MAUTHNER / ERINNERUNGEN
ERINNERUNGEN
VON
FRITZ MAUTHNER
I.
PRAGER JUGENDJAHRE
517594
1918
MÜNCHEN BEI GEORG MÜLLER
lü
Inhaltsverzeichnis.
I. Horzitz 13
II. Prag 17
III. Die Klippschule 21
IV. Erste Sprachstudien 32
V. Das Piaristen-Gjrmnasium 37
VI. Ohne Sprache und ohne Religion 49
VII. Und wieder die Piaristen 54
VIII. 1866 70
IX. Das Kleinseitner Gymnasium . 85
X. Allotria 97
XI. Übergang 104
XII. Konfession iio
XIII. Nationale Kämpfe 123
XIV. Einsame Fahrt 143
XV. Universitätsjahre 158
XVI. Streiche und Feste x68
XVII. Die erste Druckerschwärze 183
XVIII. Das erste Buch 192
XIX. Kritik der Sprache 204
XX. Geschäftiger Müßiggang 235
XXI. Des Vaters Tod 24t
XXII. Theaterkritik 248
XXIII. Abschied von Prag 260
Anhang 269
III
llllllllllllll
Mit einiger Verwunderung sehe ich mich selbst bei
der Arbeit, meine Lebenserinnerungen niederzuschrei-
ben. Ich darf mich wohl rühmen, in einer mehr als
vierzigjährigen schriftstellerischen Tätigkeit niemals
meine Person in den Vordergrund, die Person vor die
Sache gerückt zu haben ; und da spreche ich in einem
ganzen Buche, und gleich in dem ersten Satze, nur
von mir selbst. Dennoch fühle ich keinen Gegensatz
zwischen meiner scheuen Lebensführung und dieser
heraustretenden Lebensbeschreibung. Es schien mir auf
die Dauer unerträglich, in dem Kampfe gegen die kin-
dermörderische alte Schule stille zu schweigen, nicht
ein Bekenntnis zugunsten der neuen freien Schule ab-
zulegen. So reifte der Entschluß, die ganz gewöhnliche,
fast lächerliche Tragik der eigenen Schulerinnerungen
zu erzählen ; und über dem Bekennen wird ja der alte
Erzähler etwas schwatzhaft geworden sein und seinen
Lesern auch Gleichgültiges vorgetragen haben. Die Bei-
träge zur Kritik der alten Schule sind aber die Haupt-
sache. Bene vixit qui bene latuit, jawohl, aber : Mensch
sein heißt ein Kämpfer sein ; und im Kampfe hat man
mit eigener Person zu bezahlen, gern oder ungern.
Wertvolle Selbstbiographien werden immer seltene
Bücher bleiben. Wer so gut zu erzählen versteht, daß
er auch schlechten Stoff zum Kunstwerke umschaffen
kann, oder wer so Merkwürdiges erlebt hat, daß auch
eine kunstlose Darstellung den Reiz nicht abzuschwä-
chen vermag, der wird eine lesbare Selbstbiographie
schreiben können ; aber ein Buch von bleibendem Werte
entsteht nur, wenn zu der künstlerischen Darstellung
und dem ungewöhnlichen Erlebnisse noch die Kraft
hinzutritt, die eigene Seele wie mit den Augen einer
fremden Überseele betrachten zu können. Ich möchte
also nur vorausschicken, daß ich gar nicht die Absicht
habe, letzte Bekenntnisse zu bieten, ein aufwühlendes
Buch von bleibendem Werte. Es hat nicht jeder die
inbrünstige Offenheit eines Augustinus, die patholo-
gische eines Rousseau.
Eines aber sollte jeder, so gut er es versteht, nieder-
schreiben und veröffentlichen: seine eigenen Schuler-
innerungen. Denn die Schule hat seit mehr als hundert
Jahren, eigentlich langsam schon seit dem Aufkommen
der mittelalterlichen Gelehrtenschule, eine solche
Macht gewonnen, eine Macht über die Entwicklung des
jungen Menschen, daß das Schicksal des künftigen Ge-
schlechtes in hohem Grade davon abhängig ist, ob wir
taugliche oder untaugliche Schuleinrichtungen besitzen.
Einzig und allein von der Schule kann die Zukunft einer
jungen Welt freilich nicht abhängig sein ; denn dann
hätte die Menschheit unserer Kulturländer doch wohl
schon längst zugrunde gehen müssen. Die kräftige
Menschennatur hilft sich selbst gegen die elenden
Schuleinrichtungen wie gegen andere schlechte Gesetze.
Das Haus bekämpft die Schule. Selbst die Roheiten
eines Trunkenboldes von Vater können für den Charak-
ter des Knaben eine günstige Wirkung haben; der
Vater jagt den Jungen von den^ Büchern weg auf die
Straße, wo für den spätem Kampf ums Dasein aus dem
8
Raufen mit Altersgenossen mehr zu lernen ist als aus
der Geschichte des Königs Hiskias. Desto besser, wenn
der Vater kein Trunkenbold ist, wenn der erfahrene
Vater oder die mitleidige Mutter das Kind mit Bewußt-
sein von den Büchern fortjagt und spricht : ,,Sei meinet-
wegen ein schlechter Schüler; sei nur ein glücklicher
Junge und werde ein tüchtiger Mensch!**
Unsere Schule ist wie eine epidemische Kinderkrank-
heit, die jeder von uns durchmachen muß; unzählige
sind an dieser Krankheit gestorben, unzählige sind zeit-
lebens seelische Krüppel geblieben. Es wäre gut, Eigen-
berichte über den Verlauf der Krankheit zu sammeln.
Recht gute Anfänge sind schon gemacht worden. Die
Gesetzgeber würden dann wenigstens erfahren, wie den
Schülern unter der Herrschaft der alten Gesetze zumute
war. Der Leser müßte manches zufällige Vorkommnis,
müßte manches allzu persönliche Urteil mit in den Kauf
nehmen; aber wir würden endlich einmal den Schrei
der Kreatur hören und nicht immer wieder die flüstern-
de Totensprache einer offiziösen Wissenschaft. Es wäre
vielleicht überhaupt günstig für die angewandte Medi-
zin, wenn die Krankengeschichten nicht von den Ärz-
ten, sondern von den Patienten geschrieben würden.
Man wird mir einwenden wollen, daß nicht alle er-
wachsenen Menschen mit Haß und Zorn an ihre Schul-
zeit zurückdenken. Es gibt sicherlich viele Menschen,
die zu guten Staatsbürgern prädestiniert sind, die alle
Polizeiverordnungen löblich finden und die darum auch
an unsern Schuleinrichtungen nichts auszusetzen wis-
sen. Es gibt ferner an allen unseren Schulen, den nie-
dersten wie den höchsten, viele prächtige Lehrer, die
ihren Beruf lieben und die in stetem Kampfe mit dem
Schulreglement und mit ihren Vorgesetzen den Kindern
und den jungen Leuten freundliche Führer auf der
Höllenfahrt der Schule sind. Es kommt aber noch eins
hinzu; die guten Menschen, die mit manchem Wenn
und Aber freundlich und dankbar an ihre Schulzeit zu-
rückdenken, verwechseln sehr häufig die Stimmung
der glücklichen Jugendzeit, die sich nicht einmal von
der Schule unterkriegen läßt, mit der Schule selbst;
wer es einstens ernst nahm mit den Schulpflichten, und
wer es nachher ernst nimmt mit den Pflichten gegen
die eigenen Kinder, der kann nicht so optimistisch von
seiner Schulzeit denken. Ernste Männer, die ernste
Schüler waren, dürften mit seltenen Ausnahmen einig
sein in einem Verdammungsurteil über die alte Schule,
die immer noch die unsere ist.
Gerade in den letzten Jahren konnte das jeder ver-
nehmen, der seine Ohren nicht verschloß für die zu einer
Anklage angewachsenen Klagen gegen die alte Schule.
In den sehr lesenswerten Beratungen über die Einrich-
tung einer einheitlichen Zukunftsschule, einer Neu-
schule, die die Kinder aus den Fesseln einer rückstän-
digen Pädagogik befreien soll, hörte man immer wieder
in fast tragischen Tönen ein Verdammungsurteil über die
Schulzeit der jetzt führenden Lehrer und gewiß über die
Schulnot just der begabtestenKnaben. DieVerteidigungs-
reden einzelner Musterschüler, die es zu etwas gebracht
haben, vielleicht weil sie Zeit ihres Lebens stets das Wirk-
liche vernünftig fanden, machen in diesen rebellischen
Diskussionen eher einen predigerhaften als einen über-
zeugenden Eindruck. Es soll mir recht sein, wenn sich
die jungen Lehrer auch auf mich alten Herrn werden
berufen können. ^
Meine eigenen Schulerinnerungen nun sind leider
nicht typisch für die Leiden eines begabten deutschen
10
Knaben. Ich bin als Jude geboren und habe meine
ganze Schulzeit, achtzehn Jahre, in dem schönen hun-
derttürmigen Prag verbracht, also in einer schon da-
mals sehr slawischen Stadt. Ich kann aber meine Er-
innerungen nicht fälschen und muß froh sein, wenn
durch diese beiden Umstände ein wenig Abwechslung
kommen wird in die Einerleiheit des Schulfabrikbetrie-
bes, durch welchen ich hindurchgeschleppt wurde.
II
MIMIIIIIIIM
lllllllllllllllllllllllllllll
I. Horzitz.
Geboren bin ich zu Horzitz, einem kleinen Landstädt-
chen zwischen Königgrätz und Trautenau, nicht gar
weit von der Sprachgrenze; mein Geburtsort gehört
zum tschechischen Gebiete, doch war es in meiner Kind-
heit noch ganz selbstverständlich, daß die Honoratioren
des Städtchens entweder Deutsche waren oder doch mit
einigem Stolze etwas deutsch redeten. Zu den deutschen
Honoratioren gehörten (damals noch selbstverständlich)
die jüdischen Besitzer der kleinen mechanischen Webe-
reien. So ein Fabrikbesitzer war auch mein Vater. Horzitz
ist jetzt bekannter geworden durch die Tatsache, daß es
am Tage nach der Schlacht von Königgrätz das preußische
Hauptquartier war. Für uns Kinder war Sadowa einer
der nächsten Ausflugsorte, Königgrätz die nächste
große Stadt. Als diese Namen historische Berühmtheit
erlangten, lebte ich längst nicht mehr in Horzitz.
In Horzitz übernachteten der König und Bismarck
nach der Schlacht, der König feldmäßig auf einem
Sofa im Rathause, Bismarck in dem Hause unseres
Arztes, das neben dem unsern lag. Von Horzitz sind die
ersten Briefe über die Schlacht datiert, die beide Männer
an ihre Frauen schrieben. Es ist bezeichnend für die
Volksphantasie, daß über den AufenthaltTdes Königs
sich nicht so viele Legenden bildeten wie über den des
Grafen Bismarck. Wahr ist, daß auch Bismarck zu-
12
nächst kein anständiges Bett vorfand, bis der Herzog
von Mecklenburg ihm eins verschaffte ; viel später warf
der Fürst seinem ,, Büschchen*' fast^ heftig vor, dieser
hätte eine solche Wohltat auf das Konto des ihm feind-
lichen Prinzen Karl geschrieben. In seinen Gedanken
und Erinnerungen macht der Fürst dem Generalstabe,
also Moltke, leise den philologischen Vorwurf, er habe
den Namen des Städtchens ,,Horritz*' geschrieben (wohl
ein Druckfehler für Hofitz), gesprochen werde ,,Hor-
sitz** ; was wieder nicht ganz richtig ist. Ich schreibe so,
wie der Name von Deutschböhmen geschrieben wird;
ausgesprochen wird ungefähr ,,Horschitz''.
Nach der Monographie Jahns' (,,Die Schlacht von
Königgrätz'') besaß Horzitz im Jahre 1866 drei- bis
viertausend Einwohner, von denen am Tage der Schlacht
die allermeisten entflohen gewesen wären. Beides wird
nicht ganz stimmen. Die Stadt hatte über fünftausend
Einwohner und nur die Wohlhabenden dürften die
Flucht ergriffen haben ; natürlich vor allem die Haus-
besitzer, deren Abwesenheit den Preußen, als sie die
Soldaten und dann die Verwundeten unterbringen woll-
ten, zunächst unbequem auffallen mußte.
Ich war noch nicht ganz sechs Jahre alt, als wir Hor-
zitz verließen. Ort und Gegend ist mir aber ganz gegen-
wärtig geblieben, weil wir noch viele Jahre lang un-
sere Schulferien dort verlebten, also mit völliger Frei-
heit in der Landschaft umherzustreifen. In zwei oder
drei Sommern waren wir mit den Eltern da, nachher
fielen wir einem Onkel zur Last, der sich denn auch
später einmal die lärmenden Neffen durch einen Ge-
waltstreich vom Halse schaffte: unterhalb des Gott-
hardsberges, auf dem jetzt das ernste Denkmal für die
gefallenen Preußen steht, hauste zum Schrecken der
13
Einwohner ein Räuber, dessen gutmütige Art an
Raabes ,,Horacker'' erinnern mochte; der Onkel aber
machte sich die Schauergerüchte zunutze, packte uns
zusammen und schickte uns eines Tages nach Prag,
mit der Begründung, wir wären in Horzitz unseres
Lebens nicht sicher. Viel Geldwert wäre bei uns Knaben
nicht zu holen gewesen.
Das Städtchen liegt genau so da wie andere Land-
städte Böhmens. Ein sehr großer, viereckiger Markt-
platz, „Ring** genannt, ist mehr die Stadt selbst als
bloß der Mittelpunkt. Vom Ringe aus einige schlechte
Gäßchen, von denen die beiden längsten sich gegen
Süden und gegen Norden erstrecken; die gegen Süden
in der Richtung nach Königgrätz bis zur ,, untern Ka-
pelle'* ; die andere gegen das Riesengebirge zu bis zur
,,obern Kapelle'*. Auf dem weiten Platze verloren eine
Mariensäule und ein Röhrbrunnen. Die untere Hälfte
des Rings von Bogengängen umgeben, den sogenannten
,, Lauben*', in denen es bei den Wochenmärkten und
besonders bei den Jahrmärkten geschäftig genug zu-
ging. Den Häusern der obern Hälfte, die offenbar
neuern Ursprungs waren, fehlten die Lauben. Das Haus
meines Vaters, das er in meinem zweiten Lebensjahre
erbaut hatte, stand da auf der obern Hälfte des Rings
und dünkte uns Kindern überaus vornehm, weil rechts
und links vom Toreingang je ein Pilaster stand mit stei-
nernen Eulen. Als ich das Haus in meinem vierzigsten
Jahre nach langer Entfremdung wiedersah, kam es mir
nicht mehr so gewaltig vor; merkwürdig, sogar die
Bäume des Gartens, die doch recht viel größer geworden
sein mußten, kamen mir jetzt kleiner vor. Von den Dach-
fenstern des Elternhauses war die Schneekoppe zu sehen ;
ich war elf Jahre alt, als ich sie zum ersten Male erstieg.
14
Ich habe vergessen zu sagen, daß es in Horzitz auch
ein Schloß gab ; es war ein unschöner mächtiger Bau,
in welchem die Staatsbeamten sich eingerichtet hatten.
Hinter dem Schlosse wuchsen in meiner Kinderzeit die
ersten Fabriken empor, auch die meines Vaters.
Wollte man von Horzitz nach Prag fahren, so konnte
man in meiner frühesten Jugend erst von Pardubitz
an die Eisenbahn benützen. Als ich aber im Sommer
des Jahres 1867 wieder in meiner Heimat war, da ging
die Bahn schon bis Königgrätz, von wo eine schwer-
fällige, einspännige Britschka in zwei Stunden auf der
Kaiserstraße quer über das Schlachtfeld, direkt über
Lipa und Sadowa, hart an Chlum vorbei, mich nach
Horzitz brachte. Der Eindruck war an diesem fried-
lichen schönen Augusttage noch traurig genug. Zwar
die zerstörten Häuser und Hütten waren wieder aufge-
baut und die Kanonenkugeln in den Mauern des Wirts-
hauses von Sadowa, das jetzt die deutsche Inschrift
„Zum Schlachtfelde*' trug, sahen nach Reklame aus.
Aber rechts und links von der Straße standen Grab-
steine ; hier waren Offiziere gefallen und an Ort und
Stelle begraben worden ; bei dem achtzigsten Grabstein
hörte ich zu zählen auf. Noch furchtbarer schienen mir
die Massengräber der preußischen und österreichischen
Soldaten, die in den schnittbereiten Kornfeldern überall
deutlich zu erkennen waren, weil die Bauern dort nicht
gepflügt und nicht gesät hatten. Von Lipa aus besuchte ich
die niedere Höhe von Chlum, wo nichts mehr an die bluti-
gen Stunden der Entscheidung erinnerte, und über Lan-
genhof hinaus die hügeligen Wiesen, wo die ,, schöne' ' Rei-
terschlacht stattgefunden hatte, über welche Jahns den
bedenklichen Satz zu schreiben gewagt hat: ,, Wahrlich
ein Schauspiel auch eines Königs in vollem Maße wert!**
15
Der Kutscher erzählte wilde Geschichten von der
Schlacht. Die Legendenbildung war nicht müßig ge-
wesen. Die Flügel einer Windmühle hätten dem Feld-
zeugmeister Nachricht von den Bewegungen der
Preußen gegeben, „Aber ein dummer Kerl war Benedek
doch. Er hätte die beiden großen Linden drüben bei
Horenowes abhauen sollen. Dann hätte der Kronprinz
nicht den Weg von Königinhof hergefunden.*' (Be-
kanntlich marschierte die schlesische Armee wirk-
lich stundenlang auf diese weithin sichtbaren Linden
zu ; daß es aber auch etwas wie Landkarten gäbe, das
wollte der Kutscher nicht glauben.)
In Horzitz selbst wurde mir in aufgeregter Weise
viel über die Tage vom zweiten bis fünften Juli des ver-
gangenen Jahres erzählt, Wahres und Falsches durch-
einander ; aber auch nicht ein einziger Zug von Roheit
oder Disziplinlosigkeit der Preußen. Als die schlimmste
Tat wurde berichtet, daß sie an der Bistritz zu irgend-
einem Zwecke, ich glaube zum Ausbessern der Brücke,
Scheunentore ausgehoben hätten. Gegen 20 000 Mann
waren in Horzitz untergebracht; und dann waren alle
besseren Häuser zu Spitälern umgewandelt worden.
Allgemein wurde gerühmt, daß die österreichischen
Verwundeten ebensogut verpflegt wurden wie die preu-
ßischen. Ich habe schon angedeutet, daß das Interesse
wie der Haß fast ausschließlich dem Grafen Bismarck
galten. Er wäre auf dem Hofe des Doktorhauses
„beinahe'' in eine Mistgrube gefallen und hätte ,, bei-
nahe" den Hals gebrochen; kein Kind in Horzitz, das
nicht Lust gehabt hätte sich dieses ,, Beinahe" zu rüh-
men. Als ich im Jahre 1875 abermals nach Horzitz
kam, zur Beerdigung meines Großvaters, vernahm ich
nichts mehr über die Schlacht von Königgrätz.
16
IL Prag.
Mein Vater, im Verkehr mit Frau und Kindern ein
stiller Mann, für sich selbst vielleicht nur etwas zu
selbstgerecht und stolz, für seine Kinder in seiner
Weise ehrgeizig, war im Jahre 1855 — ich war noch
nicht sechs Jahre alt — nach Prag übersiedelt, um dort
den fünf Knaben einen besseren Schulunterricht bieten
zu können. Mein Vater mochte wenige Schulkennt-
nisse haben und hatte auch darum gewiß keine deut-
liche Vorstellung davon, was diesen Knaben zu lernen
etwa dienlich sein könnte. Wir waren alle fünf zu Kauf-
leuten bestimmt. Als ich nach Prag kam, hatte ich
bereits bei meiner guten Mutter lesen gelernt. Sie zeigte
mir in der Gartenlaube, auf die wir abonniert waren,
die großen und dann die kleinen Buchstaben der Über-
schriften und ich brachte es sehr bald dazu, mir ganze
Worte und Sätze zu deuten. In Prag war das erste für
mich, daß ich die Straßentafeln, Geschäftsfirmen und
Wirtshausschilder, die damals noch fast ohne Aus-
nahme deutsch waren, als geeignete Lesebücher ent-
deckte. Auf einem Spaziergang wurde zur Freude mei-
ner Mutter festgestellt, daß ich lesen konnte, und daß
ich es fast allein erlernt hatte. Das war der Anfang mei-
ner kurzen Wunderkindschaft. Von den Geschwistern
erntete ich, nach der schmerzhaften aber gesunden
Sitte unseres Hauses, nur Spott. Ich hatte einmal, als
2 17
wir am Waisenhause vorüberkamen, altklug zu mei-
nem jüngeren Bruder gesagt: „Wenn du auch lesen
könntest, würdest du wissen, daß hier das Wirtshaus zum
weißen Hans ist." Das Gelächter, das übrigens noch
nach Monaten nicht ganz aufhörte, war meine erste
philologische Lektion : über den Unterschied von u und
n. Das Gelächter änderte nichts an der Bedeutung des
Erlebnisses; ich konnte lesen, darum sollte ich so
schnell wie möglich in die Schule. Dumm, aber logisch.
Der Vater hatte vom Lande mit der ganzen Familie
auch unsern Hofmeister mitgebracht, Herrn Fröhlich,
einen tüchtigen, braven und fleißigen Mann, dem meine
Wißbegierde bald gründliche Kenntnisse im Lesen,
Schreiben und Rechnen verdanken sollte. Herr Fröhlich,
der in Horzitz nur die älteren Brüder für die vorge-
schriebenen Prüfungen unterrichtet hatte, machte jetzt
aus zwei Zimmern unserer Prager Wohnung eine rich-
tige Schule; wir fünf Knaben, dazu unsere einzige
Schwester, ferner ein Vetter und zwei Kusinen na-
mens Sobotka (die jüngste von ihnen ist Frau Auguste
Hauschner) , wurden so ungefähr in sechs Klassen ein-
geteilt, in welche von dem unermüdlichen Lehrer von
früh bis abend hineingepaukt und hineingeprügelt
wurde, was irgend hineinging. Über Methode und Unter-
richtsziel unseres Hofmeisters kann ich natürlich heute
nicht mehr urteilen. Ich darf nicht verschweigen, daß
irgendein Einfluß auf die Persönlichkeiten seiner Schü-
ler und Schülerinnen durchaus fehlte; niemals haben
wir von ihm ein Wort vernommen, das für das Leben,
für den Charakter hätte bildend wirken können ; er war
kein Erzieher. War bei seiner Gewissenhaftigkeit auch
wohl so müde, wie es sonst nur ein Volksschullehrer in
einer Klasse von sechzig Schülern sein kann. Dazu kam
i8
— wie schon leise erwähnt — seine Härte bei körper-
lichen Strafen, die übrigens vom Vater immer gebilligt
wurde, da dessen Erziehungsprinzip ebenfalls auf der
Prügelstrafe beruhte. Trotzdem habe ich die beste Er-
innerung an die Zeit dieses überhasteten und nüch-
ternen Unterrichts. Wenn ich es heute recht bedenke,
so hatte Herr Fröhlich den Auftrag und also die Pflicht,
uns möglichst rasch für die Prüfungen irgendeiner öffent-
lichen Schule vorzubereiten. Da die meisten von uns
aufgeweckte Kinder waren, etwa die Hälfte von uns
sogar ungewöhnlich begabt, so tat die kleine Presse
ihre Schuldigkeit. Meine ältesten Brüder gingen immer
elegant durch die Prüfungen. :
Ich kann nicht sagen, welche Erfolge unser Hof-
meister mit mir hätte erzielen können. Denn schon
etwa zwei Jahre nach unserer Übersiedelung verließ er
uns, um eine höhere Mädchenschule zu leiten, die seine
Schwester gegründet hatte. Unsere jungen Damen
nahm er natürlich mit in die neue Anstalt. Wir Knaben
wurden dahin und dorthin verstreut. Wer seine Prü-
fungen abgelegt hatte, der war gut daran ; er trat eben
in die nächst höhere Klasse einer öffentlichen Schule
ein. Mir aber geschah damals etwas, woran ich noch
heute, nach siebenundfünfzig Jahren, nicht anders als
mit äußerster Erbitterung denken kann, ein Unrecht,
das von keinem Lebenserfolge gesühnt werden kann. Ich
schwanke nicht, es ein schweres, ruchloses Verbrechen
zu nennen. Ich war reif fürs Gymnasium und mußte
noch drei Jahre auf einer widerwärtigen Klippschule
wiederkäuen, was ich bei Herrn Fröhlich gelernt hatte.
Als ich die Geschichte dieses Verbrechens vor einigen
Jahren einer Exzellenz vom Unterrichtsressort erzählte,
konnte der hochmögende Herr die Sache gar nicht so
2* 19
tragisch finden. Die Schulen seien für die Mittelmäßig-
keit eingerichtet und das müsse so bleiben.
Ich hatte wirklich bei unserm Hofmeister binnen
zwei Jahren genug gelernt, um in allen den kleinen po-
sitiven Kenntnissen die neun- und zehnjährigen Kna-
ben zu übertreffen, die bereits in das heißersehnte Gym-
nasium eintreten durften. Und das Gymnasium sollte
ich ja besuchen, zum eigenen Staunen der Eltern, weil
der Hausarzt mich für ein Wunderkind erklärt hatte;
und ein Wunderkind hieß ich, weil ich im Kopfrechnen
stark war, weil ich Gedichte auswendig lernte, leicht
und zu meinem Vergnügen.
20
lllllllllllllllllllllllllllllllllllllillllllllllilllllllllllllillllllllllllllllllllllH^
III. Die Klippschule,
Man muß es mir schon glauben, daß ich damals be-
reits reif für das Gymnasium war, und nicht erst drei
Jahre später. Vielleicht fehlte im Lehrplan unseres Hof-
meisters die eine oder die andere Kleinigkeit, die just in
jenen Zeitläuften bei der Aufnahmeprüfung für das
Gymnasium verlangt wurde; aber diese Lücken hätte
ich sicherlich binnen wenigen Wochen oder Monaten
ausfüllen können. So zum Beispiel waren meine Kennt-
nisse^in der tschechischen Sprache wahrscheinlich sehr
mangelhaft. Ich mochte bis etwa zum vierten Lebens-
jahre tschechisch und deutsch gleich gut oder gleich
schlecht geplappert haben ; tschechisch gar noch etwas
früher, weil in Böhmen (d. h. in den gemischten Be-
zirken des Landes) tschechisch als die gottgewollte
Ammensprache angesehen wurde. Seitdem ich aber
am Elterntische essen durfte, ging die Übung im
Tschechischsprechen langsam verloren ; und tschechisch
richtig zu schreiben habe ich eigentlich niemals ge-
lernt. Nun war aber tschechisch von Gesetzes wegen
die zweite Landessprache geworden und von den armen
Schulkindern wurde etwas tschechische Orthographie
und etwas tschechische Grammatik verlangt. Wirklich
nur ein wenig Sand in die Augen. Wie gesagt, binnen
wenigen Wochen hätte ich das Verlangte nachholen
21
können. Ich aber wurde nach tagelangem Schwanken
in die zweite Klasse einer vierklassigen Privatschule ge-
steckt und erst drei Jahre später auf das Gymnasium
entlassen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich jetzt
und später bei Erwähnung dieser einfachen Tatsache
lebhaft oder gar pathetisch wie ein öffentlicher Ankläger
werden sollte. Ich werde immer noch nicht heftig genug
anklagen. Wie unser Strafrecht so ist unser ganzes
Rechtsgefühl zu materialistisch; ernstliche Angriffe
gegen das Geistesleben werden kaum so hart verurteilt
wie Einbrüche, die dem Geldschrank gelten; der Er-
presser, der der schlimmere ist, wird nicht so streng
bestraft wie der Räuber.
Es ist mir gar nicht zweifelhaft, wer für dieses Ver-
brechen an einem Kinde verantwortlich war. Meine
Eltern fügten sich, weil man ihnen sagte, ich wäre
schwächlich und müßte im Lernen zurückgehalten
werden. Als ob dem wißbegierigen und phantasievollen
Knaben nicht anhaltende Arbeit gesünder gewesen
wäre, als das fünfzehnjährige Lungern, das dann folgte.
Die Sache wurde offenbar zwischen unserem Hofmeister
und dem abscheulichen Direktor jener^Privatschule ab-
gemacht. Damit dieser Direktor|drei|Jahre lang ohne
jeden Sinn das Schulgeld für^mich bekam, darum Vurde
ich der Gefahr ausgesetzt, an Leib^und^Seele^zu ver-
kommen. Und da habe ich noch nicht einmal hervor-
gehoben, daß diese Privatschule^ nur von jüdischen
Knaben besucht wurde, daß der Direktor oder der Be-
sitzer ein völlig unkultivierter ungarischer Jude war;
vielleicht war es nach dem damaligen Stande der öster-
reichischen Gesetzgebung nicht möglich, das Kind reli-
gionsloser, aber jüdischer Eltern anders als in einem
solchen Pferche unterzubringen. Ich kann auch heute
22
noch über die Marter nicht lachen, die ich damals zu er-
leiden glaubte ; die ich also erlitten habe.
Nur selten haben Erwachsene ein Verständnis für
die ernsten Qualen einer Kinderseele. Ich fühlte es da-
mals noch lebhafter, als ich es heute nachfühle, daß
mir ein Unrecht zugefügt wurde : daß ich unter einen
Haufen von Schülern versetzt worden war, deren
Lehrer ich hätte sein können; daß meine Lehrer tief
unter dem Kulturniveau meines einfachen Elternhauses
standen. Vielleicht nicht das Gesetz, jedenfalls aber
die Praxis machte es unmöglich, auch auf Grund der
ungewöhnlichsten Leistungen eine Schulklasse zu über-
springen. So war ich verurteilt, die drei Jahre, um welche
man mich bestohlen hatte, niemals wieder einbringen
zu können. Immer blieb ich zu alt für den aufgezwun-
genen Studienplan, zwiefach zu alt: durch meine Jahre
und durch meine Altklugheit.
Ich möchte nun bei keinem Leser in den Verdacht
kommen, als beklagte ich mich über die gestohlenen drei
Jahre deshalb, weil ich sonst zu siebzehn Jahren meine
Maturitätsprüfung, zu einundzwanzig Jahren meinen
Doktor gemacht hätte und ... es ist ja nicht auszu-
denken, was aus mir dann noch alles Ordentliche hätte
werden können. So ist meine Klage wirklich nicht ge-
meint. Ich wäre auch dann ein freier Schriftsteller ge-
worden, wenn ich zur richtigen Zeit so viel wie möglich
gelernt hätte. Die Folgen des Unrechts, des Diebstahls
von drei Jahren, die Folgen, die ich zu beklagen habe,
sind ganz anderer Art. Ich hatte nichts, aber auch gar
nichts zu lernen, um jahrelang immer der Erste unter
meinen Schulkameraden zu sein ; so gewöhnte ich mich
an Faulheit und an Überhebung und blieb faul und
überheblich, für die Schule wenigstens, auch dann noch,
23
als in den höheren Gymnasialklassen und auf der Uni-
versität Fleiß und Bescheidenheit nützlicher gewesen
wären. Ich könnte noch mancherlei über die Folgen
der Faulheit, der frühreifen Überhebung und der voll-
ständigen Vereinsamung erzählen. Aber ich möchte
nicht moralisieren. ,,Tetem" könnten mir die Menschen
antworten, die Vischers ,,Auch einer ^' gelesen haben
und darum lieben.
Daß die seelischen Nachteile der widerrechtlichen
Einpferchung in jene Klippschule sich aber erst später
einstellten und nicht auf jener Schule selbst, das lag
an einigen gutartigen Lehrern und wieder an meiner
damals noch nicht überwundenen Wunderkindschaft.
Daß der Besitzer der Schule ein ekelhafter Geldmacher
war, daß einzelne Schulmeister der Nebenfächer recht
wurmstichige Persönlichkeiten waren, das kam mir da-
mals nicht zum Bewußtsein und konnte mir darum
kaum schaden. Nicht einmal die unsauberen Geschich-
ten, die die Jungen aus dem Internat in die Klassen zu
den ,,Externisten*' brachten, machten sonderlichen Ein-
druck auf mich; ich hielt solche Zustände nicht für
möglich und staunte höchstens über die schmutzige
Sprache der Berichterstatter. Die Hauptlehrer waren
gute und eifrige Menschen. So wurde tüchtig gearbeitet ;
und gar für die öffentliche Jahresprüfung, welche in
Gegenwart des rundlichen Bezirkspfarrers und eines
in seinen Kreisen berühmten hageren Rabbiners ab-
gehalten wurde, mußte ein starkes Quantum auswendig
gelernt und in sauberen Heften zusammengeschrieben
werden. Da wurden die besseren Schüler nach -Kräften
herangezogen und meine Eitelkeit verhinderte mich,
zu dem Gefühle des Müßiggangs zu kommen. Ich wurde
bei diesen Prüfungen unaufhörlich vorgeritten, mußte
24
zu diesem Zwecke das ganze Jahr zugeritten werden,
trainiert, so daß seltsamerweise die drei gestohlenen
Jahre mit die fleißigsten meines Lebens waren. Was so
die Lehrer Fleiß nennen. Es ist nicht zu sagen, was ich
damals alles gewußt und gekonnt habe. Es ist ein Wun-
der, daß das unsinnigeAuswendiglernen mich nicht blöd-
sinnig gemacht hat. Ich gebe nur ein Beispiel von dem,
was mir zugemutet wurde. Am ersten Tage einer sol-
chen öffentlichen Prüfung waren von uns eine Unzahl
Schillerscher Gedichte aufgesagt worden. Kurz vor der
Mittagspause äußerte der rundliche Bezirkspfarrer den
Wunsch, eines dieser wunderschönen Schillerschen Ge-
dichte auch auf tschechisch deklamiert zu hören. In
einer ebenso schönen Übersetzung. Wir seien doch ge-
wiß gute Böhmen? Der Schuldirektor katzbuckelte:
er (der ungarische Jude) sei ein sehr guter Böhme.
Dann nahm mich dieser Mann beiseite, bedrohte mich
mit geballter Faust, wenn ich nicht am Nachmittage,
also binnen zwei Stunden, Schillers ,, Bürgschaft'* in
der tschechischen Übersetzung auswendig gelernt hätte,
die in der Schulbibliothek nicht fehlte. Es gelang mir,
den ehrenvollen Auftrag auszuführen. Ich sagte die
Übersetzung, deren Wortlaut mir nicht völlig begreif-
lich war, mit Verstand auf und wurde vom Pfarrer und
vom Direktor gelobt und gestreichelt. Ich weiß noch, daß
ich am nächsten Morgen nicht mehr imstande war,
auch nur den dritten Vers der Übersetzung aus dem
Gedächtnisse wiederherzustellen.
Es sind aus so viel Wunderkindern später Dummköpfe
und Subalternbeamte geworden, auch schlechte Musi-
kanten, daß ich von dieser Art meiner Begabung gewiß
unbefangen reden darf. Natürlich wurde meine Über-
heblichkeit, deren ich mich schon beschuldigt habe,
25
durch diese Art des Schulbetriebs sehr verstärkt, wenn
nicht erst geweckt. Ich war der Schnittlauch auf allen
Suppen. Der Himmel ist mein Zeuge, sogar im Singen
(meiner partie honteuse) leistete ich nach dem Urteile
der Lehrer Außerordentliches; als einmal ein zwei-
stimmiger Gesang durch meine Schuld umkippte, be-
kam mein Banknachbar die Ohrfeigen dafür. Ich er-
innere mich, daß einmal die Lehrer aus allen Schul-
stuben zusammengerufen wurden, um eine Karte von
Europa anzustaunen, die ich aus dem Gedächtnisse
und aus freier Hand mit der Kreide auf die Tafel gemalt
hatte ; auch das hatte ich früher bei unserm Hofmeister
gelernt; und die Kunst, die Fjorde von Norwegen durch
einen zitterigen Kreidestrich hübsch naturalistisch an-
zudeuten. Auf eine Anregung des rundlichen Pfarrers,
dem meine Heldentat vom Direktor schnell gemeldet
worden war, mußte ich für die nächste Jahresprüfung
eine ebenso schöne Karte von Palästina auf die Tafel
malen ; ich ließ es auch da nicht an Fjorden fehlen und
glaube fast, es war schon Übermut dabei. Diese Wun-
derkindschaft, welche sich außer in einem seltenen Ge-
dächtnisse noch in einer gewissen Begabung für Mathe-
matik, für Sprachen und für Zeichnen kundgab, hielt
ungefähr bis zu meinem vierzehnten Lebensjahre an.
Dann hat es sich ja wohl gegeben. Aber ich darf nicht
unterlassen zu berichten, was die Schulen mit diesen Be-
gabungen anzufangen gewußt haben.
Mein Sinn für alles Mathematische muß wirklich
ursprünglich sehr stark gewesen sein ; noch in meinem
sechzehnten Jahre, auf dem Gymnasium, machte sich
unser Mathematikprofessor, ein unwahrscheinlich dicker
Piaristenpriester, an heißen Sommertagen mitunter den
Spaß oder die Bequemlichkeit, mich statt seiner die
26
Stunde abhalten zu lassen. Aber ich habe von wissen-
schaftlicher Mathematik, ja eigentlich von der eigen-
tümlichen mathematischen Logik in allen Schuljahren
niemals etwas gehört und habe als vierzigjähriger und
dann wieder als siebenundfünf zigjähriger Mann das
bißchen Mathematik nachlernen müssen, das ich zu
einer Annäherung an die höhere Analyse und zum
Verständnis eines naturwissenschaftlichen Buches
brauchte. Ich möchte gleich hier auf eine der schlimm-
sten Lügen unseres Gymnasialbetriebs hinweisen. Der
seit der realistischen Gymnasialreform vorgeschriebene
mathematische Stoff wird von allen Schülern verlangt ;
nun gibt es ganz brave Lateiner, die den mathematischen
Begriffen völlig hilflos gegenüberstehen, die zwischen
dem Logarithmus und dem Wurzelziehen nur unklar
unterscheiden können. Soll so ein fleißiger Bursche der
Primus in der Klasse bleiben, so muß das mathematische
Pensum an allen Ecken beschnitten werden, die Prü-
fung darf nicht ernst genommen werden und die ganze
Klasse lernt nichts. Unsere Klasse auf dem Obergym-
nasium der Prager Kleinseite war ein Musterbeispiel für
diese Zustände. Der Primus, der übrigens seine Stellung
durch seine wissenschaftlichen Leistungen und durch
seine moralische Untadeligkeit wohl verdiente, war
amathematisch geboren. Der Primus hätte nach dem
Schuiplane nicht versetzt werden dürfen. Der Zweite
der Klasse, ein Jude, war in den alten Sprachen nahezu
ebensogut, in Mathematik und auch sonst ein Muster-
schüler. Er blieb im Schatten, bis zu seinem Tode.
Daß ich auch im Zeichnen ,, ausgezeichnet'' war, muß
ich meinen Lehrern glauben. In unserer Klippschule
gab es auch Zeichenunterricht. Ein heruntergekom-
mener Kalligraph erteilte ihn, mit dem Staberl in der
27
Hand, mit dem Rohrstock. Es ist mir noch heute un-
verständlich, warum er so grimmig mit dem Staberl auf
uns losschlug; es muß ihm wohl Vergnügen gemacht
haben. Er teilte diese Leidenschaft übrigens mit dem
Direktor, der noch vom Schuldiener regelrechte Schil-
linge (fünfundzwanzig Stockschläge) aufzählen ließ.
Gott habe sie selig, den Direktor und seinen Zeichen-
lehrer. Sie ruhen beide in Frieden und haben es nicht
um uns verdient. Ich war übrigens der Liebling auch
dieses Lehrers und habe unter seiner Leitung und mit
seiner Hilfe für die öffentlichen Jahresprüfungen Gräß-
liches zustande gebracht. Ich habe so etwas wie Parkett-
fußböden gezeichnet und koloriert, ich habe kämpfende
wilde Tiere nach Vorlagen gezeichnet. Für ein solches
Bild von meiner Künstlerhand soll die Schule einmal
einen Preis bekommen haben; ich weiß nicht mehr,
waren es Tiger oder Krokodile, oder war es eine ge-
mischte Gesellschaft von Tigern und Krokodilen, oder
waren es Bastarde von Tigern und Krokodilen. Niemals
wurden wir angeregt, ein Blatt, eine Blume, ein Tier,
einen Menschen oder auch nur einen Stein nach der
Natur zu zeichnen. Niemals wurde uns auch nur ange-
deutet, daß es eine Freude sein könnte, die Natur mit
eigenen Augen anzusehen. Und auch auf dem Gymna-
sium habe ich niemals Gelegenheit gehabt, auch nur
einen Bleistiftstrich auf ein Blatt Zeichenpapier zu
werfen. Nur ein einziges Mal kam die Leidenschaft über
mich, als ein bildender Künstler zu schaffen. Das innere
Erlebnis mag ein Licht werfen auf den Grad der Ver-
einsamung, die mich in meiner Jugend von allem Kunst-
genießen schied.
Zu Hause erfuhr ich durch die Mutter mancherlei
von Büchern und von Theateraufführungen ; ich wurde
28
mitunter ins Theater mitgenommen, wo wir ein halbes
Abonnement auf zwei Sperrsitze hatten, und die Bücher,
die ich meiner Mutter aus der Leihbibliothek holte, ver-
schlang ich gewöhnlich auf dem Heimwege: Dickens,
Gerstäcker, Hackländer, Gutzkow, Spielhagen, Auer-
bach, die Mühlbach. So war für geistige Anregung
immerhin gesorgt, wenn auch heimlich. Aber der Be-
griff Kunst war mir fremd geblieben. Ich kannte eine
einzige Oper, allerdings den Freischütz, zu dem ich ein-
mal ins Theater gehen durfte, weil die älteren Geschwi-
ster ihn nicht mehr hören wollten. Es gab in unserem
Hause nicht einmal ein Klavier. Und gar von Architek-
tur oder Malerei hatte ich in meinen begeisterungs-
fähigen Jugendjahren wohl niemals einen ganz klar be-
wußten Eindruck erhalten, trotzdem wir in dem schö-
nen Prag wohnten. Niemals war ich zu Hause oder in
der Schule auch nur auf eines der prächtigen alten Ge-
bäude aufmerksam gemacht worden. Was ich von selbst
an herrlichen Kirchenportalen und von den Türmen
der Altstadt wahrnahm, das machte einen tiefen Ein-
druck auf mich ; da ich aber nicht wußte, daß auch an-
dere Menschen so etwas schön fanden, so sann ich dem
Eindruck nicht weiter nach. Ich hielt solche Stimmun-
gen wirklich und wahrhaftig eines gebildeten Menschen
unwürdig, ich glaube fast, ich schämte mich ihrer, weil
die andern sie nie einer Erwähnung wert erachteten.
Ich wunderte mich höchstens darüber, daß die alten
winkligen Gassen so viel heimlicher waren, als die ge-
raden Straßen der Neustadt. Von Bildern bekam ich
nichts zu sehen als die beiden Stahlstiche an der Wand,
die als Prämien eines vaterländischen Kunstvereins in
keinem bürgerlichen Hause fehlten. So gelangte ich
kunstfremd bis in mein siebzehntes Jahr, als mir ein-
29
mal ein Schulkamerad das Kupferstichwerk zeigte, das
ihm unter den Weihnachtsbaum gelegt worden war. Es
brachte in guten Nachzeichnungen gegen sechzig der
berühmtesten Gemälde alter Meister. Ich hatte bis da-
hin Namen wie Rembrandt, wie Tizian niemals ver-
nommen. Ich weiß nicht mehr, ob beim Durchblättern
des Werkes mein Entzücken größer war oder mein
Neid. Der Mitschüler mußte mir das Werk borgen; zu
Hause saß ich davor in einer zornigen Erschütterung.
So etwas gab es und so etwas bekamen andere Knaben
geschenkt! Das war ja das Höchste, dem ein Jüngling
sein Leben widmen konnte! Nun kann ich nicht mehr
sagen, ob ich mich in meiner Begeisterung selbst für
einen begnadeten Maler hielt oder ob ich mir nur unbe-
merkt eine Kopie des herrlichen Buches anfertigen
wollte. Jedenfalls ging ich, sooft ich mich unbeobachtet
wußte, daran, die schönsten Kupferstiche auf kleinen
Blättchen mit dem besten Bleistift nachzuzeichnen, den
ich auftreiben konnte. Nach einigen Wochen hatte ich
meine armselige Künstlermappe beisammen. Einige
Rembrandts und Raffaels meiner Faktur existieren
noch ; nicht nur ein Künstler würde über diese ängst-
lichen, pedantischen, kümmerlichen Stricheleien lachen.
Ich aber besaß eine Kunstgalerie für den heimlichen
Gebrauch.
Ungefähr in die gleiche Zeit fällt der noch traurigere
Versuch, mir für mein persönliches Kunstbedürfnis ein
Leiblied zu komponieren; es läßt sich nicht leugnen,
daß zwar der Text von mir war, aber die Melodie eine
sehr schöne, liebe und alte Melodie.
Es ist mir oft zum Lobe nachgesagt worden, ich hätte
mich beim Kritisieren stets als neidlosen Schriftsteller
bewährt. Ich will nicht untersuchen, ob ich dieses Lob
30
gar nicht oder am Ende noch in viel höherem Maße ver-
dient habe; ob ich vielleicht mitunter den Neid unter-
drücken mußte, um dem glücklicheren Rivalen wenig-
stens gerecht zu werden. Sicher ist, daß Neid nicht zu
meinen häßlichen Fehlern gehört. Neid aber, bitterer Neid
erfüllt mich noch heute, wenn ich sehen muß, wie gut
es die jungen Leute haben, wie ihr Interesse für Natur
und Kunst geweckt oder gefördert wird. Wie die Lehrer
mit ihren Wandervögeln ins Gebirge ziehen, im Walde
lagern, abkochen und der Stadt entflohen sind I Wie sie
mit offenen Herzen und offenen Augen das Straßburger
Münster und die Alpen erblicken dürfen. Genießt, ihr
prächtigen Jungen! Aber daß diese Burschen auch einen
ernsthaften Unterricht im Singen und im Zeichnen er-
halten, daß sie in Konzerte und in Galerien geführt
werden, wonach wir durstig waren wie abgehetzte Hunde
nach Wasser . . . nein, da muß ich den Heutigen schon
in die glücklichen Augen sehen, da muß ich schon
Glück über Bach und Mozart und Raffael in diesen
Augen erblicken, um des Neides Meister zu werden. Ge-
nießt, ihr Jungen! Uns wurde es schwerer die Schönheit
zu entdecken.
31
IV. Erste Sprachstudien.
Bitterer wird meine Stimmung, wenn ich darandenke,
was Klippschule und Gymnasium mit meinem Sinne
für Sprachen angefangen haben ; und auch sonst wäre
mancherlei zu sagen über die besonderen Verhältnisse,
die das Interesse für eine Psychologie der Sprache bei
mir bis zu einer Leidenschaft steigerten. Dieses Inter-
esse war bei mir von frühester Jugend an sehr stark,
ja, ich verstehe es gar nicht, wenn ein'jude, der in einer
slawischen Gegend Österreichs geboren ist, zur Sprach-
forschung nicht gedrängt wird. Er lernte damals (die
Verhältnisse haben sich seitdem durch den Aufschwung
der Slawen und durch die bessere Assimilierung der
Juden ein wenig verschoben) genau genommen drei
Sprachen zugleich verstehen : Deutsch als die Sprache
der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines
Umgangs ; Tschechisch als die Sprache der Bauern und
der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glor-
reichen Königreichs Böhmen ; ein bißchen Hebräisch als
die heilige Sprache des Alten Testaments und als die
Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von
Trödel Juden, aber gelegentlich auch von ganz gut ge-
kleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder
gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte. Der Jude,
der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war,
mußte gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch
32
und Hebräisch als die Sprachen seiner ,, Vorfahren** ver-
ehren. Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen
im gemeinen Kuchelböhmisch und in dem noch viel
gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf
gewisse Sprachgesetze aufmerksam machen, auf Ent-
lehnung und Kontamination, die in ihrer ganzen Be-
deutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht
völlig begriffen worden sind. Ich weiß es aus späteren
Erzählungen meiner Mutter, daß ich schon als Kind die
törichten Fragen einer veralteten Sprachphilosophie zu
stellen liebte: warum heißt das und das Ding so und
so.^ Im Böhmischen so, und im Deutschen so? Mein
Vater, der in seiner Weise sich für einen musterhaften
Gebrauch der deutschen Sprache einsetzte, würdigte
mich manchmal einer Unterhaltung über solche ,, Be-
lustigungen des Verstandes und des Witzes**, trotzdem
er sonst nicht leicht ein persönliches Wort an eines
seiner Kinder richtete. Er schien dadurch einige Ach-
tung für meine „gelehrte Laufbahn** äußern zu wollen.
Er verachtete und bekämpfte unerbittlich jeden leisen
Anklang an Kuchelböhmisch oder an Mauscheldeutsch
und bemühte sich mit unzureichenden Mitteln, uns eine
reine, übertrieben puristische hochdeutsche Sprache zu
lehren. So erinnere ich mich, daß er mir gegenüber ein-
mal das Wort mischen als ein vermeintliches Wort der
ihm verhaßten Judensprache heftig tadelte, man müßte
gut deutsch melieren dafür sagen; mein Vater wußte
nicht, daß sowohl mischen als melieren von dem la-
teinischen miscere stammt; diese Unkenntnis braucht
dem eifrigen Sprachfreunde um so weniger angekreidet
zu werden, als noch heute Forscher wie Kluge und Paul
eine sogenannte Urverwandtschaft zwischen mischen
und miscere für möglich halten.
3 33
Ich kam in meiner kindlichen Sprachvergleichung
hie und da zu überraschenden Entdeckungen. So hatte
ich als Kind das Zeug, mit dem mir beim Waschen die
Hände getrocknet wurden, in meinem Kuchelböhmisch
hantuch genannt, das Wort in meine deutsche Sprache
mit hinübergenommen und kam in meinem fünften
Jahre auf den gelehrten Einfall: hantuch bedeute
ein Tuch für die Hand, wäre also ein deutsches Wort^).
Man wird mir nun glauben, daß ich als achtjähriger
Junge darauf brannte, in der Schule nicht nur ein
tadelloses Deutsch zu lernen, sondern auch zu erfahren,
warum die böhmischen Deutschen so oft anders rede-
ten, als die richtigen Deutschen in der Gartenlaube
schrieben, warum die böhmischen Juden ein noch
schlimmeres Kauderwelsch sprachen. Meine Hoffnung
wurde gröblich getäuscht. Ich lernte auf der Klipp-
schule ebensowenig Deutsch und gar Tschechisch und
Hebräisch, wie ich später auf dem Gymnasium La-
teinisch oder Griechisch lernte. Endlos wurden Dekli-
nationen und Konjugationen gebüffelt und wieder ge-
büffelt, alle Formen der Dingwörter und der Zeitwörter
im Deutschen, im Tschechischen und im Hebräischen
so behandelt, als ob die lateinische Grammatik die
Mustergrammatik für alle Sprachen der Welt wäre. Ich
muß daran erinnern, daß meine Klippschule eine von
jüdischen und slawischen Tendenzen herumgezerrte
Anstalt war ; ich muß vorwegnehmen, daß mein erstes
1) Meine liebe und verehrte Freundin Lilli Lehmann hat ihre Jugend eben-
falls in Prag verbracht. Als ich ihr einmal von dieser meiner ersten ety-
mologischen Entdeckung erzählte, gab sie mir lachend aus ihrer eigenen Er-
innerung eine ähnliche Leistung zum besten. Sie war von ihrer Mutter oder
erst im Ursulinerinnenkloster abgerichtet worden, jedesmal nach Landessitte
kißt'hant zu sagen, wenn sie von einer Dame angesprochen wurde;
auch sie hielt diese Formel lange für ein tschechisches Wort und kam
erst viel später darauf, daß die Formel ich küß' die Hand bedeutete.
34
Gymnasium wohl mit Recht eine besonders elende
Mittelschule genannt werden konnte ; aber das Wesent-
liche meiner Erfahrungen dürfte auch zu den Erfah-
rungen anderer Schüler gehören. Die geradezu idio-
tische Art, durch Paradigmen in die Sprachen ein-
führen zu wollen, wird die Freude an jeder Sprache ge-
rade dem begabten Kinde verekeln. Ich habe später oft
geweint, als ich lateinische Paradigmen auswendig
lernen mußte, anstatt die mit ahnungsvollem Zittern
ersehnten lateinischen Autoren lesen zu dürfen. Und
man weiß, wie auch heute noch und sogar auf bessern
Gymnasien (nicht nur Cicero, der es verdient hat) selbst
Homeros, der Köstliche, nur zu dem Zwecke gelesen
wird, um an seinen Worten die grammatischen Regeln
einzuüben. Neuerdings hat sich eine vernünftigere Art
ausgebildet, wenigstens moderne fremde Sprachen den
jungen Leuten beizubringen. Ich weiß nicht, ob in
meiner Jugend die französische und die englische
Sprache ebenso idiotisch gelehrt wurde wie die Mutter-
sprache und wie die lateinische. Denn auch das muß
ich gleich vorausschicken, daß auf den österreichischen
Gymnasien damals kein englischer und kein franzö-
sischer Sprachunterricht bestand; man konnte Fran-
zösisch und Englisch, auch Italienisch treiben, wie man
Tanzen oder Schwimmen lernte ; verboten war es nicht.
Ich habe später einige moderne Sprachen ohne Lehrer-
hilfe so gelernt, daß ich einen berühmten Dichter mit
einem Wörterbuche in der Hand so lange langsam de-
chiffrierte, bis mir die Sprache geläufig wurde. Ich
werde ja noch darauf zurückkommen, wie ich in all
den Jahren der Volksschule und des Gymnasiums nicht
ein Sterbenswörtchen über die Geschichte der deutschen
Sprache und ihrer Literatur vernahm, natürlich noch
3* 35
weniger jemals ein Sterbenswörtchen über Schönheit
und Kraft unserer deutschen Muttersprache; wie ich
dagegen von fanatischen Tschechen doch einigermaßen
in die Geschichte der tschechischen Sprache und in die
philologische Kenntnis eines gefälschten tschechischen
Literaturkleinods eingeführt wurde. Niemand Von mei-
nen Lehrern hat je daran gedacht, meinem Sprach-
hunger ein bißchen Futter zu reichen. Auf jener Klipp-
schule zahlte mein Vater drei Jahre lang Schulgeld da-
für, daß ich für die Zwecke des Besitzers wie ein Zirkus-
pferd abgerichtet wurde. Unser Hofmeister war nur kein
Erzieher gewesen; der Besitzer der Privatschule war
ein schlechter Schulleiter und ein schlechter Mensch:
er verprügelte die unbegabten Kinder, mit denen kein
Geschäft zu machen war, und versuchte die begabten
Kinder aufzublasen, wie betrügerische Händlerinnen
mageres Geflügel aufblasen.
36
llllilillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllUlUilllilllllllllllllllHIIIIIIIIIIIIIIIIIH^
V. Das Piaristen-Gymnasium.
Ich war also beinahe zwölf Jahre alt, trotz meiner
ursprünglichen Wunderkindschaft, da ich endlich als
reif für die ,, Parva'* des Gymnasiums entlassen wurde.
Ich war also beinahe zwölf Jahre alt, fleißig und ehr-
geizig wie einer, nach meiner geistigen Entwicklung
für die Arbeit des Obergymnasiums vorbereitet, als ich
endlich in die unterste Klasse des Untergymnasiums
aufgenommen wurde. Und doch freute ich mich, als
ich zum ersten Male als ,, Student** den Weg zum Gym-
nasium gehen durfte (in Österreich nennt man alle
Gymnasiasten Studenten, wie man jeden Mann aus dem
Volke adelt) ; ein Abzeichen für Gymnasiasten oder gar
für jede einzelne Klasse gab es bei uns nicht, meine
gute Muttjer hatte es aber erlangt, wer weiß wie schwer,
daß ich als Symbol meiner neuen Würde eine schwarze
Samtmütze bekam. Die Mütze hatte den Stürmen dreier
Jahre widerstanden und war wirklich nicht mehr ganz
reinlich, als sie bei Gelegenheit einer Knabenschlacht
zwischen ,, Gymnasiasten** und ,, Realisten** ein un-
rühmliches Ende fand. Wieder war es die Mutter, die
durch heimlichen Ankauf einer neuen Mütze ein dro-
hendes Unheil von mir abwandte. Mein Vater hätte
niemals verstanden, daß ein Gymnasiast die Realschüler
befehden müßte und in' der Hitze des Gefechts seine
Mütze einbüßen könnte.
37
Als ich mit dem Bewußtsein, von unserm Dienst-
mädchen Student genannt zu werden, zum ersten Male
den Weg zum Gymnasium einschlug, ahnte ich unklar,
daß noch nicht die rechte Höhe erreichte, was in mei-
nem Kopfe an kleinen Kenntnissen beisammen war:
der ganze Wust von Jahreszahlen großer Schlachten,
von Namen der Könige, der Berge und der Flüsse, von
Paradigmen und von Gedichten. Wie ein Rausch kam
es über mich, daß ich jetzt Lateinisch und Griechisch
lernen und alle Wahrheit und Schönheit aus den alten
Quellen schöpfen würde. Ein einsichtsvoller Privat-
lehrer hätte mich damals gewiß binnen zwei Jahren
dazu bringen können, Lateinisch zu verstehen, es besser
zu verstehen als die Lehrer an meinem Gymnasium;
und in der gleichen Zeit die griechische Sprache zu er-
lernen, wäre mir einfach wie eine Belohnung erschie-
nen. Ich hungerte förmlich nach den alten Sprachen. Die
ersten lateinischen Schulbücher nahm ich mit heiliger
Andacht in die Hand und empfand es als eine Schande
und als eine Entweihung so köstlicher Schriften, daß
ich sie um den halben Preis beim Antiquar kaufen
mußte.
In dieser Stimmung setzte ich mich in eine Klasse
von etwa fünfundsechzig Knaben, die mir ganz und
gar nicht andächtig zu sein schienen ; so wenig aber
ich selbst mir anmerken ließ, welche Sehnsucht nach
Wahrheit und Schönheit mich erfüllte, so wenig wird
mancher andere Kamerad sein Herz auf der Hand ge-
tragen haben; vielleicht hatte ich viele Genossen in
meiner Inbrunst und dann in meiner Enttäuschung.
Die bessern Elemente waren wie immer in der Minder-
zahl; etwa vierzig von den Schülern gehörten nicht
auf eine Gelehrtenschule, auch nicht in deren unterste
38
Klasse. Wie immer entschieden die schlechtem Elemente
über den Fortgang der Studien ; wir brauchten beinahe
ein halbes Jahr, bevor wir mensa deklinieren konnten.
Ich schreibe nicht einen Roman, in welchem die Leiden
eines deutschen Kindes an sich erzählt werden sollen ;
ich schreibe meine Schulerinnerungen nieder, wenn auch
mit einer erziehlichen Absicht für Eltern und Lehrer.
Ich gebe meine eigenen Erinnerungen und muß darum
auf einige Besonderheiten meines ersten Gymnasiums
aufmerksam machen. Und auf einige Einrichtungen des
österreichischen Gymnasiums überhaupt. Ich muß im-
mer wieder hervorheben, daß ich das Unglück hatte,
auf eine ganz besonders elende Schule zu geraten ; man
würde eine Anstalt wie das damalige Prager Piaristen-
gymnasium in ganz Deutschland vergebens suchen,
hoffentlich auch vergebens im heutigen Österreich.
I^'lch trat in die Prima oder Parva ein. Man zählt in
Österreich bekanntlich die Gymnasialklassen nicht von
sechs bis eins, sondern von eins bis acht. Der Knabe be-
tritt das Gymnasium als Primaner oder Parvist und
verläßt es als Oktavaner. Die alten scholastischen Be-
zeichnungen für jede der acht Klassen fingen zu meiner
Zeit an, in Vergessenheit zu geraten. Und wie schon
der kleine Parvist Student genannt wurde, so hieß
jeder Lehrer, auch wenn er nur zur Probe oder zur
Aushilfe angenommen war, Herr Professor. Auch meine
Lehrer hießen Professoren, trotzdem sie eigentlich hoch-
würdige geistliche Herren waren. Denn mein erstes
Gymnasium war eine Anstalt der Piaristen. Es ist mir
lieb, daß dieses Neustädter Gymnasium von Prag seit-
dem in eine ordentliche Staatsanstalt umgewandelt wor-
den ist ; so darf ich zugeben, daß nicht mehr für die ge-
genwärtigen Verhältnisse gilt, was ich zu erzählen habe.
39
Die Stätte ist die alte geblieben : die Ecke des Grabens
und der Herrengasse, die vornehmste Stelle der vor-
nehmsten Straße Prags. Dort steht noch heute die Pia-
ristenkirche, ein geschmackloser Bau. Nach der Herren-
gasse zu ging das Kloster und eine niedere Kloster-
schule, nach dem Graben zu das Klostergymnasium,
auch dieses ein klosterähnlicher Bau, von welchem
lange gewölbte Gänge zu den Wohnungen der geist-
lichen Herren führten. Wir mußten oft den Weg machen,
an Kruzifixen und Heiligenbildern vorbei, die breite
Treppe hinauf, in die sogenannten Zellen der hoch-
würdigen Herren Professoren; das waren plump mö-
blierte Junggesellenzimmer, in denen es merkwürdig viel
Schlummerrollen und andere Handarbeiten gab, von
den Müttern der Schüler gestiftet. Die geistlichen
Herren ließen uns Hefte und Bücher aus ihren Zellen
holen und wieder dahin zurücktragen ; es galt für eine
Auszeichnung, diese kleinen Ministrantendienste zu
verrichten. Die wirklichen Ministranten, die fromm
bei der Messe zu schaffen hatten, wurden als künftige
Theologen betrachtet und waren wochentags häufig die
Laufjungen der Professoren. Es waren Galgenstricke
unter ihnen und diese waren es, die das Geschäft der
,, Aufklärung** in der Klasse besorgten. Von ihnen hör-
ten wir, daß die Ordensleute bei ihren Mahlzeiten und
auch sonst ein üppiges Leben führten ; von ihnen hörten
wir, was an unanständigen Anekdoten über die Piaristen
im Umlauf war. Das schadete uns nicht viel ; es gibt auf
jeder Knabenschule solche"^ Freunde der geschlecht-
lichen Aufklärung. Aber^wir erfuhren gerade^von die-
sen Ministranten auch — und es wurde uns bald von
Schülern der höheren Klassen bestätigt — , daß unser
Gymnasium allgemein für das weitaus schlechteste der
40
drei Prager Gymnasien galt. Ich konnte es zuerst gar
nicht fassen, daß es ein Gymnasium geben könnte,
dessen Lehrer uns die ganze Wahrheit und Schönheit
nicht darreichen konnten oder wollten. Und als mir mit
der Zeit klar wurde, daß das Urteil der öffentlichen
Meinung recht hatte, da half das auch nicht. Was blieb
mir übrig? Das Gymnasium der Altstadt, das in der
Nähe unserer Wohnung lag, war vollkommen tsche-
chisch geworden, und das Gymnasium der Kleinseite,
jenseits der alten Nepomukbrücke am Fuße des Lau-
renziberges, war für einen Parvisten zu weit entfernt.
Mit diesem Grunde wurde ich abgespeist, wenn ich über
unsere Lehrer klagte. So schlug ich denn jeden Morgen
den Riemen um meine Bücher, wanderte durch eine
Reihe dunkler, schmutziger Durchhäuser täglich nach
dem Piaristengymnasium und ließ mir bei der Heim-
kunft von den lachenden Dienstmädchen entgegen-
rufen: „Piaristen, schlechte Christen!'*
Ich habe in diesem Klostergymnasium fünf Jahre ver-
loren. Vom Herbst 1861 bis zum Ausbruch des Krieges
von 1866 habe ich dort die Bänke gedrückt und für die
Schule nichts, aber auch gar nichts gearbeitet, weil die
Lehrer nichts von mir verlangten. Noch einmal: ich
möchte meine Erfahrungen an dieser Anstalt nicht ge-
neralisiert wissen, möchte selbst nicht generalisieren.
Auch wäre es ein Irrtum, die Schuld ausschließlich
und ohne weiteres auf den geistlichen Charakter der
Anstalt zu schieben. Die Lehrer waren geistliche Herren,
aber der Unterricht war schon ziemlich verweltlicht.
Von den fünfundsechzig Schülern der Parva waren bei-
nahe die Hälfte Juden, und an einigen Protestanten
fehlte es auch nicht. So gab es keine Glaubenseinheit,
und wenn die Herren Piaristen mitunter über Luther
41
und über die Juden ihre Witze rissen, so taten sie das
zu ihrem Vergnügen und nicht aus Glaubenseifer. Ich
weiß von österreichischen Gymnasien aus jener Zeit,
in denen wirklich ein streng katholischer Geist herrschte
und die dennoch Musteranstalten waren. f^
Wir wurden nicht mit allzuviel Frömmigkeit geplagt.
Der Unterricht wurde freilich an jedem Tage durch ein
Gebet eröffnet und durch ein Gebet geschlossen; aber
nur der Katechet, wenn er zufällig die erste Stunde zu
geben hatte, machte die Sache mit einiger Würde ab.
Die anderen Lehrer hatten ungefähr die gleiche Ge-
wohnheit angenommen: sie schlugen in dem Augen-
blick, da sie das Katheder betraten, eilfertig oder zer-
streut ein Kreuz und gaben damit den Schülern ein
Signal, das lateinische Gebet zur Mutter Gottes herunter
zu plärren. Wir erlangten darin eine gewisse Virtuosität;
vor den erwünschteren Stunden beteten wir viel rascher
als vor den unangenehmen, aber meistens taktmäßig
und langsam. Inzwischen nahm der geistliche Lehrer
seine erste Prise — sie schnupften alle — , wischte sich
die Finger an der neuen oder alten Kutte ab, schneuzte
sich und überblickte die Klasse bissig oder gelangweilt,
wie ein böser Hund oder wie eine alte müde Katze.
Viele Protestanten und Juden sprachen die Gebete mit.
Es gehörte zum Ganzen wie die Frühstückssemmel, die
auch ohne Unterschied der Konfession beim Schul-
diener gekauft wurde. Als wir später auf dem weltlichen
Gymnasium der Kleinseite einen' kirchenfeindlichen
Lehrer hatten, der das Gebet mitjgutgespielter Zer-
streutheit zu vergessen liebte, da wurde er häufig von
ordentlichen Schülern an seine Pflicht gemahnt; viel-
leicht waren sie fromm, vielleicht wollten sie auch nur
die gefürchtete Stunde um einige Minuten kürzen. Ge-
42
rade dort auf dem weltlichen Gymnasium nahmen viele
die Religion ernster und innerlicher ; aus Knaben waren
Jünglinge geworden.
^ Bei den Piaristen sorgte schon die Körperlichkeit der
Lehrer dafür, das Göttliche zum Spott werden zu lassen.
Einen einzigen, sinnigen und kränklichen, magern und
kleinen Mann ausgenommen, waren sie alle so be-
schaffen, daß die Schülerkarikaturen nicht viel an
ihrem Umriß zu verändern brauchten. Es war einer
unserer Schülerwitze: der faule Bauch der Piaristen
fange bei der Stirn an. Namentlich die drei Hauptlehrer
des Untergymnasiums waren Kolosse, hätten Modelle
für Grützner werden können. Der eine hatte ein rohes,
erschreckend gemeines Knechtsgesicht, der zweite feine,
aber lüsterne Pfaffenzüge, der dritte sah so apathisch
aus, als hätte er anstatt sechzig Schülern sechzig Pflaster-
steine vor sich, die er in die Erde rammen müßte. Aber
dick waren sie alle drei, fabelhaft dick, dick von Müßig-
gang und Kreuzherrnbier. Der mit dem gemeinen
Knechtsgesicht, ein jähzorniger und böser Mensch, warf
im Laufe der Jahre zweimal den Kathedertisch mit der
eigenen Körperfülle um, als er aufsprang, um einen von
uns beim Schopf zu packen.
Nein, die Religion spielte auf dem Piaristengymna-
sium keine große Rolle. Und die heiligste Pflicht eines
Lehrers, die religiöse oder moralische Pflicht der Gerech-
tigkeit, wurde nichterfüllt. Ich ahnte damals noch nicht,
daß die Korruption fast auf allen Schulen zu Hause ist,
daß der ärmere Schüler bei der Gebrechlichkeit des
Weltlaufs immer im Nachteil ist gegen den Schüler,
dessen Eltern bestechen können und wollen.
Ein förmliches Institut der Bestechlichkeit war es,
das meine Entrüstung über meine geistlichen Lehrer
43
weckte, noch bevor ich ihre geistige Unfähigkeit be-
greifen konnte.
Zwar daß die Ministranten bevorzugt wurden und
noch weniger Latein zu lernen brauchten als wir, schien
mir weniger bedenklich ; es waren Kinder unbemittelter
Eltern und hatten sich das Wohlwollen des Ordinarius
immerhin durch eigene Arbeit erkauft. Nur die Rigo-
risten unter uns nahmen auch das übel. Aber die ganz
schamlose Einrichtung der Bestechung, von der ich be-
richten will, war doch wohl eine dem Klostergymnasium
eigentümliche Erscheinung.
Es war den Geistlichen verboten, Privatunterricht zu
erteilen. Dafür entschädigte sich unser Klassenlehrer
— von andern Lehrern des Gymnasiums kann ich das
nicht mit Bestimmtheit bezeugen — durch die schlichte
und sinnreiche Begründung'eines Privatissimums, das
immerhin ein paar hundert Gulden im Jahre abwarf.
Zweimal wöchentlich blieben die kleinen Schüler, deren
Eltern die Ausgabe erschwingen konnten, nach der
Schule^m Klassenzimmer beisammen und der gute Or-
dinarius diktierte ihnen die Hausarbeiten in die Feder,
die er vorher selbst aufgegeben hatte. Christliche Barm-
herzigkeit war auch dabei ; denn die Freischüler, deren
Väter keinen Kreuzer aufbringen und darüber ein schö-
nes Armutszeugnis vorzeigen konnten, durften an dieser
Privatstunde gratis teilnehmen; aber das Fernbleiben
zahlungsfähiger Schüler wurde mit Recht als Hochmut
und Gemeinheit ausgelegt. Ich war meines Erinnerns
der einzige in der Klasse, der an diesen Nachhilfestun-
den nicht teilnahm faus^Rechtsgefühl und aus Trotz,
wie'ich wohl sagen darf. Auch war ich zu stolz, meiner
Mutter zu sagen, daß sie den Vater um die zwei Gulden
für jedes Semester bitten sollte.
44
Gerade weil ich das Fernbleiben von dieser Lumperei
eigentlich fast freiwillig auf mich nahm, empfand ich
doppelt mit den Schülern, die amtlich ein Armutszeug-
nis vorgelegt hatten, und die ihre Armut überaus häufig
mit Sticheleien und anderen Schändlichkeiten zu büßen
hatten. Mein Zorn gegen die Schulkorruption, von^die-
sen ,, Privatstunden*' entfacht, hat vorgehalten ;" und
heute noch predige ich bei jeder Gelegenheit das Ideal,
die Gerechtigkeit, das unzulänglich gesicherte Funda-
ment des Staates, wenigstens in der Schule gelten zu
lassen. Ich habe meinen alten Zorn gegen^die Schul-
korruption neben manchen andern rebellischen Gedan-
ken (,,mehr Sachen als Worte**) leidenschaftlich genug
dargestellt in meinem „Wörterbuch der Philosophie*'
(Artikel „Schule* ' IL S. 388 ff.) ; ich möchte einen guten
Leser gern auf dieses Kapitel verweisen.
Ich weiß jetzt, daß auch Lehrer Menschen sind, daß
auch anderswo, auf Volksschulen und auf Universitäten,
Gefälligkeiten des Vaters oder der Mutter, Geschenke in
Naturalien oder in Geld, auch leiseste Winke eines ein-
flußreichen Vaters, das Fortkommen eines Schülers be-
günstigen. Ich weiß jetzt, daß die Korruption so allge-
mein ist wie Gestank in den Städten, und gerate nicht
mehr über jedes „Schmieren** in knabenhafte Aufre-
gung. Aber eine so schamlos öffentliche Bestechung
wie die, die ich eben geschildert habe, ist doch erzählens-
wert. Die meisten von uns fanden gar nichts an dieser
Privatstunde ; geschmiert wurde doch und die zwei Gul-
den waren ja nicht der Rede wert. Auch von dem kras-
sesten Falle einer individuellen Korruption wurde unter
den Mitschülern mit mehr HeiterkeitalsZorn gesprochen.
Der Sohn eines reichen und sehr einflußreichen Mannes
war von einer Unfähigkeit, die an Kretinismus grenzte,
45
und dazu von einer wahrhaft göttlichen Faulheit; er
wußte niemals eine Antwort zu geben und verstand es
nicht einmal, bei den Klausurarbeiten vom Banknachbar
abzuschreiben. Er war so dumm, daß wir ihm nicht ein-
mal mehr einsagten, wenn er gefragt wurde. Und dieses
Roß Gottes fiel niemals durch, ging von Klasse zu Klasse
mit, machte übrigens später pünktlich sein Abiturienten-
examen und seinen Doktor. Er ist ein ganz angenehmer
Mensch geworden und fällt unter seinen studierten Be-
rufsgenossen nicht sonderlich auf.
Bevor ich aus möglichst treuem Gedächtnis ein Ur-
teil über die wissenschaftliche Befähigung unserer Leh-
rer abzugeben suche, will ich noch eines Umstandes er-
wähnen, der für den Geist der Schule von Bedeutung
war. Mehrere der Geistlichen, die am Untergymnasium
unterrichteten, waren nach ihrer politischen und natio-
nalen Gesinnung Tschechen. Nun war unser Piaristen-
gymnasium offiziell eine deutsche Schule. In den beiden
untersten Klassen gab es (vielleicht irre ich in der Be-
zeichnung) tschechische Parallelklassen, in denen die
tschechischen Kinder ein wenig an die deutsche Unter-
richtssprache gewöhnt wurden. Später saßen Deutsche
und Tschechen in derselben Klasse beisammen, unge-
fähr in gleicher Stärke. Es braucht nicht erst gesagt zu
werden, daß unter solchen Umständen auch bei besseren
Lehrern die sprachliche Langsamkeit der einen Hälfte
ein Hemmschuh für den gesamten Unterricht geworden
wäre. Von den nationalen Kämpfen Böhmens, die da-
mals schon sehr lebhaft waren und bereits auf die öster-
reichische Politik Einfluß nehmen mochten, wußten wir
in unserm jugendlichen Alter noch nicht viel, die deut-
schen Knaben jedenfalls viel weniger als die tschechi-
schen. Wir lernten voneinander in den Pausen die ,, zweite
46
Landessprache*', in welcher wir uns ja nach dem Schul-
regulativ mündlich und schriftlich sollten ausdrücken
können wie in der Muttersprache. Ich gewann einen
tschechischen Freund, welcher seitdem von sich reden
gemacht hat, der mich zu seiner nationalen Gesinnung
bekehren wollte ; es kam aber nichts dabei heraus, als
daß er mir seine tschechischen Gedichte brachte, die ich
verdeutschte, wofür er dankbar meine ersten Verse ins
Tschechische übersetzte. Wir bewunderten einander
umschichtig.
Die tschechische Gesinnung der Lehrer, die sich von
Jahr zu Jahr offener und gehässiger äußern durfte, hatte
nun wieder üble Folgen für die Behandlung der Schüler.
Daß freilich die Lokalgeschichte Böhmens mit beson-
derer Vorliebe getrieben wurde, war ja wohl ganz in
der Ordnung; die romantische Geschichte Böhmens
hatte ja nicht nur die heimischen Dichter Ebert und
Meißner, nicht nur den großen Österreicher Grillparzer,
sondern sogar den Rheinländer Brentano zu Dichtungen
begeistert ; wir bemerkten es kaum, daß unser Geschichts-
professor die Geschichte Böhmens wie eine rein slawi-
sche Geschichte darstellte und von dem mächtigen Ein-
fluß deutscher Kunst und deutscher Kultur überhaupt
wenig zu erzählen wußte. Es kommt auch anderwo vor,
daß die Weltgeschichte durch eine farbige Brille gezeigt
wird; auch in Preußen. Schlimmer war es schon, daß
diese geistlichen Herren für alle nationalen Unterneh-
mungen der Anhänger von Johannes Hus die wärmsten
Gefühle äußerten und zu wecken suchten ; am schlimm-
sten aber, daß die Knaben aus den rein deutsch geblie-
benen Zipfeln Böhmens für ihre Unkenntnis der tsche-
chischen Sprache bei jeder Gelegenheit gehänselt und
zurückgesetzt wurden. Eine theatralische Begeisterung
47
für die Hussitenkriege in einem katholischen Kloster-
gymnasium, da stimmte etwas nicht. Für manchen
Schüler etwa aus der Gegend von Eger, wo wieder ein
unklarer Wallensteinkultus zu Hause war, hatte der
Unterricht in der Religion und in der tschechischen
Sprache eine gewisse Ähnlichkeit ; sie lernten in beiden
,, Gegenständen'' dogmatische Sätze auswendig, be-
kamen für beide Leistungen gute,, Klassen'' (Zensuren),
verstanden aber kein Wort von der Sache. Ich werde
auf meine persönliche Lehrzeit in der Religion wie in
der tschechischen Sprache noch zurückkommen.
Über die Hauptsache, über die wissenschaftliche Be-
fähigung meiner geistlichen Lehrer glaubhaft zu be-
richten, wird mir schwer fallen; der Gegensatz ihrer
Vorbildung zu der der vielverspotteten und doch gründ-
lich geschulten deutschen Oberlehrer war unwahr-
scheinlich stark. Von dem erwähnten obersten Leiter
des österreichischen Schulwesens, der übrigens einige
Jahre vor mir das Kleinseitner Gymnasium besucht
hatte, wurde mir später einmal gesagt: die Um-
wandlung des Klostergymnasiums in ein Staatsgym-
nasium wäre im Unterrichtsministerium damals schon
eine beschlossene Sache gewesen, und darum hätte der
Piaristenorden diese Anstalt so arg verkommen lassen ;
der Herr fügte allerdings zögernd hinzu, die schlechten
Qualitäten der Lehrer und die skandalösen Leistungen
der Anstalt hätten das Ministerium dann plötzlich zu
seinem Beschlüsse bestimmt. Mein Urteil über meine
Lehrer, die uns doch den Glanz der antiken Welt hätten
erschließen sollen, versuchte er nicht einmal zu mildern.
48
Illlllllllillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll^
VI. Ohne Sprache und ohne Religion.
f Tschechisch verstanden sie alle, darin hätten wir viel-
leicht Fortschritte machen können. Darüber hinaus
wurde uns nichts geboten. Mit gutem Bedacht schreibe
ich es hin, und man wird es schon der Beobachtungsgabe
eines lernbegierigen siebzehnjährigen Knaben (so alt
war ich fast, als ich das Piaristengymnasium verließ)
glauben müssen: die uns fünf Jahre lang im Latei-
nischen unterrichten sollten, verstanden kein Latein,
die uns drei Jahre griechischen Unterricht gaben, ver-
standen kein Griechisch ; ebenso stand es um Geschichte
und Mathematik ; und die uns in der deutschen Sprache
unterrichteten, konnten deutsch nicht einmal richtig
sprechen, geschweige denn, daß sie sich jemals wissen-
schaftlich mit der deutschen Sprache beschäftigt hätten.
Der Dicke mit dem gemeinen Knechtsgesicht war,
wenn ich nicht irre, durch volle vier Jahre unser Or-
dinarius. Nachdem er uns die lateinischen Paradigmen
eingepaukt und eingeschopf beutelt hatte, war er mit sei-
nem Latein eigentlich zu Ende ; denn als wir dann la-
teinische Stücke zu lesen anfingen, präparierte er sich
auf die meisten Stunden genau so mit Eselsbrücken vor,
wie wir; wir sahen den ,, Freund** (ich glaube, diese
vortrefflichen Einpaukhefte sind immer noch im Ge-
brauch) unter dem Schulbuche auf seinem Katheder-
pult liegen; entdeckte er so einen „Freund** in einer
4 49
der Schulbänke, so gab es natürlich erst recht kräftige
Püffe. Er muß ungewöhnlich unbegabt gewesen sein,
da er das Pensum im Laufe der Jahre nicht auswendig
gelernt hatte. Gott mag dem bösen Dicken verzeihen,
was er beim lateinischen Unterricht an uns gesündigt
hat ; aber auch Gott, wenn es anders immer noch einen
alten deutschen Gott gibt, kann ihm seinen deutschen
Unterricht nicht verzeihen. Es ist mir unvergeßlich, wie
wir einmal Goethes ,, Fischer*' aufzusagen hatten, und
wie unser Botokude das Gedicht erst erklärte und dann
in seinem entsetzlichen Deutsch so vordeklamierte, wie
er es von uns hören wollte. Es wäre ein zu grober Possen-
effekt, wollte ich das ganze Gedicht in seiner Aussprache
hersetzen. Nur eine Stelle kann ich ihm nicht schenken.
Einer von uns, ein prächtiger Egerländer, hatte richtig
gesprochen: ,,Halb zog sie ihn, halb sank er hin.'*
Der böse Knecht schlug mit der geballten Faust auf den
Tisch und wetterte: ,,Hob ich dir g'sagt, das is Geggen-
satz. Halb zock sie ihn, halb sonk'r hien.'* Und der
arme Egerländer, wenn er nicht durchfallen wollte,
mußte den ,,Geggensatz*' so betonen. Auf diese Weise
erhielten wir eine Vorstellung von dem Wohlklang
Goethescher Verse.
Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß ich als Jude
im zweisprachigen Böhmen wie ,, prädestiniert'* war
(ich weiß besser als mancher Leser, wie dumm dieses
Wort ist), der Sprache meine Aufmerksamkeit zuzu-
wenden ; selbst der Hochmut, sich dem eigenen Lehrer
im Gebrauche der Muttersprache überlegen zu fühlen,
mochte früh zu mancher Beobachtung führen. Ich darf
aber vielleicht ebensogut hier, wie an einer andern Stelle
ein Leid klagen, ein Entbehren, das mich in meiner
Jugend gequält hat und mich in meinem Alter zu quälen
SO
nicht ganz aufgehört hat. Jawohl, mein Sprachgewissen,
meine Sprachkritik wurde geschärft dadurch, daß ich
nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und He-
bräisch als die Sprachen meiner „Vorfahren** zu betrach-
ten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in meinen
eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte. Jawohl,
ein Sprachphilosoph konnte unter solchen psycholo-
gischen Einflüssen heranwachsen. Aber ich dachte
ja in jener Zeit gar nicht an eine solche Aufgabe.
Der junge Mensch war erfüllt von dichterischen Plä-
nen. Und für die Wortkunst fehlte mir das lebendige
Wort einer eigenen Mundart. Ich weiß, daß ich mit
dieser Klage jedem Gegner meiner Schriften eine Waffe
in die Hand gebe. Ich muß es dennoch sagen: ich be-
sitze in meinem innern Sprachleben nicht die Kraft
und die Schönheit einer Mundart. Und wenn jemand
mir zuriefe: ohne Mundart sei man nicht im Besitze
einer eigentlichen Muttersprache — so könnte ich viel-
leicht heute noch aufheulen, wie in meiner Jugend, aber
ich könnte ihn nicht Lügen strafen. Die dicht beieinan-
der wohnenden Deutschen der böhmischen Grenzge-
biete, die Deutschen des nordöstlichen, des nordwest-
lichen und des westlichen Böhmens haben ihre lieben
und echten Dialekte. Der Deutsche im Innern von
Böhmen, umgeben von einer tschechischen Landbe-
völkerung, spricht keine deutsche Mundart, spricht ein
papierenes Deutsch, wenn nicht gar Ohr und Mund sich
auf die slawische Aussprache eingerichtet haben. Es
mangelt an Fülle des erdgewachsenen Ausdrucks, es
mangelt an Fülle der mundartlichen Formen. Die
Sprache ist arm. Und mit der Fülle der Mundart ist
auch die Melodie der Mundart verloren gegangen. Es
ist bezeichnend dafür, daß der Mensch auch zu seiner
4* 51
eigenen Sprache keine Distanz hat : die Deutschböhmen
bilden sich ein und sagen es bei jeder Gelegenheit, daß
sie das reinste Deutsch reden. Die Ärmsten ! Als ob die
Mundarten unrein wären!
Wenn einem Deutschböhmen aus tschechischer oder
tschechisch gewordener Gegend irgendwie die Sehn-
sucht nach Zugehörigkeit zu einem Volksdialekte
kommt, so pflegt er gewöhnlich den behaglichen Wie-
ner Dialekt nachzuahmen. Es gelingt ihm nur schlecht.
Er hört ihn (in den alten und neuen Wiener Possen),
aber er kann ihn nicht nachahmen. Ich habe wie nur
einer die Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einem
Dialekte empfunden ; aber es fiel mir niemals ein. Wie-
nerisch zu reden. Es gehört dazu wie zu jeder vollkom-
menen Beherrschung einer fremden Sprache etwas Ko-
mödienspielerei, etwas Snobismus, wofür ich keine
Neigung, wahrscheinlich keine Begabung habe. Mir
blieb die Sehnsucht, die sich mit Verstehen und Nicht-
Sprechen-Können süddeutscher Mundarten begnügen
mußte. Die oberbayerische Mundart und einige alleman-
nische Mundarten haben mich beim ersten Anhören bis
zu Tränen ergriffen. Sprachkünstlerisch, aus dem Un-
bewußten heraus, ist meine Sprache niemals lebendig
genug gewesen, und darum nicht dichterisch genug.
Mögen Feinde mir es boshaft nachsprechen, was ich
unter tausend Schmerzen spät genug herausgefunden
habe.
Und weil ich einmal so Kritik übe an der Grundlage
meines poetischen Schaffens, so sei gleich an dieser
Stelle und in diesem Zusammenhange der andere
Mangel beklagt, der meine dichterischen Pläne nicht
zu meiner eigenen Zufriedenheit reifen ließ. Wie ich
keine rechte Muttersprache besaß als Jude in einem
52
zweisprachigen Lande, so hatte ich auch keine Mutter-
religion, als Sohn einer völlig konfessionslosen Juden-
familie. Wie mir mit meinem Volke, dem deutschen,
nicht die Werksteine ganz gemeinsam waren, die Worte,
so war mir und ihm auch das Haus nicht gemeinsam,
die Kirche. Mir waren nicht nur die Griechengötter tote
Symbole, auch den christlichen Himmel lernte ich als
totes Symbol kennen, so^viele Mühe ich mir auch —
etwa vom 12. — 15. Jahre — gab, mir den christlichen
Himmel zu erobern. Es^ist ein Unterschied zwischen
einem christlichen Knaben, der später seinen Glauben
verloren hat (etwa D. F. Strauß) und einem von Anfang
an Glaubenslosen. Goethes Blasphemien sind titanisch,
Heines Witze sind dagegen kalt. Gerade weil die Kirche
so ganz und gar menschlich, irdisch ist, darum ist es
ein dichterischer Mangel, von Anfang an nicht auf die-
sem gemeinsamen Boden zu stehen. Weil'mein Ringen
um den Glauben vielleicht nur ein unbewußtes Spiel
gewesen war, darum fehlte meinem Bekenntnisse zum
Atheismus am Ende das Symbol des Kampfes : der Haß.
Und meiner dichterischen Sprache das Höchste und
Tiefste: die Erde.
Nun aber darf ich auch sagen, daß diese Mängel mich
in Erkenntnisfragen der Sprache gegenüber um so freier
machten. Doch ich habe die Schule der Piaristen noch
nicht verlassen ; zurück.
53
lil
liiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii'iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiliiiii«
VII. Und wieder die Piaristen.
Ich könnte natürlich manche harmlose Schulanek-
dote erzählen. Ich möchte aber nicht unterhalten, ich
möchte nur durch Beispiele belegen, was ich über das
Elend meiner Schulzeit gesagt habe. Was so trostlos
war, das äußerte sich ja nicht in den kleinen Lehrer-
dummheiten, die überall möglich sind und für die die
schlimmen Schulbuben so scharfe Ohren haben; was
so trostlos war, das war die allgemeine Bildungsstufe
der Lehrer und der Schüler, also der ganzen Anstalt.
Die preußischen Unteroffiziere, die unter Friedrich dem
Großen Schulmeister wurden, hatten nur im Lesen,
Schreiben und Rechnen zu unterrichten und besaßen
schwerlich weniger Kultur als unser böser Klassen-
lehrer. Unser Ordinarius in der fünften Klasse hatte viel
Mutterwitz und einigen Schliff, aber auch er ließ sich
von uns auf Donatschnitzern ertappen. Ein Geschichts-
lehrer, der sich gerne reden hörte — er soll ein guter
Prediger gewesen sein — , war der einzige Deutsche
unter den Professoren und ein Mann von einiger Bele-
senheit. Er war kein Piarist; er gehörte einem Orden
an, in dessen Küche die höheren Töchter Prags die
höhere Kochkunst studierten, in dessen großer Brauerei
und in dessen kleiner Bibliothek man gut bedient wurde.
Aber auch diesem Herrn passierte es einmal, daß er die
54
Ausfuhr Venedigs nach Amerika zur Zeit der Kreuz-
züge rühmend hervorhob.
Ich muß von meinem harten Urteile noch einen Leh-
rer ausnehmen, den kränklichen Piaristen, der sich auch
äußerlich von den faulen Bäuchen unterschied. Er lehrte
in der Volksschule den Katechismus und bei uns Natur-
geschichte. Aber auch bei ihm lernten wir nichts, weil
„man'* Naturgeschichte für das Abiturientenexamen
nicht brauchte. Das wußte er und das wußten wir, daß
Naturgeschichte nur eben geduldet war. Er brachte
Liebe für sein Fach und für die Kinder mit, und wenn
wir im Frühjahr mit ihm botanisieren gehen durften,
so war es doch ein kleiner Gewinn fürs Leben. Um seine
Frömmigkeit mag es schlecht bestellt gewesen sein. Er
widmete sich mit Vorliebe den wenigen protestantischen
Schülern, brummelte immer, wenn wir auf den Aus-
flügen bei einer der vielen Kapellen vorüberkamen, und
bemühte für die Zoologie die Schöpfungsgeschichte der
Bibel nicht. Auf einem unserer Botanisierbummel hatte
einer der „Ministranten** den lateinischen Namen des
Löwenzahns nicht gewußt ; der Lehrer ließ ihn, als wie
zur Strafe, die zehn Gebote aufsagen und brummelte
dann: „Aber ein dummer Kerl bist du doch!** Ich
träumte mir von diesem Lehrer einen ganzen Roman
zusammen, von einem unglücklichen Freigeist im Klo-
ster, der lieber die Kleinsten im Katechismus unterrich-
tete, als daß er in der Naturgeschichte Konzessionen
gemacht hätte. Ich traf diesen lieben guten Menschen
einige Jahre später, als ich schon Student war, in einer
kleinen Sommerfrische, wo er umsonst und eigentlich
schon hoffnungslos Heilung einer schweren Lungen-
krankheit suchen sollte; als ich ihn grüßte, nannte er
mich sofort beim Namen und forderte mich neckend
55
auf, einige Pflanzen in seiner Hand zu bestimmen. Er
lud mich zu einem Glase Bier ein und wir blieben viele
Stunden zusammen. Ich kann nicht behaupten, daß er
mir die Wahrheit meines Romans bestätigt habe. Als
wir uns aber trennten, sagte er mir mit der einschmei-
chelnden Stimme eines Phthisikers: ,, Erhalte dir so
lange wie möglich deine Liebe zu Blumen und Schmet-
terlingen. Das ist die Liebe Gottes. Sie waren nicht zu-
frieden damit, daß ich als Katechet den Buben manch-
mal auch so etwas gesagt hab'. Ich werd's bald vor
dem lieben Gott verantworten." Ich glaube fast, er ist
der einzige Christ unter meinen Piaristen gewesen.
Der wichtigste Lehrgegenstand meiner fünf Piaristen-
jahre war natürlich das Latein. Ich will darum über die
Erfolge noch einige betrübte Worte sagen. Die Zeit,
in welcher fünfzehn- oder sechzehnjährige Jungen per-
fekt Latein lesen und schreiben konnten, die Zeit der
alten Gelehrtenschule, war selbstverständlich längst
vorüber. Längst waren die Ansprüche auf ein Minimum
herabgesunken. Wir hätten es in der fünften Klasse
aber doch so weit bringen sollen, Nepos, Cäsar und Ovid
geläufig zu verstehen. Ich weiß nicht, warum wir Buben
gerade den Cäsar und den Ovid lesen durften ; die Feld-
züge Cäsars sind Männerlektüre; und die gräßlichen
Metamorphosen des Ovid wären eigentlich recht be-
schaffen, für Lebenszeit einen Abscheu vor der latei-
nischen Poesie zu befestigen. Aber die Wahl der Autoren
geht uns hier nichts an. Der Erfolg eines fünf Jahre
fortgesetzten täglichen Unterrichts in der lateinischen
Sprache dürfte etwa folgender gewesen sein. Die Hälfte
der Schüler hatte nichts gelernt, einfach nichts; diese
schlechten Schüler hatten vielleicht ein Dutzend Regeln
und fünf Dutzend Vokabeln notdürftig auswendig ge-
56
lernt, und wenn der Lehrer sie sehr laut anschrie und die
Banknachbarn einsagten, fügten die Ärmsten am Ende
auch ein Subjekt, eine Kopula und ein Prädikat stam-
melnd zusammen. Aber daß das, was der Lehrer aus
ihnen herausschrie und herauszerrte, Ähnlichkeit hätte
mit einer Sprache, meinetwegen mit einer toten Sprache,
das hätte auch ein Optimist nicht behaupten können.
Man denke sich nur in die Seele so eines Unglücklichen
hinein. Er wird auf das Gymnasium geschickt, weil er
nach dem Willen des Vaters Arzt, Richter, Oberlehrer
oder Pfarrer werden soll ; er hat auch nicht die aller-
geringste Neigung, etwas von der antiken Welt zu er|
fahren ; ein Fliegendreckchen an der Wand interessiert
ihn mehr als die lateinische Sprache ; und er hat auch
schon davon munkeln gehört, daß er nachher als Arzt,
als Richter, als Pfarrer — was der zum Messelesen
braucht, das ist ja wirklich gar bald gelernt — die
lateinische Sprache gar nicht mehr brauchen wird, daß
es nur so ein alter Schlendrian ist, Latein für die Latein-
schule zu lernen. So kratzt sich sein Gedächtnis für die
Lateinstunde die paar Dutzend der notwendigsten Be-
griffe zusammen, und mit dem Glockenzeichen ist alles
wieder vorüber. Die wenigsten von diesen schlechten
Schülern sind durchgefallen; die meisten wurden von
Klasse zu Klasse gequetscht und haben bewiesen, daß
man arzten, richten, predigen kann, ohne Latein ge-
lernt zu haben. J^
Die andere Hälfte der Klasse las in der Quinta Cäsar
und Ovid, das heißt, man entzifferte den ungefähren
Sinn mit Hilfe der Eselsbrücken und des Wörterbuchs
und stand den lateinischen Konstruktionen mit ah-
nungsvoller Hilflosigkeit gegenüber. Bei keinem' von
uns konnte davon die Rede sein, auch nur den leich-
57
testen lateinischen Autor so zu lesen, wie unsereins
nach^einem halbjährigen Unterricht im Französischen
einen leichten französischen Schriftsteller liest. Es gab
natürlich Musterknaben unter uns (ich fürchte, ich ge-
hörte damals nicht mehr zu ihnen) , es gab auch einen Pri-
mus ; es gab aber keinen einzigen leidlich guten Lateiner.
Unser Ordinarius in der Quinta, der lüsterne Pfaffe
mit dem Mutterwitz, imponierte uns in der""ersten
Stunde nicht schlecht, da er uns androhte, mit uns la-
teinisch zu reden. Es stellte sich aber bald heraus, daß
die copia verborum seiner lateinischen Konversation
in drei Sätzchen bestand, die wir ihm denn auch bald
ablernten : Loquamur latine. Optime. Verte in verna-
culam. So, darin bestand seine lateinische Eloquenz.
Ich bitte seinen breiten Schatten um Verzeihung, Venn
er noch einen weitern Satz sprechen konnte, und ich
den vergessen habe. Und das war der Jammer: wir
hatten nicht das Gefühl, unwissender zu sein als unsere
Lehrer. Ich glaube jetzt wie damals, daß diejenigen
von uns, die den „Freund** fleißig benützt hatten, im
psychologischen Augenblicke mehr wußten, als der Herr
Prof essor,"^^ der das Faulenzerbuch auch vor^sich liegen
hatte, der aber zu faul war, hineinzusehen.^^Natürlich,
unser Interesse war größer als das seine.
\ Ich darf nun nicht länger'mit dem Geständnisse zu-
rückhalten, daß ich in diesen fünf Jahren ein so fauler
Schulknabe wurde, als nur je einer den Tag um seine
Stunden bestohlen hat. Ich gab mir nicht die Mühe,
irgend etwas zu lernen, für die Schule zu lernen, wohl-
gemerkt. Ich hatte es ja nicht nötig. Ich war mit einem
einzigen Ausnahmefall immer einer der Ersten in der
großen Klasse und galt überdies bei vielen Kameraden
und eigentlich auch bei einigen Lehrern für den besten
58
Schüler. Ich hörte nur zu — wenn ich nicht just unter
der Bank was zu lesen oder zu dichten hatte — , ich
arbeitete zu Hause gar nichts und durfte mich den-
noch rühmen, daß meine ,, Kompositionen^* (die Klau-
surarbeiten) recht viel durch die Mitschüler abgeschrie-
ben wurden. Von einer Anregung oder gar Anleitung
zu wissenschaftlicher oder vorbereitender Arbeit war
nicht die Rede, niemals. Auch die Ersten der Klasse
hatten Vertrauen zu mir, trotzdem mir gelegentlich
ein falscher Genetiv oder ein falsches Perfektum aus
der Feder lief. Es war eine Schande, wie wir um die
schönen Jahre betrogen wurden. Ich drückte die Bank
und hatte die Hoffnung aufgegeben, auf diesem Gym-
nasium jemals geistige Fortschritte zu machen. Die Ein-
führung in das antike Kulturleben blieb aus ; und was
ich für den Schulbedarf brauchte, das flog bei dem
ewigen Wiederkäuen des armseligen Stoffs einem von
selber an, auch wenn man während der Schulstunde
Goethe las oder schwer gereimte Sonette schmiedete.
Man brauchte nur dann und wann hinzuhören.
Ich möchte es noch einmal sagen, und deutlicher als
vorhin, daß ich nur für die Schule ein so nichtsnutziger
Faulpelz war. Außerhalb der Schule kam meine Lese-
wut und mein Wissensdrang — wie ich wohl sagen darf —
bald wieder zum Durchbruch. Man konnte doch nicht
immer in der Moldau schwimmen oder auf der Moldau
Schlittschuh laufen. Ich las, wenn ich nicht schwimmen,
Schlittschuh laufen, essen oder schlafen konnte. Ein
Stubenhocker bin ich auch in den Jahren meines wil-
desten Fleißes nicht gewesen. Trotzdem zu meiner Zeit
jede Anregung oder gar Anleitung zur Übung eines
Sports fehlte — wir kannten das Wort nicht — , trieb
es mich immer wieder hinaus in die Berge, in die Wäl-
59
der, in den Fluß. Als Schlittschuhläufer habe ich es
nicht bis zur edeln Kunstfertigkeit gebracht; ich lief
eben stundenlang die Moldau aufwärts, wohl bis über
Kuchelbad hinaus ; wie ich denn auch als Fußwanderer
schnell und ausdauernd war wie einer. Bloß im
Wasser durfte ich mich rühmen, eine nicht ganz all-
tägliche Geschicklichkeit zu besitzen. Aber ohne irgend-
ein gutes oder schlechtes Buch ging ich kaum aus dem
Hause ; es fehlte nicht viel, und ich hätte mir auch ins
Wasser etwas zu lesen mitgenommen; wenigstens
glückte mir einmal das Kunststück, über die Moldau
hinüber und herüber zu schwimmen, ein Buch in der
linken Hand zu halten und es trocken zurückzubringen.
Diese Erinnerungen haben eine erziehliche Absicht,
und es täte mir leid, wenn ein anderer fauler Schlingel
aus meiner Erzählung den Schluß ziehen wollte: man
könnte durch bloße Faulheit ein einigermaßen geachte-
ter Schriftsteller werden. Ich will nicht auf meine sprach-
philosophischen Schriften hinweisen, an denen just die
vielseitigen Kenntnisse öfter gerühmt und überschätzt
worden sind. Ich habe mir den nötigen Schulsack erst
in sehr reifem Alter angeschafft. Aber ich hatte doch
immerhin (auf den obersten Klassen des Gymnasiums)
den Plan gefaßt, und einen Bruchteil des Plans ausge-
führt, Heines Gedichte ins Griechische zu übersetzen.
Ich kann nicht leugnen, daß unser Primus mir in der
Übersetzung von ,,Du hast Diamanten und Perlen''
einen falschen Dual korrigieren mußte ; dennoch scheint
mir die Übersetzung von einem Dutzend Heinescher
Gedichte ins Altgriechische immerhin ein Beweis, daß
ich trotz meiner gottsträflichen Schülerfaulheit ein
recht fleißiger Bursche gewesen war*).
*) Vgl. Anhang I.
60
Der Widerspruch löst sich natürlich durch meine
Lesewut. Es dürfte schwer zu berechnen sein, wieviel
Bände ich während meiner Gymnasialzeit verschlungen
habe. Was ich las? Das Beste und das Schlechteste
durcheinander. Einige Romane, die deutschen Klassiker
und dann — Räuber- und Geistergeschichten, die eine
große Abteilung im Kataloge unserer Leihbibliothek
ausmachten. Ohne Wahl, ohne jede Leitung, ohne jede
Hilfe, ohne jede Kritik habe ich damals viele, viele
hundert Bände von Klassikern gelesen, von deutschen,
lateinischen und griechischen Klassikern. Das Wort
,, Klassiker** hatte es mir angetan. Ich bin noch sehr
lange nachher kindlich genug gewesen für wertvoll zu
halten, was allgemein angepriesen wurde. Ich werde
gleich zu erzählen haben, wo und wie ich zu den Büchern
kam, die ich in jeder freien Stunde, gar zu oft beim
Lichte einer Kerze, zu verschlingen liebte: Kräuter-
bücher, Reisebeschreibungen, irgendwelche längstver-
gessene deutsche Dichter in elendem Nachdruck auf
Löschpapier, sodann die auf Kredit geliebten lateini-
schen und griechischen ,, Klassiker** in der augenmör-
derischen Ausgabe von Tauchnitz. Ich habe damals ge-
wiß den Grund zu dem Augenübel gelegt, das mir jetzt
die Arbeit so erschwert. Aber das ahnte ich noch nicht ;
ich las und las, ich las, als hätte ich mich freiwillig zum
Lesen verurteilt. Wahllos und ohne jede Leitung — wie
gesagt — las ich jedes lateinische und griechische Buch,
das ich erstanden hatte. Es war ja ein Klassiker, der
Redner und der Dichter, der Grammatiker und der Geo-
graph, jeder war mir recht, jeder wurde verschlungen.
In trotzigem Gegensatz gegen die Art, wie auf der
Schule zwei Zeilen in der Stunde durchbuchstabiert
wurden, las ich die lateinischen und dann die griechi-
6i
sehen Klassiker sehr schnell durch ; im Lexikon wurde
nur dann nachgeschlagen, wenn sonst nicht einmal der
ungefähre Sinn klar geworden wäre. So gewann ich mit
der Zeit eine erstaunliche Übung im Lesen lateinischer
und griechischer Schriften, freilich ohne die wünschens-
werte grammatikalische Festigkeit. So gewann ich aber
auch langsam die Überzeugung, daß ein Klassiker ein
recht langweiliger Herr sein kann. Keiner von den La-
teinern hat mir jemals Freude gemacht. Meine ganze
Liebe gehörte Homer, bei dem ich es freilich nicht mit
einem ungefähren Verständnis abgetan sein ließ. Mit
Hilfe eines Homerwörterbuchs überwand ich die Schwie-
rigkeiten des Anfangs ; später habe ich ganze Gesänge
der Ilias mit Lust auswendig gelernt. Ich fürchte, meine
griechische Heineübersetzung weist homerische Ein-
flüsse auf und ist kein Muster der attischen Sprache.
Doch dieses wilde Lesen der alten Klassiker und dann
das ebenso leitungslose Erlernen moderner Sprachen
fällt mit in die Zeit meines zweiten Gymnasiums. Ich
glaube, ich litt schon in jenen Jahren sehr bitter da-
runter, daß ich auf der Welt keinen Menschen wußte,
den ich in meinem Wissensdrange hätte um Rat fragen
können. Es mag aber auch an mir selbst gelegen haben,
daß^ich lieber für einen Faulpelz galt und keiner Seele
das Geheimnis meines heimlichen Fleißes anvertraute.
Einen Wegweiser habe ich auf meinem Wege nicht ge-
funden, auch später nicht.
Zu meinem heimlichen Fleiße und zu den Gefahren,
die der Mangel eines Wegweisers mit sich führt, ge-
hörte auch die Art, wie ich mir Bücher verschaffte.
Ich hatte nicht Geld genug, um beim Buchhändler zu
bestellen, wonach mich verlangte. Aber mit einigen
Kreuzern oder „Sechserin*' in der Tasche ging ich all-
62
sonntäglich nach der Judenstadt, in deren Hauptstraße
alle Trödler ihre unsäglichen Waren ausgelegt hatten,
auch alte Bücher. In der Judenstadt wäre für mich man-
ches zu sehen und zu hören gewesen, was mich hätte
interessieren müssen: die,,Altneuschul'*, der uralte jü-
dische Friedhof, vor allem aber die köstlichen, oft kab-
balistischen Sagen, die sich an die altberühmte Syna-
goge und an einzelne Grabsteine des Friedhofs knüpf-
ten. Ich aber suchte in der Judenstadt allsonntäglich
nur eins : Bücher, die ich für ein paar Kreuzer oder ein
Sechserl erstehen konnte. Da lagen sie über die
schmutzigen Tische geschüttet, Bücher aller Art, zer-
lesene Romane und wissenschaftliche Werke, die mei-
sten unvollständig, einzelne Bände, die ganz besonders
wohlfeil waren. Und Klassiker ! Griechische, lateinische
französische und deutsche Klassiker. Das Wort machte
mich ja wehrlos. War auf dem Titelblatte in irgendeiner
Sprache die Bezeichnung ,, Klassiker'' gedruckt, so
glaubte ich einfältig, alle Herrlichkeiten und Geheim-
nisse der Welt müßten in dem Buche stecken. Ich
kaufte so viele Klassiker, als ich bezahlen konnte. Ich
habe erst viel später erfahren, daß der Verleger einen
alten oder neuen Autor zu einem Klassiker ernennen
kann; daß die Bezeichnung im Grunde nicht viel be-
sagen will, daß es, wie Julian Hirsch sagen würde, einen
ruhmerzeugenden Handel und andere Fälscher des
Ruhmes gibt.
Ich war also bei absoluter Schulfaulheit einer der
besten Schüler und hatte mir privatim eine erstaunliche
Übung im oberflächlichen Lesen lateinischer und grie-
chischer Schriften angeeignet; aber ich verließ das
Piaristengymnasium ohne die Kenntnis der lateinischen
Grammatik, ohne die Kenntnis gerade, zu der auch der
63
letzte Schüler der Klasse verpflichtet gewesen wäre. So
frage ich mich besonnen, ob es möglich ist, was ich
nun aussprechen will ; und ich weiß doch, daß es wahr
ist. Acht Jahre waren vergangen, seitdem ich aus den
Händen unseres Hofmeisters gekommen war. Von die-
sen acht Jahren hatte ich drei mit angestrengtem
Fleiße dem Geschäfte und der Eitelkeit eines gewissen-
losen Schuldirektors gewidmet, hatte ich fünf Jahre
mit gottsträf licherZeitvergeudung fünf bis sechs Stunden
täglich den geistlichen Lehrern gegenüber versessen.
Und an Schulkenntnissen war ich in diesen acht Jahren
nicht reicher geworden, als ich bei verständiger Leitung
in einem halben oder meinetwegen in einem ganzen
Jahre hätte werden können. Daß ich in diesen Jahren
trotz alledem etwas gescheiter und kritischer geworden
war, das war wahrhaftig nicht das Verdienst der
Schulen.
Ich muß es nun zu meiner Ehre sagen, daß mir das
Bewußtsein immer unerträglicher wurde, so die Zeit zu
vertrödeln. Mein Wunsch, etwas Ordentliches zu lernen,
gab mir den Gedanken ein, das Piaristengymnasium zu
verlassen, das Kleinseitner Gymnasium aufzusuchen,
das in der Schülerwelt bekannt und gefürchtet war um
seiner Strenge und um seiner tüchtigen Leistungen
willen. Ich stand bereits in meinem siebzehnten Jahre ;
aber dennoch darf ich es als ein gutes Zeichen betrach-
ten, daß mich dieser Ruf anzog. Ein bißchen Deutsch-
tümelei mag mitgesprochen haben, denn das Klein-
seitner Gymnasium war eine wirklich deutsche An-
stalt. Und ich will auch nicht verbergen, daß mein
Wissensdrang gewiß auch von Eitelkeit gespornt wurde ;
ich hörte es nicht gern: ,,Ja, bei den Piaristen, da bist
du ein Vorzugsschüler ; aber bei uns auf der Kleinseite,
64
da geht's dir schlecht, da fällst du bei Nacke (dem
Lehrer der Mathematik) sicher durch.'*
Ich habe wohl immer die Neigung gehabt — mir
selbst unbewußt — das Brett zu bohren, wo es am här-
testen ist. Ich war also entschlossen, mit dem Gymna-
sium zu wechseln ; das war aber nicht so leicht ausführ-
bar, weil in unserem Hause die Kinder keinen eigenen
Willen haben durften und unter der strengen Zucht des
Vaters auch kaum mehr hatten. Mein Vater hatte mich
auf dem Piaristengymnasium einschreiben lassen; da
hatte ich zu bleiben bis zur ,, Maturitätsprüfung**. Es
war nicht Sitte in meinem Elternhause, dem Vater zu
sagen : ich gehe zugrunde, wenn dein Wille geschieht.
Ich habe mir gewiß unter der ganz patriarchalischen
Zucht meines Vaters erst den passiven Widerstand an-
gewöhnt, mit dem ich später oft — anstatt in offenem
Kampfe — Widerstände gebrochen habe.
Imjahre i866brachteeine jener Ungerechtigkeiten, die
einen Knaben vernichten können, meinen Entschluß zur
Reife ; und wenige Monate später half mir ein Stückchen
Weltgeschichte meinen Vater meinen rebellischen Plänen
geneigt zu machen. Krieg und Cholera mußten kom-
men, um mich aus dem Piaristengymnasium zu erlösen.
I Die entscheidende Ungerechtigkeit, welche die Wen-
dung in meinem Schülerleben herbeiführte, war eine
richtige Dumme Jungengeschichte; und ich verlange
von keinem Leser, daß er sie tragisch nehme. Auch ich
gedenke der Sache nach gerade fünfzig Jahren ohne
Schmerz, aber immer noch in Zorn; denn ich weiß,
was der Knabe gelitten hat.
1^ Die Geschichte hat anzuheben wie andere Schüler-
geschichten ; der Ordinarius in der Quinta ,, hatte eine
Pike** auf mich. Damals bildete ich mir ein, mein ein-
5 65
sames Frondieren gegen die allgemeine Privatstunde
wäre der alleinige Grund dieses Hasses gewesen; der
frühere Ordinarius, der mit dem bösen Knechtsgesicht,
hätte seinen klügeren und darum mutigeren Nachfolger
gegen mich aufgehetzt. Der frühere Ordinarius hatte
übrigens noch einen besonderen Grund, eine Pike auf
mich zu haben ; er war aus dem gleichen Orte gebürtig
wie ich, schämte sich — er hat sich mir gegenüber ver-
raten — seiner niedern Abkunft und fürchtete, ich
oder meine Eltern wüßten allerlei über sein Vaterhaus.
Wenn ich mir die Lage der Dinge heute recht überlege,
so muß ich gestehen, meine guten wie meine schlimmen
Eigenschaften möchten dazu beigetragen haben, mich
manchem Lehrer unliebsam zu machen. Ich fügte mich
nicht recht in die Schablone des Unterrichts, ich war ja
zu alt für meine Klasse. Ich galt bei denjenigen Leh-
rern, die mich gern hatten, für ein Lumen der Schule ;
die andern hatten mein schlechtes Präparieren und
meine vorlauten Antworten oft zu rügen. Der Ordi-
narius gab mir seine Abneigung, die freilich gegen-
seitig war, deutlich zu erkennen und drohte mir einmal
vor der Klasse, mich von meiner guten ,,Lokations-
nummer'* hinunterzubringen. (Die Reihenfolge, in wel-
cher wir nach der Güte unserer Zensuren gesetzt wur-
den, hieß die ,, Lokation**.) Nun wurde ich noch trotzi-
ger, gab ganz ungehörige Antworten und machte in
den Pausen Epigramme auf seinen Bauch, auch in la-
teinischen Distichen. Solche Dinge wurden den Leh-
rern immer hinterbracht; wir glaubten bestimmt, daß
die Ministranten die Spione machten ; Angeberei ist in
einem Klostergymnasium wohl unausrottbar.
Eines Tages hatte ich in einer lateinischen Klausur-
arbeit das Wort hauddum für noch nicht gebraucht,
66
ich weiß nicht, ob der Sinn ganz richtig getroffen war
oder nicht; ich hatte das Wort bei meiner wilden
Livius- Lektüre aufgeschnappt und fand es wahrschein-
lich schön. Als der Lehrer die Arbeiten am nächsten
Tage wiederbrachte, rief er mich heraus und seine
Augen funkelten von Bosheit. Die Klasse wieherte vor
Wonne, als er immer wieder hauddum, hauddum rief
und dann meinte, ich hätte wohl saudumm schreiben
wollen, wie ich wäre. Ich muß ihn wohl unverschämt
angesehen haben, denn bevor ich ein Wort erwidern
konnte, schrie er mich an: „Du hast dir da ein Wort
erfunden, das im Lateinischen gar nicht möglich ist. Du
bist verrückt. Ich lasse dich durchfallen. Du kriegsteinen
Dreier (die schlechteste Zensur) aus Latein. Setz' dich!''
Am nächsten Morgen brachte ich meinen Livius mit
und zeigte das Wort erst der ganzen Klasse und dann
dem Ordinarius. Er warf das Buch auf den Boden
und sagte nichts. Von da ab bis gegen den Schluß des
Wintersemesters stellte er keine Frage mehr an mich.
Dann, eines Morgens, pries er in der Lateinstunde die
Schönheiten der tschechischen Sprache. Man werfe ihr
vor, ihre Vokabeln seien zu arm an Vokalen; das sei
aber nicht wahr und eine Sprache aus lauter Vokalen
wäre noch lange nicht schön. Und zu einem Haupt-
spaße der Klasse quetschte er die Tonfolge eoa aus
seinem breiten Munde wie ein Froschgequake heraus.
,,Und das ist ein gutes lateinisches Wort, das jeder von
euch kennen muß, wenn er nicht durchfallen will."
Wir machten alle verdutzte Gesichter, und auch mir
mag man es angesehen haben, daß ich nicht klüger
war als meine Mitschüler. Ich kann natürlich nicht
wissen, ob der Ordinarius diesen Schlag gegen mich
vorbereitet hatte oder ob er erst beim Anblick meines
5* 67
dummen Gesichts auf den Einfall kam, mich zu strafen.
Er blickte mit einem boshaften Zucken noch einmal
nach mir hin und rief meinen Namen. ,,Eoa. Verte in
vernaculam.** Ich verstand das Wort nicht, ich konnte
es nicht übersetzen. Über der Klasse lag Totenstille wie
vor einem Gewitter ; vielleicht würde die ganze Klasse
nachbleiben müssen. Aber der geistliche Herr war wieder
in seiner besten Laune. ,, Jetzt hast du deinen Dreier aus
Latein'*, rief er mir zu und überhäufte mich mit gro-
ben Redensarten : wer eoa nicht übersetzen könne, der
solle sich begraben lassen oder Schuster werden ; ein
solches Kamel dürfe nicht weiterstudieren. Und so ging
es weiter bis zum Schluß der Stunde. Ich ging zum Di-
rektor, einem gutmütigen, aber seine Ruhe über alles lie-
benden Herrn ; er war ganz freundlich zu mir, aber er tat
nichts. Wenige Tage später erhielten wir unsere Semester-
zeugnisse und ich hatte aus Latein ,, zur Not genügend''
oder so etwas Ähnliches. Und so rückte ich trotz einem
sonst vorzüglichen Zeugnisse dicht an die Letzten der
Klasse heran, die durchgefallen waren. Ich war so un-
gefähr der fünfundfünfzigste unter sechzig Schülern.
Na ja. Man lache den dummen Jungen nur aus. Ich
empfinde es auch heute nicht mehr als eine untilgbare
Schmach. Es war aber keine Kleinigkeit, als so der
oberste Lehrer mit sichtlicher Bosheit mir ein Unrecht
zufügte. Selbstverständlich war ich nicht der einzige,
der unter seinem bösen Charakter litt ; keiner von uns
wird es vergessen haben, wie sich dieser geistliche Herr
über den Ärmsten unter uns, einen unglücklichen
Krüppel, lustig zu machen pflegte. Ich kann weder ver-
gessen noch verzeihen, was dieser Lehrer uns zugefügt
hat, was er mir zugefügt hat. Trotzdem dieser Vorfäll —
wie gesagt — meine Befreiung entschied.
68
Schülerselbstmorde waren damals noch unerhört.
Aber ich wußte, daß so etwas Unerhörtes geschehen
mußte, damit der Ordinarius gestraft würde. Auch
konnte ich ja unmöglich mit diesem Zeugnisse meinem
Vater unter die Augen treten. Also hat der saudumme
Junge zu sterben. Aber wie.^ Das Wasser tat's nicht,
ich war ein zu guter Schwimmer. Eine Pistole besaß
ich nicht. Ich wußte nicht, wie man sich Gift ver-
schafft. Und gegen das Aufhängen hatte ich eine starke
Verachtung. Stundenlang irrte ich in der Stadt umher.
Gegen Mittag kam ich auf den Obstmarkt, fühlte Hun-
ger, wurde noch unglücklicher und faßte den Ent-
schluß, mich ganz heimlich totzuhungern. Vor der
Leihbibliothek, aus der ich der Mutter Romane zu
holen pflegte, faßte ich diesen Entschluß. Dann fiel
mir ein, daß meine Mutter just Gutzkows ,, Zauberer
von Rom** las; ich hatte mit ihr erst den ersten Band
gelesen und wollte doch bis zu Ende kommen. Der
,, Zauberer von Rom** hat sein Teil dazu beigetragen,
daß ich mich nicht tothungerte. Als ich die vielen Bände
in Zwischenräumen — ich bekam ja den nächsten
Band immer erst dann, wenn meine Mutter mit dem
früheren zu Ende gekommen war — verschlungen
hatte, interessierte auch mich nichts als der bevor-
stehende Krieg. Im Frühjahr 1866 hatte ich das ent-
setzliche Semesterzeugnis erhalten, und schon im Juni
wurde das Sommersemester plötzlich beendet, weil der
Krieg ausgebrochen war. Wir erhielten die Jahreszeug-
nisse. Ich war wieder zu den Vorzugsschülern aufge-
rückt; aber mein Wille stand fest, das ,, Pfaffengymna-
sium** zu verlassen und auf dem Kleinseitner Gymna-
sium mein Heil zu versuchen, wirklich mein Seelenheil.
69
II
iiiilllllliniilllllililliiililiiiiiiiiiiiiliiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiniiriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiii
Vni. 1866.
Der Krieg war ausgebrochen und wir waren dumme
Jungen genug, uns darüber zu freuen, daß er uns
Ferien von beinahe vier Monaten verschaffte. Man weiß,
wie rasch die Ereignisse sich folgten. Schon am 8. Juli
waren die Preußen in Prag; die Hauptstadt Böhmens
war unmittelbar vorher, um überflüssiges Blutver-
gießen zu vermeiden, zu einer offenen Stadt erklärt
worden. Prag war eine gar zu altmodische Festung
gewesen; der Feind hätte sie, wenn an Verteidigung
gedacht worden wäre, sehr bequem zusammenschießen
können.
Unsere Stadt wurde ein preußisches Truppenlager.
Wir lernten vom Kriege nichts kennen als: Truppen-
durchmärsche, den"^ Transport von Verwundeten, das
Treiben eines Trosses von Frauenzimmern und die
Cholera. Alle öffentlichen Gebäude Prags waren zu
Hospitälern umgewandelt worden und alle Schulen;
auch das Piaristengymnasium. Dort wütete die Cholera
furchtbar unter den österreichischen und unter den
preußischen Verwundeten. Dann griff die Seuche nach
dem Kloster hinüber. Der Klatsch der niedern Bevöl-
kerung war so ungerecht, das unmäßige Leben der
Geistlichen für ihre Erkrankung verantwortlich zu
machen. Viele von den Piaristen starben; auch unser
Direktor und zwei meiner Lehrer.
70
Als der Krieg und die Seuchen (auch der Typhus hatte
geherrscht) vorüber waren, als am i . Oktober das neue
Schuljahr beginnen sollte, da setzte ich meinen Willen
durch. Auf meine Weise, die ich nicht loben will. Ich
ließ dem Vater von der Mutter die Gefahren schildern,
die den Schüler in dem verpesteten Gebäude bedrohten ;
ich verschwieg, daß es in den andern Gymnasien nicht
anders ausgesehen hatte. Auch wäre ich jetzt alt genug,
um den weiten Weg nach dem Kleinseitner Gymnasium
viermal täglich machen zu können. Mein Vater willigte
ein und ich ging mich anmelden. Ich sehe noch das
verwunderte Gesicht des Direktors, als ich ihm auf
seine Frage nach dem Grunde des Wechsels unbefangen
und treuherzig meine Geschichte erzählte. Das Pia-
ristengymnasium wäre mir zu schlecht gewesen. Er
wies mich zurecht und verlangte meine Zeugnisse zu
sehen. Ich hatte sie alle mitgebracht, auch das mit der
Zensur „zur Not genügend''. Der Direktor ließ mich
eine Seite Livius übersetzen, schüttelte den Kopf und
ich war in das Gymnasium meiner Sehnsucht aufge-
nommen. Das verdankte ich also Bismarck und seinem
Kriege.
An dieser Stelle darf ich wohl einige Worte^über unser
jugendliches Verhältnis zu dem Deutsch-Österreichi-
schen Kriege sagen. Selbstverständlich nicht meine
jetzige Meinung, sondern die Auffassung des Gymna-
siasten von noch nicht siebzehn Jahren. Da war nun
keine Rede von irgendeinem Verständnis für den welt-
geschichtlichen Vorgang oder auch nur von der Mög-
lichkeit eines Verständnisses. Deutsche Geschichte der
letzten Jahrhunderte lernten wir eigentlich nur als eine
Geschichte der Habsburger. Die Schule ließ uns die
Bedeutung |der Revolutionen und die Macht der Natio-
71
nalitätsidee nicht ahnen; von der Einigung Italiens
wußten wir nur, daß wir während des Krieges 1859 die
Schulstunden mit Scharpiezupfen ausgefüllt hatten;
ich kann versichern, daß wir vor dieser Tätigkeit nie-
mals angehalten wurden, etwa unsere Hände zu wa-
schen. Auch was wir im Elternhause von politischen
Dingen erfuhren, lag weitab von den Einheitsidealen
des deutschen Volkes. So zum Beispiel wußte ich man-
cherlei aus dem Jahre 1848: in der Speisekammer hin-
gen die Waffen und die Uniform, die mein Vater als
Nationalgardist getragen hatte; auch einen Personen-
kultus gab es : einer der Abgeordneten der Paulskirche,
der schöne und gute Dichter Moritz Hartmann, war
Hofmeister bei meinem Onkel gewesen. (Er hat den
Namen meiner Familie in einer seiner Novellen durch
den ihm vielleicht wohlklingendem ,, Kirchner'* er-
setzt. ) Ich wußte aber auch von den Aufständen in Prag
und in Wien und von den blutigen Greueln der Sieger.
Mein Vater sprach niemals über solche Dinge; meine
Mutter aber flößte uns Bewunderung für die Revolution
ein und begründete ihre Gesinnung mit Schillerschen
Versen. Nur daß damals in Frankfurt über ein einiges
Deutschland beraten worden war, davon hatte ich keine
Ahnung ; solche Dinge erfuhr ich erst etwas später aus
Heinrich Heine, mit gläubiger Andacht. Wir hatten
also keine politische Stellung zum Kriege von 1866;
nicht einmal großdeutsch waren wir. Wir hatten 1859
gedankenlos Scharpie gezupft, wir hatten 1864 ge-
dankenlos ,, Schleswig-Holstein meerumschlungen'' ge-
brüllt; jetzt wußten wir nur, daß die Preußen wieder
eine österreichische Provinz erobern wollten wie da-
mals unter Maria Theresia. Und daß ihnen diese Ge-
meinheit diesmal schlecht bekommen würde. Benedek
72
war der Feldherr unseres Herzens; wir kannten auch
seinen geheimen Feldzugsplan. Für die Darstellung
dieses Planes hatten wir uns eine sehr einfache und
sehr hübsche Pantomime eingeübt. Wenn wir — die
Verwegensten unter uns schon bei einer Zweikreuzer-
zigarre — über den wahrscheinlichen Ausgang des
Krieges redeten, dann legte der fünfzehnjährige Sohn
eines pensionierten Hauptmanns die beiden Handwur-
zeln zusammen, so daß die beiden Handflächen in
einem stumpfen Winkel voneinander abstanden. Er tat
das sehr geheimnisvoll ; denn niemand durfte diesen ge-
heimen Plan erfahren. Aber wir verstanden die Panto-
mime. So stellte sich Benedek auf und die dummen
Preußen rückten in Eilmärschen in den stumpfen Winkel
hinein ; nun bog der strategische Hauptmannssohn lang-
sam, langsam die Finger zusammen und die Preußen
waren gefangen. Wir wollten sie übrigens nicht schlecht
behandeln. Nur besiegt mußten die Preußen werden.
Wir Österreicher mußten die Herren von Deutschland
bleiben (wir glaubten, wir wären es), um zu Hause mit
den Tschechen fertig werden zu können ; ich habe seit-
dem, wenn irgendwo auf der Erde ein Krieg ausbrach,
Rauchzimmerstrategen kennengelernt, die in ähnlicher
Weise die geheimen Pläne ihres Lieblingsgenerals vor-
trugen ; und ich fürchte, auch ich bin ab und zu so ein
Stratege gewesen. Sobald ich nämlich Partei nahm.
Als nun die ersten Schlachten geschlagen waren, kam
für kurze Zeit der Zorn der Besiegten über uns. Wir
glaubten acht Tage lang alle Gräßlichkeiten, die uns
über die Preußen erzählt wurden, aber wirklich nicht
länger. Nach der Besetzung Prags besiegten uns die
Preußen moralisch.
Als die Schlacht von Königgrätz geschlagen war und
73
der Einmarsch bevorstand, flüchteten die vermögenden
Leute mit Söhnen und Töchtern aus der Stadt; die
Töchter sollten vor Vergewaltigung durch viehische
Soldaten geschützt werden, die Söhne vor der Rekru-
tierung durch die Preußen. Daß die jungen Mädchen
fortgeschafft waren, erwies sich bald als recht wün-
schenswert ; die Preußen hielten zwar bekanntlich mu-
sterhafte Mannszucht und die gemeinen Soldaten
(größtenteils ältere Jahrgänge) waren durchaus gut-
artig, aber der Zuzug von käuflichen Frauenzimmern
war so ungeheuer, daß die Straßen, Gärten und Inseln
Prags in diesen Sommermonaten wirklich einen etwas
babylonischen Anstrich bekamen. Das Gerücht, daß die
Preußen Jünglinge und Knaben mit Gewalt in ihre Re-
gimenter steckten (das Gerücht trat sehr sicher auf),
glaubten wir nur wenige Stunden. Mein achtzehnjähri-
ger Bruder und ich widersetzten uns der Flucht, als ein
aufgeregter Onkel schon mit einem Wagen vor der Türe
hielt, um uns zu retten. Wenige Tage später lernten
wir die Preußen kennen und konnten über die Greuel-
mären lachen. ^
Ich erinnere mich noch, als ob es heute geschehen
wäre, an den Einmarsch. Ich saß am frühen Morgen
des 8. Juli mit einem Buche im Canalischen Garten,
der etwa eine Viertelstunde vor dem Roßtore lag und
durch eine Mauer von der Heerstraße getrennt war. Ich
saß lesend auf einer Bank. Plötzlich höre ich Pferdege-
trampel und Kommandorufe. Die österreichische Gar-
nison hatte Prag seit einer Woche verlassen; auch
klangen die Kommandorufe fremdartig. Ich kletterte
auf die Mauer und zwei Schritte vor mir stand ein Trupp
preußischer Husaren ; dahinter Artillerie und weiter In-
fanterie. Ein Offizier, der eine Landkarte in der Hand
74
hielt, rief mir die Frage zu, wie weit es noch bis zum
Stadttor wäre. Schnell gab ich Auskunft und habe mich
damit hoffentlich keines Landesverrates schuldig ge-
macht. Dann rannte ich spornstreichs durch den Garten
nach dem Roßtor, um dabei zu sein.
Der Einmarsch vollzog sich in Formen, die sicherlich
vorgeschrieben waren. Wir waren töricht genug, dar-
über zu staunen und sogar zu spotten, daß keine Vor-
sicht des Krieges gegen das friedliche Prag außer Acht
gelassen wurde. Die Preußen konnten ja nicht wissen,
daß es einen totbereiten österreichischen Patriotismus
in Prag nicht gab, weder bei den Deutschen, noch bei
den Tschechen. So sahen wir die Feinde in kriegerischer
Haltung, die Hand an dem gespannten Hahn, durch die
dunkle Wölbung des Roßtors auf den Roßmarkt (jetzt:
Wenzelsplatz) einreiten, sahen sie dann mit der bekann-
ten ,, affenartigen Geschwindigkeit* ' die Hauptstraßen be-
setzen^). Noch tagelang beobachteten wir, wie die Sol-
daten in der Hauptstadt der eroberten Provinz sich's be-
i) Ich habe meine Darstellung stehen lassen, trotzdem ich nach der ersten
Veröffentlichung dieses Stücks in einigen gehamischten Zuschriften (der
Prager „Bohemia") darauf gestoßen wurde : der erste Einzug der Preußen
hätte am genannten Tage nicht durch das Roßtor, sondern durch das Por-
zitscher Tor stattgefunden; ich hätte offenbar einen späteren Einmarsch
beobachtet. Ich zweifle nicht daran, daß die heftigen Einsender im Rechte
sind. Ich lasse meinen Irrtum dennoch stehen, als ein Beispiel für die be-
kannte Unsicherheit ehrlicher Zeugenaussagen. Ich könnte heute noch darauf
schwören, daß die vom Roßtor die ersten Preußen waren, die nach Prag
kamen. Wenigstens die ersten, die mir zu Gesichte kamen. Wahrscheinlich
rückte gleichzeitig mit der Haupttruppe, die am Porzitscher Tor feierlich
vom Bürgermeister und vom Erzbischofe begrüßt und um Schonung der
Einwohner angefleht wurde, meine kleine Abteilung durch das östlicher
gelegene Roßtor ein. Sollte dem nicht so gewesen sein, so hätte ich einfach
mit dem besten Gewissen eine falsche Zeugenaussage abgegeben ; über einen
unwesentlichen Nebenumstand. Und ich habe meine Darstellung nicht ver-
ändert, damit sie an die Möglichkeit erinnere, daß im Gerichtsale beim
Streite um ein Menschenleben, daß beim Urteile über wichtigere Ereig-
nisse leicht falsche Aussagen behauptet und beschworen werden können.
75
haglich machten in Bierkneipen, in Cafes plaudernd,
essend und trinkend truppweise beisammen saßen, das
berüchtigte Zündnadelgewehr immer in der Hand.
Unvergeßlich ist mir der Anblick einer solchen Szene
im Landestheater; es wurde ja weiter gespielt und un-
sere Sperrsitze standen meinem Bruder Gustav und mir
jedesmal zur Verfügung, weil doch mein älterer Bruder
Ernst und unsere Schwester gleich nach Ausbruch des
Krieges nach Wien „geflüchtet worden'' waren; den
preußischen Offizieren waren die Fauteuils eingeräumt,
den übrigen Soldaten die erste Galerie. Dort saßen und
standen preußische Landwehrmänner dicht gedrängt,
lachten aus vollem Halse über die Posse, die gespielt
wurde; und jeder hielt seine Flinte in der Hand und
viele unterstützten ihr Beifallrufen, indem sie mit dem
Kolben auf den Boden trommelten.
Es war nicht eben verwunderlich, machte auf uns
Knaben aber dennoch einen seltsamen Eindruck, daß
in diesen Kriegswochen fast ausschließlich Possen ge-
spielt wurden. Natürlich. Ich erinnere mich, daß zwi-
schen 1864 und 1866 wohl einmal eine politische Ko-
mödie über die Bretter ging, daß da Schleswig-Holstein,
meerumschlungen, aus der Hand des bösen Bismarck,
der leibhaftig auf der Bühne erschien, gerissen werden
sollte. Nicht einmal so etwas gab es 1866, um die
Kampflust der Österreicher zu reizen. Es gab kaum in
Deutschland, gewiß nicht in Österreich, eine patrio-
tische Dramaturgie. Und daß die preußischen Truppen
weniger nach Tragödien verlangten als nach Possen,
war ja wirklich auch den Gebildeten unter ihnen nicht
zu verdenken. Sie bekamen eine recht gute Nachah-
mung der berühmten Wiener Volksbühne zu sehen und
zu hören. Auch zu hören. Die herrschende Mundart des
76
Prager Landestheaters war in Possen durchaus wiene-
risch ; auch einige Tschechen und unser erster Komiker,
der vortreffliche Eichenwald, der aus Norddeutschland
stammte, mußten wohl oder übel Wienerisch reden.
Und gerade in den ersten Wochen nach der Okkupation
gab es gar ein Gastspiel des berühmten Matras aus
Wien. Die Preußen konnten in Prag Offenbachs ,, Or-
pheus in der Unterwelt** in einer ganz vorzüglichen
Darstellung genießen. Den Höhepunkt der Theater-
freude bildete jedoch die Aufführung einer Berliner
Posse, der ,, Maschinenbauer von Berlin**. Eichenwald
selbst war glücklich, seine Berliner Schnauze gehen
lassen zu können und die übrigen bemühten sich nach
Kräften um eine norddeutsche Aussprache. Und als in
einem der Couplets gar die Definition einer Köchin
lautete : ,,eineKommißbrot-mit-Leberwurst-Belegungs-
Maschine**, da blickten die Leutnants von ihren Fau-
teuils lachend nach der Galerie, wo die preußischen
Soldaten in ihrem verständnisinnigen Behagen Beifall
tobten, daß das Haus wackelte.
Ein ganz anderes kleines Theatererlebnis hat sich
meiner Erinnerung eingeprägt. Es war wenige Tage
nach dem Einmarsch. Kaiser Franz Josef hatte einen
Aufruf ,,An meine Völker** erlassen, in welchem —
wenn mir recht ist — die Niederlagen zugestanden wur-
den und schon vom möglichen Frieden die Rede war.
Dieses Blatt war von den Preußen mit Beschlag belegt
worden. Im Theater aber, wo sich unsere Plätze dicht
hinter den Fauteuils befanden, drehte sich ein hübscher
junger Offizier während des Zwischenaktes um und
reichte mir den Aufruf mit einer Miene, die man ver-
bindlich nennen konnte, die aber vielleicht doch ein
bißchen spöttisch war. Ich las den Aufruf im Zwischen-
77
akte durch und schämte mich fürchterlich, weil der
Offizier mich für ungefährlich genug hielt, um^mir das
konfiszierte Blatt zu geben.
Unsere Gefühle gegen die Preußen waren anfangs aus
Neugier und Haß gemischt. Wir liefen überallhin, wo
sie zu sehen waren und flüsterten einander dann unsere
kindischen Urteile zu. Wir fanden es ,,feige^*, daß die
Sieger keine Waffen in den Häusern duldeten ; zu mei-
nem großen Schmerze mußte ich den wuchtigen Natio-
nalgardistensäbel des Vaters (den aus dem Jahre 1848) auf
dem Rathause abliefern. Dann lasen wir einander das
Plakat^vor, in welchem vorgeschrieben war, wieviel an
Nahrungsmitteln jeder Mann der Einquartierung zu for-
dern hatte. Das Schlagwort ,,Hungerpreuß** war auch
zu uns gedrungen. Wir nahmen uns vor, die Preußen zu
verachten um ihrer Feigheit und um ihrer Gefräßigkeit
willen.
Aber noch waren nicht viele Tage vergangen und'wir
Prager waren, ich habe kein anderes Wort, in die
Preußen verliebt. Wie diese bärtigen Landwehrleute in
gestickten Pantoffeln vor den Haustüren saßen und mit
den Kindern ihrer Wirtsleute spielten, das wurde uns
ein unerwartetes und freundliches Erlebnis. Eine Un-
gebühr kam nicht vor. Von überall hörte man, daß die
einfachen Soldaten nicht einmal streng einforderten,
was ihnen nach dem Befehl zukam ; sie aßen und tran-
ken mit ihren Wirten, was die Kelle gab; dem einen
ging es besser, dem andern schlechter, aber alle schie-
nen zufrieden. Wenn ich meiner Erinnerung trauen
darf, so waren die Tschechen in die preußischen Land-
wehrleute fast ebenso verliebt wie wir. Vielleicht kam
bei den Tschechen dazu, daß sie bei dem großen Kriegs-
brande ihre politische Suppe zu kochen hofften : öster-
78
reich hätte in Deutschland nichts mehr zu suchen, also
könnte es zwischen Magyaren und Slawen aufgeteilt
werden. Sicherlich kam ferner dazu, daß der Krieg so
rasch sein Ende erreichte; Freund und Feind waren
froh, einander wieder menschlich begegnen zu können.
Blutdurst ist ja doch nicht der Normalzustand der Men-
schen. So viel kann ich bezeugen: von Revanchege-
lüsten war vier^Wochen nach der Schlacht von König-
grätz im Volke nicht mehr die Rede.
Wir deutschen Gymnasiasten hatten viel zu sehen
und zu hören, als die Preußen nach Beginn der Frie-
densverhandlungen sich's in Prag bequem einrichteten
und wie zu Hause exerzierten. Da gab es etwas, was
uns, mich und meinen kleinen Kreis, jedesmal elektri-
sierte. Trommeln und Pfeifen war der kriegerische
Klang, der uns bisher unvorstellbar aus der deutschen
Dichtung entgegengetönt hatte. In der Schule freilich
hatten wir von der deutschen Dichtung so gut wie nichts
erfahren; wußten auch nicht, daß die deutsche Dich-
tung noch vor wenigen Jahrzehnten das einzige eini-
gende Band Deutschlands gewesen war ; wußten nicht,
was die Regierung gar wohl fühlte, daß die Begeisterung
für die großen deutschen Dichter und auch die Liebe zu
Heine und Uhland uns zu Deutschen gemacht hatte.
Wie der Kerl bei Moliere Prosa sprach, ohne es zu
wissen, so waren wir Deutsche, ohne es zu wissen. In
der Schule war uns größtenteils glatter Mist oder pe-
dantisches Zeug empfohlen worden; wir aber hatten
den Teil gelesen, den Götz und den Egmont. Trommeln
und Pfeifen gehörten für uns zu den Freiheitskämpfen
der Niederlande wie zu den Schlachten Friedrichs des
Großen. Wie mag diese Musik geklungen haben? Jetzt
erfuhren wir's. Für meinen kleinen Kreis wurde der
79
Klang von Trommeln und Pfeifen der preußischen In-
fanterie zum Symbole eines neuen deutschen National-
gefühles. Es war verrückt, aber es war so. Besonders
der Dessauer Marsch machte uns wirblig, ich weiß nicht
mehr warum. Er erklärte uns auf einmal die Weltge-
schichte. Es ist mir heute noch nicht zum Lachen,
wenn ich daran denke, wie wir einmal — drei oder vier
Freunde — hinter einem Bataillon herzogen, immer in
der Hoffnung, von den Pfeifen den Dessauer Marsch zu
vernehmen und die Trommeln dazu. Und als endlich
jenseits von Libussas Burg die himmlische Melodie
wirklich einsetzte, da heulten wir vor Wonne ; das heißt,
wir gestanden uns unsere Tränen nicht zu und schli-
chen uns in den Schloßgarten von Nusle und fühlten
uns deutsche Helden, Schill oder Andreas Hofer oder
Hermann den Cherusker, und tranken zum ersten Male
in einem öffentlichen Lokal Bier, aus großen Krügen.
In solcher Stimmung mochte Karl Moor seine Räuber-
bande gebildet haben. Wir wußten, wie tapfer wir wa-
ren; auch war ja Krieg und keiner unserer Lehrer
konnte uns sehen. Und wenn auch . . . Solange die
Pfeifer den Dessauer Marsch bliesen, solange waren wir
sicher, aus Deutschland eine Republik machen zu kön-
nen, gegen die Sparta und Rom Nonnenklöster gewesen
waren. Einer von uns hatte den verwegenen Gedanken,
der Kellnerin die Hand küssen zu wollen; es geschah
nicht ; aber schon der Gedanke war kühn und herrlich
gewesen und mochte irgendwie mit dem Dessauer
Marsch zusammenhängen.
So wurden wir durch die Erlebnisse des Jahres 1866
aus unserm nationalitätslosen österreichertum und aus
unserm kosmopolitischen Liberalismus aufgerüttelt;
und wenn man uns bald darauf auf unsere politische
80
Gesinnung geprüft hätte, so wäre ungefähr herausge-
kommen : Deutschlands Einheit und Freiheit, aber ohne
Preußen. Oder : der König von Preußen sollte die Sache
machen und dann großmütig zurücktreten. Wir sahen
zur Zeit des Friedensschlusses Bismarck und den König
Wilhelm ; sie gefielen uns so gut, daß wir ihnen eine so
edle Gesinnung zutrauten.
Die Gestalt des Königs Wilhelm ruft eine kleine Ge-
schichte in mein Gedächtnis zurück, die ich hier ein-
schalten möchte. Der Vater meiner Mutter, der ein sel-
tenes Alter erreichen sollte und damals schon nahe an
hundert Jahre alt war, flüchtete aus Horzitz, als das
Städtchen unmittelbar vor der Schlacht bei Königgrätz
von preußischen Heeresmassen überflutet worden war;
in seinem eigenen Hause war eine Ambulanz eingerich-
tet worden und solche Dinge liebte er nicht. Er gelangte
fast ohne Abenteuer nach Prag und zu uns. Ich war ihm
als Schlafgenosse zugeteilt und er erzählte mir viel aus
seinen zivilistischen Kriegserinnerungen, wobei es dem
alten Herrn, der beim Plaudern oft für einige Minuten
einnickte, einmal passierte, daß er den Einmarsch der
Preußen in Horzitz schilderte und dann plötzlich —
nach einem kurzen Einnicken oder „Knappen** (wie
er*s nannte) — von einer Truppenrevue Napoleons bei
Dresden oder bei Leipzig weitersprach. Als nun König
Wilhelm und Bismarck in Prag angekommen waren,
wollte mein Großvater die beiden Männer sehen. Ich
begleitete ihn vor den Gasthof zum Blauen Stern, wir
faßten Posto neben dem alten Pulverturm und da harrte
der steinalte Mann an die zwei Stunden aus. Endlich
kam ein Wagen aus dem Gasthof heraus, König Wil-
helm und Bismarck fuhren an uns vorüber. Mein Groß-
vater, für den es nicht leicht einen alten Mann gab, ver-
6 8i
setzte mir einen Puff zwischen die Rippen, wies auf
den König und sagte mit Überzeugung: ,,Ein präch-
tiger junger Mann!*' Der König stand in seinem sieb-
zigsten Jahre. Etwa zwanzig Jahre später ließ sich Kai-
ser Wilhelm in Ems die kleine Geschichte von einem
Herrn seiner Umgebung, der sie von mir erfahren hatte,
erzählen und freute sich des impulsiven „Kompli-
ments** ; freute sich noch mehr, zu hören, daß ein
Mann in voller Rüstigkeit über hundert Jahre alt wer-
den konnte.
Am nächsten Morgen, als ich mir mein Glas Krän-
chenbrunnen holte, trat der General- Adjutant an mich
heran. Die erste Frage des Kaisers wäre gewesen : wie alt
dieser Mann geworden sei. — Ich mußte antworten, wir
wüßten das selbst nicht bestimmt ; nach einer beschei-
denen Rechnung 104 Jahre, nach einer anderen, die
übrigens meine Mutter als die richtige annahm, iii
Jahre. — Und ob es wahr wäre, daß dieser Mann noch
eine halbe Stunde vor seinem Tode Karten gespielt
hätte. — Das konnte ich bestätigen. — ,,Ich werde also
sagen, daß er iii Jahre alt geworden ist und noch eine
halbe Stunde vor seinem Tode einen Grand mit Vieren
gemacht hat. Das freut Majestät.**
Zur Zeit der Prager Friedensverhandlungen hatte ich
endlich doch eine bessere Gelegenheit, diese merkwür-
digen Preußen kennenzulernen, als im Theater oder
auf der Straße. Ich durfte den Erzählungen der Ver-
wundeten zuhören. Mein Schwager, vielmehr damals
nur erst der Verlobte meiner Schwester, hatte die Lei-
tung eines kleinen Privathospitals übernommen, das
ein wohlhabender Fabrikant — wie viele seinesgleichen
— für etwa ein Dutzend Verwundeter eingerichtet
hatte. Selbstverständlich wurden Preußen und öster-
82
reicher aufgenommen, wie es sich eben traf. Das Hospi-
tal befand sich hart an der Stadtmauer, nicht weit von
dem^sagenberühmten Wyschehrad. Mein Schwager, der
seinen^ärztlichen Beruf mit Hingebung und einer be-
sonderen Begabung ausübte, nahm mich mehr als ein-
mal zu den Verwundeten mit. Es war kein schwerer
Fall darunter. Ich durfte einige kleine Handreichungen
leisten und sogar für einen jungen Unteroffizier, dem
eine preußische Kugel just mitten durch einen Finger
der rechten Hand hindurchgegangen war, Briefe schrei-
ben. In diesem Hospitale ging es sehr gemütlich zu;
niemand schien daran zu denken, daß man noch vor
wenigen Tagen aufeinander scharf geschossen hatte.
Höchstens daß ein Österreicher, ein wilder Schlesier,
unaufhörlich auf die Regierung schimpfte, die von den
preußischen Hinterladern gewußt haben mußte und
dennoch ihre Leute mit den veralteten Vorderladern
dem Feinde entgegengestellt hätte. Dem Manne war
eine Kugel durch den Hals gegangen, hart an der Schlag-
ader vorüber. Ein Preuße neckte ihn damit, die größere
österreichische Kugel hätte ihn gewiß umgebracht;
dann läge man nicht so freundlich nebeneinander. Der-
selbe Preuße hatte während der wenigen Tage des Feld-
zugs slawische Sprachstudien gemacht ; er wußte nicht
nur wie alle Preußen „heska holka*' (hübsches Mäd-
chen) und ,,dej mne hubicku*' (gib mir einen Kuß)
nachzusprechen; er erzählte auch, daß in jedem Dorfe
ein Hostineck wäre, ein Wirtshaus. Ich belehrte ihn,
das Wort hostinec würde Hostinetz ausgesprochen. Da
kam ich aber gut an. „Hostineck heißt es. Das hat mir
mein Leutnant selber gesagt. Und mein Leutnant wird
das doch besser wissen, als so ein Prager Grünschnabel."
Und ich konnte mich nicht einmal ärgern. Es tat so
6» 83
wohl, diese Menschen mit Achtung von ihren Vorge-
setzten sprechen zu hören. Da steckte irgendein Unter-
schied dahinter, ein Unterschied zwischen dem öster-
reichischen Raunzen und dieser freien Freude am
Staate. Ich habe erst sehr viel später einige Vorzüge
der österreichischen raunzenden Schlamperei und einige
Nachteile der preußischen schneidigen Staatsfreudigkeit
gegeneinander abwägen gelernt.
84
Illlllllllllllll
IX. Das Kleinseitner Gymnasium.
So hatte mir der Krieg zugleich zum Besuche des
Kleinseitner Gymnasiums und zu dem Gewinne na-
tionaldeutscher Stimmungen verholfen. Ich trat mit
sehr guten und mit sehr ernsten Absichten in das Gym*
nasium ein, wo deutscher Geist herrschen sollte. Der
Ordinarius der sechsten Klasse, der bis zur Maturitäts-
prüfung mein Ordinarius blieb, war sogar einer aus dem
Reich, ein Rheinländer. ,,Ein Rheinländer**, dachte ich
andächtig und fühlte mich gehoben. Burgruinen, Lore*
lei. Rote Erde, Kölner Dom, überhaupt der Vater Rhein.
Geographisch war die Sache nicht ganz klar, aber ich,
der ich den Mann noch nicht kannte, war begeistert.
Der Ruf der Schule hatte nicht gelogen ; ich kam in
den Unterricht (leider wieder nicht unter die indivi-
duell erziehende Leitung) braver und tüchtiger Lehrer,
vor deren Wissen wir Achtung haben mußten. Von die-
sem dankbaren Lobe muß ich leider gerade den Ordi-
narius ausnehmen, den schwärmerisch begrüßten
Rheinländer. Wir hatten uns während des Sommers in
den preußischen Landwehrmann verliebt; jetzt em-
pörte der preußische Oberlehrer unsere besten öster-
reichischen Gefühle. Ich glaube, es wäre uns schwer
gefallen, uns auch unter einem vorzüglichen norddeut-
schen Oberlehrer an die preußische Zucht zu gewöhnen ;
unsere österreichische Schlamperei, dieses behagliche
85
und erquickliche Sichgehenlassen, hätte unter den stren-
gen Ansprüchen der deutschen Gelehrtenschule gelit-
ten ; aber wir wären froh gewesen, etwas Gründliches
zu lernen, und hätten uns für die Übertreibung der
Schuldisziplin durch irgendwelche Schülerstreiche schon
schadlos gehalten. Unser preußischer Ordinarius aber
war ein gewissenloser Lehrer, unglaublich arbeitsscheu
und eine boshafte Kröte dazu ; wir waren so unerfahren,
alle diese Eigenschaften auf den reichsdeutschen Ober-
lehrer zu übertragen, weil unser Ordinarius sich durch
sein immer gerühmtes Fachwissen — uns hat er fast
niemals etwas davon mitgeteilt — und durch einen An-
zug nach der neuesten Mode von den einheimischen
Lehrern unterschied.
Über die Charaktereigentümlichkeit dieses unwahr-
scheinlichen Lehrers möchte ich lieber kurz hinweg-
gehen. Er hat uns einzig und allein in Bosheit unter-
richtet ; er kannte kein größeres Vergnügen als seinen
unbeträchtlichen Witz auf Kosten einiger Sündenböcke
leuchten zu lassen. Diese Sündenböcke waren einige
Tschechen, meistens tüchtige Burschen, die auf dem
Kleinseitner Gymnasium deutsch lernen wollten und
vorläufig noch allerlei Sprachfehler begingen. Wegen
solcher Fehler zog der Ordinarius sie auf und quälte sie
bis aufs Blut. Gar manche Stunde verging von der
ersten bis zu der letzten Minute mit solcher Schrauberei,
wir andern hatten die Aufgabe, jeden Witz des Lehrers
mit schallender Heiterkeit zu begleiten. Wer junge
Leute kennt und weiß, wie schadenfroh sie sind und
wie gern sie sich um ernste Arbeit herumdrücken, der
wird es freundlich anerkennen, daß wir diesem Unfug
endlich in der siebenten Klasse (Unterprima) aus eige-
ner Kraft ein Ende machten. Es wurde ein Klassenbe-
86
Schluß gefaßt, über solche Witze des Ordinarius nicht
mehr zu lachen. Unbezahlbar war sein Gesicht, als er
am nächsten Tage einen der Unglücklichen wieder zu
schrauben anfing und kein Gelächter ihn belohnte ; er
versuchte es mit stärkern und stärkern Spaßen; aber
wir blieben ernst und da verstand er endlich. Er machte
keine Witze mehr, er begann die ganze Klasse zu quä-
len und sich an den Rädelsführern zu rächen, die zu er-
raten nicht schwer war. Schließlich scheute er auch
diese Arbeit, kehrte zu seinen Gewohnheiten zurück
und machte nur immer ein betrübtes Gesicht, wenn
nicht gelacht wurde. Übrigens wurde die Schülerehre
in meiner Klasse streng aufrechterhalten. Petzen wurde
nicht geduldet. Ich weiß nicht, ob es auch in andern
Schulen üblich ist, die Petzer so zu bestrafen, wie wir
es einmal taten. Der Schuldige wurde an dem Henkel
seines Überrocks an einen Kleiderriegel gehenkt und in
dieser Lage ermahnt, ein anständiges, männliches Be-
tragen zu versprechen.
Alle unsere andern Lehrer waren Österreicher und
unterschieden sich in vielen Dingen von dem Preußen,
den der Haß der guten Katholiken unter uns überdies
für einen Protestanten ausgab. Mit Unrecht; die bos-
hafte Kröte war katholisch.
Besonders auffallend war der Gegensatz zwischen
diesem Preußen und unserem Geschichtsprofessor, un-
serem lieben Ulrich, einem behäbigen dicklichen Herrn,
dem man es wohl ansah, daß er sein abendliches Schöpp-
chen liebte. Er trat jedesmal mit einem gemütlichen
Worte in die Klasse, lehnte jede Feierlichkeit und Pe-
danterie ab und behandelte uns mit einer Ironie, hinter
welcher sich Herzensgüte verbarg. Er erkundigte sich
nicht ohne Neugier nach dem oder jenem Arger, den
87
wir mit andern Lehrern gehabt hatten, tröstete uns und
ließ wohl eine ganze Viertelstunde mit Privatmittei-
lungen verstreichen. Bald hatte er Rheumatismus,
nannte uns die Mittel, die er dagegen anwandte und
erzählte bei dieser Gelegenheit allerlei aus der Chemie ;
bald erwähnte er irgendein Tagesereignis und erklärte
es uns auf seine Weise. Wir glaubten, er vertrödelte die
Zeit; in Wahrheit lernten wir so die Gedankengänge
eines erfahrenen und klugen Menschen kennen. In sei-
ner Kleidung war er von einer Nachlässigkeit, deren
sich an einem Berliner Gymnasium kein Schüler, ge-
schweige denn ein Lehrer schuldig machen würde.
Ganz unmöglich waren seine Westen. Sooft er die alte
rotkarierte anhatte, entschuldigte er sich mit seinem
guten Schmunzeln: ,,Ich trag' sie seit zwanzig Jahren;
vielleicht wird sie wieder einmal modern. Das ist auch
Geschichte.'* Das Schulbuch mußten wir einfach seiten-
weise auswendig lernen. Er gab sich nicht damit ab,
den Stoff mit andern Worten vorzutragen; das wäre
Zeitvergeudung. Auch auf Prüfungen ließ er sich nicht
ein ; nur dann und wann stellte er durch kurze Fragen
fest, ob wir die Jahreszahlen aus unserm „Gindely"
ordentlich gebüffelt hätten. An diese kurzen Fragen
knüpfte er dann an, um uns, immer interessant, irgend
etwas zu erzählen, was mit dem historischen Ereignisse
in Verbindung gebracht werden konnte. Wagte er auch
Abstecher auf das Gebiet der Nationalökonomie und
auf die Geschichte der Prager Baukunst, brachte ihn
einmal sogar Gustav Adolf darauf, die Geschichte der
Einführung des Tabaks zu erzählen und uns vor über-
mäßigem Tabakschnupfen zu warnen, so hatten wir
doch alle das Gefühl, dem freundlichen Manne dankbar
sein zu müssen. Aus Dankbarkeit und Liebe lernten wir
88
den „Gindely** ganz ordentlich; denn wenn wir nichts
wußten, drohte er immer, nichts mehr zu erzählen.
Auch die andern Lehrer waren trotz individueller
Wunderlichkeiten ganz kenntnisreich in ihrem Fache,
wenn auch fast keiner ein Spezialist war, wie das jetzt von
einem deutschen Oberlehrer verlangt wird. Der Lehrer
des Griechischen, der feine Jahn, war ernstlich nerven-
krank ; wir behandelten ihn rücksichtsvoll ; er war aber
auch ein feiner Geist und wir hätten bei ihm Homer und
Sophokles lieben lernen können, wenn die Lektüre
nicht ohne Gnade auf die unabwendbare Wiederholung
der grammatischen Regeln herausgelaufen wäre. Die
Schuld lag aber nicht am Lehrer, sondern an den Be-
stimmungen des Schulregulativs: Grammatik sollten
wir lernen, nicht den Glanz der antiken Welt begreifen.
Für die Naturgeschichte hatten wir einen heimlichen
Darwinisten zum Lehrer, der uns mit großer Kühn-
heit all den Gedächtniskram schenkte, welcher vom
Lehrplan verlangt wurde. Philosophische Propädeutik
wurde von einemKreuzherrnordenspriester vorgetragen ;
der Mann war nicht ohne Scharfsinn und führte uns
ganz geschickt in die Spielregeln der alten Logik ein.
Unser Mathematiker Nacke gar war ein genialischer
Herr und soll ein hervorragender Fachmann gewesen
sein. Er liebte es aber, jede zweite oder dritte Stunde
mit einer Philippika auszufüllen, die gegen die Miß-
stände der Zeit, gegen die Fehler der österreichischen
Politik oder gegen die Schülergemeinheit gerichtet war.
Er war ein leidenschaftlicher Redner. Wir waren wirk-
lich so gemein, ihn zu solchen Standreden zu verleiten,
wenn wir kein neues Pensum aufbekommen wollten.
Es gab ein unfehlbares Mittel,|ihn die Schleusen seiner
Beredsamkeit aufziehen zu lassen; wir waren nur zu
89
schüchtern, von diesem lustigen Mittel oft Gebrauch zu
machen. Der Mathematiker war nämlich derjenige Leh-
rer, der — auch wenn er die erste Stunde der> Tages
hatte — den Unterricht ohne Gebet begann ; wir wuß-
ten, er war ein Freigeist. Wollten wir also keine Mathe-
matikstunde haben, so brauchte sich bloß einer der
Schüler zu erheben und im Auftrage der Klasse für
irgendeine Versäumnis um Entschuldigung zu bitten:
wir hätten zuviel aus ,, Religion'* aufbekommen. Dann
ging es gleich los. Und ich hätte dem wilden Kritiker
nicht gewünscht, daß er denunziert worden wäre; er
liebte mitunter starke Ausdrücke. Sonst hätten wir viel
bei ihm lernen können, wenn ... ja wenn in der ganzen
Klasse mehr als zwei Schüler gewesen wären, die ma-
thematische Begabung besaßen; aber nach dem Lehr-
plan hatten wir Trigonometrie und analytische Geome-
trie, Logarithmen und Gleichungen zu erlernen, das
Pensum mußte den unbegabtesten Schülern eingepaukt
werden, und so wurde die Mathematikstunde auch bei
diesem Lehrer und auch für die^beiden mathematischen
Talente langweilig.
Das Gegenstück zu diesem Manne war der Physik-
lehrer ; ohne ein komisches Original wären Schulerin-
nerungen ja unvollständig. Es war ein alter ausrangier-
ter Herr, der vielleicht das bißchen Physik der vormärz-
lichen Zeit ganz gut vorgetragen hatte und jedenfalls
hübsch experimentierte. Nun hatte aber ein neuer Lehr-
plan vorgeschrieben, Physik müßte mit mathemati-
schen Begründungen wissenschaftlich gemacht werden.
Unser armer Lehrer hatte keinen mathematischen Sinn.
So lernte er denn die langen Berechnungen wie Verse
einer unverstandenen Sprache auswendig und schrieb
sie keuchend und schwitzend auf die Tafel, den großen
90
nassen Schwamm immer in der linken Hand; fing er
eine neue Zeile an, so wischte er die obere Zeile immer
schnell fort, damit der Unsinn nicht nachweisbar wäre,
den er zustande gebracht hatte. Es herrschte ein freund-
liches Verhältnis zwischen diesem Lehrer und uns : er
gab nur gute Zensuren und wir lachten ihn nicht aus.
Daß wir einmal vor der Mittagspause Schwefelwasser-
stoffgas unter seinem Katheder entwickelten und das
mit seinen eigenen Chemikalien — mea culpa, mea
maxima culpa, das wird man uns verzeihen. Es war
ein wundervoller Frühlingstag und wir wollten einen
Bierausflug machen. Der Streich gelang vortrefflich.
Das Klassenzimmer war um zwei Uhr nicht zu benüt-
zen, die Quelle des furchtbaren Geruches wurde nicht
entdeckt und wir wurden entlassen. Noch am folgenden
Morgen stank es entsetzlich.
Auch der Lehrer der tschechischen Sprache war nicht
ohne Narretei; doch auch mit ihm hatten wir Mitleid
und behandelten ihn mit Schülerwohlwollen.
Nun wußten wir ganz genau, daß unser Ordinarius,
bei dem wir hätten Latein und Deutsch lernen sollen,
für unser Fortkommen auf der Schule wichtiger war
als alle anderen Lehrer zusammen. Von ihm hing es
ab, welche ,, Klassen** wir aus den beiden wichtigsten
Schulgegenständen erhielten, von ihm hing es ab, ob
wir ein Vorzugszeugnis bekamen oder nicht. Und dieser
Ordinarius war, wie ich ihn geschildert habe. Es war
kindisch von uns, daß wir auch an seiner modischen
Kleidung Anstoß nahmen und an dem Taschenkämm-
chen, mit dem er immer wieder seinen Scheitel ordnete.
Aber wir waren in unserm Rechte, wenn wir Bosheit
mit Haß erwiderten. Der Mann war aus Anlaß der letzten
österreichischen Gymnasialreform (durch Bonitz, der
91
1849 nach Wien berufen worden war) aus dem Reiche
geholt worden, fühlte sich dem österreichertum un-
endlich überlegen und ließ uns seine Verachtung fühlen,
anstatt uns zu unterrichten. Vielleicht besaß er wirk-
lich einiges Fachwissen; er hatte einmal sogar einen
Horaz herausgegeben, keine Schulausgabe, eine wirk-
liche Edition. Das rieb er uns unter die Nase, wenn er
einmal davon ausruhte, ein paar Unglückliche zu quä-
len. So saß er täglich zwei Stunden vor uns, seufzte
über sein Schicksal wie eine unverstandene Frau und
klagte über unsere mangelhafte Vorbildung. Höchstens
mit fünfen oder sechsen von uns werde er den Horaz
lesen können ; diese Selekta werde er in den Vorhof der
wahren Philologie einführen. Aber es blieb bei solchen
Versprechungen, er leistete nichts. Auch am Horaz
wurden nur grammatische Regeln wiedergekäut, viel-
leicht wirklich darum, weil die Mehrheit der Schüler
zu wenig Latein gelernt hatte. Und ab und zu trug er
uns, eitel und selbstbewußt, eine seiner Konjekturen
vor ; Schüler, die nicht zehn lateinische Zeilen ohne An-
stoß lesen konnten, die von lateinischer Prosodie keine
Ahnung hatten, bekamen wie zum Naschen vorzeitig
einige Spielereien der höhern Kritik. Wir ließen uns da-
mals einreden, so wäre jeder preußische Oberlehrer : ein
mißlungener Privatdozent und darum zum Gymnasial-
lehrer verdorben; ich habe später dem preußischen
Oberlehrer Abbitte geleistet : unser Ordinarius war ein
Jugendverderber auf eigene Faust.
Ich werde noch darauf zurückkommen, in welcher
Weise ich, der ich mich schon zu fünfzehn Jahren der
deutschen Literatur zugeschworen hatte, der ich ein
deutscher Dichter sein wollte, im Gebrauche der deut-
schen Sprache ausgebildet worden bin. Auf dem Klein-
92
seitner Gymnasium war auch dieser Unterricht in den
Händen des Ordinarius. Er beschränkte seine Tätigkeit
darauf, sich über unsere Prager Idiotismen lustig zu
machen, was ganz nützlich gewesen wäre ; nur daß er
so unwissend war, auch gute Formen der österreichi-
schen Mundart zu bekämpfen. Ich erinnere mich nicht,
sonst von ihm gefördert worden zu sein. Seine Faulheit
war so groß wie seine Gewissenlosigkeit. Er ließ in der
Stunde deutsche Gedichte vorlesen und erklären und
machte seine schlechten Witze über die Vorlesung und
über die Erklärung der Schüler. Literaturgeschichte
stand auf dem Programm ; aber niemals haben wir von
ihm ein Wort über das Leben oder über den Charakter
eines Dichters vernommen. Unser trefflicher Schulrat
soll einmal mit einem Donnerwetter drein gefahren sein,
als er bei einem Besuche unserer Klasse festgestellt
hatte, daß unser Lehrer selbst Schelling und Schlegel
verwechselte und daß uns der Name Walter von der
Vogelweide nicht genannt worden war ; der Ordinarius
spöttelte in der nächsten Stunde über den lyrischen Te-
nor des Landestheaters, der auch als Walter im Tann-
häuser eine Brille trug ; sonst wurde an der göttsträf-
lichen Unterrichtsweise nichts geändert. Unsere deut-
schen Aufsätze arbeiteten wir so, wie sie an allen Gym-
nasien gearbeitet werden ; ein blödsinniges Thema wird
gegeben und über dieses Thema wird nach einem blöd-
sinnigen Rezepte allerlei Schulschwatz zusammenge-
redet, heute wie in den alten Rhetorenschulen. De-
Schulschwatz wird in ein System gebracht. Aber andersr
wo wird so ein deutscher Aufsatz wenigstens korrigiert
und der Schüler könnte, wenn der Lehrer danach wäre,
die gröbsten Stilfehler bessern. Wir haben von unserm
Ordinarius niemals auch nur einen einzigen Aufsatz
93
korrigiert zurückerhalten ; es ist mir doch unverständ-
lich, wie eine solche Nachlässigkeit von der Aufsichts-
behörde geduldet werden konnte. Der Lehrer brachte
irgend einmal den ganzen Stoß verschmierten Papiers
in die Klasse zurück, ohne vorher auch nur einen Blick
hineingeworfen zu haben ; dann griff er in den Wust,
holte irgendeine Arbeit heraus, las einige Zeilen und riß
schale Witze, die weder mit dem Inhalt noch mit der
Form des Aufsatzes irgend etwas zu tun hatten.
Ich weiß, daß ein besserer Kritiker als dieser Lehrer
auch den Stil dieser Niederschrift tadeln könnte ; einen
Schrei der Empörung wollte ich ausstoßen, eine An-
klageschrift verfassen, und habe mich doch immer wie-
der verleiten lassen, mit einiger Heiterkeit der dummen
Schülerzeit zu gedenken. Aber ich hätte lügen müssen,
hätte ich völlig die Erinnerung unterdrücken wollen an
manche gute Stimmung der Schulzeit, welche ja eben
immer die schöne Jugendzeit ist. Was immer an Schön-
heit aus jener Periode der mir gestohlenen Zeit herüber-
strahlt, was mir das Durchdenken jener alten Erinne-
rungen oft zu einer Freude macht, was mich mit wehmü-
tiger Dankbarkeit an einige Kommilitonen jener Tage
zurückdenken läßt, besonders an einen, meinen lieben
alten Freund Viktor Lenk, das war nicht die Schule, das
war die Jugendzeit. Man war achtzehn Jahre alt. Da
war die Welt noch schön, die Welt jenseits der Schule.
Und wenn ich versichern kann, daß auch damals das
Betreten der Schulklasse fast täglich eine Qual bedeu-
tete, so wird man mir zugestehen, daß etwas krank ge-
wesen sein muß in der Einrichtung des Schulwesens.
Der Kardinalfehler schien mir und scheint mir noch
heute eine tiefe Verlogenheit des Systems, eine offen-
bare Kluft zwischen dem Schulprogramm und der
94
Schulleistung. Die Kenntnisse der Lehrer wie der Schü-
ler am Kleinseitner Gymnasium waren bedeutender als
am Klostergymnasium. Aber der wesentliche Fehler
blieb sich gleich. Im Schulprogramm — wie heute
noch in den Reden, die an Philologentagen beim Essen
und im Landtage von Ministern und von humani-
stisch gebildeten Abgeordneten gehalten werden, — hieß
es immer, man werde durch das Studium des Lateini-
schen und des Griechischen in den Geist der antiken
Welt eingeführt. Und auch moderne Bildung sei ohne
diesen Geist nicht zu erwerben. Beides ist eine Lüge.
Der antike Geist ist freilich, historisch betrachtet, die
Grundlage der gegenwärtigen Bildung im Abendlande
geworden ; doch es ist töricht und gefährlich zugleich,
von andern als von Historikern zu verlangen, daß sie die
Geschichte ihres eigenen geistigen Wachstums studieren.
Das Ende der Renaissance ist gekommen ; wir können
auf eigenen Füßen stehen und müssen die lateinische
und die griechische Krücke, meinetwegen mit dank-
barer Pietät, beiseitelegen und sie den Philologen für ihre
Künste überlassen. Unsere jungen Leute können mo-
derne Bildung, die von der Zeit geforderte Bildung, nicht
freudig in sich aufnehmen, solange ihnen die lateinische
und die griechische Sprache aufgezwungen werden. Die
künstliche Aufrechterhaltung der alten Lateinschule
macht uns zu seltsamen Geschöpfen ; als ob eine Schlan-
ge alle Häute, die sie abgestreift hat, mit sich weiter
schleppen müßte; als ob jedermann die Leichen seiner
Ahnen auf seinem Rücken durchs Leben tragen müßte.
Aber auch das Versprechen war und ist eine Lüge,
man würde auf der Gelehrtenschule den Glanz der an-
tiken Welt erblicken. Ist ja nicht wahr. In den antiken
Geist dringen vielleicht die besten Philologen ein wenig
während ihrer Universitäts jähre. Von uns Schülern —
wir waren jetzt ungefähr vierzig in der Klasse — wur-
den nur drei oder vier so weit gefördert, daß sie mit
knapper Not einen alten Klassiker silbengetreu über-
setzen konnten ; auch schablonenhafte Begeisterung für
Homer und für Sophokles fehlte bei diesen Auserwähl-
ten nicht ; aber von einem Verständnis für die besondere
Art, für die Unvergleichlichkeit und Unnachahmlichkeit,
also auch für die Fremdheit antiken Geistes fehlte es
durchaus. Und gar die anderen Schüler, neun Zehntel
der Klasse, gingen mit gutem Erfolge durch das Abitu-
rientenexamen und hatten doch in den alten Sprachen
nie etwas anderes gesehen als Zuchtruten. Sie hatten
von den alten Sprachen weder ein Vergnügen noch einen
Nutzen und lernten ein paar Brocken nur, um sie gleich
nach dem Examen wieder zu vergessen. Die Zeit ist
hoffentlich nicht mehr fern, daß man über den lateini-
schen Moloch, dem heute die besten Jugendjahre ge-
opfert werden, so grimmig lachen wird, wie man seit
einiger Zeit über die Geltung des Hexenhammers lacht,
daß man allgemein anerkennen wird : die Renaissance
hat ausgelebt, das Griechentum ist zum zweiten Male
gestorben^).
I) Vgl. Anhang 11.
96
X. Allotria.
Ich werde mir auf dem Kleinseitner Gymnasium wohl
anfangs einige Mühe gegeben haben, den Vorsprung
einzuholen, den die Schüler der besseren Anstalt vor
uns Piaristenzöglingen voraus hatten; denn ich blieb
auch drüben immer einer der sogenannten Vorzugs-
schüler, wenn ich auch niemals Primus geworden bin.
Ich gedenke auch mit herzlicher Dankbarkeit einiger
meiner Lehrer. Aber auch von der guten weltlichen
Schule hatte ich keinen rechten Vorteil mehr ; das Ver-
brechen (jawohl, ich wiederhole das zornige Wort), das
an mir durch den Raub dreier Jahre verübt worden war,
trug die Hauptschuld. Gewiß, ich war nach meiner in-
dividuellen Anlage zu altklug für die Schule; doch
auch als Musterschüler wäre ich zu alt gewesen für
den langsamen Betrieb des Unterrichts. In den bar zu
zahlenden Examenkenntnissen stand ich sicherlich weit
hinter dem Primus zurück ; aber die Polyhistorie, die
ich mir durch mein wahlloses Lesen verschafft hatte,
hatte mich der Schule früh entwachsen lassen. Wenn
Sehnsucht nach strenger Wissenschaft, wenn Sehnsucht
nach Welterkenntnis reif macht für die Universität, so
gehörte ich zu siebzehn Jahren nicht mehr auf das
Gymnasium.
Schon auf dem Piaristengymnasium widmete ich ja
meine müßige Zeit nicht nur dem Lesen von Romanen
7 97
und andern Räubergeschichten. Ich war seit jeher von
einer wunderlichen Leidenschaft besessen, heimlich zu
lernen, wovon ich erfuhr, daß andere es gelernt hatten.
Man wird nach dieser Erklärung besser begreifen, war-
um ich immer wieder darüber klage, daß ich bei allem
Unterricht niemals eine Anleitung gehabt habe. Meine
Leidenschaft, die entlegensten Dinge zu lernen, wurde
verspottet, und so schämte ich mich bald meiner Wiß-
begierde. Ich stellte mir die tollsten Aufgaben. Dazu
rechne ich nicht, daß ich etwa von meinem zwölften
Jahre ab heimlich Französisch, Englisch und Italienisch
trieb. Auf unsern österreichischen Gymnasien wurden
die modernen Sprachen (wie gesagt) nicht obligatorisch
gelehrt; ich ging zwar einmal in die italienische und
viel später in eine französische Privatstunde, aber was ich
da gewann, hätte eine Katze bequem auf dem Schwänze
forttragen können. Wenn ich heute einige moderne
Sprachen geläufig lesen kann, so verdanke ich das mei-
ner heimlichen Leidenschaft. Ich ging ja allsonntäglich
nach dem Trödelmarkte der Judenstadt und da kaufte
ich mir eine englische und eine französische Grammatik ;
die italienische stibitzte ich einem meiner Brüder fort ;
mit Hilfe dieser Grammatiken und einiger Wörter-
bücher brachte ich es mit der Zeit so weit, daß ich
Shakespeare, den älteren Dumas und Manzoni recht
gut lesen konnte. Das waren freilich keine tollen Dinge.
Aber in meinem fünfzehnten Jahre hatte ich auch
Sanskrit und die Hieroglyphen zu studieren ange-
fangen. Ich verschaffte mir ein gelehrtes Sanskrit-
werk und glaubte die letzten Welträtsel zu lösen, als
ich mit angestrengtem Fleiße die heiligen Buchstaben
nachmalte und die Paradigmen auswendig lernte. Ganz
wertlos war freilich auch diese Mühe nicht für mich, da
98
ich dreißig Jahre später doch an manches mir Geläufige
anknüpfen konnte, als ich — um Panini zu verstehen —
einjbißchen Sanskrit ernsthaft treiben mußte. Und kurz
vor meinem Abgange vom Piaristengymnasium lieh ich
mir aus der königlichen Bibliothek Uhlemanns Ägypto-
logie, um mich im Hieroglyphenschreiben zu üben und
Altägyptisch ,, sprechen** zu lernen. Das konnte ich
aber nicht ganz heimlich anfangen. Ein Buch aus der
königlichen Bibliothek bekam ich nur, wenn der Leih-
zettel vom Gymnasialdirektor unterschrieben war. Da
wäre es mir beinahe schlecht gegangen. Als der Direk-
tor in seiner ,, Zelle** den Zettel unterschreiben sollte,
mochte ihm der Titel des Buches aufgefallen sein. Er
buchstabierte: Ägyptologie. „Für wen willst du das
Buch haben?** Ich antwortete ehrlich, das Buch wäre
für mich selbst. Da zankte mich der Direktor so tüchtig
aus, als es seine Faulheit nur irgend zuließ; ich sollte
nicht lügen ; noch niemals hätte ein sechzehnjähriger
Bub so ein Buch verlangt; am Ende enthielte es gar
heidnische Unsittlichkeiten. Aus Faulheit gab er mir
doch seine Unterschrift.
Nicht nur dieser Botokude, auch andere Lehrer,
meine Mitschüler und nicht zuletzt meine Nächsten
fanden diese Beschäftigung mit schwer kontrollierbaren
Philologien komisch, sobald ich mich nicht genug hü-
tete und mein Geheimnis verriet. Vielleicht war ich
aber in meiner diebischen Heimlichkeit auch allzu emp-
findlich; vielleicht witterte ich Verkennung, wo nur
eine gutmütige Neckerei vorlag oder ein berechtigter
Spott, wie ich ihn jetzt selbst übe. Übrigens wäre zu
Spott noch mehr Veranlassung gewesen, wenn die Spöt-
ter nur gewußt hätten, mit wie übermäßigen Hoffnun-
gen ich an diese Studien heranging ; und wie führungs-
7* 99
los und oft hilflos ich auf diesen fremden Gebieten um-
herirrte. Ich versuchte sogar Chinesisch zu lernen ; da ge-
langte ich aber nicht einmal an die allerersten Anfänge
heran ; das Zeichnen der Schrift wurde mir zu schwer.
Für solche Allotria hatte ich auf dem Kleinseitner
Gymnasium keine Zeit mehr. Zwar die Stunden, die der
weitere Weg kostete — der wundervolle Weg an der
Teynkirche vorbei und am alten Rathaus, über den
kleinen Ring und die Jesuitengasse, über die herrliche
Nepomukbrücke und die untere Spornergasse — mach-
ten dem jungen Burschen nicht viel aus.
Aber die Zeit war gekommen ; es war Mode in un-
serer Klasse, oder wenigstens in einem kleinen Kreise
von Gleichgesinnten, sich zu verlieben und zu dichten.
Ich schwärmte besonders für die Musikschülerinnen,
die ich täglich auf meinem Schulwege traf ; zwei oder
drei von ihnen kannte ich persönlich, für die übrigen
schwärmte ich noch viel ausgiebiger. Das Schwärmen
war nicht zeitraubend, das Gedichtemachen desto mehr.
Bei mir fing es damals ernsthaft an. Bis dahin hatte
ich nur mit den tschechischen Kollegen um die Wette
gereimt, um ihnen Hochachtung für die deutsche Sprache
abzuzwingen. Auf den Einfall, dieses Ziel durch einen
Hinweis auf Goethe zu erreichen, kam ich nicht. Außer
diesen pädagogischen Sonetten hatte ich nur gelegentlich
Epigramme geschmiedet. Jetzt aber wurde nicht mehr
für die Kameraden gedichtet, sondern für die Unsterb-
lichkeit. Man drückte noch die Schulbank, hatte sie noch
für einige Jahre zu drücken, war aber der Mann, durch
Verse die Welt zu erobern und nebenbei durch den In-
halt der Verse die Welt auf den Kopf zu stellen f die
Könige und die Priester zu verjagen. Wir Dichter, Schau-
spieler und Weltverbesserer fanden uns aus verschie-
100
denen Klassen zusammen und gründeten einen heim-
lichen Verein.
Es war eine der ersten Enttäuschungen meines Le-
bens, die wahrscheinlich, die ich am schwersten trug,
da ich erfahren sollte, daß es diesen Dichtern und Welt-
verbesserern, ja selbst den Schauspielern, nicht so hei-
liger Ernst um unsere Sache war, wie — ich muß es so
sagen — wie mir. Zwei Dichter lasen einige kaum ab-
geänderte Gedichte von Bürger und sogar von Goethe
als ihre eigenen Erzeugnisse vor; ertappt, behauptete
einer, er habe unsere Belesenheit auf die Probe stellen
wollen. Ein Schauspieler hatte einmal die Stirn, eine
kleine Rolle, weil sie zu klein war, abzulehnen. Der
Weltverbesserer tastete unser Vereinsvermögen an oder
wurde doch dieser Tat verdächtigt; von 2 Gulden und
40 Kreuzern fehlte beinahe die Hälfte. Ich soll der Wil-
deste gewesen sein, wenn es galt, einen solchen ,, Ehr-
losen** aus dem Verein zu entfernen. Immer wieder
glaubte ich, jetzt wären wir Idealisten ganz unter uns ;
und immer wieder störten Realitäten*
Wir spielten Theater, tranken Bier und vergeudeten
furchtbar viel Zeit. Auch gaben wir eine Zeitung heraus,
die in der einzigen Handschrift, in welcher sie zu lesen
war, noch heute in meinem Besitze ist. Es muß zum
Schreien gewesen sein. Meine Darstellung des Mephisto
gab zu Kritiken und Antikritiken Anlaß. Wir spielten
für gewöhnlich nur solche Szenen, in welchen Männer
allein auftraten, aus Schiller und Körner. Nur einmal,
für das Stiftungsfest, wurde ein Akt der Jungfrau von
Orleans einstudiert. Die Jungfrau wurde heiß umwor-
ben. Aber unsere Grundsätze duldeten nichts Ungebühr-
liches; wenn doch etwas Ungebührliches passiert sein
sollte, so müßte es ge'gen unsere Grundsätze passiert sein.
lOI
Ich darf sagen, daß meine Grundsätze besonders ri-
goristisch waren und daß ich in diesem Vereine mit kin-
discher Altklugheit eine Weltfrage nach der andern zu
lösen suchte. Meine freien Vorträge stürmten den
Himmel und machten Eindruck, trotzdem ich ein elen-
der Sprecher war (und geblieben bin) ; meine Beiträge
für die Zeitschrift waren weise, phantastisch und dumm.
Meine Kritiken der Theaterspielerei waren unerbitt-
lich streng. Der den Liebhaber in Körners Zriny ge-
spielt hatte, forderte mich einmal für eine solche Kritik ;
aber er schwankte so lange zwischen Pistolen und krum-
men Säbeln (Zriny!), daß die Sache gütlich beigelegt
werden konnte.
Mein Interesse für den Verein nahm ein jähes Ende,
als ich die Entdeckung machte, daß die meisten von
uns ihre Beiträge für die Zeitschrift abgeschrieben hat-
ten; sie stahlen wie die Raben; merkwürdig nur, daß
sie immer so dummes Zeug stahlen. Ich verlangte ein
furchtbares Gericht über die Schuldigen; und als ich
meinen Willen gegen die Mehrheit nicht durchsetzen
konnte, legte ich meine zahlreichen Amter nieder und
trat aus.
Ich hatte es ehrlich gemeint. Jetzt war ich wieder
ganz einsam und dichtete im größten Stile drauf los.
Auch übersetzte ich aus allen möglichen Sprachen. Daß
ich Heines Lieder ins Altgriechische zu übersetzen ver-
sucht habe, ist schon berichtet worden; ich übersetzte
aber auch den angeblich Homerischen Froschmäusler
ins Deutsche und ganze Dramen von Sophokles. Ich
übersetzte aus den modernen Sprachen, sobald ich das
Original entziffern konnte. Ich übersetzte aus dem
Sanskrit. Nur aus dem Ägyptischen übersetzte ich nicht ;
mich hielt wahrscheinlich ein guter Instinkt zurück.
102
Doch ich dichtete auch selbständig ; meine Vorbilder
waren sicherlich, wenn ich aufmerksam zurückblicke,
Byron und Lenau. Am weitesten gedieh ein großes
phantastisches Epos ,, Merlin" ; ich benützte die Le-
gende, der berühmte Zauberer wäre der Sohn des Teu-
fels und einer Nonne gewesen, zu einer verwegenen
Komposition; Merlin war der Sohn der Nonne Maria
und des unheiligen Geistes ; Merlin war nach dem Wil-
len des Schicksals auf die Welt gekommen, um das
Christentum zu vernichten; seine Aufgabe scheitert
daran, daß Merlin Jesus Christus lieben muß, sobald er
ihn gesehen hat. Auch der Entwurf zu einem Drama
,,Ahasverus und Christus** stammt aus nicht viel späte-
rer Zeit; das Drama war viel kirchenfeindlicher als
das Epos ; Ahasverus liebt und versteht Jesus tiefer und
besser als die andern (ich werde wohl unbewußt von
Goethe und von Hebbel allerlei angenommen haben) ;
da er nach der Kreuzigung Zeuge wird, wie Petrus und
Paulus um das geistige Gewand des Heilands würfeln,
beschließt er aus eigener Kraft : so lange zu leben, bis
das Christentum vernichtet ist.
Ich habe durchgeblättert, was von diesen und andern
alten Plänen noch vorhanden ist ; noch vorhanden, weil
ich selten so ordnungsliebend war, wertlose Papiere ins
Feuer zu werfen. Wertlos, ja; starke Anläufe wechseln
mit platten Gemeinplätzen ab, kühne Gedanken mit
elenden Geistreichigkeiten ; und dichterische Gestal-
tungskraft fehlt vielleicht. Und dennoch : wenn ich einen
verständigen Lehrer gehabt hätte, wenn ich in meinem
achtzehnten Jahre einem Lehrer mich hätte anver-
trauen dürfen, ihm diese Entwürfe zeigen dürfen, der
Mann hätte sagen müssen : dieser Bursche gehört nicht
mehr auf die Schulbank.
103
lllllllllllilllllilillllllllllllllllllllllllilllllllllllllllllllliililllllllHIIH
XL Übergang.
Meine Sehnsucht nach dem Besuche der Universität
war so tief, meine Erwartungen waren so groß, daß ich
meine Geistesverfassung einem Leser aus der heutigen
nüchternen Welt kaum begreiflich machen kann. Auf
der Schule durfte ich ja im deutschen Aufsatze meinem
Herzen nicht Luft machen; denn über dem deutschen
Aufsatze lag der religiöse Zwang. Ich wurde schon ge-
tadelt, wenn ich pantheistische Anwandlungen verriet.
Ich aber war schon seit meinem fünfzehnten Jahre in
die Pubertätszeit eines kriegerischen Atheismus ein-
getreten. Der liebe Gott war mein persönlicher Feind
geworden. Dazu kam nach dem Kriege ein politischer
Radikalismus von bedenklicher Röte. Irgendwo hatte
ich den Satz aufgeschnappt, man müßte den letzten
König an den Gedärmen des letzten Pfaffen aufhängen ;
ich beneidete den unbekannten Präger dieses Spruches.
Ich wollte vom Fleck weg mit der Umwälzung anfan-
gen und fühlte doch, daß ich das erst als richtiger Stu-
dent tun konnte. Mit herzbrechendem Neide sah ich auf
die jungen Leute, die schon rote oder grüne Mützen
trugen und in dem alten Universitätsgebäude, welches
ich oft in der Dunkelheit umschlich, die Wahrheit ken-
nen lernten, die heilige und unentweihte Wissenschaft,
die man uns vorenthielt. Diese Studenten sah ich im
Geiste allabendlich nach der Kneipe laufen, um dort
104
nichts anderes zu tun, als Schwüre ablegen für Pfaffen-
ausrottung und Tyrannenkampf. Hie und da, wenn so
ein Student es nicht sehen konnte, nahm ich andächtig
die Mütze vor ihm ab. Und mit Erbitterung ahnte ich
es, daß ich die verlorenen Jahre niemals würde einholen
können, daß ich zu spät in den Tempel der Wahrheit
eintreten würde.
,,Zu spät. Es wird mir so gehen, wie es mir mit dem
ersehnten Kleinseitner Gymnasium ergangen ist. Ich
komme immer zu spät. Und darum fühle ich mich jetzt
auf der Schule so unglücklich, die ich mir doch erwählt
habe.'^
Die Schulkameraden und die meisten Lehrer trugen
keine Schuld an meiner unglücklichen Stimmung. Sie
waren eigentlich sehr lieb zu mir. Ich bildete mir sogar
ein, daß ich eine Art von Ausnahmestellung in der
Klasse hatte. Meine griechischen Heinelieder gingen
von Hand zu Hand, und nachdem das erste Mißtrauen
überwunden war — daß ich nämlich ebenso abschrieb
wie andere Schöngeister der höheren Klassen — , da be-
kam ich als Anerkennung einige wohlwollende Spitz-
namen. Meine Schülereitelkeit wurde auch sonst voll-
auf befriedigt; daher konnte meine Stimmung nicht
kommen. Etwas Weltschmerz der Entwicklungsjahre
war natürlich dabei. Aber das Schlimmste war doch die
ewige Sorge : ich würde zu spät auf die Universität kom-
men, wie ich immer zu spät gekommen war. Sicherlich
behandelte ich mich zu liebevoll und beschönigte meine
Unfähigkeit, mich allen Ansprüchen der Schule zu
fügen, mit dem alten Unrecht, das in der Klippschule
an mir verübt worden war. Aber die Empfindung und
die Sorge waren nicht unberechtigt. Immer klarer wurde
mir, daß ein ähnliches Verbrechen wie das, unter wel-
105
chem ich noch litt, an allen begabten Gymnasiasten
mehr oder weniger begangen wurde. Die Aufgabe der
Schule war für Durchschnittschüler berechnet und
wurde noch viel kleiner, damit auch solche mitkommen
konnten, die unter dem Durchschnitt waren. Und keine
Möglichkeit, auf Grund hervorragender Leistungen
auch nur ein Jahr zu überspringen.
Ich war sehr lang aufgeschossen, hatte schon ein
schwarzes Schnurrbärtchen und hatte immer noch nichts
für die Unsterblichkeit getan ; ich hatte nämlich meine
Maturitätsprüfung noch nicht abgelegt. Als das endlich
und doch ganz pünktlich im Sommer 1869 geschehen
war, ganz ehrenvoll übrigens, hatte ich das Gefühl eines
Mannes, der unschuldig im Kerker gesessen hat und zu
spät seine Freiheit wiederbekommt. Und nicht einmal
meine Freiheit erhielt ich ; denn ich durfte die Univer-
sität nur besuchen, um Jura zu studieren und Advokat
zu werden. Die Wahl eines freien Berufes galt für den
Sohn einer achtbaren Familie für unmöglich. Eine
Neigung haben? Warum nicht. Ihr folgen? Um in der
Gosse zu krepieren. Ich konnte mich als ein freier
Schriftsteller schon auf ganz hübsche Erfolge berufen,
als die stilleren oder lauteren Vorwürfe über meinen
ungehörigen Beruf noch nicht aufhörten. Selbst von
Seiten meiner lieben Mutter nicht, die doch sonst oft
sagte, die Bücher wären ihre einzigen Freunde und
Tröster.
Das Kriegs jähr hatte meinem Vater sein ganzes be-
scheidenes Vermögen gekostet ; der Bankerott von Ver-
wandten, denen er vertraut hatte, nahm ihm alles
außer der kaufmännischen Ehre. Meine älteren Brüder
waren auch schon ohne jede Unterstützung in die Welt
hinausgegangen, um sich selbst eine Stellung zu er-
106
kämpfen. Mein Vater erholte sich von dem Schlage
nicht wieder; er wurde krank. Nun war es ganz ge-
recht von ihm, daß er die Erlaubnis, ich dürfte stu-
dieren, wieder zurücknahm und mich dazu bringen
wollte, ebenfalls Kaufmann zu werden und sofort als
Kommis mein Brot zu verdienen. Mein passiver Wider-
stand hätte mir diesmal nicht viel geholfen. Aber meine
Mutter und meine Schwester Marie, die meine literari-
schen und wissenschaftlichen Fähigkeiten oder Nei-
gungen sehr hoch einschätzten, nahmen sich meiner
an ;'^^ der Familienbeschluß, daß ich weiter studieren
und Rechtsanwalt werden sollte, war also ein Kompro-
miß zwischen der Notlage meines Vaters und meinen
Wünschen. Ich hätte sehr dankbar sein müssen, wenn
auch der Beruf eines Rechtsanwalts mir just damals
noch weniger ideal erschien als der eines Kaufmanns
und ich „den Flügelschlag einer freien Seele** sehr laut
rauschen hörte. Aber ich war nicht dankbar und nicht
ehrlich ; ich dachte nicht einen Augenblick daran, Ad-
vokat zu werden. Doch die Hauptsache schien gewon-
nen; das freie akademische Studium für die nächsten
Jahre. Nur daß bei meiner Naturanlage der Betrug ge-
gen meinen Vater schwer auf mir lastete ; und daß ich
die Pflicht fühlte — wie später als Journalist so lange —
ein Doppelleben zu führen, doppelte Arbeit zu leisten :
Jura zu studieren und daneben mit ganzer Kraft Philo-
sophie und Kunstgeschichte und Medizin und leider
auch Theologie. Die juristischen Fächer mußte ich be-
legen, die Professoren mußte ich hören, wenn ich nicht
nach dem vierten Semester beim rechtshistorischen
Staatsexamen durchfallen wollte. So marterte mich der
mir aufgezwungene Beruf vom ersten Tage an und ich
geriet immer tiefer in einen ziemlich individuellen
107
Weltschmerz hinein. Als ich etwa drei Jahre später
Schopenhauer kennenlernte, überwältigte mich sein
Scharfsinn und seine Sprachkraft; aber sein Welt-
schmerz bot mir nichts Neues. Ich war als ein fast
zwölfjähriger Knabe auf das Gymnasium gekommen mit
den Zielen eines idealen Studenten; ich kam jetzt als
ein fast zwanzigjähriger Mensch auf die Universität als
ein Pessimist, als ein Zerrissener, als ein Nihilist.
Bevor ich aber meine Erinnerungen an die Prager
Universität — eine andere habe ich als Student nicht
kennengelernt — niederschreibe, möchte ich einige
ganz besondere Erfahrungen meiner Schulzeit im Zu-
sammenhange aufhellen; meine Stellung zur Religion
und zu der nationalen Frage stellte mich abseits von
dem, was ein christlicher Deutscher in seiner Schulzeit
zu erleben pflegt. Meine Darstellung wird dadurch nicht
typischer werden, aber persönlicher.
Vorher noch ein Wort darüber, warum ich auch die
Disziplin des Heeres nicht kennengelernt habe : warum
ich nicht Soldat wurde, auch nicht Einjähriger. Eine all-
gemeine Wehrpflicht wie in Preußen hatte es in Öster-
reich nicht gegeben ; bei der Rekrutierung entschied zu-
letzt das Los, und die Söhne reicher Leute konnten sich
vom allgemein gehaßten Militärdienste gesetzlich los-
kaufen, ganz abgesehen von den zahlreichen Fällen, in
denen per nefas eine Befreiung erzielt wurde. Nach
dem für Österreich unglücklichen Kriege von 1866 wur-
den die preußischen Einrichtungen nachgemacht. Ge-
rade in meinem zwanzigsten Jahre, kurz vor meiner
Maturitätsprüfung, wurde auch das Institut der Ein-
jährig-Freiwilligen eingeführt. Wir freuten uns, die Pi-
oniere der neuen Zeit zu sein, wir freuten uns auf die
schmucke Uniform und meldeten uns alle, etwa fünf-
Z08
unddreißig Burschen, bei dem gleichen Regimente, wel-
ches— ich weiß nicht mehr warum — uns das liebste
war. Da kamen wir aber schön an ; der Bericht wird
preußischen Lesern seltsam erscheinen. Der Oberst war
kein Freund von Neuerungen und erklärte einfach, er
wollte in seinem Regimente keinen Einjährigen haben.
Da aber mit dem Gesetze nicht zu spaßen war, so er-
klärte sein Militärarzt uns fünfunddreißig Burschen alle
miteinander für untauglich, auch die kräftigsten unter
uns. Ich muß bekennen, daß meine Untauglichkeit auf
Grund eines körperlichen Gebrechens festgestellt wurde:
mein rechtes Bein ist noch länger als das linke. Ich war
immer ein sehr guter Fußgänger gewesen ; aber der Arzt
hatte wohl recht, wenn er behauptete, ich würde nicht
gerade schön in Reih und Glied marschieren können.
Wir beruhigten uns bald bei dem Bescheide. Nur ein
einziger von uns hatte die Energie, oder sein Vater hatte
die Eitelkeit, den Eintritt bei einem andern Regimente
durchzusetzen. Der arme schwächliche Junge wurde
Leutnant, machte die Okkupation von Bosnien mit und
starb dort am Typhus.
109
XII. Konfession.
Wichtiger als die Tatsache, daß ich die Kaserne nicht
kennenlernen sollte, waren für mich die beiden Um-
stände, die mein Schülerdasein von dem irgendeines
andern deutschen Jungen unterschieden: ich war Jude
und ich lebte als deutscher Knabe in einem slawischen
Lande. Ich muß wirklich auf beide Umstände ein wenig
eingehen.
Ich war von Abstammung Jude, Jude aus einem
nordöstlichen Winkel Böhmens, und habe doch jüdi-
sche Religion und jüdische Sitten eigentlich niemals
kennengelernt; höchstens häufiger als ein deutsches
Kind die jüdische Sprechweise und Mauschelausdrücke
gehört. Mein Elternhaus stand dem jüdischen Wesen
fremd gegenüber. Ich war in der seltenen und fast ein-
zigen Lage, daß schon meine beiden Großväter in einer
Zeit, da die Juden kaum dem Ghetto zu entwachsen an-
fingen, sich vom Judentum so gut wie losgelöst hatten,
der eine durch sein Leben praktisch, der andere als jun-
ger Mann auch offiziell. Der Vater meines Vaters hatte
gegen die Gesetze seiner Zeit und durch besondere kai-
serliche Erlaubnis so etwas wie ein Rittergut mit einem
Schlosse erworben, nicht gar weit von Königgrätz an
der Elbe ; dort imitierte er mit seiner viel Jüngern Frau
das Leben eines vornehmen Land Junkers, verkehrte mit
Juden nur geschäftlich und hauste so adelig, daß nach
iio
seinem Tode das Gut versteigert werden mußte und
seine beiden Söhne als arme Teufel zurückblieben. So
viel ich auch zurückdenke, ich kann mich nicht erin-
nern, meinen Onkel oder meinen Vater auf der Übung
eines jüdischen Gebrauchs ertappt zu haben. Nach jüdi-
scher Anschauung ist Zugehörigkeit zum Judentum
ohne Kenntnis der hebräischen Sprache nicht denkbar ;
mein Vater aber kannte keinen hebräischen Buchstaben.
An hohen jüdischen Feiertagen pflegte er mit einem
gewissen Selbstvorwurfe zu sagen: ,,Ihr wachst ja auf
wie die Heiden** ; darin bestand die ganze religiöse Er-
ziehung, die er uns zuteil werden ließ. Als ich einmal
die alten Zeremonien des jüdischen Osterfestes kennen-
lernen wollte, mußte ich mich ja für den Vorabend des
Passahfestes von einem alten Verwandten, einem
Schwager meiner Mutter, dazu einladen lassen; ich
habe so einen der hübschesten und ältesten jüdischen
Bräuche nur das eine Mal kennengelernt und ganz so
neugierig wie ein Außenstehender . Wie ein , , Goj * * (Christ)
hätte ich dabeigesessen, sagte dieser Onkel nachher.
Der Vater meiner Mutter gar, der steinalte Mann, der
wohl einer Lebensbeschreibung wert wäre, war schon
als Jüngling, gegen Ende des i8. Jahrhunderts, der
Sekte der Frankisten beigetreten, die ihre Anhänger
aus kabbalistischen oder abtrünnigen Juden rekrutierte
und irgendeinen neuen Messias erwartete oder glaubte,
einen Vollender von Jesus Christus. Mein Großvater
soll in dieser militärisch organisierten Sekte (auf dem
Schlosse Franks in Offenbach am Rhein) Offizier ge-
wesen sein und nach dem Ende der Bewegung die Do-
kumente und auch das Bild der ,, Königin*' in Verwah-
rung gehabt haben. Die Sekte wurde dann öfters hart
verfolgt, in Rußland wie in Österreich; mein Groß-
III
vater kehrte in seine Heimat zurück und lebte von da
ab als Religionsspötter, wenn er es auch für schicklich
hielt, an hohen Festtagen die Synagoge zu besuchen.
In der kleinen"} udengemeinde von Horzitz galt er für
einen Gelehrten, für einen Freigeist, für einen Ketzer.
Als er im Patriarchenalter 1876 starb, folgten seiner
Leiche ein^^Rabbiner, aber auch ein katholischer und
ein protestantischer Geistlicher^).
Mein Elternhaus war eigentlich konfessionslos. Ich
bin erst als Mann offiziell aus der jüdischen Religions-
gemeinschaft ausgetreten, ohne mich zu einer andern
Religion zu bekennen. Es war mir lästig geworden, daß
nach jeder Volkszählung irgendein Schutzmann An-
stoß daran nahm, wenn ich die Rubrik Religion nicht
ausfüllte. Auch diesen Schritt fand meine alte Mutter
einfach selbstverständlich. Sie war einigermaßen stolz
darauf, daß schon ihr Vater kein gläubiger Jude ge-
wesen war.
Man wird jetzt besser verstehen, was ich vorhin mit
einer Klage, die mein Empfinden nur ungenügend aus-
drücken konnte, vorgetragen habe : daß mir zum Dich-
ter, der ich mich doch fühlte, außer einer deutschen
Mundart, der wahren Muttersprache, auch noch der
Untergrund eines Jugendglaubens fehlte, eine Mutter-
religion. Mein Vater war, um es kurz und schroff aus-
zudrücken, areligiös, meine Mutter antireligiös. Der
Vater war buchstäblich ohne Kenntnis irgendeines Ka-
techismus aufgewachsen; er wird das Dasein irgend-
eines Gottes, über dessen Namen er sich sicherlich nicht
klar war, etwa so angenommen haben, wie er überzeugt
war, daß die Kinder ihren Teller nicht zum zweiten
Male gefüllt bekamen, wenn sie nicht vorher ,, Bitte
I) Vgl. Anhang III.
112
noch** gesagt hatten. (Ich lernte diese Bitte um das täg-
liche Brot nachsprechen, bevor ich die Worte verstand J
ich hielt sie lange für den tschechischen Namen einer
Speise; ich brachte sie etymologisch mit Kutzmoch,
Schusterknödel, in Zusammenhang.) Der Vater hatte
solche Überzeugungen von dem, was sich schickte ;
Glaube an irgendeinen Gott war ihm Wohlanständig-
keit wie etwa den Engländern. Da der Vater aber nie-
mals ein Wort oder einen Begriff der jüdischen Religion
über die Lippen brachte, möchte ich fast glauben, daß
sein Gottesbegriff irgendwie (nicht auf Grund von Lek-
türe) dem höchsten Wesen eines christlichen Deismus
entsprochen habe. Die Mutter dagegen wußte viel vom
Judentum zu erzählen, von den Zeremonialgeboten und
von dem Scharfsinn, der Schlauheit und dem Geschäfts-
geiste der Rabbiner; sie erzählte solche Geschichten
als wie Legenden aus einer vergangenen Zeit; ohne
Spott und selbst Blasphemien ging es nicht ab ; Heine
wurde zitiert und — wenn es hoch kam — die Toleranz
von Lessings Nathan. Ich darf wohl annehmen, daß wir
Kinder von ihr die Ketzereien zu hören bekamen, die
der Großvater ihr als seinen Religionsunterricht über-
liefert hatte. Das Judentum war die einzige Religion,
die sie kannte, und der brachte sie keine Achtung
entgegen.
In solchen Traditionen aufgewachsen, wußte ich bis
zu meinem achten Lebensjahre kaum, was das bedeu-
tete, daß wir Juden waren. Ich kann nicht sagen, ob es
ein Wunsch meines Vaters war ; jedenfalls gehörte Re-
ligion und Bibellesen nicht zu dem Lehrplane unseres
Hofmeisters. Der Staat aber schützt die Religion in
jeder Gestalt, schützt auch die Judenschule, und so
hatte ich auch ,, jüdische Religion** nachzuholen, als
8 113
ich auf die Klippschule kam, wo mir die drei Jahre ge-
stohlen wurden. Unter ,, jüdischer Religion** verstand
man aber nach altasiatischer Vorstellung nicht irgend-
welchen Religionsunterricht, sondern einzig und allein
Kenntnis des Hebräischen und Lesen der Bibel. Als ich
diese Schule betrat, hatte ich keine Ahnung von einem
hebräischen Buchstaben; ein Jahr später konnte ich
im Hebräischen ebenso vorgeritten werden wie beim
Aufsagen der tschechischen Bürgschaftübersetzung.
Bei den außerordentlichen Schwierigkeiten der hebräi-
schen Sprache und bei dem völlig unwissenschaftlichen
Betriebe des Unterrichts konnte es sich gar nicht um
ein Eindringen in den Geist der Sprache handeln, son-
dern nur um Gedächtniskram.
Die wissenschaftliche Erforschung der hebräischen
Sprache ist erst nicht jüdischen Gelehrten gelungen ; jü-
dische Gelehrte, die etwas leisten wollten, hatten die jü-
dische Tradition verlassen müssen. Ich bedaure sehr,
daß ich diese allzu rasch erworbenen Kenntnisse ebenso
rasch wieder eingebüßt habe; was ich vom Baue der
semitischen Sprachen später für meine Arbeiten brauchte,
habe ich ganz neu lernen müssen.
Schlimmer war es, daß mir auch religiöse Kämpfe
nicht erspart wurden, als diese jüdischen Kenntnisse
so plötzlich auf mich niederdroschen. Ich machte die
Entdeckung, daß ich ein Jude war, und meine leiden-
schaftliche Seele verführte mich, die fünfhundert oder
siebenhundert Gebote und Verbote, die der Rabbinis-
mus aus der Bibel gezogen hat, ernst zu nehmen. Ich
wollte ein frommer Jude werden, um die Seelen meines
Vaters und meiner Mutter zu retten. Ich habe diese
kindischen Kämpfe einmal darzustellen gesucht, in dem
Tagebuche des Helden, das man in meinem Romane
114
„Der neue Ahasver** nachlesen kann, wenn man mag.
Das Tagebuch habe ich erst für diesen Roman nieder-
geschrieben, und so ist es, wenn man will, erfunden;
aber meine religiösen Kämpfe sind darin (wie zu meiner
Freude schon Wilhelm Scherer bemerkt hat) eigent-
lich ganz getreu und realistisch erzählt^). Ich will nicht
wiederholen, wie ich viele Monate lang in unserem
völlig religionslosen Hause die jüdischen Zeremonial-
gesetze (deren Sinnlosigkeit mir doch wieder nicht ent-
ging) heimlich zu beobachten suchte, wie ich dann
durch den Umgang mit meinen katholischen Mitschü-
lern dazu kam, Jehova mit Jesus zu vertauschen, wie
ich in allen katholischen Kirchen herumkniete, in-
brünstig die Heiligen aller Kapellen um ein Wunder
bat, wie ein Lehrer, der meinen Zustand erkannt hatte,
mich in die glänzenden Predigten des Jesuiten Klinkow-
ström schickte, wie mich dieser Pater dazu brachte, zu-
erst einige Kirchenväter und dann Kirchengeschichte
zu studieren, wie ich nach einem eifrigen aber sehr
dilettantischen Katholizismus von zwei Jahren, nach
einer flüchtigen und nicht ganz religiösen Begeisterung
für Luther endlich in meinem fünfzehnten Jahre als
wütender Atheist kirchenfeindlich wurde. Diese Gesin-
nung hat dann etwas länger vorgehalten; ich bin alt
geworden, bevor ich einsehen lernte, daß unsere Zeit
zu ruhig gottlos ist, um noch so recht kirchenfeindlich
sein zu dürfen.
Ich kann sagen, daß ich als ein auf eigene Faust
gläubiger Jude, als ein auf eigene Faust wundersüch-
tiger Katholik und dann als jugendlicher Freigeist in
gleicher Weise empört war über die Art, in welcher uns
auf dem Gymnasium jüdischer Religionsunterricht er-
I) Vgl. Anhang IV.
8* 115
teilt wurde. 9d etwas wie Religionsunterricht für die
jüdischen Schüler gab es nämlich, das verlangte der
Staat, der Schützer der Judenschule. Der Unterricht
wurde sämtlichen jüdischen Schülern der drei Gymna-
sien und der Realschule klassenweise gemeinsam er-
teilt, von einem einzigen Lehrer ; ganz ähnlich und mit
ganz ähnlichen Mißbräuchen war der Religionsunter-
richt für die Protestanten eingerichtet. Nur die katho-
lische Religion gehörte zum Organismus des Gymna-
siums.
Der jüdische Religionsunterricht war durchaus gro-
tesk. Der Lehrer war ohne Zweifel ein geduldiger und
freundlicher Herr, der auf jüdische Art Hebräisch ver-
stand. Aber er war in allen Dingen, welche nach unserer
jungen Gymnasiasten Weisheit die Bildung ausmachten,
von einer so blühenden Unwissenheit, daß er in unserer
Achtung noch tief unter die schlimmsten Piaristen hin-
absank. Der Hauptgrund unserer Verachtung war, daß
er als Philologe an einem Gymnasium nicht Latein ver-
stand, während wir doch schon mensa deklinieren
konnten. In den höheren Klassen erfuhren wir dann,
daß es ihm wirklich an jeder höheren Kultur fehlte. Die
andern Lehrer betrachteten ihn nicht als ihren Kolle-
gen, redeten ihn ,,Herr Adler** an und blickten mit dop-
peltem Hochmut auf ihn hinab ; und wir jüdischen
Schüler ahmten das Beispiel nach und waren sehr
schlecht gegen ihn. Am liebsten quälten wir ihn mit
dem Namen Jesu Christi. Es ging ihm gegen sein Ge-
wissen oder gegen seinen Glauben, diesen Namen aus-
zusprechen; und anstatt ,,nach Christi Geburt" zu
rechnen, sagte er jedesmal: vor oder nach ,,der jetzt
üblichen Zeitrechnung'*. Wir ließen es uns nicht neh-
men, ebenso regelmäßig zu sagen : vor oder nach Christi
ii6
Ceburt. Dann zeigte sich auf seinem guten runden Ge-
sichte immer ein schmerzliches Lächeln, als ob er ge-
zwickt worden wäre; aber er wagte es nicht, uns das
Aussprechen des Namens zu verbieten.
Der jüdische Unterricht sollte doppelt gegeben wer-
den : in Religion und in hebräischer Sprache. Was wir
als eigentlichen Religionsunterricht genossen, das war
eine Affenschande. Was ein begabtes Kind binnen
Monatsfrist aufnehmen kann, ungefähr den Lehrstoff
von Luthers kleinem Katechismus, das hatten wir acht
Jahre lang wiederzukäuen. Es war schamlos, das kleine
Lehrbuch noch neunzehnjährigen Burschen in die
Hand zu zwingen; selbst die katholische Kirche ver-
langte von den Schülern kein solches Opfer an Intelli-
genz, da sie doch dem Primaner recht viel Dogmenge-
schichte aufbürdete, also immerhin eine Fülle positiver
Kenntnisse. Aber dieser ganze theoretische Religions-
unterricht war ja auch nicht ernst gemeint ; wir lernten
so etwas wie eine abgestandene Verdünnung einer na-
türlichen Religion, der die zehn Gebote zugrunde ge-
legt waren. Die jüdische Religion hatte in Wirklichkeit
nie etwas anderes verlangt als: ,, Lernen*' der hebräi-
schen Bibel.
Um den Unterricht im Hebräischen stand es nun
ganz anders als um irgendeinen andern Lehrgegen-
stand. Unter den jüdischen Schülern waren nämlich
ziemlich viele, die orthodoxen Familien angehörten
und denen darum seit ihrer frühesten Jugend die hebräi-
sche Sprache eingebläut worden war. Das war ganz lo-
gisch vom Standpunkte der jüdischen Orthodoxie ; der
war und ist Kenntnis der Bibel und des Talmud die
wahre Wissenschaft. Mit diesen Jungen nun, die übri-
gens bis^auf zwei die schlimmsten Racker der Klasse
117
waren, konnte der Lehrer nach Herzenslust die Bücher
des Alten Testamentes lesen, grammatische Schnitzel-
jagd treiben und sich sogar auf rabbinische Kommen-
tare einlassen. Wir andern, die wir bloß in der Schule
und für die Schule Hebräisch gelernt hatten, standen
in vergnügter Untätigkeit daneben. Ich für mein Teil
konnte noch ungefähr ein Jahr lang folgen, solange
ich nämlich meinen heimlichen und närrischen Glau-
ben an Jehova aufrechtzuerhalten vermochte; mit
meinem dilettantischen Katholizismus erhob sich aber
in mir ein Haß gegen das Alte Testament und gegen die
hebräische Sprache ; meine allzu rasch eingetrichterten
Kenntnisse versickerten und plötzlich war es aus mit
ihnen.
So bestand unser jüdischer Religionsunterricht aus
zwei unzusammengehörigen Hälften : aus der moralisie-
renden Religionslehre, die für die Dümmsten unter uns
zu dumm war, und aus einem Praktikum der semiti-
schen Philologie, das manchem gelehrten Orientalisten
noch Nüsse aufzuknacken gegeben hätte. Die wir uns
längst als jüdische Deutsche fühlten oder als deutsche
Juden, gewöhnten uns mit den Jahren daran, an diesem
Unterrichte so selten wie möglich teilzunehmen; wir
erlangten eine Virtuosität darin, die Religionsstunde zu
schwänzen und auch die ,,Exhorte**, eine samstägliche
lederne Predigt, die uns den Gottesdienst ersetzen sollte.
Ich glaube versichern zu können, daß ich in den letzten
zwei Gymnasial] ahren den jüdischen Religionslehrer
nicht mehr zu Gesicht bekommen habe.
Mein kühner Entschluß, der Religionsstunde fern-
zubleiben, folgte auf eine drollige Disputation zwischen
mir und dem guten Herrn Adler. Dieser hatte den Ehr-
geiz, wirklich wie ein Hochschulprofessor mit den älte-
ii8
ren Schülern zu verkehren. Er führte eine Art von Kol-
loquium ein. Besonders wenn er die Beweise für das
Dasein Gottes in den höheren Klassen zum letzten
Male vortrug, hatte er es gern, daß die Schüler gegen
diese alten scholastischen Gebäude ihre kindlichen Ein-
wände vorbrachten. Ihm war es dann ein leichtes, durch
die Sophismen, an denen durch Jahrhunderte die
scharfsinnigsten Doktoren der katholischen Kirche
ihren Witz geübt hatten, die jungen Leute zum Schwei-
gen zu bringen. An jenem Tage nun handelte es sich
um den ehrwürdigen ontologischen Beweis. Ich wußte
damals noch nichts über seine Geschichte, nichts von
seiner Abfertigung durch Kant. Ich meldete mich aber
durch Handaufheben und brachte, so gut ich*s ver-
mochte, meine Bedenken gegen die Logik dieses Be-
weises vor. Herr Adler kam mit Gegengründen ; ich ver-
warf die Gegengründe. Herr Adler weinte beinahe, als
er erwiderte: „Wer seinen Gott im Herzen trägt, der
zweifelt gar nicht an der Kraft dieser schönen alten
Beweise. Du glaubst nicht und darum ist der ganze
Unterricht wertlos.** Ich ließ mir das nicht zweimal
sagen. Ich kam nicht wieder. Zwei meiner jüdischen
Mitschüler, als sie erst sahen, daß keine Zwangsmaß-
regeln gegen mich ausgeübt wurden, folgten meinem
Beispiel.
Die Gnade Gottes leuchtete auch über uns Unge-
rechte. Der Lehrer hielt es wahrscheinlich für unver-
einbar mit seinem^jüdischen Glauben, einen jüdischen
Schüler durchweine Anzeige zu schädigen oder ihn gar
durchfallen zu lassen. Er hatte die Gewohnheit ange-
nommen, jedem jüdischen Schüler ,,aus Religion** die
Note ins Zeugnis zu schreiben, die dem Durchschnitte
der übrigen Noten entsprach; und er besserte immer
119
nach oben hinauf. Sein Unglück wollte, daß er gerade
dann nicht ,, ungenügend'* ins Zeugnis schreiben konnte,
wenn der jüdische Schüler schon von den anderen Leh-
rern verurteilt war; denn der war gewiß einer seiner
gelehrten Talmudkenner.
Die schwerste Sorge dieses würdigen Lehrers brachte
jedesmal die Maturitätsprüfung, weil der Schulrat, der
die Aufsicht führte, ein sehr gelehrter Mann war, ein
wenig auch Orientalist; der konnte es sich beifallen
lassen, ein Frage an den Schüler zu richten, und dann
wäre es mit dem Systeme vorbei gewesen: den jüdi-
schen Schülern prinzipiell bessere Zensuren zu geben
als sie verdienten. So hat meine Maturitätsprüfung nicht
mich, sondern diesen Lehrer vor Angst schwitzen lassen.
Ich war trotz meiner Schulfaulheit ein so guter Schü-
ler und hatte bei der schriftlichen Prüfung so glänzend
abgeschnitten, daß mir hergebrachterweise die münd-
liche Prüfung ,, geschenkt** werden mußte. Ich verließ
mich darauf und hatte mir überhaupt um das Abitu-
rientenexamen keine Sorgen gemacht. Der Schulrat
pflegte auch an solche Schüler besonders kniffliche Fra-
gen zu stellen ; aber das tat er immer nur aus Güte, um
Gelegenheit zu einer ,, Auszeichnung** zu geben. Also
auch das schien mir nicht gefährlich. Desto größere
Sorgen machte sich der jüdische Religionslehrer. Er
ahnte, wie es um meine Kenntnisse im Hebräischen
stand. Ich hatte es im Laufe von acht Jahren so weit
gebracht, ich hatte so viel verlernt, daß ich nicht ein-
mal das Entziffern der hebräischen Lettern leicht und
schnell genug ausführen konnte. Die kleinste Frage an
mich hätte den Lehrer gräßlich blamiert; denn ich
hatte als Vorzugsschüler immer „vorzüglich** aus Reli-
gion gehabt, das heißt aus Hebräisch.
120
Bei meiner Prüfung — es war ein sehr heißer Julitag
— war der Schulrat, der mich seit acht Jahren immer
freundlich beobachtet hatte, in der besten Laune und
neckte mich nur mit allerlei schwierigen Fragen, für
deren halbe Lösung ich dann durch gute Zensuren
belohnt wurde. Ich wurde kreuzfidel; mich belustigte
die Neckerei des Schulrates, der vielleicht erfahren
wollte, wie weit über den Lehrstoff hinaus mein Ver-
ständnis ging, der vielleicht auch sein vielseitiges Wis-
sen zeigen wollte. Ich hatte ein Lachen zu verbeißen,
wenn ich auf unsern unglücklichen Religionslehrer
blickte, der wie ein Verbrecher vor der Hinrichtung da-
saß. Sein Angstschweiß ward ihm zum Heil. Der Schul-
rat glaubte, er litte unter der Hitze und schickte ihn
nach Hause. Meine beiden Mitprüflinge seien Katho-
liken und an mich habe er Fragen genug gestellt. Ich mag
vielleicht ganz froh gewesen sein ; was war aber meine
Freude gegen die Glückseligkeit im Antlitz des Herrn
Adler, der jetzt mit einem schlauen Blick des Einver-
ständnisses an mir vorüber davonging. Gott der Ge-
rechte verläßt keinen Juden in der Gefahr, so mochte
der fromme Mann denken.
Ich habe dieses Erlebnis mit dem Vergnügen vorzu-
tragen versucht, das es mir damals gemacht hatte.
Eigentlich war die Sache aber empörend. Man denke
sich nur einmal in die Seele unserer katholischen Mit-
schüler hinein. Diese hatten nicht nur auf dem Piari-
stengymnasium, sondern auch auf der weltlichen An-
stalt einen strengen Religionsunterricht, hatten Gebete
auswendig zu lernen, hatten an jedem Sonn- und Feier-
tage die Messe zu besuchen, hatten — wie gesagt —
vor allem in Religionslehre und Kirchengeschichte
einen ansehnlichen Lehrstoff zu bewältigen ; sie mußten
121
diesen Lehrstoff genauer auswendig lernen als etwa
das Lehrbuch der Weltgeschichte, mußten übrigens die
Untrüglichkeit dieses Lehrstoffs wie stumme Hunde
anerkennen und durften nicht freigeistig mucksen. Die
Katholiken fühlten sich mit Recht im Nachteil gegen
Protestanten und Juden, und wir hörten von ihnen be-
sonders vor der Maturitätsprüfung bittere Worte über
unsere Ausnahmestellung; denn Religion war ihnen
neben Weltgeschichte der eigentliche Büffelstoff. Die
Katholiken mußten täglich um 5 Uhr früh aufstehen,
Protestanten und Juden konnten bis 7 Uhr schlafen.
Ich muß trotzdem anerkennen, daß das Verhältnis
zwischen den einzelnen Konfessionen unter den Schü-
lern des Kleinseitner Gymnasiums das allerherzlichste
war; Judenfeindschaft, was man jetzt seit mehr als
vierzig Jahren Antisemitismus nennt, war natürlich
vorhanden, wie denn Bosheit oder Neid sich unausrott-
bar zu der Mode eines Rassenvorurteils oder zu irgend-
einer, anderen Ausrede flüchtet, aber dieser Antisemi-
tismus kam eigentlich nur in leidenschaftlichen Ge-
sprächen guter Freunde zu Worte. Auf dem Piaristen-
gymnasium waren die geistlichen Lehrer oft boshaft
und heimtückisch gegen die jüdischen Schüler gewesen ;
aber da darf nicht vergessen werden, daß sich zum
Untergymnasium viele Juden jungen drängten, die von
Hause aus wirklich keine richtigen Europäer waren, die
sich nach und nach entweder assimilieren oder die
Gelehrtenschule wieder verlassen mußten.
122
IIIIIIMIIIMI
lllllllllllllll
XIII. Nationale Kämpfe.
Noch wichtiger für meine Prager Schulzeit wurde na-
türlich die sogenannte nationale Frage : der Kampf der
Deutschen und der Tschechen um die Herrschaft in
Böhmen. Auf einzelne Folgen dieses Streites habe ich
schon hingewiesen. Nun möchte ich zusammenfassen,
wie der nationale Gegensatz auf uns in dem Alter
wirkte, welches man so gern das ,, reifere*' Alter nennt,
und wie der deutsche Unterricht unter diesen Verhält-
nissen litt. Das ,, Wirken auf uns*' ist vielleicht nicht
ganz wörtlich zu nehmen ; ich bin mir wenigstens be-
wußt, daß ich die nationalen Verhältnisse damals und
noch lange nachher so sah, wie meine Mutter sie uns
darzustellen pflegte.
Vor meiner Zeit gab es in Prag und in Böhmen nur
deutsche Gymnasien. Wie noch zweihundertfünfzig
Jahre früher im ganzen Abendlande das Lateinische
die selbstverständliche Sprache alles Wissens gewesen
war, so war in Böhmen, besonders seit dem Dreißig-
jährigen Kriege, deutsch die alleinige Kultursprache
geworden. Das Tschechische war in meiner ersten Ju-
gend — wenn man von den bewußten Förderern des
Slawentums in den Städten absieht — die verachtete
Bauernsprache ; dievermeintlich besseren Stände schäm-
ten sich ihres slawischen Idioms; kein Offizier, kein
Adeliger, kein Arzt oder Richter, der nicht mit Vor-
123
liebe Deutsch gesprochen hätte. Auch war die tschechi-
sche Sprache trotz aller Bemühungen der Slawophilen
für den wissenschaftlichen Gebrauch noch nicht bieg-
sam genug. Ich urteile nicht, ich konstatiere bloß ; auch
wir Deutsche haben solche Zeiten trotz einer großen
Vergangenheit noch im siebzehnten, ja noch im acht-
zehnten Jahrhundert durchgemacht.
Bis zum Jahre 1848 war der Zustand in Böhmen so,
daß, wer studieren wollte, dies nur mit Hilfe der deut-
schen Sprache tun konnte. Die Gerichtssprache war
deutsch, die Unterrichtssprache war deutsch, so brauchte
der Beamte, der Lehrer auch für seine Zukunft nicht
Tschechisch zu lernen. Und was die Ärzte und Seelsorger
für den Verkehr mit dem Volke nötig hatten (die Predigt
war allerdings schon damals in slawischen Bezirken
tschechisch), das lernte jeder Böhme von Kindheit an
wie von selbst. Nimmt man die Bewohner der rein-
deutschen Grenzgebiete aus, so verstand auch jeder
Deutsch-Böhme ein bißchen Tschechisch, das schon er-
wähnte Kuchelböhmisch, welches in seinem Grundbau
slawisch war, aber eine Unmenge deutscher Worte bar-
barisch mit slawischen Endungen versah. Trotz der er-
staunlichen und achtenswerten Anstrengungen gelehr-
ter Slawen (denen unser Jacob Grimm ein Vorbild war)
wurde dieser Mischmasch in allen gemischten Bezirken
gesprochen ; und die Parodien dieses Kauderwelsch, die
sich einst in Wiener Witzblättern breit machten und
jetzt noch in deutschen Witzblättern zu finden sind,
waren gar nicht so übertrieben, wie es scheinen konnte.
In diesen vermeintlich gemütlichen Zustand der alt-
hergebrachten Herrschaft der Deutschen und der gott-
gewollten Unterwerfung der Tschechen brachte das
Jahr 48 eine deutlich sichtbare Wandlung. Schon seit
124
Beginn des Jahrhunderts hatten die Tschechen, unge-
fähr parallel mit der nationalen Bewegung in Deutsch-
land und überhaupt mit dem Aufkommen der Nationa-
litätsidee, Herrschaftsansprüche in Böhmen und in den
beiden andern Ländern der alten Wenzelskrone (Mäh-
ren und Schlesien) geltend gemacht. Ein Eingehen auf
die historisch-politische Frage würde mich^zu weit füh-
ren. Aber die politische Frage war in Böhmen weit
mehr als anderswo eine Sprachenfrage. In Triest und
Südtirol, in Lothringen und in Nordschleswig möchten
die Stämme, die nicht Deutsch sprechen, aus dem frem-
den Staatsverbande heraus, wollen Bürger eines ita-
lienischen, französischen, dänischen Nationalstaates
sein. In Böhmen denkt auch der verwegenste Fanatiker
nicht so bald an eine Trennung von Österreich ; nur daß
nach seiner Meinung der Kaiserstaat slawisch werden
soll, womöglich tschechisch. Von allen Kanzeln des
Reiches, auch von der Kanzel des Wiener Stephans-
domes soll in irgendeiner Zukunft tschechisch gepredigt
werden ; tschechisch soll dann die allgemeine Gerichts-
sprache sein, auch die des obersten Gerichtshofes in
Wien ; die tschechische Treibhauswissenschaft soll die
Universitäten beherrschen. Das alles war oder ist vor-
läufig nur ein phantastischer Traum begeisterter Prager
Studenten. So tolle Forderungen werden nicht gestellt ;
aber die Entwicklung müßte zu solchenRevolutionen füh-
ren, wenn erst die Mehrsprachigkeit für ganz Österreich
gesetzlich durchgeführt wäre ; die Slawen, die ohne die
deutsche Kultursprache nicht auskommen können, sind
von Hause aus zweisprachig und würden es am Ende
zu ihrem Monopol machen, dem Reiche Beamte und
Offiziere, Arzte, Richter, Lehrer und Geistliche zu lie-
fern. Diese nicht ganz sinnlose Phantasie erklärt viel-
125
leicht die Erbitterung, mit welcher in Böhmen noch
gegenwärtig um Sprache und Schule, gekämpft wird.
Schwer wären die Tschechen zu widerlegen, wenn sie
ohne tyrannische Gelüste die natürlichen Rechte ihrer
Nationalität geltend machen wollten. Die alten Deutsch-
Böhmen sträuben sich dagegen, den Tschechen Zuge-
ständnisse zu machen. Aber es war unvermeidlich, daß
im Jahrhundert der Nationalitätsidee sich auch die
Tschechen zum Worte meldeten, wie vor ihnen die
Polen, wie nach ihnen die kleineren Stämme Öster-
reichs: die Slowenen und Slowaken, die Serben und
Kroaten. Die Tschechen bilden ohne Frage die Mehr-
zahl der böhmischen Bevölkerung und verlangen dar-
um überall, wo Autonomie zugestanden worden ist,
mit Recht ihren Anteil am Regiment. Sie verlangen
aber die Auslieferung der Schule; sie können ja die
Stellen im Reich nicht mit tschechischen Beamten be-
setzen, wenn ihre jungen Leute nicht in tschechische
Schulen gegangen sind. Der unselige Machtkitzel treibt
dann dazu, mit Hilfe der tschechischen Schulen in den
gemischten Bezirken den deutschen Kindern langsam
ihre Muttersprache zu nehmen.
Ich bin Deutsch-Böhme genug, um nur mit Zorn den
Gedanken fassen zu können, daß Prag bereits heute
eine slawische Stadt geworden ist, in der die Deutschen
als gehaßte Fremde leben, daß ganz Böhmen in abseh-
barer Zeit der Herrschaft der Tschechen anheimfallen
wird. Wenn nicht ein Wunder geschieht. Wenn nicht
die Nationalitätsidee von der internationalen Idee des
Sozialismus überwunden wird. Oder von einer Liebe zu
dem österreichischen Staatsgedanken, die ich aber
höchstens etwa bei Wienern angetroffen habe, niemals
in genügender Stärke in den Kronländern. Sozialismus
126
oder Staatsgedanke, jedenfalls müßte der Kerl erst ge-
boren werden oder öffentlich auftreten, wenn er wirk-
lich schon geboren sein sollte, der die nationale Begei-
sterung durch eine neue andere Begeisterung ersetzen
könnte. Die Österreicher haben wahrlich Wärme genug
im Leibe ; sie wissen nur nicht, wofür sie sich just be-
geistern könnten.
Ein Tag allgemeiner deutscher Begeisterung war
wohl sicher der letzte, an welchem in Prag Deutsche
und Tschechen sich verstanden und in Reih und Glied
marschierten. Es war der Tag der großen Schillerfeier
von 1859; wenn man es nicht sonst wüßte, daß diese
Feier zumeist aus einer politischen, aus einer freiheit-
lichen Stimmung und Sehnsucht hervorging, man hätte
es sicher aus der Beteiligung der Tschechen erraten
können. Ich glaube den gewaltigen Fackelzug noch zu
sehen, wie er langsam sein rotgelbes Licht über die alte
Nepomukbrücke hinwälzte und wie die Flammen sich
in den Wellen der Moldau spiegelten. Von den Fenstern
der Eltern eines Schulkameraden, die wenige hundert
Schritte vom Altstädter Brückenturm entfernt wohn-
ten, durfte ich das Schauspiel betrachten ; ich war ziem-
lich genau zehn Jahre alt, kannte gar viele Gedichte
Schillers sehr genau und ahnte noch nicht, daß in naher
Zukunft für und gegen Schiller gekämpft werden würde;
auch die Tschechen dachten nicht an so etwas, waren
ganz bei der Sache und warfen gegen Mitternacht, weil
es doch ein Festtag war, in der Judenstadt einige Fen-
ster ein. Und das war eigentlich nicht böse gemeint.
Wie immer nun das Vordringen der Tschechen sich
mit dem sogenannten österreichischen Staatsgedanken
vertragen, was immer das Ende des Kampfes sein wird :
zu meiner Schulzeit hatten die Tschechen ihre ersten
127
Siege bereits errungen und beuteten sie mit realpoli-
tischer Rücksichtslosigkeit aus. Schon damals wurden
ihre Bestrebungen von Rom aus öffentlich und heimlich
unterstützt ; fast im ganzen Lande war die Geistlichkeit
tschechisch gesinnt und blind reaktionär dazu; die
wenigen altliberalen deutschen Geistlichen, die man
Josephiner nannte, zählten nicht mehr mit. Und hatte
sich so ein deutscher Josephiner gar mit Haut und
Haar einer Kunst verschrieben — wie der prächtige,
mir unvergeßliche Augustinerprior Pater Barnabas der
edlen Musika — , so war er für die deutsche Sache ver-
loren und neigte sogar dazu, durch politischen Indiffe-
rentismus die Gegner zu unterstützen. Die freigeistigen
oder gar hussitischen Jungtschechen ließen sich die
Unterstützung gern gefallen und schlössen auch noch
später, als sie beim Wahlkampfe gegen die klerikalen
Alttschechen auftraten, manchen Kompromiß mit
Rom. Die Tschechen hatten weit klügere, nämlich ener-
gischere, staatsmännischere Führer als die Deutschen ;
sie drängten die früheren Herren des Landes stätig und
fest in die Defensive.
Die Tschechen hatten also zu meiner Schulzeit schon
ein eigenes Gymnasium auf der Altstadt und auch das
angeblich deutsche Piaristengymnasium war völlig in
ihren Händen. Aber auch auf wirklich deutschen Gym-
nasien kam die deutsche Sprache zu kurz, weil ein
Schulgesetz es so haben wollte. Ich habe diese Dinge
schon flüchtig erwähnt. Nach dem Schulgesetze sollten
wir alle uns in beiden Landessprachen mündlich und
schriftlich gleich gut ausdrücken können. So stand es
auf dem Papier. Hätte die Schule diese Bestimmung
erfüllt, so hätte jeder von uns imstande sein müssen,
den deutschen Aufsatz — wenn ich so sagen darf —
128
auf Deutsch und auf Tschechisch abzufassen. Das Ziel
wäre nicht unerreichbar gewesen, bei angestrengter
Arbeit. Doch Faulheit und andere Neigungen der Leh-
rer wie der Schüler hatten zur Folge, daß auch diese ge-
setzliche Bestimmung zum Vorteile des tschechischen
Unterrichts ausschlug und zum Nachteile des deutschen.
Wir ärgerten uns darüber, daß wir eine so schwierige
Sprache erlernen sollten, deren Kenntnis uns nicht
wertvoll schien ; eine bodenständige tschechische Lite-
ratur gab es damals noch nicht. Weder eine poetische
noch eine wissenschaftliche Literatur. Hatte doch noch
kurz vorher der hervorragendste tschechische Gelehrte
Franz Palacky seine ,, Geschichte von Böhmen** in deut-
scher Sprache zu schreiben angefangen und sich erst
später entschlossen, das Werk in seiner Muttersprache
fortzusetzen; genau so wie zu Ende des siebzehnten
Jahrhunderts nationalgesinnte deutsche Gelehrte sich
entschlossen, die lateinische Kultursprache mit der un-
fertigen deutschen zu vertauschen, viel langsamer und
viel später als die Gelehrten in Italien und in Frankreich.
Wir lernten also das tschechische Pensum nur wider-
willig; die Folge war, daß die tschechischen Schüler
der Zweisprachigkeit sehr nahe kamen, wir aber nicht.
Deutsche Musterschüler brachten es so weit. Tsche-
chisch schreiben zu können, wie sie Latein schrieben,
konnten die zweite Landessprache aber nicht sprechen.
Die Tschechen dagegen waren in den letzten Gymnasial-
klassen befähigt worden, einen deutschen Schriftsatz
ohne allzu schlimme Fehler auszuarbeiten und sich in
deutscher Sprache mündlich ganz geläufig und richtig
auszudrücken. Die Härte der Aussprache war unerheb-
lich; unser eigenes Prager Deutsch mochte sich auch
nicht erfreulich anhören. Die meisten deutschen Schü-
9 129
1er hatten nach acht Jahren nicht gelernt, die sieben
Fälle des tschechischen Substantivs und die feinen Um-
formungen des tschechischen Verbums richtig anzu-
wenden, hatten es nicht erlernt, die zweite Landes-
sprache orthographisch zu schreiben. In den Stunden,
in denen Tschechisch gesprochen werden mußte, hal-
fen wir uns mit ein paar Dutzend Redensarten, die uns
aus dem Kuchelböhmisch unserer Jugendzeit geläufig
waren und die wir „hochböhmisch*' aussprechen ge-
lernt hatten. Niemand von uns erreichte es, einen tsche-
chischen Brief ordentlich schreiben zu können, einige
Streber aus gemischten Sprachbezirken ausgenommen,
die denn auch nachher in das tschechische Lager über-
gingen; ich weiß nicht einmal, ob ich sie Renegaten
schelten darf. Diese jungen Leute aus gemischten
Sprachbezirken waren zumeist Juden ; der Vater hatte
sie, oft in Rücksicht auf seinen Handel, als Kinder in
tschechische Schulen gesteckt und dort war ihnen eine
unklare Schwärmerei für das tschechische Herz ange-
flogen, das jeder Böhme haben müßte.
Nach dem Schulprogramm hätten also fast alle deut-
schen Schüler durchfallen müssen ; es ging aber damit
ähnlich wie mit dem jüdischen Religionsunterricht;
die Lehrer freuten sich über jede tschechische Vokabel,
die sie einem Deutschen beigebracht hatten, und geiz-
ten nicht mit guten Zensuren. Als wir nach Septima
oder Oktava (Unter- oder Oberprima) kamen, wurde
ein neues Landesgesetz erlassen, wonach nur eine der
beiden Landessprachen obligatorisch war. Um den drol-
ligen Kauz, der uns damals in Tschechisch unterrich-
tete, nicht zu kränken, hielten wir alle in seiner Stunde
aus und ersetzte einem jeden geschmeichelt eine ,, große
Eminenz** („vorzüglich**) ins Zeugnis.
130
Nun wäre die Quälerei mit der zweiten Landes-
sprache nicht so schlimm gewesen, wenn der deutsche
Unterricht nicht so furchtbar unter der Zweisprachig-
keit gelitten hätte. Ich will nicht einmal die Frage auf-
werfen, ^^ob nicht eine geheime Anordnung oder Ten-
denz bestand, die deutsche Sprache gegenüber der tsche-
chischen zu vernachlässigen; ich bin gewiß, daß das
für die Piaristen zutraf, und werde den Verdacht auch
gegenüber den deutschen Lehrern der Kleinseite nicht
los. Es wäre sonst kaum möglich gewesen, daß überall
die Lehrer der tschechischen Sprache philologisch ge-
schulte Männer waren, die Lehrer der deutschen Spra-
che dagegen bestenfalls Dilettanten; ich wünsche gar
nicht überall einen philologischen Unterricht in der
Muttersprache, ich will nur auf die Ungleichheit hin-
weisen. Doch auch ohne böse Absicht täten die Verhält-
nisse ihre Schuldigkeit. Es ist eine alte Erfahrung, daß
der öffentliche Unterricht die begabten Schüler zu den
mittelmäßigen hinunterzieht; der gute Kopf wird
schließlich müde, weil ihm die Arbeit der geistigen Ma-
rodeure zu langsam geht. Das äußerte sich für uns sehr
traurig im deutschen Sprachunterricht. " Die Piaristen
sahen es als ihre Lebensaufgabe an, die Tschechen zu
brauchbaren Beamten heranzuziehen ; ihr ideales Ziel
war, den Schülern die allerschlimmsten orthographi-
schen Fehler im Deutschen abzugewöhnen. Diese Höhe
hatten wir deutsche Schüler schon im zehnten Lebens-
jahre erreicht und wußten nun nicht, warum wir wäh-
rend des deutschen Unterrichts dasitzen mußten. Wir
sollten nach dem Lehrplan deutschen Stil und deutsche
Literaturgeschichte lernen, hatten aber jahraus jahrein
nur eine Art von Abc zu treiben. Auf dem Kleinseitner
Gymnasium waren die Deutschen weitaus in der Mehr-
9* 131
zahl und auch die Lehrer sprachen ein besseres Deutsch ;
aber von einem ernsthaften deutschen Unterricht war
wieder nicht die Rede. Dazu kam — wie schon erzählt
— daß der Ordinarius auf der Kleinseite an Gewissen-
losigkeit und Faulheit auch die dicksten Piaristen über-
traf. Der einzige Nutzen, den wir von diesem reichs-
deutschen Lehrer hatten, war sehr fragwürdig; er
führte einen täglichen Kampf nicht nur gegen das
schlimme Pragerdeutsch, sondern auch — wie ebenfalls
schon erwähnt — gegen gute österreichische Idiotis-
men, die ich jetzt in meiner Sprache ungern vermisse.
Wir sind niemals über den natürlichen Gebrauch un-
serer deutschböhmischen Muttersprache hinausgekom-
men ; das war vielleicht gut, entsprach aber nicht dem
Lehrplan. Wir haben von der deutschen Literaturge-
schichte nichts erfahren, wir haben nie ein Wort über
die Geschichte der deutschen Sprache gehört.
Um zu zeigen, wie weit die Verhätschelung des tsche-
chischen Nationalgefühls und die Unterdrückung des
deutschen ging, will ich eine kleine Tatsache festlegen.
Das alte Schulbuch, das wir uns anschaffen mußten,
liegt vor mir; ich erzähle keine Märchen. Wir deut-
schen Schüler verließen das Gymnasium, ohne von
einem unserer Lehrer erfahren zu haben, daß es im
Mittelalter eine deutsche Dichtung gegeben hatte. Aber
wir deutschen Schüler mußten uns vier Semester lang
durch tschechische Dichtungen aus dem Mittelalter
durcharbeiten ; und diese mittelalterlich-tschechischen
Dichtungen waren erwiesenermaßen Fälschungen. Wir
wußten sogar, daß es Fälschungen waren, und die Leh-
rer wußten es auch. Es ist hier nicht der Ort, auf die
Fälschung und auf die Geschichte ihrer Aufdeckung
einzugehen. Der gelehrte Bibliothekar und einstige
132
Poet Hanka hatte im Jahre 1817 angeblich in einem
Kapellenkeller der Stadt Königinhof diese alte Samm-
lung epischer und lyrischer Gedichte aufgefunden. Man
weiß nicht, wer die Verse verfaßt hat ; man wies aber
mit den Fingern auf den Auffinder hin. Die Epenfrag-
mente sind völlig wertlose Stücke, die den uralten Krie-
gerruhm der Tschechen beweisen sollen; die lyrischen
Verse aber sind so hübsch, daß ihr Dichter sich vielleicht
um einen ansehnlichen Dichternamen gebracht hat,
um einer Fälschung zu dienen. Daß eine Fälschung vor-
liege, ist sehr bald von deutschen Gelehrten behauptet
worden, aus archäologischen und philologischen Grün-
den, und slawische Gelehrte haben sich schließlich den
Gründen der deutschen Wissenschaft unterworfen.
(Erst in jüngster Zeit versucht man es wieder, die Echt-
heit der Königinhofer Handschrift zu verteidigen.) In-
zwischen wurde mit dieser Königinhofer Handschrift
fünfzig Jahre lang ein arger Humbug getrieben. Es ist
bekannt, daß nicht nur Franzosen und Italiener auf die
Fälschung hineinfielen, sondern daß auch Jacob Grimm
begeistert war, und daß Goethe, ohne jede Kenntnis der
Originalsprache, eines der kleinen Gedichte auf Treu
und Glauben wunderhübsch nach einer wörtlichen Pro-
saübertragung poetisch übersetzte; er hat sich sogar
die Mühe genommen, die Verse durch Umstellung der
Strophen verständlicher zu machen.
Ich habe seitdem mehr als einmal der Stimmung
nachgegeben, mich in die Psychologie, ja in die Poesie
des böhmischen Fälschers hineinzufühlen ; ich habe in
meiner Novelle ,,Die böhmische Handschrift^* darzu-
stellen gesucht (zu übermütig vielleicht, aber gewiß
nicht ungerecht), wie alles, was ihn dazu trieb, ach so
gut war und so lieb ; ich habe schon damals einige
^33
chauvinistische Jugendsünden bereut und zum Frie-
den gemahnt. Ideale Beweggründe wären dem Sünder
keinesfalls abzusprechen. Es muß ihm eine Lust ge-
wesen sein, das hohe Alter der tschechischen Kultur
durch seine Verse zu bev/eisen; es muß ihm ein Tri-
umph gewesen sein, durch sein Talent und durch seine
technischen Künste so viele Jahrzehnte die gelehrte
Welt zu betrügen ; und es muß seine Eitelkeit in uner-
hörter Weise befriedigt haben, als bedeutende Dichter
und Sprachhistoriker in allen Ländern Europas begei-
stert von den kleinen Gedichten sprachen, die der arme
Teufel irgendwo auf einer öden Bude geschrieben und
dann in altslawische Sprachform gezwängt hatte. Wohl
mag Hanka — wenn er wirklich der Dichter gewesen
ist — gejubelt haben, als er eine polyglotte Ausgabe
seiner Handschrift herausgeben konnte, wie man vom
Vaterunser polyglotte Ausgaben besitzt; wohl mag
er gelacht haben, als slawische Philologen seinen Text
behandelten, wie man Homer behandelt, und über ein-
zelne Worte, die der Abschreiber mißverstanden hätte,
gewagte Konjekturen aufstellten.
Wir waren aber damals noch weit davon entfernt,
solche Fälscherleidenschaft menschlich zu begreifen;,
wir hatten eben aus einer Gerichtsverhandlung die ge-
lehrten Beweise für die Fälschung erfahren und waren
sittlich'empört. Das half uns nicht. Wir mußten uns die
Königinhofer Handschrift in einer streng philologi-
schen Ausgabe anschaffen und den heiligen Text aus-
wendig lernen und so pedantisch analysieren, wie man
etwa auf dem Gymnasium den Homer zerarbeitet; so
mußten wir uns mit einer tschechischen Fälschung be-
schäftigen, während uns die Nibelungen, Walter und
Wolfram unbekannt blieben, während in der deutschen
134
stunde etwa der Gebrauch der großen Anfangsbuchsta-
ben höchste Weisheit war.
Ich sage mir heute, daß dieses närrische Studium
eines gefälschten Dokuments für meinen Bildungsgang
ganz schätzbar war ; der Fälscher hatte offenbar recht
gute Kenntnisse in der damals noch jungen Wissen-
schaft der Sprachvergleichung besessen und hatte die
wirklich alten kirchenslawischen Texte durchaus stu-
diert. Da bot denn unsere philologische Ausgabe ganz
gut erfundene und sauber präparierte Beispiele für eine
altslawische Mundart, und wir erlangten an diesen er-
fundenen Beispielen einige Kenntnis von der verglei-
chenden Sprachwissenschaft, von welcher sonst fast
kein Ton zu uns gedrungen war, weder im deutschen,
noch im griechischen, noch im lateinischen Unterricht.
So könnte ich auch dieses kleinen Unsinns mit einiger
Heiterkeit gedenken, wenn ich nicht wüßte, daß unsere
Kampfstimmung gegen die Tschechen gerade durch
den Zwang, uns mit einer Fälschung zu beschäftigen,
vergiftet wurde. In den nationalen Reibereien wurde
ich ungerecht gegen die Tschechen, weil ich sie alle für
die Fälschung der Königinhofer Handschrift verant-
wortlich machte. Und die nationalen Reibereien began-
nen viel Kraft von unserm jungen Leben zu beanspru-
chen, schon auf dem Gymnasium.
Wir waren als Kinder wahrhaftig keine Chauvinisten
gewesen, interessierten uns später für die aufstrebende
tschechische Literatur und fühlten uns gern als ,, Böh-
men**. Die Heimatliebe konnte so stark in uns sein, das
schöne Land Böhmen konnten wir herzlich lieben, weil
wir den Gegensatz zwischen den beiden kämpfenden
Volksstämmen nicht stark empfanden. Ich meine da
die Zeit, etwa von meinem vierzehnten bis zum sieb-
135
zehnten Jahre. Ich habe schon erzählt, wie unsere poli-
tische Gesinnung durch die Ereignisse des Jahres 66 ver-
ändert wurde. Wir hatten auch jetzt noch kein Ver-
ständnis für die Ziele Bismarcks, wir hätten uns nicht
einmal mit Recht großdeutsch nennen können, aber wir
waren deutsch geworden. Das äußerte sich zunächst
darin, daß wir nicht mehr „Böhmen'* sein wollten, daß
wir uns in den kleinen Krieg mit den Tschechen hinein-
stürzten^). Ich habe beinahe zehn Jahre lang an allen
Raufereien mit den Tschechen redlich teilgenommen,
lebhafter vielleicht und ausgelassener, als ich es heute
gutheißen möchte. Es ist aber ganz recht so, daß auf den
Schulbänken noch nicht funfundsechzig jährige Herren
sitzen, daß die Kämpfe immer wieder von einem neuen
Geschlechte junger Menschen aufgenommen werden,
daß die Streiter nicht überlegen.
Den Glanzpunkt solcher Raufereien bildete eine hoch-
politische Aktion von uns Gymnasiasten ; ich kann auch
über dieses Abenteuer nicht berichten, ohne einige
Worte vorausgeschickt zu haben. Man weiß, daß nach
dem Kriege von 1866 die Ungarn durch Verleihung einer
weitgehenden Selbständigkeit (auf Kosten der Deut-
schen und der Slawen) versöhnt wurden, daß im eigent-
lichen Österreich eine liberale Ära gewagt wurde, die
Berufung eines deutsch-bürgerlichen Ministeriums. Es
ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß diese deutschen
Minister sehr schlechte Realpolitiker (,, Herbstzeitlose''
nannte sie ja Bismarck nach ihrem Führer, dem tüch-
i) Die Wörter ,, Tscheche" und „tschechisch" kamen, wenn mein Gedächt-
nis nicht täuscht, erst damals in den deutschen Zeitungen Prags auf; die
slawischen Bewohner Böhmens sollten bezeichnet werden; die slawischen
Publizisten wehrten sich lange dagegen und wollten die alten Wörter
„Böhme" und „böhmisch" beibehalten wissen. Auch unter uns Knaben
gab es um dieser Wortschälle willen manche Prügelei.
136
tigen Juristen Herbst) waren, daß sie eine Torheit nach
der andern machten und den Kaiser Franz Joseph
durch Widerspruch in den albernsten Nebendingen reiz-
ten ; es ist aber auch gewiß, daß der katholische Klerus
in allen Kronländern nach einem gemeinsamen Pro-
gramm alle Volksstämme gegen die liberale Gesetz-
gebung hetzte. (Dafür daß einige Bürgerminister, die
doch als Minister Hofgänger sein mußten, durch Eigen-
sinnigkeiten, selbst in der Kleidung, beim Kaiser An-
stoß erregten, darf ich mich auf spätere Unterhaltungen
mit dem alten Fürsten Rohan berufen. Der Minister-
präsident, Fürst Carlos Auersperg, habe selbst nicht zu
seinen Bürgerministern gehalten. ,,Er hat Witze über sie
gemacht; über diese Witze sind diese Leute gefallen.**)
Wie dem auch sein mag : in Prag bereiteten die libera-
len Prinzipien das Ende des Deutschtums vor. Auf das
Majoritätsprinzip gestützt, konnten die Tschechen ihre
alten Forderungen immer stürmischer vorbringen ; auf
das neue Staatsrecht gestützt, konnten sie gleich den
Magyaren eine autonome Stellung des Königreichs
Böhmen verlangen. Die liberale deutsche Regierung in
Wien vernichtete in ahnungslosem Idealismus die
deutsche Macht in Böhmen oder beschleunigte wenig-
stens die Entwicklung. Es wurde in Prag nicht mehr
still; jeder Tag brachte Demonstrationen, Aufzüge in
theatralischen Kostümen und Massenmeetings unter
freiem Himmel ; wilder aber als das alles war der Wahl-
spektakel ; die Tschechen verglichen ihre Lage mit der
der Iren, drohten mit Gewalt und Revolution und hatten
keine englische Regierung über sich. Punkt für Punkt
setzten die Tschechen ihr nationales Programm durch.
Zu diesem Programme gehörte auch als kleines
Schmuckstück die Errichtung eines eigenen tschechi-
137
sehen Theaters. Bis zu dieser Zeit gab es in Prag außer
einer deutschen Sommerarena nur ein Schauspielhaus :
das altberühmte ständische Landestheater. Diese Bühne,
einst von den böhmischen Landständen erbaut und
dann vom Lande durch den Landesausschuß verwaltet
und unterstützt, war eine deutsche Bühne. Sie hatte eine
stolze Vergangenheit. Hier war Mozart gefeiert worden
wie nirgends sonst; von hier aus war sein Don Juan in
die Welt hinausgegangen, für das Prager Deutsche
Theater hatte er den Don Juan geschrieben. Nicht nur
Legenden knüpften sich an Mozarts Aufenthalt in
Prag ; es gab auch eine Tradition, die in Prag den deut-
schen Text etwas änderte, die in Prag bei jeder Auffüh-
rung bestimmte Stellen zur Wiederholung verlangte.
Die Musiker waren Tschechen, viele Sänger waren
Tschechen, aber das Theater Mozarts war deutsch,
i Und sollte deutsch bleiben. In meiner Jugend konn-
ten sich die Deutschen in Prag die Sache gar nicht an-
ders vorstellen, als daß eine Bildungsanstalt deutsch
sein müßte. Man war sehr ungerecht. Aber auch die
tschechischen Bürgerkreise, die das Theater liebten, be-
suchten ganz unbefangen das einzige Theater der Stadt,
das deutsche.
Doch die Bewegung nahm ihren Fortgang und die
deutschen Führer begingen den Fehler, sich zu wider-
setzen. Es war doch klar, daß die Tschechen, welche
damals etwa drei Viertel der Bevölkerung ausmachten,
mehr Rücksicht verlangen durften von einer Anstalt,
die aus Landesmitteln bezahlt wurde. Man gab aber da-
mals für die große Mehrheit der Bevölkerung nur ein
einziges Mal in der Woche eine Vorstellung, am Sonn-
tagnachmittag. Trotzig verlangten die tschechischen
Führer ein eigenes tschechisches Theater ; sie kümmer-
138
ten sich vorläufig nicht um die Schwierigkeiten: wo
ein eigenes Repertoire hernehmen und wie das Haus
täghch füllen. Die Sonntagnachmittagsvorstellungen
brachten fast nur Übersetzungen, von Shakespeare,
Schiller und den Franzosen. Das Nationaltheater hätte
nationale Opern und nationale Dramen spielen müssen.
Nun besaßen die Tschechen allerdings an ihrem Sme-
tana einen bedeutenden Musiker, der ja auch — spät
genug — seinen Weg auf die deutsche Opernbühne ge-
funden hat. Sonst gab es in der jungen tschechischen
Literatur einen einzigen Dramatiker, den begabten
Emanuel Bozdech, der übrigens vor mehr als zwanzig
Jahren verschollen ist und gerade jetzt irgendwo in
einem Balkankloster wieder aufgetaucht sein soll ; die-
ser Bozdech war ein ganz eleganter Komödiendichter,
aber doch nur ein Nachahmer Scribes. Er hätte den
,, nötigen Vorrat'* von Stücken nicht liefern können.
Ich habe übrigens diese beiden „Hoffnungen*' des tsche-
chischen Nationaltheaters persönlich gekannt ; den Ko-
mödiendichter recht gut, den prachtvollen Musiker
wenigstens durch zwei Gespräche. Bozdech war ein
noch junger Mann, in Sprache und Zügen der Typus
eines hübschen Slawen. Smetana aber gehörte einer
früheren Generation an; er hatte willig deutsche Bil-
dung — natürlich nicht nur die musikalische — auf-
genommen und redete ein tadelloses weiches Deutsch.
Er hatte, als ich ihn kennenlernte, die schöne und reiz-
volle Oper ,,Die verkaufte Braut*' schon geschrieben;
er war 50 Jahre alt und teilte mit Beethoven das tra-
gische Musikerschicksal: Taubheit.
Wurde nun das künftige Repertoire des tschechi-
schen Nationaltheaters von den deutschen Journalisten
lieblos kritisiert, so wurden gar über das künftige Publi-
139
kum unanständige und gemeine Witze gerissen. Für
die tschechische „Hautevolee'* wäre allwöchentlich
eine Sonntagnachmittagsvorstellung gerade genug;
auch das Nationaltheater würde immer nur am Sonn-
tagnachmittag besucht werden. Ich erinnere mich noch
genau eines frech herausfordernden Gedichts, welches
den pöbelhaften Trumpf enthielt: „Schuster, Schneider,
Handwerksleut haben nur am Sonntag Zeit.''
Der Aufruf zu dem tschechischen Nationaltheater
fragte nicht nach dem Publikum und dem Repertoire
der Zukunft ; er wandte sich an die nationale Leiden-
schaft und diese war gerade im Kampfe um das Theater
heftig aufgeflackert ; man darf wohl sagen, daß die ge-
sellschaftliche Trennung zwischen Deutschen und
Tschechen durch den Theaterstreit festgelegt worden
ist, und daß bei diesem Streite die Deutschen im Un-
recht waren. Dieses Unrecht schürte die Begeisterung
und der Aufruf hatte einen gewaltigen Erfolg. Eine
Kreuzersammlung schaffte die nötigen Millionen. Das
National theater (damals handelte es sich wohl erst um
den vorläufigen, den Interimsbau) steht schon lange
da und ich kann unbefangen zugestehen, daß es ein
schöner Bau geworden ist. Ich saß aber noch in der
Septima (Unterprima), als der Grundstein gelegt wer-
den sollte. Eines Tages suchte uns eine Abordnung aus
der Oktava (Oberprima) in einer Schulpause auf, um
uns zur gemeinsamen Abwehr einer unerhörten Frevel-
tat anzufeuern. Der Direktor unseres Kleinseitner
Gymnasiums hatte den tschechischen Schülern der
deutschen Anstalt die Erlaubnis gegeben, das deutsche
Gymnasium bei dem Feste der Grundsteinlegung ,, kor-
porativ" zu vertreten. Wir nahmen die kleine Sache
sehr feierlich und ließen uns zu einem künstlichen Ber-
140
serkerzorn aufstacheln. Wir Helden aus den beiden
obersten Klassen stürzten zu dem feurigen Mathematik-
lehrer, dessen Wesensart ich schon geschildert habe.
Dieser hielt uns eine Wahlrede über den Hochmut der
Tschechen und gab uns schließlich den recht unver-
nünftigen Rat, zum Direktor zu gehen und dort gegen
die gegebene Erlaubnis zu protestieren. Das gefiel uns
sehr gut. Wir zogen mit großen Schritten zum Direktor
und protestierten; wir waren die Längsten der beiden
Klassen, zwei Septimaner und zwei Oktavaner. Unser
Führer und Sprecher war der begabte, leider früh und
schrecklich dem Tode verfallene Eduard Popper. Ich
kann nicht sagen, welchen Ausgang die dumme Ge-
schichte an einem preußischen Gymnasium genommen
hätte. Wir aber trugen den Sieg davon. Der Direktor
war erst verblüfft, dann grob, aber am selbigen Tage
noch nahm er seine Erlaubnis zurück; das heißt: die
tschechischen Schüler des deutschen Gymnasiums durf-
ten bei der Grundsteinlegung dabei sein, als eine beson-
dere Gruppe, als die tschechischen Schüler des deutschen
Gymnasiums, aber beileibe nicht „korporativ''.
Der Leser mag je nach seiner Seelensituation aus
diesem Ereignisse Schlüsse ziehen auf den Geist oder
die Disziplin der österreichischen Schulen. Mir war es
darum zu tun, auf die Verhältnisse vorzubereiten, die
uns auf der Universität erwarteten. Der nationale Zwist
verdarb schon auf dem Gymnasium, was zu verderben
war; auf der Universität hörten die Katzbalgereien
nicht mehr auf. Ich habe auf der Prager Universität
die für den Juristen vorgeschriebenen acht Semester
studiert ; wenigstens war ich acht Semester lang inskri-
biert. Ich habe bis zu meiner rechtshistorischen Staats-
prüfung (nach dem vierten Semester, also im Sommer
141
1871) nur mehr des Morgens und des Nachts viel ge-
lesen, den Tag und den Abend jedoch oft mit politischen
Kannegießereien und gelegentlich mit der Beteiligung
an nationalen „Ereignissen'* ausgefüllt. Ich muß froh
sein, daß eine Krankheit, die ich mir wohl durch über-
hetzte Arbeit für das Examen zuzog, meinen passiven
Widerstand gegen das juristische Studium härtete, daß
meine schriftstellerischen Neigungen siegten, und ich
für die nationalen Aufgaben in Böhmen keine Leiden-
schaft mehr übrig behielt. Oder vielmehr: die Leiden-
schaft meines Lebens siegte und ich hatte nicht mehr
Neigung genug für die nationalen Kämpfe meiner Hei-
mat, die mir just damals mehr als heute als elende Katz-
balgereien erschienen. Und wenige Jahre nach dem
letzten Studiensemester verließ ich Prag für immer, um
in Deutschland zu leben.
142
IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHIÜIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII
illlililiiiniiiiiitlltlliiliiiniriiiiiiMiiiiniiiiiiiiiiiiiiniHMiiriiiiiiHiiiiniiiiiiiiiiiiiiitiiiiiliiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiitiiiiiiiii
XIV. Einsame Fahrt.
Ich durfte nach meiner Maturitätsprüfung zum ersten
Male eine Ferienreise machen, über Böhmen hinaus,
nach Süddeutschland. Ich fuhr ins bayerische Hoch-
gebirge, marschierte bis nach Tirol hinein und wun-
derte mich darüber, daß die Berge noch höher waren
als im Riesengebirge; das Anschauen der Natur ent-
zückte mich, aber ich kann nicht behaupten, daß die
große Natur mir mehr zu sagen hatte als die kleine
Natur. Aber ich erlebte etwas anderes, etwas Neues:
ich lernte Regensburg, München, Augsburg, Nürnberg
kennen, deutsche Städte, in denen die Marktfrau und
die Kellnerin deutsch sprachen. In denen deutsche
Mundarten geredet wurden, die sich dem Prager eine
nach der andern wie Volkslieder ins Ohr schmeichelten.
Ich fragte oft die kleinsten Kinder nach dem Weg, nur
um eine deutsche Antwort aus ihnen herauszulocken.
Es war zum Heulen schön. Die Entdeckung, daß es
wirklich ein deutsches Volk gäbe, war mir eine liebe
und beruhigende Überraschung.
Auf manchen Seiten dieser Erinnerungen zeige ich
mich, wie ich war : unreif, kindisch, im Verhältnis zu
meinem Alter eigentlich recht sehr dumm. Wem es
unglaublich dünken sollte, daß ein begabter Junge von
bald zwanzig Jahren — auch daß ich den jungen Men-
schen in vielen Dingen für begabt zu halten Ursache
143
hatte, habe ich oft ohne jegliche Bescheidenheit gesagt —
so unvorbereitet, so ahnungslos in die Welt hinein-
lebte. Mir selbst ist die Erscheinung besonders dann
rätselhaft, wenn ich die Sicherheit und ,, Fertigkeit''
wahrnehme, mit welcher gleichaltrige Jünglinge heute
das Leben nehmen und sich auf beide Füße fest
hineinstellen. Der Umstand, daß ich aus dem zurück-
gebliebenen österreichischenSlawenlande in das Deutsch-
land meiner Träume kam, kann die Unzulänglichkeit
meiner Seelensituation allein nicht erklären. Auch nicht
die anderthalb Generationen, die dazwischenliegen,
können den Abstand zwischen meinem zwanzigjährigen
Ich und einem Fuchs von heute begreiflich machen, nicht
einmal mir selbst ; auch unter meinen damaligen Kolle-
gen und Altersgenossen waren junge Männer, die zwar
noch nicht die Hundeschnäuzigkeit des gegenwärtig
aufstrebenden Geschlechts besaßen, die aber doch in
den Fragen der Politik und der Kunst, des Geldes und
der Liebe schon einigermaßen Bescheid wußten. Da ich
nun anderseits bereits sehr früh Kritik für jede Um-
welt in mir ausgebildet fand, da ich sogar dazu neigte,
Menschen und Dinge satirisch zu sehen, ohne sie zu
kennen, so wird wohl mein Zustand eine Art von
unklarem Idealismus gewesen sein, den die reale Wirk-
lichkeit zunächst immer abstieß. Ich habe das Abstrakte
immer sehr rasch und leicht, das Konkrete bis zur
Stunde sehr langsam und schwer gelernt.
Nachdem ich diesen Versuch, über meine eigenen
Jünglings jähre ein wenig klar zu werden, gewagt habe,
darf ich wieder, ohne daß mein Lächeln mißverstanden
würde, etwas von meiner ersten Ferienreise erzählen.
Nur noch ein Wort vorher : ich weiß nicht, ob die ein-
siedlerische Einsamkeit, in der ich damals und noch
144
lange nachher jede Reise unternahm, eine Folge oder
eine Ursache meiner Unzugehörigkeit zu andern Men-
schen gewesen sein mag.
Die enthusiastische Stimmung, die mich in diesen
vier Wochen nicht verließ, war also zunächst dem Glück
zuzuschreiben, das ich beim Anhören wirklich lebender
deutscher Mundarten erlebte. München, Tirol, Augs-
burg, Nürnberg: ich fühlte mich reicher und reicher
werden und war nur von Zeit zu Zeit betrübt darüber,
daß es mir nicht gelang, auch nur einen Satz einer die-
ser Mundarten volksmäßig nachzubilden. Mein Ohr war
immer, auch beim Lernen fremder Sprachen, zuver-
lässiger als meine Sprachwerkzeuge. Aber dieser En-
thusiasmus wurde noch verstärkt durch die Bekannt-
schaft mit berühmten Kunstwerken und Landschafts-
bildern. Die Berühmtheit war nicht ganz gleichgültig
bei dem Wunsche nach der Bekanntschaft; nachher
aber pfiff ich auf die Berühmtheit. Mit ungebildetem
aber ganz eigensinnigem Geschmack gewann ich einiges
lieb, ging ich an vielem ungerührt und unberührt vor-
über.
Von Regensburg aus marschierte ich natürlich nach
der Walhalla; heute würde man Walhall sagen und
streng darauf achten müssen, die erste Silbe zu be-
tonen. Damals wallfahrtete man noch nach der Walhalla.
Ich war einfach entsetzt über den griechischen Tempel ;
ich wußte es nicht anders, als daß ein feierliches Ge-
bäude gotisch sein müßte; ich wüßte nicht zu sagen,
woher mir diese Überzeugung gekommen war; volle
dreißig Jahre später, als ich auf der Akropolis von
Athen stand — heiliger Mondschein! — ging mir trotz
aller dazwischenliegenden kunsthistorischen Studien die
andre Schönheit der hellenischen Architektur zum
10
HS
ersten Male auf, ohne meine Vorliebe für die Gotik je
zu verdrängen. Ich war also von der Walhalla zunächst
entsetzt und wandelte darin umher, als ob ich in ein
ägyptisches Grab versetzt worden wäre. Plötzlich stand
ich vor einer Viktoria von Rauch, der mit dem schönen
hängenden Beine. Ich brüllte auf, daß ein Aufseher
mich zur Ruhe mahnte; und ich ahnte so etwas, wie
die Berechtigung von griechischen Säulen. Ich wußte
noch nicht, daß Rauch nach griechischen Vorbildern
gestaltet hatte.
In München wollte ich getreu meinem Reiseführer
folgen. Ich lief durch die Sammlungen, ich kroch die
hohle Bavaria hinauf und hinab, ich stattete dem alten
Hofbräuhaus meinen Besuch ab. Hier war der Rausch
zunächst ganz seelisch ; ich hatte so viel davon gehört,
daß ich Wonne empfand, als ich mit dem ersten Maßkrug
an den Brunnen trat, ihn selbst zu waschen. Mancher
gewöhnlichere Rausch folgte. Aber der Kunst gegenüber
wollte sich lange kein Hochgefühl einstellen. Ich hatte
von dem Laufen in den Theken nicht viel mehr als
vom Kriechen durch die Bavaria. Da half mir ein Zufall.
Auf dem Augustiner- Keller lernte ich einen jungen
Kunstmaler kennen, einen begeisterten Schüler von
Wilhelm Kaulbach ; es verstand sich von selbst, daß ich
den Maler ebenfalls bewunderte, von dessen Bildern ich
freilich nur schwarzweiße Reproduktionen kannte,
Photographien und Stahlstiche ; damals galt Kaulbach
sehr viel, heute gar nichts ; vielleicht ist die heutige ge-
ringe Schätzung nicht weniger Modesache als die ein-
stige Verehrung. Es war doch eine erstaunliche geistige
Kraft der Phantasie in dem Manne, und zeichnen konnte
er wie damals nur wenige. Genug, am nächsten Vor-
mittage holte mich der Schüler vom Oberpollinger ab
146
und führte mich in das Atelier des Meisters. Kaulbach
hatte an der einen kahlen, schmutzfarbenen Wand wie
auf einem Karton seinen ,, Peter von Arbues** skizziert.
Davor stand ich nun in maßloser Bewunderung, sprach-
los, wohl eine halbe Stunde lang. Endlich fragte mich
Kaulbach, ob ich Maler wäre. Wie mir die Hand mit
der Krücke gefiele? Ich stotterte. Ich konnte vor Er-
griffenheit nicht sprechen. Da reichte mir ,,der Meister''
die Hand, die ich in meiner Hingegebenheit gern geküßt
hätte, und sagte, als wüßte er, was in meinem Kopfe
vorging: es gäbe bessere Sachen zu sehen, auch in
München. Zwei oder drei gute Bilder zusammen in der
alten und in der neuen Pinakothek. Die sollte ich mir
selber heraussuchen und das übrige Gerumpel links lie-
gen lassen.
Von München aus fuhr ich mit der neuen Eisenbahn
bis Schliersee; dann begann eine Wanderung in Eil-
märschen, über Tegernsee und Kreuth nach dem Tirol.
In Jenbach ein Tag Rast, oder vielmehr übertriebene
Anstrengungen zu Wasser und zu Lande. Am nächsten
Nachmittag begann ich über das Plümsenjoch (so heißt
es, glaube ich), wo ich mich gefährlich verirrte, durch
die Ries über Walchen- und Kochelsee nach Brück an
der Ammer zu eilen.
Ich habe schon kurz gesagt, daß mir die „große Na-
tur'' keinen größeren Eindruck machte als daheim die
kleine, die Andacht vor den Alpen nicht größer war,
als die Andacht vor einem blühenden Strauche. Und doch :
es jubilierte etwas in mir, als hoch oben — wohin ich
mich vom Plümsenjoch aus verlaufen hatte — auf dem
Gipfel des Berges, es war Abend geworden und ich
wußte nicht wohin, ein Gewitter losbrach, und ich beim
Schein der Blitze die Rippen der Erde vor mir ausge-
10» 147
breitet sah. Es jubelte etwas in mir, als ich beim Schwim-
men und beim Bergsteigen eigentlich zum ersten Male
das volle Gefühl meiner frischen Jugendkraft empfand
und als — eki schönstes Zeichen der Kraft — wilde
Rhythmen und sanfte Gedichte mir einfielen, die ich
ja nur niederzuschreiben brauchte, um ein Buch voll
Poesie nach Hause zu bringen. Nein, nicht nieder-
schreiben! Im Herzen bewahren! Ich segnete jeden Berg
und jede Matte und jeden Menschen, der mich mit
seinem Grüßgott erfreute, und bedauerte nur, daß ich
nicht bleiben konnte.
Ich aber konnte nicht bleiben, weil mir erstens das
Geld auszugehen begann und weil mich zweitens in
Brück an der Ammer ein Kuß von den Lippen eines herr-
lichen Münchner Mädels erwartete. Nach der Reihe:
erst die traurige Liebesgeschichte, dann die tragikomi-
sche Geldgeschichte.
Kurz vor meiner Fahrt nach Tirol hatte ich eines
Abends im Theater, auf dem letzten Platze natürlich,
eine richtige Münchner Gesellschaft kennen und schät-
zen gelernt. Am Montag hatte ich den Frühzug nach
Schliersee nehmen wollen, den Sonntag zu einem Aus-
fluge ins Isartal benutzen. Und so saß ich am Samstag
noch einmal im Hoftheater; „Turandot" wurde ge-
spielt, Clara Ziegler — außerhalb Münchens noch kaum
bekannt — sprach die Turandot.
Neben mir saß eine nette Frau, lange noch nicht
dreißig Jahre alt ; an ihrer Seite ihr Mann, sodann ihre
Schwester. Na! Vielleicht achtzehn alt, hübsch wie . . .,
na ; und ein süßer Zug von Melancholie verschönte sie
noch. In den Zwischenakten und oft genug auch sonst
starrte ich nach ihr hinüber. Meine Nachbarin, die
ältere hübsche Schwester der schönen Resi mochte meine
148
beginnende Verliebtheit bemerkt haben. Sie begann ein
gebildetes Gespräch über das ,,Stuck*', den Autor und
die ,, Spieler'* und hatte bald erfahren, daß ich ,, Student'*
war und ein Stadtfremder. Einfach wurde ich aufgefor-
dert, mit den andern nach Schluß der Aufführung in
den nächsten Bierkeller zu gehen. Zu einer Vorstellung
kam es nicht; aber ich erfuhr doch, daß sie Resi hieß
und daß ihr Schwager irgendwo auf einer städtischen
Kanzlei arbeitete. Morgen wollten sie nach Brück an
der Ammer zu Verwandten. Ob ich mich anschließen
wollte ? Ob ich wollte ! Die Schwester flüsterte mir zu :
,,Sie verinteressieren sich ja für die Resi. Das sieht ein
Blinder! Es wird ihr gut tun bei ihrem Kummer um
eine unglückliche Liebesgeschichte. Das arme Mädel!**
Ob ich wollte!
Wir trafen uns früh am Tage pünktlich auf dem
Bahnhofe. Resi blickte noch trauriger darein als gestern
abend. Trennung vom Geliebten? Wer weiß. Aber sie
drückte mir die Hand ... oh !
Wir hatten von der Station über eine Stunde zu
laufen. In Brück ließ man mich bis zum Mittagessen
allein. Ich sollte nicht gezwungen sein, mit den Ver-
wandten zu reden. ,,Es sind G'schertel** Bei Tisch
trafen wir wieder zusammen. Es wurde noch mehr ge-
trunken als gegessen ; eigentlich wurde so langsam und
fest weiter getrunken, bis es Zeit für die Heimkehr
wurde. Nicht einen Augenblick hatte man mich mit
Resi allein gelassen. Mit Absicht, wie es mir schien.
Auch auf dem Rückwege zur Station schritt der Schwa-
ger neben Resi voran, nicht ganz nüchtern, die Schwe-
ster neben mir, auch sie recht redselig.
»Sie war lieb ;zu mir, stupste mich ab und zu und ver-
sicherte^mich, sie gönTite mich ihrer lieben Resi, weil
149
man gleich Vertrauen zu mir fassen könnte. Ich sollte
für das nächste Wintersemester noch zu Hause bleiben ;
Resi müßte die unglückliche Liebesgeschichte erst ganz
vergessen haben ; im Sommersemester sollte ich wieder-
kommen und dann würde alles gut gehen. ,,Sie sehen
ganz so aus, mein lieber Student, als ob sie das Mädel
auch heiraten täten, mit dem sie sich verlobt haben.**
So schmeichelhaft und peinlich zugleich mir dieses
Drängen war, das Blut stieg mir zum Herzen, und ich
versicherte der Schwester blödsinnig, daß sie sich in
mir nicht getäuscht hätte. Wer weiß, vielleicht war ich
mit der Resi wirklich schon verlobt ! Und die Schwester
gefiel mir in ihrer gesunden Sachlichkeit so gut, daß
ich nahe daran war, mich auch in sie zu verlieben.
Als ich in gutem Glauben erklärt hatte, ich gehörte
zu den Männern vom alten Schrot und Korn, die immer
heirateten, wenn sie liebten, stupste mich die Schwester
recht derb und rief ihrem Manne zu, er und sie sollten
die jungen Leute einmal allein lassen, die sich gewiß
allerlei zu erzählen hätten ; gar einen Kuß geben woll-
ten. Im nächsten Augenblick war ich mit Resi auf dem
Waldwege allein ; Schwager und Schwester tappten vor-
an und riefen zurück, wir hätten nur wenige Minuten
Zeit; wir dürften den Zug nicht versäumen.
Ich blieb stehen und setzte in furchtbar gewundenen
Redensarten auseinander, daß ich mit Erlaubnis der
Schwester jetzt Anspruch auf einen Kuß hätte, wenn
Fräulein Resi usw.
Resi gab mir die Hand. ,, Jetzt nicht**, sagte sie;
,,wenn Sie aber am nächsten Samstag zur gleichen
Stunde an dieser Stelle sein wollen, mein lieber Herr
Student, so werden wir ganz allein sein und uns lieb
haben können, nicht nur küssen. Einen Stehkuß geb*
ISO
ich nicht. Hüten Sie sich vor meiner Schwester, die
ist grundschlecht!'*
Dazu gab sie mir doch einen flüchtigen Stehkuß, und
wir schritten schnell den beiden andern nach.
Darum hatte ich^s so eilig, von Tirol umzukehren.
Was verstand Resi darunter : wir werden uns lieb haben
können, nicht nur küssen ? Siedig gingen mir die Worte
nach. Nun hätte ich natürlich um dieser Worte willen
den Ausflug nach Tirol aufgeben und am Montag in
Brück an der Ammer auf ,, meine'* Resi warten können ;
ich fand es aber romantischer, mit meiner vermeint-
lichen Liebe im Herzen den Körper aufs äußerste zu
ermüden, und das märchenhafte Ereignis, das mir be-
vorstand, in Genüssen so ganz anderer Art heranzu-
warten. Immer schwebte mir Resis Bild vor, während
ich täglich meine etwa vierzehn Stunden marschierte ;
und als ich am Samstag, rückkehrend, im Eilschritt
dem lieblichen Brück mich näherte, schlug mir das
Herz nicht nur vor Überanstrengung.
Die Stelle des flüchtigen Stehkusses war ein Kreuzweg ;
ein hölzernes Kruzifix und nicht weit davon ein Weg-
weiser machten die Stelle kenntlich. Als ich kurz vor
Sonnenuntergang anlangte, lehnte unter dem Wegwei-
ser die liebe Gestalt in einem hellen Kleidchen ; Resi hatte
sich auf den rechten Ellenbogen aufgestützt; sie hatte
mich schon von weitem erblickt und lachte mich an.
Ich durfte mich neben sie ins Gras legen und bekam
zum Willkomm einen Kuß, der kein Stehkuß war. Ich
mußte zuerst von meiner Wanderung erzählen ; dann
aber, als es schon zu dunkeln anfing, von meinem son-
stigen Leben, von meinen Verhältnissen, von meinen
Eltern, von meinem Berufe, von meinen Aussichten.
Und wie oft ich schon Mädel unglücklich gemacht hätte ?
151
Sie erfuhr zunächst, daß ihr Kuß der erste meines Le-
bens gewesen. Daß ich eben erst das Abiturientenexa-
men gemacht hätte ; erst anfinge zu studieren, und daß
darum von Lebensaussichten noch kaum die Rede sein
könnte.
,,Mein lieber Mensch, warum hast du dann meiner
Schwester gesagt, daß du mich heiraten willst?*'
Es wurde mir recht schwer, der lieben Resi zu sagen,
daß die Schwester gelogen hätte; ich hätte ja nur im
Konditionalis versichert, ich würde, wenn ich es zu-
gesagt hätte.
,,Wenn du mir aber ewige Liebe geschworen hättest,
dann würdest du mich heiraten? Unter allen Umstän-
den?'*
Ehrlich sagte ich: ,,Ja, Resi.'*
„Und wenn ich dich noch einmal so an mich drücken
würde, würdest du mich dann sehr lieb haben und mir
ewige Liebe schwören?"
Ehrlich sagte ich: ,,Ja, Resi."
,,0, wie lieb du bist, o, wie dumm du bist, mein
lieber Mensch." Wieder bekam ich einen Kuß, der ganz
gewiß kein Stehkuß war; und als ich den Mund frei
hatte und im Begriffe war, etwas von ewiger Liebe zu
stammeln, unterbrach sie mich und sagte traurig:
„Jetzt sei still, du dummer Kerl. Wenn du nicht so
horndumm wärst und so lieb und so unerfahren, hättest
du es ja schon vor acht Tagen bemerken können. Meine
Schwester ist schlecht. Sie will, ich soll dich betrügen.
Grad nicht! Schwanger bin ich. So! Heraus ist's. Ich
bin ein anständiges Mädel, ich betrüg' dich nicht."
Sie kuschelte sich an mich und weinte bitterlich.
Ich war zu entsetzt, sonst hätte ich mit ihr geweint.
Sie erzählte mir dann allerlei, wie es gekommen war:
152
ein Student wie ich. Ein lieber Mensch, auch er. Nicht
schlecht. Ihre Schwester wäre an allem schuldig.
Ich hörte kaum mehr zu. Meine Resi schwanger!
Über mir schlug etwas zusammen, etwas Schwarzes.
Was da über mir zusammenschlug, das mag wohl ein
Wirrwarr von törichter Scheu vor dem geschlechtlichen
Worte und einer noch törichteren Moral gewesen sein.
Ich weiß nicht, was mir schrecklicher war : die Schwan-
gerschaft Resis oder die Tatsache, daß sie die Silben
,, schwanger*' aussprechen konnte. Man ist immer noch
viel dümmer, als man glaubt.
Resi hatte aufgehört zu weinen. Sie streichelte mein
kleines Schnurrbärtchen und schien verlegen. Ob ich
böse auf sie wäre? Ich stotterte etwas. Ob ich es ihr
verzeihen könnte, wenn sie nicht Wort hielte ? Ich ver-
stand nicht.
„Schau, mein lieber Student, wenn du zum Sommer-
semester wiederkommst, nach Ostern, dann wird es mit
meiner Geschichte vorüber sein und wir werden uns
lieb haben, nicht nur küssen. Wie ich 's dir gesagt
habe. Aber jetzt, schau', jetzt wär's gegen Gottes Gebot!
Und was mir meine Schwester geraten hat, das wäre
eine Gemeinheit gewesen! Und so dumm, so ganz sau-
dumm bist du doch auch nicht, daß du's geglaubt
hättest. Daß du nach fünf Monaten . . . Nein, so dumm
bist du nicht, mein lieber Mensch.'*
Ich werde wohl froh gewesen sein, als sie mich auf-
forderte, sie zu verlassen. War es nur meine Müdigkeit
— ich war an diesem Tage zwölf Stunden gewandert —
daß ich mich so schwer nach der Station schleppte?
Am zweitnächsten Morgen war ich in Nürnberg. Von
dort schrieb ich an Resi, was ich ihr nicht zu sagen ge-
wagt hatte : daß es aus zwischen uns wäre, bevor es noch
153
angefangen hätte. Ich habe diesen mehr als albernen,
diesen ruchlosen Brief noch einige Jahre in meinem
Besitze gehabt und kenne ihn genau. Ich warf ihr in
wildpathetischen Ausbrüchen vor, daß sie sich einem
andern hingegeben hätte. Sie hätte auf meinen Schwur
ewiger Liebe warten müssen. Sie hätte ... sie müßte . . .
sie sollte . . .
Sie hat beim Lesen dieser Epistel weder lachen noch
weinen können; sie hat sie niemals erhalten. Als ich
mit der Abfassung fertig war, fiel mir erst ein, daß ich
von Resi weder den Familiennamen noch die Wohnung
kannte. Unter der Adresse ,,Resi in München** hätte
sie das Zeug doch nicht erreicht.
Ich habe später manchen Versuchungen nicht ebenso
brav widerstanden, aber ich meine doch, daß die
„Liebesgeschichte**, die ich eben gebeichtet habe, nicht
bloß für meine zwanzig Jahre bezeichnend war. Von
meiner Dummheit (meinetwegen denke man mittelhoch-
deutsch und lese ,,tumpheit**) wollte ich eine Vorstellung
geben, von dieser seligen Jugendeselei, die ich mir Gott
sei Dank bis zur Stunde nicht ganz habe rauben lassen.
Es wäre mehr als dumm, es wäre albern, wollte ich auch
nur noch ein einziges Mal so etwas öffentlich ausbreiten,
wollte ich auch nur noch eine solche Geschichte erzählen.
Aber das Erlebnis von Brück an der Ammer scheint mir
symbolisch, wenigstens für mein Verhältnis zu Welt und
Menschen. Und darum eben habe ich sie gebeichtet.
Sollte Resi noch am Leben sein, so wird sie diese Lebens-
erinnerungen schwerlich zu lesen bekommen.
Die Verabredung in Brück an der Ammer war also
der eine Grund, der mich so rasch von München nach
dem Tirol und wieder zurückjagte. Der andere Grund
lag in dem Zustand meiner Reisekasse.
154
Gerade in dem Jahre meiner Maturitätsprüfung war
— wenn ich nicht irre — die Bequemlichkeit oder die
Verführung der Rundreisebilletts eingeführt worden.
Als ich von dem Gelde, das mir der Vater recht groß-
mütig für eine kleine Erholungsreise ausgezahlt hatte,
mein Billett Regensburg-München-Augsburg-Nürnberg-
Prag beglichen hatte, blieb mir eine Barschaft von un-
gefähr fünfundzwanzig Gulden. Wie ich es fertig ge-
bracht habe, damit etwas über vier Wochen unter-
wegs zu bleiben, ohne — wie sonst öfter — regelmäßig
auf der Streu zu übernachten und ohne zu hungern,
ist mir fast ein Rätsel. Die Fußreise nach Tirol kam
freilich nicht teuer : Heuboden. Heuboden oder Stroh-
lager blieben mir noch manches Jahr vertraute Dinge.
Just ein Jahr nach meiner ersten Studentenfahrt schlug
ich mich so durch die böhmischen Kurorte durch, ohne
die Zeit über je in einem Bette zu schlafen. Das geringe
Reisegeld mußte eben für zehn Tage gestreckt werden.
Ich mußte geizig sein. Dafür leistete ich mir einmal
in Karlsbad zwei Stück von dem teuern Erdbeerkuchen ;
aus Trotz, weil mir die Ladnerin beim ersten Stücke
warnend gesagt hatte, es koste zwölf Kreuzer. Sie ur-
teilte nach dem Äußern. Ich werde gewiß keine ele-
ganten Reisekleider getragen haben und die Spuren der
Streu ( , , altes Stroh umsonst, frisches Stroh drei Kreuzer* *)
mochten zu sehen sein. Doch auf meiner ersten Fahrt,
eben der durch Bayern, war ich auch in Geldsachen
nicht erfahren genug.
In Augsburg, wohin ich nach der Trennung von
Resi noch am selben Abend geflohen war, ritt mich der
Teufel, im ersten Hotel abzusteigen, den berühmten
Drei Mohren. Als mich der Oberkellner mit einem zwei-
armigen Leuchter in meinen ,, Salon'* geleitete und ich
155
dort die Pracht der Teppiche erblickte, riß ich ihm meine
Tasche aus den Händen und rannte die Treppe hinunter
und versteckte mich vor der Verfolgung, an die ich
glaubte, in einem Winkelwirtshaus.
Als ich in Nürnberg ankam, besaß ich noch zwei
Gulden. Im ,, Grünen Weinstöckel*' konnte ich damit
recht gut zwei Tage leben, trotzdem mich der Wirt
verlockte, mit ihm am Abend eine andre Wirtschaft
aufzusuchen, wo es besseres Bier gäbe. Man kann es
mir glauben, daß ich in Nürnberg glücklich war: in
Wandern und Schauen. Nur eines kränkte mich; ich
konnte von dem letzten Reste meines Vermögens nicht
den Eintritt ins Germanische Museum aufbringen. Da
geschah ein Wunder. Auf meinem letzten Gange durch
die alten Straßen wurde ich von einem französischen
Ehepaar, er war ein Professor aus Südfrankreich, an-
gesprochen; sie fragten nach dem Wege zum Germa-
nischen. Wie gut ich diesen Weg kannte ! Und hatte ihn
nicht gehen können! Ich gab in meinem besten Fran-
zösisch Auskunft und bot mich schließlich an, die
Fremden bis vor das Portal zu führen. Ob ich nicht
mit hineingehen wollte? Ich zögerte und sagte endlich
(Gott hat mir die Lüge verziehen, ich weiß es), mein
Geld reichte nicht, dieses herrliche Museum öfter als
dreimal zu besuchen. Ob ich . . . ? Man erlegte den Ein-
tritt auch für mich. In meinem Glücksgefühl war ich
schlecht genug, immer nur das anzusehen, was mich
interessierte. Anstatt die Franzosen mich herumschlep-
pen zu lassen, schleppte ich sie mit mir. Und weil mich
ihre vielen Fragen störten, fing ich Unfug an und gab
ihnen übermütig verrückte Übersetzungen der Auf-
schriften zum besten. Der Herr Professor notierte ein-
zelnes. Das hat mir Gott, der alte deutsche Gott, schwer-
156
lieh verziehen. Und dazu kam die Beschämung. Als ich die
guten Leute zu ihrem Hotel zurückgeleitet hatte, drückte
mir der zufriedene Professor zwei blanke Guldenstücke in
die Hand. Mein erstes ,, verdientes'* Geld. Ich schämte
mich mächtig. Aber ich konnte weitere zwei Tage in
Nürnberg bleiben. Als ich endlich meine Rückreise nach
Prag antrat, hatte ich morgens noch sechs Kreuzer in
der Tasche als Wegzehrung für einen langen Tag.
Was ich auf dieser ersten unter meinen vielen „ein-
samen Fahrten* * ^) für meine Freude an Kunst und Leben
etwa mag gewonnen haben, das wußte ich damals ganz
und gar nicht. Zum Bewußtsein kam mir einzig und
allein, was ich schon gesagt habe : die Entdeckung, daß
es jenseits der böhmischen Grenzen wirklich und wahr-
haftig, leibhaft und glaubhaft, ein deutsches Land, ein
deutsches Volk gab, daß da die kleinsten Kinder schon
deutsch sprachen, noch dazu ein so liebes Deutsch,
überall anders und überall schön. Ich verstand auf ein-
mal etwas, was mir bis dahin ein totes Wort gewesen
war: die Befreiungskriege. Ich verstand Kleists Her-
mannsschlacht. Ich verachtete — für einige Zeit —
Heinrich Heine, weil er ein Napoleonschwärmer war.
Ich haßte Napoleon — wieder für einige Zeit. Ich will
ja den Lauf meiner politischen Entwicklung nicht er-
zählen, weder ironisch noch feierlich. Ich will nur sagen,
daß ich auf der Schule immer nur gehört hatte, ich
wäre ein Böhme, daß meine deutsche Erziehung durch
das Erleben von 1866 begonnen, durch meine erste Ferien-
reise gefördert, durch die Teilnahme an der Gründungs-
feier der Straßburger Universität vollendet wurde. Was
man so vollendet nennt.
I) Unter diesem Titel habe ich später einige recht ungleiche Skizzen ge-
sammelt.
157
Illlllllllllllllllillllllllllllllllllllllllllllll
XV. Universitätsjahre.
Bald nach der Entdeckung, nach der von mir ganz
persönlich gemachten Entdeckung, daß es ein deutsches
Volk gäbe, bezog ich die Prager Universität, die eine
deutsche Universität hieß, übrigens die älteste Univer-
sität Deutschlands ist. Soll ich dem Zwecke dieser
Niederschrift nicht zuwiderhandeln, so darf ich nicht
allzulange bei den lyrischen Stimmungen verweilen,
die sich in meiner Erinnerung an die beiden großen
Universitätsgebäude knüpfen: an das alte Karolinum,
in welchem gotische Reste noch aus der Zeit Karls IV.
stammen, und an das Klementinum, das alte Jesuiten-
kolleg. Ich habe auf den weiten Höfen und in den Hallen
dieser Gebäude vier Jahre lang gesucht: den deutschen
Studenten und die deutsche Wissenschaft, die Wahrheit
oder eine Weltanschauung. Ich war vier Jahre lang
zu Hause auf diesen weiten Höfen und in diesen Hallen.
Ich habe die historische Stimmung dieser Gebäude auf
mich wirken lassen wie einer. Langsam wurde die
Hussitenzeit lebendig und der Dreißigjährige Krieg.
Der Geist des Johannes Hus wandelte durch die Hör-
säle des Karolinums ; und vor dem westlichen Tore des
Klementinums sah man wohlerhalten den Schauplatz,
auf welchem der erste und der letzte Akt des Dreißig-
jährigen Krieges sich abgespielt hatten. Auf den weiten
Höfen des Klementinums hatten sich im Jahre 1848
158
die Studenten versammelt und hatten beschlossen, sich
in die revolutionäre Bewegung zu stürzen. Es war ver-
lockend, durch das Betrachten solcher Stätten ein Ge-
schichtsphilosoph zu werden. Ich bin keiner geworden,
ich wunderte mich nur immer, daß das Beste an der
Geschichte, der Enthusiasmus, den sie erregt, aus dieser
versteinerten Welthistorie nicht lauter zu meinen Kom-
militonen sprach. Ich habe nur wenige Enthusiasten
unter ihnen kennengelernt. Die allermeisten waren
künftige Juristen, Ärzte und Lehrer, oder höchstens
künftige Professoren von Juristen, Ärzten und Lehrern.
Wie ich zu spät aufs Gymnasium gekommen war, so
kam ich jetzt zu spät auf die Universität. Die Schuld,
die an meinem Kindesalter durch den Diebstahl dreier
Jahre begangen worden war — (wer umsein bestes Hab
und Gut bestohlen worden ist, wird überdies langweilig,
wenn er zu klagen nicht aufhört ; ich weiß es, doch Zorn
ist mächtiger als Vorsicht) , — zeugte weiter ihre schlim-
men Folgen für mich. In den meisten menschlichen
Fragen zu kindisch, ganz unreif für das Leben, war
ich zugleich durch meinen wissenschaftlichen Skepti-
zismus wie durch meine besten Neigungen verdorben
für irgendeinen der gelehrten Berufe, verdorben für die
gläubige Hinnahme einer der wissenschaftlichen Diszi-
plinen.
Bevor ich einige kleine Erlebnisse aus meiner Uni-
versitätszeit erzähle, will ich doch aus meiner beschränk-
ten Erfahrung heraus ein Wort über den wissenschaft-
lichen Charakter der Prager Universität sagen. Die allein
habe ich vor mehr als vierzig Jahren genau kennen-
gelernt, mir aber später in vertrautem Umgang mit
deutschen Studenten und deutschen Professoren einen
Begriff von den deutschen Hochschulen bilden können.
159
Ich habe so harte Urteile über die Zustände an öster-
reichischen Gymnasien gefällt, daß ich mich verpflichtet
fühle, ausdrücklich zu erklären, daß die österreichi-
schen Universitätslehrer hinter den deutschen nicht
zurückstehen. Es ist ja richtig, daß das österreichische
Studentenmaterial schlechter vorgebildet ist und —
nach dem Wesen der Gymnasien — schlechter vor-
gebildet sein muß als in Deutschland. Es gibt in Öster-
reich wie in Deutschland auf den Universitäten geniale
Forscher, es gibt da wie dort tüchtige Durchschnitts-
gelehrte, die als Lehrer nicht zu verachten sind ; es gibt
hier und dort hie und da einen Dummkopf, der nicht
aufhört, Professor zu sein, wenn er von seinen Kollegen
wie von seinen Studenten einmütig für ein ,, Rindvieh**
gehalten wird. Jede Universität hat ihr Rindvieh. Daß
die genialen Forscher in Österreich nicht leicht aner-
kannt werden, wenn sie nicht vorher in Deutschland
berühmt geworden sind, hat nicht viel zu sagen ; Ruhm
verdirbt gar leicht den Charakter. Daß die Durchschnitts-
gelehrten in Österreich weniger Bücher herausgeben
als in Deutschland, hat noch weniger zu sagen; die
Wärme eines Tages wird dadurch nicht größer, daß sie
von einem automatischen Thermometer registriert wird ;
und der Schatz des Wissens wird dadurch nicht größer, daß
er von fleißigen Handbuchverfassern nachgezählt wird.
Ja, es wird auf den österreichischen Universitäten we-
niger gearbeitet als auf den deutschen; ja, Österreich
ist immer noch ein Capua der Geister, auch den Uni-
versitäten ist die reizvolle österreichische Schlamperei
nicht ganz fremd. Aber meine Lehrer an der Prager
Universität waren darum nicht schlechtere Männer als
die meisten Professoren, die ich nachher an großen
deutschen Universitäten kennengelernt habe.
i6o
Wenn ich trotzdem keinen rechten Vorteil von dem
Besuche einer guten Universität hatte, so lag das teils
— wie gesagt — an mir selbst, teils an dem zwitterhaf-
ten Wesen einer jeden solchen Hochschule.
Meine eigene Schuld war es immerhin, daß ich einer
Fakultät angehörte, deren Wissenschaft mir verhaßt
war. Ich lernte bei meinen bedeutendsten Lehrern nicht
viel mehr als bei irgendeinem Dummkopfe, weil mich
die juristischen Fragen durchaus nicht interessierten.
Mein passiver Widerstand war gerade mächtig genug
in mir, daß ich wußte : ich werde niemals ein Advokat
werden. Ich hätte ja trotzdem noch ein passabler Jurist
werden können ; aber in meinem Trotze kam mir dieser
Gedanke gar nicht in den Sinn. Und meine Kraft reichte
damals noch nicht zu dem Entschlüsse: ich will auch
scheinen, was ich bin ; ich will studieren, was mich in-
teressiert ; nachher wird sich am besten zeigen, was ich
etwa gelernt habe.
Wenn ich nun auch auf der Universität schulfaul
war, das heißt die nächstliegenden Aufgaben nicht
gründlich genug bewältigte, so lag die Schuld doch
nicht ganz an dieser Unwahrhaftigkeit meiner Juristen-
existenz, sondern auch an dem, was ich eben die Zwit-
terhaftigkeit der Hochschulen genannt habe. Die Sache
selbst ist oft bemerkt worden, vielleicht aber hat man
ihren letzten Grund nicht immer eingesehen: die mo-
derne Allmacht des Staates über die Schule, auch über
die Hochschule, also über die Wissenschaft. Es möchte
noch hingehen, daß dieser Racker von Staat sich um
Dinge kümmert, denen gegenüber er machtlos ist ; aber
er maßt sich eine Herrschaft über Kunst und Wissen-
schaft an, obgleich diese beiden Privatangelegenheiten
einsamerGeister ihn eigentlich nicht einmal interessieren.
II i6i
Die Universitäten sollen oder wollen Stätten der rei-
nen, der vorurteilslosen, der welterklärenden Wissen-
schaft sein. Die Universitäten sind aber recht teure
Staatsanstalten; und der Staat, wenn er sich unbeob-
achtet weiß, pfeift auf die reine Wissenschaft. Sie geht
ihn auch eigentlich gar nichts an. In den letzten Jahr-
zehnten hat man vernünftigerweise technische Hoch-
schulen gegründet und dort Leute ausgebildet, die besser
als andere durch den Betrieb chemischer Fabriken,
durch Bergbau, durch Maschinenherstellung den Wohl-
stand ihres Landes heben können. Die älteren Schwester-
schulen, die Universitäten, hätten recht gut die Aufgabe
behalten können, die Grundlage zu legen für die Wissen-
schaften der technischen Hochschulen. Nur zwei reine
Wissenschaften gibt es, die an der Universität studiert
werden können, oder vielmehr zwei reine Disziplinen :
Geschichte und Naturwissenschaft. Aber der Staat
hängt mit chinesischer Zähigkeit an altem Aberglauben ;
er hält die Berufe des Richters, des Arztes, des Pfarrers
und des Lateinlehrers für ebenso nützlich wie die Be-
rufe des Chemikers und des Elektrikers; er gibt den
Forschern in Geschichte und Naturwissenschaft nur
dann Amt und Lohn, wenn sie sich verpflichten, ihre
beste Zeit an die Abrichtung von Richtern, Ärzten,
Pfarrern und Lateinlehrern zu vergeuden. Wer nicht
im Sinne hat, sich für eine dieser geschätzten Berufs-
arten drillen zu lassen, mit dem wissen die meisten
Professoren nichts anzufangen ; sie sind wie die Volks-
schulmeister und wie die Oberlehrer und wie die Unter-
offiziere überbürdet durch die Menge der Rekruten und
durch die Menge des Lehrstoffs ; die Universitäten sind
staatliche ,, Pressen*' geworden für die sogenannten
gelehrten Berufsarten; für die reine Wissenschaft
162
haben nur wenige Lehrer und nur wenige Schüler
Zeit übrig.
11: Will man von diesem Fluche aller staatlichen An-
stalten absehen, so muß anerkannt werden, daß die
Prager Universität tüchtige Lehrkräfte besaß. Zwar von
der theologischen Fakultät will ich nicht reden, trotz-
dem ich auch dort das eine oder das andere Kolleg ge-
hört habe; ich will mich der Lüge nicht mitschuldig
machen, die von der Theologie als von einer Wissen-
schaft spricht. Der Lüge, die von den allermeisten Pro-
fessoren durch ihr Stillschweigen geduldet wird, wenn
ihnen nicht gar die Herrschaft des Staates über die
Kirche ein erstrebenswertes Ziel und das Dasein einer
theologischen Fakultät ein Mittel zu diesem Zwecke ist.
Aber die medizinische Fakultät war immer noch vor-
züglich besetzt, und wir Juristen hatten einzelne ganz
hervorragende Lehrer. Ich hatte das unverdiente Glück,
die Institutionen des römischen Rechts bei Esmarch
zu hören, Kirchenrecht bei Schulte, deutsches Recht
bei dem noch jugendlichen Brunner, später Privatrecht
bei Randa, Straf recht bei Merkel. Ein glücklicher Zufall
wollte es, daß ich auch noch griechische Archäologie
beiBenndorfi), allerlei Kunstgeschichte bei dem Musik-
historiker Ambros hören durfte; die beiden letztge-
nannten Lehrer haben mich manches juristische Kolleg
schwänzen lassen. Ich komme noch darauf zurück, daß
ich auch einige öffentliche Vorträge von Ernst Mach,
der damals noch in Prag als Professor (am Polytechni-
kum) für Physik lebte, besuchen konnte.
Kunstgeschichte gehört schon zur philosophischen
Fakultät; diese lockte mich vom ersten Tage an, aber
eigentlich nur durch die Vertreter der richtigen philo-
I) Vgl. Anhang V.
II* 163
sophischen Fächer. Mein junger Skeptizismus hinderte
mich nicht, von jedem Philosophen die Mitteilung der
letzten Geheimnisse zu erwarten. Wohl gemerkt : von
jedem ; ich hatte keine Ahnung davon, daß es noch in
der Gegenwart philosophische Schulen gäbe und daß
ein deutscher Professor der Philosophie wie ein Schüler
auf die Worte eines Lehrers eingeschworen sein könnte.
Ich sollte es bald erfahren.
Dem Hauptprofessor der Philosophie, der über Logik
und Metaphysik las, bin ich während meiner Studien-
zeit und noch lange nachher nicht gerecht geworden;
es war unerträglich, wie dieses ängstliche und ver-
zwickte Männchen sein Collegium logicum damit be-
gann, daß er die Einteilung der vernunftbegabten Wesen
in drei Klassen vornahm : Gott, Engel, Menschen. ,,Wir
können die Logik Gottes und der Engel nicht fassen,
wir haben uns mit der Logik der dritten Klasse zu be-
gnügen.** Es war, als ob das berüchtigte Konkordat
auf jedes Wort des Philosophielehrers aufpaßte. Dieses
verzwickte Männchen nun war J. H. Löwe, ein feiner
Kenner der Philosophiegeschichte ; er hatte einmal eine
der besten Arbeiten über den mittelalterlichen Nomi-
nalismus geliefert und bekannte sich in seinen wissen-
schaftlichen Schriften ganz tapfer zu dem jetzt selten
nur genannten Günther, den man heute einen Moder-
nisten nennen würde und der in den dreißiger Jahren des
vorigen Jahrhunderts durch seine geistreichen und ein
wenig ketzerischen Bücher die katholische Kirche gegen
sich aufbrachte. Günther hatte sich der Kirche wenige
Jahre vor seinem Tode unterworfen ; sein Jünger Löwe
war nicht tapferer als der Meister und hütete sich be-
sonders, als Universitätslehrer Anstoß zu erregen. So
erkläre ich es mir, daß dieser ganz kluge Kopf uns im
164
logischen Kolleg, das vielleicht ursprünglich für Theo-
logen bestimmt war, von Anfang bis zu Ende mit
scholastischem Quark langweilte.
Einem zweiten Philosophen der Prager Universität
haben wir schwerlich unrecht getan, da wir seine Vor-
lesungen nur besuchten, wenn wir lachen wollten; es
war ein Herr von Leonhardi, Jünger und — wenn ich
nicht irre — auch Schwiegersohn des edeln und völlig
unklaren Menschheitbeglückers Krause. Schon der un-
glückliche Krause selbst hatte seine wackern Banali-
täten nur mühsam in das System seines Panentheismus
gezwängt; der begeisterte Schwiegersohn und Jünger
trug uns das System in einer greulichen Terminologie
und in einer so unpräzisen Darstellung vor, daß wir
wohl für zeitlebens von der Philosophie hätten abge-
schreckt werden können.
Auch unser dritter Philosoph, W. F. Volkmann, war
ein — aner, aber sein Meister hieß immerhin Herbart
und der Jünger bot uns nicht Steine statt Brot. Wir hat-
ten als Juristen in einem der ersten Semester ,, prak-
tische Philosophie*' zu hören, ein Kolleg über das
menschliche Handeln und über den menschlichen
Willen ; es war wohl als Vorbereitung gedacht, als eine
Vorschule einer Psychologie für Richter. Was Volk-
mann über den menschlichen Willen sagen durfte, war
eine Philosophie für Schulbuben; ich habe die Uni-
versität wieder verlassen und keiner meiner Lehrer
hat (1869 — 1873) uns den Namen Schopenhauer ge-
nannt ; auch Volkmann nicht, da er uns die Lehre von
d^ Willensfreiheit vortrug. Aber keine Stunde ver-
ging, ohne daß er uns reizvolle psychologische Tat-
sachen mitgeteilt hätte. So entschloß ich mich, auch
das große Kolleg über Psychologie bei ihm zu hören;
X65
ich habe es nicht bedauert und gedenke dieses Lehrers,
der immer wie ein entmaterialisierter Geist und doch
menschlich zu uns sprach, mit innigster Dankbarkeit.
Im Sommer 1871 mußte ich meine philosophischen,
kunsthistorischen, theologischen und medizinischen
Studien unterbrechen, wenn ich die rechtshistorische
Staatsprüfung, die für das Ende des vierten Semesters
vorgeschrieben war, mit Hoffnung auf Erfolg ablegen
wollte. Und das wollte ich ; ich war zu hochmütig, diese
Büffelarbeit nicht zu leisten; acht Wochen mußten
genügen und genügten, weil ich zwanzig Stunden täg-
lich büffelte; Kirchenrecht fiel mir noch schwerer als
das römische Recht. Ich kam ziemlich gut durchs
Examen. Aufs äußerste erschöpft, trat ich am nächsten
Morgen zu meiner Erholung einen Fußmarsch an, das
Ränzel auf dem Rücken. Nach dem Böhmerwald. Noch
innerhalb der Stadt überfiel mich ein Bluthusten. Ich
kehrte nicht sofort nach Hause zurück. Ich setzte mich
fiebernd in den ersten Zug, der vom Westbahnhofe ab-
ging. Irgendwo, wo die Eisenbahn aufhörte, lag ich in
einem Dorfwirtshaus acht Tage schwer krank. Ohne
Arzt. Dann schlich ich hustend drei Wochen lang durch
den Böhmerwald hin und her. Und in der Gewißheit,
nur noch kurze Zeit zu leben zu haben, fand ich mich
selber. Ein Sterbender braucht nicht Jura zu studieren,
braucht nicht Advokat zu werden. Auf dieser traurig-
seligen, langsamen Studentenfahrt durch den Böhmer-
wald entstand der größte Teil der Sonette, die ich dann
— ich werde die tragikomische Geschichte noch zu
erzählen haben — als mein erstes Buch herausgab.
Vor Beginn des fünften Semesters war ich also Schrift-
steller geworden, der Krankheit verdankte ich die Kraft
zum Entschlüsse. Dem schwerleidenden Vater zuliebe
166
ließ ich mich noch weitere vier Semester inskribieren,
saß dann einige Monate lang, bis zum Tode des Vaters,
nicht einen Tag länger, trotzig und ungeschickt in
einer Advokatenkanzlei ; aber mit meiner Erkrankung,
deren bedrohliche Erscheinungen erst nach vielen Jah-
ren verschwanden, war meine Schulzeit vorüber.
So könnte ich denn mit dieser Krankheit, von der
nicht einmal meine Mutter etwas erfuhr, symbolisch
meine Schulerinnerungen schließen. Sollte sie schlie-
ßen. Aber wer alte Erinnerungen erzählt, wird red-
selig; man plaudert gern von Dingen, die einem lieb
gewesen sind. Es braucht ja niemand weiter zu lesen.
167
II
iiiiiniii
XVI. streiche und Feste.
Auf die Prager Universität waren namentlich wäh-
rend der deutschliberalen Herrschaft viele Dozenten
,,aus dem Reiche'* berufen worden. Ich verkehrte in
den Familien einiger dieser Herren recht viel ; ich ver-
dankte diese Freundlichkeit — ich habe außer dem
Strafrechtler Merkel besonders den Archäologen Benn-
dorf und den Anatomen Henke zu nennen — wahr-
scheinlich dem Umstände, daß ich just in meinen
letzten Universitäts jähren häufig in den nationalen
Kampf hineingezogen wurde.
Diese Lehrer aus dem Reiche fühlten sich in Prag
wie in der Verbannung; ihre Frauen sprachen dieses
Gefühl ganz offen aus. Die Männer hofften auf eine
neue Berufung nach einer deutschen Universität oder
auf eine große Stellung in Wien. Auch in Wien wären
sie in ihrer politischen Gesinnung Deutsche geblieben,
wären mit dem ganzen Wesen Österreichs und mit dem
Anwachsen der Slawenmacht unzufrieden gewesen.
Doch in Prag mußten sie doppelt vorsichtig sein, wenn
sie nicht Demonstrationen der Studenten und Denun-
ziationen von Seiten ihrer Kollegen heraufbeschwören
wollten ; schon damals gab es irgendwo in den höheren
Regionen eine scharfe Strömung gegen die Ausländer.
Ich habe es noch miterlebt, wie einige der besten reichs-
deutschen Professoren von Prag ,, weggegrault** wurden.
J68
Die Herren hielten sich darum in ihrem Kolleg streng
an ihre Wissenschaft, blieben auch sonst zurückhaltend
und bildeten mit ihren reichsdeutschen Frauen einen
fast geschlossenen Ring. Es war kein geringes Glück
für einen jungen Studenten, in diesen Kreis zugelassen
zu werden. Gegenüber dem Philisterium oder der Fri-
volität gar mancher Prager Weiblichkeit erschienen
mir alle diese deutschen Professorenfrauen, eine wie
die andere, als ideale Vertreterinnen des Geistes und
der Freiheit. Wenigstens hatten sie gute Bücher ge-
lesen und ein ernstes Gespräch brauchte in ihrer Ge-
genwart nicht zu stocken.
Einen größeren Einfluß auf die ganze Studentenschaft
übten einige einheimische Professoren, welche nicht
schwarzgelbe Österreicher waren. Unser burschikoser
Freund war der schwungvolle Nationalökonom Karl
Thomas Richter, der übrigens ein recht starkes Dichter-
talent besaß. Ich bin später jahrelang fast täglich bei
ihm gewesen, oft für den ganzen Abend ; ich weiß am
besten, wie er uns Studenten unsere weltbewegenden Ent-
schlüsse mitunter soufflierte ; er gehört auch irgendwie
— hinter den Kulissen — zu den drei Erlebnissen, über
die ich noch berichten will. Vorher noch einen kurzen
Überblick über die politische oder vielmehr nationale
Lage der Dinge an unserer Universität.
Zu meiner Zeit wurde die einheitliche deutsche Uni-
versität Prag von ungefähr achthundert Deutschen und
eintausendfünfhundert Tschechen besucht. Die Mehr-
heit war also bei den Gegnern. Im Lehrkörper dagegen
gab es nur eine Minderheit von tschechischen Dozen-
ten, unter ihnen eine so bedeutende Kraft, wie den
Zivilrechtslehrer Randa. Die Gründung einer selb-
ständigen tschechischen Universität stand schon da-
169
mals auf dem Programm der tschechischen Politiker.
Alle Vorsicht der reichsdeutschen Professoren konnte
es nicht hindern, daß die tschechischen Studenten auf
Befehl ihrer politischen Führer Ungelegenheiten mach-
ten ; bot sich ein passender Anlaß dar, so wurden den
Deutschen die Fenster eingeworfen oder sie wurden
auch persönlich bedroht. Bei solchen Tätlichkeiten
machte der Prager Pöbel mit den tschechischen Stu-
denten gern gemeine Sache; uns deutschen Studenten
fiel es an den großen Kampftagen zu, unsere Professoren
zu verteidigen; das war mitunter eine recht schwere
Aufgabe, weil wir dem tschechischen Pöbel keinen
deutschen Pöbel gegenüberzustellen hatten. Ich ge-
brauche das Wort ,, Pöbel** nicht gern; ich will lieber
sagen: wir konnten den tschechischen Massen keine
deutschen Massen gegenüberstellen. Ein ehrlicher
Mann muß sagen, daß Prag wirklich längst keine deut-
sche Stadt mehr war.
Wir waren also die Leibgarde der deutschen Pro-
fessoren und trugen diese Bürde mit viel Pathos, mit-
unter auch mit sträflichem Übermut.
Tschechische und deutsche Studenten hatten durch-
aus getrennte Organisationen. Wir trafen einander im
Kolleg, kannten einander aber kaum ; es kam vor, daß
ein Deutscher und ein Tscheche, die auf dem Gymna-
sium Freunde gewesen waren, einander nicht mehr
grüßten. Da zwischen Tschechen und Deutschen der
sogenannte ,, Komment** nicht bestand, so existierte
zwischen den beiden feindlichen Parteien nicht einmal
die alte Institution der Mensur. Der ganze offizielle Ver-
kehr bestand darin, daß in friedlichen Zeitläuften beim
deutschen Studentenball einige Tschechen im hübsch
und gut erfundenen nationalen Schnürrock erschienen,
170
beim tschechischen Studentenballe einige Deutsche in
Wichs oder im Frack. Kam es dann zu kritischen Tagen,
so wurde ohne jeden Komment geholzt; mit recht
blutigem Ausgang mitunter, wie man weiß. Meine Uni-
versitätsjahre gehörten in dieser Beziehung wohl zu
den schlimmsten. Bald darauf kam es zu einer Zer-
reißung in eine deutsche und eine tschechische Uni-
versität ; damit waren die Reibungsflächen kleiner ge-
worden und der Vernichtungskampf gegen die Farben
der deutschen Studenten spielte sich nicht auf der
Universität ab, sondern beim Straßenbummel auf dem
,, Graben'*, der breitesten und vornehmsten Straße der
Stadt; auf dem Graben (offiziell: Kolowratstraße) ent-
wickelt sich allmittäglich noch heute der Korso von Prag.
Es gab in Prag deutsche Studentenverbindungen aller
Art. Ich war damals der Meinung, daß diese Nach-
ahmungen deutschen Wesens an ihre Vorbilder nicht
heranreichten ; ein so ideales Bild machte ich mir von
den Korps und Burschenschaften der deutschen Uni-
versitäten. Für eine progressionistische Burschenschaft,
die meines Erinnerns großdeutsch war, ganz und gar
nicht schwarzgelb, und dann aufgelöst wurde, wurde
ich gekeilt ; ich wurde nur für kurze Zeit Konkneipant.
Ich war doch wohl zu selbständig geworden, um mich,
der ich sogar in wissenschaftlicher und literarischer
Arbeit jede äußere Disziplin haßte, einer Disziplin des
Saufens zu unterwerfen; ich bin ohne jede Disziplin
dennoch ein recht trinkfester Mann und ein recht flei-
ßiger Arbeiter geworden. Ich muß aber eingestehen, daß
mein Fernbleiben von einem flotten Studentenleben
vielleicht überdies eine viel kläglichere Ursache hatte :
ich hatte nicht Taschengeld genug. Zwar hatten die
Verwandten, die meinen Vater um sein Vermögen ge-
171
bracht hatten, sich wieder emporgearbeitet, machten
ihre Schuld nach Möglichkeit wieder gut und mein
Vater kehrte in den früheren bescheidenen Wohlstand
zurück; aber sein strenger Gerechtigkeitssinn duldete
es nicht, daß einer der Söhne vor den andern bevorzugt
würde. Wenn ich den Wunsch hätte, sauber gekleidet
zu gehen und an Kneipereien teilzunehmen, so müßte
ich mir das Geld dazu selber verdienen. Ich empfand
diese Gerechtigkeit damals mit Unrecht als eine Unge-
rechtigkeit gegen den Studenten. Ich versuchte es,
Privatunterricht zu erteilen, spann aber keine Seide
damit; ein Deutsch-Amerikaner, dem ich eine bessere
schriftliche Behandlung des Deutschen beibringen sollte,
entschloß sich, Schauspieler zu werden und verzichtete
auf weitere Stunden ; ein Gymnasiast, dessen Griechisch
ich aufmuntern sollte, sattelte zornig um und wurde
Bierbrauer. Später erst schrieb ich auch einige Aufsätze,
die abgedruckt wurden, aber eine Bezahlung erhielt
ich nicht. So mußte ich erst recht darauf verzichten,
das kostspielige Verbindungsleben mitzumachen.
Doch gab es einen andern Sammelpunkt für uns,
die ,, Lesehalle der deutschen Studenten'* ; es war Ehren-
sache für jeden deutschen Studenten, für die Finken
sowohl wie für die farbentragenden jungen Herren, der
„Halle'* als Mitglied anzugehören. In der Halle wurde
weder gefochten noch gekneipt. An kritischen Tagen
wurden dort die entscheidenden Beschlüsse gefaßt. Sonst
war die Halle unser Lesesaal und unser Debattierklub.
In einzelnen wissenschaftlichen Sektionen wurden von
uns — es war eine neue Einrichtung — wissenschaft-
liche Vorträge gehalten. Wir hatten gewiß ein kurzes
Gedärm. Ich werde daran erinnert, daß ich einmal eine
sehr kirchenfeindliche Vorlesung über den Kaiser Julia-
172
nus hielt, ein andermal eine (bessere) Arbeit über Scho-
penhauer vorlas.
Mein engerer Kreis bestand aus prächtigen ernsten
Burschen ; und gerade darum denke ich oft und auch
gern an die törichten Kämpfe in der Halle zurück.
Wenn wir alten Kameraden uns nach Jahren wieder ein-
mal treffen, dann sagt gewiß bald einer zum andern :
,, Weißt du noch?'* Und dann sprechen wir von den
alten Zeiten der Halle i). Und dann sprechen oder
sprachen wir besonders gern von den drei Ereignissen,
über die ich noch berichten will. Bei der ersten Ge-
schichte, dem Falle Linker, war ich fast nur als Zu-
schauer beteiligt ; beim Falle Krainc war ich der Rädels-
führer, und bei der Fahrt nach Straßburg bin ich gottlob
auch dabei gewesen.
Der Fall Linker verlief schlicht und einfach. Dieser
wackere Professor der Altphilologie hatte eine Herzens-
freude an der Wiederaufrichtung des deutschen Kaiser-
reichs ; und weil er ein gelehrter Herr war, verfaßte er
kurz nach der Kaiserproklamation eine lateinische Ode
auf den Kaiser Wilhelm. Sie war in einem schwierigen
Versmaß gebaut. Er ließ die Ode fein sauber drucken,
mit einem schwarz-weiß-roten oder vielleicht auch
schwarz-rot-goldenen Rand. Auf jeden Platz seines
kleinen Hörsaals legte er eines schönen Morgens ein
Exemplar dieser Ode nieder. Das war sehr freundlich
von ihm ; nur hatte der brave Dichtersmann vergessen
oder nicht beachtet, daß mehr als drei Viertel seiner
Zuhörer Tschechen waren. Als nun Linker nach der
akademischen Viertelstunde sein Katheder bestieg, in
bescheidener Erwartung von Ehrungen, wurde er von
den tschechischen Studenten hinausgeschmissen. Das
I) Vgl. Anhang VI.
Hörsälchen lag parterre und so passierte ihm nicht
viel, nicht einmal so viel, wie den böhmischen Statt-
haltern, die anno 1618 auf dem Hradschin po staro-
cesku (auf Altböhmisch) zum Fenster hinausgeworfen
wurden. Wenn ich mir die Sache heute recht überlege,
so hatte Linker für seine Taktlosigkeit eine kleine
Strafe wohl verdient. Wer andern seine Gedichte vor-
legt, und gar wenn sie politisch und lateinisch sind,
setzt sich immer der Gefahr aus, hinausgeschmissen
zu werden. Damals aber kamen wir erregt in der Halle
zusammen und erkannten unsere Pflicht, den ,, Mär-
tyrer der deutschen Wissenschaft" zu schützen. Vierzig
oder fünfzig Mediziner und Juristen besetzten am näch-
sten Morgen, mit ordentlichen Stöcken bewaffnet, den
kleinen Hörsaal und ließen sich von dem tapferen Pro-
fessor, der vom Rector magnificus bis an die Tür des
Auditoriums geleitet worden war, ein bißchen Philo-
logie vortragen. Das ging so zwei oder drei Tage lang,
bis die Tschechen es satt bekamen und ihrerseits auf
dem Schauplatz erschienen; viele hundert Mann mit
ebensoviel hundert Stöcken besetzten die Höfe des
Klementinums. Kaum hatten wir das erfahren, als
auch wir uns sammelten, etwa halb so viel Mann und
halb so viel Stöcke. Viele hundert Studenten standen
einander so kampfbereit gegenüber. In beiden Lagern
wurden zündende Reden gehalten und das Ende der
Schlacht mußte nach der Lage der Dinge nicht eben
spaßhaft werden. Da rückte plötzlich die Polizeimacht
an, eine große Abteilung mit einem Offizier an der
Spitze. Ohne jede Verabredung war ein Waffenstill-
stand zwischen Deutschen und Tschechen sofort zu-
stande gekommen; unter uns jungen Leuten wenig-
stens ging die ,,Ehre'* über die Nationalität. Unsere
174
Führer, zu denen ich leider nicht gehörte, traten dem
Offizier entgegen ; Tschechen und Deutsche verlangten
gemeinsam den Abzug der Polizei ; wir hätten ein altes
Recht auf den Boden unserer Universität, da hätte uns
kein Gott und kein Teufel darein zu reden. Nach einigem
Hin- und Herreden verstieg sich der Offizier zu der
Drohung, die Höfe mit Waffengewalt räumen zu lassen.
Wieder kann ich nicht sagen, wie ein solcher Konflikt
etwa in Preußen geendet hätte. Bei uns siegte — ja
was denn ? Der Offizier rückte mit seinen Leuten wieder
ab. Unser Triumph ließ uns vergessen, weshalb wir die
Stöcke mitgebracht hatten. Wir eilten in einige Kneipen
und die Tschechen warfen dem Professor Linker die
Fenster ein. Damit war die Affäre Linker beigelegt, ich
muß bekennen: zu allgemeiner Zufriedenheit. Wir
waren nicht mit ganzem Herzen dabei gewesen.
Zu Beginn des Wintersemesters, im Oktober 1871,
folgte der Fall Krainc ; über diese Geschichte kann ich
gut berichten, ganz genau eigentlich ich allein, wenn
anders meine Erinnerung in mehr als vierzig Jahren
nicht gefälscht worden ist. Aber auch ich weiß über die
Vorgeschichte nichts zu sagen, als was wir jungen
Leute damals über die österreichischen Verhältnisse
dachten. Das deutschliberale Bürgerministerium war
schon vor dem Deutsch-Französischen Kriege gestürzt
worden. Bismarck erreichte es zwar, von den Magyaren
unterstützt, daß Österreich (gegen den Willen der
katholischen, deutschfeindlichen Hof partei) währenddes
Krieges neutral blieb ; aber unmittelbar nach dem
Kriege setzte die Slawisierung Österreichs ein. Man
nannte das: Versöhnung der nichtdeutschen Völker-
schaften. Im Frühjahr 1871 wurde ein konservativ-
slawisches Ministerium ernannt, in welchem der Tsche-
175
che Jiretschek das Unterrichtsministerium innehatte.
Das Konkordat mit Rom war zwar nach dem Vati-
kanum aufgehoben worden, aber mit um so größerem
Zorn wurde dieses Ministerium, wurde von den Deut-
schen dieses Ministerium Hohenwart-Habietinek- Jiret-
schek als junkerlich, tschechisch und pfäf fisch im all-
gemeinen verurteilt. Doch machte es auf uns keinen
besonderen Eindruck, als der neue Unterrichtsminister
unsern alten Zivilrechtslehrer Schneider pensionierte
und an seine Stelle den Professor Krainc setzte, der
ein Slowene war oder doch dafür galt. Man hat es später
so dargestellt, als ob wir deutschen Studenten zu un-
serer schrecklichen Tat von unsern politischen Führern
angestiftet worden wären ; ich weiß am besten, daß dem
nicht so war. Weder diese Herren noch auch unser be-
währter Freund Karl Thomas Richter wußten irgend
etwas vor geschehener Tat ; erst nachher hielten sie ihre
schützende Hand über uns.
Ich habe schon erzählt, wie mir damals nach dem
Staatsexamen und der Erkrankung zumute war, wie
ich dichtete und die Juristerei an den Nagel gehängt
hatte. Außerdem war ich in jenen Tagen gerade stein-
unglücklich. Man errät, worüber ein dichtender Jurist
von noch nicht zweiundzwanzig Jahren steinunglück-
lich ist: sie war wunderbar schön, sie achtete mich,
aber erwiderte meine Liebe nicht. In dieser Stimmung
saß ich unter zwei- bis dreihundert Kollegen, welche
sich die Antrittsvorlesung des neuen Professors anhör-
ten. Neben mir mein lieber Freund Viktor Lenk. Der
Professor hielt seine Rede in recht mangelhaftem
Deutsch, langweilig, geistlos, schulmeisterlich. Ich
habe mir später sagen lassen, Krainc sei ein ganz tüch-
tiger Fachmann gewesen; davon ahnten wir damals'
176
nichts. Er schloß seinen Vortrag mit den nicht eben
begeisternden Worten: ,,Also schreiben Sie nur fleißig
mit, meine Herren!" Die nach Form und Inhalt elende
Rede konnte wirklich nur Mitleid erregen, der pennäler-
hafte Schluß die studentische Entrüstung.
Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört und war im
allgemeinen zu unglücklich, um über diese Antritts-
vorlesung selbst in Zorn zu geraten. Da steht alles
auf und mein Freund sagt zu mir: ,,Das ist wirklich
ein Skandal!'* Ein Ventil für meinen Jammer. Ich
schreie in Gegenwart des Professors und Rektors, die
einige Höflichkeiten austauschen, meinen Kommili-
tonen zu: ,,Das ist ein Skandal!*' Man ist dergleichen
Meinung, man schüttelt mir die Hände. Jetzt muß
etwas geschehen. Wir überlegen nicht lang. Schnur-
stracks marschieren wir, acht oder zehn deutsche
Juristen, nach dem Franzenskai, nach der Wohnung
des pensionierten Lehrers, der uns vorher der gleich-
gültigste Mensch gewesen war, und fordern ihn auf,
seine Vorlesungen einfach wieder aufzunehmen; der
Slowene wäre gar zu dumm und könnte nicht Deutsch.
Der deutsche alte Herr war natürlich sehr überrascht;
er weinte vor Freude, und das ist mir die liebste Erin^
nerung an die ganze Heldentat. Dann setzte er uns
aber auseinander, er wäre entlassen und dürfte nicht
so ohne weiteres lesen ; er brauchte dazu ein Wort des
Ministers. Die Antwort auf eine Eingabe würde auf
sich warten lassen. Wir aber konnten nicht warten;
wir mußten uns inskribieren lassen und wollten das
bei dem Slowenen nicht tun. Da warf der alte Professor
Schneider in seiner Herzenseinfalt selbst das Wort hin,
wir könnten ja auch telegraphieren. Wir drückten ihm
feurig die Hand und gingen telegraphieren. Das ist der
12 177
wahrheitsgetreue Verlauf des ersten Aktes einer Ge-
schichte, hinter der man eine wohlvorbereitete politische
Intrige gesucht hat. In Wirklichkeit war es die Im-
provisation politisch erregter Studenten unter Führung
eines verliebten Jünglings von der traurigen Gestalt.
Ich sehe noch heute kein Arg darin, daß wir unserer
Unzufriedenheit Ausdruck gaben, daß wir uns im fünf-
ten Semester nicht mehr wie Schulbuben belehren lassen
wollten. Schlimm wurde die Sache erst gerade dadurch,
daß wir keinen unserer unparteiischen deutschen Pro-
fessoren um Rat fragten und das Telegramm in un-
schicklichen Ausdrücken abfaßten. Nach meiner Er-
innerung hatte es folgenden Wortlaut: ,,An den Herrn
Unterrichtsminister in Wien. Wir ersuchen um so-
fortige Rehabilitierung unseres verehrten Professors
Schneider, da Ihr Schützling (oder: Ihr Professor)
Krainc unsere Wissenschaft und unsere deutsche
Muttersprache in Gefahr bringt. Im Namen der deut-
schen Juristen Prags.** Es folgten unsere Unterschrif-
ten, die Namen von uns acht oder zehn Burschen, die
wir losgegangen waren. Das Telegramm war abgeschickt,
bevor noch eine Stunde nach dem Schlüsse der Antritts-
vorlesung vergangen war. Dieses niedliche Telegramm
hatte ich aufgesetzt ; ich hafte aber nicht für die Rich-
tigkeit jeder Silbe. Ich besitze kein Archiv meines Le-
bens ; auch bin ich nicht ganz sicher, ob nicht auf dem
Telegraphenamte irgendein kleines Amendement vor-
geschlagen und angenommen wurde.
Nachträglich fiel einem von uns ein — ich war nicht
so besonnen — , daß es nicht gut anginge, im Namen
der deutschen Rechtshörer zu handeln, ohne uns ihrer
Zustimmung versichert zu haben. Die wurde rasch nach-
geholt. Wir beriefen eine Versammlung in der Halle
178
ein und legten der Korona noch am gleichen Tage
unser Telegramm vor. Als es nicht sofort gutgeheißen
wurde, als ängstliche oder vernünftige Kollegen den
Wortlaut tadelten, da blieb uns nichts anderes übrig,
als ein Geständnis abzulegen. Daß wir nämlich das
Telegramm schon abgeschickt hätten. Die Korona ließ
uns nicht im Stich ; uns wurde Indemnität erteilt, das
Telegramm wurde anerkannt. Und das war gut. Denn
schon am nächsten Morgen wurden wir Rädelsführer
vor den Dekan unserer Fakultät zitiert, um uns zu ver-
antworten. Der freundliche Dekan, der vorzügliche
Pandektist Karl von Czyhlarz, ein fester Deutschböhme,
fragte uns nicht allzustreng, ob wir wirklich diese
Eingabe an den Herrn Minister verfaßt und unter-
schrieben hätten. Das Telegramm lag zerknittert auf
dem Tische ; wir sahen ordentlich oder glaubten zu
sehen, mit welcher Wut der hochmögende Herr Mini-
ster das Blatt zusammengeknüllt hatte. Auf eine wei-
tere Frage des Dekans konnten wir bestätigen, daß alle
deutschen Juristen Prags hinter uns stünden.
Über die Folgen unseres jugendlichen Streichs blieben
wir etwa zwei Monate im ungewissen, weil über unsere
Bestrafung sich ein Kompetenzkonflikt erhob. Der Mi-
nister verlangte unsere Verurteilung durch den ordent-
lichen Strafrichter, was uns vielleicht übel bekommen
wäre ; die Universität bestand darauf, uns vor ihr Diszi-
plinargericht zu ziehen. Ich war immer sehr genau
davon unterrichtet, wohin in diesem Kompetenzkon-
flikte just das Zünglein an der Wage neigte. Die reichs-
deutschen Professoren gaben mir ihr Wohlwollen deut-
lich zu erkennen. Einer von ihnen, der heute noch in
Deutschland viel genannt wird, der von mir besonders
hochgeschätzte Strafrechtler und Rechtsphilosoph Adolf
12*
179
Merkel, kam öfter zu mir auf meine Bude, ließ sich
alles genau erzählen, sprach schmunzelnd von ,, star-
kem Tobak" und davon, was mit uns geschehen müßte.
Dem Richter würden wir nicht ausgeliefert werden;
aber das Universitätsgericht würde zwei von uns rele-
gieren müssen, mich und einen meiner Freunde, der
bei dem Verhör seine Mitschuld ein wenig vergrößert
hatte. Auch ein Deutschösterreicher, eben Karl Thomas
Richter, versicherte mich unter kräftigen Händedrücken,
er würde für meine Relegation stimmen. Und die wärm-
sten Empfehlungen für deutsche Universitäten wurden
mir versprochen, nach Jena, Heidelberg oder Marburg.
Ich durfte das Gefühl haben, den deutschen Professoren
eine diebische Freude bereitet zu haben. Ich sah meiner
Relegation mit Vergnügen entgegen, aber doch eigentlich
ohne Begeisterung. ,,Sie** erwiderte meine Liebe immer
noch nicht, und da war ja alles übrige gleichgültig.
Im November lasen wir eines Tages in der Zeitung,
das Ministerium Hohenwart-Habietinek-Jiretschek wäre
gestürzt. Wenige Tage später wurden wir Missetäter
abermals vom Pedell zum Herrn Dekan zitiert. Wir
wußten schon, es würde uns nicht an den Kragen
gehen. Der Dekan setzte zwar seine Amtsmiene auf und
verdonnerte uns ein bißchen, dann aber teilte er uns
mit, der akademische Senat wäre übereingekommen,
es bei einer Rüge bewenden zu lassen ; und damit keiner
von uns in seiner Laufbahn geschädigt würde, sollte
diese mündliche Rüge in unser Absolutorium schrift-
lich nicht eingetragen werden. Er reichte jedem von
uns die Hand und sagte urgemütlich: ,, Nicht wahr,
solange ich Dekan bin, tun Sie so etwas nicht wieder I
Ich habe zu viel Ärger davon gehabt.** Wir verließen
das Universitätsgebäude mit dem stolzen Gefühle, zum
i8o
Sturze eines Ministeriums etwas beigetragen zu haben.
Wir tranken viel an diesem Tage. Wir haben es gut
gemeint. Sie haben es auch gut gemeint, die den Slo-
wenen nachher recht schlecht behandelten, es sogar
zu Realinjurien kommen ließen; ich glaube jetzt, wir
können es doch nicht verantworten, wie wir dem armen
Krainc weh getan haben.
Vielleicht habe ich es meiner entscheidenden Anteil-
nahme an der Affäre Krainc zu verdanken, daß ich
von dem dritten Ereignis meiner Universitätszeit als
von dem größten Erlebnisse meiner Schulzeit reden
darf. Die Gründung der Straßburger Universität sollte
am I. Mai 1872 gefeiert werden. Auch Prag war einge-
laden. Die älteste deutsche Universität sollte der jung-
jüngsten Schwester ihre Glückwünsche überbringen.
Und in mir jubelt heute noch etwas auf, wenn ich daran
denke, daß ich in die Deputation der deutschen Stu-
dentenschaft Prags gewählt wurde. Schwer war's frei-
lich, das bißchen Reisegeld aufzutreiben. Schwer war's,
unsern Rector magnificus mitzuschleppen, mehr fast
durch Gewalt als durch Überredung ; er war Deutscher,
aber ein katholischer Herr.i) Schwer war's, meine Mutter
zu beruhigen, als die tschechischen Zeitungen jeden
sehr ernsthaft bedrohten, der nach Straßburg mitginge,
als die tschechischen Studenten in einem Telegramm
an Gambetta wieder unter Drohungen gegen die Ver-
tretung Prags in Straßburg protestierten. Schwer war
manche ganz lächerliche Kleinigkeit, die meiner unver-
geßlichen Frühlingsfahrt hindernd in den Weg treten
wollte. Aber was tat's? Ich bin doch dabei gewesen.
1) Es war der Historiker Konstantin von Höfler, ein Bayer, der seine Mün-
chener Professur verloren hatte, als er sich 1847 der Bewegung gegen die
Tänzerin Lola Montez anschloß; er war 1851 nach Prag berufen worden.
181
Wie mir in diesen Tagen einer immerwährenden Be-
zechtheit und anderer seligerer Räusche zum ersten
Male die Gestalt Bismarcks aufging und wie sich damals
schon, besonders während der Heimkehr auf einsamen
Wanderungen am Rhein und am Neckar, die Ideen zu
kristallisieren begannen, denen ich erst mehr als zwan-
zig Jahre später meine beste Arbeitskraft widmen sollte,
werde ich noch berichten. Keinem Teilnehmer kann
die Erinnerung an diese Feste geschwunden sein; mir
waren sie wie eine Taufe des heiligen Geistes.
Ein Zufall wollte es, daß ich den Abschluß meiner
Schuljahre und die Abstemplung zum Schriftsteller an
diese Frühlingsfahrt knüpfen kann. Ein unbedeutendes
Wort, das mir damals eine Promovierung schien. Zu
den gefeierten Gästen der Feier gehörte auch Berthold
Auerbach. Auf der Fahrt nach dem Odilienberg, im
Eisenbahnwagen, redete er mich an, der ich ihn nicht
kannte. Er fragte ein bißchen viel und als ich mit Er-
öffnungen zögerte, nannte er seinen Namen. ,, Berthold
Auerbach.*' Herzensgut und kindlich eitel, wie ich ihn
später in Berlin immer mehr kennenlernte. Ich war
beglückt und gab nun jede Auskunft. Plötzlich sagte
er zu mir: ,,Sie haben Tinte an den Fingern, junger
Mann.** Ich empfand das als eine Auszeichnung; Auer-
bach hatte mich zum Schriftsteller ernannt i).
I) Vgl. Anhang VII.
182
llllllilllllllillllllillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll1l!!IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIH^^^^^
IIIIIHIIHItlllllllllllllllMIIMIIIIIIIIMMIIIIIIIMIIIIMIIIIMIMIIIinilMllllllllllllltlinilllllMIIMIMMHIIItlllllttlinilllltlllinMIIIIIIIIMIMIIIIII
XVII. Die erste Druckerschwärze.
Ich war just 22 Jahre alt geworden, als ich das
Abenteuer erleben sollte, die erste eigene Arbeit ge-
druckt zu sehen. Schwarz auf weiß. In einer richtigen,
wenn auch nicht ganz richtig gehenden Zeitung. In
Prag. Im ,, Tagesboten aus Böhmen**. Ich wurde etwa
zwei Jahre später ein Mitarbeiter an diesem Blatte und
werde darum noch über den starken Geist und den
schwachen Betrieb des ,, Tagesboten** ausführlich zu
berichten haben. Das Blatt lehrte mich die idealistisch-
grotesken Untergründe der Journalistik kennen, wie
etwa ein junger Schauspieler nicht eben gerade am
Wiener Burgtheater stehen, gehen und sprechen lernen
mag.
Mein erster Aufsatz galt seltsamerweise einem Mu-
siker. Ich hatte im Wintersemester nach meinem Staats-
examen wieder ein Kolleg bei A. W. Ambros belegt,
bei dem berühmten Musikhistoriker. Der entzückend
wunderliche Mann war seines bürgerlichen Zeichens
Staatsanwalt am Prager Landesgericht; dann hatte er
daneben auf dem Polytechnikum über italienische Ma-
lerei lesen dürfen; und seit einigen Jahren las er auf
der Universität über Musik. Der Musik galt seine ganze
Liebe und Sehnsucht. Als Komponist soll er nicht Eigener
genug gewesen sein : als Kenner und Liebhaber der
Musik hatte er kaum seinesgleichen. Mein lieber Mit-
183
Schüler August Freund aus Jungbunzlau, ein tüchtiger
Klavierspieler, hatte mich, der ich keine Note lesen
oder gar singen konnte, davon überzeugt, daß ich bei
Ambros Theorie und Musikgeschichte hören müßte.
An unserer Prager Universität ; in demselben Hörsaale
des Klementinums, aus welchem die Tschechen den
Philologen Linker kurz vorher hinausgeworfen hatten.
Der Kreis war klein : ein älterer Musiker tschechischer
Nationalität, sodann der blutjunge Träger eines alten
fürstlichen Namens, ein bildhübscher Jüngling, der es
denn auch später zum Ministerpräsidenten brachte;
ferner die erste Studentin der Prager Universität (Fräu-
lein Susanna Rubinstein aus Czernowitz) und endlich
mein Freund und ich. Fünf Hörer, von denen drei nicht
recht ,, musikalisch'' waren und sicherlich nicht allzu-
tief in die Geheimnisse der altgriechischen Tonarten
eingedrungen sind.
Aber die Persönlichkeit des Lehrers hatte es uns an-
getan. Dem Zauber seiner Vorlesungen und seines Um-
gangs bin ich tief verschuldet; die Nachwirkung hat
bis zu dieser Stunde nicht aufgehört. Mich wenigstens
hat Ambros Musik hören gelehrt, da er uns, sooft die
Aufführung einer Beethovenschen Symphonie bevor-
stand, in jede Probe mitnahm und uns auf jedeÄnderung
eines Tempo, auf jede Wirkung eines Instrumentes in
einem Akkorde, auf jede Absicht des Kapellmeisters,
vor allem aber auf die Führung der Motive unermüdlich
aufmerksam machte. Und Musik lieben lehrte uns sein
Enthusiasmus, wenn so etwas überhaupt gelehrt wer-
den kann. Wir sahen da ein schweres, erdgebundenes
Leben, das durch die Wunder der Musik himmelrein
und himmelleicht geworden war. Ambros hatte in sei-
ner Jugend Schumann nahegestanden, hatte Aufsätze
184
für dessen ,, Zeitschrift** geschrieben (als Davidsbündler
nannte Ambros sich Flamin) , galt in der ganzen musi-
kalischen Welt als eine Autorität und wurde in Prag
trotz seiner musik-konservativen Gesinnung von Musik-
rebellen wie Berlioz und Liszt zu Rate gezogen. In
seinem Hause, wo es von Kindern wimmelte, war es
nicht möglich, der Musik nicht irgendwie zu dienen.
Sogar ich habe einmal bei der Haydn'schen Kinder-
symphonie mitgewirkt, die unter der Leitung des Paters
Barnabas, des Augustinerpriors, zum Geburtstage des
Hausherrn aufgeführt wurde.
Bei seinen Vorlesungen auf der Universität hatte Am-
bros kein Klavier zur Verfügung ; das wäre damals gegen
die Würde der hohen Schule gewesen. Waren wir aber
bei ihm zu Hause eingeladen, dann spielte er uns etwa
stundenlang die schwer zugänglichen alten Meister vor,
immer auswendig, und erzog uns auch da durch kurze
Zwischenbemerkungen zum Hören. Und wenn wir ein-
mal spät in der Nacht müde geworden waren — wir,
nicht er — , dann unterbrach er wohl ein Stück von
Palestrina mit dem Rufe : „Na, Kinderl, ihr habt wohl
genug von denen alten Musikanten?'* Und setzte mit
einem Wiener Walzer ein und spielte uns und seinen
Töchtern noch eine Stunde zum Tanze auf. Er war kein
Virtuose, aber er spielte wundervoll.
Beethoven war ihm Andacht, Mozart war ihm Glück.
Aber geheult, geheult vor Seligkeit wurde gewiß erst
immer bei Haydn. Wie haben sie damals nach jener
Kindersymphonie geheult, die beiden alten Knaben,
der Augustinerprior Barnabas und der kaiserliche
Staatsanwalt Ambros, und sich unter Tränen umarmt ;
und wir jungen Dachse standen andächtig daneben und
hatten allen Grund zur Andacht. Weinen bei höchstem
185
Musikgenuß war diesen romantischen Davidsbündlern
selbstverständlich. So ein bißchen Jean Paulisch wurde
geweint, rührsam unter Lachen und Anekdotenerzählen.
Mich hatte Ambros ganz besonders in sein Herz ge-
schlossen, und zwar eben als er erfahren hatte, daß ich
ein musikalisches Rindvieh wäre und keine Note lesen
könnte. Gerade darum wäre ich ein guter ,, Hörer** (so
heißt in Österreich jeder Student), sagte er öfter. Und
einmal machte er den Witz : er sei auch ein Mauthner ;
denn erstens könne er Musik viel besser genießen als
machen, und zweitens sei er zu Mauth geboren i).
Dieser unser Ambros wurde nun im Spätherbste 1871
nach Wien berufen. Gleich wieder in einige Stellungen
zugleich. Er sollte an der Wiener Universität über Musik-
geschichte lesen und außerdem irgendwie bei der Er-
ziehung des Kronprinzen Rudolf mitwirken. Er hat für
diesen Schüler ein ganz kleines, aber sehr reiches Werk-
chen über Musikgeschichte verfaßt; sein großes Werk
,, Geschichte der Musik*' ist bekanntlich Fragment ge-
blieben, aber ein Fragment von vier Bänden, das den
Musikern — so versichern sie mir — unentbehrlich ist.
Die Trennung von Ambros wurde uns schwer. We-
nige Tage vor Weihnachten überreichten wir ihm einen
silbernen oder goldenen Lorbeerkranz. Der Einfall war
von der Studentin ausgegangen; sie und der junge
Fürst werden wohl das Wesentlichste dazu getan haben,
daß der bestellte Kranz auch bezahlt werden konnte.
Die Studentin hatte übrigens bei Überreichung der Gabe
Schönheit und Feierlichkeit aus Eigenem zu bestreiten^).
x)^Vgl. Anhang VIII.
2) Sie wurde bald darauf in Leipzig zum Doktor der Philosophie promo-
viert und hat später recht feine Abhandlungen über philosophische Per-
sönlichkeiten und Begriffe veröffentlicht. Im vorigen Jahre fand ich in der
Zeitung die Nachricht von ihrem Tode.
186
Sie war es auch, die mich veranlaßte, dem scheiden-
den Lehrer eine innige Ehrung in Form eines herzlich
gut gemeinten Zeitungsartikels anzutun. Das eben war
meine erste Arbeit, die ich schwarz auf weiß zu Gesicht
bekam. „Himmelblau auf Goldgrund'' nannte Ambros
nachher meinen Aufsatz. Ich habe das Zeitungsblatt
nicht wieder auftreiben können; ich weiß aber, daß
ich sehr viel Schwärmerei (nicht für Ambros allein)
in die Abschiedsworte mit hineingeschrieben habe. Das
Ganze hatte ich mit drei Kreuzen unterzeichnet; das
sollte heißen: von einem, der nicht schreiben kann.
Nun sollte der jugendliche Erguß aber auch gedruckt
werden. Natürlich in dem ,, Tagesboten aus Böhmen*',
dem deutschnationalen Blatte. Auf dieses Blatt war
mein Vater abonniert ; und da ich kein anderes kannte,
hielt ich es für ein ganz ausgezeichnetes ,, Organ der
öffentlichen Meinung".
Nun war mir der Begründer, Besitzer und Leiter des
,, Tagesboten" verschwägert und also recht gut be-
kannt. Aber nie hätte ich mich in dieser heiligen Sache
an ihn gewandt ; nie und nimmer hätte ich die Zufalls-
beziehung einer Verschwägerung benützen mögen, um
der Ehre der Druckerschwärze teilhaftig zu werden.
Ein anderer, mir angenehmerer Gradus ad parnassum
war mir gewiß.
Für den „Tagesboten aus Böhmen" hatten nachein-
ander manche genialische und sogar begabte junge
Herren geschrieben, die nachher bekannte Schrift-
steller wurden; ich werde später den Grund erraten
lassen, der diese jungen Herren ihre Verbindung mit
dem ,, Tagesboten" immer wieder bald lösen ließ. Da-
mals nun war Alfred Klaar die Stütze des Blattes. Wir
kannten einander seit unserer Knabenzeit. Er ist ziem-
187
lieh genau um ein Jahr älter als ich, war mir auch auf
dem Piaristengymnasium immer um eine Klasse vor-
aus. Sonst um die Erfahrung vieler Jahre. Er war in
Prag schon als Lyriker und Journalist eine kleine
Lokalberühmtheit, als ich noch froh sein mußte, in
unserem heimlichen Pennälerverein meine ersten Ge-
dichte vorlesen zu dürfen. Er war noch nicht der beliebte
Dozent am Polytechnikum, noch nicht der Prager
Literaturpapst als Theaterkritiker der ,,Bohemia", aber
er war schon stillschweigend als unser Präsident aner-
kannt an dem historischen Kaffeehaustische (Cafe
Europe), an welchem vor uns Alfred Meißner und
Joseph Bayer gesessen hatten. Ein fertiger Schrift-
steller.
An Alfred Klaar wandte ich mich. Er nahm mich
sehr freundlich auf und las sofort einige Stichproben
aus dem Manuskript. Ich mußte über die Schnelligkeit
staunen, mit der so ein Redakteur die wichtigsten Ent-
schlüsse zu fassen imstande ist. Das Ding werde sofort
„in Satz'' gegeben werden und — ich erschrak fast —
am nächsten Morgen erscheinen. Heute abend noch,
um 10 Uhr, sollte ich auf die Redaktion kommen und
,, Korrektur'* lesen; er werde mir die „Fahne" selbst aus
der ,, Setzerei" holen.
Mich erfaßte der Taumel des Erfolges. Ein Rausch
der Druckerschwärze und ihrer neuen Begriffe : ,, Fahne
— Setzerei — Korrektur." So hatten Lessing und
Schiller gewiß auch angefangen. Ich verstand auf ein-
mal die Bedeutung der Buchdruckerkunst. Wäre an
jenem Tage für die Errichtung eines Gutenberg-Denk-
mals gesammelt worden, ich hätte mein ganzes Ver-
mögen beigesteuert: die zwölf Kreuzer, die ich dem
historischen Kellner des historischen Kaffeehauses für
i88
einen kleinen ,, Schwarzen'* in der Aufregung schuldig
geblieben war.
Pünktlich und stolz, nicht eine Minute zu früh oder
zu spät, war ich zur Stelle. Alfred Klaar erwartete mich
und überreichte mir mit seiner Herzenshöflichkeit die
,, Fahnen*', die den Bürstenabzug meines Aufsatzes ent-
hielten; es kränkte mich, daß diese Fahnen so feucht
und so übelduftend waren; trotzdem war es ein Mo-
ment, der im Leben zählt.
Mein Jugendfreund gab mir rasch die ersten An-
weisungen in der Technik des Korrekturlesens. Ich
faßte die kleinen Zeichen schnell auf, mit deren Hilfe
der Setzer erfährt, was der Verfasser gebessert haben
will; aber ich machte von diesen Zeichen wenig Ge-
brauch : zu verbessern fand ich nichts und die Druck-
fehler übersah ich.
Etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht erschien
der Verleger auf der Redaktion; bis zu dieser Stunde
hatte er nach seiner Gewohnheit im ,, Deutschen Ka-
sino" gesessen, bei Pilsner Bier, im Kreise der deutsch-
böhmischen Politiker ; jetzt kam er aufgeregt, um noch
rasch den Leitartikel für die Morgennummer zu schrei-
ben. Ich hatte den Mann, den Bruder meines Schwagers,
noch niemals in seiner Werkstatt gesehen, wie nachher
so oft. David Kuh war zu jener Zeit in meiner Schätzung
ein Heros. Anno 1848 beinahe ein Märtyrer, jetzt bei-
nahe Reichsratsmitglied. Und schrieb täglich seinen
Leitartikel, in dem er die deutsche Sache in Böhmen
mit leidenschaftlicher Tapferkeit verfocht. Daß er ein
schlechter Geschäftsmann war, worüber ich klagen ge-
hört hatte, konnte meine Achtung keineswegs mindern.
Und die Liebenswürdigkeit in Person war er immer
gewesen.
189
Er wunderte sich kaum, mich in so später Stunde auf
der Redaktion zu finden ; als er aber erfuhr, daß Klaar
meinen Aufsatz über Ambros hätte setzen lassen, ohne
den Chef zu fragen, da polterte er los: „Was? Einen
Huldigungsartikel für Ambros? Nehme ich nicht auf.
Ambros ist ein verkappter Tscheche ; ist ein Reaktionär,
ist Staatsanwalt. Für die Satzkosten mache ich Sie ver-
antwortlich.** (Später habe ich erfahren, daß der Staats-
anwalt Ambros auch gegen Kuh vorgegangen war.)
Er machte uns also für den Satz kostenpflichtig.
Alfred Klaar oder mich? Eins so schrecklich wie das
andere. Den Streit, der nun folgte, einen Streit zwischen
dem müden Verleger und seinem durch Talent und
Fleiß unersetzlich gewordenen Mitarbeiter, nahm ich
für blutigen Ernst. Der Chef machte große Worte:
Banner der Partei oder so etwas. Klaar stellte die Ka-
binettsfrage für den Fall, daß die druckfähige und vor-
treffliche Erstlingsarbeit seines Jüngern Freundes nicht
aufgenommen würde. Kuh leistete heilige Eide: die
Partei und ihr einziges Blatt dürften um einer Studen-
tenlaune willen nicht zu den Tschechen übergehen.
Klaar blieb fest; wenn mein Gedächtnis mich nicht
täuscht, versprach er aber einlenkend, zum Danke für
die Aufnahme des Ambros-Aufsatzes den Leitartikel,
nach welchem der Setzer junge schon zweimal geschickt
worden war, entweder selbst zu verfassen oder nach
dem Diktate des Chefs zu schreiben. Kuh wiederholte
nur immer, ein liberales Blatt dürfte einen Staatsan-
walt nicht verherrlichen. Er, der Verleger, stehe seit
1848 furchtlos und treu auf seinem Posten, halte wie
Moses an irgendeiner Stelle der Bibel unentwegt die
Fahne hoch; und nun komme die pietätslose Jugend,
den verdienten Veteranen zu stürzen.
190
Einem solchen Auftritte war ich nicht gewachsen.
Beschämt und geknickt ging ich von dannen. In'unser
Nachtcafe neben dem Goldenen Engel. Und hätte^we-
nigstens den Bürstenabzug meines Aufsatzes so gern
mitgenommen.
Eine Stunde später erschien am nächtlichen Stamm-
tisch Alfred Klaar, als ob nichts geschehen wäre. Er
hatte gesiegt. Die Morgennummer, an deren kleiner
Auflage man eben zu drucken anfing, enthielt meinen
Aufsatz.
Natürlich war mir das Ereignis wichtiger, als dieser
Rückblick erkennen läßt. Zum ersten Male gedruckt
zu werden, wäre es auch nur für die wenigen hundert
Leser eines Provinzblättchens, muß in jedem jungen
Menschen ein Gefühl der Kraft erwecken ; die Eitelkeit
schaut nur aus einem niedern Stockwerk zu ; viel später
als ich schon ein Dutzend Bücher und über tausend
Zeitungsartikel veröffentlicht hatte, stand ich einmal
in später Nachtstunde daneben, während die Rotations-
maschinen des ,, Berliner Tageblatt'' einen Bogen, der
einen von mir mit besonderer Liebe geschriebenen Auf-
satz enthielt, druckten und in endloser Reihe, in atem-
raubender Schnelligkeit, wohl hundert Exemplare in
jeder Minute zwischen ihren Rädern und Rollen heraus-
schütteten: da kam mir wieder das Gefühl der Kraft
und der Verantwortung und der ernsten Aufgabe. Ganz
anders, als es der Kaiser gemeint hat, soll sich der Schrift-
steller, dessen Worte auf Tausende oder Hunderttau-
sende von Lesern wirken können, wie ein komman-
dierender General fühlen.
191
XVIII. Das erste Buch.
Damals aber, als meine Erstlingsarbeit im ,, Tages-
boten von Böhmen'* erschienen war, vergaß ich das
Ereignis bald wieder, weil es für mich unmittelbar
weder äußerlich noch innerlich folgenreich war. Äußer-
lich nicht, weil ich den Aufsatz nicht mit meinem Na-
men unterzeichnet hatte ; der Kreis der Menschen, die
von meiner Autorschaft wußten, war infolgedessen noch
viel kleiner als der Leserkreis des ,, Tagesboten*'. Ich
schrieb im Laufe des nächsten Jahres auch nur noch
zwei oder drei weitere Aufsätze für das Blatt, trotz-
dem David Kuh es jetzt an Lockungen und Verspre-
chungen nicht fehlen ließ. Ich dachte ja nicht daran,
Schriftsteller oder gar Journalist zu werden. Ich dachte
überhaupt nicht an die Zukunft; der Todeskandidat
hatte keine Pflicht, an die Zukunft zu denken. Und das
war das Innerliche an der Sache : mein Arbeitsinteresse
gehörte ausschließlich meinen Revolutionssonetten, für
die ich seit Jahr und Tag mit wirklicher Hingebung hi-
storische Studien trieb, und die ich nach meinem frühen
Tode der Welt zur Freude und allen Zweiflern zum
Vorwurf hinterlassen wollte. Der Titel stand fest : ,,Die
große Revolution.*'
Da passierte mir eine Geschichte, eine recht jugend-
liche Geschichte, die mich verleitete, die durchaus un-
vollendete und ungefeilte Dichtung als Buch heraus-
zugeben.
192
Ich muß vorausschicken, daß ich Fräulein Rubinstein
aufs innigste verehrte und stolz und eifersüchtig dar-
auf war, fast der einzige Student zu sein, der mit ihr
sprechen, der ihr Bücher besorgen, der sie auch wohl
bis an die Schwelle ihres Hauses begleiten durfte. Eines
Tages überreichte mir die Dame ein Bündel gedruckter
Feuilletons über die Frauenfrage; der Name des Ver-
fassers schien weggeschnitten; ihr hatte sich ein jü-
discher Student aus Ungarn, den ich flüchtig kannte,
als Verfasser vorgestellt. Der vielversprechende junge
Mann hatte sie um die Erlaubnis gebeten, ihr die Buch-
ausgabe, für die er große Geldopfer zu bringen hätte,
widmen zu dürfen. Fräulein R. bat mich nun, die Zei-
tungsausschnitte zu lesen und ihr mein Urteil über das
kleine Werk mitzuteilen. Mein ziemlich sicherer In-
stinkt sagte mir 'schon nach wenigen Seiten : das hat
jener ungarische Lausbub nicht geschrieben. Ich war
nicht faul und brachte es, unterstützt von meinen neuen
journalistischen Bekannten, bald heraus, aus welcher
Zeitung das Bündel Feuilletons herausgeschnitten wor-
den war. Und auf der Redaktion dieser Zeitung, der
deutsch geschriebenen tschechischen ,, Politik", erfuhr
ich : diese Feuilletons waren der Zeitungsabdruck eines
in jenen Tagen vielgenannten Büchleins von Pederzani.
Ich möchte nicht erzählen, in welcher Weise ich nach
der Enthüllung über den Betrüger das Urteil fällte und
wie ich das Urteil selbst an ihm vollstreckte. Die Szene
mag grotesk genug gewesen sein. Vielleicht hätte sich
Don Quixote meines Auftretens nicht zu schämen
gebraucht ; als Richter mag ich mehr an Don Quixote
erinnert haben, als Urteilvollstrecker mehr an Sancho
Pansa, aber an einen aktiven Sancho Pansa.
Nun hatte ich Fräulein R. allerdings durch Scharf-
13 193
sinn und Energie davor bewahrt, dem ,, Unwürdigen'* ihr
Vertrauen zu schenken ; aber es ließ mir keine Ruh, ihr
nun auch die Widmung eines Buches, die ihr entgangen
war, zu ersetzen. Das war von mir unlogisch gedacht,
aber der Gedanke entsprach meinem Gefühl. Ich legte
der Dame also, unmittelbar nach der Exekution des
Buben, meine Revolutionssonette vor, so viele ihrer
waren, und bat nun meinerseits um die Erlaubnis, ihr
diese Gedichtsammlung widmen zu dürfen. Wenn ich
es recht überlege, so nahm Fräulein R. meinen Antrag
nicht viel anders auf als den des Betrügers. Sie empfahl
mir nämlich, meine Dichtung einem Vertrauensmanne
zur Prüfung vorzulegen, einem sehr gelehrten und tüch-
tigen Manne, den auch ich bewunderte, dem Dichter
und Kritiker S. Heller.
Ich habe die Schriften dieses merkwürdigen Mannes,
der seinen volltönenden Vornamen Seligmann als
Schriftsteller zu einem schüchternen S. verkürzt hatte,
seit jener Prager Zeit, also seit beinahe vierzig Jahren,
nicht wieder gelesen; ich habe also mein damaliges
Urteil über ihn nicht revidiert, wie wir denn über-
haupt die Gewohnheit haben, unsere einstmaligen Ein-
drücke und Meinungen gar oft ohne Nachprüfung für
unsere jetzige Meinung auszugeben. Das Leben ist zu
kurz, als daß wir jedes Buch immer wieder noch ein-
mal lesen könnten, sooft wir es rühmend oder tadelnd
erwähnen, im Gespräche oder in Abhandlungen. Da-
mals schien mir S. Heller, trotzdem ihn Gutzkow bos-
haft einen der vielen Heller unserer Literatur genannt
hatte, ein vorbildlicher Schriftsteller zu sein. Vorbild-
lich blieb er mir noch lange Jahre in seiner Eigenschaft
als Theaterkritiker der ,,Bohemia'' ; mit einem unge-
heuren Wissen verband er eine objektive Gründlichkeit
194
und eine subjektive Unbestechlichkeit, die mir bei den
berühmtesten Kritikern nicht oft wieder vorgekommen
sind. Über ein Drama, mit welchem der peinlich ge-
wissenhafte Mann seine Berechtigung zum Amte eines
Rezensenten hatte nachweisen wollen, hatte ich unehr-
erbietig gelacht, weil die lyrischen Stellen und der künst-
liche Aufschwung zu sinnlichen Versen in Abstraktionen
steckengeblieben waren. Aber ein großes Epos ,,Ahas-
verus*' hatte mich durch die geistige Kraft und die strenge
Form der Terzinen begeistert, so daß ich ihn einige Mo-
nate lang nicht etwa für einen Nachahmer, sondern für
den einzigen Nachfolger des gewaltigen Dante hielt.
Diesen Mann nun suchte ich auf Wunsch von Fräu-
lein R. auf, um ihn zu einer Kritik meines Opus zu ver-
anlassen. Ich überreichte ihm meine Revolutionssonette
und meine beiden geschichtsphilosophischen Skizzen
über Robespierre und Napoleon. Vierundzwanzig Stun-
den später beschied mich Heller wieder zu sich. Er ver-
warf ohne Gnade meine Geschichtsphilosophie, meine
Prosa. Das wäre tobsüchtiger Nihilismus. Ich glaube
heute zu wissen, daß in diesen jugendlichen Arbeiten
ganz kräftige Keime zu einer Zufallstheorie der Ge-
schichte verborgen waren ; doch ohne Zaudern und mit
einer gewissen Heiterkeit verbrannte ich sofort diese
wüste Prosa, denn der unerbittliche S. Heller hatte ganz
anders von meinen Sonetten gesprochen. Wenn der
Autor die ganze Sammlung auf die Höhe der besten
Nummern bringen könnte, wenn er die meisten Ge-
dichte klangvoller und fließender gestalten und die
schlechten ausmerzen wollte, „so könnten diese Sonette
vielleicht epochemachend werden* ^ Auf den blauen
Umschlag meines Manuskripts hatte Heller dieses Ur-
teil niedergeschrieben.
13* 195
,, Epochemachend.** Das entsetzliche und gefährliche
Wort stand da, schwarz auf blau. Ich besitze das Blatt
noch. Die vielen Wenn und Aber sah oder merkte oder
las ich nicht.
Acht Tage später war ich in Leipzig, um meine Ge-
dichte drucken zu lassen. Das stand so fest, wie der
Altar in der Kirche, daß ein Österreicher ins Reich gehen,
nach Leipzig fahren mußte, wenn er Gedichte drucken
lassen wollte. Es war eine fixe Idee.
Die Fahrt von Prag nach Leipzig dauerte recht lange :
in gemischten Zügen, in der letzten Klasse, heimlich
ging ich hin. Einen Ausflug hatte ich vorgegeben. Von
unterwegs schrieb ich nach Hause das Geständnis : ich
habe Verse geschrieben und ein Leipziger Verleger wird
sie drucken.
In Leipzig, wo ich in einem Winkelgasthof abstieg,
fand ich die Antwort auf dieses ängstlichstolze Geständ-
nis. Einen Brief und ein Telegramm. Der Brief vom
Elternhause : als ob ich im Begriffe gewesen wäre, sil-
berne Löffel zu stehlen, als ob diese Schande der Familie
unmittelbar gedroht hätte. Das Telegramm war aus
Wien, von meinen altern Brüdern, von Gustav unter-
schrieben. , , Lasse j edesf alls auf unsere Kosten drucken. * *
Der Brief schmerzte. Das Telegramm schmerzte fast
noch mehr. Ein epochemachendes Werk auf Kosten
der Brüder drucken lassen! Lassen müssen! Ich wußte
noch nicht, daß meine Brüder ahnungsvolle Engel waren.
Ich schrieb an drei bekannte Leipziger Verlags-
firmen. Ich wäre in Leipzig und hätte das Manuskript
gleich mitgebracht. ' -^T"'^^^
Keine Antwort.
Am dritten oder vierten^Tage saß^ich, eigentlich mehr
überrascht als verstimmt, bei einem Eis vor dem Cafe
196
Felsche, an der Ecke der Grimmaischen Straße. Plötz-
lich erkenne ich in einem kleinen Herrn am Nachbar-
tische den Vetter Dr. Julius Friedländer, den Mann einer
Kusine. Er war in der gelehrten Welt bekannt und ge-
schätzt als der Besitzer des ausgezeichneten natur-
wissenschaftlichen und mathematischen Antiquariats
R. Friedländer & Sohn. Auch Verleger war er, Heraus-
geber von Jacobis demokratischer ,, Zukunft'*. Da sitzt
also der einzige wirkliche Buchhändler, den ich auf der
Welt kenne, zwei Schritte von mir. Und sympathisch
ist mir der gütige und lebhafte Mann immer gewesen ;
hat sich, wenn er nach Prag kam, immer sehr freundlich
nach meinem Tun und Treiben erkundigt. Das kann
kein Zufall sein, das ist Schickung.
Ich rede ihn an. Ich hätte ein Bändchen Sonette ge-
schrieben und das Manuskript gleich mitgebracht.
Mein Vetter wollte sich ausschütten vor Lachen.
Er war sehr gut gegen mich. Er zahlte mein Eis und
nahm mich mit, als er nun seine Berufsgänge be-
sorgte. Die Leute, mit denen er zu tun hatte, waren
lauter Buchhändler. Überall hatte er ein Geschäft ab-
zuschließen, als ob Bücher Waren wären. Jedesmal,
wenn er seine ernsthaften Angelegenheiten geordnet
hatte, sagte er, anstatt mich vorzustellen : ,,Das ist mein
Vetter Fritze aus Prag. Er ist schnurstracks nach Leip-
zig gekommen, um Sonette drucken zu lassen. Und das
Manuskript hat er gleich mitgebracht.** Die Herren
lachten jedesmal, wie ich seitdem in Leipzig nicht wie-
der lachen gehört habe. Nicht einmal im ,, Symposion**,
bei den deutschen Humoristen.
Erst beim vierten Buchhändler weigerte ich mich,
mit einzutreten. Mein Vetter brummelte etwas und zog
mich hinter sich her. Lachend, aber doch etwas ernst-
197
hafter brachte er hier meine Sache vor. Die Herren
sollten keine Angst haben; das Manuskript läge im
Gasthof. Ein kurzer Kriegsrat wurde gehalten. Das Er-
gebnis : ich sollte zu Rudolf von Gottschall gehen ; der
werde mir gewiß eine wirksame Empfehlung an den
geeigneten Verleger geben.
Ich weiß es heute zu würdigen, daß Gottschall, schon
damals kein junger Mann mehr, mich freundlich auf-
nahm und sich bereit erklärte (mein Reisegeld war
sehr knapp geworden), die Sonette binnen weniger
Stunden zu lesen. Pünktlich zur festgesetzten Zeit stand
ich wieder vor dem Leipziger Kritiker. Abermals ver-
nahm ich ein Urteil, das mir überaus günstig scheinen
mußte ; ich überhörte jedes Wort des Tadels, ich über-
hörte die Mahnung zu sorgsamer Feile, ich hörte nur,
daß Gottschall meine Verse sehr wohlwollend mit den
Jugendgedichten Schillers verglich. Und die wirksame
Empfehlung konnte ich gleich mitnehmen, gleich wir-
ken lassen.
Sie war an den Verleger Leiner gerichtet. Der Herr
empfing mich mit ausgesuchter Höflichkeit. Wie man
seinen zahlungfähigen Kunden empfängt. Das Manu-
skript nahm er in die Hand, prüfte, aber eigentlich nicht
den Inhalt, sondern nur die Stärke. Er bedauerte, daß
das Manuskript nicht dicker wäre. Ob er es nicht lesen
wollte? Nein, der Brief Gottschalls genüge ihm. Er
werde die Sonette drucken und verlegen.
Ich war nicht ganz zufrieden. Daß der Mann am lieb-
sten noch viel mehr Sonette von mir gedruckt hätte,
das freute mich ; es tat mir aber doch leid, daß mein
Verleger, mein Leipziger Verleger, der bedeutende
Mann, an den mich Gottschall empfohlen hatte, daß
der meine Verse nicht lesen wollte. Auch nicht als ent-
198
fernte Ahnung tauchte in mir der Verdacht auf, er
könnte die heilige Sache als Bestellung betrachten, als
Druckauftrag : der Verdacht, ich würde die Druckkosten
bezahlen müssen. Ein moderner Junge von i6, von
14 Jahren hätte sich nicht darüber getäuscht. Aber was
war ich jung mit meinen 22 Jahren! Ich wunderte mich
gar nicht darüber, daß mein Verleger die Entscheidung
über jede Einzelheit in meinen Willen legte. Leise
wunderte ich mich nur darüber, daß mir kein Honorar
angeboten wurde. Ich hätte zur Feier des Tages so gern
eine gute Flasche Wein getrunken. In Auerbachs Keller.
(Ich ging nachher doch in Auerbachs Keller, holte mir
mit einigen Flaschen schlechten Weins einen ordent-
lichen Rausch, schrieb in der Bezechtheit tolles Zeug
ins Fremdenbuch und reiste, da nach der kleinen Zeche
ein weiterer Tag in Leipzig unerschwinglich war, gegen
Mitternacht nach Hause zurück.)
Mein Verleger hatte immerhin doch einige Fragen
gestellt.
„Wie viele Exemplare sollen gedruckt werden?**
So wenige wie möglich, entschied ich. Ein Viertel-
tausend war die mindeste Zahl. Nicht zu viele Menschen
sollen diese Gedichte lesen. (Ich erfinde nicht, ich
scherze nicht; ich gebe das Gespräch so treu wieder,
als mein Gedächtnis es irgend zuläßt.)
, , Welche Schriftgattung ? ' '
Natürlich lateinische Schrift. Die wäre nicht beliebt ;
und ich hätte ja schon gesagt, ich wünschte für diese
Gedichte nicht zu viele Leser.
Und ich setzte einen hohen Ladenpreis fest, weil ich
doch nicht zu viele Leser wünschte. Ich glaube be-
stimmt, der Herr sah mich mitleidig an, als ich vom
Ladenpreis sprach.
199
Mit den Gefühlen eines Siegers kam ich am nächsten
Vormittag zu Hause an. Ich wurde nicht wie ein Sieger
empfangen. Machte nichts. Die Bürstenabzüge kamen
und ich durfte meine Verse korrigieren. War das schön I
Es wird wohl an meinem Augenleiden liegen, daß mir
das Korrigieren jetzt keine so^reine Freude^mehr^be-
reitet.
Die letzte Korrektur war erledigt. Ich wartete auf
meine Freiexemplare und auf das Widmungsexemplar
auf Velinpapier. Mag man mich dafür nennen, was
man will, ich muß es dennoch melden: ja, ich hatte
auch Freiexemplare ausbedungen.
An einem düstern Herbsttage kam irgend etwas, das
wahrscheinlich Aviso hieß. Dann ein Frachtbrief. Dann
ein Ballen. Der Ballen enthielt alle 250 Exemplare mei-
nes ersten Buches, dazu eines auf Velinpapier gedruckt
und hübsch gebunden. Ein Brief lag bei. Meine ,, Be-
stellung** sei ausgeführt. Da mit einem Buche, das auf
eine Verherrlichung der französischen Revolution hin-
ausliefe und die patriotischen Gefühle in Deutschland
verletzte, gegenwärtig in Deutschland kein Geschäft zu
machen wäre, so stelle mir Herr Leiner die ganze Auf-
lage zur Verfügung. Er erwarte die baldige Begleichung
der beigefügten Rechnung.
Und ich gedachte dankbar meiner ahnungsvollen
Brüder.
Da besaß ich also mein erstes Buch „Die große Re-
volution. Epigramme. Von Fritz Mauthner** gleich in
251 Freiexemplaren. Den Untertitel ,, Epigramme** hatte
ich gefunden, um fast bescheiden das Wesen meiner
Sonette zu bezeichnen ; da es aber nicht üblich ist, So-
nette als^^Epigramme zu charakterisieren, mußte der
Titel erst recht irreführen.
200
Nur für eines von den 251 Freiexemplaren, für das
auf Velinpapier, hatte ich Verwendung ; ich wußte nicht,
was ich mit den übrigen anfangen sollte. Für die Ein-
sendung von Rezensionsexemplaren an die Zeitungen
hatte ich wenig Verständnis. Auch keine Ahnung von
der Notwendigkeit, das Buch im Buchhändler-Börsen-
blatt oder gar in Tagesblättern anzuzeigen.
Ich übergab einem braven Sortimenter der Prager
Altstadt hundert Abdrücke, die in ihrem grünen Um-
schlage nicht eben verlockend aussahen. Er stellte ein
Exemplar für einige Tage in sein Schaufenster. Das
war meine Öffentlichkeit.
Doch nein : meine beiden Autoritäten schrieben Re-
zensionen über mein grünes Büchlein. S. Heller hart
und sehr unfreundlich in der „Bohemia'* ; Gottschall
überaus freundlich, wieder mit dem Hinweis auf
Schiller, in seinem Literaturblatte. Gottschalls Kritik
veranlaßte den jungen deutschen Dichter Otto Franz
Gensichen in Berlin, meine Revolutionssonette zu er-
werben. Er erzählte mir viele Jahre später, wie schwie-
rig es war, den deutschen Buchhandel zur Auffindung
der „Novität'' zu überreden. Ich habe diesen Dichter
immer in Ehren gehalten, den einzigen Käufer meines
ersten Buches.
Einen Erfolg haben die ungefeilten, ungefügen, oft
unschönen Sonette nicht verdient ; das geistige Ringen
des jungen Autors, sein ehrlicher Schrei nach Befrei-
ung und am Ende auch manche Sonette, in denen Kraft
und Form war, hätten vielleicht doch Beachtung ver-
dient.
Einige Jahre später erfuhr ich auf seltsame Weise,
daß meinem Erstlingswerkchen kurz nach dem Er-
scheinen ein Erfolg oder doch eine starke Wirkung ge-
201
droht hatte ; der Verfasser sollte — ich weiß nicht recht
— wegen Beleidigung der Kirche oder wegen Gottes-
lästerung, dann aber auch wegen Beschimpfung des
österreichischen Kaiserhauses angeklagt werden. Der
letzte Vorwurf war blanker Unsinn ; ich durfte doch im
Jahre 1872 die Pariser von 1792 den Wunsch aus-
sprechen lassen, daß der Österreicherin Marie Antoi-
nette der Kopf abgeschlagen'würde.^Mein Gewährsmann
für diese Gefahr, verfolgt zu werden, war der Polizei-
rat Dedera, der damals zu Prag das Amt eines Zensors
mit der Dummheit und der ganzen Leidenschaft eines
literarischen Dilettanten verwaltete. Er pflegte sich in
den Kneipen an die deutschen und tschechischen
Schriftsteller und Journalisten heranzubiedern und
stand in dem Rufe (vielleicht geschah ihm unrecht), ge-
legentlich auch Spitzeldienste zu leisten, der Behörde
zu ihrem späteren^Gebrauche die Verfasser anonymer
Zeitungsartikel zu verraten. Mit diesem Herrn geriet
ich im Jahre 1875, nachdem er ein Zensurverbot gegen
mein Schauspiel ,,Anna** durchgesetzt hatte, törichter-
weise in eine persönliche Auseinandersetzung, bei wel-
cher ich ihm durch einen allzu naturalistischen Reim
meine Verachtung ausdrückte. Der sonst immer kat-
zenfreundliche Polizeirat geriet in einen Zorn, der ihm
besser stand als^^^die gespielte Unterwürfigkeit. Ich
müßte froh sein, nicht auf dem Spielberg zu sitzen, oder
in einem ganz gewöhnlichen Kerker. Vor drei Jahren
hätte es nur^^an einem Haar^gehangen. Da hätte sein
Freund, der^ Staatsanwalt ... (er nannte den Namen,
aber ich habe ihn wirklich vergessen), der Feind aller
deutschen Liberalen, den Antrag auf meine Verfolgung
,, wegen dem und dem'' gestellt. Aber ein alter Richter
hätte gesagt, wahrscheinlich bei der Beratung über den
202
Anklagebeschluß: ,, Jetzt kennt kein Mensch das grüne
Büchel, wir wollen nicht durch einen Prozeß darauf
aufmerksam machen/*
Ich werde in ordentlicher Reihenfolge später über
das Verbot und auch über die Aufführung meines
Schauspiels zu berichten haben. Für jetzt möchte ich
nur erzählen, wie viel oder wie wenig meine Lage sich
nach dem Erscheinen der Sonette veränderte.
203
Illllllllllllllllilllllllllllllllllllilllilllllllllllilllllllllliillllllllllllllllly^
XIX. Kritik der Sprache.
Natürlich, für den passiven Widerstand meines Cha-
rakters war es natürlich, blieb ich Student der Rechte,
ließ mich für das neue Semester inskribieren und be-
suchte nach wie vor die Vorlesungen der Herren, mit
denen ich persönlich bekannt war oder von denen ich
mir einen geistigen Gewinn versprach. Die Hauptfächer,
die für die Ablegung des zweiten Examens notwendig
waren, hörte ich nicht mehr. Einigen Professoren, die
ich hochschätzte, sandte ich mein Büchlein zu; die
Antworten liefen eigentlich alle darauf hinaus, daß ich
vor dem Schriftstellerberuf, besonders aber vor Radika-
lismus und Pessimismus gewarnt und zum Abschlüsse
meines Rechtsstudiums gemahnt wurde. Sehr herzlich
von Merkel, ganz besonders eindringlich von Randa.
Meine jungen literarischen Freunde beschränkten
sich in ihrem Interesse darauf, meine Sonette harmlos
und ohne Bosheit zu verspotten. Als ein beliebter
Schauspieler des Prager Landestheaters etwa ein Dut-
zend der Sonette öffentlich zum Vortrag brachte (er
sagte mir, ich müßte ihm ein neues Gebiß kaufen, weil
er sich an meinen harten Versen alle seine Zähne aus-
gebrochen hätte), hätte ich mir einen lokalen Erfolg
einbilden können. Ich will mich nicht besser machen
als ich bin : die freundlichen Besprechungen dieser Vor-
lesung schmeichelten mir und ich hatte gewiß Stunden,
204
in denen ich stolz darauf war, zu den ,, Hoffnungen'*
des Prager Parnasses gezählt zu werden. Meine näch-
ste Umwelt, die Familie und der Kreis der Studien-
freunde, verhielt sich mißtrauisch oder abwartend, was
ich damals sicherlich als eine Kränkung empfand.
Daran war nicht zu zweifeln, daß für das große
Deutschland und für das übrige zukünftige Weltall, an
das ich mich hatte wenden wollen, mein Gedichtbuch
ein Schlag ins Wasser gewesen war. Auch in Prag war
nach einiger Zeit von meinen geharnischten Sonetten
nicht mehr viel die Rede.
Ich litt unter dem Mißerfolge eigentlich gar nicht,
weil just während des Jahres 1873 sich in meinem Er-
leben etwas gestaltete, von dem ich damals noch gar
nicht wußte, ob es ein ungeheurer Arbeitsplan oder eine
Resignation auf jede schriftstellerische Tätigkeit war.
Die sprachkritischen Ideen, die ich erst siebenundzwan-
zig Jahre später, dreimal neun Jahre später, in den drei
starken Bänden herausgab, bemächtigten sich meiner
mit einer Macht, der ich nicht widerstehen konnte.
Ohne jede Vorarbeit, wie man ein lyrisches Gedicht nie-
derschreibt, so setzte ich mich eines Tages hin, um wie
mit einem wilden Anlauf die Ideen, die mich bedräng-
ten, für mich selbst zu gestalten und so im Grunde erst
zu erfahren, was in mir denken wollte. Einige Wochen
lang arbeitete ich Tag und Nacht an dieser ersten Fas-
sung meiner Sprachkritik, leidenschaftlich und mit dem
Bewußtsein, Unerhörtes zu sagen. Das Manuskript war
nicht mehr ganz klein, als mir das Bedürfnis kam,
mich mit der Lehre Kants auseinanderzusetzen. Da
wurde es mir plötzlich klar, daß mir die allermeisten
Vorkenntnisse für meine Arbeit fehlten. Von Kant und
anderen Philosophen (Schopenhauer etwa ausgenom-
205
men) wußte ich wenig, von der neuern Sprachwissen-
schaft so gut wie nichts. Ich war ein Ignorant auf
dem Gebiete, auf welchem ich reformatorische Ideen
zu haben geglaubt hatte. Mir fehlte unbedingt der nö-
tige Schulsack. Vielleicht hatten sich die großen Denker,
die ich nicht kannte, an den Schuhsohlen abgelaufen,
was ich für meine eigenen Eingebungen hielt. Auf das
Hochgefühl, mit dem ich wochenlang meinen Gedanken-
gang hinausgebraust hatte, folgte eine geistige Ver-
zweiflung, in welcher ich zwischen ganz gemeinen
Räuschen und Selbstmordplänen hin und her schwankte.
Da half mir wieder die seit meiner Erkrankung be-
stehende Überzeugung, ich wäre ein Todeskandidat. Ich
warf das wüste Manuskript ins Feuer und faßte den
feierlichen Entschluß, an einen Erfolg, an eine dichte-
rische Tätigkeit überhaupt nicht mehr zu denken, eben-
sowenig wie an die Wiederaufnahme der Rechtsstudien,
dagegen die kurze oder längere Zeit, die ich noch zu
leben hatte, Erkenntnistheorie und Sprachwissenschaft
zu studieren, um mir zu einiger Deutlichkeit über die
rebellischen Ideen zu verhelfen, die mich bedrängten.
Ich bin diesem Vorsatze ja nicht ganz treu geblieben. Ich
habe bald nachher den Schriftstellerberuf trotzig-bewußt
ergriffen, im Kampfe ums Dasein, weil doch der Mensch
sein Brot durch redliche Arbeit verdienen „soir*, und
habe in diesem Berufe sehr viel, viel zu viel an Romanen,
Novellen und Zeitungsaufsätzen geschrieben. Aber in
den langen Jahren dieser strengen Arbeit habe ich mei-
nem Vorsatz, Erkenntnistheorie und Sprachwissenschaf t
im Dienste meiner sprachkritischen Gedanken zu stu-
dieren, doch eigentlich keinen Tag vergessen und darf
mich wenigstens rühmen, fleißig gewesen zu sein. Die
Vorstellung, ein Todeskandidat zu sein, mußte ich end-
206
lieh zu meiner Verwunderung aufgeben, da mein Körper
die doppelte Arbeit aushielt. Nach dem Frondienst der
Tagesarbeit gehörte fast jede halbe Nacht meinen eigenen
Studien. Das Doppelleben führte ich, unerbittlich gegen
mich selbst, bis zu Ende durch; zwanzig Jahre lang
dauerte die Vorarbeit zu meinem sprachkritischen Werke
und während dieser ganzen Zeit habe ich fast keiner
menschlichen Seele verraten, daß mich noch etwas ganz
anderes beschäftigte als meine Romane und meine
Zeitungsaufsätze. Vielleicht lag es an diesem Doppel-
leben, daß ich manche der Schriften, die ich damals ver-
öffentlichte, zu leicht nahm. Erst im Jahre 1893, als
ich die Niederschrift meines Buches begann, als die
siebenjährige Mordsarbeit der Gestaltung meiner Ideen
mich aufzureiben schien, fühlte ich mich geborgen und
war meines Zieles sicher genug, so daß ich mein Ge-
heimnis drei Menschen mitteilen konnte.
Wie diese sprachkritischen Gedanken in meinem
Kopfe entstanden sind, weiß ich kaum genau mehr an-
zugeben. Ich könnte kein einzelnes Buch oder Erlebnis
nennen, auch kein zugeflogenes Wort, keinen mir be-
wußten unmittelbaren Einfluß. Es geschieht auch nicht
zur Kurzweil des Lesers, wenn ich mir Mühe gebe, ge-
wissenhaft zu erforschen, von wo die in der Luft fliegen-
den Keime des sprachkritischen Gedankens mir zuge-
flogen sein mögen. Bestimmt weiß ich nur, daß der
Schrecken über die Sprache, dessen Analyse ich dann
zu meiner Lebensaufgabe machte, mich einmal auf
einem langen Marsche überfiel, als ob ich einen Schlag
vor die Stirn erhalten hätte. Vorgänger, deren Worte
ich in meinem Buche immer verzeichnet habe, lernte
ich erst viel später in den langen Jahren der Vorarbeit
kennen.
207
Sicher habe ich schon als Knabe einige Fragen der
Sprachphilosophie ahnungslos als Fragen empfunden.
In einem zweisprachigen Lande, wie gesagt, dazu als Jude
in der Lage häufig eine dritte Sprache, das Deutsch der
böhmischen Juden zu vernehmen und zu verhöhnen,
war ich in früher Jugend schon bereit, die törichte
Frage zu stellen : warum ist dieser Ausdruck richtig und
der andere nicht? Dazu mochte kommen, daß mein
Vater — mit ungenügender Sachkenntnis freilich — es
liebte, uns auf die Besonderheiten der drei Sprachen
aufmerksam zu machen. Dann aber klingen mir noch
heute in den Ohren einige Verse eines Mannes, der we-
der ein Denker noch ein Dichter war, die aber einen
starken Eindruck auf den Knaben, vielleicht gar schon
auf das Kind gemacht haben müssen. Reime von Kotze-
bue, aus seinem nachgemachten Gedichte „Der Aus-
bruch der Verzweiflung''^). Es war ein Lieblingsstück
meiner Mutter, sie konnte es auswendig und sprach es
uns Kindern häufig vor; immer, wie ich jetzt glaube,
wenn sie Schweres niederzukämpfen hatte und uns ihre
Stimmung, anstatt persönlich zu klagen, durch die Rei-
mereien Kotzebues mitzuteilen vorzog. Es ist sicherlich
eine übertriebene Pedanterei, wenn ich auch dieses
,, Gedicht'', das beim Nachlesen wie ein umgekehrter,
geifernder und darum gar nicht komischer Brockes auf
mich wirkte, nenne, da ich die Anregungen zu meiner
Sprachkritik überdenke. Aber — wie gesagt — es muß
einen starken Eindruck auf mich gemacht haben, da
i) Für Literarhistoriker mag das Wort ,, nachgemacht" überflüssigerweise
erklärt werden; aber was wäre für Historiker zu unbedeutend? Ich glaube
also „entdeckt" zu haben, daß Kotzebues „Ausbruch der Verzweiflung" in
seiner Aufzählung der Nachteile, die den Menschen vom Tiere unterscheiden,
Punkt für Punkt der ganz pessimistischen Klage folgt, die bei dem älteren
Plinius (Hist. natur. VII. i) zu finden ist.
208
noch heute, nach mehr als 50 Jahren, noch just die
Zeilen im Gedächtnisse haften, die die Vernunft und die
Sprache zu verhöhnen vermeinten.
„Die Vernunft, — ei, wie in meinen Ohren
Bettelstolz dies Wörtchen tönt.
Wehe uns, ihr eitlen Toren,
Die ihr einem Götzen frönt! ...
Klauen, Zähne sind die Waffen,
Die man unter Tieren trifft ;
Worte, Schwerter, Blicke, Gift,
Sind für Menschen nur geschaffen.**
Wie stark bei mir, einem Schwätzer von Natur, die
Andacht zum Schweigen war, noch bevor mich der
Schrecken der Sprache überfiel, mögen die Verse be-
zeugen (aus dem Jahre 1871), die meine Revolutions-
sonette beschließen. Ich hatte die Sternengreise aufge-
rufen, mir das Schicksal der Menschen nach ihrer
großen Revolution vorauszusagen ; die Sterne antwor-
teten mir :
,, Unbewegt beharren wir, zu zeigen
Himmelslicht den Erdenfinsternissen ;
Sehen nicht und wissen nicht und schweigen.
Arme Menschen, die ihr mußtet missen
Ruh' und Glück, die unser Göttereigen:
Nicht zu sehen, nicht zu wissen.**
Ich habe wenige Jahre nach dem Erscheinen meiner
Sprachkritik, durch Anfragen angeregt und durch man-
cherlei bösen Willen gereizt, Rechenschaft darüber zu
geben versucht, wie entscheidend drei Männer, Otto Lud-
wig, Nietzsche und Bismarck, auf die Ausbildung meiner
Ideen eingewirkt hatten: in einem Briefe an Maximi-
lian Harden ; dieser Rechenschaftsbericht ist unter dem
14 209
Titel „I^ie Herkunft des sprachkritischen Gedankens**
am 2. April 1904 in der „Zukunft** erschienen. Bevor
ich diesen Brief hier noch einmal abdrucke, möchte ich
noch einen vierten Namen nennen, den von Ernst Mach.
Mach selbst hat mich vor einigen Jahren — er gab
mir wieder einen Beweis seines erstaunlichen Gedächt-
nisses — daran erinnert, daß ich als junger Student in
Prag einen seiner öffentlichen Vorträge angehört und
nach der physikalischen Darlegung die Erlaubnis er-
beten hatte, ihm einige begriffliche Bedenken vorlegen
zu dürfen. In dem gleichen Jahre 1872 ließ mich Mach
seinen Vortrag über ,,Die Erhaltung der Arbeit** lesen
und ich erhielt, so wenig ich damals von mathemati-
cher Mechanik verstand, einen Anstoß, der ohne mein
Wissen durch Jahrzehnte fortgedauert haben muß.
Denn als ich fast dreißig Jahre später diesen Vortrag
las, ohne mich der ersten Lektüre zu erinnern, war ich
über die sprachkritischen Ahnungen erstaunt und hatte
plötzlich die entschiedene Vorstellung, alle diese schlag-
kräftigen Formulierungen schon einmal in mich auf-
genommen zu haben. Machs erkenntnistheoretischer
Positivismus — der die metaphysischen Worte nicht,
wie Auguste Comte, haßt, sondern psychologisch be-
schreibt, also erklärt — hatte in meinem Unterbewußt-
sein nachgewirkt.
Mein Bericht über die Herkunft des sprachkritischen
Gedankens aber lautete:
„Lieber Freund.
Sie kennen die beiden Finten, die nacheinander gegen
eine neue Lehre von unehrlichen Gegnern angewandt
werden. Zuerst wird das Neue, weil es gegen die allge-
meine Meinung verstößt, also in wörtlichem Sinne para-
210
dox ist, für widersinnig erklärt, für unsinnig, für para-
dox im schlechten Sinn. Vor ihrer Anerkennung ist jede
Wahrheit paradox. Pythagoras opferte hundert Ochsen,
da er seinen Lehrsatz gefunden hatte; seitdem zittern
alle Ochsen, nach dem geistreichen Worte Börnes (oder
vielmehr Kästners) , wenn eine neue Wahrheit gefunden
wird. Die zweite Finte ist perfider, weil sie weniger
dumm ist. Man sagt von der neuen Wahrheit, wenn sie
sich durchzusetzen beginnt, daß sie uralt sei. Und da
alles Gescheite schon einmal gedacht worden ist, so ist
dieses Vorgehen der Verkleinerungssucht niemals völlig
falsch. Alles ist schon einmal dagewesen. Rabbi Akiba
hat recht. Nur wird bei dieser zweiten Finte eine häß-
liche Unredlichkeit geübt, die selbst Schopenhauer in
seiner grimmigen Schrift gegen die Philosophieprofes-
soren der Professorenphilosophie übersehen hat. Der
Verfasser des Werkes hat natürlicher- oder törichter-
weise sehr viel gelesen und gewissenhaft und freudig all
die Stellen zitiert, an denen ältere Selbstdenker sich
seinem neuen- Gedanken nähern oder ihn auch schon
halb aussprechen, ohne seine Wichtigkeit zu ahnen. Die
Gegner tun nun so, als hätten sie all diese versteckten
Stellen selbst schon beachtet und gesammelt, und halten
mit fälschender Übertreibung dem Verfasser die von
ihm selbst zitierten Anklänge entgegen, die ihn während
der Arbeit erfreut und ermutigt haben. Die Torheit sol-
cher Angreifer ist aber vielleicht noch größer als ihre
Unehrlichkeit. Sie glauben wirklich, ein eigenes Werk,
die Konzeption einer eigenen Weltanschauung entstehe
so wie ein deutscher Schulaufsatz oder wie eine Doktor-
dissertation: indem ein jüngerer oder älterer Schüler
Stücke aus älteren Aufsätzen zu einem neuen Aufsatze
zusammenstückelt. Die Armen wissen nichts vom
14* 211
künstlerischen Schaffen, das auch im wissenschaft-
lichen Denken allein lebendig ist. Die Armen wissen
nicht, wie unbewußt der dominierende Gedanke sich der
Seele bemächtigt haben muß, bevor sich Daten aus allen
Wissenschaften ankristallisieren.
Man wird es unbescheiden finden, wenn ich den Er-
fahrungssatz, daß die gleichen Bodenelemente in der
Buche zu Eckern, im Pfirsichbaum zu Pfirsichen meta-
morphosiert werden, daß die anregenden Motive für den
neuen Gedankengang vollständig umgeschaffen werden
müssen, — man wird es unbescheiden finden, wenn ich
diesen Satz für die Herkunft meines eigenen Gedankens
in Anspruch nehme. Ich trotze dem Vorwurf der Unbe-
scheidenheit. Ich trotze ihm am liebsten vor den Lesern
der ,, Zukunft'', weil da oft mit Achtung und Wärme
von meiner ,, Kritik der Sprache'' gesprochen wurde.
Ihre eigene Meinung kenne ich ja; und die einzigen
Zeugen unserer langen Unterhaltungen, die Kiefern des
Grunewaldes, verstehen die Worte Bescheidenheit und
Unbescheidenheit gar nicht.
Eigentlich könnte nur eine getreue Autobiographie
helfen, die Herkunft einer neuen Erfindung, einer neuen
Lehre festzustellen, soweit eben Treue sicher zwischen
Wahrheit und Dichtung unterscheiden kann. Ein wenig
pathologisch ist jeder Finder und Erfinder, ein wenig
unbescheiden ist jede Autobiographie.
Ich habe Ihnen einmal erzählt, daß mein Spielen mit
dem sprachkritischen Gedanken, ja, eigentlich schon
die entscheidende Stimmung bis in frühe Jugend zurück-
reicht. Hier möchte ich nur darüber berichten, wie vor
etwa dreißig Jahren die Arbeit in der Gedankenwerk-
statt begann, wie bei der Entbindung der sprachkriti-
schen Idee zwei merkwürdige Bücher und eine große
212
Persönlichkeit mithalfen. Otto Ludwig und Friedrich
Nietzsche hatten die beiden Bücher geschrieben. Der
Fürst Bismarck war die große Persönlichkeit.
Die Jugend von heute kann sich keine Vorstellung
davon machen, eine wie tiefe Wirkung Otto Ludwigs
,, Shakespeare-Studien** auf die Jugend von vor dreißig
Jahren ausübten. Wer damals etwa im vierundzwanzig-
sten Jahr stand, hatte als zehnjähriger Knabe das lodernde
Aufflammen der Schillerbegeisterung bei der Schiller-
feier von 1 859 mit erlebt, hatte den Fackelzug geschaut,
hatte die politische Bedeutung der Feier nicht geahnt
und vermeintlich für Lebenszeit die Vorstellung gewon-
nen : wie im Dichter überhaupt alle Menschengröße, so
sei in Schiller alle Dichtergröße vereint. Der Naturalis-
mus war noch nicht neu benannt. Was damals in der
deutschen Literatur realistisch hieß, die ersten Romane
von Freytag und die hübschen alten Novellen von Auer-
bach, das dachte selbst nicht daran, sich dem unsterb-
lichen Schiller gegenüberzustellen. Schiller war ein
dichterischer Nationalheiliger. Eigentlich der einzige.
Der Goethekultus, abgesehen von einzelnen Gemeinden
des Urgoethetums, war erst im Entstehen.
Und nun erfuhren wir aus Ludwigs ,, Shakespeare-
Studien*', daß einer aus dem Kreis der bescheidenen
Realisten sein ganzes Leben und sein halbes Schaffen
scharfsinnigen Untersuchungen über die poetischen
Sünden Schillers geopfert hatte. Die Wirkung war zu-
erst eine Verblüffung und dann eine förmliche Revo-
lution in den ästhetischen Überzeugungen. Der spätere
Naturalismus hatte im Vergleich dazu nur die Bedeu-
tung einer Revolte. Wir müssen heute sagen : Otto Lud-
wigVar mit seiner Schillerkritik im Recht, ganz gewiß
subjektiv, weil er ernst und ehrlich war, gewiß aber
213
auch objektiv, wenn das neue deutsche Drama füglich
die Wege Heinrichs von Kleist gegangen ist. Wir kön-
nen Schiller lieben, ohne ihn als Vorbild gelten zu lassen.
Wir können heute übrigens auch das Einseitige und
allzu Schematische in den Shakespeare-Studien wahr-
nehmen. Damals fühlten wir nur das eine : der Mann hat
recht. Wir sahen in Otto Ludwig den Verkünder einer
neuen Zeit, den Johannes eines neuen dramatischen
Messias, auf den Christen und Juden bekanntlich immer
noch warten.
Wer nun selbst zum Grübeln veranlagt war, wer be-
sonders mit dem Geheimnis der Sprache in Liebe und
Haß nicht fertig werden konnte, der war geneigt, den
Faden der Shakespeare-Studien weiterzuspinnen. Was
mehr als zwei Menschenalter hindurch die Deutschen
entzückt hatte, Schillers schöne Sprache, wurde vom
Shakespeare - Enthusiasten getadelt. ,, Schönheit der
Sprache am unrechten Ort wird zum Fehler und damit
zur' Unschönheit. ' '
Das wollten wir nicht für Schiller allein gelten lassen.
Jede Zeit hat ihre eigene ,, schöne Sprache'*. Niemals ist
von den Zeitgenossen das Beste an einem großen Dichter
„schöne Sprache'' genannt worden. Das Ungeheure an
Shakespeare, sein harter Blick in die Wirklichkeitswelt
und seine dämonische Charakterisierungskraft: das
lobte niemand als schöne Sprache. Worin aber Shake-
speare der Sklave seiner Zeit war, sein Spielen mit Anti-
thesen, Wortanklängen und toten Symbolen aus der an-
tiken Mythologie : all diese Schönheitsfehler gerade muß-
ten seiner Zeit als schöne Sprache erscheinen. Schön ist
den Zeitgenossen in der Sprache immer nur eigentlich
der Gedankeninhalt; und der wieder nur, wenn er^mit
glatter Banalität der Weltanschauung der Zeitgenossen
214
entspricht, sei nun diese Weltanschauung eine neue
Mode oder eine neue Philosophie.
War nun „Schönheit der Sprache'* nicht das richtige
Kunstmittel, sollte die Sprache als Werkzeug der Poesie
untersucht werden, so mußten wir radikaler sein als
Otto Ludwig. Der hatte für die praktischen Zwecke sei-
nes dramatischen Handwerkes Schiller und Shakespeare
verglichen. Wollten wir das Geheimnis der Sprache als
Kunstmittel erforschen, so mußte Schiller gegen einen
Näheren gehalten werden, der Dichter der schönen
Sprache gegen den Dichter an sich, gegen Goethe. Was
da an liebloser Kritik namentlich der Gedichte Schillers
und an liebevollem Verstehen des ganzen Goethe sehen
Wesens herauskam, das ließ bald die bloß ästhetischen
Anregungen Ludwigs weit hinter sich. Die Frage nach
dem Wesen der Sprache als Kunstmittel führte zu der
tieferen Frage nach dem Wesen der Sprache als Er-
kenntniswerkzeug. Goethe führte unmittelbar in den
sprachkritischen Gedanken hinein. Den Sprachbeherr-
scher ohnegleichen begleitete von der Jugend bis ins
höchste Alter ein Mißtrauen — um nicht zu sagen : ein
Haß — gegen die Sprache. Ein solcher Haß gegen das
beste Mittel des eigenen Schaffens ist immer aus Liebe
geboren. So mag ein genialer Maler die realen, im Laden
käuflichen Farben verfluchen, die sich schwer zur Dar-
stellung seiner Künstlerträume verschmelzen lassen. So
wurden Friedrich der Große und Bismarck Verächter der
Menschen, die ihnen zu neuen Zielen nicht schnell ge-
nug gehorchten. Goethe nannte sich einmal selbst den
Todfeind von Wortschällen. Und bei Gelegenheit von
Hamann, dem Magus des Nordens, der den sprachkriti-
schen Gedanken bei Goethe und anderen wie kein zwei-
ter Deutscher gefördert hatte, spricht Goethe die ent-
2IS
scheidende Wahrheit aus : Alles Vereinzelte sei verwerf-
lich; bei jeder Überlieferung durchs Wort jedoch, die
nicht gerade poetisch ist, finde sich eine große Schwie-
rigkeit. Denn das Wort müsse sich ablösen, es müsse
sich vereinzeln, um etwas zu sagen, zu bedeuten. Der
Mensch, indem er spricht, müsse für den Augenblick
einseitig werden. Da war bei Goethe, dem Poeten und
dem Weisen, zusammengedacht, was uns bisher in zwei
verschiedenen Denkreihen auseinandergefallen war.
Die Sprache als Werkzeug der Poesie war das edelste
Kunstmittel, erhob für uns die Poesie über alle anderen
Künste. Dieselbe Sprache war ein unbrauchbares, ein
elendes Werkzeug der Erkenntnis. Dieser Widerspruch
— Widersprüche gibt es nur in der Sprache oder im
Denken des Menschen, nicht in der Wirklichkeitswelt —
dieser scheinbare Widerspruch wurde nicht nur aufgelöst,
sondern als notwendig erkannt, wenn erst das Wesen
des Wortes ein wenig aufgehellt war und dann die Be-
ziehungen des Wortes zur Poesie oder Wortkunst auf der
einen, zur Welterkenntnis oder Philosophie auf der an-
deren Seite. Die Poesie ist ein Sinnenreiz durch Worte.
Aber die Worte geben keine Anschauung, weder in der
Poesie noch in der Wissenschaft. ,, Jedes einzelne Wort
ist geschwängert von seiner eigenen Geschichte, jedes
einzelne Wort trägt in sich eine endlose Entwicklung
von Metapher zu Metapher." Daher kommt es, daß die
Worte unserer Sprache nur in den seltensten Fällen den
Begriffen entsprechen, mit denen die Schullogik arbei-
tet, daß die Begriffe oder Worte keinen starren Umfang
und keinen definierten Inhalt haben, daß vielmehr ein
zitteriger Umfang, ein nebelhafter Inhalt die Worte der
lebendigen Sprache mindert oder erhöht, wie man's
nimmt. Dieses Schweben und Weben in den einzelnen
216
Worten kann keine Anschauung geben, nur Assozia-
tionen kann es wecken, Assoziationen und Erinnerun-
gen. Und weil die menschliche Sprache nichts ist als
die Gesamtheit der menschheitlichen Entwicklung, als
die ererbte und erworbene Erinnerung des Menschen-
geistes, darum sind die Worte reicher an Assoziationen
als die Töne der Musik oder als die Farben der Malerei.
Und weil die Bilder des Dichters nicht die Wirklichkeit
wiedergeben, sondern des Dichters Stimmungen und
Gefühle gegenüber der Wirklichkeit, darum ist das
Schwebende in den Begriffen, der Gefühlswert in den
Worten ein so ausgezeichnetes Mittel der Wortkunst.
Lange bevor es in der Malerei eine impressionistische
Technik gab, war in der Poesie diese Übung zu Hause.
Diese Worte haben immer zitterige Umrisse gehabt,
die Sprache ist immer impressionistisch gewesen. Eine
Wortanalyse der schönsten Gedichte Goethes machte
diese Wahrheit deutlich. Erst die Stimmung, die vom
Dichter zum Leser oder Hörer übergeht, vereint die zit-
ternden Worte wieder zu dem Bilde, das der Dichter
mitteilen wollte.
Dieses Schweben und Zittern um die Worte macht
aber dieselbe Sprache unlogisch, unpräzis, macht sie zu
einem schlechten Werkzeug der Wissenschaft, macht
sie vor allem ganz unfähig, aus Worten Welterkenntnis
oder Philosophie herauszuspinnen. Die Sprache ist ein
Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen
läßt. Im besten Fall sind die Worte orientierende Erin-
nerungen an Sinneseindrücke. Darum ist die Sprache in
ihrem Wesen materialistisch, kann bestenfalls in den
einzelnen Naturwissenschaften dem Ordnungstrieb der
Menschen dienen, kann bestenfalls der Weltanschau-
ung des Materialismus genügen, kann aber über den
217
Materialismus hinaus dem unausrottbaren metaphysi-
schen Bedürfnis nicht helfen. Weil unser Denken nur
Sprechen ist, darum müssen wir uns in allen Wissen-
schaften auf das Beschreiben beschränken und gelan-
gen nicht zum Erklären. Auf diesem Wege ungefähr
führte bereits die ästhetische Sprachkritik Ludwigs zu
einer erkenntnistheoretischen Sprachkritik hinüber.
Mit einer gewaltsamen Losreißung von Schiller, nicht
von der edlen Persönlichkeit des Dichters, sondern nur
von seiner Psychologie und Sprache, fing es an. Wel-
cher Abgrund sich da endlich auftat, zeigte ein Blick
auf eins seiner bekanntesten Gedichte. In den ,, Worten
des Wahnes'^ hat Schiller an einigen stolzen Begriffen
Sprachkritik geübt. Die Goldene Zeit, die Gerechtigkeit
auf Erden, die Entschleierung der Wahrheit sind Schat-
ten. ,, Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht,
solang* er die Schatten zu haschen sucht." Zwei Jahre
früher, doch schon nach mehrjährigem Verkehr mit
Goethe, schrieb Schiller aber ganz wortabergläubig ,,die
Worte des Glaubens*^ :
,,Drei Worte nenn* ich euch, inhaltschwer,
Sie gehen von Munde zu Munde . . .
Dem Menschen ist aller Wert geraubt.
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt."
Es sind die Begriffe : Freiheit, Tugend und Gott, die-
selben Begriffe, die Kant durch die Hintertür der ,, Prak-
tischen Vernunft" (doch schon vorher in der ,, Meta-
physik der Sitten") wieder eingeführt hatte, nachdem
sie von ihm in der ,, Kritik der reinen Vernunft" eben
hinausgewiesen worden waren. Es sind für Kant und
für Schiller Worte des Glaubens, Bedürfnisse des Her-
zens. „Und stammen sie gleich nicht von außen her;
218
Euer Inneres gibt davon Kunde/ ^ Und nun lesen Sie die
Eingangverse des Gedichtes noch einmal, ohne Ände-
rung, ohne Parodie, ohne Bosheit, nur etwa mit der
Verachtung ewiger Wahrheiten, die uns inzwischen
Friedrich Nietzsche, der Umwerter aller Werte, gelehrt
hat. Und Schillers Gedicht verwandelt sich in eine höh-
nische Parodie seiner selbst:
„Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer,
Sie gehen von Munde zu Munde . . .
Dem Menschen ist aller Wert geraubt.
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt/*
^Ich bitte Sie nur, laut zu lesen und die Lautgruppen
,, Worte** und ,,Wert** so auszusprechen, wie wir sie
empfinden. Sie gehen wirklich nur ,,von Munde zu
Munde**.
Von dem Friedrich Nietzsche, der später als Dichter
des Zarathustra und als antichristlicher Verkünder einer
neuen Herrenmoral, jenseits von Gut und Böse, so ein-
flußreich wurde, konnten wir vor dreißig Jahren noch
nichts wissen. Noch nichts wissen von der glänzenden
Wortkritik, die Nietzsche an der beschränkten Gruppe
moralischer oder moralinsaurer Begriffe üben würde.
Der spätere Nietzsche wäre der Mann gewesen, mit un-
vergleichlicher Sprachkraft Sprachkritik zu treiben,
wenn er den Dichter in sich selbst und den Denker aus-
einanderzuhalten vermocht hätte, wie Goethe es doch
vermochte, und wenn er mit seinem stärksten Interesse
über moralische, also eigentlich theologische Fragen
hinausgelangt wäre. Genug : seine bekanntesten Werke
waren noch nicht geschrieben und fast wie durch ein
Wunder nur gelangten die ersten Schriften Nietzsches
schon damals in unseren studentischen Kreis.
219
Einige eingefleischte Wagnerianer begeisterten sich
an der ,, Geburt der Tragödie' ^ Wir anderen wußten mit
diesem Buch wenig anzufangen, in dem die Psychologie
des Genies ebenso gut ist wie schlecht und unhaltbar
die historische Auffassung. Die erste unzeitgemäße Be-
trachtung, die den feinen und verdienstvollen Strauß,
den Bekenner des neuen Glaubens, als den Bildungs-
philister an den Pranger stellte, mißfiel uns. Sie schien
uns ein gut geschriebenes Pamphlet, einseitig und un-
gerecht. Nur das neue Wort ,, Bildungsphilister" prägte
sich uns mit dem, was es bedeutete, unauslöschbar ein.
Und dann kam die zweite unzeitgemäße Betrachtung;
sie schlug wie ein Blitz unter uns hinein: ,, Vom Nutzen
und Nachteil der Historie für das Leben.*' Für mich
selbst kann ich eingestehen, daßniewiederein Werk von
Nietzsche einen so übermächtigen Eindruck auf mich
gemacht hat wie diese einfach und verhältnismäßig
ruhig gehaltene Abhandlung. Und ich halte sie noch
heute für die fruchtbarste, subjektiv und objektiv wahr-
ste unter Nietzsches Schriften. Wie hatten wir unter
dem Leiden geseufzt, für das es kein Heilmittel gab,
das wir nicht einmal benennen konnten! Das Leiden,
das nun plötzlich bei seinem Namen gerufen wurde:
die historische Krankheit oder der Historismus, hatte
uns unsere wissenschaftliche Jugend geraubt. Er lag
über den Vorträgen unserer Lehrer ebensosehr wie über
dem öffentlichen Leben. Wenn man den Historismus
als die herrschende Macht oder die herrschende Krank-
heit des neunzehnten Jahrhunderts auf die kürzeste
Formel bringen will, so kann man sagen : der Historis-
mus war die romantische Reaktion gegen die Tenden-
zen der großen Französischen Revolution von 1789.
Hegel hat einmal den Meisterwitz gemacht, die Fran-
220
zösische Revolution habe die Welt auf die Vernunft,
also auf den Kopf gestellt. Man könnte den geistreichen
Scherz umkehren: die romantische Reaktion, die na-
mentlich in Deutschland nach dem Sturz Napoleons,
also nach der scheinbaren Beendigung der Revolution,
einsetzte, hat die Welt auf die Geschichte, also auf die
Unvernunft gestellt. Der Begriff der Entwicklung wurde
ja erst später auf die Geschichte angewandt. Der
leitende Historismus des neunzehnten Jahrhunderts
stemmte sich gegen Revolution ebenso wie gegen Evo-
lution. Besonders wir Juristen hatten ein Recht, über
den Historismus zu klagen. Das anerkannte Haupt der
historischen Rechtsschule, Savigny, hatte sich dem
Vernunft- und Naturrecht des achtzehnten Jahrhun-
derts gegenübergestellt und ewig wurde uns sein be-
rühmter Satz wiederholt, daß unsere Zeit keinen Beruf
zur Gesetzgebung habe. Wir wissen jetzt alle, wie diese
Äußerung des Historismus durch die Lebensarbeit Bis-
marcks, des Illegitimistischen, also Unhistorischen,
über den Haufen geworfen wurde. Bezeichnend ist, daß
das geflügelte Wort des Historismus, das verhängnis-
volle Wort Hegels, in seiner Philosophie des Rechtes zu
finden ist, niedergeschrieben zur Zeit der Karlsbader
Beschlüsse und der Wiener Schlußakte, das Wort:
„Was vernünftig ist, das ist wirklich ; und was wirklich
ist, das ist vernünftig.*'
Heute haben wir aus den Notizen des zweiten Bandes
von Nietzsches Nachlaßschriften erfahren, wie scharf
sich Nietzsche in seiner zweiten Unzeitgemäßen gerade
gegen Hegels Geschichtsphilosophie wenden wollte.
Hegel finde die Vernunft in der Geschichte selbstver-
ständlich, wie schon Kinder zu den Erzählungen einen
Zweck, eine Moral fordern. ,,Aber wir fordern gar keine
221
Erzählungen vom Weltprozeß, weil wir es für Schwindel
halten, davon zu reden/' In der damals allein vor-
liegenden zweiten Unzeitgemäßen griff Nietzsche be-
sonders hart den neusten philosophischen Vertreter der
Weltprozeßideen an, den Philosophen des Unbewußten,
gegen den er Grobheiten aus der Rüstkammer Schopen-
hauers heranholt. Doch eigentlich gilt der Kampf dem
Historismus Hegels. „Wer erst gelernt hat, vor der
, Macht der Geschichte' den Rücken zu krümmen und
den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-
mechanisch sein ,Ja' zu jeder Macht, sei dies nun eine
Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zah-
lenmajorität, und bewegt seine Glieder genau in dem
Takt, in welchem irgendeine , Macht' am Faden zieht."
So packte uns die Schrift Nietzsches zunächst bei
unserem Interesse für das öffentliche Leben. Und wir
deutschen Studenten der Prager Universität standen
durch den unablässigen Kampf mit den tschechischen
Kommilitonen gar sehr im öffentlichen Leben, mehr, als
es sonst gern gesehen wird. Doch darüber hinaus mel-
deten sich Fragen von entscheidender Bedeutung. War
die Historie noch eine Wissenschaft im strengsten Sinn,
wenn die Erzählung keine Moral hatte, wenn keine
Vernunft in der Geschichte war, wenn es keine histo-
rischen Gesetze gab? Nietzsche hat den Satz damals
nicht ganz klar formuliert, aber seine Meinung ist deut-
lich genug ausgesprochen. In anderen Wissenschaften
seien die Allgemeinheiten das Wichtigste, insofern sie
die Gesetze enthalten ; nicht so in der Geschichte. Und
viel stärker noch: ,,Wie, die Statistik bewiese, daß es
Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze? Ja, sie be-
weist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist :
soll man die Wirkung der Schwerkräfte Dummheit,
222
Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen? Nun,
wir wollen es zugeben, aber damit steht dann auch der
Satz fest : soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind
die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts
wert/*
Da hatten wir also mit einem Schlagwort das Gegen-
gift gegen die historische Krankheit. Die Geschichte
der Menschheit ist unvernünftig oder irrational, ist eine
Zufallsgeschichte ; es gibt keine historischen Gesetze.
Nun hatte unser Nachdenken über die Schönheit oder
die Unschönheit der sogenannten schönen Sprache in-
zwischen zu einer leidenschaftlichen Beschäftigung mit
sprachwissenschaftlichen Fragen geführt. Die ästhe-
tische Ausbeute war anfangs gering. Noch viel mehr als
in der Gegenwart beschäftigte sich die Sprachwissen-
schaft damals fast ausschließlich mit dem Aufspüren
und Kodifizieren der Lautgesetze. Noch hatten die
Junggrammatiker den Streit um den Begriff der Laut-
gesetze nicht begonnen, noch war Wechßlers Frage
,,Gibt es Lautgesetze?** nicht aufgeworfen, noch hatte
Hermann Paul sein wertvolles Werk nicht geschrieben,
das nicht Prinzipien der Sprachwissenschaft, sondern
„Prinzipien der Sprachgeschichte** heißt. Aber es lag
für uns doch in der Luft, die antihistorischen Ideen
Nietzsches auch auf den Zweig der Geschichte anzu-
wenden, der als Sprachwissenschaft zu viele Gesetze
aufstellte. Mag sein, daß Sprachgeschichte Kulturge-
schichte ist, unter die vage Rubrik ,, Völkerpsychologie**
gehört, nur großzügig zu verstehen ist, einerlei: wenn
es keine historischen Gesetze gibt, gibt es auch keine
Gesetze der Sprachgeschichte. Die mechanischen Ge-
setze haben ihren enorm praktischen Wert, weil sie für
alle Zukunft und für alle Vergangenheit ausnahmelos
223
gelten. Mit Hilfe der Gesetze der Physik und Mechanik
kann man den noch nicht erfundenen Maschinen be-
stimmte Aufgaben stellen, kann man längst vergangene
Veränderungen der Erdrinde häufig mit Sicherheit be-
schreiben. Mit Hilfe der Sprachgesetze kann man weder
die künftige Entwicklung der Sprache voraussagen noch
einen vorhistorischen Zustand der Sprache rekonstru-
ieren. Die Aufstellung der indoeuropäischen Ursprache
war ein ausgeträumter Traum.
Die Kritik des Begriffes Gesetz führte aber weiter und
weiter über Nietzsches Leugnung historischer Gesetze
hinaus. Es ergab sich, daß Piaton und Aristoteles das
Wort Gesetz nur metaphorisch auf die Natur anwandten,
daß sie mit der Behauptung recht hatten, in ,, Natur-
gesetz*' stecke ein bildlicher Ausdruck. ,,Sindwirsoerst
ganz einig darüber, daß unser ganzes menschliches Wis-
sen in unseren Wahrnehmungen besteht, unser Denken
oder Sprechen einzig und allein in der bequemen Ord-
nung dieser Wahrnehmungen (durch Begriffe oder
Worte, die ähnliche Wahrnehmungen zusammenfas-
sen), so werden wir bescheiden weiter sagen, daß wir
Gesetze die Begriffe zu nennen pflegen, die besonders
regelmäßige Naturbewegungen oder Änderungen zu-
sammenfassen. Gespenster, die pünktlich zur gleichen
Stunde erscheinen. Wir nennen die Regelmäßigkeiten in
der Mechanik, die wir bis auf die kleinsten Bruchteile
beobachten gelernt haben, Gesetze, wie wir die Regel-
mäßigkeiten in der Biologie, die noch sehr schlecht be-
obachtet sind, ebenfalls Gesetze nennen."
Noch viel energischer über den Nietzsche der unzeit-
gemäßen Betrachtungen hinaus führte zuerst die Ah-
nung, dann die Gewißheit, daß es außerhalb unserer
Sprache auch keine aktiven Denkgesetze gibt. Unter der
224
Kritik der Denkgesetze geriet der Jahrtausende alte
Bau der Schullogik ins Wanken. Und der sprachkriti-
sche Gedanke, der schon durch Ludwigs Zweifel an dem
Schillerischen Schönheitsideal geweckt und zu erkennt-
nistheoretischen Fragen geführt worden war, ging von
Nietzsches Zweifel an den historischen Gesetzen zu den
letzten Fragen der Erkenntnistheorie, zu den Abgrün-
den, die sich jetzt vor den Blicken auf taten. War der
sprachkritische Gedanke wirklich, wie einmal Hebbel
scharf ausgesprochen hatte, wie aber schon Hamann
und seine Anhänger, Herder und Jacobi, unmittelbar
nach Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft'*
fühlten, die notwendige Ergänzung von Kant, dann
durften die Abgründe nicht schrecken, dann mußte die
Schullogik als ein Wahngebilde der Sprache zerstört,
dann mußte das sprachliche Korrelat der Logik, die
Grammatik, zum ersten Male ohne Sprachaberglauben
angeschaut werden. Dann ergaben sich ganz neue Aus-
blicke. Sprachwissenschaft im höheren Sinn wurde zur
einzigen Geisteswissenschaft und eine Kritik der Spra-
che, die eine Erlösung von der Sprache, eine Erlösung
vom Wortaberglauben verhieß, wurde das wichtigste
Geschäft der denkenden Menschheit.
Gedanken solcher Art glitzerten schon in der zweiten
unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches auf. Er sprach
einmal von Ideenmythologie, ein anderes Mal von einer
Krankheit der Worte. Und vorher, allerdings wieder nur
in bezug auf Werturteile, klagt Nietzsche, daß der
Mensch unter der Übermacht der Historie ,,so lange der
Narr fremder Worte, fremder Meinungen gewesen sei'*.
Ich kann nicht sagen, ob damals durch eine zufällige
Mitteilung über Stirner ,,Der Einzige und sein Eigen-
tum** oder erst später durch das furchtbare Buch selbst
15 225
oder schon früher durch Betrachtungen über Sprache
als Kunstmittel der traurigste Gedanke der Sprachkritik
sich festwurzelte, daß die Sprache als die Summe der
menschheitlichen Erinnerungen jeden einzelnen Men-
schen zwingt, beim Denken oder Sprechen die Leichen
der Vergangenheit mit sich herumzutragen, daß er diese
Leichen oder Gespenster nur mit dem Denken oder dem
Sprechen selbst von sich werfen kann, wie seinen Kör-
per nur mit seinem Leben? Was wir so stolz Weltan-
schauung nennen, ist nicht weniger, aber auch nicht
mehr als die Sprache, die ererbte und erworbene Erin-
nerung an die Daten unserer Zufallssinne.
Wenn Sie selbst Nietzsches zweite Unzeitgemäße
heute lesen, so wird es Sie wahrscheinlich am meisten
interessieren, schon den Antichrist, schon den Phan-
tasten der ,, Wiederkunft** in dieser Jugendarbeit zu
finden. Mir war es aber doch nur darum zu tun, ein
psychologisches Beispiel zu geben von der Art, wie
ein keimkräftiger Gedanke seine Nahrung an sich
reißt, woher er mag, selbstherrlich. Um wachsen zu
können. Immerhin war bisher nur von Büchern die
Rede. Glücklicherweise handelt es sich bei der dritten
großen Förderung des sprachkritischen Gedankens nicht
um ein Buch, sondern um eine erlebte Persönlichkeit,
um Bismarck. "Wir haben oft über Nietzsche gestritten,
gelegentlich über Otto Ludwig, niemals über den Für-
sten Bismarck. Nur beneidet habe ich Sie seit dem Tage,
da Sie mir auf der Heimreise von Hamburg in Fried-
richsruh begegneten. Wir anderen sagen nur bildlich,
daß wir diesen Mann erlebt haben.
Es ist aber keine Konstruktion, wenn ich sein Ein-
greifen in diese Gedankenwelt auf die Zeit von vor
dreißig Jahren zurückdatiere. Ich muß da noch viel per-
226
sönlicher werden. Wir deutschen Studenten Prags waren
fanatisch national ; die ewigen Katzbalgereien mit den
Tschechen machten chauvinistisch. Dabei fühlten wir
es durchaus nicht als eine Verwirrung der Gefühle, daß
wir die Preußen und ihren Bismarck nicht mochten.
Unklar und jugendlich nahmen wir den Preußen und
Bismarck die Ereignisse von 1866 übel. Und nach dem
französischen Krieg erst recht unseren Ausschluß aus
der deutschen Einheit. Wir hielten es ungefähr mit den
Sentimentalen von der deutschen Fortschrittspartei.
Etwas Großes war gewonnen, aber unsere Felle waren
fortgeschwommen. Wir gestanden uns selbst nicht ein,
wie wir uns für das Lebenswerk Bismarcks enthusias-
mierten. Dann aber kam der Tag, an dem der heim-
liche Enthusiasmus laut und hell herausschlagen sollte.
Eigentlich sollte ich nicht in der Mehrzahl reden. Wir
durften im Frühjahr 1872 die Gründung der Straßburger
Universität mitfeiern, wir durften der jüngsten die
Grüße der ältesten deutschen Hochschule überbringen.
Die Stimmung war von der Ausfahrt an ernst und feier-
lich, denn die Tschechen bedrohten uns. Und nicht nur
mit papiernen und gesprochenen Protesten : auch Steine
versuchten zu reden. Desto herrlicher wurde diese Früh-
lingsfahrt. Wir sangen Scheffels Festlied und wir tran-
ken, daß Scheffel recht zufrieden war. Über allen
Festen schwebte, neu und überraschend für uns, die wir
nicht Reichsdeutsche waren, die Gestalt Bismarcks.
Man muß diese Feste mitgenossen haben, um zu be-
greifen, was uns Österreichern die Erinnerung war und
ist. Nicht als ob etwas Besonderes zu erzählen wäre.
Höchstens, daß berühmten alten Männern die Tränen
in die Augen traten, wenn sie den Namen Bismarck in
ihren Reden aussprachen. Das war dem Österreicher
15* 227
neu und fremd. Da besaß das deutsche Volk, unser Volk,
einen Helden, den es verehren konnte. Und dieser Held
war im Geiste dabei, als am 2. Mai 1872 die große Kneipe
abgehalten wurde. Ein Huldigungstelegramm an Bis-
marck, ein burschikoser Gruß zur Antwort. Die Musik
spielt die Kutschke-Polka und zweitausend Studenten
und Alte Herren reiben einen Salamander auf Bismarck,
Das war alles. Ein sehr feucht-fröhliches Fest für alle
Teilnehmer; ein Ereignis für unseren kleinen Kreis.
Seit dieser Stunde erst erschien mir Bismarck als der
Magister Germaniae ; ich versuchte, mich in seine Per-
sönlichkeit, in seine Sprache zu versenken, ich las so-
gar Berliner Zeitungen.
Wer nun aber von Kant (den ich damals freilich fast
nur aus Schopenhauer kannte) herkam, ganz im er-
kenntnistheoretischen Idealismus lebte, der stand plötz-
lich vor der Aufgabe, sich zugleich mit dem Realismus,
mit der Realpolitik des neuen Helden abzufinden. Nicht
darum handelte es sich, eine Brücke von Worten zu
schlagen zwischen den Namen ,,Kant und Bismarck**,
nicht darum: in einer Festrede oder in einer Doktor-
dissertation die Kluft zwischen beiden mit Wortleichen
auszufüllen. Das wäre leicht gewesen. Im Nu ließe sich
so ein Vortrag über das Thema Kant und Bismarck
improvisieren. Sie selbst haben einmal von Bismarck ge-
sagt : ,,Er dürfte so etwa der gebildetste Deutsche sein.**
Daraus läßt sich folgern, daß er, nachdem er ein wenig
über Spinoza gebrütet hatte, auch die Schriften von
Kant gelesen hat. Vergleichen ließen sich die pietisti-
schen Einflüsse, die zu Kant durch seine Eltern, zu
Bismarck durch seine Frau kamen. Sie werden nicht
leugnen, daß sehr viele Festreden und sehr viele Doktor-
dissertationen mit solchen Mitteln zustande gebracht
228
werden. Man könnte auch an ein ernsteres Zwischen-
glied denken, an Kants kategorischen Imperativ. Die
Freiheitskriege, in deren Zeit Bismarck geboren wurde,
sind nicht ganz unrichtig mit Kants Moralprinzip in
Verbindung gebracht worden. Von Ostpreußen war der
kategorische Imperativ und war die große Bewegung
ausgegangen. Und es ist gewiß, daß man Kants Moral-
prinzip als Motto über Bismarcks Lebenswerk setzen
könnte : Du kannst, denn du sollst.
Aber auch diese begriffliche Vereinigung der Vorstel-
lungsmassen, die sich in den Namen Kant und Bismarck
konzentrieren, wäre mir nicht ernst genug gewesen.
Das Moralprinzip war uns das Gleichgültigste an den
Lehren Kants. Wir glaubten ja zu wissen, daß Kant in
der ,, Kritik der praktischen Vernunft*' sich selber un-
treu geworden war. Was uns aufs tiefste bewegte, was
die ganze Weltanschauung in Frage stellte, was darum
eine geistige Lebensfrage wurde, das war etwas völlig
Verstiegenes, war die Sehnsucht, die letzten Fragen der
Erkenntnistheorie ernst zu nehmen, Idealismus und
Realismus zu überwinden oder zusammenzufassen.
Wenn man sich in der Theorie zum erkenntnistheore-
tischen Idealismus bekannte, in der Wirklichkeitswelt
nur ein Phänomen sah, in der Praxis jedoch den Real-
politiker bewunderte, der lachend mit einer realen Faust
auf eine reale Welt losschlug, dann ging durch jeden
von uns der Riß, den wir am Pöbel so verachteten.
Wenn der Pöbel an jenseitige Mächte glaubte, in seinem
ganzen Leben jedoch für sich selbst und für seine Kin-
der so schuftete, als ob es nur ein Diesseits gäbe, dann
sah dieser Zustand ganz verteufelt dem unseren ähnlich,
die wir in der Bücherwelt dem erkenntnistheoretischen
Idealismus Kants und der Neukantianer huldigten, in
229
der Wirklichkeitswelt dem Realismus Bismarcks. Die-
sen Riß in unserer Weltanschauung nicht zu über-
sehen: das war schon etwas. Das war der Entschluß
zum Ernst. Nach der Naturwissenschaft der Neukan-
tianer ist auch der menschliche Leib mitsamt dem er-
kennenden Gehirn nur die subjektive Erscheinung von
einem Unbekannten, das wir bereits zu fälschen an-
fangen, wenn wir es mit Kant das Ding an sich nennen.
Auch der menschliche Leib löst sich für diese Vorstel-
lung in einen Wirbeltanz von Atomen oder Kraftmittel-
punkten auf, — oder wie wir die gedachten Einheiten
nennen wollen. Auch der Organismus des menschlichen
Leibes verwandelt sich in einen unausdenkbar feinen
Mückenschwarm von Kraftpunkten. Knochen, Fleisch
und Blut sind dieser Vorstellung nur noch Erscheinun-
gen, zu denen sich Gruppen des Mückenschwarms für
die menschlichen Zufallssinne verbinden. Wir können
uns ferner ein Messer vorstellen, so unendlich fein und
so unendlich schnell, daß es durch den geordneten
Haufen von Atomen hindurchflitzen kann, ohne den
Organismus zu stören. So fahren wir mit der Hand durch
einen Mückenschwarm, ohne an ihm eine Veränderung
wahrzunehmen. Mit dieser Vorstellung vom mensch-
lichen Leibe kann der Chirurg nichts anfangen. Der
Chirurg weiß nichts von unserer Erkenntnistheorie ; er
ist ein Realpolitiker, er glaubt naiv an Knochen, Fleisch
und Blut. Er setzt ein reales Messer an und bewirkt
etwas — Heilung oder Tod.
Hier liegt das furchtbare Dilemma für den, der Welt-
anschauungsfragen ernst nimmt. Hier kam Bismarck
zu Hilfe, ein Chirurg, der nicht naiv war und dennoch
zum Messer griff. Sie müssen mir glauben, daß in langen
und schweren Seelenkämpfen die Gedankengänge sich
230
öffneten, die ich hier als beinahe wilde Assoziationen
nebeneinanderstelle. Der Anschluß an die Einflüsse von
Philosophie und Dichtung ergab sich von selbst. Nietz-
sche war ja ohnehin — wider Willen — ein Produkt der
Bismarckzeit. Bismarck war mehr als Schopenhauer
oder Wagner der Übermensch in Nietzsches aristokra-
tischem Geniekultus. Jedenfalls war uns Bismark der
große Unhistorische. Ebenso nah sahen wir Bismarck
in seiner Begriffsverachtung dem Goethe, den der
Sprachkritiker auch als den Feind aller Wortschälle ver-
ehrte. Jetzt verstanden wir das Lachen Bismarcks über
die Wortmachereien der Parlamente, der Bezirksver-
eine und der regierenden Herren. Der Mann der Tat
verhöhnte die Schreiber als Menschen, die ihren Beruf
verfehlt hätten. Handeln ist Menschenberuf. „Nicht
durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die
großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch
Eisen und Blut.'' Der starke Chirurg Deutschlands
beugte sich auch nicht vor den Wortgebäuden der
Wissenschaft. Wurde er selber krank, so war ihm der
Heilkünstler lieber als der „Gelehrte**, Schweninger
lieber als ein ordentlicher Professor. Der sprachkritische
Gedanke lernte von Bismarck dasselbe, was er von
Goethe gelernt hatte : im Anfang war nicht das Wort,
im Anfang war die Tat. Wissen ist Wortwissen. Wir
haben nur Worte, wir wissen nichts.
Die sprachkritische Idee durfte sich auch vermessen,
einseitig und eigensinnig in ihrem Reich oder Bereich
über Bismarck hinauszugehen und da noch mit gegen-
ständlichen Blicken zu forschen, wo des Staatsmannes
Interesse nicht mehr hinlenkte, wo ja auch Goethes
gegenständliche Augen nicht mehr hinschauen wollten.
Eben erst (im August 1872) hatte der Festredner der
231
offiziellen Wissenschaft seine berühmte Rede ,,Über
die Grenzen des Naturerkennens*' gehalten. Vor dem
gegenständlichen Denken wurde Dubois-Reymonds
Ignorabimus einfach sinnlos. Gegenüber diesem tönen-
den Wortschall steigerte sich eine nach Bismarck ge-
schulte Rednerverachtung zu fruchtbarem Worthaß.
Die Gleichung von ,,ich weiß** und „ich habe gesehen**
(auch etymologisch in so vielen Sprachen begründet)
stellte der sprachkritischen Idee ihre letzte Aufgabe:
in einer Kritik der allgemeinen Grammatik auch die
Gegensätze von Substantiven und Verben — das heißt :
von Dingen und Handlungen — aufzulösen, in die
Widersprüche der Zeitbegriffe hineinzuleuchten und an
die Stelle einer Kritik der reinen Vernunft eine Kritik
der Sprache zu setzen. Ein verzweifelter, letzter Ver-
such, die Geistesbrücke zu schlagen zwischen dem not-
wendigen erkenntnistheoretischen Idealismus und dem
ebenso notwendigen praktischen Lebensrealismus. Er-
innerung ist all unser Wissen, ererbte und erworbene
Erinnerung der Menschheit. In Worten ererbt, in Worten
erworben. Unser Wissen, unser Denken ist nur Sprache,
die praktisch in der Wirklichkeit orientiert, die aber
so wenig zur Welterkenntnis geeignet ist, wie das Be-
wußtsein ein Organ für sich selber hat. Und vollends
die neue kühne Denkgewohnheit, nicht nur die soge-
nannte Weltgeschichte bismarckisch als eine Zufalls-
geschichte zu betrachten, sondern auch die Evolution
der Organismen als eine Zufallsevolution, unsere Sinne
als Zufallssinne, die die Außenwelt in uns hineinge-
schlagen hat, — diese Gewohnheit oder Weltanschau-
ung bot einen Ausblick in das dritte Reich, wo Idealis-
mus und Realismus einander finden können. Wir
glauben von jetzt an, daß die Wirklichkeitswelt ein
232
Produkt unserer Zufallssinne ist, daß sie sich nach uns
richtet; wir glauben zugleich, daß unsere Sinne ein
Produkt der Außenwelt sind, daß unser Kopf von der
Wirklichkeit eingerichtet ist.
In Kant war die Aufklärung mit erstaunlichstem
Scharfsinn über sich selbst hinausgewachsen bis zu der
alten sokratischen Weisheit, daß wir nichts wissen
können. In Bismarck war ein Tatenmensch von der
Wortverachtung ausgegangen, die selbst einem Kant
noch fehlte. Die Erlösung vom Sprachaberglauben, die
seit Bismarck in der Luft lag, konnte endlich auch in
der Philosophie versucht werden. Denn alles Wissen
ist, weil es menschliche Sprache ist, bildlich, meta-
phorisch, anthropomorphisch. Für Kant galt Goethes
tiefer Spruch: „Der Mensch begreift niemals, wie
anthropomorphisch er ist.** Für Bismarck galt der
andere Spruch: ,,Der Handelnde ist immer gewissen-
los; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.'*
Denn wortgeschichtlich wie moralgeschichtlich ist das
Gewissen nur ein menschliches Bild mehr, nur eine
Gefühlsform des Wissens, nur eine der Illusionen der
großen menschlichen Illusion, die Bewußtsein heißt.
Sie, lieber Freund, und noch zwei oder drei freund-
liche Männer haben mich wohl gefragt, wie die sprach-
kritische Idee zu mir gekommen sei. Ich habe nun über
die Herkunft der sprachkritischen Idee vor einem gro-
ßen Kreis zu reden gewagt. Sie werden sie nicht ver-
achten, weil sie mein war, weil die Anregungen von
Gedanken und Erlebnissen kamen, die nicht sprach-
kritischer Art waren. Gewissenhaft und freudig habe
ich in meinem Buch verzeichnet, was ich nachher in
fast dreißigjährigen Studien bei Vico, bei Bacon, Hobbes,
Locke und Hume, bei Kant, Hamann und Goethe an
233
Anklängen und Leitsätzen gefunden habe. Keiner von
diesen Denkern hat dem sprachkritischen Gedan-
ken die Wichtigkeit beigelegt, die ihm gebührt. Keiner
hat ihn darum zu Ende zu denken versucht. Über Wich-
tigkeit und Wert des sprachkritischen Gedankens habe
ich nicht zu urteilen, vielleicht auch nicht alle meine
Herren Kritiker. Das Urteil steht bei einer anderen
Macht, die die roheste und doch die mildeste Kritik zu
üben pflegt, bei der Zeit.''
234
XX. Geschäftiger Müßiggang.
Ich habe mit dem guten Rechte eines Erzählers, der
bei der Niederschrift seiner Erinnerungen etwa an das
Interesse einiger Freunde und an einige Dutzend un-
bekannter Leser denkt, schon jetzt über die ersten Ver-
suche einer journalistischen, einer dichterischen und
einer philosophischen Tätigkeit berichtet, ich habe die
Rückerinnerung an das Entstehen meiner Novellen und
Theaterstücke aus der Prager Zeit für später verspart,
wo ich über meine ganze belletristische Vergangenheit
möglichst unbestochen Gerichtstag zu halten gedenke ;
ich möchte hier nur noch ausführen, was ich zu Prag
in den drei Jahren trieb, die zwischen meiner Universi-
tätszeit und meiner Übersiedlung nach Berlin liegen.
Meine Umgebung hatte so unrecht nicht, wenn sie
mich als einen verbummelten Schöngeist betrachtete.
Daß ich eigentlich auch während dieser Jahre ganz
fleißig war, das wußte vielleicht niemand, ausgenommen
etwa meine gute Mutter, die heimlich die Bücher kon-
trollierte, die ich aus der Königl. Bibliothek nach Hause
geholt hatte, und die mir hie und da fast widerwillig
durch ein verwundertes oder achtungsvolles Wort über
die Schwierigkeit dieser Bücher wohltat. Immer sehr
liebevoll, nicht allzuoft, aber doch vielzuoft für meinen
Hochmut, fielen dann Bemerkungen darüber, daß ich
235
im Alter von 24 oder 25 Jahren die verdammte Pflicht
und Schuldigkeit hätte, mir mein Brot selber zu ver-
dienen und nicht mehr den Eltern auf der Tasche zu
liegen.
Ich werde auch recht gut eingesehen haben, daß es
nur ein geschäftiger Müßiggang war, wenn meine Be-
stimmung zum Schriftsteller sich besonders in dem zeit-
raubenden Aufenthalte im Tagescafe und zwölf Stunden
später im Nachtcafe kundtat, wenn ich als richtiger
Schöngeist für Vereinsfeste Prologe schrieb oder bald
besser bald schlechter geratene Festreden ausarbeitete,
wenn ich in befreundeten Familien bei Dilettanten-
vorstellungen als Regisseur und als Schauspieler glänzte.
Meine Mutter wurde damals die Angst nicht los, ich
könnte, durch diese wohlfeilen Triumphe verführt,
eines Tages Schauspieler werden. Meine Leidenschaft
für das Theater war wirklich sehr groß ; aber eigentlich
schwebte mir — wenn ich es genau bedenke — weder
das Leben eines berühmten Dramatikers noch das
eines berühmten Schauspielers als erstrebenswert vor ;
ich zweifelte nur nicht daran, daß ich nur zu wollen
brauchte, um das eine oder das andere Ziel schnell und
sicher zu erreichen. Ein kleiner Journalist war damals
der einzige Vertraute meiner Theaterpläne und meiner
dramatischen Entwürfe ; ihm spielte ich den Mephisto,
den Wallenstein und den Holofernes vor, ihm teilte ich
meine eigenen Dramen mit; und seine maßlose, un-
kritische Bewunderung fachte mein Theaterfeuer immer
wieder an. Doch muß ich bekennen, daß ich diesen Ver-
ehrer, einen verwachsenen und zwerghaften Jüngling,
eigentlich verachtete, weil ich das Ungenügen seines
Urteils über meine geschmeichelte Eitelkeit hinweg
ganz deutlich wahrnahm; auch verbot es mir mein
236
Anstand, diesem glühenden Verehrer nur ein Sterbens-
wörtchen von meinen philosophischen Studien zu ver-
raten. Mein Anstand, mein Stolz verbot es mir aber
nicht, meiner jungen Eitelkeit von diesem kleinen
Journalisten schmeicheln zu lassen. Es ist das einzige
Mal in meinem Leben gewesen, daß ich das wunderliche
Gefühl kennenlernte: einen ,, Apostel'* zu haben. Die
sonst so boshafte Kröte war für mich eitel Anerken-
nung und Güte. Der gefürchtete kleine Journalist schrieb
eine biographische Notiz über mich für ein deutsches
Dichter-Lexikon ; brachte mein Porträt in einem Prager
Witzblatte; lobte meine aufgeführten und unauf geführten
Dramen in einer Wiener Zeitung. Und ich duldete das
übertriebene Lob; ich fühlte mich als berufener Dra-
matiker, als den Vollender von Otto Ludwigs Plänen;
und vielleicht gehört es zum Wesen des Dramatikers,
nach Beifall lüstern zu sein und nach der Herkunft des
Beifalls nicht zu fragen.
Schon im Jahre 1873 hatte ich ganz zufällig und aus-
nahmsweise einmal den Dramaturgen gespielt ; aus An-
laß einer tragischen Geschichte. Zu unserem Freundes-
kreise gehörte ein ehemaliger Augustiner, Robert Weiß,
der seinen geistlichen Rock ausgezogen hatte und mit
Inbrunst dichterische Ziele verfolgte: zum mindesten
war er ein sehr begabter Lyriker. Eines Morgens er-
fuhren wir, daß er freiwillig aus dem Leben geschieden
war; Cyankali hatte ihn von seiner Unrast erlöst. Wir
glaubten, was erzählt wurde, daß eine unglückliche
Liebe zu einer schönen und geistig hochstehenden Schau-
spielerin ihn in den Tod getrieben hätte ; ich weiß jetzt
bestimmt, daß seine Liebe einer andern Frau galt. In
seinem Nachlaß fand sich ein feingeistiger Einakter ,, Eine
Komödie'*. In unsrem engsten Kreise wurde der Plan
237
gefaßt, dieses kleine Stück zur Aufführung zu bringen
als eine Totenfeier; und die Schaupielerin, der wir irr-
tümlich die Schuld an seinem Tode gaben, sollte die
kleine Hauptrolle spielen. Der Plan wurde ausge-
führt; die Künstlerin, der wir Unrecht getan hatten,
setzte trotzdem alle ihre schöne Kraft für das Ge-
lingen ein. Mir war das Amt zugefallen, die zarten
und überlangen Dialoge für die Bühne ,, einzurichten**;
so hatte ich zum ersten Male mit der lebendigen Bühne
zu ,, schaffen**.
Ich war damals noch Student. Zwischen diesem ersten
Kulissenerlebnis und meiner etwa zwei Jahre spätem
ersten Tätigkeit als ,, Theaterkritiker** liegt die Zeit, wo
mein geschäftiger Müßiggang( man weiß, daß das Wort von
Goethe stammt) auch das Theater zu erobern vorhatte.
Der Theaterteufel hatte mich gepackt; ich glaube
aber nicht, daß ich mich ihm verschrieben hätte, auch
wenn meine Erfolge auf der Bühne größer gewesen
wären. Ich verkehrte im Tagescafe und im Nachtcafe
sehr viel mit Schauspielern, bewunderte und verhim-
melte zwei Schauspielerinnen und erlebte in gewaltiger
Aufregung und dennoch ohne die innerste Anteilnahme
die Aufführung zweier meiner Stücke am Prager Lan-
destheater, eines großen Schauspiels und eines Ein-
akters. Der materielle Erfolg dieser ganzen fast schlaf-
wandelnden Tätigkeit war der, daß ich, der ich bis
dahin auf meine Studentenkarte hin für wenige Kreuzer
einen Stehplatz im Parkett kaufen konnte, aus beson-
derer Anerkennung meiner Verdienste und zur Auf-
munterung für meine Begabung, das Recht des freien
Eintritts ins Theater erhielt. Ein ,,Gesichtsentree**, wie
sich der unwahrscheinliche Herr Dramaturg in seiner
Sprache ausdrückte.
238
Von dem Schauspiel, das im Mai 1874 (gegen Ende
Mai, das gilt nicht für die beste Theaterzeit) aufgeführt
wurde, soll ja noch ernsthaft die Rede sein. Hier nur
eine kleine Schnurre, zum Atemschöpfen, bevor ich
Schweres zu erzählen habe.
Ich wollte der ersten Aufführung meines Schauspiels
ungesehen und unerkannt beiwohnen ; wie ich es denn
auch später durchgeführt habe, selbst nach erfolgreichen
Darstellungen dramatischer Arbeiten, ja sogar in Berlin,
niemals an die Rampe zu treten und mich vor der viel-
köpfigen Bestie zu verbeugen. Ich habe niemals be-
greifen können, wie ein Dramatiker von einigem Stolze
sich dazu herbeilassen könne.
. Damals also wies mir der unwahrscheinliche Herr
Dramaturg einen rückwärtigen Platz in der Theaterloge
des fünften Ranges an, die übrigens für die namenlosen
Mitglieder des Chors und des Balletts eingeräumt war.
Als ich wenige Minuten vor Beginn der Vorstellung
erschien, waren die drei Vorderplätze schon von drei
Ballettmädeln eingenommen; ich nahm hinter einer
rundlichen Blonden Platz. Nach dem Schlüsse des ersten
Aktes rührte sich keine Hand; na ja, Technik des
Dramas, bloße Exposition. Während der Pause unter-
hielten sich die drei Ballettmädel über einige Herren
in den Adelslogen und über die Toilette einer Sängerin,
die gegenüber in der richtigen Theaterloge saß, einen
Rang tiefer. Als der Vorhang eben zum zweiten Male
in die Höhe ging, wandte sich die rundliche Blonde
vor mir an ihre Nachbarin mit der Frage: ,,Du, ise
Opper oder Schauspiel?** Das fragte dieses verworfene
Geschöpf, nachdem es einen ganzen Akt meines Dra-
mas angehört hatte. Aber nach dem zweiten Aufzuge
gab es wahrhaftig Applaus und der Dramaturg erschien,
239
um mir zu gratulieren und ,,mich auf die Bühne zu
schleppen** ; er mußte wieder abschieben ; doch die kurze
Verhandlung hatte die Neugier der Ballettmädel erregt.
Die lange Schwarze wies mit dem Daumen nach mir und
flüsterte der Blonden zu: ,,Das is nämlich der Autor.**
Und die Blonde drehte sich mit dem Lächeln einer
Mäzenin nach mir herum und sagte wohlwollend:
,,Ise serr scheen!** Jetzt wußte das Geschöpf endlich,
ob es ,,Opper oder Schauspiel** war und verriet zugleich
einen natürlichen guten Geschmack.
Das Schauspiel wurde noch ein zweites Mal aufge-
führt; zu einer dritten Wiederholung kam es nicht.
Es ist wahr, daß die Darstellerin der Titelrolle unmittel-
bar nach der zweiten Aufführung aufs Land fahren
mußte, um in Ruhe das Ziel ihrer Schwangerschaft ab-
zuwarten; es ist nicht minder wahr, daß mein Stück
auch ohne dieses Ereignis vom Spielplan abgesetzt
worden wäre, weil es dem Publikum nicht genug ge-
fallen hatte. Der Dramaturg, der die Pflicht des Lügens
mit unvergleichlichem Eifer übte, sprach zu mir weder
von der Schwangerschaft der Schauspielerin noch von
den Schwächen meiner Arbeit ; er meldete nur geheim-
nisvoll, der Kurfürst von Hessen- Kassel (der damals
noch in Prag ,, residierte** und eine der Adelslogen über-
nommen hatte) hätte sich sehr ungnädig über den
politischen Hintergrund meines Schauspiels ausge-
sprochen. Sollte der unwahrscheinliche Dramaturg in
diesem Falle ausnahmsweise nicht gelogen haben?
240
IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIilllllllllllilllliliiiiilllllllHIIIIIIIillllllllllllllllllllH^^
«UtIllilllllllllllllllllllllllllllltlllllllllltllllllllllllllltlllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllinilllllllllllllllllillllllHIIIUIIIIIIHMIIIIIIIIIIIIIIIIII
XXI. Des Vaters Tod.
Kurz vor diesem meinem ,, Ehrentage** war mein
Vater aus Meran nach Hause gebracht worden. Als ein
Sterbender. Aus Rücksicht auf seinen verzweifelten
Zustand wurde im elterlichen Hause von der bevor-
stehenden Aufführung meines Stückes in keinerlei
/eise gesprochen, weder mit hoffnungsvollen noch
mit herabsetzenden Worten ; nur den Unterton des
Vorwurfs konnte ich heraushören, daß ich dem kran-
ken Vater durch so einen dummen Streich, wie die
Einreichung eines Dramas doch wohl scheinen mußte,
noch einen Schmerz bereitet hätte. Später erfuhr ich
freilich, daß der Vater sich von meiner Schwester täg-
lich hatte Bericht erstatten lassen und die mehr oder
weniger freundlichen Rezensionen mit Stolz und Be-
friedigung las. Mich aber rief er wenige Tage nach der
Aufführung an sein Bett, erwähnte mein Stück mit
keinem Worte, sprach sehr harte, im allgemeinen gar
nicht unberechtigte Urteile über die literarische Lauf-
bahn, die in der Gosse enden müßte, und nahm mir
das Versprechen ab, dem schönen Berufe eines Advo-
katen treu zu bleiben. Ich könnte ja nebenbei so viel
dichten als ich nur wollte. Ich gab das Versprechen.
Am folgenden Nachmittage bat mich der Vater, dessen
Befinden unverändert schien, ihm eine Orange vom
16 241
besten Prager Zuckerbäcker zu holen ; Orangen waren
damals noch eine seltenere Frucht als heute, wenig-
stens in Prag. Ich setzte die Mütze auf und stürzte die
Treppe hinunter, um den Wunsch meines Vaters zu
erfüllen; er war tot zurückgesunken, bevor ich noch
das Haustor erreicht hatte. Als ich mit der Orange
zurückkam, war schon eine Viertelstunde seit seinem
letzten Atemzuge vergangen.
Ich saß lange allein neben dem Toten. Was mir da
alles durch den Sinn ging, das geht keinen Lebendigen
etwas an. Da ich aber mein Versprechen vom Tage vor-
her nicht verschwiegen habe, so darf und muß ich jetzt
hinzufügen, daß ich in dieser Stunde, unter Selbstvor-
würfen und von namenloser Erregung gepeinigt, den-
noch den klaren und festen Entschluß faßte, mein ge-
gebenes Wort nicht zu halten. Ich soll selbst wie eine
Leiche ausgesehen haben, als ich endlich das Sterbe-
zimmer verließ. Ich stand in meinem fünfundzwan-
zigsten Jahre und hatte noch das Pathos des Knaben
nicht überwunden. Heute darf ich ruhig sagen, daß
es ebensogut und natürlich dem Sterbenden gegenüber
war, ihm das geforderte Versprechen zu geben, wie es
gut und natürlich mir selbst gegenüber war, mich nicht
als gebunden zu betrachten. Ich habe das Wort,, Pf licht"
oder gar das Wort „Pflichtenkollision** absichtlich ver-
mieden; Pflichtenkollisionen wie alle Widersprüche
sind nur in der Sprache.
Insoweit ich es für richtig halte, Familienangelegen-
heiten in Lebenserinnerungen zu veröffentlichen, habe
ich schon kurz erzählt, wie das Kriegsjahr 1866 meinen
Vater um sein kleines Vermögen und um seine Gesund-
heit gebracht hatte. Als der Bankerott seiner Neffen
hereinbrach — mein Vater erfuhr die Nachricht aus
242
einem Zeitungstelegramm, während wir am Früh-
stückstisch saßen — hatte sich eben, fast zu gleicher
Zeit, sein ältester Sohn und seine einzige Tochter ver-
lobt; meine Schwester mit einem jungen Arzte, mein
Bruder mit einem ebenfalls plötzlich verarmten schö-
nen und lieben Mädchen. Wenn ich es recht bedenke,
benahm sich mein Vater in dieser harten Zeit muster-
gültig; der auf seine Ehre stolze Junker, der ihm wohl
in seiner glänzenden Kinderzeit anerzogen war, kam
schön heraus. Die notwendigen Geldopfer wurden vor-
nehm und klaglos gebracht ; wie das der Vater bei der
Zerrüttung seiner Verhältnisse möglich gemacht hat, ist
mir ein Rätsel geblieben. Außer mir, der nun bald allein
im Hause zurückblieb und seine Studien hätte aufgeben
sollen, schien meinem Egoismus nur meine Mutter
unter der veränderten Lage zu leiden. Meine Brüder
waren schlicht in die Fremde gegangen. Mein Vater
hörte keinen Tag auf, der vornehme Mann zu sein, fast
hätte ich Kavalier gesagt ; und es ist auch schon erwähnt
worden, daß die Neffen nach wenigen Jahren wieder
zu Vermögen kamen und ihre Verpflichtungen bei
Heller und Pfennig erfüllten, so daß unser Haus noch
bei Lebzeiten des Vaters in seinen bescheidenen Wohl-
stand zurückkehrte.
Aber die Aufregungen des Jahres 1866, die unmerk-
baren Demütigungen für Stolz und Eitelkeit hatten die
Kräfte des Vaters aufgezehrt. Im Jahre 1867, während
ich wegen eines bedrohlichen Lungenspitzenkatarrhs
und eines noch bedrohlicheren Schwächezustandes im
Bad Reinerz Molke trank, erkrankte der Vater an einer
Lungenentzündung. Nach der scheinbaren Heilung blieb
Tuberkulose zurück. Ein Husten, der wieder vergehen
würde, so wurde ihm noch jahrelang zum Tröste ge-
16* 243
sagt. Als die äußern^Verhältnisse sich wieder besserten,
begann mein Vater nach der Reihe die Orte aufzu-
suchen, in denen vom Schwindel, von der Mode oder
von gutgläubigen Ärzten Hustern und Schwindsüch-
tigen Genesung versprochen wurde. Der Vater, der
die Disposition wahrscheinlich von seiner Mutter ge-
erbt hatte, war gewiß unheilbar. Und brach völlig zu-
sammen, als ihm der gewissenlose Arzt eines berühm-
ten Badeortes in der Heftigkeit eines Streites die Wahr-
heit über seinen Zustand gesagt hatte. Von da ab —
in seinen drei letzten Jahren — brachte der Vater einen
Sommermonat und den ganzen Winter stets in soge-
nannten Bädern zu und entfremdete seinem Hause noch
mehr, als das auch sonst wohl durch seine Schweig-
samkeit gekommen wäre.
In diese Leidenszeit meines Vaters fiel 1869 meinmit
Glanz bestandenes Abiturientenexamen, dann 1871 das
mit weniger Glanz aber doch immerhin bestandene
rechtshistorische Staatsexamen, fiel endlich mein erstes
öffentliches Auftreten als Schriftsteller. Als die vorge-
schriebenen acht Semester vorüber waren, und ich
weder das zweite Staatsexamen abgelegt hatte, noch
mich auf die Doktorpromotion vorbereitete, drängte
mich der Vater, wenigstens nicht völlig müßig zu gehn,
vielmehr als so etwas wie Volontär bei einem Advo-
katen zu arbeiten. Doktor von Wiener, der angesehenste
Advokat von Prag, Mitglied des böhmischen Landes-
auschusses usw., erklärte sich bereit, mich noch vor
dem zweiten und dritten Staatsexamen, von welchem
Termin ab der Dienst eigentlich erst ,, zählte*', in seine
Kanzlei aufzunehmen. Ich fügte mich mit jenem
passiven Widerstände, der mir zur zweiten Natur ge-
worden war; so wenig ich seit dem rechtshistorischen
244
Staatsexamen irgendwelche nützliche Juristerei ge-
trieben hatte, so wenig dachte ich jetzt daran, die bei-
den letzten Examina zu machen oder gar Doctor juris
zu werden. Es war mir nur nicht gegeben, dem schwer-
kranken Vater — es war ein halbes Jahr vor seinem
Tode — zu widersprechen.
Die menschlichen Beziehungen zu der Advokaten-
Kanzlei waren im Grund sehr gemütlich. Unser Haus
und das des Advokaten waren seit vielen Jahren be-
freundet ; zwischen uns Geschwistern und den Töchtern
des Advokaten bestanden jüngere und ältere Tanz-
stunden- und Eislaufbeziehungen. Auch meine beruf-
liche Tätigkeit dort hätte unter einem guten Zeichen
stehen können. Dr. von Wiener selbst freilich hatte
keine Zeit, sich um sein Bureau zu kümmern ; er hatte
zu viele politische Amter. Aber sein erster „Konzipient**,
ein vortrefflicher Jurist und ausgezeichneter Mdnsch,
auch mir als älteres Tanzstundensemester wohlge-
sinnt, gab sich redliche Mühe, mich zu einem brauch-
baren Juristen zu erziehen. Es war ganz vernünftig,
daß ich in den ersten Monaten wie zwei andere ein-
fache Schreiber mit der Kopierung von Schriftsätzen
beschäftigt wurde ; da kann man lernen, wie die hohe
Wissenschaft der Jurisprudenz in der Praxis aussieht.
Zu Beginn des Jahres 1875 begann mein freundlicher
Mentor, der erste Konzipient, meine juristischen Fähig-
keiten auf die Probe zu stellen. Zweimal wurde mir,
als die Arbeit drängte und immer wieder neue Kläger
Prozesse anstrengten, die erste Einleitung eines solchen
Prozesses anvertraut, die Protokollierung der Species
facti.
In dem ersten Falle war mein Chef der Vertreter des
Verklagten, eines der fürstlichen böhmischen Magnaten,
245
die beinahe wie reichsunmittelbare Herren auf einem
ihrer Ungeheuern Güter sitzen und den Rechtsstaat
dazu gebrauchen, die kleinen Leute an ihren „Gren-
zen** zu drücken. Die Streitfrage lag eigentlich sehr
einfach und wurde nur durch die Gesetzesparagraphen
kompliziert. Durch die Anlage von großen Karpfen-
teichen auf einem der fürstlichen Güter war einem
unterhalb hausenden Müller das nötige Wasser für
sein Mühlrad während der größern Jahreshälfte ge-
nommen worden. Widerrechtlich. Der Müller hatte
geklagt. Der Förster des Fürsten war nach Prag ge-
kommen und seine Aussage, die offenbar eine Rechts-
beugung möglich machen sollte, hatte ich vorläufig
aufzunehmen. Der Tadel blieb mir nicht erspart, daß
ich diesen wichtigsten Zeugen auf einen schwachen
Punkt seiner Aussage nicht auf merksam gemacht hätte;
daß ich also aus falscher Sentimentalität dem Gegner
unseres Klienten geholfen hätte. Der Müller verlor
dennoch seinen Prozeß. Als wir beim Biertisch nachher
die Angelegenheit besprachen, wie irgendeine ganz
unpersönliche juristische Frage, da mußte ich mich
von unserm ersten Konzipienten und seinen Freunden
darüber belehren lassen, daß ein tüchtiger Advokat
einzig und allein die Interessen seines Klienten wahr-
zunehmen hätte. Davon hatte ich wirklich keine Ahnung
gehabt.
Der zweite Fall war ebensowenig geeignet, meiner
Scheu vor der Ausübung des Advokatenberufes ein
Ende zu machen. Ein jüdischer Schuster, der nebenbei
in seinem Viertel ein bißchen Wucher trieb, verklagte
einen kleinen Beamten, der ihm einen Wechsel im Be-
trage von etwas über loo Gulden unterschrieben hatte.
Der Schuster betonte, daß die Summe „gesetzlich" so
246
angewachsen wäre. Das war eigentlich gar kein Prozeß
zu nennen; wir hatten nur einige Formalien auszu-
führen. Als ob der Beamte an den Wucherer Steuern
zu zahlen gehabt hätte, so kurzerhand wurde er ver-
urteilt und gepfändet.
So habe ich wohlgezählt zweimal als ein winziges
Glied der großen Rechtsmaschine dazu beigetragen,
daß das zermalmende Rad des unrichtigen Rechtes
sich weiter drehe. Ich mußte die beiden kleinen Erleb-
nisse mitteilen, wollte ich die Stimmung erraten lassen,
in welcher ich dem Berufe gegenüberstand, in den
man mich hineindrängen wollte, wollte ich begreiflich
machen, wie unmöglich es mir war, diesen Beruf nicht
an den Nagel zu hängen. An der Leiche meines Vaters
hielt ich mir sehr pathetisch die Schrecklichkeit eines
gebrochenen Worts vor, ich war sogar töricht genug,
eine Beruhigung dabei zu empfinden, daß es nicht aus-
drücklich ein Ehrenwort gewesen war; nicht geringer
war das Pathos, mit dem ich mich dagegen empörte,
etwa als Advokat dem zahlungsfähigen Unrecht jedes
Klienten dienen zu müssen.
Ich besuchte die Kanzlei nach dem Tode meines
Vaters nur noch ein einziges Mal, um den juristischen
Herren Lebewohl zu sagen; sie wunderten sich nicht
und gaben mir freundliche Wünsche auf den Weg. Aber
in ihren Mienen konnte ich lesen : Aus dem wird nichts.
247
filllfllllllllllllllllllllllllllillilllllllllllllllllllllllllllllllllllllllO^
Hiiiiiiiiiiiniiiiiiii iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii tiiiriiii Ml iiiiiiniiniiii iiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiiiiiiii
XXn. Theaterkritik.
Auch meine Mutter schien sich nicht zu wundern,
als von einer Wiederaufnahme meiner juristischen
Tätigkeit keine Rede mehr war. Zu irgendeiner Szene
oder auch nur zu einer Aussprache kam es nicht. Nur
wurde ich von Zeit zu Zeit ganz leise — meiner Emp-
findsamkeit erschien es zu laut — daran gemahnt, nun
endlich selbst an Broterwerb zu denken. Gerade die
Geschwister, die mir am nächsten standen, unterstützten
dieses Drängen, sehr sanft und behutsam, wie ich an-
erkennen muß. Ich sah die Notwendigkeit wahrschein-
lich nicht ein. Ich hatte ein Bändchen Sonette drucken
lassen (auf Kosten meiner Brüder), ein Drama von mir
war zweimal aufgeführt worden (das Honorar war der
freie Theaterbesuch). Was wollte man noch mehr von
mir? Sollte ich den guten Angehörigen erklären, daß
ein halbes Dutzend faustischer Dichtungen, ein großer
Judenroman und dazu unklar ein gewaltiges philo-
sophisches Werk in meinem Kopfe spukten? Daß in
den letzten Monaten auch einige Novellen fertig ge-
worden waren, von denen ich nur nicht wußte, daß
man sie einer Zeitung oder einem Verleger anbietet?
Gedichte, ja, die läßt man^drucken ; desto besser, wenn
sie bezahlt werden. Dramen,fja, die läßt man auf führen ;
desto besser, wenn sie Tantiemen abwerfen. Ich hatte
248
keine günstigen Erfahrungen gemacht. War denn das
so wichtig? Ich aß an meiner Mutter Tisch, ging nicht
eben gut gekleidet und hatte auch sonst so gut wie keine
Geldbedürfnisse. So oft die Kaffeeschulden beim Ober-
kellner auf einen Gulden aufgelaufen waren, fand sich
irgendwo der Gulden, und ich war wieder sorgenlos.
Ich habe wohl keinen Erwerbssinn.
Nur einmal trat das Bewußtsein meiner ökono-
mischen Lage deutlich an mich heran. Ein Konzert
von Rubinstein. Das mußte ich hören und dort hatte
ich kein „Gesichtsentree**. Der billigste Platz kostete
SO Neukreuzer. Es war sehr hart, den Empfang dieser
Summe mit dem Anhören einer wohlgemeinten Rede
über meine Zigeunerei bezahlen zu müssen. Wie schön
war das Konzert trotzdem. Aber die Rede ging mir
nach.
Da gab es doch eine Möglichkeit, einen großen
Haufen Geld zu verdienen mit einer Tätigkeit, die mir
damals eine meiner vielen Leidenschaften war. Als
Theaterkritiker. Meine Mutter war es zufrieden.
Ich hatte für den „Tagesboten aus Böhmen** ab und
zu sogenannte Feuilletons geschrieben. Über Dinge,
die mich lebhaft erregt hatten. Der materielle Erfolg
war nicht ganz ausgeblieben; bald hatte mir David
Kuh fünf Gulden für so eine Arbeit ausgezahlt, bald
hatte er mir ein Honorar in dieser Höhe versprochen.
Da ich aber um diese Zeit zu rauchen anfing, und die
Auszahlung des Honorars nur selten erfolgte, so wurde
ich auf diesem Wege kein Kapitalist.
Als Theaterkritiker hätte ich das Prager Landes-
theater nach den Ideen von Lessing und Otto Ludwig
(dessen Shakespeare-Studien ich ja eben mit Begeiste-
rung gelesen hatte) reformiert, hätte das Schlechte ver-
249
nichtet, dem Guten zum Siege verholfen und hätte
überdies gelernt, wie man Meisterdramen schreibt.
Die Phantasie, Theaterkritiker in Prag zu werden,
war mir übrigens nicht von selbst gekommen. Seligmann
Heller, mein verehrtes Vorbild, der Dichter und Kri-
tiker, mit dem ich auch nach seiner rauhen Besprechung
meiner Sonette in guten Beziehungen blieb, war etwa
ein Jahr vor dem Tode meines Vaters nach Wien be-
rufen worden, als Feuilletonredakteur der „Deutschen
Zeitung'S und hatte mich dem Leiter des einzig ge-
lesenen deutschen Blattes von Prag, der „Bohemia'',
zu seinem Nachfolger empfohlen. Ohne daß ich vorher
von der Sache wußte. So kam es, daß ich mich mit dem
Gedanken an eine solche Tätigkeit befreundete und wo-
chenlang ausschließlich Tag und Nacht die dramatur-
gischen Werke studierte, die der gelehrte Heller mir
zu diesem Zwecke empfohlen hatte. Ich setzte das
Studium noch lange fort, auch nachdem ich erfahren
hatte, die Theaterkritik an der ,,Bohemia** wäre mei-
nem Jugendfreund, dem vortrefflichen Alfred Klaar,
anvertraut worden. Ich durfte damals die ersten Blicke
werfen hinter die Kulissen der Bewerbung um eine so
einflußreiche Stelle ; ich darf mich wohl rühmen, schon
damals gelacht zu haben über die — dem Freunde Klaar
unbekannten — Intrigen, die bei der gebrechlichen
Einrichtung der Welt immer mitspielen, wo es sich doch
um einen ehrlichen Wettkampf handeln sollte. Auf eine
Aufforderung Hellers schrieb ich dann für die Deutsche
Zeitung in Wien einige Aufsätze, die leider dem Blatte
und dem Redakteur fast immer unbequem waren. Es
scheint mein Schicksal gewesen zu sein.
Nun war ich wieder um ein Jahr älter geworden und
dachte daran, Theaterkritiker beim „Tagesboten aus
250
Böhmen** zu werden. Ich hatte immer noch keine
rechte Vorstellung davon, daß der „Tagesbote** sich an
Ansehen nicht entfernt mit der ,,Bohemia** messen
konnte, daß es also unklug war, meine Kräfte (die ich
wahrlich nicht gering einschätzte) diesem Gebilde des
Tageszufalls zu widmen. Richtig war es, daß im „Tages-
boten** von Zeit zu Zeit frische und bewegliche, ja
selbst übermütige junge Schriftsteller zu Worte kamen,
während bei der ,,Bohemia** ein gediegener, aber etwas
zu „gediegener** Ton vorherrschte; doch diese jungen
Talente blieben niemals sehr lange beim ,, Tagesboten** ;
sie sehnten sich fort und gingen so bald als möglich
an eine der großen Wiener Zeitungen. Wichtiger war
es mir, trotzdem ich schon damals keine politische
Schreiberei trieb, daß David Kuh die Sache der deutsch-
böhmischen Partei mit ehrlichem Draufgängertum ver-
focht, während die „Bohemia** damals der langsam
slawisierenden Regierung ein Zugeständnis nach dem
andern machte. Der Glaube an die politische Bedeutung
Kuhs ist bei mir noch recht lange unerschüttert ge-
blieben, viele Jahre lang; nicht so viele Tage dauerte
mein Glaube an die eigentliche Bedeutung der Wirkung
des ,, Tagesboten**, nachdem ich erst Mitglied seines
„Stabes** geworden war.
Das kam aber so. Der ,, Tagesbote** hatte außer dem
Besitzer, der jeden Abend seinen Leitartikel schrieb und
einem Manne, der mit Schere und Kleister zwei Dritt-
teile jeder Nummer aus den Wiener Zeitungen zu-
sammenstellte, nur noch einen einzigen Mitarbeiter,
Herrn T . . . . Dieser unersetzliche T . . . . , auf dessen
erstaunlich gering entwickeltes Gehirn und auf dessen
mächtig entwickeltes Sitzfleisch die witzigen Durch-
gangsmitarbeiter des „Tagesboten**, Kohler, Horsky
und Klaar sehr lustige Verse gemacht hatten, gedachte
nach Wien abzureisen, wo er unglaublicherweise eine
Stellung gefunden hatte. Einen kleinen Teil seiner aus-
gedehnten Tätigkeit sollte ich übernehmen, eben die
Theaterkritik. Auch mit Mammon wurde ich gelockt.
Fünfzig Gulden monatlich wurden mir versprochen.
Und wie etwa ein alter Hofschauspieler — man habe
Nachsicht mit meinem Größenwahn — von seinen An-
fängen in der Provinz erzählt, so möchte ich jetzt über
T . . . . und dann über die ökonomischen Bedingungen
meines ersten Engagements berichten.
T . . . . war kein Feuilletonist aus der berüchtigten
Schule von Heinrich Heine; ach nein, er war dumm
und galt für ehrlich. Erst viel später habe ich durch
eine zufällige Begegnung in der kleinen Welt erfahren,
daß (um den Scherz des Ministers Unger gegen einen
größern Feuilletonisten zu wiederholen) es an Unbe-
stechlichkeit grenzte, wie klein die Geschenke waren,
die er von Sängern und Schauspielern annahm. Für ge-
wöhnlich wurde seine gute Stimmung auch nur durch
Naturalien erhalten, die in die Küche geliefert wurden.
War das einmal ein Hasenbraten, so war er stolz auf
seinen Einfluß. So erzählte der Theaterklatsch.
Stolz war er gewiß darauf, daß er der Sitzredakteur
des Blattes war. Die Anrede ,,Herr Sitzredakteur"
verbat er sich einmal ernstlich ; das wäre eine zu in-
time Privatangelegenheit. Da er die Leitartikel, die dem
Staatsanwälte gegenüber allein in Frage kamen, nie-
mals und unter keinen Umständen vor dem Erscheinen
las, so war es eigentlich großmütig von ihm, daß er die
Verantwortung trug. Ich fürchte, er hat diese Leit-
artikel auch nach dem Erscheinen niemals gelesen;
wahrscheinlich hatte er in seiner Jugend lesen gelernt;
252
dafür aber, daß er jetzt noch irgend etwas las, hat er
niemals einen Beweis geliefert. Er hatte offenbar über-
haupt keine Augen und keine Ohren. Vielleicht war er
ein Dreisinniger.
Besonders stolz war er auf seine Sonntagsplaudereien.
Es hieße den ehrwürdigen Begriff der Langeweile ver-
ächtlich machen, wollte ich diese schweißgeborenen
Schüleraufsätze langweilig nennen. Sie waren anders.
Sie waren darin Meisterstücke impressionistischer Kunst,
daß die Qual des Verfassers sich dem Leser gedoppelt
mitteilte. Und wenn er einmal geistreich wurde, regel-
mäßig vor jedem Quartalswechsel, dann verhüllte der
Genius der deutschen Sprache sein Haupt. Nein, er
war kein Dreisinniger, er war ein Analphabet und schrieb
Feuilletons.
Nichtmusiker und wohlhabendere Sänger und Sän-
gerinnen, die sich die „Spendierung** eines Hasens
leisten konnten und gelobt wurden, behaupteten, er
verstünde irgend etwas von der Musik, Einer der aus-
gezeichneten Künstler, die damals zur altberühmten
Prager Oper gehörten, versicherte mich aber : T . . . .
wäre so unmusikalisch gewesen, daß er den Violin-
schlüssel von einem Retiradenschlüssel nicht hätte
unterscheiden können.
Derselbe T . . . . schrieb auch Theaterkritiken. Es
hätte einen Hund jammern können. Natürlich besaß
er kein inneres Verhältnis zur Poesie, zum Drama oder
zur Schauspielkunst. Er fügte im Schweiße seines An-
gesichts so lange die verbrauchten Worte aneinander,
bis die nötige Anzahl von Zeilen beisammen schien,
Dann schüttelte er den Kopf jedesmal wie ein Esel,
dem man eine ungebührliche Last aufgeladen hat,
schickte das Manuskript in die Druckerei und ging
253
betrübt nach Hause. Übrigens schätzte er seine Theater-
kritiken selber nicht so hoch ein wie seine Musikkritiken.
Er sprach einmal mit mir darüber. Daß er sprach, war
an sich merkwürdig ; ich hatte ihn ja für taubstumm
gehalten. Er sagte also einmal zu mir in einiger Er-
regung . . . doch diese Geschichte muß ich von vorne
anfangen und mit der Beichte eines Dumme Jungen-
streichs beginnen.
T . . . . saß noch fest auf seinem Redaktionssessel,
und ich konnte noch nicht daran denken, der Nach-
folger dieses außerordentlichen Mannes zu werden. Ich
litt grimmig unter seinen Rezensionen, die unfehlbar
die Unwahrheit sagten, nach meinem Ermessen. Meine
Begeisterung für alles, was mit dem Theater zu tun
hatte, war so groß, daß ich mir oft, wenn ich nachmittags
auf die Redaktion des ,, Tagesboten'' kam (um den
Büchereinlauf durchzusehen und in Ruhe die Wiener
Zeitungen zu lesen), die Rezensionen des gräßlichen
T .... im Bürstenabzuge ausbat, um sie avant la lettre
genießen zu können. Er pflegte diese Elaborate am
Vormittage zu erschwitzen. Eines Tages nun las ich so
im Bürstenabzug die Besprechung der gestrigen Auf-
führung, die mich aus irgendeinem vielleicht allzu
menschlichen Grunde ganz besonders angeregt hatte;
ich hatte sogar, wie das häufig vorkam, eine eigene
Kritik der Vorstellung niedergeschrieben, zu meinem
Privatgebrauch, ohne an Druckerschwärze zu denken.
Was ich nun da im Bürstenabzuge las, das schien mir
über die Hutschnur zu gehen ; ich sprang nach Hause,
feilte mein Manuskript sorgfältig durch, steckte es in
die Tasche und erschien nach 9 Uhr abends auf der Re-
daktion mit dem unklaren, jedesfalls unerlaubten Plane,
meine Besprechung an Stelle der von T in das Blatt
254
einzuschmuggeln. Früher als zu dieser Stunde stellte
sich der Verleger David Kuh niemals auf dem Kampf -
platze ein.
Wie gewöhnlich etwas müde von wenigen Gläsern
Pilsner trat der Chef gegen lo Uhr ins Zimmer; sehr
verstimmt, wie gewöhnlich, wenn er nicht einmal irgend-
eine kleine Idee für seinen Leitartikel hatte. Ich trug
meinen Wunsch vor, meine Rezension anstatt der von
T . . . . gedruckt zu sehen. Kuh fauchte, sein schönes
Gesicht sah noch einmal so schön aus, als er mich an-
donnerte, wie ich es verdient hätte, und einen Schwur
leistete, seinem bewährten Mitarbeiter T .... die Treue
zu halten. „Ja, T .... ist ein Esel, und Sie möchte
ich bei den Rockschößen an mein Blatt binden;
aber das geht nicht!** Er ging mit hastigen Schritten
in der kleinen Stube auf und nieder und schrie von
Zeit zu Zeit gewissermaßen sich selber an : „Das geht
nicht!** Plötzlich: „Und wer bezahlt die Satzkosten für
den Wisch von T . . . .!?** Ich erbot mich in der fol-
genden Woche gratis eine kleine Novelle für das Blatt
zu liefern. ,,Wie viele Fortsetzungen?** — ,,Zwei.** —
„Mindestens vier!** — Ich glaube, ich versprach eine
Novelle von vier Fortsetzungen. ,, Liebstes Mauthnerl,
es geht nicht! Es wäre unerhört!** :uj müiiiw ^^^aua
Nach einer Weile sank David Kuh in seinen reser-
vierten Stuhl mit der gestickten Sitzgelegenheit und
fing zu klagen an; er wäre mehr als müde, er wäre
krank, er könnte heute nicht arbeiten. „Liebes Kind,
es könnte mein Tod sein, wenn ich in diesem Zustande
meinen Leitartikel schreiben wollte. Die Leser sind es
nicht gewöhnt, daß ich mit halber Kraft arbeite. Es
handelt sich um Größeres als um das dumme Theater
und euere Schönheitlerei. Ich muß mein Leben für die
255
Partei erhalten. Ein Wort, ein Mann. Wenn Sie auch
noch den heutigen Leitartikel statt meiner schreiben
wollen, so soll Ihre Theaterkritik morgen in meinem
Blatte erscheinen. Einverstanden? Gute Nacht, meine
Herren.^*
Der Mann mit der Schere undjdem Kleister war
Zeuge des ganzen Auftritts gewesen. Er zog seinen
Überzieher an, nahm seinen Hut und sagte mehr be-
wundernd als giftig: „So machen Sie das Blatt auch
ganz alleine fertig."
Ich habe das Blatt in jener Nacht alleine fertigge-
macht. Ich habe zunächst so lange mit Schere und Klei-
ster hantiert, bis der Metteur mir sagen ließ, es wäre
genug ; und dann habe ich einen der beiden Leitartikel
geschrieben, die ich überhaupt in meinem Leben ver-
brochen habe. Diesmal war es reinster, gottsträflicher
Übermut. Ich folgte zunächst dem Beispiel meines
Chefs. Ich las die Telegramme des Wiener Korrespon-
denzbureaus, ob ich unter ihnen ein Häkchen fände,
daran meinen Artikel anzuhängen. Ich fand das Häk-
chen. „Der König von Griechenland hat seine Reise
ins Ausland angetreten.*' Ich hatte keine Ahnung, wer
der König von Griechenland war, ich hatte keine Ah-
nung, warum und wohin er reiste; aber ich schrieb
einen schwungvollen Leitartikel über die Reise des
Königs von Griechenland. Ich werde wohl etwas Schind-
luder getrieben haben mit der ahnungslosen Art, in
der von Provinzredakteuren politische Artikel ange-
fertigt werden; bei den großen Zeitungen ist das ja
ganz anders. Im deutschen Kasino wurde mein Zeug
aufmerksam gelesen, und als man dahinter eine Satire
gegen einige Reisen des Kaisers Franz Joseph — ich
hatte an so etwas gar nicht gedacht — zu wittern an-
256
fing, ließ Kuh mit feinem Lächeln die Autorschaft un-
bestimmt. T . . . . aber, als er am Tage nach diesem
Doppelverbrechen meine Rezension an Stelle der sei-
nigen gefunden hatte, öffnete schwer und langsam
seinen Mund und sprach also zu mir: „Meine Theater-
rezensionen erreichen nicht ganz die Höhe meiner
Opernrezensionen. Auch fallen sie mir schwerer. Hätten
Sie vorher ein Wort gesagt, so hätte ich mir die sauere
Arbeit sparen und vier Stunden länger schlafen können."
Wenige Monate nach diesem eigentlich unverzeih-
lichen Streiche ging also T . . . . nach Wien, um dort
den alten guten Ruf der Prager Journalisten zu ge-
fährden; ich aber trat sein Amt beim ,, Tagesboten aus
Böhmen** an. Über meine Befähigung zu einem solchen
Amte werde ich vielleicht später ein möglichst unbe-
fangenes Urteil wagen, wenn ich über meine Theater-
kritik zu Berlin, in größern Verhältnissen, zu berichten
haben werde. Für jetzt nur so viel, daß ich die paar
Leute, die sich um diese Sache kümmerten, gewisser-
maßen angenehm enttäuschte; diese Leute hatten ge-
hofft oder gefürchtet, ich würde mit Keulen drein-
schlagen, in Beurteilung der Dramen von einem noch
strengern Standpunkt als S. Heller, in der Beurteilung
der Schauspieler noch rücksichtsloser. Ich aber merkte
bald, daß ich von den meisten Autoren, von einigen
Schauspielern und eigentlich von Ungeschicklichkeiten
meiner Aufsätze noch sehr viel zu lernen hatte, daß
ich im Grunde nur mangelhaft vorbereitet mein hohes
Richteramt übernommen hatte. Ich kannte fast keine
andere Bühne, hatte selbst in Wien im Burgtheater
nur wenige Stücke aufführen sehen; ich konnte also
nicht vergleichen und schwärmte eigentlich noch ein
wenig für die recht guten Mitglieder des Prager Landes-
17 257
theaters, für meinen ersten Karl Moor, für mein erstes
Gretchen. So war ich eigentlich vorherbestimmt, wenig-
stens in bezug auf die Schauspieler, den Lokalpatriotis-
mus des Provinzkritikers zu bewähren, wenn nicht ein
glücklicher Instinkt mich schon seit vielen Jahren alle
Gäste des Prager Landestheaters hätte kennenlernen
lassen. Bei ihnen, bei den berühmten Wienern, bei
Davison und Emil Devrient, bei der Ristori und vor
allem bei Rossi, der damals auf seiner Höhe stand, suchte
ich meine Maßstäbe, etwas wahllos, wie ich nicht leug-
nen kann. Ich schreibe das aus meiner Erinnerung nie-
der ; ich habe nicht Andacht genug zum Kleinen, um
etwa all diese alten Schreibereien kommen zu lassen,
nachzulesen und selbst eine der Schlangenhäute aus-
zuklopfen, die ich vor 40 Jahren abgestreift habe.
Der Reiz, den das Getriebe auch eines so kleinen
Blattes dem Neuling gewähren mußte und konnte,
wird wohl nur wenige Wochen vorgehalten haben.
Nicht viel länger der Humor, mit dem ich dann die un-
fruchtbaren Anstrengungen meines idealistischen Chefs
anzusehen begann. Ich sehnte mich fort, wahrlich nicht
nach einer Großstadt, wohl aber in das geträumte Ge-
triebe eines Weltblatts, wo überlegene Geistesfürsten
der Kunst und dem Staate ihre Gesetze diktierten. Und
ich sehnte mich hinaus, nach Deutschland, ins ,, Reich**.
Ich glaube nicht, daß nach meiner Anlage die öko-
nomischen Verhältnisse des Blattes diese Wander-
sehnsucht stark beeinflußten. Ich hatte ja am Tische
meiner Mutter satt zu essen. Aber die Behandlung der
Geldfrage ging denn doch über den Spaß. Der ,, Tages-
bote** hatte nämlich so etwas wie einen Kassierer. Bei
dem stellte ich mich jedesmal pünktlich am i. des
Monats ein, um die vereinbarten fünfzig Gulden zu ver-
258
langen. Jedesmal erhielt ich zur Antwort, es wäre kein
Geld in der Kasse, aber der Herr Kassierer wäre bereit,
mir den Betrag persönlich gegen Schuldschein darzu-
leihen. Der versprochene Mammon hatte bereits meine
Lebensansprüche gesteigert; ich ging mitunter nach
dem Theater in ein Restaurant und stand schon in den
Schuldbüchern zweier Blumenhandlungen und (jawohl)
eines Juweliers. Ich hatte einen kleinen Ring nach
meiner Zeichnung anfertigen lassen; ich werde aber
die Geschichte dieses Ringleins nicht erzählen. Ich wollte
nur die Gründe angeben, die mich zwangen, an jedem
Ersten den Schuldschein des Kassierers zu unterschrei-
ben. Zur Tilgung seiner Forderung, die sich eben Monat
für Monat um den Betrag meines ,, Gehaltes** erhöhte,
mußte ich mir vor meinem Abgange einige hundert
Gulden verschaffen. Als ich eben im Begriffe war, einem
Wucherer in die Hände zu fallen, half ein tschechischer
Freund aus, der sich später als geduldig erwies.
Der Tropfen, der endlich den Becher zum Überlaufen
brachte, war ein Vorfall, der sich sehr bald nachher
fast in gleicher Weise einmal zu Berlin wiederholte.
Ich hatte ein Feuilleton geschrieben, das einem meiner
beiden Kollegen — ich möchte ihn nicht kenntlich
machen — besonders gefallen haben mußte; ich fand
es am nächsten Tage im Blatte mit seinen Initialen
unterzeichnet. Auf meine sehr schüchterne Frage, was
das zu bedeuten hätte, bekam ich die Antwort: die
Kleinigkeit wäre ja ganz nett gewesen, er hätte aber
nach Mitternacht plötzlich Angst um mich bekommen ;
eine Vision; Staatsanwalt; ich wäre noch so jung; er
wäre ein gebrochener Mann, ein Tagelöhner der Zei-
tung, auf sein Leben käme es nicht an; da hätte er
sich mit Aufopferung schützend vor mich gestellt und
17* 259
die Initialen geändert. (Als die gleiche Geschichte etwa
ein Jahr später in Berlin passierte, lautete die Er-
klärung in etwas anderer Tonart : ein so junger Fuchs
wie ich müßte froh sein, wenn ein bewährter Kämpe
durch seinen Namen meine Erstlingsarbeiten adelte.)
Dabei blickte mich der Mann so gemütlich hilfe-
flehend an, daß ich entwaffnet war. Ich schämte mich
nur und faßte den Entschluß fortzugehn. Wer weiß
aber, ob ich die Energie aufgebracht hätte, dem Zu-
reden David Kuhs Widerstand entgegenzusetzen, wenn
nicht gerade um diese Zeit begreiflicherweise T . . . .
uns wiedergeschenkt worden wäre. Eines Nachmittags,
ich saß just im Stuhle vor dem Feuilletontisch, eine
Wiener Zeitung in der Hand, öffnete T. . . . unan-
gemeldet die Tür, stellte den dicken Stock und den alten
Künstlerhut in die gewohnte Ecke und schaute mich
an . . . Es war rührend. Ich erhob mich ; er drückte
sein Sitzfleisch in den Feuilletonstuhl. Alles wortlos.
Er begann zu schreiben und wischte sich schon nach
wenigen Minuten den Schweiß ab; er dichtete also an
seiner Wochenplauderei. Und ich war nicht mehr
Theaterkritiker am ,, Tagesboten".
260
XXIII. Abschied von Prag.
Der langsam gereifte und dann so plötzlich entschie-
dene Entschluß, Prag und den Schauplatz nationaler
Katzbalgereien zu verlassen, dürfte stark beeinflußt
worden sein von der Kampfesweise beider Parteien,
über deren Unwahrhaftigkeit ich als Redaktionsmitglied
des kleinen Provinzblattes die ersten Erfahrungen sam-
meln konnte. Sehr rasch und für immer hatte ich die
Ehrfurcht vor der ,, Fahne der Partei*' verloren ;| ich
hatte kleine Führer kennengelernt und deren Eitelkeit.
Hüben und drüben wurde gelogen und wider besseres
Wissen der Gegner beschimpft. Das mußte bei einem
vornehmen Weltblatt ganz gewiß viel anders sein.
Wie gesagt, ich hatte nicht eigentlich den Wunsch,
in einer Großstadt zu leben ; da aber die großen Blätter
nur dort zu gedeihen schienen, so richtete sich der
Blick bald nach Wien, bald nach Berlin. Da und dort
winkte verlockend die Möglichkeit, alle Tage ein gutes
Theater oder ein gutes Konzert besuchen zu können.
Den Anschlag gab Dr. Julius Friedländer, der ange-
heiratete Vetter, der mir schon — wie man sich er-
innern wird — bei der Drucklegung meiner Sonette^zu
Leipzig ironisch-wohlwollend Schicksal gespielt hatte.
Sooft er aus Berlin nach Prag kam, pflegte er gern mit
meiner Mutter zu plaudern, und ich, das Sorgenkind
261
von 26 Jahren, war oft der Gegenstand solcher Unter-
haltungen. Ironisch-wohlwollend strich Dr. Fried-
länder (als antiquarischer Buchhändler und als Zei-
tungsverleger war er mir in literarischen Lebens-
fragen eine Autorität) mein Talent heraus; ich ge-
hörte aber in die Hauptstadt, wo ich lernen würde,
daß auch die gefeiertsten Dichter Geld verdienen
wollen; in Prag würde ich verbummeln. Nament-
lich das letzte sah ich ein. Wohin aber? Der Rat-
geber war für sein unvergleichliches Berlin; meine
Mutter war mehr für Wien, weil das doch nicht so
außer der Welt läge.
Ich ließ mich vom Vetter leicht überreden, mein
,, Glück** in Berlin zu versuchen; er setzte meiner Mut-
ter die Vorteile dieser Stadt beredt auseinander. Dort
würde ich arbeiten lernen; und die hergebrachte Ver-
höhnung der österreichischen Schlamperei brach los.
Die beiden Gründe aber, die bei mir für Berlin ent-
schieden, waren ganz anderer Art, und ich trage gar
kein Bedenken, meine Dummerhaftigkeit einzuge-
stehen, ja sogar mit einer gewissen Selbstgerechtigkeit
an diese späte Dummerhaftigkeit — stand ich doch
schon in meinem 27. Jahre — zurückzudenken. In
erster Linie stand, daß ich in Wien zahlreiche Bezie-
hungen zu einflußreichen Verwandten und auch schon
zu den beiden angesehensten Zeitungen besaß, also auf
Förderung (auf deutsch : Protektion) rechnen konnte ;
ich aber wollte meinen eigenen Weg gehen. Sodann
schwebte mir als das nächste erstrebenswerte Erlebnis
vor, Bismarck einmal im Reichstage reden zu hören.
Bismarck hat gesagt, Berlin ziehe die Leute vom Lande
hinein, weil sie dort umsonst Militärmusik hören kön-
nen. Mir war Bismarck die Musik, die nach Berlin rief.
262
Ganz unklar unbewußt war es mir, daß hinter diesem
Wunsche allerlei Ernstes steckte i).
Inzwischen war im Frühjahr 1876 mein kleiner Ein-
akter ,,Kein Gut, kein Mut*' im Prager Landestheater
aufgeführt worden. Wieder möchte ich nicht erzählen,
weil eine Herzensangelegenheit damit verknüpft war,
wie es zu der ersten Niederschrift dieses Einakters
(binnen drei Stunden) kam, wie die Aufführung mit
Hilfe von Alfred Klaar gegen den Willen des scheidenden
Theaterdirektors durchgesetzt wurde und wie über-
haupt die Auflösung der alten und mir lieb gewordenen
Truppe mir den Abschied von Prag leicht und erfreu-
lich machte. Genug, der hübsche Erfolg meines Ein-
akters hatte zur nächsten Folge, daß das große Prager
Lokalblatt, die ,,Bohemia", den Versuch machte, mich
an Prag zu fesseln.
In dem Redakteur der ,,Bohemia**, Herrn Franz
Klutschak, lernte ich einen Journalisten kennen, der
in allem ein Widerspiel zu David Kuh war. Gar kein
Talent, vielleicht auch kein politischer Charakter wie
Kuh, aber ein Mann von vielseitiger Bildung, mit den
guten Umgangsformen eines höheren österreichischen
Beamten. Er hielt mir eine kluge Rede über die Schat-
tenseiten jeder Genialität, die immer zu Rücksichts-
losigkeit führe ; die lokalen Verhältnisse müßten immer
berücksichtigt werden; das würde ich schon mit der
Zeit lernen. Und er bot mir die Kunstkritik für die
„Bohemia*' an. Zunächst sollte ich den Bericht über die
bevorstehende Prager Kunstausstellung übernehmen.
Daß ich dieser Aufgabe durchaus nicht gewachsen
war, das fiel mir nicht im Traume ein. Ich glaubte
Augen zu haben und schreiben zu können. Die Galerien
I) Vgl. Anhang IX.
263
von Wien und München hatte ich durchlaufen, hatte
ein Kolleg über italienische Malerei (bei Ambros) und
ein Kolleg über Geschichte der Architektur (bei Joseph
Bayer) gehört; ich bildete mir also ein, Kenntnisse
genug aus Vergangenheit und Gegenwart zu besitzen.
Daß ich halb und halb schon entschlossen war, Prag
zu verlassen, das bedachte ich keinen Augenblick, als
ich das Anerbieten Klutschaks annahm.
In die letzten Monate meiner Prager Zeit fallen neue
Beziehungen zu Kreisen und Personen, die mich die
deutsche Kolonie, wie man die deutsche Gesellschaft
Prags schon damals nennen durfte, besser als bisher
kennenlernen ließ. Mein kleiner Theatererfolg, viel-
leicht auch einige meiner Aufsätze hatten auf mich
aufmerksam gemacht.
Im deutschen Kasino, der festen Burg des Deutsch-
tums, in welcher nur etwas häufig die Fensterscheiben
eingeschlagen wurden, machte ich die Bekanntschaft
der ersten politischen Führer und konnte nicht umhin,
sie für etwas bedeutender zu halten als ihre politischen
Journalisten waren. Ich muß übrigens zur Einweihung
des Festsaals im Deutschen Hause ein völlig unpoli-
tisches Festgedicht verfaßt haben. Es war mein größter
Prager Erfolg. Die kleinen Mädchen waren entzückt.
Der alte Bildhauer Emanuel Max, Gabriels Onkel,
feierte so etwas wie das Jubiläum seiner fünfzigjährigen
Künstlerschaft; es hatte irgendeinen Haken, mit der
Künstlerschaft sowohl wie mit dem Jubiläum ; er hatte
nicht ganz rechtmäßig vom Ruhme seines größern
Bruders Joseph gelebt, der eigentlich das schöne Ra-
detzkydenkmal geschaffen hatte und früh verstorben
war, und er hatte sein Jubiläum (wie er mir am Tage
vor dem Fest mit Tränen in den Augen eingestand)
264
etwas zu früh angesetzt, um es gewißlich zu erleben.
Na, über die Datumsfälschung lachte ich, und von sei-
nen Verhältnissen zu Joseph Max wußte ich damals
noch nichts. Ich schrieb zu seinem Ehrenabend ein
Preislied auf die edle Bildhauerei ; es war sehr lang,
wurde aber trotzdem bis ans Ende freundlich angehört.
Durch Max machte ich die Bekanntschaft mit dem
neuen Direktor der Prager Kunstakademie, einem be-
gabten Belgier ; man hatte einen Ausländer verschrie-
ben, weil man einen Deutschen nicht ernennen wollte
und einen Tschechen damals noch nicht zu ernennen
wagte. In dem Hause des Belgiers erfuhr ich zu meiner
Überraschung, wie viele Männer beider Nationalitäten
es in dem alten Prag gab, die sich leidenschaftlich für
bildende Kunst, für Theater und Musik interessierten.
Es war fast ein Salon großen Stils. Es wimmelte nur so
von Aristokraten der Kirche (natürlich der katholischen) ,
der Geburt und des Geldes; ich hatte keine Ahnung
davon gehabt, daß eine solche Gesellschaft in Prag
möglich wäre.
In besonders guter und drolliger Erinnerung ist mir
der alte Fürst Camille Rohan, der Freund des Kaisers
Wilhelm, der mich nach der Aufführung meines Ein-
akters in seinem wunderlichen Deutsch-Französisch
mehrfach seines ganz besonderen Wohlwollens ver-
sicherte, mir Großes voraussagte und mir eigentümliche
Ratschläge gab. Ein Musiker oder ein Börsenspieler
dürfe witzig sein, ein König und ein Schriftsteller dürfe
niemals witzig sein ; ich sollte mich wie vor der Pesti-
lenz davor hüten, so schändliche Menschen wie Vol-
taire oder Heine nachzuahmen. Ich sollte damit zu-
frieden sein, in Prag das Schlechte zu bekämpfen und
das Gute zu beschützen (und er nannte den Namen
265
einer ganz elenden kleinen Schauspielerin, den er liebe-
voll mit französischem Akzent aussprach) ; auch ihm
wäre es nicht an der Wiege la-bas vorgesungen worden,
daß er seine beste Zeit in Böhmen verbringen würde.
Alle diese Dialoge fanden im Theaterfoyer statt; das
greise Männchen in der geckenhaft modernen Kleidung
war in solchen Augenblicken der Ergriffenheit gar nicht
mehr drollig. Seltsam. Dieser Grandseigneur, dieses
Fossil aus dem Ancien regime, stand mir doch ferner
als irgendwer, dem ich je im Leben begegnet bin,
ferner als irgendein regierender Fürst, und doch war
er der erste Mensch, dem ich von meinen Zielen er-
zählte, von seiner Herzensgüte verführt oder nur von
seiner Höflichkeit getäuscht ; er war auch der erste, dem
ich mitteilte, ich wollte nach Berlin. Er erzählte darauf,
als ob es die natürlichste Sache von der Welt wäre, wie
er, dank seinen Beziehungen zu seinem Freunde Wil-
helm, talentvolle junge Personen an das Kgl. Schau-
spielhaus und an die Kgl. Oper gebracht hätte; sie
wären nicht immer dankbar gewesen. Schmerzlich be-
wegt blickte er lange die hellen Gamaschen über
seinen Lackschuhen an und sagte dann plötzlich:
,,Dank ist ein dummes Wort. Kann ich Ihnen dort
irgendwie utile sein?** Ich mag mein Nein vielleicht
zu übermütig begründet haben; er nickte traurig mit
dem alten Köpfchen und erwiderte nur etwa : das wäre
die neue Zeit; ein Fürst Rohan könnte einem jungen
Prager Dichter nicht mehr utile sein. Er empfahl mir
noch das erste Hotel von Berlin und das feinste Re-
staurant.
Da ich zwar von diesen Empfehlungen keinen Ge-
brauch zu machen gedachte, aber doch nicht ohne einige
Groschen in der fremden Stadt ankommen wollte,
266
machte ich mich stark, vor meiner Abreise den ver-
sprochenen Bericht über die Prager Kunstausstellung
noch anzufertigen. Im Juni war ich vierzehn Tage lang
von früh bis spät in der Ausstellung und machte mir
Notizen in den Katalog. Dann aber kam plötzlich und
unwiderstehlich die Ungeduld über mich, und eines
Tages reiste ich ab. In einer Tasche Kleider und Wäsche,
in einer großen Kiste meine Bücher. Ohne viel Abschied-
nehmen. Ich würde ja doch bald wiederkommen.
Ich fuhr zunächst nach Dresden, wo ich einige Tage
lang in der Galerie schwelgte. Und mit allzu kurzem
Gedärm für meinen Kunstbericht studierte. Dann ging's
noch einmal bis Schandau zurück, nach der sächsischen
Schweiz. Dort setzte ich mich wieder vierzehn Tage hin
und schrieb mit Hilfe meiner Notizen aus dem Gedächt-
nisse etwa ein Dutzend Aufsätze über die Prager Aus-
stellung. Gott mag wissen, was dabei herausgekommen
ist. Ich hatte wenigstens die Gewissenhaftigkeit, mich
als einen Laien einzuführen.
Als pünktlich nach der Ablieferung des letzten Auf-
satzes das erstaunliche Honorar eingetroffen war, fühlte
ich mich so reich, daß ich sogar ein Billett zweiter
Klasse bis Berlin nahm. Mit einigem Grausen vor der
öden Sandwüste, über die ich oft witzeln gehört hatte.
Ich denke jetzt anders von den Reizen der märkischen
Landschaft und glaube auch für das Meer nicht taub
und nicht blind zu sein ; aber eigentlich fehlt mir noch
heute etwas in jeder Landschaft, wenn die Berge fehlen
und die Tannen. Die Berge meiner Kindheit. Und ich
bin dann imstande, Verse aus der gefälschten Königin-
hofer Handschrift sehnsüchtig zu zitieren. Und nenne
mich einen sentimentalen Esel ; und meine es nicht so
gar schlimm.
267
Ich muß nach meiner Rechnung Anfang August 1876
in Berlin eingetroffen sein, auf dem damaligen Dresdner
Bahnhof. Den Tag vermöchte ich nicht anzugeben. Man
sieht, wie leichtfertig ich so wichtigen Umständen gegen-
über bin. Aber ein emsiger Forscher könnte dennoch
den Tag und sogar die Stunde bestimmen; ich weiß
noch, daß ein Wolkenbruch niederging, gerade als unser
Zug einfuhr. Die wenigen Droschken waren rasch be-
setzt, ich mußte lange warten und dann lange umher-
irren, bevor ich ein bescheidenes Unterkommen fand.
In einer Ausspannung fern im Norden der Stadt. Ich
hatte mir den Namen des Künstler-Gasthofs, der mir
empfohlen worden war, nicht genau gemerkt ; die Aus-
spannung hieß ungefähr ebenso und war dem Kutscher,
der in der Nähe wohnte, vertrauter; auch um ihres
Weißbiers willen. So hätte ich gleich damit beginnen
können, Berliner Volksstudien zu machen. Da haperte
es aber bei mir; mir grauste vor dem dünnen Bier in
den weiten, dickwandigen Glastöpfen.
268
Anhang
I. (zu Seite 60.)
Vor einigen Jahren erwies die „Vossische Zeitung'*
einem dieser alten Scherze die Ehre, ihn nach fast
vierzig Jahren wieder abzudrucken ; so mag die Über-
setzung von Heines ,,Du hast Diamanten und Perlen'*
auch hier stehen.
M. A. Y. 0. NE. P. EI2 ZQIHN
2oi juev xetfCTjha XQVoa,
2oi yeoTiv 00' dv i'd'eXrjg,
Hot d^ö/Lt/Liara eau KaXXiora —
Zcorj, XL VW ext XQU'^f
Eig öfifiaxa oov xa xaXXtoxa
'Aotdog decyevexTjg
MeXcov fiaXa fiVQi ijtrjöov —
Zcpfj, XL VW exe XQjjQ;
2eXa XiTtapcü xotv öoootv
2Jv SvoTtox/Liov fi irc'd'fjg,
Kai /LCTjv /Lce dioXeoaoa —
ZcpT], XL VW ixt XQjjg;
Der Bierulk der rätselhaften Überschrift, damals in
einer Einleitung durch die blödsinnigen Worte MaKedco-
viov'AvaxQeovxog' Yjtaxov Oeov NEavtov'Paipcpdta eig Zcorjv
271
(Ein Lied des Makedonios Anakreon, des Sohnes des
Hypatos, des göttlichen Jünglings, an Zoe) gedeutet,
führte also aus den Buchstaben meines Namens den
Nachweis, daß Heine ein Plagiat an dem alten Anakreon
begangen hätte. Als diese Verse 1873 von Alfred Klaar
in einer ,, Sammelbüchse für (das abgebrannte) Joa-
chimstal'' herausgegeben wurden, machten sie meinem
verehrten Lehrer (griechische Archäologie) Otto Benn-
dorf reichlich Spaß ; nur mit Reimen in griechischer
Sprache wollte er sich durchaus nicht versöhnen.
272
IL (zu Seite 96.)
Daß das Ende der Renaissance hereingebrochen sei,
ist eine meiner kleinen Grundüberzeugungen. Ich habe
dieses Bekenntnis oft im Laufe von Jahrzehnten aus-
gesprochen und schon 1892 einige solche Ausfätze unter
dem Titel „Tote Symbole** gesammelt. Als ich später,
als Theaterkritiker, solche Anschauungen noch rück-
sichtsloser vortrug, wurde ich deshalb von alten Freun-
den und von Witzblättern, die just vor Homeros und
Sophokles eine beneidenswerte Ehrfurcht bekundeten,
heftig angegriffen, verlor darüber — und das schmerzte
— das Wohlwollen und mehr von Theodor Mommsen.
Einiges füge ich hier ein, mit Hinweglassung der Stellen,
die sich etwa auf Theater-Aufführungen bezogen. Im
Februar oder März 1897 veröffentlichte ich im „Berliner
Tageblatt" folgenden Aufsatz:
„Philhellenismus und Renaissance.
Was ist der Philhellenismus? Wenn man eine De-
finition nach dem berüchtigten Muster „Opodeldok ist,
wenn man Rückenschmerzen hat", aufstellen dürfte,
so wüßten wir sofort, was der Philhellenismus ist. Phil-
hellenismus ist, wenn die Studenten in Paris und Rom
mit der Polizei handgemein werden, und wenn in Eng-
land für die Griechen Geld gesammelt wird. Aber diese
18
273
Erklärung ist doch wohl nicht ausreichend. Die Stu-
denten machen mitunter Krawall, auch ohne gerade
durch griechische Studien dazu aufgereizt worden zu
sein ; und die Kunst, europäisches Geld an sich zu brin-
gen, verstehen die neuen Griechen so gut, daß sie aus
Böckhs „Staatshaushaltung der Athener'' gar nichts
lernen könnten und den Bettel der freiwilligen Samm-
lungen verachten dürften.
Der Philhellenismus scheint mir nichts anderes zu
sein als die alte Renaissance, von schlauen Staats-
männern oder unklaren Jünglingen ins Politische und
ins Sentimentalische übersetzt. Tausend Jahre hatte
die Scholastik des christlichen Mittelalters die Geister
niedergehalten, als im 15. und 16. Jahrhundert die Re-
naissance Europa wieder erwachen ließ. Damals war
Griechenland eben erst eine türkische Provinz gewor-
den, um deren politische Gegenwart sich kein Mensch
kümmerte. Nur die große Vergangenheit wurde die
Schule für die humanistische Kultur. An dem Naturalis-
mus der alten Griechen erstarkte ein neues Natur gefühl.
Die Nationalkulturen von Italien, Frankreich und
Deutschland gingen bei den klassischen Leistungen
eines toten Volkes in die Schule. Es war für die Philo-
logen wertvoll, daß noch griechische Gelehrte übrig-
geblieben waren, die ihnen die klassische Literatur besser
als bisher vermitteln konnten. Ein lebendiges Griechen-
volk gab es nicht für sie. Man glaubte ehrlich, in der
bildenden Kunst, in der Poesie und in der Philosophie
die Meister der Perikleischen Zeit nachzuahmen, und
nur wenige Genies der Renaissance ahnten, daß diese
scheinbare Nachahmung im Grunde nur mit den über-
lieferten Formen und Gedanken spielte. Gegen vier-
hundert Jahre hat diese Epoche der Renaissance, diese
274
Wiedergeburt des klassischen Naturalismus, gedauert.
Vierhundert Jahre lang hat der moderne Geist sich,
zwischen wechselnden Revolutionen und Reaktionen,
unter der Herrschaft des griechischen Geistes ent-
wickelt. Und gerade jetzt, wo der Kreislauf der Re-
naissance endlich vollendet scheint, wo die modernen
Kulturvölker die toten Symbole der Antike endlich
nicht mehr nötig haben, wird die Renaissance plötzlich
praktisch und politisch und verlangt ungestüm die
Wiedergeburt des Volkes, dessen tote Symbole bald nur
noch historische Bedeutung haben werden. Es ist ein
seltsames Schauspiel. Am Ende ihrer Laufbahn hat die
unfruchtbar gewordene griechische Philologie noch
Kraft gefunden, den Philhellenismus zu erzeugen. Vor
siebzig Jahren, in den griechischen Befreiungskriegen
und wieder heutzutage ist die philhellenische Bewegung
nirgends tiefer (wenn auch weniger lärmend) als in
England und in Deutschland, den klassischen Ländern
der griechischen Philologie. Damals stand Lord Byron
an der Spitze, und Goethe verherrlichte ihn dafür. Heute
sehen wir an der Stelle des hinreißenden jungen Byron
den alten Gladstone; in Deutschland schweigen die
Dichter vorläufig, und kein deutscher König hat für
einen Prinzen seines Hauses ein exotisches Thrönchen
in Aussicht. (1897.)
Das Ende der Renaissance ist angebrochen. Die Wahr-
heit dieser Behauptung wird mit wenigen Erinnerungen
zu erweisen sein.
In der bildenden Kunst lehrt nichts so deutlich wie die
Malerei denivollständigen Bruch mit derAntike, Wenn wir
den Wert der griechischen Malerei, von deren Originalen
so gut wie nichts erhalten ist, noch so hoch anschlagen,
wenn wir die erhaltenen Nachahmungen von Hand-
18*
275
werkerhand noch so sehr überschätzen, so müssen wir
doch erkennen, daß unsere Naturempfindung den Grie-
chen völlig fremd gewesen ist. Das Originalwerk eines
griechischen Meisters wäre uns wahrscheinlich besten-
falls eine Kuriosität wie noch vor wenigen Jahren die
Schöpfungen der Japaner. Die Griechen hatten gewiß
keine Augen für die Luftperspektive und was drum und
dran hängt. In der Malerei hatten schon Rembrandt,
der wahrhaft Erzieher, die Wege der Renaissance ver-
lassen. Und vollends die Landschaften und Stimmungs-
bilder unserer Realisten sind lauter Proteste gegen die
alte Kunstanschauung. Es blieb nicht bei den Protesten ;
wir haben eine neue Kunst, auch wenn wir den Ex-
perimenten der Allerneuesten noch nicht vertrauen
wollen. Der Kunsthistoriker mag die Meister von zwan-
zig Jahrhunderten durcheinander bewundern. Wer aber
mit einem Millet, mit einem Israels wirklich mitfühlt, der
kann nicht ehrlich sein, wenn er daneben vor den zier-
lichen Formen eines griechischen Vasenbildes in An-
dacht versinkt.
Auch in der Poesie ist der Kreislauf der Renaissance
vollendet. Hier aber ist es uns besonders schwer gemacht,
die Bildungsphilister davon zu überzeugen, daß die Ideale
der Griechen für uns tote Symbole geworden sind. Da
stehen, aus grauer Vorzeit herüberleuchtend, in unver-
gänglicher Schönheit einzelne Gesänge der Homerischen
Gedichte, das Schicksal Hektors und die Schiffermär-
chen der Odyssee ; sie sind so lebendig geblieben, gleich
der Sonne Homers herrlich wie am ersten Tag, daß uns
nur die Klage bleibt, keinen Dichter zu haben, der uns
von unseren Märchen und unseren Helden in un-
serer Sprache erzählte. Wir brauchen aber nur die
höchste Poesie des Kindesalters mit der Mannespoesie
276
(Goethes Faust) zu vergleichen, um selbst zu dem
ewigen Homer in ein freieres Verhältnis zu treten.
Und dann : Homer ist der Ausnahmefall, der die Regel
nur bestätigt. Die Klassiker der griechischen Blütezeit
sprechen noch zu unserer Bildung, selten mehr zu un-
serem Gefühl. Jawohl wir sind fleißige Gymnasiasten
gewesen, wir haben die „Antigone** im Original aus-
wendig gelernt, wir haben Sophokles und Anakreon zu
übersetzen gesucht und haben uns in ihren verstaubten
Schönheiten zu berauschen geglaubt, wie wir in die
bejahrte Tochter unseres Klassenlehrers verliebt zu
sein geglaubt haben. Jetzt schreit es in uns auf: es war
nicht wahr! Ein kleines Volksliedchen von Möricke
bewegt uns mehr als der ganze Anakreon. Anzengruber
ergreift uns ganz anders als Sophokles und Aristophanes
dazu. Diese waren zu ihrer Zeit beide noch größere
Künstler als Anzengruber, aber sie waren ; wir wissen
von ihrer Künstlerschaft noch, aber wir empfinden sie
nicht mehr naiv. Ich bin nicht gerade ängstlich, aber
ich habe doch den Klassikern nur verstorbene Dichter
entgegenzustellen gewagt ; hätte ich gar fröhliche Ge-
sellen genannt, mit denen ich schon bei deutschem
Bier geplaudert habe, und deren junge Poesie mir
dennoch mehr sagt als die steinernen Formen der
seligen Griechen, ich wäre wieder einmal in Bann und
Acht getan worden von den konservativen Priestern
der Klassizität.
Was uns mit diesen lebenden Gesellen, auch wenn
sie kleinere Talente sind, so viel näher verbindet, das
ist : wir stehen mit ihnen auf dem gemeinsamen Boden
der gleichen Sprache, der gleichen , Weltanschauung*.
Und das ist der Kernpunkt der ganzen Frage. In Kunst
und Poesie ist das Ende der Renaissance gekommen,
277
weil in unserer »Weltanschauung' die Renaissance ab-
gewirtschaftet hat. Wer es nicht glauben will, der mag
es bei den beiden deutschen Geschichtschreibern der
Logik und des Materialismus nachlesen. Die philo-
sophische Renaissance begann damit, daß sie das tau-
sendjährige Reich des Begriffspedanten Aristoteles
stürzte zugunsten des Begriffsromantikers Piaton.
Dessen Ideenlehre aber wurde dann durch die gewaltige
Kritik der Engländer und Kants so gründlich aufge-
löst, daß schließlich nur ein moralisches und ein ästhe*
tisches Interesse an ihr übrigblieb. Das naturwissen-
schaftliche Denken unserer Tage gar hat alle Brücken
abgebrochen, die einst zu den Begriffen der grie-
chischen Weisheit hinüberführten.
So stehen wir also wieder einmal vor einer Ironie
der Kulturgeschichte. Zwischen unserem Denken, Bil-
den und Dichten und dem Denken, Bilden und Dichten
der alten Griechen besteht nur ein historischer Zu-
sammenhang. Und gerade jetzt, da die Renaissance
zu wirken aufhört, will man sie sentimental auf das
Volk selbst übertragen und über eine Lücke von zwei
Jahrtausenden hinweg die Geschichte Neugriechenlands
an die Perserkriege anknüpfen. Die sentimentale Phan-
tasie der Studenten heftet den Prinzen Georg an die
Rockschöße oder Chlamyszipfel des Leonidas, als ob
nicht inzwischen zweitausend Jahre lang Lateiner und
Germanen, Slawen und Türken in Hellas gehaust und
Geschichte gemacht hätten. Die Renaissance der Kunst
und des Denkens beruhte auf einer Wahrheit, die poli-
tische Renaissance beruht auf einer Unwahrheit.
Besäße ich den Ehrgeiz, mit diesen Worten einen
politischen Artikel schreiben zu wollen, so müßte ich
ausdrücklich unterscheiden zwischen diesem Phil-
278
hellenismus der Buchgelehrsamkeit und der natürlichen
Sympathie, welche wir den Befreiungskämpfen der Grie-
chen entgegenbringen, wie jedem Versuch jedes Volkes,
das ein fremdes Joch abschütteln will. Diese Sympathie
mag oft unklug und gefährlich sein, aber sie ist ein
beinahe instinktives Gefühl, dessen wir uns selbst bei
Aufständen barbarischer Völker nicht erwehren können.
Nur sollte dieses Gefühl nicht künstlich mit einer Pietät
verbunden werden, die eigentlich den Kämpfern von
Marathon und den griechischen Klassikern gilt und
nun allzukühn auf die Kretenser und die mitunter
dichtenden Gesandten Neugriechenlands übertragen
wird.
Wie sehr philologisch der Ausgangspunkt des moder-
nen Philhellenentums war, kann uns der Beginn der
griechischen Freiheitsbewegung lehren. Denn es ist
keinZufall, daß sie anknüpfte an den Verein der „Philo-
musen*S welchen Kapo d' Istrias im Jahre 1812 grün-
dete, als Napoleon immer noch die Landkarte Europas
umgestaltete und dabei gelegentlich auch die Träume
von Ideologen nicht verschmähte. Der Verein der Philo-
musen sollte die griechischen Altertümer konservieren.
Jeder freiheitliebende Mensch wird es einer grie-
chischen Inselbevölkerung gönnen, wenn sie die des-
potische Herrschaft des Türken abschütteln und sich
selbst regieren kann. Den Philologen insbesondere müßte
es freuen, falls durch die Erstarkung von Neugriechen-
land die altgriechische Mundart soweit als möglich
wieder lebendig würde; wenn ein Mensch schon seine
Schulden nicht zahlt, so ist es doch hübsch von ihm,
seine Gläubiger mit griechischen Ausreden hinzuhalten.
Für unser Denken, Bilden und Dichten jedoch scheint
es mir nicht^wichtig zu sein, ob auf den Abhängen des
279
Sagenreichen Olympos mohammedanische oder grie-
chisch-orthodoxe Hammeldiebe wohnen. Nur daß man
eine solche Gesinnung wahrscheinlich nicht ausspre-
chen darf*"
Kurz darauf erschien im „Zeitgeist** eine Antwort
des vortrefflichen Emil Schiff, der man es anmerkte,
daß der Verfasser sich nur widerwillig auf eine höfliche
Ablehnung meiner Persönlichkeit beschränkt hatte ; ein
schwer verhaltener Grimm sprach aus seinen Worten.
Auch meine kurze Antwort (Berliner Tageblatt 24. März
1897) war zurückhaltend:
„Ein Buch wäre nötig, um alle Mißverständnisse auf-
zuklären, welche Emil Schiff in seinem Auf satze „Antike,
Renaissance und Bildung** (im „Zeitgeist** Nr. 12) zor-
nig vereinigt hat. Die Leser hätten jedoch wohl schwer-
lich Lust, dieses Buch zu lesen. Um so weniger, als
meine Überzeugung von dem schließlichen, ja von dem
baldigen Siege einer ungriechischen Schulbildung mich
verhindern würde, in meiner Gegnerschaft persönlich
zu werden. Die Bewegung für eine moderne Grundlage
unserer Schulbildung hätte auch keinen sonderlichen
Nutzen davon, wenn ich Herrn Dr. Schiff nachwiese,
daß er auf die griechische Plastik deutet, was ich von
der griechischen Malerei gesagt habe, daß er den Ernst
meines „ Kampf artikels** offenbar nicht begreifen wollte,
daß er auf den Gegensatz zwischen antiker und moder-
ner Weltanschauung gar nicht eingegangen ist. So will
ich nur den Punkt, auf den es ankommt, deutlicher
herausheben.
Über die historische Bedeutung der griechischen
Kultur kann ein Streit nicht bestehen ; wir wissen alle,
280
was Wissenschaft und Kunst der europäischen Kultur-
völker der Antike und der Renaissance verdanken. Und
über den Geschmack zu streiten, wird uns nicht ein-
fallen. Ich hatte meinen Liebling Anzengruber ins
Treffen geführt. In seinem „Pfarrer von Kirchfeld'*
ist das Hauptmotiv die Sorge um ein ehrliches Begräb-
nis, beinahe wie in der „Antigone** des Sophokles; in
seinen „Kreuzlschreibern** hat er gar das Hauptmotiv
aus der „Lysistrate'* des Aristophanes neu behandelt.
Herr Dr. Schiff muß nun zugeben, daß Anzengruber
uns verständlicher sei. Das allein habe ich behauptet;
nur daß ich allerdings verständlich nenne, was die
Sprache unserer Zeit spricht, und den lebendigen Kul-
turwert jeder anderen Sprache, jeder toten Sprache
leugne.
Der Kern der Frage besteht darin, ob wir gut daran
tun, in gefährlicher Pietät unsere gesamte Bildung im-
mer noch zu stellen auf die gelehrte Beschäftigung mit
einem alten, fremden Volke. Und dies eine sollten wir
gewiß von den Griechen lernen: selbständig und na-
tional sein. Auch die Kultur der Griechen war ihnen
nicht vom Monde heruntergefallen. Aber nur einzelne
Forscher machten deshalb Reisen nach Indien und
Ägypten. Die höchste Bildung der griechischen Jugend
war national. Weder Achilleus noch Homeros, weder
Perikles noch Sophokles hatten Lateinschulen besucht.
Piaton selbst verlangte von den Studenten seiner Hoch-
schule nicht philologische, sondern mathematische Vor-
bildung. Waren die Griechen zu wenig historisch ge-
schult, so sind wir es zu sehr.
Mit wenig Glück hat Emil Schiff Goethes Elegie
„Also: das wäre Verbrechen, daß einst Properz mich
begeistert** gegen mich zitiert. Zunächst will Goethe
281
mit diesen schönen Versen nicht seine klassischen Stu-
dien verteidigen, sondern seine Nachahmungen über-
mütiger und obszöner römischer Dichter ; sodann wen-
det sich sein Angriff (in unmittelbarer Fortsetzung des
Xenienkampfes) im Namen des lebendigen Geschlechts
gegen „die wohlweisen Herren Moderatisten**, wie
Schiller in seiner Antwort die ängstlicheren Gegner
nannte. Goethe selbst sagt gleich nach den von Herrn
Dr. Schiff abgedruckten Versen:
„Ja sogar der Bessere selbst, gutmütig und bieder.
Will nichts anders . . •
Erst die Gesundheit des Mannes, der endlich vom
Namen Homeros
Kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn I **
Herr Dr. Schiff hält mich für einen Barbaren. Viel-
leicht wird er milder gestimmt, wenn ich ihm einen
lateinischen Vers aufsage. Ovid war es, der in seiner
Verbannung unter barbarischen Völkerschaften leben
mußte, die seine Sprache nicht verstanden, und die
darum, von ihrem Standpunkte ganz mit Recht, den
römischen Dichter für einen Barbaren erklärten. Das
spricht Ovid in dem Galgenhumor seiner Klagelieder
aus: Barbarus hie ego sum, quia non intelligor ulli.
Weil sie mich nicht verstehen, nennen sie mich hier
einen Barbaren."
Wieder einige Jahre später (i. August 1900) hatte ich
über eine Neuaufführung des ,,ödipus'* zu berichten.
Ich hatte einmal geschrieben:
„Seit Friedrich Wilhelm IV.hören ja in Spree-Athen die
Versuche nicht auf, grichischen Geschmack zu heucheln,
282
Nach Äschylos kam im Berliner Theater Sophokles
an die Reihe und mit ihm natürlich Licht und Klarheit,
Kraft und Schönheit der hellenischen Welt. Von seinen
Werken ist in unserem Jahrhundert die „Antigone**
am häufigsten aufgeführt worden, teils der niedlichen
Musik wegen, teils um der romantischen Liebe willen,
welche moderne Übersetzer hineinübersetzt haben.
Im Berliner Theater kam ,, König Ödipus'' zur Auf-
führung, welcher die ,,Antigone'' an bühnentechnischer
Vollendung und darum an unmittelbarer Wirkung ent-
schieden überragt. Schillers beinahe neidische Bewun-
derung des Dramas galt dieser Technik, welche im
„König ödipus'* ein Virtuosenstück geliefert hat, wo-
gegen weder die raffiniertesten Erfindungen Sardous,
noch die aufgedröselten Handlungen Ibsens auf-
kommen können. Ibsen hat in den ,, Gespenstern**
und in ,,Rosmersholm** bewiesen, wie fruchtbar eine
Komposition werden kann, die nur langsam Vergan-
genes enthüllt; aber so wie Sophokles im „König ödi-
pus'* hat nie wieder ein Dichter seine Zuhörer einfach
durch verlangsamtes Emporziehen des Vorhanges zu
spannen und zu erschüttern verstanden. Diese Technik
ist so meisterhaft, daß wir eine Zeitlang das Milieu
eines barbarischen Altertums mit in den Kauf nehmen»
Wir lassen es eine Weile gelten, daß Orakelsprüche uns
so mächtig wie Naturkräfte vorgestellt werden ; unsere
Nerven nehmen die ganzen rückwärts gelegenen Hand-
lungen von Blutschande und Vatermord geduldig hin.
Die unvergleichlich geführte Intrige nimmt uns ge-
fangen, und wenn ein Dichter unserer Zeit imstande
wäre, diesem Unterbau als Krönung einen menschlichen
Schluß aufzusetzen, so wäre unter allen antiken Tra-
gödien der „König Ödipus'* noch am ehesten für die
283
lebendige Bühne zu retten; doch die Kluft zwischen
dem antiken Empfinden und dem unseren ist wohl nicht
mehr zu überbrücken. Wenn am Ende des Stückes in
altmodischen Botenberichten die Palastgreuel herer-
zählt werden, und der Dichter ganz ohne Scheu vor
unseren Augen die Fäden knüpft, an welche eine zweite
Tragödie gebunden werden soll, so fängt der ehrliche
Bildungsphilister heimlich zu gähnen an, und der un-
bestochene Mensch, der gegen den alten Sophokles keine
persönliche Verpflichtung fühlt, hört plötzlich ganz
leise aus den feierlichen Versen einen Bänkelsängerton
heraus, der an gräßliche Moritaten erinnert.**
Dem fügte ich jetzt hinzu:
„Ich wiederhole alle diese für Philologenherzen un-
erträglichen Sätze, weil auch in der gestrigen Nach-
mittagsvorstellung dieselbe Grundstimmung zurück-
kehrte, trotzdem ich niemals eine bessere, eine weihe-
vollere Sophoklesaufführung gesehen habe. Der volle
Glanz einer antiken Festfeier lag über dem ersten Teile
des Dramas, ödipus weiß noch nicht, daß er Vatermör-
der und Blutschänder ist; mit blinder Hast forscht er
nach der Wahrheit, die ihn vernichten wird. Die ab-
geklärte überlegene Weisheit, die klassische Schönheit
der Chorgesänge, das strömt wie Sonnenstrahlen eines
Frühlingstages auf uns nieder. Etwas Zerschmetterndes
liegt anfangs in dem unbeugsamen Ratschluß der Götter,
von denen wir nichts mehr erbitten, die uns aber als
Symbole des Unbekannten, des Übermenschlichen er-
scheinen. Enger und enger legen sich die Schlingen um
das Opfer der Orakel. Das Grausen wächst. Da plötzlich
erblicken wir den armen ödipus neben seiner Frau, die
seine Mutter ist; man unterhält sich in feinen Versen
über Entsetzlichkeiten, die nur die Phantasie einer vor-
284
historischen Barbarei erfinden konnte; wir empören
uns dagegen, daß ein völlig unschuldiger, höchstens
ein bißchen jähzorniger Mensch von den Göttern oder
vom Schicksal oder vom Priesterorakel zertreten wird,
wie wir nicht einen Wurm zertreten möchten. Und wir
gehen nicht weiter mit. Doch vielleicht ist die Einzahl
in diesem Falle bescheidener, also : ich gehe nicht weiter
mit. Das ist nicht Seele von unserer Seele; das ist
kein Gebilde unserer Phantasie; das ist nicht unsere
Sprache, das ist eine tote Sprache. Die Tragödie von
ödipus ist die Ahnfrau aller Schicksalstragödien; be-
wundernswert als ein Denkmal aus der herrlichsten
Zeit der Kunstgeschichte, und doch unseren Schick-
salen fremd geworden. Es gibt solche antike Tempel,
die keine Ruinen sind, deren Steine noch unversehrt
übereinanderliegen, in denen wir trotzdem nicht beten
können, in denen wir höchstens pietätvoll umherwan-
dern wie in einem Museum — einem Museum verstor-
bener Weltanschauungen. Auch für den Bund zwischen
dem Dichter und dem Hörer heißt es wie für eine ideale
Ehe: Dein Gott sei mein Gott! Und der große Pan mit
den anderen Göttern Griechenlands ist tot. Weiß man
es wirklich noch nicht ? . . .
Einen eigenen Genuß bot die Übersetzung, deren Ur-
heber Professor v, Wilamowitz-Möllendorf ist, be-
kanntlich ein sehr geistreicher Herr und ein Philologe
ersten Ranges; dennoch konnte es überraschen, wie
modern mancher Gedanke wiedergegeben war. Man
wurde mitunter an Mommsens Prosa erinnert. Wenn
ein Urteil ohne genaue Vergleichung gestattet ist, so
haben wir es nicht mit der wohlklingendsten, dafür
aber mit der sinntreuesten Übersetzung des Werkes
zu tun ; wenn irgend jemand imstande wäre, das grie-
285
chische Theater wieder lebendig zu machen, so wäre
es Professor v. Wilamowitz-Möllendorf.
Es ist nur wenige Wochen her, da stand ich einmal
bei Sonnenuntergang zwischen den Ruinen des alten
Theaters, in welchem der ,,ödipus** vor zweitausend-
undsoundsoviel Jahren zum ersten Male aufgeführt
worden ist. Ich versichere, daß dort wie oben auf der
Akropolis alle Schauer der Pietät sich meiner bemäch-
tigten. Ich dachte . . . na, es wird niemand danach
fragen. Ich schritt dann in der Dämmerung von der
Totenstadt Athen nach dem lebendigen Athen der Gegen-
wart hinüber. Am Gitter des königlichen Gartens stürz-
ten mir griechische Straßenjungen entgegen, schwan-
gen ein Zeitungsblatt in der Luft und schrien in der
etwas verunstalteten Sprache des Sophokles: Megal-
katastrophi ton Anglon! (Große Niederlage der Eng-
länder!) Das Blatt hieß „Akropolis**, und die Griechen
im Kaffenion unterhielten sich nicht über die Perser-
kriege, sondern über den Burenkrieg. Als gestern der
,, König ödipus** vorüber war, hörte ich gleich in der
Charlottenstraße die megali katastrophi der Buren be-
klagen, auf deutsch natürlich. Vor zweitausendund-
soundsoviel Jahren hat man in Athen gewiß lange Zeit
von nichts anderem gesprochen als vom König Ödipus.
Die Nutzanwendung?
Die Griechen der großen Zeit verdienen es sicherlich,
unsere Lehrer zu heißen, wie in so vielen Dingen, also
auch in der Poesie. Es kommt nur darauf an, was wir
von ihnen lernen wollen. Hätten die Griechen, wie wir
das seit fünfhundert Jahren treiben, sklavisch ihre
Vorgänger nachgeahmt, so hätten sie irgendwelche
asiatischen oder ägyptischen Stilarten beibehalten oder
eingeführt. Die Griechen aber stellten sich auf ihre
286
eigenen Füße, schufen sich mit ihrem unerhörten Genie
eine Heimatkunst, eine .Gegenwartkunst. Das ist es,
was wir von ihnen lernen sollten, wenn sich nur das
zugehörige Genie gleich mitlernen ließe. Die Griechen
waren vor allem Griechen ; wir ahmen sie also am be-
sten nach, wenn wir ganz und gar nicht mehr griechisch
sind, wenn wir als Deutsche eine Heimatkunst, eine
Gegenwartkunst zu gewinnen trachten.**
'Und diesmal trat Friedrich Dernburg, der Freund auch
von Karl Frenzel, für die Antike gegen mich in die
Schranken, sehr verbindlich übrigens und natürlich
scharmant in der Form. Ich mußte wieder antworten.
Ich tat es am 8. März 1900.
,,Der verbesserte Sophokles.
Lieber Dernburg! Ich habe jüngst Ihren Aufsatz
„Der Gott der Schlachten** mit dem gewohnten Ver-
gnügen gelesen, trotzdem ich an einer Stelle verwundert
innehalten mußte. Da ist man Freund und Nachbar
in der Zeitung und im Grunewald, da lernt man sich
durch Aussprache über Gott und die Welt, durch gemein-
same unglückliche Liebe zur Musik und zu dem und
jenem kennen, und nachher ist noch ein solches Mißr
Verständnis möglich. Sie trauen mir zu, ich hätte unter
dem „Menschlichen*', das ich im ,, König Ödipus*' ver-
misse, die alte schale ,, poetische Gerechtigkeit** ver-
standen. Am Ende gar einen glücklichen Ausgang?
Verlobung und Hochzeit der Antigene ? Sie sollten doch
wissen, daß ich nicht ganz so optimistisch empfinde,
und daß ich für den Ernst in der Kuiist einigen Sinn
habe oder auszubilden mich bemühe. Wirklich, ein
287
blutiges Drama von Sophokles oder Shakespeare steht
mir höher als irgendeins unserer Possenlustspiele, und
wenn dieses zu drei, ja wenn es zu vier Verlobungen
führte. Dessen versichere ich sie. Vor der alten poe-
tischen Gerechtigkeit habe ich sehr wenig Hochachtung ;
uns Schülern von Otto Ludwig, uns Verehrern von
Kleist und Hebbel ist die dichterische Darstellung von
großen oder starken Charakteren und ihren notwen-
digen Schicksalen wertvoller als die poetische Gerech-
tigkeit, die Schuld und Sühne auf einer Apothekerwage
abwägen möchte.
Was der Empfindung, was der Sprache der grie-
chischen Dichter fehlt, das wird vielleicht klarer wer-
den, wenn Sie mir gestatten, auf Ihre liebenswürdige
Neckerei öffentlich zu antworten und dabei den Finger
auf den Hauptpunkt zu legen. Was uns trennt, das ist
eine Glaubensfrage. Sie glauben an die absolute, ich
möchte fast mit Lessing sagen : mathematische Muster-
gültigkeit und Unfehlbarkeit der griechischen Poetik.
Ihre weite Bildung flüchtet aus den literarischen
Kämpfen der Gegenwart gern zu den stillen Altären grie-
chischer Tempel ; ich schaue dem gegenwärtigen Kampfe
bald lachend, bald hoffnungsvoll zu und halte die Un-
fehlbarkeit der Griechen für einen Aberglauben. Da
wir über die Verwerflichkeit des lateinischen Molochs,
dem die Schulkinder zum Opfer fallen, eines Sinnes sind,
so erwarte ich Sie noch einmal als klügeren und glück-
licheren Mitkämpfer im Streite gegen die toten Symbole
von Hellas. Vorläufig ist es Ihnen ein Spott, wenn Sie
von einem verbesserten Sophokles reden; ich aber be-
greife gar nicht, warum ein griechischer Klassiker nicht
von einem modernen Dichter verbessert werden könnte.
Vor hundertfünfzig Jahren erschien Corneille dem euro-
288
päischen Geschmacke ebenso mustergültig wie Sopho-
kles. Das hinderte unseren Lessing nicht, in dem erregten
letzten Stücke seiner Hamburgischen Dramaturgie aus-
zurufen: „Ich wage es, hier eine Äußerung zu tun, mag
man sie doch nehmen, wofür man will I Man nenne mir
das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser
machen wollte. Was gilt die Wette? — **
Sie sind auch ohne meine Bestätigung überzeugt, daß
ich kein Lessing bin ; aber ich habe auch nicht behaup-
tet, daß ich den ödipus vermenschlichen wollte. Ich habe
es irgendeinem Dichter unserer Zeit anheimgestellt.
Die französischen Tragiker sind von unseren Bühnen
verschwunden, weil sie uns nichts mehr zu sagen hatten ;
die ungleich größeren griechischen Tragiker will man
uns immer wieder aufdrängen, trotzdem nur ein gründ-
liches philologisches und kulturhistorisches Wissen sie
recht verstehen kann, trotzdem sie uns nichts mehr zu
sagen haben, trotzdem wir die meisten ihrer Gefühle
nicht mehr fühlen, die meisten ihrer Gedanken nicht
mehr denken können. Ihre Sprache ist für uns eine
tote Sprache geworden, seitdem ihre Symbole uns tote
Symbole sind ; ich nenne es einen verbesserten Sophokles,
wenn ein Dichter den Glanz des Altertums dadurch in
unseren Besitz herüberrettet, daß er neu belebt, was
tot ist an den Dichtern von Hellas und Rom. Erinnern
Sie sich freundlichst, daß das doch öfter geschehen ist,
als die alleinseligmachende Kirche der Philologen zu-
zugestehen geneigt ist ; wobei ich allerdings um die Er-
laubnis bitte, Sophokles als Vertreter der gesamten An-
tike auffassen zu dürfen.
Um nun das stolzeste Werk gleich zu nennen, er-
innere ich zuerst an Goethes „Iphigenie**. Man muß
dieses lichte Drama mit der „Iphigenie'* des Euripides
19 289
vergleichen, nicht bloß auf den Stoff hin, um ganz be-
wundern zu können, wie Goethe die antiken Gestalten
vermenschlicht hat. Bei Euripides hat Iphigenie einen
einzigen weichen Zug; sie möchte den König Thoas
nicht ermorden, sie könnte das nicht. Bei Goethe wird
sie zum Weibe, zu einer hoheitsvollen Priesterin, der
dennoch nichts Menschliches fremd bleibt. Und wie
tief und rein löst sich das Gemütsleiden des Orestes in
seiner unbeschreiblich schönen Vision nach dem An-
fall der Verzweiflung, während bei Euripides der von
den Eumeniden verfolgte Orestes nichts Besseres zu
tun weiß, als nach der antiken Schablone in der Wut
Hammelherden anzufallen. Nebenbei bemerkt, auch
Ihr Freund, der von mir nicht minder verehrte Sophokles
läßt seinen rasenden Aias (der Ratschluß der Götter
hat ihn verrückt gemacht) im Wahnsinn auch nur
Herden und Hirten angreifen. Das wenigstens werden
Sie zugestehen, daß die Psychologie der Geisteskrank-
heiten seitdem Fortschritte gemacht hat.
Goethe wußte oder ahnte, was er der griechischen
Fabel aus Eigenem gegeben hatte. Vierzig Jahre nach
der Vollendung des Dramas schrieb er an den Berliner
Freund anläßlich einer Neuaufführung des Stückes:
„Was soll mir die Erinnerung der Tage, wo ich das
alles fühlte, dachte und schrieb?" Weil er den Euri-
pides nicht philologisch kopierte, weil er fühlte und
dachte, darum können wir mit seiner Iphigenie noch
fühlen und denken. Ich meine, man könnte das eine
Verbesserung des berühmten Euripides nennen, den
Sokrates und Aristoteles und Lessing (verzeihen Sie
mir den Schulstaub, der leise aufwirbelt) als den tra-
gischsten von allen tragischen Dichtern noch über
Sophokles gestellt haben.
290
Auch Kleist fühlte und dachte mit seiner Heldin, als
er den „Amphitryon** des lustigen alten Plautus in das
wunderherrliche Märchenstück verwandelte, das wir vor
wenigen Tagen gesehen haben. Bei Plautus erscheint
am Schlüsse, genau so wie in der griechischen Iphigenie
und im rasenden Aias, die sprichwörtlich gewordene
Gottheit in der Wolkenmaschine. Wir müssen uns die
Brutalität gefallen lassen, daß Jupiter berichtet, Alk-
mene habe in einer Niederkunft zwei Söhne geboren,
der eine sei der Sohn des Jupiter, und Amphitryon möge
mit seiner Frau in das frühere Verhältnis treten. Was
sind diese Possenfiguren des Römers gegen die Ge-
schöpfe Kleists, die alle Qualen und Seligkeiten des
Menschen in ihrer armen Seele erleben ! Ich meine doch,
Kleist hat den Plautus und dessen griechische Vor-
bilder verbessert, da er die Molieresche Bearbeitung
des Plautinischen Lustspiels fortentwickelte.
Da gerade von Plautus die Rede ist, so werden Sie
gewiß erwarten, nun an Lessings tragischen Einakter
„Philotas" gemahnt zu werden, der aus einer Comedie
larmoyante des römischen Lustspieldichters entstanden
ist. Aber da sollen Sie sich einmal geirrt haben. So pe-
dantisch will ich doch nicht sein, um Lessings gar nicht
so einfaches Verhältnis zum Altertum mit Ihnen durch-
zusprechen. Auch gehörte dazu eine Reihe von langen
Winterabenden.
Da ist aber noch Grillparzer, zu dessen Verehrung
ich Sie so gern ganz bekehren möchte, der raunzend
achtzig Jahre alt geworden ist und dennoch den Namen
eines österreichischen Kleist verdient. Grillparzer hat
uns Hero und Sappho verstehen gelehrt. Zu unserer
Auseinandersetzung gehört aber zunächst seine , , Medea* * ,
weil für die kindermordende Hexe eine griechische Tra-
19* 291
gödie zur Vergleichung vorliegt. Mit fester Hand hat
Grillparzer den unerträglichen Wunderapparat der an-
tiken Bühne beiseitegeschoben, hat er die blutigsten
Greuel fortgeworfen. Aus der schrecklichen und bar-
barischen Zauberin wird eine leidenschaftliche, ver-
schlossene herbe Natur, die an die germanische Brun-
hild erinnert. Aus psychologischen Motiven, die wir
nachempfinden können, steigt vor uns ein neues Drama
auf. „Alle Medeen der tragischen Bühne alter und neuer
Zeit treten gegen Grillparzers Medea in den Schatten,
denn alle sind nur einseitig, äußerlich gefaßt, diese
innerlich erschlossen.'* Das sagt nicht etwa ein Tempel-
schänder und Bilderstürmer, das sagt der ruhige Literar-
historiker Karl Gödeke. Grillparzers Medea weiß ein
Lied, ein Volkslied; die griechischen Heroinen sangen
keine Lieder.
Grillparzers genialer Landsmann, der immer noch
nicht (auch von Ihnen nicht) nach seiner ganzen Kraft
gewürdigte Anzengruber, hat in seinen „Kreuzel-
schreibern'* eine der köstlichsten Possen des Altertums
umgeschaffen, die „Lysistrata** des Aristophanes. Lesen
Sie doch den Auftritt, in welchem ein alter Mann die
Trennung von seiner alten Frau beklagt, wo Anzengru-
ber die Tragödie mitten in seine prachtvolle Posse hin-
einragen läßt, und sagen Sie selbst, ob das nicht die
riesenhaften Zoten des übrigens nicht genug zu preisen-
den Aristophanes übertrifft. Und damit Sie wieder etwas
zu necken haben, will ich auch Anzengruber mit
Sophokles zusammenstellen. In „Antigone** wie im
„Pfarrer von Kirchfeld'' wird zuletzt der Kampf um
ein kirchliches Begräbnis ausgefochten, das das
geschriebene Gesetz verweigert, das das ewig unge-
schriebene Gesetz der Menschlichkeit bewilligt. Sopho-
292
kies spricht da einmal beinahe unsere Sprache; doch
nur einmal und nur beinahe. Anzengrubers Pfarrer hat
es besser gemacht.
Aber ich will das Wort vom verbesserten Sophokles
nicht zu Tode hetzen. Sie haben es spöttisch gebraucht,
ich habe es im Scherze angenommen; im Ernste will
ich auch nicht behaupten, daß ein Dichter einen ande-
ren Dichter jemals ,, verbessert*^ habe. Wir verstehen
ja beide, um was es sich mir handelt. Darum: daß es
auch in der Poesie eine Entwicklung gibt, daß Stoffe
und Formen, die vor Jahrtausenden die höchsten Lei-
stungen darstellten, in der Umgebung einer späteren
Zeit nicht mehr lebensfähig sind, nicht mehr lebendig
sein können, daß jede Zeit nur ihre eigene Sprache ver-
steht. Nicht eine schulmeisterliche Abschätzung alter
und neuer Dichter hatte ich im Sinne. Wer wollte das
versuchen.^ Wir besitzen keine gleichen Maßstäbe für
Sophokles und für Goethe, für Plautus und für Kleist.
Niemand kann seine Geliebte mit der Frau vergleichen,
die sein Urgroßvater geliebt hat. Und wehe dem, der
die Geliebte des Urgroßvaters für schöner hält ; er wird
an seiner eigenen nicht die rechte Freude haben.
So ein Ideal des Urgroßvaters ist auch das griechische
Schicksal, das nur von außen stößt; wir haben es er-
setzt durch eine andere eherne Notwendigkeit, durch
die psychologische Notwendigkeit des Charakters, die
man auch die Unfreiheit des menschlichen Willens
nennt. Das wäre wieder etwas für einen endlosen Winter-
abend, und der Frühling ist nicht mehr weit, wie wir
trotz alledem und alledem glauben wollen.
In dieser Hoffnung und mit den schönsten Grüßen
von Haus und Garten zu Haus und Garten Ihr usw."
293
Immer handelte es sich bei diesen Gegensätzen um
ein Verkennen meines Ziels. Ich schlage die persönliche
und die historische Bedeutung der wahrhaft großen
Griechen wirklich nicht weniger hoch an, als ein be-
geisterter Oberlehrer es tut. Ich will nur nicht, daß ihre
Herrschaft — einst so segensreich — über ihr natür-
liches J Leben hinaus durch die Ruhmschablone der
Schule Jund durch die Ruhmpotenzierung des Alters
übermäJ3ig verlängert werde; unsere Knaben sollen
die Griechen mit eigenen Augen sehen lernen, nicht
durch die Brillen der Klassikerpriester. Was in der
Kunst morsch ist, zum Fallen bereit, das soll man ganz
gewiß stoßen.
294
m. {zu Seite 112).
Weil die Gestalt des jüdischen Cagliostro, Jakob
Franks, das Jugendleben und damit die Geistesrichtung
meines Großvaters entscheidend bestimmte, weil ich
selbst als Knabe durch Tatsachen und Legenden, die
meine Mutter über die Beziehungen meines Großvaters
zu Frank zu erzählen wußte, gründlich aus jeder
Religionsgemeinschaft hinausgestellt wurde, weil dieses
Abseitsstehen mir für meine Entwicklung wichtig
scheint, darum möchte ich an dieser Stelle einfügen,
was ich viel später, namentlich aus den Schriften von
H. Graetz, erfahren habe. Der Geschichtschreiber des
Judentums verrät einen fanatischen Haß gegen den
Ketzer, gegen den abtrünnigen Frank; sein Urteil ist
zum mindesten einseitig und seine unzähligen Schimpf-
wörter überflüssig; aber er teilt zuverlässige histo-
rische Quellen mit, durch die ich manche Legenden
und Irrtümer meiner Mutter berichtigen konnte. Da
mein Großvater über diese Dinge auch zu seinen Kin-
dern niemals sprach, konnte sich meine Mutter nur
auf sehr lückenhafte Äußerungen ihrer Mutter berufen;
dazu mochte gekommen sein, daß meine Mutter die
Verherrlichung Franks durch August Becker (in sei-
nem Romane „Des Rabbi Vermächtnis**) und die viel
geringernTRomane, deren Helden die Sabbatianer wa-
29s
Ten (von Storch und, wenn ich nicht irre, vonBäuerle),
mit unkritischer Andacht gelesen hatte und die Erfin-
dungen der Dichter und Schriftsteller mit ihren Er-
innerungen vermischte.
Ich habe Cagliostro genannt, weil eine schlagende
Ähnlichkeit in den Lebensläufen des Italieners und
des galizischen Juden besteht; beide passen besser,
als man gewöhnlich glaubt, in die wundersüchtigen
Unterströmungen der Aufklärungszeit hinein; wäh-
rend aber der berühmtere, sogar von Goethe in Poesie
umgewandelte Abenteurer im wesentlichen doch nur
ein genialer Schwindler war, sicherlich ohne Glauben
an seine magischen Kräfte, liegt dem Tun des Aben-
teurers Frank ursprünglich eine tiefe religiöse Überzeu-
gung zugrunde: die Abkehr vom Talmudjudentum,
der Glaube an den Sohar (das Grundbuch der Kabbala)
und an den wahren Messias Sabbatai Z'wi. Bei dem
häßlichen, ungebildeten Juden ist es viel merkwürdiger
als bei dem schönen, vielfach unterrichteten Cagliostro,
daß er mit Königen|und Fürsten zu tun|hatte und sich
ungestraft den Adel beilegen konnte.
Frank hieß eigentlich Jakob Lejbowicz; er war im
südlichen Galizien um das Jahr 1720 geboren. Die Hoff-
nung seines Vaters, ihn zu einem tüchtigenjTalmu-
disten zu erziehen, schlug fehl ; er rühmte sich später,
unwissend geblieben zu sein, ein Amhorez. (Ich habe
in meinem „Wörterbuch der Philosophie** I, 138 die
Reihe von Lehnübersetzungen, die von diesem jü-
dischen Scheltworte zu ,, Heide** führt, darzustellen
gesucht; im Sprachgebrauche der Juden bedeutet es
so viel wie „Idiot**). Noch in jungen Jahren kam er im
Dienste eines jüdischen Händlers nach den Balkan-
ländern und nach Kleinasien, wo er zu Vermögen ge-
296
kommen sein soll ; er heiratete und hatte zwei Söhne,
bald nach 1750 ; wichtiger ist, daß er in Saloniki zu der
Sekte der Sabbatianer übertrat. Kurz muß daran er-
innert werden, daß der Stifter dieser Sekte, eben Sab-
batai Z'wi, trotz seines (erzwungenen) Übertritts zum
Mohammedanismus bei seinen Anhängern für den
Messias, für den Gottmenschen galt, der sich zuerst in
Jesus, dann in Mohammed, zuletzt in Sabbatai ver-
körpert hätte; eigentlich nicht zuletzt, denn die Seele des
Messias wäre auf die Abkömmlinge Sabbatais über-
gegangen, denen wie Heiligen gehuldigt wurde. Die Sab-
batianer verwarf en das alte Judentum, beteten eine selt-
same Dreieinigkeit an, in welcher der heilige Geist durch
eine weibliche Gottheit ersetzt war, und sollen — es
wird ihnen, wie so vielen christlichen Ketzern, grenzen-
lose Unkeuschheit vorgeworfen — aus der Bibel nur
das erotische Hohelied übernommen haben. Im Orient
allein schätzte Niebuhr die Zahl der Sabbatianer zu
Lebzeiten Franks auf 600 Familien^).
1) über Sabbatai Z'wi finde ich einige lesenswerte, von mir nicht nagh-
geprüfte Mitteilungen in den „Jüdischen Briefen" des Marquis d'Argens;
die Bewegung zu seinen Gunsten, namentlich während seiner Gefangen-
schaft, hat die größte Ähnlichkeit mit dem Eifer der Anhänger Franks.
Sehr lustig ist die Geschichte von einem zweiten Messias, einem armen
Teufel namens Cohn, der sich mit Sabbatai über ihre beiderseitigen An-
sprüche vertragen wollte; sie fingen aber bald zu zanken an, der eine
drohte den andern abzusetzen und es gab schließlich eine weidliche Prü-
gelei. Ich erwähne aber die „Jüdischen Briefe" hauptsächlich darum, weil
ich (im 53.) eine Stelle gefunden zu haben glaube, die wohl mit zu den
äußerlichen Quellen von Lessings Nathan gehören dürfte. Ich lege auf
solche Dinge keinen Wert, weil sie den Schatz nicht mehren können. Nach
d'Argens hätten um das Jahr i6oo die Muftis von Ispahan ihren Sofi
Schach Abbas aufgefordert, die Vorschriften des Koran anzuwenden: die
Juden müßten entweder die Lehre Mohammeds annehmen oder ausgerottet
werden. Der Sofi ließ die Juden kommen und befragte sie zu ihrer nicht ge-
ringen Verlegenheit nach ihrer Meinung über Mohammed. Sie antworteten aus-
weichend, mußten zwei Millionen Gold zahlen und dann noch die Zeit be-
stimmen, binnen welcher ihr Messias kommen müßte. Als sie in ihrer Be-
297
In Polen lebten damals, zum Teil ohne jeden Zu-
sammenhang mit den Sabbatianern, sehr viele An-
hänger der Kabbala, die denn auch von den orthodoxen
Rabbinern mit den fürchterlichsten Bannflüchen be-
legt wurden, und von denen noch hundert Jahre später
Graetz Schauergeschichten zu erzählen weiß ; die schö-
nen Veröffentlichungen von Martin Buber lassen uns
über diese inbrünstigen Kabbalisten jetzt anders den-
ken. Lejbowicz, der in der Levante natürlich für einen
Franken galt und den Namen Frenk oder Frank an-
genommen hatte, reiste nach Polen, angeblich von
dem Propheten Elias oder von Gott selbst besonders
dazu aufgefordert. In Podolien glückte es ihm, trotz
seiner unansehnlichen Erscheinung und trotz seiner
mangelhaften Sprache (er hatte das Polnische ver-
gessen, redete das Kauderwelsch, das man noch heute
die Lingua franca nennt, und mußte sich eines Dol-
metschers bedienen) für den neuen Gottmenschen, für
den wiedergebornen Messias gehalten zu werden. Die
Sekte der Frankisten war damit entstanden. Aber schon
nach kurzem Leben (1756) eröffneten die Rabbiner
eine Ketzerverfolgung gegen sie; mit Bannflüchen
wurde nicht gespart; und weil man nicht verbrennen
konnte, wurden die Frankisten eingekerkert; auch
Frank selbst. Er konnte jedoch nach Bessarabien ent-
fliehen und veranlaßte seine Gemeinde von dort aus,
sich dem Bischof gegenüber, der die ganze Sache in-
stürzung antworteten, das könnte jeden Tag geschehen, gab ihnen der Sofi
70 Jahre, nach deren Ablauf, wenn der Messias nicht käme, sie als Betrüger
entlarvt und zu verjagen wären. (Ich vermute, daß diese Drohung das Auf-
treten des Sabbatai beeinflußt hat.) Sollte es ein Zufall sein, daß schon auf
dem nächsten Blatte der jüdischen Briefe unter den Rabbinen aus dem ersten
Gefolge des Sabbatai Z'wi als der Angesehenste ein Jude genannt wird,
der für sehr klug, tugendhaft und vornehmlich sehr demütig gehalten wurde
und der den Namen Nathan trug?
298
zwischen vor sein geistliches Gericht gezogen hatte,
darauf zu berufen : daß sie den Talmud verleugneten,
daß sie an eine Dreieinigkeit und an eine Menschwer-
dung Gottes glaubten. Frank scheint den Bischof per-
sönlich beeinflußt zu haben; jedenfalls hoffte der gute
Kirchenfürst, die Juden mit Hilfe der Kabbala in den
Schoß der Kirche hinüberführen zu können; er ließ
die Gefangenen frei und gestattete ihnen, sich in der
Nähe seiner Residenz niederzulassen. Es wird schon
richtig sein, daß die Frankisten des Bischofs Gunst
wahrnahmen, um sich an den orthodoxen Rabbinern
und an ihren übrigen Verfolgern zu rächen; Graetz
behauptet, die Antitalmudisten hätten das Märchen
von den geschlachteten Christenkindern neu aufge-
bracht.
Der Bischof von Podolien hielt treu zu seinen guten
Frankisten, als er im folgenden Jahre (1757) zum Erz-
bischof von Lemberg eingesetzt wurde. Eine seiner
ersten Amtshandlungen war es, ein öffentliches Reli-
gionsgespräch zwischen den Talmudisten und den Anti-
talmudisten zu veranstalten. Es mag eine tolle Posse
gewesen sein. Die Orthodoxen mußten sich bei hohen
Geldstrafen einstellen, wagten es wahrscheinlich nicht,
den christelnden Sätzen der Frankisten deutlich zu
widersprechen, und dürften einander in ihrem Jargon
jedesfalls wissenschaftlich nicht klar geworden sein.
Offenbar zogen die Rabbiner den kürzern. Die nächste
Folge war, daß die Exemplare des Talmud mit Zustim-
mung des Bischofs allerorten unflätig behandelt und
verbrannt wurden. Doch bald darauf starb der Bischof,
der päpstliche Nuntius zog den Judenstreit vor sein
Forum und entzog den Frankisten den Schutz der
Kirche. Wieder mußte Frank mit seinen Anhängern,
299
von allen Seiten verfolgt, nach Bessarabien entfliehen.
Ein Versprechen des unfähigen und machtlosen Königs,
das Privilegium des Bischofs von Podolien zu erneuern,
war gegen die Stimmung des Adels und der Geistlichkeit
völlig wirkungslos ; wir stehen im Jahre 1758 und wenige
Jahre später war ja Polen zu der ersten Teilung reif.
In dieser Not entschloß sich Frank, dem neuen Erz-
bischof gegenüber eine Erklärung abzugeben, nach der
die Frankisten in ihrem trinitarischen Glauben den
Papst als Oberhaupt anerkennen wollten. Die Taufe
wurde nicht ausdrücklich versprochen. Der Erzbischof
war noch schlauer als der Jude ; er ließ die Erklärung
drucken, verpflichtete sich aber zu nichts. Auf ein
neues Gesuch (1759), in dem sie vom Könige und vom
Erzbischof Hergabe von Land erbaten (sie würden dort
auf ehrliche Weise ihr Brot verdienen und nicht wie
die Talmudisten die Trunksucht der Bewohner fördern),
bekamen sie von dem bekannten Minister Brühl gar
keine Antwort, vom Erzbischof, der indessen Primas
geworden war, die ungenügende Zusicherung, sie wür-
den gewiß das ewige Heil erlangen, wenn sie sich zum
Evangelium bekennen wollten.
Damit war dem Realpolitiker Frank nicht gedient. Als
der Primas bald nach Gnesen abreiste, verhandelte Frank
mit dem Administrator des Erzbistums Lemberg auf
Grund praktischer Vorschläge : die Frankisten verlang-
ten ein neues Religionsgespräch und wollten nachher
sich der Taufe unterziehen und den römischkatholischen
Glauben annehmen. Gegen den Rat des päpstlichen
Nuntius, der sehr ungünstige und sehr interessante
Berichte über die Antitalmudisten an die Kurie sandte,
gab der Administrator dem Drängen Franks nach. Die
Disputation dauerte drei Tage ; und da kein einziger Teil-
300
nehmer alle drei Sprachen (Polnisch, Lateinisch und He-
bräisch) verstand, gab es wieder eine schwerfällige Ver-
wirrung. Einige Judenverfolgungen blieben nicht aus;
Frank, der mit orientalischer Pracht in einem Sechsspän-
ner nach dem ersten Tage der Disputation erschienen
war, mußte sein Versprechen halten und bewies seine
Macht über die Frankisten dadurch, daß er die eigentlich
Widerstrebenden zur Taufe zwang. Es wird berichtet
(eben in dem Schreiben des Nuntius vom 31. Oktober
1759), daß es ohne die blinde Suggestion (der Nuntius
gebraucht das Wort) nicht klappte, daß die Anhänger,
wenn Frank nicht zugegen war und ihnen nicht zunickte,
den Übertritt verweigerten. Die Kirche mag so gegen
tausend arme Seelen gewonnen haben. Frank selbst ver-
langte und erlangte für sich — der Ausdruck trifft viel-
leicht die Sache — eine Extrawurst. Er wurde zuerst
(19. September 1759) nur ,,halb getauft'' (ich verstehe
die Bedeutung dieses halben Sakraments nicht recht),
seine Taufpaten waren ein Pole von hohem Adel und die
Gattin des allmächtigen Grafen Brühl; die zweite
Hälfte des Sakraments wurde etwa zwei Monate später
in Warschau nachgeholt; der König selbst war Pate;
der Täufling erschien mit fürstlichem, türkisch ge-
kleidetem Gefolge; die Zeitungen jener Tage behan-
delten die Sache wie ein Ereignis. Um diese Zeit wurde
dem Christen Frank ein Töchterchen geboren, das eben-
falls getauft wurde ; auf den Namen Eva.
Franks Unvorsichtigkeit und wohl auch Prahlerei
brachten ihn nach diesem Triumph in neue Gefahr.
Durch die Katecheten der getauften Frankisten und
durch aufgefangene Briefe wurde so gut wie erwiesen,
daß sein Christentum nicht echt war : daß seine An-
hänger ihn nach wie vor für den Messias hielten, so-
301
gar die Wundmale Christi an ihm wahrgenommen
hätten und in der Ehe sich nach jüdischen Gesetzen
richteten. Daß die Anhänger in katholischen Gebet-
büchern anstatt des Namens Jesus den Namen Jakob
gesetzt hätten (übrigens hatte Frank in der Taufe den
Namen Joseph angenommen, ohne später sich so zu
nennen), mag auf die Aussage eines rachsüchtigen
Mannes zurückgehen.
Jetzt schritt (Januar 1760) die Inquisition ein. Unter
Drohungen oder unter der Tortur, man weiß es nicht,
gestand Frank seinen Betrug ein und wurde zu Festungs-
haft verurteilt; Graetz bedauert, daß er nicht hinge-
richtet worden ist.
Dreizehn Jahre lang blieb Frank gefangen, anfangs
in Ketten und sehr hart behandelt. Fluchtversuche
mißlangen. Auch seinen Anhängern ging es schlecht.
Aber sein Ansehen bei ihnen stieg womöglich noch
höher. Die Ketten und die Martern waren ein neuer
Beweis dafür, daß er der Messias war. In seiner Festung,
dem Wallfahrtsorte Czenstochau, tat er Wunder: er
heilte Kranke und ließ Tote auferstehen.
Weltgeschichtliche Ereignisse halfen Frank endlich
aus dem Gefängnis. Schon bei dem Einmärsche russi-
scher Truppen in Galizien hatte er den Versuch ge-
macht, sich als einen Verehrer der griechischen Kirche
und als ein Opfer der katholischen Polen hinzustellen ;
er wäre imstande, zwanzigtausend Anhänger der grie-
chischen Kirche zuzuführen; nach der ersten Teilung
Polens (1772) wurde er wirklich in Freiheit gesetzt.
Und bekam Geld. Woher ihm die großen Summen
kamen, die ihn seit seinem Auftreten als Religions-
stifter außerordentlich reich erscheinen ließen, ist
immer ein Rätsel geblieben. In diesem Falle behauptet
302
Graetz, ohne seine Quellen anzugeben, daß er russi-
scher Spion gewesen sei.
Er begab sich, sofort oder einige Jahre später, nach
Mähren, wo die Frankisten — ebenso wie in Böhmen —
unter den Juden begeisterte Gläubige gefunden hatten.
Hier scheint er als unumschränkter Herr aufgetreten zu
sein ; er verlangte von seinen Leuten stramme Disziplin.
Er nannte sich so, (auf deutsch) ,, heiliger Herr'*. Was er
jetzt lehrte, war ein wunderliches Gemisch von einem
Himmelreich und einer goldenen Zukunft auf Erden.
Die Taufe sei nur die erste Stufe; die zweite Stufe
möchte etwa mit einem konfessionslosen Deismus
gleichzustellen sein ; die dritte Stufe blieb ganz unklar.
Frank wird jetzt auch äußerlich der Fürst der Fran-
kisten; er umgibt sich mit einer militärischen Leib-
wache; arme und reiche Juden, die von überall zu-
strömen, müssen exerzieren und den vom Fürsten er-
nannten Offizieren gehorchen. Mit noch königlicheren
Ehren, ja mit göttlicher Anbetung umgab er seine Toch-
ter, die inzwischen zu einer schönen Jungfrau heran-
gewachsen war. (Auch meine Mutter, die ihr Bild ge-
sehen hatte, sprach von einer wunderbaren Schönheit.)
Im Kreise ihrer adeligen Taufpaten erzogen, hatte sie
überdies Sprache und Benehmen der polnischen Aristo-
kratinnen angenommen. Frank vergötterte seine Toch-
ter in jedem Sinne. Sie hieß bald Eva, bald Emuna (der
Glaube) und galt ihm und seiner Schar für eine In-
karnation der Weltseele. Nur ein König würde ihr
Gatte werden.
Über Franks österreichische Zeit entstanden tolle,
einander oft widersprechende Legenden. Bald sollte
Kaiser Joseph II. Eva haben heiraten wollen, bald
sollte er den Vater verfolgt haben.
303
Endlich (1788) gelang es dem vielleicht schon müden
Abenteurer, ein — ich möchte sagen — bürgerlicher
Grandseigneur zu werden. Der kleine Jude, der nach-
einander Türke, Katholik und russischer Grieche ge-
wesen war, der jetzt über eine nicht anerkannte Sekte
herrschte, kaufte einem deutschen Fürsten, dem von
Homburg-Birstein, sein Schloß in Offenbach ab, mit
den souveränen Rechten eigener Gerichtsbarkeit und
Polizei. Der neue deutsche Standesherr nannte sich:
Baron von Frank, Wir sind im Jahre 1788, kurz vor
dem Ausbruche der großen Revolution. Baron von
Frank lebte auf noblem Fuße. Der Hofstaat bestand
zuletzt aus mehr als tausend Anhängern, die sich aus
Polen, Mähren und Böhmen unter den Befehl ihres
Meisters gestellt hatten und oft namhafte Geldsummen
von ihren gläubigen Vätern mitbrachten. Der Baron
und seine Tochter besuchten mitunter mit großem
Pompe den katholischen Gottesdienst. Aber im Schlosse,
welches kein Unbefugter betreten durfte, herrschten
mystagogische Bräuche; den neuen Ankömmlingen
wurden kabbalistische und wohl auch alchimistische
Geheimnisse vorgemacht, und der Glaube daran ge-
hörte zum militärischen Gehorsam. Es ist charakte-
ristisch für Frank, daß er noch in seinem siebzigsten
Jahre, schwer erkrankt, durch eine gewaltige Finanz-
operation für die Zukunft seiner Tochter sorgte ; seine
Anhänger sollten ihn vor seinem Tode noch einmal be-
suchen und nicht mit leeren Händen kommen; der
Ertrag dieser Steuer wird auf beinahe zehn Millionen
Mark geschätzt.
Frank starb im Dezember 1791 ; sein Leichenbe-
gängnis war prunkhaft. Nach jüdischem Brauche. Kein
katholischer Geistlicher wirkte mit.
304
Es wird angenommen, daß die deutschen Bankiers
Frey, die während der Schreckenszeit in Paris guillo-
tiniert wurden, die beiden Söhne Franks waren.
In Offenbach, wo volle sechs Jahre lang auf die
Auferstehung Franks gewartet wurde, wo aber die
Disziplin sich allmählich lockerte, führte Eva-Emuna
den Hofstaat mit verschwenderischem Luxus weiter.
Gegnerische Schriften machen die Tochter Franks zu
einer Hochstaplerin. Wie Frank selbst die Gerüchte
geduldet oder veranlaßt hatte, er wäre der 1762 angeb-
lich ermordete Zar Peter HL, so galt Eva für eine
natürliche Tochter der Zarin Elisabeth von Rußland.
Tatsache ist, daß just seit dem Tode der Zarin Katha-
rina n. (1796) die Geldverlegenheiten im Offenbacher
Schlosse nicht mehr aufhörten. Graetz, der in seinem
Hasse zu einem ausgemachten jüdischen Antisemiten
wird und besonders gegen Eva-Emuna die gemein-
sten Verdächtigungen andeutet, behauptet, der Hof-
staat wäre von da ab nur noch durch geheimnisvolle
Erpressungen weiter gefristet worden; der Zar Alex-
ander hätte der Jungfrau (Graetz beschimpft sie auch
bezüglich dieses Charakters und gebraucht verfängliche
Worte; sie war aber damals schon 53 Jahre alt) im
Jahre 18 13 ein größeres Geldgeschenk gemacht. Vier
Jahre später ging es mit dem Hofstaate zu Ende. Die
Schulden sollen auf drei Millionen Gulden angewachsen
sein. Die Gläubiger erwirkten eine Untersuchung
durch die hessischen Gerichte. Erzherzog Karl, damals
Gouverneur von Mainz, wollte die Vernehmung per-
sönlich leiten. Kurz vor dem angesetzten Tage starb
Eva plötzlich. Die Gläubiger behaupteten, sie wäre nicht
gestorben, ein ehemaliger isenburgscher Staatsbeamter
hätte ihr zur Flucht verholfen.
20
305
So endete die merkwürdige Geschichte mit einem
letzten Rätsel. Die Frankisten jedoch, die in Polen,
in Mähren und in Böhmen als Katholiken oder als
Juden weiter lebten, bewahrten dem Stifter ihrer Sekte
und der Königin Eva eine treue Verehrung.
Es bleibt mir nur übrig, nach dieser flüchtigen Dar-
stellung des Abenteurerlebens die Angaben meiner Mutter
mit den historischen Tatsachen zu vergleichen. Ich
habe schon die Vermutung ausgesprochen, daß deren
Erinnerungen durch das Lesen der sogenannten histo-
rischen Romane vielleicht gefälscht worden waren. Da-
hin mögen die Erzählungen gehören, in denen mein
Großvater als frankistischer Offizier gegen Militär
kämpfte; es ist nicht unmöglich,^daß die Mutter da
sogar die Frankisten mit den um hundert Jahre älteren
Sabbatianern verwechselte. Aber auch das Leben und
der Tod Franks lagen ja lange vor der Geburt meiner
Mutter.
Unbedingt zuverlässig war sie jedoch, wenn sie aus
eigenem Gedächtnis berichtete. Ich meine ihre oft wie-
derholte Erzählung : sie war noch ein kleines Mädchen,
als frankistische Abgesandte in Horzitz eintrafen, um
sich vom Großvater allerlei Schriften und das Bild der
„Königin" (natürlich Evas) ausfolgen zu lassen. Dar-
aus, daß mein Großvater wichtige Papiere und das an-
sehnlich große Bild in Verwahrung hatte, ließe sich
der Schluß ziehen, daß er im „Heere" wirklich eine
höhere Stellung innegehabt hatte. Bei Frank selbst,
oder erst bei seiner Tochter ?
Diese Frage kann ich nicht mit Sicherheit beant-
worten. Wurde mein Großvater nur loi Jahre alt,
306
wurde er also erst 1775 geboren, so war er bei Leb-
zeiten Franks zu jung, um schon zu seiner Leibwache
zu gehören. Nach einer andern Rechnung, die meine
Mutter für die richtige hielt, wäre ihr Vater 1766 ge-
boren, also 1 10 Jahre alt geworden ; dann hätte er leicht
als Zwanzigjähriger die Abenteuer Franks mitmachen
können. Aber eine andere Familientradition spricht da-
für, daß mein Großvater erst nach dem Tode Franks
zu dem Hofstaate der „Königin'' gehörte. Er soll näm-
lich zu gleicher Zeit mit einem Jüngling aus einer rei-
chen Prager Judenfamilie in Offenbach gewesen sein ;
dieser jedoch, Herr von Portheim (die Familie war in-
zwischen geadelt worden, sie hieß früher Porges),
der in meiner Knabenzeit noch als ein sehr angesehener
Herr, und auch als Musikfreund geschätzt, zu Prag lebte,
war gewiß erst nach Franks Tode zu den Frankisten
gekommen. Er soll von seinem Vater, einem überzeug-
ten Anhänger des neuen Messias, hingeschickt worden
sein, um lieber den Soldaten zu spielen, als im öster-
reichischen Heere zu dienen. Dieser Herr von Port-
heim sprach sich als Greis sehr abschätzig über das
Treiben am Hofe der ,, Königin'* aus. Sicher ist, daß
mein Großvater zu dem weit emporgekommenen Ge-
nossen zu meiner Zeit keine Beziehungen mehr hatte.
Wenn mein Großvater aber in den gleichen Jahren oder
im gleichen Jahre mit Herrn von Portheim in Offen-
bach lebte, so hatte er Frank selbst nicht mehr gekannt
und war ein Page oder ein Offizier der Eva-Emuna ge-
wesen. Nach seinem Tode habe ich es leider versäumt
nachzuforschen, ob sich in seiner Hinterlassenschaft
irgendein Papier über die Frankistenzeit vorfand.
20*
307
IV. (zu Seite 115).
Viel härter als sein Lehrer Scherer (und auch in
Hinblick auf die Technik viel ungünstiger als Friedrich
Spielhagen) urteilte über diesen meinen ersten Roman
Otto Brahm. Da ich aber den ganzen Aufsatz von Brahm
nicht ungerecht finde, es nicht einmal beklagen will,
daß er mich sehr scharf aus dem Gebiete der poetischen
Produktion verbannte, mir allein die Satire als Lebens-
aufgabe zuwies, so wäre kein Grund gewesen, hier auf
einen der objektivsten Artikel einzugehen, die Brahm
im Laufe der Jahre über mich geschrieben hat. Sollte
ich Zeit und Neigung finden, in einem zweiten Teile
meiner ,, Erinnerungen'* von meinem Schriftsteller-
leben in Berlin zu erzählen, so dürfte ein Kapitel
„Otto Brahm*' nicht fehlen. Hier, wo meine Stellung
zum Judentum mich allein beschäftigt, handelt es sich
mir nur darum, daß Brahm in jenem Auf satze (,, Frank-
furter Zeitung*' 1882 Nr. 87) klug wie immer bemerkt,
und auch sonst weiß, daß ich meine eigene, ganz indi-
viduelle Jugendgeschichte darzustellen versuchte, daß
er aber — doch wohl im Widerspruche zu den Grund-
sätzen seiner Taine-Brandes-Schule und im Gegensatz
zu Scherer — diesen Umstand tadelte und einen Typus
308
verlangte. Er schrieb im Verlaufe seines eingehenden
Feuilletons :
„Nur eines müssen wir festhalten von Anfang an, weil
es nicht nur der Titel, sondern auch die Sache fordert :
daß der Held eine symbolische, für das Judentum im
allgemeinen und die gegenwärtige Bewegung im be-
sonderen typische Figur sein muß.
Ist der Held von Mauthners Roman, der Arzt Hein-
rich Wolff, eine solche typische Figur, sein Schicksal
ein vorbildliches?
Schon aus der knappen Angabe der Fabel, welche ich
voranstellte, wird sich das Gegenteil ergeben lassen.
Ganz und gar nicht typisch, von Anfang bis zu Ende
völlig individuell ist der Fall Heinrich Wolff. Individuell
sind die Bedingungen seines Werdens, individuell ist
sein Charakter, individuell sein Empfinden wie sein
Schicksal. Er ist dem Judentum innerlich fremd von
Jugend auf, wie nur wenige, er steht allein in der
Welt, losgelöst vom heimatlichen Boden, von Familien-
beziehungen; der freie Herr seiner Entschließungen;
er hat nicht nur äußerlich (wie der Autor oft wieder-
holend uns erzählt) nichts vom Juden, sondern auch
nichts in seinem Charakter von all den Eigenschaften
des jüdischen Stammes. Man hat es Lessing vorge-
worfen, daß sein weiser Nathan zu wenig von solchen
Eigenschaften besitze; aber, verglichen mit Heinrich
Wolff — wie groß erscheint uns die jüdische Beson-
derheit Nathans! Heinrich ist nicht klug, nicht beweg-
lich, nicht witzig, noch scharfsinnig, er ist empfindsam
und wieder empfindsam, wie ein Jüngling vor hundert
Jahren, der den Werther gelesen. Nichts verwunder-
licher, als wenn ihn einmal jemand einen , modernen
Realisten* heißt, ihn, der, gleich Werther, sein Herz-
309
chen hütet wie ein krankes Kind, und mit untätigem
Idealismus die Dinge um ihn herum geschehen läßt.
Also ein neuer Ahasver ist Mauthners Held nicht,
eine typische, für das Judentum und die Wirkung der
antisemitischen Bewegung vorbildliche Figur ist er auch
nicht/*
310
V. (zu Seite 163).
Unter der Leitung von Otto Benndorf, der sich als
Organisator auch in seinem archäologischen Seminar
und öffentlich besonders bei den österreichischen
Ausgrabungen in Ephesos (wo ich 1899 auf seine
Empfehlung sehr freundlich aufgenommen wurde)
bewährte, lernte ich den großzügigen Betrieb einer
jungen Disziplin kennen. Trotzdem ich übrigens der
einzige Nichtphilologe in seinem Seminar war, ver-
traute er mir die Herstellung des Katalogs an, als die
Regierung ihm bescheidene Mittel für die Errichtung
eines Museums für Gipsabgüsse gewährte. Seine Zu-
friedenheit mit dieser Arbeit, die ich natürlich nach
seinen Anleitungen ausführte, brachte mich ihm noch
näher, als ich ihm durch die Leistungen im Seminar
und bei dem allwöchentlichen Kränzchen in seinem
Hause gekommen war. So kam es, daß ich auf seine
Anregung sogar zur Herstellung von gewissermaßen
offiziösen Schriftsätzen — der einzige Fall in meinem
Leben — herangezogen wurde. Das eine Mal handelte
es sich darum, die großen Mittel der böhmischen Spar-
kasse für einen etwas kostspieligen Entwurf des ge-
planten Künstlerhauses herauszulocken; „wir'* setzten
es durch, daß der Sieg dem — übrigens tschechischen
— Architekten Zitek zufiel, trotz der Kosten, die die
311
vorbedachte Summe weit überstiegen. Das zweite Mal
sollte ebendieselbe böhmische Sparkasse als Bauherr
bewogen werden, das kleine archäologische Mu-
seum im Künstlerhause unterbringen zu lassen. Ich
weiß nicht mehr, ob das Ziel erreicht wurde. Ich weiß
nicht mehr, ob Benndorf mit diesem Aufsatze ganz
zufrieden war. Ich finde nun beim Durchlesen, daß ich
zum offiziösen Schriftsteller nicht tauge, niemals ge-
taugt habe. Ich habe jetzt über manche lokalpatriotische
Wichtigtuerei des Aufsatzes gelacht, über viele stilistische
Holprigkeiten, über die schlecht gespielte akademische
Würde, mit der ich offenbar meinen Lehrer nach-
zuahmen suchte. Man wird es nach dem Gesagten sicher-
lich nicht für Eitelkeit halten, daß ich das alte Zeug
hierher setze; es scheint mir das sicherste Mittel ein
Bild von dem unfertigen jungen Menschen zu geben.
(Ich ändere nur sichtbarliche Druckfehler und ähnliche
Versehen.) Ich aber hatte folgendes geschrieben :
„Unser Prag, die historische Stadt par excellence, das
alte Prag, welches dem Fremden so zahlreiche Anre-
gungen zu kunstgeschichtlichen Studien bietet, ist für
den Einheimischen, der erfahrungsgemäß die monu-
mentalen Bauten seines Berufsortes gern unbeachtet
läßt, ein recht trostloser Aufenthalt, soweit die Freude
an den Werken der bildenden Kunst in Betracht kommt;
wo der Berufsmensch seinen ständigen Aufenthalt ge-
nommen hat, da findet er schwerlich die Muße, sich
mit einem bedeutenden Zeitaufwande eine Übersicht
der Kunstschätze seiner Stadt da und dort zusammen-
zusuchen, sondern er liebt es, wenn er überhaupt wirk-
lich ästhetische Genüsse zu seinen Bedürfnissen zählt,
eine Bildergalerie, ein Kunstmuseum, kurz Sammlun-
gen aufzusuchen, in welchen ihm die geordnete Masse
312
des Gebotenen die Belehrung angenehm und das Ver-
gnügen belehrend zu machen gewußt hat. Daß Prag in
diesem Punkte hinter anderen Städten von gleicher
Größe und Bedeutung zurücksteht, ist leider eine Tat-
sache, welche, würde sie auch nicht so klar vor unseren
Augen stehen, sich aus den bekannten sozialen Ver-
hältnissen als Prämissen a priori ableiten ließe; hier
soll jedoch der Stoßseufzer über den Mangel an In-
stituten für Förderung des künstlerischen Sinnes (des-
sen Abstumpfung wieder ihrerseits auf die Schwierig-
keit, solche Institute zu schaffen, zurückwirkt) nicht
pessimistisch verklingen, sondern auf die Möglichkeit
soll hingewiesen werden, daß in einer eben eröffneten
Sammlung, dem archäologischen Museum der Uni-
versität, ein Zentralpunkt geschaffen wurde für die Bil-
dung eines Museums von Gipsabgüssen, dieses vor-
züglichen Anschauungsunterrichtes für unsere gar so
unplastisch herangebildete Generation.
Freilich sind es ursprünglich näher gesteckte Ziele,
welche solche archäologische Sammlungen anstreben
und welche die österreichische Regierung mit ihrer
liberalen Fundation zu erreichen suchte : es sollen vor
allem der immer weiter ausgreifenden Wissenschaft
der Philologie die nötigsten Realien geboten werden,
ohne welche der Jünger derselben nicht leicht zu einer
vollendeten Auffassung antiken Wesens geführt wer-
den kann. Darum ist auch die Errichtung solcher In-
stitute der Lieblingsgegenstand der Archäologen ge-
worden, seitdem die Wissenschaft, der trockenen Sich-
tung des überkommenen Literaturvorrates müde, daran
geht, antiken Geist in unser Fleisch und Blut zu hau-
chen. So entstand zuerst in Bonn, unter der Leitung des
berühmten Archäologen Welcker, eine solche Schöp-
313
fung, welche von ihren Leitern, von Professoren und
Studenten, von Privaten gefördert, nach dem letzten
Ausweise mehr als 700 Kunstwerke, Originale und Nach-
bildungen, umfaßt; dem Beispiel dieser Hochschule
folgten bald die Akademien von Königsberg, Breslau,
Münster, Gießen, Tübingen, Würzburg, Leipzig, welche
alle seit den zwanziger, resp. den dreißiger Jahren über
ansehnliche Sammlungen verfügen.
In Österreich fühlte man schon damals die Wichtig-
keit dieser Bestrebungen ; wenigstens nennen die Wie-
ner Jahrbücher 1828 IV. S. 58 die Schöpfung Welckers
,,ein Beispiel, dem ohne Zweifel seiner Zeitgemäßheit
wegen ihre (der Bonner Universität) gelehrten Schwe-
stern bald folgen und was in dieser Hinsicht an einigen
Orten etwa schon früher geschah, zu vervollkommnen
bemüht sein werden'*. Aber erst in der letzten Zeit, als
das Bestreben, den berühmten deutschen Universitäten
ebenbürtige Anstalten bei uns an die Seite zu stellen,
mit energischen Mitteln in Angriff genommen wurde,
wurde auch auf dieses Glied in dem Organismus einer
Hochschule Bedacht genommen; es wurde eine neue
Lehrkanzel für Archäologie und Kunstgeschichte (denn
Erasmus Wocel beschränkte sich auf slawische
Archäologie und Ambros tradierte nur moderne Kunst-
geschichte, neben seiner Spezialität der Musikge-
schichte) errichtet, und dem von München nach
Prag berufenen Professor Otto Benndorf eine ansehn-
liche Summe zur Verfügung gestellt, um ein archäo-
logisches Museum ins Leben zu rufen, wie er ein solches
schon in Zürich dirigiert hatte. Während die obener-
wähnten Universitäten ihre Sammlungen aus kleinen
Anfängen langsam wachsen sahen, hat die unsere, dank
der Dotation der zwar spät, aber mit vollem Bewußtsein
3^4
und mit zureichenden Mitteln eingreifenden Regierung,
den Vorteil, schon heute, wenige Monate nach der Grün-
dung, eine hübsche, wohlgewählte Kollektion von Gip-
sen ihr Eigen zu nennen, die schon in ihrem jetzigen
Umfang ihrem knappsten Zwecke, die griechische
Kunstgeschichte zu illustrieren, entspricht.
Ein Gang durch die beiden hellen Räumlichkeiten,
welche der Sammlung zugewiesen sind, führt an den
markantesten Vertretern der griechischen Plastik vor-
über, von den rohen Anfängen bis in die Zeit, da sie
im Dienste des römischen Luxus ausklingt; da ist vor
allem eine Metope aus Selinunt, die Ermordung der
Medusa durch Perseus darstellend, als ältestes historisch
bestimmbares Bildwerk von hoher Bedeutung für die
Kunstgeschichte. Der freie Naturalismus, der diese Me-
tope trotz der abscheulichen Häßlichkeit ihrer Figuren
fundamental von den schematischen Werken der prä-
hellenischen Zeit unterscheidet, feiert bereits die schön-
sten Erfolge in der Behandlung des Körpers an den
Ägineten, deren Anschaffung allein das Museum be-
suchenswert macht; wer das berüchtigte „äginetische
Lächeln** nur aus Büchern oder etwa noch von der
Bühne kennt, der kann es an diesem Dutzend kämp-
fender, verwundeter und sterbender Menschen stu-
dieren ; wer aber diese Gruppe, den größten Schatz an
Antiken, den Deutschland besitzt, in der Münchner
Glyptothek gesehen hat, der wird überrascht durch die
vorzügliche Treue der Gipsabgüsse, welche hier in einer
die Aufstellung der Originale in einzelnem korrigieren-
den Weise aneinandergereiht stehen. Die gleichfalls
noch der älteren Kunst angehörige Gruppe der Tyran-
nenmörder, Harmodios und Aristogeiton, zeigt so recht
den Wert der Vervielfältigung für die Wissenschaft
315
selbst: ein scharfsinniger Archäolog hat diese beiden
Statuen, deren Originale getrennt aufgestellt sind, als
zusammengehörig erkannt und was sich an dem Mar-
mor nicht prüfen läßt, das führt der billigere Gips be-
quem vor Augen. Ein Blick noch auf einige fein kom-
ponierte Grabstelen (Grabsäulen) und der Sinn ist vor-
bereitet, um den hohen „Stil", die Periode des Phidias,
anzuschauen. Freilich mit bestimmten Originalwerken
des Meisters kann die Kunstgeschichte nicht dienen,
so schön auch die seiner Schule angehörende Nike von
der Balustrade des Tempels der Athene Nike in ihrer
Bewegung ist, so wunderbar der Zellaf ries des Parthenon,
von welchem uns eine Reitergruppe sowie einige Köpfe
aus der Göttergruppe köstliche Proben geben. Für die
Vorstellung von den viel berufenen Kolossalbildern des
Meisters muß auch eben das Erhaltene genügen, so die
bekannte Zeusmaske von Otricoli, welche als die schön-
ste Idealisierung des Donnerers zu der unverdienten
Ehre gekommen ist, für eine direkte Nachbildung des
Phidiasschen Zeustypus zu gelten; dagegen findet die
Phantasie, welche sich das chryselephantine Riesenbild
der Athene Parthenos vergegenwärtigen will, einen An-
haltspunkt in der kleinen unvollendeten sogenannten
Lenormantschen Statuette, deren streng architek-
tonisch gegliederte Formen bei ihrer den entgegenge-
setzten Stil fordernden Kleinheit allein auf eine Nach-
bildung eines monumentalen Werkes hinweisen wür-
den. Wie die Gestaltungen der Plastik unter der all-
mählichen Weiterentwicklung des Geschmacks und des
Könnens gefälligere, zierlichere Proportionen annah-
men, das lernen wir in feiner Vollendung an dem Ado-
ranten, dessen nähere Bekanntschaft das Prager Pu-
blikum im letzten Winter gemacht hat. Wenn der Be-
316
Sucher des Museums all die anderen Gipse übersieht,
welche erst im Vereine sich gegenseitig erklärend die
großen Lücken in der hier durchmessenen Zeitfolge aus-
füllen, so wird er noch wenigstens bei der wunderbaren
milonischen Venus verweilen, an deren vorzüglichem
Abguß vielleicht der kleine Irrtum korrigiert werden
sollte, der sich jüngst an der Zusammenstellung ihrer
Marmorstücke ergeben hat ; ^) und bevor er mit der Ab-
sicht, bald wieder zu kommen, die Sammlung verläßt,
wird er andächtig vor der Juno Ludovisi stehenbleiben
und wird vielleicht über die mögliche Bedeutung der
Worte nachsinnen, die Goethe in derselben Situation
ausgerufen hat: „Wie ein Gesang Homers!**
Ein solches Museum ist, wie bereits hervorgehoben,
in erster Linie für den Gebrauch der Studierenden an-
gelegt, doch hat es auch fürs große Publikum, dem die
Anstalt eben eröffnet wurde, einen nicht zu unter-
schätzenden Wert ; die junge „Winckelmannische** Wis-
senschaft ist schon gegenwärtig zu einem Element un-
serer mit Recht getadelten, aber von jedem geforderten
allgemeinen Bildung geworden. Wie man aber keine
Einsicht in die Schönheit eines Volksliedes erhält, wenn
man bloß die Noten desselben betrachtet, ohne den Ton
sich vorstellen zu können, so müssen auch alle Be-
mühungen fruchtlos bleiben, welche der Gebildete an-
stellt, um sich dem Verständnis der Kunstgeschichte
„auf trockenem Wege** zu nähern.
Überhaupt will ja unsere Zeit die Lust an der keu-
i) Die Venus von Melos war vor der gefürchteten Invasion des deutschen
Heeres aus dem Louvre entfernt worden; bei der Wiederaufstellung nach
dem Kriege fand Ravaisson, daß der große obere Marmorblock schief auf
den unteren Teil der Statue aufgesetzt wäre, daß das richtig gestellt werden
müßte, wodurch die Haltung der auch in unseren Salons wohlbekannten
Statue etwas von ihrer charakteristischen Krümmung verlieren würde.
3chesten Göttin, jener der Schönheit, wieder aufleben
lassen, die so lange abgetöteten Sinne sollen wieder
in ihr Recht eingesetzt werden; es sei nur daran er-
innert, wie das Zeichnen eine immer höhere Geltung
im Bereiche des Jugendunterrichtes erringt, wie ein-
stimmig von Fachleuten und vom Publikum der künst-
lerische Maßstab an die Erzeugnisse des Handwerks
gelegt zu werden beginnt, wie namentlich in Deutsch-
land das Interesse an der bildenden Kunst, freilich vor-
läufig vielfach als Mode, sich sowohl in der Teilnahme
an öffentlichen Unternehmungen, als auch in der Ein-
richtung und Ausschmückung des eigenen Heims be-
kundet: all das sind Symptome einer nicht genug zu
betonenden Zeitrichtung, welche allerdings vorerst
durch äußere Anregungen veranlaßt wurde, welche aber
am erfolgreichsten durch das stille Wirken oft gesehener
Meisterwerke zu unserem eigensten innern Eigentum
werden kann. Soll aber eine Sammlung solcher Meister-
werke in genügender Vollständigkeit angelegt werden,
so muß der Unternehmer, wenn ihm nicht die allmäch-
tige Kraft zur Verfügung steht, eine Dresdner Galerie,
einen Louvre anzulegen, zu Nachbildungen greifen und
wird Gipsmodelle der Hauptwerke aller Zeiten und
Völker leicht zu einem übersichtlichen Ganzen ver-
einigen können. Der Vorzug des Gipses vor andern Ver-
vielfältigungsarten, so vor der matten Photographie,
welche dem Kenner wohl eine gute Erinnerungshilfe, dem
Nichtkenner des Originales jedoch eine sehr schlechte
Vorstellung von demselben gibt, ist so allgemein an-
erkannt, daß auf eine Begründung einzugehen unnötig
erscheint, und auf eine Sammlung von Originalwerken
muß wohl eine Stadt wie Prag verzichten, da ja auch
eine leichter zu beschaffende Gemäldegalerie bei ge-
318
ringen Mitteln eine dankenswerte Sammlung zufällig
zusammengekommener Bilder weit eher abgeben wird,
als eine auch den Laien anregende, fast möchte ich
sagen lebendige Geschichte der Kunst.
Ein solches Institut, freilich auf die griechische Kunst
beschränkt (doch ist diese für die angedeuteten Zwecke
die wichtigste) liegt nun dem Prager Publikum in dem
archäologischen Museum vor und es steht ganz in dem
Willen und der Macht des gebildeten Publikums, nicht
nur durch den Besuch desselben jene plastische Nach-
erziehung an sich selber vorzunehmen, sondern auch
durch ein werktätiges Interesse an der inkunablen An-
stalt dieselbe zu erweitern zu ihrem und dem eigenen
Vorteil. So könnte sich langsam ein umfassendes Mu-
seum für Gipsabgüsse heranbilden, dessen Wirksam-
keit sich über kurz oder lang in allen unsern Lebens-
äußerungen, die vom Geschmack mitbeeinflußt sind,
nachweisen lassen müßte.
Gleichzeitig mit der Eröffnung des Museums tritt
bekanntlich eine andere hochwichtige Schöpfung, der
Bau des Künstlerhauses in Prag, aus dem Zustand des
Träumens in den des Planens über; dieser glückliche
Umstand gestatte den Ausdruck der Freude darüber, daß
bei der im Prinzip angenommenen Anlegung von Aus-
stellungsräumen auch auf eine Herberge für die ver-
schiedenen Gipssammlungen unserer Anstalten Bedacht
genommen wurde. Die Vorteile wären auch für die
Gipsabgüsse, sowie für die Bedeutung des Künstler-
hauses gleich ansehnliche ; denn die großsinnige, lokal-
patriotische Schenkung eines monumentalen Kunst-
asyls soll doch auch eine weitgreifende positive Macht
üben und nicht bloß der Schaulust dienen und eine po-
sitive Wirksamkeit auf das große, nicht Entree zah-
319
lende Publikum wird eben ein Museum für Gipsabgüsse
vorzüglich äußern.
Die böhmische Sparkasse würde also mit Zulassung
eines bis aufs Handwerk wirkenden Instituts ihren
Klienten, den „kleinen Leuten**, in edelster Weise den
Gewinstüberschuß als geistige Superdividende rück-
erstatten. Übrigens wäre das Museum ein bescheidener
und freundlicher Gast in den Hallen des Künstlerhauses;
für die großen Rundwerke genügt ein Saal von mäßiger
Größe, und Reliefs, Architekturstücke und Büsten wür-
den gerne im Treppenhaus und sonst, wo es passend er-
scheint, das gastliche Haus zum Danke schmücken hel-
fen, so daß ohne gegenseitige Opfer das Haus seine Zierde,
die selbstbedeutenden Zierden ihre Behausung hätten."
320
VI. (zu Seite 173).
Zu Pfingsten 1873 feierte die „Halle" das Jubiläum
ihres fünfundzwanzig jährigen Bestehens ; unter meinen
alten Papieren finde ich etwas, was ich damals geschrie-
ben habe (ich „schließe** das aus der Unterschrift F. M — r)
und was im März in irgendeiner Wiener Zeitung er-
schienen sein muß ; ich drucke aus dem Aufsatz einiges
ab, das trotz der schlechten Schreibart interessieren
möchte:
,, Sowie das Jahr 1848 überhaupt in Böhmen die
Grenzscheide zwischen einer einheits- und darum natio-
nalitätslosen Zeit der sicheren Bürgerruhe bildet und
einer neuen Zeit des Kampfes, so spiegelt es sich auch
in der Bewegung, mit welcher die österreichischen Stu-^
deuten sich an der Aufregung jener Tage beteiligten.
Im Frühjahr 1848 hatte sich in Prag, analog dem
Vorgehen der Wiener Studenten, ein Studentenausschuß
gebildet, der, die drei weltlichen Fakultäten und die
Techniker zu vier Kohorten vereinigend, glücklich durch
die Ausnahmszustände hindurchlavierte; die Unbe-
fangenheit, mit welcher die deutschen Studenten sich
einer utraquistischen Vereinigung anschmiegten, in
deren Mitte sie die Minorität bildeten, erlitt den ersten
Stoß, als der tschechische Ausschuß eine Einladung,
welche einen allgemeinen Kongreß von Vertretern der
31
321
Studenten sämtlicher deutschen Universitäten auf der
Wartburg bezweckte, mit der Begründung zurückwies,
, , daß die Prager Universität keine deutsche sei* * . (Übrigens
scheinen die Herren Studiosen kein Geld im Sack gehabt
zu haben und stellten sich wohl darum mit auf den na-
tionalen Standpunkt.) Diese Haltung gab den ersten An-
stoß zu einer besonderen, separatistischen Einigung
der deutschen Studenten, welche am 8. November
1848 die Gründung einer Lese- und Redehalle der
deutschen Studenten beschlossen; als der ,, Prager
Studenten-Ausschuß" wenige Tage später einen ähn-
lichen Antrag annahm, nannte er sich von da ab ,, Aka-
demischer Leseverein'* und gerierte sich hinfort gerne
als der umfassende Vereinigungspunkt für Akademiker
beider Nationalitäten; ja, im Jahre 1852 forderte er
den deutschen Verein auf, sich mit ihm wieder zu ver^
binden. In einer scharfen, aber berechtigten Antwort
wies die junge Lesehalle dieses Ansinnen zurück. Der
gewählte Name ,, Akademischer Rede- und Leseverein"
war ein Zeichen der Zeit — heißt es darin — und eine
Konsequenz der Schöpfung des Vereines selbst, indem
Itiatürlich ein ,, Studenten-Ausschuß der Prager Uni-
versität", der sich so nennt, ohne Deutsche in seiner
Mitte zu haben, auch einen derartigen, mit einem Ge-
mein-Namen bekleideten Verein hervorrufen mußte.
Jene Zuschrift des „Akademischen" Vereines gab
vor, den deutschen als eine Art Zweigverein, und zwar
mit wissenschaftlichen Zielen, zu betrachten ; eine sol-
che Richtung bildete sich zum Glücke immer mehr her-
aus. Die Zeit des Sturmes und des Dranges, da sich die
Musensöhne erkühnten, freche, himmelstürmende Pe-
titionen an Kaiser und Regierung zu richten (als da
sind: um Erlaubnis zur Gründung eines Turnvereines,
322
um Errichtung einer Lehrkanzel für deutsche Literatur)
diese Zeit ging vorüber, und die entnüchterten Titanen
hatten Muße, sich ohne Turnverein und ohne deutsche
Literatur zu brauchbaren künftigen Staatsförderern
heranzubilden; da sollte denn die „Halle** mit ihren
rasch anwachsenden Hilfsmitteln die verschiedenen Be-
strebungen vereinigen, und zwar in ihrer zweiten Qua-
lität, als Redehalle.
Das Redenwollen scheint aber den Behörden immer
eine sonderbare Schwärmerei, und so mußte die Rede-
halle, wie die Verfolgten im Märchen, eine ganze Menge
von Metamorphosen durchmachen, bevor sie unter der
neuen Ära wieder zu Ehren kam; gleich im Jahre 1849
kam der Belagerungszustand und mit ihm ein pein-
liches Verbot alles Redens.
Wenn Liebende einander nicht sprechen dürfen, so
geben sie sich Rendezvous auf der letzten Seite eines
geduldigen Journals, und wenn Vereinsmitglieder nicht
debattieren dürfen, so legen sie ein Album auf, worin
sie ihre Gefühle in gebundener Rede äußern. Aber
in der Lesehalle gab es auch damals einsichtslose, blut-
gierige Kritiker (ich glaube gar, unser gewesener Wau-
wau war auch dabei), welche die zarten Blüten mit
ihren kalten, forschenden Blicken zu Tode schauten;
als nun die Existenz der Redehalle an der Strenge des
Diktators, die des Albums an der Strenge der eigenen
Zensur gescheitert war, da beschloß der Ausschuß, dem
Redeverbote durch Abhaltung ,, wissenschaftlicher
Zirkel" einen Esel zu bohren. Darob großes Entsetzen
bei der Polizeibehörde von 1852, und darauf ein denk-
würdiger Bescheid vom 23. Januar, wonach solche
Zirkel „mit strengem Ausschluß aller wie immer in
die Politik hinüberstreifender Fragen" zum größten
21^
323
Schmerze aller Gutgesinnten im Prinzipe gestattet
wurden; freilich sollte der Gegenstand dieser wissen-
schaftlichen Bestrebungen beschränkt bleiben auf
I. Übungen in Sprachen; 2. Stenographie (o Universi-
tas litterarum) ; 3. gemeinschaftliche Lesung deutscher,
namentlich altdeutscher (sie) , lateinischer, griechischer,
sowie auch der Klassiker anderer Völker. So komisch
der Eindruck ist, den diese ammenhafte Sorge der Be-
hörde für die jungen Leute hervorbringen muß, so pein-
lich ist es, sich gestehen zu müssen, daß unser faktisches
Lerngebäude bis jetzt auf diesem antediluvianischen
Fundamente basiert, daß doch das vielleicht ein
andermal ; für heute nur noch die köstlichste Vorschrift
jener polizeilichen Verordnung: die Zahl der einen
Zirkel bildenden Vereinsmitglieder ist auf höchstens
8 bis 10 beschränkt, das heißt auf so viel, „als um
einen Tisch herum sich setzend Platz finden
können".
Welch ein Abgrund österreichischer Polizeiweisheit!
War es die psychologisch begründete Überzeugung von
der retardierenden Kraft, welche durch die Berührung
des Körpers mit dem Stuhlholze hervorgerufen wird, die
zu jener Beschränkung Anlaß gab? Oder wollte man
pietätvoll die jungen Leute durch das Sitzenmüssen
daran erinnern, wieviele wackere Männer sitzen muß-
ten, bevor die glücklichen Epigonen die goldenen Frei-
heiten genießen konnten, so viele nämlich, als um einen
Tisch herum sich setzend Platz finden können? Doch
wer kann solche labyrinthische Wege erforschen, ohne
den Ariadnefaden eines österreichischen Bureau-
kratendenkens zu besitzen. Aber die Polizeiverord-
nung vom 23. Januar 1852 kann auf ihre segensreichen
Erfolge wahrhaft stolz sein ; sind ja unsere Patres con-
324
scripti Zöglinge jener Zeit, und merkt man es den Par-
lamentsverhandlungen doch an, daß ihre Redner in
solchen Versammlungen ihre Sporen verdienten, wo
so viele ihren Worten lauschten, „als um einen Tisch
herum sich setzend Platz finden können**.
Die Zeiten werden recht schlecht; in die Rumpel-
kammer wurde der heilige Tisch gestellt und kein an-
deres niederschlagendes Mittel wird seiner Zauber-
macht nur entfernt gleichen. In der Redehalle der deut-
schen Studenten wird stehend (proh dolor!) über
selbst an das Gebiet der Politik streifende Materien ge-
sprochen, zum Beispiel über Kesselsteinbildung und
Frauenerziehung, über Schopenhauer und Kohlentarife,
über den Herrgott und die Spektralanalyse ; und wenn
vorletzterer nicht mit seinem Donner dazwischenfährt,
so erleben wir es am Ende noch, daß unser sich eben
verjüngendes Parlament einer neuen Generation Zutritt
gönnt, welche stehen gelernt hat; so erleben wir es
am Ende noch, daß ein österreichischer Lasker ein-
mal von freien Stücken aufsteht und das Parlament in
eine wohltuende gelinde Aufregung versetzt. Bis dahin
mag aber das hohe Präsidium weiterhin durch schlau
gestellte Fragen bald eine oder die andere Hand, bald
den ganzen Körper sich zu erheben zwingen, um so
durch Anordnung harmloser, unscheinbarer Turn-
übungen seine volle Sympathie für die heranreifende
Generation junger Ruhestörer zu bezeigen."
325
VII. (zu Seite 182).
Ich werde in den Erinnerungen aus meiner Berliner
Zeit viel von den Wunderlichkeiten des herzensguten
Menschen zu erzählen haben ; auch wie er mir wegen
meiner Parodie der „taufrischen Amme*' zürnte, und
wie er sich versöhnte. Weil er aber, Auerbach, der
Allerweltspate, auch mein Pate geworden war, möchte
ich gleich hier, an der Schwelle meines Schriftsteller-
lebens, einfügen, was ich am Tage der Hundertjahr-
feier seines Geburtstages (28. Februar 19 12) veröffent-
licht habe.
„Da lebt irgendwo fern von jeglicher Berührung mit
deutscher Literatur ein ganz kleiner Verleger, der es
sicherlich nicht wünscht, daß ich hier seinen Namen
nenne ; er hat mir vor wenigen Wochen den ehrenvollen
Antrag gestellt, die , immer noch zugkräftigen Theater-
stücke* Auerbachs neu herauszugeben und in einer
biographischen Einleitung , ordentlich die Trommel zu
rühren*. Der Mann hat offenbar den Dichter der Dorf-
geschichten mit der Birch-Pf eif f er verwechselt ; mit wem
er mich verwechselt hat, das habe ich nicht erfahren.
Aber der bewegliche Schluß seines Briefes hat mir zu
denken gegeben. ,Man wird demnächst Auerbachs
hundertsten Geburtstag mit großen Worten feiern. Wird
man aber das Unrecht der letzten Jahrzehnte wieder
326
gutmachen ? Wird man seine Theaterstücke wieder auf-
führen und lesen? Die Werke werden jetzt frei für den
Nachdruck und für das Volk. Die Zeit für die Aufer-
stehung Auerbachs ist gekommen.* Dieser Verehrer
Auerbachs hat keine Ahnung davon, daß alle drama-
tischen Versuche des Dichters durchaus mißlungen
waren ; aber er hat etwas läuten gehört vom Schicksal
Auerbachs. Und dieses Schicksal stimmt nachdenklich.^
Nicht sentimental ; das hätte sich Auerbach denn doch
verbeten.
Im Jahre 1843 sind die ersten Bände der Schwarz-
wälder Dorfgeschichten erschienen; von da ab bis in
die siebziger Jahre hinein war und blieb Berthold Auer-
bach ein Liebling oder gar der Liebling der deutschen
Leser ; die besten Männer, die ernstesten Forscher und
Politiker liebten ihn und seine Schriften ; dann begann
ein neues Geschlecht über seine Alterswerke zu lächeln,
und heute ist Auerbach aus der Gunst der Leser ver-
drängt, die einst bewundernd zu Auerbach als zu ihrem
Meister aufgeblickt hatten. Anzengruber, der zuerst die
Bauern in eigener Sprache darstellen lehrte, und Tol-
stoi, der trotz manchen Selbstbetrugs hingebungsvolle
Volkserzieher, hatten sich als Schüler Auerbachs ge-
fühlt. Doch der neue Pharao, das neue Geschlecht mag
die Alten nicht, will die Modernen des Tages, will mit
historischer Undankbarkeit nur die Stimmen der eige-
nen Zeit vernehmen. Der Zeit! Da steht ja das Wort,
das alles erklärt, nur sich selber nicht. Das nachdenk-
lichste Wort.
Die Zeit (nicht just die unsere) ist ein harter und
liebloser Würger; sie schreitet über Leichen. Und läßt
sich doch mit HilfeT^des Kalenders von jedem Kinde
ausmessen. Man überlegt einige Jahresziffern und be-»
327
merkt wieder einmal, wie alt man selbst geworden ist.
Vor hundert Jahren wurde Berthold Auerbach ge-
boren, vor dreißig Jahren ist er gestorben; nach dem
Gesetze wird binnen Jahresfrist sein geistiges Eigentum
Allgemeingut werden. Auerbach hat im Kampfe ums
Dasein und in einer verschwenderischen Gebelaune all-
zuviel geschrieben ; er kann unmöglich mit seinem gan-
zen Gepäck auf die Nachwelt kommen. Die Frage ist
nur, ob die Reihe seiner köstlichen Dorfgeschichten,
zu denen doch auch der Roman „Auf der Höhe** ge-
hört, der 1864 seinen Siegeszug begann, nicht die Enkel-
kinder der ersten Leser wieder entzücken wird. Oder
vielmehr : es ist keine Frage. Es wäre freilich verkehrt,
die alten Dorfgeschichten diesen Enkeln durch literar-
historische Betrachtung empfehlen zu wollen, zum
Beispiel durch den Nachweis, daß der schönste und
reifste Volksroman unserer Zeit, Gerhart Hauptmanns
,Emanuel Quint*, dem Dichter sicherlich unbewußt,
auf die grüblerischen Helden Auerbachs zurückgeht.
Nein, auch ohne Literarhistorie werden die Dorfge-
schichten neue Freunde gewinnen. Aber man werde
hier und da über die veraltete Form der silbernen Schale
lächeln, in der die goldenen Früchte liegen, so kann
man mir sagen; über die unerschöpfliche und nicht
immer tiefe Spruchweisheit Auerbachs, die sich in den
Alterswerken lästig vordrängt, doch auch schon in den
Dorfgeschichten sich allzugern reden hört. Der ,,Colla-
borator" mit seinen tausend und abertausend wohl-
weisen Gedanken und Gedänklein hat ja den Dichter
niemals rein gestalten lassen, ist ihm immer ins Wort ge-
fallen. Mag man lächeln, mag man meinetwegen (selten)
herzlich lachen. Lächeln und lachen wir nicht auch
über die kleinen Unarten eines Kindes, das wir lieben ?
328
Es ist hoffentlich nicht unbescheiden, wenn ich bei
der Frage nach der Revision des Prozesses Auerbach
mit einer persönlichen Angelegenheit komme. In diesem
Frühling werden vierzig Jahre herum sein, seitdem ich
Auerbach persönlich kennenlernte. Dann war ich in
den letzten sechs Jahren seines Lebens sehr oft in seiner
Gesellschaft, in seinem Hause und in dem meinen, auf
Spaziergängen, im Theater und nachher bei Bier oder
Wein. Ich habe Auerbach eigentlich sehr liebgehabt:
es war nicht möglich, ihn nicht liebzuhaben, den grund-
gütigen Mann, der nach einem Worte von Fanny Lewald
jedesmal wie ein Niklas mit vollen Taschen erschien,
der immer etwas zu schenken hatte; und der wie in
einem Rausche von Güte am liebsten das Wertvollste
schenkte, das er besaß : sich selbst. Seine legendäre Eitel-
keit konnte unserer Liebe keinen Abbruch tun ; es war
eine so kindliche, so entwaffnende, so bescheidene Eitel-
keit. Ein Märchenprinz, der Dornröschen erweckt hat
und dessen erstes Wort nach dem Kusse lautet : „Schau,
was ich da für einen hübschen Kotillonorden habe."
Meine Liebe zu Auerbach konnte mich nicht ver-
hindern, im Jahre 1878 eine Parodie seines Stils zu
veröffentlichen, die doch wohl, da sie noch heute in
literarhistorischen Würdigungen Auerbachs zitiert wird,
zur geringeren Schätzung des Dichters beigetragen
haben mag. An dieser alten Parodie ist nicht viel ge-
legen. Auerbach selbst war nur einige Wochen lang
böse auf mich und hat mir dann das ,Attentat* mit
überaus herzlicher Feierlichkeit (er hatte immer sehr
viel Sinn für Feierlichkeit) verziehen. Ich habe aber
das Bedürfnis, mir darüber klar zu werden, wie sich
etwa das pietätlose Lachen über Auerbachs Schwächen
mit der Liebe zu seiner prachtvollen Persönlichkeit
329
vertragen konnte oder (mit anderen Worten) : warum
Auerbachs Dorfgeschichten trotz ihrer künstlerischen
Schwächen ein Schatz unserer Poesie geblieben sind.
Was nun das Lachen anbelangt, so stand ich damit
ja nicht allein. Selbst in den beiden bedeutendsten Grab-
und Trauerreden, die dem bewunderten Dichter und
dem teuern Freunde von Vischer und von Lasker ge-
halten worden sind, werden die Schwächen des Mannes
ehrlich erwähnt, die Schwächen seiner kindlichen Eitel-
keit, die eben den Spott reizten ; und sogar der getreue
Biograph Auerbachs, ,der literarisch wohlbewanderte
und warmherzig zugewendete* Anton Bettelheim, des-
sen Auerbachbuch trotz ,übereifriger Buchung jedes
Löbeleins* vortrefflich ist, ruft einmal aus (allerdings
bei Erwähnung ganz mißlungener journalistischer Dar-
bietungen) : ,Muß nicht der bestgesinnte Leser, der zu
selten mit Auerbach lachen kann, über so verstiegene
Unnatur lachen?*
Als nach dem Tode Auerbachs seine Briefe an den
Vetter Jakob herauskamen, die — anfangs naiv, dann
immer bewußter niedergeschrieben — eine vollständige
Selbstbiographie bildeten, war der Eindruck wieder so
verzweifelt kompliziert : köstlich und doch oft komisch,
zum Küssen komisch. Wirklich : wie man über ein ge-
liebtes Kind lacht.
Das parodistische Lachen durfte aber nicht laut wer-
den, durfte nicht Kritik sein wollen, wenn es sich nur
gegen die kleinen menschlichen Schwächen des Dich-
ters richtete, wenn es nicht das Wesentliche traf in der
Kunstübung Auerbachs. Da glaubte aber ein neues
Geschlecht im Rechte zu sein, wenn es sich gegen die
vermeintliche Schönfärberei und das ewige Moralisieren
des alten Herrn empörte.
330
Man datiert den Beginn dieser literarischen Revo-
lution in Deutschland gewöhnlich vom Ende der acht-
ziger Jahre, wo so viele junge Talente in Reih und
Glied eine neue Ästhetik und eine neue Ethik in Dich^
tungen zu gestalten suchten. Die Sehnsucht nach dem
neuen Ideal, nach l'art pour Tart (Auerbach sagte da-
für ,künstliche Kunst*), war aber bei uns durch Fran-
zosen, Russen und Skandinavier schon früher geweckt
worden, machte uns unzufrieden und wohl auch un-
gerecht gegen die Dichter, die damals in Deutschland
auf der Höhe ihres Ruhmes standen. Es kann und soll
nicht geleugnet werden, daß unter diesen Dichtern
Berthold Auerbach derjenige war, der als Künstler den
neuen Forderungen beinahe am meisten zu wünschen
übrigließ.
Als Künstler bloß. In einer bei ihm seltenen Stunde
von Selbstkritik hat er (in einem Briefe an Jakob)
sein glückliches Naturell gerühmt^ das Fehlen an stren-
ger Methode aber beklagt : ,In meinem Schaffen wie
in meinem Leben.' Das Wort Methode war nicht gut
gewählt ; der Fehler lag tiefer, Auerbach war nicht nur
in seinen Dramen ganz unfähig, eine wohlgefügte Hand-
lung aufzubauen und handelnde Menschen plastisch
darzustellen ; auch in seinen besten Novellen ist die
Handlung lose gefügt, und die Menschen werden uns
durch ganz andere Vorzüge vertraut als durch eine
künstlerische Meisterschaft ihrer Zeichnung. Ich habe
es schon gesagt: Auerbach schenkte am liebsten sich
selbst. Sich selbst schenkte uns Auerbach in den Ge-
stalten, die wir darum liebhaben wie ihn; und nicht
etwa bloß hinter den aufrechten Bauern, den weisen
Juden, den weitblickenden Politikern steht der kluge
Kopf Auerbachs mit seihen gütestrahlenden Augen,
sondern Auerbach blickt und spricht auch aus dem
braven Barfüßele, aus dem selbstsicheren Lorle, aus
all den jungen und alten Weiblein seiner Dorfgeschich-
ten und seiner Romane. Für diese Maskerade, die uns
den Dichter hinter jeder seiner edlen Gestalten erkennen
läßt, und für die künstlerische Gefahr dieser Technik
ist keine seiner Dorfgeschichten so bezeichnend wie
,Ivo, der Hajrle'. Es ist die Geschichte eines guten und
begabten Jungen, der für den geistlichen Stand be-
stimmt worden ist, in der katholischen Anstalt sich
zuerst recht behaglich fühlt, dann aber nicht Geist-
licher wird, weil er an diesem Berufe irre geworden ist.
Es ist schon öfter, wenn auch niemals stark genug,
darauf hingewiesen worden, daß Auerbach für diese
Figur sein eigenes Modell war. Auerbach, das Juden-
kind aus Nordstetten, hatte Rabbiner werden sollen und
war dann nach jahrelangem Schwanken Schriftsteller
geworden. Man kann leicht in der frommen Bäuerin,
Ivos Mutter, Auerbachs eigene Mutter wiedererkennen ;
Züge aus des Dichters Jugend in den Erlebnissen des
katholischen Dorf jungen. Nicht genug daran, zuletzt
fällt Auerbach so sehr aus der Rolle, daß er eine An-
spielung auf seine eigene poetische Sendung wagt ; Ivo
ist (dank einem sehr romanhaften Zufalle) bürgerlicher
Sägemüller geworden, spielt aber abends gern auf sei-
nem Waldhorn und freut sich, wenn Burschen und
Mädchen den fernen Klängen lauschen: ,Wenn ich
weiß, daß die Töne weit hinausfliegen und noch anderer
Menschen Herz erfreuen, da ist mirs noch viel lieber,
und ich bin noch viel fröhlicher und besser.* Achtet
man nun genauer auf diese Beziehungen, so entdeckt
man plötzlich, wie farblos, wie wenig katholisch die
Seelenkämpfe Ivos sind, wie wenig katholisch sein
332
religiöser Gegensatz zu den Eltern ; Auerbach hat ein-
fach, wie in seinem Spinozaroman, den eigenen jugend-
lichen Abfall vom orthodoxen Glauben geschildert.
Man vergleiche, um die artistischen Mängel beider Ge-
stalten deutlich zu sehen, den Spinoza in Kolbenheyers
,Amor Dei* und den alten Geistlichen in Anzengrubers
,Pfarrer von Kirchfeld*. Auerbach konnte immer nur
sich selbst schenken, weil er nur sich selbst darstellen,
nur sich selbst reden lassen konnte.
Der Fall Ivo ist nicht der einzige dieser Art ; vermutlich
ist auch ,Der Tolpatsch* — er heißt im ersten Entwurf
,,Der Hemdklunker* *i) — nach einem jüdischen Mo-
dell gezeichnet.
Und dennoch. Es ist nicht wahr, daß die Artisten uns
reicher gemacht haben. Einen solchen Prachtmenschen,
wie Auerbach einer war, trotz alledem, hat uns die
Artistenpoesie der letzten Jahrzehnte nicht wieder ge-
schenkt. Wir lieben in ihm einen Menschen, dessen
Herzenswärme durch keinen Kunstverstand gekühlt
worden ist.
Wir wollen ein bißchen ehrlich und dankbar sein.
Auerbach darf seinen Platz nicht beanspruchen neben
den Ganzgroßen der Weltliteratur; auch in seinen
schwächsten Stunden aber hat er sich ja selbst nicht
I) Für künftige Auerbachforscher die Bemerkung, daß das Wort „Hemd-
klunker" oder „Hemmedglonker" nicht ganz so wie „Tolpatsch** die Be-
deutung eines ungeschickten Lümmels hat. In Nordstetten selbst habe ich
erfahren, daß die Redensart „ein Kerle wie ein Hemmedglonker" einen
jungen, nachlässig gekleideten Burschen bezeichnet, der dumme oder lose
streiche macht. In Konstanz findet alljährlich zur Fastnachtszeit ein Um-
zug der „Hemdglonker" statt; die Schüler marschieren, Hemden über ihren
Kleidern, unter Absingung eines kräftigen Gassenhauers, durch die Straßen
und bringen allen ihren Lehrern eine gemütliche Katzenmusik. Wenn der
Lehrer am Fenster erscheint, wird er mit einer keck humoristischen An-
sprache begrüßt und antwortet ebenso launig. ,,Glonkern*' heißt dort ungefähr
ebensoviel wie „bummeln**.
333
so hoch gestellt. Er hat sich nur mitunter Ziele gesteckt,
die seiner naiven Kunst unerreichbar waren; darum
versagte er in seinen historischen Romanen ebenso wie
in seinen weit ausgreifenden Zeitromanen (unter denen
aber vielleicht der Dreibänder , Waldfried* doch noch ein
neues sinniges Publikum finden wird; ein treuer Süd-
deutscher hat da die Volksgeschichte des deutsch-
französischen Krieges geschrieben.) Er versagte auch
leicht als Volkserzieher, in seinen Kalendergeschichten,
weil er oft zu salbungsvoll ins Predigen geriet. Aber seine
lieben Dorfgeschichten wollen wir uns nicht nehmen,
uns durch unser eigenes Lächeln nicht schlecht ma-
chen lassen. Kunst hin, Kunst her ! Auerbach war uns
und kann uns wieder sein: ein Mehrer der Freude am
Leben. , Diese Kunst ist Freude am Leben*, hat er
einmal von der Malerei der Niederländer gesagt. Wie
wir die Gestalten des ungleich größern Rembrandts nicht
missen möchten, so wollen wir auch auf die Bekannt-
schaft, auf den Umgang mit den Auerbachschen Mädeln
und Männern und alten Frauen nicht verzichten, die nur
so von Güte und Klugheit strotzen und von ihrer eigenen
Schönheit. Die Modelle dieser Gestalten seien in Nord-
stetten nicht zu finden, auch nicht im Schwarzwald
oder sonstwo in Deutschland? Ein Grund mehr, sie in
Auerbachs Dorfgeschichten zu suchen am Tage seiner
fröhlichen, ganz und gar nicht feierlichen Auf erstehung."
334
VIIL (zu Seite i86).
Meinen Jungfernaufsatz, eben den Abschiedsgruß
an den herzlich verehrten, nach Wien berufenen
Lehrer, habe ich weder unter dem Wust meiner Papiere
noch das Zeitungsblatt in einer Prager Büchersamm-
lung auftreiben können. Der jugendliche Überschwang
würde auch nur einen einzigen Menschen interessieren,
mich selbst. Der Zufall wollte es aber, daß Ambros we-
nige Tage nach meiner Ankunft in Berlin, wohin ich
im Sommer 1 876 ausgewandert war, starb und so der erste
Aufsatz, den ich in meiner neuen Heimat schrieb, wie-
der ein Abschiedsgruß für Ambros wurde, der Nekrolog.
Ich finde auch den Stil dieses ungenügenden Versuchs er-
bärmlich, will aber doch einige Stellen um der Sache wil-
len mitteilen; das ,, Ganze'* stand in Paul Lindaus „Ge-
genwart** am 15. Juli 1876.
„Die ganze musikalische und literarische Welt wußte,
daß AugustWilhelmAmbros Verfasser einer grund-
gelehrten Geschichte der Musik ist, man kannte ihn
als Musikkritiker von unglaublicher musikalischer Be-
lesenheit und seltener Wärme für oder gegen seinen
Gegenstand, als Komponisten von strenger Schule und
feinstem Geschmacke, als einen Kunsthistoriker von
enthusiastischem Forschertrieb und erstaunlicher Rari-
tätenkenntnis, doch nur seine Bekannten wußten, daß
335
dieser merkwürdige Kopf mit seinen überfüllten Spei-
chern voll der gründlichsten juristischen, philologischen,
historischen und vor allem musikalischen Kenntnisse,
beherrscht wurde von einem der besten Herzen, die je
für menschliche Ideale geschlagen haben. Wäre Jean
Paul auch nicht einer seiner Lieblingsschriftsteller ge-
wesen, man wäre doch im Gespräche mit Ambros die
Erinnerung an Jean Panische Helden nicht leicht los
geworden.
Eine ruhig abwägende Würdigung seiner fach-
männischen Tätigkeit müßte der Feder eines Fach-
mannes für ein Fachblatt vorbehalten bleiben; als
Mensch jedoch fordert Ambros die allgemeine Teil-
nahme, welche ja glücklicherweise und zur Förderung
idealen Strebens bei besonderen Gelegenheiten, bei
Jahresfeiern und Todesfällen, ohne die lästigen Dämpfer
der zurückhaltenden Alltagssprache sich äußern darf.
Die haarscharfe, abgeschliffene, darum aber auch dünne,
allzu biegsame Sprache unserer werkeltäglichen Zeit
möchte man bei der Erinnerung an die rührende Ge-
stalt des jüngst Verstorbenen vertauschen gegen den
überschwänglichen Redefluß der schönen Seelen des
,TitanS oder gegen den stachellosen Witz des Armen-
advokaten Siebenkäs. Wie gesagt, man wird die Er-
innerung an Jean Paul nicht los,^ wenn man an Ambros
denkt, vielleicht den letzten Jünger Jean Panischen
Stils, vielleicht den letzten Hüter von Jean Pauls war-
mender Geistesflamme.
Ambros war ein Alleswisser von stupender Gelehr-
samkeit und doch kein moderner Gelehrter, ein Enthu-
siast für alle möglichen Ideale und doch kein mo-
derner Kulturkämpfer, er war ein beinahe nationalitäts-
loser Humanist und doch kein moderner Kosmopolit ;
336
er war eben kein , moderner* Mensch, sondern mit
seinen sechzig Jahren ein Vertreter der alten Zeit,
welche den Namen der , guten' alten Zeit verdiente,
wäre sie von vielen solchen Leuten vertreten. Wie sich
diese scheinbaren Gegensätze in demselben Manne ver-
binden konnten, das mag ein kurzer Blick auf die wich-
tigsten Momente seines Entwickelungsganges erklären.
August Wilhelm Ambros wurde (am i6. November
1816) zu Mauth, einem kleinen böhmischen Städtchen,
geboren; Böhmen war damals und noch viele Jahre
später ein Land ohne Nationalitätsbewußtsein, ein
Land, dessen beide jetzt einander so feindlichen Volks-
stämme sich nur dadurch unterschieden, daß die Deut-
schen das Tschechische noch schlechter als das Deutsche
sprachen, die Tschechen das Deutsche noch schlechter
als das Tschechische. Erst das Jahr 1848 hat in Böh-
men die Frage nach der Nationalität ernsthaft und all-
gemein auftauchen lassen ; erst damals begann sich die
Bevölkerung allmählich in zwei gegnerische Lager zu
trennen, und dabei mochte es oft vorkommen, daß
selbst hervorragenden Persönlichkeiten in dem einen
Lager nicht nur die Kampflust gegen die Brüder von
vorgestern im andern Lager, sondern geradezu das Be-
wußtsein von dem Nationalitätsbegriff abging; noch
heute gibt es in Prag mehr als einen schwarzgelben Mann
aus älterer Schule, der zur deutschen Sache geschwo-
ren hat, weil die Quellen aller Bildung in Böhmen
deutsch sind, der aber diesem Schwüre nur insofern die
Treue hält, als er in deutscher Sprache denkt, spricht
und schreibt. Ein Deutscher in diesem Sinne, ein pla-
tonischer Deutscher ohne politisches Bedürfnis, ohne
die kleinste politische Ader, ein deutsch sprechender
Europäer war Ambros.
22
337
Die Studien, welche er an österreichischen Anstalten
betrieb und die ihm 1839 die juridische Doktor-
würde eintragen, konnten unmöglich einen andern
Geist in dem jungen Manne wecken; der Unterricht
lag in den Händen von Geistlichen oder geistlich er-
zogenen Männern, welche dem Schüler wohl ihr nicht
selten bedeutendes Detailwissen übermitteln konnten,
die aber selbst gewöhnlich zu wenig Bildung besaßen,
um den Geist der jungen Generation zu freier Beherr-
schung des Wissensmaterials zu schulen. Überdies
mußte Ambros seine Lieblingsfächer lebenslang neben
einem Beruf treiben, der damals in Österreich — ,das
sind jetzt überwundene Zeiten* würden die Offiziösen
sagen — dem geistigen Streben nicht eben freundlich
gegenüberstand; Ambros trat nämlich nach kurzer
Tätigkeit bei der Finanzprokuratur zu der Staatsan-
waltschaft über, wo er es bis zu der Bedeutung eines
Oberstaatsanwalts-Substituten brachte. Charakteristisch
für sein Wesen, charakteristisch für die Unmöglichkeit
eines Zusammengehens von Staatsanwalt und Schrift-
steller ist es, daß Ambros bald nach 1848 als Substitut
des Generalprokurators gegen den Redakteur des , Kon-
stitutionellen Blattes* mit einer Klage auftreten mußte,
obwohl er selbst als Musikschriftsteller Feuilletonist
dieses Blattes war. Nur eine Natur wie Ambros, der
im Reiche der Kunst bei fast kindlicher Unkenntnis der
Verhältnisse irdischer Reiche lebte, dessen Milch from-
mer Denkungsart von keinem Tropfen politisierenden
Drachengiftes in Gärung gebracht werden konnte, nur
eine solche Natur konnte in Österreich Staatsanwalt
und Tagesschriftsteller zugleich sein ohne Schädigung
des eigenen Charakters ; seine Künstlerseele sah keinen
Zwiespalt in der Beamtenstellung eines österreichischen
338
Schriftstellers, während ein Grillparzer in ähnlichen Ver-
hältnissen sich im Kampfe verbitterte.
Trotz dieser berufsmäßigen Zersplitterung der Geistes-
kräfte gelang es dem universellen Kopfe, sich zu einem
großen Werke zu sammeln, zu seiner vierbändigen,
leider unvollendet gebliebenen , Geschichte der Musik*,
die mit deutschem Sammelfleiß die Entwickelung der
Musik so ungefähr von der vorweltlichen Harmonie
der Sphären an verfolgt; in den Augen von Musik-
gelehrten hat dieses Buch vielleicht nur den einen Fehler,
daß es auch für Laien lesbar und fesselnd ist. Von
seinen Monographien musikologischen und überhaupt
kunsthistorischen Inhalts ragt durch liebevolle Dar-
stellung und erschöpfende Behandlung die Arbeit über
den ,Dom zu Prag* hervor, ein wertvoller Beitrag zu
der Geschichte der gotischen Baukunst und ihrer Blüte
in Böhmen zur Zeit der luxemburgischen Kaiser ; eine
solche kunsthistorische Abhandlung würde von einem
Jünger der jetzt herrschenden Schule vielleicht ob-
jektiver verfaßt werden, kritischer, — kälter, aber nie-
mand könnte für sein Thema lebhafter interessieren,
niemand so persönlich für jeden Strebepfeiler, jeden
Grabstein, jede Fiale eintreten, wie der warmblütige
Ambros.
Seine wahrhaft belebende Wärme für den jeweilig
vorliegenden Gegenstand — und ihn beschäftigte
nur, was erwärmen konnte — machte ihn als Dozenten
zu einem unvergeßlichen Ausnahmsmenschen der Ka-
theder für die wenigen, welche ihn als Universitäts-
professor kannten; saubere Kollegienhefte freilich, in
denen man Schwarz auf Weiß nach Hause tragen kann,
was schon im Buche steht, wissenschaftliche Reper-
torien, Herbarien des Wissens waren seine Sache nicht,
22* 339
sondern frische, freudige Mitteilung alles dessen, was
ihm an erläuternden Tatsachen und Zitaten im Augen-
blicke einfiel. Aber was fiel diesem Universalkopfe nicht
alles ein! Wenn er seinen Vortrag begann, suchte er
jedesmal, offenbar mit großer Selbstüberwindung, den
gemessenen Ton eines würdigen Kathederveteranen an-
zuschlagen ; doch schon nach wenigen Worten blickten
die kleinen, von hundert Fältchen umspielten klugen
Augen von seinem Manuskripte auf, Ambros war wie-
der er selbst, und das Feuerwerk seiner Rede begann
aus dem Stegreif zu prasseln. Sein seltener Fleiß hatte
alles Bedeutende gesehen oder gelesen, sein erstaun-
liches Gedächtnis hatte alles behalten; seitenlange
Zitate in alten und neuen Sprachen, plastische Schil-
derungen nach einem vor Jahren empfangenen Ein-
druck und historische Notizen in erdrückender Fülle
fuhren scheinbar wirr durcheinander, bis der Gegen-
stand des Vortrags wie der Mittelpunkt eines Coreggio-
schen Bildes immer heller aus dem Chaos hervortrat.
Wenn dann die Glocke den Schluß der Stunde ver-
kündete, wenn Ambros schneller und schneller sein
Material los zu werden trachtete, wenn er mit dem Hute
in der Hand, wenn er zwischen Tür und Angel noch
weiter sprach, weiter sprach, wenn ihm seine vier Zuhörer
das Geleite auf die Straße gaben, dann konnte wohl ein
vorüberwandelnder kuhmelkender Amtsgenosse über
den Feuereifer des ewig jugendlichen Ambros lächeln,
— dessen kleiner Hörerkreis hing doch mit unwandel-
barer Treue an dem merkwürdigen Lehrer. Ich erinnere
mich besonders lebhaft an eine Szene, die Ambros als
Meister der Kunst des Improvisierens erscheinen läßt:
als Wilhelm Jordan, der Rhapsode, in dem kleinen
Hörsaal erschien und Ambros ihm vor uns ein Priva-
340
tissimum hielt. Ich habe diese Szene viel später, wieder
in einem Nekrologe, dem für Wilhelm Jordan, festzu-
halten versucht („Berliner Tageblatt*' 12. Juli 1904) und
lasse das Blatt hier folgen, auch weil meine Begeiste-
rung für Jordans Stabreime und meine erste Begeg-
nung mit dem ragenden Manne noch in meine Prager
Jahre fällt.
,, Unterwegs traf mich die Nachricht von dem Tode
Wilhelm Jordans, der zum Sänger der Nibelungen ge-
worden ist wie Gabillon zum unvergleichlichen Dar-
steller Hagens: beide wären lieber in ihrem Leben
Draufgänger wie die alten Recken gewesen.
Zwischen seinem fünfzigsten und seinem achtzigsten
Jahre habe ich Jordan von Zeit zu Zeit gesehen und
gesprochen. Einige Male flüchtig in Berlin ; hier, wo er
sich nicht nach Gebühr gewürdigt fühlte, einmal nur
länger und im intimsten Kreise. Dreimal unterwegs.
Von diesen Begegnungen möchte ich etwas erzählen;
und wie sich das Bild Jordans bei diesen Begegnungen
veränderte und verschob.
Im Jahre 1871 hörte ich ihn seine ,,Nibelunge** zum
ersten Male vortragen, in Prag. Wir deutschen Studen-
ten in Prag waren so ganz das richtige Publikum für
den nationalen Stoff, für die etwas chauvinistische
Tendenz. Alles begeisterte uns. Selbst die ostpreußischen
Anklänge seiner Sprache (er deklamierte übrigens vor-
züglich und selbstbewußt wie ein Schauspieler, der
Virtuose in Heldenrollen ist) entzückte uns. Die jungen
Dichterlinge unter uns fingen an in Stabreimen zu
reden und Briefe zu schreiben. Wir gingen mit Jordan
durch dick und dünn.
In jenen Tagen war es, daß der verehrte Dichter
plötzlich in einem Kolleg erschien, das der berühmte
341
Musikhistoriker A. W. Ambros vor vier Zuhörern auf
der alten Prager Universität hielt. Diese vier Zuhörer
waren: eine Dame, die als eine der ersten den kleid-
samen Doktorhut auf das prachtvolle Haar setzte;
ein junger Prinz aus altem Hause, der später österrei-
chischer Ministerpräsident wurde; und ich, der ich
nicht verraten will, was mich eigentlich in das Kolleg
über griechische Musik geführt hatte. Wir drei ver-
standen nämlich herzlich wenig von der lydischen und
von den anderen griechischen Tonarten. Nur der vierte
Zuhörer war Musiker ; vielleicht begriff er wirklich die
lydische Tonart. Zu uns gesellte sich also eines Tages
die einprägsame Gestalt Wilhelm Jordans.
Ambros, ging rasch von seinem Thema auf Homer
über, sprach Vermutungen aus über die Art, wie die
griechischen Rhapsoden sich etwa musikalisch bei
ihren Vorträgen begleitet haben mochten, und endete
mit einem Lobgesang auf Jordan, den Erben Homers.
Nach dem Kolleg durfte die Hälfte der Hörerschaft,
der Musikalische und ich, dem Professor und dem Dich-
ter das Geleite geben. Vom Clementinum, dem alten
Gebäude der philosophischen und der theologischen
Fakultät, über die Nepomukbrücke hinüber auf die
Kleinseite. Auf dem Wege wurde darüber verhandelt
(natürlich nur zwischen dem Gelehrten und dem Rhap-
soden), ob dieser nicht seine Vorträge durch ein
Akkompagnement von Instrumenten dem griechischen
Vorbilde noch ähnlicher machen könnte. Ambros
— eigentlich drollig in seinem böhmisch-deutschen
Eintreten für eine germanische Wiederbelebung alt-
griechischer Kunst — ganz Feuer und Flamme. Er
wollte selbst die einfachen Motive, die er verlangte,
erfinden und setzen. Für eine Flöte und zwei Violinen,
342
wenn mein Gedächtnis nicht täuscht. Jordan, schon
damals ganz hohepriesterliche Würde und wie beson-
ders und extra von der Sonne Homers beschienen,
wollte sich's überlegen. Das Kostüm beschäftigte ihn.
Er spottete darüber, daß er seine Nibelungen im Frack
vortragen müsse. Ein priesterliches Gewand schwebte
ihm vor. Er scheute nur, mit seinem scharfen Auge für
die Grenzen des Zulässigen, die Lächerlichkeit.
Als wir Studenten wieder allein waren, brummte uns
der Kopf von all den Anregungen. Aber wir schüttelten
die brummenden jungen Köpfe, und der erste Zweifel
an der göttlichen Sendung Jordans stieg in uns auf.
Ebensowenig wie von der künstlerischen Wirkung,
von dem seelischen Inhalt der griechischen Musik
wußten wir von der Persönlichkeit, von der Umwelt
Homers, nicht viel mehr von der ursprünglichen Form
der homerischen Gedichte. Wie war es denkbar, eine
unklare, eine unbekannte Erscheinung zum Vorbilde
zu wählen? Und wenn es möglich gewesen wäre —
waren denn die altgriechischen Rhapsoden wirklich
Volkssänger gewesen? War nicht alle Kunst in ihren
Anfängen aristokratisch ? Und war denn dieser schöne
Mann im Frack, dieser Wilhelm Jordan, der vor den
wohlhabenden Deutschen Europas und Amerikas aus-
wendig seine Nibelunge sprach, ein Volkssänger?
Seine Nibelunge mit Musikbegleitung erschienen uns
nicht als eine Annäherung, nein, als noch weitere
Abkehr von der Urzeit der Poesie. Es wäre, wenn es
glückte, eine neue Mode geworden. Keine Volkskunst.
Fünfzehn Jahre später sah ich Jordan wieder. Er
war nicht mehr so schlank, sonst zeigte er kaum Spuren
des Alters. Zu Hanau war's, bei Gelegenheit der Er-
richtung eines Denkmals für die Brüder Grimm. Das
343
Vertrauen und das Organisationstalent Theodor Momm-
sens hatte mir die Einladung vermittelt. Solche Feste
waren damals nicht so alltäglich wie heute. Jacob
Grimm verdiente ein Denkmal. Jordan hatte das Fest-
spiel verfaßt und war von Frankfurt zu seiner Feier
herübergekommen. Von Jacob Grimm war wenig die
Rede. Mehr vom Landesvater, von den Vätern der Stadt,
vom Komitee. Jordan mochte das stark empfinden.
Temperamentvoll sprang er beim Festessen auf und
hielt eine zündende Rede — auf die Künstler und den
Dichter des Festspiels.
Gegen zwei Uhr morgens saßen wir dann allein in
einer kalten Stube unseres Gasthofes. Jordan malerisch
in seinen Pelz gehüllt. Bei einer Zigarre war ich um
diese Stunde pedantisch oder rücksichtslos genug,
meiner Verehrung für Jacob Grimm Ausdruck zu geben.
Der allein, aus eigener Kraft eine Disziplin geschaffen
hatte, die nun hundert Professoren und Privatdozenten
ernährt oder betitelt, die Germanisten, auf die Jordan
aus Gründen schlecht zu sprechen war. Die Führer der
Schule hatten ihn nicht anerkannt.
Vorsichtig durfte ich sagen, daß ein Teil von Grimms
Lebenswerk, seine Studien zur altdeutschen Mythologie,
durch die Dichtungen von Richard Wagner und Wil-
helm Jordan über die gelehrten Kreise heraus gedrun-
gen wären. Da kam ich aber schön an. Schon der Name
Wagners war wie ein rotes Tuch für Jordan. Wagner
habe die Edda durchaus falsch verstanden. Wagners
germanische Götter seien blutlose Schemen. Er, Jordan,
habe ganz allein den epischen Vers der Germanen wie-
derbelebt, den Stabreim; und so habe er, Jordan, er
ganz allein auch den Glauben der alten Germanen zu
neuem Leben geweckt. Wer ihn in dieser nächtlichen
344
Stunde gläubig gehört hätte, der hätte fast annehmen
müssen: Jordan habe die Staatsreligion der abendlän-
dischen Völker vernichtet, habe die Götter Walhalls
wieder zu Ehren gebracht oder doch durch rationali-
stische Umdeutung aus der Vergangenheit gerettet.
Auf mich hat diese tiefnächtige Unterhaltung einen
starken Eindruck gemacht. Nicht ganz im Sinne Jor-
dans. Wie der Versuch, das Rhapsodentum neu er-
stehen zu lassen, war ja auch das heiße Bemühen,
die Götter der Edda zu uns reden zu lassen, nicht volks-
tümlich, nicht in der natürlichen Entwicklung begrün-
det. Der Neubau von Walhall war künstliche Nach-
ahmung, bei Jordan wie bei Wagner. Tote Symbole
waren uns die Götter und Helden der Edda nicht minder
als das abgesetzte Göttergesindel Homers. Götter im
Exil die einen wie die anderen. Und ich konnte den
Hohenpriester dieser vermeintlich nationalen Götter
lange nicht anders sehen als im Gasthofzimmer, in
seinen kostbaren Pelz gehüllt, opfernde Rauchwolken
aus einer Zigarre paffend.
Wieder beinahe fünfzehn Jahre später, nur wenige
Monate vor Jordans achtzigstem Geburtstage, sah ich
ihn am Ufer des Adriatischen Meeres wieder. In dem
schönen Abbazia. Tags vorher hatte ich mit meinen
Geschwistern und den Kindern eine wundervolle Fahrt
gemacht, kreuz und quer durch das Quarnero. Bei
allem Abstand der Zeiten doch homerische Eindrücke,
wie bei jeder Seefahrt zwischen Inseln des Mittelmeeres.
Und jetzt stand der Rhapsode Jordan vor uns. Immer
noch ungebrochen in seiner ragenden Reckengestalt.
Über eine Stunde weit schritt er am steilen Gestade
mit; nur den Berg zu erklettern verboten ihm die
Jahre.
345
Eine gesteigerte Feierlichkeit kleidete ihn gut. Dazu
kam etwas, was ich im ersten Augenblicke nicht be-
achtet hatte. Ich hatte ihm kurz vorher weh getan,
weh tun zu müssen geglaubt. Jordan, der schon früher
die Ideen Darwins und eigentlich auch die Tat Bismarcks
ein wenig zu seinen Verdiensten rechnete, hatte in
einem schwer gereimten Streitgedichte den armen
Nietzsche wie einen Plagiator Jordans behandelt. In
einer ebenso schwer gereimten Antwort hatte ich
mich (in der , Nation*) über diese Ansprüche lustig
gemacht.
Damals am Gestade der Adria, verteidigte der Greis
seine Ansprüche. Er glaubte wirklich, die Deszendenz-
lehre zuerst (sieben Jahre vor Darwin, in seinem Buch-
drama ,Demiurgos*) verkündet zu haben; er glaubte
wirklich, Bismarck habe sich bei der Einigung Deutsch-
lands an Jordan angelehnt. Und noch bestimmter wurde
eine andere Vorstellung sichtbar. Er sah in sich den
einzig berechtigten Nachfolger Goethes. Manche Zu-
fälligkeit mochte mitgewirkt haben. Auch Jordan lebte
jahrzehntelang in Frankfurt. Auch Jordan war (im
Jahre 1848) beinahe Minister gewesen, Marinerat, so
etwas wie deutscher Marineminister. Auch Jordan —
und das war wesentlicher — rühmte sich einer uner-
hörten Herrschaft über die widerspenstige deutsche
Sprache, auch Jordan hatte weit über Europa hinaus
internationale Huldigungen erfahren, auch Jordan
teilte seine Liebe zwischen der Poesie und der Natur-
wissenschaft.
All meine Verehrung und unverminderte Liebe für
den Dichter der ,Nibelunge' konnte mich nicht ver-
hindern, zu sehen, wie falsch der Standpunkt Jordans
bei dieser Selbsteinschätzung war.
346
Ich besitze eine reinere und glücklichere Erinnerung
an Jordan. Kurz nach jenem Zusammentreffen in
Hanau durfte ich in Berlin selbst, in dem feindlichen
Berlin, einen Tag mit ihm verbringen. In einem Hause,
wo er sonst nur von seinen Kindern und Enkeln um-
geben war. Bei und nach einem fröhlichen Mahle.
Nach einem guten Tropfen erinnerte einer von uns
an das virtuose Weinlied, das dem Dichter in jüngeren
Jahren gelungen war. Damals habe ich den feierlichen,
allzu feierlichen Jordan herzlich und herzhaft lachen
sehen. Und als dann gar eine Stelle aus demJNibelungen-
Gesang , Siegfrieds Tod' zitiert wurde, da litt es den
alten Wandersänger nicht länger. Die guten Gerichte
und der gute Tropfen waren vergessen. Die Hausfrau
(seine Tochter) mußte warten. Wohl zwanzig Minuten
lang sprach Wilhelm Jordan, ohne zu stocken, aus dem
Stegreif das Gedicht. Niemals habe ich ihn öffentlich
mit solcher Wärme, mit solcher Hingerissenheit
sprechen hören. Auch die Form wurde noch lebendiger
als sonst. Wie von selbst, wie vom Geiste der Sprache
gefordert, so leicht und natürlich fügte sich Assonanz
an Assonanz, und der Dichter liebkoste ordentlich mit
seinem ostpreußischen Tonfall den alten epischen Vers
der Germanen. Wie der Großvater alte Märchen er-
zählt, so sagte Jordan sein Gedicht. Zu den Kindern ge-
wandt. Mit inbrünstigem Genuß an seiner dichterischen
Schöpfung. Ja, das war ein Dichter. Das war Schaffens-
freude eines Dichters.
Wilhelm Jordan ist nicht der Erbe Homers gewesen,
auch nicht der Erbe Goethes. Er hat seinem Volke die
alten Heidengötter und Heroen nicht wiedergebracht
und auch der Wissenschaft nicht neue Bahnen ge-
wiesen. Wenn wir aber Umschau halten unter den
347
Epigonen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
und die Dichter suchen, die sich an große Aufgaben
gewagt und das Werkzeug zur Lösung dieser Aufgaben
besessen haben, Sprachkraft, dann finden wir nicht
viele, die wir dem alten Recken an die Seite stellen
könnten, der ein Rhapsode wurde. Geibel hatte nicht
den starken Gedankenschwung, Gutzkow nicht die
Schönheit der Form. Der einzige Hebbel hat auch als
Neudichter des Nibelungendramas seinen Zeitgenossen
Jordan übertroffen durch die Tiefe und Wärme seiner
Gestaltungskraft. Die Menschen der Edda sind erst
bei Hebbel auferstanden. In der Komposition aber des
ungeheuren Stoffs, im Reichtum der Sprachmittel wird
Wilhelm Jordan so bald seinen Meister nicht finden.
348
Nachwort.
Dieser erste Teil meiner Lebenserinnerungen war
eben bis zum letzten Bogen in der Druckerei gesetzt
worden, als der Weltkrieg ausbrach. Die Ausgabe des
Buches unterblieb auf meinen Wunsch ; der Tod war
über die Menschheit gekommen, das Leben eines ein-
zelnen alten Stubenhockers bedeutet wenig mehr, noch
weniger die Geschichte eines solchen Lebens.
Vertragspflicht zwingt mich jetzt, meine Einwilli-
gung zum Erscheinen dieser Blätter zu geben. Sie
sind unzeitgemäß, in jedem Sinne. Selbst in dem
Kampfe der österreichischen Parteien gehöre ich zu
keinem der politischen Lager, ein Mann ohne Uniform.
Höchstens daß mein Eintreten für eine Revolutio-
nierung der Schule, für eine gerechte Auswahl der tüch-
tigsten Schüler einige Aufmerksamkeit verdienen
könnte.
Vor 400 Jahren lebte in einer ganz andern Schick-
salszeit ein Mann ohne Uniform, der freilich einige
Mängel der Parteilosigkeit in allzu hohem Grade besaß,
Erasmus ; der erbitterte zugleich die Anhänger Roms
und die Anhänger Luthers, da er sich nicht auf Bi-
belworte berief, sondern den weisesten Griechen zu
seinem Heiligen machte :, San cteSocrates, orapronobis.*
Sancte Bismarck, magister Germaniae, ora pro nobis.
Meersburg am Bodensee, im September 1917«
F. M.
349
In meinem Verlage erschien:
Fritz Mauthner
Wörterbuch der
Philosophie
Neue Beiträge zu einer Kritik
der Sprache
2 Bände
Geheftet M.32.— Leinen M.40.— Halb-
pergament M. 44.—, Halbfranz M. 50.—
Leipziger Neueste Nachr.: „Tiefgründige Gelehrsamkeit ver-
bindet sich mit einer persönlich-temperamentvollen Schreibweise.
Kurz, ein Wörterbuch der Philosophie, das wirklich interessant
zu lesen ist und für das man dem Verfasser und dem Verlage in
gebildeten Kreisen reichlich danken wird."
„März": „Ein ganz köstliches Buch ist Fritz Mauthners Wörter-
buch der Philosophie. Es möge niemand auf den harmlosen Titel
hereinfallen und in dem Wörterbuch eine Bildungsscharteke, eine
Art philosophischen Konversationslexikons suchen. Es möge über-
haupt der fleißige Gebildete, der Käufer anderer Lexika, die Hände
von diesem Buche lassen, das vom ersten Satze an frech und
herrlich ist, und dessen Autor durch die Hallen der Philosophie
schreitet, nicht wie ein Adorant durch Tempel alter Kulturen, son-
dern wie Herkules durch den Stall des Augias."
11 Georg Müller Verlag / München !
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Vom gleichen Verfasser erschienen :
Der letzte Tod
des Gautama Buddha
Roman
Geheftet M. 2.—, gebunden M.
Luxusausgabe M.20. —
3.50,
Neue Freie Presse, Wien: „Von seinen schweren philosophi-
schen Arbeiten über die Kritik der Sprache, die in dem bewunde-
rungswürdigen , Wörter buch der Philosophie' ihren Gipfelpunkt
erreichten, hat Mauthner frei und lässig zu kurzem Erholungs-
werk sich erhoben und ist zu seiner ersten Liebe, zur Poesie,
zurückgekehrt. Und er ist vielleicht niemals dem Urquell des
Poetischen so nahegetreten wie in diesem Werke, über dem zu-
gleich ein heiterer Glanz seines Weisheitsdienstes schimmert. In
einer Sprache, die klar und durchleuchtend ist wie die Luft auf
dem Firne, erzählt uns Mauthner vom Sterben des großen Buddha.'«
Gespräche im Himmel
Geheftet M. 4.—, gebunden M. 5.50,
Luxusausgabe M. 20. —
Nürnberger Ztg.: „Hier spricht ein abgeklärter Geist, ein Mensch,
der durch Tadel bessern möchte, ein Freund gesunden Fortschritts,
einer, der vor der Vergangenheit Ehrfurcht empfindet. Was er uns
zu sagen hat, wie er es sagt, wie er die deutsche Sprache meistert,
das allein könnte genügen ! Der Reichtum aber an neuen und
kritischen Gedanken macht mir das schlichte Buch doppelt wert,
und es wird jedem so gehen, der es zur Hand nimmt und es liest."
I Georg Müller Verlag / München
Im gleichen Verlage erschien ferner:
Bibliothek der Philosophen
Geleitet von Fritz Mauthner
Von den ersten zehn Bänden der Sammlung" sind die drei
folgenden von F. Mauthner herausgegeben:
Band V und VIII
Agrippa von Nettesheim
über die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften
2 Bände. Jeder Band geheftet lo Mark, gebunden 19 Mark
Band II
Jacobis Spinoza-Büchlein
Geheftet 5 Mark, gebunden 9.50 Mark
Andere Bücher von Fritz Mauthner:
Beiträge zu einer Kritik der Sprache
JJlG OPrS/Clie in Babers Sammlimg „Die Gesellschaft"
Xanthippe
Hypatia
Nach berühmten Mustern
Der letzte Deutsche von Blatna
Die böhmische Handschrift
Vom armen Franischko
Spamersche Buchdruckerei in Leipzig.
Oniveriifyof Toronto
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LOWE-MARTIN CO, Umitod
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