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Full text of "Erinnerungen. I. Prager Jugendjahre"

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MAUTHNER  /  ERINNERUNGEN 


ERINNERUNGEN 


VON 


FRITZ  MAUTHNER 


I. 
PRAGER  JUGENDJAHRE 


517594 

1918 
MÜNCHEN  BEI  GEORG  MÜLLER 


lü 


Inhaltsverzeichnis. 

I.  Horzitz 13 

II.  Prag 17 

III.  Die  Klippschule 21 

IV.  Erste  Sprachstudien 32 

V.  Das  Piaristen-Gjrmnasium 37 

VI.  Ohne  Sprache  und  ohne  Religion 49 

VII.  Und  wieder  die  Piaristen 54 

VIII.  1866 70 

IX.  Das  Kleinseitner  Gymnasium .  85 

X.  Allotria 97 

XI.  Übergang 104 

XII.  Konfession iio 

XIII.  Nationale  Kämpfe 123 

XIV.  Einsame  Fahrt 143 

XV.  Universitätsjahre 158 

XVI.  Streiche  und  Feste x68 

XVII.  Die  erste  Druckerschwärze 183 

XVIII.  Das  erste  Buch 192 

XIX.  Kritik  der  Sprache 204 

XX.  Geschäftiger  Müßiggang 235 

XXI.  Des  Vaters  Tod 24t 

XXII.  Theaterkritik      248 

XXIII.  Abschied  von  Prag 260 

Anhang 269 


III 

llllllllllllll 


Mit  einiger  Verwunderung  sehe  ich  mich  selbst  bei 
der  Arbeit,  meine  Lebenserinnerungen  niederzuschrei- 
ben. Ich  darf  mich  wohl  rühmen,  in  einer  mehr  als 
vierzigjährigen  schriftstellerischen  Tätigkeit  niemals 
meine  Person  in  den  Vordergrund,  die  Person  vor  die 
Sache  gerückt  zu  haben ;  und  da  spreche  ich  in  einem 
ganzen  Buche,  und  gleich  in  dem  ersten  Satze,  nur 
von  mir  selbst.  Dennoch  fühle  ich  keinen  Gegensatz 
zwischen  meiner  scheuen  Lebensführung  und  dieser 
heraustretenden  Lebensbeschreibung.  Es  schien  mir  auf 
die  Dauer  unerträglich,  in  dem  Kampfe  gegen  die  kin- 
dermörderische alte  Schule  stille  zu  schweigen,  nicht 
ein  Bekenntnis  zugunsten  der  neuen  freien  Schule  ab- 
zulegen. So  reifte  der  Entschluß,  die  ganz  gewöhnliche, 
fast  lächerliche  Tragik  der  eigenen  Schulerinnerungen 
zu  erzählen ;  und  über  dem  Bekennen  wird  ja  der  alte 
Erzähler  etwas  schwatzhaft  geworden  sein  und  seinen 
Lesern  auch  Gleichgültiges  vorgetragen  haben.  Die  Bei- 
träge zur  Kritik  der  alten  Schule  sind  aber  die  Haupt- 
sache. Bene  vixit  qui  bene  latuit,  jawohl,  aber :  Mensch 
sein  heißt  ein  Kämpfer  sein ;  und  im  Kampfe  hat  man 
mit  eigener  Person  zu  bezahlen,  gern  oder  ungern. 

Wertvolle  Selbstbiographien  werden  immer  seltene 
Bücher  bleiben.  Wer  so  gut  zu  erzählen  versteht,  daß 
er  auch  schlechten  Stoff  zum  Kunstwerke  umschaffen 


kann,  oder  wer  so  Merkwürdiges  erlebt  hat,  daß  auch 
eine  kunstlose  Darstellung  den  Reiz  nicht  abzuschwä- 
chen vermag,  der  wird  eine  lesbare  Selbstbiographie 
schreiben  können ;  aber  ein  Buch  von  bleibendem  Werte 
entsteht  nur,  wenn  zu  der  künstlerischen  Darstellung 
und  dem  ungewöhnlichen  Erlebnisse  noch  die  Kraft 
hinzutritt,  die  eigene  Seele  wie  mit  den  Augen  einer 
fremden  Überseele  betrachten  zu  können.  Ich  möchte 
also  nur  vorausschicken,  daß  ich  gar  nicht  die  Absicht 
habe,  letzte  Bekenntnisse  zu  bieten,  ein  aufwühlendes 
Buch  von  bleibendem  Werte.  Es  hat  nicht  jeder  die 
inbrünstige  Offenheit  eines  Augustinus,  die  patholo- 
gische eines  Rousseau. 

Eines  aber  sollte  jeder,  so  gut  er  es  versteht,  nieder- 
schreiben und  veröffentlichen:  seine  eigenen  Schuler- 
innerungen. Denn  die  Schule  hat  seit  mehr  als  hundert 
Jahren,  eigentlich  langsam  schon  seit  dem  Aufkommen 
der  mittelalterlichen  Gelehrtenschule,  eine  solche 
Macht  gewonnen,  eine  Macht  über  die  Entwicklung  des 
jungen  Menschen,  daß  das  Schicksal  des  künftigen  Ge- 
schlechtes in  hohem  Grade  davon  abhängig  ist,  ob  wir 
taugliche  oder  untaugliche  Schuleinrichtungen  besitzen. 
Einzig  und  allein  von  der  Schule  kann  die  Zukunft  einer 
jungen  Welt  freilich  nicht  abhängig  sein ;  denn  dann 
hätte  die  Menschheit  unserer  Kulturländer  doch  wohl 
schon  längst  zugrunde  gehen  müssen.  Die  kräftige 
Menschennatur  hilft  sich  selbst  gegen  die  elenden 
Schuleinrichtungen  wie  gegen  andere  schlechte  Gesetze. 
Das  Haus  bekämpft  die  Schule.  Selbst  die  Roheiten 
eines  Trunkenboldes  von  Vater  können  für  den  Charak- 
ter des  Knaben  eine  günstige  Wirkung  haben;  der 
Vater  jagt  den  Jungen  von  den^ Büchern  weg  auf  die 
Straße,  wo  für  den  spätem  Kampf  ums  Dasein  aus  dem 

8 


Raufen  mit  Altersgenossen  mehr  zu  lernen  ist  als  aus 
der  Geschichte  des  Königs  Hiskias.  Desto  besser,  wenn 
der  Vater  kein  Trunkenbold  ist,  wenn  der  erfahrene 
Vater  oder  die  mitleidige  Mutter  das  Kind  mit  Bewußt- 
sein von  den  Büchern  fortjagt  und  spricht :  ,,Sei  meinet- 
wegen ein  schlechter  Schüler;  sei  nur  ein  glücklicher 
Junge  und  werde  ein  tüchtiger  Mensch!** 

Unsere  Schule  ist  wie  eine  epidemische  Kinderkrank- 
heit, die  jeder  von  uns  durchmachen  muß;  unzählige 
sind  an  dieser  Krankheit  gestorben,  unzählige  sind  zeit- 
lebens seelische  Krüppel  geblieben.  Es  wäre  gut,  Eigen- 
berichte über  den  Verlauf  der  Krankheit  zu  sammeln. 
Recht  gute  Anfänge  sind  schon  gemacht  worden.  Die 
Gesetzgeber  würden  dann  wenigstens  erfahren,  wie  den 
Schülern  unter  der  Herrschaft  der  alten  Gesetze  zumute 
war.  Der  Leser  müßte  manches  zufällige  Vorkommnis, 
müßte  manches  allzu  persönliche  Urteil  mit  in  den  Kauf 
nehmen;  aber  wir  würden  endlich  einmal  den  Schrei 
der  Kreatur  hören  und  nicht  immer  wieder  die  flüstern- 
de Totensprache  einer  offiziösen  Wissenschaft.  Es  wäre 
vielleicht  überhaupt  günstig  für  die  angewandte  Medi- 
zin, wenn  die  Krankengeschichten  nicht  von  den  Ärz- 
ten, sondern  von  den  Patienten  geschrieben  würden. 

Man  wird  mir  einwenden  wollen,  daß  nicht  alle  er- 
wachsenen Menschen  mit  Haß  und  Zorn  an  ihre  Schul- 
zeit zurückdenken.  Es  gibt  sicherlich  viele  Menschen, 
die  zu  guten  Staatsbürgern  prädestiniert  sind,  die  alle 
Polizeiverordnungen  löblich  finden  und  die  darum  auch 
an  unsern  Schuleinrichtungen  nichts  auszusetzen  wis- 
sen. Es  gibt  ferner  an  allen  unseren  Schulen,  den  nie- 
dersten wie  den  höchsten,  viele  prächtige  Lehrer,  die 
ihren  Beruf  lieben  und  die  in  stetem  Kampfe  mit  dem 
Schulreglement  und  mit  ihren  Vorgesetzen  den  Kindern 


und  den  jungen  Leuten  freundliche  Führer  auf  der 
Höllenfahrt  der  Schule  sind.  Es  kommt  aber  noch  eins 
hinzu;  die  guten  Menschen,  die  mit  manchem  Wenn 
und  Aber  freundlich  und  dankbar  an  ihre  Schulzeit  zu- 
rückdenken, verwechseln  sehr  häufig  die  Stimmung 
der  glücklichen  Jugendzeit,  die  sich  nicht  einmal  von 
der  Schule  unterkriegen  läßt,  mit  der  Schule  selbst; 
wer  es  einstens  ernst  nahm  mit  den  Schulpflichten,  und 
wer  es  nachher  ernst  nimmt  mit  den  Pflichten  gegen 
die  eigenen  Kinder,  der  kann  nicht  so  optimistisch  von 
seiner  Schulzeit  denken.  Ernste  Männer,  die  ernste 
Schüler  waren,  dürften  mit  seltenen  Ausnahmen  einig 
sein  in  einem  Verdammungsurteil  über  die  alte  Schule, 
die  immer  noch  die  unsere  ist. 

Gerade  in  den  letzten  Jahren  konnte  das  jeder  ver- 
nehmen, der  seine  Ohren  nicht  verschloß  für  die  zu  einer 
Anklage  angewachsenen  Klagen  gegen  die  alte  Schule. 
In  den  sehr  lesenswerten  Beratungen  über  die  Einrich- 
tung einer  einheitlichen  Zukunftsschule,  einer  Neu- 
schule, die  die  Kinder  aus  den  Fesseln  einer  rückstän- 
digen Pädagogik  befreien  soll,  hörte  man  immer  wieder 
in  fast  tragischen  Tönen  ein  Verdammungsurteil  über  die 
Schulzeit  der  jetzt  führenden  Lehrer  und  gewiß  über  die 
Schulnot  just  der  begabtestenKnaben.  DieVerteidigungs- 
reden  einzelner  Musterschüler,  die  es  zu  etwas  gebracht 
haben,  vielleicht  weil  sie  Zeit  ihres  Lebens  stets  das  Wirk- 
liche vernünftig  fanden,  machen  in  diesen  rebellischen 
Diskussionen  eher  einen  predigerhaften  als  einen  über- 
zeugenden Eindruck.  Es  soll  mir  recht  sein,  wenn  sich 
die  jungen  Lehrer  auch  auf  mich  alten  Herrn  werden 
berufen  können.  ^ 

Meine  eigenen  Schulerinnerungen  nun  sind  leider 
nicht  typisch  für  die  Leiden  eines  begabten  deutschen 

10 


Knaben.  Ich  bin  als  Jude  geboren  und  habe  meine 
ganze  Schulzeit,  achtzehn  Jahre,  in  dem  schönen  hun- 
derttürmigen  Prag  verbracht,  also  in  einer  schon  da- 
mals sehr  slawischen  Stadt.  Ich  kann  aber  meine  Er- 
innerungen nicht  fälschen  und  muß  froh  sein,  wenn 
durch  diese  beiden  Umstände  ein  wenig  Abwechslung 
kommen  wird  in  die  Einerleiheit  des  Schulfabrikbetrie- 
bes, durch  welchen  ich  hindurchgeschleppt  wurde. 


II 


MIMIIIIIIIM 


lllllllllllllllllllllllllllll 


I.  Horzitz. 

Geboren  bin  ich  zu  Horzitz,  einem  kleinen  Landstädt- 
chen zwischen  Königgrätz  und  Trautenau,  nicht  gar 
weit  von  der  Sprachgrenze;  mein  Geburtsort  gehört 
zum  tschechischen  Gebiete,  doch  war  es  in  meiner  Kind- 
heit noch  ganz  selbstverständlich,  daß  die  Honoratioren 
des  Städtchens  entweder  Deutsche  waren  oder  doch  mit 
einigem  Stolze  etwas  deutsch  redeten.  Zu  den  deutschen 
Honoratioren  gehörten  (damals  noch  selbstverständlich) 
die  jüdischen  Besitzer  der  kleinen  mechanischen  Webe- 
reien. So  ein  Fabrikbesitzer  war  auch  mein  Vater.  Horzitz 
ist  jetzt  bekannter  geworden  durch  die  Tatsache,  daß  es 
am  Tage  nach  der  Schlacht  von  Königgrätz  das  preußische 
Hauptquartier  war.  Für  uns  Kinder  war  Sadowa  einer 
der  nächsten  Ausflugsorte,  Königgrätz  die  nächste 
große  Stadt.  Als  diese  Namen  historische  Berühmtheit 
erlangten,  lebte  ich  längst  nicht  mehr  in  Horzitz. 

In  Horzitz  übernachteten  der  König  und  Bismarck 
nach  der  Schlacht,  der  König  feldmäßig  auf  einem 
Sofa  im  Rathause,  Bismarck  in  dem  Hause  unseres 
Arztes,  das  neben  dem  unsern  lag.  Von  Horzitz  sind  die 
ersten  Briefe  über  die  Schlacht  datiert,  die  beide  Männer 
an  ihre  Frauen  schrieben.  Es  ist  bezeichnend  für  die 
Volksphantasie,  daß  über  den  AufenthaltTdes  Königs 
sich  nicht  so  viele  Legenden  bildeten  wie  über  den  des 
Grafen  Bismarck.  Wahr  ist,  daß  auch  Bismarck  zu- 

12 


nächst  kein  anständiges  Bett  vorfand,  bis  der  Herzog 
von  Mecklenburg  ihm  eins  verschaffte ;  viel  später  warf 
der  Fürst  seinem  ,, Büschchen*'  fast^ heftig  vor,  dieser 
hätte  eine  solche  Wohltat  auf  das  Konto  des  ihm  feind- 
lichen Prinzen  Karl  geschrieben.  In  seinen  Gedanken 
und  Erinnerungen  macht  der  Fürst  dem  Generalstabe, 
also  Moltke,  leise  den  philologischen  Vorwurf,  er  habe 
den  Namen  des  Städtchens  ,,Horritz*'  geschrieben  (wohl 
ein  Druckfehler  für  Hofitz),  gesprochen  werde  ,,Hor- 
sitz** ;  was  wieder  nicht  ganz  richtig  ist.  Ich  schreibe  so, 
wie  der  Name  von  Deutschböhmen  geschrieben  wird; 
ausgesprochen  wird  ungefähr  ,,Horschitz''. 

Nach  der  Monographie  Jahns'  (,,Die  Schlacht  von 
Königgrätz'')  besaß  Horzitz  im  Jahre  1866  drei-  bis 
viertausend  Einwohner,  von  denen  am  Tage  der  Schlacht 
die  allermeisten  entflohen  gewesen  wären.  Beides  wird 
nicht  ganz  stimmen.  Die  Stadt  hatte  über  fünftausend 
Einwohner  und  nur  die  Wohlhabenden  dürften  die 
Flucht  ergriffen  haben ;  natürlich  vor  allem  die  Haus- 
besitzer, deren  Abwesenheit  den  Preußen,  als  sie  die 
Soldaten  und  dann  die  Verwundeten  unterbringen  woll- 
ten, zunächst  unbequem  auffallen  mußte. 

Ich  war  noch  nicht  ganz  sechs  Jahre  alt,  als  wir  Hor- 
zitz verließen.  Ort  und  Gegend  ist  mir  aber  ganz  gegen- 
wärtig geblieben,  weil  wir  noch  viele  Jahre  lang  un- 
sere Schulferien  dort  verlebten,  also  mit  völliger  Frei- 
heit in  der  Landschaft  umherzustreifen.  In  zwei  oder 
drei  Sommern  waren  wir  mit  den  Eltern  da,  nachher 
fielen  wir  einem  Onkel  zur  Last,  der  sich  denn  auch 
später  einmal  die  lärmenden  Neffen  durch  einen  Ge- 
waltstreich vom  Halse  schaffte:  unterhalb  des  Gott- 
hardsberges,  auf  dem  jetzt  das  ernste  Denkmal  für  die 
gefallenen  Preußen  steht,  hauste  zum  Schrecken  der 

13 


Einwohner  ein  Räuber,  dessen  gutmütige  Art  an 
Raabes  ,,Horacker''  erinnern  mochte;  der  Onkel  aber 
machte  sich  die  Schauergerüchte  zunutze,  packte  uns 
zusammen  und  schickte  uns  eines  Tages  nach  Prag, 
mit  der  Begründung,  wir  wären  in  Horzitz  unseres 
Lebens  nicht  sicher.  Viel  Geldwert  wäre  bei  uns  Knaben 
nicht  zu  holen  gewesen. 

Das  Städtchen  liegt  genau  so  da  wie  andere  Land- 
städte Böhmens.  Ein  sehr  großer,  viereckiger  Markt- 
platz, „Ring**  genannt,  ist  mehr  die  Stadt  selbst  als 
bloß  der  Mittelpunkt.  Vom  Ringe  aus  einige  schlechte 
Gäßchen,  von  denen  die  beiden  längsten  sich  gegen 
Süden  und  gegen  Norden  erstrecken;  die  gegen  Süden 
in  der  Richtung  nach  Königgrätz  bis  zur  ,, untern  Ka- 
pelle'* ;  die  andere  gegen  das  Riesengebirge  zu  bis  zur 
,,obern  Kapelle'*.  Auf  dem  weiten  Platze  verloren  eine 
Mariensäule  und  ein  Röhrbrunnen.  Die  untere  Hälfte 
des  Rings  von  Bogengängen  umgeben,  den  sogenannten 
,, Lauben*',  in  denen  es  bei  den  Wochenmärkten  und 
besonders  bei  den  Jahrmärkten  geschäftig  genug  zu- 
ging. Den  Häusern  der  obern  Hälfte,  die  offenbar 
neuern  Ursprungs  waren,  fehlten  die  Lauben.  Das  Haus 
meines  Vaters,  das  er  in  meinem  zweiten  Lebensjahre 
erbaut  hatte,  stand  da  auf  der  obern  Hälfte  des  Rings 
und  dünkte  uns  Kindern  überaus  vornehm,  weil  rechts 
und  links  vom  Toreingang  je  ein  Pilaster  stand  mit  stei- 
nernen Eulen.  Als  ich  das  Haus  in  meinem  vierzigsten 
Jahre  nach  langer  Entfremdung  wiedersah,  kam  es  mir 
nicht  mehr  so  gewaltig  vor;  merkwürdig,  sogar  die 
Bäume  des  Gartens,  die  doch  recht  viel  größer  geworden 
sein  mußten,  kamen  mir  jetzt  kleiner  vor.  Von  den  Dach- 
fenstern des  Elternhauses  war  die  Schneekoppe  zu  sehen ; 
ich  war  elf  Jahre  alt,  als  ich  sie  zum  ersten  Male  erstieg. 

14 


Ich  habe  vergessen  zu  sagen,  daß  es  in  Horzitz  auch 
ein  Schloß  gab ;  es  war  ein  unschöner  mächtiger  Bau, 
in  welchem  die  Staatsbeamten  sich  eingerichtet  hatten. 
Hinter  dem  Schlosse  wuchsen  in  meiner  Kinderzeit  die 
ersten  Fabriken  empor,  auch  die  meines  Vaters. 

Wollte  man  von  Horzitz  nach  Prag  fahren,  so  konnte 
man  in  meiner  frühesten  Jugend  erst  von  Pardubitz 
an  die  Eisenbahn  benützen.  Als  ich  aber  im  Sommer 
des  Jahres  1867  wieder  in  meiner  Heimat  war,  da  ging 
die  Bahn  schon  bis  Königgrätz,  von  wo  eine  schwer- 
fällige, einspännige  Britschka  in  zwei  Stunden  auf  der 
Kaiserstraße  quer  über  das  Schlachtfeld,  direkt  über 
Lipa  und  Sadowa,  hart  an  Chlum  vorbei,  mich  nach 
Horzitz  brachte.  Der  Eindruck  war  an  diesem  fried- 
lichen schönen  Augusttage  noch  traurig  genug.  Zwar 
die  zerstörten  Häuser  und  Hütten  waren  wieder  aufge- 
baut und  die  Kanonenkugeln  in  den  Mauern  des  Wirts- 
hauses von  Sadowa,  das  jetzt  die  deutsche  Inschrift 
„Zum  Schlachtfelde*'  trug,  sahen  nach  Reklame  aus. 
Aber  rechts  und  links  von  der  Straße  standen  Grab- 
steine ;  hier  waren  Offiziere  gefallen  und  an  Ort  und 
Stelle  begraben  worden ;  bei  dem  achtzigsten  Grabstein 
hörte  ich  zu  zählen  auf.  Noch  furchtbarer  schienen  mir 
die  Massengräber  der  preußischen  und  österreichischen 
Soldaten,  die  in  den  schnittbereiten  Kornfeldern  überall 
deutlich  zu  erkennen  waren,  weil  die  Bauern  dort  nicht 
gepflügt  und  nicht  gesät  hatten.  Von  Lipa  aus  besuchte  ich 
die  niedere  Höhe  von  Chlum,  wo  nichts  mehr  an  die  bluti- 
gen Stunden  der  Entscheidung  erinnerte,  und  über  Lan- 
genhof  hinaus  die  hügeligen  Wiesen,  wo  die ,, schöne' '  Rei- 
terschlacht stattgefunden  hatte,  über  welche  Jahns  den 
bedenklichen  Satz  zu  schreiben  gewagt  hat:  ,, Wahrlich 
ein  Schauspiel  auch  eines  Königs  in  vollem  Maße  wert!** 

15 


Der  Kutscher  erzählte  wilde  Geschichten  von  der 
Schlacht.  Die  Legendenbildung  war  nicht  müßig  ge- 
wesen. Die  Flügel  einer  Windmühle  hätten  dem  Feld- 
zeugmeister Nachricht  von  den  Bewegungen  der 
Preußen  gegeben,  „Aber  ein  dummer  Kerl  war  Benedek 
doch.  Er  hätte  die  beiden  großen  Linden  drüben  bei 
Horenowes  abhauen  sollen.  Dann  hätte  der  Kronprinz 
nicht  den  Weg  von  Königinhof  hergefunden.*'  (Be- 
kanntlich marschierte  die  schlesische  Armee  wirk- 
lich stundenlang  auf  diese  weithin  sichtbaren  Linden 
zu ;  daß  es  aber  auch  etwas  wie  Landkarten  gäbe,  das 
wollte  der  Kutscher  nicht  glauben.) 

In  Horzitz  selbst  wurde  mir  in  aufgeregter  Weise 
viel  über  die  Tage  vom  zweiten  bis  fünften  Juli  des  ver- 
gangenen Jahres  erzählt,  Wahres  und  Falsches  durch- 
einander ;  aber  auch  nicht  ein  einziger  Zug  von  Roheit 
oder  Disziplinlosigkeit  der  Preußen.  Als  die  schlimmste 
Tat  wurde  berichtet,  daß  sie  an  der  Bistritz  zu  irgend- 
einem Zwecke,  ich  glaube  zum  Ausbessern  der  Brücke, 
Scheunentore  ausgehoben  hätten.  Gegen  20  000  Mann 
waren  in  Horzitz  untergebracht;  und  dann  waren  alle 
besseren  Häuser  zu  Spitälern  umgewandelt  worden. 
Allgemein  wurde  gerühmt,  daß  die  österreichischen 
Verwundeten  ebensogut  verpflegt  wurden  wie  die  preu- 
ßischen. Ich  habe  schon  angedeutet,  daß  das  Interesse 
wie  der  Haß  fast  ausschließlich  dem  Grafen  Bismarck 
galten.  Er  wäre  auf  dem  Hofe  des  Doktorhauses 
„beinahe''  in  eine  Mistgrube  gefallen  und  hätte  ,, bei- 
nahe" den  Hals  gebrochen;  kein  Kind  in  Horzitz,  das 
nicht  Lust  gehabt  hätte  sich  dieses  ,, Beinahe"  zu  rüh- 
men. Als  ich  im  Jahre  1875  abermals  nach  Horzitz 
kam,  zur  Beerdigung  meines  Großvaters,  vernahm  ich 
nichts  mehr  über  die  Schlacht  von  Königgrätz. 

16 


IL  Prag. 

Mein  Vater,  im  Verkehr  mit  Frau  und  Kindern  ein 
stiller  Mann,  für  sich  selbst  vielleicht  nur  etwas  zu 
selbstgerecht  und  stolz,  für  seine  Kinder  in  seiner 
Weise  ehrgeizig,  war  im  Jahre  1855  —  ich  war  noch 
nicht  sechs  Jahre  alt  —  nach  Prag  übersiedelt,  um  dort 
den  fünf  Knaben  einen  besseren  Schulunterricht  bieten 
zu  können.  Mein  Vater  mochte  wenige  Schulkennt- 
nisse haben  und  hatte  auch  darum  gewiß  keine  deut- 
liche Vorstellung  davon,  was  diesen  Knaben  zu  lernen 
etwa  dienlich  sein  könnte.  Wir  waren  alle  fünf  zu  Kauf- 
leuten bestimmt.  Als  ich  nach  Prag  kam,  hatte  ich 
bereits  bei  meiner  guten  Mutter  lesen  gelernt.  Sie  zeigte 
mir  in  der  Gartenlaube,  auf  die  wir  abonniert  waren, 
die  großen  und  dann  die  kleinen  Buchstaben  der  Über- 
schriften und  ich  brachte  es  sehr  bald  dazu,  mir  ganze 
Worte  und  Sätze  zu  deuten.  In  Prag  war  das  erste  für 
mich,  daß  ich  die  Straßentafeln,  Geschäftsfirmen  und 
Wirtshausschilder,  die  damals  noch  fast  ohne  Aus- 
nahme deutsch  waren,  als  geeignete  Lesebücher  ent- 
deckte. Auf  einem  Spaziergang  wurde  zur  Freude  mei- 
ner Mutter  festgestellt,  daß  ich  lesen  konnte,  und  daß 
ich  es  fast  allein  erlernt  hatte.  Das  war  der  Anfang  mei- 
ner kurzen  Wunderkindschaft.  Von  den  Geschwistern 
erntete  ich,  nach  der  schmerzhaften  aber  gesunden 
Sitte  unseres  Hauses,  nur  Spott.  Ich  hatte  einmal,  als 

2  17 


wir  am  Waisenhause  vorüberkamen,  altklug  zu  mei- 
nem jüngeren  Bruder  gesagt:  „Wenn  du  auch  lesen 
könntest,  würdest  du  wissen,  daß  hier  das  Wirtshaus  zum 
weißen  Hans  ist."  Das  Gelächter,  das  übrigens  noch 
nach  Monaten  nicht  ganz  aufhörte,  war  meine  erste 
philologische  Lektion :  über  den  Unterschied  von  u  und 
n.  Das  Gelächter  änderte  nichts  an  der  Bedeutung  des 
Erlebnisses;  ich  konnte  lesen,  darum  sollte  ich  so 
schnell  wie  möglich  in  die  Schule.  Dumm,  aber  logisch. 
Der  Vater  hatte  vom  Lande  mit  der  ganzen  Familie 
auch  unsern  Hofmeister  mitgebracht,  Herrn  Fröhlich, 
einen  tüchtigen,  braven  und  fleißigen  Mann,  dem  meine 
Wißbegierde  bald  gründliche  Kenntnisse  im  Lesen, 
Schreiben  und  Rechnen  verdanken  sollte.  Herr  Fröhlich, 
der  in  Horzitz  nur  die  älteren  Brüder  für  die  vorge- 
schriebenen Prüfungen  unterrichtet  hatte,  machte  jetzt 
aus  zwei  Zimmern  unserer  Prager  Wohnung  eine  rich- 
tige Schule;  wir  fünf  Knaben,  dazu  unsere  einzige 
Schwester,  ferner  ein  Vetter  und  zwei  Kusinen  na- 
mens Sobotka  (die  jüngste  von  ihnen  ist  Frau  Auguste 
Hauschner) ,  wurden  so  ungefähr  in  sechs  Klassen  ein- 
geteilt, in  welche  von  dem  unermüdlichen  Lehrer  von 
früh  bis  abend  hineingepaukt  und  hineingeprügelt 
wurde,  was  irgend  hineinging.  Über  Methode  und  Unter- 
richtsziel unseres  Hofmeisters  kann  ich  natürlich  heute 
nicht  mehr  urteilen.  Ich  darf  nicht  verschweigen,  daß 
irgendein  Einfluß  auf  die  Persönlichkeiten  seiner  Schü- 
ler und  Schülerinnen  durchaus  fehlte;  niemals  haben 
wir  von  ihm  ein  Wort  vernommen,  das  für  das  Leben, 
für  den  Charakter  hätte  bildend  wirken  können ;  er  war 
kein  Erzieher.  War  bei  seiner  Gewissenhaftigkeit  auch 
wohl  so  müde,  wie  es  sonst  nur  ein  Volksschullehrer  in 
einer  Klasse  von  sechzig  Schülern  sein  kann.  Dazu  kam 

i8 


—  wie  schon  leise  erwähnt  —  seine  Härte  bei  körper- 
lichen Strafen,  die  übrigens  vom  Vater  immer  gebilligt 
wurde,  da  dessen  Erziehungsprinzip  ebenfalls  auf  der 
Prügelstrafe  beruhte.  Trotzdem  habe  ich  die  beste  Er- 
innerung an  die  Zeit  dieses  überhasteten  und  nüch- 
ternen Unterrichts.  Wenn  ich  es  heute  recht  bedenke, 
so  hatte  Herr  Fröhlich  den  Auftrag  und  also  die  Pflicht, 
uns  möglichst  rasch  für  die  Prüfungen  irgendeiner  öffent- 
lichen Schule  vorzubereiten.  Da  die  meisten  von  uns 
aufgeweckte  Kinder  waren,  etwa  die  Hälfte  von  uns 
sogar  ungewöhnlich  begabt,  so  tat  die  kleine  Presse 
ihre  Schuldigkeit.  Meine  ältesten  Brüder  gingen  immer 
elegant  durch  die  Prüfungen.  : 

Ich  kann  nicht  sagen,  welche  Erfolge  unser  Hof- 
meister mit  mir  hätte  erzielen  können.  Denn  schon 
etwa  zwei  Jahre  nach  unserer  Übersiedelung  verließ  er 
uns,  um  eine  höhere  Mädchenschule  zu  leiten,  die  seine 
Schwester  gegründet  hatte.  Unsere  jungen  Damen 
nahm  er  natürlich  mit  in  die  neue  Anstalt.  Wir  Knaben 
wurden  dahin  und  dorthin  verstreut.  Wer  seine  Prü- 
fungen abgelegt  hatte,  der  war  gut  daran ;  er  trat  eben 
in  die  nächst  höhere  Klasse  einer  öffentlichen  Schule 
ein.  Mir  aber  geschah  damals  etwas,  woran  ich  noch 
heute,  nach  siebenundfünfzig  Jahren,  nicht  anders  als 
mit  äußerster  Erbitterung  denken  kann,  ein  Unrecht, 
das  von  keinem  Lebenserfolge  gesühnt  werden  kann.  Ich 
schwanke  nicht,  es  ein  schweres,  ruchloses  Verbrechen 
zu  nennen.  Ich  war  reif  fürs  Gymnasium  und  mußte 
noch  drei  Jahre  auf  einer  widerwärtigen  Klippschule 
wiederkäuen,  was  ich  bei  Herrn  Fröhlich  gelernt  hatte. 
Als  ich  die  Geschichte  dieses  Verbrechens  vor  einigen 
Jahren  einer  Exzellenz  vom  Unterrichtsressort  erzählte, 
konnte  der  hochmögende  Herr  die  Sache  gar  nicht  so 

2*  19 


tragisch  finden.  Die  Schulen  seien  für  die  Mittelmäßig- 
keit eingerichtet  und  das  müsse  so  bleiben. 

Ich  hatte  wirklich  bei  unserm  Hofmeister  binnen 
zwei  Jahren  genug  gelernt,  um  in  allen  den  kleinen  po- 
sitiven Kenntnissen  die  neun-  und  zehnjährigen  Kna- 
ben zu  übertreffen,  die  bereits  in  das  heißersehnte  Gym- 
nasium eintreten  durften.  Und  das  Gymnasium  sollte 
ich  ja  besuchen,  zum  eigenen  Staunen  der  Eltern,  weil 
der  Hausarzt  mich  für  ein  Wunderkind  erklärt  hatte; 
und  ein  Wunderkind  hieß  ich,  weil  ich  im  Kopfrechnen 
stark  war,  weil  ich  Gedichte  auswendig  lernte,  leicht 
und  zu  meinem  Vergnügen. 


20 


lllllllllllllllllllllllllllllllllllllillllllllllilllllllllllllillllllllllllllllllllllH^ 


III.  Die  Klippschule, 

Man  muß  es  mir  schon  glauben,  daß  ich  damals  be- 
reits reif  für  das  Gymnasium  war,  und  nicht  erst  drei 
Jahre  später.  Vielleicht  fehlte  im  Lehrplan  unseres  Hof- 
meisters die  eine  oder  die  andere  Kleinigkeit,  die  just  in 
jenen  Zeitläuften  bei  der  Aufnahmeprüfung  für  das 
Gymnasium  verlangt  wurde;  aber  diese  Lücken  hätte 
ich  sicherlich  binnen  wenigen  Wochen  oder  Monaten 
ausfüllen  können.  So  zum  Beispiel  waren  meine  Kennt- 
nisse^in  der  tschechischen  Sprache  wahrscheinlich  sehr 
mangelhaft.  Ich  mochte  bis  etwa  zum  vierten  Lebens- 
jahre tschechisch  und  deutsch  gleich  gut  oder  gleich 
schlecht  geplappert  haben ;  tschechisch  gar  noch  etwas 
früher,  weil  in  Böhmen  (d.  h.  in  den  gemischten  Be- 
zirken des  Landes)  tschechisch  als  die  gottgewollte 
Ammensprache  angesehen  wurde.  Seitdem  ich  aber 
am  Elterntische  essen  durfte,  ging  die  Übung  im 
Tschechischsprechen  langsam  verloren ;  und  tschechisch 
richtig  zu  schreiben  habe  ich  eigentlich  niemals  ge- 
lernt. Nun  war  aber  tschechisch  von  Gesetzes  wegen 
die  zweite  Landessprache  geworden  und  von  den  armen 
Schulkindern  wurde  etwas  tschechische  Orthographie 
und  etwas  tschechische  Grammatik  verlangt.  Wirklich 
nur  ein  wenig  Sand  in  die  Augen.  Wie  gesagt,  binnen 
wenigen  Wochen  hätte  ich  das  Verlangte  nachholen 

21 


können.  Ich  aber  wurde  nach  tagelangem  Schwanken 
in  die  zweite  Klasse  einer  vierklassigen  Privatschule  ge- 
steckt und  erst  drei  Jahre  später  auf  das  Gymnasium 
entlassen.  Ich  bitte  um  Entschuldigung,  wenn  ich  jetzt 
und  später  bei  Erwähnung  dieser  einfachen  Tatsache 
lebhaft  oder  gar  pathetisch  wie  ein  öffentlicher  Ankläger 
werden  sollte.  Ich  werde  immer  noch  nicht  heftig  genug 
anklagen.  Wie  unser  Strafrecht  so  ist  unser  ganzes 
Rechtsgefühl  zu  materialistisch;  ernstliche  Angriffe 
gegen  das  Geistesleben  werden  kaum  so  hart  verurteilt 
wie  Einbrüche,  die  dem  Geldschrank  gelten;  der  Er- 
presser, der  der  schlimmere  ist,  wird  nicht  so  streng 
bestraft  wie  der  Räuber. 

Es  ist  mir  gar  nicht  zweifelhaft,  wer  für  dieses  Ver- 
brechen an  einem  Kinde  verantwortlich  war.  Meine 
Eltern  fügten  sich,  weil  man  ihnen  sagte,  ich  wäre 
schwächlich  und  müßte  im  Lernen  zurückgehalten 
werden.  Als  ob  dem  wißbegierigen  und  phantasievollen 
Knaben  nicht  anhaltende  Arbeit  gesünder  gewesen 
wäre,  als  das  fünfzehnjährige  Lungern,  das  dann  folgte. 
Die  Sache  wurde  offenbar  zwischen  unserem  Hofmeister 
und  dem  abscheulichen  Direktor  jener^Privatschule  ab- 
gemacht.  Damit  dieser  Direktor|drei|Jahre  lang  ohne 
jeden  Sinn  das  Schulgeld  für^mich  bekam,  darum Vurde 
ich  der  Gefahr  ausgesetzt,  an  Leib^und^Seele^zu  ver- 
kommen. Und  da  habe  ich  noch  nicht  einmal  hervor- 
gehoben, daß  diese  Privatschule^  nur  von  jüdischen 
Knaben  besucht  wurde,  daß  der  Direktor  oder  der  Be- 
sitzer ein  völlig  unkultivierter  ungarischer  Jude  war; 
vielleicht  war  es  nach  dem  damaligen  Stande  der  öster- 
reichischen Gesetzgebung  nicht  möglich,  das  Kind  reli- 
gionsloser, aber  jüdischer  Eltern  anders  als  in  einem 
solchen  Pferche  unterzubringen.  Ich  kann  auch  heute 

22 


noch  über  die  Marter  nicht  lachen,  die  ich  damals  zu  er- 
leiden glaubte ;  die  ich  also  erlitten  habe. 

Nur  selten  haben  Erwachsene  ein  Verständnis  für 
die  ernsten  Qualen  einer  Kinderseele.  Ich  fühlte  es  da- 
mals noch  lebhafter,  als  ich  es  heute  nachfühle,  daß 
mir  ein  Unrecht  zugefügt  wurde :  daß  ich  unter  einen 
Haufen  von  Schülern  versetzt  worden  war,  deren 
Lehrer  ich  hätte  sein  können;  daß  meine  Lehrer  tief 
unter  dem  Kulturniveau  meines  einfachen  Elternhauses 
standen.  Vielleicht  nicht  das  Gesetz,  jedenfalls  aber 
die  Praxis  machte  es  unmöglich,  auch  auf  Grund  der 
ungewöhnlichsten  Leistungen  eine  Schulklasse  zu  über- 
springen. So  war  ich  verurteilt,  die  drei  Jahre,  um  welche 
man  mich  bestohlen  hatte,  niemals  wieder  einbringen 
zu  können.  Immer  blieb  ich  zu  alt  für  den  aufgezwun- 
genen Studienplan,  zwiefach  zu  alt:  durch  meine  Jahre 
und  durch  meine  Altklugheit. 

Ich  möchte  nun  bei  keinem  Leser  in  den  Verdacht 
kommen,  als  beklagte  ich  mich  über  die  gestohlenen  drei 
Jahre  deshalb,  weil  ich  sonst  zu  siebzehn  Jahren  meine 
Maturitätsprüfung,  zu  einundzwanzig  Jahren  meinen 
Doktor  gemacht  hätte  und  ...  es  ist  ja  nicht  auszu- 
denken, was  aus  mir  dann  noch  alles  Ordentliche  hätte 
werden  können.  So  ist  meine  Klage  wirklich  nicht  ge- 
meint. Ich  wäre  auch  dann  ein  freier  Schriftsteller  ge- 
worden, wenn  ich  zur  richtigen  Zeit  so  viel  wie  möglich 
gelernt  hätte.  Die  Folgen  des  Unrechts,  des  Diebstahls 
von  drei  Jahren,  die  Folgen,  die  ich  zu  beklagen  habe, 
sind  ganz  anderer  Art.  Ich  hatte  nichts,  aber  auch  gar 
nichts  zu  lernen,  um  jahrelang  immer  der  Erste  unter 
meinen  Schulkameraden  zu  sein ;  so  gewöhnte  ich  mich 
an  Faulheit  und  an  Überhebung  und  blieb  faul  und 
überheblich,  für  die  Schule  wenigstens,  auch  dann  noch, 

23 


als  in  den  höheren  Gymnasialklassen  und  auf  der  Uni- 
versität Fleiß  und  Bescheidenheit  nützlicher  gewesen 
wären.  Ich  könnte  noch  mancherlei  über  die  Folgen 
der  Faulheit,  der  frühreifen  Überhebung  und  der  voll- 
ständigen Vereinsamung  erzählen.  Aber  ich  möchte 
nicht  moralisieren.  ,,Tetem"  könnten  mir  die  Menschen 
antworten,  die  Vischers  ,,Auch  einer ^'  gelesen  haben 
und  darum  lieben. 

Daß  die  seelischen  Nachteile  der  widerrechtlichen 
Einpferchung  in  jene  Klippschule  sich  aber  erst  später 
einstellten  und  nicht  auf  jener  Schule  selbst,  das  lag 
an  einigen  gutartigen  Lehrern  und  wieder  an  meiner 
damals  noch  nicht  überwundenen  Wunderkindschaft. 
Daß  der  Besitzer  der  Schule  ein  ekelhafter  Geldmacher 
war,  daß  einzelne  Schulmeister  der  Nebenfächer  recht 
wurmstichige  Persönlichkeiten  waren,  das  kam  mir  da- 
mals nicht  zum  Bewußtsein  und  konnte  mir  darum 
kaum  schaden.  Nicht  einmal  die  unsauberen  Geschich- 
ten, die  die  Jungen  aus  dem  Internat  in  die  Klassen  zu 
den  ,,Externisten*'  brachten,  machten  sonderlichen  Ein- 
druck auf  mich;  ich  hielt  solche  Zustände  nicht  für 
möglich  und  staunte  höchstens  über  die  schmutzige 
Sprache  der  Berichterstatter.  Die  Hauptlehrer  waren 
gute  und  eifrige  Menschen.  So  wurde  tüchtig  gearbeitet ; 
und  gar  für  die  öffentliche  Jahresprüfung,  welche  in 
Gegenwart  des  rundlichen  Bezirkspfarrers  und  eines 
in  seinen  Kreisen  berühmten  hageren  Rabbiners  ab- 
gehalten wurde,  mußte  ein  starkes  Quantum  auswendig 
gelernt  und  in  sauberen  Heften  zusammengeschrieben 
werden.  Da  wurden  die  besseren  Schüler  nach -Kräften 
herangezogen  und  meine  Eitelkeit  verhinderte  mich, 
zu  dem  Gefühle  des  Müßiggangs  zu  kommen.  Ich  wurde 
bei  diesen  Prüfungen  unaufhörlich  vorgeritten,  mußte 

24 


zu  diesem  Zwecke  das  ganze  Jahr  zugeritten  werden, 
trainiert,  so  daß  seltsamerweise  die  drei  gestohlenen 
Jahre  mit  die  fleißigsten  meines  Lebens  waren.  Was  so 
die  Lehrer  Fleiß  nennen.  Es  ist  nicht  zu  sagen,  was  ich 
damals  alles  gewußt  und  gekonnt  habe.  Es  ist  ein  Wun- 
der, daß  das  unsinnigeAuswendiglernen  mich  nicht  blöd- 
sinnig gemacht  hat.  Ich  gebe  nur  ein  Beispiel  von  dem, 
was  mir  zugemutet  wurde.  Am  ersten  Tage  einer  sol- 
chen öffentlichen  Prüfung  waren  von  uns  eine  Unzahl 
Schillerscher  Gedichte  aufgesagt  worden.  Kurz  vor  der 
Mittagspause  äußerte  der  rundliche  Bezirkspfarrer  den 
Wunsch,  eines  dieser  wunderschönen  Schillerschen  Ge- 
dichte auch  auf  tschechisch  deklamiert  zu  hören.  In 
einer  ebenso  schönen  Übersetzung.  Wir  seien  doch  ge- 
wiß gute  Böhmen?  Der  Schuldirektor  katzbuckelte: 
er  (der  ungarische  Jude)  sei  ein  sehr  guter  Böhme. 
Dann  nahm  mich  dieser  Mann  beiseite,  bedrohte  mich 
mit  geballter  Faust,  wenn  ich  nicht  am  Nachmittage, 
also  binnen  zwei  Stunden,  Schillers  ,, Bürgschaft'*  in 
der  tschechischen  Übersetzung  auswendig  gelernt  hätte, 
die  in  der  Schulbibliothek  nicht  fehlte.  Es  gelang  mir, 
den  ehrenvollen  Auftrag  auszuführen.  Ich  sagte  die 
Übersetzung,  deren  Wortlaut  mir  nicht  völlig  begreif- 
lich war,  mit  Verstand  auf  und  wurde  vom  Pfarrer  und 
vom  Direktor  gelobt  und  gestreichelt.  Ich  weiß  noch,  daß 
ich  am  nächsten  Morgen  nicht  mehr  imstande  war, 
auch  nur  den  dritten  Vers  der  Übersetzung  aus  dem 
Gedächtnisse  wiederherzustellen. 

Es  sind  aus  so  viel  Wunderkindern  später  Dummköpfe 
und  Subalternbeamte  geworden,  auch  schlechte  Musi- 
kanten, daß  ich  von  dieser  Art  meiner  Begabung  gewiß 
unbefangen  reden  darf.  Natürlich  wurde  meine  Über- 
heblichkeit, deren  ich  mich  schon  beschuldigt  habe, 

25 


durch  diese  Art  des  Schulbetriebs  sehr  verstärkt,  wenn 
nicht  erst  geweckt.  Ich  war  der  Schnittlauch  auf  allen 
Suppen.  Der  Himmel  ist  mein  Zeuge,  sogar  im  Singen 
(meiner  partie  honteuse)  leistete  ich  nach  dem  Urteile 
der  Lehrer  Außerordentliches;  als  einmal  ein  zwei- 
stimmiger Gesang  durch  meine  Schuld  umkippte,  be- 
kam mein  Banknachbar  die  Ohrfeigen  dafür.  Ich  er- 
innere mich,  daß  einmal  die  Lehrer  aus  allen  Schul- 
stuben zusammengerufen  wurden,  um  eine  Karte  von 
Europa  anzustaunen,  die  ich  aus  dem  Gedächtnisse 
und  aus  freier  Hand  mit  der  Kreide  auf  die  Tafel  gemalt 
hatte ;  auch  das  hatte  ich  früher  bei  unserm  Hofmeister 
gelernt;  und  die  Kunst,  die  Fjorde  von  Norwegen  durch 
einen  zitterigen  Kreidestrich  hübsch  naturalistisch  an- 
zudeuten. Auf  eine  Anregung  des  rundlichen  Pfarrers, 
dem  meine  Heldentat  vom  Direktor  schnell  gemeldet 
worden  war,  mußte  ich  für  die  nächste  Jahresprüfung 
eine  ebenso  schöne  Karte  von  Palästina  auf  die  Tafel 
malen ;  ich  ließ  es  auch  da  nicht  an  Fjorden  fehlen  und 
glaube  fast,  es  war  schon  Übermut  dabei.  Diese  Wun- 
derkindschaft, welche  sich  außer  in  einem  seltenen  Ge- 
dächtnisse noch  in  einer  gewissen  Begabung  für  Mathe- 
matik, für  Sprachen  und  für  Zeichnen  kundgab,  hielt 
ungefähr  bis  zu  meinem  vierzehnten  Lebensjahre  an. 
Dann  hat  es  sich  ja  wohl  gegeben.  Aber  ich  darf  nicht 
unterlassen  zu  berichten,  was  die  Schulen  mit  diesen  Be- 
gabungen anzufangen  gewußt  haben. 

Mein  Sinn  für  alles  Mathematische  muß  wirklich 
ursprünglich  sehr  stark  gewesen  sein ;  noch  in  meinem 
sechzehnten  Jahre,  auf  dem  Gymnasium,  machte  sich 
unser  Mathematikprofessor,  ein  unwahrscheinlich  dicker 
Piaristenpriester,  an  heißen  Sommertagen  mitunter  den 
Spaß  oder  die  Bequemlichkeit,  mich  statt  seiner  die 

26 


Stunde  abhalten  zu  lassen.  Aber  ich  habe  von  wissen- 
schaftlicher Mathematik,  ja  eigentlich  von  der  eigen- 
tümlichen mathematischen  Logik  in  allen  Schuljahren 
niemals  etwas  gehört  und  habe  als  vierzigjähriger  und 
dann  wieder  als  siebenundfünf  zigjähriger  Mann  das 
bißchen  Mathematik  nachlernen  müssen,  das  ich  zu 
einer  Annäherung  an  die  höhere  Analyse  und  zum 
Verständnis  eines  naturwissenschaftlichen  Buches 
brauchte.  Ich  möchte  gleich  hier  auf  eine  der  schlimm- 
sten Lügen  unseres  Gymnasialbetriebs  hinweisen.  Der 
seit  der  realistischen  Gymnasialreform  vorgeschriebene 
mathematische  Stoff  wird  von  allen  Schülern  verlangt ; 
nun  gibt  es  ganz  brave  Lateiner,  die  den  mathematischen 
Begriffen  völlig  hilflos  gegenüberstehen,  die  zwischen 
dem  Logarithmus  und  dem  Wurzelziehen  nur  unklar 
unterscheiden  können.  Soll  so  ein  fleißiger  Bursche  der 
Primus  in  der  Klasse  bleiben,  so  muß  das  mathematische 
Pensum  an  allen  Ecken  beschnitten  werden,  die  Prü- 
fung darf  nicht  ernst  genommen  werden  und  die  ganze 
Klasse  lernt  nichts.  Unsere  Klasse  auf  dem  Obergym- 
nasium der  Prager  Kleinseite  war  ein  Musterbeispiel  für 
diese  Zustände.  Der  Primus,  der  übrigens  seine  Stellung 
durch  seine  wissenschaftlichen  Leistungen  und  durch 
seine  moralische  Untadeligkeit  wohl  verdiente,  war 
amathematisch  geboren.  Der  Primus  hätte  nach  dem 
Schuiplane  nicht  versetzt  werden  dürfen.  Der  Zweite 
der  Klasse,  ein  Jude,  war  in  den  alten  Sprachen  nahezu 
ebensogut,  in  Mathematik  und  auch  sonst  ein  Muster- 
schüler. Er  blieb  im  Schatten,  bis  zu  seinem  Tode. 

Daß  ich  auch  im  Zeichnen  ,, ausgezeichnet''  war,  muß 
ich  meinen  Lehrern  glauben.  In  unserer  Klippschule 
gab  es  auch  Zeichenunterricht.  Ein  heruntergekom- 
mener Kalligraph  erteilte  ihn,  mit  dem  Staberl  in  der 

27 


Hand,  mit  dem  Rohrstock.  Es  ist  mir  noch  heute  un- 
verständlich, warum  er  so  grimmig  mit  dem  Staberl  auf 
uns  losschlug;  es  muß  ihm  wohl  Vergnügen  gemacht 
haben.  Er  teilte  diese  Leidenschaft  übrigens  mit  dem 
Direktor,  der  noch  vom  Schuldiener  regelrechte  Schil- 
linge (fünfundzwanzig  Stockschläge)  aufzählen  ließ. 
Gott  habe  sie  selig,  den  Direktor  und  seinen  Zeichen- 
lehrer. Sie  ruhen  beide  in  Frieden  und  haben  es  nicht 
um  uns  verdient.  Ich  war  übrigens  der  Liebling  auch 
dieses  Lehrers  und  habe  unter  seiner  Leitung  und  mit 
seiner  Hilfe  für  die  öffentlichen  Jahresprüfungen  Gräß- 
liches zustande  gebracht.  Ich  habe  so  etwas  wie  Parkett- 
fußböden gezeichnet  und  koloriert,  ich  habe  kämpfende 
wilde  Tiere  nach  Vorlagen  gezeichnet.  Für  ein  solches 
Bild  von  meiner  Künstlerhand  soll  die  Schule  einmal 
einen  Preis  bekommen  haben;  ich  weiß  nicht  mehr, 
waren  es  Tiger  oder  Krokodile,  oder  war  es  eine  ge- 
mischte Gesellschaft  von  Tigern  und  Krokodilen,  oder 
waren  es  Bastarde  von  Tigern  und  Krokodilen.  Niemals 
wurden  wir  angeregt,  ein  Blatt,  eine  Blume,  ein  Tier, 
einen  Menschen  oder  auch  nur  einen  Stein  nach  der 
Natur  zu  zeichnen.  Niemals  wurde  uns  auch  nur  ange- 
deutet, daß  es  eine  Freude  sein  könnte,  die  Natur  mit 
eigenen  Augen  anzusehen.  Und  auch  auf  dem  Gymna- 
sium habe  ich  niemals  Gelegenheit  gehabt,  auch  nur 
einen  Bleistiftstrich  auf  ein  Blatt  Zeichenpapier  zu 
werfen.  Nur  ein  einziges  Mal  kam  die  Leidenschaft  über 
mich,  als  ein  bildender  Künstler  zu  schaffen.  Das  innere 
Erlebnis  mag  ein  Licht  werfen  auf  den  Grad  der  Ver- 
einsamung, die  mich  in  meiner  Jugend  von  allem  Kunst- 
genießen schied. 

Zu  Hause  erfuhr  ich  durch  die  Mutter  mancherlei 
von  Büchern  und  von  Theateraufführungen ;  ich  wurde 

28 


mitunter  ins  Theater  mitgenommen,  wo  wir  ein  halbes 
Abonnement  auf  zwei  Sperrsitze  hatten,  und  die  Bücher, 
die  ich  meiner  Mutter  aus  der  Leihbibliothek  holte,  ver- 
schlang ich  gewöhnlich  auf  dem  Heimwege:  Dickens, 
Gerstäcker,  Hackländer,  Gutzkow,  Spielhagen,  Auer- 
bach, die  Mühlbach.  So  war  für  geistige  Anregung 
immerhin  gesorgt,  wenn  auch  heimlich.  Aber  der  Be- 
griff Kunst  war  mir  fremd  geblieben.  Ich  kannte  eine 
einzige  Oper,  allerdings  den  Freischütz,  zu  dem  ich  ein- 
mal ins  Theater  gehen  durfte,  weil  die  älteren  Geschwi- 
ster ihn  nicht  mehr  hören  wollten.  Es  gab  in  unserem 
Hause  nicht  einmal  ein  Klavier.  Und  gar  von  Architek- 
tur oder  Malerei  hatte  ich  in  meinen  begeisterungs- 
fähigen Jugendjahren  wohl  niemals  einen  ganz  klar  be- 
wußten Eindruck  erhalten,  trotzdem  wir  in  dem  schö- 
nen Prag  wohnten.  Niemals  war  ich  zu  Hause  oder  in 
der  Schule  auch  nur  auf  eines  der  prächtigen  alten  Ge- 
bäude aufmerksam  gemacht  worden.  Was  ich  von  selbst 
an  herrlichen  Kirchenportalen  und  von  den  Türmen 
der  Altstadt  wahrnahm,  das  machte  einen  tiefen  Ein- 
druck auf  mich ;  da  ich  aber  nicht  wußte,  daß  auch  an- 
dere Menschen  so  etwas  schön  fanden,  so  sann  ich  dem 
Eindruck  nicht  weiter  nach.  Ich  hielt  solche  Stimmun- 
gen wirklich  und  wahrhaftig  eines  gebildeten  Menschen 
unwürdig,  ich  glaube  fast,  ich  schämte  mich  ihrer,  weil 
die  andern  sie  nie  einer  Erwähnung  wert  erachteten. 
Ich  wunderte  mich  höchstens  darüber,  daß  die  alten 
winkligen  Gassen  so  viel  heimlicher  waren,  als  die  ge- 
raden Straßen  der  Neustadt.  Von  Bildern  bekam  ich 
nichts  zu  sehen  als  die  beiden  Stahlstiche  an  der  Wand, 
die  als  Prämien  eines  vaterländischen  Kunstvereins  in 
keinem  bürgerlichen  Hause  fehlten.  So  gelangte  ich 
kunstfremd  bis  in  mein  siebzehntes  Jahr,  als  mir  ein- 

29 


mal  ein  Schulkamerad  das  Kupferstichwerk  zeigte,  das 
ihm  unter  den  Weihnachtsbaum  gelegt  worden  war.  Es 
brachte  in  guten  Nachzeichnungen  gegen  sechzig  der 
berühmtesten  Gemälde  alter  Meister.  Ich  hatte  bis  da- 
hin Namen  wie  Rembrandt,  wie  Tizian  niemals  ver- 
nommen. Ich  weiß  nicht  mehr,  ob  beim  Durchblättern 
des  Werkes  mein  Entzücken  größer  war  oder  mein 
Neid.  Der  Mitschüler  mußte  mir  das  Werk  borgen;  zu 
Hause  saß  ich  davor  in  einer  zornigen  Erschütterung. 
So  etwas  gab  es  und  so  etwas  bekamen  andere  Knaben 
geschenkt!  Das  war  ja  das  Höchste,  dem  ein  Jüngling 
sein  Leben  widmen  konnte!  Nun  kann  ich  nicht  mehr 
sagen,  ob  ich  mich  in  meiner  Begeisterung  selbst  für 
einen  begnadeten  Maler  hielt  oder  ob  ich  mir  nur  unbe- 
merkt eine  Kopie  des  herrlichen  Buches  anfertigen 
wollte.  Jedenfalls  ging  ich,  sooft  ich  mich  unbeobachtet 
wußte,  daran,  die  schönsten  Kupferstiche  auf  kleinen 
Blättchen  mit  dem  besten  Bleistift  nachzuzeichnen,  den 
ich  auftreiben  konnte.  Nach  einigen  Wochen  hatte  ich 
meine  armselige  Künstlermappe  beisammen.  Einige 
Rembrandts  und  Raffaels  meiner  Faktur  existieren 
noch ;  nicht  nur  ein  Künstler  würde  über  diese  ängst- 
lichen, pedantischen,  kümmerlichen  Stricheleien  lachen. 
Ich  aber  besaß  eine  Kunstgalerie  für  den  heimlichen 
Gebrauch. 

Ungefähr  in  die  gleiche  Zeit  fällt  der  noch  traurigere 
Versuch,  mir  für  mein  persönliches  Kunstbedürfnis  ein 
Leiblied  zu  komponieren;  es  läßt  sich  nicht  leugnen, 
daß  zwar  der  Text  von  mir  war,  aber  die  Melodie  eine 
sehr  schöne,  liebe  und  alte  Melodie. 

Es  ist  mir  oft  zum  Lobe  nachgesagt  worden,  ich  hätte 
mich  beim  Kritisieren  stets  als  neidlosen  Schriftsteller 
bewährt.  Ich  will  nicht  untersuchen,  ob  ich  dieses  Lob 

30 


gar  nicht  oder  am  Ende  noch  in  viel  höherem  Maße  ver- 
dient habe;  ob  ich  vielleicht  mitunter  den  Neid  unter- 
drücken mußte,  um  dem  glücklicheren  Rivalen  wenig- 
stens gerecht  zu  werden.  Sicher  ist,  daß  Neid  nicht  zu 
meinen  häßlichen  Fehlern  gehört.  Neid  aber,  bitterer  Neid 
erfüllt  mich  noch  heute,  wenn  ich  sehen  muß,  wie  gut 
es  die  jungen  Leute  haben,  wie  ihr  Interesse  für  Natur 
und  Kunst  geweckt  oder  gefördert  wird.  Wie  die  Lehrer 
mit  ihren  Wandervögeln  ins  Gebirge  ziehen,  im  Walde 
lagern,  abkochen  und  der  Stadt  entflohen  sind  I  Wie  sie 
mit  offenen  Herzen  und  offenen  Augen  das  Straßburger 
Münster  und  die  Alpen  erblicken  dürfen.  Genießt,  ihr 
prächtigen  Jungen!  Aber  daß  diese  Burschen  auch  einen 
ernsthaften  Unterricht  im  Singen  und  im  Zeichnen  er- 
halten, daß  sie  in  Konzerte  und  in  Galerien  geführt 
werden,  wonach  wir  durstig  waren  wie  abgehetzte  Hunde 
nach  Wasser  .  .  .  nein,  da  muß  ich  den  Heutigen  schon 
in  die  glücklichen  Augen  sehen,  da  muß  ich  schon 
Glück  über  Bach  und  Mozart  und  Raffael  in  diesen 
Augen  erblicken,  um  des  Neides  Meister  zu  werden.  Ge- 
nießt, ihr  Jungen!  Uns  wurde  es  schwerer  die  Schönheit 
zu  entdecken. 


31 


IV.  Erste  Sprachstudien. 

Bitterer  wird  meine  Stimmung,  wenn  ich  darandenke, 
was  Klippschule  und  Gymnasium  mit  meinem  Sinne 
für  Sprachen  angefangen  haben ;  und  auch  sonst  wäre 
mancherlei  zu  sagen  über  die  besonderen  Verhältnisse, 
die  das  Interesse  für  eine  Psychologie  der  Sprache  bei 
mir  bis  zu  einer  Leidenschaft  steigerten.  Dieses  Inter- 
esse war  bei  mir  von  frühester  Jugend  an  sehr  stark, 
ja,  ich  verstehe  es  gar  nicht,  wenn  ein'jude,  der  in  einer 
slawischen  Gegend  Österreichs  geboren  ist,  zur  Sprach- 
forschung nicht  gedrängt  wird.  Er  lernte  damals  (die 
Verhältnisse  haben  sich  seitdem  durch  den  Aufschwung 
der  Slawen  und  durch  die  bessere  Assimilierung  der 
Juden  ein  wenig  verschoben)  genau  genommen  drei 
Sprachen  zugleich  verstehen :  Deutsch  als  die  Sprache 
der  Beamten,  der  Bildung,  der  Dichtung  und  seines 
Umgangs ;  Tschechisch  als  die  Sprache  der  Bauern  und 
der  Dienstmädchen,  als  die  historische  Sprache  des  glor- 
reichen Königreichs  Böhmen ;  ein  bißchen  Hebräisch  als 
die  heilige  Sprache  des  Alten  Testaments  und  als  die 
Grundlage  für  das  Mauscheldeutsch,  welches  er  von 
Trödel  Juden,  aber  gelegentlich  auch  von  ganz  gut  ge- 
kleideten jüdischen  Kaufleuten  seines  Umgangs  oder 
gar  seiner  Verwandtschaft  sprechen  hörte.  Der  Jude, 
der  in  einer  slawischen  Gegend  Österreichs  geboren  war, 
mußte  gewissermaßen  zugleich  Deutsch,  Tschechisch 

32 


und  Hebräisch  als  die  Sprachen  seiner ,, Vorfahren**  ver- 
ehren. Und  die  Mischung  ganz  unähnlicher  Sprachen 
im  gemeinen  Kuchelböhmisch  und  in  dem  noch  viel 
gemeineren  Mauscheldeutsch  mußte  schon  das  Kind  auf 
gewisse  Sprachgesetze  aufmerksam  machen,  auf  Ent- 
lehnung und  Kontamination,  die  in  ihrer  ganzen  Be- 
deutung von  der  Sprachwissenschaft  noch  heute  nicht 
völlig  begriffen  worden  sind.  Ich  weiß  es  aus  späteren 
Erzählungen  meiner  Mutter,  daß  ich  schon  als  Kind  die 
törichten  Fragen  einer  veralteten  Sprachphilosophie  zu 
stellen  liebte:  warum  heißt  das  und  das  Ding  so  und 
so.^  Im  Böhmischen  so,  und  im  Deutschen  so?  Mein 
Vater,  der  in  seiner  Weise  sich  für  einen  musterhaften 
Gebrauch  der  deutschen  Sprache  einsetzte,  würdigte 
mich  manchmal  einer  Unterhaltung  über  solche  ,, Be- 
lustigungen des  Verstandes  und  des  Witzes**,  trotzdem 
er  sonst  nicht  leicht  ein  persönliches  Wort  an  eines 
seiner  Kinder  richtete.  Er  schien  dadurch  einige  Ach- 
tung für  meine  „gelehrte  Laufbahn**  äußern  zu  wollen. 
Er  verachtete  und  bekämpfte  unerbittlich  jeden  leisen 
Anklang  an  Kuchelböhmisch  oder  an  Mauscheldeutsch 
und  bemühte  sich  mit  unzureichenden  Mitteln,  uns  eine 
reine,  übertrieben  puristische  hochdeutsche  Sprache  zu 
lehren.  So  erinnere  ich  mich,  daß  er  mir  gegenüber  ein- 
mal das  Wort  mischen  als  ein  vermeintliches  Wort  der 
ihm  verhaßten  Judensprache  heftig  tadelte,  man  müßte 
gut  deutsch  melieren  dafür  sagen;  mein  Vater  wußte 
nicht,  daß  sowohl  mischen  als  melieren  von  dem  la- 
teinischen miscere  stammt;  diese  Unkenntnis  braucht 
dem  eifrigen  Sprachfreunde  um  so  weniger  angekreidet 
zu  werden,  als  noch  heute  Forscher  wie  Kluge  und  Paul 
eine  sogenannte  Urverwandtschaft  zwischen  mischen 
und  miscere  für  möglich  halten. 

3  33 


Ich  kam  in  meiner  kindlichen  Sprachvergleichung 
hie  und  da  zu  überraschenden  Entdeckungen.  So  hatte 
ich  als  Kind  das  Zeug,  mit  dem  mir  beim  Waschen  die 
Hände  getrocknet  wurden,  in  meinem  Kuchelböhmisch 
hantuch  genannt,  das  Wort  in  meine  deutsche  Sprache 
mit  hinübergenommen  und  kam  in  meinem  fünften 
Jahre  auf  den  gelehrten  Einfall:  hantuch  bedeute 
ein  Tuch  für  die  Hand,  wäre  also  ein  deutsches  Wort^). 

Man  wird  mir  nun  glauben,  daß  ich  als  achtjähriger 
Junge  darauf  brannte,  in  der  Schule  nicht  nur  ein 
tadelloses  Deutsch  zu  lernen,  sondern  auch  zu  erfahren, 
warum  die  böhmischen  Deutschen  so  oft  anders  rede- 
ten, als  die  richtigen  Deutschen  in  der  Gartenlaube 
schrieben,  warum  die  böhmischen  Juden  ein  noch 
schlimmeres  Kauderwelsch  sprachen.  Meine  Hoffnung 
wurde  gröblich  getäuscht.  Ich  lernte  auf  der  Klipp- 
schule ebensowenig  Deutsch  und  gar  Tschechisch  und 
Hebräisch,  wie  ich  später  auf  dem  Gymnasium  La- 
teinisch oder  Griechisch  lernte.  Endlos  wurden  Dekli- 
nationen und  Konjugationen  gebüffelt  und  wieder  ge- 
büffelt, alle  Formen  der  Dingwörter  und  der  Zeitwörter 
im  Deutschen,  im  Tschechischen  und  im  Hebräischen 
so  behandelt,  als  ob  die  lateinische  Grammatik  die 
Mustergrammatik  für  alle  Sprachen  der  Welt  wäre.  Ich 
muß  daran  erinnern,  daß  meine  Klippschule  eine  von 
jüdischen  und  slawischen  Tendenzen  herumgezerrte 
Anstalt  war ;  ich  muß  vorwegnehmen,  daß  mein  erstes 

1)  Meine  liebe  und  verehrte  Freundin  Lilli  Lehmann  hat  ihre  Jugend  eben- 
falls in  Prag  verbracht.  Als  ich  ihr  einmal  von  dieser  meiner  ersten  ety- 
mologischen Entdeckung  erzählte,  gab  sie  mir  lachend  aus  ihrer  eigenen  Er- 
innerung eine  ähnliche  Leistung  zum  besten.  Sie  war  von  ihrer  Mutter  oder 
erst  im  Ursulinerinnenkloster  abgerichtet  worden,  jedesmal  nach  Landessitte 
kißt'hant  zu  sagen,  wenn  sie  von  einer  Dame  angesprochen  wurde; 
auch  sie  hielt  diese  Formel  lange  für  ein  tschechisches  Wort  und  kam 
erst  viel  später  darauf,   daß  die  Formel  ich  küß'  die  Hand  bedeutete. 

34 


Gymnasium  wohl  mit  Recht  eine  besonders  elende 
Mittelschule  genannt  werden  konnte ;  aber  das  Wesent- 
liche meiner  Erfahrungen  dürfte  auch  zu  den  Erfah- 
rungen anderer  Schüler  gehören.  Die  geradezu  idio- 
tische Art,  durch  Paradigmen  in  die  Sprachen  ein- 
führen zu  wollen,  wird  die  Freude  an  jeder  Sprache  ge- 
rade dem  begabten  Kinde  verekeln.  Ich  habe  später  oft 
geweint,  als  ich  lateinische  Paradigmen  auswendig 
lernen  mußte,  anstatt  die  mit  ahnungsvollem  Zittern 
ersehnten  lateinischen  Autoren  lesen  zu  dürfen.  Und 
man  weiß,  wie  auch  heute  noch  und  sogar  auf  bessern 
Gymnasien  (nicht  nur  Cicero,  der  es  verdient  hat)  selbst 
Homeros,  der  Köstliche,  nur  zu  dem  Zwecke  gelesen 
wird,  um  an  seinen  Worten  die  grammatischen  Regeln 
einzuüben.  Neuerdings  hat  sich  eine  vernünftigere  Art 
ausgebildet,  wenigstens  moderne  fremde  Sprachen  den 
jungen  Leuten  beizubringen.  Ich  weiß  nicht,  ob  in 
meiner  Jugend  die  französische  und  die  englische 
Sprache  ebenso  idiotisch  gelehrt  wurde  wie  die  Mutter- 
sprache und  wie  die  lateinische.  Denn  auch  das  muß 
ich  gleich  vorausschicken,  daß  auf  den  österreichischen 
Gymnasien  damals  kein  englischer  und  kein  franzö- 
sischer Sprachunterricht  bestand;  man  konnte  Fran- 
zösisch und  Englisch,  auch  Italienisch  treiben,  wie  man 
Tanzen  oder  Schwimmen  lernte ;  verboten  war  es  nicht. 
Ich  habe  später  einige  moderne  Sprachen  ohne  Lehrer- 
hilfe so  gelernt,  daß  ich  einen  berühmten  Dichter  mit 
einem  Wörterbuche  in  der  Hand  so  lange  langsam  de- 
chiffrierte, bis  mir  die  Sprache  geläufig  wurde.  Ich 
werde  ja  noch  darauf  zurückkommen,  wie  ich  in  all 
den  Jahren  der  Volksschule  und  des  Gymnasiums  nicht 
ein  Sterbenswörtchen  über  die  Geschichte  der  deutschen 
Sprache  und  ihrer  Literatur  vernahm,  natürlich  noch 

3*  35 


weniger  jemals  ein  Sterbenswörtchen  über  Schönheit 
und  Kraft  unserer  deutschen  Muttersprache;  wie  ich 
dagegen  von  fanatischen  Tschechen  doch  einigermaßen 
in  die  Geschichte  der  tschechischen  Sprache  und  in  die 
philologische  Kenntnis  eines  gefälschten  tschechischen 
Literaturkleinods  eingeführt  wurde.  Niemand  Von  mei- 
nen Lehrern  hat  je  daran  gedacht,  meinem  Sprach- 
hunger ein  bißchen  Futter  zu  reichen.  Auf  jener  Klipp- 
schule zahlte  mein  Vater  drei  Jahre  lang  Schulgeld  da- 
für, daß  ich  für  die  Zwecke  des  Besitzers  wie  ein  Zirkus- 
pferd abgerichtet  wurde.  Unser  Hofmeister  war  nur  kein 
Erzieher  gewesen;  der  Besitzer  der  Privatschule  war 
ein  schlechter  Schulleiter  und  ein  schlechter  Mensch: 
er  verprügelte  die  unbegabten  Kinder,  mit  denen  kein 
Geschäft  zu  machen  war,  und  versuchte  die  begabten 
Kinder  aufzublasen,  wie  betrügerische  Händlerinnen 
mageres  Geflügel  aufblasen. 


36 


llllilillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllUlUilllilllllllllllllllHIIIIIIIIIIIIIIIIIH^ 


V.  Das  Piaristen-Gymnasium. 

Ich  war  also  beinahe  zwölf  Jahre  alt,  trotz  meiner 
ursprünglichen  Wunderkindschaft,  da  ich  endlich  als 
reif  für  die  ,, Parva'*  des  Gymnasiums  entlassen  wurde. 
Ich  war  also  beinahe  zwölf  Jahre  alt,  fleißig  und  ehr- 
geizig wie  einer,  nach  meiner  geistigen  Entwicklung 
für  die  Arbeit  des  Obergymnasiums  vorbereitet,  als  ich 
endlich  in  die  unterste  Klasse  des  Untergymnasiums 
aufgenommen  wurde.  Und  doch  freute  ich  mich,  als 
ich  zum  ersten  Male  als  ,, Student**  den  Weg  zum  Gym- 
nasium gehen  durfte  (in  Österreich  nennt  man  alle 
Gymnasiasten  Studenten,  wie  man  jeden  Mann  aus  dem 
Volke  adelt) ;  ein  Abzeichen  für  Gymnasiasten  oder  gar 
für  jede  einzelne  Klasse  gab  es  bei  uns  nicht,  meine 
gute  Muttjer  hatte  es  aber  erlangt,  wer  weiß  wie  schwer, 
daß  ich  als  Symbol  meiner  neuen  Würde  eine  schwarze 
Samtmütze  bekam.  Die  Mütze  hatte  den  Stürmen  dreier 
Jahre  widerstanden  und  war  wirklich  nicht  mehr  ganz 
reinlich,  als  sie  bei  Gelegenheit  einer  Knabenschlacht 
zwischen  ,, Gymnasiasten**  und  ,, Realisten**  ein  un- 
rühmliches Ende  fand.  Wieder  war  es  die  Mutter,  die 
durch  heimlichen  Ankauf  einer  neuen  Mütze  ein  dro- 
hendes Unheil  von  mir  abwandte.  Mein  Vater  hätte 
niemals  verstanden,  daß  ein  Gymnasiast  die  Realschüler 
befehden  müßte  und  in'  der  Hitze  des  Gefechts  seine 
Mütze  einbüßen  könnte. 

37 


Als  ich  mit  dem  Bewußtsein,  von  unserm  Dienst- 
mädchen Student  genannt  zu  werden,  zum  ersten  Male 
den  Weg  zum  Gymnasium  einschlug,  ahnte  ich  unklar, 
daß  noch  nicht  die  rechte  Höhe  erreichte,  was  in  mei- 
nem Kopfe  an  kleinen  Kenntnissen  beisammen  war: 
der  ganze  Wust  von  Jahreszahlen  großer  Schlachten, 
von  Namen  der  Könige,  der  Berge  und  der  Flüsse,  von 
Paradigmen  und  von  Gedichten.  Wie  ein  Rausch  kam 
es  über  mich,  daß  ich  jetzt  Lateinisch  und  Griechisch 
lernen  und  alle  Wahrheit  und  Schönheit  aus  den  alten 
Quellen  schöpfen  würde.  Ein  einsichtsvoller  Privat- 
lehrer hätte  mich  damals  gewiß  binnen  zwei  Jahren 
dazu  bringen  können,  Lateinisch  zu  verstehen,  es  besser 
zu  verstehen  als  die  Lehrer  an  meinem  Gymnasium; 
und  in  der  gleichen  Zeit  die  griechische  Sprache  zu  er- 
lernen, wäre  mir  einfach  wie  eine  Belohnung  erschie- 
nen. Ich  hungerte  förmlich  nach  den  alten  Sprachen.  Die 
ersten  lateinischen  Schulbücher  nahm  ich  mit  heiliger 
Andacht  in  die  Hand  und  empfand  es  als  eine  Schande 
und  als  eine  Entweihung  so  köstlicher  Schriften,  daß 
ich  sie  um  den  halben  Preis  beim  Antiquar  kaufen 
mußte. 

In  dieser  Stimmung  setzte  ich  mich  in  eine  Klasse 
von  etwa  fünfundsechzig  Knaben,  die  mir  ganz  und 
gar  nicht  andächtig  zu  sein  schienen ;  so  wenig  aber 
ich  selbst  mir  anmerken  ließ,  welche  Sehnsucht  nach 
Wahrheit  und  Schönheit  mich  erfüllte,  so  wenig  wird 
mancher  andere  Kamerad  sein  Herz  auf  der  Hand  ge- 
tragen haben;  vielleicht  hatte  ich  viele  Genossen  in 
meiner  Inbrunst  und  dann  in  meiner  Enttäuschung. 
Die  bessern  Elemente  waren  wie  immer  in  der  Minder- 
zahl; etwa  vierzig  von  den  Schülern  gehörten  nicht 
auf  eine  Gelehrtenschule,  auch  nicht  in  deren  unterste 

38 


Klasse.  Wie  immer  entschieden  die  schlechtem  Elemente 
über  den  Fortgang  der  Studien ;  wir  brauchten  beinahe 
ein  halbes  Jahr,  bevor  wir  mensa  deklinieren  konnten. 
Ich  schreibe  nicht  einen  Roman,  in  welchem  die  Leiden 
eines  deutschen  Kindes  an  sich  erzählt  werden  sollen ; 
ich  schreibe  meine  Schulerinnerungen  nieder,  wenn  auch 
mit  einer  erziehlichen  Absicht  für  Eltern  und  Lehrer. 
Ich  gebe  meine  eigenen  Erinnerungen  und  muß  darum 
auf  einige  Besonderheiten  meines  ersten  Gymnasiums 
aufmerksam  machen.  Und  auf  einige  Einrichtungen  des 
österreichischen  Gymnasiums  überhaupt.  Ich  muß  im- 
mer wieder  hervorheben,  daß  ich  das  Unglück  hatte, 
auf  eine  ganz  besonders  elende  Schule  zu  geraten ;  man 
würde  eine  Anstalt  wie  das  damalige  Prager  Piaristen- 
gymnasium  in  ganz  Deutschland  vergebens  suchen, 
hoffentlich  auch  vergebens  im  heutigen  Österreich. 
I^'lch  trat  in  die  Prima  oder  Parva  ein.  Man  zählt  in 
Österreich  bekanntlich  die  Gymnasialklassen  nicht  von 
sechs  bis  eins,  sondern  von  eins  bis  acht.  Der  Knabe  be- 
tritt das  Gymnasium  als  Primaner  oder  Parvist  und 
verläßt  es  als  Oktavaner.  Die  alten  scholastischen  Be- 
zeichnungen für  jede  der  acht  Klassen  fingen  zu  meiner 
Zeit  an,  in  Vergessenheit  zu  geraten.  Und  wie  schon 
der  kleine  Parvist  Student  genannt  wurde,  so  hieß 
jeder  Lehrer,  auch  wenn  er  nur  zur  Probe  oder  zur 
Aushilfe  angenommen  war,  Herr  Professor.  Auch  meine 
Lehrer  hießen  Professoren,  trotzdem  sie  eigentlich  hoch- 
würdige geistliche  Herren  waren.  Denn  mein  erstes 
Gymnasium  war  eine  Anstalt  der  Piaristen.  Es  ist  mir 
lieb,  daß  dieses  Neustädter  Gymnasium  von  Prag  seit- 
dem in  eine  ordentliche  Staatsanstalt  umgewandelt  wor- 
den ist ;  so  darf  ich  zugeben,  daß  nicht  mehr  für  die  ge- 
genwärtigen Verhältnisse  gilt,  was  ich  zu  erzählen  habe. 

39 


Die  Stätte  ist  die  alte  geblieben :  die  Ecke  des  Grabens 
und  der  Herrengasse,  die  vornehmste  Stelle  der  vor- 
nehmsten Straße  Prags.  Dort  steht  noch  heute  die  Pia- 
ristenkirche,  ein  geschmackloser  Bau.  Nach  der  Herren- 
gasse zu  ging  das  Kloster  und  eine  niedere  Kloster- 
schule, nach  dem  Graben  zu  das  Klostergymnasium, 
auch  dieses  ein  klosterähnlicher  Bau,  von  welchem 
lange  gewölbte  Gänge  zu  den  Wohnungen  der  geist- 
lichen Herren  führten.  Wir  mußten  oft  den  Weg  machen, 
an  Kruzifixen  und  Heiligenbildern  vorbei,  die  breite 
Treppe  hinauf,  in  die  sogenannten  Zellen  der  hoch- 
würdigen Herren  Professoren;  das  waren  plump  mö- 
blierte Junggesellenzimmer,  in  denen  es  merkwürdig  viel 
Schlummerrollen  und  andere  Handarbeiten  gab,  von 
den  Müttern  der  Schüler  gestiftet.  Die  geistlichen 
Herren  ließen  uns  Hefte  und  Bücher  aus  ihren  Zellen 
holen  und  wieder  dahin  zurücktragen ;  es  galt  für  eine 
Auszeichnung,  diese  kleinen  Ministrantendienste  zu 
verrichten.  Die  wirklichen  Ministranten,  die  fromm 
bei  der  Messe  zu  schaffen  hatten,  wurden  als  künftige 
Theologen  betrachtet  und  waren  wochentags  häufig  die 
Laufjungen  der  Professoren.  Es  waren  Galgenstricke 
unter  ihnen  und  diese  waren  es,  die  das  Geschäft  der 
,, Aufklärung**  in  der  Klasse  besorgten.  Von  ihnen  hör- 
ten wir,  daß  die  Ordensleute  bei  ihren  Mahlzeiten  und 
auch  sonst  ein  üppiges  Leben  führten ;  von  ihnen  hörten 
wir,  was  an  unanständigen  Anekdoten  über  die  Piaristen 
im  Umlauf  war.  Das  schadete  uns  nicht  viel ;  es  gibt  auf 
jeder  Knabenschule  solche"^  Freunde  der  geschlecht- 
lichen Aufklärung.  Aber^wir  erfuhren  gerade^von  die- 
sen Ministranten  auch  —  und  es  wurde  uns  bald  von 
Schülern  der  höheren  Klassen  bestätigt  — ,  daß  unser 
Gymnasium  allgemein  für  das  weitaus  schlechteste  der 

40 


drei  Prager  Gymnasien  galt.  Ich  konnte  es  zuerst  gar 
nicht  fassen,  daß  es  ein  Gymnasium  geben  könnte, 
dessen  Lehrer  uns  die  ganze  Wahrheit  und  Schönheit 
nicht  darreichen  konnten  oder  wollten.  Und  als  mir  mit 
der  Zeit  klar  wurde,  daß  das  Urteil  der  öffentlichen 
Meinung  recht  hatte,  da  half  das  auch  nicht.  Was  blieb 
mir  übrig?  Das  Gymnasium  der  Altstadt,  das  in  der 
Nähe  unserer  Wohnung  lag,  war  vollkommen  tsche- 
chisch geworden,  und  das  Gymnasium  der  Kleinseite, 
jenseits  der  alten  Nepomukbrücke  am  Fuße  des  Lau- 
renziberges,  war  für  einen  Parvisten  zu  weit  entfernt. 
Mit  diesem  Grunde  wurde  ich  abgespeist,  wenn  ich  über 
unsere  Lehrer  klagte.  So  schlug  ich  denn  jeden  Morgen 
den  Riemen  um  meine  Bücher,  wanderte  durch  eine 
Reihe  dunkler,  schmutziger  Durchhäuser  täglich  nach 
dem  Piaristengymnasium  und  ließ  mir  bei  der  Heim- 
kunft von  den  lachenden  Dienstmädchen  entgegen- 
rufen: „Piaristen,  schlechte  Christen!'* 

Ich  habe  in  diesem  Klostergymnasium  fünf  Jahre  ver- 
loren. Vom  Herbst  1861  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges 
von  1866  habe  ich  dort  die  Bänke  gedrückt  und  für  die 
Schule  nichts,  aber  auch  gar  nichts  gearbeitet,  weil  die 
Lehrer  nichts  von  mir  verlangten.  Noch  einmal:  ich 
möchte  meine  Erfahrungen  an  dieser  Anstalt  nicht  ge- 
neralisiert wissen,  möchte  selbst  nicht  generalisieren. 

Auch  wäre  es  ein  Irrtum,  die  Schuld  ausschließlich 
und  ohne  weiteres  auf  den  geistlichen  Charakter  der 
Anstalt  zu  schieben.  Die  Lehrer  waren  geistliche  Herren, 
aber  der  Unterricht  war  schon  ziemlich  verweltlicht. 
Von  den  fünfundsechzig  Schülern  der  Parva  waren  bei- 
nahe die  Hälfte  Juden,  und  an  einigen  Protestanten 
fehlte  es  auch  nicht.  So  gab  es  keine  Glaubenseinheit, 
und  wenn  die  Herren  Piaristen  mitunter  über  Luther 

41 


und  über  die  Juden  ihre  Witze  rissen,  so  taten  sie  das 
zu  ihrem  Vergnügen  und  nicht  aus  Glaubenseifer.  Ich 
weiß  von  österreichischen  Gymnasien  aus  jener  Zeit, 
in  denen  wirklich  ein  streng  katholischer  Geist  herrschte 
und  die  dennoch  Musteranstalten  waren.  f^ 

Wir  wurden  nicht  mit  allzuviel  Frömmigkeit  geplagt. 
Der  Unterricht  wurde  freilich  an  jedem  Tage  durch  ein 
Gebet  eröffnet  und  durch  ein  Gebet  geschlossen;  aber 
nur  der  Katechet,  wenn  er  zufällig  die  erste  Stunde  zu 
geben  hatte,  machte  die  Sache  mit  einiger  Würde  ab. 
Die  anderen  Lehrer  hatten  ungefähr  die  gleiche  Ge- 
wohnheit angenommen:  sie  schlugen  in  dem  Augen- 
blick, da  sie  das  Katheder  betraten,  eilfertig  oder  zer- 
streut ein  Kreuz  und  gaben  damit  den  Schülern  ein 
Signal,  das  lateinische  Gebet  zur  Mutter  Gottes  herunter 
zu  plärren.  Wir  erlangten  darin  eine  gewisse  Virtuosität; 
vor  den  erwünschteren  Stunden  beteten  wir  viel  rascher 
als  vor  den  unangenehmen,  aber  meistens  taktmäßig 
und  langsam.  Inzwischen  nahm  der  geistliche  Lehrer 
seine  erste  Prise  —  sie  schnupften  alle  — ,  wischte  sich 
die  Finger  an  der  neuen  oder  alten  Kutte  ab,  schneuzte 
sich  und  überblickte  die  Klasse  bissig  oder  gelangweilt, 
wie  ein  böser  Hund  oder  wie  eine  alte  müde  Katze. 
Viele  Protestanten  und  Juden  sprachen  die  Gebete  mit. 
Es  gehörte  zum  Ganzen  wie  die  Frühstückssemmel,  die 
auch  ohne  Unterschied  der  Konfession  beim  Schul- 
diener gekauft  wurde.  Als  wir  später  auf  dem  weltlichen 
Gymnasium  der  Kleinseite  einen'  kirchenfeindlichen 
Lehrer  hatten,  der  das  Gebet  mitjgutgespielter  Zer- 
streutheit zu  vergessen  liebte,  da  wurde  er  häufig  von 
ordentlichen  Schülern  an  seine  Pflicht  gemahnt;  viel- 
leicht waren  sie  fromm,  vielleicht  wollten  sie  auch  nur 
die  gefürchtete  Stunde  um  einige  Minuten  kürzen.  Ge- 

42 


rade  dort  auf  dem  weltlichen  Gymnasium  nahmen  viele 
die  Religion  ernster  und  innerlicher ;  aus  Knaben  waren 
Jünglinge  geworden. 

^  Bei  den  Piaristen  sorgte  schon  die  Körperlichkeit  der 
Lehrer  dafür,  das  Göttliche  zum  Spott  werden  zu  lassen. 
Einen  einzigen,  sinnigen  und  kränklichen,  magern  und 
kleinen  Mann  ausgenommen,  waren  sie  alle  so  be- 
schaffen, daß  die  Schülerkarikaturen  nicht  viel  an 
ihrem  Umriß  zu  verändern  brauchten.  Es  war  einer 
unserer  Schülerwitze:  der  faule  Bauch  der  Piaristen 
fange  bei  der  Stirn  an.  Namentlich  die  drei  Hauptlehrer 
des  Untergymnasiums  waren  Kolosse,  hätten  Modelle 
für  Grützner  werden  können.  Der  eine  hatte  ein  rohes, 
erschreckend  gemeines  Knechtsgesicht,  der  zweite  feine, 
aber  lüsterne  Pfaffenzüge,  der  dritte  sah  so  apathisch 
aus,  als  hätte  er  anstatt  sechzig  Schülern  sechzig  Pflaster- 
steine vor  sich,  die  er  in  die  Erde  rammen  müßte.  Aber 
dick  waren  sie  alle  drei,  fabelhaft  dick,  dick  von  Müßig- 
gang und  Kreuzherrnbier.  Der  mit  dem  gemeinen 
Knechtsgesicht,  ein  jähzorniger  und  böser  Mensch,  warf 
im  Laufe  der  Jahre  zweimal  den  Kathedertisch  mit  der 
eigenen  Körperfülle  um,  als  er  aufsprang,  um  einen  von 
uns  beim  Schopf  zu  packen. 

Nein,  die  Religion  spielte  auf  dem  Piaristengymna- 
sium  keine  große  Rolle.  Und  die  heiligste  Pflicht  eines 
Lehrers,  die  religiöse  oder  moralische  Pflicht  der  Gerech- 
tigkeit, wurde  nichterfüllt.  Ich  ahnte  damals  noch  nicht, 
daß  die  Korruption  fast  auf  allen  Schulen  zu  Hause  ist, 
daß  der  ärmere  Schüler  bei  der  Gebrechlichkeit  des 
Weltlaufs  immer  im  Nachteil  ist  gegen  den  Schüler, 
dessen  Eltern  bestechen  können  und  wollen. 

Ein  förmliches  Institut  der  Bestechlichkeit  war  es, 
das  meine  Entrüstung  über  meine  geistlichen  Lehrer 

43 


weckte,  noch  bevor  ich  ihre  geistige  Unfähigkeit  be- 
greifen konnte. 

Zwar  daß  die  Ministranten  bevorzugt  wurden  und 
noch  weniger  Latein  zu  lernen  brauchten  als  wir,  schien 
mir  weniger  bedenklich ;  es  waren  Kinder  unbemittelter 
Eltern  und  hatten  sich  das  Wohlwollen  des  Ordinarius 
immerhin  durch  eigene  Arbeit  erkauft.  Nur  die  Rigo- 
risten  unter  uns  nahmen  auch  das  übel.  Aber  die  ganz 
schamlose  Einrichtung  der  Bestechung,  von  der  ich  be- 
richten will,  war  doch  wohl  eine  dem  Klostergymnasium 
eigentümliche  Erscheinung. 

Es  war  den  Geistlichen  verboten,  Privatunterricht  zu 
erteilen.  Dafür  entschädigte  sich  unser  Klassenlehrer 
—  von  andern  Lehrern  des  Gymnasiums  kann  ich  das 
nicht  mit  Bestimmtheit  bezeugen  —  durch  die  schlichte 
und  sinnreiche  Begründung'eines  Privatissimums,  das 
immerhin  ein  paar  hundert  Gulden  im  Jahre  abwarf. 
Zweimal  wöchentlich  blieben  die  kleinen  Schüler,  deren 
Eltern  die  Ausgabe  erschwingen  konnten,  nach  der 
Schule^m  Klassenzimmer  beisammen  und  der  gute  Or- 
dinarius diktierte  ihnen  die  Hausarbeiten  in  die  Feder, 
die  er  vorher  selbst  aufgegeben  hatte.  Christliche  Barm- 
herzigkeit war  auch  dabei ;  denn  die  Freischüler,  deren 
Väter  keinen  Kreuzer  aufbringen  und  darüber  ein  schö- 
nes Armutszeugnis  vorzeigen  konnten,  durften  an  dieser 
Privatstunde  gratis  teilnehmen;  aber  das  Fernbleiben 
zahlungsfähiger  Schüler  wurde  mit  Recht  als  Hochmut 
und  Gemeinheit  ausgelegt.  Ich  war  meines  Erinnerns 
der  einzige  in  der  Klasse,  der  an  diesen  Nachhilfestun- 
den nicht  teilnahm  faus^Rechtsgefühl  und  aus  Trotz, 
wie'ich  wohl  sagen  darf.  Auch  war  ich  zu  stolz,  meiner 
Mutter  zu  sagen,  daß  sie  den  Vater  um  die  zwei  Gulden 
für  jedes  Semester  bitten  sollte. 

44 


Gerade  weil  ich  das  Fernbleiben  von  dieser  Lumperei 
eigentlich  fast  freiwillig  auf  mich  nahm,  empfand  ich 
doppelt  mit  den  Schülern,  die  amtlich  ein  Armutszeug- 
nis vorgelegt  hatten,  und  die  ihre  Armut  überaus  häufig 
mit  Sticheleien  und  anderen  Schändlichkeiten  zu  büßen 
hatten.  Mein  Zorn  gegen  die  Schulkorruption,  von^die- 
sen  ,, Privatstunden*'  entfacht,  hat  vorgehalten ;"  und 
heute  noch  predige  ich  bei  jeder  Gelegenheit  das  Ideal, 
die  Gerechtigkeit,  das  unzulänglich  gesicherte  Funda- 
ment des  Staates,  wenigstens  in  der  Schule  gelten  zu 
lassen.  Ich  habe  meinen  alten  Zorn  gegen^die  Schul- 
korruption neben  manchen  andern  rebellischen  Gedan- 
ken (,,mehr  Sachen  als  Worte**)  leidenschaftlich  genug 
dargestellt  in  meinem  „Wörterbuch  der  Philosophie*' 
(Artikel  „Schule* '  IL  S.  388 ff.) ;  ich  möchte  einen  guten 
Leser  gern  auf  dieses  Kapitel  verweisen. 

Ich  weiß  jetzt,  daß  auch  Lehrer  Menschen  sind,  daß 
auch  anderswo,  auf  Volksschulen  und  auf  Universitäten, 
Gefälligkeiten  des  Vaters  oder  der  Mutter,  Geschenke  in 
Naturalien  oder  in  Geld,  auch  leiseste  Winke  eines  ein- 
flußreichen Vaters,  das  Fortkommen  eines  Schülers  be- 
günstigen. Ich  weiß  jetzt,  daß  die  Korruption  so  allge- 
mein ist  wie  Gestank  in  den  Städten,  und  gerate  nicht 
mehr  über  jedes  „Schmieren**  in  knabenhafte  Aufre- 
gung. Aber  eine  so  schamlos  öffentliche  Bestechung 
wie  die,  die  ich  eben  geschildert  habe,  ist  doch  erzählens- 
wert. Die  meisten  von  uns  fanden  gar  nichts  an  dieser 
Privatstunde ;  geschmiert  wurde  doch  und  die  zwei  Gul- 
den waren  ja  nicht  der  Rede  wert.  Auch  von  dem  kras- 
sesten Falle  einer  individuellen  Korruption  wurde  unter 
den  Mitschülern  mit  mehr  HeiterkeitalsZorn gesprochen. 
Der  Sohn  eines  reichen  und  sehr  einflußreichen  Mannes 
war  von  einer  Unfähigkeit,  die  an  Kretinismus  grenzte, 

45 


und  dazu  von  einer  wahrhaft  göttlichen  Faulheit;  er 
wußte  niemals  eine  Antwort  zu  geben  und  verstand  es 
nicht  einmal,  bei  den  Klausurarbeiten  vom  Banknachbar 
abzuschreiben.  Er  war  so  dumm,  daß  wir  ihm  nicht  ein- 
mal mehr  einsagten,  wenn  er  gefragt  wurde.  Und  dieses 
Roß  Gottes  fiel  niemals  durch,  ging  von  Klasse  zu  Klasse 
mit,  machte  übrigens  später  pünktlich  sein  Abiturienten- 
examen und  seinen  Doktor.  Er  ist  ein  ganz  angenehmer 
Mensch  geworden  und  fällt  unter  seinen  studierten  Be- 
rufsgenossen nicht  sonderlich  auf. 

Bevor  ich  aus  möglichst  treuem  Gedächtnis  ein  Ur- 
teil über  die  wissenschaftliche  Befähigung  unserer  Leh- 
rer abzugeben  suche,  will  ich  noch  eines  Umstandes  er- 
wähnen, der  für  den  Geist  der  Schule  von  Bedeutung 
war.  Mehrere  der  Geistlichen,  die  am  Untergymnasium 
unterrichteten,  waren  nach  ihrer  politischen  und  natio- 
nalen Gesinnung  Tschechen.  Nun  war  unser  Piaristen- 
gymnasium  offiziell  eine  deutsche  Schule.  In  den  beiden 
untersten  Klassen  gab  es  (vielleicht  irre  ich  in  der  Be- 
zeichnung) tschechische  Parallelklassen,  in  denen  die 
tschechischen  Kinder  ein  wenig  an  die  deutsche  Unter- 
richtssprache gewöhnt  wurden.  Später  saßen  Deutsche 
und  Tschechen  in  derselben  Klasse  beisammen,  unge- 
fähr in  gleicher  Stärke.  Es  braucht  nicht  erst  gesagt  zu 
werden,  daß  unter  solchen  Umständen  auch  bei  besseren 
Lehrern  die  sprachliche  Langsamkeit  der  einen  Hälfte 
ein  Hemmschuh  für  den  gesamten  Unterricht  geworden 
wäre.  Von  den  nationalen  Kämpfen  Böhmens,  die  da- 
mals schon  sehr  lebhaft  waren  und  bereits  auf  die  öster- 
reichische Politik  Einfluß  nehmen  mochten,  wußten  wir 
in  unserm  jugendlichen  Alter  noch  nicht  viel,  die  deut- 
schen Knaben  jedenfalls  viel  weniger  als  die  tschechi- 
schen. Wir  lernten  voneinander  in  den  Pausen  die ,, zweite 

46 


Landessprache*',  in  welcher  wir  uns  ja  nach  dem  Schul- 
regulativ mündlich  und  schriftlich  sollten  ausdrücken 
können  wie  in  der  Muttersprache.  Ich  gewann  einen 
tschechischen  Freund,  welcher  seitdem  von  sich  reden 
gemacht  hat,  der  mich  zu  seiner  nationalen  Gesinnung 
bekehren  wollte ;  es  kam  aber  nichts  dabei  heraus,  als 
daß  er  mir  seine  tschechischen  Gedichte  brachte,  die  ich 
verdeutschte,  wofür  er  dankbar  meine  ersten  Verse  ins 
Tschechische  übersetzte.  Wir  bewunderten  einander 
umschichtig. 

Die  tschechische  Gesinnung  der  Lehrer,  die  sich  von 
Jahr  zu  Jahr  offener  und  gehässiger  äußern  durfte,  hatte 
nun  wieder  üble  Folgen  für  die  Behandlung  der  Schüler. 
Daß  freilich  die  Lokalgeschichte  Böhmens  mit  beson- 
derer Vorliebe  getrieben  wurde,  war  ja  wohl  ganz  in 
der  Ordnung;  die  romantische  Geschichte  Böhmens 
hatte  ja  nicht  nur  die  heimischen  Dichter  Ebert  und 
Meißner,  nicht  nur  den  großen  Österreicher  Grillparzer, 
sondern  sogar  den  Rheinländer  Brentano  zu  Dichtungen 
begeistert ;  wir  bemerkten  es  kaum,  daß  unser  Geschichts- 
professor die  Geschichte  Böhmens  wie  eine  rein  slawi- 
sche Geschichte  darstellte  und  von  dem  mächtigen  Ein- 
fluß deutscher  Kunst  und  deutscher  Kultur  überhaupt 
wenig  zu  erzählen  wußte.  Es  kommt  auch  anderwo  vor, 
daß  die  Weltgeschichte  durch  eine  farbige  Brille  gezeigt 
wird;  auch  in  Preußen.  Schlimmer  war  es  schon,  daß 
diese  geistlichen  Herren  für  alle  nationalen  Unterneh- 
mungen der  Anhänger  von  Johannes  Hus  die  wärmsten 
Gefühle  äußerten  und  zu  wecken  suchten ;  am  schlimm- 
sten aber,  daß  die  Knaben  aus  den  rein  deutsch  geblie- 
benen Zipfeln  Böhmens  für  ihre  Unkenntnis  der  tsche- 
chischen Sprache  bei  jeder  Gelegenheit  gehänselt  und 
zurückgesetzt  wurden.  Eine  theatralische  Begeisterung 

47 


für  die  Hussitenkriege  in  einem  katholischen  Kloster- 
gymnasium, da  stimmte  etwas  nicht.  Für  manchen 
Schüler  etwa  aus  der  Gegend  von  Eger,  wo  wieder  ein 
unklarer  Wallensteinkultus  zu  Hause  war,  hatte  der 
Unterricht  in  der  Religion  und  in  der  tschechischen 
Sprache  eine  gewisse  Ähnlichkeit ;  sie  lernten  in  beiden 
,, Gegenständen''  dogmatische  Sätze  auswendig,  be- 
kamen für  beide  Leistungen  gute,,  Klassen''  (Zensuren), 
verstanden  aber  kein  Wort  von  der  Sache.  Ich  werde 
auf  meine  persönliche  Lehrzeit  in  der  Religion  wie  in 
der  tschechischen  Sprache  noch  zurückkommen. 

Über  die  Hauptsache,  über  die  wissenschaftliche  Be- 
fähigung meiner  geistlichen  Lehrer  glaubhaft  zu  be- 
richten, wird  mir  schwer  fallen;  der  Gegensatz  ihrer 
Vorbildung  zu  der  der  vielverspotteten  und  doch  gründ- 
lich geschulten  deutschen  Oberlehrer  war  unwahr- 
scheinlich stark.  Von  dem  erwähnten  obersten  Leiter 
des  österreichischen  Schulwesens,  der  übrigens  einige 
Jahre  vor  mir  das  Kleinseitner  Gymnasium  besucht 
hatte,  wurde  mir  später  einmal  gesagt:  die  Um- 
wandlung des  Klostergymnasiums  in  ein  Staatsgym- 
nasium wäre  im  Unterrichtsministerium  damals  schon 
eine  beschlossene  Sache  gewesen,  und  darum  hätte  der 
Piaristenorden  diese  Anstalt  so  arg  verkommen  lassen ; 
der  Herr  fügte  allerdings  zögernd  hinzu,  die  schlechten 
Qualitäten  der  Lehrer  und  die  skandalösen  Leistungen 
der  Anstalt  hätten  das  Ministerium  dann  plötzlich  zu 
seinem  Beschlüsse  bestimmt.  Mein  Urteil  über  meine 
Lehrer,  die  uns  doch  den  Glanz  der  antiken  Welt  hätten 
erschließen  sollen,  versuchte  er  nicht  einmal  zu  mildern. 


48 


Illlllllllillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll^ 


VI.  Ohne  Sprache  und  ohne  Religion. 

f  Tschechisch  verstanden  sie  alle,  darin  hätten  wir  viel- 
leicht Fortschritte  machen  können.  Darüber  hinaus 
wurde  uns  nichts  geboten.  Mit  gutem  Bedacht  schreibe 
ich  es  hin,  und  man  wird  es  schon  der  Beobachtungsgabe 
eines  lernbegierigen  siebzehnjährigen  Knaben  (so  alt 
war  ich  fast,  als  ich  das  Piaristengymnasium  verließ) 
glauben  müssen:  die  uns  fünf  Jahre  lang  im  Latei- 
nischen unterrichten  sollten,  verstanden  kein  Latein, 
die  uns  drei  Jahre  griechischen  Unterricht  gaben,  ver- 
standen kein  Griechisch ;  ebenso  stand  es  um  Geschichte 
und  Mathematik ;  und  die  uns  in  der  deutschen  Sprache 
unterrichteten,  konnten  deutsch  nicht  einmal  richtig 
sprechen,  geschweige  denn,  daß  sie  sich  jemals  wissen- 
schaftlich mit  der  deutschen  Sprache  beschäftigt  hätten. 
Der  Dicke  mit  dem  gemeinen  Knechtsgesicht  war, 
wenn  ich  nicht  irre,  durch  volle  vier  Jahre  unser  Or- 
dinarius. Nachdem  er  uns  die  lateinischen  Paradigmen 
eingepaukt  und  eingeschopf  beutelt  hatte,  war  er  mit  sei- 
nem Latein  eigentlich  zu  Ende ;  denn  als  wir  dann  la- 
teinische Stücke  zu  lesen  anfingen,  präparierte  er  sich 
auf  die  meisten  Stunden  genau  so  mit  Eselsbrücken  vor, 
wie  wir;  wir  sahen  den  ,, Freund**  (ich  glaube,  diese 
vortrefflichen  Einpaukhefte  sind  immer  noch  im  Ge- 
brauch) unter  dem  Schulbuche  auf  seinem  Katheder- 
pult liegen;  entdeckte  er  so  einen  „Freund**  in  einer 

4  49 


der  Schulbänke,  so  gab  es  natürlich  erst  recht  kräftige 
Püffe.  Er  muß  ungewöhnlich  unbegabt  gewesen  sein, 
da  er  das  Pensum  im  Laufe  der  Jahre  nicht  auswendig 
gelernt  hatte.  Gott  mag  dem  bösen  Dicken  verzeihen, 
was  er  beim  lateinischen  Unterricht  an  uns  gesündigt 
hat ;  aber  auch  Gott,  wenn  es  anders  immer  noch  einen 
alten  deutschen  Gott  gibt,  kann  ihm  seinen  deutschen 
Unterricht  nicht  verzeihen.  Es  ist  mir  unvergeßlich,  wie 
wir  einmal  Goethes  ,, Fischer*'  aufzusagen  hatten,  und 
wie  unser  Botokude  das  Gedicht  erst  erklärte  und  dann 
in  seinem  entsetzlichen  Deutsch  so  vordeklamierte,  wie 
er  es  von  uns  hören  wollte.  Es  wäre  ein  zu  grober  Possen- 
effekt, wollte  ich  das  ganze  Gedicht  in  seiner  Aussprache 
hersetzen.  Nur  eine  Stelle  kann  ich  ihm  nicht  schenken. 
Einer  von  uns,  ein  prächtiger  Egerländer,  hatte  richtig 
gesprochen:  ,,Halb  zog  sie  ihn,  halb  sank  er  hin.'* 
Der  böse  Knecht  schlug  mit  der  geballten  Faust  auf  den 
Tisch  und  wetterte:  ,,Hob  ich  dir  g'sagt,  das  is  Geggen- 
satz.  Halb  zock  sie  ihn,  halb  sonk'r  hien.'*  Und  der 
arme  Egerländer,  wenn  er  nicht  durchfallen  wollte, 
mußte  den  ,,Geggensatz*'  so  betonen.  Auf  diese  Weise 
erhielten  wir  eine  Vorstellung  von  dem  Wohlklang 
Goethescher  Verse. 

Ich  habe  vorhin  darauf  hingewiesen,  daß  ich  als  Jude 
im  zweisprachigen  Böhmen  wie  ,, prädestiniert'*  war 
(ich  weiß  besser  als  mancher  Leser,  wie  dumm  dieses 
Wort  ist),  der  Sprache  meine  Aufmerksamkeit  zuzu- 
wenden ;  selbst  der  Hochmut,  sich  dem  eigenen  Lehrer 
im  Gebrauche  der  Muttersprache  überlegen  zu  fühlen, 
mochte  früh  zu  mancher  Beobachtung  führen.  Ich  darf 
aber  vielleicht  ebensogut  hier,  wie  an  einer  andern  Stelle 
ein  Leid  klagen,  ein  Entbehren,  das  mich  in  meiner 
Jugend  gequält  hat  und  mich  in  meinem  Alter  zu  quälen 

SO 


nicht  ganz  aufgehört  hat.  Jawohl,  mein  Sprachgewissen, 
meine  Sprachkritik  wurde  geschärft  dadurch,  daß  ich 
nicht  nur  Deutsch,  sondern  auch  Tschechisch  und  He- 
bräisch als  die  Sprachen  meiner  „Vorfahren**  zu  betrach- 
ten, daß  ich  also  die  Leichen  dreier  Sprachen  in  meinen 
eigenen  Worten  mit  mir  herumzutragen  hatte.  Jawohl, 
ein  Sprachphilosoph  konnte  unter  solchen  psycholo- 
gischen Einflüssen  heranwachsen.  Aber  ich  dachte 
ja  in  jener  Zeit  gar  nicht  an  eine  solche  Aufgabe. 
Der  junge  Mensch  war  erfüllt  von  dichterischen  Plä- 
nen. Und  für  die  Wortkunst  fehlte  mir  das  lebendige 
Wort  einer  eigenen  Mundart.  Ich  weiß,  daß  ich  mit 
dieser  Klage  jedem  Gegner  meiner  Schriften  eine  Waffe 
in  die  Hand  gebe.  Ich  muß  es  dennoch  sagen:  ich  be- 
sitze in  meinem  innern  Sprachleben  nicht  die  Kraft 
und  die  Schönheit  einer  Mundart.  Und  wenn  jemand 
mir  zuriefe:  ohne  Mundart  sei  man  nicht  im  Besitze 
einer  eigentlichen  Muttersprache  —  so  könnte  ich  viel- 
leicht heute  noch  aufheulen,  wie  in  meiner  Jugend,  aber 
ich  könnte  ihn  nicht  Lügen  strafen.  Die  dicht  beieinan- 
der wohnenden  Deutschen  der  böhmischen  Grenzge- 
biete, die  Deutschen  des  nordöstlichen,  des  nordwest- 
lichen und  des  westlichen  Böhmens  haben  ihre  lieben 
und  echten  Dialekte.  Der  Deutsche  im  Innern  von 
Böhmen,  umgeben  von  einer  tschechischen  Landbe- 
völkerung, spricht  keine  deutsche  Mundart,  spricht  ein 
papierenes  Deutsch,  wenn  nicht  gar  Ohr  und  Mund  sich 
auf  die  slawische  Aussprache  eingerichtet  haben.  Es 
mangelt  an  Fülle  des  erdgewachsenen  Ausdrucks,  es 
mangelt  an  Fülle  der  mundartlichen  Formen.  Die 
Sprache  ist  arm.  Und  mit  der  Fülle  der  Mundart  ist 
auch  die  Melodie  der  Mundart  verloren  gegangen.  Es 
ist  bezeichnend  dafür,  daß  der  Mensch  auch  zu  seiner 

4*  51 


eigenen  Sprache  keine  Distanz  hat :  die  Deutschböhmen 
bilden  sich  ein  und  sagen  es  bei  jeder  Gelegenheit,  daß 
sie  das  reinste  Deutsch  reden.  Die  Ärmsten !  Als  ob  die 
Mundarten  unrein  wären! 

Wenn  einem  Deutschböhmen  aus  tschechischer  oder 
tschechisch  gewordener  Gegend  irgendwie  die  Sehn- 
sucht nach  Zugehörigkeit  zu  einem  Volksdialekte 
kommt,  so  pflegt  er  gewöhnlich  den  behaglichen  Wie- 
ner Dialekt  nachzuahmen.  Es  gelingt  ihm  nur  schlecht. 
Er  hört  ihn  (in  den  alten  und  neuen  Wiener  Possen), 
aber  er  kann  ihn  nicht  nachahmen.  Ich  habe  wie  nur 
einer  die  Sehnsucht  nach  der  Zugehörigkeit  zu  einem 
Dialekte  empfunden ;  aber  es  fiel  mir  niemals  ein.  Wie- 
nerisch zu  reden.  Es  gehört  dazu  wie  zu  jeder  vollkom- 
menen Beherrschung  einer  fremden  Sprache  etwas  Ko- 
mödienspielerei, etwas  Snobismus,  wofür  ich  keine 
Neigung,  wahrscheinlich  keine  Begabung  habe.  Mir 
blieb  die  Sehnsucht,  die  sich  mit  Verstehen  und  Nicht- 
Sprechen-Können süddeutscher  Mundarten  begnügen 
mußte.  Die  oberbayerische  Mundart  und  einige  alleman- 
nische  Mundarten  haben  mich  beim  ersten  Anhören  bis 
zu  Tränen  ergriffen.  Sprachkünstlerisch,  aus  dem  Un- 
bewußten heraus,  ist  meine  Sprache  niemals  lebendig 
genug  gewesen,  und  darum  nicht  dichterisch  genug. 
Mögen  Feinde  mir  es  boshaft  nachsprechen,  was  ich 
unter  tausend  Schmerzen  spät  genug  herausgefunden 
habe. 

Und  weil  ich  einmal  so  Kritik  übe  an  der  Grundlage 
meines  poetischen  Schaffens,  so  sei  gleich  an  dieser 
Stelle  und  in  diesem  Zusammenhange  der  andere 
Mangel  beklagt,  der  meine  dichterischen  Pläne  nicht 
zu  meiner  eigenen  Zufriedenheit  reifen  ließ.  Wie  ich 
keine  rechte  Muttersprache  besaß  als  Jude  in  einem 

52 


zweisprachigen  Lande,  so  hatte  ich  auch  keine  Mutter- 
religion, als  Sohn  einer  völlig  konfessionslosen  Juden- 
familie. Wie  mir  mit  meinem  Volke,  dem  deutschen, 
nicht  die  Werksteine  ganz  gemeinsam  waren,  die  Worte, 
so  war  mir  und  ihm  auch  das  Haus  nicht  gemeinsam, 
die  Kirche.  Mir  waren  nicht  nur  die  Griechengötter  tote 
Symbole,  auch  den  christlichen  Himmel  lernte  ich  als 
totes  Symbol  kennen,  so^viele  Mühe  ich  mir  auch  — 
etwa  vom  12. — 15.  Jahre  —  gab,  mir  den  christlichen 
Himmel  zu  erobern.  Es^ist  ein  Unterschied  zwischen 
einem  christlichen  Knaben,  der  später  seinen  Glauben 
verloren  hat  (etwa  D.  F.  Strauß)  und  einem  von  Anfang 
an  Glaubenslosen.  Goethes  Blasphemien  sind  titanisch, 
Heines  Witze  sind  dagegen  kalt.  Gerade  weil  die  Kirche 
so  ganz  und  gar  menschlich,  irdisch  ist,  darum  ist  es 
ein  dichterischer  Mangel,  von  Anfang  an  nicht  auf  die- 
sem gemeinsamen  Boden  zu  stehen.  Weil'mein  Ringen 
um  den  Glauben  vielleicht  nur  ein  unbewußtes  Spiel 
gewesen  war,  darum  fehlte  meinem  Bekenntnisse  zum 
Atheismus  am  Ende  das  Symbol  des  Kampfes :  der  Haß. 
Und  meiner  dichterischen  Sprache  das  Höchste  und 
Tiefste:  die  Erde. 

Nun  aber  darf  ich  auch  sagen,  daß  diese  Mängel  mich 
in  Erkenntnisfragen  der  Sprache  gegenüber  um  so  freier 
machten.  Doch  ich  habe  die  Schule  der  Piaristen  noch 
nicht  verlassen ;  zurück. 


53 


lil 

liiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii'iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiliiiii« 


VII.  Und  wieder  die  Piaristen. 

Ich  könnte  natürlich  manche  harmlose  Schulanek- 
dote erzählen.  Ich  möchte  aber  nicht  unterhalten,  ich 
möchte  nur  durch  Beispiele  belegen,  was  ich  über  das 
Elend  meiner  Schulzeit  gesagt  habe.  Was  so  trostlos 
war,  das  äußerte  sich  ja  nicht  in  den  kleinen  Lehrer- 
dummheiten, die  überall  möglich  sind  und  für  die  die 
schlimmen  Schulbuben  so  scharfe  Ohren  haben;  was 
so  trostlos  war,  das  war  die  allgemeine  Bildungsstufe 
der  Lehrer  und  der  Schüler,  also  der  ganzen  Anstalt. 
Die  preußischen  Unteroffiziere,  die  unter  Friedrich  dem 
Großen  Schulmeister  wurden,  hatten  nur  im  Lesen, 
Schreiben  und  Rechnen  zu  unterrichten  und  besaßen 
schwerlich  weniger  Kultur  als  unser  böser  Klassen- 
lehrer. Unser  Ordinarius  in  der  fünften  Klasse  hatte  viel 
Mutterwitz  und  einigen  Schliff,  aber  auch  er  ließ  sich 
von  uns  auf  Donatschnitzern  ertappen.  Ein  Geschichts- 
lehrer, der  sich  gerne  reden  hörte  —  er  soll  ein  guter 
Prediger  gewesen  sein  — ,  war  der  einzige  Deutsche 
unter  den  Professoren  und  ein  Mann  von  einiger  Bele- 
senheit. Er  war  kein  Piarist;  er  gehörte  einem  Orden 
an,  in  dessen  Küche  die  höheren  Töchter  Prags  die 
höhere  Kochkunst  studierten,  in  dessen  großer  Brauerei 
und  in  dessen  kleiner  Bibliothek  man  gut  bedient  wurde. 
Aber  auch  diesem  Herrn  passierte  es  einmal,  daß  er  die 

54 


Ausfuhr  Venedigs  nach  Amerika  zur  Zeit  der  Kreuz- 
züge rühmend  hervorhob. 

Ich  muß  von  meinem  harten  Urteile  noch  einen  Leh- 
rer ausnehmen,  den  kränklichen  Piaristen,  der  sich  auch 
äußerlich  von  den  faulen  Bäuchen  unterschied.  Er  lehrte 
in  der  Volksschule  den  Katechismus  und  bei  uns  Natur- 
geschichte. Aber  auch  bei  ihm  lernten  wir  nichts,  weil 
„man'*  Naturgeschichte  für  das  Abiturientenexamen 
nicht  brauchte.  Das  wußte  er  und  das  wußten  wir,  daß 
Naturgeschichte  nur  eben  geduldet  war.  Er  brachte 
Liebe  für  sein  Fach  und  für  die  Kinder  mit,  und  wenn 
wir  im  Frühjahr  mit  ihm  botanisieren  gehen  durften, 
so  war  es  doch  ein  kleiner  Gewinn  fürs  Leben.  Um  seine 
Frömmigkeit  mag  es  schlecht  bestellt  gewesen  sein.  Er 
widmete  sich  mit  Vorliebe  den  wenigen  protestantischen 
Schülern,  brummelte  immer,  wenn  wir  auf  den  Aus- 
flügen bei  einer  der  vielen  Kapellen  vorüberkamen,  und 
bemühte  für  die  Zoologie  die  Schöpfungsgeschichte  der 
Bibel  nicht.  Auf  einem  unserer  Botanisierbummel  hatte 
einer  der  „Ministranten**  den  lateinischen  Namen  des 
Löwenzahns  nicht  gewußt ;  der  Lehrer  ließ  ihn,  als  wie 
zur  Strafe,  die  zehn  Gebote  aufsagen  und  brummelte 
dann:  „Aber  ein  dummer  Kerl  bist  du  doch!**  Ich 
träumte  mir  von  diesem  Lehrer  einen  ganzen  Roman 
zusammen,  von  einem  unglücklichen  Freigeist  im  Klo- 
ster, der  lieber  die  Kleinsten  im  Katechismus  unterrich- 
tete, als  daß  er  in  der  Naturgeschichte  Konzessionen 
gemacht  hätte.  Ich  traf  diesen  lieben  guten  Menschen 
einige  Jahre  später,  als  ich  schon  Student  war,  in  einer 
kleinen  Sommerfrische,  wo  er  umsonst  und  eigentlich 
schon  hoffnungslos  Heilung  einer  schweren  Lungen- 
krankheit suchen  sollte;  als  ich  ihn  grüßte,  nannte  er 
mich  sofort  beim  Namen  und  forderte  mich  neckend 

55 


auf,  einige  Pflanzen  in  seiner  Hand  zu  bestimmen.  Er 
lud  mich  zu  einem  Glase  Bier  ein  und  wir  blieben  viele 
Stunden  zusammen.  Ich  kann  nicht  behaupten,  daß  er 
mir  die  Wahrheit  meines  Romans  bestätigt  habe.  Als 
wir  uns  aber  trennten,  sagte  er  mir  mit  der  einschmei- 
chelnden Stimme  eines  Phthisikers:  ,, Erhalte  dir  so 
lange  wie  möglich  deine  Liebe  zu  Blumen  und  Schmet- 
terlingen. Das  ist  die  Liebe  Gottes.  Sie  waren  nicht  zu- 
frieden damit,  daß  ich  als  Katechet  den  Buben  manch- 
mal auch  so  etwas  gesagt  hab'.  Ich  werd's  bald  vor 
dem  lieben  Gott  verantworten."  Ich  glaube  fast,  er  ist 
der  einzige  Christ  unter  meinen  Piaristen  gewesen. 

Der  wichtigste  Lehrgegenstand  meiner  fünf  Piaristen- 
jahre  war  natürlich  das  Latein.  Ich  will  darum  über  die 
Erfolge  noch  einige  betrübte  Worte  sagen.  Die  Zeit, 
in  welcher  fünfzehn-  oder  sechzehnjährige  Jungen  per- 
fekt Latein  lesen  und  schreiben  konnten,  die  Zeit  der 
alten  Gelehrtenschule,  war  selbstverständlich  längst 
vorüber.  Längst  waren  die  Ansprüche  auf  ein  Minimum 
herabgesunken.  Wir  hätten  es  in  der  fünften  Klasse 
aber  doch  so  weit  bringen  sollen,  Nepos,  Cäsar  und  Ovid 
geläufig  zu  verstehen.  Ich  weiß  nicht,  warum  wir  Buben 
gerade  den  Cäsar  und  den  Ovid  lesen  durften ;  die  Feld- 
züge Cäsars  sind  Männerlektüre;  und  die  gräßlichen 
Metamorphosen  des  Ovid  wären  eigentlich  recht  be- 
schaffen, für  Lebenszeit  einen  Abscheu  vor  der  latei- 
nischen Poesie  zu  befestigen.  Aber  die  Wahl  der  Autoren 
geht  uns  hier  nichts  an.  Der  Erfolg  eines  fünf  Jahre 
fortgesetzten  täglichen  Unterrichts  in  der  lateinischen 
Sprache  dürfte  etwa  folgender  gewesen  sein.  Die  Hälfte 
der  Schüler  hatte  nichts  gelernt,  einfach  nichts;  diese 
schlechten  Schüler  hatten  vielleicht  ein  Dutzend  Regeln 
und  fünf  Dutzend  Vokabeln  notdürftig  auswendig  ge- 

56 


lernt,  und  wenn  der  Lehrer  sie  sehr  laut  anschrie  und  die 
Banknachbarn  einsagten,  fügten  die  Ärmsten  am  Ende 
auch  ein  Subjekt,  eine  Kopula  und  ein  Prädikat  stam- 
melnd zusammen.  Aber  daß  das,  was  der  Lehrer  aus 
ihnen  herausschrie  und  herauszerrte,  Ähnlichkeit  hätte 
mit  einer  Sprache,  meinetwegen  mit  einer  toten  Sprache, 
das  hätte  auch  ein  Optimist  nicht  behaupten  können. 
Man  denke  sich  nur  in  die  Seele  so  eines  Unglücklichen 
hinein.  Er  wird  auf  das  Gymnasium  geschickt,  weil  er 
nach  dem  Willen  des  Vaters  Arzt,  Richter,  Oberlehrer 
oder  Pfarrer  werden  soll ;  er  hat  auch  nicht  die  aller- 
geringste Neigung,  etwas  von  der  antiken  Welt  zu  er| 
fahren ;  ein  Fliegendreckchen  an  der  Wand  interessiert 
ihn  mehr  als  die  lateinische  Sprache ;  und  er  hat  auch 
schon  davon  munkeln  gehört,  daß  er  nachher  als  Arzt, 
als  Richter,  als  Pfarrer  —  was  der  zum  Messelesen 
braucht,  das  ist  ja  wirklich  gar  bald  gelernt  —  die 
lateinische  Sprache  gar  nicht  mehr  brauchen  wird,  daß 
es  nur  so  ein  alter  Schlendrian  ist,  Latein  für  die  Latein- 
schule zu  lernen.  So  kratzt  sich  sein  Gedächtnis  für  die 
Lateinstunde  die  paar  Dutzend  der  notwendigsten  Be- 
griffe zusammen,  und  mit  dem  Glockenzeichen  ist  alles 
wieder  vorüber.  Die  wenigsten  von  diesen  schlechten 
Schülern  sind  durchgefallen;  die  meisten  wurden  von 
Klasse  zu  Klasse  gequetscht  und  haben  bewiesen,  daß 
man  arzten,  richten,  predigen  kann,  ohne  Latein  ge- 
lernt zu  haben.  J^ 
Die  andere  Hälfte  der  Klasse  las  in  der  Quinta  Cäsar 
und  Ovid,  das  heißt,  man  entzifferte  den  ungefähren 
Sinn  mit  Hilfe  der  Eselsbrücken  und  des  Wörterbuchs 
und  stand  den  lateinischen  Konstruktionen  mit  ah- 
nungsvoller Hilflosigkeit  gegenüber.  Bei  keinem'  von 
uns  konnte  davon  die  Rede  sein,  auch  nur  den  leich- 

57 


testen  lateinischen  Autor  so  zu  lesen,  wie  unsereins 
nach^einem  halbjährigen  Unterricht  im  Französischen 
einen  leichten  französischen  Schriftsteller  liest.  Es  gab 
natürlich  Musterknaben  unter  uns  (ich  fürchte,  ich  ge- 
hörte damals  nicht  mehr  zu  ihnen) ,  es  gab  auch  einen  Pri- 
mus ;  es  gab  aber  keinen  einzigen  leidlich  guten  Lateiner. 
Unser  Ordinarius  in  der  Quinta,  der  lüsterne  Pfaffe 
mit  dem  Mutterwitz,  imponierte  uns  in  der""ersten 
Stunde  nicht  schlecht,  da  er  uns  androhte,  mit  uns  la- 
teinisch zu  reden.  Es  stellte  sich  aber  bald  heraus,  daß 
die  copia  verborum  seiner  lateinischen  Konversation 
in  drei  Sätzchen  bestand,  die  wir  ihm  denn  auch  bald 
ablernten :  Loquamur  latine.  Optime.  Verte  in  verna- 
culam.  So,  darin  bestand  seine  lateinische  Eloquenz. 
Ich  bitte  seinen  breiten  Schatten  um  Verzeihung,  Venn 
er  noch  einen  weitern  Satz  sprechen  konnte,  und  ich 
den  vergessen  habe.  Und  das  war  der  Jammer:  wir 
hatten  nicht  das  Gefühl,  unwissender  zu  sein  als  unsere 
Lehrer.  Ich  glaube  jetzt  wie  damals,  daß  diejenigen 
von  uns,  die  den  „Freund**  fleißig  benützt  hatten,  im 
psychologischen  Augenblicke  mehr  wußten,  als  der  Herr 
Prof essor,"^^  der  das  Faulenzerbuch  auch  vor^sich  liegen 
hatte,  der  aber  zu  faul  war,  hineinzusehen.^^Natürlich, 
unser  Interesse  war  größer  als  das  seine. 
\  Ich  darf  nun  nicht  länger'mit  dem  Geständnisse  zu- 
rückhalten, daß  ich  in  diesen  fünf  Jahren  ein  so  fauler 
Schulknabe  wurde,  als  nur  je  einer  den  Tag  um  seine 
Stunden  bestohlen  hat.  Ich  gab  mir  nicht  die  Mühe, 
irgend  etwas  zu  lernen,  für  die  Schule  zu  lernen,  wohl- 
gemerkt. Ich  hatte  es  ja  nicht  nötig.  Ich  war  mit  einem 
einzigen  Ausnahmefall  immer  einer  der  Ersten  in  der 
großen  Klasse  und  galt  überdies  bei  vielen  Kameraden 
und  eigentlich  auch  bei  einigen  Lehrern  für  den  besten 

58 


Schüler.  Ich  hörte  nur  zu  —  wenn  ich  nicht  just  unter 
der  Bank  was  zu  lesen  oder  zu  dichten  hatte  — ,  ich 
arbeitete  zu  Hause  gar  nichts  und  durfte  mich  den- 
noch rühmen,  daß  meine  ,, Kompositionen^*  (die  Klau- 
surarbeiten) recht  viel  durch  die  Mitschüler  abgeschrie- 
ben wurden.  Von  einer  Anregung  oder  gar  Anleitung 
zu  wissenschaftlicher  oder  vorbereitender  Arbeit  war 
nicht  die  Rede,  niemals.  Auch  die  Ersten  der  Klasse 
hatten  Vertrauen  zu  mir,  trotzdem  mir  gelegentlich 
ein  falscher  Genetiv  oder  ein  falsches  Perfektum  aus 
der  Feder  lief.  Es  war  eine  Schande,  wie  wir  um  die 
schönen  Jahre  betrogen  wurden.  Ich  drückte  die  Bank 
und  hatte  die  Hoffnung  aufgegeben,  auf  diesem  Gym- 
nasium jemals  geistige  Fortschritte  zu  machen.  Die  Ein- 
führung in  das  antike  Kulturleben  blieb  aus ;  und  was 
ich  für  den  Schulbedarf  brauchte,  das  flog  bei  dem 
ewigen  Wiederkäuen  des  armseligen  Stoffs  einem  von 
selber  an,  auch  wenn  man  während  der  Schulstunde 
Goethe  las  oder  schwer  gereimte  Sonette  schmiedete. 
Man  brauchte  nur  dann  und  wann  hinzuhören. 

Ich  möchte  es  noch  einmal  sagen,  und  deutlicher  als 
vorhin,  daß  ich  nur  für  die  Schule  ein  so  nichtsnutziger 
Faulpelz  war.  Außerhalb  der  Schule  kam  meine  Lese- 
wut und  mein  Wissensdrang — wie  ich  wohl  sagen  darf — 
bald  wieder  zum  Durchbruch.  Man  konnte  doch  nicht 
immer  in  der  Moldau  schwimmen  oder  auf  der  Moldau 
Schlittschuh  laufen.  Ich  las,  wenn  ich  nicht  schwimmen, 
Schlittschuh  laufen,  essen  oder  schlafen  konnte.  Ein 
Stubenhocker  bin  ich  auch  in  den  Jahren  meines  wil- 
desten Fleißes  nicht  gewesen.  Trotzdem  zu  meiner  Zeit 
jede  Anregung  oder  gar  Anleitung  zur  Übung  eines 
Sports  fehlte  —  wir  kannten  das  Wort  nicht  — ,  trieb 
es  mich  immer  wieder  hinaus  in  die  Berge,  in  die  Wäl- 

59 


der,  in  den  Fluß.  Als  Schlittschuhläufer  habe  ich  es 
nicht  bis  zur  edeln  Kunstfertigkeit  gebracht;  ich  lief 
eben  stundenlang  die  Moldau  aufwärts,  wohl  bis  über 
Kuchelbad  hinaus ;  wie  ich  denn  auch  als  Fußwanderer 
schnell  und  ausdauernd  war  wie  einer.  Bloß  im 
Wasser  durfte  ich  mich  rühmen,  eine  nicht  ganz  all- 
tägliche Geschicklichkeit  zu  besitzen.  Aber  ohne  irgend- 
ein gutes  oder  schlechtes  Buch  ging  ich  kaum  aus  dem 
Hause ;  es  fehlte  nicht  viel,  und  ich  hätte  mir  auch  ins 
Wasser  etwas  zu  lesen  mitgenommen;  wenigstens 
glückte  mir  einmal  das  Kunststück,  über  die  Moldau 
hinüber  und  herüber  zu  schwimmen,  ein  Buch  in  der 
linken  Hand  zu  halten  und  es  trocken  zurückzubringen. 
Diese  Erinnerungen  haben  eine  erziehliche  Absicht, 
und  es  täte  mir  leid,  wenn  ein  anderer  fauler  Schlingel 
aus  meiner  Erzählung  den  Schluß  ziehen  wollte:  man 
könnte  durch  bloße  Faulheit  ein  einigermaßen  geachte- 
ter Schriftsteller  werden.  Ich  will  nicht  auf  meine  sprach- 
philosophischen Schriften  hinweisen,  an  denen  just  die 
vielseitigen  Kenntnisse  öfter  gerühmt  und  überschätzt 
worden  sind.  Ich  habe  mir  den  nötigen  Schulsack  erst 
in  sehr  reifem  Alter  angeschafft.  Aber  ich  hatte  doch 
immerhin  (auf  den  obersten  Klassen  des  Gymnasiums) 
den  Plan  gefaßt,  und  einen  Bruchteil  des  Plans  ausge- 
führt, Heines  Gedichte  ins  Griechische  zu  übersetzen. 
Ich  kann  nicht  leugnen,  daß  unser  Primus  mir  in  der 
Übersetzung  von  ,,Du  hast  Diamanten  und  Perlen'' 
einen  falschen  Dual  korrigieren  mußte ;  dennoch  scheint 
mir  die  Übersetzung  von  einem  Dutzend  Heinescher 
Gedichte  ins  Altgriechische  immerhin  ein  Beweis,  daß 
ich  trotz  meiner  gottsträflichen  Schülerfaulheit  ein 
recht  fleißiger  Bursche  gewesen  war*). 

*)  Vgl.  Anhang  I. 

60 


Der  Widerspruch  löst  sich  natürlich  durch  meine 
Lesewut.  Es  dürfte  schwer  zu  berechnen  sein,  wieviel 
Bände  ich  während  meiner  Gymnasialzeit  verschlungen 
habe.  Was  ich  las?  Das  Beste  und  das  Schlechteste 
durcheinander.  Einige  Romane,  die  deutschen  Klassiker 
und  dann  —  Räuber-  und  Geistergeschichten,  die  eine 
große  Abteilung  im  Kataloge  unserer  Leihbibliothek 
ausmachten.  Ohne  Wahl,  ohne  jede  Leitung,  ohne  jede 
Hilfe,  ohne  jede  Kritik  habe  ich  damals  viele,  viele 
hundert  Bände  von  Klassikern  gelesen,  von  deutschen, 
lateinischen  und  griechischen  Klassikern.  Das  Wort 
,, Klassiker**  hatte  es  mir  angetan.  Ich  bin  noch  sehr 
lange  nachher  kindlich  genug  gewesen  für  wertvoll  zu 
halten,  was  allgemein  angepriesen  wurde.  Ich  werde 
gleich  zu  erzählen  haben,  wo  und  wie  ich  zu  den  Büchern 
kam,  die  ich  in  jeder  freien  Stunde,  gar  zu  oft  beim 
Lichte  einer  Kerze,  zu  verschlingen  liebte:  Kräuter- 
bücher, Reisebeschreibungen,  irgendwelche  längstver- 
gessene deutsche  Dichter  in  elendem  Nachdruck  auf 
Löschpapier,  sodann  die  auf  Kredit  geliebten  lateini- 
schen und  griechischen  ,, Klassiker**  in  der  augenmör- 
derischen Ausgabe  von  Tauchnitz.  Ich  habe  damals  ge- 
wiß den  Grund  zu  dem  Augenübel  gelegt,  das  mir  jetzt 
die  Arbeit  so  erschwert.  Aber  das  ahnte  ich  noch  nicht ; 
ich  las  und  las,  ich  las,  als  hätte  ich  mich  freiwillig  zum 
Lesen  verurteilt.  Wahllos  und  ohne  jede  Leitung  —  wie 
gesagt —  las  ich  jedes  lateinische  und  griechische  Buch, 
das  ich  erstanden  hatte.  Es  war  ja  ein  Klassiker,  der 
Redner  und  der  Dichter,  der  Grammatiker  und  der  Geo- 
graph, jeder  war  mir  recht,  jeder  wurde  verschlungen. 
In  trotzigem  Gegensatz  gegen  die  Art,  wie  auf  der 
Schule  zwei  Zeilen  in  der  Stunde  durchbuchstabiert 
wurden,  las  ich  die  lateinischen  und  dann  die  griechi- 

6i 


sehen  Klassiker  sehr  schnell  durch ;  im  Lexikon  wurde 
nur  dann  nachgeschlagen,  wenn  sonst  nicht  einmal  der 
ungefähre  Sinn  klar  geworden  wäre.  So  gewann  ich  mit 
der  Zeit  eine  erstaunliche  Übung  im  Lesen  lateinischer 
und  griechischer  Schriften,  freilich  ohne  die  wünschens- 
werte grammatikalische  Festigkeit.  So  gewann  ich  aber 
auch  langsam  die  Überzeugung,  daß  ein  Klassiker  ein 
recht  langweiliger  Herr  sein  kann.  Keiner  von  den  La- 
teinern hat  mir  jemals  Freude  gemacht.  Meine  ganze 
Liebe  gehörte  Homer,  bei  dem  ich  es  freilich  nicht  mit 
einem  ungefähren  Verständnis  abgetan  sein  ließ.  Mit 
Hilfe  eines  Homerwörterbuchs  überwand  ich  die  Schwie- 
rigkeiten des  Anfangs ;  später  habe  ich  ganze  Gesänge 
der  Ilias  mit  Lust  auswendig  gelernt.  Ich  fürchte,  meine 
griechische  Heineübersetzung  weist  homerische  Ein- 
flüsse auf  und  ist  kein  Muster  der  attischen  Sprache. 
Doch  dieses  wilde  Lesen  der  alten  Klassiker  und  dann 
das  ebenso  leitungslose  Erlernen  moderner  Sprachen 
fällt  mit  in  die  Zeit  meines  zweiten  Gymnasiums.  Ich 
glaube,  ich  litt  schon  in  jenen  Jahren  sehr  bitter  da- 
runter, daß  ich  auf  der  Welt  keinen  Menschen  wußte, 
den  ich  in  meinem  Wissensdrange  hätte  um  Rat  fragen 
können.  Es  mag  aber  auch  an  mir  selbst  gelegen  haben, 
daß^ich  lieber  für  einen  Faulpelz  galt  und  keiner  Seele 
das  Geheimnis  meines  heimlichen  Fleißes  anvertraute. 
Einen  Wegweiser  habe  ich  auf  meinem  Wege  nicht  ge- 
funden, auch  später  nicht. 

Zu  meinem  heimlichen  Fleiße  und  zu  den  Gefahren, 
die  der  Mangel  eines  Wegweisers  mit  sich  führt,  ge- 
hörte auch  die  Art,  wie  ich  mir  Bücher  verschaffte. 
Ich  hatte  nicht  Geld  genug,  um  beim  Buchhändler  zu 
bestellen,  wonach  mich  verlangte.  Aber  mit  einigen 
Kreuzern  oder  „Sechserin*'  in  der  Tasche  ging  ich  all- 

62 


sonntäglich  nach  der  Judenstadt,  in  deren  Hauptstraße 
alle  Trödler  ihre  unsäglichen  Waren  ausgelegt  hatten, 
auch  alte  Bücher.  In  der  Judenstadt  wäre  für  mich  man- 
ches zu  sehen  und  zu  hören  gewesen,  was  mich  hätte 
interessieren  müssen:  die,,Altneuschul'*,  der  uralte  jü- 
dische Friedhof,  vor  allem  aber  die  köstlichen,  oft  kab- 
balistischen Sagen,  die  sich  an  die  altberühmte  Syna- 
goge und  an  einzelne  Grabsteine  des  Friedhofs  knüpf- 
ten. Ich  aber  suchte  in  der  Judenstadt  allsonntäglich 
nur  eins :  Bücher,  die  ich  für  ein  paar  Kreuzer  oder  ein 
Sechserl  erstehen  konnte.  Da  lagen  sie  über  die 
schmutzigen  Tische  geschüttet,  Bücher  aller  Art,  zer- 
lesene  Romane  und  wissenschaftliche  Werke,  die  mei- 
sten unvollständig,  einzelne  Bände,  die  ganz  besonders 
wohlfeil  waren.  Und  Klassiker !  Griechische,  lateinische 
französische  und  deutsche  Klassiker.  Das  Wort  machte 
mich  ja  wehrlos.  War  auf  dem  Titelblatte  in  irgendeiner 
Sprache  die  Bezeichnung  ,, Klassiker''  gedruckt,  so 
glaubte  ich  einfältig,  alle  Herrlichkeiten  und  Geheim- 
nisse der  Welt  müßten  in  dem  Buche  stecken.  Ich 
kaufte  so  viele  Klassiker,  als  ich  bezahlen  konnte.  Ich 
habe  erst  viel  später  erfahren,  daß  der  Verleger  einen 
alten  oder  neuen  Autor  zu  einem  Klassiker  ernennen 
kann;  daß  die  Bezeichnung  im  Grunde  nicht  viel  be- 
sagen will,  daß  es,  wie  Julian  Hirsch  sagen  würde,  einen 
ruhmerzeugenden  Handel  und  andere  Fälscher  des 
Ruhmes  gibt. 

Ich  war  also  bei  absoluter  Schulfaulheit  einer  der 
besten  Schüler  und  hatte  mir  privatim  eine  erstaunliche 
Übung  im  oberflächlichen  Lesen  lateinischer  und  grie- 
chischer Schriften  angeeignet;  aber  ich  verließ  das 
Piaristengymnasium  ohne  die  Kenntnis  der  lateinischen 
Grammatik,  ohne  die  Kenntnis  gerade,  zu  der  auch  der 

63 


letzte  Schüler  der  Klasse  verpflichtet  gewesen  wäre.  So 
frage  ich  mich  besonnen,  ob  es  möglich  ist,  was  ich 
nun  aussprechen  will ;  und  ich  weiß  doch,  daß  es  wahr 
ist.  Acht  Jahre  waren  vergangen,  seitdem  ich  aus  den 
Händen  unseres  Hofmeisters  gekommen  war.  Von  die- 
sen acht  Jahren  hatte  ich  drei  mit  angestrengtem 
Fleiße  dem  Geschäfte  und  der  Eitelkeit  eines  gewissen- 
losen Schuldirektors  gewidmet,  hatte  ich  fünf  Jahre 
mit  gottsträf licherZeitvergeudung  fünf  bis  sechs  Stunden 
täglich  den  geistlichen  Lehrern  gegenüber  versessen. 
Und  an  Schulkenntnissen  war  ich  in  diesen  acht  Jahren 
nicht  reicher  geworden,  als  ich  bei  verständiger  Leitung 
in  einem  halben  oder  meinetwegen  in  einem  ganzen 
Jahre  hätte  werden  können.  Daß  ich  in  diesen  Jahren 
trotz  alledem  etwas  gescheiter  und  kritischer  geworden 
war,  das  war  wahrhaftig  nicht  das  Verdienst  der 
Schulen. 

Ich  muß  es  nun  zu  meiner  Ehre  sagen,  daß  mir  das 
Bewußtsein  immer  unerträglicher  wurde,  so  die  Zeit  zu 
vertrödeln.  Mein  Wunsch,  etwas  Ordentliches  zu  lernen, 
gab  mir  den  Gedanken  ein,  das  Piaristengymnasium  zu 
verlassen,  das  Kleinseitner  Gymnasium  aufzusuchen, 
das  in  der  Schülerwelt  bekannt  und  gefürchtet  war  um 
seiner  Strenge  und  um  seiner  tüchtigen  Leistungen 
willen.  Ich  stand  bereits  in  meinem  siebzehnten  Jahre ; 
aber  dennoch  darf  ich  es  als  ein  gutes  Zeichen  betrach- 
ten, daß  mich  dieser  Ruf  anzog.  Ein  bißchen  Deutsch- 
tümelei mag  mitgesprochen  haben,  denn  das  Klein- 
seitner Gymnasium  war  eine  wirklich  deutsche  An- 
stalt. Und  ich  will  auch  nicht  verbergen,  daß  mein 
Wissensdrang  gewiß  auch  von  Eitelkeit  gespornt  wurde ; 
ich  hörte  es  nicht  gern:  ,,Ja,  bei  den  Piaristen,  da  bist 
du  ein  Vorzugsschüler ;  aber  bei  uns  auf  der  Kleinseite, 

64 


da  geht's  dir  schlecht,  da  fällst  du  bei  Nacke  (dem 
Lehrer  der  Mathematik)  sicher  durch.'* 

Ich  habe  wohl  immer  die  Neigung  gehabt  —  mir 
selbst  unbewußt  —  das  Brett  zu  bohren,  wo  es  am  här- 
testen ist.  Ich  war  also  entschlossen,  mit  dem  Gymna- 
sium zu  wechseln ;  das  war  aber  nicht  so  leicht  ausführ- 
bar, weil  in  unserem  Hause  die  Kinder  keinen  eigenen 
Willen  haben  durften  und  unter  der  strengen  Zucht  des 
Vaters  auch  kaum  mehr  hatten.  Mein  Vater  hatte  mich 
auf  dem  Piaristengymnasium  einschreiben  lassen;  da 
hatte  ich  zu  bleiben  bis  zur  ,, Maturitätsprüfung**.  Es 
war  nicht  Sitte  in  meinem  Elternhause,  dem  Vater  zu 
sagen :  ich  gehe  zugrunde,  wenn  dein  Wille  geschieht. 
Ich  habe  mir  gewiß  unter  der  ganz  patriarchalischen 
Zucht  meines  Vaters  erst  den  passiven  Widerstand  an- 
gewöhnt, mit  dem  ich  später  oft  —  anstatt  in  offenem 
Kampfe  —  Widerstände  gebrochen  habe. 

Imjahre  i866brachteeine  jener  Ungerechtigkeiten,  die 
einen  Knaben  vernichten  können,  meinen  Entschluß  zur 
Reife ;  und  wenige  Monate  später  half  mir  ein  Stückchen 
Weltgeschichte  meinen  Vater  meinen  rebellischen  Plänen 
geneigt  zu  machen.  Krieg  und  Cholera  mußten  kom- 
men, um  mich  aus  dem  Piaristengymnasium  zu  erlösen. 
I  Die  entscheidende  Ungerechtigkeit,  welche  die  Wen- 
dung in  meinem  Schülerleben  herbeiführte,  war  eine 
richtige  Dumme  Jungengeschichte;  und  ich  verlange 
von  keinem  Leser,  daß  er  sie  tragisch  nehme.  Auch  ich 
gedenke  der  Sache  nach  gerade  fünfzig  Jahren  ohne 
Schmerz,  aber  immer  noch  in  Zorn;  denn  ich  weiß, 
was  der  Knabe  gelitten  hat. 

1^  Die  Geschichte  hat  anzuheben  wie  andere  Schüler- 
geschichten ;  der  Ordinarius  in  der  Quinta  ,, hatte  eine 
Pike**  auf  mich.  Damals  bildete  ich  mir  ein,  mein  ein- 

5  65 


sames  Frondieren  gegen  die  allgemeine  Privatstunde 
wäre  der  alleinige  Grund  dieses  Hasses  gewesen;  der 
frühere  Ordinarius,  der  mit  dem  bösen  Knechtsgesicht, 
hätte  seinen  klügeren  und  darum  mutigeren  Nachfolger 
gegen  mich  aufgehetzt.  Der  frühere  Ordinarius  hatte 
übrigens  noch  einen  besonderen  Grund,  eine  Pike  auf 
mich  zu  haben ;  er  war  aus  dem  gleichen  Orte  gebürtig 
wie  ich,  schämte  sich  —  er  hat  sich  mir  gegenüber  ver- 
raten —  seiner  niedern  Abkunft  und  fürchtete,  ich 
oder  meine  Eltern  wüßten  allerlei  über  sein  Vaterhaus. 
Wenn  ich  mir  die  Lage  der  Dinge  heute  recht  überlege, 
so  muß  ich  gestehen,  meine  guten  wie  meine  schlimmen 
Eigenschaften  möchten  dazu  beigetragen  haben,  mich 
manchem  Lehrer  unliebsam  zu  machen.  Ich  fügte  mich 
nicht  recht  in  die  Schablone  des  Unterrichts,  ich  war  ja 
zu  alt  für  meine  Klasse.  Ich  galt  bei  denjenigen  Leh- 
rern, die  mich  gern  hatten,  für  ein  Lumen  der  Schule ; 
die  andern  hatten  mein  schlechtes  Präparieren  und 
meine  vorlauten  Antworten  oft  zu  rügen.  Der  Ordi- 
narius gab  mir  seine  Abneigung,  die  freilich  gegen- 
seitig war,  deutlich  zu  erkennen  und  drohte  mir  einmal 
vor  der  Klasse,  mich  von  meiner  guten  ,,Lokations- 
nummer'*  hinunterzubringen.  (Die  Reihenfolge,  in  wel- 
cher wir  nach  der  Güte  unserer  Zensuren  gesetzt  wur- 
den, hieß  die  ,, Lokation**.)  Nun  wurde  ich  noch  trotzi- 
ger, gab  ganz  ungehörige  Antworten  und  machte  in 
den  Pausen  Epigramme  auf  seinen  Bauch,  auch  in  la- 
teinischen Distichen.  Solche  Dinge  wurden  den  Leh- 
rern immer  hinterbracht;  wir  glaubten  bestimmt,  daß 
die  Ministranten  die  Spione  machten ;  Angeberei  ist  in 
einem  Klostergymnasium  wohl  unausrottbar. 

Eines  Tages  hatte  ich  in  einer  lateinischen  Klausur- 
arbeit das  Wort  hauddum  für  noch  nicht  gebraucht, 

66 


ich  weiß  nicht,  ob  der  Sinn  ganz  richtig  getroffen  war 
oder  nicht;  ich  hatte  das  Wort  bei  meiner  wilden 
Livius- Lektüre  aufgeschnappt  und  fand  es  wahrschein- 
lich schön.  Als  der  Lehrer  die  Arbeiten  am  nächsten 
Tage  wiederbrachte,  rief  er  mich  heraus  und  seine 
Augen  funkelten  von  Bosheit.  Die  Klasse  wieherte  vor 
Wonne,  als  er  immer  wieder  hauddum,  hauddum  rief 
und  dann  meinte,  ich  hätte  wohl  saudumm  schreiben 
wollen,  wie  ich  wäre.  Ich  muß  ihn  wohl  unverschämt 
angesehen  haben,  denn  bevor  ich  ein  Wort  erwidern 
konnte,  schrie  er  mich  an:  „Du  hast  dir  da  ein  Wort 
erfunden,  das  im  Lateinischen  gar  nicht  möglich  ist.  Du 
bist  verrückt.  Ich  lasse  dich  durchfallen.  Du  kriegsteinen 
Dreier  (die  schlechteste  Zensur)  aus  Latein.  Setz' dich!'' 
Am  nächsten  Morgen  brachte  ich  meinen  Livius  mit 
und  zeigte  das  Wort  erst  der  ganzen  Klasse  und  dann 
dem  Ordinarius.  Er  warf  das  Buch  auf  den  Boden 
und  sagte  nichts.  Von  da  ab  bis  gegen  den  Schluß  des 
Wintersemesters  stellte  er  keine  Frage  mehr  an  mich. 
Dann,  eines  Morgens,  pries  er  in  der  Lateinstunde  die 
Schönheiten  der  tschechischen  Sprache.  Man  werfe  ihr 
vor,  ihre  Vokabeln  seien  zu  arm  an  Vokalen;  das  sei 
aber  nicht  wahr  und  eine  Sprache  aus  lauter  Vokalen 
wäre  noch  lange  nicht  schön.  Und  zu  einem  Haupt- 
spaße der  Klasse  quetschte  er  die  Tonfolge  eoa  aus 
seinem  breiten  Munde  wie  ein  Froschgequake  heraus. 
,,Und  das  ist  ein  gutes  lateinisches  Wort,  das  jeder  von 
euch  kennen  muß,  wenn  er  nicht  durchfallen  will." 
Wir  machten  alle  verdutzte  Gesichter,  und  auch  mir 
mag  man  es  angesehen  haben,  daß  ich  nicht  klüger 
war  als  meine  Mitschüler.  Ich  kann  natürlich  nicht 
wissen,  ob  der  Ordinarius  diesen  Schlag  gegen  mich 
vorbereitet  hatte  oder  ob  er  erst  beim  Anblick  meines 

5*  67 


dummen  Gesichts  auf  den  Einfall  kam,  mich  zu  strafen. 
Er  blickte  mit  einem  boshaften  Zucken  noch  einmal 
nach  mir  hin  und  rief  meinen  Namen.  ,,Eoa.  Verte  in 
vernaculam.**  Ich  verstand  das  Wort  nicht,  ich  konnte 
es  nicht  übersetzen.  Über  der  Klasse  lag  Totenstille  wie 
vor  einem  Gewitter ;  vielleicht  würde  die  ganze  Klasse 
nachbleiben  müssen.  Aber  der  geistliche  Herr  war  wieder 
in  seiner  besten  Laune.  ,,  Jetzt  hast  du  deinen  Dreier  aus 
Latein'*,  rief  er  mir  zu  und  überhäufte  mich  mit  gro- 
ben Redensarten :  wer  eoa  nicht  übersetzen  könne,  der 
solle  sich  begraben  lassen  oder  Schuster  werden ;  ein 
solches  Kamel  dürfe  nicht  weiterstudieren.  Und  so  ging 
es  weiter  bis  zum  Schluß  der  Stunde.  Ich  ging  zum  Di- 
rektor, einem  gutmütigen,  aber  seine  Ruhe  über  alles  lie- 
benden Herrn ;  er  war  ganz  freundlich  zu  mir,  aber  er  tat 
nichts.  Wenige  Tage  später  erhielten  wir  unsere  Semester- 
zeugnisse und  ich  hatte  aus  Latein  ,, zur  Not  genügend'' 
oder  so  etwas  Ähnliches.  Und  so  rückte  ich  trotz  einem 
sonst  vorzüglichen  Zeugnisse  dicht  an  die  Letzten  der 
Klasse  heran,  die  durchgefallen  waren.  Ich  war  so  un- 
gefähr der  fünfundfünfzigste  unter  sechzig  Schülern. 

Na  ja.  Man  lache  den  dummen  Jungen  nur  aus.  Ich 
empfinde  es  auch  heute  nicht  mehr  als  eine  untilgbare 
Schmach.  Es  war  aber  keine  Kleinigkeit,  als  so  der 
oberste  Lehrer  mit  sichtlicher  Bosheit  mir  ein  Unrecht 
zufügte.  Selbstverständlich  war  ich  nicht  der  einzige, 
der  unter  seinem  bösen  Charakter  litt ;  keiner  von  uns 
wird  es  vergessen  haben,  wie  sich  dieser  geistliche  Herr 
über  den  Ärmsten  unter  uns,  einen  unglücklichen 
Krüppel,  lustig  zu  machen  pflegte.  Ich  kann  weder  ver- 
gessen noch  verzeihen,  was  dieser  Lehrer  uns  zugefügt 
hat,  was  er  mir  zugefügt  hat.  Trotzdem  dieser  Vorfäll  — 
wie  gesagt  —  meine  Befreiung  entschied. 

68 


Schülerselbstmorde  waren  damals  noch  unerhört. 
Aber  ich  wußte,  daß  so  etwas  Unerhörtes  geschehen 
mußte,  damit  der  Ordinarius  gestraft  würde.  Auch 
konnte  ich  ja  unmöglich  mit  diesem  Zeugnisse  meinem 
Vater  unter  die  Augen  treten.  Also  hat  der  saudumme 
Junge  zu  sterben.  Aber  wie.^  Das  Wasser  tat's  nicht, 
ich  war  ein  zu  guter  Schwimmer.  Eine  Pistole  besaß 
ich  nicht.  Ich  wußte  nicht,  wie  man  sich  Gift  ver- 
schafft. Und  gegen  das  Aufhängen  hatte  ich  eine  starke 
Verachtung.  Stundenlang  irrte  ich  in  der  Stadt  umher. 
Gegen  Mittag  kam  ich  auf  den  Obstmarkt,  fühlte  Hun- 
ger, wurde  noch  unglücklicher  und  faßte  den  Ent- 
schluß, mich  ganz  heimlich  totzuhungern.  Vor  der 
Leihbibliothek,  aus  der  ich  der  Mutter  Romane  zu 
holen  pflegte,  faßte  ich  diesen  Entschluß.  Dann  fiel 
mir  ein,  daß  meine  Mutter  just  Gutzkows  ,, Zauberer 
von  Rom**  las;  ich  hatte  mit  ihr  erst  den  ersten  Band 
gelesen  und  wollte  doch  bis  zu  Ende  kommen.  Der 
,, Zauberer  von  Rom**  hat  sein  Teil  dazu  beigetragen, 
daß  ich  mich  nicht  tothungerte.  Als  ich  die  vielen  Bände 
in  Zwischenräumen  —  ich  bekam  ja  den  nächsten 
Band  immer  erst  dann,  wenn  meine  Mutter  mit  dem 
früheren  zu  Ende  gekommen  war  —  verschlungen 
hatte,  interessierte  auch  mich  nichts  als  der  bevor- 
stehende Krieg.  Im  Frühjahr  1866  hatte  ich  das  ent- 
setzliche Semesterzeugnis  erhalten,  und  schon  im  Juni 
wurde  das  Sommersemester  plötzlich  beendet,  weil  der 
Krieg  ausgebrochen  war.  Wir  erhielten  die  Jahreszeug- 
nisse. Ich  war  wieder  zu  den  Vorzugsschülern  aufge- 
rückt; aber  mein  Wille  stand  fest,  das  ,, Pfaffengymna- 
sium** zu  verlassen  und  auf  dem  Kleinseitner  Gymna- 
sium mein  Heil  zu  versuchen,  wirklich  mein  Seelenheil. 


69 


II 

iiiilllllliniilllllililliiililiiiiiiiiiiiiliiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiniiriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiii 


Vni.  1866. 

Der  Krieg  war  ausgebrochen  und  wir  waren  dumme 
Jungen  genug,  uns  darüber  zu  freuen,  daß  er  uns 
Ferien  von  beinahe  vier  Monaten  verschaffte.  Man  weiß, 
wie  rasch  die  Ereignisse  sich  folgten.  Schon  am  8.  Juli 
waren  die  Preußen  in  Prag;  die  Hauptstadt  Böhmens 
war  unmittelbar  vorher,  um  überflüssiges  Blutver- 
gießen zu  vermeiden,  zu  einer  offenen  Stadt  erklärt 
worden.  Prag  war  eine  gar  zu  altmodische  Festung 
gewesen;  der  Feind  hätte  sie,  wenn  an  Verteidigung 
gedacht  worden  wäre,  sehr  bequem  zusammenschießen 
können. 

Unsere  Stadt  wurde  ein  preußisches  Truppenlager. 
Wir  lernten  vom  Kriege  nichts  kennen  als:  Truppen- 
durchmärsche, den"^  Transport  von  Verwundeten,  das 
Treiben  eines  Trosses  von  Frauenzimmern  und  die 
Cholera.  Alle  öffentlichen  Gebäude  Prags  waren  zu 
Hospitälern  umgewandelt  worden  und  alle  Schulen; 
auch  das  Piaristengymnasium.  Dort  wütete  die  Cholera 
furchtbar  unter  den  österreichischen  und  unter  den 
preußischen  Verwundeten.  Dann  griff  die  Seuche  nach 
dem  Kloster  hinüber.  Der  Klatsch  der  niedern  Bevöl- 
kerung war  so  ungerecht,  das  unmäßige  Leben  der 
Geistlichen  für  ihre  Erkrankung  verantwortlich  zu 
machen.  Viele  von  den  Piaristen  starben;  auch  unser 
Direktor  und  zwei  meiner  Lehrer. 

70 


Als  der  Krieg  und  die  Seuchen  (auch  der  Typhus  hatte 
geherrscht)  vorüber  waren,  als  am  i .  Oktober  das  neue 
Schuljahr  beginnen  sollte,  da  setzte  ich  meinen  Willen 
durch.  Auf  meine  Weise,  die  ich  nicht  loben  will.  Ich 
ließ  dem  Vater  von  der  Mutter  die  Gefahren  schildern, 
die  den  Schüler  in  dem  verpesteten  Gebäude  bedrohten ; 
ich  verschwieg,  daß  es  in  den  andern  Gymnasien  nicht 
anders  ausgesehen  hatte.  Auch  wäre  ich  jetzt  alt  genug, 
um  den  weiten  Weg  nach  dem  Kleinseitner  Gymnasium 
viermal  täglich  machen  zu  können.  Mein  Vater  willigte 
ein  und  ich  ging  mich  anmelden.  Ich  sehe  noch  das 
verwunderte  Gesicht  des  Direktors,  als  ich  ihm  auf 
seine  Frage  nach  dem  Grunde  des  Wechsels  unbefangen 
und  treuherzig  meine  Geschichte  erzählte.  Das  Pia- 
ristengymnasium  wäre  mir  zu  schlecht  gewesen.  Er 
wies  mich  zurecht  und  verlangte  meine  Zeugnisse  zu 
sehen.  Ich  hatte  sie  alle  mitgebracht,  auch  das  mit  der 
Zensur  „zur  Not  genügend''.  Der  Direktor  ließ  mich 
eine  Seite  Livius  übersetzen,  schüttelte  den  Kopf  und 
ich  war  in  das  Gymnasium  meiner  Sehnsucht  aufge- 
nommen. Das  verdankte  ich  also  Bismarck  und  seinem 
Kriege. 

An  dieser  Stelle  darf  ich  wohl  einige  Worte^über  unser 
jugendliches  Verhältnis  zu  dem  Deutsch-Österreichi- 
schen Kriege  sagen.  Selbstverständlich  nicht  meine 
jetzige  Meinung,  sondern  die  Auffassung  des  Gymna- 
siasten von  noch  nicht  siebzehn  Jahren.  Da  war  nun 
keine  Rede  von  irgendeinem  Verständnis  für  den  welt- 
geschichtlichen Vorgang  oder  auch  nur  von  der  Mög- 
lichkeit eines  Verständnisses.  Deutsche  Geschichte  der 
letzten  Jahrhunderte  lernten  wir  eigentlich  nur  als  eine 
Geschichte  der  Habsburger.  Die  Schule  ließ  uns  die 
Bedeutung  |der  Revolutionen  und  die  Macht  der  Natio- 

71 


nalitätsidee  nicht  ahnen;  von  der  Einigung  Italiens 
wußten  wir  nur,  daß  wir  während  des  Krieges  1859  die 
Schulstunden  mit  Scharpiezupfen  ausgefüllt  hatten; 
ich  kann  versichern,  daß  wir  vor  dieser  Tätigkeit  nie- 
mals angehalten  wurden,  etwa  unsere  Hände  zu  wa- 
schen. Auch  was  wir  im  Elternhause  von  politischen 
Dingen  erfuhren,  lag  weitab  von  den  Einheitsidealen 
des  deutschen  Volkes.  So  zum  Beispiel  wußte  ich  man- 
cherlei aus  dem  Jahre  1848:  in  der  Speisekammer  hin- 
gen die  Waffen  und  die  Uniform,  die  mein  Vater  als 
Nationalgardist  getragen  hatte;  auch  einen  Personen- 
kultus gab  es :  einer  der  Abgeordneten  der  Paulskirche, 
der  schöne  und  gute  Dichter  Moritz  Hartmann,  war 
Hofmeister  bei  meinem  Onkel  gewesen.  (Er  hat  den 
Namen  meiner  Familie  in  einer  seiner  Novellen  durch 
den  ihm  vielleicht  wohlklingendem  ,, Kirchner'*  er- 
setzt. )  Ich  wußte  aber  auch  von  den  Aufständen  in  Prag 
und  in  Wien  und  von  den  blutigen  Greueln  der  Sieger. 
Mein  Vater  sprach  niemals  über  solche  Dinge;  meine 
Mutter  aber  flößte  uns  Bewunderung  für  die  Revolution 
ein  und  begründete  ihre  Gesinnung  mit  Schillerschen 
Versen.  Nur  daß  damals  in  Frankfurt  über  ein  einiges 
Deutschland  beraten  worden  war,  davon  hatte  ich  keine 
Ahnung ;  solche  Dinge  erfuhr  ich  erst  etwas  später  aus 
Heinrich  Heine,  mit  gläubiger  Andacht.  Wir  hatten 
also  keine  politische  Stellung  zum  Kriege  von  1866; 
nicht  einmal  großdeutsch  waren  wir.  Wir  hatten  1859 
gedankenlos  Scharpie  gezupft,  wir  hatten  1864  ge- 
dankenlos ,, Schleswig-Holstein  meerumschlungen''  ge- 
brüllt; jetzt  wußten  wir  nur,  daß  die  Preußen  wieder 
eine  österreichische  Provinz  erobern  wollten  wie  da- 
mals unter  Maria  Theresia.  Und  daß  ihnen  diese  Ge- 
meinheit diesmal  schlecht  bekommen  würde.  Benedek 

72 


war  der  Feldherr  unseres  Herzens;  wir  kannten  auch 
seinen  geheimen  Feldzugsplan.  Für  die  Darstellung 
dieses  Planes  hatten  wir  uns  eine  sehr  einfache  und 
sehr  hübsche  Pantomime  eingeübt.  Wenn  wir  —  die 
Verwegensten  unter  uns  schon  bei  einer  Zweikreuzer- 
zigarre —  über  den  wahrscheinlichen  Ausgang  des 
Krieges  redeten,  dann  legte  der  fünfzehnjährige  Sohn 
eines  pensionierten  Hauptmanns  die  beiden  Handwur- 
zeln zusammen,  so  daß  die  beiden  Handflächen  in 
einem  stumpfen  Winkel  voneinander  abstanden.  Er  tat 
das  sehr  geheimnisvoll ;  denn  niemand  durfte  diesen  ge- 
heimen Plan  erfahren.  Aber  wir  verstanden  die  Panto- 
mime. So  stellte  sich  Benedek  auf  und  die  dummen 
Preußen  rückten  in  Eilmärschen  in  den  stumpfen  Winkel 
hinein ;  nun  bog  der  strategische  Hauptmannssohn  lang- 
sam, langsam  die  Finger  zusammen  und  die  Preußen 
waren  gefangen.  Wir  wollten  sie  übrigens  nicht  schlecht 
behandeln.  Nur  besiegt  mußten  die  Preußen  werden. 
Wir  Österreicher  mußten  die  Herren  von  Deutschland 
bleiben  (wir  glaubten,  wir  wären  es),  um  zu  Hause  mit 
den  Tschechen  fertig  werden  zu  können ;  ich  habe  seit- 
dem, wenn  irgendwo  auf  der  Erde  ein  Krieg  ausbrach, 
Rauchzimmerstrategen  kennengelernt,  die  in  ähnlicher 
Weise  die  geheimen  Pläne  ihres  Lieblingsgenerals  vor- 
trugen ;  und  ich  fürchte,  auch  ich  bin  ab  und  zu  so  ein 
Stratege  gewesen.  Sobald  ich  nämlich  Partei  nahm. 

Als  nun  die  ersten  Schlachten  geschlagen  waren,  kam 
für  kurze  Zeit  der  Zorn  der  Besiegten  über  uns.  Wir 
glaubten  acht  Tage  lang  alle  Gräßlichkeiten,  die  uns 
über  die  Preußen  erzählt  wurden,  aber  wirklich  nicht 
länger.  Nach  der  Besetzung  Prags  besiegten  uns  die 
Preußen  moralisch. 

Als  die  Schlacht  von  Königgrätz  geschlagen  war  und 

73 


der  Einmarsch  bevorstand,  flüchteten  die  vermögenden 
Leute  mit  Söhnen  und  Töchtern  aus  der  Stadt;  die 
Töchter  sollten  vor  Vergewaltigung  durch  viehische 
Soldaten  geschützt  werden,  die  Söhne  vor  der  Rekru- 
tierung durch  die  Preußen.  Daß  die  jungen  Mädchen 
fortgeschafft  waren,  erwies  sich  bald  als  recht  wün- 
schenswert ;  die  Preußen  hielten  zwar  bekanntlich  mu- 
sterhafte Mannszucht  und  die  gemeinen  Soldaten 
(größtenteils  ältere  Jahrgänge)  waren  durchaus  gut- 
artig, aber  der  Zuzug  von  käuflichen  Frauenzimmern 
war  so  ungeheuer,  daß  die  Straßen,  Gärten  und  Inseln 
Prags  in  diesen  Sommermonaten  wirklich  einen  etwas 
babylonischen  Anstrich  bekamen.  Das  Gerücht,  daß  die 
Preußen  Jünglinge  und  Knaben  mit  Gewalt  in  ihre  Re- 
gimenter steckten  (das  Gerücht  trat  sehr  sicher  auf), 
glaubten  wir  nur  wenige  Stunden.  Mein  achtzehnjähri- 
ger Bruder  und  ich  widersetzten  uns  der  Flucht,  als  ein 
aufgeregter  Onkel  schon  mit  einem  Wagen  vor  der  Türe 
hielt,  um  uns  zu  retten.  Wenige  Tage  später  lernten 
wir  die  Preußen  kennen  und  konnten  über  die  Greuel- 
mären lachen.  ^ 
Ich  erinnere  mich  noch,  als  ob  es  heute  geschehen 
wäre,  an  den  Einmarsch.  Ich  saß  am  frühen  Morgen 
des  8.  Juli  mit  einem  Buche  im  Canalischen  Garten, 
der  etwa  eine  Viertelstunde  vor  dem  Roßtore  lag  und 
durch  eine  Mauer  von  der  Heerstraße  getrennt  war.  Ich 
saß  lesend  auf  einer  Bank.  Plötzlich  höre  ich  Pferdege- 
trampel und  Kommandorufe.  Die  österreichische  Gar- 
nison hatte  Prag  seit  einer  Woche  verlassen;  auch 
klangen  die  Kommandorufe  fremdartig.  Ich  kletterte 
auf  die  Mauer  und  zwei  Schritte  vor  mir  stand  ein  Trupp 
preußischer  Husaren ;  dahinter  Artillerie  und  weiter  In- 
fanterie. Ein  Offizier,  der  eine  Landkarte  in  der  Hand 

74 


hielt,  rief  mir  die  Frage  zu,  wie  weit  es  noch  bis  zum 
Stadttor  wäre.  Schnell  gab  ich  Auskunft  und  habe  mich 
damit  hoffentlich  keines  Landesverrates  schuldig  ge- 
macht. Dann  rannte  ich  spornstreichs  durch  den  Garten 
nach  dem  Roßtor,  um  dabei  zu  sein. 

Der  Einmarsch  vollzog  sich  in  Formen,  die  sicherlich 
vorgeschrieben  waren.  Wir  waren  töricht  genug,  dar- 
über zu  staunen  und  sogar  zu  spotten,  daß  keine  Vor- 
sicht des  Krieges  gegen  das  friedliche  Prag  außer  Acht 
gelassen  wurde.  Die  Preußen  konnten  ja  nicht  wissen, 
daß  es  einen  totbereiten  österreichischen  Patriotismus 
in  Prag  nicht  gab,  weder  bei  den  Deutschen,  noch  bei 
den  Tschechen.  So  sahen  wir  die  Feinde  in  kriegerischer 
Haltung,  die  Hand  an  dem  gespannten  Hahn,  durch  die 
dunkle  Wölbung  des  Roßtors  auf  den  Roßmarkt  (jetzt: 
Wenzelsplatz)  einreiten,  sahen  sie  dann  mit  der  bekann- 
ten ,, affenartigen  Geschwindigkeit* '  die  Hauptstraßen  be- 
setzen^). Noch  tagelang  beobachteten  wir,  wie  die  Sol- 
daten in  der  Hauptstadt  der  eroberten  Provinz  sich's  be- 

i)  Ich  habe  meine  Darstellung  stehen  lassen,  trotzdem  ich  nach  der  ersten 
Veröffentlichung  dieses  Stücks  in  einigen  gehamischten  Zuschriften  (der 
Prager  „Bohemia")  darauf  gestoßen  wurde :  der  erste  Einzug  der  Preußen 
hätte  am  genannten  Tage  nicht  durch  das  Roßtor,  sondern  durch  das  Por- 
zitscher  Tor  stattgefunden;  ich  hätte  offenbar  einen  späteren  Einmarsch 
beobachtet.  Ich  zweifle  nicht  daran,  daß  die  heftigen  Einsender  im  Rechte 
sind.  Ich  lasse  meinen  Irrtum  dennoch  stehen,  als  ein  Beispiel  für  die  be- 
kannte Unsicherheit  ehrlicher  Zeugenaussagen.  Ich  könnte  heute  noch  darauf 
schwören,  daß  die  vom  Roßtor  die  ersten  Preußen  waren,  die  nach  Prag 
kamen.  Wenigstens  die  ersten,  die  mir  zu  Gesichte  kamen.  Wahrscheinlich 
rückte  gleichzeitig  mit  der  Haupttruppe,  die  am  Porzitscher  Tor  feierlich 
vom  Bürgermeister  und  vom  Erzbischofe  begrüßt  und  um  Schonung  der 
Einwohner  angefleht  wurde,  meine  kleine  Abteilung  durch  das  östlicher 
gelegene  Roßtor  ein.  Sollte  dem  nicht  so  gewesen  sein,  so  hätte  ich  einfach 
mit  dem  besten  Gewissen  eine  falsche  Zeugenaussage  abgegeben ;  über  einen 
unwesentlichen  Nebenumstand.  Und  ich  habe  meine  Darstellung  nicht  ver- 
ändert, damit  sie  an  die  Möglichkeit  erinnere,  daß  im  Gerichtsale  beim 
Streite  um  ein  Menschenleben,  daß  beim  Urteile  über  wichtigere  Ereig- 
nisse leicht  falsche  Aussagen  behauptet  und  beschworen  werden  können. 

75 


haglich  machten  in  Bierkneipen,  in  Cafes  plaudernd, 
essend  und  trinkend  truppweise  beisammen  saßen,  das 
berüchtigte  Zündnadelgewehr  immer  in  der  Hand. 
Unvergeßlich  ist  mir  der  Anblick  einer  solchen  Szene 
im  Landestheater;  es  wurde  ja  weiter  gespielt  und  un- 
sere Sperrsitze  standen  meinem  Bruder  Gustav  und  mir 
jedesmal  zur  Verfügung,  weil  doch  mein  älterer  Bruder 
Ernst  und  unsere  Schwester  gleich  nach  Ausbruch  des 
Krieges  nach  Wien  „geflüchtet  worden''  waren;  den 
preußischen  Offizieren  waren  die  Fauteuils  eingeräumt, 
den  übrigen  Soldaten  die  erste  Galerie.  Dort  saßen  und 
standen  preußische  Landwehrmänner  dicht  gedrängt, 
lachten  aus  vollem  Halse  über  die  Posse,  die  gespielt 
wurde;  und  jeder  hielt  seine  Flinte  in  der  Hand  und 
viele  unterstützten  ihr  Beifallrufen,  indem  sie  mit  dem 
Kolben  auf  den  Boden  trommelten. 

Es  war  nicht  eben  verwunderlich,  machte  auf  uns 
Knaben  aber  dennoch  einen  seltsamen  Eindruck,  daß 
in  diesen  Kriegswochen  fast  ausschließlich  Possen  ge- 
spielt wurden.  Natürlich.  Ich  erinnere  mich,  daß  zwi- 
schen 1864  und  1866  wohl  einmal  eine  politische  Ko- 
mödie über  die  Bretter  ging,  daß  da  Schleswig-Holstein, 
meerumschlungen,  aus  der  Hand  des  bösen  Bismarck, 
der  leibhaftig  auf  der  Bühne  erschien,  gerissen  werden 
sollte.  Nicht  einmal  so  etwas  gab  es  1866,  um  die 
Kampflust  der  Österreicher  zu  reizen.  Es  gab  kaum  in 
Deutschland,  gewiß  nicht  in  Österreich,  eine  patrio- 
tische Dramaturgie.  Und  daß  die  preußischen  Truppen 
weniger  nach  Tragödien  verlangten  als  nach  Possen, 
war  ja  wirklich  auch  den  Gebildeten  unter  ihnen  nicht 
zu  verdenken.  Sie  bekamen  eine  recht  gute  Nachah- 
mung der  berühmten  Wiener  Volksbühne  zu  sehen  und 
zu  hören.  Auch  zu  hören.  Die  herrschende  Mundart  des 

76 


Prager  Landestheaters  war  in  Possen  durchaus  wiene- 
risch ;  auch  einige  Tschechen  und  unser  erster  Komiker, 
der  vortreffliche  Eichenwald,  der  aus  Norddeutschland 
stammte,  mußten  wohl  oder  übel  Wienerisch  reden. 
Und  gerade  in  den  ersten  Wochen  nach  der  Okkupation 
gab  es  gar  ein  Gastspiel  des  berühmten  Matras  aus 
Wien.  Die  Preußen  konnten  in  Prag  Offenbachs  ,, Or- 
pheus in  der  Unterwelt**  in  einer  ganz  vorzüglichen 
Darstellung  genießen.  Den  Höhepunkt  der  Theater- 
freude bildete  jedoch  die  Aufführung  einer  Berliner 
Posse,  der  ,, Maschinenbauer  von  Berlin**.  Eichenwald 
selbst  war  glücklich,  seine  Berliner  Schnauze  gehen 
lassen  zu  können  und  die  übrigen  bemühten  sich  nach 
Kräften  um  eine  norddeutsche  Aussprache.  Und  als  in 
einem  der  Couplets  gar  die  Definition  einer  Köchin 
lautete :  ,,eineKommißbrot-mit-Leberwurst-Belegungs- 
Maschine**,  da  blickten  die  Leutnants  von  ihren  Fau- 
teuils  lachend  nach  der  Galerie,  wo  die  preußischen 
Soldaten  in  ihrem  verständnisinnigen  Behagen  Beifall 
tobten,  daß  das  Haus  wackelte. 

Ein  ganz  anderes  kleines  Theatererlebnis  hat  sich 
meiner  Erinnerung  eingeprägt.  Es  war  wenige  Tage 
nach  dem  Einmarsch.  Kaiser  Franz  Josef  hatte  einen 
Aufruf  ,,An  meine  Völker**  erlassen,  in  welchem  — 
wenn  mir  recht  ist  —  die  Niederlagen  zugestanden  wur- 
den und  schon  vom  möglichen  Frieden  die  Rede  war. 
Dieses  Blatt  war  von  den  Preußen  mit  Beschlag  belegt 
worden.  Im  Theater  aber,  wo  sich  unsere  Plätze  dicht 
hinter  den  Fauteuils  befanden,  drehte  sich  ein  hübscher 
junger  Offizier  während  des  Zwischenaktes  um  und 
reichte  mir  den  Aufruf  mit  einer  Miene,  die  man  ver- 
bindlich nennen  konnte,  die  aber  vielleicht  doch  ein 
bißchen  spöttisch  war.  Ich  las  den  Aufruf  im  Zwischen- 

77 


akte  durch  und  schämte  mich  fürchterlich,  weil  der 
Offizier  mich  für  ungefährlich  genug  hielt,  um^mir  das 
konfiszierte  Blatt  zu  geben. 

Unsere  Gefühle  gegen  die  Preußen  waren  anfangs  aus 
Neugier  und  Haß  gemischt.  Wir  liefen  überallhin,  wo 
sie  zu  sehen  waren  und  flüsterten  einander  dann  unsere 
kindischen  Urteile  zu.  Wir  fanden  es  ,,feige^*,  daß  die 
Sieger  keine  Waffen  in  den  Häusern  duldeten ;  zu  mei- 
nem großen  Schmerze  mußte  ich  den  wuchtigen  Natio- 
nalgardistensäbel des  Vaters  (den  aus  dem  Jahre  1848)  auf 
dem  Rathause  abliefern.  Dann  lasen  wir  einander  das 
Plakat^vor,  in  welchem  vorgeschrieben  war,  wieviel  an 
Nahrungsmitteln  jeder  Mann  der  Einquartierung  zu  for- 
dern hatte.  Das  Schlagwort  ,,Hungerpreuß**  war  auch 
zu  uns  gedrungen.  Wir  nahmen  uns  vor,  die  Preußen  zu 
verachten  um  ihrer  Feigheit  und  um  ihrer  Gefräßigkeit 
willen. 

Aber  noch  waren  nicht  viele  Tage  vergangen  und'wir 
Prager  waren,  ich  habe  kein  anderes  Wort,  in  die 
Preußen  verliebt.  Wie  diese  bärtigen  Landwehrleute  in 
gestickten  Pantoffeln  vor  den  Haustüren  saßen  und  mit 
den  Kindern  ihrer  Wirtsleute  spielten,  das  wurde  uns 
ein  unerwartetes  und  freundliches  Erlebnis.  Eine  Un- 
gebühr kam  nicht  vor.  Von  überall  hörte  man,  daß  die 
einfachen  Soldaten  nicht  einmal  streng  einforderten, 
was  ihnen  nach  dem  Befehl  zukam ;  sie  aßen  und  tran- 
ken mit  ihren  Wirten,  was  die  Kelle  gab;  dem  einen 
ging  es  besser,  dem  andern  schlechter,  aber  alle  schie- 
nen zufrieden.  Wenn  ich  meiner  Erinnerung  trauen 
darf,  so  waren  die  Tschechen  in  die  preußischen  Land- 
wehrleute fast  ebenso  verliebt  wie  wir.  Vielleicht  kam 
bei  den  Tschechen  dazu,  daß  sie  bei  dem  großen  Kriegs- 
brande ihre  politische  Suppe  zu  kochen  hofften :  öster- 

78 


reich  hätte  in  Deutschland  nichts  mehr  zu  suchen,  also 
könnte  es  zwischen  Magyaren  und  Slawen  aufgeteilt 
werden.  Sicherlich  kam  ferner  dazu,  daß  der  Krieg  so 
rasch  sein  Ende  erreichte;  Freund  und  Feind  waren 
froh,  einander  wieder  menschlich  begegnen  zu  können. 
Blutdurst  ist  ja  doch  nicht  der  Normalzustand  der  Men- 
schen. So  viel  kann  ich  bezeugen:  von  Revanchege- 
lüsten war  vier^Wochen  nach  der  Schlacht  von  König- 
grätz  im  Volke  nicht  mehr  die  Rede. 

Wir  deutschen  Gymnasiasten  hatten  viel  zu  sehen 
und  zu  hören,  als  die  Preußen  nach  Beginn  der  Frie- 
densverhandlungen sich's  in  Prag  bequem  einrichteten 
und  wie  zu  Hause  exerzierten.  Da  gab  es  etwas,  was 
uns,  mich  und  meinen  kleinen  Kreis,  jedesmal  elektri- 
sierte. Trommeln  und  Pfeifen  war  der  kriegerische 
Klang,  der  uns  bisher  unvorstellbar  aus  der  deutschen 
Dichtung  entgegengetönt  hatte.  In  der  Schule  freilich 
hatten  wir  von  der  deutschen  Dichtung  so  gut  wie  nichts 
erfahren;  wußten  auch  nicht,  daß  die  deutsche  Dich- 
tung noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  das  einzige  eini- 
gende Band  Deutschlands  gewesen  war ;  wußten  nicht, 
was  die  Regierung  gar  wohl  fühlte,  daß  die  Begeisterung 
für  die  großen  deutschen  Dichter  und  auch  die  Liebe  zu 
Heine  und  Uhland  uns  zu  Deutschen  gemacht  hatte. 
Wie  der  Kerl  bei  Moliere  Prosa  sprach,  ohne  es  zu 
wissen,  so  waren  wir  Deutsche,  ohne  es  zu  wissen.  In 
der  Schule  war  uns  größtenteils  glatter  Mist  oder  pe- 
dantisches Zeug  empfohlen  worden;  wir  aber  hatten 
den  Teil  gelesen,  den  Götz  und  den  Egmont.  Trommeln 
und  Pfeifen  gehörten  für  uns  zu  den  Freiheitskämpfen 
der  Niederlande  wie  zu  den  Schlachten  Friedrichs  des 
Großen.  Wie  mag  diese  Musik  geklungen  haben?  Jetzt 
erfuhren  wir's.  Für  meinen  kleinen  Kreis  wurde  der 

79 


Klang  von  Trommeln  und  Pfeifen  der  preußischen  In- 
fanterie zum  Symbole  eines  neuen  deutschen  National- 
gefühles. Es  war  verrückt,  aber  es  war  so.  Besonders 
der  Dessauer  Marsch  machte  uns  wirblig,  ich  weiß  nicht 
mehr  warum.  Er  erklärte  uns  auf  einmal  die  Weltge- 
schichte. Es  ist  mir  heute  noch  nicht  zum  Lachen, 
wenn  ich  daran  denke,  wie  wir  einmal  —  drei  oder  vier 
Freunde  —  hinter  einem  Bataillon  herzogen,  immer  in 
der  Hoffnung,  von  den  Pfeifen  den  Dessauer  Marsch  zu 
vernehmen  und  die  Trommeln  dazu.  Und  als  endlich 
jenseits  von  Libussas  Burg  die  himmlische  Melodie 
wirklich  einsetzte,  da  heulten  wir  vor  Wonne ;  das  heißt, 
wir  gestanden  uns  unsere  Tränen  nicht  zu  und  schli- 
chen uns  in  den  Schloßgarten  von  Nusle  und  fühlten 
uns  deutsche  Helden,  Schill  oder  Andreas  Hofer  oder 
Hermann  den  Cherusker,  und  tranken  zum  ersten  Male 
in  einem  öffentlichen  Lokal  Bier,  aus  großen  Krügen. 
In  solcher  Stimmung  mochte  Karl  Moor  seine  Räuber- 
bande gebildet  haben.  Wir  wußten,  wie  tapfer  wir  wa- 
ren; auch  war  ja  Krieg  und  keiner  unserer  Lehrer 
konnte  uns  sehen.  Und  wenn  auch  .  .  .  Solange  die 
Pfeifer  den  Dessauer  Marsch  bliesen,  solange  waren  wir 
sicher,  aus  Deutschland  eine  Republik  machen  zu  kön- 
nen, gegen  die  Sparta  und  Rom  Nonnenklöster  gewesen 
waren.  Einer  von  uns  hatte  den  verwegenen  Gedanken, 
der  Kellnerin  die  Hand  küssen  zu  wollen;  es  geschah 
nicht ;  aber  schon  der  Gedanke  war  kühn  und  herrlich 
gewesen  und  mochte  irgendwie  mit  dem  Dessauer 
Marsch  zusammenhängen. 

So  wurden  wir  durch  die  Erlebnisse  des  Jahres  1866 
aus  unserm  nationalitätslosen  österreichertum  und  aus 
unserm  kosmopolitischen  Liberalismus  aufgerüttelt; 
und  wenn  man  uns  bald  darauf  auf  unsere  politische 

80 


Gesinnung  geprüft  hätte,  so  wäre  ungefähr  herausge- 
kommen :  Deutschlands  Einheit  und  Freiheit,  aber  ohne 
Preußen.  Oder :  der  König  von  Preußen  sollte  die  Sache 
machen  und  dann  großmütig  zurücktreten.  Wir  sahen 
zur  Zeit  des  Friedensschlusses  Bismarck  und  den  König 
Wilhelm ;  sie  gefielen  uns  so  gut,  daß  wir  ihnen  eine  so 
edle  Gesinnung  zutrauten. 

Die  Gestalt  des  Königs  Wilhelm  ruft  eine  kleine  Ge- 
schichte in  mein  Gedächtnis  zurück,  die  ich  hier  ein- 
schalten möchte.  Der  Vater  meiner  Mutter,  der  ein  sel- 
tenes Alter  erreichen  sollte  und  damals  schon  nahe  an 
hundert  Jahre  alt  war,  flüchtete  aus  Horzitz,  als  das 
Städtchen  unmittelbar  vor  der  Schlacht  bei  Königgrätz 
von  preußischen  Heeresmassen  überflutet  worden  war; 
in  seinem  eigenen  Hause  war  eine  Ambulanz  eingerich- 
tet worden  und  solche  Dinge  liebte  er  nicht.  Er  gelangte 
fast  ohne  Abenteuer  nach  Prag  und  zu  uns.  Ich  war  ihm 
als  Schlafgenosse  zugeteilt  und  er  erzählte  mir  viel  aus 
seinen  zivilistischen  Kriegserinnerungen,  wobei  es  dem 
alten  Herrn,  der  beim  Plaudern  oft  für  einige  Minuten 
einnickte,  einmal  passierte,  daß  er  den  Einmarsch  der 
Preußen  in  Horzitz  schilderte  und  dann  plötzlich  — 
nach  einem  kurzen  Einnicken  oder  „Knappen**  (wie 
er*s  nannte)  —  von  einer  Truppenrevue  Napoleons  bei 
Dresden  oder  bei  Leipzig  weitersprach.  Als  nun  König 
Wilhelm  und  Bismarck  in  Prag  angekommen  waren, 
wollte  mein  Großvater  die  beiden  Männer  sehen.  Ich 
begleitete  ihn  vor  den  Gasthof  zum  Blauen  Stern,  wir 
faßten  Posto  neben  dem  alten  Pulverturm  und  da  harrte 
der  steinalte  Mann  an  die  zwei  Stunden  aus.  Endlich 
kam  ein  Wagen  aus  dem  Gasthof  heraus,  König  Wil- 
helm und  Bismarck  fuhren  an  uns  vorüber.  Mein  Groß- 
vater, für  den  es  nicht  leicht  einen  alten  Mann  gab,  ver- 

6  8i 


setzte  mir  einen  Puff  zwischen  die  Rippen,  wies  auf 
den  König  und  sagte  mit  Überzeugung:  ,,Ein  präch- 
tiger junger  Mann!*'  Der  König  stand  in  seinem  sieb- 
zigsten Jahre.  Etwa  zwanzig  Jahre  später  ließ  sich  Kai- 
ser Wilhelm  in  Ems  die  kleine  Geschichte  von  einem 
Herrn  seiner  Umgebung,  der  sie  von  mir  erfahren  hatte, 
erzählen  und  freute  sich  des  impulsiven  „Kompli- 
ments** ;  freute  sich  noch  mehr,  zu  hören,  daß  ein 
Mann  in  voller  Rüstigkeit  über  hundert  Jahre  alt  wer- 
den konnte. 

Am  nächsten  Morgen,  als  ich  mir  mein  Glas  Krän- 
chenbrunnen holte,  trat  der  General- Adjutant  an  mich 
heran.  Die  erste  Frage  des  Kaisers  wäre  gewesen :  wie  alt 
dieser  Mann  geworden  sei.  —  Ich  mußte  antworten,  wir 
wüßten  das  selbst  nicht  bestimmt ;  nach  einer  beschei- 
denen Rechnung  104  Jahre,  nach  einer  anderen,  die 
übrigens  meine  Mutter  als  die  richtige  annahm,  iii 
Jahre.  —  Und  ob  es  wahr  wäre,  daß  dieser  Mann  noch 
eine  halbe  Stunde  vor  seinem  Tode  Karten  gespielt 
hätte.  —  Das  konnte  ich  bestätigen.  —  ,,Ich  werde  also 
sagen,  daß  er  iii  Jahre  alt  geworden  ist  und  noch  eine 
halbe  Stunde  vor  seinem  Tode  einen  Grand  mit  Vieren 
gemacht  hat.  Das  freut  Majestät.** 

Zur  Zeit  der  Prager  Friedensverhandlungen  hatte  ich 
endlich  doch  eine  bessere  Gelegenheit,  diese  merkwür- 
digen Preußen  kennenzulernen,  als  im  Theater  oder 
auf  der  Straße.  Ich  durfte  den  Erzählungen  der  Ver- 
wundeten zuhören.  Mein  Schwager,  vielmehr  damals 
nur  erst  der  Verlobte  meiner  Schwester,  hatte  die  Lei- 
tung eines  kleinen  Privathospitals  übernommen,  das 
ein  wohlhabender  Fabrikant  —  wie  viele  seinesgleichen 
—  für  etwa  ein  Dutzend  Verwundeter  eingerichtet 
hatte.  Selbstverständlich  wurden  Preußen  und  öster- 

82 


reicher  aufgenommen,  wie  es  sich  eben  traf.  Das  Hospi- 
tal befand  sich  hart  an  der  Stadtmauer,  nicht  weit  von 
dem^sagenberühmten  Wyschehrad.  Mein  Schwager,  der 
seinen^ärztlichen  Beruf  mit  Hingebung  und  einer  be- 
sonderen Begabung  ausübte,  nahm  mich  mehr  als  ein- 
mal zu  den  Verwundeten  mit.  Es  war  kein  schwerer 
Fall  darunter.  Ich  durfte  einige  kleine  Handreichungen 
leisten  und  sogar  für  einen  jungen  Unteroffizier,  dem 
eine  preußische  Kugel  just  mitten  durch  einen  Finger 
der  rechten  Hand  hindurchgegangen  war,  Briefe  schrei- 
ben. In  diesem  Hospitale  ging  es  sehr  gemütlich  zu; 
niemand  schien  daran  zu  denken,  daß  man  noch  vor 
wenigen  Tagen  aufeinander  scharf  geschossen  hatte. 
Höchstens  daß  ein  Österreicher,  ein  wilder  Schlesier, 
unaufhörlich  auf  die  Regierung  schimpfte,  die  von  den 
preußischen  Hinterladern  gewußt  haben  mußte  und 
dennoch  ihre  Leute  mit  den  veralteten  Vorderladern 
dem  Feinde  entgegengestellt  hätte.  Dem  Manne  war 
eine  Kugel  durch  den  Hals  gegangen,  hart  an  der  Schlag- 
ader vorüber.  Ein  Preuße  neckte  ihn  damit,  die  größere 
österreichische  Kugel  hätte  ihn  gewiß  umgebracht; 
dann  läge  man  nicht  so  freundlich  nebeneinander.  Der- 
selbe Preuße  hatte  während  der  wenigen  Tage  des  Feld- 
zugs slawische  Sprachstudien  gemacht ;  er  wußte  nicht 
nur  wie  alle  Preußen  „heska  holka*'  (hübsches  Mäd- 
chen) und  ,,dej  mne  hubicku*'  (gib  mir  einen  Kuß) 
nachzusprechen;  er  erzählte  auch,  daß  in  jedem  Dorfe 
ein  Hostineck  wäre,  ein  Wirtshaus.  Ich  belehrte  ihn, 
das  Wort  hostinec  würde  Hostinetz  ausgesprochen.  Da 
kam  ich  aber  gut  an.  „Hostineck  heißt  es.  Das  hat  mir 
mein  Leutnant  selber  gesagt.  Und  mein  Leutnant  wird 
das  doch  besser  wissen,  als  so  ein  Prager  Grünschnabel." 
Und  ich  konnte  mich  nicht  einmal  ärgern.   Es  tat  so 

6»  83 


wohl,  diese  Menschen  mit  Achtung  von  ihren  Vorge- 
setzten sprechen  zu  hören.  Da  steckte  irgendein  Unter- 
schied dahinter,  ein  Unterschied  zwischen  dem  öster- 
reichischen Raunzen  und  dieser  freien  Freude  am 
Staate.  Ich  habe  erst  sehr  viel  später  einige  Vorzüge 
der  österreichischen  raunzenden  Schlamperei  und  einige 
Nachteile  der  preußischen  schneidigen  Staatsfreudigkeit 
gegeneinander  abwägen  gelernt. 


84 


Illlllllllllllll 


IX.  Das  Kleinseitner  Gymnasium. 

So  hatte  mir  der  Krieg  zugleich  zum  Besuche  des 
Kleinseitner  Gymnasiums  und  zu  dem  Gewinne  na- 
tionaldeutscher Stimmungen  verholfen.  Ich  trat  mit 
sehr  guten  und  mit  sehr  ernsten  Absichten  in  das  Gym* 
nasium  ein,  wo  deutscher  Geist  herrschen  sollte.  Der 
Ordinarius  der  sechsten  Klasse,  der  bis  zur  Maturitäts- 
prüfung mein  Ordinarius  blieb,  war  sogar  einer  aus  dem 
Reich,  ein  Rheinländer.  ,,Ein  Rheinländer**,  dachte  ich 
andächtig  und  fühlte  mich  gehoben.  Burgruinen,  Lore* 
lei.  Rote  Erde,  Kölner  Dom,  überhaupt  der  Vater  Rhein. 
Geographisch  war  die  Sache  nicht  ganz  klar,  aber  ich, 
der  ich  den  Mann  noch  nicht  kannte,  war  begeistert. 

Der  Ruf  der  Schule  hatte  nicht  gelogen ;  ich  kam  in 
den  Unterricht  (leider  wieder  nicht  unter  die  indivi- 
duell erziehende  Leitung)  braver  und  tüchtiger  Lehrer, 
vor  deren  Wissen  wir  Achtung  haben  mußten.  Von  die- 
sem dankbaren  Lobe  muß  ich  leider  gerade  den  Ordi- 
narius ausnehmen,  den  schwärmerisch  begrüßten 
Rheinländer.  Wir  hatten  uns  während  des  Sommers  in 
den  preußischen  Landwehrmann  verliebt;  jetzt  em- 
pörte der  preußische  Oberlehrer  unsere  besten  öster- 
reichischen Gefühle.  Ich  glaube,  es  wäre  uns  schwer 
gefallen,  uns  auch  unter  einem  vorzüglichen  norddeut- 
schen Oberlehrer  an  die  preußische  Zucht  zu  gewöhnen ; 
unsere  österreichische  Schlamperei,  dieses  behagliche 

85 


und  erquickliche  Sichgehenlassen,  hätte  unter  den  stren- 
gen Ansprüchen  der  deutschen  Gelehrtenschule  gelit- 
ten ;  aber  wir  wären  froh  gewesen,  etwas  Gründliches 
zu  lernen,  und  hätten  uns  für  die  Übertreibung  der 
Schuldisziplin  durch  irgendwelche  Schülerstreiche  schon 
schadlos  gehalten.  Unser  preußischer  Ordinarius  aber 
war  ein  gewissenloser  Lehrer,  unglaublich  arbeitsscheu 
und  eine  boshafte  Kröte  dazu ;  wir  waren  so  unerfahren, 
alle  diese  Eigenschaften  auf  den  reichsdeutschen  Ober- 
lehrer zu  übertragen,  weil  unser  Ordinarius  sich  durch 
sein  immer  gerühmtes  Fachwissen  —  uns  hat  er  fast 
niemals  etwas  davon  mitgeteilt  —  und  durch  einen  An- 
zug nach  der  neuesten  Mode  von  den  einheimischen 
Lehrern  unterschied. 

Über  die  Charaktereigentümlichkeit  dieses  unwahr- 
scheinlichen Lehrers  möchte  ich  lieber  kurz  hinweg- 
gehen. Er  hat  uns  einzig  und  allein  in  Bosheit  unter- 
richtet ;  er  kannte  kein  größeres  Vergnügen  als  seinen 
unbeträchtlichen  Witz  auf  Kosten  einiger  Sündenböcke 
leuchten  zu  lassen.  Diese  Sündenböcke  waren  einige 
Tschechen,  meistens  tüchtige  Burschen,  die  auf  dem 
Kleinseitner  Gymnasium  deutsch  lernen  wollten  und 
vorläufig  noch  allerlei  Sprachfehler  begingen.  Wegen 
solcher  Fehler  zog  der  Ordinarius  sie  auf  und  quälte  sie 
bis  aufs  Blut.  Gar  manche  Stunde  verging  von  der 
ersten  bis  zu  der  letzten  Minute  mit  solcher  Schrauberei, 
wir  andern  hatten  die  Aufgabe,  jeden  Witz  des  Lehrers 
mit  schallender  Heiterkeit  zu  begleiten.  Wer  junge 
Leute  kennt  und  weiß,  wie  schadenfroh  sie  sind  und 
wie  gern  sie  sich  um  ernste  Arbeit  herumdrücken,  der 
wird  es  freundlich  anerkennen,  daß  wir  diesem  Unfug 
endlich  in  der  siebenten  Klasse  (Unterprima)  aus  eige- 
ner Kraft  ein  Ende  machten.  Es  wurde  ein  Klassenbe- 

86 


Schluß  gefaßt,  über  solche  Witze  des  Ordinarius  nicht 
mehr  zu  lachen.  Unbezahlbar  war  sein  Gesicht,  als  er 
am  nächsten  Tage  einen  der  Unglücklichen  wieder  zu 
schrauben  anfing  und  kein  Gelächter  ihn  belohnte ;  er 
versuchte  es  mit  stärkern  und  stärkern  Spaßen;  aber 
wir  blieben  ernst  und  da  verstand  er  endlich.  Er  machte 
keine  Witze  mehr,  er  begann  die  ganze  Klasse  zu  quä- 
len und  sich  an  den  Rädelsführern  zu  rächen,  die  zu  er- 
raten nicht  schwer  war.  Schließlich  scheute  er  auch 
diese  Arbeit,  kehrte  zu  seinen  Gewohnheiten  zurück 
und  machte  nur  immer  ein  betrübtes  Gesicht,  wenn 
nicht  gelacht  wurde.  Übrigens  wurde  die  Schülerehre 
in  meiner  Klasse  streng  aufrechterhalten.  Petzen  wurde 
nicht  geduldet.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  auch  in  andern 
Schulen  üblich  ist,  die  Petzer  so  zu  bestrafen,  wie  wir 
es  einmal  taten.  Der  Schuldige  wurde  an  dem  Henkel 
seines  Überrocks  an  einen  Kleiderriegel  gehenkt  und  in 
dieser  Lage  ermahnt,  ein  anständiges,  männliches  Be- 
tragen zu  versprechen. 

Alle  unsere  andern  Lehrer  waren  Österreicher  und 
unterschieden  sich  in  vielen  Dingen  von  dem  Preußen, 
den  der  Haß  der  guten  Katholiken  unter  uns  überdies 
für  einen  Protestanten  ausgab.  Mit  Unrecht;  die  bos- 
hafte Kröte  war  katholisch. 

Besonders  auffallend  war  der  Gegensatz  zwischen 
diesem  Preußen  und  unserem  Geschichtsprofessor,  un- 
serem lieben  Ulrich,  einem  behäbigen  dicklichen  Herrn, 
dem  man  es  wohl  ansah,  daß  er  sein  abendliches  Schöpp- 
chen  liebte.  Er  trat  jedesmal  mit  einem  gemütlichen 
Worte  in  die  Klasse,  lehnte  jede  Feierlichkeit  und  Pe- 
danterie ab  und  behandelte  uns  mit  einer  Ironie,  hinter 
welcher  sich  Herzensgüte  verbarg.  Er  erkundigte  sich 
nicht  ohne  Neugier  nach  dem  oder  jenem  Arger,  den 

87 


wir  mit  andern  Lehrern  gehabt  hatten,  tröstete  uns  und 
ließ  wohl  eine  ganze  Viertelstunde  mit  Privatmittei- 
lungen verstreichen.  Bald  hatte  er  Rheumatismus, 
nannte  uns  die  Mittel,  die  er  dagegen  anwandte  und 
erzählte  bei  dieser  Gelegenheit  allerlei  aus  der  Chemie ; 
bald  erwähnte  er  irgendein  Tagesereignis  und  erklärte 
es  uns  auf  seine  Weise.  Wir  glaubten,  er  vertrödelte  die 
Zeit;  in  Wahrheit  lernten  wir  so  die  Gedankengänge 
eines  erfahrenen  und  klugen  Menschen  kennen.  In  sei- 
ner Kleidung  war  er  von  einer  Nachlässigkeit,  deren 
sich  an  einem  Berliner  Gymnasium  kein  Schüler,  ge- 
schweige denn  ein  Lehrer  schuldig  machen  würde. 
Ganz  unmöglich  waren  seine  Westen.  Sooft  er  die  alte 
rotkarierte  anhatte,  entschuldigte  er  sich  mit  seinem 
guten  Schmunzeln:  ,,Ich  trag'  sie  seit  zwanzig  Jahren; 
vielleicht  wird  sie  wieder  einmal  modern.  Das  ist  auch 
Geschichte.'*  Das  Schulbuch  mußten  wir  einfach  seiten- 
weise auswendig  lernen.  Er  gab  sich  nicht  damit  ab, 
den  Stoff  mit  andern  Worten  vorzutragen;  das  wäre 
Zeitvergeudung.  Auch  auf  Prüfungen  ließ  er  sich  nicht 
ein ;  nur  dann  und  wann  stellte  er  durch  kurze  Fragen 
fest,  ob  wir  die  Jahreszahlen  aus  unserm  „Gindely" 
ordentlich  gebüffelt  hätten.  An  diese  kurzen  Fragen 
knüpfte  er  dann  an,  um  uns,  immer  interessant,  irgend 
etwas  zu  erzählen,  was  mit  dem  historischen  Ereignisse 
in  Verbindung  gebracht  werden  konnte.  Wagte  er  auch 
Abstecher  auf  das  Gebiet  der  Nationalökonomie  und 
auf  die  Geschichte  der  Prager  Baukunst,  brachte  ihn 
einmal  sogar  Gustav  Adolf  darauf,  die  Geschichte  der 
Einführung  des  Tabaks  zu  erzählen  und  uns  vor  über- 
mäßigem Tabakschnupfen  zu  warnen,  so  hatten  wir 
doch  alle  das  Gefühl,  dem  freundlichen  Manne  dankbar 
sein  zu  müssen.  Aus  Dankbarkeit  und  Liebe  lernten  wir 

88 


den  „Gindely**  ganz  ordentlich;  denn  wenn  wir  nichts 
wußten,  drohte  er  immer,  nichts  mehr  zu  erzählen. 

Auch  die  andern  Lehrer  waren  trotz  individueller 
Wunderlichkeiten  ganz  kenntnisreich  in  ihrem  Fache, 
wenn  auch  fast  keiner  ein  Spezialist  war,  wie  das  jetzt  von 
einem  deutschen  Oberlehrer  verlangt  wird.  Der  Lehrer 
des  Griechischen,  der  feine  Jahn,  war  ernstlich  nerven- 
krank ;  wir  behandelten  ihn  rücksichtsvoll ;  er  war  aber 
auch  ein  feiner  Geist  und  wir  hätten  bei  ihm  Homer  und 
Sophokles  lieben  lernen  können,  wenn  die  Lektüre 
nicht  ohne  Gnade  auf  die  unabwendbare  Wiederholung 
der  grammatischen  Regeln  herausgelaufen  wäre.  Die 
Schuld  lag  aber  nicht  am  Lehrer,  sondern  an  den  Be- 
stimmungen des  Schulregulativs:  Grammatik  sollten 
wir  lernen,  nicht  den  Glanz  der  antiken  Welt  begreifen. 

Für  die  Naturgeschichte  hatten  wir  einen  heimlichen 
Darwinisten  zum  Lehrer,  der  uns  mit  großer  Kühn- 
heit all  den  Gedächtniskram  schenkte,  welcher  vom 
Lehrplan  verlangt  wurde.  Philosophische  Propädeutik 
wurde  von  einemKreuzherrnordenspriester  vorgetragen ; 
der  Mann  war  nicht  ohne  Scharfsinn  und  führte  uns 
ganz  geschickt  in  die  Spielregeln  der  alten  Logik  ein. 

Unser  Mathematiker  Nacke  gar  war  ein  genialischer 
Herr  und  soll  ein  hervorragender  Fachmann  gewesen 
sein.  Er  liebte  es  aber,  jede  zweite  oder  dritte  Stunde 
mit  einer  Philippika  auszufüllen,  die  gegen  die  Miß- 
stände der  Zeit,  gegen  die  Fehler  der  österreichischen 
Politik  oder  gegen  die  Schülergemeinheit  gerichtet  war. 
Er  war  ein  leidenschaftlicher  Redner.  Wir  waren  wirk- 
lich so  gemein,  ihn  zu  solchen  Standreden  zu  verleiten, 
wenn  wir  kein  neues  Pensum  aufbekommen  wollten. 
Es  gab  ein  unfehlbares  Mittel,|ihn  die  Schleusen  seiner 
Beredsamkeit  aufziehen  zu  lassen;  wir  waren  nur  zu 

89 


schüchtern,  von  diesem  lustigen  Mittel  oft  Gebrauch  zu 
machen.  Der  Mathematiker  war  nämlich  derjenige  Leh- 
rer, der  —  auch  wenn  er  die  erste  Stunde  der>  Tages 
hatte  —  den  Unterricht  ohne  Gebet  begann ;  wir  wuß- 
ten, er  war  ein  Freigeist.  Wollten  wir  also  keine  Mathe- 
matikstunde haben,  so  brauchte  sich  bloß  einer  der 
Schüler  zu  erheben  und  im  Auftrage  der  Klasse  für 
irgendeine  Versäumnis  um  Entschuldigung  zu  bitten: 
wir  hätten  zuviel  aus  ,, Religion'*  aufbekommen.  Dann 
ging  es  gleich  los.  Und  ich  hätte  dem  wilden  Kritiker 
nicht  gewünscht,  daß  er  denunziert  worden  wäre;  er 
liebte  mitunter  starke  Ausdrücke.  Sonst  hätten  wir  viel 
bei  ihm  lernen  können,  wenn  ...  ja  wenn  in  der  ganzen 
Klasse  mehr  als  zwei  Schüler  gewesen  wären,  die  ma- 
thematische Begabung  besaßen;  aber  nach  dem  Lehr- 
plan hatten  wir  Trigonometrie  und  analytische  Geome- 
trie, Logarithmen  und  Gleichungen  zu  erlernen,  das 
Pensum  mußte  den  unbegabtesten  Schülern  eingepaukt 
werden,  und  so  wurde  die  Mathematikstunde  auch  bei 
diesem  Lehrer  und  auch  für  die^beiden  mathematischen 
Talente  langweilig. 

Das  Gegenstück  zu  diesem  Manne  war  der  Physik- 
lehrer ;  ohne  ein  komisches  Original  wären  Schulerin- 
nerungen ja  unvollständig.  Es  war  ein  alter  ausrangier- 
ter Herr,  der  vielleicht  das  bißchen  Physik  der  vormärz- 
lichen Zeit  ganz  gut  vorgetragen  hatte  und  jedenfalls 
hübsch  experimentierte.  Nun  hatte  aber  ein  neuer  Lehr- 
plan vorgeschrieben,  Physik  müßte  mit  mathemati- 
schen Begründungen  wissenschaftlich  gemacht  werden. 
Unser  armer  Lehrer  hatte  keinen  mathematischen  Sinn. 
So  lernte  er  denn  die  langen  Berechnungen  wie  Verse 
einer  unverstandenen  Sprache  auswendig  und  schrieb 
sie  keuchend  und  schwitzend  auf  die  Tafel,  den  großen 

90 


nassen  Schwamm  immer  in  der  linken  Hand;  fing  er 
eine  neue  Zeile  an,  so  wischte  er  die  obere  Zeile  immer 
schnell  fort,  damit  der  Unsinn  nicht  nachweisbar  wäre, 
den  er  zustande  gebracht  hatte.  Es  herrschte  ein  freund- 
liches Verhältnis  zwischen  diesem  Lehrer  und  uns :  er 
gab  nur  gute  Zensuren  und  wir  lachten  ihn  nicht  aus. 
Daß  wir  einmal  vor  der  Mittagspause  Schwefelwasser- 
stoffgas unter  seinem  Katheder  entwickelten  und  das 
mit  seinen  eigenen  Chemikalien  —  mea  culpa,  mea 
maxima  culpa,  das  wird  man  uns  verzeihen.  Es  war 
ein  wundervoller  Frühlingstag  und  wir  wollten  einen 
Bierausflug  machen.  Der  Streich  gelang  vortrefflich. 
Das  Klassenzimmer  war  um  zwei  Uhr  nicht  zu  benüt- 
zen, die  Quelle  des  furchtbaren  Geruches  wurde  nicht 
entdeckt  und  wir  wurden  entlassen.  Noch  am  folgenden 
Morgen  stank  es  entsetzlich. 

Auch  der  Lehrer  der  tschechischen  Sprache  war  nicht 
ohne  Narretei;  doch  auch  mit  ihm  hatten  wir  Mitleid 
und  behandelten  ihn  mit  Schülerwohlwollen. 

Nun  wußten  wir  ganz  genau,  daß  unser  Ordinarius, 
bei  dem  wir  hätten  Latein  und  Deutsch  lernen  sollen, 
für  unser  Fortkommen  auf  der  Schule  wichtiger  war 
als  alle  anderen  Lehrer  zusammen.  Von  ihm  hing  es 
ab,  welche  ,, Klassen**  wir  aus  den  beiden  wichtigsten 
Schulgegenständen  erhielten,  von  ihm  hing  es  ab,  ob 
wir  ein  Vorzugszeugnis  bekamen  oder  nicht.  Und  dieser 
Ordinarius  war,  wie  ich  ihn  geschildert  habe.  Es  war 
kindisch  von  uns,  daß  wir  auch  an  seiner  modischen 
Kleidung  Anstoß  nahmen  und  an  dem  Taschenkämm- 
chen,  mit  dem  er  immer  wieder  seinen  Scheitel  ordnete. 
Aber  wir  waren  in  unserm  Rechte,  wenn  wir  Bosheit 
mit  Haß  erwiderten.  Der  Mann  war  aus  Anlaß  der  letzten 
österreichischen  Gymnasialreform  (durch  Bonitz,  der 

91 


1849  nach  Wien  berufen  worden  war)  aus  dem  Reiche 
geholt  worden,  fühlte  sich  dem  österreichertum  un- 
endlich überlegen  und  ließ  uns  seine  Verachtung  fühlen, 
anstatt  uns  zu  unterrichten.  Vielleicht  besaß  er  wirk- 
lich einiges  Fachwissen;  er  hatte  einmal  sogar  einen 
Horaz  herausgegeben,  keine  Schulausgabe,  eine  wirk- 
liche Edition.  Das  rieb  er  uns  unter  die  Nase,  wenn  er 
einmal  davon  ausruhte,  ein  paar  Unglückliche  zu  quä- 
len. So  saß  er  täglich  zwei  Stunden  vor  uns,  seufzte 
über  sein  Schicksal  wie  eine  unverstandene  Frau  und 
klagte  über  unsere  mangelhafte  Vorbildung.  Höchstens 
mit  fünfen  oder  sechsen  von  uns  werde  er  den  Horaz 
lesen  können ;  diese  Selekta  werde  er  in  den  Vorhof  der 
wahren  Philologie  einführen.  Aber  es  blieb  bei  solchen 
Versprechungen,  er  leistete  nichts.  Auch  am  Horaz 
wurden  nur  grammatische  Regeln  wiedergekäut,  viel- 
leicht wirklich  darum,  weil  die  Mehrheit  der  Schüler 
zu  wenig  Latein  gelernt  hatte.  Und  ab  und  zu  trug  er 
uns,  eitel  und  selbstbewußt,  eine  seiner  Konjekturen 
vor ;  Schüler,  die  nicht  zehn  lateinische  Zeilen  ohne  An- 
stoß lesen  konnten,  die  von  lateinischer  Prosodie  keine 
Ahnung  hatten,  bekamen  wie  zum  Naschen  vorzeitig 
einige  Spielereien  der  höhern  Kritik.  Wir  ließen  uns  da- 
mals einreden,  so  wäre  jeder  preußische  Oberlehrer :  ein 
mißlungener  Privatdozent  und  darum  zum  Gymnasial- 
lehrer verdorben;  ich  habe  später  dem  preußischen 
Oberlehrer  Abbitte  geleistet :  unser  Ordinarius  war  ein 
Jugendverderber  auf  eigene  Faust. 

Ich  werde  noch  darauf  zurückkommen,  in  welcher 
Weise  ich,  der  ich  mich  schon  zu  fünfzehn  Jahren  der 
deutschen  Literatur  zugeschworen  hatte,  der  ich  ein 
deutscher  Dichter  sein  wollte,  im  Gebrauche  der  deut- 
schen Sprache  ausgebildet  worden  bin.  Auf  dem  Klein- 

92 


seitner  Gymnasium  war  auch  dieser  Unterricht  in  den 
Händen  des  Ordinarius.  Er  beschränkte  seine  Tätigkeit 
darauf,  sich  über  unsere  Prager  Idiotismen  lustig  zu 
machen,  was  ganz  nützlich  gewesen  wäre ;  nur  daß  er 
so  unwissend  war,  auch  gute  Formen  der  österreichi- 
schen Mundart  zu  bekämpfen.  Ich  erinnere  mich  nicht, 
sonst  von  ihm  gefördert  worden  zu  sein.  Seine  Faulheit 
war  so  groß  wie  seine  Gewissenlosigkeit.  Er  ließ  in  der 
Stunde  deutsche  Gedichte  vorlesen  und  erklären  und 
machte  seine  schlechten  Witze  über  die  Vorlesung  und 
über  die  Erklärung  der  Schüler.  Literaturgeschichte 
stand  auf  dem  Programm ;  aber  niemals  haben  wir  von 
ihm  ein  Wort  über  das  Leben  oder  über  den  Charakter 
eines  Dichters  vernommen.  Unser  trefflicher  Schulrat 
soll  einmal  mit  einem  Donnerwetter  drein  gefahren  sein, 
als  er  bei  einem  Besuche  unserer  Klasse  festgestellt 
hatte,  daß  unser  Lehrer  selbst  Schelling  und  Schlegel 
verwechselte  und  daß  uns  der  Name  Walter  von  der 
Vogelweide  nicht  genannt  worden  war ;  der  Ordinarius 
spöttelte  in  der  nächsten  Stunde  über  den  lyrischen  Te- 
nor des  Landestheaters,  der  auch  als  Walter  im  Tann- 
häuser eine  Brille  trug ;  sonst  wurde  an  der  göttsträf- 
lichen Unterrichtsweise  nichts  geändert.  Unsere  deut- 
schen Aufsätze  arbeiteten  wir  so,  wie  sie  an  allen  Gym- 
nasien gearbeitet  werden ;  ein  blödsinniges  Thema  wird 
gegeben  und  über  dieses  Thema  wird  nach  einem  blöd- 
sinnigen Rezepte  allerlei  Schulschwatz  zusammenge- 
redet, heute  wie  in  den  alten  Rhetorenschulen.  De- 
Schulschwatz  wird  in  ein  System  gebracht.  Aber  andersr 
wo  wird  so  ein  deutscher  Aufsatz  wenigstens  korrigiert 
und  der  Schüler  könnte,  wenn  der  Lehrer  danach  wäre, 
die  gröbsten  Stilfehler  bessern.  Wir  haben  von  unserm 
Ordinarius  niemals  auch  nur  einen  einzigen  Aufsatz 

93 


korrigiert  zurückerhalten ;  es  ist  mir  doch  unverständ- 
lich, wie  eine  solche  Nachlässigkeit  von  der  Aufsichts- 
behörde geduldet  werden  konnte.  Der  Lehrer  brachte 
irgend  einmal  den  ganzen  Stoß  verschmierten  Papiers 
in  die  Klasse  zurück,  ohne  vorher  auch  nur  einen  Blick 
hineingeworfen  zu  haben ;  dann  griff  er  in  den  Wust, 
holte  irgendeine  Arbeit  heraus,  las  einige  Zeilen  und  riß 
schale  Witze,  die  weder  mit  dem  Inhalt  noch  mit  der 
Form  des  Aufsatzes  irgend  etwas  zu  tun  hatten. 

Ich  weiß,  daß  ein  besserer  Kritiker  als  dieser  Lehrer 
auch  den  Stil  dieser  Niederschrift  tadeln  könnte ;  einen 
Schrei  der  Empörung  wollte  ich  ausstoßen,  eine  An- 
klageschrift verfassen,  und  habe  mich  doch  immer  wie- 
der verleiten  lassen,  mit  einiger  Heiterkeit  der  dummen 
Schülerzeit  zu  gedenken.  Aber  ich  hätte  lügen  müssen, 
hätte  ich  völlig  die  Erinnerung  unterdrücken  wollen  an 
manche  gute  Stimmung  der  Schulzeit,  welche  ja  eben 
immer  die  schöne  Jugendzeit  ist.  Was  immer  an  Schön- 
heit aus  jener  Periode  der  mir  gestohlenen  Zeit  herüber- 
strahlt, was  mir  das  Durchdenken  jener  alten  Erinne- 
rungen oft  zu  einer  Freude  macht,  was  mich  mit  wehmü- 
tiger Dankbarkeit  an  einige  Kommilitonen  jener  Tage 
zurückdenken  läßt,  besonders  an  einen,  meinen  lieben 
alten  Freund  Viktor  Lenk,  das  war  nicht  die  Schule,  das 
war  die  Jugendzeit.  Man  war  achtzehn  Jahre  alt.  Da 
war  die  Welt  noch  schön,  die  Welt  jenseits  der  Schule. 
Und  wenn  ich  versichern  kann,  daß  auch  damals  das 
Betreten  der  Schulklasse  fast  täglich  eine  Qual  bedeu- 
tete, so  wird  man  mir  zugestehen,  daß  etwas  krank  ge- 
wesen sein  muß  in  der  Einrichtung  des  Schulwesens. 

Der  Kardinalfehler  schien  mir  und  scheint  mir  noch 
heute  eine  tiefe  Verlogenheit  des  Systems,  eine  offen- 
bare  Kluft   zwischen   dem   Schulprogramm   und   der 

94 


Schulleistung.  Die  Kenntnisse  der  Lehrer  wie  der  Schü- 
ler am  Kleinseitner  Gymnasium  waren  bedeutender  als 
am  Klostergymnasium.  Aber  der  wesentliche  Fehler 
blieb  sich  gleich.  Im  Schulprogramm  —  wie  heute 
noch  in  den  Reden,  die  an  Philologentagen  beim  Essen 
und  im  Landtage  von  Ministern  und  von  humani- 
stisch gebildeten  Abgeordneten  gehalten  werden,  —  hieß 
es  immer,  man  werde  durch  das  Studium  des  Lateini- 
schen und  des  Griechischen  in  den  Geist  der  antiken 
Welt  eingeführt.  Und  auch  moderne  Bildung  sei  ohne 
diesen  Geist  nicht  zu  erwerben.  Beides  ist  eine  Lüge. 
Der  antike  Geist  ist  freilich,  historisch  betrachtet,  die 
Grundlage  der  gegenwärtigen  Bildung  im  Abendlande 
geworden ;  doch  es  ist  töricht  und  gefährlich  zugleich, 
von  andern  als  von  Historikern  zu  verlangen,  daß  sie  die 
Geschichte  ihres  eigenen  geistigen  Wachstums  studieren. 
Das  Ende  der  Renaissance  ist  gekommen ;  wir  können 
auf  eigenen  Füßen  stehen  und  müssen  die  lateinische 
und  die  griechische  Krücke,  meinetwegen  mit  dank- 
barer Pietät,  beiseitelegen  und  sie  den  Philologen  für  ihre 
Künste  überlassen.  Unsere  jungen  Leute  können  mo- 
derne Bildung,  die  von  der  Zeit  geforderte  Bildung,  nicht 
freudig  in  sich  aufnehmen,  solange  ihnen  die  lateinische 
und  die  griechische  Sprache  aufgezwungen  werden.  Die 
künstliche  Aufrechterhaltung  der  alten  Lateinschule 
macht  uns  zu  seltsamen  Geschöpfen ;  als  ob  eine  Schlan- 
ge alle  Häute,  die  sie  abgestreift  hat,  mit  sich  weiter 
schleppen  müßte;  als  ob  jedermann  die  Leichen  seiner 
Ahnen  auf  seinem  Rücken  durchs  Leben  tragen  müßte. 
Aber  auch  das  Versprechen  war  und  ist  eine  Lüge, 
man  würde  auf  der  Gelehrtenschule  den  Glanz  der  an- 
tiken Welt  erblicken.  Ist  ja  nicht  wahr.  In  den  antiken 
Geist  dringen  vielleicht  die  besten  Philologen  ein  wenig 


während  ihrer  Universitäts jähre.  Von  uns  Schülern  — 
wir  waren  jetzt  ungefähr  vierzig  in  der  Klasse  —  wur- 
den nur  drei  oder  vier  so  weit  gefördert,  daß  sie  mit 
knapper  Not  einen  alten  Klassiker  silbengetreu  über- 
setzen konnten ;  auch  schablonenhafte  Begeisterung  für 
Homer  und  für  Sophokles  fehlte  bei  diesen  Auserwähl- 
ten nicht ;  aber  von  einem  Verständnis  für  die  besondere 
Art,  für  die  Unvergleichlichkeit  und  Unnachahmlichkeit, 
also  auch  für  die  Fremdheit  antiken  Geistes  fehlte  es 
durchaus.  Und  gar  die  anderen  Schüler,  neun  Zehntel 
der  Klasse,  gingen  mit  gutem  Erfolge  durch  das  Abitu- 
rientenexamen und  hatten  doch  in  den  alten  Sprachen 
nie  etwas  anderes  gesehen  als  Zuchtruten.  Sie  hatten 
von  den  alten  Sprachen  weder  ein  Vergnügen  noch  einen 
Nutzen  und  lernten  ein  paar  Brocken  nur,  um  sie  gleich 
nach  dem  Examen  wieder  zu  vergessen.  Die  Zeit  ist 
hoffentlich  nicht  mehr  fern,  daß  man  über  den  lateini- 
schen Moloch,  dem  heute  die  besten  Jugendjahre  ge- 
opfert werden,  so  grimmig  lachen  wird,  wie  man  seit 
einiger  Zeit  über  die  Geltung  des  Hexenhammers  lacht, 
daß  man  allgemein  anerkennen  wird :  die  Renaissance 
hat  ausgelebt,  das  Griechentum  ist  zum  zweiten  Male 
gestorben^). 

I)  Vgl.  Anhang  11. 


96 


X.  Allotria. 

Ich  werde  mir  auf  dem  Kleinseitner  Gymnasium  wohl 
anfangs  einige  Mühe  gegeben  haben,  den  Vorsprung 
einzuholen,  den  die  Schüler  der  besseren  Anstalt  vor 
uns  Piaristenzöglingen  voraus  hatten;  denn  ich  blieb 
auch  drüben  immer  einer  der  sogenannten  Vorzugs- 
schüler, wenn  ich  auch  niemals  Primus  geworden  bin. 
Ich  gedenke  auch  mit  herzlicher  Dankbarkeit  einiger 
meiner  Lehrer.  Aber  auch  von  der  guten  weltlichen 
Schule  hatte  ich  keinen  rechten  Vorteil  mehr ;  das  Ver- 
brechen (jawohl,  ich  wiederhole  das  zornige  Wort),  das 
an  mir  durch  den  Raub  dreier  Jahre  verübt  worden  war, 
trug  die  Hauptschuld.  Gewiß,  ich  war  nach  meiner  in- 
dividuellen Anlage  zu  altklug  für  die  Schule;  doch 
auch  als  Musterschüler  wäre  ich  zu  alt  gewesen  für 
den  langsamen  Betrieb  des  Unterrichts.  In  den  bar  zu 
zahlenden  Examenkenntnissen  stand  ich  sicherlich  weit 
hinter  dem  Primus  zurück ;  aber  die  Polyhistorie,  die 
ich  mir  durch  mein  wahlloses  Lesen  verschafft  hatte, 
hatte  mich  der  Schule  früh  entwachsen  lassen.  Wenn 
Sehnsucht  nach  strenger  Wissenschaft,  wenn  Sehnsucht 
nach  Welterkenntnis  reif  macht  für  die  Universität,  so 
gehörte  ich  zu  siebzehn  Jahren  nicht  mehr  auf  das 
Gymnasium. 

Schon  auf  dem  Piaristengymnasium  widmete  ich  ja 
meine  müßige  Zeit  nicht  nur  dem  Lesen  von  Romanen 

7  97 


und  andern  Räubergeschichten.  Ich  war  seit  jeher  von 
einer  wunderlichen  Leidenschaft  besessen,  heimlich  zu 
lernen,  wovon  ich  erfuhr,  daß  andere  es  gelernt  hatten. 
Man  wird  nach  dieser  Erklärung  besser  begreifen,  war- 
um ich  immer  wieder  darüber  klage,  daß  ich  bei  allem 
Unterricht  niemals  eine  Anleitung  gehabt  habe.  Meine 
Leidenschaft,  die  entlegensten  Dinge  zu  lernen,  wurde 
verspottet,  und  so  schämte  ich  mich  bald  meiner  Wiß- 
begierde. Ich  stellte  mir  die  tollsten  Aufgaben.  Dazu 
rechne  ich  nicht,  daß  ich  etwa  von  meinem  zwölften 
Jahre  ab  heimlich  Französisch,  Englisch  und  Italienisch 
trieb.  Auf  unsern  österreichischen  Gymnasien  wurden 
die  modernen  Sprachen  (wie  gesagt)  nicht  obligatorisch 
gelehrt;  ich  ging  zwar  einmal  in  die  italienische  und 
viel  später  in  eine  französische  Privatstunde,  aber  was  ich 
da  gewann,  hätte  eine  Katze  bequem  auf  dem  Schwänze 
forttragen  können.  Wenn  ich  heute  einige  moderne 
Sprachen  geläufig  lesen  kann,  so  verdanke  ich  das  mei- 
ner heimlichen  Leidenschaft.  Ich  ging  ja  allsonntäglich 
nach  dem  Trödelmarkte  der  Judenstadt  und  da  kaufte 
ich  mir  eine  englische  und  eine  französische  Grammatik ; 
die  italienische  stibitzte  ich  einem  meiner  Brüder  fort ; 
mit  Hilfe  dieser  Grammatiken  und  einiger  Wörter- 
bücher brachte  ich  es  mit  der  Zeit  so  weit,  daß  ich 
Shakespeare,  den  älteren  Dumas  und  Manzoni  recht 
gut  lesen  konnte.  Das  waren  freilich  keine  tollen  Dinge. 
Aber  in  meinem  fünfzehnten  Jahre  hatte  ich  auch 
Sanskrit  und  die  Hieroglyphen  zu  studieren  ange- 
fangen. Ich  verschaffte  mir  ein  gelehrtes  Sanskrit- 
werk und  glaubte  die  letzten  Welträtsel  zu  lösen,  als 
ich  mit  angestrengtem  Fleiße  die  heiligen  Buchstaben 
nachmalte  und  die  Paradigmen  auswendig  lernte.  Ganz 
wertlos  war  freilich  auch  diese  Mühe  nicht  für  mich,  da 

98 


ich  dreißig  Jahre  später  doch  an  manches  mir  Geläufige 
anknüpfen  konnte,  als  ich  —  um  Panini  zu  verstehen  — 
einjbißchen  Sanskrit  ernsthaft  treiben  mußte.  Und  kurz 
vor  meinem  Abgange  vom  Piaristengymnasium  lieh  ich 
mir  aus  der  königlichen  Bibliothek  Uhlemanns  Ägypto- 
logie, um  mich  im  Hieroglyphenschreiben  zu  üben  und 
Altägyptisch  ,, sprechen**  zu  lernen.  Das  konnte  ich 
aber  nicht  ganz  heimlich  anfangen.  Ein  Buch  aus  der 
königlichen  Bibliothek  bekam  ich  nur,  wenn  der  Leih- 
zettel vom  Gymnasialdirektor  unterschrieben  war.  Da 
wäre  es  mir  beinahe  schlecht  gegangen.  Als  der  Direk- 
tor in  seiner  ,, Zelle**  den  Zettel  unterschreiben  sollte, 
mochte  ihm  der  Titel  des  Buches  aufgefallen  sein.  Er 
buchstabierte:  Ägyptologie.  „Für  wen  willst  du  das 
Buch  haben?**  Ich  antwortete  ehrlich,  das  Buch  wäre 
für  mich  selbst.  Da  zankte  mich  der  Direktor  so  tüchtig 
aus,  als  es  seine  Faulheit  nur  irgend  zuließ;  ich  sollte 
nicht  lügen ;  noch  niemals  hätte  ein  sechzehnjähriger 
Bub  so  ein  Buch  verlangt;  am  Ende  enthielte  es  gar 
heidnische  Unsittlichkeiten.  Aus  Faulheit  gab  er  mir 
doch  seine  Unterschrift. 

Nicht  nur  dieser  Botokude,  auch  andere  Lehrer, 
meine  Mitschüler  und  nicht  zuletzt  meine  Nächsten 
fanden  diese  Beschäftigung  mit  schwer  kontrollierbaren 
Philologien  komisch,  sobald  ich  mich  nicht  genug  hü- 
tete und  mein  Geheimnis  verriet.  Vielleicht  war  ich 
aber  in  meiner  diebischen  Heimlichkeit  auch  allzu  emp- 
findlich; vielleicht  witterte  ich  Verkennung,  wo  nur 
eine  gutmütige  Neckerei  vorlag  oder  ein  berechtigter 
Spott,  wie  ich  ihn  jetzt  selbst  übe.  Übrigens  wäre  zu 
Spott  noch  mehr  Veranlassung  gewesen,  wenn  die  Spöt- 
ter nur  gewußt  hätten,  mit  wie  übermäßigen  Hoffnun- 
gen ich  an  diese  Studien  heranging ;  und  wie  führungs- 

7*  99 


los  und  oft  hilflos  ich  auf  diesen  fremden  Gebieten  um- 
herirrte. Ich  versuchte  sogar  Chinesisch  zu  lernen ;  da  ge- 
langte ich  aber  nicht  einmal  an  die  allerersten  Anfänge 
heran ;  das  Zeichnen  der  Schrift  wurde  mir  zu  schwer. 

Für  solche  Allotria  hatte  ich  auf  dem  Kleinseitner 
Gymnasium  keine  Zeit  mehr.  Zwar  die  Stunden,  die  der 
weitere  Weg  kostete  —  der  wundervolle  Weg  an  der 
Teynkirche  vorbei  und  am  alten  Rathaus,  über  den 
kleinen  Ring  und  die  Jesuitengasse,  über  die  herrliche 
Nepomukbrücke  und  die  untere  Spornergasse  —  mach- 
ten dem  jungen  Burschen  nicht  viel  aus. 

Aber  die  Zeit  war  gekommen ;  es  war  Mode  in  un- 
serer Klasse,  oder  wenigstens  in  einem  kleinen  Kreise 
von  Gleichgesinnten,  sich  zu  verlieben  und  zu  dichten. 
Ich  schwärmte  besonders  für  die  Musikschülerinnen, 
die  ich  täglich  auf  meinem  Schulwege  traf ;  zwei  oder 
drei  von  ihnen  kannte  ich  persönlich,  für  die  übrigen 
schwärmte  ich  noch  viel  ausgiebiger.  Das  Schwärmen 
war  nicht  zeitraubend,  das  Gedichtemachen  desto  mehr. 
Bei  mir  fing  es  damals  ernsthaft  an.  Bis  dahin  hatte 
ich  nur  mit  den  tschechischen  Kollegen  um  die  Wette 
gereimt,  um  ihnen  Hochachtung  für  die  deutsche  Sprache 
abzuzwingen.  Auf  den  Einfall,  dieses  Ziel  durch  einen 
Hinweis  auf  Goethe  zu  erreichen,  kam  ich  nicht.  Außer 
diesen  pädagogischen  Sonetten  hatte  ich  nur  gelegentlich 
Epigramme  geschmiedet.  Jetzt  aber  wurde  nicht  mehr 
für  die  Kameraden  gedichtet,  sondern  für  die  Unsterb- 
lichkeit. Man  drückte  noch  die  Schulbank,  hatte  sie  noch 
für  einige  Jahre  zu  drücken,  war  aber  der  Mann,  durch 
Verse  die  Welt  zu  erobern  und  nebenbei  durch  den  In- 
halt der  Verse  die  Welt  auf  den  Kopf  zu  stellen  f  die 
Könige  und  die  Priester  zu  verjagen.  Wir  Dichter,  Schau- 
spieler und  Weltverbesserer  fanden  uns  aus  verschie- 

100 


denen  Klassen  zusammen  und  gründeten  einen  heim- 
lichen Verein. 

Es  war  eine  der  ersten  Enttäuschungen  meines  Le- 
bens, die  wahrscheinlich,  die  ich  am  schwersten  trug, 
da  ich  erfahren  sollte,  daß  es  diesen  Dichtern  und  Welt- 
verbesserern, ja  selbst  den  Schauspielern,  nicht  so  hei- 
liger Ernst  um  unsere  Sache  war,  wie  —  ich  muß  es  so 
sagen  —  wie  mir.  Zwei  Dichter  lasen  einige  kaum  ab- 
geänderte Gedichte  von  Bürger  und  sogar  von  Goethe 
als  ihre  eigenen  Erzeugnisse  vor;  ertappt,  behauptete 
einer,  er  habe  unsere  Belesenheit  auf  die  Probe  stellen 
wollen.  Ein  Schauspieler  hatte  einmal  die  Stirn,  eine 
kleine  Rolle,  weil  sie  zu  klein  war,  abzulehnen.  Der 
Weltverbesserer  tastete  unser  Vereinsvermögen  an  oder 
wurde  doch  dieser  Tat  verdächtigt;  von  2  Gulden  und 
40  Kreuzern  fehlte  beinahe  die  Hälfte.  Ich  soll  der  Wil- 
deste gewesen  sein,  wenn  es  galt,  einen  solchen  ,, Ehr- 
losen** aus  dem  Verein  zu  entfernen.  Immer  wieder 
glaubte  ich,  jetzt  wären  wir  Idealisten  ganz  unter  uns ; 
und  immer  wieder  störten  Realitäten* 

Wir  spielten  Theater,  tranken  Bier  und  vergeudeten 
furchtbar  viel  Zeit.  Auch  gaben  wir  eine  Zeitung  heraus, 
die  in  der  einzigen  Handschrift,  in  welcher  sie  zu  lesen 
war,  noch  heute  in  meinem  Besitze  ist.  Es  muß  zum 
Schreien  gewesen  sein.  Meine  Darstellung  des  Mephisto 
gab  zu  Kritiken  und  Antikritiken  Anlaß.  Wir  spielten 
für  gewöhnlich  nur  solche  Szenen,  in  welchen  Männer 
allein  auftraten,  aus  Schiller  und  Körner.  Nur  einmal, 
für  das  Stiftungsfest,  wurde  ein  Akt  der  Jungfrau  von 
Orleans  einstudiert.  Die  Jungfrau  wurde  heiß  umwor- 
ben. Aber  unsere  Grundsätze  duldeten  nichts  Ungebühr- 
liches; wenn  doch  etwas  Ungebührliches  passiert  sein 
sollte,  so  müßte  es  ge'gen  unsere  Grundsätze  passiert  sein. 

lOI 


Ich  darf  sagen,  daß  meine  Grundsätze  besonders  ri- 
goristisch  waren  und  daß  ich  in  diesem  Vereine  mit  kin- 
discher Altklugheit  eine  Weltfrage  nach  der  andern  zu 
lösen  suchte.  Meine  freien  Vorträge  stürmten  den 
Himmel  und  machten  Eindruck,  trotzdem  ich  ein  elen- 
der Sprecher  war  (und  geblieben  bin) ;  meine  Beiträge 
für  die  Zeitschrift  waren  weise,  phantastisch  und  dumm. 
Meine  Kritiken  der  Theaterspielerei  waren  unerbitt- 
lich streng.  Der  den  Liebhaber  in  Körners  Zriny  ge- 
spielt hatte,  forderte  mich  einmal  für  eine  solche  Kritik ; 
aber  er  schwankte  so  lange  zwischen  Pistolen  und  krum- 
men Säbeln  (Zriny!),  daß  die  Sache  gütlich  beigelegt 
werden  konnte. 

Mein  Interesse  für  den  Verein  nahm  ein  jähes  Ende, 
als  ich  die  Entdeckung  machte,  daß  die  meisten  von 
uns  ihre  Beiträge  für  die  Zeitschrift  abgeschrieben  hat- 
ten; sie  stahlen  wie  die  Raben;  merkwürdig  nur,  daß 
sie  immer  so  dummes  Zeug  stahlen.  Ich  verlangte  ein 
furchtbares  Gericht  über  die  Schuldigen;  und  als  ich 
meinen  Willen  gegen  die  Mehrheit  nicht  durchsetzen 
konnte,  legte  ich  meine  zahlreichen  Amter  nieder  und 
trat  aus. 

Ich  hatte  es  ehrlich  gemeint.  Jetzt  war  ich  wieder 
ganz  einsam  und  dichtete  im  größten  Stile  drauf  los. 
Auch  übersetzte  ich  aus  allen  möglichen  Sprachen.  Daß 
ich  Heines  Lieder  ins  Altgriechische  zu  übersetzen  ver- 
sucht habe,  ist  schon  berichtet  worden;  ich  übersetzte 
aber  auch  den  angeblich  Homerischen  Froschmäusler 
ins  Deutsche  und  ganze  Dramen  von  Sophokles.  Ich 
übersetzte  aus  den  modernen  Sprachen,  sobald  ich  das 
Original  entziffern  konnte.  Ich  übersetzte  aus  dem 
Sanskrit.  Nur  aus  dem  Ägyptischen  übersetzte  ich  nicht ; 
mich  hielt  wahrscheinlich  ein  guter  Instinkt  zurück. 

102 


Doch  ich  dichtete  auch  selbständig ;  meine  Vorbilder 
waren  sicherlich,  wenn  ich  aufmerksam  zurückblicke, 
Byron  und  Lenau.  Am  weitesten  gedieh  ein  großes 
phantastisches  Epos  ,, Merlin" ;  ich  benützte  die  Le- 
gende, der  berühmte  Zauberer  wäre  der  Sohn  des  Teu- 
fels und  einer  Nonne  gewesen,  zu  einer  verwegenen 
Komposition;  Merlin  war  der  Sohn  der  Nonne  Maria 
und  des  unheiligen  Geistes ;  Merlin  war  nach  dem  Wil- 
len des  Schicksals  auf  die  Welt  gekommen,  um  das 
Christentum  zu  vernichten;  seine  Aufgabe  scheitert 
daran,  daß  Merlin  Jesus  Christus  lieben  muß,  sobald  er 
ihn  gesehen  hat.  Auch  der  Entwurf  zu  einem  Drama 
,,Ahasverus  und  Christus**  stammt  aus  nicht  viel  späte- 
rer Zeit;  das  Drama  war  viel  kirchenfeindlicher  als 
das  Epos ;  Ahasverus  liebt  und  versteht  Jesus  tiefer  und 
besser  als  die  andern  (ich  werde  wohl  unbewußt  von 
Goethe  und  von  Hebbel  allerlei  angenommen  haben) ; 
da  er  nach  der  Kreuzigung  Zeuge  wird,  wie  Petrus  und 
Paulus  um  das  geistige  Gewand  des  Heilands  würfeln, 
beschließt  er  aus  eigener  Kraft :  so  lange  zu  leben,  bis 
das  Christentum  vernichtet  ist. 

Ich  habe  durchgeblättert,  was  von  diesen  und  andern 
alten  Plänen  noch  vorhanden  ist ;  noch  vorhanden,  weil 
ich  selten  so  ordnungsliebend  war,  wertlose  Papiere  ins 
Feuer  zu  werfen.  Wertlos,  ja;  starke  Anläufe  wechseln 
mit  platten  Gemeinplätzen  ab,  kühne  Gedanken  mit 
elenden  Geistreichigkeiten ;  und  dichterische  Gestal- 
tungskraft fehlt  vielleicht.  Und  dennoch :  wenn  ich  einen 
verständigen  Lehrer  gehabt  hätte,  wenn  ich  in  meinem 
achtzehnten  Jahre  einem  Lehrer  mich  hätte  anver- 
trauen dürfen,  ihm  diese  Entwürfe  zeigen  dürfen,  der 
Mann  hätte  sagen  müssen :  dieser  Bursche  gehört  nicht 
mehr  auf  die  Schulbank. 

103 


lllllllllllilllllilillllllllllllllllllllllllilllllllllllllllllllliililllllllHIIH 


XL  Übergang. 

Meine  Sehnsucht  nach  dem  Besuche  der  Universität 
war  so  tief,  meine  Erwartungen  waren  so  groß,  daß  ich 
meine  Geistesverfassung  einem  Leser  aus  der  heutigen 
nüchternen  Welt  kaum  begreiflich  machen  kann.  Auf 
der  Schule  durfte  ich  ja  im  deutschen  Aufsatze  meinem 
Herzen  nicht  Luft  machen;  denn  über  dem  deutschen 
Aufsatze  lag  der  religiöse  Zwang.  Ich  wurde  schon  ge- 
tadelt, wenn  ich  pantheistische  Anwandlungen  verriet. 
Ich  aber  war  schon  seit  meinem  fünfzehnten  Jahre  in 
die  Pubertätszeit  eines  kriegerischen  Atheismus  ein- 
getreten. Der  liebe  Gott  war  mein  persönlicher  Feind 
geworden.  Dazu  kam  nach  dem  Kriege  ein  politischer 
Radikalismus  von  bedenklicher  Röte.  Irgendwo  hatte 
ich  den  Satz  aufgeschnappt,  man  müßte  den  letzten 
König  an  den  Gedärmen  des  letzten  Pfaffen  aufhängen ; 
ich  beneidete  den  unbekannten  Präger  dieses  Spruches. 
Ich  wollte  vom  Fleck  weg  mit  der  Umwälzung  anfan- 
gen und  fühlte  doch,  daß  ich  das  erst  als  richtiger  Stu- 
dent tun  konnte.  Mit  herzbrechendem  Neide  sah  ich  auf 
die  jungen  Leute,  die  schon  rote  oder  grüne  Mützen 
trugen  und  in  dem  alten  Universitätsgebäude,  welches 
ich  oft  in  der  Dunkelheit  umschlich,  die  Wahrheit  ken- 
nen lernten,  die  heilige  und  unentweihte  Wissenschaft, 
die  man  uns  vorenthielt.  Diese  Studenten  sah  ich  im 
Geiste  allabendlich  nach  der  Kneipe  laufen,  um  dort 

104 


nichts  anderes  zu  tun,  als  Schwüre  ablegen  für  Pfaffen- 
ausrottung und  Tyrannenkampf.  Hie  und  da,  wenn  so 
ein  Student  es  nicht  sehen  konnte,  nahm  ich  andächtig 
die  Mütze  vor  ihm  ab.  Und  mit  Erbitterung  ahnte  ich 
es,  daß  ich  die  verlorenen  Jahre  niemals  würde  einholen 
können,  daß  ich  zu  spät  in  den  Tempel  der  Wahrheit 
eintreten  würde. 

,,Zu  spät.  Es  wird  mir  so  gehen,  wie  es  mir  mit  dem 
ersehnten  Kleinseitner  Gymnasium  ergangen  ist.  Ich 
komme  immer  zu  spät.  Und  darum  fühle  ich  mich  jetzt 
auf  der  Schule  so  unglücklich,  die  ich  mir  doch  erwählt 
habe.'^ 

Die  Schulkameraden  und  die  meisten  Lehrer  trugen 
keine  Schuld  an  meiner  unglücklichen  Stimmung.  Sie 
waren  eigentlich  sehr  lieb  zu  mir.  Ich  bildete  mir  sogar 
ein,  daß  ich  eine  Art  von  Ausnahmestellung  in  der 
Klasse  hatte.  Meine  griechischen  Heinelieder  gingen 
von  Hand  zu  Hand,  und  nachdem  das  erste  Mißtrauen 
überwunden  war  —  daß  ich  nämlich  ebenso  abschrieb 
wie  andere  Schöngeister  der  höheren  Klassen  — ,  da  be- 
kam ich  als  Anerkennung  einige  wohlwollende  Spitz- 
namen. Meine  Schülereitelkeit  wurde  auch  sonst  voll- 
auf befriedigt;  daher  konnte  meine  Stimmung  nicht 
kommen.  Etwas  Weltschmerz  der  Entwicklungsjahre 
war  natürlich  dabei.  Aber  das  Schlimmste  war  doch  die 
ewige  Sorge :  ich  würde  zu  spät  auf  die  Universität  kom- 
men, wie  ich  immer  zu  spät  gekommen  war.  Sicherlich 
behandelte  ich  mich  zu  liebevoll  und  beschönigte  meine 
Unfähigkeit,  mich  allen  Ansprüchen  der  Schule  zu 
fügen,  mit  dem  alten  Unrecht,  das  in  der  Klippschule 
an  mir  verübt  worden  war.  Aber  die  Empfindung  und 
die  Sorge  waren  nicht  unberechtigt.  Immer  klarer  wurde 
mir,  daß  ein  ähnliches  Verbrechen  wie  das,  unter  wel- 

105 


chem  ich  noch  litt,  an  allen  begabten  Gymnasiasten 
mehr  oder  weniger  begangen  wurde.  Die  Aufgabe  der 
Schule  war  für  Durchschnittschüler  berechnet  und 
wurde  noch  viel  kleiner,  damit  auch  solche  mitkommen 
konnten,  die  unter  dem  Durchschnitt  waren.  Und  keine 
Möglichkeit,  auf  Grund  hervorragender  Leistungen 
auch  nur  ein  Jahr  zu  überspringen. 

Ich  war  sehr  lang  aufgeschossen,  hatte  schon  ein 
schwarzes  Schnurrbärtchen  und  hatte  immer  noch  nichts 
für  die  Unsterblichkeit  getan ;  ich  hatte  nämlich  meine 
Maturitätsprüfung  noch  nicht  abgelegt.  Als  das  endlich 
und  doch  ganz  pünktlich  im  Sommer  1869  geschehen 
war,  ganz  ehrenvoll  übrigens,  hatte  ich  das  Gefühl  eines 
Mannes,  der  unschuldig  im  Kerker  gesessen  hat  und  zu 
spät  seine  Freiheit  wiederbekommt.  Und  nicht  einmal 
meine  Freiheit  erhielt  ich ;  denn  ich  durfte  die  Univer- 
sität nur  besuchen,  um  Jura  zu  studieren  und  Advokat 
zu  werden.  Die  Wahl  eines  freien  Berufes  galt  für  den 
Sohn  einer  achtbaren  Familie  für  unmöglich.  Eine 
Neigung  haben?  Warum  nicht.  Ihr  folgen?  Um  in  der 
Gosse  zu  krepieren.  Ich  konnte  mich  als  ein  freier 
Schriftsteller  schon  auf  ganz  hübsche  Erfolge  berufen, 
als  die  stilleren  oder  lauteren  Vorwürfe  über  meinen 
ungehörigen  Beruf  noch  nicht  aufhörten.  Selbst  von 
Seiten  meiner  lieben  Mutter  nicht,  die  doch  sonst  oft 
sagte,  die  Bücher  wären  ihre  einzigen  Freunde  und 
Tröster. 

Das  Kriegs  jähr  hatte  meinem  Vater  sein  ganzes  be- 
scheidenes Vermögen  gekostet ;  der  Bankerott  von  Ver- 
wandten, denen  er  vertraut  hatte,  nahm  ihm  alles 
außer  der  kaufmännischen  Ehre.  Meine  älteren  Brüder 
waren  auch  schon  ohne  jede  Unterstützung  in  die  Welt 
hinausgegangen,  um  sich  selbst  eine  Stellung  zu  er- 

106 


kämpfen.  Mein  Vater  erholte  sich  von  dem  Schlage 
nicht  wieder;  er  wurde  krank.  Nun  war  es  ganz  ge- 
recht von  ihm,  daß  er  die  Erlaubnis,  ich  dürfte  stu- 
dieren, wieder  zurücknahm  und  mich  dazu  bringen 
wollte,  ebenfalls  Kaufmann  zu  werden  und  sofort  als 
Kommis  mein  Brot  zu  verdienen.  Mein  passiver  Wider- 
stand hätte  mir  diesmal  nicht  viel  geholfen.  Aber  meine 
Mutter  und  meine  Schwester  Marie,  die  meine  literari- 
schen und  wissenschaftlichen  Fähigkeiten  oder  Nei- 
gungen sehr  hoch  einschätzten,  nahmen  sich  meiner 
an  ;'^^  der  Familienbeschluß,  daß  ich  weiter  studieren 
und  Rechtsanwalt  werden  sollte,  war  also  ein  Kompro- 
miß zwischen  der  Notlage  meines  Vaters  und  meinen 
Wünschen.  Ich  hätte  sehr  dankbar  sein  müssen,  wenn 
auch  der  Beruf  eines  Rechtsanwalts  mir  just  damals 
noch  weniger  ideal  erschien  als  der  eines  Kaufmanns 
und  ich  „den  Flügelschlag  einer  freien  Seele**  sehr  laut 
rauschen  hörte.  Aber  ich  war  nicht  dankbar  und  nicht 
ehrlich ;  ich  dachte  nicht  einen  Augenblick  daran,  Ad- 
vokat zu  werden.  Doch  die  Hauptsache  schien  gewon- 
nen; das  freie  akademische  Studium  für  die  nächsten 
Jahre.  Nur  daß  bei  meiner  Naturanlage  der  Betrug  ge- 
gen meinen  Vater  schwer  auf  mir  lastete ;  und  daß  ich 
die  Pflicht  fühlte  —  wie  später  als  Journalist  so  lange  — 
ein  Doppelleben  zu  führen,  doppelte  Arbeit  zu  leisten : 
Jura  zu  studieren  und  daneben  mit  ganzer  Kraft  Philo- 
sophie und  Kunstgeschichte  und  Medizin  und  leider 
auch  Theologie.  Die  juristischen  Fächer  mußte  ich  be- 
legen, die  Professoren  mußte  ich  hören,  wenn  ich  nicht 
nach  dem  vierten  Semester  beim  rechtshistorischen 
Staatsexamen  durchfallen  wollte.  So  marterte  mich  der 
mir  aufgezwungene  Beruf  vom  ersten  Tage  an  und  ich 
geriet   immer   tiefer   in   einen   ziemlich   individuellen 

107 


Weltschmerz  hinein.  Als  ich  etwa  drei  Jahre  später 
Schopenhauer  kennenlernte,  überwältigte  mich  sein 
Scharfsinn  und  seine  Sprachkraft;  aber  sein  Welt- 
schmerz bot  mir  nichts  Neues.  Ich  war  als  ein  fast 
zwölfjähriger  Knabe  auf  das  Gymnasium  gekommen  mit 
den  Zielen  eines  idealen  Studenten;  ich  kam  jetzt  als 
ein  fast  zwanzigjähriger  Mensch  auf  die  Universität  als 
ein  Pessimist,  als  ein  Zerrissener,  als  ein  Nihilist. 

Bevor  ich  aber  meine  Erinnerungen  an  die  Prager 
Universität  —  eine  andere  habe  ich  als  Student  nicht 
kennengelernt  —  niederschreibe,  möchte  ich  einige 
ganz  besondere  Erfahrungen  meiner  Schulzeit  im  Zu- 
sammenhange aufhellen;  meine  Stellung  zur  Religion 
und  zu  der  nationalen  Frage  stellte  mich  abseits  von 
dem,  was  ein  christlicher  Deutscher  in  seiner  Schulzeit 
zu  erleben  pflegt.  Meine  Darstellung  wird  dadurch  nicht 
typischer  werden,  aber  persönlicher. 

Vorher  noch  ein  Wort  darüber,  warum  ich  auch  die 
Disziplin  des  Heeres  nicht  kennengelernt  habe :  warum 
ich  nicht  Soldat  wurde,  auch  nicht  Einjähriger.  Eine  all- 
gemeine Wehrpflicht  wie  in  Preußen  hatte  es  in  Öster- 
reich nicht  gegeben ;  bei  der  Rekrutierung  entschied  zu- 
letzt das  Los,  und  die  Söhne  reicher  Leute  konnten  sich 
vom  allgemein  gehaßten  Militärdienste  gesetzlich  los- 
kaufen, ganz  abgesehen  von  den  zahlreichen  Fällen,  in 
denen  per  nefas  eine  Befreiung  erzielt  wurde.  Nach 
dem  für  Österreich  unglücklichen  Kriege  von  1866  wur- 
den die  preußischen  Einrichtungen  nachgemacht.  Ge- 
rade in  meinem  zwanzigsten  Jahre,  kurz  vor  meiner 
Maturitätsprüfung,  wurde  auch  das  Institut  der  Ein- 
jährig-Freiwilligen eingeführt.  Wir  freuten  uns,  die  Pi- 
oniere der  neuen  Zeit  zu  sein,  wir  freuten  uns  auf  die 
schmucke  Uniform  und  meldeten  uns  alle,  etwa  fünf- 

Z08 


unddreißig  Burschen,  bei  dem  gleichen  Regimente,  wel- 
ches—  ich  weiß  nicht  mehr  warum  —  uns  das  liebste 
war.  Da  kamen  wir  aber  schön  an ;  der  Bericht  wird 
preußischen  Lesern  seltsam  erscheinen.  Der  Oberst  war 
kein  Freund  von  Neuerungen  und  erklärte  einfach,  er 
wollte  in  seinem  Regimente  keinen  Einjährigen  haben. 
Da  aber  mit  dem  Gesetze  nicht  zu  spaßen  war,  so  er- 
klärte sein  Militärarzt  uns  fünfunddreißig  Burschen  alle 
miteinander  für  untauglich,  auch  die  kräftigsten  unter 
uns.  Ich  muß  bekennen,  daß  meine  Untauglichkeit  auf 
Grund  eines  körperlichen  Gebrechens  festgestellt  wurde: 
mein  rechtes  Bein  ist  noch  länger  als  das  linke.  Ich  war 
immer  ein  sehr  guter  Fußgänger  gewesen ;  aber  der  Arzt 
hatte  wohl  recht,  wenn  er  behauptete,  ich  würde  nicht 
gerade  schön  in  Reih  und  Glied  marschieren  können. 
Wir  beruhigten  uns  bald  bei  dem  Bescheide.  Nur  ein 
einziger  von  uns  hatte  die  Energie,  oder  sein  Vater  hatte 
die  Eitelkeit,  den  Eintritt  bei  einem  andern  Regimente 
durchzusetzen.  Der  arme  schwächliche  Junge  wurde 
Leutnant,  machte  die  Okkupation  von  Bosnien  mit  und 
starb  dort  am  Typhus. 


109 


XII.  Konfession. 

Wichtiger  als  die  Tatsache,  daß  ich  die  Kaserne  nicht 
kennenlernen  sollte,  waren  für  mich  die  beiden  Um- 
stände, die  mein  Schülerdasein  von  dem  irgendeines 
andern  deutschen  Jungen  unterschieden:  ich  war  Jude 
und  ich  lebte  als  deutscher  Knabe  in  einem  slawischen 
Lande.  Ich  muß  wirklich  auf  beide  Umstände  ein  wenig 
eingehen. 

Ich  war  von  Abstammung  Jude,  Jude  aus  einem 
nordöstlichen  Winkel  Böhmens,  und  habe  doch  jüdi- 
sche Religion  und  jüdische  Sitten  eigentlich  niemals 
kennengelernt;  höchstens  häufiger  als  ein  deutsches 
Kind  die  jüdische  Sprechweise  und  Mauschelausdrücke 
gehört.  Mein  Elternhaus  stand  dem  jüdischen  Wesen 
fremd  gegenüber.  Ich  war  in  der  seltenen  und  fast  ein- 
zigen Lage,  daß  schon  meine  beiden  Großväter  in  einer 
Zeit,  da  die  Juden  kaum  dem  Ghetto  zu  entwachsen  an- 
fingen, sich  vom  Judentum  so  gut  wie  losgelöst  hatten, 
der  eine  durch  sein  Leben  praktisch,  der  andere  als  jun- 
ger Mann  auch  offiziell.  Der  Vater  meines  Vaters  hatte 
gegen  die  Gesetze  seiner  Zeit  und  durch  besondere  kai- 
serliche Erlaubnis  so  etwas  wie  ein  Rittergut  mit  einem 
Schlosse  erworben,  nicht  gar  weit  von  Königgrätz  an 
der  Elbe ;  dort  imitierte  er  mit  seiner  viel  Jüngern  Frau 
das  Leben  eines  vornehmen  Land  Junkers,  verkehrte  mit 
Juden  nur  geschäftlich  und  hauste  so  adelig,  daß  nach 

iio 


seinem  Tode  das  Gut  versteigert  werden  mußte  und 
seine  beiden  Söhne  als  arme  Teufel  zurückblieben.  So 
viel  ich  auch  zurückdenke,  ich  kann  mich  nicht  erin- 
nern, meinen  Onkel  oder  meinen  Vater  auf  der  Übung 
eines  jüdischen  Gebrauchs  ertappt  zu  haben.  Nach  jüdi- 
scher Anschauung  ist  Zugehörigkeit  zum  Judentum 
ohne  Kenntnis  der  hebräischen  Sprache  nicht  denkbar ; 
mein  Vater  aber  kannte  keinen  hebräischen  Buchstaben. 
An  hohen  jüdischen  Feiertagen  pflegte  er  mit  einem 
gewissen  Selbstvorwurfe  zu  sagen:  ,,Ihr  wachst  ja  auf 
wie  die  Heiden** ;  darin  bestand  die  ganze  religiöse  Er- 
ziehung, die  er  uns  zuteil  werden  ließ.  Als  ich  einmal 
die  alten  Zeremonien  des  jüdischen  Osterfestes  kennen- 
lernen wollte,  mußte  ich  mich  ja  für  den  Vorabend  des 
Passahfestes  von  einem  alten  Verwandten,  einem 
Schwager  meiner  Mutter,  dazu  einladen  lassen;  ich 
habe  so  einen  der  hübschesten  und  ältesten  jüdischen 
Bräuche  nur  das  eine  Mal  kennengelernt  und  ganz  so 
neugierig  wie  ein  Außenstehender .  Wie  ein , ,  Goj  *  *  (Christ) 
hätte  ich  dabeigesessen,  sagte  dieser  Onkel  nachher. 

Der  Vater  meiner  Mutter  gar,  der  steinalte  Mann,  der 
wohl  einer  Lebensbeschreibung  wert  wäre,  war  schon 
als  Jüngling,  gegen  Ende  des  i8.  Jahrhunderts,  der 
Sekte  der  Frankisten  beigetreten,  die  ihre  Anhänger 
aus  kabbalistischen  oder  abtrünnigen  Juden  rekrutierte 
und  irgendeinen  neuen  Messias  erwartete  oder  glaubte, 
einen  Vollender  von  Jesus  Christus.  Mein  Großvater 
soll  in  dieser  militärisch  organisierten  Sekte  (auf  dem 
Schlosse  Franks  in  Offenbach  am  Rhein)  Offizier  ge- 
wesen sein  und  nach  dem  Ende  der  Bewegung  die  Do- 
kumente und  auch  das  Bild  der  ,, Königin*'  in  Verwah- 
rung gehabt  haben.  Die  Sekte  wurde  dann  öfters  hart 
verfolgt,    in  Rußland  wie  in  Österreich;    mein  Groß- 

III 


vater  kehrte  in  seine  Heimat  zurück  und  lebte  von  da 
ab  als  Religionsspötter,  wenn  er  es  auch  für  schicklich 
hielt,  an  hohen  Festtagen  die  Synagoge  zu  besuchen. 
In  der  kleinen"} udengemeinde  von  Horzitz  galt  er  für 
einen  Gelehrten,  für  einen  Freigeist,  für  einen  Ketzer. 
Als  er  im  Patriarchenalter  1876  starb,  folgten  seiner 
Leiche  ein^^Rabbiner,  aber  auch  ein  katholischer  und 
ein  protestantischer  Geistlicher^). 

Mein  Elternhaus  war  eigentlich  konfessionslos.  Ich 
bin  erst  als  Mann  offiziell  aus  der  jüdischen  Religions- 
gemeinschaft ausgetreten,  ohne  mich  zu  einer  andern 
Religion  zu  bekennen.  Es  war  mir  lästig  geworden,  daß 
nach  jeder  Volkszählung  irgendein  Schutzmann  An- 
stoß daran  nahm,  wenn  ich  die  Rubrik  Religion  nicht 
ausfüllte.  Auch  diesen  Schritt  fand  meine  alte  Mutter 
einfach  selbstverständlich.  Sie  war  einigermaßen  stolz 
darauf,  daß  schon  ihr  Vater  kein  gläubiger  Jude  ge- 
wesen war. 

Man  wird  jetzt  besser  verstehen,  was  ich  vorhin  mit 
einer  Klage,  die  mein  Empfinden  nur  ungenügend  aus- 
drücken konnte,  vorgetragen  habe :  daß  mir  zum  Dich- 
ter, der  ich  mich  doch  fühlte,  außer  einer  deutschen 
Mundart,  der  wahren  Muttersprache,  auch  noch  der 
Untergrund  eines  Jugendglaubens  fehlte,  eine  Mutter- 
religion. Mein  Vater  war,  um  es  kurz  und  schroff  aus- 
zudrücken, areligiös,  meine  Mutter  antireligiös.  Der 
Vater  war  buchstäblich  ohne  Kenntnis  irgendeines  Ka- 
techismus aufgewachsen;  er  wird  das  Dasein  irgend- 
eines Gottes,  über  dessen  Namen  er  sich  sicherlich  nicht 
klar  war,  etwa  so  angenommen  haben,  wie  er  überzeugt 
war,  daß  die  Kinder  ihren  Teller  nicht  zum  zweiten 
Male  gefüllt  bekamen,  wenn  sie  nicht  vorher  ,, Bitte 

I)  Vgl.  Anhang  III. 

112 


noch**  gesagt  hatten.  (Ich  lernte  diese  Bitte  um  das  täg- 
liche Brot  nachsprechen,  bevor  ich  die  Worte  verstand  J 
ich  hielt  sie  lange  für  den  tschechischen  Namen  einer 
Speise;  ich  brachte  sie  etymologisch  mit  Kutzmoch, 
Schusterknödel,  in  Zusammenhang.)  Der  Vater  hatte 
solche  Überzeugungen  von  dem,  was  sich  schickte ; 
Glaube  an  irgendeinen  Gott  war  ihm  Wohlanständig- 
keit wie  etwa  den  Engländern.  Da  der  Vater  aber  nie- 
mals ein  Wort  oder  einen  Begriff  der  jüdischen  Religion 
über  die  Lippen  brachte,  möchte  ich  fast  glauben,  daß 
sein  Gottesbegriff  irgendwie  (nicht  auf  Grund  von  Lek- 
türe) dem  höchsten  Wesen  eines  christlichen  Deismus 
entsprochen  habe.  Die  Mutter  dagegen  wußte  viel  vom 
Judentum  zu  erzählen,  von  den  Zeremonialgeboten  und 
von  dem  Scharfsinn,  der  Schlauheit  und  dem  Geschäfts- 
geiste der  Rabbiner;  sie  erzählte  solche  Geschichten 
als  wie  Legenden  aus  einer  vergangenen  Zeit;  ohne 
Spott  und  selbst  Blasphemien  ging  es  nicht  ab ;  Heine 
wurde  zitiert  und  —  wenn  es  hoch  kam  —  die  Toleranz 
von  Lessings  Nathan.  Ich  darf  wohl  annehmen,  daß  wir 
Kinder  von  ihr  die  Ketzereien  zu  hören  bekamen,  die 
der  Großvater  ihr  als  seinen  Religionsunterricht  über- 
liefert hatte.  Das  Judentum  war  die  einzige  Religion, 
die  sie  kannte,  und  der  brachte  sie  keine  Achtung 
entgegen. 

In  solchen  Traditionen  aufgewachsen,  wußte  ich  bis 
zu  meinem  achten  Lebensjahre  kaum,  was  das  bedeu- 
tete, daß  wir  Juden  waren.  Ich  kann  nicht  sagen,  ob  es 
ein  Wunsch  meines  Vaters  war ;  jedenfalls  gehörte  Re- 
ligion und  Bibellesen  nicht  zu  dem  Lehrplane  unseres 
Hofmeisters.  Der  Staat  aber  schützt  die  Religion  in 
jeder  Gestalt,  schützt  auch  die  Judenschule,  und  so 
hatte  ich  auch  ,, jüdische  Religion**  nachzuholen,  als 

8  113 


ich  auf  die  Klippschule  kam,  wo  mir  die  drei  Jahre  ge- 
stohlen wurden.  Unter  ,, jüdischer  Religion**  verstand 
man  aber  nach  altasiatischer  Vorstellung  nicht  irgend- 
welchen Religionsunterricht,  sondern  einzig  und  allein 
Kenntnis  des  Hebräischen  und  Lesen  der  Bibel.  Als  ich 
diese  Schule  betrat,  hatte  ich  keine  Ahnung  von  einem 
hebräischen  Buchstaben;  ein  Jahr  später  konnte  ich 
im  Hebräischen  ebenso  vorgeritten  werden  wie  beim 
Aufsagen  der  tschechischen  Bürgschaftübersetzung. 
Bei  den  außerordentlichen  Schwierigkeiten  der  hebräi- 
schen Sprache  und  bei  dem  völlig  unwissenschaftlichen 
Betriebe  des  Unterrichts  konnte  es  sich  gar  nicht  um 
ein  Eindringen  in  den  Geist  der  Sprache  handeln,  son- 
dern nur  um  Gedächtniskram. 

Die  wissenschaftliche  Erforschung  der  hebräischen 
Sprache  ist  erst  nicht  jüdischen  Gelehrten  gelungen ;  jü- 
dische Gelehrte,  die  etwas  leisten  wollten,  hatten  die  jü- 
dische Tradition  verlassen  müssen.  Ich  bedaure  sehr, 
daß  ich  diese  allzu  rasch  erworbenen  Kenntnisse  ebenso 
rasch  wieder  eingebüßt  habe;  was  ich  vom  Baue  der 
semitischen  Sprachen  später  für  meine  Arbeiten  brauchte, 
habe  ich  ganz  neu  lernen  müssen. 

Schlimmer  war  es,  daß  mir  auch  religiöse  Kämpfe 
nicht  erspart  wurden,  als  diese  jüdischen  Kenntnisse 
so  plötzlich  auf  mich  niederdroschen.  Ich  machte  die 
Entdeckung,  daß  ich  ein  Jude  war,  und  meine  leiden- 
schaftliche Seele  verführte  mich,  die  fünfhundert  oder 
siebenhundert  Gebote  und  Verbote,  die  der  Rabbinis- 
mus  aus  der  Bibel  gezogen  hat,  ernst  zu  nehmen.  Ich 
wollte  ein  frommer  Jude  werden,  um  die  Seelen  meines 
Vaters  und  meiner  Mutter  zu  retten.  Ich  habe  diese 
kindischen  Kämpfe  einmal  darzustellen  gesucht,  in  dem 
Tagebuche  des  Helden,  das  man  in  meinem  Romane 

114 


„Der  neue  Ahasver**  nachlesen  kann,  wenn  man  mag. 
Das  Tagebuch  habe  ich  erst  für  diesen  Roman  nieder- 
geschrieben, und  so  ist  es,  wenn  man  will,  erfunden; 
aber  meine  religiösen  Kämpfe  sind  darin  (wie  zu  meiner 
Freude  schon  Wilhelm  Scherer  bemerkt  hat)  eigent- 
lich ganz  getreu  und  realistisch  erzählt^).  Ich  will  nicht 
wiederholen,  wie  ich  viele  Monate  lang  in  unserem 
völlig  religionslosen  Hause  die  jüdischen  Zeremonial- 
gesetze  (deren  Sinnlosigkeit  mir  doch  wieder  nicht  ent- 
ging) heimlich  zu  beobachten  suchte,  wie  ich  dann 
durch  den  Umgang  mit  meinen  katholischen  Mitschü- 
lern dazu  kam,  Jehova  mit  Jesus  zu  vertauschen,  wie 
ich  in  allen  katholischen  Kirchen  herumkniete,  in- 
brünstig die  Heiligen  aller  Kapellen  um  ein  Wunder 
bat,  wie  ein  Lehrer,  der  meinen  Zustand  erkannt  hatte, 
mich  in  die  glänzenden  Predigten  des  Jesuiten  Klinkow- 
ström  schickte,  wie  mich  dieser  Pater  dazu  brachte,  zu- 
erst einige  Kirchenväter  und  dann  Kirchengeschichte 
zu  studieren,  wie  ich  nach  einem  eifrigen  aber  sehr 
dilettantischen  Katholizismus  von  zwei  Jahren,  nach 
einer  flüchtigen  und  nicht  ganz  religiösen  Begeisterung 
für  Luther  endlich  in  meinem  fünfzehnten  Jahre  als 
wütender  Atheist  kirchenfeindlich  wurde.  Diese  Gesin- 
nung hat  dann  etwas  länger  vorgehalten;  ich  bin  alt 
geworden,  bevor  ich  einsehen  lernte,  daß  unsere  Zeit 
zu  ruhig  gottlos  ist,  um  noch  so  recht  kirchenfeindlich 
sein  zu  dürfen. 

Ich  kann  sagen,  daß  ich  als  ein  auf  eigene  Faust 
gläubiger  Jude,  als  ein  auf  eigene  Faust  wundersüch- 
tiger Katholik  und  dann  als  jugendlicher  Freigeist  in 
gleicher  Weise  empört  war  über  die  Art,  in  welcher  uns 
auf  dem  Gymnasium  jüdischer  Religionsunterricht  er- 

I)  Vgl.  Anhang  IV. 

8*  115 


teilt  wurde.  9d  etwas  wie  Religionsunterricht  für  die 
jüdischen  Schüler  gab  es  nämlich,  das  verlangte  der 
Staat,  der  Schützer  der  Judenschule.  Der  Unterricht 
wurde  sämtlichen  jüdischen  Schülern  der  drei  Gymna- 
sien und  der  Realschule  klassenweise  gemeinsam  er- 
teilt, von  einem  einzigen  Lehrer ;  ganz  ähnlich  und  mit 
ganz  ähnlichen  Mißbräuchen  war  der  Religionsunter- 
richt für  die  Protestanten  eingerichtet.  Nur  die  katho- 
lische Religion  gehörte  zum  Organismus  des  Gymna- 
siums. 

Der  jüdische  Religionsunterricht  war  durchaus  gro- 
tesk. Der  Lehrer  war  ohne  Zweifel  ein  geduldiger  und 
freundlicher  Herr,  der  auf  jüdische  Art  Hebräisch  ver- 
stand. Aber  er  war  in  allen  Dingen,  welche  nach  unserer 
jungen  Gymnasiasten  Weisheit  die  Bildung  ausmachten, 
von  einer  so  blühenden  Unwissenheit,  daß  er  in  unserer 
Achtung  noch  tief  unter  die  schlimmsten  Piaristen  hin- 
absank. Der  Hauptgrund  unserer  Verachtung  war,  daß 
er  als  Philologe  an  einem  Gymnasium  nicht  Latein  ver- 
stand, während  wir  doch  schon  mensa  deklinieren 
konnten.  In  den  höheren  Klassen  erfuhren  wir  dann, 
daß  es  ihm  wirklich  an  jeder  höheren  Kultur  fehlte.  Die 
andern  Lehrer  betrachteten  ihn  nicht  als  ihren  Kolle- 
gen, redeten  ihn  ,,Herr  Adler**  an  und  blickten  mit  dop- 
peltem Hochmut  auf  ihn  hinab ;  und  wir  jüdischen 
Schüler  ahmten  das  Beispiel  nach  und  waren  sehr 
schlecht  gegen  ihn.  Am  liebsten  quälten  wir  ihn  mit 
dem  Namen  Jesu  Christi.  Es  ging  ihm  gegen  sein  Ge- 
wissen oder  gegen  seinen  Glauben,  diesen  Namen  aus- 
zusprechen; und  anstatt  ,,nach  Christi  Geburt"  zu 
rechnen,  sagte  er  jedesmal:  vor  oder  nach  ,,der  jetzt 
üblichen  Zeitrechnung'*.  Wir  ließen  es  uns  nicht  neh- 
men, ebenso  regelmäßig  zu  sagen :  vor  oder  nach  Christi 

ii6 


Ceburt.  Dann  zeigte  sich  auf  seinem  guten  runden  Ge- 
sichte immer  ein  schmerzliches  Lächeln,  als  ob  er  ge- 
zwickt worden  wäre;  aber  er  wagte  es  nicht,  uns  das 
Aussprechen  des  Namens  zu  verbieten. 

Der  jüdische  Unterricht  sollte  doppelt  gegeben  wer- 
den :  in  Religion  und  in  hebräischer  Sprache.  Was  wir 
als  eigentlichen  Religionsunterricht  genossen,  das  war 
eine  Affenschande.  Was  ein  begabtes  Kind  binnen 
Monatsfrist  aufnehmen  kann,  ungefähr  den  Lehrstoff 
von  Luthers  kleinem  Katechismus,  das  hatten  wir  acht 
Jahre  lang  wiederzukäuen.  Es  war  schamlos,  das  kleine 
Lehrbuch  noch  neunzehnjährigen  Burschen  in  die 
Hand  zu  zwingen;  selbst  die  katholische  Kirche  ver- 
langte von  den  Schülern  kein  solches  Opfer  an  Intelli- 
genz, da  sie  doch  dem  Primaner  recht  viel  Dogmenge- 
schichte aufbürdete,  also  immerhin  eine  Fülle  positiver 
Kenntnisse.  Aber  dieser  ganze  theoretische  Religions- 
unterricht war  ja  auch  nicht  ernst  gemeint ;  wir  lernten 
so  etwas  wie  eine  abgestandene  Verdünnung  einer  na- 
türlichen Religion,  der  die  zehn  Gebote  zugrunde  ge- 
legt waren.  Die  jüdische  Religion  hatte  in  Wirklichkeit 
nie  etwas  anderes  verlangt  als:  ,, Lernen*'  der  hebräi- 
schen Bibel. 

Um  den  Unterricht  im  Hebräischen  stand  es  nun 
ganz  anders  als  um  irgendeinen  andern  Lehrgegen- 
stand. Unter  den  jüdischen  Schülern  waren  nämlich 
ziemlich  viele,  die  orthodoxen  Familien  angehörten 
und  denen  darum  seit  ihrer  frühesten  Jugend  die  hebräi- 
sche Sprache  eingebläut  worden  war.  Das  war  ganz  lo- 
gisch vom  Standpunkte  der  jüdischen  Orthodoxie ;  der 
war  und  ist  Kenntnis  der  Bibel  und  des  Talmud  die 
wahre  Wissenschaft.  Mit  diesen  Jungen  nun,  die  übri- 
gens bis^auf  zwei  die  schlimmsten  Racker  der  Klasse 

117 


waren,  konnte  der  Lehrer  nach  Herzenslust  die  Bücher 
des  Alten  Testamentes  lesen,  grammatische  Schnitzel- 
jagd treiben  und  sich  sogar  auf  rabbinische  Kommen- 
tare einlassen.  Wir  andern,  die  wir  bloß  in  der  Schule 
und  für  die  Schule  Hebräisch  gelernt  hatten,  standen 
in  vergnügter  Untätigkeit  daneben.  Ich  für  mein  Teil 
konnte  noch  ungefähr  ein  Jahr  lang  folgen,  solange 
ich  nämlich  meinen  heimlichen  und  närrischen  Glau- 
ben an  Jehova  aufrechtzuerhalten  vermochte;  mit 
meinem  dilettantischen  Katholizismus  erhob  sich  aber 
in  mir  ein  Haß  gegen  das  Alte  Testament  und  gegen  die 
hebräische  Sprache ;  meine  allzu  rasch  eingetrichterten 
Kenntnisse  versickerten  und  plötzlich  war  es  aus  mit 
ihnen. 

So  bestand  unser  jüdischer  Religionsunterricht  aus 
zwei  unzusammengehörigen  Hälften :  aus  der  moralisie- 
renden Religionslehre,  die  für  die  Dümmsten  unter  uns 
zu  dumm  war,  und  aus  einem  Praktikum  der  semiti- 
schen Philologie,  das  manchem  gelehrten  Orientalisten 
noch  Nüsse  aufzuknacken  gegeben  hätte.  Die  wir  uns 
längst  als  jüdische  Deutsche  fühlten  oder  als  deutsche 
Juden,  gewöhnten  uns  mit  den  Jahren  daran,  an  diesem 
Unterrichte  so  selten  wie  möglich  teilzunehmen;  wir 
erlangten  eine  Virtuosität  darin,  die  Religionsstunde  zu 
schwänzen  und  auch  die  ,,Exhorte**,  eine  samstägliche 
lederne  Predigt,  die  uns  den  Gottesdienst  ersetzen  sollte. 
Ich  glaube  versichern  zu  können,  daß  ich  in  den  letzten 
zwei  Gymnasial] ahren  den  jüdischen  Religionslehrer 
nicht  mehr  zu  Gesicht  bekommen  habe. 

Mein  kühner  Entschluß,  der  Religionsstunde  fern- 
zubleiben, folgte  auf  eine  drollige  Disputation  zwischen 
mir  und  dem  guten  Herrn  Adler.  Dieser  hatte  den  Ehr- 
geiz, wirklich  wie  ein  Hochschulprofessor  mit  den  älte- 

ii8 


ren  Schülern  zu  verkehren.  Er  führte  eine  Art  von  Kol- 
loquium ein.  Besonders  wenn  er  die  Beweise  für  das 
Dasein  Gottes  in  den  höheren  Klassen  zum  letzten 
Male  vortrug,  hatte  er  es  gern,  daß  die  Schüler  gegen 
diese  alten  scholastischen  Gebäude  ihre  kindlichen  Ein- 
wände vorbrachten.  Ihm  war  es  dann  ein  leichtes,  durch 
die  Sophismen,  an  denen  durch  Jahrhunderte  die 
scharfsinnigsten  Doktoren  der  katholischen  Kirche 
ihren  Witz  geübt  hatten,  die  jungen  Leute  zum  Schwei- 
gen zu  bringen.  An  jenem  Tage  nun  handelte  es  sich 
um  den  ehrwürdigen  ontologischen  Beweis.  Ich  wußte 
damals  noch  nichts  über  seine  Geschichte,  nichts  von 
seiner  Abfertigung  durch  Kant.  Ich  meldete  mich  aber 
durch  Handaufheben  und  brachte,  so  gut  ich*s  ver- 
mochte, meine  Bedenken  gegen  die  Logik  dieses  Be- 
weises vor.  Herr  Adler  kam  mit  Gegengründen ;  ich  ver- 
warf die  Gegengründe.  Herr  Adler  weinte  beinahe,  als 
er  erwiderte:  „Wer  seinen  Gott  im  Herzen  trägt,  der 
zweifelt  gar  nicht  an  der  Kraft  dieser  schönen  alten 
Beweise.  Du  glaubst  nicht  und  darum  ist  der  ganze 
Unterricht  wertlos.**  Ich  ließ  mir  das  nicht  zweimal 
sagen.  Ich  kam  nicht  wieder.  Zwei  meiner  jüdischen 
Mitschüler,  als  sie  erst  sahen,  daß  keine  Zwangsmaß- 
regeln gegen  mich  ausgeübt  wurden,  folgten  meinem 
Beispiel. 

Die  Gnade  Gottes  leuchtete  auch  über  uns  Unge- 
rechte. Der  Lehrer  hielt  es  wahrscheinlich  für  unver- 
einbar mit  seinem^jüdischen  Glauben,  einen  jüdischen 
Schüler  durchweine  Anzeige  zu  schädigen  oder  ihn  gar 
durchfallen  zu  lassen.  Er  hatte  die  Gewohnheit  ange- 
nommen, jedem  jüdischen  Schüler  ,,aus  Religion**  die 
Note  ins  Zeugnis  zu  schreiben,  die  dem  Durchschnitte 
der  übrigen  Noten  entsprach;  und  er  besserte  immer 

119 


nach  oben  hinauf.  Sein  Unglück  wollte,  daß  er  gerade 
dann  nicht ,, ungenügend'*  ins  Zeugnis  schreiben  konnte, 
wenn  der  jüdische  Schüler  schon  von  den  anderen  Leh- 
rern verurteilt  war;  denn  der  war  gewiß  einer  seiner 
gelehrten  Talmudkenner. 

Die  schwerste  Sorge  dieses  würdigen  Lehrers  brachte 
jedesmal  die  Maturitätsprüfung,  weil  der  Schulrat,  der 
die  Aufsicht  führte,  ein  sehr  gelehrter  Mann  war,  ein 
wenig  auch  Orientalist;  der  konnte  es  sich  beifallen 
lassen,  ein  Frage  an  den  Schüler  zu  richten,  und  dann 
wäre  es  mit  dem  Systeme  vorbei  gewesen:  den  jüdi- 
schen Schülern  prinzipiell  bessere  Zensuren  zu  geben 
als  sie  verdienten.  So  hat  meine  Maturitätsprüfung  nicht 
mich,  sondern  diesen  Lehrer  vor  Angst  schwitzen  lassen. 

Ich  war  trotz  meiner  Schulfaulheit  ein  so  guter  Schü- 
ler und  hatte  bei  der  schriftlichen  Prüfung  so  glänzend 
abgeschnitten,  daß  mir  hergebrachterweise  die  münd- 
liche Prüfung  ,, geschenkt**  werden  mußte.  Ich  verließ 
mich  darauf  und  hatte  mir  überhaupt  um  das  Abitu- 
rientenexamen keine  Sorgen  gemacht.  Der  Schulrat 
pflegte  auch  an  solche  Schüler  besonders  kniffliche  Fra- 
gen zu  stellen ;  aber  das  tat  er  immer  nur  aus  Güte,  um 
Gelegenheit  zu  einer  ,, Auszeichnung**  zu  geben.  Also 
auch  das  schien  mir  nicht  gefährlich.  Desto  größere 
Sorgen  machte  sich  der  jüdische  Religionslehrer.  Er 
ahnte,  wie  es  um  meine  Kenntnisse  im  Hebräischen 
stand.  Ich  hatte  es  im  Laufe  von  acht  Jahren  so  weit 
gebracht,  ich  hatte  so  viel  verlernt,  daß  ich  nicht  ein- 
mal das  Entziffern  der  hebräischen  Lettern  leicht  und 
schnell  genug  ausführen  konnte.  Die  kleinste  Frage  an 
mich  hätte  den  Lehrer  gräßlich  blamiert;  denn  ich 
hatte  als  Vorzugsschüler  immer  „vorzüglich**  aus  Reli- 
gion gehabt,  das  heißt  aus  Hebräisch. 

120 


Bei  meiner  Prüfung  —  es  war  ein  sehr  heißer  Julitag 
—  war  der  Schulrat,  der  mich  seit  acht  Jahren  immer 
freundlich  beobachtet  hatte,  in  der  besten  Laune  und 
neckte  mich  nur  mit  allerlei  schwierigen  Fragen,  für 
deren  halbe  Lösung  ich  dann  durch  gute  Zensuren 
belohnt  wurde.  Ich  wurde  kreuzfidel;  mich  belustigte 
die  Neckerei  des  Schulrates,  der  vielleicht  erfahren 
wollte,  wie  weit  über  den  Lehrstoff  hinaus  mein  Ver- 
ständnis ging,  der  vielleicht  auch  sein  vielseitiges  Wis- 
sen zeigen  wollte.  Ich  hatte  ein  Lachen  zu  verbeißen, 
wenn  ich  auf  unsern  unglücklichen  Religionslehrer 
blickte,  der  wie  ein  Verbrecher  vor  der  Hinrichtung  da- 
saß. Sein  Angstschweiß  ward  ihm  zum  Heil.  Der  Schul- 
rat glaubte,  er  litte  unter  der  Hitze  und  schickte  ihn 
nach  Hause.  Meine  beiden  Mitprüflinge  seien  Katho- 
liken und  an  mich  habe  er  Fragen  genug  gestellt.  Ich  mag 
vielleicht  ganz  froh  gewesen  sein ;  was  war  aber  meine 
Freude  gegen  die  Glückseligkeit  im  Antlitz  des  Herrn 
Adler,  der  jetzt  mit  einem  schlauen  Blick  des  Einver- 
ständnisses an  mir  vorüber  davonging.  Gott  der  Ge- 
rechte verläßt  keinen  Juden  in  der  Gefahr,  so  mochte 
der  fromme  Mann  denken. 

Ich  habe  dieses  Erlebnis  mit  dem  Vergnügen  vorzu- 
tragen versucht,  das  es  mir  damals  gemacht  hatte. 
Eigentlich  war  die  Sache  aber  empörend.  Man  denke 
sich  nur  einmal  in  die  Seele  unserer  katholischen  Mit- 
schüler hinein.  Diese  hatten  nicht  nur  auf  dem  Piari- 
stengymnasium,  sondern  auch  auf  der  weltlichen  An- 
stalt einen  strengen  Religionsunterricht,  hatten  Gebete 
auswendig  zu  lernen,  hatten  an  jedem  Sonn-  und  Feier- 
tage die  Messe  zu  besuchen,  hatten  —  wie  gesagt  — 
vor  allem  in  Religionslehre  und  Kirchengeschichte 
einen  ansehnlichen  Lehrstoff  zu  bewältigen ;  sie  mußten 

121 


diesen  Lehrstoff  genauer  auswendig  lernen  als  etwa 
das  Lehrbuch  der  Weltgeschichte,  mußten  übrigens  die 
Untrüglichkeit  dieses  Lehrstoffs  wie  stumme  Hunde 
anerkennen  und  durften  nicht  freigeistig  mucksen.  Die 
Katholiken  fühlten  sich  mit  Recht  im  Nachteil  gegen 
Protestanten  und  Juden,  und  wir  hörten  von  ihnen  be- 
sonders vor  der  Maturitätsprüfung  bittere  Worte  über 
unsere  Ausnahmestellung;  denn  Religion  war  ihnen 
neben  Weltgeschichte  der  eigentliche  Büffelstoff.  Die 
Katholiken  mußten  täglich  um  5  Uhr  früh  aufstehen, 
Protestanten  und  Juden  konnten  bis  7  Uhr  schlafen. 
Ich  muß  trotzdem  anerkennen,  daß  das  Verhältnis 
zwischen  den  einzelnen  Konfessionen  unter  den  Schü- 
lern des  Kleinseitner  Gymnasiums  das  allerherzlichste 
war;  Judenfeindschaft,  was  man  jetzt  seit  mehr  als 
vierzig  Jahren  Antisemitismus  nennt,  war  natürlich 
vorhanden,  wie  denn  Bosheit  oder  Neid  sich  unausrott- 
bar zu  der  Mode  eines  Rassenvorurteils  oder  zu  irgend- 
einer, anderen  Ausrede  flüchtet,  aber  dieser  Antisemi- 
tismus kam  eigentlich  nur  in  leidenschaftlichen  Ge- 
sprächen guter  Freunde  zu  Worte.  Auf  dem  Piaristen- 
gymnasium  waren  die  geistlichen  Lehrer  oft  boshaft 
und  heimtückisch  gegen  die  jüdischen  Schüler  gewesen ; 
aber  da  darf  nicht  vergessen  werden,  daß  sich  zum 
Untergymnasium  viele  Juden  jungen  drängten,  die  von 
Hause  aus  wirklich  keine  richtigen  Europäer  waren,  die 
sich  nach  und  nach  entweder  assimilieren  oder  die 
Gelehrtenschule  wieder  verlassen  mußten. 


122 


IIIIIIMIIIMI 


lllllllllllllll 


XIII.  Nationale  Kämpfe. 

Noch  wichtiger  für  meine  Prager  Schulzeit  wurde  na- 
türlich die  sogenannte  nationale  Frage :  der  Kampf  der 
Deutschen  und  der  Tschechen  um  die  Herrschaft  in 
Böhmen.  Auf  einzelne  Folgen  dieses  Streites  habe  ich 
schon  hingewiesen.  Nun  möchte  ich  zusammenfassen, 
wie  der  nationale  Gegensatz  auf  uns  in  dem  Alter 
wirkte,  welches  man  so  gern  das  ,, reifere*'  Alter  nennt, 
und  wie  der  deutsche  Unterricht  unter  diesen  Verhält- 
nissen litt.  Das  ,, Wirken  auf  uns*'  ist  vielleicht  nicht 
ganz  wörtlich  zu  nehmen ;  ich  bin  mir  wenigstens  be- 
wußt, daß  ich  die  nationalen  Verhältnisse  damals  und 
noch  lange  nachher  so  sah,  wie  meine  Mutter  sie  uns 
darzustellen  pflegte. 

Vor  meiner  Zeit  gab  es  in  Prag  und  in  Böhmen  nur 
deutsche  Gymnasien.  Wie  noch  zweihundertfünfzig 
Jahre  früher  im  ganzen  Abendlande  das  Lateinische 
die  selbstverständliche  Sprache  alles  Wissens  gewesen 
war,  so  war  in  Böhmen,  besonders  seit  dem  Dreißig- 
jährigen Kriege,  deutsch  die  alleinige  Kultursprache 
geworden.  Das  Tschechische  war  in  meiner  ersten  Ju- 
gend —  wenn  man  von  den  bewußten  Förderern  des 
Slawentums  in  den  Städten  absieht  —  die  verachtete 
Bauernsprache ;  dievermeintlich  besseren  Stände  schäm- 
ten sich  ihres  slawischen  Idioms;  kein  Offizier,  kein 
Adeliger,  kein  Arzt  oder  Richter,  der  nicht  mit  Vor- 

123 


liebe  Deutsch  gesprochen  hätte.  Auch  war  die  tschechi- 
sche Sprache  trotz  aller  Bemühungen  der  Slawophilen 
für  den  wissenschaftlichen  Gebrauch  noch  nicht  bieg- 
sam genug.  Ich  urteile  nicht,  ich  konstatiere  bloß ;  auch 
wir  Deutsche  haben  solche  Zeiten  trotz  einer  großen 
Vergangenheit  noch  im  siebzehnten,  ja  noch  im  acht- 
zehnten Jahrhundert  durchgemacht. 

Bis  zum  Jahre  1848  war  der  Zustand  in  Böhmen  so, 
daß,  wer  studieren  wollte,  dies  nur  mit  Hilfe  der  deut- 
schen Sprache  tun  konnte.  Die  Gerichtssprache  war 
deutsch,  die  Unterrichtssprache  war  deutsch,  so  brauchte 
der  Beamte,  der  Lehrer  auch  für  seine  Zukunft  nicht 
Tschechisch  zu  lernen.  Und  was  die  Ärzte  und  Seelsorger 
für  den  Verkehr  mit  dem  Volke  nötig  hatten  (die  Predigt 
war  allerdings  schon  damals  in  slawischen  Bezirken 
tschechisch),  das  lernte  jeder  Böhme  von  Kindheit  an 
wie  von  selbst.  Nimmt  man  die  Bewohner  der  rein- 
deutschen Grenzgebiete  aus,  so  verstand  auch  jeder 
Deutsch-Böhme  ein  bißchen  Tschechisch,  das  schon  er- 
wähnte Kuchelböhmisch,  welches  in  seinem  Grundbau 
slawisch  war,  aber  eine  Unmenge  deutscher  Worte  bar- 
barisch mit  slawischen  Endungen  versah.  Trotz  der  er- 
staunlichen und  achtenswerten  Anstrengungen  gelehr- 
ter Slawen  (denen  unser  Jacob  Grimm  ein  Vorbild  war) 
wurde  dieser  Mischmasch  in  allen  gemischten  Bezirken 
gesprochen ;  und  die  Parodien  dieses  Kauderwelsch,  die 
sich  einst  in  Wiener  Witzblättern  breit  machten  und 
jetzt  noch  in  deutschen  Witzblättern  zu  finden  sind, 
waren  gar  nicht  so  übertrieben,  wie  es  scheinen  konnte. 

In  diesen  vermeintlich  gemütlichen  Zustand  der  alt- 
hergebrachten Herrschaft  der  Deutschen  und  der  gott- 
gewollten Unterwerfung  der  Tschechen  brachte  das 
Jahr  48  eine  deutlich  sichtbare  Wandlung.  Schon  seit 

124 


Beginn  des  Jahrhunderts  hatten  die  Tschechen,  unge- 
fähr parallel  mit  der  nationalen  Bewegung  in  Deutsch- 
land und  überhaupt  mit  dem  Aufkommen  der  Nationa- 
litätsidee, Herrschaftsansprüche  in  Böhmen  und  in  den 
beiden  andern  Ländern  der  alten  Wenzelskrone  (Mäh- 
ren und  Schlesien)  geltend  gemacht.  Ein  Eingehen  auf 
die  historisch-politische  Frage  würde  mich^zu  weit  füh- 
ren. Aber  die  politische  Frage  war  in  Böhmen  weit 
mehr  als  anderswo  eine  Sprachenfrage.  In  Triest  und 
Südtirol,  in  Lothringen  und  in  Nordschleswig  möchten 
die  Stämme,  die  nicht  Deutsch  sprechen,  aus  dem  frem- 
den Staatsverbande  heraus,  wollen  Bürger  eines  ita- 
lienischen, französischen,  dänischen  Nationalstaates 
sein.  In  Böhmen  denkt  auch  der  verwegenste  Fanatiker 
nicht  so  bald  an  eine  Trennung  von  Österreich ;  nur  daß 
nach  seiner  Meinung  der  Kaiserstaat  slawisch  werden 
soll,  womöglich  tschechisch.  Von  allen  Kanzeln  des 
Reiches,  auch  von  der  Kanzel  des  Wiener  Stephans- 
domes soll  in  irgendeiner  Zukunft  tschechisch  gepredigt 
werden ;  tschechisch  soll  dann  die  allgemeine  Gerichts- 
sprache sein,  auch  die  des  obersten  Gerichtshofes  in 
Wien ;  die  tschechische  Treibhauswissenschaft  soll  die 
Universitäten  beherrschen.  Das  alles  war  oder  ist  vor- 
läufig nur  ein  phantastischer  Traum  begeisterter  Prager 
Studenten.  So  tolle  Forderungen  werden  nicht  gestellt ; 
aber  die  Entwicklung  müßte  zu  solchenRevolutionen  füh- 
ren, wenn  erst  die  Mehrsprachigkeit  für  ganz  Österreich 
gesetzlich  durchgeführt  wäre ;  die  Slawen,  die  ohne  die 
deutsche  Kultursprache  nicht  auskommen  können,  sind 
von  Hause  aus  zweisprachig  und  würden  es  am  Ende 
zu  ihrem  Monopol  machen,  dem  Reiche  Beamte  und 
Offiziere,  Arzte,  Richter,  Lehrer  und  Geistliche  zu  lie- 
fern. Diese  nicht  ganz  sinnlose  Phantasie  erklärt  viel- 

125 


leicht  die  Erbitterung,  mit  welcher  in  Böhmen  noch 
gegenwärtig  um  Sprache  und  Schule,  gekämpft  wird. 

Schwer  wären  die  Tschechen  zu  widerlegen,  wenn  sie 
ohne  tyrannische  Gelüste  die  natürlichen  Rechte  ihrer 
Nationalität  geltend  machen  wollten.  Die  alten  Deutsch- 
Böhmen  sträuben  sich  dagegen,  den  Tschechen  Zuge- 
ständnisse zu  machen.  Aber  es  war  unvermeidlich,  daß 
im  Jahrhundert  der  Nationalitätsidee  sich  auch  die 
Tschechen  zum  Worte  meldeten,  wie  vor  ihnen  die 
Polen,  wie  nach  ihnen  die  kleineren  Stämme  Öster- 
reichs: die  Slowenen  und  Slowaken,  die  Serben  und 
Kroaten.  Die  Tschechen  bilden  ohne  Frage  die  Mehr- 
zahl der  böhmischen  Bevölkerung  und  verlangen  dar- 
um überall,  wo  Autonomie  zugestanden  worden  ist, 
mit  Recht  ihren  Anteil  am  Regiment.  Sie  verlangen 
aber  die  Auslieferung  der  Schule;  sie  können  ja  die 
Stellen  im  Reich  nicht  mit  tschechischen  Beamten  be- 
setzen, wenn  ihre  jungen  Leute  nicht  in  tschechische 
Schulen  gegangen  sind.  Der  unselige  Machtkitzel  treibt 
dann  dazu,  mit  Hilfe  der  tschechischen  Schulen  in  den 
gemischten  Bezirken  den  deutschen  Kindern  langsam 
ihre  Muttersprache  zu  nehmen. 

Ich  bin  Deutsch-Böhme  genug,  um  nur  mit  Zorn  den 
Gedanken  fassen  zu  können,  daß  Prag  bereits  heute 
eine  slawische  Stadt  geworden  ist,  in  der  die  Deutschen 
als  gehaßte  Fremde  leben,  daß  ganz  Böhmen  in  abseh- 
barer Zeit  der  Herrschaft  der  Tschechen  anheimfallen 
wird.  Wenn  nicht  ein  Wunder  geschieht.  Wenn  nicht 
die  Nationalitätsidee  von  der  internationalen  Idee  des 
Sozialismus  überwunden  wird.  Oder  von  einer  Liebe  zu 
dem  österreichischen  Staatsgedanken,  die  ich  aber 
höchstens  etwa  bei  Wienern  angetroffen  habe,  niemals 
in  genügender  Stärke  in  den  Kronländern.  Sozialismus 

126 


oder  Staatsgedanke,  jedenfalls  müßte  der  Kerl  erst  ge- 
boren werden  oder  öffentlich  auftreten,  wenn  er  wirk- 
lich schon  geboren  sein  sollte,  der  die  nationale  Begei- 
sterung durch  eine  neue  andere  Begeisterung  ersetzen 
könnte.  Die  Österreicher  haben  wahrlich  Wärme  genug 
im  Leibe ;  sie  wissen  nur  nicht,  wofür  sie  sich  just  be- 
geistern könnten. 

Ein  Tag  allgemeiner  deutscher  Begeisterung  war 
wohl  sicher  der  letzte,  an  welchem  in  Prag  Deutsche 
und  Tschechen  sich  verstanden  und  in  Reih  und  Glied 
marschierten.  Es  war  der  Tag  der  großen  Schillerfeier 
von  1859;  wenn  man  es  nicht  sonst  wüßte,  daß  diese 
Feier  zumeist  aus  einer  politischen,  aus  einer  freiheit- 
lichen Stimmung  und  Sehnsucht  hervorging,  man  hätte 
es  sicher  aus  der  Beteiligung  der  Tschechen  erraten 
können.  Ich  glaube  den  gewaltigen  Fackelzug  noch  zu 
sehen,  wie  er  langsam  sein  rotgelbes  Licht  über  die  alte 
Nepomukbrücke  hinwälzte  und  wie  die  Flammen  sich 
in  den  Wellen  der  Moldau  spiegelten.  Von  den  Fenstern 
der  Eltern  eines  Schulkameraden,  die  wenige  hundert 
Schritte  vom  Altstädter  Brückenturm  entfernt  wohn- 
ten, durfte  ich  das  Schauspiel  betrachten ;  ich  war  ziem- 
lich genau  zehn  Jahre  alt,  kannte  gar  viele  Gedichte 
Schillers  sehr  genau  und  ahnte  noch  nicht,  daß  in  naher 
Zukunft  für  und  gegen  Schiller  gekämpft  werden  würde; 
auch  die  Tschechen  dachten  nicht  an  so  etwas,  waren 
ganz  bei  der  Sache  und  warfen  gegen  Mitternacht,  weil 
es  doch  ein  Festtag  war,  in  der  Judenstadt  einige  Fen- 
ster ein.  Und  das  war  eigentlich  nicht  böse  gemeint. 

Wie  immer  nun  das  Vordringen  der  Tschechen  sich 
mit  dem  sogenannten  österreichischen  Staatsgedanken 
vertragen,  was  immer  das  Ende  des  Kampfes  sein  wird : 
zu  meiner  Schulzeit  hatten  die  Tschechen  ihre  ersten 

127 


Siege  bereits  errungen  und  beuteten  sie  mit  realpoli- 
tischer Rücksichtslosigkeit  aus.  Schon  damals  wurden 
ihre  Bestrebungen  von  Rom  aus  öffentlich  und  heimlich 
unterstützt ;  fast  im  ganzen  Lande  war  die  Geistlichkeit 
tschechisch  gesinnt  und  blind  reaktionär  dazu;  die 
wenigen  altliberalen  deutschen  Geistlichen,  die  man 
Josephiner  nannte,  zählten  nicht  mehr  mit.  Und  hatte 
sich  so  ein  deutscher  Josephiner  gar  mit  Haut  und 
Haar  einer  Kunst  verschrieben  —  wie  der  prächtige, 
mir  unvergeßliche  Augustinerprior  Pater  Barnabas  der 
edlen  Musika  — ,  so  war  er  für  die  deutsche  Sache  ver- 
loren und  neigte  sogar  dazu,  durch  politischen  Indiffe- 
rentismus die  Gegner  zu  unterstützen.  Die  freigeistigen 
oder  gar  hussitischen  Jungtschechen  ließen  sich  die 
Unterstützung  gern  gefallen  und  schlössen  auch  noch 
später,  als  sie  beim  Wahlkampfe  gegen  die  klerikalen 
Alttschechen  auftraten,  manchen  Kompromiß  mit 
Rom.  Die  Tschechen  hatten  weit  klügere,  nämlich  ener- 
gischere, staatsmännischere  Führer  als  die  Deutschen ; 
sie  drängten  die  früheren  Herren  des  Landes  stätig  und 
fest  in  die  Defensive. 

Die  Tschechen  hatten  also  zu  meiner  Schulzeit  schon 
ein  eigenes  Gymnasium  auf  der  Altstadt  und  auch  das 
angeblich  deutsche  Piaristengymnasium  war  völlig  in 
ihren  Händen.  Aber  auch  auf  wirklich  deutschen  Gym- 
nasien kam  die  deutsche  Sprache  zu  kurz,  weil  ein 
Schulgesetz  es  so  haben  wollte.  Ich  habe  diese  Dinge 
schon  flüchtig  erwähnt.  Nach  dem  Schulgesetze  sollten 
wir  alle  uns  in  beiden  Landessprachen  mündlich  und 
schriftlich  gleich  gut  ausdrücken  können.  So  stand  es 
auf  dem  Papier.  Hätte  die  Schule  diese  Bestimmung 
erfüllt,  so  hätte  jeder  von  uns  imstande  sein  müssen, 
den  deutschen  Aufsatz  —  wenn  ich  so  sagen  darf  — 

128 


auf  Deutsch  und  auf  Tschechisch  abzufassen.  Das  Ziel 
wäre  nicht  unerreichbar  gewesen,  bei  angestrengter 
Arbeit.  Doch  Faulheit  und  andere  Neigungen  der  Leh- 
rer wie  der  Schüler  hatten  zur  Folge,  daß  auch  diese  ge- 
setzliche Bestimmung  zum  Vorteile  des  tschechischen 
Unterrichts  ausschlug  und  zum  Nachteile  des  deutschen. 
Wir  ärgerten  uns  darüber,  daß  wir  eine  so  schwierige 
Sprache  erlernen  sollten,  deren  Kenntnis  uns  nicht 
wertvoll  schien ;  eine  bodenständige  tschechische  Lite- 
ratur gab  es  damals  noch  nicht.  Weder  eine  poetische 
noch  eine  wissenschaftliche  Literatur.  Hatte  doch  noch 
kurz  vorher  der  hervorragendste  tschechische  Gelehrte 
Franz  Palacky  seine  ,, Geschichte  von  Böhmen**  in  deut- 
scher Sprache  zu  schreiben  angefangen  und  sich  erst 
später  entschlossen,  das  Werk  in  seiner  Muttersprache 
fortzusetzen;  genau  so  wie  zu  Ende  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  nationalgesinnte  deutsche  Gelehrte  sich 
entschlossen,  die  lateinische  Kultursprache  mit  der  un- 
fertigen deutschen  zu  vertauschen,  viel  langsamer  und 
viel  später  als  die  Gelehrten  in  Italien  und  in  Frankreich. 
Wir  lernten  also  das  tschechische  Pensum  nur  wider- 
willig; die  Folge  war,  daß  die  tschechischen  Schüler 
der  Zweisprachigkeit  sehr  nahe  kamen,  wir  aber  nicht. 
Deutsche  Musterschüler  brachten  es  so  weit.  Tsche- 
chisch schreiben  zu  können,  wie  sie  Latein  schrieben, 
konnten  die  zweite  Landessprache  aber  nicht  sprechen. 
Die  Tschechen  dagegen  waren  in  den  letzten  Gymnasial- 
klassen befähigt  worden,  einen  deutschen  Schriftsatz 
ohne  allzu  schlimme  Fehler  auszuarbeiten  und  sich  in 
deutscher  Sprache  mündlich  ganz  geläufig  und  richtig 
auszudrücken.  Die  Härte  der  Aussprache  war  unerheb- 
lich; unser  eigenes  Prager  Deutsch  mochte  sich  auch 
nicht  erfreulich  anhören.  Die  meisten  deutschen  Schü- 

9  129 


1er  hatten  nach  acht  Jahren  nicht  gelernt,  die  sieben 
Fälle  des  tschechischen  Substantivs  und  die  feinen  Um- 
formungen des  tschechischen  Verbums  richtig  anzu- 
wenden, hatten  es  nicht  erlernt,  die  zweite  Landes- 
sprache orthographisch  zu  schreiben.  In  den  Stunden, 
in  denen  Tschechisch  gesprochen  werden  mußte,  hal- 
fen wir  uns  mit  ein  paar  Dutzend  Redensarten,  die  uns 
aus  dem  Kuchelböhmisch  unserer  Jugendzeit  geläufig 
waren  und  die  wir  „hochböhmisch*'  aussprechen  ge- 
lernt hatten.  Niemand  von  uns  erreichte  es,  einen  tsche- 
chischen Brief  ordentlich  schreiben  zu  können,  einige 
Streber  aus  gemischten  Sprachbezirken  ausgenommen, 
die  denn  auch  nachher  in  das  tschechische  Lager  über- 
gingen; ich  weiß  nicht  einmal,  ob  ich  sie  Renegaten 
schelten  darf.  Diese  jungen  Leute  aus  gemischten 
Sprachbezirken  waren  zumeist  Juden ;  der  Vater  hatte 
sie,  oft  in  Rücksicht  auf  seinen  Handel,  als  Kinder  in 
tschechische  Schulen  gesteckt  und  dort  war  ihnen  eine 
unklare  Schwärmerei  für  das  tschechische  Herz  ange- 
flogen, das  jeder  Böhme  haben  müßte. 

Nach  dem  Schulprogramm  hätten  also  fast  alle  deut- 
schen Schüler  durchfallen  müssen ;  es  ging  aber  damit 
ähnlich  wie  mit  dem  jüdischen  Religionsunterricht; 
die  Lehrer  freuten  sich  über  jede  tschechische  Vokabel, 
die  sie  einem  Deutschen  beigebracht  hatten,  und  geiz- 
ten nicht  mit  guten  Zensuren.  Als  wir  nach  Septima 
oder  Oktava  (Unter-  oder  Oberprima)  kamen,  wurde 
ein  neues  Landesgesetz  erlassen,  wonach  nur  eine  der 
beiden  Landessprachen  obligatorisch  war.  Um  den  drol- 
ligen Kauz,  der  uns  damals  in  Tschechisch  unterrich- 
tete, nicht  zu  kränken,  hielten  wir  alle  in  seiner  Stunde 
aus  und  ersetzte  einem  jeden  geschmeichelt  eine  ,, große 
Eminenz**  („vorzüglich**)  ins  Zeugnis. 

130 


Nun  wäre  die  Quälerei  mit  der  zweiten  Landes- 
sprache nicht  so  schlimm  gewesen,  wenn  der  deutsche 
Unterricht  nicht  so  furchtbar  unter  der  Zweisprachig- 
keit gelitten  hätte.  Ich  will  nicht  einmal  die  Frage  auf- 
werfen, ^^ob  nicht  eine  geheime  Anordnung  oder  Ten- 
denz bestand,  die  deutsche  Sprache  gegenüber  der  tsche- 
chischen zu  vernachlässigen;  ich  bin  gewiß,  daß  das 
für  die  Piaristen  zutraf,  und  werde  den  Verdacht  auch 
gegenüber  den  deutschen  Lehrern  der  Kleinseite  nicht 
los.  Es  wäre  sonst  kaum  möglich  gewesen,  daß  überall 
die  Lehrer  der  tschechischen  Sprache  philologisch  ge- 
schulte Männer  waren,  die  Lehrer  der  deutschen  Spra- 
che dagegen  bestenfalls  Dilettanten;  ich  wünsche  gar 
nicht  überall  einen  philologischen  Unterricht  in  der 
Muttersprache,  ich  will  nur  auf  die  Ungleichheit  hin- 
weisen. Doch  auch  ohne  böse  Absicht  täten  die  Verhält- 
nisse ihre  Schuldigkeit.  Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  daß 
der  öffentliche  Unterricht  die  begabten  Schüler  zu  den 
mittelmäßigen  hinunterzieht;  der  gute  Kopf  wird 
schließlich  müde,  weil  ihm  die  Arbeit  der  geistigen  Ma- 
rodeure zu  langsam  geht.  Das  äußerte  sich  für  uns  sehr 
traurig  im  deutschen  Sprachunterricht. "  Die  Piaristen 
sahen  es  als  ihre  Lebensaufgabe  an,  die  Tschechen  zu 
brauchbaren  Beamten  heranzuziehen ;  ihr  ideales  Ziel 
war,  den  Schülern  die  allerschlimmsten  orthographi- 
schen Fehler  im  Deutschen  abzugewöhnen.  Diese  Höhe 
hatten  wir  deutsche  Schüler  schon  im  zehnten  Lebens- 
jahre erreicht  und  wußten  nun  nicht,  warum  wir  wäh- 
rend des  deutschen  Unterrichts  dasitzen  mußten.  Wir 
sollten  nach  dem  Lehrplan  deutschen  Stil  und  deutsche 
Literaturgeschichte  lernen,  hatten  aber  jahraus  jahrein 
nur  eine  Art  von  Abc  zu  treiben.  Auf  dem  Kleinseitner 
Gymnasium  waren  die  Deutschen  weitaus  in  der  Mehr- 

9*  131 


zahl  und  auch  die  Lehrer  sprachen  ein  besseres  Deutsch ; 
aber  von  einem  ernsthaften  deutschen  Unterricht  war 
wieder  nicht  die  Rede.  Dazu  kam  —  wie  schon  erzählt 
—  daß  der  Ordinarius  auf  der  Kleinseite  an  Gewissen- 
losigkeit und  Faulheit  auch  die  dicksten  Piaristen  über- 
traf. Der  einzige  Nutzen,  den  wir  von  diesem  reichs- 
deutschen  Lehrer  hatten,  war  sehr  fragwürdig;  er 
führte  einen  täglichen  Kampf  nicht  nur  gegen  das 
schlimme  Pragerdeutsch,  sondern  auch  —  wie  ebenfalls 
schon  erwähnt  —  gegen  gute  österreichische  Idiotis- 
men, die  ich  jetzt  in  meiner  Sprache  ungern  vermisse. 
Wir  sind  niemals  über  den  natürlichen  Gebrauch  un- 
serer deutschböhmischen  Muttersprache  hinausgekom- 
men ;  das  war  vielleicht  gut,  entsprach  aber  nicht  dem 
Lehrplan.  Wir  haben  von  der  deutschen  Literaturge- 
schichte nichts  erfahren,  wir  haben  nie  ein  Wort  über 
die  Geschichte  der  deutschen  Sprache  gehört. 

Um  zu  zeigen,  wie  weit  die  Verhätschelung  des  tsche- 
chischen Nationalgefühls  und  die  Unterdrückung  des 
deutschen  ging,  will  ich  eine  kleine  Tatsache  festlegen. 
Das  alte  Schulbuch,  das  wir  uns  anschaffen  mußten, 
liegt  vor  mir;  ich  erzähle  keine  Märchen.  Wir  deut- 
schen Schüler  verließen  das  Gymnasium,  ohne  von 
einem  unserer  Lehrer  erfahren  zu  haben,  daß  es  im 
Mittelalter  eine  deutsche  Dichtung  gegeben  hatte.  Aber 
wir  deutschen  Schüler  mußten  uns  vier  Semester  lang 
durch  tschechische  Dichtungen  aus  dem  Mittelalter 
durcharbeiten ;  und  diese  mittelalterlich-tschechischen 
Dichtungen  waren  erwiesenermaßen  Fälschungen.  Wir 
wußten  sogar,  daß  es  Fälschungen  waren,  und  die  Leh- 
rer wußten  es  auch.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die 
Fälschung  und  auf  die  Geschichte  ihrer  Aufdeckung 
einzugehen.    Der   gelehrte   Bibliothekar    und  einstige 

132 


Poet  Hanka  hatte  im  Jahre  1817  angeblich  in  einem 
Kapellenkeller  der  Stadt  Königinhof  diese  alte  Samm- 
lung epischer  und  lyrischer  Gedichte  aufgefunden.  Man 
weiß  nicht,  wer  die  Verse  verfaßt  hat ;  man  wies  aber 
mit  den  Fingern  auf  den  Auffinder  hin.  Die  Epenfrag- 
mente  sind  völlig  wertlose  Stücke,  die  den  uralten  Krie- 
gerruhm der  Tschechen  beweisen  sollen;  die  lyrischen 
Verse  aber  sind  so  hübsch,  daß  ihr  Dichter  sich  vielleicht 
um  einen  ansehnlichen  Dichternamen  gebracht  hat, 
um  einer  Fälschung  zu  dienen.  Daß  eine  Fälschung  vor- 
liege, ist  sehr  bald  von  deutschen  Gelehrten  behauptet 
worden,  aus  archäologischen  und  philologischen  Grün- 
den, und  slawische  Gelehrte  haben  sich  schließlich  den 
Gründen  der  deutschen  Wissenschaft  unterworfen. 
(Erst  in  jüngster  Zeit  versucht  man  es  wieder,  die  Echt- 
heit der  Königinhofer  Handschrift  zu  verteidigen.)  In- 
zwischen wurde  mit  dieser  Königinhofer  Handschrift 
fünfzig  Jahre  lang  ein  arger  Humbug  getrieben.  Es  ist 
bekannt,  daß  nicht  nur  Franzosen  und  Italiener  auf  die 
Fälschung  hineinfielen,  sondern  daß  auch  Jacob  Grimm 
begeistert  war,  und  daß  Goethe,  ohne  jede  Kenntnis  der 
Originalsprache,  eines  der  kleinen  Gedichte  auf  Treu 
und  Glauben  wunderhübsch  nach  einer  wörtlichen  Pro- 
saübertragung poetisch  übersetzte;  er  hat  sich  sogar 
die  Mühe  genommen,  die  Verse  durch  Umstellung  der 
Strophen  verständlicher  zu  machen. 

Ich  habe  seitdem  mehr  als  einmal  der  Stimmung 
nachgegeben,  mich  in  die  Psychologie,  ja  in  die  Poesie 
des  böhmischen  Fälschers  hineinzufühlen ;  ich  habe  in 
meiner  Novelle  ,,Die  böhmische  Handschrift^*  darzu- 
stellen gesucht  (zu  übermütig  vielleicht,  aber  gewiß 
nicht  ungerecht),  wie  alles,  was  ihn  dazu  trieb,  ach  so 
gut  war  und  so  lieb ;    ich  habe  schon  damals  einige 

^33 


chauvinistische  Jugendsünden  bereut  und  zum  Frie- 
den gemahnt.  Ideale  Beweggründe  wären  dem  Sünder 
keinesfalls  abzusprechen.  Es  muß  ihm  eine  Lust  ge- 
wesen sein,  das  hohe  Alter  der  tschechischen  Kultur 
durch  seine  Verse  zu  bev/eisen;  es  muß  ihm  ein  Tri- 
umph gewesen  sein,  durch  sein  Talent  und  durch  seine 
technischen  Künste  so  viele  Jahrzehnte  die  gelehrte 
Welt  zu  betrügen ;  und  es  muß  seine  Eitelkeit  in  uner- 
hörter Weise  befriedigt  haben,  als  bedeutende  Dichter 
und  Sprachhistoriker  in  allen  Ländern  Europas  begei- 
stert von  den  kleinen  Gedichten  sprachen,  die  der  arme 
Teufel  irgendwo  auf  einer  öden  Bude  geschrieben  und 
dann  in  altslawische  Sprachform  gezwängt  hatte.  Wohl 
mag  Hanka  —  wenn  er  wirklich  der  Dichter  gewesen 
ist  —  gejubelt  haben,  als  er  eine  polyglotte  Ausgabe 
seiner  Handschrift  herausgeben  konnte,  wie  man  vom 
Vaterunser  polyglotte  Ausgaben  besitzt;  wohl  mag 
er  gelacht  haben,  als  slawische  Philologen  seinen  Text 
behandelten,  wie  man  Homer  behandelt,  und  über  ein- 
zelne Worte,  die  der  Abschreiber  mißverstanden  hätte, 
gewagte  Konjekturen  aufstellten. 

Wir  waren  aber  damals  noch  weit  davon  entfernt, 
solche  Fälscherleidenschaft  menschlich  zu  begreifen;, 
wir  hatten  eben  aus  einer  Gerichtsverhandlung  die  ge- 
lehrten Beweise  für  die  Fälschung  erfahren  und  waren 
sittlich'empört.  Das  half  uns  nicht.  Wir  mußten  uns  die 
Königinhofer  Handschrift  in  einer  streng  philologi- 
schen Ausgabe  anschaffen  und  den  heiligen  Text  aus- 
wendig lernen  und  so  pedantisch  analysieren,  wie  man 
etwa  auf  dem  Gymnasium  den  Homer  zerarbeitet;  so 
mußten  wir  uns  mit  einer  tschechischen  Fälschung  be- 
schäftigen, während  uns  die  Nibelungen,  Walter  und 
Wolfram  unbekannt  blieben,  während  in  der  deutschen 

134 


stunde  etwa  der  Gebrauch  der  großen  Anfangsbuchsta- 
ben höchste  Weisheit  war. 

Ich  sage  mir  heute,  daß  dieses  närrische  Studium 
eines  gefälschten  Dokuments  für  meinen  Bildungsgang 
ganz  schätzbar  war ;  der  Fälscher  hatte  offenbar  recht 
gute  Kenntnisse  in  der  damals  noch  jungen  Wissen- 
schaft der  Sprachvergleichung  besessen  und  hatte  die 
wirklich  alten  kirchenslawischen  Texte  durchaus  stu- 
diert. Da  bot  denn  unsere  philologische  Ausgabe  ganz 
gut  erfundene  und  sauber  präparierte  Beispiele  für  eine 
altslawische  Mundart,  und  wir  erlangten  an  diesen  er- 
fundenen Beispielen  einige  Kenntnis  von  der  verglei- 
chenden Sprachwissenschaft,  von  welcher  sonst  fast 
kein  Ton  zu  uns  gedrungen  war,  weder  im  deutschen, 
noch  im  griechischen,  noch  im  lateinischen  Unterricht. 
So  könnte  ich  auch  dieses  kleinen  Unsinns  mit  einiger 
Heiterkeit  gedenken,  wenn  ich  nicht  wüßte,  daß  unsere 
Kampfstimmung  gegen  die  Tschechen  gerade  durch 
den  Zwang,  uns  mit  einer  Fälschung  zu  beschäftigen, 
vergiftet  wurde.  In  den  nationalen  Reibereien  wurde 
ich  ungerecht  gegen  die  Tschechen,  weil  ich  sie  alle  für 
die  Fälschung  der  Königinhofer  Handschrift  verant- 
wortlich machte.  Und  die  nationalen  Reibereien  began- 
nen viel  Kraft  von  unserm  jungen  Leben  zu  beanspru- 
chen, schon  auf  dem  Gymnasium. 

Wir  waren  als  Kinder  wahrhaftig  keine  Chauvinisten 
gewesen,  interessierten  uns  später  für  die  aufstrebende 
tschechische  Literatur  und  fühlten  uns  gern  als  ,, Böh- 
men**. Die  Heimatliebe  konnte  so  stark  in  uns  sein,  das 
schöne  Land  Böhmen  konnten  wir  herzlich  lieben,  weil 
wir  den  Gegensatz  zwischen  den  beiden  kämpfenden 
Volksstämmen  nicht  stark  empfanden.  Ich  meine  da 
die  Zeit,  etwa  von  meinem  vierzehnten  bis  zum  sieb- 

135 


zehnten  Jahre.  Ich  habe  schon  erzählt,  wie  unsere  poli- 
tische Gesinnung  durch  die  Ereignisse  des  Jahres  66  ver- 
ändert wurde.  Wir  hatten  auch  jetzt  noch  kein  Ver- 
ständnis für  die  Ziele  Bismarcks,  wir  hätten  uns  nicht 
einmal  mit  Recht  großdeutsch  nennen  können,  aber  wir 
waren  deutsch  geworden.  Das  äußerte  sich  zunächst 
darin,  daß  wir  nicht  mehr  „Böhmen'*  sein  wollten,  daß 
wir  uns  in  den  kleinen  Krieg  mit  den  Tschechen  hinein- 
stürzten^).  Ich  habe  beinahe  zehn  Jahre  lang  an  allen 
Raufereien  mit  den  Tschechen  redlich  teilgenommen, 
lebhafter  vielleicht  und  ausgelassener,  als  ich  es  heute 
gutheißen  möchte.  Es  ist  aber  ganz  recht  so,  daß  auf  den 
Schulbänken  noch  nicht  funfundsechzig jährige  Herren 
sitzen,  daß  die  Kämpfe  immer  wieder  von  einem  neuen 
Geschlechte  junger  Menschen  aufgenommen  werden, 
daß  die  Streiter  nicht  überlegen. 

Den  Glanzpunkt  solcher  Raufereien  bildete  eine  hoch- 
politische Aktion  von  uns  Gymnasiasten ;  ich  kann  auch 
über  dieses  Abenteuer  nicht  berichten,  ohne  einige 
Worte  vorausgeschickt  zu  haben.  Man  weiß,  daß  nach 
dem  Kriege  von  1866  die  Ungarn  durch  Verleihung  einer 
weitgehenden  Selbständigkeit  (auf  Kosten  der  Deut- 
schen und  der  Slawen)  versöhnt  wurden,  daß  im  eigent- 
lichen Österreich  eine  liberale  Ära  gewagt  wurde,  die 
Berufung  eines  deutsch-bürgerlichen  Ministeriums.  Es 
ist  wohl  nicht  daran  zu  zweifeln,  daß  diese  deutschen 
Minister  sehr  schlechte  Realpolitiker  (,, Herbstzeitlose'' 
nannte  sie  ja  Bismarck  nach  ihrem  Führer,  dem  tüch- 

i)  Die  Wörter  ,, Tscheche"  und  „tschechisch"  kamen,  wenn  mein  Gedächt- 
nis nicht  täuscht,  erst  damals  in  den  deutschen  Zeitungen  Prags  auf;  die 
slawischen  Bewohner  Böhmens  sollten  bezeichnet  werden;  die  slawischen 
Publizisten  wehrten  sich  lange  dagegen  und  wollten  die  alten  Wörter 
„Böhme"  und  „böhmisch"  beibehalten  wissen.  Auch  unter  uns  Knaben 
gab  es  um  dieser  Wortschälle  willen  manche  Prügelei. 

136 


tigen  Juristen  Herbst)  waren,  daß  sie  eine  Torheit  nach 
der  andern  machten  und  den  Kaiser  Franz  Joseph 
durch  Widerspruch  in  den  albernsten  Nebendingen  reiz- 
ten ;  es  ist  aber  auch  gewiß,  daß  der  katholische  Klerus 
in  allen  Kronländern  nach  einem  gemeinsamen  Pro- 
gramm alle  Volksstämme  gegen  die  liberale  Gesetz- 
gebung hetzte.  (Dafür  daß  einige  Bürgerminister,  die 
doch  als  Minister  Hofgänger  sein  mußten,  durch  Eigen- 
sinnigkeiten, selbst  in  der  Kleidung,  beim  Kaiser  An- 
stoß erregten,  darf  ich  mich  auf  spätere  Unterhaltungen 
mit  dem  alten  Fürsten  Rohan  berufen.  Der  Minister- 
präsident, Fürst  Carlos  Auersperg,  habe  selbst  nicht  zu 
seinen  Bürgerministern  gehalten.  ,,Er  hat  Witze  über  sie 
gemacht;  über  diese  Witze  sind  diese  Leute  gefallen.**) 
Wie  dem  auch  sein  mag :  in  Prag  bereiteten  die  libera- 
len Prinzipien  das  Ende  des  Deutschtums  vor.  Auf  das 
Majoritätsprinzip  gestützt,  konnten  die  Tschechen  ihre 
alten  Forderungen  immer  stürmischer  vorbringen ;  auf 
das  neue  Staatsrecht  gestützt,  konnten  sie  gleich  den 
Magyaren  eine  autonome  Stellung  des  Königreichs 
Böhmen  verlangen.  Die  liberale  deutsche  Regierung  in 
Wien  vernichtete  in  ahnungslosem  Idealismus  die 
deutsche  Macht  in  Böhmen  oder  beschleunigte  wenig- 
stens die  Entwicklung.  Es  wurde  in  Prag  nicht  mehr 
still;  jeder  Tag  brachte  Demonstrationen,  Aufzüge  in 
theatralischen  Kostümen  und  Massenmeetings  unter 
freiem  Himmel ;  wilder  aber  als  das  alles  war  der  Wahl- 
spektakel ;  die  Tschechen  verglichen  ihre  Lage  mit  der 
der  Iren,  drohten  mit  Gewalt  und  Revolution  und  hatten 
keine  englische  Regierung  über  sich.  Punkt  für  Punkt 
setzten  die  Tschechen  ihr  nationales  Programm  durch. 
Zu  diesem  Programme  gehörte  auch  als  kleines 
Schmuckstück  die  Errichtung  eines  eigenen  tschechi- 

137 


sehen  Theaters.  Bis  zu  dieser  Zeit  gab  es  in  Prag  außer 
einer  deutschen  Sommerarena  nur  ein  Schauspielhaus : 
das  altberühmte  ständische  Landestheater.  Diese  Bühne, 
einst  von  den  böhmischen  Landständen  erbaut  und 
dann  vom  Lande  durch  den  Landesausschuß  verwaltet 
und  unterstützt,  war  eine  deutsche  Bühne.  Sie  hatte  eine 
stolze  Vergangenheit.  Hier  war  Mozart  gefeiert  worden 
wie  nirgends  sonst;  von  hier  aus  war  sein  Don  Juan  in 
die  Welt  hinausgegangen,  für  das  Prager  Deutsche 
Theater  hatte  er  den  Don  Juan  geschrieben.  Nicht  nur 
Legenden  knüpften  sich  an  Mozarts  Aufenthalt  in 
Prag ;  es  gab  auch  eine  Tradition,  die  in  Prag  den  deut- 
schen Text  etwas  änderte,  die  in  Prag  bei  jeder  Auffüh- 
rung bestimmte  Stellen  zur  Wiederholung  verlangte. 
Die  Musiker  waren  Tschechen,  viele  Sänger  waren 
Tschechen,  aber  das  Theater  Mozarts  war  deutsch, 
i  Und  sollte  deutsch  bleiben.  In  meiner  Jugend  konn- 
ten sich  die  Deutschen  in  Prag  die  Sache  gar  nicht  an- 
ders vorstellen,  als  daß  eine  Bildungsanstalt  deutsch 
sein  müßte.  Man  war  sehr  ungerecht.  Aber  auch  die 
tschechischen  Bürgerkreise,  die  das  Theater  liebten,  be- 
suchten ganz  unbefangen  das  einzige  Theater  der  Stadt, 
das  deutsche. 

Doch  die  Bewegung  nahm  ihren  Fortgang  und  die 
deutschen  Führer  begingen  den  Fehler,  sich  zu  wider- 
setzen. Es  war  doch  klar,  daß  die  Tschechen,  welche 
damals  etwa  drei  Viertel  der  Bevölkerung  ausmachten, 
mehr  Rücksicht  verlangen  durften  von  einer  Anstalt, 
die  aus  Landesmitteln  bezahlt  wurde.  Man  gab  aber  da- 
mals für  die  große  Mehrheit  der  Bevölkerung  nur  ein 
einziges  Mal  in  der  Woche  eine  Vorstellung,  am  Sonn- 
tagnachmittag. Trotzig  verlangten  die  tschechischen 
Führer  ein  eigenes  tschechisches  Theater ;  sie  kümmer- 

138 


ten  sich  vorläufig  nicht  um  die  Schwierigkeiten:  wo 
ein  eigenes  Repertoire  hernehmen  und  wie  das  Haus 
täghch  füllen.  Die  Sonntagnachmittagsvorstellungen 
brachten  fast  nur  Übersetzungen,  von  Shakespeare, 
Schiller  und  den  Franzosen.  Das  Nationaltheater  hätte 
nationale  Opern  und  nationale  Dramen  spielen  müssen. 
Nun  besaßen  die  Tschechen  allerdings  an  ihrem  Sme- 
tana  einen  bedeutenden  Musiker,  der  ja  auch  —  spät 
genug  —  seinen  Weg  auf  die  deutsche  Opernbühne  ge- 
funden hat.  Sonst  gab  es  in  der  jungen  tschechischen 
Literatur  einen  einzigen  Dramatiker,  den  begabten 
Emanuel  Bozdech,  der  übrigens  vor  mehr  als  zwanzig 
Jahren  verschollen  ist  und  gerade  jetzt  irgendwo  in 
einem  Balkankloster  wieder  aufgetaucht  sein  soll ;  die- 
ser Bozdech  war  ein  ganz  eleganter  Komödiendichter, 
aber  doch  nur  ein  Nachahmer  Scribes.  Er  hätte  den 
,, nötigen  Vorrat'*  von  Stücken  nicht  liefern  können. 
Ich  habe  übrigens  diese  beiden  „Hoffnungen*'  des  tsche- 
chischen Nationaltheaters  persönlich  gekannt ;  den  Ko- 
mödiendichter recht  gut,  den  prachtvollen  Musiker 
wenigstens  durch  zwei  Gespräche.  Bozdech  war  ein 
noch  junger  Mann,  in  Sprache  und  Zügen  der  Typus 
eines  hübschen  Slawen.  Smetana  aber  gehörte  einer 
früheren  Generation  an;  er  hatte  willig  deutsche  Bil- 
dung —  natürlich  nicht  nur  die  musikalische  —  auf- 
genommen und  redete  ein  tadelloses  weiches  Deutsch. 
Er  hatte,  als  ich  ihn  kennenlernte,  die  schöne  und  reiz- 
volle Oper  ,,Die  verkaufte  Braut*'  schon  geschrieben; 
er  war  50  Jahre  alt  und  teilte  mit  Beethoven  das  tra- 
gische Musikerschicksal:  Taubheit. 

Wurde  nun  das  künftige  Repertoire  des  tschechi- 
schen Nationaltheaters  von  den  deutschen  Journalisten 
lieblos  kritisiert,  so  wurden  gar  über  das  künftige  Publi- 

139 


kum  unanständige  und  gemeine  Witze  gerissen.  Für 
die  tschechische  „Hautevolee'*  wäre  allwöchentlich 
eine  Sonntagnachmittagsvorstellung  gerade  genug; 
auch  das  Nationaltheater  würde  immer  nur  am  Sonn- 
tagnachmittag besucht  werden.  Ich  erinnere  mich  noch 
genau  eines  frech  herausfordernden  Gedichts,  welches 
den  pöbelhaften  Trumpf  enthielt:  „Schuster,  Schneider, 
Handwerksleut  haben  nur  am  Sonntag  Zeit.'' 

Der  Aufruf  zu  dem  tschechischen  Nationaltheater 
fragte  nicht  nach  dem  Publikum  und  dem  Repertoire 
der  Zukunft ;  er  wandte  sich  an  die  nationale  Leiden- 
schaft und  diese  war  gerade  im  Kampfe  um  das  Theater 
heftig  aufgeflackert ;  man  darf  wohl  sagen,  daß  die  ge- 
sellschaftliche Trennung  zwischen  Deutschen  und 
Tschechen  durch  den  Theaterstreit  festgelegt  worden 
ist,  und  daß  bei  diesem  Streite  die  Deutschen  im  Un- 
recht waren.  Dieses  Unrecht  schürte  die  Begeisterung 
und  der  Aufruf  hatte  einen  gewaltigen  Erfolg.  Eine 
Kreuzersammlung  schaffte  die  nötigen  Millionen.  Das 
National theater  (damals  handelte  es  sich  wohl  erst  um 
den  vorläufigen,  den  Interimsbau)  steht  schon  lange 
da  und  ich  kann  unbefangen  zugestehen,  daß  es  ein 
schöner  Bau  geworden  ist.  Ich  saß  aber  noch  in  der 
Septima  (Unterprima),  als  der  Grundstein  gelegt  wer- 
den sollte.  Eines  Tages  suchte  uns  eine  Abordnung  aus 
der  Oktava  (Oberprima)  in  einer  Schulpause  auf,  um 
uns  zur  gemeinsamen  Abwehr  einer  unerhörten  Frevel- 
tat anzufeuern.  Der  Direktor  unseres  Kleinseitner 
Gymnasiums  hatte  den  tschechischen  Schülern  der 
deutschen  Anstalt  die  Erlaubnis  gegeben,  das  deutsche 
Gymnasium  bei  dem  Feste  der  Grundsteinlegung  ,, kor- 
porativ" zu  vertreten.  Wir  nahmen  die  kleine  Sache 
sehr  feierlich  und  ließen  uns  zu  einem  künstlichen  Ber- 

140 


serkerzorn  aufstacheln.  Wir  Helden  aus  den  beiden 
obersten  Klassen  stürzten  zu  dem  feurigen  Mathematik- 
lehrer, dessen  Wesensart  ich  schon  geschildert  habe. 
Dieser  hielt  uns  eine  Wahlrede  über  den  Hochmut  der 
Tschechen  und  gab  uns  schließlich  den  recht  unver- 
nünftigen Rat,  zum  Direktor  zu  gehen  und  dort  gegen 
die  gegebene  Erlaubnis  zu  protestieren.  Das  gefiel  uns 
sehr  gut.  Wir  zogen  mit  großen  Schritten  zum  Direktor 
und  protestierten;  wir  waren  die  Längsten  der  beiden 
Klassen,  zwei  Septimaner  und  zwei  Oktavaner.  Unser 
Führer  und  Sprecher  war  der  begabte,  leider  früh  und 
schrecklich  dem  Tode  verfallene  Eduard  Popper.  Ich 
kann  nicht  sagen,  welchen  Ausgang  die  dumme  Ge- 
schichte an  einem  preußischen  Gymnasium  genommen 
hätte.  Wir  aber  trugen  den  Sieg  davon.  Der  Direktor 
war  erst  verblüfft,  dann  grob,  aber  am  selbigen  Tage 
noch  nahm  er  seine  Erlaubnis  zurück;  das  heißt:  die 
tschechischen  Schüler  des  deutschen  Gymnasiums  durf- 
ten bei  der  Grundsteinlegung  dabei  sein,  als  eine  beson- 
dere Gruppe,  als  die  tschechischen  Schüler  des  deutschen 
Gymnasiums,  aber  beileibe  nicht  „korporativ''. 

Der  Leser  mag  je  nach  seiner  Seelensituation  aus 
diesem  Ereignisse  Schlüsse  ziehen  auf  den  Geist  oder 
die  Disziplin  der  österreichischen  Schulen.  Mir  war  es 
darum  zu  tun,  auf  die  Verhältnisse  vorzubereiten,  die 
uns  auf  der  Universität  erwarteten.  Der  nationale  Zwist 
verdarb  schon  auf  dem  Gymnasium,  was  zu  verderben 
war;  auf  der  Universität  hörten  die  Katzbalgereien 
nicht  mehr  auf.  Ich  habe  auf  der  Prager  Universität 
die  für  den  Juristen  vorgeschriebenen  acht  Semester 
studiert ;  wenigstens  war  ich  acht  Semester  lang  inskri- 
biert. Ich  habe  bis  zu  meiner  rechtshistorischen  Staats- 
prüfung (nach  dem  vierten  Semester,  also  im  Sommer 

141 


1871)  nur  mehr  des  Morgens  und  des  Nachts  viel  ge- 
lesen, den  Tag  und  den  Abend  jedoch  oft  mit  politischen 
Kannegießereien  und  gelegentlich  mit  der  Beteiligung 
an  nationalen  „Ereignissen'*  ausgefüllt.  Ich  muß  froh 
sein,  daß  eine  Krankheit,  die  ich  mir  wohl  durch  über- 
hetzte Arbeit  für  das  Examen  zuzog,  meinen  passiven 
Widerstand  gegen  das  juristische  Studium  härtete,  daß 
meine  schriftstellerischen  Neigungen  siegten,  und  ich 
für  die  nationalen  Aufgaben  in  Böhmen  keine  Leiden- 
schaft mehr  übrig  behielt.  Oder  vielmehr:  die  Leiden- 
schaft meines  Lebens  siegte  und  ich  hatte  nicht  mehr 
Neigung  genug  für  die  nationalen  Kämpfe  meiner  Hei- 
mat, die  mir  just  damals  mehr  als  heute  als  elende  Katz- 
balgereien erschienen.  Und  wenige  Jahre  nach  dem 
letzten  Studiensemester  verließ  ich  Prag  für  immer,  um 
in  Deutschland  zu  leben. 


142 


IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHIÜIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII 

illlililiiiniiiiiitlltlliiliiiniriiiiiiMiiiiniiiiiiiiiiiiiiniHMiiriiiiiiHiiiiniiiiiiiiiiiiiiitiiiiiliiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiitiiiiiiiii 


XIV.  Einsame  Fahrt. 

Ich  durfte  nach  meiner  Maturitätsprüfung  zum  ersten 
Male  eine  Ferienreise  machen,  über  Böhmen  hinaus, 
nach  Süddeutschland.  Ich  fuhr  ins  bayerische  Hoch- 
gebirge, marschierte  bis  nach  Tirol  hinein  und  wun- 
derte mich  darüber,  daß  die  Berge  noch  höher  waren 
als  im  Riesengebirge;  das  Anschauen  der  Natur  ent- 
zückte mich,  aber  ich  kann  nicht  behaupten,  daß  die 
große  Natur  mir  mehr  zu  sagen  hatte  als  die  kleine 
Natur.  Aber  ich  erlebte  etwas  anderes,  etwas  Neues: 
ich  lernte  Regensburg,  München,  Augsburg,  Nürnberg 
kennen,  deutsche  Städte,  in  denen  die  Marktfrau  und 
die  Kellnerin  deutsch  sprachen.  In  denen  deutsche 
Mundarten  geredet  wurden,  die  sich  dem  Prager  eine 
nach  der  andern  wie  Volkslieder  ins  Ohr  schmeichelten. 
Ich  fragte  oft  die  kleinsten  Kinder  nach  dem  Weg,  nur 
um  eine  deutsche  Antwort  aus  ihnen  herauszulocken. 
Es  war  zum  Heulen  schön.  Die  Entdeckung,  daß  es 
wirklich  ein  deutsches  Volk  gäbe,  war  mir  eine  liebe 
und  beruhigende  Überraschung. 

Auf  manchen  Seiten  dieser  Erinnerungen  zeige  ich 
mich,  wie  ich  war :  unreif,  kindisch,  im  Verhältnis  zu 
meinem  Alter  eigentlich  recht  sehr  dumm.  Wem  es 
unglaublich  dünken  sollte,  daß  ein  begabter  Junge  von 
bald  zwanzig  Jahren  —  auch  daß  ich  den  jungen  Men- 
schen in  vielen  Dingen  für  begabt  zu  halten  Ursache 

143 


hatte,  habe  ich  oft  ohne  jegliche  Bescheidenheit  gesagt — 
so  unvorbereitet,  so  ahnungslos  in  die  Welt  hinein- 
lebte. Mir  selbst  ist  die  Erscheinung  besonders  dann 
rätselhaft,  wenn  ich  die  Sicherheit  und  ,, Fertigkeit'' 
wahrnehme,  mit  welcher  gleichaltrige  Jünglinge  heute 
das  Leben  nehmen  und  sich  auf  beide  Füße  fest 
hineinstellen.  Der  Umstand,  daß  ich  aus  dem  zurück- 
gebliebenen österreichischenSlawenlande  in  das  Deutsch- 
land meiner  Träume  kam,  kann  die  Unzulänglichkeit 
meiner  Seelensituation  allein  nicht  erklären.  Auch  nicht 
die  anderthalb  Generationen,  die  dazwischenliegen, 
können  den  Abstand  zwischen  meinem  zwanzigjährigen 
Ich  und  einem  Fuchs  von  heute  begreiflich  machen,  nicht 
einmal  mir  selbst ;  auch  unter  meinen  damaligen  Kolle- 
gen und  Altersgenossen  waren  junge  Männer,  die  zwar 
noch  nicht  die  Hundeschnäuzigkeit  des  gegenwärtig 
aufstrebenden  Geschlechts  besaßen,  die  aber  doch  in 
den  Fragen  der  Politik  und  der  Kunst,  des  Geldes  und 
der  Liebe  schon  einigermaßen  Bescheid  wußten.  Da  ich 
nun  anderseits  bereits  sehr  früh  Kritik  für  jede  Um- 
welt in  mir  ausgebildet  fand,  da  ich  sogar  dazu  neigte, 
Menschen  und  Dinge  satirisch  zu  sehen,  ohne  sie  zu 
kennen,  so  wird  wohl  mein  Zustand  eine  Art  von 
unklarem  Idealismus  gewesen  sein,  den  die  reale  Wirk- 
lichkeit zunächst  immer  abstieß.  Ich  habe  das  Abstrakte 
immer  sehr  rasch  und  leicht,  das  Konkrete  bis  zur 
Stunde  sehr  langsam  und  schwer  gelernt. 

Nachdem  ich  diesen  Versuch,  über  meine  eigenen 
Jünglings  jähre  ein  wenig  klar  zu  werden,  gewagt  habe, 
darf  ich  wieder,  ohne  daß  mein  Lächeln  mißverstanden 
würde,  etwas  von  meiner  ersten  Ferienreise  erzählen. 
Nur  noch  ein  Wort  vorher :  ich  weiß  nicht,  ob  die  ein- 
siedlerische Einsamkeit,  in  der  ich  damals  und  noch 

144 


lange  nachher  jede  Reise  unternahm,  eine  Folge  oder 
eine  Ursache  meiner  Unzugehörigkeit  zu  andern  Men- 
schen gewesen  sein  mag. 

Die  enthusiastische  Stimmung,  die  mich  in  diesen 
vier  Wochen  nicht  verließ,  war  also  zunächst  dem  Glück 
zuzuschreiben,  das  ich  beim  Anhören  wirklich  lebender 
deutscher  Mundarten  erlebte.  München,  Tirol,  Augs- 
burg, Nürnberg:  ich  fühlte  mich  reicher  und  reicher 
werden  und  war  nur  von  Zeit  zu  Zeit  betrübt  darüber, 
daß  es  mir  nicht  gelang,  auch  nur  einen  Satz  einer  die- 
ser Mundarten  volksmäßig  nachzubilden.  Mein  Ohr  war 
immer,  auch  beim  Lernen  fremder  Sprachen,  zuver- 
lässiger als  meine  Sprachwerkzeuge.  Aber  dieser  En- 
thusiasmus wurde  noch  verstärkt  durch  die  Bekannt- 
schaft mit  berühmten  Kunstwerken  und  Landschafts- 
bildern. Die  Berühmtheit  war  nicht  ganz  gleichgültig 
bei  dem  Wunsche  nach  der  Bekanntschaft;  nachher 
aber  pfiff  ich  auf  die  Berühmtheit.  Mit  ungebildetem 
aber  ganz  eigensinnigem  Geschmack  gewann  ich  einiges 
lieb,  ging  ich  an  vielem  ungerührt  und  unberührt  vor- 
über. 

Von  Regensburg  aus  marschierte  ich  natürlich  nach 
der  Walhalla;  heute  würde  man  Walhall  sagen  und 
streng  darauf  achten  müssen,  die  erste  Silbe  zu  be- 
tonen. Damals  wallfahrtete  man  noch  nach  der  Walhalla. 
Ich  war  einfach  entsetzt  über  den  griechischen  Tempel ; 
ich  wußte  es  nicht  anders,  als  daß  ein  feierliches  Ge- 
bäude gotisch  sein  müßte;  ich  wüßte  nicht  zu  sagen, 
woher  mir  diese  Überzeugung  gekommen  war;  volle 
dreißig  Jahre  später,  als  ich  auf  der  Akropolis  von 
Athen  stand  —  heiliger  Mondschein!  —  ging  mir  trotz 
aller  dazwischenliegenden  kunsthistorischen  Studien  die 
andre    Schönheit    der    hellenischen    Architektur    zum 


10 


HS 


ersten  Male  auf,  ohne  meine  Vorliebe  für  die  Gotik  je 
zu  verdrängen.  Ich  war  also  von  der  Walhalla  zunächst 
entsetzt  und  wandelte  darin  umher,  als  ob  ich  in  ein 
ägyptisches  Grab  versetzt  worden  wäre.  Plötzlich  stand 
ich  vor  einer  Viktoria  von  Rauch,  der  mit  dem  schönen 
hängenden  Beine.  Ich  brüllte  auf,  daß  ein  Aufseher 
mich  zur  Ruhe  mahnte;  und  ich  ahnte  so  etwas,  wie 
die  Berechtigung  von  griechischen  Säulen.  Ich  wußte 
noch  nicht,  daß  Rauch  nach  griechischen  Vorbildern 
gestaltet  hatte. 

In  München  wollte  ich  getreu  meinem  Reiseführer 
folgen.  Ich  lief  durch  die  Sammlungen,  ich  kroch  die 
hohle  Bavaria  hinauf  und  hinab,  ich  stattete  dem  alten 
Hofbräuhaus  meinen  Besuch  ab.  Hier  war  der  Rausch 
zunächst  ganz  seelisch ;  ich  hatte  so  viel  davon  gehört, 
daß  ich  Wonne  empfand,  als  ich  mit  dem  ersten  Maßkrug 
an  den  Brunnen  trat,  ihn  selbst  zu  waschen.  Mancher 
gewöhnlichere  Rausch  folgte.  Aber  der  Kunst  gegenüber 
wollte  sich  lange  kein  Hochgefühl  einstellen.  Ich  hatte 
von  dem  Laufen  in  den  Theken  nicht  viel  mehr  als 
vom  Kriechen  durch  die  Bavaria.  Da  half  mir  ein  Zufall. 

Auf  dem  Augustiner- Keller  lernte  ich  einen  jungen 
Kunstmaler  kennen,  einen  begeisterten  Schüler  von 
Wilhelm  Kaulbach ;  es  verstand  sich  von  selbst,  daß  ich 
den  Maler  ebenfalls  bewunderte,  von  dessen  Bildern  ich 
freilich  nur  schwarzweiße  Reproduktionen  kannte, 
Photographien  und  Stahlstiche ;  damals  galt  Kaulbach 
sehr  viel,  heute  gar  nichts ;  vielleicht  ist  die  heutige  ge- 
ringe Schätzung  nicht  weniger  Modesache  als  die  ein- 
stige Verehrung.  Es  war  doch  eine  erstaunliche  geistige 
Kraft  der  Phantasie  in  dem  Manne,  und  zeichnen  konnte 
er  wie  damals  nur  wenige.  Genug,  am  nächsten  Vor- 
mittage holte  mich  der  Schüler  vom  Oberpollinger  ab 

146 


und  führte  mich  in  das  Atelier  des  Meisters.  Kaulbach 
hatte  an  der  einen  kahlen,  schmutzfarbenen  Wand  wie 
auf  einem  Karton  seinen  ,, Peter  von  Arbues**  skizziert. 
Davor  stand  ich  nun  in  maßloser  Bewunderung,  sprach- 
los, wohl  eine  halbe  Stunde  lang.  Endlich  fragte  mich 
Kaulbach,  ob  ich  Maler  wäre.  Wie  mir  die  Hand  mit 
der  Krücke  gefiele?  Ich  stotterte.  Ich  konnte  vor  Er- 
griffenheit nicht  sprechen.  Da  reichte  mir  ,,der  Meister'' 
die  Hand,  die  ich  in  meiner  Hingegebenheit  gern  geküßt 
hätte,  und  sagte,  als  wüßte  er,  was  in  meinem  Kopfe 
vorging:  es  gäbe  bessere  Sachen  zu  sehen,  auch  in 
München.  Zwei  oder  drei  gute  Bilder  zusammen  in  der 
alten  und  in  der  neuen  Pinakothek.  Die  sollte  ich  mir 
selber  heraussuchen  und  das  übrige  Gerumpel  links  lie- 
gen lassen. 

Von  München  aus  fuhr  ich  mit  der  neuen  Eisenbahn 
bis  Schliersee;  dann  begann  eine  Wanderung  in  Eil- 
märschen, über  Tegernsee  und  Kreuth  nach  dem  Tirol. 
In  Jenbach  ein  Tag  Rast,  oder  vielmehr  übertriebene 
Anstrengungen  zu  Wasser  und  zu  Lande.  Am  nächsten 
Nachmittag  begann  ich  über  das  Plümsenjoch  (so  heißt 
es,  glaube  ich),  wo  ich  mich  gefährlich  verirrte,  durch 
die  Ries  über  Walchen-  und  Kochelsee  nach  Brück  an 
der  Ammer  zu  eilen. 

Ich  habe  schon  kurz  gesagt,  daß  mir  die  „große  Na- 
tur'' keinen  größeren  Eindruck  machte  als  daheim  die 
kleine,  die  Andacht  vor  den  Alpen  nicht  größer  war, 
als  die  Andacht  vor  einem  blühenden  Strauche.  Und  doch : 
es  jubilierte  etwas  in  mir,  als  hoch  oben  —  wohin  ich 
mich  vom  Plümsenjoch  aus  verlaufen  hatte  —  auf  dem 
Gipfel  des  Berges,  es  war  Abend  geworden  und  ich 
wußte  nicht  wohin,  ein  Gewitter  losbrach,  und  ich  beim 
Schein  der  Blitze  die  Rippen  der  Erde  vor  mir  ausge- 

10»  147 


breitet  sah.  Es  jubelte  etwas  in  mir,  als  ich  beim  Schwim- 
men und  beim  Bergsteigen  eigentlich  zum  ersten  Male 
das  volle  Gefühl  meiner  frischen  Jugendkraft  empfand 
und  als  —  eki  schönstes  Zeichen  der  Kraft  —  wilde 
Rhythmen  und  sanfte  Gedichte  mir  einfielen,  die  ich 
ja  nur  niederzuschreiben  brauchte,  um  ein  Buch  voll 
Poesie  nach  Hause  zu  bringen.  Nein,  nicht  nieder- 
schreiben! Im  Herzen  bewahren!  Ich  segnete  jeden  Berg 
und  jede  Matte  und  jeden  Menschen,  der  mich  mit 
seinem  Grüßgott  erfreute,  und  bedauerte  nur,  daß  ich 
nicht  bleiben  konnte. 

Ich  aber  konnte  nicht  bleiben,  weil  mir  erstens  das 
Geld  auszugehen  begann  und  weil  mich  zweitens  in 
Brück  an  der  Ammer  ein  Kuß  von  den  Lippen  eines  herr- 
lichen Münchner  Mädels  erwartete.  Nach  der  Reihe: 
erst  die  traurige  Liebesgeschichte,  dann  die  tragikomi- 
sche Geldgeschichte. 

Kurz  vor  meiner  Fahrt  nach  Tirol  hatte  ich  eines 
Abends  im  Theater,  auf  dem  letzten  Platze  natürlich, 
eine  richtige  Münchner  Gesellschaft  kennen  und  schät- 
zen gelernt.  Am  Montag  hatte  ich  den  Frühzug  nach 
Schliersee  nehmen  wollen,  den  Sonntag  zu  einem  Aus- 
fluge ins  Isartal  benutzen.  Und  so  saß  ich  am  Samstag 
noch  einmal  im  Hoftheater;  „Turandot"  wurde  ge- 
spielt, Clara  Ziegler  —  außerhalb  Münchens  noch  kaum 
bekannt  —  sprach  die  Turandot. 

Neben  mir  saß  eine  nette  Frau,  lange  noch  nicht 
dreißig  Jahre  alt ;  an  ihrer  Seite  ihr  Mann,  sodann  ihre 
Schwester.  Na!  Vielleicht  achtzehn  alt,  hübsch  wie  .  .  ., 
na ;  und  ein  süßer  Zug  von  Melancholie  verschönte  sie 
noch.  In  den  Zwischenakten  und  oft  genug  auch  sonst 
starrte  ich  nach  ihr  hinüber.  Meine  Nachbarin,  die 
ältere  hübsche  Schwester  der  schönen  Resi  mochte  meine 

148 


beginnende  Verliebtheit  bemerkt  haben.  Sie  begann  ein 
gebildetes  Gespräch  über  das  ,,Stuck*',  den  Autor  und 
die  ,, Spieler'*  und  hatte  bald  erfahren,  daß  ich  ,, Student'* 
war  und  ein  Stadtfremder.  Einfach  wurde  ich  aufgefor- 
dert, mit  den  andern  nach  Schluß  der  Aufführung  in 
den  nächsten  Bierkeller  zu  gehen.  Zu  einer  Vorstellung 
kam  es  nicht;  aber  ich  erfuhr  doch,  daß  sie  Resi  hieß 
und  daß  ihr  Schwager  irgendwo  auf  einer  städtischen 
Kanzlei  arbeitete.  Morgen  wollten  sie  nach  Brück  an 
der  Ammer  zu  Verwandten.  Ob  ich  mich  anschließen 
wollte  ?  Ob  ich  wollte !  Die  Schwester  flüsterte  mir  zu : 
,,Sie  verinteressieren  sich  ja  für  die  Resi.  Das  sieht  ein 
Blinder!  Es  wird  ihr  gut  tun  bei  ihrem  Kummer  um 
eine  unglückliche  Liebesgeschichte.  Das  arme  Mädel!** 
Ob  ich  wollte! 

Wir  trafen  uns  früh  am  Tage  pünktlich  auf  dem 
Bahnhofe.  Resi  blickte  noch  trauriger  darein  als  gestern 
abend.  Trennung  vom  Geliebten?  Wer  weiß.  Aber  sie 
drückte  mir  die  Hand  ...  oh ! 

Wir  hatten  von  der  Station  über  eine  Stunde  zu 
laufen.  In  Brück  ließ  man  mich  bis  zum  Mittagessen 
allein.  Ich  sollte  nicht  gezwungen  sein,  mit  den  Ver- 
wandten zu  reden.  ,,Es  sind  G'schertel**  Bei  Tisch 
trafen  wir  wieder  zusammen.  Es  wurde  noch  mehr  ge- 
trunken als  gegessen ;  eigentlich  wurde  so  langsam  und 
fest  weiter  getrunken,  bis  es  Zeit  für  die  Heimkehr 
wurde.  Nicht  einen  Augenblick  hatte  man  mich  mit 
Resi  allein  gelassen.  Mit  Absicht,  wie  es  mir  schien. 
Auch  auf  dem  Rückwege  zur  Station  schritt  der  Schwa- 
ger neben  Resi  voran,  nicht  ganz  nüchtern,  die  Schwe- 
ster neben  mir,  auch  sie  recht  redselig. 

»Sie  war  lieb  ;zu  mir,  stupste  mich  ab  und  zu  und  ver- 
sicherte^mich,  sie  gönTite  mich  ihrer  lieben  Resi,  weil 

149 


man  gleich  Vertrauen  zu  mir  fassen  könnte.  Ich  sollte 
für  das  nächste  Wintersemester  noch  zu  Hause  bleiben ; 
Resi  müßte  die  unglückliche  Liebesgeschichte  erst  ganz 
vergessen  haben ;  im  Sommersemester  sollte  ich  wieder- 
kommen und  dann  würde  alles  gut  gehen.  ,,Sie  sehen 
ganz  so  aus,  mein  lieber  Student,  als  ob  sie  das  Mädel 
auch  heiraten  täten,  mit  dem  sie  sich  verlobt  haben.** 

So  schmeichelhaft  und  peinlich  zugleich  mir  dieses 
Drängen  war,  das  Blut  stieg  mir  zum  Herzen,  und  ich 
versicherte  der  Schwester  blödsinnig,  daß  sie  sich  in 
mir  nicht  getäuscht  hätte.  Wer  weiß,  vielleicht  war  ich 
mit  der  Resi  wirklich  schon  verlobt !  Und  die  Schwester 
gefiel  mir  in  ihrer  gesunden  Sachlichkeit  so  gut,  daß 
ich  nahe  daran  war,  mich  auch  in  sie  zu  verlieben. 

Als  ich  in  gutem  Glauben  erklärt  hatte,  ich  gehörte 
zu  den  Männern  vom  alten  Schrot  und  Korn,  die  immer 
heirateten,  wenn  sie  liebten,  stupste  mich  die  Schwester 
recht  derb  und  rief  ihrem  Manne  zu,  er  und  sie  sollten 
die  jungen  Leute  einmal  allein  lassen,  die  sich  gewiß 
allerlei  zu  erzählen  hätten ;  gar  einen  Kuß  geben  woll- 
ten. Im  nächsten  Augenblick  war  ich  mit  Resi  auf  dem 
Waldwege  allein ;  Schwager  und  Schwester  tappten  vor- 
an und  riefen  zurück,  wir  hätten  nur  wenige  Minuten 
Zeit;  wir  dürften  den  Zug  nicht  versäumen. 

Ich  blieb  stehen  und  setzte  in  furchtbar  gewundenen 
Redensarten  auseinander,  daß  ich  mit  Erlaubnis  der 
Schwester  jetzt  Anspruch  auf  einen  Kuß  hätte,  wenn 
Fräulein  Resi  usw. 

Resi  gab  mir  die  Hand.  ,, Jetzt  nicht**,  sagte  sie; 
,,wenn  Sie  aber  am  nächsten  Samstag  zur  gleichen 
Stunde  an  dieser  Stelle  sein  wollen,  mein  lieber  Herr 
Student,  so  werden  wir  ganz  allein  sein  und  uns  lieb 
haben  können,  nicht  nur  küssen.  Einen  Stehkuß  geb* 

ISO 


ich  nicht.  Hüten  Sie  sich  vor  meiner  Schwester,  die 
ist  grundschlecht!'* 

Dazu  gab  sie  mir  doch  einen  flüchtigen  Stehkuß,  und 
wir  schritten  schnell  den  beiden  andern  nach. 

Darum  hatte  ich^s  so  eilig,  von  Tirol  umzukehren. 
Was  verstand  Resi  darunter :  wir  werden  uns  lieb  haben 
können,  nicht  nur  küssen  ?  Siedig  gingen  mir  die  Worte 
nach.  Nun  hätte  ich  natürlich  um  dieser  Worte  willen 
den  Ausflug  nach  Tirol  aufgeben  und  am  Montag  in 
Brück  an  der  Ammer  auf  ,, meine'*  Resi  warten  können ; 
ich  fand  es  aber  romantischer,  mit  meiner  vermeint- 
lichen Liebe  im  Herzen  den  Körper  aufs  äußerste  zu 
ermüden,  und  das  märchenhafte  Ereignis,  das  mir  be- 
vorstand, in  Genüssen  so  ganz  anderer  Art  heranzu- 
warten. Immer  schwebte  mir  Resis  Bild  vor,  während 
ich  täglich  meine  etwa  vierzehn  Stunden  marschierte ; 
und  als  ich  am  Samstag,  rückkehrend,  im  Eilschritt 
dem  lieblichen  Brück  mich  näherte,  schlug  mir  das 
Herz  nicht  nur  vor  Überanstrengung. 

Die  Stelle  des  flüchtigen  Stehkusses  war  ein  Kreuzweg ; 
ein  hölzernes  Kruzifix  und  nicht  weit  davon  ein  Weg- 
weiser machten  die  Stelle  kenntlich.  Als  ich  kurz  vor 
Sonnenuntergang  anlangte,  lehnte  unter  dem  Wegwei- 
ser die  liebe  Gestalt  in  einem  hellen  Kleidchen ;  Resi  hatte 
sich  auf  den  rechten  Ellenbogen  aufgestützt;  sie  hatte 
mich  schon  von  weitem  erblickt  und  lachte  mich  an. 
Ich  durfte  mich  neben  sie  ins  Gras  legen  und  bekam 
zum  Willkomm  einen  Kuß,  der  kein  Stehkuß  war.  Ich 
mußte  zuerst  von  meiner  Wanderung  erzählen ;  dann 
aber,  als  es  schon  zu  dunkeln  anfing,  von  meinem  son- 
stigen Leben,  von  meinen  Verhältnissen,  von  meinen 
Eltern,  von  meinem  Berufe,  von  meinen  Aussichten. 
Und  wie  oft  ich  schon  Mädel  unglücklich  gemacht  hätte  ? 

151 


Sie  erfuhr  zunächst,  daß  ihr  Kuß  der  erste  meines  Le- 
bens gewesen.  Daß  ich  eben  erst  das  Abiturientenexa- 
men gemacht  hätte ;  erst  anfinge  zu  studieren,  und  daß 
darum  von  Lebensaussichten  noch  kaum  die  Rede  sein 
könnte. 

,,Mein  lieber  Mensch,  warum  hast  du  dann  meiner 
Schwester  gesagt,  daß  du  mich  heiraten  willst?*' 

Es  wurde  mir  recht  schwer,  der  lieben  Resi  zu  sagen, 
daß  die  Schwester  gelogen  hätte;  ich  hätte  ja  nur  im 
Konditionalis  versichert,  ich  würde,  wenn  ich  es  zu- 
gesagt hätte. 

,,Wenn  du  mir  aber  ewige  Liebe  geschworen  hättest, 
dann  würdest  du  mich  heiraten?  Unter  allen  Umstän- 
den?'* 

Ehrlich  sagte  ich:  ,,Ja,  Resi.'* 

„Und  wenn  ich  dich  noch  einmal  so  an  mich  drücken 
würde,  würdest  du  mich  dann  sehr  lieb  haben  und  mir 
ewige  Liebe  schwören?" 

Ehrlich  sagte  ich:  ,,Ja,  Resi." 

,,0,  wie  lieb  du  bist,  o,  wie  dumm  du  bist,  mein 
lieber  Mensch."  Wieder  bekam  ich  einen  Kuß,  der  ganz 
gewiß  kein  Stehkuß  war;  und  als  ich  den  Mund  frei 
hatte  und  im  Begriffe  war,  etwas  von  ewiger  Liebe  zu 
stammeln,  unterbrach  sie  mich  und  sagte  traurig: 

„Jetzt  sei  still,  du  dummer  Kerl.  Wenn  du  nicht  so 
horndumm  wärst  und  so  lieb  und  so  unerfahren,  hättest 
du  es  ja  schon  vor  acht  Tagen  bemerken  können.  Meine 
Schwester  ist  schlecht.  Sie  will,  ich  soll  dich  betrügen. 
Grad  nicht!  Schwanger  bin  ich.  So!  Heraus  ist's.  Ich 
bin  ein  anständiges  Mädel,  ich  betrüg'  dich  nicht." 

Sie  kuschelte  sich  an  mich  und  weinte  bitterlich. 
Ich  war  zu  entsetzt,  sonst  hätte  ich  mit  ihr  geweint. 
Sie  erzählte  mir  dann  allerlei,  wie  es  gekommen  war: 

152 


ein  Student  wie  ich.  Ein  lieber  Mensch,  auch  er.  Nicht 
schlecht.   Ihre  Schwester  wäre  an  allem  schuldig. 

Ich  hörte  kaum  mehr  zu.  Meine  Resi  schwanger! 
Über  mir  schlug  etwas  zusammen,  etwas  Schwarzes. 
Was  da  über  mir  zusammenschlug,  das  mag  wohl  ein 
Wirrwarr  von  törichter  Scheu  vor  dem  geschlechtlichen 
Worte  und  einer  noch  törichteren  Moral  gewesen  sein. 
Ich  weiß  nicht,  was  mir  schrecklicher  war :  die  Schwan- 
gerschaft Resis  oder  die  Tatsache,  daß  sie  die  Silben 
,, schwanger*'  aussprechen  konnte.  Man  ist  immer  noch 
viel  dümmer,  als  man  glaubt. 

Resi  hatte  aufgehört  zu  weinen.  Sie  streichelte  mein 
kleines  Schnurrbärtchen  und  schien  verlegen.  Ob  ich 
böse  auf  sie  wäre?  Ich  stotterte  etwas.  Ob  ich  es  ihr 
verzeihen  könnte,  wenn  sie  nicht  Wort  hielte  ?  Ich  ver- 
stand nicht. 

„Schau,  mein  lieber  Student,  wenn  du  zum  Sommer- 
semester  wiederkommst,  nach  Ostern,  dann  wird  es  mit 
meiner  Geschichte  vorüber  sein  und  wir  werden  uns 
lieb  haben,  nicht  nur  küssen.  Wie  ich 's  dir  gesagt 
habe.  Aber  jetzt,  schau',  jetzt  wär's  gegen  Gottes  Gebot! 
Und  was  mir  meine  Schwester  geraten  hat,  das  wäre 
eine  Gemeinheit  gewesen!  Und  so  dumm,  so  ganz  sau- 
dumm bist  du  doch  auch  nicht,  daß  du's  geglaubt 
hättest.  Daß  du  nach  fünf  Monaten  .  .  .  Nein,  so  dumm 
bist  du  nicht,  mein  lieber  Mensch.'* 

Ich  werde  wohl  froh  gewesen  sein,  als  sie  mich  auf- 
forderte, sie  zu  verlassen.  War  es  nur  meine  Müdigkeit 
—  ich  war  an  diesem  Tage  zwölf  Stunden  gewandert  — 
daß  ich  mich  so  schwer  nach  der  Station  schleppte? 

Am  zweitnächsten  Morgen  war  ich  in  Nürnberg.  Von 
dort  schrieb  ich  an  Resi,  was  ich  ihr  nicht  zu  sagen  ge- 
wagt hatte :  daß  es  aus  zwischen  uns  wäre,  bevor  es  noch 

153 


angefangen  hätte.  Ich  habe  diesen  mehr  als  albernen, 
diesen  ruchlosen  Brief  noch  einige  Jahre  in  meinem 
Besitze  gehabt  und  kenne  ihn  genau.  Ich  warf  ihr  in 
wildpathetischen  Ausbrüchen  vor,  daß  sie  sich  einem 
andern  hingegeben  hätte.  Sie  hätte  auf  meinen  Schwur 
ewiger  Liebe  warten  müssen.  Sie  hätte  ...  sie  müßte  .  . . 
sie  sollte  .  .  . 

Sie  hat  beim  Lesen  dieser  Epistel  weder  lachen  noch 
weinen  können;  sie  hat  sie  niemals  erhalten.  Als  ich 
mit  der  Abfassung  fertig  war,  fiel  mir  erst  ein,  daß  ich 
von  Resi  weder  den  Familiennamen  noch  die  Wohnung 
kannte.  Unter  der  Adresse  ,,Resi  in  München**  hätte 
sie  das  Zeug  doch  nicht  erreicht. 

Ich  habe  später  manchen  Versuchungen  nicht  ebenso 
brav  widerstanden,  aber  ich  meine  doch,  daß  die 
„Liebesgeschichte**,  die  ich  eben  gebeichtet  habe,  nicht 
bloß  für  meine  zwanzig  Jahre  bezeichnend  war.  Von 
meiner  Dummheit  (meinetwegen  denke  man  mittelhoch- 
deutsch und  lese  ,,tumpheit**)  wollte  ich  eine  Vorstellung 
geben,  von  dieser  seligen  Jugendeselei,  die  ich  mir  Gott 
sei  Dank  bis  zur  Stunde  nicht  ganz  habe  rauben  lassen. 
Es  wäre  mehr  als  dumm,  es  wäre  albern,  wollte  ich  auch 
nur  noch  ein  einziges  Mal  so  etwas  öffentlich  ausbreiten, 
wollte  ich  auch  nur  noch  eine  solche  Geschichte  erzählen. 
Aber  das  Erlebnis  von  Brück  an  der  Ammer  scheint  mir 
symbolisch,  wenigstens  für  mein  Verhältnis  zu  Welt  und 
Menschen.  Und  darum  eben  habe  ich  sie  gebeichtet. 
Sollte  Resi  noch  am  Leben  sein,  so  wird  sie  diese  Lebens- 
erinnerungen schwerlich  zu  lesen  bekommen. 

Die  Verabredung  in  Brück  an  der  Ammer  war  also 
der  eine  Grund,  der  mich  so  rasch  von  München  nach 
dem  Tirol  und  wieder  zurückjagte.  Der  andere  Grund 
lag  in  dem  Zustand  meiner  Reisekasse. 

154 


Gerade  in  dem  Jahre  meiner  Maturitätsprüfung  war 
—  wenn  ich  nicht  irre  —  die  Bequemlichkeit  oder  die 
Verführung  der  Rundreisebilletts  eingeführt  worden. 
Als  ich  von  dem  Gelde,  das  mir  der  Vater  recht  groß- 
mütig für  eine  kleine  Erholungsreise  ausgezahlt  hatte, 
mein  Billett  Regensburg-München-Augsburg-Nürnberg- 
Prag  beglichen  hatte,  blieb  mir  eine  Barschaft  von  un- 
gefähr fünfundzwanzig  Gulden.  Wie  ich  es  fertig  ge- 
bracht habe,  damit  etwas  über  vier  Wochen  unter- 
wegs zu  bleiben,  ohne  —  wie  sonst  öfter  —  regelmäßig 
auf  der  Streu  zu  übernachten  und  ohne  zu  hungern, 
ist  mir  fast  ein  Rätsel.  Die  Fußreise  nach  Tirol  kam 
freilich  nicht  teuer :  Heuboden.  Heuboden  oder  Stroh- 
lager blieben  mir  noch  manches  Jahr  vertraute  Dinge. 
Just  ein  Jahr  nach  meiner  ersten  Studentenfahrt  schlug 
ich  mich  so  durch  die  böhmischen  Kurorte  durch,  ohne 
die  Zeit  über  je  in  einem  Bette  zu  schlafen.  Das  geringe 
Reisegeld  mußte  eben  für  zehn  Tage  gestreckt  werden. 
Ich  mußte  geizig  sein.  Dafür  leistete  ich  mir  einmal 
in  Karlsbad  zwei  Stück  von  dem  teuern  Erdbeerkuchen ; 
aus  Trotz,  weil  mir  die  Ladnerin  beim  ersten  Stücke 
warnend  gesagt  hatte,  es  koste  zwölf  Kreuzer.  Sie  ur- 
teilte nach  dem  Äußern.  Ich  werde  gewiß  keine  ele- 
ganten Reisekleider  getragen  haben  und  die  Spuren  der 
Streu  ( , ,  altes  Stroh  umsonst,  frisches  Stroh  drei  Kreuzer*  *) 
mochten  zu  sehen  sein.  Doch  auf  meiner  ersten  Fahrt, 
eben  der  durch  Bayern,  war  ich  auch  in  Geldsachen 
nicht  erfahren  genug. 

In  Augsburg,  wohin  ich  nach  der  Trennung  von 
Resi  noch  am  selben  Abend  geflohen  war,  ritt  mich  der 
Teufel,  im  ersten  Hotel  abzusteigen,  den  berühmten 
Drei  Mohren.  Als  mich  der  Oberkellner  mit  einem  zwei- 
armigen Leuchter  in  meinen  ,, Salon'*  geleitete  und  ich 

155 


dort  die  Pracht  der  Teppiche  erblickte,  riß  ich  ihm  meine 
Tasche  aus  den  Händen  und  rannte  die  Treppe  hinunter 
und  versteckte  mich  vor  der  Verfolgung,  an  die  ich 
glaubte,  in  einem  Winkelwirtshaus. 

Als  ich  in  Nürnberg  ankam,  besaß  ich  noch  zwei 
Gulden.  Im  ,, Grünen  Weinstöckel*'  konnte  ich  damit 
recht  gut  zwei  Tage  leben,  trotzdem  mich  der  Wirt 
verlockte,  mit  ihm  am  Abend  eine  andre  Wirtschaft 
aufzusuchen,  wo  es  besseres  Bier  gäbe.  Man  kann  es 
mir  glauben,  daß  ich  in  Nürnberg  glücklich  war:  in 
Wandern  und  Schauen.  Nur  eines  kränkte  mich;  ich 
konnte  von  dem  letzten  Reste  meines  Vermögens  nicht 
den  Eintritt  ins  Germanische  Museum  aufbringen.  Da 
geschah  ein  Wunder.  Auf  meinem  letzten  Gange  durch 
die  alten  Straßen  wurde  ich  von  einem  französischen 
Ehepaar,  er  war  ein  Professor  aus  Südfrankreich,  an- 
gesprochen; sie  fragten  nach  dem  Wege  zum  Germa- 
nischen. Wie  gut  ich  diesen  Weg  kannte !  Und  hatte  ihn 
nicht  gehen  können!  Ich  gab  in  meinem  besten  Fran- 
zösisch Auskunft  und  bot  mich  schließlich  an,  die 
Fremden  bis  vor  das  Portal  zu  führen.  Ob  ich  nicht 
mit  hineingehen  wollte?  Ich  zögerte  und  sagte  endlich 
(Gott  hat  mir  die  Lüge  verziehen,  ich  weiß  es),  mein 
Geld  reichte  nicht,  dieses  herrliche  Museum  öfter  als 
dreimal  zu  besuchen.  Ob  ich  .  .  .  ?  Man  erlegte  den  Ein- 
tritt auch  für  mich.  In  meinem  Glücksgefühl  war  ich 
schlecht  genug,  immer  nur  das  anzusehen,  was  mich 
interessierte.  Anstatt  die  Franzosen  mich  herumschlep- 
pen zu  lassen,  schleppte  ich  sie  mit  mir.  Und  weil  mich 
ihre  vielen  Fragen  störten,  fing  ich  Unfug  an  und  gab 
ihnen  übermütig  verrückte  Übersetzungen  der  Auf- 
schriften zum  besten.  Der  Herr  Professor  notierte  ein- 
zelnes. Das  hat  mir  Gott,  der  alte  deutsche  Gott,  schwer- 

156 


lieh  verziehen.  Und  dazu  kam  die  Beschämung.  Als  ich  die 
guten  Leute  zu  ihrem  Hotel  zurückgeleitet  hatte,  drückte 
mir  der  zufriedene  Professor  zwei  blanke  Guldenstücke  in 
die  Hand.  Mein  erstes  ,, verdientes'*  Geld.  Ich  schämte 
mich  mächtig.  Aber  ich  konnte  weitere  zwei  Tage  in 
Nürnberg  bleiben.  Als  ich  endlich  meine  Rückreise  nach 
Prag  antrat,  hatte  ich  morgens  noch  sechs  Kreuzer  in 
der  Tasche  als  Wegzehrung  für  einen  langen  Tag. 

Was  ich  auf  dieser  ersten  unter  meinen  vielen  „ein- 
samen Fahrten*  *  ^)  für  meine  Freude  an  Kunst  und  Leben 
etwa  mag  gewonnen  haben,  das  wußte  ich  damals  ganz 
und  gar  nicht.  Zum  Bewußtsein  kam  mir  einzig  und 
allein,  was  ich  schon  gesagt  habe :  die  Entdeckung,  daß 
es  jenseits  der  böhmischen  Grenzen  wirklich  und  wahr- 
haftig, leibhaft  und  glaubhaft,  ein  deutsches  Land,  ein 
deutsches  Volk  gab,  daß  da  die  kleinsten  Kinder  schon 
deutsch  sprachen,  noch  dazu  ein  so  liebes  Deutsch, 
überall  anders  und  überall  schön.  Ich  verstand  auf  ein- 
mal etwas,  was  mir  bis  dahin  ein  totes  Wort  gewesen 
war:  die  Befreiungskriege.  Ich  verstand  Kleists  Her- 
mannsschlacht. Ich  verachtete  —  für  einige  Zeit  — 
Heinrich  Heine,  weil  er  ein  Napoleonschwärmer  war. 
Ich  haßte  Napoleon  —  wieder  für  einige  Zeit.  Ich  will 
ja  den  Lauf  meiner  politischen  Entwicklung  nicht  er- 
zählen, weder  ironisch  noch  feierlich.  Ich  will  nur  sagen, 
daß  ich  auf  der  Schule  immer  nur  gehört  hatte,  ich 
wäre  ein  Böhme,  daß  meine  deutsche  Erziehung  durch 
das  Erleben  von  1866  begonnen,  durch  meine  erste  Ferien- 
reise gefördert,  durch  die  Teilnahme  an  der  Gründungs- 
feier der  Straßburger  Universität  vollendet  wurde.  Was 
man  so  vollendet  nennt. 

I)  Unter  diesem  Titel  habe  ich  später  einige  recht  ungleiche  Skizzen  ge- 
sammelt. 

157 


Illlllllllllllllllillllllllllllllllllllllllllllll 


XV.  Universitätsjahre. 

Bald  nach  der  Entdeckung,  nach  der  von  mir  ganz 
persönlich  gemachten  Entdeckung,  daß  es  ein  deutsches 
Volk  gäbe,  bezog  ich  die  Prager  Universität,  die  eine 
deutsche  Universität  hieß,  übrigens  die  älteste  Univer- 
sität Deutschlands  ist.  Soll  ich  dem  Zwecke  dieser 
Niederschrift  nicht  zuwiderhandeln,  so  darf  ich  nicht 
allzulange  bei  den  lyrischen  Stimmungen  verweilen, 
die  sich  in  meiner  Erinnerung  an  die  beiden  großen 
Universitätsgebäude  knüpfen:  an  das  alte  Karolinum, 
in  welchem  gotische  Reste  noch  aus  der  Zeit  Karls  IV. 
stammen,  und  an  das  Klementinum,  das  alte  Jesuiten- 
kolleg. Ich  habe  auf  den  weiten  Höfen  und  in  den  Hallen 
dieser  Gebäude  vier  Jahre  lang  gesucht:  den  deutschen 
Studenten  und  die  deutsche  Wissenschaft,  die  Wahrheit 
oder  eine  Weltanschauung.  Ich  war  vier  Jahre  lang 
zu  Hause  auf  diesen  weiten  Höfen  und  in  diesen  Hallen. 
Ich  habe  die  historische  Stimmung  dieser  Gebäude  auf 
mich  wirken  lassen  wie  einer.  Langsam  wurde  die 
Hussitenzeit  lebendig  und  der  Dreißigjährige  Krieg. 
Der  Geist  des  Johannes  Hus  wandelte  durch  die  Hör- 
säle des  Karolinums ;  und  vor  dem  westlichen  Tore  des 
Klementinums  sah  man  wohlerhalten  den  Schauplatz, 
auf  welchem  der  erste  und  der  letzte  Akt  des  Dreißig- 
jährigen Krieges  sich  abgespielt  hatten.  Auf  den  weiten 
Höfen  des  Klementinums  hatten  sich  im  Jahre  1848 

158 


die  Studenten  versammelt  und  hatten  beschlossen,  sich 
in  die  revolutionäre  Bewegung  zu  stürzen.  Es  war  ver- 
lockend, durch  das  Betrachten  solcher  Stätten  ein  Ge- 
schichtsphilosoph zu  werden.  Ich  bin  keiner  geworden, 
ich  wunderte  mich  nur  immer,  daß  das  Beste  an  der 
Geschichte,  der  Enthusiasmus,  den  sie  erregt,  aus  dieser 
versteinerten  Welthistorie  nicht  lauter  zu  meinen  Kom- 
militonen sprach.  Ich  habe  nur  wenige  Enthusiasten 
unter  ihnen  kennengelernt.  Die  allermeisten  waren 
künftige  Juristen,  Ärzte  und  Lehrer,  oder  höchstens 
künftige  Professoren  von  Juristen,  Ärzten  und  Lehrern. 
Wie  ich  zu  spät  aufs  Gymnasium  gekommen  war,  so 
kam  ich  jetzt  zu  spät  auf  die  Universität.  Die  Schuld, 
die  an  meinem  Kindesalter  durch  den  Diebstahl  dreier 
Jahre  begangen  worden  war —  (wer  umsein  bestes  Hab 
und  Gut  bestohlen  worden  ist,  wird  überdies  langweilig, 
wenn  er  zu  klagen  nicht  aufhört ;  ich  weiß  es,  doch  Zorn 
ist  mächtiger  als  Vorsicht) ,  —  zeugte  weiter  ihre  schlim- 
men Folgen  für  mich.  In  den  meisten  menschlichen 
Fragen  zu  kindisch,  ganz  unreif  für  das  Leben,  war 
ich  zugleich  durch  meinen  wissenschaftlichen  Skepti- 
zismus wie  durch  meine  besten  Neigungen  verdorben 
für  irgendeinen  der  gelehrten  Berufe,  verdorben  für  die 
gläubige  Hinnahme  einer  der  wissenschaftlichen  Diszi- 
plinen. 

Bevor  ich  einige  kleine  Erlebnisse  aus  meiner  Uni- 
versitätszeit erzähle,  will  ich  doch  aus  meiner  beschränk- 
ten Erfahrung  heraus  ein  Wort  über  den  wissenschaft- 
lichen Charakter  der  Prager  Universität  sagen.  Die  allein 
habe  ich  vor  mehr  als  vierzig  Jahren  genau  kennen- 
gelernt, mir  aber  später  in  vertrautem  Umgang  mit 
deutschen  Studenten  und  deutschen  Professoren  einen 
Begriff  von  den  deutschen  Hochschulen  bilden  können. 

159 


Ich  habe  so  harte  Urteile  über  die  Zustände  an  öster- 
reichischen Gymnasien  gefällt,  daß  ich  mich  verpflichtet 
fühle,  ausdrücklich  zu  erklären,  daß  die  österreichi- 
schen Universitätslehrer  hinter  den  deutschen  nicht 
zurückstehen.  Es  ist  ja  richtig,  daß  das  österreichische 
Studentenmaterial  schlechter  vorgebildet  ist  und  — 
nach  dem  Wesen  der  Gymnasien  —  schlechter  vor- 
gebildet sein  muß  als  in  Deutschland.  Es  gibt  in  Öster- 
reich wie  in  Deutschland  auf  den  Universitäten  geniale 
Forscher,  es  gibt  da  wie  dort  tüchtige  Durchschnitts- 
gelehrte, die  als  Lehrer  nicht  zu  verachten  sind ;  es  gibt 
hier  und  dort  hie  und  da  einen  Dummkopf,  der  nicht 
aufhört,  Professor  zu  sein,  wenn  er  von  seinen  Kollegen 
wie  von  seinen  Studenten  einmütig  für  ein  ,, Rindvieh** 
gehalten  wird.  Jede  Universität  hat  ihr  Rindvieh.  Daß 
die  genialen  Forscher  in  Österreich  nicht  leicht  aner- 
kannt werden,  wenn  sie  nicht  vorher  in  Deutschland 
berühmt  geworden  sind,  hat  nicht  viel  zu  sagen ;  Ruhm 
verdirbt  gar  leicht  den  Charakter.  Daß  die  Durchschnitts- 
gelehrten in  Österreich  weniger  Bücher  herausgeben 
als  in  Deutschland,  hat  noch  weniger  zu  sagen;  die 
Wärme  eines  Tages  wird  dadurch  nicht  größer,  daß  sie 
von  einem  automatischen  Thermometer  registriert  wird  ; 
und  der  Schatz  des  Wissens  wird  dadurch  nicht  größer,  daß 
er  von  fleißigen  Handbuchverfassern  nachgezählt  wird. 
Ja,  es  wird  auf  den  österreichischen  Universitäten  we- 
niger gearbeitet  als  auf  den  deutschen;  ja,  Österreich 
ist  immer  noch  ein  Capua  der  Geister,  auch  den  Uni- 
versitäten ist  die  reizvolle  österreichische  Schlamperei 
nicht  ganz  fremd.  Aber  meine  Lehrer  an  der  Prager 
Universität  waren  darum  nicht  schlechtere  Männer  als 
die  meisten  Professoren,  die  ich  nachher  an  großen 
deutschen  Universitäten  kennengelernt  habe. 

i6o 


Wenn  ich  trotzdem  keinen  rechten  Vorteil  von  dem 
Besuche  einer  guten  Universität  hatte,  so  lag  das  teils 
—  wie  gesagt  —  an  mir  selbst,  teils  an  dem  zwitterhaf- 
ten Wesen  einer  jeden  solchen  Hochschule. 

Meine  eigene  Schuld  war  es  immerhin,  daß  ich  einer 
Fakultät  angehörte,  deren  Wissenschaft  mir  verhaßt 
war.  Ich  lernte  bei  meinen  bedeutendsten  Lehrern  nicht 
viel  mehr  als  bei  irgendeinem  Dummkopfe,  weil  mich 
die  juristischen  Fragen  durchaus  nicht  interessierten. 
Mein  passiver  Widerstand  war  gerade  mächtig  genug 
in  mir,  daß  ich  wußte :  ich  werde  niemals  ein  Advokat 
werden.  Ich  hätte  ja  trotzdem  noch  ein  passabler  Jurist 
werden  können ;  aber  in  meinem  Trotze  kam  mir  dieser 
Gedanke  gar  nicht  in  den  Sinn.  Und  meine  Kraft  reichte 
damals  noch  nicht  zu  dem  Entschlüsse:  ich  will  auch 
scheinen,  was  ich  bin ;  ich  will  studieren,  was  mich  in- 
teressiert ;  nachher  wird  sich  am  besten  zeigen,  was  ich 
etwa  gelernt  habe. 

Wenn  ich  nun  auch  auf  der  Universität  schulfaul 
war,  das  heißt  die  nächstliegenden  Aufgaben  nicht 
gründlich  genug  bewältigte,  so  lag  die  Schuld  doch 
nicht  ganz  an  dieser  Unwahrhaftigkeit  meiner  Juristen- 
existenz, sondern  auch  an  dem,  was  ich  eben  die  Zwit- 
terhaftigkeit  der  Hochschulen  genannt  habe.  Die  Sache 
selbst  ist  oft  bemerkt  worden,  vielleicht  aber  hat  man 
ihren  letzten  Grund  nicht  immer  eingesehen:  die  mo- 
derne Allmacht  des  Staates  über  die  Schule,  auch  über 
die  Hochschule,  also  über  die  Wissenschaft.  Es  möchte 
noch  hingehen,  daß  dieser  Racker  von  Staat  sich  um 
Dinge  kümmert,  denen  gegenüber  er  machtlos  ist ;  aber 
er  maßt  sich  eine  Herrschaft  über  Kunst  und  Wissen- 
schaft an,  obgleich  diese  beiden  Privatangelegenheiten 
einsamerGeister  ihn  eigentlich  nicht  einmal  interessieren. 

II  i6i 


Die  Universitäten  sollen  oder  wollen  Stätten  der  rei- 
nen, der  vorurteilslosen,  der  welterklärenden  Wissen- 
schaft sein.  Die  Universitäten  sind  aber  recht  teure 
Staatsanstalten;  und  der  Staat,  wenn  er  sich  unbeob- 
achtet weiß,  pfeift  auf  die  reine  Wissenschaft.  Sie  geht 
ihn  auch  eigentlich  gar  nichts  an.  In  den  letzten  Jahr- 
zehnten hat  man  vernünftigerweise  technische  Hoch- 
schulen gegründet  und  dort  Leute  ausgebildet,  die  besser 
als  andere  durch  den  Betrieb  chemischer  Fabriken, 
durch  Bergbau,  durch  Maschinenherstellung  den  Wohl- 
stand ihres  Landes  heben  können.  Die  älteren  Schwester- 
schulen, die  Universitäten,  hätten  recht  gut  die  Aufgabe 
behalten  können,  die  Grundlage  zu  legen  für  die  Wissen- 
schaften der  technischen  Hochschulen.  Nur  zwei  reine 
Wissenschaften  gibt  es,  die  an  der  Universität  studiert 
werden  können,  oder  vielmehr  zwei  reine  Disziplinen : 
Geschichte  und  Naturwissenschaft.  Aber  der  Staat 
hängt  mit  chinesischer  Zähigkeit  an  altem  Aberglauben ; 
er  hält  die  Berufe  des  Richters,  des  Arztes,  des  Pfarrers 
und  des  Lateinlehrers  für  ebenso  nützlich  wie  die  Be- 
rufe des  Chemikers  und  des  Elektrikers;  er  gibt  den 
Forschern  in  Geschichte  und  Naturwissenschaft  nur 
dann  Amt  und  Lohn,  wenn  sie  sich  verpflichten,  ihre 
beste  Zeit  an  die  Abrichtung  von  Richtern,  Ärzten, 
Pfarrern  und  Lateinlehrern  zu  vergeuden.  Wer  nicht 
im  Sinne  hat,  sich  für  eine  dieser  geschätzten  Berufs- 
arten drillen  zu  lassen,  mit  dem  wissen  die  meisten 
Professoren  nichts  anzufangen ;  sie  sind  wie  die  Volks- 
schulmeister und  wie  die  Oberlehrer  und  wie  die  Unter- 
offiziere überbürdet  durch  die  Menge  der  Rekruten  und 
durch  die  Menge  des  Lehrstoffs ;  die  Universitäten  sind 
staatliche  ,, Pressen*'  geworden  für  die  sogenannten 
gelehrten    Berufsarten;    für    die    reine    Wissenschaft 

162 


haben  nur  wenige  Lehrer  und  nur  wenige  Schüler 
Zeit  übrig. 

11: Will  man  von  diesem  Fluche  aller  staatlichen  An- 
stalten  absehen,  so  muß  anerkannt  werden,  daß  die 
Prager  Universität  tüchtige  Lehrkräfte  besaß.  Zwar  von 
der  theologischen  Fakultät  will  ich  nicht  reden,  trotz- 
dem ich  auch  dort  das  eine  oder  das  andere  Kolleg  ge- 
hört habe;  ich  will  mich  der  Lüge  nicht  mitschuldig 
machen,  die  von  der  Theologie  als  von  einer  Wissen- 
schaft spricht.  Der  Lüge,  die  von  den  allermeisten  Pro- 
fessoren durch  ihr  Stillschweigen  geduldet  wird,  wenn 
ihnen  nicht  gar  die  Herrschaft  des  Staates  über  die 
Kirche  ein  erstrebenswertes  Ziel  und  das  Dasein  einer 
theologischen  Fakultät  ein  Mittel  zu  diesem  Zwecke  ist. 
Aber  die  medizinische  Fakultät  war  immer  noch  vor- 
züglich besetzt,  und  wir  Juristen  hatten  einzelne  ganz 
hervorragende  Lehrer.  Ich  hatte  das  unverdiente  Glück, 
die  Institutionen  des  römischen  Rechts  bei  Esmarch 
zu  hören,  Kirchenrecht  bei  Schulte,  deutsches  Recht 
bei  dem  noch  jugendlichen  Brunner,  später  Privatrecht 
bei  Randa,  Straf  recht  bei  Merkel.  Ein  glücklicher  Zufall 
wollte  es,  daß  ich  auch  noch  griechische  Archäologie 
beiBenndorfi),  allerlei  Kunstgeschichte  bei  dem  Musik- 
historiker Ambros  hören  durfte;  die  beiden  letztge- 
nannten Lehrer  haben  mich  manches  juristische  Kolleg 
schwänzen  lassen.  Ich  komme  noch  darauf  zurück,  daß 
ich  auch  einige  öffentliche  Vorträge  von  Ernst  Mach, 
der  damals  noch  in  Prag  als  Professor  (am  Polytechni- 
kum) für  Physik  lebte,  besuchen  konnte. 

Kunstgeschichte  gehört  schon  zur  philosophischen 
Fakultät;  diese  lockte  mich  vom  ersten  Tage  an,  aber 
eigentlich  nur  durch  die  Vertreter  der  richtigen  philo- 

I)  Vgl.  Anhang  V. 

II*  163 


sophischen  Fächer.  Mein  junger  Skeptizismus  hinderte 
mich  nicht,  von  jedem  Philosophen  die  Mitteilung  der 
letzten  Geheimnisse  zu  erwarten.  Wohl  gemerkt :  von 
jedem ;  ich  hatte  keine  Ahnung  davon,  daß  es  noch  in 
der  Gegenwart  philosophische  Schulen  gäbe  und  daß 
ein  deutscher  Professor  der  Philosophie  wie  ein  Schüler 
auf  die  Worte  eines  Lehrers  eingeschworen  sein  könnte. 
Ich  sollte  es  bald  erfahren. 

Dem  Hauptprofessor  der  Philosophie,  der  über  Logik 
und  Metaphysik  las,  bin  ich  während  meiner  Studien- 
zeit und  noch  lange  nachher  nicht  gerecht  geworden; 
es  war  unerträglich,  wie  dieses  ängstliche  und  ver- 
zwickte Männchen  sein  Collegium  logicum  damit  be- 
gann, daß  er  die  Einteilung  der  vernunftbegabten  Wesen 
in  drei  Klassen  vornahm :  Gott,  Engel,  Menschen.  ,,Wir 
können  die  Logik  Gottes  und  der  Engel  nicht  fassen, 
wir  haben  uns  mit  der  Logik  der  dritten  Klasse  zu  be- 
gnügen.** Es  war,  als  ob  das  berüchtigte  Konkordat 
auf  jedes  Wort  des  Philosophielehrers  aufpaßte.  Dieses 
verzwickte  Männchen  nun  war  J.  H.  Löwe,  ein  feiner 
Kenner  der  Philosophiegeschichte ;  er  hatte  einmal  eine 
der  besten  Arbeiten  über  den  mittelalterlichen  Nomi- 
nalismus geliefert  und  bekannte  sich  in  seinen  wissen- 
schaftlichen Schriften  ganz  tapfer  zu  dem  jetzt  selten 
nur  genannten  Günther,  den  man  heute  einen  Moder- 
nisten nennen  würde  und  der  in  den  dreißiger  Jahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  durch  seine  geistreichen  und  ein 
wenig  ketzerischen  Bücher  die  katholische  Kirche  gegen 
sich  aufbrachte.  Günther  hatte  sich  der  Kirche  wenige 
Jahre  vor  seinem  Tode  unterworfen ;  sein  Jünger  Löwe 
war  nicht  tapferer  als  der  Meister  und  hütete  sich  be- 
sonders, als  Universitätslehrer  Anstoß  zu  erregen.  So 
erkläre  ich  es  mir,  daß  dieser  ganz  kluge  Kopf  uns  im 

164 


logischen  Kolleg,  das  vielleicht  ursprünglich  für  Theo- 
logen bestimmt  war,  von  Anfang  bis  zu  Ende  mit 
scholastischem  Quark  langweilte. 

Einem  zweiten  Philosophen  der  Prager  Universität 
haben  wir  schwerlich  unrecht  getan,  da  wir  seine  Vor- 
lesungen nur  besuchten,  wenn  wir  lachen  wollten;  es 
war  ein  Herr  von  Leonhardi,  Jünger  und  —  wenn  ich 
nicht  irre  —  auch  Schwiegersohn  des  edeln  und  völlig 
unklaren  Menschheitbeglückers  Krause.  Schon  der  un- 
glückliche Krause  selbst  hatte  seine  wackern  Banali- 
täten nur  mühsam  in  das  System  seines  Panentheismus 
gezwängt;  der  begeisterte  Schwiegersohn  und  Jünger 
trug  uns  das  System  in  einer  greulichen  Terminologie 
und  in  einer  so  unpräzisen  Darstellung  vor,  daß  wir 
wohl  für  zeitlebens  von  der  Philosophie  hätten  abge- 
schreckt werden  können. 

Auch  unser  dritter  Philosoph,  W.  F.  Volkmann,  war 
ein  —  aner,  aber  sein  Meister  hieß  immerhin  Herbart 
und  der  Jünger  bot  uns  nicht  Steine  statt  Brot.  Wir  hat- 
ten als  Juristen  in  einem  der  ersten  Semester  ,, prak- 
tische Philosophie*'  zu  hören,  ein  Kolleg  über  das 
menschliche  Handeln  und  über  den  menschlichen 
Willen ;  es  war  wohl  als  Vorbereitung  gedacht,  als  eine 
Vorschule  einer  Psychologie  für  Richter.  Was  Volk- 
mann über  den  menschlichen  Willen  sagen  durfte,  war 
eine  Philosophie  für  Schulbuben;  ich  habe  die  Uni- 
versität wieder  verlassen  und  keiner  meiner  Lehrer 
hat  (1869 — 1873)  uns  den  Namen  Schopenhauer  ge- 
nannt ;  auch  Volkmann  nicht,  da  er  uns  die  Lehre  von 
d^  Willensfreiheit  vortrug.  Aber  keine  Stunde  ver- 
ging, ohne  daß  er  uns  reizvolle  psychologische  Tat- 
sachen mitgeteilt  hätte.  So  entschloß  ich  mich,  auch 
das  große  Kolleg  über  Psychologie  bei  ihm  zu  hören; 

X65 


ich  habe  es  nicht  bedauert  und  gedenke  dieses  Lehrers, 
der  immer  wie  ein  entmaterialisierter  Geist  und  doch 
menschlich  zu  uns  sprach,  mit  innigster  Dankbarkeit. 

Im  Sommer  1871  mußte  ich  meine  philosophischen, 
kunsthistorischen,  theologischen  und  medizinischen 
Studien  unterbrechen,  wenn  ich  die  rechtshistorische 
Staatsprüfung,  die  für  das  Ende  des  vierten  Semesters 
vorgeschrieben  war,  mit  Hoffnung  auf  Erfolg  ablegen 
wollte.  Und  das  wollte  ich ;  ich  war  zu  hochmütig,  diese 
Büffelarbeit  nicht  zu  leisten;  acht  Wochen  mußten 
genügen  und  genügten,  weil  ich  zwanzig  Stunden  täg- 
lich büffelte;  Kirchenrecht  fiel  mir  noch  schwerer  als 
das  römische  Recht.  Ich  kam  ziemlich  gut  durchs 
Examen.  Aufs  äußerste  erschöpft,  trat  ich  am  nächsten 
Morgen  zu  meiner  Erholung  einen  Fußmarsch  an,  das 
Ränzel  auf  dem  Rücken.  Nach  dem  Böhmerwald.  Noch 
innerhalb  der  Stadt  überfiel  mich  ein  Bluthusten.  Ich 
kehrte  nicht  sofort  nach  Hause  zurück.  Ich  setzte  mich 
fiebernd  in  den  ersten  Zug,  der  vom  Westbahnhofe  ab- 
ging. Irgendwo,  wo  die  Eisenbahn  aufhörte,  lag  ich  in 
einem  Dorfwirtshaus  acht  Tage  schwer  krank.  Ohne 
Arzt.  Dann  schlich  ich  hustend  drei  Wochen  lang  durch 
den  Böhmerwald  hin  und  her.  Und  in  der  Gewißheit, 
nur  noch  kurze  Zeit  zu  leben  zu  haben,  fand  ich  mich 
selber.  Ein  Sterbender  braucht  nicht  Jura  zu  studieren, 
braucht  nicht  Advokat  zu  werden.  Auf  dieser  traurig- 
seligen, langsamen  Studentenfahrt  durch  den  Böhmer- 
wald entstand  der  größte  Teil  der  Sonette,  die  ich  dann 
—  ich  werde  die  tragikomische  Geschichte  noch  zu 
erzählen  haben  —  als  mein  erstes  Buch  herausgab. 

Vor  Beginn  des  fünften  Semesters  war  ich  also  Schrift- 
steller geworden,  der  Krankheit  verdankte  ich  die  Kraft 
zum  Entschlüsse.  Dem  schwerleidenden  Vater  zuliebe 

166 


ließ  ich  mich  noch  weitere  vier  Semester  inskribieren, 
saß  dann  einige  Monate  lang,  bis  zum  Tode  des  Vaters, 
nicht  einen  Tag  länger,  trotzig  und  ungeschickt  in 
einer  Advokatenkanzlei ;  aber  mit  meiner  Erkrankung, 
deren  bedrohliche  Erscheinungen  erst  nach  vielen  Jah- 
ren verschwanden,  war  meine  Schulzeit  vorüber. 

So  könnte  ich  denn  mit  dieser  Krankheit,  von  der 
nicht  einmal  meine  Mutter  etwas  erfuhr,  symbolisch 
meine  Schulerinnerungen  schließen.  Sollte  sie  schlie- 
ßen. Aber  wer  alte  Erinnerungen  erzählt,  wird  red- 
selig; man  plaudert  gern  von  Dingen,  die  einem  lieb 
gewesen  sind.  Es  braucht  ja  niemand  weiter  zu  lesen. 


167 


II 

iiiiiniii 


XVI.  streiche  und  Feste. 

Auf  die  Prager  Universität  waren  namentlich  wäh- 
rend der  deutschliberalen  Herrschaft  viele  Dozenten 
,,aus  dem  Reiche'*  berufen  worden.  Ich  verkehrte  in 
den  Familien  einiger  dieser  Herren  recht  viel ;  ich  ver- 
dankte diese  Freundlichkeit  —  ich  habe  außer  dem 
Strafrechtler  Merkel  besonders  den  Archäologen  Benn- 
dorf  und  den  Anatomen  Henke  zu  nennen  —  wahr- 
scheinlich dem  Umstände,  daß  ich  just  in  meinen 
letzten  Universitäts jähren  häufig  in  den  nationalen 
Kampf  hineingezogen  wurde. 

Diese  Lehrer  aus  dem  Reiche  fühlten  sich  in  Prag 
wie  in  der  Verbannung;  ihre  Frauen  sprachen  dieses 
Gefühl  ganz  offen  aus.  Die  Männer  hofften  auf  eine 
neue  Berufung  nach  einer  deutschen  Universität  oder 
auf  eine  große  Stellung  in  Wien.  Auch  in  Wien  wären 
sie  in  ihrer  politischen  Gesinnung  Deutsche  geblieben, 
wären  mit  dem  ganzen  Wesen  Österreichs  und  mit  dem 
Anwachsen  der  Slawenmacht  unzufrieden  gewesen. 
Doch  in  Prag  mußten  sie  doppelt  vorsichtig  sein,  wenn 
sie  nicht  Demonstrationen  der  Studenten  und  Denun- 
ziationen von  Seiten  ihrer  Kollegen  heraufbeschwören 
wollten ;  schon  damals  gab  es  irgendwo  in  den  höheren 
Regionen  eine  scharfe  Strömung  gegen  die  Ausländer. 
Ich  habe  es  noch  miterlebt,  wie  einige  der  besten  reichs- 
deutschen  Professoren  von  Prag  ,, weggegrault**  wurden. 

J68 


Die  Herren  hielten  sich  darum  in  ihrem  Kolleg  streng 
an  ihre  Wissenschaft,  blieben  auch  sonst  zurückhaltend 
und  bildeten  mit  ihren  reichsdeutschen  Frauen  einen 
fast  geschlossenen  Ring.  Es  war  kein  geringes  Glück 
für  einen  jungen  Studenten,  in  diesen  Kreis  zugelassen 
zu  werden.  Gegenüber  dem  Philisterium  oder  der  Fri- 
volität gar  mancher  Prager  Weiblichkeit  erschienen 
mir  alle  diese  deutschen  Professorenfrauen,  eine  wie 
die  andere,  als  ideale  Vertreterinnen  des  Geistes  und 
der  Freiheit.  Wenigstens  hatten  sie  gute  Bücher  ge- 
lesen und  ein  ernstes  Gespräch  brauchte  in  ihrer  Ge- 
genwart nicht  zu  stocken. 

Einen  größeren  Einfluß  auf  die  ganze  Studentenschaft 
übten  einige  einheimische  Professoren,  welche  nicht 
schwarzgelbe  Österreicher  waren.  Unser  burschikoser 
Freund  war  der  schwungvolle  Nationalökonom  Karl 
Thomas  Richter,  der  übrigens  ein  recht  starkes  Dichter- 
talent besaß.  Ich  bin  später  jahrelang  fast  täglich  bei 
ihm  gewesen,  oft  für  den  ganzen  Abend ;  ich  weiß  am 
besten,  wie  er  uns  Studenten  unsere  weltbewegenden  Ent- 
schlüsse mitunter  soufflierte ;  er  gehört  auch  irgendwie 
—  hinter  den  Kulissen  —  zu  den  drei  Erlebnissen,  über 
die  ich  noch  berichten  will.  Vorher  noch  einen  kurzen 
Überblick  über  die  politische  oder  vielmehr  nationale 
Lage  der  Dinge  an  unserer  Universität. 

Zu  meiner  Zeit  wurde  die  einheitliche  deutsche  Uni- 
versität Prag  von  ungefähr  achthundert  Deutschen  und 
eintausendfünfhundert  Tschechen  besucht.  Die  Mehr- 
heit war  also  bei  den  Gegnern.  Im  Lehrkörper  dagegen 
gab  es  nur  eine  Minderheit  von  tschechischen  Dozen- 
ten, unter  ihnen  eine  so  bedeutende  Kraft,  wie  den 
Zivilrechtslehrer  Randa.  Die  Gründung  einer  selb- 
ständigen tschechischen  Universität  stand  schon  da- 

169 


mals  auf  dem  Programm  der  tschechischen  Politiker. 
Alle  Vorsicht  der  reichsdeutschen  Professoren  konnte 
es  nicht  hindern,  daß  die  tschechischen  Studenten  auf 
Befehl  ihrer  politischen  Führer  Ungelegenheiten  mach- 
ten ;  bot  sich  ein  passender  Anlaß  dar,  so  wurden  den 
Deutschen  die  Fenster  eingeworfen  oder  sie  wurden 
auch  persönlich  bedroht.  Bei  solchen  Tätlichkeiten 
machte  der  Prager  Pöbel  mit  den  tschechischen  Stu- 
denten gern  gemeine  Sache;  uns  deutschen  Studenten 
fiel  es  an  den  großen  Kampftagen  zu,  unsere  Professoren 
zu  verteidigen;  das  war  mitunter  eine  recht  schwere 
Aufgabe,  weil  wir  dem  tschechischen  Pöbel  keinen 
deutschen  Pöbel  gegenüberzustellen  hatten.  Ich  ge- 
brauche das  Wort  ,, Pöbel**  nicht  gern;  ich  will  lieber 
sagen:  wir  konnten  den  tschechischen  Massen  keine 
deutschen  Massen  gegenüberstellen.  Ein  ehrlicher 
Mann  muß  sagen,  daß  Prag  wirklich  längst  keine  deut- 
sche Stadt  mehr  war. 

Wir  waren  also  die  Leibgarde  der  deutschen  Pro- 
fessoren und  trugen  diese  Bürde  mit  viel  Pathos,  mit- 
unter auch  mit  sträflichem  Übermut. 

Tschechische  und  deutsche  Studenten  hatten  durch- 
aus getrennte  Organisationen.  Wir  trafen  einander  im 
Kolleg,  kannten  einander  aber  kaum ;  es  kam  vor,  daß 
ein  Deutscher  und  ein  Tscheche,  die  auf  dem  Gymna- 
sium Freunde  gewesen  waren,  einander  nicht  mehr 
grüßten.  Da  zwischen  Tschechen  und  Deutschen  der 
sogenannte  ,, Komment**  nicht  bestand,  so  existierte 
zwischen  den  beiden  feindlichen  Parteien  nicht  einmal 
die  alte  Institution  der  Mensur.  Der  ganze  offizielle  Ver- 
kehr bestand  darin,  daß  in  friedlichen  Zeitläuften  beim 
deutschen  Studentenball  einige  Tschechen  im  hübsch 
und  gut  erfundenen  nationalen  Schnürrock  erschienen, 

170 


beim  tschechischen  Studentenballe  einige  Deutsche  in 
Wichs  oder  im  Frack.  Kam  es  dann  zu  kritischen  Tagen, 
so  wurde  ohne  jeden  Komment  geholzt;  mit  recht 
blutigem  Ausgang  mitunter,  wie  man  weiß.  Meine  Uni- 
versitätsjahre gehörten  in  dieser  Beziehung  wohl  zu 
den  schlimmsten.  Bald  darauf  kam  es  zu  einer  Zer- 
reißung in  eine  deutsche  und  eine  tschechische  Uni- 
versität ;  damit  waren  die  Reibungsflächen  kleiner  ge- 
worden und  der  Vernichtungskampf  gegen  die  Farben 
der  deutschen  Studenten  spielte  sich  nicht  auf  der 
Universität  ab,  sondern  beim  Straßenbummel  auf  dem 
,, Graben'*,  der  breitesten  und  vornehmsten  Straße  der 
Stadt;  auf  dem  Graben  (offiziell:  Kolowratstraße)  ent- 
wickelt sich  allmittäglich  noch  heute  der  Korso  von  Prag. 
Es  gab  in  Prag  deutsche  Studentenverbindungen  aller 
Art.  Ich  war  damals  der  Meinung,  daß  diese  Nach- 
ahmungen deutschen  Wesens  an  ihre  Vorbilder  nicht 
heranreichten ;  ein  so  ideales  Bild  machte  ich  mir  von 
den  Korps  und  Burschenschaften  der  deutschen  Uni- 
versitäten. Für  eine  progressionistische  Burschenschaft, 
die  meines  Erinnerns  großdeutsch  war,  ganz  und  gar 
nicht  schwarzgelb,  und  dann  aufgelöst  wurde,  wurde 
ich  gekeilt ;  ich  wurde  nur  für  kurze  Zeit  Konkneipant. 
Ich  war  doch  wohl  zu  selbständig  geworden,  um  mich, 
der  ich  sogar  in  wissenschaftlicher  und  literarischer 
Arbeit  jede  äußere  Disziplin  haßte,  einer  Disziplin  des 
Saufens  zu  unterwerfen;  ich  bin  ohne  jede  Disziplin 
dennoch  ein  recht  trinkfester  Mann  und  ein  recht  flei- 
ßiger Arbeiter  geworden.  Ich  muß  aber  eingestehen,  daß 
mein  Fernbleiben  von  einem  flotten  Studentenleben 
vielleicht  überdies  eine  viel  kläglichere  Ursache  hatte : 
ich  hatte  nicht  Taschengeld  genug.  Zwar  hatten  die 
Verwandten,  die  meinen  Vater  um  sein  Vermögen  ge- 

171 


bracht  hatten,  sich  wieder  emporgearbeitet,  machten 
ihre  Schuld  nach  Möglichkeit  wieder  gut  und  mein 
Vater  kehrte  in  den  früheren  bescheidenen  Wohlstand 
zurück;  aber  sein  strenger  Gerechtigkeitssinn  duldete 
es  nicht,  daß  einer  der  Söhne  vor  den  andern  bevorzugt 
würde.  Wenn  ich  den  Wunsch  hätte,  sauber  gekleidet 
zu  gehen  und  an  Kneipereien  teilzunehmen,  so  müßte 
ich  mir  das  Geld  dazu  selber  verdienen.  Ich  empfand 
diese  Gerechtigkeit  damals  mit  Unrecht  als  eine  Unge- 
rechtigkeit gegen  den  Studenten.  Ich  versuchte  es, 
Privatunterricht  zu  erteilen,  spann  aber  keine  Seide 
damit;  ein  Deutsch-Amerikaner,  dem  ich  eine  bessere 
schriftliche  Behandlung  des  Deutschen  beibringen  sollte, 
entschloß  sich,  Schauspieler  zu  werden  und  verzichtete 
auf  weitere  Stunden ;  ein  Gymnasiast,  dessen  Griechisch 
ich  aufmuntern  sollte,  sattelte  zornig  um  und  wurde 
Bierbrauer.  Später  erst  schrieb  ich  auch  einige  Aufsätze, 
die  abgedruckt  wurden,  aber  eine  Bezahlung  erhielt 
ich  nicht.  So  mußte  ich  erst  recht  darauf  verzichten, 
das  kostspielige  Verbindungsleben  mitzumachen. 

Doch  gab  es  einen  andern  Sammelpunkt  für  uns, 
die  ,, Lesehalle  der  deutschen  Studenten'* ;  es  war  Ehren- 
sache für  jeden  deutschen  Studenten,  für  die  Finken 
sowohl  wie  für  die  farbentragenden  jungen  Herren,  der 
„Halle'*  als  Mitglied  anzugehören.  In  der  Halle  wurde 
weder  gefochten  noch  gekneipt.  An  kritischen  Tagen 
wurden  dort  die  entscheidenden  Beschlüsse  gefaßt.  Sonst 
war  die  Halle  unser  Lesesaal  und  unser  Debattierklub. 
In  einzelnen  wissenschaftlichen  Sektionen  wurden  von 
uns  —  es  war  eine  neue  Einrichtung  —  wissenschaft- 
liche Vorträge  gehalten.  Wir  hatten  gewiß  ein  kurzes 
Gedärm.  Ich  werde  daran  erinnert,  daß  ich  einmal  eine 
sehr  kirchenfeindliche  Vorlesung  über  den  Kaiser  Julia- 

172 


nus  hielt,  ein  andermal  eine  (bessere)  Arbeit  über  Scho- 
penhauer vorlas. 

Mein  engerer  Kreis  bestand  aus  prächtigen  ernsten 
Burschen ;  und  gerade  darum  denke  ich  oft  und  auch 
gern  an  die  törichten  Kämpfe  in  der  Halle  zurück. 
Wenn  wir  alten  Kameraden  uns  nach  Jahren  wieder  ein- 
mal treffen,  dann  sagt  gewiß  bald  einer  zum  andern : 
,, Weißt  du  noch?'*  Und  dann  sprechen  wir  von  den 
alten  Zeiten  der  Halle  i).  Und  dann  sprechen  oder 
sprachen  wir  besonders  gern  von  den  drei  Ereignissen, 
über  die  ich  noch  berichten  will.  Bei  der  ersten  Ge- 
schichte, dem  Falle  Linker,  war  ich  fast  nur  als  Zu- 
schauer beteiligt ;  beim  Falle  Krainc  war  ich  der  Rädels- 
führer, und  bei  der  Fahrt  nach  Straßburg  bin  ich  gottlob 
auch  dabei  gewesen. 

Der  Fall  Linker  verlief  schlicht  und  einfach.  Dieser 
wackere  Professor  der  Altphilologie  hatte  eine  Herzens- 
freude an  der  Wiederaufrichtung  des  deutschen  Kaiser- 
reichs ;  und  weil  er  ein  gelehrter  Herr  war,  verfaßte  er 
kurz  nach  der  Kaiserproklamation  eine  lateinische  Ode 
auf  den  Kaiser  Wilhelm.  Sie  war  in  einem  schwierigen 
Versmaß  gebaut.  Er  ließ  die  Ode  fein  sauber  drucken, 
mit  einem  schwarz-weiß-roten  oder  vielleicht  auch 
schwarz-rot-goldenen  Rand.  Auf  jeden  Platz  seines 
kleinen  Hörsaals  legte  er  eines  schönen  Morgens  ein 
Exemplar  dieser  Ode  nieder.  Das  war  sehr  freundlich 
von  ihm ;  nur  hatte  der  brave  Dichtersmann  vergessen 
oder  nicht  beachtet,  daß  mehr  als  drei  Viertel  seiner 
Zuhörer  Tschechen  waren.  Als  nun  Linker  nach  der 
akademischen  Viertelstunde  sein  Katheder  bestieg,  in 
bescheidener  Erwartung  von  Ehrungen,  wurde  er  von 
den  tschechischen  Studenten  hinausgeschmissen.  Das 

I)  Vgl.  Anhang  VI. 


Hörsälchen  lag  parterre  und  so  passierte  ihm  nicht 
viel,  nicht  einmal  so  viel,  wie  den  böhmischen  Statt- 
haltern, die  anno  1618  auf  dem  Hradschin  po  staro- 
cesku  (auf  Altböhmisch)  zum  Fenster  hinausgeworfen 
wurden.  Wenn  ich  mir  die  Sache  heute  recht  überlege, 
so  hatte  Linker  für  seine  Taktlosigkeit  eine  kleine 
Strafe  wohl  verdient.  Wer  andern  seine  Gedichte  vor- 
legt, und  gar  wenn  sie  politisch  und  lateinisch  sind, 
setzt  sich  immer  der  Gefahr  aus,  hinausgeschmissen 
zu  werden.  Damals  aber  kamen  wir  erregt  in  der  Halle 
zusammen  und  erkannten  unsere  Pflicht,  den  ,, Mär- 
tyrer der  deutschen  Wissenschaft"  zu  schützen.  Vierzig 
oder  fünfzig  Mediziner  und  Juristen  besetzten  am  näch- 
sten Morgen,  mit  ordentlichen  Stöcken  bewaffnet,  den 
kleinen  Hörsaal  und  ließen  sich  von  dem  tapferen  Pro- 
fessor, der  vom  Rector  magnificus  bis  an  die  Tür  des 
Auditoriums  geleitet  worden  war,  ein  bißchen  Philo- 
logie vortragen.  Das  ging  so  zwei  oder  drei  Tage  lang, 
bis  die  Tschechen  es  satt  bekamen  und  ihrerseits  auf 
dem  Schauplatz  erschienen;  viele  hundert  Mann  mit 
ebensoviel  hundert  Stöcken  besetzten  die  Höfe  des 
Klementinums.  Kaum  hatten  wir  das  erfahren,  als 
auch  wir  uns  sammelten,  etwa  halb  so  viel  Mann  und 
halb  so  viel  Stöcke.  Viele  hundert  Studenten  standen 
einander  so  kampfbereit  gegenüber.  In  beiden  Lagern 
wurden  zündende  Reden  gehalten  und  das  Ende  der 
Schlacht  mußte  nach  der  Lage  der  Dinge  nicht  eben 
spaßhaft  werden.  Da  rückte  plötzlich  die  Polizeimacht 
an,  eine  große  Abteilung  mit  einem  Offizier  an  der 
Spitze.  Ohne  jede  Verabredung  war  ein  Waffenstill- 
stand zwischen  Deutschen  und  Tschechen  sofort  zu- 
stande gekommen;  unter  uns  jungen  Leuten  wenig- 
stens ging  die  ,,Ehre'*  über  die  Nationalität.  Unsere 

174 


Führer,  zu  denen  ich  leider  nicht  gehörte,  traten  dem 
Offizier  entgegen ;  Tschechen  und  Deutsche  verlangten 
gemeinsam  den  Abzug  der  Polizei ;  wir  hätten  ein  altes 
Recht  auf  den  Boden  unserer  Universität,  da  hätte  uns 
kein  Gott  und  kein  Teufel  darein  zu  reden.  Nach  einigem 
Hin-  und  Herreden  verstieg  sich  der  Offizier  zu  der 
Drohung,  die  Höfe  mit  Waffengewalt  räumen  zu  lassen. 
Wieder  kann  ich  nicht  sagen,  wie  ein  solcher  Konflikt 
etwa  in  Preußen  geendet  hätte.  Bei  uns  siegte  —  ja 
was  denn  ?  Der  Offizier  rückte  mit  seinen  Leuten  wieder 
ab.  Unser  Triumph  ließ  uns  vergessen, weshalb  wir  die 
Stöcke  mitgebracht  hatten.  Wir  eilten  in  einige  Kneipen 
und  die  Tschechen  warfen  dem  Professor  Linker  die 
Fenster  ein.  Damit  war  die  Affäre  Linker  beigelegt,  ich 
muß  bekennen:  zu  allgemeiner  Zufriedenheit.  Wir 
waren  nicht  mit  ganzem  Herzen  dabei  gewesen. 

Zu  Beginn  des  Wintersemesters,  im  Oktober  1871, 
folgte  der  Fall  Krainc ;  über  diese  Geschichte  kann  ich 
gut  berichten,  ganz  genau  eigentlich  ich  allein,  wenn 
anders  meine  Erinnerung  in  mehr  als  vierzig  Jahren 
nicht  gefälscht  worden  ist.  Aber  auch  ich  weiß  über  die 
Vorgeschichte  nichts  zu  sagen,  als  was  wir  jungen 
Leute  damals  über  die  österreichischen  Verhältnisse 
dachten.  Das  deutschliberale  Bürgerministerium  war 
schon  vor  dem  Deutsch-Französischen  Kriege  gestürzt 
worden.  Bismarck  erreichte  es  zwar,  von  den  Magyaren 
unterstützt,  daß  Österreich  (gegen  den  Willen  der 
katholischen,  deutschfeindlichen  Hof  partei)  währenddes 
Krieges  neutral  blieb ;  aber  unmittelbar  nach  dem 
Kriege  setzte  die  Slawisierung  Österreichs  ein.  Man 
nannte  das:  Versöhnung  der  nichtdeutschen  Völker- 
schaften. Im  Frühjahr  1871  wurde  ein  konservativ- 
slawisches Ministerium  ernannt,  in  welchem  der  Tsche- 

175 


che  Jiretschek  das  Unterrichtsministerium  innehatte. 
Das  Konkordat  mit  Rom  war  zwar  nach  dem  Vati- 
kanum  aufgehoben  worden,  aber  mit  um  so  größerem 
Zorn  wurde  dieses  Ministerium,  wurde  von  den  Deut- 
schen dieses  Ministerium  Hohenwart-Habietinek- Jiret- 
schek als  junkerlich,  tschechisch  und  pfäf fisch  im  all- 
gemeinen verurteilt.  Doch  machte  es  auf  uns  keinen 
besonderen  Eindruck,  als  der  neue  Unterrichtsminister 
unsern  alten  Zivilrechtslehrer  Schneider  pensionierte 
und  an  seine  Stelle  den  Professor  Krainc  setzte,  der 
ein  Slowene  war  oder  doch  dafür  galt.  Man  hat  es  später 
so  dargestellt,  als  ob  wir  deutschen  Studenten  zu  un- 
serer schrecklichen  Tat  von  unsern  politischen  Führern 
angestiftet  worden  wären ;  ich  weiß  am  besten,  daß  dem 
nicht  so  war.  Weder  diese  Herren  noch  auch  unser  be- 
währter Freund  Karl  Thomas  Richter  wußten  irgend 
etwas  vor  geschehener  Tat ;  erst  nachher  hielten  sie  ihre 
schützende  Hand  über  uns. 

Ich  habe  schon  erzählt,  wie  mir  damals  nach  dem 
Staatsexamen  und  der  Erkrankung  zumute  war,  wie 
ich  dichtete  und  die  Juristerei  an  den  Nagel  gehängt 
hatte.  Außerdem  war  ich  in  jenen  Tagen  gerade  stein- 
unglücklich. Man  errät,  worüber  ein  dichtender  Jurist 
von  noch  nicht  zweiundzwanzig  Jahren  steinunglück- 
lich ist:  sie  war  wunderbar  schön,  sie  achtete  mich, 
aber  erwiderte  meine  Liebe  nicht.  In  dieser  Stimmung 
saß  ich  unter  zwei-  bis  dreihundert  Kollegen,  welche 
sich  die  Antrittsvorlesung  des  neuen  Professors  anhör- 
ten. Neben  mir  mein  lieber  Freund  Viktor  Lenk.  Der 
Professor  hielt  seine  Rede  in  recht  mangelhaftem 
Deutsch,  langweilig,  geistlos,  schulmeisterlich.  Ich 
habe  mir  später  sagen  lassen,  Krainc  sei  ein  ganz  tüch- 
tiger Fachmann  gewesen;  davon  ahnten  wir  damals' 

176 


nichts.  Er  schloß  seinen  Vortrag  mit  den  nicht  eben 
begeisternden  Worten:  ,,Also  schreiben  Sie  nur  fleißig 
mit,  meine  Herren!"  Die  nach  Form  und  Inhalt  elende 
Rede  konnte  wirklich  nur  Mitleid  erregen,  der  pennäler- 
hafte Schluß  die  studentische  Entrüstung. 

Ich  hatte  nur  mit  halbem  Ohr  zugehört  und  war  im 
allgemeinen  zu  unglücklich,  um  über  diese  Antritts- 
vorlesung selbst  in  Zorn  zu  geraten.  Da  steht  alles 
auf  und  mein  Freund  sagt  zu  mir:  ,,Das  ist  wirklich 
ein  Skandal!'*  Ein  Ventil  für  meinen  Jammer.  Ich 
schreie  in  Gegenwart  des  Professors  und  Rektors,  die 
einige  Höflichkeiten  austauschen,  meinen  Kommili- 
tonen zu:  ,,Das  ist  ein  Skandal!*'  Man  ist  dergleichen 
Meinung,  man  schüttelt  mir  die  Hände.  Jetzt  muß 
etwas  geschehen.  Wir  überlegen  nicht  lang.  Schnur- 
stracks marschieren  wir,  acht  oder  zehn  deutsche 
Juristen,  nach  dem  Franzenskai,  nach  der  Wohnung 
des  pensionierten  Lehrers,  der  uns  vorher  der  gleich- 
gültigste Mensch  gewesen  war,  und  fordern  ihn  auf, 
seine  Vorlesungen  einfach  wieder  aufzunehmen;  der 
Slowene  wäre  gar  zu  dumm  und  könnte  nicht  Deutsch. 
Der  deutsche  alte  Herr  war  natürlich  sehr  überrascht; 
er  weinte  vor  Freude,  und  das  ist  mir  die  liebste  Erin^ 
nerung  an  die  ganze  Heldentat.  Dann  setzte  er  uns 
aber  auseinander,  er  wäre  entlassen  und  dürfte  nicht 
so  ohne  weiteres  lesen ;  er  brauchte  dazu  ein  Wort  des 
Ministers.  Die  Antwort  auf  eine  Eingabe  würde  auf 
sich  warten  lassen.  Wir  aber  konnten  nicht  warten; 
wir  mußten  uns  inskribieren  lassen  und  wollten  das 
bei  dem  Slowenen  nicht  tun.  Da  warf  der  alte  Professor 
Schneider  in  seiner  Herzenseinfalt  selbst  das  Wort  hin, 
wir  könnten  ja  auch  telegraphieren.  Wir  drückten  ihm 
feurig  die  Hand  und  gingen  telegraphieren.  Das  ist  der 

12  177 


wahrheitsgetreue  Verlauf  des  ersten  Aktes  einer  Ge- 
schichte, hinter  der  man  eine  wohlvorbereitete  politische 
Intrige  gesucht  hat.  In  Wirklichkeit  war  es  die  Im- 
provisation politisch  erregter  Studenten  unter  Führung 
eines  verliebten  Jünglings  von  der  traurigen  Gestalt. 

Ich  sehe  noch  heute  kein  Arg  darin,  daß  wir  unserer 
Unzufriedenheit  Ausdruck  gaben,  daß  wir  uns  im  fünf- 
ten Semester  nicht  mehr  wie  Schulbuben  belehren  lassen 
wollten.  Schlimm  wurde  die  Sache  erst  gerade  dadurch, 
daß  wir  keinen  unserer  unparteiischen  deutschen  Pro- 
fessoren um  Rat  fragten  und  das  Telegramm  in  un- 
schicklichen Ausdrücken  abfaßten.  Nach  meiner  Er- 
innerung hatte  es  folgenden  Wortlaut:  ,,An  den  Herrn 
Unterrichtsminister  in  Wien.  Wir  ersuchen  um  so- 
fortige Rehabilitierung  unseres  verehrten  Professors 
Schneider,  da  Ihr  Schützling  (oder:  Ihr  Professor) 
Krainc  unsere  Wissenschaft  und  unsere  deutsche 
Muttersprache  in  Gefahr  bringt.  Im  Namen  der  deut- 
schen Juristen  Prags.**  Es  folgten  unsere  Unterschrif- 
ten, die  Namen  von  uns  acht  oder  zehn  Burschen,  die 
wir  losgegangen  waren.  Das  Telegramm  war  abgeschickt, 
bevor  noch  eine  Stunde  nach  dem  Schlüsse  der  Antritts- 
vorlesung vergangen  war.  Dieses  niedliche  Telegramm 
hatte  ich  aufgesetzt ;  ich  hafte  aber  nicht  für  die  Rich- 
tigkeit jeder  Silbe.  Ich  besitze  kein  Archiv  meines  Le- 
bens ;  auch  bin  ich  nicht  ganz  sicher,  ob  nicht  auf  dem 
Telegraphenamte  irgendein  kleines  Amendement  vor- 
geschlagen und  angenommen  wurde. 

Nachträglich  fiel  einem  von  uns  ein  —  ich  war  nicht 
so  besonnen  — ,  daß  es  nicht  gut  anginge,  im  Namen 
der  deutschen  Rechtshörer  zu  handeln,  ohne  uns  ihrer 
Zustimmung  versichert  zu  haben.  Die  wurde  rasch  nach- 
geholt.  Wir  beriefen  eine  Versammlung  in  der  Halle 

178 


ein  und  legten  der  Korona  noch  am  gleichen  Tage 
unser  Telegramm  vor.  Als  es  nicht  sofort  gutgeheißen 
wurde,  als  ängstliche  oder  vernünftige  Kollegen  den 
Wortlaut  tadelten,  da  blieb  uns  nichts  anderes  übrig, 
als  ein  Geständnis  abzulegen.  Daß  wir  nämlich  das 
Telegramm  schon  abgeschickt  hätten.  Die  Korona  ließ 
uns  nicht  im  Stich ;  uns  wurde  Indemnität  erteilt,  das 
Telegramm  wurde  anerkannt.  Und  das  war  gut.  Denn 
schon  am  nächsten  Morgen  wurden  wir  Rädelsführer 
vor  den  Dekan  unserer  Fakultät  zitiert,  um  uns  zu  ver- 
antworten. Der  freundliche  Dekan,  der  vorzügliche 
Pandektist  Karl  von  Czyhlarz,  ein  fester  Deutschböhme, 
fragte  uns  nicht  allzustreng,  ob  wir  wirklich  diese 
Eingabe  an  den  Herrn  Minister  verfaßt  und  unter- 
schrieben hätten.  Das  Telegramm  lag  zerknittert  auf 
dem  Tische ;  wir  sahen  ordentlich  oder  glaubten  zu 
sehen,  mit  welcher  Wut  der  hochmögende  Herr  Mini- 
ster das  Blatt  zusammengeknüllt  hatte.  Auf  eine  wei- 
tere Frage  des  Dekans  konnten  wir  bestätigen,  daß  alle 
deutschen  Juristen  Prags  hinter  uns  stünden. 

Über  die  Folgen  unseres  jugendlichen  Streichs  blieben 
wir  etwa  zwei  Monate  im  ungewissen,  weil  über  unsere 
Bestrafung  sich  ein  Kompetenzkonflikt  erhob.  Der  Mi- 
nister verlangte  unsere  Verurteilung  durch  den  ordent- 
lichen Strafrichter,  was  uns  vielleicht  übel  bekommen 
wäre ;  die  Universität  bestand  darauf,  uns  vor  ihr  Diszi- 
plinargericht zu  ziehen.  Ich  war  immer  sehr  genau 
davon  unterrichtet,  wohin  in  diesem  Kompetenzkon- 
flikte just  das  Zünglein  an  der  Wage  neigte.  Die  reichs- 
deutschen  Professoren  gaben  mir  ihr  Wohlwollen  deut- 
lich zu  erkennen.  Einer  von  ihnen,  der  heute  noch  in 
Deutschland  viel  genannt  wird,  der  von  mir  besonders 
hochgeschätzte  Strafrechtler  und  Rechtsphilosoph  Adolf 


12* 


179 


Merkel,  kam  öfter  zu  mir  auf  meine  Bude,  ließ  sich 
alles  genau  erzählen,  sprach  schmunzelnd  von  ,, star- 
kem Tobak"  und  davon,  was  mit  uns  geschehen  müßte. 
Dem  Richter  würden  wir  nicht  ausgeliefert  werden; 
aber  das  Universitätsgericht  würde  zwei  von  uns  rele- 
gieren müssen,  mich  und  einen  meiner  Freunde,  der 
bei  dem  Verhör  seine  Mitschuld  ein  wenig  vergrößert 
hatte.  Auch  ein  Deutschösterreicher,  eben  Karl  Thomas 
Richter,  versicherte  mich  unter  kräftigen  Händedrücken, 
er  würde  für  meine  Relegation  stimmen.  Und  die  wärm- 
sten Empfehlungen  für  deutsche  Universitäten  wurden 
mir  versprochen,  nach  Jena,  Heidelberg  oder  Marburg. 
Ich  durfte  das  Gefühl  haben,  den  deutschen  Professoren 
eine  diebische  Freude  bereitet  zu  haben.  Ich  sah  meiner 
Relegation  mit  Vergnügen  entgegen,  aber  doch  eigentlich 
ohne  Begeisterung.  ,,Sie**  erwiderte  meine  Liebe  immer 
noch  nicht,  und  da  war  ja  alles  übrige  gleichgültig. 

Im  November  lasen  wir  eines  Tages  in  der  Zeitung, 
das  Ministerium  Hohenwart-Habietinek-Jiretschek  wäre 
gestürzt.  Wenige  Tage  später  wurden  wir  Missetäter 
abermals  vom  Pedell  zum  Herrn  Dekan  zitiert.  Wir 
wußten  schon,  es  würde  uns  nicht  an  den  Kragen 
gehen.  Der  Dekan  setzte  zwar  seine  Amtsmiene  auf  und 
verdonnerte  uns  ein  bißchen,  dann  aber  teilte  er  uns 
mit,  der  akademische  Senat  wäre  übereingekommen, 
es  bei  einer  Rüge  bewenden  zu  lassen ;  und  damit  keiner 
von  uns  in  seiner  Laufbahn  geschädigt  würde,  sollte 
diese  mündliche  Rüge  in  unser  Absolutorium  schrift- 
lich nicht  eingetragen  werden.  Er  reichte  jedem  von 
uns  die  Hand  und  sagte  urgemütlich:  ,, Nicht  wahr, 
solange  ich  Dekan  bin,  tun  Sie  so  etwas  nicht  wieder  I 
Ich  habe  zu  viel  Ärger  davon  gehabt.**  Wir  verließen 
das  Universitätsgebäude  mit  dem  stolzen  Gefühle,  zum 

i8o 


Sturze  eines  Ministeriums  etwas  beigetragen  zu  haben. 
Wir  tranken  viel  an  diesem  Tage.  Wir  haben  es  gut 
gemeint.  Sie  haben  es  auch  gut  gemeint,  die  den  Slo- 
wenen nachher  recht  schlecht  behandelten,  es  sogar 
zu  Realinjurien  kommen  ließen;  ich  glaube  jetzt,  wir 
können  es  doch  nicht  verantworten,  wie  wir  dem  armen 
Krainc  weh  getan  haben. 

Vielleicht  habe  ich  es  meiner  entscheidenden  Anteil- 
nahme an  der  Affäre  Krainc  zu  verdanken,  daß  ich 
von  dem  dritten  Ereignis  meiner  Universitätszeit  als 
von  dem  größten  Erlebnisse  meiner  Schulzeit  reden 
darf.  Die  Gründung  der  Straßburger  Universität  sollte 
am  I.  Mai  1872  gefeiert  werden.  Auch  Prag  war  einge- 
laden. Die  älteste  deutsche  Universität  sollte  der  jung- 
jüngsten Schwester  ihre  Glückwünsche  überbringen. 
Und  in  mir  jubelt  heute  noch  etwas  auf,  wenn  ich  daran 
denke,  daß  ich  in  die  Deputation  der  deutschen  Stu- 
dentenschaft Prags  gewählt  wurde.  Schwer  war's  frei- 
lich, das  bißchen  Reisegeld  aufzutreiben.  Schwer  war's, 
unsern  Rector  magnificus  mitzuschleppen,  mehr  fast 
durch  Gewalt  als  durch  Überredung ;  er  war  Deutscher, 
aber  ein  katholischer  Herr.i)  Schwer  war's,  meine  Mutter 
zu  beruhigen,  als  die  tschechischen  Zeitungen  jeden 
sehr  ernsthaft  bedrohten,  der  nach  Straßburg  mitginge, 
als  die  tschechischen  Studenten  in  einem  Telegramm 
an  Gambetta  wieder  unter  Drohungen  gegen  die  Ver- 
tretung Prags  in  Straßburg  protestierten.  Schwer  war 
manche  ganz  lächerliche  Kleinigkeit,  die  meiner  unver- 
geßlichen Frühlingsfahrt  hindernd  in  den  Weg  treten 
wollte.  Aber  was  tat's?  Ich  bin  doch  dabei  gewesen. 

1)  Es  war  der  Historiker  Konstantin  von  Höfler,  ein  Bayer,  der  seine  Mün- 
chener Professur  verloren  hatte,  als  er  sich  1847  der  Bewegung  gegen  die 
Tänzerin  Lola  Montez  anschloß;  er  war  1851  nach  Prag  berufen  worden. 

181 


Wie  mir  in  diesen  Tagen  einer  immerwährenden  Be- 
zechtheit  und  anderer  seligerer  Räusche  zum  ersten 
Male  die  Gestalt  Bismarcks  aufging  und  wie  sich  damals 
schon,  besonders  während  der  Heimkehr  auf  einsamen 
Wanderungen  am  Rhein  und  am  Neckar,  die  Ideen  zu 
kristallisieren  begannen,  denen  ich  erst  mehr  als  zwan- 
zig Jahre  später  meine  beste  Arbeitskraft  widmen  sollte, 
werde  ich  noch  berichten.  Keinem  Teilnehmer  kann 
die  Erinnerung  an  diese  Feste  geschwunden  sein;  mir 
waren  sie  wie  eine  Taufe  des  heiligen  Geistes. 

Ein  Zufall  wollte  es,  daß  ich  den  Abschluß  meiner 
Schuljahre  und  die  Abstemplung  zum  Schriftsteller  an 
diese  Frühlingsfahrt  knüpfen  kann.  Ein  unbedeutendes 
Wort,  das  mir  damals  eine  Promovierung  schien.  Zu 
den  gefeierten  Gästen  der  Feier  gehörte  auch  Berthold 
Auerbach.  Auf  der  Fahrt  nach  dem  Odilienberg,  im 
Eisenbahnwagen,  redete  er  mich  an,  der  ich  ihn  nicht 
kannte.  Er  fragte  ein  bißchen  viel  und  als  ich  mit  Er- 
öffnungen zögerte,  nannte  er  seinen  Namen.  ,, Berthold 
Auerbach.*'  Herzensgut  und  kindlich  eitel,  wie  ich  ihn 
später  in  Berlin  immer  mehr  kennenlernte.  Ich  war 
beglückt  und  gab  nun  jede  Auskunft.  Plötzlich  sagte 
er  zu  mir:  ,,Sie  haben  Tinte  an  den  Fingern,  junger 
Mann.**  Ich  empfand  das  als  eine  Auszeichnung;  Auer- 
bach hatte  mich  zum  Schriftsteller  ernannt  i). 

I)  Vgl.  Anhang  VII. 


182 


llllllilllllllillllllillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll1l!!IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIH^^^^^ 

IIIIIHIIHItlllllllllllllllMIIMIIIIIIIIMMIIIIIIIMIIIIMIIIIMIMIIIinilMllllllllllllltlinilllllMIIMIMMHIIItlllllttlinilllltlllinMIIIIIIIIMIMIIIIII 


XVII.  Die  erste  Druckerschwärze. 

Ich  war  just  22  Jahre  alt  geworden,  als  ich  das 
Abenteuer  erleben  sollte,  die  erste  eigene  Arbeit  ge- 
druckt zu  sehen.  Schwarz  auf  weiß.  In  einer  richtigen, 
wenn  auch  nicht  ganz  richtig  gehenden  Zeitung.  In 
Prag.  Im  ,, Tagesboten  aus  Böhmen**.  Ich  wurde  etwa 
zwei  Jahre  später  ein  Mitarbeiter  an  diesem  Blatte  und 
werde  darum  noch  über  den  starken  Geist  und  den 
schwachen  Betrieb  des  ,, Tagesboten**  ausführlich  zu 
berichten  haben.  Das  Blatt  lehrte  mich  die  idealistisch- 
grotesken Untergründe  der  Journalistik  kennen,  wie 
etwa  ein  junger  Schauspieler  nicht  eben  gerade  am 
Wiener  Burgtheater  stehen,  gehen  und  sprechen  lernen 
mag. 

Mein  erster  Aufsatz  galt  seltsamerweise  einem  Mu- 
siker. Ich  hatte  im  Wintersemester  nach  meinem  Staats- 
examen wieder  ein  Kolleg  bei  A.  W.  Ambros  belegt, 
bei  dem  berühmten  Musikhistoriker.  Der  entzückend 
wunderliche  Mann  war  seines  bürgerlichen  Zeichens 
Staatsanwalt  am  Prager  Landesgericht;  dann  hatte  er 
daneben  auf  dem  Polytechnikum  über  italienische  Ma- 
lerei lesen  dürfen;  und  seit  einigen  Jahren  las  er  auf 
der  Universität  über  Musik.  Der  Musik  galt  seine  ganze 
Liebe  und  Sehnsucht.  Als  Komponist  soll  er  nicht  Eigener 
genug  gewesen  sein :  als  Kenner  und  Liebhaber  der 
Musik  hatte  er  kaum  seinesgleichen.  Mein  lieber  Mit- 

183 


Schüler  August  Freund  aus  Jungbunzlau,  ein  tüchtiger 
Klavierspieler,  hatte  mich,  der  ich  keine  Note  lesen 
oder  gar  singen  konnte,  davon  überzeugt,  daß  ich  bei 
Ambros  Theorie  und  Musikgeschichte  hören  müßte. 
An  unserer  Prager  Universität ;  in  demselben  Hörsaale 
des  Klementinums,  aus  welchem  die  Tschechen  den 
Philologen  Linker  kurz  vorher  hinausgeworfen  hatten. 

Der  Kreis  war  klein :  ein  älterer  Musiker  tschechischer 
Nationalität,  sodann  der  blutjunge  Träger  eines  alten 
fürstlichen  Namens,  ein  bildhübscher  Jüngling,  der  es 
denn  auch  später  zum  Ministerpräsidenten  brachte; 
ferner  die  erste  Studentin  der  Prager  Universität  (Fräu- 
lein Susanna  Rubinstein  aus  Czernowitz)  und  endlich 
mein  Freund  und  ich.  Fünf  Hörer,  von  denen  drei  nicht 
recht  ,, musikalisch''  waren  und  sicherlich  nicht  allzu- 
tief in  die  Geheimnisse  der  altgriechischen  Tonarten 
eingedrungen  sind. 

Aber  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  hatte  es  uns  an- 
getan. Dem  Zauber  seiner  Vorlesungen  und  seines  Um- 
gangs bin  ich  tief  verschuldet;  die  Nachwirkung  hat 
bis  zu  dieser  Stunde  nicht  aufgehört.  Mich  wenigstens 
hat  Ambros  Musik  hören  gelehrt,  da  er  uns,  sooft  die 
Aufführung  einer  Beethovenschen  Symphonie  bevor- 
stand, in  jede  Probe  mitnahm  und  uns  auf  jedeÄnderung 
eines  Tempo,  auf  jede  Wirkung  eines  Instrumentes  in 
einem  Akkorde,  auf  jede  Absicht  des  Kapellmeisters, 
vor  allem  aber  auf  die  Führung  der  Motive  unermüdlich 
aufmerksam  machte.  Und  Musik  lieben  lehrte  uns  sein 
Enthusiasmus,  wenn  so  etwas  überhaupt  gelehrt  wer- 
den kann.  Wir  sahen  da  ein  schweres,  erdgebundenes 
Leben,  das  durch  die  Wunder  der  Musik  himmelrein 
und  himmelleicht  geworden  war.  Ambros  hatte  in  sei- 
ner Jugend  Schumann  nahegestanden,  hatte  Aufsätze 

184 


für  dessen  ,, Zeitschrift**  geschrieben  (als  Davidsbündler 
nannte  Ambros  sich  Flamin) ,  galt  in  der  ganzen  musi- 
kalischen Welt  als  eine  Autorität  und  wurde  in  Prag 
trotz  seiner  musik-konservativen  Gesinnung  von  Musik- 
rebellen wie  Berlioz  und  Liszt  zu  Rate  gezogen.  In 
seinem  Hause,  wo  es  von  Kindern  wimmelte,  war  es 
nicht  möglich,  der  Musik  nicht  irgendwie  zu  dienen. 
Sogar  ich  habe  einmal  bei  der  Haydn'schen  Kinder- 
symphonie mitgewirkt,  die  unter  der  Leitung  des  Paters 
Barnabas,  des  Augustinerpriors,  zum  Geburtstage  des 
Hausherrn  aufgeführt  wurde. 

Bei  seinen  Vorlesungen  auf  der  Universität  hatte  Am- 
bros kein  Klavier  zur  Verfügung ;  das  wäre  damals  gegen 
die  Würde  der  hohen  Schule  gewesen.  Waren  wir  aber 
bei  ihm  zu  Hause  eingeladen,  dann  spielte  er  uns  etwa 
stundenlang  die  schwer  zugänglichen  alten  Meister  vor, 
immer  auswendig,  und  erzog  uns  auch  da  durch  kurze 
Zwischenbemerkungen  zum  Hören.  Und  wenn  wir  ein- 
mal spät  in  der  Nacht  müde  geworden  waren  —  wir, 
nicht  er  — ,  dann  unterbrach  er  wohl  ein  Stück  von 
Palestrina  mit  dem  Rufe :  „Na,  Kinderl,  ihr  habt  wohl 
genug  von  denen  alten  Musikanten?'*  Und  setzte  mit 
einem  Wiener  Walzer  ein  und  spielte  uns  und  seinen 
Töchtern  noch  eine  Stunde  zum  Tanze  auf.  Er  war  kein 
Virtuose,  aber  er  spielte  wundervoll. 

Beethoven  war  ihm  Andacht,  Mozart  war  ihm  Glück. 
Aber  geheult,  geheult  vor  Seligkeit  wurde  gewiß  erst 
immer  bei  Haydn.  Wie  haben  sie  damals  nach  jener 
Kindersymphonie  geheult,  die  beiden  alten  Knaben, 
der  Augustinerprior  Barnabas  und  der  kaiserliche 
Staatsanwalt  Ambros,  und  sich  unter  Tränen  umarmt ; 
und  wir  jungen  Dachse  standen  andächtig  daneben  und 
hatten  allen  Grund  zur  Andacht.  Weinen  bei  höchstem 

185 


Musikgenuß  war  diesen  romantischen  Davidsbündlern 
selbstverständlich.  So  ein  bißchen  Jean  Paulisch  wurde 
geweint,  rührsam  unter  Lachen  und  Anekdotenerzählen. 

Mich  hatte  Ambros  ganz  besonders  in  sein  Herz  ge- 
schlossen, und  zwar  eben  als  er  erfahren  hatte,  daß  ich 
ein  musikalisches  Rindvieh  wäre  und  keine  Note  lesen 
könnte.  Gerade  darum  wäre  ich  ein  guter  ,, Hörer**  (so 
heißt  in  Österreich  jeder  Student),  sagte  er  öfter.  Und 
einmal  machte  er  den  Witz :  er  sei  auch  ein  Mauthner ; 
denn  erstens  könne  er  Musik  viel  besser  genießen  als 
machen,  und  zweitens  sei  er  zu  Mauth  geboren  i). 

Dieser  unser  Ambros  wurde  nun  im  Spätherbste  1871 
nach  Wien  berufen.  Gleich  wieder  in  einige  Stellungen 
zugleich.  Er  sollte  an  der  Wiener  Universität  über  Musik- 
geschichte lesen  und  außerdem  irgendwie  bei  der  Er- 
ziehung des  Kronprinzen  Rudolf  mitwirken.  Er  hat  für 
diesen  Schüler  ein  ganz  kleines,  aber  sehr  reiches  Werk- 
chen über  Musikgeschichte  verfaßt;  sein  großes  Werk 
,, Geschichte  der  Musik*'  ist  bekanntlich  Fragment  ge- 
blieben, aber  ein  Fragment  von  vier  Bänden,  das  den 
Musikern  —  so  versichern  sie  mir  —  unentbehrlich  ist. 

Die  Trennung  von  Ambros  wurde  uns  schwer.  We- 
nige Tage  vor  Weihnachten  überreichten  wir  ihm  einen 
silbernen  oder  goldenen  Lorbeerkranz.  Der  Einfall  war 
von  der  Studentin  ausgegangen;  sie  und  der  junge 
Fürst  werden  wohl  das  Wesentlichste  dazu  getan  haben, 
daß  der  bestellte  Kranz  auch  bezahlt  werden  konnte. 
Die  Studentin  hatte  übrigens  bei  Überreichung  der  Gabe 
Schönheit  und  Feierlichkeit  aus  Eigenem  zu  bestreiten^). 

x)^Vgl.  Anhang  VIII. 

2)  Sie  wurde  bald  darauf  in  Leipzig  zum  Doktor  der  Philosophie  promo- 
viert und  hat  später  recht  feine  Abhandlungen  über  philosophische  Per- 
sönlichkeiten und  Begriffe  veröffentlicht.  Im  vorigen  Jahre  fand  ich  in  der 
Zeitung  die  Nachricht  von  ihrem  Tode. 

186 


Sie  war  es  auch,  die  mich  veranlaßte,  dem  scheiden- 
den Lehrer  eine  innige  Ehrung  in  Form  eines  herzlich 
gut  gemeinten  Zeitungsartikels  anzutun.  Das  eben  war 
meine  erste  Arbeit,  die  ich  schwarz  auf  weiß  zu  Gesicht 
bekam.  „Himmelblau  auf  Goldgrund''  nannte  Ambros 
nachher  meinen  Aufsatz.  Ich  habe  das  Zeitungsblatt 
nicht  wieder  auftreiben  können;  ich  weiß  aber,  daß 
ich  sehr  viel  Schwärmerei  (nicht  für  Ambros  allein) 
in  die  Abschiedsworte  mit  hineingeschrieben  habe.  Das 
Ganze  hatte  ich  mit  drei  Kreuzen  unterzeichnet;  das 
sollte  heißen:   von  einem,   der  nicht  schreiben  kann. 

Nun  sollte  der  jugendliche  Erguß  aber  auch  gedruckt 
werden.  Natürlich  in  dem  ,, Tagesboten  aus  Böhmen*', 
dem  deutschnationalen  Blatte.  Auf  dieses  Blatt  war 
mein  Vater  abonniert ;  und  da  ich  kein  anderes  kannte, 
hielt  ich  es  für  ein  ganz  ausgezeichnetes  ,, Organ  der 
öffentlichen  Meinung". 

Nun  war  mir  der  Begründer,  Besitzer  und  Leiter  des 
,, Tagesboten"  verschwägert  und  also  recht  gut  be- 
kannt. Aber  nie  hätte  ich  mich  in  dieser  heiligen  Sache 
an  ihn  gewandt ;  nie  und  nimmer  hätte  ich  die  Zufalls- 
beziehung einer  Verschwägerung  benützen  mögen,  um 
der  Ehre  der  Druckerschwärze  teilhaftig  zu  werden. 
Ein  anderer,  mir  angenehmerer  Gradus  ad  parnassum 
war  mir  gewiß. 

Für  den  „Tagesboten  aus  Böhmen"  hatten  nachein- 
ander manche  genialische  und  sogar  begabte  junge 
Herren  geschrieben,  die  nachher  bekannte  Schrift- 
steller wurden;  ich  werde  später  den  Grund  erraten 
lassen,  der  diese  jungen  Herren  ihre  Verbindung  mit 
dem  ,, Tagesboten"  immer  wieder  bald  lösen  ließ.  Da- 
mals nun  war  Alfred  Klaar  die  Stütze  des  Blattes.  Wir 
kannten  einander  seit  unserer  Knabenzeit.  Er  ist  ziem- 

187 


lieh  genau  um  ein  Jahr  älter  als  ich,  war  mir  auch  auf 
dem  Piaristengymnasium  immer  um  eine  Klasse  vor- 
aus. Sonst  um  die  Erfahrung  vieler  Jahre.  Er  war  in 
Prag  schon  als  Lyriker  und  Journalist  eine  kleine 
Lokalberühmtheit,  als  ich  noch  froh  sein  mußte,  in 
unserem  heimlichen  Pennälerverein  meine  ersten  Ge- 
dichte vorlesen  zu  dürfen.  Er  war  noch  nicht  der  beliebte 
Dozent  am  Polytechnikum,  noch  nicht  der  Prager 
Literaturpapst  als  Theaterkritiker  der  ,,Bohemia",  aber 
er  war  schon  stillschweigend  als  unser  Präsident  aner- 
kannt an  dem  historischen  Kaffeehaustische  (Cafe 
Europe),  an  welchem  vor  uns  Alfred  Meißner  und 
Joseph  Bayer  gesessen  hatten.  Ein  fertiger  Schrift- 
steller. 

An  Alfred  Klaar  wandte  ich  mich.  Er  nahm  mich 
sehr  freundlich  auf  und  las  sofort  einige  Stichproben 
aus  dem  Manuskript.  Ich  mußte  über  die  Schnelligkeit 
staunen,  mit  der  so  ein  Redakteur  die  wichtigsten  Ent- 
schlüsse zu  fassen  imstande  ist.  Das  Ding  werde  sofort 
„in  Satz''  gegeben  werden  und  —  ich  erschrak  fast  — 
am  nächsten  Morgen  erscheinen.  Heute  abend  noch, 
um  10  Uhr,  sollte  ich  auf  die  Redaktion  kommen  und 
,, Korrektur'*  lesen;  er  werde  mir  die  „Fahne"  selbst  aus 
der  ,, Setzerei"  holen. 

Mich  erfaßte  der  Taumel  des  Erfolges.  Ein  Rausch 
der  Druckerschwärze  und  ihrer  neuen  Begriffe :  ,, Fahne 
—  Setzerei  —  Korrektur."  So  hatten  Lessing  und 
Schiller  gewiß  auch  angefangen.  Ich  verstand  auf  ein- 
mal die  Bedeutung  der  Buchdruckerkunst.  Wäre  an 
jenem  Tage  für  die  Errichtung  eines  Gutenberg-Denk- 
mals gesammelt  worden,  ich  hätte  mein  ganzes  Ver- 
mögen beigesteuert:  die  zwölf  Kreuzer,  die  ich  dem 
historischen  Kellner  des  historischen  Kaffeehauses  für 

i88 


einen  kleinen  ,, Schwarzen'*  in  der  Aufregung  schuldig 
geblieben  war. 

Pünktlich  und  stolz,  nicht  eine  Minute  zu  früh  oder 
zu  spät,  war  ich  zur  Stelle.  Alfred  Klaar  erwartete  mich 
und  überreichte  mir  mit  seiner  Herzenshöflichkeit  die 
,, Fahnen*',  die  den  Bürstenabzug  meines  Aufsatzes  ent- 
hielten; es  kränkte  mich,  daß  diese  Fahnen  so  feucht 
und  so  übelduftend  waren;  trotzdem  war  es  ein  Mo- 
ment, der  im  Leben  zählt. 

Mein  Jugendfreund  gab  mir  rasch  die  ersten  An- 
weisungen in  der  Technik  des  Korrekturlesens.  Ich 
faßte  die  kleinen  Zeichen  schnell  auf,  mit  deren  Hilfe 
der  Setzer  erfährt,  was  der  Verfasser  gebessert  haben 
will;  aber  ich  machte  von  diesen  Zeichen  wenig  Ge- 
brauch :  zu  verbessern  fand  ich  nichts  und  die  Druck- 
fehler übersah  ich. 

Etwa  eine  halbe  Stunde  vor  Mitternacht  erschien 
der  Verleger  auf  der  Redaktion;  bis  zu  dieser  Stunde 
hatte  er  nach  seiner  Gewohnheit  im  ,, Deutschen  Ka- 
sino" gesessen,  bei  Pilsner  Bier,  im  Kreise  der  deutsch- 
böhmischen Politiker ;  jetzt  kam  er  aufgeregt,  um  noch 
rasch  den  Leitartikel  für  die  Morgennummer  zu  schrei- 
ben. Ich  hatte  den  Mann,  den  Bruder  meines  Schwagers, 
noch  niemals  in  seiner  Werkstatt  gesehen,  wie  nachher 
so  oft.  David  Kuh  war  zu  jener  Zeit  in  meiner  Schätzung 
ein  Heros.  Anno  1848  beinahe  ein  Märtyrer,  jetzt  bei- 
nahe Reichsratsmitglied.  Und  schrieb  täglich  seinen 
Leitartikel,  in  dem  er  die  deutsche  Sache  in  Böhmen 
mit  leidenschaftlicher  Tapferkeit  verfocht.  Daß  er  ein 
schlechter  Geschäftsmann  war,  worüber  ich  klagen  ge- 
hört hatte,  konnte  meine  Achtung  keineswegs  mindern. 
Und  die  Liebenswürdigkeit  in  Person  war  er  immer 
gewesen. 

189 


Er  wunderte  sich  kaum,  mich  in  so  später  Stunde  auf 
der  Redaktion  zu  finden ;  als  er  aber  erfuhr,  daß  Klaar 
meinen  Aufsatz  über  Ambros  hätte  setzen  lassen,  ohne 
den  Chef  zu  fragen,  da  polterte  er  los:  „Was?  Einen 
Huldigungsartikel  für  Ambros?  Nehme  ich  nicht  auf. 
Ambros  ist  ein  verkappter  Tscheche ;  ist  ein  Reaktionär, 
ist  Staatsanwalt.  Für  die  Satzkosten  mache  ich  Sie  ver- 
antwortlich.** (Später  habe  ich  erfahren,  daß  der  Staats- 
anwalt Ambros  auch  gegen  Kuh  vorgegangen  war.) 

Er  machte  uns  also  für  den  Satz  kostenpflichtig. 
Alfred  Klaar  oder  mich?  Eins  so  schrecklich  wie  das 
andere.  Den  Streit,  der  nun  folgte,  einen  Streit  zwischen 
dem  müden  Verleger  und  seinem  durch  Talent  und 
Fleiß  unersetzlich  gewordenen  Mitarbeiter,  nahm  ich 
für  blutigen  Ernst.  Der  Chef  machte  große  Worte: 
Banner  der  Partei  oder  so  etwas.  Klaar  stellte  die  Ka- 
binettsfrage für  den  Fall,  daß  die  druckfähige  und  vor- 
treffliche Erstlingsarbeit  seines  Jüngern  Freundes  nicht 
aufgenommen  würde.  Kuh  leistete  heilige  Eide:  die 
Partei  und  ihr  einziges  Blatt  dürften  um  einer  Studen- 
tenlaune willen  nicht  zu  den  Tschechen  übergehen. 
Klaar  blieb  fest;  wenn  mein  Gedächtnis  mich  nicht 
täuscht,  versprach  er  aber  einlenkend,  zum  Danke  für 
die  Aufnahme  des  Ambros-Aufsatzes  den  Leitartikel, 
nach  welchem  der  Setzer  junge  schon  zweimal  geschickt 
worden  war,  entweder  selbst  zu  verfassen  oder  nach 
dem  Diktate  des  Chefs  zu  schreiben.  Kuh  wiederholte 
nur  immer,  ein  liberales  Blatt  dürfte  einen  Staatsan- 
walt nicht  verherrlichen.  Er,  der  Verleger,  stehe  seit 
1848  furchtlos  und  treu  auf  seinem  Posten,  halte  wie 
Moses  an  irgendeiner  Stelle  der  Bibel  unentwegt  die 
Fahne  hoch;  und  nun  komme  die  pietätslose  Jugend, 
den  verdienten  Veteranen  zu  stürzen. 

190 


Einem  solchen  Auftritte  war  ich  nicht  gewachsen. 
Beschämt  und  geknickt  ging  ich  von  dannen.  In'unser 
Nachtcafe  neben  dem  Goldenen  Engel.  Und  hätte^we- 
nigstens  den  Bürstenabzug  meines  Aufsatzes  so  gern 
mitgenommen. 

Eine  Stunde  später  erschien  am  nächtlichen  Stamm- 
tisch Alfred  Klaar,  als  ob  nichts  geschehen  wäre.  Er 
hatte  gesiegt.  Die  Morgennummer,  an  deren  kleiner 
Auflage  man  eben  zu  drucken  anfing,  enthielt  meinen 
Aufsatz. 

Natürlich  war  mir  das  Ereignis  wichtiger,  als  dieser 
Rückblick  erkennen  läßt.  Zum  ersten  Male  gedruckt 
zu  werden,  wäre  es  auch  nur  für  die  wenigen  hundert 
Leser  eines  Provinzblättchens,  muß  in  jedem  jungen 
Menschen  ein  Gefühl  der  Kraft  erwecken ;  die  Eitelkeit 
schaut  nur  aus  einem  niedern  Stockwerk  zu ;  viel  später 
als  ich  schon  ein  Dutzend  Bücher  und  über  tausend 
Zeitungsartikel  veröffentlicht  hatte,  stand  ich  einmal 
in  später  Nachtstunde  daneben,  während  die  Rotations- 
maschinen des  ,, Berliner  Tageblatt''  einen  Bogen,  der 
einen  von  mir  mit  besonderer  Liebe  geschriebenen  Auf- 
satz enthielt,  druckten  und  in  endloser  Reihe,  in  atem- 
raubender Schnelligkeit,  wohl  hundert  Exemplare  in 
jeder  Minute  zwischen  ihren  Rädern  und  Rollen  heraus- 
schütteten: da  kam  mir  wieder  das  Gefühl  der  Kraft 
und  der  Verantwortung  und  der  ernsten  Aufgabe.  Ganz 
anders,  als  es  der  Kaiser  gemeint  hat,  soll  sich  der  Schrift- 
steller, dessen  Worte  auf  Tausende  oder  Hunderttau- 
sende von  Lesern  wirken  können,  wie  ein  komman- 
dierender General  fühlen. 


191 


XVIII.  Das  erste  Buch. 

Damals  aber,  als  meine  Erstlingsarbeit  im  ,, Tages- 
boten von  Böhmen'*  erschienen  war,  vergaß  ich  das 
Ereignis  bald  wieder,  weil  es  für  mich  unmittelbar 
weder  äußerlich  noch  innerlich  folgenreich  war.  Äußer- 
lich nicht,  weil  ich  den  Aufsatz  nicht  mit  meinem  Na- 
men unterzeichnet  hatte ;  der  Kreis  der  Menschen,  die 
von  meiner  Autorschaft  wußten,  war  infolgedessen  noch 
viel  kleiner  als  der  Leserkreis  des  ,, Tagesboten*'.  Ich 
schrieb  im  Laufe  des  nächsten  Jahres  auch  nur  noch 
zwei  oder  drei  weitere  Aufsätze  für  das  Blatt,  trotz- 
dem David  Kuh  es  jetzt  an  Lockungen  und  Verspre- 
chungen nicht  fehlen  ließ.  Ich  dachte  ja  nicht  daran, 
Schriftsteller  oder  gar  Journalist  zu  werden.  Ich  dachte 
überhaupt  nicht  an  die  Zukunft;  der  Todeskandidat 
hatte  keine  Pflicht,  an  die  Zukunft  zu  denken.  Und  das 
war  das  Innerliche  an  der  Sache :  mein  Arbeitsinteresse 
gehörte  ausschließlich  meinen  Revolutionssonetten,  für 
die  ich  seit  Jahr  und  Tag  mit  wirklicher  Hingebung  hi- 
storische Studien  trieb,  und  die  ich  nach  meinem  frühen 
Tode  der  Welt  zur  Freude  und  allen  Zweiflern  zum 
Vorwurf  hinterlassen  wollte.  Der  Titel  stand  fest :  ,,Die 
große  Revolution.*' 

Da  passierte  mir  eine  Geschichte,  eine  recht  jugend- 
liche Geschichte,  die  mich  verleitete,  die  durchaus  un- 
vollendete und  ungefeilte  Dichtung  als  Buch  heraus- 
zugeben. 

192 


Ich  muß  vorausschicken,  daß  ich  Fräulein  Rubinstein 
aufs  innigste  verehrte  und  stolz  und  eifersüchtig  dar- 
auf war,  fast  der  einzige  Student  zu  sein,  der  mit  ihr 
sprechen,  der  ihr  Bücher  besorgen,  der  sie  auch  wohl 
bis  an  die  Schwelle  ihres  Hauses  begleiten  durfte.  Eines 
Tages  überreichte  mir  die  Dame  ein  Bündel  gedruckter 
Feuilletons  über  die  Frauenfrage;  der  Name  des  Ver- 
fassers schien  weggeschnitten;  ihr  hatte  sich  ein  jü- 
discher Student  aus  Ungarn,  den  ich  flüchtig  kannte, 
als  Verfasser  vorgestellt.  Der  vielversprechende  junge 
Mann  hatte  sie  um  die  Erlaubnis  gebeten,  ihr  die  Buch- 
ausgabe, für  die  er  große  Geldopfer  zu  bringen  hätte, 
widmen  zu  dürfen.  Fräulein  R.  bat  mich  nun,  die  Zei- 
tungsausschnitte zu  lesen  und  ihr  mein  Urteil  über  das 
kleine  Werk  mitzuteilen.  Mein  ziemlich  sicherer  In- 
stinkt sagte  mir  'schon  nach  wenigen  Seiten :  das  hat 
jener  ungarische  Lausbub  nicht  geschrieben.  Ich  war 
nicht  faul  und  brachte  es,  unterstützt  von  meinen  neuen 
journalistischen  Bekannten,  bald  heraus,  aus  welcher 
Zeitung  das  Bündel  Feuilletons  herausgeschnitten  wor- 
den war.  Und  auf  der  Redaktion  dieser  Zeitung,  der 
deutsch  geschriebenen  tschechischen  ,, Politik",  erfuhr 
ich :  diese  Feuilletons  waren  der  Zeitungsabdruck  eines 
in  jenen  Tagen  vielgenannten  Büchleins  von  Pederzani. 
Ich  möchte  nicht  erzählen,  in  welcher  Weise  ich  nach 
der  Enthüllung  über  den  Betrüger  das  Urteil  fällte  und 
wie  ich  das  Urteil  selbst  an  ihm  vollstreckte.  Die  Szene 
mag  grotesk  genug  gewesen  sein.  Vielleicht  hätte  sich 
Don  Quixote  meines  Auftretens  nicht  zu  schämen 
gebraucht ;  als  Richter  mag  ich  mehr  an  Don  Quixote 
erinnert  haben,  als  Urteilvollstrecker  mehr  an  Sancho 
Pansa,  aber  an  einen  aktiven  Sancho  Pansa. 

Nun  hatte  ich  Fräulein  R.  allerdings  durch  Scharf- 

13  193 


sinn  und  Energie  davor  bewahrt,  dem ,, Unwürdigen'*  ihr 
Vertrauen  zu  schenken ;  aber  es  ließ  mir  keine  Ruh,  ihr 
nun  auch  die  Widmung  eines  Buches,  die  ihr  entgangen 
war,  zu  ersetzen.  Das  war  von  mir  unlogisch  gedacht, 
aber  der  Gedanke  entsprach  meinem  Gefühl.  Ich  legte 
der  Dame  also,  unmittelbar  nach  der  Exekution  des 
Buben,  meine  Revolutionssonette  vor,  so  viele  ihrer 
waren,  und  bat  nun  meinerseits  um  die  Erlaubnis,  ihr 
diese  Gedichtsammlung  widmen  zu  dürfen.  Wenn  ich 
es  recht  überlege,  so  nahm  Fräulein  R.  meinen  Antrag 
nicht  viel  anders  auf  als  den  des  Betrügers.  Sie  empfahl 
mir  nämlich,  meine  Dichtung  einem  Vertrauensmanne 
zur  Prüfung  vorzulegen,  einem  sehr  gelehrten  und  tüch- 
tigen Manne,  den  auch  ich  bewunderte,  dem  Dichter 
und  Kritiker  S.  Heller. 

Ich  habe  die  Schriften  dieses  merkwürdigen  Mannes, 
der  seinen  volltönenden  Vornamen  Seligmann  als 
Schriftsteller  zu  einem  schüchternen  S.  verkürzt  hatte, 
seit  jener  Prager  Zeit,  also  seit  beinahe  vierzig  Jahren, 
nicht  wieder  gelesen;  ich  habe  also  mein  damaliges 
Urteil  über  ihn  nicht  revidiert,  wie  wir  denn  über- 
haupt die  Gewohnheit  haben,  unsere  einstmaligen  Ein- 
drücke und  Meinungen  gar  oft  ohne  Nachprüfung  für 
unsere  jetzige  Meinung  auszugeben.  Das  Leben  ist  zu 
kurz,  als  daß  wir  jedes  Buch  immer  wieder  noch  ein- 
mal lesen  könnten,  sooft  wir  es  rühmend  oder  tadelnd 
erwähnen,  im  Gespräche  oder  in  Abhandlungen.  Da- 
mals schien  mir  S.  Heller,  trotzdem  ihn  Gutzkow  bos- 
haft einen  der  vielen  Heller  unserer  Literatur  genannt 
hatte,  ein  vorbildlicher  Schriftsteller  zu  sein.  Vorbild- 
lich blieb  er  mir  noch  lange  Jahre  in  seiner  Eigenschaft 
als  Theaterkritiker  der  ,,Bohemia'' ;  mit  einem  unge- 
heuren Wissen  verband  er  eine  objektive  Gründlichkeit 

194 


und  eine  subjektive  Unbestechlichkeit,  die  mir  bei  den 
berühmtesten  Kritikern  nicht  oft  wieder  vorgekommen 
sind.  Über  ein  Drama,  mit  welchem  der  peinlich  ge- 
wissenhafte Mann  seine  Berechtigung  zum  Amte  eines 
Rezensenten  hatte  nachweisen  wollen,  hatte  ich  unehr- 
erbietig gelacht,  weil  die  lyrischen  Stellen  und  der  künst- 
liche Aufschwung  zu  sinnlichen  Versen  in  Abstraktionen 
steckengeblieben  waren.  Aber  ein  großes  Epos  ,,Ahas- 
verus*'  hatte  mich  durch  die  geistige  Kraft  und  die  strenge 
Form  der  Terzinen  begeistert,  so  daß  ich  ihn  einige  Mo- 
nate lang  nicht  etwa  für  einen  Nachahmer,  sondern  für 
den  einzigen  Nachfolger  des  gewaltigen  Dante  hielt. 

Diesen  Mann  nun  suchte  ich  auf  Wunsch  von  Fräu- 
lein R.  auf,  um  ihn  zu  einer  Kritik  meines  Opus  zu  ver- 
anlassen. Ich  überreichte  ihm  meine  Revolutionssonette 
und  meine  beiden  geschichtsphilosophischen  Skizzen 
über  Robespierre  und  Napoleon.  Vierundzwanzig  Stun- 
den später  beschied  mich  Heller  wieder  zu  sich.  Er  ver- 
warf ohne  Gnade  meine  Geschichtsphilosophie,  meine 
Prosa.  Das  wäre  tobsüchtiger  Nihilismus.  Ich  glaube 
heute  zu  wissen,  daß  in  diesen  jugendlichen  Arbeiten 
ganz  kräftige  Keime  zu  einer  Zufallstheorie  der  Ge- 
schichte verborgen  waren ;  doch  ohne  Zaudern  und  mit 
einer  gewissen  Heiterkeit  verbrannte  ich  sofort  diese 
wüste  Prosa,  denn  der  unerbittliche  S.  Heller  hatte  ganz 
anders  von  meinen  Sonetten  gesprochen.  Wenn  der 
Autor  die  ganze  Sammlung  auf  die  Höhe  der  besten 
Nummern  bringen  könnte,  wenn  er  die  meisten  Ge- 
dichte klangvoller  und  fließender  gestalten  und  die 
schlechten  ausmerzen  wollte,  „so  könnten  diese  Sonette 
vielleicht  epochemachend  werden*  ^  Auf  den  blauen 
Umschlag  meines  Manuskripts  hatte  Heller  dieses  Ur- 
teil niedergeschrieben. 

13*  195 


,, Epochemachend.**  Das  entsetzliche  und  gefährliche 
Wort  stand  da,  schwarz  auf  blau.  Ich  besitze  das  Blatt 
noch.  Die  vielen  Wenn  und  Aber  sah  oder  merkte  oder 
las  ich  nicht. 

Acht  Tage  später  war  ich  in  Leipzig,  um  meine  Ge- 
dichte drucken  zu  lassen.  Das  stand  so  fest,  wie  der 
Altar  in  der  Kirche,  daß  ein  Österreicher  ins  Reich  gehen, 
nach  Leipzig  fahren  mußte,  wenn  er  Gedichte  drucken 
lassen  wollte.  Es  war  eine  fixe  Idee. 

Die  Fahrt  von  Prag  nach  Leipzig  dauerte  recht  lange : 
in  gemischten  Zügen,  in  der  letzten  Klasse,  heimlich 
ging  ich  hin.  Einen  Ausflug  hatte  ich  vorgegeben.  Von 
unterwegs  schrieb  ich  nach  Hause  das  Geständnis :  ich 
habe  Verse  geschrieben  und  ein  Leipziger  Verleger  wird 
sie  drucken. 

In  Leipzig,  wo  ich  in  einem  Winkelgasthof  abstieg, 
fand  ich  die  Antwort  auf  dieses  ängstlichstolze  Geständ- 
nis. Einen  Brief  und  ein  Telegramm.  Der  Brief  vom 
Elternhause :  als  ob  ich  im  Begriffe  gewesen  wäre,  sil- 
berne Löffel  zu  stehlen,  als  ob  diese  Schande  der  Familie 
unmittelbar  gedroht  hätte.  Das  Telegramm  war  aus 
Wien,  von  meinen  altern  Brüdern,  von  Gustav  unter- 
schrieben. , ,  Lasse  j  edesf  alls  auf  unsere  Kosten  drucken.  *  * 
Der  Brief  schmerzte.  Das  Telegramm  schmerzte  fast 
noch  mehr.  Ein  epochemachendes  Werk  auf  Kosten 
der  Brüder  drucken  lassen!  Lassen  müssen!  Ich  wußte 
noch  nicht,  daß  meine  Brüder  ahnungsvolle  Engel  waren. 

Ich  schrieb  an  drei  bekannte  Leipziger  Verlags- 
firmen. Ich  wäre  in  Leipzig  und  hätte  das  Manuskript 
gleich  mitgebracht.  '  -^T"'^^^ 

Keine  Antwort. 

Am  dritten  oder  vierten^Tage  saß^ich,  eigentlich  mehr 
überrascht  als  verstimmt,  bei  einem  Eis  vor  dem  Cafe 

196 


Felsche,  an  der  Ecke  der  Grimmaischen  Straße.  Plötz- 
lich erkenne  ich  in  einem  kleinen  Herrn  am  Nachbar- 
tische den  Vetter  Dr.  Julius  Friedländer,  den  Mann  einer 
Kusine.  Er  war  in  der  gelehrten  Welt  bekannt  und  ge- 
schätzt als  der  Besitzer  des  ausgezeichneten  natur- 
wissenschaftlichen und  mathematischen  Antiquariats 
R.  Friedländer  &  Sohn.  Auch  Verleger  war  er,  Heraus- 
geber von  Jacobis  demokratischer  ,, Zukunft'*.  Da  sitzt 
also  der  einzige  wirkliche  Buchhändler,  den  ich  auf  der 
Welt  kenne,  zwei  Schritte  von  mir.  Und  sympathisch 
ist  mir  der  gütige  und  lebhafte  Mann  immer  gewesen ; 
hat  sich,  wenn  er  nach  Prag  kam,  immer  sehr  freundlich 
nach  meinem  Tun  und  Treiben  erkundigt.  Das  kann 
kein  Zufall  sein,  das  ist  Schickung. 

Ich  rede  ihn  an.  Ich  hätte  ein  Bändchen  Sonette  ge- 
schrieben und  das  Manuskript  gleich  mitgebracht. 
Mein  Vetter  wollte  sich  ausschütten  vor  Lachen. 

Er  war  sehr  gut  gegen  mich.  Er  zahlte  mein  Eis  und 
nahm  mich  mit,  als  er  nun  seine  Berufsgänge  be- 
sorgte. Die  Leute,  mit  denen  er  zu  tun  hatte,  waren 
lauter  Buchhändler.  Überall  hatte  er  ein  Geschäft  ab- 
zuschließen, als  ob  Bücher  Waren  wären.  Jedesmal, 
wenn  er  seine  ernsthaften  Angelegenheiten  geordnet 
hatte,  sagte  er,  anstatt  mich  vorzustellen :  ,,Das  ist  mein 
Vetter  Fritze  aus  Prag.  Er  ist  schnurstracks  nach  Leip- 
zig gekommen,  um  Sonette  drucken  zu  lassen.  Und  das 
Manuskript  hat  er  gleich  mitgebracht.**  Die  Herren 
lachten  jedesmal,  wie  ich  seitdem  in  Leipzig  nicht  wie- 
der lachen  gehört  habe.  Nicht  einmal  im  ,, Symposion**, 
bei  den  deutschen  Humoristen. 

Erst  beim  vierten  Buchhändler  weigerte  ich  mich, 
mit  einzutreten.  Mein  Vetter  brummelte  etwas  und  zog 
mich  hinter  sich  her.  Lachend,  aber  doch  etwas  ernst- 

197 


hafter  brachte  er  hier  meine  Sache  vor.  Die  Herren 
sollten  keine  Angst  haben;  das  Manuskript  läge  im 
Gasthof.  Ein  kurzer  Kriegsrat  wurde  gehalten.  Das  Er- 
gebnis :  ich  sollte  zu  Rudolf  von  Gottschall  gehen ;  der 
werde  mir  gewiß  eine  wirksame  Empfehlung  an  den 
geeigneten  Verleger  geben. 

Ich  weiß  es  heute  zu  würdigen,  daß  Gottschall,  schon 
damals  kein  junger  Mann  mehr,  mich  freundlich  auf- 
nahm und  sich  bereit  erklärte  (mein  Reisegeld  war 
sehr  knapp  geworden),  die  Sonette  binnen  weniger 
Stunden  zu  lesen.  Pünktlich  zur  festgesetzten  Zeit  stand 
ich  wieder  vor  dem  Leipziger  Kritiker.  Abermals  ver- 
nahm ich  ein  Urteil,  das  mir  überaus  günstig  scheinen 
mußte ;  ich  überhörte  jedes  Wort  des  Tadels,  ich  über- 
hörte die  Mahnung  zu  sorgsamer  Feile,  ich  hörte  nur, 
daß  Gottschall  meine  Verse  sehr  wohlwollend  mit  den 
Jugendgedichten  Schillers  verglich.  Und  die  wirksame 
Empfehlung  konnte  ich  gleich  mitnehmen,  gleich  wir- 
ken lassen. 

Sie  war  an  den  Verleger  Leiner  gerichtet.  Der  Herr 
empfing  mich  mit  ausgesuchter  Höflichkeit.  Wie  man 
seinen  zahlungfähigen  Kunden  empfängt.  Das  Manu- 
skript nahm  er  in  die  Hand,  prüfte,  aber  eigentlich  nicht 
den  Inhalt,  sondern  nur  die  Stärke.  Er  bedauerte,  daß 
das  Manuskript  nicht  dicker  wäre.  Ob  er  es  nicht  lesen 
wollte?  Nein,  der  Brief  Gottschalls  genüge  ihm.  Er 
werde  die  Sonette  drucken  und  verlegen. 

Ich  war  nicht  ganz  zufrieden.  Daß  der  Mann  am  lieb- 
sten noch  viel  mehr  Sonette  von  mir  gedruckt  hätte, 
das  freute  mich ;  es  tat  mir  aber  doch  leid,  daß  mein 
Verleger,  mein  Leipziger  Verleger,  der  bedeutende 
Mann,  an  den  mich  Gottschall  empfohlen  hatte,  daß 
der  meine  Verse  nicht  lesen  wollte.  Auch  nicht  als  ent- 

198 


fernte  Ahnung  tauchte  in  mir  der  Verdacht  auf,  er 
könnte  die  heilige  Sache  als  Bestellung  betrachten,  als 
Druckauftrag :  der  Verdacht,  ich  würde  die  Druckkosten 
bezahlen  müssen.  Ein  moderner  Junge  von  i6,  von 
14  Jahren  hätte  sich  nicht  darüber  getäuscht.  Aber  was 
war  ich  jung  mit  meinen  22  Jahren!  Ich  wunderte  mich 
gar  nicht  darüber,  daß  mein  Verleger  die  Entscheidung 
über  jede  Einzelheit  in  meinen  Willen  legte.  Leise 
wunderte  ich  mich  nur  darüber,  daß  mir  kein  Honorar 
angeboten  wurde.  Ich  hätte  zur  Feier  des  Tages  so  gern 
eine  gute  Flasche  Wein  getrunken.  In  Auerbachs  Keller. 
(Ich  ging  nachher  doch  in  Auerbachs  Keller,  holte  mir 
mit  einigen  Flaschen  schlechten  Weins  einen  ordent- 
lichen Rausch,  schrieb  in  der  Bezechtheit  tolles  Zeug 
ins  Fremdenbuch  und  reiste,  da  nach  der  kleinen  Zeche 
ein  weiterer  Tag  in  Leipzig  unerschwinglich  war,  gegen 
Mitternacht  nach  Hause  zurück.) 

Mein  Verleger  hatte  immerhin  doch  einige  Fragen 
gestellt. 

„Wie  viele  Exemplare  sollen  gedruckt  werden?** 

So  wenige  wie  möglich,  entschied  ich.  Ein  Viertel- 
tausend war  die  mindeste  Zahl.  Nicht  zu  viele  Menschen 
sollen  diese  Gedichte  lesen.  (Ich  erfinde  nicht,  ich 
scherze  nicht;  ich  gebe  das  Gespräch  so  treu  wieder, 
als  mein  Gedächtnis  es  irgend  zuläßt.) 

, , Welche  Schriftgattung  ? ' ' 

Natürlich  lateinische  Schrift.  Die  wäre  nicht  beliebt ; 
und  ich  hätte  ja  schon  gesagt,  ich  wünschte  für  diese 
Gedichte  nicht  zu  viele  Leser. 

Und  ich  setzte  einen  hohen  Ladenpreis  fest,  weil  ich 
doch  nicht  zu  viele  Leser  wünschte.  Ich  glaube  be- 
stimmt, der  Herr  sah  mich  mitleidig  an,  als  ich  vom 
Ladenpreis  sprach. 

199 


Mit  den  Gefühlen  eines  Siegers  kam  ich  am  nächsten 
Vormittag  zu  Hause  an.  Ich  wurde  nicht  wie  ein  Sieger 
empfangen.  Machte  nichts.  Die  Bürstenabzüge  kamen 
und  ich  durfte  meine  Verse  korrigieren.  War  das  schön  I 
Es  wird  wohl  an  meinem  Augenleiden  liegen,  daß  mir 
das  Korrigieren  jetzt  keine  so^reine  Freude^mehr^be- 
reitet. 

Die  letzte  Korrektur  war  erledigt.  Ich  wartete  auf 
meine  Freiexemplare  und  auf  das  Widmungsexemplar 
auf  Velinpapier.  Mag  man  mich  dafür  nennen,  was 
man  will,  ich  muß  es  dennoch  melden:  ja,  ich  hatte 
auch  Freiexemplare  ausbedungen. 

An  einem  düstern  Herbsttage  kam  irgend  etwas,  das 
wahrscheinlich  Aviso  hieß.  Dann  ein  Frachtbrief.  Dann 
ein  Ballen.  Der  Ballen  enthielt  alle  250  Exemplare  mei- 
nes ersten  Buches,  dazu  eines  auf  Velinpapier  gedruckt 
und  hübsch  gebunden.  Ein  Brief  lag  bei.  Meine  ,, Be- 
stellung** sei  ausgeführt.  Da  mit  einem  Buche,  das  auf 
eine  Verherrlichung  der  französischen  Revolution  hin- 
ausliefe und  die  patriotischen  Gefühle  in  Deutschland 
verletzte,  gegenwärtig  in  Deutschland  kein  Geschäft  zu 
machen  wäre,  so  stelle  mir  Herr  Leiner  die  ganze  Auf- 
lage zur  Verfügung.  Er  erwarte  die  baldige  Begleichung 
der  beigefügten  Rechnung. 

Und  ich  gedachte  dankbar  meiner  ahnungsvollen 
Brüder. 

Da  besaß  ich  also  mein  erstes  Buch  „Die  große  Re- 
volution. Epigramme.  Von  Fritz  Mauthner**  gleich  in 
251  Freiexemplaren.  Den  Untertitel ,, Epigramme**  hatte 
ich  gefunden,  um  fast  bescheiden  das  Wesen  meiner 
Sonette  zu  bezeichnen ;  da  es  aber  nicht  üblich  ist,  So- 
nette als^^Epigramme  zu  charakterisieren,  mußte  der 
Titel  erst  recht  irreführen. 

200 


Nur  für  eines  von  den  251  Freiexemplaren,  für  das 
auf  Velinpapier,  hatte  ich  Verwendung ;  ich  wußte  nicht, 
was  ich  mit  den  übrigen  anfangen  sollte.  Für  die  Ein- 
sendung von  Rezensionsexemplaren  an  die  Zeitungen 
hatte  ich  wenig  Verständnis.  Auch  keine  Ahnung  von 
der  Notwendigkeit,  das  Buch  im  Buchhändler-Börsen- 
blatt oder  gar  in  Tagesblättern  anzuzeigen. 

Ich  übergab  einem  braven  Sortimenter  der  Prager 
Altstadt  hundert  Abdrücke,  die  in  ihrem  grünen  Um- 
schlage nicht  eben  verlockend  aussahen.  Er  stellte  ein 
Exemplar  für  einige  Tage  in  sein  Schaufenster.  Das 
war  meine  Öffentlichkeit. 

Doch  nein :  meine  beiden  Autoritäten  schrieben  Re- 
zensionen über  mein  grünes  Büchlein.  S.  Heller  hart 
und  sehr  unfreundlich  in  der  „Bohemia'* ;  Gottschall 
überaus  freundlich,  wieder  mit  dem  Hinweis  auf 
Schiller,  in  seinem  Literaturblatte.  Gottschalls  Kritik 
veranlaßte  den  jungen  deutschen  Dichter  Otto  Franz 
Gensichen  in  Berlin,  meine  Revolutionssonette  zu  er- 
werben. Er  erzählte  mir  viele  Jahre  später,  wie  schwie- 
rig es  war,  den  deutschen  Buchhandel  zur  Auffindung 
der  „Novität''  zu  überreden.  Ich  habe  diesen  Dichter 
immer  in  Ehren  gehalten,  den  einzigen  Käufer  meines 
ersten  Buches. 

Einen  Erfolg  haben  die  ungefeilten,  ungefügen,  oft 
unschönen  Sonette  nicht  verdient ;  das  geistige  Ringen 
des  jungen  Autors,  sein  ehrlicher  Schrei  nach  Befrei- 
ung und  am  Ende  auch  manche  Sonette,  in  denen  Kraft 
und  Form  war,  hätten  vielleicht  doch  Beachtung  ver- 
dient. 

Einige  Jahre  später  erfuhr  ich  auf  seltsame  Weise, 
daß  meinem  Erstlingswerkchen  kurz  nach  dem  Er- 
scheinen ein  Erfolg  oder  doch  eine  starke  Wirkung  ge- 

201 


droht  hatte ;  der  Verfasser  sollte  —  ich  weiß  nicht  recht 
—  wegen  Beleidigung  der  Kirche  oder  wegen  Gottes- 
lästerung, dann  aber  auch  wegen  Beschimpfung  des 
österreichischen  Kaiserhauses  angeklagt  werden.  Der 
letzte  Vorwurf  war  blanker  Unsinn ;  ich  durfte  doch  im 
Jahre  1872  die  Pariser  von  1792  den  Wunsch  aus- 
sprechen lassen,  daß  der  Österreicherin  Marie  Antoi- 
nette  der  Kopf  abgeschlagen'würde.^Mein  Gewährsmann 
für  diese  Gefahr,  verfolgt  zu  werden,  war  der  Polizei- 
rat Dedera,  der  damals  zu  Prag  das  Amt  eines  Zensors 
mit  der  Dummheit  und  der  ganzen  Leidenschaft  eines 
literarischen  Dilettanten  verwaltete.  Er  pflegte  sich  in 
den  Kneipen  an  die  deutschen  und  tschechischen 
Schriftsteller  und  Journalisten  heranzubiedern  und 
stand  in  dem  Rufe  (vielleicht  geschah  ihm  unrecht),  ge- 
legentlich auch  Spitzeldienste  zu  leisten,  der  Behörde 
zu  ihrem  späteren^Gebrauche  die  Verfasser  anonymer 
Zeitungsartikel  zu  verraten.  Mit  diesem  Herrn  geriet 
ich  im  Jahre  1875,  nachdem  er  ein  Zensurverbot  gegen 
mein  Schauspiel  ,,Anna**  durchgesetzt  hatte,  törichter- 
weise in  eine  persönliche  Auseinandersetzung,  bei  wel- 
cher ich  ihm  durch  einen  allzu  naturalistischen  Reim 
meine  Verachtung  ausdrückte.  Der  sonst  immer  kat- 
zenfreundliche Polizeirat  geriet  in  einen  Zorn,  der  ihm 
besser  stand  als^^^die  gespielte  Unterwürfigkeit.  Ich 
müßte  froh  sein,  nicht  auf  dem  Spielberg  zu  sitzen,  oder 
in  einem  ganz  gewöhnlichen  Kerker.  Vor  drei  Jahren 
hätte  es  nur^^an  einem  Haar^gehangen.  Da  hätte  sein 
Freund,  der^ Staatsanwalt ...  (er  nannte  den  Namen, 
aber  ich  habe  ihn  wirklich  vergessen),  der  Feind  aller 
deutschen  Liberalen,  den  Antrag  auf  meine  Verfolgung 
,, wegen  dem  und  dem''  gestellt.  Aber  ein  alter  Richter 
hätte  gesagt,  wahrscheinlich  bei  der  Beratung  über  den 

202 


Anklagebeschluß:  ,, Jetzt  kennt  kein  Mensch  das  grüne 
Büchel,  wir  wollen  nicht  durch  einen  Prozeß  darauf 
aufmerksam  machen/* 

Ich  werde  in  ordentlicher  Reihenfolge  später  über 
das  Verbot  und  auch  über  die  Aufführung  meines 
Schauspiels  zu  berichten  haben.  Für  jetzt  möchte  ich 
nur  erzählen,  wie  viel  oder  wie  wenig  meine  Lage  sich 
nach  dem  Erscheinen  der  Sonette  veränderte. 


203 


Illllllllllllllllilllllllllllllllllllilllilllllllllllilllllllllliillllllllllllllllly^ 


XIX.  Kritik  der  Sprache. 

Natürlich,  für  den  passiven  Widerstand  meines  Cha- 
rakters war  es  natürlich,  blieb  ich  Student  der  Rechte, 
ließ  mich  für  das  neue  Semester  inskribieren  und  be- 
suchte nach  wie  vor  die  Vorlesungen  der  Herren,  mit 
denen  ich  persönlich  bekannt  war  oder  von  denen  ich 
mir  einen  geistigen  Gewinn  versprach.  Die  Hauptfächer, 
die  für  die  Ablegung  des  zweiten  Examens  notwendig 
waren,  hörte  ich  nicht  mehr.  Einigen  Professoren,  die 
ich  hochschätzte,  sandte  ich  mein  Büchlein  zu;  die 
Antworten  liefen  eigentlich  alle  darauf  hinaus,  daß  ich 
vor  dem  Schriftstellerberuf,  besonders  aber  vor  Radika- 
lismus und  Pessimismus  gewarnt  und  zum  Abschlüsse 
meines  Rechtsstudiums  gemahnt  wurde.  Sehr  herzlich 
von  Merkel,  ganz  besonders  eindringlich  von  Randa. 

Meine  jungen  literarischen  Freunde  beschränkten 
sich  in  ihrem  Interesse  darauf,  meine  Sonette  harmlos 
und  ohne  Bosheit  zu  verspotten.  Als  ein  beliebter 
Schauspieler  des  Prager  Landestheaters  etwa  ein  Dut- 
zend der  Sonette  öffentlich  zum  Vortrag  brachte  (er 
sagte  mir,  ich  müßte  ihm  ein  neues  Gebiß  kaufen,  weil 
er  sich  an  meinen  harten  Versen  alle  seine  Zähne  aus- 
gebrochen hätte),  hätte  ich  mir  einen  lokalen  Erfolg 
einbilden  können.  Ich  will  mich  nicht  besser  machen 
als  ich  bin :  die  freundlichen  Besprechungen  dieser  Vor- 
lesung schmeichelten  mir  und  ich  hatte  gewiß  Stunden, 

204 


in  denen  ich  stolz  darauf  war,  zu  den  ,, Hoffnungen'* 
des  Prager  Parnasses  gezählt  zu  werden.  Meine  näch- 
ste Umwelt,  die  Familie  und  der  Kreis  der  Studien- 
freunde, verhielt  sich  mißtrauisch  oder  abwartend,  was 
ich  damals  sicherlich  als  eine  Kränkung  empfand. 

Daran  war  nicht  zu  zweifeln,  daß  für  das  große 
Deutschland  und  für  das  übrige  zukünftige  Weltall,  an 
das  ich  mich  hatte  wenden  wollen,  mein  Gedichtbuch 
ein  Schlag  ins  Wasser  gewesen  war.  Auch  in  Prag  war 
nach  einiger  Zeit  von  meinen  geharnischten  Sonetten 
nicht  mehr  viel  die  Rede. 

Ich  litt  unter  dem  Mißerfolge  eigentlich  gar  nicht, 
weil  just  während  des  Jahres  1873  sich  in  meinem  Er- 
leben etwas  gestaltete,  von  dem  ich  damals  noch  gar 
nicht  wußte,  ob  es  ein  ungeheurer  Arbeitsplan  oder  eine 
Resignation  auf  jede  schriftstellerische  Tätigkeit  war. 
Die  sprachkritischen  Ideen,  die  ich  erst  siebenundzwan- 
zig Jahre  später,  dreimal  neun  Jahre  später,  in  den  drei 
starken  Bänden  herausgab,  bemächtigten  sich  meiner 
mit  einer  Macht,  der  ich  nicht  widerstehen  konnte. 
Ohne  jede  Vorarbeit,  wie  man  ein  lyrisches  Gedicht  nie- 
derschreibt, so  setzte  ich  mich  eines  Tages  hin,  um  wie 
mit  einem  wilden  Anlauf  die  Ideen,  die  mich  bedräng- 
ten, für  mich  selbst  zu  gestalten  und  so  im  Grunde  erst 
zu  erfahren,  was  in  mir  denken  wollte.  Einige  Wochen 
lang  arbeitete  ich  Tag  und  Nacht  an  dieser  ersten  Fas- 
sung meiner  Sprachkritik,  leidenschaftlich  und  mit  dem 
Bewußtsein,  Unerhörtes  zu  sagen.  Das  Manuskript  war 
nicht  mehr  ganz  klein,  als  mir  das  Bedürfnis  kam, 
mich  mit  der  Lehre  Kants  auseinanderzusetzen.  Da 
wurde  es  mir  plötzlich  klar,  daß  mir  die  allermeisten 
Vorkenntnisse  für  meine  Arbeit  fehlten.  Von  Kant  und 
anderen  Philosophen  (Schopenhauer  etwa  ausgenom- 

205 


men)  wußte  ich  wenig,  von  der  neuern  Sprachwissen- 
schaft so  gut  wie  nichts.  Ich  war  ein  Ignorant  auf 
dem  Gebiete,  auf  welchem  ich  reformatorische  Ideen 
zu  haben  geglaubt  hatte.  Mir  fehlte  unbedingt  der  nö- 
tige Schulsack.  Vielleicht  hatten  sich  die  großen  Denker, 
die  ich  nicht  kannte,  an  den  Schuhsohlen  abgelaufen, 
was  ich  für  meine  eigenen  Eingebungen  hielt.  Auf  das 
Hochgefühl,  mit  dem  ich  wochenlang  meinen  Gedanken- 
gang hinausgebraust  hatte,  folgte  eine  geistige  Ver- 
zweiflung, in  welcher  ich  zwischen  ganz  gemeinen 
Räuschen  und  Selbstmordplänen  hin  und  her  schwankte. 
Da  half  mir  wieder  die  seit  meiner  Erkrankung  be- 
stehende Überzeugung,  ich  wäre  ein  Todeskandidat.  Ich 
warf  das  wüste  Manuskript  ins  Feuer  und  faßte  den 
feierlichen  Entschluß,  an  einen  Erfolg,  an  eine  dichte- 
rische Tätigkeit  überhaupt  nicht  mehr  zu  denken,  eben- 
sowenig wie  an  die  Wiederaufnahme  der  Rechtsstudien, 
dagegen  die  kurze  oder  längere  Zeit,  die  ich  noch  zu 
leben  hatte,  Erkenntnistheorie  und  Sprachwissenschaft 
zu  studieren,  um  mir  zu  einiger  Deutlichkeit  über  die 
rebellischen  Ideen  zu  verhelfen,  die  mich  bedrängten. 
Ich  bin  diesem  Vorsatze  ja  nicht  ganz  treu  geblieben.  Ich 
habe  bald  nachher  den  Schriftstellerberuf  trotzig-bewußt 
ergriffen,  im  Kampfe  ums  Dasein,  weil  doch  der  Mensch 
sein  Brot  durch  redliche  Arbeit  verdienen  „soir*,  und 
habe  in  diesem  Berufe  sehr  viel,  viel  zu  viel  an  Romanen, 
Novellen  und  Zeitungsaufsätzen  geschrieben.  Aber  in 
den  langen  Jahren  dieser  strengen  Arbeit  habe  ich  mei- 
nem Vorsatz,  Erkenntnistheorie  und  Sprachwissenschaf  t 
im  Dienste  meiner  sprachkritischen  Gedanken  zu  stu- 
dieren, doch  eigentlich  keinen  Tag  vergessen  und  darf 
mich  wenigstens  rühmen,  fleißig  gewesen  zu  sein.  Die 
Vorstellung,  ein  Todeskandidat  zu  sein,  mußte  ich  end- 

206 


lieh  zu  meiner  Verwunderung  aufgeben,  da  mein  Körper 
die  doppelte  Arbeit  aushielt.  Nach  dem  Frondienst  der 
Tagesarbeit  gehörte  fast  jede  halbe  Nacht  meinen  eigenen 
Studien.  Das  Doppelleben  führte  ich,  unerbittlich  gegen 
mich  selbst,  bis  zu  Ende  durch;  zwanzig  Jahre  lang 
dauerte  die  Vorarbeit  zu  meinem  sprachkritischen  Werke 
und  während  dieser  ganzen  Zeit  habe  ich  fast  keiner 
menschlichen  Seele  verraten,  daß  mich  noch  etwas  ganz 
anderes  beschäftigte  als  meine  Romane  und  meine 
Zeitungsaufsätze.  Vielleicht  lag  es  an  diesem  Doppel- 
leben, daß  ich  manche  der  Schriften,  die  ich  damals  ver- 
öffentlichte, zu  leicht  nahm.  Erst  im  Jahre  1893,  als 
ich  die  Niederschrift  meines  Buches  begann,  als  die 
siebenjährige  Mordsarbeit  der  Gestaltung  meiner  Ideen 
mich  aufzureiben  schien,  fühlte  ich  mich  geborgen  und 
war  meines  Zieles  sicher  genug,  so  daß  ich  mein  Ge- 
heimnis drei  Menschen  mitteilen  konnte. 

Wie  diese  sprachkritischen  Gedanken  in  meinem 
Kopfe  entstanden  sind,  weiß  ich  kaum  genau  mehr  an- 
zugeben. Ich  könnte  kein  einzelnes  Buch  oder  Erlebnis 
nennen,  auch  kein  zugeflogenes  Wort,  keinen  mir  be- 
wußten unmittelbaren  Einfluß.  Es  geschieht  auch  nicht 
zur  Kurzweil  des  Lesers,  wenn  ich  mir  Mühe  gebe,  ge- 
wissenhaft zu  erforschen,  von  wo  die  in  der  Luft  fliegen- 
den Keime  des  sprachkritischen  Gedankens  mir  zuge- 
flogen sein  mögen.  Bestimmt  weiß  ich  nur,  daß  der 
Schrecken  über  die  Sprache,  dessen  Analyse  ich  dann 
zu  meiner  Lebensaufgabe  machte,  mich  einmal  auf 
einem  langen  Marsche  überfiel,  als  ob  ich  einen  Schlag 
vor  die  Stirn  erhalten  hätte.  Vorgänger,  deren  Worte 
ich  in  meinem  Buche  immer  verzeichnet  habe,  lernte 
ich  erst  viel  später  in  den  langen  Jahren  der  Vorarbeit 
kennen. 

207 


Sicher  habe  ich  schon  als  Knabe  einige  Fragen  der 
Sprachphilosophie  ahnungslos  als  Fragen  empfunden. 
In  einem  zweisprachigen  Lande,  wie  gesagt,  dazu  als  Jude 
in  der  Lage  häufig  eine  dritte  Sprache,  das  Deutsch  der 
böhmischen  Juden  zu  vernehmen  und  zu  verhöhnen, 
war  ich  in  früher  Jugend  schon  bereit,  die  törichte 
Frage  zu  stellen :  warum  ist  dieser  Ausdruck  richtig  und 
der  andere  nicht?  Dazu  mochte  kommen,  daß  mein 
Vater  —  mit  ungenügender  Sachkenntnis  freilich  —  es 
liebte,  uns  auf  die  Besonderheiten  der  drei  Sprachen 
aufmerksam  zu  machen.  Dann  aber  klingen  mir  noch 
heute  in  den  Ohren  einige  Verse  eines  Mannes,  der  we- 
der ein  Denker  noch  ein  Dichter  war,  die  aber  einen 
starken  Eindruck  auf  den  Knaben,  vielleicht  gar  schon 
auf  das  Kind  gemacht  haben  müssen.  Reime  von  Kotze- 
bue,  aus  seinem  nachgemachten  Gedichte  „Der  Aus- 
bruch der  Verzweiflung''^).  Es  war  ein  Lieblingsstück 
meiner  Mutter,  sie  konnte  es  auswendig  und  sprach  es 
uns  Kindern  häufig  vor;  immer,  wie  ich  jetzt  glaube, 
wenn  sie  Schweres  niederzukämpfen  hatte  und  uns  ihre 
Stimmung,  anstatt  persönlich  zu  klagen,  durch  die  Rei- 
mereien Kotzebues  mitzuteilen  vorzog.  Es  ist  sicherlich 
eine  übertriebene  Pedanterei,  wenn  ich  auch  dieses 
,, Gedicht'',  das  beim  Nachlesen  wie  ein  umgekehrter, 
geifernder  und  darum  gar  nicht  komischer  Brockes  auf 
mich  wirkte,  nenne,  da  ich  die  Anregungen  zu  meiner 
Sprachkritik  überdenke.  Aber  —  wie  gesagt  —  es  muß 
einen  starken  Eindruck  auf  mich  gemacht  haben,  da 

i)  Für  Literarhistoriker  mag  das  Wort  ,, nachgemacht"  überflüssigerweise 
erklärt  werden;  aber  was  wäre  für  Historiker  zu  unbedeutend?  Ich  glaube 
also  „entdeckt"  zu  haben,  daß  Kotzebues  „Ausbruch  der  Verzweiflung"  in 
seiner  Aufzählung  der  Nachteile,  die  den  Menschen  vom  Tiere  unterscheiden, 
Punkt  für  Punkt  der  ganz  pessimistischen  Klage  folgt,  die  bei  dem  älteren 
Plinius  (Hist.  natur.  VII.  i)  zu  finden  ist. 

208 


noch  heute,  nach  mehr  als  50  Jahren,  noch  just  die 
Zeilen  im  Gedächtnisse  haften,  die  die  Vernunft  und  die 
Sprache  zu  verhöhnen  vermeinten. 

„Die  Vernunft,  —  ei,  wie  in  meinen  Ohren 
Bettelstolz  dies  Wörtchen  tönt. 
Wehe  uns,  ihr  eitlen  Toren, 
Die  ihr  einem  Götzen  frönt!  ... 
Klauen,  Zähne  sind  die  Waffen, 
Die  man  unter  Tieren  trifft ; 
Worte,  Schwerter,  Blicke,  Gift, 
Sind  für  Menschen  nur  geschaffen.** 

Wie  stark  bei  mir,  einem  Schwätzer  von  Natur,  die 
Andacht  zum  Schweigen  war,  noch  bevor  mich  der 
Schrecken  der  Sprache  überfiel,  mögen  die  Verse  be- 
zeugen (aus  dem  Jahre  1871),  die  meine  Revolutions- 
sonette beschließen.  Ich  hatte  die  Sternengreise  aufge- 
rufen, mir  das  Schicksal  der  Menschen  nach  ihrer 
großen  Revolution  vorauszusagen ;  die  Sterne  antwor- 
teten mir : 

,, Unbewegt  beharren  wir,  zu  zeigen 
Himmelslicht  den  Erdenfinsternissen ; 
Sehen  nicht  und  wissen  nicht  und  schweigen. 
Arme  Menschen,  die  ihr  mußtet  missen 
Ruh'  und  Glück,  die  unser  Göttereigen: 
Nicht  zu  sehen,  nicht  zu  wissen.** 

Ich  habe  wenige  Jahre  nach  dem  Erscheinen  meiner 
Sprachkritik,  durch  Anfragen  angeregt  und  durch  man- 
cherlei bösen  Willen  gereizt,  Rechenschaft  darüber  zu 
geben  versucht,  wie  entscheidend  drei  Männer,  Otto  Lud- 
wig, Nietzsche  und  Bismarck,  auf  die  Ausbildung  meiner 
Ideen  eingewirkt  hatten:  in  einem  Briefe  an  Maximi- 
lian Harden ;  dieser  Rechenschaftsbericht  ist  unter  dem 

14  209 


Titel  „I^ie  Herkunft  des  sprachkritischen  Gedankens** 
am  2.  April  1904  in  der  „Zukunft**  erschienen.  Bevor 
ich  diesen  Brief  hier  noch  einmal  abdrucke,  möchte  ich 
noch  einen  vierten  Namen  nennen,  den  von  Ernst  Mach. 
Mach  selbst  hat  mich  vor  einigen  Jahren  —  er  gab 
mir  wieder  einen  Beweis  seines  erstaunlichen  Gedächt- 
nisses —  daran  erinnert,  daß  ich  als  junger  Student  in 
Prag  einen  seiner  öffentlichen  Vorträge  angehört  und 
nach  der  physikalischen  Darlegung  die  Erlaubnis  er- 
beten hatte,  ihm  einige  begriffliche  Bedenken  vorlegen 
zu  dürfen.  In  dem  gleichen  Jahre  1872  ließ  mich  Mach 
seinen  Vortrag  über  ,,Die  Erhaltung  der  Arbeit**  lesen 
und  ich  erhielt,  so  wenig  ich  damals  von  mathemati- 
cher  Mechanik  verstand,  einen  Anstoß,  der  ohne  mein 
Wissen  durch  Jahrzehnte  fortgedauert  haben  muß. 
Denn  als  ich  fast  dreißig  Jahre  später  diesen  Vortrag 
las,  ohne  mich  der  ersten  Lektüre  zu  erinnern,  war  ich 
über  die  sprachkritischen  Ahnungen  erstaunt  und  hatte 
plötzlich  die  entschiedene  Vorstellung,  alle  diese  schlag- 
kräftigen Formulierungen  schon  einmal  in  mich  auf- 
genommen zu  haben.  Machs  erkenntnistheoretischer 
Positivismus  —  der  die  metaphysischen  Worte  nicht, 
wie  Auguste  Comte,  haßt,  sondern  psychologisch  be- 
schreibt, also  erklärt  —  hatte  in  meinem  Unterbewußt- 
sein nachgewirkt. 

Mein  Bericht  über  die  Herkunft  des  sprachkritischen 
Gedankens  aber  lautete: 

„Lieber  Freund. 

Sie  kennen  die  beiden  Finten,  die  nacheinander  gegen 
eine  neue  Lehre  von  unehrlichen  Gegnern  angewandt 
werden.  Zuerst  wird  das  Neue,  weil  es  gegen  die  allge- 
meine Meinung  verstößt,  also  in  wörtlichem  Sinne  para- 

210 


dox  ist,  für  widersinnig  erklärt,  für  unsinnig,  für  para- 
dox im  schlechten  Sinn.  Vor  ihrer  Anerkennung  ist  jede 
Wahrheit  paradox.  Pythagoras  opferte  hundert  Ochsen, 
da  er  seinen  Lehrsatz  gefunden  hatte;  seitdem  zittern 
alle  Ochsen,  nach  dem  geistreichen  Worte  Börnes  (oder 
vielmehr  Kästners) ,  wenn  eine  neue  Wahrheit  gefunden 
wird.  Die  zweite  Finte  ist  perfider,  weil  sie  weniger 
dumm  ist.  Man  sagt  von  der  neuen  Wahrheit,  wenn  sie 
sich  durchzusetzen  beginnt,  daß  sie  uralt  sei.  Und  da 
alles  Gescheite  schon  einmal  gedacht  worden  ist,  so  ist 
dieses  Vorgehen  der  Verkleinerungssucht  niemals  völlig 
falsch.  Alles  ist  schon  einmal  dagewesen.  Rabbi  Akiba 
hat  recht.  Nur  wird  bei  dieser  zweiten  Finte  eine  häß- 
liche Unredlichkeit  geübt,  die  selbst  Schopenhauer  in 
seiner  grimmigen  Schrift  gegen  die  Philosophieprofes- 
soren der  Professorenphilosophie  übersehen  hat.  Der 
Verfasser  des  Werkes  hat  natürlicher-  oder  törichter- 
weise sehr  viel  gelesen  und  gewissenhaft  und  freudig  all 
die  Stellen  zitiert,  an  denen  ältere  Selbstdenker  sich 
seinem  neuen- Gedanken  nähern  oder  ihn  auch  schon 
halb  aussprechen,  ohne  seine  Wichtigkeit  zu  ahnen.  Die 
Gegner  tun  nun  so,  als  hätten  sie  all  diese  versteckten 
Stellen  selbst  schon  beachtet  und  gesammelt,  und  halten 
mit  fälschender  Übertreibung  dem  Verfasser  die  von 
ihm  selbst  zitierten  Anklänge  entgegen,  die  ihn  während 
der  Arbeit  erfreut  und  ermutigt  haben.  Die  Torheit  sol- 
cher Angreifer  ist  aber  vielleicht  noch  größer  als  ihre 
Unehrlichkeit.  Sie  glauben  wirklich,  ein  eigenes  Werk, 
die  Konzeption  einer  eigenen  Weltanschauung  entstehe 
so  wie  ein  deutscher  Schulaufsatz  oder  wie  eine  Doktor- 
dissertation:  indem  ein  jüngerer  oder  älterer  Schüler 
Stücke  aus  älteren  Aufsätzen  zu  einem  neuen  Aufsatze 
zusammenstückelt.    Die    Armen    wissen    nichts    vom 

14*  211 


künstlerischen  Schaffen,  das  auch  im  wissenschaft- 
lichen Denken  allein  lebendig  ist.  Die  Armen  wissen 
nicht,  wie  unbewußt  der  dominierende  Gedanke  sich  der 
Seele  bemächtigt  haben  muß,  bevor  sich  Daten  aus  allen 
Wissenschaften  ankristallisieren. 

Man  wird  es  unbescheiden  finden,  wenn  ich  den  Er- 
fahrungssatz, daß  die  gleichen  Bodenelemente  in  der 
Buche  zu  Eckern,  im  Pfirsichbaum  zu  Pfirsichen  meta- 
morphosiert  werden,  daß  die  anregenden  Motive  für  den 
neuen  Gedankengang  vollständig  umgeschaffen  werden 
müssen,  —  man  wird  es  unbescheiden  finden,  wenn  ich 
diesen  Satz  für  die  Herkunft  meines  eigenen  Gedankens 
in  Anspruch  nehme.  Ich  trotze  dem  Vorwurf  der  Unbe- 
scheidenheit.  Ich  trotze  ihm  am  liebsten  vor  den  Lesern 
der  ,, Zukunft'',  weil  da  oft  mit  Achtung  und  Wärme 
von  meiner  ,, Kritik  der  Sprache''  gesprochen  wurde. 
Ihre  eigene  Meinung  kenne  ich  ja;  und  die  einzigen 
Zeugen  unserer  langen  Unterhaltungen,  die  Kiefern  des 
Grunewaldes,  verstehen  die  Worte  Bescheidenheit  und 
Unbescheidenheit  gar  nicht. 

Eigentlich  könnte  nur  eine  getreue  Autobiographie 
helfen,  die  Herkunft  einer  neuen  Erfindung,  einer  neuen 
Lehre  festzustellen,  soweit  eben  Treue  sicher  zwischen 
Wahrheit  und  Dichtung  unterscheiden  kann.  Ein  wenig 
pathologisch  ist  jeder  Finder  und  Erfinder,  ein  wenig 
unbescheiden  ist  jede  Autobiographie. 

Ich  habe  Ihnen  einmal  erzählt,  daß  mein  Spielen  mit 
dem  sprachkritischen  Gedanken,  ja,  eigentlich  schon 
die  entscheidende  Stimmung  bis  in  frühe  Jugend  zurück- 
reicht. Hier  möchte  ich  nur  darüber  berichten,  wie  vor 
etwa  dreißig  Jahren  die  Arbeit  in  der  Gedankenwerk- 
statt begann,  wie  bei  der  Entbindung  der  sprachkriti- 
schen Idee  zwei  merkwürdige  Bücher  und  eine  große 

212 


Persönlichkeit  mithalfen.  Otto  Ludwig  und  Friedrich 
Nietzsche  hatten  die  beiden  Bücher  geschrieben.  Der 
Fürst  Bismarck  war  die  große  Persönlichkeit. 

Die  Jugend  von  heute  kann  sich  keine  Vorstellung 
davon  machen,  eine  wie  tiefe  Wirkung  Otto  Ludwigs 
,, Shakespeare-Studien**  auf  die  Jugend  von  vor  dreißig 
Jahren  ausübten.  Wer  damals  etwa  im  vierundzwanzig- 
sten Jahr  stand,  hatte  als  zehnjähriger  Knabe  das  lodernde 
Aufflammen  der  Schillerbegeisterung  bei  der  Schiller- 
feier von  1 859  mit  erlebt,  hatte  den  Fackelzug  geschaut, 
hatte  die  politische  Bedeutung  der  Feier  nicht  geahnt 
und  vermeintlich  für  Lebenszeit  die  Vorstellung  gewon- 
nen :  wie  im  Dichter  überhaupt  alle  Menschengröße,  so 
sei  in  Schiller  alle  Dichtergröße  vereint.  Der  Naturalis- 
mus war  noch  nicht  neu  benannt.  Was  damals  in  der 
deutschen  Literatur  realistisch  hieß,  die  ersten  Romane 
von  Freytag  und  die  hübschen  alten  Novellen  von  Auer- 
bach, das  dachte  selbst  nicht  daran,  sich  dem  unsterb- 
lichen Schiller  gegenüberzustellen.  Schiller  war  ein 
dichterischer  Nationalheiliger.  Eigentlich  der  einzige. 
Der  Goethekultus,  abgesehen  von  einzelnen  Gemeinden 
des  Urgoethetums,  war  erst  im  Entstehen. 

Und  nun  erfuhren  wir  aus  Ludwigs  ,, Shakespeare- 
Studien*',  daß  einer  aus  dem  Kreis  der  bescheidenen 
Realisten  sein  ganzes  Leben  und  sein  halbes  Schaffen 
scharfsinnigen  Untersuchungen  über  die  poetischen 
Sünden  Schillers  geopfert  hatte.  Die  Wirkung  war  zu- 
erst eine  Verblüffung  und  dann  eine  förmliche  Revo- 
lution in  den  ästhetischen  Überzeugungen.  Der  spätere 
Naturalismus  hatte  im  Vergleich  dazu  nur  die  Bedeu- 
tung einer  Revolte.  Wir  müssen  heute  sagen :  Otto  Lud- 
wigVar  mit  seiner  Schillerkritik  im  Recht,  ganz  gewiß 
subjektiv,  weil  er  ernst  und  ehrlich  war,  gewiß  aber 

213 


auch  objektiv,  wenn  das  neue  deutsche  Drama  füglich 
die  Wege  Heinrichs  von  Kleist  gegangen  ist.  Wir  kön- 
nen Schiller  lieben,  ohne  ihn  als  Vorbild  gelten  zu  lassen. 
Wir  können  heute  übrigens  auch  das  Einseitige  und 
allzu  Schematische  in  den  Shakespeare-Studien  wahr- 
nehmen. Damals  fühlten  wir  nur  das  eine :  der  Mann  hat 
recht.  Wir  sahen  in  Otto  Ludwig  den  Verkünder  einer 
neuen  Zeit,  den  Johannes  eines  neuen  dramatischen 
Messias,  auf  den  Christen  und  Juden  bekanntlich  immer 
noch  warten. 

Wer  nun  selbst  zum  Grübeln  veranlagt  war,  wer  be- 
sonders mit  dem  Geheimnis  der  Sprache  in  Liebe  und 
Haß  nicht  fertig  werden  konnte,  der  war  geneigt,  den 
Faden  der  Shakespeare-Studien  weiterzuspinnen.  Was 
mehr  als  zwei  Menschenalter  hindurch  die  Deutschen 
entzückt  hatte,  Schillers  schöne  Sprache,  wurde  vom 
Shakespeare  -  Enthusiasten  getadelt.  ,, Schönheit  der 
Sprache  am  unrechten  Ort  wird  zum  Fehler  und  damit 
zur'  Unschönheit. ' ' 

Das  wollten  wir  nicht  für  Schiller  allein  gelten  lassen. 
Jede  Zeit  hat  ihre  eigene  ,, schöne  Sprache'*.  Niemals  ist 
von  den  Zeitgenossen  das  Beste  an  einem  großen  Dichter 
„schöne  Sprache''  genannt  worden.  Das  Ungeheure  an 
Shakespeare,  sein  harter  Blick  in  die  Wirklichkeitswelt 
und  seine  dämonische  Charakterisierungskraft:  das 
lobte  niemand  als  schöne  Sprache.  Worin  aber  Shake- 
speare der  Sklave  seiner  Zeit  war,  sein  Spielen  mit  Anti- 
thesen, Wortanklängen  und  toten  Symbolen  aus  der  an- 
tiken Mythologie  :  all  diese  Schönheitsfehler  gerade  muß- 
ten seiner  Zeit  als  schöne  Sprache  erscheinen.  Schön  ist 
den  Zeitgenossen  in  der  Sprache  immer  nur  eigentlich 
der  Gedankeninhalt;  und  der  wieder  nur,  wenn  er^mit 
glatter  Banalität  der  Weltanschauung  der  Zeitgenossen 

214 


entspricht,  sei  nun  diese  Weltanschauung  eine  neue 
Mode  oder  eine  neue  Philosophie. 

War  nun  „Schönheit  der  Sprache'*  nicht  das  richtige 
Kunstmittel,  sollte  die  Sprache  als  Werkzeug  der  Poesie 
untersucht  werden,  so  mußten  wir  radikaler  sein  als 
Otto  Ludwig.  Der  hatte  für  die  praktischen  Zwecke  sei- 
nes dramatischen  Handwerkes  Schiller  und  Shakespeare 
verglichen.  Wollten  wir  das  Geheimnis  der  Sprache  als 
Kunstmittel  erforschen,  so  mußte  Schiller  gegen  einen 
Näheren  gehalten  werden,  der  Dichter  der  schönen 
Sprache  gegen  den  Dichter  an  sich,  gegen  Goethe.  Was 
da  an  liebloser  Kritik  namentlich  der  Gedichte  Schillers 
und  an  liebevollem  Verstehen  des  ganzen  Goethe  sehen 
Wesens  herauskam,  das  ließ  bald  die  bloß  ästhetischen 
Anregungen  Ludwigs  weit  hinter  sich.  Die  Frage  nach 
dem  Wesen  der  Sprache  als  Kunstmittel  führte  zu  der 
tieferen  Frage  nach  dem  Wesen  der  Sprache  als  Er- 
kenntniswerkzeug. Goethe  führte  unmittelbar  in  den 
sprachkritischen  Gedanken  hinein.  Den  Sprachbeherr- 
scher ohnegleichen  begleitete  von  der  Jugend  bis  ins 
höchste  Alter  ein  Mißtrauen  —  um  nicht  zu  sagen :  ein 
Haß  —  gegen  die  Sprache.  Ein  solcher  Haß  gegen  das 
beste  Mittel  des  eigenen  Schaffens  ist  immer  aus  Liebe 
geboren.  So  mag  ein  genialer  Maler  die  realen,  im  Laden 
käuflichen  Farben  verfluchen,  die  sich  schwer  zur  Dar- 
stellung seiner  Künstlerträume  verschmelzen  lassen.  So 
wurden  Friedrich  der  Große  und  Bismarck  Verächter  der 
Menschen,  die  ihnen  zu  neuen  Zielen  nicht  schnell  ge- 
nug gehorchten.  Goethe  nannte  sich  einmal  selbst  den 
Todfeind  von  Wortschällen.  Und  bei  Gelegenheit  von 
Hamann,  dem  Magus  des  Nordens,  der  den  sprachkriti- 
schen Gedanken  bei  Goethe  und  anderen  wie  kein  zwei- 
ter Deutscher  gefördert  hatte,  spricht  Goethe  die  ent- 

2IS 


scheidende  Wahrheit  aus :  Alles  Vereinzelte  sei  verwerf- 
lich; bei  jeder  Überlieferung  durchs  Wort  jedoch,  die 
nicht  gerade  poetisch  ist,  finde  sich  eine  große  Schwie- 
rigkeit. Denn  das  Wort  müsse  sich  ablösen,  es  müsse 
sich  vereinzeln,  um  etwas  zu  sagen,  zu  bedeuten.  Der 
Mensch,  indem  er  spricht,  müsse  für  den  Augenblick 
einseitig  werden.  Da  war  bei  Goethe,  dem  Poeten  und 
dem  Weisen,  zusammengedacht,  was  uns  bisher  in  zwei 
verschiedenen  Denkreihen  auseinandergefallen  war. 
Die  Sprache  als  Werkzeug  der  Poesie  war  das  edelste 
Kunstmittel,  erhob  für  uns  die  Poesie  über  alle  anderen 
Künste.  Dieselbe  Sprache  war  ein  unbrauchbares,  ein 
elendes  Werkzeug  der  Erkenntnis.  Dieser  Widerspruch 
—  Widersprüche  gibt  es  nur  in  der  Sprache  oder  im 
Denken  des  Menschen,  nicht  in  der  Wirklichkeitswelt  — 
dieser  scheinbare  Widerspruch  wurde  nicht  nur  aufgelöst, 
sondern  als  notwendig  erkannt,  wenn  erst  das  Wesen 
des  Wortes  ein  wenig  aufgehellt  war  und  dann  die  Be- 
ziehungen des  Wortes  zur  Poesie  oder  Wortkunst  auf  der 
einen,  zur  Welterkenntnis  oder  Philosophie  auf  der  an- 
deren Seite.  Die  Poesie  ist  ein  Sinnenreiz  durch  Worte. 
Aber  die  Worte  geben  keine  Anschauung,  weder  in  der 
Poesie  noch  in  der  Wissenschaft.  ,, Jedes  einzelne  Wort 
ist  geschwängert  von  seiner  eigenen  Geschichte,  jedes 
einzelne  Wort  trägt  in  sich  eine  endlose  Entwicklung 
von  Metapher  zu  Metapher."  Daher  kommt  es,  daß  die 
Worte  unserer  Sprache  nur  in  den  seltensten  Fällen  den 
Begriffen  entsprechen,  mit  denen  die  Schullogik  arbei- 
tet, daß  die  Begriffe  oder  Worte  keinen  starren  Umfang 
und  keinen  definierten  Inhalt  haben,  daß  vielmehr  ein 
zitteriger  Umfang,  ein  nebelhafter  Inhalt  die  Worte  der 
lebendigen  Sprache  mindert  oder  erhöht,  wie  man's 
nimmt.  Dieses  Schweben  und  Weben  in  den  einzelnen 

216 


Worten  kann  keine  Anschauung  geben,  nur  Assozia- 
tionen kann  es  wecken,  Assoziationen  und  Erinnerun- 
gen. Und  weil  die  menschliche  Sprache  nichts  ist  als 
die  Gesamtheit  der  menschheitlichen  Entwicklung,  als 
die  ererbte  und  erworbene  Erinnerung  des  Menschen- 
geistes, darum  sind  die  Worte  reicher  an  Assoziationen 
als  die  Töne  der  Musik  oder  als  die  Farben  der  Malerei. 
Und  weil  die  Bilder  des  Dichters  nicht  die  Wirklichkeit 
wiedergeben,  sondern  des  Dichters  Stimmungen  und 
Gefühle  gegenüber  der  Wirklichkeit,  darum  ist  das 
Schwebende  in  den  Begriffen,  der  Gefühlswert  in  den 
Worten  ein  so  ausgezeichnetes  Mittel  der  Wortkunst. 
Lange  bevor  es  in  der  Malerei  eine  impressionistische 
Technik  gab,  war  in  der  Poesie  diese  Übung  zu  Hause. 
Diese  Worte  haben  immer  zitterige  Umrisse  gehabt, 
die  Sprache  ist  immer  impressionistisch  gewesen.  Eine 
Wortanalyse  der  schönsten  Gedichte  Goethes  machte 
diese  Wahrheit  deutlich.  Erst  die  Stimmung,  die  vom 
Dichter  zum  Leser  oder  Hörer  übergeht,  vereint  die  zit- 
ternden Worte  wieder  zu  dem  Bilde,  das  der  Dichter 
mitteilen  wollte. 

Dieses  Schweben  und  Zittern  um  die  Worte  macht 
aber  dieselbe  Sprache  unlogisch,  unpräzis,  macht  sie  zu 
einem  schlechten  Werkzeug  der  Wissenschaft,  macht 
sie  vor  allem  ganz  unfähig,  aus  Worten  Welterkenntnis 
oder  Philosophie  herauszuspinnen.  Die  Sprache  ist  ein 
Werkzeug,  mit  dem  sich  die  Wirklichkeit  nicht  fassen 
läßt.  Im  besten  Fall  sind  die  Worte  orientierende  Erin- 
nerungen an  Sinneseindrücke.  Darum  ist  die  Sprache  in 
ihrem  Wesen  materialistisch,  kann  bestenfalls  in  den 
einzelnen  Naturwissenschaften  dem  Ordnungstrieb  der 
Menschen  dienen,  kann  bestenfalls  der  Weltanschau- 
ung des  Materialismus  genügen,  kann  aber  über  den 

217 


Materialismus  hinaus  dem  unausrottbaren  metaphysi- 
schen Bedürfnis  nicht  helfen.  Weil  unser  Denken  nur 
Sprechen  ist,  darum  müssen  wir  uns  in  allen  Wissen- 
schaften auf  das  Beschreiben  beschränken  und  gelan- 
gen nicht  zum  Erklären.  Auf  diesem  Wege  ungefähr 
führte  bereits  die  ästhetische  Sprachkritik  Ludwigs  zu 
einer  erkenntnistheoretischen  Sprachkritik  hinüber. 

Mit  einer  gewaltsamen  Losreißung  von  Schiller,  nicht 
von  der  edlen  Persönlichkeit  des  Dichters,  sondern  nur 
von  seiner  Psychologie  und  Sprache,  fing  es  an.  Wel- 
cher Abgrund  sich  da  endlich  auftat,  zeigte  ein  Blick 
auf  eins  seiner  bekanntesten  Gedichte.  In  den  ,, Worten 
des  Wahnes'^  hat  Schiller  an  einigen  stolzen  Begriffen 
Sprachkritik  geübt.  Die  Goldene  Zeit,  die  Gerechtigkeit 
auf  Erden,  die  Entschleierung  der  Wahrheit  sind  Schat- 
ten. ,, Verscherzt  ist  dem  Menschen  des  Lebens  Frucht, 
solang*  er  die  Schatten  zu  haschen  sucht."  Zwei  Jahre 
früher,  doch  schon  nach  mehrjährigem  Verkehr  mit 
Goethe,  schrieb  Schiller  aber  ganz  wortabergläubig  ,,die 
Worte  des  Glaubens*^ : 

,,Drei  Worte  nenn*  ich  euch,  inhaltschwer, 
Sie  gehen  von  Munde  zu  Munde  .  .  . 
Dem  Menschen  ist  aller  Wert  geraubt. 
Wenn  er  nicht  mehr  an  die  drei  Worte  glaubt." 

Es  sind  die  Begriffe :  Freiheit,  Tugend  und  Gott,  die- 
selben Begriffe,  die  Kant  durch  die  Hintertür  der  ,, Prak- 
tischen Vernunft"  (doch  schon  vorher  in  der  ,, Meta- 
physik der  Sitten")  wieder  eingeführt  hatte,  nachdem 
sie  von  ihm  in  der  ,, Kritik  der  reinen  Vernunft"  eben 
hinausgewiesen  worden  waren.  Es  sind  für  Kant  und 
für  Schiller  Worte  des  Glaubens,  Bedürfnisse  des  Her- 
zens. „Und  stammen  sie  gleich  nicht  von  außen  her; 

218 


Euer  Inneres  gibt  davon  Kunde/ ^  Und  nun  lesen  Sie  die 
Eingangverse  des  Gedichtes  noch  einmal,  ohne  Ände- 
rung, ohne  Parodie,  ohne  Bosheit,  nur  etwa  mit  der 
Verachtung  ewiger  Wahrheiten,  die  uns  inzwischen 
Friedrich  Nietzsche,  der  Umwerter  aller  Werte,  gelehrt 
hat.  Und  Schillers  Gedicht  verwandelt  sich  in  eine  höh- 
nische Parodie  seiner  selbst: 

„Drei  Worte  nenn'   ich  euch,  inhaltschwer, 
Sie  gehen  von  Munde  zu  Munde  .  .  . 
Dem  Menschen  ist  aller  Wert  geraubt. 
Wenn  er  nicht  mehr  an  die  drei  Worte  glaubt/* 

^Ich  bitte  Sie  nur,  laut  zu  lesen  und  die  Lautgruppen 
,, Worte**  und  ,,Wert**  so  auszusprechen,  wie  wir  sie 
empfinden.  Sie  gehen  wirklich  nur  ,,von  Munde  zu 
Munde**. 

Von  dem  Friedrich  Nietzsche,  der  später  als  Dichter 
des  Zarathustra  und  als  antichristlicher  Verkünder  einer 
neuen  Herrenmoral,  jenseits  von  Gut  und  Böse,  so  ein- 
flußreich wurde,  konnten  wir  vor  dreißig  Jahren  noch 
nichts  wissen.  Noch  nichts  wissen  von  der  glänzenden 
Wortkritik,  die  Nietzsche  an  der  beschränkten  Gruppe 
moralischer  oder  moralinsaurer  Begriffe  üben  würde. 
Der  spätere  Nietzsche  wäre  der  Mann  gewesen,  mit  un- 
vergleichlicher Sprachkraft  Sprachkritik  zu  treiben, 
wenn  er  den  Dichter  in  sich  selbst  und  den  Denker  aus- 
einanderzuhalten vermocht  hätte,  wie  Goethe  es  doch 
vermochte,  und  wenn  er  mit  seinem  stärksten  Interesse 
über  moralische,  also  eigentlich  theologische  Fragen 
hinausgelangt  wäre.  Genug :  seine  bekanntesten  Werke 
waren  noch  nicht  geschrieben  und  fast  wie  durch  ein 
Wunder  nur  gelangten  die  ersten  Schriften  Nietzsches 
schon  damals  in  unseren  studentischen  Kreis. 

219 


Einige  eingefleischte  Wagnerianer  begeisterten  sich 
an  der  ,, Geburt  der  Tragödie' ^  Wir  anderen  wußten  mit 
diesem  Buch  wenig  anzufangen,  in  dem  die  Psychologie 
des  Genies  ebenso  gut  ist  wie  schlecht  und  unhaltbar 
die  historische  Auffassung.  Die  erste  unzeitgemäße  Be- 
trachtung, die  den  feinen  und  verdienstvollen  Strauß, 
den  Bekenner  des  neuen  Glaubens,  als  den  Bildungs- 
philister an  den  Pranger  stellte,  mißfiel  uns.  Sie  schien 
uns  ein  gut  geschriebenes  Pamphlet,  einseitig  und  un- 
gerecht. Nur  das  neue  Wort  ,, Bildungsphilister"  prägte 
sich  uns  mit  dem,  was  es  bedeutete,  unauslöschbar  ein. 
Und  dann  kam  die  zweite  unzeitgemäße  Betrachtung; 
sie  schlug  wie  ein  Blitz  unter  uns  hinein:  ,, Vom  Nutzen 
und  Nachteil  der  Historie  für  das  Leben.*'  Für  mich 
selbst  kann  ich  eingestehen,  daßniewiederein  Werk  von 
Nietzsche  einen  so  übermächtigen  Eindruck  auf  mich 
gemacht  hat  wie  diese  einfach  und  verhältnismäßig 
ruhig  gehaltene  Abhandlung.  Und  ich  halte  sie  noch 
heute  für  die  fruchtbarste,  subjektiv  und  objektiv  wahr- 
ste unter  Nietzsches  Schriften.  Wie  hatten  wir  unter 
dem  Leiden  geseufzt,  für  das  es  kein  Heilmittel  gab, 
das  wir  nicht  einmal  benennen  konnten!  Das  Leiden, 
das  nun  plötzlich  bei  seinem  Namen  gerufen  wurde: 
die  historische  Krankheit  oder  der  Historismus,  hatte 
uns  unsere  wissenschaftliche  Jugend  geraubt.  Er  lag 
über  den  Vorträgen  unserer  Lehrer  ebensosehr  wie  über 
dem  öffentlichen  Leben.  Wenn  man  den  Historismus 
als  die  herrschende  Macht  oder  die  herrschende  Krank- 
heit des  neunzehnten  Jahrhunderts  auf  die  kürzeste 
Formel  bringen  will,  so  kann  man  sagen :  der  Historis- 
mus war  die  romantische  Reaktion  gegen  die  Tenden- 
zen der  großen  Französischen  Revolution  von  1789. 
Hegel  hat  einmal  den  Meisterwitz  gemacht,  die  Fran- 

220 


zösische  Revolution  habe  die  Welt  auf  die  Vernunft, 
also  auf  den  Kopf  gestellt.  Man  könnte  den  geistreichen 
Scherz  umkehren:  die  romantische  Reaktion,  die  na- 
mentlich in  Deutschland  nach  dem  Sturz  Napoleons, 
also  nach  der  scheinbaren  Beendigung  der  Revolution, 
einsetzte,  hat  die  Welt  auf  die  Geschichte,  also  auf  die 
Unvernunft  gestellt.  Der  Begriff  der  Entwicklung  wurde 
ja  erst  später  auf  die  Geschichte  angewandt.  Der 
leitende  Historismus  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
stemmte  sich  gegen  Revolution  ebenso  wie  gegen  Evo- 
lution. Besonders  wir  Juristen  hatten  ein  Recht,  über 
den  Historismus  zu  klagen.  Das  anerkannte  Haupt  der 
historischen  Rechtsschule,  Savigny,  hatte  sich  dem 
Vernunft-  und  Naturrecht  des  achtzehnten  Jahrhun- 
derts gegenübergestellt  und  ewig  wurde  uns  sein  be- 
rühmter Satz  wiederholt,  daß  unsere  Zeit  keinen  Beruf 
zur  Gesetzgebung  habe.  Wir  wissen  jetzt  alle,  wie  diese 
Äußerung  des  Historismus  durch  die  Lebensarbeit  Bis- 
marcks,  des  Illegitimistischen,  also  Unhistorischen, 
über  den  Haufen  geworfen  wurde.  Bezeichnend  ist,  daß 
das  geflügelte  Wort  des  Historismus,  das  verhängnis- 
volle Wort  Hegels,  in  seiner  Philosophie  des  Rechtes  zu 
finden  ist,  niedergeschrieben  zur  Zeit  der  Karlsbader 
Beschlüsse  und  der  Wiener  Schlußakte,  das  Wort: 
„Was  vernünftig  ist,  das  ist  wirklich ;  und  was  wirklich 
ist,  das  ist  vernünftig.*' 

Heute  haben  wir  aus  den  Notizen  des  zweiten  Bandes 
von  Nietzsches  Nachlaßschriften  erfahren,  wie  scharf 
sich  Nietzsche  in  seiner  zweiten  Unzeitgemäßen  gerade 
gegen  Hegels  Geschichtsphilosophie  wenden  wollte. 
Hegel  finde  die  Vernunft  in  der  Geschichte  selbstver- 
ständlich, wie  schon  Kinder  zu  den  Erzählungen  einen 
Zweck,  eine  Moral  fordern.  ,,Aber  wir  fordern  gar  keine 

221 


Erzählungen  vom  Weltprozeß,  weil  wir  es  für  Schwindel 
halten,  davon  zu  reden/'  In  der  damals  allein  vor- 
liegenden zweiten  Unzeitgemäßen  griff  Nietzsche  be- 
sonders hart  den  neusten  philosophischen  Vertreter  der 
Weltprozeßideen  an,  den  Philosophen  des  Unbewußten, 
gegen  den  er  Grobheiten  aus  der  Rüstkammer  Schopen- 
hauers heranholt.  Doch  eigentlich  gilt  der  Kampf  dem 
Historismus  Hegels.  „Wer  erst  gelernt  hat,  vor  der 
, Macht  der  Geschichte'  den  Rücken  zu  krümmen  und 
den  Kopf  zu  beugen,  der  nickt  zuletzt  chinesenhaft- 
mechanisch  sein  ,Ja'  zu  jeder  Macht,  sei  dies  nun  eine 
Regierung  oder  eine  öffentliche  Meinung  oder  eine  Zah- 
lenmajorität, und  bewegt  seine  Glieder  genau  in  dem 
Takt,  in  welchem  irgendeine  , Macht'  am  Faden  zieht." 
So  packte  uns  die  Schrift  Nietzsches  zunächst  bei 
unserem  Interesse  für  das  öffentliche  Leben.  Und  wir 
deutschen  Studenten  der  Prager  Universität  standen 
durch  den  unablässigen  Kampf  mit  den  tschechischen 
Kommilitonen  gar  sehr  im  öffentlichen  Leben,  mehr,  als 
es  sonst  gern  gesehen  wird.  Doch  darüber  hinaus  mel- 
deten sich  Fragen  von  entscheidender  Bedeutung.  War 
die  Historie  noch  eine  Wissenschaft  im  strengsten  Sinn, 
wenn  die  Erzählung  keine  Moral  hatte,  wenn  keine 
Vernunft  in  der  Geschichte  war,  wenn  es  keine  histo- 
rischen Gesetze  gab?  Nietzsche  hat  den  Satz  damals 
nicht  ganz  klar  formuliert,  aber  seine  Meinung  ist  deut- 
lich genug  ausgesprochen.  In  anderen  Wissenschaften 
seien  die  Allgemeinheiten  das  Wichtigste,  insofern  sie 
die  Gesetze  enthalten ;  nicht  so  in  der  Geschichte.  Und 
viel  stärker  noch:  ,,Wie,  die  Statistik  bewiese,  daß  es 
Gesetze  in  der  Geschichte  gäbe?  Gesetze?  Ja,  sie  be- 
weist, wie  gemein  und  ekelhaft  uniform  die  Masse  ist : 
soll  man  die  Wirkung  der  Schwerkräfte  Dummheit, 

222 


Nachäfferei,  Liebe  und  Hunger  Gesetze  nennen?  Nun, 
wir  wollen  es  zugeben,  aber  damit  steht  dann  auch  der 
Satz  fest :  soweit  es  Gesetze  in  der  Geschichte  gibt,  sind 
die  Gesetze  nichts  wert  und  ist  die  Geschichte  nichts 
wert/* 

Da  hatten  wir  also  mit  einem  Schlagwort  das  Gegen- 
gift gegen  die  historische  Krankheit.  Die  Geschichte 
der  Menschheit  ist  unvernünftig  oder  irrational,  ist  eine 
Zufallsgeschichte ;  es  gibt  keine  historischen  Gesetze. 

Nun  hatte  unser  Nachdenken  über  die  Schönheit  oder 
die  Unschönheit  der  sogenannten  schönen  Sprache  in- 
zwischen zu  einer  leidenschaftlichen  Beschäftigung  mit 
sprachwissenschaftlichen  Fragen  geführt.  Die  ästhe- 
tische Ausbeute  war  anfangs  gering.  Noch  viel  mehr  als 
in  der  Gegenwart  beschäftigte  sich  die  Sprachwissen- 
schaft damals  fast  ausschließlich  mit  dem  Aufspüren 
und  Kodifizieren  der  Lautgesetze.  Noch  hatten  die 
Junggrammatiker  den  Streit  um  den  Begriff  der  Laut- 
gesetze nicht  begonnen,  noch  war  Wechßlers  Frage 
,,Gibt  es  Lautgesetze?**  nicht  aufgeworfen,  noch  hatte 
Hermann  Paul  sein  wertvolles  Werk  nicht  geschrieben, 
das  nicht  Prinzipien  der  Sprachwissenschaft,  sondern 
„Prinzipien  der  Sprachgeschichte**  heißt.  Aber  es  lag 
für  uns  doch  in  der  Luft,  die  antihistorischen  Ideen 
Nietzsches  auch  auf  den  Zweig  der  Geschichte  anzu- 
wenden, der  als  Sprachwissenschaft  zu  viele  Gesetze 
aufstellte.  Mag  sein,  daß  Sprachgeschichte  Kulturge- 
schichte ist,  unter  die  vage  Rubrik  ,, Völkerpsychologie** 
gehört,  nur  großzügig  zu  verstehen  ist,  einerlei:  wenn 
es  keine  historischen  Gesetze  gibt,  gibt  es  auch  keine 
Gesetze  der  Sprachgeschichte.  Die  mechanischen  Ge- 
setze haben  ihren  enorm  praktischen  Wert,  weil  sie  für 
alle  Zukunft  und  für  alle  Vergangenheit  ausnahmelos 

223 


gelten.  Mit  Hilfe  der  Gesetze  der  Physik  und  Mechanik 
kann  man  den  noch  nicht  erfundenen  Maschinen  be- 
stimmte Aufgaben  stellen,  kann  man  längst  vergangene 
Veränderungen  der  Erdrinde  häufig  mit  Sicherheit  be- 
schreiben. Mit  Hilfe  der  Sprachgesetze  kann  man  weder 
die  künftige  Entwicklung  der  Sprache  voraussagen  noch 
einen  vorhistorischen  Zustand  der  Sprache  rekonstru- 
ieren. Die  Aufstellung  der  indoeuropäischen  Ursprache 
war  ein  ausgeträumter  Traum. 

Die  Kritik  des  Begriffes  Gesetz  führte  aber  weiter  und 
weiter  über  Nietzsches  Leugnung  historischer  Gesetze 
hinaus.  Es  ergab  sich,  daß  Piaton  und  Aristoteles  das 
Wort  Gesetz  nur  metaphorisch  auf  die  Natur  anwandten, 
daß  sie  mit  der  Behauptung  recht  hatten,  in  ,, Natur- 
gesetz*' stecke  ein  bildlicher  Ausdruck.  ,,Sindwirsoerst 
ganz  einig  darüber,  daß  unser  ganzes  menschliches  Wis- 
sen in  unseren  Wahrnehmungen  besteht,  unser  Denken 
oder  Sprechen  einzig  und  allein  in  der  bequemen  Ord- 
nung dieser  Wahrnehmungen  (durch  Begriffe  oder 
Worte,  die  ähnliche  Wahrnehmungen  zusammenfas- 
sen), so  werden  wir  bescheiden  weiter  sagen,  daß  wir 
Gesetze  die  Begriffe  zu  nennen  pflegen,  die  besonders 
regelmäßige  Naturbewegungen  oder  Änderungen  zu- 
sammenfassen. Gespenster,  die  pünktlich  zur  gleichen 
Stunde  erscheinen.  Wir  nennen  die  Regelmäßigkeiten  in 
der  Mechanik,  die  wir  bis  auf  die  kleinsten  Bruchteile 
beobachten  gelernt  haben,  Gesetze,  wie  wir  die  Regel- 
mäßigkeiten in  der  Biologie,  die  noch  sehr  schlecht  be- 
obachtet sind,  ebenfalls  Gesetze  nennen." 

Noch  viel  energischer  über  den  Nietzsche  der  unzeit- 
gemäßen Betrachtungen  hinaus  führte  zuerst  die  Ah- 
nung, dann  die  Gewißheit,  daß  es  außerhalb  unserer 
Sprache  auch  keine  aktiven  Denkgesetze  gibt.  Unter  der 

224 


Kritik  der  Denkgesetze  geriet  der  Jahrtausende  alte 
Bau  der  Schullogik  ins  Wanken.  Und  der  sprachkriti- 
sche Gedanke,  der  schon  durch  Ludwigs  Zweifel  an  dem 
Schillerischen  Schönheitsideal  geweckt  und  zu  erkennt- 
nistheoretischen Fragen  geführt  worden  war,  ging  von 
Nietzsches  Zweifel  an  den  historischen  Gesetzen  zu  den 
letzten  Fragen  der  Erkenntnistheorie,  zu  den  Abgrün- 
den, die  sich  jetzt  vor  den  Blicken  auf  taten.  War  der 
sprachkritische  Gedanke  wirklich,  wie  einmal  Hebbel 
scharf  ausgesprochen  hatte,  wie  aber  schon  Hamann 
und  seine  Anhänger,  Herder  und  Jacobi,  unmittelbar 
nach  Erscheinen  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft'* 
fühlten,  die  notwendige  Ergänzung  von  Kant,  dann 
durften  die  Abgründe  nicht  schrecken,  dann  mußte  die 
Schullogik  als  ein  Wahngebilde  der  Sprache  zerstört, 
dann  mußte  das  sprachliche  Korrelat  der  Logik,  die 
Grammatik,  zum  ersten  Male  ohne  Sprachaberglauben 
angeschaut  werden.  Dann  ergaben  sich  ganz  neue  Aus- 
blicke. Sprachwissenschaft  im  höheren  Sinn  wurde  zur 
einzigen  Geisteswissenschaft  und  eine  Kritik  der  Spra- 
che, die  eine  Erlösung  von  der  Sprache,  eine  Erlösung 
vom  Wortaberglauben  verhieß,  wurde  das  wichtigste 
Geschäft  der  denkenden  Menschheit. 

Gedanken  solcher  Art  glitzerten  schon  in  der  zweiten 
unzeitgemäßen  Betrachtung  Nietzsches  auf.  Er  sprach 
einmal  von  Ideenmythologie,  ein  anderes  Mal  von  einer 
Krankheit  der  Worte.  Und  vorher,  allerdings  wieder  nur 
in  bezug  auf  Werturteile,  klagt  Nietzsche,  daß  der 
Mensch  unter  der  Übermacht  der  Historie  ,,so  lange  der 
Narr  fremder  Worte,  fremder  Meinungen  gewesen  sei'*. 
Ich  kann  nicht  sagen,  ob  damals  durch  eine  zufällige 
Mitteilung  über  Stirner  ,,Der  Einzige  und  sein  Eigen- 
tum** oder  erst  später  durch  das  furchtbare  Buch  selbst 

15  225 


oder  schon  früher  durch  Betrachtungen  über  Sprache 
als  Kunstmittel  der  traurigste  Gedanke  der  Sprachkritik 
sich  festwurzelte,  daß  die  Sprache  als  die  Summe  der 
menschheitlichen  Erinnerungen  jeden  einzelnen  Men- 
schen zwingt,  beim  Denken  oder  Sprechen  die  Leichen 
der  Vergangenheit  mit  sich  herumzutragen,  daß  er  diese 
Leichen  oder  Gespenster  nur  mit  dem  Denken  oder  dem 
Sprechen  selbst  von  sich  werfen  kann,  wie  seinen  Kör- 
per nur  mit  seinem  Leben?  Was  wir  so  stolz  Weltan- 
schauung nennen,  ist  nicht  weniger,  aber  auch  nicht 
mehr  als  die  Sprache,  die  ererbte  und  erworbene  Erin- 
nerung an  die  Daten  unserer  Zufallssinne. 

Wenn  Sie  selbst  Nietzsches  zweite  Unzeitgemäße 
heute  lesen,  so  wird  es  Sie  wahrscheinlich  am  meisten 
interessieren,  schon  den  Antichrist,  schon  den  Phan- 
tasten der  ,, Wiederkunft**  in  dieser  Jugendarbeit  zu 
finden.  Mir  war  es  aber  doch  nur  darum  zu  tun,  ein 
psychologisches  Beispiel  zu  geben  von  der  Art,  wie 
ein  keimkräftiger  Gedanke  seine  Nahrung  an  sich 
reißt,  woher  er  mag,  selbstherrlich.  Um  wachsen  zu 
können.  Immerhin  war  bisher  nur  von  Büchern  die 
Rede.  Glücklicherweise  handelt  es  sich  bei  der  dritten 
großen  Förderung  des  sprachkritischen  Gedankens  nicht 
um  ein  Buch,  sondern  um  eine  erlebte  Persönlichkeit, 
um  Bismarck.  "Wir  haben  oft  über  Nietzsche  gestritten, 
gelegentlich  über  Otto  Ludwig,  niemals  über  den  Für- 
sten Bismarck.  Nur  beneidet  habe  ich  Sie  seit  dem  Tage, 
da  Sie  mir  auf  der  Heimreise  von  Hamburg  in  Fried- 
richsruh  begegneten.  Wir  anderen  sagen  nur  bildlich, 
daß  wir  diesen  Mann  erlebt  haben. 

Es  ist  aber  keine  Konstruktion,  wenn  ich  sein  Ein- 
greifen in  diese  Gedankenwelt  auf  die  Zeit  von  vor 
dreißig  Jahren  zurückdatiere.  Ich  muß  da  noch  viel  per- 

226 


sönlicher  werden.  Wir  deutschen  Studenten  Prags  waren 
fanatisch  national ;  die  ewigen  Katzbalgereien  mit  den 
Tschechen  machten  chauvinistisch.  Dabei  fühlten  wir 
es  durchaus  nicht  als  eine  Verwirrung  der  Gefühle,  daß 
wir  die  Preußen  und  ihren  Bismarck  nicht  mochten. 
Unklar  und  jugendlich  nahmen  wir  den  Preußen  und 
Bismarck  die  Ereignisse  von  1866  übel.  Und  nach  dem 
französischen  Krieg  erst  recht  unseren  Ausschluß  aus 
der  deutschen  Einheit.  Wir  hielten  es  ungefähr  mit  den 
Sentimentalen  von  der  deutschen  Fortschrittspartei. 
Etwas  Großes  war  gewonnen,  aber  unsere  Felle  waren 
fortgeschwommen.  Wir  gestanden  uns  selbst  nicht  ein, 
wie  wir  uns  für  das  Lebenswerk  Bismarcks  enthusias- 
mierten. Dann  aber  kam  der  Tag,  an  dem  der  heim- 
liche Enthusiasmus  laut  und  hell  herausschlagen  sollte. 
Eigentlich  sollte  ich  nicht  in  der  Mehrzahl  reden.  Wir 
durften  im  Frühjahr  1872  die  Gründung  der  Straßburger 
Universität  mitfeiern,  wir  durften  der  jüngsten  die 
Grüße  der  ältesten  deutschen  Hochschule  überbringen. 
Die  Stimmung  war  von  der  Ausfahrt  an  ernst  und  feier- 
lich, denn  die  Tschechen  bedrohten  uns.  Und  nicht  nur 
mit  papiernen  und  gesprochenen  Protesten :  auch  Steine 
versuchten  zu  reden.  Desto  herrlicher  wurde  diese  Früh- 
lingsfahrt. Wir  sangen  Scheffels  Festlied  und  wir  tran- 
ken, daß  Scheffel  recht  zufrieden  war.  Über  allen 
Festen  schwebte,  neu  und  überraschend  für  uns,  die  wir 
nicht  Reichsdeutsche  waren,  die  Gestalt  Bismarcks. 
Man  muß  diese  Feste  mitgenossen  haben,  um  zu  be- 
greifen, was  uns  Österreichern  die  Erinnerung  war  und 
ist.  Nicht  als  ob  etwas  Besonderes  zu  erzählen  wäre. 
Höchstens,  daß  berühmten  alten  Männern  die  Tränen 
in  die  Augen  traten,  wenn  sie  den  Namen  Bismarck  in 
ihren  Reden  aussprachen.  Das  war  dem  Österreicher 

15*  227 


neu  und  fremd.  Da  besaß  das  deutsche  Volk,  unser  Volk, 
einen  Helden,  den  es  verehren  konnte.  Und  dieser  Held 
war  im  Geiste  dabei,  als  am  2.  Mai  1872  die  große  Kneipe 
abgehalten  wurde.  Ein  Huldigungstelegramm  an  Bis- 
marck,  ein  burschikoser  Gruß  zur  Antwort.  Die  Musik 
spielt  die  Kutschke-Polka  und  zweitausend  Studenten 
und  Alte  Herren  reiben  einen  Salamander  auf  Bismarck, 
Das  war  alles.  Ein  sehr  feucht-fröhliches  Fest  für  alle 
Teilnehmer;  ein  Ereignis  für  unseren  kleinen  Kreis. 
Seit  dieser  Stunde  erst  erschien  mir  Bismarck  als  der 
Magister  Germaniae ;  ich  versuchte,  mich  in  seine  Per- 
sönlichkeit, in  seine  Sprache  zu  versenken,  ich  las  so- 
gar Berliner  Zeitungen. 

Wer  nun  aber  von  Kant  (den  ich  damals  freilich  fast 
nur  aus  Schopenhauer  kannte)  herkam,  ganz  im  er- 
kenntnistheoretischen Idealismus  lebte,  der  stand  plötz- 
lich vor  der  Aufgabe,  sich  zugleich  mit  dem  Realismus, 
mit  der  Realpolitik  des  neuen  Helden  abzufinden.  Nicht 
darum  handelte  es  sich,  eine  Brücke  von  Worten  zu 
schlagen  zwischen  den  Namen  ,,Kant  und  Bismarck**, 
nicht  darum:  in  einer  Festrede  oder  in  einer  Doktor- 
dissertation die  Kluft  zwischen  beiden  mit  Wortleichen 
auszufüllen.  Das  wäre  leicht  gewesen.  Im  Nu  ließe  sich 
so  ein  Vortrag  über  das  Thema  Kant  und  Bismarck 
improvisieren.  Sie  selbst  haben  einmal  von  Bismarck  ge- 
sagt :  ,,Er  dürfte  so  etwa  der  gebildetste  Deutsche  sein.** 
Daraus  läßt  sich  folgern,  daß  er,  nachdem  er  ein  wenig 
über  Spinoza  gebrütet  hatte,  auch  die  Schriften  von 
Kant  gelesen  hat.  Vergleichen  ließen  sich  die  pietisti- 
schen Einflüsse,  die  zu  Kant  durch  seine  Eltern,  zu 
Bismarck  durch  seine  Frau  kamen.  Sie  werden  nicht 
leugnen,  daß  sehr  viele  Festreden  und  sehr  viele  Doktor- 
dissertationen mit  solchen  Mitteln  zustande  gebracht 

228 


werden.  Man  könnte  auch  an  ein  ernsteres  Zwischen- 
glied denken,  an  Kants  kategorischen  Imperativ.  Die 
Freiheitskriege,  in  deren  Zeit  Bismarck  geboren  wurde, 
sind  nicht  ganz  unrichtig  mit  Kants  Moralprinzip  in 
Verbindung  gebracht  worden.  Von  Ostpreußen  war  der 
kategorische  Imperativ  und  war  die  große  Bewegung 
ausgegangen.  Und  es  ist  gewiß,  daß  man  Kants  Moral- 
prinzip als  Motto  über  Bismarcks  Lebenswerk  setzen 
könnte :  Du  kannst,  denn  du  sollst. 

Aber  auch  diese  begriffliche  Vereinigung  der  Vorstel- 
lungsmassen, die  sich  in  den  Namen  Kant  und  Bismarck 
konzentrieren,  wäre  mir  nicht  ernst  genug  gewesen. 
Das  Moralprinzip  war  uns  das  Gleichgültigste  an  den 
Lehren  Kants.  Wir  glaubten  ja  zu  wissen,  daß  Kant  in 
der  ,, Kritik  der  praktischen  Vernunft*'  sich  selber  un- 
treu geworden  war.  Was  uns  aufs  tiefste  bewegte,  was 
die  ganze  Weltanschauung  in  Frage  stellte,  was  darum 
eine  geistige  Lebensfrage  wurde,  das  war  etwas  völlig 
Verstiegenes,  war  die  Sehnsucht,  die  letzten  Fragen  der 
Erkenntnistheorie  ernst  zu  nehmen,  Idealismus  und 
Realismus  zu  überwinden  oder  zusammenzufassen. 
Wenn  man  sich  in  der  Theorie  zum  erkenntnistheore- 
tischen Idealismus  bekannte,  in  der  Wirklichkeitswelt 
nur  ein  Phänomen  sah,  in  der  Praxis  jedoch  den  Real- 
politiker bewunderte,  der  lachend  mit  einer  realen  Faust 
auf  eine  reale  Welt  losschlug,  dann  ging  durch  jeden 
von  uns  der  Riß,  den  wir  am  Pöbel  so  verachteten. 
Wenn  der  Pöbel  an  jenseitige  Mächte  glaubte,  in  seinem 
ganzen  Leben  jedoch  für  sich  selbst  und  für  seine  Kin- 
der so  schuftete,  als  ob  es  nur  ein  Diesseits  gäbe,  dann 
sah  dieser  Zustand  ganz  verteufelt  dem  unseren  ähnlich, 
die  wir  in  der  Bücherwelt  dem  erkenntnistheoretischen 
Idealismus  Kants  und  der  Neukantianer  huldigten,  in 

229 


der  Wirklichkeitswelt  dem  Realismus  Bismarcks.  Die- 
sen Riß  in  unserer  Weltanschauung  nicht  zu  über- 
sehen: das  war  schon  etwas.  Das  war  der  Entschluß 
zum  Ernst.  Nach  der  Naturwissenschaft  der  Neukan- 
tianer ist  auch  der  menschliche  Leib  mitsamt  dem  er- 
kennenden Gehirn  nur  die  subjektive  Erscheinung  von 
einem  Unbekannten,  das  wir  bereits  zu  fälschen  an- 
fangen, wenn  wir  es  mit  Kant  das  Ding  an  sich  nennen. 
Auch  der  menschliche  Leib  löst  sich  für  diese  Vorstel- 
lung in  einen  Wirbeltanz  von  Atomen  oder  Kraftmittel- 
punkten auf,  —  oder  wie  wir  die  gedachten  Einheiten 
nennen  wollen.  Auch  der  Organismus  des  menschlichen 
Leibes  verwandelt  sich  in  einen  unausdenkbar  feinen 
Mückenschwarm  von  Kraftpunkten.  Knochen,  Fleisch 
und  Blut  sind  dieser  Vorstellung  nur  noch  Erscheinun- 
gen, zu  denen  sich  Gruppen  des  Mückenschwarms  für 
die  menschlichen  Zufallssinne  verbinden.  Wir  können 
uns  ferner  ein  Messer  vorstellen,  so  unendlich  fein  und 
so  unendlich  schnell,  daß  es  durch  den  geordneten 
Haufen  von  Atomen  hindurchflitzen  kann,  ohne  den 
Organismus  zu  stören.  So  fahren  wir  mit  der  Hand  durch 
einen  Mückenschwarm,  ohne  an  ihm  eine  Veränderung 
wahrzunehmen.  Mit  dieser  Vorstellung  vom  mensch- 
lichen Leibe  kann  der  Chirurg  nichts  anfangen.  Der 
Chirurg  weiß  nichts  von  unserer  Erkenntnistheorie ;  er 
ist  ein  Realpolitiker,  er  glaubt  naiv  an  Knochen,  Fleisch 
und  Blut.  Er  setzt  ein  reales  Messer  an  und  bewirkt 
etwas  —  Heilung  oder  Tod. 

Hier  liegt  das  furchtbare  Dilemma  für  den,  der  Welt- 
anschauungsfragen ernst  nimmt.  Hier  kam  Bismarck 
zu  Hilfe,  ein  Chirurg,  der  nicht  naiv  war  und  dennoch 
zum  Messer  griff.  Sie  müssen  mir  glauben,  daß  in  langen 
und  schweren  Seelenkämpfen  die  Gedankengänge  sich 

230 


öffneten,  die  ich  hier  als  beinahe  wilde  Assoziationen 
nebeneinanderstelle.  Der  Anschluß  an  die  Einflüsse  von 
Philosophie  und  Dichtung  ergab  sich  von  selbst.  Nietz- 
sche war  ja  ohnehin  —  wider  Willen  —  ein  Produkt  der 
Bismarckzeit.  Bismarck  war  mehr  als  Schopenhauer 
oder  Wagner  der  Übermensch  in  Nietzsches  aristokra- 
tischem Geniekultus.  Jedenfalls  war  uns  Bismark  der 
große  Unhistorische.  Ebenso  nah  sahen  wir  Bismarck 
in  seiner  Begriffsverachtung  dem  Goethe,  den  der 
Sprachkritiker  auch  als  den  Feind  aller  Wortschälle  ver- 
ehrte. Jetzt  verstanden  wir  das  Lachen  Bismarcks  über 
die  Wortmachereien  der  Parlamente,  der  Bezirksver- 
eine und  der  regierenden  Herren.  Der  Mann  der  Tat 
verhöhnte  die  Schreiber  als  Menschen,  die  ihren  Beruf 
verfehlt  hätten.  Handeln  ist  Menschenberuf.  „Nicht 
durch  Reden  und  Majoritätsbeschlüsse  werden  die 
großen  Fragen  der  Zeit  entschieden,  sondern  durch 
Eisen  und  Blut.''  Der  starke  Chirurg  Deutschlands 
beugte  sich  auch  nicht  vor  den  Wortgebäuden  der 
Wissenschaft.  Wurde  er  selber  krank,  so  war  ihm  der 
Heilkünstler  lieber  als  der  „Gelehrte**,  Schweninger 
lieber  als  ein  ordentlicher  Professor.  Der  sprachkritische 
Gedanke  lernte  von  Bismarck  dasselbe,  was  er  von 
Goethe  gelernt  hatte :  im  Anfang  war  nicht  das  Wort, 
im  Anfang  war  die  Tat.  Wissen  ist  Wortwissen.  Wir 
haben  nur  Worte,  wir  wissen  nichts. 

Die  sprachkritische  Idee  durfte  sich  auch  vermessen, 
einseitig  und  eigensinnig  in  ihrem  Reich  oder  Bereich 
über  Bismarck  hinauszugehen  und  da  noch  mit  gegen- 
ständlichen Blicken  zu  forschen,  wo  des  Staatsmannes 
Interesse  nicht  mehr  hinlenkte,  wo  ja  auch  Goethes 
gegenständliche  Augen  nicht  mehr  hinschauen  wollten. 
Eben  erst  (im  August  1872)  hatte  der  Festredner  der 

231 


offiziellen  Wissenschaft  seine  berühmte  Rede  ,,Über 
die  Grenzen  des  Naturerkennens*'  gehalten.  Vor  dem 
gegenständlichen  Denken  wurde  Dubois-Reymonds 
Ignorabimus  einfach  sinnlos.  Gegenüber  diesem  tönen- 
den Wortschall  steigerte  sich  eine  nach  Bismarck  ge- 
schulte Rednerverachtung  zu  fruchtbarem  Worthaß. 
Die  Gleichung  von  ,,ich  weiß**  und  „ich  habe  gesehen** 
(auch  etymologisch  in  so  vielen  Sprachen  begründet) 
stellte  der  sprachkritischen  Idee  ihre  letzte  Aufgabe: 
in  einer  Kritik  der  allgemeinen  Grammatik  auch  die 
Gegensätze  von  Substantiven  und  Verben  —  das  heißt : 
von  Dingen  und  Handlungen  —  aufzulösen,  in  die 
Widersprüche  der  Zeitbegriffe  hineinzuleuchten  und  an 
die  Stelle  einer  Kritik  der  reinen  Vernunft  eine  Kritik 
der  Sprache  zu  setzen.  Ein  verzweifelter,  letzter  Ver- 
such, die  Geistesbrücke  zu  schlagen  zwischen  dem  not- 
wendigen erkenntnistheoretischen  Idealismus  und  dem 
ebenso  notwendigen  praktischen  Lebensrealismus.  Er- 
innerung ist  all  unser  Wissen,  ererbte  und  erworbene 
Erinnerung  der  Menschheit.  In  Worten  ererbt,  in  Worten 
erworben.  Unser  Wissen,  unser  Denken  ist  nur  Sprache, 
die  praktisch  in  der  Wirklichkeit  orientiert,  die  aber 
so  wenig  zur  Welterkenntnis  geeignet  ist,  wie  das  Be- 
wußtsein ein  Organ  für  sich  selber  hat.  Und  vollends 
die  neue  kühne  Denkgewohnheit,  nicht  nur  die  soge- 
nannte Weltgeschichte  bismarckisch  als  eine  Zufalls- 
geschichte zu  betrachten,  sondern  auch  die  Evolution 
der  Organismen  als  eine  Zufallsevolution,  unsere  Sinne 
als  Zufallssinne,  die  die  Außenwelt  in  uns  hineinge- 
schlagen hat,  —  diese  Gewohnheit  oder  Weltanschau- 
ung bot  einen  Ausblick  in  das  dritte  Reich,  wo  Idealis- 
mus und  Realismus  einander  finden  können.  Wir 
glauben  von  jetzt  an,   daß   die  Wirklichkeitswelt  ein 

232 


Produkt  unserer  Zufallssinne  ist,  daß  sie  sich  nach  uns 
richtet;  wir  glauben  zugleich,  daß  unsere  Sinne  ein 
Produkt  der  Außenwelt  sind,  daß  unser  Kopf  von  der 
Wirklichkeit  eingerichtet  ist. 

In  Kant  war  die  Aufklärung  mit  erstaunlichstem 
Scharfsinn  über  sich  selbst  hinausgewachsen  bis  zu  der 
alten  sokratischen  Weisheit,  daß  wir  nichts  wissen 
können.  In  Bismarck  war  ein  Tatenmensch  von  der 
Wortverachtung  ausgegangen,  die  selbst  einem  Kant 
noch  fehlte.  Die  Erlösung  vom  Sprachaberglauben,  die 
seit  Bismarck  in  der  Luft  lag,  konnte  endlich  auch  in 
der  Philosophie  versucht  werden.  Denn  alles  Wissen 
ist,  weil  es  menschliche  Sprache  ist,  bildlich,  meta- 
phorisch, anthropomorphisch.  Für  Kant  galt  Goethes 
tiefer  Spruch:  „Der  Mensch  begreift  niemals,  wie 
anthropomorphisch  er  ist.**  Für  Bismarck  galt  der 
andere  Spruch:  ,,Der  Handelnde  ist  immer  gewissen- 
los; es  hat  niemand  Gewissen  als  der  Betrachtende.'* 
Denn  wortgeschichtlich  wie  moralgeschichtlich  ist  das 
Gewissen  nur  ein  menschliches  Bild  mehr,  nur  eine 
Gefühlsform  des  Wissens,  nur  eine  der  Illusionen  der 
großen  menschlichen  Illusion,  die  Bewußtsein  heißt. 

Sie,  lieber  Freund,  und  noch  zwei  oder  drei  freund- 
liche Männer  haben  mich  wohl  gefragt,  wie  die  sprach- 
kritische Idee  zu  mir  gekommen  sei.  Ich  habe  nun  über 
die  Herkunft  der  sprachkritischen  Idee  vor  einem  gro- 
ßen Kreis  zu  reden  gewagt.  Sie  werden  sie  nicht  ver- 
achten, weil  sie  mein  war,  weil  die  Anregungen  von 
Gedanken  und  Erlebnissen  kamen,  die  nicht  sprach- 
kritischer Art  waren.  Gewissenhaft  und  freudig  habe 
ich  in  meinem  Buch  verzeichnet,  was  ich  nachher  in 
fast  dreißigjährigen  Studien  bei  Vico,  bei  Bacon,  Hobbes, 
Locke  und  Hume,  bei  Kant,  Hamann  und  Goethe  an 

233 


Anklängen  und  Leitsätzen  gefunden  habe.  Keiner  von 
diesen  Denkern  hat  dem  sprachkritischen  Gedan- 
ken die  Wichtigkeit  beigelegt,  die  ihm  gebührt.  Keiner 
hat  ihn  darum  zu  Ende  zu  denken  versucht.  Über  Wich- 
tigkeit und  Wert  des  sprachkritischen  Gedankens  habe 
ich  nicht  zu  urteilen,  vielleicht  auch  nicht  alle  meine 
Herren  Kritiker.  Das  Urteil  steht  bei  einer  anderen 
Macht,  die  die  roheste  und  doch  die  mildeste  Kritik  zu 
üben  pflegt,  bei  der  Zeit.'' 


234 


XX.  Geschäftiger  Müßiggang. 

Ich  habe  mit  dem  guten  Rechte  eines  Erzählers,  der 
bei  der  Niederschrift  seiner  Erinnerungen  etwa  an  das 
Interesse  einiger  Freunde  und  an  einige  Dutzend  un- 
bekannter Leser  denkt,  schon  jetzt  über  die  ersten  Ver- 
suche einer  journalistischen,  einer  dichterischen  und 
einer  philosophischen  Tätigkeit  berichtet,  ich  habe  die 
Rückerinnerung  an  das  Entstehen  meiner  Novellen  und 
Theaterstücke  aus  der  Prager  Zeit  für  später  verspart, 
wo  ich  über  meine  ganze  belletristische  Vergangenheit 
möglichst  unbestochen  Gerichtstag  zu  halten  gedenke ; 
ich  möchte  hier  nur  noch  ausführen,  was  ich  zu  Prag 
in  den  drei  Jahren  trieb,  die  zwischen  meiner  Universi- 
tätszeit und  meiner  Übersiedlung  nach  Berlin  liegen. 
Meine  Umgebung  hatte  so  unrecht  nicht,  wenn  sie 
mich  als  einen  verbummelten  Schöngeist  betrachtete. 
Daß  ich  eigentlich  auch  während  dieser  Jahre  ganz 
fleißig  war,  das  wußte  vielleicht  niemand,  ausgenommen 
etwa  meine  gute  Mutter,  die  heimlich  die  Bücher  kon- 
trollierte, die  ich  aus  der  Königl.  Bibliothek  nach  Hause 
geholt  hatte,  und  die  mir  hie  und  da  fast  widerwillig 
durch  ein  verwundertes  oder  achtungsvolles  Wort  über 
die  Schwierigkeit  dieser  Bücher  wohltat.  Immer  sehr 
liebevoll,  nicht  allzuoft,  aber  doch  vielzuoft  für  meinen 
Hochmut,  fielen  dann  Bemerkungen  darüber,  daß  ich 

235 


im  Alter  von  24  oder  25  Jahren  die  verdammte  Pflicht 
und  Schuldigkeit  hätte,  mir  mein  Brot  selber  zu  ver- 
dienen und  nicht  mehr  den  Eltern  auf  der  Tasche  zu 
liegen. 

Ich  werde  auch  recht  gut  eingesehen  haben,  daß  es 
nur  ein  geschäftiger  Müßiggang  war,  wenn  meine  Be- 
stimmung zum  Schriftsteller  sich  besonders  in  dem  zeit- 
raubenden Aufenthalte  im  Tagescafe  und  zwölf  Stunden 
später  im  Nachtcafe  kundtat,  wenn  ich  als  richtiger 
Schöngeist  für  Vereinsfeste  Prologe  schrieb  oder  bald 
besser  bald  schlechter  geratene  Festreden  ausarbeitete, 
wenn  ich  in  befreundeten  Familien  bei  Dilettanten- 
vorstellungen als  Regisseur  und  als  Schauspieler  glänzte. 
Meine  Mutter  wurde  damals  die  Angst  nicht  los,  ich 
könnte,  durch  diese  wohlfeilen  Triumphe  verführt, 
eines  Tages  Schauspieler  werden.  Meine  Leidenschaft 
für  das  Theater  war  wirklich  sehr  groß ;  aber  eigentlich 
schwebte  mir  —  wenn  ich  es  genau  bedenke  —  weder 
das  Leben  eines  berühmten  Dramatikers  noch  das 
eines  berühmten  Schauspielers  als  erstrebenswert  vor ; 
ich  zweifelte  nur  nicht  daran,  daß  ich  nur  zu  wollen 
brauchte,  um  das  eine  oder  das  andere  Ziel  schnell  und 
sicher  zu  erreichen.  Ein  kleiner  Journalist  war  damals 
der  einzige  Vertraute  meiner  Theaterpläne  und  meiner 
dramatischen  Entwürfe ;  ihm  spielte  ich  den  Mephisto, 
den  Wallenstein  und  den  Holofernes  vor,  ihm  teilte  ich 
meine  eigenen  Dramen  mit;  und  seine  maßlose,  un- 
kritische Bewunderung  fachte  mein  Theaterfeuer  immer 
wieder  an.  Doch  muß  ich  bekennen,  daß  ich  diesen  Ver- 
ehrer, einen  verwachsenen  und  zwerghaften  Jüngling, 
eigentlich  verachtete,  weil  ich  das  Ungenügen  seines 
Urteils  über  meine  geschmeichelte  Eitelkeit  hinweg 
ganz  deutlich  wahrnahm;  auch  verbot  es  mir  mein 

236 


Anstand,  diesem  glühenden  Verehrer  nur  ein  Sterbens- 
wörtchen von  meinen  philosophischen  Studien  zu  ver- 
raten. Mein  Anstand,  mein  Stolz  verbot  es  mir  aber 
nicht,  meiner  jungen  Eitelkeit  von  diesem  kleinen 
Journalisten  schmeicheln  zu  lassen.  Es  ist  das  einzige 
Mal  in  meinem  Leben  gewesen,  daß  ich  das  wunderliche 
Gefühl  kennenlernte:  einen  ,, Apostel'*  zu  haben.  Die 
sonst  so  boshafte  Kröte  war  für  mich  eitel  Anerken- 
nung und  Güte.  Der  gefürchtete  kleine  Journalist  schrieb 
eine  biographische  Notiz  über  mich  für  ein  deutsches 
Dichter-Lexikon ;  brachte  mein  Porträt  in  einem  Prager 
Witzblatte;  lobte  meine  aufgeführten  und  unauf  geführten 
Dramen  in  einer  Wiener  Zeitung.  Und  ich  duldete  das 
übertriebene  Lob;  ich  fühlte  mich  als  berufener  Dra- 
matiker, als  den  Vollender  von  Otto  Ludwigs  Plänen; 
und  vielleicht  gehört  es  zum  Wesen  des  Dramatikers, 
nach  Beifall  lüstern  zu  sein  und  nach  der  Herkunft  des 
Beifalls  nicht  zu  fragen. 

Schon  im  Jahre  1873  hatte  ich  ganz  zufällig  und  aus- 
nahmsweise einmal  den  Dramaturgen  gespielt ;  aus  An- 
laß einer  tragischen  Geschichte.  Zu  unserem  Freundes- 
kreise gehörte  ein  ehemaliger  Augustiner,  Robert  Weiß, 
der  seinen  geistlichen  Rock  ausgezogen  hatte  und  mit 
Inbrunst  dichterische  Ziele  verfolgte:  zum  mindesten 
war  er  ein  sehr  begabter  Lyriker.  Eines  Morgens  er- 
fuhren wir,  daß  er  freiwillig  aus  dem  Leben  geschieden 
war;  Cyankali  hatte  ihn  von  seiner  Unrast  erlöst.  Wir 
glaubten,  was  erzählt  wurde,  daß  eine  unglückliche 
Liebe  zu  einer  schönen  und  geistig  hochstehenden  Schau- 
spielerin ihn  in  den  Tod  getrieben  hätte  ;  ich  weiß  jetzt 
bestimmt,  daß  seine  Liebe  einer  andern  Frau  galt.  In 
seinem  Nachlaß  fand  sich  ein  feingeistiger  Einakter ,,  Eine 
Komödie'*.    In  unsrem  engsten  Kreise  wurde  der  Plan 

237 


gefaßt,  dieses  kleine  Stück  zur  Aufführung  zu  bringen 
als  eine  Totenfeier;  und  die  Schaupielerin,  der  wir  irr- 
tümlich die  Schuld  an  seinem  Tode  gaben,  sollte  die 
kleine  Hauptrolle  spielen.  Der  Plan  wurde  ausge- 
führt; die  Künstlerin,  der  wir  Unrecht  getan  hatten, 
setzte  trotzdem  alle  ihre  schöne  Kraft  für  das  Ge- 
lingen ein.  Mir  war  das  Amt  zugefallen,  die  zarten 
und  überlangen  Dialoge  für  die  Bühne  ,, einzurichten**; 
so  hatte  ich  zum  ersten  Male  mit  der  lebendigen  Bühne 
zu  ,, schaffen**. 

Ich  war  damals  noch  Student.  Zwischen  diesem  ersten 
Kulissenerlebnis  und  meiner  etwa  zwei  Jahre  spätem 
ersten  Tätigkeit  als  ,, Theaterkritiker**  liegt  die  Zeit,  wo 
mein  geschäftiger  Müßiggang(  man  weiß,  daß  das  Wort  von 
Goethe  stammt)  auch  das  Theater  zu  erobern  vorhatte. 

Der  Theaterteufel  hatte  mich  gepackt;  ich  glaube 
aber  nicht,  daß  ich  mich  ihm  verschrieben  hätte,  auch 
wenn  meine  Erfolge  auf  der  Bühne  größer  gewesen 
wären.  Ich  verkehrte  im  Tagescafe  und  im  Nachtcafe 
sehr  viel  mit  Schauspielern,  bewunderte  und  verhim- 
melte zwei  Schauspielerinnen  und  erlebte  in  gewaltiger 
Aufregung  und  dennoch  ohne  die  innerste  Anteilnahme 
die  Aufführung  zweier  meiner  Stücke  am  Prager  Lan- 
destheater, eines  großen  Schauspiels  und  eines  Ein- 
akters. Der  materielle  Erfolg  dieser  ganzen  fast  schlaf- 
wandelnden Tätigkeit  war  der,  daß  ich,  der  ich  bis 
dahin  auf  meine  Studentenkarte  hin  für  wenige  Kreuzer 
einen  Stehplatz  im  Parkett  kaufen  konnte,  aus  beson- 
derer Anerkennung  meiner  Verdienste  und  zur  Auf- 
munterung für  meine  Begabung,  das  Recht  des  freien 
Eintritts  ins  Theater  erhielt.  Ein  ,,Gesichtsentree**,  wie 
sich  der  unwahrscheinliche  Herr  Dramaturg  in  seiner 
Sprache  ausdrückte. 

238 


Von  dem  Schauspiel,  das  im  Mai  1874  (gegen  Ende 
Mai,  das  gilt  nicht  für  die  beste  Theaterzeit)  aufgeführt 
wurde,  soll  ja  noch  ernsthaft  die  Rede  sein.  Hier  nur 
eine  kleine  Schnurre,  zum  Atemschöpfen,  bevor  ich 
Schweres  zu  erzählen  habe. 

Ich  wollte  der  ersten  Aufführung  meines  Schauspiels 
ungesehen  und  unerkannt  beiwohnen ;  wie  ich  es  denn 
auch  später  durchgeführt  habe,  selbst  nach  erfolgreichen 
Darstellungen  dramatischer  Arbeiten,  ja  sogar  in  Berlin, 
niemals  an  die  Rampe  zu  treten  und  mich  vor  der  viel- 
köpfigen Bestie  zu  verbeugen.  Ich  habe  niemals  be- 
greifen können,  wie  ein  Dramatiker  von  einigem  Stolze 
sich  dazu  herbeilassen  könne. 

.  Damals  also  wies  mir  der  unwahrscheinliche  Herr 
Dramaturg  einen  rückwärtigen  Platz  in  der  Theaterloge 
des  fünften  Ranges  an,  die  übrigens  für  die  namenlosen 
Mitglieder  des  Chors  und  des  Balletts  eingeräumt  war. 
Als  ich  wenige  Minuten  vor  Beginn  der  Vorstellung 
erschien,  waren  die  drei  Vorderplätze  schon  von  drei 
Ballettmädeln  eingenommen;  ich  nahm  hinter  einer 
rundlichen  Blonden  Platz.  Nach  dem  Schlüsse  des  ersten 
Aktes  rührte  sich  keine  Hand;  na  ja,  Technik  des 
Dramas,  bloße  Exposition.  Während  der  Pause  unter- 
hielten sich  die  drei  Ballettmädel  über  einige  Herren 
in  den  Adelslogen  und  über  die  Toilette  einer  Sängerin, 
die  gegenüber  in  der  richtigen  Theaterloge  saß,  einen 
Rang  tiefer.  Als  der  Vorhang  eben  zum  zweiten  Male 
in  die  Höhe  ging,  wandte  sich  die  rundliche  Blonde 
vor  mir  an  ihre  Nachbarin  mit  der  Frage:  ,,Du,  ise 
Opper  oder  Schauspiel?**  Das  fragte  dieses  verworfene 
Geschöpf,  nachdem  es  einen  ganzen  Akt  meines  Dra- 
mas angehört  hatte.  Aber  nach  dem  zweiten  Aufzuge 
gab  es  wahrhaftig  Applaus  und  der  Dramaturg  erschien, 

239 


um  mir  zu  gratulieren  und  ,,mich  auf  die  Bühne  zu 
schleppen** ;  er  mußte  wieder  abschieben ;  doch  die  kurze 
Verhandlung  hatte  die  Neugier  der  Ballettmädel  erregt. 
Die  lange  Schwarze  wies  mit  dem  Daumen  nach  mir  und 
flüsterte  der  Blonden  zu:  ,,Das  is  nämlich  der  Autor.** 
Und  die  Blonde  drehte  sich  mit  dem  Lächeln  einer 
Mäzenin  nach  mir  herum  und  sagte  wohlwollend: 
,,Ise  serr  scheen!**  Jetzt  wußte  das  Geschöpf  endlich, 
ob  es  ,,Opper  oder  Schauspiel**  war  und  verriet  zugleich 
einen  natürlichen  guten  Geschmack. 

Das  Schauspiel  wurde  noch  ein  zweites  Mal  aufge- 
führt; zu  einer  dritten  Wiederholung  kam  es  nicht. 
Es  ist  wahr,  daß  die  Darstellerin  der  Titelrolle  unmittel- 
bar nach  der  zweiten  Aufführung  aufs  Land  fahren 
mußte,  um  in  Ruhe  das  Ziel  ihrer  Schwangerschaft  ab- 
zuwarten; es  ist  nicht  minder  wahr,  daß  mein  Stück 
auch  ohne  dieses  Ereignis  vom  Spielplan  abgesetzt 
worden  wäre,  weil  es  dem  Publikum  nicht  genug  ge- 
fallen hatte.  Der  Dramaturg,  der  die  Pflicht  des  Lügens 
mit  unvergleichlichem  Eifer  übte,  sprach  zu  mir  weder 
von  der  Schwangerschaft  der  Schauspielerin  noch  von 
den  Schwächen  meiner  Arbeit ;  er  meldete  nur  geheim- 
nisvoll, der  Kurfürst  von  Hessen- Kassel  (der  damals 
noch  in  Prag  ,, residierte**  und  eine  der  Adelslogen  über- 
nommen hatte)  hätte  sich  sehr  ungnädig  über  den 
politischen  Hintergrund  meines  Schauspiels  ausge- 
sprochen. Sollte  der  unwahrscheinliche  Dramaturg  in 
diesem  Falle  ausnahmsweise  nicht  gelogen  haben? 


240 


IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIilllllllllllilllliliiiiilllllllHIIIIIIIillllllllllllllllllllH^^ 

«UtIllilllllllllllllllllllllllllllltlllllllllltllllllllllllllltlllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllinilllllllllllllllllillllllHIIIUIIIIIIHMIIIIIIIIIIIIIIIIII 


XXI.  Des  Vaters  Tod. 

Kurz  vor  diesem  meinem  ,, Ehrentage**  war  mein 
Vater  aus  Meran  nach  Hause  gebracht  worden.  Als  ein 
Sterbender.  Aus  Rücksicht  auf  seinen  verzweifelten 
Zustand  wurde  im  elterlichen  Hause  von  der  bevor- 
stehenden Aufführung  meines  Stückes  in  keinerlei 
/eise  gesprochen,  weder  mit  hoffnungsvollen  noch 
mit  herabsetzenden  Worten ;  nur  den  Unterton  des 
Vorwurfs  konnte  ich  heraushören,  daß  ich  dem  kran- 
ken Vater  durch  so  einen  dummen  Streich,  wie  die 
Einreichung  eines  Dramas  doch  wohl  scheinen  mußte, 
noch  einen  Schmerz  bereitet  hätte.  Später  erfuhr  ich 
freilich,  daß  der  Vater  sich  von  meiner  Schwester  täg- 
lich hatte  Bericht  erstatten  lassen  und  die  mehr  oder 
weniger  freundlichen  Rezensionen  mit  Stolz  und  Be- 
friedigung las.  Mich  aber  rief  er  wenige  Tage  nach  der 
Aufführung  an  sein  Bett,  erwähnte  mein  Stück  mit 
keinem  Worte,  sprach  sehr  harte,  im  allgemeinen  gar 
nicht  unberechtigte  Urteile  über  die  literarische  Lauf- 
bahn, die  in  der  Gosse  enden  müßte,  und  nahm  mir 
das  Versprechen  ab,  dem  schönen  Berufe  eines  Advo- 
katen treu  zu  bleiben.  Ich  könnte  ja  nebenbei  so  viel 
dichten  als  ich  nur  wollte.  Ich  gab  das  Versprechen. 

Am  folgenden  Nachmittage  bat  mich  der  Vater,  dessen 
Befinden  unverändert  schien,  ihm  eine  Orange  vom 

16  241 


besten  Prager  Zuckerbäcker  zu  holen ;  Orangen  waren 
damals  noch  eine  seltenere  Frucht  als  heute,  wenig- 
stens in  Prag.  Ich  setzte  die  Mütze  auf  und  stürzte  die 
Treppe  hinunter,  um  den  Wunsch  meines  Vaters  zu 
erfüllen;  er  war  tot  zurückgesunken,  bevor  ich  noch 
das  Haustor  erreicht  hatte.  Als  ich  mit  der  Orange 
zurückkam,  war  schon  eine  Viertelstunde  seit  seinem 
letzten  Atemzuge  vergangen. 

Ich  saß  lange  allein  neben  dem  Toten.  Was  mir  da 
alles  durch  den  Sinn  ging,  das  geht  keinen  Lebendigen 
etwas  an.  Da  ich  aber  mein  Versprechen  vom  Tage  vor- 
her nicht  verschwiegen  habe,  so  darf  und  muß  ich  jetzt 
hinzufügen,  daß  ich  in  dieser  Stunde,  unter  Selbstvor- 
würfen und  von  namenloser  Erregung  gepeinigt,  den- 
noch den  klaren  und  festen  Entschluß  faßte,  mein  ge- 
gebenes Wort  nicht  zu  halten.  Ich  soll  selbst  wie  eine 
Leiche  ausgesehen  haben,  als  ich  endlich  das  Sterbe- 
zimmer verließ.  Ich  stand  in  meinem  fünfundzwan- 
zigsten Jahre  und  hatte  noch  das  Pathos  des  Knaben 
nicht  überwunden.  Heute  darf  ich  ruhig  sagen,  daß 
es  ebensogut  und  natürlich  dem  Sterbenden  gegenüber 
war,  ihm  das  geforderte  Versprechen  zu  geben,  wie  es 
gut  und  natürlich  mir  selbst  gegenüber  war,  mich  nicht 
als  gebunden  zu  betrachten.  Ich  habe  das  Wort,, Pf  licht" 
oder  gar  das  Wort  „Pflichtenkollision**  absichtlich  ver- 
mieden; Pflichtenkollisionen  wie  alle  Widersprüche 
sind  nur  in  der  Sprache. 

Insoweit  ich  es  für  richtig  halte,  Familienangelegen- 
heiten in  Lebenserinnerungen  zu  veröffentlichen,  habe 
ich  schon  kurz  erzählt,  wie  das  Kriegsjahr  1866  meinen 
Vater  um  sein  kleines  Vermögen  und  um  seine  Gesund- 
heit gebracht  hatte.  Als  der  Bankerott  seiner  Neffen 
hereinbrach  —  mein  Vater  erfuhr  die  Nachricht  aus 

242 


einem  Zeitungstelegramm,  während  wir  am  Früh- 
stückstisch saßen  —  hatte  sich  eben,  fast  zu  gleicher 
Zeit,  sein  ältester  Sohn  und  seine  einzige  Tochter  ver- 
lobt; meine  Schwester  mit  einem  jungen  Arzte,  mein 
Bruder  mit  einem  ebenfalls  plötzlich  verarmten  schö- 
nen und  lieben  Mädchen.  Wenn  ich  es  recht  bedenke, 
benahm  sich  mein  Vater  in  dieser  harten  Zeit  muster- 
gültig; der  auf  seine  Ehre  stolze  Junker,  der  ihm  wohl 
in  seiner  glänzenden  Kinderzeit  anerzogen  war,  kam 
schön  heraus.  Die  notwendigen  Geldopfer  wurden  vor- 
nehm und  klaglos  gebracht ;  wie  das  der  Vater  bei  der 
Zerrüttung  seiner  Verhältnisse  möglich  gemacht  hat,  ist 
mir  ein  Rätsel  geblieben.  Außer  mir,  der  nun  bald  allein 
im  Hause  zurückblieb  und  seine  Studien  hätte  aufgeben 
sollen,  schien  meinem  Egoismus  nur  meine  Mutter 
unter  der  veränderten  Lage  zu  leiden.  Meine  Brüder 
waren  schlicht  in  die  Fremde  gegangen.  Mein  Vater 
hörte  keinen  Tag  auf,  der  vornehme  Mann  zu  sein,  fast 
hätte  ich  Kavalier  gesagt ;  und  es  ist  auch  schon  erwähnt 
worden,  daß  die  Neffen  nach  wenigen  Jahren  wieder 
zu  Vermögen  kamen  und  ihre  Verpflichtungen  bei 
Heller  und  Pfennig  erfüllten,  so  daß  unser  Haus  noch 
bei  Lebzeiten  des  Vaters  in  seinen  bescheidenen  Wohl- 
stand zurückkehrte. 

Aber  die  Aufregungen  des  Jahres  1866,  die  unmerk- 
baren Demütigungen  für  Stolz  und  Eitelkeit  hatten  die 
Kräfte  des  Vaters  aufgezehrt.  Im  Jahre  1867,  während 
ich  wegen  eines  bedrohlichen  Lungenspitzenkatarrhs 
und  eines  noch  bedrohlicheren  Schwächezustandes  im 
Bad  Reinerz  Molke  trank,  erkrankte  der  Vater  an  einer 
Lungenentzündung.  Nach  der  scheinbaren  Heilung  blieb 
Tuberkulose  zurück.  Ein  Husten,  der  wieder  vergehen 
würde,  so  wurde  ihm  noch  jahrelang  zum  Tröste  ge- 

16*  243 


sagt.  Als  die  äußern^Verhältnisse  sich  wieder  besserten, 
begann  mein  Vater  nach  der  Reihe  die  Orte  aufzu- 
suchen, in  denen  vom  Schwindel,  von  der  Mode  oder 
von  gutgläubigen  Ärzten  Hustern  und  Schwindsüch- 
tigen Genesung  versprochen  wurde.  Der  Vater,  der 
die  Disposition  wahrscheinlich  von  seiner  Mutter  ge- 
erbt hatte,  war  gewiß  unheilbar.  Und  brach  völlig  zu- 
sammen, als  ihm  der  gewissenlose  Arzt  eines  berühm- 
ten Badeortes  in  der  Heftigkeit  eines  Streites  die  Wahr- 
heit über  seinen  Zustand  gesagt  hatte.  Von  da  ab  — 
in  seinen  drei  letzten  Jahren  —  brachte  der  Vater  einen 
Sommermonat  und  den  ganzen  Winter  stets  in  soge- 
nannten Bädern  zu  und  entfremdete  seinem  Hause  noch 
mehr,  als  das  auch  sonst  wohl  durch  seine  Schweig- 
samkeit gekommen  wäre. 

In  diese  Leidenszeit  meines  Vaters  fiel  1869  meinmit 
Glanz  bestandenes  Abiturientenexamen,  dann  1871  das 
mit  weniger  Glanz  aber  doch  immerhin  bestandene 
rechtshistorische  Staatsexamen,  fiel  endlich  mein  erstes 
öffentliches  Auftreten  als  Schriftsteller.  Als  die  vorge- 
schriebenen acht  Semester  vorüber  waren,  und  ich 
weder  das  zweite  Staatsexamen  abgelegt  hatte,  noch 
mich  auf  die  Doktorpromotion  vorbereitete,  drängte 
mich  der  Vater,  wenigstens  nicht  völlig  müßig  zu  gehn, 
vielmehr  als  so  etwas  wie  Volontär  bei  einem  Advo- 
katen zu  arbeiten.  Doktor  von  Wiener,  der  angesehenste 
Advokat  von  Prag,  Mitglied  des  böhmischen  Landes- 
auschusses  usw.,  erklärte  sich  bereit,  mich  noch  vor 
dem  zweiten  und  dritten  Staatsexamen,  von  welchem 
Termin  ab  der  Dienst  eigentlich  erst  ,, zählte*',  in  seine 
Kanzlei  aufzunehmen.  Ich  fügte  mich  mit  jenem 
passiven  Widerstände,  der  mir  zur  zweiten  Natur  ge- 
worden war;  so  wenig  ich  seit  dem  rechtshistorischen 

244 


Staatsexamen  irgendwelche  nützliche  Juristerei  ge- 
trieben hatte,  so  wenig  dachte  ich  jetzt  daran,  die  bei- 
den letzten  Examina  zu  machen  oder  gar  Doctor  juris 
zu  werden.  Es  war  mir  nur  nicht  gegeben,  dem  schwer- 
kranken Vater  —  es  war  ein  halbes  Jahr  vor  seinem 
Tode  —  zu  widersprechen. 

Die  menschlichen  Beziehungen  zu  der  Advokaten- 
Kanzlei  waren  im  Grund  sehr  gemütlich.  Unser  Haus 
und  das  des  Advokaten  waren  seit  vielen  Jahren  be- 
freundet ;  zwischen  uns  Geschwistern  und  den  Töchtern 
des  Advokaten  bestanden  jüngere  und  ältere  Tanz- 
stunden- und  Eislaufbeziehungen.  Auch  meine  beruf- 
liche Tätigkeit  dort  hätte  unter  einem  guten  Zeichen 
stehen  können.  Dr.  von  Wiener  selbst  freilich  hatte 
keine  Zeit,  sich  um  sein  Bureau  zu  kümmern ;  er  hatte 
zu  viele  politische  Amter.  Aber  sein  erster  „Konzipient**, 
ein  vortrefflicher  Jurist  und  ausgezeichneter  Mdnsch, 
auch  mir  als  älteres  Tanzstundensemester  wohlge- 
sinnt, gab  sich  redliche  Mühe,  mich  zu  einem  brauch- 
baren Juristen  zu  erziehen.  Es  war  ganz  vernünftig, 
daß  ich  in  den  ersten  Monaten  wie  zwei  andere  ein- 
fache Schreiber  mit  der  Kopierung  von  Schriftsätzen 
beschäftigt  wurde ;  da  kann  man  lernen,  wie  die  hohe 
Wissenschaft  der  Jurisprudenz  in  der  Praxis  aussieht. 
Zu  Beginn  des  Jahres  1875  begann  mein  freundlicher 
Mentor,  der  erste  Konzipient,  meine  juristischen  Fähig- 
keiten auf  die  Probe  zu  stellen.  Zweimal  wurde  mir, 
als  die  Arbeit  drängte  und  immer  wieder  neue  Kläger 
Prozesse  anstrengten,  die  erste  Einleitung  eines  solchen 
Prozesses  anvertraut,  die  Protokollierung  der  Species 
facti. 

In  dem  ersten  Falle  war  mein  Chef  der  Vertreter  des 
Verklagten,  eines  der  fürstlichen  böhmischen  Magnaten, 

245 


die  beinahe  wie  reichsunmittelbare  Herren  auf  einem 
ihrer  Ungeheuern  Güter  sitzen  und  den  Rechtsstaat 
dazu  gebrauchen,  die  kleinen  Leute  an  ihren  „Gren- 
zen** zu  drücken.  Die  Streitfrage  lag  eigentlich  sehr 
einfach  und  wurde  nur  durch  die  Gesetzesparagraphen 
kompliziert.  Durch  die  Anlage  von  großen  Karpfen- 
teichen auf  einem  der  fürstlichen  Güter  war  einem 
unterhalb  hausenden  Müller  das  nötige  Wasser  für 
sein  Mühlrad  während  der  größern  Jahreshälfte  ge- 
nommen worden.  Widerrechtlich.  Der  Müller  hatte 
geklagt.  Der  Förster  des  Fürsten  war  nach  Prag  ge- 
kommen und  seine  Aussage,  die  offenbar  eine  Rechts- 
beugung möglich  machen  sollte,  hatte  ich  vorläufig 
aufzunehmen.  Der  Tadel  blieb  mir  nicht  erspart,  daß 
ich  diesen  wichtigsten  Zeugen  auf  einen  schwachen 
Punkt  seiner  Aussage  nicht  auf  merksam  gemacht  hätte; 
daß  ich  also  aus  falscher  Sentimentalität  dem  Gegner 
unseres  Klienten  geholfen  hätte.  Der  Müller  verlor 
dennoch  seinen  Prozeß.  Als  wir  beim  Biertisch  nachher 
die  Angelegenheit  besprachen,  wie  irgendeine  ganz 
unpersönliche  juristische  Frage,  da  mußte  ich  mich 
von  unserm  ersten  Konzipienten  und  seinen  Freunden 
darüber  belehren  lassen,  daß  ein  tüchtiger  Advokat 
einzig  und  allein  die  Interessen  seines  Klienten  wahr- 
zunehmen hätte.  Davon  hatte  ich  wirklich  keine  Ahnung 
gehabt. 

Der  zweite  Fall  war  ebensowenig  geeignet,  meiner 
Scheu  vor  der  Ausübung  des  Advokatenberufes  ein 
Ende  zu  machen.  Ein  jüdischer  Schuster,  der  nebenbei 
in  seinem  Viertel  ein  bißchen  Wucher  trieb,  verklagte 
einen  kleinen  Beamten,  der  ihm  einen  Wechsel  im  Be- 
trage von  etwas  über  loo  Gulden  unterschrieben  hatte. 
Der  Schuster  betonte,  daß  die  Summe  „gesetzlich"  so 

246 


angewachsen  wäre.  Das  war  eigentlich  gar  kein  Prozeß 
zu  nennen;  wir  hatten  nur  einige  Formalien  auszu- 
führen. Als  ob  der  Beamte  an  den  Wucherer  Steuern 
zu  zahlen  gehabt  hätte,  so  kurzerhand  wurde  er  ver- 
urteilt und  gepfändet. 

So  habe  ich  wohlgezählt  zweimal  als  ein  winziges 
Glied  der  großen  Rechtsmaschine  dazu  beigetragen, 
daß  das  zermalmende  Rad  des  unrichtigen  Rechtes 
sich  weiter  drehe.  Ich  mußte  die  beiden  kleinen  Erleb- 
nisse mitteilen,  wollte  ich  die  Stimmung  erraten  lassen, 
in  welcher  ich  dem  Berufe  gegenüberstand,  in  den 
man  mich  hineindrängen  wollte,  wollte  ich  begreiflich 
machen,  wie  unmöglich  es  mir  war,  diesen  Beruf  nicht 
an  den  Nagel  zu  hängen.  An  der  Leiche  meines  Vaters 
hielt  ich  mir  sehr  pathetisch  die  Schrecklichkeit  eines 
gebrochenen  Worts  vor,  ich  war  sogar  töricht  genug, 
eine  Beruhigung  dabei  zu  empfinden,  daß  es  nicht  aus- 
drücklich ein  Ehrenwort  gewesen  war;  nicht  geringer 
war  das  Pathos,  mit  dem  ich  mich  dagegen  empörte, 
etwa  als  Advokat  dem  zahlungsfähigen  Unrecht  jedes 
Klienten  dienen  zu  müssen. 

Ich  besuchte  die  Kanzlei  nach  dem  Tode  meines 
Vaters  nur  noch  ein  einziges  Mal,  um  den  juristischen 
Herren  Lebewohl  zu  sagen;  sie  wunderten  sich  nicht 
und  gaben  mir  freundliche  Wünsche  auf  den  Weg.  Aber 
in  ihren  Mienen  konnte  ich  lesen :  Aus  dem  wird  nichts. 


247 


filllfllllllllllllllllllllllllllillilllllllllllllllllllllllllllllllllllllllO^ 

Hiiiiiiiiiiiniiiiiiii iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii tiiiriiii Ml iiiiiiniiniiii iiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiiiiiiii 


XXn.  Theaterkritik. 

Auch  meine  Mutter  schien  sich  nicht  zu  wundern, 
als  von  einer  Wiederaufnahme  meiner  juristischen 
Tätigkeit  keine  Rede  mehr  war.  Zu  irgendeiner  Szene 
oder  auch  nur  zu  einer  Aussprache  kam  es  nicht.  Nur 
wurde  ich  von  Zeit  zu  Zeit  ganz  leise  —  meiner  Emp- 
findsamkeit erschien  es  zu  laut  —  daran  gemahnt,  nun 
endlich  selbst  an  Broterwerb  zu  denken.  Gerade  die 
Geschwister,  die  mir  am  nächsten  standen,  unterstützten 
dieses  Drängen,  sehr  sanft  und  behutsam,  wie  ich  an- 
erkennen muß.  Ich  sah  die  Notwendigkeit  wahrschein- 
lich nicht  ein.  Ich  hatte  ein  Bändchen  Sonette  drucken 
lassen  (auf  Kosten  meiner  Brüder),  ein  Drama  von  mir 
war  zweimal  aufgeführt  worden  (das  Honorar  war  der 
freie  Theaterbesuch).  Was  wollte  man  noch  mehr  von 
mir?  Sollte  ich  den  guten  Angehörigen  erklären,  daß 
ein  halbes  Dutzend  faustischer  Dichtungen,  ein  großer 
Judenroman  und  dazu  unklar  ein  gewaltiges  philo- 
sophisches Werk  in  meinem  Kopfe  spukten?  Daß  in 
den  letzten  Monaten  auch  einige  Novellen  fertig  ge- 
worden waren,  von  denen  ich  nur  nicht  wußte,  daß 
man  sie  einer  Zeitung  oder  einem  Verleger  anbietet? 
Gedichte,  ja,  die  läßt  man^drucken ;  desto  besser,  wenn 
sie  bezahlt  werden.  Dramen,fja,  die  läßt  man  auf  führen ; 
desto  besser,  wenn  sie  Tantiemen  abwerfen.  Ich  hatte 

248 


keine  günstigen  Erfahrungen  gemacht.  War  denn  das 
so  wichtig?  Ich  aß  an  meiner  Mutter  Tisch,  ging  nicht 
eben  gut  gekleidet  und  hatte  auch  sonst  so  gut  wie  keine 
Geldbedürfnisse.  So  oft  die  Kaffeeschulden  beim  Ober- 
kellner auf  einen  Gulden  aufgelaufen  waren,  fand  sich 
irgendwo  der  Gulden,  und  ich  war  wieder  sorgenlos. 
Ich  habe  wohl  keinen  Erwerbssinn. 

Nur  einmal  trat  das  Bewußtsein  meiner  ökono- 
mischen Lage  deutlich  an  mich  heran.  Ein  Konzert 
von  Rubinstein.  Das  mußte  ich  hören  und  dort  hatte 
ich  kein  „Gesichtsentree**.  Der  billigste  Platz  kostete 
SO  Neukreuzer.  Es  war  sehr  hart,  den  Empfang  dieser 
Summe  mit  dem  Anhören  einer  wohlgemeinten  Rede 
über  meine  Zigeunerei  bezahlen  zu  müssen.  Wie  schön 
war  das  Konzert  trotzdem.  Aber  die  Rede  ging  mir 
nach. 

Da  gab  es  doch  eine  Möglichkeit,  einen  großen 
Haufen  Geld  zu  verdienen  mit  einer  Tätigkeit,  die  mir 
damals  eine  meiner  vielen  Leidenschaften  war.  Als 
Theaterkritiker.  Meine  Mutter  war  es  zufrieden. 

Ich  hatte  für  den  „Tagesboten  aus  Böhmen**  ab  und 
zu  sogenannte  Feuilletons  geschrieben.  Über  Dinge, 
die  mich  lebhaft  erregt  hatten.  Der  materielle  Erfolg 
war  nicht  ganz  ausgeblieben;  bald  hatte  mir  David 
Kuh  fünf  Gulden  für  so  eine  Arbeit  ausgezahlt,  bald 
hatte  er  mir  ein  Honorar  in  dieser  Höhe  versprochen. 
Da  ich  aber  um  diese  Zeit  zu  rauchen  anfing,  und  die 
Auszahlung  des  Honorars  nur  selten  erfolgte,  so  wurde 
ich  auf  diesem  Wege  kein  Kapitalist. 

Als  Theaterkritiker  hätte  ich  das  Prager  Landes- 
theater nach  den  Ideen  von  Lessing  und  Otto  Ludwig 
(dessen  Shakespeare-Studien  ich  ja  eben  mit  Begeiste- 
rung gelesen  hatte)  reformiert,  hätte  das  Schlechte  ver- 

249 


nichtet,  dem  Guten  zum  Siege  verholfen  und  hätte 
überdies  gelernt,  wie  man  Meisterdramen  schreibt. 

Die  Phantasie,  Theaterkritiker  in  Prag  zu  werden, 
war  mir  übrigens  nicht  von  selbst  gekommen.  Seligmann 
Heller,  mein  verehrtes  Vorbild,  der  Dichter  und  Kri- 
tiker, mit  dem  ich  auch  nach  seiner  rauhen  Besprechung 
meiner  Sonette  in  guten  Beziehungen  blieb,  war  etwa 
ein  Jahr  vor  dem  Tode  meines  Vaters  nach  Wien  be- 
rufen worden,  als  Feuilletonredakteur  der  „Deutschen 
Zeitung'S  und  hatte  mich  dem  Leiter  des  einzig  ge- 
lesenen deutschen  Blattes  von  Prag,  der  „Bohemia'', 
zu  seinem  Nachfolger  empfohlen.  Ohne  daß  ich  vorher 
von  der  Sache  wußte.  So  kam  es,  daß  ich  mich  mit  dem 
Gedanken  an  eine  solche  Tätigkeit  befreundete  und  wo- 
chenlang ausschließlich  Tag  und  Nacht  die  dramatur- 
gischen Werke  studierte,  die  der  gelehrte  Heller  mir 
zu  diesem  Zwecke  empfohlen  hatte.  Ich  setzte  das 
Studium  noch  lange  fort,  auch  nachdem  ich  erfahren 
hatte,  die  Theaterkritik  an  der  ,,Bohemia**  wäre  mei- 
nem Jugendfreund,  dem  vortrefflichen  Alfred  Klaar, 
anvertraut  worden.  Ich  durfte  damals  die  ersten  Blicke 
werfen  hinter  die  Kulissen  der  Bewerbung  um  eine  so 
einflußreiche  Stelle ;  ich  darf  mich  wohl  rühmen,  schon 
damals  gelacht  zu  haben  über  die  —  dem  Freunde  Klaar 
unbekannten  —  Intrigen,  die  bei  der  gebrechlichen 
Einrichtung  der  Welt  immer  mitspielen,  wo  es  sich  doch 
um  einen  ehrlichen  Wettkampf  handeln  sollte.  Auf  eine 
Aufforderung  Hellers  schrieb  ich  dann  für  die  Deutsche 
Zeitung  in  Wien  einige  Aufsätze,  die  leider  dem  Blatte 
und  dem  Redakteur  fast  immer  unbequem  waren.  Es 
scheint  mein  Schicksal  gewesen  zu  sein. 

Nun  war  ich  wieder  um  ein  Jahr  älter  geworden  und 
dachte  daran,  Theaterkritiker  beim  „Tagesboten  aus 

250 


Böhmen**  zu  werden.  Ich  hatte  immer  noch  keine 
rechte  Vorstellung  davon,  daß  der  „Tagesbote**  sich  an 
Ansehen  nicht  entfernt  mit  der  ,,Bohemia**  messen 
konnte,  daß  es  also  unklug  war,  meine  Kräfte  (die  ich 
wahrlich  nicht  gering  einschätzte)  diesem  Gebilde  des 
Tageszufalls  zu  widmen.  Richtig  war  es,  daß  im  „Tages- 
boten** von  Zeit  zu  Zeit  frische  und  bewegliche,  ja 
selbst  übermütige  junge  Schriftsteller  zu  Worte  kamen, 
während  bei  der  ,,Bohemia**  ein  gediegener,  aber  etwas 
zu  „gediegener**  Ton  vorherrschte;  doch  diese  jungen 
Talente  blieben  niemals  sehr  lange  beim  ,, Tagesboten** ; 
sie  sehnten  sich  fort  und  gingen  so  bald  als  möglich 
an  eine  der  großen  Wiener  Zeitungen.  Wichtiger  war 
es  mir,  trotzdem  ich  schon  damals  keine  politische 
Schreiberei  trieb,  daß  David  Kuh  die  Sache  der  deutsch- 
böhmischen Partei  mit  ehrlichem  Draufgängertum  ver- 
focht, während  die  „Bohemia**  damals  der  langsam 
slawisierenden  Regierung  ein  Zugeständnis  nach  dem 
andern  machte.  Der  Glaube  an  die  politische  Bedeutung 
Kuhs  ist  bei  mir  noch  recht  lange  unerschüttert  ge- 
blieben, viele  Jahre  lang;  nicht  so  viele  Tage  dauerte 
mein  Glaube  an  die  eigentliche  Bedeutung  der  Wirkung 
des  ,, Tagesboten**,  nachdem  ich  erst  Mitglied  seines 
„Stabes**  geworden  war. 

Das  kam  aber  so.  Der  ,, Tagesbote**  hatte  außer  dem 
Besitzer,  der  jeden  Abend  seinen  Leitartikel  schrieb  und 
einem  Manne,  der  mit  Schere  und  Kleister  zwei  Dritt- 
teile jeder  Nummer  aus  den  Wiener  Zeitungen  zu- 
sammenstellte, nur  noch  einen  einzigen  Mitarbeiter, 
Herrn  T  .  .  .  .  Dieser  unersetzliche  T  .  .  .  . ,  auf  dessen 
erstaunlich  gering  entwickeltes  Gehirn  und  auf  dessen 
mächtig  entwickeltes  Sitzfleisch  die  witzigen  Durch- 
gangsmitarbeiter des   „Tagesboten**,    Kohler,    Horsky 


und  Klaar  sehr  lustige  Verse  gemacht  hatten,  gedachte 
nach  Wien  abzureisen,  wo  er  unglaublicherweise  eine 
Stellung  gefunden  hatte.  Einen  kleinen  Teil  seiner  aus- 
gedehnten Tätigkeit  sollte  ich  übernehmen,  eben  die 
Theaterkritik.  Auch  mit  Mammon  wurde  ich  gelockt. 
Fünfzig  Gulden  monatlich  wurden  mir  versprochen. 
Und  wie  etwa  ein  alter  Hofschauspieler  —  man  habe 
Nachsicht  mit  meinem  Größenwahn  —  von  seinen  An- 
fängen in  der  Provinz  erzählt,  so  möchte  ich  jetzt  über 
T  . .  .  .  und  dann  über  die  ökonomischen  Bedingungen 
meines  ersten  Engagements  berichten. 

T .  .  .  .  war  kein  Feuilletonist  aus  der  berüchtigten 
Schule  von  Heinrich  Heine;  ach  nein,  er  war  dumm 
und  galt  für  ehrlich.  Erst  viel  später  habe  ich  durch 
eine  zufällige  Begegnung  in  der  kleinen  Welt  erfahren, 
daß  (um  den  Scherz  des  Ministers  Unger  gegen  einen 
größern  Feuilletonisten  zu  wiederholen)  es  an  Unbe- 
stechlichkeit grenzte,  wie  klein  die  Geschenke  waren, 
die  er  von  Sängern  und  Schauspielern  annahm.  Für  ge- 
wöhnlich wurde  seine  gute  Stimmung  auch  nur  durch 
Naturalien  erhalten,  die  in  die  Küche  geliefert  wurden. 
War  das  einmal  ein  Hasenbraten,  so  war  er  stolz  auf 
seinen  Einfluß.  So  erzählte  der  Theaterklatsch. 

Stolz  war  er  gewiß  darauf,  daß  er  der  Sitzredakteur 
des  Blattes  war.  Die  Anrede  ,,Herr  Sitzredakteur" 
verbat  er  sich  einmal  ernstlich ;  das  wäre  eine  zu  in- 
time Privatangelegenheit.  Da  er  die  Leitartikel,  die  dem 
Staatsanwälte  gegenüber  allein  in  Frage  kamen,  nie- 
mals und  unter  keinen  Umständen  vor  dem  Erscheinen 
las,  so  war  es  eigentlich  großmütig  von  ihm,  daß  er  die 
Verantwortung  trug.  Ich  fürchte,  er  hat  diese  Leit- 
artikel auch  nach  dem  Erscheinen  niemals  gelesen; 
wahrscheinlich  hatte  er  in  seiner  Jugend  lesen  gelernt; 

252 


dafür  aber,  daß  er  jetzt  noch  irgend  etwas  las,  hat  er 
niemals  einen  Beweis  geliefert.  Er  hatte  offenbar  über- 
haupt keine  Augen  und  keine  Ohren.  Vielleicht  war  er 
ein  Dreisinniger. 

Besonders  stolz  war  er  auf  seine  Sonntagsplaudereien. 
Es  hieße  den  ehrwürdigen  Begriff  der  Langeweile  ver- 
ächtlich machen,  wollte  ich  diese  schweißgeborenen 
Schüleraufsätze  langweilig  nennen.  Sie  waren  anders. 
Sie  waren  darin  Meisterstücke  impressionistischer  Kunst, 
daß  die  Qual  des  Verfassers  sich  dem  Leser  gedoppelt 
mitteilte.  Und  wenn  er  einmal  geistreich  wurde,  regel- 
mäßig vor  jedem  Quartalswechsel,  dann  verhüllte  der 
Genius  der  deutschen  Sprache  sein  Haupt.  Nein,  er 
war  kein  Dreisinniger,  er  war  ein  Analphabet  und  schrieb 
Feuilletons. 

Nichtmusiker  und  wohlhabendere  Sänger  und  Sän- 
gerinnen, die  sich  die  „Spendierung**  eines  Hasens 
leisten  konnten  und  gelobt  wurden,  behaupteten,  er 
verstünde  irgend  etwas  von  der  Musik,  Einer  der  aus- 
gezeichneten Künstler,  die  damals  zur  altberühmten 
Prager  Oper  gehörten,  versicherte  mich  aber :  T .  .  .  . 
wäre  so  unmusikalisch  gewesen,  daß  er  den  Violin- 
schlüssel von  einem  Retiradenschlüssel  nicht  hätte 
unterscheiden  können. 

Derselbe  T .  .  .  .  schrieb  auch  Theaterkritiken.  Es 
hätte  einen  Hund  jammern  können.  Natürlich  besaß 
er  kein  inneres  Verhältnis  zur  Poesie,  zum  Drama  oder 
zur  Schauspielkunst.  Er  fügte  im  Schweiße  seines  An- 
gesichts so  lange  die  verbrauchten  Worte  aneinander, 
bis  die  nötige  Anzahl  von  Zeilen  beisammen  schien, 
Dann  schüttelte  er  den  Kopf  jedesmal  wie  ein  Esel, 
dem  man  eine  ungebührliche  Last  aufgeladen  hat, 
schickte  das  Manuskript  in  die  Druckerei  und  ging 

253 


betrübt  nach  Hause.  Übrigens  schätzte  er  seine  Theater- 
kritiken selber  nicht  so  hoch  ein  wie  seine  Musikkritiken. 
Er  sprach  einmal  mit  mir  darüber.  Daß  er  sprach,  war 
an  sich  merkwürdig ;  ich  hatte  ihn  ja  für  taubstumm 
gehalten.  Er  sagte  also  einmal  zu  mir  in  einiger  Er- 
regung .  .  .  doch  diese  Geschichte  muß  ich  von  vorne 
anfangen  und  mit  der  Beichte  eines  Dumme  Jungen- 
streichs beginnen. 

T .  .  .  .  saß  noch  fest  auf  seinem  Redaktionssessel, 
und  ich  konnte  noch  nicht  daran  denken,  der  Nach- 
folger dieses  außerordentlichen  Mannes  zu  werden.  Ich 
litt  grimmig  unter  seinen  Rezensionen,  die  unfehlbar 
die  Unwahrheit  sagten,  nach  meinem  Ermessen.  Meine 
Begeisterung  für  alles,  was  mit  dem  Theater  zu  tun 
hatte,  war  so  groß,  daß  ich  mir  oft,  wenn  ich  nachmittags 
auf  die  Redaktion  des  ,, Tagesboten''  kam  (um  den 
Büchereinlauf  durchzusehen  und  in  Ruhe  die  Wiener 
Zeitungen  zu  lesen),  die  Rezensionen  des  gräßlichen 
T  ....  im  Bürstenabzuge  ausbat,  um  sie  avant  la  lettre 
genießen  zu  können.  Er  pflegte  diese  Elaborate  am 
Vormittage  zu  erschwitzen.  Eines  Tages  nun  las  ich  so 
im  Bürstenabzug  die  Besprechung  der  gestrigen  Auf- 
führung, die  mich  aus  irgendeinem  vielleicht  allzu 
menschlichen  Grunde  ganz  besonders  angeregt  hatte; 
ich  hatte  sogar,  wie  das  häufig  vorkam,  eine  eigene 
Kritik  der  Vorstellung  niedergeschrieben,  zu  meinem 
Privatgebrauch,  ohne  an  Druckerschwärze  zu  denken. 
Was  ich  nun  da  im  Bürstenabzuge  las,  das  schien  mir 
über  die  Hutschnur  zu  gehen ;  ich  sprang  nach  Hause, 
feilte  mein  Manuskript  sorgfältig  durch,  steckte  es  in 
die  Tasche  und  erschien  nach  9  Uhr  abends  auf  der  Re- 
daktion mit  dem  unklaren,  jedesfalls  unerlaubten  Plane, 
meine  Besprechung  an  Stelle  der  von  T in  das  Blatt 

254 


einzuschmuggeln.  Früher  als  zu  dieser  Stunde  stellte 
sich  der  Verleger  David  Kuh  niemals  auf  dem  Kampf - 
platze  ein. 

Wie  gewöhnlich  etwas  müde  von  wenigen  Gläsern 
Pilsner  trat  der  Chef  gegen  lo  Uhr  ins  Zimmer;  sehr 
verstimmt,  wie  gewöhnlich,  wenn  er  nicht  einmal  irgend- 
eine kleine  Idee  für  seinen  Leitartikel  hatte.  Ich  trug 
meinen  Wunsch  vor,  meine  Rezension  anstatt  der  von 
T .  .  .  .  gedruckt  zu  sehen.  Kuh  fauchte,  sein  schönes 
Gesicht  sah  noch  einmal  so  schön  aus,  als  er  mich  an- 
donnerte, wie  ich  es  verdient  hätte,  und  einen  Schwur 
leistete,  seinem  bewährten  Mitarbeiter  T  ....  die  Treue 
zu  halten.  „Ja,  T ....  ist  ein  Esel,  und  Sie  möchte 
ich  bei  den  Rockschößen  an  mein  Blatt  binden; 
aber  das  geht  nicht!**  Er  ging  mit  hastigen  Schritten 
in  der  kleinen  Stube  auf  und  nieder  und  schrie  von 
Zeit  zu  Zeit  gewissermaßen  sich  selber  an :  „Das  geht 
nicht!**  Plötzlich:  „Und  wer  bezahlt  die  Satzkosten  für 
den  Wisch  von  T .  .  .  .!?**  Ich  erbot  mich  in  der  fol- 
genden Woche  gratis  eine  kleine  Novelle  für  das  Blatt 
zu  liefern.  ,,Wie  viele  Fortsetzungen?**  —  ,,Zwei.**  — 
„Mindestens  vier!**  —  Ich  glaube,  ich  versprach  eine 
Novelle  von  vier  Fortsetzungen.  ,, Liebstes  Mauthnerl, 
es  geht  nicht!  Es  wäre  unerhört!**     :uj  müiiiw   ^^^aua 

Nach  einer  Weile  sank  David  Kuh  in  seinen  reser- 
vierten Stuhl  mit  der  gestickten  Sitzgelegenheit  und 
fing  zu  klagen  an;  er  wäre  mehr  als  müde,  er  wäre 
krank,  er  könnte  heute  nicht  arbeiten.  „Liebes  Kind, 
es  könnte  mein  Tod  sein,  wenn  ich  in  diesem  Zustande 
meinen  Leitartikel  schreiben  wollte.  Die  Leser  sind  es 
nicht  gewöhnt,  daß  ich  mit  halber  Kraft  arbeite.  Es 
handelt  sich  um  Größeres  als  um  das  dumme  Theater 
und  euere  Schönheitlerei.  Ich  muß  mein  Leben  für  die 

255 


Partei  erhalten.  Ein  Wort,  ein  Mann.  Wenn  Sie  auch 
noch  den  heutigen  Leitartikel  statt  meiner  schreiben 
wollen,  so  soll  Ihre  Theaterkritik  morgen  in  meinem 
Blatte  erscheinen.  Einverstanden?  Gute  Nacht,  meine 
Herren.^* 

Der  Mann  mit  der  Schere  undjdem  Kleister  war 
Zeuge  des  ganzen  Auftritts  gewesen.  Er  zog  seinen 
Überzieher  an,  nahm  seinen  Hut  und  sagte  mehr  be- 
wundernd als  giftig:  „So  machen  Sie  das  Blatt  auch 
ganz  alleine  fertig." 

Ich  habe  das  Blatt  in  jener  Nacht  alleine  fertigge- 
macht. Ich  habe  zunächst  so  lange  mit  Schere  und  Klei- 
ster hantiert,  bis  der  Metteur  mir  sagen  ließ,  es  wäre 
genug ;  und  dann  habe  ich  einen  der  beiden  Leitartikel 
geschrieben,  die  ich  überhaupt  in  meinem  Leben  ver- 
brochen habe.  Diesmal  war  es  reinster,  gottsträflicher 
Übermut.  Ich  folgte  zunächst  dem  Beispiel  meines 
Chefs.  Ich  las  die  Telegramme  des  Wiener  Korrespon- 
denzbureaus, ob  ich  unter  ihnen  ein  Häkchen  fände, 
daran  meinen  Artikel  anzuhängen.  Ich  fand  das  Häk- 
chen. „Der  König  von  Griechenland  hat  seine  Reise 
ins  Ausland  angetreten.*'  Ich  hatte  keine  Ahnung,  wer 
der  König  von  Griechenland  war,  ich  hatte  keine  Ah- 
nung, warum  und  wohin  er  reiste;  aber  ich  schrieb 
einen  schwungvollen  Leitartikel  über  die  Reise  des 
Königs  von  Griechenland.  Ich  werde  wohl  etwas  Schind- 
luder getrieben  haben  mit  der  ahnungslosen  Art,  in 
der  von  Provinzredakteuren  politische  Artikel  ange- 
fertigt werden;  bei  den  großen  Zeitungen  ist  das  ja 
ganz  anders.  Im  deutschen  Kasino  wurde  mein  Zeug 
aufmerksam  gelesen,  und  als  man  dahinter  eine  Satire 
gegen  einige  Reisen  des  Kaisers  Franz  Joseph  —  ich 
hatte  an  so  etwas  gar  nicht  gedacht  —  zu  wittern  an- 

256 


fing,  ließ  Kuh  mit  feinem  Lächeln  die  Autorschaft  un- 
bestimmt. T . .  .  .  aber,  als  er  am  Tage  nach  diesem 
Doppelverbrechen  meine  Rezension  an  Stelle  der  sei- 
nigen gefunden  hatte,  öffnete  schwer  und  langsam 
seinen  Mund  und  sprach  also  zu  mir:  „Meine  Theater- 
rezensionen erreichen  nicht  ganz  die  Höhe  meiner 
Opernrezensionen.  Auch  fallen  sie  mir  schwerer.  Hätten 
Sie  vorher  ein  Wort  gesagt,  so  hätte  ich  mir  die  sauere 
Arbeit  sparen  und  vier  Stunden  länger  schlafen  können." 
Wenige  Monate  nach  diesem  eigentlich  unverzeih- 
lichen Streiche  ging  also  T .  .  .  .  nach  Wien,  um  dort 
den  alten  guten  Ruf  der  Prager  Journalisten  zu  ge- 
fährden; ich  aber  trat  sein  Amt  beim  ,, Tagesboten  aus 
Böhmen**  an.  Über  meine  Befähigung  zu  einem  solchen 
Amte  werde  ich  vielleicht  später  ein  möglichst  unbe- 
fangenes Urteil  wagen,  wenn  ich  über  meine  Theater- 
kritik zu  Berlin,  in  größern  Verhältnissen,  zu  berichten 
haben  werde.  Für  jetzt  nur  so  viel,  daß  ich  die  paar 
Leute,  die  sich  um  diese  Sache  kümmerten,  gewisser- 
maßen angenehm  enttäuschte;  diese  Leute  hatten  ge- 
hofft oder  gefürchtet,  ich  würde  mit  Keulen  drein- 
schlagen,  in  Beurteilung  der  Dramen  von  einem  noch 
strengern  Standpunkt  als  S.  Heller,  in  der  Beurteilung 
der  Schauspieler  noch  rücksichtsloser.  Ich  aber  merkte 
bald,  daß  ich  von  den  meisten  Autoren,  von  einigen 
Schauspielern  und  eigentlich  von  Ungeschicklichkeiten 
meiner  Aufsätze  noch  sehr  viel  zu  lernen  hatte,  daß 
ich  im  Grunde  nur  mangelhaft  vorbereitet  mein  hohes 
Richteramt  übernommen  hatte.  Ich  kannte  fast  keine 
andere  Bühne,  hatte  selbst  in  Wien  im  Burgtheater 
nur  wenige  Stücke  aufführen  sehen;  ich  konnte  also 
nicht  vergleichen  und  schwärmte  eigentlich  noch  ein 
wenig  für  die  recht  guten  Mitglieder  des  Prager  Landes- 

17  257 


theaters,  für  meinen  ersten  Karl  Moor,  für  mein  erstes 
Gretchen.  So  war  ich  eigentlich  vorherbestimmt,  wenig- 
stens in  bezug  auf  die  Schauspieler,  den  Lokalpatriotis- 
mus des  Provinzkritikers  zu  bewähren,  wenn  nicht  ein 
glücklicher  Instinkt  mich  schon  seit  vielen  Jahren  alle 
Gäste  des  Prager  Landestheaters  hätte  kennenlernen 
lassen.  Bei  ihnen,  bei  den  berühmten  Wienern,  bei 
Davison  und  Emil  Devrient,  bei  der  Ristori  und  vor 
allem  bei  Rossi,  der  damals  auf  seiner  Höhe  stand,  suchte 
ich  meine  Maßstäbe,  etwas  wahllos,  wie  ich  nicht  leug- 
nen kann.  Ich  schreibe  das  aus  meiner  Erinnerung  nie- 
der ;  ich  habe  nicht  Andacht  genug  zum  Kleinen,  um 
etwa  all  diese  alten  Schreibereien  kommen  zu  lassen, 
nachzulesen  und  selbst  eine  der  Schlangenhäute  aus- 
zuklopfen, die  ich  vor  40  Jahren  abgestreift  habe. 

Der  Reiz,  den  das  Getriebe  auch  eines  so  kleinen 
Blattes  dem  Neuling  gewähren  mußte  und  konnte, 
wird  wohl  nur  wenige  Wochen  vorgehalten  haben. 
Nicht  viel  länger  der  Humor,  mit  dem  ich  dann  die  un- 
fruchtbaren Anstrengungen  meines  idealistischen  Chefs 
anzusehen  begann.  Ich  sehnte  mich  fort,  wahrlich  nicht 
nach  einer  Großstadt,  wohl  aber  in  das  geträumte  Ge- 
triebe eines  Weltblatts,  wo  überlegene  Geistesfürsten 
der  Kunst  und  dem  Staate  ihre  Gesetze  diktierten.  Und 
ich  sehnte  mich  hinaus,  nach  Deutschland,  ins  ,, Reich**. 

Ich  glaube  nicht,  daß  nach  meiner  Anlage  die  öko- 
nomischen Verhältnisse  des  Blattes  diese  Wander- 
sehnsucht stark  beeinflußten.  Ich  hatte  ja  am  Tische 
meiner  Mutter  satt  zu  essen.  Aber  die  Behandlung  der 
Geldfrage  ging  denn  doch  über  den  Spaß.  Der  ,, Tages- 
bote** hatte  nämlich  so  etwas  wie  einen  Kassierer.  Bei 
dem  stellte  ich  mich  jedesmal  pünktlich  am  i.  des 
Monats  ein,  um  die  vereinbarten  fünfzig  Gulden  zu  ver- 

258 


langen.  Jedesmal  erhielt  ich  zur  Antwort,  es  wäre  kein 
Geld  in  der  Kasse,  aber  der  Herr  Kassierer  wäre  bereit, 
mir  den  Betrag  persönlich  gegen  Schuldschein  darzu- 
leihen. Der  versprochene  Mammon  hatte  bereits  meine 
Lebensansprüche  gesteigert;  ich  ging  mitunter  nach 
dem  Theater  in  ein  Restaurant  und  stand  schon  in  den 
Schuldbüchern  zweier  Blumenhandlungen  und  (jawohl) 
eines  Juweliers.  Ich  hatte  einen  kleinen  Ring  nach 
meiner  Zeichnung  anfertigen  lassen;  ich  werde  aber 
die  Geschichte  dieses  Ringleins  nicht  erzählen.  Ich  wollte 
nur  die  Gründe  angeben,  die  mich  zwangen,  an  jedem 
Ersten  den  Schuldschein  des  Kassierers  zu  unterschrei- 
ben. Zur  Tilgung  seiner  Forderung,  die  sich  eben  Monat 
für  Monat  um  den  Betrag  meines  ,, Gehaltes**  erhöhte, 
mußte  ich  mir  vor  meinem  Abgange  einige  hundert 
Gulden  verschaffen.  Als  ich  eben  im  Begriffe  war,  einem 
Wucherer  in  die  Hände  zu  fallen,  half  ein  tschechischer 
Freund  aus,  der  sich  später  als  geduldig  erwies. 

Der  Tropfen,  der  endlich  den  Becher  zum  Überlaufen 
brachte,  war  ein  Vorfall,  der  sich  sehr  bald  nachher 
fast  in  gleicher  Weise  einmal  zu  Berlin  wiederholte. 
Ich  hatte  ein  Feuilleton  geschrieben,  das  einem  meiner 
beiden  Kollegen  —  ich  möchte  ihn  nicht  kenntlich 
machen  —  besonders  gefallen  haben  mußte;  ich  fand 
es  am  nächsten  Tage  im  Blatte  mit  seinen  Initialen 
unterzeichnet.  Auf  meine  sehr  schüchterne  Frage,  was 
das  zu  bedeuten  hätte,  bekam  ich  die  Antwort:  die 
Kleinigkeit  wäre  ja  ganz  nett  gewesen,  er  hätte  aber 
nach  Mitternacht  plötzlich  Angst  um  mich  bekommen ; 
eine  Vision;  Staatsanwalt;  ich  wäre  noch  so  jung;  er 
wäre  ein  gebrochener  Mann,  ein  Tagelöhner  der  Zei- 
tung, auf  sein  Leben  käme  es  nicht  an;  da  hätte  er 
sich  mit  Aufopferung  schützend  vor  mich  gestellt  und 

17*  259 


die  Initialen  geändert.  (Als  die  gleiche  Geschichte  etwa 
ein  Jahr  später  in  Berlin  passierte,  lautete  die  Er- 
klärung in  etwas  anderer  Tonart :  ein  so  junger  Fuchs 
wie  ich  müßte  froh  sein,  wenn  ein  bewährter  Kämpe 
durch  seinen  Namen  meine  Erstlingsarbeiten  adelte.) 
Dabei  blickte  mich  der  Mann  so  gemütlich  hilfe- 
flehend an,  daß  ich  entwaffnet  war.  Ich  schämte  mich 
nur  und  faßte  den  Entschluß  fortzugehn.  Wer  weiß 
aber,  ob  ich  die  Energie  aufgebracht  hätte,  dem  Zu- 
reden David  Kuhs  Widerstand  entgegenzusetzen,  wenn 
nicht  gerade  um  diese  Zeit  begreiflicherweise  T .  .  .  . 
uns  wiedergeschenkt  worden  wäre.  Eines  Nachmittags, 
ich  saß  just  im  Stuhle  vor  dem  Feuilletontisch,  eine 
Wiener  Zeitung  in  der  Hand,  öffnete  T.  .  .  .  unan- 
gemeldet die  Tür,  stellte  den  dicken  Stock  und  den  alten 
Künstlerhut  in  die  gewohnte  Ecke  und  schaute  mich 
an  .  .  .  Es  war  rührend.  Ich  erhob  mich ;  er  drückte 
sein  Sitzfleisch  in  den  Feuilletonstuhl.  Alles  wortlos. 
Er  begann  zu  schreiben  und  wischte  sich  schon  nach 
wenigen  Minuten  den  Schweiß  ab;  er  dichtete  also  an 
seiner  Wochenplauderei.  Und  ich  war  nicht  mehr 
Theaterkritiker  am  ,, Tagesboten". 


260 


XXIII.  Abschied  von  Prag. 

Der  langsam  gereifte  und  dann  so  plötzlich  entschie- 
dene Entschluß,  Prag  und  den  Schauplatz  nationaler 
Katzbalgereien  zu  verlassen,  dürfte  stark  beeinflußt 
worden  sein  von  der  Kampfesweise  beider  Parteien, 
über  deren  Unwahrhaftigkeit  ich  als  Redaktionsmitglied 
des  kleinen  Provinzblattes  die  ersten  Erfahrungen  sam- 
meln konnte.  Sehr  rasch  und  für  immer  hatte  ich  die 
Ehrfurcht  vor  der  ,, Fahne  der  Partei*'  verloren  ;| ich 
hatte  kleine  Führer  kennengelernt  und  deren  Eitelkeit. 
Hüben  und  drüben  wurde  gelogen  und  wider  besseres 
Wissen  der  Gegner  beschimpft.  Das  mußte  bei  einem 
vornehmen  Weltblatt  ganz  gewiß  viel  anders  sein. 

Wie  gesagt,  ich  hatte  nicht  eigentlich  den  Wunsch, 
in  einer  Großstadt  zu  leben ;  da  aber  die  großen  Blätter 
nur  dort  zu  gedeihen  schienen,  so  richtete  sich  der 
Blick  bald  nach  Wien,  bald  nach  Berlin.  Da  und  dort 
winkte  verlockend  die  Möglichkeit,  alle  Tage  ein  gutes 
Theater  oder  ein  gutes  Konzert  besuchen  zu  können. 
Den  Anschlag  gab  Dr.  Julius  Friedländer,  der  ange- 
heiratete Vetter,  der  mir  schon  —  wie  man  sich  er- 
innern wird  —  bei  der  Drucklegung  meiner  Sonette^zu 
Leipzig  ironisch-wohlwollend  Schicksal  gespielt  hatte. 
Sooft  er  aus  Berlin  nach  Prag  kam,  pflegte  er  gern  mit 
meiner  Mutter  zu  plaudern,  und  ich,  das  Sorgenkind 

261 


von  26  Jahren,  war  oft  der  Gegenstand  solcher  Unter- 
haltungen. Ironisch-wohlwollend  strich  Dr.  Fried- 
länder (als  antiquarischer  Buchhändler  und  als  Zei- 
tungsverleger war  er  mir  in  literarischen  Lebens- 
fragen eine  Autorität)  mein  Talent  heraus;  ich  ge- 
hörte aber  in  die  Hauptstadt,  wo  ich  lernen  würde, 
daß  auch  die  gefeiertsten  Dichter  Geld  verdienen 
wollen;  in  Prag  würde  ich  verbummeln.  Nament- 
lich das  letzte  sah  ich  ein.  Wohin  aber?  Der  Rat- 
geber war  für  sein  unvergleichliches  Berlin;  meine 
Mutter  war  mehr  für  Wien,  weil  das  doch  nicht  so 
außer  der  Welt  läge. 

Ich  ließ  mich  vom  Vetter  leicht  überreden,  mein 
,, Glück**  in  Berlin  zu  versuchen;  er  setzte  meiner  Mut- 
ter die  Vorteile  dieser  Stadt  beredt  auseinander.  Dort 
würde  ich  arbeiten  lernen;  und  die  hergebrachte  Ver- 
höhnung der  österreichischen  Schlamperei  brach  los. 
Die  beiden  Gründe  aber,  die  bei  mir  für  Berlin  ent- 
schieden, waren  ganz  anderer  Art,  und  ich  trage  gar 
kein  Bedenken,  meine  Dummerhaftigkeit  einzuge- 
stehen, ja  sogar  mit  einer  gewissen  Selbstgerechtigkeit 
an  diese  späte  Dummerhaftigkeit  —  stand  ich  doch 
schon  in  meinem  27.  Jahre  —  zurückzudenken.  In 
erster  Linie  stand,  daß  ich  in  Wien  zahlreiche  Bezie- 
hungen zu  einflußreichen  Verwandten  und  auch  schon 
zu  den  beiden  angesehensten  Zeitungen  besaß,  also  auf 
Förderung  (auf  deutsch :  Protektion)  rechnen  konnte ; 
ich  aber  wollte  meinen  eigenen  Weg  gehen.  Sodann 
schwebte  mir  als  das  nächste  erstrebenswerte  Erlebnis 
vor,  Bismarck  einmal  im  Reichstage  reden  zu  hören. 
Bismarck  hat  gesagt,  Berlin  ziehe  die  Leute  vom  Lande 
hinein,  weil  sie  dort  umsonst  Militärmusik  hören  kön- 
nen. Mir  war  Bismarck  die  Musik,  die  nach  Berlin  rief. 

262 


Ganz  unklar  unbewußt  war  es  mir,  daß  hinter  diesem 
Wunsche  allerlei  Ernstes  steckte  i). 

Inzwischen  war  im  Frühjahr  1876  mein  kleiner  Ein- 
akter ,,Kein  Gut,  kein  Mut*'  im  Prager  Landestheater 
aufgeführt  worden.  Wieder  möchte  ich  nicht  erzählen, 
weil  eine  Herzensangelegenheit  damit  verknüpft  war, 
wie  es  zu  der  ersten  Niederschrift  dieses  Einakters 
(binnen  drei  Stunden)  kam,  wie  die  Aufführung  mit 
Hilfe  von  Alfred  Klaar  gegen  den  Willen  des  scheidenden 
Theaterdirektors  durchgesetzt  wurde  und  wie  über- 
haupt die  Auflösung  der  alten  und  mir  lieb  gewordenen 
Truppe  mir  den  Abschied  von  Prag  leicht  und  erfreu- 
lich machte.  Genug,  der  hübsche  Erfolg  meines  Ein- 
akters hatte  zur  nächsten  Folge,  daß  das  große  Prager 
Lokalblatt,  die  ,,Bohemia",  den  Versuch  machte,  mich 
an  Prag  zu  fesseln. 

In  dem  Redakteur  der  ,,Bohemia**,  Herrn  Franz 
Klutschak,  lernte  ich  einen  Journalisten  kennen,  der 
in  allem  ein  Widerspiel  zu  David  Kuh  war.  Gar  kein 
Talent,  vielleicht  auch  kein  politischer  Charakter  wie 
Kuh,  aber  ein  Mann  von  vielseitiger  Bildung,  mit  den 
guten  Umgangsformen  eines  höheren  österreichischen 
Beamten.  Er  hielt  mir  eine  kluge  Rede  über  die  Schat- 
tenseiten jeder  Genialität,  die  immer  zu  Rücksichts- 
losigkeit führe ;  die  lokalen  Verhältnisse  müßten  immer 
berücksichtigt  werden;  das  würde  ich  schon  mit  der 
Zeit  lernen.  Und  er  bot  mir  die  Kunstkritik  für  die 
„Bohemia*'  an.  Zunächst  sollte  ich  den  Bericht  über  die 
bevorstehende  Prager  Kunstausstellung  übernehmen. 

Daß  ich  dieser  Aufgabe  durchaus  nicht  gewachsen 
war,  das  fiel  mir  nicht  im  Traume  ein.  Ich  glaubte 
Augen  zu  haben  und  schreiben  zu  können.  Die  Galerien 

I)  Vgl.  Anhang  IX. 

263 


von  Wien  und  München  hatte  ich  durchlaufen,  hatte 
ein  Kolleg  über  italienische  Malerei  (bei  Ambros)  und 
ein  Kolleg  über  Geschichte  der  Architektur  (bei  Joseph 
Bayer)  gehört;  ich  bildete  mir  also  ein,  Kenntnisse 
genug  aus  Vergangenheit  und  Gegenwart  zu  besitzen. 
Daß  ich  halb  und  halb  schon  entschlossen  war,  Prag 
zu  verlassen,  das  bedachte  ich  keinen  Augenblick,  als 
ich  das  Anerbieten  Klutschaks  annahm. 

In  die  letzten  Monate  meiner  Prager  Zeit  fallen  neue 
Beziehungen  zu  Kreisen  und  Personen,  die  mich  die 
deutsche  Kolonie,  wie  man  die  deutsche  Gesellschaft 
Prags  schon  damals  nennen  durfte,  besser  als  bisher 
kennenlernen  ließ.  Mein  kleiner  Theatererfolg,  viel- 
leicht auch  einige  meiner  Aufsätze  hatten  auf  mich 
aufmerksam  gemacht. 

Im  deutschen  Kasino,  der  festen  Burg  des  Deutsch- 
tums, in  welcher  nur  etwas  häufig  die  Fensterscheiben 
eingeschlagen  wurden,  machte  ich  die  Bekanntschaft 
der  ersten  politischen  Führer  und  konnte  nicht  umhin, 
sie  für  etwas  bedeutender  zu  halten  als  ihre  politischen 
Journalisten  waren.  Ich  muß  übrigens  zur  Einweihung 
des  Festsaals  im  Deutschen  Hause  ein  völlig  unpoli- 
tisches Festgedicht  verfaßt  haben.  Es  war  mein  größter 
Prager  Erfolg.  Die  kleinen  Mädchen  waren  entzückt. 

Der  alte  Bildhauer  Emanuel  Max,  Gabriels  Onkel, 
feierte  so  etwas  wie  das  Jubiläum  seiner  fünfzigjährigen 
Künstlerschaft;  es  hatte  irgendeinen  Haken,  mit  der 
Künstlerschaft  sowohl  wie  mit  dem  Jubiläum ;  er  hatte 
nicht  ganz  rechtmäßig  vom  Ruhme  seines  größern 
Bruders  Joseph  gelebt,  der  eigentlich  das  schöne  Ra- 
detzkydenkmal  geschaffen  hatte  und  früh  verstorben 
war,  und  er  hatte  sein  Jubiläum  (wie  er  mir  am  Tage 
vor  dem  Fest  mit  Tränen  in  den  Augen  eingestand) 

264 


etwas  zu  früh  angesetzt,  um  es  gewißlich  zu  erleben. 
Na,  über  die  Datumsfälschung  lachte  ich,  und  von  sei- 
nen Verhältnissen  zu  Joseph  Max  wußte  ich  damals 
noch  nichts.  Ich  schrieb  zu  seinem  Ehrenabend  ein 
Preislied  auf  die  edle  Bildhauerei ;  es  war  sehr  lang, 
wurde  aber  trotzdem  bis  ans  Ende  freundlich  angehört. 

Durch  Max  machte  ich  die  Bekanntschaft  mit  dem 
neuen  Direktor  der  Prager  Kunstakademie,  einem  be- 
gabten Belgier ;  man  hatte  einen  Ausländer  verschrie- 
ben, weil  man  einen  Deutschen  nicht  ernennen  wollte 
und  einen  Tschechen  damals  noch  nicht  zu  ernennen 
wagte.  In  dem  Hause  des  Belgiers  erfuhr  ich  zu  meiner 
Überraschung,  wie  viele  Männer  beider  Nationalitäten 
es  in  dem  alten  Prag  gab,  die  sich  leidenschaftlich  für 
bildende  Kunst,  für  Theater  und  Musik  interessierten. 
Es  war  fast  ein  Salon  großen  Stils.  Es  wimmelte  nur  so 
von  Aristokraten  der  Kirche  (natürlich  der  katholischen) , 
der  Geburt  und  des  Geldes;  ich  hatte  keine  Ahnung 
davon  gehabt,  daß  eine  solche  Gesellschaft  in  Prag 
möglich  wäre. 

In  besonders  guter  und  drolliger  Erinnerung  ist  mir 
der  alte  Fürst  Camille  Rohan,  der  Freund  des  Kaisers 
Wilhelm,  der  mich  nach  der  Aufführung  meines  Ein- 
akters in  seinem  wunderlichen  Deutsch-Französisch 
mehrfach  seines  ganz  besonderen  Wohlwollens  ver- 
sicherte, mir  Großes  voraussagte  und  mir  eigentümliche 
Ratschläge  gab.  Ein  Musiker  oder  ein  Börsenspieler 
dürfe  witzig  sein,  ein  König  und  ein  Schriftsteller  dürfe 
niemals  witzig  sein ;  ich  sollte  mich  wie  vor  der  Pesti- 
lenz davor  hüten,  so  schändliche  Menschen  wie  Vol- 
taire oder  Heine  nachzuahmen.  Ich  sollte  damit  zu- 
frieden sein,  in  Prag  das  Schlechte  zu  bekämpfen  und 
das  Gute  zu  beschützen  (und  er  nannte  den  Namen 

265 


einer  ganz  elenden  kleinen  Schauspielerin,  den  er  liebe- 
voll mit  französischem  Akzent  aussprach)  ;  auch  ihm 
wäre  es  nicht  an  der  Wiege  la-bas  vorgesungen  worden, 
daß  er  seine  beste  Zeit  in  Böhmen  verbringen  würde. 
Alle  diese  Dialoge  fanden  im  Theaterfoyer  statt;  das 
greise  Männchen  in  der  geckenhaft  modernen  Kleidung 
war  in  solchen  Augenblicken  der  Ergriffenheit  gar  nicht 
mehr  drollig.  Seltsam.  Dieser  Grandseigneur,  dieses 
Fossil  aus  dem  Ancien  regime,  stand  mir  doch  ferner 
als  irgendwer,  dem  ich  je  im  Leben  begegnet  bin, 
ferner  als  irgendein  regierender  Fürst,  und  doch  war 
er  der  erste  Mensch,  dem  ich  von  meinen  Zielen  er- 
zählte, von  seiner  Herzensgüte  verführt  oder  nur  von 
seiner  Höflichkeit  getäuscht ;  er  war  auch  der  erste,  dem 
ich  mitteilte,  ich  wollte  nach  Berlin.  Er  erzählte  darauf, 
als  ob  es  die  natürlichste  Sache  von  der  Welt  wäre,  wie 
er,  dank  seinen  Beziehungen  zu  seinem  Freunde  Wil- 
helm, talentvolle  junge  Personen  an  das  Kgl.  Schau- 
spielhaus und  an  die  Kgl.  Oper  gebracht  hätte;  sie 
wären  nicht  immer  dankbar  gewesen.  Schmerzlich  be- 
wegt blickte  er  lange  die  hellen  Gamaschen  über 
seinen  Lackschuhen  an  und  sagte  dann  plötzlich: 
,,Dank  ist  ein  dummes  Wort.  Kann  ich  Ihnen  dort 
irgendwie  utile  sein?**  Ich  mag  mein  Nein  vielleicht 
zu  übermütig  begründet  haben;  er  nickte  traurig  mit 
dem  alten  Köpfchen  und  erwiderte  nur  etwa :  das  wäre 
die  neue  Zeit;  ein  Fürst  Rohan  könnte  einem  jungen 
Prager  Dichter  nicht  mehr  utile  sein.  Er  empfahl  mir 
noch  das  erste  Hotel  von  Berlin  und  das  feinste  Re- 
staurant. 

Da  ich  zwar  von  diesen  Empfehlungen  keinen  Ge- 
brauch zu  machen  gedachte,  aber  doch  nicht  ohne  einige 
Groschen   in   der   fremden   Stadt   ankommen   wollte, 

266 


machte  ich  mich  stark,  vor  meiner  Abreise  den  ver- 
sprochenen Bericht  über  die  Prager  Kunstausstellung 
noch  anzufertigen.  Im  Juni  war  ich  vierzehn  Tage  lang 
von  früh  bis  spät  in  der  Ausstellung  und  machte  mir 
Notizen  in  den  Katalog.  Dann  aber  kam  plötzlich  und 
unwiderstehlich  die  Ungeduld  über  mich,  und  eines 
Tages  reiste  ich  ab.  In  einer  Tasche  Kleider  und  Wäsche, 
in  einer  großen  Kiste  meine  Bücher.  Ohne  viel  Abschied- 
nehmen. Ich  würde  ja  doch  bald  wiederkommen. 

Ich  fuhr  zunächst  nach  Dresden,  wo  ich  einige  Tage 
lang  in  der  Galerie  schwelgte.  Und  mit  allzu  kurzem 
Gedärm  für  meinen  Kunstbericht  studierte.  Dann  ging's 
noch  einmal  bis  Schandau  zurück,  nach  der  sächsischen 
Schweiz.  Dort  setzte  ich  mich  wieder  vierzehn  Tage  hin 
und  schrieb  mit  Hilfe  meiner  Notizen  aus  dem  Gedächt- 
nisse etwa  ein  Dutzend  Aufsätze  über  die  Prager  Aus- 
stellung. Gott  mag  wissen,  was  dabei  herausgekommen 
ist.  Ich  hatte  wenigstens  die  Gewissenhaftigkeit,  mich 
als  einen  Laien  einzuführen. 

Als  pünktlich  nach  der  Ablieferung  des  letzten  Auf- 
satzes das  erstaunliche  Honorar  eingetroffen  war,  fühlte 
ich  mich  so  reich,  daß  ich  sogar  ein  Billett  zweiter 
Klasse  bis  Berlin  nahm.  Mit  einigem  Grausen  vor  der 
öden  Sandwüste,  über  die  ich  oft  witzeln  gehört  hatte. 
Ich  denke  jetzt  anders  von  den  Reizen  der  märkischen 
Landschaft  und  glaube  auch  für  das  Meer  nicht  taub 
und  nicht  blind  zu  sein ;  aber  eigentlich  fehlt  mir  noch 
heute  etwas  in  jeder  Landschaft,  wenn  die  Berge  fehlen 
und  die  Tannen.  Die  Berge  meiner  Kindheit.  Und  ich 
bin  dann  imstande,  Verse  aus  der  gefälschten  Königin- 
hofer  Handschrift  sehnsüchtig  zu  zitieren.  Und  nenne 
mich  einen  sentimentalen  Esel ;  und  meine  es  nicht  so 
gar  schlimm. 

267 


Ich  muß  nach  meiner  Rechnung  Anfang  August  1876 
in  Berlin  eingetroffen  sein,  auf  dem  damaligen  Dresdner 
Bahnhof.  Den  Tag  vermöchte  ich  nicht  anzugeben.  Man 
sieht,  wie  leichtfertig  ich  so  wichtigen  Umständen  gegen- 
über bin.  Aber  ein  emsiger  Forscher  könnte  dennoch 
den  Tag  und  sogar  die  Stunde  bestimmen;  ich  weiß 
noch,  daß  ein  Wolkenbruch  niederging,  gerade  als  unser 
Zug  einfuhr.  Die  wenigen  Droschken  waren  rasch  be- 
setzt, ich  mußte  lange  warten  und  dann  lange  umher- 
irren, bevor  ich  ein  bescheidenes  Unterkommen  fand. 
In  einer  Ausspannung  fern  im  Norden  der  Stadt.  Ich 
hatte  mir  den  Namen  des  Künstler-Gasthofs,  der  mir 
empfohlen  worden  war,  nicht  genau  gemerkt ;  die  Aus- 
spannung hieß  ungefähr  ebenso  und  war  dem  Kutscher, 
der  in  der  Nähe  wohnte,  vertrauter;  auch  um  ihres 
Weißbiers  willen.  So  hätte  ich  gleich  damit  beginnen 
können,  Berliner  Volksstudien  zu  machen.  Da  haperte 
es  aber  bei  mir;  mir  grauste  vor  dem  dünnen  Bier  in 
den  weiten,  dickwandigen  Glastöpfen. 


268 


Anhang 


I.  (zu  Seite  60.) 

Vor  einigen  Jahren  erwies  die  „Vossische  Zeitung'* 
einem  dieser  alten  Scherze  die  Ehre,  ihn  nach  fast 
vierzig  Jahren  wieder  abzudrucken ;  so  mag  die  Über- 
setzung von  Heines  ,,Du  hast  Diamanten  und  Perlen'* 
auch  hier  stehen. 

M.  A.  Y.  0.  NE.  P.  EI2  ZQIHN 

2oi  juev  xetfCTjha  XQVoa, 
2oi  yeoTiv  00'  dv  i'd'eXrjg, 
Hot  d^ö/Lt/Liara  eau  KaXXiora  — 
Zcorj,  XL  VW  ext  XQU'^f 

Eig  öfifiaxa  oov  xa  xaXXtoxa 
'Aotdog  decyevexTjg 
MeXcov  fiaXa  fiVQi    ijtrjöov  — 
Zcpfj,  XL  VW  exe  XQjjQ; 

2eXa  XiTtapcü  xotv  öoootv 
2Jv  SvoTtox/Liov  fi  irc'd'fjg, 
Kai  /LCTjv  /Lce  dioXeoaoa  — 
ZcpT],  XL  VW  ixt  XQjjg; 

Der  Bierulk  der  rätselhaften  Überschrift,  damals  in 
einer  Einleitung  durch  die  blödsinnigen  Worte  MaKedco- 
viov'AvaxQeovxog'  Yjtaxov  Oeov  NEavtov'Paipcpdta  eig Zcorjv 

271 


(Ein  Lied  des  Makedonios  Anakreon,  des  Sohnes  des 
Hypatos,  des  göttlichen  Jünglings,  an  Zoe)  gedeutet, 
führte  also  aus  den  Buchstaben  meines  Namens  den 
Nachweis,  daß  Heine  ein  Plagiat  an  dem  alten  Anakreon 
begangen  hätte.  Als  diese  Verse  1873  von  Alfred  Klaar 
in  einer  ,, Sammelbüchse  für  (das  abgebrannte)  Joa- 
chimstal'' herausgegeben  wurden,  machten  sie  meinem 
verehrten  Lehrer  (griechische  Archäologie)  Otto  Benn- 
dorf  reichlich  Spaß ;  nur  mit  Reimen  in  griechischer 
Sprache  wollte  er  sich  durchaus  nicht  versöhnen. 


272 


IL  (zu  Seite  96.) 

Daß  das  Ende  der  Renaissance  hereingebrochen  sei, 
ist  eine  meiner  kleinen  Grundüberzeugungen.  Ich  habe 
dieses  Bekenntnis  oft  im  Laufe  von  Jahrzehnten  aus- 
gesprochen und  schon  1892  einige  solche  Ausfätze  unter 
dem  Titel  „Tote  Symbole**  gesammelt.  Als  ich  später, 
als  Theaterkritiker,  solche  Anschauungen  noch  rück- 
sichtsloser vortrug,  wurde  ich  deshalb  von  alten  Freun- 
den und  von  Witzblättern,  die  just  vor  Homeros  und 
Sophokles  eine  beneidenswerte  Ehrfurcht  bekundeten, 
heftig  angegriffen,  verlor  darüber  —  und  das  schmerzte 
—  das  Wohlwollen  und  mehr  von  Theodor  Mommsen. 
Einiges  füge  ich  hier  ein,  mit  Hinweglassung  der  Stellen, 
die  sich  etwa  auf  Theater-Aufführungen  bezogen.  Im 
Februar  oder  März  1897  veröffentlichte  ich  im  „Berliner 
Tageblatt"  folgenden  Aufsatz: 

„Philhellenismus  und  Renaissance. 

Was  ist  der  Philhellenismus?  Wenn  man  eine  De- 
finition nach  dem  berüchtigten  Muster  „Opodeldok  ist, 
wenn  man  Rückenschmerzen  hat",  aufstellen  dürfte, 
so  wüßten  wir  sofort,  was  der  Philhellenismus  ist.  Phil- 
hellenismus ist,  wenn  die  Studenten  in  Paris  und  Rom 
mit  der  Polizei  handgemein  werden,  und  wenn  in  Eng- 
land für  die  Griechen  Geld  gesammelt  wird.  Aber  diese 


18 


273 


Erklärung  ist  doch  wohl  nicht  ausreichend.  Die  Stu- 
denten machen  mitunter  Krawall,  auch  ohne  gerade 
durch  griechische  Studien  dazu  aufgereizt  worden  zu 
sein ;  und  die  Kunst,  europäisches  Geld  an  sich  zu  brin- 
gen, verstehen  die  neuen  Griechen  so  gut,  daß  sie  aus 
Böckhs  „Staatshaushaltung  der  Athener''  gar  nichts 
lernen  könnten  und  den  Bettel  der  freiwilligen  Samm- 
lungen verachten  dürften. 

Der  Philhellenismus  scheint  mir  nichts  anderes  zu 
sein  als  die  alte  Renaissance,  von  schlauen  Staats- 
männern oder  unklaren  Jünglingen  ins  Politische  und 
ins  Sentimentalische  übersetzt.  Tausend  Jahre  hatte 
die  Scholastik  des  christlichen  Mittelalters  die  Geister 
niedergehalten,  als  im  15.  und  16.  Jahrhundert  die  Re- 
naissance Europa  wieder  erwachen  ließ.  Damals  war 
Griechenland  eben  erst  eine  türkische  Provinz  gewor- 
den, um  deren  politische  Gegenwart  sich  kein  Mensch 
kümmerte.  Nur  die  große  Vergangenheit  wurde  die 
Schule  für  die  humanistische  Kultur.  An  dem  Naturalis- 
mus der  alten  Griechen  erstarkte  ein  neues  Natur gefühl. 
Die  Nationalkulturen  von  Italien,  Frankreich  und 
Deutschland  gingen  bei  den  klassischen  Leistungen 
eines  toten  Volkes  in  die  Schule.  Es  war  für  die  Philo- 
logen wertvoll,  daß  noch  griechische  Gelehrte  übrig- 
geblieben waren,  die  ihnen  die  klassische  Literatur  besser 
als  bisher  vermitteln  konnten.  Ein  lebendiges  Griechen- 
volk gab  es  nicht  für  sie.  Man  glaubte  ehrlich,  in  der 
bildenden  Kunst,  in  der  Poesie  und  in  der  Philosophie 
die  Meister  der  Perikleischen  Zeit  nachzuahmen,  und 
nur  wenige  Genies  der  Renaissance  ahnten,  daß  diese 
scheinbare  Nachahmung  im  Grunde  nur  mit  den  über- 
lieferten Formen  und  Gedanken  spielte.  Gegen  vier- 
hundert Jahre  hat  diese  Epoche  der  Renaissance,  diese 

274 


Wiedergeburt  des  klassischen  Naturalismus,  gedauert. 
Vierhundert  Jahre  lang  hat  der  moderne  Geist  sich, 
zwischen  wechselnden  Revolutionen  und  Reaktionen, 
unter  der  Herrschaft  des  griechischen  Geistes  ent- 
wickelt. Und  gerade  jetzt,  wo  der  Kreislauf  der  Re- 
naissance endlich  vollendet  scheint,  wo  die  modernen 
Kulturvölker  die  toten  Symbole  der  Antike  endlich 
nicht  mehr  nötig  haben,  wird  die  Renaissance  plötzlich 
praktisch  und  politisch  und  verlangt  ungestüm  die 
Wiedergeburt  des  Volkes,  dessen  tote  Symbole  bald  nur 
noch  historische  Bedeutung  haben  werden.  Es  ist  ein 
seltsames  Schauspiel.  Am  Ende  ihrer  Laufbahn  hat  die 
unfruchtbar  gewordene  griechische  Philologie  noch 
Kraft  gefunden,  den  Philhellenismus  zu  erzeugen.  Vor 
siebzig  Jahren,  in  den  griechischen  Befreiungskriegen 
und  wieder  heutzutage  ist  die  philhellenische  Bewegung 
nirgends  tiefer  (wenn  auch  weniger  lärmend)  als  in 
England  und  in  Deutschland,  den  klassischen  Ländern 
der  griechischen  Philologie.  Damals  stand  Lord  Byron 
an  der  Spitze,  und  Goethe  verherrlichte  ihn  dafür.  Heute 
sehen  wir  an  der  Stelle  des  hinreißenden  jungen  Byron 
den  alten  Gladstone;  in  Deutschland  schweigen  die 
Dichter  vorläufig,  und  kein  deutscher  König  hat  für 
einen  Prinzen  seines  Hauses  ein  exotisches  Thrönchen 
in  Aussicht.  (1897.) 

Das  Ende  der  Renaissance  ist  angebrochen.  Die  Wahr- 
heit dieser  Behauptung  wird  mit  wenigen  Erinnerungen 
zu  erweisen  sein. 

In  der  bildenden  Kunst  lehrt  nichts  so  deutlich  wie  die 
Malerei  denivollständigen  Bruch  mit  derAntike,  Wenn  wir 
den  Wert  der  griechischen  Malerei,  von  deren  Originalen 
so  gut  wie  nichts  erhalten  ist,  noch  so  hoch  anschlagen, 
wenn  wir  die  erhaltenen  Nachahmungen  von  Hand- 


18* 


275 


werkerhand  noch  so  sehr  überschätzen,  so  müssen  wir 
doch  erkennen,  daß  unsere  Naturempfindung  den  Grie- 
chen völlig  fremd  gewesen  ist.  Das  Originalwerk  eines 
griechischen  Meisters  wäre  uns  wahrscheinlich  besten- 
falls eine  Kuriosität  wie  noch  vor  wenigen  Jahren  die 
Schöpfungen  der  Japaner.  Die  Griechen  hatten  gewiß 
keine  Augen  für  die  Luftperspektive  und  was  drum  und 
dran  hängt.  In  der  Malerei  hatten  schon  Rembrandt, 
der  wahrhaft  Erzieher,  die  Wege  der  Renaissance  ver- 
lassen. Und  vollends  die  Landschaften  und  Stimmungs- 
bilder unserer  Realisten  sind  lauter  Proteste  gegen  die 
alte  Kunstanschauung.  Es  blieb  nicht  bei  den  Protesten ; 
wir  haben  eine  neue  Kunst,  auch  wenn  wir  den  Ex- 
perimenten der  Allerneuesten  noch  nicht  vertrauen 
wollen.  Der  Kunsthistoriker  mag  die  Meister  von  zwan- 
zig Jahrhunderten  durcheinander  bewundern.  Wer  aber 
mit  einem  Millet,  mit  einem  Israels  wirklich  mitfühlt,  der 
kann  nicht  ehrlich  sein,  wenn  er  daneben  vor  den  zier- 
lichen Formen  eines  griechischen  Vasenbildes  in  An- 
dacht versinkt. 

Auch  in  der  Poesie  ist  der  Kreislauf  der  Renaissance 
vollendet.  Hier  aber  ist  es  uns  besonders  schwer  gemacht, 
die  Bildungsphilister  davon  zu  überzeugen,  daß  die  Ideale 
der  Griechen  für  uns  tote  Symbole  geworden  sind.  Da 
stehen,  aus  grauer  Vorzeit  herüberleuchtend,  in  unver- 
gänglicher Schönheit  einzelne  Gesänge  der  Homerischen 
Gedichte,  das  Schicksal  Hektors  und  die  Schiffermär- 
chen der  Odyssee ;  sie  sind  so  lebendig  geblieben,  gleich 
der  Sonne  Homers  herrlich  wie  am  ersten  Tag,  daß  uns 
nur  die  Klage  bleibt,  keinen  Dichter  zu  haben,  der  uns 
von  unseren  Märchen  und  unseren  Helden  in  un- 
serer Sprache  erzählte.  Wir  brauchen  aber  nur  die 
höchste  Poesie  des  Kindesalters  mit  der  Mannespoesie 

276 


(Goethes  Faust)  zu  vergleichen,  um  selbst  zu  dem 
ewigen  Homer  in  ein  freieres  Verhältnis  zu  treten. 
Und  dann :  Homer  ist  der  Ausnahmefall,  der  die  Regel 
nur  bestätigt.  Die  Klassiker  der  griechischen  Blütezeit 
sprechen  noch  zu  unserer  Bildung,  selten  mehr  zu  un- 
serem Gefühl.  Jawohl  wir  sind  fleißige  Gymnasiasten 
gewesen,  wir  haben  die  „Antigone**  im  Original  aus- 
wendig gelernt,  wir  haben  Sophokles  und  Anakreon  zu 
übersetzen  gesucht  und  haben  uns  in  ihren  verstaubten 
Schönheiten  zu  berauschen  geglaubt,  wie  wir  in  die 
bejahrte  Tochter  unseres  Klassenlehrers  verliebt  zu 
sein  geglaubt  haben.  Jetzt  schreit  es  in  uns  auf:  es  war 
nicht  wahr!  Ein  kleines  Volksliedchen  von  Möricke 
bewegt  uns  mehr  als  der  ganze  Anakreon.  Anzengruber 
ergreift  uns  ganz  anders  als  Sophokles  und  Aristophanes 
dazu.  Diese  waren  zu  ihrer  Zeit  beide  noch  größere 
Künstler  als  Anzengruber,  aber  sie  waren ;  wir  wissen 
von  ihrer  Künstlerschaft  noch,  aber  wir  empfinden  sie 
nicht  mehr  naiv.  Ich  bin  nicht  gerade  ängstlich,  aber 
ich  habe  doch  den  Klassikern  nur  verstorbene  Dichter 
entgegenzustellen  gewagt ;  hätte  ich  gar  fröhliche  Ge- 
sellen genannt,  mit  denen  ich  schon  bei  deutschem 
Bier  geplaudert  habe,  und  deren  junge  Poesie  mir 
dennoch  mehr  sagt  als  die  steinernen  Formen  der 
seligen  Griechen,  ich  wäre  wieder  einmal  in  Bann  und 
Acht  getan  worden  von  den  konservativen  Priestern 
der  Klassizität. 

Was  uns  mit  diesen  lebenden  Gesellen,  auch  wenn 
sie  kleinere  Talente  sind,  so  viel  näher  verbindet,  das 
ist :  wir  stehen  mit  ihnen  auf  dem  gemeinsamen  Boden 
der  gleichen  Sprache,  der  gleichen  , Weltanschauung*. 
Und  das  ist  der  Kernpunkt  der  ganzen  Frage.  In  Kunst 
und  Poesie  ist  das  Ende  der  Renaissance  gekommen, 

277 


weil  in  unserer  »Weltanschauung'  die  Renaissance  ab- 
gewirtschaftet hat.  Wer  es  nicht  glauben  will,  der  mag 
es  bei  den  beiden  deutschen  Geschichtschreibern  der 
Logik  und  des  Materialismus  nachlesen.  Die  philo- 
sophische Renaissance  begann  damit,  daß  sie  das  tau- 
sendjährige Reich  des  Begriffspedanten  Aristoteles 
stürzte  zugunsten  des  Begriffsromantikers  Piaton. 
Dessen  Ideenlehre  aber  wurde  dann  durch  die  gewaltige 
Kritik  der  Engländer  und  Kants  so  gründlich  aufge- 
löst, daß  schließlich  nur  ein  moralisches  und  ein  ästhe* 
tisches  Interesse  an  ihr  übrigblieb.  Das  naturwissen- 
schaftliche Denken  unserer  Tage  gar  hat  alle  Brücken 
abgebrochen,  die  einst  zu  den  Begriffen  der  grie- 
chischen Weisheit  hinüberführten. 

So  stehen  wir  also  wieder  einmal  vor  einer  Ironie 
der  Kulturgeschichte.  Zwischen  unserem  Denken,  Bil- 
den und  Dichten  und  dem  Denken,  Bilden  und  Dichten 
der  alten  Griechen  besteht  nur  ein  historischer  Zu- 
sammenhang. Und  gerade  jetzt,  da  die  Renaissance 
zu  wirken  aufhört,  will  man  sie  sentimental  auf  das 
Volk  selbst  übertragen  und  über  eine  Lücke  von  zwei 
Jahrtausenden  hinweg  die  Geschichte  Neugriechenlands 
an  die  Perserkriege  anknüpfen.  Die  sentimentale  Phan- 
tasie der  Studenten  heftet  den  Prinzen  Georg  an  die 
Rockschöße  oder  Chlamyszipfel  des  Leonidas,  als  ob 
nicht  inzwischen  zweitausend  Jahre  lang  Lateiner  und 
Germanen,  Slawen  und  Türken  in  Hellas  gehaust  und 
Geschichte  gemacht  hätten.  Die  Renaissance  der  Kunst 
und  des  Denkens  beruhte  auf  einer  Wahrheit,  die  poli- 
tische Renaissance  beruht  auf  einer  Unwahrheit. 

Besäße  ich  den  Ehrgeiz,  mit  diesen  Worten  einen 
politischen  Artikel  schreiben  zu  wollen,  so  müßte  ich 
ausdrücklich    unterscheiden    zwischen    diesem    Phil- 

278 


hellenismus  der  Buchgelehrsamkeit  und  der  natürlichen 
Sympathie,  welche  wir  den  Befreiungskämpfen  der  Grie- 
chen entgegenbringen,  wie  jedem  Versuch  jedes  Volkes, 
das  ein  fremdes  Joch  abschütteln  will.  Diese  Sympathie 
mag  oft  unklug  und  gefährlich  sein,  aber  sie  ist  ein 
beinahe  instinktives  Gefühl,  dessen  wir  uns  selbst  bei 
Aufständen  barbarischer  Völker  nicht  erwehren  können. 
Nur  sollte  dieses  Gefühl  nicht  künstlich  mit  einer  Pietät 
verbunden  werden,  die  eigentlich  den  Kämpfern  von 
Marathon  und  den  griechischen  Klassikern  gilt  und 
nun  allzukühn  auf  die  Kretenser  und  die  mitunter 
dichtenden  Gesandten  Neugriechenlands  übertragen 
wird. 

Wie  sehr  philologisch  der  Ausgangspunkt  des  moder- 
nen Philhellenentums  war,  kann  uns  der  Beginn  der 
griechischen  Freiheitsbewegung  lehren.  Denn  es  ist 
keinZufall,  daß  sie  anknüpfte  an  den  Verein  der  „Philo- 
musen*S  welchen  Kapo  d'  Istrias  im  Jahre  1812  grün- 
dete, als  Napoleon  immer  noch  die  Landkarte  Europas 
umgestaltete  und  dabei  gelegentlich  auch  die  Träume 
von  Ideologen  nicht  verschmähte.  Der  Verein  der  Philo- 
musen  sollte  die  griechischen  Altertümer  konservieren. 

Jeder  freiheitliebende  Mensch  wird  es  einer  grie- 
chischen Inselbevölkerung  gönnen,  wenn  sie  die  des- 
potische Herrschaft  des  Türken  abschütteln  und  sich 
selbst  regieren  kann.  Den  Philologen  insbesondere  müßte 
es  freuen,  falls  durch  die  Erstarkung  von  Neugriechen- 
land die  altgriechische  Mundart  soweit  als  möglich 
wieder  lebendig  würde;  wenn  ein  Mensch  schon  seine 
Schulden  nicht  zahlt,  so  ist  es  doch  hübsch  von  ihm, 
seine  Gläubiger  mit  griechischen  Ausreden  hinzuhalten. 
Für  unser  Denken,  Bilden  und  Dichten  jedoch  scheint 
es  mir  nicht^wichtig  zu  sein,  ob  auf  den  Abhängen  des 

279 


Sagenreichen  Olympos  mohammedanische  oder  grie- 
chisch-orthodoxe Hammeldiebe  wohnen.  Nur  daß  man 
eine  solche  Gesinnung  wahrscheinlich  nicht  ausspre- 
chen darf*" 


Kurz  darauf  erschien  im  „Zeitgeist**  eine  Antwort 
des  vortrefflichen  Emil  Schiff,  der  man  es  anmerkte, 
daß  der  Verfasser  sich  nur  widerwillig  auf  eine  höfliche 
Ablehnung  meiner  Persönlichkeit  beschränkt  hatte ;  ein 
schwer  verhaltener  Grimm  sprach  aus  seinen  Worten. 
Auch  meine  kurze  Antwort  (Berliner  Tageblatt  24.  März 
1897)  war  zurückhaltend: 

„Ein  Buch  wäre  nötig,  um  alle  Mißverständnisse  auf- 
zuklären, welche  Emil  Schiff  in  seinem  Auf  satze  „Antike, 
Renaissance  und  Bildung**  (im  „Zeitgeist**  Nr.  12)  zor- 
nig vereinigt  hat.  Die  Leser  hätten  jedoch  wohl  schwer- 
lich Lust,  dieses  Buch  zu  lesen.  Um  so  weniger,  als 
meine  Überzeugung  von  dem  schließlichen,  ja  von  dem 
baldigen  Siege  einer  ungriechischen  Schulbildung  mich 
verhindern  würde,  in  meiner  Gegnerschaft  persönlich 
zu  werden.  Die  Bewegung  für  eine  moderne  Grundlage 
unserer  Schulbildung  hätte  auch  keinen  sonderlichen 
Nutzen  davon,  wenn  ich  Herrn  Dr.  Schiff  nachwiese, 
daß  er  auf  die  griechische  Plastik  deutet,  was  ich  von 
der  griechischen  Malerei  gesagt  habe,  daß  er  den  Ernst 
meines  „  Kampf  artikels**  offenbar  nicht  begreifen  wollte, 
daß  er  auf  den  Gegensatz  zwischen  antiker  und  moder- 
ner Weltanschauung  gar  nicht  eingegangen  ist.  So  will 
ich  nur  den  Punkt,  auf  den  es  ankommt,  deutlicher 
herausheben. 

Über  die  historische  Bedeutung  der  griechischen 
Kultur  kann  ein  Streit  nicht  bestehen ;  wir  wissen  alle, 

280 


was  Wissenschaft  und  Kunst  der  europäischen  Kultur- 
völker der  Antike  und  der  Renaissance  verdanken.  Und 
über  den  Geschmack  zu  streiten,  wird  uns  nicht  ein- 
fallen. Ich  hatte  meinen  Liebling  Anzengruber  ins 
Treffen  geführt.  In  seinem  „Pfarrer  von  Kirchfeld'* 
ist  das  Hauptmotiv  die  Sorge  um  ein  ehrliches  Begräb- 
nis, beinahe  wie  in  der  „Antigone**  des  Sophokles;  in 
seinen  „Kreuzlschreibern**  hat  er  gar  das  Hauptmotiv 
aus  der  „Lysistrate'*  des  Aristophanes  neu  behandelt. 
Herr  Dr.  Schiff  muß  nun  zugeben,  daß  Anzengruber 
uns  verständlicher  sei.  Das  allein  habe  ich  behauptet; 
nur  daß  ich  allerdings  verständlich  nenne,  was  die 
Sprache  unserer  Zeit  spricht,  und  den  lebendigen  Kul- 
turwert jeder  anderen  Sprache,  jeder  toten  Sprache 
leugne. 

Der  Kern  der  Frage  besteht  darin,  ob  wir  gut  daran 
tun,  in  gefährlicher  Pietät  unsere  gesamte  Bildung  im- 
mer noch  zu  stellen  auf  die  gelehrte  Beschäftigung  mit 
einem  alten,  fremden  Volke.  Und  dies  eine  sollten  wir 
gewiß  von  den  Griechen  lernen:  selbständig  und  na- 
tional sein.  Auch  die  Kultur  der  Griechen  war  ihnen 
nicht  vom  Monde  heruntergefallen.  Aber  nur  einzelne 
Forscher  machten  deshalb  Reisen  nach  Indien  und 
Ägypten.  Die  höchste  Bildung  der  griechischen  Jugend 
war  national.  Weder  Achilleus  noch  Homeros,  weder 
Perikles  noch  Sophokles  hatten  Lateinschulen  besucht. 
Piaton  selbst  verlangte  von  den  Studenten  seiner  Hoch- 
schule nicht  philologische,  sondern  mathematische  Vor- 
bildung. Waren  die  Griechen  zu  wenig  historisch  ge- 
schult, so  sind  wir  es  zu  sehr. 

Mit  wenig  Glück  hat  Emil  Schiff  Goethes  Elegie 
„Also:  das  wäre  Verbrechen,  daß  einst  Properz  mich 
begeistert**  gegen  mich  zitiert.  Zunächst  will  Goethe 

281 


mit  diesen  schönen  Versen  nicht  seine  klassischen  Stu- 
dien verteidigen,  sondern  seine  Nachahmungen  über- 
mütiger und  obszöner  römischer  Dichter ;  sodann  wen- 
det sich  sein  Angriff  (in  unmittelbarer  Fortsetzung  des 
Xenienkampfes)  im  Namen  des  lebendigen  Geschlechts 
gegen  „die  wohlweisen  Herren  Moderatisten**,  wie 
Schiller  in  seiner  Antwort  die  ängstlicheren  Gegner 
nannte.  Goethe  selbst  sagt  gleich  nach  den  von  Herrn 
Dr.  Schiff  abgedruckten  Versen: 

„Ja  sogar  der  Bessere  selbst,  gutmütig  und  bieder. 

Will  nichts  anders  .  .  • 

Erst  die  Gesundheit  des  Mannes,  der  endlich  vom 

Namen  Homeros 
Kühn  uns  befreiend,  uns  auch  ruft  in  die  vollere  Bahn  I  ** 

Herr  Dr.  Schiff  hält  mich  für  einen  Barbaren.  Viel- 
leicht wird  er  milder  gestimmt,  wenn  ich  ihm  einen 
lateinischen  Vers  aufsage.  Ovid  war  es,  der  in  seiner 
Verbannung  unter  barbarischen  Völkerschaften  leben 
mußte,  die  seine  Sprache  nicht  verstanden,  und  die 
darum,  von  ihrem  Standpunkte  ganz  mit  Recht,  den 
römischen  Dichter  für  einen  Barbaren  erklärten.  Das 
spricht  Ovid  in  dem  Galgenhumor  seiner  Klagelieder 
aus:  Barbarus  hie  ego  sum,  quia  non  intelligor  ulli. 
Weil  sie  mich  nicht  verstehen,  nennen  sie  mich  hier 
einen  Barbaren." 


Wieder  einige  Jahre  später  (i.  August  1900)  hatte  ich 
über  eine  Neuaufführung  des  ,,ödipus'*  zu  berichten. 

Ich  hatte  einmal  geschrieben: 

„Seit  Friedrich  Wilhelm  IV.hören  ja  in  Spree-Athen  die 
Versuche  nicht  auf,  grichischen  Geschmack  zu  heucheln, 

282 


Nach  Äschylos  kam  im  Berliner  Theater  Sophokles 
an  die  Reihe  und  mit  ihm  natürlich  Licht  und  Klarheit, 
Kraft  und  Schönheit  der  hellenischen  Welt.  Von  seinen 
Werken  ist  in  unserem  Jahrhundert  die  „Antigone** 
am  häufigsten  aufgeführt  worden,  teils  der  niedlichen 
Musik  wegen,  teils  um  der  romantischen  Liebe  willen, 
welche  moderne  Übersetzer  hineinübersetzt  haben. 
Im  Berliner  Theater  kam  ,, König  Ödipus''  zur  Auf- 
führung, welcher  die  ,,Antigone''  an  bühnentechnischer 
Vollendung  und  darum  an  unmittelbarer  Wirkung  ent- 
schieden überragt.  Schillers  beinahe  neidische  Bewun- 
derung des  Dramas  galt  dieser  Technik,  welche  im 
„König  ödipus'*  ein  Virtuosenstück  geliefert  hat,  wo- 
gegen weder  die  raffiniertesten  Erfindungen  Sardous, 
noch  die  aufgedröselten  Handlungen  Ibsens  auf- 
kommen können.  Ibsen  hat  in  den  ,, Gespenstern** 
und  in  ,,Rosmersholm**  bewiesen,  wie  fruchtbar  eine 
Komposition  werden  kann,  die  nur  langsam  Vergan- 
genes enthüllt;  aber  so  wie  Sophokles  im  „König  ödi- 
pus'*  hat  nie  wieder  ein  Dichter  seine  Zuhörer  einfach 
durch  verlangsamtes  Emporziehen  des  Vorhanges  zu 
spannen  und  zu  erschüttern  verstanden.  Diese  Technik 
ist  so  meisterhaft,  daß  wir  eine  Zeitlang  das  Milieu 
eines  barbarischen  Altertums  mit  in  den  Kauf  nehmen» 
Wir  lassen  es  eine  Weile  gelten,  daß  Orakelsprüche  uns 
so  mächtig  wie  Naturkräfte  vorgestellt  werden ;  unsere 
Nerven  nehmen  die  ganzen  rückwärts  gelegenen  Hand- 
lungen von  Blutschande  und  Vatermord  geduldig  hin. 
Die  unvergleichlich  geführte  Intrige  nimmt  uns  ge- 
fangen, und  wenn  ein  Dichter  unserer  Zeit  imstande 
wäre,  diesem  Unterbau  als  Krönung  einen  menschlichen 
Schluß  aufzusetzen,  so  wäre  unter  allen  antiken  Tra- 
gödien der  „König  Ödipus'*  noch  am  ehesten  für  die 

283 


lebendige  Bühne  zu  retten;  doch  die  Kluft  zwischen 
dem  antiken  Empfinden  und  dem  unseren  ist  wohl  nicht 
mehr  zu  überbrücken.  Wenn  am  Ende  des  Stückes  in 
altmodischen  Botenberichten  die  Palastgreuel  herer- 
zählt werden,  und  der  Dichter  ganz  ohne  Scheu  vor 
unseren  Augen  die  Fäden  knüpft,  an  welche  eine  zweite 
Tragödie  gebunden  werden  soll,  so  fängt  der  ehrliche 
Bildungsphilister  heimlich  zu  gähnen  an,  und  der  un- 
bestochene  Mensch,  der  gegen  den  alten  Sophokles  keine 
persönliche  Verpflichtung  fühlt,  hört  plötzlich  ganz 
leise  aus  den  feierlichen  Versen  einen  Bänkelsängerton 
heraus,  der  an  gräßliche  Moritaten  erinnert.** 

Dem  fügte  ich  jetzt  hinzu: 

„Ich  wiederhole  alle  diese  für  Philologenherzen  un- 
erträglichen Sätze,  weil  auch  in  der  gestrigen  Nach- 
mittagsvorstellung dieselbe  Grundstimmung  zurück- 
kehrte, trotzdem  ich  niemals  eine  bessere,  eine  weihe- 
vollere Sophoklesaufführung  gesehen  habe.  Der  volle 
Glanz  einer  antiken  Festfeier  lag  über  dem  ersten  Teile 
des  Dramas,  ödipus  weiß  noch  nicht,  daß  er  Vatermör- 
der und  Blutschänder  ist;  mit  blinder  Hast  forscht  er 
nach  der  Wahrheit,  die  ihn  vernichten  wird.  Die  ab- 
geklärte überlegene  Weisheit,  die  klassische  Schönheit 
der  Chorgesänge,  das  strömt  wie  Sonnenstrahlen  eines 
Frühlingstages  auf  uns  nieder.  Etwas  Zerschmetterndes 
liegt  anfangs  in  dem  unbeugsamen  Ratschluß  der  Götter, 
von  denen  wir  nichts  mehr  erbitten,  die  uns  aber  als 
Symbole  des  Unbekannten,  des  Übermenschlichen  er- 
scheinen. Enger  und  enger  legen  sich  die  Schlingen  um 
das  Opfer  der  Orakel.  Das  Grausen  wächst.  Da  plötzlich 
erblicken  wir  den  armen  ödipus  neben  seiner  Frau,  die 
seine  Mutter  ist;  man  unterhält  sich  in  feinen  Versen 
über  Entsetzlichkeiten,  die  nur  die  Phantasie  einer  vor- 

284 


historischen  Barbarei  erfinden  konnte;  wir  empören 
uns  dagegen,  daß  ein  völlig  unschuldiger,  höchstens 
ein  bißchen  jähzorniger  Mensch  von  den  Göttern  oder 
vom  Schicksal  oder  vom  Priesterorakel  zertreten  wird, 
wie  wir  nicht  einen  Wurm  zertreten  möchten.  Und  wir 
gehen  nicht  weiter  mit.  Doch  vielleicht  ist  die  Einzahl 
in  diesem  Falle  bescheidener,  also :  ich  gehe  nicht  weiter 
mit.  Das  ist  nicht  Seele  von  unserer  Seele;  das  ist 
kein  Gebilde  unserer  Phantasie;  das  ist  nicht  unsere 
Sprache,  das  ist  eine  tote  Sprache.  Die  Tragödie  von 
ödipus  ist  die  Ahnfrau  aller  Schicksalstragödien;  be- 
wundernswert als  ein  Denkmal  aus  der  herrlichsten 
Zeit  der  Kunstgeschichte,  und  doch  unseren  Schick- 
salen fremd  geworden.  Es  gibt  solche  antike  Tempel, 
die  keine  Ruinen  sind,  deren  Steine  noch  unversehrt 
übereinanderliegen,  in  denen  wir  trotzdem  nicht  beten 
können,  in  denen  wir  höchstens  pietätvoll  umherwan- 
dern wie  in  einem  Museum  —  einem  Museum  verstor- 
bener Weltanschauungen.  Auch  für  den  Bund  zwischen 
dem  Dichter  und  dem  Hörer  heißt  es  wie  für  eine  ideale 
Ehe:  Dein  Gott  sei  mein  Gott!  Und  der  große  Pan  mit 
den  anderen  Göttern  Griechenlands  ist  tot.  Weiß  man 
es  wirklich  noch  nicht  ?  .  . . 

Einen  eigenen  Genuß  bot  die  Übersetzung,  deren  Ur- 
heber Professor  v,  Wilamowitz-Möllendorf  ist,  be- 
kanntlich ein  sehr  geistreicher  Herr  und  ein  Philologe 
ersten  Ranges;  dennoch  konnte  es  überraschen,  wie 
modern  mancher  Gedanke  wiedergegeben  war.  Man 
wurde  mitunter  an  Mommsens  Prosa  erinnert.  Wenn 
ein  Urteil  ohne  genaue  Vergleichung  gestattet  ist,  so 
haben  wir  es  nicht  mit  der  wohlklingendsten,  dafür 
aber  mit  der  sinntreuesten  Übersetzung  des  Werkes 
zu  tun ;  wenn  irgend  jemand  imstande  wäre,  das  grie- 

285 


chische  Theater  wieder  lebendig  zu  machen,  so  wäre 
es  Professor  v.  Wilamowitz-Möllendorf. 

Es  ist  nur  wenige  Wochen  her,  da  stand  ich  einmal 
bei  Sonnenuntergang  zwischen  den  Ruinen  des  alten 
Theaters,  in  welchem  der  ,,ödipus**  vor  zweitausend- 
undsoundsoviel  Jahren  zum  ersten  Male  aufgeführt 
worden  ist.  Ich  versichere,  daß  dort  wie  oben  auf  der 
Akropolis  alle  Schauer  der  Pietät  sich  meiner  bemäch- 
tigten. Ich  dachte  .  .  .  na,  es  wird  niemand  danach 
fragen.  Ich  schritt  dann  in  der  Dämmerung  von  der 
Totenstadt  Athen  nach  dem  lebendigen  Athen  der  Gegen- 
wart hinüber.  Am  Gitter  des  königlichen  Gartens  stürz- 
ten mir  griechische  Straßenjungen  entgegen,  schwan- 
gen ein  Zeitungsblatt  in  der  Luft  und  schrien  in  der 
etwas  verunstalteten  Sprache  des  Sophokles:  Megal- 
katastrophi  ton  Anglon!  (Große  Niederlage  der  Eng- 
länder!) Das  Blatt  hieß  „Akropolis**,  und  die  Griechen 
im  Kaffenion  unterhielten  sich  nicht  über  die  Perser- 
kriege, sondern  über  den  Burenkrieg.  Als  gestern  der 
,, König  ödipus**  vorüber  war,  hörte  ich  gleich  in  der 
Charlottenstraße  die  megali  katastrophi  der  Buren  be- 
klagen, auf  deutsch  natürlich.  Vor  zweitausendund- 
soundsoviel  Jahren  hat  man  in  Athen  gewiß  lange  Zeit 
von  nichts  anderem  gesprochen  als  vom  König  Ödipus. 
Die  Nutzanwendung? 

Die  Griechen  der  großen  Zeit  verdienen  es  sicherlich, 
unsere  Lehrer  zu  heißen,  wie  in  so  vielen  Dingen,  also 
auch  in  der  Poesie.  Es  kommt  nur  darauf  an,  was  wir 
von  ihnen  lernen  wollen.  Hätten  die  Griechen,  wie  wir 
das  seit  fünfhundert  Jahren  treiben,  sklavisch  ihre 
Vorgänger  nachgeahmt,  so  hätten  sie  irgendwelche 
asiatischen  oder  ägyptischen  Stilarten  beibehalten  oder 
eingeführt.   Die  Griechen  aber  stellten  sich  auf  ihre 

286 


eigenen  Füße,  schufen  sich  mit  ihrem  unerhörten  Genie 
eine  Heimatkunst,  eine  .Gegenwartkunst.  Das  ist  es, 
was  wir  von  ihnen  lernen  sollten,  wenn  sich  nur  das 
zugehörige  Genie  gleich  mitlernen  ließe.  Die  Griechen 
waren  vor  allem  Griechen ;  wir  ahmen  sie  also  am  be- 
sten nach,  wenn  wir  ganz  und  gar  nicht  mehr  griechisch 
sind,  wenn  wir  als  Deutsche  eine  Heimatkunst,  eine 
Gegenwartkunst  zu  gewinnen  trachten.** 


'Und  diesmal  trat  Friedrich  Dernburg,  der  Freund  auch 
von  Karl  Frenzel,  für  die  Antike  gegen  mich  in  die 
Schranken,  sehr  verbindlich  übrigens  und  natürlich 
scharmant  in  der  Form.  Ich  mußte  wieder  antworten. 
Ich  tat  es  am  8.  März  1900. 

,,Der  verbesserte  Sophokles. 

Lieber  Dernburg!  Ich  habe  jüngst  Ihren  Aufsatz 
„Der  Gott  der  Schlachten**  mit  dem  gewohnten  Ver- 
gnügen gelesen,  trotzdem  ich  an  einer  Stelle  verwundert 
innehalten  mußte.  Da  ist  man  Freund  und  Nachbar 
in  der  Zeitung  und  im  Grunewald,  da  lernt  man  sich 
durch  Aussprache  über  Gott  und  die  Welt,  durch  gemein- 
same unglückliche  Liebe  zur  Musik  und  zu  dem  und 
jenem  kennen,  und  nachher  ist  noch  ein  solches  Mißr 
Verständnis  möglich.  Sie  trauen  mir  zu,  ich  hätte  unter 
dem  „Menschlichen*',  das  ich  im  ,, König  Ödipus*'  ver- 
misse, die  alte  schale  ,, poetische  Gerechtigkeit**  ver- 
standen. Am  Ende  gar  einen  glücklichen  Ausgang? 
Verlobung  und  Hochzeit  der  Antigene  ?  Sie  sollten  doch 
wissen,  daß  ich  nicht  ganz  so  optimistisch  empfinde, 
und  daß  ich  für  den  Ernst  in  der  Kuiist  einigen  Sinn 
habe  oder  auszubilden  mich  bemühe.   Wirklich,   ein 

287 


blutiges  Drama  von  Sophokles  oder  Shakespeare  steht 
mir  höher  als  irgendeins  unserer  Possenlustspiele,  und 
wenn  dieses  zu  drei,  ja  wenn  es  zu  vier  Verlobungen 
führte.  Dessen  versichere  ich  sie.  Vor  der  alten  poe- 
tischen Gerechtigkeit  habe  ich  sehr  wenig  Hochachtung  ; 
uns  Schülern  von  Otto  Ludwig,  uns  Verehrern  von 
Kleist  und  Hebbel  ist  die  dichterische  Darstellung  von 
großen  oder  starken  Charakteren  und  ihren  notwen- 
digen Schicksalen  wertvoller  als  die  poetische  Gerech- 
tigkeit, die  Schuld  und  Sühne  auf  einer  Apothekerwage 
abwägen  möchte. 

Was  der  Empfindung,  was  der  Sprache  der  grie- 
chischen Dichter  fehlt,  das  wird  vielleicht  klarer  wer- 
den, wenn  Sie  mir  gestatten,  auf  Ihre  liebenswürdige 
Neckerei  öffentlich  zu  antworten  und  dabei  den  Finger 
auf  den  Hauptpunkt  zu  legen.  Was  uns  trennt,  das  ist 
eine  Glaubensfrage.  Sie  glauben  an  die  absolute,  ich 
möchte  fast  mit  Lessing  sagen :  mathematische  Muster- 
gültigkeit und  Unfehlbarkeit  der  griechischen  Poetik. 
Ihre  weite  Bildung  flüchtet  aus  den  literarischen 
Kämpfen  der  Gegenwart  gern  zu  den  stillen  Altären  grie- 
chischer Tempel ;  ich  schaue  dem  gegenwärtigen  Kampfe 
bald  lachend,  bald  hoffnungsvoll  zu  und  halte  die  Un- 
fehlbarkeit der  Griechen  für  einen  Aberglauben.  Da 
wir  über  die  Verwerflichkeit  des  lateinischen  Molochs, 
dem  die  Schulkinder  zum  Opfer  fallen,  eines  Sinnes  sind, 
so  erwarte  ich  Sie  noch  einmal  als  klügeren  und  glück- 
licheren Mitkämpfer  im  Streite  gegen  die  toten  Symbole 
von  Hellas.  Vorläufig  ist  es  Ihnen  ein  Spott,  wenn  Sie 
von  einem  verbesserten  Sophokles  reden;  ich  aber  be- 
greife gar  nicht,  warum  ein  griechischer  Klassiker  nicht 
von  einem  modernen  Dichter  verbessert  werden  könnte. 
Vor  hundertfünfzig  Jahren  erschien  Corneille  dem  euro- 

288 


päischen  Geschmacke  ebenso  mustergültig  wie  Sopho- 
kles. Das  hinderte  unseren  Lessing  nicht,  in  dem  erregten 
letzten  Stücke  seiner  Hamburgischen  Dramaturgie  aus- 
zurufen: „Ich  wage  es,  hier  eine  Äußerung  zu  tun,  mag 
man  sie  doch  nehmen,  wofür  man  will  I  Man  nenne  mir 
das  Stück  des  großen  Corneille,  welches  ich  nicht  besser 
machen  wollte.  Was  gilt  die  Wette?  — ** 

Sie  sind  auch  ohne  meine  Bestätigung  überzeugt,  daß 
ich  kein  Lessing  bin ;  aber  ich  habe  auch  nicht  behaup- 
tet, daß  ich  den  ödipus  vermenschlichen  wollte.  Ich  habe 
es  irgendeinem  Dichter  unserer  Zeit  anheimgestellt. 

Die  französischen  Tragiker  sind  von  unseren  Bühnen 
verschwunden,  weil  sie  uns  nichts  mehr  zu  sagen  hatten ; 
die  ungleich  größeren  griechischen  Tragiker  will  man 
uns  immer  wieder  aufdrängen,  trotzdem  nur  ein  gründ- 
liches philologisches  und  kulturhistorisches  Wissen  sie 
recht  verstehen  kann,  trotzdem  sie  uns  nichts  mehr  zu 
sagen  haben,  trotzdem  wir  die  meisten  ihrer  Gefühle 
nicht  mehr  fühlen,  die  meisten  ihrer  Gedanken  nicht 
mehr  denken  können.  Ihre  Sprache  ist  für  uns  eine 
tote  Sprache  geworden,  seitdem  ihre  Symbole  uns  tote 
Symbole  sind ;  ich  nenne  es  einen  verbesserten  Sophokles, 
wenn  ein  Dichter  den  Glanz  des  Altertums  dadurch  in 
unseren  Besitz  herüberrettet,  daß  er  neu  belebt,  was 
tot  ist  an  den  Dichtern  von  Hellas  und  Rom.  Erinnern 
Sie  sich  freundlichst,  daß  das  doch  öfter  geschehen  ist, 
als  die  alleinseligmachende  Kirche  der  Philologen  zu- 
zugestehen geneigt  ist ;  wobei  ich  allerdings  um  die  Er- 
laubnis bitte,  Sophokles  als  Vertreter  der  gesamten  An- 
tike auffassen  zu  dürfen. 

Um  nun  das  stolzeste  Werk  gleich  zu  nennen,  er- 
innere ich  zuerst  an  Goethes  „Iphigenie**.  Man  muß 
dieses  lichte  Drama  mit  der  „Iphigenie'*  des  Euripides 

19  289 


vergleichen,  nicht  bloß  auf  den  Stoff  hin,  um  ganz  be- 
wundern zu  können,  wie  Goethe  die  antiken  Gestalten 
vermenschlicht  hat.  Bei  Euripides  hat  Iphigenie  einen 
einzigen  weichen  Zug;  sie  möchte  den  König  Thoas 
nicht  ermorden,  sie  könnte  das  nicht.  Bei  Goethe  wird 
sie  zum  Weibe,  zu  einer  hoheitsvollen  Priesterin,  der 
dennoch  nichts  Menschliches  fremd  bleibt.  Und  wie 
tief  und  rein  löst  sich  das  Gemütsleiden  des  Orestes  in 
seiner  unbeschreiblich  schönen  Vision  nach  dem  An- 
fall der  Verzweiflung,  während  bei  Euripides  der  von 
den  Eumeniden  verfolgte  Orestes  nichts  Besseres  zu 
tun  weiß,  als  nach  der  antiken  Schablone  in  der  Wut 
Hammelherden  anzufallen.  Nebenbei  bemerkt,  auch 
Ihr  Freund,  der  von  mir  nicht  minder  verehrte  Sophokles 
läßt  seinen  rasenden  Aias  (der  Ratschluß  der  Götter 
hat  ihn  verrückt  gemacht)  im  Wahnsinn  auch  nur 
Herden  und  Hirten  angreifen.  Das  wenigstens  werden 
Sie  zugestehen,  daß  die  Psychologie  der  Geisteskrank- 
heiten seitdem  Fortschritte  gemacht  hat. 

Goethe  wußte  oder  ahnte,  was  er  der  griechischen 
Fabel  aus  Eigenem  gegeben  hatte.  Vierzig  Jahre  nach 
der  Vollendung  des  Dramas  schrieb  er  an  den  Berliner 
Freund  anläßlich  einer  Neuaufführung  des  Stückes: 
„Was  soll  mir  die  Erinnerung  der  Tage,  wo  ich  das 
alles  fühlte,  dachte  und  schrieb?"  Weil  er  den  Euri- 
pides nicht  philologisch  kopierte,  weil  er  fühlte  und 
dachte,  darum  können  wir  mit  seiner  Iphigenie  noch 
fühlen  und  denken.  Ich  meine,  man  könnte  das  eine 
Verbesserung  des  berühmten  Euripides  nennen,  den 
Sokrates  und  Aristoteles  und  Lessing  (verzeihen  Sie 
mir  den  Schulstaub,  der  leise  aufwirbelt)  als  den  tra- 
gischsten von  allen  tragischen  Dichtern  noch  über 
Sophokles  gestellt  haben. 

290 


Auch  Kleist  fühlte  und  dachte  mit  seiner  Heldin,  als 
er  den  „Amphitryon**  des  lustigen  alten  Plautus  in  das 
wunderherrliche  Märchenstück  verwandelte,  das  wir  vor 
wenigen  Tagen  gesehen  haben.  Bei  Plautus  erscheint 
am  Schlüsse,  genau  so  wie  in  der  griechischen  Iphigenie 
und  im  rasenden  Aias,  die  sprichwörtlich  gewordene 
Gottheit  in  der  Wolkenmaschine.  Wir  müssen  uns  die 
Brutalität  gefallen  lassen,  daß  Jupiter  berichtet,  Alk- 
mene  habe  in  einer  Niederkunft  zwei  Söhne  geboren, 
der  eine  sei  der  Sohn  des  Jupiter,  und  Amphitryon  möge 
mit  seiner  Frau  in  das  frühere  Verhältnis  treten.  Was 
sind  diese  Possenfiguren  des  Römers  gegen  die  Ge- 
schöpfe Kleists,  die  alle  Qualen  und  Seligkeiten  des 
Menschen  in  ihrer  armen  Seele  erleben !  Ich  meine  doch, 
Kleist  hat  den  Plautus  und  dessen  griechische  Vor- 
bilder verbessert,  da  er  die  Molieresche  Bearbeitung 
des  Plautinischen  Lustspiels  fortentwickelte. 

Da  gerade  von  Plautus  die  Rede  ist,  so  werden  Sie 
gewiß  erwarten,  nun  an  Lessings  tragischen  Einakter 
„Philotas"  gemahnt  zu  werden,  der  aus  einer  Comedie 
larmoyante  des  römischen  Lustspieldichters  entstanden 
ist.  Aber  da  sollen  Sie  sich  einmal  geirrt  haben.  So  pe- 
dantisch will  ich  doch  nicht  sein,  um  Lessings  gar  nicht 
so  einfaches  Verhältnis  zum  Altertum  mit  Ihnen  durch- 
zusprechen. Auch  gehörte  dazu  eine  Reihe  von  langen 
Winterabenden. 

Da  ist  aber  noch  Grillparzer,  zu  dessen  Verehrung 
ich  Sie  so  gern  ganz  bekehren  möchte,  der  raunzend 
achtzig  Jahre  alt  geworden  ist  und  dennoch  den  Namen 
eines  österreichischen  Kleist  verdient.  Grillparzer  hat 
uns  Hero  und  Sappho  verstehen  gelehrt.  Zu  unserer 
Auseinandersetzung  gehört  aber  zunächst  seine , ,  Medea*  * , 
weil  für  die  kindermordende  Hexe  eine  griechische  Tra- 

19*  291 


gödie  zur  Vergleichung  vorliegt.  Mit  fester  Hand  hat 
Grillparzer  den  unerträglichen  Wunderapparat  der  an- 
tiken Bühne  beiseitegeschoben,  hat  er  die  blutigsten 
Greuel  fortgeworfen.  Aus  der  schrecklichen  und  bar- 
barischen Zauberin  wird  eine  leidenschaftliche,  ver- 
schlossene herbe  Natur,  die  an  die  germanische  Brun- 
hild  erinnert.  Aus  psychologischen  Motiven,  die  wir 
nachempfinden  können,  steigt  vor  uns  ein  neues  Drama 
auf.  „Alle  Medeen  der  tragischen  Bühne  alter  und  neuer 
Zeit  treten  gegen  Grillparzers  Medea  in  den  Schatten, 
denn  alle  sind  nur  einseitig,  äußerlich  gefaßt,  diese 
innerlich  erschlossen.'*  Das  sagt  nicht  etwa  ein  Tempel- 
schänder und  Bilderstürmer,  das  sagt  der  ruhige  Literar- 
historiker Karl  Gödeke.  Grillparzers  Medea  weiß  ein 
Lied,  ein  Volkslied;  die  griechischen  Heroinen  sangen 
keine  Lieder. 

Grillparzers  genialer  Landsmann,  der  immer  noch 
nicht  (auch  von  Ihnen  nicht)  nach  seiner  ganzen  Kraft 
gewürdigte  Anzengruber,  hat  in  seinen  „Kreuzel- 
schreibern'* eine  der  köstlichsten  Possen  des  Altertums 
umgeschaffen,  die  „Lysistrata**  des  Aristophanes.  Lesen 
Sie  doch  den  Auftritt,  in  welchem  ein  alter  Mann  die 
Trennung  von  seiner  alten  Frau  beklagt,  wo  Anzengru- 
ber die  Tragödie  mitten  in  seine  prachtvolle  Posse  hin- 
einragen läßt,  und  sagen  Sie  selbst,  ob  das  nicht  die 
riesenhaften  Zoten  des  übrigens  nicht  genug  zu  preisen- 
den Aristophanes  übertrifft.  Und  damit  Sie  wieder  etwas 
zu  necken  haben,  will  ich  auch  Anzengruber  mit 
Sophokles  zusammenstellen.  In  „Antigone**  wie  im 
„Pfarrer  von  Kirchfeld''  wird  zuletzt  der  Kampf  um 
ein  kirchliches  Begräbnis  ausgefochten,  das  das 
geschriebene  Gesetz  verweigert,  das  das  ewig  unge- 
schriebene Gesetz  der  Menschlichkeit  bewilligt.  Sopho- 

292 


kies  spricht  da  einmal  beinahe  unsere  Sprache;  doch 
nur  einmal  und  nur  beinahe.  Anzengrubers  Pfarrer  hat 
es  besser  gemacht. 

Aber  ich  will  das  Wort  vom  verbesserten  Sophokles 
nicht  zu  Tode  hetzen.  Sie  haben  es  spöttisch  gebraucht, 
ich  habe  es  im  Scherze  angenommen;  im  Ernste  will 
ich  auch  nicht  behaupten,  daß  ein  Dichter  einen  ande- 
ren Dichter  jemals  ,, verbessert*^  habe.  Wir  verstehen 
ja  beide,  um  was  es  sich  mir  handelt.  Darum:  daß  es 
auch  in  der  Poesie  eine  Entwicklung  gibt,  daß  Stoffe 
und  Formen,  die  vor  Jahrtausenden  die  höchsten  Lei- 
stungen darstellten,  in  der  Umgebung  einer  späteren 
Zeit  nicht  mehr  lebensfähig  sind,  nicht  mehr  lebendig 
sein  können,  daß  jede  Zeit  nur  ihre  eigene  Sprache  ver- 
steht. Nicht  eine  schulmeisterliche  Abschätzung  alter 
und  neuer  Dichter  hatte  ich  im  Sinne.  Wer  wollte  das 
versuchen.^  Wir  besitzen  keine  gleichen  Maßstäbe  für 
Sophokles  und  für  Goethe,  für  Plautus  und  für  Kleist. 
Niemand  kann  seine  Geliebte  mit  der  Frau  vergleichen, 
die  sein  Urgroßvater  geliebt  hat.  Und  wehe  dem,  der 
die  Geliebte  des  Urgroßvaters  für  schöner  hält ;  er  wird 
an  seiner  eigenen  nicht  die  rechte  Freude  haben. 

So  ein  Ideal  des  Urgroßvaters  ist  auch  das  griechische 
Schicksal,  das  nur  von  außen  stößt;  wir  haben  es  er- 
setzt durch  eine  andere  eherne  Notwendigkeit,  durch 
die  psychologische  Notwendigkeit  des  Charakters,  die 
man  auch  die  Unfreiheit  des  menschlichen  Willens 
nennt.  Das  wäre  wieder  etwas  für  einen  endlosen  Winter- 
abend, und  der  Frühling  ist  nicht  mehr  weit,  wie  wir 
trotz  alledem  und  alledem  glauben  wollen. 

In  dieser  Hoffnung  und  mit  den  schönsten  Grüßen 
von  Haus  und  Garten  zu  Haus  und  Garten  Ihr  usw." 


293 


Immer  handelte  es  sich  bei  diesen  Gegensätzen  um 
ein  Verkennen  meines  Ziels.  Ich  schlage  die  persönliche 
und  die  historische  Bedeutung  der  wahrhaft  großen 
Griechen  wirklich  nicht  weniger  hoch  an,  als  ein  be- 
geisterter Oberlehrer  es  tut.  Ich  will  nur  nicht,  daß  ihre 
Herrschaft  —  einst  so  segensreich  —  über  ihr  natür- 
liches J  Leben  hinaus  durch  die  Ruhmschablone  der 
Schule  Jund  durch  die  Ruhmpotenzierung  des  Alters 
übermäJ3ig  verlängert  werde;  unsere  Knaben  sollen 
die  Griechen  mit  eigenen  Augen  sehen  lernen,  nicht 
durch  die  Brillen  der  Klassikerpriester.  Was  in  der 
Kunst  morsch  ist,  zum  Fallen  bereit,  das  soll  man  ganz 
gewiß  stoßen. 


294 


m.  {zu  Seite  112). 

Weil  die  Gestalt  des  jüdischen  Cagliostro,  Jakob 
Franks,  das  Jugendleben  und  damit  die  Geistesrichtung 
meines  Großvaters  entscheidend  bestimmte,  weil  ich 
selbst  als  Knabe  durch  Tatsachen  und  Legenden,  die 
meine  Mutter  über  die  Beziehungen  meines  Großvaters 
zu  Frank  zu  erzählen  wußte,  gründlich  aus  jeder 
Religionsgemeinschaft  hinausgestellt  wurde,  weil  dieses 
Abseitsstehen  mir  für  meine  Entwicklung  wichtig 
scheint,  darum  möchte  ich  an  dieser  Stelle  einfügen, 
was  ich  viel  später,  namentlich  aus  den  Schriften  von 
H.  Graetz,  erfahren  habe.  Der  Geschichtschreiber  des 
Judentums  verrät  einen  fanatischen  Haß  gegen  den 
Ketzer,  gegen  den  abtrünnigen  Frank;  sein  Urteil  ist 
zum  mindesten  einseitig  und  seine  unzähligen  Schimpf- 
wörter überflüssig;  aber  er  teilt  zuverlässige  histo- 
rische Quellen  mit,  durch  die  ich  manche  Legenden 
und  Irrtümer  meiner  Mutter  berichtigen  konnte.  Da 
mein  Großvater  über  diese  Dinge  auch  zu  seinen  Kin- 
dern niemals  sprach,  konnte  sich  meine  Mutter  nur 
auf  sehr  lückenhafte  Äußerungen  ihrer  Mutter  berufen; 
dazu  mochte  gekommen  sein,  daß  meine  Mutter  die 
Verherrlichung  Franks  durch  August  Becker  (in  sei- 
nem Romane  „Des  Rabbi  Vermächtnis**)  und  die  viel 
geringernTRomane,  deren  Helden  die  Sabbatianer  wa- 

29s 


Ten  (von  Storch  und,  wenn  ich  nicht  irre,  vonBäuerle), 
mit  unkritischer  Andacht  gelesen  hatte  und  die  Erfin- 
dungen der  Dichter  und  Schriftsteller  mit  ihren  Er- 
innerungen vermischte. 

Ich  habe  Cagliostro  genannt,  weil  eine  schlagende 
Ähnlichkeit  in  den  Lebensläufen  des  Italieners  und 
des  galizischen  Juden  besteht;  beide  passen  besser, 
als  man  gewöhnlich  glaubt,  in  die  wundersüchtigen 
Unterströmungen  der  Aufklärungszeit  hinein;  wäh- 
rend aber  der  berühmtere,  sogar  von  Goethe  in  Poesie 
umgewandelte  Abenteurer  im  wesentlichen  doch  nur 
ein  genialer  Schwindler  war,  sicherlich  ohne  Glauben 
an  seine  magischen  Kräfte,  liegt  dem  Tun  des  Aben- 
teurers Frank  ursprünglich  eine  tiefe  religiöse  Überzeu- 
gung zugrunde:  die  Abkehr  vom  Talmudjudentum, 
der  Glaube  an  den  Sohar  (das  Grundbuch  der  Kabbala) 
und  an  den  wahren  Messias  Sabbatai  Z'wi.  Bei  dem 
häßlichen,  ungebildeten  Juden  ist  es  viel  merkwürdiger 
als  bei  dem  schönen,  vielfach  unterrichteten  Cagliostro, 
daß  er  mit  Königen|und  Fürsten  zu  tun|hatte  und  sich 
ungestraft  den  Adel  beilegen  konnte. 

Frank  hieß  eigentlich  Jakob  Lejbowicz;  er  war  im 
südlichen  Galizien  um  das  Jahr  1720  geboren.  Die  Hoff- 
nung seines  Vaters,  ihn  zu  einem  tüchtigenjTalmu- 
disten  zu  erziehen,  schlug  fehl ;  er  rühmte  sich  später, 
unwissend  geblieben  zu  sein,  ein  Amhorez.  (Ich  habe 
in  meinem  „Wörterbuch  der  Philosophie**  I,  138  die 
Reihe  von  Lehnübersetzungen,  die  von  diesem  jü- 
dischen Scheltworte  zu  ,, Heide**  führt,  darzustellen 
gesucht;  im  Sprachgebrauche  der  Juden  bedeutet  es 
so  viel  wie  „Idiot**).  Noch  in  jungen  Jahren  kam  er  im 
Dienste  eines  jüdischen  Händlers  nach  den  Balkan- 
ländern und  nach  Kleinasien,  wo  er  zu  Vermögen  ge- 

296 


kommen  sein  soll ;  er  heiratete  und  hatte  zwei  Söhne, 
bald  nach  1750 ;  wichtiger  ist,  daß  er  in  Saloniki  zu  der 
Sekte  der  Sabbatianer  übertrat.  Kurz  muß  daran  er- 
innert werden,  daß  der  Stifter  dieser  Sekte,  eben  Sab- 
batai  Z'wi,  trotz  seines  (erzwungenen)  Übertritts  zum 
Mohammedanismus  bei  seinen  Anhängern  für  den 
Messias,  für  den  Gottmenschen  galt,  der  sich  zuerst  in 
Jesus,  dann  in  Mohammed,  zuletzt  in  Sabbatai  ver- 
körpert hätte;  eigentlich  nicht  zuletzt,  denn  die  Seele  des 
Messias  wäre  auf  die  Abkömmlinge  Sabbatais  über- 
gegangen, denen  wie  Heiligen  gehuldigt  wurde.  Die  Sab- 
batianer verwarf  en  das  alte  Judentum,  beteten  eine  selt- 
same Dreieinigkeit  an,  in  welcher  der  heilige  Geist  durch 
eine  weibliche  Gottheit  ersetzt  war,  und  sollen  —  es 
wird  ihnen,  wie  so  vielen  christlichen  Ketzern,  grenzen- 
lose Unkeuschheit  vorgeworfen  —  aus  der  Bibel  nur 
das  erotische  Hohelied  übernommen  haben.  Im  Orient 
allein  schätzte  Niebuhr  die  Zahl  der  Sabbatianer  zu 
Lebzeiten  Franks  auf  600  Familien^). 

1)  über  Sabbatai  Z'wi  finde  ich  einige  lesenswerte,  von  mir  nicht  nagh- 
geprüfte  Mitteilungen  in  den  „Jüdischen  Briefen"  des  Marquis  d'Argens; 
die  Bewegung  zu  seinen  Gunsten,  namentlich  während  seiner  Gefangen- 
schaft, hat  die  größte  Ähnlichkeit  mit  dem  Eifer  der  Anhänger  Franks. 
Sehr  lustig  ist  die  Geschichte  von  einem  zweiten  Messias,  einem  armen 
Teufel  namens  Cohn,  der  sich  mit  Sabbatai  über  ihre  beiderseitigen  An- 
sprüche vertragen  wollte;  sie  fingen  aber  bald  zu  zanken  an,  der  eine 
drohte  den  andern  abzusetzen  und  es  gab  schließlich  eine  weidliche  Prü- 
gelei. Ich  erwähne  aber  die  „Jüdischen  Briefe"  hauptsächlich  darum,  weil 
ich  (im  53.)  eine  Stelle  gefunden  zu  haben  glaube,  die  wohl  mit  zu  den 
äußerlichen  Quellen  von  Lessings  Nathan  gehören  dürfte.  Ich  lege  auf 
solche  Dinge  keinen  Wert,  weil  sie  den  Schatz  nicht  mehren  können.  Nach 
d'Argens  hätten  um  das  Jahr  i6oo  die  Muftis  von  Ispahan  ihren  Sofi 
Schach  Abbas  aufgefordert,  die  Vorschriften  des  Koran  anzuwenden:  die 
Juden  müßten  entweder  die  Lehre  Mohammeds  annehmen  oder  ausgerottet 
werden.  Der  Sofi  ließ  die  Juden  kommen  und  befragte  sie  zu  ihrer  nicht  ge- 
ringen Verlegenheit  nach  ihrer  Meinung  über  Mohammed.  Sie  antworteten  aus- 
weichend, mußten  zwei  Millionen  Gold  zahlen  und  dann  noch  die  Zeit  be- 
stimmen, binnen  welcher  ihr  Messias  kommen  müßte.  Als  sie  in  ihrer  Be- 

297 


In  Polen  lebten  damals,  zum  Teil  ohne  jeden  Zu- 
sammenhang mit  den  Sabbatianern,  sehr  viele  An- 
hänger der  Kabbala,  die  denn  auch  von  den  orthodoxen 
Rabbinern  mit  den  fürchterlichsten  Bannflüchen  be- 
legt wurden,  und  von  denen  noch  hundert  Jahre  später 
Graetz  Schauergeschichten  zu  erzählen  weiß ;  die  schö- 
nen Veröffentlichungen  von  Martin  Buber  lassen  uns 
über  diese  inbrünstigen  Kabbalisten  jetzt  anders  den- 
ken. Lejbowicz,  der  in  der  Levante  natürlich  für  einen 
Franken  galt  und  den  Namen  Frenk  oder  Frank  an- 
genommen hatte,  reiste  nach  Polen,  angeblich  von 
dem  Propheten  Elias  oder  von  Gott  selbst  besonders 
dazu  aufgefordert.  In  Podolien  glückte  es  ihm,  trotz 
seiner  unansehnlichen  Erscheinung  und  trotz  seiner 
mangelhaften  Sprache  (er  hatte  das  Polnische  ver- 
gessen, redete  das  Kauderwelsch,  das  man  noch  heute 
die  Lingua  franca  nennt,  und  mußte  sich  eines  Dol- 
metschers bedienen)  für  den  neuen  Gottmenschen,  für 
den  wiedergebornen  Messias  gehalten  zu  werden.  Die 
Sekte  der  Frankisten  war  damit  entstanden.  Aber  schon 
nach  kurzem  Leben  (1756)  eröffneten  die  Rabbiner 
eine  Ketzerverfolgung  gegen  sie;  mit  Bannflüchen 
wurde  nicht  gespart;  und  weil  man  nicht  verbrennen 
konnte,  wurden  die  Frankisten  eingekerkert;  auch 
Frank  selbst.  Er  konnte  jedoch  nach  Bessarabien  ent- 
fliehen und  veranlaßte  seine  Gemeinde  von  dort  aus, 
sich  dem  Bischof  gegenüber,  der  die  ganze  Sache  in- 

stürzung  antworteten,  das  könnte  jeden  Tag  geschehen,  gab  ihnen  der  Sofi 
70  Jahre,  nach  deren  Ablauf,  wenn  der  Messias  nicht  käme,  sie  als  Betrüger 
entlarvt  und  zu  verjagen  wären.  (Ich  vermute,  daß  diese  Drohung  das  Auf- 
treten des  Sabbatai  beeinflußt  hat.)  Sollte  es  ein  Zufall  sein,  daß  schon  auf 
dem  nächsten  Blatte  der  jüdischen  Briefe  unter  den  Rabbinen  aus  dem  ersten 
Gefolge  des  Sabbatai  Z'wi  als  der  Angesehenste  ein  Jude  genannt  wird, 
der  für  sehr  klug,  tugendhaft  und  vornehmlich  sehr  demütig  gehalten  wurde 
und  der  den  Namen  Nathan  trug? 

298 


zwischen  vor  sein  geistliches  Gericht  gezogen  hatte, 
darauf  zu  berufen :  daß  sie  den  Talmud  verleugneten, 
daß  sie  an  eine  Dreieinigkeit  und  an  eine  Menschwer- 
dung Gottes  glaubten.  Frank  scheint  den  Bischof  per- 
sönlich beeinflußt  zu  haben;  jedenfalls  hoffte  der  gute 
Kirchenfürst,  die  Juden  mit  Hilfe  der  Kabbala  in  den 
Schoß  der  Kirche  hinüberführen  zu  können;  er  ließ 
die  Gefangenen  frei  und  gestattete  ihnen,  sich  in  der 
Nähe  seiner  Residenz  niederzulassen.  Es  wird  schon 
richtig  sein,  daß  die  Frankisten  des  Bischofs  Gunst 
wahrnahmen,  um  sich  an  den  orthodoxen  Rabbinern 
und  an  ihren  übrigen  Verfolgern  zu  rächen;  Graetz 
behauptet,  die  Antitalmudisten  hätten  das  Märchen 
von  den  geschlachteten  Christenkindern  neu  aufge- 
bracht. 

Der  Bischof  von  Podolien  hielt  treu  zu  seinen  guten 
Frankisten,  als  er  im  folgenden  Jahre  (1757)  zum  Erz- 
bischof von  Lemberg  eingesetzt  wurde.  Eine  seiner 
ersten  Amtshandlungen  war  es,  ein  öffentliches  Reli- 
gionsgespräch zwischen  den  Talmudisten  und  den  Anti- 
talmudisten zu  veranstalten.  Es  mag  eine  tolle  Posse 
gewesen  sein.  Die  Orthodoxen  mußten  sich  bei  hohen 
Geldstrafen  einstellen,  wagten  es  wahrscheinlich  nicht, 
den  christelnden  Sätzen  der  Frankisten  deutlich  zu 
widersprechen,  und  dürften  einander  in  ihrem  Jargon 
jedesfalls  wissenschaftlich  nicht  klar  geworden  sein. 
Offenbar  zogen  die  Rabbiner  den  kürzern.  Die  nächste 
Folge  war,  daß  die  Exemplare  des  Talmud  mit  Zustim- 
mung des  Bischofs  allerorten  unflätig  behandelt  und 
verbrannt  wurden.  Doch  bald  darauf  starb  der  Bischof, 
der  päpstliche  Nuntius  zog  den  Judenstreit  vor  sein 
Forum  und  entzog  den  Frankisten  den  Schutz  der 
Kirche.  Wieder  mußte  Frank  mit  seinen  Anhängern, 

299 


von  allen  Seiten  verfolgt,  nach  Bessarabien  entfliehen. 
Ein  Versprechen  des  unfähigen  und  machtlosen  Königs, 
das  Privilegium  des  Bischofs  von  Podolien  zu  erneuern, 
war  gegen  die  Stimmung  des  Adels  und  der  Geistlichkeit 
völlig  wirkungslos ;  wir  stehen  im  Jahre  1758  und  wenige 
Jahre  später  war  ja  Polen  zu  der  ersten  Teilung  reif. 

In  dieser  Not  entschloß  sich  Frank,  dem  neuen  Erz- 
bischof gegenüber  eine  Erklärung  abzugeben,  nach  der 
die  Frankisten  in  ihrem  trinitarischen  Glauben  den 
Papst  als  Oberhaupt  anerkennen  wollten.  Die  Taufe 
wurde  nicht  ausdrücklich  versprochen.  Der  Erzbischof 
war  noch  schlauer  als  der  Jude ;  er  ließ  die  Erklärung 
drucken,  verpflichtete  sich  aber  zu  nichts.  Auf  ein 
neues  Gesuch  (1759),  in  dem  sie  vom  Könige  und  vom 
Erzbischof  Hergabe  von  Land  erbaten  (sie  würden  dort 
auf  ehrliche  Weise  ihr  Brot  verdienen  und  nicht  wie 
die  Talmudisten  die  Trunksucht  der  Bewohner  fördern), 
bekamen  sie  von  dem  bekannten  Minister  Brühl  gar 
keine  Antwort,  vom  Erzbischof,  der  indessen  Primas 
geworden  war,  die  ungenügende  Zusicherung,  sie  wür- 
den gewiß  das  ewige  Heil  erlangen,  wenn  sie  sich  zum 
Evangelium  bekennen  wollten. 

Damit  war  dem  Realpolitiker  Frank  nicht  gedient.  Als 
der  Primas  bald  nach  Gnesen  abreiste,  verhandelte  Frank 
mit  dem  Administrator  des  Erzbistums  Lemberg  auf 
Grund  praktischer  Vorschläge :  die  Frankisten  verlang- 
ten ein  neues  Religionsgespräch  und  wollten  nachher 
sich  der  Taufe  unterziehen  und  den  römischkatholischen 
Glauben  annehmen.  Gegen  den  Rat  des  päpstlichen 
Nuntius,  der  sehr  ungünstige  und  sehr  interessante 
Berichte  über  die  Antitalmudisten  an  die  Kurie  sandte, 
gab  der  Administrator  dem  Drängen  Franks  nach.  Die 
Disputation  dauerte  drei  Tage ;  und  da  kein  einziger  Teil- 

300 


nehmer  alle  drei  Sprachen  (Polnisch,  Lateinisch  und  He- 
bräisch) verstand,  gab  es  wieder  eine  schwerfällige  Ver- 
wirrung. Einige  Judenverfolgungen  blieben  nicht  aus; 
Frank,  der  mit  orientalischer  Pracht  in  einem  Sechsspän- 
ner nach  dem  ersten  Tage  der  Disputation  erschienen 
war,  mußte  sein  Versprechen  halten  und  bewies  seine 
Macht  über  die  Frankisten  dadurch,  daß  er  die  eigentlich 
Widerstrebenden  zur  Taufe  zwang.  Es  wird  berichtet 
(eben  in  dem  Schreiben  des  Nuntius  vom  31.  Oktober 
1759),  daß  es  ohne  die  blinde  Suggestion  (der  Nuntius 
gebraucht  das  Wort)  nicht  klappte,  daß  die  Anhänger, 
wenn  Frank  nicht  zugegen  war  und  ihnen  nicht  zunickte, 
den  Übertritt  verweigerten.  Die  Kirche  mag  so  gegen 
tausend  arme  Seelen  gewonnen  haben.  Frank  selbst  ver- 
langte und  erlangte  für  sich  —  der  Ausdruck  trifft  viel- 
leicht die  Sache  —  eine  Extrawurst.  Er  wurde  zuerst 
(19.  September  1759)  nur  ,,halb  getauft''  (ich  verstehe 
die  Bedeutung  dieses  halben  Sakraments  nicht  recht), 
seine  Taufpaten  waren  ein  Pole  von  hohem  Adel  und  die 
Gattin  des  allmächtigen  Grafen  Brühl;  die  zweite 
Hälfte  des  Sakraments  wurde  etwa  zwei  Monate  später 
in  Warschau  nachgeholt;  der  König  selbst  war  Pate; 
der  Täufling  erschien  mit  fürstlichem,  türkisch  ge- 
kleidetem Gefolge;  die  Zeitungen  jener  Tage  behan- 
delten die  Sache  wie  ein  Ereignis.  Um  diese  Zeit  wurde 
dem  Christen  Frank  ein  Töchterchen  geboren,  das  eben- 
falls getauft  wurde ;  auf  den  Namen  Eva. 

Franks  Unvorsichtigkeit  und  wohl  auch  Prahlerei 
brachten  ihn  nach  diesem  Triumph  in  neue  Gefahr. 
Durch  die  Katecheten  der  getauften  Frankisten  und 
durch  aufgefangene  Briefe  wurde  so  gut  wie  erwiesen, 
daß  sein  Christentum  nicht  echt  war :  daß  seine  An- 
hänger ihn  nach  wie  vor  für  den  Messias  hielten,  so- 

301 


gar  die  Wundmale  Christi  an  ihm  wahrgenommen 
hätten  und  in  der  Ehe  sich  nach  jüdischen  Gesetzen 
richteten.  Daß  die  Anhänger  in  katholischen  Gebet- 
büchern anstatt  des  Namens  Jesus  den  Namen  Jakob 
gesetzt  hätten  (übrigens  hatte  Frank  in  der  Taufe  den 
Namen  Joseph  angenommen,  ohne  später  sich  so  zu 
nennen),  mag  auf  die  Aussage  eines  rachsüchtigen 
Mannes  zurückgehen. 

Jetzt  schritt  (Januar  1760)  die  Inquisition  ein.  Unter 
Drohungen  oder  unter  der  Tortur,  man  weiß  es  nicht, 
gestand  Frank  seinen  Betrug  ein  und  wurde  zu  Festungs- 
haft verurteilt;  Graetz  bedauert,  daß  er  nicht  hinge- 
richtet worden  ist. 

Dreizehn  Jahre  lang  blieb  Frank  gefangen,  anfangs 
in  Ketten  und  sehr  hart  behandelt.  Fluchtversuche 
mißlangen.  Auch  seinen  Anhängern  ging  es  schlecht. 
Aber  sein  Ansehen  bei  ihnen  stieg  womöglich  noch 
höher.  Die  Ketten  und  die  Martern  waren  ein  neuer 
Beweis  dafür,  daß  er  der  Messias  war.  In  seiner  Festung, 
dem  Wallfahrtsorte  Czenstochau,  tat  er  Wunder:  er 
heilte  Kranke  und  ließ  Tote  auferstehen. 

Weltgeschichtliche  Ereignisse  halfen  Frank  endlich 
aus  dem  Gefängnis.  Schon  bei  dem  Einmärsche  russi- 
scher Truppen  in  Galizien  hatte  er  den  Versuch  ge- 
macht, sich  als  einen  Verehrer  der  griechischen  Kirche 
und  als  ein  Opfer  der  katholischen  Polen  hinzustellen ; 
er  wäre  imstande,  zwanzigtausend  Anhänger  der  grie- 
chischen Kirche  zuzuführen;  nach  der  ersten  Teilung 
Polens  (1772)  wurde  er  wirklich  in  Freiheit  gesetzt. 
Und  bekam  Geld.  Woher  ihm  die  großen  Summen 
kamen,  die  ihn  seit  seinem  Auftreten  als  Religions- 
stifter außerordentlich  reich  erscheinen  ließen,  ist 
immer  ein  Rätsel  geblieben.  In  diesem  Falle  behauptet 

302 


Graetz,  ohne  seine  Quellen  anzugeben,  daß  er  russi- 
scher Spion  gewesen  sei. 

Er  begab  sich,  sofort  oder  einige  Jahre  später,  nach 
Mähren,  wo  die  Frankisten  —  ebenso  wie  in  Böhmen  — 
unter  den  Juden  begeisterte  Gläubige  gefunden  hatten. 
Hier  scheint  er  als  unumschränkter  Herr  aufgetreten  zu 
sein ;  er  verlangte  von  seinen  Leuten  stramme  Disziplin. 
Er  nannte  sich  so,  (auf  deutsch) ,, heiliger  Herr'*.  Was  er 
jetzt  lehrte,  war  ein  wunderliches  Gemisch  von  einem 
Himmelreich  und  einer  goldenen  Zukunft  auf  Erden. 
Die  Taufe  sei  nur  die  erste  Stufe;  die  zweite  Stufe 
möchte  etwa  mit  einem  konfessionslosen  Deismus 
gleichzustellen  sein ;  die  dritte  Stufe  blieb  ganz  unklar. 

Frank  wird  jetzt  auch  äußerlich  der  Fürst  der  Fran- 
kisten; er  umgibt  sich  mit  einer  militärischen  Leib- 
wache; arme  und  reiche  Juden,  die  von  überall  zu- 
strömen, müssen  exerzieren  und  den  vom  Fürsten  er- 
nannten Offizieren  gehorchen.  Mit  noch  königlicheren 
Ehren,  ja  mit  göttlicher  Anbetung  umgab  er  seine  Toch- 
ter, die  inzwischen  zu  einer  schönen  Jungfrau  heran- 
gewachsen war.  (Auch  meine  Mutter,  die  ihr  Bild  ge- 
sehen hatte,  sprach  von  einer  wunderbaren  Schönheit.) 
Im  Kreise  ihrer  adeligen  Taufpaten  erzogen,  hatte  sie 
überdies  Sprache  und  Benehmen  der  polnischen  Aristo- 
kratinnen angenommen.  Frank  vergötterte  seine  Toch- 
ter in  jedem  Sinne.  Sie  hieß  bald  Eva,  bald  Emuna  (der 
Glaube)  und  galt  ihm  und  seiner  Schar  für  eine  In- 
karnation der  Weltseele.  Nur  ein  König  würde  ihr 
Gatte  werden. 

Über  Franks  österreichische  Zeit  entstanden  tolle, 
einander  oft  widersprechende  Legenden.  Bald  sollte 
Kaiser  Joseph  II.  Eva  haben  heiraten  wollen,  bald 
sollte  er  den  Vater  verfolgt  haben. 

303 


Endlich  (1788)  gelang  es  dem  vielleicht  schon  müden 
Abenteurer,  ein  —  ich  möchte  sagen  —  bürgerlicher 
Grandseigneur  zu  werden.  Der  kleine  Jude,  der  nach- 
einander Türke,  Katholik  und  russischer  Grieche  ge- 
wesen war,  der  jetzt  über  eine  nicht  anerkannte  Sekte 
herrschte,  kaufte  einem  deutschen  Fürsten,  dem  von 
Homburg-Birstein,  sein  Schloß  in  Offenbach  ab,  mit 
den  souveränen  Rechten  eigener  Gerichtsbarkeit  und 
Polizei.  Der  neue  deutsche  Standesherr  nannte  sich: 
Baron  von  Frank,  Wir  sind  im  Jahre  1788,  kurz  vor 
dem  Ausbruche  der  großen  Revolution.  Baron  von 
Frank  lebte  auf  noblem  Fuße.  Der  Hofstaat  bestand 
zuletzt  aus  mehr  als  tausend  Anhängern,  die  sich  aus 
Polen,  Mähren  und  Böhmen  unter  den  Befehl  ihres 
Meisters  gestellt  hatten  und  oft  namhafte  Geldsummen 
von  ihren  gläubigen  Vätern  mitbrachten.  Der  Baron 
und  seine  Tochter  besuchten  mitunter  mit  großem 
Pompe  den  katholischen  Gottesdienst.  Aber  im  Schlosse, 
welches  kein  Unbefugter  betreten  durfte,  herrschten 
mystagogische  Bräuche;  den  neuen  Ankömmlingen 
wurden  kabbalistische  und  wohl  auch  alchimistische 
Geheimnisse  vorgemacht,  und  der  Glaube  daran  ge- 
hörte zum  militärischen  Gehorsam.  Es  ist  charakte- 
ristisch für  Frank,  daß  er  noch  in  seinem  siebzigsten 
Jahre,  schwer  erkrankt,  durch  eine  gewaltige  Finanz- 
operation für  die  Zukunft  seiner  Tochter  sorgte ;  seine 
Anhänger  sollten  ihn  vor  seinem  Tode  noch  einmal  be- 
suchen und  nicht  mit  leeren  Händen  kommen;  der 
Ertrag  dieser  Steuer  wird  auf  beinahe  zehn  Millionen 
Mark  geschätzt. 

Frank  starb  im  Dezember  1791 ;  sein  Leichenbe- 
gängnis war  prunkhaft.  Nach  jüdischem  Brauche.  Kein 
katholischer  Geistlicher  wirkte  mit. 

304 


Es  wird  angenommen,  daß  die  deutschen  Bankiers 
Frey,  die  während  der  Schreckenszeit  in  Paris  guillo- 
tiniert wurden,  die  beiden  Söhne  Franks  waren. 

In  Offenbach,  wo  volle  sechs  Jahre  lang  auf  die 
Auferstehung  Franks  gewartet  wurde,  wo  aber  die 
Disziplin  sich  allmählich  lockerte,  führte  Eva-Emuna 
den  Hofstaat  mit  verschwenderischem  Luxus  weiter. 
Gegnerische  Schriften  machen  die  Tochter  Franks  zu 
einer  Hochstaplerin.  Wie  Frank  selbst  die  Gerüchte 
geduldet  oder  veranlaßt  hatte,  er  wäre  der  1762  angeb- 
lich ermordete  Zar  Peter  HL,  so  galt  Eva  für  eine 
natürliche  Tochter  der  Zarin  Elisabeth  von  Rußland. 
Tatsache  ist,  daß  just  seit  dem  Tode  der  Zarin  Katha- 
rina n.  (1796)  die  Geldverlegenheiten  im  Offenbacher 
Schlosse  nicht  mehr  aufhörten.  Graetz,  der  in  seinem 
Hasse  zu  einem  ausgemachten  jüdischen  Antisemiten 
wird  und  besonders  gegen  Eva-Emuna  die  gemein- 
sten Verdächtigungen  andeutet,  behauptet,  der  Hof- 
staat wäre  von  da  ab  nur  noch  durch  geheimnisvolle 
Erpressungen  weiter  gefristet  worden;  der  Zar  Alex- 
ander hätte  der  Jungfrau  (Graetz  beschimpft  sie  auch 
bezüglich  dieses  Charakters  und  gebraucht  verfängliche 
Worte;  sie  war  aber  damals  schon  53  Jahre  alt)  im 
Jahre  18 13  ein  größeres  Geldgeschenk  gemacht.  Vier 
Jahre  später  ging  es  mit  dem  Hofstaate  zu  Ende.  Die 
Schulden  sollen  auf  drei  Millionen  Gulden  angewachsen 
sein.  Die  Gläubiger  erwirkten  eine  Untersuchung 
durch  die  hessischen  Gerichte.  Erzherzog  Karl,  damals 
Gouverneur  von  Mainz,  wollte  die  Vernehmung  per- 
sönlich leiten.  Kurz  vor  dem  angesetzten  Tage  starb 
Eva  plötzlich.  Die  Gläubiger  behaupteten,  sie  wäre  nicht 
gestorben,  ein  ehemaliger  isenburgscher  Staatsbeamter 
hätte  ihr  zur  Flucht  verholfen. 


20 


305 


So  endete  die  merkwürdige  Geschichte  mit  einem 
letzten  Rätsel.  Die  Frankisten  jedoch,  die  in  Polen, 
in  Mähren  und  in  Böhmen  als  Katholiken  oder  als 
Juden  weiter  lebten,  bewahrten  dem  Stifter  ihrer  Sekte 
und  der  Königin  Eva  eine  treue  Verehrung. 


Es  bleibt  mir  nur  übrig,  nach  dieser  flüchtigen  Dar- 
stellung des  Abenteurerlebens  die  Angaben  meiner  Mutter 
mit  den  historischen  Tatsachen  zu  vergleichen.  Ich 
habe  schon  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  deren 
Erinnerungen  durch  das  Lesen  der  sogenannten  histo- 
rischen Romane  vielleicht  gefälscht  worden  waren.  Da- 
hin mögen  die  Erzählungen  gehören,  in  denen  mein 
Großvater  als  frankistischer  Offizier  gegen  Militär 
kämpfte;  es  ist  nicht  unmöglich,^daß  die  Mutter  da 
sogar  die  Frankisten  mit  den  um  hundert  Jahre  älteren 
Sabbatianern  verwechselte.  Aber  auch  das  Leben  und 
der  Tod  Franks  lagen  ja  lange  vor  der  Geburt  meiner 
Mutter. 

Unbedingt  zuverlässig  war  sie  jedoch,  wenn  sie  aus 
eigenem  Gedächtnis  berichtete.  Ich  meine  ihre  oft  wie- 
derholte Erzählung :  sie  war  noch  ein  kleines  Mädchen, 
als  frankistische  Abgesandte  in  Horzitz  eintrafen,  um 
sich  vom  Großvater  allerlei  Schriften  und  das  Bild  der 
„Königin"  (natürlich  Evas)  ausfolgen  zu  lassen.  Dar- 
aus, daß  mein  Großvater  wichtige  Papiere  und  das  an- 
sehnlich große  Bild  in  Verwahrung  hatte,  ließe  sich 
der  Schluß  ziehen,  daß  er  im  „Heere"  wirklich  eine 
höhere  Stellung  innegehabt  hatte.  Bei  Frank  selbst, 
oder  erst  bei  seiner  Tochter  ? 

Diese  Frage  kann  ich  nicht  mit  Sicherheit  beant- 
worten.  Wurde  mein  Großvater  nur  loi    Jahre   alt, 

306 


wurde  er  also  erst  1775  geboren,  so  war  er  bei  Leb- 
zeiten Franks  zu  jung,  um  schon  zu  seiner  Leibwache 
zu  gehören.  Nach  einer  andern  Rechnung,  die  meine 
Mutter  für  die  richtige  hielt,  wäre  ihr  Vater  1766  ge- 
boren, also  1 10  Jahre  alt  geworden ;  dann  hätte  er  leicht 
als  Zwanzigjähriger  die  Abenteuer  Franks  mitmachen 
können.  Aber  eine  andere  Familientradition  spricht  da- 
für, daß  mein  Großvater  erst  nach  dem  Tode  Franks 
zu  dem  Hofstaate  der  „Königin''  gehörte.  Er  soll  näm- 
lich zu  gleicher  Zeit  mit  einem  Jüngling  aus  einer  rei- 
chen Prager  Judenfamilie  in  Offenbach  gewesen  sein ; 
dieser  jedoch,  Herr  von  Portheim  (die  Familie  war  in- 
zwischen geadelt  worden,  sie  hieß  früher  Porges), 
der  in  meiner  Knabenzeit  noch  als  ein  sehr  angesehener 
Herr,  und  auch  als  Musikfreund  geschätzt,  zu  Prag  lebte, 
war  gewiß  erst  nach  Franks  Tode  zu  den  Frankisten 
gekommen.  Er  soll  von  seinem  Vater,  einem  überzeug- 
ten Anhänger  des  neuen  Messias,  hingeschickt  worden 
sein,  um  lieber  den  Soldaten  zu  spielen,  als  im  öster- 
reichischen Heere  zu  dienen.  Dieser  Herr  von  Port- 
heim sprach  sich  als  Greis  sehr  abschätzig  über  das 
Treiben  am  Hofe  der  ,, Königin'*  aus.  Sicher  ist,  daß 
mein  Großvater  zu  dem  weit  emporgekommenen  Ge- 
nossen zu  meiner  Zeit  keine  Beziehungen  mehr  hatte. 
Wenn  mein  Großvater  aber  in  den  gleichen  Jahren  oder 
im  gleichen  Jahre  mit  Herrn  von  Portheim  in  Offen- 
bach lebte,  so  hatte  er  Frank  selbst  nicht  mehr  gekannt 
und  war  ein  Page  oder  ein  Offizier  der  Eva-Emuna  ge- 
wesen. Nach  seinem  Tode  habe  ich  es  leider  versäumt 
nachzuforschen,  ob  sich  in  seiner  Hinterlassenschaft 
irgendein  Papier  über  die  Frankistenzeit  vorfand. 


20* 


307 


IV.  (zu  Seite  115). 

Viel  härter  als  sein  Lehrer  Scherer  (und  auch  in 
Hinblick  auf  die  Technik  viel  ungünstiger  als  Friedrich 
Spielhagen)  urteilte  über  diesen  meinen  ersten  Roman 
Otto  Brahm.  Da  ich  aber  den  ganzen  Aufsatz  von  Brahm 
nicht  ungerecht  finde,  es  nicht  einmal  beklagen  will, 
daß  er  mich  sehr  scharf  aus  dem  Gebiete  der  poetischen 
Produktion  verbannte,  mir  allein  die  Satire  als  Lebens- 
aufgabe zuwies,  so  wäre  kein  Grund  gewesen,  hier  auf 
einen  der  objektivsten  Artikel  einzugehen,  die  Brahm 
im  Laufe  der  Jahre  über  mich  geschrieben  hat.  Sollte 
ich  Zeit  und  Neigung  finden,  in  einem  zweiten  Teile 
meiner  ,, Erinnerungen'*  von  meinem  Schriftsteller- 
leben in  Berlin  zu  erzählen,  so  dürfte  ein  Kapitel 
„Otto  Brahm*'  nicht  fehlen.  Hier,  wo  meine  Stellung 
zum  Judentum  mich  allein  beschäftigt,  handelt  es  sich 
mir  nur  darum,  daß  Brahm  in  jenem  Auf satze  (,, Frank- 
furter Zeitung*'  1882  Nr.  87)  klug  wie  immer  bemerkt, 
und  auch  sonst  weiß,  daß  ich  meine  eigene,  ganz  indi- 
viduelle Jugendgeschichte  darzustellen  versuchte,  daß 
er  aber  —  doch  wohl  im  Widerspruche  zu  den  Grund- 
sätzen seiner  Taine-Brandes-Schule  und  im  Gegensatz 
zu  Scherer  —  diesen  Umstand  tadelte  und  einen  Typus 

308 


verlangte.  Er  schrieb  im  Verlaufe  seines  eingehenden 
Feuilletons : 

„Nur  eines  müssen  wir  festhalten  von  Anfang  an,  weil 
es  nicht  nur  der  Titel,  sondern  auch  die  Sache  fordert : 
daß  der  Held  eine  symbolische,  für  das  Judentum  im 
allgemeinen  und  die  gegenwärtige  Bewegung  im  be- 
sonderen typische  Figur  sein  muß. 

Ist  der  Held  von  Mauthners  Roman,  der  Arzt  Hein- 
rich Wolff,  eine  solche  typische  Figur,  sein  Schicksal 
ein  vorbildliches? 

Schon  aus  der  knappen  Angabe  der  Fabel,  welche  ich 
voranstellte,  wird  sich  das  Gegenteil  ergeben  lassen. 
Ganz  und  gar  nicht  typisch,  von  Anfang  bis  zu  Ende 
völlig  individuell  ist  der  Fall  Heinrich  Wolff.  Individuell 
sind  die  Bedingungen  seines  Werdens,  individuell  ist 
sein  Charakter,  individuell  sein  Empfinden  wie  sein 
Schicksal.  Er  ist  dem  Judentum  innerlich  fremd  von 
Jugend  auf,  wie  nur  wenige,  er  steht  allein  in  der 
Welt,  losgelöst  vom  heimatlichen  Boden,  von  Familien- 
beziehungen; der  freie  Herr  seiner  Entschließungen; 
er  hat  nicht  nur  äußerlich  (wie  der  Autor  oft  wieder- 
holend uns  erzählt)  nichts  vom  Juden,  sondern  auch 
nichts  in  seinem  Charakter  von  all  den  Eigenschaften 
des  jüdischen  Stammes.  Man  hat  es  Lessing  vorge- 
worfen, daß  sein  weiser  Nathan  zu  wenig  von  solchen 
Eigenschaften  besitze;  aber,  verglichen  mit  Heinrich 
Wolff  —  wie  groß  erscheint  uns  die  jüdische  Beson- 
derheit Nathans!  Heinrich  ist  nicht  klug,  nicht  beweg- 
lich, nicht  witzig,  noch  scharfsinnig,  er  ist  empfindsam 
und  wieder  empfindsam,  wie  ein  Jüngling  vor  hundert 
Jahren,  der  den  Werther  gelesen.  Nichts  verwunder- 
licher, als  wenn  ihn  einmal  jemand  einen  , modernen 
Realisten*  heißt,  ihn,  der,  gleich  Werther,  sein  Herz- 

309 


chen  hütet  wie  ein  krankes  Kind,  und  mit  untätigem 
Idealismus  die  Dinge  um  ihn  herum  geschehen  läßt. 
Also  ein  neuer  Ahasver  ist  Mauthners  Held  nicht, 
eine  typische,  für  das  Judentum  und  die  Wirkung  der 
antisemitischen  Bewegung  vorbildliche  Figur  ist  er  auch 
nicht/* 


310 


V.  (zu  Seite  163). 

Unter  der  Leitung  von  Otto  Benndorf,  der  sich  als 
Organisator  auch  in  seinem  archäologischen  Seminar 
und  öffentlich  besonders  bei  den  österreichischen 
Ausgrabungen  in  Ephesos  (wo  ich  1899  auf  seine 
Empfehlung  sehr  freundlich  aufgenommen  wurde) 
bewährte,  lernte  ich  den  großzügigen  Betrieb  einer 
jungen  Disziplin  kennen.  Trotzdem  ich  übrigens  der 
einzige  Nichtphilologe  in  seinem  Seminar  war,  ver- 
traute er  mir  die  Herstellung  des  Katalogs  an,  als  die 
Regierung  ihm  bescheidene  Mittel  für  die  Errichtung 
eines  Museums  für  Gipsabgüsse  gewährte.  Seine  Zu- 
friedenheit mit  dieser  Arbeit,  die  ich  natürlich  nach 
seinen  Anleitungen  ausführte,  brachte  mich  ihm  noch 
näher,  als  ich  ihm  durch  die  Leistungen  im  Seminar 
und  bei  dem  allwöchentlichen  Kränzchen  in  seinem 
Hause  gekommen  war.  So  kam  es,  daß  ich  auf  seine 
Anregung  sogar  zur  Herstellung  von  gewissermaßen 
offiziösen  Schriftsätzen  —  der  einzige  Fall  in  meinem 
Leben  —  herangezogen  wurde.  Das  eine  Mal  handelte 
es  sich  darum,  die  großen  Mittel  der  böhmischen  Spar- 
kasse für  einen  etwas  kostspieligen  Entwurf  des  ge- 
planten Künstlerhauses  herauszulocken;  „wir'*  setzten 
es  durch,  daß  der  Sieg  dem  —  übrigens  tschechischen 
—  Architekten  Zitek  zufiel,  trotz  der  Kosten,  die  die 

311 


vorbedachte  Summe  weit  überstiegen.  Das  zweite  Mal 
sollte  ebendieselbe  böhmische  Sparkasse  als  Bauherr 
bewogen  werden,  das  kleine  archäologische  Mu- 
seum im  Künstlerhause  unterbringen  zu  lassen.  Ich 
weiß  nicht  mehr,  ob  das  Ziel  erreicht  wurde.  Ich  weiß 
nicht  mehr,  ob  Benndorf  mit  diesem  Aufsatze  ganz 
zufrieden  war.  Ich  finde  nun  beim  Durchlesen,  daß  ich 
zum  offiziösen  Schriftsteller  nicht  tauge,  niemals  ge- 
taugt habe.  Ich  habe  jetzt  über  manche  lokalpatriotische 
Wichtigtuerei  des  Aufsatzes  gelacht,  über  viele  stilistische 
Holprigkeiten,  über  die  schlecht  gespielte  akademische 
Würde,  mit  der  ich  offenbar  meinen  Lehrer  nach- 
zuahmen suchte.  Man  wird  es  nach  dem  Gesagten  sicher- 
lich nicht  für  Eitelkeit  halten,  daß  ich  das  alte  Zeug 
hierher  setze;  es  scheint  mir  das  sicherste  Mittel  ein 
Bild  von  dem  unfertigen  jungen  Menschen  zu  geben. 
(Ich  ändere  nur  sichtbarliche  Druckfehler  und  ähnliche 
Versehen.)  Ich  aber  hatte  folgendes  geschrieben : 

„Unser  Prag,  die  historische  Stadt  par  excellence,  das 
alte  Prag,  welches  dem  Fremden  so  zahlreiche  Anre- 
gungen zu  kunstgeschichtlichen  Studien  bietet,  ist  für 
den  Einheimischen,  der  erfahrungsgemäß  die  monu- 
mentalen Bauten  seines  Berufsortes  gern  unbeachtet 
läßt,  ein  recht  trostloser  Aufenthalt,  soweit  die  Freude 
an  den  Werken  der  bildenden  Kunst  in  Betracht  kommt; 
wo  der  Berufsmensch  seinen  ständigen  Aufenthalt  ge- 
nommen hat,  da  findet  er  schwerlich  die  Muße,  sich 
mit  einem  bedeutenden  Zeitaufwande  eine  Übersicht 
der  Kunstschätze  seiner  Stadt  da  und  dort  zusammen- 
zusuchen, sondern  er  liebt  es,  wenn  er  überhaupt  wirk- 
lich ästhetische  Genüsse  zu  seinen  Bedürfnissen  zählt, 
eine  Bildergalerie,  ein  Kunstmuseum,  kurz  Sammlun- 
gen aufzusuchen,  in  welchen  ihm  die  geordnete  Masse 

312 


des  Gebotenen  die  Belehrung  angenehm  und  das  Ver- 
gnügen belehrend  zu  machen  gewußt  hat.  Daß  Prag  in 
diesem  Punkte  hinter  anderen  Städten  von  gleicher 
Größe  und  Bedeutung  zurücksteht,  ist  leider  eine  Tat- 
sache, welche,  würde  sie  auch  nicht  so  klar  vor  unseren 
Augen  stehen,  sich  aus  den  bekannten  sozialen  Ver- 
hältnissen als  Prämissen  a  priori  ableiten  ließe;  hier 
soll  jedoch  der  Stoßseufzer  über  den  Mangel  an  In- 
stituten für  Förderung  des  künstlerischen  Sinnes  (des- 
sen Abstumpfung  wieder  ihrerseits  auf  die  Schwierig- 
keit, solche  Institute  zu  schaffen,  zurückwirkt)  nicht 
pessimistisch  verklingen,  sondern  auf  die  Möglichkeit 
soll  hingewiesen  werden,  daß  in  einer  eben  eröffneten 
Sammlung,  dem  archäologischen  Museum  der  Uni- 
versität, ein  Zentralpunkt  geschaffen  wurde  für  die  Bil- 
dung eines  Museums  von  Gipsabgüssen,  dieses  vor- 
züglichen Anschauungsunterrichtes  für  unsere  gar  so 
unplastisch  herangebildete  Generation. 

Freilich  sind  es  ursprünglich  näher  gesteckte  Ziele, 
welche  solche  archäologische  Sammlungen  anstreben 
und  welche  die  österreichische  Regierung  mit  ihrer 
liberalen  Fundation  zu  erreichen  suchte :  es  sollen  vor 
allem  der  immer  weiter  ausgreifenden  Wissenschaft 
der  Philologie  die  nötigsten  Realien  geboten  werden, 
ohne  welche  der  Jünger  derselben  nicht  leicht  zu  einer 
vollendeten  Auffassung  antiken  Wesens  geführt  wer- 
den kann.  Darum  ist  auch  die  Errichtung  solcher  In- 
stitute der  Lieblingsgegenstand  der  Archäologen  ge- 
worden, seitdem  die  Wissenschaft,  der  trockenen  Sich- 
tung des  überkommenen  Literaturvorrates  müde,  daran 
geht,  antiken  Geist  in  unser  Fleisch  und  Blut  zu  hau- 
chen. So  entstand  zuerst  in  Bonn,  unter  der  Leitung  des 
berühmten  Archäologen  Welcker,  eine  solche  Schöp- 

313 


fung,  welche  von  ihren  Leitern,  von  Professoren  und 
Studenten,  von  Privaten  gefördert,  nach  dem  letzten 
Ausweise  mehr  als  700  Kunstwerke,  Originale  und  Nach- 
bildungen, umfaßt;  dem  Beispiel  dieser  Hochschule 
folgten  bald  die  Akademien  von  Königsberg,  Breslau, 
Münster,  Gießen,  Tübingen,  Würzburg,  Leipzig,  welche 
alle  seit  den  zwanziger,  resp.  den  dreißiger  Jahren  über 
ansehnliche  Sammlungen  verfügen. 

In  Österreich  fühlte  man  schon  damals  die  Wichtig- 
keit dieser  Bestrebungen ;  wenigstens  nennen  die  Wie- 
ner Jahrbücher  1828  IV.  S.  58  die  Schöpfung  Welckers 
,,ein  Beispiel,  dem  ohne  Zweifel  seiner  Zeitgemäßheit 
wegen  ihre  (der  Bonner  Universität)  gelehrten  Schwe- 
stern bald  folgen  und  was  in  dieser  Hinsicht  an  einigen 
Orten  etwa  schon  früher  geschah,  zu  vervollkommnen 
bemüht  sein  werden'*.  Aber  erst  in  der  letzten  Zeit,  als 
das  Bestreben,  den  berühmten  deutschen  Universitäten 
ebenbürtige  Anstalten  bei  uns  an  die  Seite  zu  stellen, 
mit  energischen  Mitteln  in  Angriff  genommen  wurde, 
wurde  auch  auf  dieses  Glied  in  dem  Organismus  einer 
Hochschule  Bedacht  genommen;  es  wurde  eine  neue 
Lehrkanzel  für  Archäologie  und  Kunstgeschichte  (denn 
Erasmus  Wocel  beschränkte  sich  auf  slawische 
Archäologie  und  Ambros  tradierte  nur  moderne  Kunst- 
geschichte, neben  seiner  Spezialität  der  Musikge- 
schichte) errichtet,  und  dem  von  München  nach 
Prag  berufenen  Professor  Otto  Benndorf  eine  ansehn- 
liche Summe  zur  Verfügung  gestellt,  um  ein  archäo- 
logisches Museum  ins  Leben  zu  rufen,  wie  er  ein  solches 
schon  in  Zürich  dirigiert  hatte.  Während  die  obener- 
wähnten Universitäten  ihre  Sammlungen  aus  kleinen 
Anfängen  langsam  wachsen  sahen,  hat  die  unsere,  dank 
der  Dotation  der  zwar  spät,  aber  mit  vollem  Bewußtsein 

3^4 


und  mit  zureichenden  Mitteln  eingreifenden  Regierung, 
den  Vorteil,  schon  heute,  wenige  Monate  nach  der  Grün- 
dung, eine  hübsche,  wohlgewählte  Kollektion  von  Gip- 
sen ihr  Eigen  zu  nennen,  die  schon  in  ihrem  jetzigen 
Umfang  ihrem  knappsten  Zwecke,  die  griechische 
Kunstgeschichte  zu  illustrieren,  entspricht. 

Ein  Gang  durch  die  beiden  hellen  Räumlichkeiten, 
welche  der  Sammlung  zugewiesen  sind,  führt  an  den 
markantesten  Vertretern  der  griechischen  Plastik  vor- 
über, von  den  rohen  Anfängen  bis  in  die  Zeit,  da  sie 
im  Dienste  des  römischen  Luxus  ausklingt;  da  ist  vor 
allem  eine  Metope  aus  Selinunt,  die  Ermordung  der 
Medusa  durch  Perseus  darstellend,  als  ältestes  historisch 
bestimmbares  Bildwerk  von  hoher  Bedeutung  für  die 
Kunstgeschichte.  Der  freie  Naturalismus,  der  diese  Me- 
tope trotz  der  abscheulichen  Häßlichkeit  ihrer  Figuren 
fundamental  von  den  schematischen  Werken  der  prä- 
hellenischen Zeit  unterscheidet,  feiert  bereits  die  schön- 
sten Erfolge  in  der  Behandlung  des  Körpers  an  den 
Ägineten,  deren  Anschaffung  allein  das  Museum  be- 
suchenswert  macht;  wer  das  berüchtigte  „äginetische 
Lächeln**  nur  aus  Büchern  oder  etwa  noch  von  der 
Bühne  kennt,  der  kann  es  an  diesem  Dutzend  kämp- 
fender, verwundeter  und  sterbender  Menschen  stu- 
dieren ;  wer  aber  diese  Gruppe,  den  größten  Schatz  an 
Antiken,  den  Deutschland  besitzt,  in  der  Münchner 
Glyptothek  gesehen  hat,  der  wird  überrascht  durch  die 
vorzügliche  Treue  der  Gipsabgüsse,  welche  hier  in  einer 
die  Aufstellung  der  Originale  in  einzelnem  korrigieren- 
den Weise  aneinandergereiht  stehen.  Die  gleichfalls 
noch  der  älteren  Kunst  angehörige  Gruppe  der  Tyran- 
nenmörder, Harmodios  und  Aristogeiton,  zeigt  so  recht 
den  Wert  der  Vervielfältigung  für  die  Wissenschaft 

315 


selbst:  ein  scharfsinniger  Archäolog  hat  diese  beiden 
Statuen,  deren  Originale  getrennt  aufgestellt  sind,  als 
zusammengehörig  erkannt  und  was  sich  an  dem  Mar- 
mor nicht  prüfen  läßt,  das  führt  der  billigere  Gips  be- 
quem vor  Augen.  Ein  Blick  noch  auf  einige  fein  kom- 
ponierte Grabstelen  (Grabsäulen)  und  der  Sinn  ist  vor- 
bereitet, um  den  hohen  „Stil",  die  Periode  des  Phidias, 
anzuschauen.  Freilich  mit  bestimmten  Originalwerken 
des  Meisters  kann  die  Kunstgeschichte  nicht  dienen, 
so  schön  auch  die  seiner  Schule  angehörende  Nike  von 
der  Balustrade  des  Tempels  der  Athene  Nike  in  ihrer 
Bewegung  ist,  so  wunderbar  der  Zellaf  ries  des  Parthenon, 
von  welchem  uns  eine  Reitergruppe  sowie  einige  Köpfe 
aus  der  Göttergruppe  köstliche  Proben  geben.  Für  die 
Vorstellung  von  den  viel  berufenen  Kolossalbildern  des 
Meisters  muß  auch  eben  das  Erhaltene  genügen,  so  die 
bekannte  Zeusmaske  von  Otricoli,  welche  als  die  schön- 
ste Idealisierung  des  Donnerers  zu  der  unverdienten 
Ehre  gekommen  ist,  für  eine  direkte  Nachbildung  des 
Phidiasschen  Zeustypus  zu  gelten;  dagegen  findet  die 
Phantasie,  welche  sich  das  chryselephantine  Riesenbild 
der  Athene  Parthenos  vergegenwärtigen  will,  einen  An- 
haltspunkt in  der  kleinen  unvollendeten  sogenannten 
Lenormantschen  Statuette,  deren  streng  architek- 
tonisch gegliederte  Formen  bei  ihrer  den  entgegenge- 
setzten Stil  fordernden  Kleinheit  allein  auf  eine  Nach- 
bildung eines  monumentalen  Werkes  hinweisen  wür- 
den. Wie  die  Gestaltungen  der  Plastik  unter  der  all- 
mählichen Weiterentwicklung  des  Geschmacks  und  des 
Könnens  gefälligere,  zierlichere  Proportionen  annah- 
men, das  lernen  wir  in  feiner  Vollendung  an  dem  Ado- 
ranten,  dessen  nähere  Bekanntschaft  das  Prager  Pu- 
blikum im  letzten  Winter  gemacht  hat.  Wenn  der  Be- 

316 


Sucher  des  Museums  all  die  anderen  Gipse  übersieht, 
welche  erst  im  Vereine  sich  gegenseitig  erklärend  die 
großen  Lücken  in  der  hier  durchmessenen  Zeitfolge  aus- 
füllen, so  wird  er  noch  wenigstens  bei  der  wunderbaren 
milonischen  Venus  verweilen,  an  deren  vorzüglichem 
Abguß  vielleicht  der  kleine  Irrtum  korrigiert  werden 
sollte,  der  sich  jüngst  an  der  Zusammenstellung  ihrer 
Marmorstücke  ergeben  hat ;  ^)  und  bevor  er  mit  der  Ab- 
sicht, bald  wieder  zu  kommen,  die  Sammlung  verläßt, 
wird  er  andächtig  vor  der  Juno  Ludovisi  stehenbleiben 
und  wird  vielleicht  über  die  mögliche  Bedeutung  der 
Worte  nachsinnen,  die  Goethe  in  derselben  Situation 
ausgerufen  hat:  „Wie  ein  Gesang  Homers!** 

Ein  solches  Museum  ist,  wie  bereits  hervorgehoben, 
in  erster  Linie  für  den  Gebrauch  der  Studierenden  an- 
gelegt, doch  hat  es  auch  fürs  große  Publikum,  dem  die 
Anstalt  eben  eröffnet  wurde,  einen  nicht  zu  unter- 
schätzenden Wert  ;  die  junge „Winckelmannische**  Wis- 
senschaft ist  schon  gegenwärtig  zu  einem  Element  un- 
serer mit  Recht  getadelten,  aber  von  jedem  geforderten 
allgemeinen  Bildung  geworden.  Wie  man  aber  keine 
Einsicht  in  die  Schönheit  eines  Volksliedes  erhält,  wenn 
man  bloß  die  Noten  desselben  betrachtet,  ohne  den  Ton 
sich  vorstellen  zu  können,  so  müssen  auch  alle  Be- 
mühungen fruchtlos  bleiben,  welche  der  Gebildete  an- 
stellt, um  sich  dem  Verständnis  der  Kunstgeschichte 
„auf  trockenem  Wege**  zu  nähern. 

Überhaupt  will  ja  unsere  Zeit  die  Lust  an  der  keu- 

i)  Die  Venus  von  Melos  war  vor  der  gefürchteten  Invasion  des  deutschen 
Heeres  aus  dem  Louvre  entfernt  worden;  bei  der  Wiederaufstellung  nach 
dem  Kriege  fand  Ravaisson,  daß  der  große  obere  Marmorblock  schief  auf 
den  unteren  Teil  der  Statue  aufgesetzt  wäre,  daß  das  richtig  gestellt  werden 
müßte,  wodurch  die  Haltung  der  auch  in  unseren  Salons  wohlbekannten 
Statue  etwas  von  ihrer  charakteristischen  Krümmung  verlieren  würde. 


3chesten  Göttin,  jener  der  Schönheit,  wieder  aufleben 
lassen,  die  so  lange  abgetöteten  Sinne  sollen  wieder 
in  ihr  Recht  eingesetzt  werden;  es  sei  nur  daran  er- 
innert, wie  das  Zeichnen  eine  immer  höhere  Geltung 
im  Bereiche  des  Jugendunterrichtes  erringt,  wie  ein- 
stimmig von  Fachleuten  und  vom  Publikum  der  künst- 
lerische Maßstab  an  die  Erzeugnisse  des  Handwerks 
gelegt  zu  werden  beginnt,  wie  namentlich  in  Deutsch- 
land das  Interesse  an  der  bildenden  Kunst,  freilich  vor- 
läufig vielfach  als  Mode,  sich  sowohl  in  der  Teilnahme 
an  öffentlichen  Unternehmungen,  als  auch  in  der  Ein- 
richtung und  Ausschmückung  des  eigenen  Heims  be- 
kundet: all  das  sind  Symptome  einer  nicht  genug  zu 
betonenden  Zeitrichtung,  welche  allerdings  vorerst 
durch  äußere  Anregungen  veranlaßt  wurde,  welche  aber 
am  erfolgreichsten  durch  das  stille  Wirken  oft  gesehener 
Meisterwerke  zu  unserem  eigensten  innern  Eigentum 
werden  kann.  Soll  aber  eine  Sammlung  solcher  Meister- 
werke in  genügender  Vollständigkeit  angelegt  werden, 
so  muß  der  Unternehmer,  wenn  ihm  nicht  die  allmäch- 
tige Kraft  zur  Verfügung  steht,  eine  Dresdner  Galerie, 
einen  Louvre  anzulegen,  zu  Nachbildungen  greifen  und 
wird  Gipsmodelle  der  Hauptwerke  aller  Zeiten  und 
Völker  leicht  zu  einem  übersichtlichen  Ganzen  ver- 
einigen können.  Der  Vorzug  des  Gipses  vor  andern  Ver- 
vielfältigungsarten, so  vor  der  matten  Photographie, 
welche  dem  Kenner  wohl  eine  gute  Erinnerungshilfe,  dem 
Nichtkenner  des  Originales  jedoch  eine  sehr  schlechte 
Vorstellung  von  demselben  gibt,  ist  so  allgemein  an- 
erkannt, daß  auf  eine  Begründung  einzugehen  unnötig 
erscheint,  und  auf  eine  Sammlung  von  Originalwerken 
muß  wohl  eine  Stadt  wie  Prag  verzichten,  da  ja  auch 
eine  leichter  zu  beschaffende  Gemäldegalerie  bei  ge- 

318 


ringen  Mitteln  eine  dankenswerte  Sammlung  zufällig 
zusammengekommener  Bilder  weit  eher  abgeben  wird, 
als  eine  auch  den  Laien  anregende,  fast  möchte  ich 
sagen  lebendige  Geschichte  der  Kunst. 

Ein  solches  Institut,  freilich  auf  die  griechische  Kunst 
beschränkt  (doch  ist  diese  für  die  angedeuteten  Zwecke 
die  wichtigste)  liegt  nun  dem  Prager  Publikum  in  dem 
archäologischen  Museum  vor  und  es  steht  ganz  in  dem 
Willen  und  der  Macht  des  gebildeten  Publikums,  nicht 
nur  durch  den  Besuch  desselben  jene  plastische  Nach- 
erziehung an  sich  selber  vorzunehmen,  sondern  auch 
durch  ein  werktätiges  Interesse  an  der  inkunablen  An- 
stalt dieselbe  zu  erweitern  zu  ihrem  und  dem  eigenen 
Vorteil.  So  könnte  sich  langsam  ein  umfassendes  Mu- 
seum für  Gipsabgüsse  heranbilden,  dessen  Wirksam- 
keit sich  über  kurz  oder  lang  in  allen  unsern  Lebens- 
äußerungen, die  vom  Geschmack  mitbeeinflußt  sind, 
nachweisen  lassen  müßte. 

Gleichzeitig  mit  der  Eröffnung  des  Museums  tritt 
bekanntlich  eine  andere  hochwichtige  Schöpfung,  der 
Bau  des  Künstlerhauses  in  Prag,  aus  dem  Zustand  des 
Träumens  in  den  des  Planens  über;  dieser  glückliche 
Umstand  gestatte  den  Ausdruck  der  Freude  darüber,  daß 
bei  der  im  Prinzip  angenommenen  Anlegung  von  Aus- 
stellungsräumen auch  auf  eine  Herberge  für  die  ver- 
schiedenen Gipssammlungen  unserer  Anstalten  Bedacht 
genommen  wurde.  Die  Vorteile  wären  auch  für  die 
Gipsabgüsse,  sowie  für  die  Bedeutung  des  Künstler- 
hauses gleich  ansehnliche ;  denn  die  großsinnige,  lokal- 
patriotische Schenkung  eines  monumentalen  Kunst- 
asyls soll  doch  auch  eine  weitgreifende  positive  Macht 
üben  und  nicht  bloß  der  Schaulust  dienen  und  eine  po- 
sitive Wirksamkeit  auf  das  große,  nicht  Entree  zah- 

319 


lende  Publikum  wird  eben  ein  Museum  für  Gipsabgüsse 
vorzüglich  äußern. 

Die  böhmische  Sparkasse  würde  also  mit  Zulassung 
eines  bis  aufs  Handwerk  wirkenden  Instituts  ihren 
Klienten,  den  „kleinen  Leuten**,  in  edelster  Weise  den 
Gewinstüberschuß  als  geistige  Superdividende  rück- 
erstatten. Übrigens  wäre  das  Museum  ein  bescheidener 
und  freundlicher  Gast  in  den  Hallen  des  Künstlerhauses; 
für  die  großen  Rundwerke  genügt  ein  Saal  von  mäßiger 
Größe,  und  Reliefs,  Architekturstücke  und  Büsten  wür- 
den gerne  im  Treppenhaus  und  sonst,  wo  es  passend  er- 
scheint, das  gastliche  Haus  zum  Danke  schmücken  hel- 
fen, so  daß  ohne  gegenseitige  Opfer  das  Haus  seine  Zierde, 
die  selbstbedeutenden  Zierden  ihre  Behausung  hätten." 


320 


VI.  (zu  Seite  173). 

Zu  Pfingsten  1873  feierte  die  „Halle"  das  Jubiläum 
ihres  fünfundzwanzig  jährigen  Bestehens ;  unter  meinen 
alten  Papieren  finde  ich  etwas,  was  ich  damals  geschrie- 
ben habe  (ich  „schließe**  das  aus  der  Unterschrift  F.  M — r) 
und  was  im  März  in  irgendeiner  Wiener  Zeitung  er- 
schienen sein  muß ;  ich  drucke  aus  dem  Aufsatz  einiges 
ab,  das  trotz  der  schlechten  Schreibart  interessieren 
möchte: 

,, Sowie  das  Jahr  1848  überhaupt  in  Böhmen  die 
Grenzscheide  zwischen  einer  einheits-  und  darum  natio- 
nalitätslosen Zeit  der  sicheren  Bürgerruhe  bildet  und 
einer  neuen  Zeit  des  Kampfes,  so  spiegelt  es  sich  auch 
in  der  Bewegung,  mit  welcher  die  österreichischen  Stu-^ 
deuten  sich  an  der  Aufregung  jener  Tage  beteiligten. 

Im  Frühjahr  1848  hatte  sich  in  Prag,  analog  dem 
Vorgehen  der  Wiener  Studenten,  ein  Studentenausschuß 
gebildet,  der,  die  drei  weltlichen  Fakultäten  und  die 
Techniker  zu  vier  Kohorten  vereinigend,  glücklich  durch 
die  Ausnahmszustände  hindurchlavierte;  die  Unbe- 
fangenheit, mit  welcher  die  deutschen  Studenten  sich 
einer  utraquistischen  Vereinigung  anschmiegten,  in 
deren  Mitte  sie  die  Minorität  bildeten,  erlitt  den  ersten 
Stoß,  als  der  tschechische  Ausschuß  eine  Einladung, 
welche  einen  allgemeinen  Kongreß  von  Vertretern  der 


31 


321 


Studenten  sämtlicher  deutschen  Universitäten  auf  der 
Wartburg  bezweckte,  mit  der  Begründung  zurückwies, 
, ,  daß  die  Prager  Universität  keine  deutsche  sei*  * .  (Übrigens 
scheinen  die  Herren  Studiosen  kein  Geld  im  Sack  gehabt 
zu  haben  und  stellten  sich  wohl  darum  mit  auf  den  na- 
tionalen Standpunkt.)  Diese  Haltung  gab  den  ersten  An- 
stoß zu  einer  besonderen,  separatistischen  Einigung 
der  deutschen  Studenten,  welche  am  8.  November 
1848  die  Gründung  einer  Lese-  und  Redehalle  der 
deutschen  Studenten  beschlossen;  als  der  ,, Prager 
Studenten-Ausschuß"  wenige  Tage  später  einen  ähn- 
lichen Antrag  annahm,  nannte  er  sich  von  da  ab  ,, Aka- 
demischer Leseverein'*  und  gerierte  sich  hinfort  gerne 
als  der  umfassende  Vereinigungspunkt  für  Akademiker 
beider  Nationalitäten;  ja,  im  Jahre  1852  forderte  er 
den  deutschen  Verein  auf,  sich  mit  ihm  wieder  zu  ver^ 
binden.  In  einer  scharfen,  aber  berechtigten  Antwort 
wies  die  junge  Lesehalle  dieses  Ansinnen  zurück.  Der 
gewählte  Name  ,, Akademischer  Rede-  und  Leseverein" 
war  ein  Zeichen  der  Zeit  —  heißt  es  darin  —  und  eine 
Konsequenz  der  Schöpfung  des  Vereines  selbst,  indem 
Itiatürlich  ein  ,, Studenten-Ausschuß  der  Prager  Uni- 
versität", der  sich  so  nennt,  ohne  Deutsche  in  seiner 
Mitte  zu  haben,  auch  einen  derartigen,  mit  einem  Ge- 
mein-Namen  bekleideten  Verein  hervorrufen  mußte. 

Jene  Zuschrift  des  „Akademischen"  Vereines  gab 
vor,  den  deutschen  als  eine  Art  Zweigverein,  und  zwar 
mit  wissenschaftlichen  Zielen,  zu  betrachten ;  eine  sol- 
che Richtung  bildete  sich  zum  Glücke  immer  mehr  her- 
aus. Die  Zeit  des  Sturmes  und  des  Dranges,  da  sich  die 
Musensöhne  erkühnten,  freche,  himmelstürmende  Pe- 
titionen an  Kaiser  und  Regierung  zu  richten  (als  da 
sind:  um  Erlaubnis  zur  Gründung  eines  Turnvereines, 

322 


um  Errichtung  einer  Lehrkanzel  für  deutsche  Literatur) 
diese  Zeit  ging  vorüber,  und  die  entnüchterten  Titanen 
hatten  Muße,  sich  ohne  Turnverein  und  ohne  deutsche 
Literatur  zu  brauchbaren  künftigen  Staatsförderern 
heranzubilden;  da  sollte  denn  die  „Halle**  mit  ihren 
rasch  anwachsenden  Hilfsmitteln  die  verschiedenen  Be- 
strebungen vereinigen,  und  zwar  in  ihrer  zweiten  Qua- 
lität, als  Redehalle. 

Das  Redenwollen  scheint  aber  den  Behörden  immer 
eine  sonderbare  Schwärmerei,  und  so  mußte  die  Rede- 
halle, wie  die  Verfolgten  im  Märchen,  eine  ganze  Menge 
von  Metamorphosen  durchmachen,  bevor  sie  unter  der 
neuen  Ära  wieder  zu  Ehren  kam;  gleich  im  Jahre  1849 
kam  der  Belagerungszustand  und  mit  ihm  ein  pein- 
liches Verbot  alles  Redens. 

Wenn  Liebende  einander  nicht  sprechen  dürfen,  so 
geben  sie  sich  Rendezvous  auf  der  letzten  Seite  eines 
geduldigen  Journals,  und  wenn  Vereinsmitglieder  nicht 
debattieren  dürfen,  so  legen  sie  ein  Album  auf,  worin 
sie  ihre  Gefühle  in  gebundener  Rede  äußern.  Aber 
in  der  Lesehalle  gab  es  auch  damals  einsichtslose,  blut- 
gierige Kritiker  (ich  glaube  gar,  unser  gewesener  Wau- 
wau war  auch  dabei),  welche  die  zarten  Blüten  mit 
ihren  kalten,  forschenden  Blicken  zu  Tode  schauten; 
als  nun  die  Existenz  der  Redehalle  an  der  Strenge  des 
Diktators,  die  des  Albums  an  der  Strenge  der  eigenen 
Zensur  gescheitert  war,  da  beschloß  der  Ausschuß,  dem 
Redeverbote  durch  Abhaltung  ,,  wissenschaftlicher 
Zirkel"  einen  Esel  zu  bohren.  Darob  großes  Entsetzen 
bei  der  Polizeibehörde  von  1852,  und  darauf  ein  denk- 
würdiger Bescheid  vom  23.  Januar,  wonach  solche 
Zirkel  „mit  strengem  Ausschluß  aller  wie  immer  in 
die   Politik  hinüberstreifender  Fragen"   zum  größten 


21^ 


323 


Schmerze  aller  Gutgesinnten  im  Prinzipe  gestattet 
wurden;  freilich  sollte  der  Gegenstand  dieser  wissen- 
schaftlichen Bestrebungen  beschränkt  bleiben  auf 
I.  Übungen  in  Sprachen;  2.  Stenographie  (o  Universi- 
tas  litterarum) ;  3.  gemeinschaftliche  Lesung  deutscher, 
namentlich  altdeutscher  (sie) ,  lateinischer,  griechischer, 
sowie  auch  der  Klassiker  anderer  Völker.  So  komisch 
der  Eindruck  ist,  den  diese  ammenhafte  Sorge  der  Be- 
hörde für  die  jungen  Leute  hervorbringen  muß,  so  pein- 
lich ist  es,  sich  gestehen  zu  müssen,  daß  unser  faktisches 
Lerngebäude  bis  jetzt  auf  diesem  antediluvianischen 

Fundamente  basiert,  daß doch  das  vielleicht  ein 

andermal ;  für  heute  nur  noch  die  köstlichste  Vorschrift 
jener  polizeilichen  Verordnung:  die  Zahl  der  einen 
Zirkel  bildenden  Vereinsmitglieder  ist  auf  höchstens 
8  bis  10  beschränkt,  das  heißt  auf  so  viel,  „als  um 
einen  Tisch  herum  sich  setzend  Platz  finden 
können". 

Welch  ein  Abgrund  österreichischer  Polizeiweisheit! 
War  es  die  psychologisch  begründete  Überzeugung  von 
der  retardierenden  Kraft,  welche  durch  die  Berührung 
des  Körpers  mit  dem  Stuhlholze  hervorgerufen  wird,  die 
zu  jener  Beschränkung  Anlaß  gab?  Oder  wollte  man 
pietätvoll  die  jungen  Leute  durch  das  Sitzenmüssen 
daran  erinnern,  wieviele  wackere  Männer  sitzen  muß- 
ten, bevor  die  glücklichen  Epigonen  die  goldenen  Frei- 
heiten genießen  konnten,  so  viele  nämlich,  als  um  einen 
Tisch  herum  sich  setzend  Platz  finden  können?  Doch 
wer  kann  solche  labyrinthische  Wege  erforschen,  ohne 
den  Ariadnefaden  eines  österreichischen  Bureau- 
kratendenkens  zu  besitzen.  Aber  die  Polizeiverord- 
nung vom  23.  Januar  1852  kann  auf  ihre  segensreichen 
Erfolge  wahrhaft  stolz  sein ;  sind  ja  unsere  Patres  con- 

324 


scripti  Zöglinge  jener  Zeit,  und  merkt  man  es  den  Par- 
lamentsverhandlungen doch  an,  daß  ihre  Redner  in 
solchen  Versammlungen  ihre  Sporen  verdienten,  wo 
so  viele  ihren  Worten  lauschten,  „als  um  einen  Tisch 
herum  sich  setzend  Platz  finden  können**. 

Die  Zeiten  werden  recht  schlecht;  in  die  Rumpel- 
kammer wurde  der  heilige  Tisch  gestellt  und  kein  an- 
deres niederschlagendes  Mittel  wird  seiner  Zauber- 
macht nur  entfernt  gleichen.  In  der  Redehalle  der  deut- 
schen Studenten  wird  stehend  (proh  dolor!)  über 
selbst  an  das  Gebiet  der  Politik  streifende  Materien  ge- 
sprochen, zum  Beispiel  über  Kesselsteinbildung  und 
Frauenerziehung,  über  Schopenhauer  und  Kohlentarife, 
über  den  Herrgott  und  die  Spektralanalyse ;  und  wenn 
vorletzterer  nicht  mit  seinem  Donner  dazwischenfährt, 
so  erleben  wir  es  am  Ende  noch,  daß  unser  sich  eben 
verjüngendes  Parlament  einer  neuen  Generation  Zutritt 
gönnt,  welche  stehen  gelernt  hat;  so  erleben  wir  es 
am  Ende  noch,  daß  ein  österreichischer  Lasker  ein- 
mal von  freien  Stücken  aufsteht  und  das  Parlament  in 
eine  wohltuende  gelinde  Aufregung  versetzt.  Bis  dahin 
mag  aber  das  hohe  Präsidium  weiterhin  durch  schlau 
gestellte  Fragen  bald  eine  oder  die  andere  Hand,  bald 
den  ganzen  Körper  sich  zu  erheben  zwingen,  um  so 
durch  Anordnung  harmloser,  unscheinbarer  Turn- 
übungen seine  volle  Sympathie  für  die  heranreifende 
Generation  junger  Ruhestörer  zu  bezeigen." 


325 


VII.  (zu  Seite  182). 

Ich  werde  in  den  Erinnerungen  aus  meiner  Berliner 
Zeit  viel  von  den  Wunderlichkeiten  des  herzensguten 
Menschen  zu  erzählen  haben ;  auch  wie  er  mir  wegen 
meiner  Parodie  der  „taufrischen  Amme*'  zürnte,  und 
wie  er  sich  versöhnte.  Weil  er  aber,  Auerbach,  der 
Allerweltspate,  auch  mein  Pate  geworden  war,  möchte 
ich  gleich  hier,  an  der  Schwelle  meines  Schriftsteller- 
lebens, einfügen,  was  ich  am  Tage  der  Hundertjahr- 
feier seines  Geburtstages  (28.  Februar  19 12)  veröffent- 
licht habe. 

„Da  lebt  irgendwo  fern  von  jeglicher  Berührung  mit 
deutscher  Literatur  ein  ganz  kleiner  Verleger,  der  es 
sicherlich  nicht  wünscht,  daß  ich  hier  seinen  Namen 
nenne ;  er  hat  mir  vor  wenigen  Wochen  den  ehrenvollen 
Antrag  gestellt,  die  ,  immer  noch  zugkräftigen  Theater- 
stücke* Auerbachs  neu  herauszugeben  und  in  einer 
biographischen  Einleitung  , ordentlich  die  Trommel  zu 
rühren*.  Der  Mann  hat  offenbar  den  Dichter  der  Dorf- 
geschichten mit  der  Birch-Pf  eif  f  er  verwechselt ;  mit  wem 
er  mich  verwechselt  hat,  das  habe  ich  nicht  erfahren. 
Aber  der  bewegliche  Schluß  seines  Briefes  hat  mir  zu 
denken  gegeben.  ,Man  wird  demnächst  Auerbachs 
hundertsten  Geburtstag  mit  großen  Worten  feiern.  Wird 
man  aber  das  Unrecht  der  letzten  Jahrzehnte  wieder 

326 


gutmachen  ?  Wird  man  seine  Theaterstücke  wieder  auf- 
führen und  lesen?  Die  Werke  werden  jetzt  frei  für  den 
Nachdruck  und  für  das  Volk.  Die  Zeit  für  die  Aufer- 
stehung Auerbachs  ist  gekommen.*  Dieser  Verehrer 
Auerbachs  hat  keine  Ahnung  davon,  daß  alle  drama- 
tischen Versuche  des  Dichters  durchaus  mißlungen 
waren ;  aber  er  hat  etwas  läuten  gehört  vom  Schicksal 
Auerbachs.  Und  dieses  Schicksal  stimmt  nachdenklich.^ 
Nicht  sentimental ;  das  hätte  sich  Auerbach  denn  doch 
verbeten. 

Im  Jahre  1843  sind  die  ersten  Bände  der  Schwarz- 
wälder Dorfgeschichten  erschienen;  von  da  ab  bis  in 
die  siebziger  Jahre  hinein  war  und  blieb  Berthold  Auer- 
bach ein  Liebling  oder  gar  der  Liebling  der  deutschen 
Leser ;  die  besten  Männer,  die  ernstesten  Forscher  und 
Politiker  liebten  ihn  und  seine  Schriften ;  dann  begann 
ein  neues  Geschlecht  über  seine  Alterswerke  zu  lächeln, 
und  heute  ist  Auerbach  aus  der  Gunst  der  Leser  ver- 
drängt, die  einst  bewundernd  zu  Auerbach  als  zu  ihrem 
Meister  aufgeblickt  hatten.  Anzengruber,  der  zuerst  die 
Bauern  in  eigener  Sprache  darstellen  lehrte,  und  Tol- 
stoi, der  trotz  manchen  Selbstbetrugs  hingebungsvolle 
Volkserzieher,  hatten  sich  als  Schüler  Auerbachs  ge- 
fühlt. Doch  der  neue  Pharao,  das  neue  Geschlecht  mag 
die  Alten  nicht,  will  die  Modernen  des  Tages,  will  mit 
historischer  Undankbarkeit  nur  die  Stimmen  der  eige- 
nen Zeit  vernehmen.  Der  Zeit!  Da  steht  ja  das  Wort, 
das  alles  erklärt,  nur  sich  selber  nicht.  Das  nachdenk- 
lichste Wort. 

Die  Zeit  (nicht  just  die  unsere)  ist  ein  harter  und 
liebloser  Würger;  sie  schreitet  über  Leichen.  Und  läßt 
sich  doch  mit  HilfeT^des  Kalenders  von  jedem  Kinde 
ausmessen.  Man  überlegt  einige  Jahresziffern  und  be-» 

327 


merkt  wieder  einmal,  wie  alt  man  selbst  geworden  ist. 
Vor  hundert  Jahren  wurde  Berthold  Auerbach  ge- 
boren, vor  dreißig  Jahren  ist  er  gestorben;  nach  dem 
Gesetze  wird  binnen  Jahresfrist  sein  geistiges  Eigentum 
Allgemeingut  werden.  Auerbach  hat  im  Kampfe  ums 
Dasein  und  in  einer  verschwenderischen  Gebelaune  all- 
zuviel geschrieben ;  er  kann  unmöglich  mit  seinem  gan- 
zen Gepäck  auf  die  Nachwelt  kommen.  Die  Frage  ist 
nur,  ob  die  Reihe  seiner  köstlichen  Dorfgeschichten, 
zu  denen  doch  auch  der  Roman  „Auf  der  Höhe**  ge- 
hört, der  1864  seinen  Siegeszug  begann,  nicht  die  Enkel- 
kinder der  ersten  Leser  wieder  entzücken  wird.  Oder 
vielmehr :  es  ist  keine  Frage.  Es  wäre  freilich  verkehrt, 
die  alten  Dorfgeschichten  diesen  Enkeln  durch  literar- 
historische Betrachtung  empfehlen  zu  wollen,  zum 
Beispiel  durch  den  Nachweis,  daß  der  schönste  und 
reifste  Volksroman  unserer  Zeit,  Gerhart  Hauptmanns 
,Emanuel  Quint*,  dem  Dichter  sicherlich  unbewußt, 
auf  die  grüblerischen  Helden  Auerbachs  zurückgeht. 
Nein,  auch  ohne  Literarhistorie  werden  die  Dorfge- 
schichten neue  Freunde  gewinnen.  Aber  man  werde 
hier  und  da  über  die  veraltete  Form  der  silbernen  Schale 
lächeln,  in  der  die  goldenen  Früchte  liegen,  so  kann 
man  mir  sagen;  über  die  unerschöpfliche  und  nicht 
immer  tiefe  Spruchweisheit  Auerbachs,  die  sich  in  den 
Alterswerken  lästig  vordrängt,  doch  auch  schon  in  den 
Dorfgeschichten  sich  allzugern  reden  hört.  Der  ,,Colla- 
borator"  mit  seinen  tausend  und  abertausend  wohl- 
weisen Gedanken  und  Gedänklein  hat  ja  den  Dichter 
niemals  rein  gestalten  lassen,  ist  ihm  immer  ins  Wort  ge- 
fallen. Mag  man  lächeln,  mag  man  meinetwegen  (selten) 
herzlich  lachen.  Lächeln  und  lachen  wir  nicht  auch 
über  die  kleinen  Unarten  eines  Kindes,  das  wir  lieben  ? 

328 


Es  ist  hoffentlich  nicht  unbescheiden,  wenn  ich  bei 
der  Frage  nach  der  Revision  des  Prozesses  Auerbach 
mit  einer  persönlichen  Angelegenheit  komme.  In  diesem 
Frühling  werden  vierzig  Jahre  herum  sein,  seitdem  ich 
Auerbach  persönlich  kennenlernte.  Dann  war  ich  in 
den  letzten  sechs  Jahren  seines  Lebens  sehr  oft  in  seiner 
Gesellschaft,  in  seinem  Hause  und  in  dem  meinen,  auf 
Spaziergängen,  im  Theater  und  nachher  bei  Bier  oder 
Wein.  Ich  habe  Auerbach  eigentlich  sehr  liebgehabt: 
es  war  nicht  möglich,  ihn  nicht  liebzuhaben,  den  grund- 
gütigen Mann,  der  nach  einem  Worte  von  Fanny  Lewald 
jedesmal  wie  ein  Niklas  mit  vollen  Taschen  erschien, 
der  immer  etwas  zu  schenken  hatte;  und  der  wie  in 
einem  Rausche  von  Güte  am  liebsten  das  Wertvollste 
schenkte,  das  er  besaß :  sich  selbst.  Seine  legendäre  Eitel- 
keit konnte  unserer  Liebe  keinen  Abbruch  tun ;  es  war 
eine  so  kindliche,  so  entwaffnende,  so  bescheidene  Eitel- 
keit. Ein  Märchenprinz,  der  Dornröschen  erweckt  hat 
und  dessen  erstes  Wort  nach  dem  Kusse  lautet :  „Schau, 
was  ich  da  für  einen  hübschen  Kotillonorden  habe." 

Meine  Liebe  zu  Auerbach  konnte  mich  nicht  ver- 
hindern, im  Jahre  1878  eine  Parodie  seines  Stils  zu 
veröffentlichen,  die  doch  wohl,  da  sie  noch  heute  in 
literarhistorischen  Würdigungen  Auerbachs  zitiert  wird, 
zur  geringeren  Schätzung  des  Dichters  beigetragen 
haben  mag.  An  dieser  alten  Parodie  ist  nicht  viel  ge- 
legen. Auerbach  selbst  war  nur  einige  Wochen  lang 
böse  auf  mich  und  hat  mir  dann  das  ,Attentat*  mit 
überaus  herzlicher  Feierlichkeit  (er  hatte  immer  sehr 
viel  Sinn  für  Feierlichkeit)  verziehen.  Ich  habe  aber 
das  Bedürfnis,  mir  darüber  klar  zu  werden,  wie  sich 
etwa  das  pietätlose  Lachen  über  Auerbachs  Schwächen 
mit  der  Liebe  zu  seiner  prachtvollen  Persönlichkeit 

329 


vertragen  konnte  oder  (mit  anderen  Worten) :  warum 
Auerbachs  Dorfgeschichten  trotz  ihrer  künstlerischen 
Schwächen  ein  Schatz  unserer  Poesie  geblieben  sind. 

Was  nun  das  Lachen  anbelangt,  so  stand  ich  damit 
ja  nicht  allein.  Selbst  in  den  beiden  bedeutendsten  Grab- 
und  Trauerreden,  die  dem  bewunderten  Dichter  und 
dem  teuern  Freunde  von  Vischer  und  von  Lasker  ge- 
halten worden  sind,  werden  die  Schwächen  des  Mannes 
ehrlich  erwähnt,  die  Schwächen  seiner  kindlichen  Eitel- 
keit, die  eben  den  Spott  reizten ;  und  sogar  der  getreue 
Biograph  Auerbachs,  ,der  literarisch  wohlbewanderte 
und  warmherzig  zugewendete*  Anton  Bettelheim,  des- 
sen Auerbachbuch  trotz  ,übereifriger  Buchung  jedes 
Löbeleins*  vortrefflich  ist,  ruft  einmal  aus  (allerdings 
bei  Erwähnung  ganz  mißlungener  journalistischer  Dar- 
bietungen) :  ,Muß  nicht  der  bestgesinnte  Leser,  der  zu 
selten  mit  Auerbach  lachen  kann,  über  so  verstiegene 
Unnatur  lachen?* 

Als  nach  dem  Tode  Auerbachs  seine  Briefe  an  den 
Vetter  Jakob  herauskamen,  die  —  anfangs  naiv,  dann 
immer  bewußter  niedergeschrieben  —  eine  vollständige 
Selbstbiographie  bildeten,  war  der  Eindruck  wieder  so 
verzweifelt  kompliziert :  köstlich  und  doch  oft  komisch, 
zum  Küssen  komisch.  Wirklich :  wie  man  über  ein  ge- 
liebtes Kind  lacht. 

Das  parodistische  Lachen  durfte  aber  nicht  laut  wer- 
den, durfte  nicht  Kritik  sein  wollen,  wenn  es  sich  nur 
gegen  die  kleinen  menschlichen  Schwächen  des  Dich- 
ters richtete,  wenn  es  nicht  das  Wesentliche  traf  in  der 
Kunstübung  Auerbachs.  Da  glaubte  aber  ein  neues 
Geschlecht  im  Rechte  zu  sein,  wenn  es  sich  gegen  die 
vermeintliche  Schönfärberei  und  das  ewige  Moralisieren 
des  alten  Herrn  empörte. 

330 


Man  datiert  den  Beginn  dieser  literarischen  Revo- 
lution in  Deutschland  gewöhnlich  vom  Ende  der  acht- 
ziger Jahre,  wo  so  viele  junge  Talente  in  Reih  und 
Glied  eine  neue  Ästhetik  und  eine  neue  Ethik  in  Dich^ 
tungen  zu  gestalten  suchten.  Die  Sehnsucht  nach  dem 
neuen  Ideal,  nach  l'art  pour  Tart  (Auerbach  sagte  da- 
für  ,künstliche  Kunst*),  war  aber  bei  uns  durch  Fran- 
zosen, Russen  und  Skandinavier  schon  früher  geweckt 
worden,  machte  uns  unzufrieden  und  wohl  auch  un- 
gerecht gegen  die  Dichter,  die  damals  in  Deutschland 
auf  der  Höhe  ihres  Ruhmes  standen.  Es  kann  und  soll 
nicht  geleugnet  werden,  daß  unter  diesen  Dichtern 
Berthold  Auerbach  derjenige  war,  der  als  Künstler  den 
neuen  Forderungen  beinahe  am  meisten  zu  wünschen 
übrigließ. 

Als  Künstler  bloß.  In  einer  bei  ihm  seltenen  Stunde 
von  Selbstkritik  hat  er  (in  einem  Briefe  an  Jakob) 
sein  glückliches  Naturell  gerühmt^  das  Fehlen  an  stren- 
ger Methode  aber  beklagt :  ,In  meinem  Schaffen  wie 
in  meinem  Leben.'  Das  Wort  Methode  war  nicht  gut 
gewählt ;  der  Fehler  lag  tiefer,  Auerbach  war  nicht  nur 
in  seinen  Dramen  ganz  unfähig,  eine  wohlgefügte  Hand- 
lung aufzubauen  und  handelnde  Menschen  plastisch 
darzustellen ;  auch  in  seinen  besten  Novellen  ist  die 
Handlung  lose  gefügt,  und  die  Menschen  werden  uns 
durch  ganz  andere  Vorzüge  vertraut  als  durch  eine 
künstlerische  Meisterschaft  ihrer  Zeichnung.  Ich  habe 
es  schon  gesagt:  Auerbach  schenkte  am  liebsten  sich 
selbst.  Sich  selbst  schenkte  uns  Auerbach  in  den  Ge- 
stalten, die  wir  darum  liebhaben  wie  ihn;  und  nicht 
etwa  bloß  hinter  den  aufrechten  Bauern,  den  weisen 
Juden,  den  weitblickenden  Politikern  steht  der  kluge 
Kopf  Auerbachs  mit  seihen  gütestrahlenden  Augen, 


sondern  Auerbach  blickt  und  spricht  auch  aus  dem 
braven  Barfüßele,  aus  dem  selbstsicheren  Lorle,  aus 
all  den  jungen  und  alten  Weiblein  seiner  Dorfgeschich- 
ten und  seiner  Romane.  Für  diese  Maskerade,  die  uns 
den  Dichter  hinter  jeder  seiner  edlen  Gestalten  erkennen 
läßt,  und  für  die  künstlerische  Gefahr  dieser  Technik 
ist  keine  seiner  Dorfgeschichten  so  bezeichnend  wie 
,Ivo,  der  Hajrle'.  Es  ist  die  Geschichte  eines  guten  und 
begabten  Jungen,  der  für  den  geistlichen  Stand  be- 
stimmt worden  ist,  in  der  katholischen  Anstalt  sich 
zuerst  recht  behaglich  fühlt,  dann  aber  nicht  Geist- 
licher wird,  weil  er  an  diesem  Berufe  irre  geworden  ist. 
Es  ist  schon  öfter,  wenn  auch  niemals  stark  genug, 
darauf  hingewiesen  worden,  daß  Auerbach  für  diese 
Figur  sein  eigenes  Modell  war.  Auerbach,  das  Juden- 
kind aus  Nordstetten,  hatte  Rabbiner  werden  sollen  und 
war  dann  nach  jahrelangem  Schwanken  Schriftsteller 
geworden.  Man  kann  leicht  in  der  frommen  Bäuerin, 
Ivos  Mutter,  Auerbachs  eigene  Mutter  wiedererkennen ; 
Züge  aus  des  Dichters  Jugend  in  den  Erlebnissen  des 
katholischen  Dorf  jungen.  Nicht  genug  daran,  zuletzt 
fällt  Auerbach  so  sehr  aus  der  Rolle,  daß  er  eine  An- 
spielung auf  seine  eigene  poetische  Sendung  wagt ;  Ivo 
ist  (dank  einem  sehr  romanhaften  Zufalle)  bürgerlicher 
Sägemüller  geworden,  spielt  aber  abends  gern  auf  sei- 
nem Waldhorn  und  freut  sich,  wenn  Burschen  und 
Mädchen  den  fernen  Klängen  lauschen:  ,Wenn  ich 
weiß,  daß  die  Töne  weit  hinausfliegen  und  noch  anderer 
Menschen  Herz  erfreuen,  da  ist  mirs  noch  viel  lieber, 
und  ich  bin  noch  viel  fröhlicher  und  besser.*  Achtet 
man  nun  genauer  auf  diese  Beziehungen,  so  entdeckt 
man  plötzlich,  wie  farblos,  wie  wenig  katholisch  die 
Seelenkämpfe   Ivos  sind,   wie  wenig  katholisch   sein 

332 


religiöser  Gegensatz  zu  den  Eltern ;  Auerbach  hat  ein- 
fach, wie  in  seinem  Spinozaroman,  den  eigenen  jugend- 
lichen Abfall  vom  orthodoxen  Glauben  geschildert. 
Man  vergleiche,  um  die  artistischen  Mängel  beider  Ge- 
stalten deutlich  zu  sehen,  den  Spinoza  in  Kolbenheyers 
,Amor  Dei*  und  den  alten  Geistlichen  in  Anzengrubers 
,Pfarrer  von  Kirchfeld*.  Auerbach  konnte  immer  nur 
sich  selbst  schenken,  weil  er  nur  sich  selbst  darstellen, 
nur  sich  selbst  reden  lassen  konnte. 

Der  Fall  Ivo  ist  nicht  der  einzige  dieser  Art ;  vermutlich 
ist  auch  ,Der  Tolpatsch*  —  er  heißt  im  ersten  Entwurf 
,,Der  Hemdklunker* *i)  —  nach  einem  jüdischen  Mo- 
dell gezeichnet. 

Und  dennoch.  Es  ist  nicht  wahr,  daß  die  Artisten  uns 
reicher  gemacht  haben.  Einen  solchen  Prachtmenschen, 
wie  Auerbach  einer  war,  trotz  alledem,  hat  uns  die 
Artistenpoesie  der  letzten  Jahrzehnte  nicht  wieder  ge- 
schenkt. Wir  lieben  in  ihm  einen  Menschen,  dessen 
Herzenswärme  durch  keinen  Kunstverstand  gekühlt 
worden  ist. 

Wir  wollen  ein  bißchen  ehrlich  und  dankbar  sein. 
Auerbach  darf  seinen  Platz  nicht  beanspruchen  neben 
den  Ganzgroßen  der  Weltliteratur;  auch  in  seinen 
schwächsten  Stunden  aber  hat  er  sich  ja  selbst  nicht 

I)  Für  künftige  Auerbachforscher  die  Bemerkung,  daß  das  Wort  „Hemd- 
klunker"  oder  „Hemmedglonker"  nicht  ganz  so  wie  „Tolpatsch**  die  Be- 
deutung eines  ungeschickten  Lümmels  hat.  In  Nordstetten  selbst  habe  ich 
erfahren,  daß  die  Redensart  „ein  Kerle  wie  ein  Hemmedglonker"  einen 
jungen,  nachlässig  gekleideten  Burschen  bezeichnet,  der  dumme  oder  lose 
streiche  macht.  In  Konstanz  findet  alljährlich  zur  Fastnachtszeit  ein  Um- 
zug der  „Hemdglonker"  statt;  die  Schüler  marschieren,  Hemden  über  ihren 
Kleidern,  unter  Absingung  eines  kräftigen  Gassenhauers,  durch  die  Straßen 
und  bringen  allen  ihren  Lehrern  eine  gemütliche  Katzenmusik.  Wenn  der 
Lehrer  am  Fenster  erscheint,  wird  er  mit  einer  keck  humoristischen  An- 
sprache begrüßt  und  antwortet  ebenso  launig.  ,,Glonkern*'  heißt  dort  ungefähr 
ebensoviel  wie  „bummeln**. 

333 


so  hoch  gestellt.  Er  hat  sich  nur  mitunter  Ziele  gesteckt, 
die  seiner  naiven  Kunst  unerreichbar  waren;  darum 
versagte  er  in  seinen  historischen  Romanen  ebenso  wie 
in  seinen  weit  ausgreifenden  Zeitromanen  (unter  denen 
aber  vielleicht  der  Dreibänder  , Waldfried*  doch  noch  ein 
neues  sinniges  Publikum  finden  wird;  ein  treuer  Süd- 
deutscher hat  da  die  Volksgeschichte  des  deutsch- 
französischen Krieges  geschrieben.)  Er  versagte  auch 
leicht  als  Volkserzieher,  in  seinen  Kalendergeschichten, 
weil  er  oft  zu  salbungsvoll  ins  Predigen  geriet.  Aber  seine 
lieben  Dorfgeschichten  wollen  wir  uns  nicht  nehmen, 
uns  durch  unser  eigenes  Lächeln  nicht  schlecht  ma- 
chen lassen.  Kunst  hin,  Kunst  her !  Auerbach  war  uns 
und  kann  uns  wieder  sein:  ein  Mehrer  der  Freude  am 
Leben.  , Diese  Kunst  ist  Freude  am  Leben*,  hat  er 
einmal  von  der  Malerei  der  Niederländer  gesagt.  Wie 
wir  die  Gestalten  des  ungleich  größern  Rembrandts  nicht 
missen  möchten,  so  wollen  wir  auch  auf  die  Bekannt- 
schaft, auf  den  Umgang  mit  den  Auerbachschen  Mädeln 
und  Männern  und  alten  Frauen  nicht  verzichten,  die  nur 
so  von  Güte  und  Klugheit  strotzen  und  von  ihrer  eigenen 
Schönheit.  Die  Modelle  dieser  Gestalten  seien  in  Nord- 
stetten  nicht  zu  finden,  auch  nicht  im  Schwarzwald 
oder  sonstwo  in  Deutschland?  Ein  Grund  mehr,  sie  in 
Auerbachs  Dorfgeschichten  zu  suchen  am  Tage  seiner 
fröhlichen,  ganz  und  gar  nicht  feierlichen  Auf  erstehung." 


334 


VIIL  (zu  Seite  i86). 

Meinen  Jungfernaufsatz,  eben  den  Abschiedsgruß 
an  den  herzlich  verehrten,  nach  Wien  berufenen 
Lehrer,  habe  ich  weder  unter  dem  Wust  meiner  Papiere 
noch  das  Zeitungsblatt  in  einer  Prager  Büchersamm- 
lung auftreiben  können.  Der  jugendliche  Überschwang 
würde  auch  nur  einen  einzigen  Menschen  interessieren, 
mich  selbst.  Der  Zufall  wollte  es  aber,  daß  Ambros  we- 
nige Tage  nach  meiner  Ankunft  in  Berlin,  wohin  ich 
im  Sommer  1 876  ausgewandert  war,  starb  und  so  der  erste 
Aufsatz,  den  ich  in  meiner  neuen  Heimat  schrieb,  wie- 
der ein  Abschiedsgruß  für  Ambros  wurde,  der  Nekrolog. 
Ich  finde  auch  den  Stil  dieses  ungenügenden  Versuchs  er- 
bärmlich, will  aber  doch  einige  Stellen  um  der  Sache  wil- 
len mitteilen;  das  ,, Ganze'*  stand  in  Paul  Lindaus  „Ge- 
genwart** am  15.  Juli  1876. 

„Die  ganze  musikalische  und  literarische  Welt  wußte, 
daß  AugustWilhelmAmbros  Verfasser  einer  grund- 
gelehrten Geschichte  der  Musik  ist,  man  kannte  ihn 
als  Musikkritiker  von  unglaublicher  musikalischer  Be- 
lesenheit und  seltener  Wärme  für  oder  gegen  seinen 
Gegenstand,  als  Komponisten  von  strenger  Schule  und 
feinstem  Geschmacke,  als  einen  Kunsthistoriker  von 
enthusiastischem  Forschertrieb  und  erstaunlicher  Rari- 
tätenkenntnis, doch  nur  seine  Bekannten  wußten,  daß 

335 


dieser  merkwürdige  Kopf  mit  seinen  überfüllten  Spei- 
chern voll  der  gründlichsten  juristischen,  philologischen, 
historischen  und  vor  allem  musikalischen  Kenntnisse, 
beherrscht  wurde  von  einem  der  besten  Herzen,  die  je 
für  menschliche  Ideale  geschlagen  haben.  Wäre  Jean 
Paul  auch  nicht  einer  seiner  Lieblingsschriftsteller  ge- 
wesen, man  wäre  doch  im  Gespräche  mit  Ambros  die 
Erinnerung  an  Jean  Panische  Helden  nicht  leicht  los 
geworden. 

Eine  ruhig  abwägende  Würdigung  seiner  fach- 
männischen Tätigkeit  müßte  der  Feder  eines  Fach- 
mannes für  ein  Fachblatt  vorbehalten  bleiben;  als 
Mensch  jedoch  fordert  Ambros  die  allgemeine  Teil- 
nahme, welche  ja  glücklicherweise  und  zur  Förderung 
idealen  Strebens  bei  besonderen  Gelegenheiten,  bei 
Jahresfeiern  und  Todesfällen,  ohne  die  lästigen  Dämpfer 
der  zurückhaltenden  Alltagssprache  sich  äußern  darf. 
Die  haarscharfe,  abgeschliffene,  darum  aber  auch  dünne, 
allzu  biegsame  Sprache  unserer  werkeltäglichen  Zeit 
möchte  man  bei  der  Erinnerung  an  die  rührende  Ge- 
stalt des  jüngst  Verstorbenen  vertauschen  gegen  den 
überschwänglichen  Redefluß  der  schönen  Seelen  des 
,TitanS  oder  gegen  den  stachellosen  Witz  des  Armen- 
advokaten Siebenkäs.  Wie  gesagt,  man  wird  die  Er- 
innerung an  Jean  Paul  nicht  los,^  wenn  man  an  Ambros 
denkt,  vielleicht  den  letzten  Jünger  Jean  Panischen 
Stils,  vielleicht  den  letzten  Hüter  von  Jean  Pauls  war- 
mender  Geistesflamme. 

Ambros  war  ein  Alleswisser  von  stupender  Gelehr- 
samkeit und  doch  kein  moderner  Gelehrter,  ein  Enthu- 
siast für  alle  möglichen  Ideale  und  doch  kein  mo- 
derner Kulturkämpfer,  er  war  ein  beinahe  nationalitäts- 
loser Humanist  und  doch  kein  moderner  Kosmopolit ; 

336 


er  war  eben  kein  , moderner*  Mensch,  sondern  mit 
seinen  sechzig  Jahren  ein  Vertreter  der  alten  Zeit, 
welche  den  Namen  der  ,  guten'  alten  Zeit  verdiente, 
wäre  sie  von  vielen  solchen  Leuten  vertreten.  Wie  sich 
diese  scheinbaren  Gegensätze  in  demselben  Manne  ver- 
binden konnten,  das  mag  ein  kurzer  Blick  auf  die  wich- 
tigsten Momente  seines  Entwickelungsganges  erklären. 
August  Wilhelm  Ambros  wurde  (am  i6.  November 
1816)  zu  Mauth,  einem  kleinen  böhmischen  Städtchen, 
geboren;  Böhmen  war  damals  und  noch  viele  Jahre 
später  ein  Land  ohne  Nationalitätsbewußtsein,  ein 
Land,  dessen  beide  jetzt  einander  so  feindlichen  Volks- 
stämme sich  nur  dadurch  unterschieden,  daß  die  Deut- 
schen das  Tschechische  noch  schlechter  als  das  Deutsche 
sprachen,  die  Tschechen  das  Deutsche  noch  schlechter 
als  das  Tschechische.  Erst  das  Jahr  1848  hat  in  Böh- 
men die  Frage  nach  der  Nationalität  ernsthaft  und  all- 
gemein auftauchen  lassen ;  erst  damals  begann  sich  die 
Bevölkerung  allmählich  in  zwei  gegnerische  Lager  zu 
trennen,  und  dabei  mochte  es  oft  vorkommen,  daß 
selbst  hervorragenden  Persönlichkeiten  in  dem  einen 
Lager  nicht  nur  die  Kampflust  gegen  die  Brüder  von 
vorgestern  im  andern  Lager,  sondern  geradezu  das  Be- 
wußtsein von  dem  Nationalitätsbegriff  abging;  noch 
heute  gibt  es  in  Prag  mehr  als  einen  schwarzgelben  Mann 
aus  älterer  Schule,  der  zur  deutschen  Sache  geschwo- 
ren hat,  weil  die  Quellen  aller  Bildung  in  Böhmen 
deutsch  sind,  der  aber  diesem  Schwüre  nur  insofern  die 
Treue  hält,  als  er  in  deutscher  Sprache  denkt,  spricht 
und  schreibt.  Ein  Deutscher  in  diesem  Sinne,  ein  pla- 
tonischer Deutscher  ohne  politisches  Bedürfnis,  ohne 
die  kleinste  politische  Ader,  ein  deutsch  sprechender 
Europäer  war  Ambros. 


22 


337 


Die  Studien,  welche  er  an  österreichischen  Anstalten 
betrieb  und  die  ihm  1839  die  juridische  Doktor- 
würde eintragen,  konnten  unmöglich  einen  andern 
Geist  in  dem  jungen  Manne  wecken;  der  Unterricht 
lag  in  den  Händen  von  Geistlichen  oder  geistlich  er- 
zogenen Männern,  welche  dem  Schüler  wohl  ihr  nicht 
selten  bedeutendes  Detailwissen  übermitteln  konnten, 
die  aber  selbst  gewöhnlich  zu  wenig  Bildung  besaßen, 
um  den  Geist  der  jungen  Generation  zu  freier  Beherr- 
schung des  Wissensmaterials  zu  schulen.  Überdies 
mußte  Ambros  seine  Lieblingsfächer  lebenslang  neben 
einem  Beruf  treiben,  der  damals  in  Österreich  —  ,das 
sind  jetzt  überwundene  Zeiten*  würden  die  Offiziösen 
sagen  —  dem  geistigen  Streben  nicht  eben  freundlich 
gegenüberstand;  Ambros  trat  nämlich  nach  kurzer 
Tätigkeit  bei  der  Finanzprokuratur  zu  der  Staatsan- 
waltschaft über,  wo  er  es  bis  zu  der  Bedeutung  eines 
Oberstaatsanwalts-Substituten  brachte.  Charakteristisch 
für  sein  Wesen,  charakteristisch  für  die  Unmöglichkeit 
eines  Zusammengehens  von  Staatsanwalt  und  Schrift- 
steller ist  es,  daß  Ambros  bald  nach  1848  als  Substitut 
des  Generalprokurators  gegen  den  Redakteur  des  , Kon- 
stitutionellen Blattes*  mit  einer  Klage  auftreten  mußte, 
obwohl  er  selbst  als  Musikschriftsteller  Feuilletonist 
dieses  Blattes  war.  Nur  eine  Natur  wie  Ambros,  der 
im  Reiche  der  Kunst  bei  fast  kindlicher  Unkenntnis  der 
Verhältnisse  irdischer  Reiche  lebte,  dessen  Milch  from- 
mer Denkungsart  von  keinem  Tropfen  politisierenden 
Drachengiftes  in  Gärung  gebracht  werden  konnte,  nur 
eine  solche  Natur  konnte  in  Österreich  Staatsanwalt 
und  Tagesschriftsteller  zugleich  sein  ohne  Schädigung 
des  eigenen  Charakters ;  seine  Künstlerseele  sah  keinen 
Zwiespalt  in  der  Beamtenstellung  eines  österreichischen 

338 


Schriftstellers,  während  ein  Grillparzer  in  ähnlichen  Ver- 
hältnissen sich  im  Kampfe  verbitterte. 

Trotz  dieser  berufsmäßigen  Zersplitterung  der  Geistes- 
kräfte gelang  es  dem  universellen  Kopfe,  sich  zu  einem 
großen  Werke  zu  sammeln,  zu  seiner  vierbändigen, 
leider  unvollendet  gebliebenen  , Geschichte  der  Musik*, 
die  mit  deutschem  Sammelfleiß  die  Entwickelung  der 
Musik  so  ungefähr  von  der  vorweltlichen  Harmonie 
der  Sphären  an  verfolgt;  in  den  Augen  von  Musik- 
gelehrten hat  dieses  Buch  vielleicht  nur  den  einen  Fehler, 
daß  es  auch  für  Laien  lesbar  und  fesselnd  ist.  Von 
seinen  Monographien  musikologischen  und  überhaupt 
kunsthistorischen  Inhalts  ragt  durch  liebevolle  Dar- 
stellung und  erschöpfende  Behandlung  die  Arbeit  über 
den  ,Dom  zu  Prag*  hervor,  ein  wertvoller  Beitrag  zu 
der  Geschichte  der  gotischen  Baukunst  und  ihrer  Blüte 
in  Böhmen  zur  Zeit  der  luxemburgischen  Kaiser ;  eine 
solche  kunsthistorische  Abhandlung  würde  von  einem 
Jünger  der  jetzt  herrschenden  Schule  vielleicht  ob- 
jektiver verfaßt  werden,  kritischer,  —  kälter,  aber  nie- 
mand könnte  für  sein  Thema  lebhafter  interessieren, 
niemand  so  persönlich  für  jeden  Strebepfeiler,  jeden 
Grabstein,  jede  Fiale  eintreten,  wie  der  warmblütige 
Ambros. 

Seine  wahrhaft  belebende  Wärme  für  den  jeweilig 
vorliegenden  Gegenstand  —  und  ihn  beschäftigte 
nur,  was  erwärmen  konnte  —  machte  ihn  als  Dozenten 
zu  einem  unvergeßlichen  Ausnahmsmenschen  der  Ka- 
theder für  die  wenigen,  welche  ihn  als  Universitäts- 
professor kannten;  saubere  Kollegienhefte  freilich,  in 
denen  man  Schwarz  auf  Weiß  nach  Hause  tragen  kann, 
was  schon  im  Buche  steht,  wissenschaftliche  Reper- 
torien,  Herbarien  des  Wissens  waren  seine  Sache  nicht, 

22*  339 


sondern  frische,  freudige  Mitteilung  alles  dessen,  was 
ihm  an  erläuternden  Tatsachen  und  Zitaten  im  Augen- 
blicke einfiel.  Aber  was  fiel  diesem  Universalkopfe  nicht 
alles  ein!  Wenn  er  seinen  Vortrag  begann,  suchte  er 
jedesmal,  offenbar  mit  großer  Selbstüberwindung,  den 
gemessenen  Ton  eines  würdigen  Kathederveteranen  an- 
zuschlagen ;  doch  schon  nach  wenigen  Worten  blickten 
die  kleinen,  von  hundert  Fältchen  umspielten  klugen 
Augen  von  seinem  Manuskripte  auf,  Ambros  war  wie- 
der er  selbst,  und  das  Feuerwerk  seiner  Rede  begann 
aus  dem  Stegreif  zu  prasseln.  Sein  seltener  Fleiß  hatte 
alles  Bedeutende  gesehen  oder  gelesen,  sein  erstaun- 
liches Gedächtnis  hatte  alles  behalten;  seitenlange 
Zitate  in  alten  und  neuen  Sprachen,  plastische  Schil- 
derungen nach  einem  vor  Jahren  empfangenen  Ein- 
druck und  historische  Notizen  in  erdrückender  Fülle 
fuhren  scheinbar  wirr  durcheinander,  bis  der  Gegen- 
stand des  Vortrags  wie  der  Mittelpunkt  eines  Coreggio- 
schen  Bildes  immer  heller  aus  dem  Chaos  hervortrat. 
Wenn  dann  die  Glocke  den  Schluß  der  Stunde  ver- 
kündete, wenn  Ambros  schneller  und  schneller  sein 
Material  los  zu  werden  trachtete,  wenn  er  mit  dem  Hute 
in  der  Hand,  wenn  er  zwischen  Tür  und  Angel  noch 
weiter  sprach,  weiter  sprach,  wenn  ihm  seine  vier  Zuhörer 
das  Geleite  auf  die  Straße  gaben,  dann  konnte  wohl  ein 
vorüberwandelnder  kuhmelkender  Amtsgenosse  über 
den  Feuereifer  des  ewig  jugendlichen  Ambros  lächeln, 
—  dessen  kleiner  Hörerkreis  hing  doch  mit  unwandel- 
barer Treue  an  dem  merkwürdigen  Lehrer.  Ich  erinnere 
mich  besonders  lebhaft  an  eine  Szene,  die  Ambros  als 
Meister  der  Kunst  des  Improvisierens  erscheinen  läßt: 
als  Wilhelm  Jordan,  der  Rhapsode,  in  dem  kleinen 
Hörsaal  erschien  und  Ambros  ihm  vor  uns  ein  Priva- 

340 


tissimum  hielt.  Ich  habe  diese  Szene  viel  später,  wieder 
in  einem  Nekrologe,  dem  für  Wilhelm  Jordan,  festzu- 
halten versucht  („Berliner  Tageblatt*'  12.  Juli  1904)  und 
lasse  das  Blatt  hier  folgen,  auch  weil  meine  Begeiste- 
rung für  Jordans  Stabreime  und  meine  erste  Begeg- 
nung mit  dem  ragenden  Manne  noch  in  meine  Prager 
Jahre  fällt. 

,, Unterwegs  traf  mich  die  Nachricht  von  dem  Tode 
Wilhelm  Jordans,  der  zum  Sänger  der  Nibelungen  ge- 
worden ist  wie  Gabillon  zum  unvergleichlichen  Dar- 
steller Hagens:  beide  wären  lieber  in  ihrem  Leben 
Draufgänger  wie  die  alten  Recken  gewesen. 

Zwischen  seinem  fünfzigsten  und  seinem  achtzigsten 
Jahre  habe  ich  Jordan  von  Zeit  zu  Zeit  gesehen  und 
gesprochen.  Einige  Male  flüchtig  in  Berlin ;  hier,  wo  er 
sich  nicht  nach  Gebühr  gewürdigt  fühlte,  einmal  nur 
länger  und  im  intimsten  Kreise.  Dreimal  unterwegs. 
Von  diesen  Begegnungen  möchte  ich  etwas  erzählen; 
und  wie  sich  das  Bild  Jordans  bei  diesen  Begegnungen 
veränderte  und  verschob. 

Im  Jahre  1871  hörte  ich  ihn  seine  ,,Nibelunge**  zum 
ersten  Male  vortragen,  in  Prag.  Wir  deutschen  Studen- 
ten in  Prag  waren  so  ganz  das  richtige  Publikum  für 
den  nationalen  Stoff,  für  die  etwas  chauvinistische 
Tendenz.  Alles  begeisterte  uns.  Selbst  die  ostpreußischen 
Anklänge  seiner  Sprache  (er  deklamierte  übrigens  vor- 
züglich und  selbstbewußt  wie  ein  Schauspieler,  der 
Virtuose  in  Heldenrollen  ist)  entzückte  uns.  Die  jungen 
Dichterlinge  unter  uns  fingen  an  in  Stabreimen  zu 
reden  und  Briefe  zu  schreiben.  Wir  gingen  mit  Jordan 
durch  dick  und  dünn. 

In  jenen  Tagen  war  es,  daß  der  verehrte  Dichter 
plötzlich  in  einem  Kolleg  erschien,  das  der  berühmte 

341 


Musikhistoriker  A.  W.  Ambros  vor  vier  Zuhörern  auf 
der  alten  Prager  Universität  hielt.  Diese  vier  Zuhörer 
waren:  eine  Dame,  die  als  eine  der  ersten  den  kleid- 
samen Doktorhut  auf  das  prachtvolle  Haar  setzte; 
ein  junger  Prinz  aus  altem  Hause,  der  später  österrei- 
chischer Ministerpräsident  wurde;  und  ich,  der  ich 
nicht  verraten  will,  was  mich  eigentlich  in  das  Kolleg 
über  griechische  Musik  geführt  hatte.  Wir  drei  ver- 
standen nämlich  herzlich  wenig  von  der  lydischen  und 
von  den  anderen  griechischen  Tonarten.  Nur  der  vierte 
Zuhörer  war  Musiker ;  vielleicht  begriff  er  wirklich  die 
lydische  Tonart.  Zu  uns  gesellte  sich  also  eines  Tages 
die  einprägsame  Gestalt  Wilhelm  Jordans. 

Ambros,  ging  rasch  von  seinem  Thema  auf  Homer 
über,  sprach  Vermutungen  aus  über  die  Art,  wie  die 
griechischen  Rhapsoden  sich  etwa  musikalisch  bei 
ihren  Vorträgen  begleitet  haben  mochten,  und  endete 
mit  einem  Lobgesang  auf  Jordan,  den  Erben  Homers. 

Nach  dem  Kolleg  durfte  die  Hälfte  der  Hörerschaft, 
der  Musikalische  und  ich,  dem  Professor  und  dem  Dich- 
ter das  Geleite  geben.  Vom  Clementinum,  dem  alten 
Gebäude  der  philosophischen  und  der  theologischen 
Fakultät,  über  die  Nepomukbrücke  hinüber  auf  die 
Kleinseite.  Auf  dem  Wege  wurde  darüber  verhandelt 
(natürlich  nur  zwischen  dem  Gelehrten  und  dem  Rhap- 
soden), ob  dieser  nicht  seine  Vorträge  durch  ein 
Akkompagnement  von  Instrumenten  dem  griechischen 
Vorbilde  noch  ähnlicher  machen  könnte.  Ambros 
—  eigentlich  drollig  in  seinem  böhmisch-deutschen 
Eintreten  für  eine  germanische  Wiederbelebung  alt- 
griechischer Kunst  —  ganz  Feuer  und  Flamme.  Er 
wollte  selbst  die  einfachen  Motive,  die  er  verlangte, 
erfinden  und  setzen.  Für  eine  Flöte  und  zwei  Violinen, 

342 


wenn  mein  Gedächtnis  nicht  täuscht.  Jordan,  schon 
damals  ganz  hohepriesterliche  Würde  und  wie  beson- 
ders und  extra  von  der  Sonne  Homers  beschienen, 
wollte  sich's  überlegen.  Das  Kostüm  beschäftigte  ihn. 
Er  spottete  darüber,  daß  er  seine  Nibelungen  im  Frack 
vortragen  müsse.  Ein  priesterliches  Gewand  schwebte 
ihm  vor.  Er  scheute  nur,  mit  seinem  scharfen  Auge  für 
die  Grenzen  des  Zulässigen,  die  Lächerlichkeit. 

Als  wir  Studenten  wieder  allein  waren,  brummte  uns 
der  Kopf  von  all  den  Anregungen.  Aber  wir  schüttelten 
die  brummenden  jungen  Köpfe,  und  der  erste  Zweifel 
an  der  göttlichen  Sendung  Jordans  stieg  in  uns  auf. 
Ebensowenig  wie  von  der  künstlerischen  Wirkung, 
von  dem  seelischen  Inhalt  der  griechischen  Musik 
wußten  wir  von  der  Persönlichkeit,  von  der  Umwelt 
Homers,  nicht  viel  mehr  von  der  ursprünglichen  Form 
der  homerischen  Gedichte.  Wie  war  es  denkbar,  eine 
unklare,  eine  unbekannte  Erscheinung  zum  Vorbilde 
zu  wählen?  Und  wenn  es  möglich  gewesen  wäre  — 
waren  denn  die  altgriechischen  Rhapsoden  wirklich 
Volkssänger  gewesen?  War  nicht  alle  Kunst  in  ihren 
Anfängen  aristokratisch  ?  Und  war  denn  dieser  schöne 
Mann  im  Frack,  dieser  Wilhelm  Jordan,  der  vor  den 
wohlhabenden  Deutschen  Europas  und  Amerikas  aus- 
wendig seine  Nibelunge  sprach,  ein  Volkssänger? 
Seine  Nibelunge  mit  Musikbegleitung  erschienen  uns 
nicht  als  eine  Annäherung,  nein,  als  noch  weitere 
Abkehr  von  der  Urzeit  der  Poesie.  Es  wäre,  wenn  es 
glückte,  eine  neue  Mode  geworden.  Keine  Volkskunst. 

Fünfzehn  Jahre  später  sah  ich  Jordan  wieder.  Er 
war  nicht  mehr  so  schlank,  sonst  zeigte  er  kaum  Spuren 
des  Alters.  Zu  Hanau  war's,  bei  Gelegenheit  der  Er- 
richtung eines  Denkmals  für  die  Brüder  Grimm.  Das 

343 


Vertrauen  und  das  Organisationstalent  Theodor  Momm- 
sens  hatte  mir  die  Einladung  vermittelt.  Solche  Feste 
waren  damals  nicht  so  alltäglich  wie  heute.  Jacob 
Grimm  verdiente  ein  Denkmal.  Jordan  hatte  das  Fest- 
spiel verfaßt  und  war  von  Frankfurt  zu  seiner  Feier 
herübergekommen.  Von  Jacob  Grimm  war  wenig  die 
Rede.  Mehr  vom  Landesvater,  von  den  Vätern  der  Stadt, 
vom  Komitee.  Jordan  mochte  das  stark  empfinden. 
Temperamentvoll  sprang  er  beim  Festessen  auf  und 
hielt  eine  zündende  Rede  —  auf  die  Künstler  und  den 
Dichter  des  Festspiels. 

Gegen  zwei  Uhr  morgens  saßen  wir  dann  allein  in 
einer  kalten  Stube  unseres  Gasthofes.  Jordan  malerisch 
in  seinen  Pelz  gehüllt.  Bei  einer  Zigarre  war  ich  um 
diese  Stunde  pedantisch  oder  rücksichtslos  genug, 
meiner  Verehrung  für  Jacob  Grimm  Ausdruck  zu  geben. 
Der  allein,  aus  eigener  Kraft  eine  Disziplin  geschaffen 
hatte,  die  nun  hundert  Professoren  und  Privatdozenten 
ernährt  oder  betitelt,  die  Germanisten,  auf  die  Jordan 
aus  Gründen  schlecht  zu  sprechen  war.  Die  Führer  der 
Schule  hatten  ihn  nicht  anerkannt. 

Vorsichtig  durfte  ich  sagen,  daß  ein  Teil  von  Grimms 
Lebenswerk,  seine  Studien  zur  altdeutschen  Mythologie, 
durch  die  Dichtungen  von  Richard  Wagner  und  Wil- 
helm Jordan  über  die  gelehrten  Kreise  heraus  gedrun- 
gen wären.  Da  kam  ich  aber  schön  an.  Schon  der  Name 
Wagners  war  wie  ein  rotes  Tuch  für  Jordan.  Wagner 
habe  die  Edda  durchaus  falsch  verstanden.  Wagners 
germanische  Götter  seien  blutlose  Schemen.  Er,  Jordan, 
habe  ganz  allein  den  epischen  Vers  der  Germanen  wie- 
derbelebt, den  Stabreim;  und  so  habe  er,  Jordan,  er 
ganz  allein  auch  den  Glauben  der  alten  Germanen  zu 
neuem  Leben  geweckt.  Wer  ihn  in  dieser  nächtlichen 

344 


Stunde  gläubig  gehört  hätte,  der  hätte  fast  annehmen 
müssen:  Jordan  habe  die  Staatsreligion  der  abendlän- 
dischen Völker  vernichtet,  habe  die  Götter  Walhalls 
wieder  zu  Ehren  gebracht  oder  doch  durch  rationali- 
stische Umdeutung  aus  der  Vergangenheit  gerettet. 

Auf  mich  hat  diese  tiefnächtige  Unterhaltung  einen 
starken  Eindruck  gemacht.  Nicht  ganz  im  Sinne  Jor- 
dans. Wie  der  Versuch,  das  Rhapsodentum  neu  er- 
stehen zu  lassen,  war  ja  auch  das  heiße  Bemühen, 
die  Götter  der  Edda  zu  uns  reden  zu  lassen,  nicht  volks- 
tümlich, nicht  in  der  natürlichen  Entwicklung  begrün- 
det. Der  Neubau  von  Walhall  war  künstliche  Nach- 
ahmung, bei  Jordan  wie  bei  Wagner.  Tote  Symbole 
waren  uns  die  Götter  und  Helden  der  Edda  nicht  minder 
als  das  abgesetzte  Göttergesindel  Homers.  Götter  im 
Exil  die  einen  wie  die  anderen.  Und  ich  konnte  den 
Hohenpriester  dieser  vermeintlich  nationalen  Götter 
lange  nicht  anders  sehen  als  im  Gasthofzimmer,  in 
seinen  kostbaren  Pelz  gehüllt,  opfernde  Rauchwolken 
aus  einer  Zigarre  paffend. 

Wieder  beinahe  fünfzehn  Jahre  später,  nur  wenige 
Monate  vor  Jordans  achtzigstem  Geburtstage,  sah  ich 
ihn  am  Ufer  des  Adriatischen  Meeres  wieder.  In  dem 
schönen  Abbazia.  Tags  vorher  hatte  ich  mit  meinen 
Geschwistern  und  den  Kindern  eine  wundervolle  Fahrt 
gemacht,  kreuz  und  quer  durch  das  Quarnero.  Bei 
allem  Abstand  der  Zeiten  doch  homerische  Eindrücke, 
wie  bei  jeder  Seefahrt  zwischen  Inseln  des  Mittelmeeres. 
Und  jetzt  stand  der  Rhapsode  Jordan  vor  uns.  Immer 
noch  ungebrochen  in  seiner  ragenden  Reckengestalt. 
Über  eine  Stunde  weit  schritt  er  am  steilen  Gestade 
mit;  nur  den  Berg  zu  erklettern  verboten  ihm  die 
Jahre. 

345 


Eine  gesteigerte  Feierlichkeit  kleidete  ihn  gut.  Dazu 
kam  etwas,  was  ich  im  ersten  Augenblicke  nicht  be- 
achtet hatte.  Ich  hatte  ihm  kurz  vorher  weh  getan, 
weh  tun  zu  müssen  geglaubt.  Jordan,  der  schon  früher 
die  Ideen  Darwins  und  eigentlich  auch  die  Tat  Bismarcks 
ein  wenig  zu  seinen  Verdiensten  rechnete,  hatte  in 
einem  schwer  gereimten  Streitgedichte  den  armen 
Nietzsche  wie  einen  Plagiator  Jordans  behandelt.  In 
einer  ebenso  schwer  gereimten  Antwort  hatte  ich 
mich  (in  der  , Nation*)  über  diese  Ansprüche  lustig 
gemacht. 

Damals  am  Gestade  der  Adria,  verteidigte  der  Greis 
seine  Ansprüche.  Er  glaubte  wirklich,  die  Deszendenz- 
lehre zuerst  (sieben  Jahre  vor  Darwin,  in  seinem  Buch- 
drama ,Demiurgos*)  verkündet  zu  haben;  er  glaubte 
wirklich,  Bismarck  habe  sich  bei  der  Einigung  Deutsch- 
lands an  Jordan  angelehnt.  Und  noch  bestimmter  wurde 
eine  andere  Vorstellung  sichtbar.  Er  sah  in  sich  den 
einzig  berechtigten  Nachfolger  Goethes.  Manche  Zu- 
fälligkeit mochte  mitgewirkt  haben.  Auch  Jordan  lebte 
jahrzehntelang  in  Frankfurt.  Auch  Jordan  war  (im 
Jahre  1848)  beinahe  Minister  gewesen,  Marinerat,  so 
etwas  wie  deutscher  Marineminister.  Auch  Jordan  — 
und  das  war  wesentlicher  —  rühmte  sich  einer  uner- 
hörten Herrschaft  über  die  widerspenstige  deutsche 
Sprache,  auch  Jordan  hatte  weit  über  Europa  hinaus 
internationale  Huldigungen  erfahren,  auch  Jordan 
teilte  seine  Liebe  zwischen  der  Poesie  und  der  Natur- 
wissenschaft. 

All  meine  Verehrung  und  unverminderte  Liebe  für 
den  Dichter  der  ,Nibelunge'  konnte  mich  nicht  ver- 
hindern, zu  sehen,  wie  falsch  der  Standpunkt  Jordans 
bei  dieser  Selbsteinschätzung  war. 

346 


Ich  besitze  eine  reinere  und  glücklichere  Erinnerung 
an  Jordan.  Kurz  nach  jenem  Zusammentreffen  in 
Hanau  durfte  ich  in  Berlin  selbst,  in  dem  feindlichen 
Berlin,  einen  Tag  mit  ihm  verbringen.  In  einem  Hause, 
wo  er  sonst  nur  von  seinen  Kindern  und  Enkeln  um- 
geben war.  Bei  und  nach  einem  fröhlichen  Mahle. 

Nach  einem  guten  Tropfen  erinnerte  einer  von  uns 
an  das  virtuose  Weinlied,  das  dem  Dichter  in  jüngeren 
Jahren  gelungen  war.  Damals  habe  ich  den  feierlichen, 
allzu  feierlichen  Jordan  herzlich  und  herzhaft  lachen 
sehen.  Und  als  dann  gar  eine  Stelle  aus  demJNibelungen- 
Gesang  , Siegfrieds  Tod'  zitiert  wurde,  da  litt  es  den 
alten  Wandersänger  nicht  länger.  Die  guten  Gerichte 
und  der  gute  Tropfen  waren  vergessen.  Die  Hausfrau 
(seine  Tochter)  mußte  warten.  Wohl  zwanzig  Minuten 
lang  sprach  Wilhelm  Jordan,  ohne  zu  stocken,  aus  dem 
Stegreif  das  Gedicht.  Niemals  habe  ich  ihn  öffentlich 
mit  solcher  Wärme,  mit  solcher  Hingerissenheit 
sprechen  hören.  Auch  die  Form  wurde  noch  lebendiger 
als  sonst.  Wie  von  selbst,  wie  vom  Geiste  der  Sprache 
gefordert,  so  leicht  und  natürlich  fügte  sich  Assonanz 
an  Assonanz,  und  der  Dichter  liebkoste  ordentlich  mit 
seinem  ostpreußischen  Tonfall  den  alten  epischen  Vers 
der  Germanen.  Wie  der  Großvater  alte  Märchen  er- 
zählt, so  sagte  Jordan  sein  Gedicht.  Zu  den  Kindern  ge- 
wandt. Mit  inbrünstigem  Genuß  an  seiner  dichterischen 
Schöpfung.  Ja,  das  war  ein  Dichter.  Das  war  Schaffens- 
freude eines  Dichters. 

Wilhelm  Jordan  ist  nicht  der  Erbe  Homers  gewesen, 
auch  nicht  der  Erbe  Goethes.  Er  hat  seinem  Volke  die 
alten  Heidengötter  und  Heroen  nicht  wiedergebracht 
und  auch  der  Wissenschaft  nicht  neue  Bahnen  ge- 
wiesen.  Wenn  wir  aber  Umschau  halten  unter  den 

347 


Epigonen  aus  der  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
und  die  Dichter  suchen,  die  sich  an  große  Aufgaben 
gewagt  und  das  Werkzeug  zur  Lösung  dieser  Aufgaben 
besessen  haben,  Sprachkraft,  dann  finden  wir  nicht 
viele,  die  wir  dem  alten  Recken  an  die  Seite  stellen 
könnten,  der  ein  Rhapsode  wurde.  Geibel  hatte  nicht 
den  starken  Gedankenschwung,  Gutzkow  nicht  die 
Schönheit  der  Form.  Der  einzige  Hebbel  hat  auch  als 
Neudichter  des  Nibelungendramas  seinen  Zeitgenossen 
Jordan  übertroffen  durch  die  Tiefe  und  Wärme  seiner 
Gestaltungskraft.  Die  Menschen  der  Edda  sind  erst 
bei  Hebbel  auferstanden.  In  der  Komposition  aber  des 
ungeheuren  Stoffs,  im  Reichtum  der  Sprachmittel  wird 
Wilhelm  Jordan  so  bald  seinen  Meister  nicht  finden. 


348 


Nachwort. 

Dieser  erste  Teil  meiner  Lebenserinnerungen  war 
eben  bis  zum  letzten  Bogen  in  der  Druckerei  gesetzt 
worden,  als  der  Weltkrieg  ausbrach.  Die  Ausgabe  des 
Buches  unterblieb  auf  meinen  Wunsch ;  der  Tod  war 
über  die  Menschheit  gekommen,  das  Leben  eines  ein- 
zelnen alten  Stubenhockers  bedeutet  wenig  mehr,  noch 
weniger  die  Geschichte  eines  solchen  Lebens. 

Vertragspflicht  zwingt  mich  jetzt,  meine  Einwilli- 
gung zum  Erscheinen  dieser  Blätter  zu  geben.  Sie 
sind  unzeitgemäß,  in  jedem  Sinne.  Selbst  in  dem 
Kampfe  der  österreichischen  Parteien  gehöre  ich  zu 
keinem  der  politischen  Lager,  ein  Mann  ohne  Uniform. 
Höchstens  daß  mein  Eintreten  für  eine  Revolutio- 
nierung der  Schule,  für  eine  gerechte  Auswahl  der  tüch- 
tigsten Schüler  einige  Aufmerksamkeit  verdienen 
könnte. 

Vor  400  Jahren  lebte  in  einer  ganz  andern  Schick- 
salszeit ein  Mann  ohne  Uniform,  der  freilich  einige 
Mängel  der  Parteilosigkeit  in  allzu  hohem  Grade  besaß, 
Erasmus ;  der  erbitterte  zugleich  die  Anhänger  Roms 
und  die  Anhänger  Luthers,  da  er  sich  nicht  auf  Bi- 
belworte berief,  sondern  den  weisesten  Griechen  zu 
seinem  Heiligen  machte :, San cteSocrates,  orapronobis.* 

Sancte  Bismarck,  magister  Germaniae,  ora  pro  nobis. 

Meersburg  am  Bodensee,  im  September  1917« 

F.  M. 


349 


In  meinem  Verlage  erschien: 

Fritz  Mauthner 

Wörterbuch  der 
Philosophie 

Neue  Beiträge  zu  einer  Kritik 
der  Sprache 

2  Bände 

Geheftet  M.32.—  Leinen  M.40.—  Halb- 
pergament M.  44.—,  Halbfranz  M.  50.— 


Leipziger  Neueste  Nachr.:  „Tiefgründige  Gelehrsamkeit  ver- 
bindet sich  mit  einer  persönlich-temperamentvollen  Schreibweise. 
Kurz,  ein  Wörterbuch  der  Philosophie,  das  wirklich  interessant 
zu  lesen  ist  und  für  das  man  dem  Verfasser  und  dem  Verlage  in 
gebildeten  Kreisen  reichlich  danken  wird." 

„März":  „Ein  ganz  köstliches  Buch  ist  Fritz  Mauthners  Wörter- 
buch der  Philosophie.  Es  möge  niemand  auf  den  harmlosen  Titel 
hereinfallen  und  in  dem  Wörterbuch  eine  Bildungsscharteke,  eine 
Art  philosophischen  Konversationslexikons  suchen.  Es  möge  über- 
haupt der  fleißige  Gebildete,  der  Käufer  anderer  Lexika,  die  Hände 
von  diesem  Buche  lassen,  das  vom  ersten  Satze  an  frech  und 
herrlich  ist,  und  dessen  Autor  durch  die  Hallen  der  Philosophie 
schreitet,  nicht  wie  ein  Adorant  durch  Tempel  alter  Kulturen,  son- 
dern wie  Herkules  durch  den  Stall  des  Augias." 


11  Georg  Müller  Verlag  /  München  ! 
• ' 


I..1 l 1 U iil WgBWgWWBW. ii...l.i.il....l i t..Jii 

Vom  gleichen  Verfasser  erschienen : 

Der  letzte  Tod 
des  Gautama  Buddha 


Roman 

Geheftet  M.  2.—,  gebunden  M. 
Luxusausgabe  M.20.  — 


3.50, 


Neue  Freie  Presse,  Wien:  „Von  seinen  schweren  philosophi- 
schen Arbeiten  über  die  Kritik  der  Sprache,  die  in  dem  bewunde- 
rungswürdigen ,  Wörter  buch  der  Philosophie'  ihren  Gipfelpunkt 
erreichten,  hat  Mauthner  frei  und  lässig  zu  kurzem  Erholungs- 
werk sich  erhoben  und  ist  zu  seiner  ersten  Liebe,  zur  Poesie, 
zurückgekehrt.  Und  er  ist  vielleicht  niemals  dem  Urquell  des 
Poetischen  so  nahegetreten  wie  in  diesem  Werke,  über  dem  zu- 
gleich ein  heiterer  Glanz  seines  Weisheitsdienstes  schimmert.  In 
einer  Sprache,  die  klar  und  durchleuchtend  ist  wie  die  Luft  auf 
dem  Firne,  erzählt  uns  Mauthner  vom  Sterben  des  großen  Buddha.'« 


Gespräche  im  Himmel 

Geheftet  M.  4.—,  gebunden  M.  5.50, 
Luxusausgabe  M.  20. — 

Nürnberger  Ztg.:  „Hier  spricht  ein  abgeklärter  Geist,  ein  Mensch, 
der  durch  Tadel  bessern  möchte,  ein  Freund  gesunden  Fortschritts, 
einer,  der  vor  der  Vergangenheit  Ehrfurcht  empfindet.  Was  er  uns 
zu  sagen  hat,  wie  er  es  sagt,  wie  er  die  deutsche  Sprache  meistert, 
das  allein  könnte  genügen !  Der  Reichtum  aber  an  neuen  und 
kritischen  Gedanken  macht  mir  das  schlichte  Buch  doppelt  wert, 
und  es  wird  jedem  so  gehen,  der  es  zur  Hand  nimmt  und  es  liest." 


I  Georg  Müller  Verlag  /  München 





Im  gleichen  Verlage  erschien  ferner: 

Bibliothek  der  Philosophen 

Geleitet  von  Fritz  Mauthner 

Von  den  ersten  zehn  Bänden  der  Sammlung"  sind  die  drei 
folgenden  von  F.  Mauthner  herausgegeben: 

Band  V  und  VIII 

Agrippa  von  Nettesheim 

über  die  Eitelkeit  und  Unsicherheit  der  Wissenschaften 
2  Bände.     Jeder  Band   geheftet   lo  Mark,   gebunden  19  Mark 

Band  II 

Jacobis  Spinoza-Büchlein 

Geheftet  5  Mark,  gebunden  9.50  Mark 


Andere  Bücher  von  Fritz  Mauthner: 

Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache 

JJlG   OPrS/Clie   in  Babers  Sammlimg  „Die  Gesellschaft" 

Xanthippe 

Hypatia 

Nach  berühmten  Mustern 

Der  letzte  Deutsche  von  Blatna 

Die  böhmische  Handschrift 

Vom  armen  Franischko 

Spamersche  Buchdruckerei  in  Leipzig. 


Oniveriifyof  Toronto 
Library 


Acme  Library  Card  Pocket 
LOWE-MARTIN  CO,  Umitod 


PPMUUÄr.-.TLJC:-: