wie  im  Opfer  und  Gebet. 
Eben  deshalb  richtet  sich  die  philosophische  Religionskritik  mit  Vor- 
liebe gegen  das  primitive  Beten  und  Opfern.  Schon  der  antiken  Philo- 
sophie war  das  Gebet  ein  ernstes  Problem.  Seit  den  Tagen  des  Xeno- 
phanes  ist  in  ihr  die  Frage,  ob  und  wie  man  beten  sollte,  nicht  zur  Ruhe 
gekommen.  Am  Ausgang  der  Antike  verfaßte  der  Philosoph  Maximus 
Tyrius  eine  eigene  Schrift  mit  dem  Titel:  ei  del  £#/£ff#o«  (,,ob  man 
beten  darf").  Diese  Frage  nach  dem  philosophischen  Recht  des 
Betens  beschäftigte  die  griechischen  Kirchenväter  sbenso  wie  die  Pytha- 
goreer,  Stoiker  und  Platoniker.  Auch  in  der  Aufklärungsphilosophie 
und  bei  Kant  wird  dem  Problem  des  Gebets  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt. 3  Die  philosophische  Gebetskritik  führt  jedoch  fast  nie  zu 
einer  radikalen  Verwerfung  des  Gebets  überhaupt,  vielmehr  wächst  aus 
ihr  ein  positives  Gebetsideal  heraus;  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
ethischen  Werte  und  metaphysischen  Erkenntnisse  wird  eine  Gebets- 
norm formuliert;  dem  naiven,  spontanen  wie  dem  rituell  gebundenen 
Beten  der  Volksmassen  und  Priester  wird  das  wahre  und  vollkommene 
Beten  des  Philosophen  gegenübergestellt.  Nach  einem  Wort  der  Pytha- 
goreer  ist  der  Weise  „der  einzige  Priester,  der  einzige  Gottliebende, 
der  Einzige,  der  zu  beten  versteht"  (fiövog  Isoevg  ö  oocpög,  fiövog  d-eo- 
(pri.fjQ,  fiövog  eldoig  evl-aod-ai*). 

I.  Inhalt  des  philosophischen  Gebets. 
Das  ethische  Gebetsideal. 
1.  Der  naive  Mensch  betet  um  Leben  und  Gesundheit,  um  Nahrung, 
Sonnenschein  und  Regen,  um  Besitz  und  Kinderreichtum,  um  Ehre  und 
Ansehen,  um  Sieg  und  Verderben  über  seine  Feinde.  Dieser  gesunde, 
kräftige  Eudämonismns  wird  von  den  Philosophen  als  irreligiös  und 
unsittlich  gebrandmarkt.  Eduard  v.  Hartmann  sagt:  „Vom  Stand- 
punkt eines  höheren  religiösen  Bewußtseins  müssen  die  eudämonistischen 
Zwecke  des  Kultus  als  irreligiös  erscheinen."  5  Fichte  schrieb  im  Atheis- 
musstreit: „Das  System,  in  welchem  von  einem  übermächtigen  Wesen 
Glückseligkeit  erwartet  wird,  ist  das  System  der  Abgötterei  und  des 
Götzendienstes  und  so  alt  wie  das  menschliche  Verderben."  6  Das 
Beten  erscheint  dem  kraftvollen  sittlichen  Geiste  als  Schwäche;  als 
„Tröstung  einer  kranken  Seele"  (aegrae  mentis  solatia)  hat  Seneca  das 
Gebet  bezeichnet.  7  Es  gilt,  alle  Eigenkraft  anzuspannen,  nicht  tatenlos 
die  Hilfe  von  oben  zu  erwarten.  „Quid  votis  opus  estt  Fac  te  ipsum 
felicem/"  („Wozu  braucht  man  Gebete?  Mach  dich  selbst  glücklich!")  8 
Es  erscheint  klein,  häßlich  und  unmännlich,  sich  nicht  in  sein  Geschick 
zu  fügen,  sondern  trotzig  um  Erfüllung  seiner  augenblicklichen  Wünsche 
und  Begierden  zu  flehen.     Kant  urteilt:  „Es  ist  ein  ungereimter  und 


204         E.   Gebetskritik  und    Gebetsideale  des   philosophischen  Denkens 

zugleich  vermessener  Wahn,  durch  die  pochende  Zudringlichkeit  des 
Bittens  zu  versuchen,  ob  Gott  nicht  von  dem  Plan  seiner  Weisheit  zum 
gegenwärtigen  Vorteil  für  uns  abgebracht  werden  könnte."  9  Die  Güter, 
um  die  der  gewöhnliche  Mensch  betet,  sind  keine  wirklichen  Werte. 
Der  Kyniker  Diogenes  warf  der  Masse  der  Menschen  vor,  sie  flehe  die 
Götter  nicht  um  wahre,  sondern  um  scheinbare  Güter  an.  10    Sokrates 
erklärte,   diejenigen,   welche   um    Gold,    Silber,    Herrschaft   oder   der- 
gleichen beteten,  täten  nichts  anderes  als  wenn  sie  um  ein  Würfelspiel 
oder  um  eine  Schlacht  oder  sonst  etwas,  dessen  Ausgang  ungewiß  sei, 
beteten.  n  „Was  das  Schicksal  geben  kann  und   wieder  nehmen,    um 
solches  darfst  du  nicht  beten,"  mahnt  ein  anderer  griechischer  Weiser. 12 
2.  Das  Beten  um  vergängliche  eudämonistische  Güter  gilt  dem  nach 
dem  sittlichen  Ideal  strebenden  Philosophen  als  unwürdig.     Nur  um 
unvergängliche,  ethische  Werte  darf  der  Mensch  bitten.      Das  philo- 
sophische Gebetsideal  beschränkt  den  Gegenstand  des  Gebets  auf  den 
Umkreis  der  geistigen  und  sittlichen  Güter.    Keiner  hat  dieses  ethische 
Ideal  so  begeistert  verkündet  wie  der  Stoiker  Epiktet.    „Nicht  was  du 
begehrst,  erbitte  von  den  Göttern,  sondern  daß  du  frei  werdest  von 
allem  Begehren,  das  erflehe  von  ihnen.    Dann  werden  dich  die  Götter 
erhören,  wenn  du  nicht  um  das  Angenehme,  sondern  um  das  Wertvolle 
betest  (fiij  tzeqi  %Giv  fjöicov^   ällä  ueqi  %(bv  xatäv).     Und  dann  werden 
sie  dir  das  Wertvolle  geben,   wenn   du  nicht  an   der   Lust,   sondern 
an  der  Tugend  dich  erfreust.    Gedenke  von  den  Großen  nur  das  Große 
zu  erflehen;  denn  das  Kleine  werden  sie  wohl  nicht  geben.    Nichts  ist 
größer  und  erhabener  als  Gott,  wenn  du  darum  zu  den  Göttern  betest, 
bitte  um  das  Göttliche,  das  unberührt  ist  von  aller  fleischlichen  und 
irdischen  Leidenschaft."  13    Clemens  von  Alexandrien  sagt  ähnlich  vom 
christlichen  Gnostiker:  „Er  betet,  daß  ihm  die  wahren,  auf  die  Seele 
bezüglichen   Güter    (rd    övxwg   dyadä   xä    tceql    tyvyr\v)    zuteil    werden 
und  erhalten  bleiben."  14 

Die  Philosophen  beten  zunächst  um  die  Verwirklichung  ethischer 
Werte  im  individuellen  Leben.  Xenophanes  bittet  um  die  Kraft,  das 
sittlich  Gute  zu  vollbringen  (rä  dixaia  dvvao&ai  jrQfjooeiv)  15,  Apollo- 
nius  von  Tyana  betet  um  Besitz-  und  Bedürfnislosigkeit  (ofiixQa  eyeiv 
xai  deia&ai  firjdevög)  16.  Epiktet  fordert,  daß  man  um  die  oaicpQoovvr} 
tpvzrjg  (Besonnenheit  der  Seele)  bete 17.  Maximus  Tyrius  nennt 
als  Objekte  des  Betens:  „Tugend  der  Seele,  Ruhe  des  Lebens, 
tadelfreien  Wandel,  hoffnungsvollen  Tod,  die  wunderbaren  von 
den  Gföttern  geschenkten  Gaben."  18  Clemens  von  Alexandrien 
schreibt:  „Der  schon  vollendete  Gnostiker  betet  um  Wachstum  und 
Bewahrung  der  Erkenntnis  (d-eoiQia),  so  wie  der  gewöhnliche  Mensch 
um  dauernde  Gesundheit.  Ferner  wird  er  flehen,  daß  er  nie  von  der 
Tugend  abfallen  werde."19  Seneca  mahnt:  „Roga  bonam  mentem, 
bonam  valetudinem  animi"  („Bete  um  guten  Geist,  um  gutes  Befinden 
der  Seele") 2Ü.     Juvenal  gibt  in  einer  seiner  Satiren  eine  echt  stoische 

Gebetsregel. 

,,Orandum  est,  ut  sit  mens  sana  in  corpore  sano. 
Fortem  posce  animum  mortis  terrore  carentem, 


Inhalt   des   philosophischen    Gebets  205 


Qui  spatium  vitae  extremum  inter  munera  ponat 
Naturae,  qui  ferre  queat  quoscumque  labores, 
Nesciat  irasci,  cupiat  nihil"  .  .  .  .  ai 
(„Bef,  daß  gesunder  Geist  in  gesundem  Körper  mög'  wohnen. 
Flehe  um  tapferen  Mut,  der  trotzt  allen  Schrecken  des  Todes, 
Der  als  das  letzte  Geschenk  der  Natur  langes  Leben  betrachtet. 
Der  Kraft  hat,  mit  Geduld  zu  ertragen  jegliche  Mühsal, 
Der  frei  ist  von  Zorn  und  frei  von  aller  Begierde.") 
Die  ethischen  Ideale,  die  für  den  Philosophen  der  einzige  Gegenstand 
des  Betens  sind,  beschränken  sich  jedoch  nicht  auf  das  individuelle 
Leben,  sondern  umfassen  das  Leben  aller  Menschen.  Pythagoras  fordert, 
daß  die  Weisen  für  die  Toren  um  das  Gute  beten,  da  diesen  das  wahr- 
haft Gute  unbekannt  sei.  22    Apollonius  von  Tyana  betet,  „daß  es  viele 
weise  Männer  gebe,   daß  Gerechtigkeit  herrsche,  daß  die  Gesetze  nicht 
aufgelöst  würden,  daß  die  Weisen  arm,  die  übrigen  reich  seien,  aber 
ohne  Ungerechtigkeit".  23    Aus  den  Gebeten  Voltaires  spricht  das  welt- 
bürgerliche Humanitätsideal  der  französischen  Aufklärer. 

„Du  hast  uns  nicht  ein  Herz  gegeben,  damit  wir  uns  hassen,  und  Hände,  damit 
wir  uns  erdrosseln,  sondern  daß  wir  uns  gegenseitig  helfen  die  Last  eines  mühe- 
vollen, flüchtigen  Lebens  zu  tragen;  daß  die  kleinen  Unterschiede  zwischen  den 
Kleidern,  die  unsere  schwachen  Körper  bedecken,  zwischen  unseren  ungenügenden 
Sprachen,  zwischen  unseren  lächerlichen  Bräuchen,  zwischen  all  unseren  unvoll- 
kommenen Gesetzen,  zwischen  all  unseren  unsinnigen  Meinungen,  zwischen 
unseren  Standesverhältnissen,  die  so  verschieden  sind  in  unseren  Augen  und  so  gleich 
vor  dir,  daß  all  die  kleinen  Nuancen,  welche  die  Atome,  , Menschen'  genannt, 
unterscheiden,  nicht  Anlässe  zum  Haß  und  zur  Verfolgung  seien."  „Erhalte  in 
unseren  Herzen  die  Unterwerfung  (unter  deinen  Willen),  erhalte  in  ihnen  deine 
reine  Religion;  entferne  von  uns  allen  Aberglauben;  wenn  man  dich  durch  un- 
würdige Opfer  verhöhnen  kann,  schaffe  diese  ruchlosen  Mysterien  ab;  wenn  man 
die  Gottheit  durch  törichte  Fabeln  entehren  kann,  mögen  diese  Fabeln  für  immer 
zugrunde  gehen;  wenn  die  Tage  des  Fürsten  und  der  Beamten  nicht  von  aller 
Ewigkeit  her  gezählt  sind,  verlängere  die  Dauer  ihrer  Tage;  bewahre  die  Reinheit 
unserer  Sitten,  die  Freundschaft,  die  unsere  Brüder  hegen,  das  Wohlwollen, 
das  sie  gegen  alle  Menschen  haben,  ihren  Gehorsam  gegen  die  Gesetze,  ihre  Weisheit 
im  Privatleben;  mögen  sie  leben  und  sterben  in  der  Anbetung  des  einen  Gottes, 
des  VergeJters  des   Güten  und   Rächers  des  Bösen."  24 

Das  allgemeine  Fürbittegebet  der  christlichen  Kirche  ist  in  diesen 
antiken  und  neuzeitlichen  Philosophengebeten  schattenhaft  angedeutet. 
In  allen  diesen  Fällen  ist  die  ethische  Gebetsbitte  konkret  gefaßt ;  der 
Weise  bittet  um  mehr  oder  weniger  genau  umschriebene  ethische  Werte. 
Häufig  aber  ist  die  Bitte  generell  und  abstrakt  formuliert,  wie  dies  dem 
Fehlen  konkreter  Gebetsmotive  entspricht.  Die  generelle  Form  der 
Bitte  begegnet  uns  schon  beim  primitiven  Menschen;  aber  während 
dieser  um  , Glück',  um  göttliche  , Gunst'  und  , Gnade'  betet,  betet  der 
Philosoph  schlechthin  um  ,das  Gute';  dort  hat  die  generelle  Bitte  rein 
eudämonistischen,  hier  rein  ethischen  Charakter.  Pythagoras  schon 
sagte,  man  dürfe  im  Gebete  nur  um  das  Gute  bitten  (öetv  iv  Tcug 
Evxcclg  änKög  evxeottcu  xäyaihu)  und  warnte  vor  einem  Namhaft- 
machen konkreter  Wünsche  (xarä  fieQog  övoiiäQeiv)  25.  Sokrates  bat 
die  Götter  lediglich,  das  Gute  zu  geben,  da  sie  am  besten  wüßten,  was 
gut  sei.  26  Apollonius  von  Tyana  sagte,  er  fasse  alles  in  das  eine 
Gebet  zusammen:  „O  ihr  Götter,  gebt  mir  das  Gebührende"  {rä 
dtpeilöfiEva)  und  er  versteht  hierunter  ,das  Gute'   {idyaiyd).  27 


206        E.   Gebetskritik  und   Gebetsideale  des  philosophischen   Denkens 


Das  Anheimstellen  aller  Einzelwünsche  an  Gott  leitet  zu  jener  Form 
des  philosophischen  Gebets  über,  die  in  der  Stoa  ihre  höchste  Voll- 
endung erreichte:  zur  Aussprache  der  vollen  Wunschlosigkeit  und  Ge- 
lassenheit, der  restlosen  Ergebung  in  die  Hände  des  Schicksals.  Der 
Weise  bittet  und  fleht  nicht,  er  betet  nicht  einmal  um  die  Erlangung 
eines  sittlichen  Gutes;  er  bekennt  nur  seine  volle  Abhängigkeit,  er  ver- 
zichtet auf  allen  Eigen  wünsch  und  Eigenwillen,  er  ist  bereit,  jedes 
Geschick,  Leben  und  Tod,  Glück  und  Unglück,  Ehre  und  Schmach 
ohne  Widerspruch  und  Widerwillen  hinzunehmen.  Klean thes  ruft  zu 
Zeus  und  zum  Schicksal: 

„Führ  mich,  o  Zeus,  und  du,  gewaltiges  Schicksal, 

Wohin  auch  immer  ich  von  euch  bestimmt  bin; 

Ich  folge  ohne  Zögern;  wenn  ich  auch  nicht  will 

In  meiner  Bosheit,  folgen  muß  ich  dennocb."  28 

Seneca  hat  dieses  Gebet  ins  Lateinische  übersetzt 29;  er  hat  uns  auch 
den  feierlichen  Verzicht  des  Demetrius  überliefert,  in  dem  dieser  Leib 
und  Leben,  Kinder  und  Besitz  den  Göttern  übergibt:  „Wollt  ihr  meine 
Kinder  nehmen  ?  von  euch  hab  ich  sie  empfangen ;  wollt  ihr  einen  Teil 
meines  Leibes?  nehmt  ihn;  nicht  etwas  Großes  geb  ich  dahin,  da  ich 
doch  bald  den  ganzen  Leib  verlassen  muß ;  wollt  ihr  die  Seele  ?  warum 
sollte  ich  euch  daran  hindern  das  zurückzunehmen,  was  ihr  gegeben  ? 
Was  ihr  auch  fordert,  ich  überlasse  es  euch  aus  freiem  Willen"  („Vultis 
liberos  sumere?  vobis  illos  sustuli,  vultis  aliquam  parte m  corporis? 
sumite;  non  magnam  rem  promitto,  cito  totum  relinquam;  vultis 
spiritum  ?  quidni  nullam  moram  faciam,  quominus  recipiatis  quod 
dedistis  ?  a  volente  feretis,  quidquid  petieritis").  30  Eine  wundervolle 
Stimmung  männlicher  Freiheit  und  Entschlossenheit  redet  aus  dem 
Gebet,  zu  dem  Epiktet  seine  Jünger  auffordert.  „Richte  einmal  deinen 
Nacken  empor  als  ein  aus  der  Knechtschaft  Befreiter,  wage  es  zum 
Himmel  aufzuschauen  und  zu  sprechen :  , Gebrauche  mich  denn,  wozu  du 
willst,  ich  stimme  mit  dir  überein,  ich  bin  dein  (xqu>  [tot  Xomov  eh  8  äv 
lHlri$,  öfioyvcofiovd)  ooi,  oög  eifii).  Ich  appelliere  nicht  gegen  deine  Be- 
schlüsse. Wohin  du  willst,  führe  mich,  welches  Kleid  du  nur  willst, 
lege  mir  um.  Willst  du,  daß  ich  ein  Amt  habe,  daß  ich  ein  Privatmann 
sei,  daß  ich  bleibe  oder  fliehe,  arm  oder  reich  sei;  ich  werde  dich  für 
das  alles  vor  den  Menschen  verteidigen;  zeige  die  Natur  eines  jeden, 
wie  sie  ist."  31 

Das  stoische  Gebetsideal  der  vollen  Hingabe  des  menschlichen  Willens 
an  den  göttlichen,  des  Sichbeugens  unter  die  ewigen  Schicksalsordnungen, 
wurde  auch  von  den  französischen  Aufklärern  hochgehalten. 

„Das  vollkommenste  Gebet",  urteilt  Rousseau,  „ist  die  völlige  Resignation 
in  Gottes  Willensfügungen.  ,Nicht  was  ich  will,  sondern  was  du  willst!'  ,Dein 
Wille  geschehe!'  Jedes  andere  Gebet  ist  überflüssig  und  steht  mit  diesem  in 
Widerspruch."  sa  Diderot  ruft  am  Schlüsse  der  Interprätations  de  la  nature  aus: 
„O  Gott!  Ich  erbitte  nichts  von  dir,  denn  der  Gang  der  Natur  ist  innere  Not- 
wendigkeit, wenn  du  nicht  bist,  oder  dein  Gebot,  wenn  du  bist."  3S  Voltaire 
bekennt:  „O  Gott  aller  Welten  und  aller  Wesen,  das  einzige  Gebet,  das  dir  ent- 
sprechen kann,  ist  die  Unterwerfung;  denn  wozu  den  bitten,  der  alles  geordnet, 
alles  vorgesehen,  alles  verkettet  hat  seit  dem  Anbeginn  der  Dinge  ?"  Die  Gebete 
Voltaires  sind  darum  nur  bedingte   Gebete,  getragen  von  der  absoluten  Aner- 


Inhalt  des  philosophischen   Gebets  207 

kennung  der  ewigen  Ordnungen  Gottes.  Eines  der  oben  angeführten  Gebete 
beginnt  mit  den  Worten:  „Nicht  mehr  an  die  Menschen  richte  ich  mich,  sondern 
an  dich,  den  Gott  aller  Wesen,  aller  Welten,  aller  Zeiten.  W  e  n  n  e  s  schwachen 
Geschöpfen,  welche  in  der  Unendlichkeit  verloren  sind  und  unfähig  das  übrige 
Universum  zu  erkennen,  erlaubt  ist,  dich  um  etwas  zu  bitten,  dich,  der 
alles  gegeben  hat,  dich,  dessen  Bestimmungen  unabänderlich  wie  ewig  sind,  so 
würdige  dich  in  Gnade  die  Irrungen  zu  betrachten,  die  unserer  Natur  anhaften."  8* 

In  der  Aussprache  der  Resignation  und  Ergebung  berührt  sich  das 
stoisch-philosophische  Gebetsideal  mit  dem  Gebete  der  mystischen 
Frömmigkeit.  Das  , Suspice'  des  heiligen  Ignatius  von  Loyola,  manche 
Gebete  des  Thomas  von  Kempen,  der  heiligen  Teresa  und  der  Madame 
Guyon  klingen  wörtlich  an  die  Gebete  des  Demetrius  und  Epiktet  an. 
Epiktets  Worte:  „Tue  mit  mir,  was  du  willst,  dein  Wille  ist  mein  Wille, 
ich  bin  dein,"  werden  von  den  Mystikern  unzählige  Male  wiederholt. 
(S.  u.  Kap.  F  III  4.)  Und  doch  bergen  sich  hinter  den  gleichen  Worten 
grundverschiedene  seelische  Stimmungen.  Trotz  aller  Feierlichkeit  und 
Erhabenheit,  trotz  alles  tiefen  sittlichen  Ernstes  offenbaren  die  stoischen 
Gebete  eine  gewisse  Frostigkeit  und  Unpersönlichkeit.  Es  fehlt  ihnen 
die  Innigkeit  und  Wärme,  der  enthusiastische  Hauch,  der  dem  Beten 
der  christlichen,  suf istischen  und  hinduis tischen  Mystiker  eigen  ist.  35 
Das  Gebet  der  Stoiker  und  Aufklärer  ist  eben  ein  ethischesldeal  , 
das  der  Mystiker  quillt  aus  den  Tiefen  persönlichen  religiösen 
Erlebens.  Die  Resignation  des  Stoikers  entspringt  einem  starken 
sittlichen  Willen,  der  sich  mutig  und  entschlossen  dem  unabänderlichen 
Schicksal  beugt,  die  Ergebung  des  Mystikers  wurzelt  in  der  völligen 
Hingabe  des  Ich  an  das  höchste  Gut,  in  der  Gottesliebe.  Viel  enger  als 
mit  dem  Beten  der  Mystiker  ist  das  stoische  Gebetsideal  mit  der  bud- 
dhistischen Versenkung  verwandt.  Die  stoische  änäÜ-eia  gleicht 
in  der  Stimmungsfarbe  der  buddhistischen  upekkhä,  dem  völligen 
leid-  und  freudlosen'  Gleichmut,  zu  dem  sich  der  Bhikkhu  auf  der 
vierten  Stufe  der  Versenkung  (dhyäna)  erhebt.  Doch  unterscheidet 
sich  das  stoische  wie  das  mystische  Ergebungsgebet  von  der  buddhisti- 
schen Indifferenzstimmung  dadurch,  daß  in  letzterer  jede  unmittelbare 
Hinwendung  an  eine  höchste  metaphysische  Realität  fehlt.  36 

Noch  eine  andere  Form  mystischen  Betens  und  Kontemplierens  ist 
in  dem  philosophischen  Gebetsideal  angedeutet:  die  feierliche  Betrach- 
tung, Anbetung  und  Lobpreisung  der  Majestät  und  Herrlichkeit  Gottes, 
die  im  großen  und  kleinen  sich  offenbart.     Epiktet  sagt: 

„Welches  Wort  reicht  aus,  um  die  Werke  der  Vorsehung  zu  lobpreisen  und 
zu  verherrlichen  ?  Hätten  wir  Einsicht,  müßten  wir  dann  etwas  anderes  tun  als 
sowohl  gemeinsam  wie  einzeln  die  Gottheit  lobpreisen  und  rühmen  und  ihr  Dank 
sagen?  Müßten  wir  dann  nicht  beim  Graben,  Pflügen  und  Essen  den  Hymnus 
auf  Gott  anstimmen:  ,Groß  ist  Gott,  weil  er  uns  diese  Werkzeuge  gab,  mit  denen 
wir  die  Erde  bearbeiten  können;  groß  ist  Gott,  weil  er  uns  Hände  gab,  weil  er 
uns  gab  einen  Gaumen,  einen  Magen,  weil  er  uns  wachsen  läßt,  ohne  daß  wir  es 
merken,  weil  er  uns  Erquickung  spendet  durch  den  Schlaf.'  Diesen  Lobpreis 
müßten  wir  stets  singen  und  den  größten  und  göttlichsten  Hymnus  anstimmen, 
weil  er  die  Kraft  gab,  dies  zu  verstehen  und  praktisch  zu  verwerten.  Was  nun  ? 
Weil  so  viele  von  euch  blind  sind,  muß  dann  nicht  einer  .  .  .  für  alle  den  Hymnus 
auf  Gott  anstimmen  ?  Was  kann  ich  lahmer  Greis  anders  tun  als  Gott  lobpreisen  ? 
Wäre  ich  eine  Nachtigall,  ich  würde  singen  wie  eine  Nachtigall;  wäre  ich  ein 
Sjhwan,  ich  würde  singen  wie  ein  Schwan.     Nun  bin  ich  ein  vernunftbegabtes 


208  G'ebetskritik  und    Ciebetsideale  des   philosophischen  Denkens 


Wesen;  so  muß  ich  Gott  lobpreisen.  Dies  ist  meine  Aufgabe,  ich  erfülle  sie  und 
nicht  werde  ich  diesen  meinen  Posten  verlassen,  so  lang  es  mir  bestimmt  ist, 
und  euch  fordere  ich  auf,  einzustimmen  in  diesen  Lobgesang."  Noch  sterbend 
hofft  Epiktet  zu  Gott  sprechen  zu  können:  „Nichts  als  Dank  sage  ich  dir  dafür, 
daß  du  mich  gewürdigt  hast,  mit  dir  dieses  Festspiel  des  Lebens  zu  feiern,  deine 
Werke  zu  schauen  und  deiner  Weltregierung  verstandesmäßig  nachzugehen".  37 

Auch  Kant  scheint  etwas  von  der  wunderbaren  Macht  der  wortlosen 
mystischen  Kontemplation  erlebt  zu  haben;  in  seinen  kritischen  Aus- 
fuhrungen über  das  Gebet  schreibt  er: 

,,Die  Betrachtung  der  tiefen  Weisheit  der  göttlichen  Schöpfung  an  den  kleinsten 
Dingen  und  ihrer  Majestät  im  Großen,  so  wie  sie  zwar  schon  von  jeher  von 
Menschen  hat  erkannt  werden  können,  in  neuerer  Zeit  aber  zum  höchsten  Be- 
wundern erweitert  worden  ist,  hat  eine  solche  Kraft,  das  Gemüt  nicht  allein  in 
diejenige  dahinsinkende,  den  Menschen  gleichsam  in  seinen  eigenen  Augen  ver- 
nichtende Stimmung,  die  man  Anbetung  nennt,  zu  versetzen,  sondern  es  liegt 
auch  mit  Rücksicht  auf  seine  eigene  moralische  Bestimmung  darin  eine  so  seelen- 
erhebende Kraft,  daß  dagegen  Worte,  wenn  sie  auch  die  des  königlichen  Beters 
David  wären,  wie  leerer  Schall  verschwinden  müssen,  weil  das  Gefühl  einer  solchen 
Anschauung  der  Hand  Gottes  unaussprechlich  ist."  38 

Die  Ähnlichkeit  der  philosophischen  Anbetung  und  der  mystischen 
Kontemplation  ist  unverkennbar.  Freilich  besteht  ein  gewaltiger  Unter- 
schied in  der  Gefühlsintensität:  hier  eine  feierliche  Stimmung,  ein 
stilles  Erhabenheitsgefühl,  dort  ein  wonniges  Trunkensein,  ein  affektiver 
Enthusiasmus,  der  sich  bis  zum  Untergang  des  Selbstbewußtseins  in 
der  Ekstase  steigert;  hier  das  Gefühl  des  unendlichen  Abstandes  von 
Gott,  dort  ein  seliges  Einswerden  mit  ihm  in  der  Liebe. 

Der  Inhalt  des  philosophischen  Gebets  ist  also  ein  dreifacher:  die 
Bitte  um  das  sittliche  Gute,  die  Ergebung  ins  Schicksal,  die  Anbetung 
der  Größe  Gottes  —  in  der  Tat  ein  hehres  Ideal,  geboren  aus  einem 
tiefen  und  reinen  sittlichen  Geiste.  Und  doch  ist  dieses  Gebet  dem 
Philosophen  nicht  eine  Notwendigkeit  wie  dem  Frommen,  der  ohne 
Gebet  nicht  leben  kann,  sondern  etwas  Entbehrliches.  Das  sittliche 
Ideal  läßt  sich  auch  verwirklichen,  ohne  daß  man  im  Gebet  den  Gnaden- 
beistand Gottes  erfleht.  Seneca  sagt :  „Wie  töricht  ist  es  um  einen  guten 
Geist  zu  beten,  da  du  ihn  doch  von  dir  selbst  erlangen  kannst."  39 
Maximus  Tyrius  40  wie  Clemens  von  Alexandrien  41  betonen,  daß  der 
Weise,  welcher  um  sittliche  Güter  bete,  diese  durch  sein  eigenes  Streben 
und  seine  eigene  Anstrengung,  nicht  durch  göttliche  Hilfe  erlange. 
Ähnlich  urteilt  Rousseau :  „Nicht  G  o  1 1  ist  es,  der  sich  ändert,  sondern 
wir  ändern  uns,  indem  wir  uns  zu  ihm  erheben.  Alles,  um  w  a  s  m  a  n 
ihn  bittet,  wie  man  soll,  gibt  man  sich  selbst;  .  .  .  man 
steigert  seine  Kraft,  indem  man  seine  Schwäche  erkennt."  42  Es  lebt 
in  dem  philosophischen  Ethiker  der  unerschütterliche  Glaube  an  die 
sittliche  Eigenkraft  des  Menschen,  während  die  größten  religiösen 
Geister  von  einem  tiefen  Gefühl  der  sittlichen  Ohnmacht  durchdrungen 
waren.  Nicht  auf  das  Gebet  um  das  Gute  kommt  es  an,  sondern  aus- 
schließlich auf  die  sittliche  Gesinnung  und  die  sittliche  Tat:  „Der  ver- 
ehrt genügend  die  Götter,  der  sie  nachahmt,"  sagte  Seneca.43  Ein 
japanischer  Moralist,  Sugawora  no  Michizane,  sprach: 

,,Wenn  dein  Herz  nur  stets  verbleibt  auf  dem  Pfade  der  Wahrheit, 
Schützen  die  Götter  dich  doch,  säumtest  Du  gleich  im  Gebet."44 


II.   Das  metaphysische  Gebetsideal  209 

Voltaire  meint:  „Tun  wir  unsere  Pflicht  gegen  Gott,  beten  wir  ihn  an, 
seien  wir  gerecht  —  das  ist  unser  wahrer  Lobpreis,  unser  wahres  Gebet."45 
Guyau,  der  beredte  Verfechter  einer  sozialethischen  Zukunftsreligion, 
verkündet:  „Ist  die  Liebe  das  wesentliche  Moment  des  wahren  Gebets, 
so  darf  nicht  nur  der  Mund  von  ihr  reden,  sondern  Herz  und  Hand 
müssen  den  Liebesdienst  üben,  d.  h.  es  kommt  schließlich  zum  Ersatz 
des  Gebets  durch  die  Tat  .  .  .  Die  moralische  Tat  ist  das 
uneigennützigste,  heiligste,  das  menschlichste  und  göttlichste  der 
Gebete."  46  Nicht  die  Bitte  um  das  sittliche  Ideal  ist  darum  das  wahre 
Gebet,  sondern  der  Wille  zum  Guten,  die  ethische  Einstellung,  das 
sittliche  Lebensgrundgefühl.  Dieses  wahre  Gebet  ist  an  keine  Veran- 
lassung, an  keine  Worte,  an  keine  Anrufung  Gottes  gebunden,  ein 
Beten  ohne  Unterlaß.  „Mein  Gebet  ist  beständig,"  sagte  der  kranke 
Konfutse,  als  seine  Schüler  ihn  um  die  Erlaubnis  baten,  für  ihn  die 
Götter  anzurufen.  47  Clemens  von  Alexandrien  behauptet:  „Der  Gno- 
stiker  betet  in  Gedanken  zu  jeder  Stunde."  48  Kant  schreibt  in  seiner 
,Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft': 

„Ein  herzlicher  Wunsch,  Gott  in  allem  unserem  Tun  wohlgefällig  zu  sein, 
das  ist  die  alle  unsere  Handlungen  begleitende  Gesinnung,  sie,  als  ob  sie  im  Dienste 
Gottes  geschehen,  zu  betreiben,  ist  der  Geist  des  Gebets,  der  ,ohne  Unterlaß' 
in  uns  stattfinden  kann  und  soll.  Diesen  Wunsch  aber  (es  sei  auch  nur  innerlich) 
in  Worte  und  Formeln  einzukleiden,  kann  höchstens  nur  den  Wert  eines  Mittels 
zu  wiederholter  Belebung  jener  Gesinnung  in  uns  selbst  bei  sich  führen,  unmittel- 
bar aber  keine  Beziehung  aufs  göttliche  Wohlgefallen  haben,  eben  darum  auch 
nicht  für  jedermann  Pflicht  sein.  Weil  ein  Mittel  nur  dem  vorgeschrieben  werden 
kann,  der  es  zu  gewissen  Zwecken  bedarf,  aber  bei  weitem  nicht  jedermann  dieses 
Mittel  (in  und  eigentlich  mit  sich  selbst,  vorgeblich,  aber  desto  verständ- 
licher mit  Gott  zu  reden)  nötig  hat,  vielmehr  durch  fortgesetzte  Läuterung 
und  Erbebung  der  moralischen  Gesinnung  dahin  gearbeitet  werden  muß,  daß 
dieser  Geist  des  Gebets  allein  in  uns  hinreichend  belebt  werde,  und  der  Buchstabe 
desselben  (wenigstens  zu  unserem  eigenen  Behuf)  endlich  wegfallen  könne.  Denn 
dieser  schwächt  vielmehr  wie  alles,  was  indirekt  auf  einen  gewissen  Zweck  gerichtet 
ist,  die  Wirkung  der  moralischen  Idee."  *• 

Kants  scharfsinniger  Geist  hat  die  Konsequenzen  des  philosophisch- 
ethischen Gebetsideals  aufgedeckt.  Wo  das  Gebet  in  die  innere  sittliche 
Gesinnung  verlegt  wird,  sinkt  das  wirkliche  Beten,  d.  i.  die  Gebets- 
hinwendung zu  Gott,  die  Bitte  um  sittliche  Kraft  und  die  Aussprache 
der  Ergebung  zu  einem  bloßen  pädagogischen  Hilfsmittel  der  Ethik 
herab;  das  Gebet  wird  seines  religiösen  Charakters  entkleidet,  seiner 
Selbständigkeit  beraubt.  Der  , Geist  des  Gebets'  ist  kein  Gebet  mehr, 
sondern  ein  moralisches  Surrogat  des  Gebets. 

II.  DiemetaphysischeGebetskritikunddasmeta- 
physische  Gebetsideal. 
Der  naive  Mensch  empfindet  im  Gebet  kein  Problem ;  für  den  Frommen 
ist  das  Beten  die  selbstverständlichste  religiöse  Lebensäußerung.  Alban 
Stolz  sagt:  „Das  Kind,  kaum  geboren,  bringt  die  Geschicklichkeit  zur 
Welt,  an  der  Brust  der  Mutter  seine  Natur  zu  saugen;  so  ist  auch  der 
Seele  es  angeboren  zu  beten,  das  Beten  ist  Nahrungssaugen  aus  Gott. 
Eine  Seele,  die  nicht  beten  mag  oder  kann,  ist  eine  unnatürliche  Miß- 

Das  Gebet  14 


210         E.    Gebetskritik  und    Gebetsideal   des  philosophischen   Denkens 


geburt."  Und  Matthias  Claudius  spricht  mit  heiligem  Humor:  „Ob 
die  Menschen  beten  dürfen  — -  eine  Frage  wie  die,  ob  die  Menschen  eine 
Nase  haben  dürfen."  50  Für  das  philosophische  Denken  hingegen  ist 
das  Gebet  ein  unabweisbares  Problem:  ei  öel  e-vxeoO-ai  (,,ob  man 
beten  darf")  — ■  diese  Frage,  die  Maximus  Tyrius  zum  Titel  einer 
philosophischen  Abhandlung  wählte,  ist  immer  wieder  in  philosophischen 
Köpfen  aufgestiegen,  sie  liegt  unausgesprochen  allen  religionsphilo- 
sophischen Ausführungen  über  das  Gebet  zugrunde.  Was  das  Gebet 
zum  philosophischen  Problem  macht,  ist  weniger  der  Widerspruch 
zwischen  dem  Eudämonismus  des  primitiven  Betens  und  den  Idealen 
der  philosophischen  Ethik;  dieser  Widerspruch  läßt  sich  beseitigen 
durch  den  Ausschluß  aller  irdischen  Bitten  aus  dem  Gebet  und  die 
Einengung  des  Bittgebets  auf  die  ethischen  Werte.  Ein  viel  tieferer 
Gegensatz  klafft  zwischen  den  dem  naiven  Beten  zugrundeliegenden 
religiösen  Vorstellungen  und  Meinungen  und  dem  rationalen  Gottes- 
begriff der  Philosophie. 

1 .  Alles  naive  Beten  hat  zur  Voraussetzung  den  Glauben  an  die  reale 
Existenz  und  den  anthropomorphen  Habitus  des  angeredeten  Gottes. 
Für  den  Philosophen  ist  Gott  etwas  ganz  anderes  als  für  den  naiven 
Frommen.  Mag  er  nun  .persönlich',  .unpersönlich'  oder  , überpersönlich' 
gedacht  sein  —  nie  ist  er  ein  menschenähnliches  Wesen,  das  fühlt  und 
denkt  wie  der  Erdenbewohner.  Gott  ist  das  ,Sein',  das  ,Absolute',  der 
, Weltgrund',  das  ,Weltprinzip',  die  , Weltseele',  die  ,Idee  des  Wahren, 
Guten  und  Schönen'  oder  gar  nur  ein  , Postulat'  der  Vernunft,  aber 
er  ist  nicht  der  ,Herr'  und  der  , Vater',  dessen  Nähe  dem  Beter  eine 
unmittelbare  und  unzweifelhafte  Gewißheit  ist.  (Auch  eine  theistische 
Metaphysik  verbannt  ebenso  wie  die  pantheistische  aus  dem  Gottes- 
begriff allen  Anthropomorphismus.)  Dieser  Widerspruch  zwischen  der 
das  naive  Beten  tragenden  anthropopathischen  Gottesvorstellung  und 
dem  philosophischen  Gottesbegriff  macht  das  harte  Urteil  verständlich, 
das  manche  Philosophen  über  das  Gebet  fällen.  Voltaire  sagt:  „Wir 
richten  an  Gott  nur  deshalb  Gebete,  weil  wir  ihn  nach  unserem  Bilde 
geschaffen  haben.  Wir  behandeln  ihn  als  einen  Pascha,  als  einen  Sultan, 
den  man  reizen  und  beschwichtigen  kann."  51  Kant  schreibt  in  einem 
Briefe  an  Kiesewetter:  „Bei  dem  Gebete  ist  Heuchelei,  denn  der 
Mensch  mag  nun  laut  beten  oder  seine  Ideen  innerlich  in  Worte  auf- 
lösen, so  stellt  er  sich  die  Gottheit  als  etwas  vor,  das  den  Sinnen  gegeben 
werden  kann,  da  sie  doch  bloß  ein  Prinzip,  das  seine  Vernunft  ihn 
anzunehmen  zwingt.  Das  Dasein  einer  Gottheit  ist  nicht  bewiesen, 
sondern  es  wird  postuliert  und  es  kann  bloß  dazu  dienen,  wozu 
die  Vernunft  gezwungen  war,  es  zu  postulieren."  52  Noch  schärfer  als 
Kant  urteilt  Schopenhauer  über  das  Gebet:  „Wenn  man  sich  ein  Idol 
macht  aus  Holz,  Stein,  Metall  oder  es  zusammensetzt  aus  abstrakten 
Begriffen,  ist  einerlei;  es  bleibt  Idololatrie,  sobald  man  ein  per- 
sönliches Wesen  vor  sich  hat,  dem  man  opfert,  das  man  anruft,  dem 
man  dankt.  Es  ist  auch  im  Grunde  so  verschieden  nicht,  ob  man  seine 
Schafe  oder  seine  Neigungen  opfert.  Jeder  Ritus  oder  Gebet  zeugt 
unwidersprechlich  von  Idololatrie."  53 


II.  Das  metaphysische   Gehetsideal  •  211 


Alles  Beten  —  das  des  primitiven  Menschen  ebenso  wie  das  der  großen 
religiösen  Genien  —  hat  zur  Voraussetzung  den  Glauben  an  die  reale 
Präsenz  Gottes.  Heraklit  schon  kritisierte  diesen  Glauben  an  die  Nähe 
des  im  Gebet  angerufenen  Gottes.  „Sie  beten  zu  diesen  Götterbildern, 
wie  wenn  jemand  in  dem  Tempel  wohnte."  54  Seneca  wendet  sich  gegen 
die  primitive  Vorstellung  von  der  örtlichen  Gebundenheit  der  Gottheit. 
„Nicht  soll  man  die  Hände  zum  Himmel  erheben  noch  den  Tempel- 
pförtner bitten,  daß  er  einen  zum  Ohr  der  Götterstatue  lasse,  als  ob 
man  dadurch  besser  erhört  würde.  Gott  ist  dir  nafye,  er  ist  mit  dir,  in 
dir."  65  Kant  erkennt  richtig,  daß  der  Betende  Gott  als  „persönlich 
gegenwärtig  annimmt  oder  sich  wenigstens  (selbst  innerlich)  so  stellt, 
als  ob  er  von  seiner  Gegenwart  überführt  sei".  In  diesem  realistischen 
Glauben  an  Gottes  Präsenz  erblickt  Kant  „eine  kleine  Anwandlung 
von  Wahnsinn";  der  Fromme,  der  von  einem  anderen  beim  lauten 
Beten  oder  auch  nur  „in  der  dieses  anzeigenden  Gebärdung"  überrascht 
werde,  gerate  „darüber  in  Verwirrung  oder  Verlegenheit,  gleich  als  über 
einen  Zustand,  dessen  er  sich  zu  schämen  habe."  56 

Das  naive  Beten  ist  ein  realer  Verkehr  des  Menschen  mit  Gott;  es 
ruht  auf  dem  Glauben,  daß  der  Mensch  auf  Gott  einwirken,  ihn  für  sich 
gewinnen,  ihn  umstimmen  könne.  Dem  philosophischen  Denken  hin- 
gegen ist  wesentlich  die  Überzeugung  von  der  lückenlosen  Gesetz- 
mäßigkeit des  Weltgeschehens,  sei  diese  nun  als  eine  unabänderliche 
kausale  Notwendigkeit  oder  als  eine  teleologische  Verwirklichung  des 
göttlichen  Weltplanes  gedacht.  Das  primitive  Beten  hat  zur  Voraus- 
setzung den  Glauben  an  die  Veränderlichkeit  Gottes  —  die  Unveränder- 
lichkeit  des  Absoluten  gehört  zu  den  Elementen  der  philosophischen 
Metaphysik.  Es  erscheint  dem  Philosophen  als  intellektuelle  Beschränkt- 
heit und  als  kindischer  Trotz,  dem  Schicksal  hemmend  in  die  Arme 
fallen  zu  wollen,  den  unendlichen  Gott  zur  Aufhebung  der  strengen 
Naturgesetzlichkeit  zu  bewegen,  ihn  zur  Änderung  seines  ewigen  Welt- 
planes bestimmen  zu  wollen. 

Seneca  sagt:  „Das  Schicksal  vollzieht  sein  Recht  und  läßt  sich  durch  keine 
Bitte  bewegen.  Nicht  kann  es  durch  Mitleid  noch  durch  Dankbarkeit  gebeugt 
werden.  "  „Was  weinest  du?  was  wünschest  du?  das  ist  verlorene  Mühe.  Höre 
auf  zu  hoffen,  daß  die  Schicksalsbestimmungen  der  Götter  durch  Beten  gebeugt 
werden."  ..Was  verstehst  du  denn  unter  Schicksal?  Ich  verstehe  darunter  die 
Notwendigkeit  aller  Dinge  und  Handlungen,  die  keine  Macht  brechen  kann; 
wenn  du  glaubst,  daß  diese  durch  Opfer  oder  durch  das  Haupt  eines  schneeweißen 
Lammes  sich  erbitten  lasse,  dann  kennst  du  das  Göttliche  nicht."  *'  Ähnlich 
spricht  Vettius  Valens:  „Es  ist  unmöglich,  daß  jemand  durch  Gebete  oder  Opfer 
die  von  Anfang  an  bestehende  Sehicksalsbestimmung  überwinde."  68  Maximus 
Tyrius  urteilt:  „Sich  umstimmen  lassen  und  anderen  Sinnes  werden  geziemt 
nicht  einmal  einem  charaktervollen  Menschen,  geschweige  denn  Gott."  ,,Gott 
tut  in  seiner  Weisheit  das  Rechte,  gleichgültig,  ob  der  Mensch  betet  oder  nicht." 
..Nicht  wird  er  den  Betenden  geben  wider  Gebühr  noch  wird  er  den  Nichtbetenden 
nicht  geben  nach  Gebühr"  (otite  ovy  ev%o(j.£voi.g  dwaei  naoä  tijv  &£iaf  oihe  ovx 
ii>/o^ivoig  ov  SünftL  xaxä  ttjy  äJ-iav).  6*  Eduard  v.  Hartmann  sagt:  „Das  Bittgebet, 
ist  überflüssig,  weil  Gott  auch  ohne  unser  Gebet  weiß,  was  wir  wünschen,  und 
töricht,  weil  Gott  um  unserer  Bitten  willen  kein  Jota  am  Weltlauf  ändert."  *° 
Am  klarsten  und  schärfsten  sind  die  Einwände  der  philosophischen  Metaphysik 
^egen  das  Bittgebet  von  Spinoza  formuliert  worden:  „In  der  Natur  geschieht 
nichts,  was  ihren  allgemeinen  Gesetzen  widerspricht,  und  nichts,  was  damit  nicht 


212  E.   Gebetskritik  und   Gebetsideal  des  philosophischen   Denkens 

übereinstimmt  oder  aus  ihnen  nicht  folgt;  vielmehr  geschieht  alles,  was  geschieht, 
mit  Gottes  Willen  und  ewigem  Beschluß  d.  h.  es  geschieht  alles  nach  Gesetzen 
und  Regeln,  welche  eine  ewige  Notwendigkeit  enthalten,  und  die  Natur  befolgt 
diese  Gesetze  und  Regeln  .  .  .  immer,  wenn  wir  sie  auch  nicht  kennen,  und 
ebenso  ihre  feste  und  unverbrüchliche  Ordnung.  Keine  gesunde  Vernunft  kann 
der  Natur  eine  beschränkte  Macht  und  Kraft  zuteilen  und  annehmen,  daß  ihre 
Gesetze  nur  für  Einzelnes  und  nicht  für  alles  passen;  denn  die  Kraft  und  Macht 
der  Natur  ist  die  göttliche  Macht  und  Kraft  selbst,  und  die  Gesetze  und  Regeln 
der  Natur  sind  die  eigenen  Beschlüsse  Gottes.  .  .  .  Geschähe  also  in  der  Natur 
etwas  gegen  ihre  allgemeinen  Gesetze,  so  würde  es  notwendig  auch  der  göttlichen 
Einsicht  ihrer  Natur  und  ihren  Beschlüssen  widersprechen,  und  wenn  jemand 
annähme,  daß  Gott  etwas  gegen  die  Naturgesetze  tue,  der  müßte  auch  annehmen. 
Gott  handle  gegen  seine  eigene  Natur,  was  nicht  verkehrter  sein  könnte."  sl 

Die  neuzeitliche  Naturwissenschaft  hat  den  Glauben  an  die  Unab- 
änderlichkeit des  streng  gesetzmäßigen  Weltgeschehens  verstärkt  und 
in. weite  Kreise  getragen.  Das  naive  Beten  ist  dadurch  in  den  intellek- 
tuellen Schichten  und  in  der  großstädtischen  Bevölkerung  überhaupt 
stark  zurückgedrängt  worden. 

Paulsen  sagt:  „Es  ist  wohl  nicht  zweifelhaft,  daß  (der  Glaube  an  die  Wunder- 
kraft  des  Gebets)  im  raschen  Zurückweichen  begriffen  ist.  Sichtbar  ist  dieser 
Rückgang  in  der  europäischen  Völkerwelt  seit  dem  Beginn  der  modernen  natur- 
wissenschaftlichen Forschung.  In  dem  Maße,  als  die  Meteorologie  die  Vorgänge 
am  Himmel,  als  Physiologie  und  Pathologie  die  Vorgänge  im  leiblichen  Leben 
aufgehellt  haben,  in  eben  dem  Maße  haben  natürliche  Schutz-  und  Heilmittel 
die  übernatürlichen  zurückgedrängt.  .  .  .  Wir  haben  uns  mehr  und  mehr  ge- 
wöhnt vorauszusetzen,  daß  der  natürliche  Kausalzusammenhang  ohne  Aus- 
nahmen und  Lücken  ist."  62  Mit  Paulsens  Äußerung  stimmt  das  Urteil  eines 
bekannten  Predigers  der  Gegenwart  überein:  „Unter  dem  Eindruck,  daß  es  nicht 
möglich  sei,  die  Gesetzmäßigkeit  der  Natur  aufzuheben  und  das  natürliche  Ge- 
schehen durch  Gebetswunder  zu  unterbrechen,  hat  die  Energie  des  Gebets  ge- 
litten. Wir  sind  lässiger,  hoffnungsloser  im  Gebet  geworden."  (Geyer). 63  Ähnlich 
schreibt  F.  Menögoz,  der  das  religionsphilosophische  Problem  des  Gebets  in 
neue  Beleuchtung  gerückt  hat:  „Unter  dem  Druck  der  intellektualistisch-anti- 
supranaturalistischen  Metaphysik  ...  ist  der  Gebetsdrang  in  den  Herzen  mehr 
oder  weniger  unterdrückt  worden.  Unter  mancherlei  Ursachen,  die  ein  Sinken 
des  religiösen  Lebens  und  Interesses  herbeigeführt  haben,  ist  bis  zur  Stunde  der 
Zweifel  an  der  Berechtigung  des  Gebetstriebes  und  an  die  Legitimität  des  Ge- 
dankens der  Gebet  serhörung  eine  der  wirksamsten  und  verhängnisvollsten  ge- 
blieben." 63,) 

Alles  urwüchsige,  naive  Beten  —  das  des  primitiven  Menschen  wie 
das  der  größten  Heiligen  —  ist  ein  trauter  Umgang  mit  Gott,  ein  per- 
sönliches Verhältnis  zu  ihm,  in  dem  sich  stets  ein  irdisches  Gesellschafts- 
verhältnis widerspiegelt,  das  Untertanen-,  Verwandtschafts-,  Freundes- 
oder Brautverhältnis.  Der  dem  Weltgeschehen  immanente  Gott  des 
Pantheismus  aber  schließt  ebenso  ein  solches  Gebetsverhältnis  aus  wie 
der  dem  Weltgeschehen  ferne  stehende  und  an  ihm  uninteressierte  Gott 
des  Deismus.  Zu  dem  ttqojtov  xivovv  dxivnzov  (, ersten  unbewegten 
Beweger')  des  Aristoteles  kann  der  Mensch  ebenso  wenig  in  ein 
Gebetsverhältnis  treten  wie  zur  anima  mundi  oder  zum  inexorabile 
fatum  der  Stoiker,  zum  deus  sive  natura  sive  substantia  sive  Universum 
des  Spinoza  ebensowenig  wie  zum  grand  etre  Auguste  Comtes.  Paulsen 
schreibt:  „Ein  persönliches  Verhältnis  ist  zunächst  ein  Verhältnis,  wie 
es  von  Mensch  zu  Mensch  besteht,  ein  Verhältnis,  bei  dem  ein  gegen- 
seitiger Austausch  von  Gedanken,  Gefühlen  und  Leistungen  stattfindet. 


II.    Das    metaphysische   Gebetsideal  213 

Daß  eben  dasselbe  Verhältnis  zwischen  einem  Menschen  und  Gott 
stattfinden  könne,  wird  doch  auch  der  verwegenste  Anthropomorphis- 
mus  bedenklich  finden  zu  behaupten;  oder  hat  jemand  den  Mut  zu 
sagen,  es  bestehe  hier  ebenso  dasselbe  Verhältnis  wie  zwischen  Eltern 
und  Kindern,  zwischen  Freunden  und  Nachbarn?"64  Die  größten 
Geister  im  Reiche  der  Frömmigkeit  hatten  diesen  Mut ;  sie  sagten  nicht 
bloß,  daß  ein  persönliches  Verhältnis  zwischen  Mensch  und  Gott  bestehe, 
sie  1  e  b  t  e  n  in  einem  solchen  Verhältnis ;  sie  standen  in  unmittelbarem 
Verkehr,  in  innigster  Lebensgemeinschaft,  in  stetem  Austausch  mit 
ihrem  Gott;  Gott  war  für  sie  wirklich  Vater  oder  Herr,  Freund  oder 
Bräutigam. 

2.  Das  rationale  philosophische  Denken  zerstört  die  wesentlichen 
Voraussetzungen  des  naiven  Betens:  den  Glauben  an  den  anthro- 
pomorphen  Charakter  Gottes,  an  seine  reale  Präsenz,  an  seine  Ver- 
änderlichkeit, den  Realismus  des  Verkehrs  mit  Gott  und  des  persönlich- 
sozialen Verhältnisses  zu  ihm.  Die  Konsequenz  wäre  eigentlich  eine 
radikale  Ablehnung  des  Gebets;  diese  wird  jedoch  nur  selten,  meist 
nur  vom  ausgesprochenen  Materialismus  und  Naturalismus  vollzogen. 
Denn  gleich  als  hätten  die  philosophischen  Denker  eine  instinktive 
Ahnung  gehabt  von  dem  Reichtum  seelischen  Lebens,  der  im  Gebet 
der  großen  Genien  sich  enthüllt,  und  von  den  wunderbaren  Wirkungen, 
die  der  Fromme  im  gläubigen  Gebet  erfährt,  schreckten  sie  meist  vor 
einer  radikalen  Verwerfung  des  Gebets  zurück  und  suchten  das  Gebet 
ihrem  philosophischen  System  anzupassen.  Selbst  Auguste  Comte, 
der  doch  jeden  Glauben  an  ein  Übersinnliches  verwirft,  empfiehlt  in 
seinem  positivistischen  Katechismus'  das  tägliche  Gebet.  65  Die  Formen 
der  Umgestaltung  und  Umdeutung  des  Gebets  sind  verschiedene. 

a)  Die  Achtung  vor  der  Tradition  bedingt  bisweilen  ein  äußeres 
Festhalten  an  dem  rituellen  Gebet  und  Opfer.  Konfutse  nahm 
an  den  Riten  teil,  die  der  Anbetung  des  Himmels,  der  Erde,  der  Götter, 
Geister  und  Ahnen  dienten.  Er  wollte  nicht,  daß  man  sie  übertreibe, 
noch  daß  man  ihnen  etwas  hinzufüge,  aber  er  bestand  auf  ihrem  kor- 
rekten Vollzug.  66  Seneca  und  Epiktet  hielten  pietätvoll  an  den  ererbten 
Riten  fest.  67  Seneca  will,  daß  man  die  religiösen  Gebräuche  beobachte 
„tamquam  legibus  iussa,  non  tamquam  dis  grata"  („als  durch  die  Gesetze 
geboten,  nicht  als  den  Göttern  erwünscht").  68  Epiktet  fordert  ein 
„Spenden  und  Opfern  und  Darbringen  der  Erstlinge  nach  altväter- 
lichem Brauch".  69 

b)  Nicht  selten  treffen  wir  ein  inkonsequentes  Hin-  und 
Herschwanken  zwischen  einer  Ablehnung  des  Gebets  überhaupt  und 
der  Wertschätzung  einer  geläuterten  Form  des  Gebets.  Typische  Bei- 
spiele für  die  Unschlüssigkeit  und  Unsicherheit  der  Philosophen  in  der 
Beurteilung  des  Gebets  wie  der  Religion  überhaupt  sind  Seneca  70  und 
Voltaire  71,  bei  denen  sich  die  widersprechendsten  Gedankengänge 
kreuzen.  Auch  die  Abhandlung  des  Maximus  Tyrius  wie  die  Ausführungen 
des  Clemens  von  Alexandrien  über  das  Gebet  zeigen  eine  schwankende 
Haltung.  Selbst  Spinoza,  der  scharfsinnige,  folgestrenge  Denker,  hält 
an  der  durch  seine  Metaphysik  geforderten  Ablehnung  des  Gebets  nicht 


214         E.   Gebetskritik  und   Gebett-ideal  des   philosophischen  Denkens 

unbedingt  fest,  sondern  erklärt:  „Ich  bestreite  nicht,  daß  Gebete  uns 
sehr  nützlich  sein  mögen;  denn  mein  Verstand  ist  zu  schwach  um  alle 
Mittel  bestimmen  zu  können,  die  Gott  zu  Gebote  stehen,  um  die  Menschen 
zur  Liebe  zu  ihm,  d.  h.  zum  Heile  zu  führen."  72  Bei  Diderot  wird  das 
Gebet  geradezu  zur  Aussprache  seiner  absoluten  religiösen  Skepsis.  Er 
schließt  seine   Jnterpretations  de  la  nature'  mit  folgendem   , Gebet': 

,,Ich  habe  mit  der  Natur  begonnen,  die  man  dein  Werk  genannt  hat  und  ich 
will  enden  bei  dir,  dessen  Name  auf  Erden  Gott  ist.  O  Gott,  ichweißnicht  , 
ob  du  bist,  aber  ich  will  denken,  als  blicktest  du  in  meine  Seele,  ich  will  handeln, 
als  stünde  ich  vor  dir.  Wenn  ich  bisweilen  gegen  meine  Vernunft  oder  dein  Gesetz 
gefehlt  habe,  so  will  ich  nicht  weniger  zufrieden  sein  mit  meinem  vergangenen 
Leben;  aber  ich  will  auch  nicht  weniger  ruhig  über  mein  künftiges  Schicksal 
sein,  weil  du  meinen  Fehler  vergessen  hast;  denn  der  Lauf  der  Dinge  ist  in  sich 
selber  notwendig,  wenn  du  nicht  bist,  oder  durch  deine  Ordnung,  wenn  du  bist. 
Ich  hoffe  auf  deine  Vergeltung  in  der  anderen  Welt,  wenn  es  eine  solche  gibt, 
obgleich  ich  alles,  was  ich  in  dieser  tue,  für  mich  tue.  Wenn  ich  das  Gute  befolge, 
so  geschieht  es  ohne  Streben;  wenn  ich  das  Böse  lasse,  so  tue  ich  es  ohne  an  dich 
zu  denken.  Ich  könnte  mich  nicht  davon  abhalten,  Wahrheit  und  Tugend  zu 
lieben  und  Lüge  und  Laster  zu  hassen,  selbst  wenn  ich  wüßte,  daß  du  nicht  bist, 
oder  wenn  ich  glaubte,  daß  du  bist,  aber  dich  nicht  darüber  ereiferst.  Sieh  mich 
an,  wie  ich  bin,  ein  notwendig  organisierter  Teil  einer  ewigen  und  notwendigen 
Materie  oder  vielmehr  deine  Kreatur.  Aber  wenn  ich  wohltätig  und  gut  bin, 
was  liegt  meinen  Nebenmenschen  daran,  ob  ich  das  bin  durch  eine  glückliche 
Organisation  oder  durch  die  freien  Akte  meines  Willens  oder  durch  die  Hilfe 
deiner  Gnade?"  7S 

Mit  einer  Frage  endet  das  Gebet  dieses  Aufklärers,  es  ist  selbst  nichts 
anderes  als  der  trostlose  Ausdruck  eines  ruhelosen,  immer  fragenden 
und  nie  bejahenden  Geistes. 

c)  Das  Gebet  wird  häufig  umgedeutet  in  die  bloße  Erinnerung 
an  Gott  oder  in  das  Symbol  einer  frommen  Gesmnung,  einer  demütigen 
und  dankbaren  Stimmung,  eines  vertrauenden  und  liebenden  Herzens. 
Das  dem  Philosophen  anstößige  Moment  des  Gebets,  der  Gedanke 
einer  Einwirkung  auf  Gott,  wird  so  beseitigt,  der  objektive  metaphysische 
Charakter  des  Gebets  wird  verwischt  und  dem  Gebet  ausschließlich 
subjektive,  psychologische  Bedeutung  zuerkannt.  Ein 
pythagoreischer  Philosoph,  Diotegenes,  nennt  das  Tischgebet  eine  schöne 
Sitte;  es  diene  dazu,  durch  die  Erinnerung  an  Gott  sich  in  eine  gehobene 
Stimmung  zu  versetzen.  74  Maximus  Tyrius  sagt,  das  Gebet  des  Philo- 
sophen sei  nicht  eine  anr\oiq  xdv  oö  naQÖvzcov,  („Bitte  um  das 
nicht  Gegenwärtige"),  sondern  eine  didkexrog  nQÖg  rovg  Üeovi;  tzeqI 
r.&v  TcaQÖvtcov  („Unterredung  mit  den  Göttern  über  das  Gegen- 
wärtige"). 75  Auguste  Comte  schreibt:  „Wir  beten  zum  wahr- 
haftigen höchsten  Wesen  nur,  um  ihm  unsere  aufrichtige  Dankbarkeit 
zu  bezeugen  für  seine  gegenwärtigen  und  früheren  Wohltaten,  die  uns 
seine  künftigen  Fortschritte  ankündigen."  76  Guyau,  der  Verkünder 
eines  positivistisch-soziologischen  Religionsideals,  versucht  eine  Um- 
deutung  des  christlichen  Fürbittegebets.  „Soll  das  Gebet  eine  Erhörung 
in  sich  selbst  finden,  so  darf  es  nicht  eine  an  ein  außenstehendes  Wesen 
gerichtete  Bitte,  sondern  muß  ein  seelischer  Liebesakt  sein,  eine  Tat 
der  christlichen  Nächstenliebe.  .  .  .  Dieser  Liebeszug  des  Gebets  hat 
eme  Schönheit,  die  nicht  mit  den  abergläubischen  Vorstellungen,  die 


II.  Das   metaphysische   Gebetsideal  215 


sich  vom  Gebet  allmählich  lösen  werden,  untergehen  wird."  77  Ein 
moderner  Psychologe  (Dürr)  schreibt:  „Das  Gebet  ist  für  den  Frommen 
des  neuen  Glaubens  nur  noch  der  Ausdruck  des  Vertrauens  auf  die 
unabänderlich  festgelegte  Richtung  des  Welt-  und  Lebenslaufes," 
„eine  Erhebung  über  den  gewöhnlichen  Ichstandpunkt  durch  Unter- 
werfung unter  die  für  gut  gehaltene  Weltordnung."  78 

d)  Das  Gebet  wird  meist  in  die  Betrachtung  aufgelöst.  Die 
dem  naiven  Beten  wesentliche  Gebetshinwendung  zu  Gott  bildet  nur 
die  äußere  Einkleidung  oder  fällt  ganz  weg,  aus  dem  Gebetszwiegespräch 
wird  ein  Selbstgespräch,  aus  dem  lebendigen  Umgang  und  Austausch 
mit  Gott  ein  bloßes  Denken  an  Gott  und  über  Gott,  aus  einem  Rufen 
zu  Gott  die  Meditation  über  die  Rätsel  des  Daseins,  über  die  idealen 
Werte  und  sittlichen  Ziele  des  Lebens.  Das  Idealgebet  des  christlichen 
Gnostikers,  das  Clemens  von  Alexandrien  seinen  Stromateis  einfügt, 
ist  rein  kontemplativ,  es  enthält  keine  Bitte,  sondern  nur  die  Betrachtung 
von  Gottes  Weltordnung  und  die  Aussprache  der  sittlichen  Entschlossen- 
heit. 

„Ich  will  mich  freimachen  von  der  Begierde,  um  mich  mit  dir  zu  vereinigen, 
o  Herr.  Trefflich  fürwahr  ist  die  geschaffene  Ordnung,  alles  wird  recht  gelenkt, 
nichts  geschieht  ohne  Ursache.  In  deiner  Welt  muß  ich  sein,  und  wenn  ich  dort 
bin,  bin  ich  bei  dir.  Ich  will  frei  von  Verlangen  sein,  damit  ich  dir  nahe  kommen 
kann,  und  will  mich  mit  wenigem  begnügen,  strebend  nach  deiner  gerechten 
Auserwählung,  welche  die  Guten  von  den  anderen  scheidet."  '* 

Auch  Diderots  Gebet  enthält  keine  Bitte,  sondern  nur  eine  Medi- 
tation über  die  großen  Lebensprobleme  (s.  o.).  Während  hier  überall 
die  Gebetsanrede  an  Gott  beibehalten  ist,  richtet  sich  das  Gebet  des 
englischen  Aufklärungsphilosophen  Toland  nicht  an  eine  lebendige 
übernatürliche  Macht,  sondern  an  einen  abstrakten  Begriff. 

„O  Philosophie,  du  Lebensführerin !  Du  erforschest  die  Tugend  und  treibst 
das  Laster  aus.  Was  hätten  wir,  ja  was  hätte  überhaupt  das  Leben  ohne  dich 
sein  können  ?  Du  hast  die  Städte  gebaut  und  die  zerstreuten  Menschen  zum 
geselligen  Leben  zusammengerufen;  du  hast  sie  miteinander  verbunden,  erst 
durch  die  Wohnsitze,  sodann  durch  die  Ehen,  darauf  durch  den  Verkehr  der 
Sjhrift  und  Rede.  Du  hast  die  Gesetze  erfunden,  du  warst  die  Lehrmeisterin 
der  Sitten  und  der  Zucht.  Zu  dir  nehmen  wir  unsere  Zuflucht,  von  dir  heischen 
wir  Hilfe,  dir  ergeben  wir  uns  ganz  und  gar.  Ein  Tag,  gut  und  nach  deinen  Vor- 
schriften verbracht,  ist  einer  sündenvollen  Unsterblichkeit  vorzuziehen.  Wessen 
Beistand  möchten  wir  daher  lieber  anwenden  als  den  deinigen  ?  Du  hast  uns 
die  wahre  Lebensruhe  gespendet  und  den  Todesschrecken  beseitigt."  80 

Die  dialogische  Form  dieses  Gebets  kann  über  seinen  monologischen 
Charakter  nicht  hinwegtäuschen.  Kant  bemerkt  in  der  oben  angeführten 
Äußerung,  daß  das  Gebet  eigentlich  ein  Selbstgespräch  sei. 
Derselbe  Gedanke  wird  auch  von  den  neuesten  Religionsphilosophen 
verfochten . 

Dorner  schreibt:  ,.Spbald  man  sich  darüber  klar  wird,  daß  man  als  endlicher 
Mensch  den  göttlichen  Willen  weder  beeinflussen  noch  kennen  kann,  so  schmilzt 
das  Bittgebet  dahin  zusammen,  daß  man  nur  bedingt  bittet:  ,wenn  es  dein  Wille 
ist'  oder  daß  man  unbedingt  nur  um  solches  bittet,  von  dem  man  weiß,  daß  es 
schon  gewährt  ist.  In  beiden  Fällen  schwindet  das  Interesse  am 
Gebet.  Ein  solch  bedingtes  Bitten  ist  die  Anerkennung  der  Vorsehung  und 
geht  in  d  ie  Kontemplation  über.  Daß  man  die  Wünsche,  die  man 
hat,  mit  dem  Gottesbewußtsein  in  Verbindung  bringt,  ist  durchaus  gerechtfertigt. 


216         E.   Gebetskritik  und   Gebetsideal  des  philosophischen  Denkens 

Aber  gerade  das  muß  dazu  führen,  sie  unter  dem  Aspekt  der  Ewigkeit  und  im 
Zusammenhang  der  Weltordnung  zu  beurteilen  und  führt  weniger  zu  direkten 
Bitten  als  zu  einer  Betrachtung,  die  die  Wünsche  auf  das  gerechte  Maß 
zurückführt,  und  zu  dem  Bewußtsein,  daß,  was  wir  ernstlich  zu  wünschen  das 
Recht  haben,  wir  auch  mit  allen  Kräften  selbst  erreichen  müssen  in  dem  Ver- 
trauen, daß  Gott  am  Ende  doch  der  guten  Sache  zum  Siege  verhelfe."  Ähnlich 
erblickt  er  das  wahre  Dankgebet  in  einer  „mit  Kontemplation  verbundenen 
dankbaren  Stimmung."  81  Auch  Guyau  preist  in  seiner  ,Irreligion  der  Zukunft' 
die  Betrachtung  als  das  wahre  Gebet.  „Für  die  wirklicher  Erhebung  fähigen 
Geister  werden  jene  Stunden  der  Bildung  und  inneren  Belebung  ihres  Ideals 
fruchtbar  bleiben,  jene  Stunden  der  Sammlung  und  Betrachtung 
alles  dessen,  was  das  Wissen  umfaßt  oder  umfassen  möchte,  aller  Hoffnungen, 
aller  Entwürfe  der  Idee,  die  durch  sie  zum  Leben  drängt  und  vielleicht  ihr  Herz- 
blut kosten  wird.  DiehöchsteFormdesGebetsistdasDenken."8* 
Mit  noch  entschiedeneren  Worten  verkündet  Eduard  v.  Hartmann  als  Gebets- 
ideal den  Monolog,  die  Versenkung  in  das  eigene  Ich,  da  nur  ein  solches  Beten 
mit  dem  monistischen  Immanenzgedanken  vereinbar  ist.  „Die  dialogische  Form 
(des  Gebets)  steht  und  fällt  mit  der  Zweiheit  der  Personen  im  religiösen  Ver- 
hältnis; sobald  das  allein  wahre  Heilsprinzip  als  Gnadenprinzip,  als  Gnaden- 
immanenz oder  reale  Einheit  mit  dem  wahrhaft  absoluten,  dafür  auch  unper- 
sönlichen Gott  erkannt  ist,  wird  die  dialogische  Verarbeitung  (des  Heilprozesses) 
zur  monologischen,  d.  h.  das  Gebet  zur  Einkehr  in  sich  selbst  und  zur 
Beratung  mit  sich  selbst  ....  Mit  der  Erhebung  auf  die  Stufe  des  konkreten 
Monismus  verschwindet  mit  dem  bewußten  Besitz  der  realen  Einheit  jedes  Be- 
dürfnis nach  einer  dieselbe  ersetzenden  Wechselbeziehung  in  dialogischer  Form. 
Wie  die  Wahrheit  des  Opfers  in  der  Selbstopferung  oder  Selbstverleugnung  des 
Eigenwillens,  so  liegt  die  Wahrheit  des  Gebets  in  der  Versenkung  des  reli- 
giösen Bewußtseins  insichselbst,  wo  man  Gott  weder  als  Du  noch  als  Ich, 
sondern  als  absolut  geistigen  Grund,  immanenten  Zweck  und  heiligende  Kraft 
des  eigenen  persönlichen  Geisteslebens  besitzt."  83 

e)  Während  so  die  monologische  Betrachtung  als  Gebetsideal  ver- 
kündet wird,  wird  das  eigentliche  Gebet,  die  Gebetsrede  und  Gebets- 
hinwendung zu  Gott,  als  pädagogisches  Hilfsmittel  ge- 
wertet, das  zwar  entbehrlich,  aber  doch  nützlich  ist  für  die  Pflege  der 
»Religion  des  Geistes'.  Kant  bemerkt:  „Es  ist  nötig,  selbst  bei  der 
frühesten,  von  Kindern,  die  des  Buchstabens  noch  bedürfen,  angestellten 
Gebetsübung  sorgfältig  einzuschärfen,  daß  die  Rede  (selbst  innerlich 
ausgesprochen,  ja  sogar  die  Versuche,  das  Gemüt  zur  Fassung  der  Idee 
von  Gott,  die  sich  einer  Anschauung  nähern  soll,  zu  stimmen)  hier  nicht 
an  sich  etwas  gelte,  sondern  es  nur  um  die  Belebung  der  Gesinnung  zu 
einem  Gott  wohlgefälligen  Lebenswandel  zu  tun  sei,  wozu  jede  Rede 
nur  ein  Mittel  für  die  Einbildungskraft  ist."  84  „In  den  öffentlichen 
Vorträgen  an  das  Volk  kann  und  muß  das  Gebet  beibehalten  werden, 
weil  es  wirklich  rhetorisch  von  großer  Wirkung  sein  und  einen  großen 
Eindruck  machen  kann."  85  Dorner  hält  die  Gebetsanrede  an  Gott  für 
„die  phantasiemäßige  Form  der  Darstellung  des  Inhalts."  86  Eduard 
v.  Hartmann  erblickt  in  der  „Fiktion  eines  persönlichen  Adressaten", 
an  welchen  die  Gebetsanrufung  sich  richtet,  „einen  Notbehelf 
auf  theistischer  Basis",  der  „dem  Beter  für  die  mangelnde  reale  Einheit 
Ersatz  leisten  soll."  87 

f)  Die  theistisch  gerichtete  oder  theologisch  interessierte  Philosophie 
befaßt  sich  nicht  mit  einer  schalen  Umdeutung  und  Entleerung  des 
Gebets,  sondern  versucht  eine  rationale  Rechtfertigung  der  meta- 
physischen Voraussetzungen  des  Gebets  und  des  Glaubens  an  die  Gebets- 


II.   Das   metaphysische   Gebetsideal  217 

erhörung.  Seneca  sprach  einmal  den  Gedanken  aus:  Die  Götter  haben 
etliches  in  suspenso  gelassen,  so  daß  es  nur  auf  die  Gebete  der  Menschen 
hin  eintritt.  88  Der  erste,  der  eine  tiefere  Apologie  des  Gebets  ver- 
suchte, ist  Origenes.  Er  formuliert  in  aller  Schärfe  das  Problem :  ,,Wenn 
alles  nach  Gottes  Willen  geschieht  und  seine  Ratschlüsse  feststehen  und 
nichts  von  dem,  was  er  will,  umgestoßen  werden  kann,  dann  ist  das 
Gebet  töricht."  Seine  Lösung  will  einerseits  die  Un Veränderlichkeit 
Gottes  unangetastet  lassen,  andererseits  den  dem  naiven  Beten  zugrunde- 
liegenden Glauben  an  eine  reale  Einwirkung  auf  Gott  festhalten.  Gott 
sieht  von  Ewigkeit  voraus,  was  der  einzelne  Mensch  frei  wählen  wird, 
und  faßt  dann  im  Hinblick  auf  den  freien  Willensentschluß  und  die 
freigewollten  Handlungen  des  Menschen  —  insbesondere  mit  Rücksicht 
auf  dessen  Gebet  —  seine  nunmehr  unabänderlichen  Ratschlüsse.  Gott 
denkt:  ,Diesen,  der  inständig  beten  wird,  will  ich  um  des  Gebetes  willen, 
das  er  beten  wird,  erhören;  jenen  aber  werde  ich  nicht  erhören,  weil  er 
nicht  würdig  sein  wird,  erhört  zu  werden."  89  Dieser  spekulative  Ver- 
such, die  metaphysische  Möglichkeit  der  Gebetserhörung  zu  erweisen, 
kehrt  in  ähnlicher  Form  in  der  christlichen  Theologie  immer  wieder. 
In  einer  hübschen  Fassung  findet  er  sich  bei  Meister  Eckhart: 

,,In  seinem  ersten  ewigen  Anblicke  sah  Gott  alle  Dinge  an,  wie  sie  geschehen 
sollten  ....  Er  sah  auch  das  mindeste  Gebet  und  gute  Werk,  das  jemand 
sollte  tun,  und  sah  an,  welches  Gebet  und  welche  Andacht  er  hören  sollte;  er 
sah,  daß  du  ihn  morgen  willst  mit  Fleiß  anrufen  und  mit  Ernst  bitten;  und  das 
Anrufen  und  Gebet  wird  Gott  nicht  morgen  erhören;  denn  er  hat  es  gehört  in 
seiner  Ewigkeit,  ehe  du  Mensch  wurdest.  Ist  aber  dein  Gebet  nicht  redlich  und 
ohne  Ernst,  so  wird  es  dir  Gott  nicht  jetzt  versagen,  denn  er  hat  es  dir  in  seiner 
Ewigkeit  versagt.  Also  hat  Gott  in  seinem  ersten  ewigen  Anblicke  alle  Dinge 
angesehen  und  wirket  nichts  auf  Veranlassung  (von  warurribe);  denn  es  ist  alles 
ein  vorge wirket  Ding."  90 

Alle  derartigen  Hypothesen  sind  nur  nachträgliche  Versuche,  einen 
Ausgleich  zu  schaffen  zwischen  den  Forderungen  des  rationalen  Denkens 
und  den  wesentlichen  Voraussetzungen  des  echten  Gebets.  Dem  naiven 
Frommen  —  dem  primitiven  Menschen  ebenso  wie  dem  religiösen 
Genius  —  ist  diese  „die  Urtatsache  des  religiösen  Lebens  nivellierende 
intellektualistisch-mystische  Dialektik"  (Menegoz)  91  unverständlich  und 
entbehrlich.  Seine  Gewißheit,  mit  Gott  in  unmittelbarem  Verkehr  zu 
stehen,  kann  durch  keine  philosophische  Kritik  zerstört  werden,  sie 
bedarf  auch  keiner  philosophischen  Stütze  und  Rechtfertigung.  Selbst 
die  großen  Theologen,  welche  als  Denker  mit  dem  philosophischen 
Gebetsproblem  rangen  und  nur  zu  oft  (man  denke  an  Schleiermacher) 
vor  der  intellektualistisch-antisupranaturalen  Metaphysik  kapitulier- 
ten 92,  als  Beter  waren  sie  darüber  erhaben,  sie  fragten  nicht  und 
grübelten  nicht,  sondern  erhoben  sich,  zu  Gott  und  schütteten  vor  ihm 
ihre  Not  und  ihr  Glück  aus. 

Das  rationale  philosophische  Denken  bedeutet  die  Zersetzung  und 
Auflösung  des  Gebets.  Das  Gebet,  der  spontane  und  unmittelbare  Aus- 
druck des  religiösen  Erlebens,  wird  einer  Fremdgesetzlichkeit  unter- 
worfen, wird  unter  die  Normen  der  philosophischen  Ethik,  Erkenntnis- 
theorie und  Metaphysik  gezwängt.     Wo  diese  Normen  wirksam  sind. 


218  E.    Gebeiskritik  und   Gebeisideal  des   j  hiiosophischen  Denkens 


hört  das  Gebet  auf,  ein  .Ausschütten  des  Herzens',  eine  unmittelbare 
Äußerung  der  religiösen  Gefühle,  Stimmungen  und  Affekte  zu  sein. 
Der  Beter  darf  nicht  aus  tiefstem  Herzen  zu  Gott  reden,  er  darf  ihm 
nicht  seinen  Jammer  und  seine  Not  enthüllen,  sein  innerstes  Sehnen 
und  Verlangen,  sein  Hoffen  und  Vertrauen  muß  stumm  bleiben;  die 
zur  Gebetsaussprache  drängenden  Affekte  und  Wünsche  müssen  unter- 
drückt werden.  Nur  die  Bitte  um  das  ,Gute',  die  völlige  Resignation, 
die  betrachtende  Anbetung  dürfen  den  Inhalt  des  Betens  bilden.  Das 
positive  Gebetsideal,  das  die  philosophische  Kritik  dem  lebendigen 
Beten  gegenüberstellt,  erscheint  dem  religiösen  Menschen  ebenso  wie 
dem  Religionspsychologen  als  ein  kahles  Abstraktionsprodukt,  als  ein 
kümmerliches  Surrogat.  Selbst  die  reinste  Form  und  schönste  Blüte 
philosophischen  Betens,  Epiktets  Ergebungsgebet  und  Hymnus,  ist 
trotz  des  Anklanges  an  das  Gebet  der  Mystiker  nur  der  Schatten  des 
wahren  Gebets.  Das  Gebet  des  Philosophen  ist  kein  realer,  dramatischer 
Verkehr,  kein  Umgang  mit  Gott,  kein  persönliches  Verhältnis,  keine 
lebendige  Gemeinschaft  mit  ihm. 

Die  abstrakte,  ethisch-rationale  Gebetsnorm  ist  nur  eine  Etappe  im 
Auflösungsprozeß  des  Gebets.  Das  Gebet,  das  Herz  und  die  Seele  der 
Frömmigkeit,  sinkt  zu  einem  bloßen  Hilfsmittel  im  Dienste  der  Sittlich- 
keit und  Vernunft  herab;  aus  dem  Zentrum  der  Religion  wird  es  in 
die  Peripherie  verdrängt.  Es  wird  zu  einem  Erziehungsmittel  degradiert, 
das  der  mündig  und  reif  gewordene  Mensch  nicht  mehr  bedarf,  es  ist 
nur  mehr  eine  Krücke,  die  der  sittlich  Starke  von  sich  schleudert.  „Der- 
jenige, welcher  schon  Fortschritt  im  Guten  gemacht  hat,  hört  auf  zu 
beten,  denn  Redlichkeit  gehört  zu  seinen  ersten  Maximen."  93  Kants 
ehrliches  Wort  zeigt  in  aller  Schärfe  die  zersetzende  Tendenz  der  philo- 
sophischen Gebetskritik  und  Gebetsnorm. 

Das  Gebet  ist,  wie  wir  in  der  Einleitung  sahen,  die  ,, wesentliche  und 
charakteristische  Äußerung  des  religiösen  Bewußtseins".  Die  Eigenart 
der  philosophischen  Reformreligion  offenbart  sich  nirgends  so  klar  und 
unzweideutig  wie  in  der  Stellung  zum  Gebet;  hier  zeigt  sich,  daß  sie 
in  der  Tat  keine  Religion  ist.  Auguste  Sabatier  sagt  treffend:  „Die 
natürliche  Religion  ist  keine  echte  Religion.  Sie  beraubt  den  Menschen 
des  Gebets ;  sie  hält  Gott  und  Mensch  ferne  voneinander.  Es  gibt  keinen 
Herzensverkehr,  kein  innereres  Zwiegespräch,  keinen  Austausch  zwischen 
beiden,  kein  Handeln  Gottes  im  Menschen,  keine  Rückkehr  des  Menschen 
zu  Gott.  Im  Grunde  genommen  ist  diese  Religion  nur  Philosophie.  Sie 
ist  nie  etwas  anderes  gewesen  als  eine  Abstraktion.  Die  drei  Dogmen, 
in  denen  sie  sich  zusammenfaßt,  das  Dasein  Gottes,  die  Unsterblichkeit 
und  die  Verbindlichkeit  der  Pflicht,  sind  nur  ein  unorganischer  Rest, 
das  caput  mortuum,  der  Niederschlag  auf  dem  Boden  des  Schmelztiegels, 
in  welchem  alle  positiven  Religionen  aufgelöst  wurden.  Eine  künstliche 
und  an  sich  tote  Schöpfung,  zeigt  sie  von  den  eigentümlichen  Zügen 
der  Religion  fast  keine  Spur."  94 

Das  philosophische  Gebetsideal  ist  nur  in  den  engen  Kreisen  einer 
philosophischen  Schule,  aber  niemals  in  weiten  Volkskreisen  zur  Gebets- 
praxis geworden.      Es  besaß  keine  Lebenskraft;  es  konnte  nur  auf- 


II.  Das  metaphysische    Gebeteideal  219 


lösend  und  zerstörend  wirken.  95  Aber  so  wenig  das  Riten-  und  Zauber- 
wesen das  naive  Beten  ersticken  konnte,  ebenso  wenig  konnte  es  die 
philosophische  Kritik  ertöten.  Das  Leben  in  seinem  irrationalen  Trotz 
zeigte  sich  stärker  als  das  Denken  in  seiner  scharfen  Konsequenz.  Es 
besteht  eine  innere  Nötigung  des  Menschen  zum  Beten;  „Mensch  heißt 
nichts  anderes  als  beten"  (A.  Kalthoff).96  Die  Nöte  des  Lebens  sind  zu 
schwer,  der  Wille  zum  Leben  ist  zu  stark,  die  befreiende  und  tröstende 
Kraft  der  Gebetsaussprache  zu  wunderbar,  als  daß  die  Menschen  mit 
dem  kahlen  philosophischen  Gebetsideal  sich  hätten  begnügen  können. 
Das  naive  Beten  ist  unzerstörbar;  mit  seiner  Leidenschaft  und  Kraft 
lebt  es  in  der  Volksfrömmigkeit  aller  Länder  und  Zeiten ;  noch  wunder- 
barer und  gewaltiger  lebt  es  in  der  Frömmigkeit  der  großen  religiösen 
Persönlichkeiten.  Die  Darstellung  ihres  Gebetslebens  beleuchtet  erst 
das  philosophische  Gebetsideal  in  seiner  ganzen  Unlebendigkeit,  Kälte 
und  Schattenhaftigkeit. 


F.  Das  Gebet  in  der  individuellen  Frömmigkeit 
der  großen  religiösen  Persönlichkeiten. 

I.     Eigenart    des     Gebets     der    religiösen     Genien. 

Das  philosophische  Denken  zersetzt  das  naive  Beten,  indem  es  dieses 
einer  außerreligiösen  Norm  unterwirft.  Die  philosophische  Gebets- 
kritik und  das  philosophische  Gebetsideal  rauben  dem  Gebet  seine 
elementare  Kraft.  In  dem  schöpferischen  Frömmigkeitsleben  der 
großen  religiösen  Persönlichkeiten  erwacht  das  naive  Beten,  das  die 
Philosophie  kritisiert  und  idealisiert,  in  seinem  urwüchsigen  Realismus, 
seiner  unmittelbaren  Kraft  und  dramatischen  Lebendigkeit.  Am 
deutlichsten  treten  die  Züge  des  primitiven  Gebets  in  dem  prophetischen 
Frömmigkeitstyp  hervor.  Aber  auch  im  Beten  der  Mystiker  ist  die 
Eigenart  des  echten  Gebets  unverkennbar;  nur  in  bestimmten  Formen 
und  Zuständen  der  Mystik  vollzieht  sich  eine  Wandlung  und  Auflösung 
des  Gebets,  die  freilich  von  ganz  anderen  Motiven  bedingt  ist  als  in 
der  philosophischen  Gebetskritik.  Die  Verschiedenheiten  des  my- 
stischen und  prophetischen  Gebets  erfordern  eine  gesonderte  Dar- 
stellung. Wir  müssen  jedoch  der  Analyse  dieser  beiden  Gebetstypen  eine 
zusammenfassende  Charakteristik  der  gemeinsamen  Elemente  vor- 
ausschicken. Die  Ähnlichkeit  wie  die  Verschiedenheit  des  individu- 
ellen Gebets  vom  primitiven,  rituellen  und  philosophischen  Gebet 
tritt  dadurch  in  um  so  schärferes  Licht. 

Auf  den  Höhepunkten  des  persönlichen  Frömmigkeitslebens  ist  das 
Gebet  eine  spontane  und  freie  Äußerung  tief  aufwühlender  Erlebnisse. 
Es  steht  jenseits  aller  philosophischen  und  religiösen  Normen,  ist  nicht 
belastet  durch  intellektuelle  Probleme,  nicht  beengt  durch  die  Gebunden- 
heit an  traditionelle  Gebetsregeln  und  -formein.  Sein  tiefstes  Motiv  ist 
das  brennende  Heilsverlangen,  das  in  der  wonnevollen  Vereinigung 
mit  Gott  oder  in  dem  zuversichtlichen  Vertrauen  auf  Gott  zur  Ruhe 
kommt  —  im  tiefsten  Grunde  also  dasselbe,  nur  unendlich  vertiefte, 
verfeinerte  und  geläuterte  Sehnen  und  Verlangen  nach  Leben,  Kraft 
und  Seligkeit,  das  alle  Äußerungen  der  primitiven   Religion  erzeugt. 

Das  Gebet  des  religiösen  Genius  teilt  mit  dem  primitiven  Beten  den 
unbefangenen,  durch  rationales  Denken  ungetrübten  Realismus,  der 
die  philosophische  Kritik  herausfordert.  Gott  trägt  in  der  Vorstellung 
des  Beters  die  klaren  Züge  der  menschlichen  Persönlichkeit:  Denken, 
Wollen,  Fühlen,  Selbstbewußtsein.  Nur  das  mystisch-kontemplative 
Gebet  zeigt  bald  schwächer,  bald  stärker  die  Tendenz,  die  Gottes- 
vorstellung zu  entpersönlichen.  Aller  individuellen  Gebetserfahrung 
ist  wesentlich   der   primitive    Glaube   an   die   reale   und   unmittelbare 


Gebet  und  Opfer.  221 


Präzens  Gottes.  Freilich  wohnt  Gott  nicht  wie  in  der  Vorstellung  des 
primitiven  Beters  in  einem  sinnlich  wahrnehmbaren  Naturobjekte, 
er  weilt  vielmehr  unsichtbar  als  der  innere  Gast  —  dulcis  hospes  animae  } 
■ —  in  der  innersten  Seele  des  Betenden.  Wie  auf  primitiver  Stufe  ist 
das  Gebet  kein  bloßes  Selbstgespräch,  sondern  ein  unmittelbarer  Kon- 
takt mit  dem  lebendigen,  gegenwärtigen  Gott,  ein  wirklicher  Verkehr 
mit  ihm,  der  sich  nie  einseitig  auf  den  Menschen  beschränkt,  sondern 
als  wechselseitiger  Austausch  und  Rapport  sich  darstellt.  Wie  in 
der  primitiven  Religion  ist  das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  zu 
Gott  der  Reflex  einer  sozialen  Relation,  des  Untertanen-,  Diener-, 
Freundes-,  Braut-  oder  Kindesverhältnisses.  In  dieser  sozialen  Be- 
ziehung wurzelt  die  Unbefangenheit,  Herzlichkeit  und  Vertraulich- 
keit des  Beters  zu  seinem  Gott,  die  noch  stärker  hervortritt  als  im 
Gebet  des  primitiven  Menschen. 

Die  Wesenszüge  des  primitiven  Gebets  treten  mit  greifbarer  An- 
schaulichkeit im  Beten  der  großen  Heiligen  und  Propheten  hervor. 
Gleichwohl  ist  das  persönliche  Beten  gegenüber  dem  primitiven  Ge- 
bet, dem  antiken  Hymnus  und  selbst  gegenüber  dem  Gebet  der  klas- 
sisch-hellenischen Frömmigkeit  etwas  völlig  Neues. 

I.  Der  erste  fundamentale  Unterschied  liegt  in  der  Emanzipation 
des  Gebets  vom  Opfer.  Bei  Naturvölkern  und  antiken  Völkern  wird 
das  Gebet  fast  stets  von  Opferdarbringungen  begleitet.  Noch  in  der 
griechischen  Religion  geht  dem  Gebet  stets  das  Opfer  zur  Seite;  Plato 
redet  vom  Gebet  und  Opfer  als  zwei  unlöslich  verbundenen  Größen  2. 
In  der  individuellen  Frömmigkeit  vollzieht  sich  die  Loslösung  vom 
Opferkult:  die  Mystik  Laotses,  das  Heilstreben  Plotins,  die  Ver- 
senkung des  Buddhismus  haben  mit  allem  Opferwesen  gebrochen.  In 
Israel  war  es  die  große  Prophetentat  des  Mose,  den  persönlichen  Ge- 
betsverkehr mit  Jahwe  vom  Opferritual  unabhängig  gemacht  zu  haben  3. 
Zwar  nimmt  im  israelitischen  Kult  der  späteren  Zeit  das  Opfer  einen 
breiten  Raum  ein;  aber  das  Beten  der  großen  Propheten  wie  der  Psal- 
misten  war  ein  Umgang  mit  Gott  ohne  jede  Verbindung  mit  dem  Opfer  4. 
Die  Freiheit  des  christlichen  Gebetslebens  von  allen  Opferdarbringungen 
ist  das  Erbe  des  israelitischen  Prophetismus. 

Das  Gebet  der  persönlichen  Frömmigkeit  hat  sich  aber  nicht  nur 
von  der  traditionellen  Umstrickung  des  Opferrituals  losgelöst  und 
verselbständigt,  es  hat  vielmehr  letzteres  ganz  verdrängt  und  seinen 
Platz  eingenommen.  Die  individuelle  Gebetsfrömmigkeit  schließt  jede 
materielle  Opferdar bringung  aus,  weil  sie  selbst  die  reinste  und  voll- 
kommenste Opfergabe  darstellt.  Sowohl  in  der  hellenistischen  Mystik 
wie  in  der  prophetischen  Religion  Israels  stieg  der  hehre  Gedanke 
empor,  daß  das  Gebet  das  wahre  und  allein  Gottes  würdige  Opfer  sei. 

In  der  Poimandresliteratur  heißt  es:  „Wir  wollen  Gott  durch  Danksagung 
anbeten;  denn  das  ist  das  beste  Rauchopfer  für  Gott,  wenn  die  Sterblichen  ihm 
danken."5  Der  Neuplatoniker  Porphyr  sagt:  „Wir  müssen  unsere  Andacht 
Gott  als  unser  heiliges  Opfer  darbringen,  sie,  die  unser  Hymnus  zugleich  und 
unser  Heil;  in  der  Leidenschaftslosigkeit  der  Seele  und  im  Schauen  Gottes  be- 
steht die  Darbringuug  dieses  Opfers."*  In  Israel  war  es  der  Prophet  Hosea, 
der  als  erster  das  Gebet  als  das  „Opfer  der  Lippen"  bezeichnete  (14,).       Diese 


222  K  I.   Das  Gebet    der  religiösen    Genien. 


Identifizierung  von  Gebet  und  Opfer  begegnet  uns  wiederholt  bei  den  Psalm- 
sängern. ,,Laß  dir,  Jahwe,  das  freiwillige  Opfer  meines  Mundes  gefallen"  (119  108): 
..Stelle  mein  Gebet  als  Rauehopfer  vor  dich,  mein  Handerheben  (stehender  se- 
mitischer Ausdruck  für, Beten',)  als  Speise  des  Abends",  (141  2).  ,, Opfere  Gott 
Dank,  so  wirst  du  dem  Höchsten  deine  Gelübde  bezahlen",  (50  4).  Der  neute- 
stamentliche  Apokalyptiker  urteilt  gleich  dem  heidnischen  Hermetiker:  „Das 
Rauchopfer,  das  sind  die  Gebete  der  Heiligen",  (58;  vgl.  8  s.  4).  Der  Verfasser 
des  Hebräerbriefes  Fügt:  ..Durch  Christus  wollen  wir  stets  das  Opfer  des  Lobes 
darbringen,  d.  i.  die  Frucht  der  Lippen,  die  seinen  Namen  bekennen"  (Hebr. 
131&).  Justin  schreibt:  ..Auch  ich  sage  (wie  die  Diasporajuden),  daß  die  Ge- 
bete und  Danksagungen,  welche  von  den  Gerechten  verrichtet  werden,  allein 
die  vollkommenen  und  Gott  wohlgefälligen  Opfer  sind."  '  Clemens  von  Ale- 
xandrien  sagt:  ..Wir  ehren  Gott  durch  das  Gebet  und  schicken  dieses  Opfer, 
das  beste  und  heiligste,  in  Gerechtigkeit  empor."  *  Dieser  Gedanke  zieht  sich 
durch  die  ganze  Frömmigkeitsliteratur  des  christlichen  Morgen-  und  Abend- 
landes. Nilus  Sinaita  erklärt  in  seinen  Gebetsanweisungen  für  die  Wüsten- 
mönche: ..Bei  uns  wird  als  Opfer  das  Gebet  betrachtet."  '  Luther  sagt:  ..Das 
Gebet  und  Seufzen  ist  ein  gülden  Opfer."  10     Paul   Gerhardt  singt: 

..Du  willst  ein  Opfer  haben. 

Hier  bring'  ich  meine  Gaben; 

Mein  Weihrauch  und  mein  Widder 

Sind  mein   Gebet  und  Lieder."  1J 
Der  große  evangelische  Dogmatiker  Richard   Rothe  hat  diesen  alten  Fröm- 
migkeitsgedanken  zum  theologischen  Axiom   erhoben:   ..Das   Beten   ist  wesent- 
lich Opfern.     Es  gibt  auf  der  einen  Seite  kein  anderes  Gebet  als  ein  Opfergebet 
und  auf  der  anderen  kein  anderes  Opfer  als  ein  Gebetsopfer."  12 

2.  In  der  primitiven  Religion  tritt  der  Mensch  zur  Gottheit  nur  zeit- 
weise, bei  konkreten  Anliegen  und  bei  regelmäßigen  kultischen  An- 
lässen, in  Gebetsverkehr;  nur  wenn  die  Not  drückt  oder  der  Wunsch 
drängt  und  wenn  die  Sitte  es  gebietet,  ruft  er  betend  zu  den  höheren 
Wesen.  In  der  persönlichen  Religion  der  großen  Heiligen  ist  das  Ge- 
bet nicht  mehr  auf  bestimmte  Anlässe  beschränkt,  sondern  begleitet 
das  ganze  Denken  und  Handeln :  das  Gebet  wird  zum  Gebets- 
leben, zum  dauernden,  täglichen  und  stündlichen  Verkehr  mit 
Gott.  Ansätze  zu  dieser  ständigen  Gebetsgemeinschaft  finden  sich 
freilich  bereits  in  der  primitiven  und  antiken  Kultfrömmigkeit. 

Wenn  bei  den  südafrikanischen  Baronga  ein  Epileptiker  von  seiner  Krankheit 
befreit  worden  ist,  errichtet  er  den  Krankheitsgeistern  in  seiner  Hütte  einen 
Altar.  Hier  bringt  er  ihnen,  so  oft  er  sie  betritt,  ein  Tabakopfer  dar.  Geht  er 
auf  Reisen,  so  nimmt  er  von  ihnen  Abschied;  kehrt  er  davon  zurück,  so  begrüsst 
er  sie.  Wo  immer  er  sich  aufhält,  wirft  er  ihnen  vor  dem  Essen  ein  wenig  Nahrung 
vor,  vor  dem  Biertrinken  schüttet  er  ein  wenig  Bier  aus.  So  entsteht  „ein  täg- 
licher Gottesdienst,  konstanter  und  individueller  als  die  Riten  des  Ahnenkultus, 
eine  wirkliche  Gemeinschaft  mit  den  Geistern",  die,  nachdem  sie  ihn  gequält 
hatten,  seine  Wohltäter  geworden  waren.  Dieses  Privatverhältnis  eines  Einzel- 
nen zu  den  Geistern  ist  nach  Missionar  Junod  ,,eine  neue  Religion",  eine  tiefere 
Frömmigkeit  bricht  hier  durch  13.  Ein  Ansatz  zu  steter  Gebetsgemeinschaft 
findet  sich  bei  Naturvölkern  und  bei  antiken  Völkern  auch  in  dem  Verkehr  des 
Berufspriesters  mit  dem  Gotte.  dessen  Dienst  er  sich  geweiht  hat.  Er  wohnt 
beim  Tempel,  dem  Wohnsitz  seines  Gottes,  er  bringt  ihm  regelmäßige  Opfer 
dar,  er  übermittelt  ihm  die  Anliegen  der  Gläubigen,  die  hilfesuchend  zur  Stätte 
des  Gottes  kommen,  er  enthüllt  diesen  den  Willen  und  Ratschluß  des  Gottes. 
Während  der  Mann  aus  dem  Volke  nur  bisweilen  zum  Gotte  kommt,  steht  er 
mit  ihm  in  stetem,  täglichem  Veikehr  1A.  Innerlicher  und  lebendiger  als  dieser 
rituelle  Verkehr  eines  professionellen  Priesters  mit  seinem  Gotte  ist  das  Gebets- 
verhältnis, in  dem  die  frommen  Kultgenossen  der  ägyptischen  Mysterien  zu 
ihrer  Gottheit  standen.     Sie  huldigten  ihr  nicht  nur  bei  dieser  oder  jener  Gelegen- 


Das  Gebetsleben  223 


heit,  sondern  zweimal  an  jedem  Tage  längere  Zeit.  Ihre  Gebetsfrömmigkeit 
durchdrang  ihr  ganzes  Leben  und  beherrschte  all  ihre  Interressen.  sie  , «lebten 
sozusagen  immer  vor  dem  Angesicht  der  Götter."  15  Der  dauernde  Gebets- 
umgang mit  Gott  kündigt  sich  auch  in  den  großen  sumerischen  Tempelfesten 
an.  „Während  des  Tages  fanden  Gebete  statt,  während  der  Nacht  leuchteten 
Gebete"  M  —  diese  dem  Gudea-Zylinder  eingeschriebenen  Worte  bezeugen,  daß 
die  , ewige  Anbetung',  wie  sie  in  katholischen  Kirchen  gefeiert  wird,  schon  in 
den  sumerischen  Tempeln  stattfand. 

Dieser  kultische  Verkehr  mit  der  Gottheit  ist  aber  nur  ein  kümmer- 
licher Ansatz  zu  der  lebendigen  Gebetsgemeinschaft  der  großen  reli- 
giösen Genien  mit  ihrem  Gott.  Muhammed  durchwachte  in  seiner 
ersten  Periode,  der  Zeit  seines  prophetischen  Enthusiasmus,  mit  seinen 
Anhängern  viele  Nächte  im  Gebet17;  Jesus  brachte  ganze  Nächte  im 
Gebet  zu  (Lk.  6  12);  Franz  von  Assisi  ist  hierin  seinem  Meister  gefolgt 18; 
Katharina  von  Siena  betete  die  Nacht  hindurch,  bis  die  Klosterglocke 
zur  Mette  rief19;  Luther  betete  täglich  mindestens  drei20,  Ignatius 
von  Loyola  täglich  sieben  Stunden  21 ;  die  heilige  Teresa  erzählt,  sie 
sei  bisweilen  ,,gar  nicht  mehr  aus  dem  Gebet  herausgekommen"  22; 
der  Karmeliterbruder  Laurent  de  la  Resurrection  sagt,  „die  Anbetung 
sei  ihm  gleichsam  zur  Natur  geworden"  23;  vom  heiligen  Franz  be- 
richtet sein  Biograph  Thomas  a  Celano,  er  habe  „nicht  so  sehr  gebetet, 
sondern  sei  vielmehr  ganz  zum  Gebet  geworden"  (totus  non  tarn  orans 
quam  oratio  facta).  24  Die  Forderung,  die  der  Völkerapostel  an  seine 
jungen  Christengemeinden  richtete:  „Betet  ohne  Unterlaß  —  das  ist 
der  Wille  Gottes  in  Jesus  an  euch!"  „Betet  zu  jeder  Zeit!"  „haftet 
am  Gebet!"  25  —  diese  Forderung  ist  von  den  großen  Geistern  im  Reiche 
der  christlichen  Frömmigkeit  immer  wieder  erhoben  worden.  Bernhard 
von  Clairvaux  mahnt:  „Meine  liebe  Schwester,  bete  unter  Tränen 
ohne  Unterlaß.  Bete  beständig,  flehe  bei  Tag  und  Nacht  zu  Gott. 
Die  Waffe  des  Gebets  lege  nie  aus  der  Hand,  das  Gebet  weiche  nicht 
von  deiner  Zunge.  Bringe  die  Nacht  in  Gebet  und  Flehen  zu;  nach- 
dem du  ein  wenig  die  Augen  geschlossen  hast,  bete  von  neuem."  26 
Tersteegen  sagt:  „Dein  stetes  Geschäft  vom  Morgen  bis  zum  Abend 
sei  Beten."  „Euer  Beruf  ist  Tag  und  Nacht  mit  Gott  umzugehen  in 
euren  Herzen  durch  die  Übung  des  wahren  Gebetes."  27 

So  stehen  die  religiösen  Genien  in  fortwährendem  Gebetskontakt 
mit  Gott.  Die  spontanen  Gebetsausbrüche  in  Augenblicken  höchster 
innerer  Erregung  ragen  aus  ihrem  Gebetsleben  nur  als  Gipfelpunkte 
hervor.  Dieser  stete  Gebetsverkehr  mit  Gott  hat  zur  Folge,  daß  die 
Gebetseinstellung,  das  Bewußtsein,  in  der  Gegenwart  Gottes  zu  weilen, 
vor  seinem  Angesicht  zu  stehen,  sich  über  ihr  ganzes  Denken  und  Tun 
ausbreitet.  Gottes  Nähe  ist  ihnen  ständig  so  gewiß  und  selbstverständ- 
lich, daß  sie,  wenn  sie  ihre  Vergangenheit  überschauen  oder  über  ihren 
inneren  Zustand  nachsinnen,  gar  nicht  anders  können  als  ihn  anreden, 
mit  ihm  sprechen.  In  diesem  dauernden  Erlebnis  der  unmittelbaren 
Präsenz  Gottes  gründet  der  Gebetscharakter  der  großen  religiösen 
Autobiographien  (s.  o.  S.  30).  Aber  auch  dann,  wenn  sie  nicht  aus- 
drücklich beten,  befinden  sich  die  großen  Frommen  in  Gebetshaltung. 
Das  ganze  Leben  ist  für  sie   ,,ein  einziges  zusammenhängendes  großes 


224  F  I.   Das   Gebet  der  religiösen  Genien. 

Gebet"  (/nia  awamofiivr}  fieydXrj  evti)),  wie  ein  schönes  Wort  des  Ori- 
genes  lautet 28. 

Augustinus  sagt:  „Es  gibt  ein  inneres  Gebet  ohne  Unterlaß.  Was  du 
auch  sonst  tun  magst,  wenn  du  dich  sehnst  nach  jenem  Sabbat,  hörst  du  nicht 
auf  zu  beten."  „Die  Sehnsucht  betet  immerdar,  wenn  auch  die  Zunge  schweigt."  *• 
Albertus  Magnus  urteilt:  „Das  ist  das  Ziel  aller  Vollkommenheit,  daß  der  Geist 
solange  täglich  von  allem  fleischlichen  Trachten  befreit  und  ins  Geistige  erhoben 
werde,  bis  alles  Reden  und  alles  Wollen  des  Herzens  zu  einem  einzigen,  bestän- 
digen Gebet  wird."  30  Luther  meint:  „Wo  ein  Christ  ist,  da  ist  eigentlich  der 
Heilige  Geist,  der  da  nichts  tut  denn  immerdar  betet.  Denn  ob  er  gleich  nicht 
immer  den  Mund  reget  oder  Worte  machet,  dennoch  gehet  und  schlägt  das  Herz 
ohne  Unterlaß  mit  solchem  Seufzen  .  .  .,  daß  man  keinen  Christen  kann  finden 
ohne  Gebet,  so  wenig  als  einen  lebendigen  Menschen  ohne  Puls,  welcher  stehet 
nimmer  still,  reget  und  schlägt  immerdar  für  sich,  obgleich  der  Mensch  schläft 
oder  anderes  tuet,  daß  er  sein  nicht  gewahr  wird."  31  Sebastian  Frank  sagt: 
„Die  Eingekehrten,  geistlich  Gesinnten,  die  in  Gott  leben  und  weben,  beten 
oft,  wenn  sie  den  Mund  nicht  auftun  und  selbst  nicht  wissen,  was  sie  beten.  Denn 
weil  das  Gebet  eine  Erhebung  des  Gemütes  in  Gott  ist,  und  weil  doch  dieser 
Leute  Gemüt  in  Gott  zuckt,  lebt  und  webt,  muß  notwendig  all  ihr  Leben  nichts 
als  ein  Gebet,  Anbeten,  Handaufheben  gegen  Gott  sein."3*  Das  mystische 
Ideal  des  ununterbrochenen  stillen  Herzensgebet  wird  von  Gerhard  Teerstegen 
in  schlichten,  aber  innigen  Versen  besungen. 

„Hier  ist  die  stille  Ewigkeit, 

Ein  immerwährend  sel'ges  Heut, 

Dies  nun  kann  alles  geben. 

Die  Zeit  vergeht  mir  süss  und  sacht, 

Jch  möchte  beten  Tag  und  Nacht, 

Bei  Gott  im  Geiste  leben. 

Jch  bet'  daheim  und  auf  der  Straß, 

Beim  Werk  und  sonst  ohn'  Unterlaß, 

Im  Geist  und  in  der  Wahrheit: 

Ich  bin  gesammelt,  eh'  ich's  denk', 

Anbete,  lieb  und  mich  versenk' 

In  Gottes  dunkle  Klarheit."  33 

3.  Noch  tiefer  greifend  ist  der  folgende  Unterschied  zwischen  dem 
Gebet  der  primitiven  Religion  und  dem  der  hohen  Frömmigkeit.  Der 
naive  Mensch  betrachtet  sein  Beten  als  Eigenleistung;  sein  Gebet  ist 
wie  seine  Religon  ein  Pakt  zwischen  Mensch  und  Gott:  menschliche 
Leistung  —  göttliche  Gegenleistung;  menschliche  Einwirkung  —  gött- 
liche Gegenwirkung.  Er  betet  um  Gott  für  seine  Zwecke  zu  gewinnen, 
ihn  umzustimmen,  daß  er  nicht  mehr  zürne  und  strafe,  sondern  schenke 
und  helfe.  Der  tief  innerliche  Fromme  hingegen,  der  um  Gott  selber 
betet  und  ringt,  fühlt,  daß  sein  Beten  nicht  sein  Eigenwerk  und  seine 
Eigentat  ist,  daß  es  nicht  aus  seinem  eigenen  Herzen  aufsteigt,  sondern 
von  oben  kommt,  aus  der  Kraft  und  Fülle  Gottes  strömt.  Er  spürt, 
daß  er  nicht  beten  könnte,  wenn  nicht  Gott  selbst  ihm  Gebetsgedanken 
und  -gefühle  ins  Herz,  Gebetsworte  und  Gebetsseufzer  auf  die  Lippen 
legte.  Der  rätselhafte  Drang,  der  ihn  mit  Gewalt  ins  Gebet  hinein- 
treibt, ist  die  Offenbarung  des  im  Innersten  des  Menschen  weilenden 
und  wirkenden  Gottes.  Das  Gebet,  das  aus  unergründlichen  Tiefen 
hervorquillt,  ist  göttliches  Gnadengeschenk;  der  Fromme  bekommt 
es  als  Charisma  von  oben  her  eingegeben,  eingehaucht,  eingegossen 
{oratio  infusa)  34.  Zahllos  sind  die  Zeugnisse  der  großen  Beter  für  das 
Wunder  der  Gebetsinspiration. 


Das   Gnadengebet   (oratio  infusa)  225 

Jahwe  spricht  zum  Propheten  Zacharja:  „Über  das  Haus  Davids  und  über 
die  Bewohner  Jerusalems  will  ich  den  Geist  der  Gnade  und  des  Gebets  aus- 
gießen" (12  10).  In  der  Poima ndresschrif t  belehrt  Hermes  Trismegistos  den 
Mysten:  „Diese  Art,  o  Kind,  wird  nicht  gelehrt,  sondern  von  Gott,  wenn  er  es 
will,  eingegeben"  (dyafit/^y^axeTai).  **  Der  Dichter  der  Oden  Salomos 
bekennt  in  wundersamer  Bildrede:  „Wie  die  Hand  über  die  Zither  gleitet  und 
die  Saiten  ertönen  läßt,  so  redet  in  meinen  Gliedern  der  Geist  des  Herrn."  8S) 
Nilus  Sinaita  erklärt:  „Wenn  du  beten  willst,  brauchst  du  dazu  Gott,  der  das 
Gebet  dem  Betenden  gibt."  37)  Augustinus  urteilt:  „Daß  wir  beten,  ist  gött- 
liches Geschenk."  „Der  Geist  selbst,  den  doch  wir  zu  erlangen  wünschen,  macht, 
daß  wir  bitten;  er  selbst,  den  wir  doch  zu  finden  verlangen,  macht,  daß  wir  suchen; 
er  selbst,  zu  dem  wir  doch  zu  gelangen  uns  mühen,  macht,  daß  wir  anklopfen."  38 
Thomas  von  Aquin  folgt  dem  Meister  von  Hippo,  wenn  er  das  theologische  Axiom 
aufstellt:  „Das  Gebet  geht  aus  einer  Gnade  als  einem  umsonst  verliehenen  Ge- 
schenk hervor. "  39  Der  Verfasser  der  .Nachfolge  Christi'  und  Gerhard  Tersteegen 
sprechen  Augustins  Gedanken  in  Gebetsform  aus.  „D  u  hast  mich  zuerst  er- 
regt, daß  ich  dich  suchte."  40  „Du  bist  schon  da  und  suchst,  eh'  wir  ans  Suchen 
denken."  41  Die  heilige  Teresa  betont  immer  wieder,  daß  die  wunderbaren  Seelen- 
zustände  auf  den  höheren  Gebetsstufen,  im  Gebet  der  ,Ruhe',  , Einigung'  und 
»Verzückung'  göttliche  Gnadengabe  seien.  „Auf  der  Stufe  des  Ruhegebets  be- 
ginnt der  Zustand  übernatürlich  zu  werden."  „Man  kann  sich  die  höheren  Stufen 
nicht  selber  verschaffen";  „der  Geist  Gottes  versetzt  uns  in  diese  Zustände". 
„DieAndacht  ist  eineGabe  und  wir  verdienen  sie  nicht  durch  unsere  Anstrengung."4* 
Nicht  minder  entschiedenen  Nachdruck  legen  die  großen  evangelischen  Beter 
auf  das  Mysterium  des  Gnadengebetes.  Luther  sagt:  „Ohne  den  heiligen  Geist 
wird  kein  Gebet  getan"  *3.  Mit  ihm  stimmt  Johann  Arndt  überein:  „Ohne  den 
Heiligen  Geist  wird  kein  wahres  Gebet  getan."  „Das  gründliche  Zukehren  zu 
Gott,  das  muß  Gott  selber  wirken."  „Das  Gebet  kommt  von  Gott  und  geht 
zu  Gott."  **  Ähnlich  urteilt  der  große  englische  Fromme  John  Bunyan:  „Nur 
der  Geist  kann  die  Seele  zu  Gott  im  Gebet  erheben."  „Wenn  der  Geist  ins  Herz 
kommt,  dann  ist  hier  in  der  Tat  Gebet,  sonst  nicht."  „Das  Herz  muß  vom  Geist 
gehalten  werden,  wenn  es  sich  zu  Gott  erhoben  hat  um  recht  im  Gebet  fort- 
fahren zu  können."  45  Und  der  berühmte  englische  Prediger  C.  H.  Spurgeon 
sagt:  „Nur  das  Gebet,  das  von  Gott  kommt,  steigt  wieder  zu  Gott  empor."44 
Aber  nicht  nur  christlichen  Frommen,  nein  auch  außerchristlichen  Betern  ist 
die  wunderbare  Erfahrung  des  gotteingegebenen  Gebets  aufgegangen.  In  reiz- 
voller Weise  hat  der  geniale  persische  Mystiker  Jaläl-ed-din-Rümi  diese  tiefe 
religiöse  Wahrheit  poetisch  verkleidet. 

Es  war  einmal  ein  Mann,  der  eine  Nacht  hindurch  laut  , Allah'  schrie, 

bis  endlich  sein  Mund  Süßigkeit  empfand  bei  diesem  heil'gen  Wort. 

Doch  Satan  rief:  „So  sei  doch  still  1      Du  siehst  so  barsch  und  grimmig  aus. 

Wie  lang  willst  du  so  schrei'n?     Du  bist  an  großen  Worten  ja  so  reich. 

Denn  alle  diese  Ruf'  ,o  Gott'  beruh'n  gewiß  auf  Hochmut  bloß. 

Magst  du  auch  rufen  noch  so  oft  und  laut:  ,Sieh,  hier  bin  ich,  o  Gottl' 

Es  kommt  doch  keine  Antwort  dir  herab  vom  hohen  Himmelsthron. 

Wie  lang'  willst  du  noch  schrei'n  ,o  Gott'  ?  Du  siehst  so  barsch  und  grimmig  aus." 

Er  ward  betrübt  gar  sehr  bis  in  des  Herzens  Tief  und  hing  das  Haupt. 

Doch  später  deuchte  ihm,  als  sähe  er  im  Traume  Chizers  Bild. 

Und  dieser  sprach:  „Kann  es  denn  möglich  sein,  daß  du  ermüdet  bist? 

Wie  kannst  du  fühlen  Reu'  deshalb,  weil  du  zu  deinem  Gotte  riefst?" 

Er  sprach:  „Es  kommt  ja  keine  Antwort  her  von  Gott:  ,Sieh,  hier  bin  ich.' 

Und  darum  furcht'  ich  nun,  daß  ich  verstoßen  bin  von  Gottes  Tür." 

Doch  Chizer  sprach:  „Sei  still  1     Von  Gott  hab  ich  erhalten  den  Befehl: 

geh'  hin  zu  ihm  sogleich  und  sag:  ,Du  viel  und  arg  geprüfter  Mann! 

Hab'  ich  denn  nicht  ganz  klar  und  deutlich  dir  geboten  meinen  Dienst? 

Hab'  ich  nicht  dir  zur  strengen  Pflicht  gemacht  zu  bitten  mich  um  Hilf? 

Und  deine  Ruf  ,o  Gottl'  enthalten  meine  Antwort:  ,hier  bin  ich'. 

Denn  dies   Gebet  und  dieser  inn're  Brand  und  Schmerz  mein  Bote  war. 

Die  Mittel  und  die  Weg',  die  du  zu  finden  suchtest  für  dich  selbst, 

Das  Gebet  15 


226  F  I.    Das   Gebet   der  religiösen    Genien. 

die  waren  meine  Mittel  dich   zu  fassen  und  zu  führ'n  zu  mir. 

Dein  Fürchten  und  dein'  Lieben  sind  sichere  Bürgschaft  meiner  Gnad. 

Bei  jedem  deinem  Ruf:  ,o  Gott!'  tönt's  vielfach  von  mir:  ,hier  bin  ich.'  "  4? 

In  dieser  unscheinbaren  Erzählung,  die  Jaläl  seinem  Masnavi  ein- 
streut, ist  das  Mysterium  des  Gnadengebets  mit  seltener  Klarheit 
beleuchtet.  Die  Sehnsucht  und  Leidenschaft,  die  im  Gebet  sich  aus- 
schüttet, entspringt  nicht  dem  kleinen  Menschenherzen,  sondern  ent- 
strömt (wie  Jaläl  an  einer  anderen  Stelle  sagt  47b  )  der  ewigen  Liebe 
Gottes,  die  im  Menschen  jene  Sehnsucht  weckt  um  ihn  zu  sich  zu  locken 
und  emporzuziehen.  Nur  scheinbar  verhallt  des  Menschen  flehent- 
licher Hilferuf  in  der  unendlichen  Leere,  nur  scheinbar  bleibt  die  gött- 
liche Antwort  aus.  In  Wahrheit  ist  Gottes  Antwort  schon  im  Gebets- 
ruf zu  Gott  beschlossen ;  wo  ein  Mensch  betend  seine  Stimme  erhebt, 
da  ist  Gott  gegenwärtig ;  und  mag  der  Mensch  sein  Antlitz  nicht  schauen 
und  seine  Stimme  nicht  vernehmen,  Gott  weilt  doch  bei  ihm,  wenn  auch 
verborgen  und  unsichtbar,  Gott  lenkt  und  führt  ihn,  ohne  daß  er  es 
ahnt.  ,,Du  würdest  mich  nicht  suchen,  wenn  du  mich  nicht  schon 
gefunden  hättest,"  spricht  Gott  zu  Pascal 48  —  dieselbe  Antwort, 
die  jenem  zweifelnden  Muslim  in  Jaläls  Masnavi  zuteil  wird.  Auch 
Savonarola  erhielt  diesen  trostvollen  Bescheid,  als  er  in  qualvoller 
Kerkerhaft  am  Gebet  irre  zu  werden  drohte.  Die  göttliche  , Hoffnung' 
erscheint  ihm  schimmernd  in  strahlendem  Glänze  und  spricht:  „Sage 
mir,  wer  hat  dein  Herz  zu  Gott  erhoben  von  der  Erde  ?  Wer  hat  dich 
zum  Beten  gezogen  ?  Wer  hat  dir  Schmerz  über  die  Sünden  und 
Tränen  gegeben  ?  .  .  .  War  es  nicht  der  Herr,  der  alles  in  allem  wirket  ? 
Wenn  er  dir  nun  fort  und  fort  solche  Gaben  schenket,  warum  spricht 
dann  die  Traurigkeit:  ,Wo  sind  deine  Gebete?'"49  Eine  wunder- 
same Paradoxie  tut  sich  der  betenden  Frömmigkeit  auf:  ,,Das  Gebet 
ist  eine  Tat  Gottes  an  unserer  Seele."  „Durch  das  Gebet  zieht  Gott 
selbst  in  die  Seele  ein,  ihr  seine  Kräfte  mitteilend  und  sie  nach  seinem 
Willen  gestaltend  —  das  ist  der  letzte  und  tiefste  Sinn  des  Gebets"  (Gir- 
gensohn).50  „Wenn  der  Mensch  recht  betet  aus  dem  Herzen  heraus, 
so  ist  dieses  Beten  ein  Sprechen  Gottes  zu  dem  Menschen,  indem  näm- 
lich die  Erkenntnis  und  das  Verlangen,  welches  die  Seele  im  Gebet 
ist,  von  Gott  erweckt  oder  eingegeben  ist.  Das  christliche  Gebet  ist 
sonach  ein  geistiges  Echo;  aus  Gott  kommt  die  Gebetsstimme,  sie 
hallt  an  das  menschliche  Herz  und  widerhallt  von  da  zu  dem  Himmel 
hinauf,  von  woher  es  gekommen"  (Alban  Stolz  51). 

„Die  Zunge  selbst,  die  zu  dir  schreit,  ja  alle  Kräfte  meines  Wesens, 

Die  zu  dir  schrei'n,  alle  sind  dein. 

.  .  .  Der  Schauer  selbst,  der  zitternd  mich  durchläuft, 

Auch  er  ist  dein".  (Mänikka  Väcagar)  ** 

Im  tiefsten  Grunde  ist  darum  des  Frommen  Gebet  Gottes  eigenstes 
Gebet;  der  große  Gott  ist  es,  welcher  durch  des  kleinen  Menschen  Herz 
und  durch  seinen  schwachen  Mund  betet. 

„Solch   Gebet  gleich  and'rem  halte  nicht! 
Dies  Gebet  traun  nicht  er  selbst,  nein  Gott  es  spricht, 
Sieh',  es  betet  Gott,  und  er  steht  tief  versenkt, 
Gott  Versenkung  ihm  und  auch  Erhörung  schenkt" 

(Jaläl-ed-din-Rümi).  •» 


Das   Gnadengebet    (oratio  infusa)  227 


Sebastian  Frank  sagt:  „Wenn  Gott  sich  nicht  selbst  in  uns  bittet, 
so  erhört  er  uns  nicht,  denn  er  will  sich  allein  ehren,  hören,  gewähren, 
lieben  und  loben."  54  Ähnlich  schreibt  Madame  Guyon  vom  voll- 
kommenen Gebet:  „Die  Seele  weiß,  daß  ihr  Bitten  das  eigene  Wollen 
Gottes  ist  und  daß,  wenn  sie  betet,  Gott  in  ihr  selbst  sich  erhört."  55 
Und  ein  jüdischer  Chassid  urteilt:  „Die  Menschen  meinen,  sie  beten 
vor  Gott,  aber  es  ist  nicht  so,  denn  das  Gebet  selbst  ist  die  Gottheit."  56 
Noch  gewaltiger  und  ergreifender  als  alle  diese  Frommen  hat  Paulus 
das  unbegreifliche  Mysterium  des  göttlichen  Gebets  ausgesprochen: 
„Der  Geist  kommt  unserer  Schwachheit  zu  Hilfe,  denn  wir  wissen 
nicht,  was  wir  beten  sollen,  wie  sich's  gebühret,  aber  der  Geist  selbst 
tritt  für  uns  ein  in  unaussprechlichen  Seufzern."  Die  großen  christ- 
lichen Beter  haben  immer  wieder  zu  dieser  lapidaren  Confessio  des 
Völkerapostels  im  Römerbrief  (8  27)  gegriffen  um  das  Wunder  des 
gotteingegebenen  Herzensgebetes  auszudrücken:  Religion  ist  nicht 
Menschen  werk,  sondern  Gotteswerk,  nicht  Menschenerfindung,  sondern 
Gottesoffenbarung,  nicht  Menschenleistung,  sondern  Gottesgnade. 

Weil  das  Gebet  unverdientes  göttliches  Geschenk  ist,  darum  flehen  die 
großenFrommenmitinnigerSehnsuchtumdieKraft,  recht  beten  zu  können. 

„Erleuchte,  entflamme  mich,  lehre  mich,  was  ich  bitten  soll"  (Savonarola).  S7 
..Gib,  daß  nicht  bet'  allein  der  Mund,  hilf,  daß  es  geh'  von  Herzensgrund"  (Lu- 
ther). S8  ..Dein  in  mir  Beten,  Lehren,  Kämpfen,  laß  mich  auf  keine  Weise  dämp- 
fen." „Bete  selbst  in  mir  inwendig"  (Tersteegen).  69  „Du  Geist  aus  Gott,  mache 
uns  zu  wahrhaftigen  Anbetern,  die  Gott  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anrufen. 
Nimm  alle  Trägheit  und  Nachlässigkeit  im  Gebet  von  uns  und  entzünde  unsere 
ICerzen  mit  deinem  Liebesfeuer,  daß  wir  mit  sehnendem  und  brünstigen  Ver- 
langen uns  zu  Gott  hinwenden  können:  Lehre  uns,  wie  wir  ohne  Unterlaß  mit 
Gott  umgehen  sollen  .  .  .  Vertritt  du  selber  uns  mit  unaussprechlichem  Seufzen 
und   rufe  in  uns:   Abba.   lieber  Vater!"      (Johann   Arndt).  80 

Das  tiefe  und  heiße  Gebet  der  Frommen  ist  nicht  Menschenkunst 
und  Menschenweisheit,  sondern  Gottes  Gabe  und  Gnade,  die  demütig 
erbeten  und  herzlich  erfleht  werden  muß.  Der  Masse  der  Menschen 
wird  dieses  Geheimnis  immer  verhüllt  bleiben,  die  aufgeklärten  Köpfe 
und  klugen  Vernunftmenschen  werden  zu  dieser  Paradoxie  den  Kopf 
schütteln  und  dieses  Wunder  belächeln.  Aber  religiöse  Menschen 
werden  immer,  wenn  sie  auf  den  Höhepunkten  ihres  Innenlebens  stehen, 
dieses  tiefe  Mysterium  erfahren,  daß  nicht  der  armselige  Mensch  betet, 
sondern  der  unendliche  Gott,  der  ihn  zu  seinem  Gefäß  erkoren. 

4.  Das  innige  Gebet  ist  für  die  großen  Frommen  Gnadengebet; 
aber  die  Gebetsgnade  wird  von  ihnen,  nicht  passiv  erwartet  und  hin- 
genommen, sondern  in  aktiver  Arbeit  ,unterstützt' ;  das  Gebet  wird 
absichtlich  und  bewußt  gesucht,  gepflegt,  geübt.  Wohl  bricht  auf 
den  Gipfelpunkten  der  religiösen  Erfahrung  das  Gebet  unbewußt  und 
ungewollt  aus  tiefen  inneren  Erregungen  hervor.  Aber  die  großen 
Beter  haben  nicht  nur  unter  dem  Zwang  übermächtiger  Gotterlebnisse 
zum  Gebet  gegriffen,  sondern  gerade  auch  in  Stunden  geistiger  , Dürre', 
da  das  warme  Gefühlsleben  ausgetrocknet  schien,  sich  absichtlich  und 
willentlich  zur  Andacht  und  zum  Gebet  gesammelt  und  durch  die  Betrach- 
timg religiöser  Wahrheiten  oder  durch  die  Erwägung  inhaltsschwerer  Ge- 
betsformeln künstlich  die  Gebetsstimmung  hervorgerufen.     Denn  man 


228  F  I.   Das   Gebet  der  religiösen  Genien 

hat  nach  dem  Worte  eines  feinen  Kenners  des  Gebetslebens  „gerade 
zu  der  Zeit  das  Gebet  am  notwendigsten,  wenn  man  am  wenigsten 
dazu  aufgelegt  ist ;  denn  zu  dieser  Zeit  ist  man  am  aufgelegtesten  zur  Sünde . 
Man  kann  sich  aber  auch  aufgelegt  zum  Gebet  machen;  wenn  man 
einige  Zeit  sich  dazu  anstrengt,  so  wird  man  allmählich  innerlich  er- 
wärmt" (Alban  Stolz)  61.  Alle  tiefen  religiösen  Naturen  haben  mit 
beharrlichem  Eifer  sich  im  Gebet  geübt;  die  meisten  Mystiker  haben 
die  Gebetsschulung  sogar  methodisch  und  systematisch  betrieben, 
manche  von  ihnen  eine  raffinierte  Gebetstechnik  ausgebildet  und  in 
ihren  Gebetsanweisungen  das  psychologische  Rezept  eines  Gebets- 
trainings gegeben.  Diese  bewußte  und  dauernde  Gebetspflege  ist 
ein  wichtiges  Unterscheidungsmerkmal  zwischen  primitiver  und  per- 
sönlicher Frömmigkeit. 

5.  In  der  primitiven  Religion  dient  das  Gebet  zur  Erreichung  eudä- 
monistischer  Zwecke;  der  Beter  sucht  Rettung  des  Lebens,  Befreiung 
aus  der  Not,  Erlangung  von  Reichtum,  Schädigung  seiner  Feinde. 
In  der  persönlichen  Frömmigkeit  dient  das  Gebet  nicht  zur  Erlangung 
von  Glücksgütern;  was  die  großen  Beter  im  Gebet  suchten,  ist  nicht 
irdisches  Glück,  sondern  Gott  und  das  Heil  der  Seele.  „Sprich  zu 
meiner  Seele:  ,Dein  Heil  bin  ich'  {salus  tua  sum  e<?o)",  in  diesem  Psalm- 
worte faßte  Augustinus  alle  seine  Gebetswünsche  zusammen  62.  Pascal 
will  um  nichts  anderes  beten  als  um  Gott  selber.  „Alles,  was  nicht 
Gott  ist,  kann  meine  Sehnsucht  nicht  erfüllen.  Gott  selbst  ist  es, 
um  den  ich  bitte  und  den  ich  suche;  und  an  dich  allein,  mein  Gott, 
wende  ich  mich,  um  dich  zu  erlangen."  63  Luther  umschreibt  diesen 
Gegensatz  zwischen  der  niederen  und  höheren  Gebetsfrömmigkeit  sehr 
treffend,  indem  er  sich  der  mystischen  Terminologie  bedient:  „Wer 
nur  an  ein  uti  Deo  (,Gott  benützen')  ohne  ein  frui  Deo  (,Gott  genießen') 
denkt,  der  weiß  nichts  von  der  Freude,  welche  Christus  dem  Beter 
verheißt."  64  Der  naive  Alltagsmensch  hat  Freude  an  Leben  und 
Glück  und  sucht  diese  Güter  dadurch  zu  erlangen,  daß  er  Gott  als 
Helfer  anruft;  der  wahre  Beter  hingegen  hat  „an  Gott  selbst  Freude" 
(Wilhelm  Herrmann);  65  er  pflegt  das  Gebet  um  des  Gebetes  willen; 
er  sucht  in  ihm  Gottes  lebendige  Nähe  und  unmittelbare  Berührung, 
den  trauten  Umgang  und  herzlichen  Verkehr  mit  dem  Ewigen;  er 
verlangt  nach  den  wunderbaren  seelischen  Wirkungen,  die  der  frommen 
Seele  im  gläubigen  Gebet  zuteil  werden:  nach  der  inneren  Einheit 
und  Ruhe,  der  seelischen  Entlastung,  Befreiung  und  Stärkung,  der 
Zuversicht,  Hoffnung  und  Entschlossenheit,  der  Klarheit,  Gewißheit 
und  Erleuchtung,  der  Wonne,  Begeisterung  und  Entzückung.  Immer 
wieder  begegnet  uns  in  den  Schriften  der  großen  Beter  die  rühmende 
Aufzählung  der  beseligenden  Wirkungen  des  lebendigen  Betens;  am 
sprachgewaltigsten  hat  sie  die  Magdeburger  Begine  Mechthild  zu  schildern 
gewußt.  „Dies  Gebet  hat  große  Kraft,  das  ein  Mensch  leistet  mit  aller 
seiner  Macht.  Es  machet  ein  sauer  Herze  süße,  ein  traurig  Herze  froh, 
ein  arm  Herze  reich,  ein  dumm  Herze  weise,  ein  blöd  (zaghaft)  Herze 
kühn,  ein  krank  Herze  stark,  ein  blind  Herze  sehend,  eine  kalte  Seele 
brennend."  66     Wer  einmal  innig  betend  diese  wunderbare  Kraft  des 


Gebet  um   das  Heil  der  Seele  —  Einsamkeit  229 

Gebets  gespürt  hat,  den  treibt  es  immer  von  neuem  mit  unwiderstehlicher 
Gewalt  zum  Gebet  zurück.  Das  Gebet,  ehedem  ein  Mittel  im  Dienste  des 
Lebens,  wird  so  zum  Selbstwert  und  Selbstzweck;  es  reißt  sich  los  von 
allen  relativen  Inhalten  und  wird  absolut ;  denn  sein  Gegenstand  ist  ein 
absoluter :  Gott  und  seine  volle  Herrschaft  über  die  Welt  und  die  Seele  67. 

6.  Weil  das  Gebet  der  persönlichen  Frömmigkeit  nicht  der  bloßen 
Erlangung  von  Hilfe  und  Gaben  dient,  ist  sein  Hauptinhalt  nicht  wie 
der  des  primitiven  Gebets  die  Bitte  und  Überredung;  das  Gebet  ist 
vielmehr  eine  Aussprache  alles  dessen,  was  sich  in  der  Seele  des  From- 
men regt,  aller  lust-  und  unlustvollen  Affekte,  aller  Stimmungen  und 
Wertgefühle,  der  inneren  Not,  des  Heilsverlangens,  der  Erlösungs- 
sehnsucht,  des  Sündenbewußtseins,  des  Kleinheitsgefühls,  des  Ringens 
um  sittliche  Reinheit  und  Kraft,  aber  ebenso  der  anbetenden  Ehrfurcht, 
des  Staunens  und  Entzückens,  der  Sehnsucht,  Hingabe  und  Liebe, 
der  Zuversicht  und  des  Vertrauens,  der  Entschlossenheit,  der  Er- 
gebung und  Gelassenheit, 

,, Alles  kann  ich  dir  erzählen, 

Darf  mit  keiner  Last  mich  quälen; 

Kann  ich  nicht  mich  selbst  verstehen. 

Laß  ich's  dich,  den  Nahen,  sehen." 

(Tersteegen).  68 
Während  die  philosophische  Gebetsnorm  das  Gebet  auf  die  Bitte 
um  das  Gute  und  auf  die  Resignation  einengt,  ist  das  Gebet  der  reli- 
giösen Genien  so  tief,  weit  und  reich  wie  das  Seelenleben  des  Menschen. 
Die  ganze  Skala  der  Gefühle,  Stimmungen,  Affekte,  Wollungen  und 
Werturteile  kehrt  in  ihm  wieder. 

7.  Der  primitive  Mensch  betet  an  dem  Orte,  an  dem  der  Gott  wohnt; 
weilt  dieser  in  weiter  Ferne,  so  richtet  er  wenigstens  Augen  und  Hände 
nach  seiner  Wohnstätte.  Das  Beten  der  großen  Frommen  hingegen 
ist  ein  ,Beten  im  Geist  und  in  der  Wahrheit',  frei  von  aller  örtlichen 
Gebundenheit;  Gott  wohnt  ja  nicht  in  Naturobjekten  oder  in  von 
Menschenhänden  erbauten  Tempeln,  sondern  im  Innern  des  Beters 
selbst.  Aber  nur  in  der  geräuschlosen  Stille  des  Herzens,  fern  vom 
Lärm  der  Außenwelt,  erlebt  der  Fromme  Gottes  Gegenwart  in  ihrer 
vollen,  Schauer  und  Seligkeit  weckenden  Kraft.  Darum  flieht  er, 
wenn  er  den  Drang  zum  Gebet  spürt,  in  die  stille  Einsamkeit,  um  hier 
allein  mit  seinem  Gott  zu  sein  und  ihm  sein  Herz  auszuschütten.  Schon 
die  Jünglinge  der  Omaha-Indianer  gehen  bei  der  Mannbarwerdung 
an  einsame  Plätze,  um  zu  Wakanda  zu  beten.  Bei  einem  anderen 
[ndianerstamme,  den  Osagen,  zieht  sich  der  Beter  vom  Lagerplatze 
oder  seinen  Genossen  zurück  69.  Was  bei  primitiven  Völkern  eine 
Ausnahme  ist,  wird  in  der  individuellen  Frömmigkeit  zur  Regel. 
„Wir  können  nur  dann  beten",  sagt  Plotin,  „wenn  wir  als  Einsame 
vor  den  Einsamen  hintreten"  {[tövovg  ngög  fiövov)  70.  Johannes  Da- 
mascenus  nennt  die  Einsamkeit  geradezu  die  ,Mutter  des  Gebets'.  71 
Alle  großen  Beter,  die  Mystiker  wie  die  Propheten,  suchen  zum  Gebet 
die  Einsamkeit  auf  —  sei  es  nun  die  menschenferne  Bergwelt  oder  der 
dunkle  Wald,  das  stille  Kämmerlein  oder  die  tiefe  Nacht.  Auch  die 
buddhistischen  Mönche  eilen  in  die  Waldeinsamkeit  oder  in  die  Wild- 


230  F  I.   Das  Gebet   der  religiösen   Genien 


nis,  um  dort  in  der  stufenweisen  Versenkung  sich  zu  üben72.  Der 
Individualismus  des  Betens  der  großen  Frommen  äußert  sich  nirgends 
kraftvoller  als  in  der  Einsamkeit  des  Betens. 

„Man  lockt  mich  in  die  Wüste  ein. 

Da  Gott  und  ich  nur  sind  allein. 

Da   Geist  mit  Geist  umgehet. 

O  Einsamkeit,  so  weit,  so  weit 

Von  Kreatur  und  Ort  und  Zeitl 

Das  Liebste  draußen  stehet. 

Nur   Gott  und  ich,  sonst  keiner  mehr"  .   .  . 

(Tersteegen).  7a 

In  der  lautlosen  Stille  der  Natur  oder  des  verschlossenen  Kämmer- 
leins kann  die  fromme  Seele  sich  dem  Unendlichen  öffnen,  kann  sie 
dem  ewigen  Gott  all  ihr  Glück  und  Leid  ausschütten.  Aber  in  der 
Gebetseinsamkeit  redet  nicht  nur  der  Mensch  zu  Gott,  sondern  Gott 
antwortet  auf  den  Ruf  des  Menschen,  er  offenbart  sich  ihm  in  stiller 
und  doch  so  vernehmlicher  Rede.  Beten  heißt  ja  mit  Gott  umgehen 
und  verkehren,  und  dieser  Gottesumgang  ist  nicht  ein  einseitiger,  er 
beschränkt  sich  nicht  auf  des  Menschen  Rufen  und  Flehen,  sondern  ist 
ein  wechselseitiger  Austausch  zwischen  dem  endlichen  und  unendlichen 
Geist  und  schließt  Gottes  Gegenrede  zur  Seele  ein.  Schon  die  flehent- 
liche Anrufung  Gottes  bedeutet  eine  Offenbarung  Gottes;  in  jedem 
Ruf  ,o  Gott!'  ist  schon  Gottes  Antwort  ,hier  bin  ich'  enthalten,  wie 
Jaläl-ed-din-Rümi  in  seiner  Erzählung  von  dem  zweifelnden  Beter 
ausführt  (s.  o.  S.  225).  Aber  diese  „im  Gebet  mitgegebene  Offen- 
barung schreitet  mit  dem  Gebet  fort.  Aus  einer  Offenbarung,  die  in 
einem  ersten  Gebete  festgehalten  ist,  wächst  ein  reineres  Gebet  her- 
vor und  aus  diesem  eine  höhere  Offenbarung"   (Auguste  Sabatier)  74. 

Je  länger  ein  Frommer  im  innigen  Flehen  verharrt  und  je  tiefer  er 
in  die  geheimnisvolle  Welt  des  Gebets  eindringt,  desto  deutlicher  und 
klarer  offenbart  sich  ihm  der  unsichtbare  Ewige.  Das  im  Gebet  le- 
bendige Gefühl  der  schauervollen-wundervollen  Nähe  des  heiligen 
Gottes  steigert  sich  zu  einem  geistigen  Schauen  des  Unendlichen,  zu 
einem  inneren  Hören  seines  rufenden  und  weckenden,  mahnenden 
und  tröstenden  Wortes.  In  dem  Gebetsleben  der  Mystiker  überwiegt 
das  staunende  und  bebende  Kontemplieren  Gottes,  in  der  Gebets- 
frömmigkeit der  prophetischen  Geister  das  ehrfürchtige  Lauschen  und 
Horchen  auf  seine  Stimme.  Dieses  innere  Wahrnehmen  Gottes 
im  Gebet,  das  teils  in  optischer  teils  in  akustischer  Form  erfolgt,  ist 
bisweilen  so  mächtig,  daß  es  die  Sinnesorgane  mit  sich  fortreißt  und 
pseudohalluzinatorische  Empfindungen  hervorruft;  das  geistige  Er- 
lebnis des  unmittelbaren  Verkehrs  mit  Gott  wird  von  visionären  oder 
auditiven  Sinneserregungen  begleitet.  Die  Selbstbekenntnisse  der  alt- 
testamentlichen  Propheten  wie  der  großen  außerchristlichen  und  christ- 
lichen Mystiker  sind  voll  von  solchen  wunderbaren  Visionen  und  Au- 
ditionen,  in  denen  sich  Gott  offenbart  und  kundgibt;  sie  begegnen 
uns  auch,  wenngleich  viel  seltener,  bei  den  neutestamentlichen  Genien. 
Bisweilen  treten  diese  eigenartigen  Erlebnisse  urplötzlich  und  über- 
raschend in  das  Bewußtsein  der  Frommen,  zumeist  aber  gehen  sie  aus 


Gottes  Offenbarung  im  Gebet  231 

anhaltendem  Gebet  hervor,  bilden  dessen  Gipfelpunkt  und  Krönung. 
Neben  diesen  irregulären,  gewaltsamen  Formen  der  göttlichen  Offen- 
barung im  Gebet  steht  die  gewöhnliche  stille  und  leise  Einsprache 
Gottes,  die  dem  Betenden  zuteil  wird.  Wenn  der  Fromme  sein  Herz 
vor  Gott  ausgeschüttet  und  alles,  was  ihn  quält  und  drängt,  ihm  eröffnet, 
dann  hält  er  inne  mit  der  Bitte:   „Rede,  Herr,  dein  Diener  hört."  75 

„Nun  kehr'  ich  ein; 

Herr,  rede  du  allein 

Beim  tiefsten  Stillesein 

Zu  mir  im  Dunklen" 

(Tersteegen).  7* 
Und  Gott  redet  zu  der  schweigenden  und  harrenden  Seele,  offenbart 
ihr  seinen  Willen,  antwortet  auf  ihre  Fragen,  löst  ihre  Zweifel,  stillt 
ihr  Sehnen,  tröstet  ihren  Schmerz.  Die  wunderbaren  Zwiegespräche 
zwischen  Mensch  und  Gott,  welche  die  religiöse  Literatur  von  dem 
Pentateuch  bis  zu  den  Schriftwerken  der  abendländischen  Mystiker 
enthält,  sind  nicht  bloße  Poesie  und  künstlerische  Einkleidung  tiefer 
religiöser  Gedanken,  sondern  der  Widerschein  des  geheimnisvollen 
Wechselverkehrs  zwischen  der  betenden  Seele  und  dem  angebeteten 
Gott;  denn  die  göttliche  Antwort  ist  keineswegs  das  Echo  des  mensch- 
lichen Gebetsrufes,  sondern  Gottes  wirkliche  Selbstkundgabe  und  Offen- 
barung. Im  Gebetsleben  der  genialen  religiösen  Persönlichkeiten  ge- 
hören Rede  zu  Gott  und  Rede  Gottes  unzertrennlich  zusammen,  aber 
dieser  zweite  Teil  des  Gebetsdramas  übertrifft  den  ersten  an  Wunder- 
kraft und  Herrlichkeit.    Luther  sagt  treffend  über  das  Verhältnis  beider : 

,,Es  gibt  auch  zweierlei  Gespräch:  eins,  da  wir  mit  Gott  reden,  das  andere, 
da  er  mit  uns  redet.  Mit  ihm  reden,  das  heißt  beten;  welches  ist  auch  eine  große 
Herrlichkeit,  daß  sich  die  hohe  Majestät  im  Himmel  gegen  uns  arme  Würmlein 
so  herunterläßt,  daß  wir  dürfen  gegen  ihn  den  Mund  auf  tun  und  er  uns  gerne 
zuhört.  Aber  dies  ist  viel  herrlicher  und  köstlicher,  daß  er  mit  uns  redet  und 
wir  ihm  zuhören.  Beides  ist  gut  und  große  Wohltat  Gottes,  wie  denn  die  Schrift 
diese  zwei  heißt  den  Geist  der  Gnade  und  den  Geist  des  Gebets.  Denn  er  tut 
beides,  läßt  uns  mit  ihm  reden  (durch  das  Gebet)  und  er  redet  auch  mit  uns  (durch 
den  Gnadengeist),  daß  wir  ihn  hören.  Aber  sein  Reden  ist  viel  tröstlicher  denn 
unseres."  „Kommt  wohl  oft,  daß  ich  in  einem  Stück  oder  Bitte  (des  Vaterunser) 
in  so  reiche  Gedanken  spazieren  komme,  daß  ich  die  anderen  sechs  lasse  alle 
anstehen.  Und  wenn  auch  solche  reiche  gute  Gedanken  kommen,  so  soll  man 
die  andern  Gebete  fahren  lassen  und  solchen  Gedanken  Raum  geben  und  mit 
Stille  zuhören  und  beileibe  nicht  hindern;  denn  da  predigt  der  heilige  Geist  selber. 
Und  seiner  Predigt  ein  Wort  ist  weit  besser  denn  unserer  Gebete  tausend.  Und 
ich  hab  auch  oft  mehr  gelernt  in  einem  Gebet,  weder  ich  aus  viel  Lesen  und  Dich- 
ten hätte  kriegen  können."  77 

Weil  zum  einsamen  Beter  Gott  redet  und  ihm  sein  Wesen  und  seinen 
Willen  enthüllt,  darum  ist  die  Gebetseinsamkeit  die  Quelle  aller  reli- 
giösen Neuschöpfung.  In  der  Stille  des  Betens  und  Betrachtens  sind 
alle  großen  Offenbarungswahrheiten  gereift,  alle  entscheidenden  reli- 
giösen Entschlüsse  gefaßt;  die  Einsamkeit  des  Gebets  und  der  Versen- 
kung ist  die  Stätte  der  geheimnisvollen  Ekstasen,  Visionen  und  Ver- 
zückungen, ja  ist  der  Geburtsort  der  Weltreligionen  und  der  Quell- 
bezirk, dem  die  großen  religiösen  Reformationen  entsprungen  sind. 
In  der  menschenfernen  Bergwelt  des  Sinai  offenbarte  sich  Jahwe  dem 
betenden  Mose  als  der  Gott  Israels;  in  der  Verborgenheit  des  Gottes- 


232  F  I.  Das  Gebet   der  religiösen   Genien 

Umgangs  ergriff  Jahwes  Geist  die  zitternden  Propheten  und  machte 
sie  zu  seinen  Sendboten,  die  vor  das  Volk  Israel  hintraten  und  seinen 
heiligen  Willen  verkündeten;  im  stillen  Gebet  bei  der  Taufe  am  Jor- 
dan kam  dieser  Geist  auch  über  Jesus  von  Nazareth  und  offenbarte 
ihm  das  tiefe  Geheimnis  seiner  Gottessohnschaft  und  messianischen 
Aufgabe  (Luk.  321);im  einsamen  Wüstenaufenthalt  errang  sich  der 
bei  Damaskus  von  Christus  überwältigte  Paulus  die  Kraft  zum  Völker- 
apostolat;  auf  einem  einsamen  Berge  bei  Mekka  ward  Mohammed 
zum  Boten  Allahs  berufen;  in  den  weltfernen  Klüften  des  Alverner- 
gebirges  wurde  der  betende  und  sinnende  Franz  von  Assisi  eins  mit 
seinem  gekreuzigten  Heilande  und  empfing  seine  Wundmale;  im  ver- 
borgenen Gebetskampf  gewann  Luther  zu  Worms  jene  unerschütterliche 
Stärke,  Sicherheit  und  Zuversicht,  mit  der  er  einer  Welt  von  Feinden 
trotzen  konnte,  als  Beter  wurde  er  zum  großen  Reformator,  der  eine 
neue  Epoche  des  Christentums  heraufführte.  Und  selbst  jener  milde 
und  entsagende  Weise  Indiens,  dessen  Heilsbotschaft  Asiens  Univer- 
salreligion wurde,  ist  durch  das  ,schweigende  Gebet'  der  Versenkung 
zum  , Religionsstifter'  geworden;  nachdem  er  in  der  Einsamkeit  am 
Flusse  Neranjarä  die  vier  Stufen  des  dhykna  (Betrachtung,  Versenkung) 
durchlaufen  hatte,  erfaßte  er  ,in  schauendem  Erkennen'  das  Welt- 
und  Erlösungsgeheimnis,  die  vier  heiligen  Wahrheiten  vom  Leid,  von 
der  Leidensursache,  ihrer  Zerstörung  und  dem  Weg  zu  ihrer  Zerstörung. 
Alles  Große,  Neue,  Schöpferische  in  der  Geschichte  der  Religion  steigt 
so  aus  den  unergründlichen  Tiefen  des  Gebets  empor. 

8.  Alle  großen  Beter  erblicken  in  der  Art  und  Weise  ihres  eigenen 
Gebetslebens  bzw.  in  der  Richtung,  in  der  ihre  Gebetsfrömmigkeit 
verläuft,  die  Idealform  des  Gebets,  das  wahre,  echte  Gebet,  dem  das 
Gebet  des  gewöhnlichen  Menschen  als  falsches  Gebet  oder  nur  als  eine 
Vorstufe  des  idealen  Betens  gegen  übertritt.  Die  Gebetsnorm,  welche 
die  großen  Propheten  und  Heiligen  verkündet  haben,  ist  nicht  wie 
die  philosophische  Gebetsnorm  heteronom,  d.  h.  sie  entstammt  nicht 
einer  fremden  Wertsphäre,  der  Ethik  und  Metaphysik,  sondern  sie 
ist  autonom,  rein  religiös;  sie  wächst  aus  dem  eigenen  Gebetsleben 
unmittelbar  heraus.  Fast  allen  schöpferischen  religiösen  Persönlich- 
keiten verdanken  wir  Gebetsanloitungen,  durch  die  sie  die  anderen 
Menschen  auf  pädagogischem  Wege  zur  Höhe  des  eigenen  Gebets- 
lebens emporziehen  wollen.  Bei  den  prophetischen  Persönlichkeiten 
wird  die  Propaganda  für  ihr  individuelles  Gebetsideal  häufig  zu  einer 
schroffen  Polemik  gegen  die  diesem  widersprechenden  Formen  des 
Gebets,  gegen  das  naiv-eudämonistische,  kultisch-mechanische  und 
magische  Beten  der  Volkskreise. 

9.  Das  Gebetsleben  der  großen  religiösen  Genien  steht  in  einem 
kontinuierlichen  geschichtlichen  Zusammenhang.  Ein  solcher  Zu- 
sammenhang fehlt  in  den  primitiven  wie  in  den  antiken  Religionen; 
denn  das  mechanische  Überliefern  von  Gebetsformeln  oder  die  Kom- 
position von  Hymnen  nach  älteren  Vorlagen  kann  nicht  als  innerer, 
historischer  Zusammenhang  gelten.  Diese  geschichtliche  Abhängigkeit 
ist    eine    Eigentümlichkeit    des    gesamten    produktiven    Geisteslebens. 


Die  historische  Kontinuität  233 

Die  großen  Beter  stehen  ebenso  wie  die  schaffenden  Künstler  und  die 
philosophischen  Denker  in  einem  mächtigen  historischen  Entwicklungs- 
strom. In  der  prophetischen  Religion  wird  dieser  geschichtliche  Zu- 
sammenhang voll  bewußt ;  denn  für  sie  ist  die  in  der  Geschichte  sich  voll- 
ziehende , Offenbarung'  Gottes  —  psychologisch  gewendet:  die  reli- 
giöse Erfahrung  bestimmter  geschichtlicher  Persönlichkeiten  ■ —  Aus- 
gangspunkt und  Norm  des  religiösen  Erlebens.  In  der  Mystik  existiert 
zwar  dieser  Zusammenhang,  aber  er  wird  entsprechend  dem  zeit-  und 
ge schichtslosen  Charakter  des  mystischen  Erlebens  niemals  in  seiner 
Ganzheit  erkannt  und  auch  dort,  wo  er  zum  Bewußtsein  kommt,  nicht 
als  autoritative  Bindung,  sondern  nur  als  literarische  Abhängigkeit 
betrachtet. 

Die  Geschichte  der  Religon  kennt  nur  drei  große,  selbständige  Ent- 
wicklungsströme, die  möglicherweise  auf  zwei  sich  zurückführen  lassen  78. 
Es  führt  eine  ununterbrochene  Kette  von  der  Atman-Brahman-My- 
stik  der  vedischen  Upanischaden  zum  Vedänta  des  Sarikara  einerseits 
und  über  die  mystische  Psychotechnik  des  Yoga  zur  buddhistischen 
Heilslehre  andererseits.  Eine  ebenfalls  zusammenhängende  Entwick- 
lungskurve führt  von  der  orphisch-dionysischen  Mystik  über  Plato, 
Philo  und  die  späthellenistischen  Mysterienkulte  zu  der  neuplatonischen 
Unendlichkeitsmystik  Plotins,  welche  die  Quelle  für  die  »mystische 
Theologie'  des  Pseudodionysius  Areopagita  bildet.  Seine  Schriften 
wurden  zu  dem  „großen  Schatzhaus",  aus  dem  alle  späteren  christ- 
lichen Mystiker  „viel  von  ihrem  literarischen  Stoff  entnahmen"  (Frie- 
drich von  Hügel)  79.  Nicht  mit  Unrecht  wurde  er  als  „Vater  der  christ- 
lichen Mystik'  bezeichnet  (Hugo  Koch)  80.  Dionysius  speist  die  ganze 
Mystik  der  Ostkirche;  durch  Scotus  Eriugena  und  die  Victoriner  der 
Westkirche  übermittelt,  übt  er  auf  deren  Frömmigkeit  wie  Theologie 
einen  entscheidenden  Einfluß  aus.  Ja  selbst  auf  die  Mystik  des  Islam 
hat  er  nachhaltig  eingewirkt.  Vielleicht  ist  diese  zweite  Kette  nur 
eine  Abzweigung  der  ersten,  da  die  orphische  Heilslehre  und  die  ele- 
atische  Spekulation  möglicherweise  wesentliche  Elemente  von  der 
altindischen  Mystik  entlehnt  haben.  Dieselbe  Kontinuität  zeigt  die 
Entwicklungslinie  der  der  Mystik  polar  entgegengesetzten  prophetisch- 
biblischen  Religion,  die  in  Moses  (vielleicht  schon  in  Abraham)  ihren 
Ausgangspunkt  hat  und  über  die  Propheten  und  Psalmdichter  zu  Jesus 
ihrem  Höhepunkt  führt  und  von  Paulus  und  Johannes  fortgesetzt 
wird.  In  den  kommenden  christlichen  Jahrhunderten  läuft  diese 
Linie  weiter,  doch  wird  sie  unter  der  Einwirkung  der  Mystik  und  des 
synkretistischen  Kirchentums  schwächer,  bis  sie  im  Bibelchristentum 
der  Reformatoren  wieder  ihre  ursprüngliche  Stärke  erlangt.  Durch 
die  Kreuzung  der  prophetischen  und  mystischen  Religion  oder  durch 
die  Mischung  der  Mystik  mit  der  Volksfrömmigkeit  entstehen  neue 
Frömmigkeitsformen  von  besonderem  Gepräge.  In  den  hellenistisch- 
orientalischen  Mysterien  verbindet  sich  das  geistige  Erlösungssehnen 
mit  uralten  sinnlichen  Kultriten;  in  der  hinduistischen  Bhaktimystik 
(Bhagavadgitä,  Ramänuja,  Tulsi  Das,  Mänikka-Väsagar)  verschmelzen 
die  Atman-Brahman-Weisheit  der  Upanischaden,  die  akosmischo   Spe- 


234  P  I.   Das   Gebet  der  religiösen  Genien 

kulation  des  Vedanta,  die  dualistische  Sämkhyaphilosophie  und  die 
Technik  des  Yoga  mit  den  volkstümlichen,  Kulten  des  Vishnu-Bha- 
gavän-Krishna-Räma  und  des  Siva.  Bei  Philo  von  Alexandrien  ver- 
eint sich  die  prophetische  Offenbarungsreligion  des  Alten  Testamentes 
mit  der  platonischen  Mystik,  beeinflußt  zugleich  von  der  ägyptisch- 
hellenistischen Hermesmystik  81.  Dieser  Verschmelzungsprozeß  von 
prophetischer  Offenbarungsreligion  und  mystischer  Erlösungsreligion 
vollzieht  sich  in  noch  größerem  Umfang  in  der  Geschichte  des  Islam 
und  Christentums.  Im  arabisch-persischen  Süfismus  verbindet  sich 
der  prophetische  Gottesglaube  des  Muhammed  mit  hellenistischer 
Gnosis  und  neuplatonischer  Ekstase  und  Spekulation,  aber  auch  mit 
der  Weisheit  des  Vedanta  und  der  Versenkungskunst  und  Nirvana- 
Mystik  des  Buddhismus  82.  In  das  Christentum  dringt  die  Mystik 
schon  in  seiner  schöpferischen  Urzeit  ein.  Im  Christuserlebnis  des 
Paulus  stoßen  bereits  die  beiden  polaren  Frömmigkeitstypen  mit  Wucht 
aufeinander;  ihre  inneren  Gegensätze  und  Spannungen  bleiben  hier 
unausgeglichen.  Im  vierten  Evangelium,  das  unter  dem  Einflüsse 
Philos  und  der  hermetischen  Mystik  steht,  ist  ihre  Einigung  bereits 
vollzogen;  eine  weiche  mystische  Gottinnigkeit  redet  aus  allen  Worten 
des  johanneischen  Christus.  Doch  kann  innerhalb  des  Neuen  Testa- 
ments nur  von  einer  „relativen  Rezeption'  83  der  hellenistischen  Mystik 
gesprochen  werden,  welche  die  spätere  volle  Rezeption  vorbereitet.  Die 
Frömmigkeit  der  Paulus  und  Johannes  ist  prophetisch,  doch  mit  kräf- 
tigem mystischen  Einschlag.  In  den  kommenden  Jahrhunderten 
jedoch  strömte  diese  antike  Mystik  in  immer  breiteren  Furchen  ins 
Christentum  ein  und  erzeugte  eine  christliche  Mystik,  welche  Mystik 
im  vollen  Sinn  des  Wortes  ist,  aber  doch  starke  Spuren  des  biblischen 
Frömmigkeitsgeistes  aufweist.  In  ihrer  ältesten  Form,  der  Gnosis, 
ist  diese  christliche  Mystik  überwuchert  von  mythologischer  Spe- 
kulation; in  Clemens  und  Origenes  klärt  sie  sich  durch  die  Kraft  des 
philosophischen  Gedankens.  In  Augustinus  vermählt  sich  die  neu- 
platonische Unendlichkeitsmystik  mit  der  biblischen  Offenbarungs- 
religion in  wunderbarer  Harmonie.  Von  seinem  Geiste  zehrt  das  per- 
sönliche Frömmigkeitsleben  des  ganzen  Mittelalters,  es  empfängt  aber 
auch  von  dem  Areopagitischen  Schrifttum  Nahrung.  Bei  Anselm  von 
Oanterbury,  Bernhard  von  Clairvaux,  Albertus  Magnus,  Thomas  von 
Aquin,  Franz  von  Assisi,  Bonaventura  und  Thomas  von  Kempen  über- 
wiegt die  augustinische  Frömmigkeitsidee,  bei  Meister  Eckhart,  Tauler 
und  Katharina  von  Genua  der  areopagitische  Gottesgedanke.  In  der 
großen  spanischen  Heiligen  Teresa  di  Jesu  erlangt  die  von  Augustinus 
bestimmte  mittelalterliche  Mystik  eine  neue  originale  Fassung.  Aus 
ihrem  tiefen  Gotterleben  schöpfen  die  großen  quietistischen  Mystiker, 
Franz  von  Sales,  Molinos,  Madame  Guyon,  deren  Einfluß  hinwiederum 
bis  in  die  evangelische,  zumal  die  reformierte  Frömmigkeit  sich  er- 
streckt. Die  lutherische  Mystik,  welche  Luthers  biblische  Frömmig- 
keit mit  Bernhardinischer  Jesusmystik  und  Tauler'scher  Unendlich- 
keitsmystik verschmilzt,  hat  in  Johann  Arndt,  ihren  klassischen  Aus- 
druck gefunden  84;  die  reformierte  Mystik,  in  welcher  zu  den  mittel- 


Die  geschichtliche  Kontinuität  235 

alterlicben  und  reformatorischen  Ideen  der  spanisch-französische  Quie- 
tismus  tritt,  besitzt  in  Tersteegen  ihren  genialsten  Vertreter.  So  kreuzen, 
schneiden  und  vereinen  sich  die  beiden  großen  Entwicklungslinien 
der  Mystik  und  Offenbarungsreligion  fortwährend  in  der  Geschichte 
der  christlichen  Frömmigkeit. 

Die  Frömmigkeit  der  großen  religiösen  Persönlichkeiten  ist  durch 
den  umfassenden  geschichtlichen  Entwicklungsgang  bestimmt.  Wohl 
ist  das  Gebet  die  freieste  und  persönlichste  Äußerung  der  Frömmigkeit; 
die  selbständige,  schöpferische  Kraft  der  überragenden  religiösen  Ge- 
nien offenbart  sich  gerade  im  Gebet  in  aller  Deutlichkeit.  Dennoch 
ist  der  Zusammenhang  ihres  inneren  Lebens  mit  dem  ihrer  Vorgänger 
auch  in  ihrem  Beten  klar  erkennbar.  Buddhas  Betrachtungskunst 
ist  von  der  Versenkungstechnik  des  Yoga  abhängig;  in  Jesu  Gebets- 
verkehr mit  dem  Vater  wirkt  der  Gebetsgeist  der  alttestamentlichen 
Propheten  und  Psalmisten  fort,  das  Gebetsleben  der  Kirchenväter 
und  Reformatoren  ist  am  Beten  der  biblischen  Gottesmänner  orien- 
tiert; die  Gebetsweise  der  großen  mittelalterlichen  Heiligen  ist  durch 
Augustins  Gotteserlebnis  bestimmt.  Trotz  aller  individuellen  Eigenart 
zeigt  so  das  Beten  der  größten  Frommen  eine  innere  Abhängigkeit 
von  der  Gebetsfrömmigkeit  ihrer  Vorgänger. 

10.  Für  die  Darstellung  des  Gebets  in  der  individuellen  Frömmigkeit 
kommen  fast  ausschließlich  die  biblischen  und  christlichen  Persönlich- 
keiten in  Betracht.  Das  Christentum  (die  alttestamentlich-prophetische 
Religion  inbegriffen)  ist  „die  eigentliche  Heimat  des  persönlichen  Ge- 
bets" (Söderblom)  85,  „die  Religion  des  Gebets"  schlechthin  (Bousset)  86, 
d.  h.  jene  Religion,  in  der  das  Gebet  den  Brennpunkt  der  persönlichen 
Frömmigkeit  bildet.  „Das  Gebet  ist  seine  Krone  und  Perle"  (Bousset)  86. 
Christ  sein  heißt  Beter  sein.  Bunyan  urteilt:  „Du  bist  kein  Christ, 
wenn  du  kein  Beter  bist."  87  Luther  sagt  in  seiner  volkstümlichen 
Ausdrucksweise :  „Wie  ein  Schuster  einen  Schuh  macht  und  ein  Schneider 
einen  Rock,  also  soll  ein  Christ  beten.  Eines  Christen  Handwerk  ist 
Beten."  88  Johann  Arndt  erklärt:  „Das  Beten  ist  eines  Christen  Kenn- 
zeichen und  Eigenschaft."  89  Gewiß  ist  das  Gebet  die  wesentliche 
Frömmigkeitsäußerung  aller  Religionen  der  Erde,  ein  allgemein  mensch- 
liches, kein  ausschließlich  christliches  Phänomen.  Aber  das  persönliche 
Gebets  leben,  der  freie  und  lebendige  Gottesumgang  hat  im  Christen- 
tum wie  sonst  nirgends  in  der  gesamten  Geschichte  der  Religion  seine 
Heimstätte.  In  diesem  Sinne  hat  Luthers  Wort  Gültigkeit:  „Beten 
ist  ein  seltsam  Werk,  das  niemand  tut  denn  Christen  und  doch  so  ge- 
mein in  der  Welt  gewesen."  90  Was  die  außerchristlichen  Religionen 
an  persönlichem  Gebetsleben  zeigen,  ist  unendlich  dürftig  im  Vergleich 
zu  dem  Reichtum  und  der  Differenziertheit  inneren  Lebens,  das  sich 
im  Beten  der  christlichen  Genien  offenbart.  Die  Frömmigkeit  der 
literarischen  Hymnendichter  in  Indien,  Babylonien,  Ägypten  und  Peru 
wie  die  Frömmigkeit  der  hellenischen  Gebildeten  erhebt  sich  nie  zur 
Höhe  eines  persönlichen  Gebetslebens.  Das  Gebetsideal  der  griechischen 
Philosophen  ist  eine  blasse  Abstraktion,  der  Schatten  des  lebendigen 
Betens.      Der    kühle   deistische    Rationalismus    und    Moralismus    Kon- 


236  FI.  Das   Gebet  der  religiösen   Genien 


futses  hat  keinen  Raum  für  die  Leidenschaft  des  Gebets.     Die  kon- 
templative Innigkeit,  mit  der  Laotse  über  das  Tao  sinnt,  erhebt  sich 
nie  zur  unmittelbaren  Gebetsanrede.     Der  pantheistischen  Unendlich- 
keitsmystik der  Upanischaden  und  des  Vedänta,  der  mystischen  Psy- 
chotechnik  des    Yoga  und  dem   buddhistischen   Heilsstreben   ist  das 
echte  Gebet  fremd,  die  stufenförmige  Versenkung  (samädhi,    dhykna), 
die  seine  Stelle  vertritt,  ist  kein  eigentliches  Gebet,  obgleich  sie  sich 
mit  der  oratio  mentalis  mancher  christlicher  Mystiker  enge  berührt. 
Selbst  der  begeisterte  Eros  Plotins,  dieses  „Fürsten  der  außerchrist- 
lichen Mystiker"   (F.  v.   Hügel)  91    bleibt  stets   ,schweigendes   Gebet' 
und  wird  nie  zur  persönlichen  Gebetsanrufung  des  Unendlichen.    Auch 
dem  kunstvollen  Stufengebet  seiner  späteren  Schüler  fehlt  jener  Hauch 
der  Gottinnigkeit  und  Gottergebenheit,  welcher  das  Beten  der  christ- 
lichen Mystiker  durchweht.     In  den  großen,  einer  prophetischen  Re- 
form   entsprungenen  Gesetzesreligionen  des    talmudischen  Judentums, 
des  persischen  Mazdaismus  und  des  orthodoxen  Islam  ist  die  feurige 
Lava  des  prophetischen  Erlebens  im  kultischen  und  ethischen  Gesetz 
erstarrt;  sie  sind  nicht  der  Boden  für  die  Entfaltung  des  spontanen 
und  freien  Betens.     (Das  gesetzesstrenge  Judentum  stellt  das  formu- 
lierte Pflichtgebet  über  die  formlose   Gebetsaussprache;  der  offizielle 
Islam  ordnet  die  salkt  (das  vorgeschriebene  Gebet)  der  du'a  (dem  freien 
Gebet)   über;   im   Mazdaismus   ist  das   ungebundene    Gebet  aus   dem 
Herzen  sogar  verpönt).      Die  mahäyanische  Richtung  des  Buddhismus, 
die  hinduistische   Bhakti-Mystik,    der  Urislam    und  der  arabisch-per- 
sische   Süfismus   sind   die  einzigen    Strömungen   der  außerchristlicheh 
Religionsentwicklung,   in   denen   wir  ein   zartes   und  inniges,   feuriges 
und    kraftvolles    Gebetsleben    treffen.      Mohammed,    die    islamischen 
Mystiker  Bäyazid,  Ferid-ed-din-Attär  und  Jaläl-ed  din-Rümi,  die  in- 
dischen Mystiker  Mänikka-Väcagar,Yämuna  Muni,  Tulsi  Das  und  Nänak 
sind  jene  außerchristlichen  Persönlichkeiten,  die  wir  als  große  Beter 
den  israelitischen  und  christlichen  Genien  an  die  Seite  stellen  können. 
IhreGebetsdokumente  kommen  jedoch  neben  den  ungleich  reicheren  Zeug- 
nissen der  abendländischen  Persönlichkeiten  nur  als  Parallelen  in  Betracht. 
Der  Formenreichtum,  der  sich  im  christlichen  Gebetsleben  enthüllt, 
beruht  einmal   darauf,   daß   die   alt-   und   neutestamentliche   Religion 
eine  Persönlichkeitsreligion  ist,  die  eine  freie  Entfaltung  des  Affekt-, 
Willens-  und  Wertlebens  ermöglicht,  (während  die  negativen  Erlösungs- 
religionen in  Indien  das  Heil  in  einem  affektlosen  Seelenzustand  suchen), 
andererseits  darauf,  daß  durch  die  Verbindung  des  biblischen  Christen- 
tums  mit  der  hellenistischen   Mystik  eine   Fülle   von   Kombinations- 
möglichkeiten gegeben  war.     Die  Geschichte  der  christlichen   Gebets- 
frömmigkeit ist  der  kraftvollste  Beweis  für  die  Einzigartigkeit  und  ,Ab- 
solutheit'  des  Christentums  unter  den  Religionen  der  Erde.     Wer  das 
christliche  Beten  mit  dem  außerchristlichen  vergleicht,  wird  genötigt 
mit  Adolf  Harnack  zu  urteilen:  „Das  Christentum  ist  nicht  eine  Re- 
ligion neben  anderen,  sondern  d  i  e  Religion."      „Wer  diese  Religion 
nicht  kennt,  kennt  keine,  und  wer  sie  samt  ihrer  Geschichte  kennt, 
kennt  alle."  92 


Das  Christentum  als  Religion  des   Gebets  237. 


Aus  der  wimmelnden  Menge  der  individuellen  christlichen  Beter 
ragen  die  wenigen  Größten  hervor,  die,  welche  die  eigentlichen  Schöpfer 
des  christlichen  Gebetslebens  sind,  und  diejenigen,  die,  auf  ihren  Schul- 
tern stehend  und  ihre  Frömmigkeit  schöpferisch  fortbildend  oder  er- 
neuernd, das  Gebetsleben  der  Folgezeit  am  nachhaltigsten  beeinflußt 
haben.  Die  letzten  Wurzeln  des  christlichen  Betens  liegen  in  dem 
prophetischen  Mittlertum  des  Mose  zwischen  Israel  und 
Jahwe.  Er  ist  der  große  Beter,  der  für  sein  Volk  bei  Jahwe  eintritt  93; 
keiner  seiner  Volksgenossen  stand  mit  Jahwe  in  so  unmittelbarem 
Verkehr  wie  er.  Er  „schaut  Jahwes  Gestalt",  „Jahwe  verkehrt  mit 
ihm  von  Angesicht  zu  Angesicht",  „er  redet  mit  ihm  von  Mund  zu. 
Mund".  94  Der  ungeheure  dramatische  Realismus,  der  dem  Gebets- 
verkehr der  großen  christlichen  Persönlichkeiten  eigen  ist,  ist  die  Schöp- 
fung des  Mose.  Das  Gebetsleben  der  älteren  Fuhrer  und  Propheten 
Israels,  eines  Josue,  Samuel,  Elias  und  Arnos  bewegt  sich  in  den  Formen 
des  mosaischen  Mittlertums:  sie  stehen  zu  Jahwe  „in  einem  unmittel- 
baren Verhältnis,  aber  nicht  zu  ihrem  eigenen  Besten,  sondern  zum 
Besten  der  Gesamtheit" ;  95  sie  beten  zu  ihm  für  ihr  Volk  und  im  Namen 
ihres  Volkes  96. 

In  Jeremias  wurde  aus  diesem  prophetischen  Mittlertum  ein 
persönliches  Gebetsverhältnis;  „durch  ihn  vollzog  sich 
der  Übergang  der  Prophetie  zu  der  Religion  in  dem  Sinne,  daß  sie  das 
Mysterium  der  Verbindung  zwischen  Mensch  und  Gott  im  Individuum 
bedeutet."  97  Mit  Recht  wurde  darum  Jeremias  als  „der  erste  Beter, 
den  die  Religionsgeschichte  kennt"  (Cornill)  98,  als  der  „Vater  des 
wahren  Gebets"  bezeichnet.  Mit  unvergleichlichen  Worten  hat  Well- 
hausen die  Entstehung,  Eigenart  und  Bedeutung  seines  Gebets- 
lebens gekennzeichnet. 

„Jeremias  wurde  durch  den  Mißerfolg  seiner  Prophetie  über  die  Prophetie 
hinausgeführt.  Mochte  der  Inhalt  der  Worte  Jahwes,  die  er  zu  verkünden  hatte, 
ihm  Hohn  und  Verfolgung  zuziehen  —  die  Tatsache,  daß  Jahwe  zu  ihm  sprach, 
hielt  ihn  aufrecht  und  erquickte  ihn.  Daß  er  um  seinetwegen  litt,  war  ihm  Trost ; 
von  den  Menschen  abgewiesen,  flüchtete  er  sich  zurück  zu  ihm,  der  ihn  zu  seinem 
Boten  erwählt  und  dadurch  den  Zugang  zu  sich  eröffnet  hatte.  Seine  verschmähte 
Prophetie  ward  ihm  die  Brücke  zu  einem  inneren  Verkehr  mit  der  Gottheit; 
aus  seinem  Mittlertum  zwischen  Jahwe  und  Israel  entstand,  da  Israel  davon 
nichts  wissen  wollte,  ein  religiöses  Privatverhältnis  zwischen 
seiner  Person  und  Jahwe,  das  nicht  auf  enthusiastische  Augenblicke  beschränkt 
blieb,  in  dem  nicht  bloß  Jahwe  sich  durch  ihn  dem  Volk  offenbarte,  in  dem  er 
vielmehr  selber,  in  all  seiner  Menschlichkeit,  sich  vor  Jahwe  ausschüttete.  Diese 
Zwiesprache,  in  der  sich  seine  Seele  löste,  Ward  sein  menschliches  Bedürfnis, 
das  Brot,  von  dem  er  zehrte.  Unter  Schmerzen  und  Wehen  entstand  ihm  die 
Gewißheit  seiner  persönlichen  Gemeinschaft  mit  der  Gottheit;  das  tiefste  Wesen 
der  Frömmigkeit  wurde  bei  ihm  entbunden.  Das  bewegte  Leben,  welches  er 
lebte,  machte  er  nun  freilich  nicht  zum  Gegenstand  seiner  Lehre;  er  verkündete 
nur  schroff  und  drohend,  wie  die  übrigen  Propheten,  das  göttliche  Gesetz.  Aber 
als  ob  er  doch  die  Bedeutung  der  Vorgänge  in  seinem  Innern  geahnt  hätte,  zeich- 
nete er  einzelne  davon  auf.  Sein  Buch  enthält  nicht  bloß  Reden  und  Weissagungen, 
sondern  mitunter  auch  Konfessionen  über  seine  Leiden  und  Anfechtungen  und 
über  seine  verzweifelten  Kämpfe,  in  denen  er  sich  zwar  keineswegs  zur  Ruhe 
und  Seligkeit  durchrang,  wohl  aber  zum  Bewußtsein  des  Sieges  in  der  Nieder- 
lage. Daran  hat  die  Folgezeit  sich  erbaut.  Seine  Erfahrung  zeugte  fort  und 
wiederholte  sich  in  den  Erfahrungen  der  Frommen  nach  ihm.     Was  ihn  bowegte 


238  F  I.   Das   Gebet  der  religiösen    GeDien 

und  was  ihn  hielt,  hat  auch  die  edelsten  Geister  des  Judentums  bewegt  und  ge- 
halten: das  Leiden  des  Gerechten,  das  Wirken  der  Kraft  in  den  Gebeugten 
und  Verachteten.  Er  ist  der  Vater  des  wahren  Gebets,  in  dem  die  arme  Seele 
zugleich  ihr  untermenschliches  Elend  und  ihre  übermenschliche  Zuversicht  aus- 
drückt, ihr  Zagen  und  Zweifeln  und  ihr  unerschütterliches  Vertrauen.  Die  Psalmen 
wären  ohne  Jeremias  nicht  gedichtet.  An  seine  Sprache  lehnt  sich  die  Sprache 
der  Frömmigkeit  an  und  manche  Gleichnisse  der  geistlichen  Poesie  sind  aus 
den  Schicksalen  seines  I^ebens  gewählt."  9* 

Die  Psalmen  des  Alten  Testaments  sind  in  ihrem  innersten  Wesen 
nichts  anderes  als  das  in  die  Gebetspoesie  übertragene  Gebetsleben  des 
Jeremia.  Die  tiefgebeugte  jüdische  Gemeinde  des  Exils  und  der  nach- 
exilischen  Zeit  schüttet  in  diesen  Gebetsliedern  ihr  unsagbares  Leiden 
aus,  aber  ebenso  ihr  im  zerstörbares  Vertrauen;  wie  Jeremia,  dessen 
Prophetenbuch  ihr  Evangelium  wurde,  rang  sie  sich  im  Gebete  aus  der 
Angst  und  Trostlosigkeit  der  Gegenwart  zur  sieghaften  Zuversicht 
und  Zukunftshoffnung  durch.  Das  tiefste  aller  Psalmworte:  „Wenn  ich 
nur  dich  habe,  so  frage  ich  nichts  nach  Himmel  und  Erde.  Wenn  mir 
gleich  Leib  und  Seele  verschmachtet,  so  bist  doch  du,  o  Gott,  allezeit 
meines  Herzens  Trost  und  mein  Teil"  —  Jeremias  hat  es  als  erster 
erlebt,  er  hat  diese  Zuversicht  für  sich  selbst  und  dann  für  alle  Gottes- 
kinder nach  ihm  erkämpft  10°.  Diese  hebräischen  Psalmen  tönen  fort 
durch  alle  christlichen  Jahrhunderte ;  das  Psalmbuch  wurde  „das  eigent- 
liche Gebetbuch  der  Urkirche" ; 101  bis  heute  ist  es  das  Gebetbuch  aller 
klösterlichen  Gemeinden,  die  tagtäglich  mit  den  Worten  der  israelitischen 
Sänger  den  Ewigen  preisen  und  anflehen ;  und  auch  die  evangelische 
Frömmigkeit  schöpft  aus  ihm  innere  Kraft  und  Zuversicht.  Die  einzig- 
artige Bedeutung  des  israelitischen  Psalters  hat  der  geistvolle  jüdische 
Rabbiner  Felix  Perles  mit  beredter  Sprache  gepriesen. 

„Fragen  wir  uns,  worin  die  unvergängliche  Schönheit  der  Psalmen  besteht, 
wieso  sie  noch  heute  wie  vor  Jahrtausenden  unser  Herz  erbeben  machen  von 
den  Schauern  der  Andacht,  warum  ihr  Klang  noch  heute  nicht  nur  alle  Synagogen, 
sondern  auch  alle  Dome  der  Christenheit  durchbraust,  wieso  die  reiche  Poesie 
der  Völker  nichts  Besseres  und  Schöneres  an  ihre  Stelle  setzen  konnte,  so  werden 
wir  antworten:  nirgends  ist  der  Glaube  an  die  Kraft  des  Gebetes,  an  seine  Er- 
hörung durch  einen  gerechten  Vater  aller  Menschen  mit  so  unbezwinglicher  Ge- 
walt zum  Ausdruck  gelangt,  niemals  ist  die  Natur  als  Quelle  der  Gotteserkennt- 
nis, als  Predigt  zum  Lobe  ihres  Schöpfers  klarer  erkannt  und  erklärt  worden  als 
in  den  Psalmen.  Wohl  haben  die  Griechen,  Römer  und  modernen  Völker  ge- 
waltige Schöpfungen  auf  verschiedenen  Gebieten  der  Dichtkunst  aufzuweisen, 
aber  keines  ihrer  Werke  ist  so  in  das  Bewußtsein  aller  Nationen  übergegangen, 
ist  in  solchem  Maße  Gemeingut  der  Menschheit  geworden,  hat  soviel  zur  sitt- 
lichen und  ästhetischen  Erziehung  des  Menschengeschlechts  beigetragen  wie 
das  kleine  Buch  der  Psalmen.  Der  Genius  des  jüdischen  Volkes  hat  nicht  nur 
den  stumpfen  Sinn  der  Völker  für  die  reine  Erkenntnis  Gottes  erschlossen,  er 
hat  auch  ihre  schwere  Zunge  gelöst  und  sie  das  Höchste,  was  sie  fühlten  und 
dachten,  in  Worte  zu  kleiden  gelehrt."  10* 

Die  Psalmdichtung  des  Exils  und  der  Makkabäerzeit  ist  aber  nur 
die  eine  Auswirkung  des  jeremianischen  Gebetsgeistes.  Seine  zweite 
Frucht  ist  der  Gebetsindividualismus,  der  in  der  Zeit  nach  der  Ver- 
bannung zum  Gemeingut  des  jüdischen  Volkes  wurde.  „Die  spät- 
jüdische Frömmigkeit  hat  das  Gebet  recht  eigentlich  für  die  wei- 
teren Kreise  vom  Kult  und  Ritus  abgelöst,  sie  hat  das  Gebet 
zur  Substanz  des  frommen  Laienlebens  gemacht,  sie  hat  reiche  Gebets- 


Israels  Psalmendichter  —    Jesus  239 

formen  geschaffen."  103  Diese  spät  jüdischen  (Je  bete  haben  auf  das 
Einzel-  und  Gemeindegebet  des  frühen  Christentums  einen  nicht  minder 
bedeutsamen  Einfluß  ausgeübt  als  die  älteren  Psalmgesänge.  Sogar 
das  heiligste  Gebet  der  Christenheit,  das  Vaterunser^  zeigt  eine  enge 
Verwandtschaft  mit  den  spätjüdischen  Gebeten.  Ebenso  ist  das  Beten 
Muhammeds  durchaus  von  jüdischem  Frömmigkeitsgeiste  erfüllt. 

So  hat  denn  „Israel  seit  den  Tagen  der  Psalmisten  Völker  beten 
gelehrt."  104  Dennoch  wäre  es  unrichtig,  wollte  man  mit  dem  Rabbiner 
Perles,  von  dem  dieser  Satz  stammt,  im  israelitisch-jüdischen  Beten 
bereits  die  höchste  Form  alles  Betens  erblicken  und  glauben,  daß  „die 
schönsten  christlichen  Gebete,  vom  Vaterunser  angefangen  bis  auf 
die  Kirchenlieder,  nur  ein  Widerhall  jüdischer  Gebete  sind."  105  Für 
die  Innerlichkeit  des  Gebets  beginnt  vielmehr  mit  Jesus  eine  neue 
Zeit;  ja  man  kann  mit  Söderblom  106  sogar  sagen,  daß  „Innerlichkeit 
in  persönlichem  Sinn  eigentlich  von  ihm  geschaffen  ist".  Die 
Mystik,  die  doch  die  religiöse  Innerlichkeit  mit  erstaunlicher  Virtuosität 
pflegt,  kennt,  solange  sie  konsequent  bleibt,  nur  eine  unpersönliche 
Innerlichkeit.  Die  Innerlichkeit  der  großen  israelitischen  Beter  bleibt, 
so  tief  und  kraftvoll  sie  auch  ist,  stets  überpersönlich;  das  betende 
Ich  der  alten  Propheten  und  der  Psalmdichter  ist  nie  die  religiöse 
Persönlichkeit  in  ihrer  individuellen  Besonderung,  sondern  immer  das 
Gottesvolk,  die  heilige  Gemeinde  als  Gesamtheit.  Nur  Jeremias,  der 
durch  die  Tragik  seines  Prophetenberufs  einsam  gewordene  Beter, 
macht  eine  Ausnahme.  Jesu  Gottesumgang  ist  ganz  und  gar  persön- 
licher Herzensaustausch  mit  dem  Vater.  Obgleich  er  durch  die  Schule 
des  Psalmbuches  und  die  Prophetenschriften  gegangen,  überragt  er 
in  seinem  Beten  die  Propheten  und  die  Psalmisten  um  Haupteslänge; 
er  ist  der  Vollender  ihrer  Gebetsfrömmigkeit,  ,,der  gewaltigste  Beter 
der  Geschichte"  (Wernle)  107.  In  seinem  Beten  bricht  das  Urphänomen 
des  Gebets,  das  Kindschaftsverhältnis  zum  Vatergott,  in  seiner  höchsten 
Reinheit  und  Kraft  durch.  Jeremias  und  die  exilischen  Psalmdichter 
rangen  sich  in  dem  Jammer  des  Herzens  zum  unerschütterlichen  Ver- 
trauen auf  Jahwe  durch ;  Jesu  Gebet  in  der  Stunde  der  Todesnot  klingt 
nicht  nur  in  einem  Worte  der  Zuversicht,  sondern  in  einem  Worte  der 
Ergebung  aus.  „Nicht  mein,  sondern  dein  Wille  geschehe!"  Dieses 
Gebet  auf  dem  ölberg  ist  der  Gipfelpunkt  in  der  Geschichte  des  Ge- 
bets, „das  tiefste  religiöse  Wort,  das  je  ausgesprochen  wurde",  hat  es 
ein  moderner  Philosoph  (Harald  Höffding)  genannt  108.  An  diesem 
und  den  anderen  kurzen  Gebetsrufen,  die  seine  Jünger  treu  überliefert 
haben,  wie  an  seinen  kurzen  Mahnreden  zur  Innerlichkeit  und  Zuver- 
sicht des  Betens  und  an  der  Gebetsregel  des  Vaterunser  hat  sich  das 
Gebetsleben  der  großen  christlichen  Persönlichkeiten  immer  wieder 
entzündet:  der  Apostel  und  Väter,  der  Mönche  und  Mystiker,  der  Re- 
formatoren und  Theologen.  Sein  Gebet  in  Gethsemane  ist  von  Milli- 
onen Menschenkindern  nachgesprochen  worden;  durch  das  Vater- 
unser sind  unzählige  Menschen  zur  Höhe  seines  Gebetslebens  empor- 
geführt worden;  seine  Gleichnisworte  vom  anhaltenden,  stürmischen 
Gebet  haben  eine  unbändige  Gebetaznversicht  in  den  Herzen  der  großen 


240  F  I.   Das   Gebet  der  religiösen   Genien 


Frommen  geweckt.  Das  Bekenntnis  des  vierten  Evangelisten:  „Aus 
seiner  Fülle  haben  wir  alle  geschöpft,  Gnade  um  Gnade"  (Jo  1  16)  be- 
wahrheitet sich  nirgends  so  sehr  wie  im  Beten  der  christlichen  Frommen. 
Die  unermeßliche  Fern  Wirkung,  die  von  Jesu  Gebetsleben  ausgeht,  ist  der 
gewaltigste  Beweis  für  die  einzigartig-schöpferische  Kraft  seiner  Persön- 
lichkeit. Nur  gottmenschlichen  Tiefen  konnte  solch  Gebet  entquellen. 
Jesu  Beten  ist  genau  wie  seine  frohe  Botschaft  vom  gnädigen  Vater- 
gott und  von  der  kommenden  Gottesherrschaft  ein  schöpferisch  Neues; 
aber  dieses  Neue  ist  noch  eingewoben  in  die  alten  Frömmigkeitsfor- 
men und  religiösen  Vorstellungen  des  jüdischen  Volkes.  Seine  Heraus- 
lösung aus  ihnen  ist  die  Tat  des  Völkerapostels  Paulus  109.  Er  war 
es,  der  die  nationalen  Schranken  des  Evangeliums  durchbrach  und  das 
Christentum  aus  der  an  das  jüdische  Volk  gerichteten  Reichgottes- 
verkündigung zur  universalen  Weltreligion  machte;  er  war  es  auch, 
der  auf  dem  von  Jesus  gelegten  Grundstein  denv-Dom  der  christlichen 
Gebetsfrömmigkeit  aufrichtete.  Er  ist  der  Schöpfer  des  christlichen 
Gemeindegebetes.  Er  hat  zwar  keineswegs  der  jungen  Kirche  fest- 
stehende liturgische  Gebetsformeln  gegeben,  aber  er  hat  in  Anlehnung 
an  die  synagogale  Gebetsterminologie  der  Juden  eine  kraft-  und  klang- 
volle gottesdienstliche  Gebetssprache  geschaffen,  welche  die  christ- 
liche Kirche  durch  alle  Jahrhunderte  als  kostbares  Erbe  bewahrt  hat 
(s.  u.  Kap.  H:  das  gottesdienstliche  Gemeindegebet).  Paulus  hat 
ferner  das  Fürbittegebet  in  den  zentralen  Kreis  des  christlichen  Ge- 
betslebens gerückt.  Er  selbst,  der  große  Missionar  und  Seelsorger, 
war  ein  Virtuose  des  fürbittenden  Betens:  unaufhörlich  fleht  er  für 
das  Heil  und  Wachstum  seiner  Gemeinden;  unaufhörlich  mahnt  er 
sie  zum  Gebet  für  sich  und  für  die  Brüder.  Die  wichtigste  Bedeutung 
des  Völkerapostels  für  das  christliche  Beten  liegt  jedoch  darin,  daß 
durch  ihn  aller  Gottesumgang  eine  unmittelbare  Beziehung  auf  Jesus 
Christus  erhielt.  Weil  Paulus  keinen  anderen  Gott  kennt  als  den  in 
Christus  offenbaren,  kennt  er  kein  anderes  Gebet  als  das  Gebet  an 
den  ,Vater  unseres  Herrn  Jesus  Christus',  als  das  Gebet  ,in'  und  ,durch' 
Christus.  Und  dieses  Gebet  ,unter  Anrufung  des  Namens  Jesu'  (Kol.  3  16) 
erhebt  sich  von  selbst  zur  direkten  Gebetsanrede  Jesu.  Gerade  für 
das  individuelle  christliche  Gebetsleben  hat  Paulus  besondere  Be- 
deutung dadurch  gewonnen,  daß  er  zum  erhöhten  Herrn  Jesus  in  ein 
inniges,  persönliches  Gebetsverhältnis  trat.  Schon  in  der  palästinischen 
Urgemeinde  hatte  man  zu  dem  zur  Rechten  des  Vaters  thronenden 
Herrn  kurze  Gebetsseufzer  („Komm,  Herr  Jesu!")110  emporgesandt, 
die  sehr  frühe  in  die  gottesdienstliche  Liturgie  eindrangen.  Aber  das 
menschliche  Bild  Jesu  war  der  Erinnerung  der  Ur jünger  zu  tief  ein- 
gegraben, als  daß  sie  mit  dem  Auferstandenen  denselben  Gebetsver- 
kehr pflegen  hätten  können  wie  mit  dem  ewigen  Vater  im  Himmel. 
Paulus  hingegen,  der  nicht  zu  den  Ur  Jüngern  Jesu  gehörte,  dem  erst 
der  verherrlichte  Christus  auf  dem  Wege  nach  Damaskus  erschienen 
war,  wollte  den  Jesus  „nach  dem  Fleische"  d.  h.  den  menschlich-ge- 
schichtlichen Jesus  „nicht  mehr  kennen",  sondern  nur  den  zur  Herr- 
lichkeit des  Vaters  erhobenen   Gottessohn  {2  Kor.   516);  sein  ganzes 


Die    Geschichte  des  individuellen   GebeMehens  (Paulus)  241 

Denken,  Wollen  und  Fühlen  war  von  der  Liebe  zum  himmlischen  Herrn 
und  Heiland  so  sehr  durchdrungen,  daß  er  bekannte:  „Nicht  mehr  ich 
lebe,  sondern  Christus  lebt  in  mir"  (Gal.  2  22);  sein  ganzes  Sehnen  und 
Verlangen  richtete  sich  darauf  „aufgelöst  zu  werden  und  mit  Christus 
zu  sein"  (Phil.  1  23).  Diese  enthusiastische  Christusliebe  und  Christus- 
ergriffenheit mußte  sich  notwendig  in  der  persönlichen  Gebetsgemein- 
schaft mit  Christus  ausströmen ;  Paulus  stand  mit  dem  erhöhten  Ky- 
rios  Christos  in  ständigem,  trautem  Gebetsumgang  (2  Kor.  12  x  ff.). 
Doch  ist  dieser  Gebetsverkehr  ausschließlich  ein  religiöses  Privat- 
verhältnis des  Apostels  zum  Herrn  m.  Die  feierlichen  Gebete,  die 
von  der  Gemeinde  bei  der  Eucharistiefeier  gesprochen  wurden,  richteten 
sich  —  von  den  formelhaften  Responsorien  des  Maranatha  oder  Kyrie 
eleison  abgesehen  —  in  der  Urkirche  wie  im  alten  Christentum  nicht 
unmittelbar  an  Christus,  sondern  durch  ihn  und  in  seinem  Namen  an 
Gott  den  Vater  112.  Wenn  Origenes  das  Gebet  ,im  Namen  Jesu'  for- 
dert und  die  direkte  Gebetsanrede  an  Jesus  ablehnt 113,  wenn  Augu- 
stinus nur  ein  Gebet  an  Gott  durch  Christus,  nicht  an  Christus  selbst 
kennt 114,  so  sind  sie  hierin  von  der  uralten  liturgischen  Tradition  be- 
stimmt. Die  christliche  Volksfrömmigkeit  hingegen  übte  die  unmittel- 
bare Gebetsanrufung  Christi  seit  den  ältesten  Zeiten ;  diese  populäre 
Gewohnheit  drang  zuerst  in  die  gottesdienstlichen  Responsorien  und 
in  die  Hymnendichtung  ein,  viel  später  auch  in  das  eigentliche  litur- 
gische Gebet.  In  der  persönlichen  Frömmigkeit  des  Abendlandes 
erlangt  der  Gebetsverkehr  mit  Christus  erst  vom  Frühmittelalter  an 
eine  beherrschende  Stelle.  Es  war  zweifellos  eine  Berührung  mit  dem 
paulinischen  Geiste,  die  Anselm  und  vor  allem  Bernhard  von  Clairvaux 
in  trauten  Gebetsumgang  mit  dem  Herrn  Jesus  führte.  Paulus  ist 
somit  der  Schöpfer  der  Christusmystik  115,  d.  h.  des  persönlichen  Ge- 
betsverhältnisses zum  himmlischen  Christus  als  dem  Herrn  und  Heiland 
der  Einzelseele.  Obgleich  dieser  Einfluß  des  Völkerapostels  auf 
das  christliche  Gebetsleben  erst  nach  Jahrhunderten  sich  geltend 
machte,  so  ist  diese  Bedeutung  für  die  Geschichte  des  individuellen 
christlichen  Gebets  keine  geringe.  Durch  Bernhard  hat  Paulus  die 
Gebetsweise  der  ganzen  mittelalterlichen  und  neueren  Mystik  wirksam 
beeinflußt. 

Fast  noch  tiefer  als  Paulus  hat  Augustinus  das  christliche 
Beten  bestimmt.  Nach  Jesus  und  Paulus  hat  keine  Persönlichkeit 
eine  so  nachhaltige  Wirkung  auf  die  christliche  Frömmigkeit  ausgeübt 
wie  dieser  größte  aller  Kirchenväter.  Sein  religiöses  Erleben  und  Denken 
stellt  die  grandioseste  Verbindung  von  hellenistischer  Unendlichkeits- 
mystik und  biblisch-prophetischer  Offenbarungsreligion  dar.  Sein 
Beten  vereint  die  tiefste  Beschaulichkeit  mit  der  lebendigsten  Willens- 
kraft, die  Gewalt  und  Leidenschaft  der  biblischen  Psalmen  mit  der 
Reinheit  und  Tiefe  neuplatonischer  Versenkung,  den  aus  der  Tiefe 
des  Schuldgefühls  sich  emporringenden  Gnaden-  und  Vergebungs- 
glauben des  Apostels  Paulus  mit  dem  himmelwärts  eilenden  mystischen 
Eros  Piatos  und  Plotins,  die  starke  und  unzerstörbare  Zuversicht  auf 
den  wirksamen  und  lebendigen  Gotteswillen  der  Bibel  mit  der  wonne- 

Da.s  Gebot  16 


242  F  I.    Das   Gebet  der  religiösen   Genien 

vollen  Kontemplation  des  ruhenden  summum  bonum  der  Neuplatoniker, 
es  ist  beides:  Aussprache  der  tiefen  Herzensnot  und  Herzensseligkeit 
wie  Erhebung  des  Geistes  zum  höchsten  Gut,  demütiges  Flehen  zu 
Gott  ,aus  der  Tiefe'  und  Erleben  der  Wesenseinheit  mit  Gott  im  eigenen 
Innern  116.  In  dieser  eigenartigen  Verschmelzung  der  beiden  gegen- 
sätzlichen Frömmigkeitstypen  hat  jedoch  die  neuplatonische  Mystik 
den  Vorrang ;  denn  das  Endziel  alles  Betens  ist  für  Augustinus  die 
Rückkehr  zum  unendlichen  Einen,  die  Wesenseinigung  mit  dem  ,höchsten 
Gut'.  „Den  spezifisch  christlichen  Ideen  ist  weder  im  Denken  noch 
Empfinden  Augustins  der  erste  Platz  zugewiesen."  „Der  genuine 
Augustin  ist  der  Neuplatoniker  Augustin"  (Scheel) 117.  Dieser  my- 
stische Gebetsgeist  des  Bischofs  von  Hippo  lebt  fort  durch  die  kommenden 
christlichen  Jahrhunderte.  Wie  die  grübelnde  Dogmatik  so  zehrt  die 
schlichte  Herzensfrömmigkeit  des  ganzen  Mittelalters  von  dem  Gei- 
steserbe Augustins.  Anselm  von  Canterbury  und  Thomas  von  Aquin, 
Franz  von  Assisi  und  Gertrud  von  Helftä,  Bonaventura  und  Thomas 
von  Kempen  sind  ihrer  kontemplativen  Gebetsfrömmigkeit  ganz  von 
der  augustinischen  Mystik  abhängig.  Aber  sein  Einfluß  reicht  weit 
über  die  Grenzen  der  katholischen  Kirche  hinaus,  bis  tief  in  die  evan- 
gelische Frömmigkeit  hinein.  „Die  religiöse  Sprache,  die  wir  sprechen, 
die  uns  vertraut  ist  aus  den  Liedern,  Gebeten  und  Erbauungsbüchern, 
trägt  den  Stempel  seines  Geistes.  Wir  reden,  ohne  es  zu  wissen,  noch 
mit  seinen  Worten,  und  die  tiefsten  Empfindungen  auszusprechen, 
der  Dialektik  des  Herzens  Worte  zu  verleihen,  hat  er  zuerst  gelehrt" 
(Adolf  Harnack) 118. 

Die  mittelalterliche  Gebetsfrömmigkeit  ist  augustinisch ;  aber  ihre  bei- 
den Komponenten :  die  biblisch-paulinische  Vergebungsbitte  und  der  my- 
stisch-neuplatonische Flug  zum  höchsten  Licht,  verteilen  sich  auf  die 
beiden  Hauptperioden  der  mittelalterlichen  Religiosität.  In  der  ersten 
Hälfte  des  Mittelalters  beherrscht  eine  schwere,  herbe  Bußstimmung 
das  ganze  religiöse  Leben,  das  Schuldbewußtsein  zerwühlt  die  Tiefen 
der  Seele;  der  sündige  Mensch  erschauert  vor  der  furchtbaren  Macht 
des  großen  Gottes,  er  erzittert  vor  der  Majestät  des  ewigen  Richters, 
er  bebt  und  bangt  vor  der  Stunde  des  Todes.  In  seiner  Angst  und  Furcht 
fleht  er  um  Gnade  und  Erbarmen,  um  Vergebung  und  Nachlaß  der 
Sünden,  um  Schutz  und  Hilfe  wider  die  Anfechtungen  Satans  und  um 
eine  selige  Sterbestunde.  Jesu  Sühnetat  am  Kreuz  und  die  Verdienste 
der  Heiligen  sind  die  Stütze  seiner  Zuversicht 119.  Das  schauervoll-pom- 
pöse Dies  irae  des  Thomas  von  Celano  ist  der  beredteste  Ausdruck  dieser 
das  Frühmittelalter  durchzitternden  Gebetsstimmung.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  Mittelalters  lebt  ein  anderer  Gebetsgeist:  der  Geist  des 
neuplatonischen  Augustinus.  Das  ernste  Thema:  Schuld  —  Gnade, 
Sünde  —  Vergebung  verklingt  zwar  nie;  aber  es  wird  übertönt  von  der 
mystischen  Sehnsucht  nach  seligem  Einswerden  mit  dem  unendlichen 
Gott.  „Die  vollendete  Liebe  treibt  die  Furcht  aus"  (1  Jo  4  18).  Die 
ersten  Spuren  dieser  mystischen  Gottesliebe  und  Gottesschau  finden 
sich  in  den  Gebeten  des  Anselm  von  Canterbury ;  aber  den  Wendepunkt 
vom  Bußernst  zur  Liebesinnigkeit  bildet  Bernhard  von  Clairvaux, 


Die  Geschichte  des  individuellen   Gebetslebens  243 

bei  dem  die  paulinische  Christusmystik  sich  mit  der  neuplatonischen 
augustinisch-areopagitischen  Unendlichkeitsmystik  vermählt.  Er  ist 
der  Vater  der  christlichen  Passions-  und  Brautmystik.  In  der  Frömmig- 
keit vor  ihm  finden  sich  nur  Ansätze  des  mystischen  Passions-  und 
Brautmotivs.  Bei  Bernhard  wird  das  paulinische  ,Nachahmen'  des 
Leidens  und  Sterbens  Christi  zur  wehmutstiefen  und  mitleidsschweren 
Versenkung  in  das  Schmerzensbild  des  Gekreuzigten.  Der  paulinische 
Gebetsverkehr  mit  dem  erhöhten  Herrn  wird  zum  zärtlich  schwel- 
genden Liebesverkehr  mit  dem  himmlischen  Bräutigam,  der  dem 
, Hohen  Lied'  seine  phantasievollen  Bilder  und  anschaulichen  Sym- 
bole entlehnt.  Das  mystische  Leben  in  der  Verborgenheit  der  katho- 
lischen Klöster  nährt  sich  von  der  bernhardinischen  Heilandsmystik 
ebenso  wie  die  schwärmerische  Jesusliebe  des  evangelischen  Pietismus. 

Neben  Bernhard  von  Clairvaux  haben  zwei  einsame  Nonnen  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  das  mystische  Gebetsleben  der  Folgezeit 
wirksam  beeinflußt.  Die  Begine  Mechthild  von  Magdeburg  hat 
der  bräutlichen  Liebe  zum  Heiland-Christus  noch  innigeren  und  kraft- 
volleren Ausdruck  gegeben  als  der  große  Cisterzienserabt.  Von  ihren 
tiefen  Gedanken  ist  die  Äbtissin  Gertrud  von  Helftä  bestimmt. 
Ihre  Gebetssprache  bleibt  zwar  an  religiöser  Frische  und  künstlerischer 
Originalität  hinter  der  Dichtersprache  der  Mechthild  zurück,  aber  sie 
wurde  zur  Normalsprache  der  betenden  Mystiker  in  den  kommenden 
Jahrhunderten . 

Eine  nachhaltige  Wirkung  auf  das  mittelalterliche  Beten  ging  von 
dem  liebenswürdigsten  aller  katholischen  Heiligen  aus,  von  Franzis- 
kus. Im  ,Poverello'  von  Assisi,  dessen  ganzes  Streben  darauf  ge- 
richtet war,  das  arme  und  demütige  Leben  seines  Herrn  und  Meisters 
nachzuahmen,  erwacht  etwas  von  der  kindlich-frohen  Zuversicht,  die 
im  Beten  Jesu  lebte ;  aber  im  tiefsten  Grunde  ist  sein  reines  und  inniges 
Gebetsleben  nicht  evangelisch,  sondern  mystisch.  Freilich  ist  diese 
Mystik  des  heiligen  Franz  nicht  reflektierende  Mystik  wie  die  neu- 
platonische, sie  entbehrt  aller  herben  Weltfeindlichkeit,  die  der  Fröm- 
migkeit der  meisten  '  abendländischen  und  morgenländischen  Mystiker 
anhaftet.  Seine  Mystik  ist  vielmehr  kindliche  Begeisterung,  naiver 
Enthusiasmus,  der  sich  beim  Anblick  einer  jeden  Kreatur  neu  ent- 
zündet und  der  sich  entlädt  in  einem  steten  entzückten  Anbeten,  ju- 
belnden Lobpreisen  und  frohen  Danksagen.  ,,Er  hörte  nicht  auf", 
sagt  sein  Biograph,  ,,in  allen  Elementen  und  Geschöpfen  den  Schöpfer 
und  Lenker  des  Alls  zu  loben  und  zu  preisen."  12°  Der  Sonnengesang 
ist  der  unvergängliche  Ausdruck  dieses  enthusiastischen  Gebetsgeistes. 
Mit  dieser  Naturfreude  und  Gottbegeisterung  verbindet  aber  Franz 
eine  glühende  mystisch-ekstatische  Jesusliebe,  welche  der  bernhar- 
dinischen Jesusmystik  und  der  Christusminne  der  heiligen  Nonnen 
an  Innigkeit  und  Kraft  nicht  nachsteht.  Die  wunderbare  Stigmati- 
sation in  der  Grotte  des  Alvernergebirges  ist  nur  die  körperliche  Aus- 
strahlung der  mystischen  Einigung  mit  Christus,  -in  der  sein  Gebets- 
umgang mit  dem   Heiland  gipfelt.     Durch  seine  große   Ordensfamilie 


244  F  I,  Das    Gebet  der  religiösen   Genien 

wurde  seine  gebetsfrohe  Gottes-  und  Jesusliebe  zum  Gemeinbesitz 
von  vielen. 

Im  Gegensatz  zu  diesem  gefühlswarmen  mystischen  Gebetsideal 
eines  Bernhard  und  Franz  verkünden  Meister  Eckhart  und  Tau- 
ler das  Ideal  des  schweigenden  mystischen  Herzensgebetes,  dem 
alle  religiöse  Leidenschaft  und  Sehnsuchtsglut  fremd  ist.  In  S  e  u  s  e  s 
Beten  hingegen  lebt  die  kindlich-liebesinnige  Freudigkeit  des  Armen 
von  Assisi  wie  der  bräutliche  Liebesdrang  des  Bernhard  von  Clairvaux 
auf.  In  der  Frömmigkeit  des  Thomas  von  Kempen,  des  Ver- 
fassers der  einzigartigen  ,Imitatio  Christi'  vereinen  sich  die  verschie- 
denen Gebetsklänge  der  großen  mittelalterlichen  Frommen  zu  wunder- 
voller Harmonie.  Dieses  unscheinbare  Erbauungsbüchlein  hat  den 
augustinisch-bernhardinisch-franziskanischen  Gebetsgeist  in  den  wei- 
testen Kreisen,  selbst  außerhalb  des  Katholizismus  eingebürgert.  Eine 
einzigartige  Bedeutung  für  die  nachreformatorische  Mystik  in  der 
katholischen  Kirche  kommt  der  spanischen  Karmeliterin  T  e  r  e  s  a  di 
Jesu  zu.  Sie  ist  wohl  die  größte  Mystikerin  der  Religionsgeschichte. 
Keine  mittelalterliche  Heilige  und  Mystikerin  kommt  ihr  an  Seelen- 
tiefe gleich;  denn  bei  ihr  war  nach  einem  Worte  Edvard  Lehmanns 
„das  Mystische  nicht  nur  treibende  Kraft,  sondern  persönliche  Geni- 
alität. Und  eben  in  dieser  inneren  Schöpferkraft  beruht  Teresas  Größe. 
Sie  begnügt  sich  nicht,  wie  die  deutschen  Nonnen,  fühlend  zu  ver- 
wirklichen, was  Männer  ihrer  Zeit  denkend  geschaffen.  Nein,  die  von 
Männern  gedachten  Gedanken  erhalten  erst,  indem  sie  dieses  weibliche 
Gehirn  passieren,  Perspektive  und  lebendigen  Ausdruck.  Sie  redet 
viel  von  Gartenbewässern:  sie  selbst  hat  den  Garten  der  Mystik  reich 
bewässert,  alles,  was  in  den  Systemen  der  Männer  trocken  und  hölzern 
war,  grünt  und  blüht  unter  ihrem  Einfluß."  m  Das  Ideal  des  ,inneren 
Gebets',  des  , Gebets  des  Herzens',  das  sie  pries,  beherrscht  das  ganze 
katholische  Frömmigkeitsleben  des  17.  Jahrhunderts.  Sie  ist  auch 
die  Schöpferin  jener  psychologisierenden  Richtung  der  Mystik,  welche 
die  Beobachtung,  Beschreibung  und  Analyse  der  mystischen  Erleb- 
nisse und  Zustände  bis  zur  Virtuosität  ausbildete.  Sie  hat  jene  einzig- 
artige Stufenleiter  des  mystischen  Gebets  geschaffen,  die  von  der  ernsten 
Betrachtung  der  großen  Heilswahrheiten  emporführt  bis  zur  wonnigen 
Gottberauschtheit  der  Ekstase.  Das  mystische  Beten  wird  in  Teresa 
zur  hohen  Gebetskunst.  Darin  aber  liegt  ihre  geniale  Größe,  daß  bei 
ihr  durch  die  kunstgerechte  Gebetsübung  und  die  eindringende  religiöse 
Seelenforschung  die  Lebendigkeit  und  Ursprünglichkeit  des  mystischen 
Gebetslebens  nicht  geschwächt  oder  getrübt  wird.  Alle  die  großen 
mystischen  Beter  und  Gebetslehrer  des  16.  und  17.  Jahrhunderts, 
Johann  vom  Kreuz  und  Franz  von  Sales,  Fenelon  und  Tersteegen, 
Madame  Ghantal  und  Madame  de  la  Mothe  Guyon  haben  von  dieser 
spanischen  Ordensfrau  gelernt. 

Den  Gegenpol  zur  mystischen  Gebetskunst  Teresas  bildet  Luthers 
kraftvoll-gesunde  und  freudig-herzliche  Gebetsfrömmigkeit;  sie  be- 
deutet den  tiefsten  Einschnitt  in  der  gesamten  Geschichte  des  christ- 
lichen Gebets.     Nach  Jeremia,  Jesus  und  Paulus  ist  wohl  der  deutsche 


Die   Geschichte  des  individuellen   Gebetslebens  245 

Reformator  der  gewaltigste  unter  den  überragenden  Gebetsgenien. 
Die  Loslösung  von  der  dem  Neuplatonismus  entstammenden  mittel- 
alterlichen Mystik  und  die  ausschließliche  Orientierung  an  der  bib- 
lischen Religion  bedingte  eine  schöpferische  Erneuerung  des  prophetisch- 
urchristlichen  Gebetstyps.  Luthers  Beten  ist  nicht  kontemplative  Ver- 
senkung in  Gott  als  das  unendliche  Eine  und  ,höchste  Gut',  sondern 
affektive  Aussprache  der  tiefen  Herzens-  und  Gewissensnot,  die  in  der 
frohen  Aussprache  der  Zuversicht  und  Ergebung  ausklingt.  Die  zen- 
trale urchristliche  Bitte  um  das  Kommen  des  Gottesreiches  ertönt  aus 
Luthers  Mund  in  ihrem  mächtigen  Urklang.  Der  naive  realistische 
Glaube  an  die  gottbezwingende  Macht  des  anhaltenden  Bittgebets 
wird  von  keinem  der  großen  christlichen  Frommen  so  lebendig  und  kraft- 
voll verkündet  wie  von  Luther  im  Anschluß  an  Jesu  Gleichnisse.  Lu- 
thers Gebetsleben  wurzelt  ganz  im  Beten  der  biblischen  Persönlich- 
keiten ;  er  ist  nicht  wie  Augustin  und  Bernhard  Schöpfer  einer  originalen 
Gebetsweise;  sein  Beten  ist  der  Widerhall  jener  Gebete,  die  von  den 
Lippen  Jeremias  und  der  Psalmsänger,  Jesu  und  Pauli  kamen,  sein 
Gebetsideal  ist  das  Abbild  des  biblischen  Urbildes.  Luther  hat  mit 
einer  Sicherheit  und  Kühnheit,  wie  sie  nur  einem  einzigartigen  reli- 
giösen Genius  möglich  ist,  das  neuplatonische  Element,  welches  in  das 
christliche  Gebetsleben  eingedrungen  war,  entfernt  und  so  den  pro- 
phetischen Gebetstyp  in  seiner  religiösen  Reinheit  wiederhergestellt. 
Und  doch  war  diese  Wiederherstellung  keine  mechanische  Repristi- 
nation  und  bloße  Nachahmung,  sondern  eine  schöpferische  und  origi- 
nale Erneuerung.  Das  ist  das  Wunderbare  in  Luthers  Frömmigkeit, 
daß  er,  der  durch  die  Schule  der  mittelalterlichen  Mystik  gegangen 
war  122,  ihr  Kostbarstes  und  Wertvollstes :  den  grandiosen  Individualis- 
mus wie  die  herzliche  Gottinnigkeit  und  die  zarte  Christusminne,  in 
sein  Gebetsleben  aufnahm,  daß  er  die  schlichte  und  kraftvolle  prophetisch- 
biblische Gebetsfrömmigkeit  mit  einem  mystischen  Element  bereicherte, 
ohne  ihre  Reinheit  dadurch  zu  trüben  oder  zu  entstellen.  Luthers 
Gebet  ist  echtes  prophetisches  Gebet,  aber  zeigt  einen  deutlichen  my- 
stischen Einschlag,  der  in  seiner  reformatorischen  Frühzeit  (bis  1525) 
stärker  ist  als  später,  der  aber  nie  ganz  verschwindet 123. 

Luthers  Gebetsideal  übte  auf  das  Gebetsleben  seiner  Zeit  eine  ganz 
erstaunliche  Wirkung  aus.  Nicht  nur  die  Gebetsan Weisungen  der  geistes- 
verwandten Reformatoren,  eines  Melanchthon,  Zwingli  und  Calvin, 
sondern  vor  allem  auch  die  Gebets-  und  Erbauungsbücher  der  ersten 
Jahrzehnte  des  Reformations Jahrhunderts  sind  von  der  biblischen 
Normierung  des  Gebets,  wie  sie  durch  Luther  erfolgt  war,  bestimmt. 
Ein  tiefer  Einfluß  auf  die  Gebetsfrömmigkeit  der  reformierten  Kirchen 
ging  von  Calvins  Persönlichkeit  aus.  Seine  Gemeindegebete  zeigen 
zwar  durchgehend  eine  Abhängigkeit  von  Luther,  seine  Gebetsan- 
weisung in  der  Institutio  Religionis  Christianae  stimmt  mit  der  Luther- 
schen  bis  in  die  Formulierung  überein.  Und  doch  hebt  sich  Calvins 
Gebetsgeist  in  seiner  schöpferischen,  individuellen  Eigenart  deutlich 
von  Luthers  Gebetsgeist  ab.  Aus  Luthers  Beten  redet  kindliche  Ein- 
falt und  Herzlichkeit,  in  Calvins  Beten  offenbart  sich  männlicher  Ernst 


246  F  I.  Das   Gebet  der  religiösen   Genien 

und  herber  Bußgeist;  aus  Luthers  Beten  strömt  frohe  religiöse  Zuver- 
sicht und  Gottergebenheit,  aus  Calvins  Beten  opfermutige,  welter- 
neuernde, sittliche  Tatkraft;  in  Luthers  Beten  entlädt  sich  ungehemmt 
der  tiefe  Drang  und  die  heiße  Leidenschaft  des  Herzens;  in  Calvins 
Beten  ist  die  Glut  des  religiösen  Affekts  gedämpft  durch  den  ehrfürch- 
tigen Gedanken  an  Gottes  unnahbare  heilige  Majestät.  Luthers  Beten 
ist  naive  Aussprache  der  Herzens-  und  Gewissensnot  und  inbrünstiges 
Flehen  um  Trost,  Hilfe  und  Gnade;  Calvins  Beten  umkreist  stets  das 
grandiose  Heilsziel :  Gottes  Ehre.  „Wir  flehen  zu  Gottes  Ehre"  (in 
gloriam  Dei  petimus).  „Wir  erflehen  zuerst,  was  allein  seiner  Ehre 
dient,  dann  erst  was  auch  unserem  Wohle  frommt."  124  Dieser  reine 
und  starke  Gebetsgeist  Calvins,  der  an  Großartigkeit  Luthers  kindliche 
Gebetsfrömmigkeit  überragt,  aber  an  Gottinnigkeit  weit  unter  ihr 
bleibt,  lebt  wieder  auf  in  dem  englischen  Baptisten prediger  John  B  u  n- 
y  a  n  ,  Englands  größtem  religiösen  Genius,  und  in  dem  einsamen 
frommen  Grübler  Blaise  Pascal,  der  all  die  Zweifel  des  Verstandes 
durch  den  irrationalen  Trotz  seines  starken  Gottesglaubens  niederrang. 
Luthers  und  Calvins  Einfluß  auf  das  evangelische  Frömmigkeits- 
leben wurde  schon  sehr  bald  durch  die  einströmende  mittelalterlich- 
katholische Mystik  zurückgedrängt.  Um  1550  begann  die  mystische 
Gebetsweise  aus  der  katholischen  Gebetsliteratur  ihren  Einzug  in 
die  lutherischen  Erbauungsschriften,  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
hat  sie  bereits  die  unbestrittene  Vorherrschaft  in  allen  deutschen  evan- 
gelischen Gebetbüchern  125.  Ihren  Höhepunkt  erreichte  die  Verbindung 
der  katholischen  Bern hardinisch-Tauler 'sehen  Mystik  mit  dem  melanch- 
thonisch  gestimmten  Luthertum  in  Johann  Arndt.  Das  Luther'sche 
Flehen  um  Gottes  Gnade  verschmilzt  mit  der  mystischen  Sehnsucht  nach 
wonniger  Gotteinigung  im  Seelengrunde.  Wie  bei  allen  großen  From- 
men des  Mittelalters  hat  aber  in  dieser  Synthese  von  mystischem  und 
biblischem  Gebet  das  mystische  Element  das  Übergewicht;  auch  sind 
die  spezifisch  evangelischen  Momente  stets  mystisch  verfärbt  und 
verändert 126.  Die  Einwirkung  der  Arndt'schen  Mystik  auf  die  lu- 
therische Gebetsfrömmigkeit  reicht  bis  zur  Periode  des  Rationalismus, 
welcher  allen  mystischen  Tendenzen  den  Boden  entzog.  Die  im  19. 
Jahrhundert  einsetzende  Erweckungsbewegung  brachte  mit  der  Wieder- 
belebung des  lutherischen  Frömmigkeitsgeistes  auch  eine  erneute  Wert- 
schätzung evangelischer  Mystik  im  Sinne  Arndts.  Für  die  reformierte 
Gebetsfrömmigkeit  gewann  Gerhard  Tersteegen  eine  besondere 
Bedeutung,  dessen  Finfluß  bis  ins  Luthertum  hinein  sich  erstreckte. 
Er  ist  der  hervorragendste  Mystiker  auf  evangelischem  Boden,  ja  einer 
der  größten  mystischen  Beter  und  Sänger  überhaupt.  Seine  Gebets- 
lieder, von  denen  manche  bis  heute  in  den  evangelischen  Gemeinde- 
gottesdiensten ertönen,  offenbaren  eine  unsagbare  Gottinnigkeit,  eine 
weiche  Zartheit  des  Gemüts  und  stille  Ruhe  des  Herzens.  Das  ehr- 
fürchtige Erbeben  und  Verstummen  der  Seele  vor  der  geheimnisvollen 
Nähe  Gottes,  das  schweigende  Kontemplieren  und  wortlose  Anbeten 
des  in  den  Tiefen  der  Seele  gegenwärtigen  Unendlichen  ist  selten  in 
so  schlichten  und  doch  so  beredten  Dichterworten  besungen  worden 


Die  Geschichte  des  individuellen  Gebetslebens  247 

wie  von  diesem  gottbegnadeten  Handwerker.  Taulers  tiefe  und  ruhe- 
volle Unendlichkeitsmystik  bildet  den  Grundton  seiner  eigenartigen 
Frömmigkeit;  aber  all  die  verschiedenen  Motive  christlicher  Mystik: 
mitleidstiefe  Passionsbetrachtung,  bräutliche  Jesusminne,  innige  Sehn- 
sucht nach  dem  sakramentalen  Heiland,  quietistische  Gelassenheit, 
dazu  Luthers  herzliche  Zuversicht  zu  Gottes  schenkender  und  ver- 
zeihender Gnade,  klingen  mit  und  formen  zusammen  mit  jenem  Grund- 
ton einen  religiösen  Akkord  von  wundersamer  Feierlichkeit  und  Har- 
monie. Wie  Thomas  von  Kempen  in  seinem  Betrachtungsbüchlein 
so  hat  Tersteegen  in  seinen  Liedern  die  mannigfachen  Formen  des 
mystischen  Gebets  zu  einer  Einheit  verbunden. 

Die  individuelle  Gebetsfrömmigkeit  des  christlichen  Morgenlandes 
bleibt  an  Reichtum,  Mannigfaltigkeit  und  Ausdehnung  hinter  der 
des  Abendlandes  zurück;  sie  beschränkt  sich  auf  die  weltabgeschiedenen 
Anachoreten-  und  Mönchskreise.  Aus  der  Schar  einsamer  kontem- 
plativer Seelen  ragen  drei  große  Beter  hervor,  die  einen  bestimmenden 
Einfluß  auf  das  Gebetsleben  der  Mit-  und  Nachwelt  ausgeübt  haben. 
Makarius  der  Ältere,  der  als  erster  das  ruhevolle  innere  Gebet 
als  Ideal  des  Betens  verkündet  hat,  N  i  1  u  s  Sinaita,  der  den  gott- 
suchenden Anachoreten  der  Wüste  eine  mystische  Gebetsanleitung 
gegeben  hat,  und  endlich  S  y  m  e  o  n  der  Neue  Theologe,  der  klassische 
Vertreter  der  byzantinischen  Mystik.  Im  Gegensatz  zu  der  Einförmigkeit 
die  dem  mystischen  Gebetsleben  im  Mönchtum  der  Ostkirche  anhaftet, 
enthüllen  Symeons  klangvolle  Gebetslieder  einen  erstaunlichen  Reich- 
tum religiöser  Innerlichkeit:  herbe  Weltverachtung  und  Lebensver- 
neinung neben  entzückter  Gottbegeisterung,  glühende,  leidenschaft- 
liche Gottsehnsucht  neben  zarter  und  ruhevoller  Gottinnigkeit,  stau- 
nende Kontemplation  des  unendlichen  göttlichen  Lichtes  und  demuts- 
volle Hingabe  an  den  Gnade  und  Erlösung  schenkenden  Heiland- 
Christus,  geistiges  Liebesverlangen  nach  der  Lebens-  und  Wertfülle 
des  ewigen  Gottes  neben  inniger  Versenkung  in  das  eucharistische 
Mysterium,  in  dem  der  räum-  und  zeitlose  unsinnliche  Gott  sich  in 
unscheinbarer  sinnlicher  Hülle  dem  Frommen  naht.  In  der  harmonischen 
Verschmelzung  dieser  verschiedenartigen  mystischen  Stimmungen  und 
Ideen  liegt  der  eigenartige  Zauber,  der  von  Symeons  l'QOjTsg  %(bv  d-eiojv 
vfivoiv  ausstrahlt. 

Aus  dem  unübersehbaren  Chor  christlicher  Beter  und  Beterinnen 
erklingen  kraftvoll  und  rein  die  hellen  Stimmen  dieser  großen  und 
größten  Frommen  heraus.  Sie  sind  die  Vorbeter  und  Vorsänger,  denen 
die  anderen  Frommen  nachgebetet  und  nachgesungen  haben,  sie  sind 
die  Lehrer  und  Führer,  welche  den  anderen  den  Gebetspfad  zu  Gott 
zeigten  und  sie  unterwiesen  in  der  geheimnisvollen  Gebetszwiesprache 
mit  dem  Ewigen.  Wer  auf  ihre  Gebetsmahnung  achtet  und  ihrer  Ge- 
betsweisung folgt,  wer  auf  ihre  Gebetsworte  ehrfürchtig  lauscht,  wer 
sie  demütig  und  sehnsuchtsvoll  nachspricht,  dem  wird  sich  wie  ihnen 
das  unergründliche  Geheimnis  des  Göttlichen  erschließen,  dem  wird 
sich  wie  ihnen  der  Unendliche  in  seiner  Kraft  und  Herrlichkeit  offen- 
baren. 


248  F  II.   Mystik  und   prophetische  Frömmigkeit 

II.  Allgemeine   Charakteristik  der   beiden   Haupt- 
typen    der     persönlichen     Frömmigkeit.      Mystik 
und    prophetische    Frömmigkeit. 

In  der  individuellen  Frömmigkeit  der  großen  religiösen  Geister  treten 
mit  deutlicher  Schärfe  zwei  Haupttypen  hervor.  Die  religionspsycho- 
logische  und  religionsphilosophische  Forschung  hat  die  beiden  Typen 
erkannt,  jedoch  nicht  ganz  richtig  charakterisiert. 

James  stellt  unter  dem  Gesichtspunkt  des  religiösen  Lebensgrundgefühls 
der  ,,religion  of  healthy  mindedness"  die  Frömmigkeit  der  ,,sick  soul"  gegenüber; 
will  man  diese  Termini  mit  landläufigen  Schlagworten  wiedergeben,  so  wird 
man  von  einer  heileren  optimistischen  und  einer  düsteren  pessimistischen  Grund- 
färbung der  Frömmigkeit  reden.  *  Von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus  unter- 
scheidet James  die  Religion  der  , Einmalgeborenen'  von  der  der  , Zweimalge- 
borenen';  bei  jenem  entwickelt  sich  die  Frömmigkeit  harmonisch  und  gerad- 
linig, bei  diesen  ist  sie  von  einem  einschneidenden  Bekehrungserlebnis,  einer 
, Wiedergeburt'  bestimmt  2.  Höffding  spricht  von  einem  ,  disharmonischen' 
und  einem  .expansiven'  Frömmigkeitstyp,  einem  , aktiven'  und  , passiven'  Typ, 
einem  ,Kontinuitätstyp'  und  einem  , affektiven'  Typ,  einem  idiopathischen' 
und  , sympathischen'  Typ3.  Eucken  unterscheidet  zwischen  universeller 
Religion,  d.  h.  dem  Glauben  an  eine  höchste,  geistige  Wirklichkeit,  an  den  Sinn 
und  Wert  des  Lebens,  und  charakteristischer'  Religion,  d.  h.  einem  verborgenen, 
individuellen  Fiömmigkeitsleben'  4. 

Die  religionswissenschaftliche  Typisierung  wird  sich  besser  an  den 
von  der  vergleichenden  Religionsgeschichte  herausgestellten  Entwick- 
lungslinien orientieren  (s.  o.  S.  233  f.).  Nathan  Söderblom  der  zuerst 
diese  beiden  Hauptrichtungen  der  individuellen  Religion  klar  und 
scharf  unterschieden  hat,  charakterisiert  sie  als  ,persönlichkeitsver- 
neinede'  und  ,persönlichkeitsbejahende'  Mystik,  ,Unendlichkeits'-  und 
,Persönlichkeitsmystik'  , Gefühlsmystik'  und  ,Willens-  oder  Beruf  ungs- 
mystik',  ,akosmische  Erlösungsreligion'  und  prophetische  Religion'  oder 
, Offenbarungsreligion'  5.  (Der  Terminus  , Offenbarungsreligion'  be- 
deutet hier  keine  metaphysisch-religiöse  Wertung,  sondern  eine  histo- 
risch-psychologische Charakteristik.)  Ähnlich  unterscheidet  Reinhold 
S  e  e  b  e  r  g  zwischen  einer  ,spekulativ-kontemplierenden'  und  einer 
,voluntaristischen'  Mystik  6.  Das  Wort  ,Mystik'  wird  hier  im  weiteren 
Sinne  gefaßt  als  der  im  Innersten  der  Seele  sich  abspielende  Gottes- 
umgang, als  „eine  Gewißheit,  welche  nicht  den  gewöhnlichen  Weg  durch 
die  Sinne  und  die  Reflexion  passiert  hat."  7  Diese  weite,  die  gesamte 
höhere  Frömmigkeit  umfassende  Verwendung  des  Begriffes  ,Mystik' 
empfiehlt  sich  aber  deshalb  nicht,  weil  sie  zu  verschiedenartige  Phäno- 
mene umspannt,  sodann  deshalb,  weil  sie  der  Etymologie  und  dem 
älteren  Sprachgebrauch  des  Wortes  widerspricht. 

Mystik  leitet  sich  her  von  dem  griechischen  Wort  fivelv,  , verschließen',  das 
auch  das  Stammwort  des  bekannten  Terminus  fivairiQioy  , Geheimlehre',  , Ge- 
heimkult' bildet.  8  Weil  die  Teilnehmer  religiöser  Geheimbünde,  wie  der  eleu- 
sinischen  Mysterien,  strengstes  Stillschweigen  bewahren  mußten,  weil  sie  den 
Mund  verschließen,'  mußten,  nannte  man  diese  Riten  und  Lehren  Mysterien. 
Wie  die  Riten  der  Mysteriengenossenschaften,  so  sind  auch  die  Erfahrungen 
der  Mystik  ein  verborgenes  Geheimnis,  das  der  Fromme  vor  der  Masse  verschließt 
und  nur  einem  Gleichgesinnten  und  aufrichtig  Suchenden  enthüllt.  Mystik 
ist  also  jene  Religiosität,  welche  den  Mund  , verschließt',  welche  ihr  unaussprech- 
liches  Geheimnis  vor  profanen  Augen  und   Ohren  hütet.      Die  spätantike  Reli- 


Die  Strukturunterschiede  der  beiden  Haupttypen  249 

giosität,  vor  allem  die  neuplatonische,  gebraucht  jedoch  das  Wort  fxvelv  noch 
in  einem  andern  Sinne  8b.  Nicht  allein  den  Mund  sollten  die  Frommen  ver- 
schließen, sondern  die  Sinne  überhaupt,  und  nicht  nur  dem  ,profanum  volgus' 
der  Nichteingeweihten  sollten  sie  sich  vei schließen,  sondern  der  äußeren  Welt 
überhaupt;  denn  in  der  Abwendung  von  den  sinnlichen  Dingen  und  in  dem  Rück- 
zug in  das  eigene  Innere  sucht  diese  Religiosität  Heil.  Erlösung  und  Seligkeit. 
Die  geheimnisvolle  Lehre  von  diesem  seelischen  Prozeß  des  Sichverschließens, 
der  Loslösung  von  der  Welt  und  dem  eigenen  Ich,  die  gekrönt  wird  von  der  wun- 
derbaren Gottesschau  und  Gotteinigung,  nennt  Dionysius  Areopagita,  ein  christ- 
licher Theologe  des  5.  Jahrhunderts,  der  die  neuplatonische  Frömmigkeit  in 
das  Christentum  überführte,  die  fivazixij  d-soloyia,  die  , mystische  Theologie'.  Diesen 
Terminus,  der  den  Titel  einer  seiner  Hauptwerke  bildet,  verwendete  auch  die 
abendländische  Frömmigkeit  und  Theologie  als  Gesamtbezeichnung  für  jene 
eigenartigen  Erfahrungen,  die  sich  in  der  Tiefe  der  weltabgeschiedenen  Seele 
abspielen.  In  der  neueren  Zeit  wurde  von  dem  Terminus  mystica  theologia  nur 
das  Adjektiv  in  substantivischem  Sinne  beibehalten ;  so  entstand  das  Wor  t  .Mystik' 
als  Abkürzung  für  , mystische  Theologie'.  In  diesem  engen  und  präzisen  Sinne 
gebraucht  auch  die  Ritschl'sche  Schule  den  Terminus  Mystik,  während  die  neuere 
evangelische  Theologie  ihn  in  einem  weiteren  Sinn  anwendete.  Neuerdings 
hat  Wilhelm  Koepp  in  seiner  hochbedeutsamen  Schrift  ,, Johann  Arndt,  Eine 
Untersuchung  über  die  Mystik  im  Luthertum"  (1911)  mit  Entschiedenheit  jene 
engere  Verwendung  des  Wortes  Mystik  vertreten  9. 

Wir  tun  gut  daran,  der  Wesensbestimmung  der  Mystik  die  Ety- 
mologie und  Wortgeschichte  zugrunde  zu  legen.  Mystik  ist  jene  Form 
des  Gottesumganges,  bei  der  die  Welt  und  das  Ich  radikal  verneint 
werden,  bei  der  die  menschliche  Persönlichkeit  sich  auflöst,  untergeht, 
versmkt  in  dem  unendlichen  Einen  der  Gottheit.  Der  der  Mystik 
polar  gegenüberstehende  hohe  Frömmigkeitstypus  fällt  nicht  unter 
diese  Wesensbestimmung,  er  wird  darum  besser  nicht  als  Sonderform 
der  Mystik,  sondern  als  völlig  selbständige  Größe  behandelt.  Eine 
eindeutige  Bezeichnung  dieses  Typs,  in  der  seine  Wesensart  klar  um- 
schrieben wird,  ist  schwierig.  Am  besten  wird  er  durch  die  von  Söder- 
blom  gebrauchten  Termini  prophetische  Religion'  und  , Offenbarungs- 
religion' charakterisiert,  wobei  freilich  immer  nur  eine  bestimmte 
Seite  —  durch  den  ersten  Terminus  die  religiöse  Berufswirksamkeit, 
durch  den  zweiten  die  Eigenart  der  Gottesvorstellung  —  beleuchtet 
wird.  Weil  dieser  Frömmigkeitstypus  vor  allem  durch  das  Alte  und 
Neue  Testament  repräsentiert  wird,  und  im  Evangelium  Jesu  und  von 
Jesus  seine  klassische  Form  besitzt,  kann  er  auch  schlechthin  als  bib- 
lische' oder  ,evangelische'  Religon  benannt  werden. 

Die  Mystik  ist  nur  selten  in  ihrer  vollen  Konsequenz  durchgeführt 
worden,  so  in  den  Upanischaden,  im  Vedänta  des  Sankara,  im  hinayä- 
nischen  Buddhismus,  bei  Plotin,  dem  Areopagiten,  bei  Eckehart,  Tauler, 
Angelus  Silesius  und  Molinos.  Sie  verliert  zumeist  unter  dem  Einfluß 
der  prophetischen  Erfahrung  oder  der  Volksreligion  ihren  unpersön- 
lichen Charakter  und  nimmt  persönlichere  Farben  an.  Die  Tcro-Mystik 
Laotses,  die  hinduistische  Bhalcti-Myxtik  (wie  sie  in  der  Bhagavadgitä 
und  noch  deutlicher  bei  Rämänuja,  Tulsi  Das  und  den  Tamilmystikern 
hervortritt),  die  Kultmystik  der  hellenistischen  Mysterien religionen, 
die  mystische  Frömmigkeit  Philos  des  Juden,  die  süfistische  Mystik 
des  Islam,  die  christliche  Gottesmystik  aller  Jahrhunderte  zeigen 
gegenüber  der  Nüchternheit,  Kühle  und  Monotonie  der  reinen  Mystik 


250  F  II.  Mystik  und  prophetische  Frömmigkeit 

persönliche  Wärme  und  Innigkeit,  enthusiastische  Kraft  und  Hingabe. 
Gleichwohl  hebt  sich  auch  diese  persönlichere  Mystik  in  ihrer  inneren 
Struktur  deutlich  von  der  reinen  prophetischen  Frömmigkeit  ab  und 
stimmt  mit  der  konsequenten  Mystik  im  Endziel  alles  Heilsstrebens 
überein.  Die  Strukturunterschiede  der  beiden  Typen  müssen  zunächst 
herausgearbeitet  werden,  damit  die  Verschiedenheit  des  mystischen 
und  prophetischen  Betens  besser  verständlich  wird.  Hierbei  ist  es 
auch  nötig,  bestimmte  religiöse  Grundbegriffe,  die  in  unserer  Dar- 
stellung des  mystischen  und  prophetischen  Betens  immer  wieder- 
kehren  (z.   B.   Glaube,  Liebe,  Ekstase,   Sünde,  Heil  usw.),  zu  klären. 

l.Die    historische    Genesis. 

Die  Mystik  entstand  innerhalb  der  großen  antiken  Kultur- 
religionenin  Griechenland  (Orphismus)  und  Indien  (Upanischaden), 
in  China  (Taoismus)  und  Ägypten ;  doch  nur  der  griechischen  und  in- 
dischen Mystik  war  eine  große  geschichtliche  Fortentwicklung  beschieden. 
Die  Mystik  stellt  in  ihrer  Entstehung  eine  negative  Reaktion  gegen 
die  entwickelte  Kulturreligion  dar.  —  Die  prophetischen  Reli- 
gionen des  Zarathuschtra,  des  Mose  (und  in  gewissem  Sinne  auch 
Muhammeds)  wuchsen  unmittelbar  aus  der  wenig  entwickelten  pri- 
mitiven Religion  nomadisierender  Stämme  heraus:  durch  schöpferi- 
sche Erlebnisse,  in  denen  diese  Prophetenpersönlichkeiten  von  dem 
sich  offenbarenden  Gott  überwältigt  wurden,  schnellte  die  primitive 
Religion  auf  die  Höhe  des  individuellen,  monotheistischen  Gottes- 
glaubens empor.  Nur  an  die  mosaische  Offenbarung  schließt  sich  eine 
lange  Entwicklungslinie  an,  während  die  zarathuschtrische  Religion 
wie  der  Islam  sich  bald  zu  einer  gebundenen  Gesetzesreligion  verhärteten . 

2.  Das  psychische  Grunderlebnis 

a)  Mystik. 

In  Zeiten  eines  hochentwickelten,  aber  bereits  im  Niedergang  be- 
findlichen Kulturlebens  (in  der  altindischen  Kultur,  der  hellenistisch- 
römischen, der  germanisch-mittelalterlichen,  der  spanischen  und  fran- 
zösischen Kultur  des  16.  und  17.  Jahrhunderts)  —  erschlafft  in  fein- 
fühligen und  begabten  Menschen  das  naive  Lebens-  und  Selbstgefühl, 
der  gesunde  Wille  zum  Leben  erlahmt,  der  zukunftsfrohe  Glaube  an 
konkrete  Lebenswerte,  -Ziele  und  -Aufgaben  bricht  zusammen;  es 
erfaßt  sie  ein  ungestümer  Ekel  an  der  Welt  und  Kultur,  ein  brennendes 
Verlangen  nach  einem  unendlichen  Wert  quält  sie  und  drängt  sie  mit 
Gewalt  zur  Loslösung  von  Welt,  Kultur  und  Gesellschaft.  Tersteegen 
hat  dieses  psychische  Motiv  der  Weltflucht  und  Inneneinkehr  in  treffen- 
den Worten  ausgesprochen. 

Ich  bin  so  satt  der  fremden  Dingen, 

So  müd  der  Mannigfaltigkeit; 

Es  kann  do:h  nichts  als  Plage  bringen: 

Wie  enge  wird  mir's  in  der  Zeit! 

O   Ewigkeit,   ich  sterbe  schier, 

Laß  doch  dem   Geiste  Luft  in  dirl 


Das   psychische  Grunderlebnis  der  Mystik  251 

Sollt'  ich  so   Zeit  und  Kraft  verzehren 

In  Dingen,   die  nicht  machen  satt? 

Mein  Geist  muß  sich  zum  Ursprung  kehren. 

Der  ihn  für  sich  geschaffen  hat: 

Weg  Schein  und  Traum!     Weg  Kreatur! 

Dem  Einen  will  ich  leben  nur."  10 
Der  von  der  Welt  und  ihrer  Pracht  unbefriedigte  Fromme  fühlt  sich 
auf  dieser  Erde  wie  in  der  Fremde,  er  empfindet  in  seinem  Leib  eine 
furchtbare  Fessel,  er  sieht  in  ihr  einen  qualvollen  Kerker,  ein  dunkles 
Grab :  oojfia-ofj^a,  so  lautet  das  Wortspiel  der  alten  Orphiker,  das  Plato 
sich  angeeignet  hat  (Cratyl.  400  C)  und  dessen  Gedanke  sich  hindurch- 
zieht durch  das  mystische  Schrifttum  aller  christlichen  Jahrhunderte. 
Die  gefesselte  Seele  sehnt  sich  nach  der  Befreiung  von  den  Banden  der 
Leiblichkeit,  nach  dem  Auf f lug  in  die  himmlischen  Höhen,  nach  der 
Rückkehr  zum  unendlichen  Göttlichen,  dem  sie  entsprungen.  Der 
Weg  zur  Erlösung  führt  allein  durch  des  Menschen  Inneres.  Es  gilt 
sich  mit  Gewalt  loszureißen  von  all  den  bestrickenden  Reizen  der  Außen- 
welt, die  Pforten  der  Sinne  zu  ,verschließen'  {(iveiv),  sich  ganz  nach 
innen  zu  neigen,  „sich  in  sich  selbst  zurückzunehmen"  (Albertus  Mag- 
nus) 12,  hinabzutauchen  in  den  tiefen  Grund  der  Seele. 

Es  genügt  aber  nicht,  daß  der  heilshungrige  Fromme  sich  von  der 
äußeren  Welt  der  Gegenstände  loslößt,  er  muß  vielmehr  von  seinem 
eigenen  Ich  loskommen,  von  allem  eigensüchtigen  Begehren  und  Ver- 
langen sich  frei  machen.  Er  muß  die  natürlichen  seelischen  Regungen, 
die  im  Menschen  Unruhe  hervorrufen,  vor  allem  die  stürmischen  Affekte 
und  drängenden  Willenstendenzen  unterdrücken,  er  muß  die  bunten 
Phantasievorstellungen,  die  fortwährend  aus  der  Tiefe  des  Gefühls-  und 
Affektlebens  aufsteigen,  aus  der  Seele  verbannen  13;  ja  selbst  von  dem 
auf  profane  Objekte  sich  richtende  Denken  und  Werten  muß  er  lassen. 
Das  ganze  natürliche  Seelenleben  wird  bewußt  und  absichtlich  ge- 
hemmt, unterbunden,  alles  frische  innere  Leben  und  Streben  ,abgetan', 
zur  Ruhe  gebracht',  ,ertötet';  „die  Sinne  erblinden"  (Mechtild  von 
Magdeburg)  14,   der  Mensch    „entsinkt  sich  selbst  und  allen   Dingen" 

(Seuse)  15. 

„Fleisch,  Vernunft,  Natur  und  Sinnen 

Sollen  in  den  Tod  hinein." 

„Ich  möchte  mich  bewegen  nicht. 

Ja  ohne  Leben  sein."  (Tersteegen)  '" 

So  vollzieht  sich  in  der  Seele  des  Mystikers  ein  großer  negativer 
Prozeß,  ein  „systematisches  Ersterbenlassen  aller  Lebenstendenzen" 
(K.  Oesterreich)  17.  Plato  bezeichnet  diesen  Prozeß  mit  dem  alten 
orphischen  Terminus  als  xältaQüig  (Reinigung)  18,  die  Neuplatoniker 
nennen  ihn  änLcooig  (Vereinfachung)  19,  ein  Ausdruck,  der  auch  in 
die  Sprache  der  christlichen  Mystiker  übergmg  (simplificatio)  20;  Meister 
Eckhart  charakterisiert  ihn  in  wundervoller  sprachlicher  Plastik  als  ,Ent- 
werden' 21,  Seuse  heißt  ihn  .Entmenschen'  oder  ,Entbildetwerden  von 
der  Kreatur'22;  die  indische]]  wie  die  abendländischen  Mystiker  be- 
zeichnen ihn  auch  geradezu  als  .Vernichtung'  , Zunichtewerden'  {nirodha  23 
annihilatio)  24.  Dieser  negative  Prozeß  führt  den  Mystiker  aus  dem 
gewöhnlichen     Wachzustande     heraus     zu     überwachen     Bewußtseins- 


252  F  II.  Mystik  und  prophetische  Frömmigkeit 

zuständen,  zur  vollen  ,Abgeschiedenheit'  und  , Innerlichkeit',  zur  er- 
hebenden ,Freiheit',  zum  tiefen  ,Frieden',  zur  beseligenden  ,Ruhe', 
zum  passiven  ,Nichttun'  (wu-wei,  Laotse 25),  zur  begierde losen  , Ge- 
lassenheit', zum  ,leid-  und  freudlosen  Gleichmut'  {wpeksk,  ein  Lieb- 
lingsausdruck der  indischen  Mystik  26),   zur  sancta  indifferentia. 

Diese  volle  , Entleerung'  und  , Entblößung'  des  Seelenlebens,  diese 
radikale  Abstreifung  alles  Irdisch-Menschlichen,  diese  gänzliche  Innen- 
kehr (introversio,  Albertus  Magnus  27)  ist  nur  die  Vorbereitung  zu  der 
ausschließlichen  Hinwendung  und  Konzentration  auf  das  Unendliche, 
Göttliche,  Ewige.  „Die  ganze  Seele  ist  mit  allen  ihren  Potenzen  und 
Kräften  in  ihren  Herrn  und  Gott  gesammelt,  daß  sie  mit  ihm  ein  Geist 
wird  und  an  nichts  denkt  als  an  Gott,  nichts  fühlt  und  erkennt  als 
Gott"  (Albertus  Magnus  28).  Alle  verdrängte  Leidenschaft  und  Sehn- 
sucht richtet  sich  auf  diesen  höchsten  Wert,  die  Innenkonzentration 
wird  zum  Flug  in  die  höchste  geistige  Wirklichkeit,  die  entsagende 
Gelassenheit  zur  restlosen  Hingabe  an  das  summum  bonum,  der  tiefe  Her- 
zensfriede zum  seligen  Ruhen  in  Gott,  die  stille  innere  Wonne  zum 
enthusiastischen  , Schauen'  der  ewigen  Schönheit.  Jede  Mystik  kennt 
dieses  innere  Emporstreben  und  Sicherheben  der  vom  Sinnlichen  ge- 
läuterten Seele  zum  ,höchsten  Gut';  aber  bei  vielen  Mystikern  des 
Morgen-  und  Abendlandes  steigert  sich  dieses  geistige  Werterlebnis, 
diese  mystische  Gottsehnsucht  zur  brennenden  und  verzehrenden 
religiösen  Leidenschaft;  die  Mystiker  aller  Zeiten  und  Länder  nennen 
es  , Liebe'  (bhakti  in  Indien,  isk,  mahabba  in  Persien,  ?Qü)g  in  der  grie- 
chieschen  Welt,  amor,  ,Minne'  im  Abendland)  28b.  Und  weil  dieses 
mystische  Gotterlebnis  unaussprechliche  Seligkeit  und  Wonne  ist, 
darum  reden  die  Mystiker  auch  gerne  vom  , Gottgenießen'  (drcökavoig  &eov 
fruitio  Dei29;  das  indische  Wort  bhakti  umschließt  die  Bedeutung  , Ge- 
nuß'). Die  radikale,  unpersönliche  Mystik  hingegen  stellt  über 
den  affektiven  Drang  nach  dem  Unendlichen  die  affektlose  Unbe- 
rührtheit, Stille  und  Einheit  der  Seele.  „Ich  aber  lobe  die  Abge- 
schiedenheit vor  aller  Minne,"  sagt  Meister  Eckhart  30. 

Die  mystische  Liebe  ist  Streben  und  Sehnen  nach  dem  Höchsten, 
aber  noch  nicht  Haben  und  Besitzen,  sie  ist  nur  Bewegung  nach  dem 
erhabenen  Ziel,  aber  noch  nicht  das  mystische  Ziel  selber.  „Die  Liebe 
ruht  nicht,  es  sei  denn  im  Geliebten,  und  das  geschieht  dann,  wenn 
sie  dieses  in  vollendetem,  friedebringenden  Besitz  erlangt  .  .  .  Die  Liebe 
will  eins  werden  mit  dem  Geliebten  und,  wenn  es  möglich  ist,  dasselbe 
werden,  was  das  Geliebte  ist.  Darum  duldet  sie  kein  Mittel  zwischen 
sich  und  dem  geliebten  Objekt,  d.  i.  Gott,  sondern  trachtet  nach  ihm, 
ruht  nimmermehr,  bis  sie  alles  überschreitet  und  zu  ihm  und  in  ihn 
selbst  kommt"  (Albertus  Magnus  31).  Die  Erfüllung  dieses  Verlangens 
ist  die  Ekstase;  die  mystische  Liebe  vollendet  sich  in  ihr,  sie  ist 
geradezu  „die  Mutter  der  Ekstase"  (Dionysius  Areopagita)  32.  Aber 
auch  die  kühle  affektlose  Mystik,  der  die  Glut  der  mystischen  Liebes- 
leidenschaft fremd  ist,  kennt  einen  der  Ekstase  verwandten  Höhe- 
punkt: das  Nirväna.  Ekstase  33  und  Nirväna  34  sind  beide  unaus- 
sprechliche mystische   Geheimnisse;   beide  sind,   psychologisch   ausge- 


Das  psychische   Grunderlebnis  der  Mystik  253 

drückt,  überwache  Seelenzustände,  die  ein  völliges  Aufhören  des  nor- 
malen Bewußtseinslebens  voraussetzen ;  beide  treten  nur  relativ  selten 
in  dem  mystischen  Erleben  auf.  Beide  stellen  ein  Einheits-  und  Wert- 
erlebnis dar  von  einer  Höhe,  Reinheit  und  Seligkeit,  wie  es  im  nor- 
malen Seelenleben  unmöglich  ist.  Beide  stehen  sich  aber  trotz  der 
Gleicheit  der  inneren  Struktur  polar  gegenüber;  die  Ekstase  ist  ein 
Siedepunkt,  das  Nirväna  ein  Gefrierpunkt,  die  Ekstase  ein  positives 
Höchstes,  das  Nirväna  ein  negatives  Höchstes,  (aber  als  ,Höchstes' 
doch  etwas  Positives),  die  Ekstase  unendliche  Fülle,  das  Nirväna  un- 
endliche Leere.  Die  Ekstase  ist  höchste  Äff ektivität ;  obgleich  die 
Unterdrückung  des  gesunden  Affektlebens  ihre  Voraussetzung  bildet, 
besitzt  sie  selbst  affektiven  Charakter  und  affektive  Verlaufsform;  sie 
teilt  mit  dem  normalen  Affekterlebnis  das  Moment  des  Spontanen, 
Plötzlichen,  Passiven,  Unwillkürlichen,  Unpersönlichen,  der  Kürze  und 
nachhaltigen  Wirkung  35;  sie  wird  durchgängig  als  ein  Gepackt-,  Über- 
mannt-, Überflutet-,  Verschlungen-,  Besessen-,  Erfülltwerden  geschil- 
dert 36.  Das  Nirväna  hingegen  ist  gänzliche  Affektlosigkeit,  ein  an- 
haltender Dauerzustand  tiefster  Ruhe  und  vollkommener  Unberührt- 
heit, eine  Seligkeit  ohne  Erregung,  Rausch  und  Sturm,  nicht  Besessen- 
heit, sondern  völliges  Insichselbersein. 

Das  physiologische  Charakteristikum  der  Ekstase  wie  des  Nirväna 
ist  die  kataleptische  Starre  und  völlige  Anästhesie,  die  häufig  begleitet 
ist  von  der  Levitation'  (Überwindung  der  Körperschwere,  Schweben 
über  der  Erde).  Psychologisch  charakterisiert  sich  die  Ekstase  —  am 
trefflichsten  von  Plotin  beschrieben  37  —  als  das  Erlebnis  der  restlosen 
Einheit  und  Einfachheit  des  Psychischen  (evajGig,  äjilcoois),  das  Erlebnis 
des  reinen  Ich  (des  ätman  , Selbst'  in  den  Upanischaden).  In  der  Ek- 
stase hat  „die  Einheit  die  Anderheit  verschluckt"  (Angelus  Silesius)  38. 
Der  Ekstatiker  „schaut  sich  selbst"  (Plotin)  39,  „schaut  sein  Ich  von 
Angesicht  zu  Angesicht"  (Tschwang-tse)  40,  „kostet  seine  eigene  Sub- 
stanz" (Frederic  Amiel)  41.  Dieses  ,nackte',  abstrakte,  entleerte  Ich, 
das  sich  enthüllt,  wenn  alle  konkreten  seelischen  Inhalte  beseitigt 
sind  und  nun  die  Gesamtheit  der  psychischen  Kräfte  vereinheitlicht 
und  in  kondensierter  Fülle  durchbricht,  wird  jedoch  nicht  als  eigenes, 
sondern  als  fremdes  Ich  erlebt.  „Er  ist  ein  anderer  geworden  und  nicht 
mehr  er  selber,"  sagt  Plotin  42.  „Er  schaut  in  sich  sein  nacktes  Herz, 
und  dieses  Herz  ist  nicht  sein  Herz,"  sagt  ein  taoistischer  Mystiker  43. 
Das  Erlebnis  des  reinen  Ich  hat  den  Charakter  des  religiösen  Wert- 
erlebnisses; jenes  Ich  trägt  die  Züge  des  , Heiligen';  es  erscheint  dem 
Ekstatiker  (in  der  prägnanten  Terminologie  von  Rudolf  Otto  44  aus- 
gedrückt) als  das  Ehrfurcht  und  Schauer  erregende  ,Numinosuml ,  als 
das  ,mysterium  tremendum1 ,  aber  ebenso  als  das  berückende  und  be- 
strickende Fascinosum1 .  Ja  dieses  letztere  Element  des  Heiligkeits- 
erlebnisses überwiegt  in  der  Erfahrung  des  Ekstatikers ;  die  ekstatischen 
Bekenntnisse  beschreiben  übereinstimmend  die  Ekstase  als  unsagbare 
Wonne,  als  überwältigendes  Glück,  als  ,ewige  Seligkeit',  als  ,ewige 
Wonne  ohne  Tod.'  Dieses  ekstatische  Werterlebnis  unterscheidet 
sich    jedoch    von    dem    normalen    religiösen    Werterlebnis    ebensosehr 


254  F  II.   Mystik  und   prophetische  Frömmigkeit 

wie  das  Erlebnis  des  reinen  Ich  von  dem  normalen  Ichbewußtsein;  es 
ist  im  Gegensatz  zu  dem  gewöhnlichen  intentionalen  Werterlebnis 
beziehungslos,  gänzlich  in  sich  selbst  beschlossen.  Würde  es  sich  wie 
dieses  auf  einen  gegenständlichen  Wertträger  (und  wäre  dieser  selbst 
das  eigene  Ich)  beziehen,  so  enstünde  der  das  normale  Seelenleben  be- 
herrschende Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt,  der  in  dem  reinen 
Icherlebnis  aufgelöst  ist. 

Das  ekstatische  Erlebnis  ist  für  den  aus  der  Ekstase  Erwachten  un- 
begreiflich und  unbeschreiblich;  weil  das  reguläre  Bewußtseinsleben 
unterbrochen  war,  vermag  der  in  dieses  zurückgekehrte  Mystiker  nicht 
zu  verkünden  und  zu  erklären,  was  er  wirklich  erfahren  hat.  Aber  die 
wunderbare  Gewalt  und  Größe  seines  Erlebnisses  zwingt  ihn  zu  einer 
Deutung.  Das  Fremdartige,  Unendliche,  Höchste,  Heilige,  das  er  erlebt 
hat,  kann  nur  das  Göttliche  gewesen  sein,  mit  dem  seine  Seele  auf  un- 
faßbare und  unsagbare  Weise  eins  geworden  ist.  Für  Laotse  ist  dieses 
Höchste,  das  der  Ekstatiker  erfährt,  das  Tao,  die  ewige  Weltordnung; 
für  die  Männer  der  Upanischaden  das  Brahma,  die  Allgottheit;  für 
Plotin  das  ,Eine',  das  ,Unendliche'  (rö  £v,  %b  äneiqov),  dem  alle  Mannig- 
faltigkeit des  Seienden  entsrömt;  für  die  Gottesmystiker  des  Orients 
und  Okzidents  der  göttliche  Herr  und  Heiland,  der  sich  zur  frommen 
Seele  herabläßt.  Die  unbegreifliche  Paradoxie,  daß  das  kleine  mensch- 
liche Ich  zu  einem  unendlichen  Ich  geworden  ist,  kann  der  Mystiker 
nur  so  verstehen,  daß  er  selbst  Gott  geworden  ist. 

„Ich  bin  Brahma"  (brahtnä'  smi),  „Atman  ist  Brahma",  ..das  bist  du  selbst." 
(tat  tvam  asi),  heißt  es  immer  wieder  in  den  Upanischaden  *5;  „ich  bin  Gott" 
(anä  'l-hakk)  ist  der  Jubelruf  der  persischen  Suft;  Husain  al-Halläj  erlitt  für 
dieses  ekstatische  Bekenntnis  den  Martyrertod.  ..Ich  bin  er.  den  ich  liebe,  und 
er,  den  ich  liebe,  ist  ich."  4S  Plotin  sagt:  Der  Ekstatiker  „ist  Gott  geworden, 
ja  er  ist  sogar  Gott  (&eöv  yeyö^eyoy  ^.äXXov  Sh  ävta)\  47  Montanus  ruft  begeistert 
aus:  ,,Ich  bin  der  Vater,  der  Sohn  und  der  Geist";  48  Katharina  von  Genua  er- 
klärt jubelnd:  ..Mein  Ich  ist  Gott,  und  ich  kenne  kein  anderes  Ich  als  diesen 
meinen  Gott."  49  Und  Angelus  Silesius  sagt:  Der  Mensch  wird.,  zu  lauter  Gott." 
„So  wirst  du  Gott  in  Gott,  Herr  auf  des  Herren  Thron."  50  Ganz  ähnlich  äußert 
sich  Madame   Guyon:  „Die  Seele  wird  in   Gott  zu   Gott."  51 

Andere  Mystiker  wagen  es  nicht  von  der  Wesensidentität  der  Seele 
mit  Gott  zu  reden,  sondern  begnügen  sich  mit  der  Immanenz  Gottes 
in  der  Seele.  Schon  Plato  betont  nachdrücklich,  daß  die  Seele  nicht 
Gott  (i)s6g)  sei,  sondern  lediglich  ,gottgestaltig'  (d-eoeidijs),  ,gottver- 
wandt'  {^vyyevrjg  tcj}  d-eicp),  göttlich  (d-elog).52  Viele  christliche 
Mystiker  bezeichnen  in  ihrer  Demut  die  ekstatische  Gotteinigung 
nicht  als  Wesenseinigung  (unio  substantialis) ,  sondern  als  bräut- 
liche Liebeseinigung  {unio  sponsalis);  die  Seele  geht  nicht  in  Gott 
unter,  sondern  verschmilzt  mit  ihm  zu  innigster  Einheit.  „Gott  ist 
in  mir  und  ich  in  ihm.  Er  ist  mein  und  ich  bin  sein"  (Else 
von  Neustedt).53  Aber  trotz  dieser  milderen  und  schwächeren  Formel, 
welche  dem  personalen  Theismus  sich  anpaßt,  ist  der  psychologische 
Grundcharakter  des  ekstatischen  Erlebnisses  hier  wie  dort  derselbe: 
„Die  inwendig  gekehrte  Seele  des  Mystikers  erlebt  ihren  Gott  a  n  s  i  c  h 
selbst,  an  ihrem  eigentlichsten  Wesen  und  ihrem  innigsten  Grund" 
(Koepp)54.  Seele  und  Gott  verbinden  sich  in  unzertrennlicher  Einheit. 


Das  psychische  Grunderlebnis  der  prophetischen  Religion  255 

Das  buddhistische  Nirväna  ist  wie  die  Ekstase  das  Erleben  der  völligen 
psychischen  Einfachheit,  die  Erfahrung  eines  unendlich  Wertvollen;  aber  es 
fehlt  ihm  im  Gegensatz  zur  Ekstase  alle  aufwühlende  Gewaltsamkeit.  Eben 
darin  ist  es  begründet,  daß  der  Buddhismus  auf  jede  Deutung  dieses  höchsten 
mystischen  Zustandes  verzichtet.  Das  Nirväna  wird  nicht  als  Einswerden  mit 
der  unendlichen  Gottheit,  sondern  lediglich  als  die  beseligende  Ruhe  in  den 
vorwiegend  angewendeten  Termini  umschrieben;  es  ist  ,,das  Ruhevolle,  Hoch- 
erhabene, die  Aufhebung  aller  (unterbewußten,  dispositionellen)  Bildekräfte,  die 
Auflösung  aller  Substrate  (der  Individualität),  die  Vernichtung  des  Durstes,  die 
Leidenschaftslosigkeit,    die    Zerstörung,  das  Verwehen."  55 

b)  Prophetische  Religion. 

Das  psychische  Grunderlebnis  der  Mystik  ist  die  aus  der  Lebens- 
sattheit geborene  Verneinung  des  normalen  Lebensdranges,  das  völlige 
Entwerden,  die  ausschließliche  Hingabe  an  das  Unendliche,  deren 
Gipfel  und  Krone  die  Ekstase  bildet.  Das  psychische  Grunderlebnis 
in  der  prophetischen  Religion  ist  ein  unbändiger  Wille  zum 
Leben,  ein  steter  Drang  nach  Behauptung,  Kräftigung  und  Erhöhung 
des  Lebensgefühls,  ein  Überwältigt-  und  Ergriffensein  von  Werten  und 
Aufgaben,  ein  leidenschaftliches  Streben  nach  Verwirklichung  dieser 
Ideale  und  Ziele;  von  einem  „Getriebenwerden  vom  Geiste",  „Sieden 
im  Geiste",  von  der  „Gewalt  des  Geistes"  spricht  Paulus  (Roe  814; 
12n;  15  13).  Die  Mystik  ist  passiv,  quietistisch,  resigniert,  kontemplativ 
—  die  prophetische  Frömmigkeit  aktiv,  fordernd  und  verlangend, 
ethisch.  Der  -Mystiker  strebt  nach  dem  Erlöschen  des  Affekt-  und 
Willenslebens  (änd&Eia,  viräga),  denn  die  Seligkeit  der  Ekstase 
oder  des  Nirväna  läßt  sich  nur  um  den  Preis  der  Ertötung  des  Lebens- 
willens erkaufen.  Im  prophetischen  Erleben  flammen  die  Affekte  auf, 
der  Wille56  zum  Leben  behauptet  sich,  siegt  und  triumphiert  auch 
in  der  äußeren  Niederlage,  er  trotzt  dem  Tod  und  der  Vernichtung. 
Aus  tiefster  Not  und  Verzweiflung  bricht  schließlich,  aus  dem  zähen 
Lebenswillen  geboren,  der  Glaube,  die  unerschütterliche  Zuversicht, 
das  felsenfeste  Bauen  und  Vertrauen,  die  kühne,  wagende  Hoffnung 
durch.  Der  Mystiker  ist  ein  Verzichtender,  Entsagender,  Ruhender, 
der  Prophet  ein  Kämpfer,  der  sich  stets  aus  dem  Zweifel  zur  Gewißheit, 
aus  der  quälenden  Unsicherheit  zur  absoluten  Lebenssicherheit,  aus 
der  Verzagtheit  zum  frischen  Lebensmut,  aus  der  Furcht  zur  Hoffnung, 
aus  dem  niederdrückenden  Sündengefühl  zum  seligen  Gnaden-  und 
Heilsbewußtsein  emporringt.  Er  ist  kein  beatus  possidens,  sondern 
muß  seine  Lebenszuversicht  immer  wieder  in  einem  schöpferischen  Akt, 
in  einer  freien  sittlichen  Tat  setzen,  „wider  alle  Hoffnung  hoffen  und 
glauben"  (Roe  4  18),  „sich  selbst  wider  die  Verzweiflung  aufwecken" 
(Luther) 57.  Den  steten  Durchbruch  der  Zuversicht  und  Kraft  aus  der  Angst 
und  Not  hat  niemand  in  so  lapidarer  Worten  ausgesprochen  wie  Paulns. 

„Wenn  auch  unser  äußerer  Mensch  sich  verzehrt,  so  ersteht  doch  der  innere 
Tag  für  Tag  in  erneuter  Kraft"  (2  K<>r.  4  18).  „Wir  sterben  —  und  doch  leben 
wir:  wir  werden  gezüchtigt  —  und  doch  werden  wir  nicht  getötet  ;  wir  sind  be- 
trübt —  und  doch  sind  wir  allezeit  flöhlieb  ;  wir  sind  Bett  ler  —  und  doch  inachen 
wir  viele  reich;  wir  haben  nichts  —  und  doch  haben  wir  alles"  (2  Kor.  ti  9  f.). 
..Wir  rühmen  uns  in  den  Noten..  (Roe  5  3).  „Ich  bin  reich  an  Trost,  überreich 
an  Freude  in  all  meiner  Trübsal"  {2  Kor.  7  «). 


256  F  II.   My&tik  und   prophetische  Frömmigkeit 

Das  Gefühl  absoluter  Sicherheit  trotz  aller  äußeren  Unsicherheit, 
zu  dem  der  Fromme  sich  emporringt,  haben  am  wundervollsten  die 
Psalmdichter  beschrieben. 

„Auch  wenn  irh  mitten  im  Todesar hatten  wandern  muß,  fürchte  ich  kein 
Unglück;  denn  du  bist  hei  mir:  dein  Stecken  und  dein  Stab  —  die  trösten  mich" 
(23,  4).  ,.Mit  seinen  Fittichen  bedeckt  er  dich,  unter  seinen  Flügeln  birgst  du 
dich:  seine  Treue  ist  Schild  und  Schirm  ....  Seine  Engel  wird  er  für  die  h  ent- 
bieten, daß  sie  dich  auf  allen  deinen  Wegen  behüten.  Auf  den  Händen  werden 
sie  dich  tragen,  daß  du  mit  deinem  Fuß  nicht  an  einen  Stein  stoßest"    (91,  4.  11). 

So  ist  der  Glaube  das  Grunderlebnis  der  prophetischen  Frömmigkeit, 
freilich  nichts  im  intellektualis tischen  Sinne  des  Fürwahrhaltens,  sondern 
im  Sinne  des  zuversichtlichen  Lebensgrundgefühls.  Glaube  ist  nach 
Luthers  unvergleichlichen  Worten  nicht  „ein  Gedanke  an  Gott",  sondern 
eine  „lebendige,  erwegene  Zuversicht  auf  Gott,  so  gewiß,  daß  er  tausend- 
mal darüber  stürbe.  Und  solche  Zuversicht  und  Erkenntnis  göttlicher 
Gnade  macht  fröhlich,  trotzig  und  lustig  gegen  alle  Kreatur".  „Glauben 
heißt  ein  solch  Herz  gewinnen,  das  da  groß  und  unverzagt  wird  über 
alles,  das  der  Teufel  und  Welt  vermag,  Armut,  Unglück,  Schande  und 
Sünde  dazu."  58  Weil  dieser  Glaube  nichts  ist  als  feste  und  unerschütter- 
liche Lebenszuversicht,  ist  er  kein  bloßes  Hoffen  und  Suchen,  sondern 
ein  unerschütterliches  Haben  und  Besitzen.  ,,Ut  credo,  ita  habeo" 
(Luther)  59.  Ja,  er  verleiht  bereits  mitten  in  der  Zeitlichkeit  und  End- 
lichkeit ewiges  Leben  und  unendliche  Seligkeit.  „Wer  da  glaubt,  der 
hat  das  ewige  Leben",  „er  ist  hinübergeschritten  aus  dem  Tod  ins 
Leben"  (Jo.  5,  24;  647).  „So  du  Christo  glaubest  und  an  ihn  dich  hängen 
kannst,  so  bist  du  erlösest  vom  leiblichen  und  geistlichen  Tod  und 
hast  schon  das  ewige  Leben"  (Luther)  60.  Diese  Leben  weckende 
und  Seligkeit  schenkende  Glaubenszuversicht  kann  aber  nicht  durch 
eigene  Willensanstrengungen  erlangt  werden,  alle  ethischen  und  aske- 
tischen Leistungen,  selbst  die  höchste  moralische  Vollkommenheit, 
sind  nicht  imstande,  diese  rein  religiöse  Gewißheit  zu  erzeugen.  Sie 
muß  vielmehr  mit  ursprünglicher  Frische  und  Gewalt  aus  den  Tiefen 
der  Seele  aufquellen;  sie  ist  ein  Wunder,  lauter  Gottesgnade,  „ein 
göttlich  Werk  in  uns"  (Luther)  61,  eine  Wirkung  des  Gottesgeistes  in 
der  Seele.  Diese  Glaubenszuversicht  wird  nicht  wie  die  ekstatische 
Wonne  der  Mystik  jenseits  des  wachen  Bewußtseins  erlebt,  sie  hat  keine 
Entleerung  und  Sublimierung  des  natürlichen  Seelenlebens  zur  Voraus- 
setzung, sie  wird  vielmehr  allezeit,  selbst  mitten  im  Getriebe  des  Alltags, 
ohne  alle  künstliche  Steigerung  des  Gefühlslebens  erfahren. 

„Glaube',  ,Zu versieht',  , Vertrauen'  —  das  ist  das  Leitmotiv,  das 
hindurchklingt  durch  das  ganze  Schrifttum  des  Alten  und  Neuen  Testa- 
ments und  wieder  neu  ertönt  in  den  Schriften  der  Reformatoren.  Sind 
,Liebe'  und  , Einigung'  die  Zentralbegriffe  der  Mystik,  so  ist  , Glaube' 
Lamuna,  niGrig,  fides,  fiducia)  das  Schlagwort  der  prophetischen 
Religion.  Glauben  ist  jene  religiöse  Kraft,  welche  die  ältesten  israe- 
litischen Geschichtsbücher  schon  den  Erzvätern  nachrühmen.  „Und 
Abraham  glaubte  Jahwe  und  das  rechnete  er  ihm  zu  als  Gerechtigkeit" 
(Gen.  1516).  Vertrauenden  Glauben  auf  Jahwe  fordern  immer  wieder 
die  großen  israelitischen   Gottesmänner  von  ihrem  Volke;   Jesaja  ist 


Das  psychische    Grunderlebnis  der  prophetischen  Religion  257 

geradezu  der  Prophet  des  Glaubens.  „Glaubet  ihr  nicht,  so  bleibet  ihr 
nicht",  hat  er  in  einem  (von  Luther  treffend  wiedergegebenen)  Wort- 
spiel dem  zweifelnden  Achaz  zugerufen  (79)  „Vertrauet  immerdar  auf 
Jahwe,  denn  Jahwe  ist  ein  ewiger  Fels"  (26  4).  „Im  Stillesein  und 
Vertrauen  liegt  eure  Heldenkraft"  (30  15),  mahnt  er  sein  Volk.  Kühne 
Zuversicht  ist  jene  hehre  Stimmung,  zu  der  sich  die  großen  israelitischen 
Beter,  Jeremia  und  die  exilischen  und  nachexilischen  Psalmsänger  in 
hartem  innerem  Kampfe  durchrangen.  Die  gewaltigsten  und  para- 
doxesten Worte  über  das  Glauben  sind  von  Jesus  gesprochen  worden: 
„Alles  ist  möglich  dem  Glaubenden".  „Habt  Vertrauen  zu  Gott! 
Wahrlich  ich  sage  euch,  ein  jeder,  der  zu  diesem  Berge  sagt:  hebe  dich 
und  wirf  dich  ins  Meer,  und  zweifelt  nicht  in  seinem  Herzen,  sondern 
glaubt,  daß,  was  er  sagt,  geschieht,  dem  wird  so  sein"  (Mk  9  23;  11  23). 
Das  schlichte  Gottvertrauen  erhebt  sich  hier  zum  kühnsten  Wunder- 
glauben. Im  zuversichtlichen  Glauben  an  den  gütigen  Vatergott,  der  um 
Jesu  willen  Gnade,  Heil  und  Vergebung  schenkt,  fand  Pauli  sünden- 
gequälter und  heilsdürstender  Geist  Ruhe;  die  „Gerechtigkeit  aus  dem 
Glauben"  (Roe  1  17)  ist  darum  die  Zentralidee,  um  die  das  ganze  Denken 
und  Fühlen  des  Völkerapostels  kreist.  Im  Glauben  an  Christus  ergreift 
der  vierte  Evangelist  ewiges  Licht  und  Leben.  „Wer  glaubt,  hat  das 
ewige  Leben"  (6  47),  dieses  Wort,  nicht  die  philonische  Logosidee  ist 
das  Leitmotiv  des  Johannesevangeliums.  Im  frohen  Glauben  an  Gottes 
sün  de  vergebende  Gnade  fand  Luther  den  Herzensfrieden,  nachdem  er 
jahrelang  vergeblich  nach  dem  Heil  durch  Gesetzeswerke  gerungen 
hatte.  Die  reformatorische  Lehre  von  der  sola  fides  ist  nur  die  schärfste 
und  konsequenteste  Formulierung  für  das  Grundgefühl  der  gesamten 
biblischen  Religiosität. 

Der  Gegensatz  dieses  prophetischen  Lebensgefühls  zum  mystischen 
ist  so  schneidend  wie  möglich.  Die  Mystik  flieht  und  vernichtet  das 
naive  Leben  und  Lebenwollen,  um  jenseits  desselben  ein  Unendliches 
zu  erfahren;  die  prophetische  Frömmigkeit  hingegen  glaubt  an  das 
Leben  und  bejaht  das  Leben,  wirft  sich  entschlossen  und  froh  dem 
Leben  in  die  Arme;  dort  herbe  Lebensverneinung  —  hier  unerschütter- 
liche Lebenszuversicht. 

3.  Weitere  psychologische    Charakteristika. 

a)  Den  Höhepunkt  des  mystischen  Frömmigkeitslebens  bilden  außer- 
ordentliche Erlebnisse,  die  sich  jenseits  des  normalen  Bewußtseins 
abspielen:  die  Ekstasen,  daneben  exstatoide  Visionen  und  Auditionen, 
in  denen  sich  mit  rein  geistigen  Erfahrungen  Sinneserregungen  ver- 
binden. Auch  in  der  prophetischen  Erfahrung  sind  die  entscheidenden 
Erlebnisse,  die  Beruf ungs-  und  Offenbarungserlebnisse,  häufig  von  Ver- 
zückungen, Visionen  und  Auditionen  begleitet,  aber  sie  treten  viel 
seltener  auf  wie  bei  den  Mystikern  —  von  Jesus  werden  nur  zwei  visionäre 
Zustände  überliefert  —  oder  fehlen  gänzlich.  Für  das  eigentliche  Fröm- 
migkeitsleben, den  in  Gebet,  Glaube  und  sittlichem  Tun  sich  voll- 
ziehenden Verkehr  mit  Gott  besitzen  im  Gegensatz  zur  Mystik  alle 
außerordentlichen  ekstatischen  Erfahrungen  keine  Bedeutung.     Nicht 

Das  Oebol  17 


258  P  II.   Mystik  und   prophetische  Frömmigkeit 


die  ekstatische  Glossolalie,  sondern  das  Glauben,  Hoffen  und  Lieben 
hat  Paulus  als  die  höchsten  Charismen  bezeichnet  (1  Kor  13).  Luther 
zeigt  sogar  eine  starke  Geringschätzung  alles  Visionären.  „So  es  in 
meiner  Gewalt  allein  wäre,  wollte  ich  nicht,  daß  Gott  mit  mir  vom 
Himmel  herab  reden  oder  mir  erscheinen  sollte."  Alle  Erscheinungen 
sind  „nichts  gegen  unsere  Taufe  und  Sakrament,  ja  auch  gegen  einem 
jeden  christlichen  Gespräch,  das  ich  mit  einem  jeden  christlichen  und 
gottesfürchtigen  Bruder  haben  kann."  62 

b)  Das  mystische  Erleben  ist  nie  vollkommen  naiv,  sondern  immer 
mit  einem  Hang  zur  Reflexion  verbunden  —  bei  den  einen  zur  philo- 
sophisch-spekulativen Gedankenarbeit  (Upanischaden,  Plotin,  Eckhart), 
bei  den  anderen  zur  sorgsamen  psychologischen  Selbstanalyse  (  Yoga, 
Buddhismus,  Teresa,  Quietisten  des  17.  Jahrhunderts).  Das  Erleben 
der  prophetischen  Persönlichkeiten  hingegen  ist  völlig  naiv  und  un- 
reflektiert,  über  dem  spekulativen  Denken  erhaben  und  frei  von  allem 
Psychologisieren.  Da  ist  ebensowenig  ein  Grübeln  über  Gottes  Wesen 
wie  eine  peinliche  Selbsterforschung  und  eindringende  Selbstzergliede- 
rung; da  ist  nur  Glaube,  Hoffnung  und  Liebe. 

c)  Die  Mystik  offenbart  bewußte  Absichtlichkeit;  nur  dadurch  ge- 
lingt es,  das  natürliche  Affekt-  und  Willensleben  zu  mortifizieren.  Sie 
hat  raffinierte  Methoden  der  Askese  und  Meditation  ersonnen,  um  das 
Eintreten  der  mystischen  Zustände  herbeizuführen  bzw.  zu  begünstigen. 
Das  stete  Streben  nach  der  künstlichen  ,Vereinfachung'  des  natürlichen 
psychischen  Lebens  bedingt  eine  Uniformierung  des  Erlebens,  eine 
Bindung  des  Individuellen,  Persönlichen,  Spontanen.  Die  Mystik 
zeigt  darum  eine  gewisse  Gleichförmigkeit  und  Monotonie.  Im  Grunde 
sagen  alle  Mystiker  dasselbe.  Es  ist  lediglich  die  Berührung  mit  prophe- 
tischer Frömmigkeit,  die  der  christlichen  und  süf istischen  Mystik  ein 
individuelles  Gepräge  verleiht.  Nirgends  tritt  die  Einförmigkeit  der 
Mystik  stärker  zutage,  als  in  den  Begriffsschemen  des  buddhistischen 
Kanons  wie  in  den  Schriften  der  quietis tischen  Mystiker  des  17.  Jahr- 
hunderts. Demgegenüber  zeichnet  sich  die  prophetische  Frömmigkeit 
durch  Absichtslosigkeit,  unbewußte  Spontaneität,  freie  Entfaltung  der 
individuellen  Anlagen  aus.  Sie  verschmäht  alle  Systematik  und  Methodik, 
alle  Psychotechnik,  jeden  Jraining  of  souV.  So  ergibt  sich  die  über- 
raschende Tatsache,  daß  das  religiöse  Innenleben  der  prophetischen 
Geister  reicher,  vielgestaltiger  und  mannigfaltiger  ist  als  das  der  Mystiker, 
die  doch  ganz  in  der  Innerlichkeit  aufgehen. 

d)  Die  Mystik  ist  die  Religion  der  weiblichen  Naturen ;  schwärmerische 
Hingabe,  differenzierte  Fühlfähigkeit,  weiche  Passivität  sind  für  sie 
charakteristisch.  Im  weiblichen  Geschlecht  hat  die  Mystik  unzählige 
hervorragende  Vertreter  (Räbia,  Mechthild,  Gertrud,  die  zwei  Katherinen, 
Teresa,  Guyon  usw.).  Die  mystische  Seele  spielt  im  Gottesumgang 
die  Rolle  des  Weibes.  ,Weib'  ist  nach  Meister  Eckharts  Urteil  der 
edelste  Name  der  Seele.  63  „Ein  Weib  muß  der  Mensch  werden,  der 
Früchte  des  ewigen  Lebens  will  gebären";  sagt  Staupitz.  64  Die  prophe- 
tische Religion  hingegen  trägt  unverkennbar  männlichen  Charakter: 
ethische  Herbheit  und  Härte,  kühne  Entschlossenheit  und  Rücksichts- 


Gottesvorstellung  259 


losigkeit,  kraftvolle  Aktivität.  „Stehet  fest  im  Glauben,  seid  mann- 
haft, seid  stark!"  (1  Kor  16  13).  „Gott  fordert  von  uns  gar  tapfere 
männliche  Dinge,  daß  wir  ihm  allein  anhangen,  allen  Trost  in  ihm 
haben  und  allein  auf  seinen  Willen  hören"  (Zwingli)  65. 

4.  Die  Gottesvorstellung, 
a)  Mystik. 
Der  Gottesbegriff  der  radikalen  Unendlichkeitsmystik  ist  lediglich 
die  spekulative  Deutung,  die  metaphysische  Projektion  des  ekstatischen 
Erlebnisses  66.  In  der  Ekstase  erlebt  sich  der  Mystiker  als  gänzliche 
Einheit  —  auch  der  Gott  der  Mystik  ist  die  unterschiedslose  Einheit, 
das  Ureine  (tö  £V,  fiövov  Numenios,  Clemens  Alexandrinus,  Plotin)  67, 
das  , Einfache',  ,Einfachste'  {unlovv,  änlovoxaxov  Plotin  68,  obiec- 
tum  simplicissimum,  Albertus  Magnus  69),  das  „Eine  ohne  ein 
Zweites"  (ekam  advitiyam,  Upanischaden  70),  „ein  lauter,  pur,  klar 
Ein,  gesondert  von  aller  Zweiheit"  (Meister  Eckhart)71,  „ein  einziges 
Eins  in  einfacher  Nacktheit"  (Seuse)  72.  In  der  Ekstase  hört  alle  Mannig- 
faltigkeit des  seelischen  Erlebens  wie  der  Außenwelt  auf  —  für  den 
Mystiker,  der  aus  der  Seligkeit  der  Ekstase,  aus  dem  Erlebnis  der  Ein- 
heit zum  normalen  Bewußtseinsleben  erwacht,  ist  darum  die  gegen- 
ständliche Welt  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  Trug  und  Illusion  (mäyd  des 
Vedänta)  oder  doch  der  trübe  Ausfluß  oder  dunkle  Schatten  der  allein 
wahren  Wirklichkeit.  Die  Ekstase  ist  der  Endpunkt  der  im  mystischen 
Leben  sich  vollziehenden  Entpersönlichung  —  der  Gott  der  spekulativen 
Mystik  ist  gänzlich  unpersönlich,  aller  anthropomorphen  Züge  bar;  er 
ist  „ein  Nichtgott,  ein  Nichtgeist,  ein  Nichtpersone"  (Meister  Eck- 
hart) 73.  In  der  Ekstase  ist  Denken,  Wollen  und  Selbstbewußtsein 
erloschen  —  auch  ,das  Eine'  ist  weder  denkend  (inexeiva  vov  y.al  yvdioeoJs 
Plotin  74)  noch  wollend,  ,ohne  Selbstbewußtsein'  (ävaioi^rjTOV  eav- 
tov  75)  Plotin).  Der  ekstatische  Zustand  ist  völlige  Leere  von 
allen  konkreten  Inhalten,  „vollkommene  Leere",  „unbedingtes 
Nein"  (Tschwang-tse)  76  —  auch  die  unendliche  Einheit  ist  völlig 
qualitätlos,  „sonder  Weise"  (unbekannter  deutscher  Mystiker)  77,  man 
kann  von  ihr  nichts  behaupten,  sie  ist  das  „Nein,  Nein"  {na  iti  na  iti), 
wie  es  in  den  Upanischaden  heißt  78,  „erhaben  selbst  über  das  Sein" 
{irtexeiva  xov  övrog)19  wie  Plotin  sagt,  „ein  lauter  Nichts",  wie  Angelus  Si- 
lesius  sich  ausdrückt  80.  „Die  Gottheit  ist  so  arm  und  so  bloß  und  so  ledig, 
als  ob  sie  nicht  wäre,  sie  hat  nicht,  sie  will  nicht,  sie  bedarf  nicht"  (Meister 
Eckhart)  81.  Die  Ekstase  ist  ein  verborgenes,  unbegreifliches  Geheimnis, 
sie  läßt  sich,  weil  jenseits  des  bewußten  Erlebens  stehend,  nie  in  Ge- 
danken fassen  und  in  Worten  beschreiben  —  auch  das  Göttliche  ist 
erhaben  über  alle  Rede,  unnennbar  und  unaussprechlich  {ä^rjrov 
Philo,  82  Plotin)  83,  der  ,Abgrund'  (ßvöog),  das  , Schweigen'  {oiyij)  84, 
wie  die  Gnostiker  sagen;  „es  ist  etwas  Verborgenes,  mit  keinem  Namen 
zu  Bezeichnendes,  ein  Namenloses,  ein  Unergründliches,  ja  das  schlecht- 
hin Unbegreifliche"  (Laotse)  85;  „es  ist  die  Verborgenheit  und  ist  unbe- 
kannt und  ward  nie  bekannt  und  wird  nimmer  bekannt.  Gott  bleibet 
da  in  ihm  selber  unbekannt"  (Eckhart)  86.     Der  Ekstatikor  „steht  in 


260  F.   II.    Mystik  und  prophetische  Frömmigkeit 

einsamer  Ruhe  und  wandellosem  Beharren,  gänzlich  feststehend  und 
gleichsam  Stillstand  geworden"  (Plotin)  87  —  auch  der  Gott  der  Mystik 
ist  einsam  stillstehend  (koxoyg,  Philo  88,  Numenios  89),  „tatenlos", 
„jenseits  des  Wirkens"  (ävEQyrjzov,  inixeiva  iveQytiag  Plotin)  90, 
„das  wandellose  Licht"  (lux  incommutabilis,  Augustinus)  91,  „ruhend 
alles  beruhigend"  (tranquillus  tranquillans  omnia,  Bernhard  von 
Clairvaux)  92,  „die  ew'ge  Ruh'"  (Angelus  Silesius)  93,  „ein  stilles 
Wesen"  (Tersteegen)  94.  Der  Gottesbegriff  der  Mystik  ist  also  durchaus 
statisch.  Der  in  die  Ekstase  Versunkene  steht  jenseits  aller  Werte, 
„er  hat  das  Schöne  hinter  sich  gelassen,  wie  er  über  den  Reigen  der 
Tugenden  hinweggeschritten  ist"  (Plotin)  95  —  der  Gott  der  radikalen 
Mystik  besitzt  weder  ethische  noch  ästhetische  Wertprädikate,  er  ist 
„höher  (xqeiztcjv)  als  die  Tugend  und  höher  als  das  Gute  und 
höher  als  das  Schöne"  (Philo)  96,  er  ist  der  ,Übergute'  (vnEQayadog) 
und  ,Überschöne'  (i>7iEQxalog,  Plotin)  97.  Der  Ekstatiker  erlebt 
einen  unendlichen  Wert,  die  höchste  Seligkeit  —  der  Gott  der  Mystik 
ist  darum  „das  höchste  Gut"  (tö  äqioxov  äya&ov98,  tö  äxQcog  xalöv", 
summum  bonum  10°),  ein  Terminus,  der  von  Plotin  im  Anschluß  an 
Plato  geprägt  und  durch  Augustinus  zur  häufigst  gebrauchten  Gottes- 
bezeichnung der  christlichen  Mystik  wurde  101 ;  er  begegnet  uns  auch 
im  Hohen  Lied  der  indischen  Mystik,  in  der  Bhagavadgitä  (pararn 
sreyas,  param  nidhänam 102),  ja  selbst  im  Tao-teh-king  des  weisen 
Laotse  103. 

Der  alte  Buddhismus  lehnt,  seinem  negativ-agnostischen  Prinzip  seiner  ,anti- 
pathie  pour  le  finalisme'  (Oltramare)  10*  entsprechend,  jede  metaphysische  Deu- 
tung des  Nirväna-Zustandes  ab.  Eben  deshalb  redet  er  nie  von  einem  ,höchsten 
Gut',  von  einem  .Absoluten',  vom  .Einen'  und  »Unendlichen',  so  wenig  wie  von 
einer  beharrenden  , Seelensubstanz',  einem  göttlichen  .Seelengrund'.  Er  macht 
mit  dem  .Nein-Nein'  der  Upanischaden  vollen  Ernst  und  schweigt  über  sein  höch- 
stes Erlösungsziel,  aber  eben  dieses  Schweigen  ist  die  beredteste  Sprache,  die 
eigentliche  Sprache  der  Mystik.  An  jener  Stelle,  da  die  großen  spekulativen 
Geister  der  Mystik  ihren  kühnen  theologischen  Gottesbegiiff  errichteten,  setzt 
der  Buddhismus  „den  leeren  Gedankenstrich"  (Beckh  106).  Aber  trotz  dieses 
Schweigens  und  Verneinens  ist  Nirväna  nicht  ein  Negatives,  sondern  ein  Positives 
ein  äggyrov,  ein  übesrchwengliches  Heilsgut,  ein  beseligendes  Eilösungsziel, 
ein  Heiliges,  Ewiges,  Unendliches,  nichts  anderes  als  das  summum  bonum  der 
Mystiker  10«. 

Konkreter  und  anschaulicher  ist  die  Gottesvorstellung  in  der  perso- 
nalistischen  Mystik,  die  das  mystisch-ekstatische  Erleben  nicht  theo- 
retisch-spekulativ, sondern  naiv-phantasiemäßig  deutet.  Gott  ist  nicht 
die  jenseits  der  Wirklichkeit  und  der  Werte  stehende  unpersönliche, 
qualitätslose  Einheit,  sondern  der  als  Persönlichkeit  gedachte  höchste 
Wert;  er  ist  der  lebendige  „Herr'  (xvQiog,  dominus,  in  Indien  isvara), 
und  liebevolle  ,Heiland',  der  sich  zur  kleinen  Menschenseele  herabläßt 
um  sie  zu  sich  emporzuheben.  Er  ist  „der  wahre  Freund  in  den  Nöten, 
der  niemand  verlassen  mag  noch  will.  Er  ist  die  süße  Luft,  die  uns 
ziehet  in  die  Wahrheit,  und  ist  die  lautere  Minne,  die  uns  lehret  die 
Wahrheit,  und  ist  die  grundlose  Güte,  die  uns  behütet  in  der  Wahrheit" 
(Margaretha  Ebner)  107.  Das  Unendliche  nimmt  irdische  Gestalt  an, 
das    summum   bonum'   wird  zum   menschlichen   Erlösergott    (Vishnu- 


Gottesvorstellung  26 1 


Krishna-Räma  in  der  indischen  Bhakti-Frömmigkeit,  Jesus  Christus 
in  der  abendländischen  Mystik,  zumal  seit  Bernhard  von  Clairvaux). 
Ja,  so  tief  ist  die  Herablassung  des  himmlischen  Heilandgottes,  daß 
er  als  liebender  Bräutigam  der  sehnsüchtigen  Seele  naht,  sie  mit  seiner 
Liebe  umwirbt  und  in  zärtlicher  Umarmung  mit  ihr  sich  eint.  Weil 
hier  die  anthromorph-persönlichen  Züge  der  naiven  Gottesvorstellung 
lebendig  werden,  nennen  wir  diese  Mystik  mit  einem  von  Rudolf  Otto 
geprägten  Terminus  personale  , Gottesmystik'  108  im  Gegensatz  zu  der 
impersonalen  ,Unendlichkeitsmystik'.  Aber  auch  in  dieser  persönlichen 
Mystik  ist  Gott  nicht  der  lebendig  wirksame  Wille,  sondern  die  wandel- 
lose, ruhende  Majestät,  das  statisch  gedachte  vollendete  Ideal,  sanc- 
torum  aeterno,  requies  (Nachfolge  Christi) 109. 

b)  Prophetische  Religion. 

Wie  der  Gottesbegriff  der  Mystik  die  Hypostasierung  der  Ekstase 
darstellt,  so  ist  die  Gottesvorstellung  der  biblisch-prophetischen  Religion 
der  Reflex  des  voluntaristischen  Glaubenserlebnisses.  „Fides  est  creatrix 
deitatis"  (,,der  Glaube  ist  der  Schöpfer  der  Gottheit"),  sagt  Luther 
in  paradoxer,  aber  treffender  Ausdrucksweise  no.  Gott  ist  nicht  die 
unbewegliche,  unendliche  Einheit,  sondern  lebendige  Willensmacht  U1, 
nicht  ruhende  Stille,  sondern  wirksame  Tätigkeit,  nicht  semper  quietus 
(immer  ruhig),  sondern  semper  agens  (immer  handelnd),  nicht  summe 
esse  (höchstes  Sein),  sondern  summe  vivere  (höchstes  Leben),  wie  die 
kontrastierende  Terminologie  Augustins  lautet 112.  „Mein  Vater  wirket 
bis  heute"  spricht  der  johanneische  Christus  (Jo  5  17).  Luther  sagt: 
„In  allen  und  durch  alle  und  über  allen  wirket  nichts  denn  seine  Macht  .  .  . 
Das  Wörtlein  ,mächtig'  soll  hier  nicht  heißen  eine  stille,  ruhende  Macht, 
sondern  eine  wirkende  Macht  und  stetige  Tätigkeit,  die  ohne  Unterlaß 
geht  im  Schwang  und  wirkt;  denn  Gott  ruht  nicht,  wirkt  ohne  Unter- 
laß" 113.  Das  Erlebnis  der  gewaltigen  Macht  Gottes  wird  in  den  prophe- 
tischen Geistern  zum  ängstigen  Erschauern  vor  der  unentrinnbaren 
bqyri  des  lebendigen  Gottes 114.  „Jahwe  ist  wahrhaftiger  Gott,  er 
ist  lebendiger  Gott  und  ewiger  König,  vor  dessen  Zorn  die  Erde  bebt" 
(Jeremia  10  10).  „Ein  eifersüchtiger  Gott  und  ein  Rächer  ist  Jahwe, 
ein  Rächer  ist  Jahwe  und  voller  Grimm"  (Nahum  1  2).  „Gott  ist  ein 
Feuer,  das  verzehret,  f risset  und  eifert"  (Luther)  115.  Von  der  Macht 
dieses  lebendigen  Gottes  wissen  sich  die  prophetischen  Frommen 
schlechthin  abhängig';  in  seiner  Hand  ruhen  Glück  und  Unglück, 
Segen  und  Fluch,  Leben  und  Tod.  „Ganz  wie  der  Ton  in  der  Hand  des 
Töpfers,  so  seid  ihr  in  meiner  Hand,  ihr  vom  Hause  Israel"  (Jeremia 
18  6).  Er  ist  allursächlich:  „Kein  Unglück  geschieht,  ohne  daß  es  Jahwe 
verursacht  hätte"  (Arnos  3  6).  Ohne  seinen  Willen  fällt  kein  Sperling 
vom  Dache,  kein  Haar  vom  Haupt  des  Menschen  (Mt  10  29  f.).  Aber 
der  vertrauende  Glaube,  die  unerschütterliche  Zuversicht  erzeugt  das 
wunderbare  Paradoxon,  daß  der  zürnende  und  eifernde,  der  fordernde 
und  richtende  Gott  zugleich  der  Schenkende  und  Verzeihende  ist,  der 
Helfende  und  Rettende,  daß  die  ,hohe  allmächtige  Gewalt'  in  ihrem 
innersten   Wesen   nichts   ist  als   Weisheit,   Barmherzigkeit   und    Güte. 


262  F  II.  Mystik  und   prophetische  Frömmigkeit 

„Jahwe  ist  gütig,  ewig  währt  seine  Gnade"  (Ps  136  1).  Gott  ist  „der 
Vater  der  Erbarmungen  und  der  Gott  aller  Tröstung,  der  uns  tröstet 
in  all  unser  Trübsal"  (2  Kor  1  3);  „Gott  ist  die  Liebe"  (1  Jo  4  8).  Gott 
ist  „eitel  lauter  Liebe",  der  „Tröster  und  Lebendigmacher",  der  „gütige, 
gnädige  Vater",  dessen  Natur  „lauter  Wohltätigkeit"  ist,  der  , Nothelfer' 
und  , Gebetserhörer'.  Gott  glauben  heißt  „ihn  für  den  einigen  allein 
erkennen,  der  alles  und  allerlei  Gutes  allem  schaffet  und  gibt",  „für 
einen  Gott,  der  sich  unser  annehme,  unser  Gebet  erhöre,  sich  unser 
erbarme  und  aus  aller  Not  helfe"  (Luther)  116. 

Der  Mystiker  erlebt  im  lautlosen  Schweigen  die  Gegenwart  des  Un- 
endlichen und  atmet  im  tiefsten  inneren  Frieden  Gottes  sanften  Hauch. 
Das  prophetische  Gefühl  von  der  Gegenwart  Gottes  ist  ein  Erleben  der 
Wirksamkeit  Gottes  und  besitzt  eine  ungleich  höhere  Dynamik: 
überall  und  jederzeit  spürt  er  seine  lebendige  Nähe  und  verzehrende 
Kraft,  nicht  einmal  in  der  Unterwelt  könnte  er  ihr  entrinnen  (Ps  139  7  ff.). 

Die  konsequente  Mystik  entkleidet  die  Gottesvorstellung  aller  per- 
sönlichen Attribute,  bis  sie  beim  ,bloßen'  und  ,reinen'  Unendlichen 
angelangt  ist.  Der  Gott  der  prophetischen  Geister  hingegen  trägt  un- 
verkennbar die  Züge  der  menschlichen  Persönlichkeit;  der  primitive 
Anthropomorphismus  lebt  in  ihr,  vergeistigt  zwar,  aber  in  seiner  ganzen 
urwüchsigen  Kraft  fort;  Gott  ist  Herr,  König  und  Richte^  und  wenn 
die  Zuversicht  alle  Furcht  verdrängt  hat,  der  Vater. 

5.  Die  Wertung  der  Geschichte  117. 
a)  Mystik. 
Der  ruhende  Gott,  mit  dem  der  Mystiker  in  der  Ekstase  ganz  eins 
wird,  ist  jenseits  von  Raum  und  Zeit,  ohne  innere  Beziehung  zur  Welt 
und  Geschichte.  Die  Idee  einer  Offenbarung  Gottes  in  der  Geschichte 
ist  der  Mystik  innerlich  fremd,  sie  ist  eine  rein  übergeschichtliche  Fröm- 
migkeit. Der  aristotelische  Terminus  der  dviOTOQt]ola  findet  auf 
die  Mystik  die  treffendste  Anwendung.  Die  christliche  Mystik  mußte 
darum  wie  die  jüdisch-philonische  und  die  islamisch-suf istische  Mystik 
den  biblischen  Glauben  an  die  geschichtliche  Offenbarung  Gottes  um- 
deuten und  die  Heilsgeschichte  zu  einem  bloßen  Vorbereitungs-  und 
Anschauungsmittel  der  mystischen  Erlebnisse  herabdrücken.  Die 
heilsgeschichtlichen  Fakta  der  biblischen  Religion  verblassen  zu  trans- 
parenten Symbolen  überzeitlicher  Wahrheiten;  sie  werden  psychologi- 
siert,  der  Einmaligkeit  enthoben,  aus  dem  äußeren  Weltverlauf  in  die 
Tiefen  der  frommen  Seele  verlegt.  „Was  immer  am  Kreuz  Christi,  im 
Grab,  in  der  Auferstehung  am  dritten  Tage,  beim  Sitzen  zur  Rechten 
des  Vaters  sich  abspielte,  spielte  sich  so  ab,  daß  durch  diese  Dinge 
nicht  nur  in  mystischen  Worten,  sondern  auch  in  dramatischen  Hand- 
lungen das  christliche  Leben  bildlich  dargestellt  wurde  (configuraretur), 
das  sich  hier  vollzieht"  (Augustinus)  118.  Wohl  hat  die  mittelalterliche 
Mystik,  von  augustinischen  Gedanken  angeregt,  eine  zarte  und  feine 
Heilandsmystik  reifen  lassen,  deren  Gedanken  und  Stimmungen  stets 
um  die  biblischen  Bilder  des  Mensch  gewordenen  Gottessohnes,  seiner 
Geburt  und  Kindheit,  seines  Leidens  und  Sterbens  kreisen.  Das  mystisch 


Wertung  der   Geschichte  263 


retouchierte  menschliche  Jesusbild  wird  zum  Muster  der  mystischen 
Jesusnachfolge.  Das  arme  Leben  Jesu,  seine  passiv-quietistischen 
Tugenden  der  humilitas,  Caritas  und  oboedientia  soll  der  Mystiker  in 
seinem  eigenen  Leben  verwirklichen  119.  Aber  diese  imitatio  Christi, 
die  seit  Bernhard  von  Clairvaux  dem  mittelalterlichen,  zumal  dem 
franziskanischen  Frömmigkeitsideal  so  charakteristische  Züge  verleiht, 
ist  im  Grunde  nur  das  Gegenbild  des  mystischen  Heilsprozesses,  eine 
Veranschaulichung  des  mystischen  ,Entwerdens'  in  biblischen  Bildern. 
Sie  ist  nur  etwas  Vorläufiges,  die  via  purgativa  (Weg  der  Reinigung), 
der  die  höheren  Stufen  des  Heilspfades  folgen.  Das  mystisch  zurecht- 
geformte  Jesusbild  des  Neuen  Testaments  hat  aber  noch  eine  weitere 
Bedeutung  als  ,Materie'  der  mystischen  Meditation,  mit  welcher  die 
nächste  Stufe  des  vollkommenen  Lebens  anhebt.  Aus  den  starken 
Gefühlsreizen,  welches  dieses  farbige  Phantasiebild  ausstrahlt,  nährt 
sich  das  mystische  Gebetsleben,  aus  ihnen  saugt  es  seine  Kraft  und 
Innigkeit.  Aber  auf  den  kontemplativ-ekstatischen  Gipfeln  des  mysti- 
schen Lebens  muß  der  Fromme  alle  diese  gefühlsgesättigten  Bilder  vom 
Heiland  und  seiner  Passion  auslöschen,  er  muß,  wie  die  deutschen 
Mystiker  sagen,  ,von  Bildern  kommen'.  In  dem  Augenblick,  da  die 
Seele  das  höchste  Gut  schaut  und  genießt  und  sich  mit  ihm  völlig  ver- 
eint, sind  alle  Gedanken  an  den  menschlich-geschichtlichen  Christus 
völlig  entschwunden  12°.  Das  auf  die  alexandrinische  Theologie  zurück- 
gehende Axiom  Augustins:  „Per  hominem  Christum  tendis  ad  Deum 
Christum1'''  („über  den  Menschen  Christus  schreitest  du  hinaus  zum 
Gott  Christus")  m  kehrt  bei  den  mittelalterlichen  Mystikern  immer 
wieder  122.  ,,Du  sollst,"  sagt  Christus  bei  Seuse,  „den  Durchbruch 
nehmen  durch  meine  leidende  Menschheit  willst  du  wahrlich  kommen  zu 
meiner  bloßen  Gottheit."  123  So  ist  der  menschgewordene  Gottessohn 
und  Erlöser  nicht  der  geschichtliche  Offenbarer  des  ewigen  Gotteswillens, 
sondern  das  anschauliche  Symbol  des  räum-  und  zeitlosen  summum 
bonum,  der  unendlichen  Gottheit.  Will  der  Fromme  zu  dieser  gelangen, 
so  muß  er  über  den  geschichtlichen  Christus  hinausschreiten;  er  muß 
von  ihm  ebenso  ,entbildet'  werden  wie  von  aller  Kreatur. 

b)  Prophetische  Religion. 

Für  die  Mystik  ist  Gott  der  in  sich  Ruhende,  der  sich  selbst  Ge- 
nügende, der  Schweigende,  der  deus  absconditus.  Für  die  prophetische 
Religion  ist  Gott  der  Schaffende  und  Wirkende,  der  Redende,  der  deus 
revelatus,  dessen  Wesen  Offenbarung  ist,  der  in  der  Natur  wie 
im  Schicksalslauf  des  Einzelnen  und  der  Völker  seinen  Willen  kundgibt. 
Die  Geschichte  ist  das  eigentliche  Bereich  seiner  Offenbarung,  sie  bildet 
die  Basis  der  Gemeinschaft  mit  ihm,  den  festen  Grund  aller  Glaubens- 
zuversicht. „Die  Israeliten  verstanden  es  wie  kein  anderes  Volk,  die 
Religion  als  Geschichte  zu  erleben  und  zu  betrachten."  124  Die  Aus- 
wanderung der  Terahiden  aus  Chaldäa,  der  Auszug  Israels  aus  Ägypten, 
die  Wüsten  Wanderung  und  Eroberung  Kanaans,  die  Siege  über  die 
Nachbarstämme  sind  Jahwes  Werk  und  Wille,  auf  die  die  prophetische 
Verkündigung  stets  verweist  (vgl.  Am    2  9  ff.).    Der  Auszug,  die  Gesetz- 


264  F  II.  Mystik  und  prophetische  Frömmigkeit 

gebung  und  der  Bundesschluß  am  Sinai  sind  für  die  alttestamentliche 
Frömmigkeit  die  Heilstatsachen,  an  die  sich  alle  Zuversicht 
und  Zukunftshoffnung  in  den  Zeiten  der  Erniedrigung  klammert.  Aber 
zu  einer  noch  tieferen  religiösen  Geschichtsauffassung  rangen  sich  die 
Propheten  empor.  Nicht  nur  in  den  Eroberungen  und  Siegen,  sondern 
auch  in  den  Leiden  und  Drangsalen  des  Volkes  erlebten  sie  Gottes 
Willen  und  Offenbarung:  Israels  Erniedrigung  ist  Jahwes  Strafgericht, 
die  fremden  Könige  sind  seine  ,Werkzeuge'.  Ja,  im  Liede  des  Deutero- 
jesaia  vom  leidenden  Gerechten  schwingt  sich  der  Glaube  an  den  Offen- 
barungscharakter  der  Geschichte  zu  der  kühnen  Überzeugung  empor, 
daß  Israel  in  stellvertretendem  Leiden  für  die  Völker  sich  opfere  ( Jes  53). 
In  der  urchristlichen  Erfahrung  tritt  an  die  Stelle  der  äußeren  geschicht- 
lichen Ereignisse  und  der  vielen  prophetischen  Einzelpersönlichkeiten, 
welche  Träger  der  Offenbarung  Jahwes  sind,  eine  einzigartige  geschicht- 
liche Persönlichkeit,  der  Gottessohn  als  höchste  Offenbarung.  „Als  die 
Fülle  der  Zeit  anbrach,  sandte  Gott  seinen  Sohn"  (Gal  4  4).  „Auf 
vielerlei  Art  und  mannigfache  Weise  hat  ehedem  Gott  zu  den  Vätern 
und  Propheten  geredet,  zuletzt  in  diesen  Tagen  hat  er  zu  uns  durch 
seinen  Sohn  geredet."  (Hebr.  1  1).  Der  persönliche  Gott  denkt,  redet 
und  handelt  in  und  durch  Christus;  das  christliche  Gotteserlebnis  wird 
unlöslich  mit  der  geschichtlichen  Persönlichkeit  Jesu  verbunden. 
„Niemand  kommt  zum  Vater  denn  durch  mich"  ( Jo  14  7).  Die  neu- 
testamentliche  Religion  ist  streng  christozentrisch ;  sie  kennt  keinen 
Verkehr  des  Menschen  mit  Gott  außer  in  und  durch  den  xvqios 
'Iiyoovg  XQiorög,  den  Offenbarer  und  Mittler;  sie  kennt  kein  Gebet 
außer  ,im  Namen  Jesu'  an  den  , Vater  unseres  Herrn  Jesu  Christi'. 
Menschwerdung,  Opfertod  und  Auferstehung  des  Gottessohnes  sind 
die  großen  christlichen  ,Heilstatsachen',  auf  die  sich  der  tröstliche  Glaube 
an  Gottes  erlösende  und  sündenvergebende  Gnade  stützt.  Dieser  christ- 
liche Glaube  an  die  geschichtliche  Grundlegung  des  Heils  hat  seinen 
kraftvollsten  Ausdruck  im  apostolischen  Symbolum,  wo  das  ganze 
göttliche  Heilsdrama  in  lapidarer  Kürze  zusammengefaßt  ist.  Die  ins 
Überzeitliche,  Unendliche  strebende  Mystik  hat  diese  heilsgeschichtliche, 
christozentrische  Form  des  Gotterlebnisses  preisgegeben  oder  doch 
gänzlich  umgeformt.  Die  Wiederbelebung  der  prophetisch-evangelischen 
Religion  durch  die  Reformatoren  bedingte  eine  Erneuerung  der  geschicht- 
lichen Offenbarungsidee.  „Gott  ist,"  sagt  Luther,  „nicht  ein  ungewisser 
Gott,  sondern  ein  solcher  Gott,  der  sich  selbst  geoffenbaret  an  einem 
gewissen  Orte  und  durch  sein  eigen  Wort  und  durch  gewisse  Zeichen 
und  Wunderwerke  abgemalet  und  gleichsam  versiegelt  und  verbriefet 
und  verpetschieret  hat,  dadurch  man  ihn  gewißlich  erkennen  und  er- 
greifen möge"  1?5.  Die  christozentrische  Position  ist  von  niemand 
kraftvoller  und  schroffer  vertreten  worden  wie  von  Luther.  „Ich  soll 
und  will  von  keinem  anderen  Gott  wissen  denn  in  meinem  Herrn  Christo." 
„Gott  ist  sonst  auf  alle  Art  und  Weise  unbegreiflich,  aber  in  dem  Fleisch 
Christi  ist  er  begreiflich."  Man  muß  „Christum  und  den  Vater  fest 
ineinander  binden  und  heften,  auf  daß  man  lerne  von  Gott  nichts  zu 
denken  denn  in  Christo."     „Mein  Hauptstück  soll  sein,  daß  ich  mich 


Wertung  der   Geschichte  265 


an  Christus  halten  will  und  daß  durch  ihn  mir  das  Leben  geschenkt 
werde."  126  Diesen  evangelischen  Grundgedanken  der  Offenbarung  Gottes 
in  Christus  hat  Kierkegaard  in  seiner  vollen  irrationalen  Wucht  und 
Tiefe  ausgesprochen.  „Das  Absolute  ist  geoffenbart  in  der  Geschichte, 
und  zwar  in  einer  so  anstößigen  Gestalt  wie  der  des  Gekreuzigten."  127 
Der  Gegensatz  der  prophetisch-evangelischen  Frömmigkeit  zur  Mystik 
tritt  gerade  in  der  Wertung  der  Geschichte  in  voller  Schärfe  hervor: 
dort  das  Hin  ausschreiten  über  Raum  und  Zeit  in  die  unendliche  Weite, 
des  Göttlichen,  hier  das  feste  Sichklammern  an  die  in  Raum  und  Zeit 
gegebene  Gottesoffenbarung;  dort  die  absolute  Freiheit  von  allen 
objektiven  Geschichtstatsachen,  hier  die  strenge  Bindung  der  Heils- 
erfahrung an  die  objektive  Geschichte;  dort  ein  kühnes  Sicherheben 
über  den  geschichtlichen  Christus,  hier  ein  demütiges  Haften  und  Hängen 
an  dem  geschichtlichen  Offenbarer  und  Heilsmittler;  dort  unmittel- 
bare und  wesenhafte  Gotteinigung,  hier  Gemeinschaft  mit  Gott  in  und 
durch  Christus:  „Panchristismus"  (Friedrich  von  Hügel)128. 

6.  Die  Stellung  zur  Autorität. 
Mit  der  Stellung  zur  Geschichte  hängt  enge  zusammen  die  Stellung 
zur  religiösen  Autorität.  Die  Mystiker  reden  zwar  von  , Offenbarungen 
Gottes  im  Sinne  der  mystischen  Inspirationen,  Visionen  , Ekstasen;  aber 
diese  sind  nicht  die  Prärogative  gottgesandter  Männer,  sondern  können 
prinzipiell  jedem  Frommen  zuteil  werden,  der  den  mystischen  Heilspfad 
beschreitet;  sie  haben  auch  nur  für  die  individuelle  Heilserfahrung  der 
Frommen,  die  von  ihnen  begnadet  werden,  Bedeutung,  besitzen  aber 
keine  alle  Menschen  bindende  Normkraft.  Die  Mystik  kennt  nur  eine 
subjektive,  innere  Offenbarung;  die  Offenbarung  tritt  nicht  von  außen 
als  objektive,  geschichtliche  Tatsache  an  den  Menschen  heran,  sie  ist 
nicht  lehr-  und  mitteilbar;  Gott  muß  sich  vielmehr  mit  dem  Menschen 
in  der  innersten  Seele  berühren,  sich  selbst  ihm  hier  kundtun.  Darin 
liegt  begründet,  daß  die  Mystik  letzten  Endes  erhaben  ist  über  jede 
religiöse  Autorität.  Auch  die  christliche  Mystik  zeigt  (ebenso  wie  die 
jüdisch-philonische  und  die  islamisch-sufistische  Mystik)  trotz  der 
aufrichtigen  Unterwerfung  unter  die  religiöse  Tradition  und  das  kirch- 
liche Dogma  und  Lebensgesetz  eine  souveräne  innere  Freiheit  von  allem 
Dogmatisch-Autoritativen  und  Kirchlich-Statutarischen.  Selbst  Jesu 
Persönlichkeit  besitzt  in  der  mystischen  Frömmigkeit  nicht  autoritative 
Bedeutung;  das  mystisch  retouchierte  biblische  Jesusbild,  das  für  die 
Mystiker  Objekt  der  Nachahmung  und  Nachfolge  ist,  entbehrt  des  ethisch- 
normativen Charakters.  Daß  die  Mystiker  sich  dennoch  den  kirchlichen 
Autoritäten  willig  sich  fügen,  liegt  in  dem  passiven,  quietistischen 
Charakter  aller  Mystik  begründet.  Die  Mystik  braucht  das  schützende 
Kirchendach,  damit  sie  ungestört  ihr  stilles  kontemplatives  Leben 
führen  kann,  sie  braucht  die  harten  Hülsen  und  Krusten  des  Kirchen- 
tums,  damit  ihre  zarte  und  empfindsame  Herzensfrömmigkeit  nicht 
Schaden  leidet.  Alle  großen  katholischen  Mystiker  waren  streng  kirchlich, 
so  kirchentreu  und  kirchenergeben,  daß  sie  seihst  das  sarrificium  intel- 
lectus  ohne  Murren  brachten.     Teresa  bekannte  am  Sterbebett  immer 


266  F  II.   Mystik  und  prophetische  Frömmigkeit 

wieder:  „Ich  bin  eine  Tochter  der  Kirche."129  Meister  Eckhart  und 
Madame  Guyon  haben,  von  der  Kirchenbehörde  angefochten,  ihre 
strenge  Kirchlichkeit  und  Rechtgläubigkeit  beteuert,  trotzdem 
sie  in  ihrer  mystischen  Gotteserfahrung  meilenweit  vom  kirchlichen 
Dogma  entfernt  waren;  Molinos  hat  seiner  quietistischen  Mystik  sogar 
feierlich  abgeschworen.  Und  sie  konnten  das  mit  gutem  Gewissen  tun, 
denn  dieser  Verzicht  auf  die  persönliche  Freiheit,  der  demütige  Autoritäts- 
gehorsam ist  für  sie  nur  ein  Stück  des  mystischen  Entwerdens,  der 
asketischen  Selbstertötung  und  Selbstvernichtung.  Auf  den  einsamen 
Höhen  der  Gottesschau  und  Gotteinigung  wird  ja  der  Mystiker  völlig 
frei  von  aller  kirchlichen  Autorität,  von  aller  dogmatischen  Bindung, 
wie  von  aller  geschichtlichen  Offenbarung,  denn  er  ist  selbst  zu  Gott 
geworden. 

Die  individuelle  Berührung  und  Einigung  des  Mystikers  mit  dem 
Göttlichen  ist  nicht  eine  ,Offenbarung'  Gottes  im  eigentlichen  Sinn 
des  Wortes ;  von  dieser  kann  allein  die  prophetische  Religion 
reden.  In  ihr  ist  Offenbarung  eine  objektive,  geschichtliche  Tatsache, 
eine  allgemein  verbindliche  göttliche  Willenskundgebung.  Träger  dieser 
Offenbarung  sind  nur  wenige,  „vom  Mutterleib  auserkorene"  (Jer  1  5), 
besonders  ausgerüstete  Persönlichkeiten.  Auf  der  Verkündigung  der 
göttlichen  Offenbarung  gründet  die  Heilserfahrung;  „der  Glaube  kommt 
aus  dem  Anhören,  das  Anhören  aus  dem  Wort  Christi"  (Roe  10  17). 
„Gott  hat  beschlossen,  daß  niemand  soll  und  kann  glauben  noch  den 
heiligen  Geist  empfahen  ohne  das  Evangelium,  so  mündlich  gepredigt 
oder  gelehret  wird"  (Luther)  130.  Im  Offenbarungscharakter  der  propheti- 
schen Religion  wurzelt  der  Autoritätsgedanke.  In  den  schöpferischen 
Erlebnissen  der  Propheten  tut  Gott  seinen  Willen  kund,  er  ,redet'  durch 
ihren  Mund,  ihr  Wort  ist  darum  für  Mit-  und  Nachwelt  bindend.  Die 
Hochschätzung  und  Verehrung,  welche  die  großen  Mystiker  im  Kreise 
ihrer  Jünger  besitzen,  läßt  sich  nicht  annähernd  mit  der  zentralen 
Stellung  und  persönlichen  Autorität  vergleichen,  die  Moses  und  die 
Propheten  in  der  israelitischen  Religion  (auch  für  Jesus),  Muhammed 
im  Islam,  Jesus  und  Paulus  für  das  Urchristentum  und  für  die  Refor- 
matoren besitzen.  Es  handelt  sich  hier  nicht  um  ein  bloßes  Sichangezogen- 
f  ühlen  undAngeregtwerden  von  geistesverwandten  großenPersönlichkeiten 
wie  in  der  Mystik,  sondern  um  eine  völlige  Determinierung  der  eigenen 
Erfahrung  durch  die  Erfahrung  der  schöpferischen  Persönlichkeiten. 
Diese  Autorität  ist  jedoch  nicht  eine  unpersönliche,  sachliche,  wie  das 
kirchliche  Lehramt,  dem  die  Mystiker  sich  unterwerfen,  sondern  die 
lebendige  religiöse  Persönlichkeit.  Auch  hinter  dem  Schriftwort,  auf  das 
Luther  pocht  und  schwört,  steht  die  persönliche  Autorität  der  biblischen 
Genien,  die  Träger  der  geschichtlichen  Offenbarung  Gottes  sind.  Weil 
die  prophetisch-evangelische  Religion  keiner  institutionellen,  kirchlichen 
Autorität  sich  beugt,  sondern  nur  der  persönlichen  Autorität  über- 
ragender Gottesmänner,  darum  kennt  sie  auch  keine  bloße  Zustimmung 
zu  statutarisch  und  autoritativ  vermittelten  Glaubenslehren,  sondern 
nur  die  freie  schöpferische  Aneignung  des  tiefsten  religiösen  Erlebens, 
das  mächtig  in  jenen  großen  Frommen  flutet.     Während  also  in  der 


Sünde  und  Heil  267 


Mystik  fügsamster  Autoritätsgehorsam  und  radikalste  Emanzipation 
von  aller  Autorität  unausgeglichen  nebeneinander  stehen,  vereinen  sich 
in  der  prophetischen  Religion  die  Beugung  unter  die  Autorität  des  sich 
offenbarenden  Gottes  mit  der  persönlichsten  und  lebendigsten  Freiheit 
in  voller  Harmonie. 

7.  Sünde    und    Heil. 

Sünde  ist  im  Sinne  der  Mystik  nicht  die  Negation  ethischer  Werte  und 
Normen,  sondern  das  ungebrochene  Ausleben  des  natürlichen  Affekt- 
und  Trieblebens,  die  naive  Lebensbejahung,  Lebenslust,  Weltfreude  und 
das  dadurch  bedingte  Verharren  in  der  Besonderung  des  individuellen 
Daseins.  Sünde  ist  für  die  Buddhisten  der  ,Daseinsdurst'  (bhavatanha), 
für  Augustinus  die  ,Konkupiszenz',  die  ungehemmte  Lebensbegierde  130b, 
für  den  Verfasser  der  ,Deutschen  Theologie'  der  , Eigenwille'  m.  Weil 
Lebensdrang  und  Daseinsgier  durch  die  Eindrücke  der  Sinnenwelt  und 
die  Beschaffenheit  des  menschlichen  Körpers  genährt  werden,  identifiziert 
die  Mystik  , Sinnlichkeit',  ,Welt'  und  ,Fleisch'  mit  Sünde.  Eben  deshalb, 
weil  die  Sündhaftigkeit  als  etwas  Äußeres,  Naturhaftes  betrachtet  wird, 
ist  sie  für  den  Mystiker  nur  ein  metaphysisches  Verhängnis,  ein  Schick- 
sal, das  den  innersten  Kern  des  Menschen,  den  Seelengrund,  nicht 
berührt.  Sünde  ist  darum  ein  ,Nichtseiendes'  (firj  öv),  wie  der  Areo- 
pagite  sagt 132,  ein  ,Fernsein  von  Gott'  (longe  a  Deo  esse)  nach  einem 
augustinischen  Terminus 133,  nur  , Beraubung'  (privatio),  , Mangel' 
(defectus),  ,Abwesenheit'  (absentia),  wie  Meister  Eckhart  sich  aus- 
drückt 134. 

Für  die  prophetische  Frömmigkeit  hingegen  liegt  die  Sünde  im  Bruch 
mit  der  gottgesetzten  ethischen  Wertordnung,  im  Abfall  von  Gottes 
heiligem  Willen.  ,,An  dir  allein  habe  ich  gesündigt"  (Ps  51  6).  Das 
Sündengefühl  besteht  in  der  Verurteilung  des  Ich  als  Trägers  eines 
sittlich-religiösen  Unwertes,  im  Gefühl  der  völligen  Profanität  und 
Unheiligkeit,  im  Erlebnis  des  Zwiespaltes  zwischen  dem  gottgewollten 
ethischen  Ideal  und  der  eigenen  sittlichen  Ohnmacht.  Die  Distanz 
zwischen  Mensch  und  Gott  ist  keine  metaphysische,  sondern  eine  ethische  . 
Sünde  —  Gnade,  Schuld  —  Rechtfertigung,  Verdammung  —  Ver- 
zeihung: das  ist  das  große  Problem  der  biblischen  Frömmigkeit,  das 
sich  hindurchzieht  durch  das  ganze  alt-  und  neutestamentliche  Schrift- 
tum, das  nie  in  der  Geschichte  der  christlichen  Frömmigkeit  in  Ver- 
gessenheit geriet,  das  aber  erst  in  den  Reformatoren  mit  ursprünglicher 
Kraft  wieder  lebendig  wird.  Das  Schuldgefühl  erlangt  in  der  prophe- 
tischen Religion  eine  niederschmetternde  Gewalt,  die  der  eigentlichen 
Mystik  fremd  ist;  die  Sünde  ist  die  furchtbarste  Realität,  so  furchtbar 
und  ungeheuer,  daß  sie  nur  als  Ausfluß  einer  widergöttlichen  persön- 
lichen Macht,  des  Satan,  verständlich  wird. 

Die  Mystik  sucht  das  Heil  in  der  Loslösung  von  der  Welt  und  Kreatur, 
von  allem  Nichtsein,  und  will  so  zum  allein  wahren  Sein  kommen.  Der 
Mensch  soll  ,entwerden'  und  so  die  Hüllen  der  Endlichkeit  abwerfen, 
den  Abstand  zwischen  Endlichem  und  Unendlichem  aufheben;  dann 
wird  er  eins  mit  dem  Göttlichen.    Die  ekstatische  .Einigung'  mit  Gott 


268  F  II.  Mystik  und  prophetische  Frömmigkeit 

(aikyam  in  der  indischen  Mystik,  tauhid  in  der  islamischen,  'achduth 
in  der  jüdischen,  evcootg  in  der  griechischen,  ,unio1'  in  der  roma- 
nischen) ist  das  eigentliche  Heilsideal  der  Mystik.  Der  Weg  zu 
diesem  hehren  Erlösungsziel  ist  jedoch  ein  gar  schwieriger  und  steiler; 
nur  schrittweise  vermag  der  Heilshungrige  sich  dem  unendlichen  Ideal 
zu  nähern,  Staffel  für  Staffel  muß  er  die  Heilsskala  hinaufklettern,  die 
zur  schwindelnden  Höhe  der  ekstatischen  Gotteinigung  emporführt. 
Die  wichtigsten  Abschnitte  dieses  Heilspfades  sind  nach  der  neuplatoni- 
schen Formel,  die  durch  Dionysius  Areopagita  zum  Gemeingut  der 
christlichen  Mystiker  wurde:  135  , Reinigung'  (xd&aQOig,  via  pur- 
gativa),  d.  h.  Askese,  ,Erleuchtung'  (elXafiipig,  via  illuminativa) 
d.  h.  Meditation  und  Gebet  und  , Einigung'  (evcooig,  via  unitiva) 
d.  h.  Kontemplation  und  Ekstase.  Mit  dieser  mystischen  Stufen- 
leiter deckt  sich  der  buddhistische  Heilsweg :  Askese  oder  Sittlichkeit 
(sila),  Versenkung  (samddhi),  Erkenntnis  (pahhä);  die  Buddhisten 
fügen  nur  noch  als  letzte  Stufe  die  Befreiung  (vimutti)  d.  i.  das  Nirväna 
an  136.  Dieser  Erlösungsprozeß  ist  ein  mühevolles  Sichhinaufarbeiten 
in  eine  höhere  Sphäre ;  aber  mit  der  eigenen  Kraftanstrengung  muß  sich 
die  unterstützende  Gottesgnade  vereinen,  damit  der  Fromme  zu  diesem 
Ziele  kommt.  Die'  höheren  mystischen  Zustände  können  wohl  durch 
unablässiges  Bemühen  vorbereitet  werden,  aber  ihr  Auftreten  in  der 
Seele  ist  nicht  Menschen  werk,  sondern  Gottesgnade.  „Nur  wen  e  r 
wählt,  ist  fähig  ihn  zu  fassen"  (Käthaka-Upanishad  II  23).  Selbst  der 
Buddhismus,  der  doch  das  autosoterische  Prinzip  mit  aller  Entschieden- 
heit durchführt,  betrachtet  die  befreiende  , Erleuchtung'  und  das  erlösende 
Nirväna  als  etwas  Wunderbares,  Gnadenvolles,  als  ein  , Gottesgeschenk 
ohne  Schenker'  137. 

Im  Gegensatz  zu  dem  komplizierten  mystischen  Heilspfad  ist  das 
Heilserlebnis  der  prophetisch-biblischen  Religion  etwas  unendlich  Ein- 
faches. „Zum  Vater  kommen"  ist  nicht  wie  bei  den  Mystikern  „mit 
Flügeln  gen  Himmel  steigen,  sondern  mit  herzlicher  Zuversicht  auf  ihn 
sich  verlassen  als  auf  einen  gnädigen  Vater"  (Luther) 138.  Das  Heil 
(aojTtjQla)  liegt  in  der  Wiederherstellung  der  durch  die  Sünde  ge- 
lösten Gemeinschaft  mit  Gott,  in  der  Überbrückung  der  Kluft  zwischen 
dem  Unwert  des  eigenen  Ich  und  dem  gottgewollten  sittlichen  Wert; 
diese  kann  nur  von  Gott  durch  , Rettung',  ,Vergebung',  Rechtfertigung' 
vollzogen  werden.  Die  Erlösung  kann  nicht  durch  Eigentätigkeit  vom 
Menschen  erlangt  werden,  auch  nicht  durch  die  größten  Werke  der 
Askese,  sie  ist  vielmehr  ein  freier  Akt  der  göttlichen  Gnade;  denn  der 
Mensch,  der  sich  innerlich  selbst  verurteilt,  seinen  eigenen  Unwert 
erlebt,  ist  nicht  imstande,  aus  eigener  Kraft  das  „fröhliche  Gewissen" 
(Luther)  139,  das  zuversichtliche  Lebensgefühl  zu  erlangen  oder  zu 
erneuern;  es  muß  spontan  aus  der  Seele  herausquellen.  Auf  Seite  des 
Menschen  bedarf  es  nur  einerseits  des  sittlichen  Aktes  der  Sinnes- 
änderung, der  seelischen  Umwandlung  (fietdvoia),  der  Selbstver- 
urteilung, des  radikalen  Bruches  mit  der  Vergangenheit,  anderer- 
seits der  vertrauensvollen  Hinwendung  zu  Gott,  der  schlichten  und 
kindlichen,  demütigen  und  freudigen  Zuversicht  zu  dem  gnädigen  und 


Sünde  und  Heil  269 


barmherzigen  Gott.  , Rückkehr  zu  Jahwe'  ist  das,  was  die  israelitischen 
Propheten  von  dem  sündigen  Israel  fordern  140.  Durch  das  schlichte 
Bekenntnis:  „Vater,  ich  habe  gesündigt,  ich  bin  nicht  wert,  dein  Sohn 
zu  heißen,"  erlangt  nach  der  Parabel  Jesu  der  verlorene  Sohn  Vergebung 
und  Wiederaufnahme  im  Vaterhause  (Luk  15  2i)'  durch  die  demütige 
Bitte:  „Gott,  sei  mir  Sünder  gnädig!"  wird  dem  Zöllner  Vergebung  und 
Rechtfertigung  zuteil  (Luk  18  13).  Im  Glauben  an  den  gnädigen  Vater- 
gott liegt  nach  Paulus  allein  Heil  und  Sündenvergebung.  Luther  hat 
diesen  biblischen  Heilsbsgriff,  zu  dem  Augustin,  der  ehemalige  Neu- 
platoniker,  nie  ganz  vordringen  konnte,  wieder  erneuert.  Der  Glaube 
ist  es,  der  Heil  und  Erlösung  schenkt,  und  er  allein:  sola  jides.  Der 
Mensch  kann  nichts  für  sein  Heil  tun  und  wirken,  sondern  nur  glauben 
und  vertrauen,  empfangen  und  danken.  „Mit  keinem  andern  Werk 
mag  man  Gott  erlangen  oder  verlieren  denn  allein  mit  Glauben  oder 
Unglauben,  mit  Trauen  oder  Zweifeln."  „Es  ist  nicht  von  nöten,  daß  du 
dies  oder  jenes  tuest.  Tu  unserm  Herr  Gott  nur  soviel  Ehre  und  nimm  es 
an,  was  er  dir  gibt  und  glaube,  was  er  dir  zusagt."  „Der  rechte  Glaube 
ist  ein  lauter  Gottes  Werk,  ohn  alles  unser  Zutun  in  uns"  141.  Paulus, 
Luther  und  all  die  Frommen,  die  den  Konflikt  zwischen  Sündenbewußt- 
sein und  Gnadensehnsucht  durchkämpften,  klammern  sich  in  ihrem 
Heilsglauben  und  Vergebungstrost  an  eine  geschichtliche  Heilstatsache, 
den  Sühnetod  Jesu  am  Kreuze,  der  ihnen  eine  objektive  Garantie  der 
vergebenden  und  rechtfertigenden  Gottesgnade  bietet.  Im  japanischen 
Sola- fide-3uddhisinus  ist  die  Heilstatsache  Amida  Buddhas  großes 
vorzeitliches  Gelübde  (pürvanidhäna),  nicht  eher  ins  Nirväna  einzugehen, 
als  alle  Wesen  erlöst  seien.  142  Die  psychologische  Eigenart  des  Heils- 
erlebnisses wird  durch  diese  objektive  Stütze  nicht  verändert.  Immer 
ist  es  der  innere  Zwiespalt  zwischen  der  Majestät  des  sittlichen  Ideals 
und  der  eigenen  sittlichen  Unwürdigkeit  und  Ohnmacht,  der  durch 
einen  schöpferischen  Akt  der  Zuversicht  überwunden  wird. 

Der  Unterschied  zwischen  dem  mystischen  und  prophetischen  Heils- 
glauben ist  so  deutlich  wie  möglich.  Dort  ein  komplizierter  „Heilsweg", 
eine  schwierige,  zu  schwindelnden  Höhen  emporführende  Heilsskala  — 
hier  ein  spontaner  religiös-ethischer  Akt  der  Selbstverurteilung,  des 
Willens  zum  Guten  und  des  Vertrauens,  der  Freiheit,  Kraft  und  Selig- 
keit verleiht;  dort  eine  mühevolle  Selbstpräparation  und  kunstvolle 
Psychotechnik  —  hier  ein  freies  Leben  und  Wirken  aus  der  Kraft  des 
Geistes:  „der  Geist  weht,  wo  er  will"  (Jo  38);  dort  ein  langwieriger 
Prozeß  des  ,Entwerdens',  der  sukzessiven  Selbstvernichtung  ■ — ■  hier 
eine  radikale  innere  Umgestaltung,  eine  „Wiedergeburt",  eine  Neu- 
schöpfung. „Wenn  einer  in  Christus  ist,"  bekennt  Paulus,  „dann  ist  er 
ein  neues  Geschöpf.  Das  Alte  ist  vergangen,  siehe  alles  ist  neu  ge- 
worden" (2  Kor  5  17). 

8.  Die  Stellung  zur  Ethik. 
Das  sittliche  Tun  gilt  der  Mystik  nicht  als  Eigenwert,  Selbstzweck 
d.   h.   als   Verwirklichung   von   Werten   im   persönlichen   und  sozialen 
Leben,  sondern  als  Mittel  zur  Ertötung  der  Sinne  und  Verdrängung  der 


270  F  II.  Mystik   und   prophetische   Frömmigkeit 

Affekte.  Die  Sittlichkeit  der  Mystik  ist  Askese,  Läuterung  des 
Seelenlebens  {xäü-ctQOig);  sie  besitzt  eine  negative,  außerethische 
Bedeutung  als  die  entferntere,  freilich  unumgängliche  Vorbereitung 
zur  Vereinigung  mit  Gott 143;  die  nähere  Vorbereitung  bilden  Betrachtung, 
Gebet  und  Versenkung.  Auch  der  grandiose  Heroismus  und  die  opfer- 
starke Caritas  mancher  christlicher  Mystiker,  wie  einer  Katharina  von 
Genua,  dienen  nur  der  Reinigung,  der  Selbsthingabe  und  Selbstertötung 
und  sollen  der  ekstatischen  Gotteinigung  die  Wege  ebnen.  Wie  in  dem 
Heilspfade  der  neuplatonischen  und  christlichen  Mystik,  so  bildet  auch 
in  der  buddhistischen  Erlösungsskala  das  sittliche  Tun  nur  die  Vor- 
stufe zur  ,Versenkung'  und  , Erkenntnis'  (s.  o.  S.  268). 

Die  erste  Bedeutung  des  Sittlichen  für  das  mystische  Frömmigkeits- 
leben  liegt  darin,  daß  es  die  psychologische  Vorbereitung  für  die  höheren 
mystischen  Gotteserfahrungen  bildet.  Eine  zweite  Bedeutung  besitzt 
das  ethische  Wollen  und  Handeln  als  Kriterium  für  die  Gesundheit  der 
mystisch-ekstatischen  Erlebnisse.  Nach  Teresas  Urteil  ist  vollkommen 
in  der  Gottesliebe  „nicht  diejenige  Seele,  welche  die  meisten  Süßig- 
keiten und  Tröstungen  verkostet,  sondern  diejenige,  welche  am  festesten 
entschlossen  ist,  Gott  nicht  mehr  zu  beleidigen  und  Gottes  Willen  zu 
erfüllen."  144 

Diese  positivere  Wertschätzung  des  Ethischen,  die  uns  bei  vielen  christ- 
lichen Mystikern  begegnet,  beruht  auf  biblisch-evangelischen  Ein- 
flüssen. Die  konsequente  Mystik  hingegen  erkennt  der  Ethik  nur  eine 
provisorische,  pädagogische  Bedeutung  zu.  Weil  für  sie  das  Sittliche 
nur  etwas  Vorläufiges,  Vorbereitendes  ist,  darum  muß  der  nach  dem 
Höchsten  strebende  Fromme  das  Reich  der  sittlichen  Ideale  hinter  sich 
zurücklassen;  er  muß  das  auf  konkrete  ethische  Werte  und  Aufgaben 
gerichtete  Wollen  ebenso  überwinden  wie  das  triebhafte  Streben;  er 
muß  die  heiligen  Werke  der  Selbstzucht  und  Nächstenliebe  ebenso 
aufgeben  wie  das  irdische  Tun  und  Lassen.  Schon  der  weise  Atman- 
Seher  Yajnavalkya  sagt:  „Über  das  böse  Tun  und  über  das  gute  Tun, 
über  beides  schreitet  der  Unsterbliche  hinaus"  145,  ein  Satz,  den  das 
buddhistische  Dhammapada  wie  die  Bhagavadgitä  wiederholten146. 
In  gleicher  Weise  urteilt  Plotin:  „Die  Seele  darf«  weder  Böses  noch 
Gutes  an  sich  haben,  damit  sie  als  Einsame  das  Einsame  aufnehme."  147 
Mechthild  von  Magdeburg  meint:  „Die  Minne  ohne  Mutter  der  Demut 
und  ohne  Vater  der  Furcht,  die  ist  an  allen  Tugenden  verwaist."  148 
Pere  Lacombe  sagt:  „Es  ist  schwerer  den  Tugenden  abzusterben  als 
den  Lastern;  und  dennoch  ist  das  eine  so  notwendig  wie  das  andere, 
um  zur  vollkommenen  Einigung  zu  gelangen."  149  Gerade  die  tätige 
Caritas  muß  überwunden  werden,  weil  sie  die  innere  Unberührtheit 
und  Einheit  stört.  Meister  Eckhart  sagt:  „Ich  lobe  auch  die  Abge- 
schiedenheit vor  aller  Barmherzigkeit,  denn  Barmherzigkeit  ist  nichts 
anderes,  denn  daß  der  Mensch  aus  sich  selber  geht  auf  seines  Eben- 
menschen Gebresten  und  davon  sein  Herz  betrübet  wird.  Dessen  steht 
die  Abgeschiedenheit  ledig  und  bleibt  in  sich  selber  und  läßt  sich  durch 
kein  Ding  betrüben."  150  Auf  der  Höhe  der  mystischen  Abgeschieden- 
heit und  Gottesschau  ist  das  Reich  der  sittlichen  Werte  untergegangen. 


Stellung  zur  Ethik  271 


Der  Vollendete  steht  „jenseits  von  Gut  und  Bös"  (anyatra  dharmäd 
anyatra  adharmdd,  Kathaka-Upanishad  II  14),  „Gut  und  Bös  hat 
für  ihn  aufgehört  zu  existieren"  (Dhammapada  39).  „Wo  die  Liebe  ist, 
sind  Gut  und  Bös  verschwunden"   (Ferid-ed-din-Attär  151). 

Für  die  prophetische  Religion  ist  das  sittliche  Wollen  und 
Handeln  kein  Provisorium,  nicht  bloße  Vorbereitung  für  die  Einigung 
mit  Gott,  sondern  ein  ,Tun  des  Willens  Gottes',  wie  es  in  der  Ver- 
kündigung Jesu  immer  wieder  heißt.  Das  Sittliche  wird  vom  Religiösen 
nicht  getrennt;  die  Religion  löst  sich  auch  nicht  in  Sittlichkeit  auf  wie 
in  der  philosophischen  Reformreligion,  sondern  steht  mit  ihr  in  innerem 
organischen  Zusammenhang.  Diese  Verbindung  von  Religion  und  Ethik 
wurde  schon  von  den  beiden  Schöpfern  der  Offenbarungsreligionen, 
Mose  152  und  Zarathuschtra,  vollzogen ;  sie  wird  vollendet  von  den  alt- 
testamentlichen  Propheten  und  von  Jesus.  Gott  ist  nicht  der  , Übergute', 
sondern  der  Inbegriff  und  Quelle  aller  sittlichen  Werte,  der  heilige 
Wille,  der  souveräne  Gesetzgeber  und  Richter,  der  fordert  und  gebietet, 
rächt  und  verdammt.  Die  Erfüllung  seiner  sittlichen  Forderung  im 
individuellen  und  sozialen  Leben,  in  der  Herzensreinheit  und  Selbst- 
zucht, in  der  Bruderliebe  und  Opferhingabe  ist  genau  so  Gottesdienst 
und  Gottesumgang  wie  Gottesglaube,  Gottesliebe  und  Gebet.  Mispät 
(.Recht')  und  sedalcd  (.Gerechtigkeit')  machen  im  Alten  Testament  das 
Wesen  der  praktischen  Religion  aus  153.  Paulus  stellt  die  tätige  Liebe 
über  alle  wunderbaren  Gottesgnaden,  über  den  Enthusiasmus  des 
Zungenredens  und  die  anderen  Charismen,  ja  selbst  über  Glaube  und 
Hoffnung  (1  Kor  13).  Die  lebendige  Gotteserfahrung  drängt  von  selbst 
zur  sittlichen  Aktivität,  der  frohe  Gottesglaube  offenbart  sich  spontan 
im  sittlichen  Handeln.  „Der  Glaube  wirkt  sich  aus  in  der  Liebe"  (Gal  5  6). 
Der  Glaube  „wird  ohne  Zwang  willig  und  lustig,  jedermann  Gutes 
zu  tun,  jedermann  zu  dienen,  allerlei  zu  leiden,  Gott  zu  Lieb  und  Lob, 
der  ihm  solche  Gnade  erzeiget  hat,  also  daß  unmöglich  ist,  Werk  vom 
Glauben  scheiden,  ja  so  unmöglich  als  Brennen  und  Leuchten  vom 
Feuer  mag  geschieden  sein"  (Luther)  154. 

So  ist  das  sittliche  Tun  in  der  Mystik  nur  Vorstufe  der  Einigung 
mit  Gott,  in  der  prophetischen  Frömmigkeit  hingegen  selbst  Gemein- 
schaft mit  Gott.  Die  mystische  Ethik  hat  ausschließlich  negative  Be- 
deutung, sie  will  ein  Hindernis  des  Heils  wegschaffen,  das  natürliche 
Affektleben  binden.  Die  prophetische  Ethik  hingegen  hat  positive 
Bedeutung;  sie  will  gottgewollte  Ideale  realisieren,  die  in  sich  selbst 
wertvoll  sind,  nicht  erst  im  Hinblick  auf  ein  religiöses  Ideal.  Die  mystische 
Ethik  ist  durchaus  individualistisch  und  asozial:  der  Einzelne  soll 
durch  die  unermüdliche  Arbeit  an  sich  selbst  zur  affektlosen  inneren 
Einheit  gelangen.  Die  prophetische  Frömmigkeit  trachtet  ebenso  nach 
einem  Persönlichkeitsideal  wie  nach  einem  Gemeinschaftsideal.  Sie 
fordert  ebenso  Herzensreinheit  und  Wahrhaftigkeit  wie  schenkende 
und  verzeihende  Bruderliebe,  sie  kennt  keine  Sittlichkeit,  die  nicht 
zugleich  sozial  ist;  ja  die  soziale  Seite  im  sittlichen  Wirken  ist  für  sie 
noch  wichtiger  wie  die  individuelle.  Für  Paulus  und  Johannes  wird  die 
.Bruderliebe'    (dydTtrj)   zur  christlichen    Sittlichkeit  schlechthin  (1  Kor 


272  F  II.   Mystik  und  prophetische   Frömmigkeit 


13;  Jo  15  12;  1  Jo  3  n).  Für  Luther  ist  der  aus  der  Kraft  und  Seligkeit 
des  Glaubenserlebnisses  strömende  Gottesdienst  Dienst  am  Nächsten. 
„Gott  bedarf  nicht  unser  Werk  und  Wohltat,  sondern  hat  uns  damit 
zu  seinem  Nächsten  geweiset,  daß  wir  demselben  tun,  was  wir  ihm  tun 
wollten."  Im  Nächsten  ,,da  soll  man  Gott  finden  und  lieben,  da  soll 
man  ihm  dienen  und  Guts  tun,  wer  ihm  Gutes  tun  und  dienen  will;  daß 
also  das  Gebot  von  der  Liebe  Gottes  ganz  und  gar  herunter  in  die 
Liebe  des  Nächsten  gezogen  ist155." 

9.  Die  Stellung  zur  sozialen  Gemeinschaft 156. 

a)  Die  reine  Mystik  ist  extrem  individualistisch,  asozial ; 
sie  kennt  nichts  anderes  als  „Gott  und  die  Seele"  (Augustinus)  157. 
„Die  fromme  Seele  muß  so  mit  Gott  geeint  sein,  als  gäbe  es  nichts 
außer  allein  Gott  und  die  Seele  selbst"  (Albertus  Magnus)  158.  „Lebe 
mit  Gott  in  deinem  Inwendigen,  als  ob  er  und  du  allein  in  der  Welt 
vorhanden  wäre"  (Pere  Lacombe)  159.  Die  Flucht  vor  der  Gesellschaft, 
das  Leben  in  der  Einsamkeit  ist  die  Vorbedingung  der  mystischen  Heils- 
erfahrung. In  völliger  Vereinsamung,  isoliert  von  allen  anderen  Men- 
schen, steht  der  Mystiker  sich  selbst  und  seinem  Gott  gegenüber.  Das 
Selbstbewußtsein,  das  auf  das  eigene  Ich  sich  richtende 
Wertgefühl  —  das  allen  produktiven  Persönlichkeiten,  den  religiös  wie 
den  philosophisch  und  künstlerisch  schöpferischen  Menschen  eigen  ist  — 
entbehrt  bei  dem  Mystiker  jedes  sozialen  Einschlages;  es  besteht  in 
der  Gewißheit  des  individuellen  Erwählt-,  Begnadet-,  Erleuchtet-, 
Beseligt-,  Vergottetseins.  Wo  dieses  Selbstbewußtsein  in  konkreten, 
sinnlichen  Symbolen  sich  aussprechen  will,  da  stellt  sich  die  mystische 
Brautvorstellung  ein.  Die  gottinnige  Seele  weiß  sich  als  Gottesbraut 
erwählt  und  beglückt  von  des  himmlischen  Bräutigams  zarter  Minne. 

Die  prophetische  Religion  hingegen  ist  durchaus  sozial;  „wir 
viele  sind  nur  ein  Leib,"  bekennt  Paulus  (1  Kor  10  16).  Zwar  steht  auch 
der  Prophet  im  Verkehr  mit  Gott  diesem  als  individuellePersönlichkeit 
gegenüber,  als  ein  Einzelner,  aber  niemals  isoliert  von  den  auderen 
Menschen.  Die  Not,  die  ihn  quält,  ist  nicht  bloß  seine  eigene,  sondern 
ebenso  die  Not  seiner  Brüder;  das  Heil,  nach  dem  er  verlangt,  ist  auch 
das  Heil  seines  Volkes,  seiner  Glaubensgenossen,  der  ganzen  Menschheit; 
die  Werte,  Normen  und  Aufgaben,  die  in  erschütternden  Erlebnissen 
als  unentrinnbare  Notwendigkeit  ihm  aufgehen,  gelten  nicht  bloß  ihm, 
sondern  allen.  Darum  trägt  das  prophetische  Selbstbewußtsein  einen 
aktiven,  sozialen  Charakter,  der  dem  Selbstbewußtsein  des  Mystikers 
mangelt.  Auch  die  prophetischen  Persönlichkeiten  wissen  sich  von 
Gott  erwählt  — ■  aber  nicht  zum  ekstatischen  Gottesgenuß  und  zur 
bräutlichen  Liebeswonne,  sondern  zu  konkreten,  positiven  Aufgaben, 
zur  Verkündigung  des  göttlichen  Willens,  zur  Arbeit  am  Gottesreich. 
Arnos  bekennt:  „Jahwe  hat  mich  von  der  Herde  weggeholt  und  sprach 
zu  mir:  Gehe  hin  und  tritt  gegen  mein  Volk  Israel  auf"  (7  14).  Die  alt- 
testamentlichen  Propheten  wissen  sich  als  Sendboten  Jahwes,  berufen, 
ihrem  Volk  Gericht  und  Heil  zu  verkünden.  Jesus  weiß  sich  , ausgesandt' 
zur  Verkündigung  der  nahen  Gottesherrschaft;  aber  sein  Beruf  ist  nicht 


Stellung  zur  Gemeinschaft  273 

nur  ein  prophetischer,  sondern  ebenso  ein  eschatologischer ;  als  Messias 
und  Gottessohn  ist  er  bestimmt,  Satans  Macht  in  der  Welt  zu  brechen, 
Gericht  zu  halten  über  Israel  und  das  ewige  Reich  der  Gerechtigkeit 
und  Seligkeit  auf  Erden  aufzurichten.  Paulus  weiß  sich  durch  Gott 
,vom  Mutterleib  auserkoren'  und  .berufen'  zum  ,Völkerapostel',  ,aus- 
gesondert  zu  predigen  das  Evangelium  Gottes'  (Roe  1  x;  11  13;  Gal  1  15). 
Mohammed  nennt  sich  stolz  den  , Gesandten  Gottes'  {rasül  Allah).  Das 
prophetische  Selbstbewußtsein  ist  also  Berufungs-  und  S  e  n  - 
dungs  bewußtsein  gegenüber  dem  Begnadungsbewußtsein  der  Mystiker 
b)  Das  mystische  Erleben  verzehrt  den  Frommen,  hält  ihn  im  eigenen 
Seelenleben  gefangen ;  es  gehen  darum  von  ihm  keine  Impulse  zur  Ver- 
kündigung, zur  Missionspropaganda,  zur  reformatorischen  Umgestaltung 
der  Menschen  und  der  Verhältnisse  aus.  Die  Mystik  ist,  wie  schon  der 
Name  sagt  (s.  o.  S.  248)  eine  esoterische  Religion,  bestimmt  nur 
für  wenige  begnadete  Menschen,  die  abseits  von  der  Heeresstraße  auf  ein- 
samem Pfade  zu  Gott  pilgern.  Die  Mystiker  gehen  nicht  auf  die  Gasse, 
um  der  Menge  den  kostbaren  Schatz  zu  zeigen,  den  sie  nach  langem 
Suchen  und  Ringen  gefunden  haben,  sie  predigen  nicht  den  Massen  und 
machen  keine  Proselyten.  „Die  Seele,  welche  eingeweiht  {fivötis) 
ist  in  die  heiligen  Schauspiele  (zeXeTcd),  darf  niemanden  leichtsinnig 
die  göttlichen  Geheimnisse  aussagen,  sondern  muß  sie  bewahren,  ver- 
schweigen und  hüten  in  der  Unaussprechlichkeit"  (Philo)  16°.  Nur 
den  wenigen  Gleichgesinnten  und  Heilsdürstenden  erzählen  die  Mystiker 
von  den  Geheimnissen,  die  ihnen  in  der  Verborgenheit  enthüllt  wurden; 
den  Vertrauten  schildern  sie  ihre  Erlebnisse,  für  die  unbekannten,  zer- 
streuten Geistesverwandten  verfassen  sie  Anweisungen  zum  geistlichen 
Leben.  Der  Gedankenaustausch  der  Mystiker  vollzieht  sich  in  der 
individuellen  mündlichen  Unterweisung  eines  nach  Vollkommenheit 
Strebenden  durch  einen  Eingeweihten,  einen  Meister,  den  guru  in 
Indien,  den  seich  im  Sufismus  161,  den  geistlichen  Vater'  {TXVEV^axixbg 
TictTfjQ)  im  Mönchtum  der  Ostkirche.  162.  Daneben  aber  erfolgt 
die  Einführung  in  die  Geheimnisse  des  mystischen  Innenlebens  auf 
Uterarischem  Wege  in  der  Form  des  Selbstbekenntnisses,  der  brieflichen 
Seelenführung,  der  Heilsanweisung  durch  das  Buch.  Das  literarische 
Schaffen  ist  ein  Charakteristikum  aller  Mystiker.  Ungemein  häufig 
findet  sich  der  vorwiegend  schriftlich  sich  vollziehende  intime  religiöse 
Austausch  von  Seele  zu  Seele.  Berühmte  Mystiker  und  Mystikerinnen 
standen  miteinander  in  einem  trauten  Freundschaftsverhältnis,  so 
Räbia  und  Hasan  Basri,  Hildegard  von  Bingen  und  Bernhard  von 
Clairvaux,  Margaretha  Ebner  und  Heinrich  von  Nördlingen,  Elsbeth 
Stagel  und  Seuse,  Katherina  von  Genua  und  Marabotto,  Teresa  und 
Johann  v.  Kreuz,  Madame  Chantal  und  Franz  von  Sales,  Madame 
Guyon  und  Pere  Lacombe.  Aber  auch  die  weitverbreiteten  mystischen 
Erbauungsbücher  tragen  keine  universalistische  Bestimmung,  sondern 
sind  immer  nur  für  emzelne  Seelen  oder  enge  Kreise  bestimmt.  Das 
Wort  upanishad  bedeutet  , vertraute  Mitteilung',  die  ,Imitatio  Christi' 
ist  ein  Betrachtungsbuch  für  die  Klosterzelle;  Madame  Guyon  erklärte 
dem  Bischof  Bossuet,  sie  habe  ihre  mystischen  Schriften  nur  für  die 

Das  Gebot  18 


274  F  II.   Mystik  und   prophetische  Frömmigkeit 


wenigen   Seelen   geschrieben,   die  in   ihrem    Sinne   das    ,innere    Gebet1, 
pflegten  163. 

Auch  die  prophetischen  Persönlichkeiten  kennen  die  Seligkeit,  die 
der  traute  Umgang  mit  Gott  in  der  Gebetseinsamkeit  gewährt;  aber 
sie  verharren  nicht  darin  wie  die  Mystiker,  der  göttliche  Auftrag,  den 
sie  empfangen  haben,  treibt  sie  hinaus  in  die  Welt.  Der  Prophet  muß 
reden,  die  ,Kraft  Gottes'  zwingt  ihn  dazu  vor  aller  Welt  Gottes  Wort 
zu  verkünden  ,  auch  wenn  er  sich  innerlich  dagegen  sträubt.  Schon 
die  Etymologie  des  hebräischen  Wortes  ndbi  (Sprecher)  wie  des  grie- 
chischen Wortes  7iQ0(pi}T7]S  (der  an  Stelle  eines  anderen  Redende) 
weist  auf  die  Aufgabe  der  Verkündigung  hin.  Der  Prophet  muß  ver- 
künden und  drohen,  trösten  und  strafen,  bekennen  und  ermahnen, 
kämpfen  und  wecken.  Er  wendet  sich  nie  bloß  an  Einzelne,  an  Jünger 
und  Vertraute,  sondern  an  das  Volk,  an  die  Öffentlichkeit,  an  die  Massen. 
,, Jahwe  sprach  zu  Jeremia:  Verkünde  alle  diese  Worte  in  den  Städten 
Judas  und  auf  den  Gassen  Jerusalems"  (Jer  11  6).  „Weh  mir,  wenn 
ich  nicht  das  Evangelium  verkündete!"  ruft  Paulus  aus  (l^Kor  9  16). 
In  den  Propheten,  Aposteln,  Missionaren,  Reformatoren  lebt  ein  un- 
bändiger Eroberungs  wille,  ein  leidenschaftlicher  Bekehrungs-  und 
Heiligungseifer.  Sie  wollen  nicht  bloß  einsamen  Geistesfreunden  den 
Weg  zum  Ewigen  weisen,  sie  wollen  alle  Menschen  für  Gott  und  sein 
Reich  gewinnen,  sie  wollen  alle  Seelen  für  die  Ewigkeit  retten;  sie  wollen 
,, allen  alles  werden"  (1  Kor.  9  22).  Die  großen  missionierenden  Welt- 
religionen (Diasporajudentum,  Islam,  Christentum)  sind  aus  diesem 
universellen  Drang  des  Prophetismus  hervorgegangen. 

Auch  in  der  Missionspredigt  des  Buddha  und  seiner  Bettelmönche  lebt  etwas 
vod  der  Kraft  der  prophetischen  Religion;  der  mystische  Grundgedanke  wird 
hier  durch  das  Mitleidsmotiv  durchbrochen.  Buddha  tat  nach  der  Legende  das 
Gelübde,  nicht  eher  ins  Nirväna  einzugehen,  ehe  alle  Wesen  erlöst  seien  164.  Die 
mahayänische  Richtung  des  Buddhismus  stellt  über  das  Ideal  des  arhat.  der 
nur  für  sich  das  Nirväna  sucht,  das  des  barmherzigen  bodhisattva,  der,  alle  Nir- 
vänasehnsucht  vergessend,  allen  Menschen  die  Erlösung  vom  Leid  bringen  will, 
der  lebt  und  wirkt  ,.zum  Heile  vieler  Menschen,  zum  Glück  vieler  Menschen, 
aus  Mitleid  mit  der  Welt,  zum  Wohle,  zum  Heile,  zum  Glücke  der  Götter  und 
Menschen"  .16S 

c)  Die  Erkenntnis,  daß  zum  geistlichen  Leben',  zur  ,Vollkommenheit' 
nicht  alle  berufen  sind,  macht  die  Mystiker  tolerant  gegen  fremde 
Religionen  wie  gegen  die  traditionelle  kultische  Volksfrömmigkeit. 
Auch  in  dem  rohesten  Kultakt  sieht  der  Mystiker  eine  Ahnung  des 
sublimen  mystischen  Erlebnisses.  Die  einer  niederen  Entwicklungsstufe 
entstammenden  Formen  der  Frömmigkeit  fügt  er  als  Vorstufe  oder  als 
pädagogisch  wertvolles  Hilfsmittel  seinem  Heilsweg  ein ;  der  ,esoterischen' 
tiefen  Frömmigkeit,  zu  der  nur  die  wenigen  Auserwählten  und  Be- 
gnadeten fähig  sind,  stellt  er  die  ,exoterische'  Religion  gegenüber,  in 
der  den  Durchschnittsfrommen  in  groben  Hüllen  und  äußeren  Symbolen 
die  tiefen  Geheimnisse  des  mystischen  Erlebens  dargeboten  werden. 
In  ihrer  Toleranz  und  Fügsamkeit  besitzt  die  Mystik  nicht  die  Kraft, 
den  Kampf  gegen  das  traditionelle  Religionswesen,  das  sie  innerlich 
überwunden  hat,  aufzunehmen.  Sie  schmiegt  sich  diesem  an,  wie  groß 
auch  die  innere  Kluft  sein  mag,  die  sie  von  ihm  trennt.  In  ihrer  weichen , 


Stellung  zur    Gemeinschaf t  275 


passiven  Fügsamkeit  hat  sich  die  sufistische  Mystik  der  starren  Gesetzes- 
religion des  Islam,  die  mittelalterliche  und  die  quietistische  Mystik  der 
engen  und  harten  Hierarchenkirche  anzupassen  vermocht. 

Im  Gegensatz  zur  Mystik  ist  die  prophetische  Religion  wesentlich 
intolerant.  Die  Absolutheit  der  Norm,  die  Gültigkeit  des  religiös- 
sittlichen Ideals  duldet  kein  Kompromiß.  Die  prophetischen  Bewegungen 
stellen  stets  eine  schroffe  Opposition  gegen  die  Volksreligion  dar,  gegen 
alles  Kult-  und  Frömmigkeitswesen,  das  unter  dem  Niveau  des  prophe- 
tischen Ideals  liegt.  Die  prophetische  Religion  drängt  zu  einem  gewalt- 
samen Bruch  mit  der  traditionellen  und  konventionellen  Religion;  sie 
ist  revolutionär.  Aus  den  prophetischen  Erlebnissen  sind  die 
großen  Umwälzungen  in  der  Religionsgeschichte  geboren .  Die  Propheten 
sind  stets  Reformatoren,  Schöpfer  und  Herolde  emer  reineren  und 
höheren  Frömmigkeit.  Der  prophetischen  Verkündigung  eignet  eine 
Schroffheit,  Herbheit  und  Härte,  ein  sittliches  Pathos.  Der  prophetische 
Mazdaismus  fordert  von  seinen  Bekennern  unversöhnlichen  Kampf 
gegen  seine  Feinde,  die  Anhänger  der  Drukhs.  Die  Lügendiener  „unter- 
weise man  mit  dem  Schwert !" 166  Der  Islam  predigt  dschihäd,  den  heiligen 
Krieg,  durch  den  die  Völker  zur  Anerkennung  der  Herrschaft  Allahs 
und  seines  Propheten  gezwungen  werden  sollen.  Die  alttestamentlichen 
Propheten  „eifern  für  Jahwe"  (1  Kg  19)  14;  sie  führen  einen  unerbitt- 
lichen Kampf  gegen  die  polytheistischen  Tendenzen  der  kanaanäischen 
Volksreligion  —  ein  „Huren"  mit  den  Baalen  und  Götzenbildern  nennen 
sie  die  kanaanäischen  Kulte  167  — ,  einen  Kampf  für  die  ethische  Gottes- 
verehrung gegen  den  Opferkult.  Jesus  ruft  ein  furchtbares  Wehe  über 
die  Städte  Israels,  die  auf  die  Reichgottesverkündigung  nicht  gehört, 
und  sich  nicht  bekehrt  haben  (Mt  11  20  ff.),  ein  Wehe  über  die  Pharisäer, 
die  mit  ihrer  äußerlichen  Gesetzesreligion  den  Weg  zum  Gottesreich 
versperren  (Mt  23).  Die  herbe  Polemik  und  der  unerschrockene  Kampf 
der  alttestamentlichen  Propheten  setzt  sich  in  Jesu  ganzem  öffentlichen 
Wirken  fort.  „Glaubet  nicht,  daß  ich  gekommen  sei,  den  Frieden  zu 
bringen,  ich  bin  nicht  gekommen,  den  Frieden  zu  bringen,  sondern  das 
Schwert"  (Mt  10  35).  Die  leidenschaftliche  Intoleranz  des  prophetischen 
Geistes  offenbart  sich  nicht  minder  beim  Völkerapostel.  „Wenn  jemand 
nicht  liebt  den  Herrn,  der  sei  verflucht!"  „Wenn  jemand  ein  anderes 
Evangelium  verkündet  als  das,  welches  ihr  empfangen  habt,  der  sei 
verflucht!"  (1  Kor  16  22;  Gal  1  9).  Im  Gegensatz  zu  der  tiefen  Ruhe 
und  innigen  Milde  der  Mystiker  lebt  der  revolutionäre  prophetische 
Kampfgeist  in  den  Reformatoren  machtvoll  auf.  „Kann  denn  die  Sache 
des  Evangeliums  getrieben  werden  ohne  Tumult,  Ärgernis,  Aufruhr  ? 
Du  wirst  aus  dem  Schwert  keine  Feder  machen  noch  Frieden  aus  dem 
Krieg.  Das  Wort  Gottes  ist  Schwert,  ist  Krieg,  ist  Zusammensturz 
und  Verderben,  ist  Gift  und,  wie  Arnos  sagt,  wie  ein  Bär  am  Weg  und 
eine  Löwin  im  Wald  so  fährt  es  her  über  die  Kinder  Ephraims"  (Luther)168 

d)  Die  Mystik  besitzt  keine  gesellschaftbildende  Kraft,  „sie  kann  ihrem 
Wesen  nach  nicht  wohl  Religion  einer  Gemeinde  werden"  (Rohde)  169. 
Fast  nie  bilden  mystische  Persönlichkeiten  das  Zentrum  eines  kräftigen 
Gemeinschaftslebens,    wie   es   sich    innerhalb   der    Sekte   und    Ordens- 


276  P  II.    Mystik  und  prophetische  Frömmigkeit 

gemeinde  abspielt.  Wenn  den  Mystikern  eine  religiöse  Gemeinschaft 
vorschwebt,  so  ist  es  nur  die  unsichtbare  Kirche,  die  rein  geistige 
Gemeinschaft  aller  gottinnigen  Gemüter,  die  sich  unsinnlich,  ohne  alle 
äußeren  Zeichen,  über  Raum  und  Zeit,  über  alle  Verschiedenheit  der 
Rasse  und  Religion  hinweg  erstreckt.  Alle  freien,  losen  und  fließenden 
Gruppenbildungen  um  mystische  Seelenführer,  alle  der  individuellen 
Erbauung  dienenden  mystischen  Konventikel  und  Geheimbünde  sind 
nicht  religiöse  Gemeinschaften  im  strengen  Sinn  des  Wortes;  sie  er- 
mangeln jeder  inneren  Geschlossenheit  und  organisatorischen  Festigkeit ; 
sie  wollen  in  keiner  Weise  die  große  unsichtbare  Geistergemeinschaft 
ersetzen;  sie  stellen  letzten  Endes  nur  einen  zufälligen  ,, Parallelismus 
religiöser  Spontaneitäten"   (Troeltsch)  dar  17°. 

Auch  der  Buddhismus  ist  kein  Argument  gegen  den  gemeinschaftslosen  Cha- 
rakter der  Mystik.  Die  Inkonsequenz,  die  Buddha  in  der  Stunde  der  Erleuchtung 
beging,  indem  er  sich  nach  hartem  innerem  Kampfe  dafür  entschied  die  ^geheim- 
nisvolle, tiefe,  dem  groben  Sinn  verborgne"  Heilslehre  aller  Welt  zu  predigen, 
diese  Inkonsequenz  ist  der  Grund  dafür,  daß  der  Buddhismus  aus  einer  sublimen 
mystischen  Erlösungsweisheit  zu  einer  umfassenden  Weltreligion  mit  ausge- 
dehnten Gemeinden  wurde.  Aber  dieser  Übergang  von  der  esoterischen  Geheim- 
lehre zur  missionierenden  und  organisierenden  Weltieligion  führte  \on  selbst 
einen  religiösen  Synkretismus  und  damit  eine  Umgestaltung  und  Entartung  der 
ursprünglichen  Nirväna -Mystik  Buddhas  herbei.  Der  Buddhismus  ist  ein  lehr- 
reiches Beispiel  dafür,  daß  die  Mystik  nur  dann  gemeinschaftbildende  Kraft 
entfaltet,  wenn  sie  ihrem  innersten  Wesen  untreu  wird  und  aufhört,  Religion 
der  , Einsamen',  .Abgeschiedenen'  zu  sein.  in 

Die  prophetische  Wirksamkeit  ist  an  eine  Gemeinschaft  innerlich 
gekettet.  Die  alttestamentlichen  Propheten  und  Jesus  wirken  innerhalb 
der  religiösen  Gemeinschaft  ihres  Volkes.  Zumeist  aber  sprengt  die 
prophetische  Persönlichkeit  die  traditionelle  religiöse  Gemeinschaft  und 
wird  zum  Zentrum  eines  neuen,  größeren  oder  kleineren  soziologischen 
Kreises :  die  prophetischen  Persönlichkeiten  besitzen  gemein  - 
schaftsbildende  Kraft.  Jesu  Jüngerschaft  verselbständigt 
sich  allmählich  im  Kampf  mit  der  Synagoge;  Paulus  ist  der  große  Ge- 
meindeorganisator, der  Schöpfer  der  christlichen  Kirche.  Willensstarke 
Persönlichkeiten  bilden  den  Mittelpunkt  neuer  engerer  religiöser  Ver- 
bände, die  teils  den  Zusammenhang  mit  der  umfassenden  Gemeinschaft 
der  Kirche  im  Streben  eine  , Gemeinde  der  Heiligen'  zu  bilden,  bewahren 
(so  die  Orden)  oder  pietätvoll  lösen  (so  die  Sekten).  Die  Reformatoren 
gaben  den  Anstoß  zum  Entstehen  größerer  Gemeinschaften,  die,  von 
der  katholischen  Großkirche  getrennt,  sich  an  die  politisch-nationalen 
Verbände  anschlössen,  jedoch  der  festen  Struktur  und  des  engen  Zu- 
sammenschlusses der  Sekten  entbehrten.  Nur  Calvins  Gottesstaat  be- 
wahrt den  Sektentypus. 

10.  Die  Stellung  zur  Kultur  und  Welt. 

Die  konsequente  Mystik  ist  gleichgültig  gegen  alle  Werte  des  Kultur- 
lebens ;  sie  kann  nur  in  der  Isolierung  von  der  Kultur  leben,  sie  scheut 
die  Aktivität  des  Kulturschaffens,  sie  verträgt  nicht  die  Berührung 
mit  der  Welt  und  der  Materie ;  die  Arbeit  ist  ihr  wie  das  sittliche  Handeln 
nur  Askese.     Gewiß  sind  von  der  Mystik  zuweilen  gewaltige  kulturelle 


Stellung  zur  Kultur  und  Welt  277 

Wirkungen  ausgegangen,  so  vom  Buddhismus  und  von  der  mittel- 
alterlichen Mystik.  Die  bildende  Kunst  hat  von  der  mystischen  Frömmig- 
keit wertvolle  Impulse  empfangen.  Die  Mystiker  selbst  haben  auf 
literarischem  und  poetischem  Gebiete  hohe  ästhetische  Werte  geschaffen ; 
man  denke  an  die  religiösen  Dichtwerke  der  Buddhisten,  an  die  Poesie 
der  persischen  Süfi  und  christlichen  Mystiker.  Die  Geschichte 
der  Philosophie  zählt  nicht  wenige  Mystiker  zu  ihren  Größten. 
Und  doch  ist  das  künstlerische  Schaffen  und  das  wissenschaftliche 
Forschen  im  Grunde  der  Mystik  ebenso  fremd  wie  die  Gestaltung  des 
politischen  und  sozialen  Lebens.  Alle  Kultur  und  alle  Arbeit  an  ihr 
gehört  zur  ,Welt'  und  ist  eine  Gefahr  für  das  Heil,  für  die  volle  Abge- 
schiedenheit und  Einheit  der  Seele.  Darum  muß  der  Fromme  der 
Kultur  ebenso  absterben  wie  seinen  Affekten  und  Trieben.  Die  kon- 
sequente Mystik  ist  gegen  alle  Kultur  gleichgültig,  ja  feindlich.  Wer 
das  Glück  der  Ekstase  gekostet,  dem  erscheinen  alle  Werte  des  Lebens 
nichtig.  „Die  Ekstase,"  sagt  Teresa,  „hat  zur  Folge  eine  merkwürdige 
Lostrennung  von  der  Welt,  so  tief,  so  gründlich,  wie  ich  es  gar  nicht 
beschreiben  kann.  Sie  bewirkt  eine  so  namenlose  Entfremdung  von 
allem  Irdischen,  daß  das  Leben  eine  unerhörte  Qual  wird."  172  Alle 
großen  Mystiker  predigen  darum  die  Weltverachtung  und  Weltflucht. 
„Wir  müssen,"  urteilt  Plotin,  „eilen  aus  dieser  Welt  hinauszukommen, 
wir  müssen  Trauer  empfinden  darüber,  daß  wir  noch  an  ein  Fremdes 
gefesselt  sind."173  Und  die  Nachfolge  Christi  mahnt:  „Das  ist  die 
höchste  Weisheit,  durch  die  Verachtung  der  Welt  nach  dem  Himmelreich 
zu  trachten"  (I    1,  3). 

Das  eigentliche  Lebensideal  der  Mystik  ist  im  Orient  wie  Okzident 
das  Mönchtum  und  Anachore tentum .  Dieser  Mönchsmystik  tritt  aber 
in  Indien  wie  im  christlichen  Abendlande  eine  freiere,  weltförmige 
Mystik  gegenüber.  In  Indien  ist  es  die  Bhagavadgitä,  im  Christentum 
die  deutsche  mittelalterliche  und  französische  quietistische  Mystik, 
welche  die  äußere  Weltflucht  und  Weltabsonderung  verwirft,  aber  um 
so  entschiedener  die  innere  Weltabgeschiedenheit  und  Weltfreiheit 
fordert.  Der  Fromme  sollte  in  der  Welt  absterben,  in  der  Welt  ein 
verborgenes  Leben  mit  Gott  leben.  „Solches  mag  der  Mensch  nicht 
lernen  mit  Fliehen,  daß  er  die  Dinge  fliehet  und  sich  in  die  Einöde 
kehret  von  der  Auswendigkeit,  sondern  er  muß  eine  innerliche  Einöde 
lernen,  wo  oder  bei  wem  er  ist."  „Darum  so  lerne  der  Mensch  seinen 
Gott  haben  in  allen  Dingen  und  ungehindert  bleiben  in  allen  Werken 
und  Stätten"  (Meister  Eckhart)  174.  Eine  positive  Schätzung  der  Kultur- 
ideale  ist  aber  in  dieser  weltoffenen  Mystik  ebenso  ausgeschlossen  wie 
in  der  radikalen  weltverneinenden  Mystik. 

Besonders  deutlich  wird  die  Stellung  der  mystischen  Frömmigkeit  zur  Welt 
und  Gesellschaft  in  ihrer  Wertung  der  Ehe  und  Familie.  Das  zölibatäie  Leben 
ist  für  den  Mystiker  eine  innerlich  notwendige  Bedingung  für  das  höhere  religiöse 
Leben.  Die  Ehe  ist  eine  Fessel,  welche  die  reine  Hingabe  an  das  eine  höchste 
Gut  hemmt.  Die  indischen,  hellenistischen  und  persischen  Mystiker  haben 
ebenso  wie  die  christlichen  Mystiker  der  Ost-  und  Westkirche  die  Ehelosigkeit 
•  tls  das  allein  , vollkommene'  Keuschheitsideal  gepriesen.  Das  tridentinische 
Konzil  hat  diese  mystische  Auffassung  feierlich  sanktioniert,  indem  es  den  mit 
dem  Anathem  belegt,  der  die  Ehe  über  die  Jungfräulichkeit   stellt. 


278  F  II.    Mystik  und    prophetische  Frömmigkeit 


Der  prophetischen  Religion  fehlt  jede  prinzipielle  Kulturfeindlichkeit 
(nur  wo  sie  ein  enges  Sektendasein  zu  führen  gezwungen  ist,  wird  sie 
mit  Notwendigkeit  zu  einer  gewissen  Absperrung  gegen  Welt  und  Kultur 
gedrängt) ;  es  eignet  ihr  vielmehr  eine  —  ausdrückliche  oder  stillschwei- 
gende —  positive  Wertung  des  Kulturlebens  oder  doch  die  Fähigkeit 
einer  Harmonisierung  des  religiösen  Wertbesitzes  mit  den  Kulturidealen . 
Die  entschiedenste  Betonung  hat  der  Kulturgedanke  im  zarathuschtri- 
schen  Mazdaismus  gefunden:  trotz  des  eschatologischen  Gedankens  ist 
der  Zoroastrismus  die  Religion  des  Kulturoptimismus.  Zarathuschtra 
nahm  in  sein  prophetisch-religiöses  Programm  auch  wirtschaftliche 
Reformen  auf.  Schon  in  den  Gäthas  des  Awesta  sind  der  tüchtige  Vieh- 
züchter, der  fleißige  Ackerbauer,  der  gerechte  Hausherr  und  der  wahre 
Fromme  synonyme  Begriffe.  Wer  nicht  eifrig  die  Erde  bebaut  und  durch 
Förderung  des  seßhaften  Lebens  das  Gebiet  Mazdas  ausbreitet,  ist 
sein  wahrer  Verehrer  nicht 175.  In  der  prophetisch-israelitischen  Religion 
schlössen  das  Fehlen  des  Jenseitsgedankens  und  das  Verwachsensein 
des  religiösen  Glaubens  mit  den  nationalen  Schicksalen  jede  Kultur- 
und  Weltfeindlichkeit  aus.  Im  Thora- Judentum  und  im  Islam  hat  sich 
diese  Weltfreudigkeit  fortgeerbt. 

Die  Reichgotteshoffnung  des  israelitischen  Prophetismus  zielte  ur- 
sprünglich auf  ein  nationales  Zukunftsideal  mit  stark  eudämonistisc  hem 
Einschlag  ab :  die  Herrschaft  Israels  über  die  Völker,  Glück  und  Wohl- 
stand im  Lande,  eine  nationale  Vollkultur.  Als  aber  all  diese  nationalen 
Hoffnungen  grausam  zerbrochen  waren,  trat  in  der  spät  jüdischen 
Apokalyptik  an  die  Stelle  des  irdisch-politischen  ein  himmlisch-transzen- 
dentes Reich,  dessen  Eintritt  den  Zusammenbruch  der  Welt  voraussetzte. 
In  diesem  transzendenten  Sinne  wurde  die  eschatologische  Erwartung 
—  religiös  verlebendigt  und  sittlich  vertieft  —  der  zentrale  Inhalt 
der  urchristlichen  Verkündigung  und  eine  treibende  Kraft  aller  aus 
der  Berührung  mit  urchristlichen  Ideen  hervorgegangenen  Bewegungen. 
Alle  großen  prophetischen  und  von  der  prophetischen  Frömmigkeit 
beeinflußten  Persönlichkeiten  des  Christentums  haben  im  Glauben  an 
die  Nähe  der  Vollendung  (Jesus,  Paulus,  Tertullian,  Irenäus,  Luther), 
in  kühnen  Reichgottesideen  (Augustin,  Ignatius  von  Loyola,  Calvin) 
oder  doch  in  eschatologischer  Stimmung  (Franziskus)  gelebt.  Eine 
positive  Wertung  der  Kulturarbeit  scheint  durch  die  eschatologischen 
Erwartungen  ausgeschlossen ;  dennoch  fehlt  alle  prinzipielle  Verneinung 
der  Kultur,  die  der  konsequenten  Mystik  wesentlich  ist.  Die  eschato- 
logische Hoffnung  ist  ja  selbst  der  stärkste  Ausdruck  des  Glaubens  an 
dasLeben  und  an  die  unbedingte  Gültigkeit  des  Wertvollen  und  Idealen176. 
Der  Wille  zum  Leben,  der  Glaube  an  das  Ideal  ist  in  den  prophetischen 
Naturen  so  stark,  daß  ihnen  die  totale  Umgestaltung  der  wertwidrigen 
Wirklichkeit  in  eine  ideale  Wirklichkeit  —  das  ,Reich  Gottes'  —  eine 
religiöse  Notwendigkeit  ist,  ja  noch  mehr,  daß  sie  die  volle  Herrschaft 
des  Willens  Gottes,  nicht  in  unendlicher  Ferne,  sondern  in  unmittelbarer 
Nähe  erhoffen,  daß  sie  dieselbe  nicht  von  menschlichem  Schaffen  und 
Ringen,  sondern  von  einem  umstürzenden  Eingreifen  Gottes  erwarten. 

Die  israelitisch-prophetische  Hochschätzung  des  Kulturschaffens,  die 


Stellung  zur   Kultur  und  Welt  279 

im  Urchristentum  durch  die  eschatologische  Hoffnung  verdrängt,  aber 
nicht  schlechthin  verneint  war,  trat  in  den  späteren  christlichen  Jahr- 
hunderten wieder  hervor.  Im  abendländischen  Mönchtum  erfuhr  die 
Kulturarbeit  eine  positive  Wertung  im  Gegensatz  zu  dem  asketisch- 
hesychiastischen  Mönchtum  des  Ostens.  Dem  Mönchsimperativ  des 
Arsenius:  „Weine,  schweige,  fliehe!"177  steht  konträr  gegenüber  die 
Devise  desBenediktinerordens :  ,,Ora  et  labora" ;  ,,ut  in  omnibus  glorificetur 
dominusl"  178  Daß  alle  treue  Berufsarbeit  ein  wahrer  Gottesdienst  sei, 
wurde  von  keinem  der  abendländischen  Frommen  so  entschieden  ver- 
fochten wie  von  Luther.  Mit  seinen  warmherzigen  Worten  über  die 
Weihe  und  den  Wert  des  hingebenden  Berufslebens  (die  in  gewissen 
Äußerungen  Eckharts,  Taulers  und  Birgittas  von  Schweden  ihre  Vor- 
läufer haben)  179  hat  er  eine  neue  Periode  in  der  Beziehung  von  Religion 
und  Kultur  eröffnet.  Doch  hat  auch  er  sich  von  dem  der  spätmittel- 
alterlichen Mystik  entstammenden  Gedanken  der  Berufsarbeit  als 
einer  ,innerweltlichen  Askese'  nicht  ganz  losmachen  können.  Erst  der 
neuere  Protestantismus  (Lessing,  Hegel,  Carlyle,  Ritschi)  zeitigte  die 
Anschauung,  daß  das  berufliche  Wirken  und  kulturelle  Schaffen  nicht 
nur  ein  Gottesdienst  sei,  sondern  ein  Arbeiten  an  der  Aufrichtung  des 
Gottesreiches,  ein  Mithelfen  an  der  Verwirklichung  des  göttlichen 
Weltplanes  180. 

Die  Stellung  der  prophetischen  Religion  zum  Kultur-  und  Gesellschaftsleben 
wird  wie  bei  der  Mystik  durch  die  Einschätzung  des  Ehe-  und  Familienlebens 
erhellt.  Der  soziale  und  ethische  Charakter  der  prophetischen  Frömmigkeit 
verträgt  keine  Überordnung  des  Virgiritätsideals  über  die  Ehe.  Die  zoroa- 
strisehe  Religion  stellt  den  Verheirateten  und  Hausvater  hoch  über  den  Ehe- 
und  Kinderlosen;  sie  verurteilt  die  Ehelosigkeit  ebenso  wie  die  freiwillige  Ar- 
mut und  Selbstkasteiung  181.  Der  Lobpreis  des  wahren  Ehe-  und  Familien- 
lebens redet  aus  allen  Büchern  des  alten  Testamentes,  denen  das  religiöse  Jung- 
fräulichkeitsideal völlig  ferne  steht.  Jesu  strenge  Forderung  der  unbedingten 
Heilighaltung  der  Ehe  ist  ein  Beweis  dafür,  daß  diese  ihm  etwas  Hohes  und  Wert- 
volles war.  (Worte  wie  Matth.  5  27 — 32  hätte  ein  Mystiker  nicht  gesprochen.) 
Nur  von  den  wenigen,  die  ihm  nachfolgend  allein  der  Verkündigung  der  Gottes- 
herrschaft leben,  fordert  er,  daß  sie  auf  alles  verzichten,  auf  Hab  und  Gut,  auf 
Ehe  und  Familie  (Mk.  10  21;  Mt.  19  w;  Lk.  10  «0).  Die  urchristliche  Schätzung 
der  Virginität  (1  Kor.  7)  entspringt  einem  ganz  anderen  Motiv  wie  die  mystische  1M; 
sie  beruht  auf  dem  Glauben  an  die  unmittelbare  Nähe  des  Weltendes  und  Gottes- 
reiches. Die  Erneueiung  der  biblisch-prophetischen  Religion  durch  die  Refor- 
matoren bedingte  die  Abkehr  von  dem  das  alte  und  mittelalterliche  Christen- 
tum beherrschenden  Cölibatsideal. 

11.  Jenseitshoffnung.183 
Wie  in  der  Gottesvorstellung  so  spiegelt  sich  auch  in  der  Jenseits- 
vorstellung das  zentrale  seelische  Erlebnis  jedes  Religionstypus  wider. 
Das  Ziel  aller  heißen  Jenseitshoffnung  ist  ja  kein  anderes  als  das  hehre 
Heilsgut  und  Erlösungsideal,  das  schon  im  gegenwärtigen  endlichen 
Leben  gesucht  und  erstrebt  wird.  Diesseits  und  Jenseits  fallen  in  der 
höheren  Frömmigkeit  nicht  als  Gegensätze  auseinander,  sondern  schließen 
sich  in  der  inneren  Gotteserfahrung  zu  einer  Einheit  zusammen.  Was 
der  Fromme  auf  den  Höhepunkten  seines  Innenlebens  erfährt,  dies 
bildet  auch  den  Inhalt  des  jenseitigen  Lebens,  das  seiner  nach  dem 
leiblichen  Tode  harrt.    Derselbe  Gott,  der  ihn  im  Innersten  des  Herzens 


280  F  II.   Mystik  und   prophetische  Frömmigkeit 

ergreift  und  beseligt,  ist  auch  der  Gott  des  ewigen  Lebens,  er  ist  das 
ewige  Leben:  deus  ipse  vita  aeterno,  est  (Augustinus).  „Gott  und  Un- 
sterblichkeit sind  identisch;  der  Begriff  Gottes  ist  an  sich  schon  der 
Begriff  der  Unsterblichkeit"   (Feuerbach) 184. 

In  der  Jenseitsvorstellung  der  Mystik  äußert  sich  deren  individua- 
listischer, gemeinschaftsloser  Charakter.  , Ewige  Erlöstheit'  und  ,ewige 
Seligkeit'  ist  für  die  Mystik  nichts  anderes  wie  die  ewige  Dauer  jenes 
höchsten  mystischen  Erlebnisses,  das  sie  schon  in  dieser  Welt  ersehnt 
und  erstrebt:  der  mystisch-ekstatischen  Gottesschau  und  Gotteinigung 
bzw.  des  erlösenden  und  beseligenden  Nirvana.  Durch  den  Tod  von  den 
niederdrückenden  Leibesfesseln  für  immer  befreit,  vermag  die  gott- 
innige Seele  in  alle  Ewigkeit  in  jenem  höchsten  mystischen  Zustand  zu 
verharren.  Sie  versinkt  in  der  unendlichen  Ruhe,  im  tiefsten  Frieden, 
oder  sie  schaut  in  enthusiastischem  Staunen  und  Entzücken  die  unaus- 
sprechliche Schönheit,  das  ,höchste  Gut'  und  vereint  sich  mit  dem 
unendlichen  Einen  in  grenzenloser  Wonne.  Der  jenseitige  Vollendungs- 
zustand ist  wesentlich  identisch  mit  der  diesseitigen  mystischen  Gottes- 
erfahrung; er  wird  darum  von  den  Mystikern  mit  denselben  Bildern 
und  Begriffen  umschrieben  wie  diese.  Das  ,ewige  Leben'  der  Mystik 
ist  die  ewige  , Gottesschau'  und  , Gotteinigung',  die  permanente  Ekstase, 
in  der  unpersönlichen  Mystik  Indiens  das  ,vollkommene  Nirvana'; 
die  diesseitige  Ekstase  und  das  »diesseitige  Nirvana'  (dittha-dhamma- 
nibbäna)  185  sind  eine  Antizipation,  ein  , Vorgeschmack'  der  himm- 
lischen Ekstase  und  des  jenseitigen  Nirvana. 

„Glückselig  ist,  wer  steht  auf  der  Beschauer  Bahn, 

Er  fähet  schon  allhier  das  sel'ge  Lehen  an"  (Ange'.us  Silesius).  l86 

Die  Jenseitshoffnung  der  prophetischen  Religion  ist  im  Unterschied 
von  der  mystischen  Jenseitshoffnung  zugleich  individuell  und  über- 
individuell. Wie  die  Mystiker  in  der  ekstatischen  Wonne  das  ,ewige 
Leben'  suchten,  so  die  prophetischen  Geister  in  dem  trostvoll  seligen 
Behütet-  und  Geborgensein  unter  Gottes  schützender  Hand.  Der  Fromme 
der  in  unerschütterlicher,  fester  und  froher  Zuversicht  auf  den  helfenden 
und  rettenden  Gott  baut  und  traut,  der  mit  ihm  in  innigster  Lebens- 
gemeinschaft steht,  hat  den  Tod  und  die  Vernichtung  überwunden ; 
ssine  Gottesgemeinschaft  währet  fort  in  alle  Ewigkeit. 

„Der  Fromme  wird  durch  seinen  Glauben  am  Leben  bleiben"  (Hab.  24)  „Ich 
oleibe  stets  bei  dir;  du  hältst  mich  bei  meiner  rechten  Hand  .  .  .  Wenn  ich  nur 
dich  habe,  so  frage  ich  nicht  nach  Himmel  und  Erde.  Wenn  mir  gleich  Leib 
und  Seele  verschmachten,  so  bist  du  doch,  Gott,  allzeit  meines  Herzens  Trost 
und  mein  Teil  (Ps.  73  2S  ff. )  „Ob  wir  nun  leben  oder  sterben,  wir  sind  des  Herrn" 
(Roe  14  9).  „Weder  Tod  noch  Leben,  weder  Engel  noch  Herrschaften,  weder 
Gegenwärtiges  noch  Zukünftiges,  weder  Höhe  noch  Tiefe  noch  irgend  eine  Kre- 
atur wird  uns  zu  scheiden  vermögen  von  der  Liebe  Gottes,  die  da  ist  in  Christus 
Jesus  unserm  Herrn"  (Roe  8  ,g.  ff.)  „Wer  da  glaubt  an  den,  der  mich  gesandt, 
der  hat  das  ewige  Leben  und  kommt  nicht  zum  Gericht,  sondern  ist  hinüber- 
geschritten vom  Tod  ins  Leben"  (Joh.  5  24).  „Es  ist  kein  Unterschied  unter 
der  Stunde,  wenn  du  anhebst  zu  glauben,  und  dem  jüngsten  Tag,  allein,  daß 
man's  noch  nicht  siehet"  (Luther)  187. 

Zu  dieser  persönlichen,  aus  dem  prophetisch-evangelischen  Grund- 
erlebnis des  Glaubens  hervorquellenden  Gewißheit  vom  ewigen  Leben 


Jenseitshof  fnung  28 1 


tritt  in  der  biblischen  Offenbarungsreligion  die  überpersönliche  eschato- 
logische  Hoffnung.  Nicht  auf  die  Seligkeit  der  Einzelseele  richtet  sich 
dieser  prophetische  Zukunftsglaube,  sondern  auf  die  , Vollendung  der 
Welt'  (apema  anheus  urvaese  in  den  zarathustrischen  Gäthas 188, 
avvrikeia  xov  aiävog  Mt  13  49),  auf  das  Kommen  des  großen  Tages 
Gottes  (jöm  Jahwe,  fjfiiga  xov  xvqiov,  Ksathra  vairya  im  zoroastri- 
schen  Mazdaismus).  Das  Seligkeitsverlangen  des  Einzelnen  tritt 
ganz  zurück  hinter  der  Hoffnung  auf  den  Endsieg  des  Guten. 
Diese  Erde,  auf  der  Sünde  und  Leid,  Tod  und  Teufel  herrschen, 
wird  in  furchtbaren  Katastrophen  zu  Trümmern  gehen  und  an  ihre 
Stelle  wird  eine  neue  Welt  treten,  in  der  alle  Mächte  des  Bösen 
auf  immer  vernichtet  sind,  „ein  neuer  Himmel  und  eine  neue  Erde, 
in  denen  die  Gerechtigkeit  wohnt"  (1  Petr  3  13).  Die  große  göttliche 
Heilsgeschichte  wird  herrlich  vollendet  werden,  alle  Sünde  und  Bosheit 
wird  ausgerottet,  alle  Tränen  getrocknet,  aller  Hunger  gestillt  werden. 
Gott  wird  über  seine  Feinde  triumphieren,  er  allein  wird  herrschen 
und  König  sein,  „Gott  alles  in  allem"  (1  Kor  15  28).  Aber  nicht  in 
unendlich  weiter  Ferne  erwartet  der  spät  jüdische  und  urchristliche 
Glaube  den  Anbruch  der  Gottesherrschaft,  sondern  in  unmittelbarer 
Nähe:  „Das  Gottesreich  ist  nahe  herbeigekommen."  (Mk  1  15)  Jesus, 
die  Urgemeinde  und  Paulus  sind  unerschütterlich  davon  überzeugt,  daß 
in  kürzester  Frist  diese  Welt  vergehen  und  Gottes  ewige  Herrschaft 
anbrechen  werde.  Ihr  Glaube  an  die  Verwirklichung  des  Ideals,  an 
den  Triumph  des  Göttlichen  über  das  Dämonische,  an  den  Sieg  des 
Guten  über  das  Böse  ist  so  gewaltig  und  stürmisch,  daß  er  die  Jahr- 
hunderte und  Jahrtausende  überfliegt  und  das  in  nächster  Nähe  sieht 
und  greift,  was  die  spätere  Christenheit  erst  in  einer  fernen  Endzeit 
erwartete.  Aber  immer  wieder  standen  in  der  Geschichte  der  christ- 
lichen Religion  Männer  und  Gemeinden  auf,  die  mit  der  Glut  der  Be- 
geisterung die  Nähe  des  Weltendes  und  Gottesreiches  erhofften  und 
verkündeten  (vgl.  o.  S.  278).  Ja  selbst  außerchristliche  Propheten  wie 
Mohammed  waren  vom  Glauben  an  den  baldigen  Anbruch  der  Voll- 
endung erfüllt.  Dennoch  ist  für  alle  großen  prophetischen  Geister  die 
Gottesherrschaft  nicht  eine  ausschließliche  Zukunftsgröße,  sondern 
bereits  etwas  Gegenwärtiges.  Schon  in  der  Jetztzeit  hebt  sie  an:  in 
der  Verkündigung,  in  den  Wundern  und  Krafttaten,  im  charismatischen 
Enthusiasmus,  im  Glauben  an  das  in  Christus  erschienene  Heil  wie  im 
sittlichen  Leben  beginnt  das  Gottesreich  sich  zu  verwirklichen;  „Gottes 
Reich  wird  hier  angefangen  und  nimmt  zu,  es  wird  aber  in  jenem  Leben 
vollbracht"  (Luther)  189. 

12.  Monismus  der  Mystik  —  Dualismus  der  prophe- 
tischen Religion. 
Das  mystische  Erleben  besteht  in  der  Vereinheitlichung  und  Verein- 
fachung des  gesamten  psychischen  Geschehens,  die  durch  Isolierung 
von  der  gegenständlichen  Welt  und  die  Unterbindung  des  emotionellen 
Labens  möglich  wird.  Die  Schranken  zwischen  Gott  und  Mensch  fallen 
im  ekstatischen  Erleben :  der  Mensch  geht  in  Gott  auf,  verliert  sich  in 


282  P  II.   Mystik  und   proi  hetische  Frömmigkeit 


ihm  oder  verschmilzt  mit  ihm  zur  völligen  Einheit.  Alle  Gegensätze, 
alle  Mannigfaltigkeit,  aller  Dualismus  löst  sich  in  der  mystischen  Er- 
fahrung auf.  „Vorbei  ist  alle  Zweiheit"  (Ferid-ed-din  Attär)  190.  Die 
Unterschiede  von  Gott  und  Welt,  Diesseits  und  Jenseits,  Gegenwart 
und  Zukunft  hören  auf,  alle  Seins-  und  Wertunterschiede  werden  auf- 
gehoben, der  Gegensatz  von  Gut  und  Böse  ist  dem  Ekstatiker  fremd. 
Der  philosophische  Monismus  eines  Sankara  (advaita,  ,Nichtzweiheit') 
und  Eckhart  ist  nur  die  konsequente  metaphysische  Fortbildung  und 
Ausdeutung  des  aller  dualistischen  Spannung  und  Gegensätzlichkeit 
entbehrenden  ekstatischen  Erlebnisses. 

Das  prophetische  Erleben  hingegen  offenbart  einen  Antagonis- 
mus von  Gegensätzen,  dramatische  Spannung,  dualistische  Kraft. 
Furcht  und  Hoffnung,  Angst  und  Zuversicht,  Zweifel  und  Glaube  ringen 
miteinander:  der  Gegensatz  von  sittlichem  Wert  und  Unwert  ist  in 
dem  prophetischen  Bewußtsein  stets  lebendig.  Durch  die  ganze  Vor- 
stellungswelt der  prophetischen  Religion  zieht  sich  dieser  mächtige 
Dualismus.  Gott  und  Mensch  vermischen  sich  niemals;  der  primitive 
Glaube  an  die  Distanz  von  Gott  und  Mensch  lebt  hier,  ethisch  vertieft, 
fort.  „Gott  ist  im  Himmel  und  du  auf  der  Erde"  (Ko  5  ,).  Voll  Demut 
naht  sich  der  Sünder  dem  heiligen  Gott.  Auch  die  kindliche  Zuversicht 
Jesu  zum  Vatergott  bleibt  stets  eine  persönliche  Gemeinschaft;  sie 
bildet  sich  nie  zur  mystischen  „Vereinigung"  fort.  Der  kosmische 
Dualismus  von  Materie  (Fleisch)  und  Geist,  Leib  und  Seele,  Mannig- 
faltigkeit und  Einheit  spielt  auch  in  der  Mystik  eine  Rolle.  Aber  der 
prophetische  Dualismus  ist  universell,  ethisch,  persönlich  erlebt,  von 
aller  Spekulation  unbeeinflußt.  Jahwe  und  die  Ba'alim,  Ahura  Mazda 
und  Angra  Mainyu,  Gott  und  Satan,  Engel  und  Teufel,  Licht  und 
Finsternis,  Gottesreich  und  Satansreich,  ,dieserÄon'  und  ,der  kommende 
Äon',  Gut  und  Böse,  Rein  und  Unrein,  Sünde  und  Gnade,  Erlösung 
und  Verdammung,  Tod  und  Leben,  Himmel  und  Hölle  —  der  ganze 
Vorstellungsschatz  der  prophetischen  Religion  offenbart  in  der  anti- 
thetischen Paarung  der  Begriffe  die  dualistische  Lebendigkeit  dieses 
Frömmigkeitstyps.  „Gottes  Reich  ficht  mit  des  Teufels  Reich  ohn 
Unterlaß"  (Luther)  191. 

13.  Schlußcharakteristik. 
Die  Mystik  ist  weder  christlicher  Herkunft  noch  eine  Eigentümlichkeit 
des  Christentums,  obschon  sie  durch  das  Christentum  die  feinste  Aus- 
gestaltung und  schönste  Formung  erfahren  hat.  Die  Mystik  ist  vielmehr 
die  höchste  religiöse  Schöpfung,  die  sich  in  der  außerchristlichen  Religion 
vollzog  und  für  die  eigentlich  nur  außerhalb  des  Christentums  eine 
konsequente  Durchbildung  und  reine  Ausprägung  möglich  ist.  In  das 
Christentum  ist  sie  (wie  in  das  Judentum  und  in  den  Islam)  erst  von 
außen  her  eingedrungen :  aus  dem  synkretistischen  Mysterienwesen  und 
der  spätantiken  religiösen  Philosophie,  zumal  aus  dem  Neuplatonismus192. 
Die  Gnostiker  und  Alexandriner,  vor  allem  aber  Augustinus  und  der 
Areopagite  waren  die  Einfallstore.  Durch  die  Kreuzung  mit  der  prophe- 
tisch-evangelischen  Frömmigkeit   hat   die   Mystik   zwar   ihre  Reinheit 


Schlußcharakteristik  283 


und  Konsequenz  eingebüßt,  aber  an  Tiefe  und  Wärme,  Innigkeit  und 
Kraft  gewonnen.  Ein  Werturteil  ist  durch  die  Aufdeckung  des  äußer- 
christlichen  Ursprungs  der  Mystik  in  keiner  Weise  gefällt.  Es  gilt  nur 
in  einer  Zeit,  da  man  den  Wert  der  Mystik  neu  entdeckte,  da  man  darum 
in  ihr  das  Wesen  des  Christentums  erblickte  und  die  großen  biblischen 
und  christlichen  Persönlichkeiten:  die  Propheten  und  Jesus,  Paulus 
und  Johannes,  Luther  und  Kierkegaard  zu  Mystikern  stempelt  und 
umgekehrt  die  großen  Mystiker:  Seuse  und  Eckhart,  Katherina  von 
Genua  und  Teresa  als  genuin  christliche  Persönlichkeiten  preist,  diese 
beiden  religiösen  Lebensmächte:  Mystik  und  prophetisch-biblische 
Religion  klar  und  scharf  auseinanderzuhalten.  Gewiß  ist  die  letzte 
psychologische  Wurzel  und  die  letzte  ideelle  Vorstellung  beiden  Typen 
gemeinsam:  das  Streben  nach  reinem  Leben,  nach  Liebe  und  Seligkeit 
und  der  Glaube  an  ein  Höchstes,  Absolutes,  Transzendentes,  in  dem 
dieses  Sehnen  zur  Ruhe  kommt.  Gewiß  sind  die  Gegensätze  unzählige- 
male  in  der  Geschichte  überbrückt  und  gemildert  worden,  am  groß- 
artigsten in  Augustinus  und  Franziskus,  aber  sie  lassen  sich  nicht  aus 
der  Welt  schaffen.  Persönlichkeitbejahende  und  persönlichkeitver- 
neinende Religion,  geschichtliche  und  geschichtslose  Gotteserfahrung, 
Offenbarung  und  Ekstase,  Prophetismus  und  Klosterwesen,  Welt- 
umgestaltung und  Weltflucht,  Evangelium  und  Beschaulichkeit  —  die 
inneren  Gegensätze  sind  zu  gewaltig,  als  daß  wir  ein  Recht  hätten,  eine 
Wesensidentität  beider  Typen  zu  behaupten.  Mystik  und  Offen- 
barungsreligion sind  die  beiden  Gegenpole  der  höheren  Frömmigkeit, 
die  sich  in  der  Geschichte  der  Religion  fliehen  und  doch  immer  wieder 
anziehen . 


III.  Das  Gebet  in  der  Mystik. 

1.  Vorbemerkungen. 

Die  Darstellung  des  mystischen  Gebetstyps  ist  mit  großen  Schwierig- 
keiten verbunden,  da  er  fast  stets  von  der  schlichten  Volksreligion  oder 
dem  prophetischen  Typ  irgendwie  beeinflußt  ist  oder  das  naive  Beten 
und  Bitten,  wie  es  der  primitiven  Frömmigkeit  ebenso  wie  der  prophe- 
tisch-schöpferischen eigen  ist,  neben  der  spezifisch-mystischen  Gebets- 
weise einherläuft.  In  dem  Beten  der  christlichen  (wie  der  sufistisch- 
i slamischen)  Mystiker  tritt  die  prophetisch-biblische  Gebetsweise  bald 
stärker,  bald  schwächer  hervor.  Die  christlichen  Mystiker  bedienen 
sich  gerne  des  biblischen  Wortschatzes  und  der  biblischen  Gebets- 
terminologie, die  dem  entgegengesetzten  Frömmigkeitstyp  entstammen. 
Die  mystischen  Gedanken  werden  so  durch  fremde  Kleider  verhüllt. 
Aber  nicht  nur  die  Gebetssprache,  sondern  auch  die  Gebetserlebnisse 
der  christlichen  (und  der  islamischen)  Mystiker  sind  von  dem  propheti- 
schen Frömmigkeitstyp  beeinflußt;  die  eigentümlichen  mystischen 
Erlebnisse  der  inneren  Einheit  und  Ruhe,  der  Gelassenheit,  der  Indif- 
ferenz, der  Liebe,  der  Sehnsucht  nach  dem  Höchsten  vermischen  sich 
mit  den  prophetischen  Grundgefühlen  des  Glaubens,  Vertrauens,  der 
Zuversicht  und  Tröstung;  die  prophetische  Affektivität  haucht  der 
mystischen  Affektlosigkeit  Kraft  und  Wärme  ein.  Die  mystischen 
Gebetsklänge  verschmelzen  mit  den  biblischen  zu  eigenartigen  Akkorden 
und  Harmonien.  Aber  der  mystische  Unterton  ist  stets  kräftig  genug, 
um  von  einem  feinen  Gehör  deutlich  wahrgenommen  zu  werden. 

Mit  dieser  ersten  Schwierigkeit  hängt  enge  eine  zweite  zusammen. 
Die  Kreuzung  der  mystischen  Frömmigkeit  mit  der  primitiv-volks- 
tümlichen und  der  prophetischen  Frömmigkeit  bedingt  das  Entstehen 
einer  Mannigfaltigkeit  mystischer  Richtungen,  die  gerade  in  der  Gebets- 
weise erkennbar  ist :  wir  treffen  eine  ekstatisch-visionäre  Mystik  (Upani- 
schaden,  Yoga,  Manikka-Väsagar,  Plotin,  Süfis,  Bernhard,  Franz 
von  Assisi,  Seuse,  Katherina  von  Genua,  Teresa)  und  eine  harmonische 
Mystik,  in  der  alle  irregulären  Erlebnisse  fehlen  (Augustin,  Thomas 
von  Aquin,  Eckhart,  Tauler,  Imitatio  Christi,  die  Quietisten);  eine 
warme  affektive  Mystik  (die  indischen  Bhaktas,  die  Süfis,  Plotin, 
Augüstin,  die  meisten  mittelalterlichen  Mystiker,  die  Pietisten)  und 
eine  kühle  affektlose  Mystik  (Upanischaden,  Buddhismus,  Eckhart, 
Angelus  Silesius,  die  Quietisten);  eine  naive  phantasiemäßige,  dichtende 
Mystik  (Süfis,  Manikka-Väsagar,  Bernhard,  Franz  von  Assisi,  Mechthild 
von  Magdeburg,  Seuse,  Symeon  der  Neue  Theologe)  und  eine  reflek- 
tierende, verstandesmäßige,  theoretisierende  Mystik,  welche  entweder 
durch  philosophische  Spekulation  (Upanischaden,  Sarikara,  Rämänuja, 


1.  Vorbemerkungen  285 


Plotin,  Augustin,  der  Areopagite,  Eckhart)  oder  durch  psychologische 
Analyse  ( Yoga,  Buddhismus,  Teresa,  die  Quietisten)  das  mystische 
Erlebnis  zu  bewältigen  sucht;  eine  glühende  erotische  Mystik  (die 
indische  Krishna-Mystik,  die  Süfis,  Bernhard,  die  mystischen  Nonnen, 
die  Herrenhuter  Pietisten)  und  eine  abgeklärte,  geistige  Mystik,  deren 
Gottesliebe  jeder  Erotik  ferne  steht  (Mänikka-Väsagar,  Augustin, 
Thomas  von  Aquin,  Franz  von  Assisi,  Tauler,  Tersteegen);  eine  per- 
sonalistisch-theistische  Mystik,  in  der  der  Fromme  zu  Gott  in  ein  trautes 
persönliches  Verhältnis  tritt  (die  indischen  Bhaktas,  die  Süfis,  die 
Mehrzahl  der  christlichen  Mystiker)  und  eine  impersonalistisch-monistische 
Mystik,  in  der  die  Einzelseele  in  der  unendlichen,  unpersönlichen  Gottheit 
sich  auflöst  (Upanischaden,  Sankara,  Plotin,  der  Areopagite,  Eckhart, 
Angelus  Silesius);  eine  innige  Gebetsmystik,  in  der  der  Verkehr  mit 
Gott  sich  vorwiegend  in  dem  schlichten  Gebetsgespräch  vollzieht  (die 
Bhaktas,  Süfis  und  meisten  christlichen  Mystiker)  und  eine  reine  Ver- 
senkungsmystik, der  die  lebendige  Dramatik  des  Gebetslebens  fremd  ist 
(Upanischaden,  Yoga,  Buddhismus,  Plotin,  Tauler,  Angelus  Silesius, 
die  Quietisten);  eine  kultische  Mystik,  deren  anbetende  Kontemplation 
an  einem  äußeren  Kultobjekt  sich  entzündet  (die  indische  Bhakti- 
Mystik,  die  synkretistischen  Mysterienreligionen,  die  eucharistische 
Mystik  des  Mittelalters)  und  eine  kultlose,  unsinnliche  Mystik,  in  welcher 
die  mystische  Gottesschau  jeder  äußeren  Stütze  entbehrt  (Upanischaden, 
Plotin,  Augustin,  die  evangelischen  Spiritualisten,  die  Quietisten). 
Diese  bunte  Mannigfaltigkeit  mystischer  Erlebnisformen  scheint  eine 
einheitliche  Darstellung  des  mystischen  Betens  auszuschließen.  Und 
doch  lehrt  der  Vergleich  mit  dem  prophetischen  Frömmigkeitsleben, 
daß  hinter  dieser  Mannigfaltigkeit  ein  Gemeinsames  steckt,  daß  das 
mystische  Beten  trotz  seines  Formenreichtums  einen  einheitlichen 
Typus  bildet,  der  von  dem  prophetischen  Gebetstyp  sich  scharf  abhebt. 
Wir  versuchen  darum  eine  Gesamtdarstellung  der  mystischen  Gebets- 
weise, die  in  erster  Linie  sich  auf  die  Dokumente  einer  abgeklärten, 
personalistischen  Gottesmystik  stützt,  aber  auch  die  anderen  Aus- 
prägungen des  mystischen  Gedankens  berücksichtigt.  Hierauf  soll 
gezeigt  werden,  wie  in  den  von  diesem  Normaltypus  abweichenden 
Formen  der  mystischen  Frömmigkeit  bestimmte  in  aller  Mystik  auf- 
zuweisende Momente  hervortreten. 

2.  Motiv  und  Zweck  des  Gebets. 

Das  Ziel,  dem  die  Mystik  nachtrachtet,  ist  die  Isolierung  und  Ver- 
einheitlichung des  inneren  Lebens:  Abkehr  von  der  Welt  und  Ver- 
einigung mit  Gott.  Der  Abwendung  von  der  Sinnenwelt  dient  die  Askese 
{via  purgativa) ;  sittliche  und  asketische  Übungen  ertöten  die  Sinnlichkeit. 
Die  Vereinheitlichung  des  seelischen  Lebens  vollzieht  sich  im  Gebet 
und  in  der  das  Gebet  erzeugenden  und  nährenden  Betrachtung,  der 
Meditation  {via  illuminativa) .  Das  Gebet  bildet  so  die  unmittelbare 
Vorstufe  der  vollen  inneren  Einheit,  die  als  Einheit  mit  Gott  erlebt 
wird  {via  unitiva).  Die  Askese  ist  das  entferntere,  das  Gebet  bzw.  die 
Versenkung  das  nähere  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zieles.     Proclus, 


286  F  III.   Das   Gebet  in  der  Mystik 


der  neuplatonische  Gebetstheoretiker  sagt:  „Das  ist  das  eigentliche 
Ziel  des  Gebets,  daß  es  die  Vereinigung  mit  dem  Ruhepunkte 
herstelle,  alles,  was  aus  der  göttlichen  Einheit  entsprungen  ist,  wieder 
in  das  Eine  hineinsetze."  *  Er  definiert  das  Gebet  geradezu  als  xcov 
(ievxEQoiv  kvonoibs  TiQÖg  jiqözequ  2.  Nach  einem  Wort  Bonaven- 
turas ist  „der  Zweck  des  Gebets  die  Vereinigung  mit  Gott"  3. 
Meister  Eckhart  sagt:  „Also  kräftiglich  soll  man  beten,  daß  alle 
die  Glieder  des  Menschen  und  Kräfte,  beide,  Augen  und  Ohren, 
Herz,  Mund  und  alle  Sinne  dazu  gekehrt  wären,  und  nicht  soll  man 
aufhören,  man  finde  denn,  daß  man  sich  wolle  vereinen  mit  dem,  den 
man  gegenwärtig  hat  und  bittet,  das  ist  Gott."  4 

Als  Mittel  zur  Vereinigung  mit  Gott  ist  das  mystische  Gebet  genau 
so  wie  die  Askese  und  sittliche  Arbeit  nur  ein  Vorläufiges,  Vorbereitendes, 
nicht  ein  Endgültiges;  es  ist  nur  eine  Etappe  auf  dem  Heilswege,  wenn 
auch  die  letzte  vor  dem  Ziele,  es  ist  nur  „eine  goldene  Leiter,  die  an 
den  Himmel  rührt,  auf  der  man  zu  Gott  emporsteigt"  5.  Die  Krone 
des  Gebets  ist  die  ekstatische  Vereinigung,  in  der  die  Seele  in  der  unermeß- 
lichen Fülle  Gottes  untergeht.  Dieser  Höhe-  und  Schlußpunkt  alles 
mystischen  Lebens  wird  von  den  Mystikern  gerne  als  das  höchste  Gebet 
bezeichnet.  Algazali  sagt:  „Das  ist  das  beste  Gebet,  wenn  der  Beter 
im  göttlichen  Wesen  aufgegangen  ist,  so  daß  das  Gebet  wie  ein  Schleier 
zwischen  ihm  und  Gott  erscheint."  6  Der  Mönchsvater  Antonius  meint: 
„Es  ist  kein  vollkommenes  Gebet,  solange  der  Mönch  noch  ein  Bewußt- 
sein von  sich  und  dem  Gegenstand  seines  Betens  hat."  7  Ähnlich  urteilt 
Petrus  von  Alcantara:  „Das  innere  Gebet  ist  erst  dann  ganz, 
wie  es  sein  soll,  wenn  der  Betende  nicht  einmal  gewahrt,  daß  er  im 
inneren   Gebet  vor  Gott  steht."  8     Angelus  Silesius  singt: 

„Das  edelste  Gebet  ist,  wenn  der  Beter  sich 

In  das,  vor  dem  er  kniet,  verwandelt  inniglich."  ' 

Diese  Bezeichnung  der  ekstatischen  Vereinigung  mit  Gott  als  Gebet  ist 
jedoch  nur  ungenau  und  metaphorisch.  In  der  Ekstase  selbst  hört  das 
allem  Beten  wesentliche  Bewußtsein  der  Verschiedenheit  eines  Ich  und 
Du  auf,  wie  auch  die  erwähnten  Äußerungen  andeuten;  ein  wirkliches 
Beten  —  und  sei  es  nur  ein  wortloses  Kontemplieren  und  Anbeten  — 
ist  hier  unmöglich.  JJdvxa  eü%ercu  n/Lrjv  zov  Tzgcbrov  („alles  betet 
außer  dem  Ersten"),  lautet  ein  bedeutungsvoller  Ausspruch  des 
,großen'  Theodor,  auf  den  Proclus  sich  beruft 10.  Wenn  darum  die 
Seele  eins  geworden  ist  mit  dem  ,Ersten',  hört  auch  sie  zu  beten  auf  u. 
Die  mystische  Grundtendenz  nach  der  völligen  ünloiöii;  und  evcjoic; 
der  Seele,  wie  diese  in  der  Ekstase  erreicht  wird,  ist  das  tiefste  Motiv 
alles  mystischen  Betens  und  Sichversenkens.  In  der  personalistischen 
Gottesmystik  gewinnt  diese  Tendenz  affektive  Wärme  und  Kraft:  das 
Streben  nach  der  Einheit  mit  dem  Unendlichen  wird  hier  zur  leiden- 
schaftlichen Gottesliebe,  zur  verzehrenden  Sehnsucht  nach  dem  summum 
bonum,  die  sich  zu  einem  entzückten  Schauen  und  seligen  Genießen 
des  höchsten  Gutes  steigert.  Dieses  affektive  Erleben  des  höchsten 
und  einzigen  Wertes,  das  durch  das  Kontrasterlebnis  des  eigenen  Un- 
wertes in  seiner  Intensität  noch  erhöht  wird,  kann  in  sich  selbst  be- 


2.  Motiv    und.   Zweck  des    Gebets  287 


schlössen  bleiben  —  in  schweigender  Kontemplation  ist  der  Fromme 
an  sein  höchstes  Gut  hingegeben ;  häufig  aber  drängt  der  übermächtige 
Affekt  zur  Entladung  durch  die  Aussprache.  „Meine  Seele  ist  ver- 
wundet," bekennt  Symeon  der  Neue  Theologe,  „mein  Inneres  ist 
entflammt,  ich  verlange  mit  dir  zu  reden,  o  mein  Gott."  12  Der  von 
Gottes  unendlicher  Schönheit  ergriffene  Mystiker  gießt  seine  Liebe 
und  Sehnsucht,  seine  Begeisterung  und  Hingabe,  sein  Staunen  und 
Entzücken,  seine  Seligkeit  und  Wonne  in  lauten  Gebetsrufen  oder  in 
stillem  Gebetsgespräch  vor  Gott  aus.  Hier  liegt  echtes  naives  Beten 
vor,  das  ja  in  seiner  ursprünglichen  Form  eine  spontane  Affektäußerung, 
ein  ,Ausschütten  des  Herzens'  bedeutet.  Der  reinen,  unpersönlichen 
Mystik  ist  dieses  ungehemmte  Reden  und  Rufen  aus  der  Leidenschaft 
des  Herzens  fremd.  Ihr  Beten  ist  nur  ein  affekt-  und  lautloses  Ein- 
sinken in  die  unermeßliche  Flut  des  Einen,  Göttlichen. 

Die  das  Gebet  auslösende  Leidenschaft  der  Gottesmystiker  quillt  bis- 
weilen spontan  aus  unterbewußten  Tiefen,  zumeist  aber  saugt  sie  ihre 
affektive  Innigkeit  und  Kraft  aus  der  religiösen  Meditation;  auch  die 
tiefe  Versunkenheit  der  Unendlichkeitsmystiker  kann  der  vorbereitenden 
Betrachtung  nicht  entraten.  Alles  mystische  Beten  und  Kontemplieren 
nährt  sich  aus  der  absichtlich  gepflegten  und  geübten  Meditation.  Diese 
besteht  einmal  in  der  , Sammlung',  der  straffen  Konzentration  der  Auf- 
merksamkeit auf  ein  Objekt,  sodann  in  der  eingehenden  ,Erwägung'  und 
Betrachtung'  einer  religiösen  Vorstellung,  die  meist  durch  die  Lektüre 
eines  erbaulichen  Textes  oder  die  Rezitation  einer  Gebetsformel  ange- 
regt wird.  Die  Betrachtung  hat  bisweilen  logisch-diskursiven,  viel 
häufiger  aber  phantasiemäßig-intuitiven  Charakter;  der  Meditierende 
vergegenwärtigt  sich  möglichst  anschaulich  die  religiösen  Wahrheiten, 
über  die  er  nachsinnt.  Den  Gegenstand  der  Betrachtung  13  bilden 
religiöse  Ideen,  von  denen  starke  Gefühlsreize  ausgehen:  die  Furcht- 
barkeit der  Sünde,  die  Kürze,  Unbeständigkeit,  Nichtigkeit  und  Arm- 
seligkeit des  Lebens  14,  der  Tod,  das  letzte  Gericht,  die  Strafen  der 
Hölle  und  die  Glorie  des  Himmels,  die  Größe,  Güte  und  Schönheit 
Gottes;  die  mittelalterliche  Jesus-Mystik  fügt  hiezu  eine  Fülle  neuer 
Meditationsthemen:  das  Leben,  Leiden  und  Sterben  des  Heilandes, 
das  Kindlein  in  der  Krippe,  Jesu  Sanftmut,  seine  Todesangst,  Geißelung, 
Dornenkrönung,  Kreuztragung  und  Kreuzigung,  sein .  Blut  und  seine 
Wunden.  Die  angespannte  Beschäftigung  mit  diesen  gefühlsbetonten 
Vorstellungen  löst  in  der  Seele  des  Betrachtenden  intensive  Stimmungen 
und  Wertgefühle  aus,  die  nicht  selten  affektive  Höhe  erlangen:  tiefe 
Erschütterung  und  bebende  Angst,  herbe  Welt-  und  Selbstverachtung 
und  bittere  Reue,  wehmutsvolles  Mitgefühl  und  lustvoll-unlustvolle 
Rührung,  frohe  Dankbarkeit  und  herzliche  Zuversicht,  brennende 
Sehnsucht  und  schmelzende  Liebeshingabe.  Diese  mannigfachen  Gefühle, 
Stimmungen  und  Affekte  legen  dem  Meditierenden  von  selbst  Gebets- 
worte und  Gebetsrufe  auf  die  Lippen.  ,,Du  kannst,"  sagt  Johann  Arndt, 
„nimmer  inbrünstiger  und  andächtiger  beten,  du  setzest  dir  denn  den 
Spiegel  des  demütigen,  sanftmütigen  Lebens  Christi  vor  deine  Augen, 
seine  Armut,  Verachtimg,   Schmerzen   und  seinen   schmählichen   Tod. 


288  F  III.  Das   Gebet  in  der  Mystik 

Wenn  du  in  dies  Gebetbüchlein  siehst,  so  wird  dein  Herz  und  Gemüt 
angezündet  werden  mit  inniglichem,  brünstigem,  feurigem  Seufzen."  15 
So  strömt  aus  der  Betrachtung  spontan  das  mystische  Gebet  hervor. 
Und  doch  ist  dieses  Gebet  ebenso  bewußt,  absichtlich  wie  naiv,  selbst- 
verständlich;  denn  die  Gebetsstimmung  ist  willkürlich  und  künstlich 
durch  die  Betrachtung  hervorgerufen.  Die  mystische  Meditation  ist 
somit  nichts  anderes  als  die  methodische  Vorbereitung  zum  Gebet; 
der  methodisch-technische  Charakter  dieser  Gebetsvorbereitung  wird 
treffend  durch  den  Ausdruck  ,geistige  Übung'  (exercitia  spiritualia) 
bezeichnet,  der  uns  zuerst  bei  Albertus  Magnus  und  Gertrud  von  Helfta 
begegnet.  16  Die  systematischen  Meditationsschemata  eines  Bonaventura, 
Petrus  von  Alcantara,  Ignatius  von  Loyola,  Franz  von  Sales,  Alfons 
von  Liguori 17  stimmen  alle  darin  überein,  daß  sie  die  andächtigen  Er- 
wägungen in  den  frommen  ,Herzensergüssen',  im  trauten  Gebetsgespräch 
(colloquium),  im  Dank-,  Bitt-  und  Aufopferungsgebet  münden  lassen. 

3.  Form  des  Gebets. 
Das  Gebet  der  Mystiker  ist  häufig  —  mag  es  nun  bewußte  Konzen- 
tration auf  Gott  oder  spontane  Aussprache  des  Ergriffenseins  von  Gott 
sein  —  ein  freies,  ungebundenes  Reden  mit  Gott;  die  Wahl  der  Worte 
ist  ein  Werk  des  Augenblicks.  Wo  das  Gebet  bewußt  und  absichtlich 
als  Mittel  zur  Sammlung  und  Betrachtung  angewandt  wird,  ist  auch 
die  mit  voller  Aufmerksamkeit  und  gefühlsmäßiger  Anteilnahme  ge- 
schehende Aussprache  einer  bestimmten  Gebetsformel  gebräuchlich. 
Seuse  benützte  bei  seinen  Gebeten  vielfach  stehende  Gebetsformulare 
und  Hymnen  wie  das  0  crux  ave  spes  unica  oder  das  Salve  regina  18. 
Margarethe  Ebner  sprach  bei  jedem  Gebet  den  Hymnus  Jesu,  via  veri- 
tatis  19.  Beliebt  sind  bei  den  Mystikern  die  kurzen,  formelhaften  Gebete, 
die  bei  der  Betrachtung  wie  im  alltäglichen  Leben  immer  wieder  ge- 
braucht werden;  sie  waren  schon  bei  den  ägyptischen  Mönchen  in 
Übung;  Augustin  hat  ihnen  den  Namen  , Stoßgebete'  gegeben  20.  Eine 
mehr  autohypnotische  Bedeutung  hat  die  Gebetsformel  bei  den  griechi- 
schen Athosmönchen,  die  sich  auf  die  Ekstase  trainieren  und  unzählige 
Male  die  fiovoXöyiOTOs  evxrj  wiederholen:  „Herr  Jesu  Christe, 
Sohn  Gottes,  erbarme  dich  unser."  21  Denselben  Zweck  verfolgen  die 
den  dhikr  (d.  h.  das  , Gottgedenken')  übenden  islamischen  Süfi,  die 
ohne  Unterlaß  die  Formeln  hersagen:  ,, Allah!  Allah!"  ,,Ruhm  sei 
Allah!"  „Es  ist  kein  Gott  außer  Allah."22  Aber  dieses  formelhafte, 
mündliche  Gebet  ist  nur  ein  pädagogisches  Hilfsmittel,  eine  Vorbereitung 
zum  eigentlichen  mystischen  Gebet.  Tauler  sagt:  „Also  dienet  alles 
Gebet  des  Mundes  zu  dem  wahren  Gebet,  es  ist  aber  nicht  das  wahre 
Gebet."  23  David  von  Augsburg  mahnt:  „Man  soll  tun  als  der  Eichhorn. 
Der  kauet  die  Schal  an  der  Nuß  und  er  kommt  an  den  Kern.  Also  soll 
man  die  Wort  mit  dem  Zahn  des  Verstandes  kauen.  Sobald  man  kommet 
in  die  Nießung  der  göttlichen  Heimlichkeit,  so  soll  man  die  Wort  lassen. 
Wer  den  Honig  will  essen,  der  muß  ihn  aus  dem  Wachs  nehmen,  also 
muß  man  aus  den  Worten  ziehen  die  göttliche  Süße  und  die  göttliche 
honigsüße  Gnade."  24 


3.    Form  des  mystischen   Gebets  289 

Die  Mystik  schließt  den  Menschen  von  der  Außenwelt  ab  und  zwingt 
ihn  in  sein  Inneres,  sie  lähmt  die  körperlichen  Ausdrucksmittel,  auf 
daß  die  Seele  in  sich  gekehrt  bleibe  und  ihre  Abgeschiedenheit  und 
Geistigkeit  bewahre.  Die  Worte  stören  die  innere  Einheit  und  Ruhe,  die 
Aussprache  bedeutet  ein  Heraustreten  aus  der  tiefen  Versunke nheit. 
„Wo  die  Sammlung  tief  ist,"  sagt  Teresa,  „wird  das  Sprechen  schwer."  25 
Alles  mystische  Beten  zeigt  darum  die  Tendenz  aus  dem  Gebet  in  (laut 
gesprochenen  oder  innerlich  artikulierten)  Worten  in  das  wortlose 
Gebet  überzugehen,  aus  dem  Reden  mit  Gott  in  ein  stummes  Betrachten 
und  Kontemplieren  Gottes,  aus  der  Aussprache  von  Affekten  in  das 
schweigende  Dahingleiten  in  gleichmäßigen,  lange  dauernden  Stim- 
mungen. Schon  Plotin  sagt:  „Wir  sollen  Gott  anrufen  nicht  mit  lautem 
Wort,  sondern  indem  wir  mit  der  Seele  uns  im  Gebet  zu  ihm  erheben."  26 
Die  alten  griechischen  Mönchsmystiker,  allen  voran  Makarios,  werden 
nicht  müde,  das  bild-  und  wortlose  innere  Gebet  ihren  Jüngern  zu 
empfehlen.  27  Johannes  Cassianus  redet  von  „jenem  höheren  Gebets- 
zustand, jenem  feurigen,  nur  wenigen  bekannten  und  von  wenigen 
erlebten,  ja  unaussprechlichen  Gebet",  „das  jedes  menschliche  Ver- 
ständnis übersteigt,  das  nichts  zu  tun  hat  mit  dem  Klang  der  Stimme 
oder  der  Bewegung  der  Zunge,  ja  nicht  einmal  mit  einer  inneren  Aus- 
sprache von  Worten,  das  der  durch  die  Eingießung  jenes  himmlischen 
Lichtes  erleuchtete  Geist  nicht  mit  den  engen  menschlichen  Rede- 
mitteln ausdrückt,  sondern  bei  gebundenen  Sinnen  wie  aus  einem 
sprudelnden  Quell  ausgießt  und  auf  unsagbare  Weise  vor  Gott  aus- 
schüttet, indem  er  in  einem  kürzesten  Augenblick  soviel  zusammen- 
greift als  er  weder  aussprechen  noch  innerlich  durchdenken  könnte."  28 
Dieses  wortlose  Gebet  ist  ein  Gebets  zustand,  kein  Gebetsakt. 
Madame  Guyon  sagt:  „Das  Herzensgebet  ist  kein  einzelner  Akt  oder 
ein  Verlauf  von  Akten,  den  die  Seele  vornimmt,  sondern  der  wesent- 
liche Zustand,  in  dem  sie  lebt."  *29 

Die  Mystiker  bringen  die  Höherwertung  des  wortlosen  Gebets  dadurch 
zum  Ausdruck,  daß  sie  dem  gewöhnlichen  ,mündlichen'  oder  aus- 
wendigen' Gebet  das  , innere'  30,  ,innwendige'  31,  ,betrachtende'  32  Gebet, 
die  oratio  spiritalis  quae  fit  in  intimis  cordis,  oratio  interior  (Augustin)  33, 
oratio  mentalis,  34  die  ,oraison  de  Vesprit  et  du  coeur1,  35  die  nQOoevxi] 
nvEVfiaiixri  36,  voeqü  oder  xagdiaxt)  37  gegenüberstellen.  Tauler  sagt: 
„So  klein  ein  Heller  gegen  100  000  Mark  Goldes  ist,  ist  alles 
auswendige  Gebet  gegen  das  inwendige  Gebet,  das  da  ist  und  heißt 
wahre  Einigung  mit  Gott,  des  geschaffenen  Geistes  Versinken  und 
Verschmelzen  in  den  ungeschaffenen.  Alles  Gebet  des  Mundes  ist  recht 
wie  Streu  und  Stroh  gegen  edlen  Weizen."  38  Uralt  ist  der  Gedanke, 
daß  das  Schweigen  das  wahre  Beten,  der  echte  Gottesdienst  sei:  er 
findet  sich  schon  in  der  spätägyptischen  Religion  39  und  in  den  syn- 
kretistischen  Mysterien  40  und  erlangt  im  Neupythagoreismus 41  und 
Neuplatonismus  42  normative  Bedeutung ;  er  kehrt  immer  wieder  in 
der  christlichen  und  islamischen43  Mystik.     Angelus  Silesius  singt: 

„Geschäftig  sein  ist  gut,  viel  besser  aber  beten. 
Noch  besser  aber  stumm  und  still  vor  Gott  den  Herren  treten." 

Dae  Gebet  19 


290  F  HL  Das    Gebet    in  der  Mystik 


„Gott  ist  so  über  all's,  daß  man  nichts  sprechen  kann. 
Drum  betest  du  ihn  auch  mit  Schweigen  besser  an." 
,,Die  heil'ge  Majestät  (willst  du  ihr  Ehr'  erzeigen) 
Wird  allermeist  geehrt  mit  heil'gem  Stilleschweigen. "  44 

Noch  feiner  und  inniger  beschreibt  Tersteegen  im  frommen  Liede 
das  unaussprechliche  Gebet  des  Schweigens: 

,,Ich  bin  im  dunklen  Heiligtum, 
Ich  bete  an  und  bleibe  stumm, 
O  ehrfurchtsvolles  Schweigen! 
Der  beste  Redner  sagt  mir's  nicht, 
Was  man  hier  ohne  Reden  spricht 
Durch  Lieben  und  durch  Beugen. 

Ich  bet'  zwar  stets,  doch  ohne  Mund, 
Es  macht  der  Friedenszug  im  Grund 
Die  müden  Lippen  schließen. 
Auch  weiß  ich  nichts  zu  beten  mehr, 
Ich  hab's  erlangt,  was  ich  begehr, 
Mein  Beten  ist  Genießen."  45 

Franz  von  Sales  bezeichnet  das  mystische  Gebet  als  das  „Gespräch  des  Schwei- 
gens" (colloque  de  silence);  denn  es  geschieht  in  gar  heimlichen  „Aspirationen"  und 
..Inspirationen";  „die  Augen  reden  mit  den  Augen,  das  Herz  mit  dem  Herzen 
und  niemand  versteht,  was  gesprochen  wird  als  die  heiligen  Liebenden,  die  da 
reden."  *•  Das  schweigende  Gebet  wird  gerne  auch  mit  dem  Bilde  des  Atmens 
veranschaulicht.  Mechtild  von  Magdeburg  bekennt:  „Herr,  himmlischer  Vater, 
zwischen  dir  und  mir  geht  immerfort  ein  unbegreifliches  Atmen,  worin  ich  viele 
Wunder  und  unaussprechliche  Dinge  erkenne  und  sehe."  47  Unzählige  Male  finden 
wir  dieses  Bild  bei  den  quietistischen  Mystikern  des  16.  und  17.  Jahrhunderts. 
Franz  von  Sales  sagt  vom  mystischen  Gebet  in  einem  Wortspiel:  ,,Nous  aspirons 
ä  lux  et  respirons  en  lui."  48  Madame  Chantal  definiert  das  Gebet  als  ein  „wort- 
loses  Atmen  der  Liebe  in  der  unmittelbaren  Gegenwart  Gottes."  49 

Der  Gegensatz  des  mystischen  Gebets  zum  naiven,  primitiven  Beten 
tritt  hier  unverhüllt  hervor:  das  naive  Beten  ist  ein  schlichtes  Reden 
und  Rufen  aus  der  Fülle  des  Herzens,  das  ,innere'  Gebet  des  Mystikers 
ein  Insichge wandt-  und  Versunkensein,  ein  Schweigen,  ein  Schauen, 
ein  Atmen;  dort  der  gewaltsame  Durchbruch  des  Affekts  —  hier  die 
Gebundenheit  aller  seelischen  Kräfte. 

4.  Wesen  und  Inhalt  des  mystischen  Gebets. 

Der  wesentliche  Inhalt  des  mystischen  Gebets  ist  nicht  der  des  naiven 
Betens,  die  Aussprache  der  Not  und  die  Bitte,  obgleich  es  sich  oft  seiner 
äußeren  Form  nach  als  Bitte  charakterisiert.  „Gott  und  die  Seele"  — 
Gott  der  höchste  und  einzige  Wert  und  der  Unwert  des  eigenen  Ich  — 
das  ist  der  Kern  des  mystischen  Gebets,  mag  es  auch  in  seiner  zufälligen 
Hülle  als  Bitte  erscheinen.  Nach  der  klassischen  Definition  der  Mystik 
ist  das  Gebet  die  elevatio  (ascensus)  mentis  ad  deum,  der  „Aufstieg  des 
Gemütes  zu  Gott".  Schon  Origenes  deutet  diese  Definition  an,  wenn 
er  im  Anschluß  an  das  Psalm  wort:  „zu  dir  habe  ich  meine  Seele 
erhoben"  das  Gebet  als  „Erhebung  der  Seele"  bezeichnet 50.  Ein 
Augustinus  zugeschriebener  Sermo  sagt:  „Das  Gebet  ist  ein  Auf- 
steigen der  Seele  vom  Irdischen  zum  Himmlischen,  ein  Emporstreben 
zu   dem,    was   oben   ist,    ein    Verlangen    nach    dem    Unsichtbaren" 51. 


4.   Inhalt  des  mystischen    Gebets  —   Konzentration   und   Kontemplation   291 


Nilus  Sinaita 52  und  Joannes  Damascenus  53  definieren  das  Gebet  als 
dväßaaig  vov  tiqoq  &eöv.  Diese  Definition  ist  zur  Normaldefinition 
der  katholischen  Theologie  geworden.  Die  mehr  impersonali- 
stische  Mystik,  deren  Ziel  die  Auflösung  der  Individualität  in  Gott  ist, 
nuancsiert  leise  diese  Wesensbestimmung  des  mystischen  Gebets,  wenn 
sie  dieses  weniger  als  ein  Emporsteigen  z  u  dem  über  dem  Geiste 
stehenden  Gott,  denn  vielmehr  als  ein  Eingehen  i  n  den  i  n  der  Seele 
gegenwärtigen  Gott,  weniger  als  eine  ,Erhebung'  denn  als  eine  Ver- 
senkung' bezeichnet.  So  nennt  Tauler  das  Gebet  ,,ein  unmitteliches 
Gehen  des  Geistes  in  Gott",  „ein  Versenken  des  Geistes  in  Gottes 
Geist" 54,  Tersteegen  bezeichnet  es  als  „ein  Sich-einwärts-neigen  m 
den  Grund  der  Seele  zu  der  Gegenwart  Gottes"  55. 

Die  theologische  Formel  von  der  elevatio  mentis  ad  deum  bestimmt  in 
der  Tat  treffend  die  Eigenart  des  mystischen  Gebets.  Das  Gebet  der 
Mystik  ist  nichts  anderes  als  die  Hinwendung  des  Geistes  zum  einen, 
,höchsten  Gut'.  Diese  Hinwendung  kann  affektiv  oder  affektlos  sein; 
sie  kann  die  Stimmungsfarbe  der  Lust  oder  Unlust  oder  beider  zugleich 
tragen;  sie  kann  als  Aufstieg,  als  Flug  zur  höchsten  Höhe  oder  als  Ver- 
sinken in  den  tiefsten  ,Abgrund'  erlebt  werden;  sie  kann  sich  in  die 
äußere  Form  der  Betrachtung,  Bitte,  Anbetung  oder  Ergebung  kleiden. 
Das  eigentliche  Wesen  des  mystischen  Gebets  wird  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Erlebnisweise,  der  Gefühlsintensität  und  Stimmungs- 
farbe wie  durch  die  Verschiedenheit  der  äußeren  Gebetsformen  nicht 
verändert.  Das  Thema  aller  mystischen  Gebete  ist  nur  eines:  Gott, 
das  summum  bonum,  und  die  Seele,  die  zur  Gottesschau  und  Gottes- 
einigung gelangen  soll.  Eben  deshalb  zeigen  die  Gebete  der  Mystiker 
eine  Einförmigkeit  und  Gleichmäßigkeit  gegenüber  dem  Formenreichtum 
des  naiven,  primitiven  Betens,  in  dem  ein  bewegtes  und  mannigfaltiges 
Leben  sich  offenbart.  Den  gleichförmig  auf-  und  abwogenden  Rhythmus 
des  mystischen  Betens  gibt  in  wundervoller  Weise  der  Hymnus ^Adoro 
te  devote  des  Thomas  von  Aquino  wieder. 

Alles  Beten  der  Mystiker  ist  ein  Sichhin  wenden  zum  höchsten  Gut. 
Dennoch  zeigt  sein  Inhalt  einen  inneren  Fortschritt ;  schon  der  Terminus 
der  klassischen  Definition:  elevatio,  ,Aufstieg'  der  Seele  zu  Gott  deutet 
an,  daß  im  mystischen  Gebet  eine  immanente  Aufwärtsbewegung  statt- 
findet. Der  Beter  schreitet  von  der  Konzentration  zur  Kontemplation 
fort,  von  dem  sehnsüchtigen  Gottverlangen  zum  seligen  Gottesbesitz 
und  Gottesgenuß.  In  der  Konzentration  trägt  das  Erleben  des  höchsten 
Wertes  den  Charakter  der  Spannung,  in  der  Kontemplation  den  der 
Lösung.  In  der  Konzentration  ist  der  Beter  noch  selbsttätig,  strebend 
und  wollend,  in  der  Kontemplation  hört  alle  absichtliche  Eigen tätigkeit 
auf,  in  passiver  Ergriffenheit  schaut  er  das  höchste  Gut,  die  Hinwendung 
ist  zum  Hingewandtsein,  die  Versenkung  zur  Versunkenheit  geworden. 

/.  Konzentration. 
Der  betende  Mystiker  wendet  sich  ab  von  der  äußeren  Wirklichkeit, 
unterdrückt  willensmäßig  alle  auf  diese  abzielenden  Vorstellungen  und 
Regungen   und   richtet  seine  ganze   geistige   Aufmerksamkeit   auf  die 


292  F  III.   Das   Gebet   in  der  Mystik 


höchste  geistige  Wirklichkeit,  auf  Gott.  Tauler  sagt:  „Kehre  dich  in 
der  Wahrheit  von  dir  selber  und  von  allen  geschaffenen  Dingen  und 
richte  dein  Gemüt  ganz  in  Gott  auf."56  Makarios  mahnt:  ,,Gott  ist 
das  höchste  Gut,  auf  ihn  mußt  du  deine  Gedanken  sammeln,  nur  auf 
ihn  mußt  du  harren  und  schauen."  57  Mit  unverrücktem  inneren  Blick 
schaut  der  weitabgewandte  Beter  auf  das  jenseits  der  Welt  stehende 
summum  bonum,  vergegenwärtigt  es  sich,  betrachtet  es,  versenkt  sich 
darein,  bis  er  schließlich  in  ihm  aufgeht,  von  ihm  erfüllt,  fortgerissen, 
verzehrt  wird.  „Unablässig  harre  des  Herrn  in  deinem  Innern,  suche 
ihn  mit  deinen  Gedanken,  zwinge  und  nötige  deinen  eigenen  Willen 
und  Entschluß  zur  steten  Richtung  auf  ihn."  „Aufmerksamen  Sinnes 
mußt  du  Gott  erwarten,  bis  er  kommt  und  deine  Seele  heimsucht" 
(Makarios)  58. 

Die  Konzentration  auf  das  summum  bonum  hüllt  sich  zumeist  in  die 
Form  der  Bitte,  seltener  in  die  Form  der  sehnsüchtigen  Klage  und  Frage ; 
doch  wird  die  Bitte  oder  Frage  ständig  von  der  reinen  Betrachtung 
unterbrochen.  Den  Gegenstand  der  Bitte  bildet  das  Heil  der  Seele  in 
Gott ;  der  Mystiker  erfleht  von  Gott  jenen  Seelenzustand,  den  er  erstrebt : 
die  Isolierung  des  Seelenlebens  von  der  gegenständlichen  Welt,  die  Ver- 
drängung der  Affekte,  triebhaften  Regungen  und  Willenstendenzen, 
die  innere  Ruhe  und  Einheit,  die  enthusiastische  Hingabe  an  das  höchste 
Gut,  die  Ekstase.  Der  ganze  Stufengang  des  mystischen  Heilsprozesses 
von  der  ,Reinigung'  über  die  ,Erleuchtung'  zur  , Einigung'  spiegelt 
sich  im  Inhalt  der  mystischen  Gebetsbitten  wider. 

1.    Via  purgatlva. 

a)  Loslös  ungvonder  Welt:  „Pflanze  Furcht  vor  dir  in  mein  Herz,  auf 
daß  ich  die  Welt  fliehe  nach  deinen  Geboten  und  Haß  gegen  sie  hege  und  mich 
weise  vor  ihr  absperre.  Laß  mich  nicht,  o  Christus,  in  ihrer  Mitte  umherirren" 
(Symeon  der  Neue  Theologe)  59.  „Eija,  Herr,  ich  bitte  dich,  daß  du  mich  vof 
allen  irdischen  Dingen  bewahrtest  un vermenget;  denn  wie  heilig  sie  auch  sein 
mögen,  sie  verrücken  mich  doch  aus  dem  höchsten  Bund  mit  dir"  (Mechthild  von 
Magdeburg)  60.  ,,Ich  bitte  dich,  daß  du  uns  gebest  ein  wahres  Abscheiden  von 
aller  dieser  Welt  und  ein  völliges  Verzichten  unser  selbst"  (Margaretha  Ebner)  81. 
„Da  mihi  omnibus  mori,  quae  in  mundo  sunt  et  propter  te  amare  contemni  et 
nesciri  in  hoc  saeculo."  „Rape  me  et  eripe  me  ab  omni  creaturarum  indurabili 
consolatione,  quia  nulla  res  creata  appetitum  meum  valet  plenarie  quietare  et 
consolari."  „Veite  mihi  omnia  terrena  in  amaritudinem,  omnia  infima  et  creata 
in  contemptum  et  oblivionem.  Erige  cor  meum  ad  te  in  coelum,  et  ne  dimittas 
me  vagari  super  terram."  (Nachfolge  Christi)  6i!.  „Zeuch  mich  aus  aller  Kreatur 
(Tersteegen)".  „Mache  uns  frei  von  der  unordentlichen  Kreaturliebe"  63.  „Leere 
uns  aus  von  aller  sündigen  Kreaturliebe".  „Bewahre  uns,  daß  wir  unsere  Herzen 
mit  der  Kreatur  nicht  beschweren".  „Laß  eine  Geringschätzung  aller  zeitlichen 
und  vergänglichen  Dinge  entstehen".  „Reiße  unsere  Herzen  los  von  allen  irdischen 
Dingen  dieser  Welt,  damit  das  Himmlische  unser  Ziel  allein  bleibe,  darnach  wir 
ohne  Unterlaß  trachten".  „Laß  uns  alles  Irdische  verleugnen  und  nicht  trachten 
nach  dem,  was  auf  Erden  ist"   (Johann  Arndt).  64 

b)  Loslösung  vom  eigenen  Ich,  Affekt-  und  Begierde- 
losigkeit:  „Si  quid  est  in  me  superflui  alicuius  appetitio,  tu  ipse  me  munda 
et  fac  idoneum  ad  videndum  te"  (Augustinus)  66.  „Laß  mich  abwerfen  die  Schlech- 
tigkeit der  Seele,  welche  Aufblähung  und  törichte  Erhebung  zerdrücken  und 
zermalmen.  Ach  gib  mir  Demut,  reich  mir  deine  hilfreiche  Hand  und  säubere  den 
Schmutz  meiner  Seele."     ..Sänftige  die  Bewegungen  meines  Gemüts,  mach  mich 


4.   Inhalt   des  mystischen    Gebets  (via  purgativa)  293 

fähig,  alle  Anfechtung  und  alles  Leid  des  Lebens  hochgemut  zu  tragen"  (Symeon 
der  Neue  Theologe)  66.  ,,Libera  me  a  passionibus  malis  et  sana  cor  meum  ab 
omnibus  affectionibus  inordinatis,  ut  intus  sanatus  et  bene  purgatus  aptus  efficiar 
ad  amandum,  fortis  ad  patiendum,  stabilis  ad  perseverandunx "  „Educ  de  habi- 
taculod  coris  mei  tenebras  universas.  Oohibe  evagationes  multas  et  vim  facientes 
elide  tentationes.  Pugna  fortiter  pro  me  et  expugna  malas  bestias,  coneupiscentias 
dico  illecebrosas".  ,,Impera  ventis  et  tempestatibus  (d.  h.  den  Affekten),  die  mari: 
quiesce!  die  aquiloni:  ne  flaveris,  et  erit  tranquillitas  magna."  ,,Da  mihi  cor  meum 
ab  omni  inutili  sollicitudine  et  angore  evacuare  nee  variis  desideriis  trahi  cuiusque 
rei  vilis  aut  pretiosae,  sed  omnia  inspioere  sicut  transeuntia  et  me  pariter  cum 
Ulis  transiturum"  (Nachfolge  Christi)  67.  „Gib,  daß  wir  uns  täglich  selbst  ver- 
leugnen, unserer  sündlichen  Ehrsucht  absterben  und  in  unserem  ganzen  Leben 
deine  Ehre  den  einzigen  Zweck  alles  unseres  Tuns  und  Lassens  sein  lassen".  „Laß  uns 
uns  selber  und  unseren  sündlichen  Neigungen  absterben".  ,,Töte  in  uns  alle 
unordent liehe  Begierden  unserer  Seelen  und  laß  uns  in  dir  allein  unsere  Gemütsruhe 
suchen  und  finden"  (Johann  Arndt)  68.  ,,Mach  mich  von  meiner  Selbstheit  bloß". 
..Besänftige  die  bitteren  Kräfte  unserer  Natur  durch  die  Balsamsäfte  deiner  Liebe. 
Laß  unseren  unruhigen  Eigensinn  und  Eigenwillen  in  sanfter  Stille  zu  deinen 
Füßen  hinsinken,  unsere  ungestümen  Gemütsbewegungen  befriedigt  und  unsere 
zerstreuten  Begierden  und  Gedanken  in  ein  stilles  Nun  und  Augenblick  gesammelt 
werden"  (Tersteegen)  ".  „Reinige  mein  Herz  von  allem,  was  irdisch,  was  stolz 
iuid  sinnlich,  hart  und  grausam  ist.  von  aller  Verkehrtheit,  aller  Unordnung, 
aller  Starrheit"   (Newnian)  70. 

e)  Bußgeist  und  Reue  sehmerz:  „Gewähre  mir  Tränen  der  Buße» 
Tränen  der  Sehnsucht,  Tränen  des  Heils,  Tränen,  die  die  Hefe  meines  Geistes 
reinigen  und  mich  lauter  machen  von  oben  her"  (Symeon)  71.  „Reinige,  Herr, 
heute  mein  Herz  von  aller  irdischen  Liebe  und  gieß  hernieder  deine  Himmelsflut 
in  meine  dürre  Seele,  daß  ich  beweine  deine  Erniedrigung  und  meiner  Sünden 
Jammer"  (Mechthild  von  Magdeburg)  7a.  „Ich  bitte  dich,  daß  mir  gebest  süßes 
Minneweinen  um  alle  meine  Sünde"  (Adelheid  Langmann)  7S.  „Da  mihi  perfectum 
peceatorum  meorum  habere  contritionern,  ut  dolore  cordis  intrinsecus  compunetus 
amarissime  flere  valeam  et  scelera  mea  et  delieta  universa,  digna  castigatione 
extorquere  eaque  sacro  poenitentiae  lavacro  abluere  possirn  et  purgare"  (Thomas 
von  Kempen)  74.  „Zerschlag,  zermalme,  zerknirsche  unsere  steinharten  Herzen, 
bringe  uns  zum  schmerzhaften  Gefühl  unseres  großen  Elends  und  gib  uns  den 
Sinn,  daß  wir  alle  Sünden  als  die  Ursache  unserer  Unseligkeit  hassen  und  ver- 
abscheuen" (Arndt)  76. 

2.   Via  illuminativa. 

a)  Ruhe  und  Friede  in  Gott:  „Da  mihi  super  omnia  desiderata  in  te 
requiseere  et  cor  meum  in  te  paeificare.  Tu  vera  pax  cordis,  tu  sola  requies,  extra 
te  dura  sunt  omnia  et  inquieta.  In  hae  pace  in  idipsum,  hoc  est  in  te  u  n  o  et 
summo  aeterno  bono  dormiam  et  requieseam."  „Non  potest  cor  meum 
veraciter  requieseere  nee  totaliter  contentari,  nisi  in  te  requiescat  et  omnia  dona 
omnemque  ereaturam  transcendat"    (Nachfolge  Christi)  78. 

„Stilles  Gotteswesen  du. 

Einig  meines  Geistes  Ruh, 

Ach,  wann  wird  mein  Geist  auf  Erden 

Recht  in  dir  gestillet  werden  ? 

Laß  mich  nicht  so  jämmerlich 

In  der   Unruh  quälen  mich. 

O  du  stille  Ewigkeit, 
Süßes  Reich  der   Seligkeit, 
Nimm  mich  ein  in  deinen  Frieden. 
Mach  mich  iiuiig,  abgeschieden: 
Ach,  ich  bin  noch  so  verirrt, 
Sammle  mich,  du  guter  Hirt   .... 


294  F  III.   Das   Gebet   in  der  Mystik 


In  der  Welt  und  Kreatur 

Wird  mein  Geist  geängstigt  nur; 

Könnt'  ich  allem  mich  verschließen. 

Deinen  Frieden  zu  genießen, 

Los  und  bloß  und  ungestört, 

Jesu,  ganz  in  dich  gekehrt." 

„Wie  die  zarten  Blumen, 

Willig  sich  entfalten 

Und  der  Sonne  stille  halten. 

Laß  mich  so, 

Still  und  froh 

Deine  Strahlen  fassen 

Und  dich  wirken  lassen"  (Tersteegen)  77. 
„Laß  mich  nicht  außer  dir  suchen,  was  ich  nur  in  dir  finden  kann,  o  Herr,  Ruhe 
und  Freude  und  Seligkeit,  welche  nur  bleiben  in  deiner  bleibenden  Freude  1  Erhebe 
meine  Seele  von  dem  ruhelosen  Kreislauf  ermattender  Gedanken  zu  deinem  ewigen 
Frieden!  Erhebe  meine  Seele  zu  der  reinen,  glänzenden,  erhabenen,  strahlenden 
Atmosphäre  deiner  Gegenwart,  daß  ich  hier  frei  atme,  hier  in  deiner  Liebe  ruhe, 
hier  Ruhe  finde  vor  mir  selber  und  vor  allen  Dingen,  die  mich  beunruhigen,  und 
dann,  mit  deinem  Frieden  bekleidet,  zurückkehre,  um  zu  tun  und  zu  tragen, 
was  dir  gefällt"  (Pusey)  78. 

b)  Gleichförmigkeit  des  eigenenWillens  mit  demWillen 
Gottes:  „Ich  bitte  dich,  mein  Herr  Jesu  Christe,  daß  du  uns  helfest,  daß  wir 
nach  allem  deinen  Willen  gezogen  werden,  es  geschehe  uns  mit  Lieb  oder  mit 
Leid,  daß  uns  deine  starke  Gewalt  dazu  binde  und  deine  süße  Minne  dazu  zwinge, 
daß  wir  kein  natürlich  Leben  an  uns  haben,  denn  das  du,  Jesus  Christus,  in  uns 
lebest  mit  aller  deiner  Gnade"  (Margaretha  Ebner).  79  „Das  will  ich,  das  ver- 
lange ich,  darnach  sehne  ich  mich  aus  tiefstem  Herzen,  daß  in  mir  und  von  mir 
und  durch  mich  nicht  mein,  sondern  dein  Wille  geschehe.  Möge  ich  künftig  nicht 
mehr  meiner  Neigung  folgen,  noch  meinen  eigenen  Vorteil  suchen,  noch  nach 
der  Zuneigung  der  Freunde  verlangen,  sondern  allein  dahin  streben  in  allen  Dingen 
deinem  Wohlgefallen  gemäß  zu  tun.  Möge  ich  nicht  darauf  achten,  was  bitter 
oder  süß,  was  schwer  oder  leicht,  was  widrig  oder  angenehm  sei,  sondern  mit 
innigem,  heißem  Verlangen  und  peinlicher  Sorgfalt  das  zu  vollführen  trachten, 
was  deinem  Willen  wohlgefällt"  (Bonaventura)  80.  „Da  mihi  hoc  semper  desiderare 
et  velle,  quod  tibi  magis  acceptum  est  et  carius  placet.  Tua  voluntas  mea  sit 
et  mea  voluntas  tuam  semper  sequatur  et  optime  ei  concordet.  Sit  mihi  unum 
velle  et  nolle  tecum  nee  aliud  posse  velle  aut  nolle,  nisi  quod  tu  vis  aut  nolis' 
(Imitatio)  81.     „Da,  quod  iubes,  et  iube,  quod  vis!"  (Augustinus)  82. 

„Gib,  daß  mein  Will  in  allen  Nöten 

In  deinem  Willen  sich  verlier'." 

„Den  eignen  Willen  brich  entzwei. 

Wie  sehr  er  steckt  verborgen." 

„In  Kreuz  und  Trübsal  gleichermaßen 

Mach  mich  gelassen."  (Tersteegen)  ". 

c)  Die  ausschließliche  Hinwendung  z.um  höchsten  Gut:  „Fac  me, 
pater,  quaerere  te;  quaerenti  te  mihi  nihil  aliud  pro  te  oecurrat."  „Oro  excellen- 
tissimam  clementiam  tuam,  ut  me  penitus  ad  te  convertas  nihilque  mihi  repugnare 
facias  tendenti  ad  te."  „Ad  te  ambio,  et  quibus  rebus  ad  te  ambiatur,  a  te  rursuin 
peto"  (Augustinus).  8*  „Nihil,  quaeso,  sine  te  mihi  dulcescat,  nihil  complaceat, 
nihil  pretiosum,  nihil  praeter  te  mihi  arrideat  speciosum;  vilescant,  obsecro, 
absque  te  mihi  omnia,  sordeant  universa.  Quod  tibi  adversum  est,  sit  mihi 
molestum,  et  beneplacitum  tuum  mihi  indeficiens  desiderium;  taedeat  me  gaudere 
sine  te  et  delectet  me  tristari  pro  te"  (Anselm  von  Canterbury).  85  „Da  mihi, 
Domine  coelestem  sapientiam,  ut  discam  te  super  omnia  quaerere  et 
invenire,  super  omnia  sapere  et  diligere"  (Nachfolge  Christi).  8S  „Te  coneupiseat 
anima  mea,  te  semper  esuriat,  te  semper  sitiat,  te  semper  ambiat,  et  quaerat, 
te  inveniat,  ad  te  tendat,  ad  te  perveniat,  te  meditetur,  te  loquatur  et  omnia 
operetur  in  laudem  et  gloriam  nominis  tui"  (Bonaventura).  87    „Ziehe  uns  kräftig 


4.   Inhalt  des  mystischen   Gebets  (via  illuminativa)  295 

zu  dir  hin.    Gib  uns  in  dir  ein  gesammeltes  Herz  und  laß  das  unendliche  Verlangen 
unserer  Seele  zu  dir  beständig  hingerichtet  sein"  (Arndt).  88 

„Mein  Gott,  nur  du, 

Mein  Trost,  mein  Teil  und  Ruh, 

Du  sollst  es  sein, 

Den  ich  hier  such  und  mein: 

Ach,  nimm  mich  hin  und  mich  in  dich  verschließe. 

Entwöhne  mich,  daß  ich  nur  dich  genieße. 

Dies  laß  allein 

Mein  Werk  auf  Erden  sein. 

Zu  sterben  mir 

Und  nur  zu  leben  dir, 

Stets  eingewandt  im  Geist  in  dir  zu  stehen, 

Zu  lieben  dich  und  dich  nur  anzusehen"  (Tersteegen).  89 

d)  Glaube,  Hoffnung  und  Liebe:  ,,Si  fide  te  inveniunt,  qui  ad  te 
refugiunt,  f idem  da ;  si  virtute,  virtutem ;  si  scientia,  scientiam.  Auge  in  me  f idem, 
äuge  spem,  äuge  caritatem"  (Augustinus).  90  ,,Fac  me  tibi  magis  credere,  in 
te  spem  habere,  te  diligere"  (Thomas  von  Aquin).  91  „Wenn  ich  dich  bitte  um 
Inbrunst,  so  bitte  ich  um  Glaube,  Hoffnung  und  Liebe"  (Kardinal  Newman).  M 

e)  Glut  der  Gottesliebe:  „O  amor,  qui  semper  ardes  et  numquam  exstin- 
queris,  Caritas,  Deus  meus,  accende  me"  (Augustinus).  93  ,,0  edler  Aar,  o  süßes 
Lamm,  o  Feuerglut,  entzünde  mich.  Wie  lange  soll  ich  also  dürre  sein?" 
(Mechthild).  94  „Ich  bitte  dich,  daß  du  meine  Seele  markreich  machest  mit  der 
Süße  deines  Markes  und  durchleuchtest  und  durchgeistigst  und  feurig  machest 
mit  dem  Feuer  deiner  Gottheit."  „Ich  bitte  dich,  daß  du  mein  Herz  entzündest 
mit  dem  Feuer  deiner  göttlichen  Liebe,  daß  diese  allezeit  sei  beweglich,  stetiglich, 
hitzig,  spitz,  flüssig,  überwillig,  die  mich  verwunde,  zu  dir  binde,  nach  dir  allezeit 
seufzend  und  verlangend  mache,  mich  von  mir  scheide  und  mich  in  dich  lieblich 
verzücke"  (Pseudo- Eckhart)  95.  „Fülle  meine  Seele  mit  deiner  Fülle,  hauche  mich 
an  mit  deinem  Atem,  der  Kraft  und  milde  Glut  eingießt  .  .  .  Herr,  wenn  ich 
dich  um  Glut  bitte,  bitte  ich  um  dich  selbst,  um  nichts  Geringeres  als  dich,  o  mein 
Gott.  Komm  in  mein  Herz  und  erfülle  es  mit  Glut,  indem  du  es  mit  dir  erfüllst" 
(Newman).  96  „Gib  Gnade,  daß  ich  dich  unaufhörlich  liebe"  (Mänikka- 
Vaäagar).  97  „Arno  te,  Deus  meus,  amore  magno  magisque  te  amare  cupio.  Da 
mihi,  ut  amem  te  semper  quantum  volo  et  quantum  debeo,  ut  tu  solus  sis  tota 
intentio  mea  et  omnis  meditatio  mea"  (Anselm  von  Canterbury).  98  „Transfige 
medullas  et  viscera  animae  meae  suavissimo  amoris  tui  vulnere,  ut  lanqueat  et 
liquefiat  anima  mea  solo  semper  amore  et  desiderio  tui"  (Bonaventura).  99 
„Dilata  me  in  amore,  ut  discam  in  interiori  cordis  ore  degustare,  quam  suave  sit 
amare  et  in  amore  liquefieri  et  natare.  Tenear  amore,  vadens  supra  me,  prae 
nimio  fervore  et  stupore.  Cantem  amoris  canticum,  sequar  te  dilectum  meum, 
deficiat  in  laude  tua  anima  mea  iubilans  ex  amore".  „O  Jesu,  tribue  mihi  ex 
amore  conteri,  ex  amore  vulnerari,  ex  amore  mori"  (Thomas  von  Kempen).  10° 
„Laß  deine  inbrünstige  Liebe  ein  Feuer  der  göttlichen  und  reinen  Liebe  in  uns 
anzünden,  daß  wir  dich  unsern  liebreichen  Vater  von  ganzem  Herzen  lieb  ge- 
winnen, dir  allein  anhängen,  und  an  deiner  Herrlichkeit  uns  vergnügen"  (Arndt).  101 
„Reiß  unsere  Liebe  und  Herzensandacht  ganz  zu  dir,  daß  wir  aller  Orten  und  zu 
aller  Zeit  und  in  allen  Dingen  nur  dich  sehen  und  nur  dich  lieben,  der  du  unseres 
Herzens  eigentlicher  Vorwurf  und  ewig  genug  bist"  (Tersteegen)  102.  „Gib  mir, 
Herr,  und  nimm  mir,  Herr,  alles,  was  du  willst,  nur  laß  mir  ja  diesen  Willen, 
daß  ich  sterben  müsse  von  Minne  in  der  Minne"  (Mechthild)  103. 

3.  Via  unitiva. 
a)  Erleben  der  Gegenwart  Gottes,  Gottschauen:  „Zu  dir,  Vater, 
möge  ich  gelangen,  möge  ich  bei  dir  wohnen!"  (Mänikka-Väsagar).  1M  „Schlage 
dein  Zelt  auf  ir>  mir  und  wohne  da  und  bleib  da  unaufhörlich"  (Symeon).  los 
„Bereite  dir,  o  Gott,  in  mir  ein  glänzendes  Gemach,  daß  du  nach  deiner  Ver- 
heißung in  mir  wohnest  und  dort  eine  Stätte  dir  errichtest"  (Petrus  von  Alcantara. l0S 


296  F  III.   Das   Gebet   in  der  Mystik 

.,Ich  bitte  dich,  mein  Herr,  daß  wir  inne  werden  deiner  Gegenwart  auf  sichtbare 
und  unsichtbare  Weise  mit  einer  süßen  Berührung"  (Margaretha  Ebner).  107 
..Dreieiniger  Gott,  wohne  in  uns,  daß  wir  deine  Liebe  schmecken,  deine  Kraft 
erfahren  und  deinen  Trost  empfinden"   (Arndt)  108. 

,,Herr,  komme  in  mir  wohnen. 

Laß  meinen  Geist  auf  Erden 

Dir  ein  Heiligtum  noch  werden". 

..Ach  wohn'  in  mir,  du   Gottessonn1. 

Mein  Geist  dein  Himmel  werd. 

Daß  ich,  o  reine  Seelenwonn'. 

Werd  ganz  in  dich  verklärt"  (Tersteegen).  10B 
,.Quis  mihi  dabit,  ut  venias  in  cor  meum  et  inebries  illud,  ut  obliviscar 
mala  mea  et  unum  bonum  meum  amplectar  in  te  ?"  (Augustinus)  uo  ,,0  König, 
Herr,  komm  zu  mir,  zu  mir"  (Mänikka-Väsagar).  1J1  „Veni,  venu  quia 
sine  te  nulla  erit  laeta  dies  aut  hora,  quia  tu  laetitia  mea  et  sine  te  vaeua  est 
mens  mea.  Miser  sum  et  quomodo  incarceratus  et  compedibus  gravatus,  donee 
luce  praesentiae  tuae  nie  reficias  vultumque  ami -abilem  demonstres"  (Nachfolge 
Christi).  m  „Komm,  wahres  Licht;  komm,  ewiges  Leben;  komm,  verborgenes 
Geheimnis;  komm,  unsagbarer  Schatz;  komm,  unaussprechliche  Tat;  komm, 
unvorstellbares  Antlitz;  komm,  unsichtbare  Wonne;  komm,  Licht  ohne  Abend; 
komm,  wahre  Hoffnung  aller  Heilsbeflissenen;  komm,  Aufrichtung  der  Darnieder- 
liegenden; komm,  Auferstehung  der  Toten;  komm,  Mächtiger,  der  alles  schafft 
und  umschafft  und  wandelt  durch  seinen  Willen;  komm.  Unsichtbarer,  ganz 
Untastbarer  und  Unberührbarer  .  .  .  Komm,  ewiges  Leben;  komm,  unverwelk- 
licher  Kranz;  komm,  Purpur  des  großen  Gottes,  unseres  Königs;  komm,  kristall- 
gleicher, demantgeschmückter  Gürtel  .  .  .  Komm,  nach  dem  meine  arme  Seele 
sich  gesehnt  hat  und  sehnt;  komm.  Einsamer  zum  Einsamen,  denn  einsam  bin 
ich,  wie  du  siehst;  komm,  der  du  mich  losgelöst  und  vereinsamt  hast  auf  dieser 
Welt;  komm,  der  du  meine  Sehnsucht  geworden  bist  und  der  du  gemacht  hast, 
daß  ich  dich  ersehne,  den  ganz  Unzugänglichen.  Komm,  mein  Atem  und  Leben; 
komm  Trost  meiner  niedrigen  Seele;  komm,  meine  Freude,  mein  Ruhm,  mein 
stetes  Ergötzen"  (Synieon)  113.  ,,Ich  bitte  dich,  daß  du  mich  erhörest,  du  reicher 
Gott,  du  gewaltiger  Gott,  du  minniglicher  Gott,  du  getreuer  Gott,  du  barmherziger 
Gott,  und  daß  du  kommst  in  mein  Herz  und  daß  du  mich  erfüllst  mit  aller  deiner 
Minne  und  aller  deiner  Gnade"  (Adelheid  Langmann).  114 

„Da  mihi,  quae  attendam,  ut  adspiciam  te"  (Augustinus).  115  ..Komm, 
höchstes  Licht,  das  stets  neu  entstehend  meine  Seele  erfüllt,  gib  mir  die  Gnade, 
dich  zu  s  c  h  a  u  e  n  ,  wie  du  bist."  „Auf  Erden,  im  Himmel  oder  dann,  wenn  all 
dies  vergangen  ist,  wann  werde  ich  dein  Antlitz  schauen?"  (Mänikka-Vägagar)  116. 
„Zeige  mir  deutlich  das  Antlitz  deiner  Gottheit  und  erscheine  mir  ganz  auf  un- 
sinnliche Weise"  (Symeon).  117  „Zeige  mir  dein  Antlitz  und  laß  mich  schauen 
deine  Gestalt.  Siehe,  dein  Antlitz  ist  lieblich  und  schön"  (Gertrud  von  Helftä).  1X* 
„O  veritas  mea  et  misericordia  mea,  da  mihi  te  videre  sine  forma  corporea,  sine 
specie  imaginaria  et  sine  omni  luce  creata"  (Thomas  von  Kempen)  119.  „Du, 
unser  Gott  und  unser  Alles !  Du  ewig  belustigendes  und  völlig  beruhigendes  Liebes- 
wesen! Dieses  Eine,  dich  zu  finden  und  dich  so  zu  schauen,  ist  es,  welches  ich 
in  Demut  von  dir  erbitte."  „Laß  uns  der  Zeit  und  Ort  entfallen,  damit  wir  dich 
mögen  schauen  und  unser  so  lang  umgetriebener,  bald  verschmachteter  Geist 
wiederum  in  deinen  ursprünglichen  Vatersarmen  ausruhen  möge"  (Tersteegen).  12° 
b)  Volle  E  i  n  i  g  u  n  g  mit  Gott,  Aufgehen  in  Gott,  Ekstase:  „Ich 
bitte  dich,  mein  Herr,  daß  du  uns  in  deiner  lauteren  Minne  gebest  eine  sichere 
Vereinigung  mit  dem  innersten  Gut,  das  du,  Gott,  selber  bist"  (Margaretha  Ebner). 1J1 
„Herr  Jesu  Christe,  ich  bitte  dich  von  Liebe,  daß  du  mich  dir  und  dich  mir  nahest, 
vereinigest,  heimlichest,  innerest,  einschmelzest,  einatmest,  einschließest,  ein- 
tuest, einzweigest,  einliebest,  einnaturest,  einvergottest.  Und  ich  bitte  dich, 
daß  du  mich  verbergest  in  die  feurige  Flamme  deiner  Gottheit,  daß  ich  also  feurig 
und  also  flammend  und  einfließend  und  aufwallend  werde  in  dem  Feuer  deiner 
Gottheit,  daß  man  darin  keinen  Unterschied  kiese,  so  viel  es  möglich  ist."  „Ewiger 
Vater,  ich  bitte  dich  von   Grund  meines  Herzens  und  aus  allen  Kräften  meiner 


4.   Inhalt  des  mystischen    Gebets  (via  unitiva)  297 


Seele,  daß  du  mir  gebest  in  der  innersten,  tiefsten  und  verborgensten  Heimlichkeit 
des  Grundes  deines  väterlichen  Herzens  ein  stetes  in  nebleibendes  Wesen.  Leben» 
Sehen,  Lieben,  Sprechen,  Wirken  .  .  . ;  daß  ich  allezeit  in  dir  beschlossen  sei 
und  bleibe,  ein  durchleuchtend  Bild  nach  deinem  innersten  verborgenen  Willen 
vor  den  Augen  deiner  Majestät,  in  dem  du  allezeit  ohne  Widerstand  hellglänzend  dich 
spiegelst  und  ersiehst  den  Adel  deiner  göttlichen  Natur"  (Pseudo- Eckhart).  122 
..Gib  mir  dich  jetzt  so,  daß  ich  mich  an  dir  sättige,  daß  ich  küsse  und  umfange 
deine  unsagbare  Herrlichkeit,  das  Licht  deines  Antlitzes  und  verwandelt,  ganz 
verherrlicht  zu  dir  komme,  und  selbst  Licht  geworden  von  deinem  Lichte,  zu 
dir  trete"  (Symeon)  123.  „Senke  dich  in  mich  und  verwandle  mich  in  dich,  denn 
sonst  mag  noch  will  ich  nimmer  getröstet  werden"  (David  von  Augsburg).  124 
,,Eija,  mein  einiges  Gut,  nun  hilf  mir,  daß  ich  unbefleckt  möge  fließen  in  dich" 
(Mechthild).  126  „Ich  komme  zu  dir  um  Hilfe,  verlangend  nach  Fülle  des  Glücks, 
Zerstörung  meines  Ich,  Aufgehen  in  dir"  (Vischnu-Puräna).  126  „Ich  bitte  dich, 
laß  meine  Seele  in  mir  schmelzen,  mach  mich  dein"  (Mänikka-Vääagar).  127  „O 
quando  ad  plenum  dabitur  mihi  vacare  et  videre,  quam  suavis  es,  Domine  Deus 
meus !  Quando  ad  plenum  me  recolligam  in  te,  ut  prae  amore  tuo  non  sentiam 
me,  sed  te  solum,  supra  omnem  sensum  et  modum"  (Nachfolge  Christi).  128  „Wann 
werde  ich  ganz  dein  sein  ?  Wann  werde  ich  aufhören,  mein  zu  sein  ?  Wann  wirst 
du  mich  mit  dir  vollkommen  vereinigen,  mich  in  dir  aufnehmen  und  umwandeln  ?" 
(Petrus  von  Alcantara).  129  „Wie  lange  noch  wird  es  zwischen  mir  und  dir  das 
Ich  und  Du  geben  ?  Hebe  zwischen  uns  mein  Ich  auf,  daß  ich  ganz  in  dich  eingehe, 
daß  ich  nichts  werde" ( Bäyazld).  130  „Gib,  daß  ich  anfange  in  Wahrheit  mir  selbst 
zu  entfallen  und  in  dir,  meine  süße  Minne,  außer  mir  gerate.  Hier,  hier  laß  mich 
mich  selbst  in  dir  verlieren,  mich  selbst  in  dir  so  völlig  verlassen,  daß  von  mir  in 
mir  keine  Spur  mehr  bleibt  ....  Eija,  ei  ja  verwandle  mich  so  ganz  in  die  Leiden- 
schaft deiner  Liebe,  daß  in  dir  zunichte  werde  all  meine  Unvollkommenheit  und 
ich  außer  dir  keinen  Geist  mehr  habe."  „Möge  ich  hinabsinken  in  den  Abgrund 
des  Meeres  deiner  gütigsten  Milde !  Möge  ich  untergehen  in  der  Flut  deiner  leben- 
digen Minne,  wie  der  Tropfen  des  Meeres  untergeht  in  der  Tiefe  seiner  Füllet 
Möge  ich  sterben,  ja  sterben  in  der  Flut  deiner  unermeßlichen  Erbarmung,  wie 
der  Funke  des  Feuers  stirbt  in  des  Stromes  gewaltigem  Ansturm!"  „Siehe,  ich 
komme  zu  dir,  o  verzehrendes  Feuer,  mein  Gott.  Eija  in  der  feurigen  Gewalt 
deiner  Minne  mich  verschlingend,  vernichte  und  verzehre  mich  ganz  in  dir" 
(Gertrud).  131 

„Zerstör  den  Grund  der  Eigenheit, 

Der  uns  noch  hält  geschieden  .... 

Zeuch  mich  aus  mir  und  allem  hin. 

Bis  ich  mit  dir  ganz  eines  bin 

Und  du  in  mir  nur  lebest." 

„Verbrenne,  Liebster,  was  uns  trennt, 

Bis  wir  in  eins  zerfließen." 

„Laß  mich  ganz  verschwinden 

Dich  nur  seh'n  und  finden."     (Tersteegen).  13a 

c)Ewige  Gottesschau  undGottvereinigung  im  Jenseits: 
„Gib  mir  vor  lauter  Minne  ein  ewiges  Genießen,  mein  Herr,  da  du  allein  ein  Herr 
bist  und  niemand  mehr,  da  deine  Ebre  unsere  ewige  Nahrung  ist  und  deine  Gewalt 
unsere  ewige  Freude,  da  dein  Anblick  unsere  ewige  Speise  ist,  da  alle  Traurigkeit 
ein  Ende  hat  und  alle  Freude  versichert  ist  in  dem  Ursprung  des  lebendigen 
Brunnens"  (Margaretha  Ebner).  ,33  „Du  siehst,  keine  Freude  hab'  ich  auf  dieser 
meerumgürteten  Erde,  sei  gnädig,  laß  mich  zu  dir  kommen."  „Du  siehst,  mein 
Herz  ist  verzagt,  ich  habe  keine  Freude  im  Leben,  sei  gnädig,  laß  mich  zu  dir 
kommen"  (Mänikka-Väfitigar).  134  „O  Minne,  Minne,  wann  wirst  du  aus  dem 
Kerker  meine  Seele  herausführen  ?  O  wann,  wann  wirst  du  sie,  die  Einsame,  lösen 
von  der  Fessel  des  Leibes  ?  O  wann,  wann  wirst  du  mich  einführen  in  das  Gemach 
meines  Bräutigams,  daß  ich  ihm  vermählt  werde  in  ewigem  Genuß  ?  Eija,  o  Liebe, 
beeile  meine  Hochzeit;  denn  ich  wollte  ja  tausendmal  sterben  um  solche  Wonne 
zu  kosten"  (Gertrud).  13s  „O  weh,  meine  auserwählte  Weisheit,  wann  soll  der 
lichte  Tag  aufgehen,  wann  soll  die  fröhliche  Stunde  kommen,  da  ich  vollkommen 


298  F  III.   Das   Gebet  in  der  Mystik 

bereit  hinscheide  von  diesem  Elend  zu  meinem  Geliebten,  o  weh,  damit  ich  dich 
leiblich  schaue  und  lobe?  Wahrlich,  mich  beginnt  so  schmerzlich  zu  sehnen, 
mich  beginnt  so  innig  zu  verlangen  nach  meines  Herzens  einziger  Wonne.  .  .  . 
Ach,  wie  zieht  es  sich  in  die  Länge,  wie  verspätet  es  sich,  daß  ich  meines  Herzens 
Augenweide  von  Angesicht  zu  Angesicht  ansehe  und  ich  deiner  nach  meiner 
Herzenslust  genieße"  (Seuse)  13S.  ,,Quando  ad  plenum  laetabor  in  te?  Quando 
erit  pax  solida,  pax  imperturbabilis  et  secura,  pax  intus  et  foris,  pax  ex  omni 
parte  firma  ?  Jesu  bone,  quando  stabo  ad  videndum  te  ?  Quando  contemplabor 
gloriam  regni  tui  ?  Quando  eris  mihi  omnia  in  omnibus  ?  O  quando  ero  tecum  in 
regno  tuo,  quod  praeparasti  dilectis  tuis  ab  aeterno?"  „Quamdiu  in  terra  vivo 
et  te  nondum  video,  triste  est  mihi  omne,  quod  eerno."  ,,Veni,  Domine  Jesu, 
veni  et  noli  tardare,  relaxa  facinora  mea,  solve  vincula;  educ  vinctum  de  domo 
carceris,  de  lacu  miseriae  et  de  luto  faecis  .  .  .  Noli  me  apud  saeculum  diutius 
relinquere.  Satis  sit,  quod  hucusque  certavi,  quod  tanto  tempore  exulavi  .  .  . 
Nunc  optato  concede  perfrui  gaudio,  quod  nullo  finitur  termino  nee  ullo  obnubilatur 
taedio.  Ostende  mihi  faciem  tuam,  quam  angeli  semper  vident  .  .  .  Veni,  Domine 
Jesu,  et  tolle  me  de  terra  aliena ;  revoca  abiectum  ad  patriam  .  .  .  Veni,  redemptor 
bone,  fac  me  partieipem  aeternae  tuae  gloriae.  Tempus  est,  ut  revertar  ad  te  .  .  . 
Taedet  me  vitae  temporalis,  sola  me  delectat  dies  aeternae  claritatis"  (Thomas 
von  Kempen).  137 

,, Erlöse  mich  von  diesem  Tode, 

Gib  Leben  meinem  heißen  Fleh'n! 

Mein  Gott,  o  halte  mich  verbannt 

Nicht  mehr  in  diesen  starken  Banden. 

Sieh,  wie  ich  glühe,  dich  zu  seh'n, 

Ganz  muß  in  Schmerzen  ich  verderben. 

Ich  sterbe,  weil  ich  nicht  kann  sterben" 

(Johann  von    Kreuz).  138 

77.  Kontemplation. 

Das  mystische  Beten  zeigt  einen  inneren  Fortschritt ;  der  Beter  schreitet 
von  der  Gottessehnsucht  zum  Gottesbesitz  fort.  Erst  flehte  er,  von 
allen  Affekten  und  Wünschen  ,gereinigt'  und  ganz  von  dem  Erlebnis 
des  einzigen  und  höchsten  Wertes  beherrscht  zu  werden;  jetzt  ist  er 
von  diesem  einen,  unendlichen  Wert  ergriffen.  Erst  flehte  er,  zu  Gott 
zu  gelangen,  ihn  zu  schauen,  mit  ihm  sich  zu  vereinen,  jetzt  atmet  er 
in  seiner  unmittelbaren  Gegenwart.  Er  bittet  nicht  mehr,  er  konzentriert 
sich  nicht  mehr,  er  kontempliert  nur  die  unendliche  Größe,  Güte  und 
Schönheit  seines  Gottes.  „Der  Geist,"  sagt  Plotin,  „verharrt  unbeweg- 
lich, ins  Schauen  versunken;  er  blickt  auf  nichts  anderes  als  auf  das 
absolut  Schöne,  ihm  wendet  er  sich  ganz  zu  und  gibt  sich  ihm  ganz  hin, 
stillestehend  und  gleichsam  mit  Kraft  erfüllt."  139  Schauer,  Ehrfurcht, 
Bewunderung,  Staunen  und  Entzücken  packen  ihn,  unendliche  Wonne 
durchströmt  ihn.  Mit  unvergleichlichen  Worten  hat  Plotin  dieses 
wunderbare  Erlebnis  der  mystischen  Kontemplation  beschrieben. 

„Wer  es  (d.  h.  das  höchste  Gut)  schaut,  welche  Liebesglut  wird  ihn  durch- 
flammen, welche  Sehnsucht  ihn  durchglühen,  mit  ihm  ganz  zu  verschmelzen, 
welch  Wonneschauer  ihn  durchzittern  1  Wer  es  noch  nicht  geschaut  hat,  verlangt 
sehnsüchtig  nach  ihm  als  dem  absolut  Guten,  wer  es  schon  geschaut  hat,  staunt 
über  seine  Schönheit,  wird  von  seliger  Bewunderung  erfüllt,  wird  erschüttert 
ohne  versehrt  zu  werden,  er  liebt  mit  wahrer  Liebe  und  heftiger  Sehnsucht,  er 
verlacht  jede  andere  Liebe,  er  verachtet  alles,  was  er  bisher  für  schön  hielt.  Etwas 
ähnliches  erleben  jene,  denen  eine  Götter-  oder  Geistesvision  zuteil  geworden 
und  die  nun  unempfänglich  sind  für  die  Schönheit  anderer  Körper.  Wieviel  mehr 
wird  dann  erst  der,  welcher  das  absolut  Schöne  selbst  in  seiner  wesenhaften  Reinheit 


4.  Inhalt   des  mystischen    Gebets  (Die   reine  ästhetische  Betrachtung      299 

geschaut  hat,  frei  sein  von  Verlangen  nach  fleischlicher  oder  körperlicher  Schönheit . 
sei  sie  nun  irdisch  oder  himmlisch,  damit  das  Unschöne  rein  bleibe."  14° 

Die  kontemplative  Versunkenheit  ist  meist  stumm;  die  entzückte 
Schau  des  summum  bonum  ist  sprach-  und  wortlos  (s.  o.  S.  289f .).  „Alles 
in  uns  schweige  und  sich  innigst  vor  ihm  beuge!"  (Tersteegen).  141 
Bisweilen  ist  aber  der  das  reine  Werterlebnis  begleitende  Affekt  so 
gewaltig,  daß  er  sich  in  der  Rede  nach  außen  entlädt.  Der  kontem- 
plierende  Mystiker  stößt  kurze,  in  rhythmischem  Schwung  einander 
folgende  Gebetsrufe  aus. 

1.  Die  reine  ästhetische  Betrachtung, 

Der  Beter  betrachtet  Gott  als  einzigen,  höchsten  und  unendlichen  Wert, 
als  die  Quelle  aller  intellektuellen,  ethischen  und  ästhetischen  Werte, 
als  Ursache  aller  Wonne  und  Seligkeit,  als  einziges  und  höchstes  Ziel  alles 
menschlichen  Strebens. 

,,Tu  es  summum  bonum".  „Summe,  optime,  potentissime,  misericor- 
dissime  et  iustissime,  pulcherrime  et  fortissime!"  ,,Deus  pater  veritatis,  pater 
sapientiae,  pater  verae  summaeque  vitae,  pater  beatitudinis,  pater  boni  et  pulchri, 
pater  intelligibilis  lucis!"  ,,Te  invoco,  Deus  veritas,  in  quo  et  a  quo  et  per  quem 
vera  sunt,  quae  vera  sunt  omnia.  Deus  sapientia,  in  quo  et  a  quo  et  per  quem 
sapiunt,  quae  sapiunt  omnia.  Deus  vera  et  summa  vita,  in  quo  et  a  quo  et  per 
quem  vivunt,  quae  vere  summeque  vivunt  omnia.  Deus  beatitudo,  in  quo  et 
a  quo  et  per  quem  beata  sunt,  quae  beata  sunt  omnia.  Deus  bonum  et  pul- 
chrum,  in  quo  et  a  quo  et  per  quem  bona  et  pulchra  sunt,  quae  bona  et 
pulchra  sunt  omnia.  Deus  intelligibilis  lux,  in  quo  et  a  quo  et  per  quem  intel- 
ligibiliter  lucent,  quae  intelligibiliter  lucent  omnia."  „Deus  supra  quem  nihil, 
extra  quem  nihil,  sine  quo  nihil  est.  Deus,  sub  quo  tot  um  est,  in  quo  totum  est, 
cum  quo  totum  est."  „Deus  meus,  Domine  meus,  rex  meus,  pater  meus,  causa 
mea,  spes  mea,  res  mea,  honor  meus,  domus  mea,  patria  mea,  salus  mea,  lux 
mea,  vita  mea"  (Augustinus)  142.  „Dulcissime,  benignissime,  amantissime,  carissime, 
potentissime,  desideratissime,  pretiosissime,  amabilissime,  pulcherrime,  tu  melle 
dulcior,  lacte  et  nive  candidior,  nectare  suavior,  gemmis  et  auro  pretiosior, 
cunctisque  terrarum  divitiis  et  honoribus  mihi  carior"  (Anselm  von  Canter- 
bury).  143  Franz  von  Assisi  bricht  nach  der  Stigmatisierung  in  den  Jubelruf  aus: 
,,Tu  es  sanctus  Dominus  Deus  solus,  qui  facis  mirabilia.  Tu  es  fortis.  Tu  es  magnus. 
Tu  es  altissimus.  Tu  es  rex  omnipotens,  tu  Pater  sancte,  Rex  coeli  et  terrae. 
Tu  es  trinus  Dominus  Deus,  omne  bonum.  Tu  es  bonum,  omnebonum, 
summumbonum,  Domine  Deus  vivus  et  verus.  Tu  es  Caritas,  amor.  Tu  es 
sapientia.  Tu  es  humilitas.  Tu  es  patientia.  Tu  es  securitas.  Tu  es  quietas.  Tu 
es  gaudium  et  laetitia.  Tu  es  iustitia  et  temperantia.  Tu  es  omnis  divitia  ad 
sufficientiam".  U4  Der  vom  Enthusiasmus  überwältigte  Troubadour  der  Gottes- 
liebe reiht  hier  viele  kurze  Rufe  aneinander;  ein  andermal  wiederholte  er  die 
ganze  Nacht  hindurch  das  eine  Gebet:  „Deus  meus  et  omnia".  14S  Mit  demselben 
Ruf  leitet  Thomas  von  Kempen  eines  seiner  innigen  Gebete  ein.  14S  „Du  allein 
bist  meine  ganze  und  wahre  Liebe.  Du  bist  mein  teuerstes  Heil.  Du  bist  meine 
ganze  Hoffnung  und  Freude.  Du  bist  das  höchste  und  beste  Gut.  Du 
bist  der  Durst  meines  Herzens.  Du  bist  das  ganze  Genügen  meines  Geistes." 
„Du  bist  das  Leben  meiner  Seele.  Du  der  Jubel  meines  Herzens  .  .  .  Du  bist 
Anfang  und  Vollendung  alles  Guten.  Du  bist  das  Lob  meines  Herzens  und  Mundes." 
„Du  allein  bist  wunderbar  und  herrlich.  Du  allein  bist  groß  und  lobwürdig,  allein 
fcüß  und  liebenswert,  allein  schön  und  anmutig,  allein  Wohlgestalten  und  wonnig- 
lich, allein  so  groß  und  so  beschaffen,  daß  in  aller  Herrlichkeit  Himmels  und  der 
Erde  dir  keiner  gleich  ist."  „Du  bist  die  Anmut  aller  Farben,  die  Süßigkeit  aller 
Geschmäcke,  der  Duft  aller  Gerüche,  das  Ergötzen  aller  Töne,  die  liebliche  Wonne 
aller  heimlichsten  Umarmungen.  In  dir  ist  wonnigliche  Lust,  aus  dir  strömt 
reicher  Überfluß,  zu  dir  führt  anmutige  Verlockung,  durch  dich  geschieht  im- 


300  P  III.    Das    Gebet  in  der  Mystik 


widerst ehlicher  Einfluß.  Du  bist  der  überströmende  Abgrund  der  Gottheit. 
O  wertester  König  der  Könige,  erhabenster  Kaiser,  erlauchtester  Fürst,  mildester 
Herrscher,  mächtigster  Schirmherr!  .  .  .  Kunstfertigster  Werkmeister,  mildester 
.Lehrmeister,  weisester  Ratgeber,  gütigster  Helfer,  treuester  Freund!  ...  O 
zartester  Schmeichler,  sanftester  Koser,  glühendster  Liebhaber,  süßester  Bräuti- 
gam, keuschester  Eiferer!  ...  Lieblichster  Bruder,  blühendster  Jüngling,  ange- 
nehmster Begleiter,  freigebigster  Gastfreund,  höflichster  Diener!"  (Gertrud  von 
Helftä).  14T  „Du  bist  der  Abgrund  der  unerschaffenen  Weisheit;  du  bist  der  Hort 
der  ungemessenen  Gewalt,  du  bist  der  reiche  Schatz,  dessen  Gut  niemand  voll 
achten  mag,  du  bist  das  oberste  und  vollkommenste  Gut,  das  nie- 
mand wünschen  kann;  denn  was  gut  sein  mag  und  besser  und  allerbeste,  das  bist 
du  in  der  allerbesten  Weise."  (David  von  Augsburg).  148  ,,Tu  Domine,  Deus 
meus,  super  omnia  optimus  es.  Tu  solus  altissimus,  tu  solus  potentissimus,  tu 
solus  sufficientissimus  et  plenissimus,  tu  solus  suavissimus  et  solationissimus. 
Tu  solus  pulcherrimus  et  amantissimus,  tu  solus  nobilissimus  et  gloriosissimus 
super  omnia,  in  quo  cuncta  bona  simul  et  perfecta  sunt  et  semper  fuerunt  et  erunt." 
,,Tu  refugium  meum  et  domus  mea,  tu  civitas  mea,  tu  habitatio  mea,  tu  cibus 
meus,  tu  potus  meus,  tu  requies  et  refectio,  tu  socius  dilectus,  tu  intimus  amicus, 
tu  cognatus  et  proximus,  tu  f rater  et  soror,  tu  pater  et  patronus,  tu  pastor  et 
custos  totius  vitae,  cui  me  et  omnia  mea  fideliter  commendo,  quia  non  est  salus 
extra  te  nee  tuta  vita  absque  te"  (Thomas  von  Kempen)  149.  ,,0  meine  Hoffnung, 
o  du  mein  vollkommener  Ruhm,  o  meine  Zuflucht  und  mein  Trost,  o  Süßigkeit 
meines  Herzens,  o  Leben  meiner  Seele,  o  Freude  meines  Geistes,  o  herrlicher  Tag 
der  Ewigkeit,  hellstes  Licht  meines  innersten  Wesens,  himmlisches  Paradies 
meines  Herzens,  o  mein  süßer  Ursprung  und  mein  und  aller  Dinge  erster  Anfang, 
o  meine  höchste,  übergroße  Ruhe  und  mein  einzig  genügender  Besitz"  (Petrus 
von  Alcantara).  1S0  ,,0  höchster  Herr,  o  du  mein  König,  o  erhabene  Macht,  unend- 
liche Güte,  ewige  Weisheit,  ohne  Anfang  und  ohne  Ende,  unergründliche  Tiefe 
der  Wunder,  Quelle  aller  Schönheit  und  Kraft"  (Teresa  di  Jesu).  151  Auch  die 
byzantinische  Mystik  kennt  dieses  rein  kontemplative  Beten.  Symeon  betet: 
,,Du  bist  das  Himmelreich,  du  das  Land  der  Sanftmütigen,  o  Christus.  Du  bist 
das  grünende  Paradies,  du  das  göttliche  Brautgemach,  du  die  unaussprechliche 
Ehekammer,  du  der  Tisch  aller.  Du  bist  das  Lebensbrot,  du  der  frischeste  Trank, 
du  der  Mischkrug,  du  das  Lebenswasser.  Du  bist  die  unauslöschliche  Fackel  den 
Heiligen.  Du  bist  das  Kleid,  der  Kranz  und  der  Verteiler  der  Kränze.  Du  bist 
die  Freude  und  Erquickung,  die  Seligkeit  und  Herrlichkeit.  Du  bist  das  Jauchzen 
und  die  Wonne".  168  Ebenso  bildhafte  und  farbenreiche  Formen  hat  das  kon- 
templative Gebet  bei  Mechthild  von  Magdeburg.  „O  du  brennender  Berg,  o  du 
auserwählte  Sonne,  o  du  voller  Mond,  o  du  grundloser  Brunnen,  o  du  unerreich- 
bare Höhe,  o  du  Klarheit  ohne  Maß,  o  Weisheit  ohne  Grund,  o  Barmherzigkeit 
ohne  Hinderung,  o  Stärke  ohne  Widersetzung,  o  Krone  aller  Ehren."  ,,0  Kaiser 
aller  Ehren,  o  Krone  aller  Fürsten,  o  Weisheit  aller  Meister,  o  Geber  aller  Gabe, 
o  Löser  aller  Gefängnisse."  „Du  bist  die  Sonne  aller  Augen,  du  bist  die  Lust 
aller  Ohren,  du  bist  die  Stimme  aller  Worte,  du  bist  die  Kraft  aller  Frömmigkeit, 
du  bist  die  Lehre  aller  Weisheit,  du  bist  das  Leben  in  allem  Lebenden,  du  bist  die 
Ordnung  alles  Seienden,."  „Du  bist  mein  Spiegelberg,  eine  Augenweide,  ein 
Verlust  meiner  selbst,  ein  Sturm  meines  Herzens,  meine  höchste  Sicherheit".  188 
In  Stimmung  und  Stil  klingt  an  Mechthilds  dichterisches  Gebet  ein  Hymnus 
des  Mänikka-Väsagar  an:  ,,0  unbefleckter  Glanz,  Schimmer  einer  voll  erblühten 
Blume,  o  Lehrer,  honigsüße  Götterspeise,  du  Hochgeehrter,  Beschützer,  Löser 
der  Fesseln,  großer  Strom  von  überschwänglicher  Zartheit  und  unaufhörlicher 
Flut!  Großes  Licht,  das  niemand  schauen  kann,  Flut  des  Entzückens,  Vater, 
Licht  aller  vergänglichen  Strahlen,  die  scheinen,  unsagbar  feiner  Intellekt!  Volle 
Gewißheit,  köstliche   Götterspeise,  aufströmender    Quell,  du  mein  Herr".  16< 

Die  Kontemplation  von  Gottes  Unendlichkeit  und  Seinsfülle  wird 
bisweilen  zu  einer  in  prachtvollen  Paradoxien  sich  bewegenden  Be- 
trachtung Gottes  als  der  eoineidentia  oppositorum. 

Augustinus  ruft  aus:  „Misericordissime  et  iustissime,  secretissime  et  praesen- 
tissime,  stabilis    et  incomprehensibilis,  immutabilis  et  mutans  omnia,  nunquara 


4.    Inhalt   des  mystischen   Gebets  (Lobpieis  und  Dank)  301 


novus,  nunquam  vetus,  semper  agens  semper  quietus".  155  Ähnlich  betet  Symeon 
der  Neue  Theologe:  ..Du  bist  ganz  unbeweglich  und  bewegst  dich  doch  ständig, 
du  bist  ganz  außer  der  Kreatur  und  bist  doch  in  aller  Kreatur,  du  erfüllst  ganz 
das  All  und  bist  doch  ganz  außer  dem  All."  156  David  von  Augsburg  ruft:  „Du 
bist  an  allen  Dingen,  an  allen  Seiten,  zu  allen  Zeiten  ....  Du  bist  ober  allen 
Dingen  mit  königlicher  Gewalt  und  mit  deiner  natürlichen  Würdigkeit.  Du  bist 
unter  allen  Dingen,  alle  Dinge  auf  dich  gegrundfestet  sind  ....  Du  bist  zu 
innerst  aller  Dinge,  wann  du  bist  aller  Dinge  innerster  Kern  und  verborgene  Kraft 
und  du  ihnen  ihr  Wesen  gibst.  Du  bist  außerhalb  der  Dinge,  wann  dich  kein  Ding 
begreifen  kann  noch  keine  Kreatur  beschließen ;  in  dir  sind  alle  Dinge  beschlossen, 
wann  du  bist  aller  Dinge  Urbild  und  lebendiger  Bildner,  in  dem  je  lebte  alles, 
was  ist  oder  war  oder  wird."  „Du  bist  ihr  Herre,  du  bist  ihr  Diener,  du  bist  ihr 
Vater,  du  bist  ihre  Mutter,  du  bist  ihr  Kind,  du  bist  ihr  Bruder,  du  bist  ihr  aller- 
keuschester  und  süßester  minnender  Gemahl.  Du  bist  der  Wirt,  du  bist  die  Wirt- 
schaft." 157  In  einem  mystischen  Gebet  des  Vishnu-Puräna  heißt  es:  „Du,  dessen 
Form  eine  ist  und  doch  mannigfaltig,  dessen  Wesen  eines  ist  und  doch  verschieden, 
zart  und  doch  weit,  erkennbar  und  doch  unerkennbar,  Wurzel  der  Welt  und  doch 
aus  der  Welt  bestehend,  Stütze  des  Alls  und  doch  kleiner  als  der  Erde  kleinster 
Teil,  wohnend  in  jeder  Kreatur  und  doch  ohne  Beengung"  158. 

Die  Betrachtung  der  in  Gottes  Wesen  beschlossenen  Gegensätze  läßt 
nicht  selten  den  pantheistischen  Gedanken  des  $v  xcu  näv  aufsteigen. 

Ein  Gebet  des  Maiträyanja-Upanischad  (5,  1)  beginnt  mit  den  Worten:  „Du 
bist  Brahman,  du  Vischnu,  du  Budra,  du  Prajäpati.  du  Agni,  Varuna,  Väyu, 
du  Indra,  du  das  Licht  der  Nacht,  du  bist  der  Nahrungsgeist,  der  Tod,  die  Erde, 
d  a  s  A 1 1 ;  vielfältig  ruht  in  dir.  was  ist".  159  Mänikka  Vägagar  ruft:  „Du  bist  der 
Himmel,  du  bist  die  Erde;  du  bist  der  Wind,  du  bist  das  Licht,  der  Leib  bist  du, 
die  Seele  du,  Sein  und  Nichtsein  bist  du".  160  Magdalena  von  Pazzi  betet:  „O 
Liebe,  du  durchdringst  und  durchbohrst,  du  zerreißest  und  bindest,  du  regierst 
alle  Dinge,  du  bist  Himmel  und  Erde,  Feuer  und  Luft,  Blut  und  Wasser,  du  bist 
Gott  und  Mensch"  *«. 

Diese  reine,  völlig  selbstlose,  von  allem  Verlangen  freie,  ästhetische 
Betrachtung  des  summum  bonum  und  ev  xai  näv,  die  anbetende, 
feierliche  Versenkung  in  Gottes  Wesens-  und  Wertfülle  bildet  den  Haupt- 
teil des  mystischen  Betens;  sie  schiebt  sich  auch  ständig  in  die  Bitte 
und  Ergebung  ein;  aber  auf  den  Höhepunkten  des  Gebets  löst  sie  sich 
von  allen  anderen  Gebetsformen  ab. 

2.  Lobpreis  und  Dank. 

Die  Betrachtung  der  Größe,  Güte,  Heiligkeit  und  Schönheit  Gottes 
geht  häufig  in  ein  entzücktes  Jubeln,  Preisen,  Loben  und  Danken  über. 

„Te  laudet  anima  mea,  ut  amet  te  et  confiteatur  tibi  miserationes  tuas,  ut 
laudet  te.  Non  cessat  nee  tatet  laudes  tuas  universa  creatura  tua,  nee  spiritus 
omnis  hominis  per  os  conversum  ad  te  nee  animalia  nee  corporalia  per  os  eonsi- 
derantium  ea,  ut  exsurgat  in  te  a  lassitudine  anima  nostra  innitens  eis,  quae 
fecisti,  et  transiens  ad  te"  (Augustinus).  162  ..Ttinam  possem  talia  dieere  qualia 
illi  hymnidiei  angelorum  chori!  O  quam  libenter  me  in  tuis  laudibus  totum 
effunderem!  O  quam  devotissime  illa  coelestis  melodiae  cantica  ad  laudem  et. 
gloriam  nominis  tui  in  medio  eeelesiao  infatigabilis  perorarem  ....  Te  decet 
laus,  te  decet  hymnus  tibique  debetur  omnis  honor"  (Anselm  von  Canterbury)  1M 
„Omnipotens,  sanetissime,  altissime  et  summe,  totum  bonum.  qui  solus  es  bonus. 
tibi  reddamus  omnem  laudem.  omnem  gloriam,  omnem  gratiam.  omnem  honorem, 
omnem  benedietionem,  et  omnia  bona.  Fiat,  Fiat!  Amen."  „Omnipotens,  altis- 
sime, sanetissime  et  summ»1  Dens.  Rex  coeli  et  terrae,  piopter  temetipsum  gratiam 
agimus  tibi"  (Franziskus).  lM  „Laudetui  uomen  tuum,  mm  meum;  magnificetur 
opus  tuum,  non  meum;  benedicatur  nomen  sanetum  tuum,  nihil  mihi  attribuatur 
de  laudibus  hominum.     Tu  gloria   mea,  tu  exultatio  cordis  mei.     In  te  gloriabor 


302  F  III.   Das   Gebet    in   der  Mystik 

et  exultabo  tota  die"  (Nachfolge  Christi).  165  „Ich  lobe  dich  und  ehre  deine  uner- 
gründliche Tiefe;  deine  wonnesame  «Schönheit,  wie  du  bist  in  deiner  Schönheit. 
Ich  lobe  deine  unermeßliche  Güte,  wie  du  bist  in  deiner  Güte.  leb  lobe  deinen 
ewigen  Reichtum,  wie  du  bist  in  deinen  ewigen  Reichtümern  ....  Herr  Vater, 
ich  lobe  und  ehre  dich  in  deinem  unbegreiflichen,  unermeßlichen  Wesen"  (Adelheid 
von  Hiltharthausen).  186  „Vater,  ich  preise  dich;  Meister,  ich  preise  dich; 
Ewiger,  ich  preise  dich ;  Reiner,  ich  preise  dich ;  Bruder,  ich  preise  dich ; 
Seiender,  ich  preise  dich;  du  Großer,  ich  preise  dich;  du  Herr,  ich  preise 
dich;  du  Einziger,  ich  preise  dich;  Leben,  ich  preise  dich;  Herrlichkeit,  ich  preise 
dich;  Wonne,  ich  preise  dich;  Bräutigam  ich  preise  dich"  (Mänikka-VäSagar)  1". 
.,0  Herr  des  Weltalls,  möchten  alle  Geschöpfe  dich  preisen!  O,  wer  kann  es  laut 
i_r<'nug  verkünden,  wie  treu  du  deinen  Freunden  bist!  Hätte  ich  doch  Verstand 
und  Wissenschaft  und  ganz  neue  Worte  um  die  Wunder  deiner  Liebe  so  zu  ver- 
herrlichen, wie  meine  Seele  es  empfindet"  (Teresa).  168  ,,Es  preise  dich  das  ganze 
Mark  und  die  ganze  Kraft  meines  Geistes !  Es  preise  dich  das  ganze  Wesen  meines 
Leibes  und  meiner  Seele!  Es  möge  dich  verherrlichen  mein  ganzes  Inneres!  Es 
mögen  dir  zujubeln  all  meine  Wünsche,  denn  du  allein  bist  lobwürdig  und  glor- 
reich in  Ewigkeit  ....  Es  mögen  dich  preisen,  rühmen  und  verherrlichen  an 
meiner  Statt  all  deine  wunderbaren  Werke  und  all  deine  herrlichen  Gaben,  die 
ich  von  dir  habe,  o  Gott  meines  Lebens!"  , .Deine  vorzüglichste  Gottheit  rühme 
und  preise  dich,  denn  du  bist  der  Ursprung  des  steten  Lichts  und  der  Quell  des 
Lebens.  Fürwahr  keine  Kreatur  vermag  dich  würdig  zu  loben.  Du  allein  genügst 
dir  ....  Es  preise  dich  an  meiner  Stelle  dein  glorwürdiges  und  wunderbares 
licht,  mein  Gott,  und  es  lobe  dich  die  kaiserliche  Zier  deiner  höchsten  Majestät!" 
(Gertrud  von  Helftä).  1S8  .,0  hochheilige  Dreieinigkeit,  ein  Gott  und  mein  höchstes, 
einziges  Gut!  Könnte  ich  allein  dich  so  sehr  lieben  und  loben  als  alle  seligen 
Geister  dich  lieben  und  loben  .  .  .  Du  allein  kannst  dich  selbst  würdig  lieben 
und  loben,  weil  niemand  als  du  selbst  deine  unbegreifliche  Güte  mit  dem  Verstand 
erfassen  kann  und  eben  darum  sie  so,  wie  sie  es  verdient,  zu  loben  vermag"  (Petrus 
von  Alcantara)  17°.  „Du  erhabener  Herr,  ich  weiß,  du  bist  rein  von  allem  Lobe 
der  Lobenden  und  allem  Preise  der  Preisenden  und  allen  Gedanken  der  Denkenden. 
Mein  Gott. !  Du  weißt,  daß  ich  die  Pflichten  deines  Lobes  nicht  zu  erfüllen  ver- 
mag. Lobe  dich  selber  an  meiner  Statt,  das  ist  das  wahre  Lob"  (Husain  al-Hal- 
lädsch)  l". 

3.  Hingabe  und  Ergebung. 

Die  Ergriffenheit  von  dem  Unendlichkeitswert  bedingt  eine  völlige 
innere  Hingabe  an  ihn;  der  Beter  kennt  keinen  anderen  Wert,  er  ver- 
zichtet in  grandiosem  Heroismus  am0  allen  Eigenwillen  und  schenkt 
sich  ganz  seinem  Gott.  An  die  Kontemplation  Gottes  reiht  sich  so  die 
völlige  Liebeshingabe  an  ihn. 

,,  Jam  te  solum  amo,  te  solum  sequor,  te  solum  quaero,  tibi  soli  servire  paratus 
sum;  quia  tu  solus  iuste  dominaris,  tui  iuris  esse  cupio."  „Non  dubia  sed  certa 
conscientia  amo  te,  Domine.  Percussisti  cor  meum  verbo  tuo  et  amavi  te" 
(Augustinus).  "*  „Domine  ego  non  habeo  nee  amo  nee  volonisite"  (Franziskus).  173 
„Ich  will  nichts  als  dich  und  dich  ganz"  (Katharina  v.  Genua).  17*  „Siehe,  selbst 
imHimmel  will  ich  nichts  als  dich:  dich  allein  liebeich,  dich  ersehne  ich,  dich  minne 
ich,  dich  begehre  ich,  nach  dir  dürste  ich.  In  dir  vergehe  ich  ganz,  mein  Ge- 
liebter." (Gertrud).  176  „Ich  will  mich  nie  begnügen  dich  Liebe  zu  nennen;  dich 
allein  will  ich  lieben  und  keine  andere  Liebe"  (Magdalena  de'  Pazzi).  17Ä 

Die  Liebe  zu  Gott  bedingt  einen  völligen  Verzicht  auf  alles  Eigen- 
wünschen und  Eigen  wollen,  eine  restlose  Selbsthingabe  an  das  höchste 
Gut,  eine  heroische  Ergebung  in  den  souveränen  Willen  Gottes. 

,,  Jube,  quaeso,  atque  impera,  quidquid  vis"  (Augustin).  177  „Domine,  dummodo 
voluntas  mea  reeta  et  firma  ad  te  permaneat,  fac  de  me.  quidquid  tibi  placuerit. 
Non  enim  potest  esse  nisi  bonum,  quidquid  de  me  feceris.  Si  me  vis  esse  in  tenebris, 
sis  benedictus,  et  si  me  vis  esse  in  luce,  sis  iterum  benedictus.  Si  me  dignaris 
consolari,  sis  benedictus,  et  si  me  vis  tribulari.  sis  aeque  semper  benedictus.  Domine, 


4.   Inhalt  des  mystischen  Gebets  (Hingabe  und   Ergebung  303 

libenter  patiar  pro  te,  quidquid  volueris  venire  super  me.  Indifferenter  volo  de 
manu  tua  bonum  et  malum,  dulce  et  amarum,  laetum  et  triste  suscipere,  et  pro 
omnibus  mihi  contingentibus  gratias  agere"  (Nachfolge  Caristi).  178  „Suscipe, 
Domine,  universam  meam  libertatem.  Accipe  memoriam,  intellectum  atque 
voluntatem  omnem.  Quidquid  habeo  vel  possideo,  mihi  largitus  es ;  id  tibi  totum 
restituo  ac  tuae  prorsus  voluntati  trado  gubernandum.  Amorem  tui  solum  cum 
gratia  tua  mihi  dones,  et  dives  sum  satis  nee  aliud  quidquam  ultra  posco"  (Ignatius 
von  Loyola).  179  ,,Hier  ist  mein  Leben,  mein  Wille,  meine  Ehre;  alles  ist  dein, 
alles  gebe  ich  dir,  verfahre  damit  nach  deinem  Wohlgefallen."  „Dein  Wille 
geschehe  an  mir  in  aller  Weise  und  jeder  Art,  wie  du,  o  mein  Herr,  es  willst;  wenn 
es  soll  unter  Trübsalen  geschehen,  so  gib  mir  Kraft,  dann  mögen  sie  kommen. 
Sind  mir  Verfolgungen,  Krankheiten,  Ehrenkränkungen  und  Not  zugedacht, 
hier  bin  ich;  ich  werde  mein  Gesicht  nicht  abwenden  .  .  .  Verfüge  über  mich, 
wie  du  willst"  (Teresa).  180  „Herr,  ich  bin  dein,  ganz  und  auf  ewig,  es  geschehe 
mir  nach  deinem  Wohlgefallen!  Dich  will  ich  loben  und  verherrlichen,  es  gehe, 
wie  es  immer  wolle,  denn  du  bist  es  wert,  o  du  seliges  und  seligmachendes  Gut." 
„Weil  es  dein  gnädigstes  Wohlgefallen  ist,  daß  du  mich  ganz  haben  willst,  so 
geb'  ich  mich  denn  hin,  mit  geschlossenen  Augen,  auf  Gnade  und  Ungnade.  Nimm 
mich  der  Welt  und  mir  selbst,  nimm  mich  ganz  und  auf  ewig  dir  allein,  Herz, 
Wille,  Verstand,  Leib,  Seel'  und  Geist;  nimm  es  alles  bloß  für  dich  und  zu  deinem 
Eigentum"  (Tersteegen).  181  „O  Herr,  ich  gebe  mich  dir,  ich  vertraue  dir  ganz. 
Erfülle  an  mir  deinen  hohen  Ratschluß,  was  immer  er  sein  mag,  wirke  in  nur  und 
durch  mich.  Laß  mich  dein  blindes  Werkzeug  sein.  Ich  verlange  nicht  zu  sehen, 
ich  verlange  nicht  zu  wissen,  ich  verlange  nichts  als  daß  du  mich  gebrauchst" 
(Newman)  182.  „Beherrsche,  gebrauche,  verkaufe,  verpfände  mich."  „Tue  mit 
mir,  was  gut  ist  oder  was  böse,  bereit  zu  allem  bin  ich,  dein  bin  ich,  ganz  dein" 
(Mänikka  Väsagar).  183  „Gebiete  über  deinen  Sklaven  deinen  Leibeigenen.  Dein 
allein  ist  Tulasf.  O  Gott  des  Erbarmens,  tue  mit  ihm  nach  deinem  Ermessen" 
(Tulsi  Das).  184 

„Wer,  was,  wie  immer  auch  an  Leib  und  Geist 
Und  Eigenschaften  ich  befunden  werde; 
Was  ich  auch  sei,  ich  nehm'  es  heut  zu  Häuf 
Und  leg  es  nieder,  Herr,  zu  deinen  Füßen 
Was  mein  ist,  Herr,  und  was  ich  selber  bin, 
All  das  soll  dir,  o  Mädhava,  gehören"     ( Yämuna-Muni ).  186 

„Da  liegt  unser  Wille, 

Seele,  Leib  und  Leben, 

Dir  zum  Eigentum  ergeben." 

„Sollt  ich  dir  nicht  schenken  wieder 

Alles,  was  ich  hab  und  bin? 

Ich  bin  deine, 

Ganz  alleine. 

Dir  verschreib  ich  Herz  und  Sinn." 

„Gleichwie  ein  Ton  mein  Herze  sich 

In  deine  Hand  hinlegt, 

Gebrauche  wie  ein  Werkzeug  mich, 

Das  sich  durch  dich  nur  regt"  (Tersteegen).  I86 

„Herr  Jesu,  mein  Hort, 

Ich  gebe  hinfort 

Mit  allem,  was  mein, 

Mich  in  deine  sel'ge  Führung  hinein. 

Hier  hast  du  mich  gar, 

Nicht  nur,  wie  ich  war, 
Nein,  so  wie  ich  bin, 

Und  ewiglich  bleiben  will,  nimm  mich  nur  hin  .... 
So  führ'  mich  hinfort, 


304  F  III.   Das    Gebet   in   der  Mystik 


Mein  ewiger  Hort, 

Du  König  des  Lichts, 

O   mach  mich  zum  Stäublein,  zum  Pünktlein,  zum  Nichts" 

(Zinzendorf).  187 

Diese  restlose  Hingabe  alles  persönlichen  Wollens  an  das  Göttliche, 
diesen  vollkommenen  Verzicht  auf  das  eigene  Ich  bezeichnen  die  Mystiker 
gerne  als  , Opfer'. 

,,Ich  bringe  dir  dich  in  mir  und  mich  in  dir  als  Lobopfer  dar;  nichts  habe  ich 
mehr;  das,  was  ich  in  dir  bin  und  lebe,  das  alles  gebe  ich  dir"  (Gertrud).  188 
..Desidero  me  ipsum  tibi  spontaneam  oblationem  offerre  et  tuus  perpetuo  per- 
manere.  Domine,  in  simplicitate  cordis  mei  offero  me  ipsum  tibi  hodie  in  servum 
tuum  sempiternum,  in  obsequium  et  in  sacrificium  laudis  perpetuae"  (Imitatio 
Christi).  189  ,,Dein  Sklave  opfert  sich  dir  mit  freiem  Herzen"  (Nanak).  19°  ..Ich 
bin  nur  eine  Opferspende,  vor  deine  Füße  geworfen"  (Tulsi  Das).  191 

,,Was  ich  denke  und  verrichte, 
Ist  vor   deinem  Angesichte: 
Tun  und  Lassen,  Freud  und  Pein, 
Soll  dir  aufgeopfert  sein. 

Was  ich  bin  von  auß-  und  innen, 

Was  nur  vorkommt  meinen  Sinnen, 

War'  die  Sache  noch  so  klein, 

Alles  soll  dein  Opfer  sein"  (Tersteegen).  192 

Die  Ergebungsgebete  der  Mystiker  stimmen  mehrfach  im  Wortlaut 
mit  Epiktets  Gebet  überein  (s.  o.  S.  206).  Trotz  der  auffälligen  Ähnlich- 
keit ist  jedoch  an  einen  literarischen  Zusammenhang  der  christlichen 
Mystiker  mit  dem  stoischen  Philosophen  nicht  zu  denken.  Dieselben 
Gebetsworte  sind  der  Ausfluß  grundverschiedener  seelischer  Stimmungen. 
Das  stoische  Resignationsgebet  ist  der  Ausdruck  eines  mutigen  und 
hoheitsvollen  sittlichen  Willens,  der  jedes  Geschick  zu  tragen  ent- 
schlossen ist,  das  mystische  Ergebungsgebet  strömt  aus  der  enthusia- 
stischen Liebeshingabe  an  das  höchste  Gut,  die  alles  Eigen  wollen  und 
Eigenwünschen  verstummen  läßt. 

4.  Die  Betrachtung  des  eigenen  Unwertes  und  des  göttlichen 
Gnadenwunders . 
Mit  der  Betrachtung  Gottes  als  des  einzigen  Wertes  verbindet  sich 
häufig  die  Betrachtung  des  eigenen  Unwertes,  die  sich  nicht  selten 
zur  völligen  Selbsten twürdigung  und  Selbstent Wertung  steigert.  „Der 
Mensch  versinkt  und  verschmilzt  in  sein  eigenes  Nichts  und  seine  Klein- 
heit; je  klarer  und  bloßer  ihm  die  Größe  Gottes  einleuchtet,  um  so 
kenntlicher  wird  ihm  seine  Kleinheit"  (Unbekannter  Dominikaner- 
mystiker) 193.  Die  Mahnung  der  Magdeburger  Begine  Mechthild:  „Also 
du  betest,  so  sollst  du  dich  kleine  machen  mit  großer  Demütigkeit",  194 
haben  alle  Mystiker  im  Übermaße  erfüllt.  Wie  bei  der  Betrachtung  des 
höchsten  Gutes,  so  redet  auch  bei  der  Betrachtung  des  eigenen  Unwertes 
der  Mystiker  nur  in  Superlativen.  Mechthild  von  Magdeburg  nennt  sich 
die  „allermindeste,  allerschnödeste,  allerunwürdigste  unter  allen  Men- 
schen". 195  Symeon  der  Neue  Theologe  gesteht:  „Ich  weiß,  Herr,  daß 
kein  anderer  dich  so  verspottet  hat  wie  ich  und  solche  Taten  getan,  die 
ich  Elender  getan  habe,  der  ich  noch  anderen  zum  Urheber  des  Ver- 


4.  Inhalt  des  Gebets  (Eigener  Unwert  und  göttliches  Gnadenwunder)      305 

derbens  geworden  bin."  „Alle  Glieder  meines  Leibes  und  meiner  Seele 
habe  ich  befleckt  von  Geburt  an;  ich  bin  ganz  Sünde."  196  Ähnliche 
Sündenbekenntnisse  und  ähnliche  Worte  rücksichtsloser  Selbsterniedri- 
gung kann  man  in  den  Schriften  aller  Mystiker  unzähligemale  lesen. 
Aber  die  unmittelbare  Verbindung  der  Kontemplation  des  höchsten 
Gutes  mit  der  Betrachtung  der  eigenen  Nichtigkeit  erzeugt  ein  Kontrast- 
erlebnis von  wundersamer  Paradoxie.  Die  innere  Blickrichtung  des 
Betenden  zielt  auf  ein  doppeltes  Objekt :  Gottes  Unendlichkeit,  Heiligkeit, 
Schönheit  und  Liebe  —  des  eigenen  Ichs  Kleinheit,  Sündigkeit,  Häßlich- 
keit und  Verworfenheit.  Liebe  und  Haß,  Ehrfurcht  und  Verachtung, 
Anbetung  und  Verdammung,  Entzücken  und  Erschauern,  Angst  und 
Zuversicht,  Qual  und  Wonne  — -  all  die  konträren  Affekte  und  Wert- 
gefühle vereinigen  sich  in  Kontrastharmonie  zu  einem  überwältigenden 
Gesamterlebnis,  das  im  Gebet  durchbricht.  Die  inneren  Gegensätze, 
die  dieses  Erlebnis  umspannt,  kommen  in  den  schlichten  Gebetsworten 
treffend  zum  Ausdruck. 

..Inops  et  pauper  sum  ego.  tu  dives  in  omnes  invocantes  te."  „Nunc  autem, 
quod  gemitus  meus  testis  est,  displicere  me  mihi,  tu  refulges  et  places  et  amaris 
et  desideraris,  ut  erubescam  de  me  et  abiiciam  me  atque  eligam  te  et  nee  tibi 
nee  mihi  placeam  nisi  de  te"  (Augustinus).  197  „Quid  es  tu,  dulcissime  Deus 
meus,  et  quid  sum  ego  vermiculus  et  parvus  servus  tuus?"  (Franziskus).198 
„Domine  Deus  meus,  omnia  bona  mea  tu  es.  Et  quis  ego  sum,  ut  audeam  ad  te 
loqui  ?  Ego  sum  pauperrimus  servulus  tuus  et  abjeetus  vermiculus,  multo  pauperior 
et  contemptibilior  quam  scio  et  dicere  audeo.  Memento,  Domine,  quia  nihil  sum, 
nihil  habeo  nihilque  valeo.  Tu  solus  bonus,  iustus  et  sanetus,  tu  omnia  potes, 
omnia  praestas,  omnia  imples"  (Thomas  von  Kempen)  199.  „Was  bin  ich,  mein 
Gott,  du  Liebe  meines  Herzens  ?  Wehe,  wehe!  Wie  unähnlich  bin  ich  dir!  Siehe 
ich  bin  das  kleinste  Tröpflein  von  deiner  Güte  —  und  du  bist  das  volle  Meer  der 
ganzen  Süßigkeit"  (Gertrud).  200 

Die  Paradoxie  des  mystischen  Kontrasterlebnisses  steigert  sich  noch 
durch  den  Gedanken,  daß  der  unendliche  Gott  sich  zum  kleinen,  sün- 
digen Menschen  herabneigt,  sich  ihm  schenkt  und  mit  ihm  sich  ver- 
einigt. Der  Mystiker  schwelgt  in  der  Betrachtung  dieses  unfaßlichen 
Gnadenwunders;  er  wagt  kaum  aufzublicken,  er  bebt  und  zittert  vor 
Entzückung  und  Seligkeit. 

„Wie  darf  ich,  befleckt  am  Leib  und  beschmutzt  an  der  Seele,  vor  dir  er- 
scheinen ?  wie  darf  ich  dich  schauen  ?  wie  darf  ich  Elender  vor  deinem  Angesicht 
stehen  ?  wie  muß  ich  nicht  fliehen  vor  deiner  Herrlichkeit  und  dem  blitzenden 
Licht  deines  heiligen  Geistes?"  (Symeon  der  Neue  Theologe).  201  „Mich,  den 
Geringsten,  hast  du  beachtet  wie  ein  kostbar  Ding!"  „Mich  Hund  und  noch 
Geringeren  als  ein  Hund  hast  du  voll  Liebe  zu  deinem  Eigentum  gemacht!" 
(Manikka-Väsagar).  202  „Mein  Gott,  daß  ich  dich  liebe,  ist  nicht  erstaunlich, 
denn  ich  bin  dein  Diener,  schwach,  ohnmächtig,  bedürftig,  aber  seltsam  ist,  daß 
du  mich  liebst,  du,  der  König  der  Könige"  (Bäyazid).  203  „Herr,  daß  du  eine 
Verbindung  eingehst  mit  Seelen,  die  dich  so  oft  beleidigt,  daß  du  eine  Seele  wie 
die  meinige,  so  hoch  begnadest  —  das  überwältigt  meinen   Geist"  (Teresa).  204 

„Du  Hoher  und  Erhabener, 

Du   Großer,   ja  du    (irößester. 

Kein  Geist  erreicht    dein  hohes  Denken. 

Ein   Stäublein   ist   dir  alle  Welt, 

Das  deine  Hand   formiert    und  hält ; 

Wie  tief  muß  denn   Ich  Wurm  mich  senken! 

Und  doch   ist    Kleinheit   groß  bei  dir, 

Du  suchst    sie  und  du  wohnst  in  ihr"  (Tersteegen).  20S 
Doh  Gebet  20 


306  F  III.  Des  Gebet  in  der  Mystik 

Die  Kontemplation  des  höchsten  Gutes  und  der  eigenen  Nichtigkeit 
geht  so  in  die  Betrachtung  des  göttlichen  Gnadenwunders  der  mystischen 
Einigung  über.  Oft  ist  das  Beten  nur  ein  Staunen  über  das  Große, 
Unbegreifliche,  das  sich  in  der  gottbegnadeten  Seele  vollzieht. 

,, Woher  kommst  du?  Wie  kommst  du  in  meine  rings  umschlossene  Zelle? 
Seltsam  ist  das  fürwahr,  es  übersteigt  Rede  und  Verstand.  Daß  du  plötzlich  in 
meinem  Innern  Platz  nimmst  und  aufleuchtest  und  lichtförmig  erscheinst  wie 
der  hellblinkende  Vollmond,  das  macht  mich  sinnlos  und  sprachlos,  mein  Gott. 
Ich  weiß,  daß  es  du  bist,  der  gekommen  ist,  um  zu  erleuchten,  die  in  der  Finsternis 
sitzen,  ich  gerate  außer  mir  und  verliere  Verstand  und  Worte,  weil  ich  schaue 
das  fremde  Wunder,  das  alle  Kreatur,  alle  Natur,  alle  Rede  übersteigt"  (Symeon 
der  Neue  Theologe).  208  „Wer  schaut  wie  du,  mein  Herr  Jesu  Christe,  meine 
süße  Liebe,  hoch  erhaben  und  unermeßlich,  herab  auf  das  Niedrige?  Wer  ist 
dir  gleich  unter  den  Starken,  mein  Herr,  der  du  das  Niederste  in  der  Welt  erwählst  ? 
Wer  ist  wie  du,  der  du  Himmel  und  Erde  gegründet  hast,  dem  Throne  und  Herr- 
schaften dienen  und  der  du  doch  deine  Wonne  unter  den  Menschenkindern  suchst  ? 
Wie  groß  bist  dxi,  König  der  Könige  und  Herr  der  Herrscher,  der  du  denSternen 
gebietest  und  dem  Menschen  dein  Herz  schenkst  ?  Wer  bist  du,  in  dessen  Rechten 
Reichtum  und  Ruhm  ?  Du  bist  voll  von  Wonne  und  hast  eine  Braut  von  der 
Erde?  O  Liebe,  wohin  neigst  du  deine  Majestät?  Eija,  o  Liebe,  wohin  lenkst 
du  den  Quell  der  Weisheit?   Purwahr  bis  zum  Abgrund  des  Elends"  (Gertrud).  20T 

III.  Ekstase. 

Die  schauervoll-wonnevolle  Kontemplation  der  /unaussprechlichen 
göttlichen  Schönheit'  ist  noch  nicht  das  Endziel  mystischen  Betens 
und  Betrachtens.  Das  höchste  und  heiligste  Gebet  des  Mystikers  ist 
das  ekstatische  , Gebet',  das  kein  Gebet  im  gewöhnlichen  Sinne  mehr  ist. 
In  der  entzückenden  Gottesschau  ist  der  Unterschied  zwischen  Seele 
und  Gott,  zwischen  endlicher  Kreatur  und  unendlichem  Geist,  zwischen 
dem  kleinen,  armseligen  Ich  und  dem  großen,  reichen  Du  entschieden 
gewahrt.  Aber  in  der  ekstatischen  Gotteinigung  sind  alle  Unterschiede 
aufgehoben:  Beter  und  Angebeteter,  Ich  und  Du  sind  in  unzertrenn- 
licher Einheit  zusammengeflossen.  Alle  Gebetsrede,  ja  alle  Gebets- 
•  hinwendung  hat  aufgehört;  es  sind  nicht  mehr  zwei,  sondern  Eines; 
das  Endliche  ist  verschlungen  vom  Unendlichen.  Diese  ekstatische 
unio  substantialis  ist  unaussprechlich,  weil  sie  jenseits  des  wachen 
Bewußtseins  sich  vollzieht.  Aber  wenn  der  Mystiker  aus  der  ekstatischen 
Gottrunkenheit  erwacht,  versucht  er  das  Unaussprechliche  in  einem 
Gebetsworte  zu  stammeln;  er  kann  sein  Glück  nur  in  der  Formel  aus- 
drücken: „Ich  bin  du  und  du  bist  ich."  Von  den  Lippen  der  indischen 
und  persischen,  der  hellenistischen  und  christlichen  Mystiker  tönt 
dieses  Ekstatikergebet  uns  entgegen.  208 

„Du  bin  ich,  hohe  Gottheit,  ich  bist  du,  hohe  Gottheit,"  ruft  der  indische 
Mystiker  Nimbäditya  209.  Immer  wieder  kehrt  dieser  Ruf  bei  den  hellenistischen 
Mystikern,  in  der  Poimandresliteratur  wie  in  den  Schriften  der  Gnostiker:  ab 
yaQ  iyo)  xal  iydi  csv.  210  Am  häufigsten  aber  begegnet  uns  diese  Identitätsformel 
bei  den  persischen  Süfi.  Jaläl  ed-din  Rüml  ruft  begeistert:  „Ich  bin 
du  und  du  ich"  m.  Und  in  einem  längeren  Gebet  sagt  er:  „Es  hat  zwischen 
uns  aufgehört  das  Ich  und  Du.  Ich  bin  nicht  ich,  du  bist  nicht  du,  auch  bist  du 
nicht  ich.  Ich  bin  zugleich  ich  und  du,  du  bist  zugleich  du  und  ich.  Ich  bin  in 
Verwirrung  darüber,  ob  du  ich  oder  ich  du  seiest".  ili  Schon  vor  Jaläl  hatte 
Husain  al-Hallädsch  diese  Wesenseinigung  mit  den  Worten  ausgesprochen: 
„Dein  Geist  vermengt  sich  mit  meinem  Geist  so  wie  Wein  sich  mengt  mit  reinem 


4.  Inhalt  des  Gebets  (Ekstase)  307 

Wasser."  „Wenn  irgend  etwas  dich  berührt,  berührt  es  mich.  Siehe,  in  jedem 
Falle  bist  du  ich.". 213  Ja,  auch  aus  dem  Munde  christlicher  Mystiker  vernehmen  wir 
diesen  ekstatischen  Jubelruf:  „Du  bist  ich  und  ich  bin  du,"  betet  Angela  von 
Foligno  214.  Zumeist  freilich  formulieren  die  christlichen  Mystiker  die  Erfahrung 
der  unio  myslica  milder ;  häufiger  als  die  ,reziproke  Identitäts  forme1  * 
(Weinreich)215  begegnet  uns  bei  ihnen  die  , reziproke  Immanenzformel'. 
Mechthild  von  Magdeburg  spricht  betend: 

„Ich  bin  in  dir  und  du  bist  in  mir, 

wir  mögen  nit  naher  sin, 

wan  wir  zwöi  sind  in  ein  gevlossen 

und  sind  in  eine  form  gegossen, 

also  son  wir  bliben  eweklich  unverdrossen".  216 
Und  Gerhard  Tersteegen  singt: 

„Ich  senk  mich  in  dich  hinunter: 
Ich  in  dir,  du  in  mir"  217. 

Diese  ,reziproke  Identitätsforinel'  ist  das  höchste  mystische  Gebet. 
Erst  wenn  er  dieses  Gebet  sprechen  kann,  hat  er  seinen  Gott  ganz  ge- 
funden, bleibt  er  eins  mit  ihm  in  Ewigkeit.  Jaläl-ed-din-Rümi,  der 
Klassiker  der  islamischen  Mystik,  hat  diesen  Gedanken  in  ein  wunder- 
volles Gleichnis  gehüllt. 

Ein  Liebender  kam  einst  des  Nachts  vor  die  Türe  seiner  Liebsten  und  pochte 
an.  Da  rief  sie:  „Wer  klopfet  hier  ?"  Und  er  antwortete:  „Ichbine  s."  <  Sie 
aber  öffnete  nicht,  sondern  sagte  barsch:  „Fort  mit  dir!"  Da  ging  der  Jüngling 
in  die  Ferne  und  wanderte  durch  die  Welt,  bis  die  Liebe  ihn  mit  unwiderstehlicher 
Macht  zurücktrieb  zu  der  Geliebten  Behausung.  Und  er  pochte  abermals  mit 
dem  Ring  an  die  Pforte,  leise  und  zaghaft,  in  schüchterner  Hoffnung.  Und  wieder 
ertönte  die  Frage  der  Geliebten:  „Wer  klopfet  hier?"  und  er  antwortet:  „Du 
b  i  s  t  e  s  ,  du  stehst  noch  einmal  vor  der  Türe."  Da  öffnete  ihm  die  Angebetete 
mit  den  Worten: 

„O  Liebster,  komm  herein, 

Zweie  faßt  zwar  nicht  mein  enges  Kämmerlein; 

Da  indes  auch  du  nichts  mehr  als  ich  nur  bist. 

Im  Gemach  und  auch  am  Tische  Raum  noch  ist".  218 

Der  Grundgedanke  der  Mystik  ist  in  dieser  Erzählung  klar  ausge- 
sprochen :  des  Menschen  Identität  mit  dem  Göttlichen .  Durch  das 
mystische  Schrifttum  des  Orients  und  Okzidents  klingt  wie  als  Leit- 
motiv jene  ekstatische  Identitätsformel  hindurch.  Die  Mystiker  bilden 
eine  unsichtbare  Brüdergemeinde,  die  sich  über  alle  Länder  und  Zeiten 
erstreckt;  durch  Meilenweite  und  Jahrhundertferne  getrennt,  reichen 
sie  sich  die  Hände  und  stimmen  in  das  Lied:  Gott  und  Mensch  sind 
nur  durch  äußeren  Schein  getrennt,  beide  sind  eins  in  unauflöslicher 
Einheit.  Und  in  trunkener  Begeisterung  sprechen  sie  das  große  mystische 
Gebet:   „Ich  bin  du  und  du  bist  ich." 

IV.  Die  Verwerfung  des  Bittens  um  irdische  Güter. 

Das  naive  Bitten  um  äußere  Dinge  ist  mit  der  mystischen  Grund- 
tendenz unvereinbar.  Wo  es  sich  (meist  als  Fürbitte  für  andere)  bei 
Mystikern  findet,  spielt  es  eine  durchaus  sekundäre  Rolle  und  läuft 
als  etwas  Selbständiges  neben  dem  mystischen  ausschließlich  auf  Gott 
und  das  Heil  abzielenden  Gebet  einher.  Die  echte  Mystik  verwirft 
genau  so  wie  die  philosophische  Kritik  das  Bitten  um  Irdisches  als 
irreligiös.     Der   Gegenstand  des   Gebets  ist  ausschließlich   „Gott  und 


308  Pill.  Das  Gebet  in  der  Mystik 

die  Seele"  —  Gott  das  unum  bonum,  das  summum  bonum,  und  der  Seele 
Heil  und  Seligkeit  in  diesem  höchsten  Gut.     Augustin  gibt  die  Gebets- 
anweisung: „Nolite  aliquid  a  Deo  quaerere  nisi  Deum."     ,,0ra  beatam 
vitam"  —  und  beata  vita  ist  für  ihn  vita  aeterna,  das  contemplari  Domini 
delectationem  in  aeternum.     Das  Bitten  um  äußere  Glücksgüter  ist  ihm 
ein  ,carnaliter  orare1;  den  im  Geiste  Wiedergeborenen  geziemt  nur  ein 
,spiritaliter  orarei.219     Mit  derselben  Begründung  weist  der  persische 
Mystiker  Sa'adi  das  Bitten  um  äußere  Gnadengaben  ab. 
,,.   .   Ein  wahret-   Diener  seines  Herrn  nur  jener  ist, 
Der  nicht  ob  des  Herren  Gnade  seinen  Herren  selbst  vergißt. 
Also  wandelt  auch  nur  jener  treu  auf  seines   Gottes  Pfad, 
Der  von   (iotl    sich  nur  ihn  selber  als  Geschenk  erbeten  hat. 
Blickst   du   nur  auf   Gottes   Gaben  und   nicht  auf  ihn  selber  hin. 
Fesseil    dich   nicht  seine  Liebe,  fesselt  dich  dein  eigner  Sinn, 
öffnet  sich  dein  Mund  zum  Beten  nur  aus  Gierde  nach  der    Gab', 
Nimmer  strömt   dann  das  Geheimnis  seiner  Liebe  dir  herab".  220 

Das  Bitten  um  die  Erfüllung  selbstsüchtiger  Wünsche  widerspricht 
auch  dem  mystischen  Ideal  der  absoluten  Gleichförmigkeit  mit  Gottes 
Willen. 

., Beten:  Ach.  Herr,  wende  dies  Verhängnis  ab, 
Fürwahr  Sünde  gegen  den  ist,  der  es  gab." 

(Jaläl-ed-din    Rümi).221 

Schließlich  macht  die  Nichtigkeit  und  Wertlosigkeit  alles  Irdischen 
das  Beten  um  vergängliche  Güter  zur  Torheit.  Meister  Eckhart  kleidet 
die  Ablehnung  alles  irdisch-selbstsüchtigen  Bittens  in  ein  reizvolles 
Gleichnis : 

,,Man  fragte  einen  siechen  Menschen,  warum  er  Gott  nicht  darum  bäte,  daß 
er  ihn  gesund  machte.  Da  sagte  der  Mensch,  das  wollte  er  ungern  tun  aus  drei 
Gründen.  Der  eine  war,  er  wollte  das  wissen  und  dessen  gewiß  sein,  daß  der 
minnigliche  Gott  nimmer  möchte  das  leiden,  daß  er  siech  wäre,  denn  zu  seinem 
Allerbesten.  Ein  anderer  Grund  war  der:  Wenn  der  Mensch  gut  ist,  so  will  er 
alles,  was  Gott  will  und  nicht,  daß  Gott  wolle,  was  der  Mensch  will,  denn  das 
wäre  gar  unrecht.  Und  darum  so  will  er,  daß  ich  siech  sei;  denn  wollte  er  es 
nicht,  so  wäre  ich  es  auch  nicht;  so  soll  ich  auch  nicht  wünschen  gesund  zu  sein. 
Sonder  Zweifel,  möchte  das  sein,  daß  mich  Gott  gesund  machte  sonder  seinen 
Willen,  mir  wäre  unwert  und  ungenehm,  daß  er  mich  gesund  machte  Leiden 
wollen  kommt  von  Minne,  nicht  wollen  kommt  von  Unminne.  Viel  lieber,  besser 
und  nützer  ist  mir.  daß  mich  Gott  minne  und  ich  auch  siech  sei.  denn  daß  ich 
gesund  an  dem  Leibe  wäre  und  mich  Gott  nicht  minnet.  Was  Gott  minnet,  das 
isl  etwas,  was  Gott  nicht  minnet,  das  ist  nichts  ....  Die  dritte  Sache,  warum 
mir  unwert  und  ungenehm  wäre,  daß  ich  Gott  wollte  bitten  darum,  daß  er  mich 
gesund  mache,  ist  die:  Ich  will  und  soll  den  reichen,  minniglichen  Gott  nicht 
um  solche  Kleinigkeiten  bitten.  Gesetzt,  daß  ich  zu  dem  milden  Papste  käme 
hundert  oder  zweihundert  Meilen,  und  so  ich  käme  vor  ihn  und  spräche:  ,0  Herr, 
heiliger  Vater,  ich  bin  gekommen  wohl  zweihundert  Meilen  schweren  Weges 
mit  großen  Kosten  und  bitte  euch,  warum  ich  auch  her  zu  euch  gekommen  bin. 
daß  ihr  mir  gebet  eine  Bohne'.  Wahrlich  er  selber  und  auch  wer  das  vernähme, 
spräche  mit  Recht,  daß  ich  ein  großer  Tor  wäre.  Nun  ist  das  Eine  gewisse 
Wahrheit,  die  ich  spreche,  daß  alles  Gut,  auch  alle  Kreatur  gegen  Gott  ist  minder 
denn  eine  Bohne.  Darum  verschmähe  ich  billigerweise,  wenn  ich  ein  weiser  und 
guter  Mensch  bin.  daß  ich  wollte  beten  darum,  daß  ich  gesund  würde".  222 

Die  konsequente  Mystik  verwirft  nicht  nur  das  Bitten  um  Irdisches, 
sondern  das  Bitten  überhaupt.  Die  Bitte  ist  Ausdruck  des  Wunsches 
und  Willens      -  das  mystische  Ideal  hingegen  ist  die  völlige  Wunsch- 


4.  Inhalt  des  Gebets  (Verwerfung  des  Bittens  um  irdische  Güter)       309 


und  Willenlosigkeit,  die  ,Ledigkeit'  und  , Gelassenheit'.  Darum  schreiten 
Meister  Eckhart  und  Katharina  von  Genua  ebenso  wie  die  quietistischen 
Mystiker  des  17.  Jahrhunderts  zur  Ablehnung  jeder  Bitte,  auch  der 
Bitte  um  religiöse  und  sittliche  Werte,  fort  und  beschränken  das  Gebet 
auf  die  Aussprache  der  Indifferenzstimmung.     Meister  Eckhart  sagt: 

„In  wahrem  Gehorsam  soll  nicht  erfunden  werden:  ,ich  will  also  oder  also, 
dies  oder  das',  sondern  ein  lauter  Verzicht  auf  das  Deine.  Und  darum  auch  in 
dem  allerbesten  Gebet,  das  der  Mensch  mag  beten,  soll  es  nicht  heißen:  ,gib  mir 
die  Tugend  oder  die  Weise'  oder  .ja,  Herr,  ,gib  mir  dich  selber  oder  ewiges  Leben' 
[gegen  Augustins  obigen  Ausspruch],  sondern  allein:  ,Herr,  gib  mir  nichts,  denn 
was  d  u  willst,  und  tue,  Herr,  was  und  wie  d  u  willst  in  aller  Weise.'  Das  über- 
triffet  das  erste  wie  der  Himmel  die  Erde.  Dann  zumal  ist  der  Mensch  aus- 
gegangen in  Gott  in  wahrem  Gehorsam."  „Das  kräftigste  Gebet  ...  ist  das,  das 
da  geht  aus  einem  ledigen  Gemüt  .  .  .  Was  ist  ein  ledig  Gemüt  ?  Das  mit  nichts 
beladen  ist  oder  verworren  und  an  nichts  gebunden  noch  das  Seine  sucht  in  den 
Dingen,  sondern  allzumal  in  den  liebsten  Willen  Gottes  versenket  ist  und  aus- 
gegangen aus  dem  eigenen".  a23 

Katharina  von  Genua  empfing  von  Christus  die  Mahnung:  „Sage  niemals: 
ich  will  oder  ich  will  nicht.  Sage  niemals  mein,  sondern  immer  unser.  Wenn  du 
das  Vaterunser  betest,  so  nimm  dir  als  Grundlage  daraus  die  Worte:  Fiat  voluntas 
1ua,  d.  h.  es  geschehe  dein  Wille  in  jeder  Sache,  in  der  Seele,  im  Leibe,  in  den 
Kindern,  in  den  Verwandten,  in  den  Freunden,  in  Hab  und  Gut  und  in  jeder 
anderen  Sache,  die  dir  begegnen  möge,  sei  es  zum  Wohl  oder  Weh."  Katharina 
hat  diese  Mahnung  buchstäblich  befolgt;  so  konnte  sie  in  ihren  späteren  Jahren 
betend  ihrem  Gott  bekennen:  ..Schon  sind  es  etwa  35  Jahre,  daß  ich  dich,  o  mein 
Herr,  niemals  mehr  um  irgend  etwas  für  mich  gebeten  habe".  224 

5.  Die  psychologischen  Stadien  des  Gebets  bzw. 
der  Versenkung. 
Die  mystische  Konzentration  auf  den  höchsten  Wert  kann  entweder 
ein  bewußtes,  absichtliches,  willkürliches  Sichhinwenden  zu  Gott  sein 
oder  ein  unbewußtes,  unwillkürliches,  spontanes  Ergriffen-,  Hingerissen- 
sein  von  Gott.  Die  spontane  Kontemplation  wächst  meist  von  selbst 
aus  der  willentlichen  Meditation  und  Konzentration  heraus;  oder  man 
sucht  durch  die  absichtliche  Konzentration  die  in  der  spontanen  An- 
betung früher  erlebte  Gebetsstimmung  neu  zu  erzeugen.  Die  Konzen- 
tration, das  Hinschauen  auf  ein  einziges  Objekt  bedingt  eine  Verein- 
heitlichung des  gesamten  psychischen  Geschehens,  eine  Absorption  aller 
auf  andere  Gegenstände  sich  richtenden  Vorstellungen,  Willenstendenzen 
und  Wertungen  wie  eine  Unterbindung  der  natürlichen  Affekte.  Die 
Gebetssammlung  und  Gebetsbetrachtung  führen  so  von  selbst  in  die 
von  den  Mystikern  ersehnten  überwachen  Bewußtseinszustände  (Friede, 
Entzücken)  hinüber,  bisweilen  sogar  in  die  ekstatische  Bewußtseins- 
trübung. Diese  beiden  Momente  —  der  Unterschied  von  naivem  und 
absichtlichem  Beten  wie  die  Annäherung  an  die  Ekstase  —  veranlassen 
eine  Klassifikation  von  Gebetsstufen  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
fortschreitenden  Vereinfachung  des  psychischen  Zustandes,  der  Reduk- 
tion des  Bewußtseinsumfanges  und  der  Steigerung  der  Bewußtseins- 
intensität. Die  neuplatonischen  Mystiker  reden  von  , Ideen'  (eidy) 
oder  , Begriffen'  (öqoi)  225  des  Gebets,  die  christlichen  von  , Stufen' 
oder  , Staffeln',  ein  islamischer  Mystiker  (Algazäli)  226  spricht  sehr  fein 
von  , Hüllen'  des  Gebets  —  der  Fortgang  ist  hier  nicht  von  unten  nach 


310  Pill.  Das  Gebet  in  der  Mystik 

oben,  sondern  von  außen  nach  innen  gedacht.  Bei  all  diesen  Klassifi- 
kationen ist  unter  , Gebet'  nicht  das  aktuelle  Gebet,  die  Gebetsaussprache 
gemeint,  da  das  Beten  in  Worten  und  Vorstellungen  mit  der  fortschreiten- 
den Vertiefung  aufhört,  sondern  das  habituelle  Gebet,  der  mystische 
, Gebetszustand'  (etat  d'oraison).  Franz  von  Sales  sagt:  ,,L'oraison 
et  la  theologie  mystique  ne  sont  qu'  une  meme  chose."  227 

Die  Konstruktion  einer  zur  Ekstase  führenden  „Gebetsleiter",  die 
eine  hohe  psychologisch-analytische  Begabung  voraussetzt,  erfüllt 
eine  dreifache  Funktion :  1 .  eine  axiologische :  die  einzelnen  psychischen 
Zustände  werden  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Vollendung  des  mystischen 
Erlebens,  der  Ekstase  gewertet;  2.  eine  psychologische:  durch  die  Be- 
schreibung und  Analyse  der  einzelnen  Gebetszustände  sucht  der  Mystiker 
sich  Klarheit  über  das  eigene  Erleben  zu  schaffen;  3.  eine  pädagogische: 
die  detaillierte  Schilderung  der  psychischen  Erlebnisse  soll  anderen 
Menschen  die  Möglichkeit  geben,  selbst  diese  Erlebnisse  zu  haben  und 
auf  den  Gebetsstaffeln  zur  vollen  Einheit  mit  Gott  zu  gelangen. 

Obwohl  die  Bezeichnungen  der  Gebetsstufen,  ihre  Zahl  und  ihre 
Merkmale  wechseln,  besteht  im  wesentlichen  kein  Unterschied  zwischen 
den  Gebetsstufen  der  neuplatonischen  228,süf  istischen,  229hinduistischen230 
und  christlichen  231  Mystiker ;  ihr  psychologischer  Grundcharakter  deckt 
sich  sogar  mit  den  Versenkungsstufen  des  Yoga  232  und  Buddhismus  233, 
obgleich  in  letzteren  jeder  Gedanke  an  ein  Gebet,  d.  h.  einen  Verkehr 
mit  Gott,  ausgeschlossen  ist.  Die  feinste  psychologische  Durchbildung 
zeigen  die  Gebetsskala  der  heiligen  Teresa  und  die  buddhistische  Ver- 
senkungsskala. 

Die  Bezeichnung  der  einzelnen  Gebetsstufen  gibt  meist  eine  Charak- 
teristik des  psychischen  Erlebnisses  bzw.  Zustandes  (Sammlung,  Medi- 
tation, Kontemplation,  Ruhe,  Einigung,  Ekstase).  Die  Gebetsskala 
der  hinduistischen  Mystiker  (die  fünf  ,Geschmäcke'  des  Caitanya)  charak- 
terisiert die  psychische  Stimmung  der  einzelnen  Gebetszustände  sehr 
glücklich  durch  die  verschiedenen  sozialen  Verhältnisse:  vom  Sklaven- 
verhältnis erhebt  sich  der  Fromme  zur  Freundschaft  mit  der  Gottheit, 
sodann  zur  Kindesliebe,  bis  er  schließlich  beim  Brautverhältnis,  dem 
Liebesrausch  angelangt  ist.  Derselbe  Stufengang  begegnet  uns  auch 
in  der  abendländischen  Mystik  (Bernhard  von  Clairvaux,  234  Thomas 
von  Celano  235,  Angelus  Silesius.  236)  Doch  entbehrt  diese  Skala  des 
geistlichen  Lebens  ebenso  des  theoretisch-psychologischen  Charakters 
wie  der  ausschließlichen  Beziehung  auf  das  Gebetsleben  bzw.  die  Ver- 
senkung. 

Verschiedene  Gebetsskalen  (Algazäli.  Johann  von  Kreuz  usw.)  bezeichnen  als 
erste  Stufe  das  ,mündliche'  Gebet;  es  handelt  sich  jedoch  hier  mehr  um  eine 
Vorstufe.     Die  klassische  Gebetsleiter  der  hl.  Teresa  enthält   diese   Stufe   nicht. 

a)  Die  eigentliche  Gebetsskala  237  beginnt  stets  mit  der  bewußten  und  will- 
kürlichen Konzentration  der  Aufmerksamkeit  auf  Gott  bzw.  eine  religiöse 
Vorstellung.  Pseudo-  Jamblich  bezeichnet  die  erste  Stufe  als  Gebet  der  .Samm- 
lung', ebenso  Johann  vom  Kreuz:  Algazäli  als  .energische  Konzentration';  Proclus 
charakterisiert  sie  als  yv&aig,  die  meisten  christlichen  Mystiker  nennen 
sie  schlechthin  .Meditation'  oder  Gebet  der  Meditation,  Teresa  redet  von 
der  ,oracion  de  recogimento' .  Die  buddhistische  Foimel  von  den  vier  jhäna  be- 
zeichnet die  erste  Versenkungsstufe  als  ,,mit  Überlegen  und  Etwägen"  verbunden 


5.  Die  psychologischen  Stadien  des  Gebets  311 

(savitakka,  savicära);  dieselben  Termini  kehren  in  der  Vensenkungsskala  des 
Yogasütra  wieder,  in  welcher  jedoch  die  Meditation  in  zwei  Etappen  zerspalten 
ist.  Auf  der  ersten  Gebetsstufe  ist  nach  der  hl.  Teresa  und  anderen  Mystikern 
der  Mensch  selbst  tätig,  während  die  seelischen  Zustände  des  höheren  Gebets 
spontan  entstehen  und  durch  die  bewußte  Konzentration  und  Meditation  nicht 
direkt  erzeugt,  sondern  nur  vorbereitet  und  begünstigt  werden  können,  also  ein 
Werk  der  göttlichen  Gnade  sind. 

Der  Beter  sucht  die  Einsamkeit  auf.  In  einem  Willensakt  wendet  er  seine 
Aufmerksamkeit  von  der  Außenwelt  ab,  er  „sammelt  die  Sinne",  ,, zieht  sie  von 
allem  Sehen  und  Hören  ab"  (Madame  Guyon);  238  er  löst  sich  los  von  der  zer- 
streuenden Mannigfaltigkeit  seelischer  Inhalte,  unterdrückt  die  in  seinem  Innern 
sich  tummelnden  Gefühle  und  Vorstellungen.  „Von  aufsteigenden  schlechten 
Gedanken  unbehindert,  wendet  er  sich  den  göttlichen  Dingen  zu"  (Algazäll); 239 
er  konzentriert  seine  Aufmerksamkeit  in  willkürlicher  Wahl  auf  eine  bestimmte 
religiöse  Vorstellung.  (Über  den  Gegenstand  der  Meditation  s.  o.  S.  2S7. )  Dieses 
Betrachten  hat  teils  eine  intellektuelle,  teils  eine  emotionelle  Färbung;  es  besteht 
bisweilen  in  einem  Überlegen,  Erwägen,  also  in  diskursiven  Denkoperationen 
{Begründen,  Vergleichen,  Schließen).  Proclus  redet  von  einer  yvüoig,  Petrus 
von  Alcantara  von  „Vernunftschlüssen  und  Verstandesgrübeleien",  240  Johann 
vom  Kreuz  von  einem  „Betrachten  und  Nachdenken  mit  dem  Verstand";  der 
Fromme  macht  sich  über  die  Meditationsgegenstände  „seine  Gedanken,  zieht 
Schlüsse,  vergleicht  sie  miteinander  und  bezieht  sie  auf  sich  selbst".  241  Noch 
häufiger  aber  besteht  die  Meditation  in  einem  phantasiemäßigen  Sichvergegen- 
wärtigen, Sicheinfühlen,  Sichvertiefen  in  den  kontemplierten  Gegenstand.  Teresa 
empfiehlt  „sich  nicht  damit  zu  ermüden,  immer  neue  Erwägungen  anzustellen", 
sondern  „die  Verstandestätigkeit  ruhen  zu  lassen"  und  sich  „recht  lebendig  in 
der  Gegenwart  des  Herrn  zu  lassen".  242 

Die  durch  die  straffe  Konzentration  vollzogene  Loslösung  von  der  äußeren 
Welt  und  die  Unterbindung  der  ungestümen  Affekte  und  Begierden  bewirkt  ein 
tiefes  Gefühl  der  vollen  Abgeschiedenheit  und  inneren  Freiheit.  Die  aufmerk- 
same Betrachtung  gefühlsbetonter  Vorstellungen  erzeugt  eine  nachhaltige,  breite, 
von  sanfter  Lust  gesättigte  Stimmung.  „Die  Arbeit  des  Gebets,"  sagt  David 
von  Augsburg,  „wird  verkehrt  in  die  süße  Lust  der  Andacht";  den  Betrachtenden 
überkommt  „geistliche  Freude".  Die  buddhistischen  Texte  nennen  das  erste 
„mit  Erwägung  und  Überlegung  verbundene"  jhäna  das  „freudenreiche,  lust- 
volle" (piti-sukham).  Die  Tiefe,  Resonanz  und  Nachhaltigkeit  dieser  aus  der 
Betrachtung  herauswachsenden  Luststimmung  wird  an  einer  Stelle  des  Langen 
Kanons  durch  anschauliche  Bilder  verdeutlicht.  „Er  (der  betrachtende  Bettel- 
mönch) tränkt  diesen  seinen  Leib,  überschüttet,  erfüllt  und  durchdringt  ihn  mit 
dem  aus  der  Loslösung  geborenen  tiefen  Lustgefühl,  so  daß  kein  einziges  Winkelchen 
von  der  Freude  und  dem  Glück  unberührt  bleibt."  Die  weiche,  lustgesättigte 
Meditationsstimmung  hat  häufig  einen  Einschlag  von  Unlustgefühlen.  Teresa 
redet  bei  der  Beschreibung  der  ersten  Gebetsstufe  von  „fühlbaren,  süßen  Schmer- 
zen". 243  In  dieser  sanften  und  eindringlichen  Stimmung  erlebt  der  christliche 
Mystiker  die  unmittelbare  Gegenwart  Gottes.  Madame  Guyon  spricht  von  einem 
,,goüt  experimental  de  la  presence  de  Dieu"  244,  welchen  die  Seele  durch  die  Meditation 
gewinnt. 

Die  folgenden  Gebetsstufen  offenbaren  den  mystischen  Prozeß  der  änXcooig, 
der  fortschreitenden  Reduktion  und  Vereinheitlichung  des  Psychischen,  die  teils 
eine  stete  Intensitätszunahme  des  Erlebens  bedingt  und  in  der  Ekstase  gipfelt 
oder  eine  Intensitätsminderung  mit  sirh  bringt  und  im  Nirväna.  im  .mystischen 
Tod'  endet.  Diese  höheren  Gebetszustände  werden  von  den  du  ist  Liehen  Mysrt  ikern 
als  .übernat  in  lieh', als  ,Gabe  Gottes' erlebt  (vgl.S.  224  ),  während  die  buddhistischen 
Mönche  sie  als  religiöse  Eigenleistung  betrachten. 

b)  Auf  der  zweiten  Gebetsstufe  verschwindet  die  für  die  erste  Stufe  charak- 
teristische willentliche  Aufmerksamkeitsspannung;  die  diskursive  Denktätigkeit 
erlahmt;  das  re^e  Spiel  der  konkreten  Phantasievorstellungen  endet,  es  wird 
ganz  stille  in  der  Seele  des  Betrachtenden.  I>ie  sanfte  Luststimmung,  die  aus 
der  Erhebung  über  das  Getriebe  der  äußeren  Well  und  der  eigenen  Seele  und  aus 
der  Vertiefung  in  das   Reich  der  religiösen  Werte  hervorgegangen  war,  erlangt 


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314  FIII.  Das  Gebet  in  der  Mystik 

die  Alleinherrschaft ;  die  erhebende  und  befreiende  Meditation  weicht  dem  hehren 
Zustand  innerer  Einheit,  seligen  Fiiedens,  wonnevoller  Ruhe,  entzückender 
Klarheit.  „Die  Seele,"  sagt  Teresa,  „ruht  tief  befriedigt  in  Gott;  er  gewährt  ihr 
einen  unaussprechlich  süßen,  friedlichen  Genuß,  der  alle  ihre  Kräfte  mit  tiefster 
Befriedigung,  mit  dem  reinsten  Wonnegefühl  erfüllt".  245  Johann  vom  Kreuz 
sagt:  „Die  Seele  hört  auf,  an  etwas  zu  denken  und  stellt  die  Ruhe  in  Gott  her".  249 
Die  stereotype  Deskription  der  zweiten  buddhistischen  Versenkungsstufe  lautet: 
„Nach  dem  Zurrubekommen  von  Konzentration  und  Meditation  erlangt  der 
Mönch  die  tiefe  innere  Ruhe,  das  Einswerden  des  Geistes,  die  von  Konzentration 
und  Meditation  freie,  aus  der  Versenkung  geborene,  freudenreiche,  lustvolle  zweite 
Stufe  des  jhäna  und  verweilt  auf  ihr."  Die  konkreten  Objekte,  die  den  Frommen 
auf  der  ersten  Gebetsstufe  angestrengt  beschäftigt  haben,  sind  ihm  in  der  Ruhe 
und  Seligkeit  der  zweiten  Stufe  ganz  entschwunden  oder  sie  stehen  nur  als  dunkle 
Erinnerungsbilder  im  Hintergrund  des  geistigen  Blickfeldes.  247  

Bei  den  christlichen  Mystikern  ist  diese  Stimmung  der  wonnevollen  Ruhe  nicht 
völlig  gegenstandslos,  sondern  wiid  getragen  von  der  Liebe  zu  Gott,  von  dem 
reinen  und  geistigen  Erlebnis  des  höchsten  Wertes,  einem  „Akt  des  Willens", 
wie  Johann  vom  Kreuz  in  der  scholastischen  Terminologie  sich  ausdrückt.  „Die 
Seele  ruht,  von  Liebe  ganz  erfüllt,  in  Gott  und  vereinigt  sich  auf  die  lieblichste 
Weise  in  Wonne  und  Bewunderung  und  mit  der  Allgemalt  der  Liebe  mit  ihm;  sie 
vergißt  alle  Geschöpfe  und  richtet  ihren  Blick  allein  auf  sein  unendliches  Sein, 
seine  Güte,  seine  Schönheit  und  verweilt  dabei  liebend  in  unaussprechlicher 
Seligkeit,  Freude,  Ruhe  und  Frieden".  "8  Ähnlich  sagt  Teresa  von  dieser  Gebets- 
stufe: „Die  Seele  genießt  ihr  höchstes  Gut".  249  In  der  buddhistischen  Ver- 
senkung hingegen  ist  der  Ruhepunkt  nicht  ein  summum.  bonum,  dem  der  Fromme 
sich  ganz  übergibt;  das  Erlebnis  der  Ruhe  und  Seligkeit  ist  hier  gegenstandslos, 
rein  subjektiv;  der  Betrachtende  ist  ganz  in  sich  gewendet,  in  sich  versunken, 
ruht  in  sich  selbst. 

Die  psychologische  Charakteristik  und  terminologische  Bezeichnung  dieser 
Gebetsstufe  ist  verschieden.  David  von  Augsburg,  Johann  vom  Kreuz,  Teresa 
und  Alphons  von  Liguori  nennen  sie  das  Gebet  der  ,Ruhe';  die  Eigenart  des 
Erlebens  wird  hier  am  treffendsten  umschrieben.  Pere  Lacombe  heißt  sie  ,oraison 
d'affection' ,  um  die  Gefühlssteigerung  zu  betonen.  Johann  vom  Kreuz  spricht 
auch  vom  Gebet  des  Schweigens,  weil  ebenso  die  Zunge  wie  die  Vorstellungs- 
tätigkeit schweigt.  Die  Charakterisierung  dieser  Gebetsstaffel  durch  Proclus 
(oly.£iu)(7tg  xaiarijV  nQogzö  &eiov  öfioitüOtv  ij/ucöi'  avfxndarjg  xa&ctQÖzrjiog)  hebt  die  innere 
Reinheit,  d.  h.  die  Freiheit  von  den  Affekten  und  Phantasievorstellungen  her- 
vor, durch  die  der  Mystiker  dem  Göttlichen  ähnlich  wird.  Algazäli  betont  die 
Tiefe  der  Versunkenheit,  die  es  schwer  macht,  sich  von  dem  betrachteten  Gött- 
lichen abzuwenden.  Die  Bezeichnung  des  Pseudo- Jamblich  eWog  v.oivoiviag  ö/jo- 
roTjTixrjg  ovvdetiY.öv  weist  darauf  hin,  daß  der  Betrachtende  in  enge  Verbindung 
und  Gemeinschaft  mit  Gott  tritt. 

c)  Die  dritte  Gebetsstufe  (ebenso  auch  die  vierte,  wo  fünf  oder  mehr  Staffeln 
unterschieden  werden)  bedeutet  gegenüber  der  vorhergehenden  Stufe  keinen  Art- 
oder Wesensunterschied,  sondern  nur  einen  Grad-  und  Intensitätsunterschied. 
Die  Reduktion  und  Bindung  des  normalen  Seelenlebens  schreitet  weiter  fort, 
die  seelische  Aktivität  nimmt  weiter  ab;  einen  „Schlummer  der  Seelenkräfte" 
nennt  Teresa  diesen  Zustand,  von  dem  „Schlaf  in  der  inneren  Ruhe"  redet 
David  von  Augsburg.  Die  Intensität  der  Wonne  steigert  sich.  „Die  Seele  genießt 
unvergleichlich  mehr  Freude,  Wonne  und  Entzücken  als  vorher.  Sie  genießt 
ein  namenloses  Entzücken.  Sie  ist  in  einen  himmlischen  Rausch,  eine  himmlische 
Torheit  versunken,  sie  schwimmt  in  den  reinsten  und  höchsten  Wonnen.  Sie 
möchte  sich  ausströmen  im  Preise  der  göttlichen  Liebe".  Die  kontemplierende 
Seele  verliert  sich  in  völliger  Passivität  an  ihr  höchstes  Gut.  „Sie  verlangt  nur 
Gott,  gehört  nicht  mehr  sich  selbst,  sondern  nur  ihm."  „In  diesem  Zustand  muß 
sich  die  Seele  ganz  in  die  Arme  Gottes  werfen;  will  er  sie  in  den  Himmel  erheben, 
so  gehe  sie  getrost,  will  er  sie  in  die  Hölle  stürzen,  so  fürchte  sie  nichts,  denn  ihr 
höchstes  Gut  ist  bei  ihr.  Soll  ihre  Liebe  erlöschen  —  sie  ist  zufrieden.  Soll  sie 
tausend  Jahre  leben  —  es  ist  recht!    Der  göttliche  König  verfahre  mit  ihr  ganz 


5.  Die  psychologischen  Stadien  des  Gebet  315 

wie  mit  seinem  Eigentum.     Denn  nicht  mehr  sich  selbst  —  ihm  gehört  sie  an" 
(Teresa).  25° 

Die  Bezeichnungen  dieser  Gebetsstufe  sind  verschieden.  Teresa  und  Johann 
vom  Kreuz  reden  nicht  ganz  glücklich  vom  Gebet  der  , Einigung'  —  ein  Terminus, 
der  von  vielen  Mystikern  nur  auf  die  Ekstase,  den  Schlußpunkt  der  Gebetsskala 
angewendet  wird.  Alphons  von  Liguori  unterscheidet  diese  niederste  Form  der 
Gotteinigung  von  höheren  durch  den  Terminus  ,unio  simplez'.  Äußerst  zutreffend 
sind  die  Termini  des  Proclus  für  die  beiden  der  Endstufe  vorangehenden  Gebets- 
staffeln: 7j  a  v  v  acpri  ,  xad-'  ^\v  iqjanzö/UE&a  zijg  d-eiag  otialag  zip  äxoozdzqy  zfjg 
xpv%f}g  xal  ovvvevojuev  izQog  aöz-^v,  ?]  ijujzekaaig  juei£a>  zr\v  xoiv<aviav  ijfilv  naQE^ofxivri 
xal  zQaveazeoav  zijv  tuszovaCav  zov  zöjv  d-süv  (fcozög.  Der  psychologischen  Eigenart 
dieser  Stufe  wird  am  besten  der  Ausdruck  »Kontemplation'  (Bernhard,  Lacombe) 
gerecht;  er  findet  sich  auch  in  dem  deutschen  Traktat  über  die  sieben  Staffeln 
des  Gebets  („die  unsihtigen  und  die  goetlichen  schoene  zu  schouwen");  hier  folgt 
auf  diese  Stufe  noch  eine  weitere,  nur  künstlich  von  ihr  unterschiedene,  als  deren 
Merkmale  tiefe  Versunkenheit  (,,in  gezogen")  und  Passivität  (,,släf  der  inneren 
ruowe")  genannt  werden. 

In  der  buddhistischen  Mystik  wie  bei  den  christlichen  Quietisten  folgt  auf  die 
friedvolle  Wonnestimmung  nicht  die  entzückte  Kontemplation  und  enthtisiastische 
Trunkenheit,  sondern  die  sancta  indifferentia,  der  stille  Gleichmut,  die 
kühle  Affektlosigkeit.  Das  dritte  buddhistische  jkänani  bildet  den  Übergang  von 
der  tiefen  Seligkeit  zur  reinen  Indifferenz.  ,,Wenn  dann  der  Bhikkhu",  sagt  die 
Formel,  „nach  dem  Verschwinden  der  Freude  im  Gleichmut  verharrt,  einsichtig 
und  vollbewußt,  und  im  Körper  Lust  empfindet  —  jener  Zustand,  den  die  HeiligeD 
meinen,  wenn  sie  sagen:  , gleichmütig,  ernst  besonnen,  im  Glücke  weilend',  dann 
erlangt  er  die  dritte  Stufe  der  Versenkung  und  verweilt  auf  ihr."  Die  Intensität 
des  Wonnegefühls  sinkt  mehr  und  mehr,  die  Lust  Stimmung  verblaßt,  wird  vage 
und  unbestimmt,  das  Seligkeitsgefühl  geht  über  in  den  heiteren  Gleichmut.  Die 
stille  Indifferenzstimmung  zeigt  nur  eine  matte  Lustfärbung;  das  Lustgefühl 
wird  nicht  mehr  als  tiefe  seelische  Befriedigung,  sondersn  als  dumpfes  physisches 
Wohlbehagen  erlebt.  Schließlich  beseitigt  der  Fromme  jeden  Einschlag  von  Lust 
in  der  Indifferenzstimmung  und  erhebt  sich  zum  reinen,  heiligen  Gleichmut. 
„Hierauf  erlangt  der  Bhikkhu  nach  dem  Freiwerden  vom  Glück,  nach  dem  Frei- 
werden vom  Leid,  nach  dem  Untergang  aller  früheren  Lust-  und  Unlustgefühle 
die  leidlose,  freudlose,  in  Gleichmut  (upekkhä)  und  Besonnenheit  vollendete 
vierte  Stufe  der  Versenkung  und  verweilt  auf  ihr."  Dieses  vierte  Jhäna  ist  ein 
Zustand  emotioneller  Erstorbenheit,  völliger  Gefühl-,  Affekt-  und  Wunschlosigkeit ; 
das  bunte  Spiel  des  natürlichen  Seelenlebens  hat  aufgehört,  ist  der  gänzlichen 
inneren  Leere,  Einförmigkeit  und  Reinheit  gewichen.  „Wie  wenn  jemand  vom 
Kopf  bis  zu  den  Füßen  weiß  gekleidet  dasitzt,  so  daß  keine  einzige  Stelle  seines 
Körpers  nicht  weiß  umhüllt  wäre,  geradeso  sitzt  ein  solcher  Bhikku  da,  diesen 
seinen  leiblichen  Körper  mit  Geistesläuterung  und  -reinigung  durchdringend, 
so  daß  nicht  das  kleinste  Winkelchen  desselben  undurchdrungen  bleibt."  Über 
Lust  und  Leid  erhaben,  frei  von  Liebe  und  Haß,  gleichgültig  gegen  Menschen 
und  Götter,  gegen  die  Welt  und  sich  selbst,  weilt  er  auf  der  Höhe  vollkommener 
Gelassenheit,  an  der  Schwelle  des  Nirväna. 

Wie  die  buddhistische  Versenkungsleiter,  so  führt  auch  die  Gebetsskala  der 
christlichen  Quietisten  von  der  aus  der  Meditation  strömenden  Seligkeitsstimmung 
zu  der  radikalen  Indifferenzst  inmiung.  Franz  von  Sales  bezeichnet  .quietude' 
und  ,union'  als  die  niederen,  ,soumissionl  und  ,confortnite'  als  die  höheren  Stufen 
der  die  Meditation  ablösenden  Kontemplation.  Bei  Madame  Guyon  (welche  die 
sanfte  Luststimmung  nur  als  Phase  der  Meditation,  der  ersten  Gebetsstufe,  be- 
trachtet), setzt  die  Indifferenzstimmung  schon  auf  der  zweiten  (iebetssprosse 
ein.  Die  als  ..oraison  de  simplicite,  oraison  de  simple  presence  de  Dieu,  oraismi 
infuse"  bezeichneten  (iebetsstufen  unterscheiden  sich  nur  durch  den  Grad  und 
die  Reinheit  der  mystischen  Gelassenheit.  Im  Grunde  ist  es  dieselbe  Indifferenz- 
stimmung, die  in  d<r  oraison  de  simplicite  beginnt  und  im  „mystischen  Tod" 
sich  vollendet.  Madame  Guyon  charakterisiert  sie  in  ihrer  prägnanten  Terminologie 
als  „abandon".   ..depouillemenl    de   (mit  soin  de   nous-memes   pour   qous   laisser 


316  Pill.   Das  Gebet  in  der  Mystik 


entierement  ä  la  conduite  de  Dieu,"  „delaissement  total  entre  les  raains  de 
Dieu,"  ,,donation  de  tout  soi-meme  ä  Dieu,"  „perdresans  cesse  toute  volonte  propre 
dans  la  volonte  de  Dieu,  renoncer  ä  toutes  inelinations  particulieres,"  ,,se  mettre 
dans  l'indifferenee  et  ne  vouloir  que  ce  que  Dieu  a  voulu  de  son  eternite,  etre 
indifferent  ä  toutes  choses  soit  pour  le  eorps,  soit  pour  l'äme,  pour  les  biens  tem- 
poreis et  eternels".  261  In  der  Stimmungsfarbe  gleicht  diese  sainte  indifference  der 
christlichen  Quietisten  völlig  der  upekkkd  der  buddhistischen  Bettelmönche.  Und 
doch  besteht  ein  fundamentaler  innerer  Unterschied  zwischen  beiden  psychologisch 
identischen  Zuständen.  Die  Indifferenzstimmung  der  christlichen  Mystiker  ist 
getragen  und  durchdrungen  von  der  Hingabe  an  Gott  als  das  höchste  Gut.  Die 
Gleichgültigkeit  gegen  Lust  und  Leid,  der  Verzicht  auf  alles  eigene  Wünschen 
und  Wollen  wird  hier  zur  restlosen  Ergebung  in  Gottes  souveränen  Willen.  Zwar 
ist  auch  die  buddhistische  upekkhü- Stimmung  nicht  gegenstandslos;  in  schauen- 
dem Erkennen'  (näna-dassanam)  richtet  der  Mönch  seinen  Blick  auf  die  „Ver- 
gänglichkeit, Wesenlosigkeit  und  das  Leid"  alles  Daseins,  er  dringt  ein  in  den 
verborgenen  Ursachenzusammenhang,  das  Gesetz  der  ewigen  Wiedergeburt.  Aber 
das  Objekt  seines  Erkennens  und  Wertens  ist  nicht  ein  höchster  Wert,  sondern 
ein  höchster  Unwert,  nicht  der  unendliche  Gott,  dem  er  sich  unbedingt  hingibt, 
sondern  der  unpersönliche  Kausalzusammenhang,  der  leidvolle  Kreislauf  der 
Geburten,  dem  er  entflohen  ist. 

d)  Die  letzte  und  höchste  Staffel  der  Gebetsleiter,  der  ,,Kern"  des  Gebets, 
wie  Algazäli  mit  einem  andersartigen  Bildwort  sagt,  das  vollkommenste  Gebet 
ist  die  Ekstase,  in  der  die  Seele  eins  wird  mit  Gott.  (Über  die  psychologische 
Eigenart  der  Ekstase  s.  o.  S.  253  f.  306  f. )  Sie  ist  zweifellos  kein  echtes  Gebet,  auch 
nicht  eine  oratio  mentalis;  das  wesentliche  Merkmal  alles  Betens,  das  Gegenüber- 
stehen eines  Ich  und  eines  Du,  der  Dualismus  zwischen  dem  betenden  Menschen 
und  dem  gegenwärtigen  angebeteten  Gotte  fehlt  in  der  Ekstase.  Algazäli  betont 
ausdrücklich,  daß  ..das  Gebet,  ja  das  Ichbewußtsein  aufhört,  so  daß  jeder  Gedanke 
an  das  Gebet  wie  ein  hindernder  Schleier  erscheint".  Gleichwohl  lieben  es  die 
abendländischen  Mystiker,  auch  diesen  jenseits  des  Bewußtseins  liegenden  seelischen 
Zustand  als  Gebet  zu  bezeichnen.  Und  sie  haben  dazu  ein  gewisses  Recht,  denn 
das  ekstatische  Erlebnis  hängt  innerlich  mit  dem  mystischen  Gebet  zusammen, 
wächst  aus  ihm  heraus,  ist  seine  notwendige  Vollendung.  Das  im  Beter  lebendige 
Bewußtsein  der  Gegenwart  Gottes  im  Seelengrunde  und  die  Hingabe  an  das 
höchste  Gut  steigert  sich  soweit,  daß  das  Bewußtsein  des  eigenen  Ich  getrübt 
wird  oder  völlig  entschwindet. 

Diese  letzte  Gebetsstaffel  wird  meist  mit  jenem  Terminus  gekennzeichnet, 
der  für  das  ekstatische  Erlebnis  gebraucht  wird:  ,Einigung'.  Pseudo- Jamblich 
nennt  sie  die  ä(>o>jiog  Zvwaig,  Proclus  Jj  Zvcaaig  avzip  tu>  ivl  iw  d-eüv  xb  2v  zrjg 
\pvyjfi  ivitfQvovoa.  David  von  Augsburg  sagt:  „Der  Mensch  wird  mit  Gott  ein 
Ding."  (Die  von  ihm  vorgenommene  Unterscheidung  eines  höheren  Grades  der 
Ekstase,  der  vollkommenen  Gottgleichheit,  von  der  bloßen  Einigung  ist  künst- 
lich.) Teresa,  die  schon  die  vorhergehende  Gebetsstufe  als  , Einigung'  charak- 
terisiert, bezeichnet  den  ekstatischen  Endpunkt  der  Gebetsklimax  als  ,oracion 
di  arrobiamento' ,  ein  Ausdruck,  der  die  ekstatische  Bewußtseinsunterbrechung 
gut   veranschaulicht. 

Die  buddhistische  Versenkungsleiter  gipfelt  nicht  im  Sturm  und  Rausch  der 
Ekstase,  der  Gottbesessenheit,  sondern  in  der  affektlosen  Stille  des  Nirväna, 
in  der  Erloschenheit  und  Erstorbenheit  jeder  Lebenstendenz,  im  Zustand  der 
Vernichtung  (nirodha)  des  gewöhnlichen  Seelenlebens.  (Über  die  Eigenart  des  Nir- 
vänazustandes  im  Gegensatz  zur  Ekstase  s.  o.  S.  255.  260).  Von  dem  vierten  Jhäna, 
dem  leid-  und  freudlosen  Gleichmut,  erhebt  sich  der  Heilige  zu  der  hehren  Freiheit, 
Ruhe  und  Seligkeit  des  Nirväna ;  aus  ihm  ging  dei  sterbende  Buddha  unmittelbar 
ins  ewige,  vollkommene  Nirväna  ein.  Die  vierte  Meditationsstufe  wird  in  einem 
hübschen  Gleichnis  mit  der  sich  öffnenden  Blüte  des  Paradiesbaumes  verglichen, 
das  Nirväna  mit  der  voll  entfalteten  Blütenpracht  252. 

Der  aus  der  radikalen  Indifferenzstimmung  hervorwachsende  Nirvänazustand 
ist  auch  von  den  christlichen  Quietisten  erlebt  worden;  sie  nennen  ihn  den 
,mystischen  Tod'  oder  mit  einem  dem  Yoga  und  Buddhismus  so  geläufigen  Terminus 
den  Zustand  der  ,  Vernichtung'.   Madame  Guyon  beschreibt  ihn  mit  der  ihr  eigenen 


6.  Die  dein  Gebet  zugrunde  liegende  Gottesvorstellung  31' 


psychologischen  Treffsicherheit:  „Der  Verstand  verfinstert  sich,  die  Erinnerung 
verblaßt,  der  Wille  verliert  alle  Spannkraft;  die  leiseste  Lebensregung  der  Selbst- 
heit  erlischt.  Wunsch,  Neigung,  Begierde,  Widerwille,  Abneigung,  alles  ist  dahin. 
Die  Seele  tritt  in  den  dunklen,  schauervollen  Zustand  des  mystischen  Todes, 
indem  sie  in  den  Zustand  gänzlicher  Gefühllosigkeit  übergegangen  ist;  denn  sie 
ist  gleichgültig  geworden  gegen  die  Welt,  gegen  sich,  gegen  Gott.  Sie  liebt  nicht 
mehr  und  haßt  nicht  mehr;  sie  leidet  nicht  und  freut  sich  nicht;  sie  tut,  nichts 
Gutes  und  tut  nichts  Böses,  sie  tut  gar  nichts.  Die  Seele  hat  nichts,  will  nichts. 
Ist  nichts;  sie  steht  im  Stande  der  Vernichtung".  253  Wie  im  buddhistischen 
Nirväna,  so  fehlt  im  , mystischen  Tod'  der  christlichen  Quietisten  der  Gottes- 
gedanke ebenso  wie  das  Bewußtsein.  Dennoch  besteht  trotz  der  frappierenden 
Übereinstimmung  ein  unverkennbarer  Unterschied.  Das  buddhistische  Nirväna 
ist  ein  Letztes,  Höchstes,  das  Ziel  alles  Heilstrebens,  die  Erlösung.  Der  , mystische 
Tod'  der  christlichen  Mystiker  ist  kein  Endgültiges,  sondern  nur  ein  Durchgangs- 
stadium; dem  Tod  folgt  die  Auferstehung,  der  Vernichtung  die  beseligende 
Einigung  mit  Gott. 

6.  Die  dem  Gebet  zugrunde  liegende  Gottesvor- 
stellung. 

Der  Gott,  den  der  Mystiker  anbetet,  ist  durchaus  statisch  gedacht; 
die  geistige  Wirklichkeit,  in  die  er  kontemplierend  sich  versenkt,  ist 
ein  ruhendes  Ideal;  das  Objekt  der  Konzentration  und  Kontemplation 
kann  nur  ein  Letztes,  Vollendetes,  ein  Endgültigkeitswert  sein  (vgl. 
o.  S.  298 ff.).  Die  dem  primitiven  Gebet  zugrunde  liegende  Vorstellung 
der  wirkenden  Schicksalsmacht  Gottes  fehlt  im  Gebetserlebnis  des 
Mystikers  fast  völlig. 

Der  Gott  der  mystischen  Kontemplation  besitzt  nicht  den  ausge- 
prägten Persönlichkeitscharakter,  der  der  Gottes  Vorstellung  des  naiven 
Beters  eigen  ist.  Es  ist  bedeutsam,  daß  Gott  in  den  mystischen  Gebeten 
so  oft  mit  einem  neutrischen  Ausdruck  als  summum  bonum  angeredet 
wird.  Eine  völlige  Entpersönlichung  Gottes,  wie  sie  die  philosophische 
Spekulation  eines  Plotin,  Eckhart,  Sankara  vollzieht,  ist  freilich  so 
lange  nicht  möglich,  als  eine  Gebetsanrede  oder  doch  eine  innere  Gebets- 
hinwendung an  Gott  vorhanden  ist.  Die  meisten  mystischen  Beter 
reden  Gott  auch  mit  dem  anthropomorphen  Terminus  der  primitiven 
Gebetssprache  ,Herr'  an.  Aber  dort,  wo  an  die  Stelle  des  trauten  Gebets- 
umgangs die  ästhetische  Intuition  und  feierliche  Anbetung  des  höchsten 
Wertes  tritt,  ist  ein  Verblassen  der  Persönlichkeitszüge  Gottes  innerlich 
notwendig.  Der  Kontemplierende  verliert  sogar  in  dem  völligen  Hin- 
gegebensein an  den  unendlichen  Wert  nicht  bloß  das  eigene  Selbst- 
bewußtsein, sondern  das  Bewußtsein  der  gegenständlichen  Voraus- 
setzung seines  Werterlebnisses.  „Ich  bin  verliebt  und  weiß  nicht,  in 
wen,"  sagt  der  Süfi  Ferid-ed-din-Attär.  254 

Die  mystische  Tendenz  der  Entanthropomorphisierung  des  Gottes- 
bildes ist  weniger  wirksam  in  der  naiven,  erotisch  gefärbten  Mystik, 
in  der  das  Gebet  nicht  exklusive  Konzentration  und  Kontemplation 
ist,  sondern  ein  herzliches  Liebesgespräch  und  einen  vertrauten  Liebes- 
verkehr zwischen  Seele  und  Gott  darstellt.  Hier  ist  Gott  der  sich  zum 
Menschen  liebevoll  herabneigende  Heiland,  der  traute  Freund,  der 
leidenschaftliche  Bräutigam  und  Geliebte.  Die  das  naive  Beten  des 
primitiven  Menschen   bestimmende  anthropomorphe   Gottesvorstellung 


318  F  III.  Das   Gebet  in  der  Mystik 


offenbart  im  Gebet  der  Liebesmystik  ihre  ursprüngliche  Kraft  und  An- 
schaulichkeit. Die  Gebete  der  christlichen  Brautmystiker  richten  sich 
ungleich  seltener  an  den  unendlichen  Gott,  den  ewigen  Vater  als  an 
den  ,süßesten  Jesus',  dessen  menschlicher  Charakter  der  mystischen 
Grottesvorstellung  des  summum  bonum  persönliche  Lebendigkeit  und 
sinnliche  Anschaulichkeit  verleiht.  Seuse  sagt  treffend:  „Da  die  Seele 
wegen  der  Schwachheit  des  schweren  Leibes  dem  lauteren  Gute  in 
bildloser  Weise  nackt  nicht  allezeit  anhaften  kann,  so  muß  sie  etwas 
Bildliches  haben,  das  sie  dahin  leite.  Und  das  Beste  dazu  ist  das  lieb- 
reiche Bild  Jesu  Christi;  denn  da  findet  man  Leben,  das  ist  der  höchste 
Lohn  und  der  oberste  Nutzen."  255 

7.  Die  Erfahrung  der  Präsenz  Gottes  im  Gebet. 
Alles  mystische  Beten  ist  durchdrungen  von  der  unzweifelhaften 
Gewißheit  der  unmittelbaren,  realen  Gegenwart  Gottes.  Im  Gebet  ,,hat 
man  Gott  sich  gegenüber",  sagt  Meister  Eckhart.  256  Beten  heißt  für 
Teresa  ,,in  der  Gegenwart  Gottes  verharren."  „Wir  stellen  uns  in 
seine  Gegenwart  und  denken  daran,  daß  wir  von  ihm  gesehen  werden." 
„Die  Seele,  die  sich  ins  Gebet  begibt,  scheint  jemand  zu  finden,  mit 
dem  sie  sprechen  kann.  Sie  begreift,  daß  man  ihr  zuhöre."  257  Madame 
Guyon  sagt:  „Gott  ist  mehr  in  uns  als  wir  selbst;  wir  haben  ihn  und 
schmecken  ihn."  258  In  der  affektlosen  inneren  Einheit  und  Ruhe, 
in  der  tiefen,  sanften  Wonnestimmung  glaubt  der  Betende  und  Sich- 
versenkende die  Gegenwart  des  unendlichen  Gottes  zu  spüren;  denn 
Gott  wohnt,  wie  Augustinus  sagt,  „in  ipsis  rationalis  animae  secretis, 
qui  homo  interior  vocatur"  259,  oder  wie  Tauler  sagt,  „im  innerlichsten 
Grund,  wo  wahre  Einigkeit  allein  ist"  26°.  Die  bewußte  Meditation  und 
Konzentration  zielt  besonders  darauf  ab,  durch  die  Schaffung  einer 
einheitlichen  Seelenstimmung  die  gefühlsmäßige  Erfahrung  der  Präsenz 
Gottes  zu  ermöglichen.  Nach  Teresa  hat  das  Betrachten  auf  der  ersten 
Gebetsstufe  den  Zweck,  sich  in  Gottes  Nähe  und  Gegenwart  zu  ver- 
setzen und  dort  zu  verweilen  261.  Madame  Guyon  sagt:  ,,L'  exercice 
principal  (de  la  meditation)  doit  etre  la  presence  de  Dieu."  262  Einen 
ganz  anderen  psychologischen  Charakter  hat  die  Gebetserfahrung  der 
Präsenz  Gottes  in  der  Kontemplation  des  summum  bonum.  Was  der 
Beter  hier  erlebt,  ist  nicht  eine  sanft  dahingleitende  Stimmung,  sondern 
eine  aufwühlende  affektive  Erregung.  Das  Erleben  von  Gottes  Gegen- 
wart ist  nicht  innen-,  sondern  außenkonzentriert,  kein  inneres  , Spüren' 
und  , Schmecken',  sondern  ein  geistiges  , Schauen'  Gottes  —  ö()a  avzöv 
voEQOtg  öcpü-ak/ioig,  sagt  Symeon  der  Neue  Theologe  vom  Betenden.  263 
In  wundervoller  Weise  hat  Gerhard  Tersteegen  das  im  mystischen  Beter  lebendige 
Gefühl  der   Gottesnähe  besungen: 

„Großer  Gott,  in  dem  ich  schwebe, 

Menschenfreund,  vor  dem  ich  lebe, 

Höchstes   Gut  und  Herr  allein, 

Ich  bet  an  dein  Nahesein. 

Den  die  Engel  bückend  sehen 

Und  mit  tausend  Lob  erhöhen, 

Da  du  sitzest  auf  dem  Thron, 

Du  bist  hier  auch  nahe  schon." 


7.  Präsenz  Gottes  — 8.  Verhältnis  von  Mensch  und  Gott  319 

,  ,Du  höchst  vergnügend  Wesen  du , 
Mein  Seelenfreund  und  ein'ge  Ruh', 
Den  ich  in  mir  gefunden: 
Wie  bist  du  mir  so  innig  nah ! 
Kehr  ich  hinein,  so  bist  du  da ; 
Du  hältst  mein  Herz  gebunden".  2<u 

Das  Bewußtsein  von  Gottes  Präsenz  gehört  zur  Wesensstruktur  des 
Gebets ;  es  ist  ein  sicheres  Kriterium  dafür,  ob  die  mystische  Betrachtung 
und  Versenkung  als  Gebet  bezeichnet  werden  darf.  In  der  buddhistischen 
Versenkung  fehlt  dieses  Erlebnis  völlig.  Das  , Verweilen'  —  diesen 
Terminus  hat  die  Beschreibung  der  Jhäna-Stxden  mit  der  Gebets- 
terminologie der  christlichen  Mystik  gemeinsam  —  ist  hier  nicht  ein 
Verweilen  in  Gottes  Gegenwart,  sondern  ein  Weilen  bei  sich  und  in 
sich  selbst. 

8.  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  von 
Mensch  und  Gott. 
Das  Gebet  des  Mystikers  ist  kein  bloßes  Denken  an  Gott,  kein  gedank- 
liches Sichvergegenwärtigen  einer  metaphysischen  Realität,  in  das  es 
meist  die  philosophische  Kritik  auflöst,  sondern  eine  wirkliche  Berührung, 
ein  realer  Verkehr,  Umgang,  Austausch  mit  dem  als  gegenwärtig  erlebten 
Gott,  eine  Gemeinschaft  mit  ihm,  die  schließlich  zur  vollen  Einigung 
mit  ihm,  zum  Auf-  und  Untergehen  der  Seele  in  ihm  führt.  Proclus 
definiert  das  Gebet  als  avvayajyög  xal  ovvdETixi]  t&v  xpv-^Giv  TiQÖg  xovg 
Seovg.  265  Das  Gebet  macht  uns  nach  Pseudo-Jamblich  zu  öfitXrjräg 
ö-sov.;266  Proclus  nennt  das  Beten  auch  ein  nQoaouilsiv  Ö-eots267. 
Diese  neuplatonische  Gebetscharakteristik  kehrt  in  der  christlichen 
Gottesmystik  immer  wieder.  Nilus  Sinaita  definiert  das  Gebet  als  die 
öfiilia  vov  TCQÖg  &eov.  268  Symeon  der  Theologe  sagt  vom  Betenden : 
TiQooofiilel  t(j)  d-eü  TiQOG(brroj  nQÖg  tiqögcütiov.  269  Die  Imitatio  spricht 
oft  von  dem  Jamiliariter  cum  Jesu  conversari\  27°  Teresa  vom  ,innigen 
Umgang',  fraulichen  Verkehr',  der  ,Liebesgemeinschaft  mit  Gott',  der 
,heiligen  Gesellschaft  des  Herrn';271  Franz  von  Sales  definiert  das 
Gebet  als  ,entretien  et  conversation  de  Väme  avec  Dieu1  272,  Tersteegen 
als  „familiären  Umgang  mit  Gott".  273  In  der  Einsamkeit,  losgelöst 
von  aller  Welt  und  von  allen  Menschen  redet  der  Beter  zu  seinem  Gott 
—  ftövog  Ttgbg  fiövov;  274  auch  diese  neuplatonische  Gebetscharakte- 
ristik kehrt  in  der  christlichen  Mystik  wieder.  275  Beten  heißt 
als  isoliertes  Individuum  mit  Gott  zusammen  sein,  als  Einsamer  in 
seiner  , Gesellschaft'  weilen.       Tersteegen  singt: 

„Du,  vollkomm'ner  Gott,  warst  einsam 
In  dir  selbst  vor  aller  Zeit: 
Selig,  wer  mit  dir  gemeinsam 
Lebt  in  deiner  Ewigkeit ! 
In  die  Wüste  lock  mich  ein, 
Einsam  so  in  dir  zu  sein." 

„O  schönes  Einsam! 

O  süß  Gemeinsam! 
Mit    Gott  allein!" 

..Du   und   ich  allein 

Sollen  sein  gemein".  2TS 


320  F  III.   Das  Gebet  in  der  Mystik 

Die  selbstverlorene  Hingabe  an  Gott  als  den  einzigen  und  höchsten 
Wert  schließt  den  primitiven  Gedanken  an  die  im  Gebet  zu  erzielende 
reale  Einwirkung  auf  Gott,  Unistimmung  seines  Willens  aus  (nur  in  der 
naiven  Brautmystik  spielt  er  eine  bestimmte  Rolle).  Die  exklusive 
Einstellung  auf  Gott  und  die  hiedurch  bedingte  völlige  Wunschlosigkeit 
macht  ein  naives  Gott-beeinf  lussen-wollen  im  Sinne  der  eigenen  Wünsche 
unmöglich.  Der  Glaube  an  einen  wirklichen  Verkehr,  ein  Inbeziehung- 
treten  zu  Gott  ist  für  die  Mystik  nicht  identisch  mit  einer  tatsächlichen 
Einwirkung  auf  Gott.  Augustinus  betont  immer  wieder,  daß  im  Gebet 
keinerlei  Einwirkung  auf  Gott  erfolge.  Der  Mensch  betet  zu  Gott,  ,,ut 
ipse  construatur,  non  ut  Deus  instruatur"  277.  Das  Bitten  ist  nicht  dazu 
bestimmt,  Gott  zur  Erfüllung  unserer  Wünsche  zu  bewegen,  sondern 
dazu,  in  uns  die  Sehnsucht  nach  Gott  zu  wecken  und  uns  zu  Gott  zu 
erheben.  278  Der  Areopagite  verdeutlicht  in  zwei  hübschen  Gleichnissen 
den  mystischen  Gedanken,  daß  das  Gebet  eine  Erhebung  des  Menschen 
zu  Gott,  nicht  eine  Gewinnung  Gottes  für  die  Zwecke  des  Menschen  ist. 

„  Wir  schwingen  uns  durch  Gebet  zum  höheren  Anblick  der  göttlichen  und 
gütigen  Strahlen  auf,  wie  wenn  wir  an  einer  lichtvollen,  an  der  Höhe  des  Himmels 
befestigten  und  bis  herabhängenden  Kette  abwechselnd  mit  den  Händen  vor- 
wärt sgreifend,  dieselbe  scheinbar  herabzögen,  tatsächlich  aber  nicht  herab- 
bi ächten,  sondern  uns  selbst  hinaufbrächten  zu  den  höheren  Glanzpunkten  der 
lichtvollen  Strahlen."  „Wer  in  einem  Schiffe  stehend  ein  von  einem  Felsen  aus 
ihm  zugeworfenes  Tau  ergreift  und  an  demselben  zieht,  der  zieht  nicht  den  Felsen 
zu  sich  her,  sondern  er  bringt  sich  und  das  Schiff  dem  Felsen  näher".  279 

In  der  rein  kontemplativen  Mystik  ist  der  Gebetsumgang  mit  Gott 
nicht  ein  deutlicher  Reflex  menschlich-sozialer  Verkehrsbeziehungen; 
Gott,  das  summum  bonum  ist  zu  groß,  zu  geistig,  zu  heilig,  als  daß  man 
bei  aller  Innigkeit,  Sehnsucht,  Liebe  und  Begeisterung  mit  ihm  so  ver- 
kehren könnte  wie  mit  Menschen.  Nur  in  der  naiven,  phantasiemäßigen, 
von  philosophischer  Problematik  unberührten  Mystik  reflektiert  das 
Verhältnis  des  Frommen  zu  Gott  deutlich  soziologische  Beziehungen: 
das  Diener-,  Freundes-,  Kindes-  und  Brautverhältnis;  diese  Verhält- 
nisse sind  jedoch  nicht  gleichwertig,  sondern  ordnen  sich  —  was  echt 
mystisch  ist  —  als  aufsteigende  Skala  an.  „Die  Liebe,"  heißt  es  in  der 
hinduistischen  Vischnusekte,  „offenbart  sich  in  der  Beziehung  eines 
Dieners  zu  seinem  Herrn,  der  eines  Freundes  zu  seinem  Freund,  der 
eines  Kindes  zu  seinen  Eltern  und  der  eines  Weibes  zu  seinem  Gatten. 
Die  höchste  Stufe  der  Liebe  ist  erreicht,  wenn  die  Menschenseele  Gott 
lieben  kann  wie  ein  Weib  seinen  Gatten  liebt." 280  (Vgl.  o.  S.  310.)  Der 
Gebetsverkehr  der  Seele  mit  Gott  spielt  sich  in  der  naiven  Mystik  zumeist 
in  den  Formen  und  Symbolen  des  Brautverhältnisses  ab,  wie  das  schon 
aus»  der  Gebetsanrede  hervorgeht.     Selbst  Angelus  Silesius  singt : 

„Du  magst  Gott,  wie  du  willst,  für  deinen  Herrn  erkennen, 
Ich  will  ihn  anders  nicht  als  meinen  Bräut'gam  nennen." 
„Wer  meiner  Seele  will  den  größten  Titel  geben, 
Der  nenn'  sie  Gottes  Braut,  sein  Herze,  Schatz  und  Leben".  281 

9.  Gebetsanweisung. 
Die  Gebetsanweisung  der  Mystiker  ist  nur  an  die  wenigen  mystisch 
begabten  und  interessierten,  nach  Vollkommenheit  strebenden  Seelen 


Die  mystische  Gebetsanweisung  321 

gerichtet  (vgl.  o.  S.  273).  Typische  Beispiele  sind  das  ,goldene  Büchlein 
über  die  Betrachtimg'  von  Petrus  von  Alcantara  und  das  ,Moyen  court 
et  tres  facile  de  faire  oraison'  der  Madame  Guyon.  Die  mystische  Gebets- 
anweisung ist  ein  psychologisches  Rezept;  sie  besteht  in  der  psycho- 
logischen Deskription  und  Analyse  der  Erlebnisse,  die  dem  betenden 
Mystiker  auf  den  verschiedenen  Stufen  des  geistlichen  Lebens  zuteil 
werden.  Sie  gibt  detaillierte  —  bisweilen  raffiniert-künstliche  —  Regeln 
und  Methoden  an,  nach  denen  die  Konzentration  und  Meditation  durch- 
geführt und  durch  deren  Anwendung  die  Disposition  für  die  höheren 
Gebetszustände  geschaffen  werden  soll.  Die  mystische  Gebetsan Weisung 
enthält  aber  nicht  nur  formale,  sondern  auch  inhaltliche  Gesichtspunkte 
für  die  Meditation,  sie  bietet  dem  Betrachtenden  die  rnateria  meditandi 
dar  (s.  o.  S.  287).  Solche  methodische  Gebets-  und  Betrachtungs- 
anleitungen haben  die  meisten  christlichen  Mystiker  gegeben,  Bonaven- 
tura, Petrus  von  Alcantara,  Teresa  usw.  Die  straffste  Gliederung  und 
konsequenteste  Durchführung  im  Detail  zeigen  die  exercitia  spiritucdia 
des  Ignatius  von  Loyola.  Aus  den  knappen  und  schematischen  Medi- 
tationsrezepten der  großen  Heiligen  ist  die  Flut  religiöser  Betrachtungs- 
bücher hervorgegangen,  die  dem  Durchschnittsfrommen  vollständige 
Meditations-  und  Gebetstexte  an  die  Hand  geben.  Die  methodologische 
Gebetseinführung  der  Mystiker  beschränkt  sich  jedoch  nicht  auf  die 
bewußte  und  willkürliche  Meditationsübung,  sondern  gibt  dem  Beter 
auch  Winke,  wie  er  sich  bei  den  passiv  erlebten  und  als  übernatürliche 
Gnadeneingießung  gedeuteten  Gebetszuständen  zu  verhalten  habe,  um 
sie  nicht  aufzulösen  und  um  ihre  Intensität  zu  steigern. 

Die  mystische  Gebetsan  Weisung  entbehrt  des  normativ-gültigen, 
kritisch-ethischen  Akzentes,  der  dem  philosophischen  und  prophetischen 
Gebetsideal  eigen  ist:  der  Mystiker  fällt  wohl  Werturteile  über  die  ver- 
schiedenen Gebetsarten,  aber  er  verurteilt  und  bekämpft  nicht  die 
unter  dem  Niveau  des  mystischen  Ideals  liegenden  Gebetsformen.  Die 
mystische  Gebetspädagogik  wird  nie  zur  Gebetspolemik.  Das  pflicht- 
mäßige, formelhafte  Beten  in  Worten  betrachtet  sie  als  Vorstufe  des 
,inneren'  Gebets,  nicht  als  Widerspruch  gegen  dieses. 


Das  Gebet  21 


Die  Varianten  des  mystischen  Gebets. 

Das  mystische  Beten  stellt  einen  einheitlichen  Gebetstypus  dar;  es 
variiert  jedoch  je  nach  dem  Hervortreten  bestimmter  Elemente,  die 
irgendwie  in  allem  mystischen  Beten  stecken.  Die  verschiedenen 
Varianten  kombinieren  sich  häufig.  So  vereint  z.  B.  die  Mystik  der 
Nachfolge  Christi  in  harmonischer  Weise  das  Kultmotiv  mit  dem  Braut- 
motiv und  dem  quietistischen.  Bisweilen  aber  dominiert  eines  dieser 
Motive,  so  daß  ganz  selbständige  Ausprägungen  des  mystischen  Ge- 
dankens entstehen,  die  sich  scharf  voneinander  abheben.  Die  Mystik 
der  synkretistischen  Mysterienreligionen  ist  reine  Kultmystik,  die 
Mystik  Laotses  und  der  indischen  Atman-Seher  ist  reine  Unendlichkeits- 
mystik, die  Mystik  des  Molinos  und  der  Madame  Guyon  rein  quietistisch, 
die  Mystik  der  Schwester  Mechthild  von  Magdeburg  und  vieler  Nonnen 
reine  Brautmystik. 

a)  Die  kultisch-sakramentale  Mystik. 

Der  Wurzelboden,  aus  dem  alles  mystische  Beten  und  Sichversenken 
seine  Nahrung  und  Kraft  saugt,  ist  die  Meditation.  Diese  nimmt  ihren 
Ausgangspunkt  stets  bei  einem  Konkretum,  meist  bei  einer  anschaulichen 
Phantasievorstellung,  häufig  auch  bei  einem  wahrnehmbaren  äußeren 
Objekt.  So  knüpfen  die  buddhistischen  Bettelmönche  ihre  Betrachtung 
über  die  Vergänglichkeit  alles  Irdischen  bisweilen  an  den  Anblick  eines 
dahineilenden  Stromes  oder  gar  eines  verwesenden  Leichnams.  Wenn 
die  christlichen  Mystiker  über  die  Nichtigkeit  des  Lebens  sinnen,  schauen 
sie  nicht  selten  auf  einen  grinsenden  Totenschädel,  wenn  sie  ihr  Sünden- 
elend beweinen  und  das  große  Erlösungsgeheimnis  erwägen,  versenken 
sie  sich  in  das  Bild  des  gekreuzigten  Heilands. 

Neben  profanen  Objekten  und  Darstellungen  der  religiösen  Kunst 
bilden  in  der  außerchristlichen  und  christlichen  Mystik  spezifische  Kult- 
objekte, ,heilige'  Gegenstände  den  Stützpunkt  des  Meditierens  und 
Betens.  Aber  das  heilige  Objekt  ist  dem  Mystiker  mehr  als  eine  bloße 
Anregung  zu  frommen  Gedanken  und  Gefühlen;  an  seinem  Anblick 
entzündet  sich  vielmehr  das  Erlebnis  der  realen  Gegenwart  Gottes. 
Gott  weilt  in  geheimnisvoller  sinnlich-übersinnlicher  Weise  in  dem  Kult- 
gegenstand. Wohl  ist  der  Gott  der  Mystiker  unsinnlich,  geistig,  unend- 
lich, Himmel  und  Erde  können  ihn  nicht  fassen,  wieviel  weniger  vermag 
ein  kleines,  materielles  Objekt  ihn  zu  umschließen.  Und  dennoch  ist 
für  den  Mystiker  Gottes  Präsenz  im  heiligen  Objekt  eine  ebenso  un- 
zweifelhafte Gewißheit  wie  für  den  primitiven  Menschen.  Freilich  ist 
für  ihn  das  Sinnlich-Dingliche  nicht  identisch  mit  dem  Übersinnlich- 
Geistigen,  das  Sichtbar- Greifbare  ist  nur  Zeichen  und  Unterpfand  des 
Unsichtbar-Göttlichen,  aber  doch  kein  bloßer  Schatten  einer  höheren 


Die  kultisch-sakramentale  Mystik  323 

Realität,  sondern  selbst  Realität.  Symoolismus  und  Realismus,  Sinnlich- 
keit und  Geistigkeit,  Natur  und  Übernatur  vermählen  sich  in  voller 
Harmonie. 

Irgendwelche  Beziehungen  zum  Kult  weist  fast  jede  Mystik  auf.  Selbst 
bei  Plotin,  einem  der  grandiosesten  Unendlichkeitsmystiker,  lassen  sich 
Spuren  der  sakramentalen  Mystik  aufweisen;  die  seltsamen  Riten  der 
Mysterienkulte  sind  ihm  anschauliche  Bilder  und  Symbole  der  sublimen 
mystischen  Erlebnisse  1.  Die  Upanischaden  des  Veda  sind  unmittelbar 
aus  dem  komplizierten  vedischen  Ritualwesen  herausgewachsen.  Nach 
einer  neueren  Deutung  bedeutete  wpanishad  ursprünglich  nichts  anderes 
als  die  kontemplative  Adoration  eines  heiligen  Gegenstandes  2.  Nur  der 
alte  Buddhismus,  der  in  seinem  eigenartigen  Radikalismus  den  mystischen 
Gedanken  bis  in  seine  letzte  Konsequenzen  fortgebildet  hat,  verwirft 
jeden  Zusammenhang  der  mystischen  Versenkung  mit  dem  Kultischen. 

Eine  bedeutsame  Rolle  spielt  das  Kultmotiv  in  der  hinduistischen 
Bhakti-Mystik,  in  der  eine  zarte  mystische  Frömmigkeit  mit  den  volks- 
tümlichen Götterkulten  verschmilzt.  Die  mystische  Anbetung  des 
göttlichen  .Herrn'  (isvara)  und  Heilands,  des  Vischnu  oder  Schiva,  ent- 
zündet sich  beim  Anblick  seines  Gottesbildes,  der  arcä.  Der  Gott  ist  in 
der  Statue,  die  durch  eine  bestimmte  Zeremonie  (avdhanam)  konsekriert 
ist,  wirklich  und  wesentlich  gegenwärtig,  das  Götterbild  ist  ein  avatdra, 
d.  h.  eine  Inkarnation,  Verkörperung  des  über  Raum  und  Zeit  erhabenen 
Gottes  3.  Wenn  der  Fromme  die  vom  matten  Glanz  flimmernder  Lampen 
erleuchtete  und  von  den  Wolkenschleiern  des  aufsteigenden  Weihrauchs 
verhüllte  Statue  seines  Gottes  schaut,  dann  sinkt  er,  von  Staunen  und 
Entzücken  ergriffen,  nieder  und  versenkt  sich  anbetend  in  die  Größe, 
Schönheit  und  Liebe  des  ihm  so  nahen  Gottes.  Die  innigen  und  leiden- 
schaftlichen Gebetslieder  des  großen  Tamilmystikers  Mänikka-Väsagar 
sind  alle  in  den  Schiva-Tempeln  gedichtet  oder  doch  konzipiert  worden, 
sie  sind  geboren  aus  der  Kontemplation  des  heiligen  Gottesbildes;  im 
Tempel,  im  Anblick  der  Statue  werden  sie  noch  jetzt  Tag  für  Tag  von 
den  frommen  Gläubigen  rezitiert. 

Die  Mysterienkulte  des  orientalisch-hellenistischen  Synkretismus  zeigen 
alle  die  mystische  Grundtendenz  —  nicht  umsonst  hat  die  Mystik  ihren 
Namen  von  demselben  Stammwort,  von  dem  die  Mysterien  ihre  Bezeich- 
nung haben  (fivslv).  Uralte  barbarische  Riten,  prunkvolle  Zeremo- 
nien, geheimnisvolle  Weihehandlungen  treten  in  den  Dienst  des  my- 
stischen Heilsstrebens ;  sie  sollen  auf  sinnlich-übersinnliche,  zauberhafte 
Weise  den  Mysten  zum  Heilsziel,  zur  beseligenden  evcjoig  führen. 
Dieterich  sagt  von  der  bekannten  Mithrasliturgie :  .  ,Die  Vereinigung  mit 
dem  Gotte  ist  das  Ziel  der  ganzen  Aktion,  darauf  ist  alles  gerichtet."  4 
Am  unmittelbarsten  und  innigsten  wird  diese  Vereinigung  mit  der  Gott- 
heit durch  das  Essen  von  der  heiligen  Speise  und  das  Trinken  vom 
göttlichen  Tranke  hergestellt.  Ein  anderer  Weg  zur  ekstatischen  Emigung, 
wie  wir  ihn  vor  allem  im  ägyptisch-hellenistischen  Mysterienkult  treffen , 
ist  die  kontemplative  Adoration  der  Götterbilder.  Nach  dem  Zeugnisse 
des  Porphyr  brachten  die  ägyptischen  Priester  ihr  ganzes  Leben  in  der 
Betrachtung   und    Kontemplation    der    Götter    {zfj    tdv   d-scov    öecogia 


324  F  III.   Das  Gebet  in  der   Mystik 


■aal  Öedoei)  zu  5.  „Ägypten  ist  das  Land,  aus  dem  die  kontemplative 
Frömmigkeit  nach  Europa  gelangt  ist."  6  Im  römischen  Isiskult  waren 
die  Bilder  der  Götter  vom  frühen  Morgen  bis  zum  späten  Nachmittag 
der  stillen  Adoration  durch  die  Eingeweihten  .ausgesetzt'  (um  in  der 
Sprache  der  katholischen  Liturgie  zu  reden)  6.  Apulejus  erzählt  von 
der  unsagbaren  Wonne  (inexplicabiliis  voluptas),  die  ihn  beim  Anblick 
des  Götterbildes  überkam  7.  Ein  im  Papyrus  Mimaut  erhaltenes  mysti- 
sches Gebet  enthält  die  Dankes-  und  Bittworte  eines  Mysten,  dem  der 
beglückende  Anblick  des  Gottesbildes  zuteil  geworden. 

,,Wir  freuen  uns,  daß  du  dich  uns  gezeigt  hast,  wir  freuen  uns,  daß  du  uns, 
da  wir  noch  im  Leibe  sind,  vergottet  hast  durch  deinen  Anblick 
(äne&ecjaag  zft  aeavtov  3-ea).  Der  Mensch  dankt  dir  dafür,  daß  er  deine  Größe 
erkannt  hat.  Wir  haben  dich  erkannt,  du  Leben  des  menschlichen  Lebens,  dich 
erkannt,  du  Licht  aller  Erkenntnis,  dich  erkannt,  o  Mutter,  schwanger  vom 
Hamen  des  Vaters,  du  ewige  Stätte  des  Lebenskeimes.  Indem  wir  dich  so  an- 
beten, richten  wir  an  dich  keine  andere  Bitte,  als  daß  du  uns  gnädig  bewahrest 
in  deiner  Erkenntnis"  8. 

Die  Kultmystik  der  hinduistischen  Sekten  und  der  synkretistischen 
Mysterien  liegt  bei  aller  Innigkeit  und  allen  ästhetischen  Reizen  ganz  in 
den  Fesseln  primitiver  Idololatrie.  Die  christliche  Mystik  hingegen  hat 
sich  mit  dem  Kult  vermählt,  ohne  daß  ihre  Geistigkeit  und  Reinheit 
durch  niedere  Vorstellungen  getrübt  wurde.  Nicht  ein  Fetisch  oder 
Götterbild,  sondern  das  eucharistische  Mysterium,  der  in  der  sinnlichen 
Hülle  des  Brotes  sich  bergende  Leib  des  Herrn  ist  für  die  christlichen 
Mystiker  die  äußere  Stütze  des  Erlebnisses  von  Gottes  unmittelbarer 
Präsenz.  Die  Eucharistie  hatte  seit  urchristlichen  Zeiten  mystischen 
Charakter  und  mystische  Bedeutung  genau  so  wie  die  Riten  und  Sakra- 
mente der  synkretistischen  Heilsgenossenschaften.  Durch  den  Genuß 
der  heiligen  Elemente  trat  die  christliche  Gemeinde  in  die  innigste 
Gemeinschaft  (xoivayvia)  mit  dem  erhöhten  Herrn  (1  Kor.  10,  16) 
und  nahm  göttliches  Leben,  himmlische  Kräfte  in  sich  auf.  Mit  dem 
fortschreitenden  Eindringen  spätantiker  mystischer  Motive  in  die  christ- 
liche Kirche  verbanden  sich  die  Grundgedanken  der  mystischen  evcnoig 
und  äno&£ü)oig  immer  enger  mit  der  altchristlichen  Eucharistie- 
auffassung 9.  Von  einer  eucharistischen  Mystik  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes  können  wir  aber  erst  in  der  Blütezeit  der  christlichen  Mystik, 
in  der  mittelalterlichen  Mystik  der  Ost-  und  Westkirche  reden.  Thomas 
von  Aquin,  der  Verfasser  der  Imitatio  und  Symeon  der  Neue  Theologe 
sind  die  klassischen  Vertreter  der  christlichen  Sakramentsmystik.  Die 
mittelalterliche  Mystik  hat  die  altchristliehe  Auffassung  von  dem  Sakra- 
ment der  Sakramente  in  erstaunlicher  Weise  individualisiert  und  eben 
dadurch  vertieft  und  verinnerlicht.  Im  alten  Christentuum  ist  die 
Eucharistie  ein  Gemeinschaftsmahl  —  das  ,Herrenmahl'  nennt  sie  der 
Apostel  (1  Kor.  11,  20)  —  eine  Tischgemeinschaft  der  versammelten 
christlichen  Gläubigen  mit  dem  erhöhten  Herrn;  für  die  Mystik  ist 
der  Empfang  der  Eucharistie  die  Vereinigung  der  Einzelseele  mit  ihrem 
himmlischen  Herrn  und  Heiland.  Für  die  alte  Kirche  bedeutete  der 
Genuß  vom  Segensbrot  und  Segenskelch  eine  Gemeinschaft 
{xoiva>via,    communio)    mit   Christus,    für  die  Mystiker   ist    der   Emp- 


Der  Eucharistiekult  325 


fang  der  Eucharistie  eine  geheimnisvolle  Vereinigung  (evoioig, 
unio)  mit  ihrem  himmlischen  Heiland  und  Geliebten  10.  Unzähligemale 
ist  ihnen  an  der  Kommunionbank  die  Ekstase  oder  ein  der  Ekstase 
nahekommendes  Erlebnis  zuteil  geworden.  Mechthild  von  Magdeburg 
sagt :  „Wenn  wir  Gottes  Leichnam  empfahen,  se  vereinet  sich  die  Gottheit 
mit  unserer  unschuldigen  Seele  und  mischet  sich  Gottes  Menschheit 
mit  unserem  Leibe."  n  In  dieser  Erfahrung  wurzelt  die  Hochschätzung 
des  häufigen  Sakramentsempfanges  durch  die  mystische  Frömmigkeit.  12 

Die  Entfaltung  des  latreutischen  Eucharistiekultes,  die  in  der  abend- 
ländischen Christenheit  im  13.  Jahrhundert  einsetzte,  bedingte  eine 
Erweiterung  der  sakramentalen  Mystik  über  den  Rahmen  der  altchrist- 
lichen Eucharistie liturgie  hinaus.  Nicht  nur  in  der  Messe  und  Kom- 
munion, sondern  auch  außerhalb  derselben  konzentrierte  sich  die  my- 
stische Gebetsfrömmigkeit  immer  mehr  auf  den  eucharistischen  Heiland. 
Auf  dem  lichterumstrahlten  Altar  oder  in  der  Hand  des  Priesters  durfte 
die  Schar  anbetender  Gläubigen  den  in  Brotsgestalt  gegenwärtigen 
Heiland  schauen,  unverhüllt,  in  der  kunstvollen  ,Monstranz'  geborgen. 
Bei  minder  feierlichen  Anlässen  durfte  sie  ihn  verhüllt  kontemplieren , 
verborgen  im  heiligen  Speisekelch  (Pyxis  oder  Ciborium).  Aber  auch 
außerhalb  des  allgemeinen  Gottesdienstes  eilten  die  Frommen  an  die 
Stätte,  wo  der  sakramentale  Heiland  weilte,  zum  Sakramentshäuschen 
oder  zum  Tabernakel.  Für  die  ältere  christliche  Mystik  war  die  abge- 
schlossene Klosterzelle  der  vornehmliche  Ort  des  stillen  Betens  und 
Betrachtens,  in  der  neueren  katholischen  Mystik  des  Abendlandes  wird 
die  Kirche  oder  Kapelle  mit  dem  Tabernakel  die  vorzüglichste  Stätte  des 
mystischen  Gebets.  Magdalena  von  Pazzi  sagt:  „Übe  das  Gebet  lieber 
vor  dem  heiligen  Sakrament  als  an  jedem  anderen  Orte ;  denn  wie  Gott 
im  Himmel  weilt,  so  ist  hier  auf  Erden  der  Tabernakel  seine  Woh- 
nung." 13  Man  kann  geradezu  von  einer  ,Tabernakelmystik'  sprechen. 
Mit  dem  wuchtigen  Glaubensgedanken,  daß  Gott  im  Altarsakramente 
„wahrhaft,  wirklich  und  wesentlich"  gegenwärtig  ist,  verschmelzen  noch 
starke  ästhetische  Reize:  die  lautlose  Stille,  das  durch  die  buntbemalten 
Glasfenster  abgedämpfte  Sonnenlicht  oder  das  nächtliche  Dunkel,  das 
ruhelos  flimmernde  und  zitternde  ,ewige  Licht'  vor  dem  Tabernakel, 
der  das  Gotteshaus  durchströmende  süßliche  Duft.  All  diese  ästhetischen 
Erlebnisse  vereinigen  sich  in  einer  eigenartigen,  weichen,  wonnigen 
Stimmung,  die  dem  Glauben  an  Gottes  sinnenfällige  Präsenz  gefühls- 
mäßige Tiefe  und  Wärme  verleiht.  Die  Tabernakelmystik  gehört  zu  den 
wundervollsten  Phänomenen,  welche  die  Religionsgeschichte  kennt;  sie 
ist  eine  der  verborgenen,  unversiegbaren  Quelladern  der  katholischen 
Frömmigkeit. 

Die  alte  und  frühmittelalterliche  Kirche  kennt  keine  private  Adoration  der 
Eucharistie  außerhalb  des  liturgischen  Gottesdienstes  oder  des  Kommunion- 
empfanges. Die  konsekrierten  Elemente  wurden  nur  zum  Zwecke  des  Viatikums 
(der  Kommunion  der  Sterbenden)  aufbewahrt,  und  zwar  von  den  Priestern  in 
ihren  Häusern,  später'  in  den  Kirchen  bzw.  ihren  Nebenräumen  (Diaconarium, 
Se;retarium,  Sakristei).  In  den  ersten  Jahrhunderte]]  kam  es  auch  häufig  vor, 
daß  Laien  die  Eucharistie  nach  Hause  nahmen  und  in  S  hiänk  hcn  verwahrten 
um  sie  dann  zu  empfangen,  wenn  ihnen  die  Teilnahme  an  der  gottesdienstlichen 


326  F  III.    Das  Gebet  in  der  Mystik 


Versammlung  nicht  möglich  war.  Im  Mittelalter  wurde  der  Leib  des  Herrn  zumeist 
in  der  Kirche  selbst  aufbewahrt,  und  zwar  auf  die  verschiedenste  Weise:  auf 
dem  Altar  in  einer  Büchse  (pyxis,  capsa)  oder  einer  Art  Reliquienkästchen 
(.Truchlin'),  über  dem  Altar  in  einer  Taube  (columba)  oder  einem  turmartigen 
Behälter  (turris,  turricula),  der  von  dem  den  Altar  überschattenden  Baldachin 
oder  dem  Altarkreuz  herabhing,  neben  oder  hinter  dem  Altar  in  einer  Wand- 
nische oder  einem  Wandschrank  (arca.  armarium).  Aus  dem  Wandschrank  wuchs 
bei  Beginn  des  14.  Jahrhunderts,  im  Zeitalter  der  Gotik,  das  kunstvolle  Sakra- 
ments- oder  Herrgottshäuschen  heraus,  teils  freistehend,  teils  mit  der  Wand 
verbunden.  Im  16.  Jahrhundert  wurde  (zuerst  von  dem  Veroneser  Bischof  Giberti) 
das  Sakramentshäuschen  auf  den  Altar  (meist  Hochaltar)  übertragen;  so  entstand 
der  heutige  Tabernakel.  14  Im  13.  Jahrhundert  wurde  die  aufbewahrte  Eucharistie 
in  den  Kreis  der  mystischen  Gebetsfrömmigkeit  einbezogen ;  die  den  Fronleichnam 
des  Herrn  bergende  Pyxis  oder  Turricula  wurde  zum  Objekt  der  mystischen 
Adoration  und  Kontemplation.  Bei  Bernhard  von  Clairvaux  suchen  wir  noch 
vergebens  nach  einer  inneren  Beziehung  des  mystischen  Lebens  auf  das  euchari- 
stische  Mysterium.  Es  waren  mystisch  begabte  Nonnen,  welche  die  latreutische 
Sakramentsmystik  ins  Leben  riefen.  Nicht  genug,  daß  sie  häufig  die  Eucharistie 
empfingen  und  auf  den  Empfang  sich  mit  allem  Eifer  vorbereiteten,  sie  pflegten 
auch  mit  Vorliebe  vor  dem  Sakrament  zu  beten.  Die  Rekluse  Wilbrigis  von 
Neuburg  nahm  während  der  Adventszeit  die  Eucharistie  in  ihre  Zelle,  um  stet» 
in  der  unmittelbaren  Gegenwart  des  Herrn  zu  weilen  1S.  Marie  von  Oignies  war 
gewohnt,  in  der  Kirche  vor  der  Pyxis  16  zu  beten.  Juliana  von  Lüttich,  die  den 
Anstoß  zur  Einführung  des  Fronleichnamsfestes  gab,  baute  ein  Schwestern- 
oratorium,  in  dem  das  Sanctissimum  aufbewahrt  wurde.  Wenn  sie  eine  Kirche 
betrat,  fühlte  sie  instinktiv,  ob  in  ihr  der  Leib  des  Herrn  aufbewahrt  war  oder 
nicht.  17  Eine  besondere  Pflege  fand  die  mystische  Adoration  des  Sanctissimums 
in  den  Dominikanerinnenklöstern,  wo  der  Fronleichnam  des  Herrn  im  Nonnen- 
chor aufbewahrt  wurde.  18  Die  Schwestern  des  Klosters  Englthal  hielten  nachts 
vor  und  nach  der  Mette  eine  Art  Ehrenwache  vor  dem  , Fronaltar'.  19  In  der 
Not  eilten  die  Nonnen  von  Adelshausen  zum  .Fronaltar',  um  dem  eucharistischen 
Heiland  ihr  Herz  auszuschütten.  20  Margaretha  Ebner,  Nonne  des  Klosters 
Medingen  bei  Dillingen,  erzählt  in  ihrer  Autobiographie,  daß  sie  oft  und  lange 
,,im  Chor"  ,.vor  dem  Altar"  oder  ,,vor  dem  Sarg",  d.  i.  dem  Behältnis  des  Leibes 
Christi  betete.  Auch  ,, küßte  sie  mit  großem  Glauben  und  Begierde  den  Sarg" 
und  begehrte,  daß  er  ihr  „Kraft  aus  ihm  gebe";  und  sie  „empfing  wirkliche  Kraft 
daraus".  Das  Bewußtsein  der  Gegenwart  des  Herrn  im  Sakrament  brachte  ihr 
eine  wunderbare  seelische  Erleichterung.  ,,Mir  lag  kein  Ding  auf,  wenn  ich  kam 
zu  dem  Sarg,  es  wurd'  mir  geringer  oder  gar  benommen".  21  (Was  unter  dem 
„Sarg"  im  Chor  des  näheren  zu  verstehen  ist,  die  auf  dem  Altar  stehende  Pyxis 
oder  Truhe  oder  die  hängende  Turricula,  der  Wandschrank  oder  schon  ein  Sakra- 
mentshäuschen, ist  nicht  ersichtlich.  Derselbe  Ausdruck  begegnet  uns  als  Be- 
zeichnung des  Aufbewahrungsortes  der  Eucharistie  in  der  „Nonne  von  Engeltal 
Büchlein  von  der  Gnaden  Überlast".  22)  Mit  welcher  Jnnigkeit  die  Nonnen  am 
mystischen  Sakramentskult  hingen,  lehrt  eine  Geschichte,  welche  Elsbeth  Stagel 
in  ihrer  Vitensammlung  des  Nonnenklosters  zu  Töß  berichtet.  Als  Margaretha 
Will  vernahm,  daß  man  den  Herrn  im  Sakrament  aus  dem  Nonnenkloster  in  die 
Kirche  übertragen  wollte,  damit  er  immer  da  bliebe,  war  ihr  Jammer  so  groß, 
„daß  sie  tat,  als  ob  ihr  das  Herz  im  Leibe  wollte  brechen,  und  daß  die  Schwestern 
vor  ihrer  großen  Klage  herzlich  weinend  wurden".  23 

Die  von  den  mystischen  Nonnen  des  Mittelalters  ins  Leben  gerufene  eucha- 
ristische  Gebetsfrömmigkeit,  die  nach  und  nach  zum  Gemeingut  aller  frommen 
Katholiken  geworden  ist,  offenbart  einen  bedeutsamen  Fortschritt  der  Eucharistie- 
auffassung. In  der  alten  Kirche  ist  der  Leib  des  Herrn  die  heilige  Mysterienspeise, 
durch  welche  die  „Eingeweihten"  auf  sinnlich-übersinnlicher  Weise  göttliches 
Leben  und  göttliche  Kraft  in  sich  aufnehmen,  ja  selbst  vergottet  werden;  er  ist 
das  <ja.Qnay.ov  äd-avaalag  (Ign.  ad  Eph.  20  2)  die  Tooipr}  eig  Carjv  alüviov  (Chry- 
sostomus),  24  das  Unterpfand  der  Auferstehung.  Im  eucharistischen  Kult 
des  alten  Christentums  weht  jene  tiefe  Jenseitsstimmung,  die  in  allen  helle- 
nistisch-synkretistischen  Mysterienliturgien   uns  entgegentritt.      Die  mittelalter- 


Das  Eucharistiegebet.  327 


liehe  Mystik  ist  viel  mehr  Gegenwartsfrömmigkeit.  Sie  suchte  das  be- 
glückende Erlebnis  der  unmittelbaren  Gegenwart  Gottes,  die  beseligende 
Einigung  mit  dem  Herrn  schon  auf  dieser  Erde.  Und  sie  fand  das  Ziel  ihrer  reli- 
giösen Sehnsucht  in  der  Eucharistie.  Der  Kommunionempfang  bedeutete  für 
sie  die  unio  mystica  mit  dem  Herrn,  der  das  Allerheiligste  bergende  Tabernakel 
wurde  für  sie  das  äußere  Zeichen  der  gnadenvollen  Gegenwart  Christi.  Christus 
selbst  sprach  zu  Margaretha  Ebner:  ,,Geh  an  den  Sarg  in  dem  Chor,  da  findest 
du  meinen  heiligen  Fronleichnam  also  wahrlich  wie  in  dem  Himmel  und  sonst 
an  keiner  Stätte".  2S  Seuse  empfing  von  Christus  die  Belehrung:  „Du  hast  mich 
im  Sakrament  vor  dir  und  bei  dir  ebenso  wahrlich  und  eigentlich  als  Gott  und 
Mensch,  nach  Seel  und  Leib,  mit  Fleisch  und  Blut,  als  wahrlich  mich  meine  reine 
Mutter  trug  auf  ihrem  Arm  und  als  wahrlich  ich  bin  im  Himmel  in  vollkommener 
Klarheit".  26  Tauler  mahnt  in  einer  Predigt:  „Betrage  dich  in  der  Kirche  und 
im  Chore  mit  großer  Ehrerbietigkeit,  denn  des  Herrn  Leichnam  ist  da  in  der 
Wahrheit  gegenwärtig.  Stehe  mit  niedergeschlagenen  Augen  und  mit  zugekehrtem 
Gemüte  vor  des  ewigen  Königs  Gegenwart  und  Angesicht".  27  Der  bekannte 
dogmatische  Kanon  des  Konzils  von  Trient,  nach  dem  Christus  im  Sakrament 
des  Altars  „wahrhaft,  wirklich  und  wesentlich  gegenwärtig"  ist,  trägt  unver- 
kennbar die  Spur  dieser  mittelalterlichen  Sakramentsmystik  an  sich.  Gewiß 
liegt  der  mittelalterlichen  Mystik  der  reine  Symbolismus  ebenso  ferne  wie  der 
alten  Kirche;  ihre  Eucharistieauffassung  ist  ebenso  entschieden  realistisch  wie 
die  altkirchliche  (nur  die  großen  Theologen  Origenes,  Clemens  und  Augustinus 
dachten  symbolistisch-spiritualistisch  unter  dem  Einfluß  philosophischer  Motive.) 
Der  Unterschied  liegt  darin,  daß  für  die  alte  Kirche  die  Eucharistie  etwas  Un- 
persönliches ist,  ein  heiliges  Objekt,  voll  von  Wunder-  und  Lebenskräften,  ,d  a  s 
Allerheiligste' ;  für  die  mittelalterlichen  Mystiker  hingegen  ist  das  Altarsakrament 
etwas  durchaus  Persönliches;  im  Sakrament  schauen  sie  ihren  Heilandgott  in 
sinüenfälliger  Gestalt,  in  ihm  werden  sie  seiner  Güte  und  Liebe  zu  den  Menschen- 
kindern inne.  Das  zentrale  mystische  Erlebnis  der  Präsenz  Gottes  im  Seelen- 
grund hat  in  dem  Glauben  an  Gottes  Gegenwart  im  Sakrament  eine  sinnliche 
Stütze  gefunden.  Daß  aber  in  frommen  Seelen  bisweilen  eine  innere  Spannung 
zwischen  dem  rein  geistigen  und  dem  sinnlich-sakramentalen  Erlebnis  der  un- 
mittelbaren Gegenwart  Gottes  entstand,  lehrt  das  Gebetswort  einer  Nonne. 
Mechthild  Tuschelin  betete  einmal  vor  dem  Tabernakel:  „Herr,  mich  hast  du 
dazu  erschaffen,  daß  du  i  n  m  i  r  wohnen  solltest,  eher  denn  in  dieser  Büchse". 
Da  empfing  sie  von  Christus  die  Antwort:  „Wenn  du  so  inhaltlos  und  leer  wirst 
wie  diese  Büchse  ledig  ist  aller  Dinge  außer  Gott,  so  will  ich  in  dir  wohnen  wie 
in  dieser  Büchse."  28 

Das  mystische  Gebet  wird  in  seinem  Inhalt  und  Wesen  durch  das 
sakramentale  Motiv  nicht  verändert.  Es  wird  nur  auf  die  Gegenwart 
des  Herrn  in  der  Eucharistie  und  auf  die  mystische  Vereinigung  bei 
ihrem  Empfang  ausdrücklich  Bezug  genommen.  Eben  dadurch  bekom- 
men gerade  die  mystischen  Komminiongebete  eine  eigentümliche 
Färbung.  Das  reifste  und  innigste  aller  Eucharistiegebete  ist  der  Hymnus 
Adoro  te  devote  des  Thomas  von  Aquino,  eines  der  schönsten  mystischen 
Gebetslieder,  die  je  gedichtet  worden  sind.  Als  Kommuniongebet  ist  das 
mystische  Gebet  in  weite  Kreise  getragen  worden;  es  waren  in  erster 
Linie  die  aus  der  mittelalterlichen  Mystik  entsprungenen  Kommunion- 
gebete, die  der  katholischen  Durchschnittsfrömmigkeit  eine  kräftige 
mystische  Prägung  verliehen  haben.  Auch  die  Eucharistiegebete  lassen 
in  ihrem  Inhalt  den  eigenartigen  Fortschritt  des  mystischen  Betens 
erkennen  (vgl.  o.  S.  291  ff.).  In  den  Gebeten  vor  der  Kommunion  über- 
wiegen Bitte  und  Sehnsucht,  in  den  Gebeten  nach  der  Kommunion  Be- 
trachtung, Lobpreis  und  Dank.  Eine  strenge  inhaltliche  Scheidung  ist 
jedoch  undurchführbar. 


328  F  III.   Das  Gebet  in  der  Mystik 


I.  Konzentration. 
].  Via  purgaliva. 
Reinigung  von  Leidenschaft  und  Sünde:  „Lieber  Herre  Jesu  Christe, 
erhitze  und  erglühe  mein  sehniges  Herze  nach  dir  mit  deinem  minneheißen  Blute, 
das  von  deinem  brennenden  Herze  floß  an  dem  hehren  Kreuze  .  .  .  Herzenslieber 
Herre,  nun  begieß  mit  deinem  minneheißen  Blute  die  Dürre  meines  Herzens, 
daß  es  tugendfruchtbar  werde  und  erquicke  und  erwärme  meine  erloschene  Be- 
gierde und  heile  und  sänftige  meine  wunde  Seele  und  meine  tödlichen  Schmerzen, 
daß  sie  von  der  Sänfte  dieser  Salben  schmecke  und  erfinde  die  Süße  und  Sänfte 
deines  Herzens,  und  speise  und  tränke  mein  dürres  Berze  mit  dir,  lebendige 
Speise,  daß  ich  in  allem  Ungemache  und  Widermute  dieser  Welt  unverzagt  und 
kräftig  und  mächtig  nach  dir  laufe,  wo  du  gehst,  bis  ich  dahin  komme,  da  du 
ruhest  zu  deines  Vaters  Rechten,  da  du  unser  wartest"  (David  von  Augsburg)  29. 
.,Rogo  immensae  largitatis  tuae  abundantiam,  quatenus  meam  curare  digneris 
infirmitatem,  lavare  foeditatem,  illuminare  caecitatem,  ditare  paupertatem, 
vestire  nuditatem :  ut  panem  angelorum,  regem  regum  et  dominum  dominantium 
tanta  suscipiam  reverentia  et  humilitate,  tanta  contritione  et  devotione,  tali 
proposito  et  intentione,  sicut  expedit  saluti  animae  meae."  ,,Haec  sancta  com- 
rnunio  sit  vitiorum  meorum  evacuatio,  concupiscentiae  et  libidinis  exterminatio, 
caritatis  et  patientiae,  humilitatis  et  obedientiae  omniumque  virtutum  aug- 
mentatio, .  .  .  motuum  meorum  tarn  carnalium  quam  spiritualium  perfecta 
quietatio,  in  te  uno  ac  vero  Deo  firma  adhaesio"  (Thomas  von  Aquino  )  30. 

Pie  pellicane  Jesu  Domine 

Me  immundum  m  u  n  d  a  tuo  sanguine, 

Cuius  una  stilla  salvum  facere 

Totum  mundum  quit  ab  omni  scelere  (Ds. ).  31 
.,Eija,  unergründliches  Gut,  das  da  Himmelreich  und  Erdreich  erfüllt,  neige 
dich  heute  zu  mir  und  verschmähe  nicht  deine  arme  Kreatur.  Herr,  bin  ich  deiner 
auch  nicht  würdig,  so  bin  ich  deiner  doch  bedürftig.  Herr,  mit  einem  einzigen 
Worte  kannst  du  meine  sieche  Seele  gesund  machen.  Nun  komm 
heute  so  kräftig  in  meine  Seele,  daß  du  alle  meine  Feinde  vertreibst,  meine  Ge- 
brechen schmelzest  und  alle  meine  Sünde  vergibst"  (Seuse).  32 

2.    Via  illuminaliva. 
a)  Erleuchtung:  „Illumina  oculos  meos  ad  intuendum  tantum  mysterium 
et  ad  credendum  illud  indubitata  fide  me  robora."    „Illumina  caecitatem  meam 
'laritate  praesentiae  tuae"  (Imitatio)  33. 

b)  Glaube,  Hoffnung  und  Liebe:  „Erleuchte  mein  Verständnis  mit 
dem  Lichte  des  wahren  Glaubens  an  dich,  entzünde  meinen  Willen  mit  deiner 
süßen  Liebe,  kläre  mein  Gedächtnis  mit  deiner  fröhlichen  Gegenwart,  gib  allen 
meinen  Kräften  Tugend  und  Vollkommenheit"  (Seuse).  3*  „Concede  pauperi 
mendico  tuo  vel  interdum  modicum  de  cordiali  affectu  amoris  tui  in  sacra  com- 
munione  sentire,  ut  fides  mea  magis  convalescat,  spes  in  bonitate  tua  proficiat 
vi  caritas  semel  perfecta  accensa  et  coeleste  manna  experta  nun  quam  deficiat". 
(Imitatio)  36 

c)  Liebesglut  und  Sehnsucht:  „Herr,  ich  wollte,  daß  alle  meine 
Glieder  und  alles,  was  ich  bin  und  kann,  in  eine  unergründliche  Liebe  -verwandelt 
würde  um  dieses  liebreichen  Liebeszeichens  willen"  (Seuse).  38  „Vis  ergo,  ut  te 
suscipiam  et  me  ipsum  tibi  in  caritate  uniam.  Unde  tuam  precor  clementiam 
ei  specialem  ad  hoc  imploro  mihi  donari  gratiam,  ut  totus  in  te  liquefiam  et  amore 
pereffluam  atque  de  nulla  aliena  consolatione  amplius  me  intromittam. "  „Accende 
frigiditatem  meam  igne  amoris  tui."  „O  Deus  meus,  amor  aeternus,  totum  bonum 
meum,  felicitas  interminabilis,  cupio  te  suscipere  cum  vehementissimo  desiderio 
et  dignissima  reverentia,  quam  aliquis  sanctorum  unquam  habuit  et  sentire 
potuit"  (Imitatio).  3'  „Da,  ut  anima  mea  te  esuriat,  panem  angelorum,  refectionem 
animarum  sanctarimi,  panem  nostrum  quotidianum,  supersubstantialem,  habentem 
omnem  dulcedinem  et  saporem  et  omne  delectamentum  suavitatis;  te,  in  quem 
desiderant  angeli  prospicere,  semper  esuriat  et  comedat  cor  meum;  te  semper 
sitiat  fontem  vitae,  fontemsapientiae  et  scientiae,  fontem  aeterni  luminis,  torrentem 


Das  Eucharistiegebet.  329 


voluptatis,  ubertatem  dornus  Dei"  (Bonaventura)  38.  ,,Gib  uns,  mein  Herr, 
eine  innere  süße  Lust  aus  einem  reinen  Herzen  nach  dieser  lebendigen  Speise 
deines  heiligen  Leibes  und  einen  minnenden  Durst,  in  dem  wir  dich  dürfen  emp- 
fangen" (Margaretha  Ebner).  39 

3.   Via  unitiva. 

a)  Die  volle  Einigung  im  Kommunionemp  fang:  ,,Utinam  me 
totaliter  ex  tua  praesentia  accendas,  comburas  et  in  te  transmutes,  ut  unus  tecum 
efficiar  spiritus  per  gratiam  internae  unionis  et  liquefactionem  ardentis  amoris." 
..Anima  mea  corpus  tuum  concupiscit,  cor  meum  tecum  uniri  desiderat.  Trade 
te  mihi  et  sufficit;  nam  praeter  te  nulla  consolatio  valet.  Sine  te  esse  nequeo  et 
sine  visitatione  tua  vivere  non  valeo.'  „Hoc  oro,  hoc  desidero,  ut  tibi  totus  uniar. 
Ah,  Domine  Deus,  quando  ero  tecum  totus  unitus  et  absorptus  meique  totaliter 
oblitus  ?  Tu  in  me  et  ego  in  te;  et  sie  nos  pariter  in  unum  manere  concede" 
(Imitatio).  40 

b)  Die  ewige  Einigung  und  Gottanschauung  im  Jenseits: 
..Precor  te,  ut  ad  illud  ineffabile  convivium  me  peccatorem  perducere  digneris, 
ubi  tu  sanetis  tuis  es  lux  vera,  satietas  plena,  gaudium  sempiternum,  iueunditas 
(•onsummata  et  felicitas  perfecta"  (Thomas  von  Aquin).  41  „Des  hilf  mir,  daß 
ich  zu  dir  komme,  da  du  mich  minniglich  und  reichlich  empfangest  und  setzest  in 
die  ewige  Freude  und  da  du  mich  führest  in  die  innerste  Heimlichkeit,  die  du  mit 
deinem  ewigen  Vater  hast  in  dem  ewigen  Geiste,  mit  dem  du  lebest  und  regierest 
allen  deinen  Erwählten  zu  Ehren  und  zu  Freuden  ohne  Ende"  (David  von  Augs- 
burg). *2 

„Jesu,  quem  velatum  nunc  aspicio, 
Oro.  fiat  illud,  quod  tarn  sitio, 
Ut  te  revelata  cernens  facie, 
Visu  sim  beatus  tuae  gloriae". 

(Thomas  von  Aquin,  Hymnus  Adoro. ) 

II.  Kontemplation. 

a)  Des  unendlichen  Gottes  Gegenwart:  „Wo  das  Brot  vorgesetzt  und  der 
Wein  geleert  wird,  das  Brot  als  Fleisch,  der  Wein  als  Blut,  da  bist  du  selbst, 
mein  Gott  und  Logos;  und  diese  Elemente  werden  fürwahr  zu  Fleisch  und  Blut 
durch  des  Geistes  Herabkunft  und  des  Höchsten  Überschattung;  und  wir  dürfen 
es  wagen  den  unzugänglichen  Gott  zu  berühren,  der  im  unzugänglichen  Lichte 
wohnt,  unzugänglich  nicht  nur  dieser  vergänglichen  und  sterblichen  Natur,  sondern 
selbst  allen  geistigen  Engelscharen"  (Symeon).  43  „Ecce  tu  praesens  es  hie  apud 
me  in  altari,  Deus  meus,  sanetus  sanetorum,  creator  hominum  et  dominus  ange- 
lorum."  „Habeo  enim  te  in  sacramento  vere  praesentem,  quamvis  aliena  specie 
oecultatum"  (Imitatio).  ** 

„Adoro  te  devote,  latens  deitas, 
Quae  sub  his  figuris  vere  latitas, 
Tibi  se  cor  meum  totum  subicit, 
Quia  te  contemplans  totum  deficit. 

Visus,  gustus,  tactus  in  te  fallitur, 
Sed  auditu  solo  tuto  creditur, 
Credo,  quidquid  dixit  Dei  filius, 
Nil  hoc  verbo  veritatis  verius. 

In  cruce  latebat  sola  deitas, 
At    hie  latet  simul  et  humanitas, 
Ambo  tarnen  credens  atque  confitens, 
Peto,  quod  petivitatro  poenitens. 

Piagas  sicut  Thomas  non  intueor 

Tarnen  Deum  meum  te  confiteor  .  .  .  ."  (Thomas  v.  Aquin) 

b)  Summum    bonum:   „Tu   Bolus   eibua   et    potus  meus,  amoi   meus    et 


330  Pill.   Das   Gebot  in  der  Mystik 


gaudium  meum,  dulcedo  mea  et  totum  bonum  meum."  ..Ecce  in  te  est  totum, 
quod  desiderare  possum  et  debeo;  tu  salus  mea  et  redemptio,  spes  et  fortitudo, 
decus  et  gloria"  (Imitatio).  *5  ..Tu  sis  solus  semper  spes  mea,  tota  fiducia  mea, 
iucunditas  mea,  gaudium  meum,  quies  et  tranquillitas  mea,  pax  mea,  suavitas 
mea,  ardor  meus,  dulcedo  mea,  cibus  meus,  refectio  mea.  refugium  meum,  auxilium 
meum,  sapientia  mea.  portio  mea,  possessio  mea,  thesaurus  meus"  (Bonaventura).  46 
c)Lobpreis  und  Dank:  ..O  invisibilis  conditor  mundi  Deus,  quam  mira- 
biliter  agis  nobiscum,  quam  suaviter  et  gratiose  cum  electis  tuis  disponis,  quibus 
temet  ipsum  in  sacramento  sumendum  proponis."  ..O  dulcissime  et  benignissime 
Jesu,  quanta  tibi  reverentia  et  gratiarum  actio  cum  perpetua  laude  pro  susceptione 
sacri  corporis  tui  debetur,  cuius  dignitatem  nullus  hominum  explicare  potens 
invenitur.     Laudo  te,  Deus  meus,  et  exalto  in  aeternum"  (Imitatio).  47 

d)  Hingabe:  ,.Suscipe  me  in  laudem  et  gloriam  nominis  tui,  qui  corpus 
tuum  et  sanguinem  in  cibum  et  potum  mihi  parasti"  (Imitatio).  48 

e)  Der  Kontrast  zwischen  Gottes  Größe  und  der  eigenenNichtig- 
keit.  ,,Omnipotens  sempiterne  Deus,  ecce  accedo  ad  sacramentum  unigeniti 
filii  tui  Domini  nostri  Jesu  Christi:  accedo  tamquam  infirmus  ad  medicum  vitae. 
immundus  ad  fontem  misericordiae,  caecus  ad  lumen  claritatis  aeternae,  pauper 
et  egenus  ad  dominum  coeli  et  terrae"  (Thomas  von  Aquino).  49  , .Accedo  aeger 
ad  salvatorem,  esuriens  et  sitiens  ad  fontem  vitae,  egenus  ad  regem  coeli,  servus 
ad  dominum,  creatura  ad  creatorem,  desolatus  ad  meum  pium  consolatorem. 
Sed  unde  hoc  mihi,  ut  venias  ad  me  ?  Quis  e  g  o  sum,  ut  praestes  mihi  te  ipsum  ? 
Quomodo  audet  peccator  coram  te  apparere  ?  Et  tu  quomodo  dignaris  ad  pec- 
catorem  venire?  Ecce  tu  sanctus  sanctorum,  et  ego  sordes  peccatorum.  Ecce, 
tu  inclinas  te  ad  me,  qui  non  sum  dignus  ad  te  respicere"  (Imitatio).  50  „Wie 
unermeßlich  ist  deine  Barmherzigkeit,  Erlöser  ?  Wie,  du  hast  mich  gewürdigt, 
dein  Glied  zu  werden?  Den  Unreinen,  den  Ausschweifenden,  den  Buhlen?  Wie, 
du  hast  mich  mit  dem  glänzenden  Kleid  umhüllt,  das  blitzt  vom  Glanz  der  Un- 
sterblichkeit, das  alle  meine  Glieder  durchleuchtet  ?  Dein  unbefleckter,  göttlicher 
Leib  blitzt,  ganz  mit  dem  Feuer  deiner  Gottheit  vei mengt  und  vermischt  in 
unaussprechlicher  Weise.  Und  diesen  hast  du  mir  geschenkt,  mein  Gott.  Diese 
schmutzige  und  vergängliche  Hütte  hat  sich  vereint  mit  deinem  ganz  unbefleckten 
Leibe  und  mein  Blut  hat  sich  vermischt  mit  deinem  Blute,  auch  mit  deiner  Gottheit 
fürwahr  bin  ich  eins  geworden  und  dein  reinster  Leib  geworden,  ein  leuchtendes 
Glied,  ein  wahrhaft  heiliges   Glied"   (Symeon  der  Neue  Theologe).  51 

So  ist  auch  das  Gebet  der  kultisch-sakramentalen  Mystik  durch  und 
durch  mystisches  Gebet,  in  seinem  Aufbau,  seiner  Sprache,  seinen  Ge- 
danken und  Stimmungen.  Der  Unterschied  von  der  reinen  Mystik  liegt 
nur  darin,  daß  es  auf  allen  Stufen  von  der  Meditation  bis  zur  Höhe  der 
mystischen  Einigung  eine  innere  Beziehung  auf  ein  sinnenfälliges  Kult- 
objekt aufweist,  daß  auch  die  sublimen  mystischen  Erlebnisse  und  Zu- 
stände (mit  Ausnahme  der  das  normale  Bewußtsein  auslöschender. 
Ekstase  selbst)  in  einem  engen  Zusammenhang  mit  der  äußeren  Wahr- 
nehmung stehen.  Die  Gebetserfahrung  der  Präsenz  Gottes  stützt  sich 
auf  den  Glauben,  daß  Gott  in  einem  sinnlichen  Objekt  sich  verkörpert, 
das  Erlebnis  der  mystischen  Einigung  gründet  in  dem  sinnlichen  Genuß 
einer  Speise  und  eines  Trankes,  durch  den  der  Fromme  Gott  selbst  in 
sich  aufzunehmen  glaubt.  Beide  Ideen,  die  Vorstellung  von  der  sinn- 
lichen Gegenwart  Gottes  wie  die  Idee  des  Gottesgenusses  im  heiligen 
Mahl  sind  uralt,  sie  entstammen  der  primitiven  Religion.  Durch  die 
Verbindung  der  mystischen  Zentralgedanken  mit  diesen  primitiven 
Vorstellungen  wird  jedoch  das  mystische  Erleben  in  seiner  Reinheit 
und  Zartheit  nicht  gefährdet  und  geschwächt;  es  gewinnt  sogar  an 
Kraft  und  Feurigkeit,  Wärme  und  Leidenschaft.  Die  kultisch-sakramen- 
tale Mystik  ist  das  deutlichste  Beispiel  dafür,  daß  in  der  Frömmigkeit 


Die  Brautmystik.  331 

Sinnlichkeit  und  Geistigkeit  sich  nicht  ausschließen,  sondern  in  einer 
höheren  Synthese  vereinigen  lassen.  Selbst  der  religiöse  Genius  vermag 
aus  der  unscheinbaren  Äußerlichkeit  des  Kults  Nahrung  und  Kraft  für 
seine  tiefsten  und  geistigsten  Erlebnisse  zu  saugen, 

b)  Die  Brautmystik. 

Die  naive,  affektive,  phantasiemäßige  Mystik  tritt  zumeist  im  Ge- 
wände der  Brautsymbolik  auf.  Das  Verhältnis  der  Seele  zu  Gott  wird 
als  Liebes-  oder  Brautverhältnis  gedacht,  die  ekstatische  Vereinigung 
mit  Gott  als  zarte  Liebesvereinigung,  die  mystische  Seligkeit  als  schwel- 
gende Liebesfreude.  Die  Idee  einer  geschlechtlichen  Vereinigung  des 
Menschen  mit  Gott  ist  jedoch  keine  originäre  Schöpfung  der  Mystik, 
sondern  gehört  schon  der  primitiven  Sphäre  der  Religion  an.  52 

Eine  besondere  Rolle  spielte  das  sexuelle  Moment  im  Kult  der  kleinasiatischen 
Religionen.  In  der  hellenistisch-synkretistischen  Religionsepoche,  in  der  das 
Uralte,  Wild-Barbarische  zu  neuem  Leben  erwachte,  trat  die  Idee  der  geschlecht- 
lichen Vereinigung  (avvovaia,  legög  yd^og)  mit  der  Gottheit  „mit  neuer  Kraft  und 
viel  ausgedehnter  als  je  in  Wirkung".  53  Die  Formen,  in  denen  der  Mensch 
mit  der  übersinnlichen  Gottheit  in  sexuelle  Beziehung  tritt,  sind  sehr 
verschieden.  Die  primitivste  Form  ist  wohl  das  Beilager  mit  einem 
(häufig  grotesk- ithyphallischen)  Götterbild  ($6avov);  64  einen  Rest  dieses 
Ritus  stellt  die  in  manchen  Mysterien  übliche  Zubereitung  eines  Brautbettes  dar, 
auf  dem  der  Myste  den  Gott  erwartet;  6S  die  avvovaia  ist  jedoch  hier  nicht 
mehr  sinnlich,  sondern  geistig,  sie  vollzieht  sich  in  visionär-halluzina torischer 
Weise.  Die  sinnlichste  Form  der  religiösen  avvovaia  ist  der  Verkehr  mit 
dem  menschlichen  Stellvertreter  der  Gottheit,  dem  Priester,  der  Priesterin  (Tempel- 
hure) oder  dem  Fremdling  (der  Fremdling  ist.  weil  er  Furcht  und  Staunen  erregt, 
mit  übernatürlicher  Macht  erfüllt,  darum  ,heilig'  und  göttlich).  Die  Tempel- 
prostitution blühte  vor  allem  in  den  kleinasiatischen  Kultstätten.  In  Babylonien 
war  die  sakrale  Prostitution  universell;  jedes  Mädchen  mußte  sich  vor  der  Ehe 
einem  Fremdlinge  hingeben,  der  die  Stelle  der  Fruchtbarkeitsgöttin  Ischtar  ver- 
trat. 56  Die  sexuelle  Vereinigung  mit  Gott  wird  häufig  weder  sinnlich-fetischistisch 
noch  sinnlich-real,  sondern  symbolisch  vollzogen.  So  wurde  in  den  eleusinischen 
Mysterien  wie  im  Sabaziuskult  den  Mysten  eine  (wirkliche  oder  bildliche)  Schlange, 
das  Symbol  des  Phallus,  durch  den  Schoß  gezogen.  57  Überall,  wo  uns  im  Kult 
die  Idee  der  sakralen  avvovaia  mit  der  Gottheit  begegnet,  wird  der  Mensch 
als  der  weibliche,  die  Gottheit  als  der  männliche  Teil  im  sexuellen  Verhältnisse 
betrachtet  (der  androgyne  Charakter  mancher  Götter  wie  der  Fruchtbarkeits- 
götter ändert  daran  nichts);  der  Mensch  gibt  sich  hin  und  empfängt,  der  Gott 
schenkt  Leben  und  zeugt.  Die  allen  sexuellen  Riten  zugrundeliegende  Vorstellung 
ist  eine  doppelte:  eine  erotisch-anthropopathische  und  eine  magische.  Der  Mensch 
gibt  sich  geschlechtlich  der  Gottheit  hin,  um  sich  ihre  Gunst  zu  sichern  und  vor 
ihrem  Groll  sich  zu  schützen.  Wie  man  mächtige  Herrscher  und  Sieger  dieser 
Erde  gewinnen  und  umstimmen  kann  dadurch,  daß  man  ihnen  sich  preisgibt, 
so  kann  man  es  auch  bei  den  übersinnlichen  Wesen.  68  Die  avvovaia  trägt 
hier  den  Charakter  des  Opfers;  man  kann  sie  als  Keuschheitsopfer  bezeichnen. 
Noch  mehr  aber  als  das  Opfermotiv  ist  das  Zaubermotiv  wirksam.  Der  Mensch 
suuht  durch  das  unmittelbare  Kontagium  mit  der  im  Götterbild,  im  menschlichen 
Stellvertreter  oder  phallischen  Symbol  gegenwärtigen  Gottheit  ihre  geheimnis- 
volle Zaubermacht  (,Mana'),  ihre  Lebenskraft  und  Unsterblichkeit  in  sich  auf- 
zunehmen. Die  Jungfrau  erlangt  durch  den  Verkehr  mit  der  Gottheit  Frucht- 
barkeit für  die  Ehe,  der  Myste  sichert  sich  durch  die  heilige  avvovaia.  ewiges 
Leben  und  ewige  Seligkeit.  69 

Nachdem  im  Laufe  der  Entwickhing  die  primitiven  sinnlichen  Sexualriten  und 
-symbole  im  Kult  und  in  der  Frömmigkeit  zurückgetreten  waren,  lebte  die  Idee 
der  avvovaia  in  der  religiösen  Sprache  fort;  das  dgibpevov  wurde  zum 
leyönevov  ,0.       In   der    höhnen    Frömmigkeit    wird    das    religiöse   Verhältnis    zu 


332  FIII.  Das  Gebet   in  der  Mystik 


Gott  ungemein  häufig  als  ein  Braut-  und  Eheverhältnis  bezeichnet.  In  manchen 
griechischen  Mysterien  wird  der  Erlösergott  als  ,, Braut giam"  bezeichnet.  81 
Die  alttestamentlichen  Propheten  (Hos.  c.  1.  3,  Hes.  c.  16.  23)  betrachten  das 
Verhältnis  Israels  zu  Jahwe  als  einen  Ehebund,  den  Abfall  von  ihm  als  einen 
Ehebruch.  Diese  prophetische  Symbolik  gab  zweifellos  den  Anstoß  zur  religiösen 
Deutung  des  ehedem  profanen  israelitischen  Liebesliederzyklus,  des  ,Hohen 
Liedes'.  Der  Apostel  Paulus  vergleicht  das  Verhältnis  von  Christus  und  Kirche 
dem  innigen  Liebesverhältnis  von  Mann  und  Weib  (Eph.  5  21 — 32);  Clemens  von 
Rom  folgt  ihm,  wenn  er  sagt:  ..Der  Mann  ist  Christus,  das  Weib  die  Kirche" 
(2  Kor.  14).  Schon  sehr  frühe  wurde  im  Christentum  —  wohl  unter  gnostischem 
Einfluß  —  auch  das  Verhältnis  der  frommen  Einzelseele  zu  Christus  oder  Gott 
als  Liebesverhältnis  vorgestellt.  62  Die  enthaltsamen,  gottgeweihten  Jung- 
frauen gelten  in  der  alten  Kirche  als  Bräute  Christi  oder  Gottes  (vv/xifai 
Xqiotov,  sponsae  Dei  oder  Christi),  sie  vermählen  sich  mit  Gott  (Deo, 
Christo  nubere),  sind  mit  ihm  verbunden  {Christo  copulata),  sie  weihen  ihm  ihre 
Glieder,  ihr  Fleisch  (rd  fiekq  Xqiot<J>  draud-ei-ai,  carnem  tradere),  geben 
sich  geistig  und  leiblich  Gott  hin  (tarn  carne  quam  mente  deo  se  vovere).  *3 
Tertullian  sagt  von  ihnen:  „Mit  Gott  leben  sie  in  Gemeinschaft,  mit  ihm  unter- 
halten sie  sich,  mit  ihm  gehen  sie  Tag  und  Nacht  um,  ihm  bringen  sie  ihr  Gebet 
als  Mitgift  zu,  von  ihm  begehren  sie  oft  sein  Wohlgefallen  als  Brautgeschenk 
und  erhalten  es."  64  Hieronymus  mahnt  die  christliche  Gottesbraut:  ,, Stets 
möge  mit  dir  der  Bräutigam  in  deinem  Innern  spielen.  Betest  du,  so  redest  du 
mit  dem  Bräutigam,  liest  du  in  der  Schrift,  so  redet  er  mit  dir."  „Du  sollst  im 
Innern  beim  Bräutigam  sein."  ,, Himmel  und  Erde  verachtend,  mit  Christus 
verbunden,  sollst  du  singen:  Mein  Teil  ist  Gott."  ,,Laßt  uns  Christus  lieben  und 
stets  seine  Umarmungen  suchen".  65  Methodius  überliefert  einen  feurigen  Psalm 
der  Jungfrau  Thekla,  in  dem  sie  mit  ihren  gottgeweihten  Genossinnen  den  himm- 
lischen Bräutigam  besingt.  Ein  Vers  dieses  Hymnus  lautet:  „Liebesspender 
bist  du.  Christus;  sei  gegrüßt,  nimmer  verlöschendes  Licht;  der  Jungfrauen 
Chor,  die  vollkommene  Blüte,  singt  dir  dein  Lob,  du  Liebe,  du  Freude,  du  Weis- 
heit, du  Logos."  Der  Chor  antwortet:  ..Dir  weihe  ich  meine  Keuschheit;  haltend 
die  flammende  Fackel,  eile  ich  dir,  Bräutigam,  entgegen".  66  So  spielt  der  Braut- 
gedanke in  dem  Frömmigkeitsleben  der  alt  kirchlichen  gottgeweihten  Jungfrauen 
eine  bedeutsame  Rolle.  Aber  auch  bei  den  alten  Theologen  und  Mystikern  lassen 
sich  Spuren  des  Brautmotivs  entdecken.  Origenes  spricht  in  seinem  Kommentar 
zum  hohen  Lied  den  Gedanken  aus,  daß  die  Seele  die  Braut  des  Logos  sei 
(rvfxtftj  tov  köyov  ^v/rj)  67)  und  „bisweilen  von  ihm  besucht,  bisweilen  aber 
verlassen  werde".  Makarius  schildert  das  Verhältnis  des  Frommen  zum  Herrn 
bisweilen  als  zartes  Brautverhältnis.  „Die  Seele  freut  sich  mit  dem  Herrn,  ihrem 
Bräutigam"  .  „Sie  hat  Gemeinschaft  mit  dem  himmlischen  Bräutigam;  denn 
verwundet  durch  seine  Liebe,  seufzt  und  sinkt  sie  dahin  vor  Sehnsucht  nach 
dem  geistigen  und  mystischen  Verkehr  in  der  unvergänglichen  Einigung  in  Heilig- 
keit. Gesegnet  und  glücklich  ist  in  der  Tat  eine  solche  Seele,  welche,  erobert  von 
der  geistigen  Liebe,  Gott  sich  verlobt  hat."  68 

Eine  beherrschende  Stellung  erlangte  der  Brautgedanke  erst  in  der 
mittelalterlichen  Mystik ;  von  ihr  aus  betrachtet,  erscheinen  die  mannig- 
fachen Spuren  des  Brautmotivs  in  der  alten  Kirche  nur  als  Ansätze.  Im 
Zeitalter  des  Minnegesangs  und  ritterlichen  Frauenkults  vermählte  sich 
die  aufblühende  Christusmystik  mit  der  zarten  Erotik  der  germanisch- 
romanischen Völker.  Das  religiöse  Brautmotiv,  das  längst  in  der  kirch- 
lichen Frömmigkeit  sich  eingebürgert  hatte,  wurde  nun  zum  Leitmotiv 
der  weitabgewandten  Klostermystik.  Der  Vater  der  christlichen  Braut- 
mystik ist  Bernhard  von  Clairvaux ;  er  hat  als  erster  die  feurige  Liebes- 
poesie des  hohen  Liedes  als  Sinnbild  der  wechselvollen  Erlebnisse  einer 
affektiven  Mystik  betrachtet.  Aber  was  bei  Bernhard  von  Clairvaux 
noch  exegetische  Deutung  und  theologische  Theorie  war,  das  wurde  in 


Die  Brautmystik  333 


einsamen  Nonnenseelen  glühendes  Erleben,  flammende  Leidenschaft  69. 
Die  Frömmigkeit  der  gottliebenden  Nonnen  und  Frauen  ist  fortan  vom 
Brautmotiv  beherrscht.  Die  innigsten  und  zartesten  Klänge  weiblicher 
Brautmystik  tönen  uns  aus  dem  Büchlein  vom  fließenden  Licht  der 
Gottheit'  entgegen,  das  Mechthild  von  Magdeburg  zur  Verfasserin  hat; 
hier  ist  alles  Leben,  Liebe,  Leidenschaft,  Poesie,  ungetrübt  von  jedem 
Schatten  der  Reflexion.  Ihren  tiefen  Erlebnissen  und  Gesichten  hat 
sie  auch  nicht  in  der  gebundenen  Kirchen-  und  Theologensprache, 
sondern  in  ihrer  klangvollen  Muttersprache,  die  sie  mit  wundervoller 
Dichtermacht  handhabt,  Ausdruck  verliehen.  Aber  nicht  nur  fromme 
Nonnen  und  Frauen,  nein  auch  Mönche  und  Männer  betrachteten  seit 
Bernhards  Erklärung  des  Hohen  Liedes  den  göttlichen  Herrn  und 
Heiland  als  den  Geliebten  und  Bräutigam  ihrer  Seele.  Nur  jene  Persön- 
lichkeiten, deren  Frömmigkeit  sich  an  der  klassischen  Gottesmystik 
Augustins  (Thomas  von  Aquin,  Bonaventura)  oder  an  der  Unendlich- 
keitsmystik des  Areopagiten  (Eckhart,  Tauler)  orientiert,  stehen  der 
Brautmystik  ferner.  Die  beiden  Hauptvertreter  der  mittelalterlichen 
Brautmystik  sind  Seuse  und  Jacopone  da  Todi.  Auch  die  weiche,  süße 
Frömmigkeit  des  Verfassers  der  Imitatio  zeigt  einen  deutlichen  erotischen 
Einschlag.  Ebenso  ist  die  nachreformatorische  Mystik  großenteils  vom 
Brautmotiv  bestimmt;  Johann  vom  Kreuz  und  Teresa  sind  ausge- 
sprochene Brautmystiker;  selbst  bei  Angelus  Silesius,  dem  kühlen 
Unendlichkeitsmystiker,  tritt  die  Brautidee  stark  hervor.  Die  pietistische 
Frömmigkeit  in  den  Niederlanden  wie  in  Deutschland  zeigt  vielfach  eine 
grelle  erotische  Färbung.  70  Am  schärfsten  ist  das  erotische  Motiv  bei 
Zinzendorf  durchgebildet.  71  Auch  außerhalb  des  Christentums  spielt 
der  Brautgedanke  im  mystischen  Erleben  eine  bedeutende  Rolle.  Im 
persischen  Sufismus  wird  das  mystische  Verhältnis  zur  Gottheit  als 
trautes,  wonniges  Liebesverhältnis,  aber  auch  als  schwärmerisches, 
erotisch  gefärbtes  Freundschaftsverhältnis  betrachtet.  In  Indien  heftet 
sich  eine  süße  und  leidenschaftliche  Erotik  an  die  mystische  Verehrung 
des  Heilandgottes  Krischna  oder  Räma,  einer  Inkarnation  des  Vischnu. 
Die  erotischen  Krischna-Lieder  gleichen  den  liebesinnigen  Jesuliedern 
des  Abendlandes.  72  AuchKäbir,  der  Stifter  der  hinduistisch-islamischen 
Mischsekte  der  Sikh,  schildert  den  Gottesumgang  als  inniges  Braut- 
verhältnis. 73 

Das  religiöse  Verhältnis  der  Seele  zu  Gott  wird  in  der  Brautmystik 
des  Morgen-  und  Abendlandes  als  zärtlicher  Liebesverkehr  dargestellt. 
Der  ganze  poetische  Wortschatz  dieser  Mystik  ist  erotisch :  74  Liebesblick 
und  Liebeswort,  Liebeskammer  und  Liebesbett,  Liebsswonne  und  Liebes- 
schmerz, Liebesspiel  und  Liebesscherz,  Umarmung  und  Umhalsung, 
Ruhen  an  der  Brust  und  Drücken  ans  Herz,  Kosen  und  Küssen,  Sich- 
geben und  Sichschenken,  Entkleidung  und  Vermählung  — ■  all  die  kon- 
kreten Bilder  einer  individuellen  Liebespoesie  kehren  in  den  Selbst- 
bekenntnissen und  geistlichen  Liedern  der  Brautmystiker  wieder.  Wie 
in  den  primitiven  Sexualriten,  so  wird  auch  in  der  sublimen  Liebes- 
r  Mystik  die  Seele  stets  als  der  weibliche,  Gott  als  der  männliche  Teil 
des  Liebesverhältnisses  aufgefaßt.     Mit  der  leidenschaftlichen  Liebes- 


334  F  HI-  Das  Gebet  in  der  Mystik 


hingäbe  an  den  himmlischen  Bräutigam  verbindet  sich  nicht  selten  die 
zärtliche  Mutterliebe  zum  göttlichen  Kind.  Von  Schwangerschaft  und 
Geburt,  vom  Kosen  und  Säugen  des  Jesus-Kindleins  reden  schwärme- 
rische Nonnen,  welche  die  Rolle  der  Gottesmutter  zu  spielen  wähnen.  75 
Selbst  bei  dem  von  allem  affektiven  Überschwang  freien  Angelus  Silesius 
begegnen  uns  diese  seltsamen  Bilder.  76  Auch  die  indische  Krischna- 
mystik  und  die  Mystik  der  persischen  Süfi  kennen  das  herzige,  mütter- 
liche Gekose  mit  dem  göttlichen  Bambino.  77 

Für  die  leidenschaftliche  Trunkenheit  mystischer  Erotik  liegen  zwei 
Deutungen  nahe.  Man  erklärt  die  religiöse  Erotik  als  eine  Sublimierung 
der  profanen.  Die  psychanalytische  Forschung  hat  diese  Deutung  er- 
heblich verstärkt;  in  der  mystischen  Liebesleidenschaft  schafft  sich  der 
unterbundene,  eingeklemmte'  Sexualaffekt,  dem  die  natürliche  Ent- 
ladung versagt  ist,  einen  künstlichen  Austritt,  eine  widernatürliche 
Befriedigung  im  Phantasie  leben.  78  Mit  dieser  psychopathologischen 
Erklärung  berührt  sich  im  Grunde  die  historische  Theorie,  die  in  der 
mystischen  Erotik  nur  ein  ,survival1'  primitiver  Sexualriten  erblickt; 
die  rohe  Dramatik  der  geschlechtlichen  Vereinigung  mit  der  Gottheit 
verfeinerte  sich  im  Laufe  der  geschichtlichen  Entwicklung  zur  duftigen 
Poesie  der  Brautmystik;  an  die  Stelle  des  körperlichen  Aktes  traten 
farbenreiche  Phantasiebilder.  79  Beide  Theorien  enthalten  richtige 
Gedanken ;  es  ist  unzweifelhaft,  daß  in  der  Liebesmystik  der  natürliche 
Geschlechtstrieb  im  Spiele  ist;  es  ist  ebenso  unzweifelhaft,  daß  die  Idee 
der  ovvovaia  von  Mensch  und  Gott  zum  großen  Erbe  der  primitiven 
Religion  gehört.  In  der  hellenistisch-synkretistischen  wie  in  der  gno- 
stischen  Mystik,  vielleicht  auch  in  der  indischenKrischnamystik  sind 
die  Zusammenhänge  der  mystischen  Brautsymbolik  mit  dem  primitiven 
Kultsexualismus  direkte  und  unmittelbare.  Beide  Erklärungen  sind 
jedoch  ungenügend  und  verfehlen  den  psychologischen  Kernpunkt. 
Die  erotische  Symbolik  muß  aus  dem  psychologischen  Charakter  dieses 
besonderen  Typs  mystischer  Erfahrung  begriffen  werden.  Das  mystische 
Erlebnis  selbst  drängt  den  Frommen  dazu,  es  durch  erotische  Vor- 
stellungen phantasiemäßig  zu  deuten  und  auszugestalten.  80 

Die  Ekstase  (bzw.  der  ekstatoide,  der  Ekstase  sich  nähernde  Zustand) 
wird  von  dem  Mystiker  als  unfaßliches  Wunder  erlebt,  das  nach  Er- 
klärung und  Veranschaulichung  verlangt.  Der  naive  Mensch,  der  nicht 
durch  metaphysisch-spekulative  Gedankenarbeit  dieses  Erlebnis  zu  be- 
wältigen vermag,  greift  zu  Analogien  in  der  menschlichen  Erfahrung. 
Das  völlige  Sichverlieren  an  einen  höchsten  Wert,  das  Erlebnis  der 
völligen  Einheit  des  Ich  mit  einem  Du  und  die  daraus  entspringende 
Seligkeit  hat  ein  Analogon  in  der  Liebesvereinigung.  Sogar  die  von 
philosophischer  Tendenz  beseelte  und  von  jedem  erotischen  Einschlag 
freie  Unendlichkeitsmystik  benützt  die  sexuelle  Liebe  als  Bild  des 
ekstatischen  Erlebnisses.  Die  Brhad-aranyaka-Upanishad  sagt:  ,,So 
wie  einer  von  einem  geliebten  Weibe  umschlungen,  kein  Bewußtsein 
hat  von  dem,  was  außen  oder  innen  ist,  so  auch  hat  der  Geist,  der  von 
dem  Urselbst  umschlungen  ist,  kein  Bewußtsein  von  dem,  was  außen 
oder  innen  ist."  81  Plotin  sagt  von  der  ekstatischen  Einigung :   „Es  ist 


Die  Brautmystik  335 


kein  Zwischenraum  mehr  da  (zwischen  der  Seele  und  dem  höchsten  Gut) ; 
es  sind  nicht  mehr  zwei,  sondern  beide  sind  eins;  sie  sind  nicht  von- 
einander zu  scheiden,  solange  jenes  da  ist.  Diese  Vereinigung  ahmen 
hier  in  dieser  Welt  die  Liebenden  und  Geliebten  nach,  die  miteinander 
zu  einem  Wesen  verschmelzen  wollen."  82  Wenn  schon  die  größten  und 
geistigsten  aller  Mystiker  in  der  geschlechtlichen  Liebesvereinigung  das 
tiefste  Symbol  des  mystischen  Einheitserlebnisses  erblickten,  wie  viel 
mehr  müssen  dann  einfältige  Nonnen,  denen  die  spekulativ-philosophische 
Reflexion  ebenso  fremd  ist  wie  die  analytisch-psychologische,  das 
Gnadenwunder  der  ekstatischen  Wonne  als  zärtlich-schweigende  Liebes- 
seligkeit deuten. 

Das  Erleben  eines  höchsten  Wertes,  die  restlose  Hingabe  an  ihn  bis 
zum  Untergang  des  Selbstbewußtseins  ist  an  sich  ein  rein  geistiger 
Akt,  aber  er  ist  im  wirklichen  Seelenleben  wie  alle  Werterlebnisse  ge- 
tragen, begleitet,  verhüllt  von  Gefühlen,  Stimmungen,  Affekten,  trieb- 
haften Regungen.  In  dieser  psychologischen  Gesetzmäßigkeit  liegt  es 
begründet,  daß  das  rein  geistige  Erlebnis  des  höchsten  Wertes  die 
Tendenz  hat,  eine  Verbindung  mit  sexuellen  Affekten  und  Begierden 
einzugehen.  Hierin  gründet  auch  die  Doppelsinnigkeit  des  Wortes 
, Liebe',  das  die  personalistische  Gottesmystik  aller  Zeiten  zu  ihrem 
Zentralbegriff  erwählte  (bliakti,  EQOjg,  amor,  mahabba).  Es  bedeutet 
einmal  die  triebhafte  sexuelle  Neigung,  Begierde  und  Leidenschaft  nach 
der  sinnlichen  Geschlechts  Vereinigung,  und  diese  Bedeutung  ist  die 
sprachliche  Urbedeutung,  wie  besonders  an  dem  indischen  Worte  bhakti 
(=  Liebes  g  e  n  u  ß)  ersichtlich ;  es  bedeutet  aber  ebenso  die  rein  seelische 
Liebe,  das  keusche,  geistige,  kontemplative  Erleben  des  höchsten  Wertes, 
das  frei  ist  von  selbstsüchtigem  Realisierungsstreben.  In  der  spiri- 
tualistischen  Mystik,  in  der  starke  philosophische  Motive  wirksam  sind, 
hält  sich  das  lautere  Erlebnis  des  summum  bonum,  die  Gottesliebe,  von 
allen  geschlechtlichen  Affekten  und  Regungen  frei ;  in  der  naiven  Mystik 
hingegen,  wo  das  mystische  Erleben  durch  keine  philosophischen  Ideen 
begrenzt  und  reguliert  ist,  assoziiert  sich  mit  dem  sublimem  mystischen 
Liebeserlebnis,  mit  der  metaphysischen  Erotik  das  gefühlsmäßig-trieb- 
hafte sexuelle  Liebeserlebnis.  Aber  auch  hier  ist  das  grundlegende  Er- 
le bnis  kein  emotionelles  Phänomen,  sondern  der  reine  geistige  Akt  der 
Wertung,  der  auf  ein  übersinnliches  Objekt  abzielt.  Das  Zentrale  in  der 
Brautmystik  ist  das  spezifisch  Mystische,  das  Sexuelle  gehört  zur 
Peripherie.  83 

Die  Brautmystik  ist  durch  eine  starke  Affektivität  gekennzeichnet; 
in  dem  Drängen  nach  einem  ständigen  Höchstmaß  von  Affekten  liegt 
etwas  Pathologisches.  Nach  einem  psychologischen  Gesetz  besitzen 
aber  aktuelle  Affekte  von  hoher  Intensität  eine  rasche  Verlaufsform. 
Obgleich  nun  die  Affekterlebnisse  dieser  Mystiker  infolge  einer  irregulären 
bzw.  pathologischen  Steigerung  des  gesamten  emotionellen  Lebens  eine 
viel  längere  Dauer  besitzen  als  im  normalen  psychischen  Erleben,  folgt 
auch  auf  die  starken  Affekte  eine  Erschöpfung  des  Gefühlslebens,  deren 
Kontrastwirkung  um  so  höher  ist;  auf  höchste  Affektivität  folgt  völlige 
Gefühllosigkeit,  eine  Erstorbenheit  des  Emotionellen,  aus  der  jedoch 


336  F  HI-  Das    Gebet  in  der  Mystik 

nach  einiger  Zeit  völlig  spontan,  unwillkürlich  und  plötzlich  das  Affekt- 
erlebnis von  neuem  hervorbricht;  dieses  kann  jedoch  einerseits  durch 
die  auf  seine  Wiedererlangung  gerichtete  Willensbemühung,  andererseits 
durch  völlige  Resignation  vorbereitet  und  beschleunigt  werden.  Immer 
wieder  kehrt  bei  den  nach  Gefühlsseligkeit  verlangenden  Mystikern  die 
Klage  über  das  zeitweilige  Aufhören  der  emotionellen  Fähigkeit,  sie 
charakterisieren  diese  Zustände  als  ,siccitas\  Dürre,  Trockenheit,  Kälte, 
Dunkelheit,  Leere,  Durst.  84  Diese  Polarität  im  Gefühlsleben  liefert 
nun  das  Kriterium  der  Präsenz  Gottes.  In  der  höchsten  Wonne  erlebt 
der  Fromme  die  Nähe  Gottes,  in  der  Trostlosigkeit  seine  Ferne.  Dieses 
Hin-  und  Herpendeln  zwischen  höchster  Glückseligkeit  und  tiefster 
Verlassenheit,  zwischen  Gottesnähe  und  Gottesferne  deutet  die  lebendige 
Phantasie  des  naiven  Mystikers  als  ein  bewegtes  Liebesdrama,  wie  es 
die  Liebespoesie  des  jüdischen  Hohen  Liedes  85  oder  der  indischen 
Gitagovinda  86  in  leuchtenden  Farben  schildert.  Der  göttliche  Bräutigam 
vereint  sich  auf  unaussprechliche  Weise  mit  der  liebenden  Seele,  er 
umfängt,  küßt  und  herzt  sie  mit  unsagbarer  Zärtlichkeit.  Aber  nicht 
lange  währt  die  süße  Wonne  des  Liebesgenusses.  „Es  kann  nicht  lange 
pauern,  wo  zwei  Liebende  heimlich  zusammen  sind"  (Mechthild  von 
Magdeburg).  87  Der  Geliebte  entflieht  den  Armen  der  Braut  und  weilt 
ferne,  um  ihre  Treue  zu  erproben;  diese,  tief  unglücklich  über  ihre  Ver- 
einsamung, klagt  und  seufzt  nach  dem  Verlorenen,  bis  er  schließlich 
wiederkehrt  und  die  Liebesfreuden  von  neuem  beginnen.  Dieser  gesetz- 
mäßige Wechsel  im  Affektleben  wird  von  den  naiven  Mystikern  ebenso 
wie  die  Ekstase  durch  die  Phantasiebilder  der  Liebespoesie  veran- 
schaulicht, aber  nicht  nachträglich,  bewußt,  sondern  unbewußt,  mitten 
im  Erleben  selbst  verbinden  sich  die  erotischen  Phantasievorstellungen 
mit  den  Stimmungen  und  Affekten  und  den  von  diesen  verhüllten  Wert- 
erlebnissen. 

Die  erotische  Symbolik  ist  also  innerlich  in  der  Erlebnisweise  der 
naiven,  affektiven,  phantasiemäßigen  Mystik  begründet.  Die  dem 
mystischen  Erleben  immanenten  Tendenzen  zur  Erotik  werden  häufig 
noch  verstärkt  durch  echte,  natürliche  Sexualaffekte,  deren  normale 
Äußerung  infolge  einer  verspäteten  Pubertät  oder  der  pflichtmäßigen 
Hochschätzung  des  zölibatären  Lebens  unterbunden  ist  und  die  nun  in 
der  Meditation  und  im  Gebet  sich  eine  phantasiemäßige  Befriedigung 
suchen.  Es  liegt  etwas  Wahres  in  dem  harten,  höhnischen  Worte  Nietz- 
sches: „Die  Hündin  Sinnlichkeit  blickt  mit  Neid  aus  allem,  was  sie  tun. 
Noch  in  die  Höhen  ihrer  Tugend  und  bis  in  den  kalten  Geist  hinein 
folgt  ihnen  dies  Getier  und  sein  Unfriede."  88  Ganz  deutlich  ist  das 
stürmische  Drängen  und  Wühlen  des  natürlichen  sexuellen  Triebes  bei 
jenen  schwärmerischen  Nonnen  zu  erkennen,  bei  denen  der  geistig- 
phantasiemäßige  Verkehr  mit  dem  himmlischen  Bräutigam  und  dem 
göttlichen  Bambino  die  Formen  des  sexualpathologischen  Fetischismus 
annimmt.  So  pflegte  Margareta  Ebner  einen  großen  hölzernen  Crucifixus 
des  Nachts  in  ihre  Zelle  zu  nehmen,  auf  ihrem  Lager  zu  umarmen  und 
an  ihr  bloßes  Herz  zu  drücken;  auch  war  sie  gewohnt,  die  Statue  des 
Jesuskindes  an  ihrer  Brust  zu  säugen  89.   Der  primitiv-barbarische  Ritus 


Das  Gebet  der  Brautmystik  337 

der  ovvovaia  rait  dem  göttlichen  £6avov  kehrt  in  der  Hysterie 
dieser  liebeskranken  Nonne  ganz  genau  wieder.  Dennoch  wird  jeder, 
der  das  ganze  Frömmigkeitsleben  dieser  Mystikerin  in  seiner  tiefen 
Geistigkeit  und  warmen  Gottinnigkeit  kennt,  einsehen,  daß  dem  natür- 
lichen Sexualeffekt  nur  eine  sekundäre  Bedeutung  zukommt.  Die  sexuelle 
Erotik  gehört  zur  Randzone  des  mystischen  Erlebens,  sie  steht  nicht  in 
seinem  Mittelpunkt. 

Das  Gebet  der  Brautmystiker  deckt  sich  in  seinen  Grundzügen  mit 
dem  Normal typus  des  mystischen  Betens.  Der  Aufstieg  von  der  Kon- 
zentration zur  Kontemplation  läßt  sich  auch  hier  deutlich  verfolgen. 
Aber  im  Unterschied  von  der  Gebetsweise  der  spiritualistischen  Mystik 
trägt  das  Gebet  der  Liebesmystik  einen  viel  persönlicheren,  mensch- 
licheren Charakter.  Die  Erhebung  der  Seele  zum  höchsten  Gut  wird 
zum  schwärmerisch-trunkenen  Liebesgespräch  mit  dem  himmlischen 
Bräutigam.  Die  willensmäßige  Konzentration  auf  das  Höchste  wird  zur 
verzehrenden  Liebessehnsucht,  die  entzückte  Kontemplation  des  sum- 
mum  bonum  zur  wonnevollen  Liebesseligkeit,  zur  intimen  Liebes- 
plauderei, zum  tändelnden  Liebesspiel,  das  sich  in  stammelnden  Worten 
oder  wortlosen  Phantasievorstellungen  vollzieht.  Im  Gebet  spielt  sich 
der  zärtlich-traute  Liebesumgang  der  mystischen  Seele  mit  dem  himm- 
lischen Geliebten  ab.  ,,Das  Gebet,"  sagt  Mechthild  von  Magdeburg, 
„bringt  zusammen  die  zwei  Liebenden,  Gott  und  die  Seele,  in  eine 
wonnigliche  Stätte,  da  reden  sie  viel  von  Liebe."  90 

1.  Die  Gebetsanrede. 

Schon  die  Anrede  an  Gott  offenbart  den  erotischen  Charakter  dieser 
Mystik.  Der  spiritualistischen  Mystik  sind  die  folgenden  Ausdrücke 
ebenso  fremd  wie  der  primitiven  Religion  und  der  prophetischen  Fröm- 
migkeit. 

,,Dulcissime  et  amantissime  Jesu,  dilectissime  sponse,  amator  purissime" 
(Imitatio)  91.  „Dulcissime  et  amantissime  iuvenis,  o  dolce  e  amoroso  cavaliere" 
(Katerina  von  Siena)  9a.  „Herzlieber,  mein  Trauter!"  (Else  von  Neustadt)  ". 
„Mein  herzeliches  Lieb',  herzensliebes  Jesulein!"  (Margarethe  Ebner)  '*.  „Süßer 
Herr,  schöner  Jüngling,  wonniglicher  Jüngling  Jesu,  lieber  Bräutigam,  mein 
süßer  Jesus  Christus,  Viellieber,  Lieb  vor  allen  Lieben,  mein  Herzlieb,  viellieber 
Buhle  mein!"  (Mechthild  von  Magdeburg)  9S.  „Allersüßester  Jesu  Christe, 
minnigliiher,  schöner  Herr,  zarter  Herr,  mein  Geliebter,  mein  Lieb,  o  du  alle 
Lieb  übertreffendes  Lieb,  zarter,  trauter,  unschuldiger  Buhle!"  (Seuse)  9S.  „Aller- 
schönstes  Wesen,  Seelenbräutigam,  reiner  Bräutigam  meiner  Seele,  Liebe,  Liebster, 
Herzliebster,  Herzensknabe!"  (Zinzendorf)  97. 

2.  Die  Liebessehnsucht. 

Die  Bitte  um  die  mystische  fruitio  Dei  wird  in  dor  Brautmystik  zur 
Bitte  um  die  Liebesseligkeit  in  den  Armen  des  himmlischen  Bräutigams. 
„Das  Kämmerlein  unserer  Vertraulichkeit  ist  verschlossen,  das  Bettlein  unserer 
Liebe  ist  mit  Blumen  geschmückt,  komm,  geliebtes  Lieb!  Es  gehört  nun  nichts 
mehr  dazu,  als  daß  du  mich  in  den  Armen  deiner  unergründlichen  Liebe  süß 
entschlafen  lassest"  (Seuse)  98. 

„Sposo  mio  novello,  sposo  dolce  fiorito 
Sposo  mio  dolce,  lo  cor  m'hai  envaghito, 
II  nostro  leticello  e  di  rose  aulito, 

Li  tu  sposo  e  marito,  t'hai  da  riposare."   (Jacopone  da  Todi)  *'. 
Dae  Gebet  22 


338  FIII.  Das   Gebet  in  der  Mystik 


„Eija,  Herr,  minne  mich  sehr  und  minne  mich  oft  und  lange;  je  öfter  du  mich 
minnest,  desto  reiner  ich  werde;  je  heftiger  du  mich  minnest,  desto  schöner  ich 
werde,  je  länger  du  mich  minnest,  desto  heiliger  werde  ich  hier  auf  Erden." 
„Könnte  ich  dich,  Herre,  mit  Zauber  gewinnen,  daß  du  nicht  möchtest  ruhen 
denn  ohne  mich!  Eija,  so  ginge  es  an  ein  Minnen,  so  müßtest  du  mich  dann  bitten, 
daß  ich  feurig  werde  mit  Sinnen."  „Eija,  Herre,  möchte  mir  das  zu  einer  Stund 
geschehen,  daß  ich  dich  nach  meines  Herzens  Wunsche  möchte  ansehen  und  mit 
Armen  umfangen,  deiner  göttlichen  Minne  Lust  müßte  durch  meine  Seele  gehen, 
soviel  als  Menschen  auf  Erden  kann  geschehen."  „Jesus,  viellieber  Buhle  mein, 
laß  mich  in  wahrer  Ruhe  und  in  herzlicher  Liebe  zu  dir  hin  und  laß  mich  nimmer 
erkühlen;  wenn  ich  deine  herzliche  Minne  in  meinem  Herzen  und  meiner  Seele 
und  in  meinen  fünf  Sinnen  und  in  allen  meinen  Gliedern  ohne  Unterlaß  empfinde, 
dann  kann  ich  nicht  erkühlen."  „Du  weißt  wohl,  wie  du  rühren  kannst  die  Saiten 
in  der  Seele  mein,  eija,  das  beginne  allsogleich,  daß  du  immer  selig  mögest  sein. 
Ich  bin  eine  unedle  Braut,  jedoch  bist  du  mein  edel  Traut,  des'  will  ich  immer 
freuen  mich.  Gedenke,  wie  du  herzen  kannst  die  reine  Seele  in  deinem  Schoß, 
o  vollbringe  es,  Herr,  an  mir  sogleich.  Allein  sei  ich  dein  Bettgenoß.  Eija,  zieh 
mich,  Herr,  hinauf  zu  dir,  so  werde  ich  rein  und  klar.  Lassest  du  mich  in  mir  selber, 
so  bleibe  ich  in  Finsternis  und  Schwere"  (Mechthild  von  Magdeburg).  10°  „Nimm 
mich,  mein  Jesu,  in  die  süße  Gemahlschaft  deiner  Liebe;  laß  mich  da  kosten  den 
Kuß  deines  honigfließenden  Mundes."  „Nimm  mich  auf  deinen  Arm.  Laß  mich, 
dein  Schäflein,  schwanger  von  deinem  Geiste,  ruhen  in  deinem  Schoß."  „Sieh, 
mein  Herz  brennt  nach  dem  Kuß  deiner  Liebe.  Tu  mir  auf  das  traute  Schlaf- 
gemach deiner  Liebe.  Sieh,  meine  Seele  dürstet  nach  der  Umarmung  in  der 
innigsten  Einigung  mit  dir"  (Gertrud).  101  „Ich  bitte  dich,  mein  Herr,  daß  du 
dich  minniglich  und  barmherziglich  allen  unseren  Begierden  gebest.  .  .  .  Und 
gib  uns  den  Kuß  des  ewigen  Friedens  durch  das  Herze  in  die  Seele  mit  der  aller- 
süßesten  Empfindung,  da  deine  lautere  Seele  kein  reines  Herz  in  rechter  minnender 
Lust  des  allersüßesten  Kusses  je  empfunden  oder  empfangen  hat"  (Margaretha 
Ebner)  loa.  Eine  noch  leidenschaftlichere  Liebessehnsucht  ergießt  sich  in  den 
sprunghaften  Versen  des  Jacopone  da  Todi. 

..Amor  amor,  Jesu  desideroso, 

Amor  voglio  rnorire,  te  abracciando, 

Amor  amor  Jesu,  dolce  mio  sposo; 

Amor  amor,  la  morte  t'  adimando, 

Amor  amor  Jesu  si  delettoso, 

Tu  me  t'  arendi  in  te  me  transformando, 

Pensa  che  io  vo  pasmando 

Non  so  amor  o'  mi  sia, 

Jesu,  speranza  mia, 

Abissami  en  amore."  10S 

Im  Zustande  der  siccitas  der  Gefühlstrockenheit,  in  dem  alle  zarten 
Stimmungen  versiegt  sind,  wird  die  Sehnsucht  nach  Gottseligkeit  zur 
ergreifenden  Liebesklage.  Die  trostlose,  ,liebessieche'  Seele  klagt  ihre 
tiefe  Not  und  Verlassenheit  und  seufzt  mit  heftiger  Inbrunst  nach  ihrem 
ferne  weilenden  oder  sich  verbergenden  Bräutigam. 

„Wenn  meine  Augen  trauern  elendiglich  und  mein  Mund  schweiget  einfältiglich 
und  meine  Zunge  ist  mit  Jammer  gebunden  und  meine  Sinne  mich  fragen  von 
Stunde  zu  Stunde,  was  mir  sei,  so  ist  in  mir,  Herre,  alles  nach  dir;  und  mein 
.  Fleisch  mir  verfallet,  mein  Blut  vertrocknet,  mein  Gebein  erschauert,  meine 
Adern  krampfen,  und  mein  Herze  schmilzt  nach  deiner  Minne  und  meine  Seele 
brennet  mit  eines  hungrigen  Löwen  Stimme."  „O  du  unzahlbarer  Schatz  in 
deinem  Reichtum,  o  du  unbegreifliches  Wunder  in  deiner  Mannigfaltigkeit,  o  du 
endlose  Ehre  in  deiner  Edelkeit!  Wie  weh  mir  nun  nach  dir  sei,  da  du  willst 
schonen  mein,  das  möchten  dir  alle  Kreaturen  nicht  völlig  sagen,  ob  sie  müßten 
für  mich  klagen,  denn  ich  leide  unmenschliche  Not,  mir  täte  viel  sanfter  ein  mensch- 
licher Tod.  Ich  suche  dich  mit  Gedanken  wie  eine  Jungfrau  verhohlen  ihr  Lieb. 
Darüber  muß  ich  sehr  kranken,  da  ich  mit  dir  gebunden  bin;  das  Band  ist  stärker, 


Das  Gebet  der  Brautmystik  339 

denn  ich  sei,  darum  kann  ich  nicht  werden  von  Minne  frei.  Ich  rufe  dich  mit 
großer  Gier,  in  elendiger  Stimme.  Ich  harre  dein  mit  schwerem  Herzen,  ich  mag 
nicht  ruhen,  ich  brenne  unverlöscht  in  deiner  heißen  Minne.  Ich  jage  dich  mit 
Allmacht.  Hätte  ich  eines  Riesen  Kraft,  die  wäre  bald  von  mir  verloren,  käme 
ich  recht  dir  auf  die  Spur.  Eija,  Lieber,  nun  laufe  mit  mir  nicht  zu  lange  vor 
und  ruhe  ein  wenig  minniglich,  auf  daß  ich  dich  ergreife"  (Mechthild  von  Magde- 
burg). 104  „Eija.  Jesu,  alleiniger  Geliebter  meines  Herzens,  süßer  Liebhaber, 
Geliebter.  Geliebter.  Geliebter  über  alles,  was  je  geliebt  worden  ist,  nach  dir,  o 
lebender,  blühender  Frühlingstag,  seufzet  und  schmachtet  meines  Herzens  Liebes- 
sehnsucht ....  Du  hast  das  Innerste  meines  Herzens  verwundet  durch  deine 
Gestalt  und  Schönheit.  Mein  Geliebter,  mein  Geliebter,  wenn  ich  nicht  mit  dir 
vereint  werde,  kann  ich  ewig  nicht  froh  werden."  (Gertrud).  10S  ,, Wahrlich.  Herr, 
wenn  eine  Seele  so  recht  sehnsuchtsmatt  nach  dir  und  nach  dem  süßen  Liebes- 
kosen  deiner  süßen  Gegenwart  wird,  Herr,  so  schweigst  du  und  sprichst  auch 
nicht  ein  einzig  Wort,  das  man  hören  möchte.  O  weh,  mein  Herr,  soll  das  nicht 
weh  tun,  wo  du  doch,  zarter  Herr,  das  einzige  auserwählte  Herzlieb  bist,  daß  du 
dich  dann  so  fremd  gebärdest  und  so  still  schweigst.  O  weh,  zartes,  auserwähltes 
Lieb,  nun  weißt  du  doch  wohl,  daß  einem  Lieb  alles  ungenügend  ist,  das  sein 
einziges  Lieb,  sein  einziger  Trost  nicht  selber  ist.  O  weh,  Herr,  du  solltest  — 
darf  ich  es  aussprechen?  —  den  armen  liebenden  Herzen  ein  wenig  treuer  sein, 
die  da  nach  dir  darben  und  vergehen,  die  so  manchen  innigen,  unergründlichen 
Seufzer  nach  dir.  ihrem  einzigen  Lieb,  aufsteigen  lassen,  die  so  sehnsuchtsmatt  nach 
dir  aufsehen  und  mit  herzlicher  Stimme  sprechen:  Revertere,  reverterel" 
(Seuse).  109 

„Schmachtend  um  euch,  muß,  Lieb',  ich  mich  verzehren 

Und  rufend  geh'n  umher,  dich  zu  umfangen; 

Lebendig  sterb'  ich,  willst  du  nicht  mehr  kehren. 

Und  wein'  und  seufz',  aufs  neu  dich  zu  erlangen. 

Und  kehrst  du.  kann  die  Enge  nicht  mehr  wehren, 

Es  wächst  das  Herz,  das  in  dich  aufgegangen; 

O  stille  mein  Verlangen, 

Komm,  heile  meine  Wunden, 

Lieb'  hält  mich  so  gebunden. 

Die  letzte  Kraft  entschwand."  (Jacopone  da  Todi).  107 

3.  Liebesseligkeit. 
Wenn  die  unlustvolle  Gefühlskälte  der  lustvollen  Wärme  des  Liebes- 
affektes Platz  gemacht  hat,  dann  bricht  die  strömende  Wonne  des 
Herzens  im  süßen,  trauten  Liebesplaudern  durch.  „Nun  fange  ich  an," 
bekennt  Seuse,  „mit  Freiheit  zu  reden;  ich  will  reden  zu  meinem  Herrn, 
zu  meinem  Gemahl,  niemand  kann  mich  abhalten.  Ich  will  mit  meinem 
Geliebten  kosen,  denn  das  begehre  ich  von  Herzen."  108  Der  Affekt  ist 
oft  so  gewaltig,  daß  die  Sprache  versagt  und  nur  abgerissene  Lallworte 
von  den  Lippen  des  gottbegnadeten  Menschen  kommen.  „Es  sind  Worte 
der  Liebe,"  lehrt  uns  Teresa,  „die  Seele  kennt  in  ihrer  süßen  Ent- 
zückung nicht  mehr  den  Unterschied  zwischen  Gott  und  sich  selbst; 
die  Liebe,  die  sie  von  ihm  empfing,  bewirkt,  daß  sie  sich  selbst  ver- 
gessend in  ihm  wiederfindet,  als  etwas,  das  sein  eigen  ist;  und  in  diesem 
Zustand  geschieht  es,  daß  sie  in  trunkener  Seligkeit  nur  stammeln 
kann."  109  Bisweilen  aber  bleibt  die  Liebesseligkeit  ganz  stumm,  das 
Liebesgebet  ist  dann  nur  ein  wortloses  Entzücktsein  und  Genießen, 
Kosen  und  Umarmen.  „Was,  mein  Geliebter,"  sagt  Seuse,  „was,  Er- 
füllung all  meiner  Begierde,  was  soll  ich,  geliebter  Herr,  sagen,  wo  ich 
doch  vor  Liebe  verstummt  bin  ?  Mein  Herz  ist  voller  Liebesworte, 
könnte  meine  Zunge  sie  nur  vorbringen  !    Es  ist  grundlos,  was  ich  emp- 


340  F  HI.   Das  Gebet  in  der  Mystik 

finde,  es  ist  endlos,  was  ich  liebe,  und  darum  wortlos,  was  ich  im  Sinn 
habe."  no  Von  dem  trunkenen  Liebesstamme  In  und  süßen  Liebeskosen 
in  solchen  Gnadenstunden  geben  uns  die  dichterischen  Liebesgebete 
der  Brautmystiker  nur  ein  schwaches  Bild. 

„Du  bist  doch  den  Augen  der  Allerhöchste,  dem  Mund  der  Allersüßeste,  der 
Berührung  der  Allerzarteste,  dem  Heizen  der  Allerliebwerteste."  „Du  bist  mein 
König,  du  bist  mein  Herr,  du  bist  mein  Lieb,  du  bist  meine  Freude,  bist  meine 
gute  Stunde,  du  bist  mein  fröhlicher  Tag,  bist  alles,  was  dem  Herzen  freundliche 
Lieb'  bereiten  mag.  Und  darum,  mein  Geliebter,  was  bedarf  es  noch  der  Rede: 
Du  bist  mein,  so  bin  ich  dein,  und  das  muß  immer  und  ständig  sein"  (Seuse).  110 
,,Tu  totus  meus,  et  ego  totus  tuus",  betet  auch  der  Verfasser  der  Imitatio.  nl 
„Sieh'  da,  mein  liebliches  Lieb,  so  entblöße  ich  mein  Herz  und  in  der  einfältigen, 
aller  Geschaffenheit  baren  Nacktheit  umfange  ich  deine  erscheinungslose  Gott- 
heit" (Seuse)  nJ.  „Herr,  nun  bin  ich  eine  nackte  Seele  und  du  in  ihr  selber  ein 
wohlgezierter  Gott.  Unser  zweier  Gemeinschaft  ist  die  ewige  Liebe  ohne  Tod." 
„Dein  Blut  und  mein  Blut  ist  ungetrübt  und  eines,  deine  Minne  und  meine  Minne 
ist  ungeteilt  und  eine,  dein  Kleid  und  mein  Kleid  ist  unbefleckt  und  eines,  dein 
Mund  und  mein  Mund  ist  ungeküßt  und  wird  einer"  (Mechthild  von  Magde- 
burg). "» 

„Mein  Jesu,  sei  gegrüßet, 

Sei  tausendmal  geküsset, 

Sei  brünstiglich  umfangen, 

Du,  meines  Geists  Verlangen."     (Zinzendorf).  nl 

Das  Beten  der  Brautmystik  weist  von  allen  Formen  des  mystischen 
Betens  die  größte  Verwandtschaft  mit  dem  naiven  Bittgebet  auf.  In 
ihm  lebt  etwas  von  dem  naiven  Eudämonismus  und  Egoismus  des  naiven 
Beters:  es  verbindet  mit  der  ausschließlichen  Hinwendung  auf  Gott  das 
Verlangen  nach  lustbetonten  Stimmungen  und  Affekten,  hinter  dem 
ein  gewisser  Egoismus,  eine  geheime  Genußfreude  sich  verbirgt.  Die 
dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottesvorstellung  verrät  denselben  kon- 
kreten Anthropomorphismus,  der  allem  primitiven  Beten  zugrundeliegt. 
Gott  ist  nicht  das  völlig  geistige,  unendliche  summum  bonum,  sondern 
der  milde  und  liebevolle  Bräutigam,  der  so  menschlich  denkt  und  fühlt, 
der  von  derselben  heißen  Liebessehnsucht  brennt  wie  die  fromme  Seele, 
die  sich  in  der  Liebe  zu  ihm  verzehrt.  Das  Gebet  der  erotisch  gefärbten 
Mystik  zeigt  ferner  viel  deutlicher  als  das  rein  kontemplative  Beten 
der  Mystik  den  primitiven  Realismus  des  unmittelbaren  Verkehrs  mit 
Gott.  Das  Verhältnis  zu  Gott  ist,  wie  im  naiven  Beten,  der  deutliche 
Reflex  einer  soziologischen  Beziehung,  des  irdischen  Liebes-  und  Braut- 
verhältnisses. Dem  intimen  Liebesverhältnis  entsprechend,  treten  Scheu, 
Ehrfurcht  und  Abhängigkeitsgefühl  im  Beten  zurück:  Mechthild  wird 
vom  Herrn  aufgefordert,  „Furcht  und  Scham  abzutun";  115  Teresa  er- 
zählt, daß  sie  im  Liebestaumel  „in  dreister  Weise  mit  Gott  rede".  116 
Katharina  von  Emmerich  berichtet:  „Wenn  ich  manchmal  nachts  in 
meiner  Zelle  von  der  Liebe  und  Barmherzigkeit  hingerissen,  in  trunkener 
vertraulicher  Rede  gegen  ihn  ausbrach,  wie  ich  es  von  Kind  auf  getan 
habe,  und  ich  wohl  belauert  ward,  ward  ich  großer  Keckheit  und  Ver- 
messenheit gegen  Gott  beschuldigt." 117  Die  Niveauunterschiede 
zwischen  Mensch  und  Gott  verschwinden:  Liebender  und  Geliebter 
stehen  auf  einer  und  derselben  Stufe.  „Du  bist  mein,  ich  bin  dein," 
ruft  die  mit  ihrem  himmlischen  Bräutigam  eins  gewordene  Seele;  und 


Die  quietistische  Mystik  341 


dieses  Gebetswort  hallt  wieder  im  göttlichen  Echo.  „Du  bist  mein  und 
ich  bin  dein,"  antwortet  Christus  der  hl.  Teresa; 118  ,,du  bist  mein  Lieb, 
so  bin  ich  dein  Lieb,"  spricht  der  Heiland  zu  Margaretha  Ebner.  119 
Das  Bewußtsein  der  Distanz  von  Mensch  und  Gott,  das  dem  primitiven 
Gebet  wesentlich  ist  und  das  auch  in  der  reinen  mystischen  Kontem- 
plation des  summum  bonum  so  ergreifenden  Ausdruck  findet,  ist  in  der 
Liebesseligkeit  des  Brautmystikers  untergegangen. 

All  diese  Momente  —  die  zarte  und  leidenschaftliche  Erotik,  das  naive 
Seligkeitsverlangen,  der  kräftige  Anthropomorphismus,  der  Reflex 
irdisch-sozialer  Beziehungen,  das  Aufhören  des  Abstandes  von  Mensch 
und  Gott  —  unterscheiden  das  Gebet  der  Brautmystik  deutlich  von 
dem  Gebet  der  reinen  spiritualistischen  Mystik.  Dennoch  stellt  es  gegen- 
über letzterem  nicht  einen  selbständigen  Gebets typus,  sondern  lediglich 
eine  Variante  dar.  Schon  der  eine  Umstand,  daß  in  der  Frömmigkeit  der 
Brautmystiker  spiritualistische,  kontemplative  Gebete  neben  naiven, 
erotisch  gefärbten  stehen  und  in  sie  übergehen,  weist  darauf  hin,  daß 
beide  Gebetsweisen  keine  Gegensätze  darstellen.  In  dem  süßen  bräut- 
lichen Liebesgespräch  nimmt  nur  die  mystische  Konzentration  und 
Kontemplation  des  summum  bonum  schlichte  und  herzliche  menschliche 
Formen  an.  Die  Hinwendung  zum  Höchsten,  das  Aufgehen  im  Unend- 
lichen verliert  seinen  abstrakten  Charakter  und  gewinnt  lebendige 
Anschaulichkeit  und  konkrete  Farbe.  Die  Brautmystik  hat  darum 
etwas  Gemeinsames  mit  der  Kultmystik;  beide  zeigen  gegenüber  der 
völlig  geistigen  Mystik  ein  sinnliches  Moment.  Diese  holt  ihre  Innigkeit 
und  Wärme  aus  der  Schau  eines  äußeren,  wahrnehmbaren  Kultobjekts, 
jene  entzündet  ihre  Leidensschaft  und  Herzlichkeit  an  den  farben- 
gesättigten Phantasiebildern  der  Erotik.  Beide  aber  sind  in  ihrer  glühen- 
den Gottesliebe  und  Gottesbegeisterung  echte  Mystik. 

c)  Die  quietistische  Mystik. 
Die  quietistische  Mystik  muß  aus  dem  Gegensatz  zur  affektiven  Braut- 
mystik begriffen  werden.  Der  Quietismus  sucht  die  durch  die  Er- 
schöpfung des  Affekts  bedingten  Zustände  der  Erstorbenheit  des  Gefühls, 
der  ,Kälte',  , Dürre',  Trostlosigkeit  durch  radikale  Resignation  und 
Indifferenz  zu  überwinden.  Der  quietistische  Gedanke  taucht  schon 
bei  den  mittelalterlichen  Brautmystikern  (Mechthild  von  Magdeburg, 
Seuse,  Imitatio)  auf,  stärker  tritt  er  bei  Teresa  hervor;  hier  ordnet 
er  sich  jedoch  überall  dem  Brautmotiv  unter ;  bei  Franz  von  Sales  über- 
wiegt bereits  die  quietistische  Idee  das  Brautmotiv.  In  der  romanischen 
Mystik  des  17.  Jahrhunderts  gelangte  schließlich  der  Quietismus  zur 
Alleinherrschaft 120  und  erzeugte  einen  Typ  mystischer  Erfahrung,  der 
die  christliche  Frömmigkeit  in  ihrem  Mark  bedrohte.  Mit  einem  ge- 
sunden Instinkt  hat  zuletzt  die  Kirche  die  radikale  Ausprägung  des 
Quietismus  abgelehnt.  Die  älteren  Quietisten,  Franz  von  Sales,  Madame 
Chantal,  Frere  Laurent  de  la  Resurrection,  Bischof  Petrucci,  Kardinal 
Bona  blieben  noch  unbehelligt.  Erst  als  durch  die  Schriften  Guyons 
und  noch  mehr  durch  den  Guida  spiritale  des  Molmos  die  quietistische 
Frömmigkeit    den    ganzen    romanischen    Katholizismus    erfaßt    hatte, 


342  FIII.  Das  Gebet  in  der  Mystik 

wurde  sie  als  häretisch  gebrandmarkt:  Molinos  mußte  abschwören, 
Fenelon  mußte  Widerruf  leisten,  Päre  Lacombe  und  Madame  Guyon 
wurden  verfolgt.  Aus  der  katholischen  Kirche  verdrängt,  fand  der 
Quietismus  in  protestantischen  Kreisen  (Arnold,  Tersteegen)  begeisterte 
Aufnahme.  Eine  Parallele  zum  quietistischen  Gedenken  in  der  abend- 
ländischen Mystik  bietet  jene  Richtung  der  indischen  Bhakti-Mystik, 
welche  tydga  (Hingabe)  und  prapatti  (Gelassenheit)  als  religiöses  Ideal 
preist.  121 

Die  quietistische  Mystik  ist  affektlos;  sie  strebt  nach  völliger  Apathie, 
Willenlosigkeit,  Leere;  die  rücksichtslose  Mortifikation  der  Sinnes- 
empfindungen und  natürlichen  Gefühle  steigert  sich  bei  Madame  Guyon 
zu  pathologischer  Selbstquälerei.  Die  konsequente  quietistische  Mystik 
verhält  sich  völlig  ablehnend  gegen  alle  ekstatischen  und  visionären 
Erfahrungen.  Die  außerordentlichen  mystischen  Erlebnisse  sind  für  sie 
ebensowenig  wie  die  zarten  Lustgefühle  und  schmelzenden  Seligkeits- 
stimmungen das  Kriterium  für  die  gnadenreiche  Präsenz  Gottes.  Die 
quietistische  Mystik  ist  phantasielos  im  Gegensatz  zu  dem  Reichtum 
an  bildhaften  Vorstellungen,  den  die  Kultmystik  und  Brautmystik  auf- 
weisen. Die  nach  der  Vollkommenheit  strebende  Seele  muß,  wie  Kardinal 
Bona  sagt,  „von  allen  bildlichen  Vorstellungen  sich  mehr  und  mehr  aus- 
leeren, der  Glaube  muß  zum  nackten  Glauben  werden,  mit  dem  sie 
unmittelbar  Gott  selbst  und  nur  ihm  sich  zuwendet."  122  Die  quietistische 
Mystik  verwirft  das  erotische  Verlangen  der  Brautmystiker  ,,nach 
süßen  Gefühlen  und  zärtlichen  Tröstungen"  (Teresa),  123  nach  dem  „etre 
caresse"  (Guyon)  124  als  geheimen  Egoismus.  „Die  Frömmigkeit,"  sagt 
Franz  von  Sales,  „besteht  nicht  in  dieser  sanften  Stimmung,  nicht  in 
fühlbarem  Trost  und  in  der  süßen  Zärtlichkeit  des  Herzens,  welche 
Tränen  und  Seufzer  hervorbringt."  125  Der  wahre  Fromme  muß  lust- 
volle und  unlu.stvolle  Stimmungen  in  gleicherweise  aus  der  Hand  Gottes 
hinnehmen:  „Licht  und  Finsternis,  Leichtigkeit  und  Unfruchtbarkeit, 
Kraft  und  Schwäche,  Versuchung,  Mühe,  Langweile  und  Ungewißheit."126 
Der  Zustand  der  siccitas,  der  vollen  inneren  Trostlosigkeit  und  Ver- 
lassenheit gilt  als  ein  geistiges  Martyrium,  als  Nachfolge  des  gekreuzigten 
Heilandes,  durch  welche  die  Seele  zur  Vollendung  gelangt.  „Qui  n'a 
pas  le  goüt  de  la  croix,  n'a  pa3  le  goüt  de  Dieu,"  sagt  Madame  Guyon  127. 

Das  religiöse  Ideal  der  quietistischen  Mystik  ist  die  sanc  ta  indifferentia, 
die  absolute  Resignation,  die  völlige  Gleichförmigkeit  des  menschlichen 
Willens  mit  dem  göttlichen,  die  interesselose  Liebe  zu  Gott  (amour 
desinteresse).  Das  quietistische  Gebet  kann  darum  nichts  anderes  sein 
als  die  Realisierung  dieser  sainte  indifference.  „Beten  und  Resignation 
ist  eines  und  dasselbe,"  lautet  ein  Axiom  des  Molinos.  128  Diese  quie- 
tistische Indifferenz  ist  eine  vage,  sanfte  Stimmung,  sie  entbehrt  jeder 
Affektivität,  darum  tritt  sie  meist  nicht  nach  außen  im  Gebetswort 
und  Gebetsruf;  das  quietistische  Gebet  ist  fast  stets  wortlos.  In  tiefster 
Ruhe  und  in  völligem  Schweigen  verharrt  die  Seele,  die  all  ihr  Wünschen 
und  Begehren  ertötet  hat.  Molinos  und  Frere  Laurent  enthielten  sich 
beim  Beten  jeden  Wortes,  sie  hielten  sich  unfähig  selbst  das  Vaterunser 
zu  sprechen.  129     Madame  Guyon  sagt  von  der  im  Indifferenzzustand 


Das  quietistische   Gebet  343 


befindlichen  Seele:  „Ein  mündliches  Gebet  zu  tun  ist  ihr  kaum  noch 
möglich.  Ein  einziges  Unservater  würde  sie  eine  Stunde  hinhalten."  13° 
Aber  nicht  nur  von  Worten,  sondern  auch  von  allen  konkreten  Vor- 
stellungen muß  sich  der  Beter  frei  halten.  Bischof  Pietro  Petrucci  sagt: 
,rDas  innere  Herzensgebet,  welches  die  Seele  ohne  Worte  in  der  stillen 
Ruhe,  die  sie  in  Gott  hat,  verrichtet,  ist  die  Äußerung  des  von  allen 
Stützen  der  Erkenntnis,  von  allem  Gefühl  und  allen  bildlichen  Vor- 
stellungen befreiten,  reinen,  einfachen,  nackten,  dunklen  Glaubens  und 
der  von  aller  Lohnsucht  freien,  reinen  Liebe."  131  Einer  der  verur- 
teilten Sätze  des  Molinos  lautet :  „Man  muß  im  Gebete  mit  einem  dunklen 
und  allgemeinen  Glauben  in  Ruhe  beharren  und  muß  jeden  anderen 
konkreten  Gedanken  an  Gottes  Eigenschaften  vergessen."  132  Die  Ent- 
leerung des  Psychischen  von  allem  Vorstellungs-,  Gefühls-  und  Willens- 
leben bedingt  bisweilen  eine  Trübung  des  Bewußtseins.  Darum  die 
Maxime  der  Madame  Guyon:  „Dieses  Gebet  bedarf  keiner  Worte,  ja 
der  Betende  braucht  sich  seines  Betens  gar  nicht  einmal  klar  bewußt 
zu  sein."  133 

Den  ganzen  Inhalt  des  quietistischen  Gebets  bildet  die  Willens- 
hingabe an  Gott,  die  restlose  Ergebung  in  seinen  Willen,  die  Aufopferung 
des  eigenen  Ich. 

Ein  spanischer  Mystiker,  Gregor  Lopez,  betete  drei  Jahre  lang  kein  anderes 
Gebet  als  die  Worte:  „Dein  Wille  geschehe  wie  im  Himmel  also  auch  auf  Erden! 
Amen.  Jesu".  1S*  Madame  Chantal  betet  im  Zustand  tiefster  Trostlosigkeit: 
„Ja,  Herr,  tue  was  dir  gefällt;  ich  will  es.  Vernichte  mich,  ich  bin  damit  zufrieden. 
Zermalme  mich,  ich  will  es.  Reiße  aus,  haue  ab,  verbrenne  alles  nach  deinem 
Belieben,  ich  gehöre  ganz  dir  an".  13S  Dieselbe  grandiose  Selbstverachtung  und 
Selbstpreisgabe  kommt  in  einem  Gebet  der  Madame  Guyon  zum  Ausdruck: 
„O  du  Wille  meines  Gottes  würdest  in  der  Hölle  mein  Paradies  sein.  Du  Paradies 
würdest  ohne  den  Willen  meines  Gottes  nur  eine  Hölle  sein!  O  mein  Gott, 
mache  meinen  Willen  zunichte  und  mir  soll  nichts  lieber  sein  wie 
meine  Vernichtung!  O  du  Wille  meines  Gottes,  du  bist  das  Paradies  des 
Paradieses,  der  Gott  meines  Gottes!"  13*  Die  restlose  Selbsthingabe  an  Gottes 
Willen  geht  bei  dieser  Mystikerin  sogar  so  weit,  daß  sie  „einwilligt  in  den  Verlust 
der  ewigen  Seligkeit",  daß  sie  ,,Gott  selbst  bittet,  ihre  Seele  in  die  Hölle  zu  werfen, 
damit  sie  nicht  länger  gegen  ihn  sündige".  Auch  „in  der  ewigen  Verdammnis 
will  sie  Gott  lieben  und  durch  die  vollkommenste  Ergebnng  in  seinen  Willen 
seinen  heiligen  Namen  verherrlichen"  137.  In  abgeklärter  Form  kommt  diese 
rücksichtslose  Hingabe  an  Gott  in  den  Gebeten  Föneions  zum  Ausdruck,  „Herr, 
ich  weiß  nicht,  um  was  ich  dich  bitten  soll.  Nur  du  weißt,  was  ich  brauche.  Du 
liebst  mich  besser,  als  ich  mich  selbst  zu  lieben  weiß.  Ich  wage  dich  nicht  zu 
bitten,  weder  um  Kreuze  no^h  um  Tröstungen,  ich  bringe  einfach  mein  Herz  dir 
dar.  Schlage  oder  heile,  beuge  mich  nieder  oder  richte  mich  auf;  ich  bete  alle 
deine  Ratschläge  an,  ohne  sie  zu  kennen.  Ich  schweige  nur,  ich  bringe  mich  dir 
zum  Opfer;  ich  gebe  mich  dir  hin.  Ich  habe  kein  anderes  Verlangen,  als  deinen 
Willen  zu  tun.     Lehre  mich  beten,  bete  du  in  mir".  138 

Die  quietistischo  Indifferenz  schließt  alles  Bitten  aus  dem  Gebet  aus; 
denn  das  Bitten  geht  aus  dem  Wünschen,  Sehnen  und  Vorlangen  hervor, 
das  der  quietistischo  Mystiker  ertöten  muß.  „Die  Seele,"  sagt  Franz 
von  Sales,  „hat  Gott  gegenüber  keine  andere  Stimmung  als  die  der 
Erwartung  (attente),  welche  die  Furcht  und  Hoffnung  als  Regungen 
der  Selbstsucht  ausschließt."  139  Weil  alles  Eigenwünschen  und  Eigen- 
wollen vernichtet  werden  muß,  darum  sind  Bitten  um  geistigo  Gaben 
und   Gnaden  ebenso  verpönt  wie  solcho  um  Leben  und   Gesundheit. 


344  Pill.  Das    Gebet  in  der  Mystik 

Madame  Guyon  beteuerte  dem  Bischof  Bossuet,  daß  sie  unfähig  sei, 
Gott  im  Gebet  Bitten  vorzutragen.  140  Einer  der  verurteilten  Sätze  des 
Molinos  besagt:  „Wer  sich  dem  göttlichen  Willen  überlassen  hat,  dem 
geziemt  es  nicht,  Gott  um  irgend  etwas  zu  bitten,  weil  das  Bitten  als 
Akt  des  eigenen  Willens  und  der  eigenen  Wahl  eine  Unvollkommenheit 
ist  und  ein  Begehren,  daß  der  göttliche  Wille  sich  nach  dem  unsrigen 
gestalte  und  nicht  der  unsrige  nach  dem  Willen  Gottes."  Auch  das  Dank- 
und  Preisgebet  ist  verwerflich.  „So  wie  diese  Seelen  Gott  um  nichts 
bitten  dürfen,  so  dürfen  sie  auch  nicht  für  etwas  danken,  weil  das  eine 
ebenso  wie  das  andere  ein  Akt  des  eigenen  Willens  ist."  141  Angelus 
Silesius  hat  diese  Gedanken  in  ein  poetisches  Gewand  gehüllt. 

„Begehrst  du  was  mit  Gott,  ich  sage  klar  und  frei, 

Wie  heilig  du  auch  bist,  daß  es  dein  Abgott  sei." 

„.Wer  Gott  um  Gaben  bitt't,  der  ist  gar  übel  dran. 

Er  betet  das  Geschöpf  und  nicht  den  Schöpfer  an." 

„Mensch,  so  du  Gott  noch  pflegst  urn  dies  und  das  zu  danken, 

Bist  du  noch  nicht  versetzt  aus  deiner  Schwachheit  Schranken." 

„Wie  selig  ist  der  Mensch,  der  weder  will  noch  weiß, 

Der  Gott  (versteht  mich  recht)  nicht  giebet  Lob  und  Preis".  I4a 

Als  reines  Ergebungsgebet  trägt  das  Gebet  der  quietistischen  Mystik 
einen  gewissen  passiven  Charakter;  der  Beter  fordert  und  fleht  nicht, 
er  überläßt  sich  ohne  Vorbehalt  dem  souveränen  Willen  Gottes.  Darum 
sprechen  die  Quietisten  gerne  vom  ,passiven  Gebet'  oder  ,passiven 
Herzensgebet'  als  dem  allein  wahren  und  vollkommenen  Gebet 143.  Sie 
vergleichen  die  gelassene,  gotthingegebene  Seele  mit  dem  Wachs,  das 
sich  nach  Belieben  drücken  und  formen  läßt,  144  mit  einer  leblosen  Statue, 
die  ihr  Besitzer  nach  seinem  Gutdünken  dahin  oder  dorthin  stellt. 
Franz  von  Sales  sagt: 

„Wenn  man  sich  in  die  Gegenwart  Gottes  gestellt  hat,  so  bleibt  man  immer 
darin.  Man  sieht  nicht  auf  ihn,  noch  spricht  man  von  ihm;  man  bleibt  ganz  ein- 
fach da,  wohin  man  von  Gott  gesetzt  ist,  wie  eine  Statue  in  ihrer  Nische.  Würde 
man  eine  solche  fragen:  warum  bist  du  da,  so  würde  sie  antworten:  weil  der  Bild- 
hauer mich  dahin  gestellt  hat.  Warum  bewegst  du  dich  nicht?  Weil  er  will, 
daß  ich  unbeweglich  bleibe.  Aber  hättest  du  nicht  gerne  die  Kraft,  dich  zu  be- 
wegen um  näher  zu  ihm  hintreten  zu  können  ?  Nein,  es  sei  denn,  daß  er  es  befehle. 
Hast  du  denn  gar  keine  Wünsche  ?  Nein,  denn  ich  bin  da,  wohin  mich  mein 
Meister  gestellt  hat;  sein  Belieben  ist  die  einzige  Befriedigung  meines  Wesens".  14fc 

Aber  diese  Passivität  und  Willenlosigkeit  ist  nur  die  Außenseite  des 
quietistischen  Ergebungsgebets;  hinter  ihr  verbirgt  sich  eine  lebendige 
Aktivität  und  Willenskraft.  Nach  Madame  Guyon  ist  das  stille  passive 
Herzensgebet  nicht  ein  dumpfes  Brüten  ohne  Leben,  sondern  ein  freies, 
lebendiges  ,Haften'  (adherance)  an  Gott.  146  Die  vorbehaltlose  Selbst- 
hingabe, die  gänzliche  Überlassung  an  Gott,  die  radikale  Aufopferung 
des  Willens  ist  eine  Willenstat,  sie  ist  nur  möglich,  bei  höchster  Span- 
nung geistiger  Aktivität  und  verträgt  sich  nicht  mit  einer  Herabdämpfung 
der  Bewußtseinshelligkeit.  Erst  wenn  diese  Willensspannung  erlahmt, 
beginnt  das  Bewußtsein  sich  zu  trüben,  die  mystische  Seele  geht  aus 
dem  Gebetszustand  der  Indifferenzstimmung  über  in  den  nirväna- 
ähnlichen  Zustand  des  ,mystischen  Todes',  der  ,Vernichtung'  (s.  o.S.  316  f.). 

Auch  das  quietistische  Beten  ist  getragen  und  durchdrungen  von  dem 
geheimnisvollen  Erlebnis  der  Präsenz  Gottes  im  tiefsten  Seelengrunde, 


Die  Versenkung  im  Buddhismus  345 

das  allem  mystischen  Beten  wesentlich  ist.  Im  lautlosen  Schweigen  und. 
in  der  ruhevollen  Gelassenheit  spürt  der  Quietist  den  sanften  Hauch 
Gottes.  An  die  ungemein  vage,  unbestimmte  Indifferenzstimmung 
knüpft  sich  die  Erfahrung  von  der  Gegenwart  eines  Unendlichen.  Für 
manche  quietistische  Mystiker  schrumpft  überhaupt  das  Ergebungs- 
gebet zum  bloßen  Erlebnis  der  Präsenz  Gottes  zusammen.  Frere  Laurent, 
„in  dessen  Leben  die  quietistische  Frömmigkeit  in  vollendeter  Gestalt 
erscheint,"  sagt,  seine  Gebete  seien  nichts  anderes  als  ,Vexercice  de  la 
prescence  de  Dieu1.  147 

Das  quietistische  Gebet  ist  die  radikalste  Form,  die  das  Beten  an- 
nehmen kann.  Die  quietistische  Mystik  löst  das  echte  Gebet  ebenso  auf 
wie  die  kalte  philosophische  Kritik.  Der  Gedanke  an  Gottes  Gegenwart 
bleibt  schließlich  als  der  einzige  kümmerliche  Rest  des  wüklichen  Betens. 
Hierin  liegt  auch  der  einzige  Unterschied  zwischen  dem  quiet  istischen 
Gebet  und  der  buddhistischen  Versenkung,  der  ,sainte  indifferencei  des 
christlichen  Quietisten  und  der  ,leid-  und  freudlosen'  upekkhd  des 
buddhistischen  Bettelmönchs.  Es  waren  in  der  Tat  buddhistische 
Stimmungen  und  Gedanken,  welche  die  quietistische  Mystik  des  17. 
Jahrhunderts  beherrschten  und  am  Marke  der  christlichen  Frömmigkeit 
zehrten. 

d)  Die  Versenkung  im  Buddhismus. 

„Was  für  andere  Religionen  das  Gebet  ist,  ist  für  den  Buddhismus 
die  Andacht  der  Versenkung."  Mit  diesem  Urteil  Oldenbergs  148  berührt 
sieh  das  Urteil  eines  anderen  feinsinnigen  Interpreten  der  buddhistischen 
Mystik,  Hermann  Beckh:  „Man  kann  das  Wesen  des  Buddhismus  als 
einer  Religion  und  zugleich  seinen  Unterschied  von  anderen  Religionen 
auf  keinem  anderen  Wege  richtiger  erfassen,  als  wenn  man  auf  die  Be- 
deutung der  Meditation  hinweist  und  sie  vergleicht  mit  der  Rolle,  die 
in  anderen  Religionen  das  Gebet  spielt.  WTie  für  andere  Religionen  das 
Gebet  den  Nerv  des  religiösen  Lebens  bildet,  so  ist  für  den  Buddhismus 
dieser  Nerv  des  religiösen  Lebens  die  Meditation,  die  meditative  Ver- 
senkung in  das  Geistige,  Übersinnliche."  149  Die  Versenkung  spielt  in 
der  Tat  im  Buddhismus  dieselbe  Rolle,  die  in  der  neuplatonischen, 
süfistischen,  hinduistischen  und  christlichen  Mystik  dem  meditativen 
und  kontemplativen  Gebet  zukommt.  Zwar  erscheint  auf  den  ersten 
Blick  die  buddhistische  Versenkung  als  etwas  von  dem  mystischen 
Gebet  völlig  Verschiedenes;  alle  die  charakteristischen  Wesenszüge  des 
mystischen  Gebetes  fehlen :  die  Hinwendung  zu  Gott  als  dem  höchsten 
Gute,  das  Erleben  der  Präsenz  Gottes  im  Seelengrunde,  der  lebendige 
Kontakt  und  .Verkehr'  mit  dem  Göttlichen.  Aber  so  verschieden  die 
phänomenologische  Struktur  der  buddhistischen  Versenkung 
von  der  des  mystischen  Gebets  erscheint,  so  deutlich  ist  die  psycho- 
logische Verwandtschaft.  Schon  der  Vergleich  der  vier  Jhäna- 
Stufen  mit  den  Gebetsstufen  der  christlichen  und  neuplatonischen 
Mystiker  (s.  o.  S.  3 10  ff .)  zeigt  in  überraschender  Weise,  daß  sich  hier  wie 
dort  analoge  seelische  Vorgänge  abspielen.  Aber  es  besteht  nicht  nur 
eine  psychologische  Ähnlichkeit,  sondern  letzten  Endes  auch  eine  innere, 


346  F  HI-   Das  Gebot  in  der  Mystik 


phänomenologische  Verwandtschaft.  Auch  die  buddhistische  Ver- 
senkung ist  in  ihrer  Art  ein  Aufstieg  zum  sumrnum  bonum,  freilich  nicht 
im  positiven  Sinne,  nicht  die  lebendige  Hinwendung  an  eine  höchste 
göttliche  Realität,  sondern  im  negativen  Sinne,  ein  Sichentleeren 
und  Sichentselbsten,  das  im  Nirväna  seinen  Endpunkt  findet.  Weil 
das  Nirväna  nichts  anderes  ist  als  das  summum  bonum  der  Mystik,  nur 
in  seiner  negativsten  Fassung  (s.  o.  S.  255.  260),  darumist  auch  die  dem 
Nirväna  zustrebende  Versenkung  nichts  anderes  als  ein  Sicherhoben 
zum  Letzten  und  Höchsten,  also  ein  mystisches  Beten.  Die  buddhistische 
Versenkung  hat  nur  all  jene  Momente  abgestreift,  welche  das  mystische 
Gebet  zum  , Gebet'  im  Ursinne  des  Wortes  machen.  Die  buddhistische 
Versenkung  ist  mystisches  ,  Gebet'  genau  in  dem  Sinne,  als  der  Buddhis- 
mus mystische  »Religion'  ist. 

Da  ich  die  .buddhistische  Versenkung'  in  einer  besonderen  Monographie  be- 
handelt habe  (München  1918),  genügt  es  hier  auf  sie  zu  verweisen. 

Schlußcharakteristik  des  mystischen  Gebets. 

Das  mystische  Gebet  ist  in  seiner  klassischen  Ausprägung  die  sublimste 
Form  alles  Betens.  Es  ist  frei  vom  Egoismus,  Eudämonismus  und 
Anthropomorphismus  des  primitiven  Betens  — ■  und  ist  doch  echtes, 
lebendiges  Beten,  kein  blasses  Abstraktionsprodukt  wie  das  aus  der 
rationalen  und  ethischen  Kritik  geborene  philosophische  Gebetsideal. 
Die  feierlich-erhabene  Kontemplation  des  summum  bönum,  in  der  der 
Fromme  sich  völlig  verliert  an  den  unendlichen  Gott,  erscheint  vielen 
als  die  roinsto  und  zarteste,  innigste  und  tiefste  Form  alles  Gebetes. 
Viele  sind  geneigt,  das  mystische  Gebet,  den  Aufstieg  der  Seele  zum 
höchsten  Wert,  als  die  vollendetste  Form  des  Gebets  zu  bezeichnen. 
Denn  auch  der  biblisch-prophetische  Gebetstyp,  dem  sich  jetzt  unsere 
Untersuchung  zuwendet,  zeigt  nicht  jene  Zartheit,  Feinheit  und  weltabge- 
schiedene Geistigkeit,  die  dem  augustinisch-mystischen  Gebetstyp  eigen 
ist;  die  alt-  und  neutestamentliche  wie  die  reformatorische  Gebets- 
frömmigkeit bleibt  hinter  dem  grandiosen  Schwung  des  mystischen 
Betens  zurück.  Dennoch  steht  die  biblisch-reformatorische  Gebetsweise 
in  ihrer  anspruchslosen  Schlichtheit  und  kindlichen  Treuherzigkeit,  in 
ihrer  gesunden  Leidenschaft  und  urwüchsigen  Kraft  dem  rein  mensch- 
lichen Fühlen  ungleich  näher  als  die  kontemplativ-mystische  Gebets- 
frömmigkeit in  ihrer  stillenAbgeklärtheit  und  majestätischenFeierlichkeit, 
ihrer  schmelzenden  Zärtlichkeit  und  verzehrenden  Liebeshingabe. 


IV.  Das  Gebet  in  der  prophetisch-evangelischen  Frömmigkeit. 

Die  Darstellung  des  Gebets  in  der  prophetisch-biblischen  Religion 
unterliegt  wie  die  des  mystischen  Gebets  nicht  geringen  Schwierigkeiten. 
Auch  dieser  Typ  persönlicher  Religion  findet  nur  in  relativ  wenigen 
Persönlichkeiten  eine  völlig  reine  Ausprägung,  Bei  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  religiösen  Genien  stellt  dasFrömmigkeitsleben  eine  Mischung 
des  mystischen  und  prophetischen  Typs  dar  — -  natürlich  in  den  mannig- 
faltigsten Graden  und  Abstufungen.  Was  wir  von  dem  Beten  der  eigent- 
lich schöpferischen  Persönlichkeiten  der  prophetischen  Religion  wissen, 
ist  verhältnismäßig  wenig,  jedenfalls  zu  spärlich,  als  daß  man  darauf 
eine  erschöpfende  psychologische  Darstellung  des  prophetischen  Gebets- 
typus aufbauen  könnte.  Von  dem  Gebetsleben  der  Väter  der  beiden 
Offenbarungsreligionen,  Mose  und  Zarathuschtra,  besitzen  wir  keine 
unmittelbaren  Zeugnisse.  Die  Gebete,  welche  der  Pentateuch  (Jahwist 
und  Elohist)  von  Moses,  die  Gäthas  von  Zarathuschtra  überliefern, 
sind  in  der  heutigen  Fassung  eine  Komposition  ihrer  Epigonen:  sie 
geben  jedoch  ein  zutreffendes  Bild  von  dem  kraftvollen,  dramatischen 
Realismus,  der  den  Gebetsverkehr  dieser  Männer  mit  Gott  auszeichnet. 
Von  den  alttestamentlichen  Propheten,  von  Jesus  und  Paulus  besitzen 
wir  sehr  wertvolle,  authentische  Zeugnisse  über  ihr  Beten,  leider  nur 
sehr  wenige  (von  Paulus  ist  bedauerlicherweise  kein  einziges  Gebet  im 
Wortlaut  erhalten).  Zum  Verständnis  und  zur  Ergänzung  dieser  spora- 
dischen und  fragmentarischen  Dokumente  müssen  wir  uns  an  diejenigen 
Persönlichkeiten  wenden,  deren  Beten  sich  ganz  am  Gebetsgeist  der 
biblischen  Persönlichkeiten  orientiert,  ohne  deshalb  der  Spontaneität, 
Selbständigkeit  und  charakteristischen  Eigenart  zu  entbehren:  e3  sind 
dies  die  anonymen  hebräischen  Psalmdichter,  die  das  prophetische 
Boten  poetisch  gestaltet  haben,  und  dio  reformatorischen  und  modernen 
Persönlichkeiten,  deren  Gebetsleben  durchweg  bestimmt  ist  vom  Beten 
der  biblischen  Persönlichkeiten,  vor  allem  vom  Beten  Jesu  (Luther, 
Zwingli,  Calvin,  Fox,  Bunyan,  Pascal,  Kierkegaard).  Die  Zeugnisse 
über  ihr  Beten  sind  ungleich  reicher  und  ausführlicher  als  die  biblischen ; 
die  reichhaltigsten  Dokumonte  sind  in  Luthers  Schriften  enthalten. 
Schon  aus  diesem  Grunde  —  ganz  abgesehen  von  der  schlichten  Einfalt, 
köstlichen  Naivität  und  kraftvollen  Zuversicht,  die  gerade  aus  dem 
Beten  des  deutschen  Reformators  spricht  —  zioht  die  folgende  Dar- 
stellung am  häufigsten  Dokumonte  Luthers  an.  Dio  Untersuchung  der 
Frömmigkeit  solcher  Persönlichkeiten,  in  denen  sich  der  prophetische 
Typ  rein  ausprägt,  ermöglicht  dann  auch  dieHerauslösung  der  prophe- 
tischen Elemente  im  Gobotslebon  joner  religiösen  Persönlichkeiten,  die 
dorn  mystischen  Frömmigkoitstyp  zuzurechnen  sind  (Augustinus, 
Franziskus,  Ignatius,  die  indischen  Bhaktas). 


348  F  IV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

1.  Anlaß  und  Motiv  zum  Gebet. 

Die  Mystik  hat  die  Tendenz,  das  Gebet  in  die  Kontemplation  und 
Versenkung  aufzulösen  —  in  der  prophetischen  Frömmigkeit  erwacht 
das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen  mit  der  diesem  eigenen  reali- 
stischen Kraft  und  Lebendigkeit.  Auf  den  Höhepunkten  des  religiösen 
Erlebens  der  großen  prophetischen  Persönlichkeiten  vollzieht  sich  die 
ursprüngliche  Schöpfung  des  Gebets  von  neuem.  Den  Anlaß  zum  Gebet 
bildet  wie  beim  naiven  Menschen  zumeist  eine  augenblickliche,  konkrete 
Notlage.  Die  Bedrohung  des  gesunden  Lebenswillens,  des  elementaren 
Lebensgefühls,  der  Konflikt  zwischen  einem  erlebten  Wert  und  der 
diesem  Wert  widersprechenden  Wirklichkeit  motiviert  die  Anrufung 
Gottes  im  Gebet. 

Des  Propheten  Arnos  bange  Ahnung  von  dem  über  Israel  hereinbrechenden 
Unheil  löst  einen  Gebetsruf  aus:  ,, Vergib,  Herr  Jahwe!"  „Herr  Jahwe,  laß 
doch  ab!"  (Am  7  14J.  —  Jahwe  fordert  den  Jeremia  zur  prophetischen  Ver- 
kündigung auf,  er  aber  bebt  vor  dem  schweren  Prophetenberuf  zurück;  aus  diesem 
inneren  Zwiespalt  zwischen  der  erlebten  Aufgabe  und  dem  natürlichen  Schwäche- 
gefühl wird  ein  Gebetsseufzer  geboren:  ..Ach,  Herr  Jahwe!  Ich  verstehe  ja  nicht 
zu  reden,  denn  ich  bin  noch  so  jung!"  (Jer  1  4).  Die  prophetische  Wirksamkeit 
dieses  Mannes  blieb  erfolglos,  sie  brachte  ihm  nur  Schmähung  und  Verfolgung 
ein.  Die  furchtbare  Kränkung  seines  prophetischen  Selbstgefühls,  der  Gram 
über  das  Scheitern  seiner  Lebensaufgabe,  die  er  von  Jahwe  selbst  empfangen 
hatte,  trieb  ihn  dazu,  im  Gebet  all  seine  Not  und  Verzweiflung  vor  Gott  aus- 
zuschütten (Jer  18  18  f. ;  20  8).  —  Aus  dem  Kummer  über  die  Katastrophe  des 
jüdischen  Volkes  und  aus  der  zähen  Hoffnung  auf  die  Wiederherstellung  des 
alten  Israel  sind  unter  den  nach  Babel  Verbannten  die  unvergleichlich  innigen 
P  s  a  1  rn  gebete  entstanden.  —  Jesus,  der  im  Entschlüsse,  ,,sein  Leben  für 
die  vielen  hinzugeben",  nach  Jerusalem  gekommen  war,  begann  in  Gethsemane, 
als  er  sich  in  den  Händen  seiner  Feinde  fühlte,  „zu  zittern  nnd  zu  zagen".  Vom 
Todesgrauen  überwältigt,  stieß  er  einen  dreifachen  leidenschaftlichen  Hilferuf 
zum  Vater  aus:  ,, Vater,  wenn  es  möglich  ist,  gehe  dieser  Kelch  an  mir  vorüber!" 
(Mk  1433  ;  vgl.  Lk  22  44)  K  Als  er  schließlich  am  Kreuze,  von  allen  seinen  Jüngern 
verlassen,  den  äußeren  Zusammenbruch  seines  Lebenswerkes  erfuhr  und  der 
Glanz  seiner  messianischen  Zukunft  im  Dunkel  der  Todesnot  unterging,  brach 
er  in  die  erschütternde  Klage  aus:  ,,Mein  Gott!  Mein  Gott!  warum  hast  du  mich 
verlassen?"  (Mk  1584  )  —  der  Angstschrei  eines  in  den  Abgrund  der  Trostlosigkeit 
Versunkenen2.  —  Paulus,  der  unter  dem  „Stachel  des  Fleisches  und  den 
Faust  schlagen  Satans"  schwer  litt,  rief  dreimal  den  Herrn  um  Befreiung  an 
( 2  Kor  1 2  ,  ff. ).  —  Als  Savonarola  im  Kerker  der  Vollstreckung  des  Todes 
urteils  entgegensah,  ergoß  er  seine  innere  Angst  in  einem  kraftvollen  Gebet:  ,,Laß 
mich  nicht  zu  schänden  werden,  lieber  Jesus,  denn  auf  dich  allein  hoffe  ich,  für 
mich  ist  keine  Rettung  außer  in  dir,  Herr.  Alle  haben  mich  verlassen;  denn  meine 
geistigen  Brüder  und  Söhne  haben  mich  verworfen,  meine  geistigen  Kinder  ver- 
abscheuen mich.  Verwirf  mich  nicht  von  deinem  Angesicht"  usw.  '  —  Luther 
stand  auf  dem  Reichstag  zu  Worms  in  einer  entscheidenden  Stunde;  der  Konflikt 
zwischen  dem  Glauben  an  das  Recht  der  Sache,  für  die  er  focht,  und  der  bangen 
Befürchtung  einer  drohenden  Katastrophe  sprach  sich  in  einem  stürmischen  Gebet 
aus.  „Ach  Gott!  Ach  Gott !  o  du  mein  Gott!  Du  mein  Gott,  stehe  mir  bei  wider 
aller  Welt  Vernunft  und  Weisheit,  tue  du  es,  du  mußt  es  tun,  du  allein.  Ist  es 
doch  nicht  mein,  sondern  deine  Sache"  usw.  *  —  Als  inlgnatius  von  Loyola, 
nachdem  er  monatelang  von  Skrupeln  und  Zweifeln  gequält  worden  war,  die 
innere  Unsicherheit  und  Zerrissenheit  den  Höhepunkt  erreichte,  schrie  er  in  heißem 
Flehen  zu  Gott:  „Herr,  hilf  mir,  denn  ich  finde  keine  Hilfe  bei  den  Menschen  noch 
bei  einer  andereiiKreatur".* — GeorgeFox  erzählt :  „Ich  war  in  großen  Versuchungen 
und  meine  inneren  Leiden  waren  schwer;  aber  ich  fand  niemanden,  dem  ich 
meinen  Zustand  hätte  eröffnen  können,  als  allein  den  Herrn,  zu  dem  ich  Tag  und 


Anlaß  und  Motiv  des   Gebets  349 


Nacht  schrie".  8  —  John  Bunyan  kämpfte  einen  furchtbaren  Kampf  um  die 
Gewißheit  des  Heils:  sein  quälendes  Sündenbewußtsein  ließ  kein  zuversichtliches 
Lebensgefühl  aufkommen.  In  diesem  Ringen  zwischen  der  Angst  und  dem  Streben 
nach  Zuversicht  schafft  er  sich  Luft  in  einer  inbrünstigen  Bitte  um  Vergewisserung 
des  Heils:  „O  Herr,  ich  bitte  dich,  zeige  mir,  daß  du  mich  wirklich  liebest  mit 
immerwährender  Liebe"  7.  —  Von  den  heftigsten  körperlichen  Schmerzen 
gequält,  richtet  der  kranke  Pascal  an  Gott  ,,sein  Gebet  um  rechten  Gebrauch 
der  Krankheit",  er  bittet  um  Trost  und  Kraft  zum  standhaften  Dulden  und 
Tragen  8. 

Aber  nicht  nur  die  eigene,  persönliche  Not  wird  für  diese  Frommen 
zum  Gebetsanlaß,  nein,  auch  die  gemeinsame,  ja  sogar  die  fremde  Not. 
Die  Not  und  Gefair*  ihres  Volkes  treibt  die  mit  ihren  Brüdern  fühlenden 
und  leidenden  Propheten  des  Alten  Testaments  zu  Jahwe  hin,  bei  dem 
sie  immer  wieder  Fürbitte  einlegen  und  um  Nachsicht  und  Vergebung 
für  das  treulose  und  abtrünnige  Israel  flehen.  Jesus  ruft  am  Kreuze 
seinen  Vater  um  Verzeihung  für  seine  Feinde  an  (Lk  23  34).  Paulus 
wird  nicht  müde,  für  seine  Brüder  und  seine  Gemeinden  zu  Gott  um 
Gnade  zu  flehen  (s.  u.  Inhalt  des  Gebets). 

Die  Krisen,  Anfechtungen  mid  Nöte  sind  die  hauptsächlichsten, 
freilich  nicht  die  einzigen,  Anlässe  zum  Gebet.  Die  entscheidenden 
Erlebnisse  der  prophetischen  Persönlichkeiten  sind  bisweilen  auch  ent- 
zückende Erkenntnisse,  Lösungen  quälender  Zweifel,  beglückende  Ein- 
sichten in  Gottes  Pläne  und  Ratschlüsse,  überraschende  Erfahrungen 
von  Gottes  Güte,  Schutz  und  Führung.  So  bildet,  wie  schon  beim 
primitiven  Menschen,  neben  der  Not  das  Glück  einen  — ■  freilich  viel 
selteneren  —  Anlaß  zum  Gebet.  Unter  den  Gebetsergüssen  des  Jeremia 
steht  ein  einziges  Preisgebet:  Das  Staunen  über  die  Nichtigkeit  der 
Götzen  und  die  Größe  und  Macht  Jahwes  entlockt  ihm  einen  spontanen 
Jubelruf:  „Deinesgleichen  gibt  es  nicht,  Jahwe!  Groß  bist  du  und  groß 
ist  dein  Name  durch  deine  Macht"  (Jer  10  6).  Von  Jesus  sind  uns  vier 
Gebete  überliefert:  ein  Hilferuf,  eine  Fürbitte,  ein  Angstschrei  —  und 
nur  e  i  n  Jubelruf.  Als  Jesu  nach  manchen  Anfechtungen  seines 
messianischen  Selbstbewußtseins  plötzlich  das  tiefe,  nur  den  Unmündigen 
und  Einfältigen  verständliche  Geheimnis  seines  Sohnschaftsverhältnisses 
zu  Gott  aufstrahlte,  da  goß  sich  die  ihn  durchströmende  Gewißheit 
und  Seligkeit  in  einem  jubelnden  Dankgebet  aus:  „Ich  danke  dir,  Vater, 
Herr  Himmels  und  der  Erde,  daß  du  das  den  Weisen  und  Verständigen 
verhüllt  und  den  Einfältigen  enthüllt  hast;  ja,  Vater,  so  war  es  dein 
Wille.  Alles  ward  mir  offenbar  vom  Vater  und  niemand  kennt  den 
Vater  als  der  Sohn  und  den  Sohn  niemand  als  der  Vater  und  wem  sich 
der  Sohn  will  offenbaren"  (Luk  10  21  f.;  vgl.  Mt  11  25  f.).  9  Unter  den 
zahlreichen  Gebeten  Luthers  stoßen  wir  auf  eine  überraschend  geringe 
Zahl  von  Preis-  und  Dankgebeten.  Der  Gegensatz  zum  mystischen 
Gebet  ist  hier  so  deutlich  wie  möglich.  In  der  Mystik  bildet  das  kon- 
templative Preisgebet  den  Höhepunkt  alles  Betens  und  Betrachtens; 
in  der  prophetischen  Frömmigkeit  tritt  das  Preis-  und  Dankgobet  hinter 
dem  Bitt-  und  Fürbittegebet  zurück. 

Die  das  Gebet  motivierenden  Erlebnisse  sind  somit  dieselben  wie  im 
Loben  des  naiven  Menschen :  A  f  f  o  k  t  e  von  hoher  Intensität,  die  nach 


350  F1V.    Das   Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


Entladung  drängen ;  ihr  Charakter  ist  in  dor  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Fälle  der  des  Leidens,  seltener  der  der  Freude.  Die  Affekte  sind 
im  Gegensatz  zu  den  Affekten,  die  den  primitiven  Menschen  zum  Gebet 
drängen,  fast  stets  von  geistigen  Werterlebnissen  ge- 
tragen. Diese  Werterlebnisse  besitzen  aber  nicht  jenen  anegoistischen, 
völlig  interesselosen  Charakter  wie  das  Erleben  des  höchsten  Wertes, 
das  in  der  kontemplativen  Mystik  Gebete  bzw.  Gebetszustände  hervor- 
ruft. Der  betende  Mystiker  schaut  unverwandten  Blickes  auf  die  einzig 
wertvolle,  höchste  geistige  Wirklichkeit  hin  und  in  diesem  Schauen  und 
Genießen  vergißt  und  verliert  er  sich  selbst.  Die  Affekte,  welche  den 
prophetischen  Genius  zum  Gebet  treiben,  besitzen  eine  entschiedene 
Ichbezogenheit;  das  eigene  oder  auch  ein  fremdes  Ich  ist  Träger  eines 
Wertes  oder  eines  Wortes  und  Unwertes  zugleich.  Die  Affekte  der 
Furcht,  Angst,  Niedergeschlagenheit,  Scham,  Reue,  des  Kummers, 
Grames,  Zornes  einerseits,  die  des  Stolzes  und  Entzückens,  der  Seligkeit 
und  Wonne  andererseits  beziehen  sich  unmittelbar  auf  das  elementare 
Selbstgefühl :  in  jenen  unlustbetonten  Affekten  wird  eine  Bedrohimg, 
in  den  lustbetonten  eine  Steigerung  des  eigenen  Lebensgefühls,  genauer 
des  Gefühls  vom  Wert  des  eigenen  Lebens  sowie  des  Lebens  und  der 
Welt  überhaupt  erfahren.  Es  handelt  sich  jedoch  nicht,  wie  beim 
primitiven  Menschen,  um  das  bloße  physische  Leben  und  um  eudä- 
monistische  Güter,  sondern  um  den  Sinn  und  Wert  des  Lebens,  um 
das  geistige,  persönliche,  ideale  Leben. 

Das  Hauptmotiv  des  prophetischen  Gebets  bilden  also  unlustgefärbte 

Affekte. 

..Als  ich  in  Angst  war,  rief  ich  Jahwe  an  und  schrie  zu  meinem  Gotte" 
(Ps  18  7).  „Sei  mir  gnädig,  denn  mir  ist  angst"  (Ps  31  10).  „Meine  Seele  ist  gebeugt 
in  mir,  darum  gedenke  ich  deiner"  (Ps  42  7).  „Wo  ein  Christ  in  Angst,  Sorge  und 
K  ümmernis,  in  Gefahr  und  Unglück  ist,  da  ist  kein  anderer  Trost  noch  Rat,  denn 
daß  er  sich  an  das  Gebet  halte  und  schreie  zu  Gott  um  Hilfe"  (Luther).  10  „Durch 
große  Angst  muß  die  Glut  des  Betens  in  uns  entzündet  werden"  (Calvin).  21  „Das 
Herz  des  Gläubigen  wird  heftig  bewegt  und  darin  das  Geschrei  erwecket".  ,s 
„Außer  der  Anfechtung  kann  kein  recht  Gebet  geschehen".  „Niemand  bittet 
gründlich,  der  noch  nicht  gründlich  erschrocken  ist"  (Luther).  13  Das  Lieblings- 
wort, mit  dem  die  Sprache  der  prophetischen  Fiömmigkeit  die  das  Gebet  er- 
zeugenden Affekterlebnisse  bezeichnet,  ist  ,Not'.  Luther  sagt:  „Alsbald  die 
Not  herdringet,  flugs  in  dieKammer  gelaufen  und  auf  die  Knie  gefallen".  w  „Was 
wäre  es  für  ein  Gebete,  wenn  nicht  die  Not  da  wäre  und  uns  drückete,  daß  wir's 
fühleten?"  1S  „Wo  ein  rechtes  Gebet  sein  soll,  da  muß  ein  Ernst  sein,  daß  man 
seine  Not  fühle,  und  solche  Not,  die  uns  drückt  und  treibt  zu  rufen  und  zu  schreien." 
„Es  ist  ein  groß  Ding,  wenn  einer  fühlet  die  große  Not,  die  ihn  dringet,  daß  er 
alsdann  kann  das  Gebet  ergreifen".  ,9  Calvin  sagt:  „Der  beste  Stachel  zur  An- 
rufung Gottes  ist  für  die  Heiligen,  wenn  sie  in  ihrer  Not  gefangen  von  größter 
Unruhe  gequält  werden".  19b  Luthor  hat  den  affektiven  Charakter  des  zum 
Gebet  drängenden  Erlebnisses  mit  wunderbarer  Plastik  der  Sprache  veranschau- 
licht, wenn  er  das  echte  Gebet  ein  .lebendiges',  , starkes',  ,kräftiges',  ge- 
waltiges', ,ernstes\  , ängstiges', , bekümmertes',  , heftiges',, stürmisches', , brünstiges' 
und  , hitziges'  nennt  ".  Er  redet  auch  von  „Anrufen  Gottes  in  der  Hitze."  1S 
„Wenn  uns  der  Teufel  mit  Gewalt  treibt,  und  die  Welt  uns  dazu  plaget,  je  greulicher 
wir  alsdann  bedränget  werden,  je  hitziger  wir  beten"  ie.  Bunyan  ruft  aus: 
„O  the  heat,  strength,  life,  vigour  and  affection  is  in  right  prayerl"  20 

Das  im  unlustvollen  Affekt  getroffene  Lebensgefühl  äußert  sich  in 
einem  intensiven  Streben  und  Verlangen  nach  Überwindung  der 


Anlaß  und  Motiv  des  Gebetea  351 

Hemmungen  und  Behauptung  des  Wertvollen.  Mit  dem  Affekt  ver- 
bindet sich  unwillkürlich  das  triebhafte,  unbewußte  Streben,  die  Be- 
drohung des  Selbstgefühls  zu  beseitigen.  Der  unlust volle  Affekt  ist 
nicht  bloß  ein  passives  Erregt-,  Affiziertsein,  sondern  weckt  stets  die 
seelische  Aktivität,  die  auf  die  Erhaltung  des  Ich,  des  Wesens  und  Wertes 
der  geistigen  Persönlichkeit  sich  richtet.  ,Die  Not  rührt'  nach  Luthers 
Wort  , das  Herz  auf  und  weckt  heißes  Verlangen  nach  Gottes  Hilfe'.  20b 
Luther  charakterisiert  dieses  Moment  in  dem  das  Gebet  erzeugenden 
Erlebnis  (das  natürlich  erst  von  der  psychologischen  Analyse  isoliert 
wird,  im  seelischen  Erleben  selbst  aber  mit  den  anderen  Momenten 
eine  innere  Einheit  bildet)  als  ,innerliche',  ,ernste  und  brünstige  Be- 
gierde', als  „herzliches  Sehnen  und  Begehren",  „Seufzen  und  Ver- 
langen aus  Herzensgrund";  er  spricht  auch  vom  „kühnen"  und  „dursti- 
gen" Gebet.  21  Bunyan  nennt  das  vom  Affekt  aufgepeitschte  Streben 
„Hunger";  von  seinem  Gebet  um  die  Heilsgewißheit  erzählt  er:  „Ich 
kann  nicht  ausdrücken,  mit  welchem  Sehnen  und  Verlangen  ich  zu 
Christus  schrie".  22 

Das  Bewußtsein  gänzlicher  Abhängigkeit  von  einem  höheren  Willen, 
das  beim  primitiven  Menschen  nur  auf  bestimmte  Erlebnisse:  die  Not, 
den  Wunsch,  die  Ehrfurcht  vor  dem  Heiligen  sich  beschränkt,  trägt 
in  den  prophetischen  Persönlichkeiten  das  gesamte  religiöse  Erleben. 
Überall  und  immer  spürt  der  Fromme  Gottes  lenkende  Hand.  Im 
großen  und  kleinen,  im  Glück  und  im  Unglück,  im  Alltag  und  im  Heilig- 
tum erlebt  er  seine  völlige  Abhängigkeit  von  dem,  der  Herr  ist  über 
alles,  ohne  dessen  Willen  nichts  geschieht.  Dieses  lebendige  Gefühl 
der  Nähe  Gottes  und  der  Abhängigkeit  von  ihm  bedingt  im  Augenblick 
der  starken  und  inneren  Erregung  die  ausdrückliche  Hinwendung  zu 
Gott,  die  Anrufung  Gottes.  Dabei  kann  bisweilen,  wenn  die  Situation 
offenkundig  unabänderlich  ist,  jeder  Wunsch  und  jede  Hoffnung  auf  Ret- 
tung, auf  Umgestaltung  der  Verhältnisse  ausgeschlossen  sein.  In  diesem 
Falle  erfolgt  die  Gebetsanrufung  in  Form  einer  verzweifelten  Klage 
oder  einer  leidenschaftlichen  Frage  an  Gott:  „Warum  hast  du  mich 
verlassen  ?"  Zumeist  aber  keimt  aus  dem  Bewußtsein  der  Abhängigkeit 
einerseits  und  aus  dem  kräftigen  Lebenswillen  und  Selbstbehauptungs- 
trieb andererseits  das  zuversichtliche  Vertrauen:  Gott  kann  und 
wird  mich  retten.  Die  Hoffnung  ist  das  eigentlich  auslösende  Motiv 
des  Gebets,  während  der  Affekt  das  drängende,  treibende  Motiv  bildet. 
Die  großen  Beter  haben  die  motivationspsychologische  Gesetzmäßigkeit, 
die  das  Beten  beherrscht,  richtig  erfaßt,  wenn  sie  stets  die  Zuversicht 
und  Hoffnung  dem  Affekt  anreihen. 

Luther  sagt:  „Der  erste  Stein  zum  Gebet  ist  die  Zuversicht."  „Wer  beten 
will,  muß  zuvor  glauben.  Das  allerbeste  am  Gebet  ist  der  Glaube."  „Das 
rechte  Gebet  muß  aus  solchem  Glauben  und  Vertrauen  herfließen."  „Die 
wirkliche  und  tätliche  Ursache,  efficiens  causa  des  Gebets  ist  der  Glaube."  ** 
Bunyan  schreibt:  „Der  Geist  hilft  der  Seele  das  Angesicht  auf  Gott  zu  richten, 
indem  er  in  das  Herz  ein  leises  Gefühl  der  Gnade  legt,  um  es  zu  ermutigen 
ku  Gott  zu  gehen.""  Calvin  urteilt  in  seiner  theologischen  Gebetsabhandlung: 
..Das  aufrichtige  Gebet  geht  hervor  erstlich  aus  dein  Erlebnis  der  Not,  sodann 
auch  aus  der  Zuversicht  auf  die  Verheißung."  „Während  die  Heiligen  in  ihrer 
Not  noch  Von    höchster    Angst    gequält     weiden,    blitzt     ihnen    der  Gedanke    an 


352  F  IV.    Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

Gottes  Güte  auf,  sodaß  sie,  obgleich  niedergedrückt  von  der  Schwere  der  gegen- 
wärtigen Leiden,  dennoch  auf  Gottes  Güte  vertrauen  und  Befreiung  erhoffen. 
Aus  beiden  Affekten,  dem  der  Furcht  und  der  Hoffnung  soll  das  Gebet  der 
Frommen  hervorgehen."  25 

Das  Mitleid,  d.  h.  das  einfühlungsmäßige  Erleben  der  fremden 
■(leiblichen  oder  geistigen)  Not,  das  meist  affektive  Intensität  besitzt, 
drängt  ebenso  wie  das  Erleben  der  eigenen  Not  zum  Gebet.  ,,Man  muß 
sich  zu  Herzen  gehen  lassen  aller  Christen  Abnehmen  oder  Fall,  dann 
wird  man  mit  allen  mitleiden  und  für  sie  bitten"  (Luther).  25b  Der 
bedrohte  Wert,  den  eine  andere  menschliche  Persönlichkeit  darstellt, 
wird  wie  der  vom  eigenen  Ich  repräsentierte  Wert  erlebt.  Mit  dem 
Mitleid  verbindet  sich  das  Streben  zu  helfen;  die  helfende  Arbeit  allein 
genügt  nicht:  das  Bewußtsein  der  restlosen  Abhängigkeit  alles  Ge- 
schehens von  Gott  und  die  Hoffnung  auf  seine  Hilfe  motivieren  so  die 
Fürbitte. 

Die  freudigen  Affekte,  welche  die  Gebetsaussprache  motivieren, 
können  jeder  Ichbezogenheit  entbehren,  wie  das  in  der  mystischen 
Frömmigkeit  die  Regel  ist.  Die  selbstvergessene  Hingabe  an  den 
höchsten  Wert  erzeugt  das  Preis-  oder  Lobgebet.  In  dem  reinen  prophe- 
tischen Erleben  beziehen  sich  auch  die  lustbetonten  Affekte  zumeist 
auf  das  eigene  Ich  und  die  von  diesem  getragenen  Werte.  Bunyan  nennt 
,,das  süße  Gefühl  der  empfangenen  Gnade,  der  ermutigenden,  tröstenden 
stärkenden,  belebenden,  erleuchtenden  Gnade"  unter  den  Gebets- 
motiven 26.  Das  Gefühl  der  Freude,  Befriedigung  und  Gewißheit,  das 
bei  der  Lösung  einer  Spannung,  bei  der  Überwindung  schwerer  innerer 
Hemmungen,  beim  Aufblitzen  von  Offenbarungen  die  Seele  des  Frommen 
erfüllt,  verbindet  sich  mit  dem  Abhängigkeitsgefühl  und  erzeugt  so 
das  Gefühl  tiefer  Dankbarkeit  gegen  Gott,  von  dem  alle  Heils- 
gewißheit, Erlösungsgnade  und  Erkenntnis  stammt.  Die  Gebets- 
aussprache erfolgt  in  diesem  Falle  in  der  Form  des  Dankes. 

Das  prophetische  Beten  ist  also  eine  spontane  Affektäußerung,  eine 
unwillkürliche  Affektentladung:  die  alttestamentliche  Frömmigkeit 
hat  dafür  das  wundervolle  Bildwort  vom  ,Ausschütten  des  Herzens' 
(säphakh  et  nephes  oder  si&ch)  27  geprägt,  das  alle  großen  Beter  dieses 
Typs  als  Gebetsdefinition  sich  angeeignet  haben  (Luther:  ,das  Herz 
auf  tun'  und  ,ausschütten';  28  Calvin:  ,totum  cor  e) '  funder 'e' ,  ,interioris 
cordis  ajfectum  effundere  et  exponere1, ;  29  Bunyan:  ,the  opening  of  neart, 
an  affectionate  pouring  out  of  souV ,  Jhe  unbosoming  of  a  man's  seif).  30 
Die  Spontaneität  und  Unwillkürlichkeit  ist  ein  Wesensmerkmal 
des  Affektlebens.  Die  Affekte  kann  man  nicht  willentlich  erzeugen  wie 
reproduktive  Vorstellungen,  ihr  Entstehen  ist  nicht  von  uns  abhängig; 
sie  überwältigen  den  Menschen  und  ergreifen  das  gesamte  Ausdrucks- 
leben :  Mimik,  Geste  und  Rede.  So  drängen  also  beim  frommen  Menschen 
die  religiösen  Affekte  unbewußt  und  unbeabsichtigt,  mit  selbstverständ- 
licher, innerer  Notwendigkeit  zur  Gebetsaussprache.  Das  Gebet  quillt, 
bricht  aus  dem  unbewußten  Seelenleben  hervor.  Der  Mensch  spürt 
einen  zwingenden  Impuls,  er  kann  nicht  anders,  als  beten. 

,,Es  trieb  mich  zu  beten,"  heißt  es  immer  wieder  in  den  Selbstzeugnissen  des 
•George  Fox.     Wenn  der  innere  Drang  fehlte,  war  er  außerstande  ein  Gebet  zu 


Anlaß   und  Motiv  des  Gebetes  353 


sprechen;  so  schreibt  er:  „Ich  konnte  nicht  auf  eines  Menschen  Geheiß  beten"  sl. 
,, Selig  fürwahr,"  ruft  Sav  o  na  r  o  I  a  aus,  „ist  jene  Nötigung,  die  mich  zu  Gott 
zu  kommen  treibt,  die  mich  mit  ihm  zu  reden  zwingt,  die  mich  drängt  zu  beten'"  81  *>. 
B  u  n  y  a  n  sagt:  ..Das  rechte  Gebet  sprudelt  aus  dem  Heizen,  wenn  dieses  über- 
fließt von  Kummer  und  Bitterkeit,  wie  das  Blut  aus  dem  Fleisch  hervorgepreßt 
wild  durch  eine  darauf  ruhende  schwere  I^ast"  3i.  Luther  meint:  „Die  Xot 
drückt,  und  treibt  zu  irden  und  zu  schreien;  so  geht  denn  düs  Gebet  v  o  n  s  i  c  h 
selbst,  daß  man  keines  Lehrers  bedarf,  wie  man  si  h  dazu  bereiten  und  An- 
dacht schöpfen  soll"  3S. 

Alle  seelischen  Erlebnisse  und  Inhalte,  die  nicht  durch  willkürliche 
Eigentätigkeit  gesetzt  werden  können,  alle  aus  der  Sphäre  des  Unbe- 
wußten in  das  Bewußtsein  plötzlich  hervortretenden  Erfahrungen,  vor 
allein  die  Erlebnisse  der  Inspiration,  Offenbarung,  Ekstase  gelten  dem 
religiösen  Menschen  als  übernatürlich  und  gottgewirkt.  Die  Mystiker 
erblicken  in  den  Gebetszuständen  der  ,Ruhe',  , Einigung'  und  .Ver- 
zückung' ein  Geschenk  der  göttlichen  Gnade,  das  der  Fromme  nicht 
sich  selbst  geben  kann,  sondern  demütig,  in  völliger  Passivität  entgegen- 
nehmen rauü.  Ebenso  führt  auch  die  prophetische  Frömmigkeit  das 
spontane  Beten  auf  das  geheimnisvolle  Wirken  Gottes  zurück  (vgl. 
o.  S.  224 ff.).  „God  put  in  my  heart  to  cry  to  him"  bekennt  Bunyan  34. 
Mit  Vorliebe  reden  die  prophetischen  Naturen,  wenn  sie  die  spontanen, 
aus  dem  unbewußten  Seelenleben  hervorbrechenden  Erfahrungen  im 
Auge  haben,  vom  Wirken  des  ,Geistes'.  Der  , Geist'  Gott  ?s  ist  jene 
geheimnisvolle  Macht,  welche  die  Tiefen  der  Seele  aufwühlt  und  den 
Frommen   mit  unwiderstehlicher  Gewalt  zum  Beten  zwingt. 

P  a  u  1  u  s  spricht  von  einem  ,Beten  im  Geiste*  (Kph  6  lg).  [n  lapidaren  Worten 
bekennt  er:  „Der  Geist  kommt  unserer  Schwachheit  zu  Hilfe;  denn  wir  wissen 
nicht,  was  wie  betensollen,  wie  si  h's  gebühret,  aber  der  Geist  selbst  tritt  für  uns 
ein  in  unaussprechlichen  Seufzern."  (Roe  S  3a).  ,, Ihr  habt  empfangen  den  (Jeist 
d*-r  Sohnschaft,  in  dem  wir  rufen:  ,Abba',  , Vater'  (Roe  S  15)."  „Weil  ihr  Sühne 
seid,  hat  Got1  den  Geist  seines  Sohnes  in  unsere  Heizen  gesandt,  d^r  da  ruft: 
,Abba',  ,Vater'  "(Gal4,).  Luther  sagt:  ..Wenn  der  heilige  Geist  das  Herz  sonder- 
lich regel  und  rühret,  dann  pf  legt  das  Gebet  gar  hitzig  zu  werden."  ., Wenn  der  («.eilig 
Geist  kommt  und  die  Herzen  mit  einem  reihten  Vertrauen  auf  Gottes  Güte  und 
Barmherzigkeit  durch  Christum  anzündet .  da  folget  denn,  daß  man  recht  beten  kann, 
lustig  und  willig  dazu  ist.  Aber  ohn  solchen  Geist  ist  dasBetcn  unmöglich"36.  Geoi  ge 
Fox  gesteht:  „Wir  beten  im  Verborgenen  und  öffentlichen,  je  nachdem  der 
Geist  es  uns  eingibt"8*.  Ohne  den  „Geist"  kann  auch  muh  Bunyan  der 
Mensch  nicht  beten;  ,,denn  es  ist  unmöglich,  daß  das  Herz  sieh  vor  Gott  aus- 
s  :hütte  obre'  den  Beistand  des  Geist  es."  ,,Ni  -l.t  was  a  ädere  i  edeten  und  schrieben, 
kann  einen  zum  Hei  er  machen,  sondern  einzig  und  allein  den'  Geist."  ,,Nur  der 
Geist  kann  dem  Menschen  sein  Elend  enthüllen  und  ihn  so  zum  Beten  bringen." 
,,l)"i-  Geisl  ii -htet  die  Seele  aui,  hilft  ihr  das  Angesicht  auf  Gott  zu  richten." 
„Welch  große  Aufgabe  ist  es  für  eine  arme  Seele,  wel  he  die  Sünde  und  den  Zorn 
Gottes  fühlt,  gläubig  nur  dieses  eine  Wort  , Vater!'  zu  sagen!.  .  Darum  muß 
de!'  (J.-ist  irt  die  Heizen  des  Gottesvolkes  geschickt  werden,  damit  es  .Vater' 
sagen  kann." 

Die  eigene  Not  wie  die  Not  der  Brüder  beschränkt  sich  nicht  auf 
bestimmte  Augenblicke  und  konkrete  Situationen,  die  Bedürftigkeit 
und  Abhängigkeit  gegenüber  Gott  ist  eine  dauernde.  Darum  stehen 
auch  im  Frömmigkeitslebei]  der  prophetischen  Persönlichkeit  neben 
den  außerordentlichen  Gebetsanlässen  die  regulären,  alltäglichen. 
Luther  sagt:  „Was  die  Not  sei,  die  uns  treiben  soll  zu  bitten,  so  findet 
flieh  täglich  nicht  einerlei,  sondern  tausenderlei  Anfechtung  und  Wider- 

Uttrt  Oetxjt  2:; 


354  F  IV.   Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

stand.  Denn  zum  ersten  ist  unser  eigen  Fleisch,  das  ist  der  erste  Feind, 
der  uns  täglich  am  Hals  hängt.  Dazu  wird  auch  schlagen  der  ander 
Feind,  die  Welt.  Der  dritte  Feind  ist  nun  der  allerstärkste,  der  leidige 
Teufel.  Siehe,  das  sind  ja  drei  Unglück,  die  uns  sehr  genug  drücken 
und  auf  dem  Hals  liegen  und  nicht  ablassen,  weil  wir  Leben  und  Odem 
haben.  Darum  haben  wir  ja  stete  Ursache  zu  beten  und  rufen"  38. 
Bei  dem  regelmäßigen,  täglichen  Gebet  bilden  zumeist  nicht 
Affekte  das  Motiv,  sondern  relativ  intensitätsarme  Stimmungen,  zu 
denen  jene  Affekte  ermäßigt  sind;  ein  allgemeines  Gefühl  der  Unruhe, 
der  Unsicherheit,  des  Unbefriedigtseins,  der  inneren  Disharmonie  oder 
auch  der  Befriedigung,  Lust,  Zuversicht  treibt  ins  Gebet  hinein.  Ja 
häufig  fehlt  sogar  jede  Gebetsstimmung,  aber  selbst  in  diesem  Falle 
wird  das  Gebet  nicht  unterlassen.  Der  Fromme  sammelt  sich  dann 
völlig  bewußt  und  willkürlich  zum  Gebet:  entweder  dadurch,  daß  er 
über  eine  religiöse  Vorstellung  meditiert  oder  dadurch,  daß  er  zu  einer 
Gebetsformcl  greift  und  ihre  Worte  nachsprechend,  ihren  Sinn  sich 
vergegenwärtigt.  Dadurch  gelingt  es  ihm  zumeist,  in  eine  Gebets- 
stimmung hineinzukommen,  aus  der  dann  spontan  das  eigene,  freie 
Beten  strömt.  Luther  hat  beide  Arten  der  willkürlichen  Gebetssamm- 
lung oder  Andacht  gepflegt. 

„Es  ist  ein  trefflich  Gebet,  daß  man  sich  erstlich  das  Wort  und  darnach  die 
hochdringende  Not  vorbildet  und  dieselbe  im  Herzen  erwäget."  „Ich  bin  bis- 
weilen so  kalt  und  unlustig,  daß  ich  nicht  kann  beten;  da  stopf  ich  meine  Ohren 
zu  und  spreche:  Ich  weiß,  Gott  ist  nicht  weit  von  mir,  darum  muß  ich  schreien 
und  ihn  anrufen.  Setze  mir  dagegen  vor  die  Undankbarkeit  und  das  gottlose 
Wesen  der  Widersacher  etc.,  also  daß  ich  erwärme  und  vor  Zorn  und  Haß  brenne 
und  darnach  sage:  O  Herr,  geheiliget  werde  dein  Name,  zukomme  dein  Reich  etc. 
Also  erwärmet  mein  Gebet  und  wird  hitzig."  ,,Es  ist  eine  sehr  gute  Hilfe  und 
Rat,  das  Gebet  zu  erwecken,  auf  daß  es  hitzig  und  heftig  werden  möge; 
nämlich,  daß  wir  gerne  lesen,  singen  und  hören  Gottes  Wort,  und  daß  wir  ja 
den  Psalter  fleißig  durchlesen,  oder  auch  in  die  gemeine  Versammlung  der  Kirche 
gehen:  daselbst  wird  das  Herz  allgemach  warm  und  der  Geist  in  uns  angezündet 
werden"  39. 

Gewiß  liegt  hier  alle  auf  Virtuosität  abzielende,  planmäßige  Psycho- 
technik,  wie  sie  der  Mystik  eigen  ist,  ferne  —  „nicht  Training  oder 
Korrektheit,  sondern  Klang  in  der  Seele"  (Söderblom)  40  ist  die  prophe- 
tische Frömmigkeit.  Gleichwohl  pflegt  und  fordert  auch  sie  die  täg- 
liche Gebets  Schulung.  Luther  spricht  vom  „Gebet  treiben  und 
üben'\41;  Calvin  verlangt  die  sorgfältige  Einhaltung  der  regelmäßigen 
täglichen  Gebetszeiten  nicht  als  einer  gesetzlichen  Pflicht  oder  verdienst- 
vollen Leistung,  sondern  als  „imbeciüitatis  nostrae  paedagogia,  qua  sie 
exerceatur  et  subinde  stimuletur"  42. 

2.  Form  des  Gebets. 
Das  aus  dem  Affekt  gewaltsam  hervorbrechende  Gebet  ist  fast  stets 
ein  freier  Herzenserguß.  Die  Gebetsworte,  welche  von  den  großen 
Betern  in  entscheidenden  Momenten  gesprochen  wurden,  sind  impro- 
visiert, eine  individuelle  Schöpfung  des  Augenblicks.  Der  Beter  ent- 
lehnt nicht  die  Worte  einer  Formel,  er  sucht  auch  nicht  nach  neuen 
Worten,  sie  bieten  sich  ihm  von  selbst  dar.  Der  Affekt  schafft  sich 
mit  der  ihm  eigenen  produktiven  Kraft  einen  selbständigen  Ausdruck. 


Form  des  Gebetes  355 


Das  echte  spontane  Gebet  ist  nach  Bunyan  „not  a  premeditated  stinted 
form,  but  a  prayer  ex  tempore,  made  on  a  sudden  according 
to  what  he  feit,  thought  or  understood  of  himself".  „Right  prayer 
must  as  well  in  the  outward  part  of  it,  in  the  outward  expression  as 
in  the  mward  intention  come  from  what  the  soul  does  apprehend  in 
the  light  of  the  spirit"  43.  Spener  mahnt  zum  „Gebet  ohne  gewisse 
Formeln",  zum  „eigenen  Gebet",  zum  „Beten  aus  dem  Herzen"  44. 
Luther  hielt  sich,  wenn  er  das  Vaterunser  betete,  nicht  an  den  biblischen 
Wortlaut:  „Solche  Gedanken  kann  das  Herz  (wenns  recht  erwärmt  und 
zu  beten  lustig  ist)  wohl  mit  viel  andern  Worten,  auch  wohl  mit  wenigeren 
oder  mehr  Worten  aussprechen;  denn  ich  auch  selber  mich  an  solche 
Wort  und  Syllaben  nicht  binde,  sondern  heute  so,  morgen  sonst  die 
Worte  spreche,  darnach  ich  warm  und  lustig  bin"  4Ö.  Auch  der  Wortlaut 
des  Gebets,  die  spontane  Affektäußerung,  gilt  ebenso  wie  das  motivierende 
Erlebnis,  der  spontan  entstehende  Affekt,  als  eine  Wirkung  des  gött- 
lichen Geistes.    „Der  Geist  gibt  die  Worte  ein,"  sagt  George  Fox  46". 

Wie  beim  primitiven  Menschen  schließt  jedoch  die  Spontaneität,  die 
affektive  Lebendigkeit  und  Inbrunst  des  Betens  die  Übernahme  einer 
feststehenden  Gebets  f  o  r  m  e  1  nicht  aus.  Die  kurzen,  kraftvollen 
und  leidenschaftlichen  Stoßgebete  und  Stoßseufzer  sind  sehr  häufig 
formelhaft  gebunden.  Luther,  Bunyan  und  Pascal  greifen  auf  den 
Höhepunkten  ihres  religiösen  Erlebens  zu  Bibelworten.  Ja,  selbst 
Jesus  hat  am  Kreuze,  als  die  Todesnot  das  eigene  Wort  ersterben  ließ, 
seine  verzweifelte  Klage  in  den  Anfangsworten  eines  Psalmes  aus- 
gesprochen. Und  doch  ist  sein  Gebet  ein  spontanes,  kein  gebundenes, 
formelhaftes.  „Er  wählte  nicht,  er  dachte  nicht,  sondern  er  goß  seine 
Angst  aus"  (Söderblom)  47.  Die  Worte  waren  nicht  von  ihm  erfunden 
und  geschaffen  und  sind  doch  „ganz  sein  Eigentum,  mit  seinem  Herz- 
blut erkauft"  (Deißmann)  48.  Die  fremden  Worte  erhalten  einen  ganz 
neuen  Inhalt. 

Das  Prinzip  der  Spontaneität  und  Freiheit  des  Betens  in  der  pro- 
phetischen Frömmigkeit  ist  von  George  Fox  mit  einem  konsequenten 
Radikalismus  so  weit  geführt  worden,  daß  er  alles  gebundene  Beten, 
alles  Beten  „nach  einem  Hergesagten"  als  widerchristlich  und  als  eine 
Verachtung  der  apostolischen  Norm  verwarf 49.  Diesem  extremen 
Radikalismus  huldigen  die  übrigen  Beter  vom  prophetischen  Typ  nicht, 
sie  schätzen  das  an  eine  traditionelle,  inhaltsreiche  Gebetsformel  sich 
klammernde  Beten  als  eine  Vorbereitung  und  Belebung  des  spontanen 
und  selbständigen  Betens.  Gerade  dann,  wenn  die  Gebetsstiminung 
fehlt,  wenn  die  Gefühlstrockenheit,  die  geistige  Dürre,  die  nicht  etwa 
bloß  im  Erleben  der  Mystiker  eine  Rolle  spielt,  die  eigene  Produktivität 
lähmt,  ist  es  nötig,  zu  den  klassischen  Gebetsmustern  seine  Zuflucht 
zu  nehmen  und  durch  die  Vertiefung  in  sie  die  eingetrockneten  religiösen 
Stimmungen  wieder  zu  beleben.  Luther  mahnt:  „So  jemand  bei  sich 
selbst  in  der  Kirche  oder  daheim  sonderlich  beten  will  und  weiß  nicht 
besser  Worte  oder  Weise,  der  nehme  vor  sich  das  Vaterunser  und  reize 
mit  diesen  oder  dergleichen  Worten  seine  Andacht."  „Das  mündliche 
Gebet  ist  nicht  zu  verachten,  sondern  not,  das  innerliche  Gebet  im 


356  P  Iv-  -Dar3  Gebet,  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


Herzen  zu  entzünden  und  zu  reizen"  50.  Aber  dieses  gebundene  Beten 
besitzt  ausschließlich  pädagogische  Bedeutung,  ist  nur  ein  , Präludium' 
zum  echten,  freien  Gebet"  (Paul  Sabatier)  51,  ein  „Mittel,  um  erst 
recht  beten  zu  lernen  (Richard  Rothe)51b),  nur  ,,eine  Anreizung  und 
Bewegung  der  Seele,  daß  sie  dem  Sinn  und  den  Begierden  nachdenke, 
die  die  Worte  anzeigen"  (Luther)52.  Darum  sagt  Luthor  auch:  „Man 
soll  sich  an  die  Worte  halten  solange,  bis  daß  die  Flügel  wachsen,  daß 
man  fliegen  mag  ohne  Worte"  5:).  Und  ein  Erbauungsschriftsteller  des 
Reformationszoitalters  mahnt  in  der  Vorrede  zu  seinem  Betbüchlein: 
„Du  sollst  dich  nicht  an  solche  Worte  binden,  sondern  sollst  die  Leiter 
und  Steige  der  Worte  fallen  lassen,  sobald  du  hinauf  in  die  Geheimnis 
des  bittenden  Geistes  gestiegen  und  eingetreten  bist"  54. 

Auf  den  Gipfeln  des  Erlebens  der  großen  religiösen  Genien  wiederholt 
sich  die  ursprüngliche  Schöpfung  der  Religion;  in  der  prophetischen 
Erfahrung  bricht  das  religiöse  Urphänomen  durch.  Das  ersto  Gebet, 
das  von  einem  Menschen  auf  Erden  gesprochen  wurde,  war  ein  leiden- 
schaftlicher kurzer  Hilfeschrei  an  ein  höheres  Wesen.  Auch  die  aus 
den  tiefsten  Erregungen  geborenen  Gebete  der  großen  prophetischen 
Persönlichkeiten  sind  kurze  Rufe,  bisweilen  ein  einziges  Mal  hervor- 
gestoßen, häufig  mehrmals  in  derselben  Fassung  wiederholt  oder  in 
ähnlichen  Worten  variiert.  Kraftvolle  Kürze  und  gedrungene  Knapp- 
heit zeichnet  alle  oben  erwähnten  Gebete  aus.  „Also  haben  die  Heiligen 
in  der  Schrift  gebetet,  als  Elias,  Elisäus,  David  und  andere,  mit  kurzen, 
aber  starken  und  gewaltigen  Worten.  Darum  loben  die  alten  Väter 
die  kurzen  Stoßgebetlein,  da  man  mit  einem  Wörtlein  oder  zwei  hinauf- 
seufzet gen  Himmel"  (Luther) 55.  Das  kurze  Wort  „Herr  Gott,  sei 
mir  armen  Sünder  gnädig!"  rechtfertigt  nach  der  Parabel  Jesu  den 
Zöllner  (Lk  18  13).  Auch  das  als  Gebetsanleitung  bestimmte  Vater- 
unser zeigt  dieselbe  inhaltsvolle  Kürze  und  schlichte  Schmucklosigkeit, 
die  ein  Kennzeichen  aller  echten  Gebete  sind.  Die  kurzen  Gebets- 
rufe werden  meist  mehrmals  ausgestoßen.  In  Gethsemane  wiederholt 
Jesus  dreimal  dasselbe  Wort  (Mt  26  39  ff.).  Luthers  Gebet  in  Worm> 
ist  eine  Kette  von  kurzen  Rufen  (Anfang  s.  o.  S.  348). 

„Stehe  mir  bei,  du  treuer,  ewiger  Gott,  ich  verlasse  mich  auf  keinen  Menschen  .  .  . 
Gott,  o  Gott,  hörest  du  nicht?  mein  Gott,  bist  du  tot?  Nein,  du  kannst  nicht 
sterben,  du  verbärgest  dich  allein.  Hast  du  mich  darzu  erwählet?  ich  frag  «lieh, 
wie  ich  es  denn  gewiß  weiß;  ei,  so  walt  es  Gott!  ...  Ei  Gott,  so  stehe  mir  bei! 
.  .  .  Du  mein  Gott,  wo  bist  du?  Komm,  komm,  ich  bin  bereit,  auch  mein  Leben 
darum  zu  lassen"  66. 

Luthers  Regel:  „Je  weniger  Worte,  je  besser  Gebet;  je  mehr  Worte, 
je  ärger  Gebet,"  „Kurz  soll  man  beten,  aber  oft  und  stark,"  57  fixiert 
treffend  die  psychologische  Tatsache,  daß  das  spontane  und  affektive 
Gebet  hinsichtlich  seiner  formalen  Seite  eine  gedrungene  Kürze  auf- 
weist. Die  Breite  und  Langatmigkeit  der  Diktion,  der  kunstvolle 
Periodenbau  und  die  Bilderfülle  sind  sichere  Symptome  für  den  literari- 
schen Charakter  eines  Gebets. 

Das  aus  dem  Affekt  hervorquellende  Gebet  zeigt,  sofern  nicht  ein 
und  derselbe  Ruf  unverändert  wiederholt  wird,  etwas  Sprunghaftes,  bis- 
weilen sogar  etwas  Unzusammenhängendes,   Abgerissenes;  es  besteht 


Form  des  Gebetes  357 

häufig  aus  ,abruptae  et  concisae  voces\  wie  Calvin  sagt.  58  Jeremias 
betet  in  prächtigen  Anakoluthen :  „Verschmähe  doch  nicht  —  um 
deines  Namens  willen  —  verunehre  doch  nicht  den  Thron  deiner  Herrlich- 
keit —  denke  an  —  brich  nicht  deinen  Bund  mit  uns!"  (Jer  14  21).  Die 
äußere  Form  des  Gebets  spiegelt  deutlich  den  Verlauf  der  Affektkurve 
wider,  das  Auf-  und  Abwogen  des  Affekterlebnisses,  den  häufigen 
Stimmungswechsel,  das  Alternieren  zwischen  Angst  und  Zuversicht. 
Gleichmäßig  gebaute,  ein  durchsichtiges  Schema  der  Gedankenfolge 
aufweisende  Gebete  sind  literarische  Kompositionen  und  künstliche 
Produkte,  nicht  echte,  persönliche  Gebete. 

Die  Sprunghaftigkeit  der  Gedankenfolge  schließt  eine  Rhythmik  der 
Gebetsworte  nicht  aus.  Das  von  Franziskus  nach  der  Stigmatisation 
aufgezeichnete  Gebet  zeigt  deutlich  einen  Rhythmus  (s.  o.  S.  299);  aber 
auch  in  dem  jeremianischen  Gebet  und  dem  Lutherschen  Gebet  ist 
ein  solcher  unverkennbar;  natürlich  nicht  ein  völlig  regulärer,  kunst- 
voller, sondern  ein  natürlicher  Rhythmus,  in  dem  der  Affekt  sich  aus- 
schwingt. 

Es  ist  möglich,  daß  ein  heißes  Gebet  stilles  Herzensgebet  bleibt. 
Augustin  bekennt:  „Conjessio  mea,  Dens  meus,  in  conspectu  tuo  tacite 
fit  et  non  tacite;  tacet  enim  strepitu,  clamat  affectu"  (Conf.  X  2).  Ein 
jüdischer  Chassid  sagt:  „Der  Mensch  kann  flüsternd  beten  und  sein 
Herz  schreit  in  semer  Brust"  59.  Zumeist  freilich  äußert  sich  der  intensive 
Affekt  in  lauten  Gebetsruf en ,  wie  beim  naiven  Menschen.  Calvin 
urteilt:  ,,Etsi  optimae  interdum  orationes  voce  carent,  saepe  tarnen 
usu  venit,  ut  affectu  mentis  exultante  et  lingua  in  vocem  et  membra  aha 
in  gesticulationem  sine  ambitione  erumpant"  60.  „L  a  u  t  rief  ich 
zu  Jahwe,"  „laut  schreie  ich  zu  Jahwe ;  laut  flehe  ich  zu  Jahwe" ;  „Jahwe 
hat  mein  lautes  Weinen  gehört,"  bekennt  der  Psalmist  61.  Jesus  betete 
am  ölberg  mit  „gewaltigem  Schreien";  am  Kreuze  rief  er  mit  lauter 
Stimme:  Eloi  usw.  62  Ignatius  betete  in  dem  kritischen  Moment  im 
Kloster  zu  Manresa  laut  63.  Luther  pflegte  abends  am  Fenster  stehend, 
laut  zu  beten  64.  So  glückte  es  denn  Veit  Dietrich  einmal  ihn  von  ferne 
,mit  heller   Stimme'   beten  zu   hören  65. 

Die  Intensität  der  zum  Gebet  treibenden  Affekte  kann  so  stark  sein, 
daß  die  menschliche  Sprache  nicht  mehr  ausreicht,  um  die  seelische 
Erregung  in  Worten  auszudrücken.  Der  Affekt  entlädt  sich  nur  unvoll- 
ständig; nicht  in  sinnvollen  Worten,  sondern  nur  in  regellosem  Seufzen 
und  Stammeln.  „Die  besten  Gebete  haben  oft  mehr  Seufzer  als  Worte"; 
„das  Aufhören  der  Worte  kommt  aus  der  übermäßigen  Angst  des  Her- 
zens" (Bunyan)  66.  „Unser  Gebet  ist  dann  nichts  anderes  denn  ein 
Stammern  und  unvernehmlich  Mummen  eines  Kmdes,  das  vor  dem 
Tisch  steht  und  Brot  und  Fleisch  heischt".  „Auch  ein  Seufzerlein 
emes  Christen  ist  Gebet;  so  oft  er  seufzet,  so  betet  er"  (Luther)  67. 
Aber  es  gibt  Affekte  —  freud-  und  leidvolle  —  die  nicht  einmal  im 
formlosen  Stammeln  und  Lallen  sich  äußern.  Die  seelische  Erschüt- 
terung ist  so  gewaltig,  daß  sie  dem  Menschen  die  Sprache  raubt;  er 
möchte  reden,  klagen  oder  jubeln,  sich  ausschütten  und  sich  öffnen, 
aber  er  fühlt  sich  innerlich  zugeschnürt;  es  ist,  als  hätte  sich  der  Affekt 


358  F  IV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

eingeklemmt  und  sei  nicht  imstande,  durch  das  körperliche  Ausdrucks- 
system sich  zu  entladen.  So  bleibt  die  aufwühlende  Erregung,  der 
unwiderstehliche  Drang,  das  leidenschaftliche  Sehnen  und  Verlangen 
im  Erleben  selbst  beschlossen  —  ein  wortloses  Herzensgebet.  Paulus 
nennt  dieses  Beten  ein  ,unaussprechliches  Seufzen',  in  dem  der  , Geist' 
an  unserer  Statt  betet  (Roe  8  26).  Luther  und  Bunyan  haben  in  diesem 
paulinischen  Selbstbekenntnis  ihre  eigenen  tiefsten  Gebetserfahrimgen 
wiedergefunden . 

„Wenn  der  Geist  in  uns  schreiet:  Abba!  da  schweiget  wohl  der  Mund  ganz 
stille  und  kann  dies  Seufzen  nicht  verstehen  oder  ausreden."  ,,Es  ist  kein  Laut 
oder  Stimme  des  Mundes,  sondern  ein  Rufen  im  Herzen  und  unaussprechlich 
Seufzen:  unter  den  linken  Zitzen  stecket  es,  wenn  das  Herz  klopfet  und  seufzet 
und  schier  vor  großer  Angst  gar  matt  wird;  und  alsdann  ist  das  Gebet  recht 
kräftig  und  vollkommen."  ,,Uies  Seufzen  preiset  Samt  Paul  und  spricht,  es 
sei  ein  unaussprechlich  Seufzen  des  Geistes;  das  ist,  der  Mund  mag  und  kann 
nicht  so  herzlich  und  mächtiglieh  reden,  als  das  Herz  wünschet;  das  Sehnen 
übertrifft  alle  Wort  und  Gedanken.  Daher  es  au<h  kommt,  daß  der  Mensch 
selbst  nicht  fühlet,  wie  tief  sein  Seufzen  oder  Begierde  sei"  68.  ,,Then  a  man 
desires  indeed,  when  his  desires  are  so  strong  strong,  many  and  mighty,  that  all  the 
words,  tears  and  groans,  that  can  come  from  the  heart,  cannot  utter  them  .... 
A  man  that  truly  prays  one  prayer,  shall  after  that  never  be  able  to  express  with 
his  mouth  or  pen  the  unutterable  desires,  sense,  affection  and  longing,  that  went 
to  God  in  prayer"  *9. 

Trotz  der  äußerlichen  Ähnlichkeit  ist  dieses  wortlose  Seufzen  doch 
etwas  ganz  anderes  als  die  oratio  mentalis  des  Mystikers.  Der  Mystiker 
schweigt,  weil  die  unverrückte  Konzentration,  Versunkenheit  und 
Kontemplation  durch  die  Rede  gestört  wird;  der  Prophet  schweigt, 
weil  die  Erregung  so  stark  ist,  daß  die  Rede  ihren  Dienst  versagt;  dort 
ein  Schweigen  aus  der  affektlosen  inneren  Ruhe  oder  aus  der  ent- 
zückten Schau  des  höchsten  Gutes,  hier  ein  Nichtredenkönnen  aus  der 
Übermacht  und  Gewalt  des  Affektes  und  Dranges. 

Das  , Stammeln  und  Mummen',  das  die  seelische  Erregung  auszu- 
drücken versucht,  aber  nicht  restlos  zu  fassen  vermag,  besteht  aus  un- 
zusammenhängenden und  fehlerhaft  artikulierten  Satz-  und  Redefrag- 
menten; es  werden  jedoch  die  natürlichen  Sprachgebilde  verwendet. 
Ekstatoide  Affekterlebnisse  aber  äußern  sich  gerne  (z.  B.  im  Urchristen- 
tum und  bei  Quäkern)  in  irregulärer  Weise  durch  völlig  unverständliche 
sprachliche  Neubildungen,  durch  das  „Zungenreden"  (ylojoaaig  kalelv). 
Die  Glossolalie  ist  eine  eigene  ekstatische  Gebetssprache  70,  die  eine 
starke  ansteckende  Wirkung  besitzt.  Paulus  spricht  deshalb  von  einem 
ylöioov  nQoaEvy.Eottai  (1  Kor  14  14);  ,,der  Zungenredner  redet  nicht  zu 
Menschen,  sondern  zu  Gott"  (1  Kor  14  2). 

3.  Inhalt  des  Gebets. 
Das  Wesen  des  mystischen  Gebets  ist  Konzentration  und  Versenkung 
— •  des  Wesen  des  prophetischen  Gebets  Affektentladung.  Dort  affekt- 
loses Schweigen  oder  stimmungsgesättigtes  Kontemplieren  —  hier  ein 
,Ausschütten  der  Seele',  ein  ,Rufen  zu  Gott  aus  der  Tiefe'.  Das  mystische 
Gebet  ist  —  wenigstens  in  seinem  Anfang  —  bewußte  und  willentliche 
Hinwendung,  das  prophetische  Beten  ist  ein  völlig  naives,  absichts- 
loses, innerlich  notwendiges    Sichaussprechen   und   -ausschütten.      In 


Inhalt  des  Gebets  359 


schlichter  Unbefangenheit  enthüllt  sich  der  Beter  seinem  Gott,  schließt 
sich  ihm  völlig  auf;  alles,  was  sich  in  den  Tiefen  seiner  Seele  regt  und 
tummelt,  vertraut  er  ihm  an:  seine  Angst  und  seinen  Kummer,  sein 
Wünschen  und  Hoffen,  ja  sogar  seinen  Zweifel  und  Unwillen.  Der 
Gegenstand  des  mystischen  Gebets  ist  ausschließlich  Gott,  die  einzige 
Realität,  der  höchste  Wert;  der  Gegenstand  des  prophetischen  Gebets 
ist  des  Menschen  eigenstes  Leid  und  Glück,  sein  Bangen  und  Zagen, 
aber  auch  sein  Bauen  und  Vertrauen.  Selbstbetrachtung  und  Selbst- 
beschauung  bis  zur  psychologischen  Selbstanalyse  ist  dem  Mystiker 
wohl  vertraut:  die  Niedrigkeit  und  Nichtigkeit  des  eigenen  Ich,  in  die 
er  sich  im  Gebet  versenkt,  ist  der  dunkle  Hintergrund,  von  dem  sich 
Gottes  Unendlichkeit  mit  einer  paradoxen  Kontrastwirkung  abhebt. 
Das  prophetische  Beten  hingegen  ist  nicht  peinliche  Selbstbetrachtung, 
sondern  leidenschaftliche  Selbstoffenbarung. 

Der  wesentliche  Inhalt  des  prophetischen  Gebets  ist  die  rückhaltlose 
Aussprache  des  drängenden  Affekts;  Beten  heißt  „seine  Bedrängnis 
vorbringen  vor  dem  Angesichte  Gottes"  (Ps  142  3),  „Gott  seine  Nöte 
mitteilen"  (Phil  4  6),  „Gott  anrufen  in  allen  Nöten,"  „Gott  die  Not 
vorlegen,  vortragen,  vorhalten,  vorbringen,  vorzeigen,  anzeigen, 
in  seinen  Schoß  legen"  (Luther)  71.  „Wir  sollen  ansehen  unsere  Not, 
so  uns  drücket  und  auf  dem  Hals  lieget,  .  .  und  dieselbe  frisch  vor  Gott 
tragen  und  ausschütten"  (Luther)  72.  Calvin  definiert  das  Gebet  als 
ein  „necessitatem,  quae  nos  premit,  deo  exponere"  73,  Zwingli  als  „ein 
vertraut  Anrufen  zu  Gott  um  unsere  Notdurft"  74.  Das  Gebet  ist 
nach  Calvins  Worten  „dazu  eingesetzt,  daß  wir  unsere  Nöte  Gott  be- 
kennen und  bei  ihm  beklagen,  wie  Kinder  bei  den  Eltern  ihre  Klagen 
vertraulich  vorbringen"  74b.  Auch  viele  christlichen  Mystiker,  die 
hierin  von  biblischem  Gebetsgeiste  bestimmt  sind,  kennen  dieses  naive 
Sichaussprechen  im  Gebet;  Teresa  pflegt  im  , Ruhegebet'  „ganz  schlicht 
ihre  Nöte  Gott  vorzustellen"  75. 

a)  Die  Klage  und  Frage. 
Die  Aussprache  der  Not  kann  in  der  bloßen  Klage  erfolgen  („Klagen 
der  Notdurft"  Zwingli  76;  „Klage  oder  Erzählung  der  Not"  Luther  77). 
„Aus  dem  tiefen  Abgrund  und  mitten  im  Rachen  des  Todes  senden  die 
heiligen  Diener  Gottes  zum  Herrn  eine  Klage  empor"  (Calvin)  76b. 
Immer  wieder  kehrt  bei  den  biblischen  Betern  die  zweifelsschwere, 
vorwurfsvolle  Frage: 

Jeremia  ruft:  „Zur  Rede  möchte  ich  dich  stellen,  warum  das  Treiben  der 
Frevler  Gelingen  hat,  warum  alle,  die  treulos  handeln,  unangefochten  bleiben" 
(12,  1).  „Warum  hast  du  uns  geschlagen,  daß  es  keine  Heilung  gibt?"  (14,  19). 
„Warum  ist  mein  Schmerz  dauernd  geworden,  meine  Wunde  bösartig,  daß  sie 
sich  nicht  heilen  läßt?"  (15,  18).  Ha  bakuk  betet:  „Warum  lassest  du  mich 
Unheil  erleben  und  siehst  Gewalttat  mit  an?"  (1,  3).  „Bist  du  nicht  Jahwe,  von 
Urzeit  her  mein  Gott,  mein  Heiliger,  der  nimmer  stirbt  ?  .  .  .  Du,  dessen  Augen 
zu  rein  sind,  als  daß  du  Böses  anschauen  könntest  und  der  du  Gewalttaten  nicht 
mitanzusehen  vermagst !  Warum  siehst  du  doch  die  Tieiilosen  mit  an,  schweigst 
dazu,  wenn  der  Gottlose  den,  der  im  Rechte  gegen  ihn  ist,  zugrunde  richtet?" 
(1 ,  13).  „Warum  hast  du  meiner  vergessen,  warum  muß  ich  trauernd  einhergehen, 
ob  der  Bedrückung  durch  meine  Feinde?"  (Ps.  42,  13).     „Warum  verwirfst  du, 


360  PIV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


Jahwe,  meine  Seele,  verbirgst  vor  mir  dein  Angesicht?"  (Ps.  SS.  15).  Jesu», 
in  der  Todesnot,  am  Kreuz,  bittet  nicht,  sondern  klagt  und  fragt  mit  den  Anfangs- 
worten  des  22.  Psalms:  „Mein  Gott,  mein  Gott,  warum  hast  du  mich  verlassen?" 
(Mk   15.  34). 

Manchmal  geht  die  bange  Frage  in  den  bittern  Vorwurf  über. 

In  kuhner,  fast  blaspheniisch  klingender  Rede  ruf t  der  an  Jahwe  irre  werdende 
Jeremia:  „Ach,  Herr  Jahwe,  fürwahr,  gründlich  hast  du  dieses  Volk  und 
Jerusalem  getäuscht,  als  du  sprachst:  Heil  soll  euch  widerfahren]  während  (ihnen 
nun)  das  Schwert  ans  Leben  geht"  (1.  10).  „Jadubist  für  mich  einem  trügerischen 
Bache  gleich  wie  Wasser,  auf  die  kein  Verlaß"  (15,  19).  ..Du  hast  mich  betört, 
Jahwe,  und  ich  ließ  mich  betören.  Du  hast  mich  erfaßt  und  überwältigst  mich: 
zum  Gelächter  bin  ich  gewin  den  allzeit,  jedermann  spottet  meiner"  (20.  7). 
Ha  b  a  kuk  ruft  vorwurfsvoll:  ..Wie  lange  schreie  ich  um  Hilfe.  Jahwe,  ohne 
daß  du  mich  hörst  ;  rufe  ich  zu  dir  .Gewalt"  (wird  uns  angetan),  ohne  daß  du  Hilfe 
schaffst?"  (1.  2).  Der  Verfasser  der  Klagelieder  klagt  in  seiner  Verzweiflung  s 
..Sieh  drein,  o  Jahwe,  und  schaue  her,  wem  du  solches  angetan!  .  .  .  Du  hast 
gemordet    am  Tage  deines   Zornes,   geschlachtet   ohne  Erbarmen!"   (2,  20  ff.). 

Das  furchtbare  Problem  der  Theodizee  entzündet  in  der  Seele  -eines 
Frommen  nicht  ein  theoretisches  Grübeln,  sondern  ein  leidenschaftliches 
Ringen  mit  Gott,  das  sich  in  gehäuften  vorwurfsvollen  Klagen  und 
Fragen  an  Gott  äußert. 

H  i  ob  ruft  aus:  ,,Wie  das  Wasser  Sterne  zerreibt  und  seine  Fluten  das  Erd- 
reich fortschwemmen,  so  hast  du  des  Menschen  Hoffen  vernichtet.  Du  ver- 
gewaltigst ihn  für  immer,  und  er  geht  dahin,  du  entstellst  sein  Antlitz  und  lassest 
ihn  dahinfahren"  (14,  19  lt.).  ..Ich  schreie  zu  dir,  doch  du  antwortest  nur  nicht; 
ich  stehe  da,  du  aber  starist  mich  an.  Du  wandelst  dich  in  einen  Grausamen  für 
mich,  mit  deiner  starken  Hand  befeindest  du  mich.  Du  hebst  mich  auf  den  Sturm- 
wind, lassest  mich  dahinfahren  und  lassest  mi<  h  vergehen  im  Sturmesbrausen. 
Ja.  ich  weiß,  zum  Tode  willst   du  mich   führen   und  zum  Yersammlungshaus  für 

alles  Lebende la,  auf  Glück  hoffte  ich,  aber  Unheil  kam:  ich  harrte  auf 

Licht,  und  es  kam  Dunkel.  Afein  Inneres  siedet  ohne  Unterlaß.  Tage  des  Elends 
überfielen  mich"  (31,  20  ff.).  ..Laß  mich  erfahren,  warum  du  mich  befehdest? 
Bringt's  dir  Gewinn,  wenn  du  Bedrückung  übst  ?  wenn  du  deiner  Hände  mühsam 
Weik  verwirfst?"  (10,  1).  ..Wieviel  Vergehungen  und  Sünden  habt»  ich  denn? 
Meinen  B'revel  und  meine  Sünde  laß  mich  wissen!  Warum  verhüllst  du  dein 
Antlitz  und  cachtest  mich  für  deinen  Feind?  Willst  du  ein  verwehtes  Blatt 
aufschrecken  und  den  dürren  Halm  verfolgen,  daß  du  mir  Bitteres  als  Urteil 
schreibst   und  mich  die  Sünden  meiner  Jugend  erben  lassest?"  (14,  23  ff.). 

b)  Die  Bitte. 
Die  gewöhnliche  Form,  in  der  sich  die  Not  ausspricht,  ist  die  Bitte  - 
negativ  die  Bitte  um  Befreiimg,  positiv  die  Bitte  um  Hilfe  und  Beistand. 
Für  Luther  ist  das  Gebet  „ein  Kommen  des  Bettlers  zu  Gott,  der  den 
Mantel  weit  ausbreitet  und  auftut  um  viel  zu  empfangen"  "7  b).  „Ein 
lauter  Bettel  um  unsere  Notdurft",  „ein  Betteln  wegen  unserer  Ge- 
bresten", „ein  Anrufen  um  Hilfe  zu  Gott"  ist  das  Gebet  nach  Zwingiis 
Definition  78.  Der  Mensch  „sagt,  was  er  begehrt",  er  „begehrt  etwas 
von  Gott",  er  „begehrt  aus  dem  Elend  zu  kommen",  „des  Übels  ledig 
zu  werden",  „er  bittet  um  Hilfe";  er  „achtet  nicht  auf  die  hohe  Majestät, 
sondern  sagt  stracks:  .hilf,  lieber  Gott!  Laß  dich  erbarmen  im  Himmel!'" 
„ach,  daß  ich  dies  oder  das  hätte!"  „das  darf  ich,  das  darf  jener" 
(Luther)  79.  „Gedenk  meiner,  Jahwe,  imd  nimm  dich  meiner  an!" 
„Hilf  mir,  daß  mir  geholfen  werde!"  (Jer  15  15;  17  14).  „Sei  mir 
gnädig!"  (Ps  4  2).  „Auf,  Jahwe,  hilf  mir!"  (Ps  3  8).  Der  Kern  des 
prophetischen  Gebets  ist  wie  der  des  primitiven  die  schlichte  Bitte  um 


Inhalt  des  Gebete  {Die  Bit te)  3ßj 


Befreiung  von  einem  übel  oder  um  Gewährung  einer  Gnade  und  Gabe. 
Das  Vaterunser,  das  christliche  Gebet  nax  igoxtfv  ist  ausschließ- 
lich ein  Bittgebet.  Der  Gegensatz  zum  mystischen  Beten  ist  offen- 
kundig, denn  in  diesem  tritt  die  Bitte  zurück,  und  wo  das  Gebet  als 
Bitte  erscheint,  verkleidet  diese  meist  nur  die  mystische  Konzentration 
und  Kontemplation. 

Gegenstand  und  ,Ziel'  der  prophetischen  Bitte  ist  die  Behauptung 
oder  Realisierung  eines  Wertes,  sei  es  eines  Persönlichkeitswertes  (eines 
durch  das  eigene  oder  ein  fremdes  Ich  getragenen  Wertes)  oder  eines 
überpersönlichen  Wertes.  Die  eudämonistischen  Werte,  auf  die  das 
primitive  Beten  ausschließlich  abzielt,  treten  hinter  den  geistigen, 
ethisch  gefärbten  bzw.  genuin  ethischen  Werten  zurück. 

1.  Individuelle  religiöse  (ethisch  gefärbte)    Werte. 

a)  Die  Behauptung  des  eigenen  Wertes  ist  eine  der 
wichtigsten  Bitten  der  prophetischen,  vor  allem  der  alttestamentlichen 
Persönlichkeiten.  Der  Beter  fleht,  vor  der  inneren  Katastrophe,  dem 
Zusammenbruch  des  Selbstgefühls  bewahrt  zu  bleiben,  ,, nicht  zu 
Schanden  zu  werden",  wie  das  prachtvolle  alttestamentliche  Wort 
lautet.  Das  Korrelat  zur  Behauptung  des  eigenen  Wertes  ist  das  ,Zu- 
schanden werden1  der  Widersacher ;  soll  der  eigene  Wert  zur  Anerkennung 
kommen,  muß  sich  der  Unwert  der  Feinde  enthüllen.  So  gleitet  das 
Gebet  um  Rettung  und  Rechtfertigung  in  ein  leidenschaftliches  Rache- 
gebet  hinüber. 

„Schaffe  mir-  Rache  an  meinen  Verfolgern;  raffe  midi  nicht  hinweg  in  deiner 
Langmut  gegen  sie!"  (.Ter  15,  15).  ..Laß  nieine  Verfolger  zu  Schanden  werden.. 
aber  laß  mich  nicht  bestürzt  weiden!  Bringe  über  sie  Unheil  und  mit  doppelter 
Zerschmetterung  zerschmettere  sie!"  (.Jer  17,  18).  ..Laß  mich  nicht  zu  Schanden 
werden:  laß  meine  Feinde  nicht  über  midi  frohlocken!"  (Ps  25.  2).  ..Laß  midi 
nicht  zu  Schanden  noch  zum  Spott  und  Freude  werden  meinen  Feinden"  (Luther)80. 
„Gieße  deinen  Grimm  über  die  Völker  aus,  die  nichts  von  dir  wissen  wollen!" 
(Jer  10.  25).  „Reiße  sie  fori  wie  Schafe  zum  Schlachten  und  weihe  sie  am  Tage 
des  Würgens!"  (Jer  12.  .'{).  ..Gib  die  Sohne  deiner  Widersacher  dein  Hunger 
preis  und  überliefere  sie  der  Gewall  des  Schwertes,  daß  ihre  Weiber  kinderlos 
und  Witwen  werden,  ihre  Männer  aber  von  d^v  Seuche  erwürgt,  ihre  .FünLclinge 
im  Kampf  mit  dem  Schwell  erschlagen  werden!"  (Jer  1H.  21).  ..haß  mich  deine 
Rache  an  ihnen  schauen!"  (Jer  IL  20;  20.  12).  ..haß  sie  insgesaml  beschäm! 
und  enttäusch!  weiden,  die  mir  nach  dem  Leben  trachten,  es  hinwegzuraffen. 
Laß  zurückweichen  und  zu  Schanden  werden,  die  mein  Unglück  wollen.  Erstarren 
mögen  ob  ihrer  Schande,  die  da  rufen:  ha.  ha!"  (Ps.  40,  15  f.). 

b)  s  i  c  h  e  r  heil  des  Lebens:  „Behüte  mich  wie  den  Stern  im  Auge,  verbirg 
mich  unter  dem  Schatten  deiner  Flügel  vor  den  Gottlosen,  die  mich  vergewaltigt 
haben"  (Ps  17.  8).  „Lehre  mich,  Jahwe,  deine  Wege  und  leite  mich  auf  .■bener 
Lahn  um  meiner  Feinde  willen!"  (Ps  27.  II).  ..()  Gott,  verhülle  mein.'  Wehr- 
losigkeil  und  schütze  mein  (icinnt  :  bewahre  mich  vor  dem.  was  vor  mir  und  hinter 
mir,    was   rechts   und    links,   was   übel-   und    unter   iiiii-:   idi    flüchte   mich   zu   deiner 

Stärke"  (Muhammed )  "'. 

<)  Kr  le  u.ht  ungin  innerer  Ratlosigkeit.  Die  Sängerpropheten  der  Gäthaa 
flehen  immer  wieder:  „Dies  frage  ich  dich,  säge  mir  das  Hechle  (die  Wahrheit), 
Ahura!"  hl.  Als  Bunyan  zweifelte,  ob  die  Bücher  der  Kanters  göttlich  oder  wider- 
göttlich seien,  betete  er:  ..Ihn.  ich  bin  ein  Tor  und  nicht  imstande,  die  Wahrheit 
vom    Irrtum  zu  scheiden.      Herr,   überlasse   mich    nicht    meiner  Blindheit.      Ist   die 

Lehre  von  (mit.  lasse  sie  mich  nichl  verachten,  tsl  sie  aber  vom  Teufel,  bo  lasse 
sie  midi  nichl  annehmen"  ' '. 


3  62  F  IV.  Das   Gebet  in  der  phrophetischen  Frömmigkeit 

d)  Im  Zentrum  des  prophetisch-evangelischen  Gebets  steht  die  Bitte 
um  Sündenvergebung,  die  in  der  Mystik  nur  der  Peripherie 
des  Betens  angehört.  Der  Fromme  sucht  Befreiung  von  dem  drückenden 
Schuldbewußtsein,  von  dem  niederschmetternden  Gefühl  der  eigenen 
Nichtigkeit  und  Ohnmacht,  das  ein  zuversichtliches  Lebensgefühl  nicht 
aufkommen  läßt.  Nur  ein  freier  göttlicher  Gnadenakt  vermag  diese 
innere  Umwandlung  von  der  herben  Selbstverdammung  zum  starken 
Selbstvertrauen,  von  der  bebenden  Angst  zur  ruhigen  und  frohen  Zu- 
versicht herbeizuführen  (vgl.  o.  S.  268  f.).  Diese  innere  Wandlung  und 
Erneuerung  wird  gerne  als  Heilung  vorgestellt.  „Heile  mich,  daß  ich 
heil  werde"  (Jer  15  15).  „Jahwe,  sei  mir  gnädig,  heile  meine  Seele, 
denn  ich  habe  gegen  dich  gesündigt"  (Ps  41  e).  Das  ergreifendste 
Bußgebet,  das  je  gesprochen  wurde,  ist  das  Miserere;  ein  moderner 
Religionsphilosoph  (Cohen)  erblickt  in  ihm  geradezu  „das  Musterbeispiel 
des  Gebets"  84.  In  einer  Fülle  wundervoller  Bilder  (die  zum  Teil  der 
alten  Kultsprache  entnommen  sind)  wird  der  den  sündigen  Menschen 
erneuernde  Gnadenakt  Gottes  umschrieben. 

„Gott,  sei  mir  gnädig  nach  deiner  Huld,  tilge  meine  Vergebungen  nach  deiner 
großen  Barmherzigkeit!  Wasche  mich  gründlich  von  meiner  Verschuldung  und 
reinige  mich  von  meiner  Sünde  ....  Entsündige  mich  mit  Ysop,  daß  ich 
rein  werde;  wasche  mich,  daß  ich  weißer  werde  als  Schnee.  Laß  mich  Freude 
und  Wonne  vernehmen;  frohlocken  mögen  die  Gebeine,  die  du  zerschlagen  hastl 
Verbirg  dein  Angesicht  vor  meinen  Sünden  und  tilge  alle  meine  Verschuldungen. 
Schaffe  mir,  Gott,  ein  reines  Herz  und  bringe  in  mich  einen  neuen,  gewissen 
Geist.  Verwirf  mich  nicht  vor  deinem  Angesichte  und  nimm  deinen  heiligen 
Geist  nicht  von  mir.  Erfreue  mich  wieder  mit  deiner  Hilfe  und  stütze  mich  mit 
einem  Geiste  der  Willigkeit.  Ich  will  Abtrünnige  deine  Wege  lehren,  und  die 
Sünder  sollen  sich  zu  dir  bekehren.  Errette  mich  von  Blutschuld,  Gott,  du  Gott, 
der  mein  Heil  ist:  möge  meine  Zunge  über  deine  Gerechtigkeit  jubeln!"  (Ps.  51). 
Auch  in  anderen  Psalmen  kehrt  die  innige  Vergebungsbitte  wieder:  „Der 
Sünden  meiner  Jugend  und  meiner  Übertretungen  gedenke  nicht"  (25,  7).  „Gehe 
nicht  ins  Gericht  mit  deinem  Knecht,  denn  vor  dir  ist  kein  Lebendiger  gerecht" 
(143,  2).  Der  reuige  Zöllner,  den  Jesu  Parabel  als  den  wahren  Beter  zeichnet, 
spricht:  „Gott,  sei  mir  Sünder  gnädig"  (Lk  18,  14).  Das  Vaterunser  enthält 
die  Bitte:   „Vergib  uns  unsere  Schulden"  (Mt  6,  10). 

Die  Vergebungsbitte  der  Psalmen  und  das  Vaterunser  klingt  fort  durch  die 
Herzensgebete  frommer  Christen  wie  durch  die  liturgischen  Gebete  der  christlichen 
Kirche.  Besonders  kraftvoll  und  flehentlich  kommt  sie  von  den  Lippen  der  früh- 
mittelalterlichen Frommen.  Thomas  von  Celano  hat  diesem  schweren  Bußernst 
im  ,Dies  irae'  unvergänglichen  Ausdruck  verliehen. 

„Rex  tremendae  maiestatis, 

Qui  salvandos  salvas  gratis, 

Salva  me,  fons  pietatis  .... 

Iudex  iustae  ultionis, 

Donuni  fac  remissionis 

Ante  diem  rationis." 
Savonarola  betet  in  ergreifender  Weise:  „Gott,  du  Barmherzigkeit,  nimm  hinweg 
meine  Sünden,  denn  sie  sind  mein  größtes  Elend!  Richte  mich  Elenden  auf, 
zeige  an  mir  dein  Werk,  übe  an  mir  deine  Kraft  aus.  Der  Abgrund  des  Elends 
ruft  den  Abgrund  der  Barmherzigkeit.  Der  Abgrund  der  Sünden  ruft  den  Ab- 
grund der  Gnaden.  Größer  ist  der  Abgrund  der  Barmherzigkeit  als  der  Abgrund 
des  Elends.  So  verschlinge  denn  .  .  .  der  Abgrund  der  Barmherzigkeit  den 
Abgrund  des  Elends"  8*b. 

Überaus  herzliche  Töne  schlägt  die  Vergebungsbitte  in  der  Frömmigkeit 
der     Reformatoren    an,    deren     Hauptthema    ja    die    Sündenvergebung    bildet« 


Inhalt  des  Gebets  (Die  Bitte) 


363 


Luther  betet:  ,,Ich  bitte  dich,  daß  du  dich  über  meine  Seelennot  erbarmest, 
erbarme  dich  meiner  und  vergib  mir  meine  Sünde."  „Gib  mir  wieder  ein  fröhlich 
sicher  Gewissen  in  deinem  Heil!"  86  ,.Herr,  ich  bitte  dich,  zeige  mir,  daß  du 
mich  wirklich  liebst  mit  immerwährender  Liebe"  betet  B  u  n  y  a  n  86.  Herber 
Bußernst  und  innige  Zuversicht  redet  aus  Calvins  Gebeten:  ,, Zürne  uns  nicht, 
um  uns  in  deinem  Groll  zu  züchtigen.  Denk  nicht  an  unsere  Missetaten,  um  uns 
zu  strafen,  sondern  züchtige  uns  süß  in  deiner  Güte."  „Möge  es  dir  gefallen,  uns 
unsere  Fehler  zu  verzeihen,  durch  die  wir  uns  deines  Gerichts  schuldig  machen, 
und  durch  diese  Vergebung  uns  von  der  Verdammung  zum  ewigen  Tode,  in  der 
wir  uns  befinden,  zu  befreien.  Möge  es  dir  gefallen,  deinen  Zorn  von  uns  abzu- 
wenden und  uns  das  Böse,  das  in  uns  ist,  nicht  anzurechnen"  87.  In  den  evan- 
gelischen Liedern  verstummt  die  schlichte  Vergebungsbitte  nie.  Eine  wunder- 
volle Fassung  hat  sie  in  Wallins  Lied  erhalten,  einem  der  schönsten  des  Svenska 
Psalmboken. 


Böner  sä  varma 
Alla  vi  förena, 
Dom  ej  oss  arma, 
Säsom  vi  förtjäna, 
Gud,  dig  förbarma, 
Af  din  näd  allena 
Bide  vi  räddning. 

Näd  vi  begäre, 

Lät  oss  henne  finna, 

Näden  beskäre, 

Hvad  ej  rätt  kann  vinna. 

Maskor  vi  äre, 

Skuggor  som  försvinna, 

Stoft,   som  förskingras. 

Bojor  vi  draga 
Af  den  lott  vi  ärfva, 
Lustar  oss  jaga, 
Frestelser  omhvärfva, 
-Herre,  sä  svaga, 
Vill  du  oss  fördärfva 
Utan  förskoning  ? 

För  Jesu  pina, 
För  den  törnekrona, 
Han  för  de  sina 
Bar  att  dem  försona, 
Lät  näden  skina, 
Värdes  oss  förskona, 
Vär  oss  en  fader." 


Gebete,  so  warme, 
Alle  wir  vereinen, 
Verwirf  nicht  uns  Arme, 
So,  wie  wir's  vermeinen. 
Gott,  dich  erbarme, 
Allein  von  deiner   Gnade 
Hoffen  wir  Rettung. 

Gnad  wir  begehren, 
Laß  sie  uns  erlangen! 
Gnad'  mög  bescheren, 
Recht  kann's  nicht  verlangen. 
Würmelein  sind  wir, 
Schatten,  die  verschwinden, 
Staub,  der  verwehet. 

Lasten  wir  tragen, 
Des  Sündenloses  Erben, 
Lüste  uns  jagen, 
Versuchungen  umwerben, 
Herr,  und  die  Schwachen, 
Willst  du  nun  verderben, 
Ohn'  jede  Schonung  ? 

Durch  Jesu  Peinen, 

Durcü  die  Do-nenkrone 

Die  für  die   Seinen, 

Er  trug,  daß  Gott  sie  schone, 

Laß  Gnade  scheinen, 

Schenke  uns  Verschonung, 

Sei  uns  ein  Vater." 


Auch  außerhalb  des  Christentums  begegnet  uns  die  evangelische  Vergebungs- 
bitte, wenn  auch  nur  vereinzelt  und  gedämpft.  So  betet  Mohammed:  ,,Ich  be- 
kenne mich  zu  meinen  Sünden,  so  verzeih'  mir;  denn  sieh,  keiner  außer  dir  kann 
die  Sünden  verzeihen."  ,,0  Gott,  ich  habe  viel  gesündigt  und  es  verzeiht  mir 
keiner  die  Sünden  außer  dir;  so  verzeih  mir  und  erbarme  dich  meiner,  denn  du 
bist  der  Verzeihende  und  Barmherzige."  ,,8trafe  uns  nicht  für  die  Vergeßlichkeit 
oder   Sünde  ....     Vergib  uns  und  verzeihe  uns  und  erbarme  dich  unser"  88. 

e)  Die  Vergebungsgewißheit  und  Gnadenzuversicht  ist  nur  dort  echt, 
tief  und  stark,  wo  das  Schuldbewußtsein  und  Ohnmachtsgefühl  den 
Menschen  ganz  erschüttert  und  zu  Boden  geschmettert  hat.  Nur  aus 
der  rücksichtslosen  Selbstverwerfung  kann  die  absolute  Zuversicht 
auf    Gottes   schenkende   HeiLsgnade   hervorgehen.      Darum   flehen   die 


364 


FIV.  Da«  Gehet  in  der  prophetischen  Prömmigkeil 


prophetischen  Genien  um  die  Kraft  der  radikalen  S  e  Ibsterkennt- 
n  i  s  und  Selbstverurteil  n  ng. 

,, Lieber  Gott,  regiere  du  mich,  daß  ich  mit  geistlichen  Augen  meine  angeborene 
Seuche  und  Schwachheit  erkenne  und  bekenne  und  also  zur  rechten  Erkenntnis 
Chi  ist  i  geführt  und  durch  deinen  heiligen  (ieist  regieret,  gereiniget  und  geheiiiget 
weide"  (Luther)  BS.  „Gib,  daß  wir  recht  und  ohne  Heuchelei  erkennen,  in  welcher 
Verderbnis  wir  von  Natur  sind  und  welche  Verdammung  wir  durch  unser  unglück- 
liches und  unordentliches  Lehen  veidienen  und  von  Tag  zu  Tag  auf  uns  häufen, 
damit  wirsehen  und  verstehen,  daß  nichts  Gutes  in  uns  ist  und  daß  unser  Fleisch 
und  Blut  nicht  fähig  ist  dein  Reich  zu  erben,  und  daß  wir  so  mit  unserer  ganzen 
Liebe  und  in  festem  Vertrauen  uns  ganz  deinem  liehen  Sohne  übergeben,  Jesus 
Christus,  unserem  Herrn,  dem  einzigen  Erlöser  und  Retter"  (Calvin)  ,0.  ,,Faites 
que  je  me  juge  moi-m§me,  que  je  m'  examine  moi-meme  avant  votre  jugement, 
pour  trouver  misericorde  en  votre  presence".  „Touchez  mon  coeur  de  repentir 
de  nies  lautes"  (Pascal)  ".  Die  Bitte  um  Kraft  zur  Selbstverurteilung  schreitet 
bisweilen  fort  zur  paradoxen  Bitte  um  Best  ra  fu  ng  der  eigenen  Sündigkeit. 
„So  züchtige  mich  doch,  Jahwe,  aber  nur  mit  Maßen,  nicht  in  deinem  Zorn,  daß 
du  mich  nicht  aufreibest"  (Jer  10.  2Ii).  ..Züchtige  uns  sanft  in  deiner  Güte" 
(Calvin)  92.  ,,Gib,  <>  mein  Gott,  daß  deine  allmächtige  Gnade  deine  Züchtigungen 
mir  heilsam   mache"   (Pascal)83. 

f)  Mit  der  Bitte  um  Sündenvergebung  und  innere  Erneuerung  hängt 
enge  zusammen  die  Bitte  um  den  , Geist  Gottes'.  Der  Gottesgeist  ist 
ja  jene  wundersame  Macht,  welche  den  inneren  Menschen  umschafft 
und  erneuert,  er  ist  die  Quelle  aller  Gottfreudigkeit  und  Gotteskraft, 
der  Spender  des  Lebens  und  der  Liebe.  ,.Dein  heiliger  Geist  komme 
über  uns  und  reinige  uns,"  lautet  nach  alten  Überlieferungen  eine  Bitte 
des  Vaterunser,  die  in  dem  gewöhnlichen  Evangelientext  nicht  zu 
lesen  steht,  aber  deren  Echtheit  durchaus  nicht  unwahrscheinlich 
ist.  Die  prophetische  Bitte  um  den  Gottesgeist  hat  ihre  klassische 
Formulierung  in  dem  kirchlichen  Hymnus  ,Veni,  creator  spiritus'  ge- 
funden, der  nicht  nur  für  die  Gebetsfrömmigkeit  der  katholischen 
Heiligen,  sondern  gerade  auch  für  Luther  große  Bedeutung  gewann. 


Veni,  sancte  Spiritus, 
Kt  emitte  coelitus 
Lucis  tuae  radium. 

Veni,  pater  pauperum, 
Veni,  dator  nmnerum. 
Veni,  turnen  cordium. 

Consolator  optime, 
Dulcis  hospes  animae, 
Dulce  refrigerium. 


Lava,  quod  est   sordidum, 
Riga,  quod  est  aridum, 
Sana,  quod  est  saucium. 

Fleete,  quod  est   rigidum, 

Fove.   quod   est    frigidum. 
Rege,   quod  est  devium. 

Da  tuis  fidelibus 
In  te  confidentibus 
Sacrum  septenarium. 


Sine  tuo   nomine 
Nihil  est  in  nomine, 
Nihil  est   innoxium 


Da  virtutis  nieritum. 

Da  sal  utis  exitum, 

Da  perenne  gaudium.     Amen. 


f)  Heil  und  Erlösung  liegt  für  die  biblische  Frömmigkeit  im  zuver- 
sichtlichen Glauben  an  Gott  als  den  gnädigen  Vater.  Weil  dieser  Glaube 
aber  Gottes  Werk  im  Menschen  ist,  ein  Geschenk  freier  Gottesgnade, 
darum  flehen  die  evangelischen  Frommen  um  ihn  mit  derselben  Sehn- 
sucht wie  die  Mystiker  um  die  beglückende  Gotteinigung. 

Luther  betet:  ..Wir  bitten,  o  Vater,  tröst  uns  unser  Gewissen,  jetzt  und  an 
unserem  letzten   Knde.  welches  vor  unsern  Sünden  und  deinem  Gericht  greulich 


Inhalt  des  Gebeta  (Die  Fürbitte)  365 

erschrickt  und  erschrecken  wird.  Gib  unsern  Herzen  deinen  Frieden,  daß  wir 
deines  Gerichts  mit  Freuden  erwarten  mögen  .  .  .  Lerne  uns,  lieber  Vater,  nicht 
auf  unsere  guten  Werke  oder  Verdienste  uns  verlassen  oder  trösten,  sondern  allein 
auf  deine  grundlose  Barmherzigkeit  lauter  und  fest  uns  wagen  und  ergeben, 
Desselbengleichen,  laß  uns  auch  nicht  vei zagen  um  unseres  sträflichen,  sündigen 
Lebens  willen,  sondern  deine  Barmherzigkeit  höher,  breiter,  stärker  achten  denn 
all  unser  Leben."  ,.Gib  uns  durch  deine  Barmherzigkeit  in  unser  Herz  eine  tröst- 
liche Zuversicht  deiner  väterlichen  Liebe  und  laß  uns  empfinden  den  allerlieb- 
lichsten  Geschmack  und  iSüßigkeit  der  kindlichen  Sicherheit,  daß  wir  mit  Freuden 
dich  einen  Vater  nennen,  kennen,  lieben  und  anrufen  mögen  in  allen  unseren 
Nöten.  Behüt  uns,  daß  wir  deine  Kinder  bleiben  und  nit  verschulden,  daß  wir 
aus  dir,  allerliebster  Vater,  einen  erschrecklichen  Richter  und  uns  selbst  aus 
Kindern  zu  Feinden  machen"  93b. 

2.  Individuelle  ethische   Werte. 

Individuelle  rein  ethische  Werte  nehmen  im  prophetischen  Beten 
nicht  jenen  breiten  Raum  ein,  der  ihnen  in  dem  rational-moralistischen 
Religionsideal  der  Philosophen  zukommt.  Trotz  der  inneren  Ver- 
bindung, in  der  Religion  und  Sittlichkeit  stehen,  löst  sich  die  prophetisch- 
evangelische  Frömmigkeit,  die  in  ihrem  Wesen  Glaube  und  Zuversicht 
ist,  nie  in  Sittlichkeit  auf.  Auch  gehen  die  Gebete  um  sittliche  Werte 
nicht,  wie  in  der  philosophischen  Religion,  aus  der  bewußten  Einsicht 
in  ethische  Normen  hervor,  sondern  quellen  spontan  aus  einem  natür- 
lichen Wertfühlen,  das  die  sittlichen  Aufgaben  als  gottgewollt  erlebt 
und  ergreift. 

a)  Befolgung  der  sittlichen  Pflichten:  ,,L  -hie  mich,  Jahwe, 
den  Weg  deiner  Satzungen,  damit  ich  ihn  bis  zuletzt  beachte.  Laß  mich  auf  dem 
Pfade  deiner  Gebote  einhergehen,  denn  an  ihm  habe  ich  Gefallen"  (Ps.  119,  33. 
35).  ,,0  Gott,  leite  mich,  wenn  ich  in  etwas  von  der  Wahrheit  abgewichen  bin, 
mit  deiner  Erlaubnis;  denn  siehe,  du  leitest,  wenn  du  willst,  zum  richtigen  Pfade." 
,,0  Gott,  ich  bitte  dich  um  Festigkeit  in  meinem  Vorhaben,  um  Beständigkeit 
in  meinem  Vorsatze;  ich  bitte  dich  um  ein  ergebenes  Heiz,  um  eine  aufrichtige 
Rede;  ich  bitte  dich  um  das   Gute"  (Muhammed)  •*. 

b)  Bewahrung  vor  der  Versuchung  und  Kraft  zu  ihrer  Über- 
windung: ,, Hoffart  der  Augen  gib  mir  nicht  und  die  Begierde  halt  fern  von  mir. 
Fleischeslust  und  Unzucht  laß  mi  h  nicht  ergreifen  und  schamlosem  Sinn  über- 
laß mich  nicht"  (Sir  23,  5  f.).  ,, Führe  uns  nicht  in  Versuchung"  (Mt  6,  12).  „Möge 
es  dir  gefallen,  uns  aufre  ht  zu  halten,  damit  wir  durch  die  Schwäche  unseres 
Fleisches  nicht  straucheln.  Und  weil  wir  von  uns  selbst  zu  schwach  sind,  um 
nur  eine  Minute  fest  bleiben  zu  können,  Weil  wir  ferner  beständig  von  so  vielen 
Feinden  umgeben  und  bedrängt  sind,  weil  der  Teufel,  die  Welt,  die  Sünde,  und 
unser  eigenes  Fleisch  nicht  aufholen  uns  zu  bekriegen,  mögest  du  uns  durch 
deinen  heiligen  Geist  stärken  und  uns  mit  deinen  Gnaden  wappnen,  damit  wir 
beständig  allen  Versuchungen  widerstehen  können  und  in  diesem  Geisteskampf 
aushalten,    Ins    wir   endlich   den    vollen    Sieg  erlangen"    (Calvin)'8. 

c)  Ü  licrwi  ndung  der  hosen  Neigung  u  nd  natürlichen  Selbst- 
sucht: „Möge  es  dein  Wille  sein,  Herr,  unser  Gott  und  Gott  unserer  Väter, 
d  iß  du  das  Jo  h  des  bösen  Triebes  zerbrechest  und  aus  unserem  Herzen  entfernest. 
Denn  du  hast  uns  ja.  so  geschaffen,  daß  wir  deinen  Willen  tun  sollen  und  wir  sind 
dazu  verpflichtet.  Du  willst  es  und  wir  wollen  es.  Wer  ist's  aber,  der  uns  hindert  ? 
der  Sauerteig  dir  Sünde.  Es  ist  dir  bekannt  und  offenbar,  daß  wir  nicht  die 
Kraft  besitzen  ihm  zu  widerstehen.  So  mögest  denn  du  ihn  von  uns  entfernen 
und  ihn  niederhalten,  daß  wir  deinen  Willen  wie  unsern  Willen  mit  ganzem  Herzen 
tun"  (Rabbi  Chi  ja)  *ib.  ,,Gib  uns  Gnade,  daß  wir  des  Fleisches  Lust  zwingen  .  .  , 
Hilf  uns,  daß  wir  seine  böse  Neigung  zur  Unkeuschheit  und  alle  seine  Begierden 
und  Reize  mit  Christo  ans  Kreuz  schlagen  und  toten,  daß  wir  keiner  seiner  An- 
fechtung bewilligen  und  folgen."     ,,0   Vater,  laß  mich  nicht  dahin  fallen,  dnü  es 


366  &  IV.   Das  Gebet  "in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

nach  meinem  Willen  gehe,  brich  meinen  Willen,  wehre  meinem  Willen, 
es  gehe  mir,  wie  es  wolle,  daß  mir's  nicht  nach  meinem,  sondern  nach  deinem 
Willen  gehe;  denn  also  ist  es  im  Himmel,  da  ist  kein  eigener  Wille,  daß  dasselbe 
auch  also  sei  auf  der  Erden"  (Luther)  9*.  ,,Herr,  mache  du  unser  Herz  zu  deinem 
Tempel,  worin  du  Wohnung  machen  willst.  Mache,  daß  man  jeden  unreinen 
Gedanken  und  jede  irdische  Begierde  wie  den  Götzen  Dagon  jeden  Morgen  zu 
Füßen  der  Bundeslade  zerschmettert  finde.  Lehre  uns  Fleisch  und  Blut  be- 
herrschen und  laß  dies  das  blutige  Opfer  sein,  so  daß  wir  mit  dem  Apostel  sagen 
können:  Ich  sterbe  täglich"  (Kierkegaard)  e7. 

d)  Bruderliebe:  „Möge  es  dein  Wille  sein,  daß  kein  Herz  Haß  gegen  uns 
hege  und  daß  unser  Herz  gegen  niemand  Haß  hege;  daß  kein  Herz  Neid  gegen 
uns  hege  und  unser  Herz  gegen  niemand  Neid  hege"  (Jerusalemischer  Talmud)  *7  *>. 
„Gib  uns  eine  einträchtliche,  brüderliche  Liebe,  daß  wir  uns  allesamt  wahrhaftige 
Brüder  und  Schwestern  erkennen  und  achten  und  dich  können  gemahnen  unsern 
lieben  Vater,  für  alle  und  jedermann  bitten,  als  ein  Kind  für  das  andere  gegen 
seinen  Vater  tut.  Laß  niemand  unter  uns  das  Seine  suchen  oder  das  andere 
vor  dir  vergessen,  sondern  abgetan  allen  Haß,  Neid  und  Zwietracht,  uns  als  die 
wahren  frommen  Gotteskinder  untereinander  lieben  und  also  einträchtlich  sagen 
mögen,  nicht  ,mein  Vater',  sondern  ,unser  Vater'  (Luther)  97  c. 

e)  Duldsamkeit  und  Ergebung:  „Gib  uns  Gnade,  daß  wir  allerlei 
Krankheit,  Armut,  Schmach,  Leiden  und  Widerwärtigkeiten  willig  tragen  und 
erkennen,  daß  dasselbe  dein  göttlicher  Wille  sei,  unsern  Willen  zu  kreuzigen. 
Hilf  uns,  daß  wir  auch  Unrecht  gern  leiden  und  behüt  uns  vor  der  Rache.  Laß 
uns  nicht  Böses  mit  Bösem  bezahlen,  Gewalt  mit  Gewalt  vertreiben,  sondern  in 
solchem  deinem  Willen,  der  uns  dasselbe  zufügt,  Wohlgefallen  haben,  dich  loben 
und  dir  danken"  (Luther)  e?  d. 

3.  Soziale  religiös-ethische  Werte  (Fürbitte). 
Die  prophetische  Frömmigkeit  ist  durchaus  sozial,  der  einzelne  lebt 
mit  anderen,  von  anderen  und  für  andere  (vgl.  o.  S.  272  ff.).  Der 
Fromme  tritt  Gott  nie  in  jener  monadischen  Isolierung  gegenüber  wie 
das  bei  den  Mystikern  der  Fall  ist,  sondern  stets  in  inniger  Verbindung 
mit  den  Brüdern.  Luther  sagt  treffend:  „Denke  ja,  daß  du  nicht  allein 
da  kniest  und  stehest,  sondern  die  ganze  Christenheit  oder  alle  frommen 
Christen  seien  bei  dir"  97e.  Das  christliche  Zentralgebet,  das  Vater- 
unser ist  im  Grunde  kein  Einzelgebet,  sondern  ein  gemeinsames  Gebet; 
es  „bindet  die  Leute  zusammen  und  ineinander,  daß  einer  für  den  andern 
und  mit  dem  andern  betet"  (Luther)  97f.  Dieses  gemeinsame  Gebet 
erweitert  sich  von  selbst  zum  besonderen  Gebet  für  die  Brüder,  zunächst 
für  alle,  welche  mit  dem  Betenden  in  persönlicher  Beziehung  stehen. 
Neben  der  eigenen  Not  steht  als  Gegenstand  des  Gebets  die  Not  der 
Brüder,  allererst  die  geistig-seelische  Not;  neben  die  Bitte  für  sich 
selbst  tritt  so  die  Fürbitte  für  die  anderen,  die  ja  schon  im  Beten 
des  primitiven  Menschen  eine  uns  überraschende  Bedeutung  besitzt. 
Das  Fürbittegebet  der  alttestamentlichen  Propheten  bewegt  sich  in 
den  Bahnen  des  stellvertretenden  Mittlertums :  Mose,  Samuel,  Jeremia 
beten  im  Namen  und  Auftrag  des  Volkes;  Gebetsobjekt  ist  hier  die 
gemeinsame  Not  des  ganzen  Volkes,  die  der  Prophet  als  Glied  einer 
sozialen  Gesamtheit  mit  allen  übrigen  Volksgenossen  teilt.  Eine  reinere 
und  persönlichere  Farbe  besitzt  die  Fürbitte  im  Beten  der  großen  christ- 
lichen Persönlichkeiten,  wo  sie  ausschließlich  auf  das  Heil  des  anderen 
—  und  nicht  zugleich  auch  auf  das  eigene  mit  dem  Heil  der  Gesamtheit 
identische  Heil  —  abzielt.     Jesus  betet  für  seinen  Jünger  Kephas,  auf 


■         Inhalt  des  Gebete  (Die  Fürbitte)  367 

den  es  Satan  abgesehen  hat,  auf  daß  sein  Glaube  nicht  wanke  (Lk  22  31). 
Paulus  gedenkt  in  allen  seinen  Gebeten  seiner  christlichen  Gemeinden; 
kein  Brief,  in  dem  er  nicht  die  , Brüder'  seiner  Fürbitte  versichert  und 
sie  um  ihr  Gebet  anfleht.  (Diese  paulinische  Sitte  ist  zum  stehenden 
Gebrauch  in  der  Korrespondenz  christlicher  Männer  und  Frauen  ge- 
worden 98.)  Der  Gegenstand  seines  Fürbittegebets  ist  das  religiöse 
Heil  seiner  Gemeinden;  er  fleht,  daß  Gott  ihnen  „schenke  den  Geist 
der  Weisheit  und  Offenbarung  zu  seiner  Erkenntnis",  daß  sie  „erfüllt 
würden  von  der  Erkenntnis  seines  Willens",  daß  „ihre  Liebe  mehr  und 
mehr  wachse",  daß  sie  „innerlich  gefestigt  würden  durch  den  Geist 
Gottes",  daß  Gott  sie  „der  Berufung  würdige  und  ihre  Freude  am  Guten 
und  ihr  Glaubenswerk  kraftvoll  vollende'  ".  Polykarp  betet  vor  seinem 
Martyrium  für  „alle,  die  ihm  je  begegneten,  die  Großen  und  Kleinen , 
die  Berühmten  und  Unberühmten"  10°.  Luther  und  Calvin  waren 
Virtuosen  des  Fürbittegebets.  Fast  jeder  Brief  und  die  meisten  Schriften 
Luthers  sind  Zeugnisse  seiner  treuen  und  herzlichen  Fürbitte.  Am 
Anfang  und  Schluß  seiner  Briefe  pflegt  ein  Gebetswunsch  zu  stehen. 
Die  Versicherung  der  Fürbitte  für  den  Briefempfänger  und  die  Bitte, 
dieser  möge  seinerseits  für  Luther  beten,  kehren  immer  wieder.  „Ich 
bitte  für  dich,  habe  für  dich  gebetet  und  werde  für  dich  beten."  „Wahr- 
haftig, ich  stehe  euch  treulich  bei  mit  Seufzen  und  Beten."  100b  Luther 
betet  für  seine  Frau  und  seine  Kinder,  für  seine  Nachbarn  und  sein 
Gesinde,  seine  Freunde  und  seine  Glaubensgenossen.  Desgleichen  pflegt 
Calvin  eifrig  das  fürbittende  Gebet  für  alle  ihm  Nahestehenden. 

So  schreibt  er  Viret:  „Ich  bitte  Gott,  Sie  stets  in  seiner  Obhut  zu  behalten, 
Sie  zu  stärken  durch  seinen  heiligen  Geist  zum  Widerstand  gegen  alle  Versuchungen 
und  Sie  in  allem  wachsen  zu  lassen  zu  seiner  Ehre."  Und  an  die  französischen 
Iteformiertengemeinden:  „Ich  bitte  Gott,  in  euch  mehren  zu  wollen  die  Gnaden- 
gaben, die  er  euch  verliehen,  euch  stark  zu  machen  in  wahrer  Standhaftigkeit, 
euch  zu  behüten  mitten  unter  Wölfen  und  sich  an  euch  in  jeder  Weise  zu  ver- 
herrlichen" l0\ 

Ein  Meister  des  Fürbittegebetes  war  Spener.  Er  schloß  täglich  eine 
große  Anzahl  ihm  bekannter  Personen  namentlich  in  seine  Fürbitte  ein, 
ja  er  legte  sich  in  seiner  pedantischen  Art  förmliche  Listen  an,  um  hiebei 
niemand  zu  vergessen  und  Ordnung  zu  halten  102, 

Der  Universalismus  der  christlichen  Liebe  vertieft  und  erweitert 
den  natürlich  gegebenen  Reichtum  an  persönlichen  Beziehungen.  Alle 
Glieder  der  christlichen  Gemeinschaft  sind  in  das  Gebet  eingeschlossen. 
Paulus  (Eph  6  18)  fordert  zu  anhaltendem  Gebet  für  .alle  Heiligen*, 
d.  h.  für  alle  Christen  auf.  Polykarp  betet  für  alle  christlichen  Gemeinden 
der  Oikumene  103.  Luther  betet  für  die  evangelischen  Fürsten,  für 
Kaiser  und  Reichstag,  für  Obrigkeit  und  Prediger,  für  das  deutsche 
Heer,  das  wider  die  Türken  zieht,  für  gefangene  Märtyrer,  für  ange- 
fochtene Mönche,  für  leidtragende  Witwen  und  Kinder,  für  Kranke  und 
Storbende  103b.  In  den  liturgischen  Gebeten  der  christlichen  Kirchen 
findet  die  allumfassende  fürbittende  Liebe  einen  unvergänglichen 
Ausdruck:  der  weltlichen  Obrigkeit  und  der  geistlichen  Führer,  der 
Gläubigen  und  Ungläubigen,  Sünder  imd  Gerechten,  Gesunden  und 
Kranken,  ja  sogar  der  Heiden,    Juden  und  Ketzer  wird  hier  gedacht. 


368  K  IV.    Da*   Gebot  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

<S.  u.  Kap.  H  Abs.  5  d).  So  strebt  der  Universalismus  des  christ- 
lichen Fürbittens  über  die  Grenzen  der  religiösen  Gemeinschaft  hinaus. 
Schon  Jeremia  und  Baruch  hatten  die  babylonischen  Exulanten  aufge- 
fordert, für  die  Stadt  und  den  König  von  Babel  zu  beten  (Jer297; 
Bar  1  u).  Die  jüdische  Diasporagemeinde  zu  Elephantine  betet  für 
den  persischen  König,  die  urchristliche  Gemeinde  in  Rom  betet  für 
den  römischen  Kaiser  (1.  Clem.  60  f.).  Dar  Verfasser  des  ersten  Timo- 
theusbriefes  fordert  zum  Gäbet  für  alle  Herrscher  und  Behörden  auf 
(1  Tim  2,  f.).  Die  Fürbitte  für  die  der  christlichen  Gemeinschaft 
Femestehendeii  ist  ebenso  ein  Wesensbestandteil  des  christlichen 
Einzelgebets    wie   des   gottesdienstlichen    Gemeindegebets. 

Luther  bete!  :  „Lieber  Herr  Gott,  bekehre  die,  so  noch  sollen  bekehrt  weiden, 
dal$  sie  mit  uns  und  wir  mit  ihnen  «leinen  heiligen  Namen  heiligen  und  preisen, 
beide  mit  rechter,  reiner  Lehre  und  gutem,  heiligem  Leben.  Lieber  Herr,  Gott 
Vater,  bekehr  die.  so  noch  sollen  Kinder  und  Glieder  deines  Reiches  werden, 
daß  sie  mit  uns  und  wir  mit  ihnen  dir  in  deinem  Reich  in  rechtem  Glauben  und 
wahrhaftiger  Liebe  dienen  und  aus  diesem  angefangenen  Reich  in  das  ewige 
Reich   kommen"  10a  c. 

Ihre  Vollendung  erreicht  die  Idee  der  universellen  Fürbitte  in  der 
paradoxen  Forderung  der  Bergpredigt;  ,, Betet  für  die,  welche  euch  Ver- 
folgern und  sehrnähen!"  (Mt  5  41;  Lk  6  28).  Der  Gegensatz  dieses  Wortes 
zu  dem  aus  den  Gebeten  des  Jeremia  und  manchen  Psalmen  redenden 
Bachegeist  ist  deutlieh  erkennbar.  Daß  aber  ein  echtes,  ernstes  und 
spontanes  Beten  für  Feinde  in  den  Grenzen  des  psychologisch  Möglichen 
liegt,  beweist  Jesu  Gebetsruf  am  Kreuze:  „Vater,  vergib  ihnen,  denn 
sie  wissen  nicht  was  sie  tun!"  (Lk  23  34)  104  und  das  Echo,  das  dieses 
Gebetswort  in  der  Geschichte  der  christlichen  Märtyrer  von  Stephanus 
<Ap.  G.  7  60)  bis  Hus  und  Heinrich  von  Zütphen  gefunden  hat. 

4.  XI eherindividuelle  religiös-ethische  Werte. 
Die  mannigfaltigen  konkreten  (individuellen  oder  sozialen)  Werte,  die 
das  ,Ziel'  des  Betons  bilden,  werden  zusammengefaßt  in  der  Bitte  um 
das  Kommen  der  vollen  Gottesherrschaft,  d.  h.  um  die  Realisierung  der 
Gesamtheit  der  Werte,  die  Umgestaltung  der  Wirklichkeit  in  eine 
vollendete,  ideale.  (S.  o.  S.  278,281.)  Dieses  Gebet  ist  das  höchste  und 
wichtigste  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit,  in  das  alle  anderen 
Gebete  einmünden.  Jesu  Gebet  ist  wesentlich  eschatologisches  Gebet, 
sehnsüchtiges  Flehen  um  das  baldige  Kommen  der  .Vollendung'.  „Dein 
Reich  komme!"  (Mt  6  10)  ist  die  zentrale  Bitte  des  Vaterunser,  um  die 
sich  alle  andern  gruppieren;  sie  wird  variiert  durch  die  vorausgehende 
Bitte:  „Geheiliget  werde  dein  Name!"  104b  und  erläutert  durch  die 
folgende  Bitte:  „Dein  Wille  geschehe,  wie  im  Himmel  also  auch  auf 
Erden!"  sie  wird  in  negativer  Fassung  am  Schlüsse  wiederholt:  „Erlöse 
uns  von  dem  Übel!"  Die  Reichgottesbitte  kehrt  in  der  Didache  in  der 
bemerkenswerten  Variante  wieder:  „Es  vergehe  die  Welt,  es  komme 
die  Gnade!"  (10  e).  Wenn  Jesus  (Lk  11  5  ff.;  18  2  ff.)  durch  die  be- 
rühmten Parabeln  zu  stürmischem,  anhaltendem  Beten  auffordert,  so 
bildet  den  Gegenstand  dieses  leidenschaftlichen,  sehnsüchtigen  Ver- 
langens das  Kommen  des  Reichs  und  die  mit  ihm  verbundene  „Recht- 


Inhalt  des  Gebets  (Die   Reichgottesbitte)  369 

fertigung  des  Auserwählten",  nach  der  „die  Gerechten  Tag  und  Nacht 
schreien".  Maranatha,  „komm,  Herr  Jesu!",  ist  der  Stoßseufzer,  den 
die  urchristliche  Gemeinde  unaufhörlich  zum  erhöhten  Herrn  empor- 
sendet, das  eindrucksvolle  Schlußwort  der  Apokalypse.  105  Wo  immer 
in  christlichen  Sekten  die  eschatologisch-chiliastische  Hoffnung  auf- 
loderte, da  stieg  ohne  Unterlaß  jener  apokalyptische  Gebetsseufzer  aus 
sehnsuchtschweren  Herzen  empor.  ,,Come,  Lord  Jesus,  come  quicklyl" 
ist  der  Gebetsruf  der  englischen  Independenten.  106  Auch  unter  den 
Gebeten  Luthers  befindet  sich  eine  überraschend  große  Zahl  von  eschato- 
logischen  Gebeten. 

„Hilf,  lieber  Herr  Gott,  daß  der  fröhliche  Tag  deiner  heiligen  Zukunft  bald 
komme,  daß  wir  aus  der  argen,  bösen  Welt,  des  Teufels  Reich,  erlöset 
und  von  der  greulichen  Plage,  die  wir  von  auswendig  und  inwendig,  beide  von 
bösen  Leuten  und  unserm  eigenen  Gewissen,  leiden  müssen,  frei  werden".  „Du 
hast  den  Tag  verheißen,  uns  zu  erlösen  von  allem  Übel,  so  laß  ihn  doch  nur  kommen, 
noch  diese  Stunde,  wo  es  sein  soll,  und  mach  des  Jammers  ein  Ende."  „Lieber 
Vater,  laß  uns  hier  nicht  lange  leben,  auf  daß  vollkommen  werde  in  uns  dein 
Reich  und  wir  erlöset  werden  gänzlich  von  des  Teufels  Reich."  „Ach,  Christe, 
mein  Herr,  laß  hereinbrechen  deinen  jüngsten  Tag  und  zerstöre  des  Teufels  Nest 
zu  Rom."  „Christen  bitten  und  begehren  den  jüngsten  Tag".  107  Eschatologischen 
Charakter  trägt  auch  folgendes  Gebet  Savonarolas:  „Jesus  Christus,  mein 
Herr  und  mein  Gott!  Eile  herbei,  deiner  Kirche  zu  helfen!  Hilf  du  deinem  ganzen 
Reiche!  Entferne,  Herr,  das  Böse  und  seinen  argen  Einfluß!  Erstehe  in  deinem 
Zorn,  in  deiner  Rache,  Herr,  denn  ach,  nicht  länger  vermögen  wir  die  Bösen 
zu  ertragen"  107b. 

Wo  der  Glaube  an  die  unmittelbare  Nähe  des  eschatologischen  Gottes- 
reiches abgeschwächt  ist,  tritt  an  die  Stelle  des  transzendenten  Gottes- 
reiches die  Gottesherrschaft  in  dieser  Zeitlichkeit,  die  Verkündigung 
des  Gotteswortes  108  und  die  Ausbreitung  der  Kirche,  der  Sieg  des  sitt- 
lich Guten  und  die  ,Ehre  Gottes'. 

In  einem  Gebete  Calvins  heißt  es:  „Wir  bitten  dich,  daß  du  über  uns  alle 
deine  Herrschaft  und  Gewalt  ausübest,  daß  wir  mehr  und  mehr  lernen,  uns  deiner 
Majestät  unterzuordnen  und  zu  unterwerfen;  daß  du  KönigundHerrscher 
in  allem  seiest,  dein  Volk  durch  das  Szepter  deines  Wortes  und  die  Kraft 
deines  Geistes  führest  und  deine  Feinde  durch  die  Macht  deiner  Wahrheit  und 
Gerechtigkeit  zu  schänden  machest."  „Möge  alle  Macht  und  Herrschaft,  welche 
deine  rEhre  widerspricht,  von  Tag  zu  Tag  vernichtet  und  zerstört  werden, 
bis  die  Vollendung  deines  Reiches  offenbar  ist,  wenn  du  zum  Gerichte  kommst".  10* 
Nach  Bunyan  muß  man  beten,  um  „die  Ehre  Gottes  und  den  Fortschritt 
Christi",  „um  die  Fülle  der  Gnade  für  die  Kirche,  um  Hilfe  gegen  alle 
ihre  Anfechtungen,  daß  Gott  nichts  für  sie  zu  hart  werden  lasse,  daß  alle  Dinge 
zusammenwirken  möchten  zu  ihrem  Besten".  n0  Pascal  betet  mit  einer  exklu- 
siven Richtung  auf  das  einzige  Wertvolle  und  einer  herben  Geistigkeit,  die  an 
die  Mystik  erinnert:  „Je  vous  ne  demande  ni  sante"  ni  maladie,  ni  vie  ni  mort, 
mais  que  vous  disposiez  de  ma  sante"  et  de  ma  maladie,  de  ma  vie  et  de  nia  mort 
pour  votre  gloire.  pour  mon  salut  et  pour  l'utilite"  de  1'  £  g  1  i  s  e  et 
de  vos  saint s".  m 

5.  Eudämonistische  Werte. 
Die  Mystik  muß,  wenn  sie  sich  selbst  treu  bleibt,  das  naive  Bitten 
um  äußere  Güter,  alles  nicht  auf  Gott  selbst  gerichtete  Beten  als  der 
wahren  Frömmigkeit  unwürdig  verwerfen.  Das  Irdische  ist  ja  ein 
wesenloses  Truggebilde,  etwas  Nichtseinsollendes,  ein  Unwert,  darum 
eine  Gefahr  für  das  Heil,  ein  Hindernis  der  Veremigung  mit  Gott.    Die 

Dos  Gebot  24 


370  F1  IV-  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

sich  regenden  Affekte  und  Wünsche  dürfen  sich  nicht  frei  im  Gebet 
aussprechen,  sondern  müssen  gedämpft,  gebändigt  und  ertötet  werden. 
Die  Askese,  welche  die  Sinnlichkeit  und  das  von  ihr  gespeiste  emotionelle 
Seelenleben  allmählich  zum  Absterben  bringt,  ist  die  Grundlage  der 
reinen  Mystik.  Die  großen  prophetischen  Persönlichkeiten  hingegen 
waren  keine  Asketen.  Nichts  liegt  ihnen  ferner  als  die  systematische 
Mortifizierung  des  natürlichen  Affekt-  und  Trieblebens.  Keine  Spur 
von  einem  Ekel  an  den  Beschäftigungen  des  Alltags  und  an  den  kleinen 
Freuden  des  Lebens,  wie  wir  ihn  bei  zahllosen  Mystikern  finden.  Jesu 
harmlose  Lebensfreude  war  sogar  den  tugendstrengen  Pharisäern,  die 
keine  Mystiker  waren,  ein  Ärgernis.  Die  Abkehr  von  der  weltflüchtigen 
Mystik  und  die  Erneuerung  der  prophetisch-biblischen  Frömmigkeit 
führten  die  Reformatoren  zu  einer  schroffen  Absage  gegen  allen  Asketis- 
mus. In  diesem  antiasketischen  Geist  liegt  der  Grund  dafür,  daß  die 
großen  prophetischen  Persönlichkeiten  im  Gegensatz  zu  den  Mystikern 
keinen  Gegensatz  kennen  zwischen  dem  Bitten  um  Himmlisches  und 
um  Irdisches,  um  geistige  und  materielle  Werte,  obgleich  naturgemäß 
das  religiös-ethische  Interesse  die  irdischen  Wünsche  auf  ein  Mindest- 
maß zusammenschrumpfen  läßt.  Es  ist  ein  Symptom  für  die  völlige 
Naivität  und  die  gesunde  Natürlichkeit  wie  für  die  Unberührtheit  von 
philosophischem  Rationalismus  und  mystisch-asketischem  Pessimismus, 
wenn  der  Fromme  um  Leben,  Nahrung  und  Gesundheit  mit  derselben 
Selbstverständlichkeit,  Innigkeit  und  Zuversicht  beten  kann  wie  um 
die  Sündenvergebung  und  das  Kommen  des  Gottesreiches,  um  das 
Kleinste  ebenso  wie  um  das  Größte. 

Die  Gebete  der  alttestamentlichen  Propheten  und  der  Psalmen  weisen 
fast  durchgängig  irgendwelchen  eudämonistischen  Einschlag  auf.  Israels 
nationale  Selbständigkeit  und  Größe  ist  das  Ziel  ihrer  heißesten  Gebets- 
wünsche. Unter  den  Gegenständen,  um  die  die  Jünger  Jesu  bitten 
sollen,  steht  das  tägliche  Brot  (Mt  6  n).  Mystische  und  philosophische 
Motive  haben  im  späteren  Christentum  eine  Transponierung  der  schlichten 
Brotbitte  ins  Geistige  bedingt 112;  aber  der  schlichte  Wortlaut  verbietet 
jede  derartige  Umdeutung.  Jesus  mutet  auch  ganz  unbefangen  seinen 
Schülern  zu,  um  eine  Milderung  der  furchtbaren  Leiden  und  Schrecken 
der  nahen  Endzeit  zu  bitten  :  „Bittet,  daß  es  wenigstens  nicht  im  Winter 
geschehe"  (Mk  13  18).  Er  selbst  bittet,  als  man  ihm  einen  Taubstummen 
brachte,  ohne  Bedenken  seinen  himmlischen  Vater  um  Hilfe  zur  Heilung 
dieses  Unglücklichen  (Mk  7  34).  Ja  er  spricht  mit  echt  menschlichem, 
von  stoischer  und  quietistischer  Indifferenz  nicht  vergewaltigtem 
Fühlen  seine  Todesangst  dem  Vater  aus  und  fleht  ihn  eindringlich  um 
das  Vorübergehen  des  Kelches  an.  Pauli  Mahnung  an  die  Philipper 
(46):  „Sorget  nicht,  sondern  alle  eure  Anliegen  bringet  in  Gebet, 
Flehen  und  Danksagung  vor  Gott"  läßt  eine  Einschränkung  auf  die 
Bitte  um  geistige  Güter  nicht  zu.  Paulus  selbst  bittet  dreimal  flehent- 
lich den  Herrn,  er  möge  ihn  vom  „Stachel  des  Fleisches"  und  von  „Satans 
Faustschlägen"  befreien  (2  Kor  12  7  ff.);  er  meint  damit  sein  schweres 
Körperleiden,  das  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  als  Epilepsie  zu  deuten 
ist.     Jakobus  fordert  zum   Gebet  für  die  Kranken  auf.      „Bittet  für 


Inhalt  des  Gebets  (Die  Bitte  um  Irdisches)  371 

einander,  daß  ihr  geheilt  werdet"  (5  14  ff.).  Hermas  wird  von  Gott 
aufgefordert,  ohne  Bedenken  um  alles  zu  bitten.  113  Wenn  Thomas  von 
Aquin  im  Anschlüsse  an  Augustinus  das  Axiom  aufstellte:  „Hoc  licet 
orare,  quod  licet  desiderare" ,  114  so  bringt  er  nur  den  biblisch-altchrist- 
lichen Glauben,  daß  es  keinen  Unterschied  zwischen  geistigen  und 
weltlichen  Gebetsbitten  gibt,  in  eine  prägnante  Formel.  Noch  schärfer 
hebt  Luther  diesen  Grundgedanken  der  prophetischen  Frömmigkeit 
hervor.  „Wir  sollen  Gott  allerlei  Not  vorhalten,  erstlich  die  geistige 
Not",  „darnach  die  gemeine,  zeitliche  Not  dieses  Lebens  auf  Erden, 
als,  daß  wir  sollen  bitten,  daß  er  uns  gebe  gnädigen  Frieden,  gut  Regiment 
und  behüte  uns  vor  allerlei  Plage:  Krankheit,  Pestilenz,  teuer  Zeit, 
Blutvergießen,  Ungewitter".  115  Als  er  in  Schmalkalden  krank  darniede- 
lag,  betete  er:  „Hilf  mir,  daß  es  besser  werde."  Als  Melanchthon  in 
Lebensgefahr  schwebte,  bedrängte  er  Gott  mit  der  Bitte,  dieses  ,Organon' 
das  ,der  Teufel  geschändet',  doch  der  Kirche  zu  erhalten.  116  Und  in 
schwerer  Kriegszeit  rief  er  zu  Gott:  „Behüte  uns  vor  Krieg,  der  das 
Land  und  alle  Stände  wüst  macht."  117  Ja,  er  scheute  sich  selbst  nicht 
in  einer  Zeit  großer  Dürre  Gott  um  Regen  zu  bitten,  so  wie  es  die  Primi- 
tiven in  tropischen  Ländern  und  die  frommen  Bauern  in  Europa  tun : 
„Wie,  daß  du  denn  nicht  willst  Regen  geben,  weil  wir  so  lange  schreien 
und  bitten?"118  Calvin  betet  für  die  Gattin  seines  Freundes  Viret 
um  eine  glückliche  Entbindung.  119  Kierkegaard  bekennt  sogar:  „Nie- 
mals ist  mir  eingefallen,  Bedenken  zu  haben,  Gott  einfach  zu  bitten, 
wenn  ich  dazwischen  einmal  mich  zu  vergnügen  wünschte,  er  möge 
mir  nun  auch  helfen  und  mir  schenken,  daß  ich  mich  recht  vergnügen 
könnte  —  was  Widersinn  wäre,  wenn  Gott  ein  fanatischer  Popanz 
wäre"  12°.  Auch  Muhammed  kennt  ebenso  wie  die  christlichen  Persön- 
lichkeiten vom  prophetischen  Typ  keinen  Gegensatz  zwischen  dem 
Bitten  um  irdische  und  ewige  Güter.  Er  gibt  einem  seiner  Jünger 
die  Weisung:  „Bittet  Gott  um  das  Wohlsein  im  Diesseits  und  Jenseits." 
Er  selbst  sprach  morgens  und  abends  gerne  folgendes  Gebet:  „0  Gott, 
ich  bitte  dich  um  das  Wohlsein  in  Deiner  Religion,  in  meinem  Leben, 
an  Gut  und  Blut".  121 

Die  neueren  evangelischen  Theologen  haben  den  biblischen  Gedanken  von 
der  Berechtigung  des  Bittens  um  Irdisches  und  Zeitliches  entschieden  betont. 
Richard  Rothe  sagt:  „Gegenstand  des  Bittgebetes  darf  an  sich  alles  sein,  was 
Gegenstand  des  Wunsches  eines  Christen  sein  kann,  es  sei  nun  ein  geistiges  Gut 
oder  ein  sogenanntes  äußeres."  m  *>  M  o  n  r  a  d  urteilt:  „Alles  was  sich  in  unserer 
Seele  regt,  das  Große  und  das  Kleine,  dürfen  wir  in  unser  Gebet  aufnehmen. 
Ist  einmal  unsere  Seele  von  irgend  einein  an  sich  unbedeutenden  Ding  hinge- 
nommen, so  mögen  wir  uns  nicht  schämen  unserem  Gott  davon  zu  sagen."  ltl  c 
Die  prägnanteste  Formulierung  für  die  biblischen  Motive  des  naiven  Bittgebets 
hat  Wilhelm  H  errma  um  gefunden:  „Der  Glaube  bewirkt  gewiß  nicht,  daß 
der  Christ  überhaupt  von  der  Bitte  um  natürliche  Dinge  zurücktritt.  Diese 
vermeintliche  Verklärung  des  Gebets  wäre  eine  Entleerung  desselben.  Was  die 
Seele  wirklich  belastet,  daß  sie  dadurch  in  ihrem  Frieden  bedroht  wird,  soll  auch 
im  Gebet  vor  Gott  gebracht  werden  mit  der  Zuversicht,  daß  seine  Liebe  auch 
unser  angstvolles  Kleben  an  natürlichen  Dingen  versteht  .  .  .  Diese  Haltung 
zu  dem  Vater,  der  uns  in  Christus  entgegenkommt,  bewirkt  unsere  innere  Festigung 
gegenüber  den  Dingen,  die  uns  gefangen  nehmen.  Wenn  wir  es  selbst  versuchen 
uns  von  ihnen  l'iei  zu  machen  und  demgemäß  unser  Gebet  auf  sie  nicht  ausdehnen. 
0  s.haden  wir  uns  in  doppelter  Weise:  1.  wird  dadurch  unser  Gebet  unlebendig 


372  P  IV.  Das  Gebet  in.  der  prophetischen  Frömmigkeit 


und  unwahrhaftig;  es  ist  dann  in  Wahrheit  gar  nicht  unser  eigenes  Gebet,  sondern 
vielleicht  das  mögliche  Gebet  eines  ganz  anders  gestellten  Menschen;  2.  stellen 
wir  uns  dabei  nicht  wirklich  vor  den  Gott,  der  als  Helfer  und  Retter  aufgesucht 
sein  will.  Denn  wir  erträumen  uns  dabei  einen  Gott,  der  zwar  das  Ideal  des 
Menschen  liebt,  aber  für  unsere  Bedürftigkeit  keine  Teilnahme  hat.  Wenn  wir 
dagegen  mit  dem,  was  uns  bedrückt,  uns  an  Gott  wenden,  so  bewirkt  das  Ver- 
trauen, das  er  in  uns  hervorruft,  eine  Entlastung  unseres  Innern."  m  d 

Die  Mystik  und  die  moralistische  Philosophie  brandmarken  das  Bitten 
um  zeitliche  Güter  als  irreligiös  und  sündhaft.  Die  prophetische  Reli- 
giosität stellt  zwar  die  hohen  religiös-ethischen  Werte  in  den  Mittel- 
punkt des  Betens,  aber  sie  hat  auch  Raum  für  das  kindlich-primitive 
Bitten  um  Leben  und  Nahrung,  um  Regen  und  Sonnenschein.  Alle 
Problematik  über  das  religiöse  und  ethische  Recht  des  naiven  Bittgebets 
wie  über  die  metaphysische  Möglichkeit  einer  menschlichen  Einwirkung 
auf  Gott  liegt  hier  völlig  ferne.  Wo  das  Beten  nichts  ist  als  ein  schlichtes 
,Ausschütten  des  Herzens',  ein  „Abwerfen  aller  Sorgen  von  unserm 
Herzen  auf  das  Herz,  das  uns  gemacht  hat"  (Gebetsdefinition  von 
Tholuck),  121e  da  müssen  alle  Einwände  der  Philosophie  und  Mystik 
verstummen.  Nur  eine  emseitig  von  sittlichem  Bußernst  bestimmte, 
herbe  Frömmigkeit  wie  die  eines  Bunyan  oder  Pascal  —  nach  James 
müßten  wir  diese  Persönlichkeiten  zum  Typ  der  ,sick  souV  rechnen  — 
schließt  das  treuherzige  Bitten  um  Zeitliches  aus.  Bunyan  sagt:  „Right 
prayer,  as  it  runs  only  to  God  through  Christ,  se  it  centres  in  him  and 
in  him  alone,"  Noch  am  Sterbebett  gab  er  d'e  Gebetsregel:  „Bevor 
du  zum  Gebet  schreitest,  frage  deine  Seele:  ,Ist  dein  Anliegen  wichtig, 
betrifft  es  nicht  das  Heil  deiner  Seele'?".  122  Und  der  unter  dem  Ein- 
fluß des  Jansenismus  stehende  Blaise  Pascal  betet:  „Ich  weiß,  daß  ich 
nur  eines  weiß:  daß  es  gut  ist,  dir  zu  folgen  und  daß  es  böse  ist,  dich 
zu  beleidigen".  123 

c)  Mittel  der  Überredung. 

Die  Bitte  wird  wie  im  Gebet  des  primitiven  Menschen  gestützt  durch 
die  Mittel  der  Überredung.  Der  naive  Beter  trägt  nicht  bloß  seine 
Wünsche  Gott  vor,  sondern  „streicht  sie  fein  heraus  mit  Umständen" 
(Luther)  124,  motiviert  und  begründet  sie,  sucht  durch  allerhand  Hin- 
weise und  Argumente  Gott  zur  Erfüllung  seiner  Bitte  zu  bewegen.  Bei 
Luther,  der  unter  den  großen  religiösen  Männern  wohl  der  naivste, 
urwüchsigste  und  kindlichste  ist,  nimmt  dieses  realistische  Auf-Gott- 
einwirken-wollen, Ihn-umzustimmen-suchen  so  primitive  Formen  an, 
daß  für  den  oberflächlichen  Betrachter  seine  Frömmigkeit  von  der 
Reinheit  und  sittlichen  Größe  des  neutestamentlichen  Gebetsgeistes 
herabzusinken  scheint.  Manche  Redewendungen  in  seinen  Gebeten 
klingen  fast  wörtlich  an   Gebetsäußerungen  primitiver  Völker  an. 

a)  Huldigung,  Lob  und  Dank  entspringen  zumeist  spontanen 
Affekten,  können  jedoch  auch  — ■  wie  es  beim  primitiven  Menschen  die 
Regel  ist  —  zugleich  ein  Mittel  zur  Gewinnung  Gottes  sein. 

„Die  erste  Art  und  Tugend  eines  rechten  Gebets  ist  dies,  daß  man  Gott  dankt 
und  seine  Wohltat  rühmet.  Das  Stück  wird  in  der  Redekunst  genannt  captatio 
benevolentiae,  welche  am  besten  geschieht  durch  Lob  und  Danksagung."  „Der 
best  Anfang  und  Vorred  ist,  daß  man  wohl  wisse,  wie  man  nennen,  ehren,  handeln 


Inhalt  des   Gebets  (Überredung)  373 

soll,  den  man  bitten  will,  und  wie  man  sich  gegen  ihn  erzeigen  soll,  daß  man  ihn 
gnädig    und    geneigt  mache  zu  hören"  (Luther).  12S 

(!)  Ungemein  häufig  ist  der  Appell  an  Gottes  eigenes 
Interesse;  denn  nicht  um  selbstsüchtige  und  launische  Wünsche 
handelt  es  sich,  sondern  um  ideale,  als  gottgesetzt  und  gottgewollt 
erlebte  Werte  und  Aufgaben. 

Jeremia  betet :  .,Wenn  unsere  Missetaten  gegen  uns  Zeugnis  ablegen,  Jahwe, 
so  handle  doch  um  deines  Namens  wille  n!"  (14,  7).  ..Verunehre  doch 
nicht  den  Thron  deiner  Herrlichkeit!"  (14.  21).  Luther  betet  in  Worms: 
..Es  ist  doch  nicht  mein,  sondern  deine  Sache;  habe  ich  doch  für  meine 
Person  allhier  nichts  zu  schaffen  und  mit  diesen  großen  Herren  der  Welt  zu  tun, 
wollte  ich  doch  wohl  gute  und  geruhige  Tage  haben  und  unverworren  sein.  Aber 
dein  ist  die  Sache,  die  gerecht  und  ewig  ist".  126  Als  ihn  Veit  Dietrich  belauschte, 
betete  er:  ..Ich  weiß,  daß  du  unser  lieber  Gott  und  Vater  bist,  derohalben  bin 
ich  gewiß,  du  wirst  die  Verfolger  deiner  Kinder  vertilgen.  Tuest  du  es  nicht, 
so  ist  die  Gefahr  dein  sowohl  als  unser,  die  ganze  Sache  ist  dein.  Was  wir  getan 
haben,  das  haben  wir  müssen  tun,  darum  magst  du,  lieber  Vater,  uns  beschützen".  127 
Ein  andermal  betet  er: ,.  Tue.  Herr,  wohl  an  mir  um  deines  Namens  willen. 
Du  siehest  ja.  daß  die  Sache  dich  angehet,  deinen  Namen,  dein  Wort,  deine 
Ehre  preise  ich,  so  lästern  sie  das  alles;  lassest  du  mich,  so  verlassest  du  auch 
deinen  Namen;  aber  das  ist  unmöglich,  darum  errette  nüch."  Im  Gebet  wider 
die  Türken  sagt  er:  ,.Es  sind  deine  Feinde  mehr  denn  unsere  Feinde,  und  wenn 
sie  uns  verfolgen,  und  schlagen,  so  verfolgen  und  schlagen  sie  dich  selber;  denn 
das  Wort,  das  wir  predigen,  glauben  und  bekennen,  ist  dein,  nicht  unser,  alles 
deines  heiligen  Geistes  Werk  in  uns."  ..Laß  dich  nicht  um  unserer  Sünden  willen 
also  mit  Füßen  treten  von  denen,  die  nicht  unsere  Sünden  in  uns  strafen,  sondern 
dein  heiliges  Wort,  Namen  und  Werk  in  uns  tilgen  wollen,  daß  du  kein  Gott  sein 
sollest  und  kein  Volk  haben,  das  dich  predige,  glaube  und  bekenne".  128  Ähnlich 
betet  Calvin:  „Laß  nicht  zu,  daß  das  Andenken  deines  Namens  auf  Erden 
abgeschafft  werde;  laß  nicht  zu.  daß  die,  über  die  dein  Name  gerufen  ist,  zugrunde- 
gehen lind  daß  die  Türken  und  Heiden  sich  rühmen".  129 

Wie  die  Primitiven  ihren  Gott  daran  erinnern,  daß,  wenn  er  seine  Verehrer 
aussterben  lasse,  niemand  mehr  ihm  Opfer  bringen  werde,  so  erinnert  der  Psalmist 
seinen  Jahwe  daran,  daß  nach  dem  Untergang  des  Gottesvolkes  niemand  mehr 
seine  Wunder  preise.  ,, Wirst  du  an  den  Toten  Wunder  tun  oder  werden  die 
Schatten  auferstehen  um  dich  zu  preisen  ?  Wird  deine  Gnade  im  Grabe  ver- 
kündigt .  deine  Treue  im  Abgrund  ?  Werden  deine  Wunder  in  der  Finsternis  kund 
und  deine  Gerechtigkeit  im  Lande  des  Vergessens?"  (Ps.  88,  11  ff.)130.  Der 
Verfasser  der  Baruchapokalypse  ruft  zu  Jahwe:  „Wenn  du  deine  Stadt  untergehen 
lassest  und  dein  Land  unsern  Hassern  preisgibst,  wie  kann  da  noch  des  Namens 
[srael  gedacht  werden?  Oder  wie  kann  man  reden  von  deinen  Ruhmestaten? 
Oder  wem  kann  erläutert  werden,  was  im  Gesetze  steht?"  (3  5  f.).  In  ähnlichen 
Worten  wie  der  Psalmist  betet  Calvin:  „Unterhalte  das  Werk,  das  du  in  uns 
durch  deine  Gnade  begonnen  hast,  damit  die  ganze  Welt  erkenne,  daß  du  unser 
<;<»tt  und  unser  Erlöser  bist.  Du  weißt,  daß  die  Toten,  die  in  der  Hölle  sind,  und 
die,  welche  du  besiegt  und  zu  Schanden  gemacht  hast,  dich  nicht  loben  werden; 
aber  die  trauernden  und  trostlosen  Seelen,  die  niedergedrückten  Herzen,  die 
Gewissen,  die  von  dein  Gefühl  ihres  Übels  gedrückt  sind  und  hungern  vor  Sehn- 
sucht nach  deiner  (Jnade,  die  werden  dir  Lob  und  Ehre  erweisen".  m  Auch 
.\T  w  h  a  m  in  e  d  stellt  Gott  vor,  daß  er  keine  Anbeter  haben  würde,  wenn  er  ihm 
nicht  den  verheißenen  Sieg  verleihen  wollte.  132 

y)  Die  volle  Naivität,  die  den  inneren  Unwillen  ebenso  offenbart  wie 
die  Not,  Zuversicht  und  Freude,  die  jede  seelische  Regung  aufdeckt, 
scheut  auch  nicht  vor  einer  Drohung  Gott  gegenüber  zurück.  Luther 
erzählt,  er  habe,  als  Melanchthon  todkrank  darniederlag,  Gott  ,,den 
Sack  vor  die  Füße  geworfen".  Im  Gebet  für  den  kranken  Kurfürsten 
Johann sen  droht  er:  „Laß  uns  doch  dir  nicht  die  Schlüssel  vor  die  Füße 


374  F  IV.   Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


werfen,  denn  so  wir  zuletzt  zornig  über  dich  werden,  dir  deine  Ehre 
und  Zinsgüter  nicht  geben,  wo  willst  du  denn  bleiben?"  Aber  wie  im 
primitiven  Beten  so  häufig  Drohung  und  Scheltung  mit  begütigendem 
Zureden  wechselt,  so  schlägt  auch  Luthers  Gebet  plötzlich  einen  anderen 
Ton  an:  „Ach,  lieber  Herr,  wir  sind  dein,  mache  es,  wie  du  willst,  allein 
gib  Geduld!"133 

d)  Die  Erinnerung  an  die  bisherigen  Wohltaten, 
Gnadenerweise  und  Gebetserhörungen  soll  Gott  auch  in  der  Gegenwart 
zur  Hilfe  bestimmen. 

..Gedenke  deiner  Barmherzigkeit.  Jahwe,  und  deiner  Hulderweise,  denn  von 
Ewigkeit  her  sind  sie"  (Ps  25.  6).  ..Auf  dich  vertrauten  unsere  Väter,  vertrauten 
und  du  errettetest  sie.  zu  dir  schrien  sie  und  wurden  errettet  (Ps  22.  5).  Der  Dichter 
des  dies  irae  singt: 

„Qui  Mariam  absolvisti 

Et  latronem  exaudisti. 

Mihi  quoque  spem  dedisti." 
Luther  betet  in  der  Krankheit  zu  Schmalkalden:  ,,0  du  treuer  Gott,  hat 
dein  Name  so  vielen  Leviten  geholfen,  hilf  doch  mir  auch !"  13*  Und  er  gibt  folgende 
Gebetsanweisimg:  .,Wenn  wir  schreien:  .Herr  Gott  hilf  mir  in  dieser  Not'  und 
die  Erlösung  folgt  sobald  nicht,  also  soll  man  aufsuchen  alle  Exempel  der  Väter. 
.Siehe  doch  lieber  himmlischer  Vater,  wie  du  zu  allen  Zeiten  deinem  Volke  bei- 
gestanden hast'  und  soll  ihm  so  die  Exempel  allerlei  Erlösung  vorhalten".  13S 
Calvin  motiviert  seine  Vergebungsbitte  also:  ,,Dein  Volk  Israel  hat  wiederholt 
deinen  Zorn  herausgefordert  durch  seine  Missetat  und  du  hast  es  durch  dein 
gerechtes  Gericht  niedergeschlagen;  aber  wenn  es  zu  dir  zurückgekehrt  ist,  hast 
du  es  stets  voll  Mitleid  aufgenommen.  Und  wie  schwer  auch  ihre  Beleidigungen 
waren,  um  der  Liebe  deines  Bundes  willen  hast  du  deine  Geißeln  und  Flüche 
abgewendet,  die  für  sie  bereitet  waren.  So  sind  denn  ihre  Gebete  nie  von  dir  zurück- 
gewiesen worden"  136. 

e)  Ein  noch  wirksameres  Mittel,  um  Gott  zur  Erhörung  zu  bewegen, 
ist  die  Berufung  auf  seine  Verheißung;  der  Beter  faßt  Gott 
beim  eigenen  Wort. 

Moses  spricht  zu  Jahwe:  „Laß  ab  von  deinem  heftigen  Zorn  und  laß  dich 
das  Unheil  gereuen,  das  du  deinem  Volke  zugedacht  hast.  Gedenke  deiner  D  iener 
Abraham,  Isaak  und  Jakob,  denen  du  bei  dir  selbst  zugeschworen  und  verheißen 
hast:  .Ich  will  eure  Nachkommen  so  zahlreich  werden  lassen  wie  die  Sterne  am 
Himmel,  und  dieses  ganze  Land,  von  dem  ich  gesprochen  habe,  will  ich  euren 
Nachkommen  verleihen,  damit  sie  es  auf  ewige  Zeiten  besitzen"  (Ex  32.  13  JE). 
Der  Hohepriester  Simeon  betet  auf  Sion:  ,,Aus  Liebe  zum  Hause  Israel  verhießest 
du  ja,  wenn  wir  abtrünnig  würden  und  uns  Not  überfiele  und  wir  dann  an  diese 
Stätte  kommen  und  beten  würden,  du  unser  Gebet  erhören  wolltest.  Und  du 
bist  ja  treu  und  wahrhaftig.  Als  aber  unsere  Väter  oftmals  bedrängt  wurden, 
halfst  du  ihnen  in  der  Erniedrigung  und  errettetest  sie  aus  großen  Gefahren." 

Luther  empfiehlt.  Gott  beim  Gebet  ,,der  Verheißung  zu  erinnern,  zu  ver- 
mahnen, ihm  seine  Verheißung  vorzuwerfen. " '  Die  Verheißung  ist  ihm  „das  Haupt- 
stück, Grund  und  Kraft  aller  Gebete".  Von  seinem  Gebet  für  den  todkranken 
Melanchthon  erzählt  er:  „Allda  mußte  mir  unser  Herrgott  herhalten,  denn  ich  .  .  . 
rieb  ihm  die  Ohren  mit  allen  Verheißungen.  Gebete  zu  erhören,  die  ich  aus  der 
heiligen  Schrift  zu  erzählen  wußte,  daß  er  mich  mußte  erhören,  wo  ich  anders 
seinen  Verheißungen  trauen  sollte".  137  Veit  Dietrich,  dem  es  glückte,  Luthers 
Beten  zu  belauschen,  staunt  sich  darüber,  ,,daß  er  so  hart  auf  die  Verheißungen 
der  Psalmen  drang,  als  wäre  er  gewiß,  daß  alles  geschehen  müßte,  was  er  be- 
gehrte". 138  „Sollst  du  wohl  gerüstet  sein,"  sagt  Luther,  ,,so  nimm  die  Ver- 
heißung und  fasse  Gott  bei  derselben:  .Lieber  Herr,  ich  habe  ja  dein  Wort.  Hilf 
du,  weil  du  gesagt  hast  und  befohlen,  so  sollen  wir 's  gewißlich  empfahen,  finden 
und  haben,  was  wir  begehren'".  13B  Calvin  betet:  „Allmächtiger  Gott,  himm- 
lischer Vater,  du  hast  uns  versprochen  uns  in  unseren  Bitten  zu  erhören,  die  wir 


Inhalt  des  Gebets  (Überredung)  375 

an  dich  richten  im  Namen  deines  geliebten  Sohnes  Jesus  Christus,  unseres 
Herrn".  140  Die  Erinnerung  an  die  göttliche  Verheißung  geht  manchmal  in  einen 
ausdrücklichen  AppellandieSelbst  treue  und  Wahrhaftigkeit  Gottes 
über.  So  heißt  es  in  einem  Gebet  Luthers:  „Nun,  wir  bitten  so  sehr  und  haben 
so  oft  gebeten,  tust  du  es  nicht,  lieber  Vater,  so  werden  die  Gottlosen  sagen: 
Christus,  dein  lieber  Sohn  lüge,  da  er  spricht:  .Wahrlich,  wahrlich,  ich  sage  euch, 
was  ihr  den  Vater  bitten  werdet  in  meinem  Namen,  das  wird  er  euch  geben'. 
Also  werden  sie  dich  und  den  Sohn  Lügen  strafen".  141 

C)  Mit  der  Berufung  auf  Gottes  Verheißung  berührt  sich  enge  der 
Hinweis  auf  Gottes  ausdrückliches  Gebot  zu  beten. 

Luther  spricht  im  Gebet:  ,,Du  selbst  hast  gebeten,  daß  wir  dich  anrufen  sollen 
und  willst  also  geehrt  sein,  daß  man  Gutes  bei  dir  suche."  „Ich  bete  nicht,  daß 
ich's  Recht  habe  oder  würdig  sei,  sondern  daß  ich  doch  hierin  ein  wenig  gehorsam 
sei,  da  du  mich  heißest  und  zwingest  zu  beten  im  Namen  deines  lieben  Sohnes. 
Auf  diesen  Trotz  und  Trost  deiner  grundlosen  Güte,  nicht  auf  meine  Gerechtigkeit, 
trete  ich  vor  und  bete".  142  In  Calvins  Kirchengebet  heißt  es:  „Nachdem  es 
deiner  unendlichen  Barmherzigkeit  gefallen  hat  uns  zu  befehlen,  daß  wir  dich 
anrufen  und  daß  wir  unsere  Zuflucht  zu  deiner  mächtigen  Güte  nehmen,  wagen 
wir  es  uns  an  deine  Majestät  zu  wenden  und  deinen  heiligen  Namen  anzurufen".  143 

77)  In  der  Berufung  auf  Gottes  bisherige  Wohltaten,  seine  Gebote  und 
Verheißungen  tritt  der  objektiv-geschichtliche  Charakter  der  propheti- 
schen Gebetsfrömmigkeit  hervor,  welcher  der  Mystik  fehlt.  Noch  schärfer 
ist  dieses  historische  Moment  in  der  Berufung  auf  die  gött- 
lichen Heilstatsachen  erkennbar.  Die  alttestamentlichen 
Beter  144  stützen  sich  auf  den  Bundesschluß  am  Sinai,  durch  den  Jahwe 
und  sein  Volk  zur  unlöslichen  Einheit  wurden.  Jeremia  betet:  „Brich 
nicht  deinen  Bund  mit  uns"  (14  21).  Die  christlichen  Beter  erinnern 
Gott  an  den  sühnenden  Opfertod  des  Gottessohnes  auf  Golgatha. 

Calvin  betet:  „Wir  haben  einen  viel  besseren  Bund,   auf  den  wir  uns  berufen 
können;  es  ist  der,  den  du  geschlossen  und  festgesetzt  hast  durch  Jesus  Christus, 
unseren  Erlöser,  der,  wie  du  wolltest,  durch  sein  Blut  geschrieben  wurde  und 
durch  sein  Leiden  und  Sterben  Rechtskraft  erlangte.    Darum,  o  Herr,  bauen  wir 
nicht  auf  uns  selbst  noch  auf  irgendwelche  menschliche  Hoffnung,  sondern  nehmen 
zu  diesem  glückseligen  Bund  unsere  Zuflucht,  durch  den  unser  Herr  Jesus  Christus 
uns  mit  dir  versöhnt  hat,  indem  er  seinen  Leib  als  Opfer  darbrachte.     Schau 
darum,  o  Herr,  auf  das  Antlitz  deines  Christus  und  nicht  auf  uns,  damit  durch 
seine  Fürbitte  dein  Zorn  besänftigt  werde  und  dein  Antlitz  uns  in  Freude  zum 
Heile  leuchte"  145.      Noch  innigere  Worte  findet   der   Dichter  des  Dies  irae: 
„Recordare  Jesu  pie, 
Quod  sum  causa  tuae  viae, 
Ne  me  perdas  illa  die. 
Quaerens  me  sedisti  lassus, 
Redemisti  crucem  passus, 
Tantus  labor  non  sit  cassus." 
Savonarola   betet:   „Erbarme  dich  meiner  nach  deiner  großen  Barmherzigkeit, 
in  welcher  du  deinen  Sohn  für  uns  dahingegeben,  in  der  du  durch  ihn  die  Sünden 
der  Welt  hin  weggenommen".  ,46b 

Eine  Berufung  auf  die  große  Heilstatsache  des  Versöhnungstodes 
Jesu  liegt  schon  in  der  schlichten  NennungdesNamens  Jesu 
beim  Gebet.  Die  urchristliche  Gemeinde  betet  stets  ,in'  und  .durch' 
Jesus,  ,im  Namen  Jesu'  zum  Vater.  146  Luther  fleht:  „Vater,  sieh 
nicht  unsere  Sünde,  sondern  deinen  Sohn  Jesum  Christum  an,  in  seinem 
Namen  kommen  wir  jetzt  vor  dich"  147.  Der  christozentrische  Charakter 
des  evangelischen  Heilsglaubens  ist  auch  im  Gebet  deutlich  erkennbar. 
„Christus  ist  der  Weg,  durch  den  die  Seele  Zutritt  hat  zu  Gott  und 


376  F  IV    Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

ohne  den  es  unmöglich  ist,  daß  jemand,  so  sehr  er  auch  wünscht,  Gottes 
Gehör   erlangt"  (Bunyan).  147  b 

■&■)  Die  in  zahllosen  primitiven  Gebeten  sich  findende  Berufung 
auf  die  soziale  Zusammengehörigkeit  mit  Gott,  vor  allem  auf  das 
Kindscha  ftsverhältnis  des  Menschen  zu  Gott,  kehrt  in  den 
Gebeten  der  prophetischen  Persönlichkeiten  wörtlich  wieder. 

Ein  nachexilischer  Frommer  ruft  zu  Jahwe:  „Fürwahr,  du  bist  unser  Vater; 
denn  Abraham  weiß  nichts  von  uns  und  Israel  kennt  uns  nicht;  du,  Jahwe,  bist 
unser  Vater".  148  Luther  fleht:  „Lieber  himmlischer  Vater,  wir,  deine  Kinder, 
dürfen  jetzund  das,  jetzund  jenes".  149  Calvin  sagt:  ,,0  Herr,  du  bist  unser  Vater 
und  wir  sind  nur  Erde  und  Kot;  du  bist  unser  Schöpfer  und  wir  sind  das  Werk 
deiner  Hände;  du  bist  unser  Hirte,  wir  sind  deine  Herde;  du  bist  unser  Erlöser, 
wir  sind  dein  Volk,  das  du  erkauft  hast;  du  bist  unser  Gott,  wir  sind  deine  Erben. 
Darum  zürne  uns  nicht,  um  uns  in  deinem  Groll  zu  strafen."  „Wir  bitten  dich 
für  alle  unsere  armen  Brüder  und  Mitglieder,  die  du  mit  deinen  Geißeln  und 
Züchtigungen  heimsuchst,  und  flehen  dich  an,  deinen  Zorn  von  ihnen  abzuwenden. 
Herr,  gedenke,  daß  es  deine  Kinder  sind  wie  wir".  150 

i)  Tax  den  Mitteln,  Gott  zur  Erhörung  zu  bewegen,  gehört  auch  die 
Berufung  auf  die  eigene  Frömmigkeit  und  Gerechtigkeit, 
die  uns  neben  dem  Pochen  auf  die  Opferdarbringungen  schon  in  den 
primitiven  Gebeten  häufig  begegnete.  Der  fromme  Jude  pocht  auf 
seinen  Gesetzeseifer  und  sein  Gottvertrauen,  seine  Gerechtigkeit  und 
seine  guten  Werke,  der  Prophet  erinnert  Gott  an  seinen  Berufsgehorsam 
und  Berufseifer,  der  alle  Werkgerechtigkeit  für  nichts  achtende  evan- 
gelische Christ  beruft  sich  auf  seinen  guten  Willen. 

Jeremia  ruft:  „Du  Jahwe,  kennst  mich  und  durchschaust  mich  und  hast  meine 
Gesinnung  gegen  dich  erprobt.  Ja,  du  weißt  es,  Jahwe!"  (12,  3).  „Gab  es  Worte 
von  dir,  so  verschlang  ich  sie,  und  es  gereichten  mir  deine  Worte  zur  Wonne  und 
zur  Freude  meines  Herzens"  (15,  15).  „Ich  habe  mich  dem  nicht  entzogen,  Hirte 
zu  sein  in  deiner  Nachfolge,  du  weißt  es.  Was  meine  Lippen  vorbrachten,  es 
liegt  offen  vor  deinem  Angesicht"  (17,  16).  Der  Psalmist  betet:  „Schaffe  mir 
Recht,  Jahwe,  nach  meiner  Frömmigkeit  und  nach  der  Gerechtigkeit,  die  in 
mir  ist"  (7,  9).  „Schaffe  mir  Recht,  Jahwe,  denn  in  meiner  Unschuld  habe  ich 
gewandelt  und  auf  Jahwe  habe  ich  vertraut.  Prüfe  mich,  Jahwe,  und  durch- 
suche mich,  durchläutere  meine  Nieren  und  mein  Herz;  ich  wasche  in  Unschuld 
meine  Hände"  (26,  1  f.).  „Bewahre  meine  Seele,  denn  ich  bin  f^ornm;  hilf  du, 
mein  Gott,  deinem  Knecht,  der  auf  dich  vertraut!"  (86,  2).  Selbst  der  gegen 
alle  Werkgerechtigkeit  anstürmende  Luther  beruft  sich  in  seiner  Krankheit  auf 
seiner  Predigereifer:   „Du  weißt  ja,  daß  ich  dein  Wort  fleißig  gelehrt  habe".  181 

x)  Auch  der  Appell  anGottes  Mitleid,  der  zum  primitiven 
Gebet  gehört,  kehrt  in  den  Gebeten  der  prophetischen  Genien  wieder. 

„Sei  mir  gnädig,"  betet  wiederholt  der  Psalmist  (Ps  51,  1;  57,  1).  Augustinus 
fleht:  „Hei  mihi,  Domine,  miserere  mei.  Hei  mihi,  ecce  vulnera  mea  non  abscondo. 
Medicus  es,  aeger  sum.  Misericors  es,  miser  sum".  182  Luther  ruft:  „Nun  bitte 
ich  dein  Erbarmen.  Erbarme  dich  meiner  und  vergib  mir  meine  Sünde."  „Siehe 
meine  Not  an  und  meinen  Jammer."  „Erbarme  dich  mein,  denn  ohne  dein 
Erbarmen  alle  Dinge  mir  schrecklich  und  bitter  sind".  153  Calvin  betet:  „Hab 
Mitleid  mit  uns,  allgütiger  und  barmherziger   Gott  und  Vater".  154 

A)  Wie  in  der  primitiven  Religion,  so  begegnet  uns  auch  im  propheti- 
schen Gebetsleben  das  anhaltende,  unverdrossene  Bestürmen  und 
Bedrängen  Gottes,  das  diesen  zum  Nachgeben  bringen  soll.  Der 
Mystiker  ist  ganz  in  Gott  aufgegangen,  versunken,  verloren ;  alle  Wünsche 
und  Begierden  sind  verstummt  in  der  seligen  Gottesschau.  Die  prophe- 
tischen  Naturen   dringen   in    Gott  mit  ungestümer   Leidenschaft,   sie 


Inhalt  des   Gebets  (Überredung)  377 

ringen  mit  ihm  in  zäher  Ausdauer  und  suchen  ihn  durch  unaufhörliches 
Rufen  und  Flehen  zur  Erfüllung  ihres  heißen  Sehnens  und  Verlangens 
zu  zwingen.  Ein  spätjüdischer  Frommer  sagt:  „Unverschämtheit  hat 
selbst  gegenüber  dem  Himmel  Erfolg".  155  Derselbe  Gedanke  liegt  den 
Gleichnissen  Jesu  vom  unverschämten  Freund  und  von  der  zudring- 
lichen Witwe  (Lk  115  ff.,  18  x  ff.)  zugrunde.  Die  Macht  und  Erhörungs- 
gewißheit  des  anhaltenden ,  unermüdlichen  und  ungestümen  Bittens  und 
Betteins  ist  hier  in  wundervoller  Weise  veranschaulicht.  Jesu  ein- 
dringliche Aufforderung  zum  unverdrossenen  Dranggebet  (tiüptote 
7cqog£v%£0&cu  xai  fit]  iyxaxdv)  ist  von  den  Theologen  der  alten  und 
neuen  Zeit  mit  zahlreichen  Klauseln  und  Restriktionen  versehen,  abge- 
schwächt und  umgedeutet  worden.  Sie  bereitet  den  philosophischen 
Köpfen  dieselbe  Verlegenheit  wie  den  kontemplativen  Mystikern;  denn 
sie  stellt  den  schärfsten  Gegensatz  zum  mystischen  und  philosophischen 
Gebetsideal  dar.  Und  doch  ist  der  schlichte  Wortsinn  eine  psycho- 
logische Selbstverständlichkeit.  Aus  der  Aufmunterung  Jesu  zu  stür- 
mischen Beten  spricht  nur  jener  naive  Glaube  an  die  Macht  des  Gebets, 
jene  kindlich-treuherzige  Zuversicht  auf  den  Vatergott,  jener  anthro- 
pomorphe  Realismus  des  Umganges  mit  Gott,  den  im  Gegensatz  zu 
aller  Philosophie  und  Mystik  das  prophetische  Gebet  mit  dem  urwüchsigen 
Gebet  des  primitiven  Menschen  gemeinsam  hat.  Jene  zu  andringendem 
Gebetsmut  mahnenden  Parabeln  wollen  einen  Schluß  a  minore  ad  malus 
veranlassen :  Wenn  schon  unfreundliche  oder  ungerechte  Egoisten  durch 
anhaltendes  Bitten  und  Betteln  zur  Gewährung  des  Erbetenen  zu 
bringen  sind,  um  wieviel  mehr  wird  dann  der  gütige  Vater  im  Himmel 
denen,  die  ihn  gläubig  anrufen,  gerne  geben.  156  Es  sind  ja  auch  nicht 
törichte  und  kindische  Gebetswünsche,  die  Jesus  im  Auge  hatte,  sondern 
das  Größte  und  Wichtigste,  dem  Jesu  ganze  Hoffnung  gehört:  das 
Gottesreich,  das  den  zentralen  Gegenstand  der  Vaterunserbitten  bildet. 
Wenn  die  verfolgten  und  geschmähten  Frommen  Tag  und  Nacht  zum 
Himmel  schreien,  so  kann  der  große  Gerichtstag,  der  ihnen  Recht 
schafft,  nicht  mehr  lange  ausbleiben.  Jesu  nachdrückliche  Aufmunterung 
hat  in  Luthers  Seele  gezündet,  er  findet  noch  drastischere  und  kräftigere 
Worte  für  das  „Dranggebet"';  der  unverdrossene  Gebetseifer  grenzt  bei 
ihm  an  einen  Gebetstrotz,  dessen  Primitivität  die  Reinheit  und  Er- 
habenheit des  neutestamentlichen  Kmdschaftsverhältnisses  zu  ge- 
fährden scheint. 

..Stelle  mir  bei,  tue  es,  du  in  u  ßt  es  tun."  betet  er  in  Worms.  ..Ich  bin  ein 
armer  unwürdiger  Sünder,  das  weiß  ich  wohl,  aber  nichtsdestoweniger  muß  ich 
dies  und  jenes  haben".  "7  „Wir  sollen  unverschämte  Bettler  sein  und  geilen 
Lernen  und  uns  nicht  Lassen  müd  m  lohen  "  ..Man  soll  nicht  allein  eine  Stunde 
bitten,  sondern  man  muß  s  hreien  und  anklopfen;  alsbald  mußt  du  Gott  zwin- 
ge d  .  daß  er  komme."  ..Man  soll  Gott  mit  Anklopfen  und  heftigem  feindlichen 
Anhalten  einen  Verdruß  machen."  Man  muß  ihn  ,, übertäuben  mit  stetem  An- 
heilen." ,, So  sich  Gotl  immer  mehr  verbirget.  so  fange  an  und  klopfe  und  höre 
nicht  auf,  bis  du  die  Türe  auflaufest,  dtrin  er  vers -blossen  ist."  ..Gott  kann 
alsdann  unser  Schreien  nicht  langer  leiden  und  spricht:  .Wohlan?  so  fahre  hin 
und  habe,  was  du  begehrst'".  ..Solch  unversc  hämt  Gebet,  das  fest  anhält 
und  sich  nicht  läßt  abschrecken  ihn  anzuschreien,  gefällt  Gott  wohl".  15B  Kierge- 
gaard    hat    diesen   kräftigen  Wort en  Luthers   Beifall    gespendet:    ..Wie    wohltuend 


078  P  IV.    Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

und  stärkend  ist  doch,  was  Luther  darüber  sagt,  daß  man  unverschämt  im  Beten 
sein  und  Gott  so  recht   flehentlich  bitten  und  bedrängen  soll".  158b 

Ähnliche  Sätze  werden  auch  von  Muhammed  überliefert:  „Gott  liebt  jene, 
die  recht  zudringlich  in  ihrem  Gebet  sind."  ..Wenn  ihr  zu  Gott  betet, 
sagt  nicht:  wenn  es  dein  Wille  ist,  sondern  betet  in  kategorischer  Weise  und  ver- 
langt euch  recht  große  Dinge,  denn  für  Gott  ist  kein  Ding  zu  schwer,  das  er  ver- 
leiht." In  einem  Taurät- Verse  spricht  Allah  selbst :  ,,Wer  meine  Wohltat  erhofft, 
möge  seine  Bitte  in  zudringlicher  Weise  vorbringen".  15' 

Alle  diese  verschiedenen  Mittel  der  Überredung  sollen  die  Bitte  be- 
gründen, bekräftigen  und  ihr  durchschlagende  Kraft  verleihen.  Aber 
sie  sind,  näher  betrachtet,  mehr  als  bloße  Überredungs-  und  Umstim- 
mungsversuche ;  der  Appell  an  Gottes  eigenes  Interesse  wie  die  Be- 
rufung auf  seine  bisherigen  Gnaden  und  Verheißungen,  auf  die  Heils - 
tatsachen  und  das  Kindschaftsverhältnis  bezwecken  zwar  eine  reale 
Einwirkung  auf  Gottes  Willen,  aber  sie  sind  zugleich  ein  starker  Aus- 
druck der  (bereits  als  gebetsmotivierendes  Moment  wirksamen)  Zu- 
versicht und  Hoffnung.  Schon  hierin  offenbart  sich  der  für  das  prophe- 
tische Beten  typische  Übergang  der  in  Klage  und  Bitte  erfolgenden 
Aussprache  der  Not  in  die  Aussprache  der  Zuversicht. 

d)  Aussprache  der  Ohnmacht  und  Abhängigkeit, 
Bekenntnis  der  Sündhaftigkeit. 

Unter  den  Formen,  Gott  zur  Erfüllung  eines  Wunsches  zu  gewinnen, 
stehen  im  primitiven  Beten  das  Bekenntnis  der  eigenen  Ohnmacht  und 
der  helfenden  Macht  Gottes  sowie  das  Eingeständnis  der  eigenen  Un- 
würdigkeit,  Nichtigkeit  und  Sündhaftigkeit.  Beides  kehrt  auch  im 
prophetischen  Beten  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  der  Bitte  wieder. 
Doch  tritt  hierbei  die  naive  Realisierungstendenz,  die  Absicht  einer 
Motivierung  der  Bitte  noch  mehr  zurück  als  bei  den  oben  angeführten 
Mitteln  der  Überredung;  es  handelt  sich  um  den  selbständigen  Aus- 
druck eines  elementaren  seelischen  Erlebnisses.  Der  Fromme  will  viel 
weniger  Gott  zur  Hilfe  reizen  und  seine  Gunst  erwerben,  dadurch  daß 
er  sich  vor  seiner  Macht  demütig  in  den  Staub  wirft  und  seine  absolute 
Gewalt  anerkennt,  er  will  vielmehr  das  Bewußtsein  vollkommener 
Abhängigkeit,  das  Kreaturgefühl,  von  dem  er  ganz  durchdrungen  ist, 
seinem  Gott  aussprechen.  So  hat  auch  das  Eingeständnis  der  eigenen 
Sündhaftigkeit  und  das  Bekenntnis  der  Strafwürdigkeit  nicht  den 
Zweck,  durch  die  darin  liegende  Selbsterniedrigung  den  Zorn  Gottes 
zu  beschwichtigen  und  sein  Mitleid  zu  erregen  —  dies  trifft  auf  die 
primitiven  und  antiken  Bußgebete  durchgängig  zu  — •,  sondern  ist  der 
spontane  Ausdruck  wahrhaftiger  Selbstverurteilung,  das  rückhaltlose 
Eingeständnis  des  eigenen  ,numinösen'  Unwertes. 

„Wir  sind  der  Ton  und  du  bist  unser  Bildner  und  das  Werk  deiner  Hände  sind 
wir  alle"  (Jes  64,  7).  ,,0  Gott,  du  hast  meine  Seele  geschaffen  und  wirst  sie  zu 
dir  nehmen,  dir  gehört  ihr  Tod  und  ihr  Leben."  ..Ich  bitte  dich  bei  deiner  Macht, 
ich  bitte  dich  um  Gnade;  denn  siehe,  du  bist  mächtig,  ich  bin  unmächtig;  du 
bist  wissend,  ich  bin  unwissend."  „Du  bist  der  Herr  und  ich  bin  dein  Diener; 
verzeih  mir  meine  Sünden  alle;  denn  siehe,  es  verzeiht  keiner  die  Sünden  außer 
dir;  und  führe  mich  zu  den  besten  Sitten;  denn  es  führt  keiner  zu  den  besten 
Sitten  außer  dir;  entferne  von  mir  die  bösen  Sitten,  denn  es  entfernt  keiner  die 
bösen  Sitten  außer  dir;  alles  Gute  ist  in  deiner  Hand."    ,, Siehe,  du  hast  Macht 


Inhalt  des  Gebets  (Aussprache  der  Abhängigkeit)  379 

über  alle  Dinge"  (Muhmmed).  140  ,,Was  bist  du  anders  als  die  Barmherzigkeit 
selber  ?  Was  aber  bin  ich  anders  als  das  Elend  selber  ?  Siehe,  Gott,  der  du  die 
Barmherzigkeit  bist,  siehe  das  Elend  ist  vor  dir"  (Savonarola).  190b  ,,Hilf  mir, 
Herr,  denn  ich  finde  keine  Hilfe  bei  den  Menschen  noch  bei  einer  anderen  Kreatur" 
(Ignatius  von  Loyola).  161  ,.Kein  Mensch  noch  Kreatur  mag  mir  helfen  noch 
trösten,  also  groß  ist  mein  Elend."  „Nun  siehest  du,  wie  es  allenthalben  mangelt, 
daß  ich  keine  Hilfe  weiß  ohne  bei  dir."  ..Ich  armer  Mensch,  voll  aller  Sünde, 
der  ich  an  mir,  an  meinen  Werken  und  an  allen  meinen  Kräften  verzweifle,  habe 
nichts,  das  ich  tun  könnte,  denn  daß  ich  bete  und  deine  Barmherzigkeit  anrufe." 
,,Da  ist  nichts  Gutes,  was  ich  rede,  denke,  tue  und  lebe,  ohne  deine  Gnade  und 
göttliche  Kraft,  wenn  ich  gleich  aller  Mönche  Heiligkeit  hätte"  (Luther).  16ä 
..Mein  Herz  ist  so  verhärtet,  daß  alle  meine  Anstrengungen  und  a'le  Anstrengungen 
der  Welt  zusammen  nichts  tun  könner,  um  meine  Bekehrung  einzuleiten,  wenn 
nicht  d  u  sie  mit  dem  ganz  außerordentlichen  Beistand  deiner  Gnade  begleitest." 
,,Zu  wem  sollte  ich  schreien,  Herr,  wenn  nicht  zu  dir?  Du  allein  hast  meine 
Seele  erschaffen  können,  du  allein  kannst  sie  jetzt  neu  schaffe»"  (Pascal).  16S 

„Zahlreich  sind  unsere  Übertretungen,  an  dir  haben  wir  gesündigt."     „Wir 
erkennen  Jahwe,  unsere  Frevel,  die  Schuld  unserer  Väter,  daß  wir  an  dir  ge- 
sündigt haben"  (Jer  14,  7;  14,  20).     ,,An  dir  allein  habe  ich  gesündigt  vind  habe 
getan,  was  dir  mißfällig  ist.     So  behältst  du  Recht  mit  deinem  Spruch,  stehst 
rein  da  mit  deinem  Urteil"  (Ps  51,  6).     ,,Ich  habe  gesündigt  und  bekenne  meine 
Sünden,  verzeih  mir  meine  Sünden  alle"  (Muhammed).  164 
Ingemisco  tamquam  reus 
Culpa  rubet  vultus  meus: 
Supplicanti  parce,  Deus  (Dies  irae). 

,,Ich  bin  ein  armer  Sünder  und  habe  den  Tod  verdient."  ,,Ich  weiß  wohl  und 
bekenne,  daß  ich  das  höllische  Feuer  und  deinen  Zorn  mit  vielen  großen  Sünden 
verdient  habe."  ,, Siehe,  so  wahr  ist's,  daß  ich  vor  dir  ein  Sünder  bin.  daß  auch 
Sünde  meine  Natur,  mein  anhebendes  Wesen,  meine  Empfängnis  ist,  geschweige 
denn  die  Worte.  Werke  und  Gedanken  und  nachfolgend  Leben.  Ein  böser  Baum 
bin  ich,  von  Natur  ein  Kind  des  Zornes  und  der  Sünde;  und  darum,  solange  als 
dieselbe  Natur  und  Wesen  in  mir  und  an  uns  bleibet,  sind  wir  Sünder  und  müssen 
sagen:  erlaß  uns  unsere  Schuld"  (Luther).  165  „Trotz  deiner  Heilstaten  haben 
wir  gleichwohl  in  Undankbarkeit  und  Unwissenheit  gesündigt  und  uns  abgewendet 
von  dir  und  zugewendet  unseren  Lüsten;  wir  haben  deinem  heiligen  Wort  nicht 
die  Ehre  erwiesen,  wie  wir  sollten;  wir  haben  dich  nicht  verherrlicht  und  erhöht, 
wie  es  sich  geziemt  hätte.  Und  obgleich  du  uns  stets  getreulich  durch  dein  Wort 
mahntest,  haben  wir  auf  deine  Ermahnungen  nicht  gehört,  wir  haben  also  ge- 
sündigt, o  Herr,  wir  haben  dich  beleidiget.  Deshalb  fühlen  wir  unsere  Verwirrung 
und  Scham  und  erkennen,  daß  wir  vor  deinem  Gericht  schwer  schuldig  sind, 
und  daß,  wenn  du  uns  nach  dem  behandeln  wolltest,  was  wir  verdienen,  wir  dem 
Tod  und  der  Verdammnis  verfallen  sind;  denn  wenn  wir  uns  entschuldigen  wollten, 
so  klagt  uns  unser  Gewissen  an  und  unsere  Missetat  steht  vor  dir  um  uns  zu  ver- 
dammen. Und  in  der  Tat,  o  Herr,  aus  den  Züchtigungen,  die  über  uns  schon 
gekommen  sind,  sehen  wir,  daß  du  mit  gutem  Recht  über  uns  erzürnt  bist  .... 
Jetzt,  da  du  drohst,  uns  noch  strenger  zu  bestrafen,  als  du  es  bis  zu  dieser  Stunde 
getan  hast,  und  wir  statt  eines  Schlages  nun  hundert  empfangen  müßten;  jetzt, 
da  sogar  die  Flüche,  mit  denen  du  einst  die  Sünden  deines  Volkes  Israel  gestraft, 
auf  uns  zu  fallen  drohen,  jetzt  bekennen  wir.  daß  das  mit  vollem  Recht  geschehen 
würde,  und  wir  widersprechen  nicht,  daß  wir  es  wohl  verdient  haben"  (Calvin).  1,$ 
„Du  hast  mir  die  Gesundheit  gegeben,  um  dir  zu  dienen,  ich  aber  habe  sie  zu 
weltlichen  Zwecken  mißbraucht;  ich  habe  mißbraucht  meine  Gesundheit  und 
du  hast  mich    mit    Hecht    dafür  gestraft"   (Pascal).  16T 

e)  Aussprache  der  Zuversicht. 
Den   hauptsächlichsten    Inhalt  des   prophetischen    Gebets   bildet   die 
Aussprache  der  Not.     Es  erschöpft  sich  jedoch  damit  nicht,  es  ist  mehr 
als  ein  bloßes  Bitten  und  Klagen.     Es  hebt  an  mit  dem  Ausdruck  der 


380  F  IV.   Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

Not,  aber  es  steigt  zu  einer  Höhe  empor,  wo  Not  und  Wunsch  vergessen 
sind  und  nur  noch  Zuversicht,  Freude  und  Ergebung  herrschen.  Im 
Gebet  selbst  vollzieht  sich  unbewußt  und  ungewollt,  oft  sogar  plötzlich 
eine  wunderbare  Metamorphose.  Der  drängende,  unlustvolle  Affekt, 
der  heiße  Wunsch  geht  über,  ja  springt  über  in  die  sanfte,  lustvolle  Stim- 
mung des  Getrost-  und  Gefaßtseins,  der  Hoffnung  und  Zuversicht;  das 
Gefühl  der  Unsicherheit  und  Haltlosigkeit  wird  abgelöst  von  dem  be- 
glückenden Bewußtsein  des  Behütet-  und  Geborgenseins  in  der  Hand 
einer  schützenden  höheren  Macht.  So  bricht  aus  dem  Zweifeln  und 
Fragen  die  Gewißheit  durch,  aus  der  Angst  die  Zuversicht,  aus  dem 
Bangen  und  Zagen  der  zukunftsfrohe  Mut,  das  Wollen  und  Wünschen 
wird  zum  inneren  Haben  und  Besitzen.  Dieser  Stimmungswechsel 
vollzieht  sich  aber  häufig  ■ — ■  zumal  dann,  wenn  Gebetsklage  und  -bitte 
aus  übermächtiger  Angst  und  leidenschaftlichem  Verlangen  hervor- 
quellen —  nicht  auf  einmal,  sondern  Furcht  und  Hoffnung  alternieren 
längere  Zeit;  der  Beter  kämpft  einen  inneren  Kampf  zwischen  Zweifel 
und  Gewißheit,  Zagen  und  Zuversicht,  bis  schließlich  Glaube  und  Ver- 
trauen mit  sieghafter  Kraft  durchbrechen.  Gewiß  spielt  sich  dieser 
seelische  Kampf,  in  dem  die  anfänglich  schüchterne  Hoffnung  sich 
gegen  alle  Furchtaffekte  behauptet  und  bis  zur  unerschütterlichen 
Zuversicht  steigert,  168  unzählige  Male  in  naiven  Menschen  ab;  aber 
nur  sehr  selten  wird  die  aus  der  Bitte  hervorgehende  zuversichtliche 
Stimmung  ausdrücklich  von  ihm  ausgesprochen.  Das  ist dasNeue,  Schöpfe- 
rische im  persönlichen  Gebetsleben  der  prophetischen  Persönlichkeiten, 
daß  alle  die  wechselnden  Affekte,  Stimmungen  und  Gefühle,  nicht  nur 
Angst  und  Begierde,  sondern  auch  Glaube  und  Vertrauen  sich  in  selb- 
ständigen Gebetsworten  ausdrücken:  alles,  was  sich  in  der  Seele  des 
Frommen  drängt  und  regt,  wird  im  Gebet  vor  Gott  eröffnet  und  aus- 
gegossen. 

Jakobs  Ringen  mit  Jahwe  in  der  Erzählung  der  Genesis  ist  der  Proto- 
typ des  prophetischen  Gebetskampfes  —  ,,ich  lasse  dich  nicht,  du 
segnest  mich  denn"  (Gen  32  27).  Sofern  das  Beten  ein  Ringen  mit  Gott 
um  der  Seele  Heil  und  Zuversicht  ist,  stammt  es  von  Jereraia,169 
dem  ,, Vater  des  christlichen  Gebets".  „Unter  Schmerzen  und  Wehen 
entstand  in  ihm  die  Gewißheit  seiner  persönlichen  Gemeinschaft  mit 
Gott.  In  seinen  verzweifelten  Kämpfen  rang  er  sich  zwar  keineswegs 
zur  Ruhe  und  Seligkeit  durch,  wohl  aber  zum  Bewußtsein  des  Sieges 
in  der  Niederlage."  Seine  Gebete  sind  ein  Kampf  des  Glaubens  um 
seine  Wahrheit,  ein  mühsames  Sichemporarbeiten  und  Sichdurchringen 
zur  religiösen  Gewißheit;  sie  drücken  beides  aus:  seiner  Seele  „unter- 
menschliches Elend"  und  ihre  „übermenschliche  Zuversicht"  (Well- 
hausen) 17°.  Die  quälende  Frage  an  Jahwe:  „Warum  bist  du  wie  ein 
bestürzter  Mann,  einem  Kriegsmann  gleich,  der  nicht  helfen  kann?" 
weicht  der  freudigen  Sicherheit:  „Und  doch  bist  du  in  unserer  Mitte, 
Jahwe,  und  nach  deinem  Namen  werden  wir  genannt,  o  laß  uns  nicht 
fahren!"  Der  Prophet  will  verstehen,  warum  Jahwe  sein  eigenes  Volk 
verworfen  hat,  er  setzt  sich  innerlich  mit  dieser  furchtbaren  Paradoxie 
auseinander,    die   den    prophetischen,    an    die    Geschichte   gebundenen 


Inhalt  (Aussprache  der  Zuversicht)  381 

Gottesglauben  in  seinem  Mark  bedroht;  so  richtet  er  an  Jahwe  die 
verzweifelte  Frage  :  ,,Hast  du  denn  Juda  ganz  verworfen  oder  bist 
du  Sions  überdrüssig?  Warum  hast  du  uns  geschlagen,  daß  es  keine 
Heilung  für  uns  gibt  ?  Man  harrt  auf  Heil,  aber  da  gibt's  nichts  Gutes, 
und  auf  eine  Zeit  der  Heilung,  aber  siehe  da  Bestürzung!"  Da  eröffnet 
sich  ihm  die  Einsicht,  daß  Israels  Sünde  und  Untreue  gegen  Jahwe  die 
Ursache  seiner  äußeren  Katastrophe  ist.  „Wir  erkennen,  Jahwe,  unseren 
Frevel,  die  Schuld  unserer  Väter,  daß  wir  an  dir  gesündigt  haben." 
Nun  leuchtet  ein  Hoffnungsstrahl  in  das  Dunkel  der  Verzweiflung, 
Jahwe  kann  sein  Volk  nicht  verlassen,  er  müßte  sich  denn  selbst  auf- 
geben —  und  eine  Bitte  legt  sich  auf  seine  Lippen:  „Verschmähe 
doch  nicht  um  deines  Namens  willen  —  verunehre  doch  nicht  den  Thron 
deiner  Herrlichkeit  —  denke  an  — ■  brich  nicht  deinen  Bund  mit  uns!" 
Die  Zuversicht  wächst:  Jahwe  ist  der  einzige  Gott,  nur  er  hat  Macht 
unter  allen  Göttern.  „Gibt's  etwa  unter  den  Götzen  der  Heiden  Regen- 
spender oder  spendet  etwa  der  Himmel  von  selbst  Regenschauer?" 
So  erhebt  sich  schließlich  die  Hoffnung  zur  trostvollen  Gewißheit, 
daß  Jahwe  der  Herr  Israels  ist.  „Bist  du  es  nicht,  Jahwe,  unser  Gott, 
so  daß  wir  auf  dich  harren  müssen  ?  Ja,  du  hast  alles  dies  gemacht" 
(147ff.). 

Zahlreiche  Psalmen,  in  denen  sich  der  jeremianische  Gebetsgeist 
poetisch  auslebt  und  die  in  künstlerischer  Form  die  Gebetserfahrungen 
der  jüdischen  Exilsgemeinde  widerspiegeln,  zeigen  denselben  Kampf 
zwischen  ängstlichem  Zagen  und  hoffendem  Mut,  den  jähen  Stimmungs- 
wechsel von  bebender  Furcht  und  kühnem  Vertrauen.  Auch  in  den 
Psalmen  schlägt  häufig  die  ungestüme  Bitte  in  die  herzliche  Aussprache 
der  Zuversicht,  des  Dankes  oder  Jubels  um.  Oder  der  Psalm  hebt 
an  mit  einer  bangen  Frage  und  ergreifenden  Klage,  geht  dann  über 
in  die  inbrünstige  Bitte  um  Hilfe  und  Rettung  und  schließt  mit  kraft- 
vollen Worten  frohen,  unerschütterlichen   Gottvertrauens.  170b 

Ps.  31 :  „Bei  dir,  Jahwe,  suche  ich  Zuflucht,  laß  mich  nimmermehr  zu  Schanden 
werden!  .  .  .  Du  aber  bist  mein  Fels  und  meine  Burg,  um  deines  Namens  willen 
wirst  du  mich  führen  und  leiten.  Du  wirst  mich  aus  dem  Netz  ziehen,  das  sie 
mir  heimlich  gelegt  haben,  denn  du  bist  meine  Schutzwehr.  In  deine  Hände 
befehle  ich  meinen  Odem;  du  erlösest  mich,  Jahwe,  du  treuer  Gott." 

Ps.  31 :  „Sei  mir  gnädig,  Jahwe,  denn  mir  ist  angst.  Verfallen  ist  vor  Kummer 
mein  Auge,  meine  Seele  und  mein  Leib  .  .  .  Ich  aber  vertraue  auf  dich.  Jahwe, 
und  spreche:  du  bist  mein  Gott!     In  deiner  Hand  steht  mein  Geschick." 

Ps.  71:  „Mein  Gott,  befreie  mich  aus  der  Gewalt  der  Gottlosen  und  aus  der 
Faust  des  Frevlers  und  Tyrannen.  —  Denn  du  bist  meine  Hoffnung,  Herr  Jahwe, 
meine  Zuversicht  von  Jugend  an;  auf  dich  habe  ich  mich  verlassen  vom  Mutter- 
leibe an." 

Ps.  13:  „Wie  lange,  Jahwe,  willst  du  mich  für  immer  vergessen?  Wie  lange 
willst  du  dein  Angesicht  vor  mir  verbergen  ?  .  .  .  Schau  her,  erhöre  mich,  Jahwe, 
mein  Gott!  .  .  .  Ich  aber  vertraue  auf  deine  Gnade,  mein  Herz  frohlockt  über 
deine  Hilfe.     Ich  will  Jahwe  preisen,  da  er  mir  wohlgetan." 

Ps.  22 :  „Mein  Gott,  mein  Gott,  warum  hast  du  mich  verlassen?  .  .  .  Du  aber. 
Jahwe,  sei  nicht  ferne!  Meine  Stärke,  eile  mir  zu  Hilfe!  .  .  .  Ich  will  deinen 
Namen  meinen  Brüdern  verkünden,  inmitten  der  Gemeinde  will  ich  dich  preisen." 

Der  unvermittelte  Übergang  von  der  tiefen  Niedergeschlagenheit  zur 
freien  und  frohen  Zuversicht  ist  klar  erkennbar  an  dem  Gebet  S  a  - 
vonarolas  vor  seinem  Tode. 


382  PIV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

„Traurigkeit  hat  mich  umlagert,  mit  großer  und  starker  Heeresmacht  hat  sie 
mich  eingeschlossen,  meines  Herzens  hat  sie  sich  durch  ihr  Geschrei  bemeistert 
und  mit  ihren  Waffen  hört  sie  nicht  auf,  Tag  und  Nacht  gegen  mich  zu  kämpfen  .  .  . 
Was  ich  nur  sehe,  was  ich  nur  höre,  trägt  die  Fahne  der  Traurigkeit .  .  .  Wie  dem 
Fieberkranken  alle  Süßigkeit  bitter  erscheint,  so  verkehrt  sich  mir  alles  in  Gram 
und  Traurigkeit.  Wahrlich  eine  schwere  Last,  meines  Herzens  Kraft  übersteigend, 
ist  diese  Traurigkeit.  Schlangengift,  verderbenbringende  Pest  murret  wider 
Gott,  höret  nicht  auf  zu  lästern  und  treibt  zur  Verzweiflung.  Ich  unglückseliger 
Mensch,  wer  wird  mich  befreien  aus  den  das  Heilige  schändenden  Händen  ? 

....  Auf  dich,  Herr,  hoffe  ich;  laß  mich  nimmerrnehr  zu  Schanden  werden, 
in  deiner  Gerechtigkeit  rette  mich!  O  wunderbare  Macht  der  Hoffnung,  deren 
Antlitz  die  Trauer  nicht  ertragen  kann!  Schon  nahet  der  Trost.  Es  schreie  und 
kreise  nun  die  Traurigkeit  und  ihr  Heer,  es  dränge  die  Welt,  mögen  erheben  sich 
Feinde,  ich  fürchte  nichts,  denn  au  f  dich.Herr,  hoffe  ich,  du  bist  meineHoffnung,  hoch- 
erhaben ist  deine  Burg  der  Zuflucht."  ,, Siehe,  Herr,  zu  dir  flehte  ich,  und  ich 
ward  getröstet;  die  Hoffnung  hat  mich  solches  gelehrt;  ich  bin  der  Freude  voll, 
weil  ich  auf  dich  hoffe;  deshalb  werde  ich  nicht  zu  Schanden  werden  ewiglich".  170  c 

Luthers  Gebet  in  Worms  ist  ein  typisches  Beispiel  füs  das  Auf- 
und  Abwogen  der  Stimmungen  und  Gefühle  in  dem  spontanen  und 
affektiven  Beten.  Es  beginnt  mit  einer  wehmütigen  Selbstbetrachtung 
über  die  Situation,  in  der  er  sich  befindet.  Sein  Schicksal  ist  ungewiß, 
auf  die  Menschen  ist  kein  Verlaß:  „Die  Glocke  ist  schon  gegossen  und 
das  Urteil  gefället."  Die  bangen  Gedanken  verdichten  sich  zu  einem 
Klageruf:  „Ach  Gott,  ach  Gott,  o  du  mein  Gott!"  Der  Seele  des  Ge- 
quälten entringen  sich  leidenschaftliche  Hilferufe:  „Stehe  du  mir  bei, 
tue  es,  du  mußt  es  tun,  du  allein!"  Das  Vertrauen  wächst  mit  dem 
Gedanken  an  den  Wert  und  das  Recht  seiner  Sache.  „Es  ist  doch  nicht 
mein,  sondern  deine  Sache."  Die  aufkeimende  Zuversicht  wird  wieder 
von  aufsteigenden  Zweifeln  gehemmt,  die  sich  in  ungestümen  Fragen 
an  Gott  aussprechen:  „0  Gott,  hörst  du  nicht?  Mein  Gott,  bist  du 
tot?"  Der  Beter  droht  an  Gott  irre  zu  werden,  aber  die  mutige  Zuver- 
sicht bannt  die  Zweifel.  „Nein,  du  kannst  nicht  sterben,  du  verbirgest 
dich  allein."  Er  bittet  von  neuem:  „Stehe  mir  bei."  Aber  nochmals 
gewinnt  die  Unsicherheit  und  Angst  die  Oberhand:  „Herr,  wo  bleibest 
du?  Du  mein  Gott,  wo  bist  du?"  Endlich  zerstieben  alle  Zweifel,  die 
Spannung  löst  sich,  der  Glaube  triumphiert  über  den  Zweifel,  die  Hoff- 
nung hat  über  die  Furcht  gesiegt.  Eine  heldenhafte  Entschlossenheit 
erfüllt  den,  der  eben  noch  gezagt  und  gezittert,  geklagt  und  gefragt  hat. 
„Komm,  komm!  Ich  bin  bereit,  auch  mein  Leben  darum  zu  lassen, 
geduldig  wie  ein  Lämmlein;  denn  gerecht  ist  die  Sache  und  dein." 
Mit  kühnem  Blick  sieht  er  dem  Tod  ins  Auge,  denn  ob  tot  oder  lebendig, 
er  fühlt  sich  unter  dem  Schutze  des  Höchsten,  nichts  Böses  kann  ihm 
widerfahren.  „Und  sollte  mein  Leib  darüber  zugrund  und  Boden,  ja 
zu  Trümmern  gehen,  dafür  aber  dein  Wort  und  Geist  mir  gut  ist.  Und 
ist  auch  nur  um  den  Leib  zu  tun,  die  Seel  ist  dein  und  gehört  dir  zu 
und  bleibet  auch  bei  dir  ewig".  1T1 

Das  Beten  der  Mystiker  ist  ein  stilles  Sehnen,  ein  wonniges  Versunken- 
sein, ein  entzücktes  Schauen,  ein  Dahingleiten  in  einer  gleichförmigen, 
Breite  und  Tiefe  besitzenden  Stimmung.  Das  prophetische  Beten  ist 
ein  seelischer  Kampf,  wie  das  ganze  Leben  der  prophetischen  Geister 
ein  steter  Kampf  ist  um  die  Gewißheit  von  Gott  und  um  der  Seele 


Inhalt.  (Aussprache  der  Zuversicht)  383 


Trost  und  Heil;  es  offenbart  dramatische  Spannung,  ein  Auf  und  Nieder 
von  Stimmungen  und  Gefühlen,  dualistische  Kraft  und  Lebendigkeit, 
wie  ja  das  ganze  Leben  der  prophetischen  Naturen  einen  schroffen 
Dualismus  von  Gegensätzen  und  Spannungen  zeigt.  Deshalb  ist  das 
Beten  nicht  leicht,  sondern,  wie  Luther  sagt,  „das  allerschwerste  Werk" 
„eine  Arbeit  über  alle  Arbeit,  darum,  daß  wer  da  betet,  mit  Gewalt 
fechten  muß  wider  den  Zweifel  imd  das  Murren,  welche  unsere  Klein- 
mütigkeit tmd  Un Würdigkeit,  die  wir  in  uns  fühlen,  erregen."  „Das 
ist  der  Kampf,  den  die  Heiligen  halten  müssen,  die  da  meinen,  daß  der 
Strick  jetzt  alsbald  brechen  werde  und  behalten  doch  das  herzliche 
Seufzen."  „Dieses  ist  das  unaussprechliche  und  sehr  gewaltige  Seufzen, 
damit  sich  die  Gottsehgen  selbst  aufwecken  wider  die  Verzweiflung," 
„der  Kampf,  darin  sie  ihren  Glauben  gewaltig  erwecken".  172  Ähnlich 
sagt  Bunyan:  „Right  prayer  is  accompanied  with  a  continual  labour 
after  that,  which  is  prayed  for".  173  Und  Calvin  abstrahiert  aus  dieser 
psychologischen  Tatsache  die  Gebetsregel:  „Mitten  in  Bedenken,  Furcht 
und  Zittern  sollen  wir  uns  zwingen  zu  beten,  bis  wir  eine  Erleichterung 
spüren,  die  uns  beruhigt.  Wir  dürfen  nicht  nachgeben,  wenn  unsere 
Herzen  wanken  und  unruhig  sind,  bis  der  Glaube  siegreich  aus  dem 
Kampfe  hervorgeht".  174 

Die  im  Gebetskampf  gewonnene  oder  erneuerte  Zuversicht  sprechen 
die  jüdischen  und  christlichen  Gebete  mit  dem  Wort  „Amen"  d.  i.  wahr- 
lich, gewiß  aus.  Ursprünglich  ein  Rssponsorium,  mit  dem  das  israelitische 
Volk  die  Gebetsworte  seines  Vorbeters  aufnahm,  175  wurde  es  zum  stän- 
digen Gebetsschlusse  als  „ein  Wort  des  festen,  herzlichen  Glaubens"; 
..denn  am  End,  so  du  Amen  sprichst,  mit  herzlicher  Zuversicht  und 
Glauben,  so  ist  gewiß  das  Gebet  befestiget  und  erhört"  (Luther)  176. 

Nicht  umsonst  steht  das  Amen  am  Ende  des  Gebets;  denn  die  Stim- 
mung der  Zuversicht  wird  erst  durch  das  Gebet  errungen,  erkämpft, 
r-robert;  im  Gebet  hat  die  leise  Hoffnung,  die  sich  am  Anfang  des  Gebets 
mit  dem  unlustvollen  Affekt  verband  und  die  Bitte  auslöste,  die  Angst 
verdrängt  und  ist  zum  festen  Vertrauen  geworden.  Aber  da  der  Fromme 
immer  wieder  im  Gebet  seine  gläubige  Zuversicht  erneuert,  kann 
sein  Lebensgrundgefühl  so  freudig,  seine  Lebenssicherheit  so  stark  und 
unerschütterlich  werden,  daß,  wenn  er  den  Mund  zum  Beten  öffnet  und 
eine  Bitte  vor  Gott  bringen  will,  sich  Worte  der  Zuversicht  auf  seine 
Lippen  drängen.  So  kann  die  Aussprache  der  Gewißheit,  die  gewöhnlich 
und  ursprünglich  erst  am  Schlüsse  des  Gebets  steht,  schon  an  seinen 
Anfang  treten. 

„Auch  wenn  ich  im  dunkeln  Tale  wandern  muß.  fürchte  ich  kein  Unglück,  denn 
du  bist  mein  Heil:  dein  Stecken  und  dein  Stab  —  die  trösten  mich"  (Ps  23,  4). 
..Zu  dir,  Jahwe,  erhebe  ich  meine  Seele,  auf  dich  vertraue  ich,  laß  mich  nicht 
zu  Schanden  werden;  Werden  doch  alle,  die  auf  dich  harren,  nimmermehr  zu 
S'handen  .  .  .  Du  bist  mein  Gott,  der  mir  hilft,  auf  dich  harre  ich  allezeit" 
(Ps  25,  2  ff.).  ..Und  nun  worauf  harre  ich,  mein  Herr?  Mein  Hoffen  steht  auf 
dich  allein"  (Ps  39,  8).  „Du  Jahwe,  wirst  deinem  Erbarmen  gegen  mich  keinen 
Einhalt  tun,  denn  Gnade  und  Treue  werden  mich  immerdar  behüten  .  .  .  Bin 
i<  h  auch  arm  und  elend,  der  Herr  wird  für  mich  Borgen.  Heine  Hilfe  und  mein 
Uetter  bist  dvi.  Gott,  Baume  nicht"  (Ps  40,  12.  18).  ..O  Gott,  dir  habe  ich  mich 
ergeben,  an  dich  glaube  ich.  auf  dich   vertraue  ich,   .   .   .   verzeih    mir.  was  i<  h 


384  F  IV.   Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

tat"  (Muhammed).  177  „Du  bist  mein  Gott,  ich  aber  bin  mir  selber  nichts;  auf 
dich  hoffe  ich  und  traue  auf  mich  selber  nicht,  an  dir  werde  ich  nicht  zu  Schanden 
werden,  denn  an  mir  bin  ich  schon  zu  Schanden  worden.  Ich  bitte  dich,  laß  mich 
nicht  zu  Schanden  werden."  ,,Ich  weiß,  daß  du  unser  lieber  Gott  und  Vater 
bist,  derhalben  bin  ich  gewiß,  du  wirst  die  Verfolger  deiner  Kinder  vertilgen" 
(Luther).  178 

Hier  geht  der  Ausdruck  des  Vertrauens  der  Bitte  voraus  und  löst 
sie  wieder  ab.  Oder,  kaum  ist  die  Bitte  formuliert,  da  verschwindet 
sie  und  macht  Worten  fester  Zuversicht  Platz. 

„Herr,  zähle  meine  Flucht,  fasse  meine  Tränen  in  deinen  Sack!  Ohne  Zweifel, 
du  zählest  sie.  Wenn  auch  kein  Mensch  mein  Elend  bedenken  will,  schauest  du 
doch,  Herr,  so  genau  darauf,  daß  du  alle  Schritte  zählest  in  meiner  Flucht,  wie 
weit,  wie  ferne  ich  verjagt  werde,  und  vergissest  keine  Träne,  die  ich  weine,  sondern 
ich  weiß,  daß  du  sie  alle  in  deinem  Register  aufschreibest"  (Luther).  179 

Schon  die  Vateranrede,  welche  ein  Gebet  einleitet,  kann  eine  Aus- 
sprache herzlichen  Vertrauens  sein. 

„Dies  ist  die  rechte  Form  des  Gebets,  welche  wir  in  Anfechtung  und  Not  auch 
sollen  brauchen.  ,Mein  Vater,'  spricht  Jesus,  als  wollte  er  sagen:  ,Ob  ich  gleich 
jetzt  Angst  und  Schreckens  halb  totkrank  bin  und  nichts  denn  Gottes  Zorn  und 
Tod  vor  mir  sehe,  so  zweifle  ich  doch  nicht,  du  seiest  mein  Vater  und  habest  mich 
lieb  und  siehest  auf  mich  und  haltest  über  mich;  derhalben  erhoffe  ich  Erledigung 
aus  dieser  Not"  (Luther).  180 

Manche  biblische  Psalmen,  aber  auch  außerchristliche  Gebete  sind 
nichts  anderes  als  eine  schlichte  Aussprache  vertrauensvoller  Zuversicht 
ohne  alle  Klage  der  Not  und  ohne  alle  Bitten  und  Wünsche.  Solche 
Gebete  ähneln  gar  sehr  den  mystisch-kontemplativen  Gebeten  und  sind 
im  Grunde  doch  etwas  anderes.  Die  Grundstimmung  der  Zuversicht, 
Gewißheit,  Sicherheit  ist  etwas  ganz  anderes  als  das  Erleben  der  inneren 
Einheit,  Ruhe  und  Seligkeit,  als  das  entzückte  Kontemplieren  des 
summum  bonum. 

Ein  Gebet,  das  von  dem  Stifter  der  islamisch-hinduistischen  Mischsekte  der 
Siksch  (Nänak)  stammt  und  in  ihrem  kanonischen  Buch  (Adigranth)  steht,  lautet: 
,,Du  bist  mein  Vater,  du  bist  meine  Mutter,  du  bist  mein  Vetter,  du  bist  mein 
Bruder,  du  bist  mein  Beschützer  überall;  was  für  Furcht  und  Sorge  kann  sich 
nur  nahen,  o  Herr  ?  Durch  deine  Barmherzigkeit  habe  ich  dich  gefühlt.  Du  bist 
meine  Stütze,  du  bist  meine  Zuversicht.  Alles,  was  geschaffen  ist,  ist  dein,  nichts 
ist  unser,  o  Herr!"  181  Luther  betet:  „Lieber  Herr,  ich  weiß,  daß  du  noch  mehr 
hast,  du  hast  viel  mehr,  denn  du  je  vergeben  magst,  es  wird  mir  in  dir  nicht 
mangeln;  denn  wenn  es  not  wäre,  die  Himmel  müßten  noch  Gülden  regnen.  Sei 
du  mein  Kasten,  Keller  und  Söller,  in  dir  habe  ich  alle  Schätz,  wenn  ich  dich 
habe  so  hab  ich  genug".  182 

f)  Aussprache  der  Ergebung. 
Wo  die  Not  des  Beters  der  Zuversicht  weicht,  wird  der  im  Gebet 
ausgesprochene  Wunsch  innerlich  festgehalten  und  bejaht.  Aber  nicht 
immer  behauptet  ein  leidenschaftlicher  Wunsch  im  Gebet  sein  Recht. 
Durch  die  Verbindung  des  Wunsches  mit  dem  Gedanken  an  Gott  tritt 
dieser  bisweilen  in  ein  gänzlich  neues  Licht;  er  verliert  seine  absolute 
innere  Gültigkeit  und  wird  darum  nicht  aufrecht  erhalten.  Der  Beter 
verzichtet  völlig  auf  seinen  Wunsch,  widerruft  die  zuletzt  im  Gebet 
ausgesprochene  Bitte  oder  er  läßt  die  Erfüllung  des  Wunsches  in  suspenso, 
besteht  nicht  auf  seiner  Realisierung  (suspensis  desideriis  patienter 
exspectare    Dominum,    Calvin);  182b    sein    Bittgebet    wird    zum    ,gelas- 


3.  Inhalt  des   Gebets  (Aussprache  der  Ergebung)  385 

senen  Gebet'  (Luther)  182c.  Gleichwohl  ändert  dies  nichts  an  der  ge- 
trosten Stimmung,  in  der  auch  hier  das  Gebet  ausklingt;  auch  in  diesem 
Falle  spielt  sich  ganz  dasselbe  psychische  Drama  ab :  der  Kampf  zwischen 
Furcht  und  Hoffnung,  Unsicherheit  und  Gewißheit,  der  Übergang  der 
Angst  in  die  Zuversicht.  Der  spannungsvolle,  leidensschwere  Affekt  löst 
sich  in  eine  freudige  Stimmung  auf.  Die  Variation  dieser  Stimmung 
besteht  lediglich  darin,  daß  der  Beter  getrost  und  gefaßt  auf  die  unbe- 
dingte Erfüllung  seines  individuellen  Wunsches  verzichtet;  er  sieht 
entschlossen  und  mutig  der  Nichterfüllung  entgegen,  ordnet  mit  Demut 
und  Starkmut  seinen  eigenen  Willen  dem  Willen  Gottes  unter,  getragen 
von  dem  zuversichtlichen  Glauben,  daß  alle  äußeren  Geschicke  einem 
von  Gott  gesetzten,  sinn-  und  wertvollen  Zwecke  dienen,  ,,daß,  wenn 
es  auch  gar  nicht  den  Anschein  hat,  Gott  uns  immer  beisteht  und  zu 
seiner  Zeit  erkennen  lassen  wird,  wie  wenig  er  taube  Ohren  für  die  Bitten 
hatte,  die  in  den  Augen  der  Menschen  unerfüllt  schienen"  (Calvin).  182b 
Aber  erst  nach  hartem  inneren  Kampfe  stellt  der  Beter  sein  Wünschen 
und  Begehren  Gott  anheim;  der  natürliche  Lebenswille  sträubt  sich 
gegen  jede  scheinbare  Hemmung  und  Bedrohung  und  kommt  erst  zur 
Ruhe,  wenn  sich  ihm  die  fordernde  und  zwingende  Gültigkeit  religiös- 
ethischer Werte  und  Aufgaben,  der  heilige  Wille  Gottes  enthüllt  hat. 

Die  alttestamentliche  Frömmigkeit  kennt  nur  die  Umwandlung  des 
Wunsches  in  die  den  Wunsch  festhaltende  Hoffnung,  aber  nicht  den 
Übergang  der  Bitte  in  die  den  Wunsch  auflösende  völlige  Ergebung. 
Das  in  der  Ergebung  gipfelnde  Gebet  ist  eine  Schöpfung  Jesu.  Das 
klassische  Dokument  der  Metamorphose  eines  drängenden  Verlangens  in 
das  vertrauensvolle  Sichfügen  in  Gottes  Willen  ist  Jesu  Gebetskampf 
in  Gethsemane.  Vom  Todesgrauen  überwältigt,  bricht  Jesus  in  einen 
leidenschaftlichen  Gebetsruf  aus,  er  fleht  um  Abwendung  des  drohenden 
Todesschicksals ;  aber  der  Gedanke  an  den  Vater  schwächt  und  mildert 
den  ungestümen  Drang  des  natürlichen  Begehrens:  er  bittet  um  das 
Vorübergehen  des  Kelches,  doch  mit  einer  Emschränkung :  „wenn  es 
möglich  ist".  Aber  kaum  hat  er  die  Bitte  ausgesprochen,  da  annulliert 
er  sie  durch  die  Worte  der  völligen  Ergebung:  „Aber  nicht  mein  Wille 
geschehe,  sondern  der  deinige !"  Der  Gedanke  an  den  Willen  des  Vaters, 
an  die  unbedingte  Notwendigkeit  des  Todes  ,für  die  vielen'  ließ  die 
eigene  Willensregung  verstummen.  Freilich,  nicht  auf  das  erste  Mal 
wich  der  heiße  natürliche  Wunsch  der  opfermütigen  Hingabe;  dreimal 
mußte  er  dasselbe  Wort  sprechen,  bis  er  die  volle  innere  Festigkeit, 
Entschlossenheit  und  Todesbereitschaft  gewonnen  hatte.  183 

Das  vierte  Evangelium  bietet  eine  bemerkenswerte  Variante  zu  Jesu  Gebet 
in  Gethsemane,  die  gleichfalls  eine  Auseinandersetzung  mit  dem  Leidensgedanken 
enthält,  vielleicht  ein  selbständiges,  echtes  Gebet  aus  dem  Munde  Jesu,  wahr- 
scheinlich aber  nur  eine  treffende  johanneische  Paraphrase  des  ölberggebets 
(Jo  12,  23  ff.).  Jesus  erkennt  klar  und  unzweideutig  die  Unumgänglichkeit 
seines  Opfertodes.  „Wenn  das  Getreidekoni  nicht  in  die  Eide  gelegt  wird,  so 
bleibt  es  allein;  wenn  es  aber  stirbt,  trägt  es  vielfältige  Frucht.  Wer  sein  Leben 
liebt,  verliert  es"  usw.  Der  Todesgedanke  erregt  in  Jesu  eine  gesunde,  echt 
menschliche  Angst,  die  er  im  Gebet  ausspricht.  ,, Jetzt  ist  meine  Seele  verwirrt, 
was  soll  ich  sagen?"  Ein  Wunsch  legt  sich  auf  seine  Lippen:  „Vater,  rette  mich 
aus  dieser  Stunde."     Aber  diese  Bitte  zeigt  sich  ihm,  sobald  sie  ausgesprochen, 

Daa  Gebet  25 


386  PIV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

als  ein  Widerspruch  zu  seinem  gottgesetzten  Beruf:  ,,Aber  deshalb  bin  ich  ja 
in  diese  Stunde  gekommen."  Da  vergißt  er  gänzlich  alle  kleinliche  Furcht  und 
alles  selbstische  Wünschen,  er  sieht  nur  noch  das  eine,  höchste  Ziel,  dem  sein 
Opfertod  dient,  die  Aufrichtung  des  Gottesreichs;  darum  spricht  er:  „Vater, 
verherrliche  deinen  Namen!"  184 

Den  jähen  Umschlag  des  ungestümen  Pochens  und  Drängens  in  das 
willige  Sichschicken  und  -fügen  zeigt  jenes  trotzige  Gebet  Luthers, 
das  er  für  den  kranken  Kurfürsten  Johannsen  spricht.  Erst  droht  er 
Gott,  die  Schlüssel  vor  die  Füße  zu  werfen  und  ihm  Ehre  und  Zinsgüter 
zu  künden;  dann  sagt  er  ganz  kleinlaut  und  gelassen:  „Ach,  lieber 
Herr,  wir  sind  dein,  mach  es,  wie  du  willst,  allein  gib  uns  Geduld!"  18& 
In  seiner  Krankheit  zu  Schmalkalden  bittet  er  ganz  schlicht  um  Ge- 
nesung, dann  fügt  er  voll  Demut  bei:  „Gereicht  es  zu  deiner  Ehre,  so 
hilf  mir,  daß  es  besser  werde,  wo  aber  nicht,  so  schleuß  mir  die  Augen 
zu,  es  muß  doch  einmal  sein.  Ich  will  nun  tun,  was  Gott  will  und  ergebe 
mich  gar  in  seine  Gnade".  186  Ein  andermal  betet  er:  „Lieber  Vater, 
das  Übel  und  die  Pein  drückt  mich  und  leide  viel  Unglück  und  Be- 
schwerde, und  fürchte  mich  vor  der  Hölle.  Erlöse  mich  davon  — -  doch 
nicht  anders,  denn  so  es  dir  ehrlich  und  löblich  und  dein  göttlicher  Wille 
ist.  Wo  das  nicht,  so  geschehe  nicht  mein,  sondern  dein  Wille,  denn 
mir  deine  göttliche  Ehre  und  Wille  lieber  ist  denn  all  meine  Ruhe  und 
Gemach,  zeitlich  und  ewig".  187 

P  a  s  c  a  1  s  Gebet  um  rechten  Gebrauch  der  Krankheit  zeigt  eine 
fortschreitende  Steigerung.  Erst  klagt  er  über  seine  Sündigkeit  und 
seinen  früheren  Weltsinn,  dann  bittet  er  um  rechte  Selbsterkenntnis 
und  Reue  über  seine  Sünden,  er  fleht  um  Trost  und  Stärkung,  um  Kraft 
und  Standhaftigkeit  zum  Dulden.  Schließlich  erhebt  er  sich  zu  einer 
von  grandiosem  Heroismus  zeugenden,  restlosen  Ergebung  in  Gott, 
die  man  als  mystische  Resignation  bezeichnen  könnte,  redete  nicht 
Pascals  kraftvolle  Männlichkeit  und  sein  herbes,  ethisches  Pathos  daraus : 
,,vous  etes  le  souverain  maitre,  faites  ce  que  vous  voudrez.  Donnez- 
moi,  otez-moi,  mais  conformez  ma  volonte  ä  la  votre,  qu'etant  malade, 
je  vous  glorifie  dans  mes  souf f rances ! "  188 

Ursprünglich  wächst  die  Aussprache  der  Ergbung  aus  der  echten  Bitte 
hervor.  Aber  die  häufige  Erfahrung  von  dem  Übergang  des  Wunsches 
in  die  Unterordnung  unter  Gottes  Willen  führt  schließlich  dazu,  daß 
—  sofern  der  Affekt  nicht  eine  zu  hohe  Intensität  besitzt  —  die  Bitte 
von  vornherein  nur  bedingt  formuliert  wird  bzw.  der  Ausdruck  der 
Ergebung  (wie  oben  der  der  Hoffnung  undGewißheit)  ihr  schon  vorausgeht. 
So  lautet  ein  von  Luther  verfaßtes  Soldatengebet:  „Herr,  in  deiner 
Gewalt  stehet  alle  Kraft  und  Sieg.  Herr,  hilf  du  mir!  So  du  sie  mir 
geben  willst,  will  ich  darum  danken,  wo  du  aber  unsere  Sünde  mit 
einem  solchen  Schaden  und  Jammer  bestrafen  willst,  so  bin  ich  da  und 
will's  geduldig  leiden."  189  Hier  kommt  es  also  gar  nicht  zu  einer  völlig 
naiven  Begierde  und  Bitte,  sondern  der  Gedanke  an  Gott  läßt  die 
Stimmung  der  Ergebung  anklingen.  Aus  dieser  Gewohnheit  des  be- 
dingten Bittens  abstrahiert  Luther  eine  Gebetsregel,  die  sich  aber  mit 
seinem  wirklichen  Beten  nicht  durchweg  deckt. 

„Wir  sollen  in  allem,  was  den  Leib  antrifft,  unsern  Willen  in  Gottes  Willen 


Inhalt  des  Gebets  (Aussprache  der  Ergebung)  387 

stellen.  Weil  nur  Gott  allein  weiß,  was  uns  gut  und  nütze  ist.  sollen  wir  seinen 
Willen  vor-  und  unsern  Willen  nachsetzen  und  unsern  Gehorsam  in  Geduld  er- 
zeigen." Freilich,  nur  für  die  irdischen  Güter  kommt  das  bedingte  Beten  in 
Betracht,  nicht  aber  für  die  religiösen  und  ethischen  Werte,  die  ja  als  Wille  Gottes 
erlebt  werden.  „Aber  wo  es  nicht  um  leibliche  Güter,  sondern  um  das  Ewige  zu 
tun  ist,  daß  uns  Gott  Sünden  vergeben,  uns  heiligen  und  den  heiligen  Geist  und 
ewiges  Leben  schenken  wolle,  da  ist  Gottes  Wille  offenbar  und  gewiß.  Darum 
ist's  nicht  vonnöten.  wo  man  um  solches  bittet,  daß  man's  in  Gottes  Wille  wollte 
stellen,  wo  er's  tun  wollte  oder  nicht".  19°  Calvin  sagt:  „Antequam  ullam  pro 
nobis  precem  concipimus,  p  r  a  e  famur,  ut  eius  voluntas  fiat".  191  Bunyan 
mahnt:  „Die  Gottseligen  sollen  sich  und  alle  ihre  Bitten  und  alles,  was  sie  haben, 
vor  die  Füße  ihres  Gottes  legen,  auf  daß  er  alles  lenke,  wie  es  seiner  himmlischen 
Weisheit  am  besten  dünkt".  192 

Die  im  Gebet  erworbene  Ergebung  in  Gottes  Willen  kann  zur  dauern- 
den Einstellung  werden,  so  zwar,  daß  schon  beim  Versuch,  einen  Wunsch 
in  einer  Gebetsbitte  Gott  vorzutragen,  dieser  zusammenbricht  und  nur 
Worte  der  Ergebung  über  die  Lippen  kommen. 

Luther  betet:  ,,Herr,  in  deiner  Hand  bin  ich,  du  hast  mich  hie  (in  der  Zeit 
der  Pest)  angebunden.  Dein  Wille  geschehe,  denn  ich  bin  deine  arme  Kreatur, 
du  kannst  mich  hierin  töten  und  erhalten."  ,,Herre  Gott,  ich  bin  deine  Kreatur, 
mache  es  mit  mir,  wie  du  willst,  ich  bin  ja  dein,  das  weiß  ich;  und  wenn  du  willst, 
daß  ich  diese  Stunde  sterben  sollte  oder  irgend  ein  groß  Unglück  und  Leid  erfahren, 
so  wollt  ich's  doch  von  Herzen  gern  leiden,  ich  will  mein  Leben,  Ehr  und  Gut 
und  was  ich  habe,  nimmermehr  höher  und  größerachten  als  deinen  Willen".  193 
Kierkegaard  bekennt:  „Allmählich  bin  ich  mehr  und  mehr  darauf  aufmerksam 
geworden,  daß  von  Gott  geliebt  werden  und  Gott  lieben  leiden  heißt.  Wenn  es 
aber  so  steht,  dann  habe  ich  nicht  das  Recht,  um  Glück  und  P>folg  zu  bitten." 
Dieser  paradoxe  Glaube  an  den  Wert  des  Leidens  brachte  die  nach  Gebets- 
aussprache drängenden  Wünsche  zum  Schweigen:  „Wenn  ein  Wunsch  erwachte 
und  ich  wollte  beten,  so  war  alle  meine  brennende  Innigkeit  wie  fortgeblasen, 
denn  es  war  mir,  als  sähe  Gott  auf  mich  und  sagte:  ,Mein  kleiner  Freund,  bedenkst 
du  wohl,  was  du  tust,  willst  du  denn,  daß  ich  dich  nicht  liebe?"  194 

Alle  christlichen  Mystiker  haben  in  Jesu  Gebet:  „Nicht  mein,  sondern 
dem  Wille  geschehe"  das  Urbild  mystischer  Resignation  geschaut.  Und 
doch  sind  Jesu  Ergebung  in  den  Willen  des  Vaters  imd  die  stoische  oder 
mystische  Resignation  zwei  grundverschiedene  psychologische  Phäno- 
mene (obgleich  natürlich  infolge  der  Mischung  der  beiden  Typen  die 
Innigkeit  christlicher  Grottergebung  der  mystischen  Resignation  einen 
enthusiastischen  Hauch  verleiht).  Die  reine  mystische  Resignation, 
wie  sie  die  Stoa  und  der  Buddhismus  fordern  und  wie  sie  aus  den  Gebeten 
mancher  christlicher  Mystiker  redet,  ist  der  absolute  Verzicht  auf  alles 
Eigen  wollen,  die  vollendete  Affektlosigkeit,  eine  kühle  Indifferenzstim- 
mung, passiv,  negativ,  quietistisch.  Die  christliche  Ergebung  hingegen 
ist  nicht  absoluter  Verzicht  auf  jedes  Wollen,  nicht  Willenlosigkeit, 
sondern  Verzicht,  Hingabe  eines  bestimmten  Wunsches  und  Verlangens 
im  Interesse  eines  höheren  Wertes,  ja  oft  überhaupt  kein  völliger  Ver- 
zicht, sondern  ein  Anheimstellen  der  Erfüllung  des  Wunsches  an  das 
freie  Ermessen  und  Gutdünken  Gottes,  ein  wirkliches  Sichunterordnen 
unter  den  Willen  Gottes.  (Es  ist  eine  gewisse  Inkonsequenz  der 
Mystiker,  vom  Willen  Gottes  im  Anschluß  an  die  biblische  Terminologie 
zu  sprechen,  da  der  Wille  nur  dem  Gott  der  prophetischen  Frömmigkeit 
zukommt.)  195  Die  prophetische  Ergebung  ist  im  Gegensatz  zum  ,freud- 
und  leidlofcen  Gleichmut'  der  Mystik  aktiv,  positiv,  kein  Begraben  der 


388  F  IV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


Wünsche,  sondern  Zuversicht  und  Gewißheit,  daß  Gott,  auch  wenn  er 
unsere  kleinen  Wünsche  uns  versagt,  doch  unser  Bestes  will.  Harald 
Höffding  sagt  treffend  vom  christlichen  Ergebungsgebet:  „Der  Wille 
wird  aufgegeben;  aber  eben  dieses  Aufgeben  ist  ein  positiver  Wunsch 
oder  ist  nur  die  negative  Seite  eines  positiven  Wunsches".  196  Die 
prophetisch-evangelische  Ergebung  ist  auch  nicht  wie  die  mystische 
Indifferenzstimmung  ein  Resultat  planmäßiger  und  absichtlicher  Unter- 
drückung des  Affekt-  und  Willenslebens,  ,Auslöschung'  des  Lebens- 
willens, sondern  die  Frucht  eines  seelischen  Kampfes;  sie  ist  gewonnen 
durch  die  Entladung  des  Affekts  in  der  rückhaltlosen  Aussprache  vor 
Gott.  Die  christliche  Ergebung  setzt  im  Gegensatz  zur  mystischen 
Resignation  die  naive  Äußerung  eines  konkreten  Wunsches  voraus, 
wächst  spontan  aus  der  echten  Bitte  heraus,  geht  also  nicht  aus  einer 
jedes  Wünschen  und  Bitten  a  limine  zurückweisenden  Indifferenz- 
stimmung hervor.  Die  ,,sainte  indifference"  der  Mystik  ist  künstlich 
oder  doch  künstlich  präpariert,  absichtlich,  bewußt;  die  Ergebung  der 
prophetischen  Frömmigkeit  hingegen  ist  völlig  unbeabsichtigt  —  der 
Beter  beginnt  ja  mit  der  Bitte  — ■,  naiv,  spontan,  ein  unbewußt  erfolgender 
produktiver  Akt.  (Freilich  trifft  dies  nur  für  die  großen  Beter  vom 
prophetischen  Typ  zu,  während  bei  den  sich  an  ihnen  orientierenden 
Durchschnittsfrommen  die  reine  Naivität  und  Absichtslosigkeit  durch 
das  Moment  der  Nachfolge  und  Nachahmung  getrübt  ist.) 

Eben  darum,  weil  die  Ergebung  von  selbst  aus  der  Aussprache  der 
Not  hervorquillt,  sind  alle  Versuche,  dieses  Moment  in  normativer  Weise 
in  einer  Gebetsregel  zu  fassen,  unzureichend.  Die  Gebetsanweisungen 
der  prophetischen  Persönlichkeiten  wie  der  die  prophetisch-biblische 
Frömmigkeit  wissenschaftlich  klärenden  Theologen  zeigen  einen  durch- 
gängigen Widerspruch,  der  aber,  psychologisch  betrachtet,  unvermeid- 
lich ist.  Die  Gebetsregeln,  welche  aus  dem  seelischen  Erleben  heraus 
eine  religiöse  Norm  abstrahieren,  vermögen  immer  nur  eines  der 
beiden  Momente  (die  naive  Aussprache  der  Not  oder  den  Ausdruck 
der  Zuversicht  bzw.  Ergebung)  normativ  herauszuheben.  Bei  den 
Äußerungen  Jesu  über  das  Gebet  ist  dieser  Widerspruch  ganz  deutlich. 
Auf  der  einen  Seite  fordert  er  nachdrücklich  zum  zuversichtlichen,  ja 
stürmischen  und  anhaltenden  Beten  auf  (Mt  7  7  ff.;  Lk  18 x  ff.),  auf  der 
anderen  Seite  warnt  er  vor  dem  Viele-Wortemachen  mit  dem  Hinweis : 
„Euer  Vater  weiß,  was  ihr  bedürfet,  ehe  ihr  ihn  bittet"  (Mt  6  8).  Ähnlich 
ermuntert  auch  Luther  auf  der  einen  Seite  zum  unverschämten  Betteln, 
auf  der  anderen  Seite  will  er,  daß  man  um  Irdisches  nur  bedingt  bitte. 
Johannes  Weiß  meinte,  es  lägen  hier  „zwei  Stufen  religiöser  Lebens- 
anschauungen nebeneinander,  die  naiv-kindliche  Frömmigkeit,  die  das 
Herz  des  Vaters  in  unerschütterlichem  Zutrauen  zu  bestürmen  wagt, 
und  die  abgeklärte,  ruhige  Zuversicht,  die  sich  allewege  in  Gottes  Hand 
geborgen  weiß  und  ihn  walten  läßt".  197  Allein  es  handelt  sich  nicht 
um  das  Nebeneinander  zweier  Typen  religiösen  Erlebens,  sondern  ledig- 
lich um  zwei  Momente,  zwei  Phasen  in  einem  und  demselben  Gebets- 
erlebnis, von  denen  die  Gebetsnorm  immer  nur  eine  auf  Kosten  der 
anderen  hervorhebt .  Mit  Recht  hat  einer  der  bedeutendsten  evangelischen 


Inhalt  des  Gebets  (Aussprache  der  Ergebung)  389 


Dogmatiker,  Wilhelm  Herrmann,  in  dem  inneren  Zusammenhang 
dieser  beiden  antagonistischen  Momente,  des  naiven  Wunsches  und 
der  freudigen  Ergebung,  das  Charakteristikum  des  biblisch-christlichen 
Gebets  erblickt. 

,,Zwei  geistige  Bewegungen  verbinden  sich  zur  lebendigen  Einheit,  welche 
durch  keine  menschliche  Anstrengung  zusammengefaßt  werden  können:  das 
herzliche  Verlangen,  von  Gott  eine  besondere  Hilfe  zu  erfahren  und  die  demütige, 
d.  h.  freudige  Ergebung  in  den  Willen  Gottes.  Vergeblich  ist  es,  eine  Einigung 
beider  Tendenzen  durch  die  Vorschrift  herbeiführen  zu  wollen:  Du  sollst  zwar 
um  eine  bestimmte  Gabe  bitten,  aber  du  sollst  auch  die  Bereitschaft  zum  Verzicht 
in  dir  rege  halten.  Bei  dem  Gläubigen  ergibt  sich  diese  Einigung  von  selbst. 
I  "nser  Glaube  stellt  uns  vor  einen  Gott,  dessen  Hilfe  uns  gewiß  ist.  Dadurch  a  I  lein 
wird  der  leidenschaftliche  Charakter  der  Bitte,  in  welcher  sich  der  gesunde  Trieb 
des  Lebendigen  nach  Wohlsein  ausspricht,  gemildert.  Der  natürliche  Wunsch 
der  bedrängten  Kreatur,  auf  den  Willen  Gottes  zu  ihren  Gunsten  einzuwirken, 
vergeht  in  dem  christlichen  Gebet  in  dem  Eindruck,  daß  man  die  Bitte  vor  Gott 
bringt,  der  uns  mit  mehr  als  Vater-  und  Mutterliebe  liebt.  Jene  natürliche  und 
diese  göttliche  Regung  sind  in  dem  wirklich  lebensvollen  Bittgebet  des  Christen 
zu  untersc beiden.  Eni  solches  Gebet  ist  ein  innerer  Kampf,  welcher,  wenn  er 
normal  verläuft,  den  Christen  auf  eine  höhere  Stufe  des  inneren  Lebens  bringen 
soll.  Die  Erreichung  dieses  Zieles  zeigt  sich  darin,  daß  der  siegende  Glaube 
die  stürmische  Bitte  in  der  Stille  vor  Gott  ausklingen  läßt."  ..Das  aus  dem  Leiden 
der  Kreatur  geborene  natürliche  Verlangen  und  die  von  Gott  erweckte  Freude 
;:n  ihm  und  seinem  Willen  müssen  im  christlichen  Gebet  verbunden  sein.  Aber 
keine  noch  so  sorgfältige  Anweisung  vermag  für  den  einzelnen  Fall  das  Gleich- 
gewicht anzugeben.  Gott  allein  löst  die  Aufgabe,  indem  er  uns  in  seiner  Offen- 
barung so  berührt,  daß  die  wunderbare  Lust  und  Freude  am  Leben  uns  aufgeht, 
welche  die  Willigkeit  zum  Entsagen  und  Dulden  des  von  ihm  Auferlegten  aus  sich 
erzeugen   kann".  198 

g)  Dan  k. 
Die  Aussprache  der  Zuversicht  und  Ergebung  setzt  die  Aussprache 
der  Not  in  der  Form  der  Klage  und  Bitte  voraus,  hängt  genetisch  mit 
letzterer  zusammen.  Der  der  Bitte  folgende  Ausdruck  der  Erhörungs- 
gewißheit  kann  sich  zum  Dankgebet  steigern.  Wenn  Paulus  die  Philipper 
(4  6)  mahnt:  „Bringet  alle  eure  Anliegen  vor  Gott  in  Gebet  und  Flehen 
mit  Danksagung,"  so  meint  es  wohl,  daß  in  jedes  Gebet  sich  Worte  des 
Dankes  mischen  sollen,  daß  jedes  Bittgebet  in  einem  Dankgebet  aus- 
klingen soll.  Die  Aussprache  des  Wunsches  weckte  in  ihm  nicht  selten 
eine  solche  Zuversicht,  daß  er  im  voraus  für  seine  Erfüllung  dankte. 
Zumeist  jedoch  sind  Dank,  Lob  und  Preis  der  unmittelbare  Ausdruck 
lustbetonter,  auf  Werte  bezogener  Affekte.  Die  herkömmliche  Ein- 
teilung der  Gebete  in  zwei  große  Klassen:  Bittgebete  auf  der  einen, 
Dank-  und  Lobgebete  auf  der  anderen  Seite  hat  somit  ein  gewisses 
psychologisches  Recht.  ,,Orationis  duae  sunt  partes:  petitio  et  gratiarum 
actio",  lautet  ein  theologisches  Axiom  Calvins.  199  Zwingli  definiert: 
„Beten  ist  ein  Loben  und  Ehren  bieten  zum  ersten,  darnach  ein  ver- 
traut Anrufen  um  unsere  Notdurft".  20°  Dank  ist  die  freudige  An- 
erkennung eines  Menschen,  daß  Gott  ihm  eine  Gnade  oder  Wohltat 
zuteil  werden  ließ.  Der  Beter  bekennt,  daß  sein  äußeres  oder  inneres 
Glück  ein  Geschenk  der  freien  Gnade  Gottes  ist.  Der  Dank  ist  somit 
ein  Ausdruck  der  gänzlichen  Abhängigkeit  von  Gott.  „Gratiarum 
actione  dei  erga  nos  benefacta  recognoscimus  accepta  ferentes  eins  boni- 


390  FIV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

tati  omnia,  quae  sunt  uspiam  bona"  (Calvin).  201  Wie  auf  der  primitiven 
Stufe  steht  häufig  das  Dankgebet  zum  Bittgebet  in  einer  inneren  Be- 
ziehung, insofern  als  der  Dank  sich  auf  die  Erhörung  einer  vorangegangenen 
Gebetsbitte  bezieht.  Gegenstand  des  Dankes  sind  analog  den  Objekten 
der  Bitte  vorwiegend  religiöse  und  ethische  Werte. 

Die  aus  dem  Exil  zurückgekehrten  Juden  danken  für  die  Befreiung  aus  der 
Verbannung  und  die  Wiederherstellung  Israels.  „Ich  will  dich  erheben,  Jahwe 
daß  du  mich  herausgezogen  hast  und  meine  Feinde  sich  nicht  über  mich  freuen 
ließest.  Jahwe,  mein  Gott,  ich  schrie  zu  dir  und  du  heiltest  mich.  Du  hast  mir 
meine  Klage  in  einen  Reigen  verwandelt;  du  zogst  mir  das  Trauergewand  aus 
und  gürtetest  mich  mit  Freude.  Jahwe,  mein  Gott,  immerdar  will  ich  dich  preisen" 
(Ps  30,  2  f.  12  f.).  „Ich  preise  dich,  daß  du  mich  erhört  hast  und  mir  Heil  von 
dir  kam"  (Ps  118,  21).  Paulus  dankt  Gott  für  alle  Treue  und  Standhaftigkeit 
der  jungen  Christengemeinden,  für  ihre  Fortschritte  im  Glauben  und  in  den 
Werken  der  Liebe.  202  „Ich  danke  meinem  Gotte,  so  oft  ich  euer  gedenke,  .  .  . 
für  euer  Festhalten  am  Evangelium  vom  ersten  Tage  an  bis  zu  dieser  Stunde" 
(Phil.  ] ,  3  f. ).  Augustinus  dankt  für  die  Sünden  vergebende  Gnade  Gottes :  „Diligam 
te,  Domine,  et  gratias  agam  et  confiteor  nomini  tuo,  quoniam  tanta  dimisisti 
mala  mihi  et  nefaria  opera  mea.  Gratiae  tuae  deputo  et  misericordiae  tuae,  quod 
peccata  mea  tanquam  glaciem  solvisti.  Gratiae  tuae  deputo  et  quaecunque  non 
feci  mala".  2"3  Luther  dankt  demütig  für  Erlösung  und  Sündenvergebung: 
„Lieber  Herr  Gott!  Was  wir  haben  und  brauchen,  ist  alles  dein,  wir  haben  es 
ja  nicht  gemacht;  d  u  hast's  uns  gegeben;  das  aber  ist  sonderlich  dein  eigen  Werk 
und  Barmherzigkeit ,  daß  wir  dem  Teufel  entlaufen,  von  Sünde  frei  und  ledig 
geworden  sind.  Derhalb  gebühret  dir  allein  die  Ehre  davon  und  nicht  mir." 
„Solches  heißt  Gott  recht  ehren  und  ihn  zu  seiner  Ehr  und  Majestät  kommen 
lassen."  20*  „Man  soll  Gottes  unaussprechliche  Gnade  mit  Ernst  betrachten  und 
von  Heizen  dafür  danken  mit  diesen  oder  dergleichen  Worten:  ,Ach  du  barm- 
herziger Gott,  wie  ein  freundlicher,  holdseliger  Vater  bist  du  doch,  der  du  so 
väterlich  und  herzlich  mit  uns  armen,  verdammten  Sündern  handelst,  wirfst 
deinen  einigen  Sohn  Jesum  Christum,  dein  höchstes  und  bestes  Gut,  dem  Teufel 
und  Tod  in  den  Rachen".  Auf  dem  Sterbebett  sprach  er  folgendes  Dankgebet: 
„O  mein  himmlischer  Vater  .  .  „du  Gott  alles  Trostes,  ich  danke  dir,  daß  du 
mir  deinen  geliebten  Sohn  Jesum  Christum  geoffenbaret  hast,  an  den  ich  glaube, 
den  ich  geprediget  und  bekannt  habe,  den  ich  geliebet  und  gelobet  habe."  a05 
Pascal  dankt  in  seiner  Vorliebe  für  das  Paradoxe  Gott  für  das  Glück,  ihm  danken 
zu  können:  „Je  vous  rends  gräces,  mon  dieu,  des  bons  mouvements  que  vous 
me  donnez  et  de  celui  meme  que  vous  me  donnez  de  vous  en  rendre  gräce."  Ja, 
er  dankt  sogar  mit  der  ihm  eigenen  rücksichtslosen  Härte  für  die  Krankheit  und 
die  Schmerzen,  weil  sie  seine  Weltfreude  und  Lebenslust  zerstört  haben:  „Je 
vous  loue  et  je  vous  benirai  tous  les  jours  de  ma  vie  de  ce  qu'  il  vous  a  p  lu  me 
reduire  dans  Tinea pacite  de  jouir  des  douceurs  de  la  sant6  et  des  plaisirs  du 
monde".  206  Echt  biblisch-evangelisch  empfunden  ist  trotz  der  mystischen  Färbung 
Tersteegens  inniges  Danklied. 

„O  du  sorgest  für  mich  Armen, 

Tag  und  Nacht 

Hältst  du   wach. 

Groß  ist  dein  Erbarmen: 

Lauf  ich  weg,  du  holst  mich  wieder, 

Väterlich  hältst  du  mich, 

Wenn  ich  sinke  nieder. 

Deine  Gut',  die  ewig  währet, 

Hat  mich  oft 

Unverhofft 

In  der  Not  erhöret. 

O  wie  tief  hast  du  mein  Herze 


Inhalt  des  Gebets  (Dank)  391 


Nicht  erlöst 
Und  getrost, 
Da  ich  lag  im  Schmerze! 

Wenn  ich  tief  im  Dunklen  walle, 

Steht  mir  bei 

Deine  Treu, 

Daß  ich  dann  nicht  falle, 

Daß  ich  mich  kann  überlassen, 

Stille  steh'n, 

Ohne  Seh'n 

Meinen  Gott  umfassen. 

0  wie  groß  ist  deine  Gütel 

Deine  Treu 

Immer  neu 

Preiset  mein  Gemüte. 

Ach  ich  muß,  ich  muß  dich  lieben, 

Seel  und  Leib 

Ewig  bleib' 

Deinem  Dienst  verschrieben!"  aos  b 
Aber  nicht  nur  für  das  Große  und  Wichtige,  für  Gnade  und  Seelenheil,  wird 
Gott  gedankt,  sondern  auch  für  das  Kleine,  Alltägliche.  Die  paulinisjhe  Forderung : 
,,In  allem  saget  Dank"  (1  Thess  5  lg);  „alles,  was  ihr  tut  in  Wort  oder  Werk, 
tut  alles  im  Namen  des  Herrn  Jesu,  indem  ihr  Gott  dem  Vater  durch  ihn  Dank 
saget"  (Col  3  17);  „saget  allezeit  für  alles  Dank  im  Namen  unseres  Herrn  Jesus 
Christus"  (Eph  5  ao)  —  diese  Forderung  läßt  eine  Einschränkung  auf  das  rein 
Geistige  nicht  zu.  Wie  man  um  das  tägliche  Brot  bittet,  dankt  man  auch  dafür. 
Zur  Zeit  Jesu  wurde  im  Judentum  kein  Stück  Brot  gebrochen,  keine  Weintraube 
genossen  ohne  Danksagung.  ao7  Jesus  selbst  hat  diese  Sitte  stets  geübt  (Mk  6  41; 
14  2S;  Lk  24  30),  desgleichen  Paulus  (Roe  14  8);  wahrscheinlich  wurde  dabei  die 
jüdische  Formel  des  Tischsegens  gebraucht.  Es  ist  tief  bedeutsam,  daß  das 
Danksagen  bei  Tisch  dem  urchristlicher  religiösen  Gemeinschaftsmahl  den  Namen 
gegeben  hat :   ei>xaQtaTia. 

h)  Lobpreis. 

Das  reine,  kontemplative  Lobgebet,  das  ausschließlich  auf  Gott  ge- 
richtet ist  und  jeder  Beziehung  auf  das  eigene  Ich  entbehrt,  tritt  in 
der  prophetischen  Frömmigkeit  nur  sporadisch  auf.  Wenn  Gott  ge- 
priesen wird,  so  geschiehs  das  um  seiner  Heilstaten  am  Menschen  willen. 
Die  meisten  alttestamentlichen  Lobpsalmen  und  christlichen  Hymnen 
sind  eigentlich  Dankgebete.  Nur  in  wenigen  alttestamentlichen  Psalmen 
wird  Gott  um  seiner  selbst  willen,  um  seiner  Größe  und  Macht  und  um 
der  Schönheit  und  Weisheit  seiner  Schöpfung  willen  verherrlicht.  Von 
Staunen  und  Entzücken  ergriffen,  steht  der  Beter  nnd  Dichter  vor 
seinem  Gott,  betrachtend  versenkt  er  sich  in  die  Wunder  seiner  Natur. 

„Preise,  meine  Seele,  Jahwe!  Jahwe,  mein  Gott,  du  bist  überaus  groß,  mit 
Majestät  und  Hoheit  bist  du  angetan.  Wie  sind  deiner  Werke  so  viele,  du  hast 
sie  alle  in  Weisheit  geschaffen"  (Ps  104,  1.  24).  „Zahlreich  sind  deine  Wunder 
und  deine  Pläne,  die  du,  Jahwe,  mein  Gott,  für  uns  ausgeführt  hast.  Nichts 
ist  dir  zu  vergleichen!  Wollte  ich  von  ihnen  verkünden  und  reden,  so  sind  ihrer 
zu  viel,  als  daß  ich  sie  aufzählen  könnte'"  (Ps  40,  0).  „Ich  will  dich  erheben,  mein 
Gott,  du  König,  und  deinen  Namen  immer  und  ewig  preisen  ....  Es  sollen 
dich  loben,  Jahwe,  alle  deine  Werke  und  deine  Frommen  dich  preisen.  Von  der. 
Herrlichkeit  deines  Königtums  sollen  sie  sagen  und  von  deiner  Gewalt  reden  .... 
Dein  Reich  ist  ein  Reich  für  alle  Ewigkeit  und  deine  Herrschaft  währt  durch 
alle  Geschlechter"  (Ps  145).  Hinter  der  Dichterkraft  der  Psalmsänger  bleibt 
weit    zurück    ein    Preisgebet    Muhammeds.      „O  Gott,    Herr    des  Himmels    und 


392  FIV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


der  Erde,  Herr  des  mächtigen  Thrones,  unser  Herr  und  Herr  aller  Dinge  .  .  .; 
du  bist  der  Erste,  denn  es  gibt  nichts  vor  dir;  du  bist  der  Letzte,  denn  es  gibt 
nichts  nach  dir;  du  bist  der  Äußere,  denn  es  gibt  nichts  über  dir,  du  bist  der  Innere, 
denn   es  gibt  nichts  neben  dir".  208 

Den  Inhalt  vieler  Psalmen  (97.  104.  147.  148)  bildet  eine  konkrete, 
poesievolle  Naturbetrachtung,  welche  die  ganze  leblose  und  lebende 
Schöpfung  an  sich  vorüberziehen  läßt.  Aus  diesen  Psalmen  redet  derselbe 
Naturenthusiasmus,  der  die  individuelle  Hymnenpoesie  antiker  Völker 
auszeichnet  (s.  o.  S.  185  ff.);  er  ist  nur  vertieft,  verinnerlicht  und  ver- 
lebendigt durch  den  prophetischen  Gebetsgeist.  Die  völlig  anegoistische 
Kontemplation,  die  feierlich-erhabene  Anbetung  des  Unendlichen,  das 
Zurücktreten  des  Abhängigkeitsgefühls,  das  im  Dank  sich  ausspricht, 
der  häufige  Übergang  der  Duanrede  des  Gebets  in  die  reine  Betrachtung 

-  all  diese  Eigentümlichkeiten,  welche  die  alttestamentlichen  Lob- 
psalmen mit  der  individuellen  antiken  Hymnendichtung  gemeinsam 
haben,  weisen  auf  eine  Ähnlichkeit  mit  der  echt  mystischen  Gebets- 
weise hin.  Trotzdem  ist  der  Unterschied  von  dem  mystischen  Gebet 
unverkennbar.  Das  selbstvergessene  Kontemplieren  wird  nie  zum 
mystischen  oder  pantheistischen  Aufgehen  in  dem  kontemplierten 
Wertobjekt:  die  ursemitisch-prophetische  Distanz  von  Mensch  und 
Gott  wird  durch  keine  mystische  Einigung  aufgehoben.  Sodann  bezieht 
sich  der  kontemplative  Lobpreis  im  Gegensatz  zur  eigentlichen  Mystik 
nicht  auf  das  völlig  geistige,  von  allen  konkreten  Werten  losgelöste 
oder  in  ihnen  nur  unvollkommen  sich  spiegelnde  summum  bonum, 
sondern  Gott  und  die  Natur,  der  höchste  Wert  und  die  konkreten  ästhe- 
tischen Werte  stehen  in  innerem  Zusammenhang;  die  Natur  ist  „das 
Werk  seiner  Hände".  Die  Natur  wird  nie  zum  Allgott,  noch  bleibt 
sie  im  neuplatonischen  Sinn  ein  bloßes  unvollkommenes  Abbild  des 
vollendeten  geistigen  Urbildes.  „Jahwe,  unser  Herrscher,  wie  herrlich 
ist  dein  Name  auf  der  ganzen  Erde"  (Ps.  8  10). 

i)  Sehnen  und  Schauen. 

Das  Beten  des  Mystikers  ist  teils  ein  Sehnen  und  Verlangen  nach  dem 
Einen,  Höchsten,  teils  ein  seliges  Schauen  und  Genießen  des  unend- 
lichen Gottes.  Sehnen  und  Schauen  ist  auch  der  Inhalt  mancher  Gebete 
in  der  prophetischen  Frömmigkeit.  „Laß  mich  deine  Herrlichkeit 
schauen",  lautet  nach  der  alten  j ah wis tischen  Pentateuchquelle  ein 
Gebet  des  Mose  (Ex  33  18).  Die  Sehnsucht  nach  seligem  Gottschauen 
begegnet  uns  mehrmals  im  Psalter. 

„Wie  eine  Hirschkuh,  die  nach  Wasserbächen  lechzt ,  so  lechzt  meine  Seele 
nach  dir,  o  Gott.  Meine  Seele  dürstet  nach  Gott,  dem  lebendigen  Gott;  wann 
werde  ich  hingelangen  und  vor  Gottes  Angesicht  erscheinen  ?"  (Ps  42.  2  f. ).  ..Jahwe, 
du  bist  mein  Gott,  dich  suche  ich!  Es  dürstet  nach  dir  meine  Seele,  es  schmachtet 
nach  dir  mein  Leib,  in  dürrem  lechzenden  Land  ohne  Wasser.  Gib.  daß  ich  dich 
im  Heiligtum  schaue,  deine  Macht  und  Herrlichkeit  sehe"  (Ps  63,  2  f.).  Und 
im  Besitze  der  Gottseligkeit  ruft  der  Psalmist:  „Ich  spreche  zu  Jahwe:  Du  bist 
mein  Herr,  es  gibt  für  mich  kein  Gut  außer  dir"  (Ps  16,  2).  ..Wenn  ich  nur  dich 
habe,  so  frage  ich  nicht  nach  Himmel  und  Erde.  Wenn  mir  gleich  Leib  und  Seele 
verschmachten,  so  bist  du  doch.  Gott,  allzeit  meines  Herzens  Trost  und  mein 
Teil"  (Ps  73,  25). 

Klingt  das  nicht  wie  reine  Mystik  ?     Ist  das  nicht  Hingabe  an  den 


Inhalt   des  Gebets   (Sehen  und  Schauen)  393 


höchsten,  geistigen  Wert,  Kontemplation  des  summum  bonumt  Die 
verblüffende  Ähnlichkeit  solcher  Psalmstellen  mit  mystischen  Gebets- 
worten darf  uns  jedoch  nicht  über  den  verschiedenen  Sinn  täuschen. 
Gewiß  redet  aus  solchen  Gebetsrufen  ebenso  wie  aus  der  mystischen 
Kontemplation  die  Gewißheit  von  einer  höchsten  Wirklichkeit,  die  allein 
dem  Frommen  Seligkeit  verbürgt.  Was  aber  die  alttestamentlichen 
Frommen  suchen,  ist  nicht  ein  Einswerden  mit  Gott,  ein  Auf-  und 
Untergehen  in  dem  Unendlichen,  das  dem  Mystiker  dann  gelingt,  wenn 
die  Trennimg  von  allem  Kreatürlichen  und  die  Ertötung  des  natürlichen 
Wollens  vollzogen  ist.  Der  Abstand  zwischen  Mensch  und  Gott  läßt 
eine  Auflösung  der  menschlichen  Persönlichkeit  in  Gott  nicht  zu.  Nicht 
ekstatische  Vereinigung  mit  Gott  ersehnt  der  Beter,  sondern 
nur  seine  lebendige,  fühlbare  Nähe,  beseligende  Lebensgemein- 
schaft mit  ihm.  208b  Das  Bewußtsein  der  unmittelbaren  Gegenwart 
Gottes  verleiht  dem  Frommen  eine  unerschütterliche  Lebenssicherheit 
und  Heilsgewißheit.  ,, Mir  ist  die  Nähe  Gottes  köstlich"  (Ps  73  28), 
Ursprünglich  war  das  Verlangen  nach  dem,  Schauen"  von  Jahwes  Antlitz 
nichts  anderes  als  die  Sehnsucht  nach  dem  Besuch  des  Tempels,  in  dem 
nach  israelitischem  Glauben  Jahwe  weilt  und  wo  man  seiner  schützenden 
und  helfenden  Hand  inne  wird.  Mit  der  Vergeistigung  der  Gottes- 
vorstellung jedoch  fiel  die  Bindung  der  Gegenwart  Gottes  an  einen 
äußeren  Ort,  Gottes  Nähe  wurde  rein  innerlich  erlebt  im  herzlichen 
Gebet  und  im  zuversichtlichen  Glauben.  209  So  bricht  gerade  in  diesen 
scheinbar  mystischen  Gebeten  der  Grundzug  prophetischer  Frömmigkeit 
durch:  die  starke  Lebenszuversicht,  die  sich  auf  die  Gewißheit  von 
Gottes  wirksamer  Gegenwart  stützt. 

4.  Die  dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottesvor- 
stellung. 
.Macht'  und  Menschlichkeit  sind  die  beiden  Charakteristika  der  primi- 
tiven Gottesvorstellung;  der  Gott  der  prophetischen  Erfahrung  ist 
Wille  und  Persönlichkeit.  Das  persönlich-menschliche  Gottesbild  ent- 
-■ hwindet  während  des  Betens  nie  dem  Frommen.  Die  rohen  anthro- 
pomorphen  Züge,  welche  die  dem  primitiven  Beten  zugrundeliegende 
Gottesvorstellung  zeigt,  sind  beseitigt :  Gott  ist  weder  örtlich  gebunden 
noch  in  seinem  Wirkungskreise  beschränkt;  er  ist  übersinnlich,  er  sieht 
und  hört  nicht  mit  menschlichem  Auge  und  Ohr;  er  hat  keine  mensch- 
lichen Bedürfnisse  und  Wünsche,  die  der  Mensch  durch  Opfer  und 
Geschenke  befriedigen  könnte;  er  ist  kein  launisches  und  rachegieriges 
Wesen,  auch  wenn  er,  ein  sittlich  eifriger  Gott,  zürnt,  richtet  und  straft. 
Und  doch  sind  die  wesentlichen  Züge  der  seelischen  Persönlichkeit: 
Denken.  Wollen  und  Fühlen  in  der  prophetischen  Gottesvorstellung 
mit  derselben  realistischen  Anschaulichkeit  lebendig  wie  in  der  primi- 
tiven. Nur  einem  menschlich  fühlenden  Wesen  kann  der  Beter  seine 
Herzensnot  ausschütten,  nur  ein  solches  kann  ihn  trösten  und  ihm  helfen, 
nicht  ein  überpersönliches,  unendliches,  geistiges  Ideal.  Gott  ist  nicht 
das  Eine,  Unbegrenzte,  .höchste  Gut',  wie  in  dem  mystischen  Beten, 
sondern  der  ,H<-lf>-r'.     Nbthelfer',  der  . Gebetserhörer '.  wie  ihn    Luther 


394  FIV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


treuherzig  mit  dem  Terminus  der  naiven  Frömmigkeit  bezeichnet.  210 
„Wahrhaft,  du  bist  ein  Gott,  der  Gebete  erhört,"  spricht  der  Psalmist 
(65  3).  „Elend  hin  wegzunehmen,  elende  Menschen  aufzurichten,  das 
ist  dein  Werk,"  betet  Savonarola  211b.  Luther  sagt:  „Dies  ist  unseres 
Herr  Gotts  eigentliches  Werk,  daß  er  Gebete  erhöret  und  hilfet  denen, 
die  ihn  anschreien".  2U  Der  Gott  des  prophetischen  Beters  ist  auch 
kein  statischer  Endgültigkeitswert,  in  den  er  sich  in  feierlicher  Anbetung 
und  kontemplativer  Ruhe  versenkt,  sondern  ein  dynamischer  Wille,  von 
dem  er  einen  Eingriff  in  die  Welt  und  in  das  Leben  erwartet.  Wie  er 
durch  seinen  Willen  die  ganze  Welt  und  das  menschliche  Ich  trägt  und 
lenkt,  beherrscht  und  regiert,  so  soll  er  durch  seinen  Willen  Welt  und 
Ich  umgestalten,  durch  seinen  Willen  das  Seinsollende  zur  Wirklichkeit 
machen.  Der  Gegensatz  zu  der  vom  mystischen  Gebet  vorausgesetzten 
Gottesidee  und  die  Übereinstimmung  mit  der  Gottesvorstellung  des 
primitiven  Menschen  ist  unableugbar. 

5.  Der  Glaube  an  diePräsenzGottes  imGebet. 
Alles  primitive  Beten  wurzelt  in  dem  Glauben  an  die  Gegenwart  und 
Nähe  eines  hörenden  Gottes.  In  der  prophetischen  Gebetsfrömmigkeit 
lebt  dieser  Glaube,  vergeistigt  zwar,  aber  ungeschwächt  in  seinem 
Realismus,  auf.  Eben  darum  weil  echtes  Beten  kein  Selbstgespräch 
und  keine  Selbstbetrachtung  ist,  sondern  wirkliches  Reden  mit  einem 
persönlichen  Du,  ist  die  Präsenz  Gottes  eine  seiner  wesentlichen  Voraus- 
setzungen. Der  Pentateuch  veranschaulicht  in  wundervoller  Bildrede, 
die  den  Kern  des  psychologischen  Phänomens  trifft,  die  realistische 
Überzeugung  von  der  unmittelbaren  Gegenwart  Gottes,  die  den  Gebets- 
verkehr des  Vaters  der  prophetischen  Religion  durchdrungen  haben 
muß.  Jahwe  „verkehrt  mit  ihm  von  Angesicht  zu  Angesicht"  (Dt  34  10), 
er  „redet  mit  ihm  von  Mund  zu  Mund,  offenbarlich  und  nicht  in  Rätseln" ; 
Mose  „schaut  Jahwes  Gestalt"  (Num  12  8);  er  verkündet  dem  Volke 
Israel:  „Jahwe,  unser  Gott  ist  nahe,  so  oft  wir  ihn  anrufen  (Dt  4  7). 
Der  Psalmist  bekennt  mit  denselben  Worten:  „Jahwe  ist  nahe  allen, 
die  ihn  anrufen,  die  ihn  mit  Ernst  anrufen"  (Ps  145  18).  Aber  auch 
Persönlichkeiten  neuerer  Zeit  stehen  in  ihrem  Glauben  an  Gottes  dem 
Beter  fühlbare  Nähe  den  israelitischen  Propheten  und  Dichtern  nicht 
nach.  Beten  ist  für  Calvin  ein  Kolloquium  Dei\  212  Beten  heißt  für 
Luther  „mit  dem  Herzen  vor  Gott  in  den  Himmel  treten  und  mit  ihm 
reden",  213  für  Zwingli  „zu  Gott  laufen",  „sich  mit  ihm  berichten  und 
besprechen". 214  Bunyan  redet  noch  deutlicher :  „Durch  das  Gebet  kommen 
wir  am  direktesten  und  unmittelbarsten  in  die  persönliche  Nähe  der 
Gegenwart  Gottes."  „Im  Gebet  kommt  der  Mensch  gar  nahe  zu  Gott; 
darum  ist  der  Gnadenbeistand  Gottes  so  notwendig,  daß  er  der  Seele 
hilft  zu  beten,  damit  sie  überhaupt  in  seine  Gegenwart  komme".215 
Pascal  weiß  sich  in  seinem  Gebet  „allein  in  Gottes  Präsenz"  216  und 
Kierkegaard  schreibt:  „In  stiller  Einsamkeit  läßt  Gott  mich  weinen, 
da  weine  ich  immer  wieder  meinen  Schmerz  vor  ihm  aus.   217 

Die  Erfahrung,  daß  der  kleine  Mensch  im  Gebet  dem  großen  Gott 
naht,  birgt  für  die  prophetischen  Beter  dieselbe  Paradoxie  in  sich  wie 
für  die  Mystiker. 


Die  Präsenz  Gottes  395 


Der  Jahwist  läßt  Abraham  zu  seinem  Gott  beten:  „Ich  habe  mich  unterfangen 
mit  dir  zu  reden,  ich,  der  ich  Staub  und  Asche  bin"  (Gen  18  27).  Luther  versenkt 
sich  in  diesen  wunderbaren  Kontrast:  „Der  ich  Asche  und  Staub  und  voller 
Sünden  bin,  soll  den  lebendigen,  wahrhaftigen,  ewigen  Gott  anreden.  Wie  komme 
ich  dazu,  daß  ich  die  hohe  Majestät  soll  anreden,  da  sich  doch  sonst  alle  Menschen 
entsetzen  müssen,  wenn  sie  irgend  einen  Fürsten  oder  König  ansehen  oder  anreden 
sollen".  218  Der  sterbende  Bunyan  mahnt:  „Bevor  du  ins  Gebet  eintrittst, 
betrachte,  daß  du  bloß  , Staub  und  Asche'  bist  und  er  der  große  Gott,  der  Vater 
unseres  Herrn  Christi,  der  sich  mit  Lichtglanz  umkleidet  wie  mit  einem  Gewand, 
daß  du  ein  gemeiner  Sünder  bist  und  er  ein  heiliger  Gott ;  daß  du  ein  armer  kriechen- 
der Wurm  bist  und  er  der  allmächtige  Gott".  218t> 

Im  primitiven  Beten  ist  Gottes  Gegenwart  stets  an  ein  sinnfälliges 
Objekt  gebunden,  an  ein  konkretes  Naturphänomen  (und  sei  es  nur  der 
lichte  Himmel)  oder  an  das  Werk  menschlicher  Hände,  ein  Götterbild 
oder  einen  Fetisch.  Noch  der  fromme  Israelite  (Ps.  42;  Ps.  84)  sehnt 
sich  nach  dem  Tempel  auf  Sion,  wo  Jahwes  Macht  und  Herrlichkeit 
thront.  Aber  das  Gotterleben  eines  Jesaia,  Jeremia  und  Deuterojesaia 
sprengte  die  primitive  Sinnlichkeit  der  naiven  Gottesvorstellung.  „So 
spricht  Jahwe :  Der  Himmel  ist  mein  Thron  und  die  Erde  meiner  Füße 
Schemel.  Was  wäre  das  für  ein  Haus,  das  ihr  mir  bauen  wolltet?" 
( Jes  66  j).  Die  klassische  Urkunde  des  rein  geistigen  Gebets,  der  völlig 
übersinnlichen  Gottesverehrung  sind  die  bei  Johannes  stehenden  Woite 
Jesu  an  die  Samariterin  (4  20  ff.).  Weder  Sion  noch  Garizim  sind  die 
Stätten,  wo  Gott  weilt  und  wo  man  deshalb  zu  ihm  beten  müßte.  Die 
wahren  Beter  beten  Gott  ,im  Geist  und  in  der  Wahrheit'  an.  Ähnlich 
verkündet  auch  Paulus  in  der  Areopagrede,  daß  Gott  nicht  in  hände- 
gebauten Tempeln  wohnt  (Ap-G  17  24  ff.).  Aber  dieser  offenkundige 
Bruch  mit  aller  sinnlichen  Gottesvorstellung  bedeutet  keineswegs  wie 
bei  den  Philosophen  eine  Schwächung  und  ein  Verblassen  des  naiven 
Glaubens  an  Gottes  Nähe.  Gott  ist  dem  Frommen  noch  viel  näher  als 
in  äußeren  Objekten,  er  wohnt  im  Herzen  des  Menschen,  der  an  ihn 
glaubt  und  ihn  anruft.  „Wißt  ihr  nicht,  daß  ihr  der  Tempel  Gottes 
seid  und  Gottes  Geist  in  euch  wohnt  ?"  (1  Kor  3  16).  Calvin  zieht  daraus 
die  Konsequenz :  „  Vera  Dei  templa  cum  simus  ipsi,  in  nobis  o  r  em  u  s 
oportet,  si  in  sancto  templo  suo  Deum  volumus  invocare".  219 

Aus  dieser  grandiosen  Individualisierung  des  (jedem  religiösen  Glauben 
wesentlichen)  Gedankens  der  realen  Präsenz  Gottes  ergibt  sich  ein  Uni- 
versalismus des  Betens,  der  keine  lokale  Gebundenheit  mehr  kennt. 
Der  Verfasser  des  1.  Timotheusbriefes  sagt:  „Ich  will,  daß  die  Männer 
an  jedem  Orte  beten  und  reine  Hände  ohne  Groll  und  Zweifel 
emporheben"  (2  8).  „Ein  Christ,"  sagt  Luther,  „ist  an  keine  Stätte 
gebunden  und  mag  wohl  überall  beten,  es  sei  auf  der  Straßen,  im  Feld 
oder  in  der  Kirchen".220  Zwingli  schreibt:  „Christus  hat  uns  auch 
erlöset  von  besonderen  Stätten,  daß  nicht  an  einem  Ort  mehr  als 
am  anderen  Gott  angerufen  werde,  sondern  an  allen  Orten,  wo  Gott  im 
Geist  und  wahrlich  wird  angerufen,  da  spricht  er:  hier  bin  ich".  221  Ja, 
Calvin  und  Goorge  Fox,  die  in  ihrem  herben  Puritanismus  und  ihrer 
geistigen  Nüchternheit  dem  prophetischen  Typ  stets  dio  extremste 
Fassung  geben,  polemisieren  ausdrücklich  gegen  die  landläufige  Be- 
zeichnung der  Kirchen  als  , Gotteshäuser'.     Fox  bezeichnet  sie  in  ver- 


396  FIV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Fömmigkeit 

ächtlicher  Weise  stets  als  „Turmhäuser"  und  Calvin  sieht  darin,  daß 
man  ,, Gottes  Gegenwart  in  die  vier  Wände  eines  Tempels  einschließt", 
einen   Rückfall  in  jüdische  und  heidnische   Vorstellungen.  222 

Der  prophetisch-christlicheGebetssinn  kennt  so  wenig  wie  der  mystische 
die  örtlichen  Schranken  der  primitiven  und  antiken  Gebetsfrömmigkeit. 
Aber  der  dem  Glauben  an  die  Gegenwart  Gottes  im  menschlichen  Herzen 
zugrundeliegende  Individualismus  bedingt,  daß  die  Einsamkeit  als  die 
vorzüglichste  Stätte  des  Betens  gilt.  Mövog  rr^ög  fiövov  („einsam 
beim  Einsamen",  Plotin)  ist  das  Ideal  des  Betens  —  hierin  sind  mystische 
und  prophetische  Frömmigkeit  vollkommen  eins.  Hiskias  wendet  beim 
Gebet  zu  Jahwe  sein  Angesicht  gegen  die  Wand  ( Jes  38  2)  „zum  unwill- 
kürlichen Ausdruck  seines  Wunsches,  mit  Gott  allein  zu  sein".  223  Im 
nachexilischen  Judentum  zogen  sich  die  Frommen  beim  Gebet  ins  Ober- 
gemach zurück. 224  Jesus  betet  Ttaxu  fiövag,  auf  stiller  Bergeshöhe,  an  ver- 
lassenen Wüstenplätzen,  in  dunkler  Nacht.  225  Er  hat  die  Einsamkeit  des 
Betens  für  so  wichtig  gehalten,  daß  er  sie  zur  normativen  Forderung 
erhob:  ,,Du  aber  wenn  du  betest,  gehe  in  dein  Kämmerlein  und  schließ 
die  Türe  zu  und  bete  zu  deinem  Vater  im  Verborgenen"  (Mt  6  6).  Luther 
sagt:  „Wenn  einer  beten  will,  ist  es  fein,  daß  er  allein  sei,  da  er  kann 
frei  und  ungehindert  sein  Gebet  zu  Gott  ausschütten  und  Wort  und 
Gebärden  führen,  das  er  vor  Leuten  nicht  tun  kann".  226  Zwingli 
meint:  „Wenn  sich  das  menschliche  Gemüt  mit  Gott  berichten  will, 
so  ist  es  gerne  allein";  „denn  Andacht  wird  durch  die  vielen  ge- 
fälscht". 227 

Der  Mystiker  flieht  in  die  Gebetseinsamkeit,  weil  die  ^Abgeschieden- 
heit' von  Welt  und  Menschen  die  Voraussetzung  zur  seligen  Einigung 
mit  dem  Unendlichen  bildet;  die  prophetischen  Naturen  suchen  in  der 
Stille  des  Gebets  nicht  eine  dauernde  Isolierung  ,  sondern  die 
Möglichkeit  einer  unbehinderten  Aussprache  mit  ihrem  Gott. 
Hier  in  der  Einsamkeit  des  Verkehrs  mit  Gott  empfangen  sie  die  ent- 
scheidenden Impulse  für  ihr  Wirken  und  Arbeiten  bei  den  Brüdern. 
In  der  Stille  des  Gebets  packt  sie  der  ,  Geist'  Gottes  mit  unwiderstehlicher 
Macht  und  treibt  sie  hinaus  in  die  Welt  zur  Arbeit  für  das  Gottesreich. 
WTas  ihnen  im  Gebet  aufgegangen  ist  von  Gottes  unendlicher  Macht, 
Heiligkeit  und  Güte,  das  verkünden  sie  laut  vor  aller  Welt;  den  Willen 
Gottes,  der  zu  ihnen  im  Gebet  gesprochen,  enthüllen  sie  ihren  Brüdern. 
Das  lebendige  Bewußtsein  von  Gottes  unmittelbarer  Gegenwart  und 
Nähe  nehmen  sie  aus  der  Gebetseinsamkeit  mit  in  die  Welt  hinaus.  Das 
Wort  des  Psalmisten:  „Ich  habe  Jahwe  beständig  vor  mir  stehen" 
(Ps  168)  gilt  für  alle  Beter  vom  prophetischen  Typ.  Während  der 
echte  Mystiker  nur  in  der  vollen  Abgeschiedenheit,  in  der  tiefen  Ver- 
sunkenheit  und  kontemplativen  Ruhe  seines  Gottes  gewiß  wird,  weiß 
sich  der  prophetische  Geist  allzeit  Gott  nahe,  im  Gewühl  des  Alltags 
wie  in  der  Stille  des  Heiligtums,  im  sittlichen  Kampf  wie  im  zuver- 
sichtlichen Gebet,  in  der  Verkündigung  des  Gotteswortes  wie  in  der 
trauten  Zwiesprache  mit  dem  Herrn,  unter  den  Brüdern  wie  im  Verkehr 
mit  Gott. 


Verhältnis  von  Mensch  und  Gott  39" 


6.  Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  von 
Mensch  und  Gott. 
Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit  ist  ebenso  wie  in  der 
Mystik  ein  realer  Verkehr,  ein  lebendiger  Umgang  des  Menschen  mit 
Gott.  Aber  während  die  Mystik  die  Tendenz  zeigt,  das  Gebet  in  die 
Meditation  und  Kontemplation  aufzulösen,  tritt  in  der  prophetischen 
Frömmigkeit  der  soziale  Verkehrscharakter  des  Gebets  viel  stärker 
hervor.  Beten  heißt  nicht  über  Gott  meditieren  und  Gott  kontemplieren, 
sondern  zu  Gott  rufen,  mit  Gott  reden.  Während  im  mystischen  Gebet 
die  verschiedenen  Redeformen:  Anrufung  und  Anrede,  Bitte,  Lob  und 
Dank  nur  Verkleidungen  der  unverrückten  Hinwendung  auf  das  höchste 
Gut  sind,  sind  diese  in  der  prophetischen  Religion  ebenso  wie  in  der 
primitiven  echte  Äußerungen  einer  Verkehrsbeziehung  des  Menschen 
zu  Gott,  welche  getreulich  die  irdischen,  sozialen  Verkehrsbeziehungen 
wiederspiegelt.  Das  prophetische  Gebet  ist  Bitte  und  Dank  in  demselben 
Sinne,  in  dem  wir  im  menschlichen  Leben  von  Bitte  und  Dank  reden. 
Der  Mystiker  will  im  Gebet  sich  ,zu  Gott  erheben',  er  will  in  ihm  zu 
der  höchsten  geistigen  Wirklichkeit  .emporsteigen' .  In  der  prophetischen 
Frömmigkeit  sucht  der  Beter  nicht  eine  Erhebung  zum  höchsten  Gut. 
sondern  Hilfe  und  Gnade,  die  Erfüllung  eines  Wunsches,  in  der  reli- 
giösen Sprache  ausgedrückt:  die  ,Gebetserhörung'.  Schon  dieser 
Terminus,  welcher  der  primitiven  religiösen  Sprache  entstammt,  ist 
der  Mystik  innerlich  fremd.  Für  den  Mystiker  ist  Gott  die  wandel- 
lose höchste  Realität,  die  der  Mensch  nie  durch  Bitten  beeinflussen 
kann,  selbst  wenn  er  um  die  höchsten  sittlichen  Güter  bäte.  Dem 
prophetischen  Glauben  an  die  Gebetserhörung  liegt  die  primitive  Vor- 
stellung einer  realen  Einwirkung  des  Menschen  auf  Gott  zugrunde. 
Der  Pentateuch  erzählt:  ,, Moses  suchte  Jahwe,  seinen  Gott,  zu  be- 
gütigen, indem  er  sprach:  (folgt  ein  Gebet).  Da  ließ  sich  Jahwe  das 
Unheil  gereuen,  das  er  seinem  Volk  angedroht  hatte"  (Ex  32  n  ff.  JE). 
Arnos  bekennt:  „Ich  bat  Gott:  ,Herr  Jahwe,  vergib  doch'.  Da  ließ 
es  sich  Jahwe  gereuen;  ,es  soll  nicht  geschehen',  sprach  Jahwe"  (7  2  ff.). 
Bei  Jeremia  spricht  Jahwe:  „Dann  werdet  ihr  mich  anrufen  und  hin- 
gehen und  zu  mir  beten  und  ich  werde  euch  erhören"  (29  12).  Immer 
wieder  betonen  die  israelitischen  Psalmensänger,  wie  ihr  Gebet  vor 
Jahwe  erhört  worden  sei,  wie  Gott  auf  Grund  ihres  Gebets  ihnen  Hilfe 
und  Rettung  zuteil  werden  ließ. 

..Laut  rief  ich  zu  Jahwe,  da  erhörte  er  mich  von  seinem  heiligen  Berge"  (3.  5). 
...Jahwe  hört,  wenn  ich  zu  ihm  rufe"  (1.  1).  ..Jahwe  hat  mein  Flehen  gehört. 
Jahwe  nimmt  mein  Gebet  an"  (6,  10).  „Hier  ist  ein  Elender,  welcher  rief,  und 
Jahwe  hörte  und  half  ihm  aus  allen  seinen  Nöten."  „Sie  schrieen  und  Jahwe  erhörte 
und  rettete  sie  aus  allen  ihren  Nöten"  (Ps  34.  7.  18).  „Jahwe  tut  nach  dem 
Willen  derer,  die  ihn  fürchten,  und  hört  ihr  Geschrei  und  hilft  ihnen"  (Ps  1  15.  19). 

Der  prophetische  Glaube  an  die  reale  Gebetserhörung  ist  am  schärfsten 
und  klarsten  von  Jesus  ausgesprochen  worden. 

„Bittet  und  es  wird  euch  gegeben  werden,  suchet  und  ihr  werdet  finden,  pochet 
an  und  es  wird  euch  geöffnet  werden.  Jeder  Bittende  empfängt  und  jeder  Suchende 
findet  und  jedem  Pochenden  wird  geöffnet  werden"  (Mt  7.  7  ff.).  Dem  «laubigen 
Bitten  kommt  sogar  Wunderkraft  zu.  „Habt  Glauben  an  Gottj  Wahrlich, 
ich  sage  euch:  Wer  zu  diesem  Berge  spricht  :  Hebe  dich  und  senke  dich  ins  Meer, 


398  P  IV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

und  er  zweifelt  nicht  in  seinem  Herzen,  sondern  glaubt,  daß,  was  er  sage,  geschehe, 
dem  wird  so  geschehen.  Deshalb  sage  ich  euch,  bei  allem,  um  das  ihr  betet  und 
bittet,  glaubet,  daß  ihr  es  schon  empfangen  habt  \md  es  wird  euch  geschehen" 
(Mk  11,  22  ff.). 

Der  Gedanke  einer  realen  Einwirkung  auf  Gott,  einer  Gewinnung  oder 
Umstimmung  Gottes  spricht  sich  besonders  anschaulich  in  den  Gleich- 
nissen vom  unverschämten  Freund  und  von  der  aufdringlichen  Witwe 
aus,  mit  denen  Jesus  seine  Aufforderung  zum  vertrauensvollen  und  unge- 
stümen Bitten  illustriert  (Lk  11  5  ff.;  18  j  ff.).  Die  Pointe  dieser  Gleich- 
nisse besteht  in  der  Übertragung  menschlicher  sozialer  Verhältnisse  auf 
das  Gebetsverhältnis  zu  Gott.  Wenn  schon  ein  Mensch  dem  Wunsche 
eines  unverschämten  Freundes  willfährt  um  Ruhe  zu  bekommen  und 
wenn  ein  ungerechter  Richter  sich  der  aufdringlichen  Witwe  annimmt, 
um  die  lästige  Bettlerin  loszuwerden,  um  so  mehr  wird  dann  der  himm- 
lische Vater,  dessen  Wesen  Güte  ist,  die  innigen  Gebets  wünsche  seiner 
Diener  erfüllen.  Derselbe  Glaube  an  die  Wirksamkeit  des  gläubigen 
Bittgebets  lebt  im  Völkerapostel.  Er  erklärt  der  Gemeinde  in  Philippi : 
„Ich  weiß,  daß  dies  mir  zum  Heile  gereichen  wird  durch  euer  Ge- 
bet" (1  19).  Paulus  bezeichnet  das  Fürbittegebet  geradezu  als  ein 
„Mitkämpfen"  (Roe  15  30;  vgl.  Col  4  12)  —  ein  Ausdruck,  der  das  Aktive, 
Wirkungskräftige  des  prophetischen  Betens  gut  versinn bildet.  Auch 
das  Wort  des  Apostels  Jakobus :  , , Viel  vermag  das  anhaltende  Gebet 
des  Gerechten"  ( Jk  5  6)  zeugt  von  der  Gebetsfreudigkeit  und  von  dem 
Gebetsglauben,  der  im  Urchristentum  lebendig  war.  Der  Verfasser 
der  1.  Johannesepistel  sagt:  „Wenn  das  Herz  uns  nicht  anklagt,  so 
haben  wir  Zuversicht  zu  Gott,  und  was  wir  ihn  bitten,  erlangen  wir  von 
ihm."  „Und  das  ist  die  Zuversicht,  die  wir  zu  Gott  haben,  daß,  wenn 
wirihn  um  etwas  nach  seinem  Willen  bitten,  er  uns  erhört"  (1  Jo  321;  514). 
Ungemem  zahlreiche  und  psychologisch  wertvolle  Zeugnisse  für  den 
Glauben  an  die  reale  Macht  des  Gebets  enthalten  Luthers  Schriften.  In 
sehr  anschaulicher,  volkstümlicher  Redeweise  betont  er  immer  wieder 
die  wunderbare  Macht  des  Glaubensgebetes. 

„Er  erinnert  an  seine  eigenen  Gebetserfahrungen:  „Wohlan,  niemand  glaubet, 
wie  kräftig  und  stark  das  Gebet  sei  und  wieviel  es  vermag,  denn  der,  den  es  die 
Erfahrung  gelehret  und  der  es  versucht  hat  ....  So  oft  ich  mit  Ernst  gebetet 
habe,  daß  mir's  recht  ernst  gewesen  ist.  so  bin  ich  ja  reichlich  erhöret  worden 
und  habe  mehr  erlanget,  denn  ich  gebeten  habe;  wohl  hat  Gott  bisweilen  ver- 
zogen, aber  es  ist  dennoch  kommen."  „Der  Kirchen  Gebet  tut  große  Miracula. 
Es  hat  zu  unser  Zeit  ihr  drei  von  den  Toten  auf  erweckt:  mich,  der  ich  oft  bin 
todkrank  gelegen,  meine  Hausfrau  Kätha.  die  auch  todkrank  war  und  Magister 
Philippum  Melanchthonem,  welcher  anno  1540  zu  Weimar  todkrank  lag."  „Also 
werden  durchs  Gebet  noch  viel  erhalten,  wie  wir  zu  Weimar  M.  Philippum  lebendig 
beteten,  da  er  sonst  ohne  das  gestorben  wäre.  Ei,  das  Gebet  tut  viel"  2!8.  „Ein 
Christ  weiß,  daß  ihm  nicht  versagt  wird,  was  er  gebeten  hat  und  erfährt's  auch 
also  in  der  Tat,  daß  ihm  geholfen  werde  in  allen  Nöten",  „und  ob  er  nicht  sobald 
davon  erlöset  wird,  so  weiß  er  doch,  daß  das  Gebet  angenehm  und  erhöret  ist 
und  Gott  ihm  gibt,  daß  er's  ertragen  und  überwanden  kann:  welches  ist  eben  soviel, 
als  war  es  von  ihm  weggenommen  und  heißt  nicht  mehr  ein  Unglück  oder  Plage, 
nachdem  es  überwunden  ist."  „Es  ist  kein  Zweifel,  daß  unser  Gebet  nicht  sollte 
erhört  werden  alsbald,  wenn  die  erste  Silbe  ausgeredet  ist."  „Wenn  wir  recht  so 
vollkommen  beten  könnten,  so  war  es  unmöglich,  daß  ein  solch  Gebet  nicht  sollte 
erhört  weiden."  „So  uns  das,  darum  wir  bitten,  nicht  gegeben  wird,  so  wird 
uns  doch  etwas  besseres  darauffolgen,  sintemal   das  Gebet  vergeblich  und  ohne 


Verhältnis  von  Mensch  und  Gott  399 

Frucht  ni  ;ht  sein  kann."  „Es  ist  ein  stark  Ding  ums  Gebet,  wenn  wir's  nur  glauben 
könnten,  denn  Gott  hat  sich  daran  verbunden  und  geknüpft."  ,,Es  geschehe 
Gutes,  was  da  wolle,  so  geschiehet  es,  gehet  und  wird  ausgerichtet  und  zuwege 
gebracht  durch  das  Gebet,  welches  allein  die  mächtigste  Kaiserin  ist.  In  mensch- 
lichen Dingen  richten  wir  alles  aus  durch  das  Gebet."  ,,Das  Gebet  hat  eine  wunder- 
liche Kraft  und  Allmächtigkeit."  „Das  Gebet  der  Christenmenschen  ist  ein  all- 
mächtig groß  Ding";  „eine  starke  Wehre  wider  den  Teufel  und  seine  Anschläge"; 
„wir  können  den  Teufel  mit  dem  Gebet  töten";  „es  wehrt  und  hindert  viel  böse 
Tücke  des  Teufels,  so  er  sonst  wollte  anrichten  durch  seine  Glieder,  daß  das  freilich, 
was  da  jetzt  stehet  und  bleibet  beide  im  geistlichen  und  weltlichen  Regiment, 
durchs  Gebet  erhalten  wird."  ..Das  Gebet  erhält  die  Welt,  sonst  sollt'  es  viel 
anders  stehen."  Der  Mensch  „herrschet  mit  demselbigen  Gebet  über  Wolken, 
Himmel  und  Erden".  229  Ohne  die  Gebetserhörung  wäre  für  Luther  das  Gebet 
wertlos:  „Wenn  ich  nicht  wüßte,  daß  unser  Gebet  erhöret  wäre,  so  bete  der  Teufel 
an  meiner  Statt".  2r,°  Gott  erfüllt  die  Wünsche  der  Menschen  nur  auf  Grund 
seiner  Gebete  und  erhöret  sie  um  so  rascher,  je  dringlicher  und  inniger  der  Mensch 
fleht.  „Wenn  ein  christlich  Herz  ernstlich  zu  Gott  betet,  schreit,  seufzet,  flehet 
und  hält  an,  so  ist's  unmöglich,  daß  ein  solch  Gebet  von  Gott  nicht  sollte  erhöret 
werden.  Es  muß  und  soll  alles  Ja  sein."  „Allein  siehe  darauf,  daß  du  nicht  müde 
werdest,  sondern  fest  anhaltest;  ja,  dein  Gebet  möchte  so  stark  und  ernst  sein, 
er  sollt  dir  dieselbe  Stunde  geben,  was  du  begehrest,  das  er  sonst  nicht  tat  und 
lang  Verzüge:  aber  er  erhöret  und  gewähret  dich  um  des  ängstigen  Betens  willen." 
„Also  hab  ich  gewißlich  das  Vertrauen,  wenn  wir  mit  dem  Gebet  ernstlich  und 
hitzig  werden  anhalten,  daß  wir  Gott  erbitten  würden,  daß  der  jüngste  Tag  komme.' 
„Das  Gebet  macht,  daß  Gott  eilet,  da  er  sonst  nicht  so  würde  eilen".  231 

Luther  spricht  sogar  offen  aus,  daß  im  Gebet  eine  Beeinflussung  und 
Umstimmung  des  Willens  Gottes  stattfindet  —  eine  Vorstellung, 
die  allen  alt-  und  neutestamentlichen  Äußerungen  über  das  Gebet  zwar 
zugrunde  liegt,  aber  meist  nicht  direkt  ausgesprochen  wird. 

„Nach  dem  Gebet  ändert  Gott  seinen  Rat  und  Vornehmen;  das  man  fleißig 
merken  soll.  Und  muß  man  hier  nicht  disputieren  von  der  heimlichen  und  ver- 
borgenen Änderung  des  göttlichen  Willens,  sondern  vielmehr  lernen,  davon  der 
1 45.  Psalm  saget:  Der  Herr  tut  den  Willen  derer,  die  ihn  fürchten."  „Gott  ergibet 
seinen  Willen  in  unsern  Willen."  „Er  will  tun.  was  wir  wollen,  so  wir  allein  in 
Demütigkeit  vor  ihm  niederfallen  und  beten."  „Er  lasset  sich  lenken  und  unter- 
wirft seinen  Willen  unserm  Willen."  „Er  will  seinen  Willen  unterlassen  und 
unsern  tun."  Das  Gebet  des  Lot  in  der  Heiligen  Schrift  „ist  um  unseretwillen 
geschrieben,  wie  wir  Gottes  zornigen  Willen  hindern,  und  wenn  er  uns  die  Rute 
von  ferne  weiset,  ihm  begegnen  und  ihm  in  die  Hand  fallen  sollten"232. 

Luthers  Glaube  an  die  Gebetserhörung  ist  so  gewaltig,  daß  er  bis- 
weilen  dem    Gebet  geradezu   eine   magische   Wirkung   zuschreibt. 

..Das  Gebet  hat  eine  Wunderkraft  und  Allmacht."  „Dasselbe  zwinget 
Gott,  daß  er  seinem  zornigen  Willen  nicht  nachsetzet,  sondern  lasset  ihn  brechen 
und  tut  den  Willen  derer,  so  ihn  fürchten."  „Das  ist  des  Christen  höchste  Würde, 
sein  Priestertum.  daß  er  mit  seinem  Gebet  vor  Gott  treten  und  Gott  über- 
winden kann.  Gottes  mächtig  zu  sein,  ist  noch  mehr,  als  aller 
Dinge  mächtig  zu  sein  "233. 

Was  naives,  von  jeder  philosophischen  Problematik  und  jeder  quie- 
tistischen  Gelassenheit  unberührtes  Beten  ist,  wird  durch  nichts  deut- 
licher, als  durch  diese  kräftigen,  derb-realistischen  Aussprüche  Luthers. 
Der  Gegensatz  zu  dem  philosophischen  und  mystischen  Gebctsideal 
ist  so  scharf  wie  nur  möglich.  Einem  Origenes  und  Dionysius  Areo- 
pagita,  ja  selbst  einem  Augustinus  wären  diese  Worte  als  töricht  und 
irreligiös  erschienen.  Aber  Luther  hat  nur  in  kraftvollen  und  groben 
Worten  jenen  kühnen  und  unerschütterlichen  Gebetsglaubcn  ausge- 
sprochen, von  dem  alle  alttestamentlichen  Propheten,  von  dem  selbst 


400  PIV.  Das   Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


Jesus  und  seine  Apostel  durchdrungen  waren.  Dieser  Glaube  an  die 
Macht  des  Gebets  lebt  ungebrochen  auch  in  neueren  evangelischen 
Person  lichkeiten . 

Kierkegaard  schreibt  in  seinem  Tagebuch:  .„Der  archimedische  Punkt 
außerhalb  der  Welt  ist  das  Kämmerlein,  wo  ein  wahrer  Beter  in  aller  Aufrichtigkeit 
betet  —  wo  er  die  Welt  aus  den  Angeln  hebt.  Ja.  es  ist  unglaublich,  was  ein 
solcher  Beter,  wenn  er  seine  Türe  schließt,  drinnen  nicht  alles  veimag".  234  Adolphe 
M  o  n  o  d  sagt  in  seinen  Abschiedspredigten:  ,, Durch  das  Gebet  können  wir  alles 
erlangen  und  dem  wahren  Gebet  nach  der  heiligen  Schiift  sind  alle  Verheißungen 
gegeben".  234  b  Und  der  große  englische  Prediger  C.  H.  Spurgeon  urteilt: 
,,Das  Gebet  kann  den  Himmel  überwinden  und  die  Allmacht  zu  seinem  Willen 
herabbeugen".  234c 

Welch  gewaltige  Einwirkung  der  biblisch-christliche  Glaube  an  die 
Gebetserhörung  auf  die  christliche  Frömmigkeit  ausübte,  zeigt  sich 
darin,  daß  die  christliche  Mystik  sich  ihm  nicht  entziehen  konnte.  Im 
Mönchtum  der  Ostkirche,  das  von  mystisch-hesychias tischen  Tendenzen 
beseelt  ist,  spielt  er  eine  ganz  hervorragende  Rolle.  Die  besondere 
Gebetsmacht  der  geistlichen  Väter'  wird  gerne  mit  dem  philonisch- 
neutestamentlichen  Wort  7ictQQt]oia  (1  Joh  5 14)  bezeichnet,  d.  i. 
die  freimütige  Gebetszuversicht,  die  alles  von  Gott  erflehen  kann. 
„Als  das  Prädikat  der  großen  Charismatiker  wird  die  na^Qrjoia 
schließlich  geradezu  das  Recht  von  Gott  etwas  Außerordentliches  zu 
erbitten"  —  seien  es  nun  äußere  Wunder  und  Zeichen  oder  innere 
Gnadenerweise.  235  Selbst  eine  so  große  Mystikerin  wie  die  hl.  Teresa 
hat  im  festen  Glauben  an  die  Gebetserhörung  das  naive  Fürbittegebet 
gepflegt.  Sie  erzählt  in  ihrer  Autobiographie  wiederholt  von  wunder- 
baren Gebe tserh orangen .  „Wie  oft  der  Herr  meine  Bitten  erhört, 
das  ist  gar  nicht  zu  sagen.  Wollte  ich  alles  aufzählen,  so  würde  ich  nur 
mich  selbst  sowie  jeden  der  dies  liest,  ermüden".  236 

Die  rein  mystische  Gebetshmwendung  zum  summum  bonum  ist  über 
alle  irdischen  Sozialbeziehungen  erhaben;  nur  in  der  affektiven  Mystik 
nimmt  die  mystische  Sehnsucht  und  Seligkeit  die  Formen  des  Braut  - 
Verhältnisses  an.  In  der  prophetischen  Religion  reflektiert  der  Gebets- 
verkehr ebenso  wie  in  der  primitiven  unzweideutig  eine  menschliche 
Sozialbeziehung.  In  der  affektiv -dramatischen  Art  der  prophetischen 
Frömmigkeit  ist  es  begründet,  daß  der  Mensch  mit  seinem  Gott  redet, 
wie  mit  einem  anderen  Menschen,  wie  mit  seinem  Freund,  seinem  Herrn, 
seinem  Vater.  „Der  Zarathustra  der  Gäthas  verkehrt  mit  Ahura  Mazda, 
dem  höchsten  Gott,  wie  ein  Freund  mit  seinem  Freund."  237  Als  em 
Freundschaftsverhältnis  charakterisiert  sich  der  Gebets- 
verkehr des  Mose  mit  Jahwe.  Die  elohistische  Quelle  des  Pentateuch 
sagt  sehr  anschaulich:  „Jahwe  redet  mit  Mose  von  Angesicht  zu  Ange- 
sicht, wie  ein  Mensch  mit  seinem  Freund  redet"  (Ex  33  n).  Im  Gebets- 
verkehr der  nachmosaischen  Propheten  mit  Jahwe  mischt  sich  das 
mosaische  Freundschaftsverhältnis  mit  dem  ursemitischen  religiösen 
Knechtschaftsverhältnis.  Das  in  den  Psalmen  sich  äußernde  Gebets- 
verhältnis ist  meist  ein  Diener  Verhältnis.  „Wie  die  Augen 
der  Knechte  auf  die  Hand  ihres  Herrn,  wie  die  Augen  der  Mägde  auf 
die  Hand  ihrer  Herrin,  so  sind  unsere  Augen  auf  Jahwe  unseren  Gott 
gerichtet"    (Ps    123  2).      Im   nachexilischen    Judentum   tritt  der   urse- 


6.  Verhältnis  des  Menschen  zu   Gott                                    401 
_ _j 

mitische  Gedanke  an  Gott  den  Herrn  noch  stärker  hervor.  Nehemias 
betet:  ,,0  Jahwe,  du  Himmelsgott,  du  großer  und  furchtbarer  Gott! 
Laß  doch  dein  Ohr  aufmerksam  und  dein  Auge  offen  sein,  daß  du  das 
Gebet  deines  Knechtes  hörest"  (Neh  1  5  f.).  Im  Septuaginta Judentum 
wird  das  Wort  xvQiog  (,Herr')  zur  Gebetsanrufung  xaz  £$o%fjv,  aus  ihm 
drang  es  in  die  christliche  Gebetssprache  ein.  Aber  diese  schlichte  Ge- 
betsanrede ist  keine  belanglose  Redensart,  sondern  der  bedeutungsvolle 
Reflex  des  religiösen  Verhältnisses,  in  dem  der  Beter  zu  Gott  steht. 
Auch  die  andere  religiöse  Relation,  die  uns  im  primitiven  Gebet  so 
oft  begegnete,  tritt  in  der  Geschichte  der  israelitischen  Gebetsfrömmig- 
keit immer  stärker  hervor :  das  Kindschaftsverhältnis 
zum  Vatergott.  Jahwe  sprach  zu  Jeremia:  „Ich  dachte  ,mein  Vater' 
würdet  ihr  mich  nennen  und  nicht  davon  ablassen  mir  nachzufolgen" 
(3  19).  Ein  nachexilischer  Frommer  ruft  in  seinen  Gebeten  wiederholt: 
„Du,  Jahwe,  bist  unser  Vater"  (Jes  63  17  f.;  64  7).  Der  Psalmist  spricht: 
„Mein  Vater  bist  du"  (89  27).  Der  Verfasser  des  Weisheitsbuches  nennt 
Gott  in  einem  zuversichtlichen  Gebet  „Vater"  (14  3).  Das  Neben- 
einander beider  Relationen,  des  Kindschafts-  und  Knechtschafts- 
verhältnisses, zeigt  sich  deutlich  in  der  Gebetsanrufung  des  Jesus 
Sirach  „0  Herr,  Vater  und  Herr  meines  Lebens"  (51  10)  wie  in  dem 
Wort  Jahwes  an  Malachias:  „Ein  Sohn  ehrt  seinen  Vater  und  ein 
Diener  fürchtet  seinen  Herrn.  Wenn  ich  Vater  bin,  wo  ist  meine  Ehre  ? 
und  wenn  ich  Herr  bin,  wo  ist  die  Furcht  vor  mir  ?"  (1  6).  Während  in 
der  alttestamentlichen  Gebetsfrömmigkeit  das  Knechtschaf ts-und  Kind- 
schaftsverhältnis sich  ständig  vermengen,  spricht  sich  im  Beten  Jesu 
ausschließlich  das  Kindschaftsverhältnis  zum  Vater  aus.  In  Jesu 
Gebetsleben  bricht  so  das  Urphänomen  des  Gebets  in  seiner  höchsten 
Reinheit  durch:  das  erste  Gebet,  das  von  eines  Menschen  Lippen  sich 
losriß,  war  zweifellos  ein  schlichter  Hilferuf :  ,Vater"  (S.  o.  S.  91,  121). 
Alle  die  Gebete,  die  uns  von  Jesus  überliefert  sind,  beginnen  mit  der 
anspruchslosen  Anrede:  , Vater'.  (Nur  am  Kreuz,  wo  die  Trostlosigkeit 
das  eigene  Wort  ersterben  ließ,  ruft  er  seinen  Vater  mit  dem  Psalmwort 
„mein  Gott!"  an  238.)  So  gewaltig  war  der  Eindruck  dieser  Gebets- 
anrede Jesu  auf  seine  Jünger,  daß  die  griechischen  Evangelienverfasser 
den  aramäischen  Urlaut  dieses  Wortes  ,Abbai  wiedergeben.  In  den 
Gebeten  des  Völkerapostels  und  seiner  hellenistischen  Christengemeinden 
hallt  dieser  aramäische  Gebetsruf  Jesu  wieder  (Roe  815;  Gal  46).  In  der 
christlichen  Gebetsterminologie  steht  die  ,Vater'anrede  neben  der  ,Herr'- 
anrede.  Aber  die  philosophischen  und  mystischen  Motive,  die  aus  der 
spätgriechischen  Welt  in  das  Christentum  einströmten,  bedingten  im 
christlichen  Gebetsleben  ein  Zurücktreten  des  naiven  Kindschaftsge- 
dankens. Er  tritt  in  seiner  Urwüehsigkeit  und  Herzlichkeit  wieder  in  dem 
BibelchristentumderReformatoren  hervor.  Schon  der  Vergleich  derLuther- 
schen  Gebetsanrede:  ,Lieber  Gott  und  Vater!'  , Lieber  Vater!'  ,Lieber 
himmlischer  Vater!'  239  mit  der  mystischen  Gebetsanrede:  ,amor  meus', 
,amantissimei ,  ,dilectissimei ,  ,dulcissimel ,  ^ponse'  offenbart  deutlich  die 
Verschiedenheit  des  sozialen  Verhältnisses.  Immer  wieder  betonen  die  Re- 
formatoren, daß  der  Beter  zu  Gott  in  einem  Kindschaftsverhältnis  steht. 

Da«  Gebet  26 


402  F  IV.  Das  Gebot  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

„Die  rechten  Beter  sind  die,  so  nicht  daran  zweifeln,  daß  sie  Kinder  sind  der 
Gnaden."  „Unser  Gebet  soll  zu  Gott  gerichtet  sein  als  zu  unserm  gnädigen, 
freundlichen  Vater,  nicht  als  einem  Tyrannen  oder  zornigen  Richter."  „Bist 
du  in  Anfechtung  und  Leiden,  wende  dich  zu  Gott  wie  ein  Kind  zu  seinem  Vater." 
„Hast  du  einen  Mangel  oder  Not,  so  dich  drücket,  so  rufe  nur  zu  ihm  und  tue 
den  Mund  getrost  auf  wie  ein  Kind  gegen  seinen  Vater,  welcher  ihm  läßt  alles 
gefallen,  was  das  Kindlein  tut,  so  sich  nur  zum  Vater  hält."  Gott  selbst  will, 
daß  der  Mensch  ihn  , »fröhlich  seinen  Vater  nenne".  Gott  „fordert  von  uns  solche 
Ehre,  daß  wir  von  ihm  sollen  bitten  als  ein  Kind  von  seinem  Vater".  „Nun  ist 
kein  Nam  unter  allen  Namen,  der  mehr  geschickt  mache  uns  gegen  Gott  denn 
Vater.  Das  ist  gar  eine  freundliche,  süße,  tiefe  und  herzliche  Rede.  Es  wäre 
nicht  so  liehlieh  oder  tröstlich,  wenn  wir  sprächen  Herr  oder  Gott  oder  Richter. 
Denn  der  Name  Vater  ist  von  Natur  eingeboren  und  natürlich  süß.  Derhalben 
er  auch  Gott  am  allerbesten  gefällt  und  uns  zu  hören  ihn  am  allermeisten  bewegt. 
Desselhengleichen  wir  uns  in  demselben  bekennen  als  Kinder  Gottes,  dadurch 
abermal  wird  Gott  gar  innerlich  bewegt;  denn  nicht  lieblichere  Stimme  ist  denn 
des  Kindes  zum  Vater"  (Luther)  24°.  „Also  kann  kein  Gebet  sein,  wo  man  nicht 
zu  Gott  also  sicher  und  vertraut  läuft  als  zu  einem  milden,  natürlichen  Vater" 
(Zwingli)  M1. 

Die  Art  des  sozialen  Verhältnisses  zu  Gott  äußert  sich  in  der  Gebets- 
stimmung. Der  Seher  oder  Prophet,  den  ein  Freundesverhältnis  mit 
seinem  Gott  verknüpft,  zeigt  trotz  des  Abhängigkeitsgefühls  stolzes 
Selbstbewußtsein  und  Selbstvertrauen,  männliche  Freiheit  und  Offenheit, 
Ernst  und  Würde.  Furchtaffekte  sind  ihm  ebenso  fern  wie  kindlich- 
frohe Zuversicht.  Viel  kräftiger  ist  das  Gefühl  der  Abhängigkeit  dort, 
wo  Gott  als  „Herr"  und  „König"  angerufen  wird.  Die  Prädikate, 
welche  die  israelitischen  Beter  ihrem  Jahwe  beilegen:  „Herr  der  Heer- 
scharen", „Richter  der  ganzen  Erde"  (Gn  18  25),  „o  Herr,  du  großer 
und  furchtbarer  Gott"  (Dan  9  4)  sind  die  Korrelate  zu  den  Affekten 
der  bebenden  Ehrfurcht  und  zitternden  Scheu,  die  in  ihnen  beim  Beten 
stets  lebendig  sind.  „Gottesfurcht"  ist  für  den  alttestamentlichen 
Frommen  synonym  mit  Religion  und  Frömmigkeit. 

Die  Demut  und  Ehrfurcht  des  Dienerverhältnisses  paart  sich  mit  der 
Unbefangenheit  und  Herzlichkeit  des  Freundesverhältnisses  im  religiösen 
Kindschaftsverhältnis.  Der  Beter  ist  durchdrungen  von  dem  Gefühl 
der  vollständigen  Abhängigkeit,  der  eigenen  Schwäche  und  Ohnmacht; 
er  ist  sich  seiner  Kleinheit,  Armut  und  Hilflosigkeit  bewußt  und  fühlt 
sich  ganz  auf  die  Güte  des  Vaters  angewiesen.  Nirgends  ist  die  Demut, 
welche  im  Kindesgebet  die  eine  Komponente  der  Gebetsstimmung  ist, 
so  wundervoll  veranschaulicht  als  im  Gleichnis  vom  Pharisäer  und 
Zöllner  (Lk  18  9  ff.).  Luther  mahnt,  „daß  man  im  Gebet  in  rechter 
herzlicher  Demut  von  uns  selbst  falle  und  allein  hange  an  der  Ver- 
heißung der  Gnade"  242.  Mit  der  Demut  verbindet  sich  der  Freimut: 
Der  Beter,  der  sich  als  Gotteskind  fühlt,  spricht  offen,  rückhaltlos 
vor  dem  Vater  aus,  was  ihn  innerlich  bewegt.  Für  diese  Unbefangenheit 
und  Vertraulichkeit  des  Beters  hat  die  jüdisch-urchristliche  Frömmig- 
keit den  plastischen  Terminus  naQQt]ola,  ,Allessagen'  geprägt  (Philo, 
Hebr.  416;  1  Jo  321;  5  14  f.)243.  Der  Vatergott  hat  ein  offenes  Herz 
für  all  die  großen  und  kleinen  Nöte  des  Menschen,  ihm  kann  der  Fromme 
sich  völlig  ausschütten.  Darum  sollen  wir,  wie  Luther  sagt,  „uns  zum 
Gebet  mutig  und  beherzt  machen",  „es  frisch  und  getrost  wagen", 
„getrost  und  kecklich  hinangehen",  ,,frei  und  gewiß  vor  Gott  treten" 


6.  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott  403 

„den  Mund  unerschrocken  auftun"  244.  Demut  und  Freimut  im  Kindes- 
gebet werden  getragen  und  beseelt  von  der  unerschütterlichen  Zuver- 
sicht, die  sich  auf  die  Vatergüte  Gottes  stützt.  Der  Vater  kami 
seine  Kinder,  wenn  sie  ihn  anflehen,  nicht  abweisen:  „Oder  würde 
jemand  unter  euch,  wenn  ihn  sein  Sohn  um  Brot  bittet,  ihm  einen 
Stein  geben,  und  wenn  er  ihn  \im  einen  Fisch  bittet,  würde  er  ihm  eine 
Schlange  geben?"  (Mt  79  ff.).  Der  Gedanke  an  Gottes  Vatergüte 
hält  die  Zuversicht  während  des  Gebetes  lebendig;  das  Beten  ist  ein 
,-,Bitten  im  Glauben  ohne  allen  Zweifel"  (Jak  1  5).  Luther  umschreibt 
die  zuversichtliche  Stimmung  des  Kindesgebets  durch  eine  Fülle  tref- 
fender psychologischer  Termini. 

..Ein  recht  Gebet  soll  aus  einem  gläubigen  Herzen  kommen."  Wir  sollen  „mit 
aller  Zuversicht  vor  Gott  treten",  „fröhlich  niederknien",  „beherzt,  freudig  und 
getrost  beten".  Du  sollst  „dein  Herz  auftun  und  vor  Gott  ausschütten  mit  tröst- 
licher Zuversicht,  daß  er  als  dein  treuer,  himmlischer  Vater  in  solchen  Nöten 
helfen  und  raten  wolle".  „Es  ist  not,  daß  man  Dicht  zweifle,  sondern  mit  rechtem 
Vertrauen  bitte"  2*5.  Die  Stimmung  des  Beters  ist  auch  nicht  die  eines  Experi- 
mentators, der  mit  dem  Gebet  einen  Versuch  macht,  begierig,  ob  er  glücke; 
seine  Zuversicht  ist  absolut,  unerschütterlich.  „Wenn  jemand  daran  zweifelt 
oder  es  in  ungewissen  Wahn  setzt  und  es  auf  Abenteuer  wagt,  so  ist  das  Gebet 
nichts."  „Das  Wanken  soll  ganz  und  gar  vom  Gebet  ausgeschlossen  sein"  MS. 
Calvin  sagt:  „Hanc  ergo  obtinendi,  quod  petimus,  securitatem  .  .  utraque  manu 
tenere  nos  oportet,  si  cum  fructu  orare  volumus.  Ea  accepta  Deo  est  oratio, 
quae  ex  tali,  iit  ita  loquar,  praesumptione  fidei  nascitur  et  intrepida  spei  certi- 
tudine  fundata  est"  24Bt>. 

Diese  feste  und  frohe  Zuversicht  stützt  sich  aber  nicht  auf  das  Bewußt- 
sein der  eigenen  sittlichen  Kraft  und  Würdigkeit,  es  ist  nicht  ein  „Bauen 
auf  sich  selbst",  sondern  wurzelt  allein  im  Glauben  an  Gottes  Güte; 
„es  muß  sich  auf  Wahrheit  und  Versprechen   Gottes  verlassen". 

„Unser  Gebet  muß  sich  nicht  gründen  oder  halten  auf  unsere  Würdigkeit, 
sondern  auf  die  unwankelbare  Wahrheit  göttlicher  Zusagung."  „Eben  dadurch 
werden  wir  würdig  zu  bitten  und  erhört  zu  werden,  daß  wir  glauben,  wir  sind 
unwürdig  und  alleine  auf  die  Treue  Gottes  uns  tröstlich  wagen."  „Gottes  Ver- 
heißung ist  das  Hauptstück,  Grund  und  Kraft  aller  Gebete."  „Denn  so  Gott 
nicht  hätte  heißen  beten  und  Erhörung  versprochen,  vermöchten  alle  Kreaturen 
nicht  ein  Körnlein  erbitten  mit  allen  ihren  Gebeten."  (Luther.)"7 

Die  Art  des  sozialen  Verhältnisses,  in  dem  der  Beter  zur  Gottheit  zu 
stehen  glaubt,  variiert  somit  die  Stimmung  des  Gebets.  Die  Wahl  der 
Worte,  die  Klangfarbe  der  Stimme,  das  Mienenspiel  wechseln  je  nach 
der  durch  das  eigentümliche  religiöse  Verhältnis  bedingten  Stimmung. 
Eben  deshalb,  weil  die  Stimmung  im  lauten  Gebet  auch  nach  außen 
hin  sich  kundgibt,  springt  sie  auf  diejenigen  über,  welche  dem  Beter 
zuhören.  Schon  das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen  macht  auf 
den  Augen-  und  Ohrenzeugen  einen  tiefen  Eindruck.  Europäische 
Ethnographen  erzählen,  wie  sie  beim  Anhören  der  Gebete  von  Natur- 
völkern innerlich  ergriffen  wurden  (S.o.S.146f.).  Noch  tiefer  und  nach- 
haltiger muß  der  Eindruck  sem,  den  jene  gewonnen  haben,  die  Zeugen 
des  Betens  der  religiösen  Genien  waren.  Leider  besitzen  wir  keine 
Zeugnisse  über  den  Eindruck,  den  das  Beten  der  größten  prophetischen 
Persönlichkeiten  auf  ihre  Jünger  und  Vertrauten  machte.  Nur  über 
die  Eigenart  von  Luthers  Beten  sind  wir  unterrichtet.  Veit  Dietrich 
schreibt : 


404  P  IV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


„Es  hat  mir  einmal  geglückt,  daß  ich  ihn  hörte  beten.  Hilf  Gott!  Welch 
ein  Geist,  Welch  ein  Glaube  war  in  seinen  Worten !  Er  betete  so  andächtig  als 
einer,  der  mit  Gott,  mit  solcher  Hoffnung  und  Glauben,  als  einer,  der  mit  seinem 
Vater  redet  ....  Als  ich  ihn  solche  Worte  mit  heller  Stimme  von  fern  hörte 
beten,  brannte  mir's  Herz  im  Leibe  vor  großer  Freude,  sintemal  ich  ihn  so  freund- 
lich und  andächtig  mit  Gott  hörete  reden ;  vornehmlich  aber,  weil  er  auf  die  Ver- 
heißungen aus  den  Psalmen  so  hart  drang,  als  wäre  es  gewiß,  daß  alles  geschehen 
müßte,  was  er  begehrte"  248. 

7.  DieGebetsnormendorprophetischenFrömmig- 

k  e  i  t. 

Wie  die  Mystiker  so  erblicken  auch  die  prophetischen  Geister  in 
ihrem  eigenen  Gebetsleben  das  Ideal  des  Gebets,  das  wahre,  gottgewollte 
Gebet.  Aber  hierin  liegt  der  Unterschied  der  prophetischen  Gebets- 
norm von  der  mystischen,  daß  die  unter  dem  Niveau  des  idealen  Gebets 
befindliche  Gebetsweise  nicht  als  bloße  unvollkommene  Vorstufe  des 
reinen  Herzensgebets  betrachtet  und  gewürdigt,  sondern  als  falsche 
und  irreligiöse  Gebetsform  gebrandmarkt  wird.  Die  prophetische 
Gebetsanweisung  enthält  stets  eine  polemische  Spitze.  Sie  richtet  sich 
auch  im  Gegensatz  zu  der  mystischen  Gebetsanleitung  nicht  bloß  an 
Vertraute  und  geistesverwandte  Seelen,  sondern  an  alle  Menschen  ohne 
Unterschied.  Das  Gebetsideal  erscheint  als  eine  ausnahmslos  gültige 
göttliche  Forderung.  Die  prophetischen  Geister  staffeln  auch  nicht 
die  Gebete  und  Gebetszustände  nach  Graden  der  Intensität  und  Reinheit 
wie  die  Mystiker ;  da3  absolut  gültige  religiöse  Ideal  kennt  keine  Ab- 
stufung, es  ist  ein  unbedingtes  „du  sollst",  der  heilige  Wille  Gottes. 
Die  prophetische  Gebetsanleitung  ist  darum  ein  Kampf  für  das  Gebets- 
ideal. 

Dieser  Kampf  richtet  sich  in  erster  Linie  gegen  das  aus  irreligiösen 
Motiven  geborene  Beten.  Da3  öffentliche  Schaubeten,  „das 
Gebet  im  Sehein"  (Luther)  249,  da3  nur  auf  Menschenlob  berechnet  ist, 
wird  von  Jesus  als  freche  Heuchelei  entlarvt.  Nicht  in  der  Öffentlichkeit, 
sondern  im  stillen  Kämmerlein  betet  der  wahre  Fromme. 

,,Wenu  ihr  batet,  so  macht  es  nicht  wie  die  Heuchler,  die  mit  Vorliebe  in  den 
Synagogen  und  an  den  Straßenecken  sich  hinstellen  und  beten,  um  von  den 
Menschen  gesehen  zu  werden;  wahrlich  ich  sage  euch,  sie  haben  ihren  Lohn  dahin. 
Du  aber,  wenn  du  betest,  geh  in  dein  Kämmerlein,  schließ  die  Türe  zu  und  bete 
zu  deinem  Vater  im  Verborgenen,  und  der  Vater,  der  es  im  Verborgenen  schaut, 
wird  es  dir  vergelten"  (Mt  6,  5).  Diesem  Herrenwort  ähnelt  die  Mahnung  eines 
jüdischen  Frommen:  ..Man  stelle  sich  nicht  auf  freiem  Felde  zum  Beten  hin, 
wie  es  die  Völker  der  Welt  tun.  Man  stelle  sich  nicht  auf  offener  Straße  zum 
Beten  hin  wegen  der  Meinung  der  Laute.  Man  stelle  sich  nicht  unter  Frauen  zum 
Beten  hin  wegen  der  Meinung  der  Frauen"  (Seder  Elia  Babba)  24ßb. 

Die  innige  Gebetsfrömmigkeit  der  prophetischen  Naturen  protestiert 
mit  aller  Schärfe  gegen  das  seelen-  und  stimmungslose  Beten,  das 
mechanische  und  gedankenlose  Herunterplappern  von  langen 
Gebetsformeln. 

J  e  s  a  i  a  s  eifert  gegen  das  Lippengebet:  „Dieses  Volk  naht  sich  mir  bloß  mit 
seinem  Munde  und  ehrt  mich  bloß  mit  seinen  Lippen,  sein  Herz  aber  ist  fern  von 
mir!"  (29,  13).  Er  verkündet  den  Israeliten  Jahwes  Wort:  „Wenn  ihr  nojh  soviel 
betet,  so  höre  ich  auf  euch  nicht"  (1,  15).  Jesus  Sirach  mahnt:  „Wiederhole 
keine  Worte  beim  Gebet"  (7,  14).  Jesus  warnt:  „Wenn  ihr  betet,  dann  macht 
nicht  viel  Geplapper  wie  die  Heiden;  denn  die  glauben  mit  ihren    vielen  Worten 


7.  Die  Gebetsnorm  405 


erhört  zu  werden;  macht  es  nicht  denen  nach;  euer  Vater  weiß  ja,  was  ihr  bedürfet, 
ehe  ihr  ihn  bittet"  (Mt  6,  7).  Eine  unermüdliche  Polemik  gegen  das  stimmungs- 
und  gedankenlose  Gebet  führten  die  Reformatoren.  Luther  schreibt  in  seiner 
derben  Redeweise:  „Beten  heißt  nicht  eine  Anzahl  Psalmen  daherlesen"  oder 
,,in  der  Kirche  brüllen  und  schreien",  „einen  Sack  voll  Worte  murren  oder  tönen", 
das  „Maul  regen  oder  stracks  in  ein  Buch  sehen".  Ein  solches  Beten  ist  ein  „äußer- 
lich Mummeln  und  Plappern  mit  dem  Munde,  ohne  alle  Acht",  , .allein  eine  Arbeit 
der  Zunge",  „eine  Büffelarbeit",  die  „ohne  Herz,  Verstand  und  Glauben",  „ohne 
Verstand  und  Andacht  geschieht".  Das  , .geistliche  und  wahrhaftige  Gebet"  ist 
vielmehr  eine  „Aufhebung  des  Gemüts  oder  Herzens  zu  Gott,"  „innerliche  Be- 
gierde, Seufzen  und  Verlangen  aus  Herzensgrund".  „Darum  betet  der,  der 
h  e  r  z  1  i  c  h  betet,  und  nicht  der  viel  Blätter  umschlägt  und  viel  mit  den  Pater- 
uostersteinen  klappert."  „Wenn  du  aus  dem  Herzen  betest  allein:  ,dein  Name 
werde  geheiliget!',  so  ist's  mehr  deiui  daß  du  hundert  Psalmen  ohne  Herz  betest." 
..Ein  recht  Gebet  denket  fein  aller  Worte  und  Gedanken  vom  Anfang  bis  zum 
Ende  des  Gebets"250.  Zwingli  sagt:  „Das  Gebet  ist  nichts  anderes  denn 
ein  Aufrichten  oder  Aufstehen  des  Gemüts  zu  Gott."  ..Ob  die  Worte  mit  der 
Begierde  des  Herzens  laufen,  ist  nicht  letz  (falsch),  aber  die  Worte  sind  ohne  das 
Heiz  eitel."  „Mit  wiedergeplapperten  Worten  währt  die  Andacht  nicht  lange." 
„Willst  du  mit  dem  Mund  einen  Psalm  reden,  schau,  daß  der  Mund  und  das  Gemüt 
miteinander  ziehen"  2S1.  Sebastian  Frank  schreibt:  „Der  Mund  und  die  Auf- 
hebung der  unschuldigen  Hände,  die  Beugung  der  Knie  sind  nur  Dolmetscher, 
Zeremonien,  Zeugen  und  Ausrufer  des  Gebets.  Wenn  nun  das  Herz  nicht  ernst- 
lich betet  und  zu  Gott  schreit,  so  ist  der  Mund,  es  sind  die  Knie  usw.  nichts  als 
Heuchler  und  falsche  Zeugen,  welche  Gott,  als  sähe  er  nicht  im  Grunde  in  das 
Verborgene,  betrügen  und  mit  dem  Judaskuß  verraten  wollen"  m.  Bunyan 
sagt:  .,Da  ist  das  Gebetsleben,  wo  in  oder  mit  demGeist  ein  Mann,  der  seine  Sündig- 
keit fühlt,  in  der  Kraft  des  Geistes  kommt  und  ruft:  ,  Vater!'  Das  eine  Wort, 
im  Glauben  gesprochen,  ist  besser  als  tausend  sogenannte  Gebetsworte,  geschrieben 
und  gelesen  in  formelhafter,  kalter  und  lauwarmer  Weise."  Noch  auf  dem  Sterbe- 
bette mahnt  er:  „Wenn  du  betest,  laß  eher  das  Herz  ohne  Worte  sein  als  die 
Worte  ohne  Herz"  253. 

Die  prophetischen  Beter  erblicken  das  Gebetsideal  in  dem  spontan 
aus  dem  Affekt  quellenden,  völlig  freien  Gebet.  Spener  wird  nicht 
müde  vor  den  Gebetsformeln  und  Gebetbüchern  zu  warnen.  Er  empfiehlt 
dringend,  schon  die  Jugend  an  das  freie  Gebet  zu  gewöhnen. 

„Ein  solches  Gebet  hat  mehr  Nutzen,  als  zwanzig  andere,  die  aus  Büchern 
rezitiert  werden."  „Man  darf  nicht  einwenden,  man  könne  keine  Worte  finden; 
man  findet  sie  ja  auch,  wenn  man  mit  den  Eltern  oder  anderen  Deuten  redet  und 
auf  Wohlgeredenheit  kommt  es  nicht  an".  26* 

In  viel  schärferer  Weise  wenden  sich  Bunyan  und  Fox  gegen  die  Be- 
nützung von  Gebetsformularen,  vor  allem  des  Common  Prayer  Book. 

..Nur  der  Geist  kann  uns  lehren,  wie  wir  beten  müssen.  Ohne  diesen  Geist 
wissen  wir  nicht,  was  wir  beten  sollen,  selbst  wenn  wir  1000  Common  Prayer 
Books  hätten."  „Ihr  widersteht  dem  Geist  des  Gebets  durch  die  Form,*  die  eines 
Mensehen  Erfindung  ist."  „Es  ist  wirklich  eine  Gaukelei  des  Teufels,  daß  mensch- 
liche Überlieferungen  höher  geschätzt  werden  sollten  als  der  Geist  des  Gebets." 
..Khi  tiefes  Gefühl  von  der  Sünde  und  vom  Zorn  Gottes  mit  einer  Ermutigung 
von  Gott,  zu  ihm  zu  kommen,  ist  ein  besseres  Common  Prayer  Book  als  das, 
welches  aus  dem  päpstlichen  Meßbuch  herausgenommen  ist."  (Bunyan)  25S.  ..So  du 
willst,  daß  ich  nach  etwas  Hergesagtem  bete,  heißt  das  nicht  die  Lehre  der  Apostel 
mißachten  und  ihr  Beten  im  (ieist.  der  die  Worte  eingibt  ?"  (Fox)  26e.  Milton 
zeichnet  im  .Ikonokktstes  in  prächtigen  Worten  das  puritanische  Gebetsideal  der 
englischen  [ndependenten.  ..So  viel  ist  gewiß,  diejenigen,  die  sich  keiner  ge- 
bundenen Gebetsformel  bedienen,  nehmen  die  Worte  aus  ihrer  andächtigen 
Hingebung,  wählend  die  anderen  ihre  religiöse  Stimmung  nach  einer  gewissen 
Dosis  vorbereitete!  Redensarten  richten  müssen.  Die  zwei  freiesten  Dinge  aber, 
unser   Gebet    und   den  göttlichen    Geist,  der  uns  dazu  treibt,  gewaltsam  gefangen 


406  F  IV.  Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 

zu  nehmen  UDd  einzuschließen  in  einen  Pferch  von  Worten,  ist  eine  Tyrannei  mit 
längeren  Händen  als  die  der  Giganten,  die  dem  Himmel  Knechtschaft  drohten"  as\ 

Die  prophetischen  Geister  fordern  immer  wieder  zum  zuversich  t  - 
liehen  Beten  auf,  das  ohne  allen  Zweifel  der  Erhörung  gewiß  ist. 
Mit  energischen  Imperativen  mahnt  Jesus  seine  Jünger  zur  Gebets- 
zuversicht. 

„Bittet  und  ihr  werdet  erlangen,  suchet  und  ihr  werdet  finden,  pochet  an  und 
es  wird  euch  aufgetan"  (Mt  7,  7).  Jakobus  fordert,  ,.daß  man  bitten  solle,  ohne 
allen  Zweifel"  (1,  5).  Luther  mahnt  unzählige  Male  in  seinen  Schriften  zum 
gläubigen  Beten.  „Das  rechte  Gebet  muß  aus  solchem  Glauben  und  Vertrauen 
fließen,  sonst  ist  es  kein  Gebet,  es  seien  gleich  die  Worte  so  gut  sie  immer  wollen." 
„Nicht  das  Gebet  ist  gut  und  recht,  das  viel  ist,  andächtig,  süß,  lang,  um  zeitlich 
oder  ewig  Gut,  sondern  das  fest  bauet  und  trauet;  es  wird  erhöret  um  der  wahr- 
haftigen Gelübde  und  Versprechung  Gottes  willen."  ..Wer  im  Herzen  zweifelt 
und  doch  betet,  der  versucht  Gott ;  denn  er  zweifelt  an  Gottes  Willen  und  Gnade, 
darum  ist  sein  Gebet  nichts  und  tappet  nach  Gott  wie  ein  Blinder  nach  der  Wand." 
,,Wer  zweifelnd  betet,  kann  nichts  empfangen,  er  gleicht  dem  schwankenden 
Gefäß,  in  das  man  nichts  einschütten  kann  ohne  vorbeizugießen."  „Beten  und 
nicht  glauben  heißt  unseres  Herrn  Gottes  spotten"258. 

Der  Widerspruch  der  Reformatoren  richtet  sich  auch  gegen  das  ge- 
setzliche und  „verdienstliche"  Beten,  gegen  die  Auf- 
fassung des  Gebets  als  eines  Bußwerkes  oder  „guten  Werkes",  einer  in 
sich  selbst  wertvollen  Leistung  des  Menschen  an  Gott,  die  diesen  zu 
einer  Gegenleistung  verpflichtet  (s.  u.  Kap.  J).  Sie  erblicken  hierin 
eine  sündhafte  Profanation  des  heiligsten  Mysteriums  der  Frömmigkeit; 
das  , Ausschütten  des  Herzens',  die  traute  Zwiesprache  des  Herzens 
mit  dem  Vater  wird  degradiert  zu  einem  äußeren  Kultakt,  einer  mechani- 
schen Leistung,  zu  „einem  Werk  oder  einer  Arbeit,  dem  Leibe  auferleget". 

Luther  sagt  von  diesen  Betern:  „Ihr  Beten  ist  nicht  ein  Seufzen  oder  Be- 
gierde des  Herzens,  sondern  eine  lauter  gezwungene  Arbeit  des  Munds  oder  der 
Zungen;  denn  die  denken  nimmermehr  darinnen  Gott  eine  Not  vorzutragen, 
sondern  denken  nicht  anderes  denn  sie  müssen's  tun  und  Gott  müsse  solch  Mühe 
und  Arbeit  ansehen."  Sie  denken  „nicht  weiter  denn  ein  gutes  Werk  zu  tun, 
<!amit  sie  Gott  bezahlen,  als  die  nicht  von  ihm  nehmen,  sondern  geben  wollten." 
„Man  macht  aus  dem  Gebet  ein  lauter  Werk,  welches  man  nach  der  Größe  und 
Länge  achtet."  „Aber  die  Gerechtigkeit  des  Gesetzes  macht  niemand  vor  Gott 
gerecht;  wenn  das  Beten  und  Lesen  ein  bloßes  Werk  ist,  so  ist's  nichts."  „Es 
wäre  besser,  du  betest  ein  Vaterunser  mit  herzlicher  Begierd  und  Meinung  der 
Wort,  daraus  Besserung  deines  Lebens  erwuchs,  denn  daß  du  aller  Gebet  Ablaß 
erwürbst"  259.  Zwingli  bietet  eine  scharfsinnige  Kritik  dieser  Gebetsweise: 
..Wer  hat  je  Betteln  für  einen  Wert  geschätzt?  Daran  man  erlernen  muß,  daß 
unser  Gebet  gar  nicht  soll  gerechnet  werden  als  ein  Wert.  Denn  so  ich  stets  zu 
einem  laufe:  hilf  mir  da.  leihe  mir  dort  hundert  Gulden!  kann  ich  je  dasselbe 
nicht  für  einen  Wert  schätzen,  darum  man  mir  etwas  schuldig  sei;  denn  ich  tue 
nichts  denn  geilen  und  betteln;  als  aber  leider  etliche  reden:  Ich  habe  heute  Gott 
in  seine  Leiden  hundert  Paternoster  gebetet;  Gott  sei  es  nicht  verwiesen!  meinen. 
Gott  solle  ihnen  um  ein  solch  Werk  viel  gelten ;  denn  sie  haben  ihn  dadurch  geehret, 
sie  haben  ihm  etwas  gegeben;  darum  sie  Recht  haben  zu  heischen  oder  abrechnen 
für  ihre  Sünde,  wie  teuer  sie  wollen,  damit  ihr  Gebet  eine  Ware  sei  oder  ein  Wert, 
die  man  ihnen  wieder  vergelten  müßte,  welches  alles  nichts  denn  ein  Falsch  ist 
und  Gleißnerei"  *60.  Mit  beißendem  Spott  eifert  Seb.  Frank  gegen  jene, 
..die  nach  der  Schnur  viele  und  tausend  Gebete  tun,  nachmals  ihm  aufopfern 
und  vorschütten  wie  einem  Rosse  Hafer  und  aus  dem  Bettel  einen  Gottesdienst' 
machen.  Wenn  sie  immerzu  an  Gott  liegen,  geilen  und  betteln,  so  wollen  sie 
Gott  eine  große  Ehr  getan  haben  und  machen  einen  Gottesdienst  daraus,  welche« 
die  rechten  Gotteslästerer  sind,  die  Gott  wie  Judas  mit  dem  Kuß  verraten"  "l. 


7.  Die  Gebetsnorm  407 


Die  positive  Gebetsanleitung  der  Mystiker  besteht  in  der  sorgfältigen 
psychologischen  Analyse  der  Gebetserlebnisse  auf  den  verschiedenen 
Etappen.  Sie  enthält  auch  eine  oft  raffinierte  psychotechnische  Methode, 
durch  deren  Anwendung  die  sichere  Basis  für  die  mystischen  Gebets- 
eilebnisse  geschaffen  werden  soll.  Die  prophetische  Gebetsanleitung  gibt 
keine  Methode  und  keine  Analyse,  sondern  besteht  in  einem  schlichten 
„Also  sollt  ihr  beten"  (Mt  6  9).  Wenn  die  prophetischen  Persönlich- 
keiten eine  nähere  konkrete  Anweisung  zum  Beten  geben  wollen,  so 
nennen  sie  in  Gebetsform  jene  Güter,  um  die  der  Mensch  bitten  soll. 
Wie  die  jüdischen  Rabbinea,  so  gab  auch  Jesus  seinen  Jüngern  eine 
solche  Gebetsan Weisung.  Obgleich  sie  zum  kostbarsten  Bestand  der 
christlichen  Liturgie  wurde,  so  ist  sie  doch  kein  bindendes  Gebetsformular, 
sondern  eine  pädagogische  Einführung  in  das  christliche  Gebetsleben. 
Die  Vaterunserbitten  wurden  für  die  christlichen  Frommen  und  Theo- 
logen, soweit  sie  nicht  ausschließlich  von  mystischen  Ideen  bestimmt 
sind,  zum  Kriterium  des  echten  Gebets.  Unzählige  Male  ist  in  der  Ge- 
schichte der  christlichen  Religion  das  Vaterunser  kommentiert  und 
im  Anschluß  daran  ein  christliches   Gebetsideal  gezeichnet  worden. 

Augustinus  sagt  in  seiner  Gebetsanleitung  für  die  Witwe  Proba:  „Wenn 
wir  recht  und  in  gebührender  Weise  beten,  so  werden  wir  um  nichts  anderes 
bitten  als  was  in  diesem  Gebet  des  Herrn  enthalten  ist.  Es  ist  uns  wohl  frei- 
gestellt, mit  anderen,  abweichenden  Worten  um  dasselbe  zu  bitten,  was  im  Gebet 
des  Herrn  enthalten  ist ;  aber  es  ist  uns  nicht  freigestellt,  um  andere  Dinge  zu 
bitten"262.  Luther  sagt:  „Das  Vaterunser  ist  das  höchste,  edelste  und  beste 
Gebet;  alle  anderen  Gebete  sollen  verdächtig  sein,  die  nicht  dieses  Gebets  Inhalt 
und  Meinung  zuvor  haben  oder  begreifen."  Ein  Christ  hat  überflüssig  gebetet, 
wenn  er  das  Vaterunser  recht  betete."  „Denn  ich  noch  heutigen  Tags  an  dem 
Vaterunser  sauge  wie  ein  Kind,  trinke  und  esse  wie  ein  alt  Mensch,  kann  sein 
nicht  satt  werden,  und  ist  mir  auch  über  den  Psalter,  den  ich  doch  sehr  lieb  habe, 
das  allerbeste  Gebet"  263.  Calvin  schreibt:  „Habemus  quidquid  a  Deo  petere 
debemus  ac  omnino  etiam  possumus,  descriptum  hac  formula,  et  velut  orandi 
regula  ab  optimo  magistro  tradita  .  .  .  Atque  adeo  numeris  omnibus  absoluta 
est  haec  oratio,  ut  quidquid  Uli  extraneum  alienumque  additur,  quod  ad  eam 
referri  non  possit,  impium  sit  et  indignum.  qviod  a  Deo  concedatur.  Hac  enim 
summa  praescripsit,  quid  se  dignum,  quid  necessarium  nobis  sit,  quid  denique 
concedere  ipse  velit.  Quamobrem  qui  ultro  progredi  audent,  et  praeter  haec 
aliquid  a  Deo  postulare,  primum  quidem  sapientiae  ex  suo  addere  volunt  .  .  .  . ; 
deinde  sub  voluntate  divina  non  se  continent,  sed  ea  contempta  longius  cupiditate 
evagantur.  Postremo  nihil  umquam  asst-quuntur,  cum  sine  fide  orent"  *64.  Richard 
Rothe  urteilt:  „Der  Schule  des  Gebets  des  Herrn  (dieses  eigentlichen  Muster- 
gebets und  Grundtypus  alles  christlichen  Betens  nach  Inhalt  und  Form)  wird 
keiner  je  entwachsen.  Das  Vaterunser  wahrhaft  beten  zu  können,  ist  die  höchste 
Gebetsvirtuosität  überhaupt,  und  indem  es  das  von  dem  Erlöser  selbst  als  dem 
Herzenskündiger  aus  der  Seele  des  Menschen  als  Menschen  herausgeredete  Gebet 
ist,  betet,  wer  es  recht  betet,  im  buchstäblichen  Sinne  im  Namen  des  Erlösers"2". 

9.    Vergleich    des    mystischen    und    prophetischen 

Gebets. 

Der  Unterschied  des  mystischen  und  prophetischen  Gebets  offenbart 
sich  in  jeder  Hinsicht:  im  Motiv,  in  der  Form,  im  Inhalt,  in  der  Gottes- 
vorstellung, in  der  Relation  zu  Gott,  in  der  Gebetsnorm.  Das  mystische 
Beten  wurzelt  in  der  Sehnsucht  des  Frommen  nach  Vereinigimg  mit 
dem  Unendlichen  —  das  prophetische  Beten  quillt  aus  der  tiefen  Not 


408  F  IV.   Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit 


des  Herzens  und  aus  dem  Verlangen  nach  Heil  und  Gnade.  Das 
mystische  Gebet  ist  kunstvoll  präpariert  durch  die  feine  Psychotechnik 
der  Meditation  —  das  prophetische  Beter  bricht  spontan  und  gewaltsam 
hervor  aus  den  unterbewußten  Tiefen  der  religiös  erregten  Seele.  Das 
mystische  Beten  ist  ein  stilles,  schweigendes  Anbeten,  Schauen  und 
Genießen  —  das  prophetische  Beten  ein  leidenschaftliches  Rufen  und 
Seufzen,  ein  ungestümes  Klagen  und  Bitten.  Das  mystische  Gebet  ist 
eine  feierliche  , Erhebung'  des  Geistes  zum  höchsten  Gut  ■ —  das  prophe- 
tische Gebet  ein  schlichtes  .Ausschütten  des  Herzens'.  Das  mystische 
Beten  ist  ein  Heraustreten  aus  sich  selbst  und  ein  Eingehen  und  Ein- 
sinken in  den  unendlichen  Gott  —  das  prophetische  Beten  ist  eine  Aus- 
sprache der  das  Innerste  bewegenden  tiefen  Not.  Das  mystische  Beten 
ist  ein  langwieriges,  stufen  weises  Emporklimmen  zu  den  Höhen  der 
Gottesschau  und  Gotteseinigung  —  das  prophetische  Beten  ein  stür- 
misches Hinan  dringen  an  Gottes  Vaterherz.  Das  mystische  Beten 
stellt  eine  geradlinige  Bewegung,  einen  kontinuierlich  fortschreitenden 
Prozeß  dar:  Reinigung,  Erleuchtung,  Einigung  —  im  prophetischen 
Gebet  vollzieht  sich  eine  innere  Umwandlung,  eine  radikale  Umwälzung: 
die  bange,  quälende  Angst  und  das  drängende  Verlangen  schlagen  über 
in  die  ruhige,  heitere  Zuversicht  und  die  gelassene,  frohe  Ergebung. 
Der  Gott  des  mystischen  Beters  ist  das  unendliche  Eine,  das  summum 
bonum,  an  das  er  sich  ganz  verliert  —  der  Gott  des  prophetischen  Beters 
ist  der  lebendige  Herr,  dem  er  verhaftet  ist  mit  der  letzten  Faser  seines 
Wesens,  der  gütige  Vater,  an  den  er  sich  klammert  in  absoluter  Zuver- 
sicht und  unerschütterlicher  Hoffnung.  Das  mystische  Beten  ist  ein 
Sich  verzehren  im  Feuer  der  Gottesliebe,  ein  Zerschmelzen  in  der  Glut 
des  Unendlichen,  ein  Zerfließen  in  der  Flut  des  Unermeßlichen:  ,,mach 
mich  zum  Nichts"  —  das  prophetische  Beten  ist  ein  kraftvolles  Ringen 
mit  dem  fordernden  und  gebietenden  Gotte:  „ich  lasse  dich  nicht, 
du  segnest  mich  denn".  Das  mystische  Beten  ist  ein  Vergehen  vor 
Sehnsucht  nach  dem  göttlichen  Geliebten:  „kehre  zurück",  und  dann 
wieder  ein  wonniges  Ruhen  und  trunkenes  Schwelgen  in  der  zarten 
Umarmung  des  himmlischen  Bräutigams:  „ich  bin  dein  und  du  bist 
mein"  —  das  prophetische  Beten  ist  ein  ehrfürchtiges  Niedersinken  vor 
der  Majestät  des  ewigen  Königs  und  Herrn:  „schau  gnädig  auf  uns", 
ein  scheues  Flehen  des  Schuldbeladenen  vor  dem  strengen  Richter: 
„Miserere,  mei'\  „Gott,  sei  mir  armen  Sünder  gnädig",  ein  herzliches 
und  vertrautes  Reden  des  Kindes  zum  liebevollen  Vater:  „Vater  unser, 
der  du  bist  im  Himmel".  Das  mystische  Beten  ist  gegenüber  dem 
primitiven  Beten  etwas  absolut  Neues :  die  völlige  Loslösimg  vom  eigenen 
Ich,  das  Aufgehen  im  summum  bonum  —  im  prophetischen  Beten 
erwacht  das  primitive  Beten,  zwar  unendlich  geläutert  und  veredelt, 
aber  doch  in  seiner  ganzen  kraftvollen  Leidenschaft,  in  seiner  urwüchsigen 
Naivität,  in  seiner  dramatischen  Labendigkeit ;  das  prophetische  Gebet 
ist  genau  wie  das  primitive  Gebet  wesentlich  Aussprache  der  Not,  Bitte 
um  Heil  und  Seligkeit,  Glaube  an  den  erhörenden,  helfenden  Gott. 

Aber  trotz  aller  dieser  Unterschiede  zeigen  beide  Typen  ein  letztes 
Gemeinsames:  Alles  mystische  Boten  ist  ein  Aufsteigen  zum  höchsten 


Vergleich  des  mystischen  und  prophetischen  Gebets  409 


Gut ;  alles  prophetische  Beten  gipfelt  in  der  Bitte  um  das  Kommen  des 
Gottesreiches,  d.  h.  um  die  Realisierung  alles  Wertvollen.  Hierin 
liegt  der  gewaltige  Unterschied  des  prophetischen  Gebets  vom  primi- 
tiven, daß  es  genau  wie  das  mystische  nicht  auf  vergängliche  Augen- 
blickswerte, sondern  auf  einen  letzten  und  höchsten  Wert  gerichtet  ist. 
Aber  in  diesem  Gemeinsamen  enthüllt  sich  zugleich  der  innere  Unter- 
schied. Das  mystische  Gebet  richtet  sich  auf  einen  Endgültigkeitswert, 
eine  statische  Größe:  summum  bonum  —  das  Ziel  des  prophetischen 
Betens  ist  ein  Leben digkeitswert,  eine  dynamische  Größe:  ^  ßaoi- 
Xeia  %ov  &eov  (,die  Königsherrschaft  Gottes').  Der  letzte  Wert, 
den  der  Mystiker  sucht,  steht  jenseits  aller  Wirklichkeit,  jenseits  aller 
Mannigfaltigkeit:  rö  ev,  fiövov  (,das  Einsame')  —  der  letzte  Wert, 
dem  die  prophetische  Frömmigkeit  nachtrachtet,  beherrscht  und  durch- 
dringt die  ganze  Wirklichkeit,  offenbart  sich  in  der  Mannigfaltigkeit: 
ö  d-EÖg  rtdvia  iv  rcäoiv  (,, Gott  alles  in  allem")  (1  Kor  15  28). 


G.    Das  individuelle  Gebet  großer  Männer 
(Dichter  und  Künstler). 

Das  Beten  der  religiösen  Genien  ist  die  lebendigste  und  kräftigste, 
tiefste  und  innigste  Form  des  Betens ;  es  ragt  als  Gipfelpunkt  unter  den 
mannigfachen  Typen  des  Gebets  empor.  An  seelischer  Tiefe  und  ur- 
sprünglicher Gewalt  steht  ihm  —  wenn  wir  von  dem  altchristlichen 
Gemeindegebet  absehen —  am  nächsten  das  Beten  jener  großen  und 
schöpferischen  Männer,  deren  Denken  und  Leben  wie  das  der  religiösen 
Genien  einer  höheren  Sphäre  von  Werten  angehört,  jedoch  einer  anderen 
als  der  rein  religiösen:  der  Dichter  und  Künstler,  Staatsmänner  und 
Feldherrn.  Während  beim  religiösen  Genius  das  geistige  Leben,  d.  h. 
das  Wertleben  im  Religiösen  gipfelt  oder  ausschließlich  auf  dieses  be- 
grenzt ist,  nimmt  im  Leben  des  Dichters,  Künstlers  oder  Staatsmannes 
das  Religiöse  nicht  die  zentrale,  beherrschende  Stelle  ein,  sondern  steht 
neben  dem  künstlerischen  Schaffen  oder  dem  politischen  Gestalten. 
Darum  besitzt  auch  das  Gebet  in  ihrem  Denken  und  Leben  nicht  jene 
dominierende  Stellung  wie  im  Leben  der  Propheten  und  Heiligen;  es 
ist  nicht  wie  bei  diesen  ein  „Beten  ohne  Unterlaß",  ein  stetes  Gebets- 
leben.  Dennoch  kann  es  an  Lebendigkeit,  Frische,  Spontaneität  und 
Originalität  mit  dem  Beten  der  großen  religiösen  Persönlichkeiten  sich 
messen;  es  offenbart  denselben  kräftigen  Individualismus,  der  das  aus- 
zeichnende Merkmal  des  Betens  der  religiösen  Genien  bildet.  Wie  das 
Gebet  für  die  großen  Geister  im  Reiche  der  Frömmigkeit  der  Wurzel- 
boden aller  religiösen  Erkenntnisse  und  Offenbarungen  ist,  so  ist  es 
auch  für  die  Männer  der  dichtenden  und  bildenden  Künste  eine  Haupt- 
quelle ihres  produktiven  Schaffens,  ein  Born  der  künstlerischen  Ein- 
fälle und  Inspirationen.  Wie  im  Beten  der  religiösen  Genien,  so  treten 
auch  hier  ganz  deutlich  zwei  Typen  auseinander:  eine  kontemplativ- 
ästhetische  und  eine  affektiv-ethische  Gebetsweise.  Erstere  berührt 
sich  enge  mit  dem  mystischen  Gebetstyp.  Die  zweite  zeigt  eine  ähnliche 
Struktur  wie  die  prophetische  Gebetsart;  wie  diese  gleicht  sie  in  ihrer 
Affektivität,  Naivität  und  ihrem  Realismus  der  Urform  des  Gebets. 
Beide  Gebetsformen  schließen  sich  jedoch  nicht  aus,  sondern  können 
in  einer  Persönlichkeit  verbunden  sein.  So  lassen  sich  beispielsweise 
beide  in  Beethovens  Gebetsdokumenten  aufweisen. 

I.  Der  kontemplativ-ästhetische  Typ. 
Die    ästhetisch-romantische    ,Mystik'    ist    zweifellos    nicht    religiöse 
Mystik  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes.    Der  tiefste  Unterschied  von 
dieser  liegt  darin,  daß  sie  der  aller  echten  Mystik  wesentlichen   Be- 
schränkung auf  das  Religiöse  entbehrt.     Gleichwohl  ist  die  Art  und 


I.  Der  kontemplativ-ästhetische  Typ  411 


Weise  ihres  religiösen  Erlebens  in  psychologischer  Hinsicht  so  enge  mit 
der  eigentlichen  Mystik  verwandt,  daß  wir  das  Recht  haben,  von  einer 
Variante  oder  Parallele  der  Mystik  zu  reden.  Ansätze  zu  dieser  Mystik 
finden  sich  bereits  in  der  individuellen  Hymnenpoesie  der  antiken 
Völker  (s.  o.  S.  182  ff.),  und  in  manchen  israelitischen  Psalmen  (s.  o. 
S.  391  f.).  Einschläge  dieser  Mystik  zeigt  die  Frömmigkeit  der  per- 
sischen Süfis  und  der  jüdischen  Chassidim,  des  hl.  Franz  von  Assisi 
und  Seuses.  Ihre  eigentlichen  Vertreter  finden  sich  jedoch  unter  den 
neuzeitlichen  Dichtern  und  Dichterphilosophen:  Rousseau,  Goethe, 
die  Romantiker,  Emerson,  Ruskin,  Frederic  Amiel,  Paul  de  Lagarde, 
Malwida  von  Meysenbug  gehören  hierher.  Diese  ästhetische  Frömmig- 
keit ist  die  Religion  vieler  modernen  Bildungsmenschen,  welche  die 
rationalistische  Verschiebung  der  Religion  in  die  Moralität  ablehnen.  Die 
Hochschätzung,  deren  sich  die  mittelalterlichen  Mystiker  in  der  Gegen- 
wart wie  im  Zeitalter  der  Romantik  erfreuen,  beruht  auf  dem  richtigen 
Bewußtsein  von  der  Verwandtschaft  der  modernen  Frömmigkeit  mit 
der  Mystik. 

Die  künstlerisch-ästhetische  Mystik  entbehrt  im  Gegensatz  zur  rein- 
religiösen  Mystik  der  negativ-pessimistischen  Weltbeurteilung :  sie  offen- 
bart ein  durchaus  optimistisches  Lebensgrundgefühl.  Die  Parole  der 
Chassidim  lautet:  „Es  herrsche  nur  Freude"1.  Amiel  definiert  die 
Religion  als  Enthusiasmus  2.  Die  gesunde  Welt-  und  Lebensfreude 
läßt  keine  Isolierung  von  der  Welt  zu,  keine  Mortifikation  der  Sinne, 
keine  Unterdrückung  des  Affektlebens,  keine  peinliche  Selbstkonzen- 
tration und  Selbsthypnose.  Kein  Kleinheitsgefühl  und  Armsünder- 
bewußtsein belastet  die  Freude  am  Leben.  Da^  asketische  Moment 
fehlt  ebenso  wie  jeder  training  ofsoul;  das  Quietistisch-Passive  tritt  zurück ; 
die  modernen  Mystiker  sind  schaffende  Persönlichkeiten,  durchdrungen 
vom  Glauben  an  Werte  und  ideale  Aufgaben.  Die  ästhetische  Mystik 
ist  abgeklärt,  harmonisch,  frei  von  allem  Ekstatisch-Visionären,  von 
aller  affektiven  Verworrenheit.  Sie  glaubt  an  das  Recht  und  den  Wert 
der  menschlichen  Persönlichkeit,  die  von  der  radikalen  Mystik  verneint 
und  aufgehoben  wird. 

Die  radikale  Mystik,  die  sich  der  ganzen  Sinnenwelt  /verschließt', 
ist  gegen  alle  ästhetischen  Werte,  vor  allem  gegen  die  Schönheit  der 
Natur  unempfindlich  und  gleichgültig.  Madame  Guyon  sagt  von 
der  Mystikerin:  „Ergeht  sie  sich  in  der  herrlichsten  Natur,  so  vermag 
sie  nichts  zu  unterscheiden,  die  Bäume  blühen  nicht  für  sie,  die  Blumen 
duften  nicht  für  sie"  3.  Der  ästhetischen  Mystik  hingegen  ist  wesent- 
lich das  kontemplative  Genießen  konkreter  künstlerischer  Werte;  und 
weil  gerade  die  Natur  eine  Fülle  solchor  Werte  in  sich  birgt,  richtet 
sich  das  ästhetische  Erleben  vor  allem  auf  die  Natur.  Die  volle  Hingabe 
an  einen  Schönheitswert  bedingt  eine  intensive,  einheitliche  Stimmung, 
ein  Sicheinsfühlen  mit  dem  kontomplierten  Objokt,  tieferhin  ein  Un- 
endlichkeitsgefühl, ein  Aufgehen  im  All.  Diese  ästhetischen  Stim- 
mungen und  Wcrtorlobnisse  offenbaren  deutlich  eine  Verwandtschaft 
mit  echten  mystischen  Erfahrungen;  sie  besitzen  eine  religiöse  Färbung, 
das  Naturgefühl  gleitet  in   ein  mystisch-ekstatisches   Erleben   Gottes, 


412  G.  Das  Gebet  großer  Männer  (Dichter  und  Künstler) 

des  Alleinen  hinüber.  Aber  darin  liegt  der  große  Unterschied  dieser 
Mystik  von  der  echten  Mystik,  daß  das  mystische  Erlebnis  der  Einheit 
mit  Gott  an  der  Weltbetrachtung  sich  entzündet,  daß  das  ,numinöse' 
Werterlebnis  verkettet  ist  mit  einem  ästhetischen  Werterlebnis,  daß 
das  ,Heilige'  identifiziert  wird  mit  dem  ,Schönen'.  Der  Gott  dieser 
Mystik  steht  nicht  hinter  der  trügerischen  Wirklichkeit,  ohne  innere 
Beziehung  zu  ihr,  sondern  ist  der  Welt  immanent;  sein  Wesen  ist  trans- 
parent in  allem  ästhetisch  Wertvollen.  Der  Gott  dieser  Frömmigkeit 
ist  notwendig  pantheistisch,  ein  Gott,  der  sich  ,offenbart'  in  allem 
Edlen  und  Schönen.  ,,In  allem,  was  der  Mensch  sieht,  sieht  er  das 
Antlitz  des  Freundes"  (Ferid-ed-din  Attär)  4.  ,, Siehst  du  Gott  nicht? 
An  jeder  stillen  Quelle,  unter  jedem  blühenden  Baum  begegnet  er  mir 
in  der  Wärme  semer  Liebe"  (Goethe)  5.  In  der  ganzen  Natur  — 'in 
Wald  und  Flur,  Quelle  und  See,  Hochgebirge  und  Meer,  Sonnenschein 
und  Gewitter  und  Sternennacht  —  aber  auch  im  Menschen  —  in 
der  Einfalt  des  Kindesauges  und  der  Anmut  des  Mädchenantlitzes, 
in  der  zärtlichen  Umarmung  der  Geliebten  und  in  dem  sorgen- 
vollen Blick  der  liebenden  Mutter  — ,  nicht  zuletzt  in  der  Kunst  — 
in  der  Welt  der  Farben  und  Töne,  Rhythmen  und  Reime  —  überall 
findet  der  enthusiastische  Mystiker  seinen  Gott,  in  allem  Schönen  und 
Edlen  schaut  er  die  Einheit  und  Harmonie  des  Alls.  „Die  Schöpfung 
ist  eine  gigantische  Symphonie,  verherrlichend  den  Gott  der  Güte 
durch  den  unerschöpflichen  Reichtum  ihrer  Lobpreisungen  und  ihrer 
Akkorde"    (Amiel)5b. 

Was  die  ästhetischen  Mystiker  , Gebet',  ,Anbetung',  ,Andacht'  nennen, 
zeigt  eine  unverkennbare  Ähnlichkeit  mit  der  kontemplativen  Ver- 
senkung der  echten  Mystiker.  Die  andächtige  Kontemplation  ist  jedoch 
fast  stets  außenkonzentriert,  auf  ein  konkretes  Naturobjekt  als  Wert- 
träger gerichtet,  im  Gegensatz  zu  der  Innenkonzentration  des  genuin 
mystischen  Gebets.  Starke  ästhetische  Natureindrücke  rufen  spontan 
eine  Gebetsstimmung  hervor. 

Rousseau  bekennt:  ,,Ich  stand  alle  Morgen  vor  Sonnenaufgang 
auf  und  erstieg  durch  ein  nahes  Gesträuch  einen  angenehmen  Weg,  der  über  den 
Weinbergen  ging  und  längs  der  Berge  bis  Chambery  führte.  Hier  betete  ich  im 
Gehen,  nicht  bloß  mit  einem  leeren  Stammeln  der  Lippen,  sondern  mit  einer 
wahren  Erhebung  des  Herzens  zu  dem  Schöpfer  dieser  schönen  Natur,  deren 
Reize  vor  meinen  Augen  ausgebreitet  lagen.  Nie  habe  ich  gerne  in  meinem  Zimmer 
beten  mögen;  es  ist  mir,  als  wenn  die  Mauern  und  alle  die  kleinen  Menschenwerke 
eich  zwischen  Gott  und  mich  stellten.  Ich  betrachte  ihn  gern  in  seinen  Werken, 
während  mein  Herz  sich  zu  ihm  erhebt"*.  Malwida  von  Meysenbug  er- 
zählt: „Ich  war  allein  am  Meeresufer...  Wie  einst  in  den  Alpen  der 
Dauphine,  trieb  es  mich  niederzuknien  vor  der  unbegrenzten  Flut,  dem  Sinn- 
bild des  Unendlichen.  Ich  fühlte,  daß  ich  betete,  wie  ich  nie  zuvor  gebetet  hatte 
und  erkannte,  was  das  eigentliche  Gebet  ist:  Einkehr  aus  der  Vereinzelung  der 
Individuation  heraus  in  das  Bewußtsein  der  Einheit  mit  allem,  was  ist;  nieder- 
knien als  das  Vergängliche  und  Aufstehen  als  das  Unvergängliche.  Erde,  Himmel 
und  Meer  verklangen  wie  in  einer  großen  weltumfassenden  Harmonie.  Mir  war 
es,  als  umgäbe  mich  der  Chor  aller  Großen,  die  je  gelebt.  Ich  fühlte  mich  eins 
mit  ihnen  und  es  schien  mir,  als  hörte  ich  ihren  Gruß.  .Auch  du  gehörst  mit  in 
die  Zahl  der  Überwinder'"  7.  Die  Chassidim  lieben  das  Gebet  im  Feld,  inmitten 
der  Pracht  der  Natur,  unter  schimmerndem  Himmel,  zwischen  Gras  und  Bäumen. 


I.  Der  kontemplativ-ästhetische  Typ  413 


„Wie  angenehm  ist  e3  im  Felde  im  Einklang  der  Natur  zu  beten.     Jedes  Gräschen 
trägt  zur  Kraft  des  Gebetes  bei"  8. 

Der  feierlichen  Stimmung  anbetender  Ehrfurcht,  die  das  Dichtergemüt  beim 
Anblick  der  Herrlichkeit  der  Natur  durchströmt,  hat  U  h  1  a  n  d  in  „Schäfers 
Sonntagslied"  beredten  Ausdruck  verliehen. 

„Das  ist  der  Tag  des  Herrn!  Anbetend  knie'  ich  hier. 

Ich  bin  allein  auf  weiter  Flur,  O  süßes  Graun!  geheimes  Wehnl 

Noch  eine  Morgenglocke  nur,  Als  knieten  viele  ungesehn 

Nun  Stille  nah  und  fern.  Und  beteten  mit  mir. 

Der  Himmel  nah  und  fern, 
Er  ist  so  klar  und  feierlich, 
So  ganz  als  wollt'  er  öffnen  sich: 
Das  ist  der  Tag  des  Herrn." 

Unverwandten  Blicks  schaut  der  Beter  auf  die  Schönheit  der  Natur, 
kontemplierend  versinkt  er  in  tiefe,  lustvolle  Ruhe  und  süßes  Wach- 
träumen oder  er  wird  von  Staunen  und  Bewunderung  ergriffen,  von 
Entzücken  und  Wonne  hingerissen.  Er  gleitet  in  Erhabenheits-  und 
Wonnegefühlen  dahin,  ist  „überflutet  von  Empfindungen",  „unter- 
gegangen in  Empfindungen".  x\lle  Dissonanzen  fehlen;  „die  Arbeit 
und  die  Tränen,  die  Sünde,  der  Schmerz,  der  Tod  sind  nicht  mehr"; 
„es  herrscht  die  Freude  bewundern  zu  können;  Dankbarkeit  mischt 
sich  mit  Enthusiasmus";  „man  betet  an  im  Staunen  der  Ekstase  und 
in  der  glühenden  Demut  der  Liebe".  „Sein  ist  Segnen",  „Leben  ist 
Glück"  (Amiel)  8b.  Der  in  Begeisterung  Schwelgende  gibt  sich  dem 
Gegenstand,  an  dem  er  sich  entzückt,  ganz  hin  bis  zur  Selbstvergessenheit, 
er  glaubt  aus  sich  herauszutreten  und  in  das  Objekt  der  Kontemplation 
einzugehen,  sich  in  ihm  aufzulösen.  In  dem  Schwinden  des  klaren 
Selbstbewußtseins  und  dem  restlosen  Sichverlieren  an  ein  ästhetisch 
Wertvolles  erlebt  er  eine  Erweiterung  seines  engen  Ich ;  es  überkommt 
ihn  ein  Unendlichkeitsgefühl,  ein  ,cosmic  consciousness' ,  es  ist  ihm,  als 
„trüge  er  die  Welt  in  seiner  Brust"  (Amiel)  9. 

„Ich  ruhe  tief  in  der  Nacht 

Im  Weltengrunde. 

Riesengroß  bin  ich,  Urgebirge, 

Mich  umbraust  das  Meer; 

Wälder  trage  ich  auf  mir; 

Flüsse  kreisen  auf  meiner  Brust, 

Fels  meine  Stimme, 

Sterne  meine  Augen."       (Friedrich  Braig.) 

Die  Seele  ist  „ausgeweitet  ins  Unendliche,  im  Geist  befreit  von  Zeit 
und  Raum",  „getragen  vom  universellen  Leben",  sie  fühlt  sich  „in 
Harmonie  mit  der  Natur",  „in  Übereinstimmung  mit  der  universellen 
Ordnung"  (Amiel)  9b,  als  „Glied  an  einem  großen  Leib"  (Paul  de 
Lagarde)  10. 

Diese  feierliche  Stimmung,  dieses  enthusiastische  Naturgefühl  kann 
sich  spontan  in  freien  Gebetsworton  äußern,  häufiger  aber  bleibt  die 
ästhetische  Kontemplation  stumm,  ein  wortloses,  entzücktos  Schauen 
und  Genießen.  „Ich  schweige,  ich  neige  mich,  ich  bete  an"  (Amiel)  12. 
Die  affektive  Stimmung  entlädt  sich  nicht,  sondern  bleibt  mit  „kon- 
densierter Energie"  13  in  sich  beschlossen.  „Le  coour  prefeiv  rester 
co.icentre  sur  bod  sentiment  qu'il  rechauffe  et  protege."   „L'otat  divin 


414  G.  Das  Gebet  großer  Männer    (Dichter  und  Künstler) 


c'est  le  silence,  parceque  toute  parole  et  tout  geste  sont  bornes  et  pas- 
sagers"   (Amiel) 14. 

Den  Inhalt  des  Gebets  bilden  kontemplative  Anbetung,  Lobpreis, 
Hingabe,  Sehnsucht,  Einigung.  Der  Parallelismus  zum  eigentlichen 
mystischen  Beten  ist  überall  deutlich. 

Sehnsucht:  ,,0  laß  doch  immer  hier  und  dort  mich  ewig  Liebe  fühlen!" 
,, Könnt  ich  doch  ausgefüllt  einmal  von  Dir,  o  Ew'ger  werden!"  „Vater,  den 
ich  nicht  kenne,  Vater,  der  sonst  meine  ganze  Seele  füllte  und  nun  sein  Angesicht 
von  mir  gewendet  hat,  rufe  mich  zu  dir  und  schweige  nicht  länger!"  (Goethe)  15. 

Betrachtende  Anbetung:  ,,Du  al liebender  Du,  der  die  Sonne  und  den  Mond 
und  die  Steine  schuf,  Erde  und  Himmel  und  mich!"  (Goethe)  1S.  „Allmächtiger, 
im  Walde  bin  ich  selig,  glücklich  im  Walde,  jeder  Baum  spricht  durch  dich.  O 
Gott,  welche  Herrlichkeit  in  einer  solchen  Waldgegend;  in  den  Höhen  ist  Ruhe 
—  Ruhe  ihm  zu  dienen"  (Beethoven)  17. 

Hingabe:  ,,In  unseres  Busens  Reine  wogt  ein  Streben;  sich  einem  Höheren, 
Reineren,  Unbekannten  aus  Dankbarkeit  freiwillig  hinzugeben."  „Aufwärts 
an  deinen  Busen,  alliebender  Vater!"  (Goethe)  18. 

Ergebung:   Das    Gebet  „ist  nicht  eine  moralische   Gewissenserforschung, 
nicht  ein  Akt  der  Reue,  ein  Schrei  um  Hilfe;  es  ist  nur  ein  Amen  der  Unter- 
werfung .   .   .     Ich  will  nichts  .  .  .     Nicht  mein,  sondern  dein  Wille  geschehe" 
(Amiel)  18b. 

Lobpreis:  „Ich  bet'  hinan  und  Lobgesang  ist  lauter  mein  Gebet"  (Goethe)  1B. 

Einigung  (vgl.  o.  S.  306  f). :  „Mein  Ich,  erfüllt  von  dir,  ist  selber  Gott"  (Hein- 
rich Hart).  „Wir  schauen  uns  an  und  lächeln  uns  zu,  denn  du  bist  ich  und  ich  bin 
du"  (Jacobowski)  19b. 

Eudämonistisch-egoistische  Wünsche  haben  im  Gebet  der  ästhetischen  Mystik 
keine  Stelle;  das  Bitten  um  materielle  Dinge  profaniert  die  Heiligkeit  des  Gebets. 
Emerson  sagt,  er  empfinde  jedes  Gebet  als  eme  Gotteslästerung,  das  um  etwas 
anderes  gehe  als  um  das  Allerhöchste  20.  Jedoch  motiviert  ein  inniges  Sympathie- 
gefühl  Eürbittegebete.  Malwida  von  Meysenbug  bezeugt,  daß  sie  sich  „in 
einem  fortwährenden  inneren  Gebete  befinde  für  alle,  die  sie  liebe."  Freilich 
ist  dies  ihr  Fürbittegebet  kein  echtes  Gebet,  sondern  nur  eine  „intensive  Stimmung 
der  Liebe,  ein  segnendes  Umfassen  der  liebsten  Menschen"  ai.  Ähnlich  schreibt 
Goethe  an  Boissere'e:  „Nicht  zuviel  sage  ich,  wenn  ich  Sie  versichere,  daß  ich 
täglich  und  stündlich  Ihrer  gedenke  und  nicht  zu  fromm  drücke  ich  mich  aus, 
wenn  ich  hinzufüge,  in  meiner  Art  von  Gebet." 

Der  romantische  Mystiker  erfährt  in  seinen  Gebetsstimmungen  eine 
Berührung  mit  der  das  All  durch  waltenden  Einheit;  ein  ,tete  ä  tete  avec 
Vinfini\  ein  ,converser  avec  Dieu1  nennt  Amiel  die  enthusiastische  Natur- 
betrachtung 22.  Paul  de  Lagarde  nennt  das  Gebet  „ein  Atemschöpfen 
in  göttlicher  Luft,  ein  Sichbewußtwerden,  daß  die  Atmosphäre  der 
Menschenseele  der  ewige  heilige  Geist  ist"  23.  Das  allem  religiösen 
Erleben  wesentliche  Gefühl  von  der  unmittelbaren  Präsenz  des  Gött- 
lichen bildet  auch  in  den  Gebets-  und  Andachtsstimmungen  der  ästhe- 
tischen Mystik  den  religiösen  Grundton.  Dennoch  wird  das  kontem- 
plative Anbeten  nie  zum  realistischen,  naiven  Gebetsverkehr,  der  die 
Vorstellung  eines  persönlichen  Gottes  zur  Voraussetzung  hat;  denn 
auch  die  Duanrede  an  die  unendliche  Allgottheit  kann  über  deren  durch- 
aus un-  bzw.  überpersönlichen  Charakter  nicht  hinwegtäuschen.  Das 
Unendliche  trägt  nicht  wie  der  Gott  des  naiven  Beters  menschliche 
Züge,  die  Beziehung  zu  ihm  kann  also  nicht  in  den  Formen  mensch- 
lich-sozialer Relationen  erfolgen. 


II.  Der  affektiv-ethische  Typ  415 

II.  Der  affektiv-ethische  Typ. 

Das  Gebet  der  neuzeitlichen  Dichter  ist  ein  kontemplatives  Sich- 
versenken in  die  unendliche  Schönheit  des  in  der  Natur  sich  offen- 
barenden Gottes ;  die  Ähnlichkeit  mit  der  weihevollen  Schau  des  summum 
bonum,  zu  der  sich  der  betende  Mystiker  erhebt,  springt  in  die  Augen. 
Dieser  erhabenen  mystisch-gefärbten  Gebetsweise  steht  in  der  Frömmig- 
keit der  großen  Dichter  imd  Künstler  eine  schlichtere,  rein  menschliche 
Gebetsweise  gegenüber,  die  mit  der  prophetischen  Gebetsfrömmigkeit 
wie  mit  dem  urwüchsigen  Beten  des  naiven  Menschen  verwandt  ist. 
Das  Gebet  ist  hier  nicht  ein  enthusiastisches  Schauen  und  Genießen 
der  Herrlichkeiten  der  Natur,  nicht  ein  Schweben  und  Schwelgen  im 
unendlichen  All,  sondern  die  schlichte  Aussprache  dessen,  was  das  Herz 
bewegt,  der  Not  und  Sehnsucht,  des  sittlichen  Ringens  und  künst- 
lerischen Strebens.  Den  Mittelpunkt  des  Betens  bildet  das  naive  Bitten 
und  Klagen,  wie  es  uns  in  der  primitiven  Religion  wie  in  der  Frömmigkeit 
der  prophetischen  Genien  begegnet  ist.  In  impulsiven,  freien  Worten 
schütten  die  großen  Genien  ihr  Herz  vor  ihrem  Gott  aus. 

Ein  von  Beethoven  aufgezeichnetes  Gebet  zeigt  in  der  losen  Aneinander- 
reihung kurzer,  wuchtiger  Sätze  die  freie  Form  des  spontanen,  aus  dem  Affekt 
hervorbrechenden  Herzensgebetes:  ,,0  Vorsehung  —  laß  einmal  einen  reinen 
Tag  der  Freude  mir  erscheinen  —  so  lange  schon  ist  der  wahren  Freude  inniger 
Widerhall  mir  fremd  —  o  wann  —  o  wann,  o  Gottheit,  kann  ich  im  Tempel  der 
Natur  und  der  Menschen  ihn  wieder  fühlen  —  nie  ?  nein  —  o  es  wäre  zu  hart"  23  •'. 
Ein  anderes  Beispiel  spontanen  und  freien  Betens  ist  das  Gebet  des  auf  dem 
Sterbebette  liegenden  Oliver  C  r  o  m  w  e  1  1  ,  das  den  Charakter  des  schlichten 
und  vertrauensvollen  Zwiegesprächs  trägt:  ,,Herr,  mein  Gott,  wenn  ich  gleich 
ein  armes  und  elendes  Geschöpf  bin,  so  stehe  ich  doch  durch  die  Gnade  in  deinem 
Bunde.  Und  ich  darf,  ich  will  zu  dir  kommen,  für  mein  Volk.  Du  hast  mich, 
obgleich  ich  so  unwürdig  bin,  zum  schwachen  Werkzeug  gemacht  um  Gutes  zu 
tun  und  dir  zu  dienen;  und  vielleicht  hast  du  mich  überschätzt,  wogegen  andere 
wieder  meinen  Tod  wünschen  und  sich  darüber  freuen ;  Herr,  wie  du  auch  immer 
es  mit  mir  machen  willst,  fahre  fort,  sie  zu  segnen.  Schenke  ihnen  Festigkeit 
im  Urteil,  Einmütigkeit  und  gegenseitige  Liebe;  fahre  fort  mit  ihrer  Befreiung 
und  mit  dem  Werke  der  Reformation  und  erhöhe  den  Namen  Christi  in  der  Welt. 
Lehre  die,  welche  zuviel  auf  deine  Werkzeuge  sehen,  sich  mehr  auf  dich  verlassen. 
Vergib  denen,  die  so  gerne  auf  dem  Staub  eines  armen  Wurmes  herumtreten, 
denn  auch  sie  sind  deine  Kinder.  Vergib  dieses  törichte  Gebet  um  Jesu  Christi 
willen  und  schenke  uns  eine  gute  Nacht,  wenn  es  dein  Wille  ist"  a3  c. 

Die  großen  Männer  haben  aber  nicht  nur  in  freien  Gebetsworten  ihr 
inneres  Sehnen  und  Verlangen  ausgeschüttet,  sondern  bisweilen  auch 
zu  ehrwürdigen  überkommenen  Gebetsformeln  gegriffen.  Welch  innere 
Kraft  aus  der  andächtig  wiederholten  Gebetsformel  strömt,  lehrt  ein 
kleines  Gedicht  des  russischen  Dichters  Lermontow: 

,,In  einer  schweren  Stunde 
Da  war  mein  Herz  voll  Gram, 
Ein  alt  Gebet  gab  Kunde 
Mir  da  gar  wundersam. 

Unnennbar  heil'ger  Segen 
Ruht  in  der  Worte  Klanjj;. 
Geheimnisvolles  Leben 
Entströmt   dem  Zaubersang. 


416  ö.  Das  Gebet  großer  Männer   (Dichter  und  Künstler) 

Von  meiner  Seel',  der  zagen 
Die  Last  des  Zweifels  weicht, 
In  glaubensvollem  Klagen 
Wird  mir  so  leicht,  so  leicht"  M  d. 

Den  Gegenstand  des  Gebets  bilden  bei  großen  Männern  nicht 
die  kleinen,  selbstischen  Wünsche  und  Alltagslaunen,  sondern  die  hohen 
Ziele  und  idealen  Werte,  denen  sie  in  angespanntem  Suchen  und  Ringen 
nachtrachten.  Das  hehre  Persönlichkeitsideal,  das  ihnen  vorschwebt, 
die  sittliche  Größe,  die  innere  Freiheit,  die  selbstüberwindende  Kraft, 
vermögen  sie  nicht  durch  das  eigene  Wollen  und  Arbeiten  allein  zu 
verwirklichen ;  darum  wird  ihnen  das  ethische  Lebensideal  zum  Objekt 
der  Gebetsbitte.  Die  produktive  Kraft  zum  Dichten  und  Gestalten 
kann  niemand  sich  selbst  geben  und  verschaffen,  sie  ist  eine  Mitgift  des 
Genius,  eine  göttliche  Gnadengabe.  Die  wundersamen  Einfälle,  Impulse, 
Ideen,  in  denen  Künstler  und  Dichter  ihre  genialen  Werke  konzipieren, 
können  nicht  absichtlich  und  willentlich  erzeugt  werden;  der  Genius 
empfängt  sie  passiv  wie  von  einer  höheren  Macht;  sie  sind  ebenso  wie 
die  tiefen  Erfahrungen  des  religiösen  Menschen  von  oben  eingehaucht 
und  eingegossen,  Gnadengeschenke  Gottes.  Bleiben  sie  aus,  dann  ver- 
sagen die  Quellen  künstlerischen  Schaffens.  Darum  flehen  große 
Dichter  und  Künstler  mit  solcher  Innigkeit  und  Leidenschaft  um  hohe 
Gedanken  und  tiefe  Gefühle,  um  Glaube  an  sich  selbst,  um  Lust  und 
Kraft  zum  Dichten  und  Schaffen.  Die  Bitte  um  die  Verwirklichung 
des  persönlichen  Lebensideals  ist  stets  enge  verbunden  mit  der  Bitte 
um  Gnade  und  Segen  für  das  ideale  Berufswirken. 

,,0  Herr,  in  dieser  letzten  Stunde  strecke  du  erbarmend  die  Hände  nach  mir 
aus,  nimm  mich  mir  selbst  und  mach  mich  wohlgefällig  dir."  „Nichts  ist  so  niedrig, 
nichts  ist  so  kläglich  auf  Erden,  als  ich  mich  fühle  ohne  dich.  Wie  hoch  geht 
mein  Streben,  wie  schwach  doch  ist  die  Kraft,  die  um  Erbarmen  bitten  muß. 
Jene  Kette  reiche  mir,  die  jede  Himmelsgabe  an  sich  bindet:  den  Glauben,  sage 
ich,  zu  dem  hin  es  mich  drängt  und  spornt,  den  ganz  und  voll  zu  hegen  eigne 
Schuld  mir  wehrt.  Diese  Gabe  aller  Gaben,  so  groß  als  selten  scheint  sie  mir, 
um  so  größer  als  ohne  sie  kein  Friede  und  Genügen  in  der  Welt.  Der  du  mit 
deinem  Blute  nicht  gegeizt,  was  nützt  uns  Geberhuld,  wenn  zum  Himmel  jener 
andere  Schlüssel  uns  fehlt,  der  Glaube."  ,,0  laß  mich  dich  an  jedem  Orte  schauen! 
Wenn  ich  von  sterblicher  Schönheit  mich  entglommen  fühle,  so  erlischt  mir  meine 
Glut  an  der  deinigen  und  ich  entbrenne  an  ihr  wie  vordem  an  der  andern.  Mein 
treuer  Herr,  dich  allein  rufe  ich  zu  Hilfe  gegen  meine  blinde,  unnütze  Qual;  denn 
du  allein  kannst  außen  und  innen  mir  erneuern  Sinn  und  Willen  und  Kraft,  die 
schwach  ist  und  träge"  (Michelangelo)  24.  ,,Pür  mich  gibt's  kein  Glück  mehr, 
als  in  mir  selbst,  in  meiner  Kunst.  O  Gott  gib  mir  Kraft  mich  zu  besiegen,  mich 
darf  ja  nichts  ans  Leben  fesseln."  ,,0  leite  meinen  Geist,  o  hebe  mich  aus  dieser 
schweren  Tiefe,  durch  deine  Kunst  entzückt,  damit  er  furchtlos  strebe  aufwärts 
in  feurigem  Schwung.  Denn  du,  du  weißt  allein,  du  kannst  allein  mich  begeistern" 
(Beethoven)  2ä. 

„O  Herr,  der  du  der   Quell  des  Lebens  bist, 

Du  weißt  es,  was  in  mir  des  Lebens  ist. 

Erleuchte  gnädig  die  Gedanken  mir, 

Daß  ich  nicht  hege,  was  da  krank  in  mir, 

Und  was  des  Todes  wert,  das  töte  ab, 

Laß  mich  es  still  versenken  in  ein  Grab; 

Doch  was  ein  Teil  von  deinem  Ebenbilde, 

Laß  mich  es  formen  in  ein  rein  Gebilde, 

In  Worte  lass',  in  Weisen  es  mich  fassen, 


IL  Der  affektiy-ethisehe  Typ  417 

Daß  ich  es  kann  vor  Menschen  tönen  lassen; 

Auf  daß  die  Funken,  die  niein  Herz  durehsprüh'n 

In  andren  zünden  und  als  Flamme  glüh'n, 

Daß  an  der  Freudigkeit,  die  ich  gefunden, 

Manch  Herz  zu  neuer  Frische  mag  gesunden. 

Du,  aller  Wahrheit,  alles  Lebens  Grund, 

Herr,  mach'  mich  wahr  und  freudig  und  g  e  s  u  n  d!" 

(Robert  Reinick. ) 
,,Herr,  den  ich  tief  im  Herzen  trage,  sei  du  mit  mir, 
Du  Gnadenhort  in  Glück  und  Plage,  sei  du  mit  mir! 
Im  Brand  des  Sommers,  der  dem  Manne  die  Wange  bräunt. 
Wie  in  der  Tugend  Rosenhage  sei  du  mit  mir ; 
Behüte  mich  am  Born  der  Freude  vor  Übermut, 
Und  wenn  ich  an  mir  selbst  verzage,  sei  du  mit  mir; 
Gib  deinen  Geist  zu  meinem  Liede,  daß  rein  es  sei, 
Und  daß  kein  Wort  mich  einst  verklage,  sei  du  mit  mir; 
Dein  Segen  ist  wie  Tau  der  Reben;  nichts  kann  ich  selbst. 
Doch  daß  ich  kühn  das  Höchste  wage,  sei  du  mit  mir; 
0  du  mein  Trost,  du  meine  Stärke,  mein  Sonnenlicht, 
Bis  an  das  Ende  meiner  Tage  sei  du  mit  mir!"     (Emanuel  Geibel.) 

Neben  dem  ethisch-künstlerischen  Interesse  kommt  im  Gebet  mancher  Männer 
der  Kunst  ein  rein  religiöses  Sehnen  und  Verlangen  zum  Ausdruck,  wie  es  die 
großen  Genien  der  Frömmigkeit  beseelt.  Ein  urwüchsiges  Dokument  naiven 
Betens  ist  folgendes  Gebet,  das  Dürer  in  sein  Tagebuch  schrieb,  als  er  auf 
seiner  niederländischen  Reise  von  Luthers  Gefangennahme  hörte.  Aus  diesem 
Gebet  redet  dieselbe  treuherzige  Einfalt  und  dasselbe  warme  Gottvertrauen,  das 
in  den  Gebeten  des  deutschen  Reformators  Ausdruck  findet.  ,,Ach  Gott  vom 
Himmel,  erbarme  dich  unser!  O  Herr  Jesu  Christ,  bitt  für  dein  Volk,  erlös  uns 
zur  rechten  Zeit,  behalt  uns  den  rechten,  wahren  christlichen  Glauben,  versammle 
deine  weiten,  zertrennten  Schafe  durch  deine  Stimme,  in  der  Schrift  dein  göttlich 
Wort  genannt;  hilf  uns,  daß  wir  diese  deine  Stimme  kennen  und  keinem  anderen 
Schwigeln  (=  Lockung)  des  menschlichen  Wahnes  nachfolgen,  auf  daß  wir, 
Herr  Jesu  Christe,  nicht  von  dir  weichen.  Ruf  die  Schafe  deiner  Weide,  derer 
no.h  ein  Teil  in  der  römischen  Kirche  erfunden  wird,  mitsamt  den  Indianern, 
Moskowitern,  Reussen,  Griechen  wieder  zusammen,  die  durch  Beschwörung  und 
Geiz  der  Päpste,  durch  heiligen,  falschen  Schein  zertrennt  sind  worden  .... 
O  höchster  Gott,  himmlischer  Vater,  gieß  in  unser  Herz  durch  deinen  Sohn  Jesum 
Christum  ein  solches  Licht,  daß  wir  erkennen,  welche  Gebote  wir  zu  halten  ge- 
bunden sind,  auf  daß  wir  die  anderen  Beschwernisse  mit  gutem  Gewissen  fahren 
lassen  und  dir,  ewiger,  himmlischer  Vater,  mit  freudigem,  fröhlichem  Heizen 
dienen  mögen;  und  so  wie  diesem  Mann,  der  da  klarer  geschrieben  hat  denn  je 
einer  in  vierzehnhundert  Jahren  gelebt,  dem  du  einen  solchen  evangelischen 
Geist  gegeber  hast,  bitten  wir  dich,  o  himmlischer  Vater,  daß  du  deinen  heiligen 
Geist  wiederum  gebest  einem,  der  da  deine  heilige  christliche  Kirche  allenthalben 
wieder  versammle,  auf  daß  wir  einig  und  christlich  wieder  leben,  daß  aus  unseren 
guten  Werken  alle  Ungläubige  als  Türken,  Heiden,  Calacuten  zu  uns  selbst  be- 
gehren und  den  christlichen  Glauben  annehmen.  Aber  Herr,  du  willst,  ehe  du 
richtest,  wie  dein  Sohn  Jesus  Christus  von  den  Priestern  sterben  mußte  und  vom 
Tode  erstehen  und  darnach  gen  Himmel  fahren,  daß  es  auch  also  gleichförmig 
ergehe  deinem  Nachfolger  Martino  Luther,  den  der  Papst  mit  seinem  Geld  ver- 
räterisch wider  Gott  um  sein  Leben  bringt  und  den  du  erquicken  wirst.  Und  wie 
du  darnach,  mein  Herr,  verhängtest,  daß  .Jerusalem  zerstört  ward,  also  wirst 
du  auch  diese  eigenmächtig  angenommene  Gewalt  des  römischen  Stuhles  zer- 
stören. Ach  Herr,  gib  uns  darnach  das  neugezierte  Jerusalem,  das  vom  Himmel 
herabsteigt,  davon  Apokalypsis  schreibt"  a6. 

Alles  naive  Beten  ist  ein  ungehemmtes  .Ausschütten  der  Seele';  der 
Fromme  spricht  Gott  restlos  all  seine  Not  und  Angst  aus,  mag  es  nun 
geistige  oder  leibliche  Not  sein.     Eine  Begrenzung  der  Bittgebets  auf 

Das  Gebet  27 


418  Gr.  Das  Gebet  großer  Männer  (Dichter  und  Künstler) 

die  Sphäre  der  ethischen  und  religiösen  Werte  verträgt  sich  nicht  mit 
der  Offenherzigkeit  und  Zuversicht  einer  kindlichen  Frömmigkeit. 

Als  Benvenuto  C  e  1 1  i  n  i  wochenlang  im  finsteren  Verlies  der  Engelsburg  zu 
Rom  schmachtete,  wohin  kein  belebender  Sonnenstrahl  drang,  flehte  er  beständig 
zu  Gott,  er  möchte  ihn  doch  dahin  führen,  wo  er  die  Sonne  sehen  könnte.  ,, Darauf 
waren  stets  meine  großen  Gebete  gerichtet,  in  welchen  ich  Christus  inbrünstig 
anrief  und  immer  sagte:  ,0  wahrhaftiger  Sohn  Gottes,  ich  bitte  dich  bei  deiner 
Geburt,  bei  deinem  Tod  am  Kreuze,  bei  deiner  herrlichen  Auferstehung,  daß  du 
mich  wert  achtest,  die  Sonne  wiederzusehen,  wo  nicht  wirklich,  so  wenigstens 
im  Traum.  Aber  willst  du  mich  würdig  halten,  daß  ich  sie  mit  meinen  sterblichen 
Augen  wiedersehe,  so  verspreche  ich,  dich  an  deinem  heiligen  Grabe  zu  besuchen"87. 
Beethovens  äußerem  Lebensschicksal  blieb  die  Tragik  nicht  erspart.  In 
Stunden  schmerzlicher  Enttäuschung  und  tiefer  Niedergeschlagenheit  schüttet 
er  den  Jammer  seines  Herzens  in  leidenschaftlichen  Klagerufen  vor  Gott  aus  und 
ruft  ihn  um  Hilfe  und  Erbarmen  an.  ,,0  Gott,  Gott,  sieh  auf  den  unglücklichen 
Beethoven  herab,  laß  es  nicht  länger  so  dauern."  „Gott,  helfe,  du  siehst  mich 
von  der  ganzen  Menschheit  verlassen,  denn  Unrechtes  will  ich  nichts  begehen. 
Erhöre  mein  Flehen."  „Gott,  Gott,  mein  Hort,  mein  Fels,  o  mein  alles.  Du 
siehst  mein  Inneres  ....  O  höre,  stets  Unaussprechlicher,  höre  mich  —  deinen 
Unglücklichen,  Unglücklichsten  aller  Sterblichen"  *8. 

Mit  der  Klage  und  Bitte  hebt  das  Gebet  eines  jeden  gesunden  Menschen 
an,  der  sich  in  seiner  Bedrängnis  und  Bedürftigkeit  an  den  mächtigen 
Gott  wendet.  Aber  die  Aussprache  dessen,  was  zentnerschwer  das  Herz 
niederdrückt,  bewirkt  eine  wunderbare  innere  Entlastung  und  Erhebung. 
Der  ungestüme  Affekt  der  Angst,  Sorge,  Niedergeschlagenheit,  Trauer 
löst  sich  auf  in  der  sanften  Stimmung  der  Zuversicht,  des  Getrostseins, 
der  Gelassenheit.  So  klmgt  die  dringende  Bitte  in  Worten  festen  Ver- 
trauens und  männlicher  Resignation  aus. 

Hebbel  eröffnet  sein  Tagebuch  des  Jahres  1842  mit  dem  Gebet:  ,,Gott, 
du  weißt,  ich  bitte  dich  nicht  um  Tand,  nicht  um  Ehre  und  Ruhm,  nicht  um 
Überfluß,  nur  um  Fortdauer  der  inneren  und  äußeren  Existenz,  nur  um  das, 
was  zu  meiner  Teuersten  Erhaltung  notwendig  ist  und  um  deinen  Segen  für  mein 
geistiges  Leben.  Darum  will  ich  glauben,  daß  du  mich  erhören 
wirs  t"  *9.  Als  Benvenuto  C  e  1 1  i  n  i  im  Kerker  von  den  Schergen  mißhandelt 
und  gepeinigt  wurde,  rief  er  in  der  Bitterkeit  seines  Herzens  zu  Christus:  „Gerechter 
Gott,  der  du  auf  dem  hohen  Holz  alle  unsere  Schulden  bezahlt  hast,  warum  soll 
meine  Unschuld  für  Schulden  büßen,  die  ich  nicht  kenne?  Doch  dein  Wille 
geschehe"30.  In  Beethovens  Tagebuch  stoßen  wir  auf  folgendes  Gebet: 
„Gelassen  will  ich  mich  allen  Veränderungen  unterwerfen  und  nur  auf  deine 
unwandelbare  Güte,  o  Gott,  mein  ganzes  Vertrauen  setzen"  31.  Der  große  Kom- 
ponist richtet  sich  in  diesem  Ergebungsgebet  aus  seiner  tiefen  Niedergeschlagenheit 
empor.  Eine  wunderbar  freie  und  starke  Seelenstimmung  redet  aus  einem 
Sonett  des  Lope  de  Vega,  das  er  nach  dem  Tode  seines  einzigen  Kindes 
dichtete.  Es  ist  zweifellos  der  Ausklang  der  Gebete,  in  denen  der  schmerzgebeugte 
Vater  seinen  Jammer  Gott  enthüllte,  die  reife  Frucht  seiner  Gebetserfahrungen. 
„Diese  süße  Frucht  meines  Daseins  biete  ich  dir.  o  ewiger  Vater,  unter  deiner 
segnenden  Hand  demütig  vor  deinem  Altare  an,  denn  wenn  von  allen  Opfern  ein 
reines  und  demütiges  Herz  das  beste  ist,  so  darf  ich  dir  wohl  dies  mein  Herz, 
mein  liebes  Kind  darbringen.  Ich  liebte  dich,  o  Herr,  seit  du  mein  Auge  dem 
Lichte  deiner  Erkenntnis  öffnetest.  Da  kam  mein  Kind  zur  Welt  und  war  wie 
eine  Wolke,  die  mich  hinderte,  nach  deiner  himmlischen  Sonne  zu  schauen;  und 
so  trieb  jetzt  der  Hauch  deiner  göttlichen  Hilfe  mein  Lebensschiff  durch  das 
Meer  meiner  Tränen  in  den  Hafen  des  ewigen  Heils.  Und  es  war  gut  so,  daß  mir 
entrissen  ward,  was  mich  hinderte,  dich  ganz  zu  lieben,  und  daß  ich  dir  dies  zarte 
Lamm  zum  Opfer  bringen  mußte"  32.  Der  Stimmung  froher,  vollkommener 
Ergebung  in    Gottes   väterlichen  Willen  hat  der  große   Dichter   der   deutschen 


11.  Der  al'fektiv-ethische  Typ  419 


Freiheitskämpfe,    Theodor    Körner,    in   seinem   berühmten    „Gebet  während 
der   Schlacht"  unvergänglichen  Ausdruck  verliehen. 

.  .  .   „Vater,  du  segne  mich! 

In  deine  Hand  befehl'  ich  mein  Leben, 

Du  kannst  es  nehmen,  du  hast  es  gegeben; 

Zum  Leben,  zum  Sterben  segne  mich! 

Vater,  ich  preise  dich!  .   .   . 

Gott,  dir  ergeb'  ich  mich! 

Wenn  mich  die  Donner  des  Todes  begrüßen, 

Wenn  meine  Adern  geöffnet  fließen: 

Dir,  mein  Gott,  dir  ergeb'  ich  mich! 

Vater,  ich  rufe  dich!" 
Kindliche  Zuversicht  und  Innigkeit  redet  aus  dem  schlichten  Ergebungsgebet 
Eduard  Mörikes: 

,,Herr,  schicke,  was  du  willt, 

Ein  Liebes  oder  Leides! 

Ich  bin  vergnügt,  daß  beides 

Aus  deinen  Händen  quillt"  3i  b. 

All  diese  Gebete,  welche  Dichter  und  Künstler  in  schlichter  Prosa 
oder  in  kunstvoller  Poesie  niederschrieben,  sind  nicht  schleppende, 
in  Gebetsform  gekleidete  Meditationen  oder  Selbstbetrachtungen, 
sondern  klang-  und  kraftvolle  Herzensgebete.  Weil  diese  großen  Männer 
bei  aller  genialen  Begabung  doch  schlichte,  einfältige  Kindesnaturen 
waren,  weil  bei  ihnen  das  frisch  quellende  Leben  nicht  getrübt  war  durch 
vernünftige  Reflexion  und  nicht  angefressen  durch  philosophische 
Kritik,  darum  konnten  sie  mit  der  Innigkeit  und  Leidenschaft  des 
Herzens  beten,  konnten  zu  Gott,  ihrem  Herrn,  rufen  und  flehen,  wie 
es  die  großen  Frommen  taten.  Ihr  Beten  ist  ein  Reden,  ein  Austausch 
mit  dem  persönlichen  Gott,  getragen  von  dem  Glauben  an  die  Gebets- 
erhörung,  an  die  Möglichkeit  einer  Einwirkung  des  Menschen  auf  Gott. 
Das  Gebet  ist  nicht  ein  Mittel  der  subjektiven  psychologischen  Selbst - 
beeinflussung,  es  ist  eine  objektive  Kraft,  die  bis  in  den  Himmel  dringt 
und  Gottes  Herz  erobert.  Ja,  es  ist  noch  mehr,  es  ist  selbst  schon  eine 
Offenbarung  Gottes  im  Menschen.  Der  Gedanke  des  gotteingegebene] • 
Gnadengebets  (s.  o.  S.  224  ff.),  den  die  großen  religiösen  Persönlich- 
keiten auszusprechen  nicht  müde  werden,  kehrt  auch  in  den  Bekennt 
nissen  moderner  Dichter  wieder.  Hebbel  sagt :  „Wenn  der  Mensch  betet . 
atmet  der  Gott  in  ihm  auf"  33.  Der  tief  religiös  empfindende  Lyrike  r 
Gustav  Schüler  hat,  ohne  es  wohl  zu  wissen  und  zu  ahnen,  in  seinem 
Gedicht  ,Der  Gottsucher'  diese  wundersame  religiöse  Paradoxie  in 
ganz  ähnlicher  Weise  ausgesprochen,  wie  Jahrhunderte  vor  ihm  der 
persische  Fromme  Jaläl  ed-din-Rümi  (s.  o.  S.  225): 

..Ich  habe   Gott   gesucht  und  fand  ihn  nicht. 

[ch   schrie  empor   und    bettelte   um  Licht. 

Da.   wie  ich    vreinend   bin  zurückgegangen, 

Efeßt's    leise    meine    Schulter:    .Ich    bin   hier. 

Ich   habt-  dich   gesucht    und   bin   bei  dir'. 

lud   Gotl   ist  mit   mir  heimgegangen"*4. 
So  stoßen  wir  in  der  Frömmigkeit  großer  Männer  immer  wieder  auf 
Parallelen   zum    Gebetsleben   der  religiösen    Genien :   die   Spontaneität 
und  Affektivität  des  Betons,  die  ungehemmte  Aussprache  aller  drängen- 
den Erlebnisse,  die  zentrale  Stellung  der  Bitte  im  Gebet,  die  Bitte  um 


420  Gr.  Das  Gebet  großer  Männer  (Dichter  und  Künstler) 


große,  ideale  Werte,  der  Übergang  des  Gebetswunsches  in  die  Zuver- 
sicht und  Ergebung,  der  Glaube  an  Gottes  Persönlichkeit  und  an  die 
Gebetserhörung,  der  Gedanke  des  , Gnadengebets'  —  all  die  charak- 
teristischen Eigentümlichkeiten  des  prophetischen  Gebetstyps  kehren 
hier  wieder.  Dennoch  bleibt  eine  gewaltige  Distanz  zwischen  dem 
Beten  großer  Künstler  und  Dichter  und  dem  der  prophetischen  Persön- 
lichkeiten. Dort  steht  im  Zentrum  des  Botens  das  künstlerische  Per- 
sönlichkeits- und  Lobensideal,  das  künstlerische  Schaffen  und  Gestalten, 
hier  die  Fülle  der  religiös-ethischen  Werte,  Gott  und  sein  Reich,  das 
ewige  Heil  der  Einzelseole  und  der  ganzen  Menschheit;  dort  sehen 
wir  ein  Ringen  und  Arbeiten  nach  der  Verwirklichung  des  menschlich 
Großen,  Edlen  und  Schönen,  hier  ein  Verzehrtwerden  von  der  gott- 
gestellten, religiös-sittlichen  Lebensaufgabe.  So  unterscheidet  sich 
das  Gebet  großer  Männer  bei  aller  Tiefe,  Innigkeit  und  Leidenschaft 
von  dem  Gebet  der  religiösen  Genien  wie  die  Kunst  von  der  Frömmig- 
keit, wie  die  Kultur  vom  Gottesreich,  wie  das  Profane  vom  Heiligen. 


H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet1. 

1.  Zusammenhang  mit  dem  individuellen  Gebets- 
leben der  prophetischen  Persönlichkeiten. 

Die  Mystik  ist  ihrem  Wesen  nach  gemeinschaftslos.  „Gott  und  die 
Seele",  ,,Gott  in  der  Seele"  —  in  diesen  Worten  ist  alle  mystischeFrömmig- 
keit  beschlossen.  Im  mystischen  Gebet  erhebt  sich  die  von  der  Welt  und 
der  Gesellschaft  losgelöste  Einzelseele  zu  ihrem  Gott,  um  mit  ihm 
völlig  eins  zu  werden.  Das  Beten  des  Mystikers  ist  nach  dem  wunder- 
vollen Schlußwort  von  Plotins  Enneaden  (VI  9,  11)  ,,die  Flucht  des 
Einsamen  zum  Einsamen"  ((fvyi]  fiövov  TiQÖg  ftövov).  Ein  starkes 
mid  lebendiges  Gemeinschaftsgefühl,  wie  es  die  Glieder  einer  reli- 
giösen Genossenschaft,  eines  Stammes  oder  Volkes,  einer  Sekte  oder 
Kirche  beherrscht,  ist  mit  der  stillen  Beschaulichkeit,  der  innigen  Ver- 
sunkenheit,  der  ekstatischen  Seligkeit  des  Mystikers  unvereinbar. 
In  der  Mystik  hat  darum  das  Gemeindegebet,  der  elementare  Ausdruck 
des  religiösen  Kollektivbewußtseins,  keinen  Raum.  Weder  der  Neu- 
platonismus  noch  der  Sufismus,  weder  die  vedäntische  Frömmigkeit 
noch  der  Buddhismus  waren  imstande,  ein  gottesdienstliches  Gemeinde- 
gebet zu  schaffen.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet  ist  vielmehr 
eine  Schöpfung  des  prophetischen  Frömmigkeitsgeistes.  Zwar  lebt 
jener  grandiose  Individualismus,  der  das  Beten  der  Mystiker  auszeichnet, 
ebenso  im  Beten  der  prophetischen  Genien.  Gibt  es  individuellere 
Gebete  als  die  eines  Jeremia  oder  Jesus  ?  Gibt  es  ein  innigeres  und 
persönlicheres  Gebetsverhältnis  des  Menschen  zu  Gott  als  das  Gebets- 
verhältnis des  unglücklichen  Propheten  zu  seinem  Jahwe,  als  das  des 
Gottessohnes  zu  seinem  Vater,  als  das  des  Völkerapostels  zu  seinem 
erhöhten  Herrn  Jesus  Christus  ?  Und  doch  waren  es  gerade  diese 
Männer,  die  den  Anstoß  zur  Entstehung  des  gottesdienstlichen  Ge- 
meindegebets gaben. 

Die  prophetische  Frömmigkeit  ist  im  Gegensatz  zur  mystischen  streng 
sozial  (s.  o.  S.  272  ff.);  nicht  um  das  Heil  eines  Einzelnen  handelt  es 
sich,  sondern  um  das  Heil  des  Volkes,  der  Kirche,  der  Menschheit;  nicht 
seliges  Einswerden  der  Einzelseele  mit  der  unendlichen  Gottheit,  sondern 
die  Verwirklichung  der  universellen  Gottesherrschaft  ist  das  große  Ziel 
der  religiösen  Seimsucht.  Dieser  soziale  Charakter  der  prophetischen 
Religion  äußert  sich  unverkennbar  im  Gebetsleben.  Mit  der  Bitte  um 
das  eigene  Heil  paart  sich  die  Fürbitte  für  das  Heil  des  Bruders;  die 
Bitte  in  eigener  Not  und  die  Fürbitte  für  den  Nächsten  vereinen  sich  im 
Flehen  um  das  Kommen  des  Gottesreiches,  das  den  zentralen  Gegenstand 
des  Gebets  in  der  prophetischen  Frömmigkeit  bildet.  Mit  dem  Fürbitte- 
gebet verbindet  sich  bei  den  prophetischen  Geistern  der  Kampf  für  das 


422  H.  Das  gottesdienstliche  Getneindegebet 

Gebetsideal :  sie  wollen  und  müssen  auch  die  anderen  Menschen  auf 
die  Höhe  ihres  eigenen  Gebetslebens  emporreißen ;  auch  die  Kleinen  und 
Schwachen  sollen  dem  äußerlichen,  unheiligen  und  selbstsüchtigen  Beten 
entsagen  und  lernen,  den  Vater  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anzurufen. 
So  offenbart  ebenso  das  lebendige  Fürbittegebet  für  die  Brüder  wie  die 
unermüdliche  Erziehungsarbeit  Zum  wahren  Beten  den  sozialen  Zug,  der 
dem  prophetischen  Gebetsgeist  im  Unterschied  vom  mystischen  eigen  ist. 
Dieser  soziale  Gebetsgeist,  der  um  das  fremde  Heil  bittet  wie  für  das 
eigene,  der  alle  Menschen  teilnehmen  lassen  will  an  den  eigenen  Gebets- 
erfahrungen, kann  beim  bloßen  Fürbittegebet  und  bei  der  bloßen 
Gebetspädagogik  nicht  stehen  bleiben,  er  drängt  vielmehr  von  selbst 
zum  gemeinsamen  Gebet.  Die  gemeinsame  Heilsse lrn sucht  ver- 
langt Ausdruck  in  gemeinsamer  Bitte,  der  gemeinsame  Heilsbesitz 
Ausdruck  in  gemeinsamem  Lobpreis  und  Dank.  Wo  das  Bewußtsein 
lebendig  ist,  daß  ,,die  vielen  ein  Leib  sind"  (1  Kor  10  17),  muß  sich  das 
individuelle  Beten  zum  gemeinsamen  Gebet  erweitern,  ohne  jedoch  in 
ihm  aufzugehen  oder  durch  dieses  Nachaußentreten  seine  innere  Kraft 
zu  verlieren.  So  ist  das  gottesdienstliche  Gemeindegebet  innerlich 
im  prophetischen  Frömmigkeitsgeiste  verwurzelt,  ein  unmittelbarer 
Ausfluß  des  individuellen  prophetischen  Gebetslebens. 

2.  Geschichtlicher  Überblick. 
Ehe  wir  das  gemeinsame  gottesdienstliche  Gebet  nach  seinem  Inhalt, 
seiner  Form  und  seiner  Idee  näher  untersuchen,  ist  es  nötig,  die  ge- 
schichtlichen Zusammenhänge  zu  überblicken.  Das  gottesdienstliche 
Gemeindegebet  des  J  u  d  e  n  t  u  m  s  2  ist  eine  der  zahlreichen  religiösen 
Früchte,  welche  die  harte  Exilszeit  in  Babylon  zeitigte.  Der  vor- 
exilische  Kult  der  Israeliten  war  ein  nationaler  Opferkult,  wie  wir  ihn 
bei  allen  primitiven  und  antiken  Völkern  treffen,  bestehend  aus  Gaben - 
darbrmgungen ,  Schlachtungen,  Brandopfern,  Weiheakten,  Sühnehand- 
lungen, Reinigungszeremonien  und  Taburiten.  Gegen  dieses  kompli- 
zierte Opferritual,  das  wie  überall  so  auch  in  Israel  eine  Veräußerlichung 
und  Verflachung  des  ganzen  religiösen  Lebens  herbeizuführen  drohte, 
erhoben  die  Propheten,  ein  Arnos  (4  4;  5  21  ff.)  und  Hosea  (6  6),  Micha 
(6  6  ff.),  Jesaia  (1  n  ff.)  und  Jeremia  (7  21  f.),  Protest  und  forderten 
eine  reine,  sittliche  Jahwe  Verehrung.  Die  deuteronomische  Reform 
entwurzelte  alle  polytheistischen  Neigungen  Israels,  indem  sie  den 
Opferdienst,  der  von  altersher  an  allen  Orten  des  Landes  stattfand,  auf 
das  jerusalemische  Zentralheiligtum,  Jahwes  Wohnstätte,  beschränkte; 
aber  gerade  diese  Zentralisierung  bedeutete  eine  gewaltige  Stärkung 
des  alten  Opferrituals  und  Kultwesens,  gegen  das  die  Propheten  ange- 
kämpft hatten.  Ein  gemeinsamer  reiner  Gebetsgottesdienst,  wie  er 
dem  prophetischen  Frömmigkeitsideal  entsprach,  wurde  erst  im  Exil 
möglich.  Im  Zweiströmeland  waren  die  Söhne  Israels  ihres  Heiligtums 
beraubt;  hier  konnten  sie  darum  ihrem  Jahwe  keine  Schlachtopfer  und 
Ganzopfer  darbringen;  denn  Jahwe  weilte  ferne  und  der  fremde  Boden, 
auf  dem  sie  wohnten,  war  unrein,  tabu,  den  Dämonen  eigen.  Aber  das 
Bewußtsein,  daß  sie   Jahwes  Volk  waren,  und  der  Drang,  dem   Gott 


Geschichtlicher  Überblick  (Judentum)  423 


der  Väter  zu  dienen  und  ihn  anzubeten,  blieb  in  ihren  Herzen  auch  in 
der  Fremde  lebendig ;  ja  die  Sehnsucht  nach  der  Heimat  und  dem  heimat- 
lichen Gott  drängte  die  Söhne  der  Verbannung  mit  erhöhter  Gewalt  zu 
gemeinsamer  Betrachtung  und  Anbetung  und  zu  gemeinsamem  Flehen. 
Sie  versammelten  sich  in  besonderen  Häusern  zur  Lesung  ihrer  Ge- 
«chichts-  und   Gesetzesbücher  wie  der   Schriften  ihrer  Propheten;   in 
diesen  heiligen  Büchern  erkannten  sie,  wie  wunderbar  Jahwe  zu  allen 
Zeiten  sein  Volk  geführt  hatte ;  aus  den  Drohungen  und  Strafreden  der 
Propheten  ging  ihnen  die   Schuld  des  Volkes   Israel  in  ihrer  ganzen 
Schwere  auf;   aber  aus  ihren  Verheißungen  schöpften   sie  Trost  und 
Hoffnung.     Vor  allem  waren  es  die  Bekenntnisse  des  Jeremia,  dieses 
größten  der  alttestamentlichen  Propheten,  die  in  den  Herzen  der  Ver- 
bannten neuen  Lebensmut  weckten ;  in  seinen  schmerzlichen  Propheten- 
schicksalen erkannten  sie  ihr  eigenes  Geschick  wieder.    Die  ergreifenden 
Gebetslieder,  in  denen  einzelne  fromme   Sänger  im  Anschluß  an  die 
Gebetsfrömmigkeit    des    Jeremia    den    Erfahrungen    des    verbannten 
Gottesvolkes  —  seinem  tiefen  Leid  und  seiner  ungebrochenen  Lebens- 
zuversicht —  dichterischen  Ausdruck  liehen,  ertönten  in  diesen  Ver- 
sammlungen wieder ;  der  Psalter  wurde  zum  Gebetbuch  der  Exilsgemeinde ; 
die  Kraft  und  Leidenschaft  des  jeremianischen  Gebetsgeistes  ergoß  sich 
durch  die  Psalmen  in  die  Gebetsfrömmigkeit  der   jüdische  Gemeinde. 
So  war,  fern  vom  Jahweheiligtum  auf  dem  Sion,  an  den  Gestaden  des 
Euphrat  ein  opferloser,  rein  geistiger  Gemeindegottesdienst,  bestehend 
aus  Schriftlesung  und  Gebet,  entstanden;  der  alte  Opferkult  war  für 
diese  den   Geist  der  Propheten  atmende  Frömmigkeit    abgetan.      Die 
Exilsgemeinde  hatte  erlebt,   daß    Jahwe  nicht   Schlachtopfer   begehrt 
noch  an  Brandopfern  Wohlgefallen  hat,  daß  vielmehr  das  wahre  Opfer 
in  einem  demütigen,  zerknirschten  Geist  besteht  (Ps.  51  18  f.).     Nach 
der  Rückkehr  der  Verbannten  in  die  Heimat  entstand  zwar  der  Tempel 
in  neuer  Pracht,  der  alte  Opferdienst  wurde  im  Sinne  des  Deuteronomi- 
ums  erneuert,  das  Tempelritual  wurde,  wie  das  priesterliche  Gesetzbuch 
des  Leviticus  zeigt,  ungeheuer  kompliziert;  aber  der  vergeistigte  Ge- 
meindegottesdienst,  der   Kultus   des    Schriftwortes   und    Gebetes,   der 
aus   der   Exilfrömmigkeit  geboren   war,   konnte  durch   den   Opferkult 
nicht   mehr  verdrängt  werden.     Allenthalben   im    Judenlande   wie  in 
der  Diaspora  erhoben  sich  Gebets-  und  Versammlungshäuser  (ovvaywyai, 
i  nooevxTfjQia,    oixoi    nQoo-£vy/]g),    in    denen    täglich,    vor    allem    aber 
am  Sabbat  und  an  den  Festen  die  Frommen  sich  zur  Schriftlesung  und 
zum    gemeinsamen    Gebet   versammelten  3,    und   auch   im    Tempel   zu 
Jerusalem   wurden   die  heiligen    Schriften   interpretiert  und  erklangen 
die  hehren  Psalmgebete. 

Auüer  den  Psalmen  besitzen  wir  verschiedene  indirekte  Zeugnisse  für  die.  gottes- 
dienstliche  Gebetsweise  des  nachexüischen  Judentums.  Das  Gebet  des  Esra 
(Neb.  0«  ff.)  und  die  Priestergebete  in  den  Makkabäerbüchein  (2  Makk  1  *«  ff.; 
3  Makk  2  ,  ff. )  sind  zwar  literarische  Kompositionen,  aber  spiegeln  das  Gemeinde- 
gebet im  Tempel  und  in  den  Synagogen  wieder.  Die  Rahmengebete  des  Srlima, 
des  individuellen  jüdischen  Pflichtgebets,  sind  gleichfalls  ein  Reflex  des  liturgischen 
Gebets.  Das  älteste  jüdische  Gebetsformular  ist  das  Achtzehngebet,  das  in 
.-einer  heutigen  Gestall  nach  der  Tempelzerstörung  abgefaßt  ist.  aber  in  seinen 
Grundlagen  in  die  Zeit  vor  Christi  Geburt  zurückreicht  '. 


424  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebei 


Die  nachexilische  Religion  zeigt  ein  Nebeneinander  des  alten  Opfer- 
kults und  des  neuen  geistigen  Schrift-  und  Gebetsgottesdienstes.  Erst 
nach  der  Zerstörung  des  Jahweheiligtums  im  Jahre  70,  als  aller  Opfer- 
kult und  Tempeldienst  aufgehört  hatte,  trat  der  synagogale  Gebets- 
gottesdienst das  Erbe  des  alten  Opferwesens  und  Altardienstes  an  und 
wurde  zum  Gottesdienst  Caboda)  schlechthin:  „Nachdem  der  sichtbare 
Mittelpunkt  für  das  Judentum  zu  existieren  aufhörte,  schufen  sie  sich 
einen  neuen  unsichtbaren  und  darum  unangreifbaren  Mittelpunkt,  um 
den  sie  sich  von  neuem  scharten.  Dieser  Mittelpunkt  war  das  gemein- 
same Gebet,  der  gemeinsame  Gottesdienst  in  der  heiligen  Sprache  der 
"Väter.  Die  Synagoge  mit  ihrem  rein  geistigen,  nur  aus  Gebet  und  Be- 
lehrung bestehenden  Kultus  ist  zwar  durchaus  nicht  erst  in  jener  Zeit 
entstanden,  sondern  ein  halbes  Jahrtausend  früher  .  .  .  Aber  ihre 
volle  Bedeutung  erlangte  sie  erst  nach  der  Zerstörung  des  Tempels, 
an  dessen  Stelle  sie  nun  als  wertvollerer  Ersatz  trat"  (Perles)  4b.  Nur 
dieser  geistige  Lese-  und  Gebetsgottesdienst  hat  es  überhaupt  „ermög- 
licht, daß  das  Judentum  den  Fall  von  Tempel  und  Altar  ohne  tief- 
gehende  Erschütterung  überwinden  konnte"  5. 

Jesus,  ein  treuer  Sohn  der  Religion  seiner  Väter,  durchaus  konservativ 
in  der  Haltung  gegenüber  dem  religiösen  Erbe  der  Vergangenheit,  nimmt 
selbst  eifrig  am  gemeinsamen  Gottesdienste  teil;  wir  treffen  ihn  am 
Sabbat  in  der  Synagoge  lehrend  und  die  heiligen  Schriften  erklärend. 
Die  Jünger  folgten  diesem  Beispiel  auch  nach  der  Auferstehung  des 
Herrn  und  der  Geistessendung,  indem  sie  den  allgemeinen  jüdischen 
Gottesdienst  im  Tempel  besuchten  (Ap.-G.  246;  32;  22  17).  Aber  seit 
der  Geburtsstunde  der  christlichen  Gemeinde  am  Pfingstfeste  vereinten 
sie  sich  auch  alltäglich  zu  einem  besonderen  christlichen  Gottes- 
dienst 6,  zur  Tischgemeinschaft  und  zur  Danksagung;  in  der  schlichten 
Gleichnishandlung  des  Brotbrechens  und  der  Herumreichung  des 
Segenbechers,  wie  sie  Jesus  bei  seinem  Abschiedsmahle  vorgenommen 
hatte  (Mk  14  2  ff.),  vergegenwärtigten  sie  sich  seine  Todeshingabe  für 
das  Heil  der  ,vielen'  (Mk  10  45);  im  Essen  von  dem  gleichen  Brote  und 
im  Trinken  aus  einem  und  demselben  Kelche  traten  sie  in  Blut;<gemein- 
schaft  mit  dem  erhöhten  Herrn,  der  unsichtbar  in  ihrer  Mitte  weilte, 
und  mit  den  Brüdern  und  Schwestern  der  Tischrunde;  die  frohe  Stim- 
mung, in  der  sie  mitsammen  aßen  und  tranken  (Ap.-G.  246),  machte  für 
sie  dieses  gemeinsame  Mahl  zum  Vorspiel  und  zur  Antizipation  jener 
herrlichen  Tischgemeinschaft,  die  ihrer  im  bald  anbrechenden  Gottesreich 
harrte  (vgl.  Mk  14  25).  Psalmengesängc  und  feierliche  Dankgebete, 
ähnlich  dem  Tischsegen,  den  der  jüdische  Hausvater  über  Brot  und 
Wein  sprach,  begleiteten  das  christliche  ,HerrenmahT  (1  Kor  11  20). 
Die  in  der  Didache  enthaltenen  Eucharistiegebete  7  geben  ein  an- 
nähernd zutreffendes  Bild  von  der  eucharistischen  Liturgie  der  Urge- 
meinde  zu  jener  Zeit,  da  die  Jüngerschaft  Christi  noch  der  jüdischen 
Kirchen gemeinschaft  angehörte  und  an  dem  allgemeinen  jüdischen 
Gottesdienst  im  Tempel  oder  in  der  Synagoge  teilnahm. 

So  kennt  die  christliche  Urgemeinde  einen  doppelten  Gemeindegottes- 


Geschichtlicher  Überblick  (Urchristentum)  425 


dienst:  den  allgemeinen  jüdischen  Sabbat-  und  Festgottesdienst  in  der 
Synagoge  oder  im  Tempel  und  den  besonderen  christlichen  Eucharistie- 
gottesdienst, zu  dem  die  Christusjünger  sich  in  ihren  Häusern  (Ap.-G. 
2  46)  zusammenfanden.  Während  die  jerusalemische  Urgemeinde  die 
gottesdienstliche  Gememschaft  mit  der  jüdischen  Synagoge  aufrecht 
erhielt,  standen  die  von  Paulus  gegründeten  heidenchristlichen  Ge- 
meinden zum  gottesdienstlichen  Leben  des  Judentums  von  Anfang  an 
in  keiner  Beziehung.  Nach  dem  endgültigen  Bruch  der  palästinischen 
Gemeinde  mit  dem  synagogalen  Judentum  hörte  auch  hier  die  Teil- 
nahme am  jüdischen  Gottesdienst  auf.  Diese  Verselbständigung  der 
christlichen  Kirche,  die  sich  zuerst  in  den  paulinischen  Heidengemeinden 
und  später  auch  in  der  judenchristlichen  Muttergemeinde  vollzog,  be- 
dingte die  Entstehung  einer  eigenen  christlichen  Liturgie.  Die  Christen 
übernahmen  den  aus  Schriftlesung  und  Gebet  bestehenden  synagogalen 
Gottesdienst  und  verbanden  ihn  mit  dem  eucharis tischen  Mahle.  Aus 
der  Verschmelzung  dieser  beiden  heterogenen  Elemente  entstand  die 
christliche  Messe;  ihre  Zweiteilung  in  die  Vormesse  oder  ,Katechumenen- 
messe'  und  die  eigentliche  Mysterienfeier  oder  , Gläubigenmesse',  wie 
sie  noch  heute  in  den  orientalischen  Meßliturgien  hervortritt,  zeigt 
deutlich  genug  die  Spuren  ihrer  Entstehung.  Wie  die  eucharistischen 
Dankgebete  der  Didache  sich  an  den  jüdischen  Tischsegen  anschließen, 
so  berühren  sich  die  Preis-  und  Bittgebete,  welche  im  christlichen  Gottes- 
dienst der  Schriftlesung  folgen,  aufs  engste  mit  den  jüdischen  Synagogen- 
gebeten. Das  allgemeine  Kirchengebet,  das  der  römische  Bischof 
Klemens  seinem  Brief  an  die  Korinther  einflicht  und  das  als  Typus 
des  altchristlichen  Kirchengebets  gelten  darf,  zeigt  eine  unverkennbare 
Ähnlichkeit  mit  dem  synagogalen  Haupt  gebet,  dem  Schemone  'Esre  8. 
In  ähnlicher  Weise  zeigt  die  Grundform  der  Anaphora  in  der  orientalischen 
Meßliturgie  entscheidende  Berührungspunkte  mit  dem  Rahmengebet 
des  Schma  und  den  mannigfachen  literarischen  Dokumenten  des  alt- 
jüdischen Gemeindegebetes  9.  In  allen  Dokumenten  altchristlicher 
Liturgie  zeigt  sich,  wie  enge  die  Gebetssprache  des  jungen  Christen- 
tums von  der  synagogalen  Gebetsterminologie  abhängig  ist.  Gleichwohl 
verrät  die  altchristliche  gottesdienstliche  Gebetssprache  gegenüber  der 
traditionellen  jüdischen  Gebetsterminologie  schöpferische  Originalität. 
Es  war  Paulus,  der  die  stereotypen  Doxologien  der  synagogalen  Liturgie 
umschuf,  der  ihnen  ein  christliches  Gepräge  aufdrückte  und  die  Kraft 
seines  Christuserlebnisses  einhauchte.  Es  gab  fortan  kein  christliches 
Gemeindegebet  mehr,  das  nicht  in  einer  feierlichen  Doxologie,  wie  sie 
Paulus  im  Munde  führte,  ausklang. 

Das  gottesdienstliche  Beten  der  altchristlichen  Kirche  war  noch  mehr 
wie  das  altsynagogale  Gemeindegebet  frei  von  aller  konventionellen 
Gebundenheit,  von  allem  steifen  Formalismus  und  toten  Traditionalis- 
mus; es  war  eine  ebenso  lebendige  Größe  wie  das  individuelle  Gebets- 
leben der  alten  Christen.  Nur  die  allgemeinen  Umrisse  der  gottes- 
dienstlichen Feier,  nur  der  allgemeine  Inhalt  und  Aufbau  sowie  die 
religiöse  Terminologie  der  Gebete  standen  fest.  Das  alte  Christentum 
kennt  im  Gegensatz  zu  den  antiken  Tempelritualen  und  zu  den  synkrc- 


426  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 


tistischen  Mysterienkulten  keine  bindenden  Gebetsformulare.  Erst  in 
der  zweiten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  beginnt  zugleich  mit  der 
Bildung  fester  Kirchenordnungen  die  allmähliche  Stabilisierung 
•des  gottesdienstlichen  Gemeindegebets.  In  den  verschiedenen  Kirchen 
<les  Ostens  und  Westens  entstehen  liturgische  Gebetsformulare,  deren 
Gebrauch  beim  Gottesdienst  jedoch  noch  nicht  streng  vorgeschrieben 
ist.  Ihre  Verfasser  sind  Bischöfe,  deren  Amtsmacht  immer  mehr 
erstarkte.  Die  ältesten  kirchlichen  Gebetsformulare,  die  uns  erhalten 
sind,  sind  der  liturgische  Papyrus  von  Der-Balyzeh 10,  die  Gebets- 
sammlung des  Bischofs  Serapion  von  Thmuis  n,  die  liturgischen  Gebete 
-der  ägyptischen  Kirchenordnung  12  und  das  liturgische  Idealformular 
im  achten  Buch  der  apostolischen  Konstitutionen  13.  All  diese  Formulare 
.sind  nur  Zusammenstellungen  von  Mustergebeten,  aber  noch  keine 
statutarischen  liturgischen  Ordnungen ;  sie  sind  der  unmittelbare  Nieder- 
schlag des  freien  und  ungebundenen  Genieindegebets,  das  in  den  beiden 
ersten  Jahrhunderten  und  bis  weit  ins  dritte  Jahrhundert  hinein  in  der 
christlichen  Kirche  lebendig  war. 

Das  dritte  Jahrhundert  brachte  Gebetsmuster  für  den  Gottesdienst. 
Im  vierten  Jahrhundert  setzte  eine  umfassende  liturgische  Reform  14  ein. 
Die  schlichte  Mysterienfeier  der  alten  Kirche  wurde  mit  einem  prunk- 
vollen Zeremoniell  umgeben,  das  zum  Teil  den  dahinsinkenden  antiken 
Ritualen  entlehnt  wurde.  Die  ursprünglich  umfangreichen  Gebetstexte 
verkürzte  man,  um  die  Dauer  des  Gottesdienstes  zu  beschränken  —  ein 
Zugeständnis  an  den  erkaltenden  Gebetseifer.  Die  liturgischen  Gebets- 
formulare wurden  von  dogmatischem  Gesichtspunkt  aus  überarbeitet. 
Die  alten  Doxologien  und  Gebetsformeln,  aus  denen  eine  subordinatia- 
nische  Christologie  und  ein  rein  heilsökonomischer  Trinitätsglaube  redete, 
waren  die  festen  Punkte,  hinter  denen  sich  die  Arianer  und  andere 
Häretiker  im  Kampf  gegen  die  kirchlichen  Dogmen  verschanzten. 
Um  ihnen  diese  Stützen  zu  entreißen,  tilgte  man  alle  dogmatisch  an- 
stößigen Stellen  in  den  Gebetstexten  und  ersetzte  sie  durch  theologisch 
korrekte  Formeln.  So  trat  die  Liturgie  in  den  Dienst  der  dogmatischen 
Belehrung  und  des  antihäretischen  Kampfes.  Um  den  neuen  liturgischen 
Formularen  in  den  Gemeinden  Ansehen  zu  verschaffen,  stellte  man  sie 
unter  die  Autorität  der  Apostel,  die  als  Gründer  der  Gemeinden  galten, 
-oder  großer  orthodoxer  Bischöfe  und  Theologen  des  Reformzeitalters. 
Die  Reformliturgien  tragen  in  pseudepigraphischer  Weise  den  Verfassei- 
Tiamen  eines  Jakobus,  Andreas  und  Markus,  Basilius,  Chrysostomus 
•und  Gregor  von  Nazianz.  Gleichwohl  liegt  diesen  irrigen  Aufschriften 
der  Liturgien  eine  geschichtliche  Wahrheit  zugrunde;  es  waren  allent- 
halben die  rechtgläubigen  Bischöfe,  die  mit  starker  Hand  diese  dog- 
matisch-liturgische Reform  durchführten. 

Vom  4.  Jahrhundert  an  besaß  wohl  jede  größere  Gemeinde  eine 
eigene  Gottesdienstform  und  ein  eigenes  liturgisches  Musterformular. 
Allmählich  aber  verdrängten  die  Liturgien  der  großen  kirchlichen  Metro- 
polen die  ihrer  kleineren  Nachbarkirchen ;  es  entstanden  so  ganze  Liturgie- 
gebiete.  Die  umfassendste  Ausdehnung  gewann  die  römische  Meßliturgie ; 
mit  der  Erstarkung  des  römischen  Primats  ging  Hand  in  Hand  die 


Geschichtlicher  Überblick  (Katholizismus)  427 

Verdrängung  der  anderen  abendländischen  Liturgien,  bis  schließlich 
durch  Gregor  VII.  die  römische  Liturgie  zur  Liturgie  des  christlichen 
Abendlandes  schlechthin  wurde. 

Im  Laufe  des  7.  Jahrhunderts  gelangt  der  große  Entwicklungsprozeß 
des  christlichen  Gemeindegottesdienstes  in  der  Ost-  und  Westkirche 
zum  Abschluß.  Die  Änderungen  und  Zusätze,  welche  die  kommenden 
Jahrhunderte  für  die  abendländische  Liturgie  noch  brachten,  sind 
unbedeutend.  Aus  den  zahlreichen  Liturgien  der  abendländischen  und 
morgenländischen  Kirchen  heben  sich  wenige  Haupttypen  heraus:  die 
westsyrische,  ostsyrische,  ägyptische,  kiemasiatisch-byzantinische,  gal- 
lische und  römische  Liturgie.  In  den  Grundzügen,  im  Inhalt  und  in  der 
Terminologie  zeigen  die  Liturgien  des  Orients  und  Okzidents  weit- 
gehende Übereinstimmungen.  Der  Hauptunterschied  beider  Liturgien- 
gruppen liegt  in  der  Rolle,  die  in  ihnen  das  Kirchenjahr  spielt.  Die  morgen- 
ländischen Meßformulare  gestatten  diesem,  von  der  Schriftlesung 
und  kleineren  Gesangsstücken  abgesehen,  so  gut  wie  keinen  Einfluß 
und  zeigen  darum  eine  gewisse  Einförmigkeit.  Die  abendländischen 
Liturgien  hingegen  gewinnen  durch  die  Anpassung  bestimmter  Meß- 
texte an  das  Kirchenjahr  Reichtum,  Mannigfaltigkeit  und  Leben. 
Dennoch  haben  im  ganzen  die  orientalischen  Liturgien  die  altchristliche 
Gottesdienstform  und  Gebetsweise  treuer  bewahrt  15.  Der  Grund- 
charakter freilich  ist  bei  beiden  Liturgiegruppen  derselbe.  Der  Ge- 
meindegottesdienst ist  eine  statutarische,  der  freien  Willkür  des  Liturgen 
wie  der  Gemeinde  entzogene,  sakrale  Institution.  Die  Gottesdienst- 
ordnung und  das  Gebetsformular  ist  heilig  und  unantastbar.  In  der  alten 
Kirche  wurde  überall  der  Gemeindegottesdienst  in  der  lebendigen 
Landes-  und  Volkssprache  gefeiert;  eben  darum  zeigen  die  alten  christ- 
lichen Liturgien  eine  Vielheit  von  Sprachen;  es  gibt  griechische  und 
lateinische,  syrische,  koptische,  armenische,  äthiopische  und  slavische 
Meßformulare.  Aber  sobald  die  liturgischen  Gebetstexte  sich  zu  fest- 
stehenden und  unabänderlichen  Ritualformeln  verhärtetetn,  war  die 
lebendige  Sprechsprache  des  Volkes  zur  heiligen  Gottesdienst-  und 
Kirchensprache  geworden,  die  unverändert  beibehalten  wurde,  auch 
wenn  die  lebendige  Volkssprache  in  unaufhöilichem  Fortschritt  sich 
wandelte  oder  wenn  der  Gottesdienst  bei  fremden,  neubekehrten  Völkern 
gefeiert  wurde.  Bis  zum  heutigen  Tage  wird  der  liturgische  Gottes- 
dienst in  der  ganzen  katholischen  Kirche  und  in  allen  orthodoxen  Kirchen 
des  Ostens  in  einer  den  Gläubigen  un-  und  halbverständlichen,  toten 
Kirchensprache  abgehalten . 

Die  Reformation  brachte  gewaltige  Umwälzungen  auf  gottea- 
dienstlichem  Gebiete.  Schon  die  vorreformatori sehen  Wiclif  fiten  und 
Husiten  feierten  (wenigstens  teilweise)  die  Messe  in  der  Landessprache, 
(n  allen  Ländern,  in  denen  die  Reformation  Fuß  faßte,  trat  alsbald  im 
Gottesdienste  die  lebendige  Volkssprache  an  die  Stelle  der  toten  latei- 
nischen Kirchensprache.  In  Deutschland  war  es  Thomas  Münzer,  der 
in  Altstedt  die  erste  deutsche  Messe  einführte.  Aber  die  gottesdienstliche 
Neuerung  der  Reformation  erschöpfte  sich  keineswegs  in  der  Einführung 
<ler  Landessprache  und  in  der  hierdurch  bedingten  Wiederherstellung 


428  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebel 


des  wirklichen  Gemeinde  gottesdienstes.  An  die  Stelle  der  altehr- 
würdigen katholischen  Meßliturgie  treten  neue  Gottesdienstformen,  die 
alle  die  eucharistische  Opfer  handlung  verbannen.  Mit  der  Beseitigung 
der  katholischen  Opferidee  wurde  auch  die  Kommunion,  die  geheimnis- 
volle Tischgemeinschaft  mit  dem  erhöhten  Herrn,  in  den  Hintergrund 
gedrängt.  Der  opferlose,  rein  geistig-sittliche  Wortgottesdienst,  den 
schon  das  synagogale  Judentum  pflegte,  wurde  von  den  Reformatoren 
erneuert.  Dabei  wurde  der  Zusammenhang  mit  den  Gebetstexten  der 
katholischen  Messe  teils  pietätvoll  bewahrt,  teils  konsequent  zerrissen. 
Am  radikalsten  verfuhren  die  Sektenstifter  und  die  Schweizer  Refor- 
matoren, die  die  Bibel  zum  ausschließlichen  Formal-  und  Material- 
prinzip des  Gottesdienstes  erhoben  und  jede  Erinnerung  an  die  römische 
Liturgie  auslöschten.  In  den  evangelischen  Sekten  und  Freikirchen 
überwiegt  das  freie  Gebet  des  Geistlichen  oder  der  Gemeindeglieder; 
der  individualistische  Geist  der  Sekten  verträgt  keine  Bindung  des 
gemeinsamen  Gebets  durch  starre  Ordnungen  und  Formeln.  Die 
Reformatoren  der  Schweiz  schufen  zwar  feste  Gottesdienstordnungen, 
gestalteten  diese  aber  völlig  selbständig  und  unabhängig  von  der  katho- 
lischen Liturgie.  Zwingiis  Gottesdienstordnung 16  zeigt  eine  gewisse 
Dürftigkeit;  im  Mittelpunkt  des  Gottesdienstes  steht  die  Verkündigung 
des  Wortes,  das  Gemeindegebet  bildet  nur  die  Einleitung  und  den 
Schluß  der  Predigt.  Reicher  ist  C  a  1  v  i  n  s  liturgisches  Formular,  das 
sich  an  die  Gottesdienstordnung  des  Straß  burger  Reformators  Martin 
Butzer  anschließt 17;  es  offenbart  bei  aller  Originalität  eine  tiefe  religiöse 
Innigkeit  und  eine  lautere  sittliche  Kraft.  Weit  konservativer  ist 
Luthers  „deutsche  Messe  und  Gottesdienstordnung"  (1526)  18; 
sie  übernimmt  zahlreiche  Gebete  aus  dem  Missale  Romanum;  ausge- 
schlossen sind  alle  jene  Texte,  in  denen  der  Opfergedanke  ausgesprochen 
ist.  Im  Geist  der  Luther'schen  Gottesdienstreform  sind  die  verschiedenen 
Agendenbücher  der  deutschen  Landeskirchen  des  16.  Jahrhunderts  ab- 
gefaßt 19,  ebenso  die  Gottesdienstordnungen  der  skandinavischen 
Kirchen,  die  jedoch  den  Zusammenhang  mit  den  katholischen  Liturgie- 
formen noch  treuer  bewahrten  als  jene.  Die  schwedische  Landeskirche 
hat  bis  heute  das  feierliche  katholische  Zeremoniell,  ja  sogar  den 
Namen  , Messe'  als  Bezeichnung  des  feierlichen  Sonntagsgottesdienstes 
beibehalten  (högynässa)  19b.  In  engem  Zusammenhang  mit  der  römi- 
schen Meßliturgie  steht  trotz  der  verschiedenen  calvinischen  Einschläge 
auch  die  Gottesdienstordnung  der  anglikanischen  Kirche  (the  Book 
of  Common  Prayer)  20.  Alle  diese  evangelischen  Agenden  und  litur- 
gischen Bücher  stellen  genau  so  wie  die  entwickelten  Liturgien  der  alten 
Kirche  feste,  den  Geistlichen  und  die  Gemeinde  bindende  Gottesdienst- 
ordnungen und  statutarische  Gebetsformulare  dar.  „Luthers  frei- 
lassende liturgische  Vorschläge  wurden  zu  landesherrlich  vorgeschrie- 
benen Agenden  verarbeitet,  über  deren  strenger  Befolgung  man  ängstlich 
wachte;  ein  Agendenzwang  kam  auf,  der  dem  Wesen  des  evangelischen 
Gottesdienstes  zuwider  ist  und  dem  Geist  Luthers,  zu  dessen  Ehren 
man  ihn   aufrichtete,  durchaus  widerspricht"    (Rendtorff)  20b. 

Der  Pietismus21  brachte  keine  eigentliche  Reform  der  herkömm- 


Geschichtlicher  Überblick    (Reformatorisches  Christentum)  429 

liehen  Gottesdienstordnungen  der  Landeskirchen.  Er  suchte  vielmehr 
in  engeren  Kreisen  ein  kräftiges  religiöses  Gemeinschaftsleben  zu  wecken. 
In  Speners  collegia  pietatis  und  in  den  Herrenhuter  Brüdergemeinen 
wurde  das  freie  Gebet  und  subjektive  Andachtslied  gepflegt,  das  dann 
aus  den  esoterischen  Kreisen  der  Erweckten  auch  in  den  öffentlichen 
Gottesdienst  eindrang.  Eine  durchgreifende  Änderung  des  Agenden- 
wesens trat  in  der  Periode  des  Rationalismus22  ein.  Die  alt- 
kirchlichen und  reformatorischen  Gebetstexte  standen  in  grellem  Wider- 
spruch zu  dem  rationalen  und  moralistischen  Religionsideal  der  Auf- 
klärung. Man  ersetzte  sie  durch  neue  liturgische  Schöpfungen  im  Sinne 
des  Rationalismus.  An  die  Stelle  der  lapidaren,  kraftvollen  Kirchen- 
gebete traten  langatmige  und  gefühlsweiche  Lehrtexte,  in  denen  die 
rationalistischen  Dogmen  gepredigt  wurden.  An  die  Stelle  der  feier- 
lichen altchristlich-paulinischen  Gebetssprache  trat  eine  seichte,  moderne 
Poetensprache.  „Der  Salon  ton  drang  in  die  Kirche  ein."  Selbst  das 
Vaterunser  und  Credo  wagte  man  im  rationalistischen  Geiste  zu  para- 
phrasieren. 

Die  rationalistische  Agendenreform  drohte  das  echte  Gemeindegebet 
aufzulösen  und  in  einer  erbaulichen  Vernunft-  und  Sittenpredigt  zer- 
fließen zu  lassen.  Gegen  die  Verflüchtigung  des  evangelischen  Heils- 
glaubens in  einer  vagen,  kulturseligen  Vernunftreligion  erhob  sich  bei 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts  mit  elementarer  religiöser  Gewalt  die 
evangelische  Erweckungsbewegung.  Im  Zusammenhang  mit  ihr  steht 
die  Agendenbewegung,  die  in  allen  deutschen  Landeskirchen  einsetzte. 
Es  war  kein  Geringerer  als  König  Friedrich  Wilhelm  III.  von  Preußen  23, 
der  als  erster  sich  um  die  Gottesdienstreform  bemühte;  „den  Liturgiker 
auf  dem  Königsthrone"  hat  man  ihn  nicht  mit  Unrecht  genannt  23b. 
1816  erschien  anonym  die  von  ihm  verfaßte  „Liturgie  für  die  Hof-  und 
Garnisongemeinde  in  Potsdam".  Schleiermacher  übte  an  ihr  scharfe 
Kritik.  Nach  langwierigen  Kämpfen  wurde  die  königliche  Agende 
schließlich  in  ganz  Preußen  angenommen.  In  ähnlicher  Weise  wurden 
im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  auch  in  den  übrigen  deutschen  Landes- 
kirchen allgemeine  Agenden  eingeführt.  (Dabei  blieb  für  manche  Ge- 
meinden der  Gebrauch  älterer  Agenden  gestattet.)  Alle  diese  Reform- 
liturgien unterscheiden  sich  von  der  rationalistischen  Gottesdienstweise 
durch  ihren  evangelisch-reformatorischen  Gedanken-  und  Stimmungs- 
gehalt wie  durch  ihre  feierlich-ernste  biblische  Sprache. 

Der  Kampf  um  die  Agendenreform,  der  zu  Anfang  des  letzten  Jahr- 
hunderts entbrannte,  ist  bis  heute  nicht  zur  Ruhe  gekommen;  das  litur- 
gische Problem  gehört  zu  den  wichtigsten  und  schwierigsten  inner- 
kirchlichen  Problemen  des  modernen  Protestantismus.  Die  Einzel- 
gemeinde fordert  das  Recht,  selbständig  die  Ordnung  des  Gottesdienstes 
und  die  Form  des  liturgischen  Gebets  zu  bestimmen.  Die  individua- 
listische Gegenwartsfrömmigkeit  begnügt  sich  nicht  mit  den  liturgischen 
Formeln  der  alten  Kirche  oder  des  Reformationszeitalters,  sie  verlangt 
nach  eigenem,  selbständigen  Ausdruck.  Man  will  aus  dem  Widerspruch 
herauskommen,  der  zwischen  den  modernen  religiösen  Anschauungen 
und    dem    Gedankongehalt    der    überkommenen    liturgischen    Gebets- 


430  H-  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 


formulare  besteht.  Bei  aller  Pietät  gegenüber  dem  kostbaren  litur- 
gischen Erbe  der  Vergangenheit  fordert  man  Freiheit  für  den  Liturgen 
in  der  Auswahl  und  Fassung  der  Gebete.  Man  will  „nach  den  Gesetzen 
der  Gemeindepsychologie"  24  eine  Idealform  des  Kirchengebets  ge- 
stalten, die  dem  religiösen  Denken  und  Sehnen  des  Gegenwartsmenschen 
angepaßt,  diesen  in  die  Tiefe  christlichen  Gebetsgeistes  führen  soll  25. 
Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet  im  Vollsinne  des  Wortes  ist 
eine  Eigentümlichkeit  der  jüdisch-christlichen 
Religion.  Außerhalb  der  jüdischen  Synagoge  und  der  christlichen 
Kirchen  und  Sekten  lassen  sich  nur  Spuren  und  Ansätze  eines  solchen 
aufweisen.  Bei  kulturarmen  Völkern  treffen  wir  häufig  das  gemeinsame 
Gebet  einer  sozialen  Gruppe  (s.  oben  S.  53  ff.),  das  in  seiner  äußeren 
Form  dem  jüdisch-christlichen  Gemeindegebet  gleicht.  Der  Inhalt 
zeigt  jedoch  denselben  urwüchsigen  Eudämonismus,  der  dem  primitiven 
Einzelgebet  eigen  ist.  Das  gemeinsame  Gebet  ist  hier  nicht  die  Äußerung 
einer  religiösen  Gemeinde,  sondern  einer  profanen,  politischen, 
der  Familien-,  Dorf-,  Gau-  oder  Stammesgemeinschaft;  es  dient  nicht 
dem  religiösen  Heils  verlangen,  sondern  den  profanen  Alltagsinteressen. 
Man  kann  darum  hier  nicht  von  einem  gottesdienstlichen  Ge- 
meindegebet sprechen.  Die  antiken  Kulte  kennen  nur  das  priesterliche 
Ritualgebet  und  den  priesterlichen  Kulthymnus,  der  eine  heilige  Hand- 
lung begleitet.  Nur  in  der  ägyptischen  Religion  des  neuen  Reiches 
treffen  wir  eine  Spur  eines  Gebetsgottesdienstes.  Die  schwungvollen 
Sonnenhymnen  des  Reformatorkönigs  Ichenaton  dienten  wahrscheinlich 
der  von  ihm  gegründeten  Atongemeinde  als  feierliches  Tedeum  beim 
Gottesdienste  26.  Die  synkretistischen  Mysterienkulte  des 
römischen  Reiches  kannten,  soweit  wir  aus  den  spärlichen  Quellen 
schließen  können,  ein  Gemeindegebet.  Dieses  nimmt  jedoch  in  der 
gottesdienstlichen  Feier  nicht  jene  zentrale  Stellung  ein,  die  ihm  in 
der  jüdischen  Synagoge  und  in  den  christlichen  Kirchen  zukommt;  im 
Mittelpunkte  steht  stets  die  geheimnisvolle  sakrale  Handlung,  die  Myste- 
rienweihe, die  der  Priester  und  die  Mysten  mit  geheimnisvollen,  archai- 
schen Formeln  begleiten  27.  Die  sakramentale  Handlung  und  die 
heilige  Formel  allein  sind  es,  welche  das  jenseitige  Heil  auf  magische, 
sinnlich-übersinnliche  Weise  vermitteln.  Der  Islam,  der  in  seinen 
Gebetsordnungen  gänzlich  vom  Judentum  abhängig  ist,  kennt  ein 
öffentliches  Gemeindegebet;  es  findet  nach  der  Vorschrift  des  Koran 
(62,  9)  an  jedem  Freitag  Mittag  in  der  Moschee  statt 28.  Es  spielt 
jedoch  im  Frömmigkeitsleben  des  Muslim  bei  weitem  nicht  jene  Rolle 
wie  das  Synagogengebet  im  Judentum.  Im  Grunde  ist  das  muham- 
medanische  Gemeindegebet  nur  die  gemeinsame  Verrichtung  des  indi- 
viduellen Pflichtgebets  (salät).  Ob  man  im  mazdaistischen 
Parsismus  von  einem  gottesdienstlichen  Gemeindegebet  reden  darf, 
muß  bezweifelt  werden.  Die  Yasna,  die  beim  mazdaistischen  Hochamt 
gesungen  werden,  ähneln  allzusehr  den  einförmigen  antiken  Ritual- 
hymnen, als  daß  wir  sie  mit  dem  alt  jüdischen  und  christlichen  Gemeinde- 
gebet vergleichen  könnten.  Den  zahlreichen  hinduistischen 
Sekten,  in  denen  die  indische  Bhakti-Mystik  eine  kultische  Ausprägung 


Geschichtlicher  Überblick  (Außerchristliche  Religionen)  431 


findet,  ist  ein  gottesdienstliches  Gemeindegebet  ebenso  fremd  wie  dem 
vedischen  Brahmanismus  28b.  Nur  die  moderne  indisch-christliche 
Mischsekte  des  Brdhmasamdj  (Brahmagemeinde),  die  von  dem  Brahma- 
nen  Rammohun  Roy  zu  Anfang  des  verflossenen  Jahrhunderts  gestiftet 
wurde,  hat  nacli  dem  Vorbild  der  abendländischen  evangelischen  Kirchen 
einen  Gemeindegottesdienst  mit  Schriftlesung,  Gebet  und  Gesang 
eingeführt.  Der  Verfasser  der  heute  gültigen  Grottesdienstordnung  ist 
Keschub  Chunder  Sen  29. 

So  lassen  sich  außerhalb  des  Judentums  und  Christentums  nur  küm- 
merliche Spuren  und  Keime  eines  gottesdienstlichen  Gemeindegebets 
aufweisen.  Das  Christentum  (die  israelitisch- jüdische  Mutterreligion 
inbegriffen)  ist  die  „Religion  des  Gebetes"  schlechthin;  dieser  oben 
angeführte  Satz  (S.  235  f.)  bewahrheitet  sich  ebenso  im  individuellen 
Frömmigkeitsleben  der  großen  christlichen  Persönlichkeiten  wie  im 
gottesdienstlichen  Leben  der  christlichen  Kirchen  und  Sekten.  Das 
Gebet  ist  im  Christentum  der  Mittelpunkt  der  persönlichen  Frömmigkeit^ 
es  ist  ebenso  der  Brennpunkt  des  Gemeindegottesdienstes. 

3.  Motiv  und  Zweck  des  gottesdienstlichen  Ge- 
meindegebets. 
Alles  Beten  ist  ursprünglich  der  unmittelbare  Ausdruck  quellender 
Affekte,  aufwühlender  religiöser  Erlebnisse.  Auch  das  gottesdienstliche 
Gemeindegebet  ist  ursprünglich  nicht  die  absichtliche  Schöpfung  eines 
oder  mehrerer  frommer  Menschen,  sondern  der  innerlich  notwendige 
Ausdruck  der  gemeinsamen  religiösen  Erfahrungen  einer  enge  ver- 
bundenen Gruppe.  In  den  Zeiten  gewaltiger  religiöser  Erregung,  in 
denen  bestehende  religiöse  Gemeinschaften  sich  fester  zusammen- 
schließen oder  neue  sich  bilden,  bleibt  das  kraftvolle  Frömmigkeits- 
leben nicht  auf  einzelne  schöpferische  Genien  beschränkt,  sondern  strömt 
über  auf  alle  Glieder  der  Gemeinde.  Die  jüdische  Exilsgemeinde,  die 
Makkabäergemeinde,  das  Urchristentum  und  all  jene  christlichen 
Sekten,  die  aus  einer  Erneuerung  des  urchristlichen  Enthusiasmus 
hervorgingen,  offenbaren  ein  erstaunlich  kräftiges  religiöses  Kollektiv- 
erleben. „Ein  Leib  sind  wir  viele"  (1  Kor  10  27)  —  kein  Wort  ver- 
anschaulicht das  innige  Gemeinschaftsgefühl,  das  all  diese  religiösen 
Bewegungen  durchdringt,  plastischer  wie  dieses  paulinische  Bekenntnis. 
Ein  einziges  großes  Erlebnis  durchflutet  die  alte  jüdische  Gemeinde: 
das  Bewußtsein  Jahwes  auserwähltes  Volk  zu  sein  und  die  Hoffnung 
auf  Israels  Herrschaft  über  die  Heiden.  Ein  einziges  großes  Erlebnis 
durchströmt  die  urchristliche  Kirche:  die  Gewißheit  des  in  Christus 
geschenkten  Heils  und  die  Sehnsucht  nach  der  baldigen  Vollendung 
des  Gottesreiches.  Dieses  gemeinsame  große  Erlebnis  drängt  spontan 
nach  Aussprache  im  Gebet,  genau  so  wie  jedes  affektive  religiöse  Er- 
lebnis eines  Einzelnen  nach  Entladung  durch  das  Gebet  verlangt.  Die 
ihres  Heils  gewisse  Gemeinde  will  „einmütig  mit  einem  Munde"  ihren 
Gott  preisen  (öfio^ufiaööv  iv  kvl  öTÖfian  dol;<j£r[se  Roe  15  5  f.)30; 
sie  will  ihm  als  großer  Chor  lobsingen  {xögog  yerö/ueroi  ctorjte  Ign.  ad 
Rom.    22);    die    nach    dem    Heil    sich    sehnende    Gemeinde    will    in 


432  H.  Das  gottesdiensüiche  G-emeinclegebet 


„einer  gemeinsamen  Bitte"  zu  ihrem  Gott  flehen    (/nia    dirjaig  gorco 
xoivt]  Ign.  ad  Magn.  7  2). 

Das  Gemeindegebet  ist  nicht  bloß  der  Ausdruck  des  religiösen  Kol- 
lektiverlebnisses,  es  dient  auch  der  gegenseitigen  Erbauung  der 
Gemeindeglieder.  „Erbauung"  (oixoifofii])  —  ein  Terminus,  den 
der  Völkerapostel  in  die  religiöse  Sprache  des  Christentums  eingeführt 
hat  —  ist  die  Übertragung  religiöser  Gefühle  bzw.  die  Weckung,  Steige- 
rung und  Verlebendigung  schon  vorhandener  religiöser  Gefühle,  Stim- 
mungen und  Willenstendenzen  „Alles  geschehe  zur  Erbauung!"  ist 
die  Maxime,  die  Paulus  den  Korinthern  in  seiner  Erörterung  des  gemein- 
samen Gottesdienstes  entgegenhält  (1  Kor  14  26).  Durch  das  enthu- 
siastische Gebet  eines  Geistbegabten  sollen  alle  Brüder  in  dieselbe 
religiöse  Stimmung  und  Leidenschaft  hmeingezogen  werden,  aus  welcher 
dieser  betet.  Eben  deshalb  will  Paulus  die  ekstatische  Gebetssprache 
des  Zungenredens  vom  Gemeindegottesdienst  möglichst  fernhalten, 
weil  von  ihr  keine  erbaulichen  Wirkungen  auf  die  Versammelten  aus- 
gehen. Die  Brüder  werden  von  dem  affektiven  Gebet,  das  sich  in  wirren 
Wortfragmenten  oder  unverständlichen  sprachlichen  Neubildungen  äußert 
{s.  o.  S.  358),  nicht  zum  Mitbeten  angeregt.  „Denn  d  u  betest  wohl 
schön,  aber  der  andere  wird  nicht  erbaut"  (1  Kor  14  17).  Das  Gemeinde- 
gebet soll  also  die  in  den  Seelen  schlummernden  religiösen  Gedanken 
und  Gefühle  wecken,  die  schon  lebendigen  steigern  und  vertiefen;  es 
soll  in  allen  am  Gottesdienst  Teilnehmenden  eine  warme  Gebets-  und 
Andachtsstiminung  erzeugen.  Luther  hebt  diese  eine  Seite  des 
gemeinsamen  Gebets  hervor.  „Daheim  im  Hause  bin  ich  so  wacker  und 
lustig  nicht;  aber  in  der  Kirche  unter  dem  Haufen  ist's  herzlich  und 
dringet  auch  durch."  Er  rühmt  das  „Gebet  unter  dem  Haufen  und  in 
der  Versammlung,  da  eins  das  andere  reizt,  bewegt  und  erhitzt,  daß  es 
stark  zu  Gott  dringt  und  dadurch  erlangt  ohne  allen  Zweifel,  was  es 
will"  31. 

Mit  dem  erbaulichen  Zweck  des  Gemeindegebets  berührt  sich  enge 
der  pädagogische.  Das  Gebet  der  Gemeinde  soll  den  Einzelnen 
auf  eine  höhere  Stufe  des  Betens  erheben.  Die  engen  selbstsüchtigen 
Wünsche  sollen  im  Angesicht  der  Gemeinde  verstummen.  Der  Beter 
soll  sich  in  das  Heilsbewußtsein  der  Gemeinde  einfühlen  und  die  großen 
Anliegen  der  Gesamtheit  als  die  eigenen  erleben.  Die  Kleinen  und 
Schwachen,  die  mit  niederen  und  irdischen  Gedanken  zur  Versammlung 
kommen,  sollen  auf  die  Höhe  reiner  religiöser  Sehnsucht  emporgeführt 
werden,  sollen  beten,  wie  die  Starken  und  Schöpferischen  der  Gemeinde 
beten;  die,  welche  nicht  wissen,  was  wahres  Beten  ist,  sollen  hier  beten 
lernen  und  sich  im  Beten  üben.  Diese  pädagogische  Abz weckung  des 
Gemeindegebets  wurde  von  den  Reformatoren  in  den  Vordergrund 
gerückt  und  von  der  altprotestantischen  Orthodoxie  wie  von  der  moder- 
nen Theologie  immer  entschiedener  betont.  „Die  vorgeschriebenen 
und  vom  Liturgen  verlesenen  Gebete  sind  nicht  eigentlich  Gebete, 
sondern  eine  Anleitung  zu  gemeinsamem  Gebet"  (Von  der  Goltz)  32. 
,,Das  gemeinsame  Beten  und  Singen  im  Gottesdienst  ist  noch  nicht 
das    Gebet  selber,   sondern  nur  eine   Vorbereitung,   eine   Vor- 


3.  Motiv  und  Zweck  433 


Übung  auf  das  Gebet  des  Herzens,  eine  Zubereitung  dei  Seele"  (Geyer)33. 
Dieser  erzieherische  Zweck  des  Gemeindegebets  ist  jedoch  nur  Neben-, 
keineswegs  aber  Hauptzweck.  Alles  gemeinsame  Beten  soll  vielmehr 
unmittelbare  Äußerung  des  gemeinsamen  religiösen  Erlebens  sein  und 
der  wechselseitigen  Erbauung  d.  h.  der  Festigung  und  Erhöhung  dieses 
Erlebens  dienen. 

Das  Gemeindegebet  ist  der  Mittel-  und  Höhepunkt  des  Gemeinde- 
gottesdienstes. Ihm  geht  stets  die  Schriftlesung  und  -erklärung,  die 
Verkündigung  des  Gotteswortes  voraus.  Sie  soll  die  Herzen  der  Gläu- 
bigen zur  Andacht  stimmen  und  zum  gemeinsamen  Gebet  vorbereiten. 
Wie  das  Gebet  der  Mystiker  sich  an  der  Meditation  entzündet  und  von 
ihr  sich  nährt,  so  entzündet  sich  das  Gemeindegebet  an  der  Vertiefung 
in  das  in  der  Schrift  niedergelegte  Gotteswort.  Zum  synagogalen 
Gottesdienst  gehört  die  Thora-  und  Prophetenlektion,  an  die  sich  ein 
erbaulicher  Vortrag  (deräsä)  anschließt.  Auch  im  islamischen  Freitags- 
gottesdienst geht  der  salät  eine  Predigt  (chutba)  voraus  34.  Im  gottes- 
dienstlichen Kapitel  des  ersten  Korint  herbriefe  s  nennt  Paulus  die 
didaxtj  und  kQ[irp>Eia  neben  dem  ipakfiög  als  Bestandteile  des  ur- 
christlichen Gottesdienstes  (14  26).  Nach  der  gottesdienstlichen 
Schilderung  des  Justin  werden  die  Schriften  der  Propheten  und 
die  „Erinnerungen"  der  Apostel  (d.  h.  die  Evangelien)  vorgelesen;  an 
die  Lektion  schließt  sich  die  Mahnrede  des  , Vorstehers'  an  35.  Die 
Schriftlesung  mit  der  darauffolgenden  Predigt  blieb  ein  Wesensbestand- 
teil des  christlichen  Gemeindegottesdienstes  bis  zum  heutigen  Tag. 
Der  innere  Zusammenhang  von  Predigt  und  Gemeindegebet  wird  sehr 
treffend  von  Luther  hervorgehoben: 

„Wo  das  Volk  nicht  zuerst  von  Gott  unterrichtet  ist,  da  ist  es  unmöglich  zu 
beten;  ja,  es  wird  keiner  für  sich  selbst  recht  beten  können,  wo  er  sich  nicht  zuvor 
selbst  den  Glauben  ....  vorprediget;  und  durch  eine  solche  Predigt,  die  sich 
einer  selbst  tut,  wird  das  Herz  beweget  und  erwecket  zum  Gebet.  Solches  ge- 
schieht aber  alles  öffentlich  in  unseren  Kirchen  .  .  . ;  es  schallet  darinnen  für 
und  für  die  Stimme  des  hl.  Evangelii,  damit  die  Leute  von  Gottes  Willen  unter- 
richtet werden.  Zu  solchen  Predigten  kommt  das  Gebet  oder  die  Danksagung. 
So  will  Paulus  in  der  ersten  an  die  Corinthier  (14,  3),  daß  man  die  Gemeinde  erst 
lehren  und  vermahnen  soll,  darnach  kann  man  recht  Gott  danken  oder  an- 
rufen ....     Daß  also  die  Predigt  und  das  Gebet  allezeit  beieinander  seien!"  3S 

Nicht  selten  freilich  —  schon  im  alexandrinischen  Judentum  und 
später  in  vielen  protestantischen  Kirchen  —  nimmt  die  Predigt  die 
herrschende  Stelle  im  Gottesdienst  ein  und  drängt  das  Gebet  zurück. 
„Der  selbständige  Charakter  und  die  gleiche  Dignität  des  Gebets  mit 
der  Predigt  geht  verloren,  das  liturgische  Gemeindegebet  sinkt  zu  einem 
Appendix  der  Predigt  herab"  (Theod.  Harnack)36b.  Ursprünglich 
jedoch  kommt  der  Schriftlektion  und  Homilie  nur  eine  dienende  und 
vorbereitende  Bedeutung  zu.  Nicht  Rede  von  Gott,  sondern  Rede  z  u 
Gott,  nicht  Verkündigung  der  Offenbarung  Gottes,  sondern  unmittel- 
barer Verkehr  mit  Gott  ist  der  eigentliche  Gottesdienst. 

Neuere  um  die  liturgische  Reform  verdiente  evangelische  Theologen  haben 
diesen  Gedanken  klar  erkannt  und  ausgesprochen.  F.  Spitta  schreibt:  ,,Das 
Wesen  des  evangelischen  Kultus  sehe  ich  in  der  Erhebung  des  Herzens  zu  Gott 
im  Gebet.  Dazu  soll  uns  die  Zeit  des  Gottesdienstes  und  das  Gotteshaus  mit 
seinem  Schmucke,  die  Vorlesung  aus  der  heiligen  Schrift  und  die  Predigt  ver« 
Das  Gebet  28 


434  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

helfen"  38  c.  Karl  Anton  urteilt:  „Die  Predigt  bestimmt  nicht,  sie  ist  vielmehr 
nur  Hilfe,  Weg  zur  Erreichung  des  Ziels  ....  Sie  steht  nicht  in  der  Mitte 
des  Ganzen  als  Herrscherin,  sondern  als  Dienerin,  die  bescheiden  erst  hervortritt, 
wenn  sie  ihren  Dienst  zu  verrichten  hat  und  ebenso  darnach  wieder  zurücktritt"  se  d. 
Das  gemeinsame  gottesdienstliche  Gebet  ist  ursprünglich  der  unmittel- 
bare Ausdruck  der  gemeinsamen  religiösen  Erfahrungen  und  dient  der 
gemeinsamen  Erbauung.  Aber  die  regelmäßige  Wiederkehr  der  Gebets- 
zusammenkünfte und  die  dauernde  Identität  des  Gebetsmotivs  be- 
dingten eine  allmähliche  Schwächung  der  motivierenden  Erlebnisse 
und  leiteten  so  einen  fortschreitenden  Erstarrungsprozeß  ein.  Wie  bei 
primitiven  Völkern  das  Gebet  aus  einer  spontanen  und  unmittelbaren 
Affektäußerung  sich  zu  einem  festen  Bestandteil  eines  komplizierten 
Rituals  verhärtet,  so  wird  auch  das  jüdisch-christliche  Gemeindegebet 
aus  der  lebendigen  Äußerung  des  religiösen  Kollektivbewußtseins  zu 
einer  steifen  sakralen  Institution,  einer  überlieferten  Gottesdienst- 
ordnung, die  in  sich  selbst  wertvoll,  in  der  Form  unantastbar  und  deren 
Vollzug  religiöse  Pflicht  ist.  In  dem  Maße,  als  die  Gemeinde  oder  Sekte, 
die  enge  innerliche  und  persönliche  Gemeinschaft  einer  Vielheit  von 
frommen  Individuen,  zur  umfassenden  Landes-  oder  Weltkirche  sich 
fortbildete,  in  dei  die  soziale  Beziehung  der  einzelnen  Glieder  eine  viel 
losere,  äußerlichere  und  unpersönlichere  ist,  in  demselben  Maße  erlosch 
das  lebendige  Gemeinsamkeitsgefühl,  das  sich  im  Gemeindegebet  mit 
innerer  Notwendigkeit  auslebte;  aber  seine  objektive  Schöpfung,  die 
liturgische  Gebetsformel,  lebte  fort  und  entzündete  in  den  Herzen 
mancher  Frommen  immer  wieder  jenes  Gemeinsamkeitsgefühl,  aus  dem 
sie  ursprünglich  geboren  war. 

4.  Die  Form  des  gottesdienstlichen  Gemeinde- 
gebets. 

Das  liturgische  Gemeindegebet  der  jüdischen  Synagoge  und  der 
christlichen  Kirche  zeigt  in  der  Form  gegenüber  dem  gemeinsamen 
Beten  primitiver  Stämme  nichts  wesentlich  Neues.  Alle  die  charak- 
teristischen Formen,  in  denen  die  primitive  Familien-,  Dorf-  oder 
Stammesgemeinschaft  ihre  gemeinsamen  Gebetsanliegen  vor  ihren 
Gott  bringt,  kehren  hier  wieder. 

Das  Bewußtsein  der  Gegenwart  Gottes  und  das  Streben,  durch  das 
gemeinsame  Gebet  sich  gegenseitig  zu  erbauen,  erfordert  Ordnung  in 
der  gottesdienstlichen  Feier.  Paulus  mahnt  die  Korinther  bezüglich 
der  gottesdienstlichen  Versammlung:  nävxa  evox^ßövajg  y.al  xaxä  rd!-iv 
yiveoüo)  (1  Kor  14  40).  Das  Gemeindegebet  besteht  nicht  in  einem 
chaotischen  Stimmengewirr  vieler  Gläubigen,  die  alle  in  eigenen 
Worten  mit  Gott  reden  —  das  wären  die  Einzelgebete  von  vielen,  aber 
keineswegs  ein  Gemeindegebet  —  sondern  in  dem  Gebet  eines  Ge- 
meindegliedes, dem  die  übrigen  mit  Aufmerksamkeit  und  Andacht 
folgen.  Im  altsynagogalen  Judentum  wurde  das  Gebet  nicht  von  einem 
ständigen  Liturgen,  sondern  in  freiem  Wechsel  von  einem  der  Anwesenden 
gesprochen ;  der  jeweils  Betende  hieß  ,Bevollmächtigter  der  Gemeinde' 
(&eliach  sibbur).  Auch  im  Islam  kann  jeder  Gläubige  als  imdm  bei  der 
gemeinsamen  saldt  fungieren,  wenn  er  die  nötigen  Kenntnisse  besitzt  37. 


4.  Form  .  435 

In  der  christlichen  Urgemeinde  hatte  jeder  männliche  Christ,  der  vom 
Geist  ergriffen  war,  das  Recht,  zur  Verkündigung  und  zum  Gebet  das 
Wort  zu  ergreifen.  Die  Sitte  des  allgemeinen  freien  Betens  ist  der 
deutliche  Hintergrund  zum  14.  Kapitel  des  ersten  Korintherbriefes, 
in  dem  der  Völkerapostel  die  Probleme  des  Gemeindegottesdienstes 
bespricht.  „Wenn  ihr  zusammenkommt,  dann  hat  jeder  seinen  eigenen 
Lobgesang"  (14  26).  Nicht  das  Recht  des  freien  Laiengebets  bestreitet 
Paulus,  er  fordert  nur,  daß  jeder  dieses  Recht  zur  Erbauung  der  Ge- 
meinde verwerte  und  in  allgemein  verständlicher  Sprache,  nicht  in 
der  unverständlichen  Glossolalie  bete. 

Der  urchristliche  Enthusiasmus  begann  frühe  zu  verwehen.  Ursprüng- 
lich waren  alle  Glieder  der  Gemeinde  , Geistträger',  charismatisch  Be- 
gabte; aber  gar  bald  wurde  ihre  Zahl  geringer.  An  die  Stelle  des  per- 
sönlichen Geistbesitzes  trat  das  kirchliche  Amt:  der  Episkopat  und 
Presbyterat.  Die  Bischöfe  und  Presbyter  sind  nun  die  amtsmäßigen 
Liturgen,  welche  im  Namen  der  versammelten  Gemeinde  das  gottes- 
dienstliche Gebet  sprechen.  Ignatius  von  Antiochien  redet  in  einem 
Atemzuge  vom  ,, Gebet  des  Bischofs  und  der  Gemeinde"  (ad  Eph.  5  2) 
—  ein  Zeichen  dafür,  daß  bereits  um  die  Wende  des  1.  Jahrhunderts 
der  Bischof  eine  hervorragende  Rolle  beim  gottesdienstlichen  Gemeinde- 
gebet spielte.  Zuerst  scheint  das  eucharistische  Dankgebet  dem  „Vor- 
steher" vorbehalten  worden  zu  sein.  Nach  der  Didache  (10,  7)  dürfen 
noch  die  Propheten,  d.  h.  die  Geistträger  das  Eucharistiegebet 
in  völlig  freier  Weise  sprechen.  Nach  der  Beschreibung  des  Gemeinde- 
gottesdienstes bei  Justin  ist  es  ausschließlich  der  ngoeoröig,  welcher 
bei  der  Darbringung  von  Brot,  Wein  und  Wasser  die  Bitt-  und 
Dankgebete  spricht.  Die  Gebete  der  ,Vormesse'  hingegen,  die  sich 
zwischen  die  Schriftlesung  mit  der  Predigt  und  die  eucharistische 
Mysterienfeier  einschieben,  scheinen  nach  der  Schilderung  Justins  freie 
Gebete  einzelner  Gemeindeglieder  gewesen  zu  sein  38.  Hier  stehen  also 
das  allgemeine  Laiengebet  und  das  priestei  liehe  Amtsgebet  neben- 
einander. Später  gingen  dann  alle  gottesdienstlichen  Gebete  in  die 
Hände  des  Amtspriesters  (Bischofs  oder  Diakons)  über.  Aber  neben 
und  nach  dem  ordentlichen  Vorbeter,  dem  Gemeindevorsteher  und 
seinen  Gehilfen,  hatten  noch  lange  die  Pneumatiker  das  außer- 
ordentliche Recht,  in  der  gottesdienstlichen  Versammlung  sich 
zum  eigenen  Gebet  zu  erheben.  „Daß  der  Besitz  des  Geistes,  nicht 
das  Amt  an  sich,  das  Recht  zu  beten  gab,  davon  behielt  man  ein  Bewußt- 
sein auch  da  n  och ,  wo  die  Beamten  die  geistlichen  Funktionen  übernahmen . 
Ers^  als  der  Geist  erloschen  oder  auf  wunderbare  Sonderwirkungen 
beschränkt  war,  wurde  auch  das  allgemeine  Recht,  in  der  gottesdienst- 
lichen Versammlung  beten  zu  dürfen,  ganz  vergessen"  (Von  der  Goltz)  39. 
Die  christlichen  Sekten,  in  denen  der  urchristliche  Enthusiasmus  stets 
von  neuem  aufloderte,  haben  immer  wieder  den  Versuch  gemacht,  den 
urchristlichen  Gemeindegottesdienst  zu  repristinieren ;  sie  haben  auch 
das  freie,  unbeschränkte  Laiengebet  in  den  gottesdienstlichen  Ver- 
sammlungen erneuert.  Da  aber  der  Enthusiasmus  nur  relativ  kurze 
Zeit  währt  und  der  Geistbesitz  nur  das  Charisma  weniger  Frommer  ist. 


436  H.  .Das  gottesdienstliche  Geuieindegebet 

machten  sich  auch  in  den  Sekten  immer  wieder  jene  Tendenzen  geltend, 
die  im  gottesdienstlichen  Leben  der  alten  Kirche  vom  Laiengebet  zum 
Priestergebet  führten.  So  geben  selbst  die  Quäker,  die  jedes  geistliche 
Amt  und  jede  gottesdienstliche  Bindung  radikal  verwerfen,  solchen 
Geineindegliedern,  die  in  den  Versammlungen  häufiger  vom  Geist 
getrieben  werden,  den  Auftrag  zum  regelmäßigen  Verkünden  und  Beten. 
Diese  ,recorded  ministers'  haben  jedoch  keine  Vorrechte  als  Leiter  der 
Versammlungen,  geschweige  denn  ein  eigentliches  Kirchenamt  40.  Im 
Unterschied  von  den  Sekten  halten  die  evangelischen  Landeskirchen 
an  der  alten  katholischen  Tradition  fest,  nach  der  das  liturgische  Gebet 
wie  die  Predigt  Sache  des  amtsmäßigen  Vertreters  der  Gemeinde  ist 
und  nicht  ausnahmslos  jedem   Gemeindeglied  zusteht. 

Die  Worte  des  Gemeindegebetes  sind  ursprünglich  ebenso  frei, 
vom  Augenblicksaffekt  emgegeben  wie  die  des  spontanen  individuellen 
Gebets.  Der  Enthusiasmus,  der  in  den  Zeiten  religiöser  Anfänge  und 
Umwälzungen  aufflammt,  verträgt  keine  Bindung  des  gemeinsamen 
Betens  an  starre  gottesdienstliche  Formen.  „Der  Geist  weht,  wo  er 
will."  Die  urchristlichen  Geistträger  beten  nach  einem  Wort  der  Didache* 
,,was  sie  wollen"  (10,  7),  so  wie  es  ihnen  der  Geist  eingibt  41.  Tertullian, 
der  energische  Vorkämpfer  der  charismatischen  Montanistenbewegung, 
bezeugt,  daß  die  Christen  bei  ihren  Gebetszusammenkünften  frei  und 
ungebunden  aus  dem  Herzen  beten  (sine  monitore,  quia  de  p  ecto  r  e 
oraraws42;  ut  quisque  de  proprio  ing  enio  posset;  Apol.  30.  39). 
Aber  auch  dann,  als  das  Gemeindegebet  zur  priester  liehen  und  bischöf- 
lichen Amtssache  geworden  war,  blieb  die  Fassung  und  Ausdehnung  des 
Gebets  noch  lange  Zeit  frei.  Nach  der  Schilderung  Justins  betet  der 
Vorsteher  bei  der  eucharistischen  Feier,  öor{  dövetfug  civtco,  d.  h. 
wie  und  solange  es  in  seiner  Kraft  steht  (Apol.  67  5)  43.  Während 
jedoch  das  Gebet  des  Laienpneumatikers  stets  eine  starke  persönliche 
Note  zeigt,  offenbart  das  Beten  des  priesterlichen  Liturgen  trotz  aller 
formalen  Freiheit  im  einzelnen  ein  feststehendes  Schema,  das  sich  an 
das  synagogale  Gebetsschema  anschließt.  Die  allgemeinen  Umrisse, 
die  Aufeinanderfolge  der  Gedanken,  also  das  ,, Rahmenwerk"  sowie 
gewisse  häufig  wiederkehrende  Redewendungen  stehen  fest;  nur  die 
„sprachlich-rhetorische  Ausführung"  ist  das  persönliche  Werk  des 
Augenblicks  44.  Wir  haben  es  hier  mit  einer  Übergangsform  vom  freien 
Gebet  zur  starren  Gebetsformel  zu  tun;  dieselbe  Zwischenform,  das 
,halbfreie',  ,variable'  Gebet  stellten  wir  bereits  beim  Beten  des  primitiven 
Menschen  fest  (s.  o.  S.  50).  Beispiele  eines  solchen  halbfreien  Gebets 
sind  das  Preisgebet,  das  Esra  (Neh  9)  bei  der  Sanktion  des  Gesetzes 
spricht,  wie  das  Kirchengebet,  das  Klemens  seiner  Paränese  an  die 
Korinther  anfügt. 

Nicht  alle  amtsmäßigen  Liturgen  der  altchristlichen  Kirche  verfügten 
über  eine  produktive  Gebetskraft.  So  entstand  schon  frühe  das  Be- 
dürfnis zur  Formulierung  und  Aufzeichnung  von  Mustergebeten, 
die  jedoch  keine  bindenden  Gebetsformulare,  sondern  lediglich  Gebets- 
paradigmen darstellen  45.  In  der  ägyptischen  Kirchenordnung  heißt 
es  ausdrücklich:     ,,Der  Bischof  aber  soll  danken  gemäß  den  oben  ge- 


4.   Form  437 

nannten  Bestimmungen.  Jedoch  liegt  keineswegs  für  ihn  die 
Notwendigkeit  vor,  daß  er  eben  dieselben  Worte  vorbringt,  die  wir  oben 
gesagt  haben,  so  wenn  er  aus  dem  Stegreif  (aTzö  OTiföovg)  redet, 
wenn  er  Gott  dankt;  sondern  nach  dem  Vermögen  jedes  einzelnen  soll 
er  beten.  Wenn  es  ihm  freilich  möglich  ist,  in  ansehnlicher  Weise  und 
gloriosem  Gebet  zu  beten,  so  ist  das  schön,  wenn  er  aber  in  anderer 
Weise  betet  und  ein  Gebet  mäßig  vorbringt,  so  soll  ihn  niemand  hindern ; 
nur  möge  er  beten,  indem  er  unversehrt  ist,  in  rechtgläubiger  Weise"  46. 
Schon  die  Didache  enthält  solche  Mustergebete  für  die  Eucharistiefeier. 
Ebenso  sind  die  oben  (S.  426)  erwähnten  altkirchlichen  Gebetsformulare 
lediglich  Gebetsparadigmen.  Noch  häufiger  sind  wohl  solche  Gebets- 
beispiele mündlich  in  einzelnen   Gemeinden  überliefert  worden. 

Aus  diesen  mündlich  oder  schriftlich  tradierten  Mustergebeten  ent- 
standen allmählich  festgelegte  liturgische  Gebetsformeln  ,  die 
wörtlich  beim  Gottesdienst  rezitiert  wurden.  Die  jüdische  Synagoge 
besaß  wohl  schon  vor  dem  Fall  des  Heiligtums  irgendwie  formelhafte 
gottesdienstliche  Gebete;  das  berühmte  Achtzehngebet,  das  seine 
heutige  Fassung  nach  der  Zerstörung  des  Tempels  erhalten  hat,  hat 
jedenfalls  schon  geraume  Zeit  vorher  formelhafte  Festigkeit  erlangt. 
Doch  sicherte  das  Verbot,  liturgische  Texte  aufzuzeichnen,  das  bis 
zum  Abschluß  des  Talmud  (500)  in  Kraft  blieb,  dem  freien  bzw.  halb- 
freien Gebet  im  synagogalen  Judentum  noch  lange  Zeit  sein  Recht  4T. 
In  der  christlichen  Kirche  vollzog  sich  der  endgültige  Übergang  vom 
freien  zum  formelhaften  Gebet  im  dritten  Jahrhundert;  bis  weit  ins 
dritte  Jahrhundert  hinein  blieb  augenscheinlich  das  freie  Gebet  vor- 
herrschend 48.  Im  fünften  Jahrhundert  treffen  wir  überall  feste  Gottes- 
dienstordnungen und  verpflichtende  Gebetsformulare;  der  Liturge 
betet  nicht  mehr  dnb  avfjd-ovg  (Ägyptische  Kirchenordnung),  ,de 
pectore'  (Tertullian),  sondern  rezitiert  einen  heiligen  Text  aus  dem 
Gedächtnis  oder  liest  ihn  aus  dem  Ritualbuche  ab.  Wo  im  ersten  Jahr- 
hundert das  begeisterte  Gebet  des  Laiencharismatikers  stand,  da  steht 
im  fünften  Jahrhundert  das  durch  die  Überlieferung  geheiligte  Gebets- 
formular des  geistlichen  Amtsträgers. 

Ist  das  liturgische  Gebet  einmal  zur  unantastbaren,  das  Gewissen 
bindenden  Formel  geworden,  so  besitzt  es  eine  ungeheure  Stabilität.  Die 
feierlichen  Gebete,  die  heute  bei  der  Messe  der  katholischen  Kirche  und 
der  orthodoxen  Kirchen  des  Orients  gemurmelt  oder  gesungen  werden, 
gehen  in  ihrer  heutigen  Fassung  ins  sechste  Jahrhundert  und  noch  viel 
weiter  zurück.  Viele  Gebete  des  römischen  Meßbuchs  wie  das  Kyrie, 
Gloria,  die  Kollekten,  die  Präfation  und  das  Sanctus  sind  unverändert 
oder  nur  leise  modifiziert  in  die  evangelischen  Agenden  aufgenommen 
worden.  Andererseits  stammt  ein  nicht  geringer  Bruchteil  der  gottes- 
dienstlichen Gebete,  die  in  den  evangelischen  Kirchen  der  Gegenwart 
im  Gebrauch  sind,  aus  dem  Reformationsjahrhundert  49.  So  tritt  uns 
liier  dieselbe  religionsgeschichtliche  Tatsache  wie  in  den  antiken  Religi- 
onen entgegen:  die  liturgische  Gebetsformel  überdauert  Jahrhunderte, 
ja  Jahrtausende ;  sie  ist  fast  unsterblich ;  selbst  die  gewaltigsten  religiösen 
Erschütterungen  und  Umwälzungen  vermag  sie  zu  überstehen. 


438  H.  Das  gottesdienstliche  Gememdegebet 

Gegen  die  Bindung  des  gemeinsamen  Gebets  durch  vorgeschriebene 
Ordnungen  und  Formeln  haben  die  evangelischen  Sekten  mit  aller  Kraft 
protestiert.  Den  englischen  Independenten  galt  ein  festgesetztes  Gebet, 
eine  statutarische  Liturgie,  als  Vernichtung  des  heiligen  Geistes,  als 
eine  Blasphemie  gegen  Gott;  selbst  das  Gebet  des  Herrn  war  von  dieser 
Verwerfung  alles  fest  formulierten  Betens  nicht  ausgenommen.  M  i  1 1  o  n 
verdolmetscht  in  packenden  Worten  diesen  antiliturgischen  Independen- 
tengeist : 

„Ein  wahrer  Christ  kann  keinen  Grund  finden,  warum  eine  Liturgie  zugelassen 
werden  sollte,  da  eine  solche  Vorschrift  weder  auferlegt  noch  gehandhabt  wurde 
von  jenen  ersten  Gründern  der  Kirche,  welche  allein  dazu  Vollmacht  hatten. 
Ohne  deren  Vorschrift  und  Beispiel  legt  des  Priesters  Gebet  ebenso  oft,  wie  dieser 
seinen  Amtsrock  und  sein  Chorhemd  anzieht,  ein  liturgisches  Sklaven jocb  an  ...  . 
Auch  wenn  die  Worte  der  Liturgie  selbst  Manna  wären,  so  würden  sie  doch,  wenn 
sie  aufgehäuft  und  uns  auferlegt  sein  sollten,  —  während  doch  Gott  jeden  Morgen 
neue  Ausdrücke  in  unser  Herz  niederregnen  läßt  — ,  eben  aufbewahrtem  Manna 
gleichen,  das  leicht  Würmer  erzeugt  und  stinkt.  Gott  hat  uns  nicht  einen  Reich- 
tum von  solchen  Worten  gegeben,  damit  wir  sie  so  reichlich  bei  allen  anderen  Ge- 
legenheiten gebrauchten  und  gegen  ihn  allein  so  kniggerisch  seien  bei  unserer  An- 
dacht ....  WieGott  unserGefühl  läßt  geleitet  werden  durch  seinen  heiligenden  Geist, 
so  sorgt  er  in  gleicher  Weise  dafür,  daß  unsere  Worte  in  uns  gelegt  würden  ohne 
unser  vorangehendes  Nachdenken,  aber  weit  mehr  jene  kindlichen  Worte,  die 
wir  so  häufig  brauchen,  wenn  wir  mit  voller  Redefreiheit  zu  dem  Thron  der  Gnade 
hinzutreten.  Diese  hinzugeben  für  andere  gebräuchliche  Eingebungen  von 
Menschen  wäre  eine  Beleidigung  seiner  vollkommenen  Gabe.  Und  auch  wenn 
die  Gabe  bloß  eine  natürliche  wäre,  so  sind  freiwillige  Gebete  weniger  mit  einer 
oberflächlichen  oder  bloß  anempfundenen  Stimmung  verbunden.  Einzelne  Fälle 
von  ungehörigen  freien  Gebeten  beweisen  nichts  gegen  die  Sache.  Können 
unvorbereitete  Schwätzer  nicht  anders  zurechtgewiesen  werden  als  dadurch, 
daßder  Geist  Gottes  verboten  werdenmuß  in  allen  Menschen?  .  ..  Welche  Unwissen- 
heit und  Schwachheit,  den  Gebrauch  stehender  Formeln  als  Beständigkeit  auszu- 
legen! Als  ob  Beständigkeit  wäre  im  Kuckuck,  der  immer  dieselbe  Liturgie 
schreit!  Gegen  Roheit,  Unverschämtheit  und  Plattheit  ist  das  rechte  Mittel 
nicht  die  Liturgie,  sondern  Gottes  eigener   Geist"  50. 

Aus  diesen  Motiven  heraus  haben  die  Sekten  das  freie  Gemeinde- 
gebet —  sei  es  nun  das  freie  Gebet  des  Predigers  oder  auch  der  Ge- 
meindeglieder ohne  Unterschied  — ■  im  Sinne  des  ältesten  Christentums 
erneuert  61.  In  dem  vom  Sektengeist  berührten  Calvinismus  herrscht 
das  freie  Gebet  vor.  Die  radikalste  Form  des  freien  Gemeindegebets 
stellen  die  Quäkermeetings  dar.  Die  Quäker  fordern  für  ihre  gottes- 
dienstlichen Versammlungen  nicht  nur  das  freie,  von  keiner  Formel- 
haftigkeit  beengte  Beten,  sondern  das  völlig  spontane,  aus  Inspirations- 
zuständen  gewaltsam  hervorbrechende  Beten.  Ein  Augenzeuge  schildert 
folgendermaßen  den   Quäkergottesdienst: 

,,Ln  einem  einfachen  Saale  versammeln  sich  die  Freunde  des  Lichts  in 
dem  tiefsten  Stillschweigen  um  den  Geist  von  allen  irdischen  Zerstreuungen 
zurückzuziehen  und  durch  diese  innere  Sammlung  sich  zum  Vernehmen  der  himm- 
lischen Einsprache  geschickt  zu  machen.  Diese  feierliche  Stille  mag  wohl  eine 
halbe  oder  ganze  Stunde  fortgesetzt  werden,  ohne  daß  sie  eine  andere  Unter- 
brechimg erlitte  als  die,  welche  das  Seufzen  und  Stöhnen  einzelner  vom  Geist 
bewegter  Gemüter  hervorbringt,  bis  sich  ein  Glied  von  oben  angetrieben  fühlt. 
Mann  oder  Weib,  das  Haupt  entblößt,  sich  erhebt  zur  Predigt  oder  auf  die  Knie 
niederfällt  zum  Gebet,  je  nachdem  es  der  Geist  eingibt"  ". 
Dieses  geisteingegebene  Beten  in  den    Quäkermeetings  ist  die  Grenz 


4.  Form  439 

form  des  rein  individuellen  Gebets  und  des  gottesdienstlichen  Kollektiv- 
gebets. 

Die  Agenden  der  lutherischen  Landeskirchen  schreiben  dem  amtieren- 
den Geistlichen  feste  Gebetstexte  vor,  doch  bieten  sie  häufig  mehrere 
Gebetsformulare  zur  freien  Wahl.  Aber  auch  in  den  Landeskirchen 
verstummte  nie  die  Forderung,  dem  freien  Gebet  des  Liturgen  Raum 
zu  gewähren.  Spener,  der  unermüdlich  auf  das  ungebundene  Herzens- 
gebet im  individuellen  Frömmigkeitsleben  drang,  suchte  dem  freien 
Gebet  auch  im  öffentlichen  Gottesdienst  eine  Stätte  zu  schaffen,  ohne 
daß  er  jedoch  daran  dachte,  die  feststehenden  Gebetsformulare  zu 
beseitigen.  Er  empfand  nur  das  Bedürfnis,  die  stereotype  Formel  zumal 
des  der  Predigt  folgenden  allgemeinen  Kirchengebets  durch  ein  indi- 
viduelles, an  die  jeweilige  Predigt  sich  anschließendes  freies  Gebet  zu 
ergänzen  53.  Freilich  handelt  es  sich  hier  nicht  um  ein  völlig  spontanes, 
improvisiertes,  aus  der  Eingebung  des  Augenblicks  hervorquellendes 
Gebet,  sondern  um  ein  verfaßtes,  prämeditier tes.  In  der  Gegenwart 
steht  das  freie  Gebet  im  Mittelpunkt  der  gottesdienstlichen  Reform- 
pläne. Hier  ist  es,  wie  ein  moderner  Theologe  sagt,  „ein  Punkt,  wo  die 
Wahrhaftigkeit  des  individuellen  religiösen  Lebens  mit  den  Forderungen 
des  Gemeinschaftslebens  hart  zusammenstößt"  (Paul  Wernle)  54.  Die 
Richtung,  in  der  die  Reformgedanken  sich  bewegen,  geht  auf  eine  Ver- 
bindung des  formulierten,  traditionellen  Gebets  mit  dem  individuellen 
und  freien  Gebet  des  einzelnen  Liturgen,  wie  sie  schon  von  Spener 
geübt  worden  war 65.  Die  gänzliche  Verdrängung  des  formulierten 
Kirchengebets  aus  dem  Gemeindegottesdienst  und  seine  Ersetzung  durch 
das  freie  Gebet  bedeutet  stets  eine  Bedrohung  des  religiösen  Gemein- 
schaftsbewußtseins. 

Theodosius  Harnack  hat  die  Gründe,  welche  die  Lutheraner  gegen  das 
freie  Gemeindegebet  der  Sektierer  und  Reformierten  ins  Feld  führen,  treffend 
zusammengefaßt:  „Das  freie  Gebet  geht  immer  von  einem  aus;  und  möge  er 
noch  so  sehr  in  und  mit  der  Gemeinde  leben,  seine  Subjektivität,  der  die  anderen 
mit  gleichem  Rechte  gegenüberstehen,  kann  er  nie  ganz  verleugnen.  Das  freie 
Gebet  setzt  immer  die  Differenz  zwischen  einem  und  allen  voraus  und  fordert 
die  Prüfung;  in  dieser  Stimmung  kommt  es  höchstens  zum  Nachbeten,  aber  nicht 
zum  Mit  beten.  Noch  weniger  sind  hiebei  Einzelgemeinde  und  Gesamt  gemeinde 
verbunden.  Soll  nun  diese  Differenz  verschwinden,  soll  ein  Gebetsakt  zustande 
kommen,  der  unmittelbar  und  zugleich  von  allen  ausgeht  und  in  dem  sich 
Ijokalgemeinde  und  Gesamtgemeinde  eins  wissen,  so  kann  dies  nur  durch  ein 
formuliertes  Gebet  geschehen.  Das  Gebet,  allen  gegeben  und  allen  bekannt, 
erkennen  auch  alle  als  das  ihrige  an,  denn  es  geht  ursprünglich  und  unmittelbar 
von  allen  aus"  84b. 

Die  Sprache  des  gottesdienstlichen  Gemeindegebets  ist  eine  ganz 
andere  als  die  des  individuellen  Betens.  Der  Liturge,  der  im  Namen  und 
an  Stelle  der  Gemeinde  zu  Gott  spricht,  befindet  sich  in  einer  ganz 
anderen  seelischen  Stimmung  wie  der  Fromme,  der  im  stillen  Kämmerlein 
sein  Herz  vor  Gott  ausschüttet.  Das  Bewußtsein  der  Anwesenheit  vieler 
bedingt  eine  unwillkürliche  Beschränkung  des  individuellen  Erlebens, 
eine  gewisse  Gefühlsverhaltung  54c.  Die  andachtsvolle  Stille,  mit  der 
die  Versammlung  auf  seine  Worte  lauscht,  bewirkt  eine  Stimmung  der 
Erhabenheit.  Diese  eigenartige  Gemütsverfassung  äußert  sich  ebenso 
in  der  Klangfarbe  und  dem  Tonfall  der  Stimme  wie  in  der  Wahl  und 


440  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 


Verbindung  der  Worte.  Während  das  individuelle  affektive  Beten  — > 
zu  diesem  gehört  vielfach  auch  das  enthusiastische  Gebet  der  Laien - 
charismatiker  und  Laienpneumatiker  im  Urchristentum  (1  Kor  14)  und 
in  manchen  Sekten  —  in  unzusammenhängenden  Rufen  und  Seufzern 
hervorgestoßen  wird,  wird  das  liturgische  Gebet  in  langsamem,  feier- 
lichem Tone  und  in  einem  eindrucksvollen,  regulären  Rhythmus  rezitiert 
oder  auch  in  einem  einförmigen  Sprechgesang  (accentus)  oder  einer 
majestätischen  Melodie  (concentus)  gesungen.  Während  jenes,  ent- 
sprechend dem  Wechsel  der  Affekte  und  Gefühle,  eine  Sprunghaftigkeit 
und  Unebenmäßigkeit  der  Gedanken  zeigt,  offenbart  dieses,  entsprechend 
der  gleichförmigen  Stimmung,  einen  klaren  Gedankenfortschritt  und 
durchsichtigen  Aufbau.  Enthüllt  die  Sprache  des  Herzensgebetes  eine 
elementare  Leidenschaft,  einen  ungestümen  Drang,  so  verrät  die  Sprache 
des  liturgischen  Gebetes  feierlichen  Ernst  und  gemessene  Würde.  Die 
zahlreichen  biblischen  Termini  und  Floskeln  verleihen  der  gottesdienst- 
lichen Gebetssprache  einen  ehrwürdig-altertümlichen  Charakter.  Man 
kann  deshalb  von  einem  Sakralstil  des  liturgischen  Gebets  reden,  der 
sich  von  dem  beweglichen  Konversationsstil  des  spontanen  individuellen 
Gebets  deutlich  abhebt.  Diesem  feierlichen  Sakralstil  haftet  jedoch  nicht 
notwendig  das  Moment  des  Künstlichen,  Gemachten  und  Unnatürlichen 
an.  Im  Gegenteil  zeigt  gerade  die  Sprache  der  altchristlichen  Gebete 
wie  des  klementinischen  Kirchengebets  oder  der  Didache-Gebete  eine 
natürliche  Schlichtheit,  Anspruchslosigkeit  und  Kraft;  sie  ist  geeignet, 
den  Hörer  unmittelbar  zu  ergreifen  und  jene  lebendige  Gebetsstimmung 
zu  erwecken,  aus  der  sie  ursprünglich  floß.  Das  Missale  Romanum 
und  zahlreiche  evangelische  Agenden  haben  diese  Eigenart  des  klas- 
sischen christlichen  Gemeindegebets  bewahrt.  Kraftvolle  Kürze  und 
lapidare  Wucht  eignet  dem  Gloria  und  der  Präfation,  in  denen  die  alt- 
christlichen Gebetsmuster  fortleben.  Im  Gegensatz  hiezu  zeigen  die 
synagogalen  Gebete, die  Gebetsformulare  der  apostolischen  Konstitutionen 
und  die  meisten  Liturgien  der  Ostkirche  eine  weitschweifige  Diktion, 
eine  erdrückende  Häufung  klingender  Epitheta,  einen  rhetorischen 
Prunk  —  lauter  Eigentümlichkeiten,  die  an  die  antiken  Ritualgebete 
und  Kulthymnen  erinnern.  In  ihrem  reflektierenden,  lehrhaften  Ton 
erweisen  sie  sich  bisweilen  eher  als  Katechesen  und  Homilien,  denn  als 
Gebete  der  Gemeinde.  Die  moderne  evangelische  Agendenreform - 
bewegung  sucht  eine  religiöse  Verlebendigung  und  psychologische 
Vertiefung  des  liturgischen  Gebetsstils  herbeizuführen  und  so  das  gottes- 
dienstliche Gemeindegebet  im  altchristlichen  Sinne  zu  erneuern. 

„Wir  fordern,"  sagt  von  der  Goltz,  „Einfachheit  und  innere  Wahrheit,  wir 
fordern  eine  dem  Inhalt  angemessene  Form  und  eine  in  der  Form  lebendige  Fähig- 
keit, lebendigen  Inhalt  mitzuteilen,  also  Schönheit  und  Kraft"  5S.  Rietschel 
findet  beredte  Worte  für  das  Ideal  der  gottesdienstlichen  Gebetssprache:  ,,Da 
das  liturgische  Gebet  das  Gebet  der  Gemeinde  ist,  muß  es  mit  der  Wärme  und 
Innigkeit  zugleich  die  größtmöglichste  Einfachheit,  Klarheit  und  Allgemein- 
verständlichkeit verbinden.  Es  muß  das  allein  zum  Ausdruck  bringen,  was 
sich  bei  der  Voraussetzung  eines  gesunden  christlichen  Gemeindebewußtseins 
auch  in  der  gegebenen  Form  von  selbst  auf  die  Lippen  aller  Kinder  Gottes 
legt.  Sobald  die  Glieder  der  Gemeinde  die  Fassung  der  Gebete  und  die 
Gegenstände  des  Dankes,  der  Bitte,  der  Fürbitte,  nicht  als  den  rechten  Aus- 


4.  Form  441 

druck  der  normalen  christlichen  Empfindung  erkennen  und  daher  das  gesprochene 
Gebetswort  nicht  sofort  zu  dem  ihrigen  machen  können,  sobald  erst  die  Reflexion 
und  die  verständige  Überlegung  die  Brücke  zwischen  dem  Gebetswort  des  Liturgen 
und  dem  eigenen  Herzensgebet  bauen  muß,  hört  das  Gebet  auf,  wirkliches  Ge- 
meindegebet zu  sein.  Das  Gebet  wird  geradezu  zum  Scheingebet,  sobald  es,  anstatt 
alle  Herzen  unmittelbar  vor  Gottes  Angesicht  zu  stellen,  bei  der  Wahrung  der 
äußeren  Gebetsformel  die  Absicht  erkennen  läßt,  auf  die  Gemeinde  eine  Wirkung 
auszuüben  und  die  fromme  Stimmung  erst  zu  wecken.  Der  Stil  des  Gemeinde- 
gebets soll  lapidar,  kurz,  kräftig,  klar  sein  und  muß  darum  lange  Perioden, 
Phrasen,  frappierende  Ausdrücke  und  Wendungen,  überflüssige  Ausschmückungen, 
reflektierende  Betrachtungen,  verständige  Erwägungen,  kurz  alles  was  die  Keusch- 
heit des  einfältigen  Kindesbetens  verletzt,  vermeiden.  Die  Gebete  müssen  sieb 
ebenso  fern  halten  von  steifer  Zurückhaltung,  der  der  kindliche  Sinn  fehlt,  wie- 
von  falscher  Vertraulichkeit,   die  die  Majestät  des  heiligen   Gottes  vergißt"  57. 

Der  Liturge  betet  im  Gottesdienst  nicht  für  seine  Person,  er  ist  viel- 
mehr nur  der  Stellvertreter  und  Bevollmächtigte  der  Gemeinde,  der  in 
ihrem  Namen  und  Auftrag  an  Gott  sich  wendet.  Das  betende  Subjekt 
ist,  wie  schon  der  ,Wir'stil  der  liturgischen  Gebete  zeigt,  die  versammelte 
Gemeinde.  Sie  lauscht  andachtsvoll  auf  die  Worte  ihres  Stellvertreters, 
folgt  ihnen  mit  innerer  Anteilnahme,  betet  schweigend  mit.  Die  alt- 
christliche Gemeinde  bezeugte  diese  innere  Anteilnahme  am  Gebet 
ihres  Vorbeters  durch  die  Gebetshaltung  und  den  Gebetsgestus ;  stehend 
erhoben  die  Gläubigen  ihre  Hände  empor.  Erst  dieses  Mitbeten  der 
gesamten  Gemeinde  mit  ihrem  vorbetenden  Bevollmächtigten  macht 
dessen  Gebet  zu  einem  wirklichen  Gemeindegebet.  Darum  schickt 
der  Vorbeter  seinen  Gebetsworten  eine  ausdrückliche  Aufforde- 
rung der  Anwesenden  zum  Gebet  (jiQooipibvrjoig,  indictio  precum)  57  b 
voraus.  „Preiset  Jahwe!"  rief  in  der  jüdischen  Synagoge  der 
Vorbc  ter  der  Gemeinde  zu  58.  In  der  ägyptischen  Kirchenordnung 
ist  es  der  Diakon,  der  vor  dem  Gebete  die  Versammlung  mahnt: 
„betet"  oder:  „ihr,  die  ihr  dastehet,  neiget  euer  Haupt!"59  In  den 
apostolischen  Konstitutionen  begegnen  uns  als  Gebetsaufforderung  des 
Diakons  die  Formeln:  „Betet!"  „Lasset  uns  beten!"  „Lasset  uns  auf- 
merken!" „Lasset  uns  aufstehen!"  60  Im  römischen  Missale  geht 
zahlreichen  Gebeten  die  schlichte  Einladung:  „oreynus/"  voraus,  die 
uns  auch  in  den  evangelischen  Liturgien  begegnet.  Diese  kurze  Gebets- 
aufforderung erweitert  sich  bisweilen  zu  einer  förmlichen  Ermahnung, 
durch  welche  die  Gläubigen  auf  das  folgende  Gebet  vorbereitet  werden 
sollen.  Uralt  ist  die  in  der  Ost-  und  Westkirche  (und  noch  in  der  Abend- 
mahlsliturgie vieler  evangelischen  Kirchen)  gebräuchliche  Wechsel- 
r  e  d  e  zwischen  Bischof  und  Volk,  welche  das  eucharistische  Hochgebet 
einleitet:  „Der  Herr  sei  mit  euch!  —  Und  mit  deinem  Geiste!  —  Auf- 
wärts die  Herzen!  —  Wir  haben  sie  beim  Herrn!  —  Lasset  uns  dank- 
sagen dem  Herrn,  unserem  Gotte!  —  Es  ist  würdig  und  recht  "61.  Die 
Gebetseinheit  zwischen  Liturg  und  Gemeinde  kommt  nirgends  so  über- 
wältigend zum  Ausdruck  wie  in  dieser  wundervollen  Antiphonie,  in 
welcher  die  Gemeinde  die  Gebetsaufforderung  ihres  Vorstehers  freudig 
bejaht. 

Die  gewöhnlichste  Form,  in  der  die  Gemeinde  ihre  innere  Anteilnahme 
an  den  Gebetsworten  ihres  Stellvertreters  kundgibt,  ist  das  Re'spon- 
Horium,  ein   kurzer,  formelhafter   Gebetsruf,   mit  welchem   sie  am 


442  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

Schlüsse  eines  Gebetes  oder  Gebetsabschnittes  einfällt.  Die  Psalmen- 
gesänge im  Tempel  zu  Jerusalem  wurden  vom  anwesenden  Volk  mit 
einer  doxologischen  Formel  beschlossen :  „Gepriesen  sei  Jahwe  in  Ewig- 
keit!" (Ps  89  43).  „Gepriesen  sei  Jahwe,  der  Gott  Israels,  von  Ewigkeit 
zu  Ewigkeit!"  (Ps  41  14;  106  48;  1  Chr  16  36).  Im  altjüdischen  Achtzehn- 
gebet folgt  nach  jeder  Benediktion  oder  Bitte  der  Ruf  der  Gemeinde: 
„Gelobt  seist  du,  Herr!"  ihm  schließt  sich  ein  Epitheton  an,  das  die 
Schlußworte  der  Lobpreisung  oder  Bitte  aufnimmt  und  ihren  Inhalt 
kurz  zusammenfaßt  62.  In  dem  Eucharistiegebet  der  Didache  (c.  9) 
folgt  jedem  Satz  des  Vorbeters  ein  doxologisches  Responsorium  der 
Versammlung.  Das  ganze  Gebet  besteht  in  einem  fast  litaneiförmigen 
Wechsel  von  Liturg  und  Gemeinde,  der  die  dramatische  Lebendigkeit 
des  urchristlichen  Gemeindegebets  vor  Augen  führt. 

Betreff  der  Eucharistie  danket  also;  zuerst  über  den  Kelch: 

V.  Wir  danken  dir,  unser  Vater,  für  den  heiligen  Weinstock  deines  Knechtes 
David,  welchen  du  uns  kundgetan  hast  durch  deinen  Sohn  Jesus. 

R.  Dir  sei  Ehre  in  Ewigkeit  1 

Dann  über  das  gebrochene  Brot: 

V.  Wir  danken  dir,  unser  Vater,  für  das  Leben  und  die  Erkenntnis,  welche 
du  uns  kundgetan  hast  durch  deinen  Sohn  Jesus. 

R.  Dir  sei  Ehre  in  Ewigkeit! 

V.  Wie  dieses  gebrochene  Brot  zerstreut  war  auf  den  Bergen  und  gesammelt 
eins  wurde,  so  laß  deine  Gemeinde  von  den  Enden  der  Erde  zusammengeführt 
werden  in  dein  Reich. 

R.  Denn  dein  ist  die  Herrlichkeit  und  die  Kraft  durch  Jesus  Christus  in 
Ewigkeit." 

Dem  Charakter  der  Eucharistiegebete  als  Dankgebete  entspricht  es, 
daß  jeder  Satz  in  einer  feierlichen  Lobpreisung  ausklingt;  bei  Bitt- 
und  Fürbittegebeten  enthält  das  Responsorium  der  Gemeinde  ebenfalls 
eine  Bitte.  In  der  klementinischen  Liturgie  der  apostolischen  Kon- 
stitutionen (VIII  6  ff.)  und  anderen  orientalischen  Liturgien  bekräftigt 
der  Gebetschor  der  Gläubigen  jede  Bitte  mit  dem  litaneiartigen  Ruf 
xvqIe  Hetjgov  —  ein  Responsorium,  das  in  die  älteste  Zeit  des 
Christentums  zurückgeht.  Darin  liegt  ein  wichtiger  Unterschied  zwischen 
der  altchristlichen  Liturgie  und  den  späteren,  daß  in  ersterer  die  respon- 
dierende  Gemeinde  viel  häufiger  das  Gebet  des  Liturgen  unterbrach  als 
später,  wo  der  lebendige  Kontakt  zwischen  beiden  sich  löste  und  dem 
betenden  Priester  die  Hauptrolle  beim  Gemeindegottesdienst  zufiel  M. 
Andere  antiphonische  Formeln  sind  das  Alleluja  64  und  Hosanna  65, 
Preisrufe,  welche  die  christliche  Gemeinde  in  ihrer  hebräischen  Urform 
aus  der  jüdischen  Synagoge  übernahm,  sowie  das  Maranaiha  (,komm, 
Herr')  66,  der  urchristliche  Sehnsuchtsruf,  der  im  aramäischen  Urlaut 
in  den  hellenistischen  Gemeinden  widerhallte  67. 

Zu  diesen  responsorischen  Zwischenrufen  tritt  der  Schlußruf  Amen  68, 
mit  dem  die  Gemeinde  jedes  Gebet  abschließt.  Mit  dieser  hebräischen 
Partikel,  welche  ,fürwahr',  ,so  ist  es'  bedeutet,  bekennt  sich  die  Ge- 
meinde zu  dem,  was  ihr  Stellvertreter  im  Gebet  gesprochen  hat,  identi- 
fiziert sich  mit  seinen  Worten,  bekräftigt  feierlich  die  innere  Einheit 
zwischen  ihr  und  dem  Liturgen.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  war 
das  Amen  als  chorischer  Abschluß  eines  Gebets  schon  im  alten  Israel  ge- 


4.  Form  443 

bräuchlich;  auch  andere  auf  primitiver  Kulturstufe  stehende  Völker 
kennen  solche  zustimmende  Rufe,  mit  denen  eine  Gruppe  das  Gebet 
ihres  Stellvertreters  beendet  (s.  o.  S.  55).  Dieses  primitive  Respon- 
sorium  wurde  von  der  exilischen  und  nachexilischen  Gemeinde  bei- 
behalten 69  und  in  der  hebräischen  Urgestalt  vom  Urchristentum  über- 
nommen. Die  korinthische  Gemeinde  beantwortet  bei  der  Versammlung 
jedes  Gebet  eines  Bruders  mit  diesem  kurzen  Rufe  (1  Kor  14  16).  Die 
Apokalypse  bezeugt,  daß  die  Gemeinde  das  Lobgebet  der  Ältesten  sich 
mit  einem  Amen  aneignet  (5  13;  7  12).  Dasselbe  berichtet  Justins  Schil- 
derung der  eucharistischen  Feier  in  der  römischen  Kirche  (Apol.  1  65  4; 
67  5).  In  der  katholischen  Kirche  des  Ostens  und  Westens  wie  in  den 
evangelischen  Kirchen  und  Sekten  ist  dieser  uralte  liturgische  Gebetsruf 
zum  stehenden  Schlußwort  eine3  jeden  Gemeindegebets  geworden;  ja 
auch  die  individuelle  Gebetsfrömmigkeit  hat  ihn  sich  angeeignet  (schon 
Tob  8  8)  als  Ausdruck  der  lebendigen  Zuversicht  auf  die  gebetserhörende 
Gnade  Gottes. 

All  diese  kurzen  responsorischen  Gebete  sind  stereotyp,  formelhaft 
und  unveränderlich;  denn  nur  durch  ihre  starre  Gebundenheit  eignen 
sie  sich  zur  Rezitation  durch  einen  Gebetschor.  Sie  sind  jene  Elemente 
im  jüdischen  und  christlichen  Gottesdienst,  die  längst  formelhafte 
Festigkeit  besaßen,  ehe  das  Gebet  des  Vorbeters  zum  gebundenen  Gebet 
geworden  war. 

Außer  diesen  kurzen  Responsorien  werden  auch  feststehende  Gebets- 
texte von  geringerem  Umfange  von  der  gesamten  Gemeinde  rhythmisch 
im  Chore  gesprochen.  Nach  den  apostolischen  Konstitutionen  (Vlll  12) 
wird  das  auf  die  Präfation  folgende  Trisagion  vom  ganzen  Volk  ge- 
betet 70.  Der  natürliche  Rhythmus,  der  in  diesem  Preisgebet  schwingt, 
erleichtert  seine  chorische  Rezitation.  Nach  derselben  Gottesdienst- 
ordnung (Vlll  13)  spricht  die  Gemeinde  ein  feierliches  Lobgebet  vor 
der  Kommunion  71.  Nach  der  Jakobusliturgie  betet  die  ganze  Gemeinde 
das  Vaterunser.  Die  Psalmen,  die  im  jüdischen  und  altchristlichen 
Gemeindegottesdienst  und  später  im  klösterlichen  Stundengebet  Ver- 
wendung fanden,  waren  infolge  ihres  Versbaues  zur  dramatisch- 
antiphonischen  Rezitation  durch  einen  Vorbeter  und  die  ganze  Gemeinde 
oder  durch  zwei  Halbchöre  geeignet  71  b.  Nach  der  Gottesdienstordnung 
Zwingiis  wird  das  Gloria  und  das  apostolische  Glaubensbekenntnis  von 
zwei  Halbchören,  dem  der  Männer  und  der  Frauen  antiphonisch  rezitiert. 

Neben  dem  gesprochenen,  d.  h.  feierlich  vorgetragenen  Chorgebet  steht 
von  Anfang  der  melodische  Chorgesang72.  Das  chorische  Gebets- 
lied lernten  wir  bereits  als  eine  Form  des  primitiven  Betens  kennen. 
Seine  Einführung  in  den  liturgischen  Gottesdienst  dürfte  vornehmlich 
aus  praktischen  Bedürfnissen  hervorgegangen  sein ;  mit  seinen  festen 
Vortragsformen,  Rhythmus  und  Melodie,  ist  der  Gesang  die  einfachste 
Form  des  chorischen  Gebets,  einfacher  und  leichter  als  die  gemeinsame 
Rezitation  im  Sprechtone.  Das  Kirchenlied  nimmt  zu  allen  Zeiten 
und  in  allen  Kirchen  eine  bedeutsame  Stelle  im  Gottesdienst  ein.  Im 
Gegensatz  zum  liturgischen  Gebet  zeigt  es  eine  weit  größere  Variabilität. 
Währond  dieses  im  Laufe  seiner  jahrhundertelangen  Entwicklung  nur 


444  H.   Das  gottesdienstliche   Gerneindegebet 


relativ  geringe  Veränderungen  aufweist,  zeigt  das  geistliehe  Lied  einen 
steten  Wechsel;  in  ihm  spiegelt  sich  die  jeweilige  individuelle  Frömmig- 
keit wider.  Während  die  liturgischen  Gebete  einen  überpersönlichen 
Charakter  tragen  —  wir  kennen  nur  selten  bestimmte  Persönlichkeiten 
als  Verfasser  von  Kirchengebeten  —  sind  die  Kirchenlieder  die  dichterische 
Schöpfung  scharf  umrissener  religiöser  Persönlichkeiten,  die  in  ihnen 
ihr  innerstes  Fühlen  ausgesprochen  haben.  Vergleichen  wir  einen  jüdi- 
schen Piut,  einen  ambrosianischen  Hymnus,  eine  Sequenz  des  heiligen 
Bernhard,  einen  lutherischen  Choral  und  ein  geistliches  Gedicht  Zinzen- 
doifs,  so  erkennen  wir  unzweideutig,  daß  das  Kirchenlied  eine  indi- 
viduelle, keine  spezifisch  soziale,  d.  h.  kirchliche  Größe  ist.  Im  Kirchen- 
lied bricht  die  persönliche  Gebetsfrömmigkeit  in  das  gottesdienstliche 
Leben  der  Gemeinde  herein  und  wird  zum  religiösen  Gemeinbesitz  von 
vielen. 

5.    Der   Inhalt   des   gottesdienstlichen    Gern  ein  de- 
gebe t  s. 

a)  Der  zentrale  Inhalt  des  mystischen  Gebets  ist  die  ausschließliche 
Hinwendung  der  Seele  zum  höchsten  Gut;  den  zentralen  Inhalt  des 
prophetischen  Gebets  bildet  die  Aussprache  der  tiefen  Not  der  Seele  und 
die  Bitte  um  das  Heil.  Im  Mittelpunkt  des  liturgischen  Gebets  steht 
der  Lobpreis  der  Größe  und  Macht  Gottes  und  die  Dank- 
sagung für  das  von  Gott  geschenkte  Heil  (beräkhä,  alvog,  döt-a, 
£v%aQiotia).  Das  Responsorium ,  mit  dem  die  synagogale  Ge- 
meinde beim  Achtzehngebet  die  Worte  des  Vorbeters  aufnimmt,  ist  ein 
Preisruf:  „gelobt  seist  du,  Jahwe".  Das  Responsorium,  mit  dem  nach  der 
Didache  (c  9)  die  zur  eucharistischen  Feier  versammelte  christliche  Ge- 
meinde ihrem  Liturgen  antwortet,  ist  eine  Doxologie:  „dir  sei  Ehre  in 
Ewigkeit!"  Der  Verfasser  der  Apostelgeschichte  kennzeichnet  den 
eucharistischen  Gebetsgottesdienst  der  jerusalemischen  Urgemeinde 
als  ein  Lobpreisen  Gottes  (aivovvreg  xbv  üeov  Ap.  G.  2  46).  Ignatius 
von  Antiochien  nennt  die  christliche  Gebetsversammlung  ein  „Zu- 
sammenkommen zur  Danksagung  und  Lobpreisung"  (Eph.  13  x)  73. 
Die  Häufigkeit  der  feierlichen  Doxologien  und  Dankformeln  in  den 
paulinischen  Briefen  74  ist  der  deutliche  Reflex  der  hervorragenden 
Stellung,  welche  das  Preis-  und  Dankgebet  in  der  gottesdienstlichen 
Versammlung  einnahm.  Origenes  steht  unter  dem  Eindruck  der  litur- 
gischen Gewohnheit  der  alten  Kirche,  wenn  er  in  seinem  theologischen 
Gebetsschema  die  Lobpreisung  und  Danksagung  als  die  beiden  ersten 
xönoi  des  christlichen  Gebets  bezeichnet  (de  or.  33,  1).  Ja,  es  ent- 
spricht durchaus  der  zentralen  Stellung  des  Lobpreises  und  Dankes  im 
christlichen  Gemeindegebet,  wenn  die  christliche  Mysterienfeier  schlecht- 
hin als  Eucharistie,  d.  h.  Danksagung  bezeichnet  wird  75.  Lobpreis  und 
Dank  sind  aber  nicht  nur  eine  selbständige  Gebetsgattung,  die  im 
Gemeindegottesdienst  die  erste  Stelle  einnimmt,  sondern  gehören  zur 
Einleitung  eines  jeden  Kirchengebets.  Jedes  gottesdienstliche  Bitt- 
gebet enthält  einen  Lobpreis,  wenn  auch  nur  in  der  knappen  Form  eines 
Relativsatzes.     Im   Gottesdienst  der  altchristlichen  Zeit  nehmen  Lob- 


5.  Inhalt  (Lobpreis  und  Dank)  445 

preis  und  Dank  einen  breiteren  Raum  ein  als  in  den  späteren  Liturgien. 
Als  der  Enthusiasmus  verflogen  und  das  Heilsbewußtsein  ärmer  ge- 
worden war,  trat  die  Bitte  um  Heil  in  den  Vordergrund. 

Das  Lob-  und  Dankgebet  trägt  stets  einen  kontemplativen  Charakter : 
der  Betende  vergegenwärtigt  sich  Gottes  Größe  und  Macht,  Heiligkeit 
und  Güte.  Hier  berührt  sich  das  gemeinsame  Kirchengebet  mit  dem 
Beten  des  Mystikers,  der  sich  sinnend  und  schauend  in  Gottes  Unend- 
lichkeit versenkt.  Gleichwohl  besteht  ein  unverkennbarer  Unterschied. 
Der  Mystiker  blickt  unverwandten  Auges  auf  Gott  als  das  jenseits 
aller  Wirklichkeit  stehende  summum  bonum,  das  in  sich  vollendete, 
ruhende  höchste  Ideal;  die  betende  jüdische  und  christliche  Gemeinde 
betrachtet  Gott  als  den  lebendigen,  in  der  Natur  und  Geschichte  wirk- 
samen, als  den  Schaffenden  und  Herrschenden,  Richtenden  und  Schen^ 
kenden. 

Das  jüdische  Achtzehngebet  hebt  an  mit  den  Worten:  „Gelobt  seist  du,  Herr, 
unser  Gott  und  Gott  unserer  Väter,  Gott  Abrahams,  Gott  Isaaks,  Gott  Jakobs, 
großer,  mächtiger  und  furchtbarer  Gott,  allerhöchster  Gott,  der  du  spendest 
reiche  Gnade  und  schaffest  alle  Dinge  und  gedenkest  der  Gnaden  und  Verheißungen 
der  Väter  und  bringest  einen  Erlöser  ihren  Kindeskindern  um  deines  Namens 
willen  aus  Liebe.  O  König,  der  du  Hilfe  und  Heil  bringest  und  ein  Schild  bist. 
R.  Gelobt  seist  du,  Herr,  Schild  Abrahams.  —  Du  bist  allmächtig  in  Ewigkeit, 
Herr,  der  du  Tote  lebendig  machest.  Du  bist  mächtig  zu  helfen,  der  du  Lebende 
erhältst  aus  Gnade,  Tote  lebendig  machst  aus  viel  Erbarmen,  Fallende  stützest 
und  Kranke  heilest  und  Gefangene  befreiest  und  dein  Wort  getreulich  hältst 
denen,  die  im  Staube  schlafen.  Wer  ist  wie  du,  Herr  der  Stärke ;  und  wer  gleicht 
dir,  o  König,  der  du  tötest  und  lebendig  machst  und  sprossen  lassest  Hilfe  und 
treu  bist,  Tote  lebendig  zu  machen.  R.  Gelobt  seist  du,  Herr,  der  du  lebendig 
machest  die  Toten.  —  Du  bist  heilig  und  dein  Name  ist  heilig  und  Heilige  lob- 
preisen dich  jeden  Tag.  R.  Gelobt  seist  du,  Herr,  heiliger  Gott!"  78  Die  erste 
Benediktion  des  das  jüdische  Morgen-Schma  umrahmenden  Preisgebetes  lautet : 
,, Gepriesen  seist  du  Jahwe,  unser  Gott,  König  der  Welt,  der  das  Licht  gestaltet 
und  die  Finsternis  schafft,  der  Frieden  macht  und  das  All  schafft,  der  Licht  bringt 
der  Erde,  der  in  seiner  Güte  beständig  das  Werk  der  Schöpfung  erneuert.  Wie 
groß  sind  deine  Werke,  Jahwe  1  Alles  schufest  du  mit  Weisheit,  die  Erde  ist 
voll  deiner  Schöpfung,  du  König,  du  Höchster  allein,  von  jeher  gepriesen  und 
verherrlicht  und  erhaben  in  ewige  Zeit  ....  Fürsten  seiner  Scharen,  Heilige 
erheben  den  Allmächtigen,  beständig  kündend  Gottes  Ehre  und  Heiligkeit. 
Hochgelobt  seist  du,  Jahwe,  unser  Gott,  für  das  preiswürdige  Werk  deiner  Hände 
und  für  das  Licht,  das  du  schufst,  sei  gerühmt  ....  Sie  alle  heben  vereint 
an  und  rufen  in  Furcht:  Heilig,  heilig,  heilig,  Jahwe  Sebaoth,  voll  ist  alle  Welt 
seiner  Pracht"  n. 

In  einem  ähnlichen  Gedankenkreis  wie  das  Achtzehngebet  bewegt  sich  das 
schlichte  Kirchengebet  des  römischen  Bischofs  Clemens  (ad  Cor.  59  »):  „Du  hast 
die  Augen  unseres  Herzens  geöffnet,  auf  daß  wir  dich  erkennen,  den  Einen,  den 
Höchsten  unter  den  Höchsten,  den  Heiligen,  der  unter  den  Heiligen  ruht;  der 
du  demütigst  den  Stolz  der  Hochmütigen,  der  du  zerstörst  die  Pläne  der  Heiden, 
der  du  erhöhst  die  Niedrigen  und  erniedrisgt  die  Hohen;  der  du  reich  machst 
und  arm  machst,  der  du  tötest,  rettest  und  lebendig  machst,  du  alleiniger  Wohl- 
täter der  Geister,  du  Gott  alles  Fleisches,  der  du  schaust  bis  in  die  Abgründe, 
der  du  überblickst  der  Menschen  Werke,  du  Helfer  derer,  die  in  Gefahr  sind,  du 
Retter  der  Hoffnungslosen,  du  Schöpfer  und  Schiriner  jeder  Seele  ....  Du 
hast  die  ewige  Ordnung  des  Weltalls  durch  die  Engel  offenbar  gemacht ;  du.  Herr, 
hast  die  Erde  geschaffen,  du  bist  getreu  in  allen  Generationen,  gerecht  in  deinen 
Gerichten,  wunderbar  in  deiner  Kraft  und  Pracht,  weise  im  Schaffen  und  ver- 
ständig im  Erhalten  des  Geschaffenen;  gütig  gegen  die  Auserwählten  und  getreu 
gegen  die,   welche  auf   dich   vertrauen,   barmherzig   und   mitleidsvoll." 


446  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

Das  gottesdienstliche  Gebet  ist  der  lebendige  Ausdruck  des  Heils- 
bewußtseins einer  religiösen  Gemeinschaft.  Das  Heil  aber  ist  für  das 
jüdische  und  christliche  Glaubensbewußtsein  unlöslich  an  die  Geschichte 
geknüpft;  bestimmte  gottgesetzte  geschichtliche  Tatsachen  sind  Motiv 
und  Stütze  alles  Glaubens  und  aller  Hoffnung  (vgl.  o.  S.  264).  Die 
Heilstaten  Gottes  bilden  darum  einen  wichtigen  Gegenstand  des  litur- 
gischen Lob-  und  Dankgebetes.  Die  zentrale  Heilstatsache  ist  für  den 
jüdischen  Glauben  der  Auszug  Israels  aus  Ägypten.  Sie  wird  in  den 
Rahmengebeten  des  Schma  hervorgehoben. 

In  der  Nachbenedikt ion  des  Morgen- Schma  heißt  es:  „Aus  Ägypten  löstest 
du  uns,  Jahwe,  unser  Gott,  aus  dem  Hause  der  Knechtschaft  befreitest  du  uns, 
all  ihre  Erstgeburt  hast  du  getötet,  doch  deinen  Erstgeborenen  befreit,  hast  das 
Schilfmeer  gespalten  und  die  Frevler  versenkt,  deine  Lieben  ließest  du  hindurch- 
gehen, doch  ihre  Feinde  wurden  bedeckt,  nicht  einer  davon  blieb  übrig  .... 
Moses  und  die  Israeliten  sangen  dir  ein  Lied  mit  großer  Freude  und  sie  riefen 
alle:  Wer  ist  wie  du?  Geschmückt  mit  Heiligkeit,  furchtbar  an  Lob,  Wunder 
vollbringend,  mit  neuem  Liede  priesen  die  Erlösten  deinen  Namen  am  Ufer  des 
Meeres  allzumal.  Insgesamt  dankten  sie,  huldigten  und  riefen:  Jahwe  sei  König 
für  immer  und  ewig!"  78 

Im  christlichen  Gemeindegebet  bildet  den  vorzüglichsten  Gegenstand 
des  Lobpreises  und  Dankes  das  in  Christus  geschenkte  Heil. 

In  der  Einleitung  zum  ersten  Korintherbrief  bekennt  Paulus  im  Stil  und  Tonfall 
des  liturgischen  Gebets:  ,,Ich  danke  Gott  allezeit  für  euch  um  der  Gnade  Gottes 
willen,  die  euch  geschenkt  ist  in  Christus  Jesus"  (1,  4).  Aus  dem  Kirchengebet 
des  römischen  Bischofs  Clemens  spricht  das  Glücksgefühl  der  Erlösten,  die  errettet 
aus  einer  Welt  der  Dämonen,  Kinder  des  Gottesreichs  geworden  sind.  „Durch 
ihn  (Christus)  hast  du  uns  berufen  aus  der  Finsternis  zum  Licht,  aus  der  Unwissen- 
heit zur  Erkenntnis  der  Herrlichkeit  deines  Namens  ....  Du  hast  die,  welche 
dich  lieben,  erwählt  aus  allen  durch  Jesus  Christus  deinen  geliebten  Sohn,  durch 
den  du  uns  bast  gebildet,  geheiligt,  geehrt"  (1  Clem.  59).  Das  Eucharistiegebet 
der  Didache  dankt  in  lapidaren  Worten  für  die  Heilsgüter,  welche  die  Gemeinde 
von  Christus  empfangen  hat:  „Wir  danken  dir,  unser  Vater,  für  das  Leben  und 
die  Erkenntnis,  welche  du  uns  kundgetan  hast  durch  Jesus,  deinen  Sohn;  dir 
sei  Ehre  in  Ewigkeit."  „Wir  danken  dir,  beiliger  Vater,  für  deinen  heiligen  Namen, 
den  du  hast  wohnen  lassen  in  unseren  Herzen,  und  für  die  Erkenntnis  und  den 
Glauben  und  die  Unsterblichkeit,  die  du  uns  kundgetan  hast  durch  Jesus  deinen 
Sohn;  dir  sei  Ehre  in  Ewigkeit"  (9,;  10  2). 

Der  Lobpreis  der  Größe  und  Macht  Gottes  wie  die  Danksagung  für 
das  geschenkte  Heil  erweitert  sich  im  liturgischen  Gebet  der  jüdischen 
und  altchristlichen  Gemeinde  zu  einer  epischen  Betrachtung  der  Schöp- 
fungs-  und  Heilstaten  Gottes,  zu  einem  Abriß  der  gesamten  Schöpfungs- 
und Heilsgeschichte  79.  Das  weitläufige  Gebet,  das  Esra  nach  der 
Rückkehr  aus  dem  Exil  bei  der  feierlichen  Sanktionierung  des  Gesetzes 
spricht  (Neh  9  6  ff.),  beginnt  mit  der  Erinnerung  an  die  Weltschöpfung 
und  durchläuft  dann  die  ganze  Geschichte  Israels: 

„Du,  Jahwe,  bist's  allein;  du  hast  den  Himmel  geschaffen,  den  Himmel  bis 
zu  seinen  höchsten  Höhen  mit  seinem  ganzen  Heer,  die  Erde  und  alles,  was  auf 
ihr  ist,  das  Meer  und  alles,  was  in  ihm  ist,  und  du  machst  sie  alle  lebendig,  und 
das  Heer  des  Himmels  verneigt  sich  vor  dir.  Du  bist's,  Jahwe,  Gott,  der  du 
Abram  erwählt  und  aus  Ur  in  Chaldäa  weggeführt  und  ihm  den  Namen  Abraham 
gegeben  hast.  Und  da  du  sein  Herz  treu  gegen  dich  erfandest,  so  gabst  du  ihm 
die  feierliche  Zusicherung,  daß  du  das  Land  der  Kanaaniter,  Hethiter,  Pheresiter, 
Jebusiter  und  Girgasiter  —  daß  du  es  seinen  Nachkommen  verleihen  wollest. 
Und  du  hast  deine  Zusage  erfüllt,  denn  du  bist  gerecht.  Und  als  du  das  Elend 
unserer  Väter  in  Ägypten  wahrnahmst  und  ihr  Geschrei  am  Schilfmeer  hörtest. 


5.  Inhalt  (Lobpreis  und  Dank)  447 

da  tatest  du  Wunder  und  Zeichen  am  Pharao  und  an  allen  seinen  Dienern  und 
an  allen  Bewohnern  seines  Landes;  denn  du  hattest  bemerkt,  daß  sie  übermütig 
gegen  sie  gehandelt  hatten.  Und  so  machtest  du  dir  einen  Namen  bis  auf  den 
heutigen  Tag.  Und  das  Meer  zerteiltest  du  vor  ihnen,  so  daß  sie  mitten  durch 
das  Meer  auf  dem  Trockenen  hindurchzogen;  aber  ihre  Verfolger  schleudertest 
du  in  die  Tiefen  wie  Steine  in  gewaltige  Gewässer.  Und  in  der  Wolkensäule  führtest 
du  sie  bei  Tage  und  in  der  Feuersäule  bei  Nacht,  um  ihnen  den  Weg  zu  erleuchten, 
auf  dem  sie  ziehen  sollten.  Und  auf  den  Berg  Sinai  stiegst  du  hinab  und,  indem 
du  mit  ihnen  vom  Himmel  redetest,  gabst  du  ihnen  billige  Rechtsforderungen 
und  wahrhaftige  Gesetze  und  gute  Satzungen  und  Gebote.  Und  deinen  heiligen 
Sabbat  hast  du  ihnen  kundgetan  und  ihnen  Gebote,  Satzungen  und  Gesetz  durch 
deinen  Knecht  Mose  anbefohlen.  Und  du  gabst  ihnen  Brot  vom  Himmel  für 
ihren  Hunger  und  ließest  ihnen  Wasser  aus  dem  Felsen  hervorquellen  für  ihren 
Durst.  Und  du  befahlst  ihnen  hineinzuziehen  um  das  Land  in  Besitz  zu  nehmen, 
dessen  Verleihung  du  ihnen  mit  erhobener  Hand  gelobt  hast."  ...  So  schreitet 
dieses  heilsgeschichtliche  Preisgebet  fort  durch  die  ganze  bewegte  Geschichte 
des  auserwählten  Volkes  und  betrachtet  all  die  wunderbaren  Führungen  und 
heilsamen  Strafheimsuchungen  Israels  durch  Jahwe. 

Die  altchristliche  Gemeinde  übernahm  diese  Gebetsweise,  die  dank- 
bare Vergegenwärtigung  der  wunderbaren  Heilstaten  Gottes,  vom 
Judentum.  Das  heilsgeschichtliche  Epos  von  der  Weltschöpfung  und 
der  wunderbaren  Rettung  und  Führung  des  Gottesvolkes  wurde  auch 
im  christlichen  Eucharistiegottesdienste  gesungen.  Die  christliche 
Gemeinde  brachte  dieses  „hohe  Lied  der  göttlichen  Allmacht  und  Allgüte 
zum  krönenden  Abschluß,  indem  sie  seine  Erzählung  fortführend,  von 
der  Menschwerdung  des  eingeborenen  Gottessohnes  und  dem  Erlösungs- 
werk, das  er  im  Fleische  vollbrachte,  berichtete"  (Baumstark)  80.  Sie 
vertiefte  die  Betrachtung  der  alttestamentlichen  Heilstaten  Gottes, 
indem  sie  diese  ins  Licht  der  Erlösungstat  Christi  rückte;  bestimmte 
Fakta  der  jüdischen  Geschichte  traten  im  Lichte  des  neutestamentlichen 
Heilsglaubens  zurück,  andere  schärfer  hervor.  Der  Nachhall  dieser 
Gebetsweise  ist  in  der  ganzen  altchristlichen  Literatur  des  2.  bis  4.  Jahr- 
hunderts im  Osten  und  Westen  wahrnehmbar  81.  In  unmittelbarer 
Lebendigkeit  tritt  sie  uns  in  der  Idealliturgie  des  8.  Buchs  der  aposto- 
lischen Konstitutionen  entgegen. 

Nach  der  bekannten  Antiphonie  von  Bischof  und  Volk,  welche  in  allen  Liturgien 
die  Einleitung  zum  eucharistischen  Hochgebet  bildet,  betet  der  ,Hohepriester' : 
..Fürwahr  würdig  und  recht  ist  es  vor  allem  dich  zu  preisen,  den  wahrhaft  seienden 
Gott,  den  vor  allem  Gezeugten  Existierenden,  von  dem  alle  Vaterschaft  im  Himmel 
und  auf  Erden  ihren  Namen  hat,  den  allein  Ungezeugten  und  Anfanglosen,  der 
keinem  König  und  Gewalthaber  Untertan  ist,  der  nichts  bedarf,  den  Geber  alles 
Guten,  der  größer  ist  als  alle  Ursache  und  aller  Ursprung,  der  immer  einer  und 
derselbe  bleibt;  aus  dem  das  All  wie  aus  gewissen  Schranken  heraus  ins  Sein  trat. 
Du  bist  ja  die  anfangslose  Erkenntnis,  das  unsichtbare  Schauen,  das  ungezeugte 
Hören,  die  ungelernte  Weisheit,  der  erste  der  Natur  nach,  der  Einzige  dem  Sein 
nach,  größer  als  jede  Zahl,  du  hast  alles  aus  dem  Nichtsein  ins  Sein  geführt  durch 
deinen  eingeborenen  Sohn,  ihn  aber  vor  allen  Äonen  gezeugt  durch  deinen  Willen, 
deine  Kraft  und  deine  Güte,  ohne  jede  Vermittlung,  den  eingeborenen  Sohn, 
den  Logos-Gott,  die  lebendige  Weisheit,  den  Erstgeborenen  jeglichen  Geschöpfs, 
den  Engel  deines  großen  Rates,  deinen  Hohenpriester,  den  König  und  Herrn 
aller  geistigen  und  sinnlichen  Natur,  der  vor  allem  ist,  durch  den  alles  ist.  Denn 
du,  o  ewiger  Gott,  hast  durch  ihn  das  All  gemacht,  durch  ihn  würdigst  du  alle» 
der  geziemenden  Vorsehung;  durch  ihn  hast  du  also  das  Sein  gewährt,  durch 
ihn  auch  das  Gut-Sein  geschenkt. 

O  Gott  und  Vater  deines  eingeborenen  Sohnes,  der  du  durch  ihn  vor  allen 
Dingen  die  Cherubim  und  die  Seraphim,  Äonen  und  Heerscharen,  Kräfte  und 


448  H.  Das  gottesdienstliehe  Gemeindegebet 


Gewalten,  Herrschaften  und  Throne,  Erzengel  und  Engel  gemacht  hast  und  hierauf 
die  sichtbare  Welt  und  alles,  was  in  ihr  ist,  geschaffen  hast.  Du  bist  es  ja,  der 
den  Himmel  wie  ein  Gewölbe  aufgestellt  und  wie  ein  Fell  ausgebreitet  hat  und 
die  Erde  auf  das  Nichts  gegründet  durch  deinen  bloßen  Gedanken;  du  hast  das 
Himmelsgewölbe  befestigt  und  Tag  und  Nacht  eingerichtet;  du  hast  das  Licht 
herausgeführt  aus  den  Schatzkammern  und  durch  dessen  Zurücknahme  die 
Finsternis  herbeigeführt  zur  Ruhe  der  lebendigen  Wesen,  die  sich  in  der  Welt 
bewegen;  du  hast  die  Sonne  am  Himmel  bestimmt  zur  Herrschaft  über  den  Tag 
und  den  Mond  zur  Herrschaft  über  die  Nacht  und  den  Chor  der  Sterne  am  Himmel 
eingezeichnet  zum  Lobe  deiner  Herrlichkeit;  du  hast  das  Wasser  geschaffen 
zum  Trank  und  zur  Reinigung,  die  belebende  Luft  zur  Einatmung  und  zur  Fort- 
pflanzung des  Schalls  durch  die  Zunge,  welche  die  Luft  und  das  von  dieser  mit- 
bewirkte Gehör  trifft,  so  daß  dieses  die  ihm  zufallende  Rede  aufnimmt  und  ver- 
steht; du  hast  das  Feuer  erschaffen  zur  Linderung  der  Finsternis,  zur  Befriedigung 
des  Bedürfnisses  und  damit  wir  von  ihm  erwärmt  und  erleuchtet  werden,  hast 
das  große  Meer  vom  Festlande  geschieden  und  das  eine  schiffbar,  das  andere 
«ur  Grundlage  unserer  Füße  gemacht,  das  eine  mit  kleinen  und  großen  Lebe- 
wesen, das  andere  mit  zahmen  und  wilden  erfüllt,  mit  mannigfachen  Gewächsen 
bekränzt,  mit  Pflanzen  gekrönt,  mit  Blumen  geschmückt,  mit  Saaten  bereichert; 
du  hast  den  Abgrund  gebaut  und  um  ihn  herum  einen  großen  Wall  aufgeworfen, 
die  gehäuften  Fluten  der  Salzwasser,  und  ihn  umschlossen  von  den  Toien  des 
feinsten  Sandes;  du  bist  es,  der  das  Meer  bald  auftürmt  zur  Höhe  der  Berge, 
bald  ausbreitet  zu  einer  Ebene,  der  es  bald  aufwühlt  im  Sturme,  bald  besärftigt 
durch  Stille,  damit  es  den  seefahrenden  Schiffern  fügsam  zur  Fahrt  sei;  du  hast 
die  "von  dir  durch  Christus  geschaffene  Welt  mit  Flüssen  durchschnitten,  mit 
Strömen  überschwemmt,  mit  immerfließenden  Quellen  getränkt  und  mit  Bergen 
zum  unerschütterlichen  und  f  eisen  haften  Sitz  der  Erde  umschnüit;  du  hast  auch 
deine  Welt  erfüllt  und  sie  ausgestattet  mit  wohlriechenden  und  heilkräftigen 
Kräutern,  mit  vielen  und  verschiedenartigen  Tieren,  mit  starken  und  schwachen, 
eßbaren  und  arbeitsamen,  zahmen  und  wilden,  mit  dem  Gezisch  der  Kriechtiere 
und  dem  Gezwitscher  mannigfacher  Vögel;  mit  den  Zyklen  der  Jahre,  den  Zahlen 
der  Monate  und  Tage,  den  Reihen  der  Sonnenwenden,  den  Läufen  der  legen- 
zeugenden  Wolken  zum  Wachstum  der  Früchte  und  zur  Erhaltung  der  Lebe- 
wesen, zum  Stande  der  Winde,  die  wehen,  wenn  du  ihnen  befiehlst,  zur  Fülle 
der   Gewächse  und  Pflanzen. 

Aber  nicht  bloß  die  Welt  hast  du  erschaffen,  sondern  auch  den  Weltbürger, 
•den  Menschen  hast  du  auf  ihr  gebildet  und  ihn  zum  xöopog  des  xöofiog  ge- 
macht; du  sprachst  ja  in  deiner  Weisheit:  »Lasset  uns  den  Menschen  machen 
nach  unserem  Bild  und  Gleichnisse  und  er  soll  herrschen  über  die  Fische  des 
Meeres  und  die  Vögel  des  Himmels'.  Deshalb  hast  du  ihn  aus  einer  unsterblichen 
Seele  und  einem  auflöslichen  Leibe  geschaffen,  jene  aus  dem  Nichtseienden, 
diesen  aus  den  vier  Elementen.  Und  du  hast  ihm  der  Seele  nach  die  vernünftige 
Erkenntnis,  die  Unterscheidung  der  Frömmigkeit  und  Gottseligkeit  und  die 
Beobachtung  des  Gerechten  und  Ungerechten  gegeben;  dem  Leibe  nach  hast  du 
ihm  die  fünffache  Sinnesfähigkeit  und  die  fortschreitende  Bewegungskraft 
geschenkt.  Du  hast  auch,  allmächtiger  Gott,  durch  Christus  das  Paradies  in 
Eden  mit  der  Richtung  nach  Osten  gepflanzt,  es  mit  allen  Arten  eßbarer  Gewächse 
ausgestattet  und  ihn  in  dasselbe  wie  in  ein  prächtiges  Haus  eingeführt;  und  bei 
der  Schöpfung  hast  du  ihm  auch  ein  angeborenes  Gesetz  gegeben,  damit  er  von 
Hause  aus  und  von  selbst  die  Anlage  zur  Gotteserkenntnis  besitze.  Nachdem 
du  ihn  in  das  Paradies  der  Wonne  eingeführt  hattest,  gabst  du  ihm  die  Macht 
zur  Teilnahme  an  allen  Dingen,  nur  den  Genuß  eines  Dinges  versagtest  du 
ihm  auf  die  Hoffnung  von  Besserem  hin,  auf  daß  er,  wenn  er  das  Gebot  hielt, 
als  Lohn  hierfür  die  Unsterblichkeit  sich  erwerbe.  Als  er  aber  durch  den  Trug 
der  Schlange  und  den  Rat  des  Weibes  das  Gebot  mißachtet  und  von  der  ver^ 
botenen  Frucht  gekostet  hatte,  verstießest  du  ihn  mit  Recht  aus  dem  Paradiese, 
in  deiner  Güte  aber  hast  du  den  gänzlich  Verlorei  en  nicht  verachtet  —  er  war 
ja  doch  dein  Geschöpf;  nachdem  du  ihm  die  Kreatur  unterworfen  hattest,  ge- 
stattetest du  ihm  durch  eigenen  Schweiß  und  eigene  Mühe  sich  den  Unterhalt 
au  verschaffen,  während  du  alles  pflanztest  und  wachsen  und  reifen  ließest;  nur 


5.  Inhalt  (Lobpreis  und  Dank)  449 

kurze  Zeit  ließest  du  ihn  schlafen,  dann  beriefst  du  ihn  mit  einem  Eide  zur  Wieder- 
geburt, löstest  den  Todesbann  und  verhießest   Leben  aus  der  Auferstehung. 

Aber  nicht  nur  dieses,  nein  auch  von  seinen  Nachkommen,  die  du  zu  einer  un- 
zählbaren Menge  anwachsen  ließest,  hast  du  jene,  die  dir  anhingen,  verherrlicht, 
die  aber  von  dir  abtrünnig  wurden,  hast  du  gezüchtigt.  Das  Opfer  des  Abel 
nahmst  du  auf,  weil  er  fromm  war,  vom  Opfer  des  Brudermörders  Kain  hingegen 
wandtest  du  dich  ab,  weil  er  verabscheuungswürdig  war;  ferner  nahmst  du  den 
Seth  und  Enos  auf,  den  Henoch  führtest  du  hinweg.  Denn  du  bist  der  Bildner 
der  Menschen,  der  Spender  des  Lebens,  der  Erfüller  des  Bedürfnisses,  der  Geber 
der  Gesetze,  der  Vergelter  derer,  die  sie  befolgen  und  der  Rächer  derer,  die  sie 
übertreten;  du  bist  es,  der  die  große  Flut  über  die  Welt  gebracht  hat  wegen  der 
Menge  der  Frevler  und  den  gerechten  Noe  aus  der  Flut  in  die  Arche  gerettet  hat 
samt  acht  Seelen,  dem  Reste  der  Vergangenen,  dem  Anfang  der  Künftigen ;  du 
bist  es,  der  das  schreckliche  Feuer  über  die  sodomitischen  Fünfstätte  hat  ausströmen 
lassen  und  fruchtbares  Land  zu  einer  Salzflut  gemacht  hat  wegen  der  Schlechtig- 
keit seiner  Bewohner  und  den  heiligen  Lot  dem  Feuerbrande  entrissen  hat;  du 
bist  es,  der  den  Abraham  aus  der  Gottlosigkeit  seiner  Vorfahren  befreit  und  zum 
Erben  der  Welt  aufgestellt  und  ihm  deinen  Christus  geoffenbart;  der  den 
Melchisedek  zum  Hohenpriester  deines  Kults  bestimmt;  der  deinen  Diener,  den 
Vieldulder  Job  zum  Sieger  über  die  erzböse  Schlange  gemacht;  der  den  Isaak 
zum  Sohn  der  Verheißung  gemacht;  der  den  Jakob  zum  Vater  von  zwölf  Söhnen 
gemacht  und  seine  Nachkommen  zur  Menge  vermehrt  und  in  der  Zahl  von 
77  Seelen  nach  Ägypten  geführt;  du,  Herr,  hast  den  Joseph  nicht  gering  geachtet, 
sondern  ihm  als  Lohn  für  die  durch  dich  bewahrte  Keuschheit  die  Herrschaft 
über  die  Ägypter  verliehen;  du,  Herr,  hast  die  \on  den  Ägyptern  geknechteten 
Hebräer  nicht  gering  geachtet,  und  zwar  wegen  der  ihren  Vätern  gegebenen  Ver- 
heißungen, sondern  hast  sie  befreit  und  die  Ägypter  gezüchtigt.  Als  aber  die 
Menschen  das  natürliche  Gesetz  verderbt  hatten  und  das  Geschöpf  bald  für  selb- 
ständig hielten,  bald  über  Gebühr  schätzten  und  dir,  dem  Gotte  des  Alls,  gleich- 
stellten, hast  du  sie  nicht  im  Irrtum  gelassen,  sondern  deinen  heiligen  Diener 
Moses  erweckt,  durch  ihn  zur  Unterstützung  de3  natürlichen  Gesetzes  das  ge- 
schriebene Gesetz  gegeben  und  gezeigt,  daß  das  Geschöpf  dein  Werk  sei,  und  so 
die  Verirrung  der  Vielgötterei  ausgerottet;  den  Aaron  und  seine  Nachkommen 
hast  du  durch  die  priesterliche  Würde  ausgezeichnet,  die  sündigenden  Hebräer 
gezüchtigt,  die  bußfertigen  wieder  aufgenommen.  An  den  Ägyptern  hast  du 
durch  die  zehn  Plagen  Rache  genommen,  das  Meer  teilend  hast  du  Israeliten 
hindurchgeführt,  die  verfolgenden  Ägypter  durch  Ertrinken  vernichtet,  mit  Holz 
hast  du  bitteres  Wasser  versüßt,  aus  hartem  Felsen  Wasser  sprudeln  lassen,  aus 
dem  Himmel  das  Manna  regnen  lassen,  Wachteln  aus  der  Luft  zur  Nahrung  ge- 
schenkt, eine  Feuersäule  nachts  zur  Beleuchtung,  eine  Nebelsäule  während  des 
Tages  zur  Beschattung  der  Hitze  aufgerichtet,  den  Josue  hast  du  als  Führer 
bestellt,  die  sieben  Völker  der  Kanaanäer  durch  ihn  vertilgt,  den  Jordan  aus- 
einandergerissen, die  Flüsse  Ethans  ausgetrocknet,  die  Mauern  ohne  Maschinen 
und  ohne  menschliche  Hand  gestürzt.  Für  das  alles  sei  dir  Ehre,  allmächtiger 
Herrscher. 

Dich  beten  an  unzählige  Scharen  von  Engeln,  Erzengeln,  Thronen,  Herr- 
schaften, Mächten,  Gewalten,  Kräften,  Heeren,  Äonen,  die  Cherubim  und  sechs- 
flügeligen  Seraphim;  mit  zwei  Flügeln  bedecken  sie  die  Füße,  mit  zwei  das  Haupt, 
mit  zwei  fliegen  sie  und  rufen  mit  tausend  Tausenden  von  Erzengeln  und  zehn- 
tausend Zehntausenden  von  Engeln  unablässig  und  ohne  zu  verstummen  (und 
das  ganze  Volk  spreche  zusammen):  Heilig,  heilig,  heilig  sei  der  Herr  Gott  Sabaoth, 
voll  sind  Himmel  und  Erde  seiner  Herrlichkeit;  gelobt  sei  er  in  alle  Ewigkeit  1" 
Die  Unterbrechung  des  bischöflichen  Preisgebets  durch  das  Trisagion  deutet 
den  denkwürdigen  Einschnitt  zwischen  dem  Alten  und  Neuen  Bunde  an.  Nachdem 
der  Abschluß  der  vorbereitenden  alttestamentlichen  Heilsgeschichte  auch  äußerlich 
gekennzeichnet  ist,  beginnt  die  Betrachtung  der  zentralen  christlichen  Heils- 
tatsachen, die  unmittelbar  zum  eucharistischen  Konsekrationsakte  überleitet. 
,,Denn  fürwahr  heilig  bist  du  und  allheilig,  der  Höchste  und  Überhöchste  in 
Ewigkeit;  heilig  ist  auch  dein  eingeborener  Sohn,  unser  Herr  und  Gott,  Jesus 
der  Christus,  welcher  in  allem  dir,  seinem  Gott  und  Vater  diente  —  im  Hinblick 
Da«  Gebot  29 


450  H.   Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 


auf  die  verschiedenartige  Schöpfung  und  die  zweckmäßige  Vorsehung  —  und 
der  das  verlorene  Geschlecht  der  Menschen  nicht  verachtete,  nein,  vielmehr  nach 
dem  natürlichen  Gesetz,  nach  der  gesetzlichen  Unterweisung,  nach  den  Straf- 
reden der  Propheten  und  den  (wunderbaren)  Führungen  der  Engel  —  mit  dem 
geschriebenen  Gesetz  hatten  die  Menschen  das  natürliche  verletzt  und  vergessen 
die  Flut,  den  Brand  von  Sodoma,  die  über  die  Ägypter  verhängten  Plagen,  die 
Blutbäder  unter  den  Paläst inern  und  waren  nahe  daran,  insgesamt  zugrunde 
zu  gehen  —  da  beschloß  deinem  Ratschlüsse  gemäß  er  selbst,  der  Schöpfer  der 
Menschen,  Mensch  zu  werden,  der  Gesetzgeber  wollte  zum  Diener  des  Gesetzes, 
der  Hohepriester  zum  Opfer,  der  Hirt  zum  Schafe  werden;  und  er  hat  dich,  seinen 
Gott  und  Vater,  besänftigt  und  mit  der  Welt  versöhnt  und  alle  von  dem  über 
ihnen  lastenden  Zorne  befreit,  indem  er  geboren  wurde  aus  einer  Jungfrau,  ge- 
boren im  Fleische,  er,  der  Gott-Logos,  der  geliebte  Sohn,  der  Erstgeborene  aller 
Geschöpfe,  nach  den  von  ihm  selbst  über  sich  gegebenen  Weissagungen,  aus 
dem  Samen  Davids  und  Abrahams,  aus  dem  Stamme  Juda;  und  im  Schoßt 
einer  Jungfrau  ist  der  geworden,  der  alle  bildet,  welche  geschaffen  werden,  und 
der  Fleischlose  wurde  Fleisch,  der  außer  der  Zeit  Gezeugte  wurde  in  der  Zeit 
geboren.  Heilig  hat  er  gelebt  und  rechtmäßig  gelehrt,  jede  Krankheit  und  jede 
Schwäche  hat  er  aus  den  Menschen  vertrieben,  Zeichen  und  Wunder  hat  er  unter 
dem  Volke  getan,  an  Speise,  Trank  und  Schlaf  hat  er  teilgenommen,  er,  der  alle, 
die  der  Nahrung  bedürfen,  nährt  und  jedes  Lebewesen  mit  Segen  erfüllt;  deinen 
Namen  hat  er  denen  geoffenbart,  die  ihn  nicht  kannten,  die  Unwissenheit  ver- 
scheucht, die  Frömmigkeit  entflammt,  deinen  Willen  erfüllt,  das  Werk,  das  du 
ihm  aufgetragen,  vollendet.  Nachdem  er  das  alles  ausgeführt,  wurde  er  durch 
den  Verrat  des  an  Bosheit  Erkrankten  von  den  Händen  ungerechter  Priester, 
falscher  Hoherpriester  und  eines  gesetzlosen  Volkes  ergriffen,  erduldete  vieles 
von  ihnen  und  ertrug  jeden  Schimpf  nach  deiner  Zulassung;  dem  Landpfleger 
Pilatus  überliefert,  wurde  er,  der  Richter,  gerichtet  und  er,  der  Retter,  verurteilt, 
der  Leidensunfähige  wurde  ans  Kreuz  genagelt  und  es  starb  der  seiner  Natur 
nach  Unsterbliche,  der  Lebendigmacher  wurde  bestattet,  auf  daß  er  die  vom 
Leiden  erlöse  und  dem  Tode  entreiße,  um  derentwillen  er  gekommen  war,  und 
zersprenge  die  Fesseln  des  Teufels  und  errette  die  Menschen  von  seinem  Blend- 
werk; und  er  ist  auferstanden  von  den  Toten  am  dritten  Tage  und  nachdem 
er  vierzig  Tage  mit  seinen  Jüngern  zusammengelebt,  wurde  er  emporgehoben  in 
den  Himmel  und  zu  deiner,  seines  Gottes  und  Vaters  Rechten  gesetzt.  Eingedenk 
nun  dessen,  was  er  um  unseretwillen  erduldete,  danken  wir  dir,  allmächtiger 
Gott,  nicht  soviel  wir  schulden,  sondern  soviel  wir  vermögen."  Nun  folgt  als 
erster  Teil  der  eigentlichen  Mysterienhandlung  der  biblische  Abendmahlsbericht 
mit  den  Herrenworten.  Ihm  schließt  sich  an  ein  nochmaliges  kurzes  Gedenken 
der  Heilstat  Christi  und  ein  Ausblick  in  die  Zukunft:  „So  gedenken  wir  denn 
seines  Leidens  und  Sterbens  und  seiner  Auferstehung  von  den  Toten  und  seiner 
Auffahrt  in  den  Himmel  und  seiner  bevorstehenden  zweiten  Ankunft,  in  der  er 
kommt  mit  Herrlichkeit  und  Macht,  zu  richten  die  Lebendigen  und  die  Toten  und 
zu  vergelten  einem  jeden  nach  seinen  Werken"  82. 

So  umspannt  das  eucharistische  Hochgebet  der  alten  Kirche  in  ge- 
schichtsphilosophischer  Systematik  das  ganze  Weltendrama;  es  geht 
aus  von  der  Seinsfülle  des  ewigen  Gottes  und  von  der  Zeugung  des  Logos 
vor  aller  Zeit  und  betrachtet  dann  die  ganze  Schöpfungs-  und  Heils- 
geschichte: die  Erschaffung  der  Engel,  der  Welt,  der  Lebewesen,  des 
Menschen,  den  glücklichen  Urzustand  des  Adam,  seinen  Fall  und  seine 
Vertreibung  aus  dem  Paradies,  Gottes  Erbarmen  mit  dem  gefallenen 
Menschen,  seine  strafende  und  lohnende  Gerechtigkeit  in  der  Geschichte, 
seine  Gesetzgebung  durch  Moses,  seine  wunderbare  Lenkung  des  aus- 
erwählten Volkes,  die  Menschwerdung  des  Gottessohnes  aus  einer  Jung- 
frau, sein  Lehren  und  Heilwirken,  sein  Leiden  und  Sterben,  seine  Auf- 
erstehung und  Himmelfahrt,  seine  Wiederkunft.  In  seiner  umfassenden 
Einheitsschau   ist  das   altkirchliche   Präfationsgebet  die    „großartigste 


5.  Inhalt  (Lobpreis  und  Dank)  451 

Schöpfung  christlicher  Liturgie";  „Predigt  und  Gebet,  Erzählung  und 
Hymnus  zugleich,  entrollt  es  das  Bild  des  Weltgeschehens  vom  ersten 
Tage  der  Schöpfimg  bis  zum  letzten  Tage  des  Gerichts"  (Baumstark)  83. 
Seit  dem  4.  Jahrhundert  verflüchtigt  sich  in  den  Liturgien  der  Ost- 
und  Westkirche  die  altkirchliche  Epik  des  eucharistischen  Dankgebets  84 ; 
in  der  römischen  Messe  ist  sie  vollständig  verwischt.  Die  abendländische 
Kirche  nimmt  in  ihren  liturgischen  Gebeten  steten  Bezug  auf  die  Feste 
des  Kirchenjahres,  welche  den  einzelnen  Akten  des  großen  heilsgeschicht- 
lichen Dramas  entsprechen.  Die  Präfation  der  abendländischen  Meß- 
liturgien umfaßt  nicht,  wie  das  altkirchliche  Dankgebet,  die  ganze 
Schöpfungs-  und  Heilsgeschichte,  sondern  ein  einzelnes  Heilsfaktum, 
jenes  spezielle  Erlösungsgeheimnis,  das  sich  die  Kirche  an  einem  be- 
stimmten Feste  ins  Gedächtnis  ruft:  die  Menschwerdung  des  Gottes- 
sohnes, seinen  Erlösungstod,  seine  Auferstehung,  Himmelfahrt,  Geist- 
sendung. (Manche  evangelische  Agenden  haben  in  der  Abendmahls- 
liturgie die  Präfationen  des  Missale  Romanuni  beibehalten.) 

Weihnachten  (nach  dem  gotischen  Missale):  „Wahrlich  würdig  und 
recht,  billig  und  heilsam  ist  es.  daß  wir  dir  Dank  sagen,  heiliger  Gott,  allmächtiger 
Vater,  ewiger  Gott;  denn  heute  hat  unser  Herr  Jesus  Christus  sich  gewürdigt 
die  Welt  heimzusuchen.  Er  ging  hervor  aus  dem  Heiligtum  eines  jungfräulichen 
Leibes  und  stieg  mildiglich  herab  vom  Himmel.  Die  Engel  sangen:  Ehre  sei  Gott  in 
der  Höhe!  als  die  Menschheit  des  Erlösers  erstrahlte;  die  ganze  Engelschar  jauchzte, 
weil  die  Erde  den  ewigen  König  aufnahm.  Die  selige  Maria  wurde  zum  kostbaren 
Tempel,  der  den  Herrn  der  Herren  trug.  Sie  zeugte  um  unserer  Sünden  willen 
das  herrliche  Leben,  auf  daß  der  bittere  Tod  verscheucht  werde.  Jener  Schoß, 
der  keine  menschliche  Befleckung  kannte,  war  würdig,  Gott  zu  tragen.  In  der 
Welt  wurde  geboren,  der  immer  gelebt  hat  und  lebt,  Jesus  Christus,  dein  Sohn, 
unser  Herr.     Durch  ihn  loben  deine  Majestät  die  Engel  usw. 

Passionszeit  (Missale  Romanum):  „Wahrhaft  würdig  und  recht,  billig 
und  heilsam  ist  es.  daß  wir  dir  immer  und  überall  Dank  sagen,  heiliger  Herr, 
allmächtiger  Vater,  ewiger  Gott;  der  du  das  Heil  des  Menschengeschlechts  ans 
Holz  des  Kreuzes  geheftet  hast,  auf  daß  von  dorther,  wo  der  Tod  entsprang, 
das  Leben  sich  erhebe,  und  daß  der,  welcher  am  Kreuze  siegte,  auch  am  Kreuze 
besiegt  werde:  durch  Christus,  unseren  Herrn;  durch  ihn  loben  deine  Majestät 
die  Engel"  usw. 

Ostern  (ebenda):  ., Wahrhaft  würdig  und  recht,  billig  und  heilsam  ist  es, 
dich,  o  Herr,  allezeit  zu  preisen;  aber  an  diesem  Tage  gilt  es,  euch  noch  glor- 
würdiger  zu  verherrlichen,  da  unser  Pascha  geopfert  ist,  Christus.  Er  ist  ja  das 
wahre  Lamm,  das  die  Sünden  der  Welt  hinwegtrug,  der  unseren  Tod  durch  sein 
Sterben  zerstörte  und  unser  Leben  durch  sein  Auferstehen  erneuerte.  Darum 
singen  wir  mit  den  Engeln  und  Erzengeln,  mit  den  Thronen  und  Mächten  und 
mit  dem  ganzen  Himmelsheer  den  Hymnus  deines  Ruhms  und  rufen  ohneEnde"usw. 

Pfingsten  (ebenda):  „Wahrhaft  würdig  und  recht,  billig  und  heilsam  ist 
<-s,  daß  wir  dir  immer  und  allezeit  Dank  sagen,  heiliger  Herr,  allmächtiger  Vater, 
ewiger  Gott,  durch  Christus,  unseren  Herrn;  der  emporstieg  über  alle  Bimmel 
und  sitzend  zu  deiner  Rechten  den  verheißenen  heiligen  Geist  auf  die  an  Kindes 
Statt  angenommenen  Menschen  ausgoß.  Darum  frohlockt  in  allgemeiner  Freude' 
die  ganze  Menschheit  auf  dem  Erdkreis;  aber  auch  die  oberen  Kräfte  und  eng- 
lischen  Mächte  singen  ein  Preislied  deines  Ruhmes  und  rufen  ohne  Ende"  usw. 

Im  Präfationsgebet  der  lutherischen  Kirchen  bildet  den  Gegenstand 
des  Dankes  der  Gnadentrost,  die  Sünden  Vergebung  und  die  Seligkeit 
um  Christi  willen.  Zu  dem  objektiven,  historischen  Heilsfaktum  tritt 
hier  ein  subjektives  Moment:  das  innere  Gnadenerlebnis,  das  in  jenem 
seine  Stütze  hat.     Die  Heilstatsache  selbst  wird  nicht  in  ein  äußeres 


452  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

Geschichtsereignis  oder  einen  Zusammenhang  von  solchen  verlegt, 
sondern  in  die  eine  geschichtliche  Persönlichkeit,  in  der  aller  Heilsglaube 
seinen  Grund  hat. 

„Recht  ist  es  und  wahrhaft  würdig  und  heilbringend,  dir,  Allmächtiger,  Dank 
zu  sagen  zu  allen  Zeiten  und  an  allen  Orten,  durch  Jesum  Christum  unseren 
Herrn,  um  dessentwillen  du  uns  verschont  hast,  uns  unsere  Sünden  vergibst  und 
die  ewige  Seligkeit  verheißest;  und  mit  allen  Engeln  und  Erzengeln  und  dem  ganzen 
Heere  der  himmlischen  Heerscharen  singen  wir  deiner  unendlichen  Herrlichkeit 
einen  Lobgesang"  (Preußische  Agende).  ,,Ja,  wahrhaft  geziemend,  recht  und 
selig  ist  es.  daß  wir  allezeit  und  allerorten  dir  danken  und  dich  loben,  allmächtiger 
Vater,  heiliger  Gott,  durch  Jesus  Christus,  unseren  Herrn,  den  du  um  unserer 
Sünden  willen  hast  hingegeben  und  sterben  lassen  für  uns,  die  wir  todeswürdig 
waren,  auf  daß  wir  leben  möchten  durch  ihn.  Und  damit  wir  nicht  vergessen 
mögen  diese  seine  unsagbare  Wohltat,  hat  er  sein  heiliges  Nachtmahl  gestiftet" 
(Schwedische  Hochmesse). 

Das  gottesdienstliche  Dankgebet,  der  unmittelbare  Ausdruck  des 
lebendigen  Heilsbewußtseins,  ist  stets  eine  Vergegenwärtigung  der  Heils- 
geschichte. Mag  es  sich  auf  die  ganze  Kette  göttlicher  Heilstaten  be- 
ziehen, wie  in  der  altjüdischen  und  altkirchlichen  Liturgie,  oder  auf  ein 
einzelnes  Heilsfaktum,  wie  in  der  abendländischen  Messe,  oder  auf  eine 
einzigartige  heilsgeschichtliche  Persönlichkeit,  wie  in  den  evangelischen 
Agenden  —  immer  ist  es  etwas  Geschichtlich-Tatsächliches,  das  den 
Gegenstand  des  Lobpreises  und  Dankes  bildet.  Der  geschichtliche 
Charakter  der  jüdischen  und  christlichen  Frömmigkeit  tritt  nirgends 
so  greifbar  entgegen  wie  im  gottesdienstlichen  Gebet;  alles  Heil  ist  in 
der  Geschichte  verwurzelt. 

b)  Lobpreis  und  Danksagung  bilden  den  ersten  Teil  des  gottesdienst- 
lichen Gebets;  ihm  folgt  nach  dem  Schema  des  Origenes  (de  or.  33,  1) 
die  i$-o(ioXöyt]Gig,  das  Bekenntnis  der  Sündhaftigkeit, 
verbunden  mit  der  Bitte  um  Sündenvergebung  und  um 
Tilgung  der  sündigen  Neigung. 

Dem  großen  heilsgeschichtlichen  Preisgebet  des  Esra  schließt  sich  ein  Sünden- 
bekenntnis an:  „Du  hast  Treue  geübt,  wir  aber  haben  gefrevelt.  Und  unsere 
Könige,  unsere  Obersten,  unsere  Priester  und  unsere  Väter  haben  dein  Gesetz 
nicht  gehalten  und  haben  nicht  auf  deine  Gebote  geachtet,  noch  auf  deine  Mah- 
nungen, mit  denen  du  sie  verwarnt  hast"  (Neh  9  3S  f.).  In  dem  Gebet  des  Daniel 
um  den  Wiederaufbau  des  Tempels  spiegelt  sich  das  liturgische  Bußgebet  der 
nachexilischen  Gemeinde  wider:  ,,0  Herr,  du  großer,  furchtbarer  Gott!  .  .  . 
Wir  haben  gesündigt  und  unrecht  getan,  wir  sind  gottlos  gewesen  und  haben 
uns  aufgelehnt  und  sind  von  deinen  Geboten  und  Ordnungen  abgewichen.  Auch 
haben  wir  nicht  auf  deine  Knechte,  die  Propheten  gehört,  die  in  deinem  Namen 
zu  unseren  Königen,  Oberen  und  Vätern  und  zu  allen  Leuten  im  Lande  geredet 
haben  .  .  .  .  O  Herr,  wir,  unsere  Könige,  unsere  Oberer  und  Väter  müssen 
uns  schämen,  weil  wir  gegen  dich  gesündigt  haben.  Aber  bei  dem  He^rn,  unserm 
Gott,  ist  Barmherzigkeit  und  Vergebung  ...  O  Herr,  gib  doch  gemäß  deiner 
Barmherzigkeit,  die  du  immer  bewiesen  hast,  daß  dein  Zorn  und  Grimm  von 
deiner  Stadt  Jerusalem,  von  deinem  heiligen  Berge  ablasse!  ...  O  Herr,  höie! 
Herr,  verzeihe!"  (Dan  9  4  ff.). 

Das  Sündengefühl,  das  sich  im  Bußgebet  der  christlichen  Gemeinde 
ausspricht,  ist  gegenüber  dem  jüdischen  reiner  und  persönlicher.  Das 
jüdische  Schuldbewußtsein  ist  überpersönlich;  der  Einzelne  fühlt  sich 
für  die  Sünden  des  Volkes  und  der  Vorväter  verantwortlich.  Das  christ- 
liche Sündenbewußtsein  ist  persönlich,  der  Einzelne  fühlt  sich  selbst 


5.  Inhalt  ( Sündenbekenntnis  und  Vergebungsbitte)  453 


sündig,  obgleich  seine  Neigung  zum  Bösen  in  einer  menschlichen  Ur- 
schuld verwurzelt  ist.  Das  jüdische  Schuldbewußtsein  zeigt  einen  stark 
eudämonistischen  Einschlag;  das  jüdische  Volk  fühlt  sich  schuldig  um 
des  furchtboren  nationalen  Unglücks,  um  der  großen  Strafheimsuchung 
Gottes  willen.  Das  christliche  Sündenbewußtsein  ist  rein  ethisch ;  der 
Christ  erlebt  seinen  unendlichen  Abstand  von  dem  gottgewollten  sitt- 
lichen Ideal.  Die  christliche  Gemeinde  weiß  sich  zwar  des  in  Christus 
geschenkten  Heils  sicher,  aber  sie  fühlt  ihre  fortdauernde  Schwäche  und 
Sündigkeit;  sie  muß  darum  ihren  sittlichen  Unwert  immer  wieder  be- 
kennen und  um  Sündennachlaß  und  neue  sittliche  Kraft  flehen. 

Das  Kirchengebet  des  Bischofs  Clemens  (1  Clem  60)  enthält  die  Worte:  ,, Vergib 
uns  unsere  Ungesetzlichkeiten  und  Ungerechtigkeiten,  unsere  Vergehen  und 
Fehltritte.  Rechne  nicht  alle  Schuld  deiner  Diener  und  Dienerinnen  an,  sondern 
reinige  uns  durch  die  Reinigung  deiner  Wahrheit  und  lenke  unsere  Schritte  auf 
dem  Pfade  der  Heiligkeit."  Die  liturgische  Gebetssammlung  des  Bischofs  Serapion 
enthält  folgendes  Sündenbekenntnis:  „Wir  bekennen  vor  dir,  o  gütiger  Gott, 
fußfällig  unsere  Schwachheiten  und  rufen  deine  Kraft  zu  Hilfe.  Verzeih  uns  die 
früheren  Sünden  und  lasse  nach  alle  vergangenen  Irrungen  und  mach  uns  zu 
neuen  Menschen.  Mach  uns  zu  heiligen  und  reinen  Dienern.  Dir  übergeben 
wir  uns,  nimm  uns  auf,  o  Gott  der  Wahrheit,  nimm  dies  Volk  auf  und  laß  es  ganz 
heilig  werden;  gib,  daß  es  untadelig  und  rein  wandle.  Mögen  sie  für  den  Himmel 
geeignet,  zu  den  Engeln  gezählt  werden;  mögen  sie  alle  Auserwählte  und  Heilige 
werden!"  85. 

Sünde  und  Gnade  sind  der  Angelpunkt  der  von  der  paulinischen 
Heilserfahrung  bestimmten  reformatorischen  Frömmigkeit.  Diese 
schlägt  im  Sündenbekenntnis  und  in  der  Vergebimgsbitte  bisweilen 
noch  innigere  Klänge  an  wie  die  alte  Kirche. 

Der  Sonntagsgottesdienst  beginnt  nach  den  meisten  reformierten  Agenden 
mit  dem  Bußgebet  ökolampads:  „Himmlischer  Vater,  ewiger  und  barmherziger 
Gott,  wir  erkennen  und  bekennen  vor  deiner  göttlichen  Majestät,  daß  wir  arme, 
elende  Sünder  sind,  empfangen  und  geboren  in  der  Verderbnis,  geneigt  zu  allem 
Bösen,  untüchtig  ohne  dich  zum  Guten,  und  daß  wir  deine  heiligen  Gebote  täglich 
und  mannigfaltig  übertreten,  dadurch  wir  deinen  Zorn  wider  uns  reizen  und 
nach  deinem  gerechten  Urteil  auf  uns  laden  den  Tod  und  das  Verderben.  Aber, 
o  Herr,  wir  tragen  Reu'  und  Leid,  daß  wir  dich  erzürnet  haben,  und  verklagen 
uns  und  unsre  Sünden  und  begehren,  daß  deine  Gnade  zu  Hilfe  komme  unserm 
Elend  und  Jammer.  Wollest  dich  derhalben  über  uns  erbarmen,  o  allgütigster 
Cott  und  Vater,  und  uns  verzeihen  alle  unsere  Sünden  durch  das  heilige  Leiden 
deines  lieben  Sohnes,  unseres  Herrn  Jesu  Christi  1  Vergib  uns  unsere  Sünden 
und  verleih  und  mehre  in  uns  täglich  die  Gaben  deines  heiligen  Geistes,  daß  wir 
unsere  Ungerechtigkeit  von  ganzem  Herzen  erkennen  und  einen  aufrichtigen 
Schmerz  in  uns  empfinden,  der  die  Sünde  in  uns  zerstöre,  und  Früchte  bringe 
der  Unschuld  und  Gerechtigkeit,  die  dir  angenehm  seien  um  Jesu  willen  l"88 
Das  Einleitungsgebet  der  schwedischen  Hochmesse  bildet  folgendes  Bußgebet: 
,,Ich  armer,  sündiger  Mensch,  der  ich  mit  Sünde  geboren,  auch  später  in  allen 
meinen  Lebenstagen  auf  mannigfache  Weise  gegen  dich  verstoßen  habe,  bekenne 
von  ganzem  Herzen  vor  dir,  heiliger  und  gerechter  Gott,  liebreicher  Vater,  daß 
ich  dich  nicht  über  alles  geliebt  habe,  auch  nicht  meinen  Nächsten  wie  mich  selbst. 
Gegen  dich  und  deine  heiligen  Gebote  habe  ich  gesündigt  mit  Gedanken,  Worten 
und  Werken  und  weiß,  daß  ich  darum  der  ewigen  Verdammnis  wert  bin,  wenn 
du  mich  lichten  wolltest,  wie  es  deine  Gerechtigkeit  verlangt  und  meine  Sünden 
verdient  haben.  Aber  nun  hast  du,  lieber  himmlischer  Vater,  verheißen,  mit 
Milde  und  Gnade  alle  bußfertigen  Sünder  zu  umfassen,  die  sich  an  dich  wenden 
und  mit  lebendigem  Glauben  zu  deiner  väterlichen  Barmherzigkeit  und  zu  des 
Erlösers  Jesu  Christi  Verdienst  ihre  Zuflucht  nehmen.  Mit  ihm  willst  du  über- 
sehen, was  sie  gegen  dich  verbrochen  haben  und  ihnen  nicht  mehr  ihre  Sünden 


454  H.  Das  pottesdienstliche   Gemeindegebet 


anrechnen.  Darauf  verlasse  ich  mich,  armer  Sünder,  und  bitte  dich  tröstlich, 
daß  du  nach  dieser  deiner  Verheißung  dich  würdigest,  dich  meiner  zu  erbarmen, 
mir  gnädig  zu  sein  und  mir  alle  meine  Sünden  zu  verzeihen,  deinem  heiligen 
Namen  zum  Preis  und  zur  Ehre."     (Ohms  Petri). 

Die  rücksichtslose  Selbstverurteilung  und  Selbstentwertung  klingt 
hier  in  der  unerschütterlichen  frohen  Zuversicht  auf  Gottes  Vergebungs- 
gnade aus. 

c)  Das  Sündenbekenntnis  mit  der  ihm  folgenden  Vergebungsbitte  leitet 
über  zur  eigentlichen  Bitte  (tfifilla,  ttqooevxtj).  Das  Einteilungs- 
schema des  Origenes  reiht  an  die  Exomologese  ,,die  Bitte  um  die 
großen  imd  himmlischen  Anliegen,  die  individuellen  wie  universellen" 
(de  or.  33,  1).  Das  große  Sehnsuchtsziel  der  jüdischen  und  urchristlichen 
Frömmigkeit  ist  die  volle  Verwirklichung  der  Gottesherrschaft;  das 
Kommen  des  Gottesreichs  ist  darum  im  gottesdienstlichen  Gebet  der 
Synagoge  und  der  altchristlichen  Kirche  der  wichtigste  Gegenstand 
der  Bitte.  Die  jüdische  Reichgotteshoffnung  trägt  eine  politisch- 
nationale Farbe;  was  die  jüdische  Gemeinde  ersehnt,  ist  Erlösung  vom 
Drucke  der  Fremdherrschaft,  Erneuerung  des  glanzvollen  davidischen 
Königtums,  Niederwerfung  der  Feinde  Israels,  seiner  gegenwärtigen 
Bedrücker. 

Im  Schmone  'Esre  fleht  die  jüdische  Synagoge:  ., Schaue  unser  Elend  und 
führe  unsere  Sache  und  erlöse  uns  um  deines  Namens  willen,  denn  ein  starker 
Erlöser  bist  du.  Verkündige  mit  großer  Posaune  unsere  Befreiung  und  erhebe 
ein  Panier,  um  zu  sammeln  unsere  Zerstreuten  und  versammle  sie  von  den  vier 
Enden  der  Erde  ....  Setze  wieder  ein  unsere  Richter  wie  vormals  und  unsere 
Räte  wie  am  Anfang;  und  nimm  von  uns  Kummer  und  Seufzen;  und  herrsche 
über  uns,  du  Herr,  allein,  in  Gnade  und  Erbarmen;  und  rechtfertige  uns  im  Ge- 
richt ....  Und  den  Verleumdern  sei  keine  Hofffnung;  und  alle,  die  Böses  tun, 
mögen  schnell  zugrunde  gehen,  und  sie  alle  baldigst  ausgerottet  werden;  und 
lähme  und  zerschmettere  und  stürze  sie  und  beuge  die  Übermütigen  bald  in  Eile, 
in  unseren  Tagen  ....  Und  nach  Jerusalem,  deiner  Stadt,  kehre  zurück  in 
Erbarmen;  und  wohne  in  ihrer  Mitte,  wie  du  gesagt  hast;  und  baue  sie  bald 
in  unseren  Tagen  zu  einem  ewigen  Bau;  und  den  Thron  Davids  richte  bald 
auf  in  ihrer  Mitte.  Den  Sproß  Davids,  deines  Knechtes,  lasse  bald  aufsprossen, 
und  sein  Hörn  erhebe  durch  deine  Hilfe;  denn  auf  deine  Hilfe  harren  wir  alle 
Tage  ....  Habe  Wohlgefallen,  Herr,  unser  Gott,  an  deinem  Volk  Israel  und 
an  ihrem  Gebet;  und  führe  zurück  den  Opferdienst  in  das  All  erheiligste  deines 
Hauses,  und  die  Opfer  Israels  und  ihr  Gebet  nimm  an  in  Liebe  und  Wohlgefallen; 
und  wohlgefällig  sei  das  tägliche  Opfer  Israels,  deines  Volkes.  O  daß  sehen 
möchten  unsere  Augen  deine  Rückkehr  nach  Zion  in  Erbarmen"  87. 

Im  Urchristentum  vollzog  sich  eine  Vergeistigung  der  Reichgottesidee. 
Zwar  erwartet  auch  die  urchristliche  Gemeinde  das  Gottesreich  hier 
auf  Erden,  nicht  jenseits  im  Himmel ;  aber  dieses  Reich  ist  keine  National- 
herrschaft  der  Juden,  kein  irdisches  Glücksreich,  sondern  eine  univer- 
selle, ethische  Gottesherrschaft:  der  Sieg  Gottes  über  Satans  Mächte, 
des  Guten  über  das  Böse.  Nicht  die  Thronbesteigung  eines  weltlichen 
Herrschers  aus  dem  Stamme  Davids  erhofft  die  Urgemeinde,  sondern 
die  Ankunft  des  erhöhten  Herrn  und  Gottessohnes  Jesus  Christus  auf 
den  Wolken  des  Himmels.  In  ähnlichen  Worten  wie  die  jüdische  Synagoge 
fleht  die  älteste  christliche  Gemeinde  um  die  baldige  Erfüllung  ihrer 
brennenden  Sehnsucht,  um  die  Parusie  des  Kyrios  und  die  Vollendung. 

So  heißt  es  in  den  Abendmahlsgebeten  der  Didache:  „Wie  dieses  gebrochene 
Brot  zerstreut  war  auf  den  Bergen  und  gesammelt  eins  wurde,  so  laß  deine  Ge- 


5.  Inhalt  (Reichgottesbitte)  455 


meinde  von  den  Enden  der  Erde  zusammengeführt  werden  in  dein  Reich"  (9  4). 
„Gedenke,  Herr,  deiner  Gemeinde,  sie  zu  erlösen  von  allem  Bösen  und  zu  voll- 
enden in  deiner  Liebe;  so  fübre  sie,  die  Geheiligte,  zusammen  von  den  vier  Winden 
in  dein  Reich,  welches  du  ihi  bereitet  hast;  denn  dein  ist  die  Kraft  und  die  Herr- 
lichkeit in  Ewigkeit.  Kommen  möge  die  Gnade,  vergehen  möge  die  Welt !  Hosanna 
dem  Sohne  Davids!  .  .  .     Maranatha  (komm,  Herr!).     Amen"  (10  5  f.). 

Die  Hoffnung  auf  die  unmittelbare  Nabe  des  Gottesreiches  büßte 
bereits  um  die  Wende  des  ersten  Jahrhundeits  ihre  himmelstürmende 
Macht  ein;  in  abgeschwächter  Form  lebte  sie  noch  in  den  beiden  kom- 
menden Jahrhunderten  foit,  um  dann  fast  ganz  zu  erlöschen;  nur  in 
den  Sekten  aller  Zeiten  loderte  sie  immer  wieder  zur  mächtigen  Flamme 
empor.  Für  die  spätere  Christenheit  wurde  die  umfassende,  wundersam 
fest  gefügte  und  reiche  Heilsanstalt,  die  Kirche,  zum  sichtbaren  Gottes- 
reich. In  den  kirchlichen  Gottesdienstgebeten  schwindet  darum  die 
eschatologische  Reichgottesbitte,  welche  noch  die  zentrale  Bitte  der 
Didachegebete  ist.  An  ihre  Stelle  tritt  die  Bitte  für  die  Kirche,  um 
ihre  Bewahrung  und  ihr  Wachstum  nach  außen,  ihre  Festigung  und 
Einigung  nach  innen. 

Besonders  deutlich  ist  dieser  innere  Wandel  des  christlichen  Glaubensbewußt- 
.-•  ins  an  einem  Gebet  des  Serapion-Euchologiums  zu  erkennen;  es  behält  den 
Wortlaut  des  Didache- Gebetes  fast  völlig  bei  und  ändert  unmerklich  die  Reich- 
gottesbitte in  die  Bitte  um  die  Einheit  der  Kirche  um.  ,,Wie  dieses  Brot  zer- 
streut war  auf  den  Bergen  und  gesammelt  eins  wurde,  so  führe  auch  deine  heilige 
Gemeinde  aus  allen  Völkern,  allen  Ländern,  allen  Städten.  Dörfern  und  Häusern 
zusammen  und  mache  sie  zur  einen,  lebendigen,  katholischen  Kirche"  88.  In 
den  alten  morgenländischen  Liturgien  steht  das  Gebet  für  die  Kirche  an  der 
Spitze  der  allgemeinen  Fürbitte.  So  heißt  es  in  der  Idealliturgie  des  8.  Buches 
der  apostolischen  Konstitutionen  (10):  ,. Lasset  uns  beten  für  die  heilige  katholische 
und  apostolische  Kirche,  die  von  einem  Ende  der  Erde  bis  zum  anderen  aus- 
gebreitet ist,  daß  der  Herr  die  auf  dem  Felsen  gegründete  vor  Stürmen  und  Wogen 
schütze  und  bewahre  bis  zur  Vollendung  der  Ewigkeit."  Ähnlich  lautet  die  Bitte 
in  der  Basiliusliturgie:  „Gedenke,  Herr,  deiner  heiligen  katholischen  und  aposto- 
lischen Kirche,  die  von  einem  Ende  der  Erde  sich  bis  zum  andern  erstreckt.  Da 
du  sie  mit  dem  kostbaren  Blute  deines  Christus  erworben  hast,  so  verleihe  ihr 
Frieden  und  erhalte  dieses  heilige  Haus  bis  zum  Ende  der  Welt"  89.  Die  römische 
Karfreitagliturgie  enthält  das  kraftvolle  Gebet:  ,, Lasset  uns  beten  für  die  heilige 
Kirche  Gottes,  daß  ihr  Gott  unser  Herr  Friede  schenken,  sie  einigen  und  beschützen 
wolle  auf  dem  ganzen  Erdkreise,  ihr  unterordne  die  Mächte  und  Gewalten  und 
uns  gebe  in  stillem,  ruhigem  Leben  Gott  zu  verherrlichen,  den  allmächtigen  Vater. 
Allmächtiger,  ewiger  Gott,  der  du  deine  Herrlichkeit  allen  Völkern  in  Christo 
geoffenbart  hast,  beschirme  die  Werke  deiner  Barmherzigkeit,  damit  deine  Kirche, 
die  auf  dem  ganzen  Erdkreise  zerstreut  ist,  mit  standhaftem  Glauben  in  deinem 
Bekenntnisse  verharre." 

Das  urchristliche  Reichgottesgebet  klingt  in  diesen  Gebeten  um  Stärke 
und  Einheit  der  Kirche  mit  gedämpftem  Hall  nach. 

Den  Großteil  der  gottesdienstlichen  Bittgebete  bilden  generell  ge- 
haltene Bitten  um  individuelle  religiös-ethische  Werte,  wie  sie  uns  schon 
im  individuellen  Gebetsleben  der  prophetischen  Persönlichkeiten  be- 
gegneten . 

Die  vierte  und  fünfte  Strophe  des  Schmono  'Esre  lauten:  „Du  verleihst  dem 
Manne  Erkenntnis  und  lehrest  den  Menschen  Einsicht.  Verleihe  uns  von  dir 
Erkenntnis,  Einsicht  und  Verstand.  Führe  uns  zurück,  unser  Vater,  zu  deinem 
Gesetz  und  bringe  uns,  unser  König,  zu  deinem  Dienst  und  lasse  uns  zurück- 
kehren in  vollkommener  Buße  vor  dein  Angesicht."  In  der  zweiten,  dem  Morgeu- 
Sohma   vorausgehenden   Benediktion   steht    die   Bitte:    , .Unser   Vater,    o   barm- 


456  H.  Das  gottesdienstliehe  Gemeindegebet 

herziger  Vater  voll  Erbarmen,  erbarme  dich  unser  und  laß  unser  Herz  verstehen 
und  einsehen,  lernen  und  lehren,  beachten,  erfüllen  und  tun  alle  Worte  deines 
Gesetzes  mit  Liebe.  Und  laß  hangen  unser  Herz  an  deinen  Geboten  und  mach 
eins  unser  Herz  in  der  Liebe  und  Furcht  deines  Namens,  auf  daß  wir  nicht  zu 
schänden  werden  immer  und  ewig"  90.  Clemens  von  Rom  betet  in  seinem  Kirchen- 
gebet (1  Clem  59):  „Lenke  unsere  Schritte,  daß  wir  wandeln  auf  dem  Pfade  der 
Her,zensheiligkeit  und  das  Gute  und  Wohlgefällige  vor  dir  tun."  Justin  sagt  in 
seiner  Schilderung  der  Taufmesse  (Apol  I  65):  „Wir  sprechen  gemeinsame  Gebete, 
daß  wir  gewürdigt  werden  die  Wahrheit  zu  verstehen  und  in  einem  guten  Wandel 
und  in  der  Erfüllung  der  Gebote  gefunden  werden,  damit  wir  das  ewige  Heil 
erlangen."  Das  Euchologium  des  Serapion  enthält  das  Gebet:  „Gib  uns  Erkennt- 
nis und  Glaube  und  Frömmigkeit  und  Heiligkeit.  Vernichte  alle  Leidenschaft, 
alle  Lust,  alle  Sünde  in  diesem  Volke,  mache,  daß  alle  rein  werden  ....  Gib 
uns  einen  heiligen  Sinn  und  einen  vollkommenen  Nutzen.  Gib,  daß  wir  dich 
suchen  und  lieben.  Gib,  daß  wir  deine  göttlichen  Reden  aufsuchen  und  erforschen. 
Reiche  uns  deine  Hand,  Herr,  und  richte  uns  auf.  Richte  uns  auf,  ö  Gott  der 
Erbarmungen,  mache,  daß  wir  emporblicken,  öffne  unsere  Augen,  gewähre  uns 
Freimut,  gib,  daß  wir  uns  nicht  schämen  oder  fürchten  oder  verurteilen  müssen. 
Tilge  unseren  Schuldschein.  Schreibe  ein  unsere  Namen  ins  Lebensbuch.  Rechne 
uns  hinzu  zu  deinen  heiligen  Propheten  und  Aposteln  durch  deinen  eingeborenen 
Sohn  Jesus  Christus"  ". 

Die  Kollekte  der  römischen  Meßliturgie,  die  vielfach  auch  in  die 
evangelischenLiturgien  übernommen  wurde,  zeichnet  sich  durch  generelle 
Fassung  und  kraftvolle  Kürze  aus.  Wie  das  Hauptdankgebet  der 
Messe,  die  Präfation,  so  zeigt  auch  dieses  Hauptbittgebet  in  der  abend- 
ländischen Liturgie  stets  eine  Beziehung  auf  das  jeweilige  lest  oder 
die  Festzeit  des  Kirchenjahrs.  Der  Inhalt  der  Bitte  verrät  die  eigen- 
tümliche Stimmung  des  Festes  oder  Festkreises:  die  Sehnsucht  des 
Advents  und  die  Freude  der  Weihnacht,  den  Bußernst  der  Fastenzeit, 
den  Jubel  des  Osteitages  und  die  Geisteskraft  des  Pfingstfestes. 

1.  Adventsonntag:  „Erwecke,  wir  bitten,  o  Herr,  deine  Macht  und 
komm,  auf  daß  wir  von  den  Gefahren,  die  uns  von  unseren  Sünden  drohen,  durch 
deinen  Schutz  errettet  und  durch  deine  Erlösung  zum  Heil  gelangen  mögen." 
—  Weihnacht:  „O  Gott,  der  du  diese  hochheilige  Nacht  durch  den  Glanz 
des  wahren  Lichtes  erstrahlen  ließest,  gib  (wir  bitten  dich),  daß  wir,  die  wir  das 
Geheimnis  dieses  Lichtes  auf  Erden  erkannt  haben,  auch  seine  Freuden  im  Himmel 
genießen."  —  Epiphanie:  „O  Gott,  der  du  am  heutigen  Tage  deinen  Einge- 
borenen den  Heidenvölkern  durch  die  Leitung  des  Sternes  geoffenbart  hast, 
gewähre  gnädiglich,  daß  wir,  die  wir  dich  schon  aus  dem  Glauben  erkannt 
haben,  zur  Anschauung  deiner  erhabenen  Gestalt  gelangen  mögen."  —  Quin- 
quagesima:  „Unser  Flehen,  wir  bitten  dich,  o  Herr,  erhöre  mildiglich,  befreie 
uns  von  den  Fesseln  unserer  Sünden  und  schütze  uns  vor  allem  Unheil."  — 
4.  Fastensonntag:  „Verleihe  uns,  wir  bitten  dich,  allmächtiger  Herr,  daß 
wir,  die  wir  nach  dem  Verdienst  unseres  Handelns  niedergeschlagen  werden,  durch 
die  Tröstung  deiner  Gnade  wieder  aufatmen."  —  Palmsonntag:  „All- 
mächtiger, ewiger  Gott,  der  du,  dem  Menschengeschlecht  zur  Nachahmung  des 
Beispieles  der  Demut,  \inseren  Erlöser  Fleisch  annehmen  und  das  Kreuz  auf  sich 
nehmen  ließest,  gewähre  gnädiglich,  daß  wir  Beweise  von  seiner  Geduld  bringen 
und  so  die  Teilnahme  an  seiner  Auferstehung  erlangen."  —  Ost  ersonntag: 
„O  Gott,  der  du  am  heutigen  Tage  durch  deinen  Eingeborenen  nach  der  Be- 
siegung des  Todes  den  Zugang  zur  Ewigkeit  erschlossen  hast,  begleite  unsere 
Wünsche,  die  du  zuvorkommend  eingibst,  auch  weiterhin  mit  deinem  Schutz. "  — 
2.  Sonntagnach  Ostern:  „0  Gott,  der  du  durch  die  Demut  deir  es  Sohnes 
die  darniederliegende  Welt  aufgerichtet  hast,  schenke  deinen  Gläubigen  stete 
Freude,  damit  du  die,  welche  du  dem  ewigen  Tode  entrissen  hast,  die  ewigen 
Freuden  genießen  lassest."  —  Christi  Himmelfahrt:  „Gewähre,  wir 
bitten  dich,  allmächtiger  Herr,  daß  wir,  die  da  glauben,  daß  am  heutigen  Tage 
unser  Erlöser  zum  Himmel  aufgestiegen  ist,  auch  selbst  im  Geiste  im  Himmlischen 


5.   Inhalt  (Bitte)  457 


weilen."  —  Pfingstsonntag:  ,,0  Herr,  der  du  die  Herzen  der  Gläubigen 
durch  die  Erleuchtung  des  heiligen  Geistes  gelehrt  hast,  gib,  daß  wir  in  diesem 
Geiste  das  Rechte  sinnen  und  uns  stets  seines  Trostes  erfreuen." — Pfingst- 
dienstag:  .,Es  möge  uns  beistehen,  wir  bitten  dich,  o  Herr,  die  Kraft  des 
heiligen  Geistes,  die  unsere  Herzen  mildiglich  reinige  und  vor  allem  Unheil  schütze." 
—  Fronleichnam:  ,,0  Gott,  der  du  uns  unter  dem  wunderbaren  Sakramenfc 
ein  Gedächtnis  deines  Leidens  hinterlassen  hast,  laß  uns,  wir  bitten  dich,  so  die 
heiligen  Geheimnisse  deines  Leibes  und  Blutes  verehren,  daß  wir  allezeit  die 
Frucht  deiner  Erlösung  erlangen."  —  Maria  Verkündigung:  ,,0  Gott, 
der  du  deinen  Logos  gemäß  der  Ankündigung  des  Engels  aus  dem  Schöße  der 
seligen  Jungfrau  Maria  Fleisch  annehmen  ließest,  gewähre  deinen  Schutzflehenden, 
daß  wir,  die  wir  glauben,  daß  sie  wahrhaftig  Gottes  Gebärerin  ist,  durch  ihre- 
Fürsprache  bei  dir  Hilfe  erhalten."  —  Fest  der  Apostel  Petrus  und  Paulus: 
,,0  Gott,  der  du  den  heutigen  Tag  durch  die  Blutzeugenschaft  deiner  Apostel 
Petrus  und  Paulus  geheiligt  hast,  gib  deiner  Kirche,  daß  sie  in  allem  deren  Gebot 
befolge,  durch  die  sie  den  Anfang  der  Religion  nahm."  —  Fest  des  Erzmartyrers 
Stephan  us:  „Laß  uns,  wir  bitten  dich,  o  Herr,  das  nachahmen,  was  wir  ver- 
ehren, damit  wir  lernen  auch  unsere  Feinde  zu  lieben;  denn  wir  feiern  das  Ge- 
burtsfest dessen,  der  es  verstand  auch  für  seine  Verfolger  anzuflehen  unseren 
Herrn  Jesus  Christus,  deinen  Sohn." 

In  den  Bittgebeten  der  evangelischen  Liturgien  kommt  (soferne  sie 
nicht  aus  der  alten  Kirche  herübergenommen,  sondern  Schöpfungen  der 
Refoimation  sind)  der  Gedanken-  und  Stimmungsgehalt  der  reforma- 
torischen Frömmigkeit  zum  Ausdruck.  Das  Festhalten  an  dem  in  der 
Schiift  niedergelegten  Gotteswort,  die  Vergebungsgewißheit,  die  reine 
Zuversicht  zu  Gott  um  des  Verdienstes  Christi  willen  bilden  den  ver- 
nehmlichsten Gegenstand  des  Bittgebets. 

Ein  Gebet  der  alten  Straßburger  Gottesdienstordnung  aus  dem  Reformations- 
jahrhundert lautet:  „Allmächtiger,  gütiger  Vater,  sintemal  all  unser  Heil  daran 
steht,  daß  wir  deines  heiligen  Wortes  wahren  Verstand  haben,  so  verleihe  uns 
aller,  daß  unsere  Heizen,  gefreiet  von  weltlichen  Geschäften,  mit  allem  Fleiß 
und  Glauben  dein  heiliges  Wort  hören  und  fassen,  damit  wir  deinen  gnädigen 
Willen  recht  erkennen,  lieben  und  mit  allem  Ernst  leben,  dir  zu  Lob  und  Ehr"  91 b. 
Das  Gebet  bei  der  Abendmahlsfeier  nach  der  Brandenburg-Nürnberger  Kirchen- 
ordnung enthält  die  Bitte:  „Wir  bitten  dich  demütiglich,  du  wollest  durch  deinen 
heiligen  Geist  in  uns  wirken,  daß  wir  auch  also  deine  göttliche  Gnade,  Vergebung 
der  Sünde,  Vereinigung  mit  Christo  und  ewiges  Leben,  so  darinnen  (d.  i.  im  Abend- 
mahl) gezeigt  und  zugesagt  ist,  mit  festem  Glauben  mögen  begreifen  und  ewiglich 
behalten,  durch  unsern  Herrn  Jesum  Christum"  "o.  Die  Kollekte  am  Refor- 
mationsfeste der  schwedischen  Landeskirche  lautet:  „Herr,  Gott,  himmlischer 
Vater,  der  du  durch  dein  Evangelium  uns  die  Erkenntnis  der  Erlösung  zur  Ver- 
gebung unserer  Sünden  verliehen  hast,  wir  bitten  dich,  bewahre  uns,  damit  wir 
nicht  dein  Wort  verachten,  sondern  es  von  Herzen  annehmen,  sodann  unser 
Leben  bessern  und  unser  Vertrauen  allein  auf  deine  Gnade  und  auf  das  Verdienst 
deines  lieben  Sohnes  Christi  setzen,  der  mit  dir  und  dem  heiligen  Geiste  lebt  und 
regieret  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit."  Das  allgemeine  Kirchengebet  der  schwedi- 
schen högmässa  beginnt  mit  den  Worten:  „Dich,  ewiger  und  allmächtiger  Gott, 
Schöpfer  und  Schirmer  aller  Dinge,  rufen  wir  an.  Sei  uns  gnädig  um  Jesu  Christi 
willen  und  gedenke  nicht  unserer  Sünden.  Heilige  und  regiere  uns  mit  deinem 
heiligen  Geist  und  gib  uns  Gnade,  daß  wir  nach  deinem  Wort  in  einem  heiligen 
Leben  wandeln.  Versammle,  stärke  und  bewahre  die  Christenheit  durch  das 
Wort  und  die  heiligen  Sakramente."  Ähnlich  klingt  ein  Gebet  der  preußischen 
Agende:  „Herr,  Gott,  lieber  Vater!  wir  bitten  dich,  du  wollest  uns  durch  deinen 
heiligen  Geist  läutern  und  regieren,  auf  daß  wir  mit  ganzem  Herzen  dein  Wort 
anhören  und  annehmen  und  dadurch  geheiliget  werden  und  auf  Jesum  Christum, 
deinen  Sohn,  unser  ganzes  Vertrauen  und  unsere  Hoffnung  setzen,  unser  Leben 
nach  deinem  Worte  bessern  und  ewig  selig  werden." 

Das  folgende  Bittgebet,  das  in  der  Gottesdienstordnung  der  indischen  Brahma- 


458  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 


Kirche  enthalten  ist,  steht  an  geistiger  Tiefe  und  sittlichem  Ernst  hinter  den 
jüdisch-christlichen  Gottesdienstgebeten  kaum  zurück.  Der  erste  Satz  ist  echt 
indisch  (er  ähnelt  Gebeten  der  Brhad-Aranyaka-Upanishad  I  3,  28  und  Taittiriya- 
Upanishad  II);  die  folgenden  Sätze  verraten  christlichen  Kinfluß.  ,,0  Gott, 
führe  uns  aus  der  Unwahrheil  zur  Wahrheit,  aus  dw  Finsternis  zum  Lirht,  aus 
dem  Tode  zur  Unsterblichkeit  !  ü  du  Vater  der  Wahrheit,  offenbare  dich  für 
uns!  Du  bist  gnädig,  beschütz,»'  uns  allzeit  in  deiner  unendlichen  Güte!  Friede, 
Friede,  Friede!"  92 

Wie  die  individuelle,  prophetische  Frömmigkeit,  so  kennt  auch  die 
synagogale  und  altchristliche  Gemeindefrömmigkeit  keinen  Untei  schied 
zwischen  irdischen  und  himmlischen,  leiblichen  und  geistigen  Gebets- 
bitten. Alle  Anliegen,  welche  die  Gemeinde  auf  dem  Herzen  hat,  spricht 
sie  im  gottesdienstlichen  Gebet  aus.  Wie  das  Vaterunser  zwischen  den 
Bitten  ums  Gottesreich  und  um  Sündenvergebung  die  schlichte  Brotbitte 
enthält,  so  enthält  das  jüdische  Schmone  'Esre  unter  den  großen  und 
geistigen  Bitten  die  Bitte  um  Wachstum  der  Feldfrüchte  und  um  reiche 
Ernte : 

„Segne  uns,  o  Herr,  dieses  Jahr,  lasse  alles  wohl  gedeihen  und  gib  Segen  auf 
das  Land;  und  sättige  uns  mit  deiner  Güte  und  segne  unser  Jahr  wie  die  guten 
Jahre."  In  der  Liturgie  des  8.  Buchs  der  apostolischen  Konstitutionen  begegnet 
uns  wiederholt  die  Bitte  um  gutes  Wetter  und  Fruchtbarkeit  der  Erde.  „Wir 
bitten  dich  auch  für  die  ,gute  Mischung'  der  Luft  und  reichen  Ertrag  der  Früchte, 
-damit  wir,  ständig  teilnehmend  an  deinen  Gütern,  unaufhörlich  dich  preisen, 
der  du  Nahrung  allem  Fleisch  spendest."  „Bewahre  die  Lüfte  in  guter  Mischung, 
die  Früchte  in  Ertragsfähigkeit."  In  der  Gebetssammlung  des  Serapion  von 
Thmuis  steht  folgendes  Gebet:  „Herr  Himmels  und  der  Erde,  der  du  den  Himmel 
mit  dem  Chor  der  Sterne  umkränzest  und  durch  die  großen  Lichtkörper  erleuchtest, 
der  du  die  Erde  mit  den  Früchten  ausstattest  zum  Wohle  der  Menschen,  der  du 
■das  von  dir  geschaffene  Geschlecht  von  oben  die  Wärmestrahlen  und  das  Licht 
von  Sonne  und  Mond  empfangen  und  von  unten  mit  den  Früchten  der  Erde  sich 
nähren  lassest,  wir  flehen,  schenk  recht  reichliche  Regen,  laß  die  Erde  Frucht 
tragen  und  reichen  Erntesegen  bringen  um  deiner  Freundlichkeit  und  Güte  willen, 
~  .  .  segne  die  ganze  Erde  durch  deinen  eingeborenen  Sohn  Jesus  Christus"  93. 

d)  Die  Gemeinde  fleht  nicht  allein  um  die  großen  Heilsgüter,  nach 
denen  alle  ihre  Glieder  trachten,  und  um  das  tägliche  Brot,  dessen  alle 
bedürfen,  sie  gedenkt  in  gleicher  Weise  der  besonderen  Anliegen  und 
Nöte  ihrer  einzelnen  Glieder.  Einer  der  wichtigsten  Abschnitte  des 
altchristlichen  Gottesdienstes  ist  das  allgemeine  Fürbittegebet, 
dessen  Nachhall  uns  an  zahllosen  Stellen  der  altchristlichen  Literatur 
begegnet  94.  Diese  Fürbitten  sind  jedoch  nicht,  wie  es  heute  vielfach 
der  Fall  sein  mag,  eindrucksvolle  fromme  Redensarten,  sondern  der 
echte  und  unmittelbare  Ausdruck  des  engen,  religiösen  Gemeinschafts- 
gefühls. Das  Bewußtsein,  daß  alle  Glieder  eines  Leibes  sind,  daß  jeder 
die  Last  des  anderen  zu  tragen  habe,  macht  die  Nöte  und  Anliegen  eines 
•einzelnen  Bruders  zur  Not  und  zum  Anliegen  der  gesamten  Gemeinde. 

Bischof  Clemens  von  Rom  betet:  „Wir  bitten,  Herr,  werde  uns  ein  Helfer  und 
Retter:  hilf  denen  unter  uns,  die  in  Trübsal  sind,  erbarme  dich  der  Armen,  richte 
ixxit  die  Gefallenen,  zeige  dich  den  Flehenden,  heile  die  Kranken,  führe  zurück 
die  Verirrten  deines  Volkes,  speise  die  Hungrigen,  befreie  unsere  Gefangenem 
richte  auf  die  Schwachen,  tröste  die  Kleinmütigen"  (1  Clem  59).  Eine  tiefe  und 
innige  christliche  Bruderliebe  atmet  das  allgemeine  Fürbittegebet  im  Euchologion 
4es  Serapion:  „Wir  bitten  dich  für  die,  welche  gläubig  geworden  sind  und  den 
Herrn  Jesus  Christus  erkannt  haben,  mögen  sie  gefestigt  werden  im  Glauben, 
in  der  Erkenntnis  und  in  der  Lehre.     Wir  bitten  für  dieses  Volk,  sei  gnädig  allen, 


5.  Inhalt  (Fürbitte)  459 


offenbare  dich,  enthülle  deinen  Glanz,  mögen  alle  dich  erkennen,  den  ungeborenen 
Vater  und  deinen  eingeborenen  Sohn  Jesus  Christus  ....  Wir  bitten,  Herr 
der  Erbarrnungen,  für  Freie  und  Sklaven,  Männer  und  Frauen,  Greise  und  Kinder, 
Arme  und  Reiche.  Zeige  allen  die  dir  eigene  Güte  und  gewähre  ihnen  allen  die 
dir  eigene  Huld.  Hab  Mitleid  mit  allen  und  gib  allen,  daß  sie  sich  dir  zuwenden. 
Wir  bitten  für  die  auf  Reisen  Befindlichen,  sende  ihnen  einen  friedvollen  Engel, 
auf  daß  er  ihr  Reisebegleiter  werde,  damit  sie  nie  und  von  niemanden  Schaden 
erleiden  und  wohlgemut  ihre  Fahrt  und  Reise  vollenden;  wir  bitten  für  die  Trübsal 
Leidenden,  für  die  Gefangenen  und  die  Armen;  spende  Erquickung  einem  jeden, 
befreie  sie  von  den  Fesseln,  führe  sie  heraus  aus  der  Armut;  tröste  sie  alle,  der 
du  tröstest  und  ermutigst :  wir  bitten  für  die  Kranken,  schenke  ihnen  Gesundheit 
und  richte  sie  auf  von  der  Krankheit  und  laß  sie  vollkommen  leibliche  und  geistige 
Gesundheit  erlangen."  98 

In  ähnlicher  Fassung  kehrt  die  Fürbitte  für  die  notleidenden  und  ge- 
fährdeten Brüder  in  allen  Liturgien  der  Ostkirche  wieder.  Sie  begegnet 
uns  auch  in  den  evangelischen  Gottesdienstordnungen ;  hier  ist  sie  aber 
nicht  mehr  wie  in  der  alten  Kirche  auf  die  Glieder  der  Gemeinde  be- 
schränkt, sondern  universell  gedacht. 

Die  letzte  Fürbitte  des  calvinischen  Sonntagsgebetes  lautet :  „In  gleicher  Weise 
empfehlen  wir  dir,  o  Gott  aller  Tröstung,  alle  die,  welche  du  durch  Kreuz  und 
Trübsal  heimsuchst  und  züchtigst,  sei  es  durchArmut  oder  Gefängnis  oderKrankheit 
oder  Verbannung  oder  anderes  körperliches  Unglück  oder  geistige  Niederge- 
schlagenheit; daß  du  sie  deine  väterliche  Zuneigung  erkennen  und  verstehen 
lassest,  welche  sie  züchtigt  zu  ihrer  Besserung:  damit  sie  sich  mit  ganzem  Herzen 
zu  dir  bekehren  und,  wenn  sie  sich  bekehrt  haben,  den  ganzen  Trost  empfangen 
und  von  allen  Übeln  erlöst  werden"  96.  Ein  freies  Fürbittegebet  des  berühmten 
calvinischen  Predigers  Adolphe  Monod  lautet:  ,,0  Gott,  der  du  alles  Elend  und 
alle  Leiden  kennst,  welche  die  Sünde  über  unsere  arme  Erde  und  über  die  arme 
Menschheit  gebracht  hat,  der  du  allen  Jammer  der  Gegenwart  siehst,  dessen 
Anblick  wir  selbst  nicht  ertragen  können:  wir  befehlen  deiner  Obhut  alle  Reu- 
mütigen und  Betrübten,  auf  daß  du  die  Schätze  deiner  Gnade  und  deines  Trostes 
über  sie  ausschüttest  ....  Wir  können  sie  dir  nicht  alle  nennen,  aber  du  kennst 
sie,  wir  befehlen  dir  die  Opfer  des  Krieges,  so  viele  in  Trauer  versenkte  Familien  und 
so  viele  andere,  die  in  beständiger  Sorge  leben.  Wir  befehlen  dir  die  Unterdrückten 
imd  die  um  der  Gerechtigkeit  willen  Verfolgten.  Wir  befehlen  dir  die  Sklaven; 
siehe  an,  diese  Tausende,  diese  Millionen  von  Sklaven,  deren  Unterdrücker  deinen 
Namen  bekennen,  Diener  Christi  heißen,  aber  es  nicht  sind.  Wir  befehlen  dir 
die  Armen,  die  Kranken,  die  in  Armut  lebenden  Kranken." 

Die  Fürbitte  für  die  in  Not  und  Gefahr  befindlichen  Brüder  bildet 
den  Kern  des  altchristlichen  Fürbittegebets.  Ihm  geht  zur  Seite  oder 
voran  die  Bitte  für  die  Führer  und  Diener  der  Gemeinde.  Mit  der 
fortschreitenden  Differenzierung  der  kirchlichen  Ämter  entwickelt  sich 
diese  Fürbitte  zum  Gebet  für  alle  kirchlichen  Stände  vom  Hermeneuten 
bis  zum  Episkopus. 

Schon  das  jüdische  Achtzehngebet  hatte  eine  Fürbitte  für  die  einzelnen  Klassen 
des  Volkes  Israel  enthalten:  „Über  die  Gerechten  und  über  die  Frommen  und 
über  die  Ältesten  deines  Volkes,  des  Hauses  Israel  und  über  den  Rest  der  Schrift- 
gelehrten und  über  die  Proselyten  und  über  uns  möge  sich  regen  dein  Erbarmen) 
Herr,  unser  Gott!"  In  der  Gebetssainmlung  des  Serapion  findet  sich  folgendes 
Gebet:  „Dich  rufen  wir  an,  den  Retter  und  Herrn  alles  Geistes,  den  Gebenedeiten, 
den  Spender  alles  Segens.  Beilige  diesen  Rischof.  halte  ihn  frei  von  aller  Ver- 
suchung und  verleih«;  ihm  Weisheit  und  Erkenntnis,  verleihe  ihm  gvite  Fort- 
schritte in  seinen  Wissenschaften.  Wir  bitten  dich  auch  für  seine  Mitpresbyter, 
heilige  sie,  gib  ihnen  Weisheit,  Erkenntnis  und  die  rechte  Lehre,  laß  sie  deine 
heiligen  Lehren  reeht  und  tadellos  behandeln.  Heilige  auch  die  Diakonen,  daß 
sie  rein  seien  an  Seele  und  Lei)),  mit  reinem  Gewissen  dienen  und  bei  deinem  Leib 
und  dem  heiligen  Blute  stehen  können.     Wir  bitten  dich  auch  für  die  Suhdiakonen, 


460  '  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

die  Lektoren  und  Hermeneuten  (Scbrifterklärer).  Erquicke  alle  Diener  der 
Kirche  und  gib  allen  Mitleid,  Erbarmen  und  Fortschritt.  Wir  bitten  dich  auch 
für  die  Einsiedler  und  die  Jungfräulichen.  Mögen  sie  ihren  Lauf  tadellos  und  ihr 
Leben  ununterbrochen  vollenden,  damit  sie  in  Reinheit  und  Heiligkeit  alle  ihre 
Tage  zubringen  können.  Erbarme  dich  auch  über  alle  Verheirateten,  Männer, 
Frauen  und  Kinder  und  verleih  allen  den  Segen  des  Fortschrittes  und  der  Besserung, 
auf  daß  sie  alle  lebendige  und  auserwählte  Menschen  werden  durch  deinen  Einge- 
borenen Jesus  Christus"  *'.  Die  Fürbitte  für  die  mannigfachen  kirchlichen 
Stände  begegnet  uns  in  allen  orientalischen  Liturgien.  In  der  römischen  Kar- 
freitagsliturgie schließt  sich  an  die  Bitte  für  den  Papst  das  Fürbittegebet  „für 
alle  Bischöfe,  Priester,  Diakonen,  Subdiakonen,  Akolythen,  Exorzisten,  Lektoren, 
Ostiarier,  Bekenner,  Jungfrauen,  Witwen  und  für  das  ganze  heilige  Gottesvolk". 

Die  evangelischen  Kirchen  haben  die  feierliche  Fürbitte  für  die 
stufenförmig  aufsteigende  Hierarchie  reduziert  zur  schlichten  Bitte 
für  die  Verkünder  des  Evangeliums  und  Seelsorger. 

„Auch  bitten  wir  dich,"  heißt  es  in  der  calvinischen  Liturgie,  „wahrer  Vater 
und  Erlöser,  für  alle  die,  welche  du  als  Hirten  deinen  Gläubigen  bestimmt  hast, 
und  denen  du  die  Sorge  für  ihre  Seelen  und  die  Verwaltung  deines  heiligen  Evan- 
geliums anvertraut  hast;  mögest  du  sie  lenken  und  führen  durch  deinen  heiligen 
Geist,  damit  sie  als  treue  und  wahre  Diener  deiner  Ehre  erfunden  werden  und 
immer  das  Ziel  vor  Augen  haben:  daß  alle  armen,  irrenden  und  verirrten  Schafe 
gesammelt  und  zurückgebracht  werden  zum  Herrn  Jesus  Christus,  dem  Erzhirten 
und  Fürsten  der  Bischöfe,  daß  sie  von  Tag  zu  Tag  in  ihm  Nutzen  haben  und 
wachsen  in  aller  Gerechtigkeit  und  Heiligkeit.  Mögest  du  ferner  alle  Kirchen 
befreien  von  dem  Bachen  der  reißenden  Wölfe  und  von  allen  Mietlingen,  welche 
ihre  Ehre  und  ihren  Vorteil  suchen,  nicht  die  Erhebung  deines  heiligen  Namens 
allein  und  das  Wohl  deiner  Herde"  *8. 

Das  Für  bittegebet  der  jüdischen  und  altchristlichen  Gemeinde  er- 
streckt sich  über  den  Kreis  der  Glaubensangehörigen  hinaus.  Einen 
wichtigen  Platz  nimmt  in  ihm  die  Fürbitte  für  den  heidnischen  Herrscher 
und  die  heidnische  Beamtenschaft  ein.  Die  jüdische  Gemeinde  betete 
für  den  persischen  Großkönig  "  und  später  für  die  Ptolemäer.  Eleazar 
bekennt  in  einem  Brief  an  Ptolemäus:  „Für  dich,  deine  Gattin,  deine 
Kinder  und  Anverwandten  brachten  wir  Opfer  dar  und  die  fromme  Menge 
flehte  im  Gebet,  daß  es  dir  nach  Wunsch  ergehe  und  deine  Herrschaft 
in  Friede  gewahrt  bleibe"  10°.  Das  alte  Christentum  übernahm  diese 
jüdische  Sitte,  die  sich  übrigens  auch  in  dem  synkretistischen  Isiskult 
eingebürgert  hatte  101.  Der  Verfasser  der  Pastoralbriefe  fordert  den 
Bischof  Timotheus  auf,  für  alle  Könige  und  Obrigkeiten  zu  beten  (1  Tim 
2  j  ff.).     Bischof  Clemens  von  Rom  betet: 

„Du,  o  Herr,  gabst  ihnen  die  Befugnis  der  Königsherrschaft  durch  deine  ge- 
waltige und  unaussprechliche  Macht,  auf  daß  wir  die  Herrlichkeit  und  Ehre,  die 
ihnen  von  dir  gegeben  ist,  anerkennen  und  uns  ihnen  unterordnen  und  uns  deinem 
Willen  nicht  widersetzen;  gib  ihnen,  o  Herr,  Gesundheit,  Friede,  Eintracht,  Wohl- 
ergehen, auf  daß  sie  die  von  dir  ihnen  anvertraute  Herrschaft  ohne  Anstoß  aus- 
üben. Denn  du,  himmlischer  Herrscher,  König  der  Äonen,*  gibst  den  Menschen- 
kindern Ruhm,  Ehre  und  Macht  über  die  auf  Erden  Wohnenden.  Du,  Herr, 
lenke  ihre  Ratschlüsse  nach  dem  Guten  und  vor  dir  Wohlgefälligen,  auf  daß  sie 
in  Friede,  Eintracht  und  Frömmigkeit  die  von  dir  ihnen  anvertraute  Gewalt 
ausüben  und  vor  dir  Gnade  finden"  (1   Clem  61). 

Als  nach  dem  Siege  des  Christentums  die  Weltherrschaft  in  christ- 
liche Hände  gekommen  war,  bekam  das  Fürbittegebet  der  christlichen 
Kirche  für  den  „allerchristlichsten"  Herrscher,  der  ihr  Schutzvogt 
war,  einen  noch  kräftigeren  Akzent.  Das  große  Fürbittegebet  der 
griechischen  Basiliusliturgie  enthält  folgende  überschwängliche  Stelle: 


5.  Inhalt  (Fürbitte)  461 


„Gedenke,  o  Herr,  unseres  frömmsten  und  gläubigsten  Kaisers,  den  du  ge- 
würdigt hast,  auf  Erden  zu  herrschen;  kröne  ihn  mit  der  Waffe  der  Wahrheit, 
mit  der  Waffe  des  Wohlgefallens  und  umschatte  sein  Haupt  am  Tage  des  Kampfes. 
Stärke  seinen  Arm  und  erhöhe  seine  Rechte,  befestige  sein  Reich  und  unterwirf 
ihm  alle  barbarischen  Völker,  die  auf  Krieg  sinnen.  Schenke  ihm  einen  tiefen 
und  unerschütterlichen  Frieden  und  sprich  in  seinem  Herzen  Gutes  für  deine 
Kirche  und  dein  ganzes  Volk,  damit  wir  in  ihrem  Frieden  ein  ruhiges  und  stilles 
Leben  führen  in  Frömmigkeit  und  Ehrbarkeit"  loa. 

Die  Reformation  brachte  eine  enge  Verknüpfung  der  Kirche  mit  dem 
Einzelstaat;  die  universelle  Christengemeinschaft  verengerte  sich  zur 
Staatskirche.  Die  altchristliche  Fürbitte  für  Herrscher  und  Staat 
erhielt  so  eine  stark  politisch-nationale  Färbung.  Ein  deutliches  Bei- 
spiel dieser  staatskirchlichen  Gebetsweise  bietet  die  pieußische  Agende: 

,.Laß,  o  Herr,  deine  Gnade  groß  werden  über  den  Kaiser  und  König,  unseren 
Herrn,  über  die  Kaiserin  und  Königin,  seine  Gemahlin,  über  den  Kronprinzen 
und  die  Kronprinzessin,  seine  Gemahlin,  über  sämtliche  königliche  Prinzen  und 
Prinzessinnen  und  alle,  die  dem  Kaiser  und  dem  königlichen  Hause  anverwandt 
und  zugetan  sind.  Erhalte  sie  uns  bei  langem  Leben,  zum  beständigen  Segen 
und  christlichen  Vorbild.  Verleihe  dem  Kaiser,  unserem  Könige,  eine  lange  und 
gesegnete  Regierung.  Beschütze  das  königliche  und  das  gesamte  deutsche  Kriegs- 
heer zu  Wasser  und  zu  Land  und  alle  treuen  Diener  des  Königs  und  des  Vater- 
landes ....  Segne  uns  und  alle  königlichen  Länder.  Sei  du  des  deutschen 
Reiches  und  Volkes  starker  S :hutz  und  Schirm.  Laß  deine  Gnade  ruhen  auf 
seinen  Fürsten  und  freien  Städten,  gib  ihnen  allen  eine  friedvolle  und  gesegnete 
Regierung  in  ihren  Ländern  und  laß  Glaube  und  Treue.  Kraft  und  Einigkeit 
unseres  deutschen  Volkes  Ruhm  und  Ehre  sein.  Kröne  mit  deiner  Gnade  die 
Arbeiten  des  Reichstages,  daß  sie  zum  Frieden  und  Heil  des  gesamten  Vater- 
landes und  zum  Preise  deines  heiligen  Namens  gereichen.  Blicke  in  Gnaden 
herab  auf  den  Landtag  der  Monarchie;  erleuchte  und  leite  seine  Mitglieder,  daß 
ihre  Beratungen  geschehen  in  deiner  Furcht  und  zu  deiner  Ehre  und  zum  Besten 
des  Landes  gedeihen." 

Die  schlichte  christliche  Fürbitte  für  die  weltliche  Obrigkeit  erweitert 
sich  hier  zu  einer  langatmigen  politisch-patriotischen  Paränese,  welche 
in  den  Herzen  der  versammelten  Gläubigen  die  monarchische  Unter- 
tanengesinnung befestigen  soll.  Ein  viel  tieferer,  wirklich  religiöser 
Geist  spricht  aus  dem  Fürbittegebet  der  calvinischen  Liturgie;  der 
Sektentypus,  den  der  Calvinismus  bewahrte,  verhinderte  ein  schwäch- 
liches Zerfließen  des  religiösen  Gemeindelebens  im  politisch -nationalen 
Staatskirchentum . 

,,Wir  bitten  dich,  himmlischer  Vater,  für  alle  Fürsten  und  Herren,  denen  du 
das  Regiment  deiner  Gerechtigkeit  anvertraut  hast,  insbesondere  für  die  Herren 
dieser  Stadt,  daß  es  dir  gefallen  möge,  ihnen  deinen  Geist,  den  allein  guten,  wahr- 
haft fürstlichen,  mitzuteilen  und  täglich  zu  mehren,  auf  daß  sie  in  wirklichem 
Glauben  Jesum  Christum,  deinen  Sohn,  unseren  Herrn,  erkennen  als  den 
König  der  Könige  und  den  Herrn  über  alle  Herren,  dem  du  alle  Macht  im  Himmel 
und  auf  Erden  gegeben  hast,  und  ihm  zu  dienen  und  seine  Herrschaft  durch  ihre 
Herrschaft  zu  erhöhen  suchen,  indem  sie  ihre  Untertanen,  welche  die  Geschöpfe 
deiner  Hand  und  Schafe  deiner  Weide  sind,  nach  deinem  Wohlgefallen  leiten 
und  führen,  damit  wir  hier  und  auf  der  ganzen  Erde  in  gutem  Frieden  und  in 
Ruhe  lebend,  dir  in  aller  Heiligkeit  und  Ehrbarkeit  dienen  und,  befreit  und  ge- 
sichert vor  der  Furcht  unserer  Feinde,  dir  in  unserem  ganzen  Leben  Lob  sagen 
können"  103. 

Das  christliche  Fürbittegebet  kennt  keine  Schranken  des  Bekennt- 
nisses oder  der  Nation.  Das  Gebot  des  Herrn:  ,, Liebet  eure  Feinde, 
betet  für  die,  welche  euch  verfolgen  und  verleumden",  wurde  von  der 
altchristlichen  Gemeinde  auch  in  ihren  gottesdienstlichen  Versammlungen 


462  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebel 


erfüllt.     Mitten  in  die  Bitte  für  die  in  Not  und  Bedrängnis  stehenden 
Brüder  schiebt  sich  die  Bitte  um  das  Heil  der  Juden  und  Heiden  ein. 

Im  Kirchengebet  des  Bischofs  Clemens  heißt  es:  „Die  Verirrten  deines  Volkes 
führe  zurück."  „Erkennen  mögen  alle  Völker,  daß  du  der  alleinige  Gott  bist 
und  Jesus  Christus  dein  Sohn  und  wir  sein  Volk  und  die  Schafe  seiner  Herde"  (59). 
In  dem  großen  Fürbittegebet  der  römischen  Karfreitagsliturgie  findet  die  Liebe 
und  Sorge  der  Kirche  für  die  ihr  ferne  Stehenden,  aber  ebenso  das  stolze  Bewußt- 
sein der  Rechtgläubigkeit  ergreifenden  Ausdruck.  , Lasset  uns  auch  beten  füJ 
die  Häretiker  und  Schismatiker,  daß  unser  Gott  und  Herr  sie  herausreiße  aus 
allen  Irrtümern  und  sie  zurückführe  zur  heiligen  Mutter,  der  katholischen  und 
apotsolischen  Kirche.  Allmächtiger,  ewiger  Gott,  der  du  allen  das  Heil  schenkst 
und  willst,  daß  niemand  verloren  gehe,  schau  herab  auf  die  von  teuflischem 
Trug  verblendeten  Seelen,  damit  die  Kerzen  der  Verirrten  alle  häretische  Bosheit 
ablegen  und  zur  Einheit  deiner  Wahrheit  zurückkehren.  —  Laßt  uns  auch  bei  en 
für  die  treulosen  Juden,  daß  Gott,  unser  Herr,  hinwegnehme  den  Schleier  von 
ihren  Herzen,  damit  auch  sie  erkennen  Jesum  Christum  unseren  Herrn.  All- 
mächtiger, ewiger  Gott,  der  du  auch  die  jüdische  Treulosigkeit  von  deiner  Barm- 
herzigkeit nicht  zurückweisest,  erhöre  unsere  Bitten,  die  wir  ob  der  Verblendung 
jenes  Volkes  vor  dich  bringen,  auf  daß  sie  die  Wahrheit  deines  Lichtes  erkennen, 
das  Christus  ist,  und  aus  ihrer  Finsternis  herausgerissen  werden.  —  Laßt  uns  auch 
beten  für  die  Heiden,  daß  Gott  der  Allmächtige  die  Bosheit  von  ihren  Herzen 
hinwegnehme,  damit  sie  ihre  Götzenbilder  verlassen  und  sich  bekehren  zum 
lebendigen  und  wahren  Gott  und  zu  seinem  einzigen  Sohne  Jesus  Christus,  unserem 
Gott  und  Herrn.  Allmächtiger,  ewiger  Gott,  der  du  nicht  auf  den  Tod  der  Sünder 
bedacht  bist,  sondern  stets  auf  ihr  Leben,  nimm  gnädig  an  unser  Gebet  und  befreie 
sie  vom  Kult  ihrer  Götzenbilder  und  gliedere  sie  an  an  deine  heilige  Kirche,  zum 
Lobe  und  zur  Ehre  deines  Namens."  Die  Fürbitte  für  die  der  christlichen  Wahrheit 
Fernestehenden  ging  auch  in  die  evangelischen  Liturgien  über.  In  der  calvinischen 
Sonntagsliturgie  heißt  es:  .,Wir  bitten  dich,  allgütiger  und  barmherziger  Vater 
für  alle  Menschen,  daß  du,  der  du  willst  anerkannt  sein  als  Eilöser  der  ganzen 
Welt,  die,  welche  noch  in  der  Finsternis  und  Unwissenheit  weilen,  durch  die  Er- 
leuchtung deines  heiligen  Geistes  und  die  Predigt  deines  Evangeliums  zurück- 
führen wollest  auf  den  rechten  Weg  deines  Evangeliums,  d.  h.  daß  sie  dich  erkennen, 
den  einzigen,  wahren  Gott,  und  den  du  gesandt  hast,  Jesus  Christus"  104. 

Die  Fürbitte  der  christlichen  Gemeinde  erstreckt  sich  nicht  allein 
auf  die  Lebenden,  sondern  auch  auf  die  Dahingeschiedenen;  denn  die 
Lebenden  und  Toten  gehören  der  umfassenden  communio  sanetorum  an, 
sie  zusammen  bilden  erst  die  Kirche  Christi 105. 

Die  liturgische  Gebetssammlung  des  Serapion  enthält  folgendes  Meßgebet  für 
die  Toten:  „Wir  bitten  auch  für  die  Entschlafenen,  deren  wir  jetzt  gedenken 
(folgt  die  Nennung  der  Namen).  Heilige  diese  Seelen,  denn  du  kennst  sie  alle; 
heilige  alle  im  Herrn  Entschlafenen  und  zähle  sie  hinzu  zu  deinen  heiligen  Engel- 
scharen und  gib  ihnen  einen  Platz  und  eine  Stätte  in  deinem  Reiche"  106.  Das 
Totengebet  der  griechischen  Jakobusliturgie  lautet:  „Gedenke,  Herr  und  Gott, 
der  Geister  und  alles  Fleisches,  dessen  wir  gedacht  und  nicht  gedacht  daben,  der 
Rechtgläubigen  von  Abel  dem  Gerechten  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Du  selbst  verleihe 
ihnen  Ruhe  im  Lande  der  Lebendigen,  in  deinem  Reiche,  in  der  Wonne  des  Paradieses, 
im  Schöße  unserer  heiligen  Väter  Abraham,  Isaak  und  Jakob ;  von  dort  sind  Schmerz, 
Trauer  und  Seufzen  ferne,  dort  wacht  und  leuchtet  das  Licht  deines  Angesichtes 
immerdar"  107.  Kürzer  gefaßt  ist  das  Memento  der  Toten  in  der  römischen 
Liturgie:  „Gedenke,  Herr,  deiner  Diener  und  Dienerinnen  N.  N.,  die  uns  mit  dem 
Zeichen  des  Glaubens  vorangegangen  sind  und  nun  schlafen  im  Schlafe  des  Friedens: 
Ihnen  und  allen  in  Christus  Ruhenden  mögest  du,  wir  flehen  dich  an,  den  Ort 
der  Erfrischung,  des  Lichtes  und  Friedens  schenken"  . 

Das  gottesdienstliche  Fürbittegebet  der  christlichen  Gemeinde  ist  so 
der  Ausdruck  der  universellen  Nächstenliebe,  welche  der  Herr  seinen 
Jüngern  geboten,  die  der  Völkerapostel  verkündet  und  die  älteste  Kirche 


5.  Inhalt  (Fürbitte  —  Doxologie)  463" 

betätigt  hat;  es  ist  darum  so  weit  und  so  umfassend  wie  diese  Liebe 
selbst:  Lebende  und  Tote,  Anwesende  und  Fern  weilende,  Freunde  und 
Feinde,  Christen  und  Heiden,  Rechtgläubige  und  Häretiker,  Heilige 
und  Sünder,  Starke  und  Schwache,  Gesunde  und  Kranke,  Herren  und 
Sklaven,  geistliche  Führer  und  weltliche  Machthaber  —  aller  gedenkt 
die  im  Herrn  versammelte  Brüdergemeinde  im  gemeinsamen  Gebete 
zum  Vater. 

e)  Lobpreisung  und  Danksagung  bilden  den  Höhepunkt  des  gottes- 
dienstlichen Gemeindegebets.  Der  feierliche  Lobpreis  bildet  auch  den 
wirkungsvollen  Abschluß  aller  liturgischen  Gebete  der  Synagoge  und 
alten  Christenheit;  jede  Bitte  und  Fürbitte  erhebt  sich  am  Schlüsse 
zu  einer  klangvollen  Preisrede,  zur  Doxologie.  Das  betrachtende 
Beten  des  Mystikers  steigert  sich  zur  wonnevollen  Schau  des  höchsten 
Gutes,  das  schlichte  Bittgebet  des  prophetischen  Genius  klingt  aus 
in  starken  Worten  der  Zuversicht  oder  Ergebung,  das  liturgische  Gebet 
der  jüdischen  und  christlichen  Gemeinde  endet  in  einem  feierlichen 
Bekenntnis  der  souveränen  Majestät  und  unumschränkten  Macht 
Gottes.  Das  Responsorium,  das  jeden  Vers  des  Schmone  Esre  ab- 
schließt, ist  ein  kräftiger  Lobesruf :  „gelobet  seist  du  Herr!"  Der  Schluß- 
abschnitt dieses  Gebets  ist  eine  wortreiche  Lobpreisung. 

„Wir  preisen  dich,  denn  du  bist  der  Herr,  unser  Gott  und  der  Gott  unserer 
Väter  in  alle  Ewigkeit,  der  Fels  unseres  Lebens,  der  Schild  unseres  Heils.  Du 
bist  es  für  und  für.  Wir  preisen  dich  und  erzählen  dein  Lob  für  unser  Lebenr 
das  in  deine  Hand  gegeben,  und  unsere  Seelen,  die  dir  anbefohlen  sind,  und  für 
deine  Wunder  an  jeglichem  Tage  bei  uns,  und  für  deine  Maehterweisungen  und 
für  deine  Wohltaten  zu  jeder  Zeit,  abends  und  morgens  und  mittags.  Allgütiger, 
dessen  Barmherzigkeit  kein  Ende  hat;  Barmherziger,  dessen  Gnade  nicht  auf- 
hört, immerdar  harren  wir  auf  dich.  Und  für  dies  alles  sei  gepriesen  und  erhoben 
dein  Name,  unser  König,  immerdar  in  alle  Ewigkeit.  Und  alles,  was  lebet,  preiset 
dich.  Sela.  R.  Gelobt  seist  du.  Herr,  Allgütiger  ist  dein  Name,  und  dir  geziemet 
Preis"  108. 

Die  christliche  Urgemeinde  übernahm  diese  Sitte  der  das  Gebet  ab- 
schließenden Doxologie  109 ;  aber  sie  vereinfachte  diese  breite  Huldigung 
zu  einer  schlichten  und  kraftvollen  Preisformel  von  lapidarer  Kürze, 
Paulus  gerät  in  seinen  Briefanfängen  und  Briefschlüssen  regelmäßig 
in  die  feierliche  liturgische  Sprache  hinein;  die  hier  niedergezeichneten 
Doxologien  sind  dieselben,  mit  denen  die  Gemeinden  in  Jerusalem 
und  Korinth,  Rom  und  Ephesus  ihre  Gebete  beschlossen. 

„Gott,  unserem  Vater,  sei  Ehre  in  alle  Ewigkeit!"  (Phil.  4  20)  no.  ,,Dir  sei 
Ehre  in  Ewigkeit"  (Did.  9  2  f.  10  2.  t).  „Dem  Könige  der  Äonen,  dem  unverwes- 
lichen, unsinnlichen,  dem  alleinigen  Gott  sei  Ehre  und  Ruhm  von  Ewigkeit  zu 
Ewigkeit"  (1  Tim  1  17).  „Dein  ist  die  Macht  und  der  Ruhm  in  alle  Ewigkeit"" 
(Did  8  2;  10  s)  ni.  Häufig  enthält  die  Doxologie  einen  Hinweis  auf  Jesus  Christus; 
dann  wird  der  Lobpreis  der  Majestät  Gottes  zur  Danksagung  für  das  durch  Christus 
geschenkt <•  Heil:  „Dem  einen  weisen  Gott  sei  durch  Jesus  Christus  Ehre  von 
Ewigkeit  zu  Ewigkeit!"  (Roe  10  27).  „Ihm  sei  Ehre  in  der  Gemeinde  und  in 
Christus  Jesus  durch  alle  Generationen  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit!"  (Eph  3  21, 
vgl.  .1  iid  ü") ).  ,. I  >ein  ist  die  Ehre  und  die  Macht  durch  Jesus  Christus  in  Ewigkeit  !" 
(Did  !»  «).  Clemens  von  Rom  beschließt  sein  Kirchengebet  mit  den  Worten:  „Der 
du  allein  Macht  hast,  dies  und  noch  Größeres  und  Herrlicheres  mit  uns  zu  tun, 
dich  lobpreisen  wir  durch  den  Hohenpriester  und  Vorsteher  unserer  Seelen  Jesus 
Christus,  durch  ihn  sei  dir  Ohre  und  Größe  jetzt  und  von  Geschlecht  zu  Geschlecht 
und  von  Ewigkeit   zu  Ewigkeit!  Amen"  (1   Clem  (30  „). 


464  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 


Schon  frühe  wird  neben  dem  Sohn  auch  der  Geist  in  der  Schlußdoxologie 
genannt.  Diese  trinitarische  Fassung  tritt  uns  zuerst  in  dem  letzten  Gebet  Poly- 
carps  entgegen,  das  seinem  Martyrium  (14)  eingefügt  ist;  es  schließt  in  echt  litur- 
gischer Weise:  „Durch  ihn  (Jesus  Christus,  deinen  geliebten  Sohn)  sei  dir  mit 
ihm  und  mit  dem  heiligen  Geiste  Ehre  jetzt  und  in  den  künftigen  Äonen !"  Dieselbe 
Formel  beendet  das  Kommuniongebet  des  liturgischen  Papyrus  von  Der-Balyzeh: 
,, Durch  ihn  sei  dir  dem  Vater  Ehre  mit  dem  heiligen  Geiste  in  alle  Ewigkeit!"  m 
Sie  begegnet  uns  auch  in  den  Canones  Hippolyti  und  in  der  Ägyptischen  Kirchen- 
ordnung 113.  Origenes  nennt  in  dem  mehrfach  erwähnten  Einteilungsschema 
als  das  Schlußstück  jedes  Gebets  die  <5o$oloyia  d-eov  öiä  XQiatov  tv  äyup  nvev/uazc. 
(de  or.  33,  1).  In  dieser  Form  findet  sie  sich  in  den  von  Serapion  gesammelten 
ägyptischen  Liturgiegebeten:  „durch  ihn  sei  dir  Ehre  und  Macht  im  heiligen 
Geiste  jetzt  und  in  alle  Ewigkeit!"  m  Ähnliche  Formeln  treffen  wir  in  der 
Liturgie  des  8.  Buchs  der  apostolischen  Konstitutionen.  Nachklänge  der  alten 
trinitarischen  Doxologie  sind  in  verschiedenen  griechischen  Liturgien  ver- 
nehmlich. 

Da  die  alte  Formel  der  trinitarischen  Doxologie  der  arianischen  Christologie 
«ine  Stütze  bot,  wurde  sie  im  4.  Jahrhundert  so  umgeprägt,  daß  Vater,  Sohn  und 
Geist  darin  völlig  koordiniert  wurden  11B.  In  der  Chrysostomus-  und  Basilius- 
liturgie  begegnet  uns  neben  ähnlichen  Formeln  folgender  doxologischer  Gebets- 
schluß: „Denn  dein  ist  das  Reich  und  die  Macht  und  die  Herrlichkeit,  des  Vaters, 
•des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes  jetzt  und  allezeit  und  in  alle  Ewigkeit"  n*. 
In  den  abendländischen  Liturgien  bürgerte  sich  als  Doxologie  die  Formel  ein: 
„Ehre  sei  dem  Vater,  dem  Sohne  vind  dem  heiligen  Geiste,  wie  es  war  im  Anfang, 
jetzt  und  allezeit  und  in  alle  Ewigkeit."  Die  Orationen  des  römischen  Missale 
schließen  mit  der  stereotypen  Formel:  „durch  unsern  Herrn  Jesus  Christus,  der 
mit  dir  lebt  und  regiert  in  Einheit  mit  dem  heiligen  Geist  von  Ewigkeit  zu  Ewig- 
keit". Der  doxologische  Charakter  ist  hier  ebenso  verwischt  wie  die  altchristliche 
Auffassung  von  der  Trinität. 

6.  Die  Gebetsanrufung  im  christlichen  Gemeinde- 
gebet. 

Wie  das  individuelle  Gebet  der  großen  religiösen  Persönlichkeiten, 
so  richtet  sich  auch  das  gottesdienstliche  Gebet  der  jüdischen  und 
christlichen  Gemeinde  nicht  an  eine  Vielheit  göttlicher  Wesen,  sondern 
an  den  einen  wahren  Gott.  Zwar  wurde  der  starre  Monotheismus  des 
Judentums,  der  in  einem  Deismus  zu  verkümmern  drohte,  durch  den 
urchristlichen  Glauben  an  den  offenbarenden  und  erlösenden  Gottes- 
sohn und  an  seinen  in  der  Gemeinde  fortwirkenden  Geist  durchbrochen. 
Gleichwohl  wird  in  der  ältesten  Christenheit  das  gottesdienstliche  Gebet 
nur  an  Gott  den  Vater  gerichtet,  nie  an  Jesus  117.  Aber  die  Nennung 
des  Namens  Jesus  gehört  zu  jedem  liturgischen  Gebet;  demi  für  die 
urchristliche  Heilserfahrung  ist  Gott  unlöslich  mit  Christus  als  dem 
Offenbarer,  Erlöser  und  Vollender  verbunden.  Diese  Nennung  des 
Namens  Jesu  im  liturgischen  Gebet  ist  jedoch  nicht  eine  unmittelbare 
Gebetsapostrophe  an  Christus,  eine  eigentliche  Gebetsanrufung,  sondern 
lediglich  eine  „Mitbeziehung  auf  Christus"  U8.  Diese  Eigentümlichkeit 
des  gottesdienstlichen  Gebets  der  alten  Kirche  geht  vor  allem  auf  Paulus 
zurück.  Er  mahnt  die  Gemeinde  von  Kolossä:  „Das  Wort  Christi  soll 
reichlich  unter  euch  wohnen ;  in  aller  Weisheit  sollt  ihr  einander  lehren 
und  ermahnen;  mit  Psalmen,  Hymnen  und  geistlichen  Liedern  sollt  ihr 
Gott  in  Dankbarkeit  singen;  und  alles,  was  ihr  tut  in  Wort  und  Werk, 
alles  geschehe  unter  Anrufung  des  Namens  Jesu  und 
.dankt  Gott  durch  ihn"  (3  16).    Der  vierte  Evangelist  nennt  diese  Gebets- 


Gebetsanrufung  4.(35 


weise,  in  der  für  ihn  alle  Erhörungsgewißheit  beschlossen  ist,  das  Beten 
„im  Namen  Jesu"  119. 

Die  erste  Form,  in  der  der  Name  Jesu  im  gottesdienstlichen  Gebet  genannt 
wird,  ist  seine  Einbeziehung  in  die  Gebetsanrufung  des  Vaters. 
Sie  findet  sich  bereits  in  den  paulinischen  Briefen.  „Gelobt  sei  der  Gott  und 
Vater  unseres  Herrn  Jesus  Christus!"  (2  Kor  1  3).  ..Wir  danken  Gott,  dem  Vater 
unseres  Herrn  Jesus  Christus"  (Kol  1  3).  Diese  Gebetsanrede  begegnet  uns  allent- 
halben in  den  ältesten  liturgischen  Formularen.  ,,Gott  und  Vater  unseres  Herrn 
Jesus  Christus!"  (liturgischer  Papyrus)  120,  „Gott,  Vater  unseres  Herrn  Jesu 
Christi!"  (ägyptische  Kirchenordnung)  121.  „Ungezeugter  Vater  des  Eingeborenen 
Jesus  Christus!"  (Gebetssammlung  Serapions)  122.  „Gott  und  Vater  deines 
heiligen  Sohnes  Jesus,  unseres  Heilandes!"  „Vater  deines  Christus,  des  hoch- 
gelobten  Sohnes!"  (apostolische  Konstitutionen  8,  13.   15). 

Die  zweite,  weit  häufigere  Form  der  Namensnennung  Jesu  ist  die  organische 
Eingliederung  des  Namens  Jesu  in  die  Bitte  odei  Danksagung. 
Auch  sie  gehört  schon  dem  reutestamentlichen  Zeitalter  an.  Paulus  bekennt: 
„Ich  danke  meinem  Gott  durch  Jesus  Christus"  (Roe  1  8).  „Dank  sei  Gott  durch 
Jesus  Christus,  unseren  Herrn!"  (Roe  7  25;  vgl.  2  Kor.  1  20,  Kol  3  17).  Ignatius 
mahnt  die  römische  Gemeinde:  „Singet  dem  Vater  Lob  in  Christus  Jesus!"  (ad 
Rom.  2  2).  Die  Formel  „durch  Jesus",  seltener  „in  Jesus",  wird  mit  dem  Schluß- 
satze des  Gebets  oder  Gebetsabschnittes  so  verbunden,  daß  sie  ein  sinnvolles 
Glied  dieses  Satzes  bildet  und  zugleich  zur  Schlußdoxologie  überleitet.  „Wir 
loben  und  preisen  dich  i  n  deinem  Sohn  Jesus,  in  dem  dir  sei  Lob  und  Macht"  usw. 
(Ägyptische  Kirchenordnung)  123.  „Führe  uns  alle  in  das  Reich  der  Himmel  in 
Christus  unserem  Herrn,  mit  dem  dir  sei  Ruhm,  Ehre,  Anbetung"  usw.  (Const. 
Ap.  VIII  15).  „Wir  danken  dir.  unser  Vater,  für  das  Leben  und  die  Erkenntnis, 
die  du  uns  kundgetan  hast  durch  Jesus  deinen  Sohn.  Dir  sei  Ehre  in  Ewig- 
keit" (Did  9  3).  „Wir  preisen  dich  durch  den  Hohenpriester  und  Vorsteher 
unserer  Seelen  Jesus  Christus,  durch  den  dir  sei  Ehre"  usw.  (Clemens  ad  Cor.  60  t). 
„Damit  wir  teilhaftig  werden  deiner  Gabe  nach  der  Kraft  des  heiligen  Geistes 
zur  Stärkung  und  Vermehrung  des  Glaubens,  zur  Hoffnung  auf  das  kommende 
ewige  Leben  durch  unseren  Herrn  Jesus  Christus,  durch  den  dir.  dem  Vater, 
Ruhm  sei  mit  dem  heiligen  Geistein  Ewigkeit"  (Liturgischer  Papyrus)  124.  „Schenke 
uns  allen  ein  gutes  Ende  durch  deinen  Eingeborenen  Jesus  Christus,  durch  den 
dir  sei  Ehre  und  Macht"  usw.  „Zähle  uns  zu  deinen  heiligen  Propheten  und  Aposteln 
durch  deinen  eingeborenen  Sohn  Jesus  Christus,  durch  den  dir  sei  Ehre  und 
Macht"  usw.  „Dich  haben  wir  für  alle  angerufen  durch  Jesus  Christus  deinen 
Eingeborenen,  durch  den  dir  sei  Ehre"  usw.     (Euchologium  Serapions)  125. 

So  erfolgt  jeder  Lobpreis,  jede  Danksagung  und  Bitte  „im  Namen 
Christi".  Nirgends  offenbart  sich  die  altkirchliche  Christologie,  der 
Glaube  an  Jesu  Mittlerstellung  so  deutlich  wie  gerade  im 
gottesdienstlichen  Gebet.  Jesus  ist  nicht  selbst  Gegenstand  der  Lob- 
preisung und  des  Dankes,  er  ist  nicht  der  , Erhörer'  der  Gebete,  an  den 
sich  die  bittende  Gemeinde  Hilfe  suchend  wendet;  Lobpreis  und  Dank, 
Bitte  und  Fürbitte  sind  vielmehr  ausschließlich  an  den  Vater  gerichtet, 
aber  nicht  an  den  unendlichen  und  gewaltigen  Gott,  der  hoch  über 
den  Himmeln  thront,  sondern  an  den  Gott,  der  durch  Jesus  die  Welt 
geschaffen  und  sich  geoffenbart  hat,  der  durch  ihn  seinen  Auserwählten 
Gnade  und  Heil,  Rechtfertigung  und  Seligkeit  schenkt.  Jesus  ist  der 
Anwalt  und  Fürsprecher  der  Gläubigen,  der  ihre  Bitten  vor  den  Vater 
bringt  und  für  sie  wirkt.  „Für  uns  gibt  es  nur  einen  Vater,  aus  dem  alles 
ist  und  in  dem  auch  wir  sind,  und  einen  Herrn  Jesus  Christus,  durch 
den  alles  ist  und  durch  den  auch  wir  sind"  (1  Kor  8  6).  „Es  ist  ein 
Gott  und  ein  Mittler  zwischen  Gott  und  den  Menschen,  der  Mensch 
Jesus  Christus,  der  sich  als  Lösegeld  für  alle  hingegeben  hat''  (1  Tim  26). 

Das  Gebet  30 


466  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

..Er  ist  zur  Rechten  Gottes  und  tritt  für  uns  ein"  (Roe  8  3t).  „Durch 
Christus  haben  wir  eine  solche  Zuversicht  bei  Gott"  (2  Kor  3  4).  „Der 
Sohn  Gottes  ist  der  Hohepriester  für  unsere  Opfer  und  der  Sachwalter 
beim  Vater,  er  betet  mit  den  Betenden  und  fleht  mit  den  Flehenden" 
(Origenes,  de  or.  I  10).  Wo  dieser  Christusglaube,  dem  Paulus  seine 
klassische  Formulierung  gab,  lebendig  ist,  kann  es  kein  Gebet  geben, 
das  Jesu  Namen  ungenannt  läßt. 

Das  feierliche  Gemeirjdegebet  der  alten  Christenheit  wurde  stets  an  Gott  durch 
Christus  gerichtet.  Aber  seit  den  ersten  Tagen  des  Christentums  sandten  be- 
drängte Christenherzen  Stoßseufzer  unmittelbar  zum  erhöhten  Herrn  Jesus 
empor;  das  Gebet  des  sterbenden  Stephanus  (Ap.  G.  7  so)  ist  das  älteste  Dokument 
dieses  direkten  Gebets  zu  Christus.  Bei  der  Rolle,  welche  das  enthusiastische, 
persönliche  Gebet  in  den  urchristlichen  Gebets  Versammlungen  spielte,  ist  es 
unzweifelhaft,  daß  nicht  nur  im  privaten  Gebetsleben,  sondern  auch  im  Gemeinde- 
gottesdienst solche  Gebete  an  Christus  selbst  gerichtet  wurden.  „Wer  i  n  Jesu 
Namen  und  mit  Jesus  betet,  wird  über  kurz  oder  lang  auch  zu  Jesus  beten" 
(Girgensohn)  12&b.  Das  im  aramäischen  Urlaut  in  die  hellenistischen  Gemeinden 
verpflanzte  Responsorium  des  Maranatha  legt  hiervon  Zeugnis  ab.  Seit  den 
ältesten  Zeiten  werden  auch  die  Hymnen,  die  ja  stets  die  individuelle  Gebets- 
frömmigkeit widerspiegeln,  unmittelbar  an  Christus  gerichtet  128.  Schon  die 
Johannesapokalypse  enthält  solche  Christushymnen,  die  Lieder,  mit  welchen 
die  Seligen  im  Himmel  das  „Lamm"  besingen  (5  9.  12);  der  Jubel  im  Himmel 
wird  hier  als  ein  feierlicher  Gottesdienst  gedacht,  wie  ihn  die  christliche  Gemeinde 
hier  auf  Erden  feiert.  Ignatius  sagt,  daß  „in  der  Einmütigkeit  Jesus  Christus 
besungen  wird"  (ad  Eph.  4,);  und  selbst  ein  heidnischer  Schriftsteller  bezeugt, 
daß  die  Christen  bei  ihren  gottesdienstlichen  Zusammenkünften  „Christus  wie 
einem  Gotte  im  Wechselchore  Lieder  sangen"  (Plin  X  ep.  96).  Clemens  von 
Alexandrien  hat  einen  solchen  alten  Hymnus  überliefert,  der  sich  in  unmittel- 
barer Gebetsanrufung  an  Christus  wendet  (Protrept.  XI 33).  In  den  christologischen 
Kämpfen  stützt  ein  unbekannter  Gegner  des  Monarchianers  Artemon  seine  Be- 
hauptung, daß  die  Christenheit  von  jeher  als  Christus  Gott  verehrt  habe,  mit  dem 
Hinweis,  daß  sie  ihn  von  Anfang  an  in  Psalmen  und  Hymnen  gepriesen  habe  127. 

Die  unmittelbare  Gebetsanrede  Christi,  die  seit  den  Ursprungszeiten  in  der 
privaten  Frömmigkeit  wie  im  gottesdienstlichen  Hymnus  üblich  war,  drang  später 
auch  in  das  liturgische  Gebet  ein.  Das  älteste  Beispiel  bierfür  dürfte  die  „große 
Doxologie"  (das  Gloria  der  römischen  Messe)  sein,  die  schon  in  den  apostolischen 
Konstitutionen  (VII  47)  überliefert  wird.  Es  geht  von  der  Anrede  an  den  Vater 
zur  Anrede  an  den  Sohn  über:  „Herr,  eingeborener  Sohn,  Jesu 
Christe,  Herr  Gott,  Lamm  Gottes,  Sohn  des  Vaters,  der  du  hinweg- 
nimmst die  Sünden  der  Welt,  erbarme  dich  unser,  der  du  wegnimmst  dir  Sünden 
der  Welt,  nimm  auf  unser  Flehen;  der  du  sitzest  zur  Rechten  des  Vaters, 
erbarme  dich  unser.  Denn  du  allein  bist  heilig,  du  allein  bist  der  Herr, 
du  allein  der  höchste,  Jesu  Christe,  mit  dem  heiligen  Geiste,  in  der  Herrlichkeit 
Gottes  des  Vaters."  Allein  es  handelt,  sich  hier  aller  Wahrscheinlichkeit  um  eine 
hymnologische  Überarbeitung  eines  alten  nur  an  den  Vater  gerichteten  Lob- 
gebetes. Eine  Handschrift  der  Apostolischen  Konstitutionen  bietet  folgende 
beachtenswerte  Lesart:  „Herr,  Gott,  Vater  Jesu  Christi,  des  untadeligen  Lammes, 
das  die  Sünde  der  Welt  hinwegnimmt,  nimm  an  unser  Flehen"  128.  Die  übrigen 
Gebete  der  römischen  Messe,  die  sich  unmittelbar  an  Christus  wenden,  sind  das 
Agnus  Dei  und  die  Gebete  vor  und  nach  der  Kommunion;  sie  sind  alle  sehr  spät, 
erst  im  10.  Jahrhundert,  in  die  Liturgie  eingedrungen:  Rhabanus  Maurus  kennt 
sie  noch  nicht.  Auch  das  Christe  eleison  ist  eine  späte  Variation  des  Kyrie  eleison, 
welche  die  griechische  Kirche  niemals  aufgenommen  hat  189.  In  den  Liturgien 
der  Ostkirche  werden  jene  liturgischen  Texte,  welche  der  altchristlichen  Zeit 
entstammen,  nur  an  Gott  den  Vater  gerichtet;  die  jüngeren  Gebete  hingegen, 
vor  allem  die  Gebete  bei  der  Proskomidie,  beim  Eingang,  bei  der  Kommunion 
und  am  Schlüsse  werden  zum  Teil  an  Christus  gerichtet.  Nur  die  in  Kleinasien 
entstandene  Liturgie  des  Gregor  von  Nazianz  richtet,  entgegen  dem  altkirchlichen 


Gebetsanrufung  —  Idee  467 


Brauch,  alle  ihre  Gebete  an  Christus  statt  an  den  Vater  durch  Christus  130.  Die 
evangelischen  Kirchen  hielten  an  der  altkirchlichen  Regel,  die  Gebete  an  den 
Vater  durch  Christus  zu  richten,  fest.  Doch  übernahmen  verschiedene  Agenden 
aus  dem  römischen  Missale  jene  Gebete,  die  sich  unmittelbar  an  Christus  wenden, 
das  Gloria,  Agnus  Dei  und  die  Kommuniongebete. 

7.  Die  Idee  des  gottesdienstlichen  Gebets. 

Das  gemeinsame  gottesdienstliche  Gebet  ist  keine  gemeinsame  Medi- 
tation, sondern  genau  so  wie  das  individuelle  Beten,  ein  wirklicher  Ver- 
kehr mit  dem  angerufenen,  als  gegenwärtig  erlebten  Gott.  Freilich 
tritt  nicht  ein  einzelnes  Ich  mit  Gott  in  ein  Verhältnis,  sondern  das 
ideelle  Gemeinschaftsich,  mit  dem  jedes  Gemeindeglied  sich  identisch 
weiß.  Das  Gemeindegebet  stellt  die  Gemeinschaft  einer  sozial  ver- 
bundenen Vielheit  von  Individuen  mit  ihrem  Gott  her.  Wo  das  gemein- 
same Gebet  mit  ursprünglicher  Kraft  aus  dem  religiösen  Einheits- 
erlebnis hervorquillt,  wie  in  der  altjüdischen  Gemeinde,  im  Urchristen- 
tum und  in  den  Sekten,  ist  das  Bewußtsein,  daß  der  lebendige  Gott 
gegenwärtig  ist  und  daß  die  Gemeinde  mit  ihm  in  unmittelbaren  Verkehr 
tritt,  so  stark  und  tief  wie  im  Gebetsleben  der  großen  Frommen,  die 
in  der  lautlosen  Stille  des  Kämmerleins  zu  ihrem  Gott  rufen.  Im  baby- 
lonischen Talmund  heißt  es:  „Wo  zehn  beten,  weilt  Gottes  Majestät 
unter  ihnen,"  „Gott  selbst  befindet  sich  in  der  Synagoge"  m.  Das 
Gemeindegebet  ist  also,  soweit  es  eine  lebendige,  psychologische  Größe 
ist,  wirklich  das,  was  es  seiner  äußeren  Form  nach  darstellt,  ein  Rufen 
zu  Gott,  ein  Reden  mit  Gott. 

Das  Gemeindegebet  ist  zunächst,  wie  gezeigt  wurde,  reine  Anbetung, 
Lobpreis  und  Danksagung,  ein  feierliches  Bekenntnis  der  Majestät  und 
Macht  Gottes  wie  der  Gnaden  und  Heilsgüter,  welche  die  Gemeinde 
von  Gott  empfangen  hat.  Es  steckt  ein  kontemplatives  Moment  im 
liturgischen  Gebet;  die  Gemeinde  versenkt  sich  in  die  Wertfülle,  die  in 
Gottes  Wesen  und  Wirken  beschlossen  ist,  und  in  die  Heilswerte,  die 
ihr  als  Gnadengeschenke  zuteil  geworden.  Diese  Verherrlichung  Gottes 
ist  im  Gegensatz  zur  Lobpi  eisung  des  naiven  Betens  und  des  antiken 
Kulthymnus  kein  Mittel  zur  Ümschmeichelung  und  Umstimmung 
Gottes,  diktiert  von  versteckter  selbstsüchtiger  Begierde,  sondern  ein 
Ausströmen  jener  echten  und  starken  Wertgefühle,  welche  in  den 
Herzen  der  versammelten  Gläubigen  emporsteigen.  Schleiermacher  hat 
also  in  gewissem  Sinne  recht  gesehen,  wenn  er  das  Gemeindegebet  als 
„reine  Darstellung  des  erregten  religiösen  Bewußtseins  der  Ge- 
meinde" bezeichnet.  Freilich  ist  diese  Definition  keineswegs  erschöpfend ; 
sie  vergißt  die  Beziehung,  in  welche  die  lobpreisende  und  danksagende 
Gemeinde  zu  Gott  tritt,  hervorzuheben.  Die  Verherrlichung  Gottes 
um  seiner  selbst  wie  um  seiner  Gnadenerweise  an  die  Menschen  willen 
ist  nicht  bloße  Darstellung  erlebter  Gefühle,  sondern  ein  eigentlicher 
„Gottesdienst",  zu  dem  sich  die  Gemeinde  verpflichtet  fühlt.  Die 
von  Gottes  Herrlichkeit  und  Güte  ergriffene  Gemeinde  will  Gott  etwas 
lüngeben,  darbringen,  ihm  ein  Symbol  ihrer  anbetenden  Ehrfurcht  und 
innigen  Dankbarkeit  schenken.  Das  gemeinsame  Lob-  und  Dankgebet 
wird  so  zum  , Opfer'.     Es  ist  freilich  kern  Schlacht-  oder  Speiseopfer. 


468  H.   Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

wie  es  der  primitive  Mensch  und  der  antike  Priester  darbrachten,  sondern 
eine  rein  geistige  Darbringung.  Die  jüdischen  und  altchristlichen 
Schriften  sind  überreich  an  Zeugnissen,  in  denen  das  gottesdienstliche 
Gebet  als  ein  Opfer  bezeichnet  wird  (s.  o.  S.  222). 

Der  Opfergedanke  erscheint  hier  in  seiner  sublimsten  und  geistigsten 
Form.  Der  Mystiker  betrachtet  seinen  restlosen  "Verzicht  auf  alles 
Irdische,  die  völlige  Hingabe  des  eigenen  Willens  an  den  Willen  Gottes 
als  ein  Opfer  (s.  o.  S.  304),  die  zum  Gottesdienste  versammelte  jüdische 
und  christliche  Gemeinde  sieht  in  ihrem  feierlichen  Lob-  und  Dankgebet 
ebenfalls  eine  Opferdarbringung  an  den  Allerhöchsten.  So  verschmelzen 
Opfer  und  Gebet  auf  der  Höhe  der  individuellen  Frömmigkeit  wie  des 
Gemeindegottesdienstes  zu  der  Einheit,  in  der  sie  schon  in  der  primitiven 
Religion  verbunden  waren. 

In  dem  kontemplativen  Charakter  des  liturgischen  Lobpreises  und 
Dankes  offenbart  das  gottesdienstliche  Gemeindegebet  eine  gewisse  Ver- 
wandtschaft mit  dem  individuellen  mystischen  Beten.  In  der  Bitte  und 
Fürbitte  bricht  die  prophetische  Gebetsfrömmigkeit  durch.  Dem  pro- 
phetischen Gebet  liegt,  wie  früher  dargelegt  wurde  (s.  o.  S.  397  ff.),  die 
primitive  Vorstellung  von  der  Einwirkung  des  Gebets  auf  den  Willen 
Gottes  zugrunde.  Dieselbe  Vorstellung  £rägt  auch  das  Gemeindegebet, 
soferne  es  Bitte  und  Fürbitte  ist.  Auch  in  ihm  spricht  sich  wie  in  allem 
naiven  Beten  der  unverwüstliche  Glaube  an  die  Gebetserhörung  und 
-erfüllung  aus.  Die  zum  Gottesdienst  vereinte  Gemeinde  hofft  zuver- 
sichtlich, daß  ihre  Bitten  und  Fürbitten  von  Gott  verwirklicht  werden; 
ja  sie  glaubt,  daß  das  Gebet  der  vielen  Gott  eher  zur  Erhörung  be- 
wegen werde  als  das  Gebet  eines  Einzelnen.  ,,In  der  Gemeinsamkeit 
des  Gebets  liegt  eine  gegenseitige  Ergänzung  der  Schwachheit  des 
Einzelnen,  die  auch  als  ein  Mitkämpfen  gegen  die  Macht  des  Wider- 
sachers aufgefaßt  werden  kann"  134.  Der  Glaube  der  urchristlichen 
Gemeinde  an  die  Macht  des  gemeinsamen  Gebets  findet  schon  in  einem 
Logion  des  Herrn  (Mt  18  19  f.)  Ausdruck:  ,, Wahrlich  ich  sage  euch, 
wenn  zwei  von  euch  auf  Erden  über  alles,  was  sie  bitten,  übereinstimmen, 
so  wird  ihnen  so  geschehen  von  meinem  Vater  im  Himmel;  denn  wo 
zwei  oder  drei  versammelt  sind  in  meinem  Namen,  da  bin  ich  mitten 
unter  ihnen."  Ignatius  von  Antiochien  bemerkt  im  Hinblick  auf 
diese  Stelle:  „Wenn  schon  das  Gebet  eines  emzelnen  und  eines  zweiten 
solche  Macht  hat,  um  wieviel  mehr  das  Gebet  des  Bischofs  und  der 
ganzen  Gemeinde"  135.  Fast  wörtlich  kehrt  dieser  Gedanke  bei  Luther 
wieder.  „Wenn  Jesus  sagt:  ,wo  zween  eins  sein  auf  Erden  etwas  zu 
bitten,  soll  geschehen  alles,  was  sie  bitten',  wieviel  mehr  sollten  erlangen, 
was  sie  bitten,  wo  eine  ganze  Stadt  zusammenkommt  Gott  einträchtig- 
lich  zu  loben  oder  zu  bitten."  „Wenn  die  Christen  also  zusammen- 
kommen, gehet  das  Gebet  noch  eins  so  stark  als  sonst.  Man  kann  und 
soll  wohl  überall  an  allen  Orten  und  alle  Stunde  beten ;  aber  das  Gebet 
ist  nirgends  so  kräftig  und  stark,  als  wenn  der  ganze  Haufe  einträchtlich 
miteinander  beten"  136. 

So  läßt  sich  im  gottesdienstlichen  Gemeindegebet  ein  mystisches  und 
prophetisches  Moment  aufweisen :  der  kontemplative  Lobpreis  ähnelt 


Idee  469 

der  mystischen  Gebetsweise;  die  vom  Glauben  an  die  Gebetserhörung 
getragene  Bitte  und  Fürbitte  entstammt  der  prophetischen  Frömmigkeit. 
Mit  einem  scheinbaren  Recht  hat  darum  eine  amerikanische  Psychologin , 
welche  die  Typen  des  Gebets  untersuchte,  das  Gemeindegebet  als  eine 
Mischung  des  ,kontemplativ-ästhetischen',  d.  i.  mystischen  und  des 
,praktisch-ethischen',  d.  i.  prophetischen  Gebetstyps  erklärt  (s.  o.  S.  14). 
Diese  Charakteristik  ist  jedoch  unzutreffend;  denn  die  Beziehung  des 
Gemeindegebets  zum  mystischen  Gebet  ist  keine  innere;  der  Frömmig- 
keitsgeist, der  aus  ihm  redet,  ist  vielmehr  durch  und  durch  prophetisch. 
Der  Gott,  zu  dem  die  jüdische  Synagoge  und  christliche  Kirche  betet, 
ist  nicht  der  höchste,  rein  geistige  Wert,  welcher  dem  der  Welt  und 
sich  selbst  entfremdeten  Mystiker  aufstrahlt,  sondern  der  lebendige, 
schaffende  und  wirkende  Wille,  an  den  die  prophetischen  Genien  sich 
hilfesuchend  wandten.  Dieselbe  ethische  Aktivität,  welche  das  Kenn- 
zeichen der  prophetischen  Gebetsfrömmigkeit  ist,  beseelt  auch  das 
jüdische  und  christliche  Gemeindegebet.  Das  gottesdienstliche  Ge- 
meindegebet ist  nicht,  wie  das  mystische  Beten,  ein  passives  Hin- 
schmelzen des  endlichen  Geistes  vor  dem  unendlichen  Gott,  sondern  die 
aktive  Aussprache  der  Heilsgewißheit  und  Heilssehnsucht.  Es  ist  nicht 
wie  jenes  die  zärtliche  Vereinigung  einer  vereinsamten  Seele  mit  dem 
himmlischen  Heiland  und  Bräutigam,  sondern  die  feierliche  Huldigung 
des  gläubigen  Volkes  vor  seinem  mächtigen  Gott-König,  das  herzliche 
Flehen  der  großen  Familie  zu  ihrem  gütigen  Vatergott.  So  ist  das 
jüdische  und  christliche  Gemeindegebet  nichts  anderes  als  die  Über- 
tragung der  prophetischen  Gebetsfrömmigkeit  in  das  gottesdienstliche 
Leben  jener  religiösen  Gemeinschaften,  die  dem  prophetischen  Geiste 
entsprungen  sind. 

8.  Besondere  Ausprägungen  des  gottesdienstlichen 

Gemeindegebets. 
Das  gottesdienstliche  Gebet  im  Judentum  und  im  Christentum  aller 
Jahrhunderte  und  aller  Konfessionen  stellt  einen  einheitlichen  Gebets- 
typus dar.  Gleichwohl  heben  sich  aus  diesem  gemeinsamen  Typus  drei 
Untertypen  heraus,  von  denen  jeder  eine  gesonderte  Besprechung  ver- 
langt. Im  Mittelpunkt  des  Kultus  steht  in  den  meisten  Religionen 
der  Erde  die  heilige  Handlung  —  sei  es  nun  eine  nachahmende  Handlung, 
ein  Weiheakt,  ein  Reinigungsritus,  ein  Opfer,  ein  heiliges  Mahl.  Das 
heilige  Wort  ist  nur  der  Begleiter  der  heiligen  Handlung,  ihm  kommt 
jedoch  keine  selbständige  Bedeutung  zu;  das  ksyöftsvov  geht  dem 
dQcjfievov  nur  zur  Seite.  Das  gottesdienstliche  Gememdegebet 
zeigt  nun  bedeutsame  innere  Strukturunterschiede,  je  nach  dem 
Verhältnis,  in  dem  es  zur  heiligen  Handlung,  zum  Mysterium  steht. 
In  dem  urchristlichen  Gottesdienst  stehen  das  Gebet  und  die  heilige 
eucharistische  Handlung  in  voller  innerer  Harmonie,  m  den  katholischen 
Liturgien  des  Ostens  und  Westens  wird,  ähnlich  wie  in  den  hellenistischen 
Mysterienkulten,  das  Mysterium  die  Hauptsache,  das  Xey6(iEvov 
wird  zur  sakralen  Formel,  das  lebendige  Gememdegebet  verschwindet 
;uis  dem  liturgischen  Gottesdienst.     Im  synagogalen   Gottesdienst  wie 


470  H-   Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 


im  Gottesdienst  der  evangelischen  Kirchen  und  Sekten  fehlt  die  heilige 
Handlung  völlig  oder  ist  nur  rudimentär  in  der  Abendmahlsfeier  ange- 
deutet; der  Gottesdienst  wird  zum  reinen  Wortgottesdienst. 

a)    Das    g  o  1 1  e  s  d  i  e  n  s  1 1  i  c  h  e    G  e  m  e  i  n  d  e  g  e  b  e  t    im 
Urchristentum. 

Der  urchristliche  Gemeindegottesdienst,  wie  er  in  der  jerusalemischen 
Gemeinde  seit  dem  Pfingstfest  gefeiert  und  von  Paulus  in  die  Christen- 
gemeinden des  römischen  Weltreichs  verpflanzt  wurde,  ist  ein  Mysterium 
in  doppeltem  Sinne :  es  ist  wie  die  Mysterienfeier  in  den  synkretistischen 
Erlösungsreligionen  ein  6q6)[ievov,  ein  heiliges  Schauspiel,  das  vor 
den  Augen  der  frommen  Gemeinschaft  sich  abspielt,  ja  das  die  Mysterien- 
genossen selbst  vollziehen.  Dieses  heilige  Drama  ist  der  Heilstod  Jesu, 
der  überall  und  so  oft  die  christliche  Gemeinde  die  Eucharistie  feiert, 
„verkündet"  wird  (1  Kor  11  26),  verkündet  freilich  nicht  in  bloßen 
Worten  dankbarer  Erinnerung,  sondern  in  einer  heiligen  Handlung. 
Das  blutige  Leiden  und  Sterben  des  Gottessohnes  wird  „unblutig  er- 
neuert" —  diese  spätere  theologische  Formel  trifft  den  Kern  der  urchrist- 
lichen Vorstellung.  Will  man  es  in  der  Terminologie  der  modernen 
Religionswissenschaft  ausdrücken,  so  muß  man  sagen:  die  eucharistische 
Mysterien handlung  ist  eine  mimetische,  d.  h.  eine  nachahmende  Ritual- 
handlung. Mit  derselben  Gleichnishandlung,  die  Jesus  am  Vorabend 
seines  Todes  vornahm  —  dem  Brechen  des  Brotes  und  dem  Herum- 
reichen und  Entleeren  des  Kelches  —  und  mit  der  er  seinen  Opfertod 
„für  die  vielen"  (Mk  10  45;  14  24)  den  Jüngern  in  einer  ergreifenden 
Symbolik  vor  Augen  stellte,  mit  derselben  Gleichnishandlung  vergegen- 
wärtigte sich  die  dankbare  Gemeinde  unaufhörlich  seinen  Heilstod. 
Aber  diese  nachahmende  ävctfivrjoig  (1  Kor  11  25)  ist  keine  rein 
symbolische  Darstellung,  kein  bloßes  Sichvergegenwärtigen  eines  ge- 
schichtlichen Faktums  durch  eine  Analogie,  sondern  eine  geheimnisvolle, 
wirkliche  Erneuerung,  kein  Schatten  einer  Realität,  sondern  selbst 
volle  Realität.  Es  ist  eine  der  Religion  und  Magie  aller  Völker  und 
Zeiten  gemeinsame  Idee,  daß  durch  die  mimetische  Handlung  das 
Nachgeahmte,  Gemeinte  und  Vorgestellte  selbst  bewirkt  wird,  daß 
Abbild  und  Urbild  von  einem  mystischen  Identitätsbande  umschlungen 
sind.  Alle  antiken  Mysterienliturgien  wollen  durch  ein  nachahmendes 
Tun  übersinnliche  Realitäten  setzen.  Denselben  Sinn  hat  auch  die 
urchristliche  Eucharistiefeier;  sie  stellt  eine  reale  Erneuerung  der  Heils- 
tat Christi  dar.  Die  das  Heilsgeschehen  am  Kreuz  erneuernde  Handlung 
ist  begleitet  von  der  Wiederholung  des  biblischen  Abendmahlberichts; 
die  Erzählung  dessen,  was  Jesus  tat  und  sprach,  erhöht  noch  den  leben- 
digen Glauben  an  die  übersinnliche  Wirklichkeit  des  heiligen  ÖQ(bfiEvov. 

Noch  in  einem  zweiten  Sinne  ist  der  urchristliche  Gemeindegottes- 
dienst ein  Mysterium.  Die  Eucharistie  ist  ähnlich  wie  viele  Liturgien 
der  synkretistischen  Mysteriengenossenschaften  ein  heiliges  Mahl,  durch 
das  die  Gemeinde  in  unmittelbare  leiblich-geistige  Tischgemeinschaft 
mit  ihrem  Herrn  und  Erlöser  tritt  (tQani^fjg  xvqiov  (ietexeiv 
1  Kor  10  n).    Das  Brechen  und  Essen  des  Brotes  ist  eine  Gemeinschaft 


Besondere  Ausprägungen  a)   Urchristentum  471 

(xoivcjvia)  mit  dem  Leibe  Christi,  das  Trinken  aus  dem  Kelche 
der  Segnung  eine  Gemeinschaft  mit  dem  Blute  Christi  (1  Kor  10  16). 
Die  urchristliche  Gottesdienstfeier  heißt  darum  ,Herrenmahr  (xvQiaxöv 
fielnvov  1  Kor  11  20).  So  tritt  zur  dramatischen  Erneuerung  des 
Opfertodes  des  Herrn  die  Kommunion  mit  dem  erhöhten  Gottes- 
sohn, dem  Haupt  der  Gemeinde.  Der  urchristliche  Gemeindegottesdienst 
ist  darum  eine  Mysterienfeier,  ein  sakramentaler  Gottesdienst,  eine 
Liturgie,  trotzdem  er  im  Gegensatz  zu  den  antiken  Mysterienliturgien 
jeder  starren  Formgebundenheit  entbehrt.  „Denn  aller  Mysterien 
Wesen  ist  es,  daß  der  Myste  irgendwie  an  eine  Gottheit  gebunden  wird, 
aller  Mysterien  Höhepunkt  ist,  wie  es  Diels  nach  einem  Worte  des 
Maximus  Tyrius  ausgesprochen  hat,  das  avyy£VEGd-ai  reo  dai[iovi(jp  .  .  . 
Die  in  irgendeiner  Form  erzielt  gedachte  Gemeinschaft  des  Menschen  mit 
Gott  ist  der  Zweck  aller  Mysterien  und  Sakramente"  (Dieterich) 137. 
Das  doppelte  Mysterium  der  Eucharistie  —  die  dvdfivi]Oig  der 
Heilstat  Jesu  und  die  Tischgemeinschaft  mit  dem  Herrn  —  ist  der 
Brennpunkt  des  urchristlichen  Gemeindegottesdienstes.  Das  Gemeinde- 
gebet ist  innerlich  auf  dieses  Mysterium  bezogen,  ein  Teil  der  Mysterien- 
feier. Die  Gebete  gruppieren  sich  um  die  heilige  Handlung,  umrahmen 
diese,  die  den  Mittel-  und  Höhepunkt  des  Gottesdienstes  bildet.  Gleich- 
wohl ist  das  Gemeindegebet  keine  heilige  Formel,  die  der  rituellen 
Handlung  geheimnisvolle  Zauberkraft  verleiht,  so  wie  etwa  das  brahma, 
der  Zauberspruch,  mit  dem  der  vedische  Priester  die  Opferhandlung 
begleitet,  oder  wie  die  archaischen  Sprüche,  welche  die  Mysten  in  den 
synkretistischen  Geheimliturgien  rezitieren.  Es  ist  ein  wirkliches 
Kollektivgebet,  ein  gemeinsames  Lobpreisen,  Danken,  Bitten  und  Für- 
bitten, so  lebendig,  kraftvoll  und  leidenschaftlich,  wie  es  die  Religions- 
geschichte weder  vorher  noch  nachher  kannte.  Es  ist  kein  Priester- 
gebet, dem  die  Menge  lauscht,  ohne  es  zu  verstehen,  sondern  Gemeinde- 
gebet, Gebet  von  begnadeten  Geistträgern,  welche  ihre  Brüder  in  ihrem 
Enthusiasmus  fortreißen.  Die  ganze  Gemeinde,  nicht  ein  isolierter 
Amtspriester  ist  es,  welche  das  Mysterium  feiert;  die  ganze  Gemeinde, 
nicht  ein  isolierter  Amtspriester,  ist  es,  die  betet.  Durch  das  Gebet 
wie  durch  die  heilige  Handlung  tritt  die  Gemeinde,  in  der  ,,die  vielen 
ein  Leib  sind"  (1  Kor  10  17),  in  die  innigste  Gemeinschaft  mit  dem 
Vater  und  dem  erhöhten  Herrn.  Rede  und  Handlung,  Gebet  und  Sakra- 
ment sind  in  voller  Harmonie  verbunden. 

b)Das  g  o  1 1  e  s  d  i  e  n  s  1 1  i  c  h  e  Gebet  in  der  katholischen 

Kirche  138. 
Im  Gottesdienst  der  katholischen  Kirche  (der  römischen  Kirche  wie 
der  verschiedenen  Kirchen  des  Ostens)  ist  der  lebendige  Gemeinde- 
gottesdienst zu  einer  starren  sakralen  Institution  geworden.  Die  Messe 
der  abend-  und  morgenländischen  Kirche  deckt  sich  in  ihrem  Grund- 
charakter mit  dem  urchristlichen  Gemeindegottesdienst;  sie  ist  sakra- 
mental, eine  Mysterienfeier.  Dasselbe  Geheimnis,  das  in  den  Christen- 
häusern zu  Jerusalem,  Korinth  und  Rom  gefeiert  wurde,  wird  in  den 
Domen   und   Kapellen  des   Orients   und  Okzidents  alltäglich  gefeiert: 


472  H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 

die  Erneuerung  des  Heilstodes  Jesu  und  die  Vergemeinschaftung  der 
Gläubigen  mit  ihrem  Herrn.  Aber  aus  der  schlichten  Handlung  des 
Brotbrechens  und  Kelchtrinkens  ist  eine  komplizierte,  bis  ins  unschein- 
barste Detail  genau  geregelte  Liturgie  geworden,  die  an  Pracht  und 
Pomp  hinter  den  antiken  Tempelritualen  und  den  synkretistischen 
Mysterienliturgien  in  keiner  Weise  zurücksteht.  Das  dQ(bfi£VOV,  das 
sakrale  Tun,  der  kultische  Akt  ist  zur  Hauptsache  geworden;  das  be- 
gleitende keyöfievov,  das  in  einer  stereotypen  Formel  erstarrte  litur- 
gische Gebet  tritt  zurück.  Wohl  sind  nicht  wenige  Gebete,  die 
bei  der  Messe  von  des  Priesters  Lippen  erklingen,  dieselben,  mit  denen 
die  älteste  Kü'che  gedankt  und  gefleht  hat.  Aber  das  liturgische  Meß- 
gebet ist  kein  wirkliches  Gemeindegebet  mehr.  Durch  den  Gebrauch 
einer  altehrwürdigen,  halb-  oder  unverständlichen  Sprache  ist  das 
Band  zwischen  dem  Liturgen  und  der  Gemeinde  zerrissen.  Der  Priester 
betet  im  Namen  des  Volkes  und  für  das  Volk ;  aber  die  Gemeinde  betet 
nicht  mit  ihm,  sondern  für  sich.  Nicht  das  Volk  nimmt  im  Responsorium 
sein  Gebet  auf,  sondern  der  Altardiener  oder  der  Sängerchor.  Ja  der 
größte  Teil  der  Messe  wird  vom  Celebrans  still  oder  im  Murmelton 
gesprochen,  so  daß  selbst  derjenige,  der  die  Kirchensprache  versteht, 
seinen  Worten  zu  folgen  außerstande  ist.  So  ist  die  Gemeinde  zum 
stummen  Zuschauer  des  heiligen  Mysteriums  geworden,  das  sich  vor 
ihren  Augen  abspielt.  Wohl  fühlt  sich  die  Gemeinde  innerlich  mit 
ihrem  Liturgen  eins  und  nimmt  so  an  seinem  Gebete  teil,  aber  diese 
innere  Anteilnahme  offenbart  sich  nicht  nach  außen  im  gemeinsamen 
Gebetsruf.  Das  Gebet  des  dem  Meßopfer  beiwohnenden  Volkes  ist 
kein  gemeinsames,  sondern  ein  individuelles  Gebet. 
Die  frommen  Gefühle  der  Ehrfurcht  und  Liebe,  Demut  und  Zuversicht,  . 
die  bei  der  Betrachtung  des  heiligen  Schauspiels  und  beim  Anhören 
des  feierlichen  Gesanges  oder  des  geheimnisvollen  eintönigen  Murmeins 
in  den  Herzen  der  Anwesenden  aufsteigen,  werden  in  stillem,  persön- 
lichem Gebete  ausgesprochen.  So  blüht  mitten  im  öffentlichen  Gottes- 
dienste eine  individuelle  Mystik  empor;  die  Einzelseele  erhebt  sich  in 
kühnem  Fluge  zu  Gott,  sie  versenkt  sich  in  das  große  Erlösungsgeheim- 
nis, das  sich  im  liturgischen  Symbol  vor  ihren  Blicken  auf  tut,  sie  pflegt 
spontan  und  frei,  ohne  die  Bindung,  welche  das  gemeinsame  Gebet 
auferlegt,  Gebetszwiesprache  mit  ihrem  Gott. 

In  der  römischen  Meßliturgie  tritt  ein  weiteres  Moment  hinzu.  Mit 
der  Auflösung  der  unmittelbaren  Verbindung  der  Gemeinde  mit  dem 
ihre  Stelle  vertretenden  Liturgen  verselbständigt  sich  der  liturgische 
Gottesdienst  zu  einer  in  sich  selbst  wertvollen  sakralen  Handlung,  die 
vom  Priester  allein  vollzogen  wird  und  der  Anwesenheit  der  Gemeinde 
nicht  bedarf.  Der  antike  Opferbegriff,  der  schon  frühe  in  die  christ- 
liche Vorstellungswelt  eingedrungen  war  —  er  erscheint  schon  bei  Irenäus 
und  Cyprian  in  aller  Deutlichkeit  —  verstärkte  sich  noch  durch  diese 
Loslösung  der  Liturgie  von  dem  lebendigen  Gemeinde be wußtsein.  Die 
dramatische  Darstellung  und  reale  Erneuerung  des  Heilstodes  Christi 
gilt  nun  als  eine  Gott  dargebrachte  Opfergabe,  die  durch  sich  selbst, 
ex  opere   operato,    wunderbare    Gnaden  Wirkungen    an    den    Gläubigen 


Besondere  Ausprägungen  b)  Katholische  Kirche  473 

vollzieht.  Die  Anwendung  des  antiken  Opfergedankens  auf  die  Messe 
wie  die  Verselbständigung  des  liturgischen  Grottesdienstes  zu  einer  von 
der  Gemeinde  unabhängigen  priesterlichen  Ritualhandlung  bedingten 
dann  die  Entstehung  der  Privatmesse  in  der  abendländischen  Kirche. 
Wie  die  antiken  Priester  für  die  Sonderanliegen  einzelner  Gläubigen 
Opfer  darbrachten,  so  bringt  auch  der  katholische  Priester  das  Meß- 
opfer für  bestimmte  Einzelpersonen  und  Einzelzwecke  dar,  z.  B.  für 
die  Genesung  eines  Kranken  oder  für  die  Seelenruhe  eines  Toten.  Den 
orthodoxen  Kirchen  des  Ostens,  die  in  ihrem  konservativen  Sinn  zähe 
die  atkirchlichen  Traditionen  festhalten,  ist  die  Privatmesse  fremd; 
schon  daraus  erhellt  die  späte  Entstehung  und  der  sekundäre  Charakter 
dieser  abendländischen  Institution. 

Der  liturgische  Grottesdienst  der  römischen  Kirche  und  ihrer  östlichen 
Schwesterkirchen  ist  kein  Gemeindegottesdienst,  sondern  eine  Mysterien- 
iiturgie,  der  die  fromme  Gremeinde  in  stummer  Andacht  und  ehrfürchtiger 
Ergriffenheit,  aber  nicht  mit  aktiver  Anteilnahme  beiwohnt.  Die  Gre- 
meinde, ursprünglich  „das  aktive  Subjekt  jeglicher  kultischen  Hand- 
lung", ist  in  Passivität  versunken:  ,,an  ihr,  vor  ihr  vollzieht  sich  der 
Kultus,  der  ohne  die  Kultbeamten,  die  Priester  nicht  denkbar  ist"  139. 
Das  lebendige  Gemeindegebet  hat  dem  rituellen  Priestergebet  Platz 
gemacht.  Dennoch  ist  wenigstens  in  der  abendländischen  Kirche  das 
gottesdienstliche  Gemeindegebet  nicht  ganz  untergegangen,  es  wurde 
lediglich  aus  dem  zentralen  liturgischen  Gottesdienst  in  die  peripheren 
Grottesdienstformen,  vor  allem  in  die  nachmittägigen  .Andachten' 
zurückgedrängt.  Die  Entstehung  des  Andachtswesens  im  Mittelalter 
und  seine  immer  reichere  Ausbildung  in  den  letzten  Jahrhunderten, 
zeigt  deutlich,  wie  tief  in  der  abendländischen  Christenheit,  zumal  in 
den  Ländern  germanischer  Zunge,  das  Bedürfnis  lebendig  war,  das 
gemeinsame  gottesdienstliche  Gebet  in  irgend  einer  Form  zu  retten, 
nachdem  das  eigentliche  liturgische  Gebet  zur  fremdsprachigen  priester- 
lichen Ritualformel  erstarrt  war.  Der  Gredanken-  und  Stimmungs- 
gehalt der  in  den  gemeinsamen  kirchlichen  „Andachten"  gesprochenen 
Grebete  ist  freilich  ein  ganz  anderer  als  der  der  altchristlichen  Liturgie- 
gebete. All  die  dem  katholischen  Volk  vertrauten  Andachten  (Rosen- 
kranz, Kreuzweg,  Andacht  zu  den  fünf  Wunden,  Herz- Jesu- Andacht, 
ewige  Anbetung,  Marienandacht)  wurzeln  in  der  kontemplativen  Grebets- 
frömmigkeit  der  mittelalterlichen  Mystik,  zumal  in  der  bernhardinischen 
Jesusmystik.  Das  katholische  Andachtswesen  ist  im  Grunde  nur  die 
in  den  Kult  übertragene  Mystik. 

Auch  in  diesen  peripheren  Gottesdiensten  fehlt  nicht  das  eucharistische 
Mysterium.  Alle  Andachten  finden  „vor  ausgesetztem  Allerheiligsten" 
statt;  die  Pyxis,  welche  den  eucharistischen  Leib  Christi  birgt,  oder 
bei  feierlichen  Anlässen  die  kunstvolle  Monstranz,  in  welcher  die  kon- 
sekrierte  Hostie  offen  sichtbar  ist,  wird  dem  Tabernakel  entnommen 
und  den  Gläubigen  zur  Schau  gestellt.  So  ist  das  eucharistische  Gre- 
heimnis  der  Mittelpunkt  nicht  nur  des  liturgischen  Gottesdienstes, 
sondern   auch   der   Nebengottesdienste;   das    Bewußtsein    der  sinnlich- 


474  H.   Das  gottt  sdienstlkhe  Gemeindegebet 


übersinnlichen  Gegenwart  des  Herrn  erhöht  die  Lebendigkeit  der  Gebets- 
stimmung  unter  der  Gemeinde. 

An  Versuchen,  durch  die  Einführung  der  Landessprache  in  den  Meß- 
gottesdienst das  altchristliche  Ideal  des  liturgischen  Gemeindegebets 
zu  erneuern,  hat  es  in  der  katholischen  Kirche  nicht  gefehlt.  Zuletzt 
war  es  die  altkatholische  Kirche,  welche  den  altchristlichen  Gemeinde- 
gottesdienst zu  rekonstruieren  versuchte,  indem  sie  die  römische  Messe 
{mit  sehr  feinsinnigen  Veränderungen  und  Vereinfachungen)  in  deutscher 
Sprache  feiert.  Alle  Gebete,  auch  das  sogenannte  , Stillgebet',  der 
Kanon,  samt  den  Konsekrations  Worten  werden  laut  gesprochen;  nicht 
Chor  oder  Altardiener,  sondern  die  versammelte  Gemeinde  respondiert. 

c)    Das    gottesdienstliche    Gebet    im    synagogalen 
Judentum   und   in   den   evangelischen  Kirchen   und 

Sekten. 
Während  im  Mittelpunkt  des  urchristlichen  und  katholischen  Gottes- 
dienstes das  Mysterium  steht,  welches  der  Gemeinde  die  Gemeinschaft 
mit  dem  unter  sinnenfälligen  Gestalten  gegenwärtigen  Herrn  bringt, 
fehlt  das  Mysterium  im  jüdischen  und  islamischen  Gemeindegottesdienst 
völlig,  in  den  evangelischen  Kirchen  140  ist  es  nur  rudimentär  erhalten ; 
die  relativ  selten  stattfindende  Abendmahlsfeier  ist  der  einzige  Rest 
des  urchristlichen  Mysteriengottesdienstes.  Der  Gottesdienst  der 
Synagoge  und  der  Reformation  ist  vielmehr  ein  völlig  geistig- 
sittlicher  Wortgottesdienst,  bestehend  aus  Schrift- 
lesung, Predigt,  Gebet  und  Gesang.  Elbogen,  der  feinsinnige  Historiker 
des  jüdischen  Gottesdienstes,  sagt  treffend:  „Die  Synagoge  hat  eine 
neue  Art  der  Gottesverehrung  eingeleitet  ...  Es  war  das  erste  Mal 
in  der  Geschichte  der  Menschheit,  daß  regelmäßige  gottesdienstliche 
Versammlungen  an  Stätten  gehalten  wurden,  die  keine  andere  Weihe 
hatten  als  diejenige,  welche  die  Vereinigungen  der  Gläubigen  ihr  gaben, 
es  war  ein  Gottesdienst,  der  sich  von  den  bis  dahin  bei  allen  Völkern 
üblichen  Bräuchen  befreite,  auf  alle  materiellen  Beigaben,  wie  Opfer 
und  sonstige  Darbietungen,  auf  die  Vertretung  durch  Priester  ver- 
zichtete und  den  Menschen  mit  seinem  Gemütsleben  in  den  Mittelpunkt 
der  Gottesverehrung  stellte"  141.  Diese  Charakteristik  gilt  auch  für 
den  Gottesdienst  der  evangelischen  Kirchen  und  Sekten.  Kein  sinn- 
liches Zeichen  stützt  und  belebt  die  Erfahrung  von  Gottes  unmittel- 
barer Nähe;  kein  heiliges  ÖQCJfiEvov  erfüllt  die  Gemeinde  mit 
Schauer  und  Ehrfurcht,  kein  mysterium  tremendum  erschüttert  die 
frommen  Gläubigen  bis  ins  innerste  Mark.  Das  Abendmahl  ist  in  den 
Reformationskirchen  nicht  eine  dramatische  Erneuerung  der  Erlösungs- 
tat Christi  und  eine  mystische  Vereinigung  mit  dem  erhöhten  Herrn, 
sondern  ein  bloßes  Zeichen  und  Unterpfand  des  Vergebungstrostes  und 
der  Heilsgewißheit,  wie  in  der  lutherischen  Kirche,  oder,  wie  in  der 
reformierten,  ein  „potenzierter  Danksagungs-  und  Bekenntnisakt"  142. 
Der  evangelische  Gemeindegottesdienst  hat  ebenso  wie  der  synagogale 
nicht  kultisch-sinnlichen,  sondern  persönlich-geistigen  Charakter.  Söder- 
blom  sagt:  „Die  persönliche  Gottesverehrung   der   einzelnen  vereinigt 


Besondere  Ausprägungen  c)   Judentum;  Evang.  Kirchen  475 

sich  zu  gemeinsamer  Danksagung  und  Anbetung.  Der  evangelische 
Gottesdienst  ist  somit  persönlicher  Verkehr  mit  Gott,  der  bei  mehreren 
zugleich  gemeinsam  stattfindet"  143.  Man  kann  darum  nur  ungenau 
von  einer  synagogalen  und  evangelischen  Liturgie  reden ;  denn 
Liturgie  ist  dem  Wortsinne  nach  (Xirrj  =  litare,  opfern,  und  egyov, 
Handlung)  ein  heiliges,  sakramentales  Tun,  das  den  Gläubigen  in  eine 
sinnlich-geistige    Gemeinschaft   mit  dem    Göttlichen    bringt 144. 

Im  Judentum  des  Exils  und  der  Diaspora  war  der  opferlose  Lese- 
und  Gebetsgottesdienst  eine  harte  Notwendigkeit,  weil  man  nur  im 
Zentralheiligtum  am0  dem  Sion  Jahwe  Opfer  bringen  durfte.  Was 
den  Reformatoren  bei  der  Erneuerung  des  synagogalen  Gottesdienstes 
vorschwebte,  war  die  Übertragung  des  rein  geistigen  Gebetslebens  der 
großen  prophetischen  Genien  in  die  gottesdienstliche  Versammlung; 
auch  das  Beten  der  Gemeinde  sollte  wie  das  Beten  eines  Jeremia,  Jesus 
und  Paulus  ein  ,Anbeten  im  Geist  und  in  der  Wahrheit',  ein  persönlicher, 
wenn  auch  kollektiv  ausgeübter,  Verkehr  mit  Gott  sein.  Aber  diese 
Übertragung  des  individuellen  Gebetsgeistes  in  das  gottesdienstliche 
Leben  einer  großen  Gemeinde  raubt  dem  Gebet  etwas  von  seiner  un- 
mittelbaren Kraft  und  Lebendigkeit.  Alles  echte,  naive  Beten  wurzelt 
in  dem  Erleben  der  geheimnisvollen,  unmittelbaren  Gegenwart  Gottes. 
Im  religiösen  Genius  wie  in  der  engen  Gemeinschaft  von  Neubekehrten 
und  Neuerweckten  entzündet  sich  dieses  Erlebnis  von  selbst,  in  reiner 
Geistigkeit,  ohne  jede  sinnliche  Stütze,  ohne  jedes  äußere  Symbol.  Aber 
eine  große  Gemeinde,  die  sich  zumeist  aus  Durchschnittsfrommen  zu- 
sammensetzt, bedarf,  um  Gottes  fühlbarer  Nähe  inne  zu  werden,  eines 
sinnlichen  Reizes,  eines  sichtbaren  Zeichens,  eines  äußeren  Gleichnisses; 
sie  empfängt  aus  der  Betrachtung  der  heiligen  Mysterienhandlung  und 
aus  der  Schau  eines  Kultobjekts,  in  dem  Gottes  Gegenwart  sichtbar 
wird,  den  mächtigsten  Impuls  zur  Innigkeit  und  Leidenschaft  des 
Gebets.  Mit  der  Verbannung  des  Mysteriums  aus  dem  Gottesdienst 
haben  die  Reformatoren  auch  die  elementaren  religiösen  Affekte  der 
Ehrfurcht  vor  dem  ,Numinosum''  und  der  Bewunderung  des  ,Fasci- 
nosum''  geschwächt.  Das  , Heilige'  haftet  im  evangelischen  Gottesdienst 
allein  am  ,Wort',  an  der  vox  viva  des  Predigers  und  Beters  144b.  Mit 
der  Zurückdrängung  des  ,Numinösen'  und  der  hierdurch  bedingten 
Rationalisierung  des  Gottesdienstes  hängt  auch  zusammen,  daß  der 
pädagogische  Zweck,  der  ein  Nebenzweck  des  Gemeindegebets  ist, 
sich  zum  Hauptzweck  desselben  hervordrängt  und  so  dieses  aus  dem 
lebendigen  Ausdruck  des  gemeinsamen  Heilsbewußtseins  eine  bloße 
Anleitung  zum  individuellen  Gebetsleben  wird145;  das  Gebet  wird  aus 
einer  Hinwendung  zu  Gott  zum  Unterricht,  zur  Katechese,  die  Kirche 
aus  einem  Tempel  zur  Schule,  die  edya^iotia,  das  fivattjQiov 
zur  bloßen  ovvay^yi].  Wenn  man  allein  auf  die  Masse  der 
Durchschnittsfrommen  blickt,  so  muß  man  urteilen,  daß  die  spröde 
und  keusche  Geistigkeit  des  evangelischen  Gottesdienstes,  die  konse- 
quente Absage  an  alles  Sinnlich-Primitive  und  Mystisch-Magische  nur 
eine  scheinbare  Läuterung  und  Vertiefung  des  Gemeindegottesdienstes 
bedeutet.      Gerade    im    Sinnlichen,    Primitiven,    Mysteriösen    liegt   der 


476  H.  Das  gottesdienstliche   Gemeindegebet 


Zauber  und  die  Kraft  des  öffentlichen  Gottesdienstes,  eine  Wurzel  des 
lebendigen  Gemeindegebets;  wo  das  Primitive  in  prophetischer  Schroff- 
heit und  nüchternem  Ernst  zerstört  wird,  versiegen  bestimmte  Quell- 
adern des  gottesdienstlichen  Gemeindelebens.  Wohl  ist  in  der  katholi- 
schen Kirche  wie  in  den  orthodoxen  Kirchen  des  Ostens  die  altchrist- 
liche Liturgie  zu  einem  komplizierten  Ritual,  das  freie  Gemeindegebet 
in  heiligen  Formeln,  die  lebendige  Gebetssprache  zu  einer  toten  Sakral- 
sprache erstarrt.  Aber  auch  in  den  Reformationskirchen,  die  nach  dem 
Beispiel  des  alten  Christentums  Gottesdienstordnungen  in  der  Volks- 
sprache schufen,  ist,  wie  selbst  evangelische  Theologen  bekennen,  ,,zu 
Wenig  Geist  des  Gebets  und  der  Anbetung"  (Theodosius  Harnack) 145b, 
ja  nach  dem  (ungerecht  verallgemeinernden)  Urteil  Vilmars  ist  in  ihnen 
,,das  lebendige  Gebet  der  Gemeinde  fast  überall  erloschen"  146.  Nur 
in  einzelnen  engen  Sektenkonventikeln  und  in  den  Hausgottesdiensten 
frommer  evangelischer  Familien  lebt  das  altchristliche  Kollektivgebet 
in  seiner  ursprünglichen  Wärme  und  Kraft  fort.  Während  die  Liturgie 
der  katholischen  Kirche  dem  antiken  Tempelritual  und  der  synkretisti- 
schen  Mysterienliturgie  sich  nähert,  bedeutet  der  evangelische  Gemeinde- 
gottesdienst eine  Rückkehr  zum  synagogalen  Gottesdienst  des  Juden- 
tums. Beide,  die  katholische  wie  die  evangelische  Form  des  Gemeinde- 
gottesdienstes haben  sich  in  gleicher  Weise  —  wenn  auch  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  —  von  der  urchristlichen  Form  des  Gemeindegottes- 
dienstes entfernt  und  zu  vorchristlichen  Gottesdienstformen  sich 
zurückgebildet.  Aber  während  der  evangelische  Gemeindegottesdienst 
in  seiner  geistigen  Nüchternheit  und  ethischen  Herbheit  in  der  Menge 
der  Durchschnittsgläubigen  nur  schwer  lebendige  Kräfte  individueller 
Gebetsfrömmigkeit  zu  entbinden  vermag,  ist  die  katholische  Meßliturgie 
in  ihrem  numinösen  Mysteriencharakter  und  ihrem  Reichtum  an  sinnlich- 
ästhetischen  Reizen  seit  Jahrhunderten  der  Ausgangspunkt  mystischen 
Betens  und  Kontemplierens  gewesen.  Es  ist  unzweifelhaft,  daß  im 
katholischen  Sakramentsgottesdienst  vor  dem  in  der  Eucharistie  gegen- 
wärtigen Gott,  vor  dem  numen  praesens,  mehr  und  inniger  gebetet 
und  angebetet  wird  als  im  evangelischen  Wortgottesdienst. 

Aber  trotzdem  von  dem  katholischen  Gottesdienst  tieferes  religiöses 
Leben  ausstrahlt,  trotzdem  sein  Mysteriencharakter  bis  in  die  Urzeit 
des  Christentums  zurückgeht,  steht  das  gottesdienstliche  Ideal  auf 
der  Seite  des  evangelischen  Christentums.  Der  evangelische  Gemeinde- 
gottesdienst, d.  h.  die  opferlose,  geistige  Anbetung  Gottes  durch  eine 
Versammlung  reifer  christlicher  Persönlichkeiten,  ist  die  höchste  und 
reinste  Form  des  Kultus,  der  wahre  Gemeindegottesdienst.  Auf  dieses 
Ideal  kann  und  darf  das  evangelische  Christentum  nicht  verzichten, 
mag  auch  die  religiöse  Massenpsychologie  ihm  widersprechen,  mag  auch 
das  von  ihm  ausgehende  religiöse  Leben  zumeist  arm  und  dürftig  sein. 
Die  paradoxe  Spannung,  die  zwischen  dem  hohen  Ideal  undderemprischen 
religiösen  Wirklichkeit  besteht,  hat  niemand  treffender  formuliert  als 
der  Straßburger  Dogmatiker  Fernand  Menegoz  (in  einem  Brief  an  den 
Verfasser  anläßlich   des   Erscheinens  der   Erstauflage   dieses  Werkes): 


Besondere  Ausprägungen  c)  Evangelische  Kirchen  477 


,,Die  Tragik  des  evangelischen  Gottesdienstes  liegt  in  seiner  radikalen  Wahr- 
haftigkeit. Diese  (verbunden  mit  dem  modernen  naturwissenschaftlichen, 
nüchternen  Erkennen)  zwingt  ihn  zur  offenen  Leugnung  des  numinösen  Mysterien- 
charakters sowie  der  magischen  Wirkungskraft  des  sinnlichen  religiösen  Symbols. 
.,Brot  bleibt  Brot  —  Wein  bleibt  Wein"  —  dieser  Gedarike  Luthers  wird  vom 
gegenwärtigen  fortschrittlichen  Protestantismus  konsequent  zu  Ende  gedacht. 
Für  das  neuzeitliche  evangelische  Gemeindebewußtsein  giDt  es  daher  ein  religiöses 
Erleben,  ein  Zusammentreffen  des  Menschen  mit  Gott,  eine  ,, Offenbarung"  nur 
in  der  Tiefe  des  geistig-persönlichen  Innenlebens.  Erst  von  hier  aus  werden  die 
Erfahrungen  in  der  Außenwelt  als  Gottestaten  gedeutet.  Daraus  folgt,  daß. 
während  der  katholische  sakral-dingliche  Gottesdienst  der  prophetischen,  per- 
sönlich-schöpferischen Frömmigkeit  allzuenge  Gienzen  zieht,  der  evangelische 
„geistliche"  Gottesdienst  ihr  einen  zu  w  e  i  t  e  n  Raum  gewährt,  —  einen  Raum, 
der  in  der  idealistischen  Übertreibung  strenggenommen  voraussetzt,  daß  jeder 
Prediger  eine  schöpferische,  überragende  Prophetenpersönlichkeit  sein  sollte. 
Da  nun  dies  allermeist  nicht  der  Fall  ist,  bleibt  der  größte  Teil  dieses  Raumes 
fürs  gewöhnliche  leer,  —  woraus  sich  der  Eindruck  der  Öde  ergibt,  der  so  oft 
vom  evangelischen  Gottesdienst  ausgeht.  Wird  aber  einmal  dieser  Raum  tat- 
sächlich ausgefüllt,  —  man  denke  an  gottbegnadigte  Wortverkündiger  wie  Spurgeon 
oder  Adolphe  Monod,  Charles  Wagner  oder  John  Mott  —  dann  ist  allerdings 
der  Eindruck,  den  der  evangelische  Gottesdienst  machen  kann,  ganz  groß. 
Dann  ergreift  die  Gotteskraft  unmittelbar  die  feiernde  und  betende  Gemeinde. 
Aber  solche  Erlebnisse  sind  Ausnahmen.  Was  den  evangelischen  Gottesdienst 
zu  exzeptioneller,  unvergleichlicher  Durchschlagskraft  befähigt,  ist  zugleich 
der  Grund  zu  seiner  gewöhnlichen  Ohnmacht.  Es  ist,  wie  wenn  er  den  Reichtum 
seltener  seliger  Stunden  durch  jahrelange  Armut  erkaufen  müßte,  und  dies,  weil 
er  eines  über  alles  andere  stellt:  die  Wahrhaftigkeit." 


J.    Das  individuelle   Gebet  als   religiöse   Pflicht 
und  gutes  Werk  in  den  Gesetzesreligionen. 

1 .  Eigenart  der  Gesetzesreligion. 

Einer  der  großen  Typen  der  Religion  ist  die  Buch-  und  Gesetzes- 
religion ;  sie  reiht  sich  als  selbständiger  Typus  neben  die  anderen  Haupt- 
typen: die  primitive  Religion,  die  Ritualreligion,  die  philosophische 
Reformreligion,  die  schöpferische  individuelle  Religion,  die  lebendige 
Gemeinschaftsreligion.  Ihre  Wurzel  ist  die  persönliche  prophetische 
Frömmigkeit  und  die  lebendige  Gemeindefrömmigkeit,  in  welcher  sich 
die  prophetische  Frömmigkeit  unmittelbar  auswirkt.  Das  frischquellende 
religiöse  Erleben  der  prophetischen  Genien  und  der  jungen  von  prophe- 
tischem Enthusiasmus  beherrschten  Gemeinde  erstarrt  zum  unbedingt 
verpflichtenden  Ideal  und  Gesetz.  Religion  und  Frömmigkeit  ist  nicht 
mehr  freies,  schöpferisches  Erleben,  ein  „Getrieben werden  vom  Geiste", 
sondern  Gehorsam  gegen  das  heilige  Gesetz.  Dieses  Gesetz  ist  nieder- 
gelegt in  einem  inspirierten  Buch,  das  die  abgeschlossene  Offen- 
barung Gottes  enthält ;  es  gibt  keine  fortwirkende  Offenbarung 
in  den  Propheten  und  Heiligen.  Wohl  steht  das  religiös-ethische  Ideal 
im  ganzen  auf  der  Höhe  des  ursprünglichen  Lebens,  aber  dieses  Leben 
selbst  in  seiner  unmittelbaren  Kraft  und  Frische  ist  versiegt.  Nicht 
die  tiefe  Herzensnot  und  das  bebende  Schuldgefühl,  nicht  das  innige 
Heilsverlangen  und  die  frohe  Zuversicht,  sondern  die  Furcht  vor  der 
göttlichen  Strafe  und  die  Hoffnung  auf  göttlichen  Lohn  sind  die  Motive 
der  Frömmigkeit  und  Sittlichkeit.  Nicht  auf  eine  radikale  Sinnes- 
änderung, sondern  auf  das  Tun  äußerer  Werke  kommt  es  an.  Die  pflicht- 
mäßige religiöse  Leistung  sucht  der  Fromme  noch  zu  steigern  durch 
Häufung  freiwilliger  ,guter  Werke'  Der  Autoritätsgedanke  erfährt  die 
schärfste  Her  vor  kehrung.  Zwar  ist  dieser  Gedanke  schon  der  propheti- 
schen Religion  wesentlich;  aber  in  der  Gesetzesreligion  tritt  an  die 
Stelle  der  persönlichen  Autorität  des  religiösen  Genius  die  überpersön- 
liche Autorität  des  Gesetzes,  des  Buches,  des  kirchlichen  Lehramts  (vgl.  o. 
S.  268). 

Die  Religionsgeschichte  kennt  vier  große  Gesetzesreligionen :  den 
mazdaistischen  Parsismus,  das  nachexilische  Judentum,  den  Islam  und 
den  vollentwickelten  Katholizismus,  wie  er  um  die  Wende  des  3.  Jahr- 
hunderts hervortritt.  Es  wäre  jedoch  verkehrt  zu  glauben,  daß  sich 
in  dieser  Charakteristik  die  Eigenart  und  geschichtliche  Bedeutung 
dieser  Religionen  erschöpft.  Im  Judentum  und  Islam  lebt  unter  der 
Decke  eines  starren  Nomismus  eine  weiche,  innige  Mystik.  Im  Katho- 
lizismus aller  Jahrhunderte  blüht  eine  unvergleichlich  tiefe  mystische 
Frömmigkeit,  auch  ist  in  ihm  der  urchristliche  Gemeindegeist  niemals 


Eigenart  der  Gesetzesreligion  —  Geschichtlicher  Überblick  479 

erstorben,  wenngleich  er  nur  in  verkirchlichter  Form  innerhalb  der 
Orden  fortlebt.  Wenn  wir  diese  Religionssysteme  als  Gesetzesreligionen 
bezeichnen,  fassen  wir  lediglich  ihre  offizielle  Gestalt,  ihre  äußere  Ge- 
samterscheinung ins  Auge  und  lassen  die  mannigfachen  religiösen 
Unterströmungen  unberücksichtigt. 

Allen  Gesetzesreligionen  ist  gemeinsam  eine  neue  Auffassung  des 
Gebets:  das  Gebet  gilt  als  Leistung  des  einzelnen  Menschen  gegenüber 
Gott,  zunächst  als  Pflicht,  sodann  als  verdienstliches  gutes  Werk.  Damit 
ist  jedoch  keineswegs  gesagt,  daß  dies  die  einzige  Gebetsart  in  diesen 
Religionen  sei;  es  laufen  vielmehr  dem  gesetzlich  gebotenen  und  ver- 
dienstlichen Gebet  das  primitiv-naive  Beten  der  Volksmassen,  das  indi- 
viduelle Beten  einzelner  großer  Heiligen  und  das  gottesdienstliche  Ge- 
meindegebet zur  Seite.  Am  stärksten  tritt  die  gesetzliche  Gebetsweise 
im  Islam  hervor ;  das  individuelle  Gebet  (du'a)  wie  das  gottesdienstliche 
Gemeindegebet  treten  hinter  das  Pflichtgebet  (saldt)  zurück.  Im  tal- 
mudischen Judentum  spielt  das  Pflichtgebet  ebenfalls  eine  wichtigere 
Rolle  als  das  synagogale  Gemeindegebet.  Der  Vertiefung  des  Gebets- 
iebens durch  das  Christentum  entspricht  es,  daß  das  gesetzliche  und 
verdienstliche  Beten  im  Katholizismus  nur  eine  untergeordnete  Stelle 
einnimmt  und  sich  meist  auf  die  breiten  Volksmassen  beschränkt,  die 
von  dem  mystischen  Gebetsleben  der  Heiligen  und  von  dem  liturgischen 
Kirchengebet  nur  wenig  beeinflußt  sind. 

2.   Geschichtlicher  Überblick. 

Das  jüdische  Pflichtgebet  1  geht  letzten  Endes  auf  die  deuteronomische 
Reform  zurück.  Das  Deuteronomium  (6  t  ff.)  gebietet,  daß  jeder  Israelite  täglich, 
wenn  er  sich  erhebt  oder  niederlegt  (mag  er  nun  zu  Hause  sein  oder  auf  Reisen) 
die  Worte  sich  einschärfe:  ..Höre  (sma).  Israel,  Jahwe  ist  Gott,  Jahwe  allein." 
Der  55.  Psalm  (18)  und  das  Buch  Daniel  (6  1X)  setzen  die  Verpflichtung  zum  drei- 
maligen täglichen  Gebet  voraus.  Josephus  Flavius  (Ant.  IV  8,  13)  erwähnt,  daß 
es  Pflicht  eines  jeden  Juden  sei,  zweimal  täglich,  morgens  und  abends  zu  beten; 
er  charakterisiert  den  Inhalt  dieses  Gebets  als  ein  „Bekenntnis  der  Gnadengaben, 
die  Gott  den  Israeliten  nach  dem  Auszug  aus  Ägypten  gewährte."  Nach  den 
Bestimmungen  der  Mischna  (Ber.  III  3)  hat  jeder  männliche  Jude  täglich  zwei- 
mal zu  den  erwähnten  Zeiten  das  Schma  zu  rezitieren.  Es  ist  eine  Erweiterung 
des  kurzen  vom  Deuteronomium  vorgeschriebenen  Textes,  eine  Komposition 
von  drei  Thoraabschnitten  (Dt  G4 — 9;  11  13 — 21;  Nm  15  S7 — 41),  in  denen  einge- 
schärft wird,  daß  Jahwe  allein  Israels  Gott  ist,  es  wird  umrahmt  von  Preis-  und 
Dankgebeten,  die  dem  liturgischen  Gemeindegottesdienst  entstammen.  Wann 
das  vollständige  «Schma,  d.  h.  die  von  der  Mischna  vorgeschriebene  Formel  in 
Gebrauch  kam,  läßt  sich  mit  Bestimmtheit  nicht  entscheiden;  es  ist  möglich, 
daß  die  erwähnte  Stelle  bei  Josephus  den  von  der  Mischna  gebotenen  Text  des 
Schma  im  Auge  hat.  Sicher  fällt  seine  Entstehung  noch  in  die  Zeit  vor  Christus. 
Htwas  jünger  als  die  Schma-Rezitation  ist  der  pflichtmäßige,  private  Gebrauch 
des  Schmone  'Esre,  des  allgemeinen  Synagogengebets,  das  auch  Tefilla,  d.  h. 
,, Gebet"  schlechthin  genannt  wird.  Er  ist  mit  Sicherheit  erst  im  ersten  christ- 
lichen Jahrhundert  nachzuweisen,  wo  ihn  Gamaliel  vorschreibt.  Während  das 
Schma  zweimal  täglich  und  nur  von  jedem  männlichen  .luden  rezitiert  werden 
muß,  ist  das  Achtzehngebet  täglich  dreimal,  morgens,  mittags  und  abends,  und 
zwar  von  jedem  Israeliten,  auch  von  Frauen,  Sklaven  und  Kindern  zu  verrichten 
(Herach  4,  1).  Neben  dem  von  Gott  gebotenen  Pflicht gebel  steht  seit  der  nach- 
<xilischen  Zeit  das  verdienstliche  Privatgebet;  das  Gebet  rückt  auf  eine  Linie 
mit   dem  Fasten  und  Almosengeben  (Tob  12,  8)  und  wird  zum  guten  Werk. 

Die  Sitte  des  mehrmaligen  täglichen  Gebets  übernahm  Mohammed  aus  dem 
Judentum  ■     Die  Erhebung  dieser  Sitte  zum  streng  verpflichtenden  Gebot  scheint 


480  I-   Das  individuelle  Gebet  in  den  Gesetzesreligionen 

noch  vor  dem  Tode  des  Propheten  erfolgt  zu  sein.  Die  älteste  Form  des  moham- 
medanischen Pflichtgebets  (mldt)  ist  der  Zikr.  d.  h.  das  „Gedenken"  Gottes, 
das  in  einem  Ausrufen  des  Namens  Allah  oder  in  kurzen  lobpreisenden  Formeln 
besteht.  Nachdem  der  Koran  zum  allgemeingültigen,  inspirierten  Religionsbuch 
geworden  war,  verwendete  man  bestimmte  Abschnitte  desselben  als  Gebets- 
formeln bei  der  saldt,  so  die  Eingangssure  und  die  beiden  Schlußsuren.  Die  erste 
Sure  kann  als  ein  typisches  Beispiel  für  die  Gebetsweise  des  Propheten  gelten, 
die  beiden  Schlußsuren  hingegen  sind  altarabische  Beschwörungsformeln,  welche 
Aischa,  Mohammeds  Lieblingsfrau,  diesem  beim  Todeskampf  zuflüsterte.  Der 
Formalismus  des  islamischen  Pflichtgebets  übertrifft  noch  den  jüdischen:  die 
Gebetszeiten,  die  Gebetsvorbereitung,  die  Gebetsworte  und  die,  Gebetsstellungen 
—  alles  ist  bis  ins  minutiöseste  Detail  festgelegt. 

Der  Parsismus  besitzt  wie  das  Judentum  mehrere  Gebetsformeln,  welche 
der  treue  Mazdaanbeter  bei  den  verschiedensten  Anlässen  verrichtet  3;  ihre  häufige 
Bezitation  gilt  als  höchst  verdienstlich.  Sie  werden  von  den  Mazdayasna  ebenso 
oft  heruntergesagt  wie  das  Vaterunser  und  Ave  vom  katholischen  Volk.  Wie 
das  jüdische  Schma  enthalten  sie  keine  eigentliche  Anrufung  Gottes,  sondern 
stellen  vielmehr  eine  Selbstvergegenwärtigung  und  Selbsteinschärfung  der  höchsten 
religiösen  Pflichten  dar. 

Das  alte  Christentum  übernahm  vom  Judentum  das  mehrmalige  tägliche 
Pflichtgebet;  an  die  Stelle  des  Schma  und  Schmone  'Esre  trat  das  Gebet  des 
Herrn.  Schon  die  Didache  schreibt  ein  dreimaliges  Bezitieren  des  Vaterunser 
vor.  (8  3)  Die  ägyptische  Kirchenordnung  Schreibt  ein  fünfmaliges  tägliches  Ge- 
bet vor:  morgens,  um  die  dritte,  sechste,  neunte  Stunde  und  vor  dem  Schlafe*. 
Das  Gebot  des  Morgen-,  Abend-  und  Tischgebets  hat  die  katholische  Kirche  durch 
alle  Jahrhunderte  aufrecht  erhalten ;  doch  gilt  die  Pflicht  des  täglichen  Gebets 
nicht  so  strenge  wie  im  Gesetzesjudentum  und  Islam ;  auch  sind  keine  bestimmten 
Formeln  vorgeschrieben  —  lauter  Zeichen  für  den  freieren  und  lebendigeren 
Charakter  der  christlichen  Gebetsfrömmigkeit.  Während  die  Gebetspflicht  der 
Laien  sich  auf  diese  täglichen  Gebete  beschränkt,  sind  die  ,,Beligiosen",  die  Ordens- 
angehörigen sowie  die  Weltgeistlichen  zum  regelmäßigen  Stundengebet  ver- 
pflichtet. Die  kirchlichen  ,Tagzeiten'  stellen  jedoch  ein  gemeinsames  gottes- 
dienstliches Gebet  dar ;  sie  wurden  relativ  spät  zu  einem  individuellen  Pflicht- 
gebet, das  alle  Säkulargeistlichen  und  jene  Ordensgeistliche,  die  am  Chorgebet 
teilzunehmen  verhindert  sind,  für  sich  verrichten.  Es  ist  jedoch  bedeutsam,  daß 
das  Breviergebet  den  Namen  „officium"  trägt. 

Dem  Judentum  entstammt  die  Idee  der  Verdienstlichkeit  des  Gebets.  In  dieser 
Idee  gründet  die  Verwendung  des  Gebets  als  kirchliche  Bußleistung,  als  ,,satisf actio 
operis",  die  der  Beichtvater  dem  Pönitenten  auferlegt.  Die  Anfänge  dieser  Ver- 
wendung des  Gebets  fallen  in  jene  Zeit,  in  der  das  altkirchliche  öffentliche  Buß- 
institut sich  auflöste  und  von  der  Privatbeichte  endgültig  verdrängt  wurde.  Die 
schweren  altkirchlichen  Bußstrafen  verschwanden  allmählich,  an  ihre  Stelle 
traten  als  Ersatzmittel  die  guten  Werke,  Beten,  Fasten,  Almosengeben,  Schen- 
kungen an  die  Kirche,  Wallfahrten.  In  der  heutigen  Bußpraxis  dient  nahezu 
ausschließlich  das  Beten  bestimmter  Formeln  (Vaterunser,  Ave,  Rosenkranz, 
Litaneien)  als  „Genugtuung".  Auch  außerhalb  des  Bußwesens  wird  seit  Beginn 
des  Mittelalters  das  formelhafte  Beten  eifrig  geübt ;  das  Gebet  gilt  dem  katholischen 
Volk  als  ein  verdienstliches  Werk,  das  reiche  irdische  und  himmlische  Belohnung 
nach  sich  zieht.  Eine  Steigerung  erfuhr  dieser  Gebetseifer  durch  die  Ausbreitung 
des  Ablaßwesens,  das  seinerseits  aus  dem  Bußwesen  herauswuchs.  Die  Rezitation 
bestimmter  Gebetsformeln  ist  mit  Ablässen  verbunden,  d.  h.  sie  führt  die  Nach- 
lassung diesseitiger  bzw.  jenseitiger  Sündenstrafen  herbei  5. 

3.  Die  Form  des  gesetzlichen  Gebets. 
Das  gesetzliche  Gebet  ist  streng  formelhaft;  es  ist  keine  freie  Herzensaussprache, 
sondern  die  Rezitation  eines  religiösen  Textes,  dessen  Wortlaut  festgelegt  ist. 
Die  Masse  der  Laien,  die  zum  täglichen  Beten  durch  Gebote  gezwungen  werden 
müssen,  bedürfen  einer  stereotypen  Formel.  Das  jüdische  Schma  und  Schmone 
'Esre,  die  Koran  texte  der  muhammedanischen  salät,  die  parsischen  Gebets- 
formeln, das  Vaterunser  und  Ave  im  katholischen  Christentum  sind  alle  wörtlich 


Inhalt  des  gesetzlichen  Gebets  481 


gebundene  Formeln,  die  der  Willkür  des  Beters  entzogen  sind.  Nach  einem  tal- 
mudischen Diktum  darf  beim  Scbmone  'Esre  bei  Strafe  der  Ausrottung  nichts 
hinzugesetzt  werden  6.  An  einer  Stelle  des  Avesta  wird  dem  Ahura  Mazda  folgendes 
Drohwort  in  den  Mund  gelegt:  „Wer  mir  in  dieser  körperlichen  Welt  diesen  Teil 
des  Ahunavairya  beim  Hersagen  verstümmelt  —  sei  es  um  die  Hälfte,  um  ein 
Drittel,  um  ein  Viertel  oder  auch  nur  um  ein  Fünftel  —  dessen  Seele  bringe  ich. 
der  ich  Ahura  Mazda  bin,  hinweg  vom  besten  Orte"  7.  Aber  nicht  nur  die  Form 
der  Worte  ist  geregelt,  auch  die  äußere  Körperhaltung  und  selbst  die  Zeit  des 
Gebets  sind  genau  bestimmt.  Die  Rezitation  des  Schma  hat  am  Morgen  zwischen 
Dämmerung  und  Sonnenaufgang,  am  Abend  beim  Sichtbarwerden  der  Sterne 
zu  erfolgen.  Die  islamischen  Gebetszeiten  sind:  unmittelbar  nach  Sonnen- 
aufgang, Mittags,  Nachmittags  zwischen  drei  und  vier  Uhr,  bei  Sonnenunter- 
gang und  nach  Einbruch  der  Nacht  8.  Der  jüdische  Mischnatraktat  Berachoth 
und  seine  talmudischen  Erläuterungen  enthalten  zahllose  minutiöse  Detailvor- 
schriften, die  bei  der  Schma-Rezitation  zu  beachten  sind.  Die  Vorschriften  für 
die  muhammedanische  salät  sind  so  zahlreich  und  kompliziert,  daß  „ein  mus- 
limischer Theologe  mehrere  Monate  darauf  verwenden  muß,  ehe  er  nur  die  Gebets 
bestimmungen  inne  hat,   die  Muhammed  selbst  hinterlassen  hatte."  9 

Das  private  verdienstliche  Gebet  zeigt  die  Tendenz  zur  häufigen  Wiederholung 
einer  und  derselben  Formel.  „Wer  sein  Gebet  lang  macht,  dem  kehrt  es  nicht 
leer  zurück,"  lautet  ein  rabbinischer  Ausspruch  10.  Das  Hauptgebet  des  Mazda- 
dieneres,  das  Ahuna  vairya,  wird  bis  zu  1200  mal  herunter  gesagt  u.  Der  katho- 
lische Rosenkranz  umfaßt  fünfzehn  Dekaden  von  je  einem  Vaterunser  und  zehn 
Ave.  Weil  das  Gebet  etwas  in  sich  selbst  Wertvolles  und  Wirksames  darstellt, 
darum  muß  seiner  Vervielfachung  eine  erhöhte  Bedeutung  zukommen. 

4.   Inhalt  des  gesetzlichen  Gebets. 

Hinsichtlich  des  Formalismus  gleicht  das  gesetzliche  Gebet  völlig  der  rituellen 
Gebetsfoimel,  wie  sie  in  primitiven  und  antiken  Kulten  allgemein  üblich  ist. 
Der  Inhalt  aber  verrät  deutlich  seine  Herkunft  aus  der  individuellen  Frömmigkeit 
oder  dem  Gemeindegottesdienst.  Das  Vaterunser  und  die  erste  Sure  des  Koran 
entstammen  dem  individuellen  Gebetsleben;  auch  die  „Geheimnisse"  des  Rosen- 
kranzes, die  sein  variables  Element  bilden,  entspringen  der  individuellen  Gebets- 
frömmigkeit; sie  stellen  im  Grunde  nur  das  Meditationsschema  der  mittelalter- 
lichen Mystik  dar.  Andere  Gebete,  wie  das  Schmone  'Esre,  die  Rahmengebete 
des  Schma  und  das  christliche  Glaubenssymbol,  wurden  aus  dem  Gemeinde- 
gottesdienst in  das  private  religiöse  Leben  übertragen.  Ein  großer  Teil  der  gesetz- 
lichen Gebete,  wie  das  jüdische  Schma,  die  parsischen  Formeln  des  Ahuna  vairya, 
Aschern  vohu  und  Yenhe  hatam,  das  christliche  Credo,  sind  keine  eigentlichen 
Gebete,  sondern  Meditations-  und  Bekenntnisformeln,  in  denen  der 
Fromme  sich  die  zentralen  Wahrheiten  seines  Glaubens  vergegenwärtigt  und 
sein  religiöses  Heils-  und  Pflichtbewußtsein  immer  von  neuem  weckt  und  kräftigt. 

Schma:  „Höre,  Israel!  Jahwe  ist  unser  Gott,  Jahwe  allein!  Und  du  sollst 
Jahwe,  deinen  Gott  lieben  von  ganzem  Herzen,  von  ganzer  Seele  und  mit  aller 
deiner  Kraft.  Diese  Worte,  die  ich  dir  heute  vorlege,  sollen  dir  im  Herzen  bleiben, 
auch  sollst  du  sie  deinen  Kindern  einschärfen  und  von  ihnen  reden,  wenn  du  in 
deinem  Hause  weilst  oder  dich  auf  Reisen  befindest,  wenn  du  dich  niederlegst 
und  wieder  aufstehst.  Du  sollst  sie  als  ein  Zeichen  auf  deine  Hand  binden  und  als 
Stirnbänder  zwischen  den  Augen  haben  und  sollst  sie  auf  die  Pfosten  deines  Hauses 
und  an  deine  Tore  schreiben"  (Dt  6  t — ,).     Es  folgt  Dt  11  13 — ai;  Num  15  87 — „  P. 

Kürzer  sind  die  drei  Gebetsformeln  der  Parsen.  Ahuna  vairya:  „Wie 
der  werteste  Herr,  so  steht  der  Prophet  in  Einklang  mit  Ascha ;  er  übergibt  Mazda 
die  Werke,  die  in  guter  Gesinnung  in  diesem  Leben  geübt  worden  sind,  und  dem 
Ahura  das  Reich;  der  setzte  ihn  zum  Schützer  der  Armen"  (  Ys  27  13).  Aschern 
vohu:  „Reinheit  ist  das  höchste  Gut;  erwünschl  ist  sie,  erwünscht  für  mich. 
Für  die  Reinheit  das  Paradies"  (  Ys  27  14).  Yenhe  hat  a  in:  ..Wir  verehren 
die  männlichen  und  weiblichen  (Engel),  durch  deren  Anbetung  vor  allem  Mazda 
Ahura  in  Einklang  mit  Ascha  das   Gute  herbeischafft"  (  Ys  27  l5)  li. 

Wie  der  das  Schma  rezitierende  .Ind.-  sich  die  ausschließliche  Anbetung  Jahwes 
tagtäglich  eins,  häif t .  so  vergegenwärtigt  sich  der  Mazdayasna  die  höchsten 
Dj^  Gebet  31 


482  !•  Das  Gebet  in  den  Gesetzesreligionen 

Ideale  und  Forderungen  seiner  Religion,  die  heilige  Ordnung  (Asa),  das  Reich 
(Ksathra),  die  Reinheit  und  die  guten  Werke.  Verwandt  und  doch  von  ganz 
anderer  Art  ist  das  apostolische  Symbolum,  das  im  katholischen  Privatgebet 
fast  so  gebräuchlich  wurde  wie  das  Vaterunser  und  Ave;  hier  betrachtet  der  Christ 
die  in  lapidarer  Kürze  zusammengefaßten  heilsgeschichtlichen  Tatsachen  von 
der  Schöpfung  über  die  Heilstat   Christi  zur  Vollendung  im  ewigen  Leben. 

Neben  den  Meditations-  und  Bekenntnisformeln  stehen  Preisgebete. 
Das  jüdische  Achtzehngebet  ist  in  seinem  Eingang  und  Schluß  wie  im  Refrain 
ein  Lobgebet  auf  Jahwe.  Die  Rahmengebete  des  Schma  sind  zum  größten  Teile 
Preisgebete  (s.  o.  S.  446).  Das  ,, Vaterunser"  der  Muslimen  beginnt  mit  dem 
feierlichen  Lobpreis:  „Das  Lob  gebührt  Allah,  dem  Herrn  der  Welten,  dem  All- 
barmherzigen, Erbarmungsvollen.  dem  König  am  Gerichtstage.  Nur  dir  wollen 
wir  dienen,  und  nur  dich  rufen  wir  um  Hilfe  an"  13.  Das  Ave  Maria  ist  in  seiner 
ersten  Hälfte  ein  Lobpreis  auf  die  Gottesmutter. 

Die  Bitte  fehlt  im  gesetzlichen  Beten  nicht  ganz.  Ein  Teil  der  Rahmen- 
gebete des  Schma  sind  Bittgebete.  Das  Schmone  Esre  enthält  zum  größten  Teil 
Bitten.  Die  bei  der  salät  gesprochene  erste  Koränsure  schließt  mit  einer  Bitte: 
..Herr,  führe  uns  den  Weg,  den  geraden,  den  Weg  derer,  über  die  du  deine  Gnade 
ausgießest,  und  nicht  derer,  über  die  du  zürnest,  und  nicht  den  Weg  der  Irrenden!"13 
—  einer  Bitte,  die  auf  rein  geistige  Werte,  die  Erfüllung  des  Willens  Gottes  im 
rechten  Glaubensbekenntnis  und  rechten  sittlichen  Wandel  abzielt.  Ebenso  ist 
das  christliche  Zentralgebet,  das  Vaterunser,  ein  Bittgebet. 

Zwischen  den  Bittgebeten  und  den  Bekenntnisformeln  stehen  gebetähnliche 
Formeln,  in  denen  der  Gläubige  seine  „Zuflucht  nimmt".  Nach  der  Eingangs- 
sure zum  Koran  sind  die  beiden  Schlußsuren  die  häufigsten  mohammedanischen 
Gebete.  Sie  lauten:  „Sprich:  ich  nehme  meine  Zuflucht  zum  Herrn  des  Morgen- 
grauens —  vor  dem  Übel  dessen,  was  er  erschaffen  —  und  vor  dem  Übel  der  Nacht, 
wenn  sie  naht  —  und  vor  dem  Übel  der  Zauberinnen  —  und  vor  dem  Übel  des 
Neiders,  wenn  er  neidet."  „Sprich:  ich  nehme  meine  Zuflucht  zum  Herrn  der 
Menschen  —  dem  Könige  der  Menschen  —  vor  dem  Übel  des  Einflüsterers,  des 
Entweichers  —  der  da  einflüstert  in  die  Brust  des  Menschen  —  vor  den  Dschinnen 
und  den  Menschen"  13.  Die  Anfangsworte  dieser  Formeln  erinnern  an  die  Formel, 
welche  die  buddhistischen  Mönche  und  Laien  so  häufig  gebrauchen:  „Ich  nehme 
meine  Zuflucht  zum  Buddha,  ich  nehme  meine  Zuflucht  zum  Dhamma  (Gesetz), 
ich  nehme  meine  Zuflucht   zum   Sangha   (Mönchsgemeinde)."  14 

Alle  diese  als  gesetzliche  Gebete  benützten  Formeln  —  von  jenen  abgesehen, 
die  der  persönlichen  Gebetsfrömmigkeit  oder  der  Liturgie  entstammen  —  zeigen 
eine  gewisse  Allgemeinheit  und  Nüchternheit;  es  fehlt  jener  lebendige  Schwung, 
der  dem  individuellen  Gebet  wie  dem  Gemeindegebet  eigen  ist.  Sie  sind  nicht 
einmal  Gebete  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes;  denn  es  fehlt  die  Gebetsanrede, 
die  unmittelbare  Hinwendung  des  Frommen  zu   Gott. 

.5.  Die  Idee  des  gesetzlichen  und  verdienstlichen 

Gebets. 

Das  gesetzliche  und  verdienstliche  Gebet  ist  eine  Leistung  des 
Menschen  an  Gott,  die  in  sich  selbst  Wert  besitzt.  Diese  Leistung  ist 
von  Gott  gefordert ;  wer  sie  unterläßt,  verstrickt  sich  in  Sünde  und  ver- 
fällt dem  göttlichen  Strafgericht.  Das  gesetzliche  Gebet  ist  das  Be- 
kenntnis des  Glaubens,  das  den  Frommen  vom  Gottlosen,  den  Gläubigen 
vom  Ungläubigen  unterscheidet.  „Wer  die  Verrichtung  der  salät  unter- 
läßt, ist  ein  Ungläubiger,"  sagt  ein  muhammedanischer  Theologe  15. 
Wer  aber  über  das  Minimum  des  von  Gott  Gebotenen  hinausgehend, 
freiwillig  Gebete  verrichtet,  sichert  sich  göttlichen  Lohn  im  Diesseits 
und  Jenseits.  Die  Idee  der  Leistung,  die  dem  gesetzlichen  und  ver- 
dienstlichen Beten  zugrundeliegt,  bedeutet  ein  Wiederaufleben  des 
primitiven  Opfergedankens.    Es  ist  von  Wichtigkeit,  daß  das  gesetzliche 


Idee  des  gesetzlichen  und  verdienstlichen  Gebets  483 

und  verdienstliche  Gebet  im  Judentum  gerade  dann  aufkam,  als  durch 
die  Zentralisierung  des  Kults  das  allgemeine  Opfer  verschwunden  war, 
und  daß  es  noch  größere  Dimensionen  annahm,  als  Tempel  und  Altar 
m  Schutt  und  Asche  versunken  waren.  Der  Talmud  lehrt  ausdrücklich 
(Berach.  26  b),  daß  die  täglich  gebotenen  Gebete  an  die  Stelle  der 
früheren  täglichen  Opfer  traten  16.  Das  formelhafte  Gebet  ist  in  der 
Vorstellung  des  naiven  Frommen  nichts  anderes  als  ein  Opfer,  das  er 
seinem  Gott  darbringt.  Das  gesetzlich  verordnete  Gebet  ist  der  regel- 
mäßige Tribut,  den  der  Mensch  seinem  Gott  wie  einem  König  schuldet, 
ein  Dienst,  zu  dem  er  als  Knecht  gegenüber  seinem  Herrn  verpflichtet 
ist.  Ein  altjüdischer  Text  sagt  bezeichnend:  „Gleichwie  der  Dienst 
am  Altar  eine  labodd  (d.  h.  Knechtesdienst)  genannt  wird,  so  heißt  auch 
das  Gebet  eine  "abodä"  17.  Während  das  regelmäßige  Pflichtgebet  dem 
primitiven  Tributopfer  gleichkommt,  hat  das  außerordentliche,  als 
gutes  Werk  verrichtete  Gebet  eine  ähnliche  Funktion  wie  das  freiwillige 
Gabenopfer;  das  freiwillig  verrichtete  Gebet  heißt  im  späten  Judentum 
geradezu  , Spendegebet'  Pfillat  neddbd 18.  Der  Mensch  tut  das,  was 
Gott  wohlgefällig  ist;  er  hofft,  daß  ihm  Gott  dafür  die  Erfüllung  be- 
stimmter Wünsche  oder  ganz  allgemein  irdisches  Glück  und  himmlische 
Seligkeit  gewähren  wird.  Ahura  Mazda  verheißt:  „Wer  mir  in  dieser 
mit  Körper  begabten  Welt,  o  heiliger  Zarathustra,  den  Teil  des  Ahuna 
vairya  hersagt,  dessen  Seele  bringe  ich  dreimal  über  die  Brücke  zum 
Paradiese,  der  ich  Ahura  Mazda  bin,  bis  zu  dem  besten  Orte,  bis  zur 
besten  Reinheit,  bis  zu  den  besten  Lichtern"  19.  Der  Grundgedanke 
alles  Opferwesens,  do  ut  des,  erscheint  hier  in  spiritualisierter  Form, 
Weil  das  Gebet  em  Opfergeschenk,  ein  ,gutes  Werk'  ist,  kann  es  durch 
andere  ,gute  Werke'  verstärkt  werden,  vor  allem  durch  Fasten  und 
Almosengeben.  Mit  diesen  beiden  verbindet  es  sich  aufs  engste  zu  einer 
religiösen  Trias,  die  das  Christentum  aus  der  jüdischen  Mutterreligion  über- 
nahm und  die  auch  im  Islam  unter  den  ,fünf  Grundpfeilern'  wiederkehrt. 
Aber  nicht  nur  der  Opfergedanke  liegt  dem  gesetzlichen  und  verdienst- 
lichen Gebet  zugrunde,  im  Hintergrunde  steht  der  primitive  Zauber- 
gedanke. Das  jüdische  Schma,  das  christliche  Vaterunser,  die  Anfangs- 
und Schlußsuren  des  Koran,  das  Ahuna  vairya  und  Aschern  vohu  des 
Mazdaismus  —  alle  teilen  sich  in  das  gleiche  Geschick;  alle  mußten 
sich  gefallen  lassen,  als  Zauberformeln  den  mannigfachsten  selbst- 
süchtigen Zwecken  der  Menschen  zu  dienen.  Die  religiöse  Wertschätzung 
dieser  Formeln,  der  Glaube  an  ihren  Heiligkeitscharakter  zog  die  Vor- 
stellung ihrer  Zauberwirksamkeit  nach  sich;  weil  sie  als  „heilig"  galten, 
galten  sie  auch  als  mit  immanenter,  übernatürlicher  „Macht"  (Mana) 
ausgestattet.  [Ihre  Worte  waren  das  kräftigste  Zaubermittel,  die  stärkste 
Beschwörung.  So  sinkt  das  gesetzliche  und  verdienstliche  Beten  auf 
die  Stufe  der  primitiven  Magie  herab,  aus  einem  ehrfürchtigen  Tribut 
an  den  großen  Gott  wird  es  zu  einem  mechanischen  Mittel  im  Dienste 
menschlicher  Selbstsucht. 

6.  Schlußcharakteristik20. 
Der  Inhalt  des  gesetzlichen  Gebets  steht  durchaus  auf  der  geistigen 


484  [■   Das  Gebet  in  den  Gesefczeareligionen 


Höhe  der  Religionen,  deren  Bekenner  diese  formelhaften  Gebete  rezi- 
tieren. Da  ist  kein  Bitten  um  die  kleinen  Nöte  des  Alltags,  sondern 
ein  feierliches  Bekennen  der  Größe  Gottes  und  seiner  Heilstaten;  da 
ist  kein  eudämonistisches  Wünschen  und  Begehren,  sondern  ein  Sich- 
vergegenwärtigen der  großen  religiösen  Pflichten ;  da  ist  kein  Einreden 
auf  Gott,  sondern  ein  demütiges  Lobpreisen  seiner  Macht.  Während 
so  der  Inhalt  des  gesetzlichen  Gebets  religiöse  Tiefe  und  Reinheit  verrät, 
bringt  sein  Formalismus  notwendig  eine  Entgeistigung  und  Ver- 
äußerlichung  mit  sich.  Zwar  fordert  das  religiöse  Gesetz  ein  .andäch- 
tiges' Beten,  ein  Rezitieren  der  Texte  mit  voller  innerer  Anteilnahme; 
das  Gesetzesjudentum  verlangt  vom  Betenden  kawwanä 21,  das  Ge- 
setzeschristentum attentio  und  devotio;  allein,  wenn  es  auf  den  Wortlaut 
der  Formel  ankommt,  wenn  die  Formel  heilig  gesprochen  wird,  muß 
der  Geist  ihr  entweichen.  Der  alltägliche  Gebrauch,  die  zahllose  Wieder- 
holung einer  imd  derselben  Formel  bedingt  eine  Mechanisierung  des 
Betens;  man  plappert  schließlich  gedankenlos  die  Gebetsworte  herunter. 
Die  religiösen  Autoritäten  machen  selbst  dem  mechanischen  Beten 
Zugeständnisse.  Ein  talmudischer  Lehrer  erklärt,  wenn  man  das  ganze 
Schma  nicht  mit  Andacht  beten  kann,  so  genüge  dies  für  den  ersten 
Teil,  während  für  den  zweiten  nur  das  Aussprechen  nötig  ist  22.  Ein 
zweites  Moment,  das  zur  Veräußerlichung  des  gesetzlichen  Gebets 
führt,  ist  der  Lohn-  und  Strafgedanke.  Der  primitive  Eudämonismus , 
der  aus  dem  Inhalt  des  Gebets  verbannt  ist,  tritt  durch  die  Motive  der 
Furcht  und  Hoffnung  wieder  in  das  Gebet  herein.  Der  Beter  gehorcht 
nicht  einem  elementaren  inneren  Drange,  sondern  dem  äußeren  Zwange 
des  Gesetzes;  die  Furcht  vor  der  Strafe  schreckt  ihn,  die  Hoffnung 
auf  Lohn  lockt  ihn.  So  wird  das  gesetzliche  und  verdienstliche  Gebet, 
das  seinem  Inhalt  nach  eine  Erhebung  der  Seele  zu  Gott  und  den  Gütern 
des  Heils  ist,  durch  das  Motivationserlebnis  des  Beters  zu  einem  Mittel, 
sich  Gottes  Gunst  zu  verdienen  oder  zu  bewahren.  Ein  solches  Beten 
ist  dem  Menschen  nicht  eine  befreiende  Lust,  sondern  eine  drückende 
Last,  soferne  nicht  durch  die  stete  Übung  das  seelische  Erleben  so 
sehr  mechanisiert  ist,  daß  die  Unlustgefühle,  die  das  Pflichtgebet  aus- 
löst, nicht  mehr  auftreten. 

Trotz  aller  Veräußerlichung  ist  auch  das  gesetzliche  bzw.  verdienstliche 
Beten  eine  religiöse  Größe.  Es  gibt  immer  wieder  Fromme,  die,  von 
einem  persönlichen  religiösen  Drange  beseelt,  sich  in  den  Sinn  der  ge- 
botenen Gebetsformel  vertiefen,  die  nicht  gedankenlos,  sondern  be- 
trachtend beten;  sie  dringen  durch  die  Worte  der  Formel  zum  Geist 
ihrer  Schöpfer  zurück.  So  kann  auch  an  den  gesetzlichen  Gebets- 
formularen echtes,  religiöses  Leben  sich  entzünden,  kräftigen  und 
läutern.  Aber  auch  die  ohne  volles  Verständnis  rezitierten  Gebete  ent- 
behren nicht  gänzlich  des  religiösen  Charakters.  Auch  der  mechanisch 
Betende  hat,  wenn  auch  nur  undeutlich  und  schattenhaft,  dasBe wußtsein , 
daß  er  es  mit  etwas  Heiligem  zu  tun  hat;  die  Formel,  die  er  benützt, 
trägt  religiösen  Wertcharakter;  s'e  bringt  ihn  in  Beziehung  zu  Gott; 
sie  begründet  und  fördert  seiner  Seele  Heil.  All  diese  Gedanken  ver- 
mischen sich  in  einem  vagen  und  verschwommenem  Andachtserlebnis, 


Charakteristik  485 


das  aber  doch  ein  echtes  religiöses  Erlebnis  ist.  Dieselbe  Stimmung 
ehrfürchtiger  Scheu  und  fester  Zuversicht,  die  den  primitiven  Menschen 
beseelt,  wenn  er  geheimnisvolle  Zauberworte  raunt,  durchdringt  auch 
den  gesetzeseifrigen  Muslim,  der  seine  salät  mit  peinlicher  Genauigkeit 
verrichtet,  oder  den  thoratreuen  Juden,  der,  die  Hand  vom  Gebets- 
riemen  umwunden,  seinSchma  rezitiert,  oder  den  reinheitsbeflissenen  Maz- 
dayasna,  der  sein  zauberstarkes,  teufelvertreibendes  Ahuna  vairya 
lispelt,  oder  den  frommen  Katholiken,  der  beim  Rosenkranz  Perle  um 
Perle  durch  die  Finger  gleiten  läßt  und  Ave  an  Ave  reiht.  Das  „gedanken- 
lose" Beten,  d.  h.  jenes  Beten,  das  sich  nicht  auf  den  Sinn  der  Gebets- 
worte konzentriert,  ist  noch  keineswegs  ein  unfrommes  Beten,  so  lange 
es  noch  von  —  wenn  auch  noch  so  unbestimmten  und  dunklen  —  Ge- 
fühlen und  Stimmungen  getragen  ist.  Auch  die  kirchliche  Theologie 
unterscheidet  beim  Gebet  mit  psychologischer  Feinfühligkeit  zwischen 
,attentio\  der  Aufmerksamkeitsspannung,  und  ,devotio\  dem  gefühls- 
mäßigen Andachtserlebnis  23.  Nur  das  jeder  emotionellen  Unterströmung 
ermangelnde  Gebet  ist  absolut  andachtslos.  Freilich  ist  es  immer  eine 
niedere  Frömmigkeit,  welcher  der  Gedanken-  und  Stimmungsgehalt 
einer  Gebets-  oder  Bekenntnisformel  völlig  fremd  und  unverständlich 
ist,  und  die  so,  obgleich  nicht  stimmungslos,  doch  stimmungsarm  bleibt. 
Die  großen  prophetischen  Persönlichkeiten,  die  einen  leidenschaft- 
lichen Kampf  für  das  Beten  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  führen, 
brandmarken  dieses  gedankenlose  und  stimmungsarme  Beten  als  gott- 
los und  sündhaft,  während  die  Mystiker  in  ihrem  feinen  psychologischen 
Verständnis  und  ihrer  Weitherzigkeit  auch  im  verständnislosen  Murmeln 
heiliger  Formeln  eine  rohe  und  dunkle  Ahnung  ihres  sublimen  mystischen 
Gebetserlebnisses  entdecken.  Den  schärfsten  Protest  gegen  das  gesetz- 
liche und  verdienstliche  Beten  erhoben  die  Reformatoren;  die  Ein- 
zwängung des  gottgegebenen  Gebetsgeistes  in  die  engen  Schranken 
des  gesetzlich  Gebotenen  und  die  Verwendung  des  Gebets  im  Dienste 
selbstsüchtiger  Werkgerechtigkeit  erschien  ihnen  als  schmählicher 
Mißbrauch,  als  eine  Profanierung  des  Heiligsten.  (S.  o.  S.  404  ff.) 
Dieser  Protest  rückt  die  Gefahren  dieser  Form  des  Gebets  ins  grellste 
Licht,  wird  aber  den  erziehlichen  Werten,  die  ihr  innewohnen,  nicht 
völlig  gerecht.  Das  hehre  Ideal  des  spontanen  und  freien  Betens,  wie  es 
im  individuellen  Gebetsleben  sich  ausprägt,  vermögen  nur  wenige  gott- 
begnadete Seelen  zu  erreichen.  Die  Masse  der  Durchschnittsfrommen 
bedarf  fester  religiöser  Formen,  an  die  sie  sich  in  ihrer  geistigen  Un- 
selbständigkeit klammern  kann;  sie  bedarf  des  harten  Zwanges,  der 
sie  aus  dem  Alltagsleben  herausreißt  und  in  eine  höhere  Welt  empor- 
treibt; sie  bedarf  des  Lohn-  und  Strafmotivs,  das  sie  zur  Frömmigkeit 
und  zur  sittlichen  Pflichterfüllung  anspornt.  Trotz  aller  Äußerlichkeit, 
Gedankenlosigkeit  und  Selbstsucht  ist  das  gesetzliche  und  verdienst- 
liche Gebet  in  den  universellen  nomistischen  Religionen  allzeit  ein 
mächtiger  Hebel  des  religiösen  Lebens  gewesen. 


Das  Wesen  des  Gebets. 

Aus  der  unübersehbaren  Fülle  von  Gebeten,  die  je  von  Menschen- 
lippen kamen,  heben  sich  wenige  scharf  umrissene  Typen  heraus.  Die 
Urform  des  Betens  ist  das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen ; 
Affektivität,  Spontaneität  und  Freiheit,  urwüchsiges  eudämonistisches 
Verlangen  und  konkretes  realistisches  Vorstellen  sind  seine  Eigen- 
tümlichkeiten. Das  lebendige,  aus  dem  Augenblicksaffekt  geborene 
Beten  des  naiven  Menschen  verkümmert  im  rituellen  Gebet  zur 
heiligen,  unantastbaren  Formel,  zum  priesterlichen  Amtsgeschäft;  aus 
einer  unmittelbaren  seelischen  Äußerung  entsteht  eine  feststehende 
sakrale  Institution,  die  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  forterbt. 
Dem  rituellen  Prosagebet  tritt  der  feierliche  Kulthymnus  zur 
Seite,  die  poetische  Schöpfung  der  Priesterschulen,  prunkvoll  und 
überschwänglich,  stereotyp  und  schwerfällig,  wie  jenes  ein  Stück  des 
komplizierten  Tempel-  oder  Opferrituals.  Von  der  schematischen  Kult- 
poesie löst  sich  eine  frischere  und  lebendigere  religiöse  Dichtung  ab, 
die  literarische  Hymnenpoesie,  in  der  sich  eine  kräftige 
religiöse  Naturgegeisterung  ausatmet.  Gegen  das  primitive  und  kultische 
Gebet  erhebt  sich  die  scharfe  Kritik  des  philosophischen 
Denkens;  an  die  Stelle  des  naiven  Betens  rückt  die  Philosophie  ein 
abstraktes,  rational-ethisches  Gebetsideal,  den  harten  Forderungen 
des  Verstandes  angeglichen,  den  Ausdruck  eines  herben  sittlichen  Willens, 
blaß,  kahl,  jeder  religiösen  Leidenschaft  bar.  Die  reinste  und  reichste 
Form  alles  Betens  ist  das  Gebetsleben  der  großen  religiösen 
Genien;  es  vereint  idealen  Schwung  mit  urwüchsiger  Lebendigkeit, 
ethische  Reinheit  mit  elementarer  religiöser  Leidenschaft,  tiefe  Innig- 
keit mit  überwältigender  Kraft.  In  zwei  Haupttypen  sondert  sich  die 
Gebetsfrömmigkeit  der  schöpferischen  religiösen  Geister:  in  den  mysti- 
schen und  prophetischen  Typ.  Das  mystische  Beten  ist  die  Hin- 
wendung der  von  der  Welt  und  der  eigenen  Leidenschaft  losgelösten 
Seele  zu  Gott,  dem  höchsten  und  einzigen  Wert;  von  der  sinnenden, 
von  stimmungsreichen  Phantasie  bildern  sich  nährenden  Meditation 
steigt  der  betende  Mystiker  empor  zur  wonnevollen  Kontemplation  des 
höchsten  Gutes,  bis  sich  zuletzt  die  entzückte  Gottesschau  in  der  unend- 
lichen Seligkeit  der  Ekstase  verliert,  in  welcher  der  endliche  Mensch 
untertaucht  in  die  Fülle  des  unermeßlichen  Gottes.  Eine  Abart  der 
mystischen  Gebetsweise  ist  die  Versenkung  der  buddhistischen  Frömmig- 
keit; wie  der  Buddhismus  eine  Heilsreligion  ohne  Gottes-  und  Gnaden- 
glaube, so  ist  die  buddhistischeVersenkung  eine  mystische 
Meditation  und  Kontemplation  ohne  persönliche  Hinkehr  zu  einem 
summum    bonum;    von    der    gefühlsschweren    Betrachtung    des    Leids 


Mannigfaltigkeit  der  Formen  des  Gebets  487 

erhebt  sich  der  Bettelmönch  zur  wonnigen  Ruhe,  von  der  Ruhe  zum 
heiligen  Gleichmut,  vom  Gleichmut  zum  Nirväna,  dem  völligen  Er- 
löschen und  Verwehen.  Das  prophetische  Beten  ist  im  Gegen- 
satz zum  mystischen  ein  naives  , Ausschütten  des  Herzens',  schlichte 
Aussprache  der  drängenden  Not  und  des  sehnsüchtigen  Verlangens, 
Bitte  um  Erhörung,  um  Hilfe,  Gnade  und  Heil  für  sich  und  die  Brüder; 
das  primitive  Beten  lebt  hier  auf,  religiös  verinnerlicht  und  sittlich 
verklärt,  aber  ungeschwächt  in  seinem  konkreten  Realismus.  Das 
prophetische  Gebet  erschöpft  sich  jedoch  keineswegs  in  der  Bitte;  diese 
geht  vielmehr  über  in  die  Aussprache  froher  Zuversicht  zu  Gott  oder 
männlicher  Ergebung  in  seinen  Willen.  Einen  durchgängigen  Parallelis- 
mus zum  Beten  der  großen  religiösen  Persönlichkeiten  bildet  das  Beten 
jener  genialen  Menschen,  deren  produktives  Schaffen  einem  anderen 
Wertgebiet  angehört,  der  großen  Dichter  und  Künstler;  der 
kontemplativ-mystische  und  der  affektiv-prophetische  Gebetstyp  kehren 
hier  wieder.  Im  gottesdienstlichen  Gemeindegebet 
spricht  eine  sich  solidarisch  fühlende  religiöse  Gemeinschaft  ihren 
Heilsbesitz  im  feierlichen  Lobpreis  und  Dank,  ihr  Heilsverlangen  in  der 
allgemeinen  Bitte  und  wechselseitigen  Fürbitte  aus.  Ursprünglich 
die  unmittelbare  Äußerung  eines  kräftigen  religiösen  Kollektiverlebens, 
verhärtet  sich  das  Gemeindegebet  allmählich  zu  einer  streng  geord- 
neten kirchlichen  Einrichtung,  einem  für  alle  Zeit  gültigenRitual,  dessen 
Vollzug  in  sich  selbst  Wert  und  Notwendigkeit  besitzt.  Das  gesetz- 
liche und  verdienstliche  Individualgebet,  wie  es  die  großen 
Autoritäts-  und  Kirchenreligionen  gebieten  bzw.  empfehlen,  dient 
ursprünglich  einem  pädagogischen  Zwecke;  es  will  die  Massen  durch 
den  steten  Gebrauch  auf  die  Höhe  des  religiösen  und  sittlichen  Ideals 
emporheben;  aber  das  Gesetz  und  das  Vergeltungsmotiv  drücken  es 
zu  einer  pflichtmäßen  und  verdienstlichen  Leistung  herab.  Die  un- 
mittelbarste und  lebendigste  Äußerung  der  Frömmigkeit  droht  zu 
einem  äußeren,  mechanisch  verrichteten  Werk  zu  verkümmern. 

In  einer  erstaunlichen  Mannigfaltigkeit  von  Formen  erscheint  das 
Gebet  in  der  Geschichte  der  Religion :  als  stille  Sammlung  einer  frommen 
Einzelseele  und  als  feierliche  Liturgie  einer  großen  Gemeinde,  als  ori- 
ginäre Schöpfung  eines  religiösen  Genius  und  als  Nachahmung  eines 
einfältigen  Durchschnittsfrommen;  als  spontaner  Ausdruck  quellender 
religiöser  Erlebnisse  und  als  mechanisches  Rezitieren  einer  unver- 
standenen Formel;  als  Wonne  und  Entzücken  des  Herzens  und  als 
peinliche  Erfüllung  des  Gesetzes;  als  unwillkürliche  Entladung  eines 
übermächtigen  Affektes  und  als  willentliche  Konzentration  auf  einen 
religiösen  Gegenstand;  als  lautes  Rufen  und  Schreien  und  als  stille, 
schweigende  Versunkenheit ;  als  kunstvolles  Gedicht  und  als  stammelnde 
Rede;  als  Flug  des  Geistes  zum  höchsten  Lichte  und  als  Klage  der  tiefen 
Not  des  Herzens;  als  jubelnder  Dank  und  entzückter  Lobpreis  und  als 
demütige  Bitte  um  Vergebung  und  Erbarmen;  als  kindliches  Flehen 
um  Leben,  Gesundheit  und  Glück  und  als  ernstes  Verlangen  nach  Kraft 
zum  sittlichen  Kampfe;  als  schlichte  Bitte  um  das  tägliche  Brot  imd 
als  verzehrende   Seimsucht  nach    Gott  selber;  als  selbstsüchtiges   Be- 


488  Das  Wesen  des  Gebets 


gehren  und  Wünschen  und  als  selbstlose  Sorge  für  den  Bruder;  als 
wilder  Fluch  und  Rachedurst  und  als  heroische  Fürbitte  für  die  eigenen 
Feinde  und  Peiniger;  als  stürmisches  Pochen  und  Fordern  und  als 
frohe  Entsagung  Und  heiliger  Gleichmut;  als  ein  Gott-umstimmenwollen 
im  Sinne  der  eigenen  kleinen  Wünsche  und  als  selbstvergessenes  Schauen 
und  Sichhingeben  an  das  höchste  Gut;  als  scheues  Flehen  des  Sünders 
zum  strengen  Richter  und  als  traute  Rede  des  Kindes  zum  gütigen 
Vater;  als  schmeichlerischer,  höfischer  Phrasenschwall  vor  dem  unnah- 
baren König  und  als  freie  Aussprache  gegenüber  dem  sorgenden  Freunde ; 
als  demütige  Bitte  des  Knechtes  zum  mächtigen  Herrn  und  als  trunkenes 
Liebesgespräch  der  Braut  mit  dem  himmlischen  Bräutigam. 

Bei  der  Betrachtung  dieser  mannigfachen  Gegensätze  und  bei  dem 
Überblicken  der  verschiedenen  Haupttypen  des  Gebets  erhebt  sich  das 
Problem:  was  ist  das  all  diesen  Gegensätzen  Gemeinsame,  was  ist  das 
allen  diesen  Erscheinungsformen  Zugrundeliegende,  was  ist  das  Wesen 
des  Gebets  ?  Die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  keine  leichte.  Es 
besteht  die  Gefahr,  das  Wesen  des  Gebets  in  eine  leere  Abstraktion  zu 
verlegen  und  so  das  Gebet  gründlich  zu  mißdeuten.  Um  das  Wesen 
des  Gebets  zu  verstehen,  müssen  wir  jene  Typen  des  Gebets  ins  Auge 
fassen,  in  denen  uns  dieses  als  naive,  spontane  Seelenäußerung  entgegen- 
tritt, wir  müssen  also  die  primären  Gebetstypen  von  den  sekundären 
sondern.  Diese  Trennung  vollzieht  sich  unschwer;  die  primären  Gebets- 
typen heben  sich  von  den  übrigen  unzweideutig  ab:  das  naive  Beten 
des  primitiven  Menschen,  das  individuelle  Gebetsleben  der  religiösen 
Genien,  das  Beten  großer  Männer,  das  gottesdienstliche  Gemeindegebet 
(soweit  es  sich  noch  nicht  zu  einer  starren  sakralen  Institution  ver- 
festigt hat).  Hier  überall  ist  das  Gebet  eine  rein  seelische  Größe,  der 
unmittelbare  Ausdruck  eines  urkräftigen  seelischen  Erlebens;  es  bricht 
aus  diesem  mit  innerer  Gewalt  hervor.  Ganz  anders  die  sekundären 
Gebetstypen.  Sie  sind  nicht  mehr  ursprüngliches,  persönliches  Er- 
lebnis, sondern  Nachahmung,  Surrogat  oder  Erstarrung  eines  ursprüng- 
lich Lebendigen.  Das  individuelle  Beten  der  Durchschnittsfrommen 
ist  eine  mehr  oder  weniger  treue  Übernahme  fremden  originären  Er- 
lebens; es  bleibt  an  Lebendigkeit,  Kraft  und  Tiefe  hinter  dem  idealen 
Muster  zurück.  Das  philosophische  Gebetsideal  ist  eine  kühle  Abstrak- 
tion, konstruiert  nach  den  Normen  der  Metaphysik  und  Ethik;  das 
lebendige  Gebet  wird  einer  Fremdgesetzlichkeit,  den  Normen  der  Philo- 
sophie unterworfen,  und  nach  dieser  Fremdgesetzlichkeit  umgebildet 
und  korrigiert;  das  Produkt  dieser  Korrektion  ist  kein  wirkliches  Gebet 
mehr,  sondern  der  Schatten  eines  solchen,  ein  künstliches,  totes  Gebilde. 
Die  rituelle  Gebetsformel,  der  Kulthymnus,  das  liturgische  Gemeinde- 
gebet als  sakrale  Institution,  das  gesetzliche  und  verdienstliche  Gebet 
— ■  all  diese  Gebetstypen  sind  Erstarrungsphänomene,  in  denen  das 
quellende  persönliche  Leben  zu  objektiven,  überpersönlichen  Formen 
und  Normen  geworden  ist.  Wohl  mag  das  Eindringen  in  ihren  Inhalt 
in  empfänglichen  frommen  Seelen  neue  Gebetserlebnisse  anregen,  wohl 
mag  ihre  Rezitation  im  öffentlichen  Kult  oder  in  der  privaten  Frömmig- 
keit in  andächtiger  Stimmung  erfolgen,  aber  sie  selbst  sind  nicht  der 


Die  primären    Gebetstypen.     Struktur  des   Gebets  4g9 

unmittelbare  Ausdruck  eines  persönlichen  Erlebens.  Die  Wesenszüge 
des  Gebets  werden  nie  an  diesen  sekundären  Zersetzungs-  oder  Erstar- 
rungsformen des  Gebets  sichtbar,  sondern  nur  an  dem  reinen,  naiven 
Beten,  wie  es  in  schlichten,  urwüchsigen  Menschenkindern  und  in  über- 
ragenden schöpferischen  Genien  lebt.  Wir  müssen  uns  also  bei  der 
Wesensbestimmung  des  Gebets  ausschließlich  auf  das  naive  Beten 
konzentrieren ;  erst  wenn  wir  das  Wesen  des  Gebets  fixiert  haben,  können 
wir  die  sekundären  Gebetstypen  ins  Auge  nehmen  und  daraufhin  unter- 
suchen, inwieweit  sich  in  ihnen  das  Wesen  des  Gebets  ausprägt. 

Die  Frage  nach  dem  Wesen  des  Gebets  richtet  sich  zunächst  nach 
dem  wesentlichen  Motiv,  nach  der  gemeinsamen  psychologischen  Wurzel 
desselben.  Was  treibt  die  Menschen  zum  Gebet?  was  suchen  die  Men- 
schen, wenn  sie  beten  ?  Ein  französischer  Psychologe  (Da  Costa  Gui- 
maraens)  definierte:  „Beten  heißt  ein  seelisches  Bedürfnis  befriedigen"  L. 
Die  Definition  ist  seicht,  sie  ist  überdies  geschmacklos  formuliert,  aber 
sie  weist  auf  die  richtige  motivationspsychologische  Fährte.  Das  Gebet 
ist  der  Ausdruck  eines  elementaren  Dranges  nach  höherem,  reicherem, 
gesteigertem  Leben.  Was  immer  der  Gegenstand  des  Gebets  sein  mag, 
welcher  Wertsphäre  er  angehören  mag,  der  eudämonistischen,  der 
ethischen,  der  rein  religiösen  —  immer  ist  es  ein  mächtiges  Verlangen 
nach  Leben,  nach  einem  stärkeren,  reineren,  wertvolleren,  seligeren 
Leben.  „Wenn  ich  dich,  meinen  Gott,  suche,  suche  ich  seliges  Leben." 
Augustins  Worte  (Conf.  X  20)  deckt  die  seelische  Wurzel  alles  Betens 
auf.  Der  hungernde  Pygmäe,  der  um  Speise  fleht,  der  begeisterte 
Mystiker,  der  sich  in  die  Größe  und  Schönheit  des  unendlichen  Gottes 
versenkt,  der  schuldgedrückte  Christ,  der  um  Sündenvergebung  und 
Heilsgewißheit  bittet  —  alle  suchen  das  Leben ;  sie  suchen  Behauptung, 
Erhöhung  und  Bereicherung  ihres  Lebensgefühls ;  selbst  der  buddhistische 
Bettelmönch,  der  sich  meditierend  zur  vollkommenen  Gelassenheit 
emporarbeitet,  sucht  in  der  Verneinung  des  Lebens  ein  höheres  und 
reineres  Leben  zu  erlangen. 

Das  Streben  nach  Befestigung,  Stärkung  und  Steigerung  des  eigenen 
Lebens  ist  das  Motiv  alles  Betens  Aber  die  Aufdeckung  der  tiefsten 
Wurzel  des  Gebets  enthüllt  uns  nicht  das  eigentliche  Wesen  desselben. 
Um  dieses  zu  ergründen,  dürfen  wir  nicht  nach  dem  psychologischen 
Motiv  des  Betens  fragen,  wir  müssen  vielmehr  die  Glaubensmeinungen 
des  naiven  Beters  klären,  seine  innere  Haltung  und  geistige  Zielung 
erfassen,  die  ideellen  Voraussetzungen  begreifen,  die  dem  Gebet  als 
seelischem  Erlebnis  zugrunde  liegen.  Was  meint  der  schlichte,  von 
keiner  Reflexion  angekränkelte  Fromme,  wenn  er  betet?  Er  glaubt 
mit  dem  unmittelbar  gegenwärtigen,  persönlichen  Gott  zu  reden,  mit 
ihm  zu  verkehren,  mit  ihm  in  lebendigem,  innerem  Austausch  zu  stehen. 
Es  sind  näherhin  drei  Momente,  welche  die  innere  Struktur  des  Gebets- 
erlebnisses bilden:  der  Glaube  an  den  lebendigen,  persönlichen  Gott, 
der  Glaube  an  seine  reale,  unmittelbare  Präsenz  und  der  dramatische 
Verkehr,  in  den  der  Mensch  mit  dem  als  gegenwärtig  erlebten  Gott  tritt. 

Jedes  Gebet  ist  eine  Hinwendung  des  Menschen  an  ein  anderes  Wesen, 
dem  er  sich  innerlich  aufschließt  und  mitteilt,  Rede  des  Ich  zu  einem 


490  Das  Wesen  des  Gebets 

Du.  Dieses  Du,  dieser  andere,  mit  dem  der  Fromme  in  Beziehung  tritt, 
dem  er  im  Gebet  gegenübersteht,  ist  kein  Mensch,  sondern  ein  über- 
sinnliches, übermenschliches  Wesen,  von  dem  er  sich  abhängig  fühlt, 
aber  ein  Wesen,  das  deutlich  die  Züge  der  menschlichen  Persönlichkeit 
trägt:  Denken,  Wollen,  Fühlen,  Selbstbewußtsein.  „Das  Gebet  ist 
das  Sichwenden  des  persönlichen  Geistes  an  einen  persönlichen  Geist" 
(Tylor)  2.  Der  Glaube  an  die  Persönlichkeit  Gottes  ist  die  notwendige 
Voraussetzung,  die  Grundbedingung  allen  Betens.  Der  Anthropo- 
morphismus,  wie  er  im  primitiven  Gebet  stets,  im  Beten  der  großen 
religiösen  Persönlichkeiten,  zumal  der  prophetischen,  häufig  hervor- 
tritt, ist  eine  Vergröberung  und  Versinnlichung  dieses  Glaubens  an 
Gottes  Persönlichkeit,  er  gehört  jedoch  nicht,  wie  dieser,  zum  Wesen 
des  Gebets.  Wo  aber  die  lebendige  Vorstellung  von  Gottes  Persönlich- 
keit verblaßt,  wo  —  wie  im  philosophischen  Gebetsideal  oder  in  der 
pantheistischen  Mystik  —  der  persönliche  Gott  in  das  $v  aal  näv 
hinüberspielt,  löst  sich  das  echte  Gebet  auf  und  geht  in  die  rein  kon- 
templative Versenkung  und  Anbetung  über. 

Diesem  persönlichen  Gott  fühlt  sich  der  betende  Mensch  unmittelbar 
nahe.  Der  primitive  Mensch  glaubt,  daß  er  an  einem  sichtbaren  Ort 
weilt;  an  diesen  Ort  eilt  er,  wenn  er  beten  will,  oder  er  wendet  dorthin 
Hände  und  Augen.  Der  religiöse  Genius  erlebt  Gottes  Gegenwart  in 
der  Stille  des  eigenen  Herzens,  im  tiefsten  Seelengrunde.  Immer  aber 
ist  es  das  ehrfürchtige  und  zuversichtliche  Bewußtsein  der  lebendigen 
Gegenwart  Gottes,  das  der  Grundton  des  echten  Gebetserlebnisses  ist. 
Zwar  ist  der  Gott,  zu  dem  der  Beter  ruft,  übersinnlich  —  und  doch 
fühlt  der  Fromme  seine  Nähe  mit  einer  so  unzweifelhaften  Gewißheit, 
als  stünde  ein  lebendiger  Mensch  vor  ihm. 

Der  Glaube  an  die  Persönlichkeit  Gottes  und  die  Gewißheit  seiner 
Gegenwart  sind  die  beiden  Voraussetzungen  des  Gebets.  Das  Gebet 
selbst  ist  aber  kein  bloßer  Glaube  an  die  Realität  eines  persönlichen 
Gottes  — ■  ein  solcher  Glaube  liegt  auch  einer  theistischen  Metaphysik 
zugrunde  —  und  keine  bloße  Erfahrung  seiner  Präsenz  — ■  diese  be- 
gleitet das  ganze  Denken  und  Leben  der  großen  Frommen.  Das  Gebet 
ist  vielmehr  eine  lebendige  Beziehung  des  Menschen  zu  Gott,  ein  Fühlung- 
nehmen, eine  Zuflucht,  eine  unmittelbare  Berührung,  ein  innerer  Kon- 
takt, ein  persönliches  Verhältnis,  ein  wechselseitiger  Austausch,  eine 
Zwiesprache,  ein  Umgang,  ein  Verkehr,  eine  Gemeinschaft,  eine  Ver- 
einigung zwischen  einem  Ich  und  Du  3.  Nur  die  Häufung  jener  Worte 
und  Synonyma,  welche  die  menschliche  Sprache  besitzt,  um  die  innigsten 
sozialen  Beziehungen  von  Mensch  zu  Mensch  zu  verdeutlichen,  vermag 
ein  zutreffendes  Bild  von  der  realistischen  Kraft  und  Lebendigkeit 
jenes  Verhältnisses  zu  geben,  das  der  betende  Mensch  mit  Gott  an- 
knüpft. Weil  das  Gebet  einen  Verkehr,  eine  Zwiesprache  eines  Ich 
mit  einem  Du  darstellt,  darum  ist  es  ein  soziales  Phänomen.  Das 
Verhältnis  des  betenden  Menschen  zu  Gott  spiegelt  stets  ein  irdisches 
Gesellschaftsverhältnis  wider:  das  Knechtschafts-  oder  Kindesver- 
hältnis, das  Freundes-  oder  Brautverhältnis.  Im  Beten  des  Primitiven 
wie  in   der  Frömmigkeit  der  schöpferischen  religiösen   Persönlichkeit 


Verkehr  mit  dem  persönlichen,  als  gegenwärtig  erlebten  Gott  49 1 

wird  das  religiöse  Band  ,ex  analogia  societatis  humanae'  aufgefaßt. 
Gerade  dieses  irdisch-soziale  Moment  verleiht  dem  naiven  Beten  seine 
dramatische  Lebendigkeit.  Wo,  wie  bei  manchen  Mystikern,  das 
religiöse  Verhältnis  nicht  mehr  eine  Analogie  zu  den  menschlich-sozialen 
Beziehungen  aufweist,  geht  das  Gebet  aus  einem  realen  Verkehrs- 
verhältnis in  die  reine  Kontemplation  und  Anbetung  über. 

Wie  der  Anthropomorphismus  der  Gottesvorstellung  nur  eine  ver- 
gröberte Form  des  Glaubens  an  Gottes  Persönlichkeit  ist,  so  ist  auch 
der  Glaube  an  die  reale  Einwirkung  des  Gebets  auf  Gottes  Willen,  an 
das  Gewinnen  und  Umstimmen  Gottes,  wie  er  gerade  im  primitiven 
und  prophetischen  Gebet  in  aller  Schärfe  hervortritt,  nur  eine  ver- 
gröberte Form  des  unmittelbaren,  lebendigen  und  dramatischen  Ver- 
kehrs mit  Gott.  Zum  Wesen  des  Gebets  gehört  er  nicht.  Nicht  in  der 
Gebetserfüllung,  in  der  Einwirkung  des  Menschen  auf  Gott,  liegt  das 
Wunder  des  Gebets,  sondern  in  der  geheimnisvollen  Berührung,  die 
sich  zwischen  dem  endlichen  und  unendlichen  Geist  vollzieht.  Eben 
dadurch,  daß  das  Gebet  ein  wirklicher  Verkehr  des  Menschen  mit  Gott 
ist,  ist  es  keine  rein  psychologische  Größe,  sondern  eine  transzendente, 
metaphysische  Größe,  oder,  wie  Tholuck  es  ausgedrückt  hat,  „keine 
bloße  Kraft  auf  Erden,  sondern  eine  Kraft,  die  in  den  Himmel  hinein- 
reicht" 4.  „In  der  Tiefe  unseres  Innern  findet  sich  nicht  bloß  ein  Echo 
von  unserer  eigenen  Stimme,  von  unserem  eigenen  Wesen,  abprallend 
von  den  dunklen  Tiefen  der  Persönlichkeit,  sondern  eine  Wirklichkeit, 
höher  und  größer  als  unsere  eigene,  die  man  anbeten,  der  man  sich  an- 
vertrauen kann"  (Söderblom)4b. 

Das  Gebet  ist  also  ein  lebendiger  Verkehr  des  Frommen 
mit  dem  persönlich  gedachten  und  a  1  s  g  e  g  e  n  w  ä  r  t  i  g 
erlebten  Gott,  ein  Verkehr,  der  die  Formen  der 
menschlichen  Gesellschaftsbeziehungen  wider- 
spiegelt. Dieses  Wesen  des  Gebets  ist  in  den  sekundären  Gebets- 
typen nur  unvollkommen  realisiert.  Im  rituellen  Gebet  wie  im  Kult- 
hymnus, im  institutionellen  liturgischen  Gebet  wie  im  gesetzlichen 
und  verdienstlichen  Gebet  ist  das  Erlebnis  der  göttlichen  Präsenz  meist 
nur  schwach  und  schattenhaft  vorhanden,  das  Gebet  ist  hier  ein  mehr 
oder  weniger  äußerliches  Tun,  kein  innerer  Herzens  verkehr  mit  Gott. 
Aber  auch  im  philosophischen  Gebetsideal  und  in  bestimmten  Formen 
des  mystischen  Gebets  ist  das  Wesen  des  Gebets  nur  undeutlich  zu 
erkennen.  Um  die  dem  Gebet  verwandten  religiösen  Erlebnisse  und 
Zustände,  die  in  der  philosophischen  und  mystischen  Religiosität  eine 
bedeutende  Rolle  spielen,  vom  Gebet  selbst  phänomenologisch  abzu- 
grenzen, müssen  wir  den  Begriff  der  Anbetung  und  Andacht  erläutern. 

Anbetung  und  Andacht  sind  unentbehrliche  Momente  im  religiösen 
Erleben;  beide  stehen  mit  dem  Gebet  im  engsten  Zusammenhang,  wie 
schon  das  Wort  ,anbeten'  und  die  geläufige  Wortverbindung  ,andäch- 
tiges  Gebet'  beweisen.  Beide  sind  jedoch  viel  weitere  Begriffe  wie  der 
Begriff  , Gebet';  beide  bezeichnen  religiöse  Erlebnisse  und  Zustände, 
deren  Struktur  von  der  des  Gebets  unverkennbar  abweicht;  ja  sie 
umfassen  in  analogem  Sinne  sogar  seelische  Zustände  und  Erlebnisse, 


492  Das  Wesen  des  Gebets 


die  nicht  mehr  der  religiösen,  sondern  der  ,profanen'  Sphäre  angehören 
oder  auf  der  Grenzlinie  beider   Gebiete  sich  befinden. 

Anbetung  ist  die  feierliche  Betrachtung  des  , Heiligen'  als  dee 
höchsten  Wertes,  die  völlige  Hingabe  an  ihn,  das  Aufgehen  in  ihm. 
Die  Anbetung  begegnet  uns  schon  im  religiösen  Leben  des  Primitiven. 
Die  Ehrfurcht,  welche  der  naive  Mensch  einem  , heiligen',  d.  h.  mit  über- 
natürlicher, zauberhafter  Macht  erfüllten  Gegenstand  in  Rede  und  Geste 
erweist,  ist  Anbetung,  wenn  auch  in  roher  und  unvollkommener  Form ; 
das  heilige  Objekt  ist  ihm  ein  idealer  Wert,  und  zwar  der  höchste  Wert 
in  dem  Augenblicke,  in  dem  er  von  Schauer  und  Staunen  hingerissen, 
anbetend  vor  ihm  niedersinkt.  In  reiner  und  vollendeter  Form  treffen 
wir  die  Anbetung  in  dem  persönlichen  Erleben  des  Dichters  und  Mystikers. 
Die  stimmungsgesättigte  Kontemplation  des  summum  bonum,  wie  sie 
uns  auf  den  Höhepunkten  des  mystischen  Betens  begegnet,  die  enthu- 
siastische Versenkung  in  die  Herrlichkeit  der  Natur,  wie  wir  sie  in  der 
literarischen  Hymnenpoesie  antiker  Völker  und  in  der  ästhetischen 
Mystik  moderner  Dichter  treffen,  ist  die  reine  Anbetung,  der  gegenüber 
die  primitive  kultische  Anbetung  nur  eine  Vorform  darstellt.  Das 
Objekt  der  Anbetung  kann  wie  das  des  Gebets  ein  persönlicher  Gott 
sein  —  der  Gott,  den  der  Primitive  a.nbetet,  ist  ein  anthropomorphes 
Wesen,  das  summum  bonum  der  personalistischen  Gottesmystik  trägt 
die  Züge  der  geistigen  Persönlichkeit.  Aber  der  Persönlichkeitscharakter 
ist  dem  Gegenstand  der  Anbetung  keineswegs  wesentlich.  Im  primi- 
tiven Kultwesen  sind  es  nicht  nur  anthropomorphe  Geistwesen,  sondern 
ebenso  leblose  Objekte,  die  als  ,heilig',  d.  h.  als  mana  und  tabu  An- 
betung beanspruchen.  Auch  das  Objekt,  in  das  sich  das  dichterische 
Gemüt  anbetend  versenkt,  ist  nicht  persönlich :  die  lebenspendende 
Sonne,  die  gebärende  und  nährende  Mutter  Natur,  das  im  Schönen 
sich  offenbarende  Alleine  und  Unendliche.  Es  ist  jedoch  ein  Über- 
empirisches, Transzendentes,  das  durch  die  empirische  Naturerscheinung 
lediglich  transparent  ist.  Wie  der  Gott,  den  der  Betende  anruft,  so 
wird  auch  das  Objekt  der  Anbetung  von  dem  frommen  Gemüt  als  fühlbar 
nahe  und  unmittelbar  gegenwärtig  erlebt.  Wie  der  Beter  zu  seinem 
Gott,  so  tritt  der  anbetende  Mensch  mit  dem  Gegenstand  der  Anbetung 
in  die  engste  Beziehung.  Der  primitive  Mensch  berührt  ehrfurchtsvoll 
mit  Hand  und  Mund  ein  heiliges  oder  geweihtes  Objekt ;  der  schauende 
und  staunende  Dichter  hebt  sich  empor  zum  Unermeßlichen,  gibt  sich 
ihm  hin,  verschmilzt  mit  ihm  zur  völligen  Einheit.  Dieser  Höhenflug, 
diese  Hingabe,  dieses  Einheitsgefühl  ist  freilich  kein  dramatischer 
Verkehr,  kein  persönlich-sozialer  Umgang,  wie  er  im  Gebet  stattfindet; 
aber  das  dem  Gebet  wesentliche  Moment  des  Verkehrs  ist  hier  wenig- 
stens angedeutet.  So  lassen  sich  die  drei  phänomenologischen  Momente 
des  Gebets:  die  Realität  des  persönlichen  Gottes,  seine  lebendige 
Gegenwart  und  der  wechselseitige  Verkehr  zwischen  Gott  und  Mensch 
in  den  drei  Momenten  der  religiösen  Anbetung:  dem  überempirischen 
Charakter  des  höchsten  Wertes,  seiner  unmittelbaren  Gegenwart  und 
der  geheimnisvollen   Berührung  mit  ihm,  wiedererkennen. 

Neben  der  religiösen  Anbetimg  steht  die  ,profane'.     Wir  bezeichnen 


Anbetung  und  Andacht  493 

im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  mit  Anbetung  die  Ergriffenheit  von 
einem  höchsten  Wert,  die  völlige  Hinwendung  und  Hingabe  an  einen 
höchsten  Wert,  gleichgültig,  ob  dieser  Wert  ein  religiöser  (,numinöserl) 
oder  profaner,  ein  natürlicher  oder  übernatürlicher,  ein  irdischer  oder 
himmlischer  ist.  Alles,  was  der  Mensch  als  höchsten  Wert  erlebt,  was 
Gegenstand  der  ,Liebe'  ist  —  eine  Person,  eine  Gemeinschaft  von  Per- 
sonen, eine  abstrakte  Idee  —  kann  auch  Gegenstand  der  , Anbetung1 
(im  weiteren  Sinn  des  Wortes)  werden.  Der  liebende  Jüngling  betet 
seine  Geliebte  an,  der  patriotische  Bürger  sein  Vaterland,  der  sich 
solidarisch  fühlende  Arbeiter  seine  Klasse,  der  schaffende  Künstler 
seine  Muse,  der  hochsinnige  Philosoph  die  Idee  des  Wahren  und  Guten. 
Bedeutet  Liebe  den  Glauben  eines  Menschen  an  seinen  höchsten  Wert, 
so  ist  Anbetung  die  höchste  Steigerung  dieses  Glaubens,  der  Gipfel- 
punkt der  Liebe.  Der  Anbetende  beschaut  unverwandt  sein  ideales 
Objekt;  Staunen  und  Entzücken,  Begeisterung  und  Sehnsucht  er- 
füllen ihn;  alle  fremden  Gedanken  und  Wünsche  sind  entschwunden; 
er  gehört  nur  dem  Einen,  verliert  sich  in  ihm,  schmilzt  in  ihm  dahin. 
AnbetungistdiekontemplativeHingabean  einen 
höchsten    Wert. 

Die  Andacht  ist  eine  notwendige  Voraussetzung  und  Unterlage 
des  Gebets  wie  der  Anbetung.  Der  Betende,  der  Zwiesprache  hält  mit 
seinem  Gott,  der  Anbetende,  der  sich  in  sein  höchstes  Ideal  versenkt, 
beide  sind  andächtig,  gesammelt,  konzentriert.  Aber  der  seelische 
Zustand  der  Andacht  kann  ebensogut  jeder  Bezogenheit  auf  Gott  oder 
einen  höchsten  Wert  en traten.  Andacht  ist  zunächst  Konzentration 
des  Geistes  auf  einen  Punkt,  ein  hellwacher  Bewußtseinszustand  von 
verengertem  Bewußtseinsumfang.  Dieselbe  Konzentration  erlebt  aber 
auch  der  Mathematiker,  der  ein  geometrisches  Problem  löst,  oder  der 
Techniker,  der  ein  Modell  konstruiert.  Andacht  ist  im  Unterschied 
zur  bloßen  geistigen  Konzentration,  zur  intensiven  Aufmerksamkeits- 
spannung eine  feierliche,  stille,  erhabene,  weihevolle  Seelenstimmung. 
Andacht  erlebt  der  Philosoph,  wenn  ihm  das  Geheimnis  des  mensch- 
lichen Geistes  in  seiner  Autonomie  und  Freiheit  aufgeht;  Andacht 
erlebt  der  Gelehrte,  wenn  er  uralte  Dokumente  enträtselt  und  längst 
vergessene  Menschen  und  Völker  zum  Leben  zurückruft ;  Andacht  erlebt 
der  Naturfreund,  wenn  er  vor  dem  ragenden  Hochgebirge  steht  oder 
wenn  er  an  einer  heimlichen  Waldblume  sich  ergötzt;  Andacht  erlebt 
der  Künstler,  wenn  ihm  plötzlich  eine  neue  Idee  sich  aufdrängt ;  Andacht 
erlebt  der  Kunstfreund,  wenn  er  eine  Madonna  Rafaels  bewundert  oder 
den  Klängen  einer  Beethovenschen  Symphonie  lauscht;  Andacht  erlebt 
der  sittlich  strebende  Mensch,  wenn  er  sein  Gewissen  durchforscht, 
sich  selbst  richtet,  sich  hohe  ethische  Ziele  und  Aufgaben  stellt;  Andacht 
erlebt  der  Fromme,  wenn  er  an  einer  heiligen  Kulthandlung  teilnimmt 
oder  über  ein  religiöses  Geheimnis  sinnt;  Andacht  erlebt  selbst  der 
Unfromme,  wenn  er  das  stille  Halbdunkel  eines  majestätischen  Domes 
betritt  oder  dem  festlichen  Hochamte  in  einer  katholischen  Kirche  bei- 
wohnt. Die  Andacht  kann  sich  zur  völligen  Versunkenheit  steigern; 
der   Bewußtseinsumfang   verengert    sich,   die    Intensität   des   Erlebens 


494  Das  Wesen  des  Gebets 


wächst;  die  konkreten  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen,  welche 
das  Andachtserlebnis  auslösten,  verschwimmen  in  der  tiefen,  lust- 
gefärbten Stimmung.  Die  Zustände  der  Versunkenheit  treten  ebenso 
im  religiösen  wie  im  ,profanen'  Erleben  auf.  Sie  begegnen  uns  ebenso 
im  mystischen  Frömmigkeitsleben  wie  im  wissenschaftlichen  Forschen 
und  künstlerischen  Schaffen.  In  der  Versunkenheit  erlebt  der  Mystiker 
die  volle  Ruhe  und  Gelassenheit,  den  heiligen  Frieden  und  Gleichmut 
—  lauter  Erlebnisse,  die  sich  von  der  kontemplativen  Anbetung  deutlich 
unterscheiden.  Gleichwohl  ist  in  ihnen  der  Gedanke  an  ein  Lstztes 
und  Höchstes,  wenn  auch  nicht  mit  jener  eindringlichen  Wucht  wie 
bei  der  Anbetung,  irgendwie  lebendig.  Selbst  in  der  buddhistischen 
Versenkung  ist  die  Idee  eines  Letzten  und  Höchsten  (des  Nirvana) 
wirksam. 

Andacht  ist  also  die  stille,  feierliche  Seelen  - 
Stimmung,  die  durch  die  Betrachtung  intellektueller  und  ethischer, 
vor  allem  aber  ästhetischer  und  religiöser  (,numinöser') 
Werte  —  äußerer  Gegenstände  oder  gefühlsbetonter  Phantasie- 
vorstellungen —  erregt  wird.  Während  die  Anbetung  sich  innerlich 
auf  ein  ideales  Objekt  richtet  und  dieses  krampfhaft  festhält,  bietet 
die  gegenständliche  Voraussetzung  des  Andachtserlebnisses  lediglich 
die  Anregung  zu  demselben;  die  Andacht  selbst  hat  die  Tendenz  sich 
von  ihrer  objektiven  Voraussetzung  zu  lösen  und  zur  vollen  Innen- 
konzentration und  Versunkenheit  fortzuschreiten.  Die  Anbetung  trägt 
objektiven,  die  Andacht  subjektiven  Charakter. 

Die  phänomenologische  Untersuchung  der  Anbetung  und  Andacht 
läßt  das  Wesen  des  Gebets  im  schärfsten  Lichte  hervortreten. 
Das  Gebet  ist  kein  bloßes  Erhabenheitsgefühl,  keine  bloße  weihevolle 
Stimmung,  kein  bloßes  Niedersinken  vor  einem  höchsten  Wert;  das 
Gebet  ist  vielmehr  ein  wirklicher  Umgang  des  Menschen  mit  Gott,  ein 
lebendiger  Verkehr  des  endlichen  Geistes  mit  dem  unendlichen.  Eben 
deshalb,  weil  der  moderne  Mensch  keine  rechte  Vorstellung  hat  von 
der  Unmittelbarkeit  und  Innigkeit  des  Gebetsverhältnisses,  in  dem  der 
naive  Fromme  zu  Gott  steht,  verwechselt  er  beständig  die  Anbetung 
und  Andacht,  diese  allgemeineren  religiösen  Phänomene,  die  ihre 
Analogien  auch  außerhalb  der  religiösen  Erlebnissphäre  haben,  mit 
dem  echten  Gebet.  Weil  der  in  den  Vorurteilen  einer  rationalistischen 
Philosophie  befangene  neuzeitliche  Mensch  sich  sträubt  gegen  den 
urwüchsigen  Realismus  des  naiven  Betens,  ist  er  geneigt,  in  vager  An- 
dachtsstimmung und  in  ästhetischer  Kontemplation  das  Wesen  und 
Ideal  alles  Betens  zu  erblicken.  Aber  einem  in  die  Tiefe  dringenden 
psychologischen  Studium  enthüllt  sich  das  Wesen  des  Gebets  mit  unzwei- 
deutiger Klarheit :  Beten  heißt  mit  Gott  reden  und  ver- 
kehren, wie  der  Schutzflehende  mit  dem  Richter,  wie  der  Diener 
mit  dem  Herrn,  wie  das  Kind  mit  dem  Vater,  wie  die  Braut  mit  dem 
Bräutigam.  Die  harte  Irrationalität  der  Religion  offenbart  sich  nirgends 
so  überwältigend  wie  im  Gebet.  Für  das  moderne  von  Kopernikus 
und  Kant  bestimmte  Denken  ist  das  Gebet  ebenso  ein  Stein  des  An- 
stoßes wie  ehedem  für  die  aufgeklärte  griechische  Philosophie.      Aber 


Das  Geheimnis  des   Gebets  495 

ein  Ausgleich,  ein  Kompromiß  zwischen  naiver  Frömmigkeit  und 
rationaler  Weltauffassung  läßt  die  Wesenszüge  des  Gebets  verblassen 
und  die  lebendigste  Äußerung  der  Religion  zu  einer  leblosen  Abstraktion 
verkümmern.  Es  bleibt  nur  die  doppelte  Möglichkeit,  entweder  ent- 
schlossen das  Gebet  „in  seiner  ganzen  Irrationalität  und  mit  allen 
ihren  Härten"  (Menegoz)40  zu  bejahen  oder  konsequent  auf  das  echte 
Gebet  zu  verzichten  und  an  seine  Stelle  die  gebetähnliche  Anbetung 
und  Andacht  zu  setzen.  Jede  Vermengung  der  Begriffe  verstößt  gegen 
die  psychologische  Wahrhaftigkeit. 

Religiöse  Menschen  und  Religionsforscher  bezeugen  übereinstimmend, 
daß  das  Gebet  der  Mittelpunkt  der  Religion,  die  Seele  aller  Frömmigkeit 
ist  (s.  o.  S.  1  ff.).  Den  Schlüssel  zu  diesem  Zeugnis  gibt  die  Wesens- 
bestimmung des  Gebets:  das  Gebet  ist  ein  lebendiger  Verkehr  des 
Menschen  mit  Gott.  Das  Gebet  bringt  den  Menschen  in  unmittelbare 
Berührung  mit  Gott,  in  ein  persönliches  Verhältnis  zu  ihm.  Durch 
das  Gebet  wird  die  Religion  ein  Leben  in  Gott,  eine  Gemeinschaft  mit 
dem  Ewigen.  Ohne  das  Gebet  bleibt  der  Glaube  eine  theoretische 
Überzeugung;  ohne  das  Gebet  ist  der  Kultus  nur  äußeres  Formwerk; 
ohne  das  Gebet  entbehrt  das  sittliche  Tun  der  religiösen  Tiefe;  ohne 
das  Gebet  bleibt  die  Gottesliebe  stumm;  ohne  das  Gebet  bleibt  der 
Mensch  Gott  ferne,  gähnt  ein  Abgrund  zwischen  dem  Endlichen  und 
Unendlichen.  „Gott  ist  im  Himmel  und  du  bist  auf  Erden"  (Koh  5X). 
„Wir  können  nicht  zu  Gott  kommen  denn  allein  durchs  Gebet;  denn 
er  ist  zu  hoch  droben"  (Luther)  5.  Im  Gebet  erhebt  sich  der  Mensch 
zum  Himmel,  der  Himmel  senkt  sich  auf  Erden,  der  Schleier  zwischen 
der  sichtbaren  und  unsichtbaren  Welt  zerreißt,  der  Mensch  tritt  vor 
Gott  um  mit  ihm  zu  reden  über  seiner  Seele  Heil  und  Seligkeit.  „Das 
Gebet,"  sagt  eine  mittelalterliche  Nonne  in  einem  wundervollen  Worte, 
„ziehet  hernieder  den  großen  Gott  in  ein  klein  Herze;  es  treibet  die 
hungrige  Seele  hinauf  zu  dem  vollen  Gotte"  (Mechthild  von  Magde- 
burg). „Im  Gebet,"  sagt  ähnlich  der  größte  lutherische  Mystiker, 
„kommt  zusammen  das  Höchste  und  Niedrigste,  das  demütigste 
Herz  und  der  größte  Gott"   (Johann  Arndt)  8. 

Als  die  geheimnisvolle  Verbindung  des  Menschen  mit  dem  Ewigen 
ist  das  Gebet  ein  unfaßliches  Wunder,  das  Wunder  der  Wunder,  das 
sich  täglich  in  der  Seele  des  Frommen  vollzieht.  In  der  Erkenntnis 
dieses  Wunders  mündet  die  religionswissenschaftliche  Untersuchung 
des  Gebets.  Der  Religionshistoriker  und  Religionspsychologe  kann  nur 
Zeuge  und  Dolmetsch  jenes  tiefen  und  kraftvollen  Lebens  sein,  das  im 
Gebete  sich  enthüllt;  in  sein  Geheimnis  einzudringen  ist  dem  religiösen 
Menschen  vorbehalten.  Aber  die  wissenschaftliche  Forschung  steht  am 
Ende  unter  demselben  überwältigenden  Eindruck  wie  die  lebendige 
Frömmigkeit;  sie  ist  genötigt  einzustimmen  in  das  Bekenntnis  eines 
der  größten  Kirchenväter  (Chrysostomus):  Ovx  £'<mv  ovökv  ei>x^S 
dvvaz&TEQov  odde  loov.  „Nichts  ist  gewaltiger  als  das  Gebet  und  nichts 
ist  ihm  zu  vergleichen"  9. 


„Wenn  ein  Wanderer  zur  Mittagszeit,  da 
die  Sonnenstrahlen  am  heißesten  aufs  Haupt 
brennen,  an  eine  Quelle  kommt,  deren 
Wasser  klar  und  hell  ist,  wird  er  dann 
etwa  sich  a  m  Wasser  niedersetzen  und  über 
seine  Natur  philosophieren  und  nach  forschen, 
woher  und  wie  und  durch  wen  es  gekommen 
ist?  .  .  .  Oder  wird  er  nicht  das  alles  auf 
sich  beruhen  lassen  und  sich  zur  Quelle 
niederbücken,  seine  Lippen  an  sie  setzen, 
seinen  Durst  stillen  und  seine  Zunge  be- 
feuchten, seiner  Müdigkeit  Ruhe  schaffen 
und  dem  danken,  der  ihm  diese  Gnade  ge- 
schenkt hat  ?  So  ahme  denn  auch  du  den 
Dürstenden  nach." 

Gregor  von  Nyssa,  In  suam  ordinationem, 
(Mi  PG  46,  552D). 


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suche und  Vorarbeiten  begründet  von  A.Dieterich  und  R.  Wünsch.  —  RPh  =  Revue 
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Das  Gebel  32 


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Volksabel  glaube  der   Gegenwart.   '.'>.    Bearbeitung  von   K.    EL   Meyer,  Berlin   1900. 

—  Zagoraeua  (=  Zag.)  s.  Zvfie&v.  —  Zahn  Joseph,  Einführung  in  die 
christliche  Mystik.  Paderborn  1908.  —  Zimmern  H.,  Beiträge  zur  Kenntnis 
der  babylonis.  heu  licligiim  (Die  I!  ■-■  luv.,  ungst afein  surpu;  Ritualtafeln  für 
den  \\",.i,  _•  .  B<  schwörer  und  Sauger)  Leipzig  1901.  —  Babylonische  Hymnen 
und  Gebete  (AO  VII  3).  Leipz.  UM).",.  Zoepf  L..  Die  Mystikerin  Margaretha 
Ebn   c  (Beitr.  z.  Kulturgesch.  d.  Mitt.  u.  d.   Elen.)  Leipzig  1914. 

AMi  es  t  a  in  e  n  t  I  ich  e  Zitate  sind  nach  der  übs.  v.  Kautzsch  (2I896) 
wiedergegeben,  Et i g  v e d a -Zitate  nach  der  Ulis.  v.  Hillebrandl  (s.  o.);  Zitate 
aus  Seus  es  8  hriften  nach  der  ri„.  \ .  Lehmann  (s.  o.),  die  Belegstelle  jedoch 
aus  der  Originalausgabe  v.  Bihlmeyer  (s.  ".)■■  Luthers  deutsche  Schriften 
werden  nach  t\^r  Efrlanger  Ausgabe  (Erl.)  bezw.  nach  der  Volksausgabe  von  Buch- 
wj  Id-Kawerau,  seine  lateinischen  Schriften  nach  der  Übersetzung  von  Walch  zitiert. 


Anmerkungen, 


Einleitung. 

Jj  ErL  41,  29;  14,  52.  2)  Vier  Bücher  vom  wahren  Christentum  2,  20  (Berlin 

1840,  262);  vgl.  Paradiesgärtlein,  Vorrede  S.  604.  8)  Predigten  I.  Sammlung 

1813,  22.  4)  Schriften  hsg.  v.   J.  Minor,  Jena  1907,  II  297  (Fragmente  ver- 

mischten Inhalts).  6)  Theologische  Ethik,  Wittenberg  18672,  II 187.  6)  Evan- 

gelium und  Urchristentum,  Beitr.  z.  Weiterentwicklung  der  christl.  Religion 
1905,  95.  7)  Willmann,   Geschichte  des  Idealismus  III  932.  8)  Einleitung 

in  die;  Religionswissenschaft  übs.  v.    Gehrich  II  1901,   110.  9)  Religionsphilo- 

sophie  übs.  v.  A.  Baur  1898,  19.  10)  Varieties  of  Religious  Experience,  1902, 

464   f.,   übs.,  v.   Wobbermin  1907,  468  f.  ll)  Apologie  des  Christentums  I8, 

1899.  534.  12)  Wilder  Honig,   Ges.  Werke  6,   125.  13)  Leben  Jesu  Christi 

lsos,   I  579.  14)   Israelitische  und  jüdische   Geschichte  1897,   177.        1G)   Die 

bleibende  Bedeutung  des  Alten  Testamentes,   SGV  1902,  31.  18)   Geschichte 

des  Volkes  Israel,  Gotha  19092  II  441  Anm.  1.  17)  Die  Lehre  vom  Gebet  im 

Neuen  Testament  1886,  143.  18)  Gebet  in  der  ältesten  Christenheit  1901  S.  VI. 

l9)  Zur  Charakteristik  der  evangelischen  Gebetsliteratur  im  Reformations Jahr- 
hundert 1914,  4.  20)  Theologische  Ethik  II2  187.  ")  Angewandte  Dogmen 
1908,  234.  239.  22)  Gebet  (dogmatisch),  RGG  II  1161.  23)  Das  Gebets- 
problem im  Anschluß  an  S^hleiermachers  Predigten  neu  gestellt  und  untersucht 
1911,  59.  62.  24)  Geschichte  der  gottesdienstlichen  Altertümer  der  Griechen, 
2.  Aufl.  v.  Stark  1858,  114.  iB)  Einleitung  in  die  Religionswissenschaft  II  110. 
26)  Religionsphilosophie  19  f.  27)  Wesen  des  Christentums  Ges.  W.,  Leipzig 
1846,  VII  184.  Ähnliche  Äußerungen  über  die  zentrale  Bedeutung  des  Gebets: 
E.  de  Pressense\  Histoire  des  trois  premiers  siecles  de  l'öglise  apostolique  I  2,  1888,. 
263;  Hoenicke,  Neuere  Forschungen  zum  Vaterunser,  Neue  Kirchl.  Zeitschr. 
1906  (17)  58;  Bourquin,  Essai  sur  la  philosophie  de  la  priere  d'apres  la  pens6e 
moderne  1907,  18  f.  zit.  D.  Vorwerk,  Gebet  und  Gebetserziehung  1913,  1  622; 
R.  Ostermann,  Contribution  ä  l'^tude  expeHrnentale  de  la  priere  1907,  72;  Henri 
Roy,  Das  Gebetsleben  im  Psalter,  MPTh  1911  (7),  143;  W.  Walther,  Die  Gebet  s- 
erhörung,  Wie  ist  sie  zu  denken?  1911,  6;  A.  Harnack,  Wesen  des  Christentums 
1901-,  11  ;  D.  G.  Mornad,  Aus  der  Welt  des  Gebets  übs.  v.  Michelsen  18782,  1.8; 
C.  IL  Spurgeon,  Goldenes  ABC,  1900  Aussprüche  Sp.'s  hsg.  v.  Zyehlinski,  1902, 
46  ff.  28)  Abschiedsworte  an  seine  Freunde  und  an  die  Kirche  (Ausgew.  Schriften 
7)  L862,  L03.  29)  Summa  Theol.  II  2  qu.  83  art.  3c.  30)  Religionsphilosophie 
19  f.  31 )  Kirchenzeitung  für  das  evangelische  Deutschland  1882, 1214.  32)  Ein- 
führung in  die  christliche  Mystik  1908,  137.  33)  Das  christliche  Dogma  1911, 
219.  34)  Evangelische  Katechetik  zit.  Rothe,  Theol.  Ethik  II  187  f.  36)  Zwölf 
Reden  über  die  christliche  Religion  1910,  175.  Derselbe  Gedanke  ist  schon  im 
Talmud  ausgesprochen:  „Aus  den  Gebeten  eines  Menschen  läßt  sich  erkennen, 
üb  er  ein  talmid  chäkäm  (religiös-sittlich  gebildeter  Mensch)  oder  ein  bor  (unge- 
bildeter Mensch)  ist."  Perles,  Boussets  Religion  des  Judentums  kritisch  untet- 
sucht  100.  '■>*)  Religionsphilosophie  100.  37)  Althaus  4.  15.  38)  The 
Evolution  of  religion  1905,  63.  39)  Evangelium  und  Urchristentum  1)5.  f. 
40)  Religionsphilosophie  20.  41)  Les  moines  d'oeeident  I  1860  p.  I.  (Freundl. 
Hinweis  v.  Prälat  Dr.  Leistle- Wallerstein).  42)  Evangelium  und  Urchristen- 
tum 95  f.  *3)  Luthers  Frömmigkeit  1917,  1.  Vgl.  die  treffenden  Ausführungen 
von  K.  Seil,  Die  wissenschaftlichen  Aufgaben  einer  Geschichte  der  christlichen 
Religion,  Preußische  Jahrbücher  1899,  12  ff.  19  f.  eowie  W.  Koepp,  Johann  Arndt. 


Anmerkungen  zu  Seite  6 — 37  505 


Eine  Untersuchung  über  die  Mystik  im  Luthertum  1912  S.  V.  4i)  RPh  54, 

390.  *s)  Anfänge  der  Kultur  übs.  v.  Sprengel  und  Poske  1873,  II  365.  46)  An- 

gewandte Dogmen  1908,  235.  *1)  Christentum  und  Kirche  136.  48)  Unser 

Gottesglaube,  Rg  V,  32.  49)  DE  1916,  119.  5°)  Seelengärtlein  (Sammlung 

mittelalterlicher  Gebete)  1877  und  öfter,  Vorrede.  G1)  Das  Vaterunser  1903,  1. 

*2)  Vgl.  zum  folgenden  besonders  Tröltsch,  Wesen  der  Religion  und  Religions- 
wissenschaft HKG  14,  21  ff.,  Wende,  Einführung  ins  theologische  Studium  269  ff. ; 
Söderblom,  Studiet  af  Religionen  1908;  vgl.  auch  F.  Krüger,  Über  Entwicklungs- 
psychologie 1915,  Oap.  IX  ff.  äa)  Cumont,  Die  orientalischen  Religionen  237. 
°4)  Gerade,  Meine  Erlebnisse  und  Beobachtungen  als  Dorfpastor  1895,  27. 
35)  Studiet  av  religionen  73.  ie)  Aus  der  Welt  des  Gebetes  übs.  v.  Michelsen  1. 
ä7)  Tröltsch  a.  a.  O.  34  ff.  i8)  Evangelium  und  Urchristentum  95.  Vgl.  Henri 
Roy,  MPTh  7  (1911)  143.  69)  C.  Sapper,  Das  nördliche  Mittelamerika  1897, 
267  ff.          80)  Tagebuch   1849  bei  Venator,  Aus  den  Tiefen  der  Reflexion  122. 

81)  Enn.  V  1,  6;  VI  9,  II  (ed.  Müller  II  147.  456).  83)  Weinel,  Paulus  98. 
63)  Sarasin.  Reisen  in  Celebes  I  235;  Paulitschke,  Ethnographie  Nordostafrikas  II 
43.  84)  Acta  B.  Franc.  1,  15  ff.  (ed.  Sabatier  4).  6i)  Acta  B.  Franc.  9,  37  ff. 
p.  35.  8*)  [Marabotto,  ]  Vita  mirabile  e  dottrina  santa  della  B.  Oaterina  da 
Genova  c.  59  p.  162.  67)  Bartolomeo  Coli.  p.  1346  bei  Hase,  Ges.  W.  5,  179: 
.,Saepe  in  tali  extasi  posita  cum  deo  locmendo  orationes  et  postulationes  per- 
fervidas  clara  voce  proferebat.  Quas  voces  audientes  ad  devotas  lacrimas  move- 
bantur.  Quae  orationes  pro  magna  parte  fuerunt  redactae  in  scriptis  de  verbo 
ad  verbum,  aliquae  per  me,  quamplures  per  alios."  68)  Corp.  Reform.  2,  159; 
Walch  16,  2138.  Auch  von  Muhammed  überliefern  seine  Vertrauten  Gebete,  die 
sie  aus  seinem  Munde  hörten.  Diese  Gebete,  welche  Achmed  ibn  Taimija  im 
„Buch  des  frommen  Wortes"  (hsg.  v.  H.  Wiesel  1914)  zusammenstellte,  haben 
zwar  keinen  Anspruch  auf  genaue  Wiedergabe  des  Wortlautes,  beruhen  jedoch 
auf  guter  Tradition  und  vermitteln  ein  richtiges  Bild  von  dem  Gebetsgeist  des 
Propheten.  89)  O.  Cromwell,  B'iefe  und  Reden  übs.  v.  Marg.  Stähelin,  Basel 
1911,  527.  70)  G.  Misch,  Geschichte  der  Autobiographie  I  1907,  4.  71)  Dis- 
cours touching  prayer,  Works  I  451.  72)  Offenbarungen  II  25,  ed.  Morel  52. 
73)  Böhmer,  Analecta  69.  74)  Am  7,  1.  4;  .Ter  1,  11 ;  14,  11  ff.  32.  75)  Jer  10, 
6  ff.;  15,  15  ff.;  20,  7  ff.  7ti)  Job  10,  1  ff.;  13,  20  ff.;  14,  15  ff  f. ;  30,  20  ff. 
77)  Div.  am.  1  (Mi.  P.  G.  120,  507  f.).  78)  Böhmer,  Analekta  62.  79)  Friere 
pour  demander  ä  Dieu,  le  bon  usage  des  maladies,  Oeuvr.  II  29  ff.  80)  Rout- 
ledge  231;  Sapper  267  f.          81)  Lk  22,  31;  2  Kor  12,  8;  Roe  1,  10;  15,  31  usw. 

82)  Deißmann  101;  vgl.  von  der  Goltz  35  ff.;  P.  Christ,  Lehre  vom  Gebet  nach 
dem  Neuen  Testament  66;  Augustinus,  de  mag.  2.  83)  Achmed  ibn  Taimija 
11;  Wiesel  47.  M)  EM.  55,  2.  8S)  Weim.  43,  297.  312;  44,  433.  436;  = 
Walch  I  2  171.  2512;  II  2040.  2015;  Frl.  Opp.  ex.  XX  59  =  Walch  IV  2641; 
EM.  17,  125  f.:  11.  158.  86)  Kegel,  Ein  neues  christlich  und  nützlieh  Gebet- 
buch,  Hamburg  1592.  87)  Walch  Vll  1043.  88)  Vgl.  Althaus  4;  Klapper, 
Das  deutsche  Privatgebel  im  ausgedehnten  Mittelalter,  Korr.  Bl.  d.  Ges.  Ver. 
d.  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsfreunde  62  (1914)  219.  (Freundl.  Hinweis 
eon  F.  Hat  Dr.  G.  (hupp.)  89)  Althaus  72,  100,  106.  Manche  Gebetbuch- 
autoren verschweigen  es  auch  nicht,  daß  die.  Gebete  nicht  ihre  eigene  originale 
Schöpfung  sind.  „Ich  (iahe  diese  Gebetlein  fast  zum  meisten  Teil  aus  den  Alten 
genommen,  und,  wiewohl  ich  nicht  ihre  Worte  gesetzt,  habe  ich  doch  ihren  Ge- 
danken gefolgel  und  diese  Gebetlein  also  angestellt."  Musculus,  Vorrede  zu 
seinem  „Betbüchlein"  1559  bei  Althaus  82.  90)  Althaus  2.  91)  Deiß- 
mann 96.  'J-)  Deißmann  96.  101.  93)  Mi,  PG  79,  1168  ff.  91)  Weim.  13. 
83;  Walch  1  1905;  EM.  12.  155.  165;  Frl.  21,  10i>.  95)  Leben  c.  11;  übs.  v. 
Hahn-Hahn  192;  vgl.  c.  16  S.  111.  ")  Vgl.  Vorwerk,  Gebet  und  Gebets- 
erziehung 7.  ;)  Vgl.  Oscar  Ollondorf,  Andacht  in  der  Maleroi.  Beitrage  zur 
Psychologie  der  grossen  Meister,  Leipzig  1912. 


506  Anmerkungen  zu    Seile  38 — 51 


Die  Typen  des  Gebets. 

A.  Das  naive  Beten  des  primitiven  Menschen. 

I.   Vorbemerkungen. 
')  Vgl.  Wundt,  Elemente  der  Völkerpsychologie  21.  2)  Vgl.  Wundt  a.  a.  O. 

21.  3)  Gräbner,  Methode  der  Ethnologie  1911;  W.   Schmidt,  Hestermann  und 

Stratmann,  Völker  und  Kulturen  (Der  Mensch  aller  Zeiten  III)  31  ff.  Vgl.  F. 
Krüger,   Zur  Entwicklungspsychologie   1915,   155  ff.  4)   Schmidt- Hestermann 

a.   a.   O.   44  f.  5)  Durkheim,   Definition  des  phenomenes  religieux   (L'Annee 

Sociologique  I);  Les  formes  elementaires  de  la  vie  religieuse  1912.  8)  Schmidt- 

Hestermann  a.  a.  O.  38  f.  ')  Sapper  267  ff.;  Meinhof,  S.  A.  17;  Söderblom,  W. 
G.  2  ff. 

II.   Anlaß  und  Motiv  zum  Gebet. 
M  Schurtz  Urgeschichte  66.  2)  ,, Damit  sein  (des  Menschen)  Herz  die  Er- 

leichterung des  Betens  und  den  Trost  des  Hoffens  habe,  muß  sein  Intellekt  ihm 
einen  Gott  schaffen;  nicht  aber  umgekehrt,  weil  sein  Intellekt  auf  einen  Gott 
logisch  geschlossen  hat,  betet  er.  Laßt  ihn  ohne  Not,  Wünsche  und  Bedürfnisse 
sein,  etwa  bloß  ein  intellektuelles,  willenloses  Wesen;  so  braucht  er  keinen  Gott 
und  macht  auch  keinen.  Das  Herz,  d.  i.  der  Wille,  hat  in  seiner  schweren  Be- 
drängnis das  Bedürfnis,  allmächtigen,  folglich  übernatürlichen  Beistand  anzu- 
rufen; weil  also  gebetet  werden  soll,  wird  ein  Gott  hypostasiert ;  nicht  umgekehrt." 
Schopenhauer,  Parerga  und  Paralipomena,  Ausg.  Frauenstädt  I  127.  3)  Stat. 

Theb.  III  661.  4)  E.  v.  Hartmann,  Das  religiöse  Bewußtsein  30  f.  6)  Siehe 

W.  Schmidt,  G.  I  1912,  Söderblom,  W.  G.  1915.  6)  Roeder  70  ff.  7)  Hes. 

Op.  338;  Plat.   Symp.  220  D;  Leg.  887  E;  L.   Schmidt  II  31.  8)  Appel  60. 

9)  Warneck,  AMZ  1910,  316.  10)  Gutmann  177.  u)  Fassmann,  A  IV  579; 

Raum  ARW  XIV  194.  197;  vgl.  Tylor  II  366;  Hahn  124;  Paulitschke  II  40. 
12)  Kingsley,  PSPR  XIV  233;  Hahn  41;  Tylor  II  300;  FR  III  116.  13)  G.  E. 

Burkhardt,  Die  Völkerstämme  in  Südafrika  (Kl.  Missionsbibliothek  II  2)  1860, 
8  f.  (freundl.  Hinweis  von  Dr.  P.  L.  Kilger  O.  S.  B.,  St,  Ottilien).  Gebete  bei 
der  Saat:  Spieth,  R.  31;  Le  Roy  300;  Sapper  292;  bei  der  Ernte:  Junod  II  368; 
Tylor  I  366;  Spieth,  E.  440;  Sapper  293;  beim  Jahresfest:  Becker,  A  IV  901; 
Schneider  91.  14)   Routledge  231.  16)   Schurtz  186.  16)   Schurtz   186  f. 

17)  Irle  73.  18)  W.  Schmidt,  G.  I  165;  P.  232.  19)  Batchelor  203.  20)  Od. 

IX  232;  IL  IX  219;  Xenoph.  Symp.  II  1 ;  L.   Schmidt  II  31.  21)  Appel  61. 

22)  Hofmayer,  A  VI  122.  23)  Grube  41.  24)  In  den  homerischen  Gesängen 

„finden  sich  von  einem  Lob-  oder  Dankgebet  nur  schwache  Spuren".  Nägels- 
bach, H.  Th.  186.  25)  Vgl.  R.  Otto,  Das  Heilige  1917.  2G)  Vgl.  Söderblom, 
W.  G.  33  ff.  27)  Schneider  77.  28)  Irle  77.  29)  Hahn  123.  30)  Müller, 
AI  513.  3l)  Florida  IL  32)  Carmen  f  ratrum  ar  valium ;  Appel  27.  33)  Mül- 
ler, A.  U.  384.          34)  Plutarch,    Qu.    Gr.  36. 

III.  Form  des  Gebets. 
x)    Warneck    56.  2)    Schurtz    583.  3)    Meiners    II    226.  4)    Dieterich, 

Mithrasliturgie  40.  5)  Spieth,  R.  44.  6)  IL  VI  301 ;  vgl.  Od.  III  450;  Herod. 

IV  189;  Dieterich  4L  7)  Pagan  Races  of  the  Malay  Peninsula  II  498.  8) 

Schmidt,  P.   193.  9)   Schmidt,  P.   245.         10)  „Es  gibt  (bei  den  Bantu  und 

Negrillo)  neben  dem  formelhaften  Gebet  solche  Gebete,  die  entsprechend  der 
augenblicklichen  Begeisterung,  den  momentanen  Umständen  und  der  erbetenen 
Gnade  hervorquellen."    Le  Roy  298.  n)  S  :hurtz  520.  12)  Koch,  Animismus 

der  südamerikanischen  Indianer  112.  13)  Söderblom,  ERE  III  338;  W.  G.  150. 

14)   Gebhardt,  Bäuerliche   Glaubens-  und  Sittenlehre  91   f.  15)  Tylor  II  371. 

16)  Vgl.  das  Gelübde  der  Ruanda  Arnoux,  A  VIII  117  (s.  o.  S.  66).  17)  Cmtiss 

177.  18)  Sapper,  ARW  1904.  453  f.  19)  Nassau  35.  20)  Gilhodes,  A  IV 

707.  21)  Kropf  186  f.  22)  Skeat  II  204.  23)  Grimm  I  160.  24)  Junod 

II  400.  28)LeRoy316.  28)  Marc.  Aurel  V  7.  27)  Rehse  135.  28)Pollux 

IX  123;  Athen.  619  B;  Farneil  200.  29)  Hippolyt,  Philosoph,  ed.  Dunck  146; 


Anmerkungen  zu  Seite  51 — 60  507 

Procl.     in    Tim.    293    C;    Farneil    194.  30)   FR    I    185.  31)    Athen. 

618  E;  Farnell  200.  32)  Freytag  bei  E.   Schmidt,  Anfänge  der  Literatur  12. 

83)  Schneider  57.  34)  Callaway  182.  36)  Serv.  ad  Aen.  VIII  3;  Appel  13. 

Dieselbe  Kürze  zeigen  spontane  Gebete  altchristlicher  Frommer  an  die  Märtyrer, 
die  an  den  Katakombenwänden  oder  literarisch  überliefert  sind.  Lucius  285. 
3S)  Langloh-Parker  79.  37)  Müller,  A  I  512.  38)  Callaway  124  f.  39)  Rout- 

ledge  231;  Meinhof.  A.  R.  141.  40)  Brinton,  M.  297.  41)  Preuß  134.    Weitere 

Beispiele  weit  ausschweif  iger  Gebete  Preuß  129  f.;  Sapper  289  ff.;  ARW  1904, 
469  f. ;  Tvlor  II  366.  42)  Hamberger,  A  IV  307.  «)  Tanner  28.  ")  Junod 

II  383.  4ä)   Schurtz  483.  47)  Warneck,  ARW  XVIII  377. 

IV.  Die  Person  des  Beters. 
*)  Balmer  in  Neuhauß  III  493 ;  Spieth,  R.  44.  Vgl.  die  6f.oi.vytj  der  zu  Athene  be- 
tenden Frauen  II.  VI  301.  2)  Tylor  II  366 ;  Batchelor  203  ;Warneck  6.  101  ;  Preuß 
129 ;  Hurel,  A.  VI  91 ;  Doufays,  A IV  860 ;  Hofmayr,  A  VI  123.  3)  Hamberger,  A IV 
307.  4)  W.  Schmidt,  P.  229 ;  Tylor  II 366 ;  Parkinson  379 ;  Routledge  231 ;  Mansfeld 
180;  Merensky  114;  Le  Roy  310;  Nassau  98;  Kingsley,  PSPR  XII  334;  Irle  84; 
Callaway  174;  Kropf  191;  Junod  I  368;  II  361.  369.  5)  Vedder,  ZK.  I  6; 
Brinton.  M.  297;  Preuß  129.  6)  Seligmann  128.  7)  Gilhodes,  A  IV  717; 
vgl.  708.  8)  Spieth,  E.  432;  R.  31.  50.  79.  86.  90;  vgl.  Becker,  A  IV  901. 
9)  Callaway  124  f.  10)  Die  sibirischen  Schamanen  verbieten  den  Frauen  die 
Gottheiten  anzubeten.  Die  Weiber  der  japanischen  Ainu  dürfen  nicht  beten. 
In  China  ist  der  Frau  nicht  gestattet,  sich  in  den  Tempel  zu  begeben  um  zu  beten. 
Westermarck  I  544.          1X)  Paulitschke  II  45.          12)  Farnell,  ARW  VII  70  ff. 

13)  Merensky  114;  vgl.  Callaway  174 ;  Doufays,  A  IV  860 ;  Tylor  II  366.  14)  Seneca 
De  vita  beata  26,  7;  weiteres  Appel  187  f.  15)  Kropf  191.  16)  Koch,  Animis- 
mus  111.          17)  Schurtz  477.          18)  Meinhof,   S.   A.  21.          19)  Callaway  124  f. 

20)  Callaway  174.  21)  Paulitschke  II  45.  22)  Wünsch,  Ein  Dankopfer  an 
Asklepios,  ARW  VII  111  f.  23)  Routledge  236  f.;  vgl.  227.  24)  Mansfeld 
210;  vgl.  Le  Roy  299.  25)  1  Chr  16,  36;  Neh  8.  16;  vgl.  G.  Dalman,  Worte 
Jesu  I  185.  20)  Brinton,  M.  297.  27)  Schurtz  520.  28)  W.  Schmidt, 
P.  229.  233;  Seligmann  133;  Hahn  58;  FR  III  107;  W.  Schmidt,  A  II  1055. 
*9)  Tylor  II  366.  30)  Dorsey,  XI.  ARBE  390.  31)  Junod  II  369;  Mansfeld 
210.  32)  Junod  II  365;  Mansfeld  243.  33)  Spieth,  R.  10.  45.  47.  97;  E.  471. 
Es  gibt  bei  den  Ewe  ähnlich  wie  bei  den  Assyrern  auch  solche  Gebete,  die  ab- 
wechslungsweise vom  Priester  und  vom  Bittsteller  gesprochen  werden.  Spieth, 
E.  437  f.  34)  Oldenberg.  V.  369;  Roussel.  Museon  VIII  564.  35)  W.  Schmidt, 
A  II  1055.  38)  Routledge  235.  37)  Vgl.  E.  Schmidt,  Anfänger  der  Literatur 
(HKG)  12. 

V.  Inhalt  des  Gebets. 
1.  Anrufung.     2.   Klage. 
l)  Psychologie  des  Bauerntums  1005.  73  f.  a)  Stade,  Biblische  Theologie  I 

150.  3)  Stade  1 150;  Döller  21.  »)  Sittl  194.  B)  K.  Ziegler,  De  precationum 

apud    (Jraei-os   formis   quaest i eines  selectae,  Diss.   1902.  62   ff.  6)   Spieth,  458; 

Paulitschke  II  40;  Mansfeld  210;  Warneck  64;  KB  III  2,  28.  38;  King  IV  27. 
7)  Preuß  121  f.  8)  Sapper  289.     Ober  die  von  den  Griechen  und  Römern  bei 

der  Anrufung  gebrauchter  Epitheta  s.  Ausfeld  521  ff.;  Appel  97  ff.  9)  Hecke- 
welder  354;  Le  Roy  301;  Paulitschke  11  44;  Brinton,  R.  107;  G.  E.  Burkhardt, 
Die  Völkerstämme  Südafrikas  9;  Batchelor  100.  10)  Warneck,  AMZ  1910, 
321.  n)  Spieth  E.  440;  H.  31.  45.  12)  Gen  31,  12.  53;  32,  10;  48,   15;  1   Sm 

1,  17;  lt.  11  usw.  13)  FR  III  107;  Tylor  II  392;  Brinton.  M.  297;  Spieth, 
R.  45:  Waitz  Anthropolo-ir  I  1  7s ;  S  1  meider  153;  Mansfeld  210:  .Fastiow  l  395. 
406.  537:  Batchelor  100;  Schurtz  584;  Farnell,  Evolution  177;  Aesch.  Sepl   L53. 

14)  Tvl<»r  II  366,  Jastrow  1  106.  :.:'.7.  549;  E.  Schmidt,  Anfänge  dw  Liter.  12: 
Bamberger,  \  1 V  307;  Batchelor  87;  Grimm  l  160;  Aesch.  Suj.pl.  151.  159; 
Marc.  Auivl.  :,,  7;  AI  hm.  (11 0  li.  1S)  Gilhodes,  A  IV  707.  l6)  Hahn  62. 
17)  Callaway  34.         18)  Junod  II   IM.         19)  FR  III  107.         ao)  Schneider  195. 

21 )  Vedder,  ZK    I  6.  »)  Kingslev,  PSPR  XIV  334. 


508  Anmerkungen  ^u   Seite  60     ö8 


3.  Bitte. 
x)  Es  bestehen  zahlreiche  urverwandte  indogermanische  Sprachreihen  für  den 
Begriff  des  Bittens,  ohne  daß  es  möglich  wäre,  bei  ihnen  zu  sagen,  wo  der  weltliche 
Sinn  aufhört  und  der  geistliche  beginnt.     Schrader,  Keallexikon.  605  f.      Vgl.  M. 
Müller,  Un  ancient  Prayer  1»  ff.  -)  Söderblom,  W.  G.  147  f.;  vgl.  W.  Schmidt, 

Ot.    1    1912    (zahlreiche  Beispiele).  3)    Söderblom   W.    G.    148.  4)   Tylor    II 

256.  5)  Codrington  146.  •)  Stevenson,  XI  ARBE  131.  7)  Batchelör  «7  f. 

")  W.    Schmidt,   G.   I  232.  9)  Brinton,  R.   107.  10)  A.   Erdland,  Marsnall- 

insulaner    1914,    320.  n)    Faßmann.    A    IV   579.  12)    Paulitschke   II    44. 

13)  Jastrow  1  396  f.;  403  ff.;  vgl.  II  9:;.  14)  RV  VII  77;  IV  12,  6.     Die  zentrale 

Stellung  der  Bitte  um  langes  Leben  im  primitiven  Beten  zeigt  sich  in  einem  der 
drei  altcbinesischen  Ideogramme  für  Gebet  (tao).  das  sich  aus  den  Zeichen  für 
..Gottheit"  und  „Langes  Leben"  zusammensetzt.  Grube  40 ;  Plath  II 2.  15)  Raum, 
AKW   XIV    176.  18)    Jastrow    1   501;    vgl.    52«.  ")    Spieth,    E.    458.    450. 

18)  Paulitschke  II  45;  Kropf  141;    Callaway  140;    Schneider  91.  19)  Müller, 

A.  IT.  384.  20)  Jastrow  I  406  f.  ")  Spieth,  R.  50.  246.  22)  Junod  I  368. 

2S)  Brinton.    R.    107.  -4)    Spieth,    E.    442.  2i)  Brinton.   M.    297.  20)    Le 

Roy  301.  27)  Spieth.  lt.  52  f.  28)  Dorsey,  XI.  ARBE  377.  ")  Sarasin  I 

235.  30)   Sapper   291.  31)   Schneider   153.  »»)  Tylor   II  369.  33)  Bat- 

chelör 116.  34)  Meinhof,  S.  A.  28.  36)  Brun,  A  II  725.  38)  Orpen,  Mytho- 

logy  of  the  Maluti  Buslinien  (The  Cape  Monthly  Magazine  1874  (IX  New  Series)  2. 
17 )  Söderblom,  W.  G.  139.  38)  Hahn  52  f.  39)  Spieth,  R.  52  f.  40)  Hahn 

41.   69.  4l)  Schürte  584  42)  Faßmann,  A  IV  579.  43)  Codrington  146. 

44)  Batchelör  116.  *5)  Westermarck  II  487.  48)  Spieth.  R.  44.  47)  Sapper 

292.  48)  Tylor  II  369.  49)  Le  Roy  300.  50)  Zahn  in  Neuhauß  III  332. 

äl)  Tylor  II  366.  5a)  Athen.  618  E.  i3)  Tylor  II  369.  54)  Callaway  84. 

-5)  Rehse  135.  iB)  Spieth,  E.   432.  i7)  Merensky  115.  i8)  Le  Roy  301. 

69)  Schneider  57;  Faßmann.  A  IV  579;  Routledge  236;  G.  Freytag  bei  E.  Schmidt 
12;   Callaway   182;  Paulitschke  II  44.  6Ü)    Grimm  II   1184.  61)  Kropf  19. 

B2)  Routledge  227.  63)  Schneider  91.  84)  Schultz  584.  65)  RV  I  12,  11. 

6S)  Meinhof.  S.  A.  21.  67)  Paulitschke  II  45.  88)  Jastrow  I  403  ff.  89)  War- 

neck 35.  70)  Spieth.  R.  85;  1  Sm  1,  10  ff.  n)  Spieth,  R.  45.  72)  Spieth, 

R.  90.  7J)  Schultz  584.  74)  Spieth  R.  246.  75)  Waitz  II  169;  Gilhodes. 

A  IV  708.  70)  Spieth,  R.  52  f.  77)  Balmer  in  Neuhauß  III  514.  78)  Tylor 

II  369.  79)  Junod  II 403.  80)  Merensky  115.  81)  Spieth.  R.  44.  82)  Pau- 
litschke  II  40.  83)  Tylor  II  366.  84)  Dorsey,  XI.  ARBE  376;  Brinton, 
K.  107.  8S)  Brinton,  M.  297.  88)  Heckewelder  354.  87)  Warneck  7. 
88)  Warneck  49.  89)  Cyl.  A  IV  13;  Thureau-Dangin  10  f.  90)  Howitt  394. 
91)  Spieth.  R.  47.          92)  Junod  I  53.          93)  Routledge  236;  vgl.  227.  94)  FR 

III  116.  Weitere  Beispiele  Spieth,  R.  31;  Paulitschke  II  45;  Le  Roy  299  f  ; 
Grimm  II  1184.  95)  Tvlor  II  369.  98)  Schneider  153.  97)  Spieth,  R. 
45.  98)  RV  I  12«),  10.  99)  Le  Rov  298.  10°)  Schurtz  582.  l01)  Spieth, 
E.  457.  "■)  Arnoux,  A  VIII  117.*  103)  Fries,  AMZ  1908,  77.  114)  In 
Zeiten  des  religiösen  wie  des  moralischen  Verfalls  werden  ausgesprochen  anti- 
ethische Wünsche  und  Pläne  zum  Gegenstand  des  Gebets.  Aristänetos  (Ep.  II  15) 
berichtet  von  dem  Gebet  eines  Weibes  um  Gelegenheit  und  langen  Genuß  eines 
ehebrecherischen  Umganges.  Horaz  parodiert  treffend  diese  unsittliche  Gebets- 
weise Ep.  I  16,  59  ff. :  ,.Pulchra  Laverna,//  Da  mihi  fallere,  da  iustum  sanctumque 
videri,  //  Noctem  peccatis  et  fraudibus  obice  nubem."  Eine  lesenswerte  Muster- 
karte unsittlicher  Gebetswünsche  stellt  Da  Costa  Guimeraens  RPh  1904,  389 
zusammen.  loi)  Warneck,  ARW  XVIII  378.  108)  Spieth,  E.  440  f.  107) 
Meinhof,  S.  A.  21.  108)  Junod  II  384.  109)  Brun,  A  II  725,  uo)  Brinton, 
R.  107.  Ul)  Waitz  I  169.  112)  Grimm  II  1184.  113)  Brinton,  R.  107. 
114)  Paulitschke  II  44.  143.  115)  Schneider  9L  lle)  Mansfeld  210.  U7)  Bat- 
chelör ]00.  116.  118)  Callaway  223  f.  119)  Kropf  401;  vgl.  Callaway  182. 
i2°)  Spieth,  E.  460.  121)  Warneck,  ARW  XVIII  379.  122)  Dorsey,  XI. 
ARBE  38U.  123)  Tylor  II  369.  124)  Spieth,  E.  462.  126)  Paulitschke 
II  44.  128)  Brinton,  M.  298.  127)  Plath  II  4;  Grube  4L  Der  chinessiche 
Ausdruck  k'i  für  Gebet  bedeutet  nach  dem  ältesten  chinesischen  Wörterbuche 
„um  Glück  bitten".     Grube  41  f.;  Plath  II  4.          128)  Jastrow  I  400—419;  508; 


Anmerkungen  zu   Seite  (58—77  509 


KB   III  2,  28  ff.  129)   Stelleuhin  weise-  bei   Greiff  107.  130)  Sämaveda  I  2 

(Tylor    II    371).  131)    Oldenberg,    V.    435:    E.    Hardy,    Vediseh-Brahmanische 

Periode  167.         132)  Nägelsbach,  H.  Th.  186  f.         ,33)  Farneil  20.         134)  Lucius 
286.  136)  Vgl.    Gebhardt  92. 

■1.   Fürbitte. 
l)  Vedder,  ZK  I  6.  2)  Hamberger,  A  IV  307.  3)  Bachelor  221.  4)  Du- 

fays,  A  IV  860.  5)  Hofinayr,   A  IV  123;  vgl.    101.  6)  Heekewelder  354. 

Vgl.  Spieth,  R,  79.  7)  W.  Schmidt,  G.  I  165.     Vgl.  Paulitschke  II  41.  8) 

Spieth.  R.  52  f.  9)  Gutmann.  Dichten  und  Denken  der  Dschagganeger  177. 

10)  Spieth.  R.  17.  90.  ")  Routledge  231.  12)  W.   Schmidt  A  II  1055;  Gr. 

118.  13)  Junod  II  384.  14)  Schneider  125.  15)  Plath  II  3.  16)  Bat- 

chelor380.  17)  Zahn  bei  Neuhauß  III  332.  18)  Schneider  152.  19)  Sarasin 

II  130.  20)   Langloh-Parker   89.  21)    Koch.    Animismus    112;    vgl.    Westei- 
marck  I  45 :  Oldendorp  I  326. 

5.   Opfer,  Opferspruch  und  Gelübde. 
x)  Dt  16,  16;  Ex  23;  15;  34.  20.  2)  Eur.  Med.  964;  Hes.  bei  Plato  Republ. 

III  390  E.  Vgl.  noch  Gregor.  Nyss.  or.  2,  Mi  PG  44,  1140.  3)  Ovid.  A.  A.  III 
653  f.  4)  Spieth.  R.  79.  6)  ,,Die  einfachste  und  unmittelbarste  Weise, 
wie  sich  der  Mensch  in  Beziehung  zur  Gottheit  setzt,  ist  das  Gebet,  und  in  diesem 
haben  wir  daher  auch  die  ursprüngliche  Form  und  den  Kern  der  griechischen 
Gottesverehrung  zu  erblicken,  wofür  alle  anderen  Gebräuche  zunächst  nur  als 
Träger  und  Vermittler  dienen."  Hermaun- Stark,  Gottesdienstliche  Altertümer 
der  Griechen  114:  vgl.  134.  «)  J.  Grimm  I  28;  Kleine  Schriften  II  461 ;  Köberle, 
Gebetserhörungim  A.  T.  253.  ')  Religionsphilosophie  100.  s)  Eutyphr.  14  B. 
9)  Schrader  605.  10)  Gesenius,  Handwörterbuch  574;  Greiff  16  f.;  Döller  60. 
»)  Döller  60.  12)  Langloh-Parker  8.  13)  Warneck,  ARW  XVIII.  379.  l4)  ARW 
XVIII  382.  15)  Beispiele  Westermarck  II 4  85  f.  16)  Eutyphr.  14  C ;  vgl.  Polit. 
290  C.  17)  Tylor  II 376.  *  8)  Vgl.  zum  folgenden  Meiners,  Allgemeine  kritische  Ge- 
schichte der  Religionen  II  1  ff. ;  Chantepie  de  la  Saussaye,  Lehrbuch  der  Religions- 
geschichte l1, 101  f. ;  A.  Reville,  La  religion  des  peuples  non  civilises  1883,  II  250  f. ; 
E.  v.  Hartmann,  Das  religiöse  Bewußtsein  im  Stufengang  der  Entwicklung  34  ff.; 
Tylor,  Anfänge  derKultur  II 376  ff. ;  Westermarck,  Moralbegriffell  485  ff. ;  Schrader, 
Reallexikon  600  ff.;  Erman,  Ägyptische  Religion  48  ff.;  Foucart,  L'histoire  des 
religions  141  ff.;  Robertson  Smith,  Religion  der  Semiten  166  ff.;  Curtiss,  Ur- 
semitische  Religion  294  ff. ;  Oldenberg,  Religion  des  Veda  352  ff. ;  Thureau-Dangin. 
Sumerische  und  akkadische  Königsinschriften  81  ff.;  Plath,  Religion  und  Kultus 
der  alten  Chinesen  II  1  ff. ;  Müller,  Geschichte  der  amerikanischen  Urreligion 
677  ff.;  Seligmann,  The  Veddas  of  Ceylon  127  f.;  Warneck.  Religion  der  Batak  34; 
Wünsch,  Ein  Dankopfer  an  Asklep'ios  ARW  VII  113  f.  1B)  Kropf  IST. 
20)  Kropf  188.  21)  Gn  8,  21;  Lv  1,  9;  1  Sm  26,  19.  -■)  Gilhodes,  A  IV  708: 
vgl.  Warneck  6;  Smith  108.  ")  Nägelsbach,  N.  Th.  195.  »*)  Der  Kekchi- 
indianer  betet  bei  der  Opferdarbi 'ingung:  „Es  ist  nicht  wegen  meiner  Kleinheit, 
meiner  Armut  (der  Opfergabe),  was  du  auch  tuest;  so  zeigt  es  aber  vielleicht 
meine  Kleinheit,  meine  Armut,  was  ich  schaffe."  Sapper  292.  Ein  Baronga- 
priester  s.i^te:  ,.Wenn  jemand  auch  nur  ein  Hühnchen  opfert,  ist  der  Gott  völlig 
zufrieden,  denn  für  ihn  hat  es  <U-^  gleichen  Wert  wie  ein  Ochse."  Junod  11  :>7S. 
«)  Bahner  in  Neuhauß  III  51  1.  28)  Warneck  6.  75.  ")  Junod  11  378. 
-8)  Lucius  288  ff.  ")  Gebhardt  9:;  17.:  Schulte:  MKP  IV  187.  30)  Vgl; 
Seligmann  130.  3l)  Smith  L97;  vgl.  Wünsch.  ARW  Vll  113  f.  32)  Smith 
litT.  ■■)  W.  Bshmidt,  A  II  L055;  Oallaway  121  f.:  Schneider  153;  Paßmann, 
A  IV  579;  Hahn.  52  f.  34)  Midier.  A.  ü.  384.  35)  Warneck,  A  KW  XVI 11  37t;. 
»•)  Spieth,  B.  .".ii.  37)  Oallaway  L40.  38)  Sarasin  I  235.  :!n)  Brinton,  B. 
107.  40)  Brinton,  M.  297.  *«1)  Hofmaver.  A  VI  12:;.  •■)  Sapper  292. 
"3)  Tylor  II  2.">'>.  ")  Brun,  A  U  7^."..  l8)  Müller,  A.  I  .  384,  48)  Erdland, 
Marschallinsulaner  320.  ,:)  Kropf  HM.  *8)  Warneck,  ABW  XVII  l  376. 
<9)  Tylor  11  366  50)  Spieth,  E  1  In  ")  Tylor  II  279.  6=)  Bahner  in 
Neuhauß  III  511;  vgl.  Waitz  l!l  181.  63)  Parkin^.n  :;7t'.  61)  Batöhelor 
Kio.         ■<•'•)  Gilhodes,    \   1\'  7(is.         ")  Warreck,  Ai:w   \'\'Ul  379.         ".)  Vgl. 


510  Anmerkungen  zu   Seite  77 — 91 

Tiele,  R.  A.  II  323.  68)   Ys.  68,  9;  Tiele,  R.  A.  II  323.  6»)  Dufays,  A  IV 

860.  *°)  Junod  II  368  f.  383.  81)  Callaway  175;  Kropf  189.  82)  Warneck 

63.  °3)  Routledge  231.  64)  Junod  II  359.  95)  Preuß  I  135;  Stevenson, 

11.  ARBE  181.  ")  Spieth,   E.   460.  87)  Maitr.    S.   I   10,  2;  L.    Schröder, 

Indiens  Literatur  und  Kultur  1887.  161  (Preundl.  Hinweis  v.  Un.-Piof.  Dr.  Schnit- 
zer-München). 88)  Sapper  289  ff.  69)  Electr.  1379.  «)  Arnoux,  A  VIII 
117;  Spieth,  E.  50;  Warneck  75.  71)  Stade  I  154.  72)  Taitt.-S.  I  8,  41; 
Sat.  Brahm.  II  5,  3,  19.  E.  Hardy,  Vedisch-bramhanische  Religion  136. 
73)  Spieth.  R.  246.  74)  Spieth,  R.  45.  85.  76)  Spieth,  R.  79.  7S)  Raum, 
ARWXIV176.  77)  Warneck  75.  78)  Dorsey,  XI  ARBE  376.  79)  Arnoux, 
A  VIII  117.  80)  II.  X  291  ff.  Weitere  Beisp.  Ausfeld  528  f.  81)  Liv.  X  19, 
17.  82)  Gregor.  Tur.  glor.  mart.  66;  Lucius  290.  83)  Curtiss  177  ff. 
84)  L'Houet,  Psychologie  des  Bauerntums  176;  vgl.  MKP  V  306. 

6.   Mittel  der  Überredung. 
J)    Schurtz    186.  2)   Hahn   41.  3)    Seligmann   131.    275   ff.    286.    290. 

4)  Callaway  174  f.;  Kropf  189.  6)  Raum,  ARW  XTV  199.  8)  Wiedemann, 
Magie  und  Religion  im  alten  Ägypten  15;  Roeder  1  ff.  7)  Wünsch,  ARW 
VII  97;  weitere  Beisp.  Adami,  De  poetis  scaenicis  graecis,  Jahrb.  f.  klass.  Phil. 
26,  216.  Über  Grußworte  im  römischen  Gebete  s.  Appel  109  f.  8)  Wellhausen, 
Reste  arabischen  Heidentums  107.  9)  Erman  61.  10)  Junod  II  454  f. 
ll)  Wultke,  Deutscher  VolKsa berglaube  16.  12>  Eurip.  Hipp.  7.  13)  Selig- 
mann 133.  14)  Callaway  144,  115;  Nassau  97  ff.;  Schneider  141;  Spieth,  R. 
44.  16)Raum,  ARW  XIV176.  18)  Kropf  191.  17)  FR  III  102.  18)We- 
stermarck  II  517.  19)  Raum,  ARW  XIV  199.  20)  Hahn  69.  21)  Spieth, 
E.  458.  22)  Tylor  II  369.  23)  Kropf  191;  Callaway  182.  24)  E.  Schmidt 
a.  a,  O.  12.  26)  Raum.  ARW  XIV  176.  28)  Callaway  224;  vgl.  182. 
27)  Becker,  A  IV  1901.  28)  Aesch.  Sept.  177  f.  29)  Junod  II  368.  30)  Cal- 
laway 224.          31)  Spieth.  R.   52  f.          32)  RV.   VIII   14.    1  f.;  19,  25  f.;  44,  23; 

X  33,  8 ;  E.  Hardy  a.  a.  O.  166.  33)  Tylor  II  369.  34)  Mansfeld  214.  3S)  FR 
III  102.  36)  Erman  172.  37)  Goldziher  305. ;  vgl.  Lucius  286.  38)  Warneck 
6.  39)  Junod  II  368.  384.  4°)  Callaway  174  f.;  vgl.  157  f.;  Kropf 
1 90.  41 )  Meiners  I  1 83 ;  vgl.  Warneck  6.  «)  S.  Meineis  I  1 7 7  f.  43)  Gerade, 
Meine  Erlebnisse  als  Dorfpastor  26.  44)  Friedländer,  Sittengeschichte  Roms  IV 
223.  Weitere  Beispiele  Westermarck  II  484;  Lucius  286  f.  4S)  Nassau  98. 
4 ")  Junod  II  368.  47)  Kropf  190.  48)  Meinhof,  S.  A.  21.  49)  FR  III  '02. 
60)  Od.  XVII  240  ff.;  II.  I  37.;  ff.;  weitere  Stellen  Ausfeld  526  f.  61)  Langloh- 
Parker    8.    79.          52)    Schultz    584.          s3)    PSPR    XI    334;    vgl.  Nassau    98. 

64 )  Erman  98.  65)  Oldenberg,  V   436.  56)  Routledge  231.  57)  Langloh- 

Parker  89.  68)  Heckewelder  354;  Dorsey,  XI.  ARBE  377;  Tylor  II  256;  Le 

Roy  301  ;Brinton.M.  287;Batchelor  100.  291  ;  Hamberger,  A  IV307.  59)  Aesch 

Choeph.  130.  60)  Jastrow  I  517.  528.  81)  Schultz  585.  82)  Tylor  II  366. 

83)    ARBE    XI    373.  84)    Slttl    185.  6S)    Lucius    288.  66)    Warneck   75. 

87)  Preuß  132.  88)  Meiners  1  183  69)  Maaß,  Durch  Zentralsumatra,  II  417. 

70)  Soiett),  E   471;  R   97.  7l)  Warneek  57.  72)  Spieth.  E.  437.  73)  Frazer 

II  212.  74)  Spieth,  E.    137-.  7S)  V.  Cathrein,  Einheit  des  sittlichen  Bewußt- 

seins  19P  III  369.  78)  Warneck  (>:',.  77)  WarnecV  57.  78)  Spieth.  R.  97. 

79)  Hamberger,  A  IV  307  ff.    Vgl.  Cumont,  Die  orientalischen  Religionen  49.  254. 

80)  Merensky  115.  81)  Dorsey,  11.  ARBE  382.  82)  G.  Roskoff,  Religions- 
wesen der  rohesten  Naturvölker  1880.  18.  M)  Sen.  ep.  31,  5;  Horat.  Carm.  I  2: 
Tacit.  Hist.   I  20. 

7.   Aussprache  des  Abhängigkeitsgefühls,  der  Zuversicht  und  Ergebung. 
l)  Spieth,  R,  44.  2)  Frazer  II  212.  3)  Preuß  261.  4)  Spieth,  R.  47. 

5)  Preuß  217.  6)  Oldendorp  I  325.  7)  Hofmayr,  A  VI  123.  8)  Tanner  28. 
»j  Sapper  289.  292.          10)  Merensky  115.          »)  Preuß  121.  129.  12)  Dorsey, 

XI  ARBG  377.  13)  Paulitschke  II  40.  14)  Cyl.  A  III  4  f.;  Thureau-Dangin 
73.  15)  FR  III  103.  16)  Spieth.  R.  90.  17)  Tylor  II  369.  18)  Raum, 
ARW  XIV  197;  Faßmann,  A  IV  579.  Vgl.  Paulitschke  II  43.  19)  Gn  32.  11. 
20)  Oldenberg.  V.  436.          21)  11.  I  453  ff.          ")  II.  V  116  f. ;  vgl.  X  78.  »)  Me- 


Anmerkungen  zu  Seite  91 — 102  511 


rensky    115.  24)    Le    Roy    301.  2ä)    Spieth.    R.    86.  2S)  Schneider  141 

27)  Hahn  58,  69.  2S)  Spieth,  R   44;  E   471.  29)  Orpen  a.  a.  O.  2.  30)  Vgl. 

Spieth.  R.  3.  Das  Problem  einer  Beeinflussung  der  Gallareligion  durch  eine  höhere 
Religion  wird  bei  Meinbof,  A.  R.  125  erörtert.  31)  Callawav  144.  32)  Tanner 

31.  33)  Sapper  289  f. ;  ARW  1904,  468  f.  34)  Paulitschke  II  43.  35)  Spieth. 

R.  E.  44.  36)  Paulitschke  II  43.  37)  Oldendorp  I  32(..  38)  Preuß  217, 

39)  Life,  Lettres  and  Travels  of  Father  P.  J.  de  Smet,  New-  York  1905,  326  zit. 
ERE  III  743.  40)  Spietn.  E    441.  791.  41)  Sapper  295.  42)  Paulitschke 

II  40.  43)  Schultz  583.  44)  Preuß  134.  45)  Sapper  288.  *«)  Paulitschke 

II  40.  47)  Sarasin  t  235. 

8.   Dank. 
')  Rebse  111.  2)  Schmidt.  G.  I  165;  P.  232.  3)  Merensky  114.  4)  Faß- 

mann A  IV  579.  5)  Spietn,  R.  267.  °)  Sapper  288.  293.  7)  Spieth,  R.  95. 

8)    Schmidt,   P.    229.  9)   Batchelor   206.  10)   Merensky   114.  ")   Raum, 

ARW  XIV  176.  12)  Sapper  290.  13)  Spieth,  R.  132.  14)  Callaway  222. 

15)   Oldendorp    I   326.  16)  Paulitschke    II    40.  17)   W.    Schmidt,   P.     246. 

18)  Arist.   Eth.  Nie.   1160    A  25  ff.;    Brinton,    R.   186  f.;    W.   Schmidt,    P.  246. 

19)  Smend,  Alttestamei  tliche  Religionsgescliichte  123.  20)  Schmidt,  P.  246. 
n)  Schmidt,  G.  I  166.  22)  Schmidt.  G.  I  165;  P.  232.  23)  Blumentritt, 
G  1884,  75.  24)  Schmidt.  P.  233.  2i)  Junod  II  361.  ")  Müller,  A  T  512. 
27 )  Brun,  A  II  724.  28)  Scnmidt,  G.  I  165,  P.  232.  29)  Schmidt,  P.  229  f. 
30)  Spieth,  R.  95.  31)  Lehrer  in  Neunauß  III  436.  32)  Junod  I  308. 
33)  Blumentritt,  G  1884,  75.  34)  Balmer  in  Neuhauß  III  491.  36)  Junod 
II  361.  36)  Schmidt,  G.  I  165.  37)  Merensky  114.  38)  Hofmayer,  A  VI 
122.  39)  Lehner  in  Neuhauß  III  436.  40)  Spieth,  R.  95.  41)  Spieth,  R. 
132.          42)  Raum,  ARW  XIV   176.          43)  Spieth,  R.   45. 

VI.  Gebetshaltung  und  Gebetsgestus. 
1)  Vgl.  Brouerii  de  Niedeck,  De  populorum  veterum  ac  recentiorum  adoratio- 
nibus  1713;  J.  Grimm,  Deutsche  Mythologie  I  28  f.,  4.  Ausg.  Nachtr.  III  20  f. 
E.  Voullieme,  Quomodo  veteres  adoraverint,  1887  ;  Daremberg-Saglio,  Dictionnarie 
des  antiquites  Grecques  et  Romaines,  Adoratio;  C.  Sittl,  Gebärden  der  Giiechen 
und  Römer  174  ff. ;  G.  Appel,  De  Romanorum  precationibus  184  ff. ;  Emanuel 
Schwartz,  Der  Gebetsgestus,  Allgemeine  Zeitung  des  Judentums  1910  (71 )  126  ff. 
J.  Döller,  Gebet  im  Alten  Testament  53  ff. ;  A.  Greiff,  Gebet  im  Alten  Testament 
34  ff.;  Elbogen,  Jüdischer  Gottesdienst  498  ff.;  Rietschel,  Liturgik  I  4S3  ff.; 
Peters,  Gebet  in  Kraus,  Realenzyklopädie  I  556  ff.;  Cabrol,  Liturgie  der  Kirche 
übs.  v.  Pletl  1 906,  137  ff.  2)  Müller,  A.  U.  384.  3)  Howitt  628  f.  4)  F.  Hei- 

ler. Die  Körperhaltung  beim  Gebet,  Hommel-Festschrift  (Mitt.  d.  Vorderas. 
Ges.  1916)  II  169  ff.  5)  Kraus,  Geschichte  der  christlichen  Kunst  I  50.  98  f. 

127.  198.  6)  Bockh,  Buddhismus  II  41.  7)  Ch.  de  Harlez,  La  religion  de  la 

Chine  moderne  1894,  101.  8)  Buxtorf,  Synagoga  Judaica  X  207  bei  Volland, 

de  subsultu  precantium  in  primitiva  ecclesia  (Vollbeding's  Thesaurus  I)  355  f. 
*)   Howitt    528   f.  10)   Routledgc   231.  u)  Baumann,   Vom   Massailand   zur 

Nilquelle  163.  l2)  Dorsey,  XI.  ARBE  373,  377.  384.     Ausbreiten  der  Anne 

bei   den   alten  Peruanern.      ARW  XVIII  607.  13)  Mariette,   Denderah   II  2. 

:;.  2'.»  usw. ,  Abydos  1  39;  II  14  ff.  26  f.  usw.;  Bissing,  Kultur  des  alten  Ägyptens 
Abb.  11  f.  ")  BOng,  Babylonian  .Magie  passim,  15)  KB  111  2.  28.  38.  64.  90. 
")  King  I,  35;  12.  88;  50,  21  ;  KB  111  2.  28.  64.  l7)  Steller  bei  Döller  75;  Greiff 

38.  18)    Goldziher    321.  19)    Vgl.    die   stehende   Redensart    bei   Homer:    er 

betete  xeTQaS  ^vaa^&v  Od.  XIII  :;:>:>:  X\'II  239;  11.  1  150  usw.  Weitere 
Stellen   Sittl   187;  Voullieme  2(5.        19b)  H.  VII  130;  vgl.  Sittl  187:  Voullieme  26. 

20)  Pseud.  Arist.  de  niund.  c.  0  p.  400.  Weitere  Stellen  Sittl  187;  Voullieme  2(1: 
Abb.  Stengel,  (uiechische  Kultusaltertümer  T.  IV  1.  Vgl.  A.  Rechenberg,  De 
yeumesia  orantium  1688;  abgedruckt  in  Vollbeding,  Thesaurus  1846  I 
:\\\  f  '  21)  Appel  195  f.;  Voullieme  27.  ■»)  Voullieme  33  f.;  Sittl  174.  Die 
Finger  scheinen  triebt  in  einander  geschlossen,  sondern  gespreizt  worden  zu  sein. 
Sittl  L89  l.  ")  Appel  195  f.,  Sittl  188.  24)  Yasn.  28,  1;  29;  50,  8;  E.  Leh- 
marn,  Zarathustra  II  103.         ")  Kraus  I  19  f.  95.  98  f.         127.  187.  198.     Die 


512  Anmerkungen   zu   Seile   102—104 


linger  sind  meist  gespreizt,  *•)  Stellen  bei  Sittl  198.  27)  jVJariette,  Penderah 

I  40  usw.;  II  29  usw  ;  Abydos  11  2  usw.  28)  Jastrow,  Bildermappe  passim. 

29)   Sittl   189.  30)   Sittl    188.  31)  Mariette,   Pender;. n   I  4.2,   49:  Abydos    1! 

15  f.;  Wilkinson  .The  customs  and  manners  of  ancient  Egyptiens  1878  2,  III  52. 
32)  Stengel  73.  Tat.  1  2,  III  2  und  IV  2;  Voullieme  19.  '  33)  Heiners  II  272. 
34)  G.  Ch.  Musters,  Unter  den  Patagoniern  übs.  v.  Martin  1873.  194.  36)  G. 

Grupp,  Kiütur  der  alten  Kelten  und  Germanen  1905.  1(59.  3S)  Epiphan.  haeres. 

4S.  ")  Müller,  A  I  513;  Schurtz  584.  38)  Tylor  II  300.  39)  Spieth.  R. 

183.  40)  Ps  47,  2;  vgl.  98,  8;  Jes  55,  12.  41)  Rehse  134.  42)LeRoy310: 

vgl.   315.  43)  Mansfeld  210.      Zusammenschlagen  und   Reiben  der  Hände  ist 

als  Gebetsgestus  bei  den  alten  Peruanern  bezeugt.   ARW  XVIII  007.  44)  Erman 

61;  Mariette,  Penderah  III  27  usw.  4B)  Macrob.  sat.  3,  9,  12.     Sittl  193.  196. 

4«)  Walafrid  Strabo,  rit,  eccl.  12.  47)  Liv.  26.  9,  5  usw.;  Sittl  185;  Voullieme 

IS.  48)  Serv.  ad.  Aen.  4,  205.    Vgl.  Liv.  VII  6.  1.  49)  Maerob.  Sat.  III  9.  12. 

50)  II.  IX  568  f.;  Stengel  72;  Nägelsbach,  N.  Th.  214:  Sittl  190  f.  61)  Wachs- 

muth,  Pas  alte  Griechenland  im  neuen  64;  Trede,  Heidentum  in  der  römischen 
Kirche  III  23.  52)  Vierordt,  Pe  iunctarum  in  precando  manuum  origine  Indo- 

Germainca  1851;  Pas  Händefalten  im  Gebet,  Theol.  Stud.  Krit,  1853  (26)  89  ff. 
6S)  Buddha  sagt  Ang.  Nik.  V  p.  266:  ..Wer  gesündigt  hat,  bleibt  unrein,  ob  er 
nun  mit  gefalteten  Händen  (parijalikoj  die  Sonne  anbetet  oder  nicht.'' 
64)  Sittl  175.  Vgl.  die  Statue  des  betenden  Hindu  im  Tempel  zu  Madaura  abg. 
bei  Riehm  Bibellexikon  1884  I  472.  ß5)  L.  A.    Waddell.    Buddhism  of  Tibet 

1895,  223.  5S)  W.  G.  Aston,  Shinto  1905,  209.  232  ff.     (Freundl.  Hinweis  von 

Univ.-Prof.    Pr.    L.    Scherman-München).  67)    Jastrow,    Bildermappe    T.    VI 

Nr.    20.  68)   Vierordt,    Pe    iunctarum    in    precando    manuum    origine   28    ff. 

S9)  Jastrow,  Bildm.  T.  I  Nr.   1:  vgl.  V  17.  60)  Ovid.  Met,  9,  299.  311.  314; 

Plin.  28,  6.  17;  30,  15;  Pausan.  XI  11.  61)  Sittl  176.  62)  InseHas  digitis 

manus  super  mensam  posuit  .  .  .  Peum  precatura,  Gregor.  Magn.  Pial  II  33 
bei  Vierordt  a,  a.  O.  23.  63)  Vgl.  Goldziher  321 ;  Sittl  173.  64)  Tac.  Germ. 

39:  Nemo  nisi  vineulo  ligatus  ingreditur  ut  minor  et  potestatem  numinis  prae 
sc   ferens.  65)   Callim.    Hymn.    Pel.    321.  66)   Wellhausen,    Reste    105;    R. 

Smith  56.  176.  67)  Ex  32,  11;  1   Sm  13,  12;  1  Kg  13,  6  usw.     Stade  1   148; 

Poller   21.  68)    Sittl    192:   Appel   193   f.  *9)   Zimmern,   Beitr.    z.    Kenntnis 

der  baby).  Religion  140.  7C)  KB  VI  2,  138  f.  71)  Arg.  8,  202;  Appel  193; 

Herman  Stark     HS;  Voullieme  14  ff.  72)  1   Kg  19,  8;  Hos  13,  2.  73)  R. 

Smith  56;  Wellhausen,  Reste  arabischen  Heidentums  105.  Vgl.  Crawley,  Kissing. 
EHE  7,  739  f.  74)  Ovid.  Met,  VII  631.  75)  Cic.  in  Verr.  act  II  4,  94. 

76)  Sittl  181:  Appel  198;  f.  Voullieme  7  f.  77)  Lucius  287.  78)  Müller,  A. 

U.  384.  79)  Job  31,  27.  80)  Plat.  Leg.  X  887  E;  Luc.  salt.   17.     Weitere 

Stellen  Sittl  181.  81)  Liv.  V  22.  4,  82)  Sittl  182;  Appel  199;  Voullieme  9  ff. 

83)   Sittl   183.  84)  Freundl.    Hinweis  v.    P.    Rat  Pr.    Grupp,  Bibliothekar  in 

Maihingen.      R,    Fischer,    Oststeierisches   Bauernleben   1903,   242.  85)   Müller. 

A.  TL  384.  86)  Ex  3,  5;  Jos.  5,  15.  87)  Polier  59.  88)  Wächter,  Reinheh\s- 

vorschriften  23  f. ;  Eitrem,  Opferritus  und  Voropfer  392 :  Anrieh.  Antikes  Mvsterien- 
wesen  200  f.  89)  Wächter  23  f.;  Heckenbach.  Pe  nuditate  sacra  26  ff.  66  ff.: 

Anrieh  203  f.  90)  Petron.  sat.  44.  91)  Hermann-Stark  117.  119;  Sittl  177; 

Appel   192.  92)   Grimm,  I  26.  D3)  Brahman  Sahampati  entblößt  die  eine 

Schulter  vom  Obergewand,  ehe  er  Buddha  anfleht.  Mahävagga  I  5,  5.  Pie  Hindu 
sind  beim  Gebet  und  bei  der  Lesung  der  heiligen  Bücher  bis  zu  den  Hüften  nackt. 
Otto,  Vishnu-Näräyana  1.  94)  Vgl.    Verg.    Aen.   V  685:    „Tum  pius  Aeneas 

umeris  abscindere  vestem  //  auxilioque  vocare  deos  et  tendere  palrnas."  Pas 
Ablegen  des  Obergewandes  ist  auch  bei  Tertullian  (de  or.  13)  als  heidnische  Gebets- 
sitte bezeugt,  die  im  alten  Christentum  Nachahmer  fand.  95)  Zimmern, 
Beitr.  176  f.  96)  K.  Weinhold,  Zur  Geschichte  des  heidnischen  Ritus  (Abh. 
d.  K.  Ak.  d.  W.  z.  Berlin)  1896;  W.  A.  Müller,  Nacktheit  und  Entblößung  in 
der  altorientalischen  und  älteren  griechischen  Kunst,  Piss.  1906;  J.  Heckenbach. 
Pe  nuditate  sacra  1911;  Pümmler,  Ursprung  der  Elegie,  Philol.  N.  F.  VII  208  = 
Kleine  Sehr.  II  409.  412;  Anrieh  203  f.  97)  Aristoph.  nub.  498  ff.;  Plot.  Enn. 
1  6,  7.  98)  S.  Weinhold  7  ff. ;  Heckenbach  35  ff. ;  Fehrle,  Kultische  Keuschheit 
55  f.          ")   Gilhodes,  A  IV  708.             "•)  Herod.   I   132:    Strabo    XV  p.   733. 


Anmerkungen  zu   Seite  105 — 114  513 


101 )  Appel  191 ;  Anrieh  203.  102)  Ex  3,  6;  1  Kg  19,  13.  loa)  Döller  54;  Greiff 

42.  10*)  Wensinck,  Islam  IV  (1916)  224  f.  los)  Laotse,  Tao-te-king  c.  62; 

übs.   Grill  110.  Plath  II  5.  108)  Spiegel.  Avesta  II  p.   XLVIII  f.;  Abb.  II  3 

dortselbst.  107)  Liv.  I  21;  Serv.  ad  Aen.  VII  636;  vgl.  Kraus  I  117.         108)  E. 

Moor,  Hindu-Pantheon,  London  1810,  Taf.  22  (Freundl.  Hinweis  v.  Un.-Prof. 
Dr.  L.  Scherman).  109)  Aug.,  de  cura  ger.  pro  mort.    7.     Stark  spiritualistisch 

ist  die  Deutung  des  Clemens  v.  Alexandrien  (Strom.  VII  7,  40).  ll0)  J.  Grimm 

I  25.  1U)  Chantepie  de  la  Saussaye  I  *  108;  vgl.  Meiners  II  267.  112)  Riehms 
Handwörterbuch  des  biblischen  Altertums  I  474.  113)  E.  Lehmann,  R.  136; 
RGG  II  538.  114)  G.  Westphal,  Jahwes  Wohnstätten  nach  den  Anschauungen 
der  alten  Hebräer  1908,  133 ;  Meiners  II  272 ;  ähnlich  Vierordt  38.  116)  Voullieme 
37.  116)  Greiff  39.  117)  W.  W.  III  69,  vgl.  Vierordt  37.  118)  Döller  78. 
119)  Lehmann,  R.  136.  12°)  Grimm  I  26.  121)  Meiners  II  275;  vgl.  Eitrem 
43:  „Ein  Umkreisen  nach  rechts  schließt  die  Dämonen  aus,  nach  links  dagegen 
in  den  Kreis  ein."  122)  Goldziher  321  ff.  123)  V.  Smultze,  Zur  Geschichte 
des  Händefaltens  Th  Lb  1892,  591;  vgl.  Appel  204.  124)  Appel  192;  Döller  75. 
125)  E.  Lehmann,  R.  136.  126)  Wächter  24.  127)  Döller  59;  H.  Grinune, 
Muhammed  1904,  101.  "")  Weinhold  5.  129)  Wächter  24.  13°)  Hecken- 
bach 16  f.  131)  Weinhold  5;  vgl.  Eitrem  392;  Smith  116.  132)  Wensinck 
224  f.  13S)  E.  Samter,  Geburt,  Hochzeit  und  Tod  1911,  119.  134)  Eitrem 
401.          135)  Vgl.  Greiff  35.          136)  Vgl.  Schurtz  183  ff. ;  Sittl  155  ff.          137)  Meiners 

II  275.  Suet.  Vitell.  2.  138)  Beispiele  Eitrem  9  ff.  139)  Grimm  I  28;  Vierordt 
35  f.  140)  Sittl  78  ff.,  Xen.  Agesil.  5,  4;  vgl.  Wellhausen  ARW  XVII  38  f. 
141)  Vgl.  H.  Schurtz,  Grundzüge  einer  Philosophie  der  Tracht  1891;  122  ff.;  1  Kg 
20,  31;  Jes  20.  3;  weitere  Beispiele  Müller  a.  a.  O.  30.  34.  42  f.  142)  Schürt/. 
a.  a.  O.  51.  128.  143)  Plath  II  5.  144)  Xenoph.  Cyrop.  VIII  3.  18;  Hell. 
II  1,  8.  146)  Das  folgende  hauptsächlich  nach  Schurtz,  Urgeschichte,  183  lt.; 
vgl.  Sittl  174  ff.  148)  Vgl.  Schurtz,  Grundzüge  einer  Philosophie  der  Tracht 
120  ff. ;  Müller  a.  a.  O.  4  f.:  147)  Müller  erblickt  in  der  sakralen  Nacktheit 
eine  aus  dem  sozialen  Leben  übernommene  erotische  Sitte.  ,,Die  erotische  Ent- 
blößung, die  sich  unter  den  Menschen  so  bewährt  hatte,  wurde  natürlich  im  Kulte 
auf  die  Götter,  Dämonen  und  Toten  übertragen,  jene  Mächtigen,  die  über  das 
Schicksal  des  Menschen  zu  entscheiden  hatten"  (7).  „Unbekleidet  klagen  die 
Frauen  der  Familie  um  den  Toten,  wie  wenn  sie  sich  ihm  preisgeben  wollten, 
um  seine  Seele  den  Überlebenden  gnädig  zu  stimmen."  ,,Was  den  Toten  recht 
war,  war  natürlich  den  Göttern  billig"  (82).  „Mit  zunehmender  Läuterung  der 
religiösen  Vorstellungen  mußte  dieser  ursprüngliche  Sinn  in  Vergessenheit  ge- 
raten und  jene  Art  Enthüllung  als  bloße  Demütigung  empfunden  werden"  (7). 
Vgl.  54.  85.  173.  148)  Auf  Java  finden  wir  Entblößung  vor  dem  Fürsten  und 
Verhüllung  vor  den  Göttern  nebeneinander.  „Am  Hofe  ist  der  nackte,  gelb- 
gefärbte  Oberkörper  Vorschrift  der  Etikette;  an  heiligen  Orten  ist  es  den  Flauen 
verboten,  den  Busen  zu  entblößen."  Metzger,  Q  51,  56.  149)  Vgl.  Sittl  1S6; 
Greiff  35. 

VII.   Die  im  Gebet  angerufenen  höheren  Wesen. 
l)  Spieth,  R.  7.  2)  Warneck,  ARW  XVIII  338;  Roussel,  Museon  VIII  564. 

■>)  Söderblom,  Tieles  K.  29.  4)  Batchelor  89  ff.  •■)  Brigaud,  KM  1888,  23]  ; 
Warneck,  Religion  der  Batak  10,  13.  57;  AKW  XVI II  337  f.  6)  Frazer  III  98. 

7)  Preuß.  ARW  XIV  225.  8)  Usener,  Götternamen;  vgl.  Feuerbach,  Theogonie 

W.  IX  88  f.;  A.  Lang,  Myth,  Ritual  and  Religion  30.  12t!;  Schaarschmidt,  Die 
Religion  120  ff.;  Torny  Karl  Segerstedt,  Till  frägan  om  polyteismens  uppkommst, 
Diss.  Stockholm  1913,  10^  IT.  9)  Spieth,  R.  44;  Tylor  II  366.  10)  =  Aiun.  7. 

n)   Spieth,    lt.    132.  12)   Usener   122   ff.;   Samter,   Religion  der   Griechen   10   f. 

Die  Sondergötter  der  Litauer  und  Letten  bei  Usener  <sr>  ff.  ls)  Usener  70  f.: 
Appel  85  f.  14)  E.  Lehmann  in  Chantepie  de  La  Saussaye  1 1  ;'  125  f.  1S)  Söder- 
blom, Tielea  K.  465.  l«JÄapper  ARW,  L904,  453.  "17>  (i.  Steindorff,  Religion 
und  Kultus  im  alten  Ä.gy|Ben  .II-'Dll  1904,  L34j  vgl.  E.  Naville.  La  religion  des 
anciens  Egyptiens  1906,  221.  18)  R.  Smith  <'>r>  ff.;  Söderblom,  Tieles  K.  105; 

Curtiss293.  ")  Samter  a.  a.  O.  10.  ,0)  Söderblom  Tieles  K.  471.  ,l)Sara- 
8inI235.         ")  Spieth,  R.  86.         •») Batchelor  116.         u)  Kropf  187.         ")Preufl 

Das    O.-bet  33 


514  Anmerkungen  zu   Seite  114 — 121 

135.  36)  Batchelor  1 11.  *•)  Spieth,  It.  97.  28)  Schneider  15IS.  *»)  Tylor 
II  369.  30)  Athen.  618  E.  31)  Batchelor  206.  32)  Batchelor  98.  110.  116. 

M)  Dieterich,  Mutter  Erde  1 905.  45.  34)  Rehse  1 35.  35)  Preuß  1 29.        3B)  Sap- 

per 288.  ;1;)  Waitz  1  17s.  38)  Spencer  and  Gillen  495.  39)  Preuß,  ARW 
XIV   224.  10)  Tylor  II  460  f.  4))  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube 

15.  ")   Brigaud,    KM    1888,    231.  4a)    Warneck    13.  4')    Nassau   98. 

«)  Friedländer,  Sittengeschichte  Borns  IV  196.   198.  48)  Sapper  274;    ARW 

1904,  441.  47)  Vgl.  Stengel  73;  L.  Schmidt,  Ethik  der  Griechen  II  31,  34  ff.; 

Hermann-Stark  114;.  Ausfeld  510  f.  48)  Söderblom,  Tieles  K.  41.    Vgl.  Cumont 

501.  49)    Batchelor    101.  50)    Spieth.    R.    84    ff.  B1)    Brinton,    R.   107. 

M)  Söderblom,  W.  G.  139.  53)  FR  HI  116.  54)  Wundt,  Elemente  der  Völker- 

psychologie 368  f.  S5)  Steindorf f  a.  a.  O.   138  f.  8«)  Hübsche  Zusammen- 

stellung der  einzelnen  Gegenstände,  um  welche  die  römischen  Götter  angervifen 
werden  bei  Appel  86  f.  ä7)  Vgl.  Usener  116  ff.;   G.   Grupp,  Kulturgeschichte 

des  Mittelalters  1912,  III  2  14  ff.  58)  Vgl.  Raum,  ARW  XIV  192.  S9)  Calla- 

way  144.  60)  Choeph.  4  ff.;  129  ff.;  332  ff.;  456  ff.;  500  ff.  61)  Junod  II 

•MS  f.  ")  Callaway  140.  182.  83)  Warneck,  ARW  XVIII  339.  64)  Selig- 

mann 126.  131.  141.  6S)  Melanesians  124  f.     Nicht  alle  Seelen  der  verstorbenen 

Toradja  werden  Götter,  sondern  nur  die  Seelen  von  sehr  tapferen  und  geehrten 
Häuptlingen;  ihnen  wird  geopfert  und  ihre  Hilfe  angefleht  im  Kriege,  auf  der 
Jagd  und  im  Reisfeld.     Kruijt  bei  Juynboll,  ARW  VII  510.  66)  Vgl.  Eitrem 

463.  8T)   Vgl.    Warneck,    ARW   XVIII   339.  68)   Raum,    ARW   XIV   176; 

Callaway  171  ff.;  Kropf  188  f.;  Warneck  75.  S9)  Callaway  144.  70)  Hof- 

mayr,   A  VI   123;  Warneck   101.  71)  Lehner  in  Neuhauß   III   346;   Keysser 

ebenda  III  145;  Junod  I  368.  72)  Andr.  Lange,  Myth,  Ritual  and  Religion 

1887  3;  The  Making  of  Religion  1900  2;  Australian  Gods  F  X  1  ff.;  vgl.  Söder- 
blom, Zusammenhang  höherer  Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen,  ARW 
VII  1  ff. ;  E.  Lehmann,  Primitive  Religion  29 ;  Marett ,  Savage  Supreme  Beings 
in  Treshold  of  Religion  147  ff.;  E.  S.  Hartland,  The  High  Gods  of  Australia  F 
IX  290  ff. ;  A.  van  Gennep,  Mythes  et  legendes  d'Australie  1905.  73)  W.  Schmidt, 

Die  Stellung  der  Pygmäenvölker  in  der  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit 
1910;  Grundlinien  einer  Vergleichung  der  Religionen  und  Mythologien  der  austro- 
nesischen Völker  (Denkschr.  der  K.  Ak.  d.  Wiss.  in  Wien  phil.-hist.  Kl.  53  III) 
1910;  Ursprung  der  Gottesidee  I  1912.  74)  N.  Söderblom,  A.  Längs  teori  om 

religionens  äldsta  oss  tillgängliga  form,  Nordsik  Tidskrift  1902,  619  ff. ;  Hemliga 
regier  och  traditioner  hos  ett  stenäldersfolk  a.  a.  O.  1906,  159  f.;  Mysteriecere- 
monier  och  deras  Ursprung,  Ymer  1906,  193  ff.  (abgedruckt  Ur  religionens  historia 
1915);  die  Allväter  der  Primitiven  RGK  1907,  315  ff.;  Zusammenstellung  höherer 
Gottesideen  mit  primitiven  Vorstellungen,  ARW  VII  1  ff. ;  Werden  des  Gottes- 
glaubens 1916,  114: — 185.  Vgl.  auch  die  Untersuchung  des  indogermanischen 
Glaubens  an  ein  höchstes  Wesen  bei  L.  Schröder  .Arische  Religion  1 1914,  295 — 587. 
7S)   Lang   233.  70)    Raum,    ARW   XIV   198.  77)    W.    Schmidt,     Gr.    83. 

78)  Hofmayr,  A  VI  221.  79)  Dorsey,  XL  ARBE  374.     Vgl.  auch  Spieth,  E. 

416.  80)  Raum,  ARW  XIV  195.  81)  Warne(  k,  AMZ  1910,  314.    Ganz  dieselbe 

Vorstellung  ist  II.  XXIV  527  ff.  ausgesprochen.  82)  Hamberger,  A  IV  305  f. 

83 )  W.   Schmidt,   Gr.  83.  84)  Raum,  ARW  XIV  198.  85)  Raum  a.  a.   O. 

194.  86)  Irle  73.  87)  Spieth,  E.  417;  Söderblom,  W.  G.  141.  88)  Hammar 

in  Nordenskiöld  I   146.  89)   Söderblom,  W.    G.    142.  90)  W.    Schmidt,    G. 

1    119.   121;   Gr.   14.   117  ff.;  A  II  1029  ff.;  Howitt  360.  91)  Routledge  226. 

92)  W.  Schmidt,  P.  125;  Söderblom,  W.  G.  135.  93)  Spencer  and  Gillen,  The 

Northern  Tribes  of  Central  Australia  1904,  498.  94)  Brinton,  R.  140.  9D)  W. 

Schmidt,  P.  195.     232 ;  Gr.  14.  83 ;  Schkopp,  G  83,  331 ;  Le  Roy  184.  96)  Schmidt 

(Jr.  84.  97)  Gilhodes,  A  IV  706.  98)  Schmidt,  P.  196.  ")  Müller,  A  I 

509.  10°)    Raum,    ARW    XIV    194.  101)    Balmer    in    Neuhauß    III    491. 

11 2)  Routledge  227.  103)  Vgl.  Söderblom,  W.  G.  89  ff.  104)  Söderblom,  W.  G. 

135.  105)  ,,Bäiäme"  der  Kamilaroi  wird  von  Ridley  (Journ.   Anthrop.    Inst. 

.VI  269)  mit  „Macher",  „Bildner"  überstezt.  Vgl.  da %  Schmidt,  G.  I  120.  Für 
die  Bezeichnung  der  afrikanischen  Urväter  als  „Macher"  s.  Nassau  36;  Le  Roy 
J91.  106)  Schmidt,   G.   I  118  f.  107)  Vedder,  ZK  I  6.  108)  Le  Roy  36. 

lu9)  Nassau  36.  ,10)  Schmidt,  Gr.  13.  ni)  Gilhodes,  A  IV  708.  "*)  Lau-- 


Anmerkungen  zu  Seite    121 — 137  515 


loh-Parker  7;  A.  Lang,  Myth,  Ritual  and  Religion  II  87  f.  113)  Lang.  Making 

of  Religion  233  f. ;  Söderblom,  W.  G.  135.  114)  AV  II  28,  4.    Vgl.  Söderblom, 

W.   G.   176  f.;  L.    Schröder,  Arische  Religion  I  295  ff.  m)  Vgl.   Söderblom, 

RG  1907,  318.  116)  Söderblom,  W.   G.  148  f.  (Übs.  geändert).  »»)  Howitt 

528  f.  119)  Lang  320  f.  12ü)  Kinglsey  508;  Irle  73.  m)  ARW  XIV  192. 

122)  A  VI  121.  123)  A  IV  706.  124)  Vgl.  W.  Schmidt.  P.  195.  246.  125)  H. 

V.  Stevens,  Materialien  z.  Kenntn.  d.  wilden  Stämme  auf  Malakka  (Veröff.  a.  d. 
K.   Mus.   f.    Völkk.   Berlin)    1892.    130:   Nordenskiöld   I    146.  126)   Söderblom, 

W.    G.   150;  ARW  XVII  5.  127)  Orpen,  Mythology  of  the  Maluti  Bushmen 

(The  Cape  Monthlv  Magazine  Neu   Series   IX   1874)   2.  128)  Powell,    Jorun. 

of  the  Maluti  Bushmen  (The  Cape  Monthly  Magazine  Neu  Series  IX  1874)  2. 
128)  Powell,  Journ.  of  the  Afric.   Soc.   1907,  5  f.  129)  Gilhodes.   A  IV  707. 

J30)  K.  Sapper,  Mittelamerikanische  Reisen  und  Studien  1902,  267.  m)  Warneck 

6.  l3i)  Nassau  35:  vgl.  40.  77.  133)  Travels  508.  134  Schmidt,  Gr.   118. 

135)  Routledge  227.  136)  Dorsey,   XL   ARBE  336.  137)  Raum  ARW  XIV 

192.  198;  Faßmann.  A  IV  579.  138)  L.  Probenius,  Weltanschauung  der  Natur- 

völker 1898,  349.  Wenn  bei  den  Kayan  in  Zentralborneo  jemand  krank  ist,  ruft 
man  einen  untergeordneten  Geist  an;  macht  dieser  aber  den  Kranken  nicht  gesund 
so  wendet  man  sich  direkt  an  das  höchste  Wesen  Laki  Tenangan.  W.  Schmidt, 
Gr.  11;  vgl.  14.  139)  Gilhodes,  A  IV  707.  140)  Kropf  186.  l41)  R.  Lasch, 

Der  Eid.   (Stud.  u.   Forsch,  z.  Menschen-  u.  Völkerkunde)  1908,  12.  142)  Vgl. 

Söderblom.  RGK  1907,  315;  W.   G.  173  ff.  224  ff.  143)  Die  meisten  Stämme 

der  Amazula  beten  nach  Eingeborenenaussagen,  die  Bischof  Callaway  aufzeich- 
nete, nie  zum  Urvater  Unkulunkulu  (8.  16.  25.  34).  144)  Vgl.  Söderblom,  W.  G. 
148;  DE  1914.  193  ff.  145)  Nassau  38  f.  146)  Faßmann,  A  IV  5S0. 
147)  Kingsley  508.  l48)  Langloh-Parker  79.  149)  Irle  73  f.  150)  Skeat  II 
285.  läl)  Lang  320  f.  152)  KM  1888,  230.  153)  Saleur.  KM  1888,  57. 
l54)  Södeiblom,  W.  G.  149.  155)  Irle  74.  1S6)  Skeat  II  173.  157)  Nassau  39. 
158)  Weltanschauung  der  Naturvölker  348.  169)  A  VI  121.  160)  ARW  XIV 
192.  161)  ..Die  alten  Herero  beteten  auch  zu  Ndjambi  Karunga  um  Abwendung 
von  allerlei  Unheil  und  Übeln.  Jetzt  geschieht  es  kaum  mehr.  Statt  dessen  ruft 
man  lieber  die  Ahnen  an."  Irle  73.  l62)  Schmidt,  P.  195.  163)  Hofmayr, 
A  VI  121;  Spieth,  E.  792  usw.  164)  Langloh-Parker  8.  165)  Merensky  114. 
186)  Spieth,  R.  17:  E.  442;  vgl.  836.  167)  Hamberger,  A  IV  306  ff.  188)  Wal- 
Leser,  A  VI  11  628.  169)  Batchelor  116.  17°)  Preuß  131  f.  l71)  Thureau- 
Dangin  43.  155.  172)  KB  III  2.  44.  52.  54.  173)  Preuß  124.  129.  135. 
174)  King  p.  XXIII.  175)  Le  Roy  299.  178)  Spieth,  E.  440.  177)  Warneck 
43.  63.  178)  Preuß  124.  l79)  Sept.  69  f.  18°)  Warneck.  ARW  XVIII  377. 
'")  Liv.  VIII  9,  6;  über  die  Anrufung  vieler  Gottheiten  im  griechischen  Gebet 
b.   Wünsch,  ARW  VII  100,  im  römischen  Gebet  Appel  83  f. 

VIII.   Die  dem  Gebet  zugrundeliegende  Gottesvorstellung. 
')  Vgl.   Westermarck  II  465;  R.  Otto,  Das  Heilige  1917.  2)  Grundlegende 

Ausführungen  Söderblom,  W.  G.   33  ff.;  vgl.   Codrington  120.    146.  3)  Nach 

dem  Glauben  der  Batak  ist  es  die  sahala,  die  geheinmisvolle  Macht ,  mittels  welcher 
die  Götter  den  Menschen  helfen.  Warneck  63.  4)  Die  Urväter  der  kulturarmen 
Völker  sind  häufig  androgyn,  ,, bisexual"  gedacht.  Beispiele  Brinton,  R.  160. 
Eine  besondere  Kode  spielt  die  Vorstellung  von  dem  androgynen  Charakter  der 
Gottheit  in  der  sumerischen  Religion.  Radau  4.  Vgl.  auch  Brugsch,  Religion 
und  Mythologie  der  alten  Ägypter  113  f.:  \V.  Kroll,  Hermes  Trismegistos  51  ff. 
*)  E.    \.    Hartmann,    Das  religiöse  Bewußtsein  36.  6)  Über  das  Keuschheits- 

opfer und  seine  umstrittene  Deutung  vgl.  E.  S.  Hartland.  Ritual  und  Belief  1914, 
litit;  ff.;  Fehde,  Kultische  Keuschheit  1  ff.;  Müller,  Nacktheit  und  Entblößung 
(▼gl.  ...  S.    131.  A.  149).  8)  Spieth,  E.  437.  7)  Jastrow  I  484;  vgl.  500.  517. 

8)  Müller,  A    1   501).  Spieth,   B.  5;  vgl.   Gilhodes,  A  IV  708.  »)  Radau  2  f. 

10)  Stade   1    150.  ")   Vgl.     B.    Smidtb    SO  ((.;    Foueart,    Histoire    des  religions 

150  f.  12)  Spieth,  B.  45.  79.  90.  ")  Sapper  288;  ARW  1904,  441.  w)  Sap- 

pei    290;  vgl.  271.   284.  I5)  Spieth,   B.  246.  16)  Irle  84.  I7)  Keysser  in 

Neuhauß   III    145.  18)    II    IX   566   ff.;    Voullieme   25   f.  '»)   Tylor    II   369. 

M)  Spietb.   B.   45.  2I)  Spieth,    B.   246;  vgl.    Le  Roy  310.  ■»)  H.   Schmidt, 


öl 6  Anmerkungen  zu  Seite  137 — -147 


RÜG  II  1152.  3a)  2  Kg  18,  4;  19,  14;  Ps  5,  8;  Jes  56,  7.  24)  Westphal, 

Jahwes  Wohnstätten  118.  23)  Müller,  A  I  509.  29)  Dt  16,  16  ff. ;  vgl.  Dt  12. 

27)  Die  Karesauinsulaner  auf  Deutsch- Neuguinea  beten  zum  höchsten  Wesen 
Wonekaii  mit  zum  Himmel  erhobenen  Haupte.  Schmidt,  Gr.  118.  Die  austra- 
lischen Kurnai  heben  Hände  und  Waffen  zum  Himmelsgott  Mungan  Ngana 
empor.  Howitt  526  f.  Beim  Gebet  zu  Zeus  blicken  die  homerischen  Helden  zum 
Himmel  (II  XVI  231  f.;  VII  178),  ebenso  die  Römer  beim  Gebet  zu  Jupiter  (Sittl 
193)  und  die  Germanen  (Tac.  Germ.  10).  28)  Tert.  Apol.  17:  ,,0  testimonium 

animae  naturaliter  christianae!  Denique  pronuntians  haec  non  ad  capitolium, 
sed  ad  caelum  respicit.    Novit  erim  sedem  dei  vivi."  28)  Ps  121,  3;  vgl.  1  Kg  8, 

22.  54;  2  Chr  6,  13;  Mk  6,  41 ;  Jo  17,  1.  Auch  im  Islam  ist  der  Himmel  die  kibla 
des  freien  Gebets  (rfw'a).     Goldziher  327.  30)  Hahn  124;  Rehse  129.  134;  Faß- 

mann,  A    IV  579;   Oldenberg.   V.    4:',:'.  31)   Langloh-Parker  8.  32)   Müller, 

A.  (J.  641.  33)  De  salt,  17.  ")  Met.  II  44;  vgl.  Kroll,  Hermes  Trismegistos 

329.  35)  Jastrow  II  768.  3S)  Aen.  VIII  18;  XII  172;  \gl.  Ovid.  fast.   IV 

777 ;  H.  Nissen,  Orientation.  Studien  zur  Geschichte  der  Religion  1906,  262. 
37)  Clem.  AI.  Strom  VII  7;  Tert,  de  or.  11;  adv.  Valent.  3;  Aug.,  De  serm.  Dom. 
in  monte  sec.  Mt.  II 18. ;  Nissen  396  ff.  3«)  Liv.  VI  20,  11;  Appel  195.  3»)  Döl- 

ler  63.  40)  Ps  134,  2;  vgl.  1  Kg  8,  38.  48  (Dt);  Ps.  5,  8;  28,  2;  134,  2;  2  Chr.  6, 

34;  Misehna  Ber.  IV  5  f.;  Sifre  71b;  Weber,  System  der  altsynagogalen 
Theologie  62.  41)  Koran  2,   136  ff.;  Nissen  70  ff.;  Westphal   183. 

IX.   Das  im  Gebet  sich  äußernde  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott. 

l)  Eines  der  drei  altchinesischen  Schriftzeichen  für  Gebet  (chu)  setzt  sich 
aus  den  Zeichen  für  Gottheit,  Mund  und  Mensch  zusammen,  bedeutet  also  Rede 
des  Menschen  mit  Gott,     Grube  40;  Plath  II  2.  -)  Leg  XI.  3)  II.  IX  497. 

4)  Thvireau-Dangin  213.  6)  Über  den  Glauben  an  die  Gebetserhörung  s    Feuer- 

bach, Theogonie,  W.  X  21  ff.  ")  Vgl.  R.  Smith  20.  7)  Evolution  of  Religion 

171.  180.  8)  ARBE  XI  373.  435.  9)  Aesch.  Suppl.  890  ff.;  899  ff.  10)  A. 

Dieterich,  Mutter  Erde  1905,  38.  n)   Söderblom,  RGK  1907,  318  f.;   Koch- 

Grünberg,  Zwei  Jahre  unter  den  Indianern  II  82.  12)  Raum,  ARW  XIV  176; 

Schneider  77;  Rehse  135;  Spiet  h,  E.  432;  Burkhard,  Die  Völkerstämme  in  Süd- 
afrika 9:  Preuß  124.  129;  Stevenson,  XI.  ARBE  131.  414;  Sapper  289  ff.;  ARW 
1904,  453;  FR  III  316;  Warneck  ARW  XVIII  382;  KB  VI  2,  91.  13)  RV  I  31, 

10.  14)  Herond.     Mimiamb.  IV  11.  15)  Appel  103.  16)  Inst.  div.  IV  3, 

11.  17)  Dieterich,  Mutter  Erde  63.  19)  Preuß  245.  19)  AV  II  28,  4. 
20)  Dieterich  a.  a.  O.  45.  21)  Appel  10  1.  22)  Jastrow  I  406.  459.  23 )  Jastrow 
II  76.  24)  O.  Weber,  Arabien  vor  dem  Islam  (AO  III  1)  1902,  13;  Corp.  Inscr. 
Sem.  I  1,  195;  Rob.  Smith  195.  2S)  Koch- Grünberg,  Zwei  Jahre  unter  den 
Indianern  II  82.  28)  Preuß  245.  27)  Hamberger,  A  IV  312.  28)  Gesänge 
aus  dem  kath.  Andachtsbuch  Laudate  im  Bistum  Augsburg  1903  Nr.  146. 
")  Sapper  289  ff.;  ARW  1904,  469  f.  ao)  E.  A.  Wallis  Budge,  Egyptian  Magic 
(Books  on  Egypt  and  Chaldaea  II)  1901,  49.  31)  King  Nr.  12,  34;  vgl.  Langdon, 
Babylonian  Liturgies  127.  32)  Dorsey.  XI  ARBE  373.  378.  384.  3S)  Hahn 
58.  34)  Warneck  34;  vgl.  43.  35)  Warneck  63;  Brinton,  R.  107.  36)  Cod- 
rington 145  ff.  37)  Tylor  II  369.  38)  Farnell  177.  39)  Frazer  III  98. 
40)  Dorsey,  XL  ARBE  414.  41)  Reuther,  A  IV  1065.  42)  Preuß  124. 
4a)  Budge  a.  a.  O.  49.  44)  Smith  32  A.  19.  45)  Callaway  84.  48)  Nassau  39. 
47)  Schneider  153.  48)  Dorsey  a.  a.  O.  382.  49)  Faßmann,  A  IV  579;  Raum, 
ARW  XIV  199.  so)  Endemann,  Zeitschr.  Afr.  Sprach.  I  70.  51)  Spieth, 
R.  45.  62)  Waitz  I  178.  83)  FR  III  106.  54)  Gutmann  187.  68)  Hof- 
mayr,  A  VI  123.  66)  Od.  V  440,  445;  Herond.  Mimiamb.  IV  1.  18;  vgl.  Wünsch, 
ARW  VII  98;  Ausfeld  526.  67)  Cyl.  ACH  28;  III  3.  17;  IV  8  f.;  Stat.  E 
I  6 f.  68)  Appel  105.  6e)  Smith  44  ff.  60)  Ex  3,  12;  9,  1.  13;  Dt  4,  19; 
Kg  10,  18;  Greiff  34.  61)  Gen  23,  11;  1  Sm  1,  11;  2  Sm  7,  18;  1  Kg  3,  6. 
e2)  Gebhardt  79.  M)  PSPR  XI  334.  64)  La  magie  et  l'astrologie  dans 
l'antiquite  et  au  moyen  äge  1860,  8.  86)  Koch- Grünberg,  Zwei  Jahre  unter 
den  Indianern  I  p.  IV.  117.  86)  Paulitschke  II  19.  40.  *7)  Tanner  28.  31. 
••)  Sapper,  ARW  1904,  453  f. 


Anmerkungen  zu  Seite  150 — 163  517 


B.  Die  rituelle  Gebetsfornael. 
*)  Vedder,  ZK  I  6.         2)  Seligmann  128.         3)  Le  Roy  298.         4)  Junod  II  383. 
6)  Warneck  6.  «)  Codrington  146  ff.  ')  Winternitz  I  147  ff.  8)  Vgl.  O. 

Gruppe,  Die  griechischen  Kulte  und  Mythen  1887,  562  ff. ;  Wissowa  396  ff. 
9)  Über  die  verschiedenen  Anlasse  zum  rituellen  Gebet  vgl.  Appel  56  ff. ;  Winter- 
nitz I  150.  10)  Oldenberg,  V.  432.  u)  , ,111a  nmtari  vetat  religio  et  consecratis 
utendum  est."     Quint.  Inst.  or.  I  6,  40.  ")  Pbn,  Hist,  nat,  XXVIII  2;  Varro, 

Ant.  rer  div.  c.  14;  Usener,  Götternamen  74  f.     1S)  Cic.  de  har.  resp.  23.  14)  Cu- 

mont  112.  15)  Vgl.  Quint.  inst,  or  I  6,  40:  ,.Saliorum  carmina  vix  sacerdotibus 

satis  sunt  intellecta."  16)  Faßmann,  A  IV  579.      Porphyr,  de  abstin.   IV  9. 

1 7 )  Warneck,  ARW  XVIII  383.  • 8 )  Grube  41 ;  Plath  II  5  f ;  vgl.  II  9.  » 9 )  Wis- 

sowa  396;  Gruppe  a.  a,  O.  563.  20)  Wissowa  397  f.  21)  Oldenberg,  V.  430. 

")  Warneck,   ARW   18,   335.    377.  23)   Wissowa   397.  24)   Le   Roy   29S. 

")  Winternitz  I  440.  26)  Gilhodes,  A  IV  708;  Warneck,  ARW  18,  337.     An- 

legen reiner  Kleider  zum  rituellen  Gebet  war  auch  in  Assyrien  sowie  in  Griechen- 
land und  Rom  gebräuchlich.  Zimmern,  Beiträge  98.  113;  Od.  IV  750;  XVII  48; 
Deubner,   De  incubatione  25;  Appel   185  f.  27)  Warneck,  ARW   18,  335  ff. 

28)  Plath  II  8.  29)   Erschöpfende  Zusammenstellung  dieser  Redensarten  bei 

Appel  75  ff.  Vgl.  Ausfeld  518.  Beispiele  römischer  Ritualgebete  in  FR  III  258  ff. ; 
eine  vollständige  Sammlung  aller  literarisch  oder  monumental  überlieferten 
römischen  Gebete  bei  Appel  1  ff.  30)  Vgl.  Gruppe  563;  Appel  83  f.  M)  Preuß 

44  f.  47.  32)  Vgl.  die  von  Cato  aufgezeichneten  Gebetsformeln,  die  der  römische 

pater  familias  sprechen  soll.    Appel  28.  30.  33)  Warneck,  Religion  der  Batak  6. 

34)   Gilhodes,  A  IV  717.  3S)  Plath  II  6  ff.;   Grube  42  f.  36)  Usener  74  f. 

37)    Söderblom,   Tieles   K.    247.  38)    Oldenberg..    V.    394;   Winternitz    I    140. 

39)  ARW  XVIII  383.  40)  A  IV  717.  41)  Junod  II  384.  Vgl.  Erman  61; 
Cumont  38.  ")  ARW  XVIII  377.  43)  Wissowa  397. 

O.  Der  H  y  m  n  u  s. 
*)  Freytag  bei  E.  Schmidt,  Anfänge  der  Literatur  12.  2)  Marc.  Avrel.  V  7. 

3)  Athen.  618  E.  4)  Appel  27.  5)  Plutaroh  qu.  Gr.  c.  36.  p.   299  a.  ")  Sap- 

per 293.  7)  Warneck,  ARW  XVII1.380.  8)  Hahn  58;  M.  Müller,  On  ancient 

prayer  11.  9)  Hahn  27.  10)  Le  Roy  301  f.  ll)  Warneck,  ARW  XVIII 

378  ff.  ")  Sapper  270.  13)  Warneck,  ARW  XVIII  382.  14)  Sammlung 

von  I).  Brinton,  Rigveda  Americanus,  Sacred  Songs  of  the  Ancient  Mexicans 
1890.  15)  Ägyptische  Hymnensammhingen:    E.    Naville,   La   litanie  au  soleil 

1875;  Lefebure,  Traduetion  comparee  des  hymnes  au  soleil  composant  le  XV. 
chap.  du  rituel  funeraire  egyptien  1878;  E.  Grebaut,  Hymne  ä  Amon-Ra  1875; 
G.  Daressy,  Hymnes  ä  Khnoum  (Recueil  de  travaux  relativfs  ä  la  philologie  et 
archeologie  egyptienne  37)  1905.  Hübsche  Auswahl  bei  Roeder,  Urkunden  zur 
Religion  des  alten  Ägypten  (RS1Y)  1915;  Breasted,  Development  of  Religion 
and  Thought  in  Ancient  Egypt  1912;  .f.  Lieblein,  Gammalegyptisk  religion, 
Kristiania    1883,   1  98  ff.  l6)  H.   Zimmern,  Babylonische  Bußpsalmen,   1885; 

E.  R.  Brünnow,  Assyrians  Hymnes,  ZA  IV  1889,  V  1890;  Reisner,  Sumerisch- 
babylonische  Hymnen  nach  Tontafeln  griechischer  Zeit,  Berlin  1896  (die  den 
jungen  Kopien  zugrunde  liegenden  Originale  reichen  in  viel  ältere  Zeit  zurück); 
L.  W.  King,  Babylonien  Magic  und  Sorcery,  being  the  Prayers  of  Lift  int;  o£  the 
Hand  1896;  Graig,  Assyrian  Religious  Texte,  2  Bde.  1895/97;  Bank,  Sumerisch- 
babylonisclie  Hymnen,  Leipzig  1897;  Gray,  The  Schamasch  Religious  Texts 
1901  (Diss.);  Th.  (J.  Pinches,  The  llymns  to  Tammuz  in  the  Manchester  Museum, 
Manchester  Memoirs  1904;  .r.  Böllenrücher,  Gebete  \ind  Hymnen  an  Nergal 
(Leipz.  sein.  Sind.)  1901;  .loh.  Sehn,  Hymnen  und  Gebete  an  Marduk  (Beiträge 
zur  Aflsyriologie  V)  L905;  l'my.  Hymnen  und  (iebete  an  Sin  (Leipz.  sein.  Stud.) 
1907;  .f.  Pinckert,  Hymnen  und  Gebete  an Nebo  (ebenda  Hl  1)  1907;  IL  Zimmern, 

Surneiisch-hahylonische    Tariunuzliedei-    (Ber.    il.    phil.-hist.     Kl.    der    Sachs.     Ak. 

d.  Wissen«  h.f  1907;  Et,  Oombe,  Histoire  du  eulte  d*-  sin  L908;  st.  Langdon, 
Sumerian  and  Babylonian  E*saima  1909;  1).  W.  Myhrman,  Babylonian  Prayers 
and  Hymns  (Public,  ot  the  BabyL  Beet.  <>i  the  l  niversity  of  Pennsylvania)  1911; 
H.  Radau,  Sumerian  Hymns  u>  the  (iod  Ninib  (The  Babylon.  Blxpedition  of 
the  Univ.  oi  Pennsylvania)  1911;  Schollmeyer,  Sumerisch- babylonische  Hymnen 


518  Anmerkungen  zu  Seite  163 — 171 

und  Gebete  an  Schamasch  1912.  Auswahl  bei  H.  Zimmern,  Babylonische  Hymnen 
und  Gebete,  AO  VII  3,  1905;  XIII  1,  1911;  M.  Jastrow,  Die  Religion  Assyriens 
und  Babyloniens  1905/12;  A.  Ungmid  in  Greßmann,  Altorientalische  Texte  und 
Bilder  1909  I  188  ff.;  P.  Jensen,  Texte  zur  babylonisrhen  Religion.  KB  VI  2. 
1905,  66  ff.;  J.  Keim.  Die  biblische  und  babylonische  Gottesidee  1913.  17)  11. 

Graßmann.  Rigveda  1876/7;  Alfred  Ludwig,  Rigveda,  6  Bände  1876 — 88;  Vedic 
Hymns  translated:  I  by  M.  Müller  (1891).  II  by  H.  Oldenberg  (1897),  SBE  vol. 
32.  46;  A.  Bergaigne,  Quarante  hyumos  du  Rigveda  trad..  Memoirs  de  Sooiete 
Linguiste  VIII;  Auswahl  bei  Geldner  und  Kägi,  Siebenzig  Lieder  des  Rigveda 
1875;  L.  Scherman,  Philosophische  Hymnen  aus  dem  Rigveda  und  Atharvaveda 
1887;  A.  Hillebrandt.  Lieder  des  Rigveda.  QRG  1913.  18)  Snedorf,  De  hynmis 

veterum  Graecorum  1786;  XXII  1  ff.;  O.  Crusius,  Die  delphischen  Hymnen, 
Philologus  53  (1894)  Erg.  Heft;  Pomtow,  Zur  Datierung  des  delphinischen  Päan 
vind  der  Apollo-Hymnen.  Rhein.  Mus.  49  (1891)  577  ff. ;  Adami,  De  poetis  scaenicis 
graecis  hymnorum  sacrorum  imitatoribus,  Jahrb.  f.  Philol.  Suppl.  Bd.  26  (1901) 
215  ff. ;  Art.  Hymns  (Greek  and  Roman)  KHK  VII  40  ff. ;  Norden,  Agnostos  Theos 
143  ff. ;  The  Homeric  Hymns  ed.  Th.  W.  Allen  and  E.  E.  Sikes,  1904.  19)  Magie 

und  Zauberei  im  alten  Ägypten   14.  20)  Breasted  196.  21)   Roeder  p.    X. 

XII.  22)  Babylonische  Hymnen  6.  23)  Literatur  der  Babylonier.  119.   Vgl. 

Jastrow  I  427.  429;  Lnugdon,  S.  B.  P.  p.  I  ff.  Die  praktisch  rituelle  Zweck- 
bestimmung der  Hymnen  geht  auch  aus  den  in  zahlreiche  Hymnen  eingestreuten 
„liturgischen  Noten"  hervor.     Vgl.  Radau  43;  King  p.  XXVII  ff.  24)  Jastrow 

II  8  f.  117;  vgl.  120.  Nach  Langdon.  S.  B.  P.  p.  VII  ff.  ist  scharf  zu  scheiden 
zwischen  den  K  u  1 1  hymnen,  die  von  den  Sängerpriestern  (,,Psalmisten")  beim 
öffentlichen  Gottesdienst  im  Tempel  gesungen  weiden,  und  den  B  e  seh  wörungs- 
hymnen.  die  der  Zauberpriester  in  Hütten  auf  dem  Felde  für  bedrängte  Privat- 
personen verrichtet;  erstere  heißen  er-sem-ma  ,, Flötenpsalmen",  letztere  en  — 
sem.  Siptu,  „Beschwörung".  Nur  für  den  Privat  gebrauch  bestimmt  ist  die  Serie 
„mg  käti".    King  p.  XXIII.  25)  Oldenberg,  V.  2  f.  26)  Brinton.  R.  A.  17. 

20  f.  25.  44.  54  f.  68.  27)  Wundt,  V.   II  3.  144.  28)  Jastrow  II  123;  vgl. 

I  465.  Ein  babylonischer  Schöpfungsmythus  trägt  die  Überschrift  siptu  ,.Be- 
schwörung".  KB  VI  1,  38.  29)  Oldenberg,  V.  436.  Vgl.  RV  I  04.  1.  30)  Olden- 

berg, V.  4;  vgl.  Winternitz  I  67  f.      32)  Weber  116;  Winternitz  I  52.  33)  Vgl. 

Oldenberg.  V.   386  ff.         34)  Erman  61;  vgl.   Röder  p.   X.  35)  Cumont  113. 

3«)  Jastrow  II  4;  Langdon,  S.  B.  P.  p.  VII  ff.  37)  Langdon,  B.   L.  p.  VIII  f.; 

vgl.  S.  B.  P.  p.  IX.  38)  Langdon.  B.  L.  p.  IX.  39)  Zimmern,  Babylonis, ;he 

Hymnen  4;  Weber  120;  vgl.  Zimmern.  Sumerische  Kultlieder  aus  alt  babylonischer 
Zeit  1912.  p.  V.  40)  Weber  120;  vgl.  Jastrow  I  423  f.  41)  Langdon,  S.  B.  P. 

p.  III.  ")  Erman  61:  vgl.  98.  4S)  Babylonische  Hymnen  5.  44)  Weber 

116.  *6)  Jastrow  II  11.  117.  120.  46)  Winternitz  1  65.  83;  vgl.  Oldenberg, 

L.  31 .  47)  Charit epie  de  la  Saussave  II  3 10.  ls)  Kbenda  II  174.  49)  Wiede- 

niann    11:   vgl.   Breasted  97.  50)  Weber  19.    119;  vgl.   Langdon.  B.   L.   p.   LI, 

Zimmern.  ZA  VIII   121  ff.;  King  p.   XXVI  f.  5l)  Winternitz   l  54  ff.      Vgl. 

Bergaigne,  La  forme  metrique  des  hymnes  du  Rigveda,  Ac.  d.  Inscript.  C.  R. 
XVI  (1888)  232  ff.  62)  Oldenberg,  L.  33.  53)  Jastrow  I  458.  531.    Vgl.  auch 

Norden.  Agnostos  Theos  163  ff.  207  ff.  »*)  Brinton.  R.  A.  19.  24.  37.  41.  45. 

")  Brinton,   R.   A.   53.   57.  56)  RV   IV  18,  27.   42;  VI  9;   X  28,   51   f.    124. 

")  Arrian  Alex.  V  2,  295;  Lydus  de  mens.  p.  91.  Ovid  Met  IV  11  ff.  imitiert  den 
Stil  solcher  Hymnen.  58)  Roeder  22.  Vgl.  den  ältesten  ägyptischen  Sonnen- 
hymnus bei  Breasted  13  !'.  59)  Langdon.  S.  B.  P.  XIV.  80)  Jastrow  I  436  f. 
61)  KV  III  29,  7;  VI  7,  1  f.  (Alle  Rigvedazitate  nach  der  Übs.  v.  Killebrandt 
QRG.)  82)  Radau  44.  83)  Brinton,  R.  A.  18.  64)  RV  IV  19,  2.  8. 
eä)  RV  V  1.  8.  68)  Brinton.  R.  A.  28  f.  67)  Roeder  6.  88)  Jastrow  I 
448.  8*)  RV  II  23,  2  ff.  70)  Roeder  5  ff.  9  ff.  27  ff.  71)  Jastrow  I  501  ; 
vgl.  Roeder  23  ff.  72)  I  1.  1.  7.  73)  Jastrow  I  502.  74)  HI  32,  7. 
»•)  Jastrow.  I  500.  7B)  RV  V  83,  1.  77)  Roeder  1.  78)  Jastrow  1  509. 
79)  Brinton,  R.  A.  10.  80)  Foucart,  Histoire  des  religions  323.  81)  King 
p.  XXI II.  8B)  Winternitz  I  75.  83)  Jastrow  I  437.  84)  Jastrow  I  492. 
520.  f)23  f.  532.  536;  II  76.  113.  86)  Roeder  4  ff.  22  f.  27.  88)  RV  IV  19,  2. 
87)  Roeder  3.          88)  King  Nr.  6.  112.          88)  Jastrow  I  492.  502;  II  27.  •»)  Ja- 


Anmerkungen  zu  Seite   171 — 196  519 


strow  1  513.  91)  Boeder  7.  92)  Jastrow  I  437.  509;  II  75  f.  93)  RV  VI 

7,  7.  94)  KV  II  12.  2.  9i)  Boeder  2.  9.  96)  Jastrow  I  437.  97)  Brinton, 

B.  A.  24.  98)  RV  II  12,  13.  ")  RV  VI  7,  4;  9,  7.  ««)  Boeder  3.  7.  2::. 

101 )  Jastrow  II  67.  102)  Zimmern.  Babvlon.  Hymnen  2.  Ausw.  4.  10")  King 

Nr.  1. 15.  104)  Oldenberg,  L.  32.  10B)  Vgl.  Wundt.  V.  II  1,  006.  107)  Wiede- 

mann  5;  vgl.  ds.  ABW  VII  478.  108)  Oldenberg,  L.  32.  109)  Jastrow  I  501 

110)BVIVi6.  21;  19.  11.  ni)  Weber  126.  lls)  Oldenberg.  V.  434.  ll3)Vgl. 

Oldenberg,  V.  435.  n4)  BV  I  12,  11.  115)  Oldenberg  ,V.  435.  116)  Radau 

45.  117)   Jastrow  I   473.  118)   Jastrow   1   509.  119)   RV   I   12.   8;    IV   12, 

5;  V  53,    13.  12°)   BV   VI   9.   7.  121)   BV   I   135,  3;  II  31.   1;   I   12,  3.   10. 

122)  Jastrow  II  11.  123)  Boeder  57  ff.  l24)  Jastrow  II  31  f.  «•)  Jastrow 

II  58  f.  128)  Jastrow  II  69.  127)  Jastrow  II  16.  128)  Jastrow  I  504.  532; 

II  53.  57.  67  f.  78.  81  ff.  93.  98.  110.  129)  BV  I  25.  19;  VII  89.  130)  Jastrow 

II  69.  90  f.  104.  131)  BV  VII  89,  5.  132)  Jastrow  II  69.  87  f.  133)  BV  I 

24,    9.    11;    25,    21;    V    85,  7  f.;  VII  88,  7.  134)    Jastrow    II  86.    102.     105. 

13°)  Jastrow  II  72.  103.  136)  E.  Lehmann  in  Chantepie  de  la  Saussaye  II  3  14. 

137)  Winternitz  I  83.  138)  E.  Lehmann  a.  a,  O.  II  174.  139)  .Jastrow  II  35  ff. 

140)  Oldenberg,  L.  28.  141)  BV  V  11,  5.  l42)  BV  V  11,  5 ;  VI  16,  47.  139)  Ja- 

strow II  35  ff.  l40)  Oldenberg,  L.  28.  141)  BV.  V  11,  5.  142)  BV  V  11, 

5;  VI  16,  47.  143)  Oldenberg,  V.  436.  144)  Oldenberg.  L.  27  f.  145)  Pisehel, 

Die   indische  Literatur  (HKG    I    7)    166.  1U)    E.    Lehmann   a.  a.   O.    II    10. 

147)  Wundt,  V.   II  1,  606;  II  3,  665  f.  148)  Erman  98.  149)  Holwerda  in 

Chantepie  de  la  Saussaye  II  146.  150)  Jastrow  I  421.  151)  Weber  119.  133. 

182)  Winternitz  I  63.  65.  153)  A.  Baumeister,  Hymni  Homerici  1860,  Proleg. 

99    ff.         Stengel,     Griechische    Kultusaltertümer    74.  154)    Jastrow  II  123. 

ia5)  Boeder  62;  ähnlich  Breasted  329.  15s)  C.  B.  Markhain,  Andeans,  EBE  I 

470  f.  157)  Breasted  315  ff.  158)  Vgl.  Breasted,  De  hymnis  in  solem  sub 

rege  Amenophide  IV.  conceptis,  1894;  Development  of  Beligion  in  Ancient  Egypt 
324  ff.  159)  Boeder  68  ff.  16°)  Erman,  ZAS  38  (1900)  19  ff.;  Boeder  46  ff.; 

Breasted  345  ff.  161)  Jastrow  II  124  ff.  182)  Erman,  Ägyptische  Beligion 

98.  16S)  Boeder  63.  164)   Jastrow  I  433.   436.  165)  BV  VI  64;  übs.   v. 

H.  Brunnhofer,  Der  Geist  der  indischen  Lyrik  1882,  8  f.  166)  Boeder  66  ff. 

16T)  Jastrow  I  435  f.  168)  Erman  98;  Jastrow  I  433.  169)  Homeric  Hymns 

ed.  Allenand  Sikes  Nr.  30  p.  296  f. ;  FR  III 201.  17°)  Jastrow  I  345.  171)  Mark- 

ham, EBE  I  470  f.  172)  BV  VI  64.  4  f.  "«)  =  Anm.  171.  176)  Boeder 

«5.  176)    BV   V   85.  177)    Erman    99.  178)    Boeder    07.  179)    Gunkel. 

Israelitische  Literatur   (HKG   I  7)  88.  180)   Zusammenstellung  der  Parallelen 

bei  Jastrow  II  133  ff.  181)  Erman  99. 

D.  Das  Gebet  in  der  hellenischen  Kulturreligion. 
l)  Nägelsbach,  Nachhomerische  Theologie  211  ff.:  L.  Schmidt.  Ethik  der  alten 
Griechen  II  31  ff.;  Farnell,  Evolution  of  Beligion  202  ff.;  Ausfeld,  De  Graecorum 
precationibus  epiaestiones,  Jahrb.  f.  klass.  Phil.  Suppl.  Bd.  28  (1903)  503  ff. 
*)  Vgl.  Söderblom,  Tieles  K.  405  ff.;  Samter.  Beligion  der  Griechen  (NG)  19  ff.; 
Nägelsbach.  Homerische  Theologie  1810.  3)  Vgl.  Söderblom.  Tieles  K.  438  ff.: 

Samter  a.  a,  O.  74  ff.;  L.  Schmidt,  Ethik  der  alten  Griechen  1882;  Nagelsbach, 
Nachhomerische  Theologie  1857;  E.  Rohde,  Beligion  der  Griechen.  Kleine  Schriften 
II  314  ff.;  Farnell,  The  Higher  Aspects  of  Greek  Beligion  1912.  4)  Rhode  11 

3215.  6)  Bohde    II  325.  6)  Über    den    Sinn    von     aüXfQoovvi]     vgl.     Hat. 

Symp.  190  C:  ..Besonnenheit  wird  allgemein  als  Beherrschung  der  Lüste  und 
Leidenschaften  bestimmt".  7)  Farnell  a.  a.  O.  103.  8)  Rohde  11  329. 
9)  Xägolsbach,  N.  Tb.  217:  vgl.  L.  Schmidt,  Ethik  11  31.  10)  Oecon.  6,  1.  Vgl. 
Pseudodem.    Ep.    I   1.   4;  Marc.   Aurel.   VI   23.  n)  Tim.   27  C;   weitere   Stellen 

Ausfeld  508  t.  ")  Nägelsbach,  X.  Tb.  218  ff.  13)  Plut.  Mor.  803  F;  Ausfeld 
507.  14)  Antiph.  VI  45.  l6)  L  Schmidt  II  38  f.  19)  Arrian.  de  venat.  35; 
L.   Schmidt  II  31.  17)  Oecon.   Vll  7.  l8)  Plut.    Quaest.  conv.   III  7,   l ;  p. 

655  E.  ")  Xen.  Sympos.  2.  1 ;  vgl.  11.  IX  21!)  f.:  Od.  IX  231  f.  20)  Gruppe, 
Die  griechischen  Kulte  und  Mythen  561.  2I)  Hymn.  in  Jov.  94  ff.  sa)  Hom. 
et  Hes.  Cert.  Fragm.  157  ff.  ")  Plut.  Inst.  Lac  20  (Mor.  239  A).  ■«)  Fr.  22: 
Anthol.  Lyr.  ed.  Biller  p.  211.         »•)  Mem.   II  2.  14.         a«)  Collitz,  Sammlung 


520  Anmerkungen  zu  Seite    196 — 212 


der  griechischen  Dialektinschriften  3648  (III  369).  -7)  Athen.  694  C;  Bergk, 
Poetae  Lyrici  Graeci  III  643  f.  28)  Xenophon.  Oec.  XI  8;  Plut.  Mor.  116  D; 

:?51  C.  29)  Plut.  Mor.   116  D;  vgl.  Jsoer.  18,  6.  ,ü)  Xenoph.  Oecon.  XI  8. 

Weitere  Beispiele  Ausfeld  542.  31)  Fr.  31,  3;  Bergk,  Poetae  Lyrici  Grae<  i  II 

42.  32)  Roberte,  Greek  Epigraphy  I  304.  33)  Plut.  Quaste.  Conv.  III  6, 
4  p.  654  C.  34)  Sympos.  8,  15.  8B)  Ethik  der  Griechen  I  85.  ")  Heiler, 

Die  buddhistische  Versenkung  22  f.         37)  Aesch.  Ghoeph.  313.  398.  38)  Plut. 

Mor.   239   A;  vgl.    Pseudoplat.    Alcib.   sec.    148   C.  39)  Pseudoplat.   Alcib.   sec, 

113  A.  40)  L.  Schmidt  11  31.  35;  Od.  XX  61;  U.  IX  183;  Od.  XIII  356. 
4I)  L.    Schmidt  II   31;  Arrian.   de  venat.   35.  ")  Beispiele  L.   Schmidt   II   36. 

Vgl.  Aesch.  Sept.  116  ff.:  Ägam.  509  ff.  43)  Herod.  I  131;  Arist.  8.  Metaph. 
2  p.  46,  22;  Nägelsbach,  N.  IL  1.  Vgl.  die  feine  Analyse  L.  R.  Farneil,  Greece  and 
Babylon.  A  comparative  Sketch  of  Mesopotamian,  Anatolian  and  Hellenic  Reli- 
gions   1911,    192   ff.  14)  Pindar.   Isthni.   V  18;  vgl.   Olymp.   V  57. 

E.    Gebetskritik  und   Gebetsideale    des  philosophisch  e  n 

Denken  s. 
')  Vgl.  IL  Schmidt.  Veteres  philosophi  quomodo  iudicaverint  de  precibus  1907; 
Dibclius,    Die    Vorstellungen  vom    Gebet  in  der  alten   Kirche   (Das   Vaterunser 
1—50).  2)  Voltair.-,  Dictionnaire  Philosophique  s.  v.  Friere  (Oe.  C.  XX  275  f.) 

macht  auf  dieses  Büchlein  als  die  einzige  philosophische  Abhandlung  über  das 
Gebet   aufmerksam.  3)    Vgl.    C.    F.    Stäudlin,    Geschichte    der    Vorstellungen 

und  Lehren  von  dem  Gebet  1824,  261  ff.  4)  ECierocl.  in  carm.  aur.  c.   1  ed. 

Gaisford  p.  25;  vgl.  Demophil.  Sent.  Pyth.  7;  Max.  Tyr.  diss.  XI  8.  5)  Religion 

d.s  Geistes  319.  8)  Appellation  an  das  Publikum  67  (W.  W.  V  219).  7)  Nat. 

quaest.  II  35,  1.  8)  Nat.  quaest.   II  35.  9)  Religion  innerhalb  der  Grenzen 

der  bloßen  Vernunft ,  Ges.  Sehr.  VI  196  Audi.  10)  Diog.  Laert.  6,  42.  n)  Xen. 

Mem.   I  3,  2.  12)  Bias  bei  Stobaeus  V  29.  13)  Epict.  ed.   Schenkle  p.  479. 

")  Strom.  VII  7.  Mi  PG  9,  464  A.  15)  Xenoph.  Fragm.  (Diels)  1,  15  f.  19)  Phi- 

lostr.   Vit.   Apoll.    I  34,   1.  17)   Man.   31,   5.  18)   Diss.   XI  8.  19)   Strom. 

VII  7,  Mi  465  B.  20)  Ep.  10,  4.  2l)  Sat.  X  356  ff. ;  vgl.  Marc.  Aurel.  IX  40. 

-'-)  Diod.  Sicul.  X  9,  6.         ")  Philostr.  Vit.  Apoll.  Tyan.  IV  13;  40,  2,  a4)  Mo- 

la nges,   Oe.   C.   XXV  407;   Sermon  de  Cinquante,   Oe.    XXIV  438.  -')   Diod. 

Sicul.  X  9,  8.  "-•)  Xen.  Mem.  13.2;  vgl.  Valer,  Max.  Oecon.  VII  2,  1.  a7)  Phi- 

lostr. a.  a.  O.  IV  40,  20:  vgl  I  11.  2H)  Man.  53;  Arnim,  Stoicorum  fragmenta 

527.  29)   Ep.    107,    10.  30)   De   prov.    5,   5.  31)   Ed.    Schenkle  p.    158. 

")  Lettres  de  la  montagne  I  3,  Oe.  C.  VI  259.  33)  Oe.  C.  II  61.  34)  Oe.  C. 

XX IV    438;    XXV    407.  3i)    Vgl.    James,    Varieties    of    Religious    Expeiience 

38  ff.  36)  Heiler,  Die  buddhistische  Vei Senkung  21  ff.  53  f.  ")  I,  16;  III 

5.     10     ed.     Schenkle     55    f.  38)   Kant     a.  a.    O.      195.  39)    Ep.    41,    1. 

4n)  Diss  XI  8:  (Sokrates)  svyeio  fi.kv  dioig,  d  Xd  /j.  ß  ay  e  n  a  o'  tavtov 
avv£7iLV£v6i'TO)v  ixetvwv  doeii/V  V'f/';?-  41)  Strom.  VII  7,  Mi  457  B.  460  B: 
..So  wie  Gott  alles,  was  er  will,  vollbringen  kann,  so  erlangt  der  Gnos- 
tiker  alles,  um  was  er  fleht  ....  Wenn  der  nach  dem  Guten  Trachtend 
und  zugleich  der  Gnade  Eingedenke  um  etwas  im  Gebet  fleht,  wirkt  er  in  ge- 
wissem Sinne  selbst  zur  Erlangung  mit,  indem  er  eben  durch  das  Gebet  das  Er- 
sehnte freudig  ergreift,"  l-)  La  nouvelle  Heloise  VI  7,  Oe.  C.  IX  440  f. 
43)  Ep.  95,  50.  44)  Chantepie  de  la  Saussaye  I  3  157.  *6)  Les  oreilles  du 
comte  de  Chesterfield  c.  4,  Oe.  0.  X1XI  585.  '  46)  Irreligion  der  Zukunft  203. 
4')  Lün  Yü  7,  34;  Beville,  La  religion  cbinoise  329.  48)  Strom.  VII  7,  Mi 
456  C.  49)  Kant  a.  a.  O.  194  f.  60)  Alb.  Stolz,  Wilder  Honig,  Ges.  W.  VI 
242.  Tholuck,  Gebetserhörung  129.  61)  Dictionnaire  Philosophique  s.  v. 
Priere,  Oe.  (;.  XX  276.  tt2)  Willmann,  Geschichte  des  Idealismus  III  507. 
*')  Parerga  und  Paralipomena  II  2  405.  Vgl.  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
II  381,  wo  .•!■  Gebet  und  Kult  als  eine  ,, phantastische  Unterhaltung  mit  einer 
erträumten  Geisterwelt"  bezeichnet.  i4)  Fr.  5  (Diels).  i5)  Ep.  4L  1. 
ä0)  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft  195  Aura.  57)  Nat. 
qu.icst.  II  :iö  ff. ;  ep.  77,  12.  Vgl.  Vergib  Georg.  II  491;  Stob.  Eclog.  I  4;  Commod. 
I  16,  5.  °»)  Vett.  Val.  V  9  p.  220  ed.  Kroll.  i9)  Diss.  XI  3.  so)  Religion 
des  Geistes  319.          41)  Theologisch-politischer  Traktat  c.   6,  übs.   J.   H.   Kirch- 


Anmerkungen  zu   Seite  212 — 224  521 


mann  (Phil.  Bibl.)  1870,  91.  62)  Einleitung  in  die  Philosophie  285.  •»)  Geyer 

und  Rittelmeyer,  Leben  aus  Gott,  Neuer  Jahrgang  Predigten  1911,  295;  63b) 
Gebetsproblem  59.  84)  Einleitung  in  die  Philosophie  282.  86)  Catechisme  posi- 
tivstellO  ff.  68)  Reville  a.  a.  O.  330.  67)  A.  Bonhöffer,  Die  Ethik  des  Stoikers 

Epiktets  1894,  76.  83.  88)  Fr.  38  f.  89)  Man.  31,  5.  70)  Dibelius,  Vater- 

unser 27  f.  71)  Vgl.  die  Äußerung  Oe.  C.  XX  276:   ,,Toutes  les  nations  prient 

Dieu,  les  sages  se  resignent  et  lui  obelssent.  Prions  avec  le  peuple  et  resignons-nous 
avec  les  sages."  72)  Dibelius  20  ff.     J.  Van  Vloten  et  J.  P.  N.  Land,  Spinoza 

opera  1883  II  95.  »■)  Oe.  C.  II  61.  M)  Stob.  Ecl.  43  p.  130.    „Eine  schöne 

Sitte  ist  es,  den  Gott  beim  Beginn  des  Mahles  und  des  Frühstücks  anzurufen, 
nicht  weil  jemand  derlei  nötig  hätte,  sondern  auf  daß  wir  durch  die  Erinnerung 
an  Gott  in  eine  gehobene  Stimmung  versetzt  werden  (xutaxoa^&fjjuei'  tav 
xpvydv).  7S)     Diss.     XI    8.  T6)    Discours    sur    l'ensemble   du   positivisme 

1907,  374  f.         77)  Irreligion  202.  78)  Ebbinghaus-Dürr,  Grundzüge  der  Psy- 

chologie   II    1913,    558.  79)    Strom.    IV.    23:  Mi  PG  8,   1357  B.  80)  Pan- 

theistikon  übs.  v.  L.  Fentsch  1897,  131  f.  81)  Dorner  308  f.  82)  Irreligion 

207.  83)  Religion  des  Geistes  320  f.  84)  A.  a.  O.  195.  85)  Brief  an  Kiese- 

wetter   bei    Willmann,    Geschichte  des  Idealismus  III  507.  8S)  Dorner  310. 

87)  Religion  des  Geistes  320.  88)  Nos  quoque  existimamus  vota  proficere  salva 

vi  ac  potestate  fatorum.  Quemadmodum  enim  a  dis  immortalibus  ita  suspensa 
relicta  svmt,  ut  in  bonum  vertant,  si  admotae  preces  fuerint,  si  vota  suscepta : 
ita  non  est  contra  fatum,  sed  ipsum  quoque  in  fato  est.  Nat.  quaest.  II  37. 
B9)  De  or.  6,  Mi  PG  11,  433  C,  437  A.  90)  Pfeiffer  II  487;  vgl.  Büttner  I  14. 

Vgl.  auch  F.  E.  Beneke,  System  der  Metaphysik  und  Religionsphilosophie  1840. 
578  ff.  91)  Menegoz,  Gebetsproblem  62.    '      92)  Menegoz  a.  a.   O.   58  f.;  vgl.' 

16  u.  ö.  93)  An  Kiesewetter  bei  Willmann  III  507.  *4)  Religionsphilosophie 

21.  9S)  Vgl.  Menegoz.  40  f.  58  f.         98)  Albr.  Kalthoff,  Vom  inneren  Leben» 

Nachgelassene  Predigten  hsg.  v.  Fr.  Steudel,  Jera  1908. 

F.  Das  Gebet   in    der   Frömmigkeit    der    großen    religiösen 

Persönlichkeiten. 
I.  Eigenart. 
')  Hymr.  Veni  Sancte  Spiritus  (Missale  Romanum).  2)  Eutyphr.  14  B  f.; 

Pol.  290  C  (s.  o.  S.  508  Anm.  8).  3)  Am  5,  25;  Jer  7,  22:  P.  Volz,  Mose  1907.  85. 

4)    Der    Einfluß    der    kult losen    individuellen    Frömmigkeit    der   Propheten   und 
l'salmisten  tritt  im  nachexilischen  Judentum  stark  hervor.     Der  Opferkull   trat 
zurück;  auf  das  Gebet  wurde  besonderes  Gewicht  gelegt.    Stade-Bertholet  II  422. 
B)  Asclep.  80,  22;  Kroll,  Hermes  Trismegistos  329.  8)  Porphyr,  de  abstin.  II  34. 

7)  DiaL  c.  Tryph.  117.  ")  Strom.  VII  5,  31.     Weitere  Stellen  von  der  Goltz, 

Gebet  in  der  ältesten  Christenheit  165:  Franz  Wieland,  Der  voiirenäische  Opfer- 
begriff 1909  (Veröff.  d.  kirchenhist.  Sem.  München).  9)  Epist.  lib.  I  107, 
Mi  PG  7  9,  129.  10)  Walch  II  1J12.  ")  Gedichte  hsg.  v.  Ebeling  52. 
12)  Theologische  Ethik  IIa  189  f.  13)  Junod.  Life  of  a  South  African  Tribe  II 
454.  14)  Porphyr  sagt  von  den  ägyptischen  Priestern:  cuieiSoaav  6Xoy  vor  ^lot' 
ii  iün>  öewv  ihetüQia  xal  xhedaet.  De  abs*.  IV  6.  lä)  Curnont,  Orientalische 
Religionen  113.  18)  Cyl.  A  X11I  28  f.;  Thureau-Dangin  31.  17)  Koran, 
73,  1  ff.;  Mittwoch,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  islamischen  Gebets 
L913,  10  f.  18)  Acta  B.  Francisci  115  (ed.  Sabatier  p.  4);  Thomas  a 
Celano,  Leg.  I  c.  10  ed.  Alenconiensis  p.  24;  vgl.  c.  27  (p.  73):  Eius  tutissimus 
portus  erat  oratio  non  unius  existens  momenti  .  .  .,  sed  longa  tempore  .  .  .; 
.si  soro  ineipiebat,  vix  mane  finiebat;  ambulans,  sedsns,  comedens,  bihens  orationi 
erat  intentus."  1S)  Hase,  Catorina  von  Siena,  Ges.  W.  V  163.  165.  ao)  „Es 
gehet  kein  Tag  vorüber,  in  welchem  er  nicht  aufs  wenigste  drei  Stunden,  so  dem 
St  udieren  am  allei  bequemsten  sind,  zum  Gebet  nimmt."  Veit  Dieti  ich  an  Melamii- 
ilmii  1530  (W  XVI  2137).  Z1)  Böhmer,  Bekenntnisse  des  Ignatius  v.  Loyola  21. 
2*)  Leben  c.  29,  übs.  Hahn-Hahn  377.  *3)  Heppe,  Geschiihte  der  quietistischen 
Mystik  s;,.  2«)  Thomas  a  Celano,  Log.  II  c.  61  p.  95.  ••)  1  Thoss  5,  17; 
Eph  •'»,  IS;  Coli,  2;  Roe  12,  12;  1  Tim  5,  5.  ")  De  modo  bene  vivendi  serm.  49; 
Mi  PL  184.  1271.           2T)  Briefe  I  2,  99;  II  3.  46:J.          28)  De  or.   I   12.  2Ä)  In 


522  Anmerkungen  zu  Seite  224 — 238 

psalm.  ;i7.  14;  senn.  80  de  vevb.  ev.  Mt.  17.  ::>)  De  adhaerendo  Deo  13  (Opp. 
31,  537).  31)  Erl.  49,  115.  33)  Paradoxa  hsg.  Ziegler  249.  -)  Tersteegens 
Lieder  hsg.  v.  Nelle  17.  31)  Vgl.  A.  Deißmann,  Ev.  Wochenbrief  X.  F.  71/72 
(11)18).  35)  Poimandres  XIII  2;  Kn.ll.  Hermes  Trismegistos  361.  36)  6.  1; 
vgl.  11.  S-.  2t5,  3.  Montanus  bei  Epiphan.  Haeres.  18,  4:  „Siehe,  der  Mensch  ist 
wie  eine  Leier  und  ich  (der  Geist)  fliege  hinzu  wie  ein  Plektron".  37)  De  or. 

53;  Mi  PG  79,  1180.  38)  De  bono  persev.  II  2:;-,  in  psalm.  ins  sem  11.  2. 
Vgl.  Conf  1  1 :  „Tu  excitas,  ut  laudare  te  delectet."  „Invo  sal  be  fides  iura,  quam 
dedisti  mihi,  quam  inspirasti  mihi."  39)  Summ;-  Theol.  II  2  qu.  83  art.   15  ad  1. 

4J)  Im.  Chr.  III  21,  7.  41)  Lieder  hsg.  Nelle  160.  **-)  Leben  übs.  v.  .1.  Hahn- 
Hahn  Sl.  KM.  187.  196.  ")  Erl.  12.  1(50  (zu  Jo  16  2S).  4i)  Wahres  Christen- 
tum 11  1!)  (S.  272  f.);  II  :j7  (S.  :::<1 ).  4"J)  Di3cours  ton,  hin-  prayer,  Works  II 
45n  f.  46)  Tauperlen  und  Gottesstrahlen  571:  Goldenes  ABC  (Spurgeon- 
Anthologie)  übs.  v.  Zylinski  48.  47)  Nach  der  schwedischen  (Tbs.  v.  Zettersteen, 
PH  II  2,  981  f.:  vgl.  Tholuck,  Blutenlese  160  f.:  Nicholson,  Mystics  of  Islam  113. 
47  b)   Tholuck    182.         4H)   .Memorial;   Oe.   C.    1   348.  »•)    Letzte  Betrachtungen 

übs.  v.   Liebusch  66.  50)  Zwölf  Reden  über  die  christliche  Religion  180;  vgl. 

R,  Rothe.  Theologische  Ethik  II2  187.  189:  „Beten  ist  wesentlich  ein  von  Gott 
selbst  in  der  menschlichen  Willenstätigkeit  gewirktes  individuelles  Hilden  für 
Gott";  ,.ein  von  Gott  selbst  gewirktes  Begehren,  ein  Begehren  des  Betenden 
auf  den  Impuls  Gottes  hin."  51)  Wilder  Honig,  W.  6.  495.  S2)  Tiruväcagam 

transl.  Pope  2.   75.  53)  Tholuck,  Blütenlese  189.  54)  Paradoxa  249.  55) 

Heppe  471.  56)  M.  Buber,  Die  Lagende  des  Baal  Sehern  Prankfurt   1916  2.  15. 

s:)  Letzte  Betrachtungen  übs.  v.  Liebusch  69;  vgl.  4L  58)  Buchw.-Kaw.  8, 
74   f.  59)  Lieder  hsg.  Nelle  50.  60)  Wahres  Christentum  II  20  S.  266.     Vgl. 

Bunyan.  Works  II  450:  ..Wenn  ich  zum  Beten  trete,  finde  ich  mein  Herz  so  un- 
willig zuGott  zu  gehen,  und  wenn  ich  imGebet  verweile,  so  unwillig  in  ihm  zu  bleiben, 
daß  ich  bisweilen  in  meinen  Gebeten  gezwungen  bin  zuerst  Gott  zu  bitten,  er 
möge  mein  Herz  in  sich  selbst  versetzen,  und  wenn  ich  darin  bin,  es  dort  lassen." 
,;1;  Wilder  Honig,  W.  6,  193  f.  62)  Ps.  35  3;  Conf.  I  3;  vgl.  I  6.  63)  Priere, 

Oeuvres  II  29.  64)  Erl.  50,  125.  65)  Verkehr  des  Christen  mit   Gott  157; 

vgl.    Rothe,   Theol.    Ethik   II  *   188.  66)    Offenbarungen   V.    13.  67)   Vgl. 

Simmel,  Vbrformen  der  Idee,  Logos   1916,   103  ff.  68)  Lieder  hsg.    Nelle  S. 

Vgl.  Albertus  Magnus,  De  adhaer.     Deo  c.  13  (Opp.  öt.  537).  6S)  Tylor,  An- 

fänge der  Kultur  II  306;  Dorsey,  XI.  ARBE  390.  70)  Enn.  V  1,  6  (ed.  Müller 

II   I  17).  71)  Hom.  in  transfig.  10:  Mi  PG  96,  561  A.  72)  Oldenberg.  Buddha. 

Jim'.    360;    Heiler,   Buddhistische    Versenkung   8.  73)    Lieder   hsg.    Nelle   21. 

74,  Reügionsphilosophie  24  f.         75)  1  Sam  3. 10;  Imit.  Christi  III  2,  3.  76)  Lieder 

hsg.   Nelle  si.  77)  Pred.  zu  Jo  16  33,  Buchw.-Kaw.   6.  373:  Wie  man  beten 

soll.  Walch  X  1693.  78)  Vgl.   Söderblom,  Tieles  Kompendium  16  ff.;  Natür- 

liche Theologie  84  ff.:  Heiler,  Bedeutung  der  Mystik  für  die  Weltreligionen  1919. 
79)  Mystical  Element  of  Religion  I  61;  vgl.  I  90  ff.  80)  Pseudodionysius  Areo- 

pagita  X.  81)  H.  Windisch,  Die  Frömmigkeit  Philos  1909.  »*)  B.  A.  Nichol- 

son. Origin  and  Development  of  Sufism,  JRAS  1906  I.  329  f.;  The  Mystics  of 
[slam  1911.  ")  Troeltsch,  Soziallehren  der  christlichen  Kirchen  857.  84)  W. 

Koepp,   .Johann  Arndt  1911.  85)  DE  1916,   119.  86)  Unser   Gottesglaube. 

Bg  \"b  1908,  32;  vgl.   Döllinger.  Christentum  und  Kirche  136.  HT)  Works  II 

460.  88)Tischr.  15,  l;(Erl.  59.  2);v^l.  zuMt  6,  5  ff.  (Erl.  43,  172).  89)  Wahres 

Christentum  II  35.  00)  Erl.  43,  171.  9l)  Mystical  Element  of  Religion  II  91. 

92)  Die  Aufgabe  der  theologischen  Fakultäten  und  die  allgemeine  Beligions- 
geschichte,   Heden  und  Aufsätze  II  (1904)  168.  172  f.  93)  Ex.  5  22  f.;    17  !  ff. 

32  u.    31;    Num.    lliff.;   Jer   15  x.  äi)  Num  12  8;   Dt  34  10.  95)  Wellhause:;. 

Israelitische  und  jüdische  Geschichte  217.  96)  Jos  7,  4  ff.;  1   Sam  7,  8;  12. 

17  ff.;  Am  7,   1  ff.  97)  Wellhausen  a.  a.   O.  217.  98)  Israelitische  Volks- 

religion  und  die  Propheten  in  ..Das  Christentum"  (Wissenschaft  und  Bildung) 
1908,  21.  99)  Wellhausen  a.  a.  O.  143  f.;  vgl.  217.    Vgl.  Smend,  Alttestament  - 

lichen  Religionsgeschichte  255  f.  10°)  Ps  37,  25;  Cornill  a.  a.  O.  20  f.  101) 

Hefele,  Beiträge  zur  Kirchengeschichte,  Archäologie  und  Liturgik  II  340;  vgl. 
Le  Roy,  Gebetsleben  im  Psalter,  Monatsschr.  f.  Pastoraltheol.  VI  (1911)  144. 
102)  Das  Gebet  im  Judentum,  Jüdische  Skizzen  154  f.   Vgl.  Max  Müller,  On  ancient 


Anmerkungen  zu   Seite  238 — 210  523 


Prayer  (Studies  in  Memory  of  A.  Kohut)  10:  „Wenn  man  die  Hymnen  und  Gebete 
anderer  Religionen  gelesen  hat,  wird  mau  als  vorurteilsloser  Kritiker  nicht 
leugnen,  daß  die  hebräischen  Psalmen  unter  den  Gebeten  der  ganzen  Welt  einzig 
dastehen  durch  ihre  Einfachheit,  ihre  Gedankengewalt  und  durch  die  Majestät 
ihrer  Sprache."  103)  W.  Bousset.  Gott.  Gel.  Anz.  1903  I,  267.  104)  F.  Perles, 

Jüdische  Skizzen  10(5.  ,03)  Was  lehrt  uns  Harnack?      Jüdische  Skizzen  229. 

106)  Den  innre  gasten,  När  stunderna   växla   och  skrida  I    17.  lo:)  Jesus  57. 

108)  Religionsphilosophie  übs.  v.  Bendixen  111.  109)  Vgl.  R>-ne  Pfender,  De  la 

priere  juive  ä  la  priere  chretienne  1905.  54:  C'est  ä  hü  .  .  ..  qu'il  appertenait 
de  christianiser  la  priere  et  de  rompre  definitivement  avec  le  ja  daisme."  Vgl. 
Von  der  Goltz,  Gebet  in  der  ältesten  Christenheit  83 ff.,  95  ff.,  121  ff.,  152  f.  324; 
Deißmann,  Paulus    1911,   78  ff.  no)  Ap.-G.    7  59;   1    Kor.    16  B;   Apoc.    22  ,0; 

Did.  10  8.    Von  der  Goltz  130.         in)  Vgl.  Von  der  Goltz  132.  143.  Il2)  S.  u. 

Kap.  H.  Abs.  6.  n3)  De  or.  c.  15  f.  ,14)  Vgl.  Aug.  Conf.  XI  2.  22;  O.  Scheel, 

Die  Anschauung  Augustins  über  Christi  Person  und  Werk  1901,  452.  115)  Vgl. 

Vorwerk,    Gebet    und    Gebetserziehung  578.  116)   Vgl.    Misch,    Geschichte  der 

Autobiographie  1336.  11T)  Scheel  a.  a.  O.  462.    Vgl.  Seeberg.  Dogmengeschichte 

II  2  369  f.  387  f.:  Grandgeorge,  St.  Augustin  <-t  le  Xeoplatonisme  (Bibl.  de  l'ecole 
des  hautes  etudes)  1896.  118)  Augustins  Konfessionen,  Reden  und  Aufsätze  I 
(1904)  54.  119)  Vgl.  die  altdeutschen  Gebete  bei  K.  Müllenhof  und  W.  S-herer. 
Denkmäler  deutscher  Poesie  und  Prosa,  1864,  203  ff.;  ferner  Hauck,  Kirchen- 
geschichte Deutschlands  II  148.  764.  12°)  Thomas  a  Celano.  Leg.  I  c.  29  p.  80. 
121)  Mystik  im  Heidentum  und  Christentum  128.  122)  Vgl.  Edv.  Lehmann. 
Mystik  116  ff.;  Söderblom,  Religionsproblement  271  f.;  W.  Koepp,  Johann  Arndt 
11.  Bei  Bona, Ventura  suchte  Luther  Belehrung  über  die  Einigung  der  Seele 
mit  Gott  durch  Kontemplation  und  mystisches  Gebet.  Tischr..  Weim.  I  72. 
123)  Vgl.  z.  B.  die  echt  mystische  Gebetsbitte  in  Luthers  Betbü-hlein  von  1520 
(Erl.  22.  26  =  Weim.  10  II,  401):  „Gib  uns  eine  vollkommene  ledigliche  Ge- 
lassenheit, geistlich  und  weltlich,  ewiglich  imd  zeitlich."  124)  Inst.  Rel.  Christ 
I  907.  917.  12ä)  Die  Herausstellung  dieser  Tatsache  isi  ein  Verdienst  von 
Alt  haus  (Evangelische  Gebetsliteratur  im  Reformationsjahrhundert  1014). 
vgl.  o.  S.  11.  Vgl.  auch  W.  Koepp,  Johann  Arndt  12  ff.  1SS)  Vgl.  W.  Koepp, 
Johann    Arndt,    bes.    176.    255    ff.    264.    286. 

II.   Allgemeine  Charakteristik  der  beiden  Haupttypen  der  persönlichen 

Frömmigkeit. 
M  James.  Varieties  of  Religious  Experience  Lect.  IV — VII.  '-)  James  166  ff. 

8)  Söffding,  Religionsphilosophie  255  ff.  4)  Eucken,  Wahrheitsgehali  der 
Religion.  5)  Söderblom.  Studi.-l  av  religionen  72  ff.;  Religionsproblemenl 
inoin  Katolicism  och  Protestantism  1910.  238 — 283;  444 — 471;  Uppenbarelse 
(föredrag)  1910;    Tieles  Kompendium  16  ff.  221  f.:  Communion  with  Deifcy,  EIRB 

III  738  ff.;  Natürliche  Theologie  and  allgemeine  Religionsgeschichte  95  ff.  Söder- 
blom erbiicki  indei  Unterscheidung  dieser  beiden  Typen  die  „wichtigste  Distinktion 
der  gesamten  höheren  Religionswissenschaft  überhaupt".  Fresenius,  l^cr  Ver- 
such einer  mystischen  Begründung  (\cr  Religion  und  die  geschichtliche  Religion 
(Diss.)  29  nach  einer  persönlichen  Mitteilung.  6)  Dogmengeschichte  I\"  1. 
310  f.  Aura.  3.  Über  den  Unterschied  der  beiden  Typen  vgl.  auch  A.  W.  Erbkam, 
Geschichte  der  protestantischen  Sekten  im  Zeitalter  der  Reformation  1848  Ein- 
leitung; I.  A.  Eklund,  Nirväna.  En  i-eligionshistorick  andersökning  191  ff.; 
A.  Harnack,  I  >ie  Bedeutung  der  Reformation  innerhalb  der  allgemeinen  Religions- 
geschichte (Reden  und  Aufsätze  II)  297  ff.;  W.  Koepp,  Johann  Arndt  17:>  ff. 
")  siu«li(,  av  religionen  7_':  vgl.  Religionsproblement  243.  246  ff.  Bj  Suidas 
(Lexikon  II  !'-':'•  e •■!.  Bernhardy)  erklärt:  (ivot^Qia  ixty&q  naget  i<)  tobg  «xoioyia^ 
[iviii'  rö  un'iiia  xal  utidevl  tavta  itujyetofrat.  *b)  Oelsus  bei  Orig.  <•.  Cels.  \  II  39; 
ProcL  Theol.  Plat.  I  3;  Dionys.  de  myst.  theol.  c.  3.  Vgl.  Tholuck  Blütenlese 
aus  der  morgenländischen  Mystik  1.  6.  10.  ")  Bes.  S.  5.  293  i'C  der  genannten 
Schrift.  Koepp  unt  srscheidel  völlig  zutreffend  das  .mystische'  Eilement  in  der 
Religion  von  der  Mystik  <l.  h.  der  .mystischen  Sonderreligion'.  Vgl.  Loofs. 
Dogmengeschichte 4  186  :'.  Über  Mystik  vgl.  ferner  Edv.  Lehmann.  Mystik 
iip  Heidentum  um!  Christentum  (NG-)  1918  ::  J.  Zahn,  Einführung  in  die-  christ- 


524  Anmerkungen  zu    Seite  249 — 252 


liehe  Mystik  1918  a;  Friedrich  v.  Hügel,  The  Mystical  Element  of  Religion  as 
studied  in  St.  Catherine  of  Genoa  1908;  R.  W.  Inge,  Christian  Mysticism  1899; 
Personal  Idealism  and  Mysticism  1907;  J.  Pacheu,  Introduction  a  la  psychologie 
des  mystiques:  le  mot  et  la  chose  1901;  Psychologie  des  mystiques  chretiens 
1911,3;  J.  Chapman,  Mysticism  (Christian),  ERE  IX  90  ff.;  E.  Boutroux,  La 
Psychologie  du  mysticisme,  Revue  blanche  1902. 15.  mars  p.  321  ff. ;  H.  Aschkenasy, 
Grundlinien  zu  einer  Phänomenologie  der  Mystik,  Zeitschr.  f.  Philosophie  und 
phil.  Kritik  1911.  Bd.  142,  S.  145  ff.;  Bd.  144,  S.  146  ff.;  W.  Fresenius,  Mystik 
und  geschichtliche  Religion  1912;  W.  Koepp,  Mystik,  Gotterleben  und  Protestan- 
tismus 1913;  A.  Merx,  Idee  und  Grundlinien  einer  allgemeinen  Geschichte  der 
Mvstik  1892;  A.  Tholuck,  Blütensammlung  aus  der  morgenländischen  Mystik 
1825  Einl. ;  W.  Herrmann,  Verkehr  des  Christen  mit  Gott  1908  5  Einl. ;  W.  James, 
The  Varieties  of  Reliscious  Experience;  R.  Ott-;,  Das  Heilige  1917;  Texte  zur 
indischen  Gottesmystik  (RStV)  I  1917,  II  1918.  Einl.;  E.  Troeltsch,  Sozialleh/en 
der  christlichen  Kirchen  1911,  850  ff. ;  E.  Rohde,  Psyche  1903  II;  R,  A.  Nicholson, 
The  Mystics  of  Islam  1913;  Thomasius- Seeberg,  Dogmengeschichte  II  *  1889, 
261  ff.;  A.  Harnack,  Lehrbuch  der  Dogmengeschichte  1910  4  (besonders  Bd.  III); 
W.  Preger,  Geschichte  der  deutschen  Mystik  im  Mittelalter  1874 — 93;  A.  Hauck. 
Kirchengeschichte  Deutschlands  V  1,  1911;  .T.  Bernhart,  Bernhardinische  und 
Eckhartsche  Mystik  in  ihren  Beziehungen  und  Gegensätzen  1912;  L.  Zoepf,  Die 
Mystikerin  Margaretha  Ebner  1914 ;  G.  Siedel,  Die  Mystik  Taulers  1911 ;  H.  Heppe, 
Geschichte  der  pietistischen  Mystik  in  der  katholischen  Kirche  1875;  Geschichte 
des  Pietismus  und  der  Mystik  in  der  reformierten  Kirche  1879;  A.  Ritschi,  Ge- 
schichte des  Pietismus  1880,  6.  I0)  Lieder  hsg.  Nelle  135.  ll)  Vgl.  o.  Anm.  8. 
Die  Wendung  vom  .Verschließen'  der  Augen  ist  sehr  häufig;  z.  B.  Albertus  Magnus, 
De  adhaer.  Deo  2.  i  (Opp.  37,  524.  527);  Tersteegens  Lieder  hsg.  Nelle  110.  117; 
Imitatio  Christi  I  20,  6.  8:  III  1,  1.  126.  Vgl.  zum  folgenden  Plato,  Phaed.  83  A. 
Eckhart  hsg.  Pfeiffer  480,  1  ff.  ia)  De  adhaer.  Deo  2  (37,  524).  13)  Vgl.  Albertus 
Magnus,  De  adhaer.  Deo  4  f.  (31  p.  527).  14)  Offenbarungen  I  44  hsg.  Morel  21. 
15)  Leben  c.  32;  hsg.  Bihlmeyer  94.  16)  Lieder  hsg.  Nelle  117.  17)  Die  religiöse 
Erfahrung  als  philosophisches  Problem;  vgl.  Zoepf,  Margaretha  Ebner  8  f. 
18)  Plato,  Phaed.  67  C.  Rohde,  Psyche  II  181  f.  19)  Plotin.  Enn.  VI  9,  11. 
ao)  De  adhaer.  Deo  5  (31  p.  527).  21)  Pfeiffer  570;  Büttner  II  44  f.  22)  Leben, 
e.  49  i. ;  108.  174.  hsg.  Bihlmeyer.  Der  Gedanke  des  Entwerdens  wird  von  Mechtild 
von  Magdeburg  in  folgenden  sinnigen  Versen  ausgesprochen: 

.,Du  solt  minnen  das  niht. 

Du  solt  fliehen  das  iht   (—  Etwas). 

Du  solt  alleine  stan 

Und  solt  zu  nieman  gan, 

Du  solt  sere  unmuessig  sin 

Und  von  allen  dingen  wesen  fri"   (Offenb.   I  35). 

■»)  Yogasütra  Fatanjalis  1 .2;  H.  Beckh,  Buddhismus  II  s.  Index.  24)  Z.  B. 
Marabotto,  Vita  e  dottrina  Celeste  della  B.  Caterina  da  Genoa  c.  14  p.  38;  c.  30  p. 
83;  Eckhart,  Pfeiffer  574;  Büttner  II  50.  -5)  Tao-teh-king  c.  2.  43;  übs.   J. 

Grill  76.   99.  a6)  Heiler,  Buddhistische  Versenkung  21   f.  27)  Do  adhaer, 

Deo  4  (31  p.   527).  28)  a.  a,  O.  3  (p.  525).  28b)  Vgl.  H.  Koch,  Pseudo- 

dionysius  Areopagita  66  ff. ;  A.  Harnack,  Der  Eros  in  der  altchristlichen  Literatur, 
Sitz.Ber.  d.  Preuß.  Ak.  Wiss.  1918  phil.-hist,  Kl.  81  ff.;  Merx,  Idee  und  Grund- 
linien einer  allgemeinen  Geschichte  der  Mystik  1892;  R.  Otto,  Texte  zur  indischen 
Gottesmvstik,  Einleitungen;  Heiler.  Buddhistische  Versenkung  58  ff.  a9)  H. 

Scholz,    Glaube  und  Unglaube   in    der  Weltgeschichte  1911,  Anh.   197  ff.  30) 

Pfeiffer  484;  Büttner  I  9.  31)  De  adhaer.  Deo  c.  12  (31,  535  f.).  ")  De  div. 

nom.  c.  S  f.  ")  Über  die  Ekstase  vgl.  Martin  Buber,  Ekstatische  Konfessionen 

XI  ff. ;  Oesterreich,  Die  religiöse  Erfahrung  als  philosophisches  Problem  18  ff. ; 
P.  Beck,  Die  Ekstase.  Ein  Beitrag  zur  Psychologie  und  Völkerkunde  1906;  H. 
Wündisch,  Die  Frömmigkeit  Philos  1909,  60  ff.;  H.  Koch,  Pseudodionysius 
Areopagita  135  ff. ;  W.  Kroll,  Lehre  des  Hermes  Trismegistos  355  ff. ;  Zoepf. 
Die  Mystikerin  Margarethe  Ebner  41  ff.;  Joseph  Zahn,  Einführung  in  die  christ- 
liche Mystik  1908.  462  ff.  34)  S.  F.  Heiler.  Die  buddhistische  Versenkung  35  ff.; 


Anmerkungen  zu   Seite  252 — 260  525 

dortsei  bst  S.  84  f.  alle  weitere  Literatur.  35)    Theresa,  Leben  erzählt  von  ihr 

selbst  Kap.  4.  18.  20.  25.  34.  übs.  von  Ida  Kahn- Hahn  81.  231.  234  ff.  253. 
263.   322.    459.  36)   Vgl.    die   Sammlung  ekstatischer    Selbstbekenntnisse  von 

Martin  Buber,  Ekstatische  Konfessionen.  37)  Enn.  VI  9,  10  ff.  38)  Cheru- 

bimischer  Wandersmann  IV  11.  39)  Enn.   VI  9.   10   (ed.    Müller  II  p.  454). 

*<>)  Buber  217.  41)  Journal  intime  II  157.  42)  =  Anm.  39.  43)  Buber  217. 

44 )   Das   Heilige  5   ff.  ")  Brhad-Aranyaka-Upanishad  I    4,   10;    Chändogya- 

Upanishad  III  14;  VI  8  ff.  46)  Nicholson.  JRAS  1906  I.  237;  The  Mystics  of 

Islam  150  f.;  vgl.  ebenda  17.  119.  J.  Hammer- Purgstall  Geschichte  der  schönen 
Redekünste  Persiens  1818,  190;  Goldziher,  Vorlesungen  über  den  Islam  156.  163  f. ; 
Tholuck,  Blütenlese  105.  209.  281.  47)  Enn.  VI  9,  9.  48)  Didymus.  De  trin. 

3,  41 ;  Mi  PG  39,  984  A.  Vgl.  Anrieh,  Antikes  Mysterienwesen  89.  49)  Marabotto 

c.  14  p.  38;  vgl.  ebenda:  ,,11  mio  essere  e  Dion  non  per  sola  partieipazione  ma 
per    vera    transformazione    e   annichilazione    dell'    esser    proprio."  50)    Cher. 

Wandersmann  I  92;  VI  134;  vgl.  VI  129.  51)  Lettres  spirituelles.  II  187  bei 

Heppe,  Geschichte  der  quietistischen  Mystik;  ähnliche  Formeln  bei  Weinreich, 
ARW  XIX  165  ff.  52)  Phaed.  80  A;  95  C;  Tim.  41  C;  42  B;  Soph.  216  B; 

Theaet.  176  B;  Rep.  6,  500  D;  10,  611  E,  613  A.  63)  Chronik  der  Anna  von 

Munzingen,  Freiburger  Diözesanarch.  XIII  180.  54)  W.  Koepp,  Johann  Arndt 

271.  s5)  Anguttara-Nikäya  ed.  Päli-Text-Society  V  p.  320  und  öfter.  6«)  Vgl. 

P.  Volz,  Mose  1907,  80  f. :  ,,Die  israelitische  Religion  ist  als  die  Religion  des  Willens 
zu  bezeichnen,  ebenso  wie  ihre  genuinsten  Anhänger  als  ausgesprochene  Willens- 
menschen ....  Auch  die  Propheten  sind  Willensnaturen,  sie  wollten  auf  den  Willen 
einwirken,  den  Willen  neu  machen."  Kierkegaard,  Tagebuch  1855  (Venator,  Aus  den 
Tiefen  der  Reflexion  98):  ,,Nur  ein  Willensmensch  vermag  ein  Christ  zu  werden." 
37)  Walch  II  1104.  68)  Er].  48,  5;  49,  23;  63,  125.  59)  Weim.  10  III,  214. 

•°)  Erl.  47,  367.  61)  EH.  63,  124.  62)  Walch  I  1685  f.  63)  Spamer,  Texte 

aus  der  deutschen  Mystik.  64)  Staupitz,  Von  der  willigen  Nachfolge  des  Leidens 

Chiisti  78.  65)  Ausl.   d.    16  Art.,  CR  2,  88.  66)  Beck,  Ekstase  38:  „Gott 

ist  für  den  Mystiker  nur  der  Name  für  sein  Erleben."  Über  das  Verhältnis  von 
religiösem  Erleben  und  Gottesvorstellurg  vgl.  Höffdiug,  Religionsphilosophie 
167  f. ;  über  den  Gottesbegriff  der  Mystik  B.  Saint  Hilaire,  De  l'ecole  d'  Alexandrie 
1845,  XLV  f.  67)  Numenios  bei  Euseb.  Praep.  Ev.  XI  2;  Hotin.  Enn.  VI  9,  5; 

Poimandres  IV  5  (Kroll,  Hermes  Trismegistos  340);  Clem.  AI.  Paedag.  I  8,  71. 
S8)  Enn.  III  8,  9;  V  3,  11.  13;  4.  1 ;  VI  9,  5.  69)  De  adhaer.  Deo  4  (31  p.  526). 

70)  Chändogya-üpan.   VI  2.  71)  Pfeiffer  320.  72)  Leben  c.   51;  Bihlmeyer 

177;  ebenso  Angelus  Silesius,  Cherub.  Wandersmann  I  83.  73)  Pfeiffer  320. 

74)  Enn.   I  7.  1;  8,  2;  V  3,  11  f.  75)  Enn.  V  3,  13;  VI  7,  41.  76)  Buber 

216.  77)    Spamer,   Texte  zur   deutschen  Mystik  96.  78)  Brhad-Aranyaka- 

Upan.  II  :;.  6.  Vgl.  Angelus  Silesius,  Cher.  Wand.  IV  21:  ,,Was  Gott  ist,  weiß 
man  nicht;  er  ist  nicht  Licht,  nicht  Geist;  Nicht  Wahrheit,  Einheit,  Eins,  nicht 
was  man  Gottheit  heißt;  Nicht  Weisheit,  nicht  Verstand,  nicht  Liebe,  Wille, 
Güte;  Kein  Ding,  kein  Undintr  auch,  kein  Wesen,  kein  Gemüte."  Vgl.  auch 
Kroll.  Hermes  Trismegistos  12  ff.  7»)  Enn.  V  5,  6  (II  186);  vgl.  I  7,  1.  80) 

Cher.  Wand.  I  111.  81)  Pfeiffer  532.  8i)  Mutat.  nom.  14.  ")  Enn.  V  3, 

13;  5,  6.  Vgl.  Basilides  bei  Hippolyt.  VII  20;  Kroll,  Hermes  Trismegistos  20  f. 
84)  Iren.  adv.  haer.  I  11,  5;  weitere  Stellen  bei  Kroll,  Hermes  Trismegistos  8; 
H.  Koch,  Pseudodionysius  131.  8S)  Tao-teh-king  c.   1.   14.  25.  41,  übs.    Grill 

75.  85  ff.  98.  86)  Pfeiffer  288.  87)  Enn.  VI  9,  11  (II  455).  88)  Mutat. 

nom.  54,  post  Cain  19.  89)  Euseb.  Praep.  ev.  XI  18,  20.     Weitere  Stellen  bei 

Kroll  9.  90)  Enn.  I  7,  1  (I  55);  VI  6,  6;  7,  17  vgl.  V  3,  12;  vgl.  Numenius 

bei  Euseb.   Praep.   ev.   XI  18,  8.  91)  Harnack,  Dogmengesrhirht  *•  III*   111. 

92)  Senn,  in  Oant.  215,  16.  9S)  Cher.  Wand.  I  76.  94)  Geistliche  Lieder  hsg. 

Neue  132.  90)  Enn.  VI  9,  11  (II  455).  ••)  Opif.  mund.  8;  vit  cont.  1  (p.  476 

ed.  Mangey).  97)  Enn.  I  8,  2;  VI  9,  6  (II  499).  98)  Enn.  I  7.  1  (I  55).    Vgl. 

Kroll,  Hermes  Trismegistos  :;:;  II.  99)  Macarius,  Hom.  31,  1.  3.  ,0°)  Augustin. 

Boliloqu.   I  7.         101)  Vgl.  Koepp,   Johann  Arndt   219.  10i)  II  59;   111  11; 

VI  11  3.  103)  Kap.  62;  übs.  GrüL  110.  104)  Oltramare,  La  formule  bouddhique 
des  douze  causes  47  bei  Beckh,  Buddhismus  II  127.  10G)  Buddhismus   1    L23. 

10t)  Vgl.  Beckh,  Buddhismus  II   111    ff.:    Heiler,  Die  buddhistische  Versenkung 


.">2(i  Anmerkungen    zu   Seite   2i>0 — 27* 


35    it.,   84    ff.  I0:)   Strauch,   Margaret  ha   Ebner   und    Heinrich  von   Nördlingen 

142.  108)  Texte  zur  indischen  Gottesmystik  1917/8;  siehe  besonders  die  Ein- 

leitung. 109)  [mit.  Christ.  III  21,  1.  no)  Weim,  40  I.  360.  U1)  Vgl. 
Edv.  Lehmann,  Mystik  56  f.:  X.  Söderblom,  Natürliche  Theologie  97  ff.;  Werden 
des  Gottesglaubens  2<»7  ff.  u2)  August.  Conf.  I  4.  6.  ll3)'Erl.  15,  252. 
"*)  Vgl.  R.  Otto,  Das  Heilige.  11S)  Erl.  36,  2:57.  n6)  Erl.  1,  247;  2,  270; 

7.  159.  168;  12,  354f.;  15,  330.  532;  18,  :ill  1  ff.:  11.  246;  60,  LH;  Weim.  40  1, 
300  =  Walch  VIII  2040  f.  11T)  Vgl.  Samuel  Eck,  Religion  und  Geschichte. 
l18)  Enchiridion  p.  67  ed.  BJabinger;  O.  Scheel.  Die  Anschauung  Augustins  über 
Christi  Person  und  Werk  437.  ll»)Harnack,  Dogmengeschichte  III  121  ff.  ,80)W. 
ILeiriimnii.  Verkehr  des  Christen  mil  Gott,  Einleitung.  121)  Senn.  261,  7. 
Vgl.  O.  Scheel  a.  a.  O.  450  ff.  I22)  Vgl.  Albert.  Magn.  De  adhaer.  Deo  2  (31, 
524):  Per  hominein  (Christum)  in  Deum,  per  vulnera.  humanitatis  ad  intima 
divinitatis  suae."  123)  Lehen  c.  13;  Bihlmeyer  34.  Vgl.  J.  Zahn,  Christus 
in  der  deutschen  Mystik  191S  (Universitätsrede),  der  jedoch  den  geschichtslosen 
mystischen  Symbolismus  nicht  klar  herausstellt.  124)  Wernle,  Einführung 
ins  theologische  Studium  91.  Vgl.  .loh.  Keim.  Babylonische  und  biblische  Gottes- 
idee 272  ff.  ,25)  Erl.  Opp.  Exeg.  XIX  76  =  Walch  V  785  f.  126)  Erl.  20  J. 
L62;  Opp.  Exeg.  XXII  15  =  Walch  VI  75  f.:  Walch  VI11  07:  Erl.  47,  322. 
12~)  Zit.  Söderblom,  Tieles  Kompendiuni  521.  12x)  The  Mystical  Elemenl  of 
Religion  II  266.  ,29)  J.  Zahn,  Einführung  in  die  christliche  Mystik  81. 
l30)  Erl.  15.  358.  Vgl.  B.  H.  Grützmacher  Wort  und  Geist.  Eine  historische  und 
dogmatische  Untersuchung,  Leipzig  1902.  130  b)  Vgl.  Seeberg,  Dogmen- 
geschichte  II  s  453  ff.  l31)  Ausg.  Büttner  S.  70.  ,32)  Loofs,  Leitfaden  der 
Dogmengeschichte  '  320.  l33)  Sermo  81,  0;  Loofs  a.  a.  O.  396.  134)  Eckharts 
Lateinische  Schriften  bsg.  \'.  Denifle,  Archiv  f.  Literatur-  und  Kirchengeschichte 
des  Mittelalters  1886,  002.  13S)  De  hier.  eccl.  VI  3.  5:  Mi  PG  3.  530;  H.  Koch 
174  ff.,  (t.  Anrieh.  Das  antike  Mysterienwesen  und  sein  Einfluß  auf  das  Christen- 
tum 25.  136)  R.  O.  Franke,  Dighanikäya  (QRG)  1013  p.  X:  Beckh  II  20  ff. 
'")  Söderblom.  La  vie  future  d'apres  le  Mazdeisme  373.  Vgl.  R.  Otto.  Texte 
zur  indischen  Gottesmystik  I  112.  138)  Erl.  7.  71.  13B)  Erl.  41,  83;  52, 
15  und  öfter.  140)  Am  4.  0;  Hos  5.  4:  Jes  10,  22:  Jer  :>>,  7  ff.  )41)  Erl.  13, 
302:  10.  142;  1*.  20:  50.  241.  142)  Hans  Haas,  Amida  Buddha  unsere  Zuflucht 
(Texte  zum  japanischen  Sukhavati-Buddhismus)  1910.  ,43)  Vgl.  Koepp, 
Johann  Arndt  1X6  ff.  220  f.  ,41)  Seelenburg  IV  1;  Zahn.  Einführung  218; 
vgl.  Prancois  de  Sales,  Int  roduetion  ä  la  vie  devote  IV  13.  14S)Brhad-Aranyaka- 
Dpanishad  IV  4.  •>:'>.  146)  Dhammapada  39;  Suttanipata  520;  Bhag.-Gitä 
il  50.  147)  Erm.  VI  7.  34  (II  406).  148)  Offenh.  III  14;  hsg.  Morel  70;  vgl. 
1  44  S.  22.  '*•)  Maximen,  Anhang  zu  Madame  Guy on,  Ströme  übs.  v.  Kosegarten, 
Stralsund  J.S17,  150.  15u)  Pfeiffer  486;  Büttner  II  12.  ,61)  Buber  26. 
152)  Vgl.  Volz,  Mose  81.  153)  Helm.  Babylonische  und  biblische  Gottesidee  347: 
vgl.  344  ff.  Vgl.  auch  Jak  1  27.  «*)  Erl.  63,  1 25.  155)  Erl.  8,  65 ;  f . ;  I  2,  175  f. 
l5B)  VgL  Ernst  Troeltsch,  Soziallehren  da-  ein  ist  liehen  Kirchen  und  Gruppen 
(Ges.  Schriften  I)  1911.  »•»)  Soliloqu.  I  7.  1B8)  De  adhaer.  Deo  8  (31  p.  531). 
Vgl.  Elsbeth  S  t  a  g  e  I  in  der  Lebensbeschreibung  einer  mystischen  Nonne  (Mezzi 
Sidwibrin)  avisgesprochen:  „Und  mit  Worten  und  mit  Wandel  tal  sie  recht,  als 
niemand  wäre  denn  sie  und  Gott."  E.  Schiller,  Das  mystische  Leben 
der  Ordensschwestern  zu  Töß,  Diss.  1903,  2  1.  1S9)  Maximen  übs.  v.  Kosegarten 
a.  a.  O.  1C0)  De  sacr.  Abrah.  15  (Mangey  I  173).  Ähnliche  Äußerungen  hel- 
lenistischer Mystiker  bei  .Anrieh.  Das  antike  Mysterienwesen  69  ff.  161)  Nichol- 
son, Mystics  of  Islam  '.'>'!.  162)  Vgl.  Jos.  Hörmann,  Untersuchungen  zur  grie- 
chischen Laienbeichte  1913.  1G3)  Heppe,  Geschichte  der  quietistischen  Mystik 
337.  1M)  Haas,  Amida  Buddha  38  ff.  166)  Beckh,  I  22  f.  166)  Tiele, 
Geschichte  der  Beligion  im  Altertum  II  166.  167)  Hos  1,  2;  9,  1;  Jer  3,  1  ff.; 
Hes  16,  15  usw.  168)  Brief  an  Spalatin  1520  (Endres  II  328);  vgl.  II  344  f.; 
Weim.  7,  280  f.  834  f.           169)  Religion  der  Griechen,  Kleine  Schriften  II  330. 

170)  Soziallehren  der  christlichen  Kirchen  864  ff.;  vgl.  Koepp  Johann  Arndt  291. 

171)  Vgl.  Heiler,  Bedeutung  der  Mystik  für  die  Weltreligionen  10  ff.;  Söderblom, 
Tieles  Kompendium  288.  290.  17i)  Leben  c.  20,  übs.  Hahn-Hahn  256.  » 73)  Enn. 
VI  9.  9  (II  453).  17«)  Pfeiffer  549  f.;  Büttner  II  14.  17S)   Yasna  30,  10.  15; 


Anmerkungen  zu   Seite  278 — 2S9  527 

33,  3:  51,  5;  Tiele,  R.   A.    II  95  f.  1T6)  Vgl.   Höffding.  Religionsphilosophie 

übs.  Bendixen  278  f.;  Wernle,  Einführung  406  f.  1TT)  Vitae  Patrum  V  3  bei 

Hörmann  a.  a.    O.   27.  17S)  ..Der  griechische  Personalismus  mit  seinem  Ziel 

der  seligen  Kontemplation  schloß  keine  direkten  Antriebe  zur  Gesellschaft  in 
sich,  der  geistlichen  Anarchismus  der  Einsiedler  war  sein  höchstes  Ziel.  Die 
lateinische  Anschauung  von  den  zu  einer  societas  durch  gemeinsames  Handeln 
sich  verbindenden  freien  Personen  lehrte  die  Freiheit  im  Gemeinschaftsleben  zu 
betätigen  und  zu   suchen."      Seeberg.   Dogmengeschichte  II  2  433.  179)  Vgl. 

Söderblom,  Kallet  in  När  stunderna  växla  och  skrida  I  177  ff.;  Birgitta  och 
reformationen    (föredrag)    1916.  180)    Söderblom.    Tieles    Kompendium    529. 

181)  Tiele.  Geschichte  der  Religion  im  Altertum  II  333;  vgl.  II  165.  182)  Vgl. 

J.  Hauri.  Das  Christentum  der  Urgemeinde  und  das  der  neuen  Zeit  1901,  17.  24. 
183)  N.  Söderblom.  La  vie  future  d'apres  le  Mazdeisnie  ä  la  lumiere  des  croyances 
paralleles  dans  les  autres  religions,  etude  d'eschatologie  comparee  (Ann.  Mus. 
Guimet)  1901.  280—441.  Vgl.  Fr.  v.  Hügel,  The  Mystical  Element  II  1S2  ff.; 
Eternal  Life.  Edinbourgh  1912.  184)  zit.  Petr.  Lomb.  Sent  II  dist.  38  c  1;  vgl. 
Feuerbach,  Wesen  des  Christentums  228  ff. ;  Theogonie,  Ges.  W.  IX  192  ff. 
186)  Vgl.  Beckh  II  121.  ,86)  Cherub.  Wand.  VI  247:  vgl.  V  68.  187)  Erl. 

47,   369.  188)   Tiele.   R.    A.    II    162.  189)   Erl.    21.    183.  190)   Buber   26. 

191)  Erl.  21,  182.  192)  Vgl.  Loofs,  Dogmengeschichte  *  181 ;  Hauri,  Das  Christen- 

tum der  Urgemeinde  und  der  Neuzeit  22  f. ;  Koepp,  Johann  Arndt  287. 

III.  Das  Gebet  in  der  Mystik. 
*)  In  Tim  64  E  p.  209  ed.  Diehl.  2)  A.  a.  O.  65  E  p.  213.  3)  De  prof. 

relig.  II  72.  4)  Pfeiffer  544  f.;  Büttner  II  5.  5)  Deutsche  Gebete,  ausgevr. 

v.  Br.  Bardo  1917,  163.  6)  Tholuck,  Sufismus  106.  7)  Cassian  Coli.  IX  31. 

8)  Goldenes  Büchlein  178.  9)  Cher.  Wand.  IV  140.  10)  In  Tim.  65  E  p.  213. 

n)  Margaretha  Ebner  erzählt :  „Ich  ging  in  den  Chor  und  wollt  mein  Paternoster 
(so  nennt  sie  ihr  eigenes  mystisches  Gebet)  sprechen  und  fing  es  an.  Da  ward 
mir  eine  so  große  Freude  und  Gnade,  daß  ich  nimmer  beten  mocht, 
und  ward  auch  gebunden  auswendig,  daß  ich  mich  nicht  verwalten  mocht." 
Strauch  146;  vgl.  48.  67.  71.  12)  Div.  am.  14  ed.  Zagoraeus  II  62  b.  13)  Über 

den  Gegenstand  der  Meditation  s.  Vischnusmrti  97  (SBE  VII  287  ff.);  David 
v.  Augsburg.  Die  vier  Fittiche  geistlicher  Betrachtung  (Pfeiffer  I  348  ff.);  Ignatius 
v..  Loyola,  Exercitia  Spiritualia  zahlr.  Ausg.  Petrus  v.  Alcantara,  Goldenes 
Büchlein  2:'»  ff.;  Leben  der  hl.  Theresa  übs.  v.  Hahn  81.  134.  162.  169;  Francois 
de  Sales,  Lntroduction  I  9  ff.  Über  die  Betrachtung  des  Lebens  und  Leidens 
Christi  David  v.  Augsburg  a.  a.  O.  I  341  ff. ;  Zopf,  Margaretha  Ebner  56  ff.  116  ff. ; 
Wilms.  Beten  der  M> st ikei 'innen  113  ff.;  Puccini.  Vita  della  Maddalena  de'  Pazzi 
33  f.  41  ff.  —  Das  Gebet  der  Adelheid  Langmann  (Strauch.  Offenbarungen  der 
A.  L.  80  ff.)  stellt  eine  Betrachtung  des  Lebens  Christi  dar:  an  tue  Meditation 
über  eine  bestimmte  Einzelszene  schließt  sich  eine  mystische  Gebetsbitte  an, 
deren  Inhalt  eine  Beziehung  auf  den  Betrachtungsgegenstand  aufweist.  li)  IL'ei- 
:  i .  Die  buddhistis«  he  Versenkung  13  ff.  1S)  Wahres  Christentum  II  20,  S.  265. 
'")  Alb.  Magn.  De  adhaer.  Deo  c.  5:  Gertrud,  Exerc.  spir.  (Revelationes  Ger- 
trudianae  ed.  monachi  Solenmenses).  17)  TilLmann,  Gebet  nach  der  Lehre 
der  Heiligen  11  394  IT.  ,h)  Leben  c.  12:  ed.  Bihlmeyer  34.  ''•')  Strauch  85. 
20)  Ep.  130,  20  a«l  Prob.:  „Dicuntur  fratres  in  Aegypto  crebras  quidem  habere 
orationes,  sed  eas  tantum  brevissimas  et  raptim  quodamrnodo  Laculatas."  Bei- 
spiele mystischer  Stoßgebete  hei  Gertrud,  Leg.  div.  piet.  111  1!)  (Revel.  1  p.  219), 
Margaretha  Eibner,  Offenb.  hsg.  Strauch  109.  117.  Alphons  v.  Liguori  hei  Till- 
mann II  ::.">.s.  2<)  Ph.  Meyer,  Athosklöster  ZKG  XI  423.  ■■)  Nicholson, 
Mystics    of    Islam     15.  ™)   Predigten    hsg.    Vetter    101.  24)    Pfeiffer    1  375. 

25)  Leben  e.  15;  ILalm  203.  [gnatius  v.  Loyola  geriet  beim  Gebet  in  eine  so  tiefe 
Sammlung,  daß  ihm  das  Beten  des  Breviers  fast  unmöglich  wurde;  er  ließ  sich 
deshalb   vom   Papste  von  dieser   Verpflichtung  dispensieren.     Tillmann  1   17. 

26)  Enn.  V  1,6  ed.  Müller  II  146,  inuakeaanivoig  ov  Xöytp  yeyovfy  uXXä  i>]  tyvyjj 
ixTelvaair  l.atnohg  eig  ioyJtv  TiQÖg  ixelvov.  ,7)  Macar.  H'oin.  S  (Mi  PG  \\\  527  ff.): 
Chapmann,  Mysticism  (Christian)  E3RE  IX  91.  ")  Coli.  IX  25,  Mi  PL  1!>. 
SOI.          '•)   Discours    I   38    bei    Seppe,  Geschichte    der   quietistischen    Mystik 


528  Anmerkungen  zu   Seite  289 — 297 


471.  30)  Teresa,  lieben  c.  5  S.  88.  31)  Predigten  Taulers  ed.   Vetter  155; 

Tersteegen,  Briefe  I  184.  33)  Johann  v.  Kreuz,  SMS  XVIII  402;  Leben  der 

h.  Theresa  c.  6  S.  96.  33)  De  serm.  dorn,  in  monte  sec.  Mt.  II  11;  in  ps.  37, 

14.  34)  Teresa,  Camino  de  perfecion  86  (22);  Escritos  I  346;  SMS  2,  187; 
vgl.  Poulain,  Die  Fülle  der  Gnaden  I  1909,  68  ff.;  F.  Chatel  de  l'oraison  mentale, 
Löwen  1909;  Ludovic  de  Besse,  Die  Wissenschaft  des  Gebets,  übs.  Regensburg 
1909.  35)  Francois  de  Sales,  Introduktion  II  1,  2.  8.  36)  De  or.  27.  62  (Mi 
PG  79,  1173.  1180).  37)  Meyer,  ZKG  XI  418  ff.  38)  Predigten  hsg.  Vetter  68. 
3e)  In  einem  Weisheitsbuch  aus  dem  neuen  Reich  heißt  es:  „Bete  du  mit  einem 
wünschenden  Herzen,  in  welchem  alle  seine  Worte  verborgen  sind,  so  tut  er  deinen 
Wunsch  und  hört."  In  einem  Hymnus  an  Thot  heißt  es:  „Du  süßer  Brunnen 
für  den  Durstenden  in  der  Wüste;  er  ist  verschlossen  für  den,  der  redet,  er  ist 
offen  für  den.  der  schweigt.  Kommt  der  Schweigende,  so  findet  er  den  Brunnen." 
Erman,  Ägyptische  Religion  99;  vgl.  Breasted,  Development  of  Religion  in  Ancient 
Egypt  349  ff.  40)  Aeye  oiyij,  aiyfi,  oiyt},  av/xiiokou  &eov  Cüvtog  äq&äaiov. 
Dieterich,  Mithrasliturgie  6.  42.  41)  .ha  ocy/jg  xaSaoäg  xal  zGtv  tisqI  aiiov 
xafra(><l>v  IvvoiGw  ihntaxevofiev  aizöv  Apoll.  Tyan.  bei  Euseb.  Praep.  ev.  III  3; 
cfr  IV  13.  42)  Uä  otyijg  /uövrjg  {ftoanevezat,  Ps.  Jambl.  de  myst.  VIII  3. 
Weitere  Beispiele  H.  Koch,  Pseudodionysius  Areopagita  127  ff.,  H.  Schmidt . 
Veteres  philosophi  quomodo  iudicaverint  de  precibus  66  f.;  Kroll,  Die  Lehren 
des  Hermes  Trismegistos  335  ff. ;  Norden,  Agnostos  Theos  343  ff.  43)  Ein 
Süfi  sagt:  „Wer  Gott  kennt,  ist  stumm."  Nicholson,  Mystics  of  Islam  71. 
Vgl.  Jalal  ed-din  Rumi  bei  Edv.  Lehmann,  TR  293.  **)  Cher.  Wand.  I  240: 
II  19;  IV  11.          45)  Geistl.  Lieder  hsg.  Nelle  17  f. ;  vgl.  23.          46)  Traite  de  l'amour 

VI  1  p.  330  f.  47)  Offb.  II  24 ;  Morel  48.  48)  Traite  VI  1  p.  327.  49)  Heppe 
47;  vgl.  55.  71.  85.  60)  De  or.  IX  2.  5l)  Serm.  73,  Mi  PL  39,  1887.  62)  De 
or.  35  (Mi  79,  1173).  ")  De  fid.  orthod.  3,  26.  Die  mystische  Gebetsdefinition 
wurde  auch  von  Luther  übernommen;  z.  B.  Eil.  21,  166:  das  Gebet  ist  „eine 
Aufhebung  des  Gemüts  oder  Herzen  zu  Gott."  64)  Predigten,  Vetter  67.  101. 
")  Briefe  I  1,  126.  56)  Predigten,  Vetter  67.  67)  Hom.  33,  1;  übs.  Stiefen- 
hoferBKV.  S8)  Hom.  31,  1.  3.  Vgl.  Nilus,  De  or.  9,  11  (Mi  79,  1169).  59)  Dir. 
am.  12,  Zagoraeus  II  79  b.  90)  Offb.  V  21,  Morel  145.  ")  Strauch.  Marga- 
retha  Ebner  162.  62)  III  15,  4;  23,  10;  IV  16,  2.  63)  Nelle  108.  S4)  Wahr. 
Christ.  I  12  f.  17  f.  21;  III  8  (S.  49.  53.  68.  72.  81.  453).  Vgl.  Nilus  de  or.  36 
(Mi  p.  1176).  65)  Sohl.  I  5  f.  88)  Div.  am.  3,  5;  Zagoraeus  II  61  a;  40  b.  z. 
87)  Im.  III  5,  2;  23,  8;  25,  4.  S8)  Wahr.  Christ,  I  8.  41 ;  II  23  (S.  36.  167.  273). 
*8)  Briefe  I  1,  242.  70)  Tileston,  Great  Souls  at  Prayer  165.  Vgl.  Nilus,  de 
or.  37,  (p.  1176)  71)  =  Anm.  66.  72)  Offb.  V  37,  Morel  211.  73)  Offen- 
barungen hsg.  Strauch  83.  74)  De  elev.  mentis.  Opp.  II  p.  414;  vgl.  Soliloqu. 
anim.  3,  I  p.  208.          75)  Wahr.  Christ.  II  8  S.  219;  vgl.  I  4  S.  21.          7$)  Im.  III 

15,  4;  21,  2.  77)  Nelle  2.  129.  132  f.  78)  Tileston  a,  a.  O.  10.  79)  Strauch 
162  f.  8°)  Stirn,  am.  III  17.  81)  Im.  III  15,  3.  82)  Conf.  X  29.  83)  Nelle 
50.  71.  111.  84)  Sohl.  I  6  f.  85)  Orat.  2,  Mi  PL  158,  862.  86)  Im.  III 
27,  5.  87)  Missale  Romanum,  Grat.  act.  post.  missam.  88)  Wahr.  Christ.  I 
24  S.  94.  89)  Nelle  128.  90)  Solu.  I  5.  S1)  Hymnus  adoro  te,  Missale 
Romanum.  92)  Tileston  a.  a.  O.  35.  93)  Conf.  X  29.  94)  Offb.  II  3, 
Morel  27.  95)  Staupitz,  Von  der  Nachfolgung  des  willigen  Sterbens  Christi. 
Anh.  S.  109.  137.  96)  Tileston  35.  97)  Pope,  Tiruväsagam  48.  88)  Or. 
17,  Mi  158,  895.  99)  Missale  Romanum  a.  a.  O.  10ü)  Im.  III  5,6;  Sohl.  8; 
opp.Ip.224.          10))  Wahr.  Christ  123  (S.  91).          102)  Briefe  II  3,  312.          103)  Offb. 

VII  21,  S.  239.  104)  Pope  75.  105)  Div.  am.  1;  Codex  Monacensis  graecue 
177  fol.  210  a.  10«)  Goldenes  Büchlein  155.  107)  Strauch  162.  108)  Wahr. 
Christ,  III  1,  S.  434.  109)  Nelle  3.  67.  no)  Conf.  I  5.  in)  Pope  83. 
112)  Im.  III  21,  4  f.  lia)  Div.  am.  1 ;  Cod.  Mon.  graec.  177  fol.  209  a.  114)  Offb. 
hsg.  Strauch  81.  116)  Sohl.  I  5.  "•_)  Pope  83.  117)  Div.  am.  19;  Zagoraeus 
II  45  b.  118)  Exerc.  5;  Revelationes  I  p.  660.  119)  De  elev.  ment.,  opp.  II 
p.  401  f.  iao)  Briefe  I  1,  242  f.  121)  Strauch  162.  122)  Staupitz  a.  a.  O. 
Anh.  111.  137.  123)  Div.  am.  19;  Zagoraeus  II  45  b.  124)  Pfeiffer  I  374. 
125)  Offb.  IV  5.  S.  100.  126)  Vishnu-Puräna  V  23.;  Monier  Williams,  Indian 
Wisdom  520.          127)  Pope  70.          12s)  Im.  III  21,  3.          129)  Goldenes  Büchlein 


Anmerkungen  zu   Seite   297 — 309  529 

156.  13°)  Buber,    Ekstatische    Konfessionen  15.  131)  Exerc.   4;  Revelat.   I 

p.  646.  655.  13a)  Nelle  155.  159.  172.  133)  Strauch  165  f.  134)  Pope  248  ff. 

135)  Exerc.  6;  Revel.  I  p.  677.  136)  Büchlein  der  ewigen  Weisheit  c.  24;  Bihl- 

meyer  313.  Vgl.  auch  das  Gebet  der  Katharina  von  Genua,  Marabotto  c.  49 
p.  151.  137)  Im.  III  48,  3;  Sohl.  7.  20  (I  p.  222  f.  303).  13a)  SMS  18,  374. 

*39)  Enn.  V  5,  8  (Müller  II  189).       .  140)  Enn.  I  6,  7.  141)  Nelle  1.  142)  Conf. 

IV  1;   Sohl.   I  2  ff.  143)  Or.   17;  Mi  150,  894.  14*)  Böhmer,  Analecta  69. 

145)  Acta  B.  Franc.  1,  15  ff.,  ed.  Sabatier  p.  4.  14s)  Im.  III  34,  1.  147)  Leg. 

div.  piet.  III  66;  Exerc.  5.  6;  Revel.  I  p.  243.  659.  681.  148)  Pfeiffer  I  362. 

149)  Im.  III  21,  1  f.;  de  elev.  ment.,  Opp.  II  p.  410  f.  1S0)  Goldenes  Bümlein 

155.  151)  Via  perf.  c.  22;  SMS  II  189.  m)  Div.  am.  2;  Zagoraeus  II  59  a. 

*53)  Offb.  I  8.  12.  20;  III  2  (S.  8  ff.  62).  154)  Pope  5  f.  15S)  Conf.  I  4. 

»")  Div.  am.   15;  Cod.  Mon.  graec.   177  fol.  232  b.  15')  Pfeiffer  I  362.  366. 

158)  Vishnu-Puräna  12;  Monier  Williams  Indian  Wisdom  498.  159)  Deussen, 

Sechzig  Upanishads  328.  160)  Pope  49.  1<51)  Puccini,  Vita  della  b.  Maddalena 

de'  Pazzi  158.  16a)  Conf.  V  1.  183)  Or.  17,  Mi  150,  894  f.  164)  Böhmer, 

Analecta  23  f.  16s)  Im.  III  49,  5.  168)  E.  W.  Roth,  Das  mystische  Leben 

der  Nonnen  von  Kirchberg  bei  Sulz,  Alemannia  21  (1893)  127  ff.;  Wilms,  Beten 
der  Mystikerinnen  53  ff.  167)  Pope  40.  1S8)  Leben  c.  25;  Hahn-Hahn  331. 

169)  Exerc.  6;  Revel.  I  678  f.  681  f.  17°)  Goldenes  Büchlein  160.  171)  Buber 

17.  172)  Sohl.  I  5;  Conf.  X  6.  173)  Act.  B.  Franc.  9,  62,  ed.  Sabatier  36. 

174)  Marabotto  c.  3  p.   10.  175)  Exerc.   4;  Rev.   I  654.  17S)  Puccini,  Vita 

della  B.  Maddalena  de'  Pazzi  161.  177)  Soliloqu.  I  5.  178)  Im.  III  17,  2.  4. 

179)  Exerc.  spirit.  hebd.   4.  180)  Leben  c.   21    S.   275  übs.   Hahn-Hahn;  Weg 

der  Vollkommenheit  c.  55  (32);  SMS  2.  230  f.  181)  Briefe  1 2,  182.  182)  Tileston 

109.  183)  Pope  91.     276.  184)  FR  II  1,  676.  185)  Otto,  Vishnu  Näräyana 

50.  184)  Nelle  2.  47.  134;  vgl.  106.  109.  120.  135  f.  187)  Geistliche  Gedi-hte 

hsg.  v.  Knapp  128.  188)  Exerc.  6;  Rev.  I  677.  189)  Im.  IV  9,  1.  190)  Wil- 

son,  Selected  works   I   271.  191)   FR   II   1,   676;    Grierson,   JRAS   1903,   457. 

19a)  Nelle  9;  vgl.  118.  193)  Greith,  Deutsche  Mystik  im  Predigerorden  144  f. 

194)  Offb.  VI  12,  Morel  186.  195)  Offb.  VII  51  S.  265.  19S)  Div.  am.  14.  17; 

Zagoraeus  II  6  a.  62  b.  197)  Conf.  XI  2;  XII  2.  198)  Act,   B.  Fr.  9,  37  ff. 

ed.  Sabatier  p.  35  ff.    Der  Heilige  erklärt  Bruder  Leo  diese  Gebetsworte:  ,,Quando 

ego  dicebam:  Quid  es  tu  etc videbam  abyssum  infinitae  bonitatis  divinae 

et  profundum  lacrimosum  vilitatis  meae.  Proptera  dicebam:  Quid  es,  Domine, 
summe,  sapiens  et  summe  bone  et  summe  clemens,  ut  visites  me,  qui  summe 
vilis  et  vermiculus  unus  modicus  abominatus  et  despectus  sum."  Vgl.  Dionysius 
Cartesianus,  de  pass.  Domini  art  1  (opp.  XXV  27):  ,,Ad  orationem  exigitur  atque 
in  ea  includitur  consideratio  majestatis  ac  pietatis  divinae,  defectuositatis  quoque 
propriae."        199)  Imit.  Christ.  III  3,  6.  20°)  Exerc.  4;  Rev.  I  655.  201)  Div. 

am.  17;  Zagoraeus  II  6  a.  202)  Pope  226.  276.  203)  Buber  15.  204)  Leben 

c.  18  S.  228.  a06)  Nelle  28.  20S)  Div.  am.  20 ;  Zagoraeus  II  46  b.  a07)  Exerc. 

3;  Revel.    I  634.  ao8)  Vgl.   Weinreich,  ARW  XIX   165   ff.  209)   R.    Otto, 

Vishnu   Näräyana   I   88   f.  210)   Leidener   Papyrus    (Dieterich,   Abraxas    196; 

Reitzenstein,  Poimandres  17);  Gebet  des  Astrampsychos  (Reitzenstein  242); 
ophitisches  Evangelium  (Epiphan.,  Haeres.  26,  3;  Reitzenstein  242;  Kroll,  Hermes 
Trismegistos  47;  vgl.  44);  Markus  (Irenaeus  I  7,  2;  Anrieh,  Das  antike  Mysterien- 
wesen 89).  211)  J.  Hammer-Purgstall,  Geschichte  der  schönen  Redekünste 
Persiens  mit  einer  Blütenlese  aus  200  persischen  Dichtern,  Wien  1818,  190. 
212 )  Rubäjjät  bei  Goldziher,  Vorlesungen  über  den  Islam  156.  213)  Nicholson, 
Mystics  of  Islam  150  f.  214)  Buber  139.  216)  ARW  XIX  165  ff.  216)  Offb. 
III  5  S.  66.  217)  Nelle  2.  218)  Masnavi;  Tholuck,  Blütenlese  105;  vgl.  Edv. 
Lehmann,  Mystik  166.  219)  Serm.  :S32;  ep.  130,  9.  20.  25;  237,  7;  Conf.  XI  2. 
220)  Bust an;  Tholuck,  Blutenlese  241.  aai)  Masnavi,  Thohuk  124.  2")  Pfeiffer 
445  f.;  Büttner  II  101  f.  Vgl.  hiezu  H.  Denifle,  Meister  Eckharts  lateinische 
S  hilft  en  und  die  Gnmdnns,  hauung  seiner  Lehre,  Archiv  f.  Literatur-  und  Kirchen- 
geschichte des  Mittelalters  II  Berlin  1880,  516.  a23)  Pfeiffer  544;  Büttner  II  4. 
Vgl.  die  Handschrift  des  ,, großen  Tauler":  „Was  ist  des  abgeschiedenen  Herzens 
Gebet?  Die  abgeschiedene  Lauterkeit  kann  nicht  beten.  Denn  wer  betet,  der 
begehrt  etwas  von  Gott,  daß  ihm  etwas  werde  oder  daß  ihm  Gott  etwas  abnehme. 
Das  Gebot  34 


530  Anmerkungen  zu  Seite  309 — 310 


Nun  begehrt  das  abgeschiedene  Herz  gar  nichts.  Es  hat  auch  nichts,  dessen  es 
begehrt  ledig  zu  werden.  Darum  steht  es  ledig  allen  Gebetes  und  sein  Gebet 
ist  nichts  anderes  denn  ein  Einförmigsein  mit  Gott."  A.  Spamer,  Texte  aus  der 
deutschen  Mystik  des  14.  und  15.  Jahrh.  1912,  114.  224)  Marabotto  c.  6.  49  p. 

17.  153.  225)  Ps.  Jamblich  de  myst.  V  26  p.  236  ff.  ed.  Parthey.  220)  Tholuek. 

Sufismus,  sive  Persarum  theosophia  pantheistica  103.  227)  Traitö  VI  1  p.  327. 

228)  Die  Gebetsskala  des  Pseudo- Jamblich  (demyst  V  26)  und  Proclus  (In  Tim 
64  f.  p.  211  f.)  wurde  zuerst  von  H.  Koch,  Pseudodionysius  Areopagita  178  ff. 
behandelt,  im  Anschluß  an  ihn  von  H.  Schmidt  a.  a.  O.  50  ff.  229)  Algazäli, 

Quadr.    princ.   cod.   man.   pers.   45   bei  Tholuek,   Sufismus   103  f.  230)  Barth 

Religions  of  India  225  nach  Wilson,  Selected  Works  I  163;  Buber  6.  231)  Ein 

Ansatz  zur  Aufstellung  seiner  Gebetsskala  findet  sich  bei  Makarius,  der  dem 
„einfachen  Gebet"  d.  i.  der  Bitte  um  Gnade  und  Hilfe  das  „wahre  und  ungestörte 
Gebet",  „das  Gebet  im  Geist  und  in  der  Wahrheit",  d.  h.  die  mystische  oratio 
mentalis  überordnet,  Hom.  31,  4.  7;  19,  2.  3.  8.  J.  Stoffels,  Die  mystische  Theo- 
logie Makarius  des  Älteren  1908,  144.  In  der  abendländischen  begegnet  uns  die 
Idee  eines  Stufenganges  des  Betens  zuerst  bei  Joannes  Cassianus  Coli.  IX  25, 
Mi  PL  49.  801  f.  (vgl.  o.  S.  289),  der  dem  mündlichen  Vaterunsergebet  ein  höheres 
mystisches  Gebet  folgen  läßt,  Augustinus  (de  quant.  anim.  70  ff.)  konstruiert 
eine  siebenfache  mystische  Skala,  deren  letzte  Sprosse  die  „visio  atque  contem- 
platio  veritatis,  perfruetio  summi  et  veri  boni"  darstellt.  Es  handelt  sich  jedoch 
um  keine  spezifische  Gebetsskala.  Die  Siebenzahl  dürfte  auf  antikes  Vorbild 
zurückgehen;  vgl.  die  xXi(ja$  km&nvlos  der  Mithraslehre.  Origenes,  Contra 
Cels.  VII  22.  Dieterich,  Mithralsliturgie  183.  Die  Skala  des  Bernhard 
v.  Clairvaux  (de  scal.  claustr.  7)  ist  keine  spezifische  Gebetsskala,  aber  berührt 
sich  mit  den  Gebetsskalen  späterer  Mystiker.  Bonaventura  (Itin.  mentis  ad 
Deum  1)  unterscheidet,  entsprechend  den  sechs  Tagen  des  Schöpfungswerkes, 
„sex  gradus  illuminationum"  oder  „potentiarum  animae",  auf  denen  der  Mensch 
zur  „quies  contemplationis"  aufsteigt.  Diese  mystische  Skala  ist  ebenso  wenig 
wie  die  des  Augustinus  und  Bernhard  eine  „Gebetsskala"  im  Sinne  Davids 
von  Augsburg  oder  Teresas.  Die  erste  vollständige  Gebetsskala 
stammt  meines  Wissens  von  einem  deutschen  Mystiker  des  13.  Jahrhunderts; 
sein  Traktat  über  „die  sieben  Staffeln  des  Gebetes"  ist  bei  Pfeiffer,  Deutsche 
Mystiker  des  14.  Jahrhunderts  I  387  ff.  abgedruckt.  W.  Preger  (Geschichte  der 
deutschen  Mystik  im  Mittelalter  II  1881,  17  ff.)  erklärte  den  Franziskaner  David 
von  Augsburg  für  den  Verfasser.  P.  D.  Stöckerl  O.  S.  F.  (Bruder  David  von 
Augsburg,  Veröff.  d.  kirchenhist.  Sem.  München  1914,  205  f.)  hat  den  Nachweis 
erbracht,  daß  dieser  deutsche  Traktat  die  Übersetzung  eines  lateinischen  Traktats 
des  David  von  Augsburg  ist,  der  den  Titel  führt:  „septem  gradus  orationis" 
(cod.  lat.  Monac.  9667,  97  ff.);  die  deutsche  Übersetzung  kann  jedoch  erst  dem 
14.  Jahrhundert  entstammen,  da  sie  die  Spuren  der  Eckartschen  Mystik  auf- 
weist. Eine  ähnliche  siebenstufige  Gebetsskala  findet  sich  im  „Buch  der  sieben 
Grade"  (Th.  Merzdorf,  der  Mönch  von  Heilsbronn,  Berl.  1870,  69 — 125).  —  Eine 
besondere  Bolle  spielen  die  Gebetsstufen  in  der  nachreformatorischen  Mystik. 
Die  Gebetsskala  der  hl.  Theresa  (vgl.  RE  XIX  523  f. )  deckt  sich  in  den  Grund- 
zügen mit  jener  mittelalterlichen  Gebetsleiter.  Die  Gebetsskalen  des  Johann 
vom  Kreuz  (Abh.  von  den  Dörnern  SMS  XVIII  402  ff.),  Franz  von  Sales  (Traite 
1.  VI  f.),  P.  Lacombe  (Heppe  104;  vgl.  461),  Madame  Guyon  (Moyen  court  et 
tres  facile  de  faire  oraison),  Alfons  von  Liguori  (Tillmann  II  427)  zeigen  einen 
ähnlichen  Aufbau  wie  die  Gebetsskala  der  Teresa,  Eine  weniger  ausgebildete 
Gebetsskala  findet  sich  bei  Johann  Arndt,  Wahres  Christentum  II  20,  S.  262  ff. 
Die  ausführlichste  Beschreibung  der  mystischen  Gebetsstufen  findet  sich  bei 
dem  Jesuiten  Scaramelli,  Anleitung  in  der  mystischen  Theologie  aus  dem  Ital. 
Regensburg  1855,  I  2,  4 — 211.  Schon  der  eine  Umstand,  daß  er  nicht  weniger 
als  zwölf  Grade  des  übernatürlichen  Gebetes  unterscheidet,  zeigt,  daß  er  zu  künst- 
lichen Begriffsspaltungen  fortschreitet,  die  den  älteren  Mystikern  großenteils 
fremd  sind.  Über  die  Gebetsstufen  s.  auch  A.  Poulain,  Die  Fülle  der  Gnaden  1 
1909,  11  ff.  302  ff.  Saudreau,  Les  degr^es  de  la  vie  spirituelle  (Angers  1S97  2, 
deutsch  v.  A.  Schwabe  1901 )  war  dem  Verfasser  nicht  zugänglich.  232)  Räjendra 

Lala  Mitra,  The  Yoga  Aphorisms  of  Patafijali,  Calcutta  1883;  P.  Garbe,  Sämkhya 


Anmerkungen   zu   Seite  310 — 326  531 


und  Yoga  1896,  43  ff. ;  Beckh,  Buddhismus  II  46  f. ;  Heiler,  Buddhistische  Ver- 
senkung. 23s)  Beckh,  Buddhismus  II  15  ff. ;  Heiler,  Buddhistische  Versenkung 
1918.  44  f.  "*)  Ep.  11,3  (A.  Ries,  Das  geistliche  Leben  nach  der  Lehre  des  hl. 
Bernhard  1906,  172  ff.):  „servus,  mercenarius,  filius,  sponsa".  235)  Thom.  a. 
Cel.  Leg.  II  61  p.  241:  ,,Iöi  (im  Gebet)  respondebat  iudici,  ibi  supplicabat  patri, 
ibi  colloquebatur  amico,  ibi  colludebat  sponso."  286)  Cher.  Wand.  II  255: 
„Fünf  Staffeln  sind  in  Gott:  Knecht,  Freund,  Sohn,  Braut.  Gemahl".  237)  Die 
meisten  Literaturnachweise  für  die  folgenden  Ausführungen  in  den  obigen  An- 
merkungen 228—233.  238)  Guyon  7 ;  vgl.  Leben  der  h.  Theresa  154.  2S9)  Tho- 
mek,  Sufismus  103.  24°)  Gold.  Büchl.  139.  241)  SMS  18,  402.  443.  a42) 
Leben  c.  13  S.  186:  V2l.  81,  134.  179.  243)  Leben  c.  12  S.  163.  244)  Moyen 
14.  24fl )  Leben  e.  14  S.  187  tf.  24s)  SMS  18,  409.  247.^  Guyon  veranschaulicht 
diesen  Übergang  von  dem  gefühlsbetonten  Meditieren  in  die  reine  gefühlsmäßige 
Stimmung  mit  einem  drastischen  Bilde:  ,,11  faut  que  l'äme  avale  par  un  petit 
repos  amoureux  ce  qu'elle  a  mäche  et  goüte."  Moyen  S.  248)  SMS  18,  409. 
249)  Leben  188;  vgl.  196.  202.  250)  Leben  c.  16  S.  212  ff.  218.  251)  Moyen 
18  ff.  252)  A.ng.  Nik.  IV  p.  117:  Beckh  61  f.  253)  Heppe  465  f.  264)  Bubei. 
26.  2ä5)  Briefbüchlein  10;  Bihlmever  391.  258)  Pfeiffer  544;  Büttner  II  3. 
257)  Leben  c.  8.  27  S.  124.  345.  "6)  Moyen  22  f.  259)  De  mag.  2.  260)  Pre- 
digten hsg.  Vetter  101.  •")  Leben  c.  12,  übs.  Hahn-Hahn  164  ff.  282)  Moven 
7.  2«3j  Eth. ;  cod.  Coisl.  291  f.  225  (zit.  Holl,  Enthusiasmus  und  Bußgewalt  73). 
ac4)Nelle7.  265)  In  Tim.  65  Ep.  212.  206)  De  myst.  V  26  p.  237.  287)  Im. 
64  B  p.  211.  268)  De  or.  3  f.  (Mi  PG  79.  1168);  vgl.  34.  54,  p.  1173.  1177. 
268)  Eth.  2.  zu.  Holl.  Entmisiasmus  73.  27 ')  Z.  B.  II  .,,  3.  27  )  Leben  Kau.  6 
ff.  S.  96,  101.  126  f.  162.  272)  Introduetion  VI  1.  273)  Briefe  I  1,  7.  *74) 
Numenios  bei  Euseb.  praep.  ev.  XI  2.  Plotin.  Enn.  VI,  6  (II  147);  VI  7,  34 
(II  406):  9,  11  (II  450).  ■»■)  Sym.  eth.  5  a.  a.  O.  252  (Holl  39):  pöyos  &y& 
/j.6v<i)  3vvd)v  iw  (fut(  Div.  am.  1;  cod.  Mon  Gr.  177  fol.  210:  ö  tuöyog  noög  novor. 
27f)  Nelle  139.  141.  152.  277)  Ep.  140.  09.  2'*)  De  serm.  Dom.  in  monte 
sec.  Matth.  II  14;  ep.  130,  17  f.  21.  2'°)  De  div.  nom  3.  1  bei  H.  Koch,  Pseudo- 
dionysius  Areopagiia  183.          29°)  Buber  6.          2S1)   Cher.  Wand.  II  38;  III  S3 

Die    Varianten    des    mystischen    Gebets 
J)  Enn.     I  0,  7;  VI  9,  11.  2)  Oldonberg,  Lehre  der  Upanischaden   1915. 

")  Pope.  Tiruväcagain  XXXV;  R.  Otto,  Vishnu-Närayana  100.  108.  *)  Mithras- 

liturgie  179.  Vgl.  Reitzenstein,  Die  hellenistischen  Mysterienreligionen  1910, 
28  ff.         5>  De  abstin.  IV  6.  sv  Cumont,  Dir  orientalischen  Religionen  114. 

7)  Met.  XI  21.  8)  ARW  VII  398.  9)  Vgl.  Anrieh,  Das  antike  "Mysterien- 

wesen 114  f.;  vgl.  188  f.  10)  Ps.  Jamblich,  de  myst.  III  5  p.  111  unterscheidet 

ausdrücklich  drei  Stufen  des  GoHeserlebnisses:  1.  die  bloße  , Gegenwart'  des 
Ciöttlichen  (/ueiovaia),  2.  die  , Gemeinschaft'  mit  ihm  (xoivavia),  3.  die 
volle    ,Einigung'    {ii><ooig).  ll)   Offb.    IV   8    S.    102.  12)  Vgl.   Wilms,  Beten 

der  Mystikerinnen  nach  den  Chroniken  der  Dominikanerinnenklöster  97  ff. 
Über  den  täglichen  Kommunionempfang  der  Katharina  von  Genua  s.  F.  v.  Hügel, 
The  mystical  dement  I  11 !  ff.  Über  die  Sehnsucht  der  Mystikerinnen  nach  dem 
Kommunionempfang  vgl.  Maria  von  Oignies,  Acta  Sanctorum  ed.  Bolland.. 
Juni  IV  661  A.  Charakterist  isrh  ist  die  Bemerkung  ihres  Biographen  a.  a.  O. : 
.Idem  erat  ei  vivere  et  corpus  Christi  sumere".  1S)  TUlmann.  Gebet  nach  der 

Lehre  der  Heiligen  I  491.  14)  Siehe  F.  Laib  und  F.  J.   Schwarz.  Studien  zur 

Geschichte  des  Altars  1857,  27  ff.  59  ff.  72  tf. ;  Schnütgen,  Eine  neuentdeckte 
fUfharistische  Taube.  Jahrb.  d.  Vereins  v.  Altertumsfreunden  im  Rheinland  83 
(Bon:i  1887)  201  ff.;  J.  Hertkens,  Das  mittelalterliche  Sakramentshäuschen. 
Eine  kirnst  histoi is<-he  Studie  1  'JOS.  :'.  ff.;  F.  Kaible.  l).-i-  Tabernakel  einst  und 
jetzt.  Eine  historisi  he  und  liturgische  Darstollung  der  Andacht  zur  aufbewahrten 
Eucharistie  hsg.  v.  E.  Krebs  1908;  lijö  Hirn,  The  Sacred  Shrine.  A  study  in 
the  poetry  and  art  of  the  catholic  church,  London  1912  c.  IX:  The  Tabernacle. 
Über  die  Aussetzung  des  ,AUerheiligsten'  s.  J.  U.  Thiers,  Exposition  du  ?arcement 
de  l'autel,  Paris  1677;  Gihr,  Wetzer  und  Weite,  Kirchenlexikon  I  1713  ff. 
1S)  KU  11  2720.  »•)  Acta  San.  t.  Jim.  ed.  Holland,  tom.   IV  660  E;  vgl.  613  A. 

645.  068  B.  »)  Act.  Samt.  April,  tom  I  110  B  (freund!.  Hinweise  von  Dr.  Her- 
mann Scbneller-München).         ••)  Raible  a.  a.  O.  218.         '•)  K.   Schröder,  Dei 


532  Anmerkungen  zu   Seite  326 — 334 


Nonne  von  Engltha.1  Büchlein  von  der  Gnaden  Überlast  1871,  18;  Wilms  a.  a.  O. 
105.  ao)  J.   König,  Chronik  der  Anna  von  Munzingen,  Freiburger  Diözesan- 

archiv  13  (1880)  159.  161.  163,;  P.  W.  E.  Roth,  Das  mystische  Leben  der  Nonnen 
von  Kirohberg  bei  Sulz,  Alemannia  21  (1893)  115.  142;  F.  Vetter,  Da?  Leben 
der  Schwestern  zu  Töß  1906  (Deutsche  Texte  des  Mitt.  hsg.  Preuß.  Ak.)  82. 
8l)  Strauch  8  f.  Vi.  27;  vgl.  89.  92.  96  f.  105.  130.  143.  22)  Hrsg.  v.  K.  Schröder 
1871,  13.  »»)  F.  Vetter,  Das  Leben  der  Schwestern  zu  Töß  1906,  27:  Wilms 

105;  Greith  383.     Vgl.  Raible  207  ff.  24)  In  1  Cor.  hom.  24  (Mi  PG  61,  200). 

Weitere    Stellen   Anrieh,    Das   antike   Mysterienwesen    181    f.  25)    Strauch    8. 

Vgl.  Chronik  der  Anna  von  Munzingen,  Freiburg.  Diözesanarch.  XIII  165. 
26)  Büchlein  der  Weisheit  c.  23;  Bihlmeyer  291.  ^  27)  Denifle,  Blumenlese  deut- 
scher Mystiker  1873,  381.  28)  Chronik  d.  Anna  v.  Munzingen  161;  F.  Krebs. 
Die  Mystik  in  Adelshausen,  Festgabe  für  H.  Finke  1904,  69.  Beachtenswert 
ist  die  Feststellung  von  F.  v.  Hügel,  daß  Katharina  von  Genua  diese  Tabernakel- 
devotion nicht  kannte,  sondern  nur  eine  eueharistische  Mystik  im  Zusammenhang 
mit  dem  Kommunionempfang.  The  mystical  element  I  116.  29)  Pfeiffer  I 
378.  30)  Missale  Romanum,  Praeparatio  ante  Missam;  Gratiarum  actio  post 
Missam.  31)  Hymnus  Adoro  te,  Miss.  Rom.  a.  a.  O.  32)  Büchlein  der  ewigen 
Weisheit  c.  23;  Bihlmeyer  303.  33)  IV  4,  1;  16,  2.  31)  A.  a.  O.  23  S.  303. 
3B)  IV  14,  2.  S8)  A  a.  O.  23  S.  295.  3')  IV  4,  2;  16,  2;  17,  1.  38)  Miss. 
Rom.  a.  a.  O.  39)  Strauch  163.  40)  IV  3,  1  f.;  13,  1;  16,  3.  41)  Miss. 
Rom.  a.  a.  O.  42)  Pfeiffer  I  379.  43)  Div.  am.  14,  Zag.  II  63  b.  44)  IV 
1,9;  11,  2.  46)  IV  3,  1;  16,  2.  4S)  Miss.  Rom.  a.  a.  O.  47)  IV  1,  10.  13; 
2,  2.  48)  IV  4,  5.  49)  Miss.  Rom.  a.  a.  O.  80)  IV  2,  1.  3.  B1)  Div. 
am.  3,  Zag.  II  60  b.  82)  Fehrle.  Kultische  Keuschheit  im  Altertum  3  ff.; 
Farnell,  Greece  and  Babylon  1911,  265  ff. ;  Anrieh,  Das  antike  Mysterienwesen  77. 
«)  Ds.  236.  54)  Dümmler,  Philol.  N.  F.  56  (1897),  22  ff.  =  XI.  Sehr.  II  2^9  ff.; 
Liebknecht,  Zur  Volkskunde  396.  511.  85)  S.  Parthey.  Abb..  d.  Berl.  Ak.  d. 
Wiss.  1865,  109  ff.:  Reitzenstein,  Poimandres  142.  226  f.  66)  A.  Jeremias, 
Allgemeine  Religionsgeschichte  57 ;  Farnell  a.  a.  O.  265  ff. ;  Hartland  Ritual  and 
Belief  266  ff.  67f  Dieterieh,  Mithrasliturgie  123  f.  88)  Tert.  ad.  ux.  6. 
89)  Vgl.  R.  Reitzenstein.  Hellenistische  Mysterienreligionen  1910,  20;  Dümmler  29 
=  II  236.  60)  Bei  den  afrikanischen  Ewe  heißt  der  Priester  eines  tro  (Geist) 
..Frau  des  trö".  Spieth,  R.  10.  Die  Priesterinnen  galten  bei  den  Griechen  als 
Frauen  oder  Geliebte  des  Gottes,  dem  sie  dieDten.  Fehrle  12.  61)  Vgl.  die 
Formel:  i'äe  vv/xifie,  /alge  viov  <fcög.  Firmic.  Matern,  de  err.  prof.  rel.  104, 
28  f.  (ed.  Halms);  Dieterich  a.  a.  O.  122.  62)  Vgl.  Thomasakten  11  ff.; 
Bennecke,  Neutest.  Apokryphen  484  ff.  63)  Wilpert,  Die  gottgeweihten  Jung- 
frauen 7;  Hieronymus  epist.  ad  Eustochium.  64)  Ad  ux.  4.  S5)  Ep.  ad. 
Eustoch.  25  ff.  96)  F.  Probst,  Lehre  und  Gebet  in  drei  ersten  christlichen 
Jahrhunderten  293  ff.  87)  Orig.  Comm.  in  Cant.  opp.  ed.  Lommatsch  15,  100; 
Loofs,  Dogmengeschichte  4  202  f.  68)  Macar.  Homil.  8;  Ep.  2.  Vgl.  W.  Riedel, 
Die  Auslegung  des  Hohen  Liedes  in  der  jüdischen  Gemeinde  und  der  griechischen 
Kirche  1898.  89)  Vgl.  Ph.  Funk,  Jakob  v.  Vitry,  Leben  und  Werke  1909, 
118  f.  70)  Vgl.  A.  Ritschi,  Geschichte  des  Pietismus  1880.  71)  Vgl.  Pfister, 
Die  Frömmigkeit  des  Grafen  Zinzendorf.  72)  Rud.  Otto,  Vishnu-Närayana 
149,  Söderblom,  Tieles  Kompendium  349  f.  73)  Macauliffe,  The  Sikh  Religion 
VI  209.  212.  74)  L.  Zoepf,  Die  Mystikerin  Margaretha  Ebner  1914,  70  ff. 
7S)  Maria  Ogniacensis,  Act.  Sanct.  Jun.  IV  659  E  ed.  Bolland. ;  Margaretha  Ebner, 
Offenb.  hsg.  Strauch  105.  136;  L.  Zoepf  a.  a.  O.  119  ff.;  Chronik  der  Anna  von 
Munzingen,  Freiburger  Diösesanarchiv  XIII  176.  180.  Vgl.  E.  Wechßler,  Das 
Kulturproblem  des  Minnegesangs  I  1909;  bes.  c.  12:  Minne  und  christliche  Mystik 
242  ff.  Über  den  Einfluß  der  höfischen  Poesie  auf  Mechthilds  Dichtung  s.  H. 
Stierling,  Studien  zu  Mechthild  v.  Magdeburg  Diss.  1907.  E.  Schiller,  Das  mystische 
Leben  der  Ordensschwestern  zu  Töß  1903,  56  ff.  78)  Cher.  Wand.  III  23  ff.; 
IV  1  ff.  77)  Tholuck,  Blütenlese  128  (Jaläl  ed-dtn  Rümi,  Masnavi);  Rudolf 
Otto,  Vishnu  Näräyana  149.  78)  O.  Pfister,  Hysterie  und  Mystik  bei  Marga- 
retha Ebner,  Zentralblatt  für  Psychoanalyse  I  (1911)  468  ff.:  E.  Lucka,  Drei 
Stufen  der  Erotik  1916  8.  79)  Fehrle  15  ff.;  Dieterich,  Mithrasliturgie  130  ff. 
80)  Vgl.    Söderblom,   Religionsproblemet  262  f.          81)  Brh.    Ar.    Up.    IV   3.   21. 


Anmerkungen   zu  Seite  335—352  533 

82)  Enn.  VI  7,  34  (Müller  II  406).  83)  Vgl.  die  grundlegende  Unterscheidung 

von  sexuellem  Begehren  und  seelischer  bzw.  metaphysischer  Erotik  bei  Emil 
Lucka,   Drei   Stufen  der  Erotik.  84)  Vgl.    die   Schilderungen  der  siccitas  bei 

Bernhard  in  Canticum  serrn.  54:  Seuse,  Büchlein  der  ewigen  Weisheit  6;  Teresa, 
Leben  c.   20   S.   258  ff.  85)  Vgl.   Bernhard  serm.  32.  86)  F.   H.   Dalberg. 

Gttagovinda  oder  der  Gesang  Jäyadevas,  Erfurt  1802.  87)  Offb.  I  54  S.  22. 

88)  Zarathustra  (Taschenausg.  Leipzig  1906)  78.  89)  Strauch  21.  86  ff.  90  f. 

Vgl.  Puccini.  Vita  della  B.  Maddalena  de'  Pazzi  160  f.  90)  Offb.  V  13  S.  140. 

81)  III  21.  1  ff.  u.  ö.  •■)  Hase.  Katerina  v.  Siena.  Ges.  W.  V  158.  93)  Buber 

103.  94)  Strauch  109.  136  u.  ö.  85)  I  44.  52;  III  1;  V  11.  21.  35;  VII  38 

u.  ö.  96)  Bihlmeyer  92.  174.  395.  541.  548  usw.  97)  Geistl.  Ged.  12.  20  ff. 

88.   102.  96)  Bihlmeyer  496.  ")  Le  Poesie  del  B.  Prate  Minore  Jacopone 

da  Todi,  Venedig  1617  p.  717.  10°)  Offb.  I  23:  III  23;  V  17;  VII  38  (S.  13. 

88.   142.  253..  101)  Exerc.  3  ff.;  Bevel.  I  637.   646.  662.  102)  Strauch  165. 

103)  Poesie  del  Jac.  p.  840.  104)  Offb.  II  25,  S.  49.  51.  105)  Exerc.  3;  Revel. 

I  633.  108)  Büchlein  der  ewigen  Weisheit  c.  8,  Bihlmeyer  230.  107)  Ausgew. 

Gedichte  übs.    v.    Schlüter- St ork   1864.    315.  108)   Minnebüchlein;   BihlmeyeT- 

548.  109)  Leben  c.  34  S.  452.  110)  A.  a.  O.  548.  in)  III  5.  5.  11S)  Leben 

c.  50,  Bihlmeyer  174.  113)  Offb.  I  44;  II  25  (S.  22.  52).  114)  A.  a.   O.  '87. 

116)  Offb.  I  44  S.  22.  116)  Leben  S.  452.  117)  Buber  206.  118)  Leben  c. 

39    S.    538.  119)    Strauch    140.      Diese  an   ein  mittelalterliches   Volkslied  an- 

klingende Wendung  kehrt  mit  geringen  Variationen  in  den  Schriften  der  Braut- 
mystiker  sehr  häufig  wieder.  Mechthild  v.  Hackeborn,  Liber  spec.  grat.,  Rev. 
Gertr.  Mecht.  II  10.  140.  233;  Strauch,  Offenbarungen  der  Adelheid  Langmann 
46;  ds.  Marg.  Ebner  146;  Zoepf,  Marg.  Ebner  72.  120)Vgl.  Heppe,  Geschichte 

der  quietistischen  Mvstik   1875;   E.   Lehmann.   Mvstik  124  ff.  121)  R.   Otto. 

Vishnu  Näräyana.  122)  Heppe  59.  123)  Leben  S.    158  f.   204.   291.  124) 

Moyen  21.  126)  Introduction  IV  13.  126)  Moyen  23.    Vgl.  Francois  de  Sales 

a.  a.  O.  IV  13  f.:  Traite  IX  5.  127)  Moyen  21.  128)  Prop.  25;  Heppe  275. 

129)  Heppe  83.  110  ff.  130.  130)  Heppe  463.  131)  Heppe  140.  132)  Prop. 

21;  Heppe  275.  133)  Heppe  471.  134)  Heppe  40.  135)  Heppe  48.  136) 

Lettres  spirituelles  I  173;  Heppe  470.  137)  Stellen  bei  Heppe  467  f.  138)  Ge- 

bete großer   Seelen   137.  139)  Traite  IX  4:  Heppe  56.  140)  Heppe  336  f. 

141)  Prop.  14  f. ;  Heppe  273.  142)  Cher.  Wand.  I  19.  75.  91.  174.  143)  Heppe 

59.  471.  144)  Francois  de  Sales,  Traite  IX  14.  146)  Brief  an  Mad.  Chantal, 

Heppe   47.  148)   Heppe   471.  147)   Heppe  83.  148)   Buddha   368.  149) 

Buddhismus    II    57    f. 

IV.   Das  Gebet  in  der  prophetischen  Frömmigkeit. 
')  Vgl.  Deißmann  97.  2)  Vgl.  Deißmann  99;  Von  der  Goltz  22  ff.;  Wernle- 

Jesus  55.  363;  Aug.  Werner.  Jahrb.  f.  prot.  Theol.  1881,  390.  3)  Letzte  Be- 

trachtungen  übs.  Liebusch  41.  4)  Erl.  64,  289  f.  5)  Böhmer,  Bekenntnisse 

21.  *)  Aufzeichnungen  und  Briefe  des  ersten   Quäckers  übs.  v.   Stähelin  14. 

7)  Gra. :e  abounding,  Works  II  25;  vgl.   II  9.  8)  Oeuvres  II  26  ff.  9)  Die 

Lesart  bei  Justin  scheint  dem  ursprünglichen  Wortlaut  des  Gebets  am  nächsten 
zu  kommen.  Über  das  dieses  Gebet  motivierende  Erlebnis  vgl.  Von  der  Goltz 
12  ff.:  Weiß.  Schriften  des  Neuen  Testaments  I  322  f.  10)  Pred.  am  5.  S.  n. 

Ost..  Erl.  2    262.  Il)  De  or..  Inst.  rel.  ehr.  CR  1  (29)  904.  li)  Zu  Gen  44. 

is   (Walch    11   2418).  1S)  Tischr.    15.   3   (Erl.   59.  3);  Buchw.-Kaw.   6,  259. 

14)  Zu  Lk  IS.  31  ff.  (Erl.  1,  248).  »»)  Zu  Mt  7.  7  ff.  (Erl.  43.  290).  10)  Tischr. 

15,  1   (Erl.  59.   1);  Buchw.  Kaw.  3.  214.  16b)  instit.  rel.   Chr.,  CR  I  907. 

17)  Zu  Gen.  (Walch  1  1672.  1808  f.  II  42.  II  S3Ü.  2114  ff.);  Ev.  Lk  IS  (Erl.  1,  249). 

18)  Walch  II  2115.  19)  Zu  Gen.  (Wald)  11  241S).  ")  Discours  touehiin;- 
prayer,  Works  l  143.  2°b)  Buchw.-Kaw.  8,  216.  ")  Zu  Gen.  (Walch  I 
1908  fl.  -014;  II  204-1);  Erl.  21.  161;  43,  177.  «)  Cirace,  II  9.  ")  Pr.  a. 
5.  S.  n.  Ost.  (Eil.  2.  27:'»):  Tischr.  15.  10  (Eil.  59,  8);  Erl.  8,  36:  23.  240:  50,  1  10. 
M)  Disc.,  I  448.  ■»)  CR  1,  908;  vgl.  Calvins  Lebenswerk  in  seinen  Briefen  11 
176.          "b)  BuchW.-Eaw.   3,   289.          ae)  Disc,   1  444.          *')   1    Sin  1,   15:  Pa 

42,  5;  62,  9;  142,  :, :  Klgl  2,  19.  2Ö)  Zu  Mt  6,  5  ff.    (Eil.  43.  173);  7.   7  ff.  (EH. 

43,  288).  29)  CR  1,  903.  917.  919.  30)  Disc,  I  144:  vgl.  631.  ")  Am.. 


534  Anmerkungen   zu   Seite  352—368 

u.   Briefe   16.    122.    215.    163.  S1  b)  Letzte  Betrachtungen  übs.    Liebusch  68. 

8a)  Disc,  I  443.  ")  Buchw.-Kaw.  3.  214.  34)  Grace,  II  7.  S5)  Zu    Gen 

34.  18;  Walen  IL  2418;  Pr.  a.  5.  8.  n.  Ost.  (Erl.  2,  272).  36)  Aufz.  u.  Briefe 
263.  37)  Disc,  I  448  ff.  38)  Zu  Mt  7,  7  ff.  (Erl.  43,  286 f.)  gekürzt;  vgl. 
Calv.  CR  1,  936.  39)  Zu  Gen  34,  18  (Walch  II  2418);  Tischr.  26,  34  (Erl.  60, 
107);  vgl.  zu  Jo  17  (Erl.  50,  161  ff.).  '°)  Söderblom.  När  stunderna  växla  I  59. 
")Erl.  43,  290;  59,  6.  *a)  CR  1,  936.  43)  Pharisean  and  Publicain,  II  677; 
Disc.,  I  448;  vgl.  454.  *4)  Grünberg.  Spener  II  165.  4S)  Wie  man  beten 
soll,  für  Meister  Baibier  (Erl.  23,  221).  46)  Aufz.  u.  Briefe  90.  *7)  Söderblom 
a.  a.  O.  I  49.  *8)  Deißmann  96;  vgl.  von  der  Goltz  23.  26.  49)  Aufz.  u. 
Briefe  90.  ft0)  Vermahnimg  zum  Gebet  wider  die  Türken  (Erl.  32.  88);  Zu 
Jo  16,  23  (Erl.  12,  160^.  81)  P.  Sabatior.  Vie  de  St  Francois  d'  Assise  1894  ». 
212.  51  b)  Theologische  Ethik  III  496.  62)  Ausl.  d.  Vaterunser  f.  einfältige 
Laien,  Erl.  21,  161.  6S)  A.  a.  O.  166.  51)  .T.  Otter.  Bettbüchlein,  1541  bei 
Althaus,  Evangelische  Gebetsliteratur  36.  63)  Zu  Mt  6,  5  ff.  (Erl.  43,  178) 
gekürzt.  6S)  Erl.  64,  289  f.  67)  Ausl.  d.  Vat.  f.  einf.  Laien.  EH.  21,  160. 
ä8)  CR  1,922.  69)  Buber  221.  60)  CR  1,  922.  61)  Ps  3,  5:  6,  9;  28,  2,  6; 
31,  23  usw .  62)  Mk  15.  34 ;  Mt  27.  16 ;  Hebr  5 ,  7.  B3)  Böhmer  21.  64)  Kolde, 
Luther  (Unsere  Religiösen  Erzieher  II)  21.  ,s)  V.  Dietrich  an  Melanchthon, 
Walch  XVI  213S.  66)  Disc,  I  451.  67)  Zu  Gen  17,  19  (Walch  I  1675);  Tis.hr. 
15,  46;  Weim.  1,  340.  68)  Zu  Gen  30.  22  (Walch  II  843);  zu  Gen  34,  18  (Walch 
II  2414);  Pr.  a,  5.  S.  n.  Ost,  Erl.  12,  159.  R9)  Disc,  I  451.  70)  S.  K.  Öster- 
reich, Einführung  in  die  Religionspsychologie  1917,  49  ff.;  H.  Weinel,  Die  Wir- 
kungen des  Geistes  und  der  Geister  im  nachapostolischen  Zeitalter  1899,  71  ff. 
71)  Erl  1,  248;  12,  158;  23,  18;  43.  175.  177.  183.  289.  291.  72)  Zu  Mt  6, 
5  ff.  (Erl.  43.  174).  73)  CR  1,  917.  74)  Ausl.  d.  21.  Art,  CR  2  (89),  223. 
74  b)  CR  1,  910.  7ä)  Leben  c  13  S.  178.  75b)  CR  1,  904.  76)  CR  2,  226. 
77)  Zu  Gen  19.  18  (Walch  I  1906).  "b)  Buchw.-Kaw.  3.  214.  78)  CR  2. 
224  ff.  79)  Erl.  2.  265;  12,  15S  f.:  21,  180.  225;  23,  18;  35,  356;  Walch  II 
2418.  80)  Erl.  38.  367.  81)  Achmed  ibn  Tajmija,  Buch  des  frommen  Wortes 
übs.  v.  Wiesel  26.  ■■)  Ys.  44;  vgl.  31,  14  ff.  83)  Grace,  II  7.  84;  H. 
Cohen,  Der  Begriff  der  Religion  im  System  der  Philosophie  1915.  104.  Si  b )  Letzte 
Betrachtungen  übs.  Liebusch  22.  85)  Zu  Ps  51  (Erl.  37,  396).  86)  Grace, 
II  25.  87)  Forme  de  prieres  ecclesiastiques  CR  6  (34),  178.  182.  88)  Wiesel 
26.  47;  Koran  II  286.  89)  Tischr.  15.  13  (Erl.  59,  41).  90)  CR  6,  177. 
91 )  Oeuvies  II  32.  92)  CR  6,  182.  93)  Oeuvr.  II  28.  93  b)  Erl.  22,  21  f. 
28  =  Weim.  10  IL  395  f.  404.  94)  Wiesel  43.  48.  9S)  CR  6,  178.  95  b)  Be- 
rach.  jer.  7  d  bei  Perles  Boussets  Religion  des  Judentums  kritisch  untersucht  99. 
96)  Ausl.  d.  Vat.  f.  einf.  L..  Erl.  21,  193  f.;  Erl.  22,  30  =  Weim.  10  II,  405  f. 
°7)  Tagebuch  (20.  1.  1839)  oei  Gottsched,  Buch  des  Richters  102.  97b)  Berach. 
7  d  bei  Perles  a.  a.  O.  99.  97  c)  Erl.  22,  22  =  Weim.  10  II,  396.  o;d)  Erl. 
22,  26  =  Weim.  10  IL  400  f.  97  e)  Walch  X  1692.  97*)  Tischr.  15,  48; 
Weim.  1.  340.  A98)  O.  Dioelius,  Vaterunser  10.  ••)  Eph.  1,  16  f.;  3,  16; 
Phil  1,  9;  Kol  1.  9;  2  Thess  1,  11.  lt0)  Mart.  8,  1;  vgl.  5,  1.  10°  b)  Buchw.- 
Kaw.  8,  417  f.  101)  Lebenswerk  in  seinen  Briefen  Nr.  204.  206;  vgl.  Nr.  246. 
,02)  Grünberg,  Spener  I  372.  103)  Mart,  5,  1 ;  8.  1.  Wenn  uns  in  den  Gebeten 
mittelalterlicher  Mystikerinnen,   wie  der  Mechthild  von  Magdeburg  (Offenb.   V 

35.  37)  die  universelle  Fürbitte  begegnet,  so  liegt  hier  eine  Durchbrechung  des 
asozialen  mystischen  Prinzips  und  ein  Einfluß  des  prophetischen  Frömmigkeits- 
geistes und  der  kirchlichen  Liturgie  vor.  iosb)  Vorwerk,  Gebet  und  Gebets- 
erziehung 101.  103c)  Buchw.-Kaw.  6,  128  f.  104)  Die  Geschichtlichkeit 
dieses  Logion  steht  außer  Zweifel,  obgleich  das  Wort  nur  bei  Lukas  überliefert 
ist  und  nur  in  einem  Teil  der  Handschriften  steht.  Die  Textgeschichte  dieses 
Wortes  ist  ein  Analogon  zu  der  Überlieferung  der  Johannes-Perikope  von  der 
Ehebrecherin,  die  in  den  meisten  Handschriften  ausgemerrt  ist.  Die  dogmatische 
Polemik,  welche  in  der  Urgemeinde  gegen  das  Judentum  einsetzte,  nahm  daran 
Anstoß,  daß  Jesus  für  die  verblendeten  Juden,  die  ihn  ans  Kreuz  si  hlugen,  betete. 
Vgl.  Deißmann  99;  von  der  Goltz  21.  104b)  Friedrichsen,  Geheiliget  werde 
dein  Name,  Theol.  Tidskrift  VIII  (1916);  vgl.  Theol.   Lit.   Zeitung  1918,  3109. 


Anmerkungen    zu   Seite  369 — 387  535 

105)  1  Kor  16,  22;    Apok  22,  20;   Did  10,  6.      Vgl.    Deißmann,   Paulus  1911,  80, 

106)  Weingarten.  Revolutionskirchen  Englands  95.  107)  Pr.  ü.  Lk  21,  25  ff. 
(Erl.  18.  369),  Tischr.  15,  43  (Eil.  59,  30);  vgl.  Vorr.  zur  Erkl.  v.  Gen  1—25, 
Walen  I  Weim.  2.  97,  Buchw.-Kaw.  1.  268;  8.  217.  107  b)  Predigten  ausgew. 
und  übs.  v.  H.  Schottenmüller  Berlin  1901,  118.  108)  Schon  beim  Völker- 
apostel spielt  die  Bitte  um  Verbreitung  des  Gotteswortes  eine  bedeutsame  Rolle. 
Eph  6,  18;  Kol  4,  2;  2  Thess  3,  1  f.          10»)  CR  6  (34),  173.  178.  »»)  Disc, 

I  446.  ni)  Oeuvr.  II  30.  112)  Vgl.  Aug.  de  serm.  Dom.  in  monte  sec.  Mt  II 
25  ff. ;  weitere  Stellen  bei  Tillmann.  Gebet  nach  der  Lehre  der  Heiligen  II  99  ff. 
n3)  Mand.  IX  7.  8.  114)  Aug.  ep.  ad  Prob.  130.  12;  Thom.  S.  Th.  II  2,  q.  83 
a.  6.  Ilä)  Zu  Gen  25,  21,  Walch  II  43;  zu  Mt  7,  7  ff.,,  Er].  43.  287.  116)  Tischr. 
48,  28  (Erl.  61,  436).  117)  Tischr.  15.  11  (Ed.  59,  12).  118)  Tischr.  15,  11. 
34  (Erl.  59,  9.  25);  M.  Rade,  Luthers  Leben,  Tat-n  und  Meinungen  1890,  643. 
(Freuncll.  Hinweis  v.  Kirchenrat  Prof.  D.  Engelhardt.)  119)  Lebenswerk  in 
seinen  Briefen  I  284.  373.  120)  Tageb.  1S49  bei  A.  Bärthold.  Sören  Kierkegaard 
1906,  38.  121)  Wiesel  26.  40.  m  *>)  Theol.  Ethik  III2  494.  121c)  Aus 
der  Welt  des  Gebets  125.  12ld)  Verkehr  des  Christen  mit  Gott  156  f.  "»  e) 
Predigten  II 107.          122)  Disc,  I  456.  Dving  Savings.  Works  I  p.  XIV.          123)  Oeuv. 

II  34.  124)  Zu  Gen  19,  18,  Walch  I  1906.  *  125)  A.  a.  O.  1907;  Ausl.  d.  Vat. 
f.  einf.  L.  (Erl.  21,  163).  126)  EH.  64,  289.  12?)  V.  Dietrich  an  Melanchthon 
Walch  XVI  2138.  128)  Erl.  32.  89  f.  129)  CR  6  (34).  182.  130)  Vgl.  Ps 
<i.  6;  30,  10;  115.  17:  Jes  38,  18  f.  131)  CR  6.  182.  132)  Goldziher  I  3U4. 
133)  Tischr.  15,  4  (Erl.  59,  5);  Rade,  Luthers  Leben  643.  134)  Tischr.  48,  28 
(Erl.  61,  436).  136)  Zu  Gen  25,  21  (Walch  II  42).  »•)  CR  6,  182.  137)  Erl. 
12,  165;  16.  69;  Walch  XI 1241 ;  Buchw.-Kaw.  8.  202.  Rade,  Luthers  Leben  643. 
138)  Walch  XVI  2138.  139)  Zu  Mt  7.  7  (Eil.  13.  289).  14°)  CR  6,  176. 
'")  Tischr.  15,  11  (Erl.  59,  9).  142)  Buchw.-Kaw.  5.  251 ;  Erl.  32,  87.  143)  CR 
6,  182.  144)  S.  Köberle,  Gebetserhörung  im  A.  T.  262  ff.  l*s)  CK  6.  182. 
145b)  Letzte  Betrachtungen  übs.  Liebusch  21.  u«)  Jo  14,  13;  15.  16;  16,  23. 
S.  u.  Kap.  H.  Abs.  6.  117)  Pred.  5.  S.  n.  O..  Ed.  2.  268.  147b)  Disc.  1  I  I.'.. 
,48)  Jes  63,  15  f.;  64.  7.  149)  Erl.  2.  268.  15ü)  CR  6.  Im'.  151)  Tischr. 
48,  28  (Eil.  61,  436).  152)  Conf.  X  28.  1M)  Erl.  1,  248;  37.  387.  154)  CR 
i>.  172.  155)  Bab.  Sanhedr.  105  a  bei  Goldziher  314.  15C)  Vgl.  von  der  Goltz 
a.  a.  O.  58  ff.  157)  Erl.  1,  249;  64,  289.  138)  Zu  Gen  25.  21  (Walch  I  42. 
842  f.);  Ausl.  v.  Lk  18  (Erl.  1,  246  ff.);  Tischr.  15.  42.  49  (Erl.  59,  30.  3:'.).  l38  *>) 
Tagebuch  1849;  Venator,  Aus  den  Tiefen  der  Reflexion  21.  159)  Goldziher 
313.  160)  Wiesel  29.  42.  52.  16°b)  Letzte  Betrachtungen  übs.  v.  Liebusch 
20  f.  161)  Böhmer  a.  a.  O.  21.  162)  Zu  Ps  4.  2  (Walch  IV  455);  zu  Ps  51 
(Erl.  37,  387);  zu  Mt  7.  7  (Erl.  43.  290):  Ed.  23,  74.  163)  Oeuvr.  II  29.  104) 
Wiesel  42.          165)  Zu  Ps  51,  7.  Eil.  37,  390  f.;  Eil.  47.  325.          i««)  CK  6.   181. 

107)  Oeuvr.  II  28.  168)  Vgl.  Aug.  Serm.  115  de  verb.  ev.  18.  1:  „Fides  fundit 
orationem,  fusa  oratio  etiam  ipsi  fidei  impetrat  firinitatem."  1G9)  Smend, 
AH  testamentliche  Reugionsgeschichte  255.  17°)  Wellhausen,  Israelitische  und 
jüdische  Geschichte  143.  17°b)  Vgl.  Le  Roy,  Gebetsleben  im  Psalter,  M.  Past. 
Th  VII  (1911)  149.  17°  c)  Letzte  Betrachtungen  übs.  Liebusch  59  ff.  171)  Ed. 
64,  289  f.  1T2j  Zu  (u-n  19,  18  ff.:  25.  21:  32.  !)  ff.  (Walch  I  1!)12;  II  43,  L104). 
>73)  Disc,  II  456.  ,:1;  Lebenswerk  in  seinen  Briefen  II  176.  17S)  S.  <>.  S.  14. 
::ti7  f.  176)  Ausl.  d.  Vat.  f.  einf.  Laien,  Erl.  21.  225.  177)  Wiesel  12.  "»)  Zu 
Ps26,2,  Erl.  38,367;  V.  Dietrich  an  Melanchthon  Walch  XVI 2138.  179)Tn»st- 
brief  a.  d.  Christ.  -/..  Oschatz,  Erl.  55.  2.  l80)  Hist.  v.  Leid.  u.  Sterb.  Chr., 
Erl.  2,  29.  l")  FB  II  1,678.  VgL  Kabir,  Hymns ;  Macauliffe,  The  Sikh  Religion 
VI  197.  202:  Ott,..  Vishnu  Näravana  51  f.  i")  Zu  Ps  111'.  2  (Ed.  40,  253). 
,82b)  CK  1.  !»:}7.  182c)  Erl.  M.  .17.  ,83)  Mk.  11.  Wl  II'.:  .Mi  .!(>.  36  IT..  Lk 
•21,  39  ff.  Vgl.  von  (\rr  Goltz  I»i  ff.:  Deißmann  98;  Sshleiermacher,  Predigten 
1  32.  184)  Von  der  Goltz  29  ff.;  ftfonrad,  Aus  der  Welt  des  Gebets  54.  18S) 
Tischr.  15.  I  (Bd.  59,  5).  i8B)  Tischr.  48,  28  (Ed.  61,  436).  187)  Ausl.  d. 
Vat.  f.  einf.  Laien,  Bd.  21.  221  f.  188)  Oeuvr.  11  33.  ,89)  Zu  Ps  lü7.  :;. 
Walch  l\'li7l  1.  190)  Ilist.  v.  Leid.  u.  St.  Chr..  Ed.  2.  3(1  f.  IU1)  CK  1.  936. 
l02)  Disc,  1  446.  ,<l3)  Erl.  14,  172  f..  22.  :\2r,.  '»)  Tagb.  1851  hei  Gottsched, 
Buch  des  Richters  90.         193)  Vgl.  Angelue  Bilesius,  Cher.  Wand.   1  294:  ..Wir 


536  Anmerkungen  zu  Seite  387 — 407 


beten:  es  gesehen',  mein  Herr  und  Gott,  dein  Wille!    Und  sieh,  er  hat  nicht  Will, 
er  ist  ein'  ewge  Stille.  196)  Religionsphilosophie  114.       Vgl.  Men^goz,  Gebets- 

problem 62.  197)  Schriften  des  Neuen  Testaments  I  2  1907",  466.  198)  Ver- 

kehr des  Christen  mit   Gott,   im  Anschluß    an    Luther    dargestellt,    1886,    155. 
199)  CR  1,917.  200)Ausl.  d.  21.  A.,  CR  2,  233.  201)  Calv.  CR  I  917.  202)  Roe 

1,  8;  1  Kor  1,  4.  5;  Eph  1,  15  usw.  203)  Conf.  II  7.  204)  3.  Pred.  a.  Chris«, 

(Erl.  1,  79).       2°8)  Zu  Ps  68,  19  (Erl.  17,  318).       209)  Oeuvr.  II  28.  30.       206  b)  Geistl. 
Lieder   hsg.    Nelle    5.  207)   Deißmann   95.  208)    Wiesel    30.  208  b)    Die- 

selbe Formulierung  fand  ich  nach   Erscheinen  der   Erstauf  läge  meines  Werkes 
bei  W.    Koepp,    Johann  Arndt  263.    280.  20S)  Baudissin,   ,, Gott-schauen"  in 

der  alttestamentlichen  Religion,  ARW  XVIII  173  ff.  21°)  Erl.  1,  247;  2,  270; 

60,   111.  2n)   Zu   Mt  21    (Erl.   44,   246).  aub)  Letzte  Betrachtungen  übs. 

Liebusch   21.  212)  CR   1,   904.  213)   Zu    Gen.,  Walch   I  43;    Erl.   2,    263. 

ai4)  CR  2,  224,  227.  216)  Disc,  I  457;  Pharisean,  II  677.  21«)  Oeuvr.  II  28. 

21 7)  Tagb.  1848  bei  Venator,  Aus  den  Tiefen  der  Reflexion  120.  218)  Zu  Gen 

25,  21   (Walch  II  43).  218b)  Dying  Sayings,  Works  I  p.  XIV.  21»)  CR  1, 

919.  220)  Zu  Mt  6,  5  ff.,  Erl.  43,  172  f.  221)  CR  2,  348.  222)  CR  1,  919. 

228)  B.  Duhm,  Jesa  ja  2  245.  224)  Dan  6,  10 ;  Job  3,  10  f. ;  Ap.  G.  19,  9.  225)  Mk 

1,  35;  6,  41;  Lk  6,  12;  9,  18.  28.  226)  Zu  Mt  6,  5  ff.,  Erl.  43,  173.  227)  CR 

2,  227.  348.  228)  Tischr.  15,  1.  34  (Ed.  59,  1.  3.  25).  a29)  Walch  I  1675. 
1912;  Walch  II  43;  Zu  Gen  30,  22  (Walch  II  843),  34,  18  (Walch  II  2414); 
Erl.  23,  340;  Erl.  49,  316;  zu  Mt  6,  5  ff.  (Erl.  43,  173);  Ev.  a.  5.  S.  n.  Pf.  (Erl. 
12,  158);  Tischr  15,  1  (Erl.  59,  2).  15,  28  (Erl.  59,  22).  23°)  Tischr  15,  30  (Erl. 
59,  23).  231)  Ev.  Lk  18  (Erl.  1,  248  f.);  zu  Gen  17  (Erl.  35,  356).  23a)  Zu 
Gen  19,  18  ff.  (Walch  I  1906  ff.).  233)  Zu  Gen  19,  18  ff.  (Walch  I  1908);  30, 
22  ff.  (Walch  II  843).  Buchw.-Kaw.  1,  303  f.  234)  Tagebuch  1848  bei  Venator 
119.  284b)  Abschiedsworte  (Ausgew.  Sehr.  7)  100.  23*o)  Goldenes  A-B-C, 
hsg.  v.  Zyehlinski  46.  23*  d)  Philo,  Quis  rer.  div.  her.  6,  21;  ed.  Cohn-  Wend- 
land III  p.  2.  6;  ed.  Mangey  I  473.  476.  236)  J.  Hörmann,  Untersuchungen 
zur  griechischen  Laienbeicht  35;  vgl.  56.  66.  189  ff.  204  f.  243;  Holl,  Enthusias- 
mus und  Bußgewalt  185.  a3S)  Leben  c.  39,  Hahn  S.  529;  vgl.  ebenda  S.  99. 
527.  237)  Tiele,  R.  A.  II  105.  238)  Mk  14,  30;  15,  34;  Mt  6,  9;  11,  26;  Jo  11, 
41;  12,  27;  17.  Vgl.  Dalman,  Worte  Jesu  I  157;  von  der  Goltz  11  f.;  Söderblom, 
♦Jesu  Gudsnamn  in  När  stunderna  växla  II  24  ff. ;  W.  Engelhardt,  Gott  unser 
Vater.  Eine  neutestamentliche  Studie  1912,  7  ff.  239)  V.  Dietrich  an  Melanch- 
thon  (Walch  XVI  2138).  240)  Zu  Gen  20,  17  f.  (Walch  I  2046);  Ausl.  d.  Vat. 
f.  einf.  L.  (Erl.  21,  163);  zu  Mt  6,  5  ff.  (Erl.  43,  174.  181);  Erl.  49,  313.  24>)  Ausl. 
d.  21.  A.,  CR  2,  224.  242)  Zu  Jo  14  (Erl.  49,  114).  243)  Vgl.  von  der  Goltz 
58  ff.  166  ff.  244)  Zu  Gen  19,  18  (Walch  I  1912);  Pr.  Jo  16,  23  ff.  (Erl.  2,'268); 
zu  Mt  7,  7  ff.  (Erl.  43,  291);  Tischr.  15,  1  (Erl.  59,  2).  248)  Zu  Gen  17,  19  (Walch 
I  1672);  19,  18  (Walch  I  1912);  32,  9  (Walch  II  1106);  zu  Mt  6,  5  ff.  (Erl.  43,  175. 
181);  7,  7  ff.  (Erl.  43,  288,  291).  246)  Zu  Gen  19,  18  ff.  (Walch  I  1910);  Ausl. 
d.  Vat,  f.  einf.  Laien  (Erl.  21,  225).  246b)  CR  1,  909.  247)  Erl.  21,  227; 
Serm.  v.  Gebet,  E  16,  69  ff.;  Ev.  a.  5.  S.  n.  Ost,  (Erl.  12,  155.  167).  248)  An 
Melanehthon  Walch  XVI  2137  f.  249)  Erl.  21,  160.  249b)  Perles, 
Boussets  Religion  des  Judentums  kritisch  untersucht  103.  25°)  Zu  Gen  20, 
17  (Walch  I  2044);  zu  Mt  6,  5  ff.  (Erl.  43,  171  ff.);  Ausl.  d.  Vat.  f.  einf.  Laien. 
Erl.  21,  161.  Anw.  f.  Meist.  Baibier,  Erl.  23,  221;  Weim.  9,  134.  2sa)  Zwingli, 
Ausl.  d.  21.  Art.  (CR  2,  223.  228),  46.  Art  (2,  352).  28a)  Paradoxa  205. 
250.  263)  Disc.,  I  450;  Dying  sayings,  Works  I  p.  XIV.  264)  Grünberg, 
Spener  II  165.  288)  Disc,  I  444.  448.  461.  286)  Aufzeichn.  u.  Briefe  90; 
vgl.  23.  262  f.  287)  Weingarten,  Revolutionskirchen  Englands  29  f.  288)  Ev. 
a.  5.  S.  n.  Ost.  (Erl.  2,  273;  Erl.  12,  157);  Ausl.  d.  Vat.  f.  einf.  L.  (Erl.  21, 
227).  Zu  Luk  18,  31  (Walch  XIII  539);  Buchw.-Kaw.  5,  439  f.  259)  Zu 
Mt  6,  5  ff.  (Erl.  43,  177);  Tischr  15,  4  (Erl.  59,  5).  Buchw.-Kaw.  3,  213  f.; 
Walch  VII  740.  2*°)  Ausl.  d.  21.  A.,  CR  2,  225.  261)  Paradoxa  249. 
a")  Ep.  ad  Prob.  130,  12.  "»)  Ausl.  d.  Vat.  f.  einf.  Laien,  Erl.  21,  162. 
Buchw.-Kaw.  6.  134;  Weim  10  II,  376.  a«4)  CR  1,  935.  a«)  Theol.  Ethik 
III  2  496. 


AmnerkungeD   zu   Seite  411 — 422  537 

G.    Das    individuelle    Gebet    großer   Männer    (Dichter   und 

Künstler). 
J)  ARW  XV  133.  2)  Fragments  d'un  Journal  intime  I  224 ;  II 222.  3)  Heppe, 

Quietistische  Mystik  469.  l)  Buber,  Ekstatische  Konfessionen  22.  6)  Entw. 

z.  Mahomet   1772/3.  6b)  Fragments  d'un  Journal  intime  II  124.  6)  Be- 

kenntnisse hsg.   v.   O.   Fischer   1912,  203.  7)  Memoiren  einer  Idealistin  1876 

III  168.  8)  Rabbi  Nachman,  ARW  XV  130.  8*>)  Fragments  I  87.  II  93. 

124.  290.  9)  Fragments  I  43.  9b)  Fragments  1   87.   II  27.   97.    124.  221. 

290.  10)  Lebenserinnerungen  hsg.  v.  A.  de  Lagarde  21 ;  vgl.  Amiel,  Fragments 

II  87.  »)  Memoiren  III  168.  M)  Fragments  II  104.  13)  Fragments  II  8. 

14)  Fragments  II  8.  202.  15)  Sehnsucht  (H  3,  12);  Werther  II  (H.   14,  96). 

16)  Mahomet.  Nachthymne  (Hempel  8,  45).  Die  Goethezitate  entnahm 
ich  aus  Th.  Vogel,  Goethes  Selbst  Zeugnisse  über  seine  Stellung  zur  Re- 
ligion 1888.  1T)  F.  Kerst,  Beethoven  im  eigenen  Wort  1904,  23.  18)  Elegie 
(H.  1,  187);  Ganymed  (H.  1,  164).  18b)  Fragments  II  318.  19)  Künstlers 
Morgenlied  (H.  2,  184).  19b)  H.  Benzmann,  Moderne  deutsche  Lyrik 
(Reklam)  226.  294.  20)  Geyer-Rittelmeyer.  Leben  aus  Gott  313. 
n)  Lebensabend  einer  Idealistin  1898,  172.  22)  Fragments  I  40;  II  318. 
23)  Lebenserinnerungen  21.  M  b)  Kerst  a.  a,  O.  168.  "c )  Briefe  und  Reden 
übs.  v.  M.  Stähelin,  Basel  1911,  527.  23d)  Nach  der  Übs.  des  Verf.  freundlich 
umgedichtet  von  Frau  Pfarrer  Frieda  Meyer- Stoß  (Fessenheim).  24)  Gebete 
großer  Seelen  46.  69.  115.  25)  L.  Nohl,  Beethovens  Leben  II  387;  Gebete 
großer  Seelen  105.  26)  F.  Campe,  Reliquien  von  Dürer  1828,  128  f.  27)  Leben 
übs.  v.  Goethe  1803.  I  304  f.  (Freundl.  Hinw.  v.  Un.  Prof.  Dr.  AI.  Fischer). 
a8)  Nohl  a.  a.  O.  II  133  f.  401;  III  109.  29)  Tagebücher  I  255.  30)  Leben 
I  303.  31)  Kerst  a.  a.  O.  188.  32)  Gebete  großer  Seelen  23.  32b)  Sämtl. 
Werke,  Leipzig  I  110.  "»)  Tageb.  I  223.  34)  Meine  grüne  Erde,  Dresden 
1904,  36.  Zahlreiche  Dichtergebete  finden  sich  bei  H.  Kluge.  Auswahl  deutscher 
Gedichte  1913,  aus  der  die  oben  angeführten  nicht  ausdrücklich  zitierten  Gedichte 
entnommen  sind.  (Freundl.  Hinweis  von  stud.  phil.  H.  Heintze);  ferner  bei  P. 
Eberhardt,  Das  Buch  der  Stunde,  Eine  Erbauung  für  jeden  Tag  des  Jahres  ge- 
sammelt aiis  allen  Religionen  und  aus  der  Dichtung,  Gotha  1915;  A.  Bartels. 
Eine  feste  Burg  ist  unser   Gott.     Deutsch-christliches  Dichterbuch  1916. 

H.  Das  gottesdienstliche  Gemeindegebet. 
1)  Ad.  Köstlin,  Geschichte  des  christlichen  Gottesdienstes  1887  (zeichnet  sich 
durch  feine  Charakterisierungskunst  aus);  Rietschel,  Lehrbuch  der  Liturgik  I 
1900;  BT.  Hering,  Liturgie  RE  XI  538  ff.;  Art.  Liturgy,  Jewish  Encyclopedia 
VIII 132  ff. ;  Baumgarten,  Gebet  (liturgisch)  RG  G  II 1 166  ff. ;  Baumstark,  Liturgien 
KH  II  677  ff. ;  P.  Drews,  Gottesdienst  RGG  II  1570  ff. ;  Petersen.  Agende  RGG  I 
224  ff. ;  C.  J.  Nitzsch,  Praktische  Theologie  II  Bonn  1848.  327  ff. ;  Theod.  Harnack, 
Einleitung  und  Grundlegung  der  praktischen  Theologie  I.  Erlangen  1877;  Th. 
Kliefoth.  Liturgische  Abhandlungen,  Schwerin  1858  ff.;  J.  Smend,  Der  evan- 
gelische Gottesdienst,  Göttingen  1904;  Fr.  Rendtorff,  Geschichte  des  christ- 
lichen Gottesdienstes  unter  dem  Gesichtspunkt  der  liturgischen  Erbfolge.  Eine 
Grundlegung  der  Liturgik,  Gießen  1914;  Karl  Anton,  Angewandte  Liturgik 
(Prakt.-theol.  Handbibl.  hsg.  N'iebergall),  Göttingen  1918  (überaus  reichhaltig 
und  sehr  bedeutsam);  F.  Chr.  Achelis,  Das  liturgische  Gebet,  M  PastTh  V  1909. 
VI  1910,  176  ff.;  Quardini,  Vom  Geist  der  Liturgie  (Ecclesia  orans)  1918.  Als 
Sammlungen  liturgischer  Gebetstexte  seien  erwähnt:  H.  A.  Daniel,  Codex  litur- 
gii  us  ecclesiae  universae  I  Romanae,  II  Lutheranae,  III  Beformatae  atque 
Anglicanae,  IV  Orientalis,  Leipzig  1847 ff. ;  C.  Giemen,  Quellenbuch  zur  praktischen 
Theologie  I,  Gießen  1910.  H.  Hering,  Hilfsbuch  zur  Einführung  in  das  liturgische 
Studium  1888;  Liturgische  Texte  in  den  ,, Kleinen  Texten  für  theologische  Vor- 
lesungen und  Übungen"  hsg.  v.  H.  Lietzmann  1909  ff.  (zahlreiche  Einzelhefte); 
F.  E.  Brightman,  Liturgies  Elastern  and  Western  I:  Eastern  Liturgies  1896; 
Griechische  Liturgien  übs.  v.  U.  Storf,  eingel.  v.  Th.  Schermann  BKV  5,  1912; 
von  der  Goltz,  Gebe!  in  der  ältesten  Christenheit  1901,  Anhang.  Weitere  Hin- 
weise bei  Köstlin,  Rietschel  und  hei  A.  Baumstark,  Die  Messe  in  Morgenlande 
1906.         a)  Vgl.  Wellhausen,   Israelitisch«    und  jüdische  Geschichte  189  4,    163 


538  Anmerkungen  zu    Seite    422 — 430 


Dalman,  Gottesdienst,  synagogaler,  RE  7.  7  ff'.,  II.  L.  Strack,  Synagoge  RE  19, 
223  ff.;  W.   Bousset,    Religion  des   Judentums  im   neutestamentlichen  Zeitalter 
1903,    149  ff.;   K.    Kohler,   Über  Ursprung  und    Grundformen   der   synagogaleh 
Liturgie,  Monatsschr.  f.  Gesch.  u.  Wiss.  d.  Judent.  1893,  441  ff.  489  ff. ;  J.  Elbogen, 
Studien  zur    Geschichte  des   jüdisch. -u    Gottesdienstes    1907;   Ds.,    Der   jüdische 
fiottesdienst  in  seiner  geschichtlichen  Entwicklung  1913,  bes.  232  ff.  (beste  Mono- 
graphie über  den   Gegenstand);   dort    S.    12  f.    die  weitere   Literatur.  3)  Die 
Synagogen  sind  in  Ägypten  seit  230  v.  Chi'.,  in  Palästina  seit   der  Makkabäerzeit 
sicher  nachweisbar  (Joseph.  Ap.  I  22;  Bell.  .Jud.  VII  3,  3);  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  ist  ihre  Entstehung  bald  nach  der  Rückkehr  aus  dein  Exil  anzusetzen. 
Vgl.   Elbogen,  -I.   <i.  244,  440  ff.  552.  554.  572;  Bousset,  Religion  des  Judentums 
149  f.         4)  Vgl.   Schwab,  Hastorische  Einführung  in  das  Achtzehngebet  1913; 
Elbogen,  J.   G.  27  ff.     4  b)  Perles,  Gebet  im  Judentum  (Jüdische  Skizzen)  156  f. 
s)  Schwab  a.  a.  O.   14.     Vgl.  Elbogen  J.   G.  250  ff.          6)  Vgl.   Suringar  J.  W., 
De  publicis  veterura  Christianorum  preeibus  Lyon  183:');  abgedr.  bei  Volbedimj; 
J.    E.,    Thesaurus    coinmentationum    selectarum  .   .   .  illustrandis    antiquitatibus 
christianis  inservientium,    1840    I   290—343;   Th.   Harnack,   Der   christliche    Ge- 
meindegottesdienst    im    apostolischen    und    altkatholischen    Gottesdienst    1854; 
F.  Probst,  Lehre  und  Gebet  in  den  drei  ersten  christlichen  Jahrhunderten  1871; 
L.  Duchesne,  Origines  du  eulte  chretien  1889;  E.  von  der  Goltz,   Gebet  in  der 
ältesten  Christenheit   1001;  Cabrol  H.,  Le  livre  de  la  priere  antique  1900;  übs.  v. 
Pletl:  Die  Liturgie  der   Kirche  11)00;     R.   Pfender,   De  la  priere  juive  ä  la   priere 
chretienne   ]!io:; :     Cabrol,  Introduction  aux  etudes  liturgiques',  Paris  1907;  Dic- 
tionnaire   d'archeologie    chretienne    et    de    liturgie.    Paris    1907  ff.;     P.    Drews, 
Studien  zur   Geschichte  des   Gottesdienstes:     I   Zur  Entstehungsgeschichte  des 
römischen  Kanone  1902;  II  Untersuchung  über  die  klementinische  Liturgie  im 
8.  Buch  der  apostolischen  Konstitutionen  1906;  Krieg,  Gebet  liturgisches,  Gebets- 
formularien    in    Kraus.    Realenzyklopädie  der  christl.    Altertümer   I    503  ff.   (mit 
Hinweis  auf  zahlreiche  ältere  Literatur,).            7)  Vgl.  P.   Drews.     Untersuchungen 
zur  Didache  [V:  Die  eucharistische  Feier,  Zeitschr.  f.  neut.  Wiss.  1904  (5)75  ff. ; 
Th.  S  -hermann,  Die  Gebete  in  der  Didache.  Pestschr.  f.  A.  Knöpfler  1906,  225  ff.; 
<i.  Klein,  Die  Gebete  in  <h-v  Didache,  Zeitschr.  f.  neutest.  Wiss.  IX  (1908)  132  ff. 
•)  Von  der  Goltz  195.   198  ff.  200  f.           8)  Baumstark  85  f.           ,ü)  Th.  S  hermann, 
Der  liturgische  Papyrus  von  Der-Balvzeh.     Eine  Abendmahlsliturgie  des  Oster- 
rnorgens  (TU  30,  1  b)  1910;  übs.  BKV  5,  120  ff.         n)  Wobbermin,  Altchristliche 
liturgische  Stücke  aus  iU^v  Kirche  Ägyptens  (TU  N.  F.   II  3)   1890;  Drews,  Über 
Wobbermins  „altchristliche  liturgische  Stücke"  usw.,  ZKG  XX  292  ff.  415  ff.; 
Storf,   Griechische  Liturgien    (BKV  5)   140  ff.         12)  IL   Achelis,  Die  Canones 
Ifippolyti  (TU  VI  4)  1891,  38  ff.           13)  Hering  a.  a.  O.  42  ff.;    BKV  5,    32  ff. 
14)  Probst,  Liturgie  des  vierten  Jahrhunderts  und  deren  Reform  1893;  Die  abend- 
ländische  Messe   vom    5.    bis   zum   8.    Jahrhundert    1890;   Baumstark,   Liturgien 
KH   077    f.;     Drews.    Gottesdienst    BGG     II    1573    f.            15)    Baumstark,    KH    II 
077 f.         16)  Vgl. Rietschel,  Liturgik  I  412  ff.;  Köstlin  195  ff.         17)  La  forme  des 
prieres  ecclesiastiques,  CB  6  (34)  172  ff.;  vgl.  Rietschel  I  414  ff.;  Köstlin  208  ff.; 
Erichson,  Die  calvinische  und  die  alt straßburgische   Gottesdienstordnung  1894; 
H.  Waldenmaier,   Die  Entstehung  der  evangelischeu  Gottesdienstordnungen  Süd- 
deutschlands im  Zeitalter  der  Reformation,  Leipzig  1910.        18)  Erl.22,  151  ff.; 
Bering   L30  ff.;  vgl.  Rietschel  1  409  ff.;  Köstlin  153  ff.         19)  Vgl.  Rietschel  I 
421  ff.;  Köstlin  176  ff.           19b)  Vgl.  N.  Söderblom,  Svenska  kyrkans  kropp  och 
själ,    Stockholm    1917.          20)   London    1559    (Ausg.    v.    A.    J.    Stephens,   London 
1849—1852.)    Vgl.  Rietschel  1  418  ff. ;  Köstlin  212  ff.         2°b)  Rendtorff,  Geschichte 
des  christlichen  Gottesdienstes  44.          21)  Vgl.  Köstlin  221.          ")  Köstlin  224  ff. 
mit   interessanten   Beispielen;    Petersen,    RGG    I   220.          23)    Petersen   a.    a.    O. 
227   f.;   vgl.    Köstlin  245   ff.           "b)   Fr.    Sputa,   Zur   Reform   des   evangelischen 
Kultus,  Göttingen  1891,  77.        -')  Wiener,  Das  Gebet  147.         ")  Vgl.  A.  Zillessen, 
Ein  Kapitel    vom  liturgischen  Gebet,  EFr   1909.  391  ff.;  von  der   Goltz,   Unser 
Gebet  (Zur  Agendenreform  III)  DE  1911.  330  ff.         26)  Roeder,  Urkunden  zur 
Religion  des  alten  Ägypten  02.          ")  Vgl.  Justins  Andeutung  über  die  Mithras- 
mysterien  (Apol.   I  00).      Eine  Zusammenstellung  solcher  Formeln  bei  Dieterich. 
Mithrasüturgie  213  ff.          2S)  Grünert,  Gebet  im  Islam  1911;  Becker  C.  IL,  Zur 


Anmerkungen,  zu   Seite  430 — 443  539 


Geschichte  des  islamischen  Kultus,  Der  Islam  III.  E.  Mittwoch,  Zur  Entstehungs- 
geschichte des  islamischen  Gebets  und  Eäütus  (Abh.  d.  Berl.  Akad.  d.  Wiss. 
phil.-hist.   Kl.)   1913.  28b)  Roussel,  De  la   priere  chez  les  Hindous.  Museon 

VIII  564;  Dilger,  Gebet  der  Hindu,  Ev.  Missionsmag.  1892,  58.  28)  FR  II  1, 

280;    Söderblom.   Tieles   K.    355.  30)   Clemens   v.    Alexandrien  nennt    Strom. 

VII  6  die  Gemeinde  ,,die  Versammlung  der  den  Gebeten  Obliegenden,  die  gleich- 
sam nur  eine  gemeinsame  Stimme  und  eine  Meinung  haben".  31)  Tischr. 
15,  1  (E  59,  2).  32)  DE  1914.  331  f.;  vgl.  Gebet  in  der  ältesten  Christenheit 
256.  33)  Geyer  und  Rittelmeyer,  Leben  aus  Gott  293.  a4)  Bousset,  Religion 
des  Judentums  151  ff. ;  Sehürer,  Geschichte  des  Volkes  Israels  im  Zeitalter  Christi 
II  376.  Näheres  s.  Elbogen,  J.  G.  154 — 198.  Für  den  Islam  s.  Mittwoch  a.  a.  O. 
29.  ff.  3S)  Justin.  Apol.  I  65.  Vgl.  Tert,  Apol.  39 :  Const,  Ap.  VIII 5.  36)  Erkl. 
der  Gen.  13.  4  (Walch  I  1263).  36b)  Praktische  Theologie  I  626.  36  c)  Zur 
Reform  des  evangelischen  Kultus  33.  3$d)  Angewandte  Liturgik  137. 
37)  Schürer  II  378;  Elbogen,  J.  G.  488  ff.  Mittwoch  a.  a.  O.  22.  Über  das  freie 
Laiengebet  im  Urchristentum  Köstlin  9.  3S)  Apol.  I  67:  ..Hierauf  erheben 
wir  uns  alle  zusammen  und  senden  Gebete  empor ;  .  .  .  wenn  wir  dann  unser 
Gebet  beendet  haben,  wird  Brot,  Wein  und  Wasser  herbeigebracht  und  der  Vor 
st  eher  schickt  Gebete  wie  Danksagungen  empor".  39)  Von  der  Goltz  180 
40)  Kalb.  Kirchen  und  Sekten  der  Gegenwart  306.  ")  Vgl.  Th.  Harnack  156  ff. 
von  der  Goltz  177  ff. ;  Elbogen.  J.  G.  243.  i2)  Derselbe  Ausdruck  in  der  Agypt 
Kirchenordnung,  Achelis  69.  *3)  Hiezu  Th.  Harnack  278;  von  der  Goltz  181 
vgl.  die  ägyptische  Kirchenordnung  (Achelis  69):  ..nach  dem  Vermögen  jedes 
einzelnen  soll  er  (der  Bischof)  beten."  44)  Baumstark  24;  vgl.  Th.  Harnack 
156  f.  45)  Vgl.  Köstlin  65  f.  <3)  Achelis  69.  47)  ..Jeder,  der  Liturgien 
aufschreibt,  vergeht  sich  so,  als  würde  er  die  Thora  verbrennen"  lautet  ein  tal- 
mudisches  Axiom  (Tosefta  Schabb.  XIV  4).  Elbogen,  Studien  1.  Vgl.  ds.,  J. 
G.  265:  ..Soweit  der  W  ortlaut  der  Gebete  m  Frage  kommt,  dürfen  wir  sagen, 
daß  da  noch  so  gut  wie  alles  im  Flusse;  selbst  am  Ende  unseres  (des  amoräisehen) 
Zeitalters  sind  noch  immer  auffallend  wenige  Gebetsstucke  in  ihrem  Wortlaute 
bestimmt."  Über  die  Aufzeichnung  der  Synagogengebete  s.  ebenda  271. 
4S)  Von  der  Goltz  L81.  *9)  Althaus  1.  50)  Defensio  pro  populo  Anglicana 
zit.  P.  Christ,  Lehre  vom  Gebet  nach  dem  Neuen  Testament  183  f.  Vgl.  Wein- 
garten, Revolutionskirchen  Englands  28  f.  51)  Vgl.  Kalb  a,  a.  O.  197.  288. 
326.  395.  K.  Oesterreich,  Einführung  in  die  Religionspsychologie  54.  ")  Wein- 
garten  391  f.  nach  Barcley,  Apologia  226  f.  S3)  Grünberg,  Spener  II  137. 
i4)  Wernle.  Einführvmg  ins  theologische  Studium  485.  54b)  Praktische  Theo- 
logie I  473.  Vgl.  Achelis.  MPastTh  VI  (1910)  177;  Spitta,  Zur  Reform  des  evan- 
gelischen Kultus  35.  64  c )  Vgl.  Quardini.  Vom  Geist  der  Liturgie  11  f.  55)  Vgl. 
W.  Wiener.  Das  Gebel  1885,  143;  von  der  Goltz,  Gebet  (historisch)  RGG  II 
1148.  BC)  DE  1914,  332.  57)  Liturgik  I  564  f.;  vgl.  Baumgarten,  Gebet 
RGG  II  1107;  Wiener,  a.  a.  O.  1  17.  87  b)  Vgl.  Th.  Harnack,  Praktische  Theo- 
logie I  474.  68)  Neh  9,  5;  Berach.  VII  3;  S  hürer  II  377.  69)  Achelis  57. 
ä0)  Const.  Ap.  VIII  6  ff.  10  f.  13  i.  61)  Cyrill.  .Ter.  Cat,  myst,  V  4:  Sm  tag 
y.uoöCuc;  —  t/oper  Tigug  zw  xvoiov  —  ei<xaoiaHiG<i)ti£V  tq>  xvotip  —  äi-iov  xal  dixaiov. 
Agypt.  Kirchenordn.  Achelis  48  ff.;  Const.  Ap.  VIII  12;  Cypr.  de  or.  dorn. 
31.  42)  Elbogen,  J.  G.  494  f.;  Sc-hürer  II  384  f.  83)  Augustin.  Ep. 
178.  Vgl.  die  zahlreichen  Responsorien  in  der  Markus-Liturgie,  der  ältesten 
griechischen  Liturgie  und  die  antiphonischen  Litaneien  der  gallikanischen  Liturgien 
(Duchesne,  Origines  du  eulte  chretien  189  ff.)  61)  Vgl.  Drews,  Liturgische 
Formeln  RE  XI  553  ff.;  Elbogen,  J.  G  495.  85)  Tert.  de  or.  27;  Drews  a.  a.  O. 
549  IT.:  Greiff  75.  60)  Drews  a.  a.  O.  551  f.  *7)  1  Kor  16,  22;  Did  11,  6; 
Apok  22,  20.  68)  Drews  a.  a.  O.  5  15  IT.;  Greiff  76;  von  der  Goltz  160  f.;  Elbogen, 
J.  <-.  495  f.  ")  1  ehr  16,  36;  Neh  8.  16;  vgl.  Ps  11,  1  !  ;  72,  11);  89,  53;  100. 
48;  Schürer  II  530.  70)  V-l.  1  Clem34;  Apok  4,  8.  ;i)  Vgl.  Ägypt.  Kirchen- 
ord. Achelis  58:  Cyrill.  Jer.  Cat.  V  L9.  71^)  Vgl.  Quardini,  Vom  Geisl  der 
Liturgie  16.  Wechselseitige  Rezitation  des  Bchma  durch  Vorbeter  und  Gemeinde 
.  Ellbogen,  J.  G.  196  f.  ")  Über  den  Chorgesang  s.  Th.  Harnack  a.  a.  O.  159  ff. ; 
Köstlin  180  ff.:  Duchesne,  <>  iginca  du  eulte  chretien  Ki7  ff.;  .1.  Böhmer,  Auf  den 
Spuren   eines    Gesangbuchs   der    Crchristenheit    MPastTh    XI 11   (l'.ü'Ji   :::;l>   (f.; 


540  Anmerkungen  zu   Seite  443 — 471 

Harnack,  Prakt.  Theologie  I  479  ff.;  Nitzsch,  Prakt.  Theologie  II  1,  340  ff.;  A. 
Thürlings.  Historisches  über  die  Entwicklung  des  Volksgesanges  in  der  Kirche, 
Internat,  kirchl.  Zeitschr.  VII  (1917)  341  ff.;  über  Hymnus  und  Kirchenlied  s. 
Art.  Hynms  (Greek-Christian  usw.)  ERE  VII  5  ff.;  Art.  Kirchenlied  RE  X  399  ff.; 
RGG  III  1283  ff.  (dort  alle  Literatur);  über  das  gottesdienstliche  Lied  im  Juden- 
tum s.  Elbogc-n,  J.  G.  206  ff.;  502  ff.  T3)  Vgl.  die  Schilderung  der  Taufmesse 
bei  Justin  (Apol.  I  65):  „Der  Vorstehe?1  sendet  dann  Lob,  Preis  und  Dank 
zum  Vater  empor."  74)  eiO.oyrjös    6   &e6q    Roe    9.    5;    2   Kor    1,    3;    1    Petr 

l,  3;  XdQig  t&    »e(J>  Roe  7,  25;  1  Kor  15,  27;  2  Kor  2,  14;  8,  16;  9,  15.  76)  Vgl. 

P.  Drews,  Über  Gebrauch  und  Bedeutung  des  Wortes  eucharistia  im  kirch- 
lichen Altertum,  ZPTh  20  (1898)  97  ff.;  Th.  Schermann,  ev/afiioxia  und  eöxaQi- 
aielv  in  ihrem  Bedeutungswandel  bis  200  n.  Chr.,  Philologus  59  (1910)  382  ff. 
76)    Schürer    II   384.  ")    Greiff   124   ff.  78)    Greift    129.  '»)    Bäum- 

st ark,  Das  eucharistische  Hochgebet  und  die  Literatur  des  nai  hexilischen 
Judentums,  Theol.   und   Glaube  II   (1910)  357  ff.  80)  Baumstark,  Messe  im 

Morgenland    129.  8l)   Probst.    Liturgie   der   drei   ersten   Jahrhunderte   59   ff.; 

Baumstark,  Theol.  u.  Gl.  II  353  ff.;  P.  Drews,  Gottesdienstliche  Studien  2/3, 
14  ff.   71   ff.   97  ff.    108  ff.  82)  In  besonderer  Ursprüngliehkeit  erscheint  das 

heilsgeschichtliche  Dankgebet  in  der  Basiliusliturgie  (Brightman  324  ff.;  BKV  5. 
269  ff.).  Auf  die  neutestamentlichen  Heilsfakta  beschränkt  sich  das  Formular 
des  Präfationsgebetes  in  der  Ägyptischen  Kirchenordnung,  das  um  seiner  Alter- 
tümlichkeit  besondere  Bedeutung  beansprucht.    Text  bei  Achelis  51  f.  83)  Baum- 

stark, Messe  im  Morgenland  129  f.  **)  Baumstark  129  f.;  Theol.  und  Glaube 

II  355  ff.  85)  Wobbeimin  Nr.   27.  86)  Reformiertes  Kirchenbuch  hsg.   v. 

A.  Ebrard  1846,  2 ;  Calvin,  CR  6,  172.  87)  Schürer  II  384  f.    Auch  das  Kaddisch 

beginnt  mit  zwei  eschatologischen  Bitten.     Vgl.  Elbogen.  J.   G.  93.  88)  Wob- 

bermin  Nr.  1.  89)  Brightman  332;  BKV  5,  273.  90)  Greiff  126.  9°b)  Fr. 

Hubert,  Die  Straßburger  liturgischen  Ordnungen  im  Zeitalter  der  Refoimation 
Göttingen    1900,   96.  90  c)  Heiing  a.   a.    O.    183.  BI)  Wobbermin   Nr.    26. 

92)  FR  II   1,  280.  93)  Wobbermin  Nr.  23.  94)  Stellen  bei  von  der  Goltz 

333    f.  96)    Wobbermin    Nr.    27.  96)    CR    6,    176.  96b)    Abschiedsreden 

(Ausgew.  Schrift.  VIII)  35.  97)  Wobbeimin  Nr.  25;  BKV  5,  143.  98)  CR 

6,  176.  99)  Vgl.  den  Brief  der  jüdischen  Gemeinde  in  Elephantine  an  Darius. 

10°)  Joseph.  Ant.  XII  2,  5.  101)  In  der  Kaiserzeit  gedachten  die  Priester  drv 

Isis  des  regierenden  Herrschers  an  erster  Stelle.  Apulejus,  Metamorph.  XI  1.  7. 
Im  Freitagsgottesdienst  der  Muhammedaner  wird  ebenfalls  ein  Gebet  für  den 
regierenden  Sultan  gesprochen.  Grünert,  Gebet  im  Islam  33.  102)  Brightman 
333;  BKV  5,  274;  vgl.  das  Gebet  „für  den  allerchristlichsten  Kaiser"  in  der 
römischen  Karfreitagslituvgie.  103)  CR  6,  175.  »«)  CR  6.  176.  105)  Cypr. 

ep.  37;  ad  der.  ep.  66;  Cyrill.   Jer.  Cat.  myst.  V  9.  106)  Wobbeimin  Nr.    1. 

107)  Brightman   57;   BKV   5,    111.  108)    Schürer   II  385.  109)   Vgl.    Drews, 

RE  XI  547  ff.;  von  der  Goltz  157  ff.  no)  Vgl.  Gal  1,  5;  Hebr  13,  21;  Const. 

Ap.  II  22,  11;  Act,  Thecl.  42;  ep.  ad  Diogn.  12.  m)  Vgl.  1  Tim  6,  16;  1  Petr 

4,  11 ;  5,  11;  Apok  1,  6.  n2)  BKV  5,  129.  113)  Achelis  47.  56  ff.  67.  99.  113. 
m)  Wobbeimin  passim.  116)  Drews,  RE  XI  547  f.  116)  Brightman  339  f. 
117)  Von  der  Goltz  128;  Bousset,  Kyrios  Jesus  102.  285.  "»)  Von  der  Goltz 
124.  119)  Jo  14,  13  f.;  15,  16;  16,  26.  „Alles  Gebet,  das  nicht  geschieht  im 
Namen  Jesu,  ist  kein  Gebet  noch  Gottesdienst."    Luther  E  2.  268.  120)  BKV 

5,  127.  121)  Achelis  42;  vgl.  59.  62.  122)  Wobbermin  Nr.  1.  12S)  Achelis 
57.  »■*)  BKV  5,  129.  125)  Wobbeimin  Nr.  18.  26  f.  und  öfter.  12Bb)  Gir- 
gensohn.  Zwölf  Reden  über  die  christliche  Religion  192.  126)  Vgl.  Bousset 
a.  a.  O.  286.  126  b)  F.  J.  Mone,  Lateinische  Hymnen  des  Mittelalters  I  1853, 
42.  75.  229.  127)  Euseb.  H.  E.  V  2S;  vgl.  VII  30.  128)  Näheres  s.  Rietschel  I 
562  A.  4.  129)  Rietschel  I  561.  130)  Baumstark,  KH  II  678.  m)  Berach. 
6a  f.;  Elbogen,  J.  G.  260.  132)  Dial.  e.  Tryph.  117.  133)  Strom.  VII  5,  31; 
weitere  Hinweise  bei  von  der  Goltz  165.  134)  Von  der  Goltz  117.  135)  Ign. 
ad  Eph.  5,  2;  Ambros.  in  ep.  ad  Rom.  c.  15:  „Multi  enim  minimi  dum  congre- 
gantur  unanimes,  fiunt  magis,  et  multorum  preces  impossibile  est,  quod  non 
impetrent."  13S)  Pred.  17.  Sonn.  Trin.,  Erl.  20  II,  224:  Buchw.-Kaw.  5,  524  f. 
137)  Diels,  Parmenides   17;    Dieterich,    Mithralsliturgie  93.       Vgl.  H.   v.    Soden. 


Anmerkungen  zu    Seite  471 — 495  541 

Mvaxr\oiov  und  sacramentum  in  den  ersten  zwei  Jahrhunderten  der  Kirche, 
Zeitschr.  f.  neutest.  Wiss.  1911  (12)  188  ff.;  Anrieh,  Das  antike  Mysterienwesen 
und  sein  Einfluß  auf  das  Christentum  156  ff.  138)  Vgl.  Köstlin  58  ff.,  besonders 

die  feinsinnige  Charakteristik  des  orientalischen  und  römischen  Meßgottesdienstes 
61  f.  100  f.,  die  sich  im  Grundgedanken  mit  der  vorliegenden  deckt;  ferner  K. 
Seil,   Katholizismus  und  Protestantismus,   Leipzig   1908,    153  ff.  13°)   Drews 

RGG  II   1574;  vgl.    Söderblom,    DE    1916,    119.  14°)  Vgl.    Köstlin    142  ff. 

141)  Elbogen,  J.  G.  233  f. ;  vgl.  Bousset,  Religion  des  Judentums  153  f.  14a)  Köst- 

lin 198.  143)  DE  1916,  119.  144)  Vgl.  Dieterich  a.  a.  O.  93:  „Das  ist  das 

Wesentliche  der  Liturgie,  daß  der  Gläubige  oder  die  Gläubigen  in  ihr  oder  durch 
sie  in  ein  Verhältnis  zu  ihrem  Gott  treten  durch  ein  bestimmtes  sakrales  Tun 
und  bestimmte  sakrale  Formeln.  Das  juvai^Qioy  enthüllt  dem  /^vavrig 
irgendwie  ein  Geheimnis  des  Göttlichen:  die  kultische  Beziehung  des  Menschen 
zu  Gott  ist  die  Hauptsache."  144b)  Vgl.  Anton,  Angewandte  Liturgik  124  f. 

,45)  Vgl.  Rietschel  I  35.  38;  Köstlin  154.  145b)  Praktische  Theologie  I  626. 

116)  Vilmar,  Zur  neuesten  Kulturgeschichte  Deutschlands  II  (1S58)  128.  Weitere 
ähnliche  protestantische  Urteile  über  den  evangelischen  Gottesdienst  bei  Het- 
tinger,   Apologie   IV8   (1900)   256  f. 

J.  Das  GebetalsPflichtundgutesWerkinden  Gesetzes- 
religionen. 
x)  Schürer,  Geschichte  des  Volkes  Israel  im  Zeitalter  Christi  II  382  f.;  Stade- 
Bertholet,  Bibl.  Theologie  II  424;  Bousset,  Religion  d.  Judentums  im  neutest. 
Zeitalter  1903,  155;  R.  Pfender,  De  la  priere  juive  ä  la  priese  chrätienne  7  ff.; 
O.  Holtzmann,  Die  täglichen  Gebetsstunden  im  Judentum  und  Urchristentum, 
Zeitschr.  f.  neutest.  Wiss.  1911  (12)  93  ff.;  Elbogen,  Studien  zur  Geschichte  des 
jüdischen  Gottesdienstes  1905;  Der  jüdische  Gottesdienst  in  seiner  geschicht- 
lichen Entwicklung  16  ff.  245  ff. ;  Mittwoch,  Entstehungsgeschichte  des  islamischen 
Gebets  (Abh.  d.  Berl.  Ak.  d.  Wiss.  phil.-hist.  Kl.  1913)  7  ff.  a)  Grünert,  Gebet 

im  Islam  1911;  E.  W.  Lane,  Sitten  und  Gebräuche  der  heutigen  Ägypter  übs.  v. 
Zenker  1852,  I  65  ff. ;  Mittwoch  a.  a.  O.  1  ff.  3)  Spiegel,  Avesta  II  p.  LXXXII ; 

E.  Lehmann,  Zarathustra  II  104  ff.  4)  Achelis,  Canones  Hippolyti   117  ff.; 

ähnlich  Tert.  de  or.  25;  Cypr.  de  or.  34  f.;  vgl.  Ciem.  Alex.  Strom.  VII  7,  40; 
Orig.  de  or.  12.  5)  Vgl.  K.  Müller,  Christentum  und  Kirche  Westeuropas  (HKG 

I  4,  1)  267  f.;  Behringer,  Die  Ablässe.  6)  Berach.  29a;  Weber,  System  der 
altsynagogalen  Theologie  41.  ')  Yasn.  19,  12  ff.;  Spiegel  II  296.  8)  Wen- 
sinck,  Der  Islam  IV  232  ff.  9)  Sprenger,  Laben  und  Lahre  Muhammeds  I  1861, 
324.          10)  Berach.  290  bei  Döller,  Gäbet  im  Alten  Testament  13.          ll)  Spiegel 

II  p.  LXXXII;  247  (Vend.  29,  73  f.);  III  7  (Khord.  Av.  6,  1).  18)  E.  Leh- 
mann, TR  266.  13)  Grünert  30.  14)  R.  Pischel,  Leben  und  Lehre  des  Buddha 
(NG)  1906.  72.  15)  Wiesel,  Achmed  ibn  Tajmija  7.  16)  Weber  a.  a.  O.  40. 
17)  Midrasch  zu  Levit.,  Sifr.  80  a  bei  Weber  a.  a.  .O  40.  18)  Grünert  33; 
Mittwoch  a.  a.  O.  20.  19)  Yasn.  19,  9  ff.;  Spiegel  II  95  f.  so)  Vgl.  Weinel, 
Paulus  53.  21)  Siehe  Perles,  Boussets  Religion  des  Judentums  kritisch  unter- 
sucht  101  f.;  Gebet  im  Judentum  (Jüdische  Skizzen)  158.  22)  Berach.  12  b. 
bei  Weber  41.  Vom  Ahuna  van  ya  heißt  es:  „Selbst  mit  Auslassung,  mit  Nach- 
lässigkeit hergesagt,  ist  es  gleich  zehn  anderen  Hauptgebeten."  Yasn.  19,  8; 
Spiegel  II  95.  ")  Vgl.  Wildt,  Gebet  in  Wetzer  und  Weite,  Kirchenlexikon 
V    142. 

Das  Wesen  des  Gebets. 

l)  Da  Costa  Guimaraens,  Le  besoin  de  prier  RPh  54  (1902)  394.  »)  Tylor, 
Anfänge  der  Kultur  II  394.  3)  Vgl.  o.  8.  135  ff.  180  f.  199.  319  f.  397  ff.  107  f. 
R.  Rothe,  Theologische  Ethik  I  2  1<S07,  ISO  ff.;  Söderblom,  När  stunderna  växla 
147  ff.  *)  Predigten  1843,  IL  6.  9.  *  b)  När  stunderna,  växla  1 37.  4°)Ge- 
b  tsproblem   62.  5)    Zu   Ps    18    (E   38,    171).  9)   Mechthild   v.    Magdeburg, 

Offenb.  V  13.  7)  Wahres  Christentum  1120  (p.  266).  »)  Joann.  Ohrysost. 
Contra    Anomaos    VII   7.   Mi  PC  48,  700. 


Register. 


Ägypter  7.  16.  43.  73.  81. 
83.  86.  100  ff.  113.  115. 
137I  M.2f.  151  f.  157. 
160.  162  ff.  222.  235.  250. 
289.  323.  430.  503  f.  515. 

5 1 7  *• 

Ainu  45.   54.   58  f.  67.  69. 

76.  86.  95.  107.  1 11.  114. 

127.  507. 
Araber  71.  81.    103  t'.    14.'. 

144. 
Assyrer  s.  Babylonier. 
Australier  39.  51.  72  f.  85. 

98.  114.  118.  1 20  f.  124  ff. 

138.    141  ff.   508.   516. 
Babylonier  7.   16.  58  f.  61. 

63.68  f.  72.86.  88.  100  ff. 

115.  127  f.     134.     137  f. 

140  ff.  152  f.  157.  160. 
162  ff.  235.  331.  507. 
510  ff.  518. 

Bantu stamme    16.   44—47. 

50—103.   1 10—128.   134. 

136  f.  141.  143  ff.  150  ff. 

ISS-  '59-  x68.  222.  506  f. 

509.  515. 
Birmanen   50.   54.  59.  63  f. 

74.  77.  87.  90.  104.   111. 

1 14.  120  ff.  125.  137.  14s. 

153  ff- 
Buschmänner  s.  Pygmäen. 
Chinesen  16.  45.  68.  70.  73. 

82.  84.  87.  100.  105.  107. 

116.  136.  152  ff.  162.  350. 
508  f.   516. 

Gallier  s.  Kelten. 
Germanen   101.    103  f.    162. 

512.   516. 
Griechen  6  f.  17.43.47.  54. 

58.    59.    63.    71  ff.    76  f. 

80  f.  85  ff.  91.  95.  98  ff. 

1 12  f.    117  t'.    128.    136  f. 

141  f.     144.     154.     157  f. 


I.   Völkerverzeichnis. 

162  f.  168.  183.  191  ff. 

321.    235.    250.    507.    511. 
515  ff.    519.    526.    532. 

Hindu  7.  17.  62  f.  66  f.  82. 

91.   103  f.   113.  207.  233. 

310.  323.  430.  512  f.  539. 
Inder  7.  57.  68  f.  77  f.  88. 

100.  103  f.  107.  115.  138. 

141.  154.  157.  162  f.  235. 

250.  457. 
Indianer     mittelamerikani- 

sche   51  f.   59.  62  f.   76  f. 

86.  90.  92  ff.   113  f.   120. 

123.     127  f.     136.    142  ff. 

146.   154.   158.   160.   509. 
Indianer    nordamerikani- 
sche 52.  5s.  59-  61  f.  64. 

67  f.    69.     76.    78.    S6  f. 

89   f.  92.    101.    112.    1 14. 

116.    1 19  ff.    126.    141  ff. 

146.    157.  229. 
Indianer  südamerikanische 

49.  52.  70.  98.   101.  141  . 

146.   506. 
Indogermanen    16.   73.   77. 

116.   121.  144.  508.  514. 
Indonesier  (Batak  usw.)  44. 

48.  50.  53.  58  f.  62  ff.  67. 

69.  72.  75  ff.  81.  83.  87  f. 

95  ff.  1 10  f.  114.  116.  120. 

123.  128.  143.  150.  152  ff. 

158.   160.   509.   515.  517. 
Israeliten  8.  17.  45.  55.  58  f. 

68.   71.   73  f.  79.  91.  96. 

100  ff.    115.    133.    136  ff. 

137.     144  f.     163.    185  ff. 

191.  198.  221.  256.  263  f. 

278  f.  390.  422.  442.  446. 

459.  479-   Sl3-     S.  auch 

Sachverzeichnis:    Juden- 
tum, Synagoge. 
Japaner   103.  269. 


Kanaanäer    17.     103.    115. 

275. 
Karthager  142. 
Kelten  101  f.  161.  512. 
Litauer   112.   513. 
Madagassen  49.  90.   120. 
.Mazedonier  168. 
Melanesier    54.    61  f.     117. 

143.   150- 
Mexikaner  47. 115. 138. 157. 

162.  164.  168.  170  f.  517. 
Nordafrikaner  44.    54.    59. 

61  ff.  67  f.  90.  93  ff.  101 . 

146.   151.  511. 
Ostjak en  48. 
Perser  102.   103.   104.   107. 

Auch  Mazdaismus  (Sach- 
verzeichnis). 
Peruaner  61.  76.   104.   157. 

162.  184.188  f.  235.  511  f. 
Phöniker  143.   162. 
Polynesier(  Südsee)  61.  63  f. 

74.   76.   82.  88.  97.    112. 

120.    123.    127.    136. 
Pygmäen  45.  48.  54.  60  ff. 

69.    Si  f.    91.    95  ff.    "8. 

120.   123.    141.    150.  489. 

508  f.   514. 
Römer  6  f.  43.  45.  47.  51. 

54.  55.  58.  68.  71.  80.  86. 

89.     100  ff.     in  ff.     115. 

128.  138.  141. 144. 150  ff. 

157.   162.   194.  430.   507  . 

510  f.  514  ff. 
Samaritaner  104.   138. 
Semiten    6.    16.     73  ff.   80. 

103.  1 16.  144  f.  200.  400. 

509. 
Sumerer  59.  61.  65.  73.  90. 

100  f.    103  f.    127.    142  f. 

145.  152.  157.  162.  168  f. 

174.  223.  509.  515.  517. 
Syrer  50.  80. 


Personen-  und  Autorenverzeichnis 


543 


IL  Personen-  und  Autorenverzeichnis. 


Abraham   233.   256.   395. 

Achelis  537  ff. 

Achmed  ihn  Tajmija  505  f. 

534- 
Adami  6.    510.   518. 
Adelheid  von  Hiltharthau- 

sen  302. 
Adelheid    Langmann    293. 

296.  527. 
Äschylus  58.  83.   85.    117. 

128.  136.  141.  191  f.  195. 

197  f.  507.  510.  516.  520. 
Albertus  Magnus  224.  234. 

251  f.  259.  272.  288.  522. 

524.  526  f. 
Alexander  v.  Haies  36. 
Alfons  v  Liguori  288.  314  f. 

527:  53o.    ' 
Algazäli    20.    286  f.    309t. 

3i4f.    316.   530. 
Althaus  2.  4.  11.  ^2.  504  ff. 

523.   534.   53.). 
Ambrosius  444.  540. 
Amiel  253.  411  ff.   537. 
Anienophis   111.    184. 
Amenophis   IV.    Ichenaton 

33.  184  ff.  189  f.  430.  519. 
Arnos  19.  29.  237.  261.  272. 

348.  397.  422. 
Angela  von  Foligno   307. 
Angelus    Silesius    (Johann 

8cheffler)249.  253  f.  259t. 

280.  285  ff.  289.  310.  320. 

333  f.   344.   525.    535. 
Anna    v.    Munzingen    525. 

532. 
Anrieh     512  t.     525  t.     529. 

53i  f-   54'- 
Anselm   v.  Canterbury   32. 

234.  241 .  294  f.  299.  301  f. 
Anton  K.  IX,  14.  434.  537. 

54i. 
Antonius  (Mönchsvater) 

286. 
Apollonius  v.  Tyana  204  f. 

528. 

Appi'I     7.     I06.     506.     5IO  ff. 
515  "- 

Apuh  us  47.   138.  324.  540. 
Aristänctos  508. 
Axistophanes  48.   76.   512. 

Aristoteles     96.      I99,     212. 

262.    511   f.    520. 
Arndt    Joh.     1.    225.    227. 

234  f.  246  ff.   287.  292  ff. 

495-  53"- 
Am  im  520. 
Arnold  Gottfried   10  f.   ?4_\ 


Arnoux   506.   508.    510. 
Arrian   199  f.   5  18  ff. 
Arsenius  270. 
Artemon  466. 
Assurbanipal  166. 
Aschkenasy  517.  524. 
Aston   512. 
Athenäus  196.  506  ff.  514. 

51/-  520. 
Augustinus  16.  20  f.  29.  33. 

35.  105.  224  f.  228.  234  f. 

241  ff.    245.    260  ff .   267. 

209.  272.  278.  280.  282  f. 

284  ff.  288  f.  292  ff.  299  ff. 

305.  308.  318.   320.   327. 

333-   347-  357-  37i.  376. 

390.   399.  407.  489-  5°5, 

513.  516.  523.  525  f.  530. 

535-   539- 
Ausfeld  7  f.  507.  5 10  f.  514. 

516  f.   519  f. 
Bärthold  535. 
Balmer  507  ff.  511.  514. 
Bank  517. 
Bartels  537. 
Barth  530. 
Baruch  368. 
Basilius  426.  455.  460.  464. 

54o. 
Batchelor  45.  506  ff.  513  f. 
Baudissin  498.  536. 
Bau  mann   511. 
Baumeister  184.  519. 
Baumgarten  497.  537.  539. 
Baumstark      447  ff.      451. 

537  ff- 
Bäyazid  236.   297.   305. 
Beck  Fr.  O.  g.  13. 
Beck  P.  525. 
Becker  506  f.  510.  538. 
Beckh  260.345.  511.  524  ff. 

53i. 
Beethoven   20.  410.  414  f. 

418.  493. 
Behringer  541. 
Beissel  to. 
Beneke  521. 
Benzmann  537. 
Bergaigne  518. 
Bergk  520. 
Bernard  8. 
Bernhard   v.  Clairvaux   33. 

223.     234.     242  f.     244  f. 
.  263.  2-jt,.  284  f.  310. 

315.    320.   332.  444.  473. 

530  ff. 
Bernhart  J.  524. 
Bertholet  502.  541. 


de  Besse  528. 

Bias  520. 

Biedermann  3. 

Bihlmeyer  502  f. 

Birgitta  von  Schweden  279. 

Bismarck  20. 

Bissing  511. 

Blumentritt  511. 

Böhme  Jakob  20. 

Böhme  K.  9. 

Böhmer  505.  52T.  529.  533ff, 

539. 
Böllenrücher  517. 
Bolliger  15. 
Bona  Kard.  341  f. 
Bonaventura  29.  234.  242. 

286.     288.     294  f.     321. 

329  f.   333-   523-   53°- 
Bonhöffer  521. 
Bourquin  504. 
Bossuet  273.   344. 
Bousset  9.   235.   523.    527. 

534-  538  ff. 
Boutroux   517.   524. 
Braig  413. 

Breasted   r64.    517  ff.    528. 
Brigaud  125.  513  f. 
Brightman   537.   540. 
Brinton  12.  96.  507  ff.  514- 

516  ff. 
Brünnow  517. 
Brugsch  515. 
Brun  508  ff. 
Brunnhofer  519. 
Buber    522.    524  ff.    529  ff- 

534-   537- 
Buehberger  497. 
Buddha  16.  19.  197-  232  f. 

269.    274.    276  ff.    512. 
Budge  516. 
Buhl  8.  499. 
Büttner  498.   521  ff.   526  t. 

529.  531- 

Bunyan  19.  28  f.  35  f.  225. 
235.  246.  347  f-  35°  ff- 
357  f-  361.  363-  369.  372- 
376.  383-  387-  394  f-  405- 
522. 

Burckhardt  506  f.   516. 

Bumouf  7. 

Butzer  428. 

Buxtorf  511. 

Cabrol  511.  538. 

Caird  23. 

1  iaitanya  310. 

'  laldesaignes  8. 

Callaway    118.    507  ff.    514. 

vif«. 


544 


Personen-  und  Autorenverzeichnis 


Callimachus  103.  195.  196. 
512. 

Calvin  20.  32.  36.  245.  276. 
278.  347-  350-  354.  357- 
359.  363-365  ff-  369.  37i. 
373  f.  376.  379-  383-  385. 
387.  389  f.  394  f.  403- 
407.  428.   533.   540. 

Campe  537. 

Canisius  33. 

Carlyle  279. 

Cassian   289.    527.    530. 

Cathrein  510. 

Cato  517. 

Cellini  Benv.  417  f. 

Celsus  523.  530. 

Chantal  Mad.  244.  273.  290. 

34i.  343- 
Chantepie  de  la  Saussaye 

105.  509.  513.  518  f.  520. 
Chapmann    10.    524.   527. 
Chatel  528. 
Chetelat  6. 
Cheyne  8. 

Christ  2.  9.  505.  539. 
Chrysostomus  326. 426. 464. 

.495-  541- 
Cicero  151.  512.  517. 
Claudius  M.  105.  210. 
Clemen  537. 
Clemens  v.  Alexandrien  9  f. 

101,  204.  208  f.  213.  215. 

222.  234.  259.  327.  466. 

513.  516.   525.  539.  54i. 
Clemens  v.  Rom   29.   332. 

368.  425.  436.  440.  445  f. 

453- 4S6-4S8.  460  ff.  465. 
Codrington  117.  508.  515  f. 
Cohen  362.   534. 
Cohors  11. 
Columbus  20. 
Collitz  519. 
Combe  517. 
Comte  Aug.  212  ff. 
Cornill  237.  522. 
Crawley  512. 

Cromwell  20.  28.  415.  505. 
Crusius  O.  78.  518. 
Cumont  17.  151.  505.  510. 

514.  517I   521.  531. 
Curtiss  506.  509  f.  513. 
Cyprian   36.   472.   539  ff. 
Cyrillv.  Jerusalem  539  f. 
Dalberg  533. 
Dalmann  507.  536.  538. 
Daniel  139.  452. 
Daniel  H.  A.   537. 
Dante  20,  34. 
Daremberg  7.   511. 
Daressy  5 1 7. 


David    v.    Augsburg    288. 

297.  30°  f-  3"-  3'4-  316. 

328  f.   527.   530. 
Deißmann  1.  4  t.  9.  16.  26. 

31-    34-    355-    505  f-    523- 

533  ff- 
Delitzsch   105.  503. 
Demetrius  206  f. 
Denifle   526.    529.    532. 
Deubner  517. 
Deussen  522.  529. 
Deuterojesaia  264.   395. 
Dibelius  10.  12.  520  t.  534. 
Dickinson  6. 
Diderot  206.  214  ff. 
Diels  471.  540. 
Dieterich  A  .  323.  471.  497 

506.  513.  516.  528  ff.  538. 

54o  f. 
Dietrich  Veit  28.  357.  373  f. 

403.   521.   534  ff. 
Dilger  7.  539. 
Diogenes  204. 
Dionysius  Areopagita  233. 

249.  252.  267.  282.  285. 

.320  f.  333.  399.  522. 
Dionysius  Cartesianus  529. 
Diotegenes  214. 
Döller   8.    105  f.    507.    509. 

511.   513.   516. 
Döllinger  9.  522. 
Dorner    15.    215  t.    521. 
Dorsey  86.  123.  141.  507  ff. 

514  ff.  522. 
Doufays  507  ff. 
Drews  537  ff. 
Duchesne  538  f. 
Dümmler  512.   532. 
Dürer  20.  417. 
Dürr  14.  215.  521. 
Duhm   536. 
Durkheim  35.  506. 
Ebbinghaus  521. 
Eberhardt  537. 
Eck  Sam  2.  526. 
Eckart  Meister  20.  217.  234. 

244.    249  t.    258  f.    266  f. 

270.  277.  279.  282  f.  284. 

295.  3°8.  3J7f-  333-  524. 
.53o. 
Eisenstein  8. 
Eitrem   106.  5 12  ff. 
Eklund  523. 

Elbogen  8.  474.  511.  5 38  ff . 
Eleazar  460. 
Elias  237.  356. 
Else  v.  Neustadt  254.  337. 
Emerson  41 1.  414. 
Endemann  516. 
Engelhardt  535  f. 


Epiktet    204.     206  f.     213. 

218.   304.   520. 
Epiphanius   512.    522.   529. 
Erasmus  33. 
Erbkam  523. 
Erichson  538. 
Erdland  508  f. 
Erman    7.    166.    183.    190. 

509  ff.   517  ff.   528. 
Esra   423.   436.   446.   452. 
Eucken  248.  523. 
Euripides   195.    199.    509  f. 
Farnell    4.     13.     141.    192. 

506  ff.   516.    519  t.   532. 
Faßmann  506.  508  ff.  515  ff. 
Fechner  1. 

Fehrle  512.  515.  532. 
Fenelon  244.   342  f. 
Ferid-ed-din- Attär  2  36. 2  7 1 . 

282.  317.  412. 
Feuerbach   z.  25.  42.   202. 

280.    513.    516.    527. 
Fichte  202  f. 

Fischer  AI.  V,  VIII,   537. 
Fischer  R.  512. 
Foucart  509.   515.   518. 
Fox    19.    29.    347  f-    352f- 

355-  395-  405. 
Frank  Seb.  224.  227.  405  f. 
Franke  R.  O.    526. 
Franz  v.  Assisi  19.  21.  28  f. 

36.  223.  232  f.  242  f.  278. 

283  ff.    299.    301  f.    305. 

347-    357-   4".    529. 
Franz   v.    Sales   234.    244. 
273.  288.  290.  310.  315. 
319.    341  ff.    526  f.    530. 

533- 
Frazer  510.   513.   516. 
Fresenius  523  f. 
Frey  tag  507t.  517. 
Friedländer  510.   514. 
Friedrich  Wilhelm   III.  v. 

Preußen  429. 
Friedrichsen  534. 
Fries  Mission.   508. 
Frobenius   125.    515. 
Funk  532. 
Gamaliel  479. 
Garbe  530. 
Gebhardt    145.    506.    509  f. 

516. 
Geibel  417. 
Geldner  518. 
Gennep  van  514. 
Gerade  84.   505.  510. 
Gerhardt  P.   33.  222. 
Gertrud  v.  Helftä  30.  242  f. 

258.  288.  296  f.  300.  302. 

304  t.  338  ff.  527.  533. 


Personen-  und  Autoreuverzeichnis 


545 


Gesenius  50g. 

Geyer  212.  433.   521.   337. 

539- 
Giberti  326. 
Gihr  53  r. 
Gilg  15. 
Gilhodes    122.    155.    506  ft. 

5i4i-   517. 
Girgensohn  4.  226. 466.  540. 
Goethe  20.  34.  411  f.  414  f. 

537- 
Götze  1 1 . 
Goldzieher   8.    106.    5 10  ff. 

516.   525.   529.   535. 
Goltz  E.  v.  der  2.  9.  11.  16. 

432.  435.  440.  505.   521. 

S23.    533  f-   536  ff. 
Gottsched  534. 
Gräbner  506. 
Graig  517. 
Grandgeorge  523. 
Graßmann  518. 
Gray  517. 
Grebaut  517. 
Gregor  d.   Große  512. 
Gregor  v.  Nyssa   10.  426. 

466.  496.  509. 
Gregor  VII.  427. 
Gregor  v.  Tours  5 1 i>. 
Greßmann  518. 
Greiff  8.    105.   509.    511  ff. 

516.  539  f. 
Greith  529.  532. 
Griersan  529. 
Grimm  Jakob  12.  71.  105  f. 

506  ff.  511  ff. 
Grimme  H.   513. 
Grube    506.    508  f.    516  f. 
Gruber  12. 

Grünberg   534.    536.    539. 
Grünert  8.  538.   541. 
Grützmacher  526. 
Grupp  Gg.  505.  512  ff. 
Gruppe   194.   517.    519« 
Gudea    61.    65.    <><->.     i-7- 

144  f- 
Guimaraens  da  Costa  6.  l  J. 

489.  508.  541. 
Guiton  9.  15. 
Gunkel  5  [9. 
(  Mistav  Adolf  20. 
Gutmann  B.  500.  ;>. 
Guyau  209.  214.   216. 
Guyon  de  1.'    Mothe  Mad. 

30.     207.     227.     2],-\.     24-t- 
254.    258.    266.     273.      889. 

311.    315  f.    3  iS  f.    3-'  !- 
341  ff.   41  1.    526.    530  I. 

ti.ias  H.    52(>. 

Habakuk  3  5 < t  t. 
Das  Ooboi 


Habermann  33. 

Hahn  Th.  506  ff.  516.  536. 

Hahn-Hahn  Ida  v.    498  ff. 

Hamberger  507  ff.  510.  514. 

Hammar  514. 

Hammer-Purgstall52  5.  529. 

Hanna  64.   79.   137. 

Hardy  Edm.  509  ff. 

Harlez  511. 

Harnack  Ad.  236.  242.  504. 

523  f.  525. 
Harnack     Th.     439-     47°- 

537  ff- 
Harris  8. 
Hart  414. 

Hartland   514  f.  532. 
Hartmann  Ed.   v.    15.   23. 

42.    203.    211.    215.    506. 

509.   515- 
Harvey  28. 
Hase  505.  521.  533. 
Hasan  Basri  273. 
Hastings  497. 
Hauck  497.   523. 
Hauri  527. 
Haydn  20. 
Hebbel  418  f. 
Heckenbach  106.  512  t. 
Heckewelder  507  f.   510. 
Hermann  33. 
Hefele  10.  522. 
Hegel  23.  279. 
Hehn  517  f.  526. 
Heiler  7.  346.  511.  520.  522. 

524ff-   531. 
Heinrich      v.      Nördlingen 

273- 
Heinrich  v.  Zütphen  368. 
Hempel  537. 
Hennecke  532. 
Heppe    521  f.     524  t'.     527. 

53o  f.   533-    537- 
Heraklit  211. 
Hering  537  t.  540. 
Hermann  F.   2.   509. 
Hermas  371. 

Herodot  199.  506.  512.  520. 
Berondas  55.  58.  76  t.  95. 

98.  516. 
Herrinann  VV.  15.  228.  371. 

389.   524.   526. 
Bertkens  531. 
Hesiod  194  f.  506.  509.  519. 
Bestennann  506. 
Hettinger  1.  541. 
Bieronymus  332.  532. 
Hildegard  v.   Bingen  273. 
Billebrandt  518. 
Bindenburg  20. 
Hiob   29.   60.    184.    560  f. 


Hippolyt  506. 
Hirn  Irjö  531. 
Höffding  239.  248.  3S8.  523. 

525;    527. 

Hoenicke  504. 
Hörmann   J.    526  f.    536. 
Hofmayr    122.    126.    506  ff. 

5U  ff. 
Holl  531.  536. 
Holm   125. 
Holtzmann  9.  541. 
Holwerda  183.  519. 
Homer  34.  38.  59.  68.  80. 

84  f.   91.    139.    183.    187. 

189.     191  f.     506  f.     510. 

5 16  f.  5 1 9  f.  522.   528. 
Horaz  508.  510. 
Hosea  221.  422. 
Hotzy  10. 
L'Houet  58.  510. 
Howitt  508.  511.  515. 
Hubert  540. 
v.  Hügel  233.  236.  265 .  524. 

527.  53i  f- 
Hume  D.  202. 
Hurel  507. 
Hus  368. 
Husain   al   Hallädsch    302. 

306. 
Husserl  24. 
Huttier   10. 

Ichenaton  s.  Amenophis  IV . 
Ignatius  v.  Antiochien  432. 

436.  444.  465  f.  468. 
Ignatius  v.  Loyola  29.  207. 

223.  278.  288.   303.  321. 

347  f-    357-    359  f.    379. 

527. 
Inge  524. 

Irenäus  278.  472.   529. 
Irle  506  ff.   514  f. 
JacoponedaTodi  333.  337  f. 

533- 

Jacobowsky  414. 
Jakobus  (Apostel)  570.  398. 

406.  426. 
Jalal-ed-din-RümJ     225  f. 

230.  236.  306  ff.  419.  528. 

5  3-- 
Jamblich    310.    314.    316. 

319.  52S.  530  f. 
James  W.  I.  21.  248.  372. 

520.  523  f. 
Jastrow  7.  107.  183  f.  507  lt. 

512  ff.  518  t'. 
.Jensen   518. 
Jephtha   79. 
Jeremia  29.  [41.  189.  257  f. 

245.  266.  274.  348  f.  357- 

359.     360.     368.     375  ff- 
35 


546 


Personen-  und  Autorenverzeichnis 


375  f.  380  ff.  395.  397. 

401.  419.  422  ff.  475. 
Jeremias  A.  532. 
Jesaia  256.  395.  404.  422. 
Jesus  5.  9.  12.  16.  19  f. 

21.  27.  31.  34.  36.  197. 

223.  233  f.  235.  239  ff. 

244.  257  f.  261  ff.  269  ff. 

276.  278  f.  281  f.  287. 

318.  347  ff-  355  ff-  36o. 

362.  366.  368  ff.  375.  377. 

385  ff.  391.  396  ff.  401  ff. 

406  f.  419.  421.  424.  446  f. 

449  ff.  453  ff.  463  ff.  468. 

470  f.  475.  534. 
Jevons  13. 
Joannes  Damascenus  229. 

291. 
Johann  v.  Kreuz  244.  273. 

298.  310  f.  314  ff-  333- 

527  f.  530. 
Johann  v.  Neumarkt  33. 
Johannes  (Evangelist)  233  f. 

257.  272.  283.  385.  398. 
464. 

Josephus  Flavius  429. 

Josue   137.  237. 

Jülicher  9. 

Juliana  v.  Lüttich   326. 

Juncker  9. 

Junod  53.  84.  150.  155.  222. 

5o6ff.   514.   517.   521. 
Justin  222.  433.  435  f.  443. 

456.   533-    538  ff. 
Juvenal  204. 
Juynboll  514. 
Kabir  19.  333    535- 
Kähler  M.  8. 
Kägi  518. 
Kalb  539. 
Kalthoff  521. 
Kant  1 2.  202  f.  208  ff .  2 1 5  ff. 

218.  494.  520. 
Katharina     v.     Emmerich 

3i4. 
Katherina    v.     Genua     19. 
234.  254.  258.  270.  273. 
283  ff.     302.     309.     529. 

53i  f- 
Katherina  v.  Siena  28.  223. 

258.  337- 
Kautzsch  2.   503. 
Kegel  M.  8.  33.  505. 
Kerst  537. 

Keschub  Chunder  Sen  431. 
Keysser  5 14  f. 
Kierkegaard    19.    26.    265. 

283.  347.  366.  371.  377. 

387.   394-  400.   525. 
Kilger  506. 


King  500.  511.  515  f.  517  ff- 
Kinsrsley    86.     121.     1 23  f. 

145.  506  f.   515. 
Kirsch   10. 
Kittel  2. 
Klapper  1 1.  505. 
Kleanthea  206. 
Klein   538. 
Kliefoth  537. 
Kluge  537. 
Koch-Grünberg  146.  506  f. 

509.  516. 
Koch  Hugo  233.  524  ff.  528. 

53o  f- 
Köberle  8.  16.  71.  509.  535. 
Koenig  9.  532- 
Koepp   504.    522  ff.    525  ff. 

536. 
Köhler  2.   15 
Körner  Th.  419. 
Köstlin  537  ff. 
Kohler  5*38. 
Kolde  534. 

Konfutse  202.  209.  213.  235. 
Kopernikus  494. 
Kopp  254. 

Kraus  F.  H.    511  ff    538. 
Krebs  531  f. 
Krepp  249. 
Krieg  538. 
Kroll    515  f.     521  f.     524  f. 

528  f. 
Kropf  506  ff.  513  f. 
Krüger  505  f. 
Kruijt  514. 
Lactantius  141. 
Lacombe     P.     270.     272  f. 

314  f.   342.   530. 
Lagarde  P.   411.   413  f. 
Laib  531. 
Land  521. 
Lane  541. 
Lang  Andr.  72.  112.  118  f. 

121.  513.  515. 
Langdon   166.   5  16  ff. 
Lange  A.  514. 
Langloh-Parker     70.     507. 

509  f.  514  ff- 
Laotse  221.  235.  249.  252. 

254.  259  f.   322.   513. 
Lasaulx  6. 
Lasch  515. 
Laurent  de  la  Resurrection 

223.  341  f.  345. 
Lefebure  517. 
Lehmann     Edv.      13.     23. 

105  f.  167  f.  182.  244.497. 

511  ff.     519.     523.     526. 

528  f.  533.  541. 
Lehmann  H.   13. 


Lehmann  W.  502  f. 
Lehner  510  f.  514. 
Leistle  504. 
Lermontow  415. 
Lesetre  8. 
Lessing  279. 
Leuba  25. 
Liebknecht  532. 
Lieblein  517. 
Uunggren  8. 
Livius  510.   512  f.   516. 
Loofs  523.  526  f.  532. 
Lope  de  Vega  418. 
Lopez  Greg.  343. 
Lucian   138. 
Lucilius  142. 
Lucius  507  ff.  512. 
Lucka  E.  14.  532  f. 
Ludwig  A.  518. 
Luthardt  1 1 . 
Luther   1.    10.    16.    18.   21. 

28  f.     31  f.     35  f.     222  f. 

227  f.  231  ff.  234  f.  244  f. 

255  f.  261.  264.  268.  271. 

275.     278.     283.     347  f. 

350  ff.  353  f.  359  f.  363  f. 

366  ff.  372  f.  376.  379  ff. 

382  f.  386  ff.  390.  393  ff. 

398  f.  401  f.  404  ff.  428. 

432  f.  444-  468.  477.  495. 

504.  523.  528.  536.   540. 
Lydus  518. 
Maaß  510. 
Mac  Coy  86. 
Macauliffe  532.   535. 
Macrobius  512. 
Magdalena  v.  Pazzi   301   f. 

325-_ 
Makaiius247.  289.  292.  332. 

525.  527.   529. 
Malachia  401. 
Mänikka  Väschagar  33.190. 

226.  233.  236.  258.  284. 

295  ff-    300  ff.    303.    305. 

323. 
Mansfeld  507  f.   510.   512. 
Marabotto    28.     273.    505. 

524  f.  529  f. 
Marett   13.   119.  514. 
Margaretha  Ebner  30.  260. 

273.  288.  292.  294.  297. 

326.  329.  336  ff.  341.  527. 

532  f. 
Margreth  9. 

Marie  v.  Oignies  326.  531  f. 
Mariette  5  1 1  f . 
Marillier  13. 
Mark  Aurel  48.    136.    «94- 

506  f.    517.   519. 
Markham   519. 


Personen-  und  Autoren  Verzeichnis 


547 


Maury  A.   146. 

Maximus Tyrius  203  f.  208 f. 

213  f.  471.   520. 
Mechthild     v.    Hackeborn 

533-. 
Mechthild  v.  Magdeburg  28. 
30.    228.    243.   251.    258. 
270.  284.  290.  292  ff.  295. 
300  f.  304.  307.  322.  325. 

333-  336  ff.  341-495-  524. 

532  ff.  541. 
Mechthild     Tuschelin    327. 
Meiners     12.      105  f.     506. 

509  ff.  513. 
Meinhof  506  ff.   511. 
Melanchthon    28.    36.    245. 

37i.  373  f-  398. 
Melanges  520. 
Menegoz   IX,    2.    11.    15  t. 

212.  217.  476.  495.  521. 

536. 
Merensky    55.    507  ff.    515. 
Merx  524. 
Merzdorf  530. 
Meschler  2. 
Methodius  332. 
Metzger  513. 
Meyer  Ph.  52;. 
Meysenbug    M.     v.     411  f. 

4M. 
Micha  422. 
Michel  9. 

Michelangelo  20.  416. 
Migne  497. 
Milton  405.  438. 
Misch  505.  523. 
Mittwoch  8.  521.  539.  541. 
Mörike  419. 
Molinos  234.  249.  266.  322. 

34i  ff. 
Mone  540. 

Monier  Williams  528  f. 
Monod  2.  35.  400.  459. 
Monrad  22.  35.  371.  535. 
Monsabre  15. 
Montalembert  4. 
Montanus  254.   522. 
Moor  513. 

Morel  505.   524.   528  f. 
Momad   504. 
Mose  21.  221.  233.  237.  250. 

266.  271.   347.  366.   374. 

392.  394-  397-  4^. 
Mott  477. 
Müllonhof  523. 
Müller   .!.    (!.    506.    $og  ff. 

Müller  K.   54'. 
Müller  Max  VI,  3.  23.  118. 
'59.  497-   508.   518.   522. 


Müller  Missionar  506  f.  512. 

514  ff- 
Müller  W.  A.   512  f.  515. 
Münzer  427. 
Muhammed     19.    31.     139. 

223.  232.  234.  236.  239. 

250.  266.  273.  281.  361. 

363.  365.  37i.  373-  378  f- 

384.  391.  505. 
Musculus  23-  SOS- 
Musters  512. 
Myhrman  517. 
Nachman  537. 
Nägelsbach    6.     193.     506. 

509  f.   512.   519  f. 
Nahum  261. 
Nanak  236.   304.   384. 
Nassau  85.    123.    125.   506. 

510.  514.  516. 
Naville  513.  517. 
Neander   10. 
Nebukadnezar  127. 
Nehemia  401. 
Neuhauß  507  ff.  514  f. 
Newmann  20.  293.  295.  303. 
Newton  20. 

Nicholson  522.  524  ff.  529. 
Niedeck  6. 
Nietzsche  336. 
Nilsson   13. 
Nilus  Sinaita  35.  222.  225. 

247.   291.    319.    528. 
Nimbäditya  306. 
Nissen  516. 
Nitzsch  537.  540. 
Nohl  537. 

Norden  7.  518.  528. 
Nordenskiöld  5 14  f. 
Novalis  1. 

Numenios  259  t.   525.   531. 
Ökolampad  453. 
Österreich    251.    524.    534. 

539. 
01denberg7.  152. 164  f.  172. 

179.   181.  345.  507-  S09. 

516  ff.  522.  531. 
Ollendorf  505. 
Oldendorp  509  f. 
Oltramare  260.  525. 
Origenes  9  f.  15. 20. 36. 217. 

224.  234.  241.  290.  327. 

332.  399-  444-  452.  454- 

464-   523.   53«.   532.   54'. 
Qrpen  508.  511.  515. 
Ostermann   13.   504. 
Otter  J.    534. 
Otto  R.  IX,  132.  253.  261. 

506  f.  512.  515.  523.  526. 

529.   53'  ff- 
Otto  W.  497. 


Ovid  71.  509.  512.  516.  518. 

Pacheu  524. 

Palmer  3. 

Parkinson  507.  509. 

Parthey  530.  532. 

Pascal   19.   29  f.   226.   228. 

246.  347.  349.  355.  364. 

369.  372.  379  f.  386.  390. 

394. 
Paulitschke  146.  505  ff.  516. 
Paulsen  212. 
Paulus   9.    16.    19.   21.   27. 

31.  105.  227.  232  ff.  240  ff. 

244.    255  ff.    266  f.    269. 

271  ff.     281.     283.     332. 

347  ff.    353.    358.    366  t. 

370  f.  389  t.  395-398.401. 

421.  425.  432  ff.  444.  446. 

453.463  ff.  466.  469.  475. 
Pausanias  512. 
Perlee  238.  424.  504.  523. 

534.  536.  538.  541. 
Perry  5 1  o. 
Peters  10.  511. 
Petersen  5  37  f. 
Petronius  512. 
Petrucci  341.  343. 
Petrus    v.    Alcantara    286. 

288.  295.  297.  300.  302. 
311.  321.  527. 

Petrus  Lomb.  527. 

Pfanner  12. 

Pfeiffer    498.     521.     524  f. 

527  ff. 
PfenderR.9.  523.  538.  541. 
Pf  ister  532. 
Pf  leiderer  15.  23.  75. 
Philippot  15. 
Philo  233  f.  249.  257.  259  i. 

262.  273.  402.  536. 
Pinches  517. 
Pinckert  517. 
Pindar   191.   196.  520. 
Pischel   181.   519.  541. 
Plath  508  f.  513.  516  f. 
Plato  72.  138.  191.  193.  195. 

200.  221.  233.  241.  251. 

254.  260.  506.  509.  512. 

519.  524. 
Plinius  48.   466.    512.    517. 
Plotin  16.  20.  26.  221.  229. 

2^.  235.  241.  249.  253  f. 

258  ff.    270.    277.    284  f. 

289.  298  f.  317.  323.  335. 
396.  419.  421.  512.  524  t'. 

53'. 
Plutarch     196.     506.     517. 

5'9  f. 
Püllux   506. 
Polykarp  367.  464. 


548 


Personen-  und  Autorenverzeichnis 


Pomptow  518. 

Pope  528  ff. 

Porphyr  221.  322.  517.  521. 

Poulain    10.    528.    530. 

Powell  515. 

Pratt  13. 

Preger  524.  530. 

de  Presscnse  504. 

Preuß    5.    507.    510.    513  f. 

Si6f.   532. 
Probst   532.    538.    540. 
Proclus  286.   3 10  f.   314  ff. 

319  f.  507.  523.  530. 
Puccini  527.  520.  533. 
Pusey  294. 
Pythagoras  205. 
Quardini  14.  537.   539. 
Quintilian  517. 
Räbia  258.  273. 
Radau    143.    515.    517  ff. 
Rade   -,3^. 
Raffael  493. 
Raible   531  f. 
Räjendraläla   Mitra   530. 
Rärnänuja  20.  233.  249.284. 
Ramrnohun  431. 
Ramses  II.   184. 
Ranson   1 3. 
Raum    121.    126.    506.    508. 

510.   5  14  ff. 
Rauwenhoff  15. 
Rechenberg   511. 
Rehm  8. 
Rehse    506  ff.    511  ff.    ^14. 

516. 
Kcinick  417. 
Reisner  517. 
Reitzenstein  529.  531  f. 
Remy  8. 

Rendtorff  428.  538. 
Reville   509.    520  f. 
Rhabanus  Mau  nie  466. 
Ridley  514. 
Riedel  532. 
Ries  A.   531. 
Riehm  512  t. 
Rietschel   440.    511.    537  f. 

540  f. 
Ritsch]  249.  279.  524.  532. 
Robert  König  v.  Frankreich 

33- 
Roberts  520. 
Robertson  35. 
Roeder  184.  5 06.  5  10.  517  ff. 

538. 
Rohde   192.   275.   519.   524. 
Roskoff  510. 
Roth  529.  532. 
Rothe    1  f .    222.    356.    371. 

407.    504.    522.    541. 


Roussel7.  57.  507.  513.  539. 
Rousseau  206.  208.  411  f. 
Routledge  51.   55.   70.   120. 

505  ff.    514  f. 

Le  Roy  66.    150.    153.    159. 

506  ff     514!     517-    522. 

535- 
Roy  Henry  8.    504  f. 
Ruskin  41 1. 
Sa'adi  308. 
SabatierAug.  1   f.  15  f.  z^. 

71.    218.    230.    505.    529. 
Sabatier  Paul  356.   534. 
Saarschmidt  513. 
Saint  Ililaire  525. 
Saleur  515. 
Salomo   137.   225. 
Samter  106.  513.   519. 
Samuel   237.   366. 
Sankara  282.   284.  317. 
Sapper   146.    505  ff.    513  ff. 
Sarasin  70.  505.  5081.  513. 
Saubertus  8. 
Saudreau  530. 
Savonarola  226  t.  348.  353. 

362.  369. 
Scaramelli  530. 
Scheel  242.  523.  526. 
Schell  20. 
Scherer  W.  523. 
Scherman  Luc.   512  f.   518. 
Schermann    Th.    9.     537  f- 

540. 
Schiele  497. 
Schiller  E.  526.  532. 
Schlatter  3. 
Schkopp  514. 
Schleiermacher  1.  11.  15  f. 

20. 35. 217.  429.467.  504. 

535- 
Schlüter-Stork  533. 
Schmidt  B.   10. 
Schmidt  E.  507  f.  510.  517. 
Schmidt  Fr.  15. 
Schmidt  G.  511  f. 
Schmidt  Heinr.  7.  520. 
Schmidt  H.  8.  515.528.s30. 
Schmidt  Leop.  6.  197.  506  f. 

5J4-   519*. 
SchmidtWilh.4S.96.  118  f. 

506  ff.   5 14  ff. 
Schmöger  8. 

Schneider  506  ff.  514.  516. 
Schneller  531. 
Sehn üt gen   531. 
Schoemann  6. 
Schollmeyer  5 1 7. 
Scholz  IX.  524. 
Schopenhauer  42.  210.  506. 
Schrader  <o8  f. 


Schröder  J.  J.  8. 
Schröder  K.  531. 
Schröder  Leop.  510.  514  f. 
Schüler  419. 
Schürer  539  ff. 
Schulte  509. 
Schultze  106.  513. 
Schurtz46.  52.  506  ff .  513  f. 
Schwab  538. 
Schwarz  F.  J.   531. 
Seh  war  tz  E.  511. 
Scotus  Eriugena  233. 
Seder  Elia  Rabba  404. 
Seeberg    248.     500.     523  f. 

526  f. 
Segers tedt  513. 
Segond   14. 
Seligmann  507.  509  f.  514. 

517. 
Seil  504.   541. 
Seneca  15.  203  f.  206.  208. 

211  f.  213.  217.  507.  510. 
Serapion    v.    Thmuis    426. 

453.  456.  458.  462.  464  ff. 
Servius  507.   5  1 3  f . 
Seuse3i.  244.  251.  259.263. 

273.  283  f.  288.  298.  318. 

327  f-   333-   337  ff-   340  f. 

4ii.  533- 
Seydel  15. 
Sibree  49. 
Siebeiis  6. 
Siedel  524. 
Simyan   15. 
Simons  12. 
Siminel  522. 
Simonides  195. 
Sittl  7.   507.    5 10  ff.   516. 
Skeat  48.   125.   506.   515. 
Smend  511.  522.  535.  537. 
Smet  de  93.   5n. 
Smith  K.  6.  78.  509  f.  5 12  ff. 

5i5  f. 
Snedorf  6.  518. 
v.  Soden  540. 
Söderblom  VIII  f.  9.  20.  23. 

61.  1 19  f.  235.  239.  248  f. 

354  f.  474. 491. 497-  5°5  ff- 

513  ff.   519.   522  f.  526  f. 

532.  534-  536-  538  f.  54i. 
Sokrates  193  ff-  203  ff.  520. 
Solon  196. 
Sophokles  60.  78.  85.  190. 

197- 
Spamer  525.  530. 
Spener  355.  367.  405.  429. 

439-    534-    536.    539- 
Spencer  514. 
Spiegel  513.   541- 
Spieth  506  ff.  513  ff.  532. 


Personen-  und  Autoienverzeichnb 


549 


Spinoza   22.    211  ff. 
Spitta  433.   538  f. 
Sprenger  541. 
Spurgeon    225.    400.     504. 

522. 
Stade   136.    507.   510.    512. 

515.  521.   541. 
Stähelin  498.   533. 
Stagel  Elsbeth  31.  273.  326. 

526. 
Stanley  70. 
Statius  499. 
Staupitz  258.  525.  528. 
Stäudlin   1 1  f.   520. 
Steindorff  5 1 3  f. 
Stengel  511  f.   514.   519. 
Stephanus  368.  466. 
Stevens  515. 

Stevenson   508.   510.   516. 
Stiefenhofer  528. 
Stierling  532. 
Stobäus  520. 
Stöcker 1   530. 
Stoffels  530. 

Stolz  1.  209.  226.  228.  520. 
Storf  537  f. 
Strabo  512. 

Strabo  Walafried  102.  512. 
Strack  538. 
Stratmann  506. 
Strauch  526  f.  528  f.  532  f. 
Strong  A.  L.   14.  469. 
Suarez  36. 
Sudhaus  7. 

Sugawora no Michizane  208. 
Saidas  523. 
Sujol   15. 
Suringar  538. 
Symeon  der  neue  Theologe 

29.    33.    247.    284  f.    287. 

292  ff.    300  f.    304.    306. 

318  f.    324.    329  f. 
Tacitus  103.  510.  512.  516. 
Tanner  92.    146.    1:07.    510. 

516. 
Tauberth   1 1. 
Tauler  234.  244.  246  f.  249. 

279.    284.    288  f.    291  ff. 

318.   327.   333.   527  f. 
Teroteegen  19. 29.  33.  223  ff. 

227.     229  f.     .-35.     244. 

246  ff.   250.   285.   290  ff. 

299.    303  ff.    307.    318  f. 

342. 
Tcrtullian  36.  138.  278.  332. 

436  f.   512.   516.   539. 
Theel  8. 
Thekla  332. 
Theodor  (Neuplatoniker) 

286. 


Theognis  60.  90. 

Theresa  di  Jesu  30.  35.  207. 

223.  225.  234.  244.  258. 

265.  270.  273.  277.  283  f. 

289.  300.  302  f.  305.  310  f. 

316.     318  ff.     321.     333. 

339  ff.    343  f.    359.    400. 

525.  528.  530.  533. 
Thiers  531. 
Tholuck  35.  372. 520.  522  ff. 

527.  529  ff. 
Thomas  v.   Aquino   3.   20. 

33.    36.   225.    234.    242. 

284  f.     291.     295.     324. 

328  ff.  333.  371. 
Thomas  v.  Celano  33.  223. 

243.  310.  362.  521.  523. 

53i. 
Thomas  v.  Kempen  30.  207. 

225.  234.  242.  244.  247. 

273.     277.     289.     292  ff. 

299  ff.    302  ff.    319.    324. 

328  ff.    333.    337.    339  ff. 

519. 
Thomasius  524. 
Thomin   15. 
Thürlings  540. 
Thureau  -  Danging     508  ff. 

515  f.  521. 
Tibull  68. 
Tiele   1  f.   12.   16.  2^.    uo. 

5=6  f.   536. 
Tileston  528  f. 
Tillmann  527.    ^o.    535. 
Tillv  20. 
Toland  215. 
Trede  512. 
Troeltsch  276.  504.  522.  524. 

526. 
Tscharnack  497. 
Tulsi-Däs    233.    236.    249. 

3031. 
Tsehwang-tse   253.    259. 
Tylor   6.    12.    50.    72.    118. 

490.    506  ff.    513  ff.    522. 

S4i. 
Unland  413. 
Ungnad  518. 
Usener  108.   513  t.   517. 
Valentin  516. 
Valeriua  Flaeeus  103. 
Varro   517. 

Vedder  507t.  514.  517. 
Veit  15. 

Venator    505.    525.    535  f. 
Vergil  138.  512.  516.  520. 
Vettei  528.  531  f. 
Vettius  211.   520. 
Vierkandt    13. 
Vierordt   5  12  f. 


Vilmar  476.   541. 
Van  Vloten  521. 
Vogel  537- 
Volland  511. 
Vollbeding  511.   538. 
Voltaire   205  f.    209  f.    213. 

520  f. 
Volz  521.   525  f. 
Vorwerk  11.  14.  504  f.  523. 

,  534- 
Voullieme    7.     105.    511  ff. 

515- 
Wachsmuth  5  1 2. 
Wächter  106.  512  t. 
Waddell  512. 
Wagner  477. 
Waitz  508  ff.  514.  516. 
Walch  497.  503. 
Waldenmaier  538. 
Walleser  515. 
Wallin  363. 
Walter  G.   10. 
Walther   15.   504. 
Warneck  53.  72.  75.84.  123. 

155.    506  ff.    5 13  ff. 
Weber  F.  516.  518  f. 
WeberO.  164.  166.  183.  516. 
Wechßler  532. 
Weinel  9.  16.  27.  505.  534. 

541. 
Weingarten   535  f.    539. 
Weinhold   1 06.   5 1 2  f . 
Weinreich   307.   525.   529. 
Weinrieh   15. 
Weiß  Joh.  "388.   533. 
Wellhausen     2.     237.     380. 

5 10  ff.  522.  535.  537. 
Wensinck  8.  106.  513.  541. 
Werner  9.   533. 
Wernle  239.  439.  504.  526  f. 

J33-  539- 
Westermarck  1 2.  507  ff.  5 1 5. 
Westphal  105.  137.  513.  515. 
Wichern  29. 
Wiedemann    7.     164.     173. 

510. 
Wieland  521. 
Wiener  539. 

Wiesel  8.    505.    534  t.    541. 
Wilburgis  v.  Neuburg  326. 
Wildt   541. 
Wilkinson   s  1 2  f . 
Will  Marg/326. 
Willmann   504.   520  t. 
Wilma  10.  ^27.  529.  531  f. 
Wilpert   532. 
Wilson   529  f. 
Windisch   522.  524. 
Winternitz  7.  167.  173.  184. 

51  7  ff. 


350 


Personen-  und  Autorenverzeichnis  —   Sachverzeichnis 


Wirz  14. 

Wissowa   152.    1 5  5  f.  5 1 7  f. 

Wobbermin    14.    504.    538. 

540. 
Wünsch  7.  497.  507.  509  f. 

515  f- 
Wundt  13.  25.  39.  115.  161. 

164.   506.   514.   518  f. 
Wuttke  510.  514. 


Xenophanes  202  ff. 
Xenophon68.  191.  193.  195. 

197-  506.  513.  519  f. 
Yajnavolkya  270. 
Yämuna  Muni  236.  303. 
Zahn  310.  507  ff.  523  f.  526. 
Zarathuschtra2  5o.  271.  278. 

281.  347.  400. 
Ziegler  K.  6.  498.  507. 


Ziethen  20. 

Zillessen  538. 

Zimmern  166.  512  f.  517  ff. 

Zinzendorf   304.    333.    337. 

340.  444. 
Zoepf  524.  527.  532. 
Zwingli245.  259.  347.  359  f. 

389.    394  «•    401.    40$  f. 

428.  443.   536. 


III.  Sachverzeichnis. 


Abendgebet  43.  62.  67.  92.  151.  154.  193  f. 

479  ff- 
Abendmahl  8.  Eucharistie. 
Abhängigkeit,  Gefühl  der  42  f.  45.  65.  72. 

78.  81.  84.  gof.    105.    126.   130  ff.   140. 

144.    147.    191  f.   206.   340.   351  f.   378  f. 

389.  392.  402. 
Ablaßwesen  480.  484. 
Achtzehngebet  s.  Schmone-Esre. 
Adoration  s.  Anbetung. 
Ägyptische  Kirchenordnung  426.  437.  441. 

464.  480.  538  f. 
Ästhetisch    76  f.    185  ff.    298  ff.    392.   410. 

492  f. 
Affekte  42.  46.   50.  91  ff.  98  ff.  108.    132. 

134.   139.  145-   !98.  229.  251.  254.  267. 

284.    286  ff.  299.  318.   334  ff-    339.  34i. 

350 ff-  354ff-  372.  380  ff.  385  ff.  389.  402. 

405.  413.  418.  431  f-  436- 
Affekte,    Unterdrückung    der     193.     197. 

251  f.   258.   267.   289.   292.   309  ff.   370. 

388.  4". 
Affektlosigkeit  204.  207.  251  ff.  267.  284. 

286  f.  292  f.  314  ff.  318.  328.  342.  358. 

387. 
Agende  429  f.  437  f.  467. 
Agni  286.  296  ff.   304  f. 
Agnostizismus  19. 
Agnus  Dai  466. 
Ahnenkult  61.  63.  69.  76.  81  ff.  98.  nof. 

122.    127  f.    130.    134  ff.    141.    144.    r$o. 

168.  222.  507.  514. 
Aliuna  vairya  481.  483.  541. 
Ahura  Mazda  282.   361.  400.  481  f.  483. 
Allah  139.  273.  288.  389.  482. 
Alleins  s.  Pantheismus. 
Alleluia  442. 

Almosengeben  479  f.  483. 
Altar  103.   106.  222.   325  f. 
Altarsakrament  s.  Eucharistie. 
Altes  Testament  8  ff.  249.  347.  352.  370. 

375.  385.  400  f. 
Altkatholische  Kirche  474. 
Altruismus  s.  Fürbitte. 
Amen  35.  383.  442  f. 
Amon-Ra  115.  171  f.  178.  188. 
Anbetung  46.  59.  99  ff.  109.  172.  207.  223. 


286.   301.    323  ff.    392.   395.   412  f.  490. 

491  ff. 
Andacht  412.  484.  491.  493  ff. 
Andachten,  katholische  473. 
Androgyne  Götter  133.  331.  515. 
Anerkennungsopfer  73.  96. 
Anglikanische  Hochkirche  429.  451. 
Animismus  9.  46.  7^.   108.  118.   131. 
Annunaki  127.   171.   179. 
Anrufung  58  f.  81.  149.  153.  I79-337-348  f- 

463  f. 
Anthropomorphismus    der    Gottesvorstel- 
lung 46.  72.  81.  120.  130.  133.  149.  179  f. 

188  f.  191.  199.  202.  210.  213.  317.  331. 

34o.  377-  393  f-  490. 
Antike  Religion  12.  18.  39.  45.  49.  56.  67  f. 

72.  75.  83.  100.  115.  126.  133  ff.  150  ff. 

157.  161  ff.  191  f.  194.. 200.  233.  249.  422. 

425. 
Antiphonie  441. 
Anu   142.   171. 
Apatheia  s.  Affektlosigkeit. 
Aphrodite  115.   197.   199. 
Apokalyptik  278.  369. 
Apollo  59.  199. 
Apostolische    Konstitutionen    425.    439  f. 

447  ff.  454  ff-  538  f. 
Arbeitsgesänge,  primitive  48  f.    55. 
Arianer  426.  464. 
Artemis  59.  116.  199  f. 
Aschern  vohu  481.  483. 
Askese  57.   162.   193.  258.  268.  278.   280. 

285.  370.  411. 
Asklepios  95.   116.  138.  141. 
Athene  81.  193.   199. 
Atman-Mystik  s.   Upanischaden. 
Aton  184  ff. 
Audition  s.  Vision. 

Aufklärungszeit  203.  205  ff.  245  f.  429  f. 
Ausbreiten  der  Arme   101  f.     105.  511. 
Ausschütten   des   Herzens    58.    217.    287. 

352  f.  358  f.  371  f.  417-  486. 
Aussprache  29.  89  t.  246.  287.  331.  379  ff. 

415.  3 

Autobiographie  29.  223.  273.  326. 
Autorität  265.  478. 


Sachverzeichnis 


551 


avatära  323. 

Ave  Maria  480.  482.  485. 

Avesta  102.  163.  277  t.  347.  361.  481  f. 

Ba'alim   115.  276.  281. 

Bachantinnen  160. 

Barfüßigkeit,  kultische  104.   106. 

Bauern,  Rsligion  des  s.  Volksfrömmigkeit. 

Ba-u  (Göttin)  175. 

Banngeister  110.  114.  136.  141. 

Beamte  im  Kult   151  ff.   162. 

Beichte  s.  auch  Sündenbekenntnis  88. 

Bekenntnisformeln  481. 

Bellona  80. 

Benediktiner  279. 

Berührung  eines  heiligen   Objekts    103  f. 

106.  492. 
Beschimpfung  der  Götter  84. 
Beschwörung  s.  Zauberspruch. 
Beschwörungshymnus  164  f.  518. 
Betrachtung  s.  Meditation  ^Kontemplation. 
B^wußtseinszustände  251  f.  258  f.  286. 
Bhagavadgitä  249.  260.  269.  299. 
Bhakti-Mystik  233  ff.  249  f.  284  f.  323.  348. 

Biblische  Frömmigkeit  233  ff.  241  ff.  269  f. 

282.  347  f.    S.  auch  prophetische  Fröm- 
migkeit. 
Binden  u.  Lösen  106.  177. 
Bischof  426.  435. 
Bittgebet  60  ff .   174  f.   189.  194  ff.  203  ff. 

215  f.    246.    291  ff.    360  ff.    380  ff.    432. 

454  ff.  482.  507. 
Bittgebet,  generelles  67.  174.  189.  197.  205. 
Bittgebet,  um  ethische  Werte  66  f.  194  ff. 

199.  204  f.  365  f.  416.  456. 
Bittgebet  um  irdische  Güter  s.  Eudämonis- 

mus. 
Bittgebet  um  religiöse  Werte  66.   292  ff. 

328  f.   338  f.    360  ff,   416  f.  452  ff. 
Bittgebet,  Verwerfung  des  318.  343  f. 
Blut  74.  108. 
Brahma  255. 
Brahmanismus    57.    ggf.    150.    154.    163. 

S.  auch  Veda,  Rigveda    165  f.   471. 
Brahmanaspati  (ßrhaspati)   170.   175. 
Brahmasamaj  431.  457. 
Brautmystik  s.  Mystik  erotische. 
Brautverhältnis  zu   Gott   255.   272.   310  f. 

318.   320.  331  ff.  400.  409.  490. 
Breviergebet  480. 
Buddhismus  7.  36.   197.  207.  221.  230  ff . 

248.  255.  258.  260  f.  264.  268  ff .  274  ff. 

284  f.  311  ff.  319.  322  f.  345  f.  421.  482. 

486.  489.  493-   53 1- 
Bundeslade   136  f.   158. 
Bußgebet  ggf.  134.  153.  362  f.  378.  452  f. 
Bußpsalmen  Sg.  164.  166.  175  ff.  362. 
Bußwerke  480. 
Causa  sui   120.    171. 
Ceres  1 12.   142. 


Charismatiker  271.  276.  27g.  400.  435.  440. 

471. 
Chassidim    357.   411  ff. 
Chorgebet,  -gesang  443.   540. 
Christentum    9.    100  ff.    194.    233  ff.    248. 

263  f.  282.  324  f.  345.  387  f.  424  ff.  479  f. 
Christentum  als  Religion  des  Gebetes  9. 

235  f.  430  f. 
Christologie  9.   263  f.  426.   465  ff. 
Christus,  Gebet  zu  240  f.  465  f. 
Chthonische    Götter  66.    103.    128.    136  f. 
Christusmystik     240  f.     287.     317.     324  f. 

332  f.   337  ff.  531. 
Common  Prayer,  Book  of  405.  428. 
Completorium  93. 

Credo  S.Glaubensbekenntnis  apostolisches. 
Dämonen  874.  106  f.  nof.  115.  125.  130. 

422.   506. 
Danken  44  f.  95. 
Dankgebet  44  t.  95  ff.  117.  123.  215.  301  f. 

330.  344.  349.  352.  372.  389  f.  444.  463  f. 

467. 
Dankopfer  97.   121.   193.  468. 
Dekadenz,  religiöse  18.  126.   162.   181. 
Deismus   126  ff.  211. 
Demeter  51.  63.  114.  157.  195.   19g. 
Demut  8g.  gi.  304.  402. 
Deuteroaomium  71.   137  f.  422  f.  47g. 
dhyäna  s.  Versenkung. 
Diana   116. 

Diaspora  jüdische  273.  423.  475. 
Dichter  20.  33  f.  3g.  164  f.  410  ff.  487.  4gi . 
Didache  368.  424.  435  f.  441.  444.  446.  454. 

479- 
Dionysos  47.   158.   igg. 
Dogma  2.  3.  233.  265. 
Dogmengeschichte  5. 
Dominikanerinnen   11.   531. 
Doxologie  425  f.  442.  444.  463  f. 
Drehung  beim  Gebet  101.   106. 
Drohung  an  Gott  84  f.  373. 
du'a  31.   102.  479.  508.  516. 
Dualismus  281  f. 
Durchsehnittsfrömmigkeit    20  f.    ^^.    34  t. 

274-  475  f-  485. 
Dürre  geistige  s.  siccitas. 
Ea  (Gott)  171. 

Egoismus  44.  66.  69  f.   173.   340.   342. 
Ehrfurcht  46.  5g.  8g.  gi.  145.  228  f.  2g8. 

474  ff-  484  f-  49i. 
Eid  7g  f.   123.  igg. 
Einfühlung  VI.   21  f.   31  f. 
Einigung   193.   220.   2^1  ff.  25g.   271.   279. 

284  ff.  289  f.  296  f.  314  ff.  323  ff.  330«. 

335.    392  f.    397.    4^2.    469.    474.    492. 

S.  auch  Ekstase  523. 
Einsamkeit  26.  35.  56.  230  f.  252.297.3g6. 
Einwirkung   des   Menschen   auf   Gott   g4. 

13g  f.  180  f.  210  f.  214.  31g  f.  397  ff.  419. 

467  f.  4g  1. 


552 


Sachverzeichnis 


Ekstase  47.  106.    193.   230  f.   252  fr.  258  ff. 

207.  270  f.  277  ff.  286.  288.  296.  304  ff. 

3<39f.   311  f.   3 1 6  f.   325.   342.   353.  411. 

486.   524  f. 
En-lil  (Gott)  127.  170.  175  ff. 
Entblößung  im  Kult  104.  512  f. 
Enthusiasmus  47.  241  f.  252.  271.  287.  41 1. 

432.  435  *• 
Epitheta  der  Götter  81  f.    153.   160.   167. 

507. 
Epos,  religiöses  164.  167.  159.  176.  446  ff. 
Erbauung  432. 

Erde  (Gottheit)   91.    110.    114.    142. 
Ergebung  93  t.  206  ff.  217.  228.  238.  246. 

302  f.   368.   384  ff-  419  f.  468. 
Erkenntnistheorie  24.  202. 
Erleuchtung  268.  293  f.  328.  349.  362. 
Erlösung  s.  Heil. 
Erlösungsreligion  mystisehe  190.  193.  200. 

237.  248. 
Erntedankgebet  45.  117. 
Erotik,  religiöse  s.  Mystik,  erotische. 
Ersatzopfer  74  f. 

Erstlingsopfcr  96.  117.  123.  130  f.  194.  213. 
Eschatologie  s.  Reich   Gottes. 
Esotherisch  275  t.  429. 
Ethik  202  f.  269  f. 
Ethnologie  IL   38  f.   118. 
Eucharistie  11.  240.  324fr  424.  427.  435. 

442.  444.  47°  ff-   532. 
Eudämonismus   60  ff.    70.    91.    148.    193  f. 

189  f.   194.   196.   202  ff.   307.   340.   370  f. 

414.  484. 
Evangelische  Kirchen   427  f.   432  f.  436f. 

451"  ff.  457.  459  ff.  467.  474  ff-   54i. 
Exerzitien  56.   321.  527. 
Exil,  jüdisches  237  f.  348.  382.  390.  422  f. 

431-  475-   538. 
Familienvater   54.    154.   517. 
Fasten  479  f.  482. 
Feindesliebe   197.   368.  461. 
Feldgottheiten   109.   114.   136.   143. 
Feste  151.  164.  450  ff.  456  f. 
Fetisch   in.    114.    136.   141.   143. 
Feuer  (Gottheit)  62.  69  f.  7$.  1 14.  126.  141. 
Fluch  66.  106.  193.    S.  auch  Rachegebet. 
Folklore  s.  Volksfrömmigkeit. 
Frage  an  Gott  58  f.  176.  350  f.  359  ff.  380  ff. 
Fragebogen  in  der  Psychologie  13.  20. 
Frau,  Stellung  im  Kult  54. 
Freundschaftsverhältnis  religiöser  Männer 

und  Frauen  273. 
Freundschaftsverhältnis  zu  Gott  143.  199. 

310.  320.  333  f.  400. 
fruitio  dei  252.   311  f.   338. 
Fürbitte   44.   69  ff .    195  f.    204.    214.   240. 

348  f.  352.  366.  414.  421.  458  ff.  534. 
Fürbitte  für  den  Herrscher  69  f.  1 74.  460. 

54o. 
Fürbitte  für  die  Toten  70.  462. 


Furchtaffekte  42.  145  f.  350  f.  355  f.  379  f. 

402.  478.  484  f. 
Gäthas  s.  Avesta. 
Ga-tum-dug  (Göttin)  143. 
Ge  s.  Erde. 

Gebärde  s.  Gebetsgestus.       .   . 
Gebärdensprache  98. 
Gebet,  anhaltendes  89.   368  f.   ^76  ff. 
Gebet,  Anlaß  zum  41  ff.    151.   164  ff.    184. 

224  f.  285  ff.  348  ff.  431  ff.  484  f.  488  f. 
Gebet,  bedingtes  206.   215.   386  f. 
Gebet,  formelhaft  gebundenes  40.    150  ff. 

288  f.   354.  437  f.  480  ff.   538. 
Gebet,  freies  39.48  f.  194.  220  f.  288.  354  ff. 

405.  425  ff.  436.  439.  472.   539. 
Gebet  im  Namen  Christi  240.  375.  465.  540. 
Gebet  als  gutes  Werk  479  ff. 
Gebet,  Geschichte  des  4.    11.   237  f.  422. 
Gebet,  gemeinsames,  s.  Gemeindegebet. 
Gebet,   gesetzliches   405  f.    479  ff. 
Gebet,  die  dem  Gebet  zugrunde  liegende 

Gottesvorstellung     131  ff.     179  f.     199. 

209  ff.  220  ff.  317  f.  393.  467   ff.  482. 
Gebet,  Inhalt  des  7.  58  ff."  153.  168  f.  185  ff. 

194  ff.  203  ff.   228  f.  290  ff.   328.   337  ff. 

343-  358.  414  ff-  444  ff-  481. 
Gebet,  inneres,  s.  Gebet,  wortloses. 
Gebet,  lautes  7.  27.   133.   148  f.  357.   505. 
Gebet,  leises  7.  152.  472. 
Gebet,  literarisches  1 1.  27  ff.  203  ff.  355  ff. 
Gebet,  liturgisches  32.   150  ff.    159  t'.   240. 

421  ff.  48 1.   537. 
Gebet,  mechanisches    154  f.    231.    404  ff. 

484  f.  54i. 
Gebet,  Motiv  ^uni  s.  Gebet,  Anlaß. 
Gebet  als  Pflicht  s.  Pflichtgebet. 
Gebet,  metaohysische  Rechtfertigung  des 

216  f. 
Gebet,  nachgeahmtes  in  der  Dichtung  35  f. 
Gebet  ohne  Unterlaß  208  f.  223  ff.  410.  521. 
Gebet,  pädagogische  Wertung  des  200  f. 

216  f. 
Gebet,  regelmäßiges  43  f.  151.  193  f.  353  f. 

479- 
Gebet,    spontanes    33.    48  t.    220.    224  f. 

352  ff.  411  f.  415  f.  436.  439. 
Gebet,  sprachliche  Termini  für  72.  99  ff. 

109.  508. 
Gebet,  Urform  des  38.  127. 
Gebet,  verdienstliches  405.  479  ff.  487.  491. 
Gebet,  das  im  G.  sich  äußernde  Verhältnis 

zu  Gott  139  ff.  153.  180  f.  188  f.  199.  210. 

319  f.  397  ff-  414.  419.  467  f-  490. 
Gebet  an  viele  Götter  128.  153.  179.  181. 

198.  5 J5- 
Gebet,  wortloses  11.  27.  36.  75.  98  f.  225  f. 

235.  247.  273.  298  f.  339  f.  342.  355-  4i4. 

527  f-  530. 
Gebet  u.   Zauberspruch  8.  Zauberspruch. 
Gebet,  Wertphilosophie  des  13. 


Sachverzeichnis 


553 


Gebet,  Wesen  des  486  ff. 

Gebet,  Wirkungen  des  13.  228  f. 

Gebet,  das  zentrale  Phänomen  der  Religion 

218  f.  494. 
Gebetbuch  33.  246.  321.  428. 
Gebetlose  Stämme   39.  48  f.    1 24. 
Gebetsanleitung  30  f.  34  f.  231.  320  ff.  407. 

422.  432.478.  485.  487. 
Gebetsanrede  58  f.  84.  121.  140.   153.  168. 

337  f-  407-  4ö'4. 
Gebetsdichtung  33.   157  ff.  416  f.  419. 
Gebetserhörung  15.  35.  91.  140.  155.  181. 

397  f.  468.  516.  528. 
Gebetsformen,  Mannigfaltigkeit  der. 
Gebetsformel  7  f.   38.  41.  49.   55.   57.  69. 

100.  128.  150  ff.  165.  181.  194.  233.  287. 

354  ff.  404  ff.  425  ff.  430.  437.  470.  472. 

476.  479  f.  486.  488.  517. 
Gebetsformulare  32.  34.  152.  424  ff.  436  f. 

539- 
Gebetsgespräeh  51  f.  337. 
Gebetsgestus  u.  -haltung  6  f.  36  f.  41.  75. 

98  f.    149.   321.  407.  440  f.  480.   504  f. 
Gebetshandschuh   105. 
Gebetsideal,    philosophisches     15.     202  ff. 

220  f.  321.  346.  365.  377.  486.  488.  491  ff. 
Gebetsideal,  religiöses    35.    69.    232.    235. 

404  ff.  422.  485. 
Gebetskritik,    philosophische     7  f.     202  ff. 

220  f.  371.  486.   520. 
Gebetsleben  221  f.  410  ff.  521  f. 
Gebetslied,  primitives   157  ff. 
Gebetsnorm  203  ff.  228  f.  382  f.  389  f.404ff. 
Gebetsort   135  ff.   149.   229  t'.   394  t'. 
Gebetsparadigmen   22  f.  407.   425  f.  436. 
Gebetsrichtung   135  ff. 
Gebetsriemen  105.  485. 
Gebetssprache  148  f.  240.  440  f. 
Gebetsstimmung   145  ff.  287. 
Gebetsstufen  7  f.  268.   309  t.   530. 
Gebetssurrogat  207  f. 
Gebetstheologic  36.   216  f.   388  f. 
Gebetstypen   1 2  f.  486  ff. 
Gebetsübung  224  f.  354. 
Gabetsversammlung  s.    Gemeindegebet. 
Gebetszustand  s.  Gebet,  wortloses. 
Gefühllosigkeit,  religiöse  s.  siccita6. 
Gegenwart   Gottes  24  t.    135  ff.    149.   210. 

221  f.  224  f.  262.  290  f.  295  f.  311  f.  316. 
318  f.  332  ff.  329  f.  336.  342.  345.  35of. 
393  '•   4<>7-   474  ff.  4«9  f.  492. 

Geist,  Heiliger  224.  255.  353.  405.  439. 
Gelassenheit  s.   Krgebung,  Indifferenz. 
Gelübde  49  f.  64.  78  f.  97.  103.  145.  153. 

269.  27},. 
Gemeindegebet   9.    2 1  f .    154  f.    240.    368. 

421  ff.  479  ff.  487. 
Gemeinschaft,   religiöse   21.    24  f.    44.    53. 

272  ff.   421  ff.   478  ff.    527.    539. 
Genießen  Gottes  s.  fruitio  dei. 


Genius  s.  Schutzgott. 

Genius,  religiöser  19.  24  f.  32  t.  38.  148  f. 

200.  217  f.  220  ff.  410  ff.  478.  486.  488. 
Genugtuung  480. 

Gesang  55.   152.   159.   165  f.  443.   540. 
Geschichte,  Bedeutung  für  die  Frömmigkeit 

233  f.  262«.  279  f.  375-  380.  446. 
Geschichtsphilosophie  15.  262  t.  450. 
Geschlechtliche  Vereinigung  mit  Gott  331  f, 

335- 
Gesetz,  religiöses  21.  265.  478  ff. 
Gesetzesreligion  163.  235.  250.  274.  478  ff.- 
Gesetzmäßigkeit  des  Weltgeschehens  210. 
Gitagovinda  336. 
Glaube  255  ff.  265.  271.  285.  352.  379  ff. 

416  f.  535. 
Glaubensbekenntnis,  apostolisches  481. 
Gleichmut  s.  Ergebung,  Indifferenz. 
Gloria  437.  440.  466. 
Glossolaie  s.  Zungenreden. 
Gnade   224.    268.    272.   311  f.    353.    379  ff. 

416  f. 
Gnosis,Gnostiker  233  f.  259. 282.331 . 333f. 
Götterbild,  -statue  74.  85.  87.   103  f.  106. 

in.  135  ff.  141  f.  161  ff.  210.  323  ff.  331. 
Gottesbegriff,    -Vorstellung    209  f.    259  ff. 

488  f.  525.  S.  auch  Gebet,  die  dem  Gebet 

zugrunde  liegende  Gottesvorstellung. 
Gottesdienst,  s.  Gemeindegebet,  Liturgie. 
Gottesglaube,  Entstehung  des  42  f.  129  ff. 
Gotteshaus  s.  Tempel. 
Gottesliebe    188  f.    207.    252.    286.    293  f.. 

302  f.   3ioff.  316.  328.   335  ff.  342  f. 
Gottesreich  s.   Reichgotteserwartung. 
Gute  Werke   75.   405  f.  478  ff. 
Gut  u.  Bös,  jenseits  von  269  ff .  281. 
Gruß  46.  80  f.  82  f.  100.   117  ff. 
Haar  74.   107. 

Händeerheben  s.  Ausbreiten  der  Arme. 
Händefalten   103.   105  ff.  321.   512. 
Händehaltung  beim  Gebet,  s.  Gebetsgestus. 
Händeklatschen    102.    105. 
Händekreuzen  103.  106  f.  321. 
Händeverhüllung  105.   107. 
Häuptling  54.   57.   70.  86.   108.    117.   145- 

150.   154.   514. 
Hauptentblößung  104  ff. 
Hauptverhüllung  104.  107  ff. 
Hausgottesdienst  476. 
Heil  228.  262  ff.  293.  328.  362  ff. 
Heilgötter  112. 
Heilige  Objekte  46.    103  f.   130.   132.  322. 

475.  482  f.  492. 
Heiligenkult  69.  75.  79.   104.   130.  132. 
Heilsgeschichte   264  f.    279.   446  ff.  481. 
Heilsgewißheit  256.  349.  422.  431  f.  445  f. 
Heilsskala   268.  286.  291  ff. 
Heilstaten  Gottes  262  ff.  269.  375.  446  ff . 
Heilsverlnngen  220.  272.  349.  422. 
Henotheisnius    171  ff.    182  t'. 


554 


Sachverzeichnis 


Heroenkult  115.   130.  178. 

Hestia  195. 

Hesychiasten  288. 

Heulen  beim  Gebet  86  f.  149. 

high  gods  s.  Höchstes  Wesen. 

Himmel  als  Sitz  Gottes   119  f.   138. 

Himmelsgott  s.  Höchstes  Wesen. 

Hinayäna  248. 

Hiang-bien-schangti  124.   199. 

Höchster  Wert  46.  260.  334  f.  409.  491  ff. 

S.  auch  summum  bomum. 
Höchstes  Wesen  (der  kultarmen  Völker) 

48  f.   59  f.  69  f.   72.  74.   84.  86.  88.  91. 

95  f.    118  ff.    129  ff.    133  ff.    138.    141  ff. 

146.   170  f.   178  ff.   199.   5 14  f. 
Höfisches  Verhältnis  zu  Gott  181. 
Hoffnung  42.  91.  351.    Vgl.  Zuversieht. 
Hohes  Lied  332  f.  336.  532. 
Homerische  Hymnen   183. 
Hosanna  442. 

Hüpfen  beim   Gebet  102.   106. 
Haitzilopochtli  (Gott)  169. 
Huldigung  80  f.    153.    171  ff. 
Humanität  205. 
humilis  103. 

Hybris  (Übermut)  66.  200. 
Hymnen  6  f.  33  f.  39  t.  47  i.  69.  80  f.  133. 

157.  233  f.  243.  288.  323.  325.  391.  444. 

466. 
Hymnen,    literarische     33L     iS2ff.     235. 

332  f.  41 1  f.  486.  493- 
Ich,  Ichbewußtsein  47  f.  141.  268.  272.  286. 

316.   334  f.   350  ff.   361.  414. 
igvara  323. 
Idealreligion  25.  202. 
Idol  s.  Götterbild. 
Idololatrie  210.   324. 
Imitatio    Christi    s.    Thomas    v.    Kempis 

(Namenverzeichnis). 
Independenten  274  f.   368.  405. 
Indifferenz  207.  252.  284.  293 f.  308.  3 i4ff. 

341  ff.  370.  387  f. 
Individualpsychologie  13.  16. 
Individualismus  232.   272  ff. 
Indra  169  f.   178. 
Inkas,  peruanische    184.    187  f. 
Inkubation   1 04. 

Inspiration,  künstlerische  24  t.  410. 
Inspiration,  religiöse  24.   182.  265  f.   353. 

410.  415. 
Intellektualismus  V.  4  f. 
Intervention  von  Göttern  128. 
Interzession  126  ff.  134  f. 
Irrationaler  Charakter  der  Religion  V.  19. 

147  f.  219  f.  494  f. 
Ischtar  116.  142.  164.  171.  175  ff.  178.  331. 
Isis  116.   143.   151.   178.   324.  460.   540. 
Islam  8.  75.  81.  99  ff.  104  f.  101.  128.  235  f. 

149.  265  f.  274.  278.  315.  432  f.  334.  474. 

478  ff.   516.   539. 


Jahwe  58  f.  71.  73.  79.91.  115.  136  f.  515. 
Jenseitshoffnung  67.  70.  279ff.297.332.527. 
jhäna  s.  Versenkung. 
Jubelruf  45.  47.   160.   164  ff.   349. 
Judentum,    nachexilisches    75.    128.    163. 

235.  265  f.  274  ff.  396.  401.  404  ff.  431. 

445  ff-    453  ff-    474-    478  ff.     521.     54o. 

S.  auch  Synagoge,  Talmud. 
Jungfräulichkeit  331  f. 
Jupiter  71.   124.   136.   140.   516. 
Juridische  Auffassung  des  religiösen  Ver- 
hältnisses 152.   156. 
y.akvxäya&la   192. 
Kanonische  Bücher  182.  265. 
Kathartik  s.  Reinigung. 
Katholisch,  Katholizismus  11.  41.  69.  75. 

116.    241  ff.    265.    276.    279.    345.   427  t. 

471  ff.  478  ff. 
Keuschheitsopfer  133.  331.   513.   515. 
Kind,  göttliches  333  f.  337. 
Kindschaftsverhältnis  zu  Gott  90  f.  120  f. 

141  ff.    146  f.    149.    181.   238.   310.    320. 

375  ff.  401  f. 
Kirchenjahr  426  f.  450  f.  456. 
Kirchenlied  3.    19  f.  444. 
Kirchensprache   151  f.  427  f.  471  f.  475. 
Kirchenväter  203.  233  f. 
Klage  im  Gebet  42.  59  f.  175  ff.  338  f.  351. 

359  f.  382. 
Klagehymnen   134.   166.   175  ff.   190. 
Kleidung,  liturgische   153. 
Klopfen  an  die  Brust   103. 
Klopfen  auf  die  Erde   103.   136. 
Klöster,  Klösterfrömmigkeit  1 1.  233.  241  ff. 

276.  332  f.  479. 
Knechtschaftsverhältnis  zu  Gott,  s.  Unter- 

tanenverhäl  tni  s . 
Knien  105.   107. 
Körperhaltung    beim    Gebet,    s.    Gebets- 

haltung. 
Kommunion  7^.  325.  471  f.  531  f.     S'auch 

Eucharistie. 
Kommuniongebete   325  f.   467. 
Konfession  29. 
Kontemplation    46.    94.    189.    207.    215  f. 

241  f.   252.   264.   268.   279.  286.   298  ff. 

308.  314.  321.  323.  329.  341.  348.  357. 

360.  376.  384.  391  ff.  396  f.  41 1  ff-  467  ff. 

486.  490.  492  ff.  527. 
Kontrasterlebnis  286.  296  ff.   304  f.  394. 
Konzentration  284.  290  ff.  309  f.  314.  317. 

328  f.  337.  341.  358.  492. 
Koran  479  ff. 

Kosmogonie  161.  164.  169  f. 
Krankheitsgeister  60.  84  f.   112.   114. 
Krieg,  heiliger  274. 
Kriegsgötter   112.    114.    168  f. 
Krischna  285.  333. 
Kult    17.    122.    123  t.    274.    323  ff.   422  f. 

475  f-   541- 


Sachverzeichnis 


555 


Kulthymnus  33  f.  53  f.  128.  159  ff-  221. 
250.  429  f.  440.  467.  486.  488.  491.  518. 

Kultlied,   primitives    157  ff.    162  ff. 

Kultur   19  f.  22  f.   38  ff. 

Kultur  u.  Religion  115.   192.  200.  276  ff . 

Künstler,  künstlerisches  Schaffen  20.  24  f. 
35.  233  f.  410  ff.  487.  492  f. 

Küssen  der  Idole  103  f. 

Kunst  11.  36.  99.  221.  276  f.  321. 

Kußhand  103.   107. 

Kyrie  eleison  437.  442.  467. 

Laien  184.  434  f.  471.  480. 

Landeskirchen  s.  Evangelische  Kirchen. 

Laren  1 1 3  f . 

Latreutischer  Sakramentskult  325.  473. 

Leben,  Wille  zum  42  f.  148.  220  f.  250.  348. 
351.  384.  388.  489. 

Lebensgrundgefühl  94.  248.  256.  268. 

Leidenschaft  s.  Affekt. 

Liebe  334  f.  492.    S.  Gottesliebe. 

Lied,  geistliches,  s.  Kirchenlied. 

Li-ki  163. 

Litanei   128.    153.   175.    179.  442.  480. 

Liturgie  21.  102.  423  ff.  475.  539.  S.  auch 
Ritual. 

Liturgisches  Gebet  s.  Gebetsformel,  Ge- 
meindegebet, Kulthymnus. 

Lobpreis  9.  81.  89.  134.  153.  157  f.  159. 
168  ff.  180.  185  ff.  207.  301  ff.  330.  344. 
349  f.  372.  391  ff.  4H.  444.  463.  467. 
479  ff.   54°. 

Lösen  s.  Binden  u.  Lösen. 

Logos  262. 

Lohnmotiv,  religiös-ethisches  478.  482. 

Lokalgottheiten  113  ff.  129  ff.  135  ff.  141. 
178.  198. 

Macht  s.  Zauberkraft. 

Madonna  144.  175.  S.  Marienkult,  Mutter- 
göttin. 

Magie  12  f.  18.  55.68.  71.  104.  106  f.  117. 
130  f.  161.  164.  182.  191.  331.  400.  470. 

475-  483. 
Mahäyäna-Buddhismus  235.   274. 
Mahl,  heiliges  75  ff.   324.  469.  471. 
Makkabäer  423.  431.  538. 
Mana  s.  Zauberkraft. 
Mantik   191.   199. 
Maranatha  369.  408. 
Mirduk  116.  127.  143.   170  f.  174.  178. 
Mtrii'nkult   59.    116.    142  f.    149.  473. 
Mars  51.   116.   141.   157. 
Mirtyivrkult  s.   Qeiligenkult. 
M  itirialismus  202.  213. 
Mazdaismus  75'.  77.  105.  163.  235.  265.  274. 

278  f.   430.   478.  480  f.  483  f. 
Meditation  46.  94.  101.  168  f.  176.  185  ff. 

214.  228  f.  258.  268  f.  285.  287  f.  309  ff. 

318.  320  ff.  354.  397  f-  43^  f-  481.  483  f- 

486.   527.   531. 
Menschenopfer  7},. 


Messe  325.  423  f.  427  f.  437.  472  f. 

Messias  272. 

Metaphysik  15.  19  f.  24  f.  202  f.  209  ff.  490. 

Mienenspiel  99. 

Minne  s.  Gottesliebe. 

Mischna  479.  481.  516. 

Missale  Romanum  440  f.  451.  455  ff.  459. 

461  ff.  472  f.   521.   532.   540. 
Mission  273  f. 

Mithraskult  48.  323.   528.   530.   532.   538. 
Mittelalter  11.   18.  235.  241  ff.  250.  274  f. 

279.  284  f.  287.  332.  473.  480  f.  530.  534. 

S.  Katholisch. 
Mittelwesen  127  ff.  134. 
Mönchtum  273.  278  f.  288.  400. 
Mondgott  127  ff.  134. 
Monismus  15.  215  f.  281  f. 
Monolog  15.  212  f. 
Monotheismus  72.   131.  163.   198. 
Morgengebet  43.  62.  66.  69.  91.  101.  151. 

154.  193.  479  f. 
Morgenröte  (Göttin)   186.    188  f. 
Mortifikation   s.    Affekte,   Unterdrückung 

der. 
Mundverhüllung   105.   107. 
Musik  im  Kult  159.   165  f. 
Muttergöttin  116.  142.  146.  178. 
Mysterien   50L   71.    101.    104.    141  f.   289. 

470 ff.  525  f. 
Mysterienkulte,    synkretistisch-hellenisti- 

sche  151.  165  f.  223.  233.  282.  285.  322  ff. 

331.  333  f- 425. 429 f.  460f.470f.476.  540L 
Mystik  11.  13.  23.  30  f.  35  ff.  46.  75.  103. 

162.  189  f.  193.  200.  206  f.  220  f.  224  ff. 

241  ff.  248  ff.  284  ff.  350.  353.  355.  357  f. 

360  f.  368  f.  376  f.  383  f.  386  ff.  392  f. 

395  ff.  401.  404.  407  ff.  421.  431  f.  444  f. 

462  f.    468  f.   472.   478  ff.   484  f.    490  ff. 
523.   530.   534. 

Mystik,  ästhetisch-romanische  188  f.  410  ff. 

492. 
Mystik,  christliche   23^.  282.   324. 
Mystik,   erotische    30  f.    241  ff.    255.    285. 

317  f.  331  f.  533. 
Mystik,    eucharistisch-sakramantale     285. 

322  ff.  473  f.  532. 
Mystik,    unpersonalistische     241  f.     251  f. 

255  f.  285.  287.  290.  317.  322. 
Mystik,    personalistisch-theistische     250  f. 

255.   261.   285  f.    319.  335- 
Mythus,  Mythologie  17.  21.  68  f.  135.  147  f. 

162.    164  f.    168  f.    195.    517. 
X  ulnhinende  Ritualhandlung  469  f. 
Nachahmung,  Nachfolge  religiöse  21.  388. 

488. 
Ni 'hstrnliebe   271.    366  f.  458  ff. 
Nacktheit,  kultische  104.  105  f.  504.  512  f. 
Naive  Religion  17  ff.  220  ff.  415  ff.  488  f. 
Naivität  58.   148.  258. 
Nfamen  Gottes  s.  Anrufung,  Epitheta. 


556 


Sachverzeichnis 


Nationalreligion   161. 
Natürliche   Religion    193.  218  f. 
Naturbetrachtung,  ästhetische  1^2.   [85  ff, 

39 j  f.  411  ff.  492  f. 
Naturgeister  u.   -götter   73.    tio.    1131t'. 

r  iS  f.  121  f.  129  ff.  134  f.  141  f.  178.  189. 

198. 
Naturvölker  s.   Primitive. 
Naturwissenschaft  V.  211. 
Neigen  beim  Gebete   101.   106. 
Neptun  116.   141. 
Neues  Testament  9. 
Neuplatonismus  200.  203.  233  f.  242  f.  248. 

268  f.  282.  285.  290.  309  f.  319.  345.  421. 
Neupythoreismus  203.  289. 
Niesen  95. 
Ninib   169.    174. 
Nin-lil  175. 
Nirväna  252  ff.  260.  268.  274.  279.  311  f. 

316.  346.  487.  493. 
Nonnenfrömmigkeit    19  f.    29.    242  f.    272. 

285.  326.   331  f.   532. 
Numen  46.   132. 

Offenbarung   230  f.    261.    264  f.    353.    478. 
Offenbarungsreligion  s.  Prophetische  Reli- 
gion. 
Opfer  45.  z.;.  71  ff.  82  f.  85.  96  f.  102.  104. 

117  f.  121.  125  ff.  130  f.  133.   136  f.  148. 

150  ff.  161  f.  164  f.  168  f.  191.  193  f.  199. 

203.  210.  213.  221.  274.  331.  422  f.  427  f. 

469.   472.   482.    509  f.    521. 
Opfer,  geistiges  2i6f.  304.  343.  364.  423. 

468.  482  f. 
Opfer,  Verhältnis  zum  Gebet  71  f.  221.  468. 

509. 
Opfergebet  53.  75  ff.  96.   116.   149.   152  ff. 

163.   179.  304.  343. 
Opfermahl  75. 
Optimismus  248.   278.  411. 
Orakel  65.    137.   161, 
oratio  mentalis  s.  Gebet,  wortloses. 
Orden  s.  Klöster. 
Orientation  s.  Gebetsrichtung. 
Orphiker  221.   233  f.   250. 
Orphische  Hymnen   184.  273. 
Osiris  168  ff.    178. 
Ostkirche   n.   324.  400.  427  f.  447.  450  f. 

466.  471  f. 
Pädagogik  des  Gebets  s.  Gobetsanleitung. 
Pantheismus  131.  162.  189.  211.  301.  392. 

411  ff.  490.  492. 
Pantheon  115.   128.   134.   178  f.  191.  198  f. 
Parallismus  rnembrorum    157.    167. 
Parsismus  s.  Mazdaismus. 
Pathologie  13.  333  f. 

Patrongötter  112  ff.  129  f.  178.  193.  198  f. 
Pessimismus   248  f.   370.  411. 
Pfeifen  48. 

Pflichtgebet  9.  479  ff .  487.  491. 
Phänomenologie  1 3.  24.  489  ff. 


Phallische  Symbole  331. 
Phantasievorstellung     251/.     2S7.     310  f. 

334  ff.  342. 
Philologie,  klassische.  6. 
Philosophie  V.   7  f.    19  f.   36.  203  ff.  233  t. 

258.   265.   278.    336.  492. 
Pneumatiker  s.  Charismatiker. 
Pietismus  235.  241.  284.  311  f.  332  f. 
Polytheismus    129  t.    141  f. 
Positivismus  202.  213. 
Präfation  437.  440  ff.  447  ff.   540. 
Präsenz  Gottes  s.   Gegenwart  Gottes. 
Predigt  432  f. 

Preußische  Agende  429.  451.  461. 
Priester  49.  53  ff.  65.  67.  86  ff.  91.  150  ff. 

161  ff.     183  f.    203.    223.    430  f.    435  ff. 

471  ff.   486  ff.   491.    507.    517.    532. 
Primitialopfer  s.  Erstlingsopfer. 
Primitive  Religion  12  f.  18.  23.  38  ff.  157  ff. 

161  f.  174.  181.  193.  197  ff.  202  ff.  220  ff. 

284.  289.  33°  f-  334-  34o.  356-  360.  372  ff. 

393  ff-   399  ff-   409.  4i5-  422.  430.  434. 

436.  468.  475.  479.  486  ff.  491  f. 
Primitive  Völker   12.    18.   26.   30.   38. 
Prophetische    Frömmigkeit,    Religion    23. 

37.  89.   148.   163.   190  f.  200.  220.  224  f. 

241  f.    248  ff.   284.   415.   422.   430.   434. 

436.  468  f.  478  f.  485.  487.  490  f. 
Prophetismus,    israelitischer     191  ff.     221. 

233  f.  264  f.  269  ff.  273  ff.  347.  349.  366. 

370.  400  f.  422.   525. 
Prostitution,  sakrale  331. 
Prostration  beim  Gebet  ioo.  105.  107.407. 
Prozession  104. 
Psalmen  des  Alten  Testaments  8.  33.  59. 

62.  149.  163.  183  f.  189  f.  221.  233.  238. 

241  f.  256.  262.   347  f.   350.   355.   357  ff. 

370.   373  ff.   379.   382.   384.   389  ff.   397. 

401.  411.  423  f.   442.   479.    520. 
Psychanalyse  334. 
Psychologie  VI.  20.  247. 
Psychotechnik  259.  269  f. 
Puritaner  s.  Independenten. 
Quäker  358.  436.  438. 
Quetistische  Mystik  36.  233  f.  258.  265  ff. 

274.  284  f.  289.  308.  314  ff.  34i  ff-  37°- 
Rachegebet  64.   66.    193  f.   360. 
Rationalismus  4.  210  ff.  235.  429. 
Rechtfertigung  256.  268  f. 
Reformation,  Reformatoren  4.  32.  233,  246. 

256.   264  t.   274  f.    346.  402.  404.  427  f. 

433-  453-  457-  46i.  47°-  474  ff.  485. 
Reformierte    Kirche    245  f.     427  f.    453  f. 

474  f- 
Reformreligion  21.   202.   218.   271. 
Reichgottes-Erwartung    264.    272.    277  ff. 

369.  377-  397-  409.  421.  424.  43 1  f-  454. 

540. 
Reinigung  106.   150.   161  f.   164.   177.   191. 

292.  328. 


Sachverzeichnis 


5Ö7 


Religionsgeschichte,  allgemeine  3.  6.  16.  23. 
Religionsphilosophie    15.    24  f.    24S. 
Religionspsychologie  13.  16.  20  ff.  24.  34  t. 

248. 
Religionswissenschaft,  vergleichende  12.  17. 
Resignation  205  ff.  218.  229.  251.  304.  336. 

341  ff.  387  f.  Vgl.  Ergebung,  Indifferenz. 
Responsorium    55  f.   240.    383.   442  f.   472. 

539- 
Rhytmus   157  f.    161.   291.   298.   357.  443. 
Rigveda  38.  44.  61.  63.  66.  69.  82.  86.  88. 

91.    141.   163  ff.   186. 
Ritual  67  ff.   131.   133.   150  ff.   157.   161  ff. 

182.   194.   213.  434.  48*6.   510  ff.   517. 
Ritus  2  f.  21  f.  69  f.  150  ff.  233.  470  f.  473. 
Römische  Liturgie  8.   Missale  Romanum. 
Rosenkranz  473.  480  f.  484. 
S:ikralstil  des  UturgischenGebetsiS;.  429 f. 

439- 
Sakramentalismus  275  f.   322  ff.  430.  470. 

531. 

salät   7.    101.   430.   432.  434.   479  f. 

Sakrament shäusehen  325. 

Sämaveda  67.   165. 

Sämkhya  233. 

Sammlung  s.   Konzentration. 

Sanctus  8.  Trisagie. 

Schamach  (Gott)  126.   170. 

Schauen  Gottes  s.  Kontemplation. 

Schicksalsmacht  Gottes  119.   132. 

Schi-king   163. 

Schiva  190.  323. 

Schlangenkult   114. 

Schma  423.  445  f-  456.  479  ff.  539- 

Schmone  Esre  99.  423.  425.  437.  442.  444  f. 

454  f.  458.  473-  479  f. 
Schnalzen  47. 

Schöpfergott  s.  Höchstes  Wesen. 
Schriftlesung  423.  432. 
Schuldbewußtsein  s.  Sündengefühl. 
Schutzgeist   102.    in.   113.    126.   176  f. 
Schwedische  Landeskirche  428.  451.   454. 

457- 
Schweigen, religiöses  54.  289.  342. 516. 528. 
Seelenstoff   111.   114.   131. 
Segenswunsch  81.   170t. 
Sekten, christliche  276t.  368.427.  432.  435  f. 

439  f-  455-  474-  47^. 
Selbstbeobachtung  21.    35.   247.   258.    }io. 

358. 
Selbstbewußtsein   s.    Ich. 
8  Ibsterkenntnis  364. 
Selbsterlösung  268. 
Selbstgespräch  <m-  ->>• 
8elbstlob  85  f. 

Seibetverurteilung  88.  268.  364.  378  t';. 
Selbstzeugnis  ig.   22.   34  ff. 
Sexualaffekt   334. 

siceitM  336.   338  f.   341  f.   355.    524.    533. 
Sichniederwerfen  b.  iVostmtion. 


Siebenzahl  530. 

Siksch  383. 

Sin  (Gott)  168.   172. 

Sittlichkeit  u.  Religion  2  f.  86.  88.  93.  187. 

192.  229.  259  ff.  268  ff .  281  f.  365.  229. 

259  ff.   268  ff.   281  f.   365. 
Sitzen  beim  Gebet  101.  117. 
Skepsis  213. 
Sola  fides  256.  259. 
Sondergötter    112  ff.    1291.    506.    513. 
Sonnenkult  61  f.  95.   114  f.   128.   138.   142. 

169  ff.   184  ff.   194.   512. 
Sozialbeziehungen,  Reflex  von,  s.  im  Ver- 
hältnis zu   Gott   139  ff.   181.  211  f.  311. 

319.   331  f.   401  ff.  469.  490. 
Soziologie  16.  21.  24.  262  ff. 
Speichel  63.  74.  89.   108. 
Speiseopfer  73  f.   130.   133.   179. 
Stammesgötter  s.  Lokalgötter. 
Stehen  beim   Gebet   100.    105.  441. 
Sterngottheiten   103.    109.    138.   142. 
Stiftshütte  137  f. 
Stigmatisierung  29.  299. 
Stoa  202  f.  205  ff.  211.  236.  387. 
Stoßgebet   49.    288  f.    354  f.    517.    527. 
Stundengebet  443.  480. 
Sühneritual  164.   175  f. 
Sünde.   Sündengefühl   88  f.   91.    17(1.    195. 

267  ff.  287.   293.   349-   378.  452. 
Sündenbekenntnis  88.  176.  262  f.  304.  378. 

452. 
Sündenvergebung  69.   134.   138.   176.   189. 

262.   267.   361  f.   378  f.   390.  452  f. 
Süfi,  Süfismus  19.  207.  233.  236.  249.  254. 

258.  265.  273.  276.  284.  309.  533.  345. 

41 1.  421. 
summum  bonum  242.  251.  260.  286.    290. 

298  ff.  311  ff.  319.  329.  334.  340  ff.  346. 

358.   391  f.    396  ff.   407  ff.   415- 
supplicatio   103. 
Synagoge,  synagogaler  Gottesdienst  423  ff. 

430.  432  ff.  441  f.  444.  467.  469.  474  ff . 

479-   538. 
Synkretismus  der  Kulte  u.  Göttervorstel- 
lungen  145.  161  ff.   189.  199. 
Synkretismus,  hellenistisch-orientalischer 

Mysterienkulte,  synkretistische. 
Tabernakel  137.  325  ff.  473.  531. 
Tabu,  Taburiten  46.  88.  108  f.  130  ff.    137. 

153.   177.  422. 
Tatigkeitsgötter    1 1 1  ff.    [29  ff,    13^.    178. 

198. 
Tallith  105. 

Talmud  8.  437.  4.67.  470  ff.  484.   539. 
Tammuz  164. 

Tanz    104.    [59. 
Tuoismus   249  f.    2;  ;. 
Tellus  (Göttin)   1  12.   141. 
Tempel  30.  83.   102.   103.   136  ff.   140.   161. 
167.   323.    593.   395. 


Ö58 


Sachverzeichnis 


Tempel  zu  Jerusalem  137  f.  393.  395.  423  f. 

482. 
Tempelbibliothcken    163.    166.    168. 
Terminologie  149. 
Theismus  209  f.  216  f.  490. 
Theodizee  60.  359  f. 
Theologie  V.  VII.  4.  20.  35  f.  135.  161.  165. 

m.  388  f.  485. 
Thot  (Gott)  171.   178.  528. 
Tiergottheiten   110.   114.   136.   143. 
Tischgebet  9.  12.  45.  95  f.  154.  193  ff.  214. 

391. 
Toleranz  274. 
Totentiere  109. 
Totengeister  75.  nöf.  121.  128.  136.  143  f. 

191. 
Totenklage  48  f.   55.  60.  94.   130  513. 
Totenkult  104.  107.  1 16  f.  131.  164.  513  f. 
Tradition,  religiöse  21.  32  f.  151.  166.  374. 
Tränen  beim  Gebet  80  f.  321.  407. 
Tragiker  34.  38.   181. 
Trinität  426.  464. 
Trisagion    10.   437.   443. 
Typen  der  Religion  23. 
Überredungsmittel  beim  Gebet  Soff.  181. 

372  ff. 
Umgang,  sakraler  161.  104.  107t.  505.  513. 
Unendlichkeitsmystik    s.    Mystik,    imper- 

sonalistische. 
Untertanenverhältnis  zu  Gott  144  f.   149. 

199  f-  310-  32°-  4OI> 
Upanischaden  19.  233  f.  248  f.  253  f.  258  f. 

265.  272  f.  284  f.    301.    322.  325.  525. 
Urchristentum   240  t.   265.  274.  278.   358. 

368.   398.  432.  435  ff-  443-  456.   47°  ff- 

474  f.  476-  479. 
Urmonotheismus  118.   130. 
Urreligion  148. 
Urvater  s.  Höchstes  Wesen. 
Varuna  124.  175.  177.  179.  189.  199. 
Vatergott  s.  Kindschaftsverhältnis. 
Vaterunser  11.  31.  240.  342.  355.  360.  368  f. 

377.  406  f.  443.  480  ff. 
Veda  7.  68.  86.   115.   150.  152.   160.   162. 

164 ff.  431.    S.  auch  Rigveda. 
Vedänta  233  t.  248.  421. 
Verbeugung  beim  Gebet  s.  Neigen. 
Verdienstlichkeit  s.  gute  Werke. 
Vereinigung  mit  Gott  s.  Einigung. 
Vergottung  223.  322  ff.  525. 
Verhüllung  im  Kult  104  t.  106  f.  504  f.  5 13. 


Verkündigung,  religiöse  273  f. 
Vernunftreligion,  s.  Natürliche  Religion. 
Versenkung  VII.  7.  11.  15.'  207.  216  f.  221. 

232.  235.  241  f.  268  f.  285.  287.  290  f.  319. 

345  f-  358.  41-  f-  486.  490.  493  f. 
Versenkungsstufen  7.   268  f.   310  ff. 
Versöhnungstod  Jesu  269.  375.  470. 
Vertrauen  s.  Zuversicht. 
Verwandtschaftsverhältnis    zu     Gott     59. 

140  f. 
Verzückung  231.  251  f. 
Viktoriner  233. 

Vision  232.  258.  265.  272.  284.  342. 
Vischnu  323.  333. 
Vischnu-Puräna  300.   529. 
Völkerpsychologie   13.   17.  39. 
Volksfrömmigkeit,  -religion  9.    13.  17.  38 

41.  46.  57.  59.  67.  75.  79.  84  f.  87.  89. 

104.  116  f.  145.  178.  191  f.  202.  233.  240  f. 

250.   274.  284.  479- 
Wallfahrten  75.  137.  140.  480. 
Wassergottheiten    114.    128.    136.    141. 
Weihgeschenk  74  t.  133. 
Weltbürgertum  205. 
Weltverachtung  248  f.   258.   zjj. 
Werte,  Wertgefühle  19.  66.  182  f.  185.  192. 

251  ff.    262.    272.    277.    287.    298.    304. 

34Sff.    361.   409.   411.   467.   483. 
Wertphilosophie   15.  24  f. 
Wunderglaube  256. 
Yajurveda   150.   152. 
Yascht   163.    167.   179.  430. 
Yenhe  hatam  481. 
Yoga  7.   101.  233  f.  258.  268.  284  f.  310. 

317.  53o. 
Zauberer  55.  57.  64.   117.   150. 
Zauberkraft  46.  55  f.  73.  108  ff.  117.  130  ff. 

156."  182.  231.  393.  483.  491  f.  515. 
Zauberspruch   7  f.    12  ff.    38  f.    117.    1 24  f . 

131.  150.  152  t.  156.  T63.  182.  194.  471. 

480.  483  f.   518. 
Zauberwesen  s.  Magie. 
Zeremoniell  99  f.  1 54  ff.  426. 
Zeus  51.  59.  83.  115.  124.  157.  191.  [95  ff- 

205,  516. 
Zorn  Gottes  86  f.  89.  134.  177. 
Zungenreden  271.  358.  433.  435. 
Zuversicht  59.  89  ff.    189.   220.   223.  238. 

241  ff.   255.   262.   268.   281.   284.   362  t. 

379  ff-  393-  398  f.  402  f.  4«5-  407.  4i8  f. 

484  ff.  486. 


Anmerkung  des  Verlegers.  Auf  vielfach  geäusserte  Wünsche  hat  sich  der 
Verfasser  entschlossen  alle  fremdsprachlichen  Zitate  aus  diesem  Buche  ins  Deutsche 
zu  übersetzen.  Es  war  nicht  mehr  möglich  diesen  Anhang  dem  Buche  selbst  bei- 
zugeben, er  steht  aber  allen  Lesern  des  Buches  gegen  Einsendung  des  Betrages  von 
50  Pfg.  zur  Verfügung.  Die  Zusendung  dieses  Nachtrages  erfolgt  dann  entweder 
direckt  durch  den  Verlag  oder  durch  eine  Buchhandlung. 
München  Ernst  Reinhardt  Verlag. 


Verlag  von  ERNST  REINHARDT  in  München 

Vom  gleichen  Verfasser  erschien: 

Die  buddhistische  Versenkung 

Eine  religionsgeschichtliche  Untersuchung 

von  Friedrich  Heiler 

1918.     VI.     93  Seiten.    Preis  Mk.  3.60 

H.  L.  Held-München  im  „Reich"  Oktober  1918: 

„Als  eine  der  verständnistiefsten  Arbeiten  über  den  Buddhismus  möchte  ich  dieses 
Werk  in  den  Händen  aller  wissen,  denen  es  ernst  ist  um  die  Durchdringung  dieses  gewal- 
tigen mystischen  Geheimnisses.  Was  Heiler  an  Wissen  und  eigener  Forschung  gibt,  ragt 
weit  über  das  Mittelmass  unserer  Forderungen.  Nicht  aber  nur  die  äusseren  Bedingungen 
eines  gelehrten  Werkes  sind  in  diesem  Buche  glänzend  «füllt,  auch  das  innere  Wesen 
dieses  Buches  zeugt  von  seinem  Schöpfer  als  von  einem  Gelehrten,  dem  das  heilige  Gut 
synthetischer  Intuition  zur  wägenden  Verfügung  steht." 

Luthers  religionsgeschichtliche  Bedeutung 

von   Friedrich  Heiler 
1919.     31  Seiten.     Preis  Mk.  1.50 

Universitätsprofessor  P  f  e  nn  i  g  s  d  o  rf -Bonn  im  „Geisteskampf  der  Gegenwart" 
Januar   1919: 

„Unter  den  vielen  Lutherschriften  nimmt  diese  Vorlesung  eine  hervorragende  Stellung 
ein.  Luther  wird  in  ihr  im  Gegensatz  zur  mystischen  Religiosität  der  katholischen  Kirche 
als  Wiedererneuerer  des  prophetisch-biblischen  Typus  der  Frömmigkeit  gewürdigt.  Die 
scharfe  Gegenüberstellung  der  beiden  Religionstypen  ist  überaus  lehrreich  und  lässt  das 
Charakteristische  in  Luthers  Art  der  Frömmigkeit  klar  hervortreten.  Nicht  minder  lehrreich 
ist  das  Eingehen  des  Verfassers  auf  die  Einwürfe  in  der  nachfolgenden  Diskussion.  Wir 
haben  hier  eine  Wertung  des  Reformators,  welche  die  Auffassung  eines  Janssen,  Denifle, 
Grisar  an  Weite  und  Tiefe  der  Betrachtung  weit  unter  sich  lässt." 


Die  Bedeutung  der  Mystik  für  die  Weltreligionen 

Ein  Vortrag 

von   Dr.   Friedrich  Heiler 

1919.     32  Seiten.     Preis  Mk.  150 

Professor  Niedergall  in  der  „Evangelischen  Freiheit"  vom  19.  September  1919: 
„Der  Verfasser  zeigt  auch  in  dieser  neuen  Schrift  wie  wertvoll  uns  immer  mehr 
seine  Arbeit  wird.  Ihr  Ergebnis  ist  :  die  stille  und  geheime  Auseinandersetzung  zwischen 
Mystik  und  biblisch-evangelischer  Offenbarungsreligion,  das  eigentliche  Thema  der  inneren 
Geschichte  des  Christentums,  wird  so  enden,  dass  in  der  notwendigen  schöpferischen 
Synthese  beider  der  zweiten  das  Uebergewicht  gebührt,  weil  sie  eine  Religion  der  Per- 
sönlichkeit und  der  Gemeinschaft  ist.'1 


Vom  gleichen  Verfasser  erschien  im  Verlag  Chr.  Kaiser  in  München: 

Das  Geheimnis  des  Gebets,  Evangelisches  Christentum  und 
Mystik,  Die  Gemeinschaft  der  Heiligen.  (Kanzelreden 
in  schwedischen  Kirchen.)     Geh.  ca.  Mk.   1.80. 

Jesus  und  der  Sozialismus,  Vortrag  gehalten  am  5.  April 
1919  zu  München  im  Verband  der  staatlichen  Büro- 
angestellten. (Aus  der  Sammlung  „Christentum  und 
soziale  Frage"  Heft  3.)     Geh.  Mk.  1.80. 


Verlag   von  ERNST  REINHARDT  in  München 

Glauben  und  Wissen 

Die  Geschichte  einer  inneren  Entwicklung 

von 
August  Messer 

o.  Professor  der  Philosophie  in  Giessen 

2.  Auflage  (3.-4.  Tausend) 

Preis  brosch.  Mk.  7.20,  geb.  Mk.  960 

„Deutsche  Warte"  vom  7.  August   19t'J: 

„Es  ist  nicht  vielen  Menschen  gegeben,  ihre  eigene  innere  Entwicklung  so  klar  zu 
überschauen,  wie  es  Messer  tut,  aber  ganz  sicher  sind  es  nur  wenige,  die  für  einen  weiteren 
Kreis  eine  so  kristallklare  Darstellung  dieser  Entwicklung  zu  geben  vermögen,  wie  es  die 
vorliegende  Schrift  tut.  Durch  diese  Klarheit,  die  ein  Zeugnis  innerer  Wahrhaftigkeit  ist, 
wird  das  Buch  eine  überaus  wertvolle  Gabe  für  jeden  gebildeten  Menschen." 

„Theologische    Revue"  1919  Nr.  12: 

„Mit  tiefer  Ergriffenheit  le<;t  man  dieses  originelle  Buch,  eine  Art  Autobiographie  in 
religiös-philosophischer  Perspektive,  aus  der  Hand." 


Der  Edelmensch  und  seine  Werte 

Eine  Charakterlehre  neuer   Prägung' 

von 
Johannes   M.    Verweyen 

Professor  der  Philosophie  in  Bonn 
295  Seiten.     Preis  brosch.  Mk.  9.20 
Luxusausgabe  in  Hlwd.  Mk.  13.20 

„Vossische  Zeitung"  vom  !•.  November  1SI18  : 

„Es  ist,  als  habe  Friedrich  Paulsen  seine  Ethik  nochmals  geschrieben,  bereichert 
um  die  Probleme  der  Menschheit  von  1906 — 1918  und  verjüngt  um  eine  Generation.  Leicht 
fliesst  der  Strom  der  Verweyenschen  Definitionen  und  Distinktionen  dahin,  so  glatt  ent- 
wickelt sich  diese  Ethik  des  common  sen.se,  dass  der  berufsmässige  Philosoph  kaum  irgendwo 
Aulass  zum  Widerspruch  hat,  dass  man  oft  Binsenwahrheiten  zu  lesen  meint.  Dabei  übersieht 
man  doch  zweierlei :  dass  eine  flotte  Diktion  —  das  Buch  „liest  sich  wie  ein  Roman"  — 
die  wirklich  vollendete  Ausformung  geistiger  Arbeit  darstellt  und  dass  diese  Bücher  ge- 
schrieben sind  für  jene  unzähligen  Menschen,  die  moralische  Maximen  suchen.  Für  sie 
spricht  Verweyen  zur  rechten  Zeit  das  rechte  Wort.  Seine  Ethik  ist  beweglicher,  gegen- 
wartsnaher, jugendlicher  als  die  seines  Meisters  Eucken.  .  .  .  Es  scheint  mir  dieses  Buch 
berufen,  Ordnung  in  den  moralisch-amoralischen  Hexentanz  der  Gegenwart  zu  bringen, 
die  Indifferenten  vorwärts  zu  stossen,  die  Zweifelnden  zu  sichern." 


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