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Full text of "Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowsky's"

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Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/daslebenpeterilj01chak 


Jvfodesf  Zschail^owsk^y. 


Das  Leben 

Peter    Ilj'itseh 

TscliaikoAA^sky's. 

Aus    dem   Russischen   übersetzt 
von 

Paul   Juon. 


rfrl' 


In    2   Bänden 


mit  vielen  Portraits,  Abbildungen  und  Facsimile  in  Zinko- 
graphie. 


MOS  KAU  — LEIPZIG 

Ъе1    Р.    JURGENSON. 


Hl 

410 


Dampf-Schnellpressendruckerei  von  P.   Jurgenson    in  Moskau 


Gewidmet 

Herrn  S.  TANEJEW 

und  Allen  Denjenigen,  denen  die  Erinnerung  an  Peter 
lljitsch  gleich  werüi  und  heilig  ist! 

M.  Tscliaikowsliy. 


V  о  R  W  ü  R  T. 


Das  Archi\^  Peter  Iljitsch  Tschaikowsky's  welches  in 
Klin  aufbewahrt,  und  als  Haupt-Material  dieses  Werkes 
gedient  hat,  besteht: 

Ahth.  1.  Aus  Briefen  von  807  Personen  an  Peter  Iljitsch, 
in  einer  Anzahl  von  6137  Nummern. 

Ahth.  II.  Aus  Briefen  von  Peter  Iljitsch  an  verschie- 
denen Personen  und  Auszügen  aus  seinem  Tagebuch,  in 
der  Anzahl  von  4112  Nummern. 

Abth.  III.  Aus  Briefen,  Erinnerungen,  Documenten  über 
Peter  Iljitsch.  Die  Anzahl  der  Nummern  dieser  Abtheilung 
ist  noch  nicht  genau  bestimmt  und  in  voller  Ordnung  ge- 
bracht in  Anbetracht  nocli  immer  neuer  Zusendungen. 

Ahth.  IV.  Aus  Manuscripten  musikalischer  und  litera- 
rischer Arbeiten  Peter  lljitsch's. 

Abth.  V.  Aus  seiner  Bibliotek  musikalischer  und  litera- 
rischer Werke  mit  Randbemerkungen  auf  verschiedenen 
Exemplaren. 

Ausserdem  hat  mir  als  Material  gedient: 

1)  Gedenkbuch  der  im  Jahre  1891  entlassenen  Rechts- 
schüler von  W.  R.  Mordwinoff.  St. -Petersburg  1894. 

2)  Erinnerungen  an  Peter  Iljitsch  Tschaikowsky  von 
N.  D.  Kaschkin.  Mosl-au,  F.  Jurgenson.  1896. 

3)  Recensionen  und  Artikel  aus  Zeitungen  über  Werke 
Peter  Iljitsch's. 

Mein  Haupt -^Mitarbeiter  bei  Zusammenstellung  des  1^ 
Bandes  \var  Hermann  Augustowitsch  Laroche,  welchem 
ich  viele  wesentliche  Theile  dieser  Biographie  zu  verdan- 
ken habe. 

Zum  Schluss  spreche  so\vohl  den  bereits  genannten 
\vie  auch  den  л1е1еп  Mitarbeitern  welche  auf  meine  Bitte- 
hin mir  ihre  Erinnerungen  mitgetheilt,  und  dadurch  viel 
zur  Vollständigkeit  und  Richtigkeit  dieses  Werkes  beige- 
tragen haben,  meinen  herzlichsten  Dank  aus. 

M.  TschaikOAvsky. 

Klin. 
November  1900 


Band   1. 


1840  —  1877. 


Die  Vergangenheit  bedauern,  auf  die  Zukunit 
hoffen  und  nie  mit  der  Gegenwart  zufrieden  sein 
— das  ist  mein  Leben. 

P.  Tschaikowsky. 

(aus  einem  Briefe). 


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Erster  Teil. 


I. 

Einer  der  eigenartigsten  Züge  in  Peter  Iljitsch  Tschai- 
kowsky's  Charakter  war  die  Ironie,  mit  welcher  er  sich 
gegenüber  seiner  adehgen  Abstammung  verhielt.  Bei  jeder 
sich  nur  bietenden  Gelegenheit  bespöttelte  er  die  Krone 
und  das  Wappen  seiner  Familie,  nannte  sie  „phantastisch" 
und  hielt  mit  einer  Hartnäckigkeit  an  der  plebejischen 
Abstammung  seiner  Ahnen  fest,  die  oft  an's  Merkwürdige 
grenzte.  Das  war  das  Resultat  seiner  demokratischen  An- 
schauungen und  Sympatieen,  aber  auch  der  ausserordent- 
lichen Gewissenhaftigkeit,  und  nicht  zum  wenigsten  des 
Stolzes,  welche  den  sittlichen  Grund  seiner  Persönlichkeit 
bildeten. 

Gleichgiltig  gegen  die  Vornehmheit  seiner  Verfahren,  war 
er  jedoch  nichts  weniger  als  gleichgiltig  gegen  ihrer  Nationa- 
lität. Die  Ansprüche  einiger  Verwandten  auf  Aristrokratismus 
bezweifelte  und  verspottete  er,  wenn  ihn  aber  Jemand 
verdächtigte,  polnischer  Herkunft  zu  sein,  so  wurde  er  ge- 
radezu zornig.  Die  Liebe  zu  Russland  und  zu  allem  Rus- 
sischen wurzelte  in  ihm  so  tief,  dass  er  glücklich  war,  in 
der  Person  eines  seiner  frühesten  Urahnen  väterlicherseits 
einen  echten  rechtgläubigen  Russen  aus  dem  Kreis  Kre- 
mentschug  feststellen  zu  können. 

hn  Register  seiner  Vorfahren  und  Verwandten  in  auf- 
steigender Linie  stösst  man  auf  keinen  Namen,  der  zur 
musikalischen  Kunst  in  irgend  welcher  Beziehung  stände. 
Nicht  ein  einziger  Berufsmusiker  ist  da  zu  finden  und  als 
Musikdilettanten  erscheinen  auch  nur  drei  Personen,  der 
Bruder  seiner  Mutter,  Michael  Assier,  ihre  Schwester  Ka- 
tharina, die  seinerzeit  in  der  Petersburger  Gesellschaft  be- 
kannte und  beliebte  Gesangsdilettantin,  und  —  die  Mutter 

Tschaikoivslcy,  M.  Das  Leben  P.  I.  Tsel]aikowsk3's.  1 


—  1  — 

des  Komponisten  selbst,  die  mit  Gefühl  und  Ausdruck  die 
damals  modernen  Arien  und  Romanzen  zu  singen  wusste. 
Alle  anderen  Assiers  und  Tschaikowsky's  waren  nicht  nur 
gänzlich  unmusikalisch ,  sondern  auch  sehr  gleichgiltig 
gegen  die  Musik.  Auch  in  der  Generation,  welcher  Peter 
Iljitsch  angehörte,  sowie  deren  Nachkommen  —  zusammen 
etwa  achtzig  Personen — sind  kaum  zehn  zu  nennen,  welche 
unzweifelhafte  wenn  auch  oberflächliche  musikalische  Be- 
gabung aufzuweisen  hätten.  Die  grosse  Menge  aller  andern 
Verwandten  zeichnete  sich  durch  ganz  besonders  ausge- 
prägte Indifferenz  zur  Musik  aus,  welche  beinahe  an 
Abscheu  grenzte,  sodass  es  kaum  möglich  ist,  festzustel- 
len, von  wem  Peter  Iljitsch  sein  Talent  geerbt  hat,  wenn 
von  Vererbung  hier  überhaupt  die  Rede  sein  kann.  Das 
Einzige,  was  sich  л'оп  seinen  Ahnen  auf  ihn  vererbt  hat, 
war  seine  ganz  aussergewöhnliche  Nervosität,  welche  sich 
oft  in  hysterischen  Anfällen  äusserte  und  sich  wahrscheinlich 
von  seinem  Grossvater  Assier,  der  Epileptiker  war,  auf 
ihn  übertragen  hatte.  Wenn  es  also  wirklich  so  ist,  wie 
einige  neuere  Gelehrte  behaupten,  nämlich,  dass  „Genie" 
eine  gewisse  psychische  Anormalität  sei,  dann  wäre  es 
wohl  möglich,  dass  gleichzeitig  mit  der  Nervosität  auch  das 
musikalische  Talent  Tschaikowsk3''s  aus  der  Familie  Assier 
auf  ihn  überkommen  ist. 


II. 

Ueber  die  Kindheit  und  Jugend  des  Vaters  des  Kom- 
ponisten, Ilja  Petro witsch,  fehlt  uns  jegliche  Auskunft.  Er 
selbst  erzählte  nie  etwas  von  seinen  jungen  Jahren,  es  war 
ihm  sogar  stets  unangenehm,  darüber  ausgefragt  zu  wer- 
den. Doch  wäre  es  durchaus  unrichtig,  anzunehmen,  dass 
irgend  welche  trübe  Erinnerungen  daran  Schuld  hätten. 
Ilja  Petro  witsch  vermied  es  einfach,  die  Aufmerksamkeit 
Anderer  durch  seine  Person  in  Anspruch  zu  nehmen  und 
erinnerte  sich  nur  dann  an  seine  Vergangenheit,  wenn 
er  irgend  eine  lustige  Begebenheit  zu  erzählen  hatte,  oder 
wenn   es   ihn    drängte,   den  Anwesenden  Freud  und  Leid 


I.  р.  Tsch.aiko-wsky, 

Vater  von  Р.  I.  Tschaikowsky,  im  lahre  1860. 


Dampfschnellpressen-Druckerei  von  P.  Jurgenson,  Moskau. 


aus  alter  Zeit  mitzuteilen;  bei  solchen  Gelegenheiten  ver- 
gass  er  jedoch — wie  es  ältere  Herren  in  derartigen  Fällen 
gewöhnlich  zu  thun  pflegen,  dass  alles  das,  was  seinem  Er- 
lebniss  voraufgegangen  oder  sich  nachher  ereignet  hatte, 
dem  Zuhörer  unbekannt  sein  musste;  wenn  ihn  nun  infol- 
gedessen Dieser  oder  Jener  um  Aufklärung  bat,  so  wurde 
er  leicht  ungeduldig  oder  gar  etwas  ärgerlich.  Im  folge- 
richtigen Zusammenhange  hat  er  aber  seinen  Lebenslauf 
nie  erzählt,  ja — nicht  einmal  einzelne  Epochen  desselben. 
Allerdings  hatte  er  einst  seine  Memoiren  zu  schreiben  be- 
gonnen (Peter  Iljitsch  hat  ihn  dazu  bewegt).  Nachdem  er 
aber  kurz  alle  seine  Ahnen  aufgezählt  hatte,  und  nun  seine 
eigene  Person  an  der  Reihe  war,  hörte  er  auf  und  wollte 
nicht  w^eiterschreiben. 

Seine  Erziehung  genoss  er  im  Kadetten-Corps  für  Bergbau, 
welche  Anstalt  er  anno  1817  als  zweiundzwanzigj ähriger 
junger  Mann  mit  Auszeichnung  absolvierte,  hn  August 
desselben  Jahres  wurde  er  mit  dem  Titel  Schichtmeister 
als  Beamter  der  13.  Klasse  in  das  Departement  für  Berg- 
werks-und  Mineral-Angelegenheiten  aufgenommen.  Aeus- 
serlich  war  sein  Lebenslauf  nicht  gerade  glänzend,  denn 
zwanzig  volle  Jahre  waren  seit  seinem  Dienstantritt  ver- 
flossen, als  ihm  der  Rang  eines  Oberstleutnants  verliehen 
wurde,  nachdem  er  inzwäschenBerggeschworener  (12.  Klas- 
se), Hüttenverwalter  (10.  Klasse),  Markscheider  (9.  Klasse), 
Ober-Hüttenverwalter  (8.  Klasse)  und  Ober-Bergmeister 
(7.  Klasse),  gewesen  war.  Der  Umstand  aber,  dass  er 
schon  mit  dreissig  Jahren  Mitglied  des  wissenschaftlichen 
Komitees  für  Bergbau  war,  sowie  1828 — 1831  in  den  hö- 
heren Klassen  des  Bergbau-Instituts  Statistik  und  Gesetz- 
we'sen  des  Bergbau's  lehrte,  weist  darauf  hin,  dass  er  in 
seinem  Fach  ein  begabter  und  fleissiger  Arbeiter  gewesen 
sein  muss. 

Im  privaten  Leben  war  er  nach  den  Bekundungen  Al- 
ler, die  ihn  kannten,  ein  sehr  angenehmer,  lebensfroher 
und  geradsinniger  Mensch.  Ausserordentliche  Herzensgüte, 
richtiger  eine  allumfassende  Liebe  war  seine  hervorragendste 
Charaktereigenschaft.  Als  Greis  traute  und  glaubte  er  sei- 
nen Nebenmenschen  ebenso  wie  in  der  Jugend  und  im 
reifen  Mannesalter.  Weder  die  schw^ere  Schule  des  Lebens, 
noch  die  verschiedenen  Enttäuschungen  vermochten  es  zu 
verhindern,  dass  er  einen  jeden  Menschen,  mit  dem  er  zu- 
sammenkam, für  den  besten  und  tugendhaftesten  hielt. 
Sein  Vertrauen  hatte  keine  Grenzen;  er  wurde  selbst  dann 


noch  nicht  misstrauischer,  als  er  gerade  infolge  seiner 
Leichtgläubigkeit  sein  ganzes,  mit  so  viel  Mühe  erworbe- 
nes Vermögen  verlor.  Enttäuschungen  kränkten  und  er- 
bitterten seine  Seele  auf's  tiefste,  konnten  aber  seinen 
Glauben  an  die  Tugendhaftigkeit  der  Menschen  und  ihrer 
Beziehungen  zu  einander  nicht  erschüttern.  Die  Folge  die- 
ser idealen  Weltanschauung  war,  dass  Ilja  Petro witsch — 
wie  gesagt — viel  Kummer  geerntet,  anderseits  aber  auch 
eine  so  grosse  Zahl  treuer  Freunde  erworben  hat,  wie  sie 
kaum  je  ein  Anderer  besass.  Wegen  seiner  unveränderli- 
chen Freundlichkeit  und  Liebenswürdigkeit  im  Verkehr, 
wegen  seiner  steten  Bereitwilligkeit,  die  Lage  seiner  Mit- 
menschen zu  würdigen,  erfreute  er  sich  einer  allseitigen 
Liebe. 

Obgleich  Ilja  Petro  witsch  ia  seinem  Fach  Tüchtiges 
leistete,  war  seine  Allgemeinbildung  ziemlich  mittelmässig. 
Seine  geistigen  Bedürfnisse  waren  leicht  zu  befriedigen, 
denn  für  Kunst  und  Wissenschaft  hatte  er  nur  ein  gerin- 
ges Verständniss;  am  meisten  interessierte  ihn  die  Musik 
und  das  Drama,  In  seiner  Jugend  blies  er  die  Flöte,  wahr- 
scheinlich aber  sehr  mangelhaft,  denn  er  hörte  schon  sehr 
früh  —  noch  vor  seiner  zweiten  Heirath  —  damit  auf.  Die 
Schauspielkunst  entzückte  ihn  bis  an's  Ende  seiner  Tage. 
Als  achtzigjähriger  Greis  besuchte  er  noch  allwöchentlich 
das  Theater  und  war  jedesmal  bis  zu  Thränen  gerührt, 
auch  wenn  das  aufgeführte  Stück  nichts  Rührendes  ent- 
hielt. 

Am  II.  September  1827  heiratete  Ilja  Petro  witsch  eine 
gewisse  Maria  Karlowna  Keiser,  welche  ihm  1829  eine 
Tochter  (Zinaida)  schenkte.  Im  Anfang  der  dreissiger  Jahre 
starb  seine  Frau,  und  Ilja  Petro  witsch  heiratete  am  i.  Ok- 
tober 1833  zum  zweiten  Mal  und  zwar  die  Jungfrau  Ale- 
xandra Andreewna  Assier. 

Von  der  Kindheit  und  Jugend  der  Mutter  des  Kompo- 
nisten ist  uns  ebensowenig  etwas  bekannt,  wie  von  demsel- 
ben Lebensalter  ihres  Gatten.  Im  Jahre  1816  verlor  sie  ihre 
Mutter  und  wurde  1819  in  die  Schule  für  weibliche  Waisen- 
kinder gebracht,  welche  sie  1829  absolvierte. 

Nach  den  erhaltenen  Schulheften  Alexandra  Andreew- 
na's  zu  urteilen,  wurde  in  dieser  Schule  sehr  guter  Unter- 
richt erteilt:  Inhalt,  Stil  und  fehlerlose  Orthographie  der 
Schülerin  beweisen  das.  Auf  die  gediegene  Erziehungsme- 
tode dieser  Anstalt  weist  auch  der  Umstand  hin,  dass  die 
genannten  Hefte  von  Alexandra  Andreewna  auf  das  Sorg- 


Alexandra  Andreewna  Tschaikowsky, 

die  Mutter  P.  I.  Tschaikowsky's,  im  Jahre  1848. 


Dampfschnellpressen-Druckerei  von  P.  Jurgenson,  Moskau. 


fältigste  aufbewahrt  wurden  (woraus  man  schliessen  kann, 
dass  die  Schule  bei  ihr  in  gutem  Andenken  blieb)  und,  dass 
sie  ausgezeichnete  französische  und  deutsche  Sprachkennt- 
nisse besass.  Allerdings  kann  es  möglich  sein,  dass  sie 
diese  Kenntnisse  schon  als  Kind  im  Hause  ihres  Vaters — 
welcher  halb  Franzose  halb  Deutscher  war  —  erworben 
hatte,  doch  ist  es  schon  anerkennenswert,  dass  diese  Kennt- 
nisse in  der  Schule  nicht  erstickt  wurden,  was  leider  in 
unseren  modernen  Lehr-Anstalten  oft  vorkommt. 

Wenn  man  bedenkt,  dass  Alexandra  Andreewna  aus- 
serdem etwas  Klavier  spielen  und  recht  hübsch  singen 
konnte,  so  kann  mal  wohl  behaupten,  dass  eine  solche  Bil- 
dung für  ein  weder  reiches  noch  vornehmes  Mädchen  doch 
recht  befriedigend  war. 

Nach  dem  Zeugniss  derjenigen  Personen,  welche  sie 
kannten,  war  Alexandra  Andreewna  eine  hohe,  stattliche 
Erscheinung,  nicht  gerade  schön,  aber  mit  jenem  wamder- 
baren  Augenausdruck,  welcher  unwillkürlich  die  Aufmerk- 
samkeit fesselt.  Alle  ohne  Ausnahme  behaupten,  dass  in 
ihrem  Aeusseren  etwas  ganz  besonders  Anziehendes  lag. 
Fanny  Dürbach,  die  Gouvernante  ihrer  älteren  Kinder, 
welche  auch  heute  noch  (in  Montbeillard  in  Frankreich) 
lebt,  erzählt,  dass  als  sie  zum  ersten  Mal  nach  Russland 
kam  (sie  zählte  damals  22  Jahre),  sie  stets  grosse  Unent- 
schlossenheit  an  den  Tag  legte,  als  ihr  diese  oder  jene 
Stellung  angeboten  wurde,  sodass  sie  oft  ohne  genügenden 
Grund  sogar  glänzende  Angebote  ausschlug;  als  sie  jedoch 
Alexandra  Andreewna  sah,  sie  gleich  im  ersten  Augenblick 
zu  dieser  vornehmen  Erscheinung  ein  solches  Zutrauen 
empfand,  dass  sie  sofort  rehe  noch  von  ihren  Pflichten  und 
von  Honorar  die  Rede  war  —  den  Entschluss  fasste,  die 
Stelle  anzunehmen.  „Ich  hatte  mich  nicht  getäuscht", — er- 
zählt sie  w^eiter, — „als  ich  damals  meiner  inneren  Stimme 
Gehör  schenkte,  denn  ich  gewann  die  vier  glücklichsten  Jahre 
meines  Lebens". 

Nach  der  Erinnerung  von  Peter  Iljitsch  war  seine  Mut- 
ter eine  hohe,  ziemlich  volle  Frau  mit  wundervollen  Augen 
und  aussergewöhnlich  schönen  Händen.  —  „Solche  Hände 
giebt  es  nicht  wieder  und  \vird  es  auch  nie  geben!"-  sagte 
er  oft.  Im  Gegensatz  zu  ihrem  Gemahl,  war  Alexandra 
Andreewna  im  Familienleben  ziemlich  zurückhaltend  mit 
warmen  Gefühlsaeusserungen  find  fast  geizig  in  Liebes- 
bezeigungen.  Sie  Avar  sehr  gutherzig,  diese  Herzensgüte 
war  aber  im  Vergleich  mit  der  beständigen  Freundlichkeit 


ihres  Gatten  zu  All'  und  Jedem  eine  strengere,  die  öfter 
in  Thaten  als  in  Worten  ihren  Ausdruck  fand. 

Wenn  ein  vierzigjähriger  Mann  aus  Liebe  ein  noch 
ganz  junges  Mädchen  heimführt,  so  erwartet  man  natur- 
gemäss,  dass  sich  die  Frau  dem  alternden  Manne  vollstän- 
dig unterwerfe.  In  diesem  Falle  war  es  aber  umgekehrt. 
Der  gutherzige,  ungeachtet  seiner  Jahre  wie  ein  Jüngling 
begeisterungsfähige ,  vertrauensselige  und  freigebige  Ilja 
Petrowitsch  fügte  sich  in  Allem — ausgenommen  seine  dienst- 
lichen Pflichten — dem  Willen  seiner  ihn  grenzenlos  lieben- 
den Frau.  Nach  Aussen  hin,  fremden  Personen  blieb  diese 
Thatsache  infolge  des  angeborenen  Taktes  dieser  Frau 
und  der  Achtung,  mit  welcher  sie  ihren  Ehemann  behan- 
delte, freilich  verborgen. 

Das  erste  Kind  aus  dieser  Ehe  war  eine  Tochter,  wel- 
che jedoch  bald  nach  der  Geburt  verstarb. 

hn  Jahre  1837  wurde  Jlja  Petrowitsch  zum  Oberhaupt 
des  Bergwerks  Kamsko-Wotkinsk  (Gouvernement  Wjat- 
ka)  ernannt  und  siedelte  mit  seiner  Frau  dorthin  über.  Am 
9.  Mai  1838  schenkte  sie  ihrem  Gatten  einen  Sohn,  Niko- 
laus, und  am  25.  April  1840  gebar  sie  ihren  zuzeiten  Sohn, 
Peter. 


^ 


щщ 


III. 


Die  Lage  des  Direktors  eines  so  grossen  Bergwerks 
wie  das  Wotkinsk'sche  glich  aeusserlich  derjenigen  eines 
reichen  Gutsbesitzers  inmitten  seiner  Ländereien,  war  viel- 
leicht sogar  noch  etw^as  bedeutender,  denn  zu  allen  Bequem- 
lichkeiten und  Behaglichkeiten  des  Lebens,  einem  pracht- 
vollen Hause,  einer  ganzen  Schar  Diener  und  Dienerin- 
nen, kam  noch  gewissermassen  die  Repräsentation  der 
obersten  Gewalt. 

Ilja  Petrowitsch  verfügte  z.  B.  über  ein  eigenes  kleines 
Heer,  eine  Sotnja  (100)  Kosaken,  hatte  auch  einen  kleinen 
Hof  um  sich,  w^elcher  aus  denjenigen  Beamten  des  Berg- 
werks bestand,  welche  privilegierten  Ständen  angehörten. 
Das  gute  Gehalt  ermöglichte  dank  der  weisen  Verwal- 
tung Alexandra  Andrccwna's  nicht  nur  jeden  irgend  wünsch- 


baren  Comfort,  sondern  auch  die  Zurücklegung  einer 
kleinen  Summe  für  etwaige  schlechtere  Zeiten.  Die  aus- 
serdem für  Repräsentationszwecke  besonders  zur  Verfü- 
gung stehenden  Gelder  waren  gross  genug  um  die  Kosten 
grösserer  Empfcänge  zu  decken  und  der  Gastfreundschaft 
Ilja  Petrowitsch's  den  weitesten  Spielraum  zu  lassen,  und 
seine  Liebenswürdigkeit,  sowie  der  eigenartige  Reiz  seiner 
Gemahlin  bewirkten  es,  dass  sein  Haus  der  beliebteste 
Versammlungsort  der  ganzen  Wotkinsk'schen  Gesellschaft 
war.  Diese  Gesellschaft  hatte  mit  dem  groben  Provinzia- 
lismus der  damaligen  Zeit  Nichts  gemein;  sie  bestand  haupt- 
sächlich aus  Petersburger  jungen  Leuten  und  den  feinge- 
bildeten Familien  einiger  Engländer,  sodass  man  hier  die 
unmittelbare  Nähe  Asiens  und  die  weite  Entfernung  der 
Civihsationszentren  absolut  nicht  verspürte. 

In  der  Zeit  der  allerfrühesten  Erinnerungen  Peter 
Iljitsch's,  d.  h.  zu  Ende  der  ersten  Hälfte  der  vierziger 
Jahre,  vergrösserte  sich  die  Familie  Tschaikowsky  um  zwei 
Mitglieder:  um  ein  Mädchen,  Alexandra  (geb.  d.  28.  Dec. 
1842),  und  um  einen  Knaben,  Hyppolit  (geb.  d.  10.  April 
1844).  In  dieser  Epoche  lebten  bei  Tschaikowsky's  noch — 
die  alte  Tante  Ilja  Petrowitsch's,  Nadeshda  Timofeewna 
Walzew,  und  zwei  seiner  Nichten:  Anastasia  Wassiljiewna 
Popoff,  ein  Mädchen  von  38  Jahren,  und  L^^dia  Wladimi- 
rowna  Tschaikowsky,  ein  lo-j ähriges  Mädchen,  welches 
kurz  vorher  ihre  Mutter  verloren  hatte.  Die  Pflege  der 
jüngsten  Kinder  nahm  Alexandra  Andreewna  so  sehr  in 
Anspruch,  dass  sie  sich  in  die  Notwendigkeit  versetzt  sah, 
für  Lydia  und  Nikolaus  eine  Gouvernante  zu  engagieren. 
Als  sie  zum  Zwecke  des  Wiedersehens  ihrer  Verwandten 
und  der  im  Katharinen-Institut  befindlichen  Stieftochter 
nach  Petersburg  reiste,  lernte  sie  dort  Fanny  Dürbach 
kennen  und  kehrte  in  deren  Begleitung  im  November  1844 
nach  Wotkinsk  zurück. 

Angesichts  des  unauslöschbar  tiefen  Einflusses,  welchen 
diese  Person  auf  Peter  Iljitsch  gehabt  hatte,  werde  ich 
mir  erlauben,  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  für  einige 
Zeit  auf  sie  zu  lenken. 

Alles,  was  über  die  damalige  Fann}'  gesagt  werden 
kann,  ist,  dass  sie  speziell  für  die  pädagogische  Thätigkeit 
vorbereitet  war,  bereits  eine  gewisse  Erfahrung  darin  hatte, 
dass  sie  die  französische  so  wie  die  dei#tsche  Sprache 
gleich  gut  beherrschte,  und  dass  sie  in  ihren  moralischen 
Grundsätzen  eine  strenge  Protestantin  war.  Um  aber  ihre 


Vorzüge  besser  zu  beleuchten,  werde  ich  meine  Begegnung 
mit  ihr  1894  j^'^  Montbeillard,  einem  kleinen  französischen 
Städchen  in  der  Nähe  von  Beifort,  erzählen. 

Sie  bewohnt  mit  ihrer  Schwester  ein  eigenes  dreistöcki- 
ges Häuschen,  welches  aber  kaum  gross  genug  ist,  um 
ihre  drei  kleinen  sauberen  Stuben  zu  fassen.  Sie  wohnen 
ganz  allein.  Aus  Mangel  an  Geldmitteln  halten  sie  keinerlei 
Bedienung;  die  Pflichten  der  Köchin  besorgt  Frederike, 
welche  ebenfalls  längere  Zeit  in  Russland  als  Gouvernante 
thätig  gewesen  war  und  sich  ein  ganz  kleines  Vermögen 
erspart  hatte.  Fanny  erteilt  bis  Heute  noch  Unterricht.  Die 
ärmlichen  Verhältnisse,  in  denen  sie  lebt,  überraschten 
mich  umsomehr,  da  ich  wusste,  dass  Peter  Iljitsch  zwei 
Jahre  vorher  sie  beschwor,  eine  fortlaufende  Geldunter- 
stützung von  ihm  anzunehmen,  und  dass  sie  diese  auf  das 
Entschiedenste  abwies.  „Ich  bin  zufrieden  mit  dem  was  ich 
habe"  wiederholte  sie  auch  mir  gegenüber  stets,  als  ich 
ihr  bei  meinen  ziemlich  häufigen  Besuchen  andeutete,  dass 
die  Erben  des  Komponisten  den  Wunsch  hätten,  ihr  in 
materieller  Beziehung  nach  Möglichkeit  zu  helfen:  „so  weit 
es  nach  den  schweren  Schicksalsschlägen,  die  mich  im 
Leben  getroffen  haben,  überhaupt  noch  möglich  ist  glücklich 
zu  sein — bin  ich  glücklich",  sprach  sie.  Und  in  der  That, 
in  dem  Ausdruck  ihres  für  die  72  Jahre  noch  ziemlich  ju- 
gendlichen Gesichtes,  in  dem  Blick  ihrer  grossen  schwar- 
zen Augen  glänzte  eine  solche  Seelenruhe,  eine  solche 
Reinheit,  dass  es  mir  im  Augenblick  wohl  schien,  weder 
die  physischen  Leiden  (sie  krankt  an  Asthma  und  Schlaf- 
losigkeit), noch  alle  materiellen  Entbehrungen  seien  imstande, 
die  Leuchte  ihres  Lebensabends  zu  verdunkeln. 

Nachdem  sie  Russland  in  den  fünfziger  Jahren  verlassen 
hatte,  liess  sie  sich  in  Montbeillard  nieder  und  verbrachte 
daselbst  als  Lehrerin  volle  vierzig  Jahre  ohne  Unterbre- 
chung. Die  Hälfte  aller  Einwohner  dieses  Städtchens  sind 
ihre  Schüler  und  Schülerinnen  gewesen.  Als  sie  mir  vor 
meiner  Abreise  noch  ihren  kleinen  Gemüsegarten  zeigen 
wollte  und  mich  durch  die  Strassen  in's  Feld  führte,  wurde 
sie  fast  von  jedem  Entgegenkommenden  ehrfurchtsvoll  ge- 
grüsst. — „Wenn  man  so  viele  Freunde  hat" — sagte  sie  mir, — 
wie  sollte  man  da  noch  klagen?  —  Sie  können  ruhig  sein, 
hier  bin  ich  gut  aufgehoben,  selbst  wenn  es  mir  einmal 
schlecht  gcheU  sollte".  Ein  englisches  vSprichwort  sagt:  the 
child  is  father  to  the  man.  Frei  übersetzt  könnte  man 
vielleicht  sagen:  die  Jugend  erzieht  das  Alter;   nach  dem 


—  9  — 

leuchtenden  ruhigen  Alter  Fanny's  kann  nian  sich  daher 
wohl  vorstellen,  was  für  ein  gutes,  tugendhaftes  Mädchen 
sie  im  Jahre  1844  gewesen  sein  muss.  Dafür  spricht  aber 
auch  der  Umstand,  dass  trotz  der  verhcältnissmässig  kur- 
zen Zeit  ihres  Aufenthaltes  in  der  Familie  Tschaikowsky 
(nur  4  Jahre  waren  es)  das  Andenken  an  sie  bis  Heute  noch 
fortlebt,  während  alle  ihre  Nachfolgerinnen  bereits  lange 
vergessen  sind. 

Zu  unserem  Glück  erinnert  sie  sich  sehr  klar  an  die 
„glücklichste  Epoche  ihres  Lebens".  Ihre  Erzählung  über 
die  Ankunft  in  Wotkinsk  charakterisiert  sehr  lebhaft  die 
patriarchalen  Sitten  der  Verwandschaft  Peter  Iljitsch's. 
„Ich  reiste  von  Petersburg  mit  Frau  Tschaikowsky  und 
Nikolaus  ab.  Wir  waren  volle  drei  Wochen  unterwegs 
und  lernten  uns  in  dieser  Zeit  so  gut  kennen,  dass  wir  bei 
unserer  Ankunft  bereits  intime  Freunde  waren.  Die  Güte 
und  das  freundliche  Entgegenkommen  der  Frau  Tschai- 
kowsky, so  wie  das  angenehme  Aeussere  Nikolai's  gefielen 
mir  sehr,  und  das  gute  Benehmen,  die  Wohlerzogenheit 
des  Knaben  bürgte  mir  dafür,  dass  ich  es  nicht  schwer 
haben  werde.  Und  doch  war  ich  sehr  verwirrt.  Alles  wäre 
gut,  wen  ich  nach  der  Ankunft  nur  mit  Frau  Tschaikowsky 
und  ihrem  Sohn  zu  thun  haben  wäu^de,  aber  dem  war  nicht 
so:  es  erwarteten  mich  auch  andere,  mir  fremde  Personen, 
andere  Sitten,  andere  Gebräuche,  kurz  ein  ganz  anderes 
unbekanntes  Leben  harrte  meiner.  Je  näher  zum  Ziel,  desto 
unruhiger  und  aufgeregter  wurde  ich.  Als  wir  aber  vor 
der  Thür  des  Hauses  angelangt  waren,  genügte  ein  Augen- 
blick, um  all'meine  Angst  für  immer  zu  bannen.  Es  kam 
eine  grosse  Menge  Leute  herausgelaufen  und  es  begann 
ein  so  allgemeines  Küssen  und  Umarmen,  dass  man  in  dem 
Gewirr  Verwandschaft  und  Dienerschaft  nicht  unterschei- 
den konnte.  Die  echte  ungeheuchelte  Freude  verbrüderte 
Alle.  Herr  Tschaikowsky  kam  auf  mich  zu  und  küsste 
mich  ohne  Umstände,  als  wenn  ich  seine  Tochter  wäre. 
Diese  einfache  Herzlichkeit  der  Beziehungen  ermunterte 
mich  sehr,  sodass  ich  mich  fast  als  Familienmitglied  fühlte. 
Es  war,  als  ob  ich  nicht  eben  erst  angekommen,  sondern 
wie  Frau  Tschaikowsky  und  ihr  Sohn  nach  Hause  zurück- 
gekehrt sei.  Am  nächsten  Morgen  schon  begann  ich  mit 
dem  Unterricht  ohne  jede  Aufregung  oder  Furcht  lür  die 
Zukunft". 


lO 


IV. 


Peter  Iljitsch  war  damals  4Y2  Jahre  alt.  Er  flehte  mit 
Thränen  in  den  Augen,  man  möchte  ihn  auch  am  Unterricht 
teilnehmen  lassen,  sodass  Alexandra  Andreewna  endlich 
nachgab  und  ihn  zu  Nikolai  und  Lydia  gesellte.  Von  dieser 
Zeit  an  lernte  er  mit  seinen  älteren  Geschwistern  zusam- 
men und  war  stets  sehr  beleidigt,  menn  man  ihm  aus  Rüksicht 
auf  sein  Alter  diese  oder  jene  Arbeit  ersparen  wollte.  Er 
hatte  auch  wirklich  sehr  bald  seine  Mitschüler  in  allen  Fä- 
chern eingeholt  und  konnte  als  sechsjähriger  Knabe  flies- 
send fl-anzösisch  und  deutsch  lesen.  Russischen  Unterricht 
erteilte  ein  in's  Haus  kommender  Lehrer  Namens  Blinoff"  ^). 

Vom  ersten  Augenblick  an  empfand  Fanny  eine  beson- 
dere Zuneigung  zu  ihrem  j"üngsten  Schüler,  nicht  nur  weil 
er  den  Andern  an  Befähigung  überlegen  war  und  gewis- 
senhafter arbeitete,  auch  nicht  weil  er  im  Vergleich  mit 
Nikolai  stiller  war  und  seltener  wegen  Ungezogenheiten 
gescholten  werden  musste,  sondern  auch  weil  all'  seinem 
Thun  und  Lassen  etwas  Besonderes,  etwas  Ungewöhnliches 
anhaftete.  Etwas  was  Jeden,  der  mit  diesem  Kinde  in  Be- 
rührung kam,  unwiderstehlich  bezauberte. 

Er  war  aeusserlich  nicht  so  schön  W4e  Nikolai,  auch 
etwas  nachlässiger  als  dieser.  Seine  Toilette  w^ar  immer  in 
Unordnung:  entweder  hatte  er  seine  Kleider  in  Zerstreutheit 
irgendwo  beschmutzt,  oder  es  fehlte  Dieses  und  Jenes  daran; 
sein  Haar  war  gewöhnlich  nur  mangelhaft  gekämmt  u.  s. 
w.,  so  dass  er  neben  dem  pomadisierten,  eleganten  und 
stets  tadellosen  Nikolai  im  ersten  Augenblick  gar  keinen 
Eindruck  machte.  Aber  schon  nach  kurzem  Zusammen- 
sein übte  sein  Verstand,  und  noch  mehr  sein  Herz  jenen 
bezaubernden  Einfluss  aus,  so  dass  man  doch  ihm  den 
Vorzug  vor  den  anderen  Kindern  geben  musste.  Dieses 
anziehende  sympatische  Wesen,  diese  köstliche  Eigenschaft, 
alle  Menschen  für  sich  einzunehmen,  blieb  ihm  in  seinem 
ganzen  Leben  eigen.  Der  Gedanke  liegt  nahe,  dass  sein 
jetziger  Ruhm  bei  Denjenigen,  die  ihn  auch  früher  kannten, 
die  Erinnerung  beeinflusst  haben  könnte,  dass  sie  retrospek- 
tiv die  Person  des  Kindes  mit  dem  Glänze  dieses  Ruhmes 
umgeben;  dem  ist  aber  nicht  so,  denn  es  sind  viele  Do- 
kumente  vorhanden,    welche   beweisen,    dass    die  Person 


П  Es    ist    mir   nicht    gelungen,    Ktwas   Xäheres  über   diesen  Herrn  in  Erfahrung   zu 
bringen. 


—  II  — 


Peter  Iljitsch's  schon  damals  Aller  Aufmerksamkeit  fesselte, 
als  von  Ruhm  noch  gar  keine  Rede  sein  konnte. 

1843  bereits  nannte  ihn  Ilja  Petrowitsch  in  einem  Briefe, 
,, unser  Aller  Liebling",  „die  Perle  meines  Hauses".  Ale- 
xandra Andreewna,  welche  von  Aussen  betrachtet,  alle 
ihre  Kinder  gleich  liebevoll  behandelte,  soll  nach  vielen 
Zeugnissen  gar  manches  Mal  gesagt  haben,  ihr  zweiter 
Sohn  sei  „der  Schatz,  das  Gold  der  Familie".  Das  alte 
Mütterchen  Nadeshda  Timofeewna  hatte  ihn  zu  ihrem  Uni- 
versalerben auserkoren.  Anastasia  Wassiljewna,  welche 
der  Ruhm  eines  Musikers  durchaus  gleichgiltig  Hess,  wel- 
che nach  ihrer  Erziehung  und  den  veralteten,  Ansichten 
ein  solches  Fach  sogar  verachten  konnte,  welche  nie  auch 
nur  eine  Note  aus  seinen  Kompositionen  gehört  hatte,  — 
hatte  bis  zum  letzten  Atemzug  ihr  „Peterchen"  vergöttert. 
Und,  Fann}^,  endlich,  welche  zur  Zeit,  als  sein  Ruhm  den 
Höhepunkt  erreichte,  als  der  Name  ihres  Zöglings  in  ganz 
Frankreich  genannt  wurde,  sich  sorgfältig  vor  ihm  verbarg 
und  das  Wiedersehen  mit  ihm  durchaus  nicht  wünschte, 
aus  Furcht  „de  ne  plus  retrouver  son  petit  cheri  d'autre- 
fois"  (ihren  Liebling  von  früher  in  ihm  nicht  wiederzufin- 
den), diese  Fanny  bewahrte  während  fünfzig  Jahren  den 
kleinsten  von  seiner  Kinderhand  beschriebenen  Papierfet- 
zen wie  ein  Heiligtum  auf.  Beweist  dieses  nicht  zur  Ge- 
nüge, dass  sie  in  Peter  Iljitsch  nicht  den  zukünftigen  be- 
rühmten Mann  liebte,  sondern  lediglich  das  Kind?  Aber 
nicht  nur  die  Nahestehenden  Personen  zeichneten  ihn  aus, 
auch  Andere.  Eine  gewisse  Emilie  Landraschen,  eine  Freun- 
din Fanny's,  schrieb  1849:  „dieses  Kind  gefällt  mir  besser, 
als  die  anderen". 

Auf  meine  Frage,  auf  welche  Weise  denn  dieser  eigen- 
artige Zauber,  den  der  Knabe  ausstrahlte,  sich  aeusserte, 
antwortete  die  greise  Gouvernante:  „Eigentlich  in  Nichts 
Besonderem  und  doch  in  Allem,  was  er  that.  Während  des 
Unterrichts  war  Keiner  so  emsig  und  so  verständig,  in  den 
Pausen  erfand  Keiner  so  lustige  Spässe,  in  den  Lesestun- 
den hörte  Keiner  so  aufmerksam  zu,  als  er,  und  wenn  ich 
in  der  Dämmerung  der  Feierabende  meine  Zöglinge  um 
mich  sammelte  und  einen  Jeden  irgend  eine  Geschichte 
erzählen  Hess,  dann  wusste  Niemand  so  schön  zu  impro- 
visieren, wie  er.  Diese  köstlichen  Stunden  unseres  Lebens 
werde  ich  nie  vergessen.  Im  gewöhnlichen  Umgang  mit 
ihm  hatte  man  ihn  deshalb  so  lieb,  weil  er  selbst  alle  lieb 
hatte.  Seine  Empfänglichkeit  war  geradezu  grenzenlos,  und 


12    — 

man  musste  ihn  deshalb  sehr  vorsichtig  behandeln.  Er 
konnte  durch  eine  Kleinigkeit  verletzt,  beleidigt  werden. 
Das  war  ein  „Porzellan"-Kind.  Die  geringste  Bemerkung, 
ein  einziges  Scheltwort  (von  Strafen  konnte  bei  ihm  keine 
Rede  sein)  wie  es  bei  andern  Kindern  unbeachtet  zu  bleiben 
pflegt,  nahm  er  sich  tief  zu  Herzen  und  konnte  dadurch 
so  verstimmt  werden,  dass  es  geradezu  beängstigend  wurde. 
Eines  Tages  machte  ich  beiden  Brüdern  wegen  einer  schlecht 
ausgeführten  Arbeit  Vorwürfe  und  sagte  unter  Anderem, 
dass  ich  ihren  Vater  bedauere,  denn  er  müsste  schwer 
arbeiten  um  für  seine  Kinder  die  Kosten  der  Erziehung  zu 
erschwingen,  sie  seien  aber  so  undankbar  und  würdigten 
das  garnicht,  indem  sie  ihre  Pflichten  vernachlässigten.  Ni- 
kolai Hess  diese  Bemerkung  über  sich  ergehen,  sprang 
und  spielte  aber  an  diesem  Tage  mit  seinen  Kameraden 
nicht  minder  fröhlich  als  sonst,  Pierre  jedoch  blieb  den 
ganzen  Tag  still  und  nachdenklich,  und  als  er  abends  zu 
Bette  ging,  konnte  er  seine  Thränen  nicht  länger  zurückhal- 
ten, beteuerte,  dass  er  seinen  Vater  doch  sehr  lieb  hätte 
und  dass  er  ungerechterweise  der  Undankbarkeit  geziehen 
worden  sei.  Ich  versichere  Ihnen — man  konnte  nicht  anders, 
als  ihn  gern  haben,  denn  er  hatte  Alle  und  Alles  lieb.  Das 
Schwache,  das  Unglückliche  hatte  in  ihm  stets  einen  eifri- 
gen Vertheidiger.  Einst  hörte  er,  dass  Jemand  die  Absicht 
habe,  ein  Kätzchen  zu  ertränken.  Nachdem  er  in  Erfahrung 
gebracht,  wer  dieser  Uebelthäter  war,  bat  er  bei  diesem 
flehentlich  um  vSchonung  des  Thierchens  und  erreichte  auch 
sein  Ziel.  Hocherfreut  eilte  er  nach  Hause  direkt  in  das 
Arbeitszimmer  seines  Vaters,  welcher  gerade  in  einer  dien- 
stlichen Unterredung  mit  einigen  Herren  begriffen  war, 
und  erzählte  feierlichst,  dass  ihm  die  „Rettung"  geglückt  sei. 
Die  Liebe  zu  allen  Unglücklichen  fand  auch  in  seiner 
ungewöhnlichen  Sympatie  für  Ludwig  XVII.  Ausdruck. 
Fanny  erzählt,  dass  er  nicht  müde  wurde,  alle  Einzelhei- 
ten über  den  qualvollen  Tod  dieses  unschuldigen  Märtyrers 
auszufragen.  Selbst  als  Erwachsener  hörte  er  nicht  auf,  sich 
für  den  Prinzen  zu  interessieren;  1868  kaufte  er  in  Paris 
ein  Bild,  welches  ihn  im  Temples  darstellte,  und  liess  es 
einrahmen.  Dieses  Bild  und  das  Portrait  Anton  Rubinsteins 
blieben  lange  Zeit  hindurch  der  einzige  Schmuck  seiner 
Behausung.  Der  an  Chauvinismus  grenzende  grosse  patrioti- 
sche Zug,  welcher  die  Zeit  der  Regierung  Nikolaus  I.  cha- 
rakterisiert, hat  auch  auf  Peter  Iljitsch  einen  bleibenden 
Eindruck    hinterlassen,  denn    aus  dieser  Zeit  stammt  jene 


—  13  — 

geradezu  rührende  Liebe  zu  Allem  was  „russisch"  war, 
welche  Peter  Iljitsch  das  ganze  Leben  hindurch  in  sich 
trug.  Diese  Liebe  zum  Vaterland  hat  er  sogar — wie  wir 
weiter  unten  sehen  werden — in  Gedichten  besungen;  man- 
ches Mal  bekundete  er  sie  aber  auch  auf  eine  recht  drol- 
lige Art  und  Weise.  „So  war  es  auch",  erzählt  Fanny, — 
„als  er  eines  Tages  während  der  Pause  im  Atlas  blätterte. 
Wie  er  die  Karte  von  Europa  aufschlug,  begann  er  plötzlich 
das  Russische  Reich  mit  Küssen  zu  bedecken,  während 
er  den  übrigen  Teil  Europa's  gleichsam  anspie.  Als  ich 
ihm  vorhielt,  dass  er  sich  schämen  sollte,  sich  so  zu  be- 
nehmen, dass  es  schlecht  sei,  seine  Mitmenschen,  welche 
gleich  ihm  zu  Gott  „Unser  Vater"  sagen,  nur  deshalb  zu 
hassen,  weil  sie  nicht  Russen  seien,  dass  er'  also  auch  sie, 
seine  Fann^^,  anspucke,  weil  sie  Französin  sei! — „Sie  haben 
keinen  Grund,  mich  zu  schelten,  haben  Sie  denn  nicht  be- 
merkt, dass  ich  Frankreich  mit  der  Hand  bedeckt  hielt?" — 
antwortete  Pierre". 

Obgleich  Peter  Iljitsch  der  allgemeine  Liebling  in  der 
Familie  w^ar,  so  wurde  er  doch  von  Niemandem  verwöhnt 
oder  verhätschelt,  ausser  vielleicht  von  Nadeshda  llmo- 
feewna  oder  Anastasia  Wassiljewna.  Seine  Mutter,  unter 
ihrem  Einflüsse  aber  auch  Fanny  und  alle  Uebrigen  be- 
handelten ihn  gerade  so  wie  die  andern  Kinder,  ohne  ihn 
in  irgend  einer  Weise  zu  bevorzugen.  Fanny  erzählt:  „Wir 
lebten  getrennt  von  den  Erwachsenen  unser  eigenes  Leben; 
nur  benn  Mittagessen  kamen  wir  mit  ihnen  zusammen.  Die 
Abende  verbrachten  wir  bei  uns  oben  in  Unterhaltung 
oder  beim  Lesen.  Im  Sommer  hatten  wir  eine  Ec|uipage 
zu  unserer  Verfügung  und  unternahmen  Spazierfahrten  in 
die  Umgegend  von  Wotkinsk.  An  Werktagen  war  unsere 
Zeit  von  6  Uhr  früh  an  genau  eingeteilt  und  das  Progranun 
wurde  stets  pünktlich  ausgeführt.  Da  die  Zahl  der  freien 
Stunden  nur  sehr  gering  war,  so  bestand  ich  darauf,  dass 
sie  zu  körperlichen  Uebungen  verwendet  wurden;  oft  hatte 
ich  aber  deshalb  Auseinandersetzungen  mit  Pierre,  denn 
nach  dem  Unterricht  zog  es  ihn  stets  an's  Klavier.  Uebri- 
gens  fügte  er  sich  gewöhnlich  meinem  Willen  und  lief  und 
tollte  gern  mit  seinen  Geschwistern;  man  musste  ihn  aber 
jedesmal  darauf  bringen:  sich  selbst  überlassen  ging  er 
lieber  an  die  Musik,  oder  las,  oder  machte  Gedichte". 

Die  früheste  eigene  Erinnerung  Peter  Iljitsch's- an  jene 
Epoche  seines  Lebens  bezieht  sich  auf  eine  Reise,  die  er 
in  Begleitung  seiner  Mutter  und  Anastasia  Wassiljewi\a's 


—  14  — 

nach  Bad  Sergiewsk  machte.  Das  war  im  Jahre  1845.  Un- 
terwegs auf  der  Hinreise  kehrten  sie  nach  einer  langen, 
ermüdenden,  abendhchen  Fahrt  in  dem  hell  erleuchteten 
Häuschen  einer  Verwandten  Alexandra  Andreewna's  ein, 
und  verbrachten  da  einige  Tage.  Der  Eindruck,  den  dieses 
freundliche  gemütliche  Häuschen  auf  Peter  Iljitsch  machte, 
war  ein  sehr  intensiver — zumal  nach  der  langen  Fahrt  in 
finstrer  Nacht.  Nach  seinen  eigenen  Worten,  datiert  seine 
grosse  Neigung  zum  ländlichen  Leben,  die  ihn  nie  verlas- 
sen hatte,  seit  jenem  Ereigniss. 

Aber  auch  das  Leben  im  Bad  selbst,  wo  er  die  Zärt- 
lichkeiten seiner  von  ihm  abgötterisch  geliebten  Mutter  mit 
Niemandem  zu  teilen  brauchte,  das  Kennenlernen  neuer 
Gegenden,  anderer  Menschen  gehörte  zu  seinen  heitersten, 
angenehmsten  Erinnerungen  aus  der  Kindheit.  Eine  andere 
Begebenheit,  die  er  gern  erzählte,  war  die  Rückkehr  seiner 
Eltern  aus  Petersburg,  wohin  sie  Ende  1846  gereist  waren, 
um  seine  Stiefschw^ester  Zinaida  abzuholen,  die  unterdess 
den  Lehrkursus  im  Katharinen-histitut  durchgemacht  iiatte. 
Das  igeschah  an  einem  Winterabend  kurz  vor  Weihnachten. 
Er  erinnerte  sich  lebhaft  an  das  freudige  Entzücken,  wel- 
ches ihn  und  mit  ihm  alle  andern  Hausbewohner  ergriff, 
als  das  Glockengeklingel  der  herannahenden  Troika  ertönte 
und  sie  alle  mit  Freudenrufen  in  den  Vortlur  stürzten,  wie 
dann  die  Thür  aufging  und  eine  ganze  Wolke  frostigen 
Dunstes  eindrang,  wie  ein  kleines  allerliebstes  weibliches 
Wesen  in's  Zimmer  gelaufen  kam, — seine  Stiefschwester, 
welche  er  bis  dahin  noch  nie  gesehen  hatte,  denn  Zinaida 
Iljinischna  w^ar  noch  vor  seiner  Geburt  in  das  histitut  ge- 
bracht worden.  Er  erinnerte  sich  auch  an  das  überirdische 
Glücksgefühl,  welches  ihn  überkam,  als  er  nach  drei-oder- 
viermonatelanger  Trennung  seine  Mutter  wieder  umarmen 
durfte.  Lange,  sehr  lange  noch,  als  er  bereits  zum  Manne 
herangereift  war,  konnte  er  nicht  ohne  Thränen  von  seiner 
Mutter  sprechen,  sodass  seine  Bekannten  es  geradezu  ver- 
mieden, ihn  darauf  zu  bringen. 

Mit  der  Ankunft  des  hübschen,  munteren,  jungen  Mäd- 
chens, dessen  helles  Lachen  über  das  ganze  Haus  schallte, 
das  ausserdem  viele  grossstädtische  Neuigkeiten,  namentlich 
inbetreff  von  allerlei  Belustigungen  und  Gepflogenheiten 
mit  sich  gebracht  hatte, — wurde  das  ohnehin  schon  fröhliche 
Leben  in  diesem  gastfreundlichen  Hause  noch  lustiger,  noch 
glücklicher.  Unserem  phantastisch  veranlagten  Knaben  er- 
schien Zinaida  Iljinischna  als  eine  Fee,  welche  aus    einer 


_  Г5  — 

Welt  voll  Zauber  und  himmlischer  Freuden  herniederge- 
kommen ist.  Ihre  Erzählungen  vom  Theater,  welches  zu 
sehen  er  sich  als  das  höchste  Glück  dachte,  die  Tcänze  und 
lebenden  Bilder,  welche  sie  zu  arrangieren  wusste, — dass 
Alles  regte  seine  Phantasie  an  und  entzückte  ihn  im  höchsten 
Grade. 

Am  6.  Februar  1848  wurde  Ilja  Petrowitsch  infolge 
seines  eigenen  Ansuchens  mit  dem  Range  eines  General- 
majors pensioniert.  Einige  Zeit  vorher  hatte  er  aber  Unter- 
handlungen mit  der  Verwaltung  mehrerer  grossen,  sehr 
reichen  Privatpersonen  gehörenden  Werke  angeknüpft,  mit 
der  Aussicht  eine  Anstellung  daselbst  zu  erlangen.  Zu 
diesem  Zwecke  war  aber  ein  längerer  Aufenthalt  in  Mos- 
kau notwendig,  sodass  er  im  Herbst  desselben  Jahres 
mit  seiner  ganzen  Familie  Wotkinsk  verliess.  Da  nun  Ale- 
xandra Andreewna  beabsichtigte  nach  der  Ankunft  in  der 
Hauptstadt  Lydia  einem  Institute  anzuvertrauen  und  auch 
die  älteren  Söhne  in  eine  Schule  zu  schicken,  die  jünge- 
ren Kinder  aber  eher  einer  Bonne,  als  einer  Gouvernante 
bedurften,  so  schlug  Fanny  es  ab,  mit  der  Familie  nach 
Moskau  überzusiedeln,  fand  eine  andere  Stelle  bei  dem 
Gutsbesitzer  Neratoff  und  verabschiedete  sich  von  ihren 
Freunden  für  immer.  Erst  nach  44  Jahren  sollte  es  ihr 
vergönnt  sein,  Peter  Iljitsch  wiederzusehen. 

Aus  ihrer  Correspondenz  mit  Tschaikowsky's  ist  zu 
ersehen,  wie  schwer  für  beide  Teile  diese  Trennung  wurde. 
Tschaikowsky's  hatten  Fanny  ein  gutes  Andenken  bewahrt, 
und  sie  selbst  hat  bis  Heute  noch  Alle  in  der  Erinnerung. 

Um  den  Kindern  den  Abschied  nicht  allzu  traurig  zu 
machen,  wurde  beschlossen,  das  Fanny  ganz  in  der  Frühe, 
als  sie  alle  noch  schliefen,  abreisen  sollte.  Alexandra  An- 
dreewna war  der  Hoffnung,  dass  die  Kinder  in  dem  Tru- 
bel der  Vorbereitungen  für  ihre  eigne  Abreise,  welche  an 
demselben  Tage,  nur  später  erfolgen  sollte,  ihr  Unglück 
weniger  schwer  empfinden  würden. 


V. 

Ausser  den  für  einen  Biographen  sehr  wertvollen  münd- 
lichen Ueberlieferungen,  hat  Fanny  all'die  Hefte  ihres  Lie- 


blings  aufbewahrt,  in  welche  er  Wcährend  der  Mussestim- 
den  seine  eignen  Gedanken,  meistens  in  Versen  niederschrieb. 
Um  keinen  Preis  in  der  Welt  wollte  die  Greisin  diese 
Reliquien  ihrer  Vergangenheit  fortgeben.  „Alles  was  von 
Pierre's  Hand  geschrieben  worden  ist,  kann  ich  nur  nach 
meinem  Tode  preisgeben.  Diese  lieben  Blätter  enthalten 
meine  teuerstenErinnerungen", — schreibt  sie  in  einem  Briefe. 
Diese  Blätter  zu  kopieren  willigte   sie  jedoch  ein. 

Diese  Hefte  enthalten  freilich  nichts  künstlerisch  und 
litterarisch  Vollkommenes,  doch  sind  sie  deshalb  nicht  we- 
niger interessant.  Man  muss  bedenken,  dass  sie  von  einem 
siebenjährigen  Knaben  herrühren,  welcher  sie  nur  für  sich 
allein,  und  deshalb  wahr  und  aufrichtig  geschrieben  hatte, 
nicht  um  heuchlerisch  seine  edlen  Gefühle  zur  Kenntniss 
Anderer  gelangen  zu  lassen,  sondern  lediglich,  weil  es  ihn 
drängte,  die  ihn  bestürmenden  Gefühle  und  Gedanken  auf 
irgend  eine  Weise  auszudrücken;  auch  sollte  er  in  Zu- 
kunft nicht  Dichter  sondern  Musiker  werden,  hi  diesen 
Heften  finden  wir  den  Ursprung  und  die  Erklärung  seiner 
zukünftigen  Richtung,  sie  sind  deshalb  nicht  nur  für  die 
Biographie  Peter  Iljitsch's  allein  von  Interesse,  sondern 
liefern  auch  einiges  Material  für  das  Studium  der  Entwick- 
lungsgeschichte eines  jeden  künstlerischen  Genie's  über- 
haupt. Von  solchem  Standpunkt  aus  erscheinen  jene  Verse, 
Bemerkungen  und  s.  w.  als  handschriftliche  Dokumente 
eines  früh  erwachten  Dranges  sich  auszusprechen,  sich 
mitzuteilen,  während  das  richtige  Mittel  dazu  noch  nicht 
gefunden  war.  In  ihnen  pocht  der  zukünftige  Künstler 
gleichsam  an  eine  falsche  Thür.  Beim  Lesen  dieser  kindi- 
schen und  kindlichen  Gefühlsergüsse  muss  man  anfangs 
unwillkürlich  über  ihre  ungeschickten  oder  missratenen 
Formen  lächeln,  je  weiter  man  aber  liest  desto  mehr  wird 
man  von  der  Erhabenheit  und  Reinheit  der  Stimmungen 
des  Knaben  ergriffen.  Diese  Stimmungen  sind  es  eben,  an 
denen  wir  nicht  achtlos  vorübergehen  dürfen. 

Im  Ganzen  sind  es  zwei  Hefte  und  mehrere  lose  Blät- 
ter. Die  Schriftzüge  sind  nicht  schön,  doch  für  einen  Kna- 
ben von  sieben  Jahren  merkwürdig  ausgebildet  und  sicher. 
Im  Anfang  eines  jeden  Aufsatzes  ist  die  Absicht  zu  mer- 
ken, mciglichst  kalhgraphisch  zu  schreiben,  besonders  sind 
dieTitel  offenbar  sehrmühevoll  mitverschiedenenSchnörkeln 
und  sonstigen  pretentiösen  Verzierungen  ausgeschmückt.  Je 
weiter  aber — je  weniger  Geduld,  und  das  Ende  ist  stets 
sehr  flüchtig  hingeworfen.  Ueberhaupt  trägt  das  aeussere 


—  17  — 

Aussehen  dieser  Hefte  den  Stempel  vollkommener  Will- 
kürlichkeit und  sogar  Nachlässigkeit.  So  schreibt  man  je- 
denfalls nicht,  wenn  die  Absicht  vorhanden  ist,  es  Jeman- 
dem zu  zeigen.  Gedichte,  Auszüge  aus  Büchern,  Entwürfe 
für  Briefe,  Versuche  ein  Häus'chen  zu  zeichnen,  einzelne 
Sätze  und  Worte,  ohne  jede  Beziehung  zum  Voraufge- 
gangenen oder  Nachfolgenden,  finden  wir  da  in  bunter 
Abwechslung.  Sehr  interessant  ist  es,  dass  am  häufigsten 
und  ohne  jeden  Grund  das  Wort  „Gott"  vorkommt,  man- 
ches Mal  sogar  in  einer  Vignette.  Ob  das  einfach  eine 
kalligraphische  Uebung  war,  und  ihn  dieses  Wort  nur  als 
Combination  von  hübschen  Buchstaben  interessierte,  oder 
ob  sich  darin  die  Gedanken  wiederspiegeln,  die  von  der 
gottesfürchtigen  Gouvernante  oft  angeregt  wurden  —  ist 
jetzt  schwer  zu  entscheiden,  doch  wird  wohl  letztere  An- 
nahme die  richtige  sein,  da  unter  den  Gedichten  einige 
vorhanden  sind,  in  welchen  von  Gott  die  Rede  ist. 

Das  erste  Heft  beginnt  mit  einer  Uebersetzung  aus  dem 
französischen  Lehrbuch  „L'education  maternelle";  es  ist  das 
in's  Russische  übersetzte  „Gespräch  der  Frau  von  Ver- 
teuiile  mit  ihrer  Tochter  Pauline  über  die  fünf  Sinne".  Die- 
se Uebersetzung  strotzt  von  grammatikalischenFehlern;  doch 
finden  sich  einzelne  Sätze,  welche  ganz  regelrecht  geschrie- 
ben sind.  Sie  ist  unbeendet  geblieben,  obgleich  nur  ein 
Weniges  daran  fehlen  kann,  denn  ausser  dem  Tastsinn 
sind  alle'  Sinne  besprochen.  Unter  dieser  Arbeit  steht  die 
Jahreszahl  1847  ^^^^^  ^^^^  französische  Namensunterschrift. 

Dieser  Uebersetzung  folgen  mehrere  Gedichte,  von  de- 
nen nur  zwei  in  russischer  Sprache  verfasst  sind,  alle  an- 
deren in  französischer.  Ihrem  Inhalte  nach  könnte  man  sie 
in  drei  Gruppen  teilen:  erstens,  finden  sich  da  Gedichte, 
welche  von  Gott  handeln;  zweitens,  solche,  in  welchen 
die  Liebe  zum  Vaterlande  besungen  wird,  und  drittens, 
solche,  in  welchen  vom  Mitleid  mit  den  Schwachen  und 
Unglücklichen  und  mit  den  Tieren,  die  Rede  ist.  Es  scheint 
mir  genügend,  nur  einige  wenige  Gedichte  aus  den  drei 
Gruppen  herauszugreifen  und  sie  an  dieser  Stelle  wieder- 
zugeben. 

Das  erste  davon  ist  mit  dem  Jahre  1847  vermerkt  und 
trägt  die  Ueberschrift  „L'Univers". 

„Eternel  notre  Dieu  c'est  toi  cpi  а  fait  tout  cela 

„Enfant!  regarde  ces  plantes  si  belies 

„Ces  roses,  ces  germandrees,  elles  sont  si  belles. 

Tschaikowsky ,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  2 


—  i8  — 

„Brillan  soleil  ес1ся1ге  toit  le  monde 

„C'est  cette  Eure  qui  la  fai 

„La  lune  etoiles  eclaire  notre  nui 

„Sans  toi  le  ble  n'ortf  |;?t^  etre 

„Les  vag{u)es  de  ces  belles  ш<а? 

„Nous  expirerons  sans  eux 

„Les  mers  dont  Vetendu  est  si  grande 

„Les  lleuves  Ventoure 

„Mere!  Nourisse!  Nourisse  Vos  enfants 

„Le  bon  Dieu  les  а  cree 

„Dieu 
„Puissant  on  t'adore. 

Par  Pierre  Tsclmikovsky  *). 

*)  Ewiger  Gott!  Du  hast  das  Alles  gethan.  Kind!  Betrachte  diese  Bhimen,  die  so 
schön  sind,  betrachte  diese  Rosen  und  Veronika's:  sie  sind  so  schön!  Die  strahlende  Sonne 
beleuchtet  die  ganze  Welt,  dieses  Wesen  hat  sie  erschaffen.  Der  Mond,  die  Sterne  be- 
leuchten unsere  Nacht.  Ohne  Dich  könnte  der  Roggen  nicht  gedeihen,  die  Wogen  die- 
ser herrlichen  Wasser...  Sterben  würden  u'ir  ohne  sie.  Die  Meere,  deren  Flächen  so 
gross  sind.  Die  Flüsse  umringen  sie.  Mütter!  Nähret!  Nähret  Eure  Kinder.  Der  gute  Gott 
hat  sie  erschaffen.  Mächtiger  Gott  Dich  betet  man  an. 

Die  Liebe  zum  Vaterland  verherrlicht  der  Knabe  in 
vier  Dichtungen  (zuerst  1847),  einmal  sogar  in  dem  Ver- 
such einer  historischen  Abhandlung,  die  alle  Johanna  d'Arc 
gewidmet  sind;  diese  Persönlichkeit  lernte  er  aus  dem  Buch 
Michel  Masson's  „Les  enfants  celebres",  kennen. 

Uebrigens  muss  ich  bemerken,  dass  nicht  bloss  der 
Patriotismus  der  Jungfrau  es  war,  welcher  auf  den  Kna- 
ben so  grossen  Eindruck  machte.  Aus  dem  Inhalt  seiner 
ihr  gewidmeten  Gedichte  geht  unzweifelhaft  hervor,  das 
dieser  Kultus  auch  mit  dem  unbewussten  Streben  nach 
Ruhm  im  Zusammenhang  stand,  welcher  schon  damals  die 
Einbildungskraft  des  jungen  Dichters  reizte.  Es  gefiel  ihm 
nicht  nur  die  Thatsache,  dass  Johanna  das  Vaterland  ge- 
rettet, sondern  auch,  dass  ein  einfaches  Hirtenmädchen 
solches  vermocht  hatte.  Es  entzückte  ihn  die  Möglichkeit 
des  Ruhmes  eines  so  schwachen  Geschöpfes,  sodass  der 
Ruhm  auch  für  ihn  erreichbar  schien. 

Das  erste  dieser  patriotischen  Gedichte  heisst  „L'he- 
roine  de  la  France". 

„On  t'aime,  on  ne  t'oublie  pas 

„Heroine  si  belle! 

„Tu  as  sauve  la  France 

„Fille  d'un  berger! 

„Mais  qui  fait  ces  actions  si  belles! 


19  — 


•  „Barbare  anglais  vous  ont  tuee 

„Toute  la  France  vous  admire 
„Tes  cheveux  blonds  jusqu'ä  tes  genoux 
„Ils  sont  tres  beaux 
„Tu  etais  si  celebre 
„Que  Tange  Michel  t'apparut 
„Les  celebres  on  pense  ä  eux 
„Les  mechants  on  les  oublie!  *) 

*)  Die  Heldin  Frankreich's.  Man  liebt  Dich,  man  vergisst  Dich  nicht,  Heldin,  die 
Du  so  schön  bist;  Du  hast  Frankreich  gerettet!  Die  Tochter  eines  Hirten,  die  so  wun- 
derbare Thaten  vollbringt.  Die  englischen  Barbaren  haben  Euch  getödtet.  Ganz  Frank- 
reich verehrt  Euch.  Deine  blonden  Haare  reichen  bis  an's  Knie  und  sind  sehr  schön.  Du 
лvarst  so  berühmt  dass  der  Engel  Michael  Dir  erschienen  ist.  Die  Berühmten — an  die 
denkt  man,  die  Bösen  vergisst  man. 

An  sein   eigenes  Vaterland   wendet  sich  Peter  Iljitsch 
in  dem  Gedicht  „Sur  ma  patrie". 
,Oh!  patrie  que  j'aime 
Je  ne  veux  point  te  quitter 
J'existe  ici,  fi  mourrai  aussi 
,Oh!  Patrie  que  j'aime 
,Ma  terre  cherie. 
,Oh  je  n'irai  point  la 
,Chez  un  peuple  etranger 
Je  t'honnore  ma  patrie 
Je  n'honnore  point  une  autre 
,Ma  ville  natale  est  petite 
,Et  tres  jje?^^  ijeupler 
,Mais  je  l'honnore  toujours 
,Et  je  l'honnorerai. 

,Si  je  vivrai  dans  un  peuple  etranger 
,Oh!  je  serais  bien. triste 
,Mais  mon  bon  Dieu 
,Fais  que  n'irai  pas. 

Je 

,Et  ne  veux  pas 

,Ma  Russie  tres  cherie 

Je *) 

■=•■)  An  mein  Vaterland.  Oh,  Vaterland,  ich  habe  dich  so  lieb,  ich  will  dich  nicht  ver- 
lassen, ich  lebe  hier  und  will  hier  sterben.  Oh,  Vaterland,  ich  habe  dich  so  lieb,  mein 
teures  Land.  Oh,  ich  will  nicht  hingehen  zum  fremdländischen  Volk,  ich  achte  dich,  mein 
Vaterland.  Die  Anderen  achte  ich  nicht.  Meine  Vaterstadt  ist  klein  und  wenig  bewohnt. 
Doch  verehre  ich  sie  und  werde  sie  immer  verehren.  Wenn  ich  unter  fremdländischen 
Menschen  leben  sollte,  würde  ich  sehr  traurig  sein.  Aber,  mein  Guter  Gott,  füge  es,  dass 
ich  nicht  fortgehe.  Ich....  und  will  nicht.  Mein  teures  Russland....  Ich.... 

Als  ein  Beispiel  des  dritten  Tзфus  möge  hier  noch  fol- 
gendes Gedicht  Platz  finden. 


20    

„Mort  d'im  oiseau".  ,  * 

„Elle  dort  dans  une  place,  sans  tombeau 
„Elle   n'est   point  comme   un   homme    dans  la  terre 

endormie 
„Cependant  eile  n'est  point  du  tont  den  du  tout  pour 

Dieu 
„Elle  lui  est  quelque  chose,  sa  vie  n'est  pas  perdus. 
„Pauvre  petit  n'ai  pas  peur 
„Les  enfant  te  mettrons  dans  la  terre  froide. 
„Ils  t'orneront  de  fleurs 
„Ils  te  feront  un  tombeau 
„Oh!  le  bon  Dieu  ne  Га  point  oublie 
„Oh!  toi  petit  oiseau  tu  ne  peux  pas  te  Souvenir  de 

lieu  *). 

'■')  Vöglein's  Tod.  Es  schläft  an  einer  Stelle  ohne  Grab.  Es  schläft  unter  der  Erde 
nicht  wie  ein  Mensch  und  doch  ist  es  für  Gott  kein  Nichts.  Es  ist  doch  Etwas  für  ihn; 
sein  Leben  ist  nicht  verloren.  Armes,  Kleines,  fürchte  dich  nicht.  Die  Kinder  werden 
dich  in  die  kalte  Erde  legen  und  mit  Blumen  schmücken.  Sie  werden  dir  einen  Hügel 
machen.  Oh!  Gott  hat  es  nicht  vergessen.  Oh,  du  kleines  Vögelchen,  du  kannst  dich 
nicht  mehr  an  die  Stelle  erinnern. 

Den  Rest  des  Inhaltes  der  Hefte  bilden  zwei  Gelegen- 
heitsgedichte, die  zu  Fanny's  und  Sinaida's  Geburtstagen 
geschrieben  worden  waren,  weiter  einige  historische  Aus- 
züge über  Napoleon,  Peter  den  Grossen,  Ludwig  XIV., 
XVII.  und  XVIIL,  Entwürfe  für  Briefe,  etc. 

Aus  der  Zeit  nach  1848  sind  keinerlei  poetische  Schöp- 
fungen unseres  kleinen  Dichters  zu  unserer  Kenntniss  ge- 
langt, vielleicht,  weil  Niemand  um  ihn  war,  welcher  gleich 
Fann}^,  derartige  Dinge  aufbewahrt  hätte,  vielleicht  aber 
auch,  weil  er  m  jener  Zeit  eine  andere  Sprache  gefunden 
hatte,  um  alle  seine  Gedanken,  Empfindungen  und  Stim- 
mungen auszudrücken:  die  Musik. 


VI. 

In  dem  Ort,  in  welchem  Peter  Iljitsch  das  Licht  der 
Welt  erblickt  hat  und  seine  Kindheit  verlebte,  gab  es  -aus- 
ser dem  Klaviergeklimper  einiger  höchst  mittelmässiger  Di- 
lettanten, gar  keine  Musik.  Alexandra  Andreewna  konnte 
zwar  etwas  singen,  aber  auf  dem  Piano  spielte  sie  höch- 
stens ihren  Kindern  zum  Tanz;  wenigstens  wissen  wir  seit 


.^ 


—    21    — 

ihrer  Verheiratung  Nichts  von  einem  ernsteren  Repertoir. 
Alle  anderen  Hausbewohner  konnten  nicht  einmal  soviel. 
Zum  Unglück  war  auch  Fann}^  ganz  unmusikalisch,  so  dass 
die  Rolle  eines  musikalischen  Erziehers  des  zukünftigen 
Komponisten  einem  Gegenstande  zufiel, — dem  sogenannten 
Orchestrion,  einer  kleinen  mechanischen  Orgel,  welche  Ilja 
Petrowitsch  einst  aus  Petersburg  nach  Wotkinsk  mitge- 
bracht hatte. 

Dieses  Orchestrion  soll  nach  einstimmigem  Urteil  Aller 
sehr  gut  geklungen  haben.  Sein  Programm  war  sehr  um- 
fangreich. Peter  Iljitsch  behauptete  selbst,  dass  er  seine 
ersten  musikalischen  Eindrücke  hauptsächlich  diesem  Or- 
chestrion zu  verdanken  habe.  Er  konnte  nicht  oft  genug 
seinen  Klängen  lauschen.  Ganz  besonders  entzückten  ihn 
einige  Kompositionen  Mozart's.  Seine  leidenschaftliche  Ver- 
ehrung für  diesen  Genius  datiert  seit  jener  Zeit,  seit  dem 
unbeschreiblichen  Genuss,  dem  „heiligen  Entzücken",  wel- 
ches er  schon  in  der  frühesten  Kindheit  empfand,  wenn 
das  Orchestrion  die  Arie  Zerlina's,  oder  ein  Stück  aus  dem 
„Don  Juan"  anstimmte.  Auch  mit  den  Werken  Rossini's, 
Bellini's  und  Donizetti's  wurde  er  durch  das  Orchestrion 
bekannt,  so  dass  auch  seine  Liebe  zur  italienischen  Musik, 
die  er  bis  ans  Ende  seiner  Tage  in  seinem  Herzen  trug, 
schon  damals  ihren  Anfang  genommen  haben  mag. 

Ein  ausgezeichnetes  Gehör  und  musikaliches  Gedächt- 
niss  erwachten  im  Knaben  schon  sehr  früh.  Nachdem  ihm 
seine  Mutter  einige  elementare  Kenntnisse  der  Musik  bei- 
gebracht hatte,  konnte  er  schon  als  fünfjähriger  Knabe  auf 
dem  Piano  Alles  das  nachspielen,  was  er  von  dem  Orche- 
strion gehört  hatte,  und  zeigte  überhaupt  so  viel  Lust  zum 
Klavierspiel,  dass  man  ihn  oft  vom  Instrument  geradezu 
fortzwingen  musste;  aber  auch  in  diesen  Fällen  setzte  er 
auf  dem  ersten  besten  Gegenstand  das  Trommeln  mit  den 
Fingern  fort.  Eines  Tages  trommelte  er  so  auf  einer  Fen- 
sterscheibe und  liess  sich  durch  dieses  stumme  Spiel  so 
hinreissen,  dass  das  Glas  zersprang  und  ihn  nicht  uner- 
heblich an  der  Hand  verwundete.  Dieses  an  sich  unbe- 
deutende Geschehniss  wurde  für  das  Leben  Peter  Iljitsch's 
von  Wichtigkeit,  denn  von  nun  an  schenkten  die  Eltern 
der  unüberwindlichen  Neigung  des  Knaben  grössere  Be- 
achtung und  beschlossen,  ernstlich  für  seine  musikalische 
Entwickelung  zu  sorgen.  Sie  engagierten  für  ihn  eine  Kla- 
vierlehrerin, eine  gewisse  Marie  Markowna  Paltschikoff, 
Das  geschah  ungefähr  ein  Jahr  nach  Fann3''s  Ankunft.  Von 


wo  diese  Lehrerin  hergekommen  und  wie  weit  sie  in  ihrem 
Beruf  tüchtig  war — entzieht  sich  leider  unserer  Kenntniss. 
Thatsache  ist  nur,  dass  sie  extra  für  Peter  lijitsch  von 
ausserhalb  verschrieben  worden  war,  dass  ihr  Schüler  ihr 
ein  freundschaftliches  Andenken  bewahrt  hat,  dass  sie  aber 
den  Anforderungen  des  zukünftigen  Komponisten  doch 
nicht  genügen  konnte,  denn  schon  1848  verstand  er  das 
Notenlesen  ebenso  gut  wie  sie  selbst.  Die  musikalische  Li- 
teratur kannte  sie  höchstwahrscheinlich  nur  sehr  mangel- 
haft, denn  Peter  lijitsch  kann  sich  weder  auf  ihr  Spiel 
noch  auf  ihr  Repertoir  besinnen.  Es  scheint  überhaupt 
zweifelhaft,  ob  sie  jemals  in  Anwesenheit  von  Zuhörern 
gespielt  hat.  Nach  den  Worten  Fanny's  war  sie  ein  stilles,  be- 
scheidenes und  schüchternes  Mädchen.  Im  Jahre  1883,  ^^^ 
Peter  lijitsch,  der  sie  schon  längst  zu  den  Verstorbenen 
zählte,  in  Paris  war,  kam  plötzlich  ein  Brief  -von  ihr  an,  in 
dem  sie  den  Komponisten  um  eine  Unterstützung  bat,  da 
sie  in  Not  geraten  sei.  Sofort  beauftragte  er  seinen  Ver- 
leger P.  Jurgenson,  ihr  Geld  zu  schicken.  „Meine  erste 
Musiklehrerin,  der  ich  zu  grossem  Dank  verpflichtet  bin, 
bittet  mich  um  Unterstützung"— schrieb  er — „und  ich  kann 
ihr  diese  Bitte  wirklich  nicht  abschlagen". — Später  hat  er 
ihr  sogar  eine  kleine  Rente  bewilligt  und  ist  mit  ihr  in 
beständigem  Briefwechsel  geblieben,  bis  sie  im  Dezember 
1888  starb. 

Wir  wissen  bereits  von  Fann^^,  л\Ле  der  Knabe  jeden 
freien  Augenblick  an's  Klavier  ging  und  wie  sie  das  stets 
zu  verhindern  suchte.  Das  Leben  eines  Musikers  erschien 
ihr  durchaus  nicht  im  glänzenden  Licht.  Viel  mehr  Freude 
hatte  sie  an  seinen  literarischen  Versuchen  und  nannte  ihn 
mit  den  Anderen  „le  petit  Pouchkine". 

Auch  merkte  Fanny,  dass  die  Musik  sehr  stark  auf  die 
Nerven  Peter  Iljitsch's  wirkte.  Nach  seiner  Musikstunde 
oder  nach  längerem  huprovisieren  auf  dem  Piano  war  er 
stets  verstimmt  und  aufgeregt.  Eines  Abends  war  bei 
Tschaikowsky's  grosser  Besuch  und  es  wurde  sehr  viel 
musiziert.  Es  war  gerade  Feiertag  und  die  Kinder  durf- 
ten mit  den  Grossen  sein.  Anfangs  war  Peter  lijitsch  sehr 
lustig,  gegen  Ende  des  Abends  wurde  er  aber  so  müde, 
dass  er  sich  früher  als  sonst  zurückzog.  Als  Fann}^  einige 
Zeit  darauf  in's  Kinderzimmer  kam,  schhef  er  noch  nicht, 
sondern  sass  ganz  aufgeregt  mit  fieberhaft  glänzenden  Au- 
gen und  weinte.  Sie  fragte  bestürzt,  was  ihm  fehle,  da 
antwortete  er:   „O,  diese  Musik,  diese  Musik!  Erlösen  Sie 


—    23    — 

mich  von  ihr!  Sie  sitzt  hier — hier  in  meinem  Kopf!  Sie 
lässt  mir  keine  Ruhe"! 

Hin  und  wieder  kam  nach  Wotkinsk  ein  polnischer 
Offizier  auf  Besuch,  ein  gewisser  Maschewsky.  Er  war  ein 
guter  Dilettant  und  zeichnete  sich  namentlich  durch  den 
Vortrag  der  Mazurka' s  von  Chopin  aus.  Für  Peter  Iljitsch 
W3.V  es  natürlich  stets  ein  Festtag,  wenn  er  kam.  Einst 
hatte  er  auch  selbst  zwei  Mazurka's  einstudiert  und  sie 
gelegentlich  dem  Herrn  Maschewsky  so  hübsch  vorge- 
spielt, dass  dieser  ihn  dafür  abküsste.  „Ich  habe  Pierre  nie 
so  glückstrahlend  gesehen" — erzcählt  Fanny, — „wie  an  je- 
nem Tage". 

Damit  ist  Alles  erschöpft,  was  ich  von  dem  musikali- 
schen Leben  Peter  Iljitsch's  in  jener  Epoche  erfahren 
konnte. 


"T^ASr 


T 


VII. 

Am  26.  September  verliessen  Tschaikowsky's  Wot- 
kinsk und  kamen  am  9.  Oktober  in  Moskau  an.  Hier  sollten 
sie  aber  viel  Unglück  und  schwere  Enttäuschungen  erfah- 
ren. Ilja  Petro witsch  hatte  noch  in  Wotkinsk  einem  sei- 
ner Freunde  im  Geheimen  mitgeteilt,  welch'glänzende  An- 
gebote er  erhalten  hatte.  In  Moskau  angekommen,  erfuhr 
er  jedoch,  dass  der  ungetreue  Freund  sein  Vertrauen  ge- 
missbraucht  und  bereits  selbst  die  an  Ilja  Petrowitsch  offe- 
rierte Stellung  zu  erlangen  gewusst  hatte.  Ausserdem 
schlich  sich  die  damals  in  Moskau  grassierende  Cholera- 
Epidemie  auch  in  die  Familie  Tschaikowsk3''s  ein.  Die 
Bonne  der  jüngsten  Kinder  wurde  beinahe  ein  Opfer  je- 
ner Krankheit.  Alles  zusammengenommen:  die  unbestimmte 
Situation,  in  welche  die  Familie  geraten  war;  die  Abwe- 
senheit Ilja  Petrowitsch's,  der  schleunigst  nach  Petersburg 
gereist,  nachdem  ihm  die  unangenehme  Ueberraschung  zu 
Teil  geworden  war;  sowie  das  düstere  Gespenst  der  Cho- 
lera trugen  viel  dazu  bei,  den  Aufenthalt  in  der  alten 
Hauptstadt  recht  traurig  zu  gestalten.  Ganz  besonders 
intensiv  spiegelte  sich  das  Alles  auf  dem  nur  zu  empfäng- 
lichen Gemüt  Peter  Iljitsch's  ab.  Gerade  in  dieser  Zeit  be- 


—   24    — 

durfte  seine  Seele  vielleicht  am  meisten  der  liebevollen 
vorsichtigen  Behandlung,  und  musste  ihrer  doch  zu  keiner 
anderen  Zeit  in  dem  Maasse  entbehren,  denn  Alexandra 
x\ndreewna  hatte  für  so  viele  andere  Dinge  zu  sorgen,  die 
mit  der  Reise  in  Zusammenhang  standen,  und  war  ausser- 
dem von  Gedanken  über  die  Zukunft  der  ganzen  Familie 
so  in  Anspruch  genommen,  dass  sie  garkeine  Müsse  fand, 
das  Seelenleben  eines  jeden  einzelnen  Kindes  zu  verfol- 
gen, und  betraute  damit  ihre  Stieftochter,  welche  selber 
noch  halb  Kind  war  und  absolut  keine  Vorbildung  zur 
erzieherischen  Thätigkeit  besass.  Sinaida  Iljinischna  war 
die  Einzige,  deren  Liebling  Peter  Iljitsch  nicht  war.  Sie 
gab  stets  Nikolai  den  Vorzug,  und  es  ist  daher  mehr  wie 
wahrscheinlich,  dass  sie  als  Gouvernante  dem  kleinen 
Dichter  gegenüber  ungeduldig  und  ungerecht  war.  Viel- 
leicht ist  sein  späteres  ziemlich  kühles  Verhalten  der 
Schwester  gegenüber  auf  jene  Zeit  zurückzuführen.  Unter 
solchen  Umständen  wurde  seine  Erinnerung  an  die  freu- 
devolle, glückliche  Vergangenheit  immer  idealer,  immer 
schöner  und  die  Sehnsucht  immer  stärker. 

Das  ist  auch  aus  seinem  ersten  Brief  an  Fanny  zu  erse- 
hen, welchen  er  in  Moskau,  wahrscheinlich  Ende  Oktober 
oder  Anfang  November,  geschrieben  hatte. 

„Chere  M-elle  Fanny!  Nous  sommes  ä  Moscou  deja  plus 
de  trois  semaines  et  chaque  jour  toute  les  personnes  de 
notre  famille  se  rapellent  de  vous;  il  est  si  triste  chez  nous, 
trois  personnes  nous  manquent  beaucoup:  Vous,  ma  tante, 
et  ma  cousine  Anastasie;  je  vous  assure  que  chaque  jour 
je  me  rapelle  de  Teducation  que  vous  m'avez  donne;  mer- 
credi  rappelet  vous  comme  yaprenai  bien,  vendredi  aussi 
et  samedi  rapellez  vous?  quand  Vous  nous  ecriviez  com- 
bien  nous  avions  de  premieres  dans  по  semaines.  On  ne 
peut  se  rapellez  de  cette  vie  de  Votkinsk,  je  voudrais  bien 
pleurez  quand  je  pense  ä  cela.  Aiwesent  nous  apprenous 
chez  Zina  et  je  suis  bien  content  que  nous  ayons  quel- 
qu'un  pour  aprendre.  Ici  j'ai  vu  bien  des  choses  que  jamais 
je  n'ai  vu.  Papa  est  alle  d'ici  ä  Petersbourg  pour  nous 
apreter  un  cartie.  Nous  sommes  grace  ä  Dieu  bien  portant 
et  Vous  ma  chere  M-elle  Fann}'?  Ecrivez  le  moi  je  Vous 
en  prie.  Votre  reconnaissant  eleve  P.  T."  *). 

•'•■■)  Liebe  Melle  Fanny!  Wir  sind  schon  länger  als  drei  Wochen  in  Moskau  und  den- 
ken Alle  oft  an  Sie.  Es  ist  so  traurig  bei  uns;  drei  Personen  fehlen  uns  sehr:  Sie,  Tant- 
chen und  „Schwesterchen"  Anastasia.  Ich  versichere  .Sie,  dass  ich  jeden  Tag  an  die 
Erziehung,  die  Sie  mir  gegeben  haben,  denke.  Wissen  sie  noch,  wie  gut  ich  Mittwoch's 
lernte?  Und    Freitags    auch,  und   Sonnabend's  —  wissen   Sic^  noch,  wie  Sie  anschrieben. 


—    2б    — 

sen.  Er  wurde  nicht  nur  mager  und  bleich,  sondern  auch 
kränkhch,  sodass  der  Besuch  der  Schule  immer  unregel- 
mässiger wurde.  Die  moralische  Reaktion  blieb  auch  nicht 
aus  und  aeusserte  sich  darin,  dass  er  reizbar  und  stör- 
risch wurde. 

hn  Dezember  erkrankten  beide  Brüder  an  den  Masern. 
Bei  Nicolai  verlief  die  Krankheit  normal,  bei  Peter  jedoch 
nicht.  Seine  Ueberreiztheit  griff  noch  weiter  um  sich  und 
verursachte  starke  Nerven-Anfälle.  Die  Aerzte  konstatier- 
ten ein  Rückenmarksleiden. 

Leider  konnte  ich  in  dem  mir  zur  Verfügung  stehen-, 
den  biographischen  Material  Nichts  Näheres  in  Betreff  die- 
ser Krankheit  finden.  Aus  dem  Umstand  aber,  dass  die 
Aerzte  für  unbestimmte  Zeit  hinaus  jedwede  Beschäftigung 
verboten  hatten,  und  dass  der  Kranke  in  der  That  bis  zum 
Juni  1849  in  absoluter  Ruhe  ausharren  musste,  könnte  man 
schliessen,  wie  sehr  die  Eltern  besorgt  gewesen,  und  wie 
schrecklich  jene  Nerven-Anfälle  sich  geaeussert  haben 
müssen. 

Die  rechtzeitig  ergriffenen  Massregeln  übten  auch  ihren 
heilsamen  Einfluss  auf  das  körperliche  Befinden  des  Kna- 
ben aus,  doch  sein  Charakter  konnte  nicht  mehr  zu  der 
früheren  Gleichmässigkeit  und  Klarheit  zurückkehren.  Die 
Wunden  heilten,  die  Narben  blieben. 


^ 


ЩЩ 


VIII. 

Im  Anfang  des  Jahres  1849  erhielt  llja  Petrowitsch  die 
Stelle  eines  Verwalters  der  den  Erben  lakowleff's  gehö- 
renden Werke  zu  Alapajew  und  Nishne-Newjansk. 

Nachdem  er  den  ältesten  Sohn  zwecks  Vorbereitung 
in  das  Bergbau-Institut  der  Privat-Lehranstalt  eines  ge- 
wissen Herrn  Grosdoff  anvertraut  hatte,  verliess  er  mit 
der  übrigen  Familie  Petersburg  und  siedelte  nach  dem 
Städtchen  Alapajew  über.  Es  war  im  Vergleich  zu  Wot- 
kinsk  eigentlicii  ein  Dörfchen.  Die  ganze  Gesellschaft  die- 
ses Dörfchens  bestand  aus  der  Familie  eines  Arztes. 

llja  Petrowitsch's  neue  Stellung  war  aeusserlich  freilich 
nicht  so  glänzend,    wie    ein    ähnlicher   Posten  im   Staats- 


—   27   — 

dienst.  Anderseits  war  aber  auch  kein  Grund  zu  Klagen 
vorhanden.  Das  Wohnhaus  war  gross  und  mit  allerlei  Be- 
quemlichkeiten versorgt,  und  Tschaikowsky's  lebten  sich 
sehr  bald  in  die  neuen  Verhältnisse  ein,  indem  sie  die  pa- 
triarchale  Lebensweise  von  Wotkinsk  in  allen  Einzelheiten 
wiederherzustellen  versuchten. 

Das  ländliche  Leben  hat  zw^ar  Peter  Iljitsch's  Gesund- 
heit Mdeder  gekräftigt,  vermochte  aber  nicht  seine  Träg- 
heit und  Reizbarkeit  zu  beseitigen. 

Im  Gegenteil,  es  scheint  sogar,  als  wenn  diese  Eigen- 
schaften sich  fort  und  fort  entwickeln.  Unwillkürlich  ver- 
gleicht er  sein  jetziges  Dasein  mit  dem  idealen  Leben  in 
Wotkinsk  und  zwar  sehr  zu  Ungunsten  von  Alapajew. 
Erstens,  fühlt  er  sich  einsam:  es  fehlt  ihm  Nikolai.  Lydia 
ist  zwar  da,  gilt  aber  bereits  fast  für  ein  erwachsenes  Fräu- 
lein, also  nicht  mehr  Seinesgleichen.  Alexandra  und  Hyp- 
polit  sind  noch  zu  klein.  Zweitens,  vertritt  die  Stelle  Fanny's 
Sinaida,  welche  er  nicht  gerade  gern  hat.  Drittens  wird 
seine  Seele  von  etwas  Eifersucht  gequält,  denn  er  merkt 
sehr  wohl,  dass  seine  Mutter  sowohl  als  auch  alle  An- 
dern Sehnsucht  nach  Nikolai  haben;  dazu  erzählen  die  aus 
Petersburg  ankommenden  Briefe  so  viel  Freudiges  über 
die  Fortschritte,  die  sein  Bruder  in  der  Schule  macht.  Alle 
sind  darob  entzückt.  Er  dagegen  kommt  im  Lernen  nicht 
recht  vorwärts,  zumal  bei  einer  so  schlechten  Gouver- 
nante, wie  Sinaida  Iljinischna. 

„Pierre  ist  nicht  wiederzuerkennen", — lautet  eine  Stelle 
in  einem  Briefe  Alexandra  Andreewna's, — er  ist  faul  ge- 
worden, lernt  Nichts  und  erbittert  mich  oft  bis  zu  Thränen". 

Seine  Umwandlung  war  so  radikal,  dass  sie  selbst  frem- 
den Personen  nicht  verborgen  blieb.  Fanny's  Freundin, 
Emilie  Landraschen  schreibt  in  einem  Brief:  „Alles  was 
ich  über  Pierre  erfahre,  betrübt  mich  sehr,  und  ich  kann 
mir  wohl  denken,  wie  Sie  sich  diese  Veränderung  zu  Her- 
zen nehmen  werden.  In  meinen  Augen  war  dieses  Kind 
stets  besser  als  die  Andern,  und  ich  kann  es  mir  daher 
nicht  recht  erklären,  wie  sein  Charakter,  der  so  viele  edle 
Züge  barg,  sich  verändern  konnte.  Wie  müssen  die  Eltern 
es  bedauern,  dass  Sie  nicht  mehr  bei  ihren  Kindern  wei- 
len. Besonders  hat  der  arme  Pierre  darunter  zu  leiden. 
Ich  wamdere  mich  garnicht,  dass  er  jetzt  so  schlechte 
Fortschritte  im  Lernen  macht,  denn  Niemand  versteht  es, 
seine  Erziehung  so  fortzuführen,  wie  Sie  es  angefangen 
hatten". 


Auch  Peter  Iljitsch  selbst  bekennt  seine  Faulheit  in 
einem  Briefe  (vom.  7.  Juli):  „Ma  chere  Melle  Fanny!  Je 
vous  prie  beaucoup  de  me  pardonner  que  je  ne  vous  ai 
ecrit  si  longtemps.  Mais  comme  vous  savez  que  je  ne  ment 
pas,  c'est  та  paresse  qui  en  est  cause,  mais  ce  n'est  pas 
Voublie  parceque  je  Vous  aime  toujours  comme  je  vous 
aimais  avant.  Nicolas  apprend  tresbien,  etc..  ■'■) 

•■■)  Liebe  Melle  Fannj-.'  Ich  bitte  Sie  sehr  um  Л'ег2е!11ип§;,  dass  ich  Ihnen  so  lange 
nicht  geschrieben  habe.  Sie  wissen  ja,  dass  ich  niemals  lüge,  darum  sage  ich,  dass — • 
Faulheit  die  Ursache  davon  ist,  und  nicht  Vergesslichkeit,  denn  ich  liebe  Sie  immer 
noch,  wie  ich  Sie  früher  geliebt  habe.  Nikolai  lernt  sehr  gut,  etc.. 

Nachdem  er  vergeblich  auf  eine  Antwort  gewartet  hatte, 
schrieb  er  Ende  Juni  noch  einen  Brief.  Die  etwas  gekün- 
stelte Form  dieses  Briefes,  und  das  Fehlen  orthographi- 
scher Fehler  lässt  vermuten,  dass  er  von  Jemandem  kor- 
rigiert worden  war.  Endlich  kam  die  Antwort  auf  den 
ersten  dieser  Briefe.  Wahrscheinlich  machte  Fanny  darin 
ihrem  Liebling  Vorwürfe,  denn  Anastasia  Wassiljewna  er- 
zählt: „Als  wir  Ihren  Brief  erhalten  hatten,  las  ihn  Tantchen 
laut  vor.  Peterchen  hat  viel   geweint;  er  hat  Sie  so  lieb". 


•f|\> 


IX. 

Eine  wirkliche  Besserung  im  Betragen  Peter  lljitsch's 
tritt  erst  dann  wieder  ein,  als  eine  neue  Gouvernante — in 
der  Person  N.  P.  Petrowa's — in's  Haus  kommt.  Alexandra 
Andreewna  berichtet  darüber  an  Fanny:  „Pierre  wird  wie- 
der gescheiter  und  lernt  willig  mit  seiner  neuen  Lehrerin". 

Die  Petrowa  war  eine  Waise  und  hatte  ihre  Erziehung 
im  Nikolai-Institut  genossen.  Zu  Tschaikowsky's  kam  sie 
sozusagen  direkt  von  der  Schulbank,  und  zwar  am  24. 
November  1849.  Ebenso  wie  Fanny  hatte  sie  unterwegs 
aus  Furcht,  unter  Fremden  leben  zu  müssen,  bittre  Thrä- 
nen  vergossen,  beruhigte  sich  aber  auch  ebensobald  wie 
Fanny.  Sie  war  damals  18 — 19  Jahre  alt,  nicht  schön  von 
Gestalt  und  Gesicht,  aber  bescheiden  und  sympatisch.  Ihren 
Kenntnissen  nach  entsprach  sie  den  Bedürfnis.sen  eines 
russischen    Kindes    vielleicht    besser  als  Fann}^;  es  gelang 


i 


—   29  - 

ihr,  Peter  in  weniger  als  einem  halben  Jahre  für  die  Schule 
der  Rechtswissenschaft  ausgezeichnet  vorzubereiten.  Und 
doch  konnte  sie  ihre  Vorgängerin  nicht  voll  erzetzen  und 
die  Erinnerung  an  sie  nicht  auslöschen.  Gleich  Fanny 
stand  auch  Fräulein  Petrowa  der  Musik  verständnisslos 
gegenüber. 

Gleichzeitig  mit  dem  Erscheinen  der  neuen  Gouver- 
nante in  Alapaew,  wurde  das  Haus  ausserdem  durch  die 
Ankunft  der  Familie  Schobert  *)  belebt,  deren  älteste  Toch- 
ter Amalie  (die  spätere  Gräfin  Litke)  sich  sehr  bald  mit 
Peter  Iljitsch  befreundete  und  ihm  sogar  einigermassen 
den  Bruder  Nikolai  ersetzte.  Sie  war  jünger  als  er  und 
älter  als  seine  von  ihm  etwas  von  oben  herab  ange- 
sehene Schwester  Alexandra,  sodass  sie  sozusagen  die 
Kluft  zwischen  den  beiden  Geschwistern  überbrückte  und 
sie  einander  näher  brachte.  Nach  den  Erzählungen  der 
Gräfin  Litke  zeichnete  sich  Peter  Iljitsch  damals  durch 
viel  Phantasie  im  Erfinden  von  allerlei  Spielen  aus.  Das 
Lieblingsspiel  Aller  war  das  sogenannte  „ Opferpriester" - 
Spiel.  Dieses  Spiel  bestand  darin,  dass  sie  alle  drei  unter 
den  roh  aus  Brettern  gezimmerten  Winterrutschbahnen, 
welche  sie  sich  als  grossartige  Tempel  vorstellten,  den 
Göttern  Opfer  darbrachten  und  die  von  den  jüngeren  Ge- 
schwistern und  andern  Kindern  erbeuteten  Mohrrüben, 
Gurken,  Erbsen  u.  A.  auf  selbstgebauten  Altären  ver- 
brannten. Uebrigens  wurde  der  grösste  Teil  dieser  Opfer- 
gegenstände, wie  es  ja  Priestern  geziemte,  von  ihnen 
verschlungen.  Das  Talent  Peter's  im  Erfinden  von  Belus- 
tigungen w^urde  von  den  beiden  Mädchen  so  hoch  ge- 
schätzt, dass  er  ihnen,  als  er  Alapajew  verlassen  musste, 
einige  „Regeln  für  Spiele"  hinterliess,  denen  sie  in  seiner 
Abwesenheit  zu  folgen  hatten. 

Am  I.  Mai  1850  erhielt  die  Familie  Tschaikowsky  Zu- 
wachs durch  die  Geburt  der  Zwillinge  Anatol  und  Mo- 
dest. Dieses  Ereigniss  teilt  Peter  Iljitsch  Fanny  in  folgen- 
dem Briefe  mit: 

Alapaew.  2  Mai  1850. 

Chere  et  bonne  Melle  Fanny!  C'est  avec  une  grande 
joie  que  j'ai  appris  la  nouvelle  que  Vous  avez  un  eleve 
sibдn  et  si  dilligent. 

Je  veux  aussi   Vous   apprendre,  ma  chere   Fanny,  une 


■■■)  P'iau  Schobert  war  die  vervvitlvvete  Schwesler  Alexandra  AndieewnaU. 


—  Зо  — 

nouvelle  qiii  peutetre  Vous  rejonira  im  peii;  c'est  la  nais- 
sance  de  mes  freres  qui  sont  jiimeaux  (la  nuit  du  premier 
Mai).  Je  les  ai  deja  vus  plusieurs  fois;  mais  chaque  fois 
que  je  les  vois  je  crois  que  ce  sont  des  Anges  qui  ont 
descendu  sur  la  terre.  Vous  me  demandez,  chere  Melle  F., 
qu'est  ce  que  j'apprends.  Je  vous  citerai  les  sciences  dont 
ma  chere  gouvernante  m'enseigne:  la  grammaire  franyaise, 
russe  et  allemande,  la  Geographie,  l'histoire  universelle 
aussi  l'histoire  sainte  et  l'Arithmetique.  Je  traduis,  j'ana- 
l3^se  en  fran^ais,  en  russe  et  en  allemand  et  bie  souvent 
la  conjugaison.  „Le  voyage  autour  du  monde"  et  „l'histoire 
d'Ermac"   sont  mes  lectures. 

Votre  reconnaissant  eleve  P.  de  T.  *j. 

*)  Teure  und  Hebe  Melle  Fanny!  Mit  grosser  Freude  erfuhr  ich  die  Nachricht,  dass 
Sie  einen  so  guten  und  fleissigen  Schüler  haben.... 

Ich  will  Ihnen,  liebe  Fannv,  ebenfalls  etwas  Neues  mitteilen:  dass  ist  die  Geburt 
meiner  Zwillingsbrüder  (in  der  Nacht  zum  i.  Mai).  Ich  habe  sie  schon  mehrere  Male 
gesehen.  Wenn  ich  sie  ansehe,  so  denke  ich,  dass  es  zwei  Engel  sind,  «eiche  vom  Him- 
mel zur  Erde  gekommen  sind.  Sie  fragen  mich,  teure  Fann}',  was  ich  jetzt  lerne.  Ich 
werde  Ihnen  die  Gegenstände  aufzählen,  die  meine  Lehrerin  mit  mir  durchnimmt:  fran- 
zösische, russische  und  deutsche  Grammatik,  Geographie,  Weltgeschichte,  auch  Biblische 
Geschichte  und  Rechnen.  Ich  übersetze,  analysiere  französisch,  russisch  und  deutsch. 
Meine  Lektüre  besteht  in  „Die  Reise  um  die  Welt"  und  „l>ie  Geschichte  Ermak's".... 

Ihr  dankbarer  Schüler  P.  v.  T. 

Der  gekünstelte  Ton  dieses  Briefes,  die  Manieriertheit 
einiger  Ausdrücke,  ihre  gemachte  Artigkeit  und  das  gänz- 
liche Fehlen  der  von  Herzen  kommenden  Worte  seiner 
früheren  Briefe  weisen  darauf  hin,  dass  die  Zeit  ihren  Ein- 
fluss  ausgeübt,  dass  der  Knabe  mit  der  Gegenwart  Frieden 
geschlossen  hat,  dass  seine  Erinnerungen  an  Wotkinsk  in 
das  Unerreichbare  [entrückt  sind,  und  dass  er  selbst  an- 
ders geworden  ist.  Er  will  jetzt  nicht  nur  deshalb  gut  sein, 
weil  es  seine  edle  Natur  so  verlangt,  sondern  hauptsäch- 
lich weil  er  darauf  ausgeht,  das  Lob  der  Aelteren  zu  er- 
ringen, jenes  begeisterte  Lob,  welches  seinem  Bruder  Ni- 
kolai, so  oft  ein  Brief  von  ihm  kommt  gezollt  wird.  Je- 
denfalls ist  er  nicht  mehr  das  unschuldige  reine  Kind  von 
früher. 

In  der  Musik  hatte  er  unterdess  einen  grossen  Schritt 
vorwärts  gemacht.  „Sein  Spiel  ist  mit  dem  von  Wotkinsk 
garnicht  zu  vergleichen," — sagt  Lydia — „er  spielt  jetzt,  wie 
ein  Grosser".  Ohne  Zweifel  hat  ihm  nicht  nur  der  Unter- 
richt des  Herrn  Philipoff  grossen  Nutzen  gebracht,  son- 
dern überhaupt  alle  musikalischen  Eindrücke,  die  mit  sei- 
nem Aufenthalt  in  Petersburg  verbunden  waren.  Er  spielt 
jetzt  auch  schon  öfter,  wie  er  sagt,  „für  sich  selbst,  wenn 


—  gl- 
ich trciurig  bin",  d.  h.  nicht  nur  die  einstudierten  Stücke, 
sondern  das,  was  ihm  gerade  in  den  Kopf  kommt.  Seine 
musikahsche  Sprache  ist  reichhaltiger  geworden  und  ist 
nun  imstande  das  zu  ersetzen,  was  für  ihn  in  Wotkinsk 
die  Poesie  war.  Von  Gedichten  ist  keine  Rede  mehr.  Nun 
hat  er  das  richtige  Mittel  gefunden,  Alles  das,  was  seine 
Seele  erfüllt,  auszudrücken.  Von  dieser  Zeit  an,  beginnt  er 
zu  komponieren,  obgleich  dieses  Komponieren  eigentlich 
nur  ein  Phantasieren  ist.  Wie  er  später  selbst  erzählt,  ver- 
folgten ihn  die  Töne  überall  und  stets,  wo  er  auch  sein 
oder  was  er  auch  thun  mochte.  Seine  Eltern  iedoch  wollten 
diesmal  Nichts  für  seine  künstlerische  Entwickelung  thun, 
einerseits,  weil  sie  fürchten  mussten,  dass  seine  Nerven- 
krankheit wiederkommen  könnte,  anderseits  aber  auch,  weil 
sie  nicht  die  Zukunft  eines  Musikers  für  ihn  im  Auge  hat- 
ten. Ueberhaupt  interessierte  sich  in  Alapajew  Niemand  für 
seine  musikalische  Begabung.  Und  er  selbst  behielt  seine 
Ideen  für  sich,  vielleicht  aus  Stolz,  vielleicht  weil  er  sich 
selbst  noch  nicht  recht  traute.  Möglicherweise  hat  auch 
dieser  Umstand  dazu  beigetragen,  dass  sein  Charakter  sich 
veränderte.  Er  wusste,  dass  er  Etwas  besass,  was  kein 
anderer  Mensch  aus  seiner  Umgebung  besass,  fühlte  im 
Grunde  seines  Herzens  seine  Ueberlegenheit  und  ärgerte 
sich  im  Stillen,  dass  sie  unbeachtet  blieb  und  seine  künst- 
lerischen Bestrebungen  Niemanden  interessierten. 

Jedenfalls  war  er  kein  Kind  mehr,  als  er  zum  zweiten 
Mal  nach  Petersburg  kam.  Eigentlich  waren  seine  Cha- 
raktereigenschaften ja  dieselben  geblieben,  er  ist  nur  durch 
etwas  Lebenserfahrung  zäher  geworden,  geeigneter,  den 
Kampf  um's  Dasein  aufzunehmen,  seine  Empfänglichkeit, 
seine  Begeisterungsfähigkeit  war  ein  wenig  abgestumpft. 
Sein  junges  Leben  hatte  schon  eine  Vergangenheit,  er 
hatte  schon  leiden  gelernt,  und  die  Zukunft  sah  er  nicht 
mehr  in  Regenbogenfarben  leuchten,  sondern  wusste,  dass 
sie  ausser  Freuden  auch  Entbehrungen  mit  sich  bringen 
werde.  Ausserdem  barg  er  aber  auch  einen  Schatz  in 
seinem  Herzen,  ein  Licht,  welches  Niemand  sah  und  wel- 
ches ihm  in  Augenblicken  des  Kummers  Trost  spendete 
und  Mut  verlieh. 


''»^ 


32 


X. 

Anfang  August  reiste  Alexandra  Andreewna  mit  ihrer 
Tochter,  Stieftochter  und  Peter  lljitsch  nach  Petersburg. 

Anfangs  hatten  die  Eltern  die  Absicht,  ihre  beiden  Söh- 
ne nicht  zu  trennen  und  sie  Beide  in  das  Bergbau-Insti- 
tut zu  bringen.  Weshalb  diese  Absicht  nicht  verwirklicht 
und  Peter  lljitsch  in  die  Juristenschule  kam,  wissen  wir 
nicht.  Es  lässt  sich  nur  vermuten,  dass  diese  Schule  von 
dem  alten  Freunde  Ilja  Petrowitsch's,  Herrn  M.  A.  Wa- 
kar,  dem  Pflegevater  Nikolai's,  sehr  empfohlen  wurde.  Der 
Bruder  dieses  Herrn  Wakar,  Plato  Alexandrowitsch  Wa- 
kar,  der  im  späteren  ^Leben  Peter  Iljitsch's  eine  grosse 
Rolle  spielen  sollte,  war  Jurist  und  wie  alle  Juristen — ein 
treuer  Anhänger  seiner  „alma  mater".Er  war  ein  pracht- 
voller Mensch  und  hatte  eine  glänzende  Zukunft  vor  sich; 
es  ist  daher  sehr  w^ahrscheinlich,  dass  angesichts  dieses 
Vorbild's  Ilja  Petro witsch  sich  entschloss,  seinen  zweiten 
Sohn  der  betreffenden  Schule  anzuvertrauen. 

Peter  lljitsch  hatte  noch  nicht  das  nötige  Alter  erreicht, 
um  in  der  eigentlichen  Juristenschule  selbst  Aufnahme  zu 
finden,  sondern  musste  erst  die  sogenannte  Vorbereitungs- 
Klasse  dieser  Schule  besuchen.  Diese  Vorbereitungs-Klasse 
zerfiel  ihrerseits  wiederum  in  eine  Unter -und- Oberabtei- 
lung. Ende  August  wurde  Peter  lljitsch  nach  ausgezeichnet 
bestandener  Prüfung  in  die  Zahl  der  Zöglinge  der  Unter- 
abteilung anfgenommen. 

In  der  ersten  Zeit  verbrachte  er  die  Sonn-und  Feier- 
tage mit  seiner  Mutter,  welche  ausserdem  jede  Gelegen- 
heit w^ahrnahm,  um  ihn  zu  besuchen,  sodass  er  infolge  der 
ziemlich  häufigen  Zusammenkünfte  den  Uebergang  vom 
häuslichen  Famiüenleben  in  die  neuen  ungewohnten  Ver- 
hältnisse nicht  besonders  schwer  empfand.  Alexandra  An- 
dreewna konnte  jedoch  nicht  länger  als  bis  Mitte  Oktober 
in  Petersburg  verbleiben,  und  so  kam  einer  der  „schreck- 
lichsten" Tage  im  Leben  Peter  Iljitsch's  heran,  der  Tag 
der  Abreise  seiner  Mutter. 

Im  Augenblicke  des  Abschied's  verlor  er  seine  ganze 
Selbstbeherrschung.  Er  klammerte  sich  an  die  Mutter 
und  wollte  nicht  von  ihr  lassen.  Weder  Bitten,  noch  Trost- 
worte, noch  das  Versprechen  bald  wiederzukommen  hal- 
fen etwas.  Er  hörte  Nichts,  er  sah  Nichts  und  blieb  wie 
angegossen  am  geliebten  Wesen  hängen.  Es  blieb  Nichts 


—  33  - 

Anderes  übrig,  als  den  armen  Jungen  mit  Gewalt  loszu- 
reissen  und  solange  festzuhalten,  bis  Alexandra  Andreewna 
in  die  Equipage  gestiegen  war  und  davonfuhr.  Da  entrang 
sich  ihm  ein  Schrei  der  Verzweiflung  und,  seine  ganze 
Kraft  zusammenfassend,  lief  er  dem  Wagen  nach  und  ver- 
suchte vergeblich,  ihn  am  Rad  zu  fassen  und  zum  Stehen 
zu  bringen. 

Nie  in  seinem  Leben  konnte  Peter  Iljitsch  ohne  Bitter- 
keit an  jene  Begebenheit  denken.  Dieses  erste  grosse  Un- 
glück, das  er  erlebte,  konnte  sich  vielleicht  nur  mit  jenem 
anderen — dem  Tode  seiner  Mutter — messen.  Obgleich  er 
in  seinem  späteren  Leben  olt  noch  viel  grösseren  Schmerz 
erlitt  und  noch  bedeutend  traurigere  und  qualvollere  Ent- 
täuschungen und  Entbehrungen  erfuhr,  so  konnte  er  doch 
nie  jenes  brennende  Gefühl  der  Erbitterung,  und  Ver- 
zweiflung vergessen,  welches  ihn  erfasste,  als  er  dem  Wa- 
gen nachhef,  der  ihm  seine  geliebte  Mutter  entriss.  Der 
düstere  Schatten  dieser  Trennung  breitete  sich  über  seine 
ersten  Schuljahre  aus.  Das  Heimweh,  die  Sehnsucht  nach 
der  Mutter  löschte  in  ihm  alle  anderen  Eindrücke  aus,  zer- 
brach alle  früheren  Bestrebungen,  Wünsche  und  Gedan- 
ken. Zwei  volle  Jahre  verlebte  er,  wie  es  aus  seinen  Brie- 
fen zu  ersehen  ist,  in  der  beständigen  Hoffnung  auf  das 
Wiedersehen  seiner  Eltern.  Diese  Hoffnung  füllte  sein  gan- 
zes Sein  aus. 


•^i^ 


XI. 

Bald  nach  der  Abreise  Alexandra  Andreewna's  brach 
in  der  Schule  eine  Scharlach-Epidemie  aus,  und  Herr  M. 
Wakar  veranlasste  schleunigst,  dass  Peter  für  einige  Zeit 
bei  ihm  wohnen  bliebe.  Das  Schicksal  wollte  es  aber,  dass 
zusammen  mit  Peter  auch  die  Krankheit  in's  Haus  kam. 
Peter  Iljitsch  selbst  blieb  zwar  gesund,  infizierte  aber  den 
ältesten  Sohn  Wakar's,  der  auch  bald  darauf  verschied. 
Peter  Iljitsch  wusste  nur  zu  genau,  dass  er  den  Tod  in's 
Haus  gebracht  hatte,  und  trotzdem  ihm  nie  Jemand  einen 
Vorwurf  daraus    machte,  fühlte  und  glaubte  er,  dass  man 

Tschaikowaky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  •> 


—  34  — 

nicht  umhin  konnte,  ihm  im  Geheimen  doch  böse  zu  sein. 
Er  verschonte  sich  auch  nicht  mit  Selbstvorwürfen  und 
seine  Seele  hatte  unter  dem  Eindruck  dieses  Ereignisses  um 
so  schwerer  zu  leiden,  als  er  den  Verstorbenen  in  der  kur- 
zen Zeit  sehr  lieb  gewonnen  hatte.  Es  ist  kein  Wunder, 
dass  ihm  in  jener  Zeit  die  Gegenwart  rauh  und  kalt  schien 
und  dass  er  sich  mehr  denn  je  nach  seinen  Eltern  und 
Geschwistern  sehnte.  Alle  seine  Briefe  aus  jener  Zeit  ver- 
rathen  diese  eine  grosse  Sehnsucht. 

Anfang  April  185 1  verliess  Herr  M.  Wakar  plötzlich 
Petersburg  und  siedelte  mit  der  ganzen  Familie  nach  Ka- 
menez-Podolsk  über,  sodass  die  beiden  Brüder  Tschai- 
kowsky  der  Fürsorge  eines  anderen  intimen  Freundes  Ilja 
Petrowitsch's,  einem  gewissen  I.  Weiss,  anempfohlen  wur- 
den. Diese  Veränderung  hatte  auf  die  Stimmung  Peter 
Iljitsch's  garkeinen  Einfluss  gehabt,  seine  moralische  Nie- 
dergeschlagenheit blieb  nach  wie  vor  dieselbe  und  in  seinen 
Briefen  flehte  er  nach  wie  vor  seine  Eltern,  sie  möchten 
doch  recht  bald  nach  Petersburg  kommen. 

Von  den  Ereignissen  jener  Zeit  ist  nur  eines  bemer- 
kenswert: Mitte  April  wurden  die  Zöglinge  der  Vorbe- 
reitungs-Klasse  auf  einen  Kinderball,  der  im  Saale  der 
Adelsversammlung  stattfand,  geführt,  wo  sie  Gelegenheit 
hatten  den  Kaiser  Nikolaus  „so  nahe,  wie  Vaters  Schreib- 
pult vom  Sopha"   zu  sehen. 

Anfang  Mai  nahm  Plato  Alexejewitsch  Wakar  die  Söhne 
Ilja  Petrowitsch's  zu  sich  und  behielt  sie,  bis  die  ganze  Fa- 
milie Tschaikowsky  wieder  in  Petersburg  ihr  Domicil  auf- 
schlug. Plato  Alexejewitsch,  sowie  seine  Gemahlin  Maria 
Petrowna,  geborene  Markowa,  ganz  besonders  aber  die 
Mutter  und  die  Schwestern  Maria  Petrowna's,  behandelten 
Peter  Iljitsch  sehr  teilnahmsvoll  und  zuvorkommend.  Von 
den  Letzteren  wurde  er  auch  eingeladen,  den  Sommer  bei 
ihnen  auf  dem  Lande  zu  verbringen.  Trotzdem  kommt  er 
aber  in  seinen  Briefen  an  die  Eltern  immer  wieder  darauf 
zurück,  dass  er  sich  sehr  nach  ihnen  sehne  und  sie  bald 
in  Petersburg  zu  sehen  hoffe.  Diese  Hoffnung  sollte  aber 
erst  im  September  in  Erfüllung  gehen. 

Unterdess  hat  er  die  Prüfung  in  der  Schule  glänzend 
bestanden  und  ist  in  die  Oberabteilung  der  Vorbereitungs- 
klasse versetzt  worden. 

Anfang  Juni  nahm  ihn  Frau  Markowa  mit  aufs  Land. 
Die  zwei  Ferienmonate,  die  er  dort  verbrachte,  waren  die 
glücklichsten  in  diesem  Jahr.   „Ihr  könnt  es  Euch  garnicht 


—  35  — 

vorstellen", — schreibt  er, — „wie  fröhlich  ich  hier  lebe!  Das 
Dorf  liegt  so  malerisch  auf  einem  Hügel.  Eine  schattige 
Allee  führt  zum  Langen  See,  in  dem  es  viele  Fische  giebt. 
Links  von  der  Allee  liegt  ein  Hühnerhof. 

Hinter  dem  Hause  befindet  sich  ein  Garten,  von  dem 
aus  eine  Allee  in  den  Wald  führt.  Von  der  anderen  Seite 
des  Hauses  sieht  man  ein  Kirchdorf,  „Nadino". — Aber  auch 
in  diesem  Brief  vergisst  er  nicht  die  flehentliche  Bitte,  seine 
Eltern  möchten  dach  recht  bald  zu  ihm  kommen.  Anfang 
August  nach  Petersburg  zurückgekehrt,  ist  er  voll  freudi- 
ger Erwartung,  nun  bald  seinen  Vater  wiederzusehen,  hn 
Stillen  hofft  er  sogar,  dass  seine  Mutter  ihm  eine  Ueber- 
raschung  bereiten  und  auch  kommen  werde:  „Es  scheint 
mir  immer,  dass  Du,  Mutterchen,  schon  in  Kasan  oder 
Nishny  bist.  Ich  glaube  nicht,  dass  Du  imstande  wärest 
so  eine  Bitte,  wie  die  meinige,  abzuschlagen". 

Doch  kam  Ilja  Petrowitsch  allein  und  verbrachte  mit 
seinen  Söhnen  nur  drei  Wochen.  Leider  wissen  wir  nichts 
Ausführhcheres  über  diesen  Aufenthalt  Ilja  Petrowitsch's 
in  Petersburg.  Jedenfalls  aber  hat  er  die  Gelegenheit  wahr- 
genommen, seine  Kinder  mit  Zärtlichkeiten  zu  überschüt- 
ten. Trotzdem  gestaltete  sich  seine  Abreise  nicht  mehr  so 
tragisch  wie  vor  Jahresfrist  diejenige  Alexandra  Andreew- 
na's.  Jener  herzzerreissende  Auftritt  wiederholte  sich  nicht. 
Peter  Iljitsch  war  älter  geworden  und  hatte  sich  bereits 
darein  gefunden,  ohne  Eltern  zu  leben.  Von  nun  an  sind 
auch  seine  Briefe  ruhiger.  Er  erzählt  darin  immer  öfter 
verschiedene  Petersburger  Eindrücke  und  Erlebnisse.  Die 
unvermeidlichen  Bitten,  doch  recht  bald  wieder  zu  ihm  zu 
kommen,  finden  sich  allerdings  auch  jetzt  noch  in  jedem 
Brief,  sind  aber  nicht  mehr  so  dringend,  wie  früher,  ja 
manches  Mal  sogar  in  scherzhaftem  Ton  gehalten. 


"^^" 


XII. 


Anfang  Mai  1852  siedelte  die  ganze  Familie  Tschai- 
kowsky  endgiltig  nach  Petersburg  über.  Ein  kleines  Ver- 
mögen, welches  Ilja  Petrowitsch  im  Laufe  der  Zeit  erspart 
hatte,  und  die  Pension,  die  er  als  früherer  Staatsbeamter 


-  зб- 

bezog,  ermöglichten  es  ihm,  seine  Stellung  aufzugeben  und 
mit  den  Kindern  vereint,  ein  sorgenfreies  Leben  weiterzu- 
führen. 

Der  Umzug  fiel  gerade  in  die  Zeit,  als  die  Schüler  der 
Vorbereitungsklasse  sehr  fleissig  zu  arbeiten  hatten,  um 
die  Prüfungen  bei  der  Versetzung  in  die  Septima  der  eigent- 
lichen Juristenschule  zu  bestehen.  Erst  als  diese  schwere 
Zeit  glücklich  überwunden  war,  durfte  Peter  Iljitsch  sich 
ganz  den  Freuden  des  so  lange  sehnsüchtig  erwarteten 
Zusammenlebens  mit  seinen  Angehörigen  hingeben.  Für 
den  Sommer  mietheten  Tschaikowsky's  eine  „Datsche" 
(ein  Landhaus)  in  der  Nähe  Petersburg's.  Leider  ist  aus 
jener  glücklichen  Zeit  nur  wenig  Interessantes  zu  berichten. 
Im  Mittelpunkt  des  Familienlebens  standen  drei  junge  Da- 
men: Zinaida  Iljinischna,  Lydia  Wladimirowna  und  Anna 
Petrowna  (jetzt  Frau  Merkling).  Letztere,  die  Nichte  Ilja 
Petrowitsch's,  war  von  Alexandra  Andreewna  aus  Moskau 
mitgebracht  worden.  Alle  drei  waren  sehr  hübsch  und 
lockten  natürlich  viele  jungej  Männer  in's  Haus,  so  dass 
die  jüngeren  Kinder  sozusagen  im  Schatten  blieben. 

Mit  Anna  Petrowna  war  Peter  Iljitsch  am  besten  be- 
freundet. Es  vereinigte  sie  die  Liebe  zu  Scherzen  und 
Streichen,  in  welchen  der  zukünftige  Komponist  viel  Phan- 
tasie offenbarte. 

Hier  ein  Beispiel  dafür.  Im  Nachbarhause  wohnte  eine 
zanksüchtige  Polin  von  zweifelhaftem  Lebenswandel,  welche 
eine  grosse  Vorliebe  für  Truthähne  hatte  und  eine  ganze 
Menge  deren  besass.  Peter  und  Anna  hatten  nun  den  Plan 
gefasst,  diese  Nachbarin  zu  ärgern.  Sie  begaben  sich  in 
die  Nähe  ihres  Hühnerhofes  und  stimmten  ein  Duett  an. 
Die  Truthähne  bullerten  dann  fürchterlich  und  die  Polin 
kam  herausgestürzt  und  überschüttete  die  Beiden  mit 
Scheltworten.  Das  machte  ihnen  aber  gerade  grossen  Spass 
und  sie  wiederholten  diesen  Streich  so  oft,  bis  eines  Ta- 
ges statt  der  Polin  ein  Mann  mit  ungeheurem  Schnurrbart 
herauskam  und  sie  derart  erschreckte,  dass  sie  ihren  Scherz 
nie  wieder  wagten. 

Peter  Iljitsch  hielt  es  für  seine  Pflicht,  seine  Gefährtin, 
wenn  es  nötig  war,  zu  beschützen  und  zu  verteidigen. 
Eines  Abends,  als  die  drei  Mädchen  oben  auf  ihrem  Bal- 
kon Sassen  und  vor  dem  Zu-Bett-gehen  sich  wieder  ein- 
mal gegenseitig  ihre  Herzensgeheimnisse  anvertrauten,  kam 
Peter  Iljitsch  plötzlich  zu  ihnen  heraufgestürzt  und  teilte 
ihnen  in  grosser  Erregung  mit,  dass  Nikolai  und  der  Bru- 


—  37  — 

der  Anna  Petrowna's,  Ilja,  eine  Leiter  an  den  'Balkon  ge- 
stellt h.ätten,  und  die  Plauderei  der  Mädchen  belauschten. 
Die  Folge  davon  war,  dass  den  beiden  Neugierigen  ein 
Strahl  kalten  Wassers  über  die  Köpfe  gegossen  wurde. 
Die  Handlungsweise  unseres  Helden  war  den  Damen  ge- 
genüber zwar  sehr  ehrlich,  aber  nichtsdestoweniger  ver- 
rätherisch. 

Diese  zwei  Begebenheiten  habe  ich  nur  erzählt,  weil 
sie  jene  Neigung  Peter  Iljitsch's  zu  mehr  oder  weniger 
bösen  Scherzen  illustrieren,  welche  eigentümlicherweise 
mit  seiner  grenzenlosen  Güte  und  seinem  Grossmuth  Hand 
in  Hand  ging.  Jemanden  in  eine  unangenehme  Lage  zu 
versetzen,  oder  zu  verblüffen,  oder  gar  einen  richtigen 
Bubenstreich  zu  begehen, — war  ihm  stets  ein  grosses  Ver- 
gnügen. Er  scheute  sich  aber  nie,  seine  Boshaftigkeit  und 
seine  schlechten  Handlungen  ganz  off"enherzig  einzugeste- 
hen. Mit  einer  geradezu  wollüstigen  Schadenfreude  pflegte 
er  seine  Streiche  zu  erzählen,  ohne  sie  zu  beschönigen 
oder  sich  selbst  zu  entschuldigen. 

Das  biographische  Material  jener  Zeit  seines  Lebens 
bis  zum  Jahre  1854  ist  so  arm,  dass  es  geradezu  gar- 
nichts  Erzählenswertes  bietet.  Das  graue  Einerlei  des  Schul- 
lebens wurde  nur  durch  den  Sonntagsurlaub,  den  Peter 
Iljitsch  bei  seinen  Eltern  verbrachte,  unterbrochen.  We- 
der Briefe  noch  üeberlieferungen  giebt  es  aus  jener  Zeit. 
Die  älteren  Geschwister,  namentlich  die  drei  jungen  Da- 
men, waren  zu  sehr  mit  ihren  eignen  Angelegenheiten, 
Ausfahrten,  Bällen,  Theaterbesuchen  und  kleinen  Liebes- 
geschichten beschäftigt,  sodass  sie  für  das  Leben  Peter 
Iljitsch's  nur  wenig  hiteresse  übrig  hatten;  seine  jüngeren 
Geschwister  hatten  noch  weniger  Verständniss  dafür. 

Im  Januar  1854  verheiratete  sich  Zinaida  Iljinischna. 
In  demselben  Jahre  wurde  die  Familie  Tschaikowsky  von 
einem  tragischen  Schicksalsschlag  betroffen,  welcher  auf 
jene  Zeit  einen  tiefen  Schatten  warf  und  die  Gemüter  noch 
lange  in  Bann  hielt.  Erst  1856  berichtet  Peter  Iljitsch  da- 
rüber an  Fanny  folgendermassen: 

„Jetzt  erst  will  ich  Ihnen  etwas  sehr  Trauriges  erzäh- 
len: ein  grosses  Unglück  hat  uns  vor  2V2  Jahren  heim- 
gesucht. Vier  Monate  nach  der  Hochzeit  Zinaida's  bekam 
meine  Mutter  die  Cholera.  Dank  der  Bemühungen  der 
Aerzte  besserte  sich  allerdings  ihr  Zustand,  aber  leider 
nicht  lür  lange,  denn  schon  nach  drei  Tagen  gab  sie  ihren 
Geist  auf,  ohne  von  uns  Abschied  genommen  zu  haben".,.. 


-  38- 

Das  geschah  am  13.  Juni  1854.  Am  Tage  der  Beerdi- 
gung erkrankte  Ilja  Petro witsch  ebenfalls  an  der  Cholera 
und  schwebte  einige  Tage  in  grosser  Lebensgefahr,  doch 
wurde  er  zum  Glück  seinen  Kindern  wiedergegeben. 

Der  unerwartete  und  schwere  Verlust  hatte  Ilja  Petro- 
witsch  ganz  aus  der  Fassung  gebracht,  sodass  er  garnicht 
recht  wusste,  was  er  nun  anfangen  sollte.  Das  älteste 
weibhche  Wesen  in  der  Familie  war  Lydia  Wladimirowna. 
Sie  war  aber  Braut,  und  die  Hochzeit  sollte  schon  im  kom- 
menden Herbst  stattfinden;  zudem  war  sie  noch  so  jung 
und  unerfahren,  dass  sie  den  Kindern  wohl  schwerlich  die 
Mutter  ersetzen  konnte.  Ilja  Petro  witsch  verstand  sich  gar- 
nicht auf  die  Erziehung  der  Kinder,  ganz  besonders  der 
Tochter,  und  vertraute  Alexandra  Iljinischna  einem  Insti- 
tut für  adelige  Mädchen  (Smolny  -  Institut)  an.  Hyppolit 
wurde  im  Seekadettencorps  untergebracht,  sodass  nur  die 
beiden  Zwillinge  bei  ihm  blieben.  Nach  so  vielen  Jahren 
glücklichen  Familienlebens  konnte  Ilja  Petro  witsch  die  Ein- 
samkeit nicht  ertragen  und  beschloss  daher  zu  seinem 
innig  geliebten  Bruder  Peter  Petrow^tsch  zu  ziehen,  deren 
Familie  aus  seiner  Frau,  fünf  Töchtern  und  drei  Söhnen 
bestand  und  im  Herbst  1854  in  Petersburg  ihr  Domicil 
aufschlug. 


XIII. 

Die  Jahre  1850 — 1852  hatten  zwiefache  Bedeutung  im 
Leben  Tschaikowsky's. 

Die  Thränen,  die  er  vergossen,  die  Leiden,  die  er  ge- 
litten, haben  seinen  Charakter  geläutert.  Die  verschiede- 
nen schlechten  Triebe,  die  in  ihm  zu  wuchern  begannen, 
seine  Reizbarkeit,  Trägheit,  Unwahrhaftigkeit,  der  aufkei- 
mende Neid,  die  Unzufriedenheit  mit  seinem  Leben,  sind 
durch  die  Macht  der  seelischen  Erschütterung  bei  der 
Trennung  von  seinen  Eltern  vollständig  vernichtet  wor- 
den, und  es  ersteht  vor  unsern  Augen  das  gutherzige, 
allbestrickende,  durch  und  durch  ehrliche  Wesen  der  glück- 
lichen Wotkinsk   'sehen   Zeit.   Anderseits,   aber,   wird  die 


—  39  — 

bis  dahin  freie  Entfaltung  seiner  Seele  und  seines  Ver- 
standes gewaltsam  in  ein  S3^stem  eingezwängt,  welches 
ja  in  mancher  Beziehung  allerdings  heilsam  für  ihn  war, 
dafür  aber  der  Entwickelung  seiner  musikalischen  Fähig- 
keiten nicht  nur  garkeine  Nahrung  bot,  sondern  derselben 
direkt  ein  Hinderniss  in  den  Weg  legte. 

Nach  dem  grossen  Fortschritt,  den  Peter  Iljitsch  1848/49 
in  der  Musik  gemacht  hatte,  erstarrte  seine  künstlerische 
Erziehung  für  volle  zehn  Jahre.  Im  Herbst  1850  begann 
für  ihn  das  Leben  eines  zukünftigen  Beamten  des  lustiz- 
Ministeriums. 

In  den  39  Briefen,  die  er  in  den  zwei  ersten  Jahren 
seines  Schullebens  geschrieben  hatte,  erwähnt  er  nur  in 
zweien  die  Musik,  und  auch  da  nur  ganz  unwesentHch. 
Das  eine  Mal  erzählt  er,  dass  er  seinen  Kameraden  eine 
Polka  aufgespielt  und  dass  er  das  vor  drei  Jahren  ein- 
geübte Stück  „die  Nachtigall"  wiederholt  habe.  Das  andere 
Mal  teilt  er  den  Seinigen  mit,  dass  er  ihnen  gelegentlich 
einmal  den  Text  des  „Freischütz"  erzählen  wolle — (bei- 
läufig gesagt  —  ein  nicht  gehaltenes  Versprechen)  und 
knüpft  daran  die  Erinnerung,  wie  er  in  Petersburg  zum 
ersten  Mal  „Das  Leben  für  den  Zaren"  gesehen.  Das  ist 
auch  Alles. 

Daraus  folgt  allerdings  noch  nicht,  dass  er  keine  mu- 
sikalischen Eindrücke  gehabt  hätte.  Diese  Eindrücke  wa- 
ren wohl  vorhanden  und  waren  sogar  sehr  intensiv.  Der 
Komponist  bekennt  selbst,  dass  das  geniale  Werk  We- 
bers, sowie  „Das  Leben  für  den  Zaren",  seitdem  nächst 
den  Bruchstücken  aus  Mozart's  „Don  Juan",  die  er  noch 
in  Wotkinsk  dank  dem  Orchestrion  kennen  gelernt  hatte, — 
die  erste  Stelle  im  Tempel  seiner  Heiligtümer  einnähmen. 
Er  hatte  aber  Niemanden,  mit  dem  er  seine  musikalischen 
Eindrücke  teilen  konnte.  In  seiner  Umgebung  gab  es  da- 
mals nicht  einmal  einen  Dilettanten.  Alle,  mit  denen  er  in 
Berührung  kam,  sahen  die  Musik  als  eine  Spielerei  an, 
die  nur  zum  Zeitvertreib  da  war,  und  der  man  keine 
ernstliche  Bedeutung  im  Leben  beimessen  sollte.  Da  Peter 
Iljitsch's  Liebhaberei  weder  bei  seinen  Verwandten,  noch 
bei  seinen  Erziehern,  Lehrern  und  Kameraden  Anklang 
fand,  verschloss  er  sie  ganz  in  das  Innerste  seiner  Seele. 
Frau  Merkling  erzählt  über  ihn  Folgendes:  „Wenn  er  ge- 
beten wurde,  etwas  zu  spielen,  that  er  es  nur  ungern  und 
sehr  flüchtig,  nur  um  es  schneller  los  zu  sein.  Wenn  er 
aber  für  sich  selbst  auf  dem  Klavier   phantasierte,  indem 


—  40  — 

er  allein  zu  sein  glaubte,  war  er  stets  ganz  weltentrückt. 
Ich  weiss  noch,  wie  ich  dann  seine  Augen,  die  in  weiter 
Ferne  zu  schweifen  schienen,  und  das  erregte  Kinderge- 
sichtchen  bewunderte.  Sobald  er  aber  merkte,  dass  ihn  Je- 
mand beobachtete,  wachte  er  gleichsam  auf  und  war  sehr 
unzufrieden,  wenn  man  ihn  bat  fortzusetzen.  Das  einzige 
Wesen,  mit  dem  er  über  seine  musikalischen  Eindrücke 
sprechen  konnte,  war  seine  Tante  Frau  E.  A.  Alexejewa. 
In  der  instrumentalen  Musik  war  sie  allerdings  ziemlich 
unbewandert,  umsomehr  aber  in  der  vocalen.  Peter  Iljitsch 
wurde  nicht  müde,  mit  ihr  den  Klavierauszug  des  „Don- 
Juan"  wieder  und  immer  wieder  zu  studieren.  „Die  Mu- 
sik des  „Don-Juan",  —  schreibt  er  1878,  —  „war  die  erste 
Musik,  die  mich  tief  ergriff.  Sie  entfachte  in  mir  ein  heili- 
ges Entzücken,  welches  später  Früchte  trug.  Durch  sie 
bin  ich  in  jene  Welt  der  künstlerischen  Schönheit  gedrun- 
gen, wo  nur  die  grössten  Genien  leben.  Mozart  verdanke 
ich  es,  dass  ich  mein  Leben  der  Musik  geweiht".... 

Indem  er  seine  ernsten  musikalischen  Bestrebungen  und 
Gedanken  für  sich  allein  behielt  und  Niemandem  mitteilte, 
trug  er  anderseits  musikalisch  Scherzhaftes  oder  Unter- 
haltendes stets  gern  und  oft  vor.  So  prahlte  er  z.  B.  oft 
mit  seiner  Coloratur  und  sang  in  der  That  die  schwierig- 
sten Vocalisen  mit  einer  Leichtigkeit,  welche  einer  ita- 
lienischen Sängerin  Ehre  gemacht  hätte.  Er  hatte  mit  der 
Frau  Alexejewa  damals  ein  grosses  fioriturenreiches  Duett 
aus  „Semiramis"  einstudiert,  und  sang  darin  die  erste  Stim- 
me ganz  ausgezeichnet.  Ganz  besonders  stolz  war  er  aut 
seinen  wirklich  famosen  Triller. 

Jene  Epoche  seines  Lebens  ist  auch  noch  dadurch  be- 
merkenswert, dass  ein  sehr  charakteristischer  Zug  seiner 
Persönlichkeit  damals  zuerst  deutlich  zu  Tage  getreten 
ist,  das  ist  seine  grosse  Nachgiebigkeit,  Unterwürfigkeit 
fremden  Einflüssen  gegenüber  in  Allem,  was  nicht  seine 
Musik  betraf;  diese  war  jedoch  seine  ureigenste  Angele- 
genheit, und  er  duldete  darin  keine  Einmischung.  Allen 
aeusseren  Einflüssen  und  Bemühungen,  ihn  nach  dieser 
oder  jener  Richtung  mit  fortzureissen  zum  Trotz,  blieb 
er  fest  und  respektierte  nur  seine  eigene  Meinung,  fügte 
sich  nur  seiner  eignen  inneren  Stimme.  In  allen  anderen 
Sachen  war  er  dagegen  weich  wie  Wachs. 


^i^ 


^^^^yV'^^^/^^. 


Zweiter  Teil. 


I. 

Die  Schuljahre  Peter  Iljitsch's  haben,  wie  gesagt,  für 
die  Richtung,  die  sein  späterer  Lebenslauf  nahm,  fast  gar 
keine  Bedeutung  gehabt.  In  der  Zeit  von  1852 — 1859  wächst 
und  gedeiht  vor  unseren  Augen  Nichts  weniger  als  ein 
Künstler,  sondern  ein  sympatischer,  aber  ziemlich  mittel- 
mässiger  Beamter,  von  dem  jedoch  schon  in  der  Mitte  der 
sechziger  Jahre  auch  nicht  die  Spur  mehr  übrig  bleibt. 

Daher  ist  auch  das  biographische  Material  jener  Epo- 
che seines  Lebens  ungemein  karg.  Es  beschränkt  sich 
hauptsächlich  auf  ziemlich  unklare  und  mutmassliche  Erin- 
nerungen seiner  Verwandten  und  Schulkameraden.  Ist  es 
doch  damals  gewiss  Niemandem  eingefallen,  dem  Thun  und 
Lassen  eines  ganz  gewöhnlichen  Jünglings  irgend  welche 
Bedeutung  beizumessen. 

Von  dem  ganzen  Lehrer-und  Erzieher-Personal  der  Ju- 
ristenschule hat  Niemand  es  vermocht,  in  geistiger  oder 
moralischer  Beziehung  einen  dauernden  Einfluss  auf  Peter 
Iljitsch  auszuüben.  Das  waren  alles  Herren,  w^elche  die 
Mittelmässigkeit  weder  nach  der  guten  noch  nach  der 
schlechten  Seite  hin  erheblich  überschritten.  Die  Einen  wa- 
ren etwas  strenger,  die  Andern  etwas  nachsichtiger;  die 
Einen  unterrichteten  etwas  besser,  die  Andern  etwas  schlech- 
ter; Einige  wau'den  verehrt,  Einige  gefürchtet;  Alle  aber 
übten  ihre  Berufspflichten  ohne  rechten  Eifer  aus,  nicht 
mehr  und  nicht  weniger  als  gewissenhaft;  so  verging  Stun- 
de auf  Stunde,  Tag  auf  Tag  genau  nach  der  Vorschrift 
des  Programms.  Ebenso  war  es  auch  bei  den  Schülern.  Sie 


—  42  — 

trachteten  stets  danach,  sich  mr)ghchst  schnell  ihrer  Arbei- 
ten zu  entledigen  und  wendeten  nur  soviel  Mühe  daran, 
als  es  nötig  war,  um  keine  schlechte  Zensur  zu  bekom- 
men, oder  am  Sonnabend  nicht  ohne  Urlaub  zu  bleiben. 
Der  Lehrkursus  der  sogenannten  „j'üngeren  Abteilung" 
der  Schule  war  halb  klassisch  halb  real;  griechischen  Sprach- 
unterricht gab  es  nicht,  statt  dessen  aber  Geschichte  und 
Physik.  Angesichts  der  Notwendigkeit,  in  den  höheren  Klas- 
seri  das  Römische  Recht  zu  studieren,  stand  auch  Latein 
im  Programm. 

Peter  Iljitsch  war  ein  recht  wissbegieriger  und  befä- 
higter Jüngling.  Viele  wissenschaftliche  Fächer  interessier- 
ten ihn,  aber  weder  er  selbst  noch  seine  Mitschüler  konn- 
ten sich  später  erinnern,  dass  er  für  irgend  ein  Fach  ganz  be- 
sonderes, vornehmliches  Interesse  gehabt  hatte,  oder  irgend 
einen  Lehrer  den  Anderen  vorzog.  Er  war  auch  in  der  Schule 
fleissig  und  gewissenhaft,  wurde  stets  mit  ziemlich  guten 
Zensuren  versetzt,  brauchte  nur  selten  bestraft  zu  werden, 
zeigte  aber  anderseits  auch  keinen  Uebereifer,  geschweige 
denn  Liebe  zur  Sache,  that  sich  überhaupt  durch  Nichts 
besonders  hervor.  Nur  die  Mathematik  fiel  ihm  recht  schwer. 
Folgende,  für  seinen  „Stumpfsinn"  in  jener  Wissenschaft, 
allerdings,  recht  bezeichnende  Geschichte  wusste  er  zu 
erzählen.  Er  war  schon  in  der  Quinta,  als  es  ihm  und 
einem  seiner  Kameraden  (Schadursky)  eines  Tages  uner- 
w^arteterweise  gelungen  war,  ohne  fremde  Hilfe  eine  al- 
gebraische Aufgabe  zu  lösen.  Darüber  waren  sie  Beide  so 
erstaunt  und  so  entzückt,  dass  sie  sich  vor  lauter  Freude 
umarmten;  am  merkwürdigsten  ist  aber,  dass  jenes  Ereig- 
niss,  welches — nebenbei  gesagt — sich  nie  wiederholte,  den 
ersten  Anstoss  zur  späteren  intimen  Freundschaft  Tschai- 
kowsky's  und  Schadursky's  gab.  Unerklärlich  ist  es,  wie 
Peter  Iljitsch,  welcher  thatsächlich  im  Rechnen  nur  die 
vier  Species  verstand,  und  die  algebraischen  Formeln  so- 
wie die  geometrischen  Figuren  absolut  nicht  begreifen 
konnte,  für  welchen  die  Mathematik  im  wahren  Sinne  des 
Wortes  ein  undurchdringbarer  Urwald  war,  bei  den  Prü- 
fungen doch  das  Prädikat,  „genügend"  erhalten  und  stets 
versetzt  werden  konnte.  Wie  oberflächlich  mussten  die 
Lehrer  über  das  wirkliche  Wissen  ihrer  Schüler  orientiert 
sein!  Auch  in  den  drei  obersten  Klassen,  in  der  III,  II  und  I, 
wurde  es  nicht  anders.  Auch  hier  fehlte  den  meisten  Leh- 
rern und  Professoren  der  nötige  Eifer  für  den  Unterricht 
und    sie    vermochten    nicht,  Peter  Iljitsch  zu  interessieren 


—  43  — 

und  seinen  Verstand  anzuregen.  Uebrigens  hatte  hier  zum 
grossen  Teil  auch  Peter  Iljitsch  selbst  daran  vSchuld,  denn 
er  fühlte  wohl,  wie  wenig  Veranlagung  er  für  die  Wissen- 
schaften besass  und  hatte  daher  garkeine  Lust,  viel  Mühe 
und  Fleiss  daran  zu  wenden.  Wenn  auch  die  Art  des  Un- 
terrichts in  der  Juristen-Schule  Manches  zu  wünschen 
übrig  Hess,  so  gab  es  da  doch  einige  talent-und-geistvolle 
Lehrer,  die  Tüchtiges  in  ihrem  Fach  leisteten,  so  dass 
diejenigen  Schüler,  die  Lust  und  Liebe  für  ihren  zukün- 
ftigen Beruf  hatten,  auch  wirklich  viel  lernen  konnten. 
Dieses  beweist  schon  die  Thatsache,  dass  so  viele  ausge- 
zeichnete Juristen,  Theoretiker  und  Praktiker,  aus  jener 
Schule  hervorgegangen  sind. 


II. 

Die  Schüler  der  Juristenschule  waren  meistens  Kinder 
des  mittleren  Adels,  sodass  Peter  Iljitsch  beim  Eintritt  in 
die  Schule  unter  Seinesgleichen  kam.  Gleich  ihm,  stammten 
seine  Mitschüler  aus  geachteten,  nicht  gerade  reichen,  aber 
auch  nicht  armen  Familien,  in  deren  Stammbaum  einige 
Generationen  gebildeter  und  adeliger  Ahnen  vorhanden 
waren. 

Der  XX.  Jahrgang  dieser  Schule,  dem  Peter  Iljitsch 
angehörte,  hatte  in  seiner  Mitte  nicht  so  viele  hoffnungs- 
volle junge  Männer,  denen  später  eine  glänzende  Zukunft 
beschieden  war,  als  der  nächstfolgende,  der  XXI.  Jahrgang, 
aus  welchem  ein  Minister,  ein  Vorsitzender  des  Kassa- 
tionshofes, mehrere  Mitglieder  des  Reichsrathes  und  einige 
andere  hohe  Würdenträger  hervorgegangen  sind;  dafür 
wies  er  aber  Namen  auf  wie  Tschaikow^sky,  Apuchtin  ') 
und  Gerard  ^). 

Wie  Gerard  erzählt,  strebten  die  Schüler  des  XX. 
Jahrganges  nach  hohen  Zielen.  Namentlich  hatten  Alle 
grosses  Interesse  für  die  Literatur.  Dieses  aeusserte  sich 
darin,  dass  schon  in  den  unteren  Klassen  eine  Zeitschrift 


1 )  Berühmter  russischer  Dichter. 

2)  Ein  sehr  populärer  Advokat. 


—  44  — 

herausgegeben  wurde,  der  „vSchul-Anzeiger".  Mitarbeiter 
dieser  Zeitschrift  waren:  Apuchtin,  Masloff,  Aertel,  Gerard 
und  Tschaikowsky.  Ein  kritischer  Aufsatz  „Die  Geschichte 
der  Literatur  unserer  Klasse",  welcher  Peter  Iljitsch  zum 
Verfasser  hatte,  soll  nach  dem  Zeugniss  Masloff's  sehr 
hübsch  und  geistreich  gewesen  sein. 

Auch  in  der  Schule  hatte  Peter  Iljitsch  Alle  für  sich 
eingenommen.  Er  war  der  ausgesprochene  Liebling  nicht 
nur  seiner  Kommilitonen,  sondern  auch  seiner  Lehrer.  Die- 
ses bekunden  alle  seine  damaligen  Studiengenossen  ohne 
Ausnahme. 

„Seine  Freundlichkeit,  sein  Zartgefühl  im  Umgang  mit 
seinen  Kameraden",  erzählt  Gerard, — „erwarben  ihm  die 
weitgehendsten  Sympatieen.  Ich  glaube  nicht,  dass  er  sich 
jemals  mit  Jemandem  verzankt  oder  verfeindet  hätte.  We- 
nigstens erinnere  ich  mich  an  keinen  einzigen  derartigen 
Fall".  Ein  gewisser  S.  N.  Turtschaninoff  erzählt:  „Zwei- 
felsohne lag  im  Wesen  Tschaikowsky's  Etwas  besonders 
Anziehendes,  Etwas,  was  ihn  über  die  andern  Knaben 
stellte  und  was  die  Herzen  Aller  für  ihn  einnahm.  Ein 
gutes  Herz,  ein  weiches  Gemüt  und  eine  gewisse  Sorglo- 
sigkeit in  Bezug  auf  seine  eigne  Person  waren  von  jeher 
seine  charakteristischen  Eigenschaften".  Diese  Sorglosig- 
keit in  Bezug  auf  seine  eigne  Person  beschreibt  Masloff  fol- 
gendermaassen:  „Im  Alltagsleben  zeichnete  sich  Tschaikow- 
sky duch  seine  Unordentlichkeit  aus.  Er  hatte  in  kurzer 
Zeit  fast  alle  Bücher  aus  der  Bibliothek  seines  Vaters  an 
seine  Kameraden  „verborgt",  hatte  aber  auch  selbst  so 
manches  Buch  geliehen  erhalten,  ohne  um  dessen  Rück- 
gabe je  besorgt  gewesen  zu  sein.  Peter  war  stets  ohne 
Schulbücher  und  musste  sie  sich  bei  Andern  ausbitten, 
anderseits  war  aber  auch  sein  Pult — „Allgemeingut",  denn 
Jeder  durfte  darin  herumkramen.  Er  führte  damals  auch 
ein  Tagebuch  unter  dem  Titel  „Alles",  in  welchem  er  seine 
intimsten  Geheimnisse  niederschrieb,  war  aber  so  leicht- 
sinnig und  so  naiv,  dieses  Tagebuch  in  seinem  Pult  aufzu- 
bewahren, w^  seine  und  fremde  Bücher  und  Hefte  durch- 
einander lagen.  Einst  bereiteten  wir  uns  (d.  h.  er  und 
ich)  gemeinschaftlich  zum  Examen  vor,  und  spazierten 
täghch  in  den  Sommer-Garten,  um  daselbst  zusammen  zu 
studieren.  Um  die  nötigen  Bücher  und  Hefte  nicht  jedes- 
mal mitbringen  zu  müssen,  versteckten  wir  sie  in  einen 
alten  hohlen  Baumstamm  und  legten  einige  Bretter  drüber 
zum  Schutz  gegen  Wind  und  Wetter.  Nach  dem  Examen 


—  45  — 

holte  ich  natürlich  meine  Bücher  aus  ihrem  eigentümlichen 
Aufbewahrungsort,  Tschaikowsky  aber  vergass  es,  sodass 
seine  Bücher  vielleicht  auch  Heute  noch  da  liegen". 

Das  Tabakrauchen  war  in  der  Schule  selbstverständlich 
auf  das  strengste  verboten.  Für  die  Uebertretung  dieses 
Verbotes  waren  aeusserst  harte  Strafen  angesetzt,  so  dass 
man  viel  Mut  und  Unerschrockenheit  besitzen  musste,  um 
zu  den  „Rauchern"  zu  gehören.  Es  ist  kurios,  dass  Peter 
Iljitsch,  welcher  seine  intimeren  Freunde  unter  den  „Stil- 
len" fand,  weil  er  selbst  diesem  Typus  der  Schuljungen 
angehörte,  und  es  sonst  nie  wagte,  gegen  Gesetz  und  Re- 
gel zu  handeln,  einer  der  leidenschaftlichsten  Raucher  war. 

Das  Rauchen  habe  ich  an  dieser  Stelle  erwähnt,  um 
zu  zeigen,  wie  früh  in  diesem  nervösesten  aller  Menschen 
die  Sucht  zur  Narkose  erwacht  war.  Freilich  muss  man  das 
Rauchen  in  der  Schule  zum  Teil  auch  der  bei  der  Jugend 
ja  üblichen  Neigung  zu  „gefährlichen  Abenteuern"  zuschrei- 
ben, doch  erzählte  später  Peter  Iljitsch,  dass  ihm  das  Rauchen 
selbst  auch  ein  Genuss  war.  Er  rauchte  immer  hastig, 
gierig.  Der  ruhige,  langsame  Genuss  des  aromatischen  Ta- 
bakrauches befriedigte  ihn  nicht,  es  reizte  ihn  vielmehr 
die  Betäubung,  die  sich  nach  den  ersten  sehr  tiefen  Zü- 
gen einzustellen  pflegt  und  im  Anfang  allerdings  ein  ge- 
wisses Wonnegefühl  verursacht,  später  jedoch  in  Uebel- 
keit  und  Ekel  übergeht. 


— >»»C««- 


III. 

Von  den  Schulkameraden  Peter  Iljitsch's  muss  an  er- 
ster Stelle  Wladimir  Stepanowitsch  Adamoff  genannt  wer- 
den. Obgleich  er  nur  einige  Monate  mit  Peter  Iljitsch  in 
der  gleichen  Klasse  blieb,  befreundeten  sich  die  Beiden 
so  sehr,  dass  sie  bis  an  den  Tod  intime,  herzliche  Bezie- 
hungen zu  einander  unterhielten.  Adamoff  war  der  Typus 
eines  fleissigen,  bewusst  arbeitenden  Schülers,  zugleich 
aber  auch  voll  aestetischer  Bestrebungen  und  Sympatieen. 
Besondere  Vorliebe  hatte  er  für  die  Schönheiten  der  Na- 
tur; in  ihren  Mussestundcn  plauderten  die  beiden  Freunde 


-4б- 

gewöhnlich  über  verschiedene  Reisepläne;  sie  sehnten  sich 
danach,  gemeinschaftlich  Italien  und  die  Schweiz  zu  durch- 
wandern, doch  sind  ihre  Träume  nie  in  Erfüllung  gegangen, 
obgleich  ein  Jeder  Einzelne  von  ihnen  jene  beiden  Länder 
später  gründlich  kennen  gelernt  hat.  Ausserdem  hatte  Ada- 
moff leidenschaftlich  die  Musik  lieb.  Diese  Liebhaberei  fand 
darin  ihren  Ausdruck,  dass  er  mit  Peter  Iljitsch  zusammen 
sehr  oft  die  italienische  Oper  besuchte.  Er  nahm  auch  Ge- 
sangsstunden, brachte  es  aber  trotz  grosser  Anstrengun- 
gen nie  weiter,  als  bis  zu  einem  schlechten  Dilettanten. 
Adamoff  absolvierte  die  Schule  als  einer  der  Besten  und 
erhielt  die  goldene  Medaille.  Durch  ungeheuren  Fleiss  und 
Energie  errang  er  schon  in  der  kurzen  zeit  von  14  Jahren 
die  glänzende  Stellung  des  Departement  -  Direktors  des 
Justiz-Ministeriums.  Sein  im  Jahre  1877  erfolgter  Tod  er- 
schütterte Peter  Iljitsch  sehr  tief,  denn  Adamoff  ist  in  der 
That  einer  der  intimsten  Freunde  Peter  Iljitsch's  gewesen, 
Einer  von  Denen,  welchen  Peter  Iljitsch  seine  künstleri- 
schen Bestrebungen  mitteilen  konnte,  welche  diese  Bestre- 
bungen verstanden  und  hochschätzten. 

Zur  Zeit  als  Peter  Iljitsch  bereits  in  der  eigentlichen 
Juristenschule  war,  verbreitete  sich  daselbst  die  Kunde, 
dass  in  die  Vorbereitungsklasse  ein  Knabe  mit  phänome- 
naler dichterischer  Begabung  eingetreten  sei,  der  alle  Welt 
von  sich  reden  machte,  dessen  Verse  nicht  nur  von  den 
Kameraden,  sondern  auch  von  Erwachsenen  bewundert 
würden.  Peter  Iljitsch  interessierte  sich  sehr  für  diesen 
Wunderknaben  und  stattete  der  Vorbereitungsklasse  einst 
einen  Besuch  ab,  um  ihn  kennen  zu  lernen.  Seit  jenem 
Tage  spielt  Apuchtin  ^) — so  hiess  der  Knabe  —  im  Leben 
Peter  Iljitsch's  eine  so  hervorragende  Rolle,  dass  es  not- 
wendig ist,  diese  bedeutende  Persönlichkeit  ausführlicher 
zu  charakterisieren. 

Im  Jahre  1853  war  dieser  dreizehnjährige  Knabe  in  der 
That  ein  Phänomen.  Er  stammte  aus  einer  nicht  sehr  rei- 
chen Gutsbesitzerfamilie,  war  der  Abgott  seiner  Mutter, 
einer  sehr  klugen  und  gebildeten  Frau,  und  verdiente  nicht 
nur  mit  Recht  den  Ruhm  eines  Poeten,  sondern  zeichnete 
sich  in  jeder  Beziehung  durch  ungewöhnliche  Reife,  glän- 
zenden Scharfsinn  und  ein  immenses  Gedächtniss  aus. 

Apuchtin  und  Peter  Iljitsch  waren  äusserlich  und  in- 
nerlich grundverschiedene  Naturen.  Apuchtin  war  ein  ma- 


1)  Alexei  Nikolaewitscli  Apuchtin — berühmter  russischer  Dichter. 


—  47  — 

gerer  kleiner  unscheinbarer  Junge,  verhielt  sich  seinen 
Mitmenschen  gegenüber  verächtlich-gleichgiltig,  Manche 
hasste  er  sogar,  und  nur  sehr,  sehr  Wenige  erfreuten  sich 
seiner  Freundschaft  und  Liebe. 

Auch  er  besass  gleich  Peter  Iljitsch  die  Fähigkeit,  Alle 
zu  bezaubern  und  zu  entzücken,  nur  that  er  das  im  Ge- 
gensatz zu  Peter  Iljitsch  stets  bewusst,  vorsätzlich.  Er 
entzückte  nur  Diejenigen,  w^elche  er  entzücken  wollte, 
während  er  Andere  hart,  schroff  und  boshaft  behandelte. 

Die  Bewunderung,  die  ihm  von  allen  Seiten  entgegen- 
gebracht wurde,  die  Anregung  und  Aufmunterung,  welche 
ihm  nicht  nur  seitens  seiner  Lehrer  sondern  sogar  von 
hohen  Persönlichkeiten,  wie  z.  B,  vom  Prinzen  Peter  Ge- 
orgiewitsch  zu  Teil  wurde,  das  biteresse,  welches  solche 
Männer  wie  Turgenew  und  Fet  für  ihn  hatten — das  Alles 
machte  ihn  stolz  und  er  sah  den  breiten  Weg  zum  Ruhm 
offen  vor  sich  liegen. 

Apuchtin  war  in  seinem  Wissen  viel  weiter  und  viel 
reifer  als  Peter  Iljitsch.  Er  kannte  gut  die  Literatur;  viele 
Dichter,  namentlich  Puschkin,  konnte  er  zum  grossen  Teil 
auswendig.  Im  Hause  seiner  Eltern  hatte  er  schon  als  Kind 
Gelegenheit,  viele  bedeutende  Männer  der  damaligen  Zeit 
kennen  zu  lernen  und  ihren  Gesprächen  zu  lauschen,  so 
dass  in  ihm  schon  früh  ganz  bestimmte  Ansichten  gereift 
waren;  er  hatte  in  der  Literatur  scharf  ausgeprägte  Sym- 
patieen  und  Antipatieen,  und  vertrat  Tendenzen,  die  nicht 
frei  von  Skeptizismus  waren.  Kurz  —  er  war  das  gerade 
Gegenteil  von  Peter  Iljitsch.  Alles  war  in  den  beiden  Na- 
turen verschieden.  Nur  jenes  heilige  Feuer  und  das  Ver- 
ständniss  der  Auserwählten  besassen  die  Beiden,  jenes 
Etwas,  was  alle  Künstler  verbrüdert,  wo — wann — und  un- 
ter welchen  Umständen  sie  sich  auch  begegnen  mögen. 
Die  Liebe  für  Poesie,  die  Empfänglichkeit  für  alles  Erha- 
bene und  Schöne,  der  Abscheu  vor  dem  Gemeinen,  die 
feine  Beobachtungsgabe,  das  Sichbegegnen  in  gleichen  Ge- 
fühlen, gleichen  Gedanken — das  machte  Tschaikowsky  und 
Apuchtin  zu  Freunden.  Die  Kontraste  in  allen  anderen 
Dingen  festigten  nur  diese  Freundschaft,  indem  sie  den 
Beiden  oft  Gelegenheit  boten,  sich  selbst  zu  prüfen  und 
das  gegenseitige  Seelenleben  besser  kennen  zu  lernen. 

Peter  Iljitsch  entfaltete  als  Freund  und  Schulkamerad 
dieselben  herrlichen  Eigenschaften,  wie  ehemals  als  Kind 
in  Wotkinsk.  Er  bezauberte  auch  hier  А1Г  und  Jeden  und 
war  gleichsam  von  einer  Atmosphäre  voll  Liebe  und  Freund- 


-48- 

Schaft  umgeben,  welche  seiner  edlen,  zarten  Seele  unent- 
behrlich war.  Wie  in  Wotkinsk,  in  Alapajew,  im  Hause 
Wakar,  auf  dem  Lande  bei  Markow's;  wie  späterhin  im 
Ministerium  und  noch  später  im  Petersburger  und  Mos-, 
kauer  Konservatorium,  in  Kiew,  Odessa,  Tiflis,  Paris, 
London,  Berlin,  Leipzig,  wie  jenseits  des  Oceans — in  Ame- 
rika, er  unmerkbar  für  sich,  ungewollt,  immer  neue  Ver- 
ehrer seiner  Person  warb,  so  nahm  er  auch  in  der  Schule 
Alle  für  sich  ein,  und  der  Kreis  seiner  Freunde  wurde 
immer  grösser. 

In  dieser  Beziehung  war  er  also  derselbe  geblieben. 
Was  aber  seinen  Geist  und  Verstand  anbetrifft,  so  war 
da  Nichts  mehr  von  dem  ehemaligen  „prächtigen  Kind" 
übrig  geblieben.  Seine  Fähigkeiten  hatten  sich  vermittel- 
mässigt,  wenn  man  so  sagen  darf,  seine  Gedanken  und 
Interessen  waren  nicht  mehr  so  erhaben  und  rein. 

Mit  dem  Uebergang  aus  der  Vorbereitungsklasse  in  die 
eigentliche  Juristenschule  war  seine  ideale  Weltanschauung, 
der  Glaube  an  die  Unantastbarkeit  und  Heiligkeit  der  be- 
stehenden Ordnung  der  Dinge  verschwunden.  Der  Verkehr 
mit  der  älteren  Schuljugend  untergrub  allmälig  seine  Achtung 
vor  der  Autorität  der  Erwachsenen.  Die  Lehrer  und  Er- 
zieher hatten  Spott-und  Spitznamen,  wurden  hinter  dem 
Rücken  ausgelacht,  oder  gar  betrogen;  ihren  Anordnun- 
gen sich  zu  widersetzen,  oder  ihnen  einen  Streich  zu 
spielen  —  galt  als  Heldenthat.  Die  Folge  davon  war,  dass 
Peter  Iljitsch  nicht  mehr  mit  dem  heiligen  Eifer  und  um 
der  Sache  selbstwillen  arbeiten  konnte.  Er  arbeitete  von 
nun  an  nur  soweit  gewissenhaft  und  fleissig,  als  es  nötig 
war,  um  nicht  bestraft  zu  werden,  und  später  Aemter  und 
Würden  bekleiden  zu  können,  ohne  jegliches  Interesse  für 
die  Wissenschaften,  die  er  erwarb.  Zum  musikalischen  Be- 
ruf hatte  weder  er  selbst,  noch  die  Andern  das  rechte 
Vertrauen,  so  dass  er  selber  nicht  wusste,  weshalb  und 
wohin  er  ging.  Gleichzeitig  erwachte  allmälig  in  dem  zum 
Jüngling  Heranreifenden  die  brennende  Begierde,  die  Freu- 
den des  Lebens  zu  kosten;  die  Zukunft  erschien  ihm,  wie 
ein  langes  unendliches  Fest,  wie  eine  einzige  ununterbro- 
chene grosse  Freude,  und  diesem  schönen  Traum  seiner 
Phantasie  gab  er  sich  voll  und  ganz  hin. 

Mit  der  Allgewalt  einer  leidenschaftlichen  Natur  ver- 
fiel er  dem  Leichtsinn  und  wurde  ein  sehr  lustiger,  gut- 
mütiger und  sorgloser  junger  Mann,  ohne  ernste  Bestre- 
bungen, zwecklos  und  ziellos  dahinlebend. 


Ilja  Petrowitsch  Tschaikowsky  mit  zwei  Söhnen,  Modest 
und  Anatol,  im  Jahre  1855. 


Dampfschnellpressen-Druckerei  von  P.  Jurgenson,  Moskau. 


—  49  — 


IV. 


Im  Jahre  1855  gestaltete  sich  das  Famüienleben  Ilja 
Petrowitsch's  infolge  des  Dahinscheidens  seiner  Gattin  ganz 
anders,  als  es  bis  dahin  gewesen  war.  Ilja  Petro witsch  war 
zwar  ein  liebevoller  und  zärtlicher  Vater,  verstand  sich 
aber  auf  sachgemässe  Kindererziehung  garnicht.  In  richti- 
ger Erkenntniss  dessen,  und  weil  er  die  Einsamkeit  nicht 
ertragen  konnte,  beschloss  er,  seine  Familie  mit  der  seines 
Bruders  Peter  Petrowitsch  zu  vereinigen  und  bezog  mit 
diesem  eine  gemeinschaftliche  Wohnung. 

Peter  Petrowitsch  war  damals  ein  siebzigjähriger  Greis 
mit  silberweissem  Haar,  ein  Soldat  durch  und  durch,  der 
viele  Schlachten  mitgemacht  und  ehrenvolle  Wunden  da- 
vongetragen hatte.  Er  war  ausserordentlich  religiös  und 
hatte  bis  zu  seiner  Verheiratung  ein  Leben  nach  dem  Mu- 
ster mittelalterlicher  Ordensritter  gefüht,  zwischen  Gebet, 
Fasten  und  Krieg.  Streng  zu  sich  selbst,  verlangte  er  auch 
von  seiner  Frau  und  seinen  Kindern  vollständige  Unter- 
werfung und  blinden  Gehorsam,  da  er  aber  Weiber  und 
Kinder  garnicht  kannte  und  mit  ihnen  absolut  nicht  um- 
zugehen verstand,  so  sah  er  endhch  ein,  dass  er  sein  Ziel 
nie  erreichen  werde,  schloss  sich  seither  ingrimmig  in  sein 
Zimmer  ein  und  schrieb  unendliche  Traktate  über  religiös- 
m3'stische  Themen. 

Seine  Gattin  Elisabeth  Petrowaia  fürchtete  ihn  zwar  ein 
wenig  und  unterwarf  sich  ihm  auch  scheinbar,  kehrte  sich 
aber  im  Grunde  wenig  an  sein  Schelten  und  Wettern  und 
that  gewöhnlich  Alles  nach  eignem  Willen.  Sie  war  im 
Gegensatz  zu  ihrem  Ehegemahl  durchaus  der  Meinung, 
dass  Vergnügungen  und  Belustigungen  keine  Sünden  wä- 
ren, solange  sie  die  Grenzen  des  Sittlichen  nicht  über- 
schritten, und  veranstaltete  für  ihre  Töchter  oft  Tanzabende, 
Theateraufführungen  u.  A.;  führte  sie  auf  Bälle,  Kostüm- 
feste, Konzerte,  sorgte  aber  auch  für  die  Bildung  und  Ent- 
wickelung  ihres  künstlerischen  Geschmackes,  liess  sie  Mu- 
sik-und  Zeichenunterricht  nehmen,  kurz,  unternahm  eine 
Reihe  von  Handlungen,  die  mit  den  Ansichten  Peter  Pe- 
trowitsch's im  schroffsten  Gegensatz  standen.  Auf  diese 
Weise  ist  es  ihr  gelungen,  ihre  fünf  Töchter  zu  allerliebsten 
jungen  Damen  heranzuziehen,  welche  durch  ihren  Liebreiz 
alle  Welt  entzückten  und  bezauberten.  Die  Aelteste,  Anna 
Petrowna,  war  ein  ganz  besonders  kluges  und  geistreiches, 

Tschaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaik.owsky's  Leben.  "t 


—  50  — 

lebensfrohes  Mädchen.  Sie  besass  viel  Humor  und  Witz, 
dazu  eine  feine  Beobachtungsgabe,  war  stets  bereit  zu  lus- 
tigen, übermütigen  Scherzen,  und  erschien  dadurch  wie 
ein  lebendiger  Protest  gegen  die  asketischen  Tendenzen 
ihres  Vaters.  Peter  Iljitsch  war  damals,  wie  wir  gesehen 
haben,  auch  Nichts  weniger  als  pessimistisch  gesinnt,  und 
so  kam  es,  dass  er  sich  mit  Anna  Petrowna  nicht  nur  sehr 
gut  vertrug,  sondern  direkt  befreundete.  Sonntags  versam- 
melte sich  bei  Tschaikowsk3''s  gewöhnlich  die  junge  Welt 
der  ganzen  Bekanntschaft  und  Verwandschaft,  und  da  wa- 
ren Peter  Iljitsch  und  Anna  Petrowna  selbstverständlich 
der  Mittelpunkt  der  ganzen  Gesellschaft;  es  wurde  bis 
spät  in  die  Nacht  hinein  gelacht,  gescherzt  und  getollt. 
Im  Herbst  des  Jahres  1857  kamen  die  Väter  der  beiden 
Familien  aber  zu  der  Ueberzeugung,  dass  sie  eigentlich 
doch  nicht  länger  zusammen  wohnen  bleiben  sollten  und 
trennten  sich  wieder;  doch  geschah  das  in  vollem  Frieden, 
ohne  dass  sie  sich  aus  irgend  welchem  Grunde  verzankt 
hätten. 

Ilja  Petro witsch  vertraute  den  Haushalt  und  die  Er- 
ziehung seiner  beiden  jüngsten  Söhne  der  eben  erst  aus 
dem  Institut  entlassenen  fünfzehnjährigen  Alexandra  Ilji- 
nischna  an.  Darob  waren  die  älteren  Frauen  aus  seiner 
Verwandschaft  natürlich  nicht  wenig  entsetzt,  und  bedauer- 
ten die  „arme  Familie,  welche  einem  so  jungen,  unerfahre- 
nen Mädchen"  ausgeliefert  werden  war.  Alle  ihre  Befürch- 
tungen erwiesen  sich  jedoch  als  grundlos.  In  dem  jungen 
Mädchen  erwachte  gerade  zur  rechten  Zeit  ein  sehr  wil- 
lensstarkes und  energisches  Weib,  welches  mit  ihren  schwe- 
ren Pflichten  ausgezeichnet  fertig  wurde. 

Alexandra  Iljinischna  war  um  zwei  Jahre  jünger  als 
Peter  Iljitsch,  besass  aber  bedeutend  mehr  praktischen  Ver- 
stand und  Geschicklichkeit  im  Umgang  mit  Menschen,  als 
er.  Er  war  erstaunt  und  zugleich  erfreut,  in  ihr  ein  so 
verständiges  und  reifes  Wesen  zu  finden,  und  fügte  sich 
willig  allen  ihren  Anordnungen.  Und  sie  machte  ihn  zu 
ihrem  Ratgeber  und  Helfer,  namentlich  wenn  es  galt,  sich 
zu  zerstreuen  und  zu  belustigen.  Vielleicht  war  auch  das 
die  Ursache,  weshalb  Tanzabenden  und  Theaterbesuchen 
unvcrhältnissmässig  viel  Raum  gelassen  wurde. 

Leider  sollte  aber  dieses  freudevolle,  sorgenlose  Leben 
nicht  lange  mehr  dauern.  Im  Frühjahr  1858  verlor  Ilja  Pe- 
trowitsch  durch  sein  übergrosses  Vertrauen  plötzlich  sein 
ganzes  Vermögen  und  war  auf  seine  alten  Tage  genötigt, 


—  51  — 

Arbeit  zu  suchen.  Dank  seiner  persönlichen  Bekanntschaft 
mit  dem  damahgen  Finanz -Minister  Knjashewitsch  ist  es 
ihm  zum  GUick  sehr  bald  gelungen,  eine  Stellung  zu  fin- 
den und  sogar  eine  sehr  glänzende,  nämlich  die  des  Di- 
rektors des  Technologischen  Instituts. 

In  der  neuen  prachtvoll  eingerichteten  Direktorwohnung 
vereinigten  sich  Tschaikowsky's  mit  der  Familie  Schobert, 
und  Alexandra  Iljinischna  legte  mit  Freuden  die  Sorge  um 
den  Haushalt  in  die  Hände  ihrer  Tante  Elisabeth  Andre- 
ewna. 

Diese  war  eine  milde,  stets  gutmütige  und  freundliche 
Frau  und  wurde  von  den  Kindern  Ilja  Petrowitsch's  seit 
ihrem  Aufenthalt  in  Alapajew  herzlich  geliebt,  Sie  selbst 
hatte  drei  Töchter  und  einen  Sohn. 


V. 

Am  13.  Mai  1859  wurde  Peter  Iljitsch  aus  der  Juristen- 
schule mit  dem  Range  eines  Titularrathes  entlassen  und 
trat  als  Beamter  in  die  i.  Abteilung  des  Departements  des 
Justiz-Ministeriums  ein. 

Dieses,  im  Leben  eines  jeden  Andern  hochbedeutsame 
Ereigniss,  war  für  Peter  Iljitsch  Nichts  weniger,  als  bedeut- 
sam. Während  für  seine  Kameraden  von  nun  an  ein  neuer 
Lebensabschnitt  begann,  ein  selbständiges  Arbeiten  und 
Schaffen,  war  Peter  Iljitsch  noch  nicht  einmal  am  eigent- 
lichen Anfang  dessen  angelangt,  was  er  einst  werden  sollte, 
ja,  er  hatte  sogar  noch  garkeine  Ahnung  davon. 

In  den  ersten  Jahren  seines  Beamtentums  blieb  er  noch 
derselbe  leichtfertige,  vergnügungssüchtige  Jüngling,  wel- 
cher er  noch  in  der  Schule  gewesen  war.  Auch  konnte  er 
seiner  neuen  Beschäftigung  nicht  mehr  Geschmack  abge- 
winnen, als  ehemals  dem  „langweiligen  Studium  der  Rechte". 
Er  gab  sich  zwar  auch  hier  die  redlichste  Mühe,  seine 
Pflichten  gewissenhaft  zu  erfüllen,  aber  es  ist  ihm  hier 
ebensowenig  wie  in  der  Schule  geglückt,  über  die  graue 
Mittelmässigkeit  hinauszukommen  und  bessere  als  gewöhn- 
liche Resultate  zu  erzielen. 


—  52 


Wie  wenig  ihn  seine 
Thätigkeit  als  Beamter 
interessierte,  erhellt 
schon  daraus,  dass  er, 
nachdem  er  kaum  sei- 
nen Beruf  gewechselt 
hatte,  nicht  mehr  im- 
stande war  anzugeben, 
was  er  im  Ministerium 
eigentlich  zu  arbeiten 
geh abt  h atte.  Von  seinen 
Kollegen  hatte  er  nur 
Einen  im  Gedächtniss 
behalten,  weil  „aus  des- 
sen Augen  etwas  Be- 
sonderes hervorleuch- 
tete". Nach  25  Jahren 
traf  Peter  Iljitsch  diesen 
„Kollegen"  wieder  und 
zwar  in  der  Person  des 
so  berühmt  geworde- 
nen Landschaftsmalers 
Wolkoff.  Nur  noch  eine 
„sagenhafte"Erzählung 
— und  die  Chronik  des 
Dienstes  Peter  Iljitsch's  im  Ministerium  ist  erschöpft.  Eines 
Tages  musste  er  ein  vom  Departementsdirektor  unterzeichne- 
tes Dokument  irgendwo  hintragen,  Hess  sich  unterwegs  aber 
mit  Jemandem  in  ein  Gespräch  ein  und  merkte  in  seiner 
Zerstreutheit  garnicht,  dass  er — wie  es  zum  Unglück  seine 
Gewohnheit  war — von  dem  betreffenden  Schriftstück  nach 
und  nach  immer  ein  Stück  abriss  und  diese  vStücke  eines 
nach  dem  andern  zerkaute  (so  machte  er  es  gewöhnlich  mit 
Theaterzetteln,  Konzertprogrammen  u.  s.  w.).  Es  blieb  ihm 
da  freilich  Nichts  Anderes  übrig,  als  das  Dokument  noch- 
einmal  zu  schreiben  und,  so  unangenehm  es  war,  dem 
Direktor  wieder  zur  Unterschrift  zu  unterbreiten. 

Später  beklagte  sich  Peter  Iljitsch  oft  darüber,  dass  man 
ihn  als  Beamten  stets  unverdienterweise  zurückgesetzt  hatte. 
Es  will  mir  aber  scheinen,  dass  diese  Klagen  ungerecht- 
fertigt seien.  Allerdings  war  er  klüger,  befähigter  und  fleis- 
sigcr,  als  Mancher  seiner  Kollegen,  seine  Vorgesetzten 
merkten  aber  sehr  wohl,  dass  er  nicht  das  geringste  Inte- 
resse für  seinen  Beruf  hatte  und  dass  seine  Strebsamkeit 


Peter  Iljitsch  Tschaikowsky  im  Jahre   1859. 


—  53  — 

nur  eine  scheinbare  war;  zeigte  es  sich  doch  in  tausend 
kleinen  Dingen  und  Ereignissen  nach  Art  des  „zerkau- 
ten Dokumentes",  wie  verächthch-gleichgiltig  er  in  Wirk- 
Hchkeit  seine  Arbeit  that.  Daher  kam  es  jedenfalls  auch, 
dass  er  bei  Gelegenheit  von  Avencements  oder  Verleihung 
von  Auszeichnungen  so  manches  Mal  „umgangen"  wor- 
den war. 

Seine  dienstfreie  Zeit  widmete  Peter  Iljitsch  ganz  Ver- 
gnügungen und  Belustigungen  aller  Art.  Es  ist  unmöglich 
all'  die  kleinen  und  grossen  Amüsements  aufzuzählen,  de- 
nen er  nachging.  Sein  liebenswürdiges  Wesen  warb  ihm 
in  allen  Gesellschaftsklassen  immer  neue  Freunde,  und  er 
hatte  reichlich  Gelegenheit,  sein  Leben  voll  und  ganz  zu 
geniessen.  In  eleganten  Salons,  in  Theatern,  in  Restaurants, 
in  Spazierfahrten,  Spaziergängen — überall  suchte  und  fand 
er  die  köstlichen  Blumen  der  Freude.  Das  Einzige,  was 
ihn  manches  Mal  unglücklich  machen  konnte  war  Mangel 
an  Geld,  oder  unerwiderte  Liebe.  Aber,  obgleich  er  nicht 
viel  Erfolg  in  Herzensangelegenheiten  hatte,  und  auch  seine 
Einnahmen  nicht  allzu  üppig  waren  (er  bezog  ein  Gehalt 
von  nur  50  Rubeln  monatlich),  so  fühlte  er  sich  im  Gros- 
sen und  Ganzen  doch  sehr  glücklich  und  hatte  an  der 
geringsten  Kleinigkeit  seine  Freude.  Namentlich  entzückte 
ihn  stets  die  schöne  freie  Gottesnatur.  Eine  Fusswande- 
rung,  die  er  in  Gesellschaft  einiger  Freunde  im  Jahre  1859 
nach  dem  Sergius-Kloster  unternommen  hatte,  blieb  für 
immer  in  seiner  Erinnerung  haften,  ebenso  eine  1860  ge- 
machte Reise  nach  dem  Imatra-Wasserfall.  Ein  anderer 
Mensch  hätte  von  einer  Reise  um  die  Welt  nicht  so  viele 
Eindrücke,  so  viele  begeisterte  Erzählungen  heimgebracht. 
Nach  zwanzig  Jahren  noch  konnte  man  auf  dem  Schreib- 
tisch Peter  Iljitsch's  verschiedene  Steine  sehen,  die  er  sich 
damals  als  Reiserinnerungen  mitgebracht  hatte. 

Von  den  winterlichen  Belustigungen  hatte  er  das  Theater 
am  liebsten,  besonders  das  französische  Schauspiel,  das 
Ballet  und  die  italienische  Oper. 

hn  Ballet  entzückte  ihn  hauptsächlich  das  Phantastische, 
das  Märchenhafte;  solche  Pallete,  in  welchen  keine  über- 
natürlichen Dinge  vorkamen,  hatte  er  nicht  gern.  Nach  und 
nach  lernte  er  aber  auch  die  Technik  der  Tanzkunst 
schätzen.  Von  den  Tänzerinnen  gefiel  ihm  am  besten  die 
Ferraris. 

Die  Vorstellungen  der  Adelaide  Ristori  machten  auf 
Peter  Iljitsch    stets   einen  sehr  grossen  Eindruck;  mit  der 


—  54  — 

Zeit  lernte  er  sogar,  ihr  Spiel  recht  gut  zu  imitieren.  Seine 
grösste  Begeisterung  war  aber  die  Sängerin  Lagroua.  Sie 
war  nicht  schön,  gab  aber  die  „Norma"  mit  so  ausseror- 
dentlich tragischem  Pathos,  mit  solch  einer  Plastik,  dass 
sie  sich  mit  den  berühmtesten  dramatischen  Schauspiele- 
rinnen wohl  messen  konnte. 

Peter  Iljitsch  besass  auch  selbst  etwas  schauspieleri- 
sches Talent.  Dadurch,  dass  er  im  Scherz  oft  die  Lagroua 
und  die  Ristori  nachahmte,  eignete  er  sich  nach  und  nach 
eine  recht  grosse  Virtuosität  in  graziösen  und  schönen 
Bewegungen  an.  Er  konnte  sehr  gut  in  französischer  Ma- 
nier deklamieren  und  verstand  vorzüglich,  die  Monologe 
von  Racine  zu  lesen.  Ganz  besonders  gut  machte  er  aber 
komische  Rollen  und  musste  infolge  dessen  oft  in  Liebha- 
ber-Aufführungen mitwirken.  Er  verstand  sich  namentlich 
darauf,  durch  Einflechten  einzelner  frei  erfundener  komi- 
scher Bemerkungen  oder  Handlungen  die  Zuschauer  zum 
Lachen  zu  reizen  und  war  überzeugt,  dass  das  Talent  eines 
Komikers  in  solchen  kurzen  Improvisationen  am  besten 
offenbart  werden  konnte.  Eines  Tages  spielte  er  wieder  in 
einer  Dilettantenvorstellung  und  erging  sich  dabei  in  den 
allertollsten  und  lächerlichsten  Einfällen,  so  dass  das  Pu- 
blikum ausser  sich  vor  Jubel  war.  Da  —  in  dem  Moment, 
als  er  sich  gerade  anschickte,  seinen  Haupttrumpf  auszu- 
spielen, welcher  beweisen  sollte,  dass  es  noch  nie  einen 
solchen  Komiker  gegeben  hatte,  raunte  ihm  sein  Partner — 
vielleicht  aus  Neid,  vielleicht  aus  gerechter  Entrüstung 
über  die  „Corruption"  des  Stückes,  unwillig  zu:  „Hören 
Sie  doch  auf  mit  Ihren  faulen  Witzen.  Das  ist  schon  kein 
Spiel  mehr!  Sie  machen  sich  ja  zum  Harlekin!  Es  ist  eine 
Schmach,  Sie  anzusehen!"  Wie  Peter  Iljitsch  später  selbst 
erzählte,  war  sein  Ehrgefühl  nie  so  sehr  beleidigt  gewe- 
sen, wie  damals  durch  jene  Bemerkung.  Er  verlor  seine 
ganze  Stimmung  und  führte  die  Rolle  mechanisch  und  lang- 
weihg  zu  Ende.  Seit  dem  hat  er  überhaupt  die  Lust  ver- 
loren, auf  den  Brettern  zu  erscheinen.  Immer  wieder  muss- 
te er  an  jene  Worte  denken  und  die  dunkle  Empfindung 
dessen,  dass  sein  Partner  damals  nicht  Unrecht  gehabt 
haben  könnte,  lähmte  seine  Inspiration  so  gründlich,  dass 
er  endlich  das  Schauspielern  ganz  aufgesteckt  hat. 

Uebrigens  geschah  das  zu  einer  Zeit  als  Peter  Iljitsch 
überhaupt  etwas  übersättigt  war  vom  genussreichen  lusti- 
gen Leben,  und  als  die  ersten  Symptome  jener  grossen 
Umwälzung  sich  bemerkbar  zu  machen  begannen,  welche 
für  seinen  Lebenswandel  entscheidend  werden  sollte. 


—  55  — 

Im  November  1860  verheiratete  sich  Alexandra  Ilji- 
nischna  mit  einem  Herrn  Leo  Wassilje witsch  Dawidow 
und  verliess  mit  diesem  Petersburg,  um  im  Gouvernement 
Kiew  ihren  Wohnsitz  aufzuschlagen. 

Auch  verschiedene  andere  Familienglieder  verliessen 
Anfang  1861  das  Vaterhaus  und  zerstreuten  sich  in  alle 
Weltgegenden,  sodass  das  lustige  Leben  ein  Ende  nahm 
und  über  die  Familie  Tschaikowsky — Schobert  ein  leichter 
Schatten  von  Melancholie  sich  ausbreitete.  Vielleicht  war 
die  Abwesenheit  der  stets  glückstrahlenden  Alexandra  II- 
jinischna  zum  grössten  Teil  daran  schuld.  Auch  Peter 
Iljitsch  fühlte  sich  daheim  nicht  mehr  so  recht  behaglich. 
In  seine  Beziehungen  zum  Vater  und  zur  Tante  schlich 
sich  etwas  Egoistisches,  etwas  Trockenes  und  Verächtli- 
ches ein.  Freilich  war  diese  Stimmung  in  ihm  —  wie  wir 
später  sehen  werden — nur  vorübergehend,  doch  kann  ich 
nicht  umhin,  sie  an  dieser  Stelle  zu  konstatieren.  Nicht 
dass  er  seine  Angehörigen  nicht  mehr  lieb  hatte  —  nein, 
sondern  er  langweilte  sich  einfach  in  ihrer  Gesellschaft. 
Still  zu  Hause  zu  sitzen  war  für  ihn  einfach  unerträglich. 

Unter  solchen  Umständen  begann  das  Jahr  1861,  wel- 
ches eine  neue  Aera  im    Leben  Peter  Iljitsch's  bedeutete. 


VI. 

In  der  Juristenschule  hatte  die  musikalische  Kunst  zur 
Zeit  Peter  Iljitsch's  zwei  Vertreter:  einen  Klavierlehrer  in 
der  Person  des  Herrn  K.  I.  Karel,  an  dessen  Stelle  spä- 
ter Franz  Bekker  trat,  und  einen  Gesanglehrer  in  der  Per- 
son des  Herrn  Gabriel  Lomakin, 

Ob  Peter  Iljitsch  jemals  bei  Herrn  Karel  Unterricht 
gehabt  hatte-  -ist  unbekannt.  Bei  Herrn  Bekker,  jedoch,  hatte 
er  eine  Zeit  lang  Stunden,  welche  aber  vollständig  seinem 
Gedächtniss  entschwunden  sind. 

Auch  Lomakin  gab  ihm  Gesangsunterricht,  welcher 
aber  eigentlich  nur  auf  Chorproben  beschränkt  war,  Lo- 
makin war  ein  tüchtiger  Mann  in  seinem  Fach  und  hatte 


-56- 

den  Schulchorgesang  bis  zur  grösstmöglichen  Vollendung 
gebracht;  aus  Mangel  an  Zeit  konnte  er  jedoch  nicht  jeden 
Einzelnen  im  Sologesang  ausbilden,  sodass  er  auch  auf 
Peter  Iljitsch  keinen  direkten  Einfluss  ausüben  konnte,  ob- 
gleich er  dessen  schöne  Sopranstimme  und  grosse  Veran- 
lagung für  die  Musik  sehr  wohl  erkannte.  Das  Repertoir 
des  Schulchors  bestand  hauptsächlich  in  Kirchengesängen, 
welche  für  den  Schulgottesdienst  und  für  besonders  fest- 
liche Gelegenheiten  einstudiert  werden  mussten.  Einmal 
musste  Peter  Iljitsch  bei  einer  solchen  Gelegenheit  in  einem 
Soloterzett  die  Sopranstimme  singen  und  war  natürlich 
nicht  wenig  stolz  darauf.  Er  selbst  erzählt  diese  Begeben- 
heit in  einem  seiner,  aus  dem  Jahre  1879  datierten  Briefe 
folgendermaassen: 

„Ganz  im  Anfang  des  neuen  Semesters  begannen  wir 
schon  mit  den  Proben  für  den  St.-Katharinentag.  Es  wa- 
ren zu  meiner  Zeit  gute  Sänger  vorhanden;  auch  ich  konnte 
mich  einer  prächtigen  Sopranstimme  rühmen,  sodass  ich 
ausserwählt  wurde  im  Soloterzett  mitzusingen.  Die  Litur- 
gie machte  stets  auf  mich  einen  sehr  tiefen  Eindruck;  wie 
ich  damals  stolz  war,  in  diesem  erhabenen  Gottesdienst 
mitwirken  zu  dürfen!  Und  wie  glücklich  war  ich,  als  der 
Metropolit  sich  nachher  bei  mir  bedankte  und  mich  segnete! 
Später  durfte  ich  sogar  an  demselben  Tisch  mit  dem  Me- 
tropoliten und  dem  Prinzen  von  Oldenburg  sitzen.  Als  ich 
dann  nach  Hause  kam,  erzählte  ich  glückstrahlend  meine 
gesangliche  Heldenthat  und  rühmte  mich  des  väterlichen 
Wohlwollens  des  hoch  würdigen  Metropoliten...." 

Später,  als  die  Stimme  Peter  Iljitsch's  zu  wechseln 
begann,  musste  er  im  Chor  die  Partie  des  2.  Sopran  und 
noch  später  die  des  Alt  singen.  Zuletzt  (in  der  Prima) 
hatte  Lomakin  ihn  zum  Dirigenten  machen  wollen,  Peter 
Iljitsch  erwies  sich  aber  für  einen  derartigen  Posten  durch- 
aus untauglich,  denn  er  verstand  es  garnicht,  seinen 
Kameraden — welche  nur  zu  ungern  die  Proben  besuchten — 
in  dem  nötigen  Maasse  zu  imponieren  und  sich  Respekt 
zu  verschaffen. 

Ausser  diesen  Musiklehrern  hatte  Peter  Iljitsch  damals 
noch  Einen,  der  ihm  zu  Hause  Klavierunterricht  erteilte. 
Dieser  war  Rudolf  Kündinger. 

Kündinger  war  seinerzeit  als  achtzehnjähriger  Jüngling 
nach  Russland  gekommen  und  begeisterte  das  Petersbur- 
ger Publikum  durch  seine  glänzende  Virtuosität  derart, 
dass  er  schon  nach  seinem  ersten  Konzert,  in  welchem  er 


—  57  — 

unter  Anderem  das  Klavierkonzert  von  Litolff  spielte,  viele 
Schüler  bekam  und  dauernd  in  Petersburg  bleiben  konnte. 
Im  Jahre  1855  engagierte  ihn  Ilja  Petrowitsch  als  Klavier- 
lehrer für  seinen  Sohn  Peter.  „Wenn  ich  damals  nur  geahnt 
hcätte",  —  erzählt  Kündinger  —  „was  aus  meinem  Schüler 
später  werden  würde,  so  hätte  ich  über  den  Fortgang 
meines  Unterrichts  ein  Tagebuch  geführt;  ich  habe  es  mir 
leider  aber  garnicht  vorstellen  können,  daher  bin  ich  Heute 
nicht  mehr  imstande,  über  die  Stunden,  die  ich  ihm  gege- 
ben, genauen  Bericht  zu  erstatten.  Er  war  ohne  Zweifel 
sehr  talentiert,  besass  ein  feines  Gehör  und  gutes  Gedächt- 
niss,  daraus  konnte  man  aber  noch  nicht  einmal  folgern, 
dass  aus  ihm  einst  ein  grosser  Pianist,  geschweige  denn 
ein  berühmter  Komponist  werden  könnte.  Ein  Phänomen 
war  er  deshalb  noch  lange  nicht;  vor  ihm  und  nach  ihm 
hatte  ich  eine  ganze  Menge  junger  Leute  unterrichtet,  die 
nicht  weniger  begabt  waren,  als  er.  Das  Einzige,  womit 
er  meine  Aufmerksamkeit  in  etwas  höherem  Maasse  fes- 
selte, waren  seine  hnprovisationen.  Hier  konnte  man  aller- 
dings Etwas  nicht  ganz  gewöhnliches  heraushören.  Auch 
setzte  er  mich  manches  Mal  durch  sein  ausserordentliches 
Feingefühl  für  die  Harmonie  in  Erstaunen.  Es  kam  vor, 
dass  ich  ihm  meine  Kompositionen  zeigte  und  er  mir  in 
Betreff  der  Harmonie  diesen  oder  jenen  Rat  gab,  welcher 
durchaus  am  Platze  war,  obgleich  Peter  Iljitsch  damals 
wohl  kaum  eine  Ahnung  von  der  Theorie  der  Musik  hatte. 
Als  mich  Ilja  Petrowitsch  einst  fragte,  ob  ich  es  für  gerecht- 
fertigt und  lohnend  hielte,  wenn  sein  Sohn  sich  ganz  dem 
Musikstudium  widmete,  musste  ich  dennoch  aus  voller 
Ueberzeugung  Nein  sagen. 

Freilich  musste  ich  dabei  auch  an  die  in  damaliger  Zeit 
gar  zu  traurige  Lage  eines  Musikers  in  Russland  denken. 
Doch  hatte  ich  ausserdem  keinen  rechten  Glauben  an  das 
Talent  Peter  Iljitsch's. 

Ich  kann  nicht  behaupten,  dass  er  im  Laufe  der  drei 
Jahre  meines  Unterrichts  grosse  Fortschritte  gemacht  hätte; 
vielleicht  fehlte  ihm  die  nötige  Zeit  zum  Ueben.  Ich  gab 
ihm  nur  eine  Stunde  wöchentlich,  und  zwar  immer  am 
Sonntag.  Nach  der  Stunde  blieb  ich  gewöhnlich  zum  Früh- 
stück da  und  ging  darauf  mit  Peter  Iljitsch  zusammen  in 
das  Universitäts-Konzert. 

Im  Jahre  1858  musste  ich  den  Unterricht  einstellen,  denn 
Herr  Tschaikowsky  konnte  infolge  der  über  ihn  hereinge- 
brochenen Geldkrise  das  Honorar  nicht  mehr   bezahlen". 


-58- 

Wenn  solche  Fachmänner  wie  Lomakin  und  Kündin- 
ger  in  dem  Talent  Peter  Iljitsch's  nichts  Phänomenales 
entdecken  konnten,  so  ist  es  kein  Wunder,  wenn  die  An- 
dern, die  Nicht-Fachmänner  es  erst  recht  nicht  thaten. 

Seine  Schulkameraden  schätzten  zwar  sein  musikalisches 
Talent  sehr  hoch,  waren  aber  weit  davon  entfernt,  eine 
zukünftige  Berühmtheit  in  ihm  zu  erblicken.  Apuchtin  galt 
jedenfalls  als  viel  genialer  und  ihn  nannte  man  den  auf- 
leuchtenden „Stern".  Tschaikowsky  war  hingegen  nur  der 
talentvolle  hiiprovisator,  der  verschiedene  musikalische 
Scherze  und  Kunstücke  zu  machen  wusste:  er  phantasierte 
z.  B.  sehr  unterhaltend  über  angegebene  Themata  aus  mo- 
dernen Opern,  spielte  auf  einer  mit  einem  Handtuch  be- 
deckten Tastatur,  konnte  die  Tonarten  nach  dem  Gehör 
erraten,  und  Anderes  mehr. 

Seine  Geschwister  und  Cousinen  waren  zwar  eher  ge- 
neigt, ihn  zu  bewundern,  und  hielten  schon  das  hiiprovi- 
sieren  von  Tänzen  für  eine  geniale  Leistung,  dafür  urteil- 
ten aber  seine  andern  Verwandten,  mit  Ausnahme  des 
Vaters,  viel  strenger.  Sie  verhielten  sich  seiner  Kunst  ge- 
genüber nicht  nur  gleichgiltig,  sondern  sogar  verächtlich 
und  nannten  sie  „unnütze  Spielerei". 

Der  Einzige,  der  die  Sache  einigermaassen  ernst  nahm, 
war  Ilja  Petro witsch.  Er  hatte  zuerst  für  einen  guten  Leh- 
rer gesorgt  und  dachte  immer  wieder  darüber  nach,  ob  er 
zur  Förderung  seines  Sohnes  auch  wirklich  gewissenhaft 
Alles  gethan  habe.  Er  war  auch  der  Erste,  der  1861  Pe- 
ter Iljitsch  anregte,  doch  ernstlich  an  das  Musikstudium 
zu  gehen.  Den  Vater  kann  also  kein  Vorwurf  treffen,  dass 
er  die  Fähigkeiten  seines  Sohnes  vernachlässigt  habe,  denn 
er  hat  doch  wirklich  Alles  gethan,  was  ein  Mann  wie  er, 
der  absolut  keine  Kenntnisse  über  Musik  und  Musiker  be- 
sass,  thun  konnte. 

Peter  Iljitsch  hatte,  als  er  in  der  Schule  war,  nur  zwei 
Abende  und  einen  Morgen  frei,  an  denen  er  sich  mit  Mu- 
sik beschäftigen  konnte.  Er  hatte  somit  garkeine  Gele- 
genheit dazu,  sich  gründlich  in  diesem  Fach  auszubilden. 
Wann  und  wo  sollte  er  beispielsweise  die  symphonischen 
Meisterwerke  der  grossen  Deutschen  kennen  lernen?  Al- 
lerdings wurden  sie  hin  und  wieder  in  den  sogenannten 
Universitätskonzerten  aufgeführt,  welche  jeden  Sonntag 
Nachmittag  stattfanden.  Das  Orchester  dieser  Konzerte 
bestand  aber  zum  grössten  Teil  aus  Dilettanten,  und  aus- 
serdem wurden  die  Symphonieen  ohne  Proben — prima  vista 


—  59  — 

heruntergespielt,  sodc4SS  die  Zuhörer  wohl  kaum  eine  rich- 
tige Vorstellung  von  den  Werken  erhalten  konnten.  Die 
Direktionen  der  Kaiserlichen  Theater  und  der  Philharmo- 
nischen Gesellschaft  veranstalteten  damals  noch  keine  S^an- 
phonie-Konzerte,  und  private  Unternehmungen  gab  es  auch 
nur  höchst  höchst  selten.  Es  war  wirklich  nur  ein  glück- 
licher Zufall,  wenn  das  Petersburger  Publikum  eine  Sym- 
phonie von  Haydn,  Mozart  oder  Beethoven  in  guter  Aus- 
führung zu  hören  bekam. 

Auf  diese  Weise  blieb  dem  zukünftigen  Komponisten 
Nichts  Anderes  übrig,  als  die  westeuropäische  Instrumen- 
talmusik in  Klavierauszügen  kennen  zu  lernen.  Dieses  Ken- 
nenlernen war  aber  auch  sehr  lückenhaft,  denn,  erstens, 
waren  die  Noten  damals  sehr  teuer  (die  wohlfeilen  Aus- 
gaben von  Peters,  Litolff  u.  A.  existierten  noch  nicht)  so- 
dass die  Anschaffung  sämmtlicher  Werke  eines  Autors, 
ja  —  sogar  nur  eines  completen  Sonatenheftes,  für  einen 
nicht  sehr  reichen  Mann  wie  Tschaikowsk}'  fast  unerschwin- 
glich war,  und  zw^eitens,  fand  Peter  Iljitsch  auch  in  den 
Notenbiblioteken  seiner  musizierenden  Freunde  und  Be- 
kannten nicht  das,  war  ihm  eigentlich  notwendig  war.  Es 
ist  daher  nur  sehr  erklärlich,  dass  Peter  Iljitsch's  musika- 
lischen Kenntnisse  in  jener  Zeit  ausserordenthch  mangelhafte 
waren.  Es  lässt  sich  nicht  feststellen,  wieviele  und  welche 
Werke  Beethovens,  Mozarts,  Mendelssohns  und  Schuberts 
ihm  vor  dem  Jahre  1861  bekannt  gewesen  waren,  gewiss 
ist  nur,  dass  er  noch  nicht  einmal  soviel  wusste,  wieviel 
heutigen  Tages  ein  jeder  halbwegs  gute  Dilettant  weiss. 
Von  Schumann  hatte  er,  z.  В.,  gar  keine  Ahnung,  und 
wusste  nicht,  wieviele  und  welche  Symphonieen  Beethoven 
komponiert  hatte.  Peter  Iljitsch  besuchte  oft  und  gern  die 
italienische  Oper.  Das  war  aber  auch  die  einzige  Stätte, 
wo  er  Gelegenheit  hatte,  ein  gutes  Orchester,  gute  Chöre 
und  ausgezeichnete  Solisten  zu  hören.  Die  russische  Oper 
befand  sich  damals  in  sehr  trauriger  Verfassung,  er  ging 
höchstens  nur  dann  hin,  wenn  dort  seine  Lieblingsoper  „Das 
Leben  für  den  Zaren"  gegeben  wurde.  Alle  andern  Opern 
hörte  er  sich  bei  den  Italienern  an.  Diese  bestärkten  nicht 
nur  seine  Schwärmerei  für  „Don  Juan"  und  „Freischütz", 
sondern  machten  ihn  auch  mit  Meyerbeer,  Rossini,  Doni- 
zetti,  Bellini  und  Verdi  bekannt,  für  welche  er  sich  eben- 
falls bis  zum  Enthusiasmus  begeisterte. 

In  den  fünfziger  Jahren  lebte  in  Petersburg  der  viel- 
gerühmte Gesanglehrer  Piccioli.  Er  war  Neapolitaner  von 


—  6o  — 

Geburt,  war  vor  etwa  zehn  Jahren  nach  Petersburg  ge- 
kommen und  hatte  sich  daselbst  niedergehissen .  Seine 
Gattin  war  eine  Freundin  der  Frau  Schobert,  und  so  kam 
es,  dass  auch  Tschaikowsky's  mit  ihm  bekannt  wurden. 
Obgleich  er  bereits  gegen  fünfzig  Jahre  alt  war,  befreun- 
dete er  sich  sehr  intim  mit  dem  kaum  siebzehnjährigen 
Peter  Iljitsch.  Uebrigens,  was  Piccioh's  Alter  anbelangt, 
so  wusste  Niemand  etwas  Bestimmtes  darüber,  denn  er 
hat  es  stets  verheimlicht.  So  viel  war  aber  gewiss,  dass 
er  sein  Haar  färbte  und  dass  Gesicht  schminkte.  Böse 
Zungen  behaupteten,  dass  er  schon  über  siebzig  sei  und 
am  Hinterkopf  einen  kleinen  Apparat  trage,  der  seine  Ge- 
sichtsfalten glattziehe;  ich  erinnere  mich  lebhaft  daran,  wie 
wir — ich  und  mein  Bruder  Anatol — als  Kinder  uns  oft  Mühe 
gaben,  diesen  Apparat  zu  entdecken  und  endlich  annah- 
men, dass  er  irgendwo  unter  dem  Kragen  verborgen  liege. 
Wie  dem  auch  sei,  den  Jahren  nach  konnte  Piccioli  Peter 
Iljitsch's  Grossvater  sein,  und  doch  entwickelte  sich  zwi- 
schen den  Beiden  ein  echt  freundchaftliches  Verhältniss, 
derjn  in  der  Brust  des  Itaheners  flammte  noch  das  jugend- 
liche Feuer  der  Begeisterung.  Er  betrachtete  das  Leben 
als  eine  Freude,  war  stets  in  eine  seiner  Schülerinnen 
verliebt,  und  hegte  einen  tiefen  Abscheu  vor  allem  Dem, 
was  alt,  leidend  oder  schon  tot  war.  In  Betreff  der  Musik 
aeusserte  Piccioli  solch  leidenschaftlich-fanatische  Ueber- 
zeugungen  und  Ansichten,  verstand  es,  dieselben  so  über- 
redend und  glänzend  zu  verteidigen,  dass  er  einen  Jeden, 
selbst  einen  w^eniger  nachgiebigen  Charakter  wie  Peter 
Iliitsch,  zu  seinem  Glauben  zu  bekehren  vermocht  hätte. 
Ausser  Rossini,  BeUini,  Donizetti  und  Verdi  verneinte  er 
Alles.  Er  verspottete  und  hasste  in  vollkommen  gleicher 
Weise  die  Symphonieen  von  Beethoven,  die  modernen 
Gassenhauer,  die  Messen  von  Bach,  das  „Leben  für  den 
Zaren"  u.  A.  Ausser  den  Schöpfungen  der  grossen  italie- 
nischen Melodiker  gab  es  für  ihn  keine  Musik.  Trotz  der 
Beredsamkeit  des  Italieners  konnte  Peter  Iljitsch  im  Grunde 
seiner  Seele  dessen  Ansichten  nicht  beitreten,  erstens,  weil 
er  überhaupt  kein  Freund  von  Parteilichkeit  war,  und 
zweitens,  weil  sein  persönlicher  musikalischer  Geschmack 
bereits  ziemlich  festen  Fuss  in  ihm  gefasst  hatte  und  nicht 
mehr  so  leicht  ins  Wanken  gebracht  werden  konnte.  Er 
trug  einen  eigenen  kleinen  Olymp  im  Herzen,  dem  er  mit 
voller  Seele  ergeben  war.  Nichtsdestoweniger  blieb  die 
Freundschaft  zwischen  ihm  und  Piccioli  bestehen,  und  Pe- 


—  ei- 
tel- Iljitsch  verdankt  seine  gründlichen  Kenntnisse  der  ita- 
lienischen Opernliteratur  nicht  zum  wenigsten  dieser  That- 
sache.  Vielleicht  ist  es  dem  Einflüsse  Piccioli's  zuzuschrei- 
ben, dass  Peter  Iljitsch  in  jener  Zeit  der  Opernmusik  den 
Vorzug  vor  der  symphonischen  gab  und  sich  für  die  Letztere 
nicht  nur  wenig  interessierte,  sonder  sie  sogar  etwas  ver- 
ächtlich ansah. 

Seit  dem  Anfang  der  fünfziger  Jahre  hatte  sich  das 
schöpferische  Talent  Peter  Iljitsch's  noch  nie  anders  ge- 
äussert, als  in  hnprovisationen  und  Phantasieen  am  Kla- 
vier. Obgleich  er  seither  schon  manchen  Walzer,  manche 
Polka  und  „Reverie  de  salon"  komponiert  hatte,  welche, 
jedenfalls  nicht  schlechter  gewesen  sein  mögen,  als  ähnliche 
Musikstücke  etlicher  seiner  „auch"  komponierenden  Freun- 
de, so  konnte  er  sich  doch  nie  entschliessen,  seine  Gedan- 
ken zu  Papier  zu  bringen — vielleicht  aus  Bescheidenheit, 
vielleicht  aus  Stolz.  Nur  ein  einziges  Mal  hatte  er  eine  Ro- 
manze niedergeschrieben,  deren  Text  „Mein  Genius, mein  En- 
gel, mein  Freund" — von  dem  Dichter  Fet  herrührt,  und  die 
eine  echte,  völlig  talentlose  Dilettantenarbeit  ist.  Doch  war 
im  Laufe  der  Zeit  sein  musikalisches  Be\Vusstsein ,  die 
eigene  Erkenntniss  seines  eigentlichen  Berufes  unstreitig 
gewachsen.  Er  erzählte  später  oft,  dass,  als  er  noch  in  der 
Schule  war,  ihm  der  Gedanke  an  die  Komponistenlaufbahn 
keine  Ruhe  liess,  da  er  aber  fühlte,  dass  von  seiner  Um- 
gebung Niemand  an  sein  Talent  glaubte,  so  sprach  er  nur 
sehr  selten  darüber.  Turtschaninoff  ist  der  Einzige  von 
seinen  früheren  Schulfreunden,  der  sich  erinnern  kann,  dass 
Peter  Iljitsch  ihm  einst  anvertraut  hatte,  dass  er  eine  Oper 
zu  schreiben  beabsichtige,  und  wie  er,  Turtschaninoff,  ihm 
versprechen  musste,  der  ersten  Aufführung  dieser  Oper  bei- 
zuwohnen. (Dieses  Versprechen  hat  Turtschaninoff  aber 
erst  bei  der  dritten  Oper  von  Tschaikowsky,  „Wakula", 
einlösen  können.  Er  suchte  den  Autor  hinter  den  Kulis- 
sen auf,  erinnerte  ihn  an  das  Gespräch  in  der  Schule,  und 
sie  umarmten  sich  Beide  herzlich).  Dann  hat  mir  Peter 
Iljitsch  selbst  einmal  erzählt,  wie  er  eines  Tages  den  Mut 
gehabt,  einem  Schulkameraden  (seinen  Namen  habe  ich 
leider  vergessen)  gegenüber  zu  äussern,  dass  aus  ihm  noch 
ein  grosser  Komponist  werden  würde,  wie  er  aber  gleich 
darauf  selber  ob  seiner  Anmaassung  erschrak  und  wie  gross 
dann  sein  Erstaunen  gewesen  sei,  als  der  betreffende  Schul- 
kamerad ihn  nicht  nur  nicht  ausgelacht,  sondern  in  sei- 
nem Glauben  noch  bestärkt,   und    ihn    damit    fast    bis    zu 


—    б2    — 

Thränen  gerührt  habe.  Ein  anderer,  ähnlicher  Vorfall,  wel- 
cher beweist,  wie  gross  das  Selbstvertrauen  Peter  Iljitsch's 
war,  ereignete  sich  später,  als  die  Frage,  ob  er  sich  ganz 
der  Musik  widmen  sollte,  im  Prinzip  bereits  entschieden 
war.  Ende  1862,  bald  nachdem  er  als  Schüler  in  das  Kon- 
servatorium eingetreten,  fuhr  er  eines  Tages  mit  seinem 
Bruder  Nikolai  zusammen  irgendwo  hin.  Nikolai  gehörte 
zu  Denjenigen,  welche  seinen  Entschluss,  zum  Musikstu- 
dium überzugehen,  nicht  billigten,  und  versuchte,  ihn  da- 
von abzubringen,  indem  er  ihm  unter  Anderem  sagte,  dass 
er  das  Talent  eines  Glinka  doch  nicht  besitze  und  dass 
das  armselige  Leben  eines  mittelmässigen  Musikers  doch 
durchaus  nicht  beneidenswert  sei.  Peter  Iljitsch  antwortete 
Nichts  darauf.  Als  sie  aber  an  ihrem  Ziel  angelangt  und 
aus  dem  Schlitten  gestiegen  waren,  sagte  Peter  Iljitsch: 
„Ein  Glinka  werde  ich  vielleicht  nicht,  aber  ich  versichere 
Dich:  Du  wirst  noch  stolz  sein,  mich  zum  Bruder  zu  ha- 
ben". Diese  Worte,  den  Klang  seiner  Stimme  und  den 
Blick  seiner  Augen  hat  Nikolai  Iljitsch  bis  Heute  noch 
nicht  vergessen. 


^■^^^Ф'^ф^^^фФфФ'^'^п^'^^'<1Уг;^^г;^-г^тф^г;1>^4^^с^ 


41 , ,,  , 


Dritter  Teil. 


I. 

Die  langsamen  und  unerspriesslichen  Fortschritte,  die 
Peter  Iljitsch's  musikalische  Entwickelung  in  den  fünfziger 
Jahren  gemacht  hatte,  waren  mit  seiner  leichtfertigen  Le- 
bensweise Hand  in  Hand  gegangen.  Seine  im  Grunde  lie- 
bereiche und  für  alles  Schöne  empfängliche  Seele  war 
zusammen  mit  seinem  später  so  fruchtbaren  Talent  gleich- 
sam in  einen  tiefen  Schlaf  gesunken;  aber  im  Moment  des 
Erwachens,  erblühten  gleichzeitig  mit  seiner  musikalischen 
Begabung  alle  seine  andern  guten  Triebe.  Mit  dem  ober- 
flächlichen Dilettanten  verschwand  auch  der  leichtfertige  Le- 
bemann; mit  dem  strebsamen,  eifrigen  Forscher  erstand 
auch  der  zärtliche  und  dankerfüllte  Sohn,  der  liebende  und 
sorgende  Bruder. 

Die  Umwandlung  hatte  sich  ganz  unbemerkt  vollzogen. 
Es  ist  schwer,  den  Zeitpunkt  ihres  Anfanges  anzugeben, 
denn  es  sind  ihr  keinerlei  bedeutsame  Ereignisse  vorauf- 
gegangen. Unzweifelhaft  zu  erkennen  ist  sie  im  Jahre  1861, 
denn  da  beginnt  Peter  lljitsch  von  Neuem,  an  eine  musi- 
kalische Laufbahn  zu  denken,  und  nimmt  auch  mit  seiner 
Familie  wieder  engere  Fühlung,  um  in  ihr  die  Befriedi- 
gung seiner  höheren  geistigen  Bedürfnisse  zu  suchen,  wel- 
che er  in  seinem  früheren  Lebenswandel  nicht  gefunden 
hatte.  Er  war  müde  geworden  vom  üppigen  Leben,  und 
der  Wunsch,  diesem  Leben  ein  Ende  zu  machen,  begann, 
sich  immer  stärker  in  ihm  zu  regen;  er  fürchtete  auch,  in 
dem  Sumpf  eines  kleinlichen,  unnützen,  lasterhaften  Da- 
seins ganz  zu  versinken.  Inmitten  der  fieberhaften  Jagd 
nach   den   Freuden   des  irdischen  Lebens,  überkamen   Pe- 


-б4- 

ter  Iljitsch — nach  seinen  eigenen  Worten — immer  öfter  Mo- 
mente der  qualvollsten  Verzweiflung.  Ob  die  Uebersätti- 
gung  plötzlich  in  ihm  erwacht  war  vielleicht  unter  dem 
Eindruck  irgend  eines  uns  unbekannt  gebliebenen  Ereig- 
nisses, oder  ob  sie  sich  nach  und  nach  in  seine  Seele 
geschlichen  hat,  das  weiss  wohl  Keiner,  denn  Peter  Iljitsch 
hat  sich  durch  jene  schweren  Stunden  ganz  allein  durch- 
gerungen. Seine  Umgebung  hat  erst  dann  etwas  davon 
gemerkt,  als  die  Umwandlung  bereits  geschehen  war,  und 
ЛЮГ  seinem  geistigen  Auge  das  erste  Morgenrot  eines  neuen 
Lebens  zu  leuchten  begann. 

Nachdem  Alexandra  Iljinischna  sich  verheiratet  hatte 
und  fortgereist  war,  dachte  Peter  Iljitsch  gar  nicht  daran, 
in  einen  Briefwechsel  mit  ihr  einzugehen.  Seine  brüder- 
liche Liebe  drückte  er  nur  dadurch  aus,  dass  er  der  Schwes- 
ter passiv  „alles  Gute"  wäinschte.  Im  März  1861  jedoch, 
als  er  hörte,  dass  Alexandra  Iljinischna  Heimweh  habe, 
überkam  ihn  plötzlich  ein  Gefühl  sehnsüchtiger  Zärtlichkeit 
für  seine  Schwester,  und  er  schrieb  ihr  einen  liebevollen 
Trostbrief.  In  diesem  Brief  erzählte  er  unter  Anderem  auch 
ein  Ereigniss,  welches  an  sich  zwar  unbedeutend,  doch  als 
eigentlicher  Anfang  seiner  musikalischen  Laufbahn  bezeich- 
net werden  kann.  Sein  Vater,  Ilja  Petro witsch,  hatte  ihm, 
nämlich,  selbst, — aus  eigener  Initiative — den  Vorschlag  ge- 
macht, sich  ganz  der  Musik  zu  wddmen. — 

„Beim  Abendessen  sprach  man  von  meinem  musikali- 
schen Talent", — schreibt  Peter  Iljitsch, — „Vater  behauptet, 
dass  es  für  mich  noch  nicht  zu  spät  sei,  Künstler  zu  wer- 
den. Wenn  es  nur  wirklich  so  wäre!  Die  Sache  ist  aber 
die,  dass  mein  Talent,  selbst  wenn  ich  es  in  der  That  be- 
sitzen sollte,  wohl  kaum  mehr  entwickelt  werden  kann. 
Man  hat  aus  mir  einen  Beamten  gemacht,  aber  nur  einen 
schlechten;  ich  versuche,  mich  nach  Möglichkeit  zu  bes- 
sern, und  meine  Dienstpflichten  gewissenhafter  zu  besor- 
gen; und  gleichzeitig  damit  sollte  ich  den  Generalbass 
studieren?!.." 

Ein  anderes  Ereigniss,  ebenso  gewöhnlich,  ebenso  all- 
täglich, wie  jenes,  gab  aeusserlich  den  ersten  Anlass  zur 
Umgestaltung  des  intimen  Lebens  Peter  Iljitsch's,  des  Ver- 
kehrs mit  seinen  Familienangehörigen,  und  beleuchtet  noch 
heller  die  Umwälzung  in  seinem  Seelenleben.  Hier  muss 
ich  mich  aber  für  einige  Zeit  meinen  persönlichen  Erin- 
nerungen zuwenden. 

Zur  Zeit  der  Verheiratung  Alexandra  lljinischna's  waren 


-б5- 

wir  Zwillingsbrüder,  Anatol  und  ich,  zehn  Jahre  alt.  Ob- 
gleich Alexandra  Iljinischna,  hingerissen  und  berauscht  von 
dem  lustigen  Leben  eines  hübschen  Mädchens  und  später 
einer  glücklichen  Braut,  in  den  letzten  Jahren  ihres  Aufent- 
haltes im  elterlichen  Hause  sich  nur  wenig  um  unsere 
Erziehung  gekümmert  hatte,  so  hingen  wir  an  ihr  doch 
nicht  weniger  zärtlich  und  fühlten  uns  nach  ihrer  Abreise 
sehr  verwaist.  Dazu  kam  noch,  dass  wir  in  die  Privatschule 
eines  Herrn  A.  gebracht  wurden,  wo  es  uns  infolge  der 
vernachlässigten  Erziehung  gar  nicht  möglich  war,  mit  den 
anderen  Schülern  im  Lernen  gleichen  Schritt  zu  halten. 
Dieser  Herr  A.  war  ein  Untergebener  unseres  Vaters  und 
ein  sehr  schlauer,  unaufrichtiger  Mensch,  der  mit  geheu- 
cheltem Entzücken  unsere  Erziehung  übernommen  hatte, 
hinter  dem  Rücken  Ilja  Petrowitsch's  jedoch  seiner  Ver- 
pflichtung nur  sehr  mangelhaft  nachkam.  Aeusserlich  wur- 
den wir  als  „Generalssöhne"  verwöhnt  und  verhätschelt:^ 
er  schmeichelte  uns  in  den  kleinsten  Dingen.  Als  er  sah, 
dass  wir  gegenüber  seinen  andern  Schülern  sehr  zurück- 
geblieben waren,  hielt  er  es  doch  nicht  für  nötig  oder, 
richtiger,  nicht  für  vorteilhaft,  für  uns  einen  besonderen 
Kursus  einzurichten,  sondern  lies  uns  mit  den  Andern  zu- 
sammen in  einer  Klasse,  wo  wir  absolut  Nichts  verstanden 
und  nicht  verstehen  konnten.  Freilich  wurden  wir  sehr  bald 
die  Zielscheibe  des  Spottes  seitens  unserer  Lehrer  und 
Kameraden.  Einerseits  wurden  wir  ausgelacht,  verhöhnt, 
halb  für  Idioten  gehalten,  anderseits  aber  erwies  man  uns 
ganz  zwecklose  und  überflüssige  „Ehrungen"  und  Auf- 
merksamkeiten; so  wurde  uns  z.  B.  während  des  Unter- 
richts Kaffee  mit  Kuchen  serviert.  Um  drei  Uhr  kamen 
wir  gewöhnlich  nach  Hause  und  waren  dort  bis  zur  Nacht 
vollständig  sich  selbst  überlassen.  Wir  waren,  natürlich, 
nicht  imstande,  unsere  Aufgaben  selbständig  zu  arbeiten, 
fanden  aber  auch  zu  Hause  Niemanden,  der  uns  mit  Rat 
und  That  helfen  konnte,  denn  die  Einen  hatten  selber  ge- 
nug zu  thun,  die  Andern  waren  nicht  zu  Hause  oder  hatten 
auch  „keine  Zeit",  so  dass  wir  die  Sache  gehen  liessen, 
wie  sie  eben  ging,  und  die  ganzen  Abende  im  Nichtsthun 
verbrachten. 

An  einem  solchen  greulich  langweiligen  Abend  war  es, 
als  wir  Beide  im  Saal  auf  dem  Fensterbrett  saassen  und 
unsere  Beine  hin  und  her  baumeln  liessen,  kam  Peter  an 
uns  vorbei.  Seit  unserer  frühesten  Kindheit  an  fühlten  wir 
für  ihn  nicht  eigentlich  Liebe,  sondern  eine  gewisse  Ver- 

Tachaikowaky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  5 


—  66  — 

ehriing,  Hochachtung.  Ein  jedes  seiner  Worte  war  uns 
heilig.  Er,  dagegen,  schien  uns  garnicht  zu  bemerken,  als 
wenn  wir  garnicht  da  wären  für  ihn. 

Schon  die  Thatsache,  dass  er  zu  Hause  war,  dass  wir 
ihn  ansehen  durften,  genügte,  um  unsere  Langeweile  zu 
zerstreuen  und  uns  etw^as  freudiger  zu  stimmen,  wie  gross 
war  aber  unser  Erstaunen  und  unser  Entzücken,  als  er — 
nicht  wie  gewöhnlich  —  achtlos  an  uns  vorüberging,  son- 
dern stehen  bheb  und  fragte:  „Ihr  langweilt  Euch?  Wollt 
Ihr  den  Abend  mit  mir  verbringen?" — Bis  Heute  kann  ich 
jenen  denkwürdigen  Abend  nicht  vergessen,  denkwürdigen- 
weil  auch  für  uns  seitdem  ein  neues  Leben  begann. 

Der  weiseste,  der  erfahrenste  Pedagog,  die  liebevoll- 
ste, zärtlichste  Mutter  würde  uns  seitdem  Peter  nicht  er- 
setzen können,  denn  er  war  für  uns  ausserdem  Kamerad 
und  Freund.  Alles,  w^as  wir  dachten  und  was  wir  fühlten, 
.durften  wir  ihm  erzählen,  ohne  zu  fürchten,  dass  er  kein 
Interesse  dafür  habe.  Wir  scherzten,  wir  tollten  mit  ihm, 
respektierten  aber  auch  ein  jedes  seiner  Worte.  Sein  Ein- 
fluss  auf  uns  war  grenzenlos.  Er  war  für  uns  Bruder,  Mut- 
ter, Freund,  Lehrer  und  Erzieher  zugleich.  Wir  unserer- 
seits wurden  die  grösste  Sorge  und  der  Zweck  seines  Le- 
bens. Wir  drei  bildeten  damals  sozusagen  eine  Familie  in 
der  Familie.  Ein  Jahr  darauf  schrieb  Peter  an  seine  Schwe- 
ster: „Meine  Anhänghchkeit  zu  diesen  beiden  Leutchen 
wird  von  Tag  zu  Tag  grösser.  Ich  bin  sehr  stolz  auf  dieses 
Gefühl,  vielleicht  dass  beste  meines  Herzens.  Wenn  ich 
traurig  bin,  so  brauche  ich  nur  an  die  Beiden  zu  denken, 
und  mein  Leben  erhält  Wert.  Ich  suche,  ihnen  nach  Mög- 
lichkeit die  Liebe  und  die  Sorge  einer  Mutter  zu  ersetzen",... 


S^ 


ЩР 


II. 


Trotz  jenes  bedeutsamen  Gespräches  beim  Abendessen, 
trotz  der  seelischen  Wiedergeburt  Peter  Iljitsch's  und  der 
Veränderung  seiner  Beziehungen  zu  den  Angehörigen,  wel- 
che das  Fundament  bildete  für  den  bleibenden  intimen, 
hcrzlichfreundscliaftlichen  Verkehr  mit  seinen  Zwillingsbrü- 


-б7- 

dem  und  mit  der  Familie  Dawidow,  blieb  vorläufig  sein 
Lebenswandel  aeusserlich  noch  beim  Alten. 

Er  behielt  seine  Stellung  im  Departement  und  setzte 
fort,  Salons,  Theater  und  Bälle  zu  besuchen.  Von  allen 
Genüssen,  die  er  erstrebte,  von  allen  Wünschen,  die  er 
hegte,  bliebt  nur  einer  unausgekostet,  unerfüllt,  und  dieser 
war — eine  Reise  ins  Ausland. 

Aber  auch  dieser  Wunsch  Peter  Iljitsch's  sollte  nun 
verwirklicht  werden. 

Ein  higenieur,  ein  gewisser  W.  W.,  welcher  mit  Ilja 
Petrowitsch  früher  in  Geschäftsverbindung  gestanden  und 
sich  nach  und  nach  auch  mit  der  Familie  Tschaikowsky, 
besonders  mit  Peter  Iljitsch  befreundet  hatte,  ein  ange- 
nehmer und  geistreicher  Gesellschafter,  hatte  damals  vor, 
eine  Geschäftsreise  ins  Ausland  zu  machen.  Da  er  die 
fremden  Sprachen  jedoch  nicht  genügend  beherrschte,  so 
war  für  ihn  ein  sprachenkundiger  Begleiter  unentbehrlich, 
und  er  machte  daher  Peter  Iljitsch  den  Vorschlag,  als 
Dolmetscher  mit  ihm  zu  reisen.  Hocherfreut  nahm  Peter 
Iljitsch  diesen  Vorschlag,  selbstverständlich,  an,  und  Ilja 
Petrowitsch,  für  den  es  stets  eine  Freude  war,  wenn  er 
Jemandem  eine  Freude  machen  konnte,  war  nicht  nur  da- 
mit einverstanden,  sondern  versorgte  seinen  Sohn  sogar 
mit  einer  kleinen  Summe  Geldes,  damit  er  nicht  in  allzu- 
grosse  Abhängigkeit  von  seinem  Reisegefährten  gerate. 
Peter  Iljitsch  war  überglücklich  und  schrieb  am  9.  Juni 
1861  an  seine  Schwester:  „Wie  Du  Avahrscheinlich  schon 
wissen  wirst,  reise  ich  ins  Ausland;  Du  kannst  Dir  wohl 
mein  Entzücken  vorstellen,  zumal  da  mir  diese  Reise  fast 
Garnichts  kosten  wird;  ich  werde  Etwas  in  der  Art  eines 
Sekretärs,  Uebersetzers  oder  Dragomans  W.  W's  sein. 
Selbstverständlich  wäre  es  ohne  diese  Verpflichtung  bes- 
ser, aber  was  thun?  Diese  Reise  scheint  mir  vorläufig 
noch  ein  verführerischer,  unerfüllbarer  Traum  zu  sein.  Ich 
werde  nicht  eher  daran  glauben,  als  bis  ich  an  Bord  des 
Schiffes  bin.  Ich — und  in  Paris!  In  der  Schweiz! — Das  ist 
sogar  lächerhch!.."  Anfang  Juli  reisten  W.  W.  und  Peter 
Iljitsch  aus  Petersburg  ab,  jedoch  nicht  per  Schiff,  sondern 
per  Eisenbahn  bis  Dünaburg,  und  von  da  per  Diligence 
bis  zur  Grenze.  „Das  Passieren  der  Grenze" — schreibt 
Peter  Iljitsch  dem  Vater,  —  „war  ein  hochpoetischer  und 
feierlicher  Moment.  Alle  haben  sich  bekreuzigt,  und  der 
letzte  russische  Wachtposten  rief  uns  ein  „Mit  Gott"  zu 
und  winkte  bedeutungsvoll  mit  der  Hand." 


—  68  — 

Die  ausführliche  Beschreibung  dieser  Reise  würde  zu 
weit  führen,  ich  will  daher  nur  einen  kurzen  Auszug  aus 
den  vier  grossen  Briefen  machen,  welche  Peter  Iljitsch 
Wtährend  der  Reise  an  seinen  Vater  geschrieben  hatte. 
Da  Peter  Iljitsch  nur  zum  Vergnügen,  mit  der  Absicht  sich 
zu  amüsieren  diese  Reise  unternommen  hatte,  so  beurteilte 
und  schätzte  er  eine  jede  Stadt  dementsprechend,  d.  h. 
nach  der  Zahl  und  den  Eigenschaften  der  Belustigungen, 
welche  er  in  ihr  fand. 

Die  erste  Stadt,  in  welcher  die  beiden  Reisenden  vier 
Tage  blieben  war  Berlin.  Damals  hielt  es  ein  jeder  Russe 
für  seine  Pflicht,  diese  Stadt  ganz  fürchterlich  auszu- 
schimpfen. Dieser  Pflicht,  oder  besser  gesagt  Gewohn- 
heit, hat  auch  Peter  Iljitsch  seinen  Tribut  gezollt.  Trotz- 
dem spricht  er  sich  nicht  klar  über  den  Eindruck  aus,  den 
Berlin  auf  ihn  hinterlassen  hat.  Einesteils  behauptet  er, 
dass  Alles  in  Berlin  schlecht  und  hässHch  sei,  anderen- 
teils giebt  er  zu,  dass  er  viel  Freude  an  der  Reise  habe, 
dass  „sogar  dieses  elende  Berlin"  ihn  zu  interessieren  im- 
stande war. 

Nachdem  er  zum  Schluss  bei  Kroll  gewesen,  einem 
Ballsaal  seinen  Besuch  gemacht  und  „Orpheus  in  der  Un- 
terwelt" von  Offenbach  gesehen  hatte,  schreibt  er  in  jugend- 
licher Naivetät:  „Jetzt  haben  wir  Berlin  gründlich  kennen 
gelernt  und  haben  genug  davon"! 

Nach  Berlin  kam  Hamburg,  wo  die  Beiden  eine  ganze 
Woche  verbrachten.  Hamburg  ist  bedeutend  besser  als  Ber- 
lin",— schreibt  Peter  Iljitsch, — „denn  erstens  habe,  ich  vom 
Balkon  aus  eine  „köstliche  x\ussicht,  und  zweitens,  giebt  es 
da  viel  mehr  i\müsements", — welche  zwar  nicht  immer 
sehr  edler  Natur,  manche  sogar  von  recht  niedriger  Sorte 
waren,  aber — was  fragt  ein  einundzwanzigjähriger  junger 
Mann  viel  danach?  Hamburg  verliess  Peter  Iljitsch  nur 
„ungern".  Brüssel  und  Antwerpen  gefielen  ihm  ganz  und 
garnicht,  vielleicht  weil  er  dort  fast  die  ganze  Zeit  allein 
war,  denn  sein  Gefährte  hatte  viele  Fabriken  zu  besichti- 
gen und  blieb  tagelang  fort,  Peter  Iljitsch  sich  selbst  über- 
lassend. Freilich  langweilte  sich  Dieser,  denn  er  war  an 
die  Einsamkeit  durchaus  nicht  gewöhnt,  und  es  überkam 
ihn  das  Heimweh.  In  Ostende  verlebte  Peter  Iljitsch  drei 
Tage.  „Hier  ist  es  sehr  schön.  Ich  liebe  das  Meer,  beson- 
ders wenn  es  schäumt  und  braust,  und  in  diesen  Tagen 
wütet  es  geradezu"! 

Dann    ging    es   weiter  nach    London.    „Der  Autenthalt 


-б9- 

hier  würde  mir  sehr  angenehm  sein,  wenn  nicht  die  Un- 
gewissheit  über  Euer  Wohlbefinden  mich  quälte,"  schrieb 
er  seinem  Vater,  —  „Eure  Briefe  erwarten  mich  in  Paris, 
und  mein  Herz  sehnt  sich  dahin,  aber  W.  W.  will  noch 
einige  Tage  hier  bleiben.  London  ist  sehr  interessant,  macht 
aber  einen  sehr  düsteren  Eindruck.  Die  Sonne  ist  fast  nie 
zu  sehen,  und  es  regnet  jeden  Augenblick."  Hier  hatte 
Peter  Iljitsch  Gelegenheit,  Adeline  Patti  zu  hören,  луекЬе 
ihn  später  so  sehr  entzückte,  damals  jedoch  hat  er  „Nichts 
Besonderes"  an  ihr  gefunden. 

Wie  zu  erwarten  war,  hat  Peter  Iljitsch  von  allen  Städ- 
ten Paris  am  besten  gefallen.  „Ueberhaupt  ist  das  Leben 
in  Paris  sehr  schön," — schrieb  er,  —  „man  kann  machen, 
was  man  will,  nur  zur  Langeweile  hat  man  gar  keine  Zeit. 
Man  braucht  blos  auf  den  Boulevard  zu  gehen,  und  man 
wird  schon  heiter  gestimmt.  Der  Zeitvertreib  Peter  Iljitsch's 
in  Paris  gestaltete  sich  umso  angenehmer,  als  er  dort  einen 
früheren  Schulkameraden,  Juferoff,  und  später  die  Freundin 
seiner  Kindheit,  Lydia  Wladimirowna  mit  ihrem  Gemahl 
Olchowsky  traf.  Die  sechs  Wochen,  welche  Peter  Iljitsch 
in  dieser  angenehmen  Gesellschaft  verlebte,  erscheinen  als 
der  Kulniinationspunkt  des  vergnügensreichen  Feiertags- 
lebens Peter  Iljitsch's;  noch  nie  war  soviel  Abwechslung 
im  Programm  seiner  Unterhaltungen  und  Belustigungen, 
noch  nie  hatte  er  sich  so  sorgenlos  dem.  Freudentrubel 
ergeben  dürfen,  so  voll,  so  ganz!  Inmitten  seines  Jubels 
sollte  er  aber  eine  arge  Enttäuschung  an  Herrn  W.  W. 
erleben.  Nach  einer  Reihe  peinlicher  Auseinandersetzun- 
gen musste  er  sich  von  seinem  Reisegefährten  trennen  und 
kehrte  Ende  September  allein  nach  Russland  zurück. 

Viel  Nutzen  im  wissenschaftlichen  und  aesthetischen 
Sinne  hat  Peter  Iljitsch  von  seiner  Reise  nicht  gehabt.  Es 
ist  geradezu  erstaunlich,  wie  wenig  Sinn  er  für  derartige 
Eindrücke  damals  noch  hatte.  In  den  drei  Monaten  seines 
Aufenthaltes  in  fremden  Ländern  hat  er  nur  Eines  positiv 
wissen  gelernt:  wo  es  am  lustigsten  war.  Und  doch  war 
seine  Reise  in  gewissem  Sinne  nicht  bedeutungslos  geblie- 
ben. Zum  ersten,  hat  sie  ihm  Gelegenheit  gegeben,  die 
Macht  seiner  Anhänglichkeit  und  Liebe  zu  seinen  Ange- 
hörigen zu  prüfen.  In  der  Ferne  erst  sah  er  ein,  wie  sehr 
sie  ihm  ans  Herz  gewachsen  waren,  und  je  weiter  er  war, 
desto  grösser  war  sein  Heimweh.  Am  meisten  sehnte  er 
sich  nach  den  Zwillingen.  „Sorge  doch,  lieber  Vater,  dass 
Toly  un  Modi  ')  nicht  die  Hände  in  den  Schoos  legen." — 

1)  Abkürzungen  der  Xamen  Anatol  und  Modest. 


—  70  — 

„Lernen  Toly  und  Modi  auch  fleissig?"  „Vergiss  nicht 
den  Examinatoren  zu  sagen,  dass  Tol}^  und  Modi  für  die 
Oberabteilung  vorbereitet  sind.  Warum  schreiben  sie  mir 
nicht?" — u.  s.  w. 

Zum  zweiten,  hat  Peter  Iljitsch  auf  dieser  Reise  das 
nichtsthuerische,  genusssüchtige  Leben  in  seiner  letzten 
Konsequenz  kennen  und  infolge  dessen  einsehen  gelernt, 
dass  er  auf  diesem  Wege  nicht  weiter  gehen  durfte,  dass  es 
noch  andere,  edlere  Ziele  des  menschlichen  Daseins  geben 
müsse.  Das  bunte,  aufgeregte  Leben  in  Paris  hat  in  ihm 
eine  heilsame  Reaktion  gezeitigt,  und  an  der  Schwelle 
einer  neuen  Thätigkeit  konnte  er  ruhigen  Blickes  seine  Ver- 
gangenheit betrachten,  nur  den  einen  brennenden  Wunsch 
fühlend,  möglichst  schnell  aus  ihrem  Dunkel  an  Gottes  Ta- 
geslicht zu  gelangen. 

Bald  nach  seiner  Heimkehr  schrieb  er  folgenden  Brief 
an  seine  Schwester: 

23  Oktober  186 1. 

„'...Was  soll  ich  Dir  über  meine  Reise  erzählen?  Es  ist 
besser,  garnicht  davon  zu  reden.  Wenn  ich  je  eine  kolos- 
sale Dummheit  begangen  habe,  so  war  es  diese  Reise.  Du 
erinnerst  Dich  wohl  noch  an  W.  W.  Stelle  Dir  vor,  dass 
unter  der  Maske  jener  bonhomie,  welche  mich  einen  gu- 
ten Menschen  in  ihm  vermuten  liess,  sich  die  gemeinsten 
Charaktereigenschaften  verbargen.  Du  kannst  Dir  denken, 
ob  es  mir  angenehm  war,  drei  Monate  mit  einem  solchen 
Gefährten  zusammen  zu  sein.  Dazu  habe  ich  mehr  Geld 
ausgegeben,  als  ich  sollte,  und  garkeinen  Nutzen  davon 
gehabt.  Siehst  Du  jetzt  ein,  dass  ich  ein  Thor  w^ar?  Ue- 
brigens  schilt  mich  nicht;  ich  hatte  nur  wie  ein  Kind  gehan- 
delt, Nichts  weiter.  Du  weisst,  dass  der  sehnlichste  Wunsch 
meines  Lebens  von  jeher  eine  Reise  ins  Ausland  gewesen 
ist.  Als  sich  die  Gelegenheit  dafür  bot — la  tentation  etait 
trop  grande — schloss  ich  die  Augen  und — ergriff  sie.  Daraus 
darfst  Du  aber  nicht  folgern,  dass  es  im  Auslande  schlecht 
und  das  Reisen  eine  langweilige  Sache  sei.  Ganz  im  Ge- 
gentheil;  man  muss  aber  unabhängig  sein,  eine  genügende 
Portion  Geld  haben,  und  einen  bestimmten  Zweck  verfol- 
gen. In  Paris  verbrachte  ich  die  Zeit  sehr  angenehm  mit 
Juferoff,  und  das  war  mir  ein  grosser  Trost.  Das  ist  ein 
reizender  Mensch!  Du  glaubst  nicht,  wie  glücklich  ich  war, 
nach  Petersburg  zurückzukehren.  Ich  muss  gestehen, 
dass  ich  eine  grosse  Vorliebe  für  die  russiche  Hauptstadt 


—  yi  — 

habe.  Was  tliim?  Ich  habe  mich  so  eingelebt  in  ihr;  Alles, 
was  meinem  Herzen  teuer  ist  —befindet  sich  in  Peters- 
burg... Du  weisst,  dass  ich  eine  Schwäche  habe:  sobald 
ich  im  Besitze  einiges  Geldes  bin,  so  gebe  ich  es  auch 
schon  für  Vergnügungen  aus:  das  ist  gemein,  das  ist  un- 
klug, das  weiss  ich;  es  liegt  aber  einmal  in  meinem  Cha- 
rakter. Wie  weit  werde  ich  damit  kommen?  Was  kann 
ich  von  der  Zukunft  erwarten?  Es  ist  schrecklich,  daran 
zu  denken.  Ich  weiss,  dass  ich  früher  oder  später,  nicht 
mehr  imstande  sein  werde,  mit  den  Mühsalen  des  Lebens 
zu  kämpfen,  bis  dahin  aber  will  ich  das  Leben  gemessen 
und  Alles  für  dieses  Geniessen  opfern.  Seit  zwei  Wochen 
verfolgt  mich  dafür  das  Unglück:  mit  meinem  Dienst  steht 
es  sehr  schlimm.  Die  Rubel  zerschmelzen  sehr  schnell.  In 
der  Liebe — Pech.  Aber  es  wird  schon  eine  Zeit  kommen, 
wo  es  wieder  besser  geht... 

P.  S.  Ich  habe  begonnen  den  Generalbass  zu  studie- 
ren, und  mache  darin  gute  Fortschritte.  Wer  weiss,  viel- 
leicht wirst  Du  nach  drei  Jahren  meine  Opern  anhören 
und  meine  Arien  singen". 


•7|v- 


III. 

Das  Merkwürdigste  an  der  Umwandlung  Peter  Iljitsch's 
aus  einem  eleganten  Beamten  und  gesellschaftlichen  „Laf- 
fen"  in  einen  Jünger  der  musikalischen  Kunst  —  ist,  dass 
ihr  bei  all'  ihrer  scheinbaren  Plötzlichkeit  und  Bestimmt- 
heit durchaus  Nichts  Ueberhastetes,  Aufwallendes,  Unü- 
berlegtes anhaftete;  aus  keiner  Handlung,  aus  keinem  Wort 
Peter  Iljitsch's  ist  zu  ersehen,  dass  er  in  den  Gedanken 
verliebt  gewesen  wäre,  einst  berühmt  zu  werden;  er  un- 
ternimmt Nichts  Schroffes,  er  thut  Nichts  Gewaltsames; 
jeder  seiner  Schritte  in  der  neuen  Thätigkeit  ist  durch- 
dacht, entschlossen  und,  trotz  einer  gewissen  Zurückhal- 
tung unerschütterlich  fest;  Peter  Iljitsch's  Ruhe  und  Zu- 
versicht ist  so  gross,  dass  sie  sich  sogar  seiner  Umge- 
bung mitteilt,  und  dass  alle  Hindernisse  und  Schwierigkei- 


—  72  — 

ten,  denen  er  begegnet  von  selbst  verschwinden  und  ihm 
freie  Bahn  lassen. 

Der  ps3^chologische  Teil  der  Umwälzung,  welche  in  Pe- 
ter Iljitsch  vor  sich  gegangen,  die  pathetische  Seite  des 
Kampfes,  луекЬеп  seine  Seele  zwei  Jahre  hindurch  ge- 
kämpft— wird  unserer  Wissenschaft  wohl  für  immer  ent- 
zogen bleiben,  nicht  weil  das  Material  an  Briefen  aus  jener 
Zeit  sehr  knapp  ist,  sondern  weil  Peter  Iljitsch  eifersüch- 
tiges Schweigen  über  die  Vorgänge  in  seinem  Innern  be- 
Avahrte,  keine  fremde  Einmischung  in  sein  Seelenleben  dul- 
den wollte,  die  schwere  Zeit  allein,  ganz  allein  durchlebte, 
und  vor  seinen  Mitmenschen  immer  derselbe  ruhige,  lus- 
tige Peter  Iljitsch  blieb,  welcher  er  bis  dahin  gewesen. 
Aber  je  nüchterner,  je  werktäglicher  der  Prozess  der  Wie- 
dergeburt Peter  Iljitsch's  war,  um  so  radikaler  und  siche- 
rer war  er  auch. 

Peter  Iljitsch's  Zustand  spiegelt  sich  sehr  klar  in  vier 
Briefen  wieder,  die  er  in  jener  Zeit  an  seine  Schwester 
geschrieben  hat,  und  die  den  vier  Stadien  der  geschehe- 
nen Metamorphose  entsprechen.  Diese  Briefe  werfen  ein 
grelles  Licht  auf  die  vier  Hauptmomente  jener  zwei  Le- 
bensjahre Peter  Iljitsch's. 

Der  erste  Brief  (vom  23.  Oktober,  1861)  ist  dem  Leser 
schon  bekannt.  In  ihm  erwähnt  Peter  Iljitsch  seine  begon- 
nenen musikalischen  Studien  im  post  scriptum,  nur  so 
nebenher,  wie  etwas  höchst  Unwichtiges, — und  das  ist 
sehr  bezeichnend.  In  der  That  sind  in  jenem  Moment  seine 
Theoriestunden  bei  Zaremba,  nur  ein  kleines  Detail  mehr 
im  Dasein  eines  Lebemanns,  ebenso  wie  auch  der  italie- 
nische Sprachunterricht,  den  er  nimmt.  Sein  Hauptinteresse 
konzentriert  sich  vorläufig  immer  noch  auf  den  Dienst  im 
Departement,  und  die  meiste  Zeit  widmet  er  immer  noch 
dem  Gesellschaftsleben.| 

Der  zweite  Brief  zeugt  schon  von  einer  etwas  verän- 
derten Lage  der  Dinge.  Obgleich  er  nur  wenige  Wochen 
später  geschrieben  worden  ist,  so  erscheint  in  ihm  das 
Musikstudium  Peter  Iljitsch's  doch  schon  in  wesentlich  an- 
derem Licht.  Sein  nebensächlicher  Charakter  hat  sich  ver- 
loren. Zwar  sind  die  Dienstangelegenheiten  für  Peter  Il- 
jitsch immer  noch  die  wichtigeren,  die  wesentlicheren,  aber 
die  Musik  hindert  ihn  bereits  in  seiner  Beamtencarriere.  Um 
dieser  willen  wäre  es  für  ihn  jetzt  eigentlich  am  zweck- 
mässigsten,  eine  Anstellung  in  der  Provinz  zu  finden,  doch 
„die  Stunden  bei  Zaremba  stehen  dem  im  Wege",  er  bringt 


—  73  — 

also  der  Musik  bereits  ein  Opfer  dar.  Am  4.  Dezember 
1861  schreibt  Peter  Iljitsch:  „Mir  geht  es  gut.  Hoffe,  bald 
zu  avancieren,  d.  h.  zum  „Beamten  für  besondere  Ange- 
legenheiten" ernannt  zu  werden.  Da  wird  es  um  20  Ru- 
bel mehr  Gehalt  geben  und  weniger  Arbeit.  Gott  gebe, 
das  es  zustande  kommt!  Was  die  Provinz  anbelangt,  so 
werde  ich  jetzt  wohl  kaum  Petersburg  verlassen  können. 
Ich  hatte  Dir,  glaube  ich,  schon  geschrieben,  dass  ich  die 
Theorie  der  Musik  zu  lernen  begonnen  habe,  und  zwar 
recht  erfolgreich;  Du  wirst  zugeben,  dass  es  bei  meinem 
ziemlich  grossen  Talent  (hoffentlich  fassest  Du  das  nicht 
als  Prahlerei  auf)  thöricht  wäre,  sein  Glück  in  dieser  Be- 
ziehung nicht  zu  versuchen.  Ich  fürchte  nur  für  meine 
Charakterlosigkeit;  am  Ende  wird  meine  Trägheit  siegen, 
wenn  aber  nicht,  so  verspreche  ich  Dir,  dass  aus  mir  noch 
Etwas  werden  wird.  Zum  Glück  ist  es  noch  nicht  zu 
spät...." 

Weiter  teilt  er  der  Schwester  verschiedene  für  uns 
gleichgiltige  Neuigkeiten  aus  dem  gesellschaftlichen  Leben 
mit. 

Acht  Monate  sind  seit  diesem  zweiten  Brief  bis  zum 
dritten  verflossen.  In  diesen  acht  Monaten  hat  Peter  Iljitsch 
seine  Selbstbeschuldigung  in  der  „Trägheit"  zu  widerlegen 
und  zu  beweisen  versucht,  dass  es  in  der  That  „noch  nicht 
zu  spät  sei". 

Ich  erinnere  mich,  dass  ich  damals  zwei  Thatsachen 
entdeckt,  welche  mich  in  grosses  Erstaunen  versetzt  haben. 
Die  erste  Entdeckung  war,  dass  die  beiden  Begriffe  „Bru- 
der Peter"  und  „Arbeit"  sich  einander  durchaus  nicht  aus- 
zuschliessen  brauchen;  und  die  zweite,  dass  es  ausser  der  an- 
genehmen und  interessanten  Musik  noch  eine  andere,  fürch- 
terlich unangenehme  und  langweilige  geben  kann,  welche 
sogar  die  Wichtigere  von  beiden  sein  soll.  Ich  weiss  noch, 
mit  welcher  Hartnäckigkeit  Peter  oft  stundenlang  am  Kla- 
vier sass  und  die  „scheusslichsten",  „unverständlichsten" 
Fugen  und  Präludien  spielte.  Seine  Ausdauer  darin,  sowie 
das  nicht -enden -wollende  Notenschreiben  verblüffte  und 
ärgerte  mich  zugleich,  denn  nach  meiner  damaligen  Mei- 
nung hätte  er  seine  Zeit  viel  angenehmer  verbringen  kön- 
nen. Mein  Erstaunen  луаг  aber  geradezu  grenzenlos,  als 
er  mir  erklärte,  dass  er  „Aufgaben  löse."  Es  überstieg  alle 
meine  Begriffe,  dass  ein  so  reizendes  Unterhaltungsmittel 
wie  die  Musik  Etwas  Gemeinsames  niit  der  verhassten  Ma- 
tematik  haben  könnte.  Gleichzeitig  kam  ich  zu  der  Ueber- 


-  74  — 

Zeugung,  dass  Beethoven  garnicht  so  ein  langweiliger  Kerl 
war,  als  ich  dachte,  denn  seine  Symphonieen,  welche  Peter 
manches  Mal  mit  Diesem  oder  Jenem  seiner  Freunde  \äer- 
händig  spielte,  gefielen  mir  sehr,  eine  von  ihnen  —  die 
Fünfte — fand  ich  sogar  entzückend. 

In  der  äusseren  Lebensweise  Peter  Iljitsch's  machte 
sich  ebenfalls  eine  Veränderung  bemerkbar.  Von  allen  sei- 
nen Bekannten  und  Freunden  blieb  er  eigentlich  nur  Apuch- 
tin  und  Adamoff  treu.  Von  den  Andern  besuchte  er  hin 
und  wieder  nur  Diejenigen,  welche  zur  Musik  in  irgend 
welcher  Beziehung  standen. 

Ausser  den  Arbeiten  für  die  Lektionen  bei  Zaremba 
widmete  Peter  viele  Stunden  dem  Studium  der  Klassiker. 
Und  doch,  trotz  alledem,  blieb  sein  Dienst  für  ihn  Haupt- 
sache, Hauptlebenszweck.  Im  Sommer  1862  ist  er  in  sei- 
nem Beruf,  nach  seinen  eigenen  Worten,  sogar  noch  eifri- 
ger, noch  fleissiger  geworden  als  früher,  denn  im  Depar- 
tement sollte  zum  Herbst  eine  Stelle  frei  werden,  auf  die 
er  alle  Anrechte  besass,  so  dass  es  nur  galt,  den  Vorge- 
setzten seine  Befähigung  durch  besonders  regen  Fleiss 
nachzuweisen.  Seine  Mühe  war  aber  umsonst:  Peter  Iljitsch 
bekam  die  Stelle  nicht.  Seine  Verstimmung  und  sein  Aer- 
ger  darüber,  dass  man  ihn  „übersehen"  hatte,  war  gren- 
zenlos, und  ich  zweifle  nicht  daran,  dass  dieses  Ereigniss 
auch  ein  gut  Teil  dazu  beigetragen  hatte,  ihn  endgiltig 
der  Musik  in  die  Arme  zu  stossen.  Die  letzten  Bande,  die 
ihn  an  das  Beamtentum  fesselten,  waren  infolge  jener  „Un- 
gerechtigkeit" gerissen. 

An  dieser  Stelle  müssen  auch  einige  Familienereignisse 
erwähnt  werden. 

Elisabeth  Andreewna  Schobert  hatte  eine  Pension  er- 
worben, und  trennte  sich  von  der  Familie  Ilja  Petrowitsch's, 
Nikolai  Iljitsch  bekleidete  eine  Stellung  in  der  Provinz,  und 
Hзфpolit  befand  sich  auf  einer  grösseren  Seereise,  sodass 
die  Familie  Tschaikowsky  damals  auf  vier  Personen  redu- 
ziert war:  Ilja  Petro witsch,  Peter  Iljitsch  und  die  beiden 
Zwillinge.  Während  die  Sorge  um  die  Letzteren  bis  dahin 
Pflicht  Elisabeth  Andrecwna's  gewesen  war,  ist  sie  nun 
auf  Peter  Iljitsch  übergegangen  und  er  wurde  im  vollen 
Sinne  des  Wortes  ihr  Erzieher  und  Vormund. 

Im  dritten  Brief,  welcher  vom  10.  September  1862  da- 
tiert und  dem  dritten  Stadium  der  Umwandlung  Peter 
Iljitsch's  entspricht,  sehen  wir  Diesen  wieder  in  anderem 
Licht,  als  acht  Monate  vorher.  Sein  Dienst  ist  ganz  in  den 


—  75  — 

Hintergrund  getreten,  während  die  Musik  als  seine  Spe- 
zialität und  sein  Lebenszweck  nicht  nur  von  ihm  selbst, 
sondern  auch  von  seiner  Umgebung  anerkannt  wird. 

„Ich  bin  in  das  neu  eröffnete  Konservatorium  einge- 
treten",— erzählter, — „der Kursus  beginnt  in  einigen  Tagen. 
Im  vorigen  Jahr  habe  ich  mich,  wie  Du  weisst,  viel  mit 
der  Theorie  der  Musik  beschäftigt  und  bin  zu  der  Ueber-  * 
Zeugung  gekommen,  dass  ich  früher  oder  später  meinen 
Dienst  mit  der  Musik  vertauschen  werde.  Glaube  nicht, 
dass  ich  mir  einbilde,  jemals  ein  grosser  Künstler  zu  wer- 
den —  ich  möchte  nur  das  thun,  wozu  ich  Beruf  in  mir 
fühle.  Ob  aus  mir  ein  berühmter  Komponist  oder  ein  armer 
Musiklehrer  herauskommen  wird — ist  gleichgiltig, — jeden- 
falls aber  wird  mein  Gewissen  rein  sein,  und  ich  werde 
kein  Recht  mehr  haben,  über  mein  Schicksal  zu  murren. 
Meine  Stellung  werde  ich,  freilich,  so  lange  nicht  aufge- 
ben, bis  ich  die  Versicherung  erlange,  dass  ich  kein  Beam- 
ter, sondern  ein  Künstler  bin." 

Von  seinen  Bekannten  und  von  den  Ereignissen  des 
gesellschaftlichen  Getriebes  ist  in  diesem  Brief  gar  keine 
Rede  mehr.  Seine  freie  Zeit  verbringt  Peter  Iljitsch  an 
Werktagen  meistens  mit  dem  Vater.  Seine  Anhänglichkeit 
an  ihn,  welche  sich  bis  dahin  nur  wenig  gezeigt  hatte, 
nahm  ausserordentlich  zu. 

Noch  nie  hatte  die  zärtliche  Güte  Ilja  Petrowitsch's  in 
dem  Herzen  seines  Sohnes  soviel  ehrfurchtsvolle  Dank- 
barkeit wachgerufen,  als  sein  Verhalten  gegenüber  dem 
Berufswechsel  Peter  Iljitsch's.  i6  Jahre  später  erzählte 
Letzterer  darüber  Folgendes:  „Ich  kann  nicht  ohne  Rüh- 
rung daran  denken,  wie  mein  Vater  meine  Flucht  aus  dem 
Justiz-Ministerium  ins  Konservatorium  beurteilt  hatte.  Frei- 
lich musste  es  ihm  weh  thun,  dass  ich  seine  Hoffnungen, 
welche  er  auf  meine  Beamtencarriere  setzte,  nicht  erfüllte, 
und  dass  ich  freiwillig  viele  Entbehrungen  auf  mich  genom- 
men habe,  um  Musiker  zu  werden, — doch  hat  er  mir  nie 
auch  nur  mit  einem  Wort  zu  verstehen  gegeben,  dass  er 
mit  mir  unzufrieden  sei.  Vielmehr  hat  er  sich  mit  warmer 
Teilnahme  oft  nach  meinen  Absichten  und  Plänen  erkun- 
digt und  mich  verschiedentlich  aufgemuntert.  Viel,  viel 
Dank  schulde  ich  ihm.  Wie  wäre  mir  zu  Mute  gewesen, 
wenn  mir  das  Schicksal  einen  Tyrannen  als  Vater  gege- 
ben hätte,  wie  so  vielen  andern  Musikern?" 

„Mittag  esse  ich  immer  zu  Hause,"  —  lautet  der  Briet 
an    die   Schwester  weiter,  —  „abends  gehe  ich  mit  Vater 


-7б  - 

ziemlich  oft  in's  Theater,  oder  spiele  mit  ihm  Karten." 
Doch  wird  bald  darauf  auch  für  Theater  und  Karten  die 
Zeit  zu  knapp.  Sein  Musikstudium  beschränkt  sich  nicht 
blos  auf  zweimalwöchentlichen  Unterricht,  sondern  bean- 
sprucht fast  alle  Werktage  für  sich.  An  Sonn-und-Feier- 
tagen  giebt  er  sich  ganz  dem  Zusammensein  mit  den  aus 
der  Juristenschule  auf  Urlaub  kommenden  Zwillingen  hin, 
hat  also  fast  nie  mehr  Zeit,  verschiedenen  Einladungen  zu 
Diner's,  Tanzabenden  etc.  Folge  zu  leisten,  und  bleibt  nach 
und  nach  dem  gesellschaftlichen  Leben  ganz  fern.  Ausser- 
dem knüpft  er  im  Konservatorium  neue  Bekanntschaften 
an,  Bekanntschaften  mit  Fachmusikern,  denen  er  den  Rest 
seiner  freien  Zeit  widmet. 

Unter  den  Letzteren  spielt  Laroche  eine  so  ausseror- 
dentlich hervorragende  Rolle  im  künstlerischen  und  inti- 
men Leben  Peter  Iljitsch's,  dass  ich  es  für  nötig  halte,  den 
Leser  mit  seiner  Persönlichkeit,  welche  von  nun  an  und 
für  immer  der  erste  und  einflussreichste  Freund  Peter 
Iljitsch's  bleibt,  näher  bekannt  zu  machen. 

Hermann  Augustoлvitsch  Laroche  ^)  wurde  am  13.  Mai 
1845  ^^"^  Petersburg  geboren.  Sein  Vater,  Hannoveraner 
von  Geburt,  war  lange  Jahre  hindurch  in  Petersburg 
als  Lehrer  der  französischen  Sprache  thätig.  Seine  Mut- 
ter war  ebenfalls  eine  sehr  gebildete  Frau  und  hatte  es 
verstanden,  ihrem  Sohn  vollkommene  Beherrschung  der 
vier  Sprachen:  Russisch,  Deutsch,  Französisch  und  En- 
glisch, sowie  manche  anderen  Kenntnisse  beizubringen. 
Ueberhaupt  verdankt  Hermann  Augustowitsch  seine  ganze 
wissenschaftliche  Bildung  ausschliesslich  seiner  Mutter, 
denn  er  ist  eigentümlicherweise  bis  zu  seinem  Eintritt 
ins  Konservatorium  noch  nie  in  einer  Schule  gewesen 
und  hat  nie  Lehrer  gehabt  (ausser  —  für  Maematik). 
Als  Kind  ist  er  sehr  schwächlich  und  kränklich  gewesen 
und  bedurfte  der  sorgfältigsten  Pflege.  Die  ausserordent- 
lichen Fähigkeiten  seines  Verstandes,  ganz  besonders  das 
Gedächtniss,  entwickelten  sich  dank  der  Fürsorge  der 
Mutter,  enorm  schnell,  aber  sehr  zum  Nachteil  seiner  kör- 
perlichen Gesundheit.  Sein  musikalisches  Talent  hat  sich 
sehr  früh  offenbart:  als  zehnjähriger  Knabe  hatte  er  be- 
reits einen  Marsch  und  eine  Ouvertüre  komponiert.  Man 
hatte  ihm  damals  die  ,, Allgemeine  Musiklehre"  von  Marx 
und  die   „Harmonielehre"   von  Arnold  geschenkt,  welche 


•  )  Der  berülinite  Musikschriftsteller  und  Kritiker. 


—  77  — 

beiden  Bücher  er  sehr  bald  auswendig  konnte,  wodurch  er 
sich  allerdings  noch  lange  keine  gründlichen  [musikalischen 
Kenntnisse  angeeignet  hat.  Das  systematische  Musikstu- 
dium begann  er  erst  1860  in  Moskau  unter  Dubuque's  Lei- 
tung. Anfangs  wollte  er  Virtuose  werden.  Sein  Professor 
hat  es  ihm  aber  abgeraten,  weil  seine  Hände  für  das  Kla- 
vierspiel ganz  ungeeignet  waren,  und  hat  mehr  Gewicht 
auf  sein  kompositorisches  Talent  gelegt,  indem  er  ihn  nach 
den  Mustern  Haydn's,  Mozart's  und  Bach's  Sonaten,  Quar- 
tette und  Fugen  schreiben  liess.  hii  Sommer  1861  war  er 
bereits  so  weit,  das  er  ganz  allein,  ohne  Anleitung,  Cheru- 
bini's  „Traite  de  contrepoint  et  de  fugue"  durchstudieren 
konnte.  In  demselben  Sommer  komponierte  er  ein  Quar- 
tett, welches  einem  gewissen  Kologriwoff,  dem  Mitbegrün- 
der des  Petersburger  Konservatoriums  und  Freund  A.  Ru- 
binsteins, sehr  gefiel  und  dieser  Kologriwoff  durch  eine 
dritte  Person  Laroche  übermitteln  liess,  dass  ein  so  talent- 
voller Schüler  wie  er  dem  Konservatorium  sehr  willkom- 
men wäre.  Als  Laroche  im  Herbst  1862  ins  Konservato- 
rium aufgenommen  wurde,  überragte  er  an  musikalischem 
Wissen  alle  seine  Mitschüler  um  ein  Beträchtliches  und 
war  dazu  ein  sehr  gebildeter  und  belesener  junger  Mann. 
Tschaikowsky  und  Laroche  begegneten .  sich  zum  er- 
sten Mal  im  Oktober  1862  in  der  Stunde  beim  Klavier- 
professor Gerke.  Hermann  Augusto witsch  war  damals 
17  Jahre  alt.  hi  seiner  Figur  und  in  seinem  ganzen  Ge- 
bahren  lag  noch  die  Naivetät  und  die  Unbeholfenheit  eines 
Jünglings,  welcher  bis  zu  seinem  sechszehnten  Lebensjahr 
unzertrennlich  mit  der  Mutter  gewesen  ist  und  daher  nicht 
den  Schatten  von  Selbstständigkeit  gelernt  hat.  Mit  seinem 
ungeschickten  und  etwas  furchtsamen  Auftreten  vereinigte 
er  aber  eine  solche  Verstandesreife  und  Gelehrtheit,  dass 
Peter  Iljitsch  sofort  ein  lebhaftes  Interesse  für  ihn  empfand, 
und  sich  sehr  bald  für  immer  mit  ihm  befreundete.  Von 
welch  ausserordentlicher  Bedeutung  diese  Freundschaft 
für  Peter  Iljitsch  später  geworden  ist — werden  wir  weiter 
sehen,  in  jenem  Augenblick  war  sie  für  ihn  in  dreifacher 
Beziehung  von  Wichtigkeit.  Erstens,  fand  er  unwillkürlich 
in  der  Person  Hermann  Augustowitsch's,  welcher  in  mu- 
sikahscher  Hinsicht  bedeutend  belesener  war  als  Peter 
Iljitsch,  einen  inoffiziellen  Leiter  im  Studium  der  Musiklitera- 
tur; zweitens,  wurde  Laroche  der  erste  Kritiker  der  Schü- 
lerkompositionen Peter  Iljitsch's^ — der  erste  und  einfluss- 
reichste zugleich,  denn  Peter  Iljitsch  hatte  von  vornherein 


78 


ein  grosses  Vertrauen  zu  ihm  gefasst;  drittens  verdrängte 
Laroche  nach  und  nach  alle  früheren  Bekannten  und  Freun- 
de aus  dem  Herzen  Peter  lljitsch's:  er  wurde  für  Diesen 
der  liebste  und  angenehmste  Gesellschafter  und  Freund. 
Die  Vielseitigkeit  seiner  Interessen,  die  Schärfe  seines 
kritischen  Verstandes,  seine  beständige  Heiterkeit  und 
sein  Witz  machten  die  Stunden  der  Müsse,  welche  Peter 
Iljitsch  von  nun  an  meistenteils  mit  ihm  verbrachte,  lehr- 
reich und  angenehm  zugleich,  während  Laroche's  Uner- 
fahrenheit  im  praktischen  Leben  und  seine  Unbeholfenheit 
im  Verkehr  mit  den  Menschen  Peter  Iljitsch  sehr  ergötzten 
und  ihm  Gelegenheit  gaben,  seinen  neuen  Freund  in  die- 
ser Hinsicht  zu  bevormunden  und  zu  beraten. 

Anfang  1863  gab  Peter 
Iljitsch  seinen  Dienst  im 
Departement  auf  und  ent- 
schloss  sich  endgiltig,  ganz 
zur  Musik  überzugehen.. 
Bis  zu  w^elchem  Grade  fest 
undunwiederruflich  dieser 
Entschluss  w^ar,  wie  mutig 
Peter  Iljitsch  um  der  Musik 
willen  mit  der  V^ergangen- 
heit  gebrochen  und  einer 
entbehrungs-und  dornen- 
vollen Zukunft  entgegen- 
ging, geht  schon  daraus 
hervor,  mit  welcher  Ruhe 
er  sich  gegenüber  den 
damals  plötzlich  wieder 
eingetretenen  misslicheren 
Vermögensverhältnissen 
des  Vaters  verhielt.  Ilja 
Petrowätsch  hat  damals 
infolge  einiger  Meinungs- 
verschiedenheiten mit  sei- 
nen unmittelbaren  Vorge- 
setzten seinen  Abschied 
eingereicht  und  denselben 
auch  erhalten.  Dazu  kam, 
dass  gerade  in  jener  Zeit  seine  letzte  Hoffnung,  das  1858  ver- 
lorene Geld  wiederzugewinnen,  durch  das  Urteil  des  Ge- 
richtes in  seinem  Prozess  zu  Nichte  gemacht  wurde.  Das 
war  ein  unerwarteter  Schlag,  denn  jene  optimistische  Hoff- 


Peter  Iljitsch  Ts 


-.ky   im  Jahre   1859. 


—  79  — 

nung,  der  er  sich  so  sorglos  hingegeben,  hatte  ihn  verlei- 
tet, einige  Schulden  aufzunehmen.  In  die  Notwendigkeit 
versetzt,  diese  Schulden  nicht  aus  dem  Kapital,  wie  er 
gehofft,  sondern  aus  seiner  Pension  zu  bezahlen,  musste 
er  seine  Ausgaben  bis  aufs  Minimum  beschränken. 

Wenn  das  Alles  ein  Jahr  früher  geschehen  wäre, — 
wer  weiss,  ob  dann  Peter  Iljitsch  seinen  Entschluss  ge- 
fasst  hätte.  Er  ist  zwar  nie  reich  gewesen,  doch  hat  sich 
sein  Vater  wohl  in  der  Lage  befunden,  seinen  Lebensun- 
terhalt zu  bestreiten.  Er  hat  seinem  Sohn  Wohnung,  Klei- 
dung, Essen  und  Trinken  gegeben,  sodass  Peter  Iljitsch 
das  Gehalt,  welches  er  im  Departement  erhielt  ganz  für 
seine  Liebhabereien  hat  verwenden  dürfen.  Von  nun  an, 
aber,  musste  er  auf  das  Gehalt  verzichten,  und  der  Vater 
konnte  ihm  höchstens  Wohnung,  Speise  und  Trank  ge- 
währen. Trotzdem  blieb  sein  Wille  stark,  denn  die  Liebe 
zur  Kunst  und  der  Glaube  an  seinen  Beruf  hatten  bereits 
tief  Wurzel  gefasst  in  seiner  Seele. 

Der  vierte  und  letzte  Brief,  in  dem  er  seiner  Schwe- 
ster die  Gründe  auseinander  setzt,  welche  ihn  veranlasst 
haben,  den  Dienst  zu  verlassen,  zeigt  uns  bereits  einen 
ganz  neuen  Menschen. 

15  April  1863. 

„Liebe  Sascha!  ^)  Aus  Deinem  Heute  angekommenen  Briet 
an  Vater  ersehe  ich,  dass  Du  lebhaften  Anteil  nimmst  an 
meiner  Lage,  und  den  entschlossenen  Schritt,  den  ich  un- 
ternommen, etwas  misstrauisch  ansiehst.  Deshalb  will  ich 
Dir  hier  ausführlich  mitteilen,  w^as  ich  vorhabe  und  wo- 
rauf ich  hoffe.  Mein  musikalisches  Talent  wirst  Du  wohl 
nicht  verleugnen  wollen,  desgleichen  auch  die  Thatsache, 
dass  dieses  —  mein  einziges  Talent  ist.  Wenn  dem  so  ist, 
so  versteht  sich's  von  selbst,  dass  ich  diese,  mir  von  Gott 
verliehene  Gabe,  nicht  ungepflegt  und  unentwickelt  lassen 
soll.  Aus  diesem  Grunde  habe  ich  angefangen,  mich  ernst- 
lich mit  der  Musik  zu  beschäftigen.  Bis  jetzt  hatte  es  mich 
nicht  gestört,  meinen  Dienst  weiter  zu  dienen,  und  ich 
blieb  im  Ministerium.  Nun  aber,  da  meine  Studien  immer 
schwieriger  und  zeitraubender  werden,  so  bin  ich  genö- 
tigt. Eines  von  Beiden  aufzugeben:  neben  meinen  musika- 
lischen Arbeiten  kann  ich  nicht  mehr  den  Dienst  gewis- 
senhaft besorgen;  unverdienterweise  das  Gehalt  weiter  zu 


1)  Abkürzung  von  Alexandra. 


—  8o  — 

beziehen  —  geht  nicht,  würde  auch  wohl  kaum  gestattet 
werden;  es  bleibt  mir  also  Nichts  Anderes  übrig,  als  den 
Dienst  aufzugeben  (zumal  ich  ihn  später  immer  wieder 
aufnehmen  darf).  Mit  einem  Wort,  ich  habe  nach  langem 
Ueberlegen  den  Entschluss  gefasst,  auf  das  Gehalt  zu  ver- 
zichten und  meine  Stelle  zu  kündigen.  Folgere  aber  nicht 
daraus,  dass  ich  nun  die  Absicht  habe,  Schulden  zu  ma- 
chen, oder  mir  Geld  vom  Vater  geben  zu  lassen,  dessen 
Situation  augenblicklich  durchaus  keine  glänzende  ist. 
Freilich,  in  materieller  Beziehung  habe  ich  Nichts  gewon- 
nen; erstens,  hoffe  ich,  in  der  künftigen  Saison  im  Konser- 
vatorium eine  kleine  Anstellung  zu  erhalten  (als  Gehilfe 
des  Professors);  zweitens,  habe  ich  für  das  nächste  Jahr 
einige  Privatstunden  in  Aussicht;  und  drittens,  —  was  die 
Hauptsache  ist  —  entsage  ich  jetzt  vollständig  jeglichen 
Amüsements  und  Liebhabereien,  sodass  meine  Ausgaben 
sich  sehr  wesentlich  vermindert  haben:  Nun  wirst  Du,  wahr- 
scheinlich, wissen  wollen,  was  aus  mir  nach  Beendigung 
des  Studiums  denn  eigentlich  werden  wird.  Eines  weiss 
ich  bestimmt,  dass  aus  mir  ein  guter  Musiker  werden  wird 
und  dass  ich  mein  täghch  Brot  wohl  zu  finden  verstehen 
werde.  Die  Professoren  des  Konservatoriums  sind  mit  mir 
zufrieden  und  sagen,  dass  ich  es  bei  dem  nötigen  Eifer 
recht  ^weit  bringen  könnte.  Das  Alles  erzähle  ich  nicht, 
um  damit  zu  prahlen  (das  liegt  nicht  in  meinem  Charak- 
ter), sondern  um  offen,  ohne  falsche  Bescheidenheit,  mit 
Dir  zu  reden.  Ich  träume  davon,  nach  beendetem  Studium 
für  ein  ganzes  Jahr  zu  Dir  zu  kommen  und  in  der  stil- 
len Umgebung  ein  grösseres  Werk  zu  komponieren.  Dann 
aber — hinaus  in  die  weite  Welt!" 

Im  Frühjahr  1863  verliess  Ilja  Petro witsch  das  techno- 
logische Institut  und  reiste  mit  Modest  und  Anatol  für  den 
ganzen  Sommer  zu  seiner  Tochter  Alexandra  in  das  Oert- 
chen  Kamenka  (Gouvernement  Kiew),  und  Peter  Iljitsch 
nahm  die  Einladung  Apuchtins  an,  den  Sommer  bei  ihm 
im  Dorf  Pawlodar  (Gouvernement  Kaluga)  zu  verbringen. 
Von  diesem  Sommeraufenthalt  Peter  Iljitsch's  weiss  ich 
Nichts  zu  sagen,  ausser — dass  er  ihm  garnicht  behagt  hatte. 
Im  Herbst  1863  kehrte  er  nach  Petersburg  zurück,  inner- 
lich und  äusserlich  ein  anderer  Mensch:  mit  lang  gewach- 
senen Haaren,  in  einem  etwas  abgetragenen,  frühermal  ele- 
gant gewesenen  Rock,  der  noch  aus  der  „Mode-Laffen- 
Zeit"  Peter  Iljitsch's  stammte,  sodass  in  dem  nunmehri- 
gen   Tschaikowsky    der   frühere  Peter  Iljitsch  kaum  noch 


—  öl  — 

zu  erkennen  war.  Seine  materielle  Lage  gestaltete  sich 
folgendermaassen:  Ilja  Petrowitsch,  welcher  eine  Pension 
von  nur  2000  Rubel  jährlich  bezog,  von  denen  jedoch 
800  Rubel  für  Bezahlung  der  Schulden  abgingen,  hatte 
eine  sehr  bescheidene  Wohnung  in  Petersburg  bezogen, 
und  konnte  ihn  zwar  bei  sich  beherbergen  und  speisen, 
aber  nicht  für  seine  übrigen  Bedürfnisse  sorgen.  Um  diese 
zu  bestreiten  übernahm  Peter  Iljitsch  einige  Privatstunden, 
die  ihm  zum  Teil  A.  Rubinstein  verschafft  hatte.  Diese 
Stunden  brachten  ihm  ungefähr  50  Rubel  monatlich  ein. 

Die  Entsagung  allen  Freuden  des  Lebens  und  die  Ent- 
behrungen, welche  Peter  Iljitsch  auf  sich  genommen,  ver- 
stimmten und  erbitterten  seine  Seele  nicht  im  Geringsten, 
hii  Gegenteil,  er  scherzte  nur  fröhlich  über  seine  Armut 
und  ist  noch  nie  in  seinem  Leben  so  heiter  und  ruhig  ge- 
wesen. In  einem  kleinen,  schmalen  Zimmer,  in  welchem  nur 
ein  Bett  und  ein  Schreibtisch  Platz  hatten,  begann  er  mutig 
sein  neues  mühevolles  Leben,  und  hat  dort  seither  manche 
Nacht  hindurch  emsig  gearbeitet. 


IV. 


Folgendes  erzählt  Laroche  über  Peter  Iljitsch's  Konser- 
vatoriumsjahre: 

„In  dem  von  Anton  Rubinstein  1861  unter  dem  Pro- 
tektorat der  Grossfürstin  Helene  gegründeten  Konserva- 
torium erstreckte  sich  der  Unterricht  auf  folgende  Fächer: 
Chorgesang  (Lomakin  und  Dütsch),  Sologesang  (Frau  Nis- 
sen-Soloman), Klavier  (Leschetizky  und  Beggrow),  Vio- 
line (Wieniawsky),  Violoncello  (Schuberth)  und  musikali- 
sche Komposition  (Zaremba). 

Von  allen  diesen  Fächern  studierte  Peter  Iljitsch  nur 
das  Letztere. 

Nikolai  Iwanowitsch  Zaremba  war  damals  40  Jahre 
alt.  Er  stammte  aus  Polen,  hatte  seinerzeit  auf  der 
Petersburger  Universität  Jurisprudenz  studiert  und  beklei- 
dete später  einige  Zeit  hindurch  eine  Staatsbeamtenstel- 
lung.   In    ihm    war    der   eigenartige,    aber    unter    Slaven 

Tachaikowsky,  M.  P.  1.  Tschaikowsky's  Leben.  ß 


—    Ö2    — 

nicht  selten  vorkommende  Тз'риз  der  Verdeutschung  in 
seiner  fast  letztmögiichen  Konsequenz  vertreten.  Russisch 
sprach  er  nicht  nur  makellos,  sondern  sogar  mit  glänzen- 
der Beredsamkeit;  er  war  auch  ein  unzweifelhjifter  russi- 
scher Patriot  und  hatte  für  seine  damals  aufrührerischen 
Landsleute  durchaus  keine  Sympatieen.  Und  doch  war  die 
Art  seines  ganzen  Denkens  und  Fühlens  dermaas'sen  von 
deutschen  Elementen  durchdrungen,  dass  man  ihn  nicht 
für  einen  Russen  halten  konnte;  selbst  seine  Beredsamkeit, 
welche  überall  und  immer,  auch  bei  dem  unbedeutendsten 
Gespräch,  in  gleichem  Maasse  auffiel,  machte  den  Eindruck 
einer  bis  zur  Virtuosität  korrekten  Uebersetzung  aus  ei- 
ner fremden  Sprache....  Die  Musik,  speziell  die  Kompo- 
sitionslehre hatte  er  in  Berlin  bei  dem  berühmten  Adolph 
Bernhard  Marx  studiert,  den  er  seither  vergötterte.  Als 
Komponist  ist  Zaremba.  dem  Schreiber  dieser  Zeilen  nicht 
bekannt.  Niemals,  weder  in  der  Stunde  noch  im  Privat- 
gespräch, erwähnte  er  auch  nur  mit  einem  Wort  seine 
Kompositionen.  Nur  ein  einziges  Mal  ist  es  geschehen,  als 
СГ'  eines  Tages  Peter  Iljitsch  zu  sich  eingeladen,  und  ihm 
an  jenem  Abend,  welchen  er  mit  ihm,  wenn  ich  nicht  irre, 
unter  vier  Augen  verbracht,  die  Partitur  eines  Streichquar- 
tettes eigner  Komposition  gezeigt  hatte.  Am  folgenden 
Tage  t4-zählte  inir  Peter  Iljitsch,  dass  das  Quartett  „sehr 
nett,  im  Haydn'schen  Styl  komponiert  sei." 

Nikolai  Iwanowitsch  besass  viele  Eigenschaften  eines  ide- 
alen Professors.  Obgleich  das  Unterrichten  ihm,  wenn  ich 
nicht  irre  etwas  Neues  war,  erschien  er  in  voller  Rüs- 
tung, mit  einem  bis  in  die  kleinsten  Details  durchgearbei- 
teten Kursus,  fest  in  seinen  aestetischen  Tendenzen  und 
erfinderisch  im  Vortrag  seines  Faches...  Wie  es  einem 
überzeugten  Marxianer  geziemte,  war  Nikolai  Iwanowitsch 
in  musikalischer  Beziehung  Progressist  und  Liberaler, 
glaubte  an  Beethoven  im  Allgemeinen  und  an  dessen 
letzte  Periode  im  Besonderen,  hasste  den  Zwang  der 
Schulregeln,  und  war  überhaupt,  eher  dazu  angethan,  seine 
Schüler  zu  „verwahrlosen,"  als  sie  durch  uebermässige 
Strenge  zu  drücken  und  einzuengen.  Sein  einziger  Unter- 
schied von  Marx  (dessen  Methode  er  in  jeder  anderen 
Beziehung  genau  verfolgte)  bestand  darin,  dass  er  nach 
der  Harmonielehre  den  Kontrapunkt  im  strengen  Satz 
nach  dem  damals  soeben  erschienenen  Lehrbuch  Heinrich 
Bellermanns  vortrug.  Ich  glaube  aber  nicht,  dass  er  den 
strengen  .Satz  aus  eigner  Initiative  in   den   Lehrgang    auf- 


-83- 

genommen  hat;  wahrscheinlich  ist  er  darin  nur  dem  drin- 
genden Wunsche  Rubinstein's  nachgekommen.  Zaremba 
hatte  die  Fähigkeit  und  die  Neigung,  eine  jede  Lehre 
aeusserhch  in  eine  s\^stematische  Ordnung  zu  bringen, 
was  seinen  Vorträgen  Ueberzeugungskraft  und  Schönheit 
verheh.  Diese  Eigenschaften  seiner  Vorlesungen  gefielen 
mir  sehr  und  ich  bemerkte  mit  Erstaunen,  dass  sie  auf 
viele  meiner  Studiengenossen  lange  nicht  so  bestechend 
wirkten,  wie  auf  mich.  Bedauerlich  war  es,  dass  Zaremba, 
welcher  theoretisch  so  unerschütterlich  folgerichtig,  so  sy- 
stematisch, so  geistreich  und  begeistert  zu  lehren  wusste, 
nicht  die  Technik  des  praktischen  Musikers  besass,  welche 
für  die  Korrektur  der  Schülerarbeiten  unentbehrlich  ist: 
in  einem  schwierigen  Fall  einen  Ausweg  finden,  einige 
Takte  anstatt  des  Schülers  und  besser  als  der  Schüler 
aufschreiben  das  war  seine  Sache  nicht.  Dieser  Mangel 
machte  sich  besonders  in  den  höheren  Klassen  fühlbar  und 
untergrub  recht  wesentlich  die  Autorität  des  talentvollen 
Interpreten  der  Marx'schen  Ideen.  Oben  habe  ich  Zaremba 
einen  Progressisten  genannt.  Er  w^ar  in  der  That  ein  be- 
geisterter Anhänger  des  „späten"  Beethovens,  aber  er  ist 
bei  Beethoven,  oder  eher  bei  Mendelssohn-Bartholdy  ste- 
hen geblieben;  die  neuere  Bewegung  der  Musik  in  Deutsch- 
land, welche  von  Schumann  ausging,  war  ihm  unbekannt. 
Desgleichen  kannte  er  auch  Berlioz  nicht  und  ignorirte 
Glinka.  In  diesem  letzteren  Umstand  trat  seine  Entfrem- 
dung vom  russischen  Boden  ganz  besonders  zum  Vorschein. 
Peter  Iljitsch,  welcher  mehr  zum  Empirismus  neigte  und 
von  Natur  ein  Feind  jeglicher  Abstraktion  war,  gefiel  die 
Beredsamkeit  Zaremba's  nicht,  es  gefiel  ihm  nicht  die  aeus- 
sere  Logik  im  Aufbau,  hinter  welcher  er  Willkür  und  Ge- 
walt witterte.  Dem  Missverhältniss  zwichen  Lehrer  und 
Schüler  steuerte  noch  der  Umstand,  dass  Nikolai  Iwano- 
witsch  am  liebsten  und  am  häufigsten  Beethoven  zitierte, 
während  er  Mozart — auch  hierin  dem  Beispiel  seines  Leh- 
rers Marx  folgend — im  Geheimen,  manches  Mal  aber  auch 
offenkundig  verneinte.  Tschaikowsky  hingegen,  hatte  für 
Beethoven  mehr  Hochachtung  als  Enthusiasmus,  und  be- 
absichtigte durchaus  nicht,  dessen  Bahnen  zu  wandeln. 
Peter  Iljitsch's  Verstandesrichtung  war  überhaupt  etwas 
skeptisch:  sein  Bedürfniss  nach  Unabhängigkeit — sehr  gross; 
seit  der  Zeit,  dass  ich  ihn  kenne,  ist  er  noch  nie  irgend 
einem  Einfluss  blindlings  ergeben  gewesen,  und  hat  noch 
nie  aut  Jemanden  in  verba  magistri  geschworen.  Auch  Za- 


-84- 

remba  hat  ihn  nie  für  sich  begeistern  können.  Als  Lehrer 
war  er  Peter  Iljitsch  sogar  antipatisch,  wenngleich  er  ihm 
als  Mensch  wohl  gefiel.  In  dem  späteren  Komponisten 
Tschaikowsky,  sowie  in  dem  späteren  Professor  Tschai- 
kowsky,  bemerken  wir  nicht  einen  einzigen  Zug,  der  ihm 
von  Zaremba  eingeimpft  worden  wäre,  und  diese  That- 
sache  ist  umso  bemerkenswerter,  als  Zaremba  in  Tschai- 
kowsk}'  sozusagen  Rohmaterial  zur  Verarbeitung  erhalten 
hatte,  d.  h.  in  Peter  Iljitsch  einen  Schüler  fand,  der  bei 
ihm  mit  dem  ABC  anfing,  sodass  es  ihm,  wie  man  den- 
ken sollte,  leicht  fallen  musste,  tiefen,  bleibenden  und  ent- 
scheidenden Einfluss  auf  ihn  zu  gewinnen.  Doch  muss  ich 
hier  der  Wahrheit  entsprechend  eine  kleine  Begebenheit 
erzählen,  welche  mit  meiner  Behauptung,  dass  Zaremba 
Peter  Iljitsch  nie  auf  irgend  eine  Weise  beeinflusst  habe, 
in  einem  gewissen  Gegensatz  steht.  Als  ich  1862  oder 
1863  eines  Tages  in  einem  Gespräch  mit  Peter  Iljitsch  ihm 
meine  Bewunderung  darüber  zollte,  dass  er  so  viel  Fleiss 
und  Energie  in  seinen  Studien  entwickelte,  antwortete  er 
mir,  dass  er  früher,  im  Anfang  seines  Unterrichts  bei  Za- 
remba, nicht  so  fleissig  gewesen  wäre  und  sogar  „sehr 
oberflächlich,  wie  ein  richtiger  Dilettant"  gearbeitet  habe, 
dass  ihn  Zaremba  deshalb  einst  bei  Seite  genommen  und 
ihm  dringend  ans  Herz  gelegt,  sich  doch  ernstlicher  zu 
beschäftigen,  indem  er  hinzugefügt  habe,  dass  er  ein  schö- 
nes Talent  besitze.  Diese  Ermahnung  hat  Peter  Iljitsch 
damals  so  gerührt  und  erfreut,  dass  er  seit  jenem  Augen- 
blick seine  Faulheit  bekämpft  und  ausserordentlich  fleissig 
und  strebsam  geworden  ist. 

Bei  Zaremba  hatte  Peter  Iljitsch  1861-  1862  die  Har- 
monielehre nach  Marx,  und  1862 -1863  den  Kontrapunkt 
im  strengen  Satz  und  die  Kirchentonarten  durchstudiert. 
Im  September  1863  begann  er,  ebenfalls  bei  Zaremba,  mit 
der  Formenlehre  und  kam  gleichzeitig  in  die  von  A.  Ru- 
binstein geleitete  Klasse  der  Instrumentationslehre. 

Für  die  kolossale  Persönlichkeit  des  Direktors  des  Kon- 
servatoriums hegten  wir  Schüler  nicht  nur  maasslose  Ver- 
ehrung, sondern  auch  nicht  geringe  Furcht.  Im  Grunde 
gab  es  keinen  nachsichtigeren  und  gutmütigeren  Vorge- 
setzten, und  doch — sein  finsteres  Aussehn,  sein  Jähzorn, 
zusammen  mit  dem  Reiz  seines  europäisch  berühmten  Na- 
mens imponierten  uns  ausserordentlich.  Ausser  den  Pflichten 
der  Verwaltung  des  Konservatoriums,  übernahm  er  noch 
die  sehr  zahhvich  besuchte  Klavierklasse  welche  das  Ziel 


-85  - 

und  der  sehnsüchtigste  Wunsch  der  ganzen  klavierspielen- 
den Jugend  des  Konservatoriums  war,  denn  die  anderen 
Klavierprofessore  (Gerke,  Dre^^schock,  Leschetizky)  wur- 
den, trotzdem  sie  sich  eines  guten  Rufes  erfreuten,  durch 
den  Ruhm  Rubinsteins  und  sein  wundervolles  Spiel  voll- 
stcändig  in  den  Schatten  gestellt.  In  seiner  Klasse,  welche 
damals  aus  drei  Schülern  und  einer  ganzen  Schaar  Schü- 
lerinnen bestand,  stellte  Rubinstein  oft  die  schnurrigsten 
Dinge  an;  so  Hess  er  z.  B.  Czerny's  „Tägliche  Studien" 
in  allen  Tonarten  mit  ein  und  demselben  Fingersatz  spie- 
len, u.  A.  m.  Seine  Schüler  und  Schülerinnen  waren  je- 
doch sehr  stolz  auf  die  „Strapazen",  die  sie  bei  ihm  durch- 
machen mussten,  und  erregten  nach  wie  vor  den  Neid  ihrer, 
bei  Leschetizky,  Dreyschock  und  Gerke  studierenden  Ka- 
meraden. Als  Lehrer  der  Theorie  war  Rubinstein  das  ge- 
rade Gegenteil  Zaremba's.  Wcährend  Dieser  so  ausseror- 
dentlich beredt  war,  erwies  sich  Jener  geradezu  als  wort- 
karg. Rubinstein  kannte  zwar  mehrere  Sprachen,  sprach 
aber  keine  von  ihnen  ganz  korrekt.  Russisch  drückte  er 
sich  oft  gewandt  und  treffend  aus,  die  Grammatik  hinkte 
jedoch,  was  namentlich  im  gebundenen  Vortrag  eines  the- 
oretischen Gegenstandes  sehr  zu  merken  war.  Merkwür- 
digerweise schadete  dieser  Mangel  seinen  Vorlesungen 
durchaus  nicht.  Bei  Zaremba  war  Alles  System,  jedes  Wort 
stand  auf  seinem  Platze,  bei  Rubinstein  dagegen  herrschte 
die  liebe  Unordung:  ich  glaube,  dass  er  fünf  Minuten  vor 
der  Stunde  noch  nicht  wusste,  was  er  durchnehmen  wollte, 
und  diese  Frage  ganz  der  Stimmung  des  Augenblicks  über- 
liess.  Obgleich  infolgedessen  die  literarische  Form  seiner 
Vorlesungen  unter  aller  Kritik  stand,  imponierten  diese  uns 
doch,  und  wir  besuchten  sie  mit  grossem  Interesse.  Die 
ausserordentlichen  praktischen  Kenntnisse  Rubinsteins,  sein 
Fernblick,  die  für  einen  dreissigjcährigen  Mann  fast  unglaub- 
liche kompositorische  Erfahrung,  verliehen  seinen  Worten 
eine  Autoritcät,  die  ihre  Wirkung  auf  uns  nicht  verfehlte. 
Selbst  die  Paradoxe,  mit  denen  er  nur  so  um  sich  warf, 
und  welche  uns  oft  ärgerten  oder  auch  belustigten,  trugen 
den  Stempel  einer  genialen  Natur  und  eines  denkenden 
Künstlers.  Wie  ich  schon  gesagt  habe,  hielt  sich  Rubin- 
stein an  kein  System.  Er  merkte  wohl  oft,  dass  es  in  sei- 
nem Unterricht  nicht  recht  „klappte",  das  machte  ihn  aber 
nicht  mutlos  und  er  ersann  immer  wieder  einen  Ausweg, 
wobei  er  —  ähnlich  wie  in  seiner  Klavierklasse  —  manche 
eigentümliche  Idee  zu  Tage  förderte.  So  hatte  er  einstmals 


—  86  - 

ТзсЬа1колУ5ку  den  Auftrag  gegeben,  die  d-moll-Klavierso- 
nate  von  Beethoven  auf  vier  verschiedene  Arten  für  Orche- 
ster zu  arrangieren.  Eines  von  diesen  vier  Arrangements 
hatte  Peter  Iljitsch  sehr  raffiniert  und  grüblerisch  gestaltet, 
mit  Anwendung  des  Englisch-Horns  und  anderer  Selten- 
heiten, wofür  er  von  Rubinstein  tüchtig  ausgescholten  wurde. 
Hier  möchte  ich  noch  hinzufügen,  dass  Rubinstein  seinen 
Schüler  sehr  lieb  gewonnen  hatte,  wenngleich  er  dessen 
Genie  vielleicht  nicht  voll  zu  würdigen  verstandt.  Es  war 
aber  auch  nicht  schwer,  dasselbe  zu  übersehen,  denn  die 
gleichmässige  und  normale  Entwickelung  der  Fähigkeiten 
Peter  Iljitsch's  war  jeglicher  Ueberraschungen  bar.  In  sei- 
nen Arbeiten,  welche  stets  gleichmässig  gut  waren,  begeg- 
nete man  nie  jenen — wenn  man  sich  so  ausdrücken  darf — 
„Blitzlichten*',  Avelche  den  erstaunten  Professor  in  Entzük- 
ken  versetzen. 

Auf  Tschaikowsky  hat  Rubinstein  einen  geradezu  ma- 
gischen Eindruck  gemacht.  Peter  Iljitsch  bewahrte  allerdings 
auch  in  diesem  Fall  die  vollkommene  Unabhc4ngigkeit  sei- 
nes Urteils,  scherzte  sogar  recht  humorvoll  über  Rubin- 
steins Mangel  an  Logik  und  Grammatik,  betrachtete  auch 
nicht  ohne  Bitterkeit  die  Masse  der  farb-und  gehaltlosen 
Kompositionen  Rubinstein's,  in  welchen  Dieser  gleichsam 
das  Andenken  an  seine  wenigen  chefs  d'oeuvres  ertränkte, 
aber  weder  die  Eigenarten  des  Professors,  noch  die  immer 
zunehmenden  Schwächen  des  Komponisten,  vermochten 
die  Verehrung  Peter  Iljitsch's  für  Rubinstein,  als  Menschen, 
zu  unterdrücken.  Diese  Verehrung  trug  Peter  Iljitsch  bis 
an  seinen  Tod  im  Herzen,  obgleich  er  nie  mit  Anton  Ru- 
binstein in  so  intimen,  freundschaftlichen  Beziehungen 
gestanden  hatte,  лу1е  mit  dessen  Bruder  Nikolai.  In  der 
uns  beschäftigenden  Epoche  war  jene  persönliche  Vereh- 
rung für  Peter  Iljitsch  von  grossem  Vorteil.  Sie  erleichterte 
ihm  die  Arbeit  und  beflügelte  seine  Kräfte.  Rubinstein  merkte 
den  Eifer  seines  Schülers  und  stellte  immer  grössere  An- 
forderungen an  seine  Leistungsfähigkeit.  Je  grösser  aber 
seine  Ansprüche  wurden,  um  so  energischer  arbeitete  auch 
Peter  Iljitsch;  manches  Mal  sass  er  ganze  Nächte  durch, 
um  früh  morgens  die  kaum  fertiggeschriebene  Partitur 
seinem  unersättlichen  Lehrer  vorlegen  zu  können.  Wie  aus 
den  Thatsachen  hervorgeht,  hat  dieser  übermässige  Fleiss 
Peter  Iljitsch's  Gesundheit  nicht  geschadet  und  keine  üblen 
Folgen  gezeitigt. 

Der  stumme  Protest,  den  Peter  Iljitsch  gegen  die  Me- 


-87  - 

thode  Zaremba's  hegte,  war  in  ihm  auch  Rubinstein  gegen- 
über vorhanden,  wenn  auch  in  viel  geringerem  Maasse. 
Rubinstein  war,  nämhch,  in  Franz  Schubert,  Mendelssohn 
und  Schumann  aufgewachsen,  und  anerkannte  nur  deren 
Orchester,  d.  h.  das  Orchester  Beethoven's  mit  Hinzufü- 
gung der  Posaunen  und  Vertauschung  der  Natur-Hörner 
und  Trompeten  mit  chromatischen.  Wir  Jungen  aber,  be- 
geisterten, uns  selbstverständlich,  für  das  allerneueste  Or- 
chester. Was  Peter  Iljitsch  anbelangt,  so  war  ihm  dieses 
neueste  Orchester  aus  den  Opern  Meyerbeers  und  Glinkas 
schon  bekannt.  Ausserdem  lernte  er  es  in  den  Proben  und 
Konzerten  (welche  wir  Schüler  unentgeltlich  besuchen  durf- 
ten) der  Musikalischen  Gesellschaft  kennen,  w^elche  von 
diesemselben  Rubinstein  geleitet,  und  in  w^elchen  Werke 
von  Me^^erbeer,  Berhoz ,  Liszt  und  Wagner  aufgeführt 
wurden.  Endlich  war  1862  Richard  Wagner  selbst  nach 
Petersburg  gekommen  und  hatte  in  einer  ganzen  Reihe 
von  Konzerten  nicht  nur  die  berühmtesten  Nummern  sei- 
ner früheren,  zum  Teil  schon  damals  bekannten  Opern, 
sondern  auch  einige  Teile  des  „Nibelungen -Ringes"  auf- 
geführt und  dadurch  in  unserer  Mitte  grosse  Begeisterung 
entfacht.  A.uf  Peter  Iljitsch  hatte  damals  nicht  sowohl  die 
Musik  Wagners  Eindruck  gemacht,  als  vielmehr  seine  In- 
strumentationskunst. Es  ist  eigentlich  merkwürdig,  dass 
Peter  Iljitsch  bei  all  seiner  Liebe  für  Mozart  nicht  ein 
einziges  Mal  in  seinem  Leben,  auch  nicht  einmal  des  Scherzes 
halber,  oder  als  tour  de  force,  versucht  hat,  ein  Stück  für 
das  klassische  Orchester  zu  schreiben:  die  musikalische 
Sprache,  die  er  redete,  w^ar  das  enorme  neue  nach-Meyer- 
beersche  Orchester.  Dieses  zu  beherrschen,  hat  er  nicht 
leicht  gelernt,  aber  seine  Vorliebe  für  dasselbe  war  in  ihm 
schon  damals  reif.  Rubinstein  kannte  das  betreffende  Or- 
chester zw^ar  ausgezeichnet,  erklärte  es  gewissenhaft  auch 
seinen  Schülern,  in  der  Erwartung,  dass  Diese  es  nach 
Kenntnissnahme  bei  Seite  legen  würden,  um  nie  wieder 
darauf  zurückzukommen.  In  dieser  Beziehung  hat  er  aber 
an  Tschaikowsky  einmal  eine  grosse  Enttäuschung  erlebt. 
Im  Frühjahr  w^rde  den  Schülern  der  Kompositionsklasse 
gewöhnlich  eine  grosse  Aufgabe  zugeteilt,  w^elche  sie  in 
den  Sommerferien  zu  arbeiten  hatten.  Im  Sommer  1864 
sollte  Peter  Iljitsch  eine  grosse  Ouvertüre  komponieren,  und 
hatte    als    Programm    für   diese   Ouvertüre   Ostrowsky's  ^) 

1)  A.  N.  081голукку — der  1ier\'orragendste  russische  Dramatiker.  Seine  bekanntesten 
Dramen  sind:  „Gewitter",  „Wald",  „Die  arme  Braut",  „Schneewittchen",  „Wolle  und 
Schafe",  u.  A. 


„Gewitter"  gewählt.  In  der  Partitur  dieser  Ouvertüre  ^) 
kam  ein  Orchester  zur  Verwendung,  w^elches  so  „ketze- 
risch" луаг,  als  nur  irgend  möglich:  Tuba,  Englisch-Horn, 
Harfe,  Tremolo  der  Geigen  im  divisi  u.  A.  m.  Mit  dem 
ihm  eigenen  Optimismus  glaubte  Peter  Iljitsch,  wahrschein- 
lich, dass  das  Programm  eine  derartige  Instrumentation 
vollauf  rechtfertige  und  dass  seine  Insubordination  gege- 
nüber den  strengen  Regeln  ungestraft  bleiben  würde.  Nach- 
dem Peter  Iljitsch  die  Arbeit  beendet,  schickte  er  sie  mir 
per  Post  mit  der  Bitte,  sie  Rubinstein  zur  Beurteilung  zu 
überbringen  (ich  weiss  nicht  mehr,  aus  welchem  Grunde 
Peter  Iljitsch  nicht  persönlich  kommen  konnte).  Ich  that  es 
denn  auch,  und  Rubinstein  befahl  mir,  nach  einigen  Tagen 
wieder  zu  ihm  zu  kommen,  um  seine  Meinung  zu  hören. 
Nie  in  meinem  Leben  habe  ich  für  meine  eigenen  Sünden 
eine  solche  Strafpredigt  zu  hören  bekommen,  als  jenes  Mal 
für  fremde  (es  war  dazu  ein  Sonntag-Morgen)!  Mit  unge- 
wolltem Humor  stellte  Rubinstein  die  Frage  so:  „Wenn 
Sie  es  gew^igt  hätten,  mir  ein  solches  Stück  ihrer  eignen 
Komposition  zu  bringen,  so..." — und  er  begann  so  fürchter- 
lich zu  schimpfen  und  zu  wettern,  wie  man  sagt  „was  das 
Zeug  hält,  dass  er  wahrscheinlich  seinen  ganzen  Vorrat  an 
Zorn  über  mein  Hauj^t  geschüttet  und  für  den  eigentlichen 
Schuldigen  Nichts  mehr  übrig  behalten  hat,  denn,  als  Pe- 
ter Iljitsch  einige  Tage  später  persönlich  kam,  wurde  er 
vom  Direktor  des  Konservatoriums  ziemlich  freundlich 
empfangen  und  erhielt  nur  einige  kurze  Bemerkungen  in 
Betreff  der  Ouvertüre.... 

Einer  der  sehnlichsten  Wünsche  Rubinsteins  war  die 
Gründung  eines  Schülerorchesters.  In  der  ersten  Zeit  des 
Bestehens  des  Konservatoriums  war  aber  auf  baldige  Ver- 
wirklichung jenes  Wunsches  nur  wenig  Hoffnung  vorhan- 
den. Ausser  der  ziemlich  grossen  Anzahl  von  Geigern,  wel- 
che durch  den  Namen  Wieniawsky  angelockt  waren,  gab 
es — soweit  ich  mich  erinnere  im  ersten  Jahre  kaum  Einen, 
der  auf  irgend  einem  Orchester-Instrument  einigermaas- 
sen  erträglich  spielen  konnte.  Da  spendete  Rubinstein,  der 
damals  selber  noch  keine  grossen  Einnahmen  hatte,  volle 
1500  Rubel  jährlich  für  unentgeltlichen  Unterricht  auf  den- 
jenigen InstrunuMiten,  welche  seinem  zu  gründenden  Or- 
chester noch  fehlten.  Da  fanden  sich  sogleich  auch  Lern- 
begierige ein.  Einer  der  Ersten  war  Peter  Iljitsch,  welcher 

1)  Diese    Ouvertuic    ist   nacli  dem  Tode  Tscliaikovvsky's  bei   BelajclT  als    op.  76    er- 
schienen. 


Peter  Iljitsch  Tschaikowsky  im  Jahre  1863. 


Dampfsclinellpressen-Druckerei  von  P.  Jurgenson,  Moskau. 


-89- 

den  Wunsch  äusserte,  Flöte  zu  lernen.  Nachdem  er  etwa 
zwei  Jahre  lang  dieses  Instrument  spielen  gelernt  hatte  und 
im  Schülerorchester  die  Partie  der  2.  Flöte  recht  befriedi- 
gend auszuführen  vermochte  (eines  Tages  musste  er  sogar 
gelegentlich  eines  Musikabends,  welchen  Frau  Klara  Schu- 
mann mit  ihrer  Anwesenheit  beehrte,  in  einem  von  Kuhlau 
komponierten  Flötenquartett  mitblasen),  kam  es  —  wie  zu 
erwarten  war — doch  endlich  dahin,  dass  er,  sobald  keine 
Notwendigkeit  mehr  vorhanden  war,  sein  vSpiel  immer  mehr 
und  mehr  vernachlässigte  und  es  schliesslich  ganz  vergass. 
Von  noch  geringerer  Bedeutung  waren  die  Orgelstunden, 
welche  Peter  Iljitsch  eine  Zeit  lang  bei  dem  berühmten 
Heinrich  Stiehl  genommen  hatte.  Der  damals  noch  sehr 
j'unge  Stiehl  war  eben  erst  als  Organist  an  die  Peterskir- 
che berufen  worden  und  erfreute  sich  einiger  Popularität 
für  seine  leichten  und  dankbaren,  wenn  auch  oberflächli- 
chen und  physiognomielosen  Kompositionen.  Auf  das  poe- 
tische Gemüt  Peter  Iljitsch's  machte  der  majestätische  Klang 
des  Instrumentes,  der  unerschöpfliche  Reichtum  seiner  Mit- 
tel, sowie  der  grosse,  leere,  in  geheimnissvolles  Dunkel 
gehüllte  Innenraum  der  evangelischen  Peterskirche,  in  wel- 
cher die  Stunden  stattfanden,  einen  mächtigen  Eindruck. 
Dieser  Eindruck  war  aber  auch  nur  ein  vorübergehender: 
seine  Phantasie  strebte  nach  anderen  Welten,  und  das  Reich 
Bachs  blieb  ihr  ziemlich  fern.  Als  gewissenhafter  und  streb- 
samer Schüler,  hat  Peter  Iljitsch  auch  bei  Stiehl  gute  Fort- 
schritte gemacht,  sobald  aber  die  Stunden  aufhörten,  ver- 
schwand auch  sein  Interesse  für  die  Orgel,  und  er  hat 
nicht  ein  einziges  Stück  für  dieses  Instrument  komponiert. 


V. 

„In  der  Biographie  eines  Künstlers",  —  setzt  Laroche 
fort, — „spielt  neben  der  Entwickelung  seiner  Persönlichkeit 
eine  grosse  Rolle  auch  die  Beobachtung  aller  aeusseren 
Einflüsse,  denen  der  betreffende  Künstler  unterworfen  ge- 
wesen. Im  vorliegenden  Falle  verstehe  ich  unter  „äussere 
Einflüsse"  das  musikalische  Repertoir,  welches  Peter  Iljitsch 


—  ge- 
kannte. In  der  ganzen  Zeit  seines  Aufenthaltes  im  Konser- 
vatorium, besonders  im  Laufe  der  ersten  zwei  Jahre,  bin 
ich  oft  und  regehiiässig  mit  ihm  zusammen  gewesen,  und 
kann  daher  ziemHch  lückenlos  über  die  musikalischen  Ein- 
drücke berichten,  welche  in  seiner  Seele  eine  mehr  oder 
minder  nachhaltige  Spur  hinterlassen  haben.  Bald  nach 
unserer  ersten  Begegnung  lud  mich  Peter  Iljitsch  zu  sich 
ins  Technologische  Institut  ein.  Seitdem  besuchte  ich  ihn 
regelmässig  einmal  in  der  Woche  abends  und  brachte  je- 
des Mal  einige  vierhändige  Noten  mit,  welche  mir  dank 
der  Liebenswürdigkeit  des  Geschäftsführers  der  Musikalien- 
handlung Bernhard,  Herrn  J.  I.  Jurgenson'),  in  unbeschränk- 
ter Menge  zur  Verfügung  standen.  Ich  kann  genau  alle 
Stücke  aufzählen,  welche  wir  im  ersten  Jahr  durchgespielt 
hatten.  Das  waren:  die  neunte  Symphonie  von  Beethoven, 
die  dritte  von  Schumann,  auch  „Paradies  und  Peri"  und 
„Lohengrin".  Peter  Iljitsch  war  stets  unzufrieden,  wenn 
ich  ihn  lange  Vokalkompositionen  mit  unendlichen  Reci- 
tativen,  die  auf  dem  Klavier  höchst  langweilig  klangen, 
spielen  Hess,  aber  die  Schönheit  der  ganzen,  gebundenen 
Sätze  entwaffneten  ihn  immer  wieder.  Am  wenigsten  ge- 
fiel ihm  Richard  Wagner.  Ueber  das  berühmte  Lohengrin- 
Vorspiel  hat  er  sogar  direkt  geschimpft,  und  erst  viel  spä- 
ter mit  der  ganzen  Oper  Frieden  geschlossen.  Eines  Tages 
hatte  er  sehr  unerschrocken  geäussert:  „Ich  weiss  nur 
Eines,  dass  Seroff  viel  mehr  Kompositionstalent  besitzt, 
als  Wagner.  Den  grössten  Eindruck  haben  auf  ihn  die 
dritte  S34nphonie  von  Schumann  und  der  „Ocean"  von 
Rubinstein  hinterlassen.  Dieses  letztere  Stück  hörten  wir 
einige  Zeit  später  unter  der  Leitung  seines  Autors,  was 
unsere  Begeisterung  für  dasselbe  noch  erhöhte.  Mancher 
Leser  wird  sich  wundern,  zu  erfahren,  dass  eine  der  grös- 
sten Schwärmereien  der  Jünglingsjahre  Peter  Iljitsch's  — 
Henri  Litolff  war,  d.  h.  eigentlich  nur  dessen  zwei  Ouver- 
türen „Robespierre"  und  „Die  Girondisten".  Ohne  zu  über- 
treiben kann  man  behaupten,  dass  seit  jenen  beiden  Ouver- 
türen und  seit  „Struensee"  von  Meyerbeer  Tschaikowsky 
das  ganze  Leben  hindurch  die  Leidenschaft  für  Programm- 
Musik  verfolgte. 

In  seinen  ersten  Ouvertüren,  auch  „Romeo  und  Julie" 
nicht  ausgeschlossen,  ist  der  Einfluss  Litolff's  nicht  zu  ver- 
kennen, während  er  sich  Liszt,  welcher  doch  entschieden 

'J    ].  I.  jurgcnson — der  lirudci-  des   1  liiuj)tvcilcg(4s  Tschaikowsky's,  I'.  I.  Jiugcnson. 


—  91  — 

mehr  dazu  angethan  ist,  einen  Jüngling  zu  begeistern,  nur 
sehr  langsam,  unentschlossen,  misstrauisch  näherte.  Wäh- 
rend der  Konservatoriumsjahre  hat  ihn  nur  der  „Orpheus" 
hinzureissen  vermocht;  die  „Faust -Symphonie"  lernte  er 
erst  viel  später  schätzen.  Gerechterweise  muss  ich  hier 
noch  hinzufügen,  dass  auf  den  Styl  seiner  Kompositionen 
die  s3miphonischcn  Dichtungen  Liszt's,  welche  eine  ganze 
Generation  russischer  Komponisten  zu  Sklaven  zu  machen 
vermocht,  nur  einen  sehr  unbedeutenden,  ephemären  Ein- 
fluss  ausgeübt  hatten. 

Der  Beachtung  wert  ist  der  Umstand,  dass  Peter  Iljitsch 
in  damaliger  Zeit  viele  merkwürdige,  krankhafte  musika- 
lische Antipatieen  hatte,  von  welchen  er  erst  nach  gerau- 
mer Zeit  frei  wurde.  Diese  Antipatieen  bezogen  sich  nicht 
auf  Komponisten,  sondern  auf  verschiedene  Arten  der  mu- 
sikalischen Komposition,  richtiger — auf  ihre  Klangwirkung. 
Zum  Beispiel,  gefiel  ihm  nicht  die  Klangkombination  des 
Klaviers  mit  dem  Orchester,  oder  der  Klang  eines  Streich- 
quartetts, namentlich  aber  die  Vereinigung  des  Klaviers 
mit  einem  oder  mehreren  Streichinstrumenten.  Obgleich  er 
aus  Wissbegier  gern  die  Werke  der  Kammermusik  und 
die  Klavierkonzerte  studierte,  obgleich  es  sehr  oft  vorkam, 
dass  die  eine  oder  die  andere  dieser  Kompositionen  ihn 
entzückte,  schalt  er  doch  bei  der  ersten  besten  Gelegenheit 
ihre  „scheussliche  Klangfärbung".  Nicht  einmal,  auch  nicht 
zehn  Mal,  sondern  Hunderte  von  Malen  hat  er  in  meiner 
Anwesenheit  geschworen,  dass  er  nie  in  seinem  Leben  ein 
Klavierkonzert,  eine  Klavier-Violinsonate,  oder  ein  Trio, 
Quartett  u.  s.  w.  schreiben  werde.  In  Betreff  der  Klavier- 
Violinsonate  hat  er  allerdings,  sein  Wort  gehalten.  Noch 
merkwürdiger  ist  es,  dass  er  um  dieselbe  Zeit  oft  gelobte, 
nie  kleine  Klavierstücke  und  Lieder  für  Gesang  zu  kom- 
ponieren. Von  Letzteren,  namentlich,  sprach  er  mit  der 
grössten  Verachtung.  Doch  луаг  diese  Verachtung  rein 
platonischer  Natur,  denn  in  dem  nächsten  Augenblick  schon 
war  er  bereit,  sich  mit  mir  zusammen  an  den  Gesängen 
Glinka's,  Schumann's  und  Franz  Schubert's  zu  erfreuen. 

Es  war  bei  Peter  Iljitsch  eine  Art  Krankheit,  sich  in 
gewissen  musikalischen  Dingen  für  unfähig,  für  unvermö- 
gend zu  halten.  So  oft  beteuerte  er  beispielsweise,  dass 
er  absolut  nicht  imstande  sei,  zu  dirigieren.  Das  Kapell- 
meistertalent ist  sehr  oft  mit  dem  Talent  eines  Begleiters 
identisch,  und  Peter  Iljitsch  war  ein  ausgezeichneter  Akkom- 
pagniator.  Diese  Thatsache  allein  musste  eigentlich  genü- 


gen,  die  Grundlosigkeit  seiner  Behauptung  zu  beweisen. 
Im  Konservatorium  gab  es  die  Einrichtung,  dass  die  Schü- 
ler der  Kompositionsklasse  abwechselnd  das  Schülerorche- 
ster zu  dirigieren  hatten.  Tschaikowsky  kam  als  Erster  an 
die  Reihe.  Ich  erinnere  mich  nicht  mehr  genau,  ob  er  sich 
bei  jener  Gelegenheit  „ausgezeichnet"  hatte,  nur  soviel 
weiss  ich  bestimmt,  dass  Nichts  besonders  Schlechtes  pas- 
siert war  und  dass  er  kein  augenscheinliches  Fiasko  ge- 
macht hatte.  Trotzdem  fand  aber  Peter  Iljitsch  auch  in  je- 
nem ersten  Dirigierversuch  die  Bestätigung  seiner  Meinung. 
Er  behauptete,  dass  ihm  das  Stehen  auf  dem  erhöhten  Po- 
dium vor  dem  Orchester  eine  solche  nervöse  Angst  ein- 
flösse, dass  er  die  ganze  Zeit  das  Gefühl  habe,  sein  Kopf 
müsste  ihm  von  den  Schultern  fallen;  um  dieser  Katastrophe 
vorzubeugen,  stützte  er  mit  seiner  Linken  das  Kinn,  und 
dirigierte  nur  mit  der  Rechten.  Es  ist  schwer  zu  glauben, 
dass  diese  fixe  Idee  noch  jahrelang  in  ihm  sitzen  blieb. 
1868  wurde  Peter  Iljitsch  eines  Tages  aufgefordert,  in  einem 
Konzert,  welche  die  Moskauer  Theaterdirektion  zu  einem 
wohlthätigen  Zweck  zu  geben  beabsichtigte,  die  Tänze  aus 
seiner  neuen  Oper  „Der  Woiwode"  selbst  zu  dirigieren. 
Ich  sehe  ihn  noch  vor  mir,  wie  er  in  jenem  Konzert  da- 
stand, in  der  Rechten  den  Taktstock,  in  der  Linken — sei- 
nen blonden  Vollbart  fest  zusammengepresst! 

Von  der  leidenschaftlichen  Verehrung  Tschaikowsky's 
für  Glinka,  besonders  für  „das  Leben  für  den  Zaren",  ist 
schon  an  einer  anderen  Stelle  des  vorliegenden  Buches 
die  Rede  gewesen.  Zu  denjenigen  Werken  des  Vaters  der 
russischen  Musik,  welche  dem  Herzen  Peter  Iljitsch's  lieb 
und  teuer  waren,  gehört  auch  „Fürst  Holmsky".  Was  aber 
„Ruslan  und  Ludmilla"  anbelangt,  so  waren  in  Peter  Iljitsch 
einige  Schwankungen  bemerkbar,  welche  jedoch  später 
näher  erörtert  werden  sollen.  Zu  Anfang  der  sechziger  Jahre 
kannte  er  nur  einige  wenige  Nummern  aus  Glinka's  zwei- 
ter Oper,  welche  ihm  ohne  Weiteres  gefielen.  Desgleichen 
gefiel  ihm  damals  ausserordentlich  die  Musik,  sowie  auch 
der  Text  der  1863  zur  Aufführung  gelangten  Oper  Seroff's 
„Judith".  Es  muss  bemerkt  werden,  dass,  während  einige 
Meisterwerke  in  seinem  musikalischen  Pantheon  unerschüt- 
terlich und  unantastbar  blieben,  wie  z.  B.  „Don  Juan", 
„Das  Leben  für  den  Zaren",  „die  C-dur-S^^nphonie"  von 
Schubert,  er  in  Bezug  auf  andere  musikalische  Erzeugnisse 
gewissermaassen  einer  starken  Ebbe  und  Flut  unterworfen 
war;  eine  Saison  trug  er  sich  mit  der  „Achten"  von  Beet- 


—  93  — 

hoven  herum,  in  der  nächsten  fand  er  sie  bereits  „nur 
sehr  nett,  und  nicht  mehr";  mehrere  Jahre  lang  behauptete 
er,  dass  die  Musik  zum  „Faust"  von  Pugni  (ehemals  be- 
kannter Balletkomponist)  unermesslich  wertvoller  sei,  als 
Gounod's  gleichnamige  Oper,  später  jedoch  nannte  er  Gou- 
nod's  „Faust" — ein  Meisterwerk.  Um  so  bemerkenswerter, 
dass  er  Seroff 's  „Judith"  bis  an  sein  Lebensende  treu  ge- 
blieben ist.  Einen  Teil  dieser  Sympatie  hat  er  auch  auf 
die  zweite  Oper  Seroff 's,  „Rogneda",  übertragen.  Der  Er- 
folg dieses  groben  und  bunten  Erzeugnisses  war  bekannt- 
lich ein  kolossaler.  Viele  glaubten,  dass  Seroff  das  Geheim- 
niss  der  russischen  Musik  erschlossen  habe,  und  dass  Al- 
les Dagewesene  nur  eine  Vorbereitung,  Vorahnung  des 
Gekommenen  gewesen  sei.  Dieser  Erfolg  ist  Seroff  selbst 
zu  Kopf  gestiegen,  und  er  machte  sich  daran,  hirnverbrannte 
Artikel  und  ungeniessbare  Romanzen  zu  schreiben.  Der 
klare  und  nüchterne  Verstand  Tschaikowsky's  hat  auch  in 
diesem  Fall  das  Gleichgewicht  nicht  verloren,  obgleich  auch 
er,  wenn  auch  nur  in  geringem  Maasse,  mitgerissen  wurde. 
Die  scenischen  Effekte,  mit  welchen  die  Oper  vollgepfropft 
ist,  wirkten  gar  zu  bestechend,  sodass  Peter  Iljitsch  die 
Trivialität  und  Seichtheit  der  Musik  damals  sehr  nachsichtig 
beurteilte,  und  erst  nach  und  nach  eine  andere  Ueberzeu- 
gung  gewann.  Gegenüber  den  literarischen  Artikeln  Seroff's 
verhielt  sich  Tschaikowsky  sehr  skeptisch;  die  populären 
Vorträge,  welche  Seroft'  im  Jahre  1864  hielt,  besuchten 
wir  Beide  und  belustigten  uns  gemeinsam  über  die  ver- 
zweifelten Anstrengungen  des  Vortragenden,  die  Autorität 
des  Konservatoriums  zu  untergraben,  Glinka  zu  stürzen 
und  Werstowsky  ^)  zu  verherrlichen.  Schon  allein  seine 
Angriffe  gegen  Rubinstein,  dessen  eifriger  Anhänger  Tschai- 
kowsky war,  schadeten  ihm  in  den  Augen  Peter  Iljitsch's; 
aber  noch  viel  mehr  schadeten  ihm  seine  Phrasen  „von 
dem  geistigen  Inhalt  der  Musik",  „das  sich  organisch  he- 
rausgebildete musikalische  Drama"  und  dergleichen  hohe 
Dinge,  hinter  welche  Seroff  seinen  unglaublichen  Mangel 
an  Prinzipien  versteckte. 

Der  Vollständigkeit  halber  möge  mir  erlaubt  sein,  die 
persönliche  Begegnung  Tschaikowsky's  mit  dem  Kompo- 
nisten der  „Judith"  zu  beschreiben.  Das  geschah,  wenn 
ich  nicht  irre,  im  Herbst  1864,  und  zwar  bin  ich  Derjenige 
gewesen,    welcher    diese    Bekanntschaft  vermittelte.  Einer 


1)  Alexei  Nikolajewitsch  Weistovvsky — der  Komponist  der  iu  Russland  populär  ge- 
wordenen Oper  „Askold's  Grab". 


—  94  — 

unserer  Studienkameraden,  ein  gewisser  Slavinsk}',  welcher 
schon  von  früher  her  mit  Seroff  bekannt  war,  hatte  sich 
einst  erboten,  mich  an  einem  der  „Dienstage"  bei  Seroff 
einzuführen.  An  diesen  „Dienstagen"  versammelten  sich 
bei  ihm  gewöhnlich  einige  Freunde,  meist  Schriftsteller, 
und  \erbrachten  den  Abend  von  8  12  Uhr  in  Unterhal- 
tung bei  einem  Glase  Thee.  Unter  den  Gästen  befanden 
sich  auch  Männer,  wie  Maikow,  Strachovv,  Awerkieff  und 
Dostojewsky.  Obgleich  es  mir  wie  ein  Verrat  an  Rubin- 
stein vorkam,  dahin  zu  gehen,  so  konnte  ich  mich  meiner 
Neugier  nicht  erwehren  und  liess  mich  überreden,  den 
ärgsten  Feind  des  Konservatoriums  zu  besuchen,  welcher 
sich  als  ein  zuvorkommender  Wirt  und  bestrickender  Ge- 
sellschafter erwies.  Erst  nachdem  ich  mehrere  Male  dage- 
wesen war,  brachte  ich  es  übers  Herz,  meine  „verräterische" 
Handlungsweise  Rubinstein  zu  gestehen.  Rubinstein  fand 
jedoch  Nichts  Uebles  darin  und  sagte,  dass  er  garnichts 
dagegen  habe,  wenn  seine  Schüler  die  verschiedensten 
Meinungen  und  Ansichten  über  musikalische  Dinge  kennen 
lernen.  Ungefähr  ein  Jahr  nach  meinem  ersten  Besuch 
führte  ich  auch  Peter  Iljitsch  bei  Seroff  ein.  Ich  erinnere 
mich,  dass  an  jenem  Abend  Dostojewsky  sehr  viel  und 
sehr  unverständig  über  Musik  geredet  hat,  wie  ein  echter 
Literat,  der  in  musikalischen  Dingen  absolut  unwissend  ist. 
Die  Person  Seroff 's  hat  Peter  Iljitsch  garnicht  gefallen  und, 
ich  glaube,  er  ist  nie  wieder  hingegangen,  obgleich  auch 
er  sehr  zuvorkommend  und  freundlich  aufgenommen  wor- 
den war.  Während  Peter  Iljitsch  in  dem  Autor  der  „Judith" 
nur  den  Komponisten  verehrte  und  nicht  den  Menschen, 
war  in  den  Beziehungen  Seroff's  zu  Tschaikowsky  gerade 
das  Umgekehrte  der  Fall.  Persönlich  hat  ihm  Peter  Iljitsch 
sehr  gefallen,  als  er  aber  anderthalb  Jahre  später  Gelegen- 
heit hatte,  in  einem  Konservatoriumskonzert  Tschaikowsky's 
Abiturientenarbeit,  die  nach  Schiller's  Text  komponierte 
Kantate  „An  die  Freude"  zu  hören,  soll  er  gesagt  haben: 
„Nein,  die  Kantate  ist  schlecht;  von  Tschaikowsky  habe 
ich  entschieden  mehr  erwartet". 

Zum  Schluss  dieser  meiner,  allerdings,  nur  unvollstän- 
digen, fragmentarischen  Erinnerungen  an  Tschaikowsk3'''s 
Konservatoriumsjahre,  werde  ich  mir  gestatten,  noch  eine 
Episode  zu  erzählen,  welche  zwar  nicht  sowohl  für  ihn, 
als  vielmehr  für  mich  bedeutungsvoll  wurde,  welche  ihn 
aber  als  kritisch  denkenden  Beobachter  der  ihn  umgeben- 
den Erscheinungen  charakterisiert.   Er    gab    damals    einer 


—  95  — 

Dame  mit  Namen  Bonne  (welche  fhm  später  ein  von  eigner 
Hand  stammendes  prachtvolles  Potrait Rubinsteins  schenkte) 
Klavier-, vielleicht  aber  auch  Theoriestunden.  Ich  war  mit 
dieser  Dame  nicht  bekannt,  begleitete  ihn  aber  oft  bis  vor 
die  Thür  ihrer  ziemlich  weit  gelegenen  Wohnung.  Eines 
Tages  waren  wir,  als  wir  vor  dem  Hause  anlangten,  in 
eine  so  eifrige  und  interessante  Diskussion  verwickelt,  dass 
Peter  Iljitsch  im  Augenblick  gar  nicht  in  der  Verfassung 
war,  die  Stunde  zu  geben,  und  wir  auf  zwei  Prellsteinen 
Platz  nahmen,  um  das  Gespräch  fortzusetzen;  d.  h.  ich 
sprach  eigentlich  allein,  während  Peter  Iljitsch  zuhörte, — 
das  war  gewöhnlich  so  zwischen  uns  Beiden,  denn  ich 
war  mindestens  viermal  redseliger  als  er.  Ich  ging  damals 
mit  Feuer  und  Erbitterung  dem  „Kunstwerk  der  Zukunft" 
von  Wagner  zu  Leibe.  Peter  Iljitsch  hörte  lange  Zeit 
schweigend  und  beifällig  nickend  zu,  dann  sagte  er  aber 
plötzlich:  „Anstatt  ein  Langes  und  Breites  darüber  zu  re- 
den, sollten  Sie  das  Alles  zu  Papier  bringen.  Ihr  unzwei- 
felhafter Beruf  ist — die  musikalische  Kritik".  Diese  ruhigen 
Worte,  gesprochen  inmitten  der  prosaischen  Umgebung 
einer  schmutzigen,  kleinen  Gasse,  verdrehten  mir  den  Kopf. 
Wie  ein  Verrückter  lief  ich  seither  in  ganz  Petersburg  he- 
rum, besuchte  Redaktion  nach  Redaktion  und  bot  mich 
überall  als  Mitarbeiter  an,  natürlich  erfolglos.  Mehrere  Jahre 
waren  verflossen,  ehe  meine  Bemühungen  ein  Resultat  er- 
zielten, aber  für  mich  steht  es  unzweifelhaft  fest,  dass  die 
erste  Anregung  dazu  von  Peter  Iljitsch  ausgegangen  war. 
Ich  glaube,  in  meiner  Person  den  Vorläufer,  den  Urtypus 
der  vielen,  vielen  jungen  Leute  erblicken  zu  dürfen,  die 
lange  Jahre  später,  als  Peter  Iljitsch  den  Höhepunkt  sei- 
nes Ruhmes  erreicht  hatte  und  bereits  ein  einflussreicher 
Mann  geworden  war,  aus  allen  Weltgegenden  zu  ihm  ka- 
men, um  ihm  ihre  Fähigkeiten  zu  zeigen  und  ihn  um  Rat 
zu  fragen.  Zweifellos  hat  er  den  entscheidenden  Einfluss, 
den  er  ehemals  auf  seinen  Kameraden  ausgeübt,  später 
noch  sehr  oft  Leuten  gegenüber  zur  Geltung  gebracht, 
welche  ihrem  Alter  nach  seine  Kinder  hätten  sein  können. 
Zweifellos  hat  er  Vielen  ihren  Beruf  angewiesen,  und  unter 
den  Heute  noch  wirkenden  Opernsängern  und  Sängerinnen, 
konzertierenden  Künstlern  und  Kapellmeistern,  Musikleh- 
rern und  Schriftstellern  giebt  es,  wahrscheinlich,  Manchen, 
dessen  Talent  Peter  Iljitsch  erkannt,  und  dessen  Laufbahn 
er,  dank  seinem  ungewöhnlichen  vSch^irfblick  vorausbestimmt 
hat. 


-9б- 

Ausser  dem  Schreiber  dieser  Zeilen  und  N.  A.  Hubert, 
dessen  Bekanntschaft  dem  Leser  noch  bevorsteht,  kann  ich 
nicht  einen  einzigen  Schüler  des  Konservatoriums  nennen, 
mit  dem  Peter  Iljitsch  in  dauernden  intim-freundschaftlichen 
Beziehungen  gestanden  und  auch  nach  dem  Verlassen  des 
Konservatoriums  solche  Beziehungen  zu  unterhalten  fort- 
gesetzt hätte.  Er  war,  so  zu  sagen,  zu  Allen  gut,  mit  Vie- 
len dutzte  er  sich  sogar.  Unter  diesen  mehr  oder  weniger 
ephemären  Freunden  Tschaikowsk3^'s  waren  Einige,  die 
sich  mehr,  als  die  Andern  durch  Talent  und  Wissen  aus- 
zeichneten. Von  ihnen  gebührt  die  erste  Stelle  Gustav  Kross. 
Er  war  bei  seinem  Eintritt  ins  Konservatorium  bereits 
ziemlich  fertiger  Pianist,  hatte  bei  Henselt  Unterricht  ge- 
habt und  ist  in  Petersburg  oft  mit  Erfolg  in  Konzerten  auf- 
getreten. Das  hinderte  ihn  jedoch  nicht,  bei  Eröffnung  des 
Konservatoriums  in  die  Klavierklasse  Rubinsteins  als  Schü- 
ler einzutreten  und  drei  Jahre  daselbst  zu  verbleiben.  Später 
ist  er  an  demselben  Konservatorium  als  Professor  für  Kla- 
vierspiel angestellt  worden.  Dieser  Kross  war  es,  welcher, 
wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  als  Erster  Tschaikow- 
sky's  Klavierkonzert  in  Petersburg  öffentlich  gespielt  hat. 
Dann  war  da  noch  ein  gewisser  Richard  Metzdorf,  der  spä- 
ter in  Deutschland  als  Komponist  und  Kapellmeister  vor- 
teilhaft bekannt  gewordene  Sohn  des  Waldhornbläsers  Her- 
mann Metzdorf.  Er  war  ebenfalls  schon  als  gereifter  Mu- 
siker ins  Konservatorium  eingetreten,  nachdem  er  bereits 
ziemlich  lange  Zeit  in  Deutschland  studiert  hatte.  Er  war 
ein  gutmütiger,  einfacher  junger  Mann,  befand  sich  damals 
aber  in  einer  Sturm — und  Drang-Periode,  hatte  ein  unge- 
heueres Selbstbewusstsein,  redete  immer  nur  von  Richard 
Wagner  und  dünkte  sich  ein  „Genie". 

Von  den  Mitschülern  Tschaikowsky's  sind  ausserdem 
noch  zu  nennen:  Karl  van-Ark,  der  spätere  ausgezeichnete 
Pädagoge  und  Professor  des  Klavierspiels  am  Petersburger 
Konservatorium;  der  früher  schon  erwähnte  Slavinsk}^,  ein 
gewisser  Joseph  Lödscher  und  Nikolai  Hubert. 

Nikolai  Albertowitsch  Hubert,  der  Sohn  eines  Klavier- 
lehrers, war  trotz  seines  fremdländischen  Namens  Stock- 
russe. Von  Kindheit  auf  lebte  er  nur  in  Musik  und  durch 
Musik,  denn  er  hat  schon  sehr  früh  durch  Unterrichtgeben 
selbst  für  seinen  Lebensunterhalt  sorgen  müssen.  Infolge- 
dessen besass  er  viele  praktische  Kenntnisse,  war  aber 
theoretisch  ziemlich  schwach  vorbereitet,  als  er  ins  Kon- 
servatorium kam.  Bei  Zaremba  machte  er  ziemlich  gewöhn- 


—  97  — 

liehe,  eigentlich  sogar  etwas  farblose  ( — wenn  man  so  sa- 
gen darf)  Fortschritte.  Die  vielen  Privatstimden,  die  er  zu 
geben  genötigt  war,  im  Verein  mit  seiner  schwächlichen 
und  unbeständigen  Gesundheit,  hinderten  ihn,  über  das 
notwendigste  Maass  hinaus  zu  arbeiten,  und -obgleich  er 
auf  uns  wohl  den  Eindruck  eines  talentvollen  Musikers 
und  klugen  Menschen  machte,  so  erblickte  Keiner  von  uns 
in  ihm  einen  zukünftigen  Komponisten,  aber  auch  er  selbst 
schien  keinen  besonderen  Ehrgeiz  dafür  zu  besitzen.  Er 
war  ein  edler,  warmherziger  Mensch,  ein  interessanter  Er- 
zähler und  pflegte  die  Gastfreundschaft.  Er  liebte  es,  in 
seinem  grossen,  aber  nur  sehr  mangelhaft  möblierten  Zim- 
mer, seine  Freunde  zu  versammeln  und  mit  ihnen  die  Abende 
beim  gemütlichen  Samowar  zwischen  Musizieren  und  Dis- 
putieren zu  verbringen.  Die  eifrigsten  Besucher  dieser  Aben- 
de waren  Tschaikowsky,  Lödscher  und  ich.  Die  eigentliche 
intime  Freundschaft  Tschaikowsky's  und  Hubert's  nahm 
jedoch  erst  viel  später  ihren  Anfang,  erst  nachdem  Hubert 
sein  Amt  als  Direktor  des  Moskauer  Konservatoriums  nie- 
dergelegt hat,  also  etwa  um  die  Mitte  der  achtziger  Jahre". 

Damit  schliesst  Laroche  seine  „Erinnerungen".  Ehe  ich 
aber  mit  der  Schilderung  des  privaten  Lebens  Peter  Iljitsch's 
in  jener  Epoche  beginne,  seiner  Beziehungen  ausserhalb 
des  Konservatoriums,  möchte  ich  dem  Leser  einige  nicht 
uninteressante  Einzelheiten  aus  dem  Thun  und  Treiben  der 
Konservatoriumszöglinge  mitteilen,  die  zwar  ganz  neben- 
sächlich sind  und  auf  das  musikalische  Gedeihen  unseres 
Komponisten  gar  keinen  Einfluss  gehabt  haben,  die  aber 
das  Bild  seines  Konservatoriumslebens  etwas  vervollstän- 
digen, und  die  ich  wiederum  Laroche's  Erinnerungen  ent- 
nehme. 

„Ungefähr  um  das  Jahr  1863  wurde  in  Petersburg  circa 
ein  halbes  Dutzend  kleiner  Cafe-und  Speisehäuser  eröffnet, 
welche  ausschliesslich  in  Kellerräumen  placiert  waren  und 
auf  ihren  Aushängeschildern  alle  die  gleiche  Inschrift  tru- 
gen; „Ein  Glas  Thee — 5  Kopeken,  ein  Glas  Kaffee — 5  Ko- 
peken, ein  Glas  Chokolade — 10  Kopeken".  Angelockt  durch 
die  Billigkeit,  verhältnissmässige  Reinlichkeit  und,  was  das 
Wichtigste  war,  die  vorteilhafte  Lage  in  der  Nähe  des  Kon- 
servatoriums, strömte  die  ganze  Aristokratie  der  Musikstu- 
dierenden nach  diesen  Kellercafes.  Wir  verbrachten  dort  die 
zwischen  Proben,  Vorlesungen  und  Privatstunden  liegen- 
den Pausen,  sodass  wir  trotz  unseres  permanenten  Geld- 
mangels damals  ein  viel  regeres  Kneipenleben  führten,  als 

Tschaikowsky,  M.  P.  1.  Tschaikowsky's  Leben.  7 


-98- 

jemals  später.  Besagte  Lokale  erhielten  von  uns  den  Na- 
men „Fünfer-Cafe".  Zu  gewissen  Stunden  herrschte  in  einigen 
von  ihnen  entschieden  das  musikalische  Element  vor  und 
man  konnte  fast  an  jedem  Tisch  die  in  unserer  Kunst  ge- 
bräuchlichen technischen  Ausdrücke  hören.  Auch  Peter 
Iljitsch  gehörte  zu  den  Stammgästen  der  „Fünfer-Cafe's". 


•=fyi#=- 


VI. 

Im  Herbst  des  Jahres  1863  kam  die  Mutter  unseres 
Schwagers  Leo  Wassiljewitsch  Dawidow  nebst  ihren  Töch- 
tern nach  Petersburg  und  schlug  daselbst  ihr  Heim  auf. 

Alexandra  Iwanowna,  die  Wittwe  des  bekannten  De- 
kabristen Wassili  Dawidow,  war  eine  sehr  rüstige,  gute 
und  kluge  alte  Frau,  die  in  ihrem  langen  Leben  viel  ge- 
sehen und  viel  gelitten  hatte.  Von  ihrer  sehr  zahlreichen 
Familie  sind  nur  vier  Töchter  und  der  jüngste  Sohn,  Ale- 
xei,  den  Peter  Iljitsch  schon  von  früher  her  kannte,  mit 
nach  Petersburg  gekommen.  Peter  Iljitsch  befreundete  sich 
sehr  bald  auch  mit  den  Schwestern  Alexei's  sowohl  als 
auch  mit  Alexandra  Iwanowna  selbst.  Von  den  Schwestern 
waren  es  namentlich  Elisabeth  und  Wera,  mit  denen  er 
in  sehr  herzliche  Beziehungen  trat,  und  zwar  —  wiederum 
dank  der  Musik.  Beide  Schwestern  liebten  diese  Kunst  und 
interessierten  sich  für  dieselbe  sehr,  hauptsächlich  Wera, 
für  welche  das  Leben  in  Petersburg  nur  deswegen  grosse 
Anziehungskraft  besass,  weil  es  ihr  die  Möglichkeit  bot, 
bei  guten  Lehrern  Klavier-und  Gesangunterricht  zu  nehmen. 

Nirgends  fühlte  sich  Peter  Iljitsch  so  heimisch,  wie  bei 
Dawidow's.  Ausser  der  Freude,  welche  er  in  seiner  Rolle 
als  musikalischer  Vormund  und  Cicerone  Wera  Wassiljew- 
na's  fand — war  er  glücklich,  einen  Neuling  in  die  Schön- 
heiten der  Werke  Schumann's,  Berlioz'  und  Glinka's,  wel- 
che für  ihn  selbst  noch  den  ganzen  Zauber  unlängst  ent- 
deckter Welten  hatten,  einweihen  zu  dürfen  —  war  es  für 
ihn  ein  grosser  Genuss  mit  Alexandra  Iwanowna  und  Eli- 
sabeth Wassiljewna  zu  plaudern. 


—  99  — 

Peter  Iljitsch  interessierte  sich  von  jeher  für  die  Ver- 
gangenheit seines  Vaterlandes,  im  Besonderen  für  die  Re- 
gierung Katharinas  II.  und  Alexanders  I.  Alexandra  Iwa- 
nowna  war  sozusagen  ein  lebendiges  Stück  Geschichte  der 
letzten  Herrscherjahre  Alexanders  I.  und  hatte  viele  her- 
vorragende Männer  jener  Zeit  persönlich  gekannt,  unter 
Anderen  auch  A.  b.  Puschkin,  welcher  oft  Dawidow's 
Gast  in  Kamenka  gewesen  war.  Daher  liebte  es  Peter  Il- 
jitsch sehr,  den  Erzählungen  Alexandra  Iwanowna's  über 
Freud'  und  Leid  aus  alter  Zeit  zu  lauschen. 

Elisabeth  Wassiljewna,  bereits  ein  ältliches  Fräulein, 
regte  die  Wissbegier  Peter  Iljitsch's  ebenfalls  in  hohem 
Maasse  an.  Sie  war  von  ihrer  Mutter  seinerzeit,  als  diese 
ihrem  Gemahl  freiwillig  in  die  Verbannung  zu  folgen  be- 
schlossen hatte,  der  Gräfin  Tschernyschoff-Kruglikoff  zur 
Erziehung  anvertraut  worden,  und  ist  also  in  einem  Hause 
aufgewachsen,  in  welchem  die  bedeutendsten  Persönlich- 
keiten der  ersten  Regierungsjahre  Nikolai's  I.  verkehrten. 
Sie  ist  mit  Gogol  und  Puschkin  bekannt  gewesen  und  hat 
viele  Reisen  durch  Europa  und  Sibirien  gemacht.  Ausser- 
dem interessierte  sie  sich  sehr  für  Kunst  und  Literatur, 
verfügte  auch  selbst  über  ein  hübsches  Talent  zum  Zeichnen. 

Unter  denjenigen  wenigen  Bekannten  Peter  Iljitsch's, 
welche  trotz  dessen  Uebergang  zur  Musik  ihre  freund- 
schaftlichen Beziehungen  zu  ihm  beibehalten  hatten,  befand 
sich  auch  der  Fürst  Alexei  Golizin.  Er  hat  den  armen 
Musiklehrer  und  Konservatoristen  sogar  vielfach  unterstützt, 
half  ihm,  Privatstunden  zu  finden,  lud  ihn  oft  zu  glänzen- 
den Festlichkeiten  ein,  und  überredete  ihn  endlich,  den 
Sommer  bei  ihm  auf  seinem  prächtigen  Landsitz  Trostinez 
(Gouvernement  Charkow)  zu  verbringen.  Peter  Iljitsch 
hatte  ursprünglich  den  Wunsch,  jenen  Sommer  bei  seiner 
Schwester  in  Kamenka  zu  verleben,  da  ihm  aber  die  nö- 
tigen Mittel  für  diese  grosse  Reise  fehlten  —  Eisenbahnen 
gab  es  dorthin  noch  nicht  und  die  Fahrt  per  Diligence 
kostete  sehr  teuer,  so  entschloss  er  sich,  der  Aufforde- 
rung des  Fürsten  Folge  zu  leisten,  und  verbrachte  den 
Sommer  1864  in  Trostinez. 

Das  Leben  beim  Fürsten  kam  Peter  Iljitsch  wie  ein 
Märchen  vor.  Er  war  mit  einer  Pracht  und  mit  einem  Lu- 
xus umgeben,  w^e  nie  vorher.  Die  Gegend  war  herrlich, 
dazu  genoss  Peter  Iljitsch  vollkommene  Freiheit.  Des  mor- 
gens und  den  Tag  über  arbeitete  er,  oder  unternahm  ein- 
same Spaziergänge,  die  Abende  jedoch  widmete  er  dem 
Fürsten  und  seinen  Gästen. 


—    lOO   — 

Um  dem  Leser  einen  Begriff  zu  geben,  mit  welcher 
Zuvorkommenheit  und  Aufmerksamkeit  Peter  Iljitsch  vom 
Fürsten  behandelt  wurde,  genügt  es,  eine  einzige  Begeben- 
heit zu  erzählen.  Am  29.  Juni,  dem  Namenstage  Peter  II- 
jitsch's  inszenierte  der  Fürst  ihm  zu  Ehren  ein  grossarti- 
ges Fest.  Nach  dem  Vormittagsgottesdienst  gab  es  ein 
feierliches  Frühstück  und  abends,  als  es  dunkel  geworden 
war,  unternahm  man  eine  Spazierfahrt  durch  den  Wald. 
Der  ganze  Weg  war  zu  beiden  Seiten  mit  brennenden  Pech- 
fässern umstellt,  was  einen  grandiosen  Anblick  gewährte. 
Inmitten  des  Waldes,  in  einem  Pavillon  war  die  Festtafel 
gedeckt  und  rundherum  im  Grünen  waren  zu  Ehren  Pe- 
ter Iljitsch's  Volksbelustigungen  aller  Art  eingerichtet. 

Von  den  Briefen  Peter  Iljitsch's  aus  jenem  Sommer  ist 
nur  einer  erhalten  geblieben,  der  am  28.  Juli  an  seine 
Schwester  adressierte: 

„Liebe  Sascha!  Mit  Unrecht  glaubst  Du,  dass  ich  nur 
deshalb  nicht  in  Kamenka  bin,  weil  es  mir  bei  Golizin  so 
gut  gefällt,  dass  ich  mich  von  ihm  nicht  trennen  kann.  Ich 
gebe  es  wohl  zu,  dass  ich  es  hier  sehr  gut  habe,  aber  bei 
Dir  und  den  Deinigen  hätte  ich  es  gewiss  noch  viel  bes- 
ser. Mein  Herz  sehnt  sich  zwar  nach  Dir,  der  Verstand 
gebietet  aber  aus  vielen  schwerwiegenden  Gründen,  unser 
Wiedersehen  bis  zum  künftigen  Sommer  zu  verschieben; 
dann  komme  ich  aber  direkt  von  Petersburg  für  volle  drei 
Monate.....  Habe  Dank  für  Deinen  Brief;  er  hat  mich  in 
der  That  beruhigt:  ich  habe  wohl  ein  w^enig  gefürchtet, 
dass  Du  mir  böse  seiest.  Ich  lebe  hier  sehr  still  und  sehe, 
ausser  Golizin,  Niemanden.  Sage  an  Wera  Wassiljewna, 
dass  mein  „Gewitter"  gute  Fortschritte  macht,  und  dass 
sie  riskiert,  dasselbe  in  der  Musikalischen  Gesellschaft  zu 
Gehör  zu  bekommen". 

Wie  aus  den  letzten  Worten  des  Briefes  hervorgeht, 
hat  Peter  Iljitsch  in  Trostinez  sein  erstes  ganz  selbständig 
komponiertes  Werk  verfasst  und  instrumentiert. 

Er  hatte  schon  von  jeher  geschwärmt,  den  Inhalt  sei- 
nes liebsten  russischen  Dramas,  „Gewitter"  von  Ostrow- 
sky,  für  die  Komposition  einer  Oper  zu  verwenden.  Als 
nun  A.  Rubinstein  für  die  Sommerferien  1864  ihm  die  Aufgabe 
stellte,  eine  grosse  Ouvertüre  zu  komponieren,  wählte  er 
selbstverständlich,  das  ihn  seit  lange  interessierende  Thema. 
Auf  Seite  30  der  in  meiner  Verwahrung  liegenden  Instru- 
mentationsarbeiten Peter  Iljitsch's  von  1863  1864  hat  sich 
noch  das  mit  Bleistift  hingeworfene  Programm  dieser  Ouver- 


lOI    — 


ture  erhalten:  „Einleitung:  adagio  (die  Kindheit  Katharinas 
und  ihr  ganzes  Leben  vor  der  Heirat),  allegro  (Andeutung 
des  Gewitters):  ihre  Sehnsucht  nach  wahrhafter  Liebe  und 
Glück.  Allegro  appassionato  (ihr  Seelenkampf).  Plötzlicher 
Uebergang  zum  Abend  am  Ufer  der  Wolga:  wieder  der 
Kampf  nur  mit  dem  Zug  eines  gewissen  fieberhaften 
Glückes.  Die  Vorboten  des  Gewitters  (Wiederholung  des  Mo- 
tives  nach  dem  adagio  und  die  weitere  Entwickelung  je- 
nes Motives).  Gewitter:  der  Höhepunkt  des  verzweifelten 
Kampfes  und — der  Tod". 

Die  nächste  selbständige  Komposition  Peter  Iljitsch's, 
welche  nicht  verloren  gegangen,  wie  viele  andere  seiner 
ersten  Arbeiten,  sind  —  die  „Tänze  der  Landmädchen", 
welche  er  später  als  Balletnummer  in  seine  Oper  „Der 
Woiwode"  hereingenommen  hat.  Es  lässt  sich  nicht  mit 
Bestimmtheit  sagen,  wann  diese  Tänze  komponiert  worden 
sind,  gewiss  ist  nur,  dass  sie  im  Früjahr  1865  bereits  fertig 
und  auch  schon  instrumentiert  waren. 


VII. 

In  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1865  trat  Ilja  Petro witsch 
zum  dritten  Mal  in  den  heiligen  Ehestand,  und  zwar  mit 
der  Wittwe  Elisabeth  Michailowna  Alexandrowa.  Eine  Ver- 
änderung im  äusseren  Leben  Peter  Iljitsch's  ist  deshalb 
nicht  eingetreten,  da  Elisabeth  Michailowna  schon  seit  1862 
mit  der  Familie  Tschaikowsky  bekannt  gewesen,  stets  an 
ihrem  Schicksal  den  lebhaftesten  Anteil  genommen  hat, 
und  dafür  von  Allen  verehrt  und  geliebt  wurde.  Auch 
Peter  Iljitsch  hatte  diese  Frau  sehr  gern  und  suchte  in 
schwierigen  Fällen  oft  Rat  und  Hilfe  bei  ihr.  Bald  darauf 
beschloss  Ilja  Petro  witsch,  um  die  Schulden  schneller  los 
zu  werden,  seinen  Haushalt  für  den  Zeitraum  eines  Jah- 
res aufzulösen  und  dieses  Jahr  bei  seiner  ältesten  Tochter 
Zinaida  Olchowsky  im  Ural  zu  verbringen,  während  seine 
Gattin  bei  ihren  Verwandten  Unterkunft  finden  sollte.  Pe- 
ter Iljitsch,  jedoch,  und  seine  Brüder  machten  sich  zur 
Schwester  Alexandra  nach  Kamenka  auf. 


I02     — 


Kamenka  ist  ein  am  Fluss  Tjasmin  gelegenes  idyllisches 
Oertchen,  welches  nebst  umfangreichen  Ländereien  das  auf 
den  Bruder  des  Schwagers  Peter  Iljitsch's  überkommene 
Erbe  des  nach  Sibirien  verbannten  Dekabristen  Wassily 
Dawidow  bildete,  und  seinerzeit  eines  der  wichtigsten  Zen- 
tren der  unter  der  Regierung  Alexanders  I.  umsichgreifen- 
den  revolutionären  Bew^egung  war.  Nikolai  Wassiljewitsch 
Dawidow,  ein  früherer  Gardeoffizier,  hatte  die  Verwaltung 
seines  Gutes  seinem  Bruder  Leo  Wassiljewitsch,  dem  Schwa- 
ger Peter  Iljitsch's  überlassen,  und  behielt  nur  die  Aufsicht 
über  die  Gärtnereien  für  sich,  beschäftigte  sich  im  Uebri- 
gen  aber  eifrig  mit  dem  vStudium  politischer,  historischer 
und  philosophischer  Fragen. 

Kamenka  verfügt  nicht  über  bemerkenswerte  Natur- 
schönheiten. Der  Aufenthalt  daselbst  hat  Peter  Iljitsch 
nichtsdestoweniger  ausserordentlich  gefallen  und  in  ihm  so- 
gar die  Erinnerung  an  die  Pracht  Trostinez's  verdunkelt. 
Alles  und  Alle  gefielen  ihm  hier,  angefangen  mit  Nikolai 
Wassiljewitsch,  welchen  er  sich,  bevor  er  ihn  persönlich 
kennen  lernte,  als  einen  menschenscheuen  Grübler  und  Pe- 
danten vorgestellt  hatte,  der  den  grössten  Teil  des  Tages 
in  seiner  Bibliotek  zubrachte  und  Alles  Das  verächtlich 
anblickte,  worauf  er  freiwillig  verzichtete.  Peter  Iljitsch 
war  daher  nicht  wenig  erfreut,  ih  ihm  zwar  einen  ältlichen, 
aber  frischen,  schönen,  sehr  liebenswürdigen  und  mitteil- 
samen Mann  zu  finden,  welcher  sich  durch  eine  sehr  eigen- 
artige Verstandesrichtung  auszeichnete  und  dessen  An- 
sichten und  Meinungen  mit  den  damals  allgemein  üblichen 
liberalen  Ideen  durchaus  nicht  harmonierten.  Dieser  ur- 
wüchsige und  kraftvolle  Mensch  imponierte  Peter  Iljitsch 
in  hohem  Maasse  und  hat  sogar  seine,  Peter  Iljitsch's,  po- 
litischen Ueberzeugungen  in  anderes  Fahrwasser  zu  brin- 
gen vermocht. 

Allerdings  ist  Peter  Iljitsch  bis  ans  Ende  seiner  Tage 
ohne  irgend  welche  bestimmt  ausgeprägte  politische  An- 
sichten ausgekommen;  seine  Tendenzen  schwankten  ziem- 
lich oft  und  waren  bald  von  dieser  bald  von  jener  Färbung, 
je  nachdem,  ob  er  für  diesen  oder  jenen  Leiter  der  öffent- 
lichen Meinung  Sympatie  oder  Antipatie  hatte.  Daher  kam 
es  jedenfalls  auch,  dass  seit  der  Bekanntschaft  Nikolai 
Wassiljewitsch's  mit  Peter  Iljitsch  die  politischen  Ueber- 
zeugungen des  Letzteren  eine  mehr  konservative  Schattie- 
rung erhalten  hatten. 

Hauptsäcliüch  war  es  aber  das  gemütliche  und  muster- 


—  юз  — 

giltige  Familienleben  Alexandra  Iljinischna's,  welches  so 
wohlthuend  auf  Peter  Iljitsch  лvirkte.  Glücklichere  Men- 
schen konnte  er  sich  garnicht  denken,  und  er  wurde  bei 
ihrem  Anblick  von  einer  solchen  Freude  und  Rührung 
ergriffen,  dass  er  noch  lange  Zeit  darauf  das  Leben  in  Ka- 
menka  als  die  Verkörperung  des  idealsten  irdischen  Glückes 
betrachtete.  Die  Familie  seiner  Schwester  würde  seit- 
her für  ihn  der  liebste  Zufluchtsort:  dort  erholte  er  sich 
später  gar  oft  von  den  Mühsalen  und  Aufregungen  seines 
Lebens;  dort  schlug  er  endlich  12  Jahre  später  sein  be- 
ständiges Heim  auf. 

Vielleicht  wären  diese  erfreulichen  Eindrücke  nicht  so 
stark  gewesen,  wenn'nicht  ausser  ihnen  das  Bewusstsein  voll- 
brachter Arbeit  beruhigend  auf  Peter  Iljitsch  gewirkt  hätte. 
A.  Rubinstein  hatte  ihm,  nämlich,  dieses  Mal  die  Aufgabe  ge- 
stellt, die  „Instrumentationslehre"  von  Gevaert  ins  Russi- 
sche zu  übersetzen.  Diese  Aufgabe  hat  er  gewissenhaft 
erfüllt  und  hat  ausserdem  eine  grosse  Konzertouverture  in 
C-moll  komponiert. 

In  musikalischer  Hinsicht  sollte  er  in  Kamenka,  übrigens, 
eine  kleine  Enttäuschung  erleben.  Er  hatte  früher  viel  von 
den  ungewöhnlichen  melodischen  Schönheiten  der  klein- 
russischen Volkslieder  sprechen  hören  und  hoffte  daher, 
recht  viele  dieser  Melodieen  zu  notieren  und  eine  ganze 
Menge  Material  für  zukünftige  Kompositionen  bei  seiner 
Rückkehr  nach  Petersburg  mitzubringen.  Das  geschah  je- 
doch nicht.  Das,  was  er  zu  hören  bekommen  hat,  schien 
ihm  unnatürlich,  gekünstelt  zu  sein,  und  stand  an  Schön- 
heit und  Originalität  gegenüber  den  grossrussischen  Volks- 
melodieen  bedeutend  zurück.  Nur  ein  einziges  Lied  hat  er 
in  Kamenka  notiert,  welches  die  Arbeiterinnen  im  Garten 
immer  sangen.  Dieses  Thema  hat  er  anfangs  in  ein  Streich- 
quartett, dass  er  im  Herbst  zu  komponieren  begann,  he- 
reingenommen, später  verwendete  er  es  jedoch  in  dem 
Klavierstück  „Scherzo  ä  la  russe",  Op.  i  Л'2 1.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  August  reiste  Peter  Iljitsch  mit  seinen  Brüdern 
nach  Petersburg  ab. 

Auf  dem  Wege  zwischen  Kiew  und  dem  Städtchen 
Ostrow  hatten  sie  mit  vielen  Unzuträglichkeiten  zu  kämp- 
fen. Infolge  der  Durchreise  des  Grossfürsten  Nikolai  nach 
dem  Süden,  waren  nirgends  Postpferde  aufzutreiben  und 
man  musste  sich  mit  Bauerngäulen  und  unerfahrenen  Kut- 
schern zufrieden  geben,  was  nicht  nur  oft  Verzögerungen 
verursachte,    sondern    auch    einige  Lebensgefahr   mit  sich 


—  I04  — 

brachte.  Ich  erinnere  mich,  лу1е  einst  die  Pferde  mit  unse- 
rer Ecjuipage  bergab  durchgingen,  und  nur  durch  einen 
Zufall  bei  einer  Krümmung  des  Weges  direkt  vor  einem 
gähnenden  Abgrund  noch  rechtzeitig  Kehrt  machten  und 
über  die  Brücke  rannten.  Ausserdem  mussten  wir  stark 
durch  Hunger  und  Durst  leiden,  denn  auf  den  Stationen 
und  in  den  Hotels  waren  sämmtliche  Lebensmittelvorräte 
vom  Gefolge  des  Grossfürsten  aufgezehrt,  sodass  wir  ta- 
gelang ausser  Schwarzbrot  und  Wasser  Nichts  zu  essen 
und  zu  trinken  fanden. 


'"Щ^~ 


VIII. 

.  „Petersburg  empfing  uns  mit  einem  gewaltigen  Regen- 
guss",  schrieb  Peter  Iljitsch  an  seine  Schwester  zurück. 
Aber  auch  in  verschiedenen  anderen  Hinsichten  bereitete 
ihm  Petersburg  einen  recht  unfreundlichen  Emj)fang. 

Erstens  hat  ihm  die  Wohnungsfrage  viel  Unannehmlich- 
keiten gekostet.  Das  Zimmer,  welches  man  ihm  für  8  Ru- 
bel monatlich  gemietet  hatte,  erwies  sich  sehr  klein  und 
ungemütlich. 

Anfangs  dachte  Peter  Iljitsch,  dass  es  ihm  nur  so  vor- 
komme und  dass  er  sich  bald  daran  gewöhnen  werde,  aber — 
je  länger  er  darin  wohnen  blieb,  desto  „abscheulicher" 
fand  er  es,  sodass  er  endlich  im  September  zu  Frau  E.  A. 
Schobert  zog,  um  nach  Monatsfrist  auch  dieses  Heim  zu 
verlassen.  „Seit  der  Zeit,  dass  ich  hier  wohne",  schreibt 
er  Mitte  Oktober, — „fühle  ich  mich  ununterbrochen  schlecht: 
bald  habe  ich  Armschmerzen,  bald  Fussschmerzen,  bestän- 
digen Husten  u.  s.  w.  Ausserdem  bin  ich  hier  zu  weit 
entfernt  vom  Zentrum,  vom  Konservatorium.  Ruhe  geniesse 
ich  garnicht:  die  Klingel  befindet  sich  neben  meinem  Zim- 
mer und  geht  immer  zu,  den  ganzen  Tag". — Diese  Woh- 
nungsnot nahm  erst  im  November  ein  Ende,  als  Apuchtin, 
in  der  Absicht,  Petersburg  für  zwei  Monate  zu  verlassen, 
ihm  sein  Zimmer  zur  Benutzung  anbot. 

Zweitens,  stellte  sich  bei  ihm  ein  hartnäckiges  Augen- 
leiden ein   und  liinderte  ihn  am  regelmässigen  Arbeiten, 


—  I05  - 

Drittens,  begann  die  Sorge  um  seinen  Lebensunterhalt 
und  an  seine  Zukunft  nach  Beendigung  des  Konservato- 
riums an  ihm  zu  nagen.  Solch  ein  Leben,  wie  er  es  jetzt 
führte,  auch  später  fortzusetzen — erschien  ihm  schrecklich. 
Augenblicklich  musste  er  aus  seinen  eigenen  Mitteln, 
welche  sich  nicht  vergrössert  hatten,  seine  ganzen  mate- 
riellen Bedürfnisse  bestreiten.  Ausserdem  musste  er  am 
I.  November  einen  Wechsel  über  150  Rubel  bezahlen, 
denn  der  Gläubiger  wollte  keinen  Aufschub  gewähren,  ob- 
gleich ihn  Peter  Iljitsch  himmelhoch  bat,  doch  bis  zum 
Frühjahr  zu  warten,  denn  bis  dahin  hoffte  er,  von  Rubin- 
stein das  Honorar  für  die  Uebersetzung  zu  erhalten.  Nach 
vielen  fruchdosen  Bemühungen  ist  es  Peter  Iljitsch  mit 
Hilfe  seiner  Stiefmutter  gelungen,  diese  Schuld  zu  bezahlen. 

Wie  schwer  ihm  der  Kampf  mit  der  Not  damals  ge- 
wesen sein  muss,  geht  aus  dem  Umstand  hervor,  dass  die 
bereits  längst  vergessenen  Zweifel  an  seiner  musikalischen 
Carriere  von  Neuem  in  ihm  auftauchten  und  der  Gedanke 
an  die  Wiederaufnahme  des  Staatsdienstes  nicht  mehr  so 
schrecklich  schien.  In  einigen  Freunden  fand  seine  momen- 
tane Schwäche  Wiederhall,  Einer  von  ihnen  hat  ihm  sogar 
allen  Ernstes  eines  Tages  die  leidlich  bezahlte  Stellung 
eines  „Fleischbeschauers",  oder  „Aufsehers  über  Lebens- 
mittel" angeboten.  Zum  grossen  Glück  aller  Konsumen- 
ten jener  Lebensmittel  und  zum  Heil  unseres  Komponisten 
selbst  ist  es  damals  jedoch  bei  dem  blossen  Angebot  ge- 
bheben. 

Gleichzeitig  mit  der  Periode  der  grössten  Armut  Peter 
Iljitsch's  und  des  ihn  in  allen  seinen  materiellen  Unterneh- 
mungen verfolgenden  Missgeschickes,  erblühte  ihm  aber 
auch  der  erste  Lorbeer  in  seiner  Kunst.  „Im  Allgemeinen 
ist  meine  Stimmung  eine  ziemlich  gute,  —  trotz  aller  Pla- 
gen",— schreibt  er  an  seine  Schw^ester, — „denn  mein  Ehr- 
geiz (dieser  mein  grösster  Fehler)  ist  in  letzter  Zeit  durch 
einige  musikalische  Erfolge  sehr  geschmeichelt  worden". 
Diese  Erfolge  halfen  ihm,  eine  recbit  philosophische  Ruhe 
zu  bewahren  gegenüber  all'  den  kleinen  Unannehmlichkei- 
ten, Unbequemlichkeiten  und  sonstigen  Leiden,  die  er  in 
damaliger  Zeit  über  sich  ergehen  lassen  musste. 

Freilich  waren  jene  künstlerischen  Erfolge  nur  sehr  be- 
scheidene im  Vergleich  zu  denen,  die  in  Zukunft  seiner 
harrten,  doch  ist  gewöhnlich  für  einen  so  jugendlichen 
Musiker  schon  das  Lob  des  Professors,  der  Beifall  der  Ka- 
meraden, oder  ein,  wenn  auch  noch  so  mangelhafter  und 


—  io6  — 

bedeutungsloser  öffentlicher  Vortrag"  eines  seiner  Werke — 
schon  genügend,  um  in  seinem  Herzen  helle  Freude  zu 
entfachen.  So  hat  denn  auch  die  im  August  stattgehabte 
Aufführung  der  „Tänze  der  Landmädchen"  in  Pawlowsk 
unter  Leitung  des  Walzerkönigs  Johann  Strauss  unseren 
jungen  Komponisten  sehr  ermuntert.  Ein  anderes  für  Pe- 
ter Iljitsch  sehr  freudiges  Ereigniss  bestand  darin,  dass 
Nikolai  Rubinstein,  der  nach  dem  Muster  seines  Bruders 
auch  in  Moskau  (1864)  ein  Konservatorium  gegründet  hatte, 
ihn  dorthin  als  Professor  für  Theorie  engagierte. 

Anfangs  fiel  N.  Rubinsteins  Wahl  auf  Seroff,  welcher 
sich  damit  auch  einverstanden  erklärt  hatte.  Als  aber  die 
Oper  „Rogneda"  in  Petersburg  einen  so  kolossalen  Erfolg 
errang,  während  die  „Judith"  in  Moskau  Fiasko  machte, 
so  zog  Seroff  schleunigst  sein  Versprechen  zurück  und 
wollte  in  Petersburg  bleiben.  Das  geschah  im  Herbst  1865. 
Da  blieb  Nikolai  Rubinstein  Nichts  Anderes  übrig,  als  einen 
Schüler  des  Petersburger  Konservatoriums  aufzufordern, 
als  Lehrer  für  Harmonie  nach  Moskau  zu  kommen.  Als 
einen  Solchen  empfahl  ihm  A.  Rubinstein  denn  auch  Tschai- 
kowsky.  Obgleich  das  für  Letzteren  ein  sehr  ehrenvolles 
Anerbieten  war,  ging  er  nicht  ohne  Weiteres  darauf  ein, 
denn  das  von  Nikolai  Rubinstein  vorgeschlagene  Honorar 
betrug  nur  50  Rubel  monatlich,  überstieg  also  nicht  die 
Summe,  mit  welcher  Peter  Iljitsch  in  Petersburg  sich  nur 
mühsam  durchzuschlagen  vermochte.  Erst  im  November 
entschloss  er  sich,  die  Stelle  anzunehmen. 

Die  übrigen  Erfolge,  welche  Peter  Iljitsch  damals  zu 
verzeichnen  hatte,  galten  seinen  Kompositionen. 

Trotz  seiner  lästigen  Augenkrankheit  und  trotz  seiner 
Umzüge  von  einer  Wohnung  zur  andern,  war  die  Zeit  Pe- 
ter Iljitschs  nicht  fruchtlos  verstrichen.  Er  hat  damals  ein 
Streichquartett  (B-dur)  ^)  und  eine  Ouvertüre  (F-dur)  kom- 
poniert. Das  Quartett  ist  an  einem  Vortragsabend  im  Kon- 
servatorium (30.  Oktober  1865)  gespielt  worden,  und  vier- 
zehn Tage  später  kam  auch  die  Ouvertüre  ^)  in  einem 
Zöglingskonzert  zum  Vortrag. 

Im  November  begann  Peter  Iljitsch  mit  der  Komposition 
einer  Kantate  für  Chor  und  Orchester  über  Schillers  Hym- 
nus „An  die  Freude"  ^)  Diese  Arbeit  hat  ihm  A.  Rubinstein 


1)  Von  diesem  Streichquartett  ist  nur  das  erste  ЛИедго  unverselirt  gel)liebeii.  Die 
anderen  Teile  hat  wahrcheinlich  der  Komponist  selbst  später  vernichtet. 

-)  Diese  Ouvertüre  hat  I'eter  Iljitsch  später  (ür  grosses  Orchester  umgearbeitet,  in 
welcher  Form  sie  verschiedentlich   in  Petersburg  und  Moskau  aufgeführt  wurde. 

3)  Das  Manuscript  dieser  Kantate  befindet  sich  im  Archiv  des  Petersburger  Kon- 
servatoriums. 


—  I07  — 

als  Ahituriiimaiifgabe  übertragen  und  wollte  sie  gelegentlich 
des  Jahresaktus  im  Konservatorium  auiführen.  Die  Kan- 
tate enthält  sechs  Sätze: 

I.  histrumentale  Einleitung. 

II.  Allegro  non  troppo  für  Chor  und  Orchester. 
Freude,  schöner  Götterfunken! 
Tochter  aus  Elysium,  etc. 

III.  Adagio  molto  für  Soloquartett. 
Wem  der  grosse  Wurf  gelungen, 
Eines  Freundes  Freund  zu  sein,  etc. 

IV.  Allegro  für  Soli,  Chor  und  Orchester. 
Freude  trinken  alle  Wesen 

An  den  Brüsten  der  Natur,  etc. 
V.  Andante  non  troppo,  für  Bass-Solo, 
Chor  und  Orchester. 
Froh,  wie  seine  Sonnen  fliegen,  etc. 
VI.  Finale.  Allegro  giusto  für  Soli,  Chor  und  Or- 
chester. 
Freude  sprudelt  in  Pokalen,  etc. 

Am  31.  Dezember  1865  fand  im  Konservatorium  die 
überaus  feierliche  öffentliche  Prüfung  für  die  Abiturienten 
statt.  In  Gegenwart  sämmtlicher  Direktoren  der  Russischen 
Musikalischen  Gesellschaft  und  der  Prüfungskomission,  in 
deren  Mitte  einige  vom  Ministerium  des  Kaiserlichen  Ho- 
fes ernannte  Regierungs-Delegierte  sassen:  der  Direktor 
des  Hofchors,  N.  Bachmetjew  und  die  Kapellmeister  der 
Kaiserlichen  Theater,  Kashinsk\',  Ljadow  und  Ricci  wurde 
die  Kantate  von  Tschaikow^sky  von  den  Zöglingen  des 
Konservatoriums  zum  Vortrag  gebracht. 

Peter  Iljitsch  selbst  blieb  der  Feierlichkeit  fern,  um  dem 
mündlichen  Examen,  w^elches  vor  der  Ausführung  der  Kan- 
tate stattfinden  sollte,  aus  dem  Wege  zu  gehen.  A.  Rubin- 
stein war  darüber  sehr  erzürnt  und  wollte  dem  eigensin- 
nigen Schüler  das  Reifezeugniss  solange  vorenthalten,  bis 
er  sich  dazu  verstehen  würde,  seine  theoretischen  Kennt- 
nisse öffentlich  prüfen  zu  lassen.  Dazu  kam  es  jedoch  nicht. 
Wahrscheinlich  hat  sich  das  Können  und  Wissen  des  jun- 
gen Künstlers  in  seiner  Kantate  zur  Genüge  offenbart,  und 
er  sowohl  als  seine  Kommilitonen:  Ludwig  Albrecht  (Vio- 
loncello), Wassily  Bessel  (Bratsche),  Gustav  Kross  (Klavier), 
Kvan  Ribassow  (Klavier)  und  Alexander  Reinhard  (Klavier) — 
sind  alle  des  Diploms  und  des  Titels  „Freier  Künstler"  für 


—  io8  — 

würdig  erachtet  worden.  xKiisserdem  hat  man  Kross  und 
Tschaikowsk}'  durch  Verleihung  je  einer  silbernen  Medaille 
ausgezeichnet. 

Trotz  dieses  offiziellen  Erfolges  hat  die  Kantate  den 
Beifall  der  hervorragenden  musikalischen  Autoritäten  der 
damaligen  Zeit  nicht  gewonnen. 

Anton  Rubinstein  hat  sie  offenbar  nicht  gefallen,  denn 
Peter  Iljitschs  Bitte,  sein  Werk  in  einem  der  Konzerte  der 
Russischen  Musikalischen  Gesellschaft  aufzuführen,  hat  er 
abgelehnt,  —  es  sei  denn,  dass  Peter  Iljitsch  „umfassende 
Aenderungen"  vornehme,  denn  so,  wie  die  Kantate  war, 
erschien  sie  ihm  nicht  gut  genug,  um  neben  den  Werken 
anderer  russischer  Komponisten  (Sokalsky,  Christianowitsch, 
Rimsky-Korsakoff  und  Balakireff)  placiert  zu  werden.  Die 
Meinung  Seroff's  in  Betreff  dieser  Komposition  kennen  wir 
bereits. 

In  dem  Seroff  feindlich  gesinnten  Lager  jungrussischer 
Komponisten,  welche  sich  um  Dargom^-zski  schaarten  und 
unter  welchen  sich  auch  Balakireff,  Rimsky-Korsakoff  und 
Cesar  Cui  befanden,  hat  die  Kantate  noch  weniger  Anklang 
gefunden.  Drei  Monate  nach  der  Aufführung  verfasste  Cui, 
der  Rezensent  der  „St. -Petersburger  Nachrichten",  folgende 
Kritik:  „Der  Konservatoriumskomponist,  Herr  Tschaikow- 
sk\',  ist — sehr  schwach.  Allerdings  komponierte  er  die  Kan- 
tate unter  sehr  ungünstigen  Verhcältnissen:  auf  Bestellung, 
zu  einem  bestimmten  Termin,  auf  ein  gegebenes  Thema 
und  unter  Beibehaltung  der  üblichen  Formen.  Und  doch, 
wenn  er  nur  etwas  Talent  hätte,  würde  dasselbe  gewiss 
an  irgend  einer  Stelle  die  Konservatoriumsfesseln  gesprengt 
haben.  Um  nicht  viele  Worte  zu  machen,  werde  ich  nur 
Eines  sagen:  alle  Herrn  vom  Schlage  Reinthalers  und  Volk- 
manns würden  über  Herrn  Tschaikowskv's  Kantate  "gewiss 
hocherfreut  sein  und  ausrufen:  „noch  Einer  von  den  Un- 
serigen"! 

So  beurteilten  das  erste  Werk  Tschaikovvsk^^'s  die  mu- 
sikalischen Grössen  und  die  Presse. 

Ich  bin  aber  im  Besitz  noch  einer  anderen  Meinung, 
welche  nicht  von  einem  grossen  Meister  herrührt,  sondern 
von  einem  zwanzigjährigen  Jüngling,  welcher  seinen  mu- 
sikalischen Lehrgang  noch  nicht  ganz  durchgemacht,  wel- 
cher später,  allerdings,  Musikkritiker  geworden  ist,  jene 
Meinung  aber  einige  Jahre  vor  dem  Anfang  seiner  musik- 
schriftstellcrischen  Thätigkeit  geäussert  hatte.  Folgendes 
schrieb  der  Schüler  des  Konservatoriums,  Laroche,  an  Pe- 
ter Iljitsch  nach  Moskau: 


—  I09  — 

„Petersburg,  Mitternacht  des  ii.  Januar  1866. 

Rubinstein  hat  mir  gesagt,  dass  er  die  Kantate  nur 

unter  der  Bedingung  grosser  Aenderungen  aufführen  wird. 
Das  bedeutet  aber  soviel,  dass  Sie  nun  die  ganze  Partitur 
umschreiben  müssen.  Ob  sich  das  lohnt?  Damit  will  ich 
die  Vorzüge  Ihrer  Kantate  durchaus  nicht  verneinen  rf^'e^r 
Kantate  ist  das  f/rössfc  musikalisc/ie  Ereigniss  Rvssiand's 
nach  der  „Jad/tli'^;  sie  steht,  was  Inspiration  und  Arbeit 
anbetrifft,  unermesslich  höher,  als  die  berühmte  und  nichts- 
würdige „Rogneda".  Aber  das  Umschreiben!!  Umschrei- 
ben —  ist  schrecklich!  Bilden  Sie  sich  nicht  ein,  dass  ich 
Ihnen  dieses  als  Freund  sage:  ich  sage  es  Ihnen  offen, 
dass  ich  in  Verzweiflung  bin,  als  Kritiker  bekennen  zu 
müssen,  dass  iSie  das  (jrösste  musikalische  Talent  des  дед en- 
nmrtigen  Russland.  sind.  Kraftvoller  und  origineller  als  Ba- 
lakireff,  edler  und  schöpferischer  als  Seroff,  unvergleichlich 
gebildeter  als  Rimsky-Korsakoff!  In  Ihnen  erblicke  ich  die 
grösste,  oder  bes^^er  gesagt  die  einzige  Hoffnung  unserer  mu- 
sikalischen Zukunft!  Sie  wissen  sehr  gut,  dass  ich  nicht 
schmeichle:  ich  habe  keinen  Augenblick  gezögert,  Ihnen 
zu  sagen,  dass  Ihre  „Römer  im  Kolosseum"  eine  traurige 
Trivialität  und  dass  Ihr  „Gewitter"  ein  Museum  antimusi- 
kalischer Kuriositäten  w\ären.  Uebrigens  ist  Alles,  was  Sie 
bisher  gemacht  haben,  die  „Charaktertänze"  und  die  Szene 
aus  „Boris  Godunow"  ')  nicht  ausgenommen,  in  meinen 
Augen  nur  eine  vorbereitende,  experimentale  (wenn  man 
so  sagen  darf)  Schularbeit.  Ihre  eigentlichen  Schöpfungen 
tverden  vielleicht  erst  nacli  fünf  Jahren  beginnen.  Diese  rei- 
fen und  klassischen  ScJiöpfungen  aber,  iverden  Alles  über- 
treffen, ivas  lüir  nach  Glinka  gehabt  haben. 

Um  kurz  zusammenzufassen,  was  ich  eben  gesagt  ha- 
be:— nicht  dafür  verehre  ich  Sie  so  sehr,  was  Sie  bis  jetzt 
vollbracht  haben,  sondern  dafür,  was  Sie  bei  der  Macht 
und  Lebendigkeit  Ihres  Genie's  noch  zu  vollbringen  im- 
stande sind.  Die  Proben,  die  Sic  bisher  geliefert  sind  nur 
das  feierliche  Versprechen,  alle  Ihre  Zeitgenossen  zu  über- 
flügeln". 


•^i^r 


ij  Mit  Ausnalime  der  Tüiiice  und  des  „Gewiller'b"  ist   Alles   spurlos  verschwunden. 


Э}гф;;^^-;Ь-^|^^^'ф!-^^^-^'-^"(Ь"^<^"^'^'^<ф^'ф"ф"ф"ф^'^ 


t 


Vierter  Teil. 


I. 


Die  ersten  Eindrücke  in  Moskau  und  ihre  Bedeutung 
für  Peter  Iljitsch  beschränken  sich  auf  einige  Moskowiter, 
die  er  kennen  lernte  und  mit  denen  er  allmälig  herzliche, 
bis  an  sein  Lebensende  dauernde  Beziehungen  anknüpfte. 
Seine  ganze  spätere  künstlerische  Thätigkeit  hängt  so  un- 
trennbar mit  dem  kleinen  Kreis  seiner  Moskauer  Bekannten 
zusammen,  dass  es  für  den  Leser  von  hiteresse  sein  dürfte, 
die  einzelnen  Personen  jenes  Bekanntenkreises  Peter  Iljitschs 
des  Näheren  kennen  zu  lernen,  ehe  ich  mit  der  Beschrei- 
bung der  Lehrer-und  Komponistenthätigkeit  meines  Bru- 
ders beginne. 

An  der  Spitze  des  Moskauer  Musiklebens  stand  damals 
Nikolai  Gregorje witsch  Rubinstein.  Man  kann  wohl  be- 
haupten, dass  Niemand  eine  grössere  Rolle  in  dem  Schicksal 
des  Komponisten  gespielt  hat,  Niemand  in  höherem  Maas- 
se — als  Künstler  und  auch  als  Freund  dem  Aufblühen 
seines  Ruhmes  förderlich  gewesen ,  Niemand  mehr  für 
Peter  Iljitsch  gesorgt  und  seinen  ersten  furchtsamen  An- 
fängen eine  thatkräftigere  Unterstützung  hat  angedeihen 
lassen  als  der  Direktor  des  Moskauer  Konserv^atoriums. 
Der  Name  Nikolai  Rubinsteins  ist  mit  allen  Einzelheiten 
des  privaten  und  des  öffentlichen  Lebens  Peter  Iljitsch's 
auf  das  Innigste  verwebt.  Ueberall  sind  die  Spuren  des 
wolilthuenden  Einflusses  des  besten  aller  Freunde  Peter 
Iljitsch's  zu  erkennen.  In  den  ersten  Jahren  war  für  Peter 
Iljitsch  ohne  Uebertreibung  ganz  Moskau  in  der  Person 
N.   Rubinsleins  vci-körpert. 


III  — 


Laroche  charakterisiert  ihn  in  seinen  „Erinnerungen" 
folgendermaassen: 

„Nikolai  Gregorjewitsch  ist  am  2.  Juni  1835  geboren. 
Ebenso  wie  sein  „berühmterer"  Bruder  hat  er  schon  aus- 
serordentlich früh  phänomenales  musikalisches  Talent  offen- 
bart. Man  behauptet  sogar,  dass  er  mit  noch  grösserer 
Leichtigkeit  gelernt  habe,  als  sein  älterer  Bruder,  und  für 
noch  genialer  gehalten  worden  wäre,  als  Dieser. 

Während  aber  Anton  sich  vollständig  der  Musik  ge- 
widmet und  in  Berlin  studiert,  hatte  Nikolai  sich  die  Ge- 
lehrtenlaufbahn erwählt  und  war  in  die  Moskauer  Univer- 
sität als  stud.  jur.  eingetreten.... 

Als  Student,  und  auch  später,  bis  zur  Gründung  der 
Russischen  Musikalischen  Gesellschaft,  hatte  er  sich  seinen 
Lebensunterhalt  durch  Klavierstunden  erworben,  deren  er 
eine  ganze  Masse  zu  geben  hatte  (eine  Zeit  lang  hatte  er 
dadurch,  wie  er  mir  selbst  erzählte,  an  7000  Rubel  jähr- 
lich eingenommen).  Bei  seiner  Verheiratung  hat  er  aus 
Rücksicht  auf  die  Ansichten  der  Verwandten  seiner  Frau 
das  Spielen  in  Konzerten  aufgeben  müssen.  Sein  eheliches 
Glück  ist  nicht  von  langer  Dauer  gewesen:  die  Meinungs- 
verschiedenheiten, welche  zwischen  ihm  und  den  Ange- 
hörigen seiner  Frau  in  Betreff  verschiedener  Gepflogen- 
heiten, S3'4npatieen  und  Antipatieen  herrschten,  hatten  sehr 
bald — nach  zwei  Jahren  bereits — zum  Bruch  geführt. 

Vor  der  Gründung  der  Moskauer  Abteilung  der  Russi- 
schen MusikaHschen  Gesellschaft  setzte  er  seine  ganze 
Energie  für  die  Regelmässigkeit  der  von  ihm  zu  erteilen- 
den Klavierstunden  ein,  w^as  ihn  jedoch  nicht  hinderte,  die 
Abende  und  sogar  ganze  Nächte  hindurch  dem  Kartenspiel 
obzuliegen.  Seine  eminentesten  Fähigkeiten  erglänzten  im 
vollen  Licht  erst,  als  es  ihm  gelungen  war,  das  Moskauer 
Konservatorium  zu  gründen.  Ausser  seinem  genialen  Kla- 
vierspiel, offenbarte  er  grosses  Talent  als  Dirigent  und 
Administrator.  Er  verstand  es,  in  seiner  Person  allein,  die 
ganze  Musikalische  Gesellschaft  zu  repräsentieren:  er  war 
überall  und  Alles,  obgleich  er  fortsetzte  jede  Nacht  im 
„Englischen  Klub"  Karten  zu  spielen  und  die  Bekanntschaft 
mit  ganz  Moskau,  d.  h.  mit  fast  sämmtlichen  Vertretern 
der  kommerziellen,  administrativen,  literarischen,  gelehrten, 
künstlerischen  und  aristokratischen  Welt  Moskaus  zu  un- 
terhalten". 

In  der  Sache  der  Förderung  des  Moskauer  Konserva- 
toriums war  N.  Rubinstein  der  grösste  Idealist.  Die  Rein- 


112    — ■■ 

heit  und  Erhabenheit  seiner  Bestrebungen  in  dieser  Sache 
hatte  er  bis  an  seinen  Tod  im  Herzen  getragen,  er  war 
stets  gerecht,  hess  keinerlei  Kompromisse  zu  und  besass 
nie  persönhche  Sympatieen  oder  Antipatieen.  Er  war  stets 
bereit,  einem  Künstler,  besonders  einem  russischen,  zu 
helfen,  und  hat  in  solchen  Fällen  nie  an  seine  Mittel  ge- 
dacht, sondern  einfach  Alles  hingegeben,  was  er  im  betref- 
fenden Augenblick  bei  sich  führte. 

Nikolai  Gregorje witsch  war  nur  um  fünf  Jahre  älter, 
als  Peter  Iljitsch,  in  ihren  Beziehungen  aber,  besonders  in 
der  ersten  Zeit  ihrer  Annäherung,  machte  sich  ein  viel 
grösserer  Unterschied  bemerkbar.  Das  kam,  erstens,  daher, 
dass  Peter  Iljitsch  gewissermaassen  als  ein  Untergebener 
nach  Moskau  kam,  wo  dazu  der  Name  Rubinstein  einer 
der  populärsten  war;  zweitens,  aber,  wiesen  auch  die  Cha- 
raktereigenschaften der  Beiden  genug  Verschiedenheiten 
auf:  der  Eine  gehörte  zu  denjenigen  Menschen,  welche 
man  sich  nicht  anders,  als  herrschend,  dominierend  vor- 
stellen kann;  Etwas  Gewaltiges  lag  im  Wesen  Nikolai  Gre- 
gorjewitsch's,  und  ihm  unterwarf  sich  unwillkürlich  die 
ganze  Umgebung.  Peter  Iljitsch  war  aber  gerade  im  Ge- 
genteil, äusserlich  stets  sehr  nachgiebig  und  unterwürfig, 
obgleich  er  in  seinem  Innern  gegen  jede  Beeinflussung  und 
jeden  ihm  auferlegten  Zwang  protestierte  und  im  Grunde 
auch  selbständig  blieb,  wenigstens  was  seinen  wichtigsten 
Lebensfaktor,  die  Musik,  anbelangt.  Diese  Selbstverwahrung 
ist  ihm  aber  nie  leicht  geworden,  daher  hatte  er  auch  die 
Einsamkeit  so  lieb.  Er  fürchtete  die  Menschen,  weil  er  es 
nicht  verstand,  ihnen  nicht  nachzugeben,  und  sich  unter- 
werfen wollte  er  nicht.  Das  Letztere  gilt  übrigens  nicht 
von  Peter  Iljitsch  des  Jahres  1866,  als  er  dankerfüllt  die 
väterliche  Sorge  Nikolai  Gregorjewitsch's  über  sich  erge- 
hen Hess  und  sich  dem  Willen  seines  neuen  Freundes,  so- 
gar in  Bezug  auf  die  Einzelheiten  seiner  Toilette  wider- 
spruchslos fügte. 

Nur  manches  Mal  wurden  die  herzhchen  Beziehungen 
der  Beiden  durch  geringe  Meinungsverschiedenheiten  ge- 
trübt, welche  aber  nie  in  Zank  ausarteten,  sondern  nur 
darin  bestanden,  dass  Peter  Iljitsch  auf  Nikolai  Gregorje- 
witsch  für  dessen  übereifrige  Bevormundung  schmollte,  und 
Nikolai  Gregorje  witsch  seinerseits  Peter  Iljitsch's  Mangel 
an  Ergebenheit  schalt. 

„Die  rechte  Hand  Nikolai  Gregorjewitsch's",  erzählt 
Laroche,     „war,  im  wahren  Sinne  dieses  oft  gemissbrauch- 


—  из  — 

ten  Ausdruckes,  der  Inspektor  des  Konservatoriums,  Kon- 
stantin Karlowitsch  Albrecht,  welcher  um  circa  fünf  Jahre 
älter  als  Peter  Iljitsch,  und  seit  1862  mit  der  Tochter  des 
sehr  tüchtigen  Klavierlehrers  Langer  verheiratet  war.  Er 
lebte  sehr  still  und  bescheiden,  und  war  infolge  des  reichen 
Kindersegens  stets  in  Geldverlegenheit:  übrigens  war  er 
von  Kindheit  auf  daran  gewöhnt,  seinen  Lebensunterhalt 
selbst  zu  verdienen  und  hatte  schon  als  fünfzehnjähriger 
Knabe  die  Stelle  eines  Cellisten  am  Grossen  Theater  be- 
kleidet. Wie  er  nach  Moskau  gekommen,  weiss  ich  nicht. 
Sein  Vater  ist  seinerzeit  als  Kapellmeister  zu  beträchtlicher 
Berühmtheit  gelangt.  Konstantin  Karlowitsch  war  ein  sehr 
befähigter  und  in  mancher  Beziehung  interessanter  Mensch, 
bei  dem  grossen  Publikum  jedoch  unpopulär.  Peter  Iljitsch 
fühlte  sich  aber  sehr  zu  ihm  hingezogen  und  wurde  bald 
nach  der  Ankunft  in  Moskau  sein  Pensionär,  d.  h.  früh- 
stückte und  mittagte  bei  ihm  täglich.  Die  Ansichten,  bes- 
ser, Ueberzeugungen  Albrechts  waren  ausserordentlich  pa- 
radoxalen  Charakters. 

In  der  Politik  vertrat  er  die  konservativste  Richtung 
und  beweinte  sogar,  wenn  ich  nicht  irre,  die  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft,  was  aber  die  Musik  anbelangt,  so  gab 
es  1866  in  Moskau  wohl  kaum  einen  Radikaleren,  als  ihn. 
Richard  Wagner,  Liszt,  die  letzte  Periode  Beethovens  und 
ein  wenig  Schumann — das  war  fast  Alles,  was  er  anerkannte. 
Als  Kuriosum  füge  ich  noch  hinzu,  dass  er  die  „Russalka" 
von  Dargomizski  „verehrte".  Er  hat  auch  selbst  etwas 
komponiert  und  etwa  ein  halbes  Dutzend  Lieder,  mehrere 
Männerchöre  und  Etüden  für  das  Cello  herausgegeben. 
Bei  der  grossen  Masse  ist  er  aber  erst  durch  sein  Hand- 
buch des  Chorgesanges"  bekannt  und  sogar  berühmt  ge- 
worden. Er  war  stets  sehr  beschäftigt:  erstens  hatte  er  im 
Konservatorium  ausserordentlich  viel  zu  arbeiten,  ausser- 
dem war  er  an  den  verschiedensten  Instituten  und  Lehran- 
stalten (eine  Zeit  sogar  im  Civilgefängniss)  Chorgesang- 
lehrer. Und  das  ist  die  einzige  Sphäre,  wo  er  wirkliche, 
greifbare  Resultate  erzielt  hatte:  er  schaffte  gewissenhafte 
Schüler,  die  später  selbst  ausgezeichnete  Lehrer  wurden. 

Ausser  für  Musik,  interessierte  sich  Konstantin  Karlo- 
witsch sehr  für  Geologie,  Entomologie  und  Mechanik;  für 
Letztere  besass  er  sogar  ein  gewisses  Talent  und  erfand 
jeden  Augenblick  irgend  einen  Apparat  oder  eine  Vorrich- 
tung zu  einem,  gewöhnlich  sehr  fern  liegenden  und  un- 
praktischen Zwecke.  Im  Sommer  sammelte  er  leidenschaft- 

Tachaikotvaky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  8 


—  114  — 

lieh  allerlei  Käfer  und  Schmetterlinge.  Für  diejenigen  Dinge 
aber,  welche  einen  Musiker  sonst  zu  interessieren  pflegen, 
für  auswärtige  Politik,  für  Geschichte,  Poesie  und  Belle- 
tristik spürte  er  nicht  die  geringste  Neigung.  Ich  glaube 
kaum,  dass  er  je  in  seinem  Leben  einen  Roman  gelesen 
hätte" 

Peter  Iljitsch  war  sehr  hoher  Meinung  von  dem  musi- 
kalisch-schöpferischen Talent  Konstantin  Karlowitsch's  und 
hat  ihm  oft  sein  Bedauern  darüber  ausgedrückt,  dass  ein 
so  grosses  Talent  verloren  gehe. 

In  der  Hauptsache  war  es  aber  dennoch  nur  die  un- 
gewöhnliche Herzensgüte,  aber  auch  der  eigenartige  Hu- 
mor Konstantin  Karlowitsch's,  welche  ihm  die  Sympatie 
Peter  Iljitsch's  zuführten. 

Ganz  anderer  und  wichtigerer  Art  war  die  Annä- 
herung Peter  Iljitsch's  an  P.  I.  Jurgenson,  den  ersten  und 
hauptsächlichsten  Verleger  seiner  Werke. 

Peter  Iwanowitsch  Jurgenson  war  1836  in  Reval  ge- 
boren worden  und  hat  seine  erste  Kindheit  in  sehr  trau- 
rigen Verhältnissen  verlebt:  seine  Eltern  hatten  schwer  mit 
der  Armut  zu  kämpfen  und  erzogen  ihren  Sohn  äusserst 
streng,  ihn  für  die  unschuldigsten  Vergehen  jeden  Augen- 
blick hart  bestrafend.  Mit  neunzehn  Jahren  erhielt  er  eine 
Stelle  als  Verkäufer  in  einer  Musikalienhandlung  zu  Pe- 
tersburg. 

Er  hatte  sich  sehr  bald  mit  dem  Geschäft  vertraut  ge- 
macht, und  kam,  nachdem  er  noch  einige  ähnliche  Stellun- 
gen in  anderen  Musikalienhandlungen  Petersburg's  inne 
gehabt,  als  Verwalter  der  Musikalienhandlung  der  Gebrü- 
der Schildbach  nach  Moskau,  in  welcher  Stellung  er  zwei 
Jahre  verblieb.  Nach  Ablauf  dieser  Zeit  löste  sich  die  Firma 
auf,  und  Peter  Iwanowätsch  blieb  ohne  Stelle.  Da  er  kei- 
ne Hoffnung  hatte,  in  kurzer  Zeit  wieder  eine  Anstellung 
zu  erlangen,  so  entschloss  er  sich  zu  einem,  bei  seinen 
geringen  Geldmitteln  sehr  gewagten  Unternehmen,  und 
eröffnete  1861  in  Moskau  eine  eigne  Notenhandlung. 

In  N.  Rubinstein  fand  sein  junges  Geschäft  einen  selbst 
losen  und  mächtigen  Freund  und  Helfershelfer.  Zwanzig 
Jahre  lang  hat  Rubinstein  mit  unermüdlicher  Energie  die 
Verlagsunternehmungen  Jurgensons  unterstützt  und  geför- 
dert. Das  erste,  auf  Rubinsteins  Anregung  im  neuen  Ver- 
lag erschienene  Stück  war  eine  Gavotte  von  J.  S.  Bach. 
Im  Jahre  1862  wurde  die  in  damaliger  Zeit  erste  und  ein- 
zige Gesammtausgabe  der  Klavierwerke  Mend('lss()hn-Bar- 


—  115  — 

tholdy's  veranstaltet,  und  1864  brachte  Jurgenson  eine  Samm- 
lung von  Schuberts  Liedern  mit  russischem,  von  N.  Ru- 
binstein redigiertem  Text  heraus.  Diese  Anfänge  errangen 
der  jungen  Firma  einen  glänzenden  Erfolg  und  wurden 
zum  Grundpfeiler  für  ihr  ferneres  Wachstum. 

1866  hatte  Peter  Iwanowitsch  die  schwerste  Zeit  bereits 
hinter  sich  und  begann,  im  musikalischen  Leben  Moskau's 
eine  hervorragende  Rolle  zu  spielen.  Mutig  und  unterneh- 
mungslustig, war  er  einer  der  thätigsten  Jünger  Rubinsteins, 
dieses  „Peter  des  Grossen"  des  musikalischen  Moskau, 
und  hat  ihm  durch  seine  kaufmännischen  Fähigkeiten  in 
Sachen  der  Schöpfung  des  Konservatoriums  grosse  Dienste 
geleistet.  In  den  Angelegenheiten  seines  eignen  Unterneh- 
mens hat  er  es  verstanden,  neben  den  egoistischen  Ten- 
denzen des  Geldverdienstes  auch  dem  edlen  Bestreben 
der  Förderung  und  Verbreitung  gediegener  Musik  in  Russ- 
land Rechnung  zu  tragen.  Ungeachtet  des  grossen  ma- 
teriellen Vorteils  verschmähte  er  es,  leichte  und  schlechte 
Musikstücke  (Tänze,  Zigeunerheder,  Kouplet's,  etc.)  zu 
verlegen  und  wurde  der  erste  russische  Herausgeber  der 
unsterblichen  Werke  der  klassischen  deutschen  Kunst.  Auch 
begann  er  als  Erster,  die  Kompositionen  junger  russischer 
Tondichter,  unter  welchen  sich  auch  Peter  Iljitsch  befand, 
in  seinen  Verlag  aufzunehmen. 

Peter  Iljitsch  hat  Jurgenson,  welcher  trotz  seiner  esth- 
ländischen  Herkunft  ein  begeisterter  russischer  Patriot 
war,  sehr  schnell  lieb  gewonnen  und  ist  nach  und  nach 
auch  in  der  Famihe  Peter  Iwanowitsch's  ein  gern  gesehe- 
ner Gast  geworden. 

Augenblicklich  ist  P.  Г.  Jurgenson  fast  der  alleinige  In- 
haber der  sämmtlichen  Kompositionen  Tschaikowsky's.  Von 
den  in  seinem  Besitz  befindlichen  und  im  feuersicheren 
Lagerraum  seiner  Notenstecherei — der  grössten  in  Russ- 
land— in  Verwahrung  liegenden  zweihundert  Tausend  Plat- 
ten entfallen  mehr  denn  siebenzig  Tausend  auf  Peter  Iljitsch's 
Werke. 

Den  vierten  seiner  intimen  Freunde,  N.  D.  Kaschkin, 
hat  Peter  Iljitsch  schon  vor  der  persönlichen  Begegnung 
mit  ihm  aus  Laroche's  Erzählungen  noch  in  Petersburg 
gut  gekannt. 

„ Nikolai  Dmitrijewitsch  Kaschkin  war  der  Sohn  eines 

bekannten  und  beliebten  Buchhändlers  in  Woronesch", — 
erzählt  Laroche  in  seinen  „Erinnerungen", — „von  Kindheit 
auf  zeigte  er  grosse  Befähigung  für  das  Klavierspiel  und 


—  II6  — 

hat  es  durch  eifriges  Selbststudium  so  weit  gebracht,  dass 
er  schwere  Konzertstücke  ziemhch  fertig  spielen  konnte. 
In  Woronesch  hat  er  schon  früh  die  Aufmerksamkeit  des 
Publikums  auf  sich  gelenkt  und  ist  nicht  nur  der  belieb- 
teste Virtuos  jener  Stadt,  sondern  auch  der  kompetenteste 
Pädagog  geworden.  Das  hinderte  ihn  jedoch  nicht,  einzu- 
sehen, dass  ihm  die  richtige  Schule  noch  fehlte,  und  er 
kam  als  zweiundzwanzigj ähriger  Jüngling  nach  Moskau, 
um  bei  Dubuque  Klavierunterricht  zu  nehmen...  Ich  lernte 
ihn  damals  kennen  und  wir  standen  seither  in  recht  freund- 
schaftlichem Verkehr,  bis  ich  1862  in's  Petersburger  Kon- 
servatorium kam... 

Tschaikowsky  ist  erst  viel  später  mit  ihm  bekannt  ge- 
worden. Obgleich  Nikolai  Dmitrijewitsch  nie  irgend  einen 
Einfluss  auf  Peter  Iljitsch  auszuüben  vermocht  hatte,  wa- 
ren ihre  Beziehungen  deshalb  nicht  weniger  freundschaft- 
lich. Als  Peter  Iljitsch  nach  Moskau  kam,  war  Nikolai 
Dmitrijewitsch  bereits  verheiratet  und  Professor  am  Mos- 
kauer Konservatorium.  Er,  sowohl  als  auch  seine  junge 
Frau,  gefielen  dem  in  Moskau  anfangs  sich  recht  einsam 
fühlenden  Komponisten  von  vornherein  sehr  und  sie  tra- 
ten bald  in  intimen  Verkehr  mit  einander.  Das  Haus  Ka- 
schkin's  war  seit  1865  lange  Zeit  hindurch  einer  der  lieb- 
sten Versammlungsorte  der  Professore  des  Moskauer  Kon- 
servatoriums  

In  damaliger  Zeit  war  Kaschkin  noch  nicht  die  musik- 
kritische Autorität,  als  welche  ihn  die  gegenwärtige  Ge- 
neration kennt.  Seine  hauptsächlichste  Beschäftigung  be- 
stand im  Stundengeben.  In  Moskau  ist  er  nie  als  Pianist 
öffentlich  aufgetreten,  das  schadete  aber  seinem  Ruf  als 
Lehrer  nicht  im  Geringsten.  N.  Rubinstein  schätzte  ihn 
ausserdem  als  Ratgeber,  was  vär  anderen  Lehrer  des  Kon- 
servatoriums, übrigens,  auch  thaten.  Für  einen  Jeden  von 
uns,  seinen  Freunden,  war  er  gleichsam  die  personifizierte 
Kritik.  Kaschkin  das  Manuscript  einer  frisch  komponierten 
Partitur,  oder  eines  soeben  verfassten  Aufsatzes  zu  zeigen — 
war  für  uns  eine  ebensolche  Notwendigkeit,  als  —  ihn  in 
Angelegenheiten  unseres  musikalischen  oder  nicht  musika- 
lischen Privatlebens  um  Rat  zu  fragen. 

Viele  Jahre  nach  der  Zeit,  von  welcher  jetzt  die  Rede 
ist,  hat  Nikolai  Dmitrijewitsch  die  Lehrthätigkeit  am  Kon- 
servatorium, welche  ihm  soviel  Erfolge  und  Anerkennung 
gebracht,  aufgegeben  und  ist  Musikkritiker  geworden.  Aber 
auch  in  diesem,  so  heiklen  Beruf,  welcher  gar  oft  Misshel- 


—  11?  — 

ligkeiten  und  unversöhnliche  Feindschaft  säet,  A\aisste  er, 
sich  die  alten  freundschaftlichen  Beziehungen  zu  bewahren 
und  sogar  neue  Freunde  zu  erwerben". 

Wenn  wir  zu  den  genannten  vier  Männern — N.  Rubin- 
stein, K.  Albrecht,  P.  Jurgenson  und  N.  Kaschkin-  die  uns 
schon  bekannten  Studiengenossen  Peter  Iljitsch's  Laroche 
und  Hubert,  gesellen,  von  denen  der  Erstere  nach  einem 
Jahr,  und  der  Andere  nach  drei  Jahren  ebenfalls  nach 
Moskau  kamen,  so  ist  die  Reihe  der  intimen  Freunde  Pe- 
ter Iljitsch's  vollständig.  Diesem  Freundeskreis  unseres  Kom- 
ponisten war  es  beschieden,  Peter  Iljitsch's  Talent  die  wirk- 
samste Förderung  angedeihen  zu  lassen,  —  die  sicherste 
Stütze  für  seinen  wachsenden  Ruhm  zu  werden,  und  bis 
an  den  Tod  in  innigstem  Kontakt  mit  seiner  Person  zu 
bleiben.  In  diesem  Kreis  hatte  Peter  Iljitsch  Aufmunterung 
und  Teilnahme  gefunden,  zu  einer  Zeit,  als  er  dessen  am 
dringendsten  bedurfte. 


II. 

Am  5.  Januar  1866  verliess  Peter  Iljitsch  Petersburg. 

Die  Beschreibung  der  ersten  Moskauer  Eindrücke  ihm 
selbst  überlassend,  halte  ich  es  nicht  für  notwendig,  den 
Leser  mit  verschiedenen  Einzelheiten  und,  auf  den  ersten 
Bück  unbedeutend  scheinenden  Ausführlichkeiten  zu  scho- 
nen, denn  gerade  in  diesen  Einzelheiten,  in  diesen  Kleinig- 
keiten, spiegeln  sich  die  Grundzüge  der  Stimmung  Peter 
Iljitsch's  in  jener  schweren  Periode  seines  Lebens  am  be- 
sten wieder:  die  Tiefe  seiner  Zärdichkeit  für  seine  Ange- 
hörigen, die  Sehnsucht  nach  den  Brüdern,  das  anfängliche 
Einsamkeitsgefühl  in  der  fremden  Stadt,  und  das  allmäliche 
Sich-Hineinleben,  bis  ihm  endlich  Moskau  die  „liebste  Stadt 
der  Welt"  wird. 

An  Anatol  und  Modest  Tschaikowsky: 

„3V2  Uhr  Nachmittags,  d.  6.  Januar. 

Meine  lieben  Brüder,  meine  Reise  ist  zwar  traurig  doch 
glücklich  von  statten  gegangen.  Ich  habe  immer  an  Euch 


—  ii8  — 

gedacht  und  es  quälte  mich  der  Gedanke,  dass  ich  Euch 
in  der  letzten  Zeit  mit  meiner  Verstimmung,  an  der  ich 
sehr  stark  Htt,  gar  zu  lästig  gewesen  sein  muss.  Zweifelt 
aber  niemals  an  meiner  Liebe,  selbst  wenn  sie  sich  in  keiner 
greifbaren  Art  und  Weise  äussert.  Abgestiegen  bin  ich  im 
Hotel  Kokoreff;  war  auch  schon  bei  Rubinstein  und  habe 
die  Bekanntschaft  zweier  Direktoren  der  Musikalischen  Ge- 
sellschaft gemacht.  Rubinstein  hat  mich  so  eindringlich  ge- 
beten, bei  ihm  zu  wohnen,  dass  ich  es  nicht  abschlagen 
konnte  und  ziehe  morgen  zu  ihm.... 

Ich  habe  immer  noch  Halsschmerzen.  Oben  auf  dem 
Schrank,  zwischen  meinen  Manuscripten  und  Papieren,  ist 
die  Uebersetzung  liegen  geblieben,  an  welcher  ich  im  Som- 
mer gearbeitet  habe.  Bitte  bringet  sie  mit  den  Partituren 
zusammen  in's  Konservatorium  an  A.  Rubinstein:  ich  hatte 
versprochen,  ihm  dieselben  noch  vor  meiner  Abreise  abzu- 
hefern. 

Küsse  Euch  herzlich.  Habet  mich  lieb!  Griisse  an  Alle. 
Schreibt!  Bald  werde  ich  wieder  schreiben.  Eben  habe  an 
Vater  geschrieben,  Thuet  das  auch". 

An  Dieselben: 

„Moskau,  d.  lo.  Januar. 

Liebe  Brüder,  nun  wohne  ich  bei  Rubinstein.  Er  ist 
ein  sehr  guter  und  sympatischer  Mensch.  Mit  der  gewis- 
sen Unnahbarkeit  seines  Bruders  hat  er  Nichts  gemein, 
kann  sich  aber  auch  in  anderer  Beziehung  nicht  mit  ihm 
vergleichen:  Als  Künstler.  Ich  nehme  eine  kleine  Stube 
neben  seinem  Schlafzimmer  ein,  und — die  Wahrheit  zu  sa- 
gen— fürchte  ich,  dass  ihn  abends,  wenn  er  zu  Bett  gegan- 
gen, das  Kratzen  meiner  Feder  am  Einschlafen  hindert 
(uns  trennt  nur  eine  ganz  dünne  Wand),  ich  bin  aber  sehr 
beschäftigt  ^).  Ich  sitze  fast  die  ganze  Zeit  zu  Hause,  und 
Rubinstein,  welcher  ein  ziemlich  zerstreutes  Leben  führt, 
kann  meinen  Fleiss  nicht  genug  bewundern.  Ich  bin  auch 
schon  je  einmal  in  beiden  Theatern  gewesen,  —  die  Oper 
ist  scheusslich,  dafür  habe  ich  aber  wohl  kaum  jemals 
einen  so  grossen  künstlerischen  Genuss  gehabt,  wie  in  der 
dramatischen  Vorstellung. 

Ich  habe  noch  fast  gar  keine  weiteren  Bekanntschaf- 
ten gemacht,  nur  mit  einem  gewissen  Kaschkin,  dem  Freun- 


1)  Er  arbeitete  damals  an  der  Instrumentation  der  im  Sommer  komponierten  C-molI- 
Ouverture. 


—  119  — 

de  Laroche's,  einem  ausgezeichneten  Musiker — bin  ich  recht 
gut  bekannt  geworden. 

Ausserdem  hat  mich  Rubinstein  eines  abends  fast  mit 
Gewalt  zu  Tarnowsky's  geschleppt,  welche,  übrigens,  ganz 
angenehme  Leute  sind.  Gestern  gab  es  hier  ein  populäres 
Konzert,  welches  in  materieller  Hinsicht  misslang,  aber 
künstlerisch  recht  interessant  war.  Das  Orchester  ist  gut, 
der  Chor  sogar  ausgezeichnet.  Manchmal  bin  ich  etwas 
melancholisch  gestimmt,  im  Allgemeinen  aber  spüre  ich  in 
mir  einen  unwiderstehlichen  Arbeitsdrang,  und  das  ist 
mein  Trost.  Den  grössten  Teil  meiner  Ouvertüre  habe  ich 
bereits  instrumentirt,  zu  meinem  grossen  Entsetzen,  jedoch, 
merke  ich,  dass  das  Stück  so  ungeheuer  lang  werden  wird, 
wie  ich  es  garnicht  erwartet  habe.  Ich  habe  N.  Rubinstein 
versprochen,  dieses  Werk  erst  hier  zur  Aufführung  brin- 
gen zu  lassen,  ehe  ich  es  nach  Petersburg  sende.  Gestern 
beim  zu-Bett  gehn  habe  viel  an  Euch  gedacht:  ich  malte 
in  meiner  Phantasie  alle  Schrecken  der  ersten  Nacht  nach 
den  Ferien  aus:  ich  stellte  mir  vor,  dass  Modi  seine  Nase 
in  die  Bettdecke  gesteckt  und  bittre  Thränen  vergossen 
habe;  wie  gern  hätt'  ich  da  trösten  mögen!  Nicht  der  übli- 
chen Phrase  wegen  sage  ich  Dir,  Modi:  büffle,  büffle,  büffle 
und  führe  Freundschaft  mit  anständigen  Kameraden,  aber 
nicht  mit  diesem  verrückten  H..  Ich  fürchte  sehr,  dass_  Du 
in  der  Klasse  sitzen  bleiben  und  in  die  Zahl  derjenigen 
geraten  wirst,  welche  von  den  Vorgesetzten  nicht  gutge- 
heissen  Averden.  Für  Toly  fürchte  ich  nicht  und  gebe  ihm 
deshalb  keine  Ratschläge.  Lieber  Tol}^  überwinde  mal  Deine 
Trägheit  für's  Briefschreiben  und  schreibe  mir.  Herzlichen 
Kuss!" 

Die  C-moll-Ouverture,  von  welcher  in  diesem  Brief  die 
Rede  ist,  hat  Peter  Iljitsch  einige  Tage  später  N.  Rubin- 
stein zur  Begutachtung  vorgelegt.  Dieser  hat  aber  ein 
absprechendes  Urteil  darüber  gefällt  und  erklärt,  dass  das 
Werk  zu  einer  Aufführung  in  einem  Symphoniekonzert 
der  Russischen  Musikalischen  Gesellschaft  ungeeignet  sei. 
Nach  diesem  Misserfolg  schickte  Peter  Iljitsch  seine  Ouver- 
türe an  Laroche  nach  Petersburg  mit  der  Bitte,  er  möchte 
Anton  Rubinstein  veranlassen,  sie  in  einem  seiner  Konzerte 
zum  Vortrag  zu  bringen.  „Ihre  Ouvertüre  ist  bei  Rubin- 
stein";— schreibt  ihm  Laroche  zurück, — „ich  habe  ihm\Vort 
für  Wort  Ihr  Anliegen  vorgetragen,  worauf  er  mit  einer 
tiefen  und  ironischen  Verbeugung  geantwortet  hat.  Uebri- 
gens  ist  das  seine  Art.  Er  bedauert,   dass  die   Stimmen 


I20    

nicht  ausgeschrieben  seien:  er  hätte  das  Stück  gern  mal 
durchgespielt,  denn  er  meint,  es  sei  schwer,  nach  dem 
blossen  Durchlesen  der  Partitur  sich  ein  Urteil  zu  bilden. 
Vorläufig  kann  also  von  einer  Aufführung  keine  Rede  sein. 
Ich  sagte  ihm,  dass  er  die  Stimmen  ausschreiben  lassen 
möchte  und  dass  Sie  die  Kosten  gern  tragen  wollten,  wo- 
rauf er  erwiderte,  dass  er  Ihnen  noch  das  Honorar  für  die 
Uebersetzung  schuldig  sei. 

Ich  fügte  dann  weiter  hinzu,  dass  mir  die  Ouvertüre 
gefallen  hätte,  dass  aber  Nikolai  Gregorjewitsch  entgegen- 
gesetzter Meinung  sei.  Da  lachte  er  laut  auf  und  sagte: 
„Nun  ja,  dieser  „Kanaille"  kann  man  es  nur  schwer  recht 
machen,  sehr  schwer!"...  —  Und  das  ist  wahr:  diese  „Ka- 
naille" hatte  mir  eines  Tages  gesagt,  dass  die  Symphonie 
von  Raff  des  letzten  Dezenniums  schönster  —  Dreck  sei!" 

Ob  es  zum  Durchspielen  der  Ouvertüre  gekommen  — 
wissen  wir  nicht;  dass  sie  A.  Rubinstein  aber  missfallen 
hat  —  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Auch  von  K.  Ljadow,  dem 
damaligen  Kapellmeister  der  Kaiserlichen  Oper,  ist  sie 
abgelehnt  worden,  als  Laroche  versuchte,  ihn  zu  bewegen, 
sie  in  das  Programm  eines  der  Konzerte  der  Theaterdirek- 
tion aufzunehmen.  Viele  Jahre  später,  hat  sich  übrigens, 
Peter  Iljitsch  selbst  der  Ansicht  Ljadow's  und  der  beiden 
Rubinsteine  angeschlossen  und  auf  dem  Umschlag  seines 
Werkes  die  Worte  „schrecklicher  Dreck"  vermerkt.  Die 
Meinung  Laroche's  über  die  Ouvertüre  ersehen  wir  aus  der 
Fortsetzung  seines  oben  angeführten  Briefes,  welche  fol- 
gendermaassen  lautet:  „Ihre  Ouvertüre  ist  prächtig,  obwohl 
weniger  glücklich,  als  die  Kantate.  Sie  enthält  viele  schöne 
Stellen.  Das  zweite  Thema  des  Allegro  (in  es,  —  Flöten, 
Klarinetten  und  Fagott  über  dem  Orgelpunkt  des  Brat- 
schentremolo) ist  voll  „humour"  (sprechen  Sie  das  englisch 
aus)  und  OriginaHtät;  das  Motiv  der  Celli  (in  ges)  ist  viel- 
leicht weniger  neu,  kann  aber  von  grosser  Wirkung  sein... 
Endhch  das  Vorspiel  zum  „Gewitter",  welches  Sie  ein- 
geschmuggelt haben  (dazu  noch  ohne  das  Englisch -Hörn: 
das  ist,  wie  ein  ihrer  Hauptreize  beraubtes  Weib),  hat  mir 
schon  früher  sehr  gefallen.  Ihre  „Fantasie-Ouvertüre"  ist 
jedoch  viel  zu  kompliziert,  was  durch  den  Doppelnamen 
durchaus  nicht  entschuldigt  werden  kann.  Sie  enthält  ausser 
dem  Recitativ  der  Kontrabässe  zum  Schluss — vier  vollkom- 
men verschiedene  Phrasen  (das  russische  Thema,  das  erste 
und  das  zweite  Thema  des  Allegro  und  das  Thema  der 
Celli),  aus  denen  man  ganze  zwei  Ouvertüren  zuschneiden 


121 


könnte.  Es  ist  merkwürdig,  aber  doch  wahr,  dass  der 
Hauptvorzug  einer  Musik  darin  hegt,  über  ein  Weniges 
viel  zu  sagen  (Beweis — die  Fuge).  Dann:  wissen  Sie,  dass 
diese  ewigen  zehn  Blechinstrumente  wie  ein  Geständniss 
der  eignen  Schwäche  anmuten? — und  dass  sie  mich,  der 
ihre  Verwendung  in  allen  Ihren  Arbeiten  wohl  kennt,  nach- 
gerade zu  langweilen  beginnen?..  Diese  Art,  Wirkung  zu 
erzeugen  ist  sehr  primitiv  und  unschuldig:  dazu  hätten 
Sie  nicht  halbsoviel  von  dem  zu  lernen  brauchen,  was  Sie 
wissen.  Wenn  Sie  doch  endlich  einmal  zu  einem  weniger 
„materiellen"  Mittel  greifen  wollten!...  Hat  denn  das  Or- 
chester der  „Fingalshöhle"  oder  der  „Melusine"  wirklich 
gar  keinen  Reiz  für  Sie?  Garnicht  zu  reden  von  Haydn 
und  Mozart". 

Am  II.  Januar  1866  war  in  den  „Moskauer  Nachrich- 
ten" folgendes  Inserat  zu  lesen:  „Der  Unterricht  in  der 
Theorie  der  Musik  unter  Leitung  des  Herrn  P.  I.  Tschai- 
kowsky  beginnt  am  14.  Januar  und  soll  Dienstags  und 
Freitags  um  11  Uhr  Vormittags  im  Konservatorium  statt- 
finden. Dieses  zur  Kenntnissnahme  Aller  Denenigen,  wel- 
che am  Unterricht  teilzunehmen  wünschen.  Das  Honorar 
beträgt  3  Rubel  monatlich". 

An  Anatol  Tschaikowsky: 

„14.  Januar. 

Lieber  Tol}^,  habe  Dank  für  den  Brief.  In  den  letzten 
Tagen  habe  ich  mich  nicht  sehr  gut  gefühlt,  jetzt  geht's 
besser.  Eure  Briefe  bereiten  mir  stets  ein  grosses  Vergnü- 
gen. Gestern  hielt  ich  den  Probevortrag  und  genierte  mich 
dabei  fürchterlich,  doch  ist  er  gut  verlaufen.  Was  meine 
Reise  nach  Petersburg  oder  Eure  Reise  nach  Moskau  an- 
belangt, so  wünsche  ich  das  Wiedersehen  mit  Euch  nicht 
weniger  sehnsüchtig,  als  Ihr  selbst,  doch  kann  man  leider 
nicht  immer  das  thun,  was  man  möchte!  Ich  werde  es  nie 
in  meinem  Leben  zugeben,  dass  Ihr  die  Reisekosten  tra- 
get!... Ausserdem  ist  hier  Alles  unglaublich  teuer.  Mein 
ganzes  Gehalt  für  den  ersten  Monat  wird  für  einen  neuen 
Anzug  draufgehen,  die  Anschaffung  dessen  Rubinstein  von 
mir  verlangt,  indem  er  behauptet,  dass  mein  gegenwärti- 
ger Rock  für  einen  Professor  der  Theorie  der  Musik  höchst 
mangelhaft  sei...  Mit  einem  Wort,  es  ist  am  besten,  wir 
verschieben  unser  Wiedersehen  bis  Ostern".... 


122    — 

An  Frau  А.  I.  Dawidowa: 

„15.  Januar. 

Von  meinem   Leben   und  Treiben  habe    ich    Nichts 

Sonderliches  zu  berichten.  Ich  werde  hier  die  Theorie  der 
Musik  lehren  und  habe  gestern  bereits  der  Aufnahmeprü- 
fung beigewohnt.  Es  haben  sich  recht  viele  hübsche  junge 
Damen  gemeldet.  Ich  wohne  bei  dem  Moskauer  Rubinstein. 
Das  ist  Einer  der  liebenswürdigsten  Menschen,  die  ich  je 
getroffen.  Moskau  selbst  gefällt  mir  ganz  gut,  und  doch 
glaube  ich,  dass  ich  mich  nie  einleben  werde:  ich  bin  zu 
sehr  mit  Petersburg  verwachsen".... 

Ueber  den  „Künstler-Verein",  welchen  Peter  Iljitsch 
damals  zu  besuchen  begann,  schreibt  Kaschkin  Folgendes: 
„Damals  war  der  Künstlerverein  der  Mittelpunkt,  wo  sich 
die  Schriftsteller,  Schauspieler,  Musiker,  überhaupt  Alle, 
welche  sich  für  Kunst  und  Literatur  interessierten,  zu  ver- 
sammeln pflegten.  Diesen  Verein  hatte  N.  Rubinstein  in 
Gemeinschaft  mit  A.  N.  Ostrowsky  und  dem  Fürsten  W. 
Odoewsky  gegründet.  Die  Versammlungen  hatten,  gewöhn- 
lich, kein  feststehendes  Programm,  und  doch  gab  es  jedes 
Mal  Etwas  Interessantes  zu  hören.  Sehr  oft  wurden  da 
literarische  Novitäten  vorgetragen,  oder  es  wurde  musiziert, 
u.  A.  m.;  es  war  Sitte,  dass  durchreisende  auswärtige 
Virtuosen  sofort  als  Gäste  in  den  Verein  eingeführt  wur- 
den und  zuerst  dort  Proben  ihres  Könnens  ablegten.  Da 
unter  den  Anwesenden  gewöhnlich  auch  viele  Damen  wa- 
ren, so  veranstaltete  man  nicht  selten  Tanzabende;  die 
Tanzmusik  wurde — angefangen  mit  Rubinstein  —  abwech- 
selnd von  uns  Allen  gemacht;  manchmal  wurde  sie  von 
Rubinstein  und  J.  Wieniawsky  gleichzeitig  auf  zwei  Kla- 
vieren und  über  gegebene  Motive  improvisiert". 

An  A.  und  M.  Tschaikowsk}^: 

„23.  Januar. 

Liebe  Brüder,  bitte  vergeudet  Euer  Geld  nicht  auf 
Briefe.  Schreibt  mir  lieber  nur  einmal  wöchentlich,  dafür 
aber  recht  viel  und  recht  ausführlich,  vielleicht  in  der  Art 
eines  Tagebuches.  Ihr  wisset,  wie  gern  ich  Eure  Plaude- 
reien aus  der  Schule  habe!  Auf  diese  Weise  werde  ich 
stets  eine  Vorstellung  darüber  haben,  was  Ihr  macht,  sonst 
aber  muss  ich  meinen  Verstand  zu  sehr  anstrengen,  um 
eine  Ahnung  da\-on  zu  bekommen,  was  Ihr  treibt.  Ich  will 


—    123    — 

Euch  auch  regelmässig  ein  oder  zweimal  in  der  Woche 
schreiben. 

Ich  bin  soeben  von  einer  Konferenz  der  Professore  des 
Konservatoriums,  welcher  ein  grosses,  von  einem  der  Di- 
rektore  der  Russischen  Musik-Gesellschaft  (einem  gewissen 
Sanin)  gegebenes  Diner  gefolgt  war,  nach  Hause  zurück- 
gekehrt, hn  Allgemeinen  ist  der  Lehrerverband  des  hiesi- 
gen Konservatoriums  nicht  so  hervorragend,  wie  der  in 
Petersburg,  doch  giebt  es  wohl  zwei  oder  drei  tüchtige 
Männer.  Ich  stehe  mich  mit  Allen  sehr  gut,  ganz  beson- 
ders aber  mit  Rubinstein,  Kaschkin,  Albrecht  und  Osberg^). 
Mit  Torlezky,  einem  der  Direktore  der  Russischen  Musi- 
kalischen Gesellschaft  —  einem  sehr  reichen  Mann  bin  ich 
ebenfalls  bekannt  geworden  und  war  neulich  bei  ihm  zu 
einer  Soiree  eingeladen.  Ausserdem  habe  vor  Kurzem  die 
Bekanntschaft  einer  Familie  Tschaikowsky  ^)  gemacht,  habe 
dort  sehr  viel  gegessen,  aber  am  Tanzen  nicht  teilgenom- 
men, obgleich  ich  in  Rubinsteins  Frack  steckte.  Rubinstein 
pflegt  mich,  als  wenn  er  meine  Kinderfrau  wäre,  und  will 
nicht  aufhören,  diesen  Beruf  mir  gegenüber  auszuüben. 
Heute  hat  er  mir  gewaltsam  sechs  ganz  neue  Hemden 
geschenkt  (an  Dawidows  braucht  Ihr  das  nicht  zu  erzäh- 
len, überhaupt  Niemandem),  und  will  mich  Morgen  mit 
Gewalt  zu  seinem  Schneider  bringen,  um  mir  einen  Rock 
zu  bestellen.  Ueberhaupt,  ist  das  ein  ungemein  liebenswür- 
diger Mensch.  Ich  verstehe  nur  nicht,  wie  er  zu  seiner 
kolossalen  musikalischen  Autorität  gekommen  ist.  Er  ist 
ein  ziemlich  gewöhnlicher  Musiker,  mit  dem  Bruder  gar- 
nicht  zu  vergleichen  ^). 

Beim  Aufzählen  meiner  hiesigen  Freunde  kann  ich  Ale- 
xander, den  Diener  Rubinsteins,  nicht  unerwähnt  lassen: 
das  ist  ein  sehr  ehrbarer  Greis  und  besitzt  eine  prachtvolle 
weisse  Katze,  welche  augenblicklich  bei  mir  auf  dem  Schoss 
sitzt,  und  welche  ich  zärtlich  streichle.  Mein  angenehmster 
Zeitvertreib  ist — an  den  Sommer  zu  denken.  In  der  letzten 
Zeit  spüre  ich  für  Sascha,  Leo  und  deren  Kinder  ganz 
besonders  tiefe  Neigung,  und  habe  beschlossen,  den  Som- 
mer in  Gemeinschaft  mit  Euch  bei  ihnen  zu  verbringen". 


1)  Der  Gesangsprofessor. 

2)  All  mein  Forschen  nach  dieser  Familie  ist  erfolglos  geblieben.  Zweifellos  ist  nur, 
dass  sie  nicht  mit  uns  verwandt  gewesen  ist. 

3)  .Später  hat  Peter  lljitsch  seine  Meinung  geändert. 


—  124  — 
An  А.  und  М.  Tschaikowsk}^: 

„Sonntag,  den  30.  Januar, 

Soeben  bin  ich  im  Zoologischen  Garten  gewesen,  wel- 
cher hier  sehr  gut  ist.  Dort  gab  es  Heute  ein  grosses 
Fest  mit  Feuerwerk  u.  s.  w.  Die  vorige  Woche  habe  ich 
recht  angenehm  verbracht;  durch  Rubinstein  habe  ich  das 
Recht  des  Eintrittes  in  den  „Kaufmännischen  Verein",  wel- 
cher über  eine  ausgezeichnete  Bibliothek  verfügt,  erhalten; 
ich  habe  derselben  ziemlich  viele  Bücher  entnommen  und 
lese  mit  grossem  Genuss.  Ueber  Dickens  lache  ich  von 
ganzem  Herzen,  ohne  Zeugen,  und  manches  Mal  reizt  mich 
der  Gedanke,  dass  mich  Niemand  hört,  zu  noch  tollerem 
Lachen.  Ich  empfehle  Euch  ebenfalls,  Dickens  zu  lesen; 
wenn  man  sich  mit  der  Belletristik  begnügen  will,  so  soll 
man  wenigstens  solche  Autoren  wählen,  wie  Dikkens.  Er 
hat  viel  Aehnlichkeit  mit  Gogol:  dieselbe  Ursprünglichkeit 
und  Natürlichkeit  des  Humors,  dieselbe  Meisterschaft,  mit 
wenigen  Strichen  einen  ganzen  Charakter  zu  zeichnen; 
nur  die  Tiefe  Gogol's  fehlt  ihm.  Meine  Theoriestunden 
machen  recht  gute  Fortschritte,  und  ich  selbst  erfreue  mich 
der  allgemeinen  Verehrung  seitens  der  von  mir  zu  beleh- 
renden Moskowiterinnen,  welche  sich  überhaupt  sehr  leicht 
zu  entflammen  scheinen. — An  dieser  Stelle  bin  ich  durch 
Tarnowsk3^'s  unterbrochen  worden,  welche  nach  mir  ge- 
schickt hatten;  und  von  dort  schleppte  mich  Rubinstein 
in's  Grosse  Theater  auf  den  Maskenball.  Meine  Furchtsam- 
keit vergeht  nach  und  nach.  Mein  Bekanntenkreis  hat 
sich  wieder  etwas  vergrössert  (leider).  Uebrigens  sind  es 
alles  nette  Leute.  Von  ihnen  gefallen  mir  namentlich  Tar- 
nowsk3^'s.  Mann  und  Frau,  welche  sehr  reich  und  gros- 
se Musikfreunde  sind.  Gestern  bin  ich  bei  Kaschkin  zu 
Blini  ^)  gewesen.  Kaschkin  hat  an  Laroche  10  Rubel  ge- 
chickt,  damit  er  hierher  kommen  kann,  und  ich  freue  mich 
sehr.  Einen  von  den  Petersburgern  wiederzusehen.  Bei 
uns  sind  jetzt  verschiedene  Sitzungen  und  Diskussionen 
im  Gange,  betreffs  Vergrösserung  des  Konservatoriums; 
diese  Diskussionen  verlaufen  gewöhnlich  sehr  stürmisch. 
Neulich  habe  ich  an  der  Formulierung  der  vStatuten  teil- 
genommen und  eine  grosse  Instruktion  verfasst,  welche 
ohne  Veränderungen  angenommen  worden  ist.  Ueber  den 
gestrigen  Maskenball  habe  ich  Nichts  zu  berichten,  er  war 


' )  Blini — eine  russisclie  Fastiiachtspeise. 


—  125  — 

grade  so,  wie  sie  in  Petersburg  auch  sind:  ganz  ebenso 
langweilig.  Ich  bin  auch  wieder  einmal  im  Russischen  The- 
ater gewesen  und  habe  eine  prächtige  Tragödie  von  Pi- 
szemsky,  „Die  Eigenmächtigen",  sowie  das  reizende  Stück 
von  Olchowsky  „Allegri"  gesehen. 

Erkläre  mir,  Toly,  wie  das  gekommen,  dass  Du  in  der 
physikalischen  Geographie  eine  5  bekommen  hast,  und  ob 
das  schlechte  Folgen  für  Dich  haben  kann.  Teilt  mir  bitte, 
recht  ausführlich  mit,  wie  Ihr  die  Butterwoche  ^)  verbringen 
werdet.  Ich  werde  Euch,  meinerseits  auch  Alles  Interessante 
erzählen.  Wenn  Laroche  kommen  sollte,  so  werde  ich, 
höchstwahrscheinlich,  die  ganze  Zeit  mit  ihm  sein.  Der 
Gedanke  an  eine  Oper  fängt  an,  mich  zu  beschäftigen. 
Alle  Texte,  die  mir  Rubinstein  gegeben,  sind  unglaublich 
schlecht.  Ich  habe  schon  selbst  einen  Stoff  gefunden  und 
will  auch  das  Textbuch  selbst  schreiben.  Das  wird  einfach 
eine  Umarbeitung  einer  Tragödie  w^erden.  Hier  lebt  übri- 
gens der  Dichter  Pleschtschejew,  welcher  sich  bereit  er- 
klärt hat,  mir  zu  helfen. 

Adieu,  meine  Lieben!" 
An  A.  Tschaikowsky: 

„D.  6.  Februar. 
Mein  lieber  Toly,  verzeihe  mir,  dass  ich  Dir  nicht  so- 
fort geantwortet  habe...  In  Betreff  des  Dich  verfolgenden 
Gedankens  von  Deiner  Geringfügigkeit  und  Nutzlosigkeit 
rate  ich  Dir,  diese  Dummheiten  abzuthun.  Für  einen  16-jäh- 
rigen Jüngling  ziemt  es  sich  nicht,  sein  zukünftiges  Le- 
ben zu  bekritteln.  Du  musst  nur  zusehen,  dass  die  Gegen- 
wart angenehm  für  Dich  sei,  d.  h.  so  dass  Du  mit  Dir 
(dem  16-jährigen  Jüngling)  zufrieden  seist.  Und  dazu  musst 
Du:  i)  arbeiten,  arbeiten,  arbeiten  und  dem  Müssiggang 
aus  dem  Wege  gehen,  um  für  die  spätere  Arbeit  tüchtig 
zu  werden.  2)  Sehr  viel  lesen.  3)  In  Betreff  Deiner  selbst 
möglichst  bescheiden  sein.  Indem  Du  dich  selbst  für  einen 
Thoren  halst,  brauchst  Du  deshalb  noch  nicht,  auch  Alle 
Andern  für  Thoren  zu  halten;  glaube  einfach,  dass  irgend 
ein  übernatürlicher  Eintluss  die  Menschen  daran  hindere, 
die  Fähigkeiten  Deines  Verstandes  zu  erkennen.  Ueber- 
haupt  musst  Du  bestrebt  sein,  Dich  zu  einem  gewöhnli- 
chen guten  und  anständigen  Menschen  vorzubereiten,  nicht 


1 )  Die  Woche  vor  dt-m  Beginn  der  grossen  Osterfasten  heisst  in  Russland — Butter- 
woche. 


—    120    

aber  ein  Genie  zu  werden,  für  welches  kein  Gesetz  gilt. 
4)  Darfst  Du  Dich  nicht  vom  Wunsch  hinreissen  lassen, 
zu  gefallen  und  zu  entzücken.  In  dem  Verkehr  mit  Deinen 
Kameraden  (das  ist  vorläufig,  in  der  Schule,  sehr  wichtig) 
sollst  Du  nicht  zu  stolz  sein,  aber  auch  nicht  allzu  entge- 
genkommend; Denen  aber,  welche  Dich  nicht  lieb  haben, 
oder  Dich  links  liegen  lassen,  sollst  Du  Gleiches  mit 
Gleichem  vergelten,  nicht  aber  sentimentale  Zänkereien 
und  ebenso  sentimentale  Versöhnungen  zulassen,  5)  Darfst 
Du  Dich  nicht  durch  Ungemach  verblüffen  lassen,  z,  B. 
durch  schlechte  Nummern,  oder  durch  die  Ungerechtigkei- 
ten Seh. 's,  oder  durch  die  Tobsucht  I.'s,  u.  s.  w..  Alles 
Das  ist  im  Vergleich  mit  Dem,  was  Dich  in  Deinem  spä- 
teren Leben  erwartet — nur  eine  ganz  geringfügige  Kleinig- 
keit. Ich  wünschte  wohl,  dass  Du  Erster  in  deiner  Klasse 
wärest,  aber  selbst  wenn  Du  auch  Letzter  werden  solltest, 
würde  ich  nicht  zürnen,  sofern  ich  nur  die  Versicherung 
hätte,  dass  das  nicht  infolge  Deiner  Faulheit  gekommen. 
Ein  schlechter  Jurist  kann  nichtsdestoweniger  ein  guter 
Mensch  sein.  6)  Die  Hauptsache,  du  sollst  nicht  eingebil- 
det und  auf  das  Schicksal  eines  gewöhnlichen  Sterblichen 
gefasst  sein;  Du  sagst:  ein  Beamter  sein  —  ist  Nichts  An- 
ziehendes. Ich  sage  Dir  aber,  dass  ich  eine  ganze  Menge 
der  talentreichsten  und  klügsten  Menschen  kenne,  welche 
ihr  ganzes  bisheriges  Leben  im  Departement  gesessen, 
sich  nicht  für  verkannte  Genie's  gehalten  haben,  und  des- 
halb durchaus  nicht  unglücklich  sind.  Beispiel:  Adamoff, 
Maslow  u.  s.  w. 

Die  ganze  Butterw^che  habe  ich  zu  Hause  gesessen. 
Habe  viel  gelesen  und  geschrieben.  Freue  mich,  dass  die 
Grosse  Fastenzeit  nahet:  ich  sehe  sie  als  Vorboten  des 
Frühlings  und  des  Sommers  an.  An  den  Sommer  denke 
ich  mit  Freuden  und  hoffe,  ihn  mit  Dir  bei  Sascha  zu  ver- 
bringen. Küsse  Dich  vielmals,  auch  Modi". 

An  Frau  A.  I.  Dawidowa. 

„7.  Februar. 

Ich  fange  allmälich  an,  mich  an  Moskau  zu  gewöh- 
nen, wenngleich  mich  die  Einsamkeit  oft  traurig  stimmt. 
Der  Kursus  schreitet  zu  meinem  grossen  Erstaunen  sehr 
erfolgreich  vorwärts;  meine  Acngstlichkeit  ist  spurlos  ver- 
schwunden und  ich  gewinne  nach  und  nach  die  richtige 
Ph3'siognomie  eines  Professors.  Mein  Heimweh  verschwin- 


—  127  — 

det  auch,  aber  Moskau  ist  für  mich  dennoch  eine  fremde 
Stadt,  und  es  wird  noch  viel  Zeit  verstreichen,  ehe  ich 
ohne  Bangen  daran  werde  denken  können,  für  lange  Jahre, 
vielleicht  für  immer  hier  bleiben  zu  müssen. 

Heute  ist  der  erste  Tag  der  grossen  Fasten,  und  Mos- 
kau ist  wie  ausgestorben. 

Die  Briefe  aus  Petersburg  kann  ich  garnicht  alle  beant- 
worten, so  viele  bekomme  ich,  und  das  tröstet  mich  aus- 
serordentlich. Mit  den  Brüdern  bin  ich  zufrieden:  sie  haben 
bewiesen,  dass  sie  mich  aufrichtig  gern  haben,  was  ich 
ihnen  hundertfältig  A^ergelten  möchte". 

An  M.  Tschaikowsky. 

(Mitte  Februar). 

„Mein  lieber  Freund  Modi,  ich  war  in  der  letzten  Zeit 
sehr  beschäftigt  und  habe  Euch  nur  deshalb  so  lange  nicht 
geschrieben.  Rubinstein  hat  mir  eine  sehr  wichtige  Arbeit 
aufgetragen,  welche  ich  bis  zur  dritten  Fastenwoche  been- 
den will.  Die  Antworten  auf  deine  Fragen  sind  folgende: 
i)  In  Betreff  der  Winzigkeit  Deiner  Persönlichkeit  lies  das, 
was  ich  an  Toly  geschrieben  habe.  Merkwürdig,  dass  Ihr 
Beide — jedenfalls  ohne  Verabredung — an  ein  und  derselben 
Einbildung  leidet.  2)  Du  w^eisst,  dass  Anatol — selbst  wenn 
er  Dich  wirklich  manchmal  mit  seiner  Gouvernanterei 
belästigt — es  doch  nur  aus  Liebe  thut,  indem  er  Dir  Gu- 
tes wünscht.  Desgleichen  darfst  auch  Du  ihn  beobachten 
und  ihn  auf  sein  Gesichterzerren  so  lange  aufmerksam 
machen,  bis  er's  eben  unterlässt. 

Ich  gerate  immer  in  Verlegenheit,  wenn  ich  von  mir 
reden  soll.  Mein  Leben  fliesst  still  und  einförmig  dahin, 
so  dass  ich  nicht  weiss,  was  ich  Dir  erzählen  soll.  Viel- 
leicht wird  Dich  Folgendes  interessieren:  ich  bin  sehr  oft 
bei  Tarnowsky's.  Dort  giebt  es  eine  Nichte,  welche  so  wun- 
derschön ist,  wie  ich  noch  nie  ein  Weib  gesehen.  Ich  muss 
gestehen,  dass  ich  mich  sehr  mit  ihr  beschäftige,  was  Ru- 
binstein Stoff  zu  den  langweiligsten  Nörgeleien  giebt.  So- 
bald wir  nur  bei  Tarnowsky's  erscheinen,  beginnt  man, 
sie  und  mich  zu  necken,  uns  aufeinander  zu  stossen  u. 
s.  w.  Zu  Hause  wird  sie  „Mufka"  genannt  und  ich  bin 
augenblicklich  sehr  mit  der  Frage  beschäftigt,  wie  ich  es 
anfangen  soll,  um  zu  dem  Recht  zu  kommen,  sie  ebenfalls 
bei  diesem  Namen  nennen  zu  dürfen:  dazu  brauche  ich 
nur.  etwas  näher  mit  ihr  bekannt  zu   werden.   Rubinstein 


—    128   — 

ist  auch  in  sie  verliebt  geAvesen,  aber  jetzt  schon  seit  lange 
wieder  erkaltet.  Meine  Sittsamkeit  ist  jetzt  in  der  besten 
Ordnung;  ich  bin  sehr  ruhig  geworden,  sogar  heiter.  Ich 
denke  sehr  oft  an  Ostern,  Frühling,  Sommer  u,  s.  w.". 

Die  im  Anfang  dieses  Briefes  erwähnte  Arbeit,  welche 
Rubinstein  Peter  Iljitsch  gegeben  hat,  bestand  in  der  Umin- 
strumentierung  der  F-dur-Ouverture,  welche  ursprünglich 
für  das  kleine  Schülerorchester  gesetzt  war,  —für  grosses 
Orchester.  Nikolai  Gregorjewitsch  hatte  die  Absicht,  die 
betreffende   Ouvertüre  in  seinem  Konzert  aufzuführen. 

Laroche,  welcher  die  Ouvertüre  in  ihrer  ursprünglichen 
Gestalt  noch  vom  Petersburger  Schülerkonzert,  in  welchem 
sie  seinerzeit  gespielt  worden  war,  her  kannte,  behauptet, 
dass  diese  Komposition  in  der  neuen  Ausgabe  viel  an 
Formschönheit  und  einheitlichem  Charakter  eingebüsst  habe. 

Ob  Laroche  Recht  hat,  ist  jetzt  schwer  zu  entscheiden, 
denn  ich  besitze  die  Ouvertüre  nur  in  ihrer  anfänglichen 
Gestalt.  Ihr  anderes  Arrangement  ist,  glaube  ich,  vom  Autor 
selbst  vernichtet  worden. 

Am  4.  März  ist  diese  Ouvertüre  im  Grossen  Saale  der 
Russischen  Adelsversammlung  durch  N.  Rubinstein  zur 
Aufführung  gekommen. 

Obgleich  die  Kritik  über  das  Debüt  Peter  Iljitsch's  sich 
ausgeschwiegen  und  Kaschkin  nur  gesagt  hat,  dass  die 
Ouvertüre  „keinen  glänzenden  Erfolg  errungen",  war  Pe- 
ter Iljitsch  selbst  von  dem  Eindruck,  welchen  sein  Werk 
auf  Musiker  und  Publikum  gemacht,  dennoch  vollauf  be- 
friedigt. 

An  A.  und  M.  Tschaikowsk}', 

„6.  März. 

Unser  Wiedersehen  steht  jetzt  so  nahe  bevor,  dass  es 
eigentlich  garnicht  mehr  lohnt,  Briefe  zu  schreiben,  denn 
in  der  Charwoche  gedenke  ich  in  Petersburg  einzutreffen, 
und  all'  mein  Denken  und  Trachten  gilt  dieser  Reise;  in 
Betreff  des  Absteigequartiers  bin  ich  noch  im  Zweifel. 
Schreibet,  wo  ich  am  besten  untergebracht  sein  werde 

Am  Freitag  ist  meine  Ouvertüre  gespielt  worden  und 
hat  einen  guten  Erfolg  gehabt:  ich  wurde  einmütig  geru- 
fen und — um  mich  gelehrt  auszudrücken  —  das  Publikum 
hat  lauten  Beifall  gezollt.  Noch  schmeihelhafter  war  für 
mich  die  mir  beim  Souper,  welches  Rubinstein  nach  dem 
Konzert  zum  Besten  gegeben,  dargebrachte    Ovation.  Ich 


—  129  — ' 

war  als  Letzter  erschienen  und  bin  mit  lebhaftem  und  an- 
haltendem Händeklatschen  empfangen  worden,  wobei  ich 
mich  sehr  ungeschickt  und  errötend  nach  allen  Seiten  hin 
verbeugte.  Während  des  Essens  brachte  Rubinstein  einen 
Toast  auf  mich  aus,  und  da  gab  es  wieder  eine  Ovation. 
Ich  schreibe  deshalb  so  ausführlich  darüber,  weil  das 
eigentlich  doch  mein  erster  öffentlicher  Erfolg,  und  daher 
für  mich  sehr  angenehm  ist.  Noch  eine  Ausführlichkeit: 
in  der  Probe  applaudierten  mir  die  Orchestermusiker.  Ich 
will  es  nicht  verheimlichen,  dass  dieser  Umstand  meinem 
ferneren  Verweilen  in  Moskau  in  meinen  Augen  einen 
grossen  Reiz  verliehen  hat". 

Ende  März  entfloh  Peter  Iljitsch  endlich  mit  dem  Ge- 
fühl eines  Schulbuben,  der  in  die  Ferien  geht,  aus  Mos- 
kau und  stürmte  nach  Petersburg,  wo  er  bis  zum  4.  April 
bheb. 

Er  selbst  schreibt  in  einem  Brief  an  die  Schwester  über 
seine  Reise  so:  „Ich  bin  in  Petersburg  gewesen  und  habe 
dort  sehr  angenehme  14  Tage  verbracht...  Das  Wieder- 
sehen mit  Allen  Denjenigen,  die  meinem  Herzen  lieb  und 
teuer  sind,  war  unbeschreiblich  erquickend".  Zu  diesem 
kurzen  Bericht  kann  leider  weder  ich  noch  mein  Bruder 
Anatol  Etwas  aus  eigener  Erinnerung  hinzufügen,  ausser, 
dass  wir  Beide  bei  jener  Begegnung  mit  Peter  eine  unaus- 
löschlich denkwürdige  Freude  erlebt  haben. 

An  A.  und  M.  Tschaikowsky. 

„7.  April.,  Moskau. 

Brüder!  Verzeihet,  dass  ich  so  lange  nicht  geschrieben 
habe.  Die  Reise  ist  glücklich  von  statten  gegangen.  Die 
Nachricht  vom  Attentat  auf  den  Kaiser  hat  uns  schon  auf 
derjenigen  Station  ereilt,  wo  wir  Thee  tranken,  aber  nur 
in  sehr  unklarer  Form.  Wir  hatten  uns  schon  eingebildet, 
dass  der  Kaiser  gestorben  sei,  und  eine  Dame  hat  bereits 
bittre  Thränen  darüber  vergossen,  während  eine  andere 
Dame  alle  guten  Eigenschaften  des  neuen  Kaisers  rühmte. 
In  Moskau  erst  habe  ich  das  Richtige  erfahren.  Die  Freude 
ist  hier  ganz  unglaublich  gross:  im  Grossen  Theater,  bei- 
spielsweise, wo  ich  Vorgestern  „Das  Leben  für  den  Za- 
ren" gesehen  habe,  schrie  das  ganze  Publikum,  als  die 
Polen  auf  der  Bühne  erschienen,  „Nieder,  nieder,  nieder 
mit  den  Polen!"  Im  letzten  Auftritt  des  vierten  Aufzugs, 
wo  die  Polen  Sussanin  zu  töten  haben,  fing  der  Kerl,  der 

Tschaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky 's  Leben.  9 


—  тзо  — 

den  Sussanin  machte,  so  mit  den  Armen  an  zu  fuchteln, 
dass  er — da  er  über  eine  immense  Kraft  verfügte  —  viele 
der  Choristen-Polen  zu  Boden  warf;  und  als  die  übrigen 
„Polen"  sahen,  dass  diese  Beschimpfung  der  Kunst,  der 
Wahrheit  und  des  Anstandes  grossen  Anklang  beim  Pu- 
blikum fand,  fielen  sie  von  selbst  alle  nieder,  und  der 
triumphierende  Sussanin  entfernte  sich,  drohend  die  Fäuste 
schüttelnd,  unversehrt  unter  dem  donnernden  Beifall  der 
Moskowiter.  Zum  Schluss  wurde  das  Bild  des  Kaisers  auf 
die  Bühne  getragen  und  es  begann  ein  nicht  in  Worten 
wiederzugebender  Tumult. 

Vom  Bahnhof  bin  ich  direkt  in  die  Theoriestunde  ge- 
kommen, und  das  hatte  eine  heilsame  Wirkung  auf  mich, 
da  ich  auf  diese  Weise  ganz  plötzlich  in  die  Prosa  des 
Moskauer  Lebens  getaucht  worden  bin.  Selbstverständlich 
bin  ich  hier  freudig  empfangen  worden;  am  selben  Tage 
war  bei  Tarnowsky's  Diner  und  später  musikalische  Soi- 
ree, welche  ich  mit  der  Ouvertüre  zu  „Ruslan  und  Lud- 
milla"  eröffnete.  Das  Wetter  ist  hier  anhaltend  prachtvoll; 
es  ist  so  warm,  wie  im  Juni,  und  ich  habe  Gestern  lange 
im  Alexander- Garten  spaziert.  Das  Tagesgespräch  dreht 
sich  um  das  Attentat  auf  den  Kaiser  und  Komissaroff  ist 
plötzlich  ein  berühmter  Mann  geworden.  Im  „Englischen 
Klub"  hat  man  ihn  einstimmig  zum  Ehrenmitglied  ernannt 
und  ihm  einen  goldenen  Ehrendegen  übersandt... 

Gestern  Abend  ereignete  sich  folgende  kuriose  Geschichte: 
ich  war  bei  Tarnowsky's  zufällig  ganz  allein  mit  drei  Da- 
men geblieben,  und  sie  haben  es  durchgesetzt,  dass  ich 
abwechselnd  mit  Jeder  von  ihnen  getanzt  habe,  und  infol- 
gedessen so  müde  geworden  bin,  dass  ich  mich  kaum  bis 
zu  meinem  Zimmer  schleppen  konnte". 

An  Frau  A.  Dawidow. 

„8.  April. 

Ich  will  Heute  den  Rechtsanwalt  zweier  Wiesen  ma- 
chen, welche  nur  noch  von  Kamenka  schwärmen.  Du  hat- 
test mir  geschrieben,  dass  man  Toly  und  Modi  in  Peters- 
burg lassen  könnte,  ich  habe  aber  beschlossen,  ihnen 
vorläufig  Nichts  über  deine  Absicht  mitzuteilen:  sie  wür- 
den ganz  den  Mut  verlieren  (besonders  Toly).  Einer  der 
Gründe,  weshalb  sie  so  gern  für  den  Sommer  nach  Ka- 
menka kommen  möchten,  besteht  darin,  dass  ich  bei  Euch 
sein  werde,  und  das  ist  der  einzige  Ort,  wo  wir  eine  Zeit 


—  131  -^ 

lang  zusammen  leben  können.  Wenn  Du  nur  wüsstest, 
wie  sehr  diese  beiden  Mcännchen  an  mir  hängen  (was  ich 
übrigens  hundertfach  erwidere),  dann  würde  es  Dir  gewiss 
Leid  thun,  sie  von  mir  zu  trennen.  Also  richte  es  doch 
so  ein,  meine  Liebe,  dass  sie  reisen  können.  Es  ist  sehr 
leicht  möglich,  dass  ich  einen  Teil  der  Unkosten  werde 
auf  mich  nehmen  können. 

Am  24.  April  soll  meine  Ouvertüre  (dieselbe,  welche 
in  Moskau  gespielt  worden  ist)  in  Petersburg  in  einem 
populären  Konzert  zur  Aufführung  gelangen.  Leider  werde 
ich  nicht  dort  sein  können". 

An  A.  Tschaikowsky. 

„25.  April. 

Schon  lange  habe  ich  keine  Zeile  von  Dir  erhalten  und 
bin  traurig  darüber.  Es  haben  mich  überhaupt  Alle  ver- 
gessen, und  ich  habe  keine  Ahnung  mehr  davon,  was  in 
Petersburg  vorgeht.  Meine  Tageszeit  ist  jetzt  ordnungsmäs- 
sig  eingeteilt  und  vergeht,  wie  folgt: 

Zwischen  9  und  10  Uhr  erwache  ich  gewöhnlich,  und 
unterhalte  mich,  im  Bett  liegend,  eine  Weile  mit  Rubin- 
stein, dann  stehe  ich  auf  und  trinke  mit  ihm  Thee.  Von  11 
bis  I  gebe  ich  entweder  Unterricht,  oder  arbeite  bis  2  Uhr 
an  der  Symphonie  ^)  (welche  übrigens  nur  langsame  Fort- 
schritte macht);  in  dieser  Zeit  besuchen  mich  oft  Kaschkin 
und  Frau  Walzeck  -).  Um  halb  drei  begebe  ich  mich  in 
die  Ulitinsche  Buchhandlung,  lese  dort  die  Zeitungen  durch 
und  gehe  nachher  etwas  spazieren.  Um  4  Uhr  esse  ich  Mit- 
tag. Nachmittag  gehe  ich  entweder  wieder  spazieren,  oder 
sitze  zu  Hause.  Abends  trinke  ich  oft  bei  Tarnowsky's 
Thee,  oder  gehe  in  den  Künstler-Verein,  oder  in  den  Kauf- 
männischen, oder  auch  in  den  Englischen  Klub,  wo  ich  die 
Zeitschriften  durchsehe.  Um  12  bin  ich  stets  wieder  zu 
Hause,  schreibe  Briefe  oder  komponiere  an  der  Sympho- 
nie, und  lese  noch  im  Bett  ziemlich  lange.  In  letzter  Zeit 
schlafe  ich  sehr  schlecht:  meine  apoplexischen  Erscheinun- 
gen •^)  sind  wiedergekommen  und  zwar  mit  grösserer  Inten- 
sivität  als  je,  sodass  ich  jetzt  schon  immer  im  Voraus 
weiss,  ob  sie  in  der  bevorstehenden  Nacht  kommen  wer- 
den oder  nicht,  und  im  ersteren  Falle  mich  bemühe,  gar- 

1)  S3rmplionie  №  i   (G-moIl),  Verlag  Jurgenson. 

2)  Frau  Walzeck-Gesanglehrerin  am   Konservatorium. 

3)  Eigentümliches  nei-v'öses  Hämmeru  im  Kopf,  welches  sich  bei  Peter  Iljitsch  immer 
infolge  von  Ueberanstrengung  beim  Einschlafen  einzustellen  pflegte. 


—    132    — 

nicht  einzuschlafen.  So  habe  ich,  z.  В.,  Vorgestern  die 
ganze  Nacht  nicht  geschlafen.  Meine  Nerven  sind  wieder 
ganz  zerrüttet.  Die  Ursachen  davon  sind:  i)  die  nicht  ge- 
lingen wollende  Symphonie;  2)  Rubinstein  und  Tarnowsky's 
haben  entdeckt,  dass  ich  leicht  zu  erschrecken  bin,  und 
erschrecken  mich  spasseshalber  jeden  Augenblick  auf  die 
verschiedenste  Art  und  Weise;  3)  mich  will  der  Gedanke 
nicht  verlassen,  dass  ich  bald  sterben  und  die  Symphonie 
unbeendet  hinterlassen  werde.  Mit  einem  Wort,  ich  er- 
warte jetzt  den  Sommer,  wie  das  verheissene  Paradies, 
und  hoffe,  in  Kamenka  Ruhe  und  Gesundheit  zu  finden 
und  alles  Missgeschick  zu  vergessen.  Von  Gestern  an  habe 
ich  mir  vorgenommen,  keinen  Schnaps,  keinen  Wein  und 
keinen  starken  Thee  mehr  zu  trinken. 

Ueberhaupt:  ich  hasse  das  Menschengeschlecht  und 
würde  mit  Genuss  in  einer  Wüste  Zuflucht  suchen,  mit 
einem  nur  geringen  Gefolge  umgeben.  Das  Billet  für  die 
Diligence  habe  ich  mir  für  den  10.  Mai  schon  besorgt". 

In  dem  von  Kologriwoff  am  i.  Mai  in  Petersburg  unter 
Leitung  A.  Rubinstein's  veranstalteten  populären  Konzert 
ist  u.  A.  auch  die  F-dur-Ouverture  zur  Aufführung  ge- 
kommen. 

Dieses  erste  Petersburger  Debüt  Peter  Iljitsch's  ist  ganz 
unbemerkt  geblieben.  Die  Zeitungen  haben  dasselbe  auch 
nicht  mit  einem  Wort  erwähnt.  Aus  dem  Umstand,  dass 
auch  von  denjenigen  Petersburgern,  mit  denen  Peter  Iljitsch 
im  Briefwechsel  stand,  Keiner  über  jene  Aufführung  be- 
richtet, geht  hervor,  dass  sie  garkeinen  Erfolg  gehabt  hat. 
Der  Einzige,  der  mir  einmal  einige  Worte  darüber  geäus- 
sert hat,  ist  N.  A.  Rimsky-Korsakoff;  er  sagte  mir,  dass 
er  in  jenem  Konzert  gewesen  sei,  dass  er  damals  zum 
ersten  Mal  eine  Tschaikowsky'sche  Komposition  zu  Ge- 
hör bekommen  und  nur  eine  schlechte  Meinung  vom  Ta- 
lent des  Komponisten  gewonnen  habe. 

Die  von  Peter  Iljitsch  so  lange  und  sehnsüchtig  erwar- 
tete, in  Gesellschaft  der  Zwillinge  zu  unternehmende  Reise 
zur  Schwester  nach  Kamenka  hat  leider  nicht  stattfinden 
sollen. 

An  P'rau  A.  I.  Dawidow. 

„14.  Mai. 

Liebe  Freundin  Sascha!  Habe  Dir  deshalb  so  lange 
nicht  geschrieben,  weil  ich  vorerst  die  endgiltige  Entschei- 
dung  in   Betreff    meiner    Reise   abwarten   wollte.  Es  han- 


—  133  — 

delt  sich  darum,  dass  die  Cliaussee  zwischen  Moskau  und 
Kiew  zur  Hälfte  unpassierbar  sein  soll  und  die  Diligencen 
nur  bis  Dowsk  fahren.  Den  Reisenden  ist  es  anheim  ge- 
stellt die  Weiterfahrt  auf  der  „versunkenen"  Strasse  auf 
eigene  Gefahr  hin  im  Privatfuhrwerk  zu  unternehmen.  Vor 
ungefähr  drei  Wochen  bin  ich  im  Diligencenbureau  gewe- 
sen und  wollte  das  Billet  lösen;  der  Beamte  erklärte  mir 
aber,  dass  ich  das  Billet  für  den  i6.  Mai  und  nur  bis  Dowsk 
erhalten  könne,  fügte  aber  hinzu,  dass  die  Chaussee  bis 
dahin  wieder  hergestellt  sein  würde.  Ich  habe  nun  infol- 
gedessen die  Unvorsichtigkeit  begangen,  das  Billet  zu  neh- 
men und  19  Rubel  zu  bezahlen  mit  der  Bedingung,  dass 
mir  am  16.  das  Billet  bis  Dowsk  auf  ein  anderes  bis  Kiew 
umgetauscht  werde.  Nun  erweist  es  sich  aber,  dass  die 
Chaussee  bis  Heute  noch  nicht  ausgebessert  ist  und  die 
Diligencen  immer  noch  blos  bis  Dowsk  fahren.  Ueber  den 
Zustand  der  Strasse  zwischen  Dowsk  und  Kiew  weiss  man 
hier  in  Moskau  so  schreckliche  Geschichten  zu  erzählen, 
dass  ich  es  nicht  wagen  möchte,  die  Reise  zu  unterneh- 
men. Du  glaubst  garnicht  wie  sehr  mich  dieses  dumme 
Hinderniss  verstimmt  hat.  Den  ganzen  Winter  träumte  und 
schwärmte  ich  von  Nichts  Anderem,  als  von  dem  Wie- 
dersehen mit  Euch,  von  der  Seelenruhe,  welche  ich  nur 
bei  Euch  zu  finden  vermag  und  plötzlich  kommt  so  eine 
dumme  Chaussee  dazwischen!  Die  Brüder  können  sich 
auch  nicht  entschliessen,  die  Reise  zu  unternehmen.  Sie 
flehen  mich  jetzt  an,  zu  ihnen  nach  Petersburg  zu  kom- 
men, gemeinschaftlich  das  Weitere  zu  beraten  und  einen 
Entschluss  zu  fassen. 

Du  wirst  Dich,  vielleicht,  wundern,  dass  mir  der  Weg 
zwischen  Dowsk  und  Kiew  eine  solche  Furcht  einflösst; 
aber  das  ist  es  nicht  allein,  was  mich  zurückhält,  sondern 
auch  der  Mangel  meiner  Finanzen,  denn  mein  Geld  reicht 
nur  für  den  Fall,  dass  ich  die  ganze  Strecke  per  Diligence 
zurücklegen  kann.  Das  Honorar  für  die  Uebersetzung  Ge- 
vaerts  werde  ich  wahrscheinlich  erst  im  August  erhalten. 

Küsse  Dich,  Leo  und  die  Kinder  unendlich  viele  Mal" 
u.  s.  w. 

Die  Fahrt  nach  Petersburg  hat  die  Schwierigkeiten 
nicht  nur  nicht  beseitigt,  sondern  sie  eher  vermehrt,  indem 
sie  Peter  Iljitsch  in  Ausgaben  stürzte.  In  Petersburg  war 
das  Geld  für  die  Reise  nach  Kamenka  erst  recht  nicht  zu 
finden.  Ueberhaupt,  hat  sich  Peter  Iljitsch  wohl  noch  nie 
in  einer  so  kritischen  Lage  befunden,  wie  damals.  Es  kam 


—  134  — 

sogar  soweit,  dass  er  die  erste  Nacht  nach  seinem  Ein- 
treffen in  Petersburg  ohne  Obdach  unter  freiem  Himmel 
bleiben  musste.  Als  er,  nämlich,  vom  Bahnhof  direkt  zu 
Schoberts  kam^  erwies  sich  dort  das  ganze  Haus  bereits 
voller  Gäste.  In  der  Hoffnung,  gegen  Abend  bei  einem 
seiner  Petersburger  Bekannten  oder  Freunde  ein  Nachtla- 
ger zu  finden,  wollte  er  den  Tag  über  bei  Schobert's 
bleiben,  merkte  aber  in  der  Freude  des  Wiedersehens  mit 
seinen  Brüdern  garnicht,  wie  schnell  die  Zeit  verflog,  so- 
dass— als  er  erst  spät  abends  fortging — es  ihm  unmöglich 
schien,  in  so  vorgerückter  Stunde  Jemanden  um  Nacht- 
quartier zu  ersuchen,  und  er  es  vorzog,  da  er  für  ein  Hotel 
kein  Geld  hatte,  auf  der  Strasse  den  Morgen  zu  erwarten. 

Da  nun  von  einer  Reise  nach  Kamenka,  dazu  noch  zu 
Dreien,  garkeine  Rede  mehr  sein  konnte,  so  blieb  Peter 
Iljitsch  Nichts  Anderes  übrig,  als  die  Einladung  der  Schwie- 
germutter seiner  Schw^ester,  Alexandra  Iwanowna  Dawi- 
dow's,  den  Sommer  in  ihrer  FamiHe  im  Oertchen  Mjat- 
lew^  in  der  Nähe  Petersburgs  zu  verbringen,  anzunehmen. 

Mit  Hilfe  des  soeben  vom  Ural  zwrückgekehrten  Ilja 
Petrowitsch  ist  es  Peter  Iljitsch  gelungen,  wenigstens  Ana- 
tol  die  Reise  zur  Schwester  zu  ermöglichen,  während  er 
selbst  mit  Modest  in  der  Familie  der  Frau  Dawidow  Auf- 
nahme fand. 

Mjatlewo  war  Peter  Iljitsch  schon  von  früher  her  be- 
kannt und  mit  angenehmen  Erinnerungen  verknüpft.  In 
der  Nähe  befand  sich  das  Sergius-Kloster,  w^hin  er  Sonn- 
abends zum  Nachmittagsgottesdienst  gern  zu  gehen  pfleg- 
te. Auch  der  Vater  Peter  Iljitsch's  wohnte  in  jenem  Som- 
mer in  Mjatlewo  in  der  Familie  seiner  Frau,  sodass  Peter 
Iljitsch  den  denkbar  besten  Ersatz  für  Kamenka  gefunden 
hatte;  und  doch  konnte  er  sein  Bedauern  nicht  unterdrücken. 

An  A.  I.  Dawddow. 

„7.  luni. 

Teure  Sascha!  Es  vergeht  aber  auch  wirklich  nicht  eine 
Stunde,  ohne  dass  ich  bei  den  geringsten  Anlässen  an  Alles 
Das  denken  muss,  was  sich  grade  vor  einem  Jahr  bei  Euch 
zugetragen  hatte.  Ach,  ich  habe  so  gehofft,  mich  an  Eurer 
Seite  etwas  zu  erwärmen.'  Ausser  Euch  muss  ich  nun  auch 
noch  einen  anderen  „Wärme-Apparat"  lange  Zeit  hindurch 
entbehren.  Ich  meine  Toly. 

Wir  leben  in  Mjatlewo  eigentlich  garnicht  schlecht  und 
ich  würde  dieses  Leben  vielleicht  sogar  sehr  nett  finden, 


—  135  — 

wenn  nicht  der  beständig  nagende  Gedanke  an  Kamenka 
wäfe!  Das  Wetter  ist  sehr  schön.  Vater  sehe  ich  sehr  oft. 

Was  sind  das  doch  für  ideale  Menschen  die  Dawidow's! 
Für  Dich  ist  es  ja  Nichts  Neues,  ich  kann  aber  nicht  um- 
hin, darüber  zu  reden;  so  intim,  wie  jetzt,  bin  ich  ja  noch 
nie  mit  ihnen  gewesen  und  habe  jeden  Augenbhck  Gele- 
genheit, ihre  Güte  zu  bewundern. 

Jetzt  wende  ich  mich  an  Dich,  Tolз^  Ich  habe  jede  Mi- 
nute Deiner  gedacht  und  die  Reise  Schritt  für  Schritt  ver- 
folgt. Nur  in  diesem  Augenblick  kann  ich  mir  nicht  vor- 
stellen, was  Du  thust,  da  ich  nicht  weiss,  ob  ihr  am  Montag 
rechtzeitig  zur  Abfahrt  des  Dampfers  gekommen  seid.  In 
diesem  Falle  schläfst  Du  jetzt,  wahrscheinhch,  im  Hotel 
„Europa",  was  auch  Modest  jetzt  thut,  indem  er  die  nächt- 
liche Stille  mit  seinem  ziemlich  „gesunden"  Schnarchen 
erfüllt.  Er  beträgt  sich  sehr  gut.  Es  fällt  mir  angenehm 
anf,  dass  er  stets  lustig  und  von  gleichmässigem  Charak- 
ter ist. 

Ich  habe  schon  mit  dem  Instrumentieren  der  Sympho- 
nie begonnen.  Meine  Gesundheit  ist  im  leidhchen  Zustand. 
Nur  einmal,  vor  Kurzem  habe  ich  eine  Nacht  nicht  geschla- 
fen, da  mich  wieder  die  „Hämmerchen"  ')  gequält  hatten". 

In  meinen  Erinnerungen  an  jenen  Sommer,  erscheint 
Peter  Iljitsch  viel  weniger  fröhlich  gestimmt,  als  vor  einem 
Jahr.  Am  Tage  unternahm  er  öfter  als  früher  einsame  Spa- 
ziergänge, indem  er  meine  Begleitung  ablehnte,  \vas  mich 
stets  sehr  kränkte;  nur  die  Abende  verbrachte  er  mit  uns. 
Nur  in  diesen  Stunden  mied  er  nicht  unsere  Gesellschaft, 
und  war  veranstalteten  oft  gemeinsame  Exkursionen  in  die 
naheliegenden  Wälder,  oder  unternahmen  Spazierfahrten. 
Aber  die  köstlichsten  Momente  für  mich  und  für  Wera 
Wassiljewna,  deren  musikalische  Erziehung  Peter  Iljitsch, 
wie  früher,  beaufsichtigte,  waren — wenn  er  sich  Abends  ans 
Piano  setzte  und  uns  eine  der  Symphonieen  Schumanns 
(die  erste  oder  vierte),  oder  „Paradies  und  Peri",  oder 
auch  die  italienische  S\aiiphonie  von  Mendelssohn  vor- 
spielte. Namentlich  entzückte  ihn  der  erste  Teil  von  „Pa- 
radies und  Peri":  jedesmal,  wenn  er  es  vortrug,  war  er 
ganz  entzückt  und  verlangte  von  uns  jedesmal  eine  ganz 
besondere  Aufmerksamkeit,  wenn  der  jugendliche  Held 
vor  dem  grausamen  Herrscher  erschien,  oder  der  Chor 
der  Engel  den  Tod  des  jungen  Märtyrers  verherrlichte;  er 

1)  „Hämmerchen"    nanute    Peter  Iljitsch  die  auf  Seite  131  erwähnten    nervösen    Er- 
scheinunsren. 


—  136  — 

behauptete  jedesmal,  dass  er  Etwas  Schöneres  in  der  gan- 
zen Musik  nicht  kenne.  Trotzdem  er  in  seinen  musika- 
Hschen  S3'mpatieen  ziemlich  veränderlich  war  und  oft  das 
Eine  oder  das  Andere  schlecht  machte,  w4:)von  er  eben 
erst  entzückt  gewesen,  hat  Peter  Iljitsch  „Paradies  und 
Peri"  ewige  Treue  bewahrt,  gleich  „Don  Juan",  „Frei- 
schütz" und  dem  „Leben  für  den  Zaren". 

Ungeachtet  der  Schönheit  der  Gegend,  der  Gesellschaft 
der  immer  mehr  und  mehr  von  ihm  geschätzten  Familie 
Dawidow,  ungeachtet  der  Nähe  des  Vaters,  und  des  poe- 
tischen Eindruckes  der  Fahrt  zum  Ladoga-See — war  für 
Peter  Iljitsch  die  Erinnerung  an  den  in  Mjatlewo  verleb- 
ten Sommer  unangenehm.  Das  lag  an  der  G-moll-Sympho- 
nie,  welche  unter  dem  Namen  „Winterträume"  bekannt 
geworden  ist.  Nicht  eine  einzige  seiner  Kompositionen  hat 
ihm  soviel  Mühe  und  soviel  Qual  gekostet,  wie  gerade 
diese  Symphonie. 

Er  hat  diese  Komposition  noch  in  Moskau  im  Früh- 
jahr in  Angriff  genommen,  und  schon  damals  war  sie  die 
Ursache  seiner  Nervenschwäche  und  zahlloser  schlafloser 
Nächte.  Das  lag  jedenfalls  an  seiner  noch  ziemlichen  Uner- 
fahrenheit  im  Komponieren,  welche  sich  bei  dem  ersten 
selbständigen  grossen  Werk  nach  Absolvierung  des  Kon- 
servatoriums zeigte,  zum  Teil  aber  auch  an  jenem  uner- 
forschbaren Zufall,  лvelcher  es  fügt,  dass  die  eine  Arbeit 
schnell,  und  leicht,  und  die  andere  wieder  nur  mühsam 
und  langsam  von  statten  geht;  am  wahrscheinlichsten,  je- 
doch, lag  es  daran,  dass  Peter  Iljitsch  nicht  nur  den  Tag 
über,  sondern  auch  in  der  Nacht  arbeitete.  Trotz  des  enor- 
men Fleisses  machte  die  Symphonie  nur  langsame  Fort- 
schritte und  je  mehr  Peter  Iljitsch  arbeitete,  desto  schwä- 
cher wurden  seine  Nerven.  Die  Ueberanstrengung  ver- 
scheuchte den  Schlaf,  und  die  Schlaflosigkeit  wirkte  lähmend 
auf  die  schöpferische  Kraft.  Ende  Juni  kam  es  endlich  zu 
schrecklichen  nervösen  Anfällen.  Der  herbeigerufene  Arzt 
konstatierte,  dass  Peter  Iljitsch  nur  „um  einen  Schritt  vom 
Wahnsinn"  entfernt  sei,  und  dass  die  Lage  eine  verzAvei- 
felte  wäre.  Die  Krankheit  äusserte  sich  hauptsächlich  und 
am  fürchterlichsten  darin,  dass  Peter  Iljitsch  von  Hallu- 
cinationen  und  von  einem  beklemmenden  Angstgefühl  ver- 
folgt wurde.  Wie  schwer  Peter  Iljitsch  unter  dieser  Krank- 
heit gelitten  haben  muss,  geht  aus  dem  Umstand  hervor, 
dass  er  später  nie  mehr  in  der  Nacht  zu  arbeiten  wagte. 
Nach  jener  Symphonie  ist  nicht  eine  einzige  Note  seiner 
Kompositionen  Nachts  entstanden. 


—  137  — 

Auf  diese  Weise  ist  es  also  Peter  Iljitsch  nicht  gelun- 
gen, die  Symphonie  noch  im  Sommer  zu  beenden.  Trotz- 
dem hat  er  sie  vor  seiner  Rückreise  nach  Moskau  seinen 
Lehrern  A.  Rubinstein  und  N.  Zaremba  gezeigt,  in  der 
Hoffnung,  dass  sie  das  Werk  für  eines  der  S3nnphonie- 
Konzerte  der  Russischen  Musikalischen  Gesellschaft  in 
Aussicht  nehmen  würden.  Er  sollte  aber  schon  wieder 
eine  bittere  Enttäuschung  erleben:  seine  Arbeit  wurde  ei- 
ner sehr  strengen  Kritik  unterworfen  und  einer  Aufführung 
nicht  für  wert  erachtet.  Zaremba  hat,  unter  Anderem,  das 
zweite  Thema  des  ersten  Satzes  missfallen,  welches  dem 
Autor  selbst  durch  den  Kontrast  gegenüber  dem  ersten 
Thema  grade  gefiel.  Und  doch  war  die  Autorität  der  Pro- 
fessore  einflussreich  genug,  um  Peter  Iljitsch  zu  veranlas- 
sen, die  Symphonie  nach  Moskau  mitzunehmen  und  sie 
dort  gründlich  umzuarbeiten. 

Diese  Symphonie  ist  das  erste  Werk,  welches  er  nach 
Alsolvierung  des  Konservatoriums  selbständig  komponiert 
hat.  Alles  Uebrige,  woran  er  gearbeitet,  beschränkt  sich 
auf  die  Instrumentierung  der  Ouvertüren  F-dur  und  C-moU, 
welche  beiden  Werke  bis  Heute  unveröffentlicht  geblie- 
ben sind. 


^ 


III. 

1866     1867. 

In  den  letzten  Tagen  des  Monats  August  kehrte  Peter 
Iljitsch  nach  Moskau  zurück,  diesmal  jedoch  ohne  jenes 
feindselige  Gefühl,  mit  welchem  er  am  6.  Januar  in  diese 
Stadt  gekommen  war.  In  dieser  Veränderung  seines  Ver- 
haltens gegenüber  Moskau  spielte  nicht  zum  wenigsten 
sein  ausserordentlich  sensibles  künstlerisches  Ehrgefühl 
eine  Rolle.  Nach  dem  absprechenden  Urteil  der  Peters- 
burger Autoritäten  über  seine  S3'mphonie,  verglich  er  un- 
wilkürlich  den  Empfang,  der  ihm  und  seinen  Kompositionen 
in  Petersburg  beschieden  gewesen,  mit  der  Anerkennung, 
die  ihm  seitens  der  Moskowiter  zu  Teil  wurde,  und  zwar 
sehr  zu  Gunsten  der  Letzteren.  Ausserdem  hat  er  in  der 


138  - 


drei  Monate  langen 
Trennung  die  Freund- 
schaft mit  seinen  Mos- 
kauer Kollegen,  N. 
Rubinstein,  Albrecht 
und  Kaschkin  recht 
schätzen  gelernt  und 
freute  sich  sehr  auf 
das  Wiedersehen  mit 
ihnen.  Endlich  musste 
auch  der  sehr  wich- 
tige Umstand  anzie- 
hend auf  Peter  Iljitsch 
wirken,  dass  vom  Sep- 
tember an  sein  Gehalt 
mehr  als  um  das  Dop- 
pelte vergrössert  wer- 
den sollte.  Er  musste 
sich  ausserordentlich 
freuen,  dass  die  Not 
endlich  ein  Ende  ha- 
ben sollte,  und  ein 
Einkommen  von  mehr 
als  Hundert  Rubel  mo- 
natlich erschien  ihm 
fast  als  Reichtum. 
„Geld  habe  ich  über 

Peter  Iljitsch  Tschaikowsky  im  Jahre  1807.  ^^^^       .  ^^^       ^^^^^ ,  ^ 

schreibt  er  im  November  an  seinen  Bruder. 

Gleichzeitig  fingen  die  letzten  Bande,  die  ihn  noch  an 
Petersburg  fesselten,  an,  sich  zu  lockern.  Als  Komponist 
hat  er  es  weder  seinen  ehemaligen  Lehrern,  welche  seine 
S\'mphonie  abgelehnt,  noch  dem  Publikum,  welches  mit 
kalter  Gleichgiltigkeit  seine  Ouvertüre  angehört,  recht  ma- 
chen können.  Die  Anhänglichkeit  an  seinen  Vater  und  seine 
Brüder  ist  zwar  die  gleiche  geblieben,  aber — erstens,  hatte 
er  sich  bereits  daran  gewöhnt,  getrennt  von  ihnen  zu  le- 
ben, und  zweitens — konnte  von  einem  Bedauern  der  Zwil- 
lingsbrüder, sowie  von  der  brennenden  Sorge  um  sie  nicht 
mehr  die  Rede  sein:  wusste  er  doch,  dass  sie  im  Hause 
ihres  Vaters  wieder  ein  Heim  haben.  Und  doch  blieb  noch 
ein  leises  Gefühl  der  Sehnsucht  nach  Petersburg  in  ihm 
leben. — Sein  Heil  erwartete  er  immer  noch  von  der  Aner- 
kennung seines  Talentes  in  Petersburg.   Moskau  war  für 


—  139  — 

ihn  immer  noch  die  „fremde"  Stadt,  deren  Sympatie  zu 
erobern  „nicht  der  Mühe  wert"  war, — die  Provinz,  deren 
Meinung  er  keine  ernsthche  Bedeutung  beimessen  wollte. 

Im  Jahre  1866  hat  sich  das  Konservatorium  derart  ver- 
grössert,  dass  es  in  der  Wohnung  Rubinsteins  nicht  mehr 
Platz  hatte  und  nach  einem  grösseren  Lokal  verlegt  wer- 
den musste.  Die  pädagogische  Thcätigkeit  Peter  Iljitsch's 
erstreckte  sich  auf  einen  Kursus  Harmonielehre  (der  aber 
nur  ziemlich  schwach  besucht  war)  und  die  Klasse  der 
Elementartheorie,  sodass  er  im  Ganzen  etwa  20  Stunden 
wöchentlich  zu  unterrichten  hatte,  und  ihm  für  das  Kom- 
ponieren genug  Zeit  übrig  blieb.  Da  sein,  wenn  auch  er- 
höhtes Gehalt  doch  nicht  genügend  war,  um  eigne  Wirt- 
schaft zu  führen,  so  blieb  er  vorläufig  noch  bei  Rubinstein 
wohnen,  welcher  sich  eine  neue  Wohnung  in  unmittelba- 
rer Nähe  des  Konservatoriums  gemietet  hatte.  Sie  beide 
nahmen  ihr  Mittagsmahl  bei  Albrecht  ein,  dessen  Pensionäre 
sie  noch  lange  Zeit  hindurch  blieben. 

Am  I.  September  fand  die  feierliche  Einweihung  des 
neuen  Konservatoriums  statt,  welcher  sämmtliche  Hono- 
ratioren und  hervorragende  Vertreter  der  Gesellschaft  Mos- 
kau's  beiwohnten.  Nach  dem  Festgottesdienst  gab  es  ein 
Bankett,  bei  welchem  viele  Toaste  ausgebracht  wurden. 
Auch  Peter  Iljitsch  erhob  sein  Glas  und  trank,  nachdem 
er  einige  ausserordentlich  warmherzige  und  begeisterte 
Worte  geredet,  das  Wohl  Anton  Rubinsteins,  N.  D.  Ka- 
schkin,  der  einzige  noch  lebende  Zeuge  jenes  Bankett's, 
erzählt,  dass  diese  Rede  Peter  Iljitsch's  einen  sehr  guten 
Eindruck  hervorgebracht  habe,  erstens  dank  ihrem  Inhalt, 
und  zweitens,  weil  sie  sehr  gut  gesprochen  wurde. 

„Nach  dem  Essen",  erzählt  Kaschkin  weiter, — „wollte 
man  musizieren.  Den  neuengagierten  Cellisten  Kossmann 
hatte,  ausser  Rubinstein,  noch  Keiner  von  uns  gehört,  und 
wir  waren  Alle  sehr  begierig,  das  Spiel  eines  der  berühm- 
testen Virtuosen  Europa's  kennen  zu  lernen.  Tschaikowsk}^ 
war  aber  der  Meinung,  dass  die  erste  Musik  im  neuen  Kon- 
servatorium— die  Musik  Glinka's  sein  müsse,  setzte  sich  ans 
Klavier  und  spielte  auswendig  die  Ouvertüre  zu  „Ruslan 
und  Ludmilla".  Nachher  kam  ein  Trio  von  Beethoven  (Ru- 
binstein, Laub  und  Kossmann)  und  eine  Sonate  desselben 
Meisters  (Rubinstein  und  Kossmann)  zum  Vortrag. 

Die  Flut  neuer  Kollegen  in  der  Sache  der  musikalischen 
Erleuchtung  Moskaus,  welche  durch  die  Vergrösserung  des 
Konservatoriums  bedingt  war,  hat  den  intimen  Freundes- 


—  140  — 

kreis  Peter  Iljitsch's  nicht  wesentlich  erweitert.  „Keinem 
von  den  Professoren  des  Konservatoriums  ist  Peter  Iljitsch 
damals  nahe  gestanden.  Er  bewunderte  zwar  das  unver- 
gleichliche Spiel  Laub's,  vermochte  aber  nicht,  intimere 
Bekanntschaft  mit  ihm  zu  schliessen,  erstens,  weil  Laub, 
ausser  der  Musik  und  der  FHntenjagd,  sich  für  Nichts  inte- 
ressierte; zweitens  konnte  er  nur  deutsch  sprechen,  wäh- 
rend Peter  Iljitsch  in  dieser  Sprache  sich  nur  mühsam 
verständigte.  Mehr  Annäherungspunkte  hatte  Peter  Iljitsch 
mit  Kossmann,  einem  ausgezeichneten  Musiker  und  gebil- 
deten Menschen,  welcher  die  französische  Sprache  vollkom- 
men beherrschte.  Mit  I.  Wieniawsky  ist  Peter  Iljitsch  nur 
kurze  Zeit  bekannt  gewesen,  denn  Der  verliess  schon  nach 
einem  halben  Jahr  seinen  Lehrerposten  und  reiste  auf  Nim- 
merwiedersehen fort.  Manchen  Abend  versammelten  wir 
uns  bei  A.  I.  Dubuque,  einem  sehr  gastfreundlichen  Herrn, 
dessen  famoses  Klavierspiel,  namentlich  der  einzig  in  seiner 
Art  dastehende  Vortrag  Field'scher  Nocturno's  und  ande- 
rer damals  modern  gewesener  Kompositionen,  auch  Peter 
Iljitsch  sehr  gefiel.  Ausserdem  war  Dubuque  ein  stets  lu- 
stiger und  interessanter  Erzähler".,.  Auch  der  jetzt  in  Wien 
lebende  bekannte  Klaviervirtuose  Anton  Door  zählte  da- 
mals zu  den  Freunden  Peter  Iljitsch's. 

Von  denjenigen  nicht  musikalisch-fachmännischen  Be- 
kannten Peter  Iljitsch's  wäre  an  erster  Stelle  der  Kunst- 
freund Fürst  Wladimir  Odoewsky  zu  nennen,  der  Ver- 
fasser verschiedener  bekanntgewordener  wissenschaftlicher 
Schriften.  Dieser  Fürst  brachte  Peter  Iljitsch  sein  beson- 
deres Interesse  entgegen  und  hat  ihn  stets  in  jeder  mög- 
lichen Weise  protegiert.  Peter  Iljitsch  war  ihm  dankbar 
dafür  und  hatte  ihn  seinerseits  sehr  verehrt  und  ihm  ein 
freundschaftliches  Andenken  bewahrt.  1878  spricht  er  sich 
in  einem  seiner  Briefe  folgendermassen  über  den  Fürsten 
Odoewsky  aus:  „Das  ist  eine  der  erleuchtetsten  Persön- 
lichkeiten, denen  ich  je  begegnet  bin.  Er  war  die  perso- 
nifizierte Herzensgüte,  und  verband  mit  seiner  grossen 
Klugheit  allumfassende  Kenntnisse,  unter  Anderen  auch 
die  der  Musik.  Es  scheint  mir,  dass  ich  erst  vor  Kurzem 
sein  liebes  Gesicht  gesehen!  Vier  Tage  vor  dem  Tode  ist 
er  noch  im  Konzert  gewesen,  um  meine  Orchester-Fanta- 
sie „Fatum"  anzuhören.  Mit  welcher  Jovialität  hatte  er 
mir  in  der  Pause  seine  Bemerkungen  mitgeteilt!  Im  Kon- 
servatorium liegen  noch  die  „Becken",  die  er  irgendwo 
selbst  ausgegraben  und  mir  geschenkt  hatte.  Er  fand  näm- 


—  I4T  — 

lieh,  dass  ich  das  Talent  besitze,  dieses  Instrument  immer 
an  der  richtigen  Stelle  anzuwenden,  nur  das  histrument 
selbst  gefiel  ihm  nicht.  Da  durchstöberte  denn  der  reizende 
Alte  ganz  Moskau  nach  einem  Paar  guter  „piatti"  und 
schickte  sie  mir,  nachdem  er  sie  endlich  gefunden  hatte, 
nebst  einem  köstlichen  Brief".  In  der  Welt  der  Schrift- 
steller und  Schauspieler  hatte  Peter  Iljitsch  damals  auch 
zwei  gute  Freunde,  A.  N.  Ostrowsky  und  P.  M.  Sadowsk}^ 
Die  S3'mpatie  dieser  beiden  grossen  Künstler  hat  er  sich 
nur  durcli  die  Anziehungskraft  seiner  Person  erworben, 
denn  weder  der  Eine  noch  der  Andere  fand  besonderen 
Gefallen  an  der  Musik.  Namentlich  hat  Sadowsky  Peter 
Iljitsch  sehr  lieb  gewonnen,  obgleich  diese  Freundschaft 
unserem  Komponisten  keinerlei  künstlerische  Vorteile  ge- 
bracht hatte.  Dagegen  wurde  die  Bekanntschaft  mit  Os- 
trowsky schon  gleich  im  Anfang  von  grosser  Bedeutung 
für  Peter  Iljitsch,  denn  der  berühmte  Dramatiker  hat  ihm 
versprochen,  aus  dem  Drama  „Der  Woiwode",  welches 
sich  am  besten  für  eine  musikalische  Illustration  eignete, 
ein  Opernlibretto  zurechtzumachen. 

Im  Laufe  derselben  Saison  hat  Peter  Iljitsch  noch  eine 
weitere,  für  ihn  von  Wichtigkeit  werden  sollende  Be- 
kanntschaft gemacht,  —  die  mit  Wladimir  Petrowitsch  Be- 
gitscheff,  dem  damaligen  Intendanten  der  Moskauer  Kaiser- 
lichen Oper.  Dieser  Mann  genoss  eine  ziemlich  grosse  Po- 
pularität, erstens,  als  ehemaliger  „Adonis"  und  Held  der 
romantischen  Chronik  Moskau's,  zweitens,  als  Autor  vie- 
ler, zum  grössten  Teil  der  ausländischen  Literatur  ent- 
lehnter Dramen,  und  drittens — als  Gemahl  seiner  Frau.  Die- 
se, eine  von  der  Moskauer  und  Petersburger  Gesellschaft 
in  den  vierziger  und  fünfziger  Jahren  sehr  gefeierte  Salon- 
sängerin, hatte  gleich  ihrem  Gemahl  eine  sehr  stürmische 
Vergangenheit  hinter  sich.  Begitscheff  war  ihr  zweiter 
Gatte.  In  erster  Ehe  ist  sie  mit  einem  gewissen  Schilowsk}' 
verheiratet  gewesen,  welchem  sie  zwei  Söhne,  Konstantin 
und  Wladimir,  geschenkt  hatte.  Sie  Beide  haben  von  der 
Mutter  Talent  und  Liebe  zur  Kunst  geerbt,  gleichzeitig 
aber  leider  auch  einen  gewissen  Dilettantismus,  die  ihrer 
Mutter  eigene  Oberflächlichkeit.  Der  ältere  der  beiden  Brü- 
der ist  in  seinem  Leben  Alles  Mögliche  gewesen:  Bild- 
hauer, Sänger,  Komponist  und  noch  Verschiedenes  Andere, 
zuletzt — Schauspieler,  während  der  Jüngere  ausschhesslich 
der  Komposition  lebte.  Konstantin  Schilowsky  hat  im  spä- 
teren Leben  Tschaikowsk3''s  eine  nicht  unbedeutende  Rolle 


—  142  — 

gespielt,  indem  er  bei  der  Anfertigung  des  Textbuches  zu 
„Eugen  Onegin"  lebhaften  Anteil  nahm.  Im  Jahre  1866 
jedoch  hatte  Peter  Iljitsch  mehr  Interesse  für  den  14-jähri- 
gen Wladimir,  einen  schwächlichen,  kränklichen,  aber  für 
die  Musik  phenomenal  begabten  Knaben.  Auf  Empfehlung 
N.  Rubinsteins  wurde  Peter  Iljitsch  der  Theorielehrer  Whi- 
dimir's  und  hat  ihn  in  kurzer  Zeit  so  lieb  gewonnen,  dass 
viele  Jahre  später,  als  er  schon  längst  den  Glauben  an  die 
kompositorische  Leistungsfähigkeit  seines  Schülers  verlo- 
ren hatte,  die  Freundschaft  mit  ihm  trotzdem  bestehen 
blieb  und  bis  an  den  1893  erfolgten  Tod  W.  Schilowsky's 
dauerte. 

Bald  nach  der  Ankunft  in  Moskau  begann  Peter  Il- 
jitsch mit  der  Komposition  einer  Ouvertüre  über  die  dä- 
nische Nationalhymne  ^),  welche  Arbeit  ihm  N.  Rubinstein 
bestellt  hat, — gelegentlich  der  bevorstehenden  Hochzeits- 
feier des  Kronprinzen  mit  der  dänischen  Prinzessin  Dag- 
mar, und  zwecks  Aufführung  in  Gegenwart  der  Erlauchten 
Neuvermählten  während  ihres  Aufenthaltes  in  der  alten 
Zarenstadt. 

Wie  alle  bestellten  Arbeiten,  hat  Peter  Iljitsch  auch 
diese  schon  vor  dem  Termin  fertiggestellt,  ungeachtet  des- 
sen, dass  er  sie  unter  den  denkbar  ungünstigsten  Verhält- 
nissen zu  komponieren  hatte,  denn  die  Wohnung  Rubin- 
steins war  den  ganzen  Tag  über  der  Sammelpunkt  der 
Konservatoriumsprofessore  und  anderer  Besucher,  welche 
sich  nicht  genierten,  sich  auch  in  Peter  Iljitsch's  Zimmer 
aufzuhalten  (wie  Kaschkin  erzählt),  sodass  er  zu  Hause 
keine  Ruhe  hatte  und  genötigt  war,  zu  anderen  Orten 
seine  Zuflucht  zu  nehmen,  beispielsweise  zu  dem  Hotel 
„Grossbrittannien",  in  dessen  geräumigen  Zimmern  es  am 
Tage  gewöhnlich  ziemlich  menschenleer  war.  Die  Ouver- 
türe hat  Peter  Iljitsch  dem  Kronprinzen  gewidmet  und 
erhielt  von  Diesem  als  Dank  mit  Edelsteinen  verzierte  gol- 
dene Manschettenknöpfe,  welche  Peter  Iljitsch  aber  sofort 
an  Dubuque  verkaufte.  Peter  Iljitsch,  welcher  seine  ersten 
Arbeiten  stets  sehr  streng  beurteilte,  hat  dieser  Ouvertüre 
jedoch  ein  sympatisches  Andenken  bewahrt  und  schrieb 
1892  an  Jurgenson,  welcher  den  Wunsch  geäussert  hatte, 
sie  herauszugeben:  —  „Meine  „Dänische  Ouvertüre"  kann 
ein  Repertoirstück  werden,  denn  sie  ist,  soweit  ich  mich 
erinnere,  ziemlich  wirkungsvoll,  und  ist  in  musikalischer 
Beziehung  viel  besser  als  „1812". — Von  den  Briefen  Peter 

IJ  Dp.  15.  Verlag  Jurgenson. 


—  143  — 

Iljitsch's  aus  der  ersten  Hälfte  der  Saison  haben  sich  nur 
zwei  erhalten. 

An  A.  Tschaikowsky. 

„8.  November. 
...Ich  bin  wie  früher  gesund  und  nach  Möglichkeit 
glücklich...  Die  Ouvertüre  der  Dagmar  ist  schon  fertig, 
ihre  (der  Dagmar)  Ankunft  ist  aber  bis  zum  April  verscho- 
ben, sodass  ich  mich  umsonst  beeilt  habe.  Jetzt  will  ich 
die  Umarbeitung  der  Symphonie  in  Angriff  nehmen,  und 
später,  vielleicht,  eine  Oper.  Es  ist  Hoffnung  vorhanden, 
dass  Ostrowsky  selbst  mir  das  Textbuch  zum  „Woiwo- 
den"  machen  wird.  Habe  einige  neue  Bekanntschaften  ge- 
macht, unter  Anderen  die  des  Fürsten  Odoewsky  und  die 
der  Fürstin  Meschtschersky,  der  schönsten  Frau  in  ganz 
Moskau.  Ich  erinnere  mich  nicht  mehr,  ob  ich  über  Al- 
brecht schon  je  Etwas  geschrieben  habe:  er  spielt  eine 
grosse  Rolle  in  meinem  Leben  und  ich  muss  ihm  daher 
einige  Worte  widmen.  Erstens  ist  er  der  liebenswürdigste 
Mann  von  ganz  Moskau;  ich  habe  schon  im  vorigen  Jahre 
seine  Bekanntschaft  gemacht  und  habe  mich  seitdem  so 
an  ihn  gewöhnt,  dass  ich  bei  ihm  wie  zu  Hause  bin,  was 
mir  oft  einen  grossen  Trost  gewährt.  Zweitens  habe  ich 
seine  zwei  reizenden  Kinder  sehr  lieb  gewonnen.  Tar- 
nowsky's  besuche  ich  jetzt  lange  nicht  mehr  so  oft,  als 
früher". 

An  Denselben. 

„I.  December. 
....Bin  eben  erst  von  einem  Abend  nach  Hause  gekom- 
men, wo  ich  wundervolle  Stücke  von  Schumann,  (von  Ru- 
binstein und  Laub  vorgetragen)  gehört  habe...  In  der  vo- 
rigen Woche  ist  Kross  ^)  hier  gewesen,  und  verbrachte 
mit  uns  vier  Tage.  Wir  haben  natürlich  ziemlich  stark  ge- 
kneipt und  ich  habe  mich  infolgedessen  sehr  verausgabt. 
Den  Schluss  bildete  der  Maskenball  im  Grossen  Theater. 
Dort  hat  mich  den  ganzen  Abend  eine  Maske  intriguirt, 
welche  ich  nicht  erkennen  konnte,  welche  mich  aber  gut 
zu  kennen  schien.  Zuletzt  soupierten  wir  in  Gesellschaft 
Rubinsteins  und  seiner  Maske.  In  Petersburg  werde  wahr- 
scheinlich d.  25.  früh  eintreffen,  wenn  ich  bis  dahin  noch 
lebe  und  gesund  bin". 

1)  Siehe  S.  96 


—  144  — 

Nachdem  Р.  I.  die  S3miphonie  den  Fingerzeigen  A.  Ru- 
binsteins und  Zaremba's  entsprecliend  umgearbeitet  hatte, 
wollte  er  vor  Allem — N.  Rubinstein  überschlagend  —  das 
neue  Urteil  seiner  Lehrer  einholen,  so  sehr  stand  er  da- 
mals noch  unter  dem  Einfluss  Petersburg's.  In  Moskau  hat 
er  nur  den  unbedeutendsten  Teil  seines  Werkes  in  einem 
Symphoniekonzert  (am  8.  Dez.)  aufführen  lassen:  das  Scher- 
zo, welches,  übrigens,  garkeinen  Erfolg  hatte. 

hl  Petersburg  wurde  die  S^^mphonie  im  Grossen  und 
Ganzen  wiederum  abgelehnt;  nur  die  beiden  Mittelsätze, 
Adagio  und  Scherzo  haben  sich  einer  Aufführung  erfreut 
(ii.  Febr.  1867).  Der  Erfolg  dieser  Aufführung  war  gerin- 
ger als  mittelmässig.  Das  Publikum  hat  applaudiert,  den 
Autor  aber  nicht  hervorgerufen,  was  ungefähr  einem  Fiasko 
gleich  kommt,  denn  die  Neugier,  den  unbekannten  Autor 
zu  sehen,  erleichtert  den  Erfolg  gewöhnlich  sehr. 

Trotzdem  ist  in  der  Presse  die  erste  lobende  Anerken- 
nung Peter  Iljitsch's  gerade  dieser  Symphonie  zu  Teil  ge- 
worden. Während  der  hervorragendste  Kritiker  Peters- 
burg's, C.  Cui,  die  Erscheinung  des  Namens  Tschaikowsk}'^ 
auf  dem  Programm  der  Symphoniekonzerte  mit  Schweigen 
übergangen,  hat  ein  anderer,  ein  unbekannter  Rezensent, 
л¥е1сЬег  sich  A.  D.  nennt,  einen  begeisterten  Artikel  in 
der  „Petersburger  Zeitung"  unter  dem  Titel  „Die  Sym- 
phonie von  Tschaikowsky"  geschrieben. 

Dieser,  offenbar  von  einer  Dilettantenfeder  stammende 
Artikel,  vermochte  nur  in  geringem  Maasse  den  Schlag  zu 
mildern,  welcher  das  künstlerische  Ehrgefühl  Peter  Iljitsch's 
betroffen,  als  Rubinstein  die  Bitte  unseres  Komponisten, 
die  ganze  S3anphonie  in  der  Russischen  Musikalischen  Ge- 
sellschaft aufzuführen,  zum  zweiten  Male  abschlägig  be- 
schieden hatte. 

In  dem  so  milden  Charakter  Peter  Iljitsch's  bestand  ne- 
ben der  ausserordentlichen  Gutmütigkeit  und  Nachsicht 
gegenüber  den  Mitmenschen  merkwürdiger  Weise  gleich- 
zeitig auch  der  Zug,  erfahrenes  Leid  oder  Unrecht  nie  ver- 
gessen zu  können,  jedoch  nicht  im  Sinne  von  Rachsucht, 
sondern  wörtlich  verstanden:  Peter  Iljitsch  hat  der,  seinem 
künstlerischen  .Stolz  angethanen  Beleidigungen  sehr,  sehr 
lange  gedenken  können.  Wenn  der  Beleidiger  ihm  bis  da- 
hin lieb  und  teuer  gewesen,  so  erkaltete  Peter  Iljitsch  ur- 
plötzlich und  für  immer  ihm  gegenüber.  Nicht  nur  Monate, 
auch  nicht  Jahre,  sondein  Jahrzehnte  lang  trug  er  die  ihm 
beigebrachte  Wunde  ungeheilt  in  der   Seele,  und  man  mus- 


—  145  — 

ste  wirklich  ausserordentlich  viel  thim,  um  ihn  ein  unvor- 
sichtiges Wort  oder  eine  unfreundliche  Handlung  verges- 
sen zu  machen.  Das  war  unzweifelhaft  das  Resultat  seiner 
Verwöhntheit.  Schon  von  frühester  Kindheit  an  hatte  sein 
liebenswürdiges  Wesen  jedwede  Feindschaft  oder  sogar 
nur  Gleichgiltigkeit  ihm  gegenüber  ausgeschlossen,  sodass 
die  unbedeutendsten  Nadelstiche,  die  ein  Anderer  kaum 
merkt,  ihm — weil  sie  ihm  unbekannt — schon  wie  wuchtige 
Schläge  mit  einem  grossen  Messer  vorkamen.  Ich  könnte 
viele  Fälle  aufzählen,  wo  er  wegen  Kleinigkeiten  freund- 
schafdiche  Beziehungen  zerrissen  hatte,  beschränke  mich 
aber  darauf,  zu  erwähnen,  dass  er — als  er  schon  seit  lange 
in  Russland  und  in  Europa  berühmt  war — noch  immer 
die  ersten  absprechenden  Urteile  Cui's  und  Hanslick's  über 
seine  Kompositionen  nicht  vergessen  konnte,  und  sie  fast 
Wort  für  Wort  in  seinem  Gedächtniss  trug. 

Eine  solche  nie  vergessene  Beleidigung  war  auch  die 
abermalige  Ablehnung  seiner  Symphonie  seitens  des  Pe- 
tersburger Direktoriums  der  Russischen  Musikalischen  Ge- 
sellschaft. Er  verbiss  seinen  Aerger  und  hörte  von  nun 
an  auf,  die  Anerkennung  seines  Talentes  in  Petersburg  zu 
erstreben.  Aus  dem  ehrerbietigen  Schüler,  welcher  furcht- 
sam seine  Arbeiten  dem  Direktorium  zur  Begutachtung 
vorlegt,  ist  plötzlich  ein  selbstbewusster  Mann  geworden. 
Nach  einem  Jahr,  als  aus  Petersburg  die  mündliche  Bitte 
an  ihn  gelangt  war,  er  möchte  doch  die  Tänze  aus  der 
Oper  „Der  Woiwode"  zwecks  Aufführung  hinsenden,  ant- 
wortete er  stolz,  er  werde  es  nicht  eher  thun,  als  bis  man 
ihm  ein  offizielles  schriftliches  Gesuch  mit  sämmtlichen  Un- 
terschriften des  Direktoriums  zukommen  lassen  würde, — 
„denn  diese  Herren", — schrieb  er  bei  der  Gelegenheit  an 
seine  Brüder, — „verhalten  sich  mir  gegenüber  etwas  zu 
sehr  kavaliermässig.  Man  muss  sie  anf....n,  um  ihnen  zu 
imponieren."  Das  weitere  Schicksal  der  „Winterträume" 
hat  bewiesen,  dass  im  gegebenen  Fall  das  Beleidigtsein 
Peter  Iljitsch's  nicht  grundlos  gewesen,  urid  dass  er  wohl 
Recht  hatte,  über  Ungerechdgkeit  zu  klagen. 

Bald  darauf  erlebte  die  Symphonie  in  Moskau,  und 
einige  Jahre  später  auch  in  Petersburg,  glänzende  Erfolge 
und  gehört  auch  Heute  noch  nicht  zu  den  vergessenen 
Werken  unseres  Komponisten. 

Nicht  nur  die  Episode  mit  der  Symphonie,  sondern 
auch  viele  andere  Umstände  entfremdeten  Peter  Iljitsch 
nach  und  nach  das  „geliebte"  Petersburg.  Die  Reihen  sei- 

Tschaikou'sky,  M.  P.  I.  Tschaik.ovvsky's  Leben.  lU 


—  146  — 

пег  Freunde  lichteten  sioh  mit  der  Zeit  immer  mehr  und 
mehr,  der  beste  von  ihnen,  Laroche,  kam  im  Dezember 
als  Professor  nach  Moskau.  Ausserdem  gewann  in  Peters- 
burg der  von  Balakireff  geleitete  kleine  Kreis  talentvoller 
jungrussischer  Komponisten-Neuerer,  welche  Dargomyzski 
huldigten  und  zu  denen  Rimsky-Korsakoff,  Mussorgsk}^, 
C.  Cui  und  Borodin  gehörten,  immer  mehr  an  Einfluss 
und  Bedeutung.  Die  von  diesen  Komponisten  vertretenen 
und  durch  C.  Cui  und  Stassoff  schriftlich  verfochtenen  Ten- 
denzen, welche  die  alten  Götter  Haydn,  Mozart,  Händel 
u.  A.  zu  stürzen  bestrebt  waren,  sowie  der  Krieg,  den 
sie  mit  dem  Petersburger  Konservatorium,  speziell  mit  A. 
Rubinstein  führten,  machten  auf  Peter  Iljitsch  einen  sehr 
uns34npatischen  Eindruck. 

Das  feindselige  Gefühl,  welches  er  gegenüber  jener 
Komponistenplejade  empfand,  hatte  seinen  Grund  zum  Teil 
auch  in  dem  Skeptizismus,  mit  welchem  sich  Peter  Iljitsch 
überhaupt  den  Menschen  gegenüber  verhielt.  Einen  jeden, 
ihm  unbekannten  Menschen  hielt  er  von  vornherein  für 
einen  Feind.  Trat  er,  z.  В.,  in  einen  vollen  Eisenbahnwa- 
gen und  sah,  wie  die  Fahrgäste  ihn  gleichgiltig  anblickten, 
oder  seine  Bewegungen  ängstlich  verfolgten,  in  der  Mei- 
nung, er  könnte  ihren  mit  Koffern  und  Körben  belegten 
Platz  wegnehmen,  so  schien  es  ihm,  als  befinde  er  sich 
unter  Leuten,  die  ihm  nicht  nur  übelgesinnt  wären,  son- 
dern ihn  ausserdem  verachteten.  Wenn  er  in  ausländischen 
Hotels  an  der  table  d'hote  sass,  so  glaubte  er,  dass  er  von 
Allen  mit  Abscheu  angesehen  werde,  weil  er  sich  erfrecht 
hatte,  in  ihre  vornehme  Gesellschaft  einzudringen.  Dafür 
wurden  auch  sie  Alle  von  ihm  mit  Verachtung  gestraft, 
aber  nur  bis  zum  ersten  liebenswürdigen  Wort  oder  freund- 
lichen Blick.  Dann  verzieh  er  ihnen  sofort  und  fand  sie 
sogar  sympatisch. 

Ebenso  ging  es  ihm  mit  den  Vertretern  der  neuen  Kunst- 
richtung in  Petersburg.  Bis  zum  Jahre  1868  war  ihm 
Keiner  von  ihnen  persönlich  bekannt,  aber  auch  er  war 
ihnen  bis  dahin  fremd  geblieben.  Das  genügte,  um  in  Pe- 
ter Iljitsch  die  Vorstellung  zu  erwecken,  dass  sie  ihm  Alle 
feindlich  gesinnt  seien,  und  er — als  1867  A.  Rubinstein  von 
der  Direktion  der  Symphonie-Konzerte  der  Russischen  Mu- 
sikalischen Gesellschaft  zurücktrat,  und  die  Leitung  der- 
selben vollständig  in  die  Hände  jener  Herren  fiel — Peters- 
burg vollends  für  ein  feindliches  Lager  hielt,  während  man 
dort  in  Wirklichkeit  sich  ihm  gegenüber  im  schlimmsten 
Falle  gleichgiltig  verhielt. 


-  147  - 

Gleichzeitig  festigten  sich  die  Beziehungen  Peter  Iljitsch's 
zu  seinen  Mosl<;auer  Freunden,  und  der  Kreis  Derjenigen, 
welche  an  seine  künstlerische  Zukunft  glaubten  und  ihm 
warme  Teilnahme  entgegenbrachten,  vergrösserte  sich  von 
Tag  zu  Tag.  Ausserdem  hat  Peter  Iljitsch  das  Moskauer 
musikalische  Leben  nach  und  nach  besser  kennen  gelernt 
und  ist  zu  der  Ueberzeugung  gelangt,  dass  Moskau  in  die- 
ser Beziehung  zwar  ein  wenig  hinter  Petersburg  zurück- 
stehe, dass  aber  der  künstlerische  Wert  seiner  leitenden 
musikalischen  Persönlichkeiten  nichtsdestoweniger  sehr  her- 
vorragend sei.  Bei  näherer  Bekanntschaft  mit  Nikolai  Gre- 
gorjewitsch  hat  Peter  Iljitsch  die  ausserordentliche  Bedeu- 
tung dieses  Mannes  als  ausübenden  Künstler,  ausgezeich- 
neten Dirigenten  und  rastlosen  Arbeiter  endlich  einsehen 
gelernt.  Infolge  der  Erscheinung  in  Moskau  solcher  musi- 
kalischen Grössen,  wie  Laub  und  Kossmann,  infolge  der 
intimen  Freundschaft  mit  Kaschkin  und  Albrecht,  infolge 
der  Ankunft  Laroche's  u.  s.  w.  wurde  Moskau  in  den 
Augen  Peter  Iljitsch's  immer  mehr  zu  einem  beachtens- 
werten musikalischen  Mittelpunkt,  wo  es  wohl  der  Mühe 
wert  war,  nach  Anerkennung  zu  streben. 

Von  den  Briefen  Peter  Iljitsch's  aus  der  ersten  Hälfte 
des  Jahres  1867  datiert  der  erste  vom  2.  Mai,  sodass  es 
schwer  ist  festzustellen,  wann  er  mit  der  Komposition  des 
„Woiwoden"  begonnen  hat.  Jedenfalls  hat  ihm  Ostrowsky 
schon  im  März  oder  April  den  ersten  Teil  des  Textbuches 
übergeben.  Bis  zum  Juni  hat  Peter  Iljitsch  jedoch  verhält- 
nissmässig  wenig  geschaffen:  ich  erinnere  mich,  dass  im 
Sommer  noch  nicht  einmal  der  erste  Akt  vollendet  war. 
Gleich  im  Anfang  musste  Peter  Iljitsch  seine  Arbeit  un- 
terbrechen, denn  er  hatte  es  fertigbekommen,  das  Text- 
buch zu  verlieren,  sodass  Ostrowsky  es  aus  dem  Gedächt- 
niss  wiederherstellen  musste. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„2.  Mai  (Abends). 
...Die    ganze    letzte    Woche    war    ich    verstimmt;    der 
Grund  lag  in  folgenden  Umständen:  i)  schlechtes  Wetter, 
2)  Geldmangel  und  3)  vollständige  Hoffnungslosigkeit,  das 
Libretto  wiederzufinden. 

Von  den  Festtagen  ^)  ist  Nichts  zu  erzählen:  es  wird 
Euch  Alles  schon  aus   den    Zeitungen   bekannt    sein.  Auf 


1     Aus  Anlass  des  Aufeullialtt-s  des  neuvermählten  Kronprin/;enpaares. 


—  148  — 

dem  Volksfest  in  Sokolniki  ^)  bin  ich  nicht  gewesen,  denn 
ich  babe  es  vorgezogen  Turgenew's  „Rauch"  durchzule- 
sen, und  bedauere  es  nicht.  Laroche  sehe  ich  sehr  oft.  Habe 
bei  ihm  neulich  die  Bekanntschaft  des  sehr  interessanten 
Professors  Bugajeff-)  gemacht.  Das  ist  ein  unglaublich  ge- 
lehrtes und  sehr  kluges  Männchen.  Er  hat  uns  bis  tief  in 
die  Nacht  hinein  von  der  Astronomie  und  den  neuesten 
Entdeckungen  derselben  erzählt.  Oh,  Gott!  Wie  grenzenlos 
unwissend  sind  wir  doch  noch,  wenn  wir  die  Schule  ver- 
lassen. Es  überkam  mich  ein  Schauder  als  ich  einen  bele- 
senen und  in  Wahrheit  aufgeklärten  Menschen  kennen  zu 
lernen  Gelegenheit  hatte!... 

Verfügt  über  mich  im  Sommer,  wie  ihr  wollt.  Unge- 
fähr am  28.  Mai  werde  ich  in  Petersburg  eintreffen". 

Als  Peter  Iljitsch  nach  vielem  Hin-und  Herüberlegen 
endlich  doch  zur  Ueberzeugung  gekommen,  dass  es  ihm 
auch  in  diesem  Jahr  nicht  möghch  sei,  zur  Schw^ester  nach 
Kamenka  zu  reisen,  fasste  er  den  Entschluss,  den  bevor- 
stehenden Sommer  mit  einem  der  Zwillingsbrüder  (für 
Beide  reichten  seine  Mittel  nicht)  in  irgend  einem  entlegenen 
Dörfchen  Finnlands  zu  verbringen.  Da  im  vorigen  Sommer 
Modest  sein  Gesellschafter  gewesen,  sollte  diesmal  Anatol 
mitkommen,  während  Modest  in  Hapsal  bei  Dawidow's 
ein  Unterkommen  fand. 

Bei  der  Abreise  aus  Petersburg  nach  Wiborg,  Anfang 
Juni,  verfügte  Peter  Iljitsch  über  einhundert  Rubel.  Mit 
der  ihm  eigenen  Naivetät  in  wirtschaftlichen  Sachen,  glaub- 
te er,  mit  dieser  Summe  den  ganzen  Sommer  hindurch 
auskommen,  und  sogar  einen  Abstecher  nach  dem  Imatra- 
Wasserfall  unternehmen  zu  können. 

Unsere  Reisenden  kamen  glücklich  in  Wiborg  an,  blieben 
dort  einige  Tage,  lebten,  ohne  sich  irgendwie  einzuschrän- 
ken, kamen  auch  bis  zum  hiiatra-Fall  und  merkten  hier 
erst  mit  Entsetzen,  dass  das  Geld  einstweilen  ausgegangen 
war,  dass  an  eine  Sommerwohnung  garnicht  mehr  zu 
denken  sei,  und  dass  die  noch  übrig  gebhebenen  paar 
Rubel  kaum  noch  für  die  Rückreise  nach  Petersburg 
reichten.  So  machten  sie  sich  denn  auch  mit  dem  ersten 
Schiff  nach  Petersburg  auf,  um  dort  bei  Bekannten  oder 
Verwandten  wenigstens  für  die  ersten  Tage  ein  Unterkom- 
men zu  finden,  Geld  aufzutreiben  und  das  Weitere  zu 
überlegen;  dort  harrte  ihrer  doch  eine  grosse  Enttäuschung. 

1)  Ein  Vorort  Moskau's. 

2)  Bugajefl— Professor  der  Mathematik  an  der  Moskauer  Universität. 


—  149  - 

Ilja  Petrowitsch  луаг  für  den  Sommer  nach  dem  Ural  ge- 
reist, nachdem  er  seine  Wohnung  vermietet  hatte.  Von 
den  anderen  Verwandten  und  Freunden  war  auch  Nie- 
mand zu  finden:  Alle  waren  verreist.  So  blieb  unseren 
Reisenden  nur  Eines  übrig:  so  schnell  als  möglich  nach 
Hapsal  zu  flüchten,  in  der  Hoffnung,  bei  Dawidow's  Auf- 
nahme finden  zu  können.  „Unsere  allerletzten  Rubel", — 
erzählt  Anatol, — „reichten  gerade  noch  hin,  um  als  Zwi- 
schendeckspassagiere des  Dampfers  „Konstantin"  bis  Hapsal 
zu  kommen.  Zu  unserem  Unglück  war  es  damals  sehr 
kalt,  und  wir  litten  fürchterlich  darunter,  denn  warme 
Kleider  hatten  wir  nicht  mit.  Peter  hat  bei  einem  Mitrei- 
senden für  die  Nacht  ein  Plaid  bekommen  und  hüllte 
mich  darin  ein,  während  er  selbst  trotz  meiner  Bitten  unein- 
gehüUt  blieb  und  sich  unaufhörlich  die  bittersten  Vorwürfe 
wegen  seines  Leichtsinnes  machte. 

In  der  Nähe  des  von  Dawidow's  bewohnten  Hauses 
mietete  Peter  Iljitsch  bei  einer  armen  Wittwe  zwei  beschei- 
dene möblierte  Zimmer  und  bezog  sie  mit  seinen  beiden 
Brüdern.  Da  wir  alle  Drei  nur  wenig  Geld  zu  unserer 
Verfügung  hatten,  so  Hessen  wir  uns  das  Essen  von  einem 
billigen  Restaurateur  ins  Haus  senden,  und  zwar  immer 
nur  zwei  Portionen,  welche  wir,  so  redlich  es  ging,  teilten. 
Infolgedessen  waren  wir  eigentlich  nie  ordentlich  satt.  Ich 
erinnere  mich  noch  lebhaft  an  jene  „Diner's",  und  wie 
oft  wir  von  ganzem  Herzen  über  humoristische  Zwischen- 
fälle bei  der  „Teilung"  gelacht  haben,  z.  B.  wxnn  Peter 
Iljitsch  sich  vor  die  schwierige  Aufgabe  gestellt  sah,  zwei 
halbe  Hühner'in  drei  Teile  zu  schneiden,  oder  wenn  er 
und  ich,  die  wir  Beide  ziemlich  anspruchslos  im  Essen 
waren,  mit  gierigen  Augen  verfolgten,  wieviel  der  von 
Kindheit  an  etwas  „unbeschränkte "Anatol  selbst  verzehren, 
und  wieviel  er  uns  übrig  lassen  wird.  Wenn  wir  gar  zu 
hungrig  blieben,  so  veranstalteten  wir  einen  Kaffee  mit 
einem  ganzen  Haufen  Brödchen,  oder  gingen  zu  Dawi- 
dow's und  Hessen  uns  sattfüttern.  Diesen  war  unsere  Situa- 
tion wohl  bekannt,  sie  konnten  und  wollten  uns  aber  nicht 
einladen,  täglich  bei  ihnen  zu  essen,  denn  sie  glaubten 
mit  Recht,  dass  Peter  Iljitsch  es  doch  abschlagen  würde, 
weil  sie  selbst  das  Essen  portionsweise  aus  einem  Restau- 
rant holen  Hessen.  Oft  haben  sie  aber  List  angewendet, 
um  uns  zu  helfen,  indem  sie  allerlei  Picknicks  und  Aus- 
fahrten unternahmen  und  uns  dnzu  einluden. 

Trotz    dieser    kleinen    Unannehmlichkeit,    welche    uns 


—  I50  — 

übrigens  viel  mehr  heitere  als  traurige  Stunden  bereitet, 
hat  Peter  Iljitsch  den  Sommer  frohen  Mutes  verbracht.  Er 
arbeitete  rüstig  an  dem  „Woiwoden",  und  widmete  die 
freie  Zeit  der  Gesellschaft  seiner  lieben  Freunde.  Abends 
lasen  wir  gewöhnlich  und  erfreuten  uns  namentlich  an 
den  dramatischen  Werken  Alfred  deMusset's.Die  anspruchs- 
lose und  einfache  Seele  Peter  Iljitsch's  war  von  solcher 
Lebensweise  vollauf  befriedigt,  und  seine  friedlich-heitere 
Stimmung  spiegelt  sich,  glaube  ich,  ausgezeichnet  in  dem 
„Chant  Sans  paroles",  wieder  welches  er  damals  komponiert 
und  zusammen  mit  zwei  anderen  Stücken  unter  dem  Na- 
men „Souvenir  de  Hapsal"  Wera  Wassiljewna  Dawidowa 
gewidmet  hatte. 

Leider  hat  die  Stimmung  Peter  Iljitsch's  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Sommers  eine  leichte  Trübung  erfahren,  da  sich 
einige  neue  Bekanntschaften  einstellten,  welche  an  und 
für  sich  zwar  sehr  angenehm  waren,  aber  auf  die  gewohnte 
und  liebgewonnene  Lebensweise  störend  einwirkten.  Von 
diesen  neuen  Bekannten  muss  ein  gewisser  Konstantin 
Petro witsch  Pobjedonosszew  erwähnt  werden,  der  im  spä- 
teren Leben  Peter  Iljitsch's  eine  grosse  Rolle  spielte. 

Seinen  Aufenthalt  in  Hapsal  beschreibt  Peter  Iljitsch 
in  folgenden  Briefen  an  die  Schwester. 

An.  A.  Dawidow: 

„20.  Juni. 
Von  unserer  Reise  nach  Finnland  wdrst  Du  wohl  schon 
wissen.  Das  war  eine  jener  Dummheiten,  für  welche  Dein 
lieber  Bruder  ein  so  grosses  Talent  besitzt.  Nach  Hapsal 
bin  ich  mit  einem  grossen  Vorurteil  und  geringem  Geldvor- 
rat gekommen,  endeckte  aber  tagtäglich  neue  Vorzüge, 
welche  mich  mit  diesem  Ort  bereits  versöhnt  haben.  Ueber- 
dies  hat  Deine  Unterstützung  zusammen  mit  der  mir  aus 
Moskau  gesandten  Summe  unseren  Aufenthalt  in  Hapsal 
möglich  gemacht.  Möchte  Dir  im  Geheimen  mitteilen,  dass — 
nachdem  unser  geschlossener  Kreis  durchbrochen  und  wir 
von  neuen  Bekanntschaften  überflutet  worden  sind — ich 
sehr  ingrimmig  und  ärgerlich  bin,  und  mir  in  meinem 
Innern  das  Wort  gegeben  habe,  nie  wieder  eine  solche 
Sommerfrische  aufzusuchen,  wo  die  Leute  fast  tagtäg- 
Hch  tanzen  und  beinahe  jede  Minute  sich  gegenseitig  Be- 
suche machen...  Wera  Wassiljewna  hat  Dir  wahrscheinlich 
schon  geschrieben,  dass  ich  sehr  viel  arbeite.  Meine  Oper 
geht  recht  munter   vorwärts,  und    bin    ich  in  dieser  Hin- 


—  151  — 

sieht  mit  mir  zufrieden.  Schlimm  ist  aber  die  Thatsachc, 
dass  ich  hier  in  Hapsal  beständig  Gelegenheit  habe  wahrzu- 
nehmen, dass  in  mir  die  Krankheit,  welche  „Misantropie" 
genannt  wird,  steckt.  Manchmal  überkommt  mich  ein  fürch- 
terlicher Menschenhass.  Doch  —  reden  wir  darüber  ein 
ander  Mal.  Sonst  bin  ich  gesund  und  munter,  was  auch 
Dir  wünsche"... 

An  A.  Dawidow: 

„Hapsal,  d.  8.  August. 

...Nur  noch  einige  Tage  bleiben  wir  in  Hapsal.  Nach 
drei  Tagen,  am  Sonnabend,  werden  wir  uns  schon  auf 
dem  Dampfschiff  befinden.  Hapsal  selbst  taugt  nichts,  aber 
einige  schöne  Erinnerungen  werde  ich  mir  bewahren,  dank 
der  Gesellschaft  Dawidow's  (die  Verehrung,  welche  ich 
für  diese  Familie  hege,  hat  keine  Grenzen)  und  im  Bewusst- 
sein,  dass  die  Zeit  nicht  nutzlos  verstrichen  ist.  Obwohl 
ich  mich  stets  zurückzog,  ist  es  mir  nicht  gelungen  einige 
neue  Bekanntschaften  zu  vermeiden.  Heute  wollen  wir  eine 
Abschiedsfahrt  in  den  Wald  unternehmen". 

Zum  15.  August  sind  die  drei  Brüder  wieder  nach  Pe- 
tersburg zurückgekehrt,  wo  Peter  Iljitsch  noch  etwa  eine 
Woche  blieb  und  dann  nach  Moskau  abreiste. 


Im  Laufe  der  Saison  1866 — 1867, hat  Peter  Iljitsch  fol- 
gende Werke  komponiert: 

i)  Op.  15.  Festouverture  über  die  dänische  Hymne. 
Begonnen  im  September;  beendet  im  October  1866.  Verlag 
Jurgenson. 

2)  Op.  13.  Symphonie  G-moll  №  i,  „Winterträume". 
Begonnen  im  März,  beendet  im  November  1866.  Verlag 
Jurgenson. 

3)  Op.  I.  Russisches  Scherzo  und  Impromptu.  Kompo- 
niert im  Anfang  des  Jahres  1867.  Die  erste  dieser  Kompo- 
sitionen hiess  anfangs  „Capriccio".  Es  ist  auf  dem  ersten 
Thema  des  B-dur-Quartetts  aufgebaut,  welches  Peter  Iljitsch 
noch  im  Konservatorium  (1865)  geschrieben  hatte.  Das 
Thema  selbst  ist  ein  kleinrussisches  Volkslied  und  stammt 
aus  Kamenka.  Das  Impromptu  ist  ebenfalls  ein  schon  frü- 
her (im  Konservatorium)  komponiertes  Stück  und  war 
ursprünglich  nicht  für  eine  Veröffentlichung  bestimmt.  Es 
befand  sich  zufällig  in  dem  Notenheft,  in  welches  Peter 
Iljitsch   das  Capriccio   hineingeschrieben    hat.  Dieses  Heft 


—  152  — 

hat  nun  Rubinstein,  so  wie  es  war,  an  Jurgenson  gegeben, 
ohne  ihn  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  das  Impromptu 
nicht  veröffenthcht  werden  soll.  Als  Peter  Iljitsch  die  Kor- 
rektur zu  Gesicht  bekam,  war  er  anfangs  unangenehm 
überrascht,  auch  das  hnpromptu  im  Stich  zu  sehen,  fügte 
sich  nachher  aber  der  geschehenen  Thatsache.  Das  „Rus- 
sische Scherzo"  ist  in  Rubinsteins  Konzert  1867  aufge- 
führt. Beide  Werke,  welche — ebenso  wie  die  Symphonie — 
N.  Rubinstein  gewidmet  sind,  hat  Jurgenson,  wenn  ich 
nicht  irre,  noch  in  demselben  Jahr  herausgegeben. 

4)  Op.  2.  „Souvenir  de  Hapsal"  —  drei  Klavierstücke: 
a)  „Die  Burgruine",  b)  Scherzo,  c)  Lied  ohne  Worte  (Chant 
Sans  paroles).  Juni  und  Juli  1867,  Hapsal. 

Nur  das  erste  und  dritte  dieser  Stücke  ist  in  Hapsal 
komponiert,  das  zweite  hat  Peter  Iljitsch  einer  früheren 
Konservatoriumsarbeit  entnommen.  Dieses  opus  ist  Wera 
Wassiljewna  Dawidowa  gewidmet.  Verlag  Jurgenson. 

Ausserdem  hat  Peter  Iljitsch  vom  Frühjahr  1867  an 
an  der  Oper  „Der  Woiwode"  gearbeitet. 


IV 

1867-  1868. 

„Vielleicht  hast  Du  schon  selbst  die  Beobachtung  ge- 
macht"— schreibt  Peter  Iljitsch  an  seine  Schwester, — „dass 
ich  mich  leidenschaftlich  nach  dem  stillen,  ruhigen  Leben 
sehne,  wie  es  auf  dem  Lande,  im  Dorfe  gelebt  wird.  Viel- 
leicht hat  Dir  Wera  Wassiljewna  schon  erzählt,  wie  oft 
wir  in  Hapsal  scherzend  von  unserem  zukünftigen  einsa- 
men Häuschen  schwärmten,  in  welchem  wir  den  Rest 
unseres  Lebens  zubringen  werden.  Was  mich  anbelangt, 
so  ist  das  durchaus  kein  Scherz.  Ich  hänge  in  Wirklichkeit 
sehr  an  diesem  Gedanken,  und  das  kommt  davon,  dass 
ich — obwohl  ich  es  bis  zum  Greisenalter  noch  weit  habe — 
bereits  sehr  lebensmüde  bin.  Lache  nicht;  wenn  Du  immer 
in  meiner  Nähe  wohnen  würdest,  hättest  Du  es  leicht  sel- 
ber gemerkt.  Die  mich    umgebenden    Menschen   wundern 


—  153  - 

sich  oft  über  meine  Sprechfaulheit,  über  die  Verstimmung, 
an  der  ich  oft  leide,  während  ich  im  Grunde  gar  kein 
schlechtes  Leben  führe.  Was  braucht  denn  noch  ein  Mensch, 
der  sich  materiell  gut  steht,  der  von  Allen  verehrt  wird 
und  dessen  künstlerische  Leistungen  anerkannt  werden? 
Und  trotz  alledem  weiche  ich  Gesellschaften  aus,  bin  nicht 
imstande,  Bekanntschaften  zu  unterhalten,  habe  die  Einsam- 
keit gern,  bin  schweigsam  u.  s.  w.  Das  Alles  erkLärt  sich 
durch  meinen  Lebensüberdruss.  In  solchen  Minuten,  wenn 
ich  nicht  nur  zu  faul  bin  zu  sprechen,  sondern  nicht  einmal 
denken  mag  —  schwämme  ich  von  einem  himmlisch — stillen, 
ruhigen,  fjlücMichen  Dasein,  und  kann  mir  dieses  Dasein 
nicht  anders  vorstellen,  als  in  Deiner  unmittelbaren  Nähe. 
Zweifle  nicht  daran,  dass  Du  einst  einen  Teil  Deiner  Mut- 
tersorgen Deinem  alten  müden  Bruder  wirst  angedeihen 
lassen  müssen.  Du  bist  vielleicht  der  Meinung,  dass  eine 
derartige  Seelenstimmung  gewöhnlich  zu  Heiratsgedan- 
ken führt.  Nein,  meine  Liebe!  Wiederum  aus  Ueberdruss 
bin  ich  zu  faul,  neue  Beziehungen  anzuknüpfen,  zu  faul, 
eine  Familie  zu  gründen,  zu  faul,  die  Verantwortung  für 
das  Schicksal  der  Frau  und  der  Kinder  auf  mich  zu  neh- 
men. Mit  einem  Wort:  die  Ehe  ist  für  mich  undenkbar. 
In  welcher  Form  meine  Verschmelzung  mit  Deiner  Familie 
geschehen  wird  —  weiss  ich  noch  nicht:  ob  ich  Besitzer 
eines  in  Deiner  Nachbarschaft  gelegenen  Stückchen  Lan- 
des, oder  einfach  Dein  Pensionär  sein  werde,  wird  die 
Zukunft  lehren.  Es  ist  für  mich  nur  klar,  dass  das  Glück 
meiner  Zukunft  ohne  Dich  unmöglich  ist". 

Peter  Iljitsch  giebt  an  keiner  Stelle  eine  genügende 
Erklärung  der  Gründe  seines  Strebens  nach  Einsamkeit, 
nach  einem  „himmlisch-stillen,  ruhigen,  glücklichen  Leben". 
Jedenfalls  lagen  sie  weder,  in  der  „Misantropie",  noch  in 
der  „Faulheit",  noch  im  „Lebensüberdruss". 

Er  w^ar  kein  „Misantrop",  denn  ein  Jeder,  der  ihn  kann- 
te, wird  zugeben  müssen,  dass  selten  Einer  seinen  Mit- 
menschen soviel  Teilnahme  entgegenbrachte  wie  Peter 
Iljitsch.  Laroche  sagt:  Die  Zahl  Derjenigen,  welche  auf 
Peter  Iljitsch  einen  günstigen  Eindruck  machten,  welche 
ihm  gefielen,  welche  er  auch  hinter  ihrem  Rücken  in  freund- 
schaftlicher Unterhaltung  „  S3mipatisch  und  gut"  nannte, 
brachte  mich  schier  in  Verzweiflung".  Die  Eigenschaft, 
einer  jeden  Erscheinung  die  hellen,  die  angenehmen  Seiten 
abzugewinnen,  und  dieselben  vor  allen  Dingen  im  Verkehr 
mit  seinen  Nächsten  zu  sehen,  hat  Peter   Iljitsch  von  sei- 


-  154  — 

nem  Vater  geerbt  und  Nichts  Anderes,  als  gerade  seine 
Liebe  für  die  Menschen  hat  ihm  soviel  Verehrung  und 
Gegenliebe  eingetragen.  Er  war  kein  Misantrop,  sondern 
viel  eher  und  im  wahren  Sinne  des  Wortes — ein  Philantrop. 
Noch  weniger  gerecht  ist  seine  Selbstbezichtigung  in  der 
„Faulheit".  Der  Leser,  der  ihn  als  Schuljungen,  als  Be- 
amten und  als  Schüler  des  Konservatoriums  kennen  gelernt 
hat,  wird  mit  mir  darin  übereinstimmen.  Aber  man  braucht 
nur  einen  Blick  auf  das  Verzeichniss  seiner  Kompositionen 
zu  werfen,  welches  aus  76  Werken,  darunter  zehn  Opern, 
drei  Ballets;  ferner  die  Masse  von  Briefen  (ich  besitze  deren 
4000  an  Originalen  und  Kopieen),  Rezensionen  (61  an  der 
Zahl),  die  er  geschrieben,  zu  betrachten,  garnicht  zu  reden 
von  den  verschiedenen  Uebersetzungen,  Arrangements, 
Unterrichtswerken  und  von  seiner  zehnjährigen  Lehrthä- 
tigkeit  ( — und  Alles  im  Laufe  von  28  Jahren!)  und  man  wird 
zur  Ueberzeugung  kommen,  dass  das  dolce  far  niente  nicht 
in  seiner  Natur  gelegen  haben  kann. 

Was  seine  „  Lebensmüdigkeit "  anbetrifft,  so  wird  sie 
durch  Peter  Iljitsch  selbst  in  demselben  Brief  widerlegt, 
in  dem  er  von  seiner  Sehnsucht  nach  einem  „himmlisch- 
stillen, ruhigen,  glückhchen  Dasein"  spricht.  Wer  wirklich 
„lebensmüde"  ist,  der  kann  keine  Sehnsucht  nach  irgend 
einem  „Dasein"  haben.  • 

Nein,  nicht  Misantropie,  nicht  Faulheit  und  auch  nicht 
Lebensüberdruss  waren  an  seiner  permanenten  Verstim- 
mung, an  seiner  unbestimmten  Sehnsucht  nach  einem  schö- 
neren Dasein  schuld,  sondern  der  immer  stärker  werdende 
schöpferische  Drang,  der  Drang  nach  Freiheit  um  der 
künstlerischen  Arbeit  willen,  welcher  1877  endlich  zum 
Durchbruch  kam  und  eine  Umwälzung  in  Peter  Iljitsch's 
Leben  hervorrief. 

Vorläufig  durfte  er  jedoch  garnicht  daran  denken,  allein 
und  frei  zu  sein.  Im  besten  Falle  konnte  er  die  Freiheit 
nur  zwei  bis  drei  Monate  im  Jahr  geniessen,  während  der 
Sommerferien.  Im  Winter  musste  er,  erstens,  seinen  Le- 
bensunterhalt verdienen,  denn  vom  Komponieren  allein 
konnte  er  nicht  leben,  zweitens,  fand  seine  Selbstüberzeu- 
gung in  Betreff  seines  Talentes  noch  zu  wenig  Anklang 
in  der  Aussenwelt;  und  drittens  war  in  ihm  das  Bedürfniss 
nach  dem  Verkehr  mit  Menschen,  das  Bedürfniss  nach 
Eindrücken  des  bunten  frisch  pulsierenden  Stadtlebens, 
das  Bedürfniss  nach  mancherlei  Zerstreuungen  noch  lange 
nicht  abgestorben.  Vorläufig  war  für  Peter  Iljitsch  das  Stadt- 


—  155  — 

leben  in  materieller  und  in  moralischer  Beziehung  unent- 
behrlich, obgleich  er  es,  allerdings,  oft  als  Etwas  Lästiges, 
Störendes  empfand.  Ich  glaube,  dass  wenn  ihn  damals  das 
Schicksal  gewaltsam  an  das  Leben  auf  dem  Lande  gefes- 
selt hätte,  an  ein  Leben,  wie  er  es  beispielsweise,  in  den 
achtziger  Jahren  geführt,  so  würde  er  noch  viel  unzufrie- 
dener mit  seinem  Loss  gewesen  sein  und  noch  viel  mehr 
zu  klagen  gehabt  haben.  Augenblicklich  war  ihm  das  Stadt- 
leben, wie  gesagt,  notwendig  und  sogar  lieb,  und  von  allen 
Städten  war  ihm  die  liebste- -Moskau.  Er  ist  inzwischen 
aus  einem  Petersburger  ein  Moskowiter  mit  Leib  und  Seele 
geworden; — „ich  sehe  wohl  ein,  dass  ich  mich  an  Moskau 
sehr  gewöhnt  habe",  schreibt  er  in  seinem  ersten  Brief  im 
August.  Nach  Moskau  zurückgekehrt,  ist  Peter  Iljitsch  bei 
Rubinstein  wohnen  geblieben. 

An  A.  Tschaikowsk}-: 

„31.  August. 

Soeben  komme  ich  von  Ostrowsky  und  finde  Deinen 
Brief.  In  Moskau  ist  Alles  beim  Alten  geblieben.  Vorläufig 
habe  ich  noch  keine  Beschäftigung  und  bummle  daher  den 
ganzen  lieben  Tag  ziellos  in  der  Stadt  umher.  Laroche 
wohnt  jetzt  sehr  weit,  bei  Katkow.  Die  Beiden  haben  sich 
sehr  befreundet  und  Laroche  ist  von  seinem  neuen  Freund 
ganz  entzückt.  Ostrowsk}?^  führt  mich  immer  noch  an  der 
Nase  herum:  in  Petersburg  habe  ich  einmal  in  der  Zeitung 
gelesen,  dass  er  mein  Libretto  bereits  beendet  hätte,  dem 
ist  jedoch  nicht  so:  ich  hatte  Mühe,  die  Hälfte  des  verlo- 
renen Aktes  von  ihm  wiederzukriegen.  Ich  trage  mich  mit 
der  Absicht  herum,  mir  einen  grossmächtigen  Schreibtisch 
zu  kaufen,  überhaupt  mein  Zimmer  etwas  gemütlicher 
einzurichten,  um  die  Möglichkeit  zu  haben,  mit  Genuss  zu 
Hause  zu  sitzen  und  fleissig  an  der  Oper  zu  arbeiten.  Im 
Laufe  des  Winters  will  ich  bestimmt  damit  fertig  werden. 
Gestern  Abend  bin  ich  bei  Dubuque  zum  Namenstag  ge- 
wesen und  kam  etwas  angetrunken  nach  Hause. 

Ich  sehe  wohl  ein,  dass  ich  mich  an  Moskau  sehr  ge- 
wöhnt habe,  denn  diese  Stadt  ist  mir  jetzt  lange  nicht 
mehr  so  verhasst,  wie  im  vorigen  Jahr  um  diese  Zeit. 
Mittag  essen  werde  ich,  vom  2.  September  an  wieder  bei 
Albrecht,  wie  früher;  vorläufig  lebe  ich  aber  wie  ein  Vogel 
in  den  Lüften.  Zwei  Abende  hintereinander  habe  ich  im 
„Englischen  Klub"   verbracht.   Wie  wundervoll   ist   doch 


-  15б  - 

dieser  Klubl  Es  wäre  famos,  dort  Mitgltcd  zu  sein,  kostet 
aber  sehr  teuer"... 

An  A.  Tschaikowsky: 

„  28.  September. 

Ich  bin  an  Leib  und  Seele  ganz  gesund,  was  auch  dir 
wünsche.  Lebe,  wie  sonst.  Hier  einige  Einzelheiten: 

i)  Montags  finden  bei  uns  grosse  Unterhaltungsabende 
mit  Musik  und  Kartenspiel  statt. 

War  mit  Laroche  im  „Tartuffe",  welcher  im  Kleinen 
Theater  ausgezeichnet  gegeben  wird,  mit  Samarin  und 
Schumsk}'  in  den  Hauptrollen. 

3)  Letzterer  (d.  h.  nicht  Schumsky  und  auch  nicht  Sa- 
marin,  sondern  Laroche)  hat  in  den  „Russischen  Nachrich- 
ten" einen  kleinen  Artikel  über  Glinka  veröffentlicht  und 
will  in  einer  ganzen  Reihe  solcher  Artikel,  diesen  Kompo- 
nisten noch  ausführlicher  besprechen,  hii  Laufe  eines  ganzen 
Monats  habe  ich  Laroche  nur  flüchtig  gesehen,  in  den  letzten 
Tagen  sind  wir,  jedoch,  unzertrennlich,  gewesen.  Da  das 
Wetter  ausgezeichnet  ist...  übrigens  ist  das  schon  Punkt  4. 

4)  Ich  habe  mit  Laroche  einen  Ausflug  nach  Kunzewo 
gemacht,  sechs  Werst  von  Moskau.  Unter  Anderem,  no- 
tierten wir  dort  nach  dem  Gesang  eines  Bauernweibes  ein 
sehr  hübsches  Volkslied. 

5 )  Den  letzten  Sonntag  haben  wir,  -  Rubinstein, 
Laub,  Kossmann  und  ich  bei  dem  Fürsten  Trubezkoi  auf 
seinem  60  Werst  von  Moskau  entfernt  liegenden  Landsitz 
verbracht.  Da  das  gute  Wetter  noch  anhält,  will  ich  Mor- 
gen wieder  hinfahren  und  bis  Montag  früh  da  bleiben. 

6)  Meine  Oper  geht  langsam  vorwärts.  Ostrowsky  ist 
für  einige  Zeit  nach  Petersburg  gereist.  Wenn  er  wieder- 
kommt, werde  ich  ihn  schon  satteln. 

7)  Meine  Geldangelegenheiten  befinden  sich  in  ebenso 
trauriger  Lage,  wie  auch  die  Deinigen.  Erwarte  ungeduldig 
die  Ankunft  Papa's". 

Die  Besitzung  des  Fürsten  Nikolai  Petrowitsch  Trubez- 
koi hies  „Achtyrka".  Ausser  dem  Fürsten  selbst  lebten 
dort  auch  noch  die  Schwestern  der  Fürstin.  Eine  von  ihnen, 
die  heutige  Gräfin  Kapnist,  erinnert  sich,  wie  ihre  Schwe- 
stern und  auch  sie  selbst  das  sympatische  Wesen  des 
jungen  Musikers  sehr  entzückte.  Sie  hatten  ihm  den  Spitz- 
namen „Grünfink"  beigegeben,  weil  der  Eindruck,  den 
Peter  Iljitsch  auf  sie  machte  sehr  an  den  fröhlichen,  hel- 
len Gesang  jenes  Vogels  erinnerte. 


—  157  — 
An  А.  Tschaikowsky; 

(Ende  Oktober  oder  Anfang  November). 

„Mir  geht  es  gut.  Am  Sonnabend  wird  unser  erstes 
Konzert  stattfinden,  auf  welches  ich  mich  sehr  freue,  denn 
im  Allgemeinen  geht  man  in  Moskau  mehr  leiblichen  als 
geistigen  Genüssen  nach,  d.  h.  man  isst  und  trinkt  un- 
glaublich viel.  Die  Konzerte  werden  mir  wieder  etwas 
geistige  Nahrung  zuführen,  deren  ich  sehr  bedarf,  da  ich 
sonst,  gleich  einem  Bären  in  seiner  Höhle,  an  meiner  eignen 
Kraft  zehre,  d.  h.  an  meinen  Kompositionen,  die  mir  immer 
im  Kopf  herumgehen.  Wie  ich  mich  auch  bemühe,  ein 
ruhiges  Leben  zu  führen  aber  in  Moskau  geht  es  nicht, 
ohne  sich  zu  überfressen  und  zu  übersaufen.  Nun  ist  es 
schon  der  fünfte  Tag  hintereinander,  dass  ich  spät  Nachts 
mit  überfüllten!  Magen  nach  Hause  komme.  Du  musst  aber 
nicht  glauben,  dass  ich  garnichts  thue:  von  früh  bis  Mit- 
tag bin  ich  ununterbrochen  beschäftigt". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„25.  November. 

Unser  Metropolit  ist  gestorben,  das  ist  die  einzige  Neu- 
igkeit, die  ich  Dir  mitteilen  kann.  Laroche  wohnt  jetzt 
auch  mit  uns  zusammen,  sodass  ich  nun  öfter  zu  Hause 
sitze.  Ausserdem  ist  unser  gemeinschaftlicher  Freund  Kli- 
menko  nach  Moskau  gekommen  und  besucht  »uns  fast 
täglich. 

Jetzt  macht  die  Oper  ziemlich  schnelle  Fortschritte:  der 
ganze  dritte  Akt  ist  schon  fertig.  Die  Tänze  daraus,  wel- 
che ich  in  Hapsal  orchestriert  habe,  kommen  im  nächsten 
Konzert  dran. 

Sage,  um  Gottes  willen,  an  Wera  Wassiljewna,  dass 
ich  sie  fussfällig  um  Verzeihung  bitte  wegen  der  Zurückbe- 
haltung der  Klavierstücke;  ich  konnte  es  aber  nicht  anders 
machen  aus  Gründen,  welche  zu  beseitigen  nicht  in  meiner 
Macht  lag.  Sage  ihr  ferner,  dass  sie  im  Druck  erscheinen 
werden,  und  dass  sie  das  Original   zurück  erhalten  soll". 

Iwan  Aiexandro witsch  Klimenko,der  im  Leben  Tschai- 
kowsky's  eine  Zeitlang  eine  nicht  unbedeutende  Rolle 
spielte,  ist  zuerst  mit  Laroche,  und  zwar  im  Jahre  1863 
bekanntgeworden.  „An  einem  der  Dienstage  bei  Seroff"  — 
erzählt  Laroche  in  seinen  Autobiographischen  Skizzen,— 
„machte  ich  die  Bekanntschaft  eines  s^^npatischen  etwa 
dreissigjährigcn  Mannes  mit  einem  flachen  Tartarengesicht 


-  158- 

und  kleinen  Augen.  Das  war  der  Architekt  I.  A.  Klimenko, 
der  damals  ohne  Beschäftigung  war  und  sich  in  sehr  missli- 
chen Lebensverhältnissen  befand,  der  aber  später  das  Glück 
hatte,  am  Bau  der  Moskau — Kursker  Eisenbahn  angestellt 
zu  werden.  Iwan  Alexandro witsch  besass,  wie  ein  jeder 
Russe,  keine  sehr  umfassende  Bildung  und  suchte  seinen 
geistigen  Horizont  durch  Lesen  zu  erweitern.  Sein  Lesen 
hatte  aber  einen  gar  eigenartigen  Charakter,  es  ging  we- 
niger in  die  Breite,  als  in  die  Tiefe.  Er  las  nicht  viele 
Bücher,  kehrte  immer  wieder  zu  denselben  Werken  zu- 
rück und  durchdachte  dieselben  immer  von  Neuem.  Bei 
seiner  ganzen  Einseitigkeit,  hat  Klimenko  durch  seinen 
Verstand  und  seinen  Entusiasmus  bald  einen  ziemlichen 
Einfluss  auf  mich  gewonnen,  obgleich  er  eine  Zeitlang 
mein  Schüler  (in  der  Harmonielehre)  gewesen  ist".  Nach 
den  Worten  Kaschkin's,  war  Klimenko  für  die  Musik  sehr 
befähigt,  hat  aber  infolge  verschiedener  hindernder  Um- 
stände seine  Befähigung  nicht  entwickeln  können,  und  ist 
Dilettant  geblieben,  aber  Einer,  der  sich  Rechenschaft 
abzugeben  imstande  war,  und  stets  zu  begründen  wusste 
iveshalh  ihm  Dieses  oder  Jenes  in  der  Musik  gefiel  oder 
nicht  gefiel.  Ausserdem  war  er  ein  interessanter  Gesellschaf- 
ter, ausgezeichneter  Erzähler  und  guter  Dialektiker  in 
Streitfragen. 

An  Peter  Iljitsch  hing  er  mit  ganzer  Seele  und  hat  als 
Einer  der  Ersten  die  Bedeutung  Tschaikowsky's  für  die 
russische  Musik  prophezeit. 

Im  zweiten  Symphoniekonzert,  welches  Anfang  De- 
zember in  Moskau  stattfand,  wau'den  die  „Tänze  der  Land- 
mädchen" aus  der  Oper  „Der  Woiwode"  gespielt.  Sie 
hatten  einen  durchschlagenden  Erfolg  und  erlebten  noch 
in  derselben  Saison  zwei  weitere  Aufführungen,  einmal 
in  einem  Wohlthätigkeitskonzert  (zu  Gunsten  der  hunger- 
leidenden Finnländer),  und  das  zweite  Mal  wieder  in  einem 
Symphoniekonzert  der  Russischen  Musikalischen  Gesell- 
schaft. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„12.  Dezember. 

Du  fragst,  ob  ich  nach  Petersburg  kommen  werde. 
Meine  Vernunft  veranlasst  mich.  Dir  mit  einem  Nein  zu 
antworten.  Erstens,  habe  ich  gar  kein  Geld  für  die  Reise; 
zweitens,  wird  gerade  in  der  Weihnachtszeit  Berlioz  hier 
sein  und  zwei  Konzerte   geben:    ein    populäres  und  eines 


—  159  — 

anstatt  unseres  vierten  S3'mphonieabends.  Ich  werde  wohl 
meine  Reise  bis  zur  Butter woche  aufschieben... 

Meine  Tänze  hatten  hier  einen  grossen  Erfolg,  Jurgen- 
son  möchte  sogar  ein  vierhändiges  Klavierarrangement  der- 
selben herausgeben.  Aus  Petersburg  wurde  mir  die  mündli- 
che Bitte  überbracht,  die  Tänze  hinzuschicken,  ich  habe 
aber  darauf  antworten  lassen,  dass  ich  es  nicht  eher  thun 
will,  als  bis  man  mir  ein  offizielles,  schriftliches,  von  sämmt- 
lichen  Direktoren  unterzeichnetes  Gesuch  zukommen  lassen 
wird.  Zaremba  hat  mir  durch  N.  Rubinstein  darautliin  sa- 
gen lassen,  dass  ich  ein  solches  Gesuch  erhalten  werde. 
Diese...  verhalten  sich  mir  gegenüber  etwas  zu  sehr  ka- 
valiermässig.  Man  muss  sie  anf...  n,  um  ihnen  zu  impo- 
nieren". 

Berlioz  ist  Ende  Dezember  nach  Moskau  gekommen, 
und  zw^ar  direkt  aus  Petersburg,  \vo  er  infolge  eines  an 
ihn  ergangenen  Engagements  seitens  des  Direktoriums  der 
dortigen  S3'mphoniekonzerte,  hauptsächlich  auf  Anregung 
Dargomyzski's  und  BalakirefT's,  sechs  Konzerte  dirigiert 
hatte. 

Es  war  dies  bereits  der  zw^eite  Besuch  Berlioz 'in  Russ- 
land. Schon  im  Jahre  1847  hatte  er,  wahrscheinlich  auf 
Anregung  Glinka's,  welcher  ihn  als  „den  grössten  Musi- 
ker Enropa's"  verehrte,  in  Petersburg,  Moskau  und  Riga 
Konzerte  gegeben.  Es  wurde  ihm  damals  von  der  musi- 
kalischen Welt  Russlands,  an  deren  Spitze  der  Fürst  Odo- 
ewsky  stand,  ein  glänzender  Empfang  zuteil  und  er  errang 
nicht  nur  grosse  materielle  Erfolge,  sondern  wurde  vom 
Publikum  auch  sonst  ausserordentlich  gefeiert.  Es  ist  inte- 
ressant, dass  nicht  nur  Berlioz  selbst,  sondern  auch  seine 
russischen  Verehrer,  in  Betreff  seiner  künstlerischen  Erfolge 
die  Wahnvorstellung  hatten,  dass  seine  Musik  in  Russland 
„verstanden"  und  „gewürdigt"  worden  sei.  Der  Fürst 
Odoewsk}^,  welcher  einen  Tag  vor  dem  Konzert  in  einem 
begeisterten  Zeitungsartikel  dem  Talent  Berlioz  gehuldigt 
hatte,  ruft  in  einem  seiner  Briefe  an  Glinka  aus:  „Wo  bist 
Du,  mein  Freund?  Warum  weilst  Du  nicht  bei  uns?  Warum 
teilst  Du  nicht  die  Genüsse  und  die  Freuden  der  „Unse- 
rigen?"  Berlioz  ist  in  Petersburg  „verstanden"  worden!! 
Man  hat  hier  die  feinste  kontrapunktische  Musik  zu  „wür- 
digen" gewusst,  trotz  der  Geissei  italienischer  Kavatinen, 
welche  den  slavischen  Geschmack  beinahe  verdorben  hät- 
ten. Es  lebt  wohl  eine  geheime  S34npatie  zwischen  seiner 
Musik  und    dem  tief- innersten  russischen  Empfinden,  wie 


—  i6o  — 

soll  man  sonst  die  Thatsache  der  Begeisterung  unseres 
Publikums  für  Berlioz  erklären?"  —  Ich  bin  der  Meinung, 
dass  sich  das  viel  eher  dadurch  erklärt,  dass  Berlioz  ein 
genialer  Dirigent,  und  dass  das  Publikum  durch  die  über- 
schwenglichen Zeitungsartikel  desselben  Odoewsk}^  zum 
grossen  Teil  voreingenommen  war.  Danach  zu  urteilen, 
wie  wenig  jener  berühmte  Komponist  bis  Heute  noch  bei 
uns  gespielt  wird  (ausser  „Faust"  ist  keines  seiner  Werke 
in  Russland  populär  geworden)  —  muss  meine  Annahme 
richtig  sein. 

Zwanzig  Jahre  später,  anno  1867  verdankte  Berlioz  die 
ihm  in  Russland  zuteil  gewordenen  entusiastischen  Ova- 
tionen hauptsächlich  wiederum  seinem  Dirigententalent  und 
der  Begeisterung  der  kleinen  Schaar  russischer  Musiker, 
auf  dessen  Initiative  er  das  Engagement  nach  Petersburg 
erhielt. 

Peter  Iljitsch,  welcher  der  Richtung  jener  Musiker- 
schaar  fern  stand,  behielt  auch  in  diesem  Falle  seine  „eigene 
Meinung.  Während  er  die  Bedeutung  Berlioz'  in  der  mo- 
dernen Musik  voll  und  ganz  würdigte,  ihn  namentlich  als 
einen  Reformator  des  Orchesters  nach  Gebühr  hochschätzte, 
korinte  er  sich  trotzdem  für  seine  Musik  nicht  begeistern. 
Umsomehr  aber  für  den  „Menschen"  Berlioz.  In  den  Augen 
des  jungen  Komponisten,  war  er  „die  Personifizierung  des 
eifrigsten,  uneigennützigsten  Fleisses,  der  feurigsten  Liebe 
für  die  Kunst,  der  energischste,  edelste  Bekämpfer  der 
Unwissenheit,  der  Dummheit,  der  Gemeinheit,  der  Routine" 
u.  s.  w...  Ferner  war  er  „ein  kranker,  vom  bösen  Schick- 
sal und  von  den  Menschen  verfolgter  Greis",  welchen 
zu  trösten,  zu  erwärmen  und  durch  den  Ausdruck  der 
herzlichsten  Teilnahme  wenn  auch  nur  für  kurze  Zeit  zu 
erfreuen — Peter  Iljitsch's  Herzensverlangen  war. 

Berlioz  hat  in  Moskau  zwei  Konzerte  dirigiert,  einen 
S3-mphonieabend  der  Musikalischen  Gesellschaft  und  ein 
populäres  Konzert  im  Exerzierhaus,  wo  ihm  seitens  des 
12000  Personen  zählenden  Auditoriums  ausserordentliche 
Ovationen  dargebracht  wurden.  Das  Konservatorium  hat 
zu  Ehren  des  grösstcn  französischen  Komponisten  ein  Di- 
ner veranstaltet,  bei  welcher  Gelegenheit  Berlioz  in  einem 
Toast  mit  den  herzlichsten  Worten  für  den  ihm  bereiteten 
und  ihn  ehrenden  Empfang  dankte.  Kaschkin  erzählt,  dass 
bei  jenem  Diner  auch  Peter  Iljitsch  eine  prachtvolle  Rede 
in  französischer  Sprache  gehalten  habe. 

Im  Laufe  dieser  Saison  ist  Peter  Iljitsch  mit  dem  Leben 


—  16I  — 

in  Moskau  noch  mehr  vertraut  geworden  und  begann,  sich 
in  der  alten  Zarenstadt  so  heimisch  zu  fühlen,  dass  er 
keine  Scheu  mehr  hatte,  neue  Bekanntschaften  zu  schlies- 
sen  und  in  Gesellschaften  zu  erscheinen.  Er  ist  u,  A.  mit 
den  Schwägerinnen  des  Fürsten  Trubezkoi,  die  er  in 
Achtyrka  kennen  gelernt  hatte,  näher  bekannt  geworden 
und  hat  sogar  in  einer  Liebhabertheatervorstellung,  die 
Jene  in  ihrem  Hause  arrangierten,  nicht  nur  als  Schau- 
spieler mitgewirkt,  sondern  auch  als  Komponist,  indem  er 
einige  bei  der  Gelegenheit  vorzutragende  Kouplet's  in 
Musik  setzte. 

Am  Sonnabend  den  3.  Februar  kam  die  ganze  G-moll — 
Symphonie  Peter  Iljitsch's  in  einem  Konzert  der  Russischen 
Musikalischen  Gesellschaft  zur  Aufführung  und  hat  einen 
ausserordentlichen  Beifall  gehabt,  welcher  alle  Erwartun- 
gen noch  übertraf.  „Am  meisten  hat  das  Adagio  gefallen," — 
schreibt  Peter  Iljitsch  an  seine  Brüder.  Der  Autor  wurde 
stürmisch  gerufen  und  soll,  wie  die  Gräfin  Kapnist  erzählt, 
in  ziemlich  unordentlicher  Toilette  mit  dem  Hut  in  der 
Hand  auf  den  Brettern  erschienen  sein  und  sich  sehr  unge- 
schickt verneigt  haben. 

Am  19.  Februar  fand  im  Grossen  Theater  ein  Wohlthä- 
tigkeitskonzert  zu  Gunsten  der  Hungerleidenden  statt, 
welches  durch  seine  Folgen  sehr  bedeutungsvoll  für  Peter 
Iljitsch  werden  sollte.  In  diesem  Konzert  ist  Peter  Iljitsch 
zum  ersten  Mal  als  Dirigent  vor  der  Oeffentlichkeit  erschie- 
nen (er  dirigierte  die  „Tänze  der  Landmädchen"  aus  seinem 
„Woiwoden" ).  Ausserdem  hat  er  —  ebenfalls  zum  ersten 
Mal  —  Rimsky-Korsakoff  als  Komponisten  kennen  gelernt, 
dessen  „Serbische  Fantasie"  ebenfalls  auf  dem  Programm 
stand. 

Die  Meinung  Peter  Iljitsch's  über  sein  Dirigiertalent 
kennen  wir  bereits  aus  den  Erzählungen  Laroche's.  Fol- 
gendes teilt  Kaschkin  über  das  Konzert  mit:  Als  ich  hinter 
die  Kulissen  kam  und  an  den  Debütanten  herantrat,  sagte 
er  mir,  dass  er  zu  seinem  grossen  Erstaunen  garkeine Furcht 
habe.  Wir  sprachen  einige  gleichgiltige  Worte,  und  ich 
entfernte  mich  vor  seiner  Nummer,  um  meinen  Platz  im 
Parterre  aufzusuchen.  Als  Peter  Iljitsch  auf  das  Podium 
trat,  merkte  ich  sofort,  dass  er  vollkommen  abwesend  war: 
er  schritt  furchtsam  in  etwas  gebückter  Haltung,  —  als 
wenn  er  sich  verstecken  wollte — zwischen  den  Pulten  vo- 
ran, und  hatte,  als  er  das  Dirigentenpult  erreicht,  das 
Aussehen  eines  Menschen,  der  sich  in  verzweifelter  Lage 

Tschaikoval.y,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  11 


—    l62    

befindet.  Seine  Komposition  war  seinem  Gedächtniss  schein- 
bar vollständig  entschwunden,  er  sah  auch  nicht  die  vor 
ihm  liegende  Partitur  und  gab  die  Einsätze  immer  an  fal- 
schen Stellen,  oder  an  falsche  Instrumente.  Zum  Glück  war 
das  Orchester  mit  dem  Stück  so  gut  vertraut,  dass  die 
Musiker  auf  Peter  Iljitsch's  Zeichen  garnicht  achteten, 
sondern  ihn  im  Stillen  auslachten,  und  die  „Tänze"  ausge- 
zeichnet durchbrachten.  Peter  Iljitsch  sagte  mir  später, 
dass  er  vor  lauter  Angst  die  Empfindung  hatte,  dass  ihm 
sein  Kopf  von  den  Schultern  fallen  wolle,  und  er  ihn  des- 
halb krampfhaft  festhalten  zu  müssen  glaubte." 

In  den  erhaltenen  Briefen  Peter  Iljitsch's  ist  Nichts 
über  den  Verlauf  dieses  Konzerts  zu  lesen,  einige  Tage 
vorher  aber  schrieb  er  an  seine  Brüder:  „Wahrscheinlich 
Avird  es  mir  schlecht  gehen,  denn  ich  komme  immer  mehr 
zu  der  Ueberzeugung,  dass  ich  absolut  nicht  imstande 
bin  ein  Orchester  zu  beherrschen.  Und  doch  konnte  ich 
die  Bitte  nicht  gut  abschlagen". — Jedenfalls  ist  Peter  Iljitsch 
mit  sich  selbst  unzufrieden  geblieben,  denn  zehn  Jahre 
waren  seither  verstrichen,  ehe  er  es  wieder  wagte,  den 
Taktierstab  in  die  Hand  zu  nehmen. 

Das  Publikum  und  die  Presse  hat,  jedoch,  von  dem 
sich  am  Dirigentenpult  abspielenden  Drama  garnichts  ge- 
merkt. Die  „Tänze"  hatten  Erfolg  und  der  Autor  wurde 
gerufen. 

In  X°  8  des  Journals  „Entreact"  erschien  eine  Kritik 
des  Konzerts,  in  welcher  Tschaikowsky  „ein  gereiftes  Ta- 
lent" genannt  wird,  dessen  Werke  sich  durch  „hohen 
Flug  und  meisterhafte  thematische  Arbeit"  auszeichneten. 
Gleichzeitig  wird  in  dieser  Kritik  die  „Serbische  Fantasie" 
Rimsky-Korsakoff's  sehr  absprechend  beurteilt,  „farb-und 
leblos"  genannt. 

Wenn  dieses  Urteil  über  Rimsky-Korsakoff  zwei  bis 
drei  Monate  früher  erschienen  und  zu  Peter  Iljitsch's  Kennt- 
niss  gelangt  wäre,  d.  h  zu  einer  Zeit,  als  er  die  Werke 
jenes  Autors  noch  nicht  kannte  und  die  Petersburger 
Komponisten,  gewissermaassen,  als  seine  Feinde  betrach- 
tete, wer  weiss,  ob  er  dann  nicht  eine  gewisse  Schaden- 
freude empfunden  hätte.  Nun  aber  verhielt  sich  die  Sache 
anders.  Erstens,  hat  Peter  Iljitsch  in  den  vielen  Proben 
die  „Serbische  Fantasie"  gut  kennen  gelernt  und  eine  grosse 
Achtung  vor  dem  Komponisten  und  seinem  Werk  gefasst. 
Zweitens,  ist  er  seit  ungefähr  zwei  Monaten  mit  dem  Haupt 
der  Petersburger   Komponisten,    mit   M.    A.    Balakireff  in 


—  lös  — 

nähere  Beziehungen  getreten,  und  hat  die  Ueberzeugung 
gewonnen,  dass  Keiner  von  den  leitenden  Persönlichkeiten 
des  musikalischen  Petersburg  ihm  feindlich  gesinnt  sei, 
sondern  im  Gegenteil,  dass  sie  Alle  sogar  Interesse  für 
ihn  haben. 

Das  Resultat  dieser  angenehmen  Entdeckung  Peter 
Iljitsch's  war,  dass  er  nur  seinerseits  das  brennende  Ver- 
langen hatte,  dem  talentvollsten  seiner  Zunftgenossen  seine 
Sympatie  auszudrücken,  und — er  verfasste  einen  Zeitungs- 
artikel, in  welchem  er  scharf  gegen  die  Kritik  im  „Entreact" 
vorging.  Damit  hat  Peter  Iljitsch  den  Anfang  seiner  mu- 
sikkritischen Thätigkeit  gemacht.  Der  Artikel  hat  in  Mos- 
kau grosses  Aufsehen  erregt  und  viel  Beifall  gefunden. 
Auch  in  Petersburg  ist  er  nicht  unbemerkt  geblieben,  so- 
dass, als  Peter  Ijitsch  zu  Ostern  seinem  Vater  einen  Be- 
such abstattete,  ihm  seitens  der  „Allmächtigen  Schaar  ') 
ein  freundschaftlicher  Empfang  beschieden  worden  war. 

Der  Zentralversammlungsort  jener  „Schaar"  war  die 
Wohnung  Dargomyzski's,  welcher  durch  eine  tödtliche 
Krankheit  ans  Bett  gefesselt  war,  aber  dennoch  mit  Feuer 
und  Begeisterung  an  seinem  „Steinernen  Gast"  arbeitete. 
Seine  jungen  Freunde  betrachteten  dieses  Werk  als  den 
Grundstein  des  grossartigsten  Tempels  der  „Zukunftsmu- 
sik" und  versammelten  sich  oft  bei  dem  „Meister",  um  den 
Fortschritt  seiner  neuen  Schöpfung  zu  beobachten  und  ihm 
gleichzeitig  ihre  eignen  Arbeiten  vorzulegen.  Auch  Peter 
Iljitsch,  der  Dargomyzski  in  Moskau  bei  Begitscheff's  ken- 
nen gelernt  hatte,  befand  sich  einige  Male  unter  den  Be- 
suchern und  schloss  bei  dieser  Gelegenheit  manche  neue 
Bekanntschaft. 

Auch  bei  Balakireff  kam  er  mit  verschiedenen  Musikern 
zusammen,  die  der  jungrussischen  Richtung  huldigten.  Ob- 
gleich Peter  Iljitsch  mit  den  Vertretern  der  „Allmächtigen 
Schaar"  Freundschaft  geschlossen,  hat  er  ihren  Tendenzen 
dennoch  nicht  beipflichten  können  und  ist  mit  grossem 
Geschick  und  viel  Takt  unabhängig  von  ihnen  geblieben. 
Während  er  mit  Balakireff,  Rimsky-Korsakoff,  C.  Cui  und 
Wladimir  Stassow — mit  Jedem  Einzelnen  von  ihnen  freund- 
schaftliche Beziehungen  angeknüpft  hatte,  ist  er  ihrer  Ge- 
sammtheit  gegenüber  doch  feindlich  gesinnt  geblieben. 

Indem  Peter  Iljitsch  fortsetzte,  ihre  ultraliberalen  Be- 
strebungen auszulachen,  die  naiv-unwissenden  und  plum- 

1 )  Mit  diesem  Sammelnamen  wurden  später  die  Anhänger  der  neurussischen  Rich- 
tung in  der  Musik,  Dargomyzski,  Balakireff",  Rimsky-Korsakoff  und  Andere  genannt. 


—  164  — 

реп  Gebilde  einiger  Mitglieder  der  „Schaar"  (besonders 
Mussorgski's)  mit  V^erachtung  anzusehen  und  den  Fanatis- 
mus, mit  welchem  jene  Gebilde  als  „geniale",  „noch  nie 
dagewesene",  „Alles  in  den  Schatten  stellende  Schöpfun- 
gen" ausgeschrieen  wurden,  zu  verhöhnen  und  über  die 
Frechheit,  mit  welcher  jene  Umstürzler  seinen  alten  Idealen, 
z.  B.  Mozart,  zu  Leibe  gingen,  unwillig  zu  sein — imponierte 
Peter  Iljitsch,  andererseits,  die  Kraft  und  Macht,  welche 
einige  aus  der  Schaar  in  ihren  Werken  offenbarten,  so  wie 
die  jugendliche  Aufrichtigkeit  ihrer  Begeisterung  und  die 
unbestechliche  Ehrlichkeit  ihrer  Bestrebungen,  sodass  Pe- 
ter Iljitsch  ihnen  nicht  nur  nicht  den  Rücken  kehrte,  son- 
dern sogar  ein  wenig  Sympatie  und  viel  Achtung  entge- 
genbrachte. Diese  zwiefachen  Beziehungen  äusserten  sich 
auch  auf  zwiefache  Art  und  Weise. 

Peter  Iljitsch  hat  seine  Antipatie  gegenüber  den  Ten- 
denzen der  Neuerer  immer  offen  bekannt;  hat  es  stets  ab- 
gelehnt, in  den  dilettantischen  Extravaganzen  Mussorgski's 
chefs  d'oeuvres  zu  sehen,  und  immer  sehr  scharf  betont, 
dass  er  es  verabscheue,  durch  gewaltsame  Sucht  nach 
Originalität  auf  Kosten  der  künstlerischen  Schönheit  die 
Gnade  Stassow's  und  Cui's  zu  erlangen  und  dafür  den 
Titel  „Genie"  aufgehängt  zu  bekommen.  Gleichzeitig  da- 
mit hat  er  aber  in  Moskau  gern  für  die  „Schaar"  Propa- 
ganda gemacht  und  die  Rolle  eines  Vermittlers  zwischen 
Jener  und  der  Moskauer  Abteilung  der  Russischen  Musi- 
kalischen Gesellschaft  gespielt,  sich  stets  bemüht,  ihre  Werke 
zur  Aufführung  zu  bringen,  oder  eine  Herausgabe  dersel- 
ben zu  veranlassen  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Als  im  Frühjahr  1869 
die  Grossfürstin  Helene  eine  Reform  in  der  Richtung  der 
Symphoniekonzerte  durchführen  wollte  und  Balakireff  sei- 
nes Amtes  entsetzte,  ist  Peter  Iljitsch  zum  zweiten  Mal 
in  einem  Zeitungsartikel  als  \"erteidiger  der  „Schaar"  vor 
die  Oeffentlichkeit  getreten  und  hat  in  energischen  Worten 
seinen  Protest  gegen  die  Verfügung  der  Fürstin  und  seine 
S3mipatie  für  das  Haupt  der  neurussischen  Schule  kund- 
gegeben. Ausserdem  hat  er  während  der  ganzen  Zeit  seiner 
Tiiätigkeit  als  Musikreferent  keine  Gelegenheit  versäumt, 
seine  Achtung  und  Begeisterung  für  die  Werke  desselben 
Balakireff  und  seine  Hochschätzung  der  Kompositionen 
Rimsky-Korsakoff's  zu  bezeugen,  und  dieselben  für  öffent- 
liche Aufführungen  zu  empfehlen. 

Am  schärfsten  prägt  sich  aber  seine  S34npatie  für  die 
„.Schaar"  in  dem  Umstand  aus,  dass  er  drei  seiner  besten 


-  1б5  - 

Schöpfungen  „Fatum",  „Romeo  und  Julia"  und  „Sturm" 
die  ersten  Beiden  Balakireff,  die  dritte — Stassow  gewidmet 
hat.  Darin  äussert  sich  unzweifelhaft  auch  der  indirekte 
Einfluss,  den  die  jungrussische  Schule  auf  Peter  Iljitsch 
ausgeübt  hat.  Sich  mit  ihr  verschmelzen — wollte  er  nicht, 
ihren  Glauben  anzunehmen — lehnte  er  ebenfalls  ab.  Aber 
ihre  Sympatie  zu  erringen,  ohne  auf  Kompromisse  einzu- 
gehen, ihre  Herausforderung  anzunehmen  („Romeo"  und 
„Sturm"  hat  Peter  Iljitsch  auf  Anregung  Balakireff 's  und 
Stassow's  komponiert),  aus  der  ihm  gestellten  Aufgabe 
als  Sieger  hervorzugehen  und  seine  Solidarität  mit  der 
„Schaar"  nur  auf  dem  Gebiete  der  ernsten  künstlerischen 
Anforderungen  zu  bekennen  —  schien  ihm  nicht  nur  inte- 
ressant, sondern  auch  seines  Berufes  würdig. 

Die  „Allmächtige  Schaar"  bezahlte  Peter  Iljitsch  sein 
Verhältniss  zu  ihr  mit  gleicher  Münze.  Sie  verurteilte  die 
Pedanterie,  die  Routine  und  die  „Zurückgebliebenheit" 
einiger  Kompositionen  Tschaikowsky's,  hat  aber  gleich  am 
Anfang  der  schöpferischen  Thätigkeit  Peter  Iljitsch's  gros- 
ses Interesse  für  ihn  gefasst  und  ihn  als  einen  ebenbürti- 
gen Gegner  geachtet,  hat  sogar  den  Versuch  gemacht  ihn 
zu  ihrem  Glauben  zu  bekehren  und  zählte  ihn,  selbst 
nachdem  jener  Versuch  misslungen  war,  zu  den  „Ge- 
rechten". 

Tschaikowsky  und  die  „Schaar"  muteten  auf  diese 
Weise  wie  zwei,  freundschaftliche  Beziehungen  zu  einan- 
der unterhaltende  Staaten  an,  und  lebten  ein  Jedes  sein 
selbständiges  Leben,  indem  sie  sich  aber  gegenseitig  scharf 
beobachteten.  Manches  Mal  griff  zwischen  beiden  Parteien 
eine  etwas  gereizte  Stimmung  Platz,  welche  aber  niemals 
in  einen  Streit  ausartete,  manches  Mal,  jedoch,  ergingen 
sie  sich  in  gegenseitigen  Freundschaftsbezeugungen,  nie- 
mals ist  es,  aber,  zwischen  ihnen  zu  einem  Bündniss  ge- 
kommen. 

Nach  der  Rückkehr  aus  Petersburg,  avo  Peter  Iljitsch 
die  Osterferien  verbracht  hatte,  fühlte  er  sich  infolge  der 
sehr  bewegt  und  aufregungsreich  durchlebten  Saison  sehr 
müde  und  abgespannt,  sodass  er  mehr  den  je  an  „Frei- 
heit und  Einsamkeit"  dachte.  Seine  Sehnsucht  sollte  aber 
im  bevorstehenden  Sommer  nicht  befriedigt  werden,  und 
zwar  hatte  es  Peter  Iljitsch  diesmal  sich  selbst  zuzuschrei- 
ben, denn  er  zog  es  vor,  die  ihm  unter  sehr  günstigen 
Bedingungen  vorgeschlagene  Reise  ins  Ausland  zu  unter- 
nehmen. Er  sollte  nämlich    seinen   Lieblingsschüler,  Wla- 


—  16б  — 

dimir  Schilowsky,  zusammen  mit  dessen  Vormund  W.  Be- 
gitscheff  und  einem  Hausfreund  des  Letzteren  De  Lazary, 
in's  Ausland  begleiten.  Es  war  für  Peter  Iljitsch  gar  zu 
verführerisch,  auf  so  angenehme  Bedingungen — seine  ein- 
zige Verpflichtung  war,  Wladimir  Schilowsky  Musikunter- 
richt zu  erteilen — einzugehen,  zumal  da  ihm  auch  die  an- 
deren Reisegefährten  S3^mpatisch  waren.  So  hat  er  sich 
denn  trotz  seiner  Sehnsucht,  den  Sommer  inmitten  ihm 
nahestehender  Menschen  still,  ruhig  und  ungestört  arbei- 
tend zu  verbringen  entschlossen,  das  Engagement  anzu- 
nehmen. 

An  A.  I.  Dawidowa: 

„Paris,  Sonnabend  d.  20.  Juli  1868. 

Dir  wird  wohl  bekannt  sein,  wie  das  gekommen,  dass 
ich  in's  Ausland  gereist  bin.  Die  materiellen  Bedingungen 
dieser  Reise  sind  ausserordentlich  angenehmer  Natur.  Ich 
lebe  bei  reichen  Leuten,  welche  mich  dazu  sehr  lieb  ha- 
ben. Nichtsdestoweniger  seufze  ich  sehr  nach  meinem  Va- 
terland, wo  sich  so  viele  mir  teure  Wesen  befinden,  mit 
denen  ich  nur  im  Sommer  zusammen  sein  kann.  Mich 
empört  ein  wenig  der  Gedanke,  dass  ich  von  allen  Denen, 
welche  sich  freuen  würden,  drei  Monate  mit  mir  zu  ver- 
bringen, die  Reichsten  und  nicht  die  Besten  gewählt  habe. 
Vielleicht  spielte  darin  aber  nur  das  verführerische  „Aus- 
land" eine  Rolle.  Die  Geschichte  unserer  Wanderungen 
ist  sehr  einfach  und  sogar  uninteressant.  Acht  Tage  haben 
wir  uns  in  Berlin  aufgehalten  und  wohnen  nun  schon  seit 
fünf  Wochen  in  Paris.  Ursprünglich  hatten  wir  die  Absicht, 
die  schönsten  Gegenden  Europa's  zu  besuchen,  aber  die 
Krankheit  Schilowsky's  und  die  Notwendigkeit,  möglichst 
schnell  mit  einem  hiesigen  berühmten  Arzt  Rücksprache 
zu  nehmen,  führten  uns  nach  Paris  und  halten  uns  entge- 
gen unseren  Wünschen  so  lange  hier  auf.  Mein  Zeitver- 
treib ist  folgender:  ich  stehe  ziemlich  spät  auf,  frühstücke 
und  lese  die  Zeitungen.  Um  zwölf  kehre  ich  in  mein  Zim- 
mer zurück,  entkleide  mich  vollständig  (es  herrscht  hier 
eine  unbeschreibliche  Hitze)  und  arbeite  bis  zum  Mittag- 
essen. Wir  speisen  um  6  Uhr.  Abends  bin  ich,  gewöhn- 
lich, im  Theater.  Man  kann  mit  Recht  von  Paris  behaup- 
ten, dass  es  wohl  die  einzige  Stadt  der  Welt  ist,  wo  die 
vielen  Bec[uemlichkciten  und  Vergnügungen  des  Lebens 
so  billig  feilgeboten  werden.  Die  Theater  sind  hier  pracht- 


—  167  — 

voll,  nicht  sowohl  in  ihrer  äusseren  Ausstattung,  als  in 
Bezug  auf  Inscenierung,  in  Bezug  auf  die  Kunst,  mit  ge- 
radezu erstaunlich  einfachen  Mitteln,  die  grösste  Wirkung 
zu  erzielen.  Man  versteht  es,  zum  Beispiel,  ein  vStück  so 
einzustudieren  und  zu  inscenieren,  dass  es  auch  ohne  be- 
deutende Schauspielertalente  eine  viel  grössere  Wirkung 
ausübt,  als  es  bei  uns  der  Fall  wäre,  selbst  wenn  es  von 
so  kolossalen  Künstlern  wie  Sadowsky,  Schumsky,  Samoi- 
low  gegeben,  aber  nachlässig  einstudiert  und  ohne  En- 
semble heruntergespielt  worden  wäre. 

Was  die  Musik  anbelangt,  so  muss  ich  wiederum  sagen, 
dass  ich  in  den  Opern,  die  ich  gehört,  keinem  einzigen 
Sänger  mit  hervorragender  Stimme  begegnet,  bin,  und 
trotzdem  welch  prachtvolle  Vorstellungen!!  Wie  genau 
Alles  einstudiert  ist  wie  verständnissvoll,  wie  ernst  man 
auf  jede  auch  noch  so  unbedeutenden  Kleinigkeiten  eingeht, 
deren  Summe  den  erwarteten  Effekt  auch  in  der  That  er- 
giebt.  Bei  uns  hat  man  garkeine  Ahnung  von  solchen  Vor- 
stellungen. 

Die  verschiedenen  Sehenswürdigkeiten  von  Paris  hatte 
ich  schon  bei  meinem  früheren  Aufenthalt  hierselbst  ken- 
nen gelernt  und  führe  daher  diesmal  nicht  das  Leben  eines 
Touristen,  welcher  in  Kirchen  und  Museen  herumläuft. 
Ich  lebe  wie  einer,  der  sich  ganz  seiner  Arbeit  hingiebt, 
und  krieche  nur  abends  aus  meinem  Häuschen.  Ich  muss 
aber  bekennen,  dass  das  lärmende  und  glänzende  Getriebe 
von  Paris  für  einen  arbeitenden  Künstler  viel  weniger 
zweckmässig  ist,  als  zum  Beispiel  so  ein  Thuner  See,  gar- 
nicht  zu  reden  von  den  Ufern  des  zwar  stinkenden  aber 
lieben  Tjasmin  '),  der  das  Glück  hat,  an  dem  Hause  vor- 
beizufliessen,  in  welchem,  einige  mir  liebe  und  teure  We- 
sen wohnen.  Wie  haben  Diese  wohl  den  Sommer  ver- 
bracht? In  acht  Tagen  reisen  wir  direkt  nach  Petersburg 
ab.  Von  da  möchte  ich  für  einige  Tage  nach  Syllamäggi  -), 
um  meine  Brüder  und  Dawidow's  zu  besuchen". 

In  Syllamäggi  traf  Peter  Iljitsch  Anfang  August  ein,  ver- 
brachte dort  einige  Tage  und  reiste  Ende  August  über 
Petersburg  nach  Moskau  zurück. 


Ausser  dem  „Woiwoden"  hat  Peter  Iljitsch  in  der  Sai- 
son 1867 — 1868  Nichts  weiter  komponiert. 


1)  Der  Fluss  in  Kamenka. 

~)  Sjllamäggi:  ein  Oertchen  in  der  Xähe  Narwa's,  wo  Dawido\v's  und  die  Zwillinge 
Tschaikowsky's  eine  Sommerwohnung  inne  hatten. 


—  I  68   - 

In  dem  Brief  vom  25.  November  sagt  er,  dass  er  den 
dritten  Akt  beendet  habe,  was  soviel  bedeutet,  wie  die 
Fertigstellung  der  ganzen  Oper,  denn  Peter  Iljitsch  hat  es 
sich  von  jeher  zur  Regel  gemacht,  beim  Arbeiten  die 
richtige  Reihenfolge  zu  beobachten.  Zum  Februar  war  die 
Instrumentation  der  zwei  ersten  Aufzüge  bereits  gemacht. 
Die  ganze  Partitur  ist  aber  erst  im  Sommer  in  Paris  fer- 
tig geworden.  „Der  Woiwode"  oder  „Der  Traum  an  der 
Wolga"  ist  ein  Schauspiel  in  fünf  Aufzügen  nebst  einem 
Prolog  von  A.  N.  Ostrowsky.  Das  Libretto  hat  sich  in 
drei  Aufzüge  zusammendrängen  lassen.  Der  Prolog  ist 
fortgefallen,  und  die  Oper  beginnt  gleich  mit  dem  zweiten 
Auftritt  des  ersten  Aktes  des  Schauspiels,  d.  h.  mit  dem 
Erscheinen  der  Braut  des  alten  Woiwoden,  Praskowja, 
und  ihrer  Schwester  Maria  Wlassjewna  mit  der  Muhme 
Nedwiga  und  den  Landmädchen.  Nach  dem  Abgang  der 
Mädchen  erscheint  Bastrjukow,  welcher  in  Maria  Wlassjew- 
na verliebt  ist.  Diese  erscheint  wieder,  und  sie  singen  ein 
Liebesduett.  Der  Woiwode  erblickt  Maria  Wlassjewna, 
verliebt  sich  sofort  in  sie  und  verlangt  sie  für  sich  als 
Braut,  indem  er  Praskowja  ablehnt.  Bastrjukow  versucht, 
seine  Geliebte  zu  entführen ,  sie  werden  aber  auf  der 
Flucht  ergriffen  und  getrennt. 

Das  erste  Bild  des  zweiten  Aufzuges  spielt  bei  Bast- 
rjukow. Die  Diener  Bastrjukow's  erwarten  dessen  Heim- 
kehr von  der  Jagd.  Als  Bastrjukow  erscheint,  melden  sie 
ihm,  dass,  Dubrowin  ihn  zu  sprechen  wünsche.  Scene  und 
Duett.  Dubrowin  ist  ebenfalls  eine  Beleidigung  seitens  des 
Woiwoden  widerfahren,  welcher  ihm  seine  Frau,  Olona, 
geraubt  hat.  Beide  jungen  Männer  beschliessen  in  das 
Schloss  des  Alten  einzudringen  und  Maria  Wlassjewna  und 
Olona  zu  befreien. 

Zweites  Bild  des  zweiten  Aufzuges:  beim  Woiwoden. 
Maria  Wlassjewna  trauert.  Man  versucht  sie  durch  Vor- 
führung von  Tänzen  zu  erheitern.  Ihre  Arie  („Oh,  Nach- 
tigall"). Olona  erscheint  und  teilt  Maria  Wlassjewna  im 
Geheimen  mit,  dass  in  der  Nacht  Bastrjukow  sie  im  Gar- 
ten erwarten  wird.  Das  Duett  der  beiden  Frauen  wird 
durch  das  Erscheinen  der  Muhme  Nedwiga  und  der  Land- 
mädchen unterbrochen,  welche  Lieder  zu  singen  beginnen, 
um  Maria  Wlassjewna  zu  unterhalten  und  zu  erfreuen. 

Dritter  Aufzug:  Schlosshof  des  Woiwoden.  Nacht.  Ba- 
strjukow und  Dubrowin  erscheinen.  Maria  Wlassjewna  und 
Olona  steigen  zu  ihnen  herab.  Quartett.  Sie  werden  vom 


—  1  б9  — 

Woiwoden  überrascht.  Von  wilder  Eifersucht  gepackt, 
will  er  Maria  Wlassjewna  erstechen.  Da  erscheint  aber, 
grade  zur  rechten  Zeit,  der  Gesandte  des  Zaren  mit  dem 
neuen  Woiwoden,  und. rettet  Maria  Wlassjewna.  Der  Ge- 
sandte erklärt,  dass  der  alte  Woiwode  auf  Befehl  des  Za- 
ren vor  Gericht  gestellt  werden  soll.  Finale:  Alle  danken 
Gott  und  huldigen  dem  Zaren. 

Die  Hauptschönheit  des  Schauspiels — das  von  Ostrow- 
sky  so  treffend  und  reizend  geschilderte  Volksleben, — so- 
wie der  fantastische  Teil  desselben  sind  im  Libretto,  wie 
man  sieht,  auf  die  rücksichtsloseste  Weise  fortgelassen  und 
nur  die  inhaltsleere  uninteressante  Fabel  beibehalten  wor- 
den. Von  den  prachtvollen,  lebenswahren  und  koloritrei- 
chen Volksscenen,  von  der  detaillierten  Charakterisierung 
der  nebensächlichen  Personen,  z.  B.  Nedwiga's,  von  dem 
Typus  des  „Domowoi"  '),  u.  s.  w.  ist  in  dem  Operntext 
nicht  die  Spur  übrig  geblieben. 

Daran  ist  aber,  scheinbar,  nicht  Ostrowsky,  sondern 
Peter  Iljitsch  selbst  schuld.  Das  kann  man,  wenigstens, 
aus  der  Handschrift  des  Libretto  folgern,  welche  Peter 
Iljitsch  beim  Komponieren  vorgelegen  hatte.  Leider  ist  nur 
ein  Teil  dieses  Manuscripts  erhalten  geblieben.  Aber  auch 
darin  kann  man  sehen,  wie  der  Komponist  den  ihm  von 
Ostrowsky  gelieferten  Text  überall  zu  kürzen  bestrebt  war, 
wie  er  jeder  Episode  jeder  Scene,  welche  nicht  mit  der 
Hauptfabel  in  direktem  Zusammenhang  stand,  aus  dem 
Wege  ging.  So  hat  er  z.  В.,  die  lustige  und  hübsche  Epi- 
sode mit  dem  Narren,  der  bei  Bastrjukow  Schutz  gegen 
den  Zorn  des  Woiwoden  sucht,  ganz  fortfallen  lassen.  Eine 
solche  interessante  und  dankbare  Scene  nicht  in  Musik  zu 
setzen  wäre  Peter  Iljitsch  später  nie  eingefallen.  Jetzt  aber 
hat  er  sie  ohne  Weiteres  über  Bord  geworfen. 

Ostrowsky 's  Mitarbeiterschaft  blieb  eigentlich  nur  auf 
den  ersten  Akt,  welcher  nebenbei  gesagt  —  der  beste  ist, 
und  auf  einen  Teil  des  zweiten  beschränkt.  Alles  Uebrige 
hat  Peter  Iljitsch  fast  ganz  allein  gedichtet. 

Von  der  ganzen  Oper  sind  nur  die  „Tänze  der  Land- 
mädchen und  der  „Entreact"  in  Jurgenson's  Verlag  er- 
schienen (Op.  3).  Den  Rest  der  Partitur  hat  der  Kompo- 
nist in  den  siebziger  Jahren  vernichtet.  Die  Orchester-und 
Chorstimmen,  sowie  einige  Partieen  der  Solisten  —  leider 
aber  nicht  die  der  Hauptrollen — liegen  noch  in  der  Biblio- 
thek der  Moskauer  Kaiserlichen  Theater  in  Verwahrung. 


1)  Deutsch  etwa — Hausteufel,  ein  in  Häusern  wohnender,  lialb   boshafter,  halb 
mutiger  und  komischer  Geist. 


lyo 


V. 


1868     1869. 


Peter  lljitsch  Tschaikowsky  im    fahre  iE 


Die  äusseren Lebensbe- 
dingungenPeterlljitsch's 
in  dieser  Saison  sind 
beim  Alten  geblieben. 
Die  Stunden,  die  er  im 
Konservatorium  zu  ge- 
ben hatte,  haben  sich 
etwas  vermehrt.Dement- 
sprechend  hat  sich  auch 
sein  Gehalt  bis  auf  1441 
Rubel  vergrössert.  Die- 
ser Umstand  hat  ihn  ver- 
anlasst, den  Versuch  zu 
machen,  sich  von  Ru- 
binstein zu  trennen  und 
eine  eigne  Wohnung  zu 
mieten,  denn  das  Zu- 
sammenwohnen mit  Ru- 
binstein war  für  seine 
schöpferische  Thc4tigkeit 
sehr  störend.  Rubinstein 
hat  es  aber  nicht  zuge- 
lassen, und  Peter  lljitsch 
hat  sich  ueberzeugen  las- 
sen, dass  seine  Einnah- 
men noch  zu  gering  seien, 
um  selbständig  leben  zu 
können. 


An  A.  Tschaikowsky: 


„IG.  September. 


Ich  will  Dir  in  kurzen  Worten  mitteilen,  wie  es  mir 

seit  unserer  Trennung  gegangen  ist.  Am  Tage  meiner  An- 
kunft in  Moskau  (wo  meiner  Alle  sehr  froh  waren)  habe 
ich  mir  auf  dem  Diner  bei  Rubinstein  einen  Rausch  an- 
getrunken. Schon  an  dieser  Thatsache  allein  erkennt  man 
Moskau.  Fresserei  ist  Schwäche  der  Moskowiter.  Am  i. 
September  hat  das  jährliche  grosse  Bankett  stattgefunden. 


-lyi- 

also  wieder  ein  Rausch.  Ach  ja,  fast  hatte  ich  es  \''erges- 
sen:  am  30.  August  war  ich  bei  Ostrowsky  zu  einem  Di- 
ner eingeladen.  Am  i.  September  hat  der  Unterricht  be- 
gonnen. Ich  habe  mich  so  davon  entwöhnt,  dass  ich  ganz 
konfus  war  und  mich  genötigt  sah,  für  10  Minuten  aus  der 
Klasse  zu  verschwinden,  um  nicht  in  Ohnmacht  zu  fallen. 
Am  2.  oder  am  3. — weiss  das  nicht  mehr  genau — habe  ich 
Apuchtin  im  Theater  getroffen.  Anfangs  wollte  er  mich 
nicht  wiedererkennen,  so  böse  war  er  mir  noch;  nach  lan- 
gen Erklärungen  hat  er  sich,  aber,  erweichen  lassen.  Am 
folgenden  Tage  habe  ich  mit  ihm  im  Englischen  Klub  ge- 
mittagt  und  da  ist  es  ihm  nach  dem  Essen  plötzlich  schlimm 
geworden,  sodass  er  in  Ohnmacht  fiel,  und  ich  zwar  einen 
grossen  Schreck  bekam,  aber  meine  Selbstbeherrschung 
nicht  verlor  und  ihn  mit  grosser  Mühe  in  den  Garten 
schleppte,  wo  er  denn  auch  bald  wieder  zu  sich  kam.  Den 
nächsten  Abend  besuchten  wir  Beide  Schilowsky's,  welche 
er  durch  seine  Erzählungen  ganz  bezaubert  hat.  Darauf 
war  er  zwei  Tage  lang  Gast  des  Fürsten  Schachowskoi, 
und  verbrachte  den  gestrigen  Abend  mit  mir  in  der  Oper. 
Das  war  die  erste  Vorstellung  unserer  italienischen  Oper. 
Es  wurde  „Othello"  gegeben.  Die  Artot  sang  prachtvoll, 
auch  debütierte  ein  sehr  guter  junger  Tenor  Stanio.  Nach 
der  Oper  haben  wir  im  Klub  recht  angenehm  die  Zeit 
verbracht. 

Damit  ist  Alles  Interessante  der  letzten  anderthalb  Wo- 
chen meines  Lebens  erschöpft.  Gedeonow  ist  in  Moskau 
gewesen  und  hat  angeordnet,  unverzüglich  mit  den  Pro- 
ben zum  „Woiwoden"  zu  beginnen.  Die  Rollen  sind  schon 
vergeben.  Ich  glaube  aber  kaum,  dass  man  bis  zum  Okto- 
ber fertig  werden  wird,  wie  es  Gedeonow  gewünscht  hat. 
Mit  den  Italienern  ist  es  fast  unmöglich.  Ich  glaube,  dass 
die  Oper  nicht  vor  Dezember  zur  Aufführung  gelangen 
wird.  Neues  komponiere  ich  noch  Nichts,  weiss  auch  noch 
nicht,  was  in  Angriff  nehmen  soll.  Zum  Glück  werden  die 
Konzerte  der  Musikalischen  Gesellschaft  erst  spät  ihren 
Anfang  nehmen,  sodass  ich  bis  dahin  schon  Etwas  zusam- 
menkleistern werde". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„13.  September. 

Arbeit  habe  ich  in  Hülle  und  Fülle.  Vorgestern  erhielt 
ich  ganz  unerwarteterweise  eine  Aufforderung  zugestellt, 


—  172    — 

in's  Theater  zu  kommen.  Ich  erstaunte  nicht  wenig,  als 
ich  erfuhr,  dass  schon  zwei  Chorproben  meiner  Oper  ge- 
wesen seien  und  nun  die  erste  Sohstenprobe  stattfinden 
sollte.  Ich  habe  selbst  die  Klavierbegleitung  übernommen. 
Ich  zweifle  sehr  an  der  Möglichkeit,  ein  so  schwieriges 
Werk  in  einem  Monat  einzustudieren  und  schaudere  schon 
im  Voraus  vor  der  mir  bevorstehenden  Lauferei  und  He- 
rumwirtschafterei. Die  Proben  sind  fast  für  jeden  Tag  an- 
gesetzt. Die  Sänger  sind  alle  mit  der  Oper  zufrieden. 

Im  Konservatorium  habe  ich  auch  mehr  zu  thun.  Werde 
auch  mehr  Geld  dafür  bekommen,  fürchte  jedoch  sehr  zu 
ermüden!  In  meinem  sonstigen  Leben  sind  gegenüber  dem 
vorigen  Jahr  keine  Veränderungen  eingetreten.  Meine  Pläne 
in  Bezug  auf  ein  selbständiges  Wohnen  sind  in  alle  Winde 
zerstoben.  Als  ich  Rubinstein  andeutete,  dass  ich  es  in 
seiner  Wohnung  unbequem  habe  und  ausserdem  seine 
Gastfreundschaft  nicht  gern  noch  länger  in  Anspruch 
nehmen  möchte,  hat  er  sich  sehr  beleidigt  gefühlt  und  mir 
das  Versprechen  gegeben,  es  so  einzurichten,  dass  mich 
Niemand  mehr  bei  der  Arbeit  störe.  Die  Mittagsmahlzeiten 
nehme  ich  immer  noch  wie  früher,  bei  Albrecht,  obwohl 
ich  ihn  sehr  oft  damit  anführe". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„25.  September, 

Seit   meinem   letzten   Schreiben   an  Dich,  hatte  ich 

sehr  viel  zu  thun.  Du  weisst,  dass  man  meine  Oper  im 
Oktober  zur  Aufl'ührung  bringen  wollte.  Die  Stimmen  wa- 
ren schon  ausgeschrieben  und  die  Proben,  welche  ich  be- 
suchen musste,  hatten  schon  ihren  Anfang  genommen.  Als 
ich  aber  sah,  dass  die  Oper  in  einer  so  kurzen  Zeit  nicht 
einstudiert  werden  könne,  erklärte  ich  der  Direktion,  dass — 
solange  die  italienische  Oper  in  Moskau  w^eilt  und  Chor 
und  Orchester  für  sich  in  Anspruch  nimmt — ich  die  Par- 
titur meiner  Oper  nicht  hergeben  werde,  und  habe  in 
diesem  Sinne  an  Gedeonow^  geschrieben.  Die  Folge  davon 
war,  dass  die  Aufführung  aufgeschoben  und  die  Proben 
eingestellt  wurden,  bis  die  Italiener  Moskau  verlassen.  Da- 
her bin  jetzt  wieder  etwas  freier.  Uebrigens,  die  Menschi- 
kowa  kennt  schon  einen  grossen  Teil  der  Oper  auswen- 
dig. Heute  war  ich  bei  ihr  zum  Mittagessen,  und  sie  hat 
mir  einige  Nummern  garnicht  übel  vorgesungen.  Die  Zeit 
vergeht  im  Allgemeinen  schnell  und  angenehm. 


—  173  — 

Bezüglich  meiner  zukünftigen  Kompositionen  kann  ich 
Dir  eine  sehr  angenehme  Nachricht  mitteilen.  Vor  einigen 
Tagen  habe  ich  bei  Ostrowsk}-  gemittagt  und  er  hat  mir 
von  selbst  angeboten,  ein  Libretto  für  mich  zu  schreiben. 
Das  Sujet  beschäftigt  ihn  schon  seit  zwanzig  Jahren,  und 
er  hat  sich  bis  jetzt  noch  nicht  entschliessen  können,  es 
Jemandem  vorzuschlagen;  nun  ist  seine  Wahl  auf  mich 
getWlen. 

'Der  Ort  der  Handlung  ist  Bab\don  und  Griechenland 
zur  Zeit  Alexanders  von  Macedonien,  welcher  auch  in  per- 
sona mitwirkt.  Es  stossen  da  die  Vertreter  zweier  klassi- 
schen Völker  aneinander:  Hebräer  und  Griechen.  Der  Held 
ist  ein  junger  Hebräer,  welcher  eine  Hebräerin  liebt,  von 
Dieser  aber  betrogen  wird,  weil  ihr  Ehrgeiz  sie  Alexan- 
der in  die  Arme  treibt.  Zum  Schluss  wird  aus  dem  jun- 
gen Hebräer  ein  Prophet.  Du  kannst  Dir  garnicht  vorstel- 
len, wie  herrlich  diese  Vorlage  ist!  Augenblicklich  arbeite 
ich  an  einer  symphonischen  Dichtung  ,,Fatum"  ^).  Die  ita- 
lienische Oper  macht  Furore.  Die  Artot  ist  ein  reizendes 
Wesen:  wir  Beide  sind  gute  Freunde". 

„Im  Frühjahr  1868",  erzählt  Laroche,  „kam  für  einige 
Wochen  ein  italienisches  Opernensemble  nach  Moskau,  an 
dessen  Spitze  der  Privatunternehmer  Merelli  stand,  wel- 
cher für  seine  Vorstellungen  das  Grosse  Theater  pachtete. 
Die  Truppe  bestand  aus  Sängern  fünften  und  sechsten  Ran- 
ges, die  weder  Stimme  noch  Talent  besassen;  die  einzige 
aber  grelle  Ausnahme  war  ein  dreissigj ähriges  nicht  grade 
schönes  Mädchen  mit  leidenschaftlichem  Gesichtsausdruck, 
welche  damals  auf  dem  Höhepunkt  ihrer  Kunst  stand  und 
sehr  bald  darauf  zu  altern  begann. 

Desire  Artot  war  die  Tochter  des  berühmten  Horni- 
sten Artot  und  die  Nichte  des  noch  berühmteren  Geigers 
und  hatte  ihre  Ausbildung  bei  Pauline  Viardot — Garcia 
erhalten.  Ihre  Stimme  \var  sehr  kräftig  und  schien  für  den 
grössten  dramatischen  Pathos  wohl  geeignet  zu  sein,  ent- 
behrte aber  leider  einer  festen  Grundlage,  infolgedessen 
sie  verhältnissmässig  früh — wie  gesagt — zu  altern  begann 
und  schon  sechs  bis  sieben  Jahre  nach  der  Zeit,  von  wel- 
cher jetzt  die  Rede  ist,  vollständig  ihren  Reiz  einbüsste. 
Ungeachtet  des  dramatischen  Charakters  war  die  Stimme 
auch  für  Fiorituren  und  Coloraturen  sehr  veranlagt  und 
hatte    einen  so   ausserordentlichen   Umfang,   dass  das  Re- 


1)  Op.  77.  Verlag   Belajeir  iu  Leipzig 


—  i74  —  / 

pertoir  der  Sängerin  fast  unbeschränkt  war.  Nur  die  aller- 
höchsten Partien,  wie  z.  B.  die  „Lucia",  waren  für  sie 
unausführbar.  Desire  Artot  ist  mehr  denn  einmal  auch 
in  Petersburg  aufgetreten,  hat  dort  aber  stets  nur  einen 
Achtungserfolg  erzielt.  Bevor  sie  nach  Moskau  kam,  hatte 
sie  in  Berlin  und  Warschau  Triumphe  gefeiert.  Doch  dürfte 
sie  nirgends  so  viel  Entusiasmus  erweckt  haben,  als  in 
Moskau.  Für  Viele  der  damaligen  Moskauer  Musiker — auch 
für  Peter  Iljitsch — erschien  sie  als  eine  Verkörperung  des 
dramatischen  Gesanges  selbst,  als  eine  Göttin,  welche  in 
ihrem  Wesen  all'die  Eigenschaften  vereinigte,  die  gewöhn- 
lich auf  verschiedene  Naturen  verteilt  sind.  Sie  intonierte 
mit  der  Reinheit  und  Sicherheit  eines  Klaviers,  vokal}^- 
sierte  aussergewöhnlich  schön  und  verblüffte  die  Menge 
mit  einem  ganzen  Feuerwerk  von  Trillen  und  Passagen, 
Ein  grosser  Teil  ihres  Repertoirs  war  der  virtuosen  Seite 
der  Kunst  gewidmet,  welche  sie  aber  durch  ihren  so  über- 
aus lebendigen  und  poetisch  ausdrucksvollen  Vortrag  fast 
bis  zu  künstlerischem  Wert  erhob.  Man  kann  behaupten, 
dass  es  in  der  ganzen  Musik,  in  dem  ganzen  Gebiet  der 
lyrischen  Stimmungen  keine  Idee,  kein  Gebilde  vorhanden 
sei,  welches  wiederzugeben,  zu  interpretieren  die  ausge- 
zeichnete Künstlerin  nicht  verstanden  hätte.  Die  Klangfär- 
bung ihrer  Stimme  glich  mehr  dem  Ton  einer  Oboe,  als 
dem  einer  Flöte,  und  atmete  eine  nicht  zu  beschreibende 
Schönheit  aus,  eine  solche  Glut,  eine  solche  Leidenschaft, 
dass  sie  Jedermann  berückte  und  entzückte!  Ich  sagte 
oben,  dass  Desire  Artot  nicht  schön  gewesen  sei.  Es  be- 
findet sich  aber  Derjenige  im  Irrtum,  der  sie  infolgedessen 
bemitleiden  zu  müssen  glaubt  und  der  Meinung  ist,  dass 
sie  mit  grosser  Mühe  und  unter  Zuhilfenahme  allermögli- 
chen Toilettenkünste  und  Toilettengeheimnisse  mit  dem 
ungünstigen  Eindruck  ihrer  äusseren  Erscheinung  zu  käm- 
pfen hatte.  Nein,  nicht  im  Geringsten!  Sie  eroberte  die  Her- 
zen und  verwirrte  die  Köpfe  gerade  so  wie  die  allerschön- 
ste  Frau.  Die  zarte,  schneeweisse  Haut,  die  seltene  Plastik 
und  Grazie  der  Bewegungen,  die  Schönheit  der  Hände 
und  des  Halses  waren  nicht  ihre  einzigen  Waffen:  bei  der 
ganzen  Unregelmässigkeit  ihrer  Gesichtszüge  lag  eine  be- 
zaubernde Lieblichkeit  in  ihnen;  unter  den  vielen,  sehr  vie- 
len „Margarethen",  die  ich  in  meinem  Leben  gesehen,  war 
die  Artot  entschieden  die  idealste,  die  entzückendste.  Frei- 
lich bewirkte  das  zum  grossen  Teil  ihr  schauspielerisches 
Talent.  Ich  kenne  Niemanden,  der  mit  der  Bühne  so  ver- 


—  175  — 

traut  wäre,  wie  die  Artot  es  gewesen:  von  dem  ersten 
Schritt  und  bis  zum  letzten  Schrei  der  Verzweiflung  oder 
des  Triumphes — war  die  lUusion  eine  volllcommene;  nicht 
ein  einziger  Zug  verriet  Absicht  oder  Berechnung,  dabei 
wurde  die  Komil^,  die  Tragilv  und  der  Demi-Charakter  in 
gleichem  Maasse  vollkommen  von  ihr  beherrscht". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„21.  Oktober. 

....Ich  bin  jetzt  sehr  beschäftigt:  schreibe  die  Chöre  und 
Recitative  zum  „Schwarzen  Domino"  von  Auber,  welches 
zum  Benefiz  der  Artot  gegeben  werden  soll;  diese  Arbeit 
wird  mir  Merelli  bezahlen.  Ich  habe  mich  mit  der  Artot 
sehr  befreundet  und  erfreue  mich  ihrer  Gegenneigung; 
selten  habe  ich  ein  so  liebes,  gutes  und  kluges  Weib 
getroffen. 

Anton  Rubinstein  ist  bei  uns  gewesen.  Hat  gespielt — 
wie  ein  Gott  und  unbeschreibliches  Furore  gemacht.  Er 
hat  sich  garnicht  verändert  und  ist  ebenso  nett  wie  früher. 
Ich  besuche  jetzt  ziemlich  oft  den  „Künstler- Verein".  Spie- 
le dort,  gewöhnlich,  mit  einem  ^'-i  Kopekeneinsatz  „Jera- 
lasch"  ^),  und  soupiere  darauf  mit  Ostrow^sky,  Sadowsky 
und  Shiwokini,  welche  sehr  nett  und  unterhaltend  sind. 
Laroche  ist  neulich  eine  Moskauer  Berühmtheit  geworden 
infolge  zweier  von  ihm  verfassten  und  in  den  „Moskauer 
Nachrichten"  abgedruckten  Feuilletons  über  die  italienische 
Oper.  Die  Italienomanen  schimpfen  fürchterlich  über  ihn 
und  wollen  ihn,  wie  man  sagt,  durchprügeln. 

Meine  Fantasie  für  Orchester  „Fatum"  ist  fertig". 

An  M.  Tschaikowsky: 

(November). 
„...Oh,  Moding,  ich  fühle,  in  mir  das  Verlangen,  meine 
Eindrücke  vor  Dein  künstlerisches  Herz  zu  schütten.  Wenn 
Du  nur  wüsstest,  welch'  Sängerin  und  Schauspielerin  die 
Artot  ist!!  Noch  nie  habe  ich  einen  so  starken  künstle- 
rischen Eindruck  gehabt,  wie  diesmal!  Wie  Du  entzückt 
wärest  über  die  Grazie  ihrer  Bewegungen  und  Posen"! 

An  M.  Tschaikowsky: 

(Dezember). 
„...Schon  lange  habe  ich  Dir  nicht   mehr  geschrieben, 

1)  Jeialasch  ist  der  Name  eines  Kartenspiels. 


—  .176  — 

ich  befand  mich  aber  in  verschiedenen  Umständen,  welche 
mich  der  Möglichkeit  beraubten,  Briefe  zu  schreiben,  denn 
meine  ganze  freie  Zeit  widmete  ich  einem  Wesen,  von 
welchem  Du  gewüss  schon  gehört  haben  wirst,  und  wel- 
ches ich  sehr  liebe. 

Meine  musikalischen  Angelegenheiten  befinden  sich  in 
folgender  Lage.  In  den  nächsten  Tagen  gelangen  zwei  mei- 
ner Klavierstücke  aus  dem  Druck  ^);  habe  25  russische  Volks- 
lieder für  Klavier  vierhändig  arrangiert,  was  ebenfalls  ge- 
druckt wird,  und  instrumentiere  meine  Orchesterfantasie  „Fa- 
tum"  für  das  fünfte  Symphoniekonzert  der  Musikalischen 
Gesellschaft. 

Neulich  fand  hier  ein  Konzert  statt  zu  Gunsten  unbe- 
mittelter Studenten,  in  welchem  zum  letzten  Mal  vor  der 
Abreise  ein  gewisses  „Wesen"  gesungen  hat.  In  demsel- 
ben Konzert  wurden  auch  meine  Tänze  gespielt  und  N. 
Rubinstein  hat  ausserdem  mein  der  Artot  gewidmetes  Kla- 
vierstück vorgetragen. 

Setze  meine  Besuche  im  Künstler -Verein  fort,  wo  ich 
jedesmal  mit  den  beiden  Alten,  Sadowsk}^  und  Shiwokini 
soupiere". 

An  Ilja  Petro witsch  Tschaikowsky: 

„26.  Dezember. 

Mein  lieber  und  teurer  Vater!  Zu  meiner  grössten  Er- 
bitterung haben  einige  Umstände  meine  Reise  nach  Peters- 
burg verhindert.  Diese  Reise  würde  wenigstens  hundert 
Rubel  kosten,  welche  ich  aber  augenblicklich  nicht  besitze. 
So  muss  ich  Dir  denn  schriftlich  meine  Neujahrsgratula- 
tion  darbringen:  es  versteht  sich  von  selbst,  dass  ich  Dir 
Glück  und  Alles  Gute  wünsche.  Da  die  Gerüchte  von 
meiner  Heirat  Dir,  wahrscheinlich,  schon  mehrfach  zu 
Ohren  gekommen  sind  und  Du  jedenfalls  unzufrieden  bist, 
dass  ich  selbst  noch  Nichts  darüber  geschrieben  habe,  so 
will  ich  Dir  nun  gleich  Alles  auseinandersetzen.  Die  Be- 
kanntschaft Artot's  habe  ich  schon  im  Frühjahr  gemacht, 
bin  damals  aber  nur  ein  Mal  bei  ihr  gewesen,  und  zwar 
auf  einem  Souper  gelegentlich  ihres  Benefizes.  Nachdem 
sie  im  Herbst  wieder  hierhergekommen,  habe  ich  sie  einen 
ganzen  Monat  lang  garnicht  besucht.  Zufällig  begegneten 
wir    uns    dann   auf  einem    musikalischen    Abend;    sie    hat 


1 )  Valse-Capiice,  op.  4.  und  „Komaiice",  op.  5. 


—   t77  — 

ihrer  Verwunderung  darüber  Ausdruck  gegeben,  dass  ich 
niemals  zu  ihr  komme  und  ich  gab  ihr  das  Versprechen, 
sie  zu  besuchen,  was  ich  aber  gewiss  nicht  gethan  hätte 
(bei  der  mir  eigenen  SchwerfäUigkeit  für  neue  Bekannt- 
schaften), wenn  nicht  Anton  Rubinstein,  der  sich  auf  der 
Durchreise  in  Moskau  aufgehalten  hatte,  mich  eines  Tages 
zu  ihr  geschleppt  hätte.  Seitdem  erhielt  ich  fast  täglich  Ein- 
ladungskarten von  ihr  und  gewMjhnte  mich  allmälich,  jeden 
Tag  bei  ihr  zu  sein.  Sehr  bald  entflammten  wir  in  gegen- 
seitiger zärtlicher  Neigung  und  die  Geständnisse  folgten 
unmittelbar  darauf.  Natürlich  besprachen  wir  sofort  die 
Frage  über  die  gesetzliche  Ehe,  und,  wenn  Nichts  da- 
zw^ischen  kommt  soll  die  Hochzeit  schon  im  künftigen  Som- 
mer zu  Stande  kommen.  Darin  liegt  aber  das  Schlimme, 
dass  verschiedene  Hindernisse  vorhanden  sind.  Erstens 
ist  ihre  Mutter,  welche  stets  bei  ihr  weilt  und  einen  be- 
deutenden Einfiuss  auf  sie  ausübt,  gegen  diese  Heirat,  da 
sie  findet,  dass  ich  für  ihre  Tochter  noch  zu  jung  sei,  und 
wahrscheinlich  befürchtet,  dass  ich  sie  an  Russland  fesseln 
werde.  Zweitens  suchen  meine  Freunde,  ganz  besonders 
N.  Rubinstein,  mit  dem  Aufgebot  ihrer  ganzen  Energie 
meine  Heiratspläne  zu  Nichte  zu  machen.  Sie  behaupten, 
dass  ich,  als  Gatte  einer  berühmten  Sängerin,  die  kläg- 
Hche  Rolle  des  „Mannes  seiner  Frau^^  spielen  werde,  auf 
ihre  Rechnung  leben,  und  sie  auf  ihren  Reisen  durch  ganz 
Europa  überallhin  begleiten,  ferner  —  dass  ich  keine  Ge- 
legenheit und  Müsse  zur  eignen  Arbeit  haben  werde,  dass — 
wenn  erst  meine  Liebe  zu  ihr  etwas  nachgelassen  mir  Nichts 
Anderes  übrig  bleiben  wird,  als  Verzweiflung  und  Unter- 
gang. Die  Möglichkeit  eines  solchen  Unglücks  liesse  sich, 
vielleicht,  in  dem  Falle  vermeiden,  wenn  sie  sich  entschlies- 
sen  wollte  der  Bühne  zu  entsagen  und  für  immer  in 
Russland  zu  bleiben: — sie  sagt  aber,  dass  sie  bei  all'ihrer 
Liebe  zu  mir,  die  Bühne  nicht  verlassen  könne,  an  welche 
sie  sich  so  sehr  gewöhnt  habe  und  welche  ihr  so  viel  Ruhm 
und  Geld  eintrage.  Augenblicklich  befindet  sie  sich  schon 
auf  der  Reise  nach  Warschau.  Einstweilen  haben  wir  be- 
schlossen, dass  ich  sie  im  Sommer  auf  ihrem  Gut  (in  der 
Nähe  von  Paris)  besuchen  werde,  wo  sich  dann  unser 
Schicksal  entscheiden  soll. 

So  wie  sie  sich  nicht  entschliessen  kann,  der  Bühne  zu 
entsagen,  so  möchte  ich,  meinerseits,  auch  nicht,  ihr  meine 
Zukunft  opfern,  denn  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass 
ich  der  Möglichkeit,  auf  meinem  Pfade  vorwärts  zu  kom- 

TachaikowsTcy,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  12 


—  lyS  — 

men,  beraubt  sein  werde,  wenn  ich  ihr  bhndhngs  folgen 
sollte.  Du  siehst,  Väterchen,  dass  meine  Situation  eine 
sehr  schwierige  ist:  einerseits  habe  ich  sie  von  ganzem 
Herzen  und  von  ganzer  Seele  lieb  und  es  scheint  mir  un- 
möglich, ohne  sie  weiter  zu  leben;  andererseits,  aber,  zwingt 
der  kalte  Verstand  zum  Ueberlegen  und  zum  näheren  Be- 
trachten all'der  Schrecken,  welche  mir  meine  Freunde  aus- 
malen. Erwarte,  mein  Lieber,  auch  Deine  Ansicht  zu  hören. 
Ich  bin  ganz  gesund  und  mein  Leben  fliesst  ordnungs- 
mässig  dahin,  mit  der  alleinigen  Ausnahme,  dass  ich  trau- 
rig bin,  weil  sie  nicht  da  ist". 

Als  Antwort  erhielt  Peter  Iljitsch  vom  Vater  folgendes 
Schreiben: 

„29  Dezember  1868. 

Mein  lieber  Peter,  Du  bittest  mich  um  einen  Rat  in 
der  wichtigsten  Angelegenheit  Deines  Schicksals.  In  der 
That,  mein  Freund,  die  Heirat  ist  ein  solch  gefährlicher 
Schritt  im  Leben,  den  man  nicht  unüberlegt  thun  soll,  das 
ist  eine  Frage  über  Leben  oder  Tod,  über  Sein  oder  Nicht- 
sein, das  ist  das  Wagniss  eines  Spielers,  der  Hasard  eines 
Kühnlings,  das  ist  ein  solcher  Schritt,  nach  welchem  es 
kein  Zurück  giebt,  obgleich  er  von  der  Jugend  gewöhn- 
lich unterschätzt  wird,  indem  sie  sich  anheimstellt,  ein  Je- 
des nach  seinem  Wunsch  zu  leben  und  sich  weder  an  das 
Herzensbündniss  noch  an  die  kirchliche  Trauung  zu  keh- 
ren. Meine  Ansicht  über  Deine  Heirat  kennst  Du  bereits 
aus  der  kurzen  Zuschrift,  die  ich  in  das  Couvert  des  Brie- 
fes von  Toly  gesteckt  hatte:  ich  freue  mich, — freue  mich, 
wie  der  Vater  eines  erwachsenen  Sohnes  oder  einer  ge- 
reiften Tochter,  freue  mich  auf  die  Ehe  eines  Würdigen 
mit  einer  Würdigen.  Du  liebst  sie  und  sie  Hebt  Dich,  und 
damit  wäre  die  Sache  erledigt,  wenn...  Oh,  dieses  ver- 
fluchte Wenn!...  Man  muss  wohl  Alles  überlegen,  Alles 
zergliedern  und  diesen  Gordios-Knoten  zu  lösen  versuchen. 
Desire,  d.  i.  die  Erwünschte,  muss  in  der  That  in  jeder 
Beziehung  herrlich  sein,  denn  mein  Sohn  Peter  hat  ihr 
seine  Liebe  geschenkt,  mein  Sohn  Peter,  aber,  besitzt  Ge- 
schmack und  Talent  und  wird  sich  seinem  Charakter  nach 
ein  Weib  mit  den  gleichen  Eigenschaften  gewählt  haben. 
Von  dem  Altersunterschied  kann  hier  keine  Rede  sein,  Ihr 
Beide  seid  schon  lange  mannbar,  sodass  zwei  Jahre  mehr 
oder  weniger  keine   Rolle   spielen,  Avas   aber  die   Vermö- 


—  179  — 

gensverhältnisse  und  die  Lebensstellung  eines  Jeden  von 
Euch  anbelangt,  so  wollen  wir  nun  darüber  reden.  Du  bist 
Künstler,  sie  ist  auch  Künstlerin,  Ihr  Beide  schlaget  Ka- 
pital aus  Euren  Talenten,  nur  dass  sie  sich  Kapital  und 
Ruhm  bereits  erworben  hat,  und  Du  erst  zu  erwerben  be- 
ginnst, und — Gott  weiss,  ob  es  Dir  gelingen  wird,  das  zu 
erreichen,  was  sie  besitzt.  Deine  Freunde  erkennen  Dein 
Talent  an  und  fürchten,  das  Du  es  verlieren  könntest  durch 
die  Heirat:  ich  bin  anderer  Meinung.  Wenn  Du  um  Deines 
Talentes  willen  den  Staatsdienst  aufgegeben  hast,  so  wirst 
Du  gewiss  nicht  authören,  Künstler  zu  sein,  selbst  wenn 
Du  im  Anfang  unglücklich  sein  solltest,  so  geht  es  fast 
allen  Musikern.  Du  bist  stolz,  und  es  ist  Dir  daher  unan- 
genehm, dass  Du  noch  nicht  soviel  verdienst,  um  eine 
Frau  ernähren  zu  können  und  um  nicht  auf  ihren  Geld- 
beutel angewiesen  zu  sein.  Ich  verstehe  Dich  wohl,  mein 
Freund,  es  ist  bitter  und  unangenehm,  doch  wenn  Du  und 
sie,  Ihr  Beide,  gleichzeitig  arbeiten  und  erwerben  werdet, 
so  wird  Keiner  sich  einen  Vorwurf  machen  können:  gehe 
Du  Deinen  Weg,  lasse  sie  den  ihrigen  verfolgen  und  so 
helfet  Euch  gegenseitig.  Weder  für  Dich,  noch  für  sie  ist 
es  ratsam,  den  eingeschlagenen  Lebenspfad  zu  verlassen, 
solange  Ihr  noch  nicht  soviel  erspart  habt,  um  sagen  zu 
können:  das  sind  wir,  das  ist  unsere  gemeinsame  Arbeit. 
Zergliedern  wir  mal  die  einzelnen  Worte:  i)  „Als  Gatte 
einer  berühmten  Sängerin  wird  Dir  die  klägliche  Rolle 
zufallen,  sie  auf  ihren  Reisen  durch  ganz  Europa  überall- 
hin zu  begleiten,  auf  ihre  Rechnung  zu  leben,  und  dadurch 
solltest  Du  Dich  vom  Arbeiten  entwöhnen".  Wenn  nur 
Eure  Liebe  keine  leichtfertige  ist,  sondern  eine  solide,  wel- 
che sich  für  Leute  Eures  Alters  geziemt,  wenn  nur  Eure 
Schwüre  aufrichtig  und  unveränderhch  sind,  dann  ist  Je- 
nes Alles  Unsinn.  Das  Glück  einer  Ehe  gründet  sich  auf 
gegenseitiger  Achtung,  weder  wirst  Du  es  zugeben,  dass 
Deine  Frau  wie  eine  Art  Dienerin  um  Dich  sei,  noch  wird 
sie  es  verlangen,  dass  Du  die  Rolle  ihres  Lakaien  spielest, 
und  das  Zusammenreisen  hat  auch  Nichts  zu  bedeuten, 
sofern  Du  dabei  das  Komponieren  nicht  unterlassen  wirst, — 
ja,  es  ist  sogar  vorteilhaft,  da  Du  dann  Deine  Oper  hier 
und  da  anbringen  kannst,  oder  Deine  Symphonie,  oder 
sonst  Etwas.  Eine  liebende  Freundin  wird  es  schon  ver- 
stehen. Dich  anzuregen;  sieh  nur  zu,  wie  Du  Alles  zu  Pa- 
pier bringst,  mit  einem  solchen  Wesen,  wie  Deine  Er- 
sehnte wirst  Du  eher  Fortschritte  machen,  als  das  Talent 


—  i8o  — 

verlieren.  2)  „Wenn  erst  Deine  Liebe  zu  ihr  etwas  nach- 
gelassen—  wird  Dir  Nichts  Anderes  übrig  bleiben,  als 
Verzweiflung  und  Untergang". — Warum  denn  in  der  Liebe 
nachlassen?  Ich  habe  mit  Deiner  Mutter  21  Jahre  zusam- 
mengelebt, und  habe  sie  diese  ganze  Zeit  hindurch  gleich- 
massig,  mit  der  Glut  eines  Jünglings  geliebt,  und  habe  sie 
geachtet  und  vergöttert,  wie  eine  Heilige.  Wenn  nur  Deine 
Ersehnte  dieselben  Eigenschaften  besitzt,  wie  Deine  Mut- 
ter, der  Du  so  ähnlich  bist,  dann  ist  jene  ganze  Voraus- 
setzung Unsinn.  Du  weisst  doch  sehr  gut,  dass  Künstler 
keine  Heimat  haben,  sie  gehören  der  ganzen  Welt,  wozu 
soll  sie  denn,  oder  auch  Du,  unbedingt  in  Russland,  in 
Moskau  oder  Petersburg  wohnen.  Es  ist  gut,  wenn  es 
irgendwo  besonders  vorteilhaft  ist,  zu  wohnen;  wenn  sie, 
zum  Beispiel,  einen  Kontrakt  für  längere  Zeit  mit  der  Pe- 
tersburger Opernbühne  abschliessen  wollte  (freilich  unter 
Beibehaltung  ihres  Namens),  wie  die  Lucca,  die  Patti  und 
Andere — dann  würde  es  für  uns  Alle  sehr  angenehm  sein. 
3)  „So  wie  sie  sich  nicht  entschliessen  kann, '  der  Bühne 
zu  entsagen,  so  möchtest  Du  deinerseits  auch  nicht,  ihr 
Deine  Zukunft  opfern,  denn  es  unterliegt  keinem  Zw^eifel, 
dass  Du  der  Möglichkeit  beraubt  sein  wirst,  auf  Deinem 
Pfade  vorwärts  zu  kommen  wenn  Du  ihr  blindlings  folgst". — 
Sie  soll  garnicht  der  Bühne  entsagen,  was  ich  schon  oben 
erwähnt  habe,  ebensowenig  sollst  Du  Deine  Pflichten  als 
Künstler  von  Beruf  niederlegen.  Unsere  Zukunft  ist  zwar 
nur  Gott  bekannt,  aber  wozu  denn  voraussetzen,  dass  Du 
der  Möglichkeit  beraubt  sein  wirst,  auf  deinem  Pfade  vor- 
wärts zu  kommen,  wenn  Du  ihr  blindlings  folgst?  Das 
würde  heissen,  dass  Du  keinen  Charakter  hast  und  nur 
ein  Anhängsel  bei  ihr  bist,  ihr  die  Schleppe  trägst  und 
sie  mit  zwei  Fingern  auf  die  Bühne  geleitest  wie  ein  Die- 
ner, um  dann  in  der  Menge  zu  verschwinden.  Nein,  mein 
Freund,  sei  Du  ein  Diener,  aber  ein  selbständiger  Diener, 
wenn  sie  Deine  Arien  singen  wird,  so  —  dass  der  Beifall 
Euch  Beiden  gelte, — wozu  dann  blindlings  folgen?  Wenn 
sie  Dich  aufrichtig  liebt,  so  dürfte  das  doch  auch  ihr  unan- 
genehm sein  (denke  an  die  gegenseitige  Achtung).  Alles 
das  müsst  Ihr  selber  überlegen  und  an  meine  Worte  den- 
ken: das  Glück  in  der  Ehe  hängt  von  gegenseitiger  Liebe 
und  Achtung  ab.  Dann  möchte  ich  Euch  noch  eine  Frage 
stellen:  habet  Ihr  Euch  auch  geprüft?  Liebet  Ihr  Euch  auch 
wirkhch  und  für  alle  Zeiten?  Deinen  Charakter  kenne  ich, 
mein  lieber    Sohn,    und    hoffe    auf   Dich,    Du,    aber,    liebe 


—  i-8i  — 

Braut,  bist  mir  leider  noch  nicht  bekannt.  Ich  kenne  nur 
Deine  schöne  Seele  und  Dein  gutes  Herz  durch  ihn.  Es 
würde  garnicht  übel  sein,  wenn  Ihr  Euch  prüfen  wolltet, 
nur  —  um  Gottes  willen — nicht  durch  Eifersucht,  sondern 
durch  die  Zeit.  Wartet  und  fraget  Euch  beständig:  liebe 
ich  sie  auch  wirklich  wahrhaft,  liebt  er  mich  auch  wirklich 
wahrhaft?  Wird  er  (oder  sie)  auch  in  der  That  mit  mir  bis 
an  das  Grab  die  Freuden  und  Leiden  des  Lebens  teilen? 
Wenn  die  Zeit  Euch  nur  bedingt  antworten  wird:  ja,  viel- 
leicht wirst  Du  glücklich  werden, —  dann  ist  es  eben  noch 
nicht  ganz  gewiss.  Stellt  Euch  noch  einmal  auf  die  Probe 
und  fasset  erst  dann  einen  Entschluss,  in  Gottes  Namen. 
Beschreibe  mir  ausführlich  den  Charakter  Deiner  Er- 
sehnten, mein  Lieber, — übersetze  ihr  das  zarte  Wort  „de- 
sire".  Der  Wille  der  Mutter  bedeutet  in  Herzensangelegen- 
heiten garnichts;  überlege  es  Dir  aber  doch". 

Peter  Iljitsch  an  Anatol: 

(Januar). 

„ Ich  befinde  mich  jetzt  in  grosser  Aufregung.   Der 

„Woiwode"  soll  aufgeführt  werden;  jeden  Tag  giebt's  Pro- 
ben und  ich  finde  kaum  Zeit,  Alles  zu  thun  was  notwendig 
ist:  dadurch  erklärt  sich  mein  Schweigen.  Bis  jetzt  geht 
die  Oper  ziemlich  schlecht;  es  geben  sich,  aber.  Alle  die 
redlichste  Mühe,  sodass  man  auf  eine  gute  Aufführung 
hoffen  kann.  Die  Menschikowa  wird  sich  sehr  gut  machen; 
namentlich  singt  sie  im  zweiten  Akt  das  Lied  „Nachtigall" 
sehr  schön.  Der  Tenor  ist  ebenfalls  nicht  übel,  der  Bas- 
sist, jedoch,  schlecht.  Wenn  die  Oper  gelingt,  so  werde 
ich  es  einzurichten  versuchen,  dass  Ihr  Beide  in  der  But- 
terwoche hierherkommt,  um  sie  anzuhören. 

Ich  habe  schon  eine  andere  zu  komponieren  begonnen, 
möchte  aber  das  Sujet  nicht  verraten,  weil  es  einige  Zeit 
Geheimniss  bleiben  soll,  dass  ich  überhaupt  Etwas  in  Ar- 
beit habe.  Wie  gross  wird  das  Erstaunen  sein,  wenn  man 
erfährt,  dass  ich  im  Sommer  schon  die  halbe  Oper  zu- 
sammengeknetet habe  (ich  hoffe  sehr  stark,  im  Sommer 
Gelegenheit  zum  Arbeiten  zu  haben). 

Im  nächsten  Konzert  soll  meine  neue  Ouvertüre  ge- 
spielt werden;  es  scheint  ein  recht  gelungenes  Stück  ge- 
worden zu  sein  und  heisst  „Fatum". 

Bezüglich  des  Liebesabenteuers,  welches  ich  zu  Anfang 
des  Winters  erlebt  habe,  kann  ich  Dir  mitteilen,  dass  es 
sehr  zweifelhaft  ist,  ob  mein  Eintritt  in  Hymens  Reich  zu 


—    Г82    — 

Stande  kommen  wird.  Die  Sache  beginnt,  etwas  auseinan- 
derzugehen. Das  Nähere  darüber  werde  ich  Dir  später 
erzählen.  Jetzt  ist  nicht  die  Zeit  dazu". 

hn  Januar  hat  sich  Desire  Artot  in  Warschau  mit  dem 
Bariton  Padilla  verheiratet,  ohne  ein  Wort  davon  ihrem 
früheren  Bräutigam  mitgeteilt  zu  haben. 

Die  Nachricht  davon  gelangte  an  Peter  Iljitsch  zu  einer 
Zeit,  wo  sein  ganzes  Sinnen  und  Trachten  der  Aufführung 
seiner  Erstlingsoper  galt,  und  hat — wie  aus  dem  Ton  sei- 
ner Briefe  hervorgeht — dank  diesem  Umstand  lange  nicht 
die  erschütternde  Wirkung  auf  ihn  gehabt,  wie  zu  erwar- 
ten war. 

Jedenfalls  ist  in  Peter  Iljitsch's  Herzen,  nachdem  die 
ersten  bittern  Stunden  verstrichen  waren,  garkein  Groll 
gegen  die  Ungetreue  zurückgeblieben.  Als  Künstlerin  blieb 
sie  für  ihn  das  Vollkommenste,  was  er  je  kennen  gelernt 
hatte.  Als  Mensch  blieb  sie  ihm  ebenfalls  für  immer  teuer. 
Nach  einem  Jahre  fast,  sollte  er  ihr  wieder  begegnen. 
Folgendes  schreibt  Peter  Iljitsch  über  die  bevorstehende 
Begegnung:  „in  nächster  Zeit  steht  mir  ein  Wiedersehen 
mit  Artot  bevor.  Sie  kommt  hierher,  und  ich  werde  einer 
Begegnung  nicht  ausweichen  können,  denn  gleich  nach 
ihrer  Ankunft  soll  mit  den  Proben  des  „Schwarzen  Do- 
mino" mit  meinen  Recitativen  und  Chören  begonnen  wer- 
den, bei  denen  ich  notwendigerweise  werde  zugegen  sein 
müssen.  Dieses  Weib  hat  mir  viele  bittre  Stunden  bereitet, 
und  doch  fühle  ich  mich  durch  eine  unerklärliche  S34npa- 
tie  so  zu  ihr  hingezogen  dass  ich  beginne,  mit  fieberhafter 
Ungeduld  ihre  Ankunft  zu  erwarten". 

Sie  begegneten  sich  wie  zwei  Freunde.  Alle  intimeren 
Beziehungen  waren  geschwunden.  „Als  1869  die  Artot 
wieder  auf  der  Bühne  des  Grossen  Theaters  auftrat",  — 
erzählt  Kaschkin,  —  „sass  ich  im  Parterre  neben  Tschai- 
kowsky,  der  sehr  aufgeregt  war.  Bei  dem  Erscheinen  der 
Künstlerin  hob  Peter  Iljitsch  das  Opernglas  an  die  Augen 
und  setzte  es  während  der  ganzen  Vorstellung  nicht  wieder 
ab;  er  konnte  aber  schwerlich  sehen,  denn  Thräne  über 
Thräne  rollte  über  seine  Wangen". 

Nach  zwanzig  Jahren  begegneten  sie  sich  wieder.  Die 
junge  Liebe  und  gegenseitige  S\inpatie  hatte  sich  inzwi- 
schen in  treue  Freundschaft  verwandelt,  welche  zwischen 
ihnen  seitdem  bis  an  den  Tod  bestehen  blieb. 

Am  30.  Januar  1869  am  Benefiztage  der  Menschikowa, 
fand  die  erste  Vorstellung  der  Oper  „Der  Woiwode"  statt. 
Auf  dem  Theaterzettel  stand  Folgendes  zu  lesen; 


i83  - 


DER  WOIWODE. 

Oper  in  drei  Akten  und  vier  Bildern.  Der  Text  ist  dem 
Schauspiel  „Der  Traum  an  der  Wolga"  von  Ostrowsky 
entnommen. 

Musik  von  P.  I.  Tschaikowsk}', 

Kostüme:  die  männlichen  von  H.  Simone,  die  weibli- 
chen von  H.  Manochin. 

Die  Tänze  werden  ausgeführt:  im  2.  Akt  von  den  Da- 
men Lwowa,  Essaulowa  I,  Nikiforowa  II,  Alexandrowa  II; 
die  Koriphäen:  Jeshowa,  Terentjewa,  S^^bina  I,  Gorocho- 
wa  I,  Belikowa,  Prokoffjewa,  Wladimirowa  I  und  Pheok- 
tistowa — werden  den  Russischen  Tanz  ausführen^ 

Handelnde  Personen: 


Netschai  Schalygin  .  . 
Wlass  Djushoi  .... 
Nastassja,  dessen  Frau. 
Maria  Wlassjewna.  .  . 
Praskowja  Wlassjewna 
Stephan  Bastrjukow.    . 

Dubrowin 

Olona,  dessen  Frau.    . 

Rjeswy 

Ein  Narr 

Nedwiga 

Der  Neue  Woiwode.   . 


.  H.  Finocci. 
.  H.  Radoneshsky, 
.  Fr.  Annenskaja. 
.  Fr.  Menschikowa. 
.  Fr.  Kronenberg. 
.  H.  Rapport. 
,  H.  Demidoff. 
.  Fr.  Iwanowa. 
.  H.  Boschanowsky 
.  H.  Lawroff. 
.  Fr.  Rosanowa. 
.  H.  Korin. 


Die   Mannen    des   Woiwoden,    die   Mannen    des   Djushoi, 
Muhmen,  Mädchen. 

Der  äussere  Erfolg  der  Oper  war  sehr  hervorragend. 
Der  Komponist  ist  15  Mal  hervorgerufen  worden  und  hat 
einen  Lorbeerkranz  erhalten.  Die  Aufführung  ist  jedoch 
nicht  ohne  Störungen  verlaufen.  Rapport,  nämlich,  hat  die 
letzten  Nächte  infolge  eines  sich  am  Finger  bildenden  Ge- 
schwürs garnicht  schlafen  können  und  fühlte  sich  während 
der  Vorstellung  so  schlecht,  dass  er  mehrere  Male  einer 
Ohnmacht  nahe  war.  „Wenn  die  Menschikowa  ihn  nicht 
mit  ihren  Armen  gestützt,  hätte  man  den  Vorhang  herun- 
terlassen müssen",  schreibt  Peter  Iljitsch  an  seine  Brüder. 

Kaschkin  erzählt,  dass  gleich  im  Anfang  der  Chor  mit 
der  Volksmelodie  sehr  gefallen  habe,  dass  das  Lied  „Nachti- 
gall" sehr  schnell  populär  geworden  sei,  dass  die  auf  dem 


—  T84  — 

schottischen  Pentachord  (der  auch  in  unseren  Volksliedern 
zu  finden  ist),  ohne  halbe  Töne  aufgebaute  Tenorarie 
„Glühe,  oh,  Morgenrot",  so  wie  das  Duett  zwischen  Olona 
und  Maria  „Still  gehet  der  Mond"  und  das  letzte  Quartett 
„Dunkle  Nacht" — sich  eines  grossen  Erfolges  erfreut  ha- 
ben sollen.  Laroche  hat  sich  über  die  Aufführung  der  Oper 
wie  folgt  ausgelassen.  „Die  Benefiziantin  verfügt,  bekannt- 
lich über  eine  sehr  schöne  Stimme,  besitzt  aber — ebenfalls 
bekanntlich — keinen  dramatischen  Sinn;  auch  zeichnet  sie 
sich  nicht  durch  ihre  musikalische  Bildung  aus:  das  Eine 
sowie  das  Andere  schadete  ihr  sehr  in  der  Rolle  der  Ma- 
ria Wlassjewna.  Dasselbe  muss  ich,  leider,  auch  von  Herrn 
Demidoff  sagen  der  den  Dubrowin  machte:  seine  Stimme 
ist  zwar,  noch  etwas  schöner,  die  scenische  Unbeholfen- 
heit springt  dafür,  aber,  noch  mehr  in  die  Augen.  Den 
absoluten  Gegensatz  zu  diesen  Beiden  bildet  Herr  Rapport 
(Bastrjukow),  dessen  schönes  Talent  sich  rapide  entwickelt 
und  ihm  eine  schöne  Zukunft  verspricht.  Die  Erscheinung 
Fr.  Iwanowas  mit  ihrer  frischen  sympatischen  Stimme  in 
einer  bedeutenderen  Rolle,  als  diejenigen  welche  sie  bis 
dato  zu  singen  gehabt  hatte,  wird  die  Freunde  unserer 
Opernbühne  jedenfalls  sehr  gefreut  haben.  Wenn  man  be- 
denkt, dass  Fr.  Iwanowa  eine,  für  ihre  Stimme  zu  tief  lie- 
gende Partie  zu  singen  hatte,  so  wird  man  ihrem  Vortrag 
volle  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen  müssen.  Die  neben- 
sächlichen Rollen  sind  grösstenteils  gewissenhaft  und  be- 
friedigend einstudiert  Avorden.  Sehr  t3'pisch  war  Fr.  Rosa- 
nowa  als  alte  Muhme.  Auch  Herrn  Merten,  der  anstelle 
des  Herrn  Schrameck  die  Aufführung  der  Oper  von  Tschai- 
kowsk}^  leitete,  wird  man  freudig  begrüssen  müssen.  Einige 
Unsicherheit  war  in  seinem  Dirigieren  wohl  zu  merken, 
aber  im  Allgemeinen  hat  er  sehr  lebendig  und  energisch, — 
nicht  wie  ein  teilnahmsloser  Metronom — seines  Amtes  ge- 
waltet". 

Die  Freunde  Peter  Iljitsch's  triumphierten.  Am  Tage 
nach  der  Aufführung  erhielt  er  mehrere  ihn  beglückwün- 
schende Briefe.  Der  Fürst  Odoewsky  war  mit  der  Oper 
seines  jungen  Freundes  sehr  zufrieden  und  sandte  dem 
Autor  als  Zeichen  seiner  Anerkennung  ein  Paar  „Becken" 
als  Geschenk  nebst  einem  sehr  netten  Brief. 

Aber  die  Ovationen  und  der  Lärm  bei  der  ersten  Vor- 
stellung, die  Begeisterung  der  Freunde  des  Komponisten, 
sowie  die  Anerkennung  einiger  Kenner  haben  dennoch 
keinen  nachhaltigen  Erfolg  zu  schaffen  vermocht.  Die  Oper 


- 1  85  - 

ist  nur  fünf  Mal  gegeben  worden  und  verschwand  dann 
für  immer  aus  dem  Repertoir  des  Grossen  Theaters. 

Das  erste  rügende  und  sogar  strenge  Urteil  über  seine 
Oper  hat  Peter  Iljitsch  von  einer  Seite  zu  hören  bekom- 
men, von  welcher  er  es  am  wenigsten  erwarten  konnte: 
von  Laroche.  Nicht  sowohl  die  Verneinung  des  Werkes 
selbst  seitens  Laroche,  sondern  der  verächtliche  Ton,  den 
Dieser  in  Bezug  auf  das  ganze  musikalische  Talent  Peter 
Iljitsch's  angeschlagen  hatte,  kränkte  den  Komponisten  so 
tief,  dass  er  jede  Beziehungen  zu  seinem  Freunde  abbrach. 
Erst  nach  zwei  Jahren,  im  Frühling  des  Jahres  187 1,  ver- 
söhnten sich  die  Beiden  und  blieben  bis  an  den  Tod 
Freunde. 

Bald  nach  der  ersten  Vorstellung  des  „Woiwoden" 
gelangte  auch  Peter  Iljitsch's  symphonische  Fantasie  „Fa- 
tum"  zu  ihrer  ersten  Aufführung,  und  zwar  im  achten 
Symphonie — Abend  der  Musikalischen  Gesellschaft. 

Als  Programm  für  dieses  Werk,  welches  Balakireff  ge- 
widmet ist  hat  Peter  Iliitsch  die  Worte  Batjuschkoff's  ^) 
gewählt: 

„Weisst  Du,  was  der  greise  Melchisedeck  gesprochen 
hat,  als,  er  vom  Leben  Abschied  nehmend,  im  Sterben 
lag?  —  Als  Sklave  wird  der  Mensch  geboren,  als  Sklave 
sinkt  er  auch  in's  Grab.  Der  Tod  der  wird  ihm  auch  nicht 
sagen,  wozu,  warum  er  dieses  lange  Thränenthal  durch- 
wandert und  weshalb  er  gelitten,  geduldet,  geweinet  hat — 
und  nun  verschwinden  muss".... 

Die  Wahl  dieses  Motto's  hat  eine  kleine  Vorgeschichte, 
in  welche  ein  gewisser  S.  A.  Ratschinsky  werwickelt  ist. 
Dieser  Herr  Ratschinsky  —  Sergei  Alexandrowitsch,  Pro- 
fessor der  Botanik  an  der  Moskauer  Universität,  der  spä- 
ter durch  die  Gründung  einer  Mustervolksschule  im  Gou- 
vernement Twer  so  berühmt  gewordene  Pädagoge,  ge- 
hörte zu  den  allerersten  und  allerbegeistertsten  Anhän- 
gern Tschaikowsky's.  Dieser  feingebildete,  elegante  und 
einflussreiche,  sehr  religiöse  Mann  glich  nicht  im  Min- 
desten dem  Typus  eines  damaligen  „Gelehrten"  dazu  noch 
„Naturforschers"  und  war  eine  im  höchsten  Grade  origi- 
nelle und  urwüchsige  Persönlichkeit,  welche  Peter  Iljitsch 
sehr  interessierte  und  welche  er  sehr  bald  liebgewann. 
Ratschinsky  war  ein  leidenschaftlicher  Musik-und  Litera- 
turfreund,   äusserte  aber  auch   in   dieser  Hinsicht,  wie  in 


1)  BatjusclikofF  ist  ein  beliannter  russischer  Dichter. 


—  i86  — 

Allem  Anderen,  die  eigentümlichste  Geschmacksrichtung, 
welche  mit  den  allgemein  üblichen  Ansichten  in  dem  schärf- 
sten Gegensatz  stand.  So  hatte  er,  zum  Beispiel,  Ostrow- 
sky,  welcher  damals  auf  dem  Höhepunkt  seines  Ruhmes 
stand,  garnicht  gern,  während  er  den  kaum  erst  für  talent- 
voll anerkannten  Tschaikowsky  für  einen  „grossen"  Kom- 
ponisten hielt.  Eines  Tages  soll  er  während  eines  Streites 
über  Ostrowsky  zur  grössten  Empörung  aller  Anwesenden 
ausgerufen  haben:  „Ach,  was  gilt  Euer  Ostrowsky!  In  dem 
kleinen  Finger  Tschaikowsky's  steckt  mehr  Talent,  als  in 
Dem"!  Als  Anno  1871  Peter  Iljitsch  ihm  sein  erstes  Quar- 
tett dediciert  hatte,  sagte  er  voller  Begeisterung:  „C'est 
un  brevet  d'immortalite  que  j'ai  re^u". 

Peter  Iljitsch  war  sehr  stolz  und  sehr  froh,  einen  sol- 
chen Verehrer  zu  besitzen,  schätzte  ihn  aber  ausserdem 
für  seine  enorme  Belesenheit,  für  die  Originalität  seiner 
mutig  ausgesprochenen  Ansichten  und  glaubte  an  seine 
Autorität. 

Ursprünglich  hatte  „Fatum"  kein  bestimmtes  Programm. 
„Als  aber  die  Konzertzettel  gedruckt  werden  sollten", — 
erzählt  Ratschinsky,  —  „meinte  Rubinstein,  der  um  jede 
Kleinigkeit  immer  sehr  besorgt  gewesen  ist,  dass  der  blosse 
Titel  „  Fatum "  ungenügend  wäre  und  dass  es  garnichts 
schaden  könnte,  ihm  einige  den  Inhalt  des  Werkes  erläu- 
ternde Verse  hinzuzufügen.  Der  Zufall  wollte  es,  dass  ich 
(der  ich  noch  nicht  eine  Note  der  neuen  Komposition  ge- 
hört) gerade  damals  im  Vorbeigehen  Rubinstein  besuchte 
und  mir  im  Moment  das  Gedicht  Batjuschkoff's  einfiel; 
Rubinstein  bat  mich  sofort,  es  aufzuschreiben,  und  hat  es 
mit  Einwilligung  Tschaikowsky's  in's  Programm  herein- 
genommen". 

Diese  Begebenheit  teilte  Ratschinsky  später  schriftlich 
an  Laroche  mit,  welcher  das  Werk  Peter  Iljitsch's  nach 
der  ersten  Moskauer  Aufführung  einer  überaus  scharfen 
Beurteilung  unterworfen  und  in  der  sehr  langen  Kritik, 
dem  Autor  unter  Anderem  den  Vorwurf  gefiiacht,  dass  seine 
Musik  dem  gewählten  Programm  nicht  im  Geringsten  ent- 
spreche, dass  „das  Stück  viel  eher  mit  einer  Schlacht, 
einer  Empcirung  oder  einem  elementaren  Naturereigniss 
AehnHchkeit  habe,  als  mit  dem  düsteren  Monolog  eines 
enttäuschten  Greises". 

Ratschinsky  wollte  Laroche's  Urteil  mildern,  indem  er 
ihm  die  Berichtigung  zukommen  liess,  dass  die  Verse  Ba- 
tjuschkoff's nicht  ein  Programm  bedeuten  sollen,  sondern 


—  rSy  — 

nur  als  Epigraph  auf  die  Partitur  gesetzt  sind,  hat  aber 
durch  seine  Zusendung  eine  zweite  noch  ärgere  Rezen- 
sion seitens  Laroche  hervorgerufen. 

Beim  Pubhkum  hatte  „Fatum",  jedoch,  nach  den  Wor- 
ten des  Komponisten  selbst  einen  „bedeutenden"  Erfolg 
gehabt  und  Peter  Iljitsch  hielt  es  für  „das  beste  Werk, 
was  er  je  geschrieben"  und  fügte  hinzu,  das  auch  „An- 
dere derselben  Meinung  seien",  woraus  zu  ersehen  ist,  dass 
ausser  Laroche,  diese  Komposition  den  Musikern  und  den 
Freunden  Peter  Iljitsch's  gefallen  hat. 

Fast  gleichzeitig  mit  der  Moskauer  Aufführung  ist  „Fa- 
tum" auch  in  Petersburg  gespielt  worden,  und  zwar  im 
9.  Symphoniekonzert  der  Russischen  Musikalischen  Ge- 
sellschaft unter  Leitung  Balakireff's.  Hier  hatte  die  Ouver- 
türe aber  einen  vollkommenen  Misserfolg,  das  Publikum 
applaudierte  wenig  und  auch  die  Musiker  sind  unzufrieden 
geblieben. 

Nichtsdestoweniger  hat  C.  Cui  in  seiner  Besprechung 
des  ,,Fatum'"''  den  jungen  Autor  nicht  so  arg  mitgenommen, 
als  bei  einer  früheren  Gelegenheit  den  Schüler  des  Kon- 
servatoriums für  die  von  ihm  komponierte  Kantate.  In  der 
neuen  symphonischen  Fantasie  findet  er,  allerdings,  auch 
noch  vieles  Schlechte,  zum  Beispiel  gleich  im  Anfang  das 
Epigraph  („diese  h3/pochondrische  Philosophie  des  grei- 
sen Melchisedeck,  in  komisch  wirkende  Verse  Batjusch- 
koff's  gekleidet")  ferner  das  einleitende  Allegro,  „wel- 
ches nicht  von  Tragik  durchdrungen  wäre,  wie  es  eigent- 
lich sollte,  sondern  nur  eine  lächerliche  Karrikatur"  sei,  u. 
A.,  charakterisiert  die  Musik  Peter  Iljitsch's  aber  im  Allge- 
meinen als  eine  „zwar  nicht  von  hohem  Flug,  aber  immer- 
hin recht  nette,  freundliche,  hübsche — stellenweise  nur  et- 
was grob  instrumentierte",  meint  ferner,  dass  die  Harmo- 
nieen  „gewagt  und  neu  seien,  w^enn  auch  nicht  immer 
schön". 

Balakireff,  dem  das  Stück  gewidmet  ist,  hat  keinen  Ge- 
fallen am  „Fatum"  gefunden,  und  mit  ihm  ohne  Zweifel 
alle  anderen  Mitglieder  der  „Allmächtigen  Schaar". 

„Ihr  „Fatum"  ist  aufgeführt  werden",  —  schreibt  Mili 
Alexejewitsch  Balakireff  an  Peter  Iljitsch, —  „und  zwar  nicht 
schlecht,  wie  ich  glaube  annehmen  zu  dürfen,  wenigstens 
sind  Alle  mit  der  Ausführung  zufrieden  geblieben.  Beifall 
geklatscht  wurde  nur  wenig,  was  ich  dem  scheuslichen 
Höllenspektakel  des  Schlusses  zuschreibe.  Das  Stück  selbst 
gefällt  mir  nicht,  es  ist  nicht  durchdacht  genug  und  wie 


in  Eile  geschrieben.  An  vielen  Stellen  ist  sozusagen  die 
Naht,  der  heisse  Faden  zu  sehen.  Laroche  schreibt  das 
dem  Umstand  zu,  dass  Sie  zu  wenig  die  Klassiker  studie- 
ren. Meiner  Ansicht  nach  ist  das  aus  anderem  Grunde 
gekommen:  Sie  sind  mit  der  neuen  Musik  noch  zu  wenig 
vertraut.  Bei  den  Klassikern  werden  Sie  die  freie  Form 
nicht  lernen.  Sie  werden  da  Nichts  finden,  was  Ihnen  neu 
und  unbekannt  wäre.  Alles,  was  Sie  dort  finden  können, 
ist  Ihnen  schon  damals  bekannt  gewesen,  als  Sie  auf  der 
Schulbank  sassen  und  ehrfurchtsvoll  den  weisen  Trakta- 
ten Zaremba's  über  den  Zusammenhang  der  „Rondofor- 
men" mit  dem  ersten  Sündenfall  des  Menschen  zuhörten. 

In  demselben  Konzert  brachten  wir  auch  „Les  Prelu- 
des"  von  Liszt.  Betrachten  Sie  doch  diese  wundervolle 
Form,  verfolgen  Sie  mal,  wie  natürlich  sich  da  Eines  auf 
dem  Anderen  aufbaut!  Es  ist  kein  buntes  Durcheinander! 
Oder  sehen  Sie  sich  die  „Nacht  in  Madrid"  von  Glinka 
an,  wie  meisterhaft  da  die  einzelnen  Teile  der  Ouvertüre 
verbunden  sind:  dieser  innere,  organische  Zusammenhang 
ist  es  eben,  der  Ihrem  „Fatum"  fehlt.  Ich  habe  Glinka  als 
Beispiel  angeführt,  weil  Sie  ihn,  wie  mir  scheint,  viel  stu- 
dieren, und  aus  dem  „Fatum"  habe  ich  ersehen,  dass  Sie 
sich  noch  immer  unter  dem  Eindruck  eines  Chores  von 
Glinka  befinden. 

Der  Vers,  den  Sie  als  Epigraph  gewählt,  ist  unter  aller 
Kritik..  Es  ist  eine  scheusliche  par-force-Reimerei.  Wenn 
Sie  wirklich  so  am  B3Tonismus  hängen,  \varum  suchen 
Sie  nicht  bei  Lermontoff  ein  passenderes  Epigraph?  In  der 
Absicht  den  Gewaltvers  ein  wenig  zu  glätten,  habe  ich  im 
Programm  die  beiden  ersten  Zeilen  weggelassen  (Melchi- 
sedeck  kam  mir  gar  zu  lächerlich  vor),  habe  aber,  wie  es 
sich  erwies,  eine  Dummheit  begangen.  Unsere  ganze  Sipp- 
schaft ist  wütend  über  mich  hergestürzt  und  wollte  mir 
beweisen,  dass  die  Einleitung  im  „Fatum"  gerade  der  Don- 
nerworte verkündende  Melchisedeck  selber  sei.  Sie  kön- 
nen darin  Recht  haben...  Schreibe  Ihnen  ganz  offen  und 
bin  versichert,  dass  Sie  Ihre  Absicht,  „Fatum"  mir  zu  wid- 
men nicht  aufgeben  werden.  Diese  Widmung  ist  mir  sehr 
teuer,  als  Zeichen  Ihrer  Sympatie  für  mich,  und  ich  fühle 
meinerseits  eine  grosse  Neigung  zu  Ihnen". 

Peter  Iljitsch  hat  sich  durch  das  Urteil  Balakireff's 
nicht  beleidigt  gefühlt,  trotzdem  es  bitter  genug  war,  son- 
dern ist  dank  dem  freundschaftlichen  Ton  des  Briefes  und 
dem  aus  demselben  herausklingenden  Glauben  Balakireff's 


—   109  — 

an  sein  Talent  der  Freund  des  Hauptes  der  „Allmächtigen 
Schaar"  geblieben,  was  schon  aus  dem  Umstand  zu  erse- 
hen ist,  dass  er  drei  Monate  später  als  Anwalt  Mili  Ale- 
xejewitsch's  vor  der  Oeffentlichkeit  erschien.  Nicht  nur 
das:  er  hat  sich  sogar  einige  Zeit  darauf  der  Ansicht  Ba- 
lakireff's  angeschlossen  und  —  die  Partitur  des  „Fatum" 
vernichtet. 

Schon  ganz  im  Anfang  der  Saison  begann  Peter  Iljitsch 
nach  einem  passenden  Stoff  für  eine  neue  Oper  zu  suchen. 
Das  Einzige  und  Hauptsächlichste,  was  er  vom  zu  wählen- 
den Stoff  verlangte,  war,  dass  die  Handlung  nicht  in  Russ- 
land vor  sich  gehen  sollte.  Die  Unterhandlungen  mit 
Ostrowsky  in  Betreff  des  Sujets  aus  der  Zeit  Alexanders 
von  Macedonien,  welche  Peter  Iljitsch  im  Brief  vom  25. 
September  erwähnt  hatte,  sind  zu  keinem  Abschluss  ge- 
kommen .  Mit  anderen  Dichtern  in  Beziehungen  treten 
wollte  der  Komponist  nicht:  seine  Sehnsucht,  möglichst 
schnell  an  die  Arbeit  zu  gehen,  war  so  gross,  dass  er 
fürchtete,  die  Sache  könnte  sich  in  die  Länge  ziehen,  denn 
er  wusste  bereits  aus  Erfahrung,  wie  sehr  die  Librettisten 
Einen  anfzuhalten  pflegen.  Ohne  sich  weiter  nach  einem 
Dichter  umzusehen,  begann  er,  fertige  Texte  durchzulesen. 
Seine  Freude  war  gross,  als  er  unter  den  Werken  des 
Grafen  Sollogub  einen  Text  fand,  der  ganz  seinen  Anfor- 
derungen entsprach  und  dazu  noch  einer  seiner  Lieblings- 
dichtungen von  Shukowsk}^ — „Undine" — entnommen  war. 

Ohne  lange  zu  überlegen  und  die  Eigenschaften  des 
gefundenen  Libretto's  näher  zu  prüfen,  machte  er  sich 
mitten  in  der  aufregenden  Zeit  der  Proben  zum  „Woiwo- 
den"— also  im  Januar — mit  Feuereifer  an  die  Komposition 
der  neuen  Oper  und  hat  schon  Anfang  Februar  den  gröss- 
ten  Teil  des  ersten  Aufzuges  fertiggestellt,  die  „anderen 
beiden"  komponierte  er  im  April  und  begann  noch  in  dem- 
selben Monat  mit  der  Instrumentation.  Mit  dem  ersten  Auf- 
zug hoffte  er  im  Mai  fertig  zu  werden  und  mit  den  an- 
dern beiden  im  Laufe  des  Sommers,  so  dass  er  zum  No- 
vember die  ganze  Partitur  an  die  Direktion  der  Peters- 
burger Kaiserlichen  Theater  schicken  zu  können  glaubte, 
wo  Gedeonow  sie — laut  seinem  schriftlichen  Versprechen — 
zur  Aufführung  bringen  würde. 

Diese  fieberhaft  eilige  Arbeit,  die  vielen  Aufregungen 
der  Wintersaison  und  gleichzeitig  die  Sorge  um  den  älte- 
ren der  Zwillinge,  welcher  sein  Abiturium  in  der  Juristen- 
schule machte,  die  Bemühungen  und  verschiedenen  Schrei- 


—  I  90  — 

bereien  wegen  einer  für  ihn  möglichst  in  Moskau  selbst 
zu  findenen  Stellung — das  Alles  reizte  Peter  Iljitsch's  Ner- 
ven und  schädigte  seine  Gesundheit  im  höchsten  Grade, 
sodass  er  „seine  Kräfte  nach  und  nach  bis  zur  völligen 
Erschöpfung  verlor"  und  der  Arzt  ihm  Seebäder  oder  eine 
Mineralwasserkur,  hauptsächlich  aber  absolute  Ruhe  ver- 
ordnete. 

Den  Sommer  dieses  Jahres  hat  Peter  Iljitsch  in  Ka- 
menka  verbracht,  wo  sich  diesmal  die  ganze  Familie  Tschai- 
kowsky,  ausgenommen  Nikolai,  vereinigte,  hn  Juni  wurde 
dort  die  Vermählung  H\^polit's  mit  der  Jungfrau  Sophie 
Nikonowa  gefeiert,  und  an  diesem  Tage  ein  glänzendes 
Feuerwerk  eigener  Zubereitung  abgebrannt.  In  seinen  Musse- 
stunden  half  Peter  Iljitsch  gern  bei  den  Vorbereitungen  zu 
diesem  Fest,  mischte  das  Pulver  mit  den  notwendigen  an- 
deren Ingredienzien,  füllte  die  Hülsen,  klebte  die  Laternen 
für  die  Illumination  zusammen  u.  A.  Ueberhaupt  leuchtete 
in  ihm  trotz  der  29  Jahre  eine  kindlich  fröhliche  und  naiv 
lustige  Stimmung.  In  der  Gesellschaft  seiner  19-jährigen 
Brüder  und  anderer  jungen  Leute  konnte  man  ihn  manch- 
mal für  den  Jüngsten  halten.  Wie  als  Kind  in  Alapajew 
setzte  er  fort,  allemöglichen  Spiele  und  Belustigungen  zu 
erfinden.  So  hat  er  z.  B.  den  eigenartigen  Sport  ersonnen, 
über  Graben  zu  springen,  was  der  ganzen  Gesellschaft 
Kamenkas  so  gefiel,  dass  Alle  —  selbst  der  vierzigjährige 
Besitzer  Nikolai  Wassilje witsch — eifrigst  daran  teilnahmen. 
Desgleichen  hat  er  bei  Spaziergängen  im  Wald  das  Zu- 
sammentragen und  Anzünden  von  Scheiterhaufen  einge- 
führt, und  ein  Jeder  gab  sich  seither  die  erdenklichste 
Mühe,  den  grössten  und  effektvollsten  Scheiterhaufen  zu 
bewerkstelligen.  Peter  Iljitsch's  Freude  über  einen  gelun- 
genen Sprung,  oder  über  einen  grossartig  brennenden  Holz- 
scheit war  so  gross,  dass  sein  Antlitz  strahlte,  die  Augen 
leuchteten  und  ihn  das  zum  Mindesten  ebenso  zu  interes- 
sieren schien,  wie  der  Erfolg  eines  seiner  musikalischen 
Erzeugnisse. 

Ende  Juli  war  die  Partitur  der  „Undine^''  fertig,  und 
Peter  Iljitsch  reiste  früher  als  sonst— schon  Anfang  August— 
nach  Moskau. 


Die  chronologische  Reihenfolge  der  Arbeiten  Peter  Il- 
jitsch's während  der  Saison  1868 — 1869  ist  folgende. 

I.  Op.  77.  S34nphonische  Dichtung  „Fatum^S  Begonnen 
zwischen  IG. — 25.  September  1868.  Der  Entwurf  war  vor 


—  191  - 

dem  21.  Oktober  fertig.  Instrumentiert  im  Laufe  des  No- 
vember und  Dezember.  Zum  ersten  Mal  aufgeführt  in  Mos- 
kau im  achten  Symphoniekonzert  der  Russischen  Musika- 
lischen Gesellschaft  am  25.  Februar  1869  unter  Leitung 
N.  Rubinstein's.  Gewidmet  an  Mili  Alexejewitsch  Balaki- 
reff.  In  den  siebziger  Jahren  hat  Peter  Iljitsch  die  Parti- 
tur vernichtet,  die  Orchesterstimmen  sind  jedoch  erhalten 
geblieben.  Nach  Diesen  ist  die  Partitur  1896  wiederherge- 
stellt und  von  Belajeff  in  Leipzig  herausgegeben  worden. 

2.  Op.  4.  „Valse-Caprice'"''  für  Klavier.  Komponiert  im 
Oktober  1868.  Anton  Door  gewidmet.  Verlag  P.  Jurgenson. 

3.  Op.  5.  „Romanze"  für  Klavier.  Komponiert  im  No- 
vember 1868.  Desire  Artot  gewidmet.  Verlag  P.  Jurgenson. 

4)  Vierhändiges  Klavierarrangement  von  25  russischen 
Volksliedern,  welches  wahrscheinlich  im  Laufe  der  Herbst- 
monate 1868  gemacht  worden  ist.  Ende  November  war  es 
bereits  im  Druck. 

5)  Recitative  und  Chöre  zur  Oper  „Der  schwarze  Do- 
mino" von  Auber.  Wann  Peter  Iljitsch  sie  begonnen  und 
wann  er  sie  beendet  hatte  ist  unbestimmt;  am  21.  Okto- 
ber hatte  er  sie  gerade  in  Arbeit.  Diese  Handschrift  ist 
spurlos  verschwunden.  Sie  ist  weder  in  der  Moskauer  noch 
in  der  Petersburger  Theaterbibliothek  zu  finden. 

6)  Die  Oper  „Undine".  Begonnen  im  Januar  1869.  Im     « 
April  waren  die  Entwürfe  schon  fertig  und  Peter  Iljitsch 
begann  mit  der  Instrumentation,   welche  er  im  Juli  been- 
dete. Der  Text  dieser  Oper  (drei  Akte)  stammt  vom  Gra- 
fen Sollogub. 

Die  Oper  beginnt  mit  dem  Chor  der  Fischer,  welche 
in  der  Hütte  des  alten  Goldmann  und  dessen  Frau,  Berta, 
mit  Netzen  und  anderem  Fischerwerkzeug  hantieren  und 
dabei  singen.  Die  alten  Eheleute  sind  um  ihr  Pflegekind 
Undine  besorgt,  welche  weggegangen  und  noch  nicht  wie- 
der heimgekehrt  ist.  Der  Chor  geht  ab,  während  die  Alten 
ihr  Gespräch  fortsetzen.  Da  klopft  es  an  die  Thür.  Doch 
ist  es  nicht  Undine,  sondern  ein  Ritter — Gulbrand — wel- 
cher um  ein  Nachtlager  bittet.  Er  erzählt,  dass  er  sich  in 
einem  furchtbaren  Walde  verirrt  und  dass  ihn  „ein  Engel 
von  wunderbarer  Schönheit"  gerettet  habe.  Dieser  Engel 
ist — Undine.  Der  Ritter  liebt  sie  und  singt  in  einem  Arioso, 
dass  seine  Seele  „ewig,  ewig  ihr  gehören  werde".  Die  Un- 
terhaltung zwischen  dem  Alten,  seiner  Frau  und  dem  Rit- 
ter wird  durch  das  Erscheinen  Undine's  unterbrochen.  Der 
Ritter  macht  ihr  ohne  Weiteres  eine  Liebeserklärung.  Undi- 


—  1  92  — 

ne  kokketiert  mit  ilim  und  verschwindet  „in  der  Seiten- 
koulisse"!  Goldmann  offenbart,  wie  er  zu  Undine  gekom- 
men ist  und  geht  dann  mit  seiner  Frau  ab.  Der  Ritter 
bleibt  allein.  In  seinem  Monolog  thut  er  kund,  dass  „die 
Schönheit  Bertalden's  ihn  nicht  mehr  entzücke",  und  dass 
sein  „Herz  sich  nach  Undine  sehne".  Er  schlummert  ein, 
doch  plötzlich  erscheint  Undine.  Grosses  Liebesduett.  Sie 
beschhessen,  sich  zu  heiraten  und  die  Hütte  zu  verlassen, 
rufen  den  Alten  und  verkünden  ihm  ihren  Entschluss.  Da 
beginnt  ein  Sturm.  Der  Ritter  und  Undine  „umarmen  in 
aller  Eile  die  Alten"  und  entlaufen,  während  dessen  merk- 
würdigerweise „die  Hälfte  der  Hütte"  einstürzt.  „In  den 
Trümmern  sieht  man  den  Ritter,  welcher,  Undine  auf  den 
Schultern  tragend,  gegen  einen  Wasserfall  ankämpft". 

Der  zweite  Aufzug  spielt  auf  dem  „Platz  vor  dem  Hause 
des  Herzogs " .  Der  Herzog ,  Vater  der  Bertalde ,  dür- 
stet nach  Rache,  „schneller  Rache,  sicherer  Rache  und 
schrecklicher  Rache"  für  die  Ehe  Gulbrand's  mit  Undine. 
Er  spricht  das  seinem  Busenfreund  Alwaldo  aus  und  geht 
durch  die  „Seitenthür"  ab  (sie!),  desgleichen  die  Gäste, 
welche  zu  Bertaldens  Geburtstagsfeier  gekommen  sind.  Es 
erscheint  Undine,  „prachtvoll  gekleidet",  mit  einem  Fischer 
und  redet  auf  ihn  ein,  noch  länger  ihr  Gast  zu  bleiben, 
wofür  sie  ihm  „ein  würdiges  Geschenk"  verspricht.  Sie 
gehen  wieder  ab  und  Bertalde  kommt  „traurig  und  nach- 
denklich". In  ihrer  Arie  besingt  sie  ihre  Liebe  zu  Gul- 
brand  und  ist  auf  Undine  eifersüchtig.  Da  kommt  Gulbrand. 
Er  liebt  Undine  nicht  mehr  und  ist  bereits  wieder  in  Ber- 
talde verliebt.  Liebesduett.  Im  Moment,  als  er  vor  ihr  auf 
die  Kniee  sinkt,  kommt  Undine.  Im  Terzett  setzt  Gulbrand 
fort,  Bertalde  gegenüber  seine  Liebe  zu  beteuern,  während 
Undine  die  Worte  „möchte  glauben,  möchte  lieben"  singt. 
Es  beginnt  ein  festlicher  Aufzug  der  Gäste,  der  „Leibwache 
und  der  Handwerkerzechen".  Alle  verherrlichen  Bertalde. 
Dann  wird  getanzt  und  geschmaust.  Undine  singt  eine 
Ballade,  aus  welcher  hervorgeht,  dass  Bertalde  die  Toch- 
ter Goldmanns  und  Bertas  ist.  Grosse  Verwirrung.  Der 
Ritter  verjagt  Undine  in  die  „Gottverfluchte  Gegend,  die 
ihr  Heim".  Voller  Verzweiflung  stürzt  sich  Undine  in  die 
Donau.  Der  Chor  singt  „des  Schicksals  Vorschrift  hat  sich 
erfüllt,  Undine  fand  den  Tod  in  den  Wellen".  Goldmann 
führt  seine  Frau  ab,  indem  er  „mit  Verachtung"  auf  Ber- 
talde zeigt.  Der  Ritter  will  Undine  retten,  doch  hält  man 
ihn  zurück.   Der  Herzog  „steht  fassungslos  da". 


—    IQQ    — 


93 

Die  •  Dekoration  des  dritten  Aktes  „stellt  einen  Weg 
dar.  In  der  Ferne  links  sieht  man  einen  Tempel.  Im  Hin- 
tergrund— Berge  und  eine  Landschaft".  Der  Ritter  ist  wie- 
der in  Undine  verliebt  und  beweint  sie.  Arie.  „Aus  der 
rechten  Thür  (sie!)  kommt  ein  Hochzeitszug  und  Bertalde, 
von  Frauen  umgeben".  Sie  ruft  Gulbrand  zum  Tempel, 
wo  schon  Alles  für  die  Hochzeit  fertig  ist.  Gulbrand  folgt 
ihr  mit  Widerstreben,  bis  der  Herzog  erscheint,  welcher 
„nicht  mehr  von  Rache  entbrannt  ist",  und  erzählt,  dass 
ihn  nachts  der  Geist  Undinens  verfolgt  und  ihn  anfleht, 
die  Heirat  Guibrands  mit  Bertalde  zu  vereiteln.  Ersterer 
schwankt,  die  Braut  aber  besteht  darauf,  und  der  Zug  be- 
wegt sich  zum  Tempel  „mit  langsam  gesenktem  Haupt", 
doch  wird  er  zum  zweiten  Mal  aufgehalten,  und  zwar  durch 
Goldmann,  welcher  dasselbe  erzählt,  wie  der  Herzog.  Er, 
als  Vater,  verbietet  Bertalde  die^  Heirat.  Grosses  Ensemble. 
Bertalde  besteht  aber  auch  diesmal  auf  ihrem  Willen  und 
führt  Gulbrand  zum  Altar.  Alle,  mit  Ausnahme  Goldmanns 
und  des  Herzogs,  setzen  im  „Trauermarsch"  ihren  Gang 
fort.  Die  beiden  Greise  erfahren  gleich  darauf  von  Alwaldo, 
dass  unterwegs  Undine  einem  Brunnen  entstiegen  sei  und 
den  bräutlichen  Zug  aufgelöst  habe.  .„Es  beginnt  eine  Ver- 
wirrung und  Lauferei  auf  der  Bühne".  „Ausser  sich  kommt 
Gulbrand  hereingestürzt"  und  hinter  ihm  her  Undine.  Lie- 
besduett, nach  welchem  Gulbrand  tot  am  „Rosenstrauch" 
niedersinkt.  Undine  weint  über  ihm  und  —  „verschwindet 
nach  ihrer  Arie  im  Gebüsch;  anstatt  ihrer  plätschert  ein 
Springbrunnen.  Auf  der  Bühne  ist  es  Nacht  und  Mon- 
denschein''''.  Schlusschor. 

Das  ist  das  Libretto,  für  welches  sich  Peter  Iljitsch  so 
begeistert  hat.  Es  enthält  unzweifelhaft  mehr  interessanter 
und  für  eine  musikalische  Illustration  dankbarer  Scenen, 
als  der  „Woiwode",  hat  auch  mehr  Handlung,  ist  aber 
dafür  so  ungeschickt  gemacht,  leidet  so  sehr  an  dem  Man- 
gel an  Logik  in  Bezug  auf  die  Handlungsweise  der  vor- 
kommenden Personen,  dass  es  oft  geradezu  wie  eine  Pa- 
rodie klingt  und  in  künstlerischer  Hinsicht  ungleich  tiefer 
steht,  als  das  zwar  trockene,  uninteressante,  aber  wenig- 
stens in  guten  Versen  geschriebene  Libretto  des  „Woiwo- 
den".  Es  ist  mir  geradezu  unerfindhch,  wie  Peter  Iljitsch 
jenen  Text  ernst  nehmen  und  eine  Musik  dazu  schreiben 
konnte,  w^elche  -nach  den  erhaltenen  Bruchstücken  zu 
urteilen — durchaus  lebensfähig  gewesen  sein  muss. 

Die  Partitur  der  „Undine"  hat  der  Autor  selbst  im  Jahre 

Tsehaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  ^•' 


—  194  — 

1873  verbrannt.  Das  Einzige,  was  von  dieser  Musik  auf 
uns  überkommen,  ist  die  Arie  der  Undine  „Der  Quell  ist 
mein  Bruder",  welche  später  in  „Snjegurotschka"  (Schnee- 
wittchen) Verwendung  gefunden  hat,  und  der  Hochzeits- 
marsch des  letzten  Aktes,  welcher  vom  Komponisten  in 
das  Andantino  marciale  der  zweiten  S3'mphonie  (C-moll) 
umgearbeitet  worden  ist.  Ausserdem  erwähnt  Kaschkin 
noch  ein  Adagio  aus  dem  Ballet  „Der  Schwanensee",  wel- 
ches ursprünglich  das  Liebesduett  zwischen  Gulbrand  und 
Undine  gewesen  sein  soll. 

Einige  Teile  dieser  Oper  sind  im  Konzert  des  Theater- 
Kapellmeisters  Merten  am  16.  März  1870  zur  Aufführung 
gekommen.  Laroche  schreibt  darüber,  „hn  Konzert  selbst 
konnte  ich,  leider,  nicht  zugegen  sein,  habe  aber  die  Frag- 
mente der  „Undine"  in  den  Proben  kennen  gelernt  und 
in  ihnen  nicht  nur  jene  sorgfältige  und  elegante  Instru- 
mentation wiedergefunden,  durch  welche  sich  stets  die 
Werke  unseres  begabten  Mitbürgers  auszeichnen,  sondern 
stellenweise  auch  eine  sehr  gelungene  Charakteristik  des 
phantastischen  Wasserreiches;  andere  Stellen  wieder,  ka- 
men mir  etwas  klobig  und  gesucht  vor,  z.  B.  das  grosse 
Finale,  hn  Allgemeinen,  aber,  verdient  die  neue  Partitur 
Tschaikowsk^-'s  volle  Beachtung". 


VI. 

1869 — 1870. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„3.  August  1869. 

...Die  Reise  von  Kiew  bis  Moskau  war  sehr  langweilig, 
ich  empfand  grosse  Unbequemlichkeiten — trotzdem  ich  in 
der  I.  Klasse  sass — und  schhef  sehr  schlecht.  Die  Ankunft 
in  Moskau  bereitete  mir  grosse  Freude,  die  Gewohnheit 
hat  es  mit  sich  gebracht,  dass  ich  mich  in  Moskau  ganz 
heimisch  fühle.  Rubinstein  ist  noch  nicht  da.  Er  ist  in  Li- 
pezk.  Dafür  lebt  hier  aber  jetzt  Balakireff,  und  ich  muss 
gestehen,  dass  mir  seine  Anwesenheit  etwas  unbehaglich 
ist:  er  nötigt  mich,  den  ganzen  Tag  mit  ihm  zu  sein,  das 
ist  aber  sehr  langweilig.  Er  ist  zwar  ein  sehr  guter  Mensch 


—  195  — 

und  sehr  für  mich  eingenommen,  aber  —  ich  weiss  nicht 
warum  —  ich  kann  mich  nicht  recht  mit  ihm  befreunden. 
Es  gefällt  mir  in  ihm  nicht  sonderlich  die  Ausschliesslich- 
keit seiner  musikalischen  Ansichten  und  sein  schroffer  Ton. 
Vorgestern  bin  ich  mit  ihm  bei  Pleschtschejeff  gewesen 
und  wir  blieben  dort  über  Nacht;  gestern  Abend  fuhr  ich 
von  da  direkt  zu  W.  Schilowsky;  habe  mich  unterwegs 
stark  erkältet  und  sitze  bei  ihm  als  Kranker,  obgleich  es 
mir  augenblicklich,  gegen  Abend,  schon  etwas  besser  geht. 

In  Petersburg  bin  ich  noch  nicht  gewesen  und  werde 
auch  schwerHch  hinreisen. 

Alle  behaupten,  dass  es  keinen  Zweck  habe,  unnütz 
Geld  auszugeben,  da  ich  die  Oper  ja  hinschicken  kann; 
Balakireff  will  sie  gern  mitnehmen  und  der  Direktion 
zustellen. 

Im  Allgemeinen  langweile  ich  mich   vorläufig  sehr". 

An  A.  Tschaikowsk}^: 

„II.  August.  1869. 

....Wir  haben  eine  neue  Wohnung  gemietet;  ich  habe 
mein  Zimmer  oben,  auch  für  Dich  ist  Platz.  Ich  habe  all' 
meine  List  aufgeboten,  um  allein  zu  wohnen,  doch  ist  es 
mir  nicht  gelungen.  Uebrigens  werde  ich  jetzt  zahlen  und 
werde  mir  einen  besonderen  Diener  halten....  Die  Oper 
hat  Begitscheff  nach  Petersburg  mitgenommen.  Ob  man 
sie  geben  wird,  oder  nicht,  sie  ist  für  mich  abgethan  und 
ich  will  eine  neue  Arbeit  beginnen.  Balakireff  ist  noch 
hier.  Wir  sind  oft  zusammen  und  ich  komme  immer  zu 
der  Ueberzeugung,  dass — ungeachtet  seiner  Vorzüge — seine 
Gesellschaft  wie  ein  schwerer  Stein  auf  mir  liegen  würde, 
sollte  er  in  derselben  Stadt  mit  mir  leben.  Besonders  unan- 
genehm ist  mir  die  Beschränktheit  seiner  Ansichten  und 
der  Trotz,  mit  welchem  er  sie  vertritt.  Uebrigens  hat  seine 
Anwesenheit  mir  in  mancher  Beziehung  genützt". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„18.  August. 

Neues  habe  ich  Dir  Nichts  zu  berichten.  Balakireff  reist 
Heute  ab.  Ob  er  mir  auch  lästig  gewesen,  die  Gerechtig- 
keit erheischt  aber,  dass  ich  ihn  als  einen  ehrlichen  und 
guten  Menschen  ansehe,  welcher  dazu  als  Künstler  uner- 
messlich  höher  steht  als  die  Allgemeinheit.  Wir  haben 
soeben  rührend  Abschied  von  einander  genommen.... 

Neulich  veranstaltete  ich  einen  Abend  bei  mir.  Es  w^a- 


—   Igo- 
ren   anwesend:   Balakireff,   Borodin,  Kaschkin,    Klimenko, 
Arnold  und  Pleschtschejeff. 

Ich  traf  Laroche  in  der  Ermitage  und  habe  ihn  sogar 
gegrüsst,  doch  bin  ich  weit  davon  entfernt,  mich  mit  ihm 
zu  versöhnen''''. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„IQ.  September. 

Stelle  Dir  vor:  ich  bin  ganz  unerwarteterweise  in  Pe- 
tersburg gewesen.  Schilowsk}^  hatte  mich  nämlich,  so  him- 
melhoch gebeten,  ihn  zu  begleiten,  dass  ich  es  nicht  ab- 
schlagen konnte.  Ich  wünschte  ganz  inkognito  zu  sein,  da 
ich  nur  zwei  Tage  bleiben  wollte,  das  Schicksal  hat  es 
aber  anders  gefügt.  Man  hat  mich  auf  dem  Newsk}^  \)  ge- 
sehen und  bald  wussten  es  Alle,  dass  ich  in  Petersburg 
sei.  Trotzdem  habe  ich  Niemanden  besucht,  ausser  Bala- 
kireff,  Apuchtin  und  Adamoff. 

Im  Konservatorium  hat  der  Unterricht  begonnen,  und 
damit  haben  auch  meine  Leiden  wieder  ihren  Anfang  ge- 
nommen. Ich  wohne  bei  Rubinstein  ungleich  gemütlicher, 
als  früher,  so  dass  ich  immer  mit  einem  Wohlgefühl  in 
mein  Zimmer  trete. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„25.  September. 

Habe  in  der  letzten  Zeit  fleissig  gearbeitet.  Beeilte 
mich  die  25  vierhändigen  russischen  Lieder  zu  Ende  zu 
bringen,  in  der  Hoffnung  von  Jurgenson  Geld  zu  bekom- 
men. Es  hat  sich  aber  erwiesen,  dass  ich  schon  im  vorigen 
Jahr  mehr  denn  50  Rubel  Vorschuss  von  ihm  erhalten  hatte  "'S 

Bald  nach  diesem  Brief  hat  Peter  Iljitsch  die  Kompo- 
sition der  Ouvertüre  „Romeo  und  Julie''',  für  welche  er 
noch  im  August  von  ßalakireff  angeregt  worden  war,  in 
Angriff  genommen.  Die  Mitwirkung  Balakireffs  in  der  Schöp- 
fung dieses  Werkes  war  überhaupt  so  bedeutend,  dass 
wir  sie  des  Näheren  besprechen  müssen. 

Mili  Alexejewitsch  hat  im  Verlauf  der  Arbeit  Peter  II- 
jitsch's  das  lebendigste  Interesse  für  dieselbe  geäussert, 
den  Komponisten  jeden  Augenblick  mit  den  verschieden- 
sten Ratschlägen  versehen  und  ihn  unablässig  angespornt. 
Am  4.  Oktober  schrieb  er  ihm:  y,Es  scheint  mir,  dass  Ihre 
Thatenlosigkeit  davon  herrührt,   dass  Sie  sich  zu    wenig 


1)  Xewskj'-Perspcktive  ist  die  Haujitstrasse  l'ctersburgs. 


—  i97  - 

konzentrieren,  ungeachtet  Ihrer  „gemüthchen  Bude^S  Ich 
weiss  nicht,  wie  Sie  zu  komponieren  pflegen;  ich  folgen- 
dermassen,  —  werde  Ihnen  gleich  ein  für  Sie  passendes 
Beispiel  geben  und  Ihnen  erzählen,  wie  ich  meinen  ^Lear'•^ 
komponierte.  Nachdem  ich  das  Drama  durchgelesen,  ent- 
flammte in  mir  der  Wunsch,  eine  Ouvertüre  zu  schreiben 
(wozu  mich  übrigens  Stassow  angeregt  hat)  und  —  da  ich 
noch  kein  Material  hatte,  entflammte  ich  mich  nur  für  das 
Project,  —  und  plante.  Eine  —  Maestoso-Introduktion  und 
dann  Etwas  Mystisches  (die  Prophezeihung  Kent's).  Die 
Introduktion  beruhigt  sich  und  es  beginnt  ein  stürmisches 
Allegro.  Das  ist  Lear  selbst,  der  entthronte,  aber  noch 
starke  Leu.  Als  Episoden  sollten  die  Gestalten  der  Regan 
und  der  Goneril  erscheinen,  und  dann — das  zweite  Thema — 
Cordelia,  die  stille  und  zärtliche.  Weiter,  der  Mittelsatz 
(Sturm,  Lear  und  der  Narr  in  der  Wüste)  und  dann  die 
Wiederholung  des  Allegro:  Regan  und  Goneril  überwäl- 
tigen den  Vater  endgiltig  und  die  Ouvertüre  klingt  in 
einem  morendo  aus  (Lear  über  der  Leiche  Cordelia's), 
dann  die  Wiederholung  der  Prophezeihung  Kent's  und 
der  langsame,  feierliche  Tod.  Sie  müssen  wissen,  dass  ich 
dabei  noch  garkeine  bestimmten  Ideen  hatte.  Diese  kamen 
erst  später  und  begannen,  sich  der  vorgezeichneten  Form 
anzupassen.  Ich  glaube,  dass  Das  Alles  auch  bei  Ihnen 
eintreten  wnrd,  wenn  Sie  sich  im  Voraus  für  den  Plan 
begeistern.  Dann  bewaffnen  Sie  sich  mit  Gummischuhen 
und  einem  Spazierstock  und  unternehmen  Sie  einen  Spa- 
ziergang durch  die  Boulevards,  beginnen  Sie  mit  dem  Ni- 
kitsk}',  lassen  Sie  sich  von  dem  Plan  ganz  durchdringen, 
und — ich  bin  überzeugt  dass  Sie  schon  auf  dem  Sretensky 
Boulevard  irgend  ein  Thema  oder  eine  Episode  gefunden 
haben  werden.  In  diesem  Augenblick  da  ich  an  Sie  und 
an  die  Ouvertüre  denke,  werde  ich  selbst  unwillkürlich 
angeregt  und  ich  male  mir  aus,  dass  die  Ouvertüre  gleich 
mit  einem  wütenden  „Allegro  mit  Säbelhieben"  beginnen 
müsste,  etwa  so: 


$ЗЩЩ^ 


Ш^Р^^Щ 


—    IqS   — 

In  dieser  Art,  ungefähr,  würde  ich  den  Anfang  machen. 
Wenn  ich  die  Ouvertüre  komponieren  sollte,  so  würde  ich 
mich  für  diesen  Kern  begeistern  und  würde  ihn  ausbrüten, 
oder  besser  gesagt,  in  meinem  Gehirn  solange  herumtra- 
gen, bis  sich  Etwas  Lebendiges  und  Mögliches  in  dieser 
Art  daraus  entwickelt  hätte. 

Wenn  gegenwärtige  Zeilen  eine  günstige  Einwirkung 
auf  Sie  ausüben  könnten,  wäre  ich  sehr  glücklich.  Ich  habe 
einiges  Recht,  das  zu  beanspruchen,  denn  Ihre  Briefe  wir- 
ken auf  mich  stets  sehr  gut.  Infolge  Ihres  letzten  Briefes, 
zum  Beispiel,  überkam  mich  plötzlich  eine  sehr  lustige 
Stimmung,  welche  mich  auf  den  Newsky  trieb;  ich  ging 
nicht  ich  tänzelte,  und  habe  sogar  Einiges  für  meine  „Ta- 
mar"  komponiert". 

Als  Balakireff  bald  darauf  erfuhr,  dass  Peter  Iljitsch 
an  die  Arbeit  gegangen,  schrieb  er  ihm  am  12.  Novem- 
ber: „Freue  mich  ungeheuer,  dass  Ihr  zukünftiger  Spröss- 
ling  gedeiht,  dass  Ihr  Bäuchlein  wächst,  und — Gott  gebe 
eine  glückliche  Entbindung!  Es  interessiert  mich  riesig  zu 
erfahren,  w^e  und  Was  Sie  in  die  Ouvertüre  hereinzuneh- 
men gedenken,  und  ich  flehe  Sie  an,  mir  Ihre  bereits  zu 
Papier  gebrachten  Entwürfe  zuzusenden,  wobei  ich  Ihnen 
das  Versprechen  gebe,  solange  kein  Wort — weder  Gutes 
noch  Schlechtes  —  darüber  zu  sagen,  bis  die  Sache  ganz 
fertig  sein  wird". 

Nachdem,  jedoch,  Peter  Iljitsch  dem  Wunsche  Mili 
Alexejewitsch  entsprochen  und  ihm  die  Hauptmotive  sei- 
ner Komposition  übersandt  hatte,  erhielt  er  von  Balakireff 
folgende  Kritik,  der  zufolge  die  Ouvertüre  einer  kleinen 
Umgestaltung  unterworfen  wurde. 

„ Der  Empfang  der  Skizzen  Ihrer  neuen  Ouvertüre 

hat  mich  immens  gefreut!  Da  sie  schon  fertig  ist  und  so- 
gar einer  Aufführung  entgegensieht,  so  will  ich  Ihnen  offen 
(dieses  Wort  ist  nicht  im  Sinne  Zaremba's  zu  verstehen) 
meine  Meinung  darüber  sagen.  Das  erste  Thema  gefällt 
mir  garnicht.  Vielleicht  kommt  es  in  der  Durchführung 
zur  Geltung, — weiss  es  nicht, — in  so  nacktem  Zustand,  je- 
doch, wie  es  vor  mir  liegt,  hat  es  weder  Kraft  noch  Schön- 
heit, und  zeichnet  nicht  einmal  genügend  den  Charakter 
des  Pater  Lorenzo.  Hier  würde  Etwas  in  der  Art  der  Cho- 
räle von  Liszt  am  Platze  sein  („Der  Nächtliche  Zug"  Fis- 
dur,  „Hunnenschlacht"  und  „Die  heilige  Elisabeth")  in 
altkatholischem  Styl;  Ihr  Thema  aber  ist  von  ganz  ande- 
rem Charakter,  ist  im  Style  der  Quartette  von  Haydn,  des 


—  199  — 

Genie's  der  spiessbürgerlichen  Musik,  welche  einen  star- 
ken Durst  nach  Bier  erweckt.  Da  ist  Nichts  Antikes,  Nichts 
Kathohsches,  sondern  viel  eher  der  Typus  des  Gogol'schen 
„Kamrad  Kunz",  welcher  sich  die  Nase  abschneiden  wollte, 
um  kein  Geld  für  Schnupftabak  ausgeben  zu  müssen.  Aber 
es  ist  möglich,  dass  Ihr  Thema  in  der  Durchführung  ganz 
anders  wirkt, — dann  will  ich  meine  Worte  zurücknehmen. 

Was  das  H-moll — Thema  anbelangt,  so  muss  ich  geste- 
hen, dass  es  eher  eine  sehr  schöne  Einleitung  für  ein  Thema 
abgeben  würde.  Nach  der  Lauferei  in  C-dur  müsste  eigent- 
lich Etwas  sehr  Kraftvolles,  Energisches  kommen.  Ich  nehme 
an,  dass  es  auch  in  der  That  so  ist,  und  dass  Sie  nur  zu 
faul  waren,  mir  die  Fortsetzung  auszuschreiben. 

Das  erste  Des-dur  ist  sehr  schön,  nur  ein  wenig  welk, 
das  zweite  Des-dur  einfach  wundervoll.  Ich  spiele  es  sehr 
oft  und  möchte  Sie  dafür  abküssen.  Da  ist  Liebesglut  und 
Wollust  und  Sehnsucht,  kurz.  Vieles,  was  dem  verunsitt- 
lichten  Deutschen  Albrecht  so  recht  nach  Geschmack  wäre. 
Nur  Eines  habe  ich  an  diesem  Thema  auszusetzen;  es  ist 
zu  wenig  innere,  seelische  Liebe  darin,  sondern  mehr  phan- 
tastische, leidenschaftliche  Glut,  mit  nur  geringer  italieni- 
scher Schattierung.  Romeo  und  Julie  waren  doch  keine 
persischen  Liebesleute,  sondern  Europäer.  Weiss  nicht,  ob 
Sie  verstehen,  was  ich  sagen  will  —  ich  empfinde  immer 
einen  grossen  Mangel  an  Ausdrücken,  wenn  ich  mich  auf 
musikalische  Traktate  einlasse,  und  muss  immer  zu  erläu- 
ternden Beispielen  meine  Zuflucht  nehmen:  ein  Thema,  in 
welchem  die  innere  Liebe  gut  zum  Ausdruck  gekommen, 
ist  (meiner  Ansicht  nach),  beispielsweise,  die  As-dur — Ouver- 
türe zur  „Braut  von  Messina"  von  Schumann.  Dieses  Thema 
hat,  allerdings,  auch  seine  Schwächen,  es  ist  krankhaft  und 
wird  zum  Schluss  etwas  sentimental,  die  Grundstimmung 
ist  aber  sehr  gut  getroffen. 

Erwarte  mit  Ungeduld  die  ganze  Partitur,  um  einen 
richtigen  Begriff  von  Ihrer  talentvollen  Ouvertüre  zu  be- 
kommen, w^elche  Ihr  bestes  Werk  ist  und  dessen  Widmung 
mir — mich  ausserordentlich  freut.  Das  ist  das  erste  Stück 
Ihrer  Komposition,  welches  in  der  Summe  seiner  Schön- 
heiten derart  anziehend  wirkt,  dass  man  es  ohne  Beden- 
ken für  gut  anerkennen  kann.  Es  ist  mit  dem  alten  besof- 
fenen Melchisedeck,  welcher  vor  lauter  Unglück  auf  dem 
Arbatsky-Platz  ^)    einen    scheusslichen   Trepak  -)   loslässt, 


1)  Ein  Platz  in  Moskau. 

-)  Trepak,  ein  russischer  Nationaltanz. 


—  2  OO    — 

garnicht  zu  vergleichen.  Senden  Sie  mir  möglichst  bald 
die  Partitur.  Ich  lechze  danach,  sie  kennen  zu  lernen".  • 

Aber  auch  in  etwas  veränderter  Gestalt,  hat  die  Ouver- 
türe Balakireff  nicht  ganz  befriedigt.  Er  schreibt  am  22. 
Januar  1871:  „Mit  der  Introduktion  bin  ich  sehr  zufrieden, 
der  Schluss,  jedoch,  gefällt  mir  garnicht.  Es  ist  unmöghch, 
ausführlich  darüber  zu  schreiben.  Am  besten  wäre  es,  wenn 
Sie  hierherkämen,  dann  liesse  sich  Alles  mündlich  bespre- 
chen. Im  Mittelsatz  haben  Sie  Etwas  Neues  gemacht,  und 
gut  gemacht,  namentlich  die  einander  abwechselnden  Ak- 
korde auf  dem  Orgelpunkt  oben,  ein  wenig  „ä  la  Ruslan". 
Am  Ende  ist  viel  Schablone,  der  ganze  Teil  nach  Schluss 
des  zweiten  Thema's  (D-dur),  ist  —  wie  mit  Gewalt  aus 
dem  Kopf  herausgewunden.  Der  eigentliche  Schluss  selbst 
ist  nicht  schlecht,  avozu  aber  diese  Schläge  der  allerletzten 
Takte?  Das  widerspricht  dem  Inhalt  des  Drama's  und  ist 
auch  unfein.  Nadeshda  Nikolajewna  ^)  hat  diese  Akkorde 
mit  ihren  reizenden  Händchen  durchstrichen  und  will  im 
Arrangement  mit  einem  „pianissimo"  schhessen.  Ich  weiss 
nicht,  ob  Sie  damit  einverstanden  sein  werden". 

Nachdem  auch  dieser  willkürlichen  Handlung  das  Ein- 
verständniss  des  Autors  gefolgt  war,  schrieb  der  unermüd- 
hche  Kritiker  dennoch:  „Schade,  dass  Sie,  oder  richtiger 
Rubinstein,  sich  mit  der  Veröffentlichung  der  Ouvertüre 
so  beeilt  haben.  Obgleich  die  neue  Introduktion  viel  schö- 
ner ist,  so  hatte  ich  doch  einen  unwiderstehlichen  Wunsch, 
noch  Einiges  an  der  Ouvertüre  zu  ändern  und  sie  nicht 
so  schnell  abzuthun,  in  der  Hoffnung  auf  Ihre  zukünftigen 
Werke.  Ich  erwarte  übrigens,  dass  Jurgenson  es  nicht 
ablehnen  wird,  die  Partitur  der  neu  bearbeiteten  und  end- 
giltig  verbesserten  Ouvertüre  zum  zweiten  Mal  in  Stich 
zu  geben". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„7.  Oktober, 
Das  Konservatorium  beginnt  schon,  mir  widerwärtig 
zu  sein,  und  die  Stunden,  die  ich  zu  geben  habe,  begin- 
nen mich  wie  im  vorigen  Jahr  zu  ermüden.  Arbeite  jetzt 
Garnichts.  „Romeo  und  Julie"  ist  fertig.  Gestern  erhielt 
ich  eine  Bestellung  von  Bessel.  Er  bittet,  ein  Arrangement 
der  Ouvertüre  .„Johann  der  Grausame"  von  Rubinstein  zu 
machen.    Von   Balakireff  habe   einen  Scheltbrief  erhalten, 

1)  Die  Gemahlin  Kimsky-KorsakoU's.  In  der  letzten  Umarbeitung  hat  Peter  Iljitsch 
diese  Akkorde  selbst  ausgemerzt. 


2  Ol    — 

weil  Nichts  arbeite.  Ueber  meine  Oper  weiss  immer  noch 
Nichts  Bestimmtes:  man  sagt,  dass  sie  gegeben  werden 
soll,  doch  wann  —  ist  unbestimmt.  Besuche  manchmal  die 
Oper.  Die  Sängerinnen  Markisio  sind  gut,  besonders  in 
„Semiramis*'^  Wenn  ich  sie,  jedoch,  anhöre,  komme  ich 
stets  mehr  denn  je  zu  der  Ueberzeugung,  dass  Artot  die 
grösste  Künstlerin  der  Welt  ist'-'-. 


An  M.  Tschaikowsky: 


„12.  Oktober. 


„ Meine  laufenden  Arbeiten  sind:  i)  Das  Arrangement 

der  Ouvertüre  „lohann  der  Grausame"  von  Rubinstein  für 
Klavier  zu  vier  Händen,  2)  Korrektur  der  vierhändigen 
Volkslieder,  3)  Komposition  der  Ouvertüre  „Romeo  und 
Julie'*,  4)  Vorbereitung  meiner  neuen  Vorlesungen  über 
die  Formenlehre.  Sitze  ziemlich  viel  zu  Hause,  abends  je- 
doch gehe  fast  immer  aus. 

Ueber  das  Schicksal  meiner  Oper  habe  keine  Ahnung. 
Ich  fange  an  zu  glauben,  dass  man  sie  garnicht  aufführen 
wird.  Soeben  erst  habe  ich  an  Gedeonow  geschrieben  und 
ihn  gebeten,  mir  positive  Nachricht  zu  _geben,  ob  meine 
Oper  gegeben  werden  soll.  Mir  scheint  es,  dass  wenn 
ich  etwas  frecher  und  praktischer  wäre,  sie  schon  längst 
zur  Aufführung  gelangt  wäre^S 

An  A.  Tschaikowsky: 

„30.  Oktober. 

....Die  ganze  letzte  Zeit  habe  ich  sehr  viel  gearbeitet. 
Das  mir  von  Bessel  bestellte  Arrangement  habe  ich  beendet 
und  bin  mit  den  Entwürfen  der  Ouvertüre  zur  Tragödie 
„Romeo  und  Julie"  fertig.  Von  meiner  Oper  habe  ich  im- 
mer noch  Nichts  gehört  und  beginne  zu  glauben,  dass  sie 
in  diesem  Jahr  noch  nicht  drankommen  wird.  Ich  bin  aber 
nicht  unglücklich  darüber.  Ich  weiss  nicht,  weshalb  ich 
jetzt  viel  gleichgiltiger  gegenüber  meinen  künstlerischen 
Erfolgen  geworden  und  bereit  bin,  das  grösste  Missge- 
schick stoisch  zu  ertragen". 


An.  A.  Dawidowa: 


„15.  November. 


...Du  hast  geglaubt,  dass    ich    im  November    nach  Pe- 
tersburg reisen  würde;  stelle  Dir  aber  vor:   ich  weiss  bis 


—  2Э2    — 

jetzt  noch  nicht,  ob  meine  Oper  gegeben  werden  wird. 
Einem  meiner  Freunde  ist  die  Nachricht  zugekommen,  dass 
die  Chorproben  schon  begonnen  haben,  ich  selbst  habe 
aber  noch  keine  offizielle  Benachrichtigung  erhalten.  Ich 
war  mit  Arbeit  überhäuft:  beeilte  mich,  die  Ouvertüre  zu 
beenden,  welche  in  einem  der  nächsten  Konzerte  der  Mu- 
sikalischen Gesellschaft  gespielt  werden  soll,  hatte  ausser- 
dem verschiedene  Bestellungen  zu  erledigen,  sodass  meine 
Nerven  wieder  sehr  überspannt  sind,  und  ich  beabsichtige, 
mich  eine  Zeitlang  zu  erholen,  d.  h.  Garnichts  zu  thun, 
ausser  dem  Unterrichtgeben". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„i8.  November. 

„...Gestern  erhielt  ich  aus  Petersburg  eine  sehr  traurige 
Nachricht.  Meine  Oper  ist  bis  zur  nächsten  Saison  aufge- 
schoben, da  es  an  Zeit  mangelt,  zwei  Opern  einzustudie- 
ren, die  schon  vor  der  meinigen  auf  dem  Repertoir  standen: 
„Halka"  und  die  „Kroatin".  \)  Ich  werde  daher  wohl  kaum 
nach  Petersburg  kommen.  Die  Nachricht  von  dem  Aufschub 
meiner  Oper  ist  mir  namentlich  in  finanzieller  Hinsicht 
unangenehm.  In  moralischer  Beziehung  dürfte  sie  aber  auch 
schlecht  auf  mich  wirken,  d.  h.  ich  werde  wohl  zwei  bis 
drei  Wochen  arbeitsunfähig  sein.  In  diesem  Augenblick, 
wenigstens,  kann  ich  nicht  ohne  Widerwillen  an's  Kompo- 
nieren denken..." 


An  A.  Tschaikowsky 


(Anfang  December.) 


„Meine  Thatenlosigkeit,  von  welcher  ich  Dir  erzählt, 
hat  nicht  lange  angehalten.  Im  Laufe  der  vorigen  Woche 
habe  ich  6  Romanzen  fabriziert,  die  herauszugeben  ge- 
denke". 

An  M.  Tschaikow^sky: 

„13.  Januar  1870. 

...Balakireff  und  Rimsk\'-Korsakoff  sind  hier  gewesen. 
Selbstverständlich  waren  wir  täglich  zusammen.  Balakireff 
beginnt,  mich  immer  mehr    und    mehr  zu  verehren.    Kor- 

i)  „Halka"— Oper  von  Moniuszko;  die  „Kroatin" — Oper  von  Dütsch. 


—   203    — 

sakoff  hat  mir  eine  sehr  hübsche  Romanze  gewidmet. 
Meine  Ouvertüre  hat  ihnen  Beiden  sehr  gefallen,  und  mir 
gefällt  sie  auch.  Ausser  dieser  Ouvertüre  habe  ich  in  letzter 
Zeit  noch  einen  Chor  für  die  Oper  „Mandragora"  geschrie- 
ben, dessen  Text  von  Ratschinsky  herrührt  und  Dir,  glaube 
ich,  schon  bekannt  ist.  Ich  hatte  die  Absicht  diesen  Text 
zu  komponieren,  meine  Freunde  rieten  es  mir  aber,  ab, 
indem  sie  behaupteten,  dass  die  Oper  zu  wenig  Bühnen- 
wirkung haben  werde.  Jetzt  schreibt  Ratschinsky  einen 
anderen  Text  für  mich,  welcher  den  Namen  „Raimund 
Lully"   führt". 

Sergei  Alexandrowitsch  Ratschinsky  erzählt  den  Inhalt 
der  Mandragora"  wie  folgt:  „Ein  Ritter  liebt  eine  wun- 
derschöne Dame,  welche  seine  Liebe  aber  ablehnt.  Ein 
Fest  im  Schloss.  Menestrel  singt  von  der  allmächtigen 
Mandragora,  das  Zauberkraut,  welches  schon  in  der  Bibel 
erwähnt  wird.  Der  Ritter  sucht  dieses  Zauberkraut  in 
einem  geheimnissvollen  Garten. 

Nacht.  Mandragora  erblüht.  Der  Ritter  entwurzelt  die 
Pflanze  und — Mandragora  verwandelt  sich  in  ein  Weib, 
verliebt  sich,  natürlich,  sofort  in  den  Ritter  nnd  folgt  ihm 
als  Page.  Nach  einer  ganzen  Reihe  Abenteuer  verliebt 
sich  der  Ritter  in  eine  andere  Frau,  und  die  unglückliche 
Mandragora  verwandelt  sich  wieder  in  eine  Blume". 

Raimund  Lully  ist  nach  den  Worten  Ratschinsky's  ein 
sagenhafter  spanischer  Held  und  zugleich  Poet,  Schwarz- 
künstler und  Missionär  des  XIII.  Jahrhunderts.  Zu  Anfang 
der  Oper  ist  Raimund  ein  Don  Juan.  Neben  ihm  spielt  ein 
tückischer  Maur  die  Rolle  des  Leporello-Mephisto.  Donna 
Ines  liebt  Raimund.  Durch  seine  Abenteuerlust  in  Verzweif- 
lung gebracht,  geht  sie  in  ein  Kloster  und  erweckt  da- 
durch in  Raimund  die  heisseste  Leidenschaft.  Hoch  zu 
Ross  dringt  er  während  des  Gottesdienstes  in  die  Kirche  ein. 
Das  Volk  ist  empört,  und  die  Geistlichkeit  verflucht  ihn. 
Im  Duett  zwischen  Donna  Ines  und  Raimund  geht  in 
Letzterem  eine  Wandlung  zum  Bessern  vor  sich.  Zuletzt 
wird  Raimund  in  Afrika  vom  Mauren  erstochen  und  stirbt 
in  den  Armen  Ines,  welche  vom  Kloster  zwecks  Auslösung 
gefangener  Christen  nach  Afrika  entsandt  worden  ist.  Alles 
in  höchst  mystischem  St^d. 

Kaschkin  war  Einer  derjenigen  Freunde  Peter  Iljitsch's 
welche  ihm  abrieten  den  Text  der  „Mandragora"  zu  kom- 
ponieren. „Eines  Tages^' — erzählt  Kaschkin, — „spielte  mir 
Peter  Iljitsch  eine  neue  Komposition,  einen  „Chor  der  Insek- 


—  2,o4  — 

ten  "vor,  welche  mir  sehr  gefiel.  Darauf  teilte  er  mir 
mit,  dass  er  eine  Oper  schreibe  und  dass  dieser  Chor  eine 
Nummer  dieser  Oper  bilden  werde;  er  zeigte  mir  auch 
sofort  das  Scenarium.  Nach  Durchsicht  desselben  fand  ich 
dass  es  sich  viel  besser  für  ein  Ballet  denn  für  eine  Oper 
eignete.  Peter  Iljitsch  widersprach  dem  und  es  entspann 
sich  zwischen  uns  ein  heftiger  Streit,  in  welchem  ich, 
unter  Anderem,  Peter  Iljitsch  die  Lächerlichkeit  verschie- 
dener Situationen  des  Operntextes  zu  beweisen  suchte. 
Der  Streit  dauerte  ziemlich  lange.  Plötzlich  bemerkte  ich, 
dass  das  Gesicht  meines  Gegners  einen  veränderten  Aus- 
druck annahm;  Peter  Iljitsch  sagte  mir  mit  Thränen  in  den 
Augen,  dass  ich  meinen  Zweck  erreicht  habe  und  dass  er 
die  Oper  nicht  komponieren  werde,  dass  er  aber  sehr 
unglücklich  darüber  sei  und  mir  in  Zukunft  nie  wieder 
seine  Absichten  mitteilen  würde.  Er  war  in  der  That  so 
verstört,  dass  ich  selber  den  Erfolg  meiner  Beweisführung 
bedauerte". 

Hier  die  Urteile  Balakireffs  und  Laroche's  über  diese 
unedierte  Komposition  Peter  Iljitsch 's: 

Ersterer  schrieb  187 1  Folgendes:  „Der  Chor  gefällt  mir 
wirklich  sehr  mit  Ausnahme  des  Es-dur-Teiles  mit  der 
trivialen  Melodie.  Ich  hpffe,  jedoch,  dass  die  Begleitung 
mit  dem  Orgelpunkt  auf  Es  den  banalen  Charakter  dieser 
Melodie  etwas  abschwächen  wird.  Manches  erinnert  an 
den  Frauenchor  (D-dur)  von  Dargomyzski;  die  beständi- 
gen Sekunden  aber  sind  im  Borodin'schen  Charakter.  Ich 
hoffe  dass  der  Chor  Effekt  machen  wird  und  werde  mich 
bemühen,  ihn  möglichst  gut  einzustudieren". 

„Der  Chor  der  Elfen",  —  sagt  Laroche  —  „stammt  aus 
einer  unbeendeten  phantastischen  Oper  und  ist  für  Kna- 
benstimmen gedacht,  welche  im  unisono  singen  und  von 
einem  vollen  gemischten  Chor  und  Orchester  begleitet 
werden.  Die  Stimmung  der  stillen  Mondnacht  (welche  im 
Text  besungen  wird),  sowie  der  phantastische  Charakter 
sind  prachtvoll  wiedergegeben:  in  diesem  Elfenchor  finden 
wir  wieder  jene  sammetne  Weichheit,  jene  Vornehmheit 
und  Feinheit,  welche  TschaikoAvsky  in  seinen  besten  schöp- 
ferischen Momenten  auszeichnen,  aber  auch  eine  bedeutend 
reifere  Charakteristik,  als  in  seinen  früheren  Werken.  Die 
Instrumentation  ist  sehr  üppig,  und  —  wenngleich  stellen- 
weise unter  Berlioz  Einfluss  so  doch  im  Ganzen  durchaus 
eigenartig". 


—   2  15 

An  А.  Dawidowa: 


Februar. 


Eines  betrübt  mich,  dass  es  in  Moskau  Niemanden  giebt, 
mit  dem  ich  so  recht  häusHch,  famihär,  intim  verkehren 
könnte.  Ich  denke  oft  daran,  wie  gUickhch  ich  wäre,  wenn 
Ihr  hier  leben  würdet  oder  wenn  irgend  was  Aehnhches 
vorhanden  wäre.  Ich  habe  grosses  Verlangen  nach  Kin- 
dergeschrei und  nach  Anteilnahme  meiner  Person  an  klein- 
lichen häuslichen  Interessen,  mit  einem  Wort — nach  einem 
Familienleben. 

Ich  habe  die  Absicht  eine  dritte  Oper  anzufangen,  und 
zwar  über  ein  Sujet,  welches  der  Tragödie  von  Lashetsch- 
nikoff — „Opritschnik''"'  ')  entlehnt  ist.  Was  meine  „Undine" 
anbelangt,  so  dürfte  sie  im  Anfang  der  nächsten  Saison 
in  Scene  gehen,  wenn  man  mich  nicht  betrügen  wird.  Im 
letzten  Winter  bin  ich  im  Allgemeinen  recht  thätig  gewe- 
sen. Vorgestern  habe  zwei  Klavierstücke  in  Druck  gege- 
ben, von  denen  Eines  Dir  gewidmet  ist.  Obgleich  der 
Frühling  noch  lange  nicht  da  ist  und  wir  kaum  den  Frost 
überlebt  haben,  so  beginne  ich  schon  an  den  Sommer  zu 
denken  und  sehnsüchtig  den  Früjahrssonnenschein  zu  er- 
warten, welcher  stets  eine  sehr  heilsame  Wirkung  auf 
mich  ausübt". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„3.  März. 

....Heute  wurde  vor  den  Friedensrichtern  die  Affaire 
Rubinsteins  mit  der  Schebalsk}-  erörtert,  von  welcher  Du 
jedenfalls  schon  gehört  haben  wirst.  Nikolai  Gregorjewitsch 
hatte,  nämlich  einmal — im  Januar  noch — die  Schülerin  Sche- 
balsky  mit  einem  „Hinaus!"  angeschrieen.  Ganz  Moskau 
hat  darüber  geredet,  die  Meisten  waren  gegen  Rubinstein. 
In  erster  Instanz  ist  er  freigesprochen  worden.  Heute  aber, 
hat  ihn  die  zweite  Instanz  zu  25  Rubel  Strafe  verurteilt. 
Rubinsteins  Anwalt  wird  Berufung  einlegen,  und  wenn 
das  Urteil  nicht  aufgehoben  werden  sollte,  so  will  Rubin- 
stein und  mit  ihm  fast  alle  andern  Professore — auch  ich — 
das  Konservatorium  verlassen. 

Uebermorgen  kommt  meine  Ouvertüre  „Romeo  und 
Julie"  zur  Aufführung.  Eine  Probe  ist  schon  gewesen:  das 

1  j  Opritschnik's  waren  die  Männer  der  Leibgarde,  oder  Leibwache  des  Zaren  Joann 
I\".  des  Grausamen. 


—  2  об    

Stück  scheint  nicht  hässlich  zu  sein.  Uebrigens  —  das  weiss 
der  liebe  Herrgott  allein!! 

Die  Butterwoche  habe  ich  sehr  nichtsthuerisch  und 
nicht  ohne  Langeweile  verbracht. 

Wo  ich  im  Sommer  bleiben  soll — weiss  ich  noch  nicht. 
Vielleicht  bleibe  ich  in  Moskau.  Ich  bin  jetzt  schon  so  alt 
geworden,  dass  es  mich  gar  nirgends  besonders  hinzieht. 
Nur  einen  Wunsch  habe  ich:  Ruhe,  Ruhe... 

hl  der  dritten  Fastenwoche  sollen  hier  im  Konzert  von 
Herten  ^)  Fragmente  aus  meiner  „Undine'-''  gespielt  werden. 
Bin  sehr  neugierig,  sie  zu  hören,  Sjetow  schreibt,  dass 
man  Grund  habe  anzunehmen,  dass  die  Oper  zu  Anfang 
der  nächsten  Saison  zur  Aufführung  kommen  werde". 

Dieses  Konzert  ist  am  i6.  März  zustande  gekommen. 
Kaschkin  erzählt,  dass  man  damals  wieder  einmal  gesehen 
habe,  wie  schwer  es  sei,  die  S\4npatie  des  Publikums  zu 
erobern,  und  fährt  fort:  „In  der  Instrumentation  der  Arie 
aus  „Undine"  hat  auch  das  Klavier  Anwendung  gefunden, 
indem  es  eine  ziemlich  bedeutende  und  schöne  Partie  zu 
spielen  hatte.  Die  Ausführung  dieser  Partie  hat  Nikolai 
Rubinstein  auf  sich  genommen;  aber  trotz  der  ausge- 
zeichneten Wiedergabe  des  Stückes,  hatte  dasselbe  gar- 
keinen  Erfolg.  Nach  dem  Adagio  aus  der  ersten  Sympho- 
nie, welches  ebenfalls  auf  dem  Programm  stand  ertönte 
sogar  ein  leises  Zischen.  Im  Grossen  Theater  herrschte 
eben  noch  zu  sehr  die  Italianomanie,  sodass  es  für  ein 
russisches  Werk  sehr  schwer  war,  sich  Geltung  zu  ver- 
schaffen". 

Auch  „Romeo  und  Julie"  hatte  im  Konzert  der  Musika- 
lischen Gesellschaft  (am  4.  März)  keinen  Erfolg  erzielt. 

„Die  Verurteilung  Rubinstein's  zu  25  Rubel  Geldstrafe 
ist  sofort  in  ganz  Moskau  bekannt  geworden". — schreibt 
Kaschkin, — „Eine  Zeitung  hat  am  Tage  des  Konzerts  eine 
boshafte  Notiz  gebracht,  in  welcher  sie  die  Verehrer  Ru- 
binsteins auffordert,  die  25  Rubel  durch  eine  Kollekte  auf- 
zubringen, um  dem  Künstler  das  Absitzen  einiger  Tage 
Haft  zu  ersparen.  Diese  Notiz  hat  viel  Unwillen  erregt 
und  Anlass  zu  einer  der  grossartigsten  Demonstrationen 
gegeben,  die  ich  je  gesehen  habe.  Von  dem  ersten  Erschei- 
nen Rubinsteins  auf  dem  Podium  und  bis  zum  Schluss 
des  Konzerts  war  er  der  Gegenstand  der  ausserordent- 
lichsten  Ovationen  seitens  des  Publikums.  An  das  Konzert, 


1)  Kapellmeister  am  Grosseu  Theater. 


—  2  07    — 

an  die  Musik  dachte  kein  Mensch,  und  ich  ärgerte  mich 
sehr  dass  die  Erstaufführung  von  „Romeo  und  Julie"  unter 
solchen  Umständen  vor  sich  ging".  Somit  brachte  der  in 
der  Hoffnung  auf  einen  grossen  Erfolg  so  sehnsüchtig 
erwartete  Abend  wieder  eine  Enttäuschung  für  Peter  Iljitsch. 
Dadurch  ist  die  ohnehin  schon  melancholische  Stimmung 
des  Komponisten  noch  finsterer  geworden.  „Ich  faulenze 
in  der  letzten  Zeit  ganz  unverantwortlich" — schreibt  er — 
„und  meine  neue  Oper  „Opritschnik"  ist  bei  dem  ersten 
Chor  stehen  geblieben". 

An  M.  Tschaikow^sky: 

,.25.  März.    . 
Gratuliere  Dir  zum  geschehenen  Verlassen  der  Schule. 


Indem  ich  zurückblicke  auf  meinen  Lebenslauf  seit  dem 
Austritt  aus  der  Juristenschule  bemerke  ich  mit  einigem 
Wohlgefühl,  dass  die  Zeit  nicht  nutzlos  verstrichen  ist. 
Wünsche  auch  Dir  das  Gleiche. 

Bei  uns  giebt  es  jetzt  eine  ungeheure  Menge  Konzerte: 
Heute  ist  das  zweite  Konzert  der  Lawrowskaja.  Sage  der 
Chwostowa,  dass  Lawrowskaja  Heute  mein  Lied,  welches 
ihr  (d.  h.  der  Chwostowa)  gewidmet  ist,   singen  wird"....^ 

An  A.  Tschaikowsk}^: 

,.23.  April. 

Rjumin  ^)  bietet  Alles  auf,  um  aus  mir  einen  religiösen 
Menschen  zu  machen:  er  hat  mir  viele  Bücher  geistlichen 
Inhaltes  geschenkt,  und  ich  habe  ihm  das  Wort  gegeben, 
sie  alle  durchzulesen.  Ueberhaupt  ergehe  ich  mich  jetzt  in 
gottgefälligen  Handlungen.  In  der  Charwoche  habe  ich 
mit  Rubinstein  sogar  gefastet.  Meine  Oper  macht  nur  sehr 
träge  Fortschritte.  Die  Ursache  davon  schreibe  ich  dem 
Umstand  zu,  dass  das  Sujet  —  obgleich  es  sehr  hübsch  — 
mir  doch  nicht  völlig  nach  dem  Herzen  ist.  „Undine'•^  ist 
zwar  ein  schlechtes  Libretto,  da  sie  aber  ganz  und  gar 
meinen  Sympatieen  entsprach,  so  ging  die  Arbeit  sehr 
schnell  vorwärts.  Die  Feiertage  habe  ich  sehr  angenehm 
verbracht. 

Mitte  Mai,  wahrscheinlich  am  17.,  reise  ich  ins  Ausland. 
Zum  Teil  freue  ich  mich  darauf,  zum  Teil  trauere  ich, 
weil  ich  Dich  nicht  sehen  werde". 


1)  Rjumin — der  Vormund  Schilovvsky's. 


—   2o8    - 

An  I.  А.  Klimenko: 


I.  Mai. 


Unverschämter!  Du  glaubst  doch  nicht  etwa,  dass  ich 
Dich  in  geringerem  Maasse  heb  habe,  als  Diejenigen,  wel- 
che Du  vor  mir  mit  Deinen  Briefen  beehrt  hast?  Trotz- 
dem entschliesse  ich  mich  nach  vierzehntägigem  Ueberle- 
gen  (oder  auch  Faulheit),  Dir  zu  antworten. 

Erstens  sage  ich  Dir,  dass  ich  in  diesem  Augenblick 
(um  4  Uhr  Nachts)  am  offenen  Fenster  sitze  und  die  in 
Wahrheit  herrlich  duftende  Atmosphäre  eines  Frühlings- 
morgens einatme.  Ziemlich  bezeichnend  ist  es,  dass  ich  in 
meiner  liebevollen  Stimmung  plötzlich  den  Drang  verspürt 
habe,  mit  Dir — grade  mit  Dir  zu  plaudern.  Du  Undank- 
barer! Ich  möchte  Dir  sagen,  dass  das  Leben  doch  schön 
und  dass  der  Maimorgen  dessen  wohl  wert  ist,  dass  ich 
um  4  Uhr  früh  mein  Herz  vor  Dir  ausschütte  und  Dir  ei- 
nige gefühlvolle  Worte  schreibe,  und  dass  Du,  oh  Du 
giftiger  Sterblicher,  darüber  lachst.  So  lache  denn,  ich  be- 
haupte doch:  das  Leben  ist,  trotz  Allem,  schön!  Dieses 
,,trotz  Allem''''  schliesst  aber  Folgendes  in  sich:  i.  Die 
Krankheit:  ich  werde  nachgerade  unmässig  dick.  Die  Ner- 
ven sind  äusserst  zerrüttet.  2.  Das  Konservatorium  ist  mir 
bis  zum  Erbrechen  überdrüssig:  komme  immer  mehr  zur 
Ueberzeugung,  dass  ich  mich  zu  einem  Lehrer  der  Musik- 
theorie absolut  nicht  eigne.  3.  Meine  finanzielle  Lage  ist 
sehr  schlimm.  4.  Zweifle  sehr  daran,  dass  die  „Undine'"'' 
aufgeführt  werden  wird.  Habe  gehört,  dass  man  mich  be- 
trügen will.  Kurz,  viele  Dornen,  aber  auch  Rosen  sind  da, 
und  zwar: — die  Fähigkeit,  entzückt  zu  sein  beim  Einatmen 
der  Frühlingsluft,  dahinzuschmelzen  und  den  Drang  in  sich 
zu  fühlen,  dem  in  Zarizin  ^)  lebenden  Freund  mitzuteilen, 
dass  das  Leben  doch  schön  sei,  denn  es  giebt  wunder- 
schöne Maimorgen  mit  feuchter,  duftender  Atmosphäre, 
bleichblauem  Hnnmel,  dem  Zwitschern  der  erwachenden 
Sperlinge,  dem  geheimnisvollen  Miauen  der  Katzen  und 
der  Abwesenheit  jeglicher  menschlicher  Laute.  So  rufe  ich 
denn  zum  Schlüsse  dieser  Herzensergüsse  noch  einmal 
aus:  schön  ist  das  Leben  (an  einem  Maimorgen),  und  gehe 
nun  zur  Aufzählung  einiger  kleiner  Thatsächelchen  aus 
dem  Leben  eines  ehrgeizigen  Musikschreibers  über. 

Was  den  Ehrgeiz  anbelangt,  so  muss  ich  sagen,   dass 


1)  Zarizin — Stadt  au  der  Wolga. 


209   — 

er  in  letzter  Zeit  Nichts  weniger  als  geschmeichelt  wird. 
Meine  Lieder  sind  von  Laroche  zwar  gelobt  worden,  da- 
für hat  aber  Cui  einen  Scheltartikel  über  sie  geschrieben, 
und  Balakireff  hat  sie  so  schlecht  gefunden,  dass  er  die 
Chwostowa  (welche  eines  der  Lieder — das  ihr  gewidmete — 
in  ihrem  Konzert  singen  wollte)  überredete,  das  Programm 
nicht  zu  verderben,  welches  durch  die  Namen  Mussorgsky 
und  Komp.  glänzte. 

Meine  Ouvertüre  „Romeo  und  Julie"  hatte  hier  garkei- 
nen  Erfolg  und  ist  ganz  unbeachtet  geblieben.  Ich  habe 
viel  an  Dich  gedacht  an  jenem  Abend.  Nach  dem  Konzert 
soupierten  wir  in  grosser  Gesellschaft  bei  Gurin  (grosses 
Restaurant).  Während  des  ganzen  Abends  hat  Niemand 
auch  nur  ein  Wort  über  die  Ouvertüre  gesagt.  Und  doch 
lechzte  ich  so  nach  Teilnahme  und  Anerkennung.  Ja,  ich 
habe  an  jenem  Abend  viel  an  Dich  gedacht  und  an  Deine 
im  höchsten  Grade  aufmunternde  Teilnahme.  Ich  weiss 
nicht  ob  meine  Oper  „Opritschnik"  nicht  deshalb  so  langsa- 
me Fortschritte  macht,  dass  Niemand  sich  dafür  interes- 
siert, was  ich  schreibe;  ich  zweifle,  ob  ich  sie  früher,  als 
nach  zwei  Jahren  fertig  bekommen  werde.  Was  das  musi- 
kahsche  Leben  Moskau's  anbelangt,  so  hat  sich  da  seit 
Deiner  Abreise  Nichts  Besonderes  ereignet,  denn  den  kurzen 
Aufenthalt  Tausig's  hierselbst  zähle  ich  nicht  zu  den  her- 
vorragenden Geschehnissen.  Ach  so!  Beihnahe  hätt'ich  es 
vergessen!  In  N.  Rubinsteins  Konzert  kam  der  erste  Satz 
der  Symphonie  von  Laroche  zur  Aufführung  welche  wir 
schon  öfter  miteinander  besprochen  haben.  Ich  bleibe  bei 
meiner  früheren  Meinung:  in  technischer  Beziehung  über- 
ragt diese  Komposition  auf  das  Entschiedenste  den  durch- 
schnittlichen Wert  der  neueren  Werke,  —  als  Erfindung 
jedoch — ist  sie  zum  Teil  sehr  pretentiös,  zum  Teil  eckig 
und  klobig  oder  auch  (wie  das  Seitenthema)  einfach  schwach 
und  bleich.  Am  Ende  dieser  langen  Geschichte  hat  das 
Publikum  zu  zischen  begonnen.  Der  arme  Laroche  war 
ganz  konfus.  Mit  unseren  gemeinsamen  Freunden  komme 
ich  ziemlich  häufig  zusammen.  Manchmal  spielen  wir  Kar- 
ten, von  denen  ich  wie  früher,  begünstigt  werde.  K...  n  ist 
wie  gewöhnlich,  sehr  nett.  Sobald  er  sich  einen  Rausch 
angetrunken  hat  beginnt  er,  allen  Meinungen  beizupflichten 
und  Jeden,  den  Du  willst,  entweder  herunterzumachen 
oder  zu  verteidigen  je  nach  Wunsch,  und  lacht  im  Grunde 
seiner  heimtückischen  aber  gutmütigen  Seele  Alle  aus.  In 
Moskau  geht  das  Gerücht,  dass  er  sich  neulich  mit  Seife 

Tschaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  14 


—    210   — 

gewaschen  habe,  ich  glaube  es  aber  nicht,  weil  ich  sonst 
jeden  Unsinn  glauben  müsste,  z.  B.  dass  W.  ein  kluges 
und  treffendes  Wort  gesagt,  oder  dass  die  Frau  L.'s  ein 
Buch  über  pantheistische  Philosophie  geschrieben,  oder 
dass  R.  ein  Notturno  komponiert,  oder  dass  Rubinstein 
innerhalb  drei  Tagen  nur  ein  Hundert  Mal  seinen  Aga- 
thon  ^)  ausgescholten  hätte,  oder  dass  der  Baumeister  Kli- 
menko  noch  ein  ganzes  Jahr  in  Zarizin  zu  bleiben  beab- 
sichtigt, u.  s.  w.  Letzteres  ist  ganz  ausgeschlossen,  denn 
ich  will  garnicht  daran  denken,  dass  ich  Dich  noch  so 
lange  nicht  zu  sehen  bekommen  könnte.  Ohne  Dich  lang- 
weilen sich,  bei  Gott,  Alle  sehr,  und  am  meisten — ich"! 

Peter  Iljitsch  ist  über  Petersburg,  wo  er  sich  nur  einige 
Tage  aufhielt,  in's  Ausland  gereist.  In  Petersburg  erfuhr 
er  das  endgiltige  Schicksal  seiner  „Undine".  Die  Konfe- 
renz sämmtlicher  Kapellmeister  der  Kaiserlichen  Theater 
mit  Konstantin  Ljadow  an  der  Spitze  hat  diese  Oper  einer 
x\ufführung  nicht  für  wert  befunden.  Wie  Peter  Iljitsch 
dieses  Urteil  aufgenommen,  was  er  dabei  gefühlt  und  ge- 
dacht hat  —  können  wir  nur  vermuten,  da  wir  die  krank- 
hafte und  gar  zu  leichte  Erregbarkeit  seines  Autorenehr- 
geizes kennen.  Damals  hat  er  weder  in  Briefen  noch  in 
Gesprächen  das  Vorkommnis  auch  nur  mit  einer  Sylbe 
erwähnt.  Acht  Jahre  später  schreibt  er  aber:  „Die  Direk- 
tion hatte  meine  „Undine"  im  Jahre  1870  abgelehnt.  Da- 
mals ist  es  mir  sehr  bitter  gewesen  und  schien  mir  unge- 
recht, in  der  Folge  aber,  gefiel  mir  selber  die  „Undine" 
nicht  mehr  und  ich  habe  die  Partitur  vor  ungefähr  drei 
Jahren  verbrannt". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„I.  Juni,  Soden. 

....Von  Petersburg  bis  Paris  bin  ich  ohne  Aufenthalt 
durchgefahren.  Bin  sehr  müde  geworden  und  näherte  mich 
Paris  mit  grosser  Aufregung.  Ich  befürchtete,  Schilowsk}' 
auf  dem  Sterbebette  zu  finden.  Er  ist  zwar  sehr  schwach, 
doch  habe  ich  Schlimmeres  erwartet.  Wir  blieben  in  Pa- 
ris drei  Tage  und  reisten  dann  nach  Hier  ab.  Da  ich  Pa- 
ris gern  habe,  so  habe  ich,  selbstverständlich,  jene  drei 
Tage  sehr  angenehm  verbracht.  Habe  drei  Theater  be- 
sucht und  bin  viel  spazieren  gewesen. 


1)  Agathon  hiess  der  iJieiicr  Kubinsteins. 


211    

Soden  ist  ein  kleines  Dorf,  welches  am  Fusse  des  Tau- 
nus liegt.  Die  Gegend  ist  schön,  die  Luft  herrlich,  aber 
die  grosse  Menge  Schwindsüchtiger  verleiht  Soden  einen 
ziemlich  düsteren  Charakter,  infolgedessen  mich  gleich  am 
ersten  Tage  eine  solche  Schwermut  überkam,  dass  ich  mich 
nur  mit  Mühe  einer  Ohnmacht  erwehren  konnte.  Jetzt  bin 
ich  ruhiger  geworden.  Die  Pflicht,  Wolodi  ^)  zu  pflegen, 
erfülle  ich  auf  das  Gewissenhafteste,  denn  sein  Leben  hängt 
an  einem  Haar.  Der  Arzt  hat  gesagt,  dass  er  bei  der  ge- 
ringsten Unvorsichtigkeit  der  Schwindsucht  verfallen  kann, 
während — wenn  er  die  Kur  aushält — eine  Rettung  möglich 
ist.  Seine  Liebe  zu  mir  und  die  Freude  darüber,  dass  ich 
gekommen,  ist  so  rührend,  dass  ich  mit  Vergnügen  die 
Rolle  eines  Argus,  d.  h.  seines  Lebensretters  auf  mich 
nehme.  Was  mich  zu  Anfang  so  unglücklich  machte,  war 
der  Gedanke,  dass  ich  weder  Dich,  noch  Modest,  noch 
Sascha  '-)  zu  sehen  bekommen  werde.  Dieser  Gedanke 
quält  mich  auch  jetzt  noch,  ich  hoffe  aber,  dass  es  mir 
Ende  des  Sommers  möglich  sein  wird,  vom  Süden  aus 
nach  Moskau  zurückzukehren,  in  welchem  Falle  ich  in  Ka- 
menka  und  Kiew  einkehren  könnte. 

Gestern  unternahmen  wir  einen  Ritt  auf  Eseln.  Ich  fand 
Nichts  Lustiges  darin.  Was  mich  in  Entzücken  versetzt — ist 
der  Anblick  der  Berge.  Wie  wird  es  erst  in  der  Schweiz 
sein,  wohin  ich  mit  Wolodi  bestimmt  reisen  will!  Li  So- 
äen  leben  viele  Russen.  Ich  knüpfe  jedoch  keine  Be- 
kanntschaften an  und  bin,  Gott  sei  Dank,  noch  keinem 
Petersburger  oder  Moskauer  Bekannten  begegnet". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„7.  Juni,  Soden. 

Die  Langeweile,  an  der  ich  die  erste  Zeit  litt,  hat  sich 
gelegt.  Ich  habe  hier  so  Manches  Beachtenswerte,  ja — Be- 
wundernswerte gefunden.  Der  Taunus  ist  der  Gegenstand 
meiner  Bewunderung.  Durch  besondere  Höhe  zeichnet  er 
sich  nicht  aus,  er  ist  aber  mit  einem  dichten  Nadelwald 
bedeckt  und  mit  vielen  prachtvollen  Burgen  bebaut,  ge- 
gen welche  die  berühmte  von  mir  besungene  Ruine  in  Hap- 
sal  rein  Garnichts  ist.  Ganz  besonders  interessant  ist  das 
Schloss  Königstein.  Wolodi  und  ich  haben  den  Thurm 
erklettert:  der  Fernblick,  der  sich  uns  aufthat,  war  in  Wahr- 


1)  Wolodi — Abkürzung  von  Wladimir. 

2)  Sascha-    Abkürzung  von  Alexandra. 


—    212   — 

heit  entzückend.  Jeden  Morgen  begebe  ich  mich  an  einen 
Ort,  welcher  „Drei  Linden"  genannt  wird,  und  lese  da- 
selbst oder  komponiere  inmitten  der  rauhen  Natur,  vor  mei- 
nen Augen  ein  prachtvolles,  circa  200  Werst  umfassendes 
Panorama.  Das  Leben  in  Soden  ist  sehr  einfach.  Wir  ste- 
hen um  6  Uhr  auf,  Wolodi  trinkt  seinen  Brunnen,  während 
ich  (auf  Rat  des  Arztes)  mein  Soolbad  nehme.  Um  8  trin- 
ken wir  Kaffee,  bis  i  spaziere  ich  und  sitze  bei  den  „Drei 
Linden".  Um  4  Uhr  hören  wir  ein  ziemlich  gutes  Orche- 
ster, spazieren  darauf  von  6  bis  8,  trinken  dann  unsern 
Thee  und  legen  uns  um  10  zu  Bett.  Es  kommen  hin  und 
wieder  Momente,  da  ich  mich  sehr  nach  Euch  sehne,  da 
der  W^unsch,  wenigstens  einige  Stunden  in  Kamenka  zu 
verbringen,  mich  zum  Weinen  bringt  und  die  Erinnerung 
an  den  vorigen  Sommer,  den  ich  mit  Euch  verlebt,  mich 
quält.  Ich  kämpfe  aber  energisch  gegen  die  trüben  Stim- 
mungen an  und  tröste  mich  damit,  dass  meine  Anwesen- 
heit Wolodi  retten  wird,  und  dass  die  Lebensweise  in  So- 
den mir  selbst  auch  Nutzen  bringt.  Ob  ich  mir  auch  Mühe 
gegeben  habe,  Bekanntschaften  mit  Russen  zu  vermeiden, 
so  ist  mir  dies  doch  nicht  gelungen.  Wir  speisen  an  der 
table  d'höte  und  ich  finde  das  Essen  durchaus  nicht 
schlecht.  Am  Donnerstag  hörte  ich  hier  eine  preussische 
Militärkapelle,  die  nämliche,  welche  bei  dem  Konkurrenz- 
spiel sämmtlicher  Militärmusikkapellen  in  Paris  den  ersten 
Preis  errungen  hatte.  Sie  spielt  erstaunlich  gut.  Ich  habe 
noch  nie  Etwas  Derartiges  gehört.  Wir  haben  uns  vorge- 
nommen, eines  Tages  nach  Frankfurt  zu  fahren  und  in  die 
Oper  zu  gehen,  obwohl  das  Repertoir  dort  so  schlecht 
ist,  wie  ich  es  von  Deutschen  kaum  erwartet  habe". 

An  M,  Tschaikowsk}-: 

„24.  Juni,  Soden. 

...Wir  führen  ein  einförmiges  Leben  und  langweilen  uns 
sehr,  dafür  ist  aber  meine  Gesundheit  in  ausgezeichneter 
Verfassung.  Die  Soolbäder  wirken  sehr  gut  auf  mich,  aus- 
ser dem  ist  aber  auch  die  Lebensweise  sehr  nützlich.  Ich 
bin  sehr  faul  und  habe  garkeine  Lust  zum  Arbeiten.  Vor 
einigen  Tagen  hat  in  Mannheim  ein  grosses  Fest  gelegent- 
lich des  hundertsten  Geburtstags  Beethovens  stattgefun- 
den. Dieses  Fest,  bei  welchem  wir  zugegen  gewesen  sind, 
hat  drei  Tage  gedauert.  Das  Programm  war  sehr  interes- 
sant und  die  Ausführung  köstlich.  Das  Orchester  bestand 


—    213    - 

aus  mehreren  Kapellen  verschiedener  rheinischer  Städte. 
Der  Chor  zählte  400  Mann.  Einen  so  ausgezeichneten  und 
kräftigen  Chor  habe  ich  noch  nie  in  meinem  Leben  ge- 
hört. Dirigiert  hat  der  bekannte  Komponist  Lachner.  Un- 
ter Anderem  habe  ich  zum  ersten  Mal  die  sehr  schwer 
auszuführende  Missa  solemnis  von  Beethoven  gehört.  Das 
ist  eine  der  genialsten  musikalischen  Schöpfungen.  Andere 
musikalische  Unterhaltungen  giebt  es  hier  wenig.  Das  Or- 
chester in  Soden  ist  nicht  gross,  spielt  nicht  hässlich,  die 
Programme  sind  aber  fürchterlich.  Wir  (ich  und  Wolodi) 
haben  es  veranlasst,  die  Kamarinskaja  von  Glinka  einzu- 
studieren, welche  Morgen  zum  ersten  Mal  gespielt  wer- 
den soll. 

Ich  bin  in  Wiesbaden  gewesen,  um  mit  N.  Rubinstein 
zusammen  zu  sein.  Als  ich  ihn  auffand,  w^ar  er  gerade  da- 
bei, seine  letzten  Rubel  bei  der  Roulette  zu  verspielen.  Das 
hinderte  uns  jedoch  nicht,  einen  sehr  angenehmen  Tag 
zusammen  zu  verbringen.  Er  verzweifelt  durchaus  nicht 
und  ist  fest  davon  überzeugt,  dass  er  Wiesbaden  nicht 
eher  verlassen  wird,  als  bis  er  die  Bank  gesprengt.  Ich 
sehne  mich  sehr  nach  Dir  und  den  Unserigen". 

An  A.  Dawidowa: 

„24.  Juni,  Soden. 

Jeden  Augenblick  denke  ich  hartnäckig  an  den  vor- 
jährigen Sommer.  In  meiner  Erinnerung  tauchen  alle  Ein- 
zelheiten jener  schönen  Zeit  auf,  und  die  Erkenntniss  der 
Unmöglichkeit,  selbst  wenige  Tage  in  Eurer  Mitte  zu  ver- 
bringen, macht  mich  rasend. 

Oh,  Gott,  was  würde  ich  geben,  um  plötzlich  in  den 
Grossen  Wald  versetzt  zu  werdenl!  In  meiner  Einbildung 
sehe  ich  mich  schon  trockene  Zweige  suchend  und  sie  zu 
einem  Scheiterhaufen  zusammentragend,  während  Du  mit 
Leo  und  den  Kindern  auf  einem  Hügel  sitzest;  auf  dem 
Rasen  ist  ein  Tischtuch  gedeckt,  drauf  steht  der  Samo- 
war, Brot  und  Butter  ich  sehe  die  ruhenden  Pferde,  das 
duftige  Heu,  höre  die  lieben  Kinderstimmen.  Wie  köstlich 
das  Alles!  Wenn  Ihr  wieder  eine  Spazierfahrt  in  den  Wald 
unternehmt,  dann  zündet  doch,  bitte,  mir  zu  Ehren  ein 
mächtiges  Feuer  an!.." 

An  M.  Tschaikowsky: 

„12.  Juli,  Interlaken. 
...Wir  sind  schon  den  dritten  Tag  in   Interlaken,   wo 


2T4   — 

Avir,  wahrscheinlich  einen  ganzen  Monat  bleiben  werden, 
und  von  wo  aus  ich  verschiedene  Exkursionen  durch 
die  Schweiz  zu  unternehmen  gedenke.  Die  aufgetauchten 
Kriegsgerächte  haben  Alle  schleunigst  aus  Soden  in  die 
Schweiz  vertrieben.  Der  Andrang  von  Reisenden  ist  so 
gewaltig,  dass  Viele  keinen  Platz  in  den  Zügen  und  in 
den  Hotels  finden  können.  Um  diesen  Unannehmlichkeiten 
und  Verzögerungen,  welche  dadurch  entstehen,  dass  die 
Züge  gleichzeitig  mit  den  Fahrgästen  auch  die  Truppen 
an  die  französische  Grenze  befördern,  aus  dem  Wege  zu 
gehen,  habe  ich  mit  Wolocii  einen  grossen  Umweg  einge- 
schlagen, und  zwar  über  Stuttgart  und  den  Bodensee.  Aber 
auch  diese  Route  war  sehr  unbequem  und  unruhig.  Aus 
Frankfurt  wurden  von  unserem  Zug  bayerische  und  würt- 
tembergische Rekruten  mitgenommen,  infolgedessen  wir 
grosse  Verspätungen  hatten.  Das  Gedränge  in  den  Wa- 
gen war  unbeschreiblich,  Essen  und  Trinken  zu  bekom- 
men war  sehr  schwer.  Aber,  Gottlob,  wir  sind  in  der 
Schweiz  und  hier  geht  Alles  normal  zu.  Lieber  Modi,  ich 
bin  nicht  im  Stande,  Dir  zu  beschreiben,  was  ich  beim 
Anblick  der  grossartigsten  Naturschönheiten,  die  man  sich 
nur'  vorstellen  kann,  fühle.  Mein  Staunen,  meine  Bewun- 
derung ist  grenzenlos.  Wie  besessen  laufe  ich  herum,  ohne 
müde  zu  werden.  Wolodi,  welcher  keinen  Gefallen  an  Na- 
turschönheiten findet  und,  seitdem  wir  in  der  Schweiz  sind, 
sich  nur  für  den  Schweizerkäse  interessiert,  lacht  mich 
von  Herzen  aus.  Was  wird  erst  sein,  wenn  ich  nach  eini- 
gen Tagen  in  den  Bergen  und  Schluchten  und  auf  Glet- 
schern allein  herumklettern  werde?! 

Nach  Russland  werde  ich  Ende  August  zurückkehren". 

Peter  lljitsch  verlebte  in  der  Schweiz  sechs  Wochen, 
reiste  dann  nach  München,  wo  er  einen  Tag  mit  seinem 
alten  Freund  dem  Fürsten  Golizin  zusammen  war.  Von  da 
kehrte  er  über  Wien  -welches  ihm  „besser  als  alle  Städte 
der  Welt"  gefiel — nach  Petersburg  zurück,  wo  er  am  24. 
August  eintraf  und  zum  Beginn  des  Unterrichts  im  Kon- 
servatorium nach  Moskau  weiterreiste. 

Während  der  ganzen  Auslandsreise  hat  Peter  lljitsch 
nach  seinen  eignen  Worten  Nichts  Ernstliches  gearbeitet, 
nur  „Romeo  und  Julie"  hat  er  einer  radikalen  Verände- 
rung unterworfen.  Dank  den  Bemühungen  N.  Rubinsteins 
und  Professor  Klindworths  ist  die  Ouvertüre  in  ihrer 
neuen  Gestalt  schon  im  Laufe  der  nächstfolgenden  Saison 
in  Berlin  gedruckt  worden    und   hat  sich   sehr   schnell   in 


—  215  — 

den   Programmen    verschiedener    Konzertiinternehmungen 
Deutschlands  eingebürgert. 

„Karl  Klindworth   ist   1868  aus  London  nach   Moskau 
gekommen",  -erzählt  Laroche, — „Er  war  damals  38  Jahre 
alt  und  stand  somit  in  der  höchsten  Blüte  seiner  physischen 
und  künstlerischen  Kräfte.  Er  hatte  eine  hochgewachsene 
kraftvolle  Gestalt,  hellblondes  Haar  und  bellblaue  Augen. 
Seine  Erscheinung  war  so,  wie  unsere  Einbildung  die  mittel- 
alterlichen   Wikinger    ausmalt;  er   war,   übrigens,  auch  in 
der  That  norwegischer  Abstammung.  London,  wo  er  meh- 
rere  Jahre    verlebt    hatte,    hasste    er   von    Herzensgrund, 
obwohl  er  dort  die  englische  Sprache  fliessend  sprechen 
gelernt  hatte:  für  die  Wagnerpropaganda  war  das  dama- 
lige London  noch  gänzlich  unvorbereitet,  ohne  eine  solche 
Propaganda  hatte  aber  das  Leben  für  Klindworth  garkeinen 
Reiz  und  garkeinen  Sinn.  Als  Schüler  Bülow's  und  Liszt's 
hat  er  sich  schon  in  verhältnissmässig  jungen  Jahren  dem 
Wagnerkultus  ergeben.  Er  ist  von  Nikolai  Rubinstein  als 
Professor  des  Klavierspiels  nach  Moskau  berufen  worden, 
hat    sich    aber    als  Virtuos    trotz   der  freundschaftlichsten 
Unterstützung  Nikolai  Gregorjewitsch's  keine  Sympatieen 
erworben;  in  der  Gesellschaft  war  er  auch  unpopulär,  da 
er  die  französische  Sprache  nicht  beherrschte  und  zu  sehr 
an  einigen  streng-deutschen  Gewohnheiten  hing;  dank  dem 
Mangel  guter  Klavierlehrer  in  Moskau  ist  es   ihm   gelun- 
gen, viele  Privatstunden  zu  erlangen,  infolgedessen  er  fast 
immer  zu  Hause  sass.  Richard  Wagner  hatte  ihm  damals 
anvertraut,  den  Klavierauszug    zu  seiner  Trilogie  zu   ma- 
chen. Manches  Mal  veranstaltete   Klindworth  kleine   Soi- 
reen bei    sich,    zu   welchen    er    nur    wenige    Auserwählte 
einlud — N.   Rubinstein,   Albrecht,   Bertha  Walzeck,   Peter 
Iljitsch   und   mich,   bei   welcher   Gelegenheit  er   uns  Teile 
seines  Arrangements  vorspielte.  Er  war  ein  guter  Klavier- 
spieler, war  sehr  musikalisch  und  besass  eine  vorzügliche 
Technik,  dennoch  vermochte  er  nicht,  auf  das  grosse  Publi- 
kum   Eindruck   zu   machen.   Es   hatte   den  Anschein,  dass 
zwischen  diesem  Einsiedler- Wagnerianer  und  Peter  Iljitsch 
keinerlei    Berührungspunkte    zur    Annäherung   vorhanden 
wären.    Wenn   man    unnachsichtlich    konsequent    bleiben 
wollte,  müsste  man  ferner  behaupten,  dass  Tschaikowsk}' 
als   Komponist   Klindworth   nicht    nur  nicht   interessieren, 
sondern  gewissermassen  als  Schuldiger   in  seinen  Augen 
dastehen  musste,  denn  in  Wagners  Schriften  ist  zu  lesen, 
dass  die  Konzert-und  Kammermusik  schon  längst  ihr  Le- 


2l6    

ben  ausgehaucht  haben.  Zum  Glück  giebt  es  aber  bei  le- 
bendigen Menschen  keine  unnachsichtliche  Konsequenz,  und 
Klindworth  erwies  sich  als  ein  viel  lebendigerer  Mensch  als 
man  bei  dem  ersten  Anblick  glauben  konnte.  Peter  Iljitsch 
hat  Klindworth  geradezu  bezaubert,  und  zwar  nicht  nur 
als  Mensch  sondern  auch  als  Komponist.  Klindworth  hat 
als  Einer  der  Ersten  im  Abendlande  Propaganda  für  Tschai- 
kowsky  gemacht.  Nur  dank  seinen  Bemühungen  sind  Pe- 
ter Iljitsch's  Werke  in  London  und  New-York  bekannt  ge- 
worden; durch  ihn  hat  sie  auch  Liszt  zum  Teil  kennen  ge- 
lernt. In  ihm  hat  Peter  Iljitsch  einen  treuen,  aber  auch 
despotischen  Freund  gefunden.  Bildlich  zu  reden,  zitterte 
Peter  Iljitsch  vor  ihm  wie  Espenlaub,  wagte  nie,  ihm  seine 
richtige  Meinung  über  den  Schöpfer  des  Ringes  des  Ni- 
belungen zu  offenbaren  und  hat  sogar  in  seinen  Feuille- 
tons, nach  meiner  Meinung,  seine  Ansichten  bis  zur  letz- 
ten Möglichkeit  beschönigt,  um  Klindworth  nicht  zu  er- 
zürnen". 

Indem  ich  die  hochbedeutsame  Thatsache  des  Erschei- 
nens von  Peter  Iljitsch's  Werken  in  den  westeuropäischen 
Konzertsälen  konstatiere,  möchte  ich  den  Leser  an  die 
prophetischen  Worte  eines  jungen  damals  seine  eigent- 
liche Thätigkeit  noch  garnicht  angefangen  habenden  Kri- 
tikers erinnern.  Fünf  Jahre  vor  dem  Erscheinen  der  Ouver- 
türe „Romeo  und  Julie",  im  Jahre  1866,  sagte  Laroche 
seinem  Ereunde:  Ihre  Schöpfungen  werden  erst  nach  fünf 
Jahren  beginnen:  diese  reifen  und  klassischen  Werke  wer- 
den aber  Alles  übertreffen,'^  was  wir  seit  Glinka  gehabt 
haben". 

Ich,  der  ich  kein  Musikkritiker  bin,  übernehme  es  nicht, 
zu  beurteilen,  ob  in  der  russischen  musikalischen  Literatur 
seit  Glinka  in  der  That  Nichts  Hervorragenderes  als  „Ro- 
meo und  Julie"  erschienen  war.  Ich  kann  hier  nur  wieder- 
geben, was  von  vielen  bedeutenden  Autoritäten  behauptet 
wird,  nämlich,  dass  die  hohe  Bedeutung  Tschaikowsky's 
in  der  Geschichte  der  Musik  bei  jenem  Werk  beginnt. 
Seine  künstlerische  Individualität  offenbart  sich  hier  zum 
ersten  Mal  in  ihrer  ganzen  Grösse,  und  Alles  was  Peter 
Iljitsch  vorher  geschrieben,  erscheint — nach  der  Prophe- 
zeiung Laroche's  in  der  That  als  eine  vorbereitende  Arbeit. 
Die  chronologische  Reihenfolge  der  Werke  Peter  Iljitsch's 
in  der  Saison  1869     1870  ist  folgende: 

I)  25  russische  Volkslieder,  vierhändiges  Klavierarran- 
gement. Beendet  am  25.  September  1869.  Sie  sind  zusam- 


—  217  — 

men  mit  den  im   vorherigen  Jahre  arrangierten  25  Volks- 
liedern im  Verlag  Jurgenson  erschienen. 

2)  „Romeo  und  Julie",  Phantasie-Ouvertüre  für  Orche- 
ster nach  Shakespeare.  Begonnen  nach  dem  25.  Septem- 
ber, im  Entwurf  fertiggestellt  zum  7.  Oktober,  instrumen- 
tiert bis  zum  15.  November  1869.  Im  Laufe  des  Sommers 
1870  vollständig  neu  umgearbeitet.  Nach  den  Worten  Ka- 
schkin's  bestand  die  Umgestaltung  in  einer  ganz  neuen 
Introduktion  anstelle  der  früheren,  ferner  in  der  Fortlas- 
sung des  Trauermarsches  zum  Schluss  und  ausserdem  in 
der  Veränderung  der  Instrumentation  an  vielen  Stellen. 
Die  Ouvertüre  ist  Mili  Alexejewitsch  Balakireff  gewidmet 
und  am  4.  März  1870  unter  N.  Rubinsteins  Leitung  zum 
ersten  Mal  aufgeführt.  Im  Druck  erschienen  bei  Bote  und 
Bock  in  Berlin  (1871). 

3)  Vierhändiges  Arrangement  der  Ouvertüre  „loann  der 
Grausame"  von  A.  Rubinstein.  Fertiggestellt  zwischen  dem 
6.  und  30.  Oktober  1869.  Verlag  W.   Bessel. 

4)  Op.  6.  Sechs  Lieder:  I.  „Glaub'nicht,  mein  Freund", 
Text  von  Graf  A.  Tolstoi,  gewidmet  an  A.  G.  Menschi- 
kowa.  II.  „Nicht  Worte",  Text  von  Pleschtschejeff,  gewid- 
met an  N.  D.  Kaschkin.  III.  „Wie  wehe,  wie  süss",  Text 
von  Gräfin  Rostoptschin,  gewidmet  an  Frau  Kotschetowa. 
IV.  Die  Thräne  bebt",  Text  von  Graf  A.  Tolstoi,  gewid- 
met an  P.  Jurgenson.  V.  „Warum",  Text  von  Mei,  gewid- 
met an  I.  Klimenko.  VI.  „Nur  wer  die  Sehnsucht  kennt", 
Text  von  Mei,  gewidmet  an  Frau  A.  Chwostowa.  Kom- 
poniert sind  diese  Lieder  zwischen  dem  15.  November  und 
19.  Dezember  1869.  Verlag  Jurgenson. 

5)  „Chor  der  Insekten"  aus  der  unbeendigten  Oper 
„Mandragora".  Komponiert  vor  dem  13.  Januar  1870.  Die 
Partitur  dieser  Komposition  ist  spurlos  verschwunden.  Nur 
der  Klavierauszug  ist  bei  Jurgenson  in  Verwahrung  ge- 
blieben. Im  Jahre  1898  hat  Glazunoff  ihn  instrumentiert. 

6)  Op.  7.  „Valse-Scherzo"  (A-dur)  für  Klavier,  an  Ale- 
xandra Iljinischna  Dawidowa  gewidmet.  Verlag  P.  Jur- 
genson. 

7)  Op.  8.  „Capriccio"  (Ges-dur)  für  Klavier,  an  K.  Klind- 
worth  gewidmet.  Verlag  P.  Jurgenson.  Diese  beiden  Werke 
sind  bis  zum  3.  Februar  1870  beendet. 

Ausserdem  hat  Peter  Iljitsch  Ende  Januar  1870  die 
Komposition  der  Oper  „Opritschnik"   begonnen. 


^ 


2Т8    — 


VIT. 


1870 — 1871. 

In  dieser  Saison  war  die  Stimmung  Peter  Iljitsch's  im 
Allgemeinen  ziemlich  fröhlich;  sie  wurde  nur  zeitweise 
durch  die  Sorge  um  die  Zwillingsbrüder  getrübt,  von  de- 
nen auch  der  Jüngere  die  Juristenschule  bereits  absolviert 
hatte  und  eine  Stellung  in  Simbirsk  bekleidete.  Ihre  Uner- 
fahrenheit  im  praktischen  Leben  verleitete  sie  (namentlich 
Modest)  zu  manchen  Missgriffen  und  Fehlern  und  trug  oft 
zur  V^erstimmung  ihres  älteren  Bruders  bei.  Mit  der  allen 
Liebenden  eigenen  übertriebenen  Furchtsamkeit  malte  Pe- 
ter Iljitsch  in  seiner  Einbildung  eine  jede  Handlung  seiner 
Brüder  ins  Ungeheuerliche  aus  und  war  stets  ernstlich  um 
ihre  Zukunft  besorgt. 

An  M.  Tschaikowsky: 

„17.  September  1870. 
Nach  meiner  Ankunft  in  Moskau  habe  ich  einige  Tage 
das  Krankenlager  hüten  müssen;  dann  ist  aber  Alles  wieder 
gut  geworden  und  geht  jetzt  seinen  gewöhnlichen  Gang"... 


An  M.  Tschaikowsky 


„5.  Oktober. 


Ich    habe   die   Bestellung   bekommen   die  Musik  zu 

dem  Ballet  „Aschenbrödel"  zu  komponieren.  Die  grosse 
vieraktige  Partitur  muss  schon  Mitte  Dezember  fertig  sein  '). 

Ich  bin  sehr  in  Sorge,  ob  Du  nicht  von  der  Kälte  lei- 
dest, da  Du  keine  warmen  Kleider  besitzest.  Ich  hatte  für 
Dich  schon  einen  Schafspelz  bestellt  gehabt,  als  ich  aber 
Deinen  Brief  erhielt  die  Bestellung  rückgängig  gemacht 
und  einen  prachtvollen  Kragen  aus  Biberfell  für  50  Rubel 
gekauft,  den  ich  Dir  Morgen  senden  w^erde.  Ich  fürchte 
nur  dass  Du  im  Paletot  frieren  Avirst,  ich  weiss  nicht,  ob 
er  genügend  mit  Watte  gefüttert  ist". 


1)  Von  diesem  Ballet  hat  Peter  Iljitscli  nur  den  Anfang  iertiggestellt.  Von  einer 
Bestellung  seitens  der  Direktion  des  Theaters,  sowie  von  den  Gründen,  weshalb  die 
Sache  rückgängig  gemacht  worden,  ist  uns  Nichts  bekannt. 


219   — 

An.I.  А.  Klimenko: 

„26.  Oktober. 

Bei    uns    weilt   A.    Rubinstein.    Er    hat    die    Saison 

eröffnet:  im  ersten  Symphoniekonzert  spielte  er  das  Kon- 
zert von  Schumann  (welches  ihm  aber  missglückt  ist),  fer- 
ner Variationen  von  Mendelssohn  und  Etüden  von  Schu- 
mann (diese  —  ganz  ausgezeichnet),  hi  der  Quartettsoiree 
trug  er  sein  Trio  vor,  welches  mir  nicht  gefallen  hat.  In 
einer  speziell  für  ihn  angesetzten  Orchesterprobe  dirigierte 
er  seine  neue  Phantasie  „Don  Quixote".  Sehr  interessant, 
stellenweise  sogar  famos.  Ausserdem  hat  er  ein  Violinkon- 
zert und  eine  ganze  Menge  kleinerer  Stücke  komponiert. 
Eine  erstaunliche  Fruchtbarkeit!  Nikolai  Gregorjeivitsch  hat 
im  Sommer  sein  ganzes  Geld  bei  der  Roulette  verspielt. 
Augenblicklich  arbeitet  er  wieder  unermüdlich  wie  ge- 
wöhnlich. 

Ich  habe  drei  neue  Stücke  \),  eine  Romanze  -)  kompo- 
niert und  auch  an  der  Oper  weitergearbeitet,  ausserdem 
die  Ouvertüre  „Romeo"  umgestaltet".... 

An  I.  P.  Tschaikowsky: 

„26.  Oktober. 

Von  mir  kann   ich  nur  berichten,  dass  ich   gesund, 

blühend  und  lustig  bin.  Arbeite  recht  viel  und  beginne, 
mich  im  Konservatorium  so  einzuleben,  dass  ich  meine 
Beschäftigung  daselbst  nicht  mehr  als  lästig  empfinde.  An 
meinen  Kompositionen  arbeite  einstweilen  nicht  viel,  im 
November  werde  aber  ordentlich  drangehen". 

An  A.  Tschaikowsk}>: 

(Anfang  November). 
.Meine   Zeit  ist  jetzt  sehr  in  Anspruch  genommen: 


ich  habe  die  Dummheit  begangen,  für  ein  geringes  Hono- 
rar die  Komposition  der  Musik  zum  Ballet  „Aschenbrödel" 
zu  übernehmen.  Das  Ballet  soll  schon  im  Dezember  zur 
Aufführung  kommen,  und  ich  habe  eben  erst  mit  der  Ar- 
beit begonnen;  zurück  kann  ich  auch  nicht  mehr,  da  der 
Kontrakt  bereits  unterschrieben....  Meine  Ouvertüre  „Romeo 
und  Julie"  wird  in  Berlin  gedruckt  und  soll  in  mehreren 
deutschen  Städten  aufgeführt  werden".... 


1)  Dp.  9.  Drei  Stücke  für  Klavier:  i)  Reverie,  2)  Polka  de  salon,  3I  Mazurka. 
2j  Die  Romanze  „So  schnell  vergessen". 


220    

An  А.  Tschaikowsky: 

„29.  November. 

Ich  verbringe  meine  Zeit  wie  gewöhnlich  und  lebe  mich 
immer  mehr  in  Moskau  ein.  Wenn  ich  nur  Geld  hätte',  so 
würde  ich  mich  hier  sehr  gut  einrichten.  Aber  selbst  mit 
meinen  Mitteln  könnte  man  bei  verständiger  finanzieller 
Verwaltung  garnicht  schlecht  leben  ohne  sich  einzuschrän- 
ken. Leider  aber  haben  wir  alle  Drei  (Du,  Modest  und 
ich)  ein  gar  zu  grosses  Talent  zum  Geldverschwenden". 

An  A.  I.  Dawidowa: 

„20.  Dezember. 

Meine  Liebe,  Dein  Brief  hat  mich  sehr  gerührt  und 
gleichzeitig  beschämt.  Es  wundert  mich,  dass  Du  auch 
nur  einen  Augenblick  an  der  Unveränderlichkeit  meiner 
Liebe  zu  Dir  zweifeln  konntest?!  Mein  Schweigen  beruht 
zum  Teil  auf  Faulheit,  zum  Teil  aber  darauf,  dass  ich  zum 
Schreiben  grosser  Seelenruhe  bedarf,  welche  ich  fast  nie 
zu  erzielen  vermag.  Entweder  bin  ich  im  Konservatorium, 
oder  ich  erfasse  in  fieberhafter  Eile  ein  freies  Stündchen, 
um  zu  komponieren;  entweder  verführt  mich  Jemand  zum 
Ausgehen,  oder  habe  ich  Besuch  bei  mir,  oder,  endlich, 
bin  ich  so  müde,  dass  ich  nur  schlafen  kann. 

Mit  einem  Wort,  die  Umstände  fügen  sich  so,  dass  es 
mir  nicht  möglich  ist,  einen  Moment  zu  finden,  um  an  Die- 
jenigen, welche  mir  so  wie  Du,  liebe  Sascha,  teuer  sind, 
in  Ruhe  einen  Brief  zu  schreiben.  Ich  habe  Dir  schon  ein- 
mal geschrieben,  dass  Du  —  obwohl  Du  nicht  in  meiner 
Nähe  weilst  —  dennoch  eine  bedeutende  Rolle  in  meinem 
Leben  spielst.  In  schw^eren  Stunden  fliegen  meine  Gedan- 
ken stets  zu  Dir, — „w^enn  es  mir  sehr  schlimm  gehen  sollte, 
dann  gehe  ich  zu  Sascha", — so  denke  ich  dann,  oder:  „das 
werde  ich  thun:  Sascha  würde  gewiss  auch  dazu  raten", 
oder:  „soll  ich  ihr  schreiben?  was  wird  sie  dazu  sagen?" 
Nach  alledem  setzt  das  Leben  fort,  mich  mit  seiner  Bran- 
dung fortzureissen  ohne  Zeit  zu  lassen  zum  Ueberlegen 
und  Kräftesammeln.  Die  nächste  Umgebung  saugt  an  mir 
und  umgarnt  mich  von  Kopf  bis  zu  Fuss.  Mit  welcher 
Freude  denke  ich  daran,  wie  ich  von  dieser  Umgebung 
einst  loskommen  und  andere  Luft  atmen  werde,  wie  ich 
mich  erwärmen  werde  an  Deinem  liebevollen  Herzen!  Im 
nächsten  Sommer  will  ich  bestimmt  zu  Dir  kommen.  In's 
Ausland  werde  ich  nicht  reisen. 


—   221    — 

Ich  führe  eine  sehr  geregelte  Lebensweise.  Komponiere 
an  meiner  Oper  und  bewege  mich  immer  zwischen  den- 
selben Menschen.  In  Moskau  lebe  ich  mich  immer  mehr 
ein,  sodass  mir  jetzt  ein  längerer  Aufenthalt  in  einer  an- 
deren Stadt  undenkbar  scheint". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„3.  Februar  187 1. 

Ich  verbringe  die  Zeit  sehr  angenehm.  Bei  mir  wohnt 
jetzt  der  liebe  Klimenko,  welcher  Dir  einen  Gruss  sendet. 
Ich  turne  j'etzt  drei  Mal  in  dei*  Woche.  Die  Oper  macht 
Fortschritte". 

An  I.  P.  Tschaikowsk}^ 

„14.  Februar. 

Mein  lieber  teurer  Vater!  Du  schreibst,  dass  es  nicht 
übel  wäre,  wenn  ich  wenigstens  ein  Mal  im  Monat  einen 
Brief  an  Dich  absenden  wollte. 

Nein,  nicht  ein  Mal  im  Monat,  sondern  wenigstens  alle 
Woche  einmal  müsste  ich  Dir  Bericht  erstatten  über  Alles 
was  mit  mir  vorgeht,  und  ich  wundere  mich  wahrlich, 
dass  Du  mich  noch  nicht  gründlich  ausgescholten  hast! 
Nun  werde  ich  Dich,  aber,  bei  Gott,  nie  wieder  so  lange 
ohne  Nachricht  lassen.  Bitte  Dich  kniefällig  um  V^erzeihung 
und  verspreche,  in  Zukunft  pflichtgetreuer  zu  sein.  Die 
Nachricht  vom  Tode  Onkel  Peter  Petrowitsch's  ist  vor  etwa 
fünf  Tagen  an  mich  gelangt.  Möge  Gott  ihm  ewige  Selig- 
keit zu  Teil  werden  lassen,  denn  seine  reine  und  ehrliche 
Seele  hat  es  wohl  verdient!  Ich  hoffe,  mein  Lieber,  dass 
Du  dieses  Unglück  mutig  zu  tragen  weisst.  Denke  daran, 
dass  mein  armer  Onkel  bei  seiner  schwächlichen  Körper- 
konstitution und  bei  den  vielen  Wunden,  an  denen  er  zu 
leiden  hatte,  doch  ziemlich  lange  gelebt  hat". 

Mit  diesem  Brief  schliesst  die  Korrespondenz  Peter  II- 
jitsch's  in  der  Saison  1870-  -71.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich, 
dass  Mancher  seiner  Briefe  durch  Zufall  verloren  gegan- 
gen, doch  ist  es  unzweifelhaft,  dass  Peter  Iljitsch  seit  dem 
Februar  seltener  Briefe  geschrieben  hat,  als  früher. 

Da  Peter  Iljitsch  sehr  an  Geldmangel  litt,  so  entschloss 
er  sich,  dem  Rate  N.  Rubinstein's  folgend,  ein  eignes  Kon- 
zert zu  geben.  Um  diesem  Konzert  ein  grösseres  Interesse 
zu  verleihen,  hielt  er  es  für  notwendig,  eine  neue  und  be- 


—   222    — - 

deutendere  Komposition  \on  sich  ins  Programm  aufzuneh- 
men. Auf  ein  ausverkauftes  Haus  durfte  er  freihch  nicht 
hoffen,  und  daher  war  von  einem  grossen  Orchesterkon- 
zert wegen  dessen  Kostspieligkeit  garkeine  Rede.  Aus 
diesem  Grunde  beschloss  Peter  Iljitsch  ein  Streichquartett 
zu  komponieren.  Das  war  die  Entstehungsursache  des  Quar- 
tetts K°  I  (D-dur).  Den  ganzen  Februar  war  Peter  Iljitsch 
mit  der  Komposition  dieses  Werkes  eifrig  beschäftigt. 

Das  Konzert  hat  am  i6.  März  im  Kleinen  Saal  der 
Adelsversammlung  stattgefunden  und  Peter  Iljitsch  hat  dank 
der  Mitwirkung  des  Quartettensembles  der  Russischen  Mu- 
sikalischen Gesellschaft  mit  F.  Laub  an  der  Spitze,  sowie 
N.  Rubinsteins,  hauptsächlich  aber  der  Sängerin  Frau  E. 
Lawrow^skaja,  welche  damals  auf  der  Höhe  ihrer  ausser- 
ordentlichen Popularität  stand,  wenn  auch  keine  volle,  so 
doch  eine  ziemlich  grosse  Einnahme  gehabt. 

Das  Programm  dieses  Konzerts  war  folgendes:  Erster 
Teil — i)  Quartett  für  Streichinstrumente  (D-dur)  von  P. 
Tschaikowsky  (ausgeführt  von  den  Herren:  Laub,  Hrimal}', 
Minkus  und  Fitzenhagen),  2)  Zwei  Lieder:  a.  „Nur  wer  die 
Sehnsucht  kennt"  vonTschaikowsk\',b.  „Comme  ä  vingt  ans" 
von  Durand  (gesungen  von  Frau  E.  A.  Lawrowskaja),  3)  Ro- 
manze von  Fitzenhagen  und  Mazurka  von  Popper  für 
Violoncello  (vorgetragen  von  W.  Fitzenhagen).  Zweiter 
Teil — I)  Duett  aus  der  Oper  „Der  Woiwode"  (gesungen 
von  den  Damen  Alexandrowa  und  Baikowa),  2)  Reverie 
und  Mazurka  von  Tschaikowsk}-  (vorgetragen  von  N.  Ru- 
binstein), 3)  Lieder  „So  schnell  vergessen"  und  „Wie  wehe, 
wie  süss"  von  P.  Tschaikowsky  (gesungen  von  Fr.  Ale- 
xandrowa), 4)  Violinsolo  (vorgetragen  von  Herrn  F.  Laub), 
5)  Chor  für  Frauenstimmen  „Natur  und  Liebe"  von  P. 
Tschaikowsk}'  (gesungen  von  dem  Chor  der  Schülerinnen 
Frau  Walzecks). 

Kaschkin  erzählt  in  seinen  „Erinnerungen",  dass  dieses 
Konzert  unter  Anderen  auch  I.  S.  Turgenjew  „mit  seiner 
Anwesenheit  beglückt  hat,  welcher  sich  zu  der  Zeit  gerade 
in  Moskau  befand  und  sich  für  den  jungen  Komponisten 
sehr  interessierte,  da  er  schon  im  Auslande  viel  von  ihm 
gehört  hatte.  Die  Aufmerksamkeit  des  berühmten  Schrift- 
stellers ist  nicht  unbemerkt  geblieben  und  in  einem  für 
den  Komponisten  günstigen  Sinne  beurteilt  worden.  Und 
in  der  That  hat  sich  Turgenjew  sehr  anerkennend  über 
die  Werke  Peter  Iljitsch's  geäussert,  obwohl  er  das  be- 
deutendste von  ihnen,  das  Quartett,  nicht  gehört  hat,  da 
er  zu  spät  ins  Konzert  gekommen  ist". 


—    223    — 

Ende  Mai  reiste  Peter  Iljitsch  zuerst  nach  Konotop,  dem 
Wohnort  seines  älteren  Bruders  Nikolai  Iljitsch,  dann  nach 
Kiew  zu  Anatol,  und  von  da  mit  diesem  zusammen  nach 
Kamenka,  wo  er  den  grösseren  Teil  des  Sommers  ver- 
brachte. Den  Rest  seiner  Ferien  widmete  er  seinen  Freun- 
den Kondratjew  und  Schilowsk}^,  indem  er  bei  dem  Er- 
steren  zehn  Tage,  und  bei  dem  Andern  nahezu  einen  Mo- 
nat blieb.  N.  D.  Kondratjew  war  ein  früherer  Schulkame- 
rad Peter  Iljitsch's  und  Einer  seiner  intimsten  Freunde. 
Als  1887  Peter  Iljitsch  die  Nachricht  erhielt,  dass  Kon- 
dratjew sehr  krank  sei  und  in  Aachen  im  Sterben  liege, 
verhess  Peter  Iljitsch  unverzüglich  den  Kaukasus,  wo  er 
den  Sommer  in  Gemeinschaft  mit  seinen  Brüdern  verbrachte, 
und  eilte  an  das  Krankenlager  seines  Freundes. 

Die  Besitzung  Kondratjew's,  das  Kirchdorf  Nis}'  (im 
Gouvernement  Charkow),  liegt  prachtvoll  am  Ufer  des 
schönsten  Flusses  Kleinrussland's,  dem  Psjol,  und  vereinigt 
in  sich  alle  Reize  der  südrussischen  Natur  mit  dem  hell- 
grünen Kolorit  der  nordrussischen  Landschaften,  die  Pe- 
ter Iljitsch  so  ans  Herz  gewachsen  sind.  In  den  heissesten 
Tagen  sieht  man  hier  statt  der  hoffnungslos  öden  und  aus- 
gedorrten Umgebung  Kamenka's  prachtstrotzende,  üppige 
Wiesen,  welche  von  hundertjährigen  Eichenwäldern  einge- 
fasst  sind.  Namentlich,  aber,  gefiel  Peter  Iljitsch  der  Psjol 
mit  seinem  kristallklaren,  erfrischenden  Wasser. 

Der  Ort  selbst  hat  Peter  Iljitsch  sehr  gefallen,  nur  die 
Lebensweise  nicht,  welche  nicht  ländlich  genug,  nach  städ- 
tischer Art  eingerichtet  war.  Die  vielen  Gäste  vmd  Ver- 
wandten Kondratjews,  das  damit  verknüpfte  laute  und 
festliche  Getriebe  behagten  Peter  Iljitsch  garnicht  und  er 
gab  infolgedessen  dem  Oertchen  Ussowo,  der  Besitzung 
Schilowsk\''s  den  Vorzug,  welches  zwar  nicht  so  komfor- 
tabel eingerichtet  war  und  weder  Badegelegenheit  noch 
irgendwelche  Naturschönheiten  aufzuweisen  hatte,  aber  dank 
seiner  idyllischen  Lage  inmitten  hübscher  Waldungen,  haupt- 
sächlich aber  dank  der  Einsamkeit  und  Stille,  die  dort 
herrschte,PeterIljitsch  dennoch  angenehm  war.  DerSpätsom- 
mer  ist  in  Ussowo  (Gouvernement  Tambow)  ebenso  schein, 
wie  im  Gouvernement  Charkow,  und  Peter  Iljitsch  hat  dort 
mit  grossem  Genuss  das  Ende  seiner  Ferien  verlebt.  Seit- 
dem hat  Ussowo  alle  andern  Sommerresidenzen  Peter  Il- 
jitsch's in  den  Schatten  gestellt  und  blieb  mehrere  Jahre 
hindurch  das  Ziel  seiner  Wünsche,  sobald  nur  die  Bäume 
und  Wiesen  zu  grünen  begannen. 


—   224    — 

Die  chronologische  Reihenfolge  der  Arbeiten  Peter  II- 
jitsch's  in  der  Saison  1870 — 1871  ist  folgende: 

1.  Op.  9.  Drei  Klavierstücke.  I.  Reverie,  N.  Muromzewa 
gewidmet,  II.  Polka  de  salon,  A.  Sograf  gewidmet,  III.  Ma- 
zurka de  salon,  A.  I.  Dubucjue  gewidmet. 

2.  Lied  „So  schnell  vergessen",  Text  von  Apuchtin.  Die- 
ses Lied,  sowie  die  Klavierstücke,  sind"  vor  dem  26.  Okto- 
ber 1870  komponiert  und  im  Verlag  Jurgenson  erschienen. 

3.  „Natur  und  Liebe",  Terzett  für  zwei  Soprane  und  eine 
Altstimme  mit  Chor  und  Klavierbegleitung.  Dieses  Werk 
ist  an  Frau  Walzeck  gewidmet.  Peter  Iljitsch  hat  es  im  De- 
zember 1870  speziell  für  die  Schülerinnen  jener  Gesangleh- 
rerin komponiert  und  hat  es  am  16.  März  in  seinem  Kon- 
zert zur  Aufführung  gebracht.  Nach  dem  Tode  des  Kom- 
ponisten hat  es  P.  Jurgenson  verciffentlich. 

4.  Op.  II.  Quartett  №  i  (D-dur)  für  zwei  Violinen, 
Bratsche  und  Violoncello,  gewidmet  an  Sergei  Alexandro- 
witsch  Ratschinsky.  Komponiert  im  Februar  1871.  Zum 
ersten  Mal  aufgeführt  im  Konzert  am  16.  März  1871.  Das 
Andante  dieses  Quartett's  ist  auf  einem  russischen  Volks- 
liede  aufgebaut,  welches  Peter  Iljitsch  im  Sommer  1869  in 
Kamenka  gehört  und  notiert  hat. 

5.  Lehrbuch  der  Harmonie,  verfasst  im  Laufe  des  Som- 
mers in  Nisy  bei  Kondratjew.  Verlag  Jurgenson. 

Ausserdem  hat  Peter  Iljitsch  im  Laufe  der  ganzen  Sai- 
son an  der  Oper  „Opritschnik"  gearbeitet. 


"rK- 


VIII. 
1871     1872. 

Wie  ich  bereits  mehrfach  erwähnt,  lag  es  nicht  in  Pe- 
ter Iljitsch's  Charakter,  durch  gewaltsames  Eingreifen  sei- 
nem Willen  Geltung  zu  verschaffen  und  die  Verhältnisse 
seines  äusseren  Lebens  umzugestalten.  Er  konnte  lange 
und  geduldig  warten,  und  noch  länger  beharrlich  wün- 
schen. Hat  er  doch  als  Jüngling  jahrelang  sein  Streben  zur 
Musik  widerstandslos  in  seinem  Herzen  getragen,  so  lange, 


—  225   — 

bis  die  Energie  der  Sehnsucht  die  Verhältnisse  derart  ge 
staltete,  dass  er  ohne  Gewalt,  ohne  Zerstörung  festen  Kus- 
ses den  längst  gewählten  Lebensweg  betreten  konnte!  Des- 
gleichen auch  jetzt:  schon  von  Beginn  seiner  Berufsthätig- 
keit  an  erfasste  ihn  mit  Allgewalt  das  Verlangen,  sich  von 
all'  den  Fesseln  loszumachen,  welche  seinem  Hauptlebens- 
zweck— dem  Komponieren  hindernd  im  Wege  standen. 

Aehnlich  wie  in  den  sechziger  Jahren  der  Dienst  im 
Justizministerium  Peter  Iljitsch  lästig  war  und  er  in  seinem 
Innern  seinen  genusssüchtigen  Lebenswandel  verdammte, 
trotzdem  aber  Beamter  blieb  und  seine  Beziehungen  zur 
Lebewelt  nicht  löste,  gleichsam  alswenn  er  abwarten  wollte, 
bis  der  Abscheu  vor  seinem  nichtsthuerischen  und  zweck- 
losen Dasein  seine  ganze  Seele  erfasst  haben  und  ein  Um- 
kehren als  unvermeidlich  erscheinen  lassen  würde — gerade 
so  war  es  auch  jetzt:  obgleich  er  seine  Pflichten  als  Pro- 
fessor des  Konservatoriums  nur  mit  Unlust  erfüllte  und 
oft  über  die  Verhältnisse  des  Stadtlebens  klagte,  welche 
seine  schöpferische  Thätigkeit  beeinträchtigten,  setzte  er 
dennoch  das  Unterrichtgeben  gewissenhaft  fort  und  entzog 
sich  nicht  dem  Trubel  der  Stadt,  gleichsam  alswenn  er 
ahnte,  dass  sein  Bedürfniss  nach  Aufregungen,  Verg:nü- 
gungen  und  Zerstreuungen  des  Stadtlebens  noch  nicht 
ganz  geschwunden  sei,  alswenn  er  fürchtete,  dass  es  — wenn 
er  es  jetzt  gewaltsam  unterdrücken  wollte  —  einst  in  ihm 
von  Neuem  und  mit  grösserer  Intensivität  erwachen  könnte 
und  ihn  dann  unwiderstehlich  fortreissen  würde.  Gleichsam, 
alswenn  er  wieder  abwarten  wollte  bis  er  sich  an  seiner 
Lebensweise  übersättigt  haben  würde,  um  dann  aus  dieser 
Uebersättigung  neue  Kräfte  zu  schöpfen  und  seine  heisse 
Sehnsucht. nach  Freiheit,  nach  voller  Freiheit  und  Offen- 
barung aller  in  ihm  schlummernden  schöpferischen  Keime 
zu  stillen. 

Doch  war  zui-  Erfüllung  seiner  Freiheitsträume  die  Zeit 
noch  nicht  gekommen.  Moskau  war  ihm  in  seinem  werk- 
täglichen Leben  mehr  denn  je  notwendig  und  zugleich  an- 
genehm. Er  war  noch  zu  sehr  abhängig  von  verschiedenen 
Umständen;  um  mit  ihnen  zu  brechen,  musste  er  gar  Vieles 
unternehmen:  vor  allen  Dingen  musste  er  sich  von  dem, 
wenn  auch  freundschaftlichen  Einfluss  N.  Rubinsteins  eman- 
zipieren. Das  war  der  erste  Schritt  zur  Freiheit,  den  er 
machen  musste.  Bei  all'  seiner  Freundschaft  und  Dankbar- 
keit zu  Nikolai  Gregorjewitsch,  bei  all'  der  Verehrung, 
welche  er  ihm  als  Mensch  und  Künstler  zollte,     litt  er  den- 

TachaiJcowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  iö 


22б    

noch  sehr  unter  dem  Despotismus  dieses  seines  treuesten 
und  wohhhätigsten  Freundes.  Vom  frühen  Morgen  an  und 
bis  spät  abends  musste  Peter  Iljitsch  in  allen  Kleinigkeiten 
des  täglichen  Lebens  sich  einem  fremden  Willen  fügen, 
und  das  war  umsomehr  unerträglich,  als  die  Ansichten 
der  beiden  Hausgenossen  über  v^erschiedene  Dinge,  nament- 
lich über  den  Zeitvertreib,  sowie  ihre  Gewohnheiten  und 
Gepflogenheiten  sehr  auseinandergingen. 

Wie  war  gesehen,  hatte  Peter  Iljitsch  bereits  zwei  Mal 
den  Versuch  gemacht,  sich  von  Rubinstein  zu  trennen  und 
eine  eigne  Wohnung  zu  mieten.  Aber  jetzt  erst  ist  es  ihm 
gelungen  seinen  Willen  durchzusetzen.  Einer  der  Gründe, 
welche  in  den  früheren  Jahren  Peter  Iljitsch  davon  abhiel- 
ten, gar  zu  energisch  auf  der  Trennung  zu  bestehen,  lag 
in  dem  Umstand,  dass  es  für  Nikolai  Gregorjewitsch  ge- 
radezu ein  Bedürfniss  w^ar,  mit  Jemandem  zusammen  zu 
wohnen,  und  Peter  Iljitsch  es  infolgedessen  nicht  über's 
Herz  bringen  konnte,  ihn  allein  zu  lassen.  Zum  Glück  Pe- 
ter Iljitsch's  fand  sich  nun  endlich  Einer  der  ihn  ersetzen 
konnte:  der  Allen  sehr  S3'mpatische  N.  A.  Hubert  willigte 
mit  Freuden  ein,  bei  Rubinstein  zu  wohnen. 

Somit  war  es  Peter  Iljitsch  erst  im  zweiunddreissigsten 
Lebensjahr  vergönnt,  ein  ganz  selbständiges  Leben  zu  be- 
ginnen. Seine  Frende  darüber,  endlich  allein  zu  sein  und 
sich  innerhalb  der  Wände  seiner  neuen,  drei  Stuben  um- 
fassenden Wohnung  als  unumschränkter  Herrscher  zu  fühlen, 
war  unbeschreiblich  gross.  Mit  ausserordentlicher  Sorgfalt 
ging  er  nun  dran,  die  kleine  Wohnung  möglichst  gemütlich 
einzurichten  und  auszustatten,  und  gab  sich,  als  Alles  fertig 
war,mit  rein  kindlichem  Jubel  dem  neuen  Gefühl  des  Unabhän- 
gigseins hin.  Freilich  konnte  er  für  seine  geringen  Geldmittel 
keine  grosse  Pracht  entfalten.  Seine  eizigen  Schmuckstücke 
waren:  das  Portrait  A.  Rubinsteins,  welches  ihm  die  Malerin 
Bonne  schon  anno  1865  geschenkt  hatte,  ferner  ein  Bild,  wel- 
ches Ludwig  XVII.  beim  Schuster  Simon  darstellte,  und  wel- 
ches Peter  Iljitsch  1868  in  Paris  von  W.  P.  Begitscheff 
geschenkt  worden  war.  Ein  ziemlich  grosses  Sopha  und 
einige  billige  Stühle — das  war  auch  Alles  was  unser  Kom- 
ponist sich  anschaffen  konnte. 

Er  engagierte  einen  Diener — Michael  Sofronoff,  der 
früher  bei  F.  Laub  in  Stellung  gewesen  war.  Diesen  Mi- 
chael Sofronoff  erwähne  ich  deshalb,  weil  Peter  Iljitsch 
bis  an  seinen  Tod  mit  ihm  und  seiner  Familie  Beziehun- 
gen   unterhalten    hat.   Später   vertrat    die    Stelle    Michaels 


—    227    — 

dessen  Bruder  Alexei,  der  eine  nicht  unbedeutende  Rolle 
im  Leben  Peter  Iljitscli's  gespielt  hat. 

Gleichzeitig  mit  den  Ausgaben  haben  sich  in  dieser 
Saison  auch  die  Einnahmen  Peter  Iljitsch's  vergrössert. 
hii  Konservatorium  ist  sein  Gehalt  auf  1500  Rubel  jährlich 
gestiegen,  ausserdem  erhielt  er  für  seine  Kompositionen 
von  deren  Verlegern  und  von  der  Russischen  Musika- 
hschen  Gesellschaft^)  verschiedene  Summen  Geldes — zu- 
sammen etwa  500  Rubel  jährlich. 

Zu  diesen  2000  Rubeln  kam  noch  eine  kleine  Einnahme. 
Peter  Iljitsch  ist  Rezensent  geworden;  das  kam  so:  La- 
roche, der  beständige  Mitarbeiter  der  „Moskauer  Nachrich- 
ten", hat  1871  eine  Stellung  am  Petersburger  Konservato- 
rium erhalten  und  übertrug  seine  Thätigkeit  als  musika- 
hscher  Berichterstatter  der  genannten  Zeitung  N.  A.  Hubert. 
Dieser  aber,  vernachlässigte  die  übernommenen  Pflichten 
nach  und  nach  teils  aus  Kränklichkeit,  teils  aus  Faulheit. 
Aus  Furcht,  das  Katkow  (der  Besitzer  der  Zeitung)  die 
Stelle  des  Rezensenten  einem  Andern,  vielleicht  gar  einem 
Dilettanten  übertragen,  und  dadurch  den  in  den  letzten 
Jahren  so  erfolgreichen  Gang  der  musikalischen  Entwicke- 
lung  Moskau's  hemmen  oder  schädigen  könnte,  entschlos- 
sen sich  Peter  Iljitsch  und  N.  Kaschkin,  Hubert  zu  Hilfe 
zu  kommen  und  für  ihn  einzuspringen  sobald  er  ausblieb. 
So  begann  Peter  Iljitsch  seine  journalistische  Thätigkeit, 
welche  er  bis  zur  einschliesslich  ersten  Hälfte  der  Saison 
1876  fortsetzte. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„3.  September  1871. 

....Am  29.  August  bin  ich  nach  Moskau  zurückgekehrt 
und  habe  die  Einrichtung  meiner  neuen  Wohnung  ener- 
gisch in  Angriff  genommen.  Sie  ist  sehr  nett  geworden 
und  ich  bin  ungeheuer  froh,  dass  ich  diesmal  den  Mut  ge- 
habt habe,  den  längst  gehegten  Wunsch  in  Erfüllung  zu 
bringen. 

In  Moskau  ist  Alles  beim  Alten,  ich  aber  lebe  ein  neues 
Leben,  und,  oh  W^under — sitze  bereits  den  zweiten  Abend 
zu  Hause!  Das  kommt  davon,  wenn  man  sich  heimisch 
fühlt  zu  Hause!" 


1)  Auf  Anregung  N.  Rubinsteins  zahlte  die  Russisclie  Musikalische  Gesellschaft  lür 
die  Aufluhrung  neuer  Werke  in  ihren  Sjmphoniekonzerten  den  Autoren  zwecks  Unter- 
stützung und  Aufmunterung  jedesmal  200-300  Rubel  aus. 


—    228    — 

An  Nikolai  Iljitsch  Tschaikowsk\': 

„28.  November. 

Von  mir  kann  ich  nur  berichten,  dass  ich  mich  nicht 

genug  freuen  kann  über  meinen  Entschluss,  mich  von  N. 
Rubinstein  zu  trennen.  Trotz  meiner  ganzen  Freundschaft 
zu  ilim  war  mir  das  Zusammenwohnen  mit  ihm  sehr  lästig. 
Arbeite  jetzt  eifrig  an  meiner  Oper,  welche  zum  Ende  dieses 
Jahres  fertig  werden  soll". 

An  A.  Tschaikowsk}-: 

„2.  Dezember. 

Muss  Dir  mitteilen,  dass  ich  auf  dringenden  Wunsch 

Schilowsk3''s  für  etwa  einen  Monat  in's  Ausland  reisen 
werde,  wahrscheinlich  schon  nach  10 — 14  Tagen.  Da  aber 
Niemand  in  Moskau  —  ausser  Rubinstein  —  etwas  davon 
wessen  darf,  so  sollen  Alle  in  dem  Glauben  erhalten  blei- 
ben, dass  ich  zu  Sascha  gereist  sei. 

Unser  Konservatorium  ist  ins  Schwanken  geraten,  so- 
dass seine  Zukunft  in  Frage  steht.  Ich  weiss  nur  soviel, 
dass  ich  um  der  Sache  willen  sehr  empört  sein  werde, 
wenn  es  zum  Krach  kommen  sollte,  um  meiner  selbst  wol- 
len werde  ich  mich  aber  freuen  ^).  Meine  Konservatoriums- 
pflichten sind  mir  derart  widerwärtig  geworden  und  er- 
müden und  verstimmen  mich  in  so  hohem  Grade,  dass  ich 
eine  jede  Veränderung  freudig  begrüssen  werde!  Hungers 
werde  ich  wohl  nicht  sterben.  Vielleicht  werde  ich  dann 
nach  Petersburg  übersiedeln,  oder — w^er  weiss — vielleicht 
gar  nach  KiewI! 

Meine  Oper  gedeiht  nur  sehr  langsam  und  ich  werde 
sie  w'ohl  kaum  vor  den  Grossen  Fasten  fertig  bekommen. 
Sonst  habe  Dir  Nichts  Interessantes  zu  berichten.  Dass  ich 
Zeitungsreporter  geworden  bin,  wirst  Du  wohl  schon  wis- 
sen. Das  thue  ich  aber  aus  reiner  Selbstaufopferung,  denn 
Hubert  faulenzt,  und  Fremde  zulassen  möchte  ich  nicht". 

An  A.  Tschaikowsk}-; 

„I.  Januar  1872.  Nizza. 
Meine  Reise  ist  gUicklich  von  Statten  gegangen.  Un- 


1)  Die  Geldmittel  der  Moskauer  Abteilung  der  Kussischen  Musikalischen  Gesell- 
schaft befanden  sich  in  jener  Saison  in  einer  so  misslichen  Lage,  dass  man  genötigt  war, 
an  allerhöchster  Stelle  um  eine  Subvention  nachzusuchen.  Diese  wurde  denn  auch  im 
Juni   1872  in  der  Höhe  von  20,000  Kubel  jährlich  auf  fünf  Jahre  hinaus  bewilligt. 


229    

terwegs  habe  ich  mich  einen  Tag  in  Petersburg,  einen  Tag 
in  Berhn  und  ebensolange  in  Paris  aufgehalten.  Paris  ist 
zwar  glänzend  und  belebt,  gefällt  mir  aber  nicht  mehr  so  gut 
wie  früher.  In  Nizza  bin  ich  schon  seit  acht  Tagen.  Es  ist 
gar  zu  kurios,  so  plötzlich  aus  dem  dicksten  russischen 
Winter  in  eine  Gegend  zu  geraten,  wo  man  im  Freien 
nicht  anders  als  im  blossen  Rock  (ohne  Ueberzieher)  spa- 
zieren kann,  wo  Orangen,  Rosen  und  Flieder  blühen  und 
die  Bäume  belaubt  sind.  Nizza  ist  herrlich.  Niederträchtig 
ist  nur  das  prunkvolle  Leben.  Im  Winter  vereinigen  sich 
hier  die  reichsten  Leute  der  Welt,  die  daheim  Nichts  zu 
thun  haben,  und  es  kostet  mich  viel  Mühe,  um  vom  Tru- 
bel nicht  mitgerissen  zu  werden.  Du  weisst,  wie  sehr  ich 
das  Gesellschaftsleben  gern  habe  und  wirst  begreifen,  dass 
es  mir  hier  gefällt.  Ich  muss,  überhaupt,  eine  merkwürdige 
Thatsache  feststellen.  Mit  so  leidenschaftlicher  Ungeduld 
hatte  ich  die  Abreise  von  Moskau  herbeigesehnt,  dass  ich 
in  der  letzten  Zeit  schlaflose  Nächte  verbracht,  gleich  nach 
der  Abreise  jedoch,  ergriff  mich  ein  glühendes  Heimweh, 
welches  mich  während  der  ganzen  Reise  in  Bann  hielt  und 
auch  jetzt  noch  inmitten  der  herrlichen  Natur  nicht  nach- 
lassen will.  Allerdings,  erlebe  ich  manchmal  auch  ange- 
nehme Stunden,  so  zum  Beispiel,  wenn  ich  im  glühenden 
(und  doch  nicht  quälenden)  Sonnenschein  früh  morgens 
allein  am  Meere  sitze.  Aber  selbst  diese  Momente  sind 
nicht  ohne  Schatten  von  Melancholie,  Was  folgt  daraus? — 
Dass  ich  alt  geworden  bin  und  mich  Nichts  mehr  erfreut. 
Ich  lebe  an  meinen  Erinnerungen  und  an  Hoffnungen.  Wo- 
rauf soll  man  aber  hoffen? 

Ohne  Floffnung  auf  die  Zukunft  kann  man  nicht  leben, 
so  träume  ich  denn  schon  jetzt  davon,  wie  ich  zu  Ostern 
nach  Kiew  reisen  und  einen  Teil  des  Sommers  mit  Dir  in 
Kamenka  verbringen  werde". 

An  Ilja  Petro witsch  Tschaikowsky: 

„31.  Januar.  Moskau. 

Meine  Reise   war  glücklich  und  angenehm.  Ich  bin 

in  Berlin,  Paris,  Nizza  (hier  nahezu  drei  Wochen),  Genua, 
Venedig  und  Wien  gewesen.  In  Nizza  hatten  wir  sehr 
schlechtes  Wetter:  eine  Zeit  lang  gab  es  so  starke  Regen- 
güsse und  solch  einen  Sturm,  dass  das  Meer  beinahe  ganz 
Nizza  weggewaschen  hätte.  Ein  Eisenbahnzug  ist  verun- 
glückt,  ein  Felsblock  ist  abgestürzt  und  hat   ein  grosses 


—  230  — 

Haus  zertrümmert  und  viele  Menschen  verschüttet.  Es  wa- 
ren, allerdings,  auch  herrliche  Tage.  Manchmal  war  es  so 
heiss,  лу1е  bei  uns  im  Juni.  Wenn  meine  Reise  auch  an- 
genehm gewesen,  so  hat  mich  die  Unthätigkeit  zuletzt  doch 
ermüdet  und  ich  bin  mit  Vergnügen  nach  Moskau  zurück- 
gekehrt". 

An  A.  Tschaikowsk}^: 

„31.  Januar. 

Aus  Wien   wollte  ich   eigentlich  zuerst  nach  Kiew 

reisen  und  habe  einen  ganzen  Tag  geschwankt,  ob  ich, 
der  Notwendigkeit  gehorchend,  direkt  nach  Moskau  gehen, 
oder  meinem  Herzenswunsche  nachgeben  und  bei  Dir  ein- 
kehren sollte.  Die  Berechnung  der  Reisekosten  und  die 
grosse  Zeitversäumniss,  welche  mein  Aufenthalt  in  Kiew 
mit  sich  bringen  müsste,  haben  entschieden,  dass  ich  den 
direkten  Weg  nach  Moskau,  d.  h.  den  über  Smolensk,  zu 
wählen  habe". 

hii  Jahre  187 1  wurde  in  Moskau  zur  Feier  des  200-sten 
Geburtstages  Peters  des  Grossen  eine  grosse  Polytechnische 
Ausstellung  geplant.  Der  Vorsitz  bei  den  musikalischen 
Angelegenheiten  der  Ausstellung  wurde  anfangs  N.  Rubin- 
stein übertragen,  als  aber  Dieser  sich  zurückzog,  weil  seine 
Unternehmungen  nach  der  Ansicht  des  Komitee's  der  Aus- 
stellung zu  viel  Geld  erforderten  und  überhaupt  zu  breit 
angelegt  waren,  da  wurde  seine  Stelle  dem  berühmten 
Cellisten  K.  Dawidow  angeboten,  welcher  sie  auch  annahm, 
trotzdem  er  wohl  einsah,  dass  er  Rubinstein  gegenüber  in 
eine  etwas  unbequeme  Lage  geraten  und  dass  es  nur  Ru- 
binstein allein  geziemte,  Festdirigent  zu  sein.  Damit  aber 
die  verantwortliche  Stellung  nicht  in  unberufene  Hände 
(am  Ende  gar  an  einen  Dilettanten)  gerate,  entschloss  sich 
Dawidow,  wie  gesagt,'  dennoch,  den  Vorsitz  zu  führen  und 
engagierte  zu  Mitgliedern  des  musikalischen  Komitees  Ba- 
lakireff  und  Laroche.  Balakireff  hat  aber  das  Engagement 
nicht  sogleich  angenommen,  sondern  geantwortet,  dass  er 
vorerst  die  Meinung  Nikolai  Rubinsteins  über  das  Eindrin- 
gen der  Petersburger  Musiker  in  die  musikalischen  Ange- 
legenheiten Moskau's  einholen  wolle  und  nur  im  Falle  eines 
Einverständnisses  seitens  Nikolai  Gregorjewitsch's  das  ihm 
angebotene  Amt  übernehmen  würde.  Da  aber  zwei  Mo- 
nate lang  keine  weitere  Nachricht  von  ihm  erfolgte,  so 
beschloss  das  Komitee  auf  seine  Mitgliedschaft  zu  verzieh- 


—    231    — 

ten,  und  ■  wählte  statt  seiner  Rimsky-Korsakoff;  ausserdem 
wurden  zu  Mitgliedern  gewählt:  Asantschewsky  (der  da- 
malige Direktor  des  Petersburger  Konservatoriums),  Wurm 
und  Leschetizk}^ 

Dieses  eigenartige  Moskauer  Komitee,  welches  durch- 
weg aus  Petersburgern  zusammengesetzt  war,  hat  ein 
Projekt  der  musikalischen  Sektion  der  Ausstellung  aus- 
gearbeitet und  unter  Anderem  den  Beschluss  gefasst,  Pe- 
ter Iljitsch  Tschaikowsky  die  Komposition  einer  Festkan- 
tate zu  übertragen,  deren  Text  eigens  zu  diesem  Zweck 
bei  dem  Dichter  I.  P.  Polonsky  bestellt  werden  sollte. 

Ende  Dezember  oder  Anfang  Januar  hat  Polonsky  denn 
auch  den  bereits  fertigen  Text  an  das  Komitee  abgeliefert, 
was  Laroche  in  seinem  Brief  vom  7.  Januar  an  Peter  Il- 
jitsch folgendermassen  mitteilt: 

„Da  ich  nicht  weiss,  ob  dieses  Schreiben  Sie  noch  in 
Nizza  antreffen  wird,  sende  ich  Ihnen  den  Text  der  Kan- 
tate noch  nicht:  fürchte,  er  könnte  verloren  gehen.  Die 
Wahrheit  zu  sagen,  ist  der  Text  sehr  antimusikahsch, 
aber — das  muss  Ihnen  schliesslich  gleich  sein,  denn  es  soll 
ja  nur  ein  bestelltes  Ausstellungsstück  werden  und  nicht 
eine  wer  weiss  wie  stimmungsvolle  Schöpfung;  es  ist  dazu 
auch  schon  zu  spät,  einen  anderen  Text  zu  besorgen;  ich 
bin,  übrigens,  überzeugt,  dass  Sie  als  Fachmusiker,  auch 
bei  etlichen  Mängeln  des  Textes  das  Richtige  zu  treffen 
wissen  werden.  Sie  dürfen  laut  Einverständniss  Polonsky's 
und  auch  Dawidow's,  beliebige  Kürzungen  vornehmen.  Po- 
lonsky wünscht  nur,  dass  wenigstens  auf  dem  Programm 
der  ganze  Text  ungekürzt  beibehalten  bleibe,  denn  er 
„schätzt  die  Idee  (welche  er  in  seinem  Werke  zum  Aus- 
druck gebracht  zu  haben  glaubt)  und  deren  Entwickelung 
sehr  hoch".  Möchte  noch  hinzufügen,  dass  manche  Stellen 
des  Gedichts  für  einen  Komponisten  mit  lebendiger  Phan- 
tasie und  feinem  Gefühl  allerdings  recht  dankbar  sein  müs- 
sen. 760  Rubel  hat  Dawidow  bewilligt.  Die  gewissenhafte 
Auszahlung  des  Honorars  an  Polonsky  soll  Ihnen  dafür 
bürgen,  dass  jene  Summe  kein  „Fimm"  sind,  wie  der 
Kriegsminister  Suchozanet  sich  auszudrücken  pflegte.  Es 
wäre  sehr  schön,  wenn  Euer  Hochwohlgeboren  ein  Glanz- 
und  Paradestück  in  technischer  Beziehung  leisten  wollten 
(da  beim  Eröffnungskonzert,  in  welchem  die  Kantate  zur 
Aufführung  kommen  soll,  wahrscheinlich  viele  Ausländer 
zugegen  sein  werden,  so  würde  es  garnichts  schaden,  ihnen 
zu  zeigen,  dass  wir  nicht  nur  über  „reizende  Nationalme- 


—    232    — 

lodieen",  sondern  auch  über  ein  ernstes  Können  verfügen) 
Dawidow  ratet  Ihnen,  etwaige  Schwierigkeiten  mögHchst 
alle  ins  Orchester  zu  verlegen,  und  nicht  in  den  Chor, 
denn  der  Moskauer  Chor  —  übrigens,  wissen  Sie  selber, 
was  von  dem  Moskauer  Chor  geleistet  werden  kann.  Die 
Einstudierung,  sowie  die  Aufführung  der  Kantate  hat  Da- 
widow in  meine  Hände  gelegt;  er  hat  mir  überhaupt  den 
ganzen  russischen  Teil  der  aufzuführenden  Kompositionen 
anvertraut". 

Wenn  zur  Fertigstellung  eines  an  Peter  Iljitsch  erteil- 
ten Auftrags  ein  bestimmter  Termin  festgesetzt  wurde,  so 
pflegte  er,  die  Arbeit  schon  vor  Ablauf  der  Frist  zu  be- 
enden, jedenfalls  verspätete  er  niemals.  Daher  liegt  die 
Vermutung  nahe,  dass  er  auch  diesmal  die  bestellte  Arbeit 
rechtzeitig  fertigbekommen  und  die  Kantate  zum  i.  April 
an  das  Komitee  abgeliefert  hatte.  Da  Peter  Iljitsch  den 
Text  der  Kantate  erst  bei  seiner,  Ende  Januar  erfolgten 
Rückkehr  nach  Moskau  zu  Gesicht  bekam,  so  hat  er  dem- 
nach nur  zwei  Monate  (Februar  und  März)  gebraucht,  um 
die  umfangreiche  und  komplizierte  Partitur  zu  komponieren. 

Im  April  hat  er  an  seinem  „Opritschnik"  weitergear- 
beitet und  denselben  bereits  in  den  ersten  Tagen  des  Mai 
zum  Abschluss  gebracht. 

Das  Alles  kann  ich  nur  vermuten,  da  aus  der  Zeit 
zwischen  dem  31.  Januar  und  4.  Mai  nicht  ein  einziger 
Brief  Peter  Iljitsch's  erhalten  geblieben  ist. 

Die  Partitur  des  „Opritschnik"  wurde  an  Eduard  Franzo- 
witsch  Näprawnik  nach  Petersburg  nebst  folgendem  Begleit- 
schreiben übersandt: 

„Moskau,  d.  4.  Mai. 

Sehr  geehrter  Herr!  Sende  Ihnen  die  Partitur  meiner 
Oper  „Opritschnik".  Gestatten  Sie  mir,  die  Bitte  an  Sie 
zu  richten,  mein  Werk  wohlwollend  zu  beurteilen  und 
Ihren  mächtigen  Einfluss  dahin  geltend  zu  machen,  dass 
das  Werk  zur  Aufführung  angenommen  werde. 

Hochachtungsvoll 

P.  Tschaikowsky". 

Die  Kantate  wurde  am  31.  Mai,  dem  feierlichen  Eröff- 
nungstage der  Moskauer  Polytechnischen  Ausstellung,  in 
dem  um  2  Uhr  Mittags  stattgefundenen  Festkonzert  zum 
ersten  Mal  aufgeführt.  Der  Bericht  der  „Moskauer  Nach- 
richten" lautet  folgendermassen:   „In  dem  Festkonzert  ge- 


—  233  — 

legentlich  der  Eröffnung  der  Ausstellung,  welches  um  2 
Uhr  Mittag  unter  freiem  Himmel  (an  der  Troizker-Brücke) 
veranstaltet  worden  ist,  kam  unter  Anderem  auch  die  vom 
musikalischen  Komitee  der  Ausstellung  an  Professor  P. 
Tschaikowsky  bestellte  Kantate  für  grosses  Orchester,  Chor 
und  Tenorsolo  zur  Aufführung.  Der  Text  rührt  von  I.  Po- 
lonsk\A  her.  Am  Dirigentenpult  stand  der  Vorsitzende  des 
musikalischen  Komitees,  der  berühmte  Cellist  K.  Dawidow. 
Chor  und  Orchester  waren  vom  Grossen  Theater  gestellt. 
Das  Tenorsolo  sang  Herr  DodonofT.  Ein  geringer  Teil  des 
Publikums  hatte  auf  dem  Podium  (da  waren  Stühle  auf- 
gestellt) Platz  gefunden.  Die  übrigen  Anwesenden  befan- 
den sich  im  Garten  und  haben,  wie  man  sagt,  vom  gan- 
zen Konzert  nicht  eine  Note  gehört.  Die  Töne  verflogen 
in  alle  Winde,  und  das  Publikum  hat  daher  garkeine  Vor- 
stellung vom  Werk  gewonnen.  Nach  dem  Urteil  Einiger, 
die  es  in  den  Proben  kennen  gelernt  haben,  soll  es  ganz 
hervorragend  schön  sein.  Wie  verlautet  soll  die  Kantate 
im  Exerzierhause  wiederholt  werden.  Bei  dem  heutigen 
Konzert  war  Seine  Kaiserhche  Hoheit  der  Grossfürst  Kon- 
stantin Nikolaje witsch  anwesend". 

Bald  nach  diesem  Fest  verliess  Peter  Iljitsch  Moskau 
und  verbrachte  den  ganzen  Monat  Juni  in  Kamenka.  Hier 
begann  er  seine  2.  S34nphonie  (C-moll).  Anfang  Juli  reiste 
er  dann  nach  Kiew  und  von  da  mit  Modest  zusammen  zu 
Kondratjew  nach  Nisy.  Ein  Teil  des  Weges  (von  der  vSta- 
tion  der  Moskau — Kursker  Eisenbahn,  Woroschba,  bis  zum 
Städtchen  Sum}^  woselbst  uns  Kondratjews  Equipage  er- 
warten sollte)  musste  per  Diligence  zurückgelegt  werden. 
Nach  zehntägigem  Aufenthalt  in  Nisy  verabschiedeten  wir 
uns  von  Kondratjew  und  fuhren:  ich  nach  Kiew  zurück 
und  Peter  Iljitsch  nach  Üssowo  zu  Schilowsky.  Bis  W^o- 
roschba  hatten  wir  gemeinsamen  Weg  und  bestellten  uns 
in  Sum}',  einer  übermütigen  Laune  folgend,  statt  zweier 
Plätze  in  der  Diligence  einen  besonderen  Wagen.  Zwischen 
Sumy  und  Woroschba  befand  sich  eine  Poststation,  wo  ge- 
wöhnlich die  Pferde  gewechselt  wurden.  Wir  waren  Beide 
in  der  besten  Stimmung  und  nahmen  auf  jener  Station  ein 
opulentes  Frühstück  mit  Schnaps  und  Wein  ein.  Der  Wein 
und  der  Schnaps  wirkten  auf  nüchternen  Magen  ziemlich 
stark,  sodass  wir,  als  man  uns  meldete,  dass  keine  Pferde 
zur  Weiterfahrt  vorhanden  wären,  in  grossen  Zorn  ge- 
rieten und  den  Stationsvorsteher  tüchtig  ausschalten.  Die- 
ser aber  liess  sich  eine  derartige  Behandlung  seitens  sol- 


—  234  — 

eher,  nicht  besonders  vornehm  aussehender  Durchreisen- 
den durchaus  nicht  gefallen  und  begann  nun  seinerseits 
uns  anzuschreien.  Peter  Iljitsch  verlor  seine  ganze  Selbst- 
beherrschung und  konnte  die  übliche  Phrase:  „wissen  Sie 
auch  mit  wem  Sie  reden?"  nicht  vermeiden.  Der  Stations- 
vorsteher liess  sich,  jedoch,  durch  diese  abgedroschene 
Drohung  nicht  einschüchtern  und  antwortete,  er  habe  es 
durchaus  nicht  nötig,  sich  um  den  ersten  besten  Herkömmling 
zu  bekümmern.  Diese  verächtlichen  Worte  versetzten  Pe- 
ter Iljitsch  vollends  in  Wut  und  er  forderte  barsch  das 
Beschwerdebuch.  Der  Stationsvorsteher  brachte  es  sofort 
und  Peter  Iljitsch,  w^elcher  aus  dieser  Bereitwilligkeit  fol- 
gern zu  müssen  glaubte,  dass  eine  mit  dem  unbekannten 
Namen  Tschaikowsky  unterschriebene  Beschwerde  nicht 
die  Wirkung  ausüben  würde  nach  der  seine  Rachsucht 
dürstete,  unterzeichnete  schnell  entschlossen:  „Fürst  Wol- 
konsk}^,  Kammerjunker".  Der  Erfolg  war  ein  glänzender: 
es  verging  keine  Viertelstunde,  als  der  Stationsvorsteher 
die  Meldung  brachte,  dass  die  Pferde  angespannt  seien, 
und  unterthänigst  um  \^erzeihung  flehte,  indem  er  die 
Schuld  dem  Oberstallmeister  in  die  Schuhe  schob,  der  ihm 
pflichtvergessenerweise  nicht  rechtzeitig  mitgeteilt  habe, 
dass  ein  Paar  Pferde  zurückgekommen  seien. 

Als  wir  in  Woroschba  anlangten  war  es  die  höchste 
Zeit,  denn  der  Zug,  der  Peter  Iljitsch  nach  Ussowo  brin- 
gen sollte,  kam  schon  angebraust.  In  aller  Eile  trat  Peter 
Iljitsch  an  den  Billetschalter  und  bemerkte  jetzt  erst  mit 
Schrecken,  dass  sein  Portefeuille  mit  seinem  ganzen  Geld 
und  allen  Papieren  auf  der  Poststation  neben  dem  Beschwer- 
debuch liegen  geblieben  war.  Was  thun?  Jedenfalls  konnte 
nun  Peter  Iljitsch  mit  diesem  Zuge  nicht  mehr  mit  und 
musste  bis  zum  nächsten  Tage  warten.  Das  war  schon 
langweilig  genug.  Viel  schlimmer  noch,  als  das,  war  aber 
der  Gedanke,  dass  der  Stationsvorsteher  inzwischen  den 
Inhalt  des  Portefeuilles  näher  geprüft  und  aus  dem  darin 
befindlichen  Pass  Peter  Iljitsch's  sowie  seinen  Visitenkar- 
ten unseren  richtigen  Namen  ersehen  habe.  Während  wir 
ganz  niedergeschmettert  dasassen  und  überlegten,  was  wir 
"unternehmen  sollten,  kam  auch  mein  Zug  an.  Trotz  des 
lebhaftesten  Protestes  meinerseits  bestand  Peter  Iljitsch  da- 
rauf, dass  icli  WTMterfahren  sollte.  Ich  gab  denn  auch  schliess- 
lich nach  und  dampfte  nach  Kiew  ab,  nachdem  ich  dem 
armen  Pseudofürsten  den  grösstenTeil  meines  fünf  oder  sechs 
Rubel  betragenden  Vermögens  geborgt  hatte. 


—  235  — 

„Nachdem  Du  abgefahren  warst", — schrieb  er  mir  noch 
am  selben  Tage, —  „ging  ich  auf  das  DiHgencenbureau  und 
bat  den  Direktor  desselben,  Nawrotzk}^,  er  möchte  doch 
so  liebenswürdig  sein  und  einen  der  Kutscher  beauftragen, 
mir  das  liegengelassene  Portefeuille  wiederzubringen,  damit 
ich  nicht  selbst  hinzufahren  brauche.  Er  fragt  mich  nach 
meinem  Namen  und  ich  antworte  mit  der  grössten  Frech- 
heit „Fürst  Wolkonsky".  Sofort  tituliert  mich  Nawrotzky 
„Durchlaucht"  und  verspricht  mit  der  zuvorkommendsten 
Höflichkeit,  mir  die  Fahrt  zu  ersparen,  ohrfeigt  in  meiner 
Anwesenheit  einen  Kutscher,  der  ihm  vorgelogen,  dass 
mir  500  Rubel  abhanden  gekommen  seien,  und  springt 
überhaupt  in  devotester  Weise  um  mich  herum.  Augen- 
blicklich sitzt  „Durchlaucht"  im  Hotel,  langweilt  sich  fürch- 
terlich und  denkt  mit  Schrecken  an  die  Morgen  bevorste- 
hende Entlarvung". 

Die  Nacht,  die  der  arme  Peter  Iljitsch  im  Hotel  zu- 
brachte, war  schrecklich.  Vor  Allem  liessen  ihm  Ratten 
und  Mäuse — die  er  wie  den  Tod  fürchtete  —  keine  Ruhe; 
er  hatte  mit  den  grässlichen  Tieren,  die  über  sein  Bett, 
über  Tische  und  Stühle  liefen  und  ein  greuliches  Gepolter 
anstellten,  einen  wahren  Kampf  zu  bestehen.  Und  am  näch- 
sten Morgen  kam  die  Nachricht,  dass  der  Stationsvorste- 
her es  strikt  abgelehnt  habe,  das  Portefeuille  dem  Kutscher 
anzuvertrauen.  Peter  Iljitsch  musste  also  nolens  volens 
selbst  hinfahren.  Das  war  schlimmer  noch  als  die  schlaf- 
lose Nacht  und  der  Kampf  mit  den  Ratten.... 

Das  war  fürwahr  eine  böse  Vergeltung  für  den  unvor- 
sichtigen Scherz  und  stand  mit  der  Schuld  in  garkeinem 
Verhältniss.  Oft  erzählte  Peter  Iljitsch  später,  dass  er  nie 
in  seinem  Leben  widerwärtigere  Stunden  zugebracht  und 
grössere  Angst  ausgestanden  habe,  als  damals  auf  der 
Fahrt  von  Woroschba  nach  der  verhängnisvollen  Station. 
Zum  Glück  nahm  die  ganze  Geschichte  mit  dieser  Fahrt 
ein  Ende.  Schon  gleich  bei  seiner  Ankunft  merkte  Peter 
Iljitsch,  dass  der  Stationsvorsteher  das  Portefeuille  nicht 
geöffnet  hatte,  denn — ehe  er  (Peter  Iljitsch)  noch  den  Wa- 
gen verlassen — kam  ihm  Der  schon  entgegen  und  brachte 
Tausend  unterthänigste  Entschuldigungen  vor,  dass  er  es 
gewagt  „Durchlaucht"  persönlich  zu  bemühen.  Die  Ehr- 
lichkeit dieses  Mannes  überraschte  und  erfreute  Peter  Iljitsch 
derart,  dass  er  sich  nun  seinerseits  bei  ihm  ob  seiner  ge- 
strigen Ungehaltenheit  entschuldigte  und  ihn  zum  Abschied 
noch  nach   seinem  Namen  fragte.  Wie  erstaunte  er  aber. 


—  236  — 

als  der  Stationsvorsteher  sich  TschalJcov\4l"!i  nannte!  hn 
ersten  Augenblick  dachte  er,  dass  das  seitens  des  Vorste- 
hers ein  geistreicher  Scherz  oder  eine  Art  Rache  sei,  doch 
war  dem  nicht  so,  denn  nach  dem  Ergebniss  der  später 
von  Kondratjew  angestellten  Erkundigungen  führte  der 
Stationsvorsteher  in  der  That  den  Namen  Tschaikowsky. 
Den  Rest  des  Sommers  verlebte  Peter  Iljitsch  in  Ussowo 
und  beendete  daselbst  die  in  Kamenka  begonnene  Sym- 
phonie. 

Die  chronologische  Reihenfolge  der  Arbeiten  Peter  II- 
jitsch's  war  in  dieser  Saison  folgende: 

1.  Op.  IG.  Zwei  Klavierstücke:  Nocturne  und  Humo- 
resque.  Sie  sind  wahrscheinlich  im  Dezember  187 1  in  Nizza 
entstanden.  Der  mittlere  Teil  des  zweiten  Stückes  ist  ein 
französisches  Volkslied.  Beide  Stücke  sind  Wladimir  Schi- 
lowsky  gewidmet.  Verlag  Jurgenson. 

2.  Kantate  für  Chor,  Orchester  und  Tenor-Solo.  Text 
von  Polonsky.  Komponiert  im  Laufe  des  Februar  und  März 
1872.  Aufgeführt  am  31.  Mai  1872  unter  K.  Dawidow's 
Leitung.  Das  Manuscript  der  Partitur  befindet  sich  in  der 
Bibliothek  der  Kaiserlichen  Theater  zu  Moskau. 

3.  „Opritschnik",  Oper  in  4  Akten.  Begonnen  Ende 
Januar  1870,  beendet  im  April  1872.  Gewidmet  Seiner 
Kaiserlichen  Hoheit  dem  Grossfürsten  Konstantin  Niko- 
lajewitsch.  Verlag  Bessel. 

Die  in  Versen  geschriebene  Tragödie  von  Lashetschni- 
koff,  „Opritschnik",  ist  im  Libretto  derart  verändert,  dass 
ich  zwecks  bequemeren  Vergleiches  der  Originaldichtung 
mit  dem  Operntextbuch  es  für  notwendig  halte,  das  Sce- 
narium  der  Ersteren  ausführlich  darzulegen. 

Der  erste  Aufzug  beginnt  (ebenso  wie  auch  die  Oper) 
im  Schlossgarten  des  Fürsten  Shemtschushny.  Der  junge 
Andrei  Morosoff,  welcher  aus  einem  Feldzug  zurückgekehrt 
ist,  erwartet  hier  seine  Geliebte,  die  Tochter  des  Fürsten, 
Natalie,  welche  vor  Furcht  zitternd  zu  ihm  kommt.  Andrei 
hatte  von  der  alten  Muhme  Zacharjewna  gehört,  dass  Na- 
talie mit  dem  Bojaren  Moltschan  Mitjkow  verheiratet  wer- 
den soll,  und  diese  Kunde  beunruhigt  ihn  sehr.  Er  fragt 
Natalie,  ob  sie  ihn  noch  lieb  habe,  worauf  sie  antwortet, 
dass  sie  ihn  immer  noch  lieb  und  während  der  ganzen 
Zeit  seiner  Abwesenheit  zur  heiligen  Mutter  Gottes  gebe- 
tet habe,  Sie  möge  ihn  beschützen  und  vor  des  Feindes 
Schwert  bewahren.  Andrei  fragt  weiter,  ob  sie  einen  An- 


—  237  — 

dern,  den  sie  nicht  liebt,  heiraten  würde,  wenn  es  ihr  Va- 
ter so  wollte.  Sie  antwortet:  „Wenn  es  der  Vater  befiehlt — 
wohl!" — „Was  gilt  mir  dann  Deine  Liebe?" — „Weiss  selbst 
nicht  wie  mir  ist...  Doch  dem  Willen  des  Vaters  kann  ich 
nicht  trotzen:  befiehlt  er's — thue  ich's,  und  werde  die  Frau 
eines  Andern....  (sie  weint)  doch  werde  ich  dann  nicht 
lange  leben:  gar  bald  wird  man  mir  ein  anderes  Kränz- 
lein winden  müssen".  Andrei  ist  beruhigt:  sie  liebt  ihn  und 
keinen  Andern.  „Wenn  dem  so  ist,  dann  wird  sie  mein", 
denkt  er  bei  sich, —  „Alles  spricht  für  mich:  vornehm  bin 
ich,  jung  und  reich!" — Er  ahnt  es  noch  nicht,  dass  er  in- 
zwischen seiner  ganzen  Habe  beraubt  worden  ist. 

hn  zweiten  Bild  des  ersten  Aufzuges  erweist  es  sich, 
dass  Nataliens  Vater,  der  Fürst  Shemtschushny  in  Gemein- 
schaft mit  dem  von  ihm  bestochenen  Djak  ^)  Podsjedin  laut 
eines  gefälschten  Testaments  Andrei  Morosoff,  während 
dieser  im  Feldzug  war,  ihn  enterbt  hatte. 

Ferner  empfängt  der  habgierige  und  hinterlistige  Alte 
den  reichen,  aber  nicht  mehr  jungen  Mitjkoff,  der  gekom- 
men ist,  Natalie  zu  freien,  in  allen  Ehren  und  verspricht 
ihm  die  Hand  seiner  Tochter.  Andrei  jedoch,  der  ebenfalls 
erscheint  und  um  die  Hand  Nataliens  wirbt,  jagt  Shemt- 
schushny wie  einen  obdachlosen  Bettler  zur  Thür  hinaus. 

hn  ersten  Bild  des  zweiten  Aufzuges  sehen  wir  einen 
Marktplatz  in  der  inneren  Stadt  Moskau's.  Allerlei  Leute 
kommen  und  gehen.  Auch  Andrei  Morosoff  wandelt  auf 
und  ab.  Er  ist  finster  und  missmutig  und  brütet  auf  Ra- 
che. Plötzlich  erscheinen  mehrere  Opritschniks  und  eine 
Panik  ergreift  das  Volk:  die  Läden  werden  eiligst  geschlos- 
sen, ein  Jeder  sucht  hastig  seine  Waren  in  Sicherheit  zu 
bringen.  Viele  ergreifen  die  Flucht.  Nur  einige  Beherzte 
finden  sich,  die  es  wagen,  den  Opritschniks,  diesen  „Hun- 
deköpfen" entgegenzutreten  und  sich  gegen  ihre  Gewalt- 
thätigkeiten  zu  wehren.  Andrei  stellt  sich  an  die  Spitze 
der  kleinen  Schaar,  und  es  entspinnt  sich  ein  regelrechter 
Kampf.  Da  erscheint  auf  der  Bildfläche  der  Günstling  des 
Zaren,  Fedor  Basmanoff,  der  zugleich  AndreT's  Freund  ist 
und  oft  mit  ihm  Seite  an  Seite  gefochten  hatte;  Andrei 
hatte  ihm  sogar  einmal  das  Leben  gerettet.  Er  befiehlt  den 
Opritschniks  sich  zu  entfernen  und  begrüsst  seinen  Freund. 
Andrei  erzählt  ihm  von  seinem  Unglück.  Basmanoff  will 
ihm  helfen  und  spricht  ihm  Trost   zu;   er   will   dafür  sor- 


1)  Ein  Djak  war  in  danialii;er  /cit  ein  Slaatsbeaniler,  eine  Art    Notar    und    Richter 
zugleich. 


-  2з8  - 

gen,  dass  er  seine  Braut  wiedergewinnt  und  seine  Habe 
zurückerhält,  nur  eine  Bedingung  knüpft  er  daran:  Andrei 
muss  Opritschnik  werden.  Nach  einigem  Zögern  geht  An- 
drei auch  darauf  ein,  denn  nur  so  ist  ihm  die  Möghchkeit 
gegeben,  an  Shemtschushny  Rache  zu  üben. 

hii  zweiten  Bild  des  zweiten  Aufzuges  bringt  Andrei 
seiner  Mutter  Geld,  welches  er  von  Basmanoff  erhalten 
hatte,  und  teilt  ihr  mit,  dass  er  sich  aufmachen  will  Ge- 
rechtigkeit zu  suchen,  verschweigt  aber  sein  Vorhaben, 
Opritschnik  zu  werden. 

Erstes  Bild  des  dritten  Aufzuges:  die  Freunde  des  ver- 
storbenen Vaters  Andrei's,  die  Bojaren  Fedoroff  und  Wis- 
kowatoff,  versuchen  Mitjkow  zu  überreden,  seiner  Braut 
Natalie  zu  entsagen  und  sie  dem  jungen  Andrei"  Morosoff 
zu  überlassen.  Mitjkow,  welcher  jetzt  erst  erfährt,  dass 
Natalie  und  Andrei  sich  gegenseitig  lieben  und  nur  durch 
die  Grausamkeit  Shemtschunshny's  von  einander  getrennt 
worden  sind,  verzichtet  grossmütig  auf  die  Heirat  und  be- 
schliesst,  in  Gemeinschaft  mit  den  genannten  Bojaren  zum 
Zaren  Joann  Grosny  ')  zu  gehen  und  von  ihm  die  Ent- 
lassung Andrei's  aus  der  Opritschina  zu  erflehen.  Sie  neh- 
men auch  die  alte  unglückliche  Mutter  Andrei's  mit. 

Im  zweiten  Bild  dieses  Aufzuges  sehen  wir  die  Alexan- 
drowskaja  Sloboda  -).  Grosny  erscheint,  begleitet  von  eini- 
gen in  Mönchsgewänder  gekleideten  Opritschniks.  Nach 
einigen  episodischen  Scenen  kommt  Fedor  Basmanoff.  Er 
ist  mit  Andrei  und  dem  Djak  Podsjedina  nach  Alexan- 
drowskaja  Sloboda  gekommen  und  bittet  Grosny,  Andrei 
in  Schutz  zu  nehmen  und  den  Fürsten  Shemtschushn}^  zu 
strafen.  Podsjedina  wird  hereingeführt  und  gesteht,  dass 
jenes  Testament  gefälscht  war.  Andrei  wird  in  die  Oprit- 
schina aufgenommen  und  muss  ein  Gelübde  ablegen:  er 
muss  Allem  entsagen,  was  ihm  lieb  und  teuer  ist  und  schwö- 
ren, dass  er  nur  dem  Zaren  dienen  und  nur  Diesem  blin- 
den Gehorsam  entgegenbringen  werde.  Andrei  leistet  den 
Eid  und  wird  zum  Opritschnik  ernannt.  Grosny  schenkt 
ihm  das  Vermengen  des  Vaters  zurück  und  erteilt  ihm  das 
Recht,  sich  an  Shemtschushny  zu  rächen,  wie  er  will. 

Im  ersten  Bild  des  vierten  Aufzuges  dringen  Andre'i 
und  Basmanoff  während  eines  Festes  bei  Shemtschushny 
in  dessen  Haus  ein  und  verkünden  den  Willen  des  Zaren. 


1)  Grosny-der  Grausame. 

ü)  Alexandi-owskaja  Sloboda  hiess  der  Ort,  wo    sich   Joann    Grosnj',    umgeben   von 
seinen  Ojjritsclinilis,  aufgehalten  hatte. 


—  239  - 

Natalie  ist  voller  Entsetzen,  Andrei  als  Opritschnik  zu  se- 
hen, sträubt  sich,  ihm  zu  folgen  und  wird  mit  Gewalt  fort- 
geführt, hn  zweiten  Bild  dieses  Aufzuges  sehen  wir  die 
drei  Bojaren  Wiskowatoff,  Fedoroff  und  Mitjkow  vor  Joann 
Grosny.  Mitjkow  fleht  den  Zaren,  Morosoff  aus  der  Opri- 
tschina  zu  entlassen,  während  die  andern  Beiden  auf  das 
„arme  verwaiste  russische  Land"  hinweisen,  über  die  Ver- 
derblichkeit der  Opritschina  schelten  und  den  Zaren  fle- 
hentlich bitten,  nach  Moskau  zurückzukehren.  Grosny  lässt 
in  seinem  Zorn  alle  drei  Bojaren  ergreifen  und  hinrichten. 
Fünfter  Aufzug,  erstes  Bild:  Andrei  ist  in  grosser  Ver- 
stimmung: die  Opritschina  lastet  auf  ihm.  Ausserdem  be- 
trübt ihn  sehr  Nataliens  Unwillen  über  seine  Handlungs- 
weise. Der  Opritschnik  Wjasemsky,  der  schon  von  Be- 
ginn an  Morosoff  nicht  gut  leiden  kann,  versteht  es  so 
einzurichten,  dass  Joann  Grosny  von  einem  Versteck  aus 
das  Murren  Andrei's  über  die  Opritschina  mit  anhört.  Plötz- 
lich erscheint  er  vor  Andrei  und  sagt  ihm,  dass  er  ent- 
schlossen sei,  seiner  Mutter  Wunsch  zu  erfüllen  und  Mitj- 
kow's  Bitte  zu  erhören,  dass  er  ihn,  Andrei,  in  Gnaden 
aus  der  Opritschina  entlassen  wolle,  dass  er  aber  es  gern 
sehen  würde,  wenn  Andrei  seine  Hochzeit  noch  als  Oprit- 
schnik und  in  der  Alexandrowskaja  Sloboda  feiern  würde. 
Ohne  die  schreckliche  Falle,  die  hinter  diesen  Worten 
Grosny's  lag,  zu  ahnen,  eilt  Andrei  zu  Natalie  und  teilt 
ihr  seine  grosse  Freude  mit.  Im  zweiten  Bild  (welches  in 
der  Oper  zugleich  das  letzte  ist)  wird  die  Hochzeit  ge- 
feiert. Plötzlich  kommt  Wassili  Grjasnoi,  ein  Gesandter 
des  Zaren,  und  sagt  Andrei,  dass  Grosny  ihm  befohlen 
habe,  die  junge  Braut  Natalie  zu  ihm  zu  bringen,  er  wün- 
sche, sich  von  ihrer  Schönheit  persönlich  zu  überzeugen. 
Andrei  ist  darob  voller  Entrüstung,  erblickt  darin  eine 
Schmähung  seines  Namens  und  will  mit  seiner  Braut  zu- 
sammen zum  Zaren  gehen.  Umsonst  hält  ihn  Basmanoff 
zurück,  umsonst  bemüht  er  sich  ihm  klar  zu  machen,  dass 
es  seitens  des  Zaren  nur  eine  Prüfung  seiner  Treue  be- 
deuten soll:  Andrei  reisst  sich  los  und  folgt  seiner  Braut, 
hii  dritten  und  letzten  Bild  wird  Natalie  dem  Zaren  vorge- 
führt. Andrei  kommt  gleich  darauf  hereingestürzt.  Grosny 
erinnert  ihn  an  seinen  Eid,  den  er  nun  gebrochen  hat  und 
befiehlt  den  andern  Opritschniks,  ihn  zu  richten.  Er  wird 
vor  den  Augen  des  Zaren  erstochen.  Natalie,  welche  sich 
voller  Verzweiflung  an  ihren  Gemahl  klammern  will,  er- 
hält ebenfalls  den  Todesstoss. 


—  240  — 

Ohne  die  Tragödie  Lashetschnikoffs  ausführlich  kriti- 
sieren zu  wollen,  muss  ich  dennoch  auf  einen  ihrer  Vor- 
züge hinweisen,  der  dem  Librettisten  seine  Arbeit  ausser- 
ordentlich zu  erleichtern  imstande  ist;  dieser  Vorzug  liegt 
im  ausgezeichneten  Scenarium.  Das  ungeschwächt  fort- 
laufende Interesse  der  Liebesintrigue,  eine  ganze  Reihe 
effektvoller  Situationen,  das  düstere  und  doch  poetische 
Kolorit  einer  monströsen  Epoche,  die  Mannigfaltigkeit  der 
Episoden,  welche  sich  für  eine  musikalische  Illustration 
sehr  gut  eignen  (das  Liebesduett  des  ersten  Aufzuges,  die 
Volksscenen,  die  Opritschniks,  die  pathetische  Scene  des 
Schwurs,  die  Figur  des  Grosny,  das  Fest  bei  Shemtschu- 
shny,  welches  durch  das  Erscheinen  Andrei's  und  Bas- 
manoff's  unterbrochen  wird,  endlich  der  Tod  Andrei's), 
das  Alles  könnte  von  einem  gewandten  Textdichter  zu 
einer  wirkungsvollen,  erschütternden  Oper  zurechtgemacht 
w^erden. 

Das  geschah  jedoch  nicht.  Als  erstes  bedeutsames  Hin- 
derniss  erwies  sich — die  Zensur.  Die  effektvolle  Figur  des 
Zaren  Joann  Grosny,  welche  für  eine  musikalische  Cha- 
rakteristik so  überaus  dankbar  erschien,  musste  gänzlich 
fortbleiben. 

Das  zweite  Hinderniss  nistete  in  Peter  Iljitsch  selbst. 
Er,  der  im  alltäglichen  Leben  so  verschwenderische,  so 
freigebige  Peter  iljitsch,  war  in  künstlerischen  Sachen  unge- 
mein „haushälterisch"  und  ging  mit  dem  seinen  Kompo- 
sitionen zu  Grunde  liegendem  schöpferischem  Material  sehr 
ökonomisch  um.  Wie  ein  weiser  und  sparsamer  Bauer  nicht 
gern  Etwas  ausgiebt,  solange  er  in  Rumpelkammern  und 
m  Scheunen  unter  allerlei  alten  Sachen  noch  den  einen 
oder  den  andern  brauchbaren  Gegenstand  zu  finden  ver- 
mag, sei  es  ein  Ziegelstein,  oder  em  Stückchen  Holz  oder 
einige  Nägel  u.  s.  w., — so  war  auch  Peter  Iljitsch:  mit  Vor- 
liebe entnahm  er  seinen  früheren,  der  Vergessenheit  an- 
heimzufallen drohenden  Werken,  Alles  was  noch  „zu  ret- 
ten" war  und  einverleibte  es  seinen  neueren  Kompositionen, 
Solches  that  er,  übrigens,  nur  in  den  seltensten  Fällen  aus 
Faulheit,  denn  diese  kannte  er  nicht  in  seiner  schöpferi- 
schen Thätigkeit;  er  war  viel  mehr  der  Ansicht,  dass  es 
schade  sei,  sein  ihm  von  Gott  verliehenes  Talent  zu  ver- 
schwenden und  Alles  was  er  Brauchbares  geschaffen  hatte 
untergehen  zu  lassen. 

Peter  Iljitsch  sah  ein,  dass  seine  Oper  „Der  Woiwode", 
welche    vom   Repertoir   des   Grossen  Theaters  gestrichen 


— -»241  — 

worden  war,  nie  wieder  auf  den  Brettern  erscheinen  würde, 
und  es  that  ihm  piötzhcli  leid,  einige  Nummern  jener  Oper, 
welche  seiner  Meinung  nach  ein  solches  Schicksal  nicht 
verdient  hatten,  ins  Meer  der  Vergessenheit  zu  versenken. 
Bei  der  Zusammenstellung  des  Textbuches  für  die  neue 
Oper  kam  ihm  nun  der  unselige  Gedanke,  im  „Opritschnik" 
Alles  Das  zu  verwerten,  was  im  „Woiwoden"  in  musika- 
lischer und  scenischer  Hinsicht  Gutes  zu  finden  war,  vor 
allen  Dingen  die  ganze  erste  Hälfte  des  ersten  Aktes,  zu- 
mal da  zum  Glück  in  beiden  Opern  die  Handlung  in  einem 
Schlossgarten  begann. 

Dieses  gewaltsame  Eindringen  des  Textes  von  Ostrow- 
sky  in  die  Tragödie  Lashetschnikoffs  erzeugte  eine  Ver- 
stümmelung des  ganzen  Scenariums,  was  auf  das  ganze 
Libretto  sehr  schädigend  wirkte.  Die  Exposition  wurde 
unklar;  die  Charakteristik  der  handelnden  Personen  wur- 
de total  verwischt.  So  erscheint  zum  Beispiel  der  Fürst 
Shemtschushny  bei  Peter  Iljitsch  gleich  zu  Anfang  als  ein 
gutmütiger  Alter,  der  gemütlich  mit  Mitjkow  plaudert  und 
nicht  das  Geringste  von  seiner  teuflischen  Bosheit  mer- 
ken lässt,  durch  die  allein  Morosoffs  spätere  Handlungs- 
weise gerechtfertigt  wird.  Die  andern  Personen  thun  und 
reden  in  diesem  Akt  ganz  uninteressante  und  für  die  Ent- 
wicklung des  Drama's  ganz  unwesentliche,  oft  sogar 
unsinnige  Dinge,  was  eine  ganz  falsche  Charakteristik  der 
betreffenden  Personen  herbeiführt.  So  bricht  zum  Beispiel 
Andrei  Morosoff —  ähnlich  wie  Bastrjukow  im  „Woiwo- 
den" —  den  Pfahlzaun  des  Gartens  Shemtschushny 's  und 
thut  dieses  sogar  in  Gemeinschaft  und  mit  Hilfe  der  Opri- 
tschnik's,  wodurch  er  gleich  im  Anfang  seine  Sohdarität 
mit  ihnen  bekundet,  während  das  doch  dem  Sinn  der  Tra- 
gödie ganz  und  gar  widerspricht.  Auch  unternimmt  An- 
drei die  Verwüstung  im  Garten  Shemtschushny's  nicht,  wie 
Bastrjukow,  zwecks  Entführung  seiner  Geliebten,  auch 
nicht  zwecks  Wiedersehens  mit  ihr,  sondern — wie  es  den 
Anschein  hat  —  nur  um  von  Basmanoff  Geld  geborgt  zu 
erhalten.  Darauf  bemüht  er  sich,  die  Spuren  seiner  nicht 
gerade  sympatischen  Handlung  zu  verwischen  und  bringt 
den  Pfahlzaun  so  gut  es  geht  wieder  in  Ordnung.  Nachdem 
er  das  gethan — entfernt  er  sich  plötzlich.  Nur  so  nebenher 
erwähnt  er,  dass  ihn  Shemtschusny  schwer  beleidigt  habe, 
dass  er  in  seinem  gerechten  Zorn  sich  rächen  wolle,  dass 
er  Natalie  liebe  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Worin  jene  Beleidigung 
eigentlich  bestand  und  was  ihn  bewogen  hat,  Opritschnik  zu 

Tachaikowaky,  M.  P.  I.  Tschaikowskj''s  Leben.  16 


—  242  — 

werden — darüber  verliert  er  nicht  ein  Wort.  Somit  bleibt 
die  Hauptaufgabe  eines  jeden  dramatischen  Werkes,  beim 
Zuhörer  Interesse  für  das  Schicksal  des  Helden  zu  erwek- 
ken,  ungelöst,  und  die  Oper  ist  dreiviertelstunden  nach 
ihrem  Beginn  in  dramatischer  Hinsicht  nicht  um  einen 
Schritt  weitergekommen,  und  das  nur,  weil  dem  Dichter- 
Komponisten  plötzlich  eingefallen  ist.  Alles  was  noch  Gu- 
tes im  „Woiwoden"  vorhanden  war,  von  dem  Untergang 
zu  retten,  und  weil  ihn  dieser  Gedanke  mehr  beschäftigt 
hat,  als  das  Schicksal  Andrei  Morosoff's. 

Die  aus  dem  „Woiwoden"  geborgten  Stellen  sind  fol- 
gendermassen  im  „Opritschnik"  verteilt:  die  erste  Scene 
Shemtschushny's  mit  Mitjkow  ist  der  vierte  Auftritt  im 
„Woiwoden",  beginnt  sogar  mit  denselben  Worten,  Nur 
in  der  Mitte  dieser  Scene  sind  einige  Phrasen  von  La- 
shetschnikoff,  und  einige,  die  Peter  Iljitsch  selbst  gedichtet 
hat.  Das  Versmass  Ostrowsky's  ist  um  der  Musik  willen 
durchweg  beibehalten.  Die  Scene  der  Mädchen  ist  text- 
lich und  musikalisch  die  genaue  Wiederholung  der  ersten 
Scene  des  „Woiwoden".  Dann  singt  Natalie  das  Lied  „Oh, 
Nachtigall", — dasselbe,  welches  im  zweiten  Akt  des  „Woi- 
woden" Maria  Wlassjewna  zu  singen  hat.  Das  Erscheinen 
Andrei  Morosoff's  mit  Basmanoff  ist,  wie  schon  gesagt,  dem 
Erscheinen  Bastrjukoffs  gleich.  Das  Arioso  Basmanoff's, 
das  Recitativ  Morosoffs,  sowie  das  Arioso  Nataliens  sind 
in  diesem  Akt  die  einzigen  eigens  für  den  „Opritschnik" 
komponierten  Nummern.  Das  Finale  (Chorlied)  fällt  wieder 
mit  dem  Finale  des  zweiten  Aktes  des  „Woiwoden"  zu- 
sammen. 

Das  Vorspiel  zum  zweiten  Akt  des  „Opritschnik"  ist 
von  Wladimir  Schilowsky,  dem  Schüler  Peter  Iljitsch's 
komponiert  und  instrumentiert  worden,  so  dass  die  eigent- 
liche Musik  des  „Opritschnik"  erst  mit  dem  zweiten  Akt 
beginnt.  Das  erste  Bild:  die  feine  Charakteristik  der  Boja- 
renwittwe  Morosowa,  die  rührende  Scene  zwischen  Mut- 
ter und  Sohn,  sowie  im  zweiten  Bild  die  Eidesleistung 
Andrei's  in  Alexandrowskaja  Sloboda  sind  in  dramatischer 
Hinsicht  als  sehr  gelungen  zu  bezeichnen  und  könnten  dem 
besten  Textbuch  zur  Zierde  gereichen.  Sogar  die  Perso- 
nalveränderung (anstatt  Joann  Grosny  erscheint  Fürst  Wjas- 
minsky  auf  der  Bühne)  thut  der  effektvollen,  erschüttern- 
den Situation  keinen  Abbruch. 

Der  dritte  Akt  beginnt  mit  einer  Volksscene  (Chor). 
Die  Bojarin  Morosowa  geht   in   die   Kirche.   Plötzhch  er- 


—  243  — 

scheint  Natalie.  Sie  hat  das  väteriiche  Haus  verlassen  und 
sucht  Schutz  bei  der  Morosowa.  Duett  der  beiden  Frauen. 
Shemtschushny  und  Mitjkow  erreichen  jedoch  die  Flüch- 
tige und  wollen  sie  wieder  nach  Hause  bringen.  In  diesem 
Augenblick  erscheinen  Opritschniks  mit  Andrei  an  der 
Spitze  und  entreissen  Natalie  den  Armen  ihres  Vaters. 

Die  Mutter-Bojarin  erkennt  ihren  Sohn  unter  den  Oprit- 
schniks und  will  ihn  verfluchen.  Grosses  morceau  d'en- 
semble.  Andrei  entschliesst  sich,  den  Zaren  zu  bitten,  ihn 
aus  der  Opritschina  zu  entlassen. 

Dieses  Scenarium,  in  der  Manier  Scribes  gehalten,  hat 
Peter  Iljitsch  ganz  selbständig  zurechtgelegt  und  es  wäre 
auch  durchaus  gut,  wenn  die  Handlung  nicht  in  der  Zeit 
Joann  des  Grausamen  spielen  würde.  Ein  Familiendrama 
intimsten  Charakters,  welches  sich  auf  offener  Strasse 
abspielt,  ist  ganz  und  gar  nicht  im  Geiste  des  Bojaren- 
lebens des  XVI.  Jahrhunderts.  Nichtsdestoweniger  kann 
man  wohl  behaupten,  dass  die  Aufgabe,  so  viele  ver- 
schiedenartige Begebenheiten  möglichst  geschickt  und  na- 
türlich in  einen  Aufzug  zusammenzufassen,  vom  Autor 
recht  gut  gelöst  worden  ist.  Gewaltmässigkeiten,  sogar 
ziemlich  klobige,  kommen  in  den  berühmtesten  Textbü- 
chern vor  und  thun  dennoch  der  grossen  Wirkung  der 
dramatischen  Handlung  keinen  Schaden;  man  erinnere  sich 
nur  an  Valentine  in  den  „Hugenotten",  welche  gleich  nach 
ihrer  Trauung  im  Hochzeitsgewand  Nachts  durch  die  Stras- 
sen von  Paris  läuft  und  ein  sehr  effektvolles  Duett  mit 
einem  alten  Soldaten  singt. 

Der  vierte  Aufzug  des  „Opritschnik",  beginnt  mit  dem 
üblichen  Hochzeitsfest  nebst  den  unvermeidlichen  Tänzen 
russischer  Mädchen.  Dann  folgt  ein  von  Andrei  und  Na- 
talie gesungenes  Liebesduett,  dessen  Andante  Peter  Iljitsch 
dem  Mittelsatz  seiner  Ouvertüre  „Fatum'•^  entnommen  hat. 
Natalie  wird  zum  Zaren  befohlen.  In  dem  Moment,  da 
Ancirei  hingerichtet  werden  soll,  schleppt  der  Fürst  Wjas- 
minsky  die  alte  Morosowa  an's  Fenster  und  zeigt  ihr  den 
Tod  ihres  Sohnes.  Die  Bojarin  sinkt  vom  Schlage  getrof- 
fen todt  darnieder,  und  Wjasminsky  triumphiert.  Dieser 
Schluss  ist  ganz  unklar,  kommt  unvorbereitet  und  ent- 
behrt vollständig  der  beabsichtigten  Wirkung. 

Und  dennoch  ist  dieses  Libretto,  trotz  seiner  vielen 
Mängel,  im  Vergleich  zum  Inhalt  der  früheren  Opern  Pe- 
ter Iljitsch's  „Woiwode"  und  „Undine" — gut  zu  nennen. 

Ausser  den  oben  aufgezählten  Werken  hat  Peter  Iljitsch 


•  —  244  — 

im  Laufe  des  Sommers  1872  die  Entwürfe  zu  seiner  zwei- 
ten Symphonie  (C-moll)  fertiggestellt. 


IX. 
1872 — 1873. 

Gleich  nach  der  Rückkehr  nach  Moskau,  hat  sich  Pe- 
ter Iljitsch  eine  neue  Wohnung  gemietet,  welche  viel  beque- 
mer, geräumiger  und  komfortabler  als  seine  bisherige  war. 
Seine  Einnahmen  haben  sich  ebenfalls  vergrössert.  Das  Ge- 
halt im  Konservatorium  ist  auf  2300  Rubel  gestiegen.  Aus- 
serdem erhielt  er  ziemlich  bedeutende  Summen  als  stän- 
diger Mitarbeiter  der  „Russischen  Nachrichten". 

Wir  wissen  bereits,  was  ihn  bewogen  hatte,  als  Schrift- 
steller aufzutreten.  Diesen  Beruf  auch  ferner  hin  auszuüben 
erschien  ihm  nicht  nur  als  Ehrensache  und  Pflicht  in  Be- 
zug auf  das  Ansehen  des  Konservatoriums,  sondern  war 
ihm  auch  ein  willkommenes  Mittel,  seine  Einnahmen  zu 
vermehren,  zumal  da  er  jetzt  vollkommen  selbständig  lebte 
und  auf  sich  allein  angewiesen  war.  Die  Proben  seines 
schriftstellerischen  Talentes  sind  im  vorigen  Jahr  erfolg- 
reich gewesen  und  haben  die  Aufmerksamkeit  und  Aner- 
kennung aller  beteiligten  Kreise  auf  sich  gelenkt.  Und 
dennoch  empfand  Peter  Iljitsch  das  Schreiben  der  Feuille- 
tons ebenso  wie  das  Stundengeben  im  Konservatorium  als 
eine  lästige  Pflicht.  Er  sagte  sich  „es  muss  geschehen"» und 
that  es  auch  mit  der  ihm  in  solchen  Fällen  eigenen  Ge- 
wissenhaftigkeit aber  ohne  jeden  Schatten  von  Liebe  und 
Begeisterung.  Er  schrieb  interessant  und  sogar  stilvoll,  der 
allgemeine  Charakter  seiner  Artikel  beweist  auch,  dass 
man  es  mit  einem  gebildeten  und  ernsten  Musiker  zu 
thun  hat,  der  uneigennützig  und  gerecht  ist  und  in  seiner 
Kunst  voll  und  ganz  aufgeht, — aber  nicht  mehr.  Einen  tief 
überzeugten  Redner,  jedoch,  der  mit  bezwingender  Be- 
weisführung seine  Ideen   durchführt,  einen  Kritiker,  wel- 


—  245  — 

eher  es  vermag,  mit  wenigen  feinen,  kaum  sichtbaren  Stri- 
ciien,  die  Bedeutung  eines  Kunstwerkes  oder  eines  Künst- 
lers, treffend,  in  die  Augen  springend  zu  cliarakterisieren, 
erblicken  wir  in  Peter  Iljitsch  nicht.  Beim  Lesen  seiner 
Aufsätze  unterhält  man  sich  mit  einem  talentvollen,  ehr- 
lichen und  wissenden  Manne,  der  sich  angenehm  und  deut- 
lich auszudrücken  versteht,  man  denkt  mit  ihm  und  fühlt 
mit  ihm,  man  wünscht  ihm  von  ganzer  Seele  Sieg  in  sei- 
nem Kampfe  gegen  die  Unwissenheit  und  Charlatanerie, 
man  dürstet  mit  ihm  nach  dem  Triumph  der  gesunden 
Kunstrichtung  über  die  Begeisterung  des  Publikums  für 
die  „Itahener"  und  allerlei  „amerikanische  Walzer".  In 
diesem  Sinne  kann  man  wohl  behaupten,  das  die  Mühe 
Peter  Iljitsch's  nicht  verloren  gegangen  ist  und  wohl  einige 
Früchte  getragen  hat. 

An  A.  Tschaikowsk}': 

„2.  September  1872.  Moskau. 

....Bin  im  Begriff,  in  eine  neue  Wohnung  zu  ziehen, 
und  habe  die  Hände  voll  zu  thun  mit  der  Einrichtung. 
Unsere  Ausstellung  ist  sehr  interessant.  Morgen  wird  sie 
geschlossenes 

An  A.  Tschaikowsk}^: 

„4.  September. 

....Ueber  meine  Oper  habe  noch  garkeine  Nachrichten. 
Ich  bin  hier  am  15.  August  zusammen  mit  Schilowsky 
angekommen  und  habe  die  Zeit  einstweilen  sehr  angenehm 
verbracht". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„2.  November. 

Modi,  mein  Gewissen  frisst  mich  geradezu:  das  ist  die 
Strafe  dafür,  dass  ich  Dir  so  lange  nicht  geschrieben  ha- 
be,— was  soll  ich  aber  thun,  wenn  die  Symphonie,  die 
jetzt  ihrem  Ende  entgegensieht,  mich  so  sehr  in  Anspruch 
nimmt,  dass  ich  nicht  imstande  bin,  an  andere  Dinge 
zu  denken.  Dieses  geniale  Werk  (wie  Kondratjew  meine 
Symphonie  nennt)  wird,  sobald  die  Stimmen  ausgeschrie- 
ben sein  werden  zur  Aufführung  gelangen.  Es  scheint  mir, 
dass    das    meine   beste    Komposition   ist,   wenigstens   was 


—  246  — 

die  Vollkommenheit  der  Form  anbelangt,  eine  Eigenschaft, 
durch  welche  ich  mich  bisher  nicht  gerade  hervorgethan 
habe.  Es  wäre  sehr  wünschenswert,  dass  Du  die  Sym- 
phonie zu  hören  bekämest,  überhaupt  thätest  Du  gut,  we- 
nigstens für  kurze  Zeit  Deine  Tscherkassker  Gefangen- 
schaft ^)  zu  unterbrechen  und  in  Moskau  zu  erscheinen. 
Schilowsky  hat  sich  dauernd  in  Moskau  niedergelassen 
und  steht  im  Begriff,  ein  reizendes  herrschaftliches  Häus- 
chen zu  erwerben. 

Mein  Quartett  hat  in  Petersburg  Furore  gemacht". 

An  A.  Klimenko: 

„Moskau,  d.  15.  November, 

....Ich  habe  eine  neue  Wohnung  bezogen,  welche  Du 
dreist  als  Absteigequartier  benutzen  darfst,  sobald  Du  nach 
Moskau  kommst.  Seit  vorigem  Jahr  hat  sich  in  unserem 
(d.  h.  in  meinem  und  aller  Deiner  Freunde)  Leben  Nichts 
besonders  Wichtiges  ereignet.  Wir  gehen,  wie  früher,  ins 
Konservatorium;  wie  früher,  vereinigen  Avir  uns  manchmal 
zu  einem  gemeinsamen  „Trunk",  und  langweilen  uns,  im 
Grunde  genommen,  nicht  weniger  als  im  vorigen  Jahr. 
Die  Langeweile  saugt  an  uns  Allen  und  das  erklärt  sich 
dadurch,  dass  wir  alt  werden;  ja,  ja,  ich  kann  es  Dir  nicht 
verheimlichen,  dass  jeder  Augenblick  uns  dem  Grabe  nä- 
her bringt. 

Was  mich  persönlich  anbelangt,  so  muss  ich  wahr- 
heitsgetreu bekennen,  dass  mich  nur  Eines  im  Leben  inte- 
ressiert: meine  Erfolge  als  Komponist.  Allerdings  kann  man 
nicht  behaupten,  dass  ich  in  dieser  Beziehung  sehr  ver- 
wöhnt wäre.  Beispiel:  zwei  Komponisten,  Faminzyn  und 
ich  reichen  zu  gleicher  Zeit  ihre  Werke  ein.  Faminzyn 
wird  von  Allen,  als  ein  talentloser  Mann  angesehen,  ich 
dagegen  soll — wie  man  sagt — sehr  begabt  sein.  Nichtsde- 
stoweniger wird  der  „Sardanapal'•^  sofort  zur  Aufführung 
angenommen,  während  das  Schicksal  des  „Opritschnik" 
bis  Heute  noch  nicht  entschieden  ist,  es  hat  sogar  den 
Anschein,  dass  er  ebenso  „ins  Wasser"  fallen  wird,  wie 
die  „Undine".  Eine  Undine  ins  Wasser  fallen  lassen  ist 
schliesslich  nicht  so  schlimm:  das  ist  ja  ihr  Element;  stelle 
Dir  aber  einen  Opritschnik  als  Ertrinkenden  vor,  wie  er 
mit  den  Wellen  kämpft!   Der  Aermste  wird  doch  sicher- 


1)  Ich  bekleidete  damals  die  Stelle  eines  Untersuchungsrichters  in  der  Stadt  Tscher- 
kassy  (Gouv.  Kiew). 


—  247  — 

lieh  umkommen.  Wenn  ich,  aber,  ihm  nachstürze  um  ihn 
zu  retten,  so  bin  ich  verloren,  d.  h.  ich  schwöre  hiermit 
bei  meiner  Ehre,  dass  ich  nie  mehr  die  Feder  ins  Tinten- 
fass  senken  werde,  wenn  der  „Opritschnik"  abgelehnt  wer- 
den sollte.  Wie  meine  Symphonie  ausgefallen  ist  werde 
ich  Dir  nach  der  Aufführung  mitteilen,  denn  bis  jetzt  bin 
ich  zeitweise  ungeheuer  zufrieden  mit  ihr,  zeitweise  scheint 
es  mir  jedoch,  dass  sie  garnichts  taugt''"'. 

An  Ilja  Petro witsch  Tschaikowsky: 

„22.  November. 

Lieber,  guter  Vater,  obgleich  Du  mich  nicht  direkt 
schiltst,  sondern  nur  so  nebenher  erwähnst,  dass  ich  Dir 
selten  schreibe,  so  habe  ich  dennoch  quälende  Gewissens- 
bisse und  fürchte,  dass  Du  mir  sehr  böse  bist.  Vergieb 
mir  aber  nun,  mein  Lieber,  Du  weisst  dass  ich  sehr  schreib- 
faul bin,  dazu  hatte  ich  in  letzter  Zeit  sehr  viel  an  meiner 
neuen  Symphonie  zu  arbeiten,  die  jetzt,  Gott  sei  Dank, 
endlich  fertig  ist.  Du  schreibst  in  Betreff  der  Wohnung, 
dass  Du  wünschtest,  sie  wäre  warm;  bis  jetzt  bin  ich  in 
dieser  Beziehung  mit  ihr  zufrieden.  Allerdings  haben  wir 
bis  jetzt  die  ganze  Zeit  sehr  warmes  Wetter  gehabt,  des- 
sen man,  übrigens,  schon  überdrüssig  geworden  ist.  Ich 
sitze  viel  zu  Hause:  erhole  mich  nach  der  Symphonie.  Was 
meine  Heirat  betrifft,  so  will  ich  Dir  sagen,  dass  ich  schon 
selber  oft  daran  gedacht  habe,  mir  eine  Ehefrau  anzuschaf- 
fen, ich  fürchte  nur,  dass  ich  es  nachher  bereuen  werde. 
Ich  verdiene  zwar  genug  (an  3000  Rubel  jährlich),  verstehe 
aber  so  wenig  mit  dem  Gelde  umzugehen,  dass  ich  stets 
in  Schulden  bin  und  jeden  Augenblick  in  der  Klemme 
sitze.  Solange  man  allein  ist,  so  schadet  das  weiter  nicht 
viel.  Wie  wird  es  aber  sein,  wenn  ich  Frau  und  Kinder 
zu  ernähren  habe? 

Meine  Gesundheit  ist  gut,  nur  Eines  beunruhigt  mich 
ein  wenig — meine  Augen,  welche  von  der  Arbeit  immer 
sehr  ermüden;  mein  Sehvermögen  ist  im  Vergleich  zu  frü- 
her so  schwach  geworden,  dass  ich  mir  ein  Pincenez  an- 
schaffen musste,  welches  mir,  übrigens,  wie  man  sagt,  zur 
Zierde  gereicht.  Die  Nerven  sind  ebenfalls  schwach,  die- 
sem Uebel  ist,  jedoch,  nicht  abzuhelfen,  ist  auch  nicht  von 
grosser  Bedeutung.  Wer  hätte  in  unserer  Generation  keine 
zerrütteten  Nerven? — namentlich  unter  uns  Künstlern! 

In  den  Weihnachtsferien  beabsichtige   ich,  mit  Rubin- 


—  248  — 

stein  nach  Kiew  zu  fahren.  Er  will  dort  ein  Konzert  ge- 
ben; ich  fahre  aber  blos  zur  Gesellschaft  mit.  Uebrigens 
ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  Direktion  mich  nach 
Petersburg  zitieren  wird  zwecks  Unterhandlungen  über 
die  Oper,  in  diesem  Falle  werde  ich  die  Freude  haben, 
Dich  ordentlich  abzuküssen.  Meine  Symphonie  soll  in  Pe- 
tersburg gespielt  werden,  und  ich  wünschte  sehr,  dass  Du 
sie  zu  hören  bekämest''\ 

An  Ilia  Petro witsch  Tschaikowsky: 

„9.  Dezember. 

...Meine  Gesundheit  ist  in  guter  Verfassung,  die  Ner- 
ven, aber,  lassen  mir  immer  noch  keine  Ruhe.  Ich  fau- 
lenze jetzt  ein  wenig  und  schreibe  Garnichts.  Erst  möchte 
ich  meine  S^^mphonie  aufgeführt  sehen,  welche  ich  für  mein 
bestes  Werk  halte.  Was  meine  Oper  anbetrifft,  so  bin  ich 
ietzt  fast  überzeugt  davon,  dass  sie  in  der  nächsten  Saison 
dran  kommen  wird.  Zwei  Zensuren  haben  sie  bereits  durch- 
gehen lassen:  die  Theaterzensur  und  die  dramatische  Zen- 
sur, es  bleibt  jetzt  nur  noch  das  musikalische  Komitee, 
Avelches  —  wie  man  behauptet  —  die  Oper  unzweifelhaft 
annehmen  wird". 

An  M.  Tschaikowsk}': 

„IG.  Dezember. 

....Du  schreibst,  dass  Anatol  Dir  von  meinem  Trübsinn 
Mitteilung  gemacht  hätte.  Von  Trübsinn  ist  nun  garkeine 
Rede,  nur  manches  Mal  überkommt  mich  eine  gewisse  Mi- 
santropie,  Avie  es,  übrigens,  auch  früher  oft  der  Fall  ge- 
wesen ist.  Das  rührt  zum  Teil  von  meinen  Nerven  her, 
welche  manchmal  ohne  sichtbaren  Grund  in  Verstimmung 
geraten,  zum  Teil  aber  auch  von  dem  nicht  sehr  trost- 
reichen Schicksal  meiner  Komponiererei.  Die  Symphonie, 
auf  die  ich  grosse  Hoffnungen  setze,  wird  wahrscheinlich 
erst  Mitte  Januar  zur  Aufführung  gelangen,  nicht  früher. 
Augenblicklich  gebe  ich  mich  wegen  Mangels  an  Inspira- 
tion dem  Nichtsthun  hin.  Zwar  habe  ich  versucht  einige 
Lieder  zu  komponieren,  es  kommt  aber  Nichts  Rechtes 
heraus,  auch  kann  ich  keine  Texte  finden,  die  mir  gefal- 
len würden.  Wenn  Du  doch  einmal  dran  gehen  und  eine 
Reihe  von  passenden  Gedichten  für  mich  schreiben  wolltest! 

Bei  uns  feiert  Christine  Nilsson  grosse  Triumphe.  Ich 


—  249  — 

habe  sie  zweimal  gehört  und  muss  gestehen,  dass  ihre 
ausserordenthche  Bühnenkunst  einen  gewaltigen  Fortschritt 
gemacht  hat  seit  ich  sie  in  Paris  zum  ersten  Mal  kennen 
gelernt  habe.  In  gesanglicher  Hinsicht  ist  die  Nilsson  Etwas 
ganz  Apartes.  Wenn  sie  zu  singen  anfängt,  so  glaubt  man 
im  ersten  Augenblick  Nichts  Bedeutendes  zu  hören,  plötz- 
lich schmettert  sie  so  ein  Cis,  oder  haucht  im  ppp  einen 
langausgehaltenen  Ton  aus,  dann  dröhnt  das  ganze  Theater 
von  Beifall.  Uebrigens  gefällt  sie  mir  trotz  all'ihrer  guten 
Eigenschaften  dennoch  nicht  so  gut  wie  die  Artot.  Wenn 
Letztere  wieder  nach  Moskau  kommen  wollte,  würde  ich 
geradezu  hüpfen  vor  lauter  Freude". 

Während  der  Weihnachtsferien  ist  Peter  Iljitsch  „ganz 
unverhoffterweise  nach  Petersburg  verschlagen  worden", 
wohin  er  von  dem  Komitee  berufen  worden  war,  wel- 
ches über  das  Schicksal  des  „Opritschnik"  zu  bestim- 
men hatte.  Das  Komitee  war  aus  sämmtlichen  Kapellmei- 
stern der  Kaiserlichen  Theater  zusammengesetzt:  Näpraw- 
nik  (russische  Oper),  Bevignani  (italienische  Oper),  Rybas- 
sow  (russisches  Schauspiel),  Silvain  Mangen  (französisches 
Schauspiel),  Ed.  Betz  (deutsches  Theater)  und  Babkoff 
(Ballet).  Von  allen  diesen  Herren,  mit  Ausnahme  Näpraw- 
niks,  hatte  Peter  Iljitsch  keine  sehr  hohe  Meinung  und 
betrachtete  sie  gerechterweise  in  musikalischer  Hinsicht 
als  tief  unter  sich  stehend;  daher  sah  er  mit  gekränktem 
Ehrgefühl  dem  Richterspruch  des  Komitees  entgegen.  Be- 
sonders erniedrigend  erschien  ihm  die  Notwendigkeit,  per- 
sönlich vor  jenem  Areopag  zu  erscheinen  und  seine  Oper 
eigenhändig  vorzuspielen.  Er  hat  kein  Mittel  unversucht 
gelassen,  um  dieser  Formalität  aus  dem  Wege  zu  gehen, 
aber  es  half  nichts,  er  musste  sich  bequemen,  wie  ein 
furchtsamer  Bittsteller  vor  den  genannten  Herren  zu  er- 
scheinen und  ihr  Urteil  in  Geduld  abzuwarten.  „Ich  war 
so  überzeugt", — schrieb  er  später, — „dass  meine  Oper  ver- 
urteilt werden  würde,  und  befand  mich  daher  in  solch 
einer  Aufregung,  dass  ich  mich  entschloss,  nicht  gleich 
zum  Vater  zu  gehen,  um  ihn  durch  mein  verstörtes  Aus- 
sehn nicht  in  Besorgniss  zu  bringen,  und  ging  erst  am 
anderen  Tage  nach  der  verhängnisvollen  Sitzung  zu  ihm 
und  blieb  acht  Tage  bei  ihm.  Die  Sitzung,  die  mir  soviel 
seelische  Qualen  bereitet  hatte,  ist  übrigens  zu  meiner  vol- 
len Zufriedenheit  verlaufen". 

Der  „Opritschnik"  ist  einstimmig  angenommen  worden. 
Das  Protokoll  jener  Sitzung  hat  sich   im   Archiv  der  Di- 


—  250  — 

rektion  der  Kaiserlichen  Theater  leider  nicht  finden  lassen, 
und  kann  daher  an  dieser  Stelle  Nichts  Ausführlicheres 
darüber  gesagt  werden. 

Während  seines  diesmaligen  Aufenthalts  in  Petersburg 
kam  Peter  Iljitsch  sehr  häufig  mit  seinen  Freunden  aus 
der  „Allmächtigen  Schaar"  zusammen  und  rief  ihre  helle 
Begeisterung  hervor,  als  er  ihnen  das  auf  einem  kleinrus- 
sischen Volkslied  aufgebaute  Finale  seiner  C-moll-Synipho- 
nie  vorspielte.  Auf  einer  Soiree  bei  Rimskv-Korsakoff  „hätte 
mich  die  ganze  Sippschaft  beinahe  in  Stücke  gerissen", — 
schreibt  er, — „und  Frau  Korsakoff  bat  mich  flehentlichst, 
ein  vierhändiges  Arrangement  des  Finale  zu  machen".  An 
demselben  Abend  bat  Peter  Iljitsch  Wladimir  Stassow,  ihm 
ein  Thema  für  eine  symphonische  Phantasie  zu  geben.  Es 
war  seit  jenem  Abend  kaum  eine  Woche  vergangen,  als 
Wladimir  Wassiljewitsch  schrieb: 

„St.  Petersburg,  d.  30.  Dezember  1872. 

Lieber  Peter  Iljitsch!  Das  Thema  hatte  ich  für  Sie  be- 
reits eine  Stunde  nachdem  wir  uns  an  jenem  Abend  bei 
Korsakoff  verabschiedet  hatten,  gefunden,  d.  h.  sofort  als 
ich  allein  geblieben  war  und  meine  Gedanken  sammeln 
konnte.  Ich  habe  Ihnen  nur  deshalb  nicht  sofort  geschrieben, 
weil  ich  keine  Zeit  finden  konnte.  Hören  Sie  nun,  was  ich 
Ihnen  vorschlagen  möchte.  Erstens  habe  ich  für  Sie  nicht 
eine,  sondern  ganze  drei  Themen.  Zuerst  hatte  ich  bei 
Shakespeare  zu  suchen  angefangen,  weil  Sie  mir  gesagt 
hatten,  dass  Sie  am  liebsten  Etwas  über  ein  Thema  von 
Shakespeare  komponieren  wollten.  Hier  fand  ich  denn  auch 
sofort  den  so  wunderbar  poetischen  und  für  die  Musik 
wie  geschaffenen  „Sturm",  denselben,  welchem  schon  Ber- 
lioz  seine  prachtvollen  Chöre  zum  „Lelio"  entnommen  hatte. 
Meiner  Ansicht  nach  können  Sie  auf  dieses  Thema  eine 
herrliche  Ouvertüre  schreiben.  Alle  Elemente  sind  da  so 
poetisch  und  dankbar:  zu  Anfang  das  Meer,  die  unbewohnte 
Insel,  die  imposante  und  strenge  Figur  des  Prospero,  und 
gleich  darauf  die  Grazie  und  Weiblichkeit  selbst — Miran- 
da,  wie  eine  Eva,  welche  noch  nie  einen  Mann  gesehen 
hat  (ausser  Prospero)  und  welche  entzückt  und  überrascht 
ist  beim  Anblick  des  vom  Sturme  ans  Land  geworfenen 
schönen  Jünglings  Fernando:  Beide  verlieben  sich  sofort, 
und  hier,  glaube  ich,  ist  das  wunderbarste  poetische  Bild 
zu  schaffen:  in  der  ersten  Hälfte  der  Ouvertüre  geht  Mi- 


—  25T  — 

randa  nur  nach  und  nach  aus  ihrer  kindlichen  Unschuld 
zur  mädchenhaften  Liebe  über;  in  der  zweiten  Hälfte  der 
Ouvertüre  würden  die  Beiden — sie  und  Fernando  -  schon 
von  den  „Flammen  der  Leidenschaft  ergriffen  sein!  Sie 
müssen  zugeben:  ein  dankbares  Thema.  Um  diese  Haupt- 
personen herum  könnte  man  (im  mittleren  Teil  der  Ouver- 
türe) die  andern  Figuren  gruppieren:  das  Ungetüm  Cali- 
ban,  den  Luftgeist  Ariel  mit  seinem  Elfenchor.  Der  Schluss 
der  Ouvertüre  müsste  darstellen,  wie  Prospero  seiner  Zauber- 
kraft entsagt,  das  junge  Liebespaar  segnet  und  es  veran- 
lasst, ins  Vaterland  zurückzukehren". 

Ausserdem  hatte  Stassow  noch  zwei  andere  Sujet's 
Peter  Iljitsch  in  Vorschlag  gebracht:  „Aivengo"  und  „Ta- 
rass  Bulba".  Peter  Iljitsch  hat  sich  aber  für  den  „Sturm" 
entschieden,  und  erhielt  von  Stassow,  nachdem  er  ihm 
seine  Wahl  mitgeteilt,  folgendes  Schreiben: 

„St.  Petersburg,  d.  21.  Januar  1873. 

Beeile    mich,  auf  die    Einzelheiten    einzugehen   und 

freue  mich  im  Voraus  auf  Ihr  zukünftiges  Werk,  auf  das 
kapitale  Seitenstück  zu  „Romeo  und  Julie".  Sie  fragen,  ob 
der  Sturm  selbst  notwendig  sei?  Aber  gewiss;  Unbedingt, 
unbedingt,  ohne  ihn  wird  die  ganze  Ouvertüre  nichts  tau- 
gen, ohne  ihn  wird  auch  das  ganze  Programm  verstüm- 
melt werden  müssen! 

Ich  hatte  sorgfältig  alle  Momente  erwogen,  alle  ihre 
Konsequenzen  und  Gegensätze,  darum  wäre  es  schade, 
jetzt  die  ganze  Geschichte  umzugestalten.  Ich  dachte  mir 
das  Meer  zwei  Mal:  zu  Anfang  und  zum  Schluss.  Zu  An- 
fang, in  der  Einleitung  stelle  ich  es  mir  ruhig  vor,  bis 
Prospero  seine  Zauberworte  spricht  und  den  Sturm  he- 
raufbeschwört. Dieser  Sturm  müsste  aber  urplötzlich  in 
seiner  ganzen  Geivalt  einsetzen  und  nicht,  wie  es  gewöhn- 
lich geschieht,  allmälich  breiter  und  stärker  werden.  Ich 
schlage  deshalb  eine  so  eigenartige  Form  für  den  Sturm 
vor,  weil  er  in  diesem  Falle  doch  durch  Zauberworte  ent- 
facht wird,  während  er  in  allen  bisherigen  Opern,  Sym- 
phonieen  und  Oratorien  aus  natürlichen  Ursachen  entsteht. 
Nachdem  der  Sturm  sich  gelegt,  sein  Brausen,  Pfeifen, 
Donnern  und  Tosen  verklungen  ist,  erscheint  die  Zauber- 
insel in  ihrer  ganzen  wunderbaren  Schönheit  und  die  noch 
schönere,  noch  herrlichere  Jungfrau  Miranda,  die  wie  ein 
Sonnenstrahl  leichten  Schrittes  über  die  Insel  wandelt.  Ihr 


—    252    — 

Gespräch  mit  Prospero  und  gleich  darauf  der  Jünghng 
Fernando,  welcher  sie  überrascht,  entzückt,  und  in  welchen 
sie  sich  sofort  verliebt.  Das  Motiv  des  Verliebens  (crescendo) 
müsste  wie  ein  Aufblühen,  wie  ein  Wachsen  sein;  es  ist 
bei  Shakespeare  am  Ende  des  ersten  Aufzuges  so  geschil- 
dert, und  ich  glaube,  das  wäre  gerade  Etwas  für  Ihr  Ta- 
lent. Darauf  würde  ich  das  Erscheinen  Calibans  vorschla- 
gen, dieses  thierähnlichen  und  gemeinen  Sklaven,  dann 
weiter — Ariel,  dessen  Programm  in  dem  Gedicht  Shakes- 
peares (Ende  des  ersten  Aufzuges)  „Come  unto  these  gellow" 
u.  s.  w.  zu  finden  ist.  Nach  Ariel  müssten  wieder  Miran- 
da  und  Fernando  auftreten,  diesmal  aber  voll  stürmischer 
Leidenschaft.  Dann  die  imposante  Figur  Prospero's,  der 
seiner  Zauberkraft  entsagt  und  von  seiner  Vergangenheit 
Abschied  nimmt;  endlich  zum  Schluss  wieder  das  Meer, 
das  ruhige,  stille  Meer,  das  die  einsame  und  nun  verlas- 
sene Insel  umspült,  während  deren  glückliche  Bewohner 
von  einem  Schiff  dem  fernen  Italien  zugetragen  werden. 
Da  ich  mir  dieses  Alles  in  der  angeführten  Reihenfol- 
ge gedacht  habe,  .so  halte  ich  es  nicht  für  möglich,  das 
Meer  zu  Anfang  und  zum  Schluss  fortzulassen  und  die 
Ouvertüre  „Miranda"  zu  nennen.  In  Ihrer  ersten  Ouver- 
türe hatten  Sie  unglücklicherweise  Juliens  Amme  fortge- 
lassen, jene  geniale  Shakespearefigur,  und  auch  das  Bild 
des  frühen  Morgens,  an  welchem  sich  die  Liebesscene 
entwickelt  ist  bei  Ihnen  fortgeblieben.  Ihre  Ouvertüre  ist 
ja  wunderschön,  aber  sie  hätte  gewiss  noch  schöner  sein 
können.  Und  nun  gestatten  Sie,  dass  ich  Ihnen  den  Rat 
aufdränge,  noch  reifer,  breiter  und  tiefer  zu  werden.  Für 
Leidenschaftlichkeit  und  Schönheit  kann  man,  glaube  ich, 
schon  im  Voraus  garantieren.  So  wünsche  ich  Ihnen  denn 
recht  viel  Glück,  und — vogue  la  galere!" 

Peter  Iljitsch  an  W.  Stassow: 

„27.  Januar  1873. 

Sehr  geehrter  Wladimir  Wassiljewitsch,  ich  weiss  gar- 
nicht,  wie  ich  Ihnen  danken  soll  für  Ihr  ausgezeichnetes, 
im  höchsten  Grade  anziehendes  und  anregendes  Programm. 
Ob  es  mir  gelingen  wird  weiss  ich  nicht,  jedenfalls  aber 
will  ich  mich  in  allen  Einzelheiten  an  Ihren  Plan  halten. 
Ich  muss  Sie  aber  im  Voraus  darauf  aufmerksam  machen, 
dass  die  Ouvertüre  noch  nicht  so  bald  das  Licht  der  Welt 
erblicken   dürfte:   wenigstens  habe  ich   nicht    die   Absicht 


—  253  — 

mich  zu  beeilen.  Eine  Menge  verschiedener  ZufälHgkeiten, 
unter  Anderen  auch  der  Klavierauszug  meiner  Oper,  wer- 
den mich  wahrscheinlich  hindern,  schon  in  nächster  Zeit 
ruhige  Stunden  zu  finden,  deren  ich  für  eine  so  delikate 
Komposition  bedarf.  Das  Sujet  des  „Sturmes"  ist  so  poetisch, 
Ihr  Programm  beansprucht  eine  so  grosse  Vollkommenheit 
und  Eleganz  der  Form,  dass  ich  die  Absicht  habe,  meine 
Ungeduld  ein  wenig  einzudämmen  und  möglichst  günstige 
Momente  abzuwarten. 

Gestern  wurde  endlich  meine  Symphonie  aufgeführt 
und  erfreute  sich  eines  grossen  Erfolges;  dieser  war  in  der 
That  so  ausserordentlich,  dass  N.  Rubinstein  die  Sympho- 
nie im  IQ.  Konzert  zur  Wiederholung  bringen  will,  wie 
er  sagt  „auf  allgemeines  Verlangen".  Offen  gestanden  bin 
ich  mit  den  beiden  ersten  Sätzen  nicht  sonderlich  zufrie- 
den, aber  das  Finale  ist  mir  ganz  gut  gelungen.  Wegen 
der  Sendung  der  Partitur  werde  ich  mit  Rubinstein  spre- 
chen: ich  muss  erfahren,  wann  unser  lo.  Konzert  stattfin- 
den soll.  Ich  möchte,  nämhch,  noch  einige  Stellen  verbes- 
sern und  muss  in  Erwägung  ziehen,  wieviel  Zeit  ich  dazu 
nötig  haben  werde.  Dementsprechend  könnte  ich  die  Par- 
titur entweder  sofort,  oder  erst  nach  unserem  lo.  Konzert 
an  Nadeshda  Nikolajewna  schicken  ^). 

Laroche  hat  mir  die  Ehre  erwiesen,  speziell  wegen 
meiner  Symphonie  nach  Moskau  zu  kommen.  Heute  ist  er 
wieder  fortgereist''. 

Die  Symphonie  stand  auf  dem  Programm  des  am  i6. 
Januar  stattgehabten  Konzertes  der  Russischen  Musika- 
lischen Gesellschaft  und  hat  grossen  Beifall  gefunden.  Auch 
Laroche  äusserte  sich  sehr  anerkennend  über  das  neue 
Werk  Peter  Iljitsch's. 

Im  IG.  Konzert  wurde  die  Symphonie  wiederholt  und 
errang  einen  noch  grösseren  Erfolg.  Der  Komponist  wurde 
nach  jedem  Satz  stürmisch  gerufen  und  hatte  einen  Loor- 
beerkranz  und  einen  silbernen  Pokal  erhalten. 

An  I.  P.  Tschaikowsky: 

„5.  Februar. 

Die  Zeit  vergeht  schnell,  denn  ich  bin  sehr  beschäf- 
tigt: arbeite  an  dem  Klavierauszug  der  Oper,  schreibe  mu- 
sikalische Feuilletons  und  verfasse  die  Biographie  Beetho- 


1)  Frau    Rimsky-Korsakoft'   sollte    das    vierhändige    Arrangement    der    Sj^mphonie 
machen. 


—  254  — 

vens  für  den  „Grashdanin"  ^).  Ich  sitze  alle  Abende  zu 
Hause  und  führe  die  Lebensweise  eines  der  friedlichsten 
und  wohlgesinntesten  Moskauer  Bürgers.  Endlich  ist  der 
Winter  bei  uns  eingezogen.  Der  Frost  ist  so  stark,  dass 
den  Nasen  der  Moskowiter  Geschwülste  und  Beulen  dro- 
hen, ich  aber,  der  ich  zu  Hause  sitze,  habe  es  sehr  warm 
und  gemütlich  in  meiner  Wohnung.  Neulich  habe  viel  an 
Dich  gedacht,  Vater,  und  es  kam  mir  folgender  Gedanke: 
da  Du  ausgezeichnet  die  literarische  Sprache  beherrschst, 
so  könntest  Du  eigentlich — so  zum  Zeitvertreib,  vielleicht, 
des  Morgens — verschiedene  Erinnerungen  an  bekannte  Per- 
sönlichkeiten, mit  denen  Du  in  Deinem  Leben  zusammen- 
gekommen bist,  niederschreiben,  oder  überhaupt  verschie- 
dene Erinnerungen  aus  Deinem  Leben,  interessante  Bege- 
benheiten aus  Deiner  Beamtenthätigkeit,  z.  B.  im  Bergbau- 
institut, oder  auch  von  früher.  Ueberlege  Dir  das  mal, 
Väterchen,  ich  glaube,  das  würde  Dich  interessieren.  Spä- 
ter könnte  man  diese  Erinnerungen  veröffentlichen". 

An  M.  Tschaikowsk}-: 

„13.  Februar. 

Ueber  die  Aufführung  meiner  Symphonie  wirst  Du 

wohl  schon  in  den  Zeitungen  gelesen  haben.  Für  diese 
Symphonie  hat  mir  die  Musikalische  Gesellschaft  300  Ru- 
bel ausgezahlt.  Im  letzten  Konzert  soll  sie  wiederholt  wer- 
den, und  für  diesen  Tag  bereitet  man  mir  eine  Ovation 
nebst  einem  Geschenk  vor.  Ich,  in  meiner  engelhaften  Un- 
eigennützigkeit,  will  das  Geschenk,  selbstverständlich,  nicht 
annehmen,  aber  man  wird  mich,  w^ahrscheinlich,  dazu  zwin- 
gen! Ach,  wie  schwer  ist  es  doch,  sich  dem  Willen  des 
Publikums  unterwerfen  zu  müssen!  Es  versteht  nicht,  dass 
wir  Künstler  in  höheren  Regionen  leben  und  dass  sein 
Geld  für  uns  „schnödes  Metall"  ist.  Es  nahet  die  Zeit,  wo 
Ihr  Alle:  Nikolai,  Hyppolit,  Anatol  und  Du  nicht  mehr 
Tschaikowsky's  sein  werdet,  sondern  nur  „die  Brüder  des 
Tschaikowsk}'".  Ich  bekenne  offen,  dass  dieses  gerade  das 
ehrgeizige  Ziel  meiner  Wünsche  ist!!  Der  anmutig-witzige 
Ton  meines  heutigen  Briefes  ist  durch  die  Anwesenheit 
Apuchtins  angeregt.  Wir  sehen  uns  sehr  oft.  Er  befindet 
sich  in  einer  fröhlicheren  Stimmung  als  je". 


1)  Von  diesen  Aufsätzen  lür  die  Zeitung  „Grashdanin"  ist  nur  der  Anfang  erschienen. 


—  255  — 

An  W.  Bessel: 

„4.  März. 

Es  ist  unbedingt  notwendig,  dass  icli  noch  vor  dem 

Sommer  mit  Dir  über  den  Druck  der  Oper  und  der  Ouver- 
türe spreche.  Wer  wird  die  Korrektur  machen?  Liesse  sich 
es  einrichten,  dass  keine  Druckfehler  stehen  bleiben?" 

Nach  dem  ursprünglichen  Uebereinkommen  mit  der 
Firma  Bessel  und  C°  wurde  ihr  das  Recht  der  Heraus- 
gabe des  „Opritschnik"  sowie  der  Ouvertüre  „Romeo  und 
Juhe"  von  Peter  Iljitsch  unentgeltlich  überlassen,  ausser- 
dem aber  musste  sich  der  Komponist  verpflichten,  ein  Drittel 
seiner  Tantiemen  an  den  Verleger  zu  zahlen. 

In  seinem  Brief  an  Jurgenson  erklärt  Peter  Iljitsch  seine 
Vereinbarung  mit  dem  Petersburger  Verleger  wie  folgt: 
„Ich  habe  Bessel  beauftragt  für  die  baldmöglichste  Auf- 
führung meines  „Opritschnik"  Sorge  zu  tragen  und  habe 
ihm  dafür  das  Eigentumsrecht  dieser  Oper  überlassen  mit 
der  Verpflichtung  meinerseits,  ihm  ausserdem  ein  Drittel 
meiner  Tantiemengelder  zu  zahlen.  Die  Romeo-Ouverture 
ist  auf  folgende  Art  in  seine  Hände  gefallen:  Bote  und 
Bock  verlangte  von  mir  35  Thaler  Druckerkosten.  Ich  er- 
zählte das  Bessel  und  er  bat  mich  um  die  Erlaubnis,  diesen 
Betrag  für  mich  zahlen  zu  dürfen  und  die  beiden  Kla- 
vierauszüge, die  noch  bei  Bote  und  Bock  lagen,  zurück- 
zufordern und  für  sich  zu  behalten". 

An  I.  P.  Tschaikowsky: 

„7.  April. 

....Fast  einen  Monat|^sitze  ich  schon  wieder  emsig  bei 
der  Arbeit:  schreibe  die  Musik  zu  Ostrowsky's  Feenmär- 
chen „Snegurotschka"  und  habe  daher  meine  Korrespon- 
denz ein  wenig  vernachlässigt.  Dazu  kam  noch,  dass  ich 
vorgestern  einen  kleinen  Unfall  erlitt:  habe  mir  die  linke 
Hand  so  stark  geschnitten,  dass  der  Arzt  volle  zwei  Stun- 
den gebraucht  hat,  um  das  Blut  zu  stillen  und  einen  Ver- 
band anzulegen.  Deshalb  kann  ich  jetzt  nur  mühsam  schrei- 
ben und  wundere  Dich  nicht,  mein  Engel,  wenn  Du  nur 
selten  Nachricht  von  mir  erhälst. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„27.  April. 

....Im  Grossen  Theater  finden  jetzt  täglich  Proben  der 
„Snegurotschka^^  statt,  deshalb  muss  ich  jeden  Morgen  im 
Theater  stecken"". 


—  256  — 

An  I.  Р.  Tschaikowsky: 


„24.  Mai. 


....Die  ganze  letzte  Zeit  befand  ich  mich  in  einer  fieber- 
haften Thätigkeit:  die  Vorbereitungen  für  die  Aufführung 
der  „Snegurotschka",  das  Klavierarrangement  meiner  Sym- 
phonie, die  Prüfungen  am  Konservatorium,  die  Aufnahme 
des  Grossfürsten  Konstantin  Nikolajew^itsch  u.  s.  w..  Letz- 
terer war,  anbei  gesagt,  sehr  freundlich  zu  mir.  Meine 
Symphonie  hat  ihm  sehr  gefallen". 

Kaschkin  erzählt: 

„Eine  glückliche  Zeit  im  Leben  Tschaikowsky's  waren 
jene  drei  Wochen,  als  er  an  der  Musik  zur  „Snegurotschka" 
arbeitete.  Im  Jahre  1873  wurde  das  Kleine  (dramatische) 
Theater  einer  umfangreichen  Renovation  unterworfen,  so- 
dass alle  drei  Ensembles:  Oper,  Ballet  und  Schauspiel  im 
Grossen  Theater  ihre  Vorstellungen  gaben.  Wenn  ich  nicht 
irre,  kam  dem  damaligen  Chef  des  Repertoirs,  W.  P.  Be- 
gitscheff  die  Idee,  im  Grossen  Theater  ein  Stück  zur  Auf- 
führung zu  bringen,  eine  Art  Feerie,  in  welcher  alle  drei 
Ensembles  mitwirken  sollten.  Man  w^andte  sich  an  A.  N. 
Ostrowsk}^  mit  dem  Vorschlag,  ein  solches  Stück  zu  ver- 
fassen, während  die  Musik  dazu  Peter  Iljitsch  bestellt  v/ur- 
de.  Ostrowsky  wählte  als  Thema  das  Märchen  „Snegu- 
rotschka" ^)  und  ging  mit  Feuereifer  an  die  Arbeit.  Er 
arbeitete  sehr  schnell,  und  Peter  Iljitsch,  der  immer  auf 
den  Text  warten  musste,  blieb  wenig  Zeit  übrig,  sodass 
er  stets  eilen  musste,  um  mit  Ostrowsky  gleichen  Schritt 
zu  halten.  Der  Frühling  sandte  bereits  seine  Vorboten  ins 
Land,  und  das  Herannahen  dieser  schönen  Jahreszeit  er- 
füllte Peter  Iljitsch  stets  mit  Entzücken  und  poetischer 
Stimmung:  er  liebte  namentlich  den  russischen  Frühling, 
wo  die  Natur  plötzlich  von  ihrem  langen  winterlichen 
Schlaf  erwacht  und  die  ganze  Umgebung  manchmal  in 
wenigen  Tagen  ihr  Aussehen  verändert.  Der  Frühling 
des  Jahres  1873  kam,  glaube  ich,  ziemlich  früh,  sodass 
die  Komposition  der  Musik  zum  „Frühlingsmärchen"  mit 
dem  Beginn  des  Lenzes  zusammenfiel.  Peter  Iljitsch  arbei- 
tete mit  grosser  Begeisterung  und — da  er  sich  sehr  beeilen 
musste  —  nahm  er,  entgegen  seiner  Gepflogenheit,  sogar 
die  Abende  zu  Hilfe,  sodass  die  sehr  umfangreiche  Par- 
titur schon  in  drei  Wochen   fertig  war,  ohne   dass  Peter 


1 )  Snegurotschka-Schneewittchcn. 


—  257  — 

Iljitsch  sich  in  seinem  Konservatoriumsunterricht  irgend 
eine  Unregelmässigkeit  hätte  zu  Schulden  kommen  las- 
sen. Wenn  man  nun  bedenkt,  dass  dieser  Unterricht  da- 
mals 27  Stunden  wöchentlich  umfasste,  so  erscheint  die 
Schnelligkeit,  mit  welcher  die  „Snegurotschka"  kompo- 
niert worden  ist,  geradezu  erstaunlich.  Die  erste  Vorstel- 
lung der  „Snegurotschka"  fand  am  11.  Mai  statt.  Die 
grösste  Wirkung  erzielte  die  Scene  der  Kupawa  mit  dem 
König  Berendej,  welche  von  Frau  Nikulina  und  Herrn  Sa- 
marin  ausgezeichnet  deklamiert  wurde,  während  das  Or- 
chester die  herrliche  Musik  dazu  spielte.  Die  talentvolle 
und  schöne  Kadmina,  welche  die  Rolle  des  Hirten  Lei 
übernommen  hatte,  war  in  gesanglicher  und  darstelleri- 
scher Hinsicht  ganz  reizend.  Die  Ausstattung  des  Stückes 
war  nach  damaligen  Begriffen  eine  überaus  glänzende  und 
kostete,  wie  man  sagt,  15000  Rubel.  Trotz  der  ausgezeich- 
neten Wiedergabe  hatte  die  „  Snegurotscka "  dennoch 
keinen  grossen  Erfolg.  Der  Mangel  an  scenischer  Hand- 
lung Hess  keinen  rechten  Entusiasmus  im  Publikum  auf- 
kommen, wirkte  im  Gegenteil  sehr  abkühlend,  obwohl 
einige  Momente  ganz  köstlich  waren  und  ihre  Wirkung 
nicht  verfehlten.  Ostrowsky  war  bei  der  ersten  Aufführung 
nicht  anwesend,  denn  er  war  schon  vorher  nach  seiner 
Besitzung  (Gouvernement  Kostroma)  gereist,  wohin  man 
ihm  nach  der  Vorstellung  ein  Telegramm  sandte. 

Bald  nach  der  ersten  Aufführung  der  „Snegurotschka" 
hatten  wir  Konservatoriumslehrer  in  Gemeinschaft  mit  Sa- 
marin  und  Fr.  Kadmina  eines  Tages  einen  Ausflug  ins 
Freie — nach  den  in  der  Nähe  Moskau's  gelegenen  Wo- 
robjowi  Gori  (Sperlingsberge)  unternommen.  Es  war  ein 
herrlicher  Lenztag;  die  Gärten  der  Berge  prangten  in  ihrem 
weissen  Blütengewand;  wir  alle  befanden  uns  unter  dem 
Eindruck  des  Frühlings  und  der  „Snegurotschka"  in  einer 
sehr  fröhlichen  Stimmung.  Draussen  lagerten  wir  uns  unter 
freiem  Himmel  auf  dem  Rasen  und  wurden  sehr  bald  von 
Bauern  und  Bäuerinnen  umringt,  die  neugierig  die  zechen- 
den Herrschaften  angafften.  Da  kam  Rubinstein  auf  die 
Idee,  ein  kleines  Volksfest  zu  veranstalten,  kaufte  in  der 
Dorfbude  Wein  und  allerlei  Naschwerk  und  verteilte  das 
unter  die  Anwesenden.  Nikolai  Gregorje witsch  hatte  den 
echten  russischen  Volksgesang  sehr  gern  und  bat  um  einige 
Lieder.  Die  Dorfjugend  Hess  sich  das  nicht  zweimal  sagen, 
und  es  begann  ein  lustiges  Singen  und  Tanzen.  Diese  Be- 
gebenheit ist  für  immer  im  Gedächtniss  Peter  Iljitsch's  haf- 

Tschaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  17 


-258- 

ten  geblieben,  und  die  Erinnerung  daran  hat  sich  volle 
neun  Jahre  später  im  Thema  für  die  Variationen  des  Kla- 
viertrio's  geäussert,  welches  dem  „Andenken  eines  gros- 
sen Künstlers",  d.  h.  N.  Rubinsteins,  gewidmet  ist.  Die 
Musik  der  „Snegurotschka"  gefiel  Nikolai  Gregorje witsch 
sehr,  und  er  hat  sie  später,  nachdem  dieses  Stück  vom 
Repertoir  des  Grossen  Theaters  gestrichen  worden  war, 
ganz,  ohne  Kürzungen,  in  einem  Konzert  mit  grossem 
Erfolg  zum  Vortrag  gebracht'"''. 

Auch  Peter  Iljitsch  selbst  gefiel  sein  Werk.  Er  hielt 
nicht  nur  den  dramatischen  Text  für  eine  Perle  der  Er- 
zeugnisse Ostrowsky's,  sondern  bekannte  offen,  dass  ihn 
auch  seine  Musik  dazu  sehr  befriedige.  Er  schwärmte  da- 
von, aus  diesem  Werk  einmal  eine  Oper  zu  machen  und 
war  sehr  unangenehm  überrascht,  als  Rimsky-Korsakoft' 
ihm  zuvorkam.  Lange  Zeit  schmollte  er  darüber  und  wollte 
garnichts  von  dieser  Komposition  wissen.  Erst  viel  später 
(Ende  der  achtziger  Jahre)  lernte  er  die  Partitur  kennen 
und  gewann  sie  sogar  sehr  lieb. 

Für  das  Geld,  welches  Peter  Iljitsch  für  die  Komposition 
der  Musik  zur  „Snegurotschka"  erhalten  hatte,  wollte  er 
eine  grosse  Reise  ins  Ausland  unternehmen.  Vorher  aber 
besuchte  er  seine  Schwester  in  Kamenka  und  Kondratjew 
in  Nisy. 

Ich  habe  schon  mehrfach  erwähnt,  dass  Peter  Iljitsch 
das  Leben  sehr  lieb  hatte:  dieses  äusserte  sich  unter  An- 
derem darin,  dass  er  eine  grosse  Leidenschaft  für  Tage- 
bücher hatte.  Ein  jeder  Tag  war  für  ihn  von  grosser  Be- 
deutung, und  der  Gedanke,  dass  er  von  allem  Erlebten  auf 
Nimmerwiedersehen  Abschied  nehmen  müsse,  stimmte  ihn 
traurig.  Er  dachte  beständig  an  die  Vergänglichkeit  und 
Veränderlichkeit  alles  Dessen,  was  ihm  lieb  und  teuer  war, 
und  es  gereichte  ihm  zum  Trost,  wenigstens  Etwas,  we- 
nigstens einige  Einzelheiten  deni  Meer  der  Vergessenheit 
zu  entreissen,  nach  denen  er  später  das  ganze  Bild  des 
Erlebten  in  seinem  Gedächtniss  wieder  wachrufen  konnte. 
Er  hoffte,  dass  es  ihm  in  seinem  Alter  eine  grosse  Freude 
sein  würde,  nach  kurzen  Skizzen,  abgerissenen  Sätzen, 
die  Niemandem  sonst  verständlich,  noch  einmal  seine  schöne 
Vergangenheit  zu  durchleben.  Er  hielt  sich  an  das  System, 
nur  kurze,  unvollständige,  unwesentliche  Andeutungen  über 
das  Erlebte  niederzuschreiben,  denn  beim  Durchlesen  sei- 
nes Tagebuches  aus  der  Kindes-und  Jünglingszeit,  in  wel- 
chem er  alle  seine  Gefühle  und  Gedanken  ausführlich  dar- 


259  — 


gelegt  hatte  empfand  er  eine  gewisse  Scham:  die  Gefühls- 
ergüsse und  Ideen,  die  ihn  damals  interessierten  und  die 
er  für  gross  und  wichtig  gehalten  hatte,  erschienen  ihm 
jetzt  hohl,  nichtssagend,  lächerlich,  und  er  beschloss,  in 
Zukunft  nur  Thatsachen  dem  Papier  anzuvertrauen,  ohne 
Kommentare;  ärgerlich  über  seine  Enttäuschung  vernichtete 
er  das  Jugendtagebuch.  Vom  Ende  der  siebziger  Jahre 
führte  Peter  Iljitsch  im  Laufe  von  fast  zehn  Jahren  ein 
Tagebuch.  Er  hat  es  Niemandem  gezeigt,  und  ich  musste 
ihm  mein  Ehrenwort  geben,  dass  ich  es  nach  seinem  Tode 
verbrennen  würde;  doch  hat  er  es  —  ich  weiss  nicht  wa- 
rum— schon  selber  gethan  und  nur  das  übriggelassen,  was 
auch  Fremde  wissen  durften. 

Den  ersten  Versuch  eines  solchen  Tagebuches  hat  Pe- 
ter Iljitsch  im  Jahre  1873  gemacht.  Er  begann  damit — in 
Erwartung  vieler  Eindrücke  auf  der  bevorstehenden  Reise 
ins  Ausland — schon  am  Tage  seiner  Abreise  aus  Nisy. 

Tagebuch  des  Sommers  1873. 

II.  Juni  1873.  Kiew. 

Gestern,  auf  dem  Wege  von  Woroschba  nach  Kiew, 
sang  es  und  klang  es  wieder  in  meiner  Seele,  nachdem 
ich  längere  Zeit  der  Musik  kalt  gegenübergestanden.  Ein 
Embryo  in  B-dur  nistete  sich  in  meinem  Kopf  ein  und 
hätte  mich  beinahe  zu  einem  Attentat  auf  eine  S3^mphonie 
verleitet.  Plötzlich  überkam  mich  der  Gedanke,  den  nicht 
recht  gelingenwollenden  „Sturm"  von  Stassow  bei  Seite 
zu  werfen  und  den  Sommer  einer  Symphonie  zu  widmen, 
welche  Alles  bisher  von  mir  geleistete  in  den  Schatten 
stellen  sollte.  Das  ist  das  Embryo: 


Wie  ich  den  Sommer  zu  geniessen  gedachte,  und  wie 
.    .    .      (abgerissen). 


2бо   

i8.  Juni. 

Es  sind  bereits  acht  Tage  dahin,  seit  ich  die  letzten 
Zeilen  geschrieben.  Ich  bin  immer  noch  krank,  und  das 
Ende  meiner  Krankheit  ist  noch  garnicht  abzusehen.  Abrei- 
sen wollte  ich (abgerissen). 

27.  Juni,  13.  Kompagnie  ^). 

Das  köstliche  Frühstück.  Das  reine  Bauernweib!  „Der 
Moskauer  Kreml"  und  „Ein  Abend  in  Venedig"  an  der 
Wand.  Adieu,  Gouvernement  Kiew!  Wie  schön  ist  doch 
die  Welt!! 

4  Uhr  Morgens.  Birsula. 

In  Elisabethgrad  habe  mich  von  Modi  und  Sascha  ver- 
abschiedet. Bin  sehr  traurig.  Mein  Magen  ist  nicht  recht 
gesund.  Die  Züge  sind  überfüllt.  Habe  kaum  einen  Platz 
erwischt.  Muss  Sascha  schreiben,  dass  sie  I.  Klasse  fährt  2). 
Der  Zug  hält,  weiss  nicht  warum.  Wann  werde  ich  endlich 
ankommen?!  Langweilig! 

Auf  dem  Wege  von.  .  .  . 

Was  ist  langweiliger  als  ein  Eisenbahnzug  und  lästige 
Mitreisende!  Ein  Italiener,  ein  grenzenlos  dummer  Kerl, 
belästigt  mich  in  einem  fort  und  ich  weiss  nicht,  wie  ich 
ihn  los  werden  soll.  Er  ist  nicht  imstande  zu  verstehen,  wo- 
hin er  zu  fahren  und  wo  er  sein  Geld  zu  wechseln  hat. 
Mein  Geld  habe  in  Krakau  bei  einem  Juden  gewechselt. 
Langweilig!  Denke  oft  an  Sascha  und  Modi  und  mein  Herz 
will  zerspringen.  In  Wolotschisk  grosse  Aufregung.  Die 
Reisegesellschaft  ist  mit  Ausnahme  des  Italieners  erträglich. 
Die  Nacht  habe  fast  garnicht  geschlafen.  Der  Alte,  ein  Offizier 
a.  D.  mit  dem  originellen  Backenbart.  In  diesem  Augen- 
blick belästigt  der  Italiener  eine  Dame.  Gott,  wie  ist  er 
doch  dumm!  Ich  muss  ihn  durch  eine  List  abschütteln. 

29.  Juni. 

Vier  lange  Stunden  musste  ich  in  Myslowitz  warten; 
jetzt  fahre  endlich  nach  Breslau.  Der  Italiener  ist  über- 
zeugt, dass  ich  mit  ihm  nach  Liggia  reisen  werde.  Der 
langweilt  mich  mal  zum  Erbrechen!  Oh,  wie  ist  er  dumm! 

1)  So  hiess  ein  Dorf  in  der  Nähe  Kiew's.  Es  ist  ein  Ueberrest  eines  früher  an  dieser 
SteHe  gewesenen  IVIilitürlagers. 

2)  Alexandra  Iljinischna  hatte  die  Absicht  zweclis  Erziehung  ihrer  Töchter  auf  einige 
Jahre  in  die  Schweiz  zu  reisen. 


201    

In  M3'slowitz  habe  leidlich  Mittag  gegessen  und  bin  in  der 
recht  netten  Stadt  spazieren  gegangen.  Kann  mir  vorstel- 
len was  für  ein  Gesicht  der  Italiener  schneiden  und  was 
für  ein  Gezeter  er  mir  nachsenden  wird,  wenn  ich  in  Bres- 
lau plötzlich  verdufte!  Am  Ende  wird  er  da  sitzen  blei- 
ben! Mein  Geld  schmilzt  mit  einer  unheimlichen  Schnel- 
ligkeit! 

Jean  Prosco,  Konstantinopel. 

Breslau. 

Hatte  nicht  den  Mut,  den  Italiener  zu  betrügen.  Gestand 
ihm  schon  vorher,  dass  ich  in  Breslau  zu  bleiben  beab- 
sichtige. Er  war  fast  bis  zu  Thränen  gerührt  und  gab 
mir  seinen  Namen,  den  ich  oben  notiert  habe.  Augenblicklich 
sitze  auf  einer  Anhöhe  im  Hotel  „Zur  Goldenen  Gans". 

3.  Uhr  früh. 

Geschlafen  habe  ich  gut.  Früh  morgens  gab  es  ein 
fürchterliches  Gewitter.  Ich  möchte  hier  einen  Tag  bleiben. 
Bin  zu  faul,  weiter  zu  reisen.  Ausserdem  gefällt  es  mir 
hier.  Trinke  Kaffee.  Aus  meinem  Fenster  kann  ich  nur 
Dächer  sehen. 

Wie  gern  habe  ich  manchmal  die  Einsamkeit!  Ich  muss 
gestehen,  dass  ich  nur  deshalb  hier  bleiben  möchte,  um 
nicht  so  bald  in  Dresden  in  Gesellschaft  Jurgensons  zu 
erscheinen.  So  allein  dazusitzen,  zu  schweigen,  zu  denken!... 


Bin  durch  die  Strassen  geschlendert.  Breslau  ist  schön. 


12.  Uhr  mittags. 

iie  Strassen  £ 
Bin  sehr  müde 

Nachmittags. 

Es  gab  ein  starkes  Gewitter  mit  Hagelschlag.  Jetzt  ist 
es  kühl.  Das  Mittagessen  war  echt  deutsch.  Hat  mir  aber 
geschmeckt. 

I.  JuH. 

Abends  war  ich  in  Liebigs  Etablissement.  Ein  recht 
scheussliches  Orchester  spielte  ein  ganz  anständiges  Pro- 
gramm. Habe  mich  sehr  gelangweilt.  Habe  ein  ausgezeich- 
netes Opernglas  gekauft.  Nach  einer  Stunde  reise  ab. 


202 


Unweit  Dresden. 


bis 


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Thema  für  das  erste  Allegro.  Introduktion  aus  demsel- 
ben im  ^U  Takt. 

2.  Juli,  Dresden. 

Gestern  um  6  bin  ich  angekommen.  Nachdem  ich  ein 
Zimmer  belegt  lief  ich  schnell  ins  Theater.  Es  wurde  die  „Jü- 
din" gegeben, — sehr  schön.  Meine  Nerven  sind  schrecklich. 
Ohne  den  Schluss  abgewartet  zu  haben  ging  ich  ins  Ho- 
tel, Jurgensons  aufzusuchen.  Abendessen.  Thee  in  Gemein- 
schaft Jurgensons.  Heute  nahm  ein  Bad.  Schlenderte  mit 
Jurgenson  durch  die  Stadt.  Mittagten  an  der  table  d'hote. 
Gleich  fahren  wir  in  die  Sächsische  Schweiz.  Die  Stim- 
mung ist  erträglich. 

Bastei,  3.  Juli. 

Haben  eine  prachtvolleTour  durch  die  Sächsische  Schweiz 
gemacht.  Dreiviertelstunden  sind  auf  einem  entzückenden 
Wege  gestiegen.  Besonders  interessant  ist  die  Brücke  ne- 
ben dem  Hotel.  Der  Abend  ist  angenehm  verlaufen.  Das 
Wetter  ist  prachtvoll,  und  nur  das  Böhmen-Orchester  hat 
den  Genuss  etwas  getrübt.  Haben  uns  früh  zu  Bett  bege- 
ben. Der  betrunkene  Vetter  und  seine  zwei  Basen  waren 
sehr  lästig.  Nachts  habe  einen  prachtvollen  Sonnenaufgang 
gesehen.  Geschlafen  habe  gut,  J.  und  S.  J.  ^)  —  schlecht. 
Augenblicklich  ist  das  Wetter  fürchterlich.  Die  Wolken 
hängen  über  unsern  Häupten  und  wir  entschliessen  uns, 
nach  Dresden  zurückzufahren. 

Dresden. 

Das  Wetter  hat  sich  verschlechtert  und  wir  haben 
beschlossen,  zurückzukehren.  Den  Abstieg  machten  wir 
auf  einem  andern  Wege,  zwischen  kolossalen  Felsen  hin- 
durch. Erholten  uns  in  einem  Restaurant  inmitten  einer 
grossartigen  Natur  (Felsenthor).  Frühstückten  am.  Ufer  der 
Elbe  (Omelette   au   confiture)   und  fuhren  zu  Schiff  nach 


1)  Sophie  Iwanowna — die  Gemahlin  Jurgensons. 


—    263    — 

Dresden.  Unsere  Zimmer  sind  nicht  mehr  zu  haben,  und 
mir  wurde  ein  sehr  schlechtes  zugewiesen. 

6.  Juh,  Köln. 

In  Dresden  habe  die  „Zauberflöte"  gesehen.  Ich  fühlte 
mich  schlecht  und  hatte  daher  keinen  grossen  Genuss.  Am 
andern  Tage  besuchte  ich  die  Gallerie  (Holbein)  ^).  Um 
6  Uhr  reisten  wir  nach  Köln  ab  (der  Zwischenfall  in  Halle). 
Nach  fast  vierundzwanzigstündiger  Fahrt  kamen  wir  in 
Köln  an  und  sind  oben  im  Hotel  du  Nord  abgestiegen. 
Gingen  dann  Frau  Walzeck  suchen     .     .     .  (abgerissen). 

Zürich,  12  Uhr  Nachts. 

Der  Rheinfall  ist  köstlich.  Die  Ueberfahrt  über  den 
Strom  ist  etwas  ängstlich.  Der  Weg  bis  Zürich  war  lang- 
weilig, hauptsächlich  wegen  unserer  Ermüdung.  In  der 
Hoffnung  auf  Billigkeit  wollten  wir  im  „Schwert"  absteigen, 
haben  dort  aber  nur  mit  Mühe  Zimmer  bekommen,  dazu 
noch  sehr  teuer.  Aergerlich. 

Luzern,  9.  Juli. 

Habe  ausgezeichnet  geschlafen.  Zürich  ist  köstlich  (Bauer- 
garten, Hohe  Promenade).  Gleich  wollen  wir  per  Schiff 
nach  Rigi-Kulm. 

Bern,  IG.  Juli. 

Die  Fahrt  auf  den  Rigi  war  sehr  gelungen.  Die  Eisen- 
bahn ist  erstaunlich.  Zu  unserem  Glück  haben  wir  in  dem 
überfüllten  Hotel  noch  Zimmer  finden  können.  Das  Früh- 
aufstehen ist  mir  schwer  gefallen.  Die  Kälte  war  durch- 
dringend und  fühlte  mich  beim  Sonnenaufgang  durchaus 
nicht  wohl.  Auf  dem  Rückweg  mussten  wir  in  Viznau 
zwei  Stunden  auf  den  Dampfer  warten  und  haben  sehr 
schlecht  Mittag  gegessen.  In  Luzern  spazierten  wir  durch 
die  Strassen  (der  Löwe).  Unterwegs  hierher  war  es  sehr 
heiss.  Dem  Rate  eines  Landsmannes  von  uns  folgend, 
nahmen  wir  unsere  Wohnung  im  Hotel  de  France.  Es  ist 
widerwärtig  schlecht,  das  Abendessen  war  geradezu  nie- 
derträchtig... 

12.  Juli,  Vevey. 
Nachdem  wir  Gestern  im  Kasino  Mittag  gegessen  hat- 


1 )  Lange  Zeit  hindurch — bis   zum    Ende   der   siebziger  Jahre — blieb   Holbeins    „Ma- 
donna" das  einzige  antike  Bild,  welches  Peter  Iljitsch  gefiel. 


—  264  — 

ten,  trennten  wir  uns:  Jurgensons  sind  nach  Interlaken  ge- 
fahren, und  ich — hierher  (der  gesprächige  Pohtiker).  Gleich 
nach  der  Ankunft  im  Hotel  Monnet  machte  ich  mich  auf, 
eine  Pension  für  Sascha  ausfindig  zu  machen,  habe  auch 
bald  eine  passende  gefunden.  Dann  lief  ich  schnell,  zu 
depeschieren  und  habe  dabei  Konfusion  gemacht.  Das 
Abendessen.  Spaziergang  am  Quai.  Dann  Zeitunglesen. 
Geschlafen  habe  schlecht.  Es  gewitterte  und  war  sehr 
schwül. 

13.  Juli,  Vevey. 

War  in  der  Pension  von  Miss  Peel.  Sie  hat  mir  ge- 
fallen. Habe  sofort  einen  Brief  an  Sascha  geschrieben,  ge- 
frühstückt und  dann  einen  sehr  dummen,  weiten,  aber 
ziellosen  Spaziergang  über  die  Terasse  du  Panorama  un- 
ternommen. Wollte  eigentlich  zum  Schloss  Hauteville  ge- 
langen, ist  mir  aber  nicht  gelungen.  Bin  nach  Montreux 
und  Schloss  Chillon  gefahren,  das  Letztere  habe  besichtigt. 
Mittagte  an  der  table  d'hote  inmitten  eines  ganzen  Meeres 
von  Amerikanern  und  Engländern.  Bin  in  einen  Cirkus 
geraten. 

Vevey.  Abends. 

Habe  Pissevache  und  Gorges  du  Trient  besucht.  Be- 
stieg einen  unbekannten  Berg,  speiste  im  Grand  Hotel  de 
Gorges  de  Trient  zu  Mittag  und  habe  viel  Geld  ausgege- 
ben. Erwarte  die  Antwortdepesche  von  Sascha.  Inmitten 
der  grossartigen  Natur  und  der  Eindrücke  eines  Touristen 
sehne  ich  mich  doch  sehr  nach  Russland  zurück.  Bei  dem 
Gedanken  an  die  weiten  Ebenen,  Wiesen  und  Wälder  der 
Heimat  will  mir  das  Herz  schier  zerspringen.  Oh,  mein 
geliebtes  Vaterland,  hundertfältig  schöner  und  anmutiger 
bist  du,  als  diese  wundervollen  Bergungetüme,  die  doch 
eigentlich  Nichts  Anderes  sind,  als  versteinerte  Zuckungen 
der  Erde!...  Uebrigens  ist  es  immer  da  schöner,  wo  wir 
nicht  sind!... 

14.  Juli. 

Das  Telegramm  ist  immer  noch  nicht  da.  Soeben  bin 
ich  mit  der  Eisenbahn  aus  Montreux  zurückgekehrt,  wo- 
hin ich  bei  fürchterlicher  Hitze  zu  Fuss  gegangen  war. 
Der  Genuss  war  sehr  fraglich.  Im  Hotel  du  C3^gne  habe 
gefrühstückt.  Offen  gesagt  weiss  ich  vor  Langeweile  nicht, 
wo  ich  bleiben  soll. 


—  2б5  — 

15-  Juli. 
Den  ganzen  Abend  habe  mich  gelangweilt,  bis  endhch 
das  Telegramm  ankam.  Heute  reise  nach  Genf  weiter. 

i6.  Juli,  unterwegs  nach  Genf. 

Genf.  Jurgenson  ohne  Hut.  Spaziergang.  Abends  Be- 
ratung über  die  Fortsetzung  der  Reise.  Der  durch  die 
Nachbarinnen  unterbrochene  Schlaf.  Heute  ein  Bad  in  der 
Rhone.  Spaziergang.  Frühstück.  Abreise.  Besichtigung  des 
Gepäcks  und  der  Pässe  in  Bellegarde.  Dawidoff,  Koko 
mit  Gemahlin.  Der  See.  Nach  Italien  fahre  ungern.  Schade 
ums  Geld. 

i8.  Juli,  Mailand. 

Der  Tunnel.  Früh  am  Morgen  Turin.  Ich  bleibe  in  Tu- 
rin; man  führt  mich  in  ein  scheussliches  „Albergo".  Schlaf. 
Weiterfahrt  mit  dem  Kourierzug.  Mailand.  Galleria  Vitto- 
rio  Emanuele.  Heute  Besuch  der  Brera  (Madonna  von 
Sasso  Ferato).  Spaziergang  im  Giardino  Publico.  Ich  bin 
immer  noch  nicht  ganz  wohl.  Habe  in  der  Apotheke  Me- 
dizin gekauft.  Gleich  fahren  wir  Alle  nach  Como. 

Cadenabbia  (Como). 

Die  Reise  war  nicht  lang  und  auf  dem  Dampfer  sehr 
angenehm.  Wir  sind  im  prächtigen  Hotel  Bellevue  abge- 
stiegen. Spaziergang... 

An  dieser  Stelle  ist  das  Tagebuch  zu  Ende.  Als  seine 
Fortsetzung  kann  der  Brief  Peter  Iljitsch's  an  seinen  Va- 
ter angesehen  werden: 

„Paris,  d.  23.  Juli. 

Aus  der  Schweiz  wandte  ich  mich  nach  Italien  und 

beabsichtigte,  es  ganz  zu  durchreisen,  doch  war  die  Hitze 
schon  in  Mailand  so  gross,  dass  ich  es  nicht  wagte,  noch 
weiter  nach  Süden  vorzudringen  und  direkt  nach  Paris 
gefahren  bin.  Hier  ist  es  zu  jeder  Jahreszeit  schön.  Ich 
habe  die  Absicht,  ungefähr  acht  Tage  hier  zu  bleiben  und 
dann  in  die  Heimat  zurückzukehren.  Es  ist  unAvahrschein- 
lich,  dass  der  Rest  meines  Geldes  reichen  wird  über  Pe- 
tersburg nach  Moskau  zu  reisen,  so  dass  ich  sehr  daran 
zweifle,  ob  ich  Dich  in  Diesem  Sommer  zu  sehen  bekom- 
men werde.  Ich  tröste  mich  mit  der  Hoffnung,  dass  ich 
gelegentlich  der  Aufführung  meiner  Oper,  längere  Zeit  bei 
Dir  bleiben  werde". 


—    2б6    — 

Nachdem  Peter  Iljitsch  Anfang  August  nach  Russland 
wieder  zurückgekehrt  war,  begab  er  sich  nach  seinem 
LiebHngssommeraufenthahiUssowo.  Schilowsky  hat  er  dort 
allerdings  nicht  angetrofifen,  das  Haus  stand  aber  schon 
für  seine  Aufnahme  bereit.  Die  zwei  Wochen,  die  Peter 
Iljitsch  dort  in  absoluter  Einsamkeit  verbracht,  zählte  er 
später  zu  den  glücklichsten  Tagen  seines  Lebens.  Das  Le- 
ben im  Auslande  in  gleichen  Verhältnissen  war  für  Peter 
Iljitsch  stets  unerträglich,  qualvoll,  während  ihm  in  der 
Heimat  die  Anwesenheit  eines  Dieners  genügt,  um  sich 
nicht  verwaist  zu  fühlen,  er  fühlte  sogar,  wenn  er  allein 
war,  ein  Anwachsen  seiner  Kraft  und  Energie,  welches  ihm 
in  dem  Getriebe  des  Stadtlebens  unbekannt  war.  In  einem 
seiner  Briefe  aus  dem  Jahre  1878  erinnert  sich  Peter  Iljitsch 
an  jenen  Aufenthalt  in  Ussowo  mit  folgenden  Worten: 

An  N.  F.  M. 

„1878,  d.  22.  April. 

Ich  kenne  keinen  grösseren  Genuss,  als  einige  Tage 

im  Dorf  in  völliger  Einsamkeit  zu  verbringen.  Diesen  Ge- 
nuss hatte  ich  nur  ein  Mal  im  Leben.  Das  war  im  Jahre 
73.  Ich  bin  damals  aus  Paris  —  es  war  Anfang  August  — 
zu  einem  unverheirateten  Freund  von  mir  auf's  Land  in 
das  Gouvernement  Tambow  gekommen.  Dieser  Freund 
musste  aber  gerade  zu  der  Zeit  auf  mehrere  Tage  nach 
Moskau  reisen,  sodass  ich  ganz  allein  blieb  in  der  herrli- 
chen Oase  der  südrussischen  Steppen.  Ich  befand  mich 
geradezu  in  einer  exaltiert-seligen  Stimmung,  streifte  am 
Tage  durch  die  Wälder,  Abends  spazierte  ich  im  tiefen 
Thal,  und  in  den  Nächten  lauschte  ich,  am  offenen  Fenster 
sitzend,  der  feierlichen  Stille  ringsum,  welche  nur  hin  und 
wieder  durch  irgend  einen  unbestimmten  Laut  unterbro- 
chen wurde.  Während  jener  zwei  Wochen  habe  ich  ohne 
die  geringste  Mühe — gleichsam  alswenn  ich  von  einer  über- 
natürlichen Kraft  geleitet  worden  wäre — meinen  „Sturm" 
skizziert.  Welch  unangenehmes  und  qualvolles  Erwachen 
aus  meinen  Träumen  erlebte  ich  bei  der  Rückkehr  meines 
Freundes!  Plötzlich  verschwanden  all  die  Freuden  der 
unmittelbaren  Berührung  mit  der  Grösse  und  Herrlichkeit 
der  Natur.  Das  Stückchen  Paradies  verwandelte  sich  in 
das  prosaische  Haus  eines  Gutsbesitzers.  Nachdem  ich  mich 
zwei  bis  drei  Tage  sehr  gelangweilt  hatte,  reiste  ich  nach 
Moskau  ab". 


—  267  — 

Peter  Iljitsch  war  am  5.  oder  6.  August  in  Ussowo 
angekommen  und  hatte  schon  am  7.  den  „Sturm"  in  An- 
griff genommen.  Zum  17.  August  war  diese  symphonische 
Dichtung  in  allen  ihren  Einzelheiten  bereits  im  Entwurf 
fertig,  und  konnte  der  Autor  in  Moskau  ungesäumt  mit 
der  Instrumentierung  des  Werkes  beginnen.  Die  Gräfin 
Wassiljewa-SchiloAvsky  hat  mir  die  Handschrift  des  Ent- 
лvurfes,  welcher  mit  den  oben  angegebenen  Daten  verse- 
hen ist,  geschenkt.  Augenblicklich  befindet  er  sich  in  der 
Kaiserlichen  Bibliothek,  der  ich  ihn  überlassen  habe. 


Die  chronologische  Reihenfolge  der  Kompositionen  Pe- 
ter Iljitsch's  in  der  Saison  1872 — 1873  ist  folgende: 

1.  Op.  17.  Symphonie  Л'г  2  (C-moll).  Komponiert  im  Juni, 
Juli  und  August  1872.  Instrumentiert  im  September  und 
Oktober  desselben  Jahres  und  ist  in  den  ersten  Tagen  des 
November  ganz  fertig  geworden.  Gewidment  der  Moskauer 
Abteilung  der  Kaiserlich-Russischen  Musikalischen  Gesell- 
schaft. Am  26.  Januar  1873  unter  N.  Rubinsteins  Leitung 
in  Moskau  zum  ersten  Mal  aufgeführt.  Erschienen  bei  W. 
Bessel.  Der  zweite  Satz,  Andantino  marziale,  ist  der  Oper 
„Undine"  entnommen.  Kaschkin  sagt  darüber:  Diese  Sym- 
phonie könnte  man  die  „kleinrussische"  Symphonie  nennen, 
da  die  Hauptthemata  kleinrussische  Volkslieder  sind.  Spä- 
ter hat  der  Autor  umfassende  Aenderungen  an  ihr  vor- 
genommen, deren  hauptsächlichste  in  der  völligen  Neubear- 
beitung des  ganzen  ersten  Satzes  bestand. 

2.  Op.  16.  Sechs  Lieder:  I.  „Wiegenlied",  Text  von  Mai- 
kow,  gewidmet  an  Frau  N.  N.  Rimsky-Korsakoff.  IL  „War- 
te noch",  Text  von  Grekoff,  gewidmet  an  N.  A.  Rimsky-Kor- 
sakoff. III.  „Erfass  nur  einmal",  Text  von  Maikow,  gewidmet 
an  G.  A.  Laroche.  IV.  „Oh,  möchtest  du  einmal  noch  sin- 
gen", Text  von  Pleschtschejeff,  gewidmet  an  N.  A.  Hubert. 
V.  „Was  nun?"  Text  vom  Komponisten  selbst,  gewidmet  an 
N.  Rubinstein.  VI.  „Neugriechisches  Lied",  Text  von  Mai- 
kow, gewidmet  an  K.  Albrecht.  Die  Entstehungszeit  dieser 
Lieder  kann  ich  nicht  genau  angeben,  wahrscheinlich  fällt 
sie  jedoch,  in  den  Dezember  1872.  Verlag  Bessel. 

3.  Op.  12.  Die  Musik  zum  Frühlingsmärchen  „Snegu- 
rotschka"  von  Ostrowsky.  Komponiert  im  Laufe  des  März 
und  April  des  Jahres  1873.  Zum  ersten  Mal  aufgeführt  am 
II.  Mai  1873  im  Grossen  Theater  zu  Moskau.  Verlag  von 
P.  Jurgenson.  Einige  Nummern  dieses  Werkes  hat  der 
Komponist  seiner  „Undine"  entnommen. 


—   2б8   — 

4-  Perpetuum  mobile  aus  einer  Sonate  von  K.  M.  von 
Weber,  Arrangement  für  die  linke  Hand  allein.  Gewidmet 
an  Fr.  Sograf.  Herausgegeben  1873.  Entstehungszeit  ganz 
unbekannt.  Verlag  von  P.  Jurgenson. 

Ausserdem  hatte  Peter  Iljitsch  vom  7.  bis  zum  17. 
August  an  der  symphonischen  Dichtung  „vSturm"  gear- 
beitet. 

Seine  musikkritische  Thätigkeit  dieser  Saison  umfasst 
17  Artikel,  in  welchen  die  musikalischen  Vorkommnisse 
Moskau's  besprochen  werden. 


X. 

1873- -1874. 

Nachdem  Peter  Iljitsch  zum  i.  September  wieder  in 
Moskau  eingetroffen  war,  begann  er  mit  der  Instrumenta- 
tion der  mitgebrachten  Entwürfe  des  „Sturmes". 

Die  ersten  anderthalb  Monate  blieb  er  noch  in  der  frü- 
heren Wohnung  wohnen,  im  Oktober  jedoch  bezog  er 
eine  andere,  in  der  Nikitskajastrasse  im  Hause  Wischnew- 
sky  gelegene. 

In  seinen  Pflichten  als  Professor  des  Konservatoriums, 
sowie  als  Musikreferent  sind  keinerlei  wesentliche  Aende- 
rungen  gegenüber  den  vorigen  Jahren  eingetreten.  Auch 
Avas  seine  Lebensweise  anbelangt  hat  sich  Nichts  Neues 
ereignet,  Alles  ging  seinen  gewöhnlichen  Gang,  mit  dem 
einzigen  Unterschied,  dass  Das,  was  Peter  Iljitsch  früher 
interessant  und  neu  schien,  ihm  jetzt  immer  mehr  zu  lang- 
weilen begann  und  seine  Anfälle  von  Melancholie  immer 
öfter,  intensiver  und  anhaltender  wurden. 

An  W.  Bessel: 

„September  1873. 

Sei  so  gut,  mein  Lieber,  und  thue  Etwas  für  den 
„Opritschnik".  Gestern  sagte  man  mir  im  Grossen  Theater, 
dass    die    hiesige   Direktion    bestimmt   die    Absicht   habe, 


р.  I.  Tschaikowsky  im  Jahre  1873. 


Dampfschnellpresseu-Druckerei  von  P.  Jurgenson,  Moskau. 


—  269  — 

meine  Oper  aufzuführen,  und  zwar  ebenfalls  im  Frühjahr. 
Obgleich  ich  hier  ausser  der  Kadmina  keine  guten  Kräfte 
finden  kann,  so  glaube  ich  doch,  dass  wir  gut  thun  wür- 
den, der  Aufführung  unsere  Zusage  nicht  zu  verweigern. 
Mögen  sie  nur  aufführen,  wenn  sie  Lust  haben.  Der  Re- 
pertoirvorsteher  hat  mir  versichert,  dass  man  keine  Kos- 
ten scheuen  wollte,  um  die  Oper  glänzend  aufzuführen, 
die  Proben  würden  im  Laufe  der  ganzen  Saison  stattfin- 
den. Was  die  Widmung  des  „Opritschnik"  anbelangt,  so 
denke  ich,  dass  es  am  besten  wäre,  ihn  dem  Grossfürsten 
Konstantin  Nikolajewitsch  zu  widmen.  Du  irrst  Dich  sehr, 
wenn  Du  glaubst,  dass  ich  während  meiner  Sommerreise 
im  Ausland  viel  gearbeitet  habe;  nicht  eine  einzige  Note 
habe  ich  da  zu  Papier  gebracht". 

An  I.  P.  Tschaikowsky: 

„9.  Oktober. 

Lieber  Vater,  ich  habe  schon  wieder  eine  grosse  Schuld 
auf  dem  Gewissen.  Ich  sehe  sie  wohl  ein,  küsse  Dich  und 
bitte  Dich,  mir  diesmal  meine  grosse  Schreibfaulheit  noch 
zu  verzeihen.  Uebrigens  ist  diese  Faulheit  erklärlich.  Ich 
bin  immer  so  müde,  wenn  ich  nach  Hause  komme,  und 
habe  so  viel  Arbeit,  dass  ich  keine  Energie  finde  Briefe 
zu  schreiben.  In  der  letzten  Zeit  war  ich  sehr  krank:  ich 
hatte  die  Bräune  und  starkes  Fieber,  der  Husten  hält  bis 
jetzt  noch  an.  Das  Alles  ist  aber  nicht  der  Rede  wert: 
im  Allgemeinen  ist  meine  Gesundheit  in  gutem  Zustand. 
Ich  lebe  wie  gewöhnlich,  zur  Langweile  finde  garkeine 
Zeit  und  wäre  ganz  glücklich,  wenn  mir  das  Schicksal 
meiner  Oper,  über  die  ich  noch  immer  keine  positiven 
Nachrichten  besitze,  nicht  Sorge  machen  würde.  Soeben 
wurde  mir  mitgeteilt,  dass  es  noch  nicht  bestimmt  sei,  ob 
es  noch  in  dieser  Saison  zu  einer  Aufführung  kommen 
werde,  zum  Warten  habe  ich  aber  gar  zu  wenig  Lust.  Da 
ich  keine  eignen  Kinder  habe,  so  hänge  ich  sehr  an  den 
Ausgeburten  meiner  Phantasie  und  sorge  um  sie  wie  eine 
Mutter,  welche  ihre  Töchter  unter  die  Haube  bringen 
möchte.  Ausser  der  Annehmlichkeit,  meine  Oper  aufge- 
führt zu  sehen,  verlockt  mich  die  Aussicht,  drei  bis  vier 
Wochen  bei  Dir  in  Petersburg  zu  verbringen". 

An  W.  Bessel: 

„IG.  Oktober. 

Lieber   Freund!    An    Gedeonoff  habe  ich  geschrieben. 


—  270  — 

dass  in  Sachen  der  Aiififührung-  meines  „Opritschnik"  Du 
mich  vertreten  sollst.  Wegen  der  Klavierstücke  wirst  Du 
Dich  schon  eine  Weile  gedulden  müssen.  Wenn  Du  Stas- 
sow  begegnen  solltest,  so  teile  ihm  bitte  mit,  dass  ich  den 
„Sturm"  nach  seinem  Programm  bereits  komponiert  habe, 
dass  ich  ihm  diese  Komposition  aber  nicht  eher  sende, 
als  bis  ich  sie  in  der  Ausführung  in  Moskau  gehört  ha- 
ben werde.  W^eiss  nicht,  ob  sie  mir  gelungen  ist  oder  nicht. 
А  propos  teile  mir  bitte  seine  Adresse  mit.  Ich  will  ihm 
selbst  schreiben. 

An  W.  Bessel: 

„18.  Oktober. 

Lieber  Freund,  die  traurigen  Nachrichten,  die  Du  mir 
zukommen  lässt,  haben  mich — trotzdem  ich  auf  sie  gefasst 
war — dennoch  sehr  erbittert.  Es  scheint  geradezu  eine  Vo- 
rausbestimmung zu  sein,  dass  ich  nie  eine  meiner  Opern 
in  guter  Ausführung  zu  hören  bekommen  soll.  Es  hat  gar- 
keinen  Zweck,  dass  Du  Dich  der  Hoffnung  hingiebst,  dass 
der  „Opritschnik"  im  nächsten  Jahr  in  Scene  gehen  wer- 
de. Er  wird  nie  gegeben  werden,  und  zwar  schon  allein 
aus  dem  einfachen  Grunde,  dass  ich  mit  Keinem  der  „Mäch- 
tigen" dieser  Welt  im  Allgemeinen  und  mit  denen  des 
Petersburger  Theaters  im  Besonderen  persönlich  bekannt 
bin.  Ist  es  denn  nicht  geradezu  lächerlich,  dass  Mussorg- 
sky's  Oper  „Boris  Godunoff",  obgleich  sie  vom  Komitee 
abgelehnt,  von  KondratjefT  ^)  zu  seiner  Benefizvorstellung 
gewählt  worden  ist?  Auch  die  Platonowa  -)  bemüht  sich 
um  dieses  Werk,  während  von  meiner  Oper,  die  vom  Ko- 
mitee angenommen  worden  ist.  Niemand  Etwas  wissen  will. 
Selbstverständlich  werde  ich  es  nicht  zugeben,  dass  die 
Oper  in  Moskau  in  Scene  geht  solange  sie  in  Petersburg 
noch  nicht  aufgeführt  worden  ist.  Es  quält  mein  Gewis- 
sen, dass  Dich  die  Oper  in  Unkosten  zieht,  hoffe  aber, 
dass  ich  einst  Gelegenheit  haben  werde,  mich  zu  revan- 
chieren. 

Was  die  Widmung  an  den  Grossfürsten  anbelangt,  so 
meine  ich,  dass  sie  vorläufig  lieber  unterbleiben  könnte, 
da  doch  das  Schicksal  der  Oper  noch  so  unbestimmt  ist. 
Eine  nichtaufgeführte  Oper  ist,  meiner  Ansicht  nach,  wie 

1)  G.  P.  Kondratjefl"  war  ursprünglich  Sänger  (Bariton),  dann  lange  Jahre  hindurch 
Regisseur  im  Maricn-Thcatcr. 

2)  I.  Th.  Platonowa,  die  Primadonna  des  Marientheaters,  eine  sehr  beliebte  Sänge- 
rin, besass  auch  ein  unvergleichliches  dramatisches  Talent. 


—  271  — 

ein  Buch  im  Manuscript.  Soll  man  nicht  lieber  noch  war- 
ten? Erwarte  mit  Ungeduld  die  Korrektur  der  S3'mphonie". 

An  W.  Bessel: 

„30.  Oktober. 

Lieber  Freund,  Hubert  hat  mir  die  glückliche  Wendung 
in  der  Opernangelegenheit  mitgeteilt.  Es  freut  mich  dieses 
sehr,  sehr!  Teile  Dir  ganz  im  Geheimen  mit,  dass  ich  den 
Wunsch  habe  im  ersten  Symphoniekonzert  in  Petersburg 
anwesend  zu  sein,  um  meine  Symphonie  anzuhören.  Auf 
keinen  Fall  will  ich  aber,  dass  Jemand  Etwas  darüber  er- 
fährt, verlange  daher  von  Dir  das  Ehrenwort,  dass  Du  es 
Niemandem  verratest.  Schreibe  mir  bitte,  wann  das  Kon- 
zert stattfinden  soll  und  kaufe  mir  ein  Billet  auf  die  Gal- 
lerie.  Bei  der  Gelegenheit  können  wir  Verschiedenes  münd- 
lich miteinander  besprechen.  Um  Gottes  Willen,  nur  kein 
Wort  darüber,  sonst  wird  sich  mein  ganzer  Spass  in  eine 
grosse  Unannehmlichkeit  verwandeln.  Nach  einigen  Tagen 
sende  Dir  drei  Stücke  ab". 


An  M.  Tschaikowsky 


,28.  November 


Meiner  finanziellen  Lage  dürfte  in  allernächster  Zeit 

ein  kleines  Ereigniss  bevorstehen.  Der  „Sturm"  soll,  näm- 
lich, in  der  nächsten  Woche  eine  Aufführung  erfahren, 
bei  welcher  Gelegenheit  ich  von  der  Musikalischen  Gesell- 
schaft die  üblichen  300  Rubel  erhalten  werde.  Diese  Sum- 
me wird  mich  sehr  aufmuntern.  Es  wird  für  mich  von 
grossem  Interesse  sein,  mein  neues  Werk  mit  anzuhören, 
auf  das  ich  sehr  grosse  Hoffnungen  setze.  Schade,  dass 
Du  es  nicht  hören  kannst,  denn  ich  beachte  sehr  Deine 
maasgebende  Meinung. 

Erst  in  diesem  Jahr  bin  ich  zu  der  Ueberzeugung  ge- 
kommen, dass  ich  hier  ziemlich  einsam  bin,  trotz  meiner 
vielen  Freunde.  Unter  diesen  ist  Niemand,  dem  ich  meine 
Seele  ausschütten  könnte,  wie  zum  Beispiel  Kondratjew" 

hn  dritten  S3'mphoniekonzert  der  Musikalischen  Ge- 
sellschaft zu  Moskau,  welches  am  7.  Dezember  stattfand, 
wurde  der  „Sturm"  mit  grossem,  ausserordentlichem  Er- 
folg aufgeführt  und  noch  in  derselben  Saison  in  einem 
Extrakonzert  wiederholt. 


—  272  — 

E.  Näpravnik  an  P.  I.  Tschaikowsk}-: 

„16.  Dezember. 

Obwohl  wir  wahrscheinlich  erst  in  der  zweiten  Fasten- 
woche mit  den  Proben  zu  Ihrer  Oper  beginnen  werden, 
möchte  ich  Sie  jetzt  schon  bitten,  dem  Chor  und  den  So- 
listen die  Arbeit  etwas  zu  erleichtern  und  einige  Kürzun- 
gen vorzunehmen,  d.  h.  alle  Wiederholungen  im  Text  und 
in  der  Musik,  welche  die  Entwickelung  des  Drama's  hem- 
men, zu  streichen.  Es  sind  ihrer  sehr  viele  vorhanden,  zum 
Beispiel  der  Hochzeitschor  im  IV.  Aufzug,  welcher  sich 
drei  Mal  wiederholt.  Auch  die  Tänze  müsste  man  ein  we- 
nig kürzen.  Ich  versichere  Sie,  dass  dadurch  die  ohnehin 
schon  sehr  lange  Oper  nur  gewinnen  wird.  Ausserdem 
rate  ich  Ihnen,  die  zu  dicke  und  zu  grelle  Instrumentation 
abzuändern,  da  sie  von  den  Singstimmen  an  manchen  Stellen 
nicht  überwältigt  werden  kann  und  die  Künstler  ganz  in 
den  Schatten  stellt.  Ich  hoffe,  dass  Sie  alle  meine  Bemer- 
kungen als  wohlgemeint  betrachten  und  sie  wie  von  einem 
Ihnen  gutgesinnten  Kollegen,  welchen  das  Schicksal  nun 
bereits  seit  11  Jahren  mit  der  Opernkunst  beschäftigt, 
freundlich  entgegennehmen  werden". 

An  E.  Näpravnik: 

„18.  Dezember. 

Sehr  geehrter  Herr!  Ihre  Bemerkungen  haben  mich 
nicht  nur  nicht  beleidigt,  sondern  ich  bin  Ihnen  sogar  sehr 
dankbar  für  dieselben.  Ueberhaupt  bin  ich  sehr  froh,  dass 
mir  infolge  Ihres  Briefes  die  Möglichkeit  geboten  ist,  mit 
Ihnen  in  Verbindung  zu  treten  und  mit  Ihnen  persönlich 
Alles  zu  besprechen.  Alles  was  Sie  in  Betreff  der  Rollen- 
besetzung, der  Abänderungen  und  Kürzungen  für  nötig 
halten,  will  ich  gern  thun.  Um  ausführlicher  die  Sache 
besprechen  zu  können,  werde  ich  am  nächsten  Sonntag 
nach  Petersburg  kommen  und  Sie  besuchen.  Wenn  Sie 
an  diesem  Tage  verhindert  sein  sollten,  zu  Hause  zu  sein, 
so  wollen  Sie  bitte  die  Güte  haben,  mir  eine  Mitteilung 
zu  hinterlassen,  um  welche  Zeit  ich  Sie  am  folgenden  Tage 
aufsuchen  darf. 

Ich  bitte  Sie,  Niemandem  ein  Wort  über  meine  Ankunft 
zu  sagen,  denn  ich  komme  nur  für  kurze  Zeit  und  will 
Niemanden,  ausser  Ihnen,  sehen". 


—  273  — 

An  А.  Tschaikowsky: 

„26.  Januar  1874. 

In  Petersburg   bin  ich   in   dem  scheusslichen  Hotel 

Victoria  abgestiegen.  Bin  sofort  zu  Näpravnik  gegangen, 
dem  ich  vorher  schrifthch  meinen  Besuch  angemeldet  hatte. 
Ich  war  entschlossen,  ihn  durch  ehrfurchtsvolle  Behand- 
lung und  durch  mein  volles  Einverständniss  mit  allen  sei- 
nen Meinungen  für  mich  einzunehmen.  Dieses  zu  erreichen 
ist  mir  denn  auch  gLänzend  gelungen,  so  dass  wir  uns 
als  Freunde  verabschiedet  haben.  Die  ganzen  vier  Tage 
war  ich  mit  Kürzungen  und  Aenderungen  meiner  Partitur 
beschäftigt.  Die  meiste  Zeit  war  ich  beim  Vater,  speiste  bei 
ihm  zu  Mittag  und  arbeitete  auch  da....  Mit  Bessel  war 
ich  auch  zusammen.  Die  Schwierigkeiten  mit  der  Zensur 
sind  glücklich  beseitigt.  Ueberhaupt  ist  die  Angelegenheit 
der  Oper  jetzt  endgiltig  in  Ordnung:  in  der  zweiten  Fasten- 
woche sollen  die  Proben  beginnen  und  ich  bin  überzeugt, 
dass  Näpravnik  sich  die  grösste  Mühe  geben  wird.  Ich  habe 
ein  neues  Quartett  komponiert  und  werde  dasselbe  auf  einer 
Soiree  bei  N.  Rubinstein  zu  Gehör  bekommen". 

Das  neue  Quartett,  welches  im  letzten  Brief  erwähnt 
wird,  hatte  Peter  Iljitsch  Ende  Dezember  oder  Anfang 
Januar  zu  arbeiten  begonnen.  In  den  „Erinnerungen"  Kasch- 
kin's  findet  sich  die  Beschreibung  des  Abends  bei  N.  Ru- 
binstein, an  welchem  das  Quartett  gespielt  worden  ist: 

„Zu  Anfang  des  Jahres  1874  kam  das  zweite  Quartett 
(F-dur)  Tschaikowsky's  gelegentlich  einer  Soiree  in  der 
Wohnung  N.  Rubinsteins  zum  Vortrag.  Der  Hausherr  selbst 
war,  glaube  ich,  nicht  anwesend,  dafür  aber  sein  Bruder 
Anton.  Die  Ausführenden  waren  F.  Laub,  Hrimaly,  Ger- 
ber und  Fitzenhagen.  Die  ganze  Zeit,  während  gespielt 
wurde,  sass  Anton  Gregorjewitsch  mit  düsterem,  unzu- 
friedenem Gesichtsausdruck  da  und  sagte,  als  die  Musik 
zu  Ende  war,  mit  der  ihm  eigenen  unnachsichtlichen  Auf- 
richtigkeit, dass  ihm  das  Quartett  garnicht  gefallen  habe, 
dass  er  den  echten  Quartettstyl  vermisse  u.  s.  w..  Alle 
andern  Zuhörer,  sowie  die  Ausführenden,  waren  im  Ge- 
genteil ganz  entzückt". 

Am  IG.  März  wurde  dieses  Quartett  an  einem  Quar- 
tettabend der  Musikalischen  Gesellschaft  öffenthch  zum  Vor- 
trag gebracht,  und  zwar — wie  „Das  musikalische  Blatt" 
schreibt — mit  grossem  und  wohlverdientem  Erfolg. 

Tschaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  18 


—  274  — 

An  E.  Näpravnik: 

„19.  Februar. 

In  der  letzten  Zeit  quälte  mich  der  Gedanke,  dass 

der  Klavierauszug  nicht  rechtzeitig  fertig  werden  würde. 
Endlich  erhielt  ich  Gestern  einen  Brief  von  Bessel,  wel- 
cher mir  mitteilt,  dass  er  10  Exemplare  —  aber  noch  un- 
korrigierte — der  Direktion  zur  Verfügung  gestellt  habe.  Ich 
weiss  wohl,  dass  es  Ihnen  grosse  Schwierigkeiten  bereiten 
wird — weiss  aber  nicht,  wie  dem  Uebel  abzuhelfen  ist.  Soll 
ich  vielleicht  nach  Petersburg  kommen?  Ausserdem  hatte 
ich  keine  Zeit  gehabt  in  den  Klavierauszug  diejenigen 
Striche  und  Aenderungen  zu  übertragen,  welche  ich  in  der 
Partitur  gemacht.  Wollen  Sie  wirklich  so  liebenswürdig 
sein  und  selbst  die  Kürzungen  eintragen?  Wenn  nicht, 
dann  ist  meine  Reise  unerlässlich.  Was  die  Symphonie 
anbelangt,  so  wird  es  mir  leider  nicht  möglich  sein,  sie 
mit  anzuhören,  da  mir  die  Reise  nach  Petersburg  an  dem 
betreffenden  Tage  nicht  passt.  Wenn  ich  daran  denke, 
wieviel  Arbeit  ich  Ihnen  mit  meinen  Kompositionen  verur- 
sache, so  überkommt  mich  immer  ein  grosses  Schamgefühl. 
Erwarte  von  Ihnen  eine  kurze  Nachricht,  ob  ich  kommen 
soll  oder  nicht. 

Am  23.  Februar  ist  die  Symphonie  №  2  unter  Näprav- 
niks  Leitung  zu  ihrer  ersten  Petersburger  Aufführung  ge- 
kommen. Sie  hatte  grossen  Beifall  gefunden,  namentlich 
das  Finale;  infolge  der  Abwesenheit  des  Komponisten,  war 
der  Erfolg  dennoch  kein  so  ausserordentlicher  und  glän- 
zender wie  der  vor  Jahresfrist  in  Moskau.  Die  Symphonie 
hat  auch  bei  den  Vertretern  der  „Allmächtigen  Schaar" 
Anklang  gefunden  und  nur  C.  Cui  missfallen.  Dieser  äus- 
sert sich  in  den  „St.-Petersburger  Nachrichten"  wie  folgt: 
„Introduktion  und  das  erste  AUegro  sind  sehr  schwach, 
die  Dürftigkeit  der  Komponisterei  des  Herrn  Tschaikow- 
sky  kommt  in  ihnen  jeden  Augenblick  zum  Vorschein.  Der 
Marsch  des  zweiten  Satzes  ist  klobig,  ordinär.  Das  Scher- 
zo-weder  gut  noch  schlecht,  das  Trio  so  unschuldig,  dass 
es  selbst  für  eine  „Snegurotschka"  zu  kindisch  wäre.  Bes- 
ser als  die  andern  Sätze  ist  das  Finale,  und  dennoch  ist 
sein  Anfang  so  feierlich-trivial  wie  die  Einleitung  zu  einem 
pas  de  deux,  und  der  Schluss  geradezu  unter  aller  Kritik". 

Ende  März  ist  Peter  Iljitsch  nach  Petersburg  gekom- 
men, um  den  Proben  zu  seinem  „Opritschnik"  beizuwoh- 
nen, und  hat  bei  seinem  Vater  Wohnung  genommen.  Bei 


—  275  — 

der  ersten  Zusammenkunft  mit  Näpravnik  hat  sein  Ehrgeiz 
manchen  Stich  dahinnehmen  müssen,  an  den  er  nicht  ge- 
wöhnt war.  Peter  Ujitsch,  welcher  durch  das  Verhalten 
N.  Rubinsteins  gegenüber  einer  jeden  Note  seiner  histru- 
mental werke  etwas  verwöhnt  war,  hat  sich  durch  die  grosse 
Menge  der  Kürzungen,  welche  Näpravnik  im  „Opritschnik" 
vorgenommen  hatte,  etwas  beleidigt  gefühlt.  Später  hat  er 
sie,  übrigens,  selbst  alle  gutgeheissen,  damals  kränkten  sie 
ihn  jedoch  sehr. 

Die  allerersten  Proben  waren  schon  vorüber.  Der  Chor 
und  die  Solisten  waren  bereits  mit  ihrer  Aufgabe  vertraut, 
und  war  der  Autor  mit  der  Wiedergabe  seines  Werkes 
wohl  zufrieden.  Er  bedauerte  nur  sehr,  dass  die  Partie 
des  Basmanoff  wegen  einer  Erkrankung  neu  besetzt  wer- 
den musste  und  dem  Tenor  Wassiljew  zufiel.  Dieser  Sän- 
ger verfügte  zwar  über  eine  sehr  kräftige  Stimme,  verstand 
aber  nicht,  dieselbe  zu  beherrschen.  In  den  Ensemblestel- 
len wurde  der  holzige  schrille  Ton  seiner  Stimme  aller- 
dings durch  die  andern  Stimmen  etwas  gemildert,  sobald 
er  aber  solo  singen  musste,  traten  alle  Mängel  seines  Vor- 
trages gar  zu  unangenehm  hervor.- 

Von  der  ersten  Probe  an  hat  Peter  Ujitsch  sein  Werk 
missfallen.  Am  25.  März  schreibt  er  an  K.  Albrecht:  „Teile 
bitte  Allen  meinen  Freunden  mit,  dass  die  Premiere  am 
Freitag  in  der  Osterwoche  stattfinden  soll,  und  lass  mich 
auch  rechtzeitig  wissen,  ob  Ihr  die  beabsichtigte  Reise  in 
Ausführung  bringen  werdet,  damit  ich  Billets  besorgen 
kann;  offen  gasagt  wünsche  ich,  dass  Niemand  von  Euch 
komme.  Ä')i  meiner  Oper  ist  nic/ds  besonders  Schönes  dran" . 
An  seinen  Schüler  S.  Tanejew  schreibt  Peter  Ujitsch  in 
demselben  Sinne:  „Serjosha  ^),  sollten  Sie  wirklich  ernst- 
lich mit  der  Absicht  umgehen,  hierherzukommen  um  meine 
Oper  anzuhören,  so  bitte  ich  Sie  sehr,  dieses  Vorhaben 
aufzugeben,  denn  an  der  Oper  ist  nichts  Gutes  dran  und 
es  wäre  schade,  wenn  sie  nur  um  ihretwillen  nach  Peters- 
burg kämen. 

Je  weiter  die  Einstudierung  voran  schritt  umso  düste- 
rer und  gereizter  wurde  Peter  Iljitsch's  Stimmung.  Ohne 
den  wahren  Grund  seiner  Verstimmung  zu  ahnen,  erlaubte 
ich  mir  eines  Tages  den  ersten  Akt  des  „Opritschnik" 
einer  ziemlich  scharfen  Kritik  zu  unterziehen  und  spöttelte 
namentlich  über  die  Stelle,  wo  Andrei  im  Garten    Shem- 


t)  Serjosha-Sergius. 


—  276  — 

tschushn3''s  erscheint,  um  bei  Basmanoff  Geld  zu  „pumpen". 
Peter  Iljitsch  geriet  in  einen  solchen  Zorn,  dass  er  mich 
anschrie,  alswenn  ich  weiss  Gott  was  verbrochen  hätte. 
Ich  war  darüber  sehr  erbittert,  da  ich  damals — wie  gesagt- 
den  Grund  seines  Jähzornes  nicht  zu  finden  vermochte. 
Erst  viel  später  erkannte  ich,  dass  meine  Kritik  gerade 
die  wundeste  Stelle  seiner  Künstlerleiden  getroffen  hatte. 

Am  Tage,  als  die  Affiche  des  „Opritschnik"  zum  ersten 
Mal  am  Theater  ausgehängt  werden  sollte,  schlug  ich  Pe- 
ter Iljitsch  vor,  nach  dem  Frühstück  einen  kleinen  Spa- 
ziergang zu  unternehmen  und  bei  dieser  Gelegenheit  die 
Affiche  in  Augenschein  zu  nehmen.  Er  ging  darauf  ein, 
und  wir  machten  uns  auf  den  Weg.  Wie  mussten  wir 
aber  lachen  als  wir  gewahr  wurden,  dass  die  Affiche  um- 
gekehrt, d.  h.  mit  dem  Kopf  nach  unten  angeschlagen 
war.  Im  Scherz  begann  ich  meine  zukünftigen  „Erinnerun- 
gen" an  diesen  Vorfall  zu  zitieren  und  sprach,  wie  in  einem 
Buch  lesend:  „Als  mein  unvergesslicher  Bruder"  u.  s.  w. 
u.  s.  \v.  Peter  Iljitsch  lachte  von  ganzem  Herzen  über 
meinen  gar  zu  frühzeitigen  Einfall,  die  Rolle  seines  Bio- 
graphen zu  spielen.  Vielleicht  hätte  ich  nicht  mitgelacht, 
wenn  ich  geahnt  hätte,  dass  mein  Scherz  einstmals  Ernst 
werden  sollte. 

Entgegen  dem  Wunsche  Peter  Iljitch's  war  zu  der  am 
12.  April  stattgefundenen  Premiere  des  „Opritschnik"  bei- 
nahe das  ganze  Lehrerkollegium  des  Moskauer  Konserva- 
toriums mit  N.  Rubinstein  an  der  Spitze  in  Petersburg 
erschienen. 

Die  Rollenbesetzung  war  folgende: 
Andrei-  Morosoff N.  Orloff. 


Bojarina  Morosoff. 
Fürst  Shemtschushny     . 
Natalie,   dessen  Tochter 
Moltschan  Mitjkoff    .     . 

Basmanoff 

Fürst  Vjasminsk}'. 


.  Fr.  Krutikowa. 
.  H.  Wassiljew  I. 
.  Fr.  Raab. 
.  H.  Soboleff. 
.  H.  Wassiljew  II. 
.  H.  Melnikoff. 


Zacharjewna,  Nataliens  Muhme.  Fr.  Schröder. 

Von  diesen  Ausführenden  hat  sich  Niemand  besonders 
hervorgethan,  es  hat  aber  auch  Keiner  das  Ensemble  ver- 
dorben. Am  besten  waren  Chor  und  Orchester.  Im  Gros- 
sen und  Ganzen  ging  die  Aufführung  glatt  von  statten, 
ohne    besondere   Höhepunkte,    aber    auch    ohne   störende 


—  277  — 

Zwischenfälle.  Die  Dekorationen  und  Kostüme  waren  et- 
was alt,  denn  die  Theaterdirektion  scheute  die  Kosten 
einer  glänzenderen  Inscenierung  des  neuen  Werkes,  da 
der  Name  Peter  Iljitsch's  damals  noch  keine  Gewähr  da- 
für bot,  dass  die  Oper  durchschlagenden  Erfolg  erzielen 
würde. 

Aeusserlich  war  der  Erfolg  nichtsdestoweniger  ein  gros- 
ser. Nach  dem  zweiten  Akt  wurde  der  Komponist  einstim- 
mig hervorgerufen.  In  der  Stimmung  des  Publikums  machte 
sich  jene  Aufregung  bemerkbar,  welche  besser  als  alle 
Hervorrufe  den  Erfolg  eines  Werkes  erkennen  lässt. 

In  einer  Loge  des  zweiten  Ranges  sass  unser  alter  Va- 
ter mit  seiner  Familie.  Er  strahlte  vor  Glückseligkeit.  Als 
ich  ihm  aber  die  Frage  vorlegte,  was  seiner  Meinung  nach 
besser  sei  für  Peter — dieser  künstlerische  Erfolg,  oder  der 
Annen-Orden  erster  Klasse,  den  er  sich  als  Beamter  viel- 
leicht verdient  hätte,  so  antwortete  Ilja  Petro witsch:  „Der 
Annen-Stern  wäre  doch  schöner!"  Diese  Antwort  bewies 
von  Neuem,  dass  Ilja  Petrowitsch  in  der  Tiefe  seiner  Seele 
es  dennoch  bedauerte,  dass  Peter  Iljitsch  nicht  Beamter 
gebheben  ist.  Doch  war  es  nicht  kleinlicher  Ehrgeiz,  von 
dem  sich  der  Vater  leiten  liess,  und  auch  keinerlei  andere 
prosaische  oder  selbstsüchtige  Gründe,  sondern  lediglich 
die  Ansicht,  dass  gewöhnliche  Menschen,  Nichtkünstler, 
ein  ruhigeres  und  glücklicheres  Leben  führen. 

Nach  der  Vorstellung  gaben  die  Mitglieder  der  Mos- 
kauer und  Petersburger  Direktionen  der  Kaiserlich  Rus- 
sischen Musikalischen  Gesellschaft  zu  Ehren  Peter  Iljitsch's 
ein  Subscriptionssouper  im  Restaurant  Boreille.  Bei  diesem 
Souper  las  der  Direktor  des  Petersburger  Konservatoriums, 
M.  P.  Asantschewsky,  folgendes  an  Peter  Iljitsch  gerichte- 
tes Schreiben  vor: 

Hochverehrter  Herr!  Der  im  Jahre  1872  dahingeschie- 
dene Michael  Alexejewitsch  Kondratjew  hat  der  Peters- 
burger Sektion  der  Kaiserlich  Russischen  Musikalischen 
Gesellschaft  ein  Kapital  von  7500  Rubeln  testamentarisch 
vermacht  mit  der  Verfügung,  dass  die  Zinsen  dieses  Ka- 
pitals an  talentvolle  russische  Komponisten  vergeben  werden. 

In  dem  Bestreben,  die  Absicht  des  Stifters  zu  verwirk- 
lichen, konnte  die  Petersburger  Direktion  nicht  umhin, 
ihr  Augenmerk  auf  Ihre  kompositorischen  Verdienste  zu 
richten.  Im  Laufe  der  letzten  neun  Jahre  hatten  wir  wie- 
derholt Gelegenheit,  in  den  Konzerten  der  Musikalischen 
Gesellschaft  zuerst  in  Moskau  und  später  in  beiden  Haupt- 


—  278  — 

Städten  die  Schöpfungen  Ihrer  Kunst  kennen  zu  lernen. 
Es  sind  aufgeführt  worden:  zwei  S\4uphonieen,  zwei  зз^т- 
phonische  Dichtungen  („Fatum"  und  „Sturm")  eine  Kon- 
zertouverture  (F-dur),  die  Ouvertüre  zu  „Romeo  und  Ju- 
He",  ein  Streichquartett  und  ein  Chor  aus  einer  unbeen- 
deten  phantastischen  Oper. 

Indem  die  Petersburger  Direktion  die  Vorzüge  der  ge- 
nannten Komposition  voll  anerkennt,  erstreckt  sie  ihre  Be- 
lobigung auch  auf  die  im  Druck  erschienenen  Werke  von 
Ihnen,  auf  die  Stücke  für  Klavier  und  Gesang,  von  denen 
viele  öffentlich  zum  Vortrjig  gekommen  sind  und  die  hohe 
Meinung  der  Zeitgenossen  über  Ihr  Talent  förderten  und 
befestigten.  Endlich  haben  Ihre  musikalisch- dramatischen 
Werke  („Woiwode"  und  „Opritschnik"),  welche  in  Mos- 
kau und  Petersburg  Aufführungen  erfahren  haben,  Ihren 
Namen  weiteren  Kreisen  bekannt  gemacht  und  Ihrem  Ta- 
lent weitere  S3'mpatien  zugeführt. 

Die  Petersburger  Direktion  ist  glücklich,  dank  der 
hochherzigen  und  patriotischen  Stiftung  M.  A.  Kondrtitjew's 
in  der  Lage  zu  sein,  Ihnen,  verehrter  Herr,  durch  ein  ma- 
terielles Zeichen  ihre  grosse  Hochachtung  auszudrücken. 
Gestatten  Sie,  Ihnen  anbei  die  Zinsen  jenes  Kapitals  in  der 
Höhe  von  300  Rubeln  auszuhändigen  und  die  Bitte  daran 
zu  knüpfen,  dass  Sie  diese  Summe  als  einen  Tribut  der 
Hochschätzung  für  Ihre  Kompositionen,  welche  den  Kon- 
zerten der  Russischen  Musikalischen  Gesellschaft  so  oft 
zur  Zierde  gereicht  hatten,  gütigst  annehmen  zu  wollen. 

Unterschrieben  von:  M.  Asantschewsky,  E.  Näpravnik, 
P.  Brashnikoff,  Baron  v.  Vietinghoff-Scheel,  J.  Wargunin, 
A.  Oppel,  A.  Gerke,  W.  Trofimoff". 

Die  Referate  in  der  Presse  über  die  Erstaufführung 
des  „Opritschnik"  waren  ebenso  zahlreich  als  widerspre- 
chend. C.  Cui  hat  in  seinem  Bericht  in  den  „St.-Petersburger 
Nachrichten"  die  Meinung  vertreten,  dass  Alles  an  dieser 
Oper  schlechter  als  das  Schlechteste  sei:  „Vom  Text  könn- 
te man  glauben,  dass  ihn  ein  Schulbube  verfasst  habe, 
welcher  nicht  die  geringste  Ahnung  von  den  Anforderun- 
gen eines  Drama's,  geschweige  denn  einer  Oper,  besitzt. 
Ebenso  unreif  und  unentwickelt  ist  auch  die  Musik,  sie 
ist  arm  an  Ideen  und  durchweg  schwach,  ohne  eine  einzige 
hervorragendere  Stelle,  ohne  einen  einzigen  glücklicheren 
Einfall,  sie  besitzt  so  kapitale  Mängel,  welche  bei  einem 
vSchüler  oder  Anfänger  allenfalls  erklärlich  wären,  aber 
für  einen  Komponisten,  der  bereits  eine  so  grosse  Menge 


—  279  - 

Notenpapier  verbraucht  hat,  sind  sie  geradezu  unver- 
zeihlich.... Das  schöpferische  Talent  Tschailcowsky's,  wel- 
ches in  s3nnphonischen  Werken  stellenweise  durchblickt, 
fehlt  im  „Opritschnik"  gänzlich;  etwas  besser  als  Alles 
Andere  sind  die  Chöre;  sie  sind  aber  nur  deshalb  besser, 
weil  die  in  ihnen  zur  Bearbeitung  gelangten  Melodieen 
Volksliedern  entnommen  sind.  Die  gemeinen  Kantilenen 
Tschaikowsky's,  sein  lügenhaftes,  geheucheltes  Tempera- 
ment, der  Wagemut,  mit  welchem  er  im  Flachen  und  Tri- 
vialen versinkt,  die  Offenherzigkeit,  mit  welcher  er  seine 
Geschmacklosigkeit  zeigt — erregen  nicht  nur  tiefes  Mitleid, 
sondern  wirken  geradezu  ahstosseJuV .  Damit — schiene  es- 
wäre  der  ganze  Schatz  tadelnder  Worte  erschöpft,  C.  Cui 
geht  aber  noch  weiter  und  behauptet,  dass  der  „Opritsch- 
nik"  nicht  nur  keinen  Vergleich  mit  andern  Opern  der 
russischen  Schule  aushalte,  z.  B.  mit  „Boris  Godunoff", 
u.  a.,  sondern  sogar  viel  niedriger  stehe,  als  die  itahenischen 
Erzeugnisse  dieser  Art.  Mit  diesen  letzen  Worten  glaubte 
C.  Cui,  wahrscheinlich,  dem  Autor  des  „Opritschnik"  den 
Todesstoss  versetzt  zu  haben. 

Ganz  entgegengesetzter  Meinung  als  C.  Cui  waren  G. 
Laroche  (im,,  Musikalischen  Blatt")  und  ein  gewisser  B.  W. 
(in  der  „Petersburger  Zeitung").  Sie  Beide  erblicken  in 
der  Vorstellung  des  „Opritschnik"  ein  hoch  bedeutsames 
und  sehr  erfreuliches  Ereigniss.  Laroche  sagt:  „Während 
unsere  modernen  Opernkomponisten  miteinander  wettei- 
fern und  Einer  den  Andern  in  der  Verneinung  der  Musik 
zu  übertreffen  bestrebt  ist,  trägt  die  Oper  Tschaikowsky's 
nicht  den  Stempel  jenes  verzweifelten  Fortschrittes,  sondern 
zeugt  von  Begabung  und  Schönheitssinn.  Die  Fülle  der 
musikalischen  Schönheiten  des  „Opritschnik"  ist  so  ausser- 
ordentlich, dass  diese  Oper  unter  den  Werken  des  Kom- 
ponisten, sowie  überhaupt  unter  den  Meisterwerken  der 
russischen  dramatischen  Musik  einen  hervorragenden  Platz 
einnehmen  wird.  Wenn  man  zu  dem  seltenen  Melodieen- 
reichtum  dieser  Oper  ihren  feinen  harmonischen  Styl,  die 
wundervolle,  freie,  oft  sehr  gewagte  Stimmführung,  die 
echt  russische  Kunst,  in  diatonischen  Melodieen  chroma- 
tische Harmonieen  herauszufinden,  ferner  die  üppigen 
Orgelpunkte  (die  der  Komponist,  übrigens,  gar  zu  oft  an- 
bringt), die  abgerundeten  und  sehr  kunstvoll  zu  grossen 
ganzen  Sätzen  vereinigten  Scenen,  endlich  die  wohlklin- 
gende, prachtvolle  und  glänzende  Instrumentation  hinzu- 
fügt, so  erhält  man  in  der  Summe  eine  Partitur,  welche 
viele    Vorzüge    unserer    modernen    Opernmusik    enthält, 


—  28o  — 

während  sie  gleichzeitig  frei  von  allen  ihren  Mängeln  ist". 
Die  herbste,  die  unnachsichthchste  Kritik  hat  aber  Pe- 
ter Jljitsch  selbst  an  seiner  Oper  geübt.   Folgende  Zeilen 
schrieb  er  14  Tage  nach  der  Vorstellung: 

„Mich  quält  der  „Opritschnik".  Diese  Oper  ist  so 
schlecht,  dass  ich  bei  allen  Proben  (namentlich  bei  de- 
nen des  3.  und  4.  Aktes)  es  nicht  aushalten  konnte  und 
stets  davonlief,  um  nicht  einen  Ton  mehr  zu  hören;  in 
der  Vorstellung  war  mir  zu  Mute,  als  müsste  ich  versin- 
ken vor  lauter  Scham.  Ist  es  nicht  merkwürdig,  dass  ich 
beim  Arbeiten  an  dieser  Oper  die  Vorstellung  hatte,  es 
sei  Etwas  Entzückendes,  was  ich  schriebe?!  Und — welch 
eine  Enttäuschung  in  der  ersten  Probel!  Keine  Handlung, 
kein  Styl,  keine  InspirationI  Die  Hervorrufe  und  das  Bei- 
fallklatschen in  der  ersten  Vorstellung  bedeuten  garnichts, 
denn  erstens,  waren  viele  meiner  Freunde  und  Bekannten 
im  Theater,  und  zweitens,  habe  ich  mich  schon  früher 
vorteilhaft  eingeführt.  Ich  weiss,  dass  die  Oper  nicht  einmal 
sechs  Vorstellungen  erleben  wird,  und  das  ist  mir  tödtlich 
unangenehm". 

Die  letztere  Annahme  Peter  Iljitsch's  hat  sich  nicht 
bewahrheitet,  denn  der  „Opritschnik"  wurde  bis  zum  i. 
März  1881  vierzehn  Mal  gegeben.  Diese  Anzahl  ist  an 
sich,  allerdings,  sehr  gering,  wenn  man  aber  in  Erwägung 
zieht,  dass  nicht  eine  einzige  der  damals  aufgeführten  neuen 
Opern  (z.  B.  ,,Boris  Godunow",  „Der  steinerne  Gast"  von 
Mussorgsk}',  „William  Ratkliff",  „Angelo"  von  C.  Cui,  u.  A.) 
mehr  als  16  Mal  gegeben  worden  ist,  manche  von  ihnen 
sogar  nur  8  Mal,  so  muss  man  bekennen,  dass  der 
„Opritschnik"  einen  etwas  mehr  als  mittelmässigen  Er- 
folg gehabt  hat. 

Am  dritten  Tage  nach  der  ersten  Vorstellung  des 
„Opritschnik"  reiste  Peter  Iljtsch  nach  Italien  ab.  Ausser 
dem  Wunsch,  sich  von  den  Aufregungen  der  letzten  Ta- 
ge zu  erholen,  hatte  er  die  Absicht,  der  ersten  italieni- 
schen Vorstellung  von  Glinka's  „Leben  für  den  Zaren" 
in  der  Eigenschaft  eines  Berichterstatters  der  „Russischen 
Nachrichten"  beizuwohnen.  Diese  Oper  ist  von  Frau  San- 
tagano-Gortschakowa  ins  Italienische  übersetzt  und  dank 
den  Bemühungen  der  Uebersetzerin  vom  Teatro  dal  Ver- 
me  in  Mailand  zur  Aufführung  angenommen  worden. 

An  M.  Tschaikowsky: 

..Venedig,  d.   1729  April  1874. 
Heute  promenierte  ich  den  ganzen  Tag  auf  dem  Mar- 


—   28l    — 

cusplatz.  Bin  sehr  erschöpft  und  habe  grosse  Lust,  mit 
Dir  zu  plaudern,  Modi.  Ich  bin  ohne  Aufenthalt  bis  Vene- 
dig durchgefahren.  Nur  in  Warschau  musste  ich  über- 
nachten, was  sich  aber  hätte  vermeiden  lassen,  wenn  mich 
zu  Hause  Jemand  darauf  aufmerksam  gemacht  hätte,  dass 
nur  der  4-Uhr-Zug  Anschluss  in  Warschau  hat.  Meine 
Seele  луаг  sehr  melancholisch  gestimmt  und  warum? — aus 
vielen  Gründen,  deren  einer  darin  lag,  dass  ich  mich  vor 
Dir  schämte.  Statt  ins  Ausland  zu  reisen  und  Geld  zu 
verschwenden,  hätte  ich  eigentlich  Deine  und  Anatols 
Schulden  bezahlen  sollen, — statt  dessen  eile  ich  aber,  den 
herrlichen  Süden  zu  geniessen.  Der  Gedanke  an  meinen 
Geiz  und  Egoismus  hat  mich  so  gequält,  dass  ich  jetzt 
erst,  beim  Schreiben  dieser  Zeilen  einige  Erleichterung 
fühle.  So  vergieb  mir  denn,  mein  lieber  Modi,  dass  ich  mich 
selbst  mehr  liebe,  als  Dich  und  die  übrige  Menschheit. 

Du  wirst,  vielleicht,  glauben,  dass  ich  mich  als  einen 
Wohlthäter  aufspielen  will.  Ganz  und  gar  nicht.  Ich  weiss 
wohl,  dass  mein  Selbstvorwurf  zwecklos  ist,  denn  ich  set- 
ze trotzdem  meine  Spazierreise  fort,  während  Du  mit  Dei- 
nen Schulden  zu  Hause  sitzest.  Und  doch  hat  dieses  Be- 
kenntniss  mein  Gewissen  etwas  entlastet.  Nun  will  ich 
aber  von  Venedig  weitererzählen.  Erstens  ist  es  hier  schreck- 
lich kalt,  und  das  gefällt  mir,  denn  die  italienische  Hitze 
habe  ich  bereits  im  vorigen  Jahr  kennen  gelernt.  Zwei- 
tens, die  Hotels  sind  alle  überfüllt  und  ich  habe  nur  mit 
Mühe  ein  sehr  unansehnliches  Zimmer  finden  können.  Drit- 
tens, Venedig  ist  eine  Stadt,  in  welcher  ich — wenn  ich  län- 
gere Zeit  hier  bleiben  müsste — mich  schon  am  fünften  Ta- 
ge vor  Verzweiflung  erhängt  haben  würde.  Das  ganze 
Leben  konzentriert  sich  auf  dem  St.  Marcusplatz.  Ferner, 
wo  man  auch  hingehen  mag,  gerät  man  in  ein  Labyrinth 
stinkender  Korridore,  welche  lauter  Sackgassen  bilden,  so 
dass  man  nicht  weiss  wo  man  sich  befindet  solange  man 
sich  nicht  in  eine  Gondel  setzt.  Eine  Fahrt  durch  den  Ca- 
nale  Grande  ist  sehr  zu  empfehlen,  denn  da  sieht  man 
lauter  Marmorpaläste,  von  denen  einer  schöner  als  der  an- 
dere, aber  auch  einer  verwahrloster  als  der  andere  ist. 
Mit  einem  Wort,  man  glaubt  die  verwitterten  Dekoratio- 
nen zum  ersten  Akt  der  „Lucrezia"  zu  sehen.  Dafür  ist 
aber  der  Dogenpalast  die  Schönheit  und  Eleganz  selbst, 
dazu  der  romantische  Hauch  des  Rates  der  Zehn,  der 
Inquisition  und  anderer  interessanter  Dinge.  Diesen  Pa- 
lazzo  habe  ich  von  innen  und  von  aussen  sehr  genau  an- 


—    282    — 

gesehen,  bin  aucli  pflichtgemäss  in  zwei  anderen  gewe- 
sen, sowie  in  drei  Kirchen,  in  denen  eine  Menge  Bilder 
von  Tizian,  Tintoretto,  Statuen  von  Canova  und  Kostbar- 
keiten vorhanden  sind.  Die  Stadt  ist  aber,  wie  gesagt, 
sehr  düster  und  wie  ausgestorben.  Pferde  giebt  es  da  nicht, 
ja — nicht  einmal  einen  Hund  habe  ich  zu  Gesicht  be- 
kommen. 

Soeben  erhalte  ein   Telegramm  aus  Mailand.   „Das  Le- 
ben für  den  Zaren"  kommt  erst  am  12.  Mai  (neuen  Stils) 
-zur  Aufführung,  sodass  ich  beschlossen  habe.  Morgen  di- 
rekt nach  Rom  und  später  nach  Neapel  zu  reisen,  wo  ich 
Deinen  Brief  erwarten  werde". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„Rom,  d.  20.  April  1874. 

Lieber  Toly,  ich  langweile  mich  sehr  in  meiner  Einsam- 
keit; um  meine  Seele  ein  wenig  zu  zerstreuen  setze  mich 
hin  Dir  zu  schreiben.  Die  Einsamkeit  ist  ein  nützlich  Ding 
und  ich  habe  sie  sehr  gern,  aber  nur  mit  Mass.  Morgen 
sind  es  bereits  acht  Tage  seit  ich  aus  Russland  fort  bin, 
und  ich  habe  während  dieser  ganzen  Zeit  mit  Niemandem 
nach  Herzenslust  geplaudert.  Ausser  der  Hotelbedienung 
und  den  Bahnbeamten  hat  kein  Mensch  von  mir  ein  Wort 
gehört.  Den  ganzen  Morgen  schlenderte  ich  durch  die 
Stadt  und  habe  in  Wahrheit  Grossartiges  gesehen:  das 
Colosseum,  die  Thermen  des  Caracallus,  das  Capitol,  den 
Vatikan,  das  Pantheon  und  endlich — den  höchsten  Triumph 
des  menschhchen  Geistes  —  die  Peterskirche.  Nachmittags 
unternahm  ich  einen  Spaziergang  durch  den  Corso  und 
hier  überfiel  mich  ein  Spleen,  vor  dem  ich  mich  durch 
Briefeschreiben  und  durch  ein  Glas  Thee  zu  retten  suche. 

Ich  möchte  die  Abkühlung  der  Temperatur  ausnut- 
zen und  ganz  Italien  durchreisen.  In  Venedig  ist  es  so 
kalt  gewesen,  dass  es  mich  sogar  im  Zimmer  fror.  Zum 
Aufenthalt  in  Neapel  ist  die  Abkühlung,  welche  sich  über 
ganz  Italien  ausgebreitet  hat,  sehr  angenehm,  denn  die 
Hitze  ist  hier  sonst  so  überaus  gross  und  lästig,  dass  die 
Hälfte  des  Genusses  an  der  Reise  verloren  geht.  Mit  Aus- 
nahme einiger  historischer  und  künstlerischer  Sehenswür- 
digkeiten Roms,  ist  die  Stadt  selbst  mit  ihren  schmalen 
Gassen  nicht  interessant,  und  ich  begreife  nicht,  wie  es 
möglich  ist,  das  ganze  Leben  hier  zu  verbringen,  was 
aber  viele  Russen  thun.   Geld   habe  ich  genug,    um  ganz 


-    28з   ~ 

Italien  zu  bereisen.  In  Venedig  nahm  ich  mir  für  173  Francs 
ein  Rundreisebillet,  welches  bis  Neapel  und  zurück  bis 
Mailand  gilt  —  ausserordentlich  billig.  А  propos,  was  das 
Geld  anbetrifft,  so  mache  ich  mir  von  dem  Tage  meiner 
Abreise  aus  Russland  an  die  bittersten  Vorwürfe  wegen 
meines  schnöden  Egoismus.  Anstatt  eine  Excursion  durch 
ganz  Europa  zu  unternehmen,  wäre  es  eigentlich  meine 
Pflicht  gewesen.  Euch  Beide,  Dich  und  Modest,  beim  Be- 
zahlen Eurer  Schulden  thatkräftigst  zu  unterstützen.  Die- 
ser Gedanke  vergiftet  mir  geradezu  meine  ganze  Reise. 
Ich  spaziere  grossartig  im  Vatikan,  während  der  arme 
Toly,  vielleicht  gerade  in  diesem  Augenblick  sich  bemüht, 
ein  Mittel  zu  finden,  den  einen  oder  den  anderen  zudring- 
lichen Gläubiger  zu  befriedigen.  Wenn  Du  nur  wüsstest, 
was  ich  für  Gewissensbisse  habe!  Aber  ich  habe  mich 
nun  einmal  in  die  Idee  verbissen,  eine  Reise  durch  Italien 
zu  machen.  Es  ist  doch  zu  dumm:  wenn  ich  mich  zer- 
streuen wollte,  hätte  ich  doch  ebenso  gut  nach  Kiew  oder 
nach  der  Krim  reisen  können,  das  wäre  billig  und  gut! 
Lieber  Toly,  umarme  Dich  kräftig.  Ich  würde  viel  darum 
geben,  wenn  Du  plötzlich  hier  erscheinen  würdest!" 

An  M,  Tschaikowsky: 

„Florenz,  27.  April  1874. 

....Du  denkst  wahrscheinhch  „oh,  der  glückliche  Mensch, 
bald  schreibt  er  aus  Venedig,  bald  aus  Florenz",  indessen 
giebt  es  wohl  kaum  einen  Menschen,  der  sich  mehr  lang- 
weilt, als  ich  in  dieser  Zeit.  In  Neapel  kam  es  soweit, 
dass  ich  täglich  bittre  Thränen  vergoss  vor  lauter  Heim- 
weh und  Sehnsucht  nach  lieben  Wesen.  In  solchen  Mo- 
menten der  schwarzen  Melancholie  bin  ich  bereit,  Alles 
hinzugeben,  um  ein  liebes  Gesicht  neben  mir  zu  sehen.... 

Die  Hauptursache  all'  meines  Leidens  ist  aber  in  Pe- 
tersburg zu  suchen.  Es  cjuält  mich  der  „Opritschnik". 
Ausserdem  peinigt  mich  immer  noch  Das,  wovon  ich  Dir 
in  meinem  ersten  Brief  geschrieben  habe;  endlich  verfolgt 
mich  hier  das  fürchterlichste  Wetter,  das  man  sich  nur 
vorstellen  kann.  Die  Italiener  können  sich  nicht  erinnern 
je  einen  solchen  Frühling  gehabt  zu  haben.  Neapel,  wo 
ich  sechs  Tage  verbracht  habe,  habe  ich  so  zu  sagen  gar- 
nicht  gesehen,  da  die  Stadt  bei  schlechtem  Wetter  gera- 
dezu unmöglich  ist.  Die  letzten  zw^ei  Tage  war  es  ganz 
unmöglich,  das  Zimmer  zu  verlassen.  Hals  über  Kopf  bin 


—  284  — 

ich  von  da  geflohen  und  will  direkt  zu  Sascha  fahren, 
ohne  mich  in  Mailand  aufzuhalten.  Ich  habe  Grund  ge- 
nug, Mailand  zu  meiden:  aus  dem  Brief  eines  gewissen 
Schtschurowsky  erfahre  ich,  dass  das  „Leben  für  den  Za- 
ren" dort  auf  die  unerlaubteste  Weise  verhunzt  wird.  Ich 
würde  also  bei  meinem  Erscheinen  dort  nicht  umhin  kön- 
nen, mich  in  die  Sache  einzumischen,  Ratschläge  zu  ertei- 
len, welche  aber  nicht  gern  gehört  w^erden  dürften,  was 
ich  ebenfalls  Grund  genug  habe  anzunehmen.  In  Florenz 
übernachte  ich  nur.  Bei  Sascha  werde  ich  nur  zwei  Tage 
bleiben  und  dann  direkt  nach  dem  geliebten  Moskau  rei- 
sen, vielleicht  werde  aber  auch  den  Weg  über  Petersburg 
einschlagen,  wo  ich  aber  ausser  Dir  und,  selbstverständlich, 
Vater  keinen  Menschen  sehen  will  und  darum  sollst  Du 
zu  Niemandem  über  meine  Ankunft  sprechen.  Es  ist  mög- 
lich, dass  Du  mich  bald  nach  Empfang  dieses  Schreibens 
wiedersehen  wirst,  bestimmt  ist  es  nicht,  denn  nach  Mos- 
kau drängt  mich  nicht  nur  die  Sehnsucht,  sondern  auch  die 
Pflicht,  d.  h.  die  Theorieklassen,  welche  mir  schon  gros- 
se Sorge  machen.  Eigentlich  ist  es  zwecklos,  jetzt  noch 
Briefe  zu  schreiben,  ich  thue  es  aber,  um  mein  Herz  aus- 
zuschütten. Ich  bin  auch  in  Pompeji  gewesen,  welches 
einen  starken  Eindruck  auf  mich  gemacht  hat. 

In  Florenz  hatte  ich  nur  Zeit,  die  Hauptstrassen  zu 
durchlaufen,  welche  mir  sehr  gefallen  haben.  Rom  ist  mir 
verhasst,  Neapel  auch,  mag's  der  Teufel  holen!  Es  giebt 
nur  eine  Stadt  in  der  Welt,  und  das  ist— Moskau,  übri- 
gens vielleicht  auch  noch  Paris". 

Ohne  die  Mailänder  Vorstellung  des  „Leben  für  den 
Zaren" — w^elche  erst  am8'2o.  Mai  stattgefunden  hat  —  ab- 
gewartet zu  haben,  war  Peter  Iljitsch  schon  in  den  ersten 
Tagen  dieses  Monats  nach  Moskau  zurückgekehrt. 

Die  Unzufriedenheit  mit  dem  „Opritschnik"  hat  nur 
für  kurze  Zeit  eine  fast  an  Verzw^eiflung  an  seinem  Kön- 
nen grenzende  Niedergeschlagenheit  in  Peter  Iljitsch  wach- 
gerufen. Er  hatte  sich  gleichsam  nur  geduckt,  um  gleich  da- 
rauf mit  umso  grösserer  Energie  in  die  Höhe  zu  schnellen; 
schon  bei  seiner  Rückkehr  nach  Moskau  hatte  er  nur  den 
einen  sehnlichen  Wunsch,  sich  selbst  und  den  Andern  zu 
beweisen,  dass  er  mehr  zu  leisten  vermag,  als  er  es  im 
„Opritschnik"  gezeigt.  Diese  Partitur  erschien  ihm  wie 
eine  grosse  Sünde,  die  er  begangen,  wie  ein  Fehler,  der 
wieder  gut  gemacht  werden  musste,  wie  eine  Schuld  vor 
sich  und  den  Andern,  welche  gesühnt  und  getilgt  werden 


-  285  - 

musste,  es  koste  was  es  wolle.  Und  da  gab  es  nur  ein  Mittel: 
eine  andere  Oper  zu  komponieren,  welche  garkeine  Aehn- 
lichkeit  mit  dem  „Opritschnik"  hätte  und  ihn  vergessen 
machen  musste. 

hn  Laufe  dieser  Saison  wurde  von  der  Direktion  der 
Russischen  Musikalischen  Gesellschaft  ein  Preisausschrei- 
ben für  die  beste  Komposition  der  Oper  „Schmied  Wa- 
kula"  veröffentlicht.  Die  Idee  dieser  Preiskonkurrenz  ent- 
stand folgendermaassen: 

Als  A.  N.  Seroff  noch  an  seiner  Oper  „Feindesmacht" 
arbeitete,  wurde  er  plötzlich  von  dem  Wunsche  ergriffen, 
eine  russische  komische  Oper  zu  schreiben  und  wählte 
als  Sujet  ein  phantastisches  Poem  von  Gogol.  Seroff  war 
damals  Vorsitzender  der  Petersburger  Sektion  der  Musi- 
kalischen Gesellschaft,  hatte  als  solcher  oft  Gelegenheit, 
mit  der  Grossfürstin  Helene  zu  verkehren  und  verstand 
es,  nach  und  nach  ihre  Gunst  für  sich  zu  gewinnen.  Als 
er  eines  Tages  die  Idee  in  Betreff  der  komischen  Oper 
seiner  hohen  Patronesse  mitteilte,  hat  sie  seinem  Vorha- 
ben ein  grosses  Wohlwollen  entgegengebracht  und  sich 
sogar  bereit  erklärt,  das  Textbuch  auf  eigene  Kosten  bei 
J.  Polonsky  zu  bestellen.  Doch  hat  der  Tod  den  Kompo- 
nisten dahingerafft,  ehe  er  noch  mit  der  Verwirklichung 
seiner  Idee  begonnen  hatte.  Um  sein  Andenken  zu  ehren, 
setzte  die  Grossfürstin  aus  eignen  Mitteln  zwei  Preise  aus, 
einen  in  Höhe  von  1000  Rubeln  und  den  andern  in  Höhe 
von  500  Rubeln,  welche  Denjenigen  Autoren  ausgezahlt 
werden  sollten,  die  die  besten  Opern  aus  dem  nun  ver- 
waisten Libretto  „Schmied  Wakula"  machten. 

Im  Januar  1873  verschied  die  Grossfürstin  Helene. 

Ehe  die  Petersburger  Direktion  der  Musikalischen  Ge- 
sellschaft an  die  Realisierung  der  von  der  Grossfürstin 
ausgesprochenen  Absicht  schritt,  veranstaltete  sie  bei  den 
musikalischen  Autoritäten  Russlands  eine  Rundfrage  und 
holte  sich  ihre  diesbezüglichen  Ansichten  und  Ratschläge 
ein.  Auch  Peter  Iljitsch  wurde  befragt  und  sandte  folgende 
Antwort  ein. 

An  den  Fürsten  D.  A.  Obolensky: 

„Moskau,  d.  7.  März  1873. 

Ew.  Durchlaucht,  sehr  geehrter  Herr  D.  A.!  Die  Di- 
rektion der  Russischen  Musikahschen  Gesellschaft  hat  mir 
das    Projekt    der    Bedingungen   des    für    die    Komposition 


—   286   — 

der  Oper  ..Schmied  Wakula"   auszuschreibenden  Wettbe- 
werbs zwecks  Durchsicht  und  Begutachtung  zugeschickt. 

Nach  genauer  Kenntnissnahme  der  im  Projekt  ange- 
führten Bedingungen,  an  welche  sich  die  Bewerber  bei 
der  Komposition  des  Textbuches  von  Polonsk}^  zu  halten 
haben  werden,  und  nach  reiflicher  Ueberlegung  bin  ich 
zu  dem  Schluss  gelangt,  dass  das  Projekt  sehr  zweck- 
entsprechend zusammengestellt  ist  und  alle  Punkte  klar 
und  unzweideutig  zum  Ausdruck  gekommen  sind. 

Ich  kann  aber  trotzdem  Eurer  Durchlaucht  nicht  ver- 
schweigen, dass  nach  meiner  Meinung  die  Zuerkennung 
des  Preises  praktisch  nicht  ohne  Schwierigkeiten  durch- 
zuführen sein  wird.  Der  Direktion  der  Musikalischen  Ge- 
sellschaft dürfte  es  doch  nicht  unbekannt  sein,  dass  eine 
Oper,  wie  eine  jede  Vocalkomposition,  keiner  bestimmten 
traditionellen,  von  den  klassischen  Meistern  geschaffenen 
Form  unterworfen  ist,  wie  eine  solche  zum  Beispiel  bei 
einer  Ouvertüre  oder  S\4nphonie  üblich  ist.  Es  ist  auch 
allgemein  bekannt,  dass  in  unserer  Zeit  die  widerspre- 
chendsten Ansichten  darüber  kursieren,  wie  der  Kompo- 
nist den  Operntext  zu  behandeln  hat.  Die  Einen  geben 
zu,  dass  die  älteren,  namentlich  die  italienischen  Opern, 
was  die  Abhängigkeit  der  Musik  vom  Text  anbelangt,  oft 
sehr  gesündigt  hätten,  sind  aber  dennoch  nicht  abgeneigt, 
in  der  Opernmusik  bestimmte  Formen  (als  da  sind:  Arien, 
Duette,  Ensemblesätze)  anzuwenden.  Andere  wieder  sind 
in  ihrer  Jagd  nach  der  grösstmöglichen  Realität  zu  dem 
Schluss  gelangt,  dass  eine  Oper,  obwohl  sie  aus  orga- 
nisch miteinander  verknüpften  Teilen  besteht,  dennoch  im 
Grunde  ein  künstlerischer  „nonsens"  sei,  dass  die  Menschen 
im  Leben  niemals  gleichzeitig  mit  einander  reden,  es  also 
auch  in  der  Oper  nicht  thun  dürfen;  diese  Andern  ver- 
treten daher  die  Ansicht,  dass  das  Recitativ,  welches  den 
Tonfall  einer  sprechenden  menschlichen  Stimme  sklavisch 
nachahmt  und  dabei  vom  Orchester,  welches  die  Stim- 
mung und  Charakteristik  der  handelnden  Personen  wie- 
derzugeben hat,  begleitet  wird,  dass  ein  solches  Recitativ 
die  einzig  mögliche  und  logische  Form  der  Oper  sei.  Ange- 
sichts dessen,  dass  man  unabhängig  von  den  Schönheiten 
der  Musik  eine  Oper  sehr  oft  nach  Massgabe  derartiger 
vorausgenommener  Theorieen  beurteilt  und  auf  Grund  die- 
ser letzteren  von  vornherein  die  Logik,  die  Berechtigung 
der  Form  eines  Werkes  in  Frage  stellt,  bevor  man  noch 
den  rein  musikalischen  Wert  desselben  einer  Prüfung  un- 


—  287  — 

terzogen  hat,  —  und  eine  solche  theoretische  Aburteilung 
der  eingesandten  Partituren  seitens  des  Komitees  schliesst 
bei  einer  Preiskonkurrenz  die  absolute  Gerechtigkeit  aus — 
fürchte  ich,  dass  unsere  Komponisten  in  ihrem  Eifer  nach- 
lassen könnten,  sobald  sie  in  Ewägung  ziehen,  dass  man 
von  ihren  Werken  solche  äusserliche  Formalitäten  und 
Uebereinstimmung  mit  Theorieen  verlangen  werde,  die 
ihren  ästhetischen  Grundsätzen  widersprechen.  Das  ist  der 
Grund,  weshalb  die  Oper  sich  für  einen  Preiswettbewerb 
am  wenigsten  eignet. 

Um  aus  dieser  schwierigen  Lage  herauszukonnnen  wird 
die  Direktion  der  Musikalischen  Gesellschaft  es  vielleicht 
nicht  für  unnötig  finden,  auf  die  Art  der  Musik,  welche 
am  besten  dem  Text  entspricht,  hinzuweisen  und  vorzu- 
schreiben, ob  die  Oper  aus  einzelnen  Nummern  bestehen 
soll,  oder  ob  sich  die  Komponisten  an  die  neuere  Rich- 
tung der  Opernmusik  zu  halten  haben. 

Da  ich  selbst  Komponist  bin  und  vielleicht  an  der  Be- 
werbung teilnehmen  werde,  so  habe  ich  kein  Recht  und 
auch  keinen  Grund,  an  dieser  Stelle  meine  persönliche 
Ansicht  darüber  kund  zu  thun  und  es  erübrigt  mir  nur, 
meinem  dringenden  Wunsche  Ausdruck  zu  geben,  dass 
die  Direktion  geeignete  Mittel  finden  möge,  jede  Unent- 
schlossenheit  seitens  der  Bewerber  unmöglich  zu  machen 
und  durch  möglichst  genaue,  detaillierte  Angabe  dessen, 
was  für  die  Bewerbung  erforderlich,  eine  recht  rege  Teil- 
nahme an  der  Konkurrenz  anzufachen. 

Da  Nikolai  Gregorje witsch  Rubinstein  in  dieser  Ange- 
legenheit mit  mir  vollkommen  übereinstimmt,  so  beauf- 
tragt er  mich,  Ew.  Durchlaucht  mitzuteilen,  dass  er  es  nicht 
für  nötig  hält,  eine  besondere  Antwort  auf  Ihr  Schreiben 
zu  senden  und  Sie  bittet,  gegenwärtige  Zeilen  als  den 
Ausdruck  unserer  gemeinschattlichen  Meinung*  gütigst  an- 
sehen zu  wollen". 

Der  Termin,  bis  zu  welchem  die  Partituren  der  Be- 
werber spätestens  bei  dem  Preisrichterkollegium  eingegan- 
gen sein  mussten,  wairde  auf  den  i.  August  1875  festge- 
setzt. Die  preisgekrönte  Oper  sollte  ausserdem  das  Recht 
der  Aufführung  auf  der  Kaiserlichen  Bühne  in  Petersburg 
erhalten. 

Anfangs  konnte  sich  Peter  Iljitsch  nicht  entschliessen, 
die  Oper  in  Arbeit  zu  nehmen,  da  er  fürchtete,  dass  sie 
verloren  gehen  könnte.  Nichtsdestoweniger  las  er  das  Li- 
bretto aufmerksam   durch   und   wurde   von  ihm  ganz  hin- 


—  288  — 

gerissen.  Die  Frische  des  Kolorits,  die  Eigenart  und  Viel- 
seitigkeit der  musikalischen  Aufgaben,  die  wundervollen 
Verse  und  die  Poesie  des  Gogolschen  Märchens  entzück- 
ten Peter  Iljitsch's  Phantasie  derart,  dass  er  dem  Drange, 
die  Musik  zu  diesem  Textbuch  zu  schreiben,  nicht  wi- 
derstehen konnte.  Die  Preiskonkurrenz  spielte  hierbei  nur 
eine  nebensächliche  Rolle  und  war  für  den  Beginn  der  Ar- 
beit keineswegs  bestimmend.  Und  dennoch  fürchtete  Peter 
Iljitsch  die  Konkurrenz,  aber  nicht  wegen  des  etwaigen 
Nichtgewinnes  des  Preises,  sondern  lediglich  in  der  Annah- 
me, dass  seine  Arbeit,  wenn  sie  nicht  preisgekrönt  wer- 
den, auch  niemals  zur  Aufführung  im  Marientheater  kom- 
men würde.  Nur  aus  diesem  Grunde  hat  er  es  für  nötig 
gefunden,  bevor  er  an  die  Arbeit  ging  in  Erfahrung  zu 
bringen,  ob  A.  Rubinstein,  Balakireff  und  Rimsk3--Korsa- 
koff  an  der  Bewerbung  teilnehmen  wollten.  Erst  nachdem 
er  die  Versicherung  erhalten  hatte,  dass  diese  ihm  eben- 
bürtigen Komponisten  nicht  die  Absicht  hatten,  mit  ihm 
zu  wetteifern,  machte  er  sich,  ganz  verliebt  in  seine  Auf- 
gabe, mit  Leidenschaft  an  die  Arbeit. 

Mit  Beginn  der  Sommerferien  reiste  Peter  Iljitsch  di- 
rekt nach  Nis3^  zu  Kondratjew  und  machte  sich  sofort, 
ohne  Zeitverlust  an  die  Arbeit.  Er  musste  sich  sehr  be- 
eilen, denn  er  Avar  irrtümlicherweise  in  dem  Glauben,  dass 
der  letzte  Termin  für  die  Ablieferung  der  Opern  an  das 
Preisrichterkollegium  der  i.  August  dieses  Jahres  (1874) 
sei,  ausserdem  hatte  er  den  brennenden  Wunsch,  seine 
Schuld  um  den  „Opritschnik"  so  schnell  als  möglich  wie- 
der gut  zu  machen. 

An  M.  Tschaikowsk}'! 

„Nis\',  d.  18.  Juni. 
....Meine  Lebensweise  ist  hier  derart,  dass  für  die  (über- 
haupt lästige)  Korrespondenz  meine  Zeit  nicht  reicht.  Er- 
stens trinke  ich  Karlsbader  Brunnen,  und  zweitens,  wage 
ich  es  entgegen  Deinen  Ratschlägen  dennoch,  den  „Wa- 
kula"  zu  komponieren.  Meine  Zeiteinteilung:  um  6^1^  ühr 
stehe  auf,  trinke  5  Glas  Karlsbader;  um  9  Thee;  dann  bis 
12  Lesen  und  Klavierspielen  (hauptsächlich  Schumann);  um 
I  Frühstück;  von  i — 3  Arbeit,  d.  h.  Komposition  des  „Wa- 
kula";  3 — 5  die  erste  Kartenpartie,  dann  Baden  und  Mit- 
tagessen. Nach  dem  Mittag — einsamer  Spaziergang;  um  9 
der  Abendthee  und  gleich  darauf  die  zweite  Kartenpartie; 
um  II  zur  Ruhe.  Diese  Ordnung  dauert  ohne  wesentliche 
Aenderungen  nun  schon   zwei  Wochen.   Wir  leben  ganz 


—  289  — 

einsam.  Manchmal  besucht  uns  der  Arzt  oder  einer  der 
Brüder  Kondratjews.  Ich  bin  mit  dieser  Lebensweise  sehr 
zufrieden  und  erwarte  von  ihr,  sowie  von  der  Brunnen- 
kur, einen  grossen  Nutzen  für  meine  Gesundheit". 

Mitte  Juli  begab  sich  Peter  Iljitsch  nach  Ussowo  und 
brachte  die  fast  ganz  fertigen  Skizzen  der  neuen  Oper 
mit,  sodass  er  bald  darauf  mit  der  histrumentierung  be- 
ginnen konnte.  Es  ist  erstaunlich,  dass  er  bei  einer  nicht 
mehr  als  zweistündigen  täglichen  Arbeit  und  bei  der  von 
ihm  beschriebenen  Lebensweise  so  viel  hatte  fertigstellen 
können.  In  Ussowo  musste  er  die  Zahl  der  Arbeitsstunden 
nahezu  verdoppeln,  dafür  war  aber  bei  seiner  Rückkehr 
nach  Moskau  (Ende  August)  die  Partitur  des  „Wakula" 
ganz  fertig.  Peter  Iljitsch  hat  also  für  die  Herstellung  der 
ganzen  Oper  nicht  volle  drei  Monate  gebraucht.  Mit  einer 
solchen  Schnelligkeit  hat  er  kein  einziges  seiner  Werke 
komponiert.  Allerdings  ist  auch  keine  einzige  seiner  Opern 
unter  einer  so  lange  anhaltenden  Inspiration  entstanden  und 
mit  so  viel  Lust  und  Liebe  gearbeitet  worden.  Auch  in 
der  Folge  blieb  in  Peter  Iljitsch  eine  grosse  Anhänglich- 
keit, ja  Zärtlichkeit  zu  seinem  „Wakula"  zurück.  Bis  ans 
Ende  seiner  Tage  war  der  Komponist  überzeugt,  dass  diese 
die  beste  seiner  Opern  sei.  Im  Jahre  1885  hat  er  sie  etwas 
umgearbeitet,  aber  nur  sehr  unwesentlich:  die  Aenderun- 
gen  betrafen  nur  manche  Stellen  der  Instrumentation,  aus- 
serdem wurden  einige  Nummern  im  volkstümlichen  St}^ 
hinzugefügt.  Im  Grossen  und  Ganzen  blieb  die  Oper  so 
wie  sie  war.  Wir  werden  an  geeigneter  Stelle  zu  diesem 
Werk  zurückkehren. 

In  dieser  Saison  hat  Peter  Iljitsch's  Ruhm  grosse  Fort- 
schritte gemacht.  Der  Erfolg  seiner  zweiten  S3'mphonie 
und  die  Aufführung  des  „Opritschnik"  haben  seinen  Na- 
men in  Petersburg  ebenso  bekannt  gemacht,  wie  er  in 
Moskau  schon  war.  Ausserdem  ist  sein  Ruf  auch  ins  Aus- 
land gedrungen. 

In  seinen  anlässlich  der  Erstaufführung  des  „Leben  für 
den  Zaren"  in  Mailand  an  die  „Allgemeine  Zeitung"  ge- 
richteten Korrespondenzen  schreibt  Hans  von  Bülow  über 
Peter  Iljitsch  Folgendes: 

„Allgemeine  Zeitung"  №  148  (1874): 
Musikalisches  aus  Italien. 

Mailand  21 — 22  Mai. 
Wir  kennen  zur  Zeit  nur  einen,  der  gleich   Glinka 

Tschaikousky,  M.  V.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  19 


—  290  — 

unermüdlich  „strebend  sich  bemüht",  und  dessen  bisher 
geheferte  Arbeiten,  obwohl  noch  nicht  zur  der  seinem  Ta- 
lent entsprechenden  völligen  Reife  gelangt,  doch  bereits 
die  sicherste  Bürgschaft  in  sich  tragen,  dass  diese  Reife 
nicht  ausbleiben  wird.  Es  ist  dies  der  in  jugendlichem 
Mannesalter  stehende  Compositions-Professor  am  Kaiser- 
lichen Conservatorium  in  Moskau  —  Herr  Tschaikowsky. 
Ein  schönes  Streichquartett  von  ihm  hat  sich  bereits  in 
vielen  deutschen  Städten  eingebürgert.  Gleiche  Beachtung 
verdienen  viele  seiner  Claviercompositionen,  zwei  Sympho- 
nien und  vor  allem  eine  ungemein  interessante,  durch  Ori- 
ginalität und  blühenden  Melodienfluss  sich  empfehlende 
Ouvertüre  zu  „Romeo  und  Julie".  Vermöge  seiner  Viel- 
seitigkeit, wird  dieser  Componist  vor  der  Gefahr  geschützt 
bleiben,  einer  Nichtbeachtung  im  Auslande  anheim  zu  fal- 
len, wie  sie  dem  mit  vaterländischem  Ruhme  zufrieden 
gestellten  Glinka  zutheil  geworden  ist. 

H.  V.  Bülow. 

Wie  gross  der  Erfolg  des  D-dur-Quartetts  im  Auslande 
gewesen  sein  niuss  ersieht  man  aus  dem  Umstand,  dass — 
als  Jurgenson  Ende  dieser  Saison  eine  zv/eite  Auflage  des 
Quartetts  ins  Werk  setzen  wollte  und  bei  dieser  Gelegen- 
heit Erkundigungen  über  den  Verbleib  der  ersten  Auflage 
einzog — es  sich  herausstellte,  dass  nur  11  Exemplare  in 
Russland  verkauft  und  die  übrigen  ins  Ausland  verlangt 
worden  sind. 

Die  chronologische  Reihenfolge  der  Kompositionen  Pe- 
ter Iljitsch's  im  Laufe  der  Saison  1873 — 1874  ist  folgende: 

i)  Op.  18.  „Der  Sturm",  symphonische  Fantasie  für 
grosses  Orchester  über  •  ein  Programm  von  Shakespeare. 
Komponiert  zwischen  dem  7.  und  17.  August,  instrumentiert 
bis  zum  IG.  Oktober.  An  Wladimir  Wassiljewitsch  Stassow 
gewidmet.  Zum  ersten  Mal  aufgeführt  am  7.  Dezember 
1873  in  Moskau  unter  Leitung  N.  Rubinsteins.  Verlag 
Jurgenson. 

2)  Op.  21.  Sechs  Klavierstücke  über  ein  Thema.  I.  Prä- 
ludium, II.  Fuge,  III.  Impromptu,  IV.  Trauermarsch,  V.  Ma- 
zurka, VI.  Scherzo.  Gewidmet  an  A.  Rubinstein.  Kompo- 
niert vor  d.  30.  Oktober  1873.  Verlag  Bessel. 

3)  Op.  22.  Quartett  №  2  (F-dur)  für  zwei  Violinen, 
Viola  und  Violoncello.  Dem  Grossfürsten  Konstantin  ge- 
widmet. Dieses  Werk  ist  Ende  Dezember  1873  oder  An- 
fang Januar  1874  begonnen  und  vor  d.  26.  Januar  been- 


—  291  — 

det  worden  (was  aus  dem  Brief  dieses  Datums  hervor- 
geht). Bald  darauf  ist  dieses  Quartett  auf  einer  Soiree  bei 
N.  Rubinstein  gespielt  worden  und  es  ist  sehr  wahrschein- 
lich, dass  Peter  Iljitsch  bei  dieser  Gelegenheit  verschiedene 
Mängel  an  seinem  Werk  entdeckt  hatte,  denn  er  arbeitete 
bis  Mitte  Februar  von  Neuem  daran.  Oeffentlich  ist  dieses 
Quartett  am  10.  März  1874  zum  ersten  Mal  gespielt  wor- 
den. Verlag  Jurgenson. 

4)  Op.  14.  „Wakula  der  Schmied",  Oper  in  drei  Akten 
und  sieben  Bildern.  Der  Text  ist  einem  Märchen  von  Go- 
gol entnommen  und  von  J.  Polonsk}^  in  Verse  gesetzt.  Dem 
Andenken  der  Grossfürstin  Helene  gewidmet.  Komponiert 
und  instrumentiert  im  Laufe  des  Sommers  1874.  Später  ist 
diese  Oper  von  Peter  Iljitsch  umgearbeitet  worden  und  hat 
den  Namen  „Tscherewitschki"  erhalten.  Verlag  Jurgenson. 

J.  P.  Polonsky  hat  es  mit  ausserordentlich  viel  Ge- 
schmack, Talent  und  Geschick  verstanden,  das  köstliche 
Märchen  von  Gogol  in  ein  Opernlibretto  umzuwandeln. 
Das  Fehlen  der  Einheit  der  Handlung,  des  Knotenpunktes, 
auf  welchem  die  Aufmerksamkeit  des  Zuschauers  hätte  kon- 
zentriert werden  müssen,  hat  nicht  der  Librettist  verschul- 
det, sondern  es  lag  an  dem  Stoff  selbst.  Den  Roman  Wa- 
kula's  mit  Oxana  noch  weiter  ausspinnen,  ihn  in  den  Vor- 
dergrund stellen — hiesse  die  herrliche  Schöpfung  des  be- 
rühmten Autors  verstümmeln.  Hätte  Polonsky  das  gethan, 
so  würden  die  Vorwürfe  in  der  Korruption  Gogols  viel 
begründeter  sein,  als  diejenigen,  welche  ihn  für  das  Episo- 
denhafte seines  Textbuches  trafen.  Was  schadet's  denn, 
dass  es  episodenhaft,  da  doch  eine  jede  Episode  an  sich 
so  überaus  reizvoll  und  künstlerisch  ist  und  eine  hochta- 
lentvolle Feder  verrät?  Ich  behaupte  sogar,  dass,  wenn  die 
ganze  Handlung  sich  um  die  Liebesgeschichte  Wakula's 
und  Oxana's  drehen  würde — das  Textbuch  in  den  Augen 
Peter  Iljitsch's  jeglichen  Reiz  verloren  und  ihn  nicht  zur 
Komposition  dieser  Oper  hingerissen  hätte.  Ehe  ich  an  die 
Erzählung  des  Scenariums  schreite,  muss  ich  bemerken, 
dass  der  Hauptvorzug  der  Dichtung  Polonsky's  in  seinen 
Versen  liegt,  welche  sich  mit  einer  geradezu  verblüffen- 
den Kunstfertigkeit  an  die  Sprache  Gogols  halten. 

Erster  Akt:  winterhche  Landschaft  im  Dorf  Dikanjka. 
Mondnacht.  Aus  einer  Hütte  kommt  die  Hexe  Ssolocha,  um 
sich  am  Mondenschein  zu  erfreuen.  Es  kommt  auch  ein 
Teufel  hinter  ihr  gesprungen  und  macht  ihr  den  Hof.  Hu- 
moristisches Duett.  Die  Hexe  und  der  Teufel  beschliessen. 


—  292  — 

einen  Flug  durch  die  Lüfte  zu  machen.  Ssolocha  entfernt 
sich  einen  Besen  zu  holen  und  das  Feuer  im  Ofen  zu  schü- 
ren, um  auf  einem  Rauchwölkchen  durch  den  Schornstein 
hinauszufliegen.  Währenddessen  thut  der  Teufel  in  einem 
Monolog  seinen  Hass  gegen  Wakula  kund,  welcher  sein 
Bild  an  die  Wand  gemalt  hat,  und  zwar  „hat's  der  Ver- 
fluchte so  gemalt,  dass  alle  dummen  Teufel  vor  Freude 
lachten".  Darauf  beschwört  er  aus  Rache  gegen  Wakula 
einen  Schneesturm  herauf.  Da  fliegt  die  Hexe  auf  ihrem 
Besen  zum  Schornstein  hinaus.  Der  Teufel  fliegt  hinter  ihr 
her  und  stiehlt  den  Mond.  Sturm  und  Finsterniss.  Tschub, 
der  Vater  Oxana's,  welcher  vom  Djak  zu  einer  Suppe 
eingeladen  ist,  kommt  dahergegangen,  verliert  aber  den 
Weg,  irrt  umher  und  gelangt  endlich,  ohne  es  zu  ahnen, 
vor  die  Thür  seiner  eigenen  Hütte.  Dichte  Schneewolken 
verhüllen  die  ganze  Bühne.  Der  Sturm  pfeift.  Nach  einer 
Weile  lichten  sich  die  W^olken  und  der  Zuschauer  erblickt 
das  Innere  der  Hütte  Tschubs.  Oxana  allein.  Sie  singt  ein 
melancholisches  Liedchen,  blickt  dann  in  den  Spiegel  und 
erfreut  sich  an  ihrer  Schönheit.  Wakula  erscheint.  Alle  seine 
leidenschaftlichen  Worte  der  Liebe  beantwortet  die  stolze 
und  eigensinnige  Schöne  mit  einem  Hohnlachen  und  ver- 
schwindet endlich  ins  Nebengemach.  Da  erscheint  Tschub. 
Wakula,  der  ihn  nicht  erkennt  und  für  einen  Fremdling 
hält,  stösst  ihn  wieder  zur  Thür  hinaus.  Auf  den  Lärm 
kommt  Oxana  herbei.  Als  sie  gewahr  wird,  dass  Wakula 
ihren  Vater  hinausgejagt  hat,  stösst  sie  ihn  von  sich.  Wa- 
kula entfernt  sich  und  Oxana  bleibt  wieder  allein.  Wakula 
dauert  sie  und  doch  kann  sie  nicht  ohne  Lachen  an  ihn 
denken:   „möchte  weinen  und  lachen  zugleich". 

Zweiter  Akt:  in  der  Hütte  der  Hexe  Ssolocha.  Diese 
ist  eben  erst  von  dem  Flug  durch  die  Lüfte  zurückge- 
kehrt und  bringt  ihre  Toilette  in  Ordnung.  Der  Teufel 
steigt  aus  dem  Ofen  und  charmiert  mit  der  Hexe.  Sie  tan- 
zen einen  Hopak,  während  aus  allen  Löchern  und  Ritzen 
kleine  Teufelchen  in  Gestalt  von  Heimchen  und  Schwaben 
herausgekrochen  kommen  und  die  Tanzmusik  machen.  Da 
klopft  es  an  der  Thür.  Der  Teufel  versteckt  sich  schnell 
in  einen  Sack.  Es  erscheint  Golowa.  Gleich  darauf  klopft 
es  wieder.  Golowa  versteckt  sich  schleunigst — auch  in  einen 
Sack.  Es  erscheint  Djak.  Kaum  ist  er  eingetreten,  klopft  es 
zum  dritten  Mal  und  Djak  kriecht  schnell- — ebenfalls  in 
einen  Sack.  Tschub  tritt  ein  und  muss—  auch  in  den  Sack, 
denn  es  klopft  schon  wieder.  Als  letzter  kommt  Wakula. 


—  293  — 

Trotz  der  Einseitigkeit  der  Handlung  sind  alle  vier  Sce- 
nen — eine  komischer  als  die  andere,  eine  köstlicher  als  die 
andere!  Wakula  ist  der  Sohn  der  Ssolocha.  Er  ist  in  Ge- 
danken an  seine  hartherzige  Geliebte  ganz  versunken  und 
trägt  die  Säcke,  ohne  ihre  Schwere  zu  merken,  einen  nach 
dem  andern  davon  und  in  die  Schmiede.  Zweites  Bild: 
Strasse  im  Dorf  Dikanjka.  Der  Mond  ist  wieder  an  sei- 
nem Platz.  Die  Buben  und  Dirnen  des  Dorfes  singen  Weih- 
nachtslieder. Auch  Oxana  ist  unter  ihnen.  Sie  erblickt  Wa- 
kula und  kann  sich  des  Verlangens  nicht  enthalten,  ihn 
wieder  ein  wenig  zu  necken.  Sie  erklärt  ihm,  dass  sie  erst 
dann  mit  ihm  Hochzeit  feiern  würde,  wenn  er  die  Schuhe, 
welche  die  Zarin  selbst  trägt,  für  sie  erlange.  Wakula  kann 
ihren  Hohn  nicht  länger  ertragen,  ist  überzeugt,  dass  sie 
ihn  nicht  liebt,  und  will  sich  ertränken.  In  seiner  Zerstreut- 
heit lässt  er  die  schwersten  Säcke  liegen  und  trägt  nur 
den  Sack  mit  dem  Teufel  auf  seinen  Schultern  davon.  Die 
Buben  und  Dirnen  öffnen  die  Säcke  und  —  Golowa,  Djak 
und  Tschub  entsteigen  unter  tollem  Gelächter  der  über- 
mütigen Jugend  ihren  merkwürdigen  Verstecken. 

Dritter  Akt.  Das  erste  Bild  zeigt  uns  eine  entlegene 
Waldlichtung  in  der  Nähe  des  Flusses.  Die  Nixen  unter 
dem  Eis  singen  klagend,  dass  sie  es  „so  kalt,  ach  so  kalt" 
haben, —  „wie  im  Gefängniss  sitzen  wir  unter  dem  Eis.  Der 
Mond,  der  rötliche  Mond  steht  über  dem  Fluss,  ein  Wölk- 
chen—kaum sichtbar — zieht  an  ihm  vorbei"!...  Auf  ihre 
Klagelaute  antwortet  nur  die  zornige  Stimme  des  Wald- 
geistes. Wakula  kommt,  den  Tod  im  Wasser  zu  suchen. 
Kaum  hat  er  den  Sack  auf  die  Erde  gelegt,  so  kriecht  der 
Teufel  aus  seinem  Versteck  heraus,  fällt  über  Wakula  her 
und  verlangt,  dass  er  ihm  um  Oxana  seine  Seele  verkaufe. 
Wakula  geht  darauf  ein  und  will  den  Vertrag  mit  seinem 
Blut  unterschreiben.  Für  einen  Augenblick  lässt  ihn  der 
Teufel  los,  und  Wakula  benutzt  diese  Gelegenheit,  um  nun 
seinerseits  über  den  Teufel  herzufallen.  Er  stellt  ihm  die 
Gegenforderung,  dass  er  ihn  zur  Zarin  bringe  und  die 
Schuhe  für  Oxana  erlange.  Der  Teufel  ist  damit  einverstan- 
den, und  Beide  entfliegen  nach  Petersburg.  Zweites  Bild: 
Wakula  kommt  mit  dem  Teufel  in  Petersburg  an.  Erste- 
rer  mischt  sich  unter  die  Saporoger  ^),  welche  an  die- 
sem Tage  vor  den  Augen  des  Zaren  erscheinen  sollen. 
Drittes  Bild:  ein  Saal  im  Zarenschloss.  Festliche  Polonaise. 


1)  Kosaken,  welche  jenseits  der  Wasserfälle  des  Dniepr  wolinen. 


—  294  — 

Der  Durchlauchtigste  tritt  ein  und  ruft  die  Nachricht  über 
den  Sieg  des  russischen  Heeres  aus.  Allgemeine  Freude. 
Menuett.  Unterdess  werden  die  Saporoger  dem  Zaren 
vorgestellt.  Wakula  nimmt  die  günstige  Gelegenheit  wahr 
und  erbittet  sich  die  Schuhe  (Tscherewitschki)  der  Zarin. 
Sie  werden  ihm  bewilligt.  Der  Durchlauchtigste  veranlasst 
die  Fürstentochter  Temira,  zur  Unterhaltung  der  Gäste 
einen  russischen  Tanz  zu  tanzen.  Sie  thut  das  auch.  Da- 
rauf tanzen  die  Saporoger  einen  Hopak.  In  der  Zeit,  da 
sich  alle  entfernen,  um  einer  Theatervorstellung  beizuwoh- 
nen und  die  Komödie  „Prinz  Chlor,  oder  die  Rose  ohne 
Dornen"  anzusehen,  fliegen  der  Teufel  und  Wakula  mit 
den  erhaltenen  Schuhen  der  Zarin  zu  Oxana  ins  Dorf  Di- 
kanjka  zurück.  Viertes  Bild:  Weihnachtsmorgen.  Glocken- 
geläute. Das  Volk  kommt  aus  der  Kirche.  Alle  sind  fröh- 
lich, nur  Ssolocha  und  Oxana  heulen  und  klagen,  die 
erstere  über  das  plötzliche  Verschwinden  ihres  Sohnes, 
die  andere  über  den  vermissten  Geliebten,  über  den  sie 
sich  so  hartherzig  lustig  gemacht  hatte.  Da  erscheint  Wa- 
kula, bringt  Oxana  die  Schuhe  und  Geschenke  für  ihren 
Vater.  Schlusschor. 

Die  musikalisch-kritische  Thätigkeit  Peter  Iljitsch's  war 
in  dieser  Saison  nicht  so  ausgiebig,  wie  in  der  vorigen. 
Von  September  bis  Mai  hatte  er  nur  neun  Feuilletons  ge- 
schrieben. 


щр- 


XI. 

1,874— 1875. 

Erst  nach  seiner  Ankunft  in  Moskau  erkannte  Peter 
Iljitsch  seinen  Irrtum  in  Betreff  des  Termins  für  die  Ein- 
sendung der  Preisbewerbungsarbeiten.  Das  hat  ihn  sehr 
verstimmt.  Wie  wohl  jeder  Autor,  brannte  auch  er  von 
Ungeduld,  sein  Werk  so  bald  als  möglich  aufgeführt  zu 
sehen.  Diese  Ungeduld  verschärfte  sich  im  vorliegenden 
Falle  noch  dadurch,  dass  Peter  Iljitsch  ans  Warten  nicht 
gewöhnt  war,  denn  N.   Rubinstein   brachte   seine   Werke 


295 


stets  so  zu  sagen  noch  mit 
nasser  Tinte  auf  das  Po- 
dium; ausserdem  war  Pe- 
ter Iljitscli  mit  seinem  neu- 
en Erzeugniss  so  zufrieden, 
wie  noch  nie  zuvor.  Der 
Wunsch  „  Wakula "  auf 
der  Bühne  zu  sehen  und 
dadurch  den  schlechten 
Eindruck  des  ,,Opritsch- 
nik"  zu  verwischen  artete 
in  Peter  Iljitsch  gerade- 
zu in  eine  „idee  fixe"  aus 
und  verleitete  ihn  zu  einer 
Handlung,  welche  ihm  in 
ruhigerer  Stimmung  si- 
cherlich als  verwerflich 
erschienen  wäre. 

Peter  Iljitsch  verstand 
sich  überhaupt  nicht  auf 
das  Wahren  von  Geheim- 
nissen, zumal  wenn  es 
sich — wie  es  ihm  schien — 
um  die  Rehabilitation  sei- 
ner Komponistenehre  han- 
delte, welche  durch  den 
„  verhassten  Opritschnik 
ins  Wanken  geraten  war".  Daher  gab  er  sich  nicht  nur  keine 
Mühe,  seine  Teilnahme  an  der  Preiskonkurrenz  geheim  zu 
halten,  sondern  im  Gegenteil:  er  sprach  darüber  zu  Jeder- 
mann. Ja,  er  bekundete  sogar  eine  für  einen  Mann  in  sei- 
nem Alter  eine  schier  unglaubliche  Naivetät  und  machte 
bei  der  Direktion  der  Petersburger  Theater  den  Versuch, 
die  Aufführung  des  „Wakula"  vor  der  Preiskonkurrenz 
zu  veranlassen.  Aus  dem  Brief,  den  er  zu  seiner  Recht- 
fertigung geschrieben  und  den  ich  weiter  unten  wieder- 
geben werde,  ersieht  man,  wie  wenig  er  damals  noch  die 
ganze  Ungerechtigkeit  seiner  Handlungsweise  gegenüber 
den  andern  Bewerbern  begriff  und  welch'  ungenügende 
Vorstellung  er  von  der  Bedeutung  seiner  Schwatzhaftig- 
keit  in  einer  solchen  Sache  wie  eine  Preiskonkurrenz,  hatte, 
in  welcher  doch  das  Namensgeheimniss  der  Bewerber  die 
erste  und  wichtigste  Bedingung  für  eine  gerechte  Beur- 
teilung ihrer  Arbeiten  bildet. 


Peter  Iljitsch  Tschaikowsky  im  Jalire  1874. 


—  296  — 

An  I.  Р.  Tschaikowsky: 

„27.  September   1874. 

....  Erstens,  bin  ich  ganz  gesund,  und  zweitens — sehr 
zufrieden  mit  meiner  neuen  Wohnung,  welche  Modest  mit 
mir  zusammen  ausgewählt  hat.  Er  würde  sie  jetzt  kaum 
wieder  erkennen — so  hübsch  ist  sie  geworden.  Sonst  ist 
Alles  beim  Alten". 

An  E.  Näpravnik. 

„19.  Oktober. 

Heute  habe  ich  erfahren,  dass  Sie  und  der  Grossfürst 
sehr  unzufrieden  seien  über  meinen  Versuch,  meine  Oper 
unabhängig  von  der  Jury  auf  die  Bühne  zu  bringen.  Ich 
bedaure  sehr,  dass  meine  absolut  privat  an  Sie  und  Kon- 
dratjeff  gerichtete  Anfrage  zur  Kenntniss  des  Grossfürsten 
gebracht  worden  ist,  welcher  nun  wahrscheinlich  glaubt, 
dass  ich  mich  den  Satzungen  der  Preiskonkurrenz  nicht 
fügen  will.  Die  Sache  erklärt  sich  jedoch  höchst  einfach. 
Ich  hatte,  nämlich,  irrtümlicherweise  angenommen,  dass 
der  Schlusstermin  für  die  Einsendung  der  Arbeiten  auf 
den  I.  August  1874  festgesetzt  sei,  und  habe  mich  mit 
der  Fertigstellung  der  Partitur  daher  sehr  beeilt.  Erst  in 
Moskau  bemerkte  ich,  dass  ich  mich  geirrt  habe  und  nun 
länger  als  ein  lahr  auf  die  Entscheidung  warten  müsste.  In 
meiner  Ungeduld  mich  der  Aufführung  meiner  Oper  (welche 
mir  in  der  That  viel  mehr  wert  ist,  als  Geld)  zu  verge- 
wissern habe  ich  in  einem  Antwortschreiben  an  Kondrat- 
jefif  ganz  privatim  angefragt,  ob  meine  Oper  unabhängig 
von  der  Preiskonkurrenz  zur  Aufführung  angenommen 
w^erden  könnte.  Ich  bat  ihn,  gelegentlich  mit  Ihnen  darü- 
ber zu  sprechen  und  mir  dann  Antwort  zu  geben.  Jetzt 
sehe  ich  wohl  ein,  dass  ich  eine  grosse  Dummheit  began- 
gen habe,  da  ich  über  den  Text  der  Oper  nicht  allein  zu 
verfügen  habe.  Sie  hätten  einfach  Kondratjeff  beauftragen 
sollen  mir  zu  schreiben,  dass  ich  thöricht  sei,  anstatt  mich 
wegen  hinterlistiger  Absichten  (die  ich  nie  gehabt  habe) 
zu  verdächtigen.  Ich  bitte  Sie,  Ihren  Verdacht  zu  zerstreuen 
und  auch  den  Grossfürsten  dazu  zu  veranlassen,  welcher — 
wie  ich  von  Rubinstein  gehört — sehr  unzufrieden  gewesen 
sein  soll. 

Erlaube  mir,  Ihnen  meinen  Dank  auszusprechen  für 
die  Aufnahme  meines  „Sturmes"  in  Ihr  Repertoir.  Bei  die- 


-   297  - 

ser  Gelegenheit  möchte  ich  einen  kleinen  Fehler  in  der 
Instrumentation  gut  machen:  ich  habe,  nämlich,  bemerkt, 
dass  in  der  Introduktion,  wo  die  Streicher  alle  in  drei  ge- 
teilt sind  und  jede  Stimme  ihren  eignen  Rythmus  hat,  die 
ersten  Geigen  zu  laut  klingen  —  erstens,  weil  sie  stärker 
sind,  als  die  Andern,  zweitens  weil  sie  höhere  Noten  spie- 
len. Es  wäre  wi^inschenswert,  dass  an  der  betreffenden 
Stelle  überhaupt  kein  bestimmter  R\4hmus  herausgehört 
werden  könnte,  und  bitte  ich  Sie  daher,  die  ersten  Gei- 
gen ppp  spielen  zu  lassen,  die  Andern  aber  einfach  p. 

An  M.  Tschaikowsk}^: 

„29.  Oktober. 

Stelle  Dir  vor,  Modi,  dass  ich  bis  Heute  noch  über 
dem  Klavierauszug  meiner  Oper  sitze.  Ich  hatte  diese  Ar- 
beit eigentlich  von  mir  abwälzen  wollen  und  übertrug  sie 
zum  Teil  Langer  ^),  zum  andern  Teil  Rasmadse  ^^).  Sie 
Beide  haben  aber  entweder  Garnichts  oder  so  schlecht 
gemacht,  dass  ich  Alles  umarbeiten  muss.  Aus  diesem 
Grunde  bin  ich  sehr  beschäftigt  und  finde  keine  Zeit,  alle 
Briefe  zu  beantworten.  Bin  Dir  für  beide  Briefe  sehr  dank- 
bar: sie  haben  mir  grosse  Freude  bereitet,  zumal  da  Du 
sie  mit  der  Eleganz  eines  Sevigne  schreibst.  Im  Ernst: 
Du  besitzest  eine  literarische  Ader,  und  ich  würde  mich 
riesig  freuen,  wenn  diese  Ader  plötzlich  so  stark  zu  pul- 
sieren anfinge,  dass  Du  ein  Autor  würdest.  Dann  könnte 
ich,  hoffentlich,  auch  endlich  einmal  zu  einem  hübschen 
Libretto  kommen,  denn  es  ist  zum  Verzweifeln:  man  sucht 
und  sucht  und  findet  Nichts  Gescheites.  Der  Dichter  Berg 
(Redakteur  verschiedener,  russischer  Zeitschriften,  z.  B. 
„Graschdanin",  „Niwa",  u.a.)  hat  mir  vorgeschlagen  eine 
Oper  aus  der  Zeit  der  Hussiten  und  Taboriten  zu  ma- 
chen. Ich  fragte  ihn,  ob  er  schon  einen  bestimmten  Plan 
habe;  nein — garkeinen:  es  gefällt  ihm  nur,  dass  sie  Hym- 
nen singen!!!  Gerade  jetzt  würde  ich  viel  geben  um  ein 
gutes  Libretto  aus  der  ausländischen  Geschichte! 

Mir  geht  es  ganz  gut,  soweit  es  bei  dem  fürchterlichen 
Geldmangel,  an  dem  ich  seit  meiner  Ankunft  in  Moskau 
zu  leiden  habe,  Einem  überhaupt  gut  gehn  kann.  Auf  den 
Preis  kann  ich  nicht  hoffen,  denn  die  Konkurrenz  ist,  wie 
es  sich  erweist,  erst  Ende  nächsten  Jahres.  Neues  schreibe 


1)  E.  L.  Langer — ein  Kollege  und  Freund  Peter  Iljitsch's. 

«ä)  A.  S.  Rasmadse— Lehrer  für  Musikgeschichte  am  Moskauer  Konservatorium. 


—  298  — 

ich  vorläufig  noch  Nichts.  Wollte  ein  Klavierkonzert  be- 
ginnen, es  will  mir  aber  nicht  recht  gehngen. 

Sitze  sehr  viel  zu  Hause,  komme  aber  leider  wenig 
zum  Lesen:  arbeite  oder  spiele.  „Boris  Godunow"  und 
„Dämon"  habe  ich  gründlich  durchstudiert.  Die  Musik  von 
Mussorgsky  schicke  ich  von  ganzem  Herzen  zum  Teufel: 
sie  ist  die  gemeinste,  die  niedrigste  Parodie  der  Musik, 
hn  „Dämon"  habe  ich  viele  schöne  Stellen  gefunden,  aber 
auch  viel  Ballast.  Sonntags  spielt  bei  uns  das  Russische 
Quartett,  welches  auch  mein  D-dur- Quartett  vorgetra- 
gen hat. 

Es  freut  mich  sehr,  dass  mein  zweites  Quartett  Dir, 
sowie  der  Malosjomowa  ^)  und  den  andern  sich  für  mich 
interessierenden  Menschen  gefallen  hat.  Dieses  Quartett 
ist  mein  bestes  Werk:  keine  meiner  Kompositionen  hat 
sich  so  leicht,  so  einfach  ergossen,  wie  diese.  Ich  habe 
dass  Quartett  fast  in  einem  Zuge  fertiggestellt.  Es  wun- 
dert mich  sehr,  dass  es  dem  Publikum  nicht  gefallen  hat, 
denn  ich  war  immer  der  Meinung,  dass  die  auf  diese  Art 
hergestellten  Werke  die  meisten  Chancen  auf  einen  gros- 
sen Erfolg  haben". 

Wie  Peter  Iljitsch  aus  meinem  Brief  herausgelesen 
haben  will,  dass  das  Quartett  keinen  Erfolg  gehabt,  —  ist 
mir  unerfindlich.  Dass  das  Quartett  sehr  gefallen  hat,  er- 
sieht man  schon  aus  der  Thatsache,  dass  es  noch  in 
derselben  Saison  und  den  nämlichen  Exekutierenden  zu 
einem  nochmaligen  Vortrag  gebracht  worden  ist.  Auch 
die  Presse  hat  sich  lobend  über  dasselbe  geäussert.  Selbst 
C.  Cui  nannte  es  „ein  schönes  talentvolles,  leicht  dahin- 
fliessendes  Werk,  welches  von  eigenartiger  Erfindungsgabe 
zeugt"  u.  s.  w.  Laroche  meint,  es  wäre  ernster  und  be- 
deutender, als  dass  erste  Quartett,  und  Faminzin  behauptet, 
dass  Tschaikowsky  grosse  Fortschritte  darin  bekundet  und 
sagt:  „Der  erste  Satz  ist  ebenso  st^dvoll,  wie  dass  A-moll- 
Quartett  von  Beethoven". 

Am  I.  November  wurde  im  zweiten  Konzert  der  Mu- 
sikalischen Gesellschaft  zu  Petersburg  unter  Leitung  Nä- 
pravniks  der  „Sturm"  aufgeführt  und  hatte  einen  grossen 
Erfolg. 

Stassow  an  P.  J.  Tschaikowsky: 

„13.  November  10  Uhr  Morgens. 
Komme  soeben  von  der  Probe  zum  Sonnabendkonzert, 


1)  S.  A.  Malosjomowa,  eine   Studiengenossiii   Peter   Iljitsch's,   war  damals    Klavier, 
lehrerin  am  Petersburger  Konservatorium. 


—  299  — 

Man  spielte  zum  ersten  Mal  Ihren  „Sturm".  Ich  und  Rimsky- 
Korsakoff  Sassen  allein  im  leeren  Saal  und  zerflossen  vor 
lauter  Wonne. 

Wie  herrlich  schön  ist  doch  Ihr  „Sturm"!!  Welch' 
unvergleichliches  Werk!!  Allerdings,  der  Sturm  selbst  ist 
weniger  bedeutend  und  zeichnet  sich  nicht  durch  Neuheit 
aus,  auch  Prospero  ist  nicht  besonders,  endlich  haben  Sie 
da  zum  Schluss  eine  so  ordinäre  Kadenz,  wie  in  einem 
italienischen  Opernfinale, —  das  sind  drei  kleine  Flecken. 
Dafür  ist  aber  Alles  Andere — wunderbar,  herrlich!!  Kali- 
ban,  Ariel,  die  Liebesscene — das  Alles  gehört  zu  den 
allerschönsten  Erzeugnissen  der  Kunst.  In  beiden  Liebes- 
scenen — welch  eine  Leidenschaft,  welch'  eine  Wollust!  Ich 
finde  keinen  Vergleich?!  Und  dieser  prachtvolle  wild- 
ungetüme  Kaliban,  der  entzückende  Aufschwung  Ariels — 
herrlich,  herriich! 

Das  Orchester  in  diesen  Scenen  ist  wiederum  bezau- 
bernd! 

Wir  Beide,  Rimsky  und  ich,  machen  Ihnen  unsere 
tiefsten,  unterthänigsten  Komplimente  nebst  einem  kräfti- 
gen Händedruck.  Am  Freitag,  Uebermorgen,  wollen  wir 
wieder  in  die  Probe  gehn.  Es  ist  nicht  möglich  sich  des- 
sen zu  enthalten"... 

Der  „Sturm"  hat  nicht  nur  Stassow  und  der  „Schaar" 
gefallen,  sondern  sogar  im  feindlichen  Lager  Anerkennung 
gefunden.  Nur  Laroche  fällte  ein  absprechendes  Urteil  über 
dieses  Werk.  Er  sagt,  Tschaikowsky  nähere  sich  in  seiner 
Programmmusik,  namentlich  in  „Romeo  und  Julie",  was 
Form  und  Instrumentierung  anbelangt — Litolff,  in  harmo- 
nischer Beziehung  aber — Schumann  und  Glinka,  speziell 
über  den  „Sturm"  meint  er,  es  sei  ein  Werk,  welches  als 
Ganzes  vor  der  Kritik  nicht  Stich  hält,  und  fährt  fort: 
„Schön,  ja  sehr  schön,  sind  eigentlich  nur  die  Einzelhei- 
ten, aber  auch  diese  sind  nicht  alle  gleichwertig:  so  ist 
der  „Sturm"  selbst,  beispielsweise,  lange  nicht  so  bedeutend, 
wie  bei  Berlioz  in  dessen  Fantasie  über  das  gleiche  Thema. 
Bei  Tschaikowsky  zeichnet  sich  der  „Sturm"  hauptsächlich 
durch  lärmende  Instrumentation  aus,  welche  in  der  That 
so  ohrenbetäubend,  dass  sie  geeignet  ist,  die  Neugier  eines 
Fachmanns  in  Bezug  auf  die  technischen  Mittel  zu  erwecken, 
durch  welche  der  Komponist  einen  so  unglaublichen  Höllen- 
spektakel zu  erzeugen  im  Stande  war"* 


—  зоо 
An  А.  Tschaikowskv: 


,21.  November. 


Toly,  Euer  gemeinschaftliches  Schweigen  beginnt  mich 
zu  beunruhigen.  Ich  fange  an  zu  fürchten,  dass  Etwas 
Schlimmes  geschehen  und  Einer  von  Euch,  vielleicht,  er- 
krankt sei.  Namentlich  wundert  mich  Modest.  Es  ist  mir 
bekannt,  dass  vor  einigen  Tagen  mein  „ Sturm ^^  aufgeführt 
worden  ist.  Warum  schreibt  Niemand  ein  Wort  darüber? 
Nach  dem  Quartett  hatte  mir  Modest  einen  ausführlichen 
Bericht  gesandt,  damals  hatte  auch  Malosjomowa  geschrie- 
ben. Jetzt  aber — Niemand,  ausser  Stassow.  Merkwürdig! 

Ich  bin  ganz  in  die  Komposition  eines  Klavierkonzerts 
versunken.  Ich  wünsche  sehr,  dass  es  Rubinstein  in  sei- 
nem Konzert  zum  Vortrag  bringt.  Die  Arbeit  geht  sehr 
langsam  vorwärts  und  will  nicht  recht  gelingen.  Ich  blei- 
be aber  meinem  Prinzip  treu,  und  zwinge  meinen  Kopf, 
Klavierpassagen  auszutifteln:  das  Resultat  davon  ist  eine  ge- 
linde Nervosität.  Daher  möchte  ich  auch  so  sehr  eine  Reise 
nach  Kiew  unternehmen,  um  mich  ein  wenig  zu  zerstreuen, 
obwohl  jene  Stadt  —  da  Toly  nicht  mehr  in  ihr  weilt  — 
9  IG  ihres  Reizes  für  mich  eingebüsst  hat.  Dazu  kommt 
noch,  dass  ich  den  „Opritschnik''  von  f/an.ceni  Herzen  hasse!  ^) 
Kurz,  ich  möchte  einfach  eine  Spazierfahrt  machen,  und 
Avürde  gar  zu  gern  diese  Spazierfahrt  in  Deiner  Gesell- 
schaft machen.... 

Morgen  wird  hier  die  Ouvertüre  zu  meiner  „unvollen- 
deten Oper"  gespielt". 

Die  „unvollendete  Oper"  ist  Nichts  Anderes  als  „Wa- 
kula  der  Schmied".  Die  Ouvertüre  hatte  keinen  nennens- 
werten Erfolg.  Peter  Iljitsch  erhielt  aber  von  der  Musika- 
lischen Gesellschaft  trotzdem  die  üblichen  300  Rubel. 

An  M.  Tschaikowsky: 

„26  November. 

....Ich  bin  mit  Leib  und  Seele  in  die  Komposition  des 
Konzerts  versunken.  Die  Sache  geht  vorwärts — aber  nur 
sehr  langsam.  Es  hat  mich  sehr  erbittert,  dass  der  „Sturm" 
nicht  nur  beim  Publikum,  sondern  auch  bei  meinen  Freun- 
den nur  eine  laue  Aufnahme  gefunden.  Du  schreibst  kein 
Wort    darüber,    ob   dieses    Werk   Dir   gefallen   hat,    Ma- 


1)  Peter  Iljitsch    musste  nach    Kiew  reisfii,    um  der  ersten  dortigen  Auftiihrung  des 
Opritschnik  beizuwohnen. 


—  30I  — 

losjomowa  schweigt  sich  ebenfalls  aus.  Der  Bericht  La- 
roche's  hat  mich  sehr  erzürnt.  Mit  welcher  Schadenfreude 
behauptet  er,  dass  ich  Litolff,  Schumann,  Berlioz,  Glinka, 
und  weiss  Gott  wen  noch,  nachahme.  Als  wenn  ich  in  der 
That  Nichts  Besseres  verstünde,  als  zu  compilieren!  Ich 
fühle  mich  durchaus  nicht  beleidigt,  dass  der  „Sturm" 
ihm  nicht  gefallen  hat, — hatte  ich's  doch  erwartet  und  bin 
schon  zufrieden,  dass  er  wenigstens  die  Details  lobt.  Es 
empört  mich  nur  die  allgemeine  Charakteristik,  aus  wel- 
cher hervorgeht,  dass  ich  Alles  bei  andern  Komponisten 
entlehnt  und  Nichts  Eigenes  habe".... 

Der  krankhafte  Ehrgeiz,  den  Peter  Iljitsch  in  diesem 
Brief  offenbart,  während  doch  der  „Sturm"  eine  gute  Auf- 
nahme gefunden  hatte,  ist  eines  der  Symptome  für  die 
unnormale  Geistesverfassung,  in  welcher  sich  Peter  Iljitsch 
damals  befand  und  von  welcher  weiter  unten  die  Rede 
sein  soll. 

Am  9  Dezember  fand  die  erste  Aufführung  des  „Opritsch- 
nik"  in  Kiew  statt.  Der  Komponist  hat  ihr  beigewohnt  und 
beschreibt  sie  in  einem  seiner  Feuilletons  für  die  „Russi- 
schen Nachrichten"   folgendermaassen: 

„Dem  Leser  dürfte  es,  vielleicht,  nicht  unbekannt  sein, 
dass  ich  zu  diesem  l^'risch-dramatischen  Werk  in  den  al- 
lerintimsten  Beziehungen  stehe.  Möglicherweise  liegt  ge- 
rade in  diesen  Beziehungen  der  Grund  dafür,  dass  ich  im 
„Opritschnik"  in  musikalischer  und  besonders  in  sceni- 
scher  Hinsicht  so  viele  Mängel  erblicke,  wieviele  selbst 
die  feindseligste  kritische  Böswilligkeit  nicht  herauszufin- 
den imstande  wäre.  Als  ich  nach  Kiew  reiste,  zweifelte 
ich  sehr  daran,  ob  eine  Provinzialbühne  den  Anforderun- 
gen einer  musikalisch  und  scenisch  so  überaus  schwieri- 
gen und  undankbaren  Oper  gerecht  werden  könne:  die 
Thatsache,  dass  der  „Opritschnik"  in  Petersburg  kein  Fias- 
co  erlitten,  schreibe  ich  nur  der  Wirkung  der  ausge- 
zeichneten Ausstattung  und  Wiedergabe  des  Werkes  zu. 
Doch  waren  meine  Befürchtungen  grundlos.  Ich  kann  wohl 
behaupten,  dass  mit  Ausnahme  des  Orchesters,  welches 
zwar  nicht  übel  zusammengesetzt  ist  und  sehr  gut  gelei- 
tet wird,  sich  aber — was  das  Gleichgewicht  zwischen  Blä- 
ser -  und  Streicherchor  anbetrifft  -dennoch  nicht  mit  dem 
ausgezeichneten  Orchester  des  Herrn  Näpravnik  messen 
kann,  ferner  mit  Ausnahme  des  dekorativen  Teils,  dieses 
in  einer  Opernvorstellung  nicht  minder  wichtigen  Faktors, 
der  „Opritschnik"  in  Kiew  durchaus  nicht  schlechter  ge- 


—   302    — 

geben  wird,  als  in  Petersburg.  Wenn  in  unserer  Metro- 
pole die  Rollenbesetzung  eine  derartige  war,  dass  der 
Komponist  es  nur  dem  Talent  und  Können  der  Künstler 
zu  verdanken  hat,  dass  seine  Oper  nicht  durchgefallen  ist, 
so  war  die  Verteilung  der  Rollen  in  Kiew  nicht  weniger 
glücklich  getroffen. 

Die  Ausführung  der  Musik  Hess  hinsichtlich  der  Rich- 
tigkeit der  Tempi,  der  Nuancierung  u.  s.  w.  nichts  zu 
wünschen  übrig.  Es  ist  bewundernswert,  dass  Herr  Ka- 
pellmeister Altani,  dessen  Energie  und  Umsicht  das  gute 
Ensemble  der  Aufführung  am  meisten  zu  verdanken  ist, 
es  trotz  der  lückenhaften  Besetzung  des  Orchesters  ver- 
standen hat,  alle  Schwierigkeiten  der  für  die  Mittel  einer 
grossen  Bühne  berechneten  Partitur  zu  besiegen. 

Die  Dekorationen  sind  neu  und  schön.  Von  einem  Pri- 
vattheater, welches  dazu  seine  Thätigkeit  eben  erst  be- 
gonnen hat,  kann  man  es  gerechterweise  nicht  verlangen, 
dass  es  sich  hinsichtlich  der  Dekorationen  mit  der  Bühne 
des  Marientheaters  messe;  und  dennoch  haben  sie  den  künst- 
lerischen Eindruck  des  Ganzen  durchaus  nicht  geschä- 
digt. In  den  Kostümen  ist  eine  Pracht,  gleichzeitig  aber 
auch  eine  solche  historische  Treue  entfaltet  worden,  wie 
ich  sie  nur  in  ausländischen  Theatern  ersten  Ranges  ge- 
sehen habe". 

Diesem  Bericht  ist  nur  noch  hinzuzufügen,  dass  der 
„Opritschnik"  in  Kiew  einen  grossartigen  Erfolg  errungen 
und  sich  die  ganze  Saison  hindurch  auf  dem  Repertoir 
gehalten  hatte. 

An  M.  Tschaikowsk}-: 

„6.  Januar  1875. 

....Mit  Deinem  Zeitungsartikel  bin  ich  sehr  zufrieden  ^). 
Du  beklagst  Dich  darüber,  dass  Dir  das  Schreiben  schwer 
falle  und  Du  jeden  Satz  ausbrüten  müssest.  Glaubst  Du 
denn  wirklich,  dass  ohne  Mühe  und  Selbstüberwindung 
Etwas  zu  Wege  gebracht  werden  kann?  Ich  sitze  manches 
Mal  stundenlang,  nage  am  Federhalter  und  weiss  nicht, 
wie  ich  die  Arbeit  anfangen  soll.  Dabei  denke  ich,  dass 
ich  Nichts  Gutes  zu  Stande  bringen  werde,  und — siehe 
da — die  Andern  loben  die  Leichtigkeit,  die  Ungezwungen- 
heit der  Arbeit!   Erinnere  Dich   mal  daran,  wieviel  Mühe 


1)  Ich  war  damals    zeitweilig   als   Vertreter  Laroche's   (welcher   auf  ärztlichen    Rat 
eine  Kur  im  Auslande  durchmachte)  Musikreferent  des  „Golos"  (Die  Stimme). 


—  ЗОЗ  — 

mich  einst  die  Aufgaben  von  Zaremba  gekostet  hatten. 
Weisst  Du  noch,  wie  ich  im  Sommer  66  an  meiner  ersten 
S3m'iphonie  meine  Nerven  kaput  gearbeitet  habe?  Und  wie 
oft  kommt  es  selbst  heuer  noch  vor,  dass  ich  mir  alle 
Nägel  an  den  Fingern  zerbeisse,  eine  grosse  Menge  Ciga- 
retten  verpaffe  und  lange  in  meinem  Zimmer  auf  und  ab 
spazieren  muss,  ehe  ich  ein  Motiv,  ein  Thema  finde.  Manches 
Mal,  jedoch,  schreibt  sich's  sehr  leicht,  die  Gedanken  kom- 
men nur  so  dahergeflogen.  Alles  hängt  von  der  Stimmung 
ab.  Aber  selbst  wenn  diese  ungünstig  ist  muss  man  sich 
zur  Arbeit  zwingen.  Sonst  erreicht  man  nie  Etwas. 

Du  schreibst  von  Deiner  schlechten  Laune.  Glaube 
mir:  sie  ist  bei  mir  auch  nicht  besser". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„9.  Januar. 

....  Ich  kann  die  Feiertage  nicht  leiden.  An  Werktagen 
arbeitet  man  zur  festgesetzten  Zeit  und  Alles  geht  seinen 
Gang,  wie  bei  einer  Maschine.  An  Feiertagen  fällt  die  Fe- 
der von  selbst  aus  der  Hand,  man  möchte  mit  lieben  Freun- 
den zusammen  sein,  sein  Herz  vor  ihnen  ausschütten, 
und  da  überkommt  mich  denn  ein  (freilich  übertriebenes) 
Einsamkeitsgefühl,  das  Gefühl  des  Verlassenseins.  Ja,  ich 
lebe  in  Moskau  wohl  etwas  wie  eine  Waise.  In  den  Fei- 
ertagen war  ich  daher  ziemlich  traurig  gestimmt.  Mit  mei- 
nen Kollegen  und  deren  Frauen  bin  ich  nicht  sehr  intim. 
Mit  einem  Wort:  ich  möchte  sehr  nach  Petersburg,  habe 
aber  kein  Geld. 

Nicht  nur,  dass  es  hier  keinen  Menschen  giebt,  den 
ich  einen  wahren  Freund  nennen  könnte  (so  wie  zum 
Beispiel  Laroche  oder  Kondratjew),  sondern  ich  befand 
mich  während  der  Feiertage  unter  dem  Eindruck  eines 
harten  Schlages,  welcher  meine  Eigenliebe  betroffen  hatte 
und  welcher  von  keinem  Andern  als  N.  Rubinstein  (und 
Hubert)  ausging.  Wenn  Du  bedenkst,  dass  Diese  Beiden 
meine  besten  Freunde  sind  und  dass  in  ganz  Moskau  Nie- 
mand grösseres  Interesse  für  meine  Kompositionen  haben 
kann,  als  sie,  so  wirst  Du  wohl  begreifen,  wie  sehr  meine 
Seele  gelitten  hat.  Merkwürdig!!  Die  Herrn  Cui,  Stassow 
und  Komp.  beweisen  mir  bei  mancher  Gelegenheit,  dass  sie 
sich  viel  mehr  für  mich  interessieren,  als  meine  sogenannten 
Freunde!  Cui  hat  mir  vor  einigen  Tagen  einen  sehr  netten 
Brief  geschrieben.  Auch  von  Korsakoff  habe  ein  Schreiben 
erhalten,  welches  mich  sehr  gerührt   hat.... 


—  304  — 

Ja,  ich  fühle  mich  hier  sehr  verlassen,  und  wenn  die 
Arbeit  nicht  wäre,  so  Avürde  ich  ganz  der  Melancholie 
verfallen.  In  meinem  Charakter  liegt  soviel  Furcht  vor 
Menschen,  soviel  unnötige  Bescheidenheit,  soviel  Misstrauen, 
kurz  eine  Menge  Eigenschaften,  die  mich  immer  mehr  men- 
schenscheu machen.  Denke  Dir:  ich  ziehe  oft  das  Kloster- 
leben oder  drgi.  in  Erwägung.  Glaube  nur,  bitte,  nicht, 
dass  ich  mich  körperlich  nicht  gesund  fühle.  Ich  bin  ganz 
wohl,  schlafe  gut,  esse  noch  besser;  bin  nur  etwas  senti- 
mental aufgelegt,  nichts  weiteres... 

lieber  die  „von  N.  Rubinstein  verletzte  Eigenliebe"  er- 
zählt Peter  Iljitsch  so  hübsch  in  einem  seiner  Briefe  an 
Frau  von  Meck,  dass  ich  diesen  Brief  in  seinem  ganzen 
Umfange  hier  folgen  lasse. 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

San  Remo,  d.  21.  Januar  1878. 

Im    Dezember    1874    hatte    ich    ein    Klavierkonzert 

geschrieben!  Da  ich  kein  Pianist  bin,  so  erachtete  ich  es 
für  notwendig,  einen  Virtuosen  zu  befragen,  was  an  mei- 
nem Konzert  in  technischer  Hinsicht  unausführbar,  undank- 
bar oder  wirkungslos  wäre.  Ich  brauchte  einen  strengen, 
gleichzeitig  aber  auch  einen  mir  freundschaftlich  gesinnten 
Kritiker.  Ohne  von  Kleinigkeiten  zu  reden,  muss  ich  die 
Thatsache  constatieren,  dass  eine  Stimme  in  meinem  Innern 
gegen  die  Wahl  Rubinsteins  zum  Richter  über  den  me- 
chanischen Teil  meines  Werkes  protestierte.  Da  er  aber 
nicht  nur  der  beste  Pianist  Moskau' s,  sondern  auch  in 
der  That  ein  ausgezeichneter  Musiker  ist,  da  ich  ausserdem 
versichert  war,  dass  er  es  mir  sehr  übelnehmen  würde, 
falls  er  erfahren  sollte,  dass  ich  ihn  übergangen  und  das  Kla- 
vierkonzert einem  Andern  gezeigt  habe,  so  entschloss  ich 
mich  denn,  ihn  zu  bitten,  mein  Konzert  anzuhören  und 
seine  Bemerkungen  in  Betreff  des  Soloparts  zu  machen.  Es 
war  gerade  Weihnachtsabend  1874,  wir  waren  zu  Albrecht 
eingeladen  und  Nikolai  Gregorje witsch  machte  mir  den 
Vorchlag,  ehe  man  zu  Albrecht  ging,  in  einem  Klassen- 
zimmer des  Konservatoriums  das  Konzert  durchzuspielen: 
das  thaten  wir  denn  auch.  Ich  brachte  mein  Manuscript 
und  gleich  darauf  kamen  Nikolai  Gregorjewitsch  und  Hu- 
bert. Letzterer  ist  ein  sehr  guter  und  kluger  Mensch,  ver- 
fügt aber  nicht  über  den  geringsten  Teil  von  Selbständig- 
keit,  ist  sehr  redselig  und   weitschweifig,  braucht  immer 


—  305  — 

eine  lange  Vorrede  um  Ja  oder  Nein  zu  sagen,  er  ist  nicht 
fähig,  seine  Meinung  in  bestimmter  unzweideutiger  Form 
auszusprechen  und  hält  sich  immer  auf  Seiten  Desjenigen, 
der  im  gegebenen  Fall  der  Stärkere  ist.  Hier  muss  ich 
aber  hinzufügen,  dass  er  das  nicht  aus  Feigheit,  sondern 
nur  aus  Charakterlosigkeit  thut. 

Ich  hatte  den  ersten  Satz  durchgespielt.  Nicht  ein  Wort, 
nicht  eine  Bemerkung.  Wenn  Sie  wüssten,  in  welch  dum- 
mer Lage  man  sich  befindet,  wenn  man  einem  Freunde 
eine  eigenhändig  zubereitete  Speise  vorsetzt  und  dieser 
Freund  sie  isst  und — schweigt!  So  sprich  doch  wenigstens 
ein  Wort,  schimpfe  meinetwegen  freundschaftlichst,  sprich 
aber  um  Gottes  Willen,  sprich,  sage  Etwas,  was  es  auch 
sei!  Rubinstein  aber  sprach  nicht,  er  bereitete  sein  Donner- 
wetter vor,  und  Hubert  wartete,  wie  sich  die  Dinge  ge- 
stalten würden,  um  dann  dieser  oder  jener  Partei  beizu- 
springen. Die  Hauptsache  war  aber,  dass  ich  über  die 
künstlerische  Gestaltung  meines  Werkes  garkein  Urteil 
brauchte:  es  war  mir  nur  um  die  rein  technische  Sache 
zu  thun.  Das  beredte  Schweigen  Rubinsteins^  hatte  eine 
sehr  vielsagende  Bedeutung.  Es  sagte  mir  gleichsam:  „Lie- 
ber Freund,  wie  kann  ich  von  den  Details  reden,  wenn 
mir  die  Komposition  als  Ganzes  zuwider  ist'"''.  Ich  fasste 
meine  Geduld  zusammen  und  spielte  das  Konzert  zu  Ende. 
Wiederum  Schweigen. 

„Nun?"  fragte  ich  und  stand  auf.  Da  entsprang  ein  ge- 
waltiger Redestrom  Rubinsteins  Munde.  Erst  sprach  Niko- 
lai Gregorjewitsch  ruhig,  allmälig  steigerte  sich  aber  seine 
Leidenschaftlichkeit  und  endlich  glich  er  dem  Blitze  schleu- 
dernden Zeus.  Es  erwies  sich,  dass  mein  Konzert  Gar- 
nichts taugte,  dass  es  absolut  unspielbar,  die  Passagen  ab- 
gedroschen und  so  ungeschickt  wären,  dass  man  sie  gar- 
nicht  verbessern  könnte,  dass  die  Komposition  selbst 
schlecht,  trivial,  gemein  sei,  dass  ich  die  Stelle  von  Dem 
und  die  da  von  Jenem  gestohlen  hätte,  dass  nur  zwei  oder 
drei  Seiten  Etwas  taugten,  während  die  übrigen  entweder 
vernichtet  oder  radikal  umgearbeitet  werden  müssten.  „Zum 
Beispiel  Das!  Was  ist  Das  nun,  eigentlich?  (dabei  wird 
die  betreffende  Stelle  in  Karrikatur  gespielt),  und  Jenes 
da?  Ja,  ist  denn  das  möglich??"  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Ich  kann 
die  Hauptsache  nicht  wiedergeben,  den  Tonfall  der  Stimme, 
mit  welchem  Nikolai  Gregorjewitsch  das  Alles  sagte.  Kurz, 
ein  unbeteiligter  Zuschauer  dieser  Scene  müsste  glauben, 
ich  sei  ein  dummer  talentloser  eingebildeter  Notenkratzer, 

Tschaikoivaky,  M.  Г.  I.  Tachaikowbky's  Leben.  '«iü 


—  зоб  — 

welcher  sich  erfrecht  hat,  einem  berühmten  Mann  seine 
Schmiererei  zu  zeigen.  Hubert  war  durch  mein  Schweigen 
ganz  verbUifft  und  wunderte  sich,  wahrscheinhch,  sehr, 
dass  ein  Mann,  der  bereits  so  viele  Werke  geschaffen  und 
der  am  Konservatorium  Kompositionslehre  unterrichtete, 
eine  derartige  Moralpredigt  ruhig  und  widerspruchslos 
über  sich  ergehen  liess,  eine  Moralpredigt,  wie  man  sie 
selbst  einem  Schüler  nicht  hätte  halten  dürfen,  ohne  seine 
Arbeit  vorher  aufmerksam  durchzusehen,  und — Hubert  be- 
gann, Rubinstein  zu  kommentieren,  d.  h.  er  pflichtete  Ru- 
binsteins Ansicht  bei,  nur  versuchte  er,  das,  was  Nikolai 
Gregorjewitsch  zu  schroff  ausdrückte,  in  mildere  Worte  zu 
kleiden.  Ich  war  durch  diesen  ganzen  Auftritt  nicht  nur  in 
Erstaunen  versetzt,  sondern  fühlte  mich  sehr  beleidigt.  Ich 
brauchte  wohl  freundschaftliche  Ratschläge  und  Bemerkun- 
gen und  werde  sie  wohl  immer  brauchen,  hier  war  aber 
nicht  die  Spur  von  Freundschaftlichkeit.  Es  war  ein  Schim  - 
pfen,  ein  „Herunterreissen"  dazu  in  einer  Art  und  Weise 
vorgetragen,  die  mich  sehr  verletzte.  Ich  entfernte  mich 
schweigend  aus  dem  Zimmer  und  ging  nach  oben.  Vor 
Aufregung  und  Zorn  konnte  ich  kein  Wort  sprechen.  Bald 
darauf  kam  Rubinstein  zu  mir  herauf  und  rief  mich,  als 
er  merkte,  dass  ich  sehr  niedergeschlagen  war,  in  ein 
entferntes  Zimmer.  Dort  wiederholte  er,  dass  mein  Kon- 
zert unmöglich  sei,  wies  auf  viele  Stellen  hin,  welche  einer 
gründlichen  Umarbeitung  bedurften  und  fügte  hinzu,  dass 
er — sollten  diese  Aenderungen  bis  zu  einem  bestimmten 
Termin  fertig  werden  mein  Konzert  öffentlich  spielen  wolle. 
„Nicht  eine  einzige  Note  werde  ich  abändern",  antwortete 
ich,  und  werde  das  Konzert  in  dem  Zustand  in  Druck 
geben,  in  welchem  es  sich  augenblicklich  befindet".  Das 
habe  ich  denn  auch  wirklich  gethan". 

Peter  Iljitsch  hat  es  denn  auch  in  Wirklichkeit  gethan, 
ja,  nicht  nur  das,  er  hat  sogar  die  Widmung  des  Konzerts 
an  N.  Rubinstein  von  der  Partitur  gestrichen  und  statt 
dessen  den  Namen  Hans  von  Bülow  gesetzt.  Persönlich 
kannte  Peter  Iljitsch  Bülow  allerdings  nicht,  durch  Ver- 
mittelung  Klindworths,  jedoch,  wusste  er,  dass  der  be- 
rühmte Pianist  sich  lebhaft  für  seine  Kompositionen  inte- 
ressierte und  an  ihrer  Verbreitung  in  Deutschland  regen 
Anteil  nahm. 

Bülow  fühlte  sich  durch  die  Widmung  sehr  geehrt  und 
äusserte  sich  in  einem  langen  dankerfüllten  Brief — im  Ge- 
gensatz  zu   Rubinstein  —  sehr  lobend   über  das   Konzert, 


—  307  — 

indem  er  sagte,  es  sei  von  den  ihm  bekannten  Werken 
Peter  Iljitsch's  das  „vollkommenste".  „Die  Ideen",  schreibt 
er, — „sind  so  originell,  so  edel,  so  kraftvoll,  die  Details — 
welche  trotz  ihrer  grossen  Menge  der  Klarheit  und  Einig- 
keit des  Ganzen  durchaus  Nichts  schaden — so  interessant! 
Die  Form  ist  so  vollendet,  so  reif,  so  stylvoll  —  in  dem 
Sinne,  dass  sich  Absicht  und  Ausführung  überall  decken. 
Ich  würde  ermüden,  wollte  ich  alle  Eigenschaften  Ihres 
Werkes  aufzählen, — Eigenschaften,  welche  mich  zwingen, 
dem  Komponisten  sowie  allen  Denjenigen,  welche  das  Werk 
aktiv  oder  passiv  (receptivement)  geniessen  werden,  in 
„gleichem  Maasse  meine  Gratulationen  darzubringen". 

Ich  hatte  schon  erwähnt,  dass  Peter  Iljitsch  trotz  sei- 
ner im  Grunde  edlen  gutherzigen  Natur  eine  ihm  zuge- 
fügte Beleidigung  sehr  lange  nachtragen  konnte.  Die  Epi- 
sode mit  dem  Klavierkonzert  bestätigt  dieses.  Peter  Iljitsch 
konnte  Rubinstein  die  herbe  Kritik  nie  verzeihen,  und 
dieser  Umstand  spiegelt  sich  auf  den  gegenseitigen  Be- 
ziehungen der  beiden  Freunde  ab.  Schon  aus  dem  Styl 
des  Briefes  Peter  Iljitsch's,  aus  der  Lebendigkeit  der  Er- 
zählung jener  Episode,  aus  der  genauen  Schilderung  aller 
Einzelheiten  geht  hervor,  dass  die  Wunde  nach  drei  Jahren 
noch  nicht  geheilt  war,  dass  die  blosse  Erinnerung  an 
den  Vorfall  den  Schreiber  des  Briefes  so  stark  aufregt, 
alswenn  die  Scene  sich  eben  erst  abgespielt  hätte. 

Im  Jahre  1878  hat  Rubinstein  den  Grund  des  Grolles 
Peter  Iljitsch's  gegen  ihn  beseitigt,  indem  er  mit  dem  ihm 
eigenen  Edelmut  und  Gerechtigkeitssinn  einsah,  dass  er 
die  Vorzüge  des  B-moll-Konzerts  verkannt  hatte,  dieses 
Konzert  einstudierte  und  es  mit  der  ganzen  Genialität 
seiner  künstlerischen  Natur  in  Russland  und  im  Ausland 
öffentlich  vortrug. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„9.  März. 

....Die  Närrin  Vorsehung  richtet  es  nun  schon  seit  10 
Jahren  immer  so  ein,  dass  Diejenigen,  welche  ich  lieb  ha- 
be, fern  von  mir  weilen.  Ich  fühle  mich  in  der  That  sehr 
einsam  in  Moskau,  nicht  weil  Keiner  da  wäre  mit  dem 
sich  die  Zeit  verbringen  Hesse,  sondern  weil  Niemand  von 
meinen  allernächsten  Freunden  in  meiner  Umgebung  lebt. 
Wenn  Du  ein  wenig  Beobachtungsgabe  besitzest,  so  wirst 
Du  gemerkt  haben,   dass   meine  Freundschaft  mit  Rubin- 


-  3o8- 

stein  und  den  andern  Herrn  vom  Konservatorium  nur  auf 
dem  Umstand  basiert,  dass  wir  Kollegen  sind.  Ich  habe 
schwerwiegende  Beweise  dafür,  dass  Keiner  von  ihnen 
soviel  Zärtlichkeit  und  Liebe  für  mich  übrig  hat,  wieviel 
meiner  Seele  notthut.  Kurz,  es  ist  Niemand  da,  dem  ich 
mein  Herz  ausschütten  könnte.  Vielleicht  bin  ich  selbst 
daran  schuld:  ich  bin  sehr  zurückhaltend.  Aber  wie  dem 
auch  sei,  das  Fehlen  eines  lieben  Wesens  empfinde  ich 
bei  Anfällen  von  Hypochondrie  sehr  schmerzlich.  Den  gan- 
zen Winter  hindurch  war  ich  unausgesetzt  traurig  gestimmt, 
was  mich  oft  an  den  Rand  der  Verzweiflung  brachte  und 
den  Tod  wünschen  Hess. 

Jetzt,  da  der  Frühling  naht,  sind  jene  Anfälle  ganz 
verschwunden,  ich  weiss  aber,  dass  sie  mit  jedem  Winter 
immer  intensiver  wiederkehren  werden  und  habe  daher 
den  Entschluss  gefasst,  das  ganze  nächste  Jahr  Moskau 
fern  zu  bleiben.  Wo  ich  sein  werde,  wohin  ich  reisen 
werde — weiss  ich  noch  nicht,  ich  muss  aber  unbedingt  Ort 
und  Umgebung  wechseln.  Ich  werde  mit  Dir  darüber  noch 
reden,  vielleicht  bei  unserem  Wiedersehen.  Ich  bitte  Dich 
sehr,  zu  Ostern  zu  mir  zu  kommen;  Modest  auch.  Das 
müsst  Ihr  thun,  zumal  da  in  der  Osterwoche  der  „Opritsch- 
nik"  hier  gegeben  werden  soll,  und  den  müsst  Ihr  doch 
wenigstens  des  Kuriosums  halber  sehn. 

Vom  Tode  Laub's  wirst  Du,  wahrscheinlich,  schon 
durch  die  Zeitungen  unterrichtet  sein.  Uebermorgen  soll 
hier  „Martha"  für  den  Grossfürsten  gegeben  werden".... 

An  M.  Tschaikowsk}-: 

„12.   März. 

Ich  sehe,  dass  Kondratjew  Dir  meine  Hypochondrie 
in  übertriebenen  Farben  geschildert  hat.  Sie  hat  mich, 
allerdings,  den  ganzen  Winter  hindurch  gequält,  meine 
Gesundheit  ist  aber  dadurch  nicht  im  Mindesten  geschädigt 
worden  und  befindet  sich  in  der  besten  Verfassung.  Mit 
dem  Nahen  des  Frühlings,  ist  Alles  wieder  gut.  Wahr- 
scheinlich habe  ich  an  Kondratj'ew  in  einem  Anfall  von  Me- 
lancholie geschrieben  und  würde  jetzt  beim  Durchlesen 
des  betrcft'enden  Briefes  meine  eigene  Schilderung  für 
übertrieben  halten.  Es  scheint,  dass  Du  mir  Vorwürfe 
machst,  dass  ich  mit  Kondratjew  aufrichtig  bin  und  nicht 
mit  Dir.  Das  kommt  daher,  dass  ich  ihn  zehn  Mal  weni- 
ger lieb  habe,  als  Dich   und  i\natol,    anderseits   weiss   ich 


—  309  — 

wohl,  dass  er  mich  zwar  gern  hat,  aber  nur  soweit  ich 
sein  Wohlbefinden  nicht  störe,  welches  er  höher  schätzt, 
als  Alles  in  der  Welt.  Hätte  ich  Dir  oder  Anatol  jene 
Mitteilung  von  meiner  Verstimmung  gemacht,  so  würdet 
Ihr,  jedenfalls,  meine  Klagen  gar  zu  sehr  zu  Herzen  ge- 
nommen haben,  während  Kondratjew  sich  gewiss  keinen 
Besorgnissen  hingegeben  hat.  Was  Du  da  über  die  Anti- 
patie  schreibst,  welche  ich  für  Dich  empfinden  soll,  fasse 
ich  als  Scherz  auf.  Woraus  folgerst  Du  denn  eigentlich 
Deinen  Verdacht?  Es  ärgert  mich  nur,  dass  Du  von  kei- 
nem meiner  Fehler  frei  bist — das  ist,  allerdings,  wahr.  Ich 
wollte,  ich  könnte  in  Dir  die  Abwesenheit  wenigstens  einer 
meiner  Eigenschaften  konstatieren — doch  kann  icb's  nicht. 
Du  bist  mir  gar  zu  ähnlich:  wenn  ich  mich  über  Dich 
ärgere,  so  ärgere  ich  mich  eigentlich  über  mich  selbst, 
denn  Du  bist  gleichsam  mein  Spiegel,  in  welchem  ich  das 
getreue  Bild  aller  meiner  eignen  Schwächen  erblicke.  Da- 
raus kannst  Du  den  Schluss  ziehen,  dass — wenn  Du  mir 
antipatisch  bist — diese  Antipatie  im  Grunde  mir  selbst  gilt. 
Ergo — Du  bist  ein  Dummkopf,  woran  nie  gezweifelt  habe. 
Anatol  hat  mir  einen  Brief  geschrieben,  der  von  dem  Dei- 
nigen  viel  Aehnlichkeit  hat.  Beide  Briefe  haben  auf  meine 
kranke  Seele  die  Wirkung  eines  heilsamen  Balsams  aus- 
geübt"... 

An  dieser  Stelle  muss  ich  den  Leser  auf  jenes  mora- 
lische Leiden  aufmerksam  machen,  von  welchem  Peter  II- 
jitsch  in  dieser  Saison  ergriffen  wurde  und  welches  sich 
im  Laufe  der  Zeit  stetig  verschärfte,  bis  es  im  Jahre  1877 
zu  einer  schrecklichen  Krisis  kam  und  für  unsern  Kompo- 
nisten beinahe  verhängnissvoll  geworden  wäre. 

Der  Drang  nach  Freiheit,  die  Sehnsucht,  alle  Ketten, 
welche  seine  schöpferische  Thätigkeit  beeinträchtigten,  zu 
sprengen,  hatte  bisher  den  Charakter  einer  versteckten 
chronischen  Krankheit,  welche  nur  dann  und  wann  zum 
Vorschein  kam  und  sich  in  Klagen  über  das  Schicksal,  in 
poetischen  Träumereien  von  einem  „stillen,  einsamen  Heim", 
von  einem  „ruhigen,  friedlichen  und  fröhlichen  Leben  äus- 
serte. Solche  Momente  kamen  und  gingen  mit  der  Flut 
der  vielen  Eindrücke  und  Geschehnisse  des  alltäglichen 
Lebens,  welche  Peter  Iljitsch  immer  noch  interessierten 
und  seinen  Verstand,  seine  Phantasie  anregten.  Wenn  man 
seine  Briefe  aufmerksam  durchsieht,  so  merkt  man,  wie 
eine  jede  Veränderung  seiner  äusseren  Lebensverhältnisse 
auf  seine  Seelenstimmung  einwirkt.  So  geschah  es,   zum 


—  З^о  — 

Beispiel,  als  er  sich  von  Rubinstein  getrennt  und  ein  eignes 
Heim  gegründet  hatte.  Die  Selbständigkeit,  die  neuen 
freundschaftlichen  Beziehungen  hatten  ihn  mit  seinem  Da- 
sein ausgesöhnt,  und  seine  Liebe  für  Moskau,  d.  h.  für  die 
Lebensweise,  die  er  damals  führte,  erreichte  ihren  Höhe- 
punkt. Für  kurze  Zeit  verstummt  sein  Seufzen  nach  Etwas 
Besserem.  Aber  schon  Ende  1872  erscheint — wenn  auch 
noch  sehr  selten  und  in  sehr  leichter  Form — seine  Unzu- 
friedenheit, seine  Sehnsucht,  aus  den  ihn  umgebenden  Ver- 
hältnissen herauszukommen. 

hii  November  1873  spricht  Peter  Iljitsch  die  Enttäuschung 
an  seinen  Moskauer  Freunden  direkt  aus  und  klagt  über 
seine  Einsamkeit  in  dem  Sinne,  dass  es  ihm  an  solchen 
Wesen  fehle,,  die  ihn  verstehen  könnten.  Das  Alles  hat 
aber  dennoch  nur  den  Charakter  vorübergehender  Anfälle 
einer  chronischen  Krankheit. 

Wir  sehen,  dass  er  1874,  da  er  fern  von  Moskau,  fern 
von  denjenigen  Freunden  weilt,  über  die  er  sich  erst  vor 
kurzer  Zeit  beklagt  hatte, — sich  dennoch  nach  ihnen  sehnt, 
ihnen  zärtliche  Briefe  schreibt  und  während  seines  Aufent- 
haltes in  Petersburg  und  später  in  Italien  immer  nur  da- 
ran denkt,  wie  gern  er  nach  Moskau  zurückkehren  würde, — 
„in  das  liebe  Moskau,  wo  allein  er  sich  glücklich  fühlen" 
könne. 

Im  Jahre  1875  verschärft  sich  das  chronische  Leiden 
schon  sehr  bedeutend.  Es  kommt  nicht  mehr  zeitweise, 
sondern  quält  ihn  fast  ununterbrochen.  Nach  seinen  eignen 
Worten  drückt  ihn  die  Melancholie  unausgesetzt  den  gan- 
zen Winter  hindurch,  manchmal  bis  zur  Verzweiflung,  bis 
zur  Todessehnsucht.  Seine  ganze  Umgebung  wird  ihm 
gleichgiltig,  er  fühlt,  dass  er  so  nicht  weiter  leben  kann, 
dass  er  seinen  Wohnort  und  seine  Umgebung  verändern, 
dass  er  „für  ein  ganzes  Jahr  aus  Moskau  verschwinden 
muss",  dass  er  an  einem  Wendepunkt  seines  Lebens  an- 
gelangt sei,  welcher  seiner  Bedeutung  nach  der  Krisis  der 
60-er  Jahre  gleichkomme,  mit  dem  alleinigen  Unterschied, 
dass  damals  das  Ziel  seiner  Wünsche  der  musikalische  Be- 
ruf gewesen  ist,  während  es  diesmal  das  „freie  Leben"  war. 

Wie  diejenigen  Kranken,  welche  die  wahre  Ursache 
ihres  Leidens  nicht  zu  erkennen  vermögen  und  daher  ganz 
falsche  Heilmittel  anwenden,  so  auch  Peter  Iljitsch.  Die 
Hauptursache  seiner  Verstimmung  sucht  er  in  der  Abwe- 
senheit ihm  „nahestehender  Menschen"  und  erblickt  die 
Möglichkeit  einer  Genesung  nur  in  der  Nähe  eines  „lieben- 


—  311  — 

den  Wesens",  welches  allein  ihn  von  der  „quälenden  Ein- 
samkeit retten  könnte".  Ich  muss  diesen  Irrtiim  Peter  II- 
jitsch's  hier  ganz  besonders  betonen,  weil  er  immer  mehr 
und  mehr  zu  einer  idee  fixe  auswuchs  und  den  Kompo- 
nisten zu  einem  wahnsinnigen  Schritt  verleitete,  welcher 
ihn  beinahe  umgebracht  hätte. 

Einer  der  Symptome  der  unnormalen  Geistesverfassung 
Peter  Iljitsch's  lag,  wie  wir  gesehen  haben,  in  einer  unge- 
wöhnlichen Sensibilität  seines  Autorenehrgeizes.  Selbst  in 
den  allerschmeichelhaftesten  Berichten  über  seine  Kompo- 
sitionen las  er  stets  einen  versteckten  Tadel  heraus  und 
bekundete  ein  derartig  nachdrückliches  Verlangen  nach 
Lob  und  Huldigung,  wie  er  es  weder  früher  noch  später 
je  gethan.  Immer  will  es  ihm  scheinen,  dass  man  ihn  nicht 
genügend  schätzt,  nicht  recht  versteht,  kein  Erfolg,  er  mag 
noch  so  bedeutend  sein,  befriedigt  ihn.  Und  gerade  in  je- 
ner Zeit,  als  Peter  Iljitsch  warmer  Freundschaftsbezeugun- 
gen am  dringendsten  bedurfte,  fügte  es  sich  so,  dass  seine 
Konservatoriumskollegen,  welche  den  eigentlichen  Stamm 
seiner  ganzen  Beziehungen  zu  Moskau  bildeten,  ihn  jeden 
Augenblick — wie  auf  Verabredung — kränkten  und  seinen 
Ehrgeiz  auf  das  Empfindlichste  verletzten.  Noch  vor  der 
Episode  mit  dem  B-moll-Konzert  geschah  es,  dass  Peter  Il- 
jitsch eines  Tages  dem  Kreise  seiner  Freunde  den  „Wa- 
kula"  vorspielte.  „Wir  hatten  uns  in  Rubinsteins  Wohnung 
versammelt";  erzählt  Kaschkin, — „auch  der  jugendliche  S. 
Tanejew  befand  sich  in  unserer  Mitte.  Peter  Iljitsch  setzte 
sich  an  den  Flügel  und  begann  zu  spielen.  Er  war  aber 
sehr  unruhig,  denn  selbst  der  kleine  Zuhörerkreis  versetzte 
ihn  in  Aufregung  und  er  spielte  ziemlich  schlecht,  d.  h. 
nicht  gerade  falsch  oder,  unexakt,  sondern  er  suchte  mit 
übertriebener  Gewissenhaftigkeit  Nichts  fortzulassen  und 
spielte  selbst  die  unwesentlichsten  Begieitungsfiguren  des 
Orchesters,  infolgedessen  er  die  Hauptsachen  zu  sehr  ver- 
wischte und  der  Gesammteindruck  ein  unklarer  blieb.  Die 
Anwesenden  hörten  schw^eigend  zu  und  der  Komponist, 
welcher  wohl  merkte,  dass  ihm  Nichts  Rechtes  gelingen 
wollte  und  dadurch  nur  noch  unruhiger  wurde,  spielte  sein 
Werk  hastig  zu  Ende  und  erhob  sich  vom  Klavier,  unzu- 
frieden mit  der  kühlen  Zurückhaltung  seiner  Freunde  in  der 
Beurteilung  der  Oper.  Wir  sahen  uns  in  unsern  Erwar- 
tungen getäuscht,  denn  die  Oper  hat  uns  mit  Ausnahme 
einiger  Stellen  garnicht  gefallen. 

Zu  einer  andern  Zeit  hätte  ein  solches  Urteil  Peter  II- 


—    312    - 

jitsch  nur  für  kurze  Zeit  erbittert  und  wäre  bald  verges- 
sen gewesen.  Jetzt  aber,  nachdem  er  eine  so  grosse  Ent- 
täuschung an  seinem  „Opritschnik"  erlebt  hatte  und  die 
übertriebensten  Hoffnungen  auf  den  „Wakula"^  setzte,  jetzt 
empfand  er  es  doppelt  bitter,  dass  sein  „Lieblingsgeschöpf" 
von  Denjenigen,  welche  er  nicht  nur  als  Kenner  schätzte, 
sondern  auch  zu  seinen  Freunden  zählte,  von  denen  er 
also  voraussetzen  musste,  dass  sie  sein  Werk  aus  freund- 
schaftlicher Voreingenommenheit  eher  zu  milde  beurteilen 
würden, — dass  es  von  diesen  Menschen  verurteilt  worden 
ist.  Peter  Iljitsch  war  nicht  nur  erbittert,  sondern  fühlte 
sich  durch  unser  Urteil,  welches  er  für  eine  Ungerechtig- 
keit hielt,  sogar  sehr  beleidigt.  Daher  die  Erbitterung,  mit 
welcher  er  in  jener  Zeit  von  seinen  Moskauer  Freunden 
spricht,  deren  Gesinnung  ihm  gegenüber  im  Grunde  durch- 
aus keine  Trübung  erfahren  hatte,  was  sich  auch  sofort 
nach  der  Krisis  von  1877  herausstellte. 

Mit  Beginn  des  Frühlings  ist  die  Melancholie  aus  Pe- 
ter Iljitsch's  vSeele  geschwunden  und  er  hat  die  Osterfeier- 
tage  in  Gesellschaft  der  beiden  Zwillinge,  welche  nach 
Moskau  zu  ihm  auf  Besuch  gekommen  waren,  sehr  lustig 
verlebt. 

Am  4.  Mai  fand  die  erste  Aufführung  des  „Opritsch- 
nik"  in  Moskau  statt. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„12.  Mai. 

Habe  vielen  Proben   des  „Opritschnik"  beigewohnt 

und  mit  stoischem  Mut  die  systematische  Korruption  der 
ohnehin  schon  korrupten  und  verunglückten  Oper  über 
mich  ergehen  lassen.  Dennoch  entsprach  die  am  vorigen 
Sonntag  stattgehabte  erste  Aufführung  nicht  meinen  Er- 
wartungen, d.  h.  in  dem  Sinne,  dass  ich  Schlechteres  er- 
wartet hatte.  Alle  gaben  sich  sehr  grosse  Mühe.  Es  schien 
mir,  dass  das  Publikum  der  Oper  gegenüber  kühl  blieb, 
was  die  Gutgesinnten,  übrigens,  nicht  hinderte,  zu  brüllen, 
zu  klatschen  und  Loorbeerkränze  darzubringen. 

Alle  meine  Gedanken  gelten  jetzt  meinem  „Lieblings- 
geschöpf", dem  „Wakula".  Du  kannst  es  Dir  garnicht 
vorstellen,  wie  sehr  ich  an  ihm  hänge.  Ich  glaube  ich  könnte 
wahnsinnig  werden,  sollte  ich  kein  Glück  mit  ihm  haben. 
Nicht  den  Preis  brauche  ich — auf  den  spucke  ich,  obgleich 
das  Geld  kein  unangenehmes  Ding  ist  —  sondern  ich  will 


—  313  — 

haben,  dass  mein  Werk  zur  Aufführung  kommt.  Die  Ab- 
schrift der  Partitur  ist  fertig  und  ich  bin  mit  der  Durch- 
sicht derselben  beschäftigt.  AugenbHckHch  weiss  ich  noch 
garnicht,  wie  ich  meine  Sommerreisen  einrichten  soll.  Ge- 
wiss ist  nur,  dass  ich  die  erste  Hälfte  des  August  bei  Sa- 
scha verbringen  werde". 

Kurz  vor  seiner  Abreise  aus  Moskau  erhielt  Peter  II- 
jitsch  von  der  Direktion  der  Moskauer  Kaiserlichen  The- 
ater den  Auftrag  die  Musik  zu  dem  Ballet  „Der  Schwa- 
nensee^^  zu  schreiben.  Doch  hat  er  diese  Arbeit  nicht  so- 
fort in  Angriff  genommen,  sondern  reiste  Ende  Mai  zu 
Schilowsky  nach  Ussowo  und  begann  daselbst  seine  dritte 
Symphonie  (D-dur).  Ende  Juni  kehrte  Peter  Iljitsch  für 
einige  Tage  nach  Moskau  zurück  und  reiste  darauf  zu 
Kondratjeff  nach  Nisy,  wo  er  bis  zum  14.  Juli  ausschliess- 
lich mit  der  Instrumentierung  der  Symphonie  beschäftigt 
луаг.  Dann  begab  er  sich  zur  Schwester  nach  Werbowka. 
Am  I.  August  war  die  Symphonie  ganz  fertig  und  Peter 
Iljitsch  nahm  das  Ballet  vor  (für  welches  ihm  die  Theater- 
direktion— nebenbei  gesagt  —  ein  Honorar  von  800  Rubel 
bewilligt  hatte).  Nach  14  Tagen  waren  die  beiden  ersten 
Aufzüge  des  Balletts  bereits  entwarfen. 

Werbowka,  die  Besitzung  L.  W.  Dawidows,  lag  in  der 
Nähe  Kamenka's  und  hat  Peter  Iljitsch  derart  gefallen,  dass 
es  von  nun  an  sein  liebster  Aufenthaltsort  wurde  und  nach 
und  nach  Ussowo  ganz  in  den  Hintergrund  gedrängt  hat. 

In  Werbowka  lebte  Peter  Iljitsch  in  diesem  Sommer 
nicht  nur  mit  der  Familie  seiner  Schwester  zusammen, 
sondern  auch  mit  seinem  Vater  Ilja  Petro witsch,  und  sei- 
nem Bruder  Anatol. 

Die  chronologische  Reihenfolge  der  Kompositionen  Pe- 
ter Iljitschs  im  Laufe  der  Saison  1874— 1875  ist   folgende: 

1.  Op.  25.  Sechs  Lieder:  I.  „Herz,  о  lass  dich  von 
Schlummer  umfangen",  Text  von  Schtscherbin,  gewidmet 
an  Frau  A.  Krutikowa.  II.  „Wie  hier  die  Schrift  in  Aschen- 
gluth",  Text  von  Tjutscheff,  gewidmet  an  D.  Orloff.  III. 
„Mignon's  Lied",  Text  von  Goethe,  gewidmet  an  M.  Ka- 
menskaja.  IV.  „Der  Kanarienvogel",  Text  von  L.  Mey, 
gewidmet  an  W.  Raab.  V.  ,,Mit  ihr  ein  Wort  gesprochen 
hab'ich  nie",  Text  von  L.  Mey,  gewidmet  an  I.  Melnikoff. 
VI.  „Einst  zum  Narren  Jemand  spricht"  Text  von  L.  Mey. 
Komponiert  sind  diese  Lieder  wahrscheinlich  im  September 
1874.  Verlag  W.  Bessel. 

2.  Op.   19.  Sechs   Klavierstücke:  I.    „Reverie",   gewid- 


—  314  — 

met  an  N.  D.  Kondratjeff.  II.  „Sdierzo-humoristique", 
gewidmet  an  Wera  Timanoff.  III.  „Feuillet  d'album",  gewid- 
met an  A.  Abramowa.  IV.  „Nocturne",  gewidmet  an  Frau 
Terminsky.  V.  „Capriccio",  gewidmet  an  E.  Langer.  VI. 
„Theme  avec  Variations",  gewidmet  an  H.  Laroche.  Auf 
dem  Manuscript  befindet  sich  der  Vermerk:  „27.  Oktober 
1873,  Moskau".  Verkig  jurgenson. 

3.  Op.  23.  Konzert  für  Klavier  mit  Orchester  (B-moll). 
Komponiert  im  November  und  Dezember  1874.  Die  Instru- 
mentation beendet,  wie  es  auf  der  Partitur  geschrieben 
steht,  am  9.  Februar  1875.  Hans  von  Bülow  gewidmet.  Ver- 
lag P.  Jurgenson.  In  einem  Briefe  an  Frau  von  Meck  macht 
Peter  Iljitsch  die  Mitteilung,  das  er  für  das  Hauptthema 
des  ersten  Satzes  ein  von  blinden  Bettlern  in  Kamenka 
während  einer  Messe  gesungenes  Motiv 


fei=i3=e=p:=f 


grt^trtf^sg 


verwendet  habe.  Ausser  diesem  bewussten  Citat  ist  Peter 
Iljitsch  im  Prestissimo  des  zweiten  Satzes  noch  ein  unbe- 
wusstes  mit  untergeschlüpft,  und  zwar  die  französische 
Chansonette  „II  faut  s'amuser,  danser  et  rire",  welche  ich 
und  Bruder  Anatol  Anfang  der  siebziger  Jahre  in  Erinne- 
rung an  eine  reizende  Sängerin  fortwährend  trällerten, 
summten  und  pfiffen. 

4.  Op.  26.  „Serenade  melancolique"  für  Violine  mit 
Begleitung  des  Orchesters  (B-moll).  Komponiert  im  Januar 
1875,  gewidmet  an  L.  Auer.  Verlag  P.  Jurgenson. 

5.  Op.  27.  Sechs  Lieder:  I.  „An  den  Schlaf"  Text  von 
Ogarjoff.  II.  „Ob  sich  die  Wolke  dort",  Text  von  Gre- 
koff.  III.  „Geh'nicht  von  mir",  Text  von  Fet.  IV.  „Abend", 
Text  von  Schewtschenko.  V.  „Klage",  Text  von  Mickie- 
wicz.  VI.  „Dem  Vöglein  gleich",  Text  von  Mickiewicz.  Alle 
sechs  Lieder  sind  an  Frau  Lawrowskaja  gewidmet.  Die 
Zeit  ihrer  Entstehung  lässt  sich  nicht  feststellen.  Verlag 
P.  Jurgenson. 

6.  Op.  28.  Sechs  Lieder:  I.  „Nein,  wen  ich  liebe", 
Text  von  Musset,  gewidmet  an  A.  Nikolajew.  II.  „Die  rothe 
Perlenschnur",  Text  von  S^^-okomli,  gewidmet  an  A.  Do- 
donoff.  III.  „Warum  im  Traume",  Text  von  Mey,  gewidmet 
an  Frau  M.  Jljina.  IV.  „Er  liebte  mich  so  sehr",  Text  von 
Apuchtin,  gewidmet  an  E.  Massini.  V.   „Kein  Wort  von 


—  315  — 

Dir",  Text  von  Alexej  Tolstoi,  gewidmet  an  B.  Korsoff. 
VI.  „Ein  einzig  Wörtchen",  Text  von  P.  Tschaikowsk}^ 
gewidmet  an  Frau  E.  Kadmina.  Fertig  geworden  sind 
diese  Lieder  laut  Vermerk  auf  dem  Manuskript  am  ii. 
April  1875  ^^  Moskau.  Verlag  P.  Jurgenson. 

7.  Op.  29.  Symphonie  №  3  (D-dur)  in  fünf  Sätzen.  Auf 
der  Partitur  hat  der  Autor  eigenhändig  notiert:  „Begonnen 
am  5.  Juni  in  Ussowo,  beendet  am  i.  August  1875  ^^^  Wer- 
bowka".  Verlag  P.  Jurgenson.  Zum  ersten  Mal  aufgeführt 
in  Moskau  am  7.  November. 

Ausserdem  hat  Peter  Iljitsch  seit  dem  August  dieses 
Jahres  an  dem  Ballet  „Der  Schwanensee"  gearbeitet. 

Die  musikalisch-kritische  Thätigkeit  Peter  Iljitsch's  ist 
im  Laufe  dieser  Saison  sehr  ergiebig  gewesen.  Er  hat  von 
September  bis  April  nicht  weniger  als  fünfzehn  Feuilletons 
verfasst. 


щт 


XII. 

1875— 1876. 

An  N.  A.  Rimsky-Korsakoff: 

„Moskau,  d.  10.  September  1875. 

Verehrtester  Nikolai  Andrejewitsch!  Haben  Sie  Dank 
für  Ihren  lieben  Brief  Wissen  Sie  auch,  dass  ich  Ihre  vor- 
nehme Künstlerbescheidenheit  und  Ihre  Charakterfestigkeit 
geradezu  bewundere  und  anbete!  All'  diese  zahllosen  Kon- 
trapunkte, welche  Sie  durchgemacht,  diese  60  Fugen  und 
die  vielen  andern  musikalischen  Spitzfindigkeiten — Alles  das 
ist  für  einen  Mann,  der  bereits  vor  8  Jahren  einen  „Sadko" 
geschrieben  hat,  erstaunlich  und  eine  Heldenthat:  ich  wollt', 
ich  könnte  das  der  ganzen  Welt  verkünden.  Ich  bin  ganz 
verblüfft  und  weiss  garnicht,  wie  ich  Ihnen  die  ganze  Achtung, 
welche  ich^  für  Ihre  Künstlernatur  hege,  ausdrücken  soll. 
Wie  ich  mir  selbst  kleinlich,  bedauernswert,  selbstzufrieden 
naiv  vorkomme,  wenn  ich  mich  mit  Ihnen  vergleiche!  Ich 
bin  ein  Handwerker  in  der  Kompositionskunst,  Sie  aber — 
ein  Künstler  im  wahren  Sinne  des  Wortes.  Ich  hoffe,  dass 
Sie  meine  Worte  nicht  als  Schmeichelei  auffassen  werden. 
Ich  bin  in  der  That  überzeugt,  dass  bei  Ihrer  kolossalen 
Begabung  und  der  idealen  Gewissenhaftigkeit,  wxlche  Sie 


—  3i6  — 

Ihren  Arbeiten  angedeihen  lassen,  Ihre  Feder  Werke 
schaffen  wird,  welche  alles  bisher  in  Russland  Geschrie- 
bene weit  hinter  sich  zurücklassen  dürften. 

Mit  grosser  Ungeduld  werde  ich  Ihre  lo  Fugen  erwar- 
ten. Da  es  mir  kaum  möglich  sein  wird,  in  nächster  Zeit 
nach  Petersburg  zu  kommen,  so  bitte  ich  Sie  sehr,  mich 
möglichst  bald  mit  der  Zusendung  Ihrer  Fugen  —  welche 
mich  ausserordentlich  interessieren — zu  erfreuen.  Ich  werde 
sie  gründlich  durchsehen  und  Ihnen  dann  meine  ausführ- 
liche Meinung  sagen. 

Den  Sommer  habe  ich  in  verschiedenen  Gouvernements 
bei  Freunden,  resp.  Verwandten  verlebt.  Habe  ziemlich 
fleissig  gearbeitet  und  ausser  der  Symphonie  noch  zwei 
Akte  eines  Ballets  entworfen.  Im  Auftrage  der  Moskauer 
Theaterdirektion  schreibe  ich  die  Musik  zum  Ballet  „Der 
Schwanensee".  Ich  habe  diesen  Auftrag  zum  Teil  aus  Geld- 
bedürfniss  übernommen,  zum  Teil  aber  auch,  weil  ich  schon 
längst  den  Wunsch  hegte,  mich  in  dieser  Art  Musik  zu 
versuchen.  Es  würde  mich  sehr  interessieren,  zu  erfahren, 
wie  die  Beurteilung  der  Eigenschaften  der  zur  Preisbew^er- 
bung  eingesandten  Partituren  vor  sich  gehen  wird. 

Hoffentlich  sind  auch  Sie  Mitglied  des  Komitee's?  Die 
Furcht,  mich  zu  blamieren,  d.  h.  den  Preis  nicht  zu  er- 
halten und  dadurch  die  Möglichkeit  einer  Aufführung  mei- 
nes „Wakula"  zu  verlieren, — quält  mich  sehr. 

Ueber  den  „Angelo"  laufen  hier  die  widersprechendsten 
Gerüchte  um.  Vor  etwa  zwei  Jahren  hat  mir  Cui  den  er- 
sten Akt  vorgespielt,  welcher  aber  damals  auf  mich  einen 
unsympatischen  Eindruck  machte,  namentlich  im  Vergleich 
zu   „Ratcliff",  den  ich  sehr  gern  habe". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„14.  September  1875. 

Sitze  im  Konservatorium,  schreibe  fleissig  am  Ballet, 

führe  die  musikalische  Chronik  Arbeit  genug.  Wohne  jetzt 
eine  Etage  höher  und  habe  mich  etwas  komfortabler  ein- 
gerichtet.... Die  italienische  Oper  hat  ihren  Anfang  genom- 
men. In  der  russischen  steht  mein  „Opritschnik"  auf  dem 
Repertoir.  Ich  komme  oft  mit  Tanejew  zusammen.  Wenn 
Du  wüsstest,  Avie  prachtvoll  er  mein  Konzert  spielt!  Habe 
Dank  für  die  Nachricht  über  den  „Wakula".  Derartige 
Nachrichten  laufen  jeden  Augenblick  bei  mir  ein,  dennoch 
bin  ich  aber  um  das  Schicksal   dieser  Oper  sehr  besorgt. 


—  31?  — 

Wenn  ich  aber  den  Preis  erhalten  sollte,  dann  wollen  wir 
Beide  mal  zu  Weihnachten  eine  kleine  Reise  ins  Ausland 
machen. 

Entgegen  der  Gepflogenheit  hat  diesmal  Petersburg 
und  nicht  Moskau  Peter  lljitsch's  neues  Werk  zuerst  zu 
Gehör  bekommen.  Am  ersten  Symphonieabend  der  Rus- 
sischen Musikalischen  Gesellschaft  (d.  i.  November)  spielte 
Professor  Kross  daselbst  das  Klavierkonzert.  Der  Erfolg 
beim  Publikum  war  trotz  der  Hervorrufe  ein  mittelmässi- 
ger.  In  der  Presse  sprach  nur  eine  Stimme  zu  Gunsten 
des  Konzerts:  Herr  Faminz3'n  („Das  musikalische  Blatt") 
nannte  das  Konzert  „glänzend,  dankbar,  obwohl  schwer 
für  den  Virtuosen".  Alle  Andern,  auch  Laroche  nicht  aus- 
geschlossen, blieben  unzufrieden.  Laroche  lobte  die  „helle, 
feierlichglänzende  und  üppig  blühende  Introduktion"  und 
meinte,  dass  die  andern  Teile  nicht  soviel  melodischen  Reiz 
aufzuweisen  hätten,  wie  man  es  von  dem  Autor  des  „Ro- 
meo" und  des  „Opritschnik"  wohl  erwarten  sollte.  Fer- 
ner behauptete  er,  dass  das  Konzert  für  den  Ausführen- 
den undankbar  sei  und  keine  Zukunft  habe. 

Im  ersten  Symphoniekonzert  zu  Moskau  (am  7.  Novem- 
ber) kam  auch  die  dritte  Symphonie  Peter  lljitsch's  zu 
ihrer  ersten  Aufführung  und  hat  starken  Beifall  gehabt. 
Die  „Moskauer  Nachrichten"  schrieben  darüber,  dass  na- 
mentlich die  beiden  Mittelsätze  „dem  Publikum  grossen 
Genuss  bereitet  und  nachhaltiges  Händeklatschen  hervor- 
gerufen haben". 

An  N.  A.  Rimsky-KorsakofT: 

„Moskau,  d.  12,  November  1875. 

Verehrtester  Nikolai  Andreejewitsch!  Erst  Heute  finde 
ich  einen  freien  Augenblick,  um  ein  wenig  mit  Ihnen  zu 
plaudern.  Zuerst  das  Geschäftliche: 

i)  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  Rubinstein  Ihnen 
sehr  dankbar  sein  wird,  wenn  Sie  ihm  den  „Anthar"'' 
schicken.  Wir  werden  Ihre  Partitur  mit  Ungeduld  erwar- 
ten, desgleichen  auch  das  Quartett,  welches  mich  sehr  in- 
teressiert. Gestern  wurde  es  in  Petersburg  aufgeführt.  Wie 
gern  würde  ich  wissen  wie  die  Aufführung  ausfiel  und 
wie  sich  das  Publikum  und  die  Musiker  zum  Quartett  ver- 
halten haben. 

2)  Jurgenson  wird  Ihnen  sehr  dankbar  sein,  wenn  Sie 
ihm  das  Quartett  überlassen  werden.  Ob  ich   ihm   richtig 


-  3i8  - 

Ihre  Bedingungen  mitgeteilt?  Ich  habe  ihm  gesagt,  dass 
Sie  50  Rubel  Honorar  beanspruchen  und  dass  der  Kla- 
vierauszug auf  seine  Kosten  hergestellt  werden  soll.  Ich 
kenne  hier  eine  junge  Dame,  welche  mein  2-tes  Quartett 
sehr  gut  arrangiert  hat.  Wenn  also  Ihre  Frau  Gemahlin 
das  Arrangement  nicht  selbst  übernehmen  wird,  so  könnte 
man  besagte  junge  Dame  dafür  gewinnen.... 

Vom  Bahnhof  war  ich  direkt  in  die  Probe  meiner  83^11- 
phonie  gekommen.  Wie  mir  scheint,  weist  die  S\'mphonie 
keinerlei  sehr  glücklich  erfundene  Ideen  auf,  in  Betreff  der 
Form  jedoch,  bedeutet  sie  einen  Schritt  vorwärts.  Am  mei- 
sten befriedigt  mich  der  erste  Satz,  sowie  die  beiden  Scherzi, 
von  denen  das  zweite  sehr  schwer  ist  und  infolgedessen 
lange  nicht  so  gut  gespielt  worden  ist,  wie  es  möglich 
gewesen  wäre,  wenn  wir  mehr  Proben  gehabt  hätten. 
Unsere  Proben  dauern  immer  nur  zwei  Stunden;  wir  ha- 
ben allerdings  drei  Proben,  aber  was  lässt  sich  in  zwei 
Stunden  machen? 

Uebrigens  war  ich  im  Allgemeinen  mit  der  Auffüh- 
rung zufrieden.  Wie,  wenn  Näpravnik  die  Symphonie  in 
Petersburg  ebenso  nachlässig  dirigieren  wird,  wie  das 
Konzert? 

Ich  ertrinke  geradezu  in  der  Flut  meiner  Verpflichtun- 
gen. Ausser  dem  Ballet,  welches  ich  möglichst  bald  been- 
den möchte,  um  eine  Oper  in  Angriff  zu  nehmen,  habe 
eine  Masse  von  Korrekturen  zu  erledigen  und  muss  mu- 
sikalische Feuilletons  schreiben.  Diese  Arbeit  ist  für  mich 
die  schrecklichste.  Vor  einigen  Tagen  habe  ich  von  Bülow 
einen  Brief  erhalten  nebst  einer  Menge  amerikanischer 
Zeitungsausschnitte  über  mein  Konzert.  Die  Amerikaner 
behaupten,  dass  der  erste  Satz  meines  Konzerts  „an  der 
Ahifesenheit  einer  zentralen  Idee  leidet,  neben  tvelcher  jene 
Schaaren  musikalischer  Phantasieen  sich  zu  bilden  haben, 
die  das  ätherische,  luftige  Teil  des  Ganzen  bilden^.  Im  Fi- 
nale hat  der  Verfasser  dieser  Kritik  Synkopen  auf  Trillern, 
krampfhafte  Pausen  im  Thema  und  erschütternde  OJctaven- 
passagen  gefunden!!  Stellen  Sie  sich  vor  welch'  gesunden 
Appetit  die  Amerikaner  haben:  jedesmal  muss  Bülow  das 
ganze  Finale  meines  Konzerts  wiederholen!  So  Etwas  giebt 
es  allerdings  bei  uns  nicht!" 

In  Moskau  wurde  das  B-moll-Konzert  am  21.  Novem- 
ber zum  ersten  Mal  gespielt  und  zwar  vom  jugendlichen 
Pianisten  Sergius  Tanejew,  dem  Lieblingsschüler  Rubin- 
steins und  auch  Peter  lljitsch's.  Tanejew  war  erst  im  Ja- 


—  319  — 

nuar  dieses  Jahres  zum  ersten  Mal  vor  der  Oeffentlichkeit 
erschienen  und  errang  damals  durch  den  Vortrag  des  un- 
dankbaren Klavierkonzerts  von  Brahms  nicht  nur  die  Sym- 
patie  des  Publikums  sondern  auch  die  Bewunderung  der 
Fachmänner.  Der  Bericht  Peter  Iljitsch's  über  das  erst- 
malige Auftreten  S.  Tanejevv's  ist  zwar  angesichts  der  in- 
tim-herzlichen Gefühle,  welche  Peter  Iljitsch  zum  Debü- 
tanten hegte,  nicht  ganz  objektiv,  so  doch  derart  charak- 
teristisch, dass  ich  ihn  an  dieser  Stelle  wiedergeben  möchte: 

„Das  Interesse  des  siebenten  S34nphonieabends  wurde 
durch  das  erstmalige  Auftreten  des  jungen  Pianisten  S.  Ta- 
nejew,  welcher  die  auf  ihn  gesetzten  Hoffnungen  seiner 
musikalischen  Erzieher  auf  das  glänzendste  rechtfertigt 
hat,  noch  wesentlich  erhöht.  Ausser  der  Sauberkeit  der 
Technik,  der  Schönheit  des  Anschlags  und  der  Eleganz 
und  Leichtigkeit  in  der  Ausführung  der  Passagen  —  war 
es  ein  überaus  reifes  Verstau dniss,  eine  bei  einem  so  jun- 
gen Künstler  fast  unglaubliche  Selbstbeherrschung,  Ruhe 
und  Objektivität  des  Vortrags,  welche  die  Zuhörer  in  Er- 
staunen setzten.  Indem  Herr  Tanejew  alle  hervorragenden 
Eigenschaften  seines  Lehrers  und  Meisters  in  sich  aufge- 
nommen hat,  erscheint  er  trotzdem  nicht  als  blosser  Ko- 
pist seines  Vorbildes,  sondern  als  eigenartige  Künstlerin- 
dividualität, welche  mit  einem  Schlage  den  ihr  gebühren- 
den Platz  unter  den  Virtuosen  erobert  hat".... 

Das  zweite  Auftreten  dieses  Pianisten  galt  dem  Kon- 
zert Tschaikowsky's  und  hatte  einen  noch  glänzenderen 
Erfolg.  Peter  Iljitsch  selbst  war  ganz  entzückt  über  die 
Wiedergabe  seines  Werkes  und  schrieb:  „Der  Hauptvor- 
zug des  Klavierspiels  des  Herrn  Tanejew  liegt  in  dessen 
Verständniss,  den  feinsten  und  kleinsten  Intentionen  des 
Autors  gerecht  zu  werden,  jede  Absicht  des  Letzteren  zu 
erfassen  und  sie  gerade  so  zu  realisieren,  wie  der  Kom- 
ponist es  sich  geträumt  hat". 

Im  November  dieses  Jahres  kam  Camille  Saint-Saens 
nach  Moskau,  um  seine  Werke  daselbst  vorzuführen.  Der 
kleine,  bewegliche  Mann  mit  dem  jüdischen  Gesichtstypus 
gefiel  Peter  Iljitsch  sehr  und  entzückte  ihn  nicht  nur  durch 
seine  geistreichen  und  originellen  Ideen,  sondern  auch 
durch  seine  grosse  Meisterschaft  als  Komponist.  Peter  Il- 
jitsch sagt  von  ihm,  er  hätte  es  verstanden,  in  seinen  Wer- 
ken die  Grazie  und  Lieblichkeit  der  französischen  Schule 
mit  dem  Ernst  und  der  Tiefe  der  grossen  deutschen  Mei- 
ster zu  vereinigen.  Peter  Iljitsch  hatte  herzliche  Freund- 


—    320    — 

Schaft  mit  ihm  geschlossen  und  erwartete  von  dieser  Freund- 
schaft sehr  viel  für  seine  Zukunft.  Sie  blieb  aber  bedeutungs- 
los und  verschwand  sogar  gänzlich.  Nach  langer  Zeit 
begegneten  sich  die  Beiden  als  Fremde  und  blieben  auch 
einander  fremd. 

Während  des  kurzen  Aufenthaltes  Saint-Saens'  in  Mos- 
kau ereignete  sich  eine  recht  lustige  Episode.  Eines  Ta- 
ges entdeckten  die  beiden  Freunde,  dass  sie  sehr  viele 
gemeinschaftliche  Sympatieen  und  Antipatieen  hatten,  und 
zwar  nicht  nur  in  dem  Reich  der  Töne  sondern  auch  auf 
andern  Gebieten.  Sie  Beide  sind,  zum  Beispiel,  in  ihrer 
Jugend  sehr  für  das  Ballet  begeistert  gewesen  und  hatten 
die  Kunst  der  Tänzerinnen  oft  nachzuahmen  versucht. 
Das  brachte  sie  auf  die  Idee,  sich  gegenseitig  etwas  vor- 
zutanzen  und  sie  führten  auf  der  Bühne  des  Konservato- 
riums ein  ganzes  kleines  Ballet  —  „Galathee  und  P3^gma- 
lon" — auf.  Der  40-jährige  Saint-Saens  machte  die  Galathee 
und  spielte  mit  der  hingehendsten  Sorgfalt  die  Rolle  der 
Statue,  während  der  35-jährige  Tschaikowsky  den  P^^gma- 
lion  gab.  Rubinstein  ersetzte  das  Orchester.  Leider  ist  aus- 
ser den  drei  Mitwirkenden  bei  dieser  kuriosen  Vorstellung 
Niemand  weiter  zugegen  gewesen. 

Am  meisten  interessierte  Peter  Iljitsch  in  jener  Zeit  das 
Schicksal  seines  „Wakula". 

Die  Jury,  welche  die  eingesandten  Partituren  zu  prüfen 
hatte,  war  folgendermaassen  zusammengesetzt:  den  Vorsitz 
führte  der  Grossfürst  selbst,  Mitglieder  waren:  A.  Kirejeff, 
M.  Asantschewsky,  N.  Rubinstein,  Th.  Tolstoi,  N.  Rimsky- 
KorsakofT,  E.  Näpravnik,  H.  Laroche  und  K.  Dawidoff. 

Die  Partitur  Peter  Iljitsch's  war — wie  Laroche  erzählt — 
selbstverständlich  von  unbekannter  Hand  abgeschrieben, 
das  Kennwort  aber,  welches  mit  demjenigen  auf  dem  Brief- 
umschlag identisch  war,  hatte  Peter  Iljitsch  auf  der  Parti- 
tur eigenhändig  geschrieben.  „Ars  longa,  vita  brevis"  stand 
da  zu  lesen,  und  die  markanten  charakteristischen  Züge 
dieser  Ueberschrift  waren  uns  Allen  sehr  wohl  bekannt,  so- 
dass von  vornherein  jeder  Zweifel  daran  ausgeschlossen  war, 
dass  Tschaikowsky  und  kein.  Anderer  die  Partitur  kom- 
poniert hatte.  Aber  selbst  wenn  Peter  Iljitsch  nicht  die 
Naivetät  begangen  hätte,  die  Devise  mit  eigner  Hand  zu 
schreiben,  würde  man  ihn  aus  dem  Styl  der  Komposition 
sofort  erkannt  haben.  Der  Grossfürst  bemerkte  während 
der  Sitzung  lächelnd:  „secret  de  la  comedie". 

Das  Resultat  der  Preiskonkurrenz  hat  sich  sehr  schnell 


—    321    — 

in  ganz  Petersburg  herumgesprochen.  Lange  vor  der  öffent- 
hchen  Bekanntmachung  des  Urteils  der  Jury  wussten  es 
Alle,  dass  in  Betreff  der  Eigenschaften  des  „Wakula"  bei 
den  Preisrichtern  Einstimmigkeit  herrschte. 

hn  Oktober  schrieb  Rimsky-Korsakoff  an  Peter  Iljitsch: 

„Keinen  Augenblick  zweifle  ich  daran,  dass  Ihre  Oper 
den  Preis  gewinnen  wird.  Will  Ihnen  jetzt  einige  Worte 
über  die  andern  sagen:  es  dürfte  Sie  interessieren.  Meiner 
Ansicht  nach  zeugen  jene  Opern  von  einem  sehr  beklagens- 
werten Zustand  der  musikalischen  Kunst  bei  uns.  Würde 
es  in  Deutschland  Einer  wagen,  solch  eine  dilettantische 
Schmiererei — wie  es  z.  B.  die  Oper  mit  der  Devise  „Pro- 
bieren geht  über  Studieren",  ist — zu  einer  Preiskonkurrenz 
zu  senden?  Oder  auch  die  Oper,  die  mit  „Herrgott,  hilf 
mir"  gezeichnet  ist, —  was  ist  das  doch  für  ein  Dreck!  Nicht 
nur  grenzenlose  Armut  der  Phantasie,  sondern  ein  gera- 
dezu erschreckender  Mangel  an  Können  und  Wissen!!... 
Wäre  Ihre  Oper  nicht  da,  so  könnte  man,  meines  Erach- 
tens,  keiner  einzigen  den  Preis,  geschweige  denn  eine  Auf- 
führung bewilligen". 

In  den  letzten  Tagen  des  Oktober  wurden  die  Meinun- 
gen der  einzelnen  Mitgheder  des  Preisrichterkollegiums  in 
eine  gemeinsame  Resolution  zusammengefasst,  und  Peter 
Iljitsch  wurde  durch  ein  eigenhändiges  Schreiben  des  Gross- 
fürsten Konstantin  Nikolajewitsch  beehrt,  welches  folgen- 
den Inhalt  hatte: 

„Peter  Iljitsch!  Nachdem  die  Direktion  der  Kaiserlich 
Russischen  Gesellschaft  von  der  Meinung  des  mit  der  Prü- 
fung der  eingesandten  Werke  betrauten  Komitees  Kennt- 
niss  genommen,  hat  sie  einstimmig  beschlossen,  den  Preis 
von  1500  Rubeln  dem  Autor  des  mit  dem  Kennwort  „Ars 
longa,  vita  brevis"  versehenen  Werkes  zu  bewilligen.  Das 
Oeffnen  des  Couverts  mit  der  gleichen  Devise  ergab,  dass 
Sie  der  Autor  der  preisgekrönten  Partitur  seien.  Leider  war 
es  der  in  Gott  ruhenden  Hohen  Protektorin  der  Russischen 
Musikalischen  Gesellschaft,  der  Grossfürstin  Helene  Paw- 
lowna,  deren  Initiative  und  Geldmittel  die  Preiskonkurrenz 
ihre  Entstehung  verdankt,  nicht  vergönnt,  den  ehemaligen 
Schüler  des  mit  Hilfe  ihrer  Bemühungen  gegründeten  Pe- 
tersburger Konservatoriums  zu  seinem  neuen  Erfolg  zu 
gratulieren.  Nun  liegt  mir  die  angenehme  Pflicht  ob,  Sie 
von  ganzem  Herzen  zu  beglückwünschen.  Indem  ich  Ihr 
Talent  sehr  hochschätze  gebe  ich  der  Hoffnung  Ausdruck, 
dass  Sie — durch  die  schmeichelhafte  Auszeichnung   ange- 

Tsehaikoivsky,  M.  Г.  I.  Tschaikowsky"s  Leben.  21 


—    322    — 

regt — mit  erneutem  Eifer  die  Pflege  Ihrer  Kunst  fortsetzen 
Averden,  welche — entgegen  dem  Sinne  der  von  Ihnen  ge- 
wählten Devise — ihre  genialen  Söhne  in  die  Unsterblichkeit 
nach  sich  zieht. 


An  A.  Tschaikowsk}' 


Konstantin". 


II.  Dezember. 


Das  Geld  ist  wie  Rauch  in  alle  Winde  zerstoben.  An- 
gesichts der  bevorstehenden  Reise  ins  Ausland  bin  ich  so 
geizig  geworden,  dass  es  fast  unmöglich  ist  für  nebensäch- 
liche Zwecke  von  mir  Geld  zu  erhalten.  Lieber  Tol}^,  die 
ganze  letzte  Zeit  war  ich  mit  verschiedenen  Arbeiten  ganz 
überhäuft.  Unter  Anderem  habe  ich  mit  grossem  Eifer  in 
den  Zeitungen  in  Betreff  Slavjansky's  ^)  polemisiert.  Hier 
giebt  es  eine  Zeitung,  welche  mich  als  Zielscheibe  gewählt 
hat  und  ganze  Leitartikel  der  Beschimpfung  Deines  lieben 
Bruders  widmet,  welcher — wie  Du  sehr  richtig  bemerkst — 
seinen  T0I3'  ganz  vergessen  hat  und  ihm  garnicht  mehr 
schreibt.  Aber  was  thun?  Wenn  Du  nur  wüsstest,  wie 
schwer  es  mir  fällt,  nach  der  Artikelschreiberei,  nach  der 
Instrumentation  des  Ballets  und  nach  den  Konservatoriums- 
stunden noch  Zeit  zu  finden  ausführliche  Briefe  zu  schrei- 
ben. Du  weisst  wohl  schon,  dass  ich  infolge  der  fürchter- 
lichen Kälte  meine  Wohnung  habe  wechseln  müssen.... 
Von  bedeutsamen  Erlebnissen  kann  ich  Dir  nur  mitteilen, 
dass  ich  mit  Saint-Saens  sehr  gut  bekannt  geworden  bin, 
einem  sehr  netten  und  geistreichen  Franzosen,  welcher  mir 
in  Bezug  auf  Verbreitung  meines  Rufes  in  Paris  sehr  gute 
Dienste  leisten  kann.  Am  6.  Dezember  (dem  Namenstage 
N.  Rubinsteins)  gab  es  im  Konservatorium  ein  Fest:  der 
Vorstellung  des  „Freischütz"  folgten  Ball  und  Souper.  Ich 
hatte  bei  dieser  Gelegenheit  so  wahnsinnig  getanzt,  dass 
ich  am  nächsten  Tage  ganz  krank  war.  Gestern  debütierte 
hier  die  Artot.  Sie  ist  scheusslich  dick  geworden  und  hat 
ihre  Stimme  gänzlich  verloren. 

Ihr  Talent  hat  aber  dennoch  den  Sieg  davongetragen, 
denn  nach  dem  4.  Akt  der  „Hugenotten"  wurde  sie  20  Mal 
hervorgerufen.  Vor  einigen  Tagen  habe  ich  die  offizielle 
Benachrichtigung  v- on  der  Annahme  meiner  Oper  zur  Auffüh- 
rung im  nächsten  Jahr  erhalten.  Bin  sehr  erfreut". 


1)  Slavjansky  ist  der  Gründer  und  Leiter  eines  russischen  Xationalchors. 


—  323  — 

Im  Laufe  dieses  Monats  ist  in  meinem  persönlichen 
Schicksal  eine  Wendung  eingetreten,  die  ^uch  für  Peter 
Iljitsch  nicht  ohne  Bedeutung  blieb.  Nachdem  ich  endgil- 
tig  die  Ueberzeugung  gewonnen  hatte,  dass  ich  für  den 
Staatsdienst  untauglich  sei,  übernahm  ich  die  Erziehung 
eines  taubstummen  Knaben,  Nikolai  Konradi,  welcher  anno 
1875  sieben  Jahre  alt  war.  Selbstv^erständlich  bedurfte  ich 
für  meine  neue  Thätigkeit  einiger  Vorbereitung,  und  die 
Eltern  meines  zukünftigen  Zöglings  erklärten  sich  bereit, 
mich  ein  Jahr  lang  in  Lyon  die  Methode  der  Behandlung 
und  Belehrung  Taubstummer  studieren  zu  lassen. 

Meine  Abreise  fiel  gerade  in  die  Zeit,  welche  von  Pe- 
ter Iljitsch  schon  lange  vorher  für  eine  Auslandsreise  in 
meiner  Gesellschaft  bestimmt  hatte,  und  so  machten  wir 
uns  denn  in  den  letzten  Tagen  des  Dezember  auf  den  Weg. 

Alles,  selbst  die  verschiedenen  Widerwcärtigkeiten  und 
unangenehmen  Zwischenfälle,  denen  wir  auf  unserer  Reise 
ausgesetzt  waren,  so  zum  Beispiel  die  infolge  starken 
Schneefalls  eingetretene  zwölfstündige  Verspätung  unseres 
Zuges,  oder  der  Aufenthalt  in  einem  scheusslichen  Gast- 
hof in  Brest, — vermochten  nicht  meine  und  Peter  Iljitsch's 
fröhliche  Stimmung  zu  verscheuchen.  Mein  Entzücken,  die 
helle  Freude  bei  unserer  Abreise,  das  Interesse,  mit  wel- 
chem ich  dem  verführerischen  „Ausland"  entgegensah,  ha- 
ben auch  Peter  Iljitsch  angesteckt.  Er  freute  sich  meiner 
Freude,  ergötzte  sich  an  der  Naivetät  seines  unerfahrenen 
Reisegefährten  und  spielte  mit  Feuereifer  die  Rolle  meines 
Cicerone. 

Zuerst  hielten  wir  uns  in  Berlin  auf,  dann  ging  es  nach 
■Genf,  wo  wir  bei  unserer  Schwester  im  Kreise  der  Fa- 
milie Dawidow  etwa  zehn  Tage  verbrachten,  um  dann 
nach  Paris  weiter  zu  reisen.  Hier  sollte  Peter  Iljitsch  einen 
der  stärksten  musikalischen  Eindrücke  seines  Lebens  em- 
pfangen. 

Am  3.  März  1875  wurde  Bizet's  Oper  „Carmen"  zum 
ersten  Mal  gegeben.  Der  Erfolg  war  kein  sehr  grosser. 
Wladimir  Schilowsky,  welcher  sich  damals  in  Paris  auf- 
hielt, besuchte  die  Vorstellung  und  erkannte  als  einer  der 
Ersten  die  vielen  und  grossen  Schönheiten  des  Werkes. 
Voller  Entzücken  schickte  er  damals  den  Klavierauszug 
an  seinen  Lehrer  nach  Moskau.  Noch  nie  ist  Peter  Iljitsch 
von  einem  modernen  musikalischen  Erzeugniss  so  hinge- 
rissen gewesen,  wie  von  Bizet's  „Carmen".  Die  Eigenart 
und  Schönheit  des  Textes  sowie  der  Musik  versetzten  un- 


—  324  — 

seren  Komponisten  geradezu  in  flammendes  Entzücken. 
Der  drei  Monate  nach  der  Pariser  Erstaufführung  „Car- 
mens" erfolgte  Tod  Bizet's  verstärkte  noch  die — fast  möchte 
man  sagen  krankhafte — Begeisterung  für  die  Oper  selbst, 
sowie  für  das  Talent  des  vorzeitig  dahingeschiedenen 
Meisters. 

Während  unseres  Aufenthaltes  in  Paris  wurde  nun  in 
der  Opera  comique  „Carmen"  erneuert.  Selbstverständlich 
gingen  wir  hin,  und  ich  muss  sagen:  noch  nie  hatte  ich 
Peter  lljitsch  nach  einer  Theatervorstellung  so  aufgeregt 
gesehen.  Das  hat  nicht  nur  die  Musik  und  die  ihm  bis  da- 
hin noch  unbekannte  Instrumentation  der  Partitur,  bewirkt, 
sondern  nicht  zum  wenigsten  das  hervorragende  Spiel  der 
Sängerin  Galli-Marie,  welche  die  Titelrolle  sang.  Sie  gab 
den  T3^us  der  „Carmen"  so  überaus  lebenswahr,  und 
verstand  es,  ihn  mit  dem  ganzen  Zauber  der  heissen  un- 
gebändigten  Leidenschaftlichkeit,  mit  einem  gewissen  my- 
stischen Fatalismus  gepaart,  auszustatten,  dass  Jeder  hin- 
gerissen лvurde. 

Zum  i\ndenken  an  jenen  Abend  kaufte  sich  Peter  lljitsch 
ein  Bild  Bizet's  und  schrieb  die  Worte  darauf:  „Bizet — 
2o^8  Januar  1876". 

Zwei  Tage  darauftrennten  wir  uns.  Peter  lljitsch  reiste 
nach   Russland  zurück,  während  ich  in  Frankreich  blieb. 

An  M.  Tschaikowsk}-: 

„Berlin.   II.  Januar  11  Uhr  abends. 

Lieber  Modi,  wenn  Du  nur  wüsstest,  wie  ich  mich  nach 
Dir  sehne!  Gestern  habe  ich  den  ganzen  Tag  geweint  und 
Heute  thut  mir  das  Herz  weh  vor  lauter  Kummer.  In  die- 
sem Gefühl  liegt  selbstverständlich  etwas  Uebertriebenes. 
Das  sind  noch  die  Ueberreste  jener  Krankheit,  an  der  ich 
in  Moskau  gelitten  habe  und  welche  während  unserer  ge- 
meinsamen Reise  verschwunden  war.  Jetzt,  da  ich  wieder 
einsam  bin,  versinke  ich  von  neuem  in  düstere  Gedanken.... 
Stelle  Dir  meinen  Aerger  vor:  Heute  wird  der  „Lohen- 
grin"  mit  Niemann  und  der  Mallinger  gegeben,  und  habe 
nicht  hingehen  können,  weil  es  schon  zu  spät  war.  Da 
ging  ich  denn  zu  Bilse  und  hörte  dort  ein  Quartett  für 
4  Celli,  Variationen  für  Cornet-ä-piston  und  dergleichen 
Dreck  an.  Im  grossen  Saal  waren  Tische  aufgestellt,  an 
denen  die  Berliner  sassen,  ihr  Bier  tranken  und  scheussliche 
Zigarren  dazu  rauchten.  Das  gefällt  mir  garnicht.... 


4 


—  325  — 

Lieber  Modi,  sei  nicht  traurig!  Ich  rate  Dir,  möghchst 
bald  nach  Ьзюп  zu  reisen.  Ich  glaube,  dass  nur  dort  alle 
Zweifel,  welche  Dich  jetzt  noch  quälen,  verschwinden  kön- 
nen. In  letzter  Nacht  habe  sehr  viel  an  Dich  gedacht.  Ich 
freue  mich  sehr,  dass  Du  religiös  bist.  Theoretisch  bin  ich 
ganz  und  gar  nicht  mit  Dir  einverstanden;  ich  würde  mich, 
jedoch,  sehr  über  Dich  ärgern,  wenn  meine  Theorieen 
Deinen  Glauben  zu  erschüttern  imstande  wären".... 

An  M.  TschaikowsW: 

„Petersburg.  Den  20.  Januar. 
.Ich   bin  schon  am   vorigen   Mittwoch   angekommen 


und  sitze  bis  Heute  noch  hier,  denn  ich  will  die  Auffüh- 
rung meiner  Symphonie  abwarten,  welche  in  dieser  Wo- 
che stattfinden  soll...  Ausser  der  Notwendigkeit  bei  den 
Proben  anwesend  zu  sein,  halten  mich  die  Unterhandlun- 
gen in  Betreff  der  Aufführung  meines  „Wakula"  hier  zu- 
rück. Ich  weiss  absolut  nicht,  wem  ich  die  Rolle  der  Sso- 
locha  anvertrauen  soll....  Gestern  hatte  ich  ein  sehr  ernstes 
Gespräch  mit  Asantschewsky  wegen  der  Sendung  meiner 
Person  ins  Ausland  auf  zwei  Jahre.  Es  ist  sehr  wahrschein- 
lich, dass  sich  die  Sache  schon  im  nächsten  Jahr  ver- 
wirklichen lassen  wird.  Das  ist  für  mich  zwar  sehr  wün- 
schenswert und  dennoch  fürchte  ich  mich  etwas,  denn  ich 
liebe  so  sehr  das  heilige  Russland,  dass  ich  sehr  an  Heim- 
weh zu  leiden  haben  werde". 

Am  25.  Januar  wurde  in  Petersburg  unter  Leitung 
Näpravnik's  die  dritte  Symphonie  (D-dur)  aufgeführt.  C. 
Cui  berichtet  darüber:  „Das  Publikum  blieb  während  der 
S\'mphonie  recht  kühl,  applaudierte  nach  den  einzelnen 
Sätzen  ziemHch  massig,  nach  dem  letzten  Satz,  jedoch, 
wurde  der  Autor  stürmisch  gerufen.  Diese  Symphonie  muss 
man  in  der  That  ernst  nehmen.  Die  ersten  drei  Sätze  sind 
besser  als  die  andern,  der  vierte  Satz  bietet  nur  einigen 
Reiz  im  Sinne  des  Klanges,  da  der  musikalische  Gehalt 
nur  dürftig  ist.  Der  fünfte  Satz,  eine  Polonaise,  ist  der 
schwächste.  Im  Allgemeinen  ist  die  neue  Symphonie  sehr 
talentvoll,  doch  sind  wir  wohl  berechtigt,  von  Herrn  Tschai- 
kowsk3^  mehr  zu  verlangen". 

Laroche  findet,  dass  „die  Kraft  und  Gewichtigkeit  des 
Inhaltes,  die  Schönheit  und  Reichhaltigkeit  der  Form,  der 
edle  St^'l,  die  Originalität  der  Erfindung  und  die  seltene 
Vollkommenheit  der  Technik  die  Symphonie  Tschaikow- 


—    32б    — 

sky's  zu  einem  der  bedeutendsten  musikalischen  Ereignisse 
des  letzten  Dezenniums  stempeln.  Wenn  die  Symphonie 
in  einem  der  musikalischen  Mittelpunkte  Europa's  zur  Auf- 
führung käme,  so  würde  sie  sicherlich  dem  Namen  ihres- 
Autors  einen  Ehrenplatz  in  der  Reihe  der  berühmtesten 
S3'mphonischen  Komponisten  unserer  Tage  erobern". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„Moskau,  d.  28.  Januar. 

Meine  Symphonie  ist  glücklich  vom  Stapel  gelaufen^ 

ich  лvurde  einstimmig  gerufen  und  „beklatscht".  Nicht  we- 
niger Erfolg  hatte  an  jenem  Abend  Tanejew,  welcher  in 
der  That  ausgezeichnet  spielte,  namentlich  die  Rhapsodie 
von  Liszt.  Vorher  hatte  ich  in  einer  Quartettsoiree  das 
Glück  gehabt,  dem  Herzog  Georg  von  Mecklenburg  vor- 
gestellt zu  werden,  desgleichen  seiner  Mama  und  Schwe- 
ster, welche  sehr  wohlwollend  zu  mir  gewesen  sind.  Mit 
Laroche  bin  ich  viel  zusammen  gewesen.  Habe  auch  zwei 
Proben  des  „Angelo"  (von  C.  Cui)  besucht.  Diese  Oper 
will  mir  durchaus  nicht  2:efallen".... 


ö^ 


An  M.  Tschaikowsky: 

„IG.  Februar. 

....An  Ereignissen  ist  mein  Leben  arm,  wie  früher.  An 
Gefühlen,  Sorgen,  Arbeiten,  Eindrücken  ist  es  reich;  um 
sie  Dir  mitzuteilen  fehlt  es  mir  aber  an  Zeit.  Augenblick- 
lich arbeite  ich  mit  Volldampf  an  dem  Quartett  \),  wel- 
ches ich — wie  Du  Dich  wohl  erinnern  wirst — in  Paris  zu 
komponieren  begonnen  hatte. 

Ausserdem  bin  ich  mit  der  Korrektur  der  Oper  be- 
schäftigt. Die  Feuilletonschreiberei  habe  ich  ganz  aufge- 
geben. Vor  einigen  Tagen  habe  ich  ejnen  Brief  von  Bü- 
loAv  erhalten  nebst  zahlreichen  Zeitungsausschnitten  mit 
amerikanischen  Kritiken  über  mein  Konzert.  Ueber  meine 
Symphonie  lautete  der  Bericht  der  ganzen  Presse — Laroche 
nicht  ausgeschlossen — ziemlich  kühl.  Alle  finden  sie,  dass 
ich  Nichts  Neues  mehr  zu  sagen  vermag  und  mich  zu  wie- 
derholen beginne.  Sollte  das  wirklich  wahr  sein?  Nach  dem 
Quartett  will  ich  eine  Zeitlang  ruhen,  d.  h.  nur  am  Ballet 
weiterarbeiten;  Neues  werde  aber  Nichts  in  Angriff  neh- 


1)  Op.  30.  Quartett  №  3. 


—  327  — 

men,  bevor  ich  mich  für  eine  Oper  entschlossen  haben 
werde.  Ich  schwanke  immer  noch  zwischen  „Ephraim" 
und  „Francesca",  glaube  aber,  dass  Letztere  die  Ober- 
hand behalten  wird". 

„Ephraim"  ist  ein  Operntext,  welchen  Konstantin  Schi- 
lowsky  gemacht  hat  und  welcher  eine  Liebesepisode  am 
Hofe  des  Pharao  im  alten  Aegypten  zur  Zeit  der  Auswan- 
derung der  Hebräer  zum  Inhalt  hat. 

„Francesca  da  Rimini"  war  ein  bereits  fertiges  Libretto, 
welches  ein  gewisser  Zwanzew  an  Laroche  in  Vorschlag 
brachte  und  welches  Laroche  seinerseits  an  Peter  Iljitsch 
abzutreten  bereit  war.  Der  Inhalt  dieses  Libretto  war 
dem  V.  Gesang  von  Dante's  „Hölle"  entlehnt. 

Weder  das  Eine  noch  das  Andere  war  im  Stande, 
Peter  Iljitsch  voll  zu  befriedigen.  Nachdem  er  „Carmen" 
gesehen  hatte,  konnte  ihn  nur  ein  ähnlicher  Text  be- 
geistern, d.  h.  ein  Text,  in  welchem  wirkliche  Menschen 
und  keine  Figuren  handelten,  Menschen,  die  unserer  Zeit 
und  unserem  Leben  nahe  standen.  Das  Drama  musste  durch 
seine  Einfachheit  und  Lebenswahrheit  wirken. 

An  M.  Tschaikowsky: 

„3.  März. 

....Ach,  Modi,  wie  beneide  ich  Dich!  Du  schreibst,  dass 
die  Bäume  schon  zu  grünen  beginnen  und  in  den  Strassen 
bereits  Veilchen  verkauft  werden. 

Bei  uns  dagegen  sieht  es  scheusslich  aus:  das  Thau- 
wetter  ist  früher  als  sonst  eingetreten.  Mein  Quartett  ist 
bereits  fertig  und  wurde  Gestern  bei  N.  Rubinstein  pro- 
biert. Es  hat  Allen  gefallen,  ich  selbst  bin  aber  nicht  ganz 
zufrieden.  Es  scheint  mir,  dass  ich  etwas  „versiegt"  bin 
und  Nichts  Neues  mehr  erfinden  kann.  Sollte  ich  wirklich 
schon  am  Ende  meines  Liedes  angekommen  sein?  Sehr 
traurig.  Uebrigens  will  ich  den  Versuch  machen,  einige 
Zeit  nicht  zu  arbeiten,  um  neue  Kräfte  zu  sammeln.  Mich 
quälen  immer  noch  die  unendlichen  Korrekturen  des  „Wa- 
kula",  welcher  nach  etwa  vierzehn  Tagen  erscheinen  soll". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„17.  März. 

....Ich  stecke  bis  über  die  Ohren  in  der  Instrumenta- 
tion des  Ballets,  welches  gleich  nach  Ostern  fertig  werden 


—   32Ö    — 

soll.  Da  ich  noch  ganze  zwei  Aufzüge  vor  mir  habe,  so 
will  ich  die  Charwoche  und  die  Osterwoche  dieser  Arbeit 
widmen.  Um  ungestört  zu  sein,  habe  ich  den  Entschluss  ge- 
fasst,  diese  Zeit  im  Dorf  bei  K.  Schilowsky  zuzubringen.... 

Gestern  hat  uns  der  Grossfürst  einen  Besuch  gemacht. 
Man  hat  ihm  mein  neues  Quartett  vorgespielt,  w^elches  ihm 
gut  gefallen  hat". 

Am  i8.  März  ist  das  Quartett  Л°  з  zu  seiner  ersten 
öffentlichen  Aufführung  gekommen,  und  zwar  im  Konzert 
des  Geigers  J.  Hrimal}^  Bald  darauf  wairde  es  in  einer 
Kammermusiksoiree  der  Russischen  Musikalischen  Gesell- 
schaft wiederholt.  Der  Erfolg  war  an  beiden  Abenden  ein 
enormer.  Auch  die  Presse  hat  dieses  Werk  sehr  lobend 
beurteilt. 

An  M.  Tschaikowsky: 

„24.  März. 

...Dein  Brief  hat  mich  sehr  erfreut,  obgleich  ich  mich 
über  Dich  etwas  geärgert  habe,  dass  Du  Dich  bei  Saint- 
Saens  erkundigt  hast,  wann  meine  Ouvertüre  in  Paris  zur 
Aufführung  gelangen  würde.  Er  wird  sich  gar  einbilden, 
dass  ich  vor  Sehnsucht  vergehe,  in  Paris  gespielt  zu  wer- 
den, hn  Grunde  ist  das  ja  wahr,  aber  Saint-Saens  braucht's 
doch  nicht  zu  wissen.... 

Gestern  fand  die  erste  Probe  einiger  Nummern  meines 
Ballets  statt.  Es  war  drollig  anzusehen,  wie  der  Ballet- 
meister  mit  dem  tiefsinnigsten  Gesicht  von  der  Welt  bei 
dem  Klange  einer  armseligen  Fiedel  allerlei  Tänze  erfand.... 

In  den  letzten  Tagen  wurde  mein  Quartett  drei  Mal 
gespielt,  davon  zwei  Mal  öffentlich.  Es  gefällt  Allen  sehr. 
Das  Andante  soll  Viele  bis  zu  Thränen  gerührt  haben. 
Wenn  das  wahr  ist,  so  bedeutet  das  einen  grossen  Triumph 
für  mich". 

Ende  April  erschien  im  Verlage  Jurgensons  der  Kla- 
vierauszug des  „Wakula".  Bald  darauf  wurden  in  der  „Mu- 
sikalischen Welt"  einige  Aufsätze  über  diese  Oper  veröf- 
fentlicht, in  welchen  dieselbe  Takt  für  Takt  in  Grund  und 
Boden  hineinkritisiert  wurde.  Trotz  der  offenkundigen  Ten- 
denz des  Verfassers  dieser  Aufsätze,  eines  gewissen  Herrn 
Galler,  des  persönlichen  Freundes  eines  der  Mitbewerber 
Peter  Iljitsch's  in  der  Preiskonkurrenz,  trotz  der  ausser- 
ordentlichen Talent-und  Sinnlosigkeit  jener  Aufsätze  und 
trotz  der  Unbehebtheit  der  Zeitung,  in  welcher  sie  veröf- 


—  3^9  — 

fentlicht  wurden — fühlte  sich  Peter  Iljitsch  durch  sie  sehr 
gekränkt  und  beschloss,  in  Zukunft  nie  wieder  den  Kla- 
vierauszug einer  neuen  Oper  vor  der  Erstaufführung  der- 
selben herauszugeben. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„14.  Mai. 

....In  letzter  Zeit  bin  ich  oft  unwohl  gewesen  und  die- 
ser Umstand  hat  mich  bewogen,  ernstlich  den  Entschluss 
zu  fassen,  eine  gründliche  Kur  durchzumachen.  Der  Arzt 
meint,  dass  ich  nach  Vichy  reisen  sollte.  Jetzt  bemühe  ich 
mich  höllisch,  für  diese  Reise  Geld  aufzutreiben".... 

Am  26.  Mai  verliess  Peter  Iljitsch  Moskau  und  begab 
sich  zunächst  für  einige  Tage  zu  Kondratjew^,  um  am  4. 
Juni  in  Kamenka  einzutreffen.  Mitte  Juni  trat  Peter  Iljitsch 
seine  Reise  nach  Vieh}-  via  Wien  an.  Am  27.  Juni  er- 
reichte er  Lyon,  wo  er  mit  Modest  zusammentraf  und  bei 
dieser  Gelegenheit  den  Zögling  des  Letzteren,  Nikolai  Kon- 
radi kennen  lernte.  „Kolja  ^)  habe  ich  vom  ersten  Augen- 
blick an  lieb  gewannen",  schreibt  er  an  seinen  Bruder  Ana- 
tol, — -„das  zwischen  Lehrer  und  Schüler  bestehende  Ein- 
vernehmen ist  das  denkbar  herzlichste  und  entlockt  meinen 
Augen  oft  Thränen  der  Rührung.  Auch  Fräulein  Sophie 
(die  Gouvernante  Kolja's)  habe  ich  lieb  gewannen.  Es  ist 
ein  herzlich  gutes  Wesen"... 

Vichy,  wo  Peter  Iljitsch  am  i.  Juli  anlangte,  machte 
auf  ihn  von  vornherein  einen  sehr  schlechten  Eindruck. — 
„Hier  ist  Alles  dazu  angethan,  um  meinen  Aufenthalt  uner- 
träglich zu  machen'''',  —  schreibt  er  seinen  Brüdern  ^ — das 
Gedränge  am  Brunnen,  der  völlige  Mangel  an  Naturschön- 
heiten, die  unangenehme  Lebensweise,  die  man  zu  führen 
genötigt  ist:  man  muss  schon  um  5  Uhr  früh  aufstehen, 
um  ein  Wannenbad  zu  erhalten,  hauptsächlich  aber  die 
Einsamkeit" — und  das  schreckliche  Heimweh,  welches  Pe- 
ter Iljitsch  empfand,  brachten  ihn  auf  den  Gedanken,  noch 
vor  Abschluss  der  Kur  abzureisen.  Dem  ihn  behandelnden 
Arzte,  jedoch,  gelang  es,  ihn  zu  bewegen,  wenigstens  eine 
„demi-cure"  auszuhalten,  und  so  blieb  denn  Peter  Iljitsch 
volle  zehn  Tage  in  dem  „verfluchten,  widerwärtigen  Vichy". 
Vor  seiner  Abreise  hat  er  jedoch  der  Heilkraft  des  Vichy- 
Brunnens  Anerkennung  gezollt,  indem  er  mir  schrieb:  „Du 


1)  Kolja — Abkürzung  für  Nikolai. 


—  ЗЗО  — 

glaubst  garnicht  mit  welcher  Sehnsucht  ich  den  Tag  meiner 
Abreise  aus  diesem  langweiligen  und  dennoch  w^hlthuen- 
den  Vieh}'  erw^arte.  Der  Brunnen  übt  auf  mich  eine  sehr 
heilsame  Wirkung  aus.  Nur  schlafe  ich  schlecht  und  kann 
nicht  gehen,  da  das  Wasser  die  Eigenschaft  hat,  in  den 
Füssen  ein  Gefühl  der  Müdigkeit  und  Mattigkeit  zu  er- 
zeugen    Selbstverständlich   werde    ich    mit   Euch    nach 

Montpellier  und  Cette  reisen.  Habe  ich  Dir  schon  erzählt, 
dass  Klindw^rth  mir  für  die  am  i.  August  stattfindende 
erste  Vorstellung  des  „Nibelungenringes"  einen  Platz  be- 
sorgt hat.  Daraus  folgt,  däss  ich  bis  Ende  Juli  mit  Euch 
bleiben  werde". 

Mitte  Juli  reiste  Peter  Iljitsch  mit  uns  zunächst  mit 
einem  Rhonedampfer  nach  Avignon,  wo  w^r  einen  ganzen 
Tag  blieben,  und  dann  weiter  nach  Montpellier.  In  der 
Nähe  dieses  Städtchens  liegt  das  Seebad  Palavas  wo  wir 
unser  Quartier  aufzuschlagen  gedachten.  Diese  Wahl  war 
eine  unglückliche,  denn  Palavas  erwies  sich  als  einer  der 
langweiligsten  Orte  der  Welt.  Dazu  kam  das  schlechte 
Trinkwasser,  welches  uns  gleich  am  ersten  Tage  Alle  auf's 
Krankenlager  warf.  Peter  Iljitsch  litt  weniger  darunter  und 
so  kam  es,  dass  er  die  Rolle  unserer  Pflegerin  übernehmen 
musste. 

Alle  väterlichen  Gefühle,  die  in  Peter  Iljitsch's  Brust 
schlummerten,  erwachten  bei  dieser  Gelegenheit  und  er- 
füllten urplötzlich  seine  ganze  Seele.  In  all'den  kleinen 
Sorgen  und  Mühen  des  Familienlebens  fand  er  ein  gewis- 
ses Wohlbehagen,  eine  Ruhe,  nach  welcher  er  sich  in  seiner 
Einsamkeit  so  oft  gesehnt  hatte.  All' diese  Freuden  und 
Leiden  des  häuslichen  Lebens  erschienen  ihm  plötzlich  als 
das  richtige  Mittel,  seine  Seele  von  dem  moralischen  Leiden, 
welches  ihn  die  letzten  Jahre  hindurch  so  gec^uält  hatte, 
zu  retten. 

Ende  Juli  trennte  sich  Peter  Iljitsch  von  uns  und  reiste 
über  Paris  nach  Bayreuth. 

An  M.  Tschaikow^sky: 

„Paris,  d.  27.  Juli. 

Lieber  Modi,  die  Reise  ist  glückhch  von  Statten  ge- 
gangen. Von  Tarascon  bis  Paris  sass  ich  ganz  allein  im 
Coupe.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  ich  ununterbro- 
chen an  Dich  und  an  Kolja  dachte.  Ich  kam  um  8^/2  Uhr 
in  Paris  an  und  stieg  im  Hotel  de  Hollande  ab.  Obgleich 


—  331  — 

ich  Paris  sehr  gern  habe,  quält  mich  die  Sehnsucht  nach 
Dir,  wenn  auch  nicht  in  dem  Maasse,  wie  bei  unserer 
Trennung  im  vorigen  Winter.  Das  ist  erklärhch:  jetzt  habe 
ich  die  Ueberzeugung,  dass  Du  ruhig  bist  und  „im  siche- 
ren Hafen  ankerst" .  Zudem  habe  ich  Kolja  so  Heb  ge- 
wonnen, dass  es  für  mich  schreckhch  wäre,  ihn  in  frem- 
der Obhut  zu  wissen.  Mein  Appetit  ist  vorzügHch,  und  ich 
fühle  Kraft  in  mir:  ein  Zeichen  dessen,  dass  ich  genese. 
Heute  früh  habe  ich  den  fünften  Gesang  der  „Hölle"  durch- 
gelesen und  ward  vom  Wunsche  beseelt,  eine  symphonische 
Dichtung  „Francesca  da  Rimini"  zu  komponieren". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„Bayreuth,  d.  2.  August. 

...Alle  Phasen  des  Heimweh's,  welche  Du  durchge- 
macht hast,  waren  auch  mir  nicht  erspart  gebheben.  Was 
mein  Leiden  anbelangt,  so  ist  es  erst  jetzt  vollkommen 
geheilt.  In  Paris  hatte  ich — gerade  an  dem  Abend,  da  ich 
Dir  den  Brief  geschrieben  —  einen  heftigen  Kolikanfall  ge- 
habt, so  dass  ich  ernstlich  erschrak.  Ich  verbrachte  eine 
entsetzliche  Nacht;  erst  gegen  Abend  des  folgenden  Ta- 
ges fühlte  ich  mich  wieder  besser.  Infolgedessen  war  ich 
gezwungen,  einen  sehr  langweiligen  Tag  länger  in  Paris 
zu  verweilen.  In  Nürnberg  übernachtete  ich  und  kam  erst 
Sonnabend  d.  31.  Juli,  also  am  Vorabend  der  Aufführung 
hier  an.  Ich  wurde  von  Klindworth  empfangen,  begegnete 
einer  ganzen  Menge  bekannter  Persönlichkeiten  und  geriet 
sofort  in  den  Strudel  des  Bayreuther  Festgetriebes,  in  wel- 
chem ich  mich  den  ganzen  Tag  wie  ein  Besessener  drehte. 
Ich  habe  die  Bekanntschaft  Liszt's  gemacht,  der  mich  äus- 
serst liebenswürdig  empfangen  hat.  Bin  auch  bei  Wagner 
gewesen,  der  übrigens  Niemanden  mehr  empfängt.  Gestern 
fand  die  Vorstellung  des  „Rheingold"  statt.  In  szenischer 
Hinsicht  interessierte  mich  das  Ding  sehr,  machte  auch 
mit  seiner  wahrhaft  bewunderungswürdigen  Ausstattung 
grossen  Eindruck.  In  musikalischer  Beziehung  ist  es  ein 
unglaublicher  Unsinn,  in  welchem,  jedoch,  hin  und  wieder 
sehr  schöne,  ja,  entzückende  Momente  aufbhtzen.  Von  den 
Dir  bekannten  Persönlichkeiten  befinden  sich  hier:  Rubin- 
stein, (ich  wohne  mit  ihm  zusammen;  er  ist  ebenfalls  am 
Sonnabend  eingetroffen),  Laroche  und  Cui.... 

Bayreuth  ist  ein  winziges  Städtchen,  in  welchem  augen- 
blicklich einige  Tausend  Menschen  zusammengepfercht  und 


—  332  — 

bezüglich  der  Nahrungsfrage  keineswegs  gut  aufgehoben 
sind.  Wir  hatten  unsere  Wohnung  schon  sehr  rechtzeitig 
gemiethet:  sie  ist  sehr  hübsch.  Was  die  Kost  anbetrifft,  so 
konnte  ich  am  ersten  Tage  nur  mit  Mühe  ein  Abendbrot 
erlangen  und  das  gestrige  Mittagessen  habe  ich  auch  nur 
einem  günstigen  Zufall  zu  verdanken.  Ich  langweile  mich 
durchaus  nicht,  kann  andererseits  aber  auch  nicht  behaup- 
ten, dass  ich  grossen  Genuss  von  meinem  hiesigen  Aufent- 
halt habe,  sodass  all'mein  Sinnen  und  Trachten  darauf 
gerichtet  ist  möglichst  bald  über  Wien  nach  Russland 
zu  entfliehen,  was  ich  auch  am  Donnerstag  auszuführen 
gedenke". 

In  den  Berichten,  welche  Peter  Iljitsch  an  die  „Rus- 
sischen Nachrichten"  sandte,  beschreibt  er  seinen  Bayreu- 
ther Aufenthalt  ausführlicher: 

„Ich  kam  am  12.  August — am  Vorabend  der  Erstauffüh- 
rung des  ersten  Teils  der  Trilogie  —  in  Bayreuth  an.  Die 
Stadt  befand  sich  in  grosser  Aufregung:  in  Massen  eilten 
die  Menschen  —  Einheimische  und  Ausländer,  welche  im 
buchstäblichen  Sinne  des  Wortes  aus  der  ganzen  Welt 
zusammengeströmt  w-aren — zum  Bahnhof,  um  die  Ankunft 
des  Kaisers  mit  anzusehen.  Ich  sah  dem  Schauspiel  aus 
dem  Fenster  eines  benachbarten  Hauses  zu.  Vor  meinen 
Augen  tauchten  zunächst  einige  glänzende  Uniformen  auf, 
dann  erschien  die  Prozession  der  Musiker  des  Wagner- 
theaters mit  dem  Kapellmeister  Hans  Richter  an  der  Spitze, 
dann  folgte  die  interessante  Gestalt  des  „abbate"  Liszt  mit 
dem  prachtvollen  Charakterkopf,  dessen  Bild  ich  schon 
früher  oft  bew^undert  hatte,  —  zuletzt  in  einem  kostbaren 
Wagen  der  heitere  Alte,  Richard  Wagner,  mit  seiner  Ad- 
lernase und  den  feinen  ironischen  Lippen,  welche  dem  Ge- 
sicht des  Urhebers  dieses  kosmopolitisch  -  künstlerischen 
Festes  einen  so  überaus  charakteristischen  Zug  verleihen. 
Ein  brausendes  Hurrah  ertönte  aus  Tausenden  von  Kehlen, 
als  der  Kaiserliche  Extrazug  langsam  in  die  Bahnhofshalle 
einlief.  Der  betagte  Kaiser  bestieg  die  bereitstehende  Equi- 
page und  fuhr  ins  Schloss.  Wagner,  welcher  ihm  unmittel- 
bar folgte,  wurde  von  der  Volksmenge  nicht  minder  ju- 
belnd begrüsst,  als  der  Kaiser  selbst.  Welch'  stolzen,  welch' 
überschлvenglichen  Gefühle  mussten  doch  in  jenem  Augen- 
blick das  Herz  jenes  kleinen  Männchens  erfüllen,  welcher 
kraft  seiner  Willensenergie  und  seines  enormen  Talentes, 
allen  Schwierigkeiten  Trotz  bietend,  es  verstanden  hatte, 
die  Verwirklichung  seiner  kühnsten  Ideale  und  verwegen- 
sten Absichten  durchzusetzen! 


—  333  — 

Ich  unternahm  eine  kleine  Wanderung  durch  die  Stras- 
sen der  Stadt.  Sie  wimmelten  von  Menschen  aller  Nationa- 
litäten. Diese  Menschen  sahen  alle  sehr  besorgt  aus  und 
schienen  Etwas  zu  suchen.  Den  Grund  dieser  Besorgniss 
und  dieses  Suchens  habe  ich  nur  zu  bald  herausgefunden, 
weil  ich  ihm  selber  unterliegen  musste:  Alle  jene  unruhig 
in  der  Stadt  umherirrenden  Menschen  suchten,  nämlich, 
nach  Gelegenheit,  den  stärksten  Trieb  aller  Lebewesen — 
den  Hunger  zu  stillen,  welchen  selbst  die  Fülle  der  künst- 
lerischen Genüsse  nicht  zu  betäuben  imstande  war.  Die 
kleine  Stadt  bietet  den  Fremden  zwar  genügende  Unter- 
kunft, ist  aber  nicht  in  der  Lage,  alle  ihre  Gäste  zu  er- 
nähren. So  kam  es,  dass  ich  gleich  am  Tage  meiner  An- 
kunft in  der  That  erfuhr,  was  der  „Kampf  ums  Dasein" 
bedeute.  In  Bayreuth  giebt  es  nur  wenige  Hotels;  der 
grösste  Teil  der  Fremden  findet  in  Privathäusern  Obdach. 
Die  Table  d'hote's,  welche  in  einigen  Gasthäusern  einge- 
richtet sind,  können  unmöglich  alle  Hungernden  befriedi- 
gen; ein  jedes  Stück  Brot,  ein  jedes  Glas  Bier  kann  nur 
mittelst  ungeheurer  Anstrengungen:  durch  Kampf,  durch 
List  oder  durch  eiserne  Ausdauer  erbeutet  werden.  Selbst 
wenn  ein  bescheidenes  Plätzchen  an  einem  Tisch  bereits 
erobert  ist,  so  dauert  es  immer  noch  sehr  lange  bis  Einem 
die  ersehnte  Speise  vorgesetzt  wird.  An  den  Tischen 
herrscht  völlige  Anarchie:  Alles  schreit  und  tobt,  die  er- 
schöpften Kellner  geben  garkeine  Acht  mehr  auf  die  be- 
rechtigten Forderungen  eines  jeden  Einzelnen.  Falls  man 
von  dem  emen  oder  andern  Gericht  noch  Etwas  erhascht, 
so  ist  das  der  reine  Zufall.  In  der  Nähe  des  Theaters  giebt 
es  eine  Restauration,  welche  um  2  Uhr  einen  guten  Mit- 
tagstisch verspricht.  Aber  da  hinein  zu  gelangen  und  im 
Gedränge  der  hungrigen  Menschheit  Etwas  zu  erwischen — 
ist  eine  Heldenthat. 

Ich  habe  mich  absichtlich  so  lange  bei  dieser  Angele- 
genheit aufgehalten,  um  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers 
auf  den  hervorstechendsten  Zug  der  Bayreuther  Me- 
lomanen  zu  lenken.  Thatsächlich  bildet  das  Essen  wäh- 
rend der  ganzen  Dauer  der  Festspiele  das  hauptsächhch- 
ste  Interesse  des  Publikums,  indess  die  künstlerischen  Dar- 
bietungen in  den  Hintergrund  treten.  Ueber  Cotelette's,  Brat- 
kartoffeln und  Rühreier  wird  viel  eifriger  debattiert,  als 
über  die  Musik  Wagners. 

Ich  habe  bereits  erwähnt,  dass  die  Vertreter  aller  zi- 
vihsierten  Nationen  in  Ba3'reuth  versammelt  waren.  In  der 


—  334  — 

That:  schon  gleich  am  Tage  meiner  Ankunft  erbhckte  ich 
in  der  Menge  viele  bekannte  Repräsentanten  der  musika- 
lischen Welt  Europa's  und  Amerika's.  Allerdings,  die  Grös- 
sten  derselben,  die  Berühmtheiten  allerersten  Ranges  glänz- 
ten durch  ihre — Abwesenheit.  Verdi,  Gounod,  Thomas, 
Brahms,  Anton  Rubinstein,  Raff,  Joachim,  Bülow  waren 
nicht  nach  Bayreuth  gekommen.  Von  den  musikalischen 
Autoritäten  Russlands  w^aren  anwesend:  Nikolai  Rubin- 
stein, Cui,  Laroche,  Faminzyn,  Klindworth  (welcher  be- 
kanntlich die  Bearbeitung  der  Wagnerschen  Trilogie  für 
Klavier  gemacht  hat),  die  in  Moskau  rühmlichst  bekannte 
Gesanglehrerin  Frau  Walzeck  u,  A. 

Die  Aufführung  des  „Rheingold"  fand  am  i.  August 
um  7  Uhr  abends  statt.  Sie  dauerte  ununterbrochene  2V-2 
Stunden.  Die  andern  drei  Teile — „Walküre",  „Siegfried" 
und  ..Götterdämmerung"  wurden  mit  je  einer  einstündigen 
Pause  gegeben  und  dauerten  von  4  —  10  Uhr.  In  Folge 
einer  Erkrankung  des  Sängers  Betz  ging  „Siegfried"  statt 
am  Dienstag  erst  am  Mittwoch  in  vSzene,  sodass  die  erste 
Serie  volle  fünf  Tage  in  Anspruch  nahm.  Um  3  Uhr  be- 
ginnt die  Wanderung  nach  dem  Theater,  welches  sich  in 
ziemlicher  Entfernung  von  der  Stadt  auf  einer  kleinen  An- 
höhe befindet.  Das  ist  der  mühsamste  Teil  des  Tages,  selbst 
für  Diejenigen,  denen  es  gelungen,  sich  durch  ein  Mittag- 
essen, zu  stärken.  Der  Weg  führt  bergauf  und  ist  völlig 
schattenlos,  sodass  man  den  sengenden  Sonnenstrahlen 
ausgesetzt  ist.  In  Erwartung  des  Beginnes  der  Vorstellung 
lagert  sich  die  bunte  Schaar  auf  dem  grünen  Rasen  in  der 
Nähe  des  Theaters,  Einige  sitzen  auch  im  Restaurant  bei 
einem  Glase  Bier:  hier  werden  alte  Bekanntschaften  auf- 
gefrischt und  neue  angeknüpft.  Von  allen  Seiten  hört  man 
Klagen  über  ungestillten  Hunger  und  Durst.  Auch  die  be- 
vorstehende oder  stattgefundene  Vorstellung  wnrd  bespro- 
chen. Punkt  4  Uhr  ertönen  die  Fanfaren,  und  die  Volks- 
menge strömt  ins  Theater.  In  fünf  Minuten  sind  bereits 
alle  Plätze  besetzt.  Wiederum  ertönen  die  Fanfaren,  das 
vSummen  der  Unterhaltung  verstummt,  die  Gasflammen  im 
Zuschauerraum  erlöschen  und  das  Auditorium  wird  in  völ- 
liges Dunkel  gehüllt.  Aus  der  Tiefe  des  Orchesters,  wel- 
ches sich  in  einer  Versenkung  befindet  und  für  das  Publi- 
kum unsichtbar  ist,  ertönt  das  schöne  Vorspiel,  der  Vor- 
hang wird  nach  rechts  und  links  auseinandergezogen  und 
die  Vorstellung  nimmt  ihren  Anfang.  Jeder  Aufzug  dauert 
anderthalb  Stunden;   dann  kommt  eine  Pause,    aber   eine 


—  335  — 

sehr  unangenehme,  denn  die  Sonne  steht  noch  ziemlich 
hoch  am  Firmament  und  es  ist  sehr  schwer,  ein  Plätzchen 
im  Schatten  ausfindig  zu  machen;  die  zweite  Pause,  da- 
gegen, bietet  das  Schönste  vom  Tage:  die  Sonne  hat  sich 
bereits  dem  Horizont  genähert,  in  der  Luft  spürt  man  schon 
die  Abendkühle,  die  bewaldeten  Hügel  ringsum  und  das 
reizende  kleine  Städtchen  in  der  Ferne  sind  lieblich  anzu- 
schauen. Gegen  IQ  Uhr  ist  die  Vorstellung  zu  Ende".... 

An  M.  Tschaikowsk}-: 

„Wien,  d.  8.  August  1876. 

....Вазч-euth  hat  eine  unangenehme  Erinnerung  in  mir 
hinterlassen,  obwohl  meinem  Künstlerehrgeiz  mehr  denn 
einmal  geschmeichelt  worden  ist.  Es  erwies  sich,  nämlich, 
dass  ich  in  den  Abendlanden  garnicht  so  unbekannt  bin, 
wie  ich  glaubte.  Die  unangenehme  Erinnerung  rührt  aber 
von  dem  ununterbrochenen  Getümmel  her,  das  ich  niitmachen 
musste.  Am  Donnerstag  war  es  endlich  zu  Ende.  Nach 
den  letzten  Akkorden  der  „Götterdämmerung"  fühlte  ich 
mich  wie  aus  einer  Gefangenschaft  befreit.  Die  „Nibelun- 
gen" mögen  in  der  That  ein  grossartiges  Werk  sein,  ge- 
wiss ist  aber  auch,  dass  es  noch  nie  eine  so  unendliche 
und  so  langweilige  Faselei  gegeben  hat.  Die  Aufthürmung 
der  kompHziertesten,  und  ausgetifteltsten  Harmonieen,  die 
Farblosigkeit  des  Gesanges  auf  der  Bühne,  die  unendhch 
langen  Monologe  und  Dialoge,  das  Dunkel  des  Zuschauer- 
raums, die  Abwesenheit  jeglicher  Poesie,  jeglichen  Inte- 
resses der  Handlung — Alles  das  hat  meine  Nerven  bis  zum 
letzten  Grade  ermüdet.  Also  das  ist  es,  was  die  Reform 
Wagners  erstrebt!  Früher  war  man  bemüht,  die  Leute 
durch  die  Musik  zu  erfreuen — Heutzutage,  jedoch,  quält 
man  sie. 

Freilich  sind  auch  schöne  Stellen  darin,  im  Grossen 
und  Ganzen  ist's  aber  zum  Sterben  langweilig.  Wieviel 
Tausend  Mai  herrhcher  ist  das  Ballet  „Sylvia"! 

Aus  Ваза-euth  war  ich  zuerst  nach  Nürnberg  gefahren, 
wo  ich  einen  ganzen  Tag  verbracht  und  den  Bericht  an 
die  „Russischen  Nachrichten"  verfasst  habe.  Wie  köstlich 
ist  doch  Nürnberg!  Heute  bin  ich  in  Wien  angekommen 
und  reise  Morgen  nach  Werbowka  weiter". 

Laroche  erinnert  sich  folgendermassen  an  das  Beneh- 
men Peter  Iljitsch's  während  der  Bayreuther  Festspiele: 

„Das  Anhören  und  Ansehen  der  unendlichen  Aufzüge 


—  ззб  — 

■der  Wagnerschen  Trilogie  (namentlich  des  „Rheingold"' 
und  des  ersten  Teils  der  „Götterdämmerung",  welche  ohne 
Pausen  je  zwei  Stunden  dauerten),  das  Sitzen  im  geschlosse- 
nen, völlig  dunklen  und  dazu  tropischheissen  Amphitheater, 
das  aufrichtige  Bemühen,  den  Styl  und  die  Sprache  des 
Textbuches  zu  verstehen,  welches  in  der  That  so  schwer- 
fällig und  ungeschickt  veriasst  ist,  dass  es  selbst  den  Deut- 
schen unzugänglich  sein  muss, — das  Alles  wirkte  auf  Pe- 
ter Iljitsch  sehr  niederschlagend,  sodass  er  nach  den  letzten 
Akkorden  förmlich  auflebte  und  erst  beim  Abendessen  und 
einem  Glase  Bier  sich  wieder  behaglich  fühlte".... 

Das  war  der  Eindruck,  den  Peter  Iljitsch  von  den  „Ni- 
belungen" gewonnen  hatte.  Der  Oeffentlichkeit  berichtete 
er  selbst  folgendermassen  über  das  kolossale  Werk  Ri- 
chard Wagners: 

„Ich  habe  den  Eindruck  davongetragen,  dass  die  Tri- 
logie sehr  viele  ausserordentlich  schöne  Stellen  aufzu- 
weisen hat,  namentlich  in  symphonischer  Beziehung,  was 
sehr  merkwürdig  ist,  da  doch  Wagner  jedenfalls  nicht  die 
Absicht  gehabt  hat,  eine  Oper  im  symphonischen  Styl  zu 
schreiben.  Ich  bewundere  ehrerbietig  das  kolossale  Talent 
des  Komponisten  und  seine  ungeheure,  noch  nie  dagewe- 
sene Technik.  Und  doch  zweifle  ich  sehr  an  der  Rich- 
tigkeit des  Wagnerischen  Opernprinzips,  will  aber  das 
Studium  dieser  kompliziertesten  aller  bisher  komponierten 
Musiken  fortsetzen. 

Wenn  auch  der  „Ring"  stellenweise  langweilt,  wenn 
auch  Vieles  darin  zuerst  unverständlich  und  unklar  er- 
scheint; wenn  auch  die  Harmonik  Wagners  oft  nicht  ganz 
einwandsfrei,  zu  verwickelt,  zu  gesucht  und  seine  Theorie 
fehlerhaft  ist;  wenn  auch  das  Resultat  seiner  enormen  Ar- 
beit später  der  Vergessenheit  anheimfallen  und  im  verlas- 
senen Bayreuther  Theater  einen  ewigen  Schlaf  schlafen 
sollte,— so  bedeutet  der  „Ring  des  Nibelungen"  dennoch 
ein  welterschütterndes  Ereigniss,  ein  epochemachendes 
Kunstwerk".... 

Moralisch  und  physisch  erschöpft,  unausgesetzt  an  sein 
weiteres  Schicksal  denkend,  und  sich  mit  der  festen  Ueber- 
zeugung  herumtragend,  dass  es  „nun  nicht  länger  so  blei- 
ben könne^^  verliess  Peter  Iljitsch  das  Ausland  und  reiste 
von  Wien  aus  direkt  nach  Werbowka. 

Dort  harrten  seiner  ein  fröhliches  Wiedersehen  mit  den 
Verwandten  und  die  id3dlischen  Freuden  des  Landlebens. 
Das  friedliche  Familienleben    Dawidows    war  ganz    dazu 


—  337  — 

angethan,  Peter  Iljitsch  zu  trösten  und  zu  beruhigen,  be- 
festigte in  ihm  aber  auch  einen  gewissen  Entschluss,  in 
welciiem  seine  krankhafte  Einbildung  die  einzige  „Rettung" 
erbhckte,  welcher  aber  in  Wahrheit  der  Ausgangspunkt 
noch  weit  grösserer  Leiden  und  Qualen  werden  sollte.  Am 
19.  August  schrieb  mir  Peter  Iljitsch  aus  Werbowka: 

„Ich  habe  augenblicklich  einen  sehr  kritischen  Moment 
meines  Lebens  zu  überwinden.  Gelegentlich  werde  Dir 
ausführlicher  darüber  schreiben,  einstweilen  will  ich  Dir 
nur  mitteilen,  dass  ich  beschlossen  habe,  zu  heiraten.  Das 
ist  unwiderruflich"... 

Die  chronologische  Reihenfolge  der  Schöpfungen  Pe- 
ter Iljitsch's  in  dieser  Saison  ist  folgende: 

i)  Op.  30.  Quartett  №  3  (Es-dur)  für  zwei  Violinen, 
Bratsche  und  Violoncello.  Dem  Andenken  F.  Laub's  ge- 
widmet. Der  erste  Entwurf  entstand  Anfang  Januar  1876 
in  Paris.  Beendet — laut  Vermerk  auf  dem  Manuscript — am 
18.  Februar  1876.  Zum  ersten  Mal  aufgeführt  am  18.  März 
desselben  Jahres  im  Konzert  Hrimaly's.  Verlag  Jurgenson. 

2)  Op.  20.  „Der  Schwanensee",  Ballet  in  vier  Aufzü- 
gen. Begonnen  im  August  1875,  beendet  Ende  Mcärz  1876. 
Verlag  Jurgenson.  Erstaufführung  im  Moskauer  Grossen 
Theater  am  20.  Februar  1877. 

Der  Inhalt  des  Ballets  ist  folgender: 

Der  junge  Ritter  Siegfried  ist  heiratsfähig,  sein  Herz, 
jedoch,  hat  noch  keine  Auserwählte  gefunden. 

Seine  Mutter  befiehlt  ihm,  eine  Wahl  zu  treffen  und 
veranstaltet  zu  diesem  Zweck  ein  Fest.  Am  Vorabend  der 
Brautschau  erblickt  Siegfried  einen  Schwärm  Schwäne  und 
begiebt  sich  mit  seinen  Freunden  auf  die  Schwanenjagd. 
Die  Schwäne,  die  er  gesehen  hat,  sind  aber  verwandelte 
Jungfrauen:  die  Prinzessin  Odetta  mit  ihren  Gespiehnnen. 
Der  böse  Geist  hat  sie  beschworen,  des  Tages  in  Schwa- 
nengestalt  umherzufliegen,  und  nur  des  Nachts  Menschen- 
gestalt anzunehmen.  Siegfried  erblickt  Odetta  und  ver- 
liebt sich  in  sie.  Sie  klagt  ihm  ihr  trauriges  Schicksal,  vor 
welchem  sie  nur  durch  die  Liebe  und  Treue  eines  reinen 
Herzens  gerettet  werden  kann.  Siegfried  will  ihr  Retter 
sein.  Odetta  gemahnt  ihn  daran,  dass  sie  von  dem  Augen- 
blicke an,  da  er  ihr  untreu  werden  sollte,  für  ewig  der 
Macht  des  bösen  Geistes  verfallen  würde.  Um  die  Be- 
freiung Odetta's  zu  verhindern  erscheint  der  böse  Geist 
beim  Fest  der  Brautschau  und  bringt  seine  Tochter  Odil- 
lia  mit,  der  er  die  Gestalt  Odettas  verliehen  hat.  Siegfried 

Tschaikowsky,  M,  W  I.  Tschaikowsky"s  Leben.  22 


-  338  - 

wählt  sie  zu  seiner  Braut  und  wird  dadurch  Odetta  untreu, 
welche  nun  für  ewig  dem  bösen  Geist  verfallen  muss.  Odetta 
entrinnt  aber  ihrem  Schicksal  und  wirft  sich  zur  Nacht- 
zeit, da  sie  in  Menschengestalt  ist,  ins  Wasser.  Als  Sieg- 
fried seinen  Irrthum  gewahr  wird  und  die  Kunde  von 
Odetta's  Tode  erhält,  macht  er  auch  seinem  Leben  ein 
Ende  und  ersticht  sich.  Die  Seelen  Beider  vereinigen  sich 
in  der  Zauberwelt  der  ewigen  Seligkeit. 

3)  Op.  37bis.  „Die  Jahreszeiten",  zwölf  Stücke  für  Kla- 
vier. Diese  wurden  im  Laufe  der  ganzen  Saison,  je  ein 
Stück  in  jedem  Monat  geschrieben.  Diese  Stücke  sind  von 
dem  Verleger  einer  Petersburger  Musikzeitung  bei  Peter 
Iljitsch  bestellt  worden.  Kaschkin  erzählt,  dass  Peter  Iljitsch 
diese  Arbeit  für  sehr  leicht  und  unbedeutend  hielt.  Um  den 
mit  dem  Verleger  vereinbarten  Termin  für  die  Zustellung 
eines  jeden  Klavierstücks  nicht  zu  versäumen,  befahl  er 
seinem  Diener,  ihn  an  einem  bestimmten  Datum  jedes  Mo- 
nats daran  zu  erinnern.  Der  Diener  führte  prompt  den  Be- 
fehl seines  Herrn  aus  und  sagte  jedesmal:  „Peter  Iljitsch, 
's  wird  wohl  Zeit  sein,  die  Sendung  nach  Petersburg  abzu- 
fertigen"., und  Peter  Iljitsch  setzte  sich  sofort  hin  und 
schrieb  in  einem  Zuge  das  Stück  fertig.  Später  sind  diese 
Stücke  alle  zusammen  in  Jurgensons  Verlag  übergegangen. 

4)  Die  Uebersetzung  des  Textes  und  Komposition  der 
Recitative  für  Mozart's  Oper  „Figaro's  Hochzeit"  hat  Pe- 
ter Iljitsch  auf  Wunsch  N.  G.  Rubinsteins  gelegentlich  einer 
Aufführung  dieser  Oper  durch  die  Schüler  und  Schüle- 
rinnen des  Konservatoriums  gemacht. 

In  dieser  Saison  beschloss  Peter  Iljitsch  seine  musik- 
schriftstellerische Thätigkeit.  Die  letzten  Aufsätze  behan- 
delten die  Trilogie  Richard  Wagners,  sind  aber  ohne  Ab- 
schluss  geblieben. 


-^i^ 


339 


XIII. 
1876 — 1877- 


An  М.  Tschaikowsky: 


„Moskau,  d.  10.  September  1876. 

....Nahezu  zwei  Mona- 
te sind  hin  seit  wir  uns 
von  einander  verabschie- 
det hatten,  mir  kommen  sie 
aber  wie  mehrere  Jahrhun- 
derte vor.Ich  habein  dieser 
Zeit  viel  an  Dich  gedacht, 
und  auch  an  mich:  an 
meine  Zukunft.  Das  Re- 
sultat meines  Denkens  ist 
der  feste  Entschluss,  in 
den  Stand  der  Ehe  zu  tre- 
ten mit  wem  es  auch  sei. 
In  Werbowka  habe  ich 
wundervolle  vierzehn  Ta- 
ge verbracht,  war  auch  in 
Ussowo  eingekehrt  (aber 
nur  ungern).  Habe  jetzt 
meine  gewöhnliche  Le- 
bensweise wieder  aufge- 
nommen. Ueber  die  Oper 
sind  noch  keinerlei  Nach- 
richten bei  mir  eingetro- 
ffen. Weiss  noch  garnicht, 
ob  sie  überhaupt  in  Szene 
gehen  wird". 


Peter  lljitsch  Tschaikowsky  im  Jahre  1876. 


An  M.  Tschaikowsky: 

„Moskau,  d.  17.  September. 

...Die  Zeit  vergeht  farblos  wie  immer.  In  dieser  Farb- 
losigkeit  liegt  aber  ein  eigener  Zauber.  Es  lässt  sich  gar- 
nicht in  Worte  fassen,  wie  süss  jenes  Gefühl  der  Ruhe  ist, 
jenes  Wohlbehagen — fast  möchte  ich  sagen  Glück — wel- 
ches ich  in  meiner  kleinen  gemütlichen  Wohnung  empfinde, 
wenn  ich  abends  heimkomme  und  ein  Buch  zum  Lesen  in 
die  Hand  nehme.  In  diesen  Augenblicken  hasse  ich,  wahr- 


—  340  — 

scheinlich  nicht  minder  als  Du,  jene  schöne  Unbekannte, 
welche  mich  zwingen  wird,  meine  Lebensweise  zu  verän- 
dern. Fürchte  nicht,  ich  will  mich  in  dieser  Sache  durchaus 
nicht  beeilen;  Du  kannst  sicher  sein,  dass  ich  dabei  sehr 
vorsichtig  und  mit  Ueberlegung  zu  Werke  gehen  werde. 
Seit  meiner  Rückkehr  habe  ich  noch  garnichts,  oder 
fast  garnichts  komponiert.  Es  beunruhigt  mich  ein  wenig 
der  Umstand,  dass  ich  bis  jetzt  noch  keine  Nachricht  über 
den  j.Wakula"  habe.  Ob  schon  Proben  gewesen  sind,  ob 
und  wann  er  aufgeführt  werden  soll  —  Niemand  schreibt 
mir  darüber.  Aber  selbst  wenn  der  „Wakula"  nicht  gege- 
ben werden  sollte,  so  werde  ich  es  mit  der  grössten  See- 
lenruhe hinnehmen.  Ja,  ich  bin  ein  grosser  Philosoph 
geworden!" 

An  A.  Tschaikowsky: 

„20.  September. 

Toly,  ich  sehne  mich  sehr  nach  Dir.  Es  quält  mich  der 
Gedanke,  dass  ich  Dich  während  Deines  Aufenthaltes  in 
Moskau  nicht  zärtlich  genug  behandelt  habe.  Sollten  Dir 
ebenfalls  ähnliche  Gedanken  kommen,  so  wisse  (Du  weisst 
das  übrigens  schon),  dass  der  Mangel  an  Zärtlichkeit  meiner- 
seits durchaus  nicht  gleichbedeutend  mit  Mangel  an  An- 
hänglichkeit und  Liebe  ist.  Ich  ärgerte  mich  nur  über  mich 
selbst,  und  zwar  ärgerte  ich  mich  darüber,  dass  ich  wohl 
fühlte,  wie  ich  Dich  belog,  als  ich  Dir  sagte,  dass  ich  vor 
einem  bedeutsamen  Wendepunkt  meines  Lebens  stehe.  Und 
das  ist  nicht  wahr:  noch  stehe  ich  nicht  vor  diesem  Wen- 
depunkt, ich  denke  nur  oft  an  ihn  und  warte  auf  Etwas, 
was  mich  zum  Handeln  anspornen  könnte.  Einstweilen, 
jedoch,  üben  die  stillen  Abende  in  meinem  gemütlichen 
Heim,  die  Ruhe  und  Einsamkeit — ich  muss  es  gestehen — 
einen  grossen  Reiz  auf  mich  aus.  Es  fröstelt  mich  gera- 
dezu, wenn  ich  daran  denke,  dass  ich  das  Alles  aufgeben 
muss.  Und  doch  muss  es  geschehen"!... 

An  N.  A.  Rimsk3^-Korsakoff: 

„Moskau,  d.  29.  September  1876. 

Lieber  Freund  N.  A.,  nachdem  ich  Ihren  Brief  durch- 
gelesen ging  ich  sofort  zu  Jurgenson  und  fragte  ihn  we- 
gen des  Quartetts.  Folgendes  hat  er  mir  geantwortet:  im 
Sommer  ist  er  in  Amerika  gewesen;  während  seiner  Ab  wesen- 


—  341  — 

heit  soll  im  Geschäft  ein  solcher  Chaos  geherrscht  haben, 
dass  er  bis  Heute  die  Ordnung  noch  nicht  wieder  her- 
stellen kann.  Dieser  Umstand  und  auch  noch  der,  dass 
sich  bei  ihm  sehr  viele  Manuscripte  für  den  Druck  ange- 
sammelt haben,  dient  ihm  als  Entschuldigung  dafür,  dass 
sich  die  Herausgabe  Ihres  Quartetts  verzögert  hat.  Um 
ganz  aufrichtig  zu  sein  will  ich  Ihnen  Etwas  erzählen, 
was  die  Langsamkeit  Jurgensons  am  besten  erklärt.  Als 
Sie  im  vorigen  Jahr  die  Stimmen  Ihres  Quartetts  an  Ru- 
binstein geschickt  hatten,  wurde  es  eines  Tages  von  un- 
serer Quartettvereinigung  in  Gegenwart  Jurgensons  durch- 
gespielt. Nun  hat  Ihr  Quartett  aber  den  vier  Herren  gar- 
nicht  gefallen  und  sie  sprachen  Jurgenson  ihr  Erstaunen 
darüber  aus,  dass  er  ein  Werk  verlegen  wollte,  welches 
bestimmt  schien,  der  Vergessenheit  anheimzufallen.  Das 
hat  wahrscheinlich  den  Eifer  unseres  Verlegers  etwas  ab- 
gekühlt. In  der  bevorstehenden  Serie  wird  das  Quartett 
w^ahrscheinlich  zur  Aufführung  kommen  und  ich  glaube, 
dass  die  Herren  Quartettgenossen  ihre  vorjährige  Meinung 
zurücknehmen  werden,  sobald  das  Werk  von  ihnen  besser 
kennen  gelernt  sein  wird.  Ich  bin  sogar  überzeugt  davon, 
da  ich  aus  eigener  Erfahrung  weiss,  wie  sehr  Ihr  Quartett 
bei  näherer  Bekanntschaft  gewinnt.  Der  erste  Satz  ist  ein- 
fach köstlich  und  ideal  in  der  Form.  Er  kann  als  Muster 
für  die  Reinheit  des  Styls  gelten.  Das  Andante  ist  etwas 
trocken,  aber  gerade  in  dieser  Trockenheit  sehr  charak- 
teristisch —  als  Reminiscenz  aus  der  Zeit  der  Zöpfe.  Das 
Scherzo  ist  sehr  lebendig,  pikant  und  muss  sehr  schön 
klingen.  Was  das  Finale  anbelangt,  so  muss  ich  offen  ge- 
stehen, dass  es  mir  garnicht  gefällt,  obwohl  ich  zugebe, 
dass  es  mir  gefallen  kann  sobald  ich  es  zu  hören  bekom- 
men werde,  und  dass  ich  dann  das  so  aufdringliche  r3't- 
mische  Motiv  nicht  mehr  so  fürchterlich  unverdaulich  fin- 
den werde.  Sie  wissen,  dass  ich  Ihren  jetzigen  Zustand 
für  ein  Uebergangsstadium  halte;  es  gährt  noch  Alles  in 
Ihnen  und  Niemand  weiss,  was  Sie  zu  erreichen  im  Stande 
sind.  Ich  glaube,  dass  mit  Ihrem  Talent  und  Ihrem  Cha- 
rakter kolossale  Resultate  zu  erzielen  wären.  Wie  gesagt, 
der  erste  Satz  ist  ein  Cluster  von  mädchenhafter  Reinheit 
des  St3'ls.  In  ihm  steckt  Etwas  mozartisch  Schönes  und 
Ungezwungenes. 

Sie  fragen,  ob  es  wahr  sei,  dass  ich  ein  drittes  Quar- 
tett geschrieben  habe.  Es  ist  wahr.  Im  vorigen  Winter, 
nach  meiner  Rückkehr  von  der  ausländischen  Reise  habe 


—  342  — 

ich  es  erzeugt.  Es  enthält  ein  Andante  fimebre,  welches 
einen  grossen  Erfolg  gehabt  hatte,  so  dass  das  Quartett 
im  Laufe  von  vierzehn  Tagen  drei  Mal  öffentlich  gespielt 
worden  ist.  In  dieser  Thatsache  liegt  der  Grund  dafür,  dass 
Jurgenson  sich  mit  meinem  Quartett  mehr  beeilt  hat,^es 
wird,  nämlich,  schon  gedruckt". 

An  A.  Dawidowa: 

„6.  Oktober. 

Bitte  mache  Dir  nur  keine  Sorgen  in  Betreff  meiner 

Heirat,  mein  Engel.  Vor  allen  Dingen  ist  die  Sache  gar- 
nicht  so  eilig:  vor  dem  nächsten  Jahr  soll's  nicht  gesche- 
hen. Im  Laufe  der  nächsten  Monate  will  ich  nur  Umschau 
halten  und  mich  ein  wenig  für  den  Ehestand  vorbereiten, 
welchen  ich  aus  vielerlei  Gründen  für  mich  von  Notwen- 
digkeit halte. 

Sei  versichert,  dass  ich  mich  nicht  unvorsichtigerweise 
in  den  Abgrund  einer  unglücklichen  Verbindung  stürzen 
werde". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„14.  Oktober. 

Soeben  erst  habe  ich  eine  neue  Komposition  vollen- 
det: die  symphonische  Fantasie  über  „Francesca  da  Rimini". 
Ich  habe  mit  Liebe  daran  gearbeitet  und  glaube  daher, 
dass  mir  die  Liebe  gut  gelungen  ist.  Was  den  Wirbelsturm 
anbelangt,  so  könnte  er,  vielleicht,  der  Zeichnung  Dores 
etwas  besser  entsprechen;  er  ist  mir  nicht  ganz  so  gelun- 
gen, wie  ich  ihn  eigentlich  haben  wollte.  Uebrigens  ist  ein 
richtiges  Urteil  über  dieses  Werk  unmöglich  solange  es 
noch  nicht  instrumentiert  und  gespielt  ist.  Ueber  den  „Wa- 
kula"  habe  ich  noch  keine  positiven  Nachrichten,  weiss 
nur,  dass  er  allmälich  vorbereitet  wird.  Ich  nehme  jetzt 
täglich  kalte  Wannenbäder,  wie  Toty.  Du  glaubst  garnicht, 
wie  erfrischend  sie  auf  m.ich  wirken.  Ich  habe  mich  noch 
nie  so  wohl  gefühlt!  Diese  Bäder  haben  sicher  auch  auf 
meine  Schreiberei  Einfluss.  Wenn  in  „Francesca"  etwas 
Frisches  und  Neues  vorhanden  ist,  so  ist  das  in  hohem 
Maasse  dem  W^asser  meiner  Bäder  zu  verdanken". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„14.  Oktober. 

Schreibe  mir,  wie  es  um  den  „Wakula"  bestellt  ist. 

Ich  habe  garkeine  Ahnung  davon  und  weiss  nicht,  wann 


—  343  — 

ich  nach  Petersburg  kommen  soll.  Ich  arbeite  viel:  besorge 
die  Korrekturen  verschiedener  Kompositionen  (darunter 
das  dritte  Quartett)  und  schreibe  mit  Eifer  an  der  „Fran- 
cesca". 

An  E.  Näprävnik: 

„i8.  Oktober. 
Verehrter  E.  F.,  soeben  habe  ich  in  einer  Petersbur- 
ger Zeitung  gelesen,  dass  Sie  für  eines  der  bevorstehen- 
den S3miphoniekonzerte  die  Tänze  aus  meiner  Oper  „  Wa- 
kula"  in  Aussicht  genommen  haben.  Würden  Sie  es,  viel- 
leicht, möglich  machen  können,  anstatt  dieser  Tänze  meine 
neue  symphonische  Dichtung  „Francesca  da  Rimini"  auf- 
zuführen? Ich  bin  gerade  mit  der  Instrumentation  dieses 
Werkes  beschäftigt  und  könnte  die  Partitur  in  zwei  bis 
drei  Wochen  fertigstellen.  Es  wäre  mir  gewiss  nie  einge- 
fallen, Ihnen  mein  neues  Werk  aufzuhalsen,  wenn  ich  nicht 
gelesen  hätte,  dass  mein  Name  im  Programm  bereits  ent- 
halten ist.  Da  Sie  nun  einmal  so  gut  gewesen  sind,  mir 
einen  kleinen  Raum  in  Ihren  Konzerten  zu  bewilligen,  so 
hoffe  ich,  dass  Sie  auf  meinen  gegenwärtigen  Vorschlag 
eingehen  werden.  Ich  muss  Ihnen  offen  gestehen,  dass  ich 
um  das  Schicksal  meiner  Oper  etwas  besorgt  bin:  habe 
bis  jetzt  noch  garkeine  Nachricht,  ob  die  Chorproben  schon 
ihren  Anfang  genommen  haben.  Vielleicht  wollen  Sie  so 
liebenswürdig  sein,  mir  einige  Mitteilungen  in  Betreff  der 
Aufführung  des  „Wakula"  machen". 

An  A.  Dawidowa: 

„8.  November. 
Wahrscheinlich  warst  Du,  mein  Täubchen,  nicht  ganz 
wohl  als  Du  mir  den  Brief  schriebest,  denn  es  weht  in  ihm 
ein  recht  melancholisches  Lüftchen.  In  diesem  Brief  er- 
kenne ich  ein  Wesen,  welches  dem  meinigen  so  verwandt 
ist.  Ich  kenne  diese  Melancholie  nur  zu  gut.  Auch  in  mei- 
nem Leben  giebt  es  Tage,  Stunden,  Wochen,  ja  Monate, 
da  mir  Alles  in  Schwarz  erscheint,  da  mich  das  Bewusst- 
sein  quält,  dass  mich  Alle  verlassen  haben,  dass  mich 
Niemand  liebt.  In  der  That  lebe  ich  ein  Leben,  welches 
Niemandem  besonderen  Nutzen  bringt.  Wenn  ich  Heute 
vom  Antlitz  der  Erde  verschwinden  sollte,  so  wäre  das 
für  die  russische  Musik  vieilleicht  kein  grosser  Verlust, 
gewiss  aber  würde  Niemand  dadurch  unglücklich  werden. 
Kurz,  ich  lebe  ein  egoistisches  Junggesellenleben.  Ich  ar- 


—  344  — 

beite  nur  für  mich  allein,  sorge  nur  um  mich  allein.  Das 
ist  allerdings  sehr  bequem,  aber  trocken,  tot,  engherzig. 
Aber  dass  Du,  die  Du  so  Vielen  unentbehrlich  bist,  so 
Viele  glücklich  machst,  dass  Du  Dich  der  Melancholie  hin- 
geben kannst — das  hätte  ich  nie  gedacht.  Wie  kannst  Du 
nur  an  der  Liebe  und  Verehrung  der  Dich  umgebenden 
Menschen  zweifeln?  Wie  wäre  es  denn  überhaupt  möglich. 
Dich  nicht  zu  lieben?  Nein,  es  kann  in  der  Welt  keinen 
andern  Menschen  geben,  der  so  geliebt  wird  wie  Du!... 
Was  mich  anbetrifft,  so  wäre  es  lächerhch,  meine  Liebe 
zu  Dir  noch  in  Worte  zu  kleiden.  Wenn  ich  Jemanden 
lieb  habe,  so  bist  Du  es,  Deine  Familie,  meine  Brüder  und 
unser  Alter.  Und  lieb  habe  ich  Euch  nicht  weil  Ihr  meine 
Blutsverwandten,  sondern  weil  Ihr  die  besten  Menschen 
von  der  Welt  seid".... 

Ende  Oktober  kam  Peter  Iljitsch  nach  Petersburg,  um 
der  Aufführung  seines  „Schmied  Wakula"  beizuwohnen. 
Diesmal  hat  der  Komponist  an  seinem  Werk  nicht  nur 
keine  Enttäuschung  erlebt,  sondern  im  Gegenteil:  von  Probe 
zu  Probe  gefiel  ihm  die  Oper  immer  mehr,  und  die  Hoff- 
nung auf  Erfolg  steigerte  sich.  Die  grosse  Anerkennung, 
die  ihm  seitens  der  Interpreten  seines  Werkes  zu  Teil 
wurde,  die  begeisterten  IJi"teile  der  Fachmänner,  welche 
den  Klavierauszug  kennen  gelernt  hatten,  sowie  Derjeni- 
gen, welche  Gelegenheit  fanden  die  Proben  zu  besuchen, 
endlich  die  verschwenderische  Pracht,  mit  welcher  die 
Direktion  das  Stück  ausgestattet  hatte,  ohne  die  Kosten  zu 
scheuen  —  Alles  das  ermutigte  Peter  Iljitsch  sehr  und  er 
war  infolgedessen  eines  grossen  Erfolges  sicher. 

Seit  der  ersten  Vorstellung  des  „Opritschnik"  hatte  die 
Popularität  des  Namens  Tschaikowsky  bedeutend  zugenom- 
men. Nicht  nur  die  Musiker  und  die  Besucher  der  Sym- 
phoniekonzerte, sondern  auch  das  eigentliche  Publikum  im 
weitesten  Sinne  des  Wortes  erwarteten  von  ihm  etwas 
Besonderes.  Schon  lange  vor  dem  24.  November,  dem  Tage 
der  Erstaufführung  des  „Schmied  Wakula",  waren  die 
Eintrittskarten  bereits  alle  ausverkauft. 

An  dem  Premierentage  selbst  herrschte  im  dichtgefüll- 
ten Zuschauerraum  des  Theaters  die  gespannteste  Erwar- 
tung und  dank  der  Popularität  des  Komponisten  —  eine 
gewisse  Voreingenommenheit  für  das  Werk. 

Die  Aufführung  war  sehr  sorgfältig  vorbereitet:  die  Mit- 
wirkenden bemühten  sich,  Ihr  Bestes  zu  geben.  Nach  der 
Ouvertüre  wurde  applaudiert.  Desgleichen  nach  der  ersten 


—  345  — 

Szene.  Damit  schien  aber  die  Begeisterung  des  Publikums 
ihr  Ende  erreicht  zu  haben,  denn  alle  folgenden  Nummern — 
mit  Ausnahme  des  Hopak — riefen  fast  garkeine  Beifallsbe- 
zeigungen hervor.  Die  Oper  gefiel  offenbar  nicht.  Ich  erin- 
nere mich,  wie  selbst  Leute,  welche  Peter  Iljitsch  gut  ge- 
sinnt waren,  mir  gegenüber  ihre  Enttäuschung  zu  verber- 
gen suchten  und  in  allgemeinen  Phrasen  der  Hoffnung 
Ausdruck  gaben,  dass  der  Erfolg  noch  kommen  könnte. 
Einer  meiner  Freunde  war  aber  weniger  delikat  und  sagte 
mir  geradeheraus,  dass  Peter  Iljitsch  ihn  betrogen  hätte, 
dass  er  gekommen  sei,  sich  zu  amüsieren,  und  statt  dessen 
sich  langweilen  müsste.  Dieses  aufrichtige  Bekenntniss  cha- 
rakterisiert auf  das  treffendste  die  Stimmung  des  Publi- 
kums: die  Leute  waren  gekommen,  um  sich  zu  amüsieren, 
d.  h.  Etwas  Glänzendes,  Humoristisches,  Lustiges  zu  sehen 
und  zu  hören,  sie  erwarteten  Alle  Etwas  in  der  Art  des 
„Barbier  von  Sevilla"  oder  des  „Schwarzen  Domino",  an- 
statt dessen  setzte  man  ihnen  ganz  etwas  Anderes  vor, 
was  an  sich  vielleicht  garnicht  einmal  hässlich  war,  jedoch 
ihren  Erwartungen  nicht  entsprach.  Es  w^aren  eben  Alle 
enttäuscht.  Trotzdem  wurde  der  Autor  zuletzt  viele  Male 
hervorgerufen,  wenn  auch  nicht  ohne  Opposition  seitens 
einer  kleinen,  aber  energisch  zischenden  Schaar. 

Peter  Iljitsch  selbst  erzählt  über  die  Aufführung  des 
„Wakula"  in  einem  Brief  an  S.  Tanejew  wie  folgt:  „Wa- 
kula  ist  glänzend  durchgefallen.  Die  ersten  zwei  Aufzüge 
fanden  ein  grabesstilles  Auditorium.  lieber  die  Szene  zwi- 
schen Golowa  und  Djak  wurde  viel  gelacht,  aber  nicht 
applaudiert.  Nach  dem  dritten  und  vierten  Akt  wurde  ich 
einige  Male  hervorgerufen,  gleichzeitig  aber  auch  von  einem 
Teil  des  Publikums  ausgezischt.  Die  zweite  Vorstellung 
war  etwas  besser,  trotzdem  aber  kann  man  sagen,  dass 
die  Oper  nicht  gefallen  hat  und  gewiss  keine  sechs  Vor- 
stellungen erleben  wird". 

Bemerkenswert  ist,  dass  in  der  Hauptprobe  Alle,  selbst 
C.  Cui  der  Oper  einen  glänzenden  Erfolg  prophezeiht  hat- 
ten. Um  so  schwerer  und  bitterer  war  für  mich  der  Sturz. 
Ich  muss  offen  gestehen,  dass  mich  das  sehr  entmutigt  hat, 
Ueber  die  Ausstattung  und  Inszenierung  der  Oper  kann 
ich  mich  nicht  beklagen.  Alles  war  auf  das  Peinlichste, 
auf  das  Sorgfältigste  vorbereitet  und  einstudiert....  Kurz, 
ich  bin  allein  der  Schuldige.  Die  Oper  ist  mit  Nebensa- 
chen, mit  Details  überfüllt,  dabei  zu  dick  instrumentiert 
und  in  gesanglicher  Hinsicht  zu  wenig  wirkungsvoll.  Jetzt 


—  34б  — 

erst  habe  ich  es  begriffen,  weshalb  Sie  Alle  damals,  als 
ich  Ihnen  die  Oper  bei  Rubinstein  vorspielte,  so  kühl 
blieben.  Der  Styl  des  „Wakula"  ist  kein  richtiger  Opern - 
styl — es  fehlt  der  Schwung,  die  Breite". 

Wie  damals  den  „Opritschnik",  so  hatte  Peter  Iljitsch 
auch  jetzt  den  „Wakula-'  nicht  ganz  richtig  beurteilt.  Im 
Vergleich  zu  den  Erwartungen,  welche  er  auf  seine  Oper 
gesetzt  hatte  bedeutete  die  erste  Vorstellung  allerdings 
ein  Fiasko.  Wenn  man  aber  in  Erwägung  zieht,  dass  bei 
den  darauffolgenden  Vorstellungen  das  Publikum  schon 
mehr  Gefallen  am  Werk  fand,  sodass  garnicht  mehr  ge- 
zischt wurde,  und  dass  die  Oper  bis  zum  Jahre  1881  sieb- 
zehn Aufführungen  erlebte,  so  muss  man  den  Erfolg  des 
„Wakula"  zum  Mindesten  einen  mittelmässigen  nennen. 

Die  Urteile  der  Presse  über  das  neue  Werk  waren 
diesmal  ziemlich  gleichmässig.  Niemand  hat  es  „in  den 
Himmel  gehoben",  aber  auch  Niemand  verdammt.  Dem 
Komponisten  haben  mehr  oder  weniger  Alle  ihre  Achtung 
ausgesprochen,  mit  seinem  Werk  aber  sind  sie  Alle  unzu- 
frieden geblieben. 

Laroche  sagt:  „In  der  Musik  der  neuen  Oper  breitet 
sich  die  Erfindung  oft  über  das  Maass  des  Notwendigen 
hinaus,  sie  wird  umfangreicher,  grösser  als  der  Charakter 
der  Situation  es  erfordert.  Die  Erfindungsgabe  zieht 
den  Komponisten  gewissermaassen  mit  sich  und  führt  ihn 
oft  auf  Abwege;  sie  lässt  ihn  die  eine  oder  andere  Phrase 
länger  oder  kürzer  machen,  lauter  oder  leiser,  schneller 
oder  langsamer,  als  es  die  Handlung  verlangt.  Diese 
Abwesenheit  des  Sinnes  für  Bühnenwirkung  im  Kompo- 
nisten kühlt  sehr  ab,  obwohl  die  musikalischen  Gedanken 
selbst  und  ihre  Entwickelung,  ungeachtet  des  Drama's,  sehr 
schön  sind".  Ferner  sagt  Laroche,  dass  das  Orchester  zu 
sehr  über  dem  Gesang  dominiert,  welchen  Umstand  er 
dem  „tadelnswerten  Bestreben"  zuschreibt,  „in  die  Musik 
jenen  ungeheuren  Schädhng  hineinzutragen,  welcher  ,, dra- 
matische Wahrheit"  genant  wird.  Wenn  das  natürliche 
Gefühl",  setzt  der  Kritiker  fort, — ,,den  Komponisten  vor 
die  abgerundeten  Formen  der  früheren  Zeiten  stellt,  so 
kommt  dann  in  der  Regel  der  selbstbewusste  Willen,  die 
Tendenz  und — der  Komponist  folgt  diesen  Beiden  auf  dem 
Wege  zum  sogenannten  ,, modernen  Realismus".  Dieser 
aber  hat  die  Eigenschaft,  keine  zwei  Worte  ohne  Ueber- 
treibung  zu  sagen:  die  unbedeutendste  Expedition  kann 
er  nicht  ohne  schwere  Artillerie  ausführen,  um  eine  kleine 


—  347  — 

Schaar  Banditen  zu  zersprengen  bedarf  er  ganzer  Armee- 
corps". 

Auch  C.  Cui  spricht  sich  dahin  aus,  dass  das  Orche- 
ster die  Sänger  überwältigt,  dass  der  symphonische  Styl 
gegenüber  dem  vokalen  bevorzugt  wird,  und  fährt  fort: 
,,Die  Musik  ist  fast  durchweg  schön  und  edel  in  thema- 
tischer sowie  harmonischer  Beziehung.  Es  sind  wunder- 
volle Stellen  zu  verzeichnen,  welche  einen  grossen  Genuss 
zu  bieten  wohl  geeignet  wären,  ivenn  die  Sänger  scluveigen 
nwllten,  denn  der  Gesang,  der  Text,  die  Bühne  stören  nur... 
Die  Musik  entspricht  garnicht  der  Handlung.  Abgesehen 
von  den  Offenbach'schen  Karrikaturen  und  Schwänken 
kenne  ich  keinen  andern  Text,  der  so  lustig,  so  humoris- 
tisch und  lebendig  wäre,  wie  der  „Wakula".  Herr  Tschai- 
kowsky  hat  es  aber  fertig  gekriegt,  diesen  Text  mit  einer 
fast  durchgängig  melancholischen,  elegischen,  sentimenta- 
len Musik  zu  versehen. 

Man  höre  nur  und  staune:  im  „Wakula"  herrschen 
Moll-Tonarten  und  Moder ato-Tempi  vor!"... 

Anfang  Dezember  kehrte  Peter  Iljitsch  nach  Moskau 
zurück. 

An  S.  Tanejew: 

„2.  Dezember  1876. 

Lieber  S.,  Gestern  bin  ich  aus  Petersburg,  wo  ich  drei 
Wochen  verbracht  habe,  wieder  zurückgekehrt.... 

Erst  wollen  wir  von  Ihnen  reden.  Ich  kenne  keine  ein- 
zige Komposition  (mit  Ausnahme  einiger  Werke  Beetho- 
vens), von  der  man  sagen  könnte  sie  sei  vollkommen.  Auch 
Ihr  schönes  Konzert  hat  seine  Schwächen.  Wenn  Sie  aber 
Alles  das  beherzigen  und  acceptieren  wollen,  was  man 
Ihnen  rathet  und  sagt,  so  werden  Sie  das  Konzert  niemals 
zu  Ende  bringen.  Aus  diesem  Grunde  möchte  ich  Ihnen 
vorschlagen,  nur  diejenigen  Rathschläge  A.  Rubinsteins  zu 
beachten,  welche  der  Aussenseite  Ihrer  Komposition  gelten, 
d.  h.  versuchen  Sie,  dem  ersten  Satz  etwas  mehr  vom 
virtuosen  Element  beizugeben,  ohne  den  ganzen  Aufbau 
wesentlich  zu  verändern.  Das  Andante  kann  bleiben  wie 
es  ist:  es  wird  auch  volle  Würdigung  erfahren,  wenn  sie 
ihm  ein  schneidiges,  glänzendes  Finale  folgen  lassen  wer- 
den, welches  dem  Pianisten  Gelegenheit  bieten  soll,  sich 
nach  Herzenslust  auszutollen.  Jedenfalls  können  Sie  sicher 
sein,  dass  trotz  mancher  äusserlichen  Mängel  Ihrer  bisher 


-348  - 

verfassten  Werke  es  keinem  Musiker  einfallen  wird,  Ihnen 
ein  starkes  und  S3anpatisches  Talent  abzusprechen.  Also 
bitte  lassen  Sie  sich  durch  Nichts  beeinflussen  und  gehen 
Sie  sofort  an  die  Komposition  des  Finale. 

Ich  habe  hier  in  Moskau  die  Nachricht  erhalten,  dass 
mein  „Romeo"  in  Wien  ausgepfiffen  worden  sei.  Sprechen 
Sie  aber  nicht  darüber,  sonst  wird  Pasdeloup  am  Ende 
einen  Schreck  kriegen;  ich  habe,  nämlich,  gelesen,  dass  er 
meine  Ouvertüre  auch  machen  will. 

Ja  ja,  mein  lieber  Freund,  es  giebt  traurige  Momente 
im  Leben! 

„Franceska"  ist  schon  lange  fertig  und  wird  jetzt  ab- 
geschrieben". 

Hans  Richter,  welcher  die  Wiener  Aufführung  des  „Ro- 
meo" geleitet  hatte,  behauptet,  dass  man  den  relativen 
Misserfolg  des  Werks  durchaus  nicht  als  Fiasko  auffassen 
kann.  Im  Konzert  selbst  wurden,  allerdings,  einige  Zischlaute 
hörbar,  und  einige  Tage  darauf  erschien  in  der  „Neuen 
freien  Presse"  ein  von  Hanslick  verfasster  Schmähartikel, 
gleichzeitig  gaben  aber  auch  Viele  grosses  Interesse,  ja 
Begeisterung  gegenüber  dem  neuen  russischen  Werk  zu 
erkennen. 

Kaum  hatte  Peter  Iljitsch  die  bittere  Wiener  Pille  ver- 
schluckt, als  er  von  Tanejew  aus  Paris  eine  nicht  minder 
unangenehme  Nachricht  erhielt. 

Tanejew  an  Tschaikowsky: 

„Paris,  d.  28.  November  1876. 

Hochverehrter  Peter  Iljitsch,  soeben  bin  ich  aus  dem 
Konzert  Pasdeloup's  gekommen,  wo  Ihre  Romeo-Ouver- 
ture  auf  das  grässlichste  verhunzt  worden  ist  Die  Tempi 
waren  alle   viel    zu    schnell,    sodass  man  die   drei  Noten 


-   garnicht  mehr  unterscheiden  konnte.  Alles 

war  verwischt.  Das  Seitenthema  spielten  die  Bläser  so, 
alswenn  sie  blos  die  Harmonie  zu  unterstützen  hätten:  man 
war  geradezu  versucht  zu  glauben,  sie  wüssten  nicht,  dass 
sie  das  Thema  zu  spielen  hatten.  Ganz  besonders  schlecht 
wurde  diese  Stelle  vorgetragen: 


■^Шт 


:t: 


—  349  — 

nicht  ein  einziges  crescendo,  niclit  ein  einziges  diminuendo — 
alles  gleichmässig.  Bei  der  Wiederholung  des  Nachsatzes 
in  D-dur 


T 


jH=£=j^ibj=J^ 


:t 


=Sr= 


-•/ 


bliesen  die  Fagotte  ihre  Qjjinte  im  Bass  so  nachdrücklich, 
dass  sie  Alles  übrige  verdeckten.  Direkt  falsche  Noten 
kamen  zwar  nicht  vor,  aber  das  Stück  hörte  sich  trotzdem 
ganz  miserabel  an.  Pasdeloup  hat  es,  offenbar,  garnicht 
verstanden  und  weiss  nicht,  wie  so  Etwas  gespielt  werden 
muss.  Kein  Wunder,  dass  die  Ouvertüre  dem  Publikum 
nicht  gefallen  hat  und  sehr  kühl  aufgenommen  worden  ist. 
Mir  war  das  Alles  so  peinlich,  alswenn  ich  selbst  im  Kon- 
zert gespielt  hätte.  Schuld  daran  ist  selbstverständlich  nicht 
das  Publikum,  sondern  einzig  und  allein  Pasdeloup.  Diese 
Ouvertüre  ist  für  das  grosse  Publikum  garnicht  so  unver- 
ständlich: sie  muss  nur  gut  gespielt  werden. 

Ich  habe  bei  Saint-Saens  Ihr  Konzert  vorgespielt.  Es 
gefällt  Allen  sehr.  Ueberhaupt  interessieren  sich  die  hiesi- 
gen Musiker  sehr  für  Ihre  Kompositionen". 

An  S.  Tanejew: 

„Moskau,  d.  5.   Dezember  1876. 

Lieber  Serge,  Ihren  Brief  habe  soeben  erhalten.  Glück 
und  Unglück  kommen,  bekanntlich,  immer  zusammen,  und 
ich  wundere  mich  ganz  und  gar  nicht,  dass  meine  Ouver- 
türe ebenso  durchgefallen  ist,  wie  jetzt  alle  meine  Kom- 
positionen allenthalben  durchfallen.  Ihr  Brief  hat  mich  aber 
auf  eine  Idee  gebracht.  Im  vorigen  Jahre  hatte  mir  Saint- 
Saens  den  Rat  gegeben,  in  Paris  ein  Konzert  mit  eignen 
Kompositionen  zu  geben.  Er  sagte,  dass  ein  derartiges 
Konzert  am  besten  im  Chätelet  mit  dem  Orchester  Co- 
lonne's  zu  veranstalten  wäre  und  nicht  besonders  teuer 
kosten  würde.  An  diese  Idee  klammere  ich  mich  jetzt  und 
möchte  sie  in  Ausführung  bringen.  Wollen  Sie  nun  so  gut 
sein,  lieber  Freund,  und  Saint-Saens  in  dieser  Angelegen- 
heit einenBesuch  machen,  um  das  Nähere  in  Erfahrung  zu  brin- 
gen: i)  ob  er  seinen  Rat  auch  Heute  noch  aufrecht  erhält? 
2)  wieviel  ungefähr  das  Vorgnügen  kosten  könnte?  3)  wann 
die  geeignetste  Zeit  für  so  Etwas  wäre? — Ich  bin  sogar  nicht 
abgeneigt,  selbst  zu  dirigieren.  Das  erscheint  Ihnen,  viel- 
leicht, merkwürdig,  aber  ich  bin  wirklich  entschlossen,  es 


—  350  — 

zu  thun,  gerade  weil  es  Paris  ist  und  nicht  Moskau,  wo 
man  mich  genau  kennt  und  wo  die  Meinung,  dass  ich  ein 
schlechter  Dirigent  sei,  schon  zu  sehr  um  sich  gegriffen 
hat.  Uebrigens  ist  die  Frage,  ob  ich  oder  Colonne  diri- 
gieren wird,  nebensächhch.  Die  Hauptsache  hegt  darin, 
dass  ich  anwesend  sein  möchte,  um  zu  bestimmen  was  und 
wie  gespielt  werden  muss.  Das  Notenmaterial  würde  ich, 
selbstverständlich,  mitbringen.  Ich  würde  folgendes  Pro- 
gramm vorschlagen:  i)  Ouvertüre  „Romeo  und  Julie",  2) 
Andante  aus  dem  Streichquartett  K°  i,  vom  ganzen  Streich- 
orchester gespielt,  3)  Einige  Lieder,  vorgetragen  von  Jen- 
galitschewa,  Panajewa  (eine  ausgezeichnete  Sängerin,  eine 
Schülerin  Viardot's)  oder  gar  von  derViardot  selbst,  die  meine 
Lieder  bereits  öffenthch  gesungen  hat.  4)  Klavierkonzert, 
vorgetragen  von  S.  Tanejew.  5)  ,, Sturm".  6)  Einige  kleine 
Klavierstücke  (Tanejew).  7)  Das  Finale  aus  der  zweiten 
Symphonie,  und  8)  Tänze  aus  dem  „Opritschnik"  (sie  sind 
zwar  trivial,  aber  effektvoll)".... 

Hier  möchte  ich,  von  der  chronologischen  Reihenfolge 
abweichend,  die  Antwort  Tanejew's  und  die  folgenden 
Briefe  Peter  Iljitsch's  in  Betreffjener  Angelegenheit  bringen. 

S.  Tanejew  an  P.  Tschaikowsky: 

,, Paris,  d.  16.  Dezember  1876. 

Heute  Vormittag  sprach  ich  Saint-Saens.  Das  Re- 
sultat meiner  Unterredung  ist  folgendes:  Er  ratet  Ihnen 
jetzt  mehr  denn  je,  ein  Konzert  zu  geben.  Der  Grund  da- 
von— die  Aufführung  des  ,, Romeo".  Er  sagt,  dass  die  Mu- 
siker, welche  er  nach  dem  Konzert  gesprochen,  Ihre  Ouver- 
türe sehr  gelobt  hätten,  dass  die  Aufnahme  seitens  des 
Publikums  durchaus  keinen  Misserfolg  bedeute  (ich  hatte 
Ihnen  nicht  geschrieben,  dass  nach  der  Ouvertüre  einige 
Pfiffe  laut  wurden,  welche  aber  durch  Händeklatschen 
zum  Schweigen  gebracht  wurden);  jedenfalls  wäre  es  viel 
schlimmer  gewesen,  wenn  das  Publikum  gleichgiltig  geblie- 
ben wäre.  „Cela  Га  pose,  cette  ouverture",  sagt  er.  Den  Saal 
des  Chätelet  können  Sie  nicht  bekommen;  man  muss  das  Kon- 
zert also  im  Saal  Herz  mit  dem  Colonne-Orchester  geben. 
Kostenpunkt:  Saal,  Orchester,  Annoncen,  kurz  Alles,  inclu- 
sive zwei  Proben, —  1500  Francs.  Zwei  Proben  sind  aber 
zu  wenig,  wir  brauchen  wenigstens  drei.  Dann  würden 
sich  die  Ausgaben  auf  maximum  2000  Francs  belaufen. 
Die  Orchestermusiker  erhalten  5  Eres,  für  jede  Probe  und 


—  351  — 

lo  Frcs.  für  das  Konzert,  Die  günstigste  Zeit  ist  Januar, 
Februar  und  März". 

An  S.  Tanejew: 

„Moskau,  d.  25.  Dezember  1876. 
An  Colonne  habe  ich  geschrieben.  Wenn  er  sich  ein- 
verstanden erklärt,  mir  sein  Orchester  zur  Verfügung  zu 
stellen,  dann  zweifle  ich  nicht,  dass  das  Konzert  zustande 
kommen  wird.  Ein  Tausend  Rubel  werden  wohl  nicht 
unerschwinglich  sein  und  ich  hoffe,  sie  zu  finden.  Ich  bin 
erstaunt  über  die  Billigkeit  des  Orchesters  und  des  Saals. 
Es  freut  mich,  dass  Saint-Saens  zuredet.  Sobald  ich  von 
Colonne  eine  zusagende  Antwort  erhalte,  werde  ich  ohne 
Zügern  die  zur  Verwirklichung  meiner  Absicht  notwendi- 
gen Schritte  unternehmen  und  vor  allen  Dingen  den  Kor- 
respondenten Jurgensons,  Herrn  D.  bitten,  das  Arrangement 
des  Konzerts  zu  übernehmen  oder  mir  Jemanden  zu  nen- 
nen, der  mir  für  ein  Honorar  diesen  Dienst  zu  leisten 
geeignet  wäre.  Dann  werde  ich  mich  nach  einer  Sängerin 
umsehen  und  Sie  bitten,  in  diskreter  Weise  in  Erfahrung 
zu  bringen,  ob  Viardot  geneigt  wäre  zwei  oder  drei  Lie- 
der von  mir  zu  singen.  Auch  werde  ich  Sie  bitten,  Frl. 
Jengalitschewa  einen  Besuch  zu  machen  und  sie  zu  bitten, 
in  meinem  Konzert  mitzuwirken.  Ich  bin  überzeugt,  dass 
Colonne  besser  als  ich  den  Taktstock  zu  schwingen  ver- 
stehen wird,  möchte  aber  dennoch  nicht  ganz  unthätig 
bleiben  und  wenigstens  Etwas  von  den  leichteren  Stücken, 
z.  B.  das  Finale  der  2.  S3nnphonie  selbst  dirigieren.  Was  Sie 
anbetrifft,  so  möchte  ich  Sie  bitten,  meine  Variationen  etwas 
zu  studieren  und  dann  noch  ein  Stück  nach  eigner  Wahl, — 
es  wird  Ihnen  doch  gewiss  nicht  zu  viel  Mühe   machen!" 

An  A.  Tschaikowsky: 

„ Bei  mir  haben  sich  viele  Sorgen  angehäuft:  ausser 

meiner  Arbeit  beschäftigt  mich  Tag  und  Nacht  der  Ge- 
danke an  eine  Konzertreise  nach  Paris  im  März.  Alle  ra- 
ten mir  dazu.  Zu  diesem  Konzert  brauche  ich  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  2000  Rubel;  aber  wo  hernehmen? 
Ich  habe  schon  alle  meine  Dispositionen  getroffen,  sodass — 
falls  ich  kein  Geld  auftreibe — das  Konzert  abgesagt  wer- 
den muss"... 

An  S.  Tanejew: 

„29.  Januar  1877,  Moskau. 
Lieber  S.,  mein  Konzert  wird  nicht  zustande  kommen. 


—  352  — 

Trotz  der  riesenhaftesten  Anstrengungen  und  grössten  Hoff- 
nungen ist  es  mir  nicht  geglückt,  die  nötige  Summe  auf- 
zutreiben. 

Ich  bin  ganz  in  Verzweiflung. 

Mehr  kann  ich  Heute  nicht  schreiben.  Verzeihen  Sie, 
dass  ich  Ihnen  so  viel  Mühe  mit  meinem  missglückten 
Plan  gemacht  habe.  Dank  für  den  Brief". 

Ungeachtet  der  Bitterkeit,  welche  der  relative  Misser- 
folg des  „Wakula"  in  Peter  Iljitsch's  Seele  hinterlassen 
hat;  ungeachtet  der  vielen  andern  Hiebe,  w^elche  sein  künstle- 
rischer Ehrgeiz  über  sich  ergehen  lassen  musste,  seit  er 
wieder  in  Moskau  war,  verlor  er  dennoch  nicht  einen 
Augenblick  seine  Energie  und  den  Glauben  an  sich.  Von 
einer  derartigen  Verzweiflung,  wie  sie  nach  der  Auffüh- 
rung des  „Opritschnik"  Peter  Iljitsch  ergriffen  hatte,  war 
diesmal  keine  Rede.  Ganz  im  Gegenteil:  während  er  durch 
das  Schicksal  seines  „liebsten  Sprossen" — wie  er  den  „Wa- 
kula" zu  nennen  pflegte  —  und  durch  die  verunglückten 
Komponistendebüts  in  Wien  und  Paris  tief  betrübt  war, 
während  er  gleichzeitig  auch  von  einem  ph3^sischen  Lei- 
den— einer  Magenkrankheit — heimgesucht  wurde,  hat  er  in 
dieser  Zeit — wie  wir  eben  gesehen  haben — nicht  nur  sehr 
grosses  Interesse  für  die  Propaganda  seiner  Werke  im 
Ausland  bekundet,  sondern  auch  in  sehr  kurzer  Zeit  seine 
„Variationen  über  ein  Rokoko-Thema"  für  das  Violoncello 
mit  Orchesterbegleitung  komponiert,  und  stand  ausserdem 
mit  W.  Stassow  wegen  eines  Operntexbuches — „Othello"  — 
in  Unterhandlungen.  Die  Wahl  dieses  Vorwurfs  stammt 
von  Peter  Iljitsch  selbst.  Als  ihm  Stassow  auseinanderzu- 
setzen begann,  das  dieses  Sujet  nicht  für  ihn  passend  sei, 
da  wollte  Peter  Iljitsch  nichts  davon  hören  und  verlangte 
energisch  gerade  diese  Tragödie  Shakespeare's.  Mitte  De- 
zember erhielt  er  denn  auch  von  Stassow  den  ersten  Ent- 
wurf dazu  und  begann,  ihn  eifrig  zu  studieren.  Dabei  blieb 
es  aber  auch.  Am  30.  Januar  schrieb  ihm  Stassow:  „Ma- 
chen Sie  was  Sie  wollen,  aber  den  Othello  habe  ich  bis 
Heute  noch  nicht  fertig;  hängen  Sie  mich,  meinetwegen, 
auf,  aber— ich  bin  unschuldig".  Uebrigens  hatte  auch  Pe- 
ter Iljitsch  selbst  die  Lust  verloren,  denn  in  seinem  Brief 
an  Stassow  macht  er  diesem  Vorwürfe,  dass  er  sich  nicht 
bemühen  will,  einen  andern  Stoff  zu  finden. 

In  jener  Zeit  fühlte  sich  Peter  Iljitsch  seelisch  so  wohl 
und  war  so  arbeitslustig,  dass  er  sein  ursprüngliches  Vor- 
haben, die  Weihnachtsferien  in  Kamenka  zu  verbringen, 
aufgab  und  in  Moskau  blieb. 


—  353  — 

An  А.  Dawidowa: 

„23.  Dezember  1876. 

Schrecklich  viele  Menschen  sind  angereist  gekommen: 

ich  werde  geradezu  in  Stücke  gerissen.  Und  ich  Schafskopf 
hatte  geglaubt,  in  den  freien  Tagen  recht  viel  arbeiten  zu 
können.  Oh,  wie  wird  es  wohl  bei  Euch  in  der  neuen  Be- 
hausung köstlich  und  gemütlich  sein!  Mit  welcher  Sehn- 
sucht denke  ich  daran!  Auch  die  Erinnerungen  an  das  vo- 
rige Jahr  necken  mich  sehr:  gerade  in  dieser  Zeit  war  ich 
mit  Modest  auf  der  Reise.... 

Graf  L.  N.  Tolstoi  war  vor  einiger  Zeit  hier.  Er  hat 
mich  besucht  und  ich  bin  stolz,  sein  Interesse  wachgeru- 
fen zu  haben.  Aber  auch  meinerseits  bin  ich  ganz  begei- 
stert von  seiner  idealen  Person". 

Schon  seit  langer  Zeit — seit  dem  ersten  Erscheinen 
der  Werke  Tolstoi's — zählte  Peter  Iljitsch  zu  den  glühend- 
sten Verehrern  dieses  Schriftstellers,  und  diese  Verehrung, 
wuchs  nach  und  nach  zu  einem  richtigen  Kultus  des  Na- 
mens Tolstoi  an.  Es  war  Peter  Iljitsch  eigen.  Alles  das, 
was  er  gern  hatte,  was  er  aber  nicht  von  Angesicht  zu 
Angesicht  kannte,  in  seiner  Phantasie  bis  ins  Ungeheuer- 
liche auszumalen;  so  stellte  er  sich  denn  auch  den  Schöp- 
fer des  „Krieg  und  Frieden^'-  nicht  als  einen  gewöhnlichen 
Menschen  vor,  sondern  hielt  ihn — nach  seinen  eignen  Wor- 
ten— für  einen  „Halbgott".  Zu  jener  Zeit  war  die  Persön- 
lichkeit L.  N.  Tolstoi's,  seine  Biographie,  sein  privates  Le- 
ben—ja, selbst  seine  Bilder — der  grossen  Masse  noch  fast 
garnicht  bekannt,  und  dieser  Umstand  trug  auch  sehr  dazu 
bei,  dass  Peter  Iljitsch  jenen  gewaltigen  Mann  sich  als 
einen  Zauberer  und  Hexenmeister  ausmalte.  Und  siehe  da, 
dieses  dämonische  Wesen,  dieser  räthselhafte  Mann  liess 
sich  von  seiner  himmlischen  Höhe  herab  und  bot  als  Er- 
ster Peter  Iljitsch  die  Hand. 

Zehn  Jahre  später  (1886)  beschreibt  Peter  Iljitsch  in 
seinem  Tagebuch  _  die  Begegnung  mit  Tolstoi  wie  folgt: 
„Als  ich  die  Bekanntschaft  Tolstoi's  machte,  hatte  ich  eine 
namenlose  Furcht  vor  ihm.  Es  schien  mir,  dass  dieser  grosse 
Herzenkenner  nur  einen  Blick  auf  mich  zu  werfen  brauchte, 
um  in  die  geheimsten  Winkel  meiner  Seele  zu  dringen. 
Seinem  Auge  konnte— so  glaubte  ich — auch  nicht  das  ge- 
ringste Schlechte  meines  Innern  verborgen  bleiben,  sodass 
es  müssig  wäre,  ihm  nur  die  guten  Seiten  zeigen  zu  wol- 
len. Wenn  er  edel  ist,  dachte  ich  (und  das  muss  er,  selbst- 

Tschnilcoualcy,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  23 


—  354  — 

verständlich,  sein),  dann  wird  er  es — wie  ein  Arzt — ver- 
meiden, die  kranken  Stellen  zu  berühren  und  zu  reizen, 
aber  gerade  daran  w^erde  ich  erkennen,  dass  er  Alles  weiss 
und  Alles  sieht.  Ist  er,  dagegen,  nicht  allzu  mitleidig,  so 
wird  er  ohne  Weiteres  seinen  Finger  in  die  Wunde  stecken. 
Es  wäre  für  mich  Beides  gleich  furchtbar,  hi  Wirklichkeit 
geschah  es  aber  ganz  anders.  Der  grösste  aller  Menschen- 
kenner erwies  sich  im  Umgang  mit  seinen  Nebenmenschen 
als  ein  sehr  einfaches,  herzlich  aufrichtiges,  liebevolles  We- 
sen, welchem  garnichts  daran  gelegen  schien,  jene  Allwis- 
senheit, welche  ich  so  fürchtete,  vor  Jedermann  zu  beto- 
nen; er  scho7ite  durchaus  nicht  die  hranhen  Stellen,  that  aber, 
anderseits,  wissentlich  nie  einem  Menschenherzen  iveh.  Offen- 
bar sah  er  in  mir  nicht  das  Objekt  seiner  Forschungen, 
sondern  wollte  lediglich  mit  mir  ein  w^enig  über  Musik 
plaudern,  für  die  er  sich  damals  sehr  interessierte.  Unter 
Anderem  gefiel  er  sich  in  der  Verneinung  Beethovens  und 
bezweifelte  sehr  dessen  Genialität.  Das  ist,  allerdings,  ein 
eines  grossen  Mannes  unwürdiger  Zug.  Ein  von  der  gan- 
zen Welt  anerkanntes  Genie  bis  zum  eignen  Unverstand 
herabzuziehen — das  ist,  gewöhnlich,  eine  Eigenschaft  dum- 
mer Menschen". 

Nicht  nur  „über  Musik  plaudern"  wollte  Graf  L.  N. 
Tolstoi  mit  Peter  Iljitsch,  sondern  ihm  auch  das  Interesse 
aussprechen,  welches  er  seinen  Kompositionen  entgegen- 
brachte. Peter  Iljitsch  fühlte  sich  dadurch  derart  geschmei- 
chelt, dass  er  N.  Rubinstein  bat,  dem  berühmten  Autor  zu 
Ehren  einen  Musikabend  im  Konservatorium  zu  veranstal- 
ten. An  diesem  Abend  wurde  unter  Anderem  auch  das  An- 
dante aus  dem  D-dur-Quartett  vorgetragen,  bei  dessen 
Klängen  Leo  Nikolajewitsch  in  Thränen  ausbrach.  „Nie  in 
meinem  Leben  war  mein  Ehrgeiz  so  über  und  über  be- 
friedigt", schreibt  Peter  Iljitsch  in  seinem  Tagebuch, — 
,,nie  war  mein  Autorenehrgeiz  so  beglückt  wie  damals,  als 
L.  Tolstoi,  neben  mir  sitzend,  den  Klängen  meines  An- 
dante lauschte,  und  Thränen  über  Thränen  seinen  Augen 
entflossen". 

Bald  nach  jenem  denkwürdigen  Abend  reiste  Leo  Ni- 
kolajewitsch fort  und  schrieb  an  Peter  Iljitsch  aus  Jassnaja 
Poljana  ')  folgenden  Brief: 

„Lieber  Peter  Iljitsch,  sende  Ihnen  die  Lieder.  Ich  habe 
sie  noch  einmal  durchgesehen.   In  Ihren  Händen  sind  sie 


1)  Jassnaja  Poljana  heisst  die  Besitzung  L.  Tolstoi's  im  Gouvernement  Tula. 


—  355  — 

ein  Schatz:  gebrauchen  Sie  sie  aber  um  Gottes  Willen 
nur  im  Mozart -Haydn'schen  Sinne  und  nicht  im  Beetho- 
ven-Schumann-Berlioz'schen,  welcher  stets  nur  das  Uner- 
wartete, das  Ueberraschende  sucht.  Wieviel  hätte  ich  Ih- 
nen noch  zu  sagen!  Garnichts  habe  ich  Ihnen  gesagt  von 
dem,  was  ich  wollte.  Es  war  aber  auch  keine  Zeit  dazu! 
Ich  genoss  nur.  Dieses  mein  letztes  Verweilen  in  Moskau 
wird  für  mich  eine  der  schönsten  Erinnerungen  bedeuten. 
Noch  nie  ist  mir  für  meine  literarischen  Mühen  ein  so 
schöner  Lohn  zu  Teil  geworden,  als  an  jenem  wunder- 
vollen Abend.  Wie  nett  ist  doch  Rubinstein!  Uebermitteln 
Sie  ihm,  bitte,  noch  einmal  meinen  herzlichsten  Dank.  Aber 
auch  all'  die  andern  Priester  der  höchsten  aller  Künste 
haben  auf  mich  einen  herrlichen  Eindruck  gemacht...  Wem 
von  ihnen  dürfte  ich  meine  Schriften  schicken,  d.  h.  wer 
besitzt  sie  nicht — von  denen,  die  sie  auch  wirklich  lesen 
werden? 

Ihre  Sachen  habe  noch  nicht  angesehen,  sobald  ich  aber 
darangehe,  werde  ich  Ihnen  auch  meine  Meinung  sagen, 
ob  Sie  sie  brauchen  oder  nicht,  und  zwar  ganz  dreist, 
denn  ich  habe  Ihr  Talent  lieb  gewonnen.  Auf  Wiederse- 
hen! Mit  freundschaftlichem  Händedruck 

Ihr 


L.  Tolstoi". 


An  Graf  L.  N.  Tolstoi: 


„Moskau,  d.  24.  Dezember  1876. 

Verehrter  Graf!  Haben  Sie  herzlichen  Dank  für  die 
Zusendung  der  Lieder.  Ich  muss  Ihnen  aufrichtig  sagen, 
dass  dieselben  von  ungeübter  Hand  notiert  sind  und  da- 
her ihre  ursprüngliche  Schönheit  fast  ganz  eingebüsst  ha- 
ben. Der  Hauptfehler  besteht  darin,  dass  sie  künstlich  und 
gewaltsam  in  einen  regelmässigen  Rytmus  eingezwängt 
worden  sind.  Nur  die  russischen  Tanzlieder  haben  einen 
gleichmässig  accentuirten  Takt;  die  Sagen  haben  aber  mit 
Tanzliedern  garkeine  Aehnlichkeit.  Ausserdem  sind  die 
meisten  der  Lieder — offenbar  auch  gewaltsam  —  im  hellen 
D-dur  notiert,  was  mit  der  Tonalität  des  echten  russischen 
Volksliedes  wiederum  nicht  übereinstimmt,  denn  dasselbe 
bewegt  sich  überhaupt  nicht  in  einer  bestimmten  Tonart;  am 
ehesten  noch  kann  Letztere  mit  den  alten  Kirchentonarten 
verglichen  werden.  Ueberhaupt  können  die  mir  von  Ihnen 
zugesandten  Lieder  keiner  systematischen  Bearbeitung  un- 


—  35б  — 

terworfen  werden,  d.  h.  es  lässt  sich  nicht  ein  Volkslieder- 
buch daraus  machen,  denn  dazu  müssten  die  Lieder  mög- 
lichst genau  so  notiert  sein,  wie  sie  wirklich  vom  Volke 
gesungen  werden.  Das  ist  jedoch  eine  ausserordentlich 
schwere  Aufgabe  und  setzt  das  feinste  musikalische  Ge- 
fühl sowie  umfassende  musikhistorische  Kenntnisse  voraus... 
Ihre  Lieder  können  aber  als  Material  für  symphonische 
Arbeiten  dienen,  und  zwar  bieten  sie  in  der  That  ein  sehr 
reichhaltiges  Material,  welches  ich  bei  Gelegenheit  sehr 
auszunutzen  gedenke. 

Es  freut  mich  sehr,  dass  der  Abend  im  Konservatorium 
einen  schönen  Eindruck  auf  Sie  gemacht  hat.  Unsere  Quar- 
tettmänner haben  aber  auch  wirklich  so  schön,  wie  noch 
nie,  gespielt.  Aus  dieser  Thatsache  müssen  Sie  folgern, 
dass  ein  Paar  Ohren  eines  so  grossen  Künstlers  wie  Sie, 
den  Musiker  tausendmal  intensiver  anzuregen  im  Stande 
sind,  als  Hunderte  von  Ohren  des  grossen  Publikums. 

Sie  sind  Einer  jener  Dichter,  von  denen  man  sagen 
kann,  dass  nicht  nur  ihre  Werke  Einem  lieb  und  wert 
sind,  sondern  auch  ihre  Person  selbst.  Man  fühlte  es  or- 
dentlich, dass  unsere  Herren  mit  Lust  und  Hingebung 
spielten:  spielten  sie  doch  für  einen  verehrten  und  gelieb- 
ten Mann.  Was  mich  anbelangt,  so  muss  ich  gestehen:  es 
hat  mich  glücklich  und  stolz  gemacht,  dass  meine  Musik 
Sie  zu  rühren  und  hinzureissen  vermochte. 

Ihre  Schriften  sind  allen  Mitwirkenden  bekannt,  ausser 
Fitzenhagen,  der  nicht  russisch  lesen  kann.  Ich  meine  aber, 
dass  sie  Ihnen  dennoch  sehr  dankbar  sein  werden,  wenn 
Sie  Jedem  von  ihnen  ein  Werk  dedicieren.  Ich  für  mein 
Teil  möchte  Sie  um  Ihre  „Kosaken"  bitten".... 

Mit  diesem  Brief  hat  die  Annäherung  Peter  Iljitsch's 
an  Graf  Tolstoi  ihr  Ende  erreicht.  Merkwürdigerweise  ist 
dieses  durchaus  nicht  gegen  den  Wunsch  unseres  Kom- 
ponisten geschehen,  wenngleich  er  es  auch  nicht  absicht- 
lich herbeigefüHrt  hat.  Aus  den  letzten  Worten  des  oben 
angeführten  Tagebuchauszuges  wird  der  aufmerksame  Le- 
ser gemerkt  haben,  dass  die  persönliche  Bekanntschaft  mit 
Tolstoi  Peter  Iljitsch  ein  wenig  enttäuscht  hatte.  Es  war 
ihm  unangenehm,  dass  der  „Beherrscher  seiner  Gedanken", 
das  Wesen,  welches  aus  den  tiefsten  Tiefen  seiner  Seele 
so  viel  reine  und  flammende  Begeisterung  hervorzuzaubern 
verstand,  manchmal  „recht  gewöhnliche  Dinge"  redete,  die 
dazu  noch  „eines  grossen  Mannes  nicht  würdig  waren".  Es 
that  Peter  Iljitsch  in  der  Seele  weh,  seinen  Abgott  in  der 


—  357  — 

Nähe  betrachtend,  alle  kleinen  Fehler  und  Mängel  dessel- 
ben zu  sehen.  Er  fürchtete  gleichsam,  den  Glauben  an  ihn 
zu  verHeren  und  sich  den  Genuss  an  seinen  Werken  zu 
verderben.  Diesen  Genuss  hat  er  sich — wie  er  mir  selbst 
erzählte  —  in  der  That  zeitweilig  durch  seine  übergrosse 
Empfindlichkeit  getrübt.  ,,Anna  Karenina",  welche  gerade 
in  jener  Zeit  zu  erscheinen  begann  (im  ,,Russki  Westnik"), 
wurde  von  Peter  Iljitsch  in  einem  an  mich  adressierten 
Brief  folgendermaassen  kritisiert:  „Nach  Deiner  Abreise 
habe  ich  „Anna  Karenina"  weitergelesen.  Schämst  Du  Dich 
denn  garnicht,  dieses  empörende  und  gemeine  Zeug,  wel- 
ches sich  anmaasst  psychologisch  tief  wahr  sein  zu  wol- 
len, so  in  den  Himmel  zu  heben?  Dass  sie  der  Teufel  hole 
diese  psychologische  Wahrheit,  wenn  im  Resultat  Nichts 
als  der  Eindruck  einer  grenzenlosen  Oede  übrig  bleibt!" 
Später  jedoch,  nach  dem  Durchlesen  des  ganzen  Romans, 
schämte  sich  Peter  Iljitsch  seines  Urteils  und  anerkannte 
das  Werk  als  eines  der  bedeutendsten  Schöpfungen  Tol- 
stoi's.  In  Gegenwart  Tolstoi's  fühlte  sich  Peter  Iljitsch 
stets  sehr  unfrei,  und  das  trotz  der  Liebenswürdigkeit  und 
Einfachheit  Leo  Nikolajewitsch's  im  Umgang  mit  Menschen. 
Aus  Furcht,  ihn  irgendwie  zu  verletzen,  oder  ihm  zu  miss- 
fallen, anderseits  aber  auch  aus  dem  Bestreben,  ihm  seine 
Bewunderung  und  sein  Entzücken  nicht  zu  verraten,  wusste 
Peter  Iljitsch  niemals  recht,  wie  er  sich  benehmen  sollte 
und  wurde  daher  den  Gedanken  nicht  los,  dass  er  sich 
nicht  natürlich  genug  gebe,  dass  er  „eine  Rolle  spiele". 
Dieses  Bewusstsein  war  aber  für  Peter  Iljitsch's  Wahrheits- 
Hebe  fast  unerträglich,  so  kam  es  denn,  dass  er  Begegnun- 
gen mit  Tolstoi  aus  dem  Wege  zu  gehen  suchte. 

So  sehr  Peter  Iljitsch  den  Künstler  Tolstoi  verehrte,  so 
wenig  konnte  er  sich  mit  dem  Philosophen  befreunden. 
Im  Tagebuch  von  1886  schreibt  er  über  „Was  ist  mein 
Glaube?"  Folgendes: 

„Wenn  man  Selbstbiographieen  unserer  besten  Män- 
ner liest,  oder  ihre  Memoiren,  so  stosst  man  jeden  Augen- 
blick auf  Gedanken,  Eindrücke,  künstlerische  Gefühle,  wel- 
che man  oft  selbst  gehabt  und  erlebt  hat.  Nur  E'meyi  giebt 
es,  der  unbegreiflich  ist,  der  unerreicht  und  einzig  dasteht 
in  seiner  Grösse.  Das  ist  L.  Tolstoi.  Oft  ärgere  ich  mich 
über  ihn,  ja,  hasse  ihn  beinahe.  Warum,  denke  ich,  muss 
dieser  Mann,  welcher  die  köstliche  Gabe  besitzt,  die  Seele 
eines  Menschen  so  wundervoll  harmonisch  zu  stimmen; 
welcher  die  Kraft  hat  unsere  schwachen  Köpfe  zum  Be- 


-358- 

greifen  und  Verstehen  der  geheimsten  Winkel  der  Ethik 
zu  zwingen; — warum  muss  dieser  Mann  den  Moralprediger 
spielen,  warum  will  er  unser  Lehrer  und  Vormund  sein? 
Früher  konnte  er  durch  die  einfache  Erzählung  eines  ge- 
wöhnlichen, alltäglichen  Vorgangs  den  stärksten  Eindruck 
hinterlassen.  Das,  was  da  zwischen  den  Zeilen  zu  lesen 
war,  war  eitel  Liebe  zu  seinem  Nebenmenschen,  eitel  Mit- 
leid zu  seiner  Hilflosigkeit,  Vergänglichkeit,  Winzigkeit. 
Wie  oft  vergoss  ich  darüber  Thränen,  ohne  zu  wissen  wa- 
rum... Vielleicht  weil  ich  dann  durch  seilte  Vermittelung 
für  einen  Augenblick  dem  Ideal,  dem  absoluten  Glück,  der 
Menschlichkeit  nahe  gerückt  wurde.  Jetzt  kommentiert  er 
Texte,  beansprucht  ein  ausschliessliches  Mo7iopol  seiner 
Auffassung  in  Sachen  des  Glaubens  und  der  Ethik,-  —aber 
aus  allen  seinen  jetzigen  Schriften  weht  ein  kalter  Luftzug, 
man  empfindet  eine  gewisse  Furcht  und  fühlt,  dass  auch 
er  Mensch  ist,  d.  h.  ein  Wesen,  welches  gegenüber  „un- 
serer Bestimmung",  „Zweck  und  Ziel  des  ganzen  Daseins", 
„Gott"  und  „Religion" — ebenso  hoffärtig  eingebildet,  aber 
auch  ebenso  unwissend  und  gering,  wie  ein  Insekt,  wel- 
ches an  einem  warmen  Julitag  plötzlich  geboren  wird,  um 
gegen  Abend  für  ewig  zu  verschwinden. 

Der  frühere  Tolstoi  war  ein  Gott.  Der  jetzige  —  nur 
ein  Priester... 

Tolstoi  sagt,  dass  er  früher  Nichts  gewusst  habe  und 
dennoch  anmaassend  genug  gewesen  sei,  in  seiner  Unwis- 
senheit die  Menschen  zu  lehren.  Er  bedauert  das.  Jetzt 
aber  belehrt  er  die  Menschen  wieder;  also  ist  er  nicht  mehr 
unwissend?  Woher  dieses  Selbstbewusstsein?  Ist  das  nicht 
leichtfertige  Selbstüberhebung?  Der  wahre  Weise  weiss 
doch  nur,  dass  er  Garnichts  weiss".... 

Soviel  über  Peter  Iljitsch's  Beziehungen  zu  Tolstoi. 

Man  sagt,  dass  vor  einem  starken  Sturm  Ruhe  in  der 
Natur  eintrete.  Diese  Erscheinung  kann  man  zwei  Mal  in 
Peter  Iljitsch's  Leben  beobachten.  Erinnern  wir  uns  an  den 
Dienst  im  Departement,  an  die  Strebsamkeit  und  den  Fleiss 
Peter  Iljitsch's,  welche  er  im  Jahre  1862 — also  kurz  bevor 
er  zum  Musikstudium  überging — bekundete,  an  seinen  Eifer 
bei  der  Erledigung  seiner  Beamtenpflichten.  Nie  war  er 
mit  seinem  Loos  zufriedener,  nie  war  seine  Seele  ruhiger, 
wie  damals,  einige  Monate  vor  seinem  Eintritt  in  das  Kon- 
servatorium. So  war  es  auch  jetzt.  Kurz  vor  jener  wahn- 
sinnigen That,  die  ihn  für  immer  von  Moskau  losreissen, 
die  alle  seine  Gewohnheiten  und  Beziehungen  vollständig 


—  359  — 

verändern  sollte,  und  den  Beginn  eines  neuen  Lebens  für 
ihn  bedeutete,  also  in  einer  Zeit,  in  welcher  —  wie  man 
glauben  musste,  um  jenen  verzweifelten  Entschluss  zu  be- 
gründen— die  Unzufriedenheit  mit  dem  Schicksal  ihren  Kul- 
minationspunkt erreicht  hatte,  —  war  Peter  Iljitsch  nichts 
weniger  als  niedergeschlagen.  Im  Gegenteil:  im  Januar 
und  Februar  1877  macht  Peter  Iljitsch  ganz  den  Eindruck 
eines  Menschen,  der  in  voller  Seelenruhe  sich  den  Um- 
ständen unterwirft,  mit  seinem  Leben  zufrieden  ist,  keine 
Wünsche  hat,  keine  Sehnsucht  kennt  und  soviel  Biederkeit 
und  gute  Laune  verrät,  wie  selten  vorher.  Diese  Stimmung 
spiegelt  sich  vortrefflich  in  einem  scherzhaften  Brief  wieder, 
den  Peter  Iljitsch  am  2.  Januar  1877  an  mich  richtete. 

An  M.  Tschaikowsky: 

„Sehr  geehrter  Herr  Modest  Iljitsch!  Weiss  nicht,  ob 
Sie  sich  noch  meiner  erinnern.  Ich  bin  Ihr  leiblicher  Bru- 
der und  Professor  am  Moskauer  Konservatorium.  Habe 
auch  einige  Kompositionen  geschrieben:  Opern,  Sympho- 
nieen,  Ouvertüren  etc.  Ehedem  hatten  Sie  mich  mit  Ihrer 
persönlichen  Aufmerksamkeit  beehrt.  Wir  haben  sogar  im 
vorigen  Jahr  eine  gemeinschaftliche  Reise  ins  Ausland  un- 
ternommen, welche  mir  unvergesslich  bleiben  wird.  Später 
haben  Sie  mir  des  öfteren  sehr  hebe  und  interessante  Briefe 
geschrieben.  Jetzt  scheint  mir  aber  Alles  das  nur  ein  schö- 
ner Traum  gewesen  zu  sein.  Ja,  Sie  haben  mich  verges- 
sen und  wollen  Nichts  mehr  von  mir  wissen...  Ich,  aber, 
bin  nicht  so  Einer,  wie  Sie.  Ungeachtet  meines  Abscheu's 
vor  jeglicher  Korrespondenz,  ungeachtet  meiner  Müdigkeit 
(es  ist  Mitternacht)  habe  ich  mich  hingesetzt,  um  Sie  auf 
mich  aufmerksam  zu  machen  und  Ihnen  meine  wärmsten 
Freundschaftsgefühle  zu  Füssen  zu  legen. 

Gratuliere  Ihnen,  liebes  Brüderchen,  zum  Neuen  Jahr, 
wünsche  Ihnen  Glück,  Gesundheit  und  Erfolg  in  allen  Ihren 
Arbeiten.  Ich  grüsse  auch  Ihren  lieben  Zögling,  Kolja,  und 
bitte  Sie,  ihn  in  meinem  Namen  zu  küssen.  Schreiben  Sie 
mir  auch,  hebes  Brüderchen,  über  sein  Befinden,  ob  er 
fröhlich  ist  und  ob  er  sich  meiner  noch  erinnern  kann. 

Die  Feiertage  habe  ich,  mein  liebes  Brüderchen,  sehr 
unthätig  und  nicht  gar  lustig  verbracht.  Wollte  arbeiten, 
wurde  aber  daran  gehindert.  Augenblicklich  wohnt  bei  mir 
unser  V^ervvandter  M.  Assier;  er  ist — bei  Gott — ein  sj^mpa- 
tischer  und  lieber  Junge,  und  ich  bin  allabendhch  mit  ihm 
zu  Hause.  So  ist  es,  mein  liebes  Brüderchen. 


—  збо  — 

Vor  dem  Fest  bin  ich,  mein  Brüderchen,  mit  dem  Schrift- 
steller Graf  L.  Tolstoi  sehr  nahe  bekannt  geworden.  Sel- 
biger hat  mir  sehr  gefallen.  Auch  bin  ich  im  Besitz  eines 
sehr  lieben  und  teuren  Briefes  von  dero  Gnaden.  Beim 
Anhören  des  Andante  meines  ersten  Quartetts  haben  seine 
Augen  Thränen  der  Rührung  vergossen.  Und  ich  bin  sehr 
stolz  darauf,  mein  liebes  Brüderchen,  und  Du,  mein  liebes 
Brüderchen,  darfst  Dich  mir  gegenüber  nicht  vergessen, 
denn  ich  bin  jetzt  ein  grosses  Thier.  Nun  adieu,  mein 
liebes  Brüderchen... 

Dein  erzürnter  Bruder  Peter". 

Am  20.  Februar  fand  die  erste  Vorstellung  des  Ballets 
„Der  Schwanensee"  statt.  Peter  Iljitsch  sah  dieser  Vor- 
stellung lange  nicht  mit  der  nervösen  Aufregung  entgegen, 
welche  sich  vor  den  Aufführungen  seiner  Opern  bei  ihm 
einzustellen  pflegte,  und  nahm  daher  auch  den  sehr  man- 
gelhaften Erfolg  dieses  Werkes  nicht  gar  zu  sehr  zu  Her- 
zen, zumal  er  diesmal  Grund  genug  hatte  die  Schuld  nicht 
sich  selbst  zuzuschreiben,  denn  die  Ausstattung  des  Stückes, 
im  Sinne  der  Dekorationen  und  Kostüme,  war  sehr  ärm- 
lich, ausserdem  fehlte  es  an  talentvollen  Darstellern;  die 
dürftige  Phantasie  des  Balletmeisters  hat  Nichts  aus  dem 
Stück  zu  machen  verstanden;  dazu  kam  noch  der  Umstand, 
dass  das  Orchester  von  einem  quasi  Dilettanten,  Herrn 
Rjabow,  geleitet  wurde,  der  bis  dahin  noch  nie  eine  so 
komplizierte  Partitur  zu  Gesicht  bekommen  hatte. 


An  Frau  A.  I.  Dawidowa: 


.22.  Februar. 


In  der  Butterwoche  ^)  bin  ich  in  Petersburg  gewe- 
sen und  habe  einige  sehr  angenehme  Tage  dort  verbracht. 
Ich  habe  mich  nicht  genug  über  Väterchen  freuen  können, 
so  fröhlich  und  so  zärtlich  ist  er  wieder  geworden.  Während 
seiner  Krankheit  ^j  hat  mich  gerade  die  Abwesenheit  seiner 
gewöhnlichen  ZärtHchkeit  sehr  schmerzlich  berührt. 

Die  ganze  vorige  Woche  wohnte  bei  mir  T0I3',  wel- 
cher zu  meiner  grossen  Freude  nur  meinetwegen  nach 
Moskau  gekommen  war.  Er  hat  auch  mein  Ballet  mit  an- 
gehört, welches  endlich  zur  Aufführung  gelangt  ist.  Ueber- 

1)  Die  Woche  vor  der  Grossen  Fastenzeit  wird  in  Russland  Buttervvoche  genannt. 

2)  Im  Januar  war  Uja  Petrowitsch  sehr  ernst  erkrankt,  so  dass  seine  Angehörigen 
jsich  auf  das  .Schlimmste  gefasst  machten.  Zum  Glück  seiner  Kinder  ist  dieses  Schlimmste 

edoch  nicht  eingetreten. 


—  зб1  — 

haupt  habe  ich  jetzt  ganz  Moskau  mit  den  Erzeugnissen 
meiner  Muse  überschwemmt.  Es  vergeht  kaum  ein  Tag,  so 
nicht  irgendwo  eines  meiner  Werke  gespielt  oder  gesun- 
gen wird.  Neuhch  habe  ich  sogar  den  Mut  gehabt,  als  Di- 
rigent aufzutreten:  zwar  sehr  ungeschickt  und  sehr  ängstlich, 
aber  nichtsdestoweniger  mit  grossem  Erfolg,  dirigierte  ich 
im  Grossen  Theater  meinen  „Russisch-Serbischen  Marsch". 
Ich  will  jetzt  jede  Gelegenheit  wahrnehmen,  mich  im  Diri- 
gieren zu  üben,  denn — sollten  meine  Pläne  in  Betreff  einer 
ausländischen  Konzertreise  in  Erfüllung  gehen — so  werde 
ich  selbst  kapellmeistern  müssen"... 

Am  25.  Februar  erlebte  die  symphonische  Fantasie  „Fran- 
cesca  da  Rimini"  im  zehnten  Symphoniekonzert  zu  Mos- 
kau ihre  Uraufführung.  Der  Erfolg  war  ein  grossartiger. 
Das  erhellt  schon  daraus,  dass  das  Werk  noch  in  dersel- 
ben Saison  zwei  Mal  wiederholt  wurde,  und  zwar  am  5. 
und  am  10.  März.  N.  D.  Kaschkin  lobt  in  seinem  Referat 
in  begeisterten  Worten  nicht  nur  das  Werk  selbst,  welches 
er  als  ein  für  die  russische  Musik  hochbedeutsames  Ereig- 
niss  begrüsst,  sondern  auch  die  geniale  Interpretation  des- 
selben durch  N.  Rubinstein. 

Im  Laufe  dieses  Winters  begann  Peter  Iljitsch  die  Kom- 
position seiner  vierten  Symphonie.  Es  ist  möglich,  dass  er 
nur  deshalb  die  Lust  verlor,  das  Othello-Textbuch  zu  kom- 
ponieren, w^eil  er  sich  ganz  und  gar  der  Symphonie  hingab. 

Im  März  und  April  litt  er  wieder  sehr  an  seinen  Trüb- 
sinnsanfällen, was  aus  der  Stimmung  seiner  damaligen  Briefe 
hervorgeht. 

An  S.  Tanejew: 

„Moskau,  d.  25.  April  1877. 

Heute  ist  mein  Geburtstag,  mein  lieber  Sergei  Iwano- 
witsch.  Im  vorigen  Jahr  haben  Sie  den  Abend  dieses  Ta- 
ges bei  mir  verbracht  und  Heute  habe  ich  Lust,  mit  Ihnen 
zu  plaudern.  Der  Gedanke,  dass  mein  Brief  sie  möglicher- 
weise nicht  mehr  in  Paris  antreffen  wird,  benimmt  eini- 
germaassen  meinen  Schrifteifer,  ich  will  aber  dennoch  aufs 
Geratewohl  schreiben. 

Es  ist  mir  bekannt,  dass  Sie  mit  Ihrem  Zeitvertreib 
ganz  zufrieden  sind,  woraus  ich  folgern  könnte,  dass  Sie 
sich  nicht  nach  Ihren  in  der  fernen  Heimat  weilenden 
Freunden  (darunter  auch  ich)  sehnen.  Mir  aber,  dem  un- 
zufriedenen und  erfolglos  strebenden  Menschenkind,   der 


—    Зб2    — 

ich  vom  unbarmherzigen  Schicksal  an  das  Konservatoriums- 
katheder angekettet  bin  und  nun  schon  seit  12  Jahren  mit 
dem  eines  besseren  Zieles  würdigen  Eiferjene  grosse  Wahr- 
heit verkünde,  dass  parallele  Ouintenfortschreitungen  sünd- 
haft seien  —  mir  ist  es  beschieden,  beklommenen  Herzens 
an  Sie  zu  denken,  der  Sie  mir  viele  Jahre  hindurch  eine 
Freude  und  ein  Trost  waren: 

Nessun  maggior  dolore,  che  ricordarsi  del  tempo  felice 
nella  miseria. 

Oft  denke  ich  an  Sie  und  bin  traurig,  dass  Ihr  liebes 
Gesicht  nicht  in  meiner  Nähe  weilt.  Man  sagt,  dass  Sie 
bald  zurückkehren  лverden;  ich  freue  mich  sehr  darauf. 

Ihr  Lied  ist  in  seiner  Art  ein  herrliches  Stück.  Die 
Schönheit  und  Ueppigkeit  der  Harmonie  ist  erstaunlich. 
Trotz  der  warmen  Melodie  ist  aber  das  Lied  etwas  un- 
sangbar und  wird  daher  wohl  kaum  jemals  populär  wer- 
den. Für  uns  Musiker  enthält  es  dagegen  eine  ganze  Menge 
des  Interessanten,  viele  schöne  Details.  Ich  hoffe,  dass  die- 
ses Lied  nicht  das  einzige  Werk  ist,  welches  Sie  im  Laufe 
des  Winters  verfasst  haben.  Uebrigens  will  ich  Ihnen  da- 
mit keinen  Vorwurf  machen  und  will  denken,  dass  der 
Aufenthalt  in  Paris  Ihnen  manch'  andern  Nutzen  gebracht 
hat".... 

An  I.  Klimenko: 

,.8.  Mai. 

Ich  habe  mich  sehr  verändert  seit  wir  uns  nicht  ge- 
sehen, namentlich  in  moralischer  Beziehung.  Von  Fröhlich- 
keit und  Lust  zu  übermütigen  Scherzen  keine  Spur  mehr. 
Das  Leben  ist  fürchterlich  leer,  langweilig  und  trivial.  Ich 
denke  ernstlich  an  die  Heirat  als  einen  dauernden  Bund. 
Das  Einzige  was  unveränderlich  in  mir  geblieben  ist — das 
ist  die  Lust  am  Komponieren.  Wenn  sich  die  Dinge  an- 
ders gestaltet  haben  würden,  wenn  ich  nicht  auf  Schritt 
und  Tritt  allerlei  Hindernissen  zu  begegnen  verdammt 
wäre — zum  Beispiel  meinen  Konservatoriumsstunden,  wel- 
che mich  von  Jahr  zu  Jahr  mehr  anekeln  —  dann  könnte 
ich  wohl  etwas  wirklich  Wertvolles  schaffen.  Aber  oh  wehe! 
An  das  Konservatorium  bin  ich  gefesselt!"... 

Anfangs  Mai  waren  drei  Sätze  der  Symphonie  im  Ent- 
wurf bereits  fertig.  Aber  schon  vorher,  im  April,  bekam 
Peter  Iljitsch  wieder  Lust  zu  einer  Oper  und  wandte  sich 
mit  diesbezüglichen  Aufträgen  an  verschiedene  Personen, 


—  збз  — 

u.  А.  auch  an  mich.  Ich  fühlte  mich  dadurch  sehr  geschmei- 
chelt und  sandte  ihm  Mitte  Mai  das  Szenarium  eines 
Textbuches,  dessen  Inhalt  ich  der  graziösen  Novelle  No- 
diers,  „Ines  de  Las-Sierras"  entlehnt  habe,  worauf  ich  fol- 
gende Antwort  erhielt: 

„i8.  Mai  1877. 

Lieber  Modi,  verzeihe,  dass  ich  lange  nichts  geantwor- 
tet habe.  Ich  war  drei  Tage  auf  dem  Lande  (bei  Schilow- 
sk}^)  und  habe  dort  sehr  angenehm  die  Zeit  verbracht. 
Höre  was  ich  Dir  in  Betreff  Deiner  „Ines"  zu  sagen  habe. 
Sie  hat  mich  nicht  im  Geringsten  zum  Beginn  der  Arbeit 
angeregt:  ein  Zeichen  dafür,  dass  das  Szenarium  nicht  den 
Kern  einer  guten  Oper  in  sich  birgt.  Es  ist  Alles  so  epi- 
sodisch drin  und  so  wenig  poetisch.  Nein,  mein  Heber 
Freund  Modi,  ein  geborener  Textdichter  bist  Du  nicht; 
dennoch  besten  Dank  für  die  gute  Absicht. 

Neulich  war  ich  bei  Frau  Lawrowskaja  ^).  Man  kam 
auf  Operntexte  zu  sprechen.  X.  quatschte  ein  unglaublich 
dummes  Zeug  und  machte  die  fürchterlichsten  Vorschläge. 
Elisabeth  Andrej ewna  (Lawrowskaja)  schwieg  die  ganze 
Zeit  und  lächelte  nur.  Plötzlich  sagte  sie  aber:  „Wie  wäre 
es  mit  „Eugen  Onegin"?"  Diese  Idee  kam  mir  sehr  kurios 
vor  und  ich  antwortete  nichts.  Später  aber,  während  eines 
einsamen  Mittagessens  im  Restaurant  erinnerte  ich  mich 
an  den  „Onegin",  begann  nachzudenken  und  fand  die  Idee 
garnicht  so  absurd.  Der  Entschluss  war  bald  gefasst  und 
ich  begab  mich  sofort  auf  die  Suche  nach  Puschkin's  Wer- 
ken. Es  kostete  Mühe,  sie  zu  finden.  Das  Durchlesen  ver- 
setzte mich  inEntzücken. Ich verbrachteeineschlafloseNacht, 
deren  Resultat:  das  Szenarium  einer  köstlichen  Oper  mit 
Puschkins  Text.  Gleich  den  nächsten  Tag  fuhr  ich  zu  Schi- 
lowsky,  und  nun  bearbeitet  er  mit  Windeseile  mein  Sze- 
narium. Ich  will's  Dir  in  kurzen  Worten  erzählen: 

Erster  Akt.  Bild  I:  die  alte  Larina  und  die  Muhme  sit- 
zen im  Garten  und  sind  gerade  beim  Einmachen.  Duett. 
Aus  dem  Hause  ertönt  Gesang:  Tatjana  und  Olga  singen 
ein  Duett  mit  Begleitung  einer  Harfe. 

Schnitter  und  Schnitterinnen  kommen  herbei  (mit  der 
letzten  Garbe),  singen  und  tanzen.  Plötzlich  meldet  der 
Diener  Gäste.  Es  erscheinen  Eugen  und  Lensky.  Die  Ze- 


1)  E.  A.  Lawrowskaja — berühmte  Sängerin,  Lehrerin  am  Konservatorium. 


—  364  — 

remonie  der  Vorstellung  und  Bewirtung  (Preisselbeer-Was- 
ser).  Eugen  teilt  Lensky  seine  Eindrücke  mit,  desgleichen 
Tatjana  ihrer  Schwester  Olga:  Quintett  ä  la  Mozart.  Die 
alten  Frauen  entfernen  sich,  für  den  Abendtisch  zu  sorgen. 
Die  jungen  Leute  gehen  paarweise  im  Garten  auf  und  ab 
(wie  in  „Faust").  Tatjana  ist  anfangs  schüchtern,  dann  ver- 
liebt sie  sich. 

Bild  II:  Tatjana's  Brief. 

Bild  III:  Die  Szene  zwischen  Onegin  und  Tatjana. 
Zweiter  Akt.  Bild  I:  Tatjana's  Namenstag.  Der  Ball.  Len- 
sky's  Eifersucht.  Er  beleidigt  Onegin  und  fordert  ihn.  Grosse 
Verwirrung. 

Bild  II:  die  Arie  Lensky's  und  das  Duell. 

Dritter  Akt.  Bild  I:  Moskau.  Der  Ball  im  Saale  der  Adels- 
versammlung. Das  Wiedersehen  Tatjana's  mit  all'  ihren 
Tanten,  Cousinen  etc.  Chor.  Der  General  erscheint.  Er  ver- 
liebt sich  in  Tatjana.  Sie  erzählt  ihm  ihre  Lebensgeschichte 
und  willigt  ein,  seine  Frau  zu  werden. 

Bild  II:  Petersburg.  Tatjana  erwartet  Onegin.  Er  er- 
scheint. Grosses  Duett.  Tatjana  Hebt  ihn  noch  und  kämpft 
einen  schweren  Innern  Kampf  mit  sich  selbst.  Da  kommt 
ihr  Gemahl.  Die  Pflicht  siegt.  Onegin  läuft  in  Verzweiflung 
davon. 

Du  glaubst  garnicht,  wie  wild  ich  auf  dieses  Sujet  bin. 
Wie  froh  ich  bin,  den  üblichen  Pharao's,  äthiopischen  Prin- 
zessinnen, Vergiftungen  und  dergleichen  Puppengeschich- 
ten aus  dem  Wege  gegangen  zu  sein!  Welche  Fülle  von 
Poesie  „Onegin"  birgt!  Ich  bin  durchaus  nicht  verblendet, 
ich  w^eiss  genau,  dass  die  Oper  zu  wenig  Handlung,  zu 
wenig  Bühneneffekte  haben  wird,  aber  der  grosse  Poesie- 
reichtum, die  Lebenswahrheit  und  Einfachheit  der  Vorgänge, 
sowie  die  genialen  Verse  Puschkins  wiegen  diverse  Män- 
gel gewisslich  auf". 

An  L,  Dawidow: 

„19.  Mai  1877.  Moskau. 

Zu  Euch  komme  ich  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des 

Sommers.  Der  Grund  ist  folgender: — In  der  Nähe  Moskau's 
(60  Werst)  hat  der  ältere  von  den  Brüdern  Schilowsky 
einen  Landsitz.  Dieser  Schilowsky  ist  ein  sehr  talentvoller 
und  netter  Mann,  dessen  Frau  ich  ebenso  sehr  gern  habe. 
Er  schreibt  jetzt  für  mich  ein  Textbuch.  Gleich  nach  Schluss 
der  Prüfungen  werde  ich  zu  ihm  reisen  und  die  Kompo- 


-Зб5- 

sition  der  Oper  in  Angriff  nehmen.  Ich  werde  dort  ein 
besonderes  Häuschen  bewohnen,  wo  ich  ganz  ungestört 
arbeiten  kann.  Das  Komponieren  einer  Oper  geht  folgen- 
dermaassen  vor  sich:  im  Laufe  mehrerer  Stunden  darf  ich 
keinen  Menschen  sehen  und  muss  die  Versicherung  haben, 
dass  auch  ich  von  Niemandem  gesehen  und  gehört  werde, 
denn  ich  habe  die  Gewohnheit  beim  Komponieren  laut  zu 
singen,  und  der  Gedanke  daran,  dass  Jemand  mich  hören 
könnte,  stört  mich  sehr,  hi  meinem  Schlafzimmer  muss 
ich  ein  Klavier  haben.  Ohne  diese  Bedingungen  kann  ich 
nicht  arbeiten,  wenigstens  nicht  mit  Ruhe  und  Leichtigkeit. 

Diese  Bedingungen  würden  mir  aber  in  Kamenka  feh- 
len. Es  ist  für  mich  von  grosser  Wichtigkeit,  jetzt  eine 
Oper  zu  schreiben,  denn  ich  fühle  in  mir  einen  unbesieg- 
baren Drang  dazu,  sodass  es  schade  wäre,  die  Zeit  nicht 
auszunutzen. 

Leo,  Du  weisst,  dass  alle  meine  Freunde  zusammen 
genommen  (mit  Einschluss  Schilowsky's)  mir  nicht  so  lieb 
und  wert  sind  wie  Sascha,  Du  und  Eure  Kinder.  Du  musst 
aber  zugeben,  dass  ich  in  Kamenka  nicht  die  gleichen  vor- 
teilhaften Bedingungen  für  das  Zustandebringen  eines  so 
komplizierten  Werkes,  wie  eine  Oper,  vorfinden  werde"... 

An  M.  Tschaikowsky: 

„23.  Mai  1877. 

Die  Prüfungen  am  Konservatorium  sehen  ihrem  Ende 

entgegen,  meine  Abreise  naht,  aber  in  meiner  Seele  sieht 
es  nicht  so  fröhlich  aus,  wie  sonst.  Der  Gedanke  daran, 
dass  nach  den  Ferien  das  alte  Lied  wieder  seinen  Anfang 
nehmen  soll,  wieder  dieselben  Stunden,  dieselben  Verdriess- 
hchkeiten  beginnen  werden, — Alles  das  vergiftet  mir  die 
Freude  an  den  bevorstehenden  drei  freien  Monaten.  Ich 
fühle,  dass  ich  alt  werde...  Manchmal  will  es  mir  scheinen, 
dass  die  Vorsehung,  welche  so  blind  und  ungerecht  in 
der  Wahl  ihrer  Lieblinge  ist,  recht  gut  für  mich  sorgt.  In 
der  That,  oft  will  es  mir  vorkommen,  dass  das  Zusammen- 
treffen mancher  Dinge  nicht  blos  dem  Zufall  zuzuschreiben 
ist.  Wer  weiss?  vielleicht  ist  das  der  Beginn  der  Reli- 
giosität"... 

An  Frau  Nadeshda  Filaretowna  von  Meck: 

„27.  Mai. 
.Im   Projekt  ist  meine  Symphonie    fertig.  Ende   des 


Sommers  will  ich  an  die  Instrumentation  gehen. 


-  Зб6- 

An  М.  Tschaikowsk}-: 

„Gljebowo.  6.  Juni. 

Gestern  erhielt  ich  Deinen  Brief,  Heber  Modi.  Anfangs 
ärgerten  mich  Deine  Kritiken  über  den  „Onegin",  das 
dauerte  aber  nicht  lange.  Mag  meine  Oper  noch  so  un- 
szenisch sein,  mag  sie  noch  so  wenig  Handlung  haben!  Ich 
bin  aber  nun  einmal  in  Tatjana's  Bild  verliebt,  uud  von 
den  Versen  Puschkins  entzückt.  Ich  schreibe  die  Musik 
dazu,  weil  ich  einem  unwiderstehlichen  Drange  folge.  Ich 
bin  ganz  vertieft  in  die  Komposition  der  Oper. 

Ich  stehe  um  8  Uhr  auf,  bade,  trinke  meinen  Thee 
(allein)  und  arbeite  dann  bis  zum  Frühstück.  Nach  dem 
Frühstück  arbeite  wieder  bis  zum  Mittag.  Dann  unternehme 
ich  gewöhnlich  einen  grossen  Spaziergang.  Den  Abend 
verbringe  ich  im  grossen  Haus.  Die  Gesellschaft  besteht 
aus  dem  Ehepaar  Schilowsk}',  zwei  alten  Jungfern  (Jasy- 
kows)  und  mir.  Gäste  sieht  man  fast  garnicht  —  kurz,  es 
ist  hier  sehr  ruhig  und  still.  Die  Gegend  ist  im  wahren 
Sinne  des  Wortes  herrlich.  Scheusslich  ist  nur — das  Wet- 
ter: es  ist  so  kalt,  dass  es  jeden  Morgen  Frost  giebt.  Bis 
jetzt  haben  wir  noch  nicht  einen  einzigen  warmen  Som- 
mertag gehabt. 

Infolge  der  oben  angeführten  Lebensweise  macht  meine 
Arbeit  schnelle  Fortschritte,  sodass  wenn  ich  bis  zum 
August  hier  bleiben  könnte,  ich  bis  dahin  die  ganze  Oper 
im  Entwurf  fertig  bekommen  und  im  Herbst  an  die  In- 
strumentation gehen  würde.  Bis  jetzt  bin  ich  sehr  zufrieden 
mit  dem  was  ich  geschrieben". 

An  A.  Tschaikowsk}^: 

„Gljebowo.  15.  Juni. 

Der  ganze  erste  Akt  in  drei  Bildern  ist  schon  fertig. 

Heute  habe  den  zweiten  begonnen". 

Am  23.  Juni  waren  zwei  Drittel  der  Oper  fertig.  „Es 
könnte  noch  mehr  fertig  sein",  sagt  Peter  Iljitsch, — „wenn 
nicht  die  seelische  Aufregung". 

Am  6.  Juli  1877  fand  in  der  St.  Georgs-Kirche  die 
Trauung  Peter  Iljitsch  Tschaikowsky's  mit  der  Jungfrau 
Antonina  Iwanowna  Miljukowa  statt. 

In  der  Saison  1876 — 1877  hatte  Peter  Iljitsch  folgende 
Werke  komponiert: 

I.  Op.  31.  „Slavischer  Marsch"  für  grosses  Orchester. 


—  367  — 

Die  Zeit  seiner  Entstehung  fällt  in  den  Monat  September 
1877.  Er  wurde  am  5.  November  desselben  Jahres  in  einem 
Symphoniekonzert  zu  Moskau  unter  Leitung  N.  Rubinsteins 
zum  ersten  Mal  aufgeführt.  Verlag  Jurgenson. 

•2.  Op.  32.  „Francesca  da  Rimini",  symphonische  Fan- 
tasie für  grosses  Orchester  (nach  Dante).  Gewidmet  an 
S.  I.  Tanejew.  Den  Plan  für  dieses  Werk  hatte  Peter  II- 
jitsch  schon  im  Sommer  1876  während  seines  Aufenthaltes 
in  Paris  gefasst.  Die  Komposition  hat  er  aber  nicht  eher 
als  Ende  September  in  Angriff  genommen.  Die  Skizzen 
waren  am  14.  Oktober  fertig,  die  Instrumentation — am  5. 
November.  Uraufführung  zu  Moskau  am  26.  Februar  1877 
in  einem  vS34Tiphoniekonzert  unter  Leitung  N.  Rubinsteins. 
Verlag  Jurgenson. 

3.  Op.  33.  „Variationen  über  ein  Rokoko-Thema"  für 
das  Violoncello  mit  Begleitung  des  Orchesters.  G.  Fitzen- 
hagen  gewidmet.  Komponiert  im  Laufe  des  Dezember  1876. 
Verlag  P.  Jurgenson. 

4.  Op.  34.  „Valse-Scherzo"  für  Violine  mit  Orchester- 
begleitung. An  Joseph  Kotek  gewidmet.  Komponiert  Anfang 
des  Januars  1877.  Verlag  P.  Jurgenson. 

Ausserdem  hat  Peter  Iljitsch  in  dieser  Saison  seine  4. 
Symphonie  skizziert  und  zwei  Drittel  der  Oper  „Eugen 
Önegin". 


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Fünfter  Teil. 

1877    1878. 
I. 

In  den  siebziger  Jahren  befand  sich  unter  den  Konser- 
vatoriumsschülern der  Theorieklasse  Peter  Iljitsch's  ein 
Geiger,  Namens  Joseph  Kotek. 

Das  war  ein  junger  Mann  von  angenehmen  Aeusseren, 
trotz  der  unregelmässigen  Gesichtszüge,  —  dazu  sehr  gut- 
herzig, begeisterungsfähig,  sehr  musikalisch  und  noch  mehr 
virtuos  begabt.  Durch  sein  S3'mpatisches  Wesen,  noch  mehr 
aber  durch  seine  talentvollen  Arbeiten  lenkte  er  die  Auf- 
merksamkeit Peter  Iljitsch's  auf  sich  und  wurde  bald  der 
Liebling  seines  Lehrers.  Nicht  wenig  dazu  beigetragen  hat 
auch  die  Begeisterung  des  jungen  Mannes  für  die  Werke 
Peter  Iljitsch's  und  die  persönliche  AnhängHchkeit  an  sei- 
nen Lehrer.  So  entwickelten  sich  allmälich  zwischen  Meister 
und  Schüler  freundschaftliche  Beziehungen,  welche  auch 
ausserhalb  der  Wände  des  Konservatoriums  unterhalten 
wurden. 

Kotek  war  arm  und  musste  nach  Absolvierung  des  Kon- 
servatoriums- ehe  er  ans  Konzertieren  ging — seinen  Un- 
terhalt durch  Stundengeben  verdienen. 

Zu  der  Zeit  lebte  in  Moskau  die  Wittwe  eines  sehr 
bekannten  Eisenbahn-Ingenieurs,  Nadeshda  Filaretowna  von 
Meck.  Diese  Frau  wandte  sich  einst  an  Nikolai  Rubinstein 
mit  der  Bitte,  ihr  einen  jungen  Geiger  zu  empfehlen,  der 
mit  ihr  musiziern  wollte.  Rubinstein  empfahl  ihr  denn  auch 
J.  Kotek.  Ein  besseres  Engagement  konnte  sich  ein  junger 


—  369  — 

Musiker  garnicht  wünschen.  Frau  von  Meck  verbrachte 
mit  ihrer  zahlreichen  Famihe  gew^öhnhch  nur  eine  kurze 
Zeit  in  Moskau  und  wohnte  sonst  teils  im  Auslande,  teils 
in  ihrer  im  südwestlichen  Russland  gelegenen  prächtigen 
Besitzung,  sodass  Kotek  ausser  einem  sehr  hohen  Hono- 
rar die  Möglichkeit  erhielt,  ein  Stück  Welt  zu  sehen  und 
sich  in  den  überaus  zahlreichen  Mussestunden  im  Spiel 
seines  Instrumentes  zu  vervollkommnen. 

Ich  sagte  schon,  dass  Kotek  begeisterter  Verehrer  des 
Talentes  seines  Professors  war,  in  der  Person  Frau  von 
Meck's  fand  er  aber  eine  noch  grössere  Anbeterin  der 
Muse  Tschaikowsky's.  Als  eine  ausserordentliche  Musik- 
liebhaberin im  Allgemeinen,  brachte  sie  den  Werken  Pe- 
ter Iljitsch's  im  Besondern  ihr  wärmstes  Interesse  entge- 
gen welches  intensiv  genug  war,  einen  gewaltigen  Einfluss 
auf  die  ganze  weitere  Zukunft  unseres  Komponisten  aus- 
zuüben. Frau  von  Meck  interessierte  sich  nicht  nur  für  die 
Werke  Peter  Iljitsch's,  sondern  auch  für  seine  Person:  sie 
suchte  sein  privates  Leben,  seinen  Charakter  als  Mensch 
zu  erforschen  und  fragte  Jeden,  der  Etwas  darüber  zu  er- 
zählen waisste  auf  das  Ausführlichste  aus.  So  war  ihr  denn 
die  Bekanntschaft  mit  Kotek  doppelt  willkommen,  denn  er 
wusste  gar  Vieles  über  die  Lebensweise,  den  Charakter 
und  die  Gewohnheiten  des  Komponisten,  der  ihr  so  grosse 
künstlerische  Genüsse  zu  bieten  wusste. 

Aus  Kotek's  Erzählungen  lernte  sie  ihn  in  seinem  all- 
täglichen Leben  kennen  und  gewann  ihn  allmälich  auch 
als  Menschen  lieb.  Sie  erfuhr,  selbstverständlich,  auch  von 
seiner  schwierigen  materiellen  Lage  und  von  seiner  Sehn- 
sucht nach  Freiheit.  Da  wurde  in  ihr  der  Wunsch  rege, 
in  sein  privates  Leben  einzugreifen  und  vor  Allem  wenig- 
stens seine  Geldsorgen  zu  vermindern. 

Durch  Kotek  gab  sie  ihm  den  Auftrag,  gegen  ein  sehr 
hohes  Honorar  für  sie  einige  Arrangements  seiner  Kom- 
positionen für  Violine  und  Klavier  zu  machen.  Bald  nach 
Fertigstellung  dieser  Arbeit  erhielt  Peter  Iljitsch  einen 
neuen  Auftrag,  und  so  entwickelte  sich  durch  die  Vermit- 
telung  Kotek's  zwischen  Auftraggeber  und  Auftragnehmer 
nach  und  nach  ein  reger  Verkehr.  Der  für  alles  Eigenar- 
tige und  Ungewöhnliche  sehr  empfängliche  Peter  Iljitsch 
lauschte  seinerseits  mit  dem  lebhaftesten  Interesse  den 
Erzählungen  Kotek's  über  die  „Narrheiten"  seiner  Patronin. 
Durch  den  Kultus,  der  im  Hause  von  Meck  mit  seinem 
Namen  getrieben  wurde,  gerührt  und  geschmeichelt,  beauf- 

Tsehaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  '^-^ 


—  370  — 

tragte  Peter  Iljitsch  seinen  jungen  Freund,  der  merkwür- 
digen Frau  seine  Dankbarkeit  zu  überbringen;  und  Frau 
von  Meck  ilirerseits,  war  sehr  stolz  darauf,  dass  ihr  Lieb- 
hngskomponist  es  nicht  verschmähte,  ihren  Bitten  nachzu- 
kommen, und  sprach  ihm  durch  Kotek  ihre  grosse  Danlv- 
barkeit  und  tiefe  Sympatie  aus. 

So  begannen  die  merkwürdigen  Beziehungen  zwischen 
Peter  Iljitsch  und  Nadeshda  Filaretowna  von  Meck.  Diese 
Beziehungen  gewannen  einen  so  ausserordentliche  Bedeu- 
tung im  Leben  Peter  Iljitsch's,  sie  veränderten  in  so  radi- 
kaler Weise  die  Grundpfeiler  seiner  materiellen  Situation, 
was,  selbstverständlich,  nicht  ohne  Einfluss  auch  auf  seine 
künstlerische  Thätigkeit  geblieben  ist, — sie  waren  ausser- 
dem an  sich  so  sehr  poetisch  und  aussergewöhnlich,  so 
ganz  anders  als  wie  es  sonst  im  Leben  der  modernen  Ge- 
sellschaft zu  sein  pflegt,  dass  es,  um  sie  zu  verstehen,  not- 
wendig ist,  das  Wesen,  den  Charakter  dieser  neuen  Freun- 
din und  Beschützerin  Peter  Iljitsch's  etwas  näher  kennen 
zu  lernen. 

Nadeshda  Filaretowna  von  Meck  wurde  am  29.  Januar 
1831  im  Kirchdorf  Snamensk  (Gouvernement  Smolensk) 
geboren.  Obwohl  ihre  Eltern  (Frolowsk^^'s)  nicht  reich  wa- 
ren, genoss  sie  eine  ausgezeichnete  häusliche  Erziehung. 
Ihr  Vater  war  ein  leidenschaftlicher  Musikliebhaber,  und 
diese  Liebhaberei  übertrug  sich  auch  auf  seine  Tochter. 
Stundenlang  konnte  sie  dem  Geigenspiel  ihres  Vaters  lau- 
schen. Als  dieser  alt  geworden  und  ihm  das  Musizieren 
Mühe  machte,  wurden  die  Rollen  gewechselt:  er  hörte  zu, 
und  die  Tochter  spielte  mit  ihrer  Schwester  stundenlang 
vierhändig  auf  dem  Klavier.  Dadurch  gewann  sie  nach 
und  nach  eine  umfassende  Kenntniss  der  musikalischen 
Literatur. 

Leider  besitze  ich  keine  bestimmten  Daten  über  ihre 
allgemeine  wissenschaftliche  Bildung.  Ueber  ihren  Charak- 
ter, ihre  Ansichten  und  moralischen  Eigenschaften  kann 
ich  mir  auch  nur  auf  Grund  ihres,  allerdings  sehr  umfang- 
reichen, Briefwechsels  mit  Peter  Iljitsch  ein  Bild  machen. 
Und  da  erscheint  sie  mir  als  ein  stolzes,  energisches  Weib, 
mit  selten  festen  Grundsätzen,  mit  der  Selbständigkeit  und 
Thatkraft  eines  Mannes,  wohl  fähig,  im  Kampf  mit  aller- 
lei Ungemach  auszuharren;  ein  Weib,  welches  alles  Klein- 
liche, Konventionelle  und  Gemeine  verachtet,  dabei  aber 
makellos  rein  ist  in  ihren  Bestrebungen  und  in  dem  Be- 
wusstsein  ihrer  Pflicht, — ohne  jede  Sentimentalität  im  Um- 


—  371  —  \ 

gang  mit  ihren  Nebenmenschen,  aber  mit  einem  tiefen 
Gemüt  und  mit  der  Fähigl^eit,  sich  von  dem  Schönen  und 
Hohen  hinreissen  zu  lassen. 

Am  14.  Januar  1848  wurde  Nadeshda  Filaretowna  die 
Gemahlin  eines  Distanz -Chefs  der  Moskau -Warschauer 
Chaussee,  des  Ingenieurs  K.  von  Meck,  und  damit  begann 
für  sie  eine  schwere  Zeit.  /\ls  liebende  Frau  und  sorgende 
Mutter  hatte  Nadeshda  Filaretowna  viele  Prüfungen  erfah- 
ren, aus  denen  sie  aber  als  Siegerin  hervorgegangen  ist. 
In  einem  ihrer  Briefe  an  Peter  Iljitsch  schreibt  sie:  „Ich 
bin  nicht  immer  reich  gewesen,  den  grössten  Teil  meines 
Lebens  war  ich  arm,  sehr  arm.  Mein  Mann  war  Ingenieur 
des  Verkehrswesens  und  befand  sich  im  Staatsdienst,  wel- 
cher ihm  1500  Rubel  jährlich  einbrachte — dieses' Einkom- 
men musste  für  den  Lebensunterhalt  einer  Familie  von 
fünf  Kindern  reichen:  nicht  gerade  glänzend,  wie  sie  sehen. 
Dabei  war  ich  zugleich  Amme,  Kinderfrau,  Lehrerin,  Nä- 
herin meiner  Kinder  und  Kammerdiener  meines  Mannes; 
die  Wirtschaft  musste  ich  ebenfalls  besorgen;  da  gab  es 
freilich  viel  Arbeit,  aber  ich  that  sie  gern.  Was  mir  aber 
schwer  auf  der  Seele  lastete,  war  etwas  Anderes:  wissen 
Sie,  Peter  Iljitsch,  was  Staatsdienst  ist?  Wissen  Sie,  dass 
man  dabei  vergessen  muss,  dass  man  ein  Mensch  ist  und 
mit  Verstand,  eignem  Willen  und  Ehrgefühl  ausgerüstet 
ist,  dass  man  dabei  zu  einer  Puppe,  einem  Automat  wer- 
den muss?  Diese  Situation  meines  Mannes  war  es,  welche 
ich  nicht  im  Stande  war  zu  ertragen,  und  ihn  flehentlich 
bat,  den  Staatsdienst  zu  verlassen.  Auf  seine  Bemerkung, 
dass  war  dann  überhaupt  Nichts  mehr  zu  essen  haben  wür- 
den, antwortete  ich,  dass  wir  arbeiten  wollen  und  wohl 
nicht  Hungers  sterben  würden.  Als  er  endlich  meinen 
Bitten  nachgab  und  um  seinen  Abschied  nachsuchte,  ge- 
rieten wir  in  sehr  grosse  Bedrängniss:  wir  durften  nur 
20  Kopeken  täglich  ausgeben — für  Alles!  Und  dennoch  habe 
ich  es  keine  Minute  bedauert,  dass  es  so  gekommen  war". 

Dank  diesem  entscheidenden  Schritt,  den  K.  von  Meck 
auf  dringenden  Wunsch  seiner  Frau  unternommen  hatte, 
gelang  es  ihm,  nach  und  nach  durch  Eisenbahnbauunter- 
nehmungen ein  Vermögen  von  vielen  Millionen  Rubeln  zu 
ersparen. 

Ende  1876  wurde  Frau  von  Meck  Wittwe.  Sie  hatte 
elf  Kinder,  люп  denen  aber  nur  sieben  bei  ihr  wohnten. 
Die  andern  waren  bereits  erwachsen  und  hatten  zum  Teil 
eigne  Familien.  Die.   sehr  komplizierte    Verwaltung  ihres 


—  372  — 

ausserordentlichen  Vermögens  besorgte  sie  selbst  und  wur- 
de darin  nur  von  ihrem  ältesten  Sohn  und  ihrem  Bruder 
unterstützt.  Ihre  Hauptthätigkeit  war  aber  die  Erziehung 
der  minderjährigen  Kinder. 

Nach  dem  Tode  ihres  Mannes  gab  Nadeshda  Filare- 
towna  das  gesellschaftliche  Leben  ganz  auf:  sie  zeigte  sich 
nirgends  mehr,  empfing  keine  Besuche  und  blieb  bis  zum 
Ende  ihrer  Tage  für  Nichtangehörige  ihres  Haushaltes  im 
buchstäblichen  Sinne  des  Wortes  „unsichtbar".  Wie  streng 
sie  diese  Lebensweise  durchführte,  sieht  man  schon  da- 
raus, das  Frau  Dawidowa  (die  Schwester  Peter  Iljitsch's) 
und  ihr  Gemahl  Leo  Dawidow,  deren  eine  Tochter  einen 
Sohn  Frau  von  Meck's  heiratete,  —  sie  niemals  zu  sehen 
bekommen  hatten,  trotzdem  sie  schriftlich  die  freundschaft- 
lichsten Beziehungen  mit  ihr  unterhielten.  Uebrigens  muss 
ich  hier  eine  mir  bekannte  Ausnahme  mitteilen:  Nikolai 
Gregorjewitsch  Rubinstein  war  der  Einzige,  der  Frau  von 
Meck  besuchen  durfte. 

Das  Merkwäirdigste  an  der  rührenden,  herzlichen  Freund- 
schaft zwischen  Nadeshda  Filaretowna  und  Peter  lljitsch 
war,  dass  sie  sich  nur  in  Theatern,  Konzertsälen  u.  s.  w. 
sahen,  und  auch  hier  in  der  That  —  nur  sahen,  d.  h.  sie 
wechselten  nicht  ein  Wort,  nicht  einen  Blick,  ja — nicht  ein- 
mal einen  flüchtigen  Gruss  mit  einander.  Wenn  sie  sich 
zufällig  begegneten,  so  gingen  sie  an  einander  vorüber, 
wie  zwei  ganz  fremde  Menschen.  Sie  verkehrten  nie  anders 
als  nur  schriftlich,  und  starben  Beide,  ohne  dass  Einer  je- 
mals des  Andern  Stimme  gehört  hatte. — Infolgedessen  ist 
ihr  Briefwechsel,  welcher  vollständig  erhalten  geblieben 
ist  und  das  hauptsächlichste  Material  des  vorliegenden  Tei- 
les enthält,  so  überaus  interessant  und  \virft  ein  so  grel- 
les Licht  auf  die  einzig  in  ihrer  Art  dastehenden  Bezie- 
hungen zwischen  Mann  und  Weib,  dass  eine  Sonderaus- 
gabe dieser  Korrespondenz  wohl  geeignet  wäre,  das  weit- 
gehendste Interesse  zu  erw^ecken.  Doch  ist  die  Zeit  für 
eine  solche  Ausgabe  noch  nicht  gekommen.  Ich  habe  das 
Recht,  dieses  kostbare  Material  nur  soweit  zu  benutzen, 
als  es  das  Ziel  dieses  Buches  —  die  Lebensgeschichte  Pe- 
ter Iljitsch's,  erheischt.  Frau  von  Meck  werde  ich  nur  als 
den  „besten  Freund"  und  Beschützer  Peter  Iljitsch's  anse- 
hen, ohne  ihr  intimes  Leben,  welches  von  ihr  selbst  in 
iliren  so  inhaltsreichen,  wahrheitsgetreuen  und  herzlichen 
Briefen  geschildert  wird,  zu  berühren. 

Bald  nachdem  Peter  lljitsch  die  von  Kotek  überbrachte 


—  373  — 

Bestellung  Frau  von  Meck's  —  ein  Klavier- Violin-Arrange- 
ment für  sie  zu  machen — ausgeführt  hatte,  erhielt  er  ihren 
ersten  Brief: 

Frau  von  Meck  an  P.  I.  Tschaikowsky: 

„i8.  Dezember  1876. 

Sehr  geehrter  Herr,  gestatten  Sie  mir,  Ihnen  meinen 
aufrichtigsten  Dank  auszusprechen  für  die  schnelle  Erle- 
digung meines  Auftrages.  Ihnen  zu  sagen,  wie  sehr  mich 
Ihre  Kompositionen  entzücken,  halte  ich  für  überflüssig 
und  unpassend,  denn  Sie  sind  gewiss  an  ganz  andere  Hul- 
digungen gewöhnt,  als  die  Verehrung  eines  in  der  Musik 
so  unbedeutenden  Wesens  wie  ich,  ausserdem  könnte  sie 
Ihnen  gar  lächerlich  erscheinen;  mir  ist  aber  meine  Lieb- 
haberei zu  viel  wert,  als  dass  ich  zugeben  könnte,  ausge- 
lacht zu  werden.  Nur  Eines  will  ich  Ihnen  sagen  und  bitte 
Sie,  mir  Glauben  zu  schenken:  mit  Ihrer  Musik  lebt  es  sich 
leichter  und  angenehmer. 

In  aufrichtiger  Hochachtung",  u.  s.  w. 

P.  I.  Tschaikowsk}^  an  Frau  von  Meck: 

„19.  Dezember  1876. 

Sehr  geehrte  Frau!  Von  Herzen  danke  ich  Ihnen  für 
das  Liebenswürdige  und  Schmeichelhafte,  was  Sie  mir  zu 
schreiben  belieben.  Ich  kann  Ihnen  meinerseits  versichern, 
dass  es  für  einen  Musiker  höchst  tröstlich  ist,  trotz  allen 
Missgeschickes  und  verschiedener  Hindernisse  die  Gewiss- 
heit zu  haben,  dass  es  eine  kleine  Minderheit  von  Men- 
schen giebt,  welche  die  Kunst  aufrichtig  und  herzlich  lieb 
hat  und  zu  welcher  auch  Sie  gehören". 

Zwei  Monate  später  erfolgte  eine  neue  Bestellung  nebst 
abermaligem  Briefwechsel. 

N.  F.  von  Meck  an  P.  I.  Tschaikowsky: 

„Moskau,  d.  15.  Februar  1877. 

Sehr  geehrter  Herr,  Peter  Iljitsch!  Ich  weiss  garnicht 
wie  ich  Ihnen  meinen  Dank  ausdrücken  soll  für  Ihr  liebens- 
würdiges Entgegenkommen;  wenn  ich  nicht  herzinnigste 
S34npatie  für  Sie  fühlte — würde  ich  fürchten,  dass  Sie  mich 
verwöhnen  könnten;  ich  schätze,  übrigens,  zu  sehr  Ihre 
Güte  zu  mir,  um  so  Etwas  zuzukissen. 


—  374  — 

Gern  würde  ich  Ihnen  viel,  sehr  viel  von  meiner  phan- 
tastischen Schwärmerei  für  Sie  erzählen,  ich  möchte  Sie 
nur  nicht  Ihrer  wenigen  freien  Minuten  berauben.  Ich  will 
Ihnen  nur  sagen,  dass  diese  Schwärmerei,  so  ideal,  so 
abstrakt  sie  auch  ist,  zu  dem  Besten,  Teuersten,  Höchsten 
gehört,  dessen  ein  menschliches  Herz  fähig  ist.  Nennen  Sie 
mich  meinethalben  eine  Närrin,  eine  Verrückte,  nur  lachen 
Sie  mich  nicht  aus;  Alles  das  wäre,  vielleich,  lächerlich, 
wenn  es  nicht  so  ernst,  so  aufrichtig  gemeint  луаге. 

Ihre  Sie  verehrende  und  ergebene  von  Meck". 

P.  I.  Tschaikowsk}^  an  N.  F.  von  Meck: 

„i6.  Februar  1877. 

Sehr  geehrte  Frau,  Nadeshda  Filaretowna!  Erlaube  mir 
Ihnen  meinen  herzlichsten  Dank  auszusprechen  für  das 
mehr  als  üppige  Honorar,  mit  welchem  Sie  meine  gerin- 
ge Mühe  belohnt  haben.  Schade,  dass  Sie  mir  nicht  Alles 
gesagt  haben,  was  Sie  auf  dem  Herzen  hatten.  Ich  kann 
Sie  versichern,  dass  es  mir  nur  sehr  angenehm  und  inte- 
ressant gewesen  wäre,  da  auch  ich  von  den  wärmsten 
Sympatieen  für  Sie  erfüllt  bin.  Das  ist  keine  Phrase.  Ich 
kenne  Sie  weit  besser,  als  Sie  glauben. 

Wenn  Sie  mich  eines  schönen  Tages  mit  der  schrift- 
lichen Mitteilung  des  Vielen,  was  Sie  mir  zu  sagen  hatten, 
beglücken  wollten,  so  würde  ich  Ihnen  ausserordenthch 
dankbar  sein.  Jedenfalls  danke  ich  Ihnen  von  ganzer  Seele 
für  den  Ausdruck  der  S3'mpatie,  welche  ich  sehr  hoch 
schätze. 

N.  F.  von  Meck  an  P.  I.  Tschaikowsky: 

„Moskau,  d.  7.  März  1877. 

Sehr  geehrter  Peter  Iljitsch,  Ihre  liebe  Antwort  auf 
meinen  Brief  war  mir  eine  solche  Freude,  wie  ich  sie  schon 
lange  nicht  mehr  gehabt  habe,  aber — Sie  kennen  wohl  die 
Eigenschaft  der  menschlichen  Natur:  je  mehr  man  Schö- 
nes erhält,  je  mehr  verlangt  es  Einen  danach.  Obwohl  ich 
Ihnen  versprochen  hatte,  mich  nicht  verwöhnen  zu  lassen, 
so  zweifle  ich  jetzt  dennoch  sehr  an  meinen  Kräften,  denn — 
ich  erhiube  mir,  Ihnen  eine  grosse  Bitte  vorzutragen,  welche 
wegen  ihrer  Unangebrachtheit  Ihnen,  möglicherweise,  etwas 
merkwürdig  erscheinen  wird;  aber  ein  Mensch,  welcher — 
so  wie  ich — als  ein  Asket  lebt,  muss  naturgemäss  in  eine 


—  375  - 

Geistesverfassung  geraten,  in  welcher  alles  Das,  was  die 
Menschen  gesellschaftlicher  Umgang,  Lebensregeln  u.  s.  w. 
nennen,- — seinem  Verstand  als  leere  Begriffe,  als  sinnlose 
Worte  erscheinen.  Ich  weiss  zwar  nicht,  wie  Sie  darüber 
denken,  aber — soweit  ich  Sie  kenne — will  es  mir  scheinen, 
dass  Sie  am  Avenigsten  mich  verurteilen  werden;  sollte  ich 
mich  getäuscht  haben,  so  bitte  ich  Sie,  mir  das  offen,  ohne 
jede  Kommentare  zu  sagen  und  —  meine  Bitte  abzuschla- 
gen, welche  in  Folgendem  besteht:  geben  Sie  mir  Ihre 
Photographie! 

Ich  besitze  schon  zwei  derselben,  möchte  aber  eine  aus 
Ihrer  Hand  bekommen;  auf  Ihrem  Gesicht  will  ich  die 
Inspirationen  suchen,  die  Gefühle,  unter  deren  Wirkung 
Sie  Ihre  Musik  komponierten,  jene  Musik,  welche  den  Men- 
schen in  das  Reich  der  Sehnsucht  lockt.  Wieviel  Glück 
und  wieviel  Leid  liegt  in  jener  Musik!  Von  diesem  Leid 
möchte  man  sich  garnicht  trennen,  denn  in  ihm  findet  der 
Mensch  seine  Hoffnung,  sein  Glück,  das  ihm  im  Leben  ver- 
sagt geblieben  ist.  „Sturm"  ist  das  erste  Ihrer  Werke,  das 
ich  zu  hören  bekommen;  es  ist  nicht  zu  beschreiben,  welch' 
starken  Eindruck  es  auf  mich  gemacht  hatte:  mehrere  Tage 
war  ich  \vie  geistesabwesend.  Ich  muss  Ihnen  sagen,  dass 
ich  Musiker  und  Mensch  im  Komponisten  nicht  zu  trennen 
verstehe  und  im  Menschen,  als  dem  Priester  einer  so  heh- 
ren Kunst,  noch  viel  eher  als  in  anderen  Menschen  jene 
Eigenschaften  suchen  und  finden  möchte,  die  ich  für  die 
herrlichsten  halte.  Daher  entbrannte  damals  der  Wunsch 
in  mir,  den  Menschen  im  Schöpfer  des  „Sturmes"  kennen 
zu  lernen.  Ich  begann  nach  Ihnen  zu  forschen,  nahm  jede 
Gelegenheit  wahr,  Etwas  über  Sie  zu  hören,  ich  fing  jede 
Bemerkung,  jedes  Sie  betreffende  Urteil  auf,  und  muss 
Ihnen  sagen,  dass  oft  das,  was  die  Andern  an  Ihnen  ta- 
delten, mich  in  Entzücken  versetzte,  —  Geschmacksache! 
Vor  Kurzem  erst,  ist  mir  eine  Ihrer  Ansichten  zu  Ohren 
gekommen,  welche  meine  helle  Begeisterung  entfacht  hat, 
und  welche  ich  so  sehr  mit  Ihnen  teile,  dass  Sie  mir  ur- 
plötzlich näher  getreten  und  —  ein  teurer,  lieber  Mensch 
geworden  sind;  mir  scheint  es,  dass  nicht  die  Beziehungen 
Mensch  und  Mensch  einander  näher  bringen,  sondern  die 
Aehnlichkeit  der  Ansichten,  Gefühle  und  Synipatieen,  so- 
dass ein  Mensch  dem  andern  nahe  stehen  kann,  trotzdem 
er  ihm  fremd  ist. 

Es  interessiert  mich  so  sehr.  Alles  über  Sie  zu  wissen, 
dass  ich  fast  zu  jeder  Zeit  angeben  kann,  wo  Sie  sich  be- 


—  37б  — 

finden  und  sogar — bis  zu  einem  gewissen  Grade — was  Sie 
tliun.  Alles,  was  ich  selbst  beobachtet  und  von  Andern, 
Gutes  und  Schlechtes  über  Sie  gehört  habe,  gefällt  mir 
so  ausserordentlich,  dass  ich  Ihnen  meine  herzlichste  Zu- 
neigung, meine  wärmste  Sympatie  zu  Füssen  lege.  Ich  bin 
glücklich,  dass  in  Ihnen  Mensch  und  Künstler  so  köstlich, 
so  harmonisch  vereinigt  sind. 

Es  gab  eine  Zeit,  da  ich  grosse  Lust  hatte,  Ihre  per- 
sönliche Bekanntschaft  zu  machen:  jetzt  aber  geht  es  mir 
so,  dass  je  mehr  Sie  mich  bezaubern,  je  mehr  fürchte  ich 
mich  vor  Ihrer  Bekanntschaft;  ich  ziehe  es  vor,  in  der 
Ferne  an  Sie  zu  denken,  Sie  in  Ihrer  Musik  sprechen  zu 
hören,  und  Ihre  Gefühle  zu  teilen.  Ich  bin  so  traurig,  dass 
es  mir  noch  nicht  vergönnt  gewesen  ist,  Ihre  „Francesca 
da  Rimini"  zu  hören;  mit  Ungeduld  erwarte  ich  das  Er- 
scheinen des  Klavierarrangements. 

Verzeihen  Sie,  Peter  Iljitsch,  alle  meine  Herzensergüsse: 
Sie  können  sie  doch  nicht  brauchen;  nur  mag  es  Ihnen 
nicht  leidthun,  dass  Sie  einem  sterbenden,  fast  schon  tod- 
ten  Menschen,  wie  ich,  für  einen  Moment,  лvenigstens,  etwas 
Leben  in  die  Adern  geflösst  haben,  dazu  noch  auf  solch' 
schöne  Art  und  Weise. 

Nun  habe  ich  noch  eine  unterthänigste  Bitte  an  Sie, 
Peter  Iljitsch.  In  Ihrem  „Opritschnik"  sind  einige  Stellen, 
welche  mich  ganz  verrückt  machen.  Bitte  arrangieren  Sie 
für  mich  aus  diesen  Stellen,  wenn  es  geht,  einen  „Marche 
funebre".  Gleichzeitig  sende  Ihnen  die  Oper,  in  welcher 
die  von  mir  gewünschten  Stellen  angestrictien  sind.  Wenn 
Sie  es  möglich  finden,  den  Marsch  zu  machen,  dann  bitte 
für  Klavier  vierhändig.  Ist  Ihnen  meine  Bitte  lästig,  dann 
schlagen  Sie  sie  mir  ab:  das  wird  mich  zwar  traurig  stim- 
men, aber  nicht  beleidigen.  Sollten  Sie  aber  meine  Bitte 
ausführen,  dann  thun  Sie  es  nur  nicht  zu  eilig,  denn  sonst 
verwöhnen  Sie  mich,  und  ich  habe  gar  kein  Recht  darauf. 
Wollen  Sie  mir  erlauben,  Ihre  Arrangements  für  mich  he- 
rauszugeben? Und  an  wenn  könnte  ich  mich  da  wenden, 
an  Jurgenson  oder  lieber  an  Bessel? 

Ferner  bitte  ich  Sie,  Peter  Iljitsch,  mir  zu  gestatten, 
in  meinen  Briefen  an  Sie  alle  Formalitäten,  wie  „Hoch- 
geehrter Herr"  u.  s,  w.,  fortzulassen:  sie  sind  mir  wahr- 
lich nicht  nach  Sinn.  Bitte  seien  Sie  selbst  auch  so  gut 
und  unterlassen  Sie  in  Ihren  Briefen  an  mich  alle  jene 
Feinheiten.  Nicht  wahr,  Sie  sind  damit  einverstanden? 

Ihre  ergebene  und  Sie  verehrende  v.  M. 

P.  vS.  Denken  Sie  doch  an  meine  erste  Bitte". 


—  377  — 
Р.  I.  Tschaikowskv  an  N.  F.  von  Meckf 

„Moskau,  d.   i6.  März  1877. 

Sie  haben  vollkommen  Recht,  Nadeshda  Filaretowna, 
wenn  Sie  glauben,  dass  ich  wohl  im  Stande  bin,  Ihren 
geistigen  Organismus  zu  verstehen.  Ich  hoffe,  dass  Sie  sich 
nicht  irren,  indem  Sie  mich  zu  Ihren  Geistesverwandten 
zählen.  So  wie  Sie  sich  bemühten  die  öffentliche  Meinung 
über  mich  zu  studieren,  so  habe  auch  ich  meinerseits  bei 
jeder  sich  bietenden  Gelegenheit  Etwas  über  Sie  und  über 
Ihre  Lebensweise  zu  erfahren  gesucht.  Ich  habe  mich  stets 
für  Sie  interessiert,  wie  für  einen  Menschen,  der  in  sei- 
nem moralischen  Gesicht  so  viele  meiner  Natur,  ähnliche 
Züge  trägt.  —  Schon  allein  der  Umstand,  dass  wir  Beide 
an  ein  und  derselben  Krankheit  leiden,  bringt  uns  einan- 
der näher.  Diese  Krankheit  heisst  Misantropie,  es  ist  aber 
eine  ganz  eigenartige  Misantropie,  denn  sie  entspringt  we- 
der dem  Menschenhass  noch  der  Menschenverachtung.  — 
Diejenigen,  welche  an  dieser  Krankheit  laborieren,  fürch- 
ten nicht  etwa  den  Schaden,  den  ihnen  ihr  Nebenmensch 
zufügen  könnte,  sondern  sie  fürchten  die  Enttäuschung, 
die  Sehnsucht  nach  dem  Ideal,  welche  sich  nach  jeder  An- 
näherung einzustellen  pflegt.  Es  war  eine  Zeit,  da  ich  so 
sehr  von  dieser  Menschenfurcht  befangen  gewesen,  dass  ich 
fast  wahnsinnig  geworden  bin. — Die  Verhältnisse  brachten 
es  mit  sich,  dass  ich  nicht  in  die  Einsamkeit  fliehen  konnte. 
Ich  musste  mit  mir  selbst  kämpfen,  und  der  alleinige  Gott 
weiss,  was  mir  dieser  Kampf  gekostet  hat! 

Aus  diesem  Kampf  bin  ich  insofern  als  Sieger  hervor- 
gegangen, als  mir  das  Leben  aufgehört  hat,  unerträglich 
zu  scheinen.  Gerettet  hat  mich  die  Arbeit, — und  diese  Ar- 
beit ist  mir  gleichzeitig  Genuss.  Einige  Erfolge,  die  mir 
beschieden  gewesen,  haben  mich  ausserdem  sehr  getröstet 
und  angefeuert,  sodass  jene  grosse  Sehnsucht,  die  mich 
früher  oft  bis  zu  Hallucinationen,  bis  zum  Wahnsinn  trieb, 
jetzt  ihre  Macht  fast  ganz  über  mich  verloren  hat. 

Aus  allem  Gesagten  werden  Sie  leicht  ersehen,  dass 
ich  mich  durchaus  nicht  darüber  wundere,  wenn  Sie,  trotz- 
dem Sie  meine  Musik  so  lieb  haben,  meine  Bakanntschaft 
nicht  suchen.  Sie  fürchten,  in  meiner  Person  nicht  alle  jene 
Eigenschaften  zu  finden,  mit  den  mich  Ihre  zum  Idealis- 
mus neigende  Phantasie  ausgestattet  hat.  Und  da  haben 
Sie  ganz  Recht.  Ich  fühle  wohl,  dass  Sie  bei  näherer  Be- 
kanntschaft in  mir  nicht  jene  Harmonie  zwischen  Musiker 
und  Mensch,  für  die  Sie  schwärmen,  finden  Avürden. 


-  37»  - 

Haben  Sie  vielen  Dank  für  all'  die  Ausdrücke  der  Ver- 
ehrung, die  Sie  in  Ihrem  Brief  meiner  Musik  so  überaus 
freigebig  zollen.  Wenn  Sie  wüssten,  wie  angenehm  und 
trostreich  es  für  einen  Musiker  ist,  zu  wissen,  dass  es  noch 
eine  Menschenseele  giebt,  welche  ebenso  intensiv,  ebenso 
tief  Alles  Das  durchempfindet  was  er  selbst  durchlebt 
und  durchdacht  hat,  als  er  sein  Kunstwerk  plante  und 
ausführte.  Ausserordentlich  dankbar  bin  ich  Ihnen  für  Ihre 
warmen,  herzlichen,  mitfühlenden  Worte.  Ich  will  nicht  sa- 
gen, was  in  solchen  Fällen  zu  sagen  üblich  ist,  nämlich: 
dass  ich  Ihres  Lobes  nicht  wert  bin.  Ob  ich  gut  schreibe, 
ob  schlecht  —  jedenfalls  schreibe  ich  aus  innerstem  Be- 
dürfniss  heraus.  Ich  rede  die  Sprache  der  Musik,  weil  ich 
immer  Etwas  zu  sagen  habe... 

Ich  w^eiss  nicht,  ob  Sie  der  Marsch  befriedigen  wird 
und  ob  ich  es  verstanden  habe,  Avenigstens  ungefähr  Dem 
nahe  zu  kommen,  was  Sie  gewünscht  haben.  Wenn  nicht — ■ 
dann  zögern  Sie  nicht,  mir  die  Wahrheit  zu  sagen.  Viel- 
leicht wird  es  mir  später  einmal  gelingen.  Etwas  Passen- 
deres zu  machen. 

Sende  Ihnen  meine  Kabinetphotographie,  allerdings  keine 
sehr  gelungene.  Ich  will  mich  in  allernächster  Zeit  pho- 
tographieren  lassen  (was,  übrigens,  für  mich  immer  eine 
fürchterliche  Qual  ist)  und  werde  Ihnen  dann  mit  Ver- 
gnügen noch  ein  Bild  schicken". 

N.  F.  von  Meck  an  P.  I.  Tschaikowsky: 

„i8.  März  1877. 

....Ihr  Marsch,  Peter  Iljitsch,  ist  so  wundervoll,  dass  er 
mich  -wie  ich  hoffe — in  den  glücklichen  Zustand  der  Wahn- 
sinnigen versetzen  Avird,  einen  Zustand,  in  dem  man  das 
Bewusstsein  all'  des  Bittern  und  Erniedrigenden,  dessen 
es  genug  auf  Erden  giebt,  verliert...  Lausche  ich  einer 
solchen  Musik,  dann  fühle  ich  mich  über  allem  Irdischen 
schwebend,  das  Blut  pocht  an  den  Schläfen,  das  Herz  zit- 
tert, vor  den  Augen  wird  es  dunkel,  und  das  Ohr  saugt 
gierig  die  Töne  dieser  bezaubernden  Musik  auf!  Ich  fühle 
nur  Das,  was  in  mir  lebt,  und  es  wird  mir  so  wohl,  so 
unendlich  wohl,  dass  ich  garnicht  erwachen  möchte....  Oh, 
Gott,  wie  gross  ist  doch  Derjenige,  der  die  Macht  besitzt, 
seinen  Mitmenschen  so  glücklich  zu  machen"! 

Ende  April  —  zu  einer  Zeit,  da  Peter  Iljitsch  in  ganz 
besonders   schwierige  finanzielle  Verwickelungen  geraten 


j 


—  379  — 

war — erhielt  er  von  Frau  v.  Meck  wieder  eine  Bestellung. 
Diesmal  bat  Nadeshda  Filaretowna  um  eine  selbständige 
Komposition  für  Klavier  und  Violine  und  schlug  unserem 
Komponisten  ein  ausserordentlich  hohes  Honorar  vor. 

Peter  Iljitsch  antwortete  an  Frau  v.  Meck: 

„I.  Mai  1877. 

Verehrte  Nadeshda  Filaretowna!  Trotz  der  hartnäckig- 
sten Dementiversuche  eines  meiner  Freunde,  der  auch 
Ihnen  gut  bekannt  sein  dürfte,  habe  ich  Grund  anzuneh- 
men, dass  der  Brief,  den  ich  Heute  früh  von  Ihnen  erhielt, 
der  liebenswürdigen  Hinterlist  besagten  Freundes  zuzu- 
schreiben ist.  Schon  bei  Ihren  früheren  musikalischen  Auf- 
trägen konnte  ich  mich  des  Gedankens  nicht  erwehren, 
dass  Sie  mir  dieselben  aus  zweierlei  Gründen  zukommen 
Hessen:  einesteils  hatten  Sie  in  der  That  den  Wunsch,  die 
eine  oder  andere  meiner  Kompositionen  in  diesem  oder 
jenem  Arrangement  zu  besitzen,  andernteils  aber  beabsich- 
tigten Sie, — da  Sie  gewiss  von  meinen  ewigen  Geldcala- 
mitäten  gehört  haben,  —  mir  über  diese  hinwegzuhelfen. 
Auf  diesen  Gedanken  brachte  mich  das  übermässig  hohe 
Honorar,  das  Sie  mir  für  meine  geringe  Mühe  zahlten. 
Diesmal  bin  ich  nun  überzeugt,  dass  ausschliesslich  oder 
fast  ausschliesslich  der  zweite  Beweggrund  vSie  bestimmt 
hat,  mir  Ihren  neuen  Auftrag  zu  geben.  Beim  Lesen  Ihres 
Briefes  habe  ich  Ihr  Zartgefühl  und  Ihre  Güte,  sowie  Ihr 
rührendes  Entgegenkommen  wohl  herausgemerkt,  gleich- 
zeitig pflanzte  sich  aber  in  der  Tiefe  meiner  Seele  eine  so 
intensive  Unlust  auf,  sofort  an  die  Ausführung  Ihrer  Be- 
stellung zu  gehen,  dass  ich  nicht  umhin  kann,  Ihnen  eine 
abschlägige  Antwort  zu  geben.  Ich  möchte  nicht,  dass  in 
unsern  Beziehungen  irgend  eine  Falschheit,  eine  Lüge  Platz 
greift.  Und  das  würde  gewiss  geschehen  sein,  wenn  ich, 
ungeachtet  meiner  inneren  Stimme,  mich  beeilt  hätte,  ohne 
Lust  und  ohne  Stimmung  irgend  ein  Stück  in  der  von  Ihnen 
gewünschten  Form  zusammenzuleimen,  Ihnen  dieses  Stück 
schleunigst  zuzusenden  und  ein  unverhältnissmässiges  Ho- 
norar dafür  in  Empfang  zu  nehmen.  Würde  Ihnen  da  nicht 
der  Gedanke  durch  den  Kopf  schiessen,  dass  ich  für  je- 
de musikalische  Arbeit  sofort  zu  haben  bin,  wenn  mir 
nur  mit  einem  Hundertrubelschein  gewinkt  wird?  W4irden 
Sie  da  nicht  Grund  haben,  zu  glauben,  dass  wenn  Sie 
arm  wären,   ich   Ihre  Bitten  nicht  erfüllen  würde?  Ueber- 


-  з8о  - 

haupt  hat  sich  in  unsere  Beziehungen  von  vornherein  je- 
ner kitzlige  Umstand  eingenistet,  dass  fast  in  jedem  Briefe 
von  Geld  die  Rede  ist.  Allerdings  liegt  für  einen  Künstler 
noch  Nichts  Erniedrigendes  darin,  dass  er  Geld  für  seine 
Mühe  erhält, — aber  ausser  der  Mühe  muss  ich  doch  in  die 
von  Ihnen  gewünschte  Komposition  einen  gewissen  Grad 
von  Stimmung  hereinbringen,  d.  h.  das,  was  Inspiration 
genannt  wird;  diese  ist  aber  nicht  jederzeit  zu  meiner  Ver- 
fügung. Ich  würde  künstlerisch  unehrlich  handeln,  wenn 
ich  zum  Zwecke  der  Verbesserung  meiner  finanziellen  Lage 
mein  technisches  Können  missbrauchen  und  Ihnen  gegen- 
über falsche  Münzen  für  echte  ausgeben  wollte. 

Augenblicklich  bin  ich  durch  meine  Symphonie  voll- 
kommen in  Anspruch  genommen,  welche  ich  noch  im  Win- 
ter zu  schreiben  begonnen  habe  und  welche  ich  gern  Ih- 
nen widmen  möchte,  denn  ich  glaube,  dass  Sie  in  ihr  ein 
Echo  Ihrer  innigsten  Gedanken  und  Gefühle  finden  wer- 
den. In  diesem  Augenblick  würde  mir  jede  andere  Arbeit 
lästig  sein,  d.  h.  ich  rede  hier  nur  von  einer  solchen  Ar- 
beit, die  das  Vorhandensein  einer  gewissen  Stimmung  vor- 
aussetzt. Ausserdem  befinde  ich  mich  jetzt  in  einer  recht 
zerfahrenen  und  gereizten  Geistesverfassung,  welche  zum 
Komponieren  unbrauchbar  und  auch  auf  meine  Sympho- 
nie von  sehr  unvorteilhaftem  Einfluss  ist". 

Diese  Antwort  Peter  lljitsch's  hat  Frau  von  Meck  nicht 
nur  nicht  gekränkt,  sondern  im  Gegenteil  hocherfreut:  Na- 
deshda  Filaretowna  war  ihm  tief  dankbar  für  seine  Auf- 
richtigkeit und  Redlichkeit.  Die  Freundschaft  zwischen 
Beiden  wurde  dadurch  nur  noch  mehr  gefestigt,  Peter  ll- 
jitsch's uneingeschränkte  Offenheit  veranlasste  Frau  von 
Meck,  auch  ihrerseits  im  Verkehr  mit  ihm  frei  und  rück- 
haltlos wahrhaftig  zu  sein,  was  zunächst  zur  Folge  hatte, 
dass  sie  ihm  3000  Rubel  zur  Bezahlung  seiner  Schulden 
sandte.  Indem  sie  sich  zu  seinem  einzigen  Gläubiger  machte 
übernahm  sie  die  Rolle  einer  Beschützerin,  einer  Patronin 
Peter  Jljitsch's,  und  von  diesem  Augenblick  an  beginnt 
sein  materieller  Wohlstand. 

Aber  nicht  nur  dadurch  allein  hat  sie  das  ganze  nun 
folgende  Leben  Peter  lljitsch's  erwärmt  und  erleuchtet, 
sondern — vielleicht  sogar  noch  in  viel  grösserem  Maasse — 
durch  das  Gefühl,  welches  ihre  Freigebigkeit  hervorrief, 
jenes  tief  edle  Gefühl,  das  jeden  Augenblick  aus  den  Zeilen 
ihrer  Briefe  hervorblühte. 

Ich    sorge  für  Sie   nur   um    meiner  selbst   willen", 


-  38i  - 

schreibt  sie, —  „In  Ihnen  erhalte  ich  mir  meine  ureigensten 
Sympatieen  und  den  Glauben  daran,  dass  Ihr  Dasein  mir 
uiiendlich  viel  Gutes  bringt,  dass  das  Lesen  Ihrer  Briete 
und  das  Hören  Ihrer  Musik  mir  das  Leben  angenehm  macht, 
ferner  dass  ich  Sie  um  der  Kunst  willen  behüte,  welche 
ich  anbete  und  welche  mir  das  Liebste  auf  Erden  ist, — so 
wie  es  auch  unter  den  Priestern  dieser  Kunst  keinen  sym- 
patischeren,  keinen  besseren  und  liebenswürdigeren  giebt, 
wie  Sie.  Folglich  entspringt  meine  Sorge  um  Sie  rein 
egoistischen  Gefühlen,  und  soweit  ich  das  Recht  habe, 
diese  Gefühle  zu  befriedigen,  soweit  bin  ich  glücklich".... 


.11- 
Peter  Iljitsch  an  Anatol  Tschaikowsk}^: 

„Gljebowo,  d.  23.  Juni  1877. 

Lieber  Anatol,  Du  hast  ganz  recht,  wenn  Du  glaubst, 
dass  ich  Etwas  vor  Dir  verheimliche,  nur  dieses  „Etwas" 
hast  Du  falsch  geraten.  Die  Sache  ist  folgende.  Ende  Mai 
ereignete  sich  Etwas,  was  ich  weder  Dir,  noch  meinen 
andern  Verwandten  und  lieben  Freunden  vorzeitig  ver- 
raten wollte,  damit  Ihr  Euch  nicht  unnütz  Sorgen  macht. 
Ich  wollte  erst  die  ganze  Geschichte  erledigen  und  sie  erst 
dann  zu  Eurer  aller  Kenntniss  bringen.  Ich  heirate,  näm- 
lich. Ende  Mai  habe  ich  mich  verlobt  und  wollte  die  Hoch- 
zeit Anfang  Juli  machen,  ohne  Jemandem  Etwas  davon 
mitzuteilen.  Dein  Brief  hat  mich  aber  unschlüssig  gemacht. 
Erstens  konnte  ich  einer  Begegnung  mit  Dir  nicht  aus  dem 
Wege  gehen,  und  Komödie  mit  Dir  spielen,  d.  h.  allerlei 
lügenhafte  Gründe  vorgeben,  weshalb  ich  nicht  mit  Dir 
nach  Kamenka  reisen  könne, — wollte  ich  nicht.  Zweitens 
habe  ich  gefunden,  dass  es  doch  nicht  hübsch  von  mir 
wäre,  ohne  väterlichen  Segen  in  den  heiligen  Ehestand  zu 
treten.  So  habe  ich  denn  beschlossen,  mich  schon  jetzt  zu 
offenbaren.  Beiliegender  Brief  ist  für  Väterchen.  Bitte  sei 
nur  nicht  in  Sorge  um  mich.  Ich  habe  ganz  vernünftig  ge- 
handelt und  unternehme  diesen  so  wichtigen  Lebensschritt 


-    302    - 

in  voller  Ruhe.  Dass  ich  wirklich  ruhig  bin  kannst  Du 
schon  daraus  sehen,  dass  ich  angesichts  der  nahe  bevor- 
stehenden Hochzeit  zwei  Drittel  der  Oper  fertigschreiben 
konnte.  Meine  Braut  ist  zwar  nicht  mehr  sehr  jung,  aber 
absolut  vorurteilsfrei  und  hat  einen  grossen  Vorzug:  sie 
ist  sehr  in  mich  verliebt.  Sie  ist  arm;  — -  heisst:  Antonina 
IwanoAvna  Miljukowa.  Hierdurch  lade  ich  Dich  zu  meiner 
Hochzeit  ein.  Du  und  Kotek  sollen  die  einzigen  Trauzeu- 
gen sein. 

Bitte  Väterchen,  Niemandem  Etwas  darüber  zu  erzäh- 
len, und  Du  selbst  sprich,  bitte,  auch  nicht  davon.  Sascha 
und  meinen  andern  Brüdern  werde  ich  selbst  schreiben". 

An  I.  P.  Tschaikowsk}': 

„Gljebowo,  d.  23.  Juni  1877. 

Lieber  und  teurer  Vater,  Dein  Sohn  Peter  beabsichtigt 
zu  heiraten.  Da  er  aber  ohne  Deinen  Segen  nicht  zur 
Trauung  gehen  möchte,  so  bittet  er  Dich  hierdurch.  Du 
wollest  ihn  für  das  neue  Leben  segnen.  Meine  Braut  heisst 
Antonina  Iwanowna  Miljukowa.  Sie  ist  ein  armes,  aber 
gutes  und  unbescholtenes  Mädchen,  w^elches  mich  sehr  lieb 
hat.  Liebes  V^äterchen,  Du  weisst,  dass  man  in  meinem 
Alter  nicht  unüberlegt  zu  heiraten  pflegt,  darum  sei  ohne 
Sorge.  Ich  bin  überzeugt,  dass  meine  zukünftige  Gattin 
Alles  aufbieten  ward,  mein  Leben  ruhig  und  glücklich  zu 
machen....  Sei  gesund,  mein  Lieber,  und  antworte  mir  so- 
fort. Küsse  Deine  Hände". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„3.  Juli  1877,  Moskau. 

Vor  Allem   teile   ich  Ihnen  mit,  dass  ich  Ende  Mai 

auf  die  unerwartetste  Weise  Bräutigam  geworden  bin.  Das 
geschah  folgendermaassen.  Eines  Tages  erhielt  ich  einen 
Brief  von  einem  Mädchen,  das  ich  von  früherher  schon 
kannte.  Aus  diesem  Brief  erfuhr  ich,  dass  sie  mich  schon 
seit  Langem  ihrer  Liebe  würdigt.  Der  Brief  war  so  herz- 
lich, so  warm  geschrieben,  dass  ich  mich  entschloss,  ihn  zu 
beantworten,  was  ich  in  früheren  derartigen  Fällen  stets 
sorgfältig  vermieden  hatte.  Ohne  auf  die  Details  dieser 
Korrespondenz  näher  einzugehen,  sage  ich  Ihnen  nur,  dass 
das  Resultat  derselben  mein  Einverständniss  лvar,  der  Ein- 
ladung meiner  zukünftigen  Frau  Folge  zu  leisten  und  sie 


-  383  - 

zu  besuchen.  Warum  ich  das  gethan  habe?  Jetzt  scheint 
es  mir,  dass  eine  geheimnissvolle  Kraft  mich  zu  diesem 
Mädchen  hinzog.  Bei  der  Begegnung  wiederholte  ich  ihr, 
dass  ich  ihr  für  ihre  Liebe  nichts  als  S34iipatie  und  Dank- 
barkeit entgegenbringen  könne.  Aber  später  begann  ich 
über  den  ganzen  Leichtsinn  meiner  Handlungsweise  nach- 
zudenken. Wenn  ich  sie  nicht  liebe,  wenn  ich  ihre  Ge- 
fühle für  mich  nicht  noch  mehr  anfachen  will — dachte  ich — 
warum  bin  ich  dann  bei  ihr  gewesen,  und  wie  kann  das 
enden?  Aus  dem  darauf  folgenden  Brief  folgerte  ich,  dass 
ich  zu  weit  gegangen  sei,  dass,  wenn  ich  mich  nun  plötz- 
lich von  ihr  abwenden  sollte,  ich  sie  wirklich  unglücklich 
machen  und  einem  tragischen  Ende  in  die  Агще  treiben 
würde.  So  sah  ich  mich  vor  eine  schwierige  Alternative 
gestellt:  entweder  erhielt  ich  mir  meine  Freiheit  um  den 
Preis  eines  Menschenlebens,  oder  ich  heiratete.  Ich  konnte 
nicht  anders,  als  das  Letztere  wählen.  So  ging  ich  denn 
eines  schönen  Abends  zu  meiner  Zukünftigen,  erklärte  ihr 
ganz  offen,  dass  ich  sie  nicht  lieben  könne,  dass  ich  ihr 
aber  ein  zugethaner  und  dankbarer  Freund  sein  wolle;  ich 
beschrieb  ihr  ausführlich  meinen  Charakter,  meine  Reiz- 
barkeit, die  Ungleichmässigkeit  meines  Temperaments,  meine 
Menschenscheu, — endlich  meine  materielle  Situation.  Dann 
fragte  ich  sie,  ob  sie  meine  Frau  werden  wolle.  Die  Ant- 
wort war,  selbstverständlich,  bejahend.  Die  fürchterlichen 
Qualen,  welche  ich  seit  jenem  Abend  durchgemacht  habe, 
sind  garnicht  in  Worte  zu  fassen.  Ist  auch  sehr  natürlich. 
37  Jahre  lang  in  angeborener  Antipatie  gegen  das  Ehele- 
ben zu  verharren,  und  dann  plötzlich,  durch  die  Macht 
der  Verhältnisse  in  den  Bräutigamstand  hereingezwängt 
zu  werden,  ohne  auch  nur  im  geringsten  von  seiner  Braut 
entzückt  zu  sein, — ist  schrecklich.  Um  ein  wenig  zu  Sin- 
nen zu  kommen  und  mich  an  den  Gedanken  zu  gewöhnen, 
hatte  ich  beschlossen,  meinen  ursprünglichen  Plan  nicht 
aufzugeben  und  für  einen  Monat  aufs  Land  zu  gehen.  Das 
habe  ich  denn  auch  gethan.  Das  stille  ländliche  Leben  im 
Kreise  sehr  lieber  Menschen  und  inmitten  einer  herrlichen 
Natur,  hat  sehr  wohlthuend  auf  mich  eingewirkt.  Ich  be- 
ruhigte mich  bei  dem  Gedanken,  dass  Niemand  seinem 
Schicksal  entrinnen  könne  und  dass  in  meiner  Begegnung 
mit  jenem  Mädchen  Etwas  Fatalistisches  liege.  Ausserdem 
weiss  ich  aus  Erfahrung,  dass  oft  das  schreckliche,  beun- 
ruhigende Unbekannte  sich  in  Wirklichkeit  als  Etwas  sehr 
Förderliches  erweist,  und  umgekehrt:  wie  oft  erlebt  man 


-  384  - 

Enttäuschungen  an  dem  erhofften  und  erstrebten  Glück.  Es 
komme,  was  da  komme! — Jetzt  einige  Worte  über  meine 
Gattin  in  spe. — Sie  heisst  Antonina  Iwanowna  Miljukowa 
und  ist  28  Jahre  alt.  Auch  recht  hübsch  ist  sie.  Ihr  Ruf 
ist  makellos.  Sie  wohnt — aus  Liebe  zur  Selbständigkeit 
und  Unabhängigkeit  —  allein,  trotzdem  sie  eine  liebende 
Mutter  besitzt.  Sie  ist  absolut  arm  und  von  mittlerem  Bil- 
dungsgrad, auch  ist  sie,  augenscheinlich,  gut  und  anhänglich. 

Im  Laufe  des  Juni  Monat  habe  ich  einen  grossen  Teil 
der  Oper  fertiggemacht  und  hätte  gewiss  auch  noch  mehr 
erzielen  können,  wenn  nicht  mein  alarmierter  Seelenzu- 
stand.  Die  Wahl  meines  Sujets  habe  ich  keinen  Augen- 
blick bedauert.  Ich  kann  es  garnicht  fassen,  Nadeshda  Fi- 
laretowna,  wie  es  möglich  ist,  dass  Sie — die  Sie  die  Musik 
so  lieben — Puschkin  nicht  anerkennen,  welcher  kraft  sei- 
nes genialen  Talentes  so  oft  die  engen  Schranken  der 
Dichtkunst  durchbricht  und  in  das  unermessliche  Reich 
der  Musik  eindrmgt.  Das  ist  keine  Phrase.  Unabhängig 
von  dem  Inhalt  der  dichterischen  Form,  liegt  in  seinen 
Versen  selbst,  d.  h.  in  der  Aufeinanderfolge  der  Laute  ein 
gewisses  Etwas,  was  in  das  Innerste  der  Seele  dringt. 
Dieses  „Etwas"  ist  eben  Musik. 

Sie  können  mir  wünschen,  dass  ich  angesichts  der  mir 
bevorstehenden  Lebensveränderung  nicht  den  Mut  verliere. 
Gott  sieht  es,  dass  ich  in  Bezug  auf  die  Gefährtin  meines 
Lebens  die  lautersten  Vorsätze  habe,  und  dass — wenn  wir 
Beide  unglücklich  werden  sollten  -nicht  ich  daran  Schuld 
haben  werde.  Mein  Gewissen  ist  rein.  Wenn  ich  ohne 
Liebe  heirate,  so  liegt  das  daran,  dass  die  V^erhältnisse  es 
so  mit  sich  gebracht  haben:  ich  konnte  ja  nicht  anders 
handeln.  Ich  habe  mich  leichtsinnig  ihrem  ersten  Liebes- 
geständniss  hingegeben;  ich  hatte  ihr  damals  garnicht  ant- 
worten sollen".... 

Eine  solche  wissentlich  späte  Meldung  sandte  Peter  II- 
jitsch  auch  nach  Kamenka  an  seine  Schwester  Alexandra 
Iljinischna  Dawidowa  und  an  seinen  Bruder  Modest. 

Wie  Peter  Iljitsch  es  vorausgesehen,  hat  diese  Nachricht 
nur  seinen  Vater  Ilja  Petrowitsch  erfreut.  Folgendes  ant- 
wortete 

I.  P.  Tschaikowsky  an  Peter  Iljitsch: 

„Pawlowsk,  d.  27.  Juni  1877. 
Mein  lieber  und  teurer  Sohn  Peter!  Toly  hat  mir  Dei- 
ivjn    Brief   übergeben,    in    welchem   Du   mich   um   meinen 


-385- 

Segen  für  die  Heirat  bittest.  Dieser  Brief  hat  mich  hoch  er- 
freut und  entzückt,  sodass  ich  mich  vor  Freude  bekreuzigt 
und  in  die  Höhe  gesprungen  bin.  Gott  sei  gelobt!!  Der 
Herr  segne  Dich!  Icli  zweifle  nicht,  dass  Deine  Erwähke 
desselben  Zeugnisses  wert  ist,  welches  Dir  Dein  Vater — 
ein  83  jähriger  Greis,  —  auszustellen  vermag,  desgleichen 
auch  seine  ganze  Familie  und — wahrlich — auch  die  ganze 
übrige  Menschheit,  mit  der  Du  bisher  in  Berührung  ge- 
kommen bist. 

Ist's  nicht  so,  meine  liebe  Antonina  Iwanowna?  Seit 
Gestern  bitte  ich  Sie  sehr  um  die  Erlaubniss,  Sie  meine 
mir  von  Gott  beschiedene  Tochter  nennen  zu  dürfen  und 
empfehle  Ihnen,  Ihren  auserwählten  Bräutigam  und  Ge- 
mahl zu  lieben,  denn  er  ist  in  Wahrheit  dessen  wäirdig. 
Und  Du,  lieber  Bräutigam,  teile  mir  mit,  an  welchem  Tag 
und  zu  w^elcher  Stunde  die  Trauung  vor  sich  gehen  soll; 
ich  will  selbst  kommen  (bist  Du  damit  einverstanden?)  und 
Dich  segnen".... 

Von  allen  Verwandten  konnte  nur  Anatol  nach  Moskau 
kommen,  aber  auch  er  kam  zu  spät,  um  das  wahnwitzige 
Unternehmen  Peter  Iljitsch's  zu  vereiteln. 

Am  6.  Juli  fand  die  Hochzeit  statt. 

Ich  wage  es  nicht,  die  traurige  Geschichte  der  Folgen 
dieser  Heirat  in  allen  ihren  Einzelheiten  zu  erzählen,  denn 
erstens  besitze  ich  in  dieser  Angelegenheit  nicht  den  nö- 
tigen Grad  von  Unparteilichkeit;  zweitens  habe  ich  keiner- 
lei Zeugnisse  des  altera  pars  in  Händen,  auch  keine  Hoff- 
nung, jemals  zu  einem  derartigen  Zeugniss  zu  gelangen; 
drittens,  endlich,  möchte  ich  nicht  das  berechtigte  Zart- 
gefühl verschiedener  auch  Heute  noch  lebender  Personen 
verletzen.  Nur  Eines  will  ich  sagen:  von  den  ersten  Ta- 
gen, ja  —  ersten  Stunden  seines  Ehelebens  an  musste  Pe- 
ter Iljitsch  den  ganzen  Leichtsinn,  die  ganze  Unvernunft 
seiner  That  auf  das  Schwerste  büssen  und  war  tief  un- 
glücklich. 

Am  Abend  nach  der  Hochzeit  reisten  die  Neuvermähl- 
ten nach  Petersburg  und  kehrten  nach  acht  Tagen  wieder 
nach  Moskau  zurück. 

Peter  Iljitsch  an  Frau  von  Meck: 

„Moskau,  d.  15.  Juli  1877. 

...Morgen  oder  Uebermorgen  reise  ich  mit  meiner  Frau 
zu  ihrer  auf  dem  Lande  lebenden  Mutter.  Wir  wollen  dort 

Tschaikousky,  M.  P.  I.  Tschaikowbky's  Leben.  25 


-386- 

5 — 6  Tage  bleiben  und  dann  wieder  nach  Moskau  zurück- 
keliren.  Und  dann — weiss  ich  nicht,  was  werden  soll. 

Ich  kann  noch  garnicht  mit  Bestimmtheit  sagen,  ob  icli 
glücklich  bin  oder  nicht.  Nur  Eines  weiss  ich:  ich  bin  abso- 
lut nicht  mehr  im  Stande  zu  arbeiten,  und  das  ist  das 
Symptom  einer  unruhigen,  unnormalen  Seelenstimmung. 
Leben  Sie  wohl,  meine  liebe  und  teure  Freundin;  was 
immer  mir  auch  drohen  mag, — der  Gedanke  an  Sie  tröstet 
und  beruhigt  mich.  Ihre  Freundschaft  wird  stets  die  Freude 
meines  Lebens  bleiben". 

Nach  der  Rückkehr  von  Frau  Miljukowa  wurde  be- 
schlossen, dass  Peter  Iljitsch  allein,  ohne  Frau,  zuerst  nach 
Kamenka  und  dann  in  den  Kaukasus  reisen  sollte,  um  eine 
Kur  durchzumachen. 

Am  26.  Juli  schreibt  er  an  Nadeshda  Filaretowna: 

„Nach  einer  Stunde  reise  ich  ab.  Noch  einige  Tage 
und — ich  schwöre  es — ich  wäre  wahnsinnig  geworden". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Kamenka,  d.  2.  August  1877. 

Es  sind  schon  vier  Tage  her  seit  ich  hier  bin.  Ich  fand 
hier  die  nächsten  und  teuersten  meiner  Verwandten  ver- 
sammelt, d.  h.  ausser  meiner  Schwester  und  ihrer  Fami- 
lie sind  noch  meine  zwei  liebsten  Brüder  anwesend.  Der 
hiesige  Arzt,  meine  Schwester  und  die  Brüder  haben  mich 
überredet,  den  Essentuky  -  Brunnen  hier  zu  trinken.  Sie 
befürchten,  dass  in  Essentuky  selbst  (einem  sehr  lang- 
weiligen Ort)  ich  meinem  Trübsinn  verfallen  könnte,  und 
dann  würde  die  ganze  Kur  ihre  Wirkung  verfehlen.  Es 
ist  mir  eine  so  grosse  Freude,  eine  Zeitlang  inmitten  meiner 
Lieben  bleiben  zu  dürfen,  dass  ich  nicht  lange  zu  wider- 
sprechen vermochte.  So  habe  ich  denn  beschlossen,  drei 
Wochen  hier  zu  bleiben,  dann  eine  kleine  Tour  nach  der 
Krim  oder  einem  andern  schönen  Erdenwinkel  zu  machen, 
um  zum  I.  September  nach  Moskau  zurückzukehren. 

Wenn  ich  sagen  wollte,  dass  mein  normales  Befinden 
wiedergekommen  sei,  so  würde  ich  lügen.  Das  ist  aber 
auch  unmöglich.  Nur  die  Zeit  kann  mich  heilen,  und  ich 
zweifle  nicht  im  mindesten  daran,  dass  die  Genesung  nach 
und  nach  eintreten  wird.  Die  mich  umgebenden  Personen 
wirken  sehr  wohlthuend  auf  meine  Seele.  Ich  bin  ruhig 
und  beginne,  ohne  Furcht  der  Zukunft  ins  Auge  zu  sehen. 
Eines  ärgert  mich  nur:  ich  bin  absolut  noch  nicht  im  Stande, 


-  38?  - 

die  Arbeit  wieder  aufzunehmen.  Dabei  sollte  gerade  die 
Arbeit  das  mächtigste  Mittel  sein  gegen  den  krankhaften 
Zustand  meines  moralischen  Ich.  Will  hoffen,  das  der 
Durst  nach  Arbeit  sich  bald  einstellen  wird". 

An  Frau  von  Meck: 

,,ii.  August  1877. 

....Ich  fühle  mich  ganz  bedeutend  besser...  Ich  muss 
gestehen,  dass  ich  im  Unglück  eine  grenzenlose  Feigheit 
und  vollständige  Abwesenheit  von  Männermut  zur  Schau 
getragen  habe.  Jetzt  schäme  ich  mich,  dass  ich  bis  zu 
einem  solchen  Grade  den  Mut  verlieren  und  mich  der 
finstern,  nervösen  Exaltation  hingeben  konnte.  Verzeihen 
Sie  bitte,  dass  ich  Ihnen  so  viel  Beunruhigung  und  Sorge 
verursacht  habe. 

Ich  hin  fest  davon  überzeugt,  dass  ich  jetzt  als  Sieger 
aus  der  etwas  schwierigen  und  kitzligen  Situation  hervor- 
gehen werde.  Es  thut  Not,  das  Gefühl  der  Entfremdung 
gegenüber  meiner  Frau  in  mir  auf  das  nachdrücklichste 
zu  bekämpfen,  und  zur  Einsicht  aller  ihrer  guten  Eigen- 
schaften zu  gelangen.  Denn  gute  Eigenschaften  besitzt  sie 
ohne  Zweifel. 

Mein  Befinden  hat  sich  derart  gebessert,  dass  ich  die 
Instrumentation  Ihrer  Symphonie  in  Angriff  nehmen  konnte. 
Einer  meiner  Brüder,  auf  dessen  Urteil  ich  mich  verlassen 
kann,  ist  mit  dem,  was  ich  ihm  aus  dieser  S3'mphonie  vor- 
gespielt habe,  sehr  zufrieden  geblieben.  Ich  hoffe,  dass  sie 
Ihnen  ebenfalls  gefallen  wird.  Das  ist  die  Hauptsache". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Kamenka,  d.  12.  August  1877. 

Unsere   S^anphonie   macht   Fortschritte.    Der   erste 

Satz  wird  mir  bei  der  Instrumentierung  recht  viel  Mühe 
kosten.  Er  ist  sehr  kompliziert  und  lang;  gleichzeitig  ist 
er  aber  auch,  wie  mir  scheint,  der  bedeutendste.  Dafür 
sind  die  andern  drei  Sätze  sehr  einfach,  und  es  wird  sehr 
lustig  sein,  sie  zu  instrumentieren.  Das  Scherzo  dürfte 
einen  neuen  Klangeffekt  bringen,  von  dem  ich  recht  viel 
halte.  Zuerst  spielt  nur  das  Streichorchester  allein,  und 
zwar  durchweg  pizzicato.  Im  Trio  setzen  die  Holzbläser 
ein   und  spielen  auch   ganz    allein.   Zum   Schluss   werfen 


-388- 

alle  drei  Gruppen,  eine  der  andern  kurze  Phrasen  zu.  Ich 
glaube,  dass  die  Klangwirkung  sehr  interessant  sein  Avird". 

An  A.  Tschaikowsk}-: 

..Kamenka,  d.  27.  August  1877. 

....Uebermorgen  ist  es  bereits  eine  Woche,  seit  Du 
von  hier  fort  bist.  Obwohl  ich  grosse  Sehnsucht  nach  Dir 
habe,  spüre  ich  garkeine  Lust,  von  hier  abzureisen.  Dank 
der  Anwesenheit  Modi's  vergeht  die  Zeit  recht  angenehm. 

Meine  Abreise  habe  ich  bis  Dienstag  aufgeschoben,  und 
weiss  noch  nicht,  ob  wir  nach  Odessa  fahren  werden, 
oder  direkt  nach  Kiew. 

Ich  bin,  wie  früher,  ein  geradezu  tollwütiger  Jäger: 
feuere  täglich  nahezu  30  Schüsse  ab. 

Die  Instrumentation  des  ersten  Bildes  ist  fertig  und 
ich  bearbeite  jetzt  den  Klavierauszug". 

An  Frau  von  Meck: 

„Kamenka,  d.  30  August  1877. 

Das  Wetter  w^rd  nach  und  nach  herbstlich,  die  Fel- 
der sind  kahl,  und  es  ist  Zeit  für  mich  aufzubrechen.  Meine 
Frau  schreibt,  dass  unsere  Wohnung  bald  fertig  sein  wird. 

Sie  fragen,  wie  es  um  meinen  „Eugen  Onegin"  stehe. 
Die  Oper  ist  hier  nur  wenig  vorangeschritten,  trotzdem 
habe  ich  das  erste  Bild  des  ersten  Aufzuges  bereits  instru- 
mentiert.— Jetzt,  da  die  Begeisterung  verflogen  ist,  kann 
ich  diese  Komposition  etwas  objektiver  beurteilen:  ich 
glaube  nicht,  dass  sie  jemals  Erfolg  haben  und  die  Auf- 
merksamkeit der  grossen  Masse  des  Publikums  erregen 
wird.  Der  Inhalt  ist  so  unraffiniert,  bietet  garkeine  Bühnen- 
effekte, und  auch  die  Musik  ist  jeglichen  Glanzes,  jegli- 
cher verblüffender  Knalleffekte  baar.  Nur  einige  Auser- 
wählte werden,  vielleicht,  beim  Anhören  dieser  Musik 
durch  die  Gefühle  und  Empfindungen,  w^elche  mich  wäh- 
rend der  Komposition  umflutet  haben,  ein  wenig  gerührt 
sein.  Damit  will  ich  nicht  gesagt  haben,  dass  meine  Mu- 
sik zu  schön  und  für  das  Verständniss  des  „Pöbels"  uner- 
reichbar sei.  Ich  verstehe  es  überhaupt  nicht,  wie  es  mög- 
lich ist,  absichtlich  für  den  „Pöbel"  oder  für  Auserwählte 
zu  schreiben:  ich  vertrete  die  Ansicht,  dass  man  so  schrei- 
ben soll,  wie  es  das  unmittelbare  innere  Bedürfniss  ge- 
bietet, ohne  zu  überlegen  ob  man  diesem  oder  jenem  Teil 


-389  - 

der  Menschheit  einen  Gefallen  damit  thut.  Ich  schrieb  den 
„Onegin",  ohne  nebensächUche  Zwecke  damit  zu  verfol- 
gen. Daher  kam  es,  dass  diese  Oper  im  Theater  nicht 
interessant  sein  wird;  Diejenigen,  also,  welche  in  der  Oper 
auf  die  Handlung  das  Hauptgewicht  legen,  werden  un- 
befriedigt bleiben.  Solche  aber,  w^elche  fähig  sind,  in  der 
Oper  die  musikalische  Illustration  auch  untragischer,  unthe- 
atralischer— einfacher,  alltäglicher,  allgemeinmenschlicher — 
Gefühle  und  Empfindungen  gelten  zu  lassen.  Solche  wer- 
den (hoffe  ich!)  Gefallen  an  meinem  Werk  finden.  Kurz, 
meine  Musik  kommt  vom  Herzen,  und  auf  diesen  Umstand 
setze  ich  all'  meine  Hoffnungen.  Wenn  ich  mit  der  Wahl 
meines  Textes  einen  Missgriff  gemacht,  d.  h.  wenn  die 
Oper  sich  nicht  auf  dem  Repertoir  halten  sollte,  so  wird 
mich  das  nur  wenig  betrüben.  Letzten  Winter  hatte  ich 
einige  interessante  Gespräche  mit  dem  Schriftsteller,  Gra- 
fen L.  N.  Tolstoi  gehabt,  welche  mir  über  Vieles  die  Au- 
gen geöffnet  haben.  Er  hat  mich  überzeugt,  dass  derje- 
nige Künstler,  welcher  nicht  aus  innerstem  Antrieb  schafft, 
sondern  vielmehr  mit  der  feinen  Berechnung  der  Wirkung, 
w^elcher  sein  Talent  vergewaltigt,  um  dem  Publikum  zu 
gefallen, —  derjenige  ist  kein  echter  und  rechter  Künstler, 
das  Resultat  seiner  Mühe  ist  nicht  unvergänglich,  die 
Erfolge  sind  nur  ephemär.  Ich  glaube  sehr  an  diese 
Wahrheit". 

An  Frau  von  Meck: 

„Moskau,  d.  12.  September  1877. 

....Ich  war  noch  nicht  im  Konservatorium.  Heute  erst 
beginnen  meine  Stunden.  Die  Wohnungseinrichtung  lässt 
Nichts  zu  wünschen  übrig.  Meine  Frau  hat  xAlles  aufgebo- 
ten, um  mich  zufriedenzustellen.  Mein  Heim  ist  wirklich 
gemütlich  und  nett.  Alles  ist  sauber,  neu  und  schön. 

Die  Instrumentation  des  ersten  Satzes  der  Symphonie 
ist  fertig.  Jetzt  will  ich  einige  Tage  verstreichen  lassen 
ohne  zu  arbeiten,  um  mich  den  neuen  Verhältnissen  erst 
ein  wenig  anzupassen.  Jedenfalls  wird  die  Symphonie  noch 
vor  dem  Beginn  des  Winters  fertig  werden". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„Moskau,  d.  12.  September  1877. 
....Meine  arme  Frau  hat  bei  der  Einrichtung  der  Woh- 


—  390  — 

nung  viele  schwere  Momente  überstanden;  in  Erwartung 
meiner  Ankunft  hat  sie  schon  zwei  Köchinnen  gewechseh. 
Mit  einer  von  diesen  war  sie  sogar  beim  Friedensrichter: 
zweimal  w^urde  sie  bestohlen,  und  sass  infolgedessen  die 
letzten  Tage  ununterbrochen  zu  Hause,  da  sie  es  nicht 
riskieren  wollte,  die  Wohnung  der  Obhut  der  Köchin 
anzuvertrauen.  Dafür  bin  ich  aber  mit  der  Einrichtung 
der  Wohnung  sehr  zufrieden:  Alles  hübsch,  nett,  sogar 
nicht  ohne  Luxus". 

Bald  darauf  erkrankte  Peter  Iljitsch.  Unter  dem  Vor- 
wand eines  Telegramms,  das  ihn  eiligst  nach  Petersburg 
abberief,  verliess  er  am  24.  September  plötzlich  Moskau 
in  einem  an  Wahnsinn  grenzenden  Zustand. 

Anatol  erzählt,  dass  Peter  Iljitsch  bei  der  Ankunft  auf 
dem  Nikolai -Bahnhof  in  Petersburg  nicht  wiederzuerken- 
nen gewesen  sei:  so  sehr  habe  sich  sein  Gesicht  in  Mo- 
natsfrist verändert.  Vom  Bahnhof  wurde  er  in  das  nächste 
Hotel  (Hotel  Dagmar)  gebracht,  wo  er  nach  einem  äusserst 
heftigen  Nervenanfall  in  Bewusstlosigkeit  verfiel,  welche 
nahezu  48  Stunden  anhielt.  Nachdem  die  scharfe  Krisis 
vorbei  war,  meinten  die  Aerzte,  die  einzige  Möglichkeit 
einer  vollkommenen  Genesung  liege  in  einer  radikalen 
Veränderung  der  Lebensverhältnisse  des  Kranken.  Anatol 
reiste  sofort  nach  Moskau,  ordnete  auf  das  Eiligste  alle 
Angelegenheiten  Peter  Iljitsch's,  empfahl  Antonina  Iwa- 
nowna  einstw^eilen  der  Fürsorge  seiner  Familie,  und  entführte 
dann  Peter  Iljitsch  schleunigst  ins  Ausland. 

Peter  Iljitsch  selbst  hat  nie  in  seinem  Leben  —  weder 
damals,  noch  später  —  weder  mündlich,  noch  in  seinen 
Briefen  —  auch  nur  mit  einem  Wort  die  Schuld  an  dem 
traurigen  Ausgang  seiner  Ehe  Antonina  Iwanowna  zu- 
geschrieben; deshalb  kann  auch  ich  nicht  dieses  Kapitel 
schliessen,  ohne  den  letzten  Schatten  einer  Verdächtigung 
oder  Verantwortlichmachung  für  das  Geschehene  von  ihr 
zu  nehmen. 

Peter  Iljitsch  behauptete  selbst,  dass  sie  „stets  ehrlich 
und  aufrichtig  gehandelt,  ihn  niemals  wissenthch  betrogen 
habe,  und  gegen  Wunsch  und  Willen  die  Ursache  des 
tiefsten  Herzeleids  und  schrecklichsten  Unglücks"  ihres 
Gatten  geworden  sei. 

Ueber  Peter  Iljitsch's  Benehmen  gegenüber  seiner  Frau 
muss  selbst  der  strengste  Richter  dasselbe  aussagen:  er  war 
stets  ehrlich  und  offen,  und  dachte  nie  daran,  sie  zu  be- 
trügen. Sie  Beide  hatten   unter  der  Einwirkung  einer  un- 


—  391  — 

normalen  und  fatalen  Erregimg  geglaubt,  sie  hätten  sich 
gegenseitig  Alles  gesagt  und  einander  verstanden,  und 
die  ehrlichste  Ueberzeugung  gehabt,  dass  sie  zu  einander 
passten.  Und  erst  als  sie  sich  näher  getreten  waren,  wurden 
sie  Beide  mit  Schrecken  gewahr,  dass  sie  sich  noch  lan- 
ge nicht  ausgesprochen  hätten,  dass  zwischen  ihnen  ein 
ganzer  Abgrund  von  Missverständnissen  liege,  л¥е1сЬег  nie 
und  nimmer  überbrückt  werden  könne,  dass  sie  bis  dahin 
Beide  Avie  im  Traum  gewandelt  seien  und  sich  gegensei- 
tig in  Allem  betrogen  haben,  ohne  es  zu  wollen. 

Die  Trennung  war  unter  solchen  Umständen  der  einzige 
Ausweg,  das  einzige  Mittel  zum  Wiedergewinn  der  See- 
lenruhe Beider  und  zur  Rettung  des  Lebens  Peter  Iljitsch's. 

Am  3.  Oktober  traf  Peter  Iljitsch  in  Begleitung  seines 
Bruders  Anatol  in  Berhn  ein.  Die  gefährlichste  Periode 
der  Krankheit  war  vorüber  und  eine  langsame  Genesung 
nahm  ihren  Anfang.  ^ 


r^isr 


III. 

Als  Aufenthaltsort  hatte  Peter  Iljitsch  anfangs  Ciarens 
gewählt  uud  mietete  sich  da  in  der  dicht  am  Ufer  des 
Genfer  Sees  gelegenen  Villa  Richelieu  ein. 

Geld  hatte  er  „  nur  für  4  bis  6  Wochen  genug " .  Er 
hatte  aber  absolut  keine  Lust,  nach  Ablauf  dieser  Frist 
nach  Moskau  zurückzukehren  und  seine  Stunden  im  Kon- 
servatorium fortzusetzen.  Abgesehen  davon,  war  aber  auch 
sein  Organismus  von  der  überstandenen  Nervenkrankheit 
noch  so  schwach  und  ruhebedürftig,  dass  wenigstens  ein 
ganzes  Jahr  nötig  war,  um  ihn  ganz  wieder  herzustellen. 

Eine  leise  Hoffnung,  im  Laufe  des  Winters  etwas  Geld 
zu  erhalten,  setzte  Peter  Iljitsch  darauf,  dass  der  Direktor 
des  Petersburger  Konservatoriums  K.  J.  Dawidoff  ihn  als 
Delegirten  für  die  bevorstehende  Weltausstellung  in  Pa- 
ris vorschlagen  wollte.  Diese  Hoffnung  war  aber  noch 
ziemlich  zweifelhaft,  und  selbst  im  Falle  ihrer  Verwirkli- 
chung Avar  das  Amt  eines  Delegirten  gerade  für  Peter 
Iljitsch  wenig   anziehend,  denn  es  erforderte  ausser  einer 


—  392  — 

energischen Thätigkeit  viel  Umgang  mit  Mensciien,  während 
der  Gesundheitszustand,  namentUch  aber  der  Geisteszu- 
stand Peter  Iljitsch's  absoluter  Ruhe  bedurfte. 

Trotzdem  wünschte  Peter  Iljitsch  eine  Ernennung  zum 
Delegirten,  denn  das  war  die  einzige  Möglichkeit,  länge- 
re Zeit  von  Moskau  fortzubleiben. 

Diese  Sorge  um  seine  Zukunft  vergiftete  einigermassen 
die  wohlthuenden  Tage  der  Einsamkeit  im  stillen  Ciarens. 
Um  diese  Sorge  loszuwerden,  blieb  Peter  Iljitsch  Nichts 
Anderes  übrig,  als  die  Freundschaft  N.  G.  Rubinsteins 
und  N.  F.  von  Meck's'in  Anspruch  zu  nehmen. 

Auf  die  Bitte  Peter  Iljitsch's,  seine  Geldangelegenheiten 
mit  dem  Konservatorium  zu  regeln  und  ihm  mitzuteilen, 
wie  es  um  den  Delegiertenposten  stünde,  antwortete  Niko- 
lai Gregorjewitsch: 

„Oktober  1877. 

Lieber  Freund  Peter  Iljitsch,  Du  kennst  meine  lako- 
nische Art  und  wirst  es  daher  nicht  übelnehmen,  dass 
ich  mich  keinen  Gefühlsergüssen,  alias  Mitgefühlsäusse- 
rungen, Hoffnungen  etc.  hingebe,  sondern  direkt  zur  Sache 
gehe.  Von  der  Pariser  Ausstellung  hat  Dir  Modest,  wahr- 
scheinlich, schon  geschrieben.  Dawidoff  und  ich,  wir  Beide 
haben  Dich  als  Delegirten  Russlands  in  Vorschlag  ge- 
bracht; ob  aber  mit  diesem  Amt  ein  Gehalt  verbunden  sein 
лvird,  ist  noch  fraglich.  Im  Konservatorium  behelfen  wir 
uns  einstweilen,  so  gut  es  geht,  ohne  Dich;  einen  neuen 
Lehrer  will  ich  nicht  engagieren,  solange  die  Hoffnung 
vorhanden  ist,  dass  Du  zurückkehren  wirst.  Die  Direktion 
hat  beschlossen,  Dir  das  ganze,  von  der  Oekonomie  Deiner 
Klassen  übrigbleibende  Geld — nach  Abzug  Deiner  Schuld — 
während  der  Dauer  eines  Jahres  in  monatlichen  Raten 
ins  Ausland  zu  senden.  Das  dürfte  im  Ganzen  etwa  1200 — 
1300  Rubel  ausmachen;  wir  wollen  Deine  Adresse  wissen, 
um  mit  den  Sendungen  zu  beginnen.  In  Betreff  Deiner 
Oper  und  Symphonie  kann  ich  Nichts  im  Voraus  sagen: 
schreibe  was  Du  лvillst,  und  schick'es  uns  recht  bald;  wir 
werden  schon  unser  Möglichstes  thun;  mit  unsern  Schü- 
lern ist  es  unmöglich  zu  bestimmen,  wann  Etwas  einstu- 
diert sein  kann. 

Versuche  Dich  zu  beruhigen,  schone  Deine  Gesundheit 
und  fürchte  Nichts.  Du  bist  als  Musiker  viel  zu  hoch  ge- 
stellt, um  durch  nebensächliche  Dinge  kompromittiert  wer- 
den zu  können. 

Dein  treuer  Freund  N.  Rubinstein". 


—  393  — 

An  N.  G.  Rubinstein: 

„Ciarens,  d.  20.  Oktober  1877. 

Lieber  Freund,  beinahe  hätte  ich  mich  ein  wenig  geär- 
gert, da  ich  so  lange  keine  Nachricht  von  Dir  erhielt; 
Heute  ist  sie  aber  eingetroffen.  Sie  hat  mich  sehr  beru- 
higt und  ich  bin  Dir  sehr  dankbar  dafür.  Es  freut  mich, 
dass  ich  darauf  rechnen  kann,  bei  meiner  Rückkehr  wie- 
der in  meine  Stellung  einzurücken.  Ich  habe  Moskau  sehr 
gern  und  habe  mich  im  Konservatorium  so  eingelebt,  dass 
es  mir  sehr  weh  thun  würde,  für  immer  zu  scheiden.  Das 
Geld,  welches  Du  mir  zu  senden  versprichst,  genügt  vollkom- 
men (trotz  dem  niedrigen  Kurs),  um  meinen  Aufenthalt 
im  Ausland  bis  zum  nächsten  Jahr  sicher  zu  stellen,  und 
ich  kann  Dir  garnicht  sagen,  wie  dankbar  ich  Dir  dafür 
bin.  Nur  habe  ich  eine  Bitte:  würde  es,  vielleicht,  möglich 
sein,  mir  sofort  den  vierten  oder  dritten  Teil  der  ganzen 
Summe  auf  einmal  zu  senden?  Es  handelt  sich  darum, 
dass  T0I3'  in  Monatsfrist  nach  Hause  reisen  muss  und  dazu 
eine  grössere  Summe  Geldes  braucht.  Ausserdem  bitte  ich 
sehr,  mir  das  Geld  in  Form  einer  Anweisung  zu  schicken, 
und  nicht  in  Banknoten.  Du  glaubst  garnicht,  wie  schwer 
es  jetzt  ist,  unser  Papiergeld  zu  wechseln:  erstens,  nimmt 
man  es  an  kleineren  Orten  überhaupt  nicht,  da  dort  der 
Kurs  unbekannt  ist;  zweitens,  ist  es  zum  Verzweifeln, 
wie  niedrig  es  im  Wert  steht,  sodass  man  nur  Aerger 
beim  Wechseln  hat.  Ich  würde  es  vorziehen,  eine  Anwei- 
sung zu  bekommen.  Nochmals  besten  Dank,  lieber  Freund. 

Ich  bin  mit  der  Instrumentierung  des  ersten  Aktes  „One- 
gin's"  fertig;  muss  nur  noch  die  Zeichen  und  Ueberschriften, 
eintragen.  Der  Klavierauszug,  befindet  sich  unten  in  der 
Partitur.  Nach  Ankunft  der  Partitur  lass,  bitte,  sofort  den 
Klavierauszug  nebst  Singstimmen  abschreiben.  Ich  möchte 
Dich  um  Folgendes  bitten:  wäre  es  möglich,  den  ersten 
Aufzug  und  das  erste  Bild  des  zweiten  Aufzuges  in  der 
öffentlichen  Schülervorstellung  zur  Aufführung  zu  brin- 
gen? Die  ganze  Oper  werde  ich  wohl  kaum  zur  Zeit  fer- 
tig haben,  zumal  da  es  mich  jetzt  zur  S3'mphonie  zieht, 
welche  ich  für  das  Beste  halte,  was  ich  bis  jetzt  geschrieben. 
Der  erste  Akt  „  Onegins "  und  das  erste  Bild  des  zwei- 
ten würden  zusammen  eine  gute  Hälfte  des  Abends  aus- 
füllen. Nachher  könnte  ja  noch  was  Anderes  gegeben 
werden. 

Der  erste  Akt  Avird   bald  in  Deinen  Händen  sein.  Es 


—  394  — 

würde  mich  glücklich  machen,  wenn  er  Dir  gefallen  soll- 
te. Ich  habe  ihn  mit  grosser  Begeisterung  geschrieben. 
Gerade  eine  Konservatoriumsaufführimg  ist  mein  Ideal. 
Die  Oper  ist  nämlich,  für  bescheidene  Mittel  und  eine  klei- 
ne Bühne  berechnet". 

N.  G.  Rubinstein  an  P.  J.  Tschaikowsky: 

„Freund  Peter!  Freue  mich  sehr,  dass  Du  dich  erholst 
und  nach  und  nach  wieder  zu  arbeiten  beginnst. 

Auf  den  „Onegin"  bin  ich  sehr  gespannt.  Sei  so  gut, 
die  Rollen  zu  verteilen.  Selbst,  wenn  die  Besetzung  spä- 
ter verändert  werden  müsste,  so  ist  es  doch  von  Wichtigkeit, 
Deine  Wünsche  zu  kennen. —  Kann  man  nicht  auch  auf 
die  Svmphonie  rechnen? 

Bleibst  Du  in  Ciarens,  oder  nicht? 

Was  soll  mit  Deiner  Wohnung  geschehen,  und  mit 
den  Möbeln?  Wer  soll  Alexei  (der  Diener  P.  J.'s)  verpfle- 
gen? Einen  Teil  Deiner  Sachen  könnte  ich  nehmen,  der 
andere  Teil  müsste  in  die  Rumpelkammer  des  Konserva- 
toriums geschafft  werden. 

In  Betreff  des  Geldes  kann  ich  Nichts  ändern.  Der 
Beschluss  wurde  von  der  Direktion  gefasst  und  Avird  auch 
nicht  durch  mich  sondern  duch  Alexejew  in  Ausführung 
gebracht.  Ich  habe  ihm,  übrigens,  Deinen  Wunsch  mitge- 
teilt. 

Ich  bin  bei  Frau  von  Meck  gewesen.  Wir  haben  viel 
von  Dir  gesprochen.  Ich  glaube,  sie  will  Dir  wieder  eine 
Bestellung  zukommen  lassen,  oder  auch  direkt  Geld  senden". 

Nikolai  Gregorjewitsch  hatte  sich  nicht  geirrt:  noch 
ehe  Frau  von  Meck  Peter  Iljitsch's  Brief  mit  der  Bitte 
um  eine  kleine  Unterstützung  erhielt,  entschloss  sie  sich, 
die  Sorge  um  sein  materielles  Wohlergehen  voll  und  ganz 
auf  sich  zu  nehmen,  und  bat  ihn,  eine  jährliche  Subven- 
tion von  6000  Rubel  von  ihr  anzunehmen. — Auf  seinen, 
einige  Tage  später  an  sie  gelangten  und — wie  gewöhnlich 
in  solchen  Fällen  —  mit  Entschuldigungen  und  Erklärun- 
gen überhäuften  Brief,  sandte  sie  ihm  folgende  Antwort: 

„....Sind  wir  denn  einander  wirklich  so  fremd?  Wissen 
Sie  denn  nicht,  Avie  sehr  ich  Sie  lieb  habe,  wie  sehr  ich 
Ihnen  Gutes  wünsche?  Meiner  Ansicht  nach  sind  es  nicht 
blutsverwandtschaftliche  Beziehungen,  welche  Einem  ge- 
wisse Rechte  einräumen,  sondern  die  Gemeinsamkeit  der 
Gefühle  und  moralischen  Eigenschaften.  Sie  wissen,  wie- 


—  395  — 

viele  glückliche  Momente  Sie  mir  verschaffen,  wie  dank- 
bar ich  Ihnen  dafür  bin,  wie  unentbehrlich  mir  diese  Mo- 
mente sind,  und  vj'ie  sehr  ich  es  nötig  habe,  dass  Sie  als 
Derjenige  bleiben,  als  welcher  Sie  geschaffen  sind;  folglich 
thue  ich  das,  was  ich  thue,  nicht  für  Sie,  sondern  nur 
für  mich.  Warum  wollen  Sie  mir  das  Vergnügen  verbit- 
tern, für  Sie  zu  sorgen?  Durch  Ihre  Entschuldigungen, 
durch  Ihren  Gram  darüber,  mich  um  Geld  bitten  zu  müs- 
sen, deuten  Sie  doch  nur  an,  dass  ich  Ihnen  nicht  nahe 
genug  stehe;  das  thut  mir  weh...  Wenn  ich  Etwas  von 
Ihnen  brauchen  sollte,  Avürden  Sie  es  mir  doch  gewiss 
geben,   nicht  wahr?  Also  sind  лvir  c|uitt. 

Peter  Iljitsch,  ich  weiss  nicht,  wie  Sie  darüber  den- 
ken, ich  meinerseits  wünsche  nicht,  dass  Jemand  Etwas 
über  unsere  Freundschaft  und  unsere  Korrespondenz  er- 
fährt. Daher  habe  ich  während  der  Unterredung  mit  Ni- 
kolai Gregor  je  witsch  von  Ihnen  so  gesprochen,  alswenn 
Sie  mir  nichts  weniger  als  nahe  stünden;  mit  verstellter 
Neugier  habe  ich  ihn  über  Sie  ausgefragt,  w^hin  und 
weshalb  Sie  fortgereist  wären,  wie  lange  Sie  im  Auslande 
bleiben  wollten,  u.  s.  w..  Er  gab  sich,  wie  es  schien,  grosse 
Mühe,  mich  für  Sie  mehr  zu  interessieren,  ich  blieb  aber 
in  der  kühlen  Rolle  einer  blossen  Verehrerin  Ihres  Ta- 
lentes". 

So  wurde  denn  Peter  Iljitsch,  dank  seiner  Freundin, 
in  materieller  Beziehung  ein  unabhängiger  und  sogar 
wohlhabender  Mann.  Ein  neues  Leben  begann  für  ihn,  ein 
Leben,  wie  es  ihm  bis  dahin  als  ein  unerreichbares  Ideal, 
als  ein  unerfüllbarer  Traum  in  seiner  Phantasie  oft  vor- 
gesch\vebt  hatte,  ein  Leben  voller  Freiheit,  welche  ihm 
für  seine  schöpferische  Thätigkeit  so  unentbehrlich  w^ar. 
Nun  konnte  und  durfte  er,  nicht  nur  die  Zeit  so  ausnut- 
zen wie  es  ihm  beliebte,  sondern  auch  seine  äusseren  Le- 
bensverhältnisse sich  selbst  nach  ureigenstem  Wunsch  ge- 
stalten und  wählen. 


Щ0 


IV. 


Infolge  einer  solchen  Wendung  der  Dinge  gab  Peter 
Iljitsch  seinen  ursprünglichen  Plan,  den  ganzen  Winter  in 


—  39б  — 

Ciarens  zu  bleiben,  auf,  und  teilte  seine  nunmehrigen  Ab- 
sichten in  seinem  Dankschreiben  an  Frau  von  Meck  wie 
folgt  mit: 

„Ich  will  hier  nur  so  lange  bleiben,  bis  ich  dank  Ihnen 
die  Möglichkeit  erhalte,  nach  Italien  zu  reisen,  wohin  es 
mich  mit  aller  Gewalt  zieht.  Hier  ist  es  sehr  schön,  sehr 
ruhig, — nur  etwas  düster. 

Sie  schreiben,  dass  die  Freiheit  unerreichbar  sei,  dass 
es  kein  Mittel  gebe,  sie  zu  erlangen.  Absolute  Freiheit 
giebt  es,  freilich,  nicht.  Aber  selbst  diese  relative  Freiheit, 
die  ich  augenblicklich  geniesse,  ist  für  mich  das  höchste 
Glück.  Wenigstens  kann  ich  jetzt  arbeiten.  Das  Arbeiten 
in  Gegenwart  eines  Menschen,  der  mir  äusserlich  so  na- 
he stand,  innerlich  aber  so  fremd  war, —  erwies  sich  für 
mich  als  ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Das  war  eine  schwere 
Prüfung,  die  ich  durchgemacht  habe...". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  25.  Oktober  1877. 

Ihr  Brief  atmet  soviel  Wärme,  soviel  Freundschaft, 

dass  er  allein  genügen  würde,  die  Liebe  zum  Leben  in 
mir  wieder  anzufachen  und  mich  alles  Unheil  ertragen  zu 
lehren.  Haben  Sie  Dank  für  Alles  das,  teuerste  Freundin. 
Ich  glaube  nicht,  dass  sich  mir  jemals  Gelegenheit  bieten 
könnte,  Ihnen  durch  die  That  zu  beweisen,  dass  ich  zu 
jedem  Opfer  für  Sie  bereit  bin;  ich  glaube  auch  nicht, 
dass  Sie  sich  jemals  gezwungen  sehen  w^erden,  mit  der 
Bitte  an  mich  heranzutreten,  Ihnen  einen  grossen  Freund- 
schaftsdienst zu  erweisen, — so  bleibt  mir  denn  also  Nichts 
anderes  übrig,  als  Sie  durch  meine  Musik  zu  bedienen 
und  zu  erfreuen.  Nadeshda  Filaretowna,  eine  jede  Note, 
die  in  Zukunft  meiner  Feder  entspringen  wird,  sei  Ihnen 
gewidmet!  Ihnen  werde  ich  es  zu  verdanken  haben,  wenn 
die  Lust  zum  Arbeiten  mit  doppelter  Kraft  in  mir  лvieder 
einsetzen  wird!  Niemals,  keinen  Augenblick  w^erde  ich  es 
beim  Arbeiten  vergessen,  dass  Sie  mir  die  Möglichkeit  ge- 
ben, meinen  Künstlerberuf  fortzusetzen.  Vieles,  gar  Vieles 
bleibt  mir  noch  zu  schaffen  übrig!  Ohne  falsche  Beschei- 
denheit will  ich  Ihnen  sagen,  dass  Alles  was  ich  bis  jetzt 
geschrieben,  mir  so  unvollkommen,  so  schwach  erscheint 
im  Vergleich  zu  dem,  was  ich  leisten  lami  und  muss^ — 
und  luerde. 

Mit  dem  Ort  meines  gegenwärtigen  Aufenthaltes  bin 


397  — 


ich  sehr  zufrieden.  Unabhängig 
davon,  dass  ich  aus  meinen 
Fensterneinenherrhchen  Blick 
auf  den  See,  die  Berge  von 
Savo^^en  und  den  Dent  du  Midi 
geniesse,  gefällt  mir  aber  auch 
die  Villa  selbst,  in  welcher 
ich  mit  meinem  Bruder  wohne, 
sehr.  Ausser  uns  Beiden  woh- 
nen hier  nur  noch  zwei  kranke 
Frauen,  welche  aber  ihre  Zim- 
mer niemals  verlassen.  An  der 
table  d'hote  sitzen  wir  stets 
allein.  Die  Ruhe  und  Stille  ist 
herrlich.  Ich  muss  aber  ge- 
stehen, dass  mich  unablässig 
der  Gedanke  verfolgt,  längere 

Peter  Iljitsch  Tschaikowskv,  im  Jahre  1877.  Zclt  1п  Italien  ZUZubrlngCU,  SO- 

dass  ich  beschlossen  habe,  nach 
IG — 14  Tagen  zusammen  mit  meinem  Bruder  nach  Rom  zu 
reisen,  und  auch  weiter  nach  Neapel  oder  Sorrento.  Ha- 
ben Sie  jemals  die  Empfindung  gehabt,  welche,  wahrschein- 
lich, keinem  nordischen  Bewohner  erspart  bleibt,  nämlich, 
jene  Sehnsucht  nach  weiten  Ebenen,  nach  einem  freien 
Horizont,  nach  einer  unendlichen  Ferne, — eine  Sehnsucht, 
die  sich — bei  mir,  wenigstens, — stets  nach  einigen  Tagen 
Aufenthaltes  im  Gebirge  einzustellen  pflegt.  Das  ist  auch 
der  Grund,  лveshalb  ich  trotz  der  grossartigen  Schön- 
heit dieser  Gegend  nach  Italien,  und  zwar  am  liebsten 
nach  Neapel  reisen  möchte.  Unterwegs  möchte  ich  mich 
einige  Tage  in  Rom  aufhalten,  um  jenen  überwältigend 
grandiosen  Eindruck  zu  erneuern,  welchen  die  Peters- 
kirche und  dass  Colosseum  vor  vier  Jahren  auf  mich  ge- 
macht haben.  Also  Ihren  nächsten  Brief,  meine  liebe  Freun- 
din, senden  Sie  mir  nach  Rom,  poste  restante;  sobald 
ich  mir  eine  geeignete  Wohnung  für  einige  Monate  gefun- 
den haben  werde,  will  ich  Ihnen  meine  Adresse  sofort 
mitteilen.  Nach  und  nach  beginne  ich  wieder  zu  arbeiten 
und  kann  schon  jetzt  mit  Bestimmtheit  sagen,  dass  unsere 
Symphonie  spätestens  im  Dezember  fertig  werden  wird, 
sodass  Sie  sie  noch  in  dieser  Saison  zu  hören  bekommen 
können.  Möge  diese  Musik,  welche  mit  dem  Gedanken  an 
Sie  so  innig  verknüpft  ist,  Ihnen  zu  erkennen  geben,  dass 
ich  Sie  mit  ganzer  Seele,  von  ganzem  Herzen  lieb  habe, 
oh  meine  beste  und  unvergleichliche  Freundin!" 


-  398  - 

An  N.  G.  Rubinstein: 

„Ciarens,  d.  27.  Oktober  1877. 

Gestern   erhielt   ich   Deine   Geldanweisung.   Besten 

Dank,  lieber  Freund.  Der  Kurs  ist  in  der  That  erschrek- 
kend,  der  Bankier  sagte  mir  aber,  dass  er  jetzt  wieder 
langsam  in  die  Höhe  ginge.  Wie  dem  auch  sei,  wenigstens 
bin  ich  jetzt  für  ein  ganzes  Jahr  versorgt. 

Den  I.  Akt  des  „Onegin"  hatte  ich  Dir  schon  vor  vier 
Tagen  abgeschickt,  zu  meinem  Schrecken,  jedoch,  kam  er 
von  der  Post  zurück:  das  Papier,  in  das  er  eingeschlagen 
gewesen,  war  nämlich  in  Stücke  gerissen.  Ich  musste  die 
Partitur  in  Wachstuch  wickeln,  sodass  sie  erst  Heute  wie- 
der an  Dich  abgegangen  ist.  Oh,  wie  würde  ich  froh  sein, 
wenn  Dir  die  Musik  gefallen  sollte!  Lenke,  bitte,  Deine 
besondere  Aufmerksamkeit  der  Szene  Tatjana's  mit  ihrer 
alten  Pflegerin  und  dem  Arioso  Lensk^^'s  zu.  Es  scheint 
mir,  dass  auch  die  erste  Nummer  nicht  ohne  einigen  pi- 
kanten Klangreiz  sein  dürfte.  Das  zweite  Bild  werde  ich 
Dir  in  etwa  drei  Wochen  zusenden...." 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  30.  Oktober  1877. 

So  oft  ich  Alles,  was  mir  widerfahren  ist,  ordent- 
lich überdenke,  komme  ich  zu  dem  Schluss,  dass  es  eine 
Vorsehung  giebt,  welche  sehr  um  mich  besorgt  ist.  Nicht 
nur,  dass  ich  nicht  zu  Grunde  gegangen  bin,  da  mir  kein 
anderer  Ausweg  übrig  zu  bleiben  schien, — nein,  ich  habe 
es  jetzt  sogar  gut,  und  das  Morgenrot  des  Glücks  und 
der  Erfolge  leuchtet  mir  entgegen.  Ich  muss  Ihnen  sagen, 
dass  meine  Natur  in  Bezug  auf  die  Religion  sich  in  einem 
Zwiespalt  befindet  und  ich  bis  Heute  noch  zu  keiner  be- 
friedigenden Lösung  der  Frage  gekommen  bin. 

Einerseits  versagt  mir  mein  Verstand  die  Anerkennung 
der  Wahrheit  des  dogmatischen  Teils  der  griechisch-or- 
thodoxen, sowie  auch  aller  andern  christlichen  Kirchen. 
Zum  Beispiel  konnte  ich,  so  oft  ich  auch  darüber  nach- 
dachte, in  der  Lehre  von  der  Vergeltung  und  Belohnung 
nie  einen  Sinn  finden.  Wie  soll  man  eine  scharfe  Grenze 
zwischen  den  Lämmlein  und  Böcken  ziehen?  Was  soll 
eigentlich  belohnt  werden,  und  was  fällt  der  ewigen  Ver- 
dammniss  anheim?  Ebenso  unfasslich  ist  für  meinen  Ver- 
stand  der    Glaube    an    das    ewige    Leben.    In    dieser  Be- 


—  399  — 

Ziehung  bin  ich  vollständig  von  der  pantheistischen  Ansicht 
über  das  zukünftige  Leben  und  die  Unsterblichkeit  be- 
fangen. 

Anderseits  hat  die  ganz^  Erziehung,  die  Gewohnheit 
von  Kindheit  auf  und  die  eingeimpften  poetischen  Ver- 
stellungen von  Christus  und  Allem,  was  mit  seiner  Lehre 
zusammenhängt,  auch  auf  mich  einen  so  nachhaltigen  Ein- 
druck ausgeübt,  dass  ich  unwillkürlich  im  Unglück  Ihn 
anrufe  und  im  Glück  Ihm  danke". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Paris,  d.  I.  November  1877. 

Teure  Nadeshda  Filaretowna,  ganz  unerwartet  für  mich 
selbst  reiste  ich  für  einen  Tag  nach  Paris. 

Ich  hatte  mich  unterwegs  der  Hoffnung  hingegeben 
ein  gutes  Konzert,  oder  eine  schöne  neue  Oper  (z.  B.  „Le 
Roi  de  Labore")  anzutreffen,  habe  mich  aber — wie  es  ge- 
wöhnlich in  solchen  Fällen  zu  sein  pflegt  —  getäuscht:  in 
der  Grossen  Oper  —  reläche,  Konzert  —  ist  nicht.  In  der 
Opera -Comique  werden  drei  kleine  Stücke  gegeben  und 
vom  Theatre  L34-ique  ist  „Paul  et  Virginie"  von  Masset 
angezeigt,  was  mich  nicht  im  Mindesten  interessiert.  So 
werde  ich  denn  wieder  abreisen  müssen,  ohne  Etwas  Inte- 
ressantes gehört  zu  haben.  Ich  muss  Ihnen  aber  trotzdem 
gestehen,  dass  Paris  auf  mich,  wie  gewöhnlich,  den  an- 
genehmsten Eindruck  gemacht  hat;  welch'  herrliche,  le- 
bensprühende Stadt!..." 

An  Frau  von  Meck: 

„Florenz,  d.  6.  November  1877. 
* 
Ich    schäme   mich    eigentlich    recht    gründlich,    Ihnen 

einen  überaus  melancholischen  Brief  schreiben  zu  müssen. 
Zuerst  wollte  ich  überhaupt  nicht  an  Sie  schreiben,  dann 
aber  überwältigte  mich  der  Wunsch,  ein  wenig  mit  Ihnen 
zu  plaudern.  Es  ist  mir  unmöglich,  Ihnen  gegenüber  un- 
wahrhaftig zu  sein,  selbst  wenn  ich  die  zwingendsten 
Gründe  dafür  hätte.  Wir  sind  ganz  zufällig  hierher  ge- 
kommen. In  Mailand  fühlte  ich  mich  so  schlecht,  war  auch 
den  ganzen  folgenden  Tag  so  unwohl,  dass  ich  beschloss, 
einen  Tag  in  Florenz  zu  bleiben,  wozu  uns  das  in  Paris 
gelöste  Billet  das  Recht  giebt,  denn  es  heisst  da:  l'arret 
facultatif  pendant   3   jours.    Die   Hauptsache    ist,   jedoch, 


—  400  — 

nicht  mein  Unwohlsein.  Gestern  Abend  ergriff  ich  ener- 
gische Massregehi,  und  Heute  fühle  ich  mich  bereits  bes- 
ser; das  Schlimmste  ist  mein  Gram,  ein  brennender,  herz- 
zerreissender  Gram,  der  miclu  keinen  Augenblick  verlässt. 
In  Ciarens,  wo  ich  doch  inmitten  einer  absoluten  Ruhe 
und  Stille  gewohnt  habe,  sogar  dort  überkam  mich  oft 
ein  unbeschreiblicher  Kummer.  Ich  konnte  mir  den  Grund 
jener  Anfälle  von  Melancholie  nicht  erklären,  und  glaubte, 
dass  die  Berge  sie  hervorriefen....  Welche  Naivetät!  Ich 
redete  mir  ein,  dass  ich  nur  über  die  Grenze  Italiens  zu 
fahren  brauchte^  und — ein  Leben  voller  Freude  würde  be- 
ginnen. Unsinn! — Hier  fühle  ich  mich  hundertmal  nieder- 
geschlagener. Das  Wetter  ist  herrlich,  am  Tage  ist  es  so 
heiss  wie  im  Juli;  es  giebt  hier  auch  was  zu  sehen,  sich 
zu  zerstreuen,  und  doch  quält  mich  ein  gigantisches,  ein 
ungeheuerliches  Herzeleid.  Und  je  lustiger,  je  lebensfroher 
die  Umgebung,  in  der  ich  mich  befinde, —  um  so  schlim- 
mer. Wie  ist  das  zu  erklären,  ich  weiss  es  nicht.  Ich  glau- 
be, es  ist  überhaupt  nicht  zu  erklären.  Wenn  ich  nur 
wüsste,  was  ich  thun  soll?  Wenn  ich  Alle  Diejenigen,  mit 
denen  ich  korrespondiere,  nicht  gebeten  hätte,  ihre  Briefe 
nach  Rom  zu  adressieren,  so  würde  ich,  wahrscheinHch, 
garnicht  weiter  reisen.  Bis  Rom  muss  ich  kommen,  das 
steht  fest,  was  weiter  geschehen  wird  —  weiss  ich  nicht. 
Die  ungeheure  Menge  der  Sehenswürdigkeiten  Roms  be- 
ängstigt mich.  Alles  das  nicht  anzusehen,  was  es  da  giebt, — 
ist  etwas  komisch,  um  es  aber  anzusehen — muss  man  nicht 
ein  geistig  und  körperlich  kranker  Mensch  sein,  wie  ich, 
sondern  ein  Tourist,  welcher  zu  seinem  Vergnügen  reist. 
Augenblicklich  bin  ich  aber  ganz  und  gar  nicht  im  Stan- 
de, ein  Touristenleben  zu  führen.  Das  wäre  doch  unter 
den  obwaltenden  Umständen  geradezu  lächerlich.  Um  mit 
dem  Baedeker  in  der  Hand  durch  alle  Strassen,  Museen 
und  Kirchen  von  Florenz  und  Rom  zu  laufen  —  müsste 
man  vor  allen  Dingen  auch  Zeit  haben;  ich  bin  aber  hierher 
gekommen,  nicht  um  herumzulaufen,  sondern  um  mich 
arbeitend  zu  erholen.  In  diesem  Augenblick  will  es  mir 
scheinen,  dass  es  unmöglich  ist,  in  Italien— und  ganz  be- 
sonders in  Rom  —  zu  arbeiten.  Ich  bereue  es  fürchterlich, 
dass  stille  und  friedliche  Ciarens  verlassen  zu  haben,  wo 
ich  mit  Erfolg  die  Arbeit  wieder  begonnen  hatte,  und  über- 
lege schon,  ob  es  nicht  besser  wäre,  dahin  zurückzukehren. 
Mein  Bruder  muss  mich  nach  ungefähr  14  Tagen  verlas- 
sen. Augenblicklich   ist  er  in  der  Gallerie  Pitti,  wohin  er 


—  4°^  — 

schon  vor  zwei  Stunden  gegangen  ist.  Sein  Fortbleiben 
beginnt  schon,  mich  zu  beängstigen,  und  ich  erwarte  von 
Minute  zu  Minute  sein  Kommen.  Was  soll  denn  später 
werden,  wenn  er  erst  ganz  fort  ist?  Ich  kann  nicht  ohne 
Zittern  daran  denken.  Nach  Russland  zurückkehren  kann 
ich  nicht,  und  will  ich  nicht.  So  drehe  ich  mich  denn  in 
diesem  cercle  vicieux"... 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Rom,  d.  7.  November  1877. 

....In  aller  Frühe  sind  wir  Heute  in  Rom  angekommen. 
Mit  beklommenem  Herzen  hielt  ich  diesmal  meinen  Ein- 
zug in  die  berühmte  Stadt.  Wie  wahr  ist  doch  das  Wort, 
dass  wir  die  Freude  nicht  aus  den  uns  umgebenden  Din- 
gen schöpfen,  sondern  aus  unserem  eignen  Innern!  Das 
wird  durch  meine  diesmalige  Reise  nach  Italien  vollauf 
bestätigt. 

Ich  bin  noch  ein  ganz  kranker  Mann.  Ich  vertrage 

noch  nicht  das  geringste  Geräusch;  Gestern  in  Florenz 
und  Heute  in  Rom  versetzt  mich  ein  jeder  vorbeirollen- 
de Wagen  in  wahnsinnige  Wut,  jeder  Laut,  jedes  Geschrei 
zerreisst  mir  die  Nerven.  Die  Masse  der  Menschen,  wel- 
che die  schmalen  Strassen  überflutet,  ärgert  mich  derart, 
dass  ich  einen  jeden  mir  entgegenkommenden  Unbekannten 
als  einen  argen  Feind  ansehe.  Jetzt  erst  kann  ich  mir  die 
ganze  Dummheit  meiner  Reise  nach  Rom  vergegenwärti- 
gen. Mein  Bruder  und  ich  sind  eben  in  der  Peterska- 
thedrale gewesen:  Nichts  habe  ich  davon  gehabt  als  gren- 
zenlose körperliche  Erschöpfung.  Vom  Strassenlärm,  von 
der  schlechten  Luft,  von  dem  Schmutz  garnicht  zu  reden: 
ich  weiss,  dass  mein  krankhafter  Zustand  mich  nur  die 
schlechten  Seiten  Roms  in  ihrer  ganzen  Hässlichkeit  wahr- 
nehmen lässt,  während  die  Schönheiten  dieser  Stadt  wie 
verschleiert  vor  meinem  Auge  liegen, —  das  ist  aber  ein 
dürftiger  Trost. 

...Gestern  beriet  ich  mit  meinem  Bruder,  was  wir  nun 
thun  sollten,  und  kamen  zu  folgendem  Beschluss.  Das 
ich  die  Reise  nicht  fortsetzen  kann  —  ist  klar.  Wenn  ich 
mich  in  Florenz  und  in  Rom  schlecht  fühlte,  so  wird  es 
w^ohl  auch  in  Neapel  nicht  anders  sein.  Nach  14  Tagen 
verlässt  mich  mein  Bruder;  um  nun  das  Zusammensein 
mit  ihm  etwas  zu  verlängern,  habe  ich  beschlossen,  ihn 
bis  Wien  zu  begleiten.  Ferner  bin  ich   zu   der  Ueberzeu- 

Tachaikowaky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  26 


—  402  — 

gung  gekommen,  dass  ich  nicht  allein  bleiben  darf.  Aus 
diesem  Grunde  will  ich  meinen  Diener,  welcher  augen- 
blicklich in  Moskau  ein  Feiertagsleben  führt,  zu  mir  kom- 
men lassen.  Ich  werde  ihn  in  Wien  erwarten  und  dann 
mit  ihm  zusammen  wieder  nach  Ciarens  gehen,  wo  ich 
auch  zu  bleiben  gedenke. 

Morgen  oder  Uebermorgen  wollen  wir  nach  Vene- 
dig reisen,  wo  wir  einige  Tage  (bis  zur  Abreise  nach  Wien)  zu 
bleiben  beabsichtigen.  \\\  Venedig  ist  es  still,  und  ich  werde 
dort  arbeiten  können,  was  für  mich  am  notwendigsten  ist".... 

An  N.  G.  Rubinstein: 

„Rom,  d.  8.  November  1877. 
.Die  Ungewissheit,  ob  Dir  der  erste  Akt  gefallen  wird 


oder  nicht,  regt  mich  sehr  auf.  Bitte  verlass  Dich  nur  nicht 
auf  den  ersten  Eindruck:  er  täuscht  oft  sehr.  Ich  kompo- 
nierte diese  Musik  mit  so  viel  Liebe  und  LustI  Ganz  be- 
sonders ans  Herz  gewachsen  ist  mir  Folgendes:  i)  das 
erste  Duett  hinter  den  Coulissen,  welches  später  zum  Quar- 
tett wird,  2)  das  Arioso  Lensk3^'s,  3)  die  Szene  in  Tatja- 
na's  Gemach,  4)  der  Chor  der  Mädchen.  Wenn  Du  mir 
schreiben  wirst,  dass  Dir  das  gefallen  hat,  und  dass  es 
auch  Karl  ^)  gefallen  hat  (ich  schätze  seine  Meinung  sehr 
hochl),  dann  wird  mich  das  überaus  glücklich  machen.  So- 
bald ich  das  erste  Bild  des  2.  Aktes  fertig  und  an  Dich 
abgeschickt  haben  werde,  will  ich  mit  Feuereifer  an  die 
Symphonie  gehen,  und  bitte  Dich  eindringlichst,  für  die- 
selbe einen  Platz  in  einem  S3'mphoniekonzert  frei  zu  halten. 
Ich  danke  Dir,  lieber  Freund,  von  ganzem  Herzen  für 
alles  Das,  was  Du  für  mich  thust,  für  Deine  lieben  Briefe, 
aus  denen  ich  mit  unendlicher  Freude  Deine  treue  Freund- 
schaft erkenne.  Gott  behüte  Dich  aber,  mich  vor  dem  näch- 
sten September  nach  Moskau  zurückzuberufen.  Ich  weiss, 
dass  ich  dort  jetzt  Nichts  ausser  den  schrecklichsten  mo- 
ralischen Qualen  finden  würde". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„Rom,  d.  IG.  November  1877. 

Würde  Konradi  es  nicht  möglich  machen  können. 

Dich  und  Kolja  wenigstens  für  einen  Monat  zu  mir  nach 


1)  K.  K.  Albrecht. 


—  403  — 

Ciarens  zu  senden?  Der  Kurs  ist  zwar  sehr  schlecht  aber 
dafür  ist  das  Leben  dort  so  billig,  ich  und  Anatol  haben 
für  eine  sehr  hübsche  Wohnung  und  ausgezeichnete  Be- 
köstigung, inclusive  Bedienung,  Wäsche  u.  s.  w.  nur  13 
Francs  täglich  bezahlt,  also  nur  6V-2  Frcs.  pro  Kopf.  Für 
Dich  und  Kolja  würde  es  noch  biUiger  sein,  da  Kolja  noch 
kein  Erwachsener  ist. 

Für  mich  wäre  das  eine  so  grosse  Freude,  solch  ein 
Glück,  wie  ich  es  kaum  zu  träumen  wage!  Eigentlich  wollte 
ich  direckt  an  Konradi  schreiben,  doch  hat  es  mir  Anatol 
nicht  erlaubt". 

An  Frau  von  Meck: 

„Venedig,  d.  11.  November  1877. 

Teure  Nadeshda  Filaretowna,  der  letzte  Tag  in  Rom 
hat  mich  für  all'  mein  Ungemach  einigermassen  entschä- 
digt, aber  auch  ein  wenig  ermüdet.  Am  Morgen  dieses 
Tages  musste  ich  einige  Gänge  machen,  ehe  ich  die  mir 
aus  Ciarens  zugesandte  ЗзапрЬоп1е  fand.  Ich  suchte  sie 
auf  der  Post,  auf  der  Bahn,  in  verschiedenen  andern  Bu- 
reaux's.  Ueberall  war  man  höflich  mit  mir,  man  suchte  auch 
das  Packet,  fand  es  aber  nicht.  Denken  Sie  sich  meine 
Aufregung!  Wenn  die  Symphonie  verloren  gegangen  wäre, 
hätte  ich  gewiss  nicht  mehr  die  Kraft,  sie  aus  dem  Ge- 
dächtniss  wieder  aufzuschreiben.  Zuletzt  habe  ich  energisch 
gefordert,  dass  man  genauer  nachsehen  sollte,  und — siehe 
da,  das  Packet  fand  sich!  Das  war  eine  grosse  Beruhigung 
für  mich.  Nachher  ging  ich  mit  meinem  Bruder  in  das  Ca- 
pitol.  Dort  habe  ich  viel  Interessantes  gefunden,  Manches 
hat  mich  direkt  gerührt,  so  z.  B.  eine  Sculptur,  die  einen 
sterbenden  Gladiator  darstellt.  Leider  kann  ich  nicht  das- 
selbe von  der  Capitolinischen  Venus  behaupten.  Sie  hat 
mich  auch  diesmal  vollständig  kalt  gelassen.  Um  2  Uhr 
begaben  wir  uns  in  das  Schloss  der  Cäsare,  und  kehrten 
unterwegs  in  die  Villa  Borghese  ein,  um  die  daselbst  befind- 
liche Gemäldesammlung  anzusehen.  Auch  hier  war  ich 
fähig,  künstlerische  Eindrücke  zu  empfangen.  Namentlich 
hat  mich  da  ein  Bild  ergriffen:  der  Tod  eines  Heiligen 
(Hleronymiis,  venn  Ich  nicht  irre)  von  Domenicchino.  Uebri- 
gens  muss  ich  Ihnen  offen  gestehen,  dass  ich  durchaus 
nicht  der  enthusiastischste  Liebhaber  der  Maler-und  Bild- 
hauerkunst bin,  und  dass  mir  das  tiefere  Verständniss  für 
die  Feinheiten  der  Bilder  und  Plastiken  abgeht.  Ich  ermüde 


—  404  — 

sehr  bald  in  den  Gallerieen.  Unter  einer  ganzen  Masse  von 
Kunstwerken  finden  sich  gewöhnhch  nur  sehr  wenige, 
höchstens  zwei  oder  drei,  welche  mein  Auge  zu  fesseln 
vermögen;  diese  studiere  ich  dann  bis  in  die  kleinsten  Ein- 
zelheiten, suche  in  ihre  Stimmung  einzudringen,  während 
ich  alles  Uebrige  nur  oberflächlich  durchsehe.  Um  alle  die 
Kostbarkeiten,  welche  Rom  birgt,  nach  ihrem  Wert  abschät- 
zen zu  können,  müsste  ein  so  schlechter  Kunstkenner,  wie 
ich,  wenigstens  ein  Jahr  da  bleiben  und  jeden  Tag  Etwas 
besichtigen.  Wie  dem  auch  sei,  die  Gallerie  Borghese  wird 
iür  mich  eine  angenehme  Erinnerung  bleiben.  Ausser  dem 
Bild  Domenicchino's  haben  mir  einige  Rafael's  sehr  gefal- 
len (г.  В.  das  Portrait  Cesare  Borgia's  und  Sixtus  V.)  ^). 

Das  Grossartigste,  aber,  das  Ueberwältigendste,  was 
ich  je  gesehen,  ist  der  Palast  der  Cäsare!  Welch'  Riesen- 
dimensionen, welche  Fülle  von  Schönheit!  Auf  Schritt  und 
Tritt  wird  man  an  die  grosse  Vergangenheit  erinnert,  man 
sucht  sie  sich  zu  vergegenwärtigen,  und  je  weiter  man 
geht,  je  lebendiger  werden  in  der  Phantasie  die  herrlichen 
Bilder.  —  Das  Wetter  war  prachtvoll.  Bei  jedem  Schritt, 
beinahe,  gewannen  wir  einen  neuen  Blick  auf  die  Stadt, 
welche  ebenso  schmutzig  ist  wie  Moskau,  nur  viel  male- 
rischer liegt  und  bedeutend  mehr  historischer  Denkwür- 
digkeiten aufweist.  Ganz  nahe  ist  auch  das  Colosseum,  und 
die  Ruine  des  Palastes  Konstantins  -).  Alles  das  ist  so 
grossartig,  so  wunderschön,  so  ausserordentlifhl  Ich  bin 
sehr  zufrieden,  dass  ich  unter  diesem  unauslöschhchen  Ein- 
druck Rom  verlassen  habe.  Abends  wollte  ich  Ihnen  schrei- 
ben, war  aber  vom  Kofferpacken  so  müde  geworden,  dass 
ich  die  Hand  kaum  bewegen  konnte. 

Heute  früh  um  6  sind  wir  in  Venedig  angekommen. 
Obwohl  ich  die  ganze  Nacht  kein  Auge  zudrücken  konnte, 
obwohl  es  bei  unserer  Ankunft  noch  ganz  dunkel  und  kalt 
war,  hat  mich  die  eigenartige  Schönheit  der  Stadt  ganz 
entzückt.  Wir  sind  im  Grand-Hotel  abgestiegen.  Vor  un- 
sern  Fenstern  liegt  S.  Maria  della  Salute,  ein  sehr  hüb- 
sches, graziöses  Bauwerk  am  Canale  Grande.  Nur  bin  ich 
unzufrieden,  dass  in  diesem  Hotel  Afles  teuer  ist,  trotzdem 
man  mir  eingeredet  hatte,  es  sei  gut  und  billig". 

1 )  Die  NervositSt,  an  der  P.  I.  damals  litt,  spiegelt  sich  auch  in  den  verschiedenen 
falschen  Ang:aben,  die  er  in  diesem  Brief  macht.  So  befand  sich,  beispielsweise,  die 
Gemäldesammlung,  von  der  er  spricht,  im  Jahre  1877  nicht  in  der  Villa,  sondern  im  Pa- 
laz/.o  Borghese.  Ferner  hatte  P.  I.  das  Gemälde  Domenicchino's  „Der  Tod  des  heiligen 
Hieronymus"  nicht  in  der  Gallerie  Borghese,  sondern  im  Vatikan  gesehen.  Auch  stammt 
das  „Portrait  Cesare  Borgia's"  nicht  von  Rafael,  desgleichen  auch  das  Bild  Sixtus  V., 
denn  dieser  ist  erst  65  Jahre  nach  dem  Tode  des  berühmten  Malers  Papst  ge\vorden. 

2)  Die  Basilika. 


—  405  — 
An  Frau  von  Meck: 

„Venedig,  d.  i6.  November  1877. 

Ich  habe  einen  sehr  beruhigenden  Brief  von  meiner 

Schwester  erhalten,  und  instrumentiere  jetzt  fleissig  das 
I,  Bild  des  2.  Aufzuges  meines  „Onegin". 

Venedig  ist  eine  bezaubernde  Stadt.  Jeden  Tag  entdecke 
ich  neue  Schönheiten  an  ihr.  Gestern  besichtigten  v^ir  die 
Frari-Kirche,  in  welcher  unter  andern  Kunstschätzen  auch 
das  Mausoleum  Canova's  zu  sehen  ist.  Das  ist  ein  Wunder 
von  Schönheit!  Was  mir  aber  am  besten  behagt — ist  die 
absolute  Stille,  die  Abwesenheit  des  Strassenlärms.  Abends 
bei  Mondschein  am  offenen  Fenster  zu  sitzen  und  S.  Ma- 
ria della  Salute  zu  betrachten,  oder  den  Blick  links  über 
die  Lagune  schweifen  zu  lassen, — ist  einfach  herrlich!  Sehr 
lustig  ist  es,  am  Nachmittag  auf  dem  Markusplatz  (neben 
dem  Cafe)  zu  sitzen  und  das  bunte  Treiben  des  Volkes 
anzusehen.  Sogar  die  schmalen,  Corridor-ähnlichen  Gassen 
gefallen  mir,  besonders  abends,  wenn  die  Schaufenster  er- 
leuchtet sind.  Mit  einem  Wort,  Venedig  hat's  mir  angethan. 
Heute  begann  ich  sogar  zu  überlegen,  ob  ich  nach  der 
Trennung  von  meinem  Bruder  statt  nach  Ciarens  nicht 
lieber  hierher  kommen  soll:  in  Ciarens  ist  es  ruhig,  still, 
billig  und  gut  (aber  manchmal  auch  langweilig);  hier  ist 
die  Natur  zwar  nicht  so  schön,  es  ist  aber  lebendiger,  be- 
wegter; und  diese  Lebendigkeit,  diese  Bewegung  betäubt 
nicht,  belästigt  nicht;  hier  ist  es  zwar  nicht  so  reinlich  und 
nicht  so  ordentlich,  dafür  giebt  es  aber  viel  Interessantes, 
historische  Denkmäler  und  unermessliche  Kunstschätze. 
Morgen  will  ich  auf  die  Suche  nach  einer  möblierten  Woh- 
nung gehen.  Sollte  es  mir  gelingen,  eine  zu  finden,  dann 
werde  ich — erst  recht  unschlüssig  werden. 

Meine  Gesundheit  ist  recht  gut.  Das  Unangenehmste 

war,  dass  ich  beinahe  den  Schlaf  verloren  hätte:  nur  mit 
Mühe  konnte  ich  in  letzter  Zeit  einschlafen.  Nun  habe  ich 
schon  2  Nächte  wieder  gut  geschlafen.  Ueberhaupt  übt 
Venedig  auf  mich  einen  günstigen  Einfluss  aus". 

An  Frau  von  Meck: 

„Venedig,  d.  18.  November  1877. 
Die  wenigen  Tage  in  Venedig  haben  mir  sehr  gut 


bekommen.  Erstens,  habe  ich  ein  wenig  gearbeitet,  sodass 
mein  Bruder  das  ganz  fertig  gewordene  2.  Bild  der  Oper 


—  4^6  — 

mit  nach  Moskau  nehmen  wird.  Zweitens,  fühle  ich,  dass 
es  nun  mit  meiner  Gesundheit  besser  steht,  obwohl  ich 
mich  Gestern  nicht  besonders  wohl  fühlte;  das  wird  aber 
wohl  nur  eine  kleine  Erkältung  gewesen  sein.  Drittens, 
habe  ich  Venedig  lieb  gewonnen,  ich  bin  sogar  ganz  ver- 
liebt in  diese  Schöne,  und  habe  beschlossen,  nach  der 
Trennung  von  meinem  Bruder  hierher  zurückzukehren. 
Lachen  Sie  nur,  um  Gotteswillen,  nicht  über  meine  Unent- 
schlossenheit  und  meinen  Wankelmut.  Diesmal  teile  ich 
Ihnen  aber  einen  wirklich  gefassten  Entschluss  mit.  Ich 
habe  sogar  schon  eine  sehr  nette  Wohnung  in  der  Riva 
dei  Chiavoni  gemietet. 

Morgen  reise  ich  nach  Wien  ab.  Nach  der  Rückkehr 
will  ich  an  die  S3^mphonie  gehen,  an  unsere  Symphonie. 

Wissen  Sie,  was  mich  in  Venedig  immer  in  Wut  ver- 
setzt? —  Die  Abendzeitungsverkäufer.  Geht  man  auf  dem 
Markusplatz  spazieren,  so  hört  man  nur  von  allen  Seiten:  „II 
Tempo!  La  Gazzetta  di  Venezia!  Vittoria  dei  turchi!"  Diese 
vittoria  dei  turchi  wird  jeden  Abend  ausgerufen.  Warum 
schreien  sie  nicht  von  unseren  thatsächlichen  Siegen?  Wa- 
rum suchen  sie  durch  fingierte  türkische  Siege  Käufer  an- 
zulocken? Ist  denn  das  friedliche,  schöne  Venedig,  welches 
ehemals  im  Kampfe  mit  denselben  Türken  seine  Macht 
verlor,  ebenso  von  Hass  gegen  Russland  erfüllt,  wie  alle 
andern  Westeuropäer? 

Ganz  ausser  sich,  fragte  ich  Gestern  einen  der  Ausru- 
fer: ma  dove  la  vittoria?  Es  erwies  sich,  dass  er  unter 
vittoria  eine  türkische  Nachricht  über  einen  Rekognoszie- 
rungsritt verstand,  bei  welcher  Gelegenheit  angeblich  eini- 
ge Hundert  Russen  geschlagen  worden  sind.  „Ist  denn 
das  ein  Sieg?"  fragte  ich  mit  zorniger  Stimme  weiter.  Seine 
Antwort  habe  ich  nicht  verstehen  können,  aber  „Vittoria" 
hat  er  nicht  mehr  gerufen.  Man  muss  die  Gutmütigkeit, 
Höflichkeit  und  Bereitwilligkeit  der  Italiener  voll  aner- 
kennen. Diese  ihre  Eigenschaften  springen  namentlich  in 
die  Augen,  wenn  man  direkt  aus  der  Schweiz  kommt,  wo 
die  Leute  recht  finster,  unfreundlich  und  für  Scherze  un- 
zugänghch  sind.  Als  ich  Heute  dem  Schreier  von  Gestern 
wieder  begegnete,  grüsste  er  mich  höflich  und  rief  anstatt 
„grande  vittoria  dei  turchi",  mit  welchen  Worten  die  an- 
dern Ausrufer  ihre  Blätter  anpriesen, — „Gran  combattimento 
а  Plevna,  vittoria  dei  Russil"  Ich  wusste,  dass  er  log,  aber 
dennoch  war  es  mir  angenehm,  weil  darin  sich  die  Höf- 
lichkeit eines  einfachen  Mannes  äusserte. 


—  407  — 

Wann  wird  denn  endlich  dieser  fürchterliche  Krieg,  in 
welchem  so  unbedeutende  Resultate  um  einen  so  ausser- 
ordentlich hohen  Preis  errungen  worden  sind,  ein  Ende 
nehmen?  Und  doch  muss  man  so  lange  kämpfen,  bis  der 
Feind  ganz  und  gar  niedergemacht  sein  wird.  Dieser  Krieg 
kann  und  darf  nicht  in  Kompromisse  und  gegenseitige  Zu- 
geständnisse auslaufen.  Einer  von  Beiden  muss  untergehen. 
Wie  beschämend  ist  es  aber,  von  einem  solchen  Kampf 
auf  Leben  und  Tod,  einem  Kampf  bis  zum  letzten  Tropfen 
Blut  zu  reden,  und  dabei  in  einem  gemütlichen,  hell  er- 
leuchteten Zimmer  zu  sitzen,  keinen  Hunger  und  Durst  zu 
leiden  und  gegen  Unwetter  und  allerlei  körperliche  Ent- 
behrungen und  Qualen  geschützt  zu  sein!  Gegen  mora- 
lisches Ungemach  ist,  jedoch.  Niemand  geschützt.  Was 
mich  anbelangt,  so  kenne  ich,  allerdings,  ein  Mittel,  das- 
selbe zu  lindern:  das  ist  die  Arbeit.  Nur  reicht  zum  Ar- 
beiten nicht  immer  die  Kraft  aus.  Oh,  mein  Gott,  wenn 
ich  nur  noch  Kräfte  in  mir  finden  könnte  und  frohen  Mut 
zu  neuen  Arbeiten!  Augenblicklich  kann  ich  nur  fortsetzen 
und  am  Alten  flicken. 

In  Neapel  soll  demnächst—  bei  Gelegenheit  der  Enthül- 
lung des  Bellini-Denkmals — ein  Album  mit  Musikstücken 
herausgegeben  werden,  und  viele  auswärtige  Komponisten 
sind  zur  Teilnahme  daran  eingeladen  worden,  unter  andern 
auch  ich.  Ich  antwortete,  dass  ich  mein  Stück  zum  Ter- 
min (zum  I.  Dezember)  einsenden  werde.  Der  Termin 
naht,  während  es  mir  bis  jetzt  so  ergangen,  wie  es  mir 
noch  nie  ergangen  ist,  d.  h.  ich  konnte  nicht  eine  einzige 
Note  aus  mir  herausquetschen!  Jetzt  ist  es  zu  spät.  Ich 
habe,  also,  unwillkürlich  die  Herausgeber  des  Albums 
betrogen".... 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Wien,  d.  20.  November  1877. 
.Gestern  Abend  sind  wir  in  Wien  angekommen.  Die 


Ueberfahrt  über  den  Semmering  hat  auf  mich  einen  be- 
zaubernden Eindruck  gemacht.  Das  Wetter  war  sehr  gün- 
stig. Unterwegs  habe  ich  Ihren  Brief  gelesen  und  immer 
wieder  gelesen,  meine  liebe  Freundin. 

Es  ist  mir  nun  klar,  dass  Sie  theoretisch  sich  von 

der  Kirche  und  den  Glaubensdogmen  losgerissen  haben. 
Ich  sehe,  dass  Sie  durch  jahrelanges  Nachdenken  für  sich 
selbst  einen  eignen,   einen   religiös-philosophischen  Kate- 


—  4o8  — 

chismus  geschaffen  haben.  Nur  will  es  mir  scheinen,  dass 
Sie  sich  irren,  wenn  Sie  behaupten,  das  von  Ihnen  paral- 
lel mit  dem  eingestürzten  Bauwerk  des  früheren  starken 
Glaubens  aufgeführte  neue  Gebäude  wirklich  so  fest  und 
zuverlässig  sei,  dass  es  Ihnen  das  Frühere  vollauf  zu  er- 
setzen vermag.  Darin  liegt  ja  gerade  die  Tragik  des  zum 
Skeptizismus  neigenden  Menschen,  dass  er — wenn  er  ein- 
mal das  Band  zwischen  sich  und  dem  traditionellen  Glau- 
ben zerissen  hat, — sich  aus  einer  philosophischen  Theorie 
in  die  andere  wirft,  in  der  Hoffnung,  jene  unversiegbare 
Kraft,  die  für  den  Lebenskampf  nötig  ist,  und  mit  welcher 
die  Gläubigen  ausgerüstet  sind,  zu  finden.  Sagen  Sie  was 
Sie  wollen,  aber  das  Glauben,  d.  h.  ein  Glauben,  welches 
nicht  aus  Mangel  an  Vernunft  entspringt  und  zur  Routine 
Avird,  sondern  ein  vernunftgemässes  Glauben,  welches  im 
Stande  ist,  alle  Missverständnisse  und  alle  durch  die  kri- 
tische Thätigkeit  des  Verstandes  erzeugten  Widersprüche 
auszugleichen, — ein  solches  Glauben  ist  das  höchste  Glück. 
Ein  kluger  und  gleichzeitig  gläubiger  Mensch  (und  solcher 
giebt  es  viele)  ist  wie  in  einen  Harnisch  gekleidet,  an 
welchem  alle  Schicksalsschläge  wirkungslos  abprallen.  Sie 
sagen,  dass  Sie  von  der  bestehenden  Religion  abgefallen 
seien  und  sich  eine  neue  geschaffen  haben.  Die  Religion 
ist  "aber  ein  Element  der  Versöhnung,  des  Friedens.  Ist  denn 
dieser  Friede  in  Ihnen?  Ich  denke  nein, — denn,  wäre  er  in 
Ihnen,  so  hätten  Sie  mir  nicht  Jenen  Brief  geschrieben, — 
aus  Como — wissen  Sie  noch?  —  jene  Sehnsucht,  jene  Un- 
zufriedenheit, jenes  Streben  nach  einem  unbestimmten  Ideal, 
jene  Entfremdung  von  den  Menschen,  jene  Eigenschaft, 
nur  in  der  Musik,  d.  h.  in  der  idealsten  aller  Künste,  die 
Lösung  der  brennendsten  Fragen  zu  finden, —  alles  das  ist 
mir  ein  Beweis  dafür,  dass  Ihre  eigene  Religion  Ihnen  nicht 
jenen  absoluten  seelischen  Frieden  bietet,  den  Diejenigen 
ihr  eigen  nennen,  welche  in  der  Religion  die  fertigen  Ant- 
worten auf  alles  das  gefunden  haben,  was  einen  denken- 
den und  feinfühlenden  Menschen  quält.  Und,  wissen  Sie 
was?  —  mir  scheint,  dass  Sie  nur  deshalb  meine  Musik 
so  gern  haben,  weil  ich  auch  stets  von  jener  Sehnsucht 
nach  dem  Ideal  erfüllt  bin,  ganz  wie  Sie.  Unsere  Leiden 
sind  die  nämlichen,  Ihre  Zweifel  sind  ebenso  stark  wie  die 
meinigen,  wir  schwimmen  Beide  auf  dem  unendlichen  Meer 
des  Skeptizismus,  einen  Hafen  suchend  und  nicht  findend. 

Auch  will  es  mir  scheinen,  dass  Sie  sich  irren,  indem 

Sie  sich  realistisch  nennen.  Wenn  man  unter  „realistisch" 


—  409  — 

die  Verachtung  jeglicher  Falschheit  und  Lüge  im  Leben, 
so  wie  in  der  Kunst,  versteht,  —  so  sind  Sie,  allerdings 
„realistisch".  Wenn  man  aber  bedenkt,  dass  ein  wirklicher 
Realist  niemals  daran  denken  wird,  in  der  Musik  Trost  zu 
suchen,  wie  Sie  es  thun,  so  sind  Sie  vielmehr  eine  Ideali- 
stin zu  nennen.  Realistisch  sind  Sie  nur  in  dem  Sinne,  dass 
Sie  nicht  gern  für  sentimentale,  zwecklose  und  triviale 
Schwärmereien  Ihre  Zeit  opfern,  wie  es  viele  Frauen  zu 
thun  pflegen.  Sie  sind  keine  Freundin  von  Phrasen  und 
sinnlosen  Worten,  d.  h.  aber  nicht,  dass  Sie  „realistisch" 
sind.  Sie  können  es  auch  gar  nicht  sein!  Der  Realismus 
setzt  immer  eine  gewisse  Beschränktheit  voraus,  die  Eigen- 
schaft, sehr  schnell  und  billig  den  Durst  nach  Wahrheit  zu 
befriedigen.  Ein  Realist  hat  nicht  diesen  Durst  nach  Er- 
kenntniss  der  wesentlichsten  Daseinsgründe,  ja,  er  verneint 
sogar  die  Notwendigkeit  selbst,  nach  der  Wahrheit  zu  for- 
schen und  glaubt  auch  Denjenigen  nicht,  welche  den  Frie- 
den in  der  Religion,  Philosophie  oder  Kunst  suchen.  Die 
Kunst,  besonders  die  Musik,  ist  dem  Realisten  Nichts,  denn 
sie  ist  die  Antwort  auf  eine  Frage,  welche  sein  begrenz- 
ter Verstand  nicht  zu  stellen  vermag.  Das  sind  die  Grün- 
de, weshalb  ich  glaube,  dass  Sie  sich  irren,  indem  Sie  vor- 
geben, unter  dem  Banner  des  Realismus  zu  stehen.  Sie 
behaupten,  dass  die  Musik  in  Ihnen  nur  ein  rein  physisch 
angenehmes  Gefühl  verursacht.  Dagegen  erlaube  ich  mir 
aber  auf  das  entschiedenste  zu  protestieren.  Sie  täuschen 
sich  selbst.  Haben  Sie  denn  wirklich  die  Musik  auf  gleiche 
W^eise  gern,  wie  ich  eine  Flasche  Wein,  oder  eine  saure 
Gurke?  Nein,  Sie  lieben  die  Musik  so,  wie  sie  geliebt  wer- 
den soll,  d.  h.  Sie  geben  sich  ihr  mit  ganzer  Seele  hin 
und  lassen  weltvergessen  ihre  Zauberwirkung  voll  und 
ganz  auf  Ihr  Herz  ausüben. 

Vielleicht  ist  es  nicht  recht  von  mir,  dass  ich  mir  er- 
laube, Ihre  Selbsterkenntniss  zu  widerlegen.  Aber  nach 
meiner  Ansicht  sind  Sie:  erstens,  ein  sehr  guter  Mensch, 
und  das  sind  Sie  von  Geburt  an.  Sie  huldigen  dem  Guten, 
weil  das  Streben  zum  Guten,  so  wie  der  Hass  gegen  die 
Lüge  und  gegen  das  Böse,  Ihnen  angeboren  ist.  Sie  sind 
klug,  und  folglich  auch  skeptisch.  Ein  kluger  Mensch  kann 
nicht  anders:  er  muss  skeptisch  sein;  wenigstens  muss  er 
in  seinem  Leben  eine  Periode  des  qualvollsten  Skeptizis- 
mus durchgemacht  haben.  Als  der  angeborene  Skeptizis- 
mus Sie  zum  Verneinen  der  Traditionen  und  Dogmen  ge- 
bracht hat,  begannen  Sie,  selbstverständlich,  einen  Ausweg 


—  4^'^  — 

aus  Ihren  Zweifeln  zu  suchen.  Sie  fanden  ihn  zum  Teil  in 
der  pantheistischen  Wehanschauung,  zum  Teil  in  der  Mu- 
sik, aber  einen  voUkommenen  Ausgleich  fanden  Sie  nicht. 
Das  Böse  und  die  Lüge  hassend,  zogen  Sie  sich  in  Ihren 
engsten  Familienkreis  zurück  und  wollten  sich  dadurch 
vor  dem  Anblick  der  menschlichen  Schlechtigkeit  retten. 
Sie  thun  viel  Gutes,  weil  das — gleichzeitig  mit  der  inbrün- 
stigen Liebe  zur  Kunst  und  Natur — ein  unüberwindliches 
Bedürfniss  Ihrer  Seele  ist.  Sie  helfen  Ihrem  Nächsten  nicht 
um  sich  dadurch  die  himmlische  Seligkeit,  an  welche  Sie 
nicht  glauben,  welche  Sie  aber  auch  nicht  absolut  vernei- 
nen, zu  erkaufen, — sondern  weil  Sie  nun  einmal  so  ge- 
schaffen sind,  dass  Sie  nicht  anders  können,  als  Gutes  thun''. 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Wien,  d.  23.  November  1877. 

Die  Fortsetzung  meines  Briefes: 
Ich  sehe  die  Kirche  mit  ganz  andern  Augen  an,  als  Sie: 
Für  mich  hat  sie  noch  sehr  viel  poetischen  Reiz  bewahrt. 
Ich  wohne  sehr  oft  dem  Gottesdienst  bei.  Die  Liturgie 
des  Heiligen  Joann  Zlatoust  halte  ich  für  eines  der  her- 
vorragendsten Kunstwerke.  Verfolgt  man  den  Dienst  sehr 
aufmerksam,  sucht  man  in  den  Sinn  einer  jeden  Zeremo- 
nie recht  einzudringen,  so  kann  man  sich  der  ausseror- 
dentlich erhebenden  Wirkung — namentlich  unseres  russi- 
schen Gottesdienstes — nicht  verschliessen.  Auch  habe  ich 
die  Vesper  sehr  gern.  An  einem  Sonnabend  in  dem  weih- 
rauch-erfüllten  Halbdunkel  einer  kleinen  und  alten  Kirche 
zu  stehen;  tief  in  sich  selbst  hineinzuversinken  und  in  sei- 
nem Innern  die  Lösung  der  ewigen  Fragen:  icozu,  woher, 
icohin  zu  suchen;  dann  aus  seinen  Grübeleien  durch  den 
Chor  aufgeschreckt  zu  werden;  sich  dem  Eindruck  der 
hinreissenden  Poesie  des  Gesanges  ganz  hinzugeben;  von 
Entzücken  durchdrungen  zu  werden,  wenn  die  Goldenen 
Thüren  aufgehen  und  die  Worte  ertönen:  Lobet  den  Namen 
des  Herrn; — oh,  wie  unendlich  lieb  habe  ich  das  allesi  Es 
ist  einer  meiner  grössten  Genüssel 

So  bin  ich  denn  in  dieser  Hinsicht  noch  durch  starke 
Bande  an  die  Kirche  gefesselt.  Anderseits,  aber,  habe  ich — 
gleich  wie  Sie — schon  lange  den  Glauben  an  das  Dogma 
verloren.  Die  Lehre  von  der  Vergeltung,  namentlich,  scheint 
mir  ein  Monstrum  von  Ungerechtigkeit  und  Blödsinnigkeit 
zu  sein.   Gleich  Ihnen   hin   ich   zu  der  Ueberzeugung  ge- 


—  411  — 

kommen,  dass — wenn  es  ein  jenseitiges  Leben  überhaupt 
giebt,  dasselbe  nur  im  Sinne  der  Unvergängliclikeit  der 
Materie,  d.  h.  im  pantheistischen  Sinne  der  Ewigkeit  der 
Natur,  deren  mikroskopisch  winziges  Teilchen  ich  bin, 
aufzufassen  ist.  Kurz,  ich  bin  nicht  im  Stande,  die  persön- 
liche, individuelle  Unsterblichkeit  zu  begreifen. 

Wie  sollen  wir  uns  überhaupt  das  ewige  Leben  nach 
dem  Tode  vorstellen?  als  einen  unendlichen  Genuss?  Ein 
solcher  unendliche  Genuss,  unendliche  Freude  ist  aber 
ohne  seinen  Gegensatz,  ohne  ewige  Qual,  nicht  denkbar. — 
Die  Letztere  verneine  ich  gänzlich.  Endlich  weiss  ich  gar- 
nicht  einmal,  ob  ein  Leben  nach  dem  Tode  wünschenswert 
ist.  Das  Leben  hat  nur  dann  Reiz,  wenn  Freud  und  Leid 
abwechseln,  wenn  ein  Kampf  da  ist  zwischen  Gut  und 
Böse,  zwischen  Licht  und  Schatten.  Wie  ist  es  möglich, 
sich  das  ewige  Leben  als  eine  einzige,  nicht  enden  wol- 
lende Freude  zu  denken?  Nach  unseren  irdischen  Begrif- 
fen muss  selbst  die  Seligkeit,  wenn  sie  durch  nichts  ge- 
stört oder  unterbrochen  wnrd,  endlich  langweilig  werden. 
So  bin  ich  denn  mit  meinen  Gedanken  zu  der  Ueberzeu- 
gung  gekommen,  dass  es  kein  ewiges  Leben  giebt.  Nun  ist 
aber  die  Ueberzeugung  etwas  Anderes,  als  Gefühl  und  In- 
stinct.  Das  ewige  Leben  verneinend,  weise  ich  gleichzei- 
tig mit  Entrüstung  den  fürchterlichen  Gedanken  von  mir^ 
dass  ich  einige  mir  teuere  Dahingeschiedene  niemals  wie- 
dersehen werde. 

Ungeachtet  der  siegreichen  Kraft  meiner  JJeberzeugun- 
f/en,  werde  ich  mich  niemals  mit  dem  Gedanken  vertragen 
können,  dass  meine  Mutter,  welche  ich  so  geliebt  habe, 
für  immer  verschwunden  ist,  dass  ich  niemals  Gelegenheit 
haben  werde,  ihr  zu  sagen,  wie  lieb  ich  sie  immer  noch 
habe,  trotz  der  23  Jahre  langen  Trennung. 

Sie  sehen,  meine  liebe  Freundin,  dass  ich  aus  lauter 
Widersprüchen  zusammengesetzt  bin,  und  dass  ich  ein 
sehr  reifes  Alter  erreicht  habe,  ohne  meinen  unruhigen 
Geist  beruhigt  zu  haben,  ohne  mich  auf  etwas  Positives 
stützen  zu  können — weder  auf  die  Religion  noch  auf  die 
Philosophie.  Wahrlich,  ich  hätte  den  Verstand  verlieren 
können,  wenn  die  Älusik  nicht  da  wäre.  Sie  ist  in  der 
That  die  schönste  Himmelsgabe  für  die  irrende  und  im 
Dunkel  vv'andelnde  Menschheit.  Sie  allein  erleuchtet,  be- 
ruhigt und  befriedigt.  Sie  ist  aber  nicht  jener  Strohhalm, 
an  welchen  sich  der  Ertrinkende  klammert:  sie  ist  eine 
treue  Freundin,  Beschützerin   und  Trösterin;  schon   allein. 


—  4^2  — 

um  ihretwillen  ist  es  wert,  auf  Erden  zu  leben.  Im  Him- 
mel wird  es  vielleicht  keine  Musik  geben.  So  wollen  wir 
•denn  hienieden  leben,  solange  das  Leben  reicht". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Wien,  d.  26.  November  1877. 

Ich  bin  immer  noch  in  Wien.  Gestern  erhielt  ich  die 
Nachricht,  dass  mein  Diener  am  Sonnabend  von  Moskau 
abreisen  wird.  Obwohl  ich  ihm  sehr  ausführliche  Anord- 
nungen gegeben  habe,  wie  er  sich  unterwegs  zu  beneh- 
men hat,  so  kann  ich  mir  dennoch  garnicht  vorstellen,  wie 
er,  ohne  das  geringste  ausländische  Wort  zu  verstehen, 
die  Ueberfahrt  über  die  Grenze  zu  Stande  bringen  wird? 
Ich  denke,  dass  es  nicht  ohne  tragikomische  Episoden  ab- 
gehen wird.  Manches  Mal  will  es  mir  scheinen,  dass  es 
meinerseits  recht  unzweckmässig  sei,  einen  Diener  aus 
Russland  kommen  zu  lassen.  Anderseits  aber  weiss  ich  nicht, 
was  ich  hätte  thun  sollen,  da  ich  doch  die  Einsamkeit 
absolut  nicht  ertragen  kann?  Ausserdem  weiss  ich,  dass 
das  eine  Beruhigung  für  meine  Brüder  sein  wird,  mich 
nicht  allein  zu  wissen. 

Ich  habe  die  „Walküre"  von  Wagner  gesehen;   die 

Aufführung  war  ausgezeichnet.  Das  Orchester  hat  sich 
selbst  übertroffen;  die  besten  Sänger  und  Sängerinnen  ha- 
ben Alles  gethan,  was  in  ihren  Kräften  stand, — und  den- 
noch w^ar  es  langweilig.  Welch  ein  Don-Quixote  ist  doch 
dieser  Wagner!  Er  bietet  alle  seine  Kräfte  auf  in  der  Jagd 
nach  dem  Unmöglichen,  während  ihm  ein  ausserordentli- 
ches Talent  zur  Verfügung  steht,  kraft  dessen  er — wenn 
er  sich  ihm,  d.  h.  seinen  natürlichen  Eigenschaften  unter- 
ordnen wollte, — ein  ganzes  Meer  musikalischer  Schönheit 
aus  sich  hervorzaubern  könnte.  Nach  meiner  Meinung  ist 
Wagner  im  Grunde  Symphoniker.  Dieser  Mann  ist  mit 
einem  genialen  Talent  begnadet,  welches  aber  an  seinen 
Tendenzen  zu  Grunde  geht,  seine  Inspiration  wird  durch 
Theorieen  paralysiert,  welche  er  sich  selbst  ausgedacht 
hat  und  welche  er  mit  Gewalt  praktisch  verwerten  will. 
Indem  er  nach  Realität,  Wahrhaftigkeit  und  Rationalismus 
strebt,  verliert  er  die  Musik  ganz  aus  dem  Auge,  welche 
in  seinen  letzten  vier  Opern  grösstenteils  durch  Abwesen- 
heit glänzt.  Denn  jene  kaleidoskopischen,  bunten  musika- 
lischen Stückchen,  welche  unablässig  einander  ablösen  und 
niemals  zu  einem  Abschluss  führen,  d.  h.  dem  Ohre  nicht 


—  413  - 

die  geringste  Gelegeniieit  bieten,  bei  irgend  einer  leicht- 
fasslichen  musikalischen  Form  zur  Ruhe  zu  kommen, — kann 
ich  nicht  Musik  nennen.  Nicht  eine  einzige  breitangelegte,, 
in  sich  abgeschlossene  Melodie!  Nicht  die  geringste  Bewe- 
gungsfreiheit für  den  Sänger.  Dieser  muss,  vielmehr,  un- 
ausgesetzt auf  das  Orchester  bedacht  sein  und  dafür  sor- 
gen, dass  die  kleinste  Note,  welche  in  der  Partitur  keine 
grössere  Bedeutung  hat,  als  irgend  ein  Nötchen  des  4. 
Waldhorns,  nicht  verloren  gehe.  Aber  dass  Wagner  aus- 
gezeichneter S34nphoniker  ist — unterliegt  keinem  Zweifel, 
Ich  will  Ihnen  gleich  durch  ein  Beispiel  beweisen,  bis  zu 
welchem  Grade  der  s^nnphonische  St}^  über  dem  vokalen 
in  Wagners  Opern  dominiert.  Sie  haben  wahrscheinlich 
seinen  berühmten  Walkürenritt  schon  oft  in  Konzerten 
gehört?  Welch'  grossartiges,  herrliches  Bild!  Man  sieht 
leibhaftig  jene  wilden  Heldinnen,  welche  auf  ihren  Zauber- 
rossen in  den  Wolken  dahinjagen.  —  Dieses  Stück  übt  in 
Konzerten  stets  eine  ausserordentliche  W^irkung  aus.  Im 
Theater  dagegen,  angesichts  der  papiernen  Felsen,  der 
wolkenähnlichen  Zeugfetzen  und  der  Soldaten,  лvelche  sehr 
ungeschickt  im  Hintergrunde  über  die  Bühne  galoppieren, 
und  angesichts  des  nur  zu  dürftigen  Theaterhimmels,  wel- 
cher sich  anmaasst,  die  ungeheuren  Himmelshöhen  zu  ver- 
körpern,— verliert  die  Musik  ihre  ganze  Ausdrucksfähig- 
keit. Folglich  ist  das  Theater  in  diesem  Falle  nicht  förder- 
lich, sondern  wirkt  wie  ein  Glas  kalten  Wassers.  Endlich 
begreife  ich  nicht  und  лverde  es  auch  nie  begreifen  lernen, 
weshalb  die  „Nibelungen"  als  literarisches  chef  d'oeuvre 
anerkannt  werden?  Als  Volkssage — wohl,  aber  als  Libret- 
to—nicht! 

Wotan,  Brünnhilde,  Fricka  u.  s.  w.  sind  alle  so  un- 
möglich, so  wenig  menschlich,  dass  es  schwer  ist,  ihr  Ge- 
schick teilnehmend  zu  verfolgen!  Und  wie  wenig  Leben! 
Geschlagene  drei  Stunden  hält  Wotan  Brünnhilden  seine 
Strafpredigt  für  ihre  Insubordination.  —  Wie  langweilig! 
Und  dennoch  gibt  es  da  eine  ganze  Menge  kraftvoller  und 
schöner  Episoden  rein  symphonischen  Charakters. 

Gestern  haben  Kotek  ^)  und  ich  eine  neue  Symphonie 
von  Brahms  ^)  durchstudiert,  einem  Komponisten,  den  die 
Deutschen  in  den  Himmel  heben.  Für  mich  hat  er  gar 
keinen  Reiz.  Ich  finde,  dass  er  sehr  dunkel   und  kalt  ist. 


1)  Kotek,  welcher  damals  In  Berlin   bei   Joachim  studierte,  war  für  einige  Tage  zu 
Peter  Iljitsch  nach  Wien  gekommen. 
3)  Sj-mphonie  Л°  i  (Cmollj. 


—  414  — 

•dabei  voller  Pretention  aber  ohne  rechte  Tiefe.  Ueberhaupt 
scheint  es  mir,  dass  Deutschland  in  musikalischer  Bezie- 
hung sinkt.  Ich  glaube  jetzt  kommen  die  Franzosen  an  die 
Spitze:  sie  haben  viele  neue  und  starke  Talente.  Neuhch 
habe  ich  die  in  ihrer  Art  geniale  Musik  des  Balletts  „Зз'1- 
via"  von  Delibes  angehört.  Diese  Musik  habe  ich  schon  frü- 
her aus  dem  Klavierauszug  kennen  gelernt,  in  der  prachtvol- 
len Wiedergabe  des  Wiener  Orchesters  aber  hat  sie  mich 
geradezu  bezaubert,  namentlich  ihr  erster  Teil.  „DerSchwa- 
nensee"  ist  dummes  Zeug  gegen  „Sylvia".  In  den  letzten 
Jahren  ist  mir  überhaupt  Nichts  begegnet,  was  mich  so 
entzückt  hätte,  wie  „Carmen"  und  das  Ballett  Delibes'". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Wien,  d.  27.  November  1877. 
Mein  Bruder  und  Kotek  sind  in  das  grosse  Philharmo- 
nische Konzert  gegangen,  in  welchem  unter  Anderem  die 
herrliche  und  von  mir  so  geliebte  3.  Symphonie  von  Schu- 
mann gespielt  werden  soll.  Dennoch  habe  ich  es  vorgezo- 
gen, zu  Hause  zu  bleiben.  Ich  fürchtete  einigen  mir  be- 
kannten hiesigen  Musikern  zu  begegnen:  wenn  ich  nur 
von  einem  gesehen  werden  würde,  so  müsste  ich  Morgen 
wenigstens  bei  zehn  musikahschen  Grössen  meinen  Besuch 
machen,  mich  ihnen  vorstellen  und  mich  für  ihre  Aufmerk- 
samkeit bedanken.  (Im  vorigen  Jahr  ist  nämlich,  ohne  dass 
ich  mich  darum  bemüht  hatte,  meine  Ouvertüre  „Romeo 
und  Julie"  hier  gespielt  und  einstimmig  ausgepfiffen  wor- 
den). Ich  würde  gewiss  viel  zur  Verbreitung  meiner  Kom- 
positionen im  Ausland  beitragen,  wenn  ich  allen  Kory- 
phäen Besuche  machen  und  Komplimente  sagen  wollte. 
Aber,  oh  Gott,  wie  hasse  ich  das!  Wenn  Sie  wüssten  in 
welch'  beleidigend  herablassendem  Ton  sie  mit  einem  rus- 
sischen Musiker  zu  sprechen  pflegen.  Man  liest  es  förm- 
lich in  ihren  Augen:  „Du  bist  zwar  ein  Russe,  ich  bin 
aber  so  gut,  dich  mit  meiner  Aufmerksamkeit  zu  beehren". 
Gott  mit  ihnen!  Im  vorigen  Jahr  bin  ich  bei  Liszt  gewe- 
sen. Er  war  zum  Erbrechen  höflich,  auf  seinen  Lippen 
aber  spielte  ein  Lächeln,  welches  mir  mit  nicht  misszuver- 
stehender Deutlichkeit  die  oben  angeführten  Worte  sagte. 
In  diesem  Augenblick  bin  ich,  versteht  sich,  weniger  denn 
je  aufgelegt,  vor  diesen  Herren  Verbeugungen  zu  machen". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Wien,  d.  29.  November,  1877. 
Erst  Heute  um  10"^,  4  ist  mein  Bruder  abgereist.  Meine 


—  415  — 

Gefühle  will  ich  Ihnen  nicht  ausführlicher  beschreiben:  Sie 
kennen  sie  ja....  Gestern  um  5  ist  mein  Diener  angekom- 
men. Ich  hatte  mich  sehr  geirrt  in  Betreff  der  Unannehm- 
lichkeiten, welche  ich  für  ihn  wegen  seiner  Unkenntniss 
der  Sprache  erwartet,  desgleichen  auch  in  Betreff  des  Ein- 
drucks, welchen  auf  ihn  das  Ausland  gemacht.  Er  ist  ein 
ebenso  kluges  wie  mutiges  russisches  Bäuerlein,  welches 
sich  geschickt  aus  den  schlimmsten  Affairen  zu  ziehen 
weiss  und  ist  so  gut  über  die  Grenze  gekommen,  als  wenn 
er  schon  oft  diese  Reise  gemacht  hätte.  Was  den  Eindruck 
anbelangt,  so  sind  nach  seiner  Meinung  die  Häuser  in  Wien 
viel  schlechter  als  in  Moskau,  und  überhaupt  Moskau — 
unvergleichhch  schöner.  Infolge  der  Nachricht  von  der  Er- 
oberung Plevna's,  ertrage  ich  die  Trennung  von  meinem 
Bruder  leichter.  Als  mir  der  Kellner  Gestern  früh  den 
Kaffee  mit  den  Worten  „Plevna  ist  gefallen!"  brachte, 
hätte  ich  ihn  beinahe  umarmt.  Es  scheint,  als  ob  Oester- 
reich  sich  über  diesen  Erfolg  ein  wenig  beleidigt  fühlt  und 
sich  ärgert,  dass  die  beste  türkische  Armee  kapituliert  hat. 
Ich  beabsichtige,  bald  an  die  Beendigung  meiner  Sym- 
phonie zu  gehen,  deren  Instrumentierung  ich  noch  in  Ka- 
menka  begonnen  habe". 

An  M.  Tschaikowsk}':  • 

„Venedig,  d.  4.  Dec.  1877. 

Heute  um  3  Uhr — ich  sass  gerade  an  meiner  Sympho- 
nie— brachte  man  mir  dein  Telegramm  ^).  Das  war  eine 
solche  Freude,  dass  ich  fast  verrückt  geworden  wäre.  Den 
ganzen  Tag  war  ich  nervös  aufgeregt,  und  schreibe  jetzt 
diesen  Brief  und  weiss  garnicht,  wie  ich  Dir  meine  grosse 
Freude  ausdrücken  soll.  Nach  der  Abreise  Anatol's  war 
ich  sehr  traurig — trotz  der  Ankunft  Alexei's  —  so  traurig, 
dass  ich  zu  trinken  begann.  Nur  nach  einem  Fläschchen 
Cognac  war  ich  im  Stande,  das  Leben  erträglich  zu  fin- 
den. Die  letzten  Tage  litt  ich  geradezu  fürchterlich,  und 
wer  weiss,  wohin  das  geführt  hätte,  wenn  nicht  die  heu- 
tige Nachricht...  Sogar  Venedig  hat  ein  ganz  anderes  Aus- 
sehen gewonnen,  als  ich  nach  Empfang  deines  Telegramms 
spazieren  ging". 


1)  Mit  diesem  Telegramm  hatte  ich  Peter  Iljitsch  mitgeteilt,  dass    ich    mit  Einwilli- 
gung der  Eltern  meines  Zöglings,  für  den  ganzen  Winter  zu  ihm   nach   Italien    kommen 


—  4^6  — 

An  Frau  von  Meck: 

„Venedig,  d.  5.  Dec.  1877. 

In  Ihrem  Brief  ist  Eines,  womit  ich  durchaus   nicht 

einverstanden  bin, — das  ist  Ihre  Ansicht  über  die  Musik. 
Besonders  missfällt  mir  Ihr  Vergleich  der  Musik  mit  einem 
Rausch.  Ich  glaube  das  ist  ganz  falsch.  Zum  Wein  nimmt 
der  Mensch  seine  Zuflucht,  um  sich  zu  betäuben,  gleichsam 
um  sich  in  einen  Traum  von  Glück  und  Zufriedenheit  ein- 
zuv^äegen.  Aber  dieser  Traum  kommt  ihm  teuer  zu  stehen! 
Die  Reaktion  ist  gewöhnlich  fürchterlich.  Aber  .wie  dem 
auch  sei,  der  Wein  lässt  ihn  für  einen  Moment  allen  Kum- 
mer vergessen — nichts  weiter.  Ist  denn  die  Wirkung  der 
Musik  eine  ähnliche?  Sie  ist  keine  Täuschung,  sie  ist  eine 
Offenbarung .  Ihre  siegreiche  Kraft  liegt  darin,  dass  sie  uns 
Schönheiten  eröffnet,  welche  in  keiner  andern  Sphäre  zu 
finden  sind,  und  deren  Erkenntniss  nicht  zeitweilig,  son- 
dern dauernd  ist.  Die  Musik  erleuchtet  und  erfreut.  Den 
Prozess  des  musikalischen  Genusses  zu  beobachten  und 
iestzuhalten  ist  sehr  schwer,  mit  einem  Rausch  jedoch  hat 
er  nichts  gemein.  Auf  alle  Fälle  ist  er  kein  physiologisches 
Phänomen.  Allerdings  sind  die  Nerven,  also  tnaterielle  Or- 
gane, an  der  Aufnahme  eines  musikalischen  Eindrucks  be- 
teiligt, und  in  diesem  Sinne  ergötzt  die  Musik  auch  unseren 
Körper:  bekanntlich  ist  es  sehr  schwer,  zwischen  den  leib- 
hchen  und  geistigen  Eigenschaften  eines  Menschen  ein 
scharfe  Grenze  zu  ziehen,  so  ist  zum  Beispiel  auch  das 
Denken  ein  ph3'siologischer  Prozess,  denn  es  gehört  zu 
den  Funktionen  des  Gehirns.  Uebrigens  liegt  der  ganze 
Unterschied  nur  in  den  Worten.  Ob  wir  Beide  den  musi- 
kalischen Genuss  auch  auf  verschiedene  Weise  deuten,  so 
ist  Eines  doch  unzweifelhaft:  wir  Beide  lieben  die  Musik 
gleich  stark,  und  das  genügt  mir.  Es  ist  mir  angenehm, 
dass  Sie  diejenige  Kunst  f/öttUch  nennen,  der  ich  mein  Le- 
ben geweiht  habe. 

In  Ihrer  Philosophie  gefällt  mir  ganz  besonders  die  An- 
sicht über  Gut  und  Böse.  Diese  Ansicht  ist  zwar  fatahs- 
tisch,  aber  ganz  von  christlicher  Nachsicht  gegenüber  den 
Sünden  und  Schwächen  Ihrer  Mitmenschen  erfüllt.  Sie  sa- 
gen, es  sei  unsinnig,  von  einem  Menschen,  dem  Tugend 
und  Verstand  7iicht  gegeben  sind,  zu  verlangen,  dass  er  gut 
und  klug  sei.  Hier  stosse  ich  wiederum  auf  den  in  die 
Augen  springenden  Unterschied  zwischen  Ihrer  Individuali- 
tät und  der  meinigen;  ich  war  stets  bestrebt,  das  Böse  in 


—  417  - 

der  menschlichen  Natur  als  den  unvermeidlichen  Gegen- 
satz des  Guten  zu  betrachten.  Auf  diesem  Standpunkt 
stehend  (der,  wenn  ich  nicht  irre,  auf  Spinoza  zurückzu- 
führen ist),  dürfte  ich  niemals  das  Gefühl  des  Zornes  oder 
Hasses  in  mir  aufkommen  lassen.  In  der  That  erweist  es 
sich  aber,  dass  ich  jeden  Augenblick  fähig  bin  in  Wut  zu 
geraten,  die  Menschen  zu  verachten  und  mich  über  sie  zu 
ärgern, — ganz  wie  Einer,  der  nicht  weiss,  dass  ein  Jeder 
nur  so  handelt,  wie  das  Fatum  es  ihm  vorschreibt.  Ich 
w^eiss  bestimmt,  dass  Ihnen  das  kleinliche  Gefühl  des  Zür- 
nens  und  der  Rachsucht  fremd  ist.  Den  gegen  Sie  gerich- 
teten Stössen  suchen  Sie  auszuweichen,  ohne  Ihrerseits 
diese  Stösse  zu  erwidern.  Mit  einem  Wort,  Sie  wenden 
Ihre  Philosophie  auch  im  praktischen  Leben  an.  Anders 
ich:  ich  denke  Eines,  und  thue  ein  Anderes. 

Ich  will  Ihnen  gleich  ein  passendes  Beispiel  dafür  ge- 
ben. Ich  besitze  einen  Freund,  namens  Kondratjew;  er  ist 
ein  sehr  netter  und  angenehmer  Mensch  und  hat  nur  einen 
Fehler — den  Egoismus.  Diesen  Egoismus  weiss  er  aber  in 
so  nette  und  liebenswürdige  Formen  zu  kleiden,  dass  man 
ihm  unmöglich  lange  böse  sein  kann.  Als  ich  im  Septem- 
ber in  Moskau  meine  grosse  Leidenszeit  durchzumachen 
hatte  und  im  Paroxismus  meines  Unglücks  Jemandes  be- 
durfte, der  mir  einen  moralischen  Halt  gewähren  konnte, 
traf  es  sich,  dass  dieser  Kondratjew — er  lebte  damals  auf 
seinem  Landsitz  im  Gouvernement  Charkow  —  mir  einen, 
wie  immer  sehr  liebenswürdigen  Brief  schrieb  und  mich 
seiner  wärmsten  Freundschaft  versicherte.  Meinen  Brüdern 
wollte  ich  mich  damals  nicht  offenbaren  um  sie  nicht  zu 
kränken.  Mein  Kelch  war  aber  bis  an  den  Rand  gefüllt. 
Ich  schrieb  an  Kondratjew  einen  Brief,  in  welchem  ich 
ihm  das  Schreckliche  und  Hoffnungslose  meiner  Lage  mit- 
teilte. Der  zwischen  den  Zeilen  zu  lesende  eigentliche  Sinn 
meines  Briefes  war  folgender:  „Ich  gehe  unter,  rette  mich! 
Stütze  mich,  aber  beeile  dich!"  Ich  war  überzeugt,  dass 
er  als  ein  sehr  vermögender  und  unabhängiger  Mensch, 
der — wie  er  selbst  sagte — stets  zu  jedem  Freundschaftsopfer 
bereit  war,  mir  zu  Hilfe  eilen  würde.  Dann  geschah  das, 
was  Sie  schon  wissen.  Erst  in  Ciarens  erhielt  ich  seine 
Antwort,  welche  acht  Tage  nach  meiner  Flucht  in  Moskau 
eingetroffen  war.  In  dieser  Antwort  bedauert  mich  mein 
Freund  sehr  und  schliesst  mit  den  Worten:  „Bete,  Freund, 
bete!  Gott  wird  Dir  helfen,  das  Unglück  zu  überwinden". 
Fürwahr,  ein  billiges  und  gutes  Mittel! — Heute  Nacht  las 

Tschaikotvsky,  M.  P.  I,  Tschaikowsky"s  Leben.  27 


—  4IÖ  — 

ich  im  dritten  Band  des  prachtvollen  Romanes  „Pendennis" 
von  Thakera}'.  Da  ist  ein  sehr  lebendiger  T3'pus  „der 
Major",  welcher  mich  sehr  oft  an  Kondratjew  erinnert. 
Eine  Episode  hat  mir  meinen  Freund  ganz  besonders  scharf 
gezeichnet,  so  dass  ich  aus  dem  Bett  sprang  und  ihm  so- 
fort einen  Brief  schrieb,  in  welchem  ich  mich  mit  unnöti- 
gem Eifer  über  ihn  lustig  machte  und  meinen  Zorn  an  ihm 
ausliess.  Nachdem  ich  aber  Ihren  Brief  gelesen,  schämte  ich 
mich  sehr.  Ich  schrieb  ihm  einen  andern  Brief  und  bat 
ihn,  mir  meine  unmässige  Bosheit  nicht  übel  zu  nehmen. 
Sehen  Sie,  welch'  wohlthuhenden  Einfluss  Sie  auf  mich 
ausüben,  meine  liebe  Freundini  Sie  sind  meine  Vorsehung 
und  mein  Trost!" 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Venedig,  d.  9.  Dec.  1877. 

Ich  arbeite  fleissig  an  der  Instrumentation  unserer  S34n- 
phonie  und  bin  ganz  in  diese  Arbeit  versunken. 

Keine  meiner  früheren  Orchesterkompositionen  hat  mir 
sp  viel  Mühe  gekostet,  aber  auch  an  keiner  habe  ich  mit 
so  viel  Liebe  und  Hingebung  gearbeitet.  Es  ist  mir  eine 
angenehme  Ueberraschung  zu  Teil  geworden,  als  ich  die 
Arbeit  in  Angriff  nahm.  Anfangs  war  ich  nur  vom  Wunsch 
geleitet,  die  einmal  angefangene  S3'mphonie  zu  Ende  zu 
führen,  selbst  wenn  es  mir  noch  so  schwier  fallen  sollte. 
Nach  und  nach  aber  erwärmte  ich  mich  immer  mehr,  und 
jetzt  möchte  ich  mich  garnicht  von  der  Arbeit  trennen. 

Meine  teure  und  liebe  Nadeshda  Filaretowna,  vielleicht 
irre  ich  mich,  aber  es  scheint  mir,  dass  diese  Symphonie 
kein  mittelmässiges  Stück,  dass  sie  das  Beste  ist  von  dem, 
was  ich  bis  jetzt  gemacht  habe.  Wie  freue  ich  mich,  dass 
es  unser  Werk  ist,  und  dass  Sie  beim  Anhören  desselben 
wissen  werden,  wie  sehr  ich  bei  jedem  Takt  an  Sie  ge- 
dacht habe.  Wäre  es  jemals  beendet  worden,  wenn  Sie 
nicht  wären?  Als  ich  noch  in  Moskau  war  und  glaubte, 
dass  es  mit  mir  zit  Ende  ginge,  machte  ich  auf  den  ersten 
Entwürfen  folgende  Aufschrift,  die  ich  unterdess  ganz  ver- 
gessen und  erst  jetzt  wiedergefunden  habe:  „Wenn  ich  ster- 
ben sollte,  so  bitte  ich,  dieses  Heft  an  N.  F.  von  Meck  zu 
geben".  Ich  wünschte,  das  Manuscript  meiner  letzten  Kom- 
position in  Ihrem  Besitz  zu  wissen.  Nun  bin  ich  aber 
nicht  nur  ganz  gesund,  sondern  dank  Ihnen  auch  in  der 
Lage,  mich  ganz  der  Arbeit  hinzugeben,  und  glaube,  dass 


—  419  — 

unter  meiner  Feder  ein  Werk  entstellt,  welches  nicht  in 
Vergessenheit  geraten  dürfte!  Uebrigens  ist  es  möglich, 
dass  ich  unrecht  habe:  es  ist  wohl  allen  Künstlern  eigen, 
für  das  jüngste  ihrer  Erzeugnisse  zu  schwärmen.  Wie  dem 
auch  sei,  aber  in  diesem  Augenblick  bin  ich  dank  der  in- 
teressanten Arbeit  sehr  hoffnungsvoll.  In  voller  Seelenruhe 
lasse  ich  verschiedene  kleine  UnannehmHchkeiten  über  mich 
ergehen,  welche  der  Hotelwirt  mir  macht.  Das  Hotel  ist 
sehr  schlecht,  ich  möchte  aber  trotzdem  nicht  ausziehen, 
bevor  die  Sache  mit  der  Herkunft  meines  Bruders  sich 
noch  nicht  endgiltig  entschieden  hat". 

An  Frau  von  Meck: 

„Venedig,  d.  12.  Dec.  1877. 

Heute  habe  ich  die  freudige  Nachricht  erhalten,  dass 
Modest  zusammen  mit  seinem  lieben  Zögling  zu  mir  kom- 
men wird.  Konradi  (der  Vater  des  Knaben)  hat  aber  nur 
unter  der  Bedingung  seine  Einwilligung  zu  dieser  Reise 
gegeben,  dass  ich  mich  an  einem  Orte  niederlasse,  dessen 
Klima  seinem  Sohne  zuträglich  ist.  Er  schlägt  San-Remo 
vor,  w^  es  jetzt  eine  ganze  Menge  guter  und  bequemer 
Hotels  und  Pensionen  geben  soll". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„Venedig,  d.  12.  Dec.  1877. 

Ich  beabsichtige,  am  Freitag  nach  San-Remo  zu  reisen, 
um  daselbst  eine  nicht  zu  teuere  und  möglichst  bequeme 
Wohnung  für  uns  ausfindig  zu  machen.  Unterwegs  will 
ich  einen  Tag  in  Mailand  bleiben....  Ich  habe  Dir  noch 
nichts  über  die  Tauben  geschrieben.  Ich  füttere  sie  jetzt  je- 
den Tag  und  habe  es  herausgekriegt,  dass  sie  schaaren- 
weis  auf  mir  sitzen  und  mich  so  von  Kopf  bis  Fuss  be- 
decken". 

An  Frau  von  Meck: 

„Mailand,  d.  16.  Dec.  1877. 

Ich  bin  um  vier  Uhr  in  Mailand  angekommen,  habe 
einen  kleinen  Spaziergang  durch  die  hübsche  Stadt  ge- 
macht, und  war  abends  im  Theater,  aber  leider  nicht  in 
der  „Scala",  welche  heute  geschlossen  war,  sondern  in 
„Dal-V^erme",   wo  vor  etwa  vier  Jahren  das    „Leben  für 


—  4^^  — 

den  Zaren"  aufgeführt  worden  ist.  Heute  gab  man  die 
Oper  „Ruy  Blas"  von  Marcetti.  Diese  Oper  ist  schon  seit 
einigen  Jahren  in  Itahen  rühmlichst  bekannt,  so  dass  ich 
gehofft  habe,  Etwas  Interessantes  kennen  zu  lernen.  Es 
erwies  sich  aber,  dass  es  nur  eine  ganz  talentlose  und 
triviale  Kopie  Verdi's  war,  ohne  jene  Kraft  und  Wär- 
me, welche  die  etwas  groben  Schöpfungen  des  Letzteren 
auszeichnen.  Die  Ausführung  war  schlechter  als  mittel- 
mässig.  Gelegentlich  der  Aufführung  dieser  Oper  durch- 
streiften einige  traurige  Gedanken  mein  Hirn.  Es  tritt  eine 
junge  Königin  auf,  in  welche  Alle  verliebt  sind.  Die  Künst- 
lerin, welche  diese  Rolle  spielte,  schien  sehr  gewissenhaft 
zu  sein:  sie  that  Alles,  was  sie  konnte.  Wie  wenig  war  sie 
aber  einem  schönen  königlichen  Weibe  ähnlich,  welches 
die  Eigenschaft  besitzt,  alle  sie  erblickenden  Männer  zu 
bezaubern!  Und  erst  der  Held,  Ruy  Blas!  Gesungen  hat 
er  garnicht  schlecht,  aber  anstatt  eines  schönen  Jünglings 
und  wahrhaften  Helden,  —  sah  man  einen  Lakaien.  Nicht 
die  geringste  Illusion!  Da  dachte  ich  an  meine  Oper.  Wo 
werde  ich  eine  Tatjana  finden,  wie  sie  sich  Puschkin  ge- 
dacht hat,  und  welche  ich  musikahsch  zu  illustrieren  ver- 
sucht habe?  Wo  wird  sich  der  Künstler  finden,  welcher 
nur  annähernd  das  Ideal  eines  Onegin  erreichen  wird,  je- 
nes kaltherzigen  Dand}^,  welchem  der  „gute  Ton"  durch 
Mark  und  Bein  gedrungen  ist?  Wo  giebt  es  einen  Lensky, 
den  achtzehnjährigen  Jüngling  mit  den  üppigen  Locken 
mit  den  eckigen  und  originellen  Manieren  eines  jungen 
Poeten  ä  la  Schiller?  Wie  gemein  wird  sich  das  herrliche 
Bildchen  Puschkin's  auf  der  Bühne  machen,  mit  ihrer  Rou- 
tine, mit  ihren  unsinnigen  Traditionen,  mit  ihren  Vetera- 
nen und  Veteraninnen,  welche  ohne  jede  Scham  die  Rol- 
len sechszehnjähriger  Mädchen  und  bartloser  Jünghnge 
übernehmen.  Die  Moral  davon:  es  ist  viel  angenehmer  rein 
instrumentale  Musik  zu  schreiben,  denn  man  erlebt  M^eni- 
ger  Enttäuschungen.  Welche  Qualen  habe  ich  bei  den 
Aufführungen  meiner  Opern,  namentlich  des  „Wakula", 
auszukosten  gehabt!  Und  doch  ergab  sich  ein  gewaltiger 
Unterschied  zwischen  dem,  was  ich  mir  vorgestellt  hatte, 
und  dem,  was  auf  der  Bühne  des  Marientheaters  geleistet 
wurde.... — Nach  „Ruy  Blas"  gab  es  ein  sehr  lustiges  Bal- 
lett mir  Verwandlungen,  einem  Harlekin  und  allerlei  Ueber- 
raschungen,  dazu  eine  empörend  gemeine  Musik.  Trotzdem 
habe  ich  mich  dabei  amüsiert,  während  die  Opernvorstel- 
lung mich  geärgert  hatte.  „Ruy  Blas"  ist  aber  ein  schönes 
Opernsujet. 


—  4^1  — 

Aus  Venedig  habe  ich  ein  sehr  hübsches   Liedchen 

exportiert.  Ueberhaupt  habe  ich  diesmal  in  Itahen  zwei  ange- 
nehme musikahsche  Eindrücke  empfangen.  Das  eine  Mal 
war's  in  Florenz,  ich  weiss  nicht,  ob  ich  Ihnen  darüber 
schon  geschrieben  habe.  Eines  Abends  hörten  wir  (ich  und 
Anatol)  plötzHch  Gesang  auf  der  Strasse  und  sahen  einen 
Auflauf  von  Menschen,  unter  welche  auch  wir  uns  mischten. 
Der  Gesang  rührte  von  einem  zehn-oder  elfjährigen  Kna- 
ben her,  welcher  sich  selbst  auf  einer  Guitarre  begleitete. 
Er  sang  mit  einer  herrlichen  volltönenden  Stimme,  dazu 
mit  solcher  Wärme  und  Fertigkeit,  welche  selbst  bei  gu- 
ten Künstlern  nur  selten  vorkommen.  Die  sehr  tragischen 
Worte  des  Liedes  klangen  von  den  kleinen  Lippen  des 
Kindes  gar  zu  seltsam.  Dieser  Strassenkünstler  sang  wie 
alle  Italiener  sehr  rytmisch. 

Letztere  Eigenschaft  der  Italiener  interessiert  mich  sehr, 
denn  sie  steht  in  direktem  Gegensatz  zu  dem  Wesen  un- 
serer Volkslieder  und  ihrer  Wiedergabe  durch  das  Volk". 

An  Frau  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  20.  Dec.  1877. 

Ich  habe  eine  Wohnung  in  der  Pension  „Joli"  gefun- 
den; vier  schlecht  möbherte  Zimmer,  welche  eine  kleine 
Wohnung  für  sich  bilden,  um  einen  relativ  massigen  Preis. 

Die  Lage  San-Remo's  ist  in   der   That  zauberhaft. 

Das  Städtchen  liegt  auf  einem  Felsen  und  ist  sehr  eng 
gebaut.  Die  untere  Stadt  besteht  fast  ausschliesslich  aus 
Hotels,  welche  alle  überfüllt  sind.  San-Remo  ist  jetzt  mo- 
dern, wahrscheinhch  seit  der  Zeit,  da  unsere  Kaiserin  sich 
hier  aufgehalten  hat.  —  Heute  hatten  wir,  ohne  Uebertrei- 
bung,  ganz  sommerliches  Wetter.  Im  blossen  Rock  konnte 
man  die  sengenden  Strahlen  der  Sonne  kaum  ertragen. 
Ueberall  sieht  man  Olivenbäume,  Palmen,  Orangen,  Citro- 
nen,  Heliotrop,  Jasmin, — kurz  es  ist  prachtvoll  schön.  Und 
doch....  soll  ich's  Ihnen  wirkhch  sagen?  Als  ich  am  Quai 
spazieren  ging,  übermannte  mich  der  Wunsch  schnell,  nach 
Hause  zu  gehen  und  meine  sehnsüchtigen  Gefühle  dem 
Briefpapier  anzuvertrauen:  Warum?  warum  konnte  mich 
eine  einfache  russische  Landschaft,  ein  Spaziergang  durch 
heimatliche  Dörfer  und  Wälder,  über  Felder  und  Steppen, 
in  eine  Stimmung  versetzen,  in  der  ich  mich  —  über  und 
über  von  Liebe  zur  Natur  und  von  den  Gefühlen  erfüllt, 
welche  in  mir  der  Anblick  des  Waldes,  der  Steppe,   des 


422    

Baches,  des  Dorfes  in  der  Ferne,  des  bescheidenen  Kirch- 
leins hervorrief, — zur  Erde  warf  und  mich  ganz  der  Ver- 
zückung hingab?  Warum?  Ich  konstatiere  nur  diese  That- 
sache,  ohne  nach  Erklärungen  zu  suchen. 

Ich  freue  mich  sehr,  dass  ich  meinen  Spaziergang  fort- 
gesetzt habe,  denn — hätte  ich  meiner  inneren  Stimme  Ge- 
hör geschenkt,  so  würden  Sie  jetzt  eine  neue  Jeremiade 
zu  lesen  bekommen.  Ich  weiss  bestimmt,  dass  ich  Morgen 
schon  mich  ganz  anders  fühlen  werde,  namentlich  beim 
Beginn  des  Finales  meiner  S3'mphonie,  heute  jedoch?...  Ich 
bin  garnicht  einmal  im  Stande  Ihnen  zu  beschreiben,  was 
ich  eigentlich  fühle  und  was  ich  wünsche.  Nach  Russland — 
nein,  es  bangt  mir  davor,  denn  ich  weiss,  dass  ich  als 
ganz  anderer  Mensch  dahin  kommen  und  mich  da  wie 
ein  Verrückter  geberden  werde.  Und  hier?...  Es  giebt 
wohl  kaum  ein  herrlicheres  Stückchen  Erde,  als  San-Re- 
mo,  und  doch  schwöre  ich  Ihnen,  dass  weder  die  Palmen, 
noch  die  Orangenbäume,  weder  das  schöne  blaue  Meer, 
noch  die  Berge,  überhaupt  Nichts  von  all'  den  Schönheiten 
den  erwarteten  Eindruck  auf  mich  auszuüben  vermag. 
Trost,  Ruhe,  Glückgefühl  schöpfe  ich  nur  aus  mir  selbst. 
Das  Gelingen  der  Symphonie,  das  Bewusstsein,  dass  ich 
ein  schönes  Stück  schreibe,  wird  mich  schon  Morgen  mit 
dem  voraufgegangenen  und  noch  bevorstehenden  Ungemach 
aussöhnen.  Die  Ankunft  des  Bruders  wird  mir  auch  viel 
Freude  bereiten, — gegenüber  der  Natur  jedoch  d.  h.  einer 
solchen  üppigen  Natur,  wie  hier,  verhalte  ich  mich  sehr 
merkwürdig.  Sie  blendet  mich,  sie  macht  mich  nervös,  sie 
ärgert  mich.  In  solchen  Momenten  scheint  es  mir,  dass  ich 
den  Verstand  verliere.  Doch  genug  davon...  Wahrlich,  ich 
bin  wie  jenes  alte  Weib,  von  dessen  Schicksal  uns  Pusch- 
kin in  seinem  Märchen  vom  Fischer  und  dem  Fischlein 
erzählt.  Je  mehr  Ursache  ich  habe  glücldich  zu  sein,  um 
so  unzufriedener  werde  ich.  Seit  meiner  Abreise  aus 
Russland  habe  ich  von  einigen  mir  teuren  Wesen  so 
viele  Liebes-und  Freundschaftsbeweise  erhalten,  dass  Hun- 
derte von  Menschen  davon  glücklich  sein  könnten.  Ich 
sehe  ein,  dass  ich  mich  glücklich  fühlen  müsste,  dass  im 
Vergleich  mit  Millionen  anderer  Menschen,  welche  in  der 
That  unglücklich  sind,  ich  mein  Schicksal  als  ein  wohl- 
wollendes ansehen  müsste,  und  doch — es  giebt  und  giebt 
kein  Glück  für  mich.  Es  giebt  nur  Momente  von  Glück. 
Es  giebt  auch  eine  gewisse  Voreingenommenheit  (preoccu- 
pation)  für  die  Arbeit,  welche  mich   oft   so   sehr   erfüllt, 


—  423  — 

dass  ich  mich  selbst  verhere  und  Alles  vergesse,  was  nicht 
in  direkter  Beziehung  zu  meiner  Arbeit  steht.  Glück  aber 
giebt  es  nicht!  So — nun  ist's  doch  eine  Jeremiade  gewor- 
den: ich  konnte  nicht  umhin.  Ja,  es  ist  lächerlich,  es  ist 
sogar  etwas  undelikat.  Da  Sie  aber  einmal  mein  bester 
Freund  sind,  teure  Nadeshda  Filaretowna,  so  sollen  Sie 
auch  Alles,  Alles  wissen,  was  in  meiner  merkwürdigen 
und  kranken  Seele  vorgeht!  Nehmen  Sie  mir  das  nicht 
übel.  Morgen  werde  ich  es  bedauern.  Heute  jedoch  ist  es 
mir  eine  Erleichterung  gewesen,  Ihnen  etwas  vorzujammern. 
Bitte  beachten  Sie  das  garnicht.  Wissen  Sie,  wie  es  mir 
an  solchen  Tagen,  wie  Heute,  manchmal  geht?  Es  scheint 
mir  plötzlich,  dass  mich  im  Grunde  Niemand  lieb  hat  und 
auch  nicht  lieb  haben  kann,  denn  ich  bin  ein  elender  und 
verachteter  Mensch.  Und  ich  habe  nicht  die  Kraft,  solche 
Gedanken  von  mir  zu  weisen.  Nun  beginne  ich  schon  wie- 
der zu  lamentieren.... 

Ich  hatte  ganz  vergessen  Ihnen  zu  sagen,  dass  ich  einen 
Tag  in  Genua  verbracht  habe.  Genua  ist  in  seiner  Art  ein 
herrlicher  Ort.  Kennen  Sie  die  S.  Maria  in  Carignano,  von 
dessen  Thurm  man  eine  wundervolle  Fernsicht  über  ganz 
Genua  geniesst?  Ausserordentlich  malerisch!" 

An  Frau  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  21.  Dec.  1877. 

Heute  früh  war  ich  auf  der  Post  und  erhielt  einen  Brief, 
welcher  mich  ganz  stutzig  gemacht  hat.  Er  hat  mich  voll- 
kommen verwirrt.  Ich  muss  Ihnen  sagen,  dass  bald  nach 
meiner  Abreise  der  Gedanke  in  Russland  auftauchte,  mich 
als  musikalischen  Delegirten  auf  die  Pariser  Ausstellung 
zu  entsenden.  Ich  hatte  grosse  Furcht  und  Antipatie  ge- 
gen diesen  Plan  (Sie  kennen  mich  jetzt  wohl  schon  gut 
genug,  um  zu  begreifen,  wie  unangenehm  für  mich  die 
mir  zugedachte  Rolle  erscheinen  musste),  weil  aber  die 
Zukunft  in  Dunkel  gehüllt  war  und  ich  auch  keinen  ge- 
nügenden Grund  hatte,  den  Antrag  abzuschlagen,  so  er- 
klärte ich  mich  bereit  den  Delegiertenposten  anzunehmen. 
Bald  darauf  erhielt  ich  von  dem  Finanzministerium  (wel- 
ches die  russische  Sektion  der  Ausstellung  zu  arrangieren 
hatte)  eine  officielle  Anfrage,  ob  ich  bereit  wäre,  vom  Be- 
ginn des  nächsten  Jahres  bis  zum  Schluss  der  Ausstellung, 
in  Diensten  des  Chefs  der  russischen  vSektion  als  Delegat 
in  Paris  zu  verweilen.  Von  dem  aber,   welche  Geldmittel 


—  424  — 

mir  zur  Verfügung"  stehen  sollten  war  kein  Wort  gesagt. 
Um  meinen  Entschluss  etwas  aufzuschieben,  antwortete 
ich,  dass  ich  keine  positive  Antwort  zu  geben  im  Stande 
sei,  solange  man  mir  kein  bestimmtes  Honorar  festsetzen 
könne.  Darauf  habe  ich  lange  Zeit  nichts  mehr  von  der 
Sache  gehört  und  mich  so  an  den  Gedanken  gewöhnt, 
die  Regierung  werde  dem  Delegirten  kein  Honorar  be- 
willigen, dass  ich  Paris  ganz  vergessen  habe.  Plötzlich 
kommt  Heute  die  Mitteilung,  dass  der  Finanzminister  mich 
als  Delegirten  bestätigt  und  mir  ein  Gehalt  von  1000 
Franks  pro  Monat  bewilligt  habe.  Ich  kann  Ihnen  gar  nicht 
sagen,  wie  niederschmetternd  dieser  Brief  für  mich  ist. 
Unter  Anderem  w^rd  in  demselben  erwähnt,  dass  die  An- 
wesenheit des  Delegirten  bei  den  Sitzungen  des  musika- 
lischen Komitees,  welche  zwischen  10. —  18.  Januar  statt- 
finden sollen,  dringend  notwendig  sei.  Das  bedeutet  also 
eine  sofortige  Abreise!  Nun  bin  ich  aber  noch  unzweifel- 
haft krank,  und  zwar  nicht  so  wohl  körperlich,  als  seelisch. 
Nach  Paris  reisen,  eine  ganze  Menge  Bekanntschaften 
machen,  an  Sitzungen  teilnehmen,  in  Diensten  eines  Chefs 
stehen,  um  die  russische  Musik  besorgt  sein — und  das  zu 
einer  Zeit,  da  wegen  des  schlechten  Kurses  sich  wohl  kaum 
Jemand  von  den  russischen  Künstlern  entschliessen  dürfte, 
auf  eigene  Gefahr  hin  nach  Paris  zu  reisen — sich  plagen 
und  eine  Korrespondenz  mit  fast  allen  russischen  Musikern 
anknüpfen — das  Alles  ist  nichts  weniger  als  lustig. 

Ausserdem  erwarte  ich  meinen  Bruder  mit  seinem  Zög- 
ling, welche  schon  unterwegs  sein  müssen.  Was  soll  ich 
mit  ihnen  anfangen?  Ist  es  anderseits  nicht  meine  Pflicht, 
um  der  Förderung  des  Ruhmes  der  russischen  Musik  wil- 
len Alles  im  Stich  zu  lassen,  die  eignen  Angelegenheiten 
zu  vergessen  und  dahin  zu  eilen,  wo  ich  für  die  Kunst 
meines  Vaterlandes  nützlich  sein  kann? 

Wie  soll  ich  aus  diesem  Dilemma  herauskommen?  Ich 
weiss  nicht  einmal,  wo  mein  Bruder  sich  augenblicklich 
befindet,  habe  also  nicht  die  Möglichkeit,  seine  Abreise  zu 
verhindern,  sofern  er  noch  nicht  abgereist  sein  sollte... 

Soeben  habe  ich  nach  Petersburg  telegraphiert,  um  zu 
erfahren,  wo  mein  Bruder  ist.  Ich  habe  nicht  einmal  Zeit, 
mich  mit  meinen  Freunden  schriftlich  zu  beraten.  Wer 
weiss,  vielleicht  ist  es  für  mich  nützlich,  aus  meiner  Ein- 
siedlerschaft herauszukommen  und  gegen  den  Willen  in 
die  Flut  des  Pariser  Lebens  zu  tauchen?  Wenn  Sie  nur 
wüssten,    was    mich   das   kostet!   Selbstverständlich   habe 


—  425  — 

Heute  nichts  thun  können.  Oh  Gott,  wann  werde  ich  end- 
hch  Ruhe  finden?!" 

An  Anatol  Tschaikowsky: 

„San-Remo,  d.  23.  Dec.  1877. 

Vorgestern  schrieb  ich  Dir,  dass  ich  nach  Paris  reise. 

Darauf  verbrachte  ich  eine  schreckhche  Nacht,  und  bin 
auch  Heute  noch  ganz  krank:  Alles  ekelt  mich  an,  Alles 
ärgert  mich,  kurz — der  Gedanke  an  diese  Reise,  an  meine 
Vorgesetzten,  an  die  Sitzungen,  an  die  obligaten  Diners, 
Soireen,  an  die  Unmöglichkeit,  Zeit  zum  Komponieren  zu 
finden — macht  mich  ganz  verrückt.  Nein,  lieber  Toly,  är- 
gere Dich  nicht  über  meinen  Kleinmut.  Ich  schwöre,  dass 
ich  viel  lieber  in  irgend  einem  Nest  hungern  und  in  völli- 
ger Abgeschiedenheit  vegetieren  möchte,  als  mich  für  volle 
acht  Monate  an  dieses  Babylon  fesseln  zu  lassen.  Wo  bleibt 
all'  meine  Schwärmerei  für  das  stille  Landleben?  Wo  bleibt 
die  Ruhe,  welche  mich  wiederherstellen  soll?  Und  was 
soll  ich  mit  Modest  und  Kolja  anfangen? 

Weisst  Du,  vorgestern  suchte  ich  mir  vorzustellen,  was 
Du  sagen  würdest,  wenn  Du  hier  bei  mir  wärest.  Ich  glaube, 
Du  würdest  mir  raten  hin  zu  reisen. 

Wenn  Du  aber  Heute  mein  trauriges  Gesicht  sehen 
würdest,  und  wie  ich  wie  ein  Besessener  in  meiner  Stube 
hin  und  her  rannte,  dann  würdest  Du  gewiss  sagen:  bleib! 
Ich  weiss,  dass  nun — da  ich  beschlossen  habe,  den  Dele- 
girtenposten  abzulehnen — mich  der  Gedanke  quälen  wird, 
dass  Du,  Frau  Meck  und  Andere  mit  mir  unzufrieden  sein 
werden.  Und  doch  ist  das  besser,  als  der  Zustand,  in  wel- 
chen mich  der  Brief  aus  dem  Ministerium  versetzt  hatte. 
Seit  Du  mich  verlassen  hast,  ist  meine  körperliche  Gesund- 
heit leidlich,  nur  mit  den  Nerven  geht  es  schlechter.  Ich 
habe  Dir  bis  jetzt  eine  Sache  verheimlicht,  nämlich:  seit 
dem  Tage  Deiner  Abreise  und  bis  Heute  trinke  ich  jeden 
Abend  einige  Cognac's;  den  Tag  über  trinke  ich  auch  recht 
viel.  Ich  kann  es  nicht  entbehren. 

Ich  kann  nur  dann  ruhig  sein,  wenn  ich  ein  wenig  be- 
rauscht bin.  Ich  habe  mich  so  an  dieses  heimliche  Trinken 
gewöhnt,  dass  schon  allein  der  Anblick  des  Fläschchens, 
Avelches  stets  bei  mir  halte,  mir  Freude  macht.  Briefe 
schreiben  kann  ich  auch  nur,  nachdem  ich  „einen  zu  mir 
genommen"  habe.  Das  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  ich  noch 
krank  bin. 


—  4^6  — 

In  Paris  müsste  ich,  um  allen  Anstrengungen  gewach- 
sen zu  sein,  von  früh  bis  spät  ununterbrochen  trinken. 
Meine  ganze  Hoffnung  ist  Modest.  Ein  stilles  Leben  in  an- 
genehmer Gesellschaft  und  die  Arbeit — das  thut  mir  jetzt 
Not.  Mit  einem  Wort,  nimm  mir's  um  Gottes  Willen  nicht 
übel,  dass  ich  nicht  nach  Paris  reisen  kann". 

An  N.  Rubinstein: 

,,San-Remo,  d.  23.  Dec.  1877. 

Lieber  Freund,  ich  kann  nicht  nach  Paris  reisen.  Das 
ist  nicht  Kleinmut,  und  auch  nicht  Faulheit,  denn  ich  kann 
wirldich  nicht.  Die  letzten  drei  Tage,  seit  dem  Empfang 
der  Nachricht  über  meine  Bestätigung,  bin  ich  vollständig 
krank.  Ich  bin  fast  wahnsinnig.  Lieber  den  Tod,  als  das! 
Ich  wollte  mich  überwinden,  doch  ist  Nichts  daraus  ge- 
worden. Ich  weiss  jetzt  aus  Erfahrung,  was  das  heisst  sich 
Gewalt  anzuthun,  gegen  seine  Natur  zu  gehen.  Ich  kann 
jetzt  keine  Menschen  sehen,  vollständige  Isoliertheit  von 
jeglichem  Lärm  und  jeglicher  Aufregung"  ist  mir  dringend 
notwendig.  Kurz,  wenn  Du  willst,  dass  ich  ganz  gesund 
zu  Dir  zurückkehre,  so  verlange  nicht,  dass  ich  nach  Pa- 
ris gehe.  Daraus  dürfte  nichts  Gutes  erwachsen,  weder 
für  die  russische  Musik,  noch  für  mich  persönlich.  Wenn 
Du  wüsstest,  wie  es  in  meinem  Innern  aussieht,  so  wür- 
dest Du  mir  selbst  davon  abraten.  Sei  mir  nicht  böse". 

An  Frau  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  24.  Dec,  1877. 

So  eben  habe  ich  auf  der  Post  Ihren  Brief  erhalten 

und  möchte  ihn  ausführlich  beantworten.  Alle  jungen  Pe- 
tersburger Komponisten  sind  sehr  talentvoll,  sind  aber  von 
der  schrecklichsten  Selbstüberhebung,  so  wie  von  der  echt 
dilettantischen  Ueberzeugung  angesteckt,  dass  sie  hoch 
über  allen  andern  Musikern  der  Welt  stehen.  Eine  Aus- 
nahme ist  (in  der  letzten  Zeit)  Rimsky-Korsakoff.  Er  ist 
zwar  auch  ein  Autodidakt  wie  die  Andern,  es  hat  sich 
aber  in  ihm  vor  einiger  Zeit  ein  Umschwung  vollzogen. 
Dieser  Mann  ist  von  Natur  sehr  ernst,  sehr  ehrlich  und 
gewissenhaft.  Als  sehr  junger  Mann  war  er  in  eine  Ge- 
sellschaft geraten,  welche  ihn  erstens  versichert  hatte,  dass 
er  ein  Genie  sei,  und  zweitens  ihn  überzeugt  hatte,  dass 
er  nicht  zu   studieren   brauche,   dass   die  Schule  jede  In- 


—  427  — 

spiration  tödte  und  die  schöpferische  Kraft  ausdörre  u.  s. 
w.  Zuerst  hatte  er  es  auch  geglaubt.  Seine  ersten  Kompo- 
sitionen zeugen  von  einem  sehr  hervorragenden,  aber  je- 
der theoretischen  Ausbildung  ermangelnden  Talent.  In  dem 
Kreis,  in  dem  er  sich  bewegte,  war  ein  Jeder  in  sich  selbst 
und  in  die  Andern  verliebt.  Ein  Jeder  von  ihnen  suchte 
das  eine  oder  das  andere  Werk,  welches  diesem  Kreis 
entstammte  und  von  ihm  als  etwas  hervorragendes  aner- 
kannt wurde,  nachzuahmen.  Infolgedessen  ist  der  ganze 
Kreis  in  Einseitigkeit,  Unpersönlichkeit  und  Manieriertheit 
verfallen.  Korsakoff  ist  der  einzige  von  ihnen,  der  vor  etwa 
fünf  Jahren  zur  Einsicht  gelangte,  dass  die  in  dem  Kreis 
gepredigten  Ideen  ganz  und  garnicht  begründet  луагеп, 
dass  die  Verachtung  der  Schule  und  der  klassischen  Mu- 
sik, die  Verneinung  der  Autoritäten  und  Meisterwerke 
nichts  Anderes  wäre,  als  Unwissenheit.  Ich  bin  noch  im 
Besitze  eines  Briefes  aus  jener  Epoche,  welcher  mich  sehr 
gerührt  und  erschüttert  hatte.  Rimsk\'-Korsakoff  war  in 
Verzweiflung,  als  er  gewahr  wurde,  dass  so  viele  Jahre 
ohne  Nutzen  verstrichen  waren,  und  dass  er  sich  auf  einem 
Wege  befand,  der  nirgends  hinführte.  Er  fragte  sich  da- 
mals, was  er  nun  thun  sollte?  Selbstverständlich  musste 
er  lernen.  Und  er  begann  mit  einem  solchen  Eifer  zu  ler- 
nen, dass  die  Schultechnik  für  ihn  sehr  bald  etwas  Un- 
entbehrliches wurde.  In  einem  Sommer  hatte  er  eine  Un- 
zahl von  Kontrapunkten  und  64  Fugen  angefertigt,  von 
denen  ich  10  zur  Durchsicht  erhielt.  Die  Fugen  waren 
makellos,  aber  ich  bemerkte  schon  damals,  dass  die  Reak- 
tion eine  zu  scharfe  war.  Aus  der  Verachtung  der  Schule 
war  R.-K.  plötzlich  in  den  Kultus  der  musikalischen  Tech- 
nik gesprungen. 

Bald  darauf  erschien  seine  S34nphonie  und  auch  das 
Quartett.  Beide  Werke  sind  voll  von  Kunststücken  und  tra- 
gen —  wie  Sie  sehr  richtig  bemerken,  —  den  Stempel  des 
trocknen  Pedantismus.  Offenbar  befindet  er  sich  augen- 
blickhch  in  einer  Krisis,  und  es  ist  schwier  vorauszusagen, 
wie  diese  Krisis  enden  wird.  Entweder  wird  er  sich  zu 
einem  grossen  Meister  durcharbeiten,  oder  in  kontrapunk- 
tischen Spitzfindigkeiten  untergehen. 

C.  Cui  ist  ein  talentvoller  Dilettant.  Seine  Musik  ist  nicht 
eigenartig,  aber  hübsch  und  elegant;  sie  ist  kokett,  aber — 
so  zu  sagen — angeleckt;  zuerst  gefällt  sie,  man  wird  aber 
sehr  bald  ihrer  überdrüssig.  Das  kommt  davon,  das  Cui 
seiner  Specialität  nach  nicht  Musiker,   sondern  Professor 


—  428  — 

der  Fortifikation  ist,  welcher  ein  grosse  Masse  Vorlesun- 
gen in  den  verschiedensten  Militärschulen  Petersburg's  zu 
halten  hat.  Er  hat  mir  selbst  einmal  gebeichtet,  dass  er 
nicht  anders  komponieren  könne,  als  am  Klavier  sitzend, 
Melodieen  und  Akkorde  suchend.  Wenn  er  dann  eine  hüb- 
sche Idee  ausfindig  gemacht,  so  verziert  und  verarbeitet  er 
sie  bis  ins  kleinste  Detail,  was  immer  sehr  lange  dauert, 
so  dass  er  zum  Beispiel,  an  seiner  Oper  „Ratcliff"  volle 
IG  Jahre  gearbeitet  hat.  Doch  ist  ihm,  wie  gesagt,  ein 
gewisses  Talent  nicht  abzusprechen,  wenigstens  hat  er 
Geschmack  und  Instinkt. 

Borodin, — der  fünfzigjährige  Professor  der  Chemie  in 
der  medicinischen  Akademie  —  besitzt  auch  Talent,  sogar 
■ein  recht  grosses,  welches  aber  infolge  mangelnden  Wis- 
sens umgekommen  ist.  Das  blinde  Schicksal  hat  ihn  statt 
zur  lebendigen  musikalischen  Thätigkeit  —  zum  Katheder 
der  Chemie  geführt.  Er  hat  nicht  so  viel  Geschmack  wie 
Cui,  und  seine  Technik  ist  so  schwach,  dass  er  nicht  einen 
einzigen  Takt  ohne  fremde  Hilfe  schreiben  kann. 

Von  Mussorgsky  behaupten  Sie  mit  Recht,  er  sei 
„abgethan".  Dem  Talent  nach  ist  er  vielleicht  der  bedeu- 
tendste von  Allen,  nur  ist  das  eine  Natur,  in  der  es  kein  Ver- 
langen nach  Selbstvervollkommnung  giebt,  eine  Natur,  wel- 
che zu  sehr  von  den  absurden  Theorieen  ihrer  Umgebung — 
und  vom  Glauben  an  die  eigne  Genialität  durchdrungen 
ist.  Ausserdem  ist  das  eine  ziemlich  niedrige  Natur,  wel- 
che das  Grobe,  Ungeschliffene,  Hässliche  liebt.  Das  ist  das 
gerade  Gegenteil  des  wohlanständigen  und  eleganten  Cui. 
Mussorgsky  kokettiert  mit  seiner  Ungebildetheit;  er  scheint 
stolz  zu  sein  auf  seine  Unwissenheit  und  schreibt,  wie  es 
gerade  kommt,  indem  er  blind  an  die  Unfehlbarkeit  seines 
Genies  glaubt.  Und  in  der  That  blitzt  oft  ein  recht  eigen- 
artiges Talent  in  ihm  auf. 

Balakireff  ist  die  bedeutendste  Persönlichkeit  des  Cir- 
kels.  Er  ist  aber  verstummt,  ohne  viel  gethan  zu  haben. 
Dieser  besitzt  ein  ausserordentliches  Talent,  w^elches  aber 
durch  verschiedene  fatale  Umstände  erstickt  worden  ist. 
Nachdem  er  seinen  Unglauben  sehr  zur  Schau  getragen 
hatte,  ist  er  plötzlich  ganz  „devot"  geworden.  Er  sitzt 
stets  in  Kirchen,  fastet,  betet  allerlei  Reliquien  an  —  und 
thut  sonst  garnichts.  Trotz  seiner  ausserordentlichen  Be- 
gabung, hat  er  viel  Böses  gestiftet;  er  war  es,  zum  Bei- 
spiel, der  die  jungen  Jahre  Korsakoff's  umgebracht,  indem 
er  ihm  eingeredet  hat,   dass   er  nicht   zu  lernen  brauche. 


—  429  — 

Ueberhaupt  ist  er  der  eigentliche  Erfinder  der  Lehren 
dieses  merkwürdigen  Cirkels,  in  welchem  so  viele  unent- 
wickelte, oder  falsch  entwickelte,  oder  vorzeitig  zu  Grunde 
gegangene  Kräfte  vereinigt  sind. 

Das  ist  meine  aufrichtige  Meinung  über  diese  Herren.. 
Welch  traurige  Erscheinung!  So  viele  Talente,  von  denen — 
mit  Ausnahme  von  Rimsky-Korsakoff — schwerlich  etwas. 
Ernstes  zu  erwarten  sein  dürfte!  Und  so  ist  Alles  in  Russ- 
land: enorme  Kräfte,  denen  aber  ein  Plevna  verhängniss- 
vollerweise  im  Wege  steht.  Die  Kräfte  sind  aber  trotzdem 
da.  So  ein  Mussorgsky  spricht  bei  all'  seiner  Scheusslich- 
keit  dennoch  eine  neue  Sprache.  Sie  ist  nicht  schön,  aber 
frisch.  Man  ist  wohl  zu  erwarten  berechtigt,  dass  einst  in 
Russland  eine  ganze  Reihe  starker  Männer  erstehen  wird,, 
welche  der  Kunst  neue  Wege  weisen  w^erden.  Unsere 
Scheusslichkeit  ist  dennoch  besser,  als  die  kläglichen  und 
ernst  sein  wollenden  Schöpfungen  eines  Brahms.  Die  Deut- 
schen sind  hoffnungslos  versiegt.  Bei  uns  ist  noch  immer 
die  Hoffnung  da,  dass  Plevna  fallen  und  unsere  Macht 
sich  voll  entfalten  wird.  Bis  jetzt  ist  aber  noch  sehr  we- 
nig gethan  worden.  Bei  den  Franzosen  ist  der  Fortschritts- 
drang sehr  gross.  Allerdings  kommt  da  Berlioz  erst  jetzt 
zu  seinem  Recht,  d.  h.  lo  Jahre  nach  seinem  Tode.  Es 
sind  aber  viele  neue  Talente  und  Bekämpfer  der  Routine 
da.  Der  Kampf  gegen  die  Routine  ist  gerade  in  Frank- 
reich sehr  schwer.  In  der  Kunst  sind  die  Franzosen  fürch- 
terlich konservativ.  Sie  waren  die  letzten,  welche  Beetho- 
ven anerkannten.  Noch  in  den  vierziger  Jahren  galt  er 
dort,  als  ein  VerrücMer,  als  ein  Sonderling.  Der  erste  fran- 
zösische Kritiker  Fetis  bedauerte,  dass  Beethoven  „Ver- 
stösse" gegen  die  Regeln  der  Harmonie  gemacht  hatte  und 
verbesserte  diese  Fehler  noch  vor  25  Jahren. 

Von  den  modernen  Franzosen  sind  Bizet  und  Delibes 
meine  Lieblinge.  Die  Ouvertüre  „Patrie",  von  der  Sie  mir 
schreiben,  kenne  ich  nicht,  aber  mit  Bizet's  Oper  „Car- 
men" bin  ich  sehr  vertraut.  Diese  Musik  will  nicht  tief 
sein  und  ist  in  ihrer  Einfachheit  und  Ungekünsteltheit  so 
lebendig,  so  schön,  so  innig,  dass  ich  sie  von  Anfang  bis 
zu  Ende  auswendig  gelernt  habe.  Ueber  Ddibes  habe  ich 
Ihnen  schon  früher  geschrieben.  In  ihren  fortschrittlichen 
Bestrebungen  sind  die  Franzosen  nicht  so  w^aghalsig,  wie 
unsere  Neuerer:  sie  überschreiten  nicht  die  Grenze  des. 
Möglichen,  wie  Borodin  und  Mussorgsky". 


—  430  — 
An  А.  Tschaikowsk}-: 

„Mailand,  d.  28.  Dec.   1877. 

Gestern  um  7  Uhr  abends  habe  ich  endlich  Modest  in 
meine  Arme  geschlossen.  Welche  Freude  das  für  mich 
war,  lässt  sich  garnicht  beschreiben!  Wir  verbrachten  ei- 
nen köstlichen  Abend:  plauderten  ohne  Ende.  Er  hat  mir 
sehr  viel  hiteressantes  erzählt.  Heute  sind  wir  alle  vier  in 
der  Kathedrale  gewesen;  es  war  sehr  lustig,  trotz  des  nie- 
derträchtigsten Schneewetters.  Dann  frühstückten  wir.  Dann 
arbeitete  ich.  Ich  hatte  die  S3aiiphonie  mitgenommen,  sie 
ist  schon  ganz  fertig,  ich  muss  nur  noch  alle  Bezeichnun- 
gen eintragen.  Morgen  will  ich  sie  nach  Moskau  senden. 
Für  Heute  Abend  hatten  wir  Billets  in  die  „Scala",  wo 
Gounod's  Oper  „Saint-Mars"  zum  ersten  Mal  gegeben  wer- 
den sollte.  (Für  mittelmässige  Plätze  hatten  wir  ä  20  Frcs 
bezahlen  müssen).  Als  wir  aber  Nachmittags  zum  Theater 
kamen,  war  dasselbe  wegen  des  Heute  erfolgten  Ablebens 
des  Königs  geschlossen.  Das  Geld  wurde  uns  nicht  zu- 
rückgezahlt, morgen  sollen  wir  es  aber  erhalten.  Nach 
Hause  zurückgekehrt,  nahm  ein  jeder  von  uns  ein  Bad, 
und  augenblicklich  stehen  wir  im  Begriff  Thee  zu  trinken. 
Morgen  um  2  reisen  W4r  ab  und  wollen  in  Genua  über- 
nachten". 


"T^äSr 


V. 

An  Frau  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  i.  Jan.  1878. 

Nach  San-Remo  zurückgekehrt  fand  ich  eine  ganze 
Masse  Briefe  und  Ihr  Telegramm.  Dieses  Mal  erhielt  ich 
wirklich  von  Ihnen  die  erste  Nachricht  über  den  Sieg  Ra- 
detzky's  ^).  Haben  Sie  Dank  für  diese  frohe  Botschaft  und 
für  all'  Ihre  Wünsche.  Was  immer  auch  geschehen  mag, 
schlimmer  als  das  vorige  kann  das  bevorstehende  Jahr 
nicht  werden;  wenigstens  lässt  die  Gegenwart  nichts  besse- 
res zu  wünschen  übrig,  abgesehen  von  meinem   unglück- 


1)  Der  Sieger  vom  Schipka-Pass. 


—  431  — 

liehen  Charakter,  welcher  geneigt  ist,  das  Schlimme  zu 
übertreiben  und  sich  zu  wenig  über  das  Gute  zu  treuen. 
Unter  den  Briefen  war  auch  einer  von  Anatol,  der  mir 
Vieles  über  meine  Frau  schreibt  und  über  diese  ganze 
traurige  Geschichte.  Sobald  ich  an  alle  Einzelheiten  mei- 
ner nicht  all'  zu  fernen  Vergangenheit  denke,  fühle  ich 
mich  sofort  unglücklich. 

Auch  von  dem  Vorsitzenden  der  russischen  Sektion  der 
Pariser  Weltausstellung  habe  ich  einenBrief  erhalten,  welcher 
mir  das  Bedauern  über  meine  Absage  ausdrückt.  Mein  Ge- 
wissen ist  immer  noch  nicht  ganz  ruhig:  ist  es  nicht  ego- 
istisch und  thöricht  von  mir  gewesen,  das  Amt  eines  De- 
legirten  abzulehnen?  Ich  schreibe  Ihnen  das,  weibich  mich 
daran  gewöhnt  habe,  Ihnen  Alles  zu  schreiben.  Im  Grun- 
de bin  ich  ganz  glücklich.  Die  letzten  Tage:  Mailand,  Ge- 
nua und  die  Reise  hierher — brachten  mir  eine  Menge  freu- 
diger Gefühle.  Ich  habe  Kinder  sehr  gern,  und  Kolja  freut 
mich  unendlich.  Es  war  mir  ausserordentlich  angenehm 
zu  bemerken,  dass  er  unter  der  Leitung  meines  Bruders 
in  wenigen  Monaten  sehr  grosse  Fortschritte  gemacht  hat. 
Er  hat  sich  sehr  gut  entwickelt;  seine  Fähigkeiten  —  be- 
sonders das  Gedächtniss — sind  erstaunhch". 

An  N.  G.  Rubinstein: 

„San-Remo,  d.  i.  Jan.  1878. 

...Aus  dem  Telegramm  Albrecht's,  welches  ich  nach 
meiner  Mailänder  Reise  hier  vorgefunden  habe,  ersehe  ich, 
dass  Du  mir  wegen  der  Ablehnung  des  Delegirtenamtes 
böse  bist.  Lieber  Freund,  Du  kennst  mich  ja  gut;  bin  ich 
denn  wirklich  im  Stande,  der  russischen  Musik  in  Paris 
nützlich  zu  sein?  Du  weisst  wie  wenig  Talent  ich  habe, 
irgend  Etwas  zu  unternehmen,  zu  veranstalten.  Dazu 
kommt  noch  meine  Menschenscheu,  welche  jetzt  den  Cha- 
rakter einer  unheilbaren  Krankheit  angenommen  hat.  Was 
würde  denn  dabei  herauskommen?  Ich  würde  mich  mit 
allerlei  französischem  und  russischem  Gesindel  abquälen 
und  doch  Nichts  zu  Stande  bringen.  Was  mich  selbst  an- 
belangt, meinen  persönlichen  Nutzen,  so  genügt  es,  wenn 
ich  Dir  ohne  jede  Uebertreibung  sage,  dass  ich  viel  lieber 
zu  Zwangsarbeit  verurteilt  sein  möchte,  als  in  Paris  De- 
legirter  sein.  Würde  ich  mich  in  einer  andern  Geistes- 
verfassung befinden,  dann  gebe  ich  zu,  dass  mir  der  Auf- 
enthalt in  Paris  nutzbringend  sein  könnte.  Jetzt  aber  nicht. 


—  432  — 

Ich  bin  krank,  ich  bin  wahnsinnig,  ich  kann  jetzt  unmög- 
lich an  einem  Ort  leben,  wo  ich  mich  bewegen,  mich 
vordrängen  und  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  mich 
zu  lenken  bestrebt  sein  muss.  Ich  muss  Dir  offen  geste- 
hen, dass  ich,  trotz  meiner  Sehnsucht  nach  Moskau  und 
nach  euch  allen,  nicht  ohne  Bangen  daran  denken  kann, 
das  nächste  Jahr  in  Moskau  zubringen  zu  müssen.  Sei  mir 
bitte,  um  Gottes  Willen,  nicht  böse.  Ich  meine,  dass  man  bis 
zum  Sommer  auch  ohne  Delegirten  auskommen  könnte, 
im  Sommer  aber  würdest  Du  den  Delegirten  machen  kön- 
nen und  würdest  entschieden  der  beste  Delegirte  sein. 
Ueberlege  dir's  mal!  Mit  Deiner  Autorität  und  bei  Deinem 
Organisationstalent  könntest  Du  viel  für  die  russische  Mu- 
sik im  Allgemeinen,  und  für  mich  im  Besondern  thun. 

Nun  über  die  Symphonie.  Am  Donnerstag  Morgen  habe 
ich  sie  aus  Mailand  an  Deine  Adresse  abgeschickt,  folg- 
lich wird  sie  in  etwa  drei  Tagen  in  Deinen  Händen  sein. 
Ich  bitte  Dich  eindringlichst,  kein  Urteil  über  sie  zu  fäl- 
len, ehe  sie  nicht  gespielt  worden  ist.  Es  ist  sehr  leicht 
möglich,  dass  sie  Dir  beim  ersten  Anblick  nicht  gefallen 
wird,  darum  beeile  Dich  nur  ja  nicht  mit  der  Beurteilung, 
sondern  schreibe  mir  Deine  aufrichtige  Meinung  erst  nach 
der  Aufführung.  Ich  hoffe,  dass  Du  es  möglich  machen 
wirst,  sie  in  einem  der  letzten  Konzerte  zum  Vortrag  zu 
bringen.  Es  scheint  mir,  dass  das  meine  beste  Arbeit  ist. 
Von  meinen  zwei  letzten  Erzeugnissen,  d.  h.  der  Oper  und 
der  S\miphonie,  gebe  ich  der  Letzteren  entschieden  den 
Vorzug.  In  Mailand  wollte  ich  die  Tempi  nach  dem  Metro- 
nom angeben,  habe  es  aber  nicht  gethan,  weil  der  Metro- 
nom ganze  30  Eres,  kosten  sollte.  Du  bist  der  einzige  Ka- 
pellmeister in  der  ganzen  Welt,  auf  den  ich  mich  verlas- 
sen kann.  Im  ersten  Satz  sind  einige  schwierige  und  allmä- 
liche  Tempoveränderungen,  auf  welche  ich  Deine  besondere 
Aufmerksamkeit  lenken  möchte.  Der  dritte  Satz  wird  piz- 
zicato gespielt;  je  schneller  das  Tempo,  desto  besser,  nur 
habe  ich  keine  rechte  Vorstellung,  welche  Schnelligkeit 
beim  Pizzicato  erzielt  werden  kann". 

An  P.  I.  Jurgenson: 

„San-Remo,  d.  i.  Jan.  1878. 

....Peter  Iwanowitsch,  die  Symphonie  habe  ich  beendet 
und  nach  Moskau  abgeschickt.  Ich  hoffe,  dass  Du  sie  in 
Verlag  nehmen  wirst.  Ich  brauche  kein  Honorar,  bitte  Dich 


—  433  — 

aber  sehr,  das  Arrangement  des  Klavierauzugs  keinem  an- 
dern als  Wotan  ^)  zu  übertragen,  oder  auch  Tanejew,  wenn 
dieser  es  nicht  abschlagen  sollte,  was  sehr  wahrscheinlich 
ist.  Ich  zweifle  nämlich  sehr  daran,  ob  der  faule  Serge  die 
Arbeit  übernehmen  wird;  wenn  er  sie  aber  übernehmen 
wird,  dann  kann  ich  ruhig  sein.  Freue  mich  sehr,  dass 
Rubinstein  mein  Konzert  spielen  will". 

An  S.  I.  Tanejew: 

„San-Remo,  d.  2.  Jan.  1878. 

Haben  Sie  Dank,  Serge,  für  Ihren  lieben  Brief  und  für 
das  gestrige  Telegramm,  welches  mich  sehr  erfreut  hat, — • 
das  ist  keine  Phrase.  Ich  bin  sehr  misstrauisch  geworden 
und  zweifle  sehr  oft  an  der  Freundschaft  der  Menschen, 
so  dass  jeder  Beweis  des  Gegenteils  mich  zu  erfreuen 
geeignet  ist.  Also  vielen  Dank.  Mit  welchem  Neid  dachte 
ich  gestern  an  Ihren  lieben  Bekanntenkreis  und  wie  gern 
würde  ich  bei  Ihnen  weilen!  Daran  ist  aber  leider  gar- 
nicht  zu  denken.  Vor  dem  nächsten  Herbst  werde  ich  Sie 
wohl  kaum  wiedersehen  und  Ihr  Spiel  hören  und  Ihre  Par- 
tituren kennen  lernen.  Ich  bin  sehr  neugierig  zu  erfahren, 
was  Sie  alles  geschaffen  haben.  Die  Meinungsäusserungen 
Rubinstein's  sind  für  mich  nicht  ganz  maassgebend.  Er 
hat  seine  Ansichten  über  verschiedene  Werke  schon  oft 
gewechselt.  Und  Sie  sind  in  Bezug  auf  sich  selbst  stets  ein 
schreckhcher  Pessimist.  Hätten  Sie  nicht  Lust  sich  in  einige 
Ausgaben  zu  stürzen  und  mir  die  Partitur  per  Post  zu 
senden. 

Es  ist  sehr  leicht  möglich,  dass  Sie  recht  haben,  wenn 
Sie  behaupten,  meine  Oper  sei  nicht  bühnenmässig.  Ich 
will  Ihnen  aber  sagen,  dass  ich  auf  die  Bühnenmässigkeit 
spucke.  Die  Thatsache,  dass  ich  keine  Bühnenader  besitze 
ist  schon  längst  festgestellt  und  ich  kümmere  mich  jetzt 
wenig  darum.  Ist's  wirklich  nicht  bühnenmässig,  dann 
braucht  ihr's  nicht  aufzuführen!!  Ich  habe  diese  Oper  ge- 
schrieben, weil  ich  eines  schönen  Tages  Lust  bekam,  alles 
das  in  Musik  zu  setzen,  was  sich  im  Onegin  der  Musik  ge- 
radezu aufdrängt.  Und  ich  habe  es  gethan,  so  gut  ich's 
konnte.  Ich  habe  mit  unbeschreiblichem  Genuss  und  gros- 
ser Begeisterung  gearbeitet  und  war  wenig  um  die  soge- 
nannte Handlung,  um  Effekte  u.  s.  w.  besorgt.  Ich  spucke 
auf  die  Effekte!  Was  sind  eigentlich  Effekte? 

1)  Scherzname  für  Klindworth. 

Tsehaikotvsky,  M,  P.  I,  Tschaikowsky's  Leben.  28 


—  434  — 

Wenn  sie  zum  Beispiel  in  einer  „Aida"  zu  finden  sind, 
so  kann  ich  Sie  versichern,  dass  ich  um  keine  Reichtümer 
der  Welt  eine  Oper  mit  einem  ähnlichen  Sujet  schreiben 
würde,  denn  ich  brauche  lebendige  Menschen  und  keine 
Puppen.  Ich  werde  stets  gern  eine  Oper  schreiben,  welche 
jeglicher  Effekte  bar  ist,  aber  in  welcher  mir  ähnliche  Wesen 
vorkommen,  mit  denselben  Gefühlen  und  Gedanken,  die 
auch  ich  habe  und  verstehe.  Die  Gefühle  einer  ägзфtischen 
Prinzessin,  eines  Pharao,  oder  eines  verrückten  Nubiers 
kenne  ich  nicht,  verstehe  ich  nicht.  Irgend  ein  Instinkt  sagt 
mir,  dass  diese  Menschen  ganz  anders  fühlen,  handeln,  re- 
den und  ihre  Gefühle  ausdrücken  müssen  als  wir.  Darum 
лvürde  meine  Musik,  welche — ungeachtet  meines  WoUens — 
vom  Schumannismus,  Wagnerismus,  Chopinismus,  Glin- 
kismus,  Berliozismus  und  verschiedenen  anderen  der  neue- 
sten „Ismen"  durchdrungen  ist,  mit  den  handelnden  Per- 
sonen einer  „Aida"  ebenso  schlecht  harmonieren,  wie  die 
schönen  und  galanten  Reden  der  Helden  Racine's,  welche 
sich  gegenseitig  mit  „Sie"  anreden,  sich  mit  der  Vorstel- 
lung von  dem  echten  Orestes  und  der  echten  Andromache 
decken.  Eine  solche  Musik  würde  eine  Lüge  sein,  und  jede 
Lüge  verabscheue  ich.  Uebrigens  ernte  ich  die  Früchte 
meiner  gar  zu  geringen  Belesenheit:  wenn  ich  in  den  Li- 
teraturen der  verchiedenen  Völker  besser  bewandert  wäre, 
so  würde  ich  gewiss  etwas  finden  können,  was  meinem 
Geschmack  entspräche  und  zugleich  bühnengerecht  wäre. 
Zu  meinem  Bedauern  bin  ich  nicht  im  Stande  selbst  etwas 
zu  finden,  kenne  auch  Niemanden,  der  mich  auf  ein  ähn- 
liches Sujet  aufmerksam  machen  könnte,  wie  zum  Beispiel 
Bizet's  „Carmen"  eines  ist,  eine  der  köstlichsten  Opern 
unserer  Zeit.  Sie  werden  mich  fragen,  was  ich  denn  eigent- 
lich will?  Gut,  ich  will's  Ihnen  sagen.  Ich  will  vor  allen 
Dingen  keine  Könige,  keine  Volkstumulte,  keine  Götter, 
keine  Märsche,  kurz  nichts  von  alledem,  was  zu  den  Attri- 
buten der  „grande  opera"  gehört.  Ich  suche  ein  intimes, 
aber  erschütterndes  Drama,  welches  auf  dem  Konflikt 
solcher  Situationen  basiert,  die  ich  selbst  durchgemacht 
oder  gesehen  habe,  und  welche  mein  Herz  zu  rühren  im 
Stande  sind.  Auch  gegen  das  phantastische  Element  hätte 
ich  nichts  einzuwenden,  denn  es  beengt  nicht  und  bietet 
grenzenlose  Freiheit.  Ich  glaube,  ich  drücke  mich  nicht 
klar  genug  aus.  Mit  einem  Wort,  Aida  steht  mir  so  fern, 
ihre  Liebe  zu  Radames,  welchen  ich  mir  ebenso  wenig 
vorstellen  kann,   lässt  mich    so  vollständig  kalt,    dass  ich 


—  435  — 

keine  vom  Gefühl  erwärmte  Musik  dazu  schreiben  könnte. 
Neulich  sah  ich  mir  in  Genua  die  „Afrikanerin"  an.  Oh 
diese  unglückhche  Afrikanerin!  Was  hatte  sie  nicht  alles 
durchzumachen:  Sklaverei,  Gefängniss,  Tod  unter  einem 
giftigen  Baum,  und  musste  sterbend  noch  den  Triumph 
ihrer  Rivahn  über  sich  ergehen  lassen — und  doch  that  sie 
mir  nicht  im  geringsten  leid!  Und  was  für  Effekte  gab  es 
da:  ein  Schiff,  ein  Kampf  und  dergl.  Was  helfen  nun  die 
Effekte?... 

In  Betreff  Ihrer  Bemerkung,  dass  Tatjana  sich  nicht 
plötzlich  in  Onegin  verliebt,  mache  ich  Sie  darauf  aufmerk- 
sam, dass  Sie  sich  irren:  sie  verliebt  sich  wohl  plötzlich. 
Sie  lernt  ihn  doch  nicht  erst  kennen  und  dann  lieben.  Die 
Liebe  kommt  plötzlich  über  sie.  Noch  vor  dem  Erscheinen 
Onegin's  ist  sie  in  den  Helden  ihres  unbestimmten  Ro- 
mans verliebt.  Kaum  erblickte  sie  Onegin,  als  sie  ihn  auch 
schon  mit  allen  Eigenschaften  ihres  Ideals  ausrüstete,  und 
die  Liebe,  welche  sie  bisher  dem  Objekt  ihrer  feurigen 
Phantasie  zuwandte,  nun  auf  einen  lebendigen  Menschen 
übertrug. 

Die  Oper  „Onegin"  wird  niemals  Erfolg  haben,  das 
weiss  ich  im  voraus.  Ich  werde  niemals  solche  Künstler 
finden,  welche  auch  nur  einigermaassen  meinen  Anforde- 
rungen gerecht  werden  können.  Die  Routine,  welche  auf 
unsern  Bühnen  herrscht,  die  vernunftwidrigen  Aufführun- 
gen, das  System,  Invaliden  zu  beschäftigen  und  den  jun- 
gen Kräften  den  Weg  zu  versperren,  —  alles  das  macht 
meine  Oper  auf  der  Bühne  unmöglich.  Viel  lieber  würde 
ich  diese  Oper  der  Konservatoriumsbühne  anvertrauen. 
Hier  giebt  es  wenigstens  nicht  jene  gemeine  Routine  der 
Hoftheater  und  auch  nicht  jene  widerhchen  Invahden.  Dazu 
kommt,  dass  das  Konservatorium  seine  Vorstellungen  im 
privaten  Kreis,  en  petit  comite,  veranstaltet.  Das  passt  mehr 
für  mein  bescheidenes  Werk,  welches  ich  nicht  einmal  Oper 
nennen  will,  wenn  es  veröffentlicht  werden  sollte.  Lyri- 
sche Scenen  möchte  ich  es  nennen,  oder  ähnlich.  Ja,  diese 
Oper  hat  keine  Zukunft!  Das  wusste  ich  wohl,  als  ich  sie 
schrieb;  nichtsdestoweniger  habe  ich  sie  geschrieben  und 
werde  sie  in  die  Welt  setzen,  wenn  Jurgenson  sie  wird... 
drucken  wollen.  Ich  werde  nicht  nur  keinen  Versuch  ma- 
chen, sie  im  Marientheater  aufführen  zu  lassen,  sondern — 
im  Gegenteil — ich  werde  dem  nach  Möglichkeit  entgegen- 
wirken. Ich  habe  sie  aus  unüberwindlichem  innerem  Drang 
geschrieben.  Ich  versichere  Sie,  dass  man  nur  unter  sol- 


—  43б  — 

chen  Umständen  Opern  schreiben  sollte.  An  Effekte  den- 
ken und  für  Bühnenmässigkeit  sorgen  braucht  man  nur  bis 
zu  einem  gewissen  Grade.  Wenn  meine  Begeisterung  für 
„Eugen  Onegin"  als  Operntext  von  Beschränktheit,  Stumpf- 
sinn, Unwissenheit  und  Unkenntniss  der  Bühne  zeugt,  so 
thut  mir  das  sehr  leid,  aber  ich  kann  wenigstens  behaup- 
ten, dass  diese  Musik  im  buchstäblichen  Sinne  sich  aus  mir 
ergossen  hat,  dass  ich  sie  nicht  ausgedacht  und  heraus- 
gequält habe.  Nun  genug  von  „Onegin".... 

Jetzt  einige  Worte  über  meine  neueste  Arbeit,  die  vierte 
Symphonie,  welche  jetzt  in  Moskau  angekommen  sein  muss. 
Was  Sie  wohl  darüber  sagen  werden?  Ich  schätze  Ihre 
Meinung  sehr  hoch  und  fürchte  Ihre  Kritik;  dafür  weiss 
ich,  dass  Sie  rücksichtslos  ehrlich  sind,  und  das  ist  der 
Grund,  weshalb  ich  Ihre  Meinung  so  hoch  achte.  Ich  ha- 
be einen  brennenden  Wunsch,  den  ich  Ihnen  mitzuteilen 
kaum  wage,  denn  ich  fürchte,  unbescheiden  zu  sein.  Sie 
müssen  schreiben,  schreiben  und  spielen,  spielen  und  schrei- 
ben, nämlich  für  sich  selbst,  und  haben  gewiss  keine  Zeit 
für  Arrangements.  Es  giebt  nur  zwei  Menschen  in  Mos- 
kau, ja  in  der  ganzen  Welt,  denen  ich  das  Arrangement 
meiner  Symphonie  für  Ciavier  ä  quatre  mains  anvertrauen 
würde.  Der  eine  ist  Klindworth  und  der  andere  ein  ge- 
wisser Jemand,  der  im  Obuchowsk3^  Pereulok  ^)  wohnt. 
Der  Letztere  wäre  mir  sogar  lieber,  wenn  ich  nur  nicht 
fürchtete,  unbescheiden  zu  sein.  Bitte  genieren  Sie  sich 
nicht,  mir  meine  Bitte  abzuschlagen,  wenn  Sie  aber  „ja" 
sagen  werden,  dann  bin  ich  vor  Freude  bereit  hoch  auf- 
zuspringen, trotzdem  es  mir  bei  meiner  Korpulenz  nicht 
sonderlich  bequem  werden  dürfte". 

An  Frau  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  6.  Jan.  1878. 

Die  letzten  Tage  vergingen  so,  dass  einer  vom  andern 
schwer  zu  unterscheiden  war.  Um  8  wird  aufgestanden, 
nach  dem  Kaffee  kommt  ein  kleiner  Spaziergang,  und 
dann  setzen  wir  uns  alle  an  die  Arbeit.  Ich  orchestriere 
den  3.  Akt  meines  „Onegin".  Um  12  frühstücken  wir  und 
unternehmen  gleich  darauf  einen  grossen  Spaziergang, 
kehren  um  V2  4  zurück  und  arbeiten  wieder.  Um  6  Uhr 
giebt   es   Mittagessen,    dann   folgt   Lesen,    Briefeschreiben 


1 )  Der  Name  der  Strasse,  wo  Tanejew  damals  wohnte. 


—  437  — 

und  noch  ein  kleiner  Spaziergang  und  um  ii  Uhr  gehe 
ich  zu  Bett.  Die  Gesundheit  ist  gut,  die  Stimmung  ruhig, 
aber  in  der  Tiefe  meiner  Seele  nagt  ein  heimlicher  Kum- 
mer. Woher  kommt  er  nur?  Was  habe  ich  besseres  zu 
wünschen?  Ich  weiss  es  nicht.  Ich  schreibe  es  der  Gegend 
von  San-Remo  zu,  der  ich — weiss  nicht  warum — feindlich 
gesinnt  bin.  Vielleicht  aus  dem  Grunde,  weil  es  hier  in 
der  That  ausser  dem  Ufer  des  Meeres  fast  garkeine  schö- 
nen Spaziergänge  giebt,  oder  auch  aus  einem  andern  Grun- 
de, nur  weiss  ich,  dass  mich,  für  den  es  keinen  grösseren 
Genuss  giebt,  als  durch  Wälder,  Felder  und  Steppen  zu 
streifen,  die  hiesigen  Spaziergänge  garnicht  erfreuen!  Ich 
habe  einmal  in  einem  Reisebuch  gelesen,  dass  es  für  voll- 
blütige Menschen  mit  leicht  erregbaren  Nerven  nicht  rat- 
sam sei,  in  dieser  Gegend  zu  wohnen,  die  Farben  sind 
zu  grell,  selbst  in  der  Luft  liegt  etwas  Erregendes.  In 
Summa  fühle  ich  mich  wohl,  und  seit  der  Abreise  Ana- 
tols  sind  jetzt  erst  stille  und  ruhige  Tage  gekommen. 

Der  Waffenstillstand,  über  den  jetzt  die  Zeitungen  be- 
richten, macht  mir  grosse  Sorge.  Sollten  wir  wirklich  nicht 
bis  Adrianopel  vordringen  dürfen?  Sollten  unsere  Heerfüh- 
rer mitten  in  ihrem  Triumphmarsch  ihr  Einverständniss 
zu  diesem  Waffenstillstand  gegeben  haben,  welcher  den 
Türken  vielleicht  nur  eine  Avillkommene  Gelegenheit  ist, 
neue  Kräfte  zu  sammeln?  Mit  Zagen  nehme  ich  jeden  Tag 
die  Zeitung  zur  Hand  und  fürchte,  die  Nachricht  von  der 
Niederlegung  der  Waffen  zu  erblicken.  Bis  jetzt  habe  ich 
aber,  Gott  sei  Dank,  nichts  derartiges  gelesen,  und  die 
Unsern  rücken  immer  vor". 

An  K.  K.  Albrecht: 

„San-Remo,  d.  8.  Jan.  1878. 

Heute  habe  ich  Deinen  Brief  erhalten....  Wäre  er  14 
Tage  früher  gekommen,  so  hätte  ich  mir  gewiss  die  Fra- 
ge vorgelegt,  ob  ich  nicht  in  der  That  eine  Dummheit 
oder  Unwürdigkeit  begangen,  indem  ich  das  Amt  eines 
Delegirten  abgelehnt  habe?  Jetzt  ist  aber  die  Sache  längst 
entschieden  und  ich  bin  nach  reiflichem  Ueberlegen  zur 
Ueberzeugung  gekommen,  dass  es  nur  klug  von  mir  ge- 
wesen, nicht  auf  einen  meiner  Natur  unsympatischen  Vor- 
schlag einzugehen.  Du  irrst  Dich  sehr  (und  auch  Kasch- 
kin),  wenn  Du  Dir  einbildest,  ich  hätte  mich  als  Feigling 
erwiesen.  Im  ersten  Augenblick  dachte  ich  allerdings  auch 


-  438  - 

so.  Jetzt  aber  weiss  ich,  dass  ich  korrekt  gehandelt  habe. 
Lass  uns  die  Sache  sj'stematisch  untersuchen,  in  wie  weit 
ich  als  Delegirter  i)  der  russischen  Musik  überhaupt  und 
2)  mir  selbst  Nutzen  bringen  würde. 

i)  Der  nissischen  2IusiTx  überhaupt.  Die  Delegirten- 
geschichte  hat  sich  folgendermaassen  abgespielt.  Als  ich 
in  Petersburg  krank  darniederlag  liess  mir  Dawidoff  durch 
meinen  Bruder  den  betreffenden  Vorschlag  machen.  Da  ich 
damals  ins  Ausland  reisen  musste  ohne  genügende  Mittel 
zu  haben  und  da  mir  die  Zeit  bis  zur  Eröffnung  der  Aus- 
stellung so  lang  schien,  dass  ich  zweifelte,  sie  überleben 
zu  können,  so  hielt  ich  es  nicht  für  notw^endig,  den  Vor- 
schlag abzulehnen.  Ausserdem  sah  in  meinem  Verstand 
damals  Alles  so  unklar,  so  neblig  und  unbestimmt  aus, 
auch  war  ich  nicht  im  Stande,  an  etwas  Anderes  zu  den- 
ken, als  eine  schleunige  Abreise.  Erst  in  der  Schweiz  er- 
reichte mich  die  Nachricht,  dass  auch  Rubinstein  mich  zum 
Delegirten  vorgeschlagen  habe.  Auch  dann  habe  ich  noch 
nichts  dagegen  gesagt,  denn  es  schien  mir  überhaupt  merk- 
w^ürdig,  an  die  Ausstellung  zu  denken,  solange  Plevna 
noch  nicht  genommen  war,  die  Geschäfte  sehr  schlecht 
gingen,  und  der  Frühling  noch  in  weiter  Ferne  stand.  In 
Venedig  erhielt  ich  die  offizielle  Anfrage  seitens  des  Mi- 
nisteriums, ob  ich  mit  der  Ernennung  einverstanden  wäre. 
Da  von  einem  Honorar  nicht  die  Rede  war,  so  wollte  ich 
schlauer  Weise  zu  diesem  Umstand  meine  Zuflucht  neh- 
men, um  die  Geschichte  von  mir  abzuschütteln.  Ich  schrieb 
zurück,  dass  ich  absolut  keine  Geldmittel  besitze  und  nur 
in  dem  Falle  das  Amt  übernehmen  würde,  wenn  man  mir 
ein  monatliches  Honorar  bewilligen  wollte.  Ich  w^ar  über- 
zeugt, dass  man  mir  angesichts  unserer  politischen  und 
finanziellen  Verwickelungen  kein  Geld  zur  Verfügung  stel- 
len würde.  Ich  hatte  mich  geirrt,  man  hatte  mir  ein  Ho- 
norar bewilligt  und  mich  beauftragt,  sofort  nach  Paris  zu 
reisen;  gleichzeitig  ist  mir  aber  auch  dringend  anempfoh- 
len worden,  mich  keinerlei  Hoffnungen  hinzugeben,  dass 
die  Regierung  für  irgend  w-elche  Unternehmungen  Geld 
hergeben  werde.  Was  hätte  ich  denn  unter  solchen  Um- 
ständen thun  können,  um  die  Pariser  für  die  russische  Mu- 
sik zu  interessieren?  Wie  könnte  ich  denn  Konzerte  und 
Quartettabende  arrangieren?  Welch  erniedrigend  kleine 
Rolle  hätte  ich  neben  den  andern,  reichlich  mit  Geld  ver- 
sorgten Delegirten  spielen  müssenl  Darauf  rechnen,  dass 
die  Künstler  auf  ihre  eignen  Kosten  nach  Paris  kommen 


—  439  — 

werden,  konnte  man  durchaus  nicht,  denn  der  Kurs  stand 
niederträchtig  tief.  Aber  selbst  wenn  Geldmittel  aufzutrei- 
ben gewesen  wären,  hätte  ich  nichts  thun  können.  Sollte 
ich  etwa  dirigieren?  Meine  eignen  Kompositionen  würde 
ich  ja  durchtaktieren  können,  aber  ich  dürfte  doch  nicht 
die  Programme  mit  meinem  alleinigen  Namen  ausfüllen. 
Ich  müsste  vielmehr  darauf  bedacht  sein,  mich  selbst  nach 
Möglichkeit  auszuschliessen  und  hauptsächlich  Werke  von 
Glinka,  Dargomyzsky,  Seroff,  Rimsky-Korsakoff,  Cui  und 
Borodin  zu  bringen.  Und  dazu  müsste  ich  mich  doch  vor- 
bereiten, wenn  ich  nicht  riskieren  wollte,  die  russische 
Musik  vor  aller  Welt  zu  blamieren.  Dass  ich  sie  blamiert 
hätte — ist  sicher.  So  würde  denn  ganz  Russland  mir  nachher 
Vorwürfe  machen,  und  das  mit  Recht.  Ich  bestreite  durch- 
aus nicht,  dass  ein  Mann  mit  Temperament,  Geschick 
und  organisatorischem  Talent  recht  viel  machen  könnte. 
Du  w^eisst  jedoch,  dass  ich  ausserhalb  meiner  Speziahtät 
ein  ganz  untauglicher  Mensch  bin.  So  hätte  ich  denn  der 
russischen  Musik  überhaupt  garkeinen  Nutzen  bringen  kön- 
nen, selbst  wenn  mir  von  der  Regierung  die  nötigen  Mittel 
zur  Verfügung  gestellt  worden  wären. 

2)  Für  mich  selbst.  Vor  allen  Dingen  hätte  ich  als  De- 
legirter  der  russischen  Musik  nicht  das  Recht,  mich  selbst 
zu  bevorzugen.  Es  wäre  vielmehr  meine  Pflicht  hauptsächlich 
für  andere  zu  sorgen.  Was  die  Bekanntschaft  mit  den  Pa- 
riser musikalischen  Grössen  anbelangt,  so  muss  ich  gestehen, 
dass  gerade  das  für  mich  das  Schrecklichste  wäre.  Lie- 
benswürdig sein,  jedem  Lumpen  den  Hof  machen  ist 
ganz  und  garnicht  meine  Sache.  Der  Stolz  äussert  sich 
bei  den  Menschen  sehr  verschieden.  Bei  mir  äussert  er 
sich  darin,  dass  ich  jeder  Begegnung  mit  Menschen,  die 
meine  Vorzüge  nicht  kennen  oder  nicht  zu  würdigen  wis- 
sen, aus  dem  Wege  gehe.  Es  wäre  für  mich  z.  B.  uner- 
träglich, bescheiden  vor  so  einem  Saint-Saens  zu  stehen 
und  seinen  gnädig  wohlwollenden  Blick  zu  ertragen,  denn 
in  der  Tiefe  meiner  Seele  fühle  ich  mich  um  einen  gan- 
zen Alp  über  ihm.  In  Paris  würde  meine  Eigenliebe  (wel- 
che, trotz  der  scheinbaren  Bescheidenheit,  dennoch  sehr 
gross  ist)  jeden  Augenblick  fürchterlich  zu  leiden  haben, 
gerade  infolge  der  öffteren  Begegnungen  mit  allerlei  Be- 
rühmtheiten, welche  mich  von  oben  herab  ansehen  wür- 
den. Ihnen  meine  Werke  aufdrängen,  ihnen  zu  beweisen 
suchen,  dass  ich  nicht  ganz  wertlos  bin, — das  verstehe 
ich  nicht.  Aber  gesetzt  den  Fall,  dass  es  mir  durch  Auf- 


—  440  — 

dringlichkeit  und  Speichelleckerei  gelingen  würde,  die  Auf- 
merksamkeit der  Koryphäen  auf  mich  zu  lenken, — was 
würde  das  für  Folgen  haben?  Auf  der  Weltausstellung 
werden  so  ausserordentlich  viele  Interessen  vertreten  sein, 
dass  meine  winzige  Person  in  den  Fluten  dieses  Ozeans 
untergehen  würde.  Wenn  ich  darauf  ausgehen  wollte, 
mich  den  Parisern  vorzustellen,  so  würde  ich  gewiss  nicht 
die  Zeit  einer  W^eltausstellung  wählen,  wo  auch  ohne 
meine  Wenigkeit  Tausende  und  Abertausende  verschie- 
dener Insektchen  sich  vorzudrängen  bemühen  werden. 
Ueberhaupt  verstehe  ich  nicht,  wie  Du  glauben  kannst, 
ich  könnte  in  Paris  in  einem  Nu  weltberühmt  werden; 
selbst  wenn  ich  ein  Konzert  geben  wollte  und  könnte, 
würde  es  vom  grossen  Publikum  wegen  des  Ausstellungs- 
trubels gar  nicht  bemerkt  werden.  Doch  lassen  wir  jetzt 
den  Ruhm  beiseite  und  reden  wir  von  meiner  Gesundheit. 
Körperhch  befinde  ich  mich  sehr  wohl,  wenigstens  bes- 
ser als  zu  erwarten  war,  geistig  jedoch  bin  ich  ein  ganz 
kranker  Mensch.  Kürzer  gesagt,  ich  bin  ein  Schritt  vom 
Wahnsinn.  Ich  kann  nur  in  absoluter  Ruhe  leben,  in  voll- 
ständiger Isoliertheit  von  jeglichem  grossstädtischem  Ge- 
räusch. Damit  Du  noch  besser  begreifst,  w^e  sehr  ich  mich 
verändert  habe,  will  ich  Dir  noch  sagen,  dass  ich  auf  al- 
len Ruhm  und  alle  Erfolge  im  Ausland  spiicJce,  ja,  spucJce, 
spucJce,  spuche!  Ich  wünsche  nur  Eines  und  flehe  darum, 
man  möchte  mich  doch  in  Ruhe  lassen.  Mit  Vergnügen 
würde  ich  mich  auf  dem  entferntesten  Stückchen  Erde  nie- 
derlassen, um  dem  Verkehr  mit  Menschen  ganz  aus  dem 
Wege  zu  gehen.  Augenblicklich  schmiede  ich  garkeine 
Pläne.  Nach  Ruhm  und  Ehre  jagen  will  ich  am  allerwe- 
nigsten. Ich  werde  komponieren  wenn  es  mich  dazu  drän- 
gen wird;  ich  komponiere  nur,  weil  ich  nicht  anders  kann. 
Doch  weiss  ich  nicht,  ob  ich  noch  genug  Pulver  habe 
für  etwas  Neues.  Bis  jetzt  instrumentiere  ich  noch  an  den 
im  vorigen  Frühling  und  vorigen  Sommer  komponierten 
Werken.  Wie  dem  auch  sei,  ich  kann  nicht  ohne  Arbeit 
leben,  und  wenn  ich  nicht  mehr  komponieren  kann,  dann 
werde  ich  mich  mit  andern  musikalischen  Arbeiten  beschäfti- 
gen. Mit  einem  Wort,  ich  will  keinen  Finger  rühren,  um 
der  Verbreitung  meiner  Werke  behilflich  zu  sein,  denn 
ich  brauche  sie  garnicht.  Wer  Lust  hat,  mag  meine  Sachen 
spielen  oder  singen,  hat  Niemand  Lust  —  ist's  mir  auch 
recht;  wie  gesagt  ich  spucl-e,  spuche^  spuche  drauf!!!  Ich 
wiederhole  noch  einmal:   wäre  ich   reich,   dann   lebte  ich 


—  441  — 

in  völliger  Abgeschiedenheit  von  der  Welt  und  käme  nur 
ab  und  zu  nach  Moskau,  dem  ich  sehr  zugethan  bin.  Von 
allen  Menschen,  die  auf  der  Erde  leben,  sind  mir  nur  eini- 
ge nahe  Verwandte  und  gute  Freunde  lieb  und  teuer, 
unter  denen  Du  einen  hervorragenden  Platz  einnimmst. 
Die  ganze  übrige  Menschheit  ist  mir  höchst  gleichgiltig.  Im 
Monat  August  werde  ich  wieder  meine  Professur  aufneh- 
men (welche  ich,  nebenbei  gesagt,  mit  allen  meinen  Kräf- 
ten hasse),  werde  still  und  einsam  bis  zum  letzten  Atem- 
zug in  der  weissen  Zarenstadt  wohnen,  hin  und  wieder 
mit  meinen  Freunden  plaudern  und  bis  zu  meinem  Tode 
auf  die  ganze  übrige  Welt  spucken:  auf  ihre  Meinung,  auf 
ihren  Ruhm,  auf  ihre  Ehre  und  auf  alles  Andere! 

Dein  Argument  gegen  mich,  dass  Nikolai  Gregorje- 
witsch  mir  die  Freundschaft  kündigen  wird,  falls  ich  das 
Delegirtenamt  ablehne,  ist  sehr  naiv.  Da  hast  Du  ja  keine 
sehr  hohe  Meinung  von  den  Freundschaftsgefühlen  Niko- 
lai Gregorjewitsch's,  wenn  Du  glaubst,  dass  sie  von  einer 
so  nichtigen  Ursache  in  alle  Winde  zerflattern  können. 
Es  ist  auch  sehr  merkwürdig,  dass  Du  von  einer  persön- 
lichen Beleidigung  Rubinstein's  sprichst.  Es  ist  seinerseits 
und  seitens  Dawidoff's  sehr  nett,  sehr  freundschaftlich 
und  delikat  gewesen,  auf  mich  als  Delegirten  hinzuwei- 
sen. Ich  bin  ihnen  dafür  sehr  dankbar  und  schäme  mich 
ordentlich,  ihren  Erwartungen  nicht  gerecht  geworden  zu 
sein.  Eine  Beleidigung  kann  ich  aber  dennoch  nicht  finden. 
Viel  eher  würde  ich  es  verstehen,  wenn  Dawidoff  sich 
beleidigt  fühlen  wollte,  denn  ich  bin  mit  ihm  nicht  so  in- 
tim befreundet  wie  mit  Rubinstein.  Ich  bin  überzeugt,  dass 
Du  Dich  irrst.  Wenn  ich  jetzt  plötzlich  sterben  sollte, — ■ 
würde  das  auch  eine  Beleidigung  für  Rubinstein  sein?  Er 
kann  mich  höchstens  beklagen  und  bedauern  wenn  er — 
gleich  Dir  findet,  dass  ich  durch  mein  ablehnendes  Verhal- 
ten sehr  viel  verliere,  aber  von  Beleidigung  ist  dennoch 
keine  Rede.  Es  thut  mir  sehr  leid,  lieber  Karl,  dass  Du 
unzufrieden  mit  mir  bist.  Aber  höre,  was  ich  Dir  sage: 
bittre  Erfahrungen  haben  mich  belehrt.  Ich  weiss,  dass 
man  nicht  ungestraft  seine  Natur  vergewaltigen  kann.  Mein 
ganzes  „Ich",  jeder  Nerv,  jede  Zelle  protestiert  gegen  den 
Delegirten, — und  ich  unterwerfe  mich  diesem  Protest. 

Karl,  ich  empfehle  Dir  dringend  mein  neuestes  Er- 
zeugniss,  welches  —  wie  ich  hoffe  —  unterdess  in  Moskau 
angekommen  ist.  Ich  meine  die  S3miphonie.  Gewinne  sie 
lieb,   denn   ich   kann   nicht    ruhig    sein,    wenn   Du    mich 


—  442  — 

nicht  lobst.  Du  ahnst  es  nicht,  wie  hoch  ich  gerade  Deine 
Meinung  schätze.  Sage  bitte  an  Kaschkin  für  seinen  Brief 
meinen  besten  Dank  und  zeige  ihm  diese  meine  Antwort, 
denn  sie  ist  ebenso  an  ihn  gerichtet.  Ich  danke  Euch  Beiden 
für  Eure  warmen  Worte  in  Betreff  des  „Onegin".  Sie  sind 
für  mich  in  Wahrheit  i.ooo.ooo.ooo.ooo  Mal  mehr  wert, 
als  die  wohlwollendsten  Blicke  irgend  eines....  Franzosen. 
Ich  umarme  Euch  Beide,  ebenso  auch  Rubinstein.  Auf  den 
Ruhm  aber  sjmcke,  sjmcke,  spucke  ich". 

An  P.  I.  Jurgenson: 

„San-Remo,  d.  12.  Jan.   1878. 

Lieber  Freund,  über  die  Symphonie  habe  ich  Dir  schon 
geschrieben,  ich  möchte  Dir  nur  noch  einmal  meinen  drin- 
genden Wunsch  ans  Herz  legen,  dass  der  Klavierauszug 
dieses  Stückes  auf  das  tadelloseste  hergestellt  werden  möch- 
te. Nicht  nur,  dass  ich  auf  das  Honorar  verzichte,  ich  bin 
sogar  bereit  selbst  dazuzuzahlen  wie  viel  ich  kann,  da- 
mit die  S3'mphonie  gut  arrangiert,  gut  gedruckt  und — was 
die  Hauptsache  ist — gut  korrektiert  wird.  Entscheide  selbst, 
wem  Du  den  Klavierauszug  in  Arbeit  geben  willst:  Klind- 
worth  oder  Tanejew;  dem  Einen  so  wie  dem  Anderen 
muss  ein  hohes  Honorar  gezahlt  werden,  jedoch  dem  Er- 
steren,  wahrscheinlich,  ein  höheres  als  dem  Letzteren.  Mit 
einem  Wort,  thue  Dein  Möglichstes,  о  Du  mein  lieber 
Verleger,  damit  die  Ausgabe  der  Symphonie  ein  Pracht- 
stück werde. 

Ebenso  dringend  bitte  ich  Dich,  meine  Oper  „Eugen 
Onegin"  in  Verlag  zu  nehmen.  Diese  Oper  ist  unter  ganz 
besonderen  Umständen  entstanden.  Ich  will  mich  nicht  um 
eine  Aufführung  auf  einer  grossen  Bühne  bemühen;  es  steht 
ihr  überhaupt  keine  grosse  Theaterzukunft  bevor,  darum 
will  ich  garkein  Honorar  von  Dir  haben,  so  dass  die  Summe, 
welche  ich  vor  2  Jahren  bei  Dir  geliehen  und  in  Gestalt 
einer  Oper  zurückzugeben  versprochen  hatte,  unverändert 
meine  Schuld  bleiben  wird — so  lange,  bis  ich  noch  eine 
andere  Oper  geschrieben  haben,  oder  meine  Schuld  durch 
andere  Kompositionen  getilgt  haben  werde.  Ich  wünsche 
also,  dass  Du  den  „Onegin"  verlegst,  und  zwar  je  schnel- 
ler— je  lieber.  Ein  Teil  des  Klavierauszugs  ist  fertig,  und 
Du  kannst  Dir  eine  Kopie  davon  im  Konservatorium  ge- 
ben lassen.  Der  andere  Teil  wird  in  Monatsfrist  fertig  sein. 
Wenn  Du  gewillt  bist,  die  Oper  schon  bald  in  Druck  zu 


—  443  — 

geben,  so  lass  bitte  vorher  den  Klavierauszug  von  Tanejew 
durchsehen  und  bitte  Letzteren  in  meinem  Namen,  den 
Klaviersatz — wo  nötig — zu  verbessern.  Ich  gebe  ihm  volle 
Freiheit,  das  Arrangement  zu  verändern  so  viel  er  Lust 
hat. 

Diese  Oper  wird  Dir  einst  gute  Einnahmen  bringen 
können,  denn  sie  enthält  eine  ganze  Menge  Arien,  welche 
unter  günstigen  Umständen  Glück  machen  werden.  Sei 
so  gut,  lieber  Freund,  und  schlage  mir  meine  Bitte  nicht  ab". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  14.  Jan.  1878. 

Zwei  Nächte  hintereinander  herrschte  hier  ein  fürchter- 
Hcher  Nordwestwind.  Er  heulte,  pfiff  und  tobte  so,  dass 
man  das  Gruseln  bekam.  In  der  letzten  Nacht  hat  er  don- 
nernd mein  Fenster  aufgerissen;  ich  konnte  nicht  mehr 
einschlafen  und  begann,  über  mein  Leben  nachzudenken. 
Ich  weiss  nicht,  wie  es  kam,  aber  plötzlich  schoss  mir 
ein  sehr  angenehmer  Gedanke  durch  den  Kopf.  Ich  dachte 
daran,  dass  ich  Ihnen  noch  nie  die  Dankbarkeit,  die  ich 
Ihnen  schulde,  in  ihrem  vollen  Umfange  ausgesprochen  ha- 
be, mein  bester  und  teuerster  Freund.  Es  wurde  mir  klar, 
dass  alles  das,  was  Sie  für  mich  thun,  so  voll  Teilnahme 
und  Güte,  so  unermesslich  grossmütig  ist,  dass  ich  dessen, 
im  Grunde,  garnicht  würdig  bin.  Ich  erinnerte  mich  an 
den  Zeitpunkt,  da  ich  mich  am  Rande  eines  Abgrundes 
befand  und  glaubte,  dass  nun  alles  hin  wäre  und  mir 
nichts  anderes  übrig  bliebe,  als  vom  Erdboden  zu  ver- 
schwinden, und  wie  mir  gleichzeitig  eine  innere  Stimme 
von  Ihnen  zuraunte,  Sie  würden  mir  die  Hand  bieten.  Die 
innere  Stimme  hat  Recht  behalten.  Sie  und  meine  Brüder 
haben  mir  das  Leben  wiedergegeben.  Ich  lebe  nicht  nur, 
ich  kann  sogar  arbeiten;  ohne  Arbeit  hat  das  Leben  für 
mich  keinen  Sinn.  Ich  weiss,  Sie  machen  sich  nichts  da- 
raus, dass  ich  mich  jeden  Augenblick  in  Dankbarkeits- 
versicherungen ergehe.  Habe  ich  Ihnen  aber  auch  nur 
einmal  gesagt,  dass  ich  Ihnen  Alles,  Alles  verdanke,  dass 
Sie  mir  nicht  nur  die  Mittel  an  die  Hand  gaben,  ohne 
die  geringsten  Sorgen  die  schwere  Krisis,  welche  mir  be- 
schieden gewesen  ist,  zu  überstehen,  sondern  auch  das  Ele- 
ment des  Lichtes  und  des  Glückes  in  mein  gegenwärtiges 
Leben  hineintragen.  Ich  spreche  jetzt  von  Ihrer  Freundschaft, 
meine  liebe  und  teure  Nadeshda  Filaretowna,  und  versichere 


—  444  - 

Sie,  dass  ich,  seit  ich  in  Ihnen  einen  so  unendhch  guten 
Freund  gefunden, — nie  mehr  ganz  unglückhch  sein  werde. 
Hoffenthch  wird  bald  die  Zeit  kommen,  da  ich  die  mate- 
rielle Unterstützung  nicht  mehr  brauchen  werde,  welche 
Sie  mir  mit  einem  so  bewunderungswürdigen  Feingefühl 
und  märchenhafter  Freigebigkeit  zukommen  lassen,  wäh- 
rend ich  die  moralische  Stütze,  die  ich  an  Ihnen  gefun- 
den, wohl  niemals  entbehren  können  werde.  Bei  der  Unent- 
schlossenheit  meines  Charakters  und  bei  dem  mir  von  der 
Natur  verliehenen  Talent,  oft  den  Mut  zu  verlieren,  ist  es 
mir  ein  angenehmes  Bewusstsein,  einen  so  klugen  und  guten 
Freund  zur  Seite  zu  haben,  der  stets  bereit  ist,  mir  zu 
helfen  und  den  rechten  Weg  zu  weisen.  Ich  weiss,  dass 
Sie  mir  immer  ein  Förderer  meiner  guten  und  verstän- 
digen Handlungen,  gleichzeitig  aber  auch  ein  Richter  mei- 
ner Fehler  bleiben  werden,  aber  ein  Richter,  der  Mitleid 
mit  mir  hat  und  mir  von  Herzen  Gutes  wünscht.  Alles 
das  sagte  ich  mir  in  der  vorigen  schlaflosen  Nacht  und 
gelobte,  Ihnen  noch  heutigen  Tages  darüber  zu  schreiben. 
Bitte  antworten  Sie  mir  darauf  garnichts.  Ich  habe  damit 
nur  meine  unüberwindliche  Lust  befriedigen  wollen,  mich 
Ihnen  gegenüber  auszusprechen. 

Heute  früh  brachte  man  mir  (welch'  merkwürdiger  Zu- 
fall!) einen  Brief  von  Rubinstein  '^).  Er  ist  von  seiner  Reise 
zurückgekehrt  und  hat  sich  beeilt,  meinen  Brief,  in  wel- 
chem ich  mich  bei  ihm  wegen  der  Nichtannahme  des  De- 
legirtenamtes  entschuldigte,  zu  beantworten.  Sein  Brief 
atmet  den  wildesten  Zorn.  Das  wäre  noch  nicht  schlimm, 
aber  in  dem  ganzen  Ton  des  Briefes  solch'eine  Trok- 
kenheit,  solch'eine  Herzlosigkeit  und  Starrköpfigkeit!  Er 
schreibt,  dass  meine  Krankheit — eitel  Schwindel  sei,  dass 
ich  nur  simuliere,  dass  ich  einfach  das  dolce  far  niente 
der  Arbeit  vorziehe,  das  ich  mich  von  der  Arbeit  nach 
und  nach  entwöhne  und  dass  er  sehr  bedauere,  mir  zu 
viel  Teilnahme  entgegengebracht  zu  haben,  denn  dadurch 
habe  er  nur  meiner  Faulheit  gesteuert  (!!!)  u.  s.  w.  u.  s.  w. 
Am  Ende  des  Briefes  drückt  er  die  Hoffnung  aus,  dass 
ich  mir  die  Sache  noch  überlegen  und  nach  Paris  eilen 
werde.  Ein  in  Zorn  geratener  Vorgesetzter,  seinem  zittern- 
den Untergebenen  schreibend!  Dieser  Brief  strotzt  von 
Starrsinn,  Unverstand  und  beleidigendem  Hochmut,  so  dass 
er  eine  scharfe  Antwort  wohl  verdient,  die  ich  denn  auch 


1)  Dieser  Brief  ist  leider  verloren  gegangen. 


—  445  — 

sofort  abgeschickt  habe.  Und  dennoch,  wenn  Sie  nicht 
wären,  würde  ich  gewiss  zu  zweifeln  anfangen:  ob  ich 
nicht  in  der  That  wie  ein  Feighng  gehandelt  habe?  Jedoch 
nach  dem,  was  Sie  mir  über  jene  Angelegenheit  geschrie- 
ben hatten,  fühlte  ich  mich  in  meiner  Ueberzeugung,  dass 
ich  keinen  Fehler  begangen,  stark  genug.  Da  Sie  und 
meine  Brüder  sich  zustimmend  verhalten  haben,  so  kann 
ich  ganz  ruhig  sein.  Nichtsdestoweniger  kann  ich  meine 
Verwunderung  und  meine  Erbitterung  nicht  überwinden, 
dass  Rubinstein  trotz  unseres  langjährigen  Zusammenle- 
bens mich  nicht  besser  kennen  gelernt  und  so  erstaunlich 
wenig  Verständniss  für  mich  hat.  Dieser  Mensch,  der  bei 
jeder  sich  bietenden  Gelegenheit  mir  von  seiner  Freund- 
schaft spricht,  hat  die  merkwürdige  Gabe,  mir  jeden  Au- 
genblick kleine  Unannehmlichkeiten  zu  bereiten.  Am  ab- 
stossendsten  an  ihm  ist  aber,  dass  er  bei  jeder  Gelegenheit 
betont,  er  sei  mein  Wohlthäter.  Selbst  wenn  er  in  der 
That  mein  Wolhthäter  wäre,  so  paralysiert  er  mit  seinen 
Vorwürfen  meine  ganze  Dankbarkeit  ^).  Er  leidet  an  einer 
unheilbaren  Manie,  sich  einzubilden,  dass  Alle  ihm  sehr 
verpflichtet  seien.  Wenn  Sie  seinen  heutigen  Brief  gelesen 
hätten,  würden  Sie  staunen  bis  zu  welchem  Unsinn  ihn 
die  Manie,  sich  als  den  allgemeinen  Wohlthäter  einzubil- 
den, führen  kann.  Das  ist  einfach  unglaublich!  So,  nun 
habe  ich  meinen  gerechten  Zorn  über  Rubinstein  ausge- 
gossen und  fühle  mich  jetzt  wohler. 

In  der  heutigen  Zeitung  habe  ich  die  Bedingungen  des 
Waffenstillstandes  gelesen  und  mich  über  Gortschakoff 
und  die  andern  leitenden  Männer  nicht  weniger  geärgert, 
als  über  den  Konservatoriums- Jupiter.  Ich  gebe  mich  aber 
dem  Gedanken  hin,  dass  die  „Agence  Havas"  falsch  be- 
richtet ist.  Wenn  die  Nachricht  richtig  ist,  dann  bekommt 
also  Russland  garnichts,  ausser  den  500  Millionen,  welche 
die  Türken  selbstverständlich  niemals  bezahlen  werden. 
Sollte  das  wirklich  wahr  sein?  Sollte  Russland  nach  all' 
den  Opfern,  nach  all' den  Strömen  von  Blut,  welche  um 
den  heiligsten  Zweck  vergossen  worden  sind,  wirklich 
keine  bessere  Entschädigung  erhalten?  Das  ist  im  höch- 
sten Grade  empörend  und  demütigend. 

Mein  Bruder  hat  mir  ein   sehr  schönes  Buch  mitge- 


1)  Ich  halte  es  für  notwendig,  den  Leser  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  P.  I. 
diese  Zeilen  in  sehr  gereizter  Stimmung  geschrieben  hat.  Weder  vor  diesem  Brief  noch 
nachher  hat  P.  I.,  wenn  er  bei  ruhiger  Ueberlegung  war,  die  grosse  Bedeutung  X.  Ru- 
binstein's  für  seine  künstlerische  Laufbahn  angezweifelt,  und  trug  stets  die  tiefste  Dank- 
barkeit dafür  im  Herzen. 


—  44б  — 

bracht,  welches  ich  Ihnen  hiermit  empfehle,  meine  werte- 
ste Freundin.  Das  ist  „Alexander  der  Erste"  von  Solowjeff. 
Es  ist  erst  vor  Kurzem  gelegentlich  der  Hundertjahrfeier 
des  Titelhelden  erschienen. 

Heute  habe  ich  die  Instrumentierung  des  dritten  Aktes 
abgeschlossen.  Es  bleibt  mir  also  nur  noch  übrig,  das  noch 
nicht  ganz  fertige  zweite  Bild  des  zweiten  Aktes  zu  Ende 
zu  führen  und  eine  Introduktion  zu  schreiben.  Nachher 
Avill  ich  versuchen  etwas  Neues  in  Angriff  zu  nehmen". 

An  N.  G.  Rubinstein: 

„San-Remo,  d.  14.  Jan.  1878. 

Wertester  Nikolai  Gregorje witsch,  Heute  habe  ich  Dei- 
nen Brief  erhalten.  Er  hätte  mich  sehr  geärgert,  wenn  ich 
mir  nicht  gesagt  hätte,  dass  Du  nur  mein  Heil  im  Auge 
gehabt  habest.  Zu  meinem  Bedauern  siehst  Du  aber  mein 
Heil  da,  wo  ich  und  einige  andere  Leute  nur  Unheil  fin- 
den können,  wo  ich  nichts  als  zweck-und  ziellose  Schere- 
reien erblicke.  In  meinem  Brief  an  Karl  habe  ich  sehr 
ausführlich  meine  Ansichten  über  die  ganze  Geschichte 
klar  gelegt  und  halte  es  für  überflüssig,  dieselben  jetzt 
zu  wiederholen.  Es  hat  mir  sehr  leid  gethan.  Deine  und 
Dawidoff's  Empfehlung  zu  Schanden  zu  machen.  Euch 
Beide  habe  ich  brieflich  um  Entschuldigung  gebeten  und 
mich  dabei  beruhigt.  Alles  was  Du  mir  schreibst  und 
luie  Du  mir  schreibst,  beweist  mir,  wie  schlecht  Du  mich 
Jcennst,  was  ich  übrigens  auch  schon  bei  mancher  frühe- 
ren Gelegenheit  bemerkt  habe.  Es  ist  möglich,  dass  Du 
Recht  hast  und  dass  ich  in  der  That  simuliere,  gerade 
darin  besteht  aber  meine  Krankheit. 

Soeben  habe  ich  Deinen  Brief  noch  einmal  durch- 
gelesen und  mich  noch  einmal  durch  Deine  unglaubliche 
Unkenntniss  meines  Charakters  im  Allgemeinen  und  mei- 
ner augenblicklichen  Krisis  im  Besonderen  in  Erstaunen 
versetzen  lassen.  So  oft  hast  Du  mir  und  Andern  geäus- 
sert, dass  Du  mich  lieb  hast.  In  Deinem  Brief  jedoch  ist 
von  dieser  Liebe  keine  Spur,  ausser — vielleicht — Deines  ur- 
sprünglichen Wunsches,  mir  durch  den  Vorschlag  zum  De- 
legirten  über  eine  schwere  Zeit  hinwegzuhelfen.  Alle  Dieje- 
nigen, welche  mich  in  der  That  lieb  haben,  äusserten  sich 
ganz  anders  über  meine  ablehnende  Haltung.  Aus  deinem 
Brief  kann  ich  nur  die  Absicht  herauslesen,  mich  fühlen  zu 
lassen,  dass  ich  an  Dir  einen  grossen  Wohlthäter  besitze, 


—  447  — 

und  mich  als  ein  undankbarer  und  deiner  Gnade  nicht 
würdiger  Faulenzer  erwiesen  habe.  Das  hättest  Du  nicht 
thun  sollen!  Ich  weiss  sehr  gut,  wozu  ich  Dir  verpflichtet 
bin,  aber  erstens  kühlen  Deine  Vorwürfe  meine  Dankbar- 
keit ab,  und  zweitens  gefällt  es  mir  garnicht,  dass  Du 
Dir  sogar  solche  Wohlthaten  zuschreibst,  welche  garkeine 
Wohlthaten  sind. 

Doch  genug  davon.  Reden  wir  jetzt  von  den  Fäl- 
len, in  welchen  Du  in  der  That  als  mein  Wohlthäter  er- 
scheinst. Da  ich  selbst,  was  die  Dirigierkunst  anbelangt, 
absolut  talentlos  bin,  so  hätte  ich  mir  gewiss  niemals  einen 
Namen  gemacht,  wenn  mir  nicht  ein  so  ausgezeichneter 
Interpret  meiner  Werke  zur  Seite  gestanden  hätte.  Wenn 
Du  nicht  da  wärest,  würde  ich  zu  ewigen  Verstümmelungen 
verurteilt  sein.  Du  bist  der  einzige  Mensch,  der  meine  Waare 
von  der  rechten  Seite  zu  zeigen  w^eiss.  Diese  Deine  ver- 
blüffend hohe  Kunst,  ein  schweres  Stück — ohne  es  vorher 
durchstudiert  zu  haben — dank  einer  unglaublichen  Kraft  des 
Instinkts  in  nur  zwei  Proben  leichthin  durchzunehmen  und 
dann  vorzutragen,  diese  Kunst  möchte  ich  jetzt  von  Neuem 
in  Anspruch  nehmen,  und  zwar  für  meine  Oper  und  meine 
Symphonie.  In  Betreff  der  Oper  will  ich  Dir  noch  sagen, 
dass  es  mich  durchaus  nicht  kränken  wird,  wenn  Du  die 
Aufführung  in  dieser  Saison  nicht  für  möglich  halten  soll- 
test, obwohl  ich  es  sehr  wünschte.  Die  Symphonie  da- 
gegen muss  unbedingt  sofort  gespielt  werden,  denn  es 
würde  mir  aus  verschiedenen  Gründen  ausserordentlich 
unangenehm  sein,  wenn  die  Aufführung  nicht  zu  Stande 
käme.  Ich  habe  bis  jetzt  noch  garkeine  bestimmten  Nach- 
richten über  die  beiden  Werke.  Sei  so  gut  und  schreibe 
mir  entweder  selbst  darüber,  oder  beauftrage  Albrecht 
oder  Kaschkin.  Diese  beiden  Herren  thäten  besser,  mir 
ausführlich  über  Alles  zu  berichten,  was  im  Konservato- 
rium und  in  der  Moskauer  Musikalischen  Gesellschaft  vor- 
geht, als  mich  mit  Vorwürfen  zu  überschütten.  Alles  Je- 
nes interessiert  mich  sehr.  Ich  habe  Dir  schon  oft  geschrie- 
ben, dass  ich  trotz  meines  giftigsten  Hasses  gegen  die 
Professorenpflichten,  für  das  ganze  Leben  an  das  Konser- 
vatorium gebunden  bin;  die  Gewohnheit  hat  es  fertig  ge- 
bracht, dass  ich  nirgends  anders  als  in  Moskau  und  in 
Eurer  Mitte  leben  kann.  Ich  habe  Euch  Alle,  darunter 
auch  Dich  sehr  lieb,  vielleicht  mehr,  als  Du  glaubst.  Du 
hast  mich  aber  stets  verkannt  und  missverstanden.  Dein 
merkwürdiger  Brief  beweist  das  von  Neuem.  Es  umarmt 
Euch  etc.". 


-  448  - 
An  А.  I.  Tschaikowsky: 

„San-Remo,  d.  15.  Jan.  1878. 
.Mein  lieber  Toly,   ich  muss  Dir  mitteilen,  dass  ich 


mich  sehr  wohl  fühle  und  meine  Gesundheit  gut  ist.  Ru- 
binstein hat  nicht  unrecht  wenn  er  behauptet,  ich  „bilde 
mir  ein''  krank  zu  sein.  Das  stimmt,  denn  meine  einzige 
Krankheit  besteht  ja  gerade  darin,  dass  ich  mir  allerlei 
„einbilde".  In  körperlicher  Beziehung  bin  ich  vollkommen 
gesund,  sogar  die  „  Hämmerchen "  sind  verschwunden,  — 
zur  „guten  Stunde"  sei  es  gesagt". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  15.  Jan.  1878. 
.Schreibe   Ihnen    aus   folgendem    Anlass.   Wir   sind 


soeben  von  einem  prachtvollen  Spaziergang  heimgekehrt. 
In  einer  Entfernung  von  1^2  Stunden  liegt  das  kleine  Städt- 
chen Colla,  in  welchem  es  eine  ausgezeichnete  Bildergal- 
lerie  giebt;  diese  ist  von  einem  reichen  Mann,  der  in  Colla 
geboren  worden  ist  und  in  Florenz  Carriere  gemacht  hat, 
der  Stadt  vermacht  worden.  Es  war  Heute  ein  köstlicher 
Tag,  ein  richtiger  Frühlingstag;  die  Sonne  strahlte,  wie 
im  Sommer.  An  dem  Spaziergang  hat  auch  Kolja  teilge- 
nojnmen,  für  den  wir  einen  Esel  gemietet  hatten.  Die  Stei- 
gung war  nicht  besonders  steil;  und,  obwohl — wie  über- 
all in  dieser  Gegend  —  dichte  Olivenhaine  die  Aussicht 
aufs  Meer  und  auf  die  Stadt  verdecken,  so  war  es  doch 
sehr  schön.  Sehr  angenehm  war  es,  dass  wir  wegen  des 
Feiertags  keinen  Bauern  und  Bäuerinnen,  welche  die  Oli- 
ven sammeln,  begegneten.  Es  traf  sich,  dass  ich  zufällig 
allein  den  Andern  etwas  vorangeeilt  war,  ich  setzte  mich 
unter  einen  Baum,  und  da  überkam  mich  plötzlich  jenes 
hohe  Glücksgefühl,  welches  ich  auf  meinen  ländlichen  Spa- 
ziergängen in  Russland  so  oft  genossen  und  nach  welchem 
ich  mich  hier  schon  lange  vergeblich  gesehnt  hatte.  Ich 
war  allein  inmitten  der  feierlichen  Stille  des  Waldes.  Das 
sind  köstliche,  unvergleichliche  und  garnicht  zu  beschrei- 
bende Minuten  gewesen!  Die  hauptsächlichste  Bedingung 
solcher  Momente  ist — Alleinsein.  Auf  dem  Lande  spaziere 
ich  stets  allein.  Die  Begleitung  eines  so  lieben  Wesens, 
wie  der  Bruder  hat  ja  auch  ihren  Reiz,  es  ist  aber  doch 
ganz  etwas  Anderes.  Kurz  ich  fühlte  mich  glücklich.  Zum 
ersten,  stieg  in  mir  sofort  der  Wunsch  auf,  an  Sie  zu  schrei- 


—  449  — 

ben,  und  zum  zweiten,  wurde  mir  auf  dem  Heimweg  eine 
grosse  Freude  zu  Teil.  Haben  Sie  Blumen  gern?  Ich  habe 
für  sie  die  glühendste  Verehrung,  namentlich  schwärme 
ich  für  Feld-und  Waldblumen.  Der  König  der  Blumen  ist 
in  meinen  Augen  das  Makjlüchchen;  diese  Blume  liebe  ich 
geradezu  wahnsinnig.  Modest,  welcher  die  Blumen  ebenso 
gern  hat,  steht  für  die  Veilchen,  sodass  wir  oft  mit  ein- 
ander in  Streit  geraten,  ich  pflege  dann  zu  behaupten,  dass 
die  Veilchen  nach  Pomade  riechen,  worauf  er  gewöhnlich 
erwidert,  dass  die  Maiglöckchen — Nachthauben  ähnlich  se- 
hen u.  s.  w.  Wie  dem  auch  sei,  ich  anerkenne  das  Veil- 
chen gern,  als  einen  würdigen  Rivalen  des  Maiglöckchens 
und  habe  es  ebenfalls  sehr  lieb.  In  den  Strassen  werden 
hier  sehr  viele  Veilchen  verkauft,  ich  selbst  aber  habe 
trotz  eifrigen  Suchens  noch  nie  eines  gefunden,  so  dass 
ich  schon  zu  glauben  begann,  dass  das  Finden  der  Veilchen 
ein  ausschliessliches  Privilegium  der  eingebornen  Kinder- 
bevölkerung sei;  Heute  jedoch  hatte  ich  auf  dem  Rückweg 
das  Glück,  eine  grosse  Menge  Veilchen  an  einer  Stelle  zu 
erblicken.  Das  ist  denn  auch  der  zweite  Anlass  zu  meinem 
Brief. — Sende  Ihnen  einige  eigenhändig  gepflückte  liebe 
Blümchen.  Denken  Sie  an  den  Süden,  an  die  Sonne,  an 
das  Meer!..." 

An  S.  I.  Tanejew: 

„San-Remo,  d.  24.  Jan.  1878. 

Lieber  Serge,  Heute  erst  komme  ich  dazu,  Ihre  zwei 
Briefe  zu  beantworten.  Ich  war  für  einige  Tage  nach  Nizza 
gereist,  und  dieser  Umstand  hat  mich  verhindert,  Ihnen 
rechtzeitig  zu  schreiben.... 

Mit  fieberhafter  Ungeduld  werde  ich  Ihre  neue  Sym- 
phonie erwarten.  Ich  muss  Sie  aber  einwenig  schelten:  es 
gefällt  mir  garnicht,  dass  Sie  sich  bis  jetzt  noch  nicht  je- 
nes Maass  von  Selbstbewusstsein  angeeignet  haben,  zu  wel- 
chem Ihnen  Ihr  Talent  und  Ihre  überhaupt  sehr  begabte 
Natur  das  Recht  giebt.  Es  scheint  mir,  dass  Sie  sich  gar 
zu  lange  Zeit  als  Schüler  vorkommen,  der  ohne  Anleitung 
Rubinstein's  nicht  einmal  eine  Sonate  von  Beethoven  in 
einer  Quartettsoiree  zu  spielen  wagt.  Sie  haben  schon 
längst  Alles  in  sich  aufgenommen,  was  Ihnen  Ihre  Lehrer 
bieten  konnten.  Jetzt  ist  es  Zeit,  sich  mit  der  eignen  Kri- 
tik zu  begnügen,  und  nicht  mehr  Rubinsteinisch  zu  spielen, 
sondern  auf  Tanejewsche  Art.  Seien  Sie  doch  endlich  ein- 

Tschaikowsky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky'sJ  Leben.  29 


—  450  — 

mal  Sie  selbst,  und  stützen  Sie  sich  fest  auf  Ihre  eignen 
Kräfte.  Es  gefällt  mir  nicht,  dass  Sie  —  nachdem  Sie  die 
vSonate  bereits  mit  Erfolg  öffentlich  gespielt  haben  —  mir 
schreiben:  „Ich  hoffe,  dass  die  Sonate  nach  einem  Monat 
gut  gehen  wird".  Das  klingt  so  schülerhaft.  Wie  lange 
Zeit  brauchen  Sie  denn,  um  eine  Sonate  einzudrillen?  Für 
einen  Virtuosen,  überhaupt  für  jeden  Künstler  ist  ein  ge- 
wisses Maass  von  Selbstbewusstsein  unerlässlich.  Sie  sind 
zu  bescheiden;  tragen  Sie  Ihr  Haupt  höher,  wenn  Sie 
wollen,  dass  man  Ihnen  Achtung  entgegen  bringt  und 
ehrerbietig  Platz  macht. 

Andernfalls  wird  ein  jeder  Schafskopf  annehmen  müssen, 
dass  Sie  in  Wahrheit  nicht  viel  leisten  können.  Ich  sage 
Ihnen  das  Alles,  weil  ich  selbst  durch  den  Mangel  an 
Selbstvertrauen  sehr  viel  einbüsse...." 

An  N.  F.  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  25.  Jan.  1878, 

Ich  fühle  mich  ausgezeichnet.  Die  Gesundheit  ist  in 

der  besten  V^erfassung,  der  Geist  ist  klar,  die  Seele — stark: 
Mit  grosser  Freude  beobachte  ich  mich  und  komme  zu  der 
unzweifelhaften  Ueberzeugung,  dass  ich  ganz  wiederherge- 
stellt bin.  Wissen  Sie,  meine  liebe  Freundin,  dass  man 
nicht  ganz  mit  Unrecht  gemunkelt  hat,  ich  sei  verrückt 
geworden.  Wenn  ich  mich  an  alles  das  erinnere,  was  ich 
gethan,  und  an  alle  Verkehrtheiten,  die  ich  begangen  habe, 
muss  ich  unwillkürlich  den  Schluss  ziehen,  dass  mein  Ver- 
stand zeitweilig  nicht  ganz  in  Ordnung  gewesen  ist,  und 
dass  ich  erst  jetzt  in  den  normalen  Zustand  wieder  herein- 
gekommen bin.  Manches  aus  meiner  jüngsten  Vergangen- 
heit kommt  mir  wie  ein  merkwürdiger  Traum  vor,  wie  ein 
schreckhches  Alpdrücken,  während  dessen  das  Individuum, 
das  meinen  Namen  trägt,  mein  Aussehen  und  meine  Kenn- 
zeichen hat,  so  handelte,  wie  man  in  Träumen  zu  handeln 
pflegt:  unsinnig,  unzusammenhängend,  paradox.  Das  war 
nicht  ein  Wesen  mit  gesundem  Menschenverstand  und  lo- 
gischem, vernünftigem  Wollen.  Alles  was  ich  that,  trug  den 
Charakter  eines  krankhaften  Widerspruchs  zwischen  Ver- 
nunft und  Willen;  das  ist  aber  nichts  anderes,  als  Geistes- 
gestörtheit. Inmitten  dieses  Alpdrückens,  unter  dessen  Zei- 
chen jene  merkwürdige  und  schreckliche,  aber  kurze  Pe- 
riode meines  Lebens  stand,  ergriff  ich,  um  mich  zu  retten, 
die  Hände  einiger  mir  sehr  lieben  Menschen,  welche  er- 
schienen waren,  mich  aus  dem  Abgrund  zu  ziehen. 


—  451  — 

Ihnen  und  meinen  zwei  lieben  Brüdern,  Euch  dreien 
zusammen  verdanke  ich  nicht  nur  mein  Leben,  sondern 
auch  meine  ph3'sische  und  morahsche  Gesundheit". 

An  P.  I.  Jurgenson: 

„San-Remo,  d.  26.  Jan.  1878. 

Heute  ist  Dein  Brief  angekommen,  heber  Peter  Iwano- 
witsch.  Du  bist  sehr  Hebenswürdig.  Die  Freigebigkeit,  wel- 
che Du  mir  gegenüber  bekundest,  rührt  mich  sehr.  Nichts- 
destoweniger will  ich  für  die  Oper  nur  in  dem  Falle  Geld 
von  Dir  nehmen,  wenn  sie  auf  einer  grösseren  Bühne  auf- 
geführt werden  sollte,  aber  auch  dann  bei  weitem  nicht 
die  hohe  Summe,  die  Du  mir  anbietest.  Das  Honorar  für 
die  S3'mphonie  überlasse  ich  Tanejew,  und  für  die  Ueber- 
setzungen  möchte  ich  kein  Geld  von  Dir  nehmen,  weil  sie 
nach  meiner  Ansicht  sehr  schwach  sind.  Ueber  das  Hono- 
rar für  das  Violin-und  Cellostück  lass  uns  später  reden. 

Ich  bin  Dir  sehr  dankbar,  mein  Herzensfreund,  dass  Du 
mit  mir  nicht  geizest  und  mich  gern  herausgiebst.  Uebri- 
gens  ist  das  für  mich  nicht  neu.  Deinen  Grossmut  und 
Deine  Freigebigkeit  habe  ich  stets  zu  würdigen  verstan- 
den. Merci,  merci,  merciü" 

An  N.  F.  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  28.  Jan.  1878. 
.Heute  hatte  ich    Gelegenheit   zu   konstatieren,    wie 


weit  meine  Menschenscheu  gehen  kann.  Heute  besuchten 
mich  ganz  unerwartet  zwei  Subjekte:  der  eine — ein  Russe, 
ein  Geigendilettant,  den  ich  schon  lange  kenne;  der  an- 
dere—ebenfalls ein  Geiger,  ein  Italiener.  Der  Letztere  kam 
im  Auftrag  des  augenblicklich  in  Nizza  weilenden  Direk- 
tors des  Petersburger  Konservatoriums  Asantschewsk}',  wel- 
cher zufällig  erfahren,  dass  ich  mich  hier  aufhalte,  und  den 
Italiener  gebeten  hatte,  mich  aufzusuchen.  Der  Erstere, 
dagegen,  erschien  bei  mir  nur,  um  sich  zu  vergewissern, 
ob  es  wahr  sei,  dass  ich — wie  er  in  den  Zeitungen  gele- 
sen haben  will, — wirklich  verrückt  geworden  bin.  Was  ich 
für  Qualen  erduldet  habe,  während  diese  beiden  Künstler 
bei  mir  sassen,  ist  garnicht  zu  beschreiben.  N.,  der  Russe, 
sprach  die  Ansicht  aus,  dass  es  nichts  Schlechteres  geben 
könne,  als  Russland  und  speziell  Moskau,  und  dass  es  das 
höchste  Glück  für  einen  Menschen  sei,  jenes  verfluchte  Land 


—  452  - 

zu  verlassen.  Der  Italiener  belustigte  sich  über  die  Schwierig- 
keit, meinen  Namen  richtig  auszusprechen,  befragte  mich, 
ob  das  Haupt  der  russischen  Kirche  auch  ein  Papst  sei? 
u.  s.  w.  Woher  kommt  es,  dass  die  überwiegende  Mehr- 
heit der  Menschen  nur  Dummheiten  oder  Taktlosigkeiten 
plappern  kann,  und  wie  kommen  diese  Herren  eigentlich 
dazu,  sich  so  zu  benehmen,  als  wenn  sie  mir  durch  ihren 
Besuch  die  allergrösste  Freude  machten?  Wie  unendlich 
klug  handeln  Sie,  indem  Sie  jeder  Begegnung  mit  solchen 
gemeinen  Kerls,  aus  denen  hauptsächlich  die  Menschheit 
zusammengesetzt  ist,  aus  dem  Wege  gehen!  Die  Perspek- 
tive, in  der  nächsten  Zeit  den  Besuch  Asantschewsky's  zu 
erhalten  (übrigens  eines  sehr  netten  und  gutmütigen  Men- 
schen), ferner  der  schreckliche  Gedanke,  dass  mein  Zu- 
fluchtsort entdeckt  sei,  und  dass  sich  noch  andere  Neugie- 
rige finden  werden,  einen  Verrückten  von  Angesicht  zu 
Angesicht  zu  schauen, — alles  das  hat  mir  den  Aufenthalt 
in  San-Remo  gründlich  verleidet,  so  dass  ich  jetzt  mit 
Ungeduld  die  Abreise  erwarten  werde.  Wohin — das  weiss 
ich  noch  nicht". 

An  N.  G.  Rubinstein: 

„San-Remo,  d.  30.  Jan.  1878, 

Lieber  Freund,  Deinen  Brief  habe  ich  Heute  erhalten 
und  mit  grosser  Genugthuung  durchgelesen.  Ich  bin  voll- 
kommen überzeugt,  dass  Du  mich  durch  Deinen  vorigen 
Brief  nicht  beleidigen  wolltest;  nur  der  Ton  desselben  ist 
mir  als  ein  sehr  unfreundschaftlicher  vorgekommen,  darum 
habe  ich  mich  einw^enig  verletzt  gefühlt.  Wenn  ich  nun 
meinerseits  in  meinem  Brief  gar  zu  scharfe  Ausdrücke  an- 
gewendet habe,  so  bitte  ich  Dich,  das  zu  vergessen.  Doch 
lassen  wir  die  ganze  Geschichte  ruhen. 

Ich  finde,  dass  Du  sehr  klug  gethan  hast,  meine  Oper 
bis  zum  nächsten  Jahr  aufzuschieben.  Auch  ich  bin  der 
Meinung,  dass  es  besser  sei,  sie  ohne  Uebereilung  einzu- 
studieren und  ganz  aufzuführen.  Dass  ich  sie  nicht  dem 
Petersburger  Konservatorium  anbieten  werde,  dessen  kannst 
Du  sicher  sein.  Bis  jetzt  hat  mich  Niemand  darum  gebe- 
ten, wenn  es  aber  Einer  thun  sollte,  werde  ich  selbst\'er- 
ständlich  abschlagen.  Die  Oper  ist  bereits  ganz  fertig.  Ich 
schreibe  jetzt  das  Textbuch  ab  und  werde — sobald  es  fer- 
tig— Alles  nach  Moskau  senden.  Ich  hoffe,  dass  dieser 
Brief  gerade  zur  ersten  Probe  der  Symphonie  bei  Dir  ein- 


—  453  — 

treffen  wird.  Das  Scherzo  macht  mir  grosse  Sorge.  Ich 
hatte  Dir,  glaube  ich,  geschrieben,  dass  es  je  schneller,  je 
Heber  gespielt  werden  soll.  Jetzt  will  es  mir  dagegen 
scheinen,  dass  man  es  nicht  allzuschnell  spielen  dürfe. 
Uebrigens,  ich  verlasse  mich  ganz  auf  Dein  Verständniss 
und  glaube,  dass  Du  besser  als  ich  das  richtige  Tempo 
finden  wirst. 

Deinen  Brief  habe  ich  soeben  zum  zweiten  Mal  durch- 
gelesen. Du  fragst,  ob  ich  Deine  Ratschläge  wünsche?  Selbst- 
redend wünsche  ich  sie. 

Du  weisst  sehr  gut,  dass  ich  stets  bereit  bin,  den  Rat 
eines  klugen  Freundes  anzuhören  und  zu  befolgen,  und 
dass  ich  Dich  oft  selbst  um  Deinen  Rat  ersucht  habe,  so 
wie  in  musikalischen  Dingen  desgleichen  auch  in  alltägli- 
chen Angelegenheiten.  In  jenem  Brief  haben  mich  nicht 
Deine  Ratschläge  verletzt,  sondern  der  trockne,  harte 
(wenigstens  kam  es  mir  so  vor)  Ton  Deiner  Worte,  der 
Vorwurf  der  Faulheit,  den  ich  zum  ersten  Mal  in  meinem 
Leben  zu  hören  bekommen  habe,  ferner  Deine  Vorausset- 
zung, dass  ich  nur  deshalb  nicht  nach  Paris  reisen  wollte, 
Aveil  ich  von  Frau  Meck  ohnehin  genug  Geld  zum  Lebens- 
unterhalt beziehe;  mit  einem  Wort:  Du  hast  die  wahren 
Gründe  meiner  Handlungsweise  garnicht  verstanden. 

Ich  bin  ein  fürchterlicher  Misantrop  geworden  und  den- 
ke mit  Schrecken  daran,  dass  ich  mein  jetziges  Leben,  in 
welchem  ich  mit  andern  Menschen  garnicht  in  Berührung 
komme,  nicht  ewig  fortsetzen  können  werde.  Trotzdem 
langweile  ich  mich  sehr  und  würde  gern  alle  Herrlichkeiten 
des  hiesigen  Klimas  und  der  hiesigen  Natur  hingeben,  um 
jetzt  in  Moskau  zu  sein,  welches  ich  von  ganzem  Herzen 
liebe.  Lebe  wohl,  mein  Freund,  und  grüsse  Alle". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„San-Remo,  d.  i.  Febr.  1878. 

Meine  teure  Freundin,  gestern  habe  ich's  vergessen, 
Ihnen  für  den  Schopenhauer  zu  danken  ').  Dieses  Buch 
(welches  übrigens  noch  nicht  angekommen  ist)  interessiert 
mich  sehr,  zumal  jetzt,  da  ich  Heute  erst  die  vollständig 
beendeten  Opernteile  nach  Moskau  abgeschickt  habe  und 
mich  nun  einige  Zeit  erholen  möchte. 

Haben  Sie  nicht  auch  schon  den  Gedanken  gehabt,  dass 
ich  jetzt — da  ich  wieder  vollständig  gesund  bin — eigentlich 

1)  „Die  Welt,  als  Wille  und  Vorstellung". 


—  454  — 

nach  Russland  zurückkehren,  meine  Konservatoriumspflich- 
ten und  überhaupt  die  aUe  Lebensweise  wieder  aufnehmen 
müsste?  Dieser  Gedanke  schiesst  mir  sehr  oft  durch  den 
Kopf;  es  ist  sehr  leicht  möglich,  dass  es  in  jeder  Bezie- 
hung gut  für  mich  wäre,  diesen  Gedanken  zur  That  zu 
machen.  Und  dennoch,  trotz  meiner  Anhänglichkeit  an 
Moskau  und  Sehnsucht  nach  Russland,  fiele  es  mir  jetzt 
sehr  schwer,  plötzlich  aus  der  Freiheit  und  Erholung, 
w^elche  ich  augenblicklich  geniesse,  in  meinen  Lehrerberuf 
zu  springen  und  zu  meinen  ziemlich  komplicierten  Be- 
ziehungen, kurz — zu  meiner  früheren  Lebensweise  zurück- 
zukehren. Ich  schaudere  geradezu  bei  diesem   Gedanken. 

Sagen  Sie  mir  Ihre  aufrichtige  Meinung.  Antworten  Sie 
mir  auf  diese  Frage,  ohne  daran  zu  denken,  dass  Sie  mir 
Geldunterstützungen  zukommen  lassen.  Der  Umstand  dass 
ich  Ihren  Reichtum  für  einen  Erholungsaufenthalt  im  Ausland 
ausnutze,  geniert  mich  wenig.  Ich  weiss  mit  welchen  Ge- 
fühlen mir  das  Geld  gegeben  wird,  und  ich  habe  mich 
schon  längst  daran  gewöhnt,  die  Sache  normal  zu  finden. 
Meine  Beziehungen  zu  Ihnen  treten  aus  dem  Rahmen  einer 
gewöhnlichen  Freundschaft  heraus.  Von  Ihnen  kann  ich 
ohne  jedes  unbehagliche  Gefühl  materielle  Unterstützungen 
annehmen.  Es  ist  also  etwas  Anderes. 

Seitdem  mir  Rubinstein  geschrieben  hatte,  dass  ich  mich 
allmälig  an  das  Nichtsthun  gewöhne  und  simuliere  (das  ist 
sein  Ausdruck),  quält  mich  einwenig  der  Gedanke,  dass 
es  vielleicht  in  der  That  meine  Pflicht  wäre,  jetzt — nach 
meiner  Gesundung — nach  Moskau  zu  eilen.  Bitte  helfen 
Sie  mir,  meine  liebe  Freundin,  diese  Frage  zu  lösen,  ohne 
Nachsicht  zu  üben. 

Anderseits,  wenn  man  mich  ein  halbes  Jahr  entbehren 
konnte,  so  werde  ich  jetzt — da  bis  zu  den  Ferien  nur  noch 
drei  Monate  übrig  geblieben  sind  —  wohl  auch  nicht  gar 
zu  sehr  vermisst  werden. — In  seinem  letzten  Brief  ermun- 
tert mich  Rubinstein  ebenfalls  zu  dem  Entschluss,  bis  zum 
September  hier  zu  bleiben,  auch  weiss  ich  positiv,  dass 
ich — sofern  meine  Schüler  durch  meine  Abwesenheit  in 
ihren  Fortschritten  gehemmt  worden  sind — die  Sache  doch 
nicht  mehr  wieder  gut  machen  kann.  Ausserdem  fürchte 
ich,  dass  meine  zerrütteten  Nerven  doch  noch  nicht  ge- 
nügend erstarkt  sind,  und  einige  Zeit  verstreichen  dürfte, 
che  ich  erfolgreichen  Unterricht  werde  geben  können.  Um 
alles  Obenerwähnte  zusammenzufassen:  dringenden  Falls 
könnte  ich  jetzt  schon   an  meine  gewöhnliche  Beschäfti- 


—  455  — 

gung  gehen,  es  würde  mir  aber  sehr  schwer  fallen,  denn 
ich  habe  grosse  Lust,  mich  noch  etwas  länger  zu  erholen, 
um  im  September,  als  ein  frischer  Mensch  zurückzukehren, 
welcher  vergessen  gelernt  hat,  so  weit  ein  Vergessen  solch 
trauriger  Ereignisse,  wie  sie  vor  einem  halben  Jahr  mein 
Leben  verdüstert  haben,  überhaupt  möglich  ist.  Eigentlich 
liegt  in  meiner  Bitte  ein  merkwürdiger  Widerspruch. — Ich 
ersuche  Sie,  mir  die  Wahrheit  zu  sagen,  ohne  sich  durch 
nebensächliche  Kalkulationen  beeinflussen  zu  lassen,  und 
die  Erfüllung  meiner  Pflichten  strikte  von  mir  zu  verlangen, 
gleichzeitig  aber  lesen  Sie  zwischen  den  Zeilen:  „Um  Got- 
tes Willen,  fordern  Sie  nur  nicht  von  mir,  dass  ich  jetzt 
nach  Moskau  reise,  denn  das  wird  mich  tief  unglücklich 
machen". 

Nun  ja,  es  ist  für  mich  einfach  ein  Bedürfniss,  von 
Ihnen,  meine  liebe  Freundin,  noch  einmal  zu  hören,  dass 
in  meiner  Erholung  und  in  meinem  Nicht sthun  (meinethal- 
ben!) durchaus  nichts  Tadelnswertes  liege,  und  dass  ich 
meine  Pflichten  nicht  vernachlässige,  indem  ich  mich  für 
Ihr  Geld  hier  aufhalte.  Erst  jetzt  habe  ich  das  unaus- 
sprechhche  Glück  schätzen  gelernt,  welches  mir  die  vier- 
monatliche Isohrtheit  von  meiner  gewöhnlichen  Sphäre 
und  das  Leben  in  der  Fremde  geboten  haben;  in  der  er- 
sten Zeit  hatte  ich  allerdings  manchmal  Heimweh,  so  dass 
selbst  Rom  mir  unerträglich  langweihg  vorkam,  jetzt  aber 
bin  ich  vollkommen  zufrieden.  Jedenfalls  bin  ich  gewillt, 
mein  dolce  far  niente  nicht  allzu  lange  auszudehnen.  Seien 
Sie  überzeugt,  dass  ich  vor  dem  Faulenzen  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes  einen  instinktiven  Abscheu  hege,  so  dass 
wenn  man  meine  jetzige  Lebensweise  „Faulenzen"  nennen 
kann  (denn  ich  arbeite  nicht  für  Andere,  sondern  für  mich 
selbst),  —  dieser  Zustand  nicht  lange  anhalten  dürfte.  Ich 
erinnere  mich,  Ihnen  aus  Florenz  einen  sehr  düsteren  Brief 
geschrieben  zu  haben,  denn  meine  Seele  war  damals  sehr 
verstimmt.  Selbstverständlich  ist  Florenz  nicht  im  minde- 
sten daran  schuld.  Jetzt,  da  ich  mich  ganz  gesund  fühle, 
ist  der  Wunsch  in  mir  aufgestiegen,  wieder  hin  zu  reisen, 
hauptsächhch,  weil  Modest  noch  niemals  in  Italien  gewe- 
sen war,  und  weil  ich  weiss,  welch  grossen  Genuss  ihm 
die  Kunstschätze  dieser  Stadt  bereiten  werden.  Er  ist  für 
plastische  Künste  viel  empfänglicher  als  ich  und  ich  glaube, 
dass  seine  Begeisterung  auch  mich  anstecken  wird.  Ich 
habe  also  beschlossen,  für  ungefähr  14  Tage  nach  Florenz 
zu  reisen,  dort  den  Frühlingsanfang  zu  erwarten  und  dann 


—  45б  — 

via  IMont-Cenis  in  die  Schweiz  hinüberzufahren.  Anfang 
April  will  ich  nach  Russland  abreisen,  wahrscheinlich  nach 
Kamenka,  wo  ich  bis  zum  September  bleiben  möchte. 

Ich  will  es  Ihnen  nicht  verschweigen,  meine  teure 
Freundin,  dass  das  Bewusstsein,  zwei  grosse  Werke  voll- 
endet zu  haben,  in  denen  ich,  wie  mir  scheint,  einen 
Schritt  vorwärts  gegangen  bin,  ein  grosses  Wohlbehagen 
für  mich  ist.  Bald  werden  die  Symphonieproben  beginnen. 
Wird  es  Ihnen  möglich  sein — vorausgesetzt  dass  Sie  bis 
dahin  wieder  gesund  sind — eine  der  Proben  zu  besuchen? 
Von  einem  neuen  umfangreichen  Werk  hat  man  viel  mehr, 
wenn  man  es  zwei  Mal  anhört.  Ich  wünschte  sehr,  dass 
Sie  Gefallen  an  der  Symphonie  finden!  Nach  einmahgem 
Anhören  kann  man  keinen  richtigen  Begriff  bekommen, 
erst  beim  zweiten  Mal  wird  einem  Alles  klar;  Vieles,  was 
zuerst  nur  vorbeigeglitten  war,  fällt  dann  besser  auf,  die 
Details  kommen  schöner  zur  Geltung,  die  wichtigeren  Ge- 
danken gewinnen  ihre  richtige  Bedeutung  gegenüber  allem 
Nebensächlichen.  Es  wäre  sehr  schön,  wenn  Sie  es  möglich 
machen  könnten. 

Was  die  Oper  anbelangt,  so  ist  es  mir  ganz  lieb,  dass 
sie  aufgeschoben  worden  ist.  Es  ist  besser,  wenn  sie  im 
nächsten  Jahr,  als  ungeteiltes  Ganze  gegeben  wird. 

Ich  befinde  mich  in  der  rosigsten  Stimmung.  Ich  bin 
glücklich,  dass  ich  die  Oper  beendet  habe,  ich  bin  glück- 
lich, dass  der  Frühling  bald  seinen  Einzug  halten  wird, 
ich  bin  glücklich,  dass  ich  gesund  und  frei  bin,  dass  ich 
mich  vor  unangenehmen  Begegnungen  sicher  fühle,  haupt- 
sächlich aber  bin  ich  glücklich,  in  Ihrer  Freundschaft  und 
in  der  Liebe  meiner  Brüder  feste  Lebensstützen  zu  besitzen, 
und  mir  der  Fähigkeit  bewusst  zu  sein,  mich  in  meiner 
Kunst  zu  vervollkommnen.  Wenn  sich  die  Umstände  gün- 
stig gestalten  (und  Heute  möchte  ich  daran  glauben),  dann 
kann  ich  mir  ein  gutes  Denkmal  schaffen.  Ich  hoffe,  dass 
das  nicht  Selbsttäuschung  ist,  sondern  eine  richtige  Schät- 
zung meiner  Kräfte. 

Ich  danke  Ihnen  für  Alles,  für  Alles!" 

An  A.  Tschaikowsk}^: 

„San-Remo,  d.  2.  Febr.  1878. 

Gestern  Abend  machte  ich  einen  Gang  nach  der  Stadt, 
um  einen  Brief  an  Dich  zur  Post  zu  tragen,  unterwegs 
begegnete  ich  dem  Postboten.  Er  hatte  auch  für  mich  einen 


—  457  — 

Brief.  Derselbe  war  aus  Nizza  von  Asantschewsk}^,  wel- 
cher mir  mitteilte,  dass  er  sich  sehr  freue,  mich  zu  sehen 
und  die  Absicht  habe,  morgen,  d.  h.  Donnerstag,  für  den 
ganzen  Tag  zu  mir  herüberzukommen.  Du  kennst  mich 
viel  zu  gut,  und  es  bedarf  daher  keiner  näheren  Erklärung 
dessen,  dass  mir  jener  „ganze  Tag"  nichts  weniger  als 
eine  angenehme  Aussicht  eröffnete.  Sofort  wurde  beschlos- 
sen, am  folgenden  Morgen  mit  Modest  und  Kolja  ebenfalls 
für  den  ganzen  Tag  nach  Monte-Carlo  zu  fahren.  Am  fol- 
genden Tag,  d.  h.  Heute  früh,  haben  wir  uns  denn  auch 
auf  den  Weg  gemacht.  An  der  Grenze  giebt  es  immer 
einen  langen  Aufenthalt;  da  begegnen  sich  zwei  Züge,  so 
dass  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen  schien,  dortselbst 
mit  Asantschewsky  zusammenzutreffen.  Ich  fürchtete  mich 
sehr  davor;  meine  Befürchtung  erwies  sich  aber  als  grund- 
los, denn  Asantschewsky  war  nicht  unter  den  Passagieren 
zu  sehen.  Gegen  drei  Uhr  trafen  wir  in  Monte-Carlo  ein. 
Nach  meiner  Meinung  ist  es  das  herrlichste  Stückchen 
Erde  in  der  ganzen  Welt.  Ich  habe  noch  nie  etwas  phan- 
tastisch Schöneres  gesehen.  Modest  hat  sein  Glück  im 
Spiel  versucht,  war  aber  vernünftig  genug  nach  der  Ein- 
busse  von  IQ  Eres,  aufzuhören.  Um  sieben  Uhr  abends  wa- 
ren wir  wieder  in  San-Remo.  Ich  muss  Dir  sagen,  dass 
ich  vor  der  Abfahrt  dem  Hotelwirt  und  der  ganzen  Be- 
dienung Ordre  gegeben  hatte,  Asantschewsky  zu  sagen, 
ich  sei  schon  vor  zwei  Tagen  nach  Genua  abgereist.  Als 
wir  uns  dem  Hause  näherten,  kam  uns  Monsieur  Joli  ent- 
gegengelaufen, ein  recht  lügenhaftes  Frah'^osenkerlchen. 
Er  hat  uns  aufgelauert,  um  uns  die  Mitteilung  zu  machen, 
dass  nicht  nur  Asantschewsky  selbst,  sondern  auch  dessen 
Frau  und  „un  general"  nach  San-Remo  gekommen  seien; ^ 
nicht  nur  gekommen,  sondern  sogar  bei  ihm  abgestiegen. 
Dieser  verdammte  Schweinekerl!  Vor  zwei  Wochen  ist  ein 
Mieter  bei  ihm  gestorben,  und  da  seither  Niemand  mehr 
Lust  hatte  bei  ihm  zu  wohnen,  so  wollte  er  die  Gelegen- 
heit wahrnehmen  und  die  reichen  Fremden  aus  Nizza, 
welche  in  einem  Wagen  gekommen  waren,  bei  sich  be- 
herbergen! Er  entschuldigte  sich  damit,  er  habe  nicht  ge- 
wusst,  dass  der  angekommene  Herr  gerade  jener  Asan- 
tschewsky sei;  das  war  jedoch  eine  Lüge,  denn  nach  dem 
Zeugniss  des  Dienstmädchens  soll  die  Frau  Asantschew- 
sky's  zuerst  nach  mir  gefragt  haben.  Asantschewsk}'  und 
„le  general"  (habe  keine  Ahnung  wer  das  sein  kann)  sol- 
len Mr.  Joli  sehr   zugesetzt  haben,   um  herauszukriegen, 


:-  458  - 

ob  ich  mich  nicht  verleugnen  lasse.  Joli  behauptet  zwar, 
er  habe  sie  vom  Gegenteil  überzeugt,  ich  zweifle  aber 
sehr,  ob  dieser  Hallunke  ihnen  am  Ende  doch  die  Wahr- 
heit gesagt  hat.  Du  kannst  Dir  denken,  wie  komisch  und 
unangenehm  zugleich  unsere  Lage  war!  Den  ganzen  Abend 
und  die  ganze  Nacht  befanden  W4r  uns  unter  einem  Ob- 
dach mit  Asantschewsky's,  während  diese  uns  in  Genua 
glaubten!  Ich  befürchtete  sehr,  dass  sie  noch  einen  Tag 
bleiben  würden.  Doch  sind  sie,  Gott  sei  Dank,  Heute  mit 
dem  ersten  Zug  wieder  abgereist....  Ungeachtet  meiner 
aufrichtigen  S\'mpatie  für  Asantschewsky,  spüre  ich  abso- 
lut keine  Gewissensbisse,  mich  vor  ihm  versteckt  zu  haben. 
War  es  aber  auch  in  der  That  nicht  etwas  unklug  seiner- 
seits, —  wissend,  dass  ich  mich  schon  seit  lange  hier  auf- 
halte, aber  ungeachtet  dessen  eine  Begegnung  mit  ihm 
ganz  und  garnicht  suchte,  —  dennoch  mir  seinen  Besuch 
aufzudrängen,  dazu  noch  in  Gesellschaft  eines  „general"? 
Ueberhaupt  habe  ich  jetzt  ein  für  alle  Mal  beschlossen, 
mich  garnicht  mehr  um  sogenannte  Anständigkeiten,  Höflich- 
keiten und  unerlässlichen  Verkehrsformen  der  menschlichen 
Gesellschaft  zu  kümmern,  sobald  sie  mir  lästig  zu  werden 
beginnen.  Ich  habe  mich  genug  danach  gestreckt!  Es  wird 
nun  Zeit,  den  Rest  meiner  Tage  in  Freiheit  zu  verleben, 
ohne  sich  der  Tyrannei  der  gesellschaftlichen  Beziehungen 
zu  unterwerfen.  Sage  mir  blos,  wie  kann  ein  Mensch,  M^el- 
cher  mich  aus  irgend  einem  Grunde  zu  sehen  oder  zu 
sprechen  wünscht,  so  naiv  sein  und  sich  einbilden,  dass 
mir  seine  Ge§|^nwart  ein  Vergnügen  ist?  Nicht  zu  reden 
von  Asantschewsky,  der  im  Grunde  ein  guter  und  Achtung 
verdienender  Mann  ist.  Dagegen  so  ein  N.,  dieses  freche 
Viehstück,  welches  während  seines  zweijährigen  Aufent- 
haltes in  Moskau  mich  nicht  ein  einziges  Mal  besucht  hatte 
und  sich  hier  trotzdem  herausnimmt,  mit  einem  Lächeln 
auf  den  Lippen  in  mein  Zimmer  zu  dringen  und  zu  glau- 
ben, dass  er  mir  mit  seinem  Besuch  die  herrlichste  Selig- 
keit biete. 

Uebrigens  habe  ich  die  Absicht,  aus  Florenz,  wo  wir 
in  einigen  Tagen  eintreffen  werden,  einen  freundlichen 
Brief  an  Asantschewsky  zu  richten  und  ihm  Alles  zu 
beichten". 


■ШШГ 


—  459  — 

VI. 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Pisa,  d.  8.  Febr.  1878. 

Pisa  gefällt  mir  sehr,  meine  teure  Freundin.  Wir  sind 
Gestern  Abend  angekommen.  Die  Reise  war  sehr  beschwer- 
lich; wir  mussten  schon  um  7  Uhr  fort  und  sind  ohne  Un- 
terbrechung volle  12  Stunden  unterwegs  gewesen.  In  Ge- 
nua hatten  wir  kaum  Zeit  in  einen  andern  Zug  zu  stei- 
gen. Wir  hatten  auch  von  Hunger  sehr  zu  leiden  gehabt, 
was  in  Italien  sehr  häufig  vorkommt,  denn  man  scheint 
garnicht  in  Berechnung  ziehen  zu  wollen,  dass  man  nicht 
immerzu  fahren,  fahren  und  fahren  kann,  und  das  es  nicht 
sonderlich  amüsant  ist,  blos  von  Orangen  zu  leben.  Kolja 
hat  mir  besonders  leidgethan.  Dazu  hat  es  den  ganzen 
Tag  geregnet,  so  dass  man  an  der  nebeligen  Landschaft 
auch  keine  Freude  zu  finden  vermochte.  Nachdem  wir 
Kolja  zu  Bett  gebracht,  unternahmen  wir  einen  Gang  durch 
die  Strassen  der  Stadt.  Wir  kehrten  auch  in's  Theater 
ein,  wo  Verdi'sOper  „La  forza  del  destino"  gegeben  wurde. 
Das  Theater  ist  ganz  neu,  erst  vor  kurzem  erbaut  und 
sehr  schön;  es  war  nur  wenig  Publikum  drin,  die  Sänger 
und  Sängerinnen  waren  nicht  einmal  mittelmässig,  die  Chöre 
und  das  Orchester — ganz  schlecht.  Es  kam  mir  sehr  merk- 
würdig vor,  dass  es  in  einer  so  kleinen  Stadt  ein  so  grosses 
Theater  giebt. 

Für  den  eintägigen  Besuch  einer  Stadt  war  das  Wetter 
Heute  wie  geschaffen.  Pisa  hat  auf  mich  dank  diesem  Umstand 
einen  sehr  günstigen  Eindruck  gemacht.  Zuerst  waren  wir 
in  den  Dom  gegangen.  Sind  Sie  jemals  in  Pisa  gewesen? 
Der  berühmte  schiefe  Turm  nnd  der  nicht  weniger  berühmte 
Campo-Santo  haben  meine  Erwartungen  bei  weitem  über- 
troffen. Der  Dom  ist  zwar  nicht  so  gross  und  nicht  so 
grandios  wie  der  Mailänder, — macht  aber  durch  sein  Aeusse- 
res  und  auch  durch  sein  Inneres  den  angenehmsten  Eindruck. 
Auch  der  Campo-Santo  ist  schön  mit  seinen  alten  Denk- 
mälern, Sarkophagen  und  heidnischen  Urnen.  Aber  der 
Gipfel  aller  Anmut,  Originalität  und  Schönheit  ist  der  Cam- 
panile.  Wir  waren  hinaufgeklettert.  Die  Fernsicht  von  der 
Höhe  des  Turmes  ist  entzückend.  Ich  will  nicht  verschwei- 
gen, dass  es  mir — obwohl  ich  das  Meer  sehr  gern  habe — 
ausserordentlich    angenehm  war,    eine    ausgedehnte    grü- 


—  фо  

nende  Ebene  zu  erblicken,  welche  am  Horizont  von  Ber- 
ten umschlossen  wird, — ^also  ohne  Meer.  Der  heutige  Mor- 
gen war  wundervoll, — einfach  unbeschreiblich!  Nach  dem 
gestrigen  Regen  schwebten  in  der  Atmosphäre  berauschen- 
de Frühlingslüfte.  In  allen  Kirchen  Pisa's  wurden  infolge 
der  soeben  eingetroffenen  Nachricht  von  der  Wahl  eines 
neuen  Papstes  sämtliche  Glocken  geläutet,  so  dass  die 
Luft  von  den  feierlichen  Klängen  erdröhnte.  Unten  auf 
dem  Platz,  welchen  die  drei  Sehenswürdigkeiten  Pisa's 
zieren,  d.  h.  der  Turm,  der  Dom  und  der  Campo-Santo, 
war  keine  Menschenseele  zu  sehen,  und  statt  auf  einen 
Strassendamm  blickte  man  auf  den  weichen  Teppich  einer 
frühlingsgrünen  Wiese,  hn  Grunde  ist  Pisa  eine  echte  Pro- 
vinzstadt, und  der  ungepflasterte  Platz  erinnert  mich  sehr 
an  eine  russische  Kleinstadt.  Das  verleiht  Pisa  einen  eigen- 
artigen Reiz.  Nach  dem  Frühstück  haben  wir  die  „Cas- 
cine"  besucht,  welche  aber  mit  den  köstlichen  „Cascine" 
von  Florenz  nichts  gemein  haben.  Dort  haben  wir  zwei 
Stunden  in  völliger  Einsamkeit  verbracht:  nicht  eine  ein- 
zige Equipage,  nicht  ein  einziger  Repräsentant  der  angel- 
sächsischen Rasse  war  zu  sehen.  Einen  prachtvollen  Tag 
habe  ich  hinter  mir". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Florenz,  d.  9.  Febr.  1878. 
Heute  sind  wir  in  Florenz  angekommen.  Eine  Hebe, 
sympatische  Stadt.  Mit  den  angenehmsten  Gefühlen  zog 
ich  in  Florenz  ein  und  dachte  daran,  wie  es  in  mir  aus- 
gesehen hatte,  als  ich  mich  vor  zwei  Monaten  in  diesem 
selben  Florenz  befand.  Welche  Veränderungen  sind  seit- 
her in  meiner  Seele  vor  sich  gegangen.  Welch  ein  trauriger 
und  kranker  Mensch  war  ich  damals,  —  und  wie  wohl 
fühle  ich  mich  jetzt,  welch  schönen  Tage  sind  mir  jetzt 
beschieden,  wie  fähig  bin  ich  wieder,  das  Leben  zu  lieben, 
das  schöne  üppige  Leben,  wie  es  in  Italien  gelebt  wird. 

Nachmittags  schlenderte  ich  durch  die  Strassen  der 

Stadt.  Es  war  sehr  schön!  Ein  warmer  Abend,  belebte 
Strassen,  hellerleuchtete  Schaufenster!  Wie  lustig  ist  es, 
ungekannt  und  unerkannt  mitten  im  Gedränge  zu  sein! 
Italien  beginnt  nach  und  nach  seine  bezaubernde  Wirkung 
auf  mich  auszuüben.  Ich  fühle  mich  hier  so  frei  und  in- 
mitten des  sprudelnden  Lebens  so  fröhlich  und  leicht! 

Aber  trotz   des  genussreichen  Lebens  in  Italien,  trotz 
seines  wohlthuenden  Einflusses  auf  mich — bin  und  bleibe 


—  ф1  — 

ich  meiner  Heimat  ewig  treu.  Wissen  Sie,  dass  ich  keinen 
Menschen  kenne,  der  in  Mütterchen  Russland  noch  ver- 
Hebter  wäre  als  ich.  Die  Verse  Lermontoff's,  welche  Sie 
mir  zugesandt  haben,  charakterisieren  sehr  treffend  nur 
eine  Seite  unserer  Heimat,  d.  h.  nur  jenen  intimen  Reiz^ 
welcher  in  der  bescheidenen,  etwas  kümmerlichen  und 
ärmlichen,  aber  freien  und  weiten  Natur  liegt.  Ich  gehe 
etwas  weiter.  Ich  liebe  leidenschaftlich  das  russische  Volk, 
die  russische  Sprache,  die  russische  Gesinnung,  die  Schön- 
heit des  russischen  Gesichtes  und  die  russischen  Sitten. 
Lermontoff  sagt  unverholen,  dass  „die  heiligen  Ueberliefe- 
rungen  der  dunklen  alten  Zeiten  Russlands  sein  Herz  nicht 
zu  rühren  vermögen.  Ich  liebe  aber  auch  diese  Ueberhe- 
ferungen.  Ich  denke,  dass  meine  Sympatien  für  den  orthodo- 
xen Glauben,  dessen  theoretischer  Teil  in  mir  schon  längst 
einer  tödtlichen  Kritik  unterlegen  ist,  sich  geradeswegs  von 
meiner  angeborenen  Verliebtheit  in  das  russische  Element 
überhaupt  herleiten  lassen.  Umsonst  würde  ich  mich  bemü- 
hen, meine  Verliebtheit  durch  diese  oder  jene  Eigenschaft 
des  russischen  Volkes  oder  des  russischen  Landes  zu  erklä- 
ren. Solche  Eigenschaften  würden  sich  zwar  gewiss  finden 
lassen,  aber  ein  Verliebter  sieht  doch  nicht  die  Eigenschat- 
ten des  Gegenstandes  seiner  Liebe,  denn  er  liebt  nur,  weil 
er  nicht  anders  kann,  als  lieben. 

Das  ist  der  Grund,  weshalb  mich  Diejenigen  auf  das 
tiefste  empören,  welche  bereit  sind,  in  irgend  einem  Win- 
kel von  Paris  Hungers  zu  sterben  und  mit  einem  gewissen 
Wonnegefühl  auf  alles  Russische  schimpfen,  welche  im 
Stande  sind,  ihr  ganzes  Leben  ohne  das  geringste  Bedauern 
im  Ausland  zu  verleben  mit  der  Begründung,  dass  es  in 
Russland  viel  weniger  Bequemlichkeiten  und  Comfort  gebe. 
Diese  Menschen  sind  mir  verhasst;  das,  was  mir  unsag- 
bar teuer  und  heilig  ist,  treten  sie  in  den  Schmutz. 

Doch  kehren  wir  zu  Italien  zurück.  Es  wäre  für  mich 
die  schrecklichste  Strafe,  für  ewig  an  das  wunderschöne 
Land  Italien  gefesselt  zu  werden;  ein  ander  Ding  ist  der 
zeitweilige  Aufenthalt  daselbst.  Das  italienische  Land,  das 
italienische  Klima,  so  wie  die  Kunstschätze  und  die  histo- 
rischen Denkmäler,  denen  man  auf  Schritt  und  Tritt  be- 
gegnet,— Alles  das  hat  für  den,  welcher  in  einer  Reise  Er- 
holung und  Zerstreuung  sucht,  gewiss  einen  unwidersteh- 
lichen Reiz,  wer  seinen  Kummer  vergessen,  seine  brennende 
Wunde  heilen  will,  der  gehe  nach  Italien,  denn  ein  besse- 
res und  für  die  Genesung  geeigneteres  Land  kann  es  nicht 


ф2    

geben.  Diese  Ueberzeugung  gewinnt  in  mir  so  sehr  an 
Boden,  dass  ich  schon  zu  überlegen  beginne,  ob  es  nicht 
besser  wäre,  anstatt  nach  der  Schweiz — nach  Neapel  zu 
fahren.  Dieses  Neapel  neckt  und  lockt  mich  unablässig! 
Uebrigens  bin  ich  noch  zu  keinem  Entschluss  gelangt.  Die 
Sache  will  noch  besser  überlegt  sein.  Selbstverständlich 
werde  ich  Sie  von  dem  Resultat  meines  Nachdenkens 
rechtzeitig  in  Kenntniss  setzen. 

Ist  Ihnen  jener  Brief,  in  welchem  ich  für  Sie  eine  kurze 
Uebersicht  der  Philosophie  Schopenhauer's  zusammenzu- 
stellen begonnen  hatte,  nicht  lächerlich  vorgekommen?  Es 
erweist  sich,  dass  Sie  sich  mit  dem  Gegenstand  bereits  ganz 
vertraut  gemacht  haben,  ehe  ich  an  den  eigentlichen  Sinn 
der  Sache,  d.  h.  die  Moral,  gekommen  bin.  Es  scheint  mir, 
dass  Sie  die  Bedeutung  seiner  merkwürdigen  Theorieen 
ganz  richtig  abgeurteilt  haben.  In  den  endgiltigen  Schluss- 
folgerungen liegt  etwas  Beleidigendes  für  die  menschliche 
Würde,  etwas  Trockenes  und  Egoistisches,  das  nicht  durch 
die  Liebe  zur  Menschheit  erwärmt  ist.  Uebrigens  -wie  ge- 
sagt— bin  ich  noch  nicht  am  Kern  der  Sache  angelangt.  In 
der  Begründung  seiner  Ansicht  über  die  Bedeutung  des 
Verstandes  und  des  Willens,  so  wie  ihres  gegenseitigen 
Verhältnisses,  liegt  sehr  viel  Wahrheit  und  sehr  viel  Scharf- 
sinn. Es  wundert  mich  sehr  (ebenso  wie  auch  Sie),  dass 
ein  Mensch,  welcher  selbst  nicht  den  Versuch  gemacht 
hat,  die  Theorie  des  strengsten  Asketismus  durchzuführen, 
allen  andern  Menschen  den  absoluten  Verzicht  auf  alle 
Freuden  des  Lebens  predigt.  Jedenfalls  interessiert  mich 
das  Buch  ausserordentlich,  und  ich  hoffe  nach  gründlichem 
Studium  desselben  ausführlicher  mit  Ihnen  darüber  zu  re- 
den. Einstweilen  nur  noch  eine  Bemerkung:  wie  kann  ein 
Mann,  der  dem  menschlichen  Verstand  einen  so  unter- 
geordneten Platz  einräumt,  eine  so  abhängige  Rolle  bei- 
misst,  gleichzeitig  so  stolz  und  selbstbewusst  an  die  Un- 
fehlbarkeit seines  eignen  Verstandes  glauben  und  mit  solch 
einer  Verachtung  von  allen  andern  Theorieen  sprechen, 
alswenn  er  der  einzige  Verkünder  der  Wahrheit  wäre? 
Welch  ein  Widerspruch!  Auf  Schritt  und  Tritt  davon  zu 
reden,  dass  die  Denkfähigkeit  des  Menschen  etwas  Zufäl- 
liges, eine  Funktion  des  Gehirns  (also  eine  physiologische 
Funktion)  und  ebenso  unvollkommen  und  schwach  sei, 
wie  alles  Uebrige  im  Menschen,  —  und  dabei  seinen  eig- 
nen Denkprocess  so  hoch,  so  unerreichbar  hoch  zu  stel- 
len! Ein  Philosoph,  welcher  gleich  Schopenhauer  so  weit 


—  463  — 

gekommen  ist,  im  Mensciien  nichts  anderes  als  den  instink- 
tiven Willen  zum  Leben  zwecks  Erhaltung  der  Rasse  zu- 
sehen,— müsste  vor  allen  Dingen  die  vollständige  Nutzlo- 
sigkeit jeglichen  Philosophierens  anerkennen.  Einer,  der 
zur  Ueberzeugung  gelangt  ist,  dass  es  am  besten  sei — nicht 
zu  leben,  der  müsste  selbst  versuchen,  nicht  zu  leben,  d. 
h.  sich  verbergen,  sich  vernichten  und  diejenigen  in  Ruhe 
lassen,  welche  Lust  zum  Leben  haben.  Es  ist  mir  bis  jetzt 
noch  nicht  klar  geworden,  ob  er  glaubt,  der  Menschheit 
durch  seine  Philosophie  einen  grossen  Dienst  erwiesen 
zu  haben.  Was  brauchte  er  uns  zu  beweisen,  dass  es  ei- 
gentlich nichts  Kläglicheres  geben  könne,  als  das  Leben? 
Wenn  schon  der  Selbsterhaltungstrieb  wirklich  so  stark  in 
uns  arbeitet,  wenn  schon  keine  Gewalt  im  Stande  ist,  die 
Liebe  zu  unserm  idividuellen  Leben  in  uns  abzuschwä- 
chen,—  was  braucht  er,  dasselbe  durch  seinen  Pessimis- 
mus zu  vergiften?  Was  kann  das  für  einen  Nutzen  haben? 
Es  könnte  fast  scheinen,  als  wenn  er  den  Selbstmord  ver- 
herrlichen wolle,  doch  ist  dem  nicht  so,  denn  er  verwirft 
den  Selbstmord.  Alles  das  sind  Fragen,  welche  ich  mir 
vorlege,  welche  ich  aber  wahrscheinUch  erst  nach  Durch- 
lesen des  ganzen  Buches  werde  beantworten  können. 

Sie  fragen,  ob  mir  die  nicht — platonische  Liebe  bekannt 
sei?  Ja  und  nein.  Wenn  die  Frage  etwas  anders  lauten 
würde,  d.  h.  wenn  Sie  mich  fragen  wollten,  ob  ich  das 
vollkommene  Glück  in  der  Liebe  gefunden  habe,  so  würde 
ich  antworten:  nein  und  abermals  nein.  Uebrigens  glaube 
ich,  dass  die  Antwort  aut  diese  Frage  schon  aus  meiner 
Musik  herausgehört  werden  kann.  Wenn  Sie  mich  aber 
fragen  würden,  ob  ich  die  ganze  Macht  und  die  hehre 
Glut  jenes  Gefühls  begriffen  habe,  so  müsste  ich  antwor- 
ten: ja,  ja,  ja,  denn  gar  oft  habe  ich  den  Versuch  gemacht, 
die  Qualen  und  die  Seligkeiten  der  Liebe  in  der  Musik 
zum  Ausdruck  zu  bringen.  Ob  es  mir  gelungen — weiss  ich 
nicht,  oder,  vielmehr,  ich  "Stelle  es  Anderen  anheim,  darü- 
ber zu  urteilen.  Ich  bin  mit  Ihnen  garnicht  einverstanden, 
dass  die  Musik  nicht  im  Stande  sein  solle  die  allumfassen- 
den Eigenschaften  des  Gefühls  der  Liebe  wiederzugeben. 
Ich  denke — ganz  im  Gegenteil,  dass  nur  die  Musik  solches 
vermag.  Sie  sagen,  hier  seien  Worte  nötig.  О  nein!  gerade 
Worte  sind  hier  entbehrlich,  und  dort  w^  sie  keine  Macht 
haben,  erscheint  in  voller  Rüstung  eine  beredtere  Sprache: 
die  Musik.  Schon  die  dichterische  Form,  zu  welcher  die 
Poeten  ihre  Zuflucht  nehmen,  wenn  sie  die  Liebe  besingen 


—  464  — 

wollen,  ist  eigentlich  eine  Usurpation  der  Sphäre,  welche 
ungeteilt  der  Musik  angehört.  Worte,  welche  in  Verse 
gekleidet  sind,  haben  aufgehört  blosse  Worte  zu  sein:  sie 
sind  schon  zum  Teil  Musik.  Als  besten  Beweis  dafür,  dass 
Verse,  in  welchen  von  Liebe  die  Rede  ist,  eigentlich  mehr 
Musik  als  Worte  sind,  kann  ich  Ihnen  die  Thatsache  an- 
führen, dass  derartige  Gedichte — wenn  man  sie  aufmerk- 
sam durchliest,  und  zwar  als  Worte,  nicht  als  Musik, — 
fast  garkeinen  rechten  Sinn  haben.  Und  dennoch  haben 
sie  einen  Sinn,  und  sogar  einen  sehr  tiefen  Sinn  (zum 
Beispiel  bei  Fet,  den  ich  sehr  gern  habe),  nur  keinen  lite- 
rarischen, sondern  einen  rein  musikahschen  Sinn. 

Es  gefällt  mir  sehr,  dass  Sie  die  instrumentale  Musik 
so  hoch  stellen.  Ihre  Bemerkung,  dass  Worte  der  Musik 
oft  störend  sind  und  sie  von  ihrer  Höhe  herabziehen, — ist 
ganz  richtig.  Das  habe  ich  stets  sehr  intensiv  empfunden, 
vielleicht  liegt  darin  der  Grund,  dass  mir  instrumentale  Kom- 
positionen verhältnissmässig  besser  gelingen  als  vokale". 

Am  IG.  Februar  wurde  im  10.  S3^mphoniekonzert  der 
Russischen  Musikalischen  Gesellschaft  die  4.  Symphonie 
Peter  Iljitsch's  zum  ersten  Mal  aufgeführt.  Jenen  Eindruck, 
auf  welchen  der  Komponist  mit  Sicherheit  gehofft  hatte, 
hat  sie  nicht  hervorzubringen  vermocht.  Die  grosse  Mehr- 
zahl der  Zeitungen  haben  sie  mit  Schweigen  übergangen. 
Die  wenigen  vorhandenen  Berichte  bestätigen  nur  einen 
mittelmässigen  Erfolg  des  Werkes  selbst,  so  wie  seiner 
Wiedergabe. 

An  Frau  von  Meck: 

„Florenz,  d.  12.  Febr.  1878. 

Gestern  früh  traf  Ihr  Telegramm  hier  ein,  meine  teure 
Freundin.  Es  hat  mir  eine  grosse  Freude  bereitet.  Ich  war 
sehr  gespannt  zu  erfahren,  wie  Ihnen  die  Symphonie  ge- 
fallen würde.  Zwar  würden  Sie  mir  wahrscheinlich  auch 
dann  ein  freundschaftliches  Zeichen  Ihrer  Teilnahme  ge- 
schickt haben,  wenn  Ihnen  das  Stück  nicht  besonders  ge- 
fallen hätte;  aus  dem  Ton  des  Telegramms,  d.  h.  aus  der 
ganzen  Redaktion  desselben,  ersehe  ich  jedoch  klar,  dass 
Sie  mit  dem  Ihnen  gewidmeten  Werk  in  der  That  zufrie- 
den geblieben  sind.  Es  berührt  mich  einigermaassen  merk- 
würdig, dass  keiner  von  meinen  Moskauer  Freunden  es 
bis  jetzt  für  notwendig  gehalten  hat,  mir  irgend  eine  Nach- 
richt in  Betreff  der  Symphonie  zukommen  zu  lassen,  trotz- 


—  465  — 

dem  ich  die  Partitur  schon  vor  anderthalb  Monaten  hin- 
geschickt habe.  Gleichzeitig  mit  Ihrem  Telegramm  erhielt 
ich  ein  anderes,  das  von  Rubinstein  und  allen  Andern  ge- 
zeichnet war.  Aber  in  diesem  Telegramm  wird  nur  erwähnt, 
dass  die  Symphonie  eine  ausgezeichnete  Wiedergabe  er- 
fahren hat.  Kein  Wort  über  ihre  Vorzüge.  Vielleicht  sollte 
sich  das  von  selbst  verstehen.  Ich  danke  Ihnen  für  die 
Nachricht  über  den  Erfolg  „meines  liebsten  Kindes"  und 
für  die  warmen  Worte  des  Telegramms. 

In  Gedanken  befand  ich  mich  mit  im  Konzertsaal;  ich 
hatte  mir  bis  auf  die  Minute  ausgerechnet,  wann  die  Ein- 
leitungsphrase erklingen  musste,  und  suchte  mir  dann — 
alle  Einzelheiten  verfolgend — zu  vergegemvärtigen,  welchen 
Eindruck  meine  Musik  macht.  Der  erste  Satz  (der  kompli- 
zierteste, aber  auch  der  beste)  ist  w^ahrscheinhch  Vielen 
zu  lang  und  beim  erstmaligen  Hören  wenig  verständhch 
vorgekommen.  Die  andern  Sätze  sind  einfach. 

Ich  setze  fort,  mich  in  Florenz  wohl  zu  befinden  und 
dieser  Stadt  alle  meine  Sympatieen  zuzuwenden.  Der 
Frühling  ist  zwar  noch  nicht  da,  rückt  aber  mit  Riesen- 
schritten heran.  In  den  Strassen  werden  sehr  viel  Blumen 
verkauft,  darunter  auch  meine  Lieblinge — die  Maiblumen, 
welche  garnicht  mal  teuer  sind.  Schon  allein  der  Anblick 
dieser  Blumen,  welche  augenblicklich  meinen  Tisch  zieren, 
genügt,  um  Lust  und  Liebe  zum  Leben  anzufachen.  Heute 
ist's  Feiertag,  und  Avir  waren  nach  Bello  Sguardo  gefahren, 
einem  ausserhalb  der  Stadt  liegenden  Ort,  von  wo  aus 
man  einen  herrlichen  Blick  auf  Florenz  und  seine  Umge- 
bungen geniesst. 

Von  da  aus  begaben  wir  uns  nach  Certosa  (Chartreuse). 
Herr  Gott,  was  ist  das  doch  für  eine  Pracht!!!  Erstens  ist 
der  Ort  selbst,  wo  sich  das  Kloster  befindet,  ganz  ent- 
zückend schön.  Zweitens  giebt  es  da  eine  Unmenge  von 
Denkmälern  des  Altertums,  namentlich  antiker  Gräber.  Die 
Hauptkirche  ist  wunderbar  schön.  Dieses  Kloster  ist  aus 
irgend  einem  Grunde  bis  jetzt  noch  nicht  säcularisiert,  so 
dass  da  viele  Mönche  wohnen,  unter  denen  man  sehr  in- 
teressante Typen  sieht.  Der  Garten  ist  herrlich,  und  ich 
konnte  nicht  umhin,  einen  alten  Mönch  zu  beneiden,  wel- 
cher mit  einem  Buch  in  der  Hand  eine  schattige  Allee 
entlangschritt,  und  in  dem  Bewusstsein,  fern  von  dem  städ- 
tischen Getriebe  zu  sein,  die  absolute  Ruhe  um  sich  so 
recht  zu  geniessen  schien.  Nach  Hause  zurückgekehrt,  haben 
wir  uns  noch  die  grossartige  Prozession  angeschaut,  welche 

Tschaikowaky,  M.  P.  I,  ТасЬа1кол\'зку*8  Leben,  30 


—  4б6  — 

dem  Sarg  des  Fürsten  Strozzi  lolgte,  eines  vor  einigen 
Tagen  verstorbenen  und  heute  mit  viel  Pomp  beerdigten 
Senators. 

Vorgestern — nachdem  ich  Ihnen  meinen  Brief  abgeschickt 
hatte  —  überfiel  mich  plötzlich  eine  fürchterliche  Verstim- 
mung, die  ich  den  ganzen  Tag  hindurch  nicht  los  werden 
konnte.  Ich  forschte  gründlich  nach  ihrer  Ursache  und 
entdeckte  sie  auch  sehr  bald.  Es  waren  einfach  Gewissens- 
bisse, die  mich  infolge  meines  Nichtsthuens  quälten.  Ich 
gab  mir  grosse  Mühe,  mich  mit  dem  Gedanken  zu  trösten, 
dass  ich  nach  der  Vollendung  zweier  grossen  Werke  wohl 
einiges  Recht  haben  dürfte,  mich  ein  wenig  der  Erholung 
und  der  Faulenzerei  hinzugeben,  —  doch  mein  Gewissen 
liess  sich  nicht  beruhigen  und  quälte  mich  nach  wie  vor. 
Endlich  kam  ich  zu  der  Ueberzeugung,  dass  ich  eine  neue 
Arbeit  beginnen  müsste.  Doch  was?  Für  eine  grosse  Kom- 
position bedarf  ich  der  Einsamkeit;  folglich  muss  ich  bis 
zum  Herbst  warten.  Aber  nichts  hindert  mich,  eine  ganze 
Reihe  kleinerer  Stücke  zu  verfassen,  so  dass  ich  den 
Entschluss  gefasst  habe,  jeden  Vormittag  irgend  eine  Klei- 
nigkeit zu  schreiben.  Gestern  komponierte  ich  eine  Romanze, 
heute  ein  Klavierstück,  und  siehe — die  fröhüche  Stimmung 
ist  wieder  da. 

Ich  habe  beschlossen,  nicht  nach  Neapel  zu  reisen.  Er- 
stens ist  es  zu  weit  und  zweitens  ist  es  sehr  unbequem, 
mit  einem  Pflegekind,  welches  dazu  noch  taubstumm  ist 
ein  Touristenleben  zu  führen  (anders  hätte  es  ja  keinen 
Sinn,  einen  Monat  in  Neapel  zuzubringen).  Ausserdem 
möchte  ich  meinen  Bruder  nicht  von  seiner  Arbeit  ablen- 
ken (er  schreibt  an  einer  Novelle).  In  Neapel  kann  man 
nicht  arbeiten.  So  wollen  wir  denn  einstweilen  in  Florenz 
bleiben,  und  vielleicht  später  nach  Como  und  in  die  Schweiz 
reisen.  Ich  hoffe  im  April  wieder  nach  Russland  zu- 
rückzukehren. 

Mit  Schopenhauer  bin  ich  noch  nicht  durch  und  spare 
mir  den  Bericht  darüber  für  einen  späteren  Brief  auf.  Bin 
zwei  Mal  mit  meinem  Bruder  im  Uffizzi  und  Palazzo  Pitti 
gewesen.  Dank  Modest  habe  ich  ausserordentliche  künstle- 
rische Eindrücke  in  mich  aufgenommen.  Er  selbst  schwamm 
geradezu  in  einem  Meer  von  Wonne  über  die  Meisterwerke 
Rafael's,  Leonardo  da  Vinci's  u.  s.  w.  Auch  haben  wir  eine 
Bilderausstellung  modernerer  Richtung  besucht  und  einige 
ausgezeichnete  Werke  darin  gefunden.  Wenn  ich  nicht 
irre,  geht  in   der  neueren  italienischen  Malerei  der  Geist 


—  467  — 

des  Realismus  um.  Alle  Bilder  der  gegenwärtigen  Künst- 
ler, die  ich  hier  zu  sehen  bekommen  habe,  zeichnen  sich 
mehr  durch  wahrheitsgetreue  Wiedergabe  aller  Einzelhei- 
ten, als  durch  tiefe  und  poetische  Gedanken  aus.  Die  Fi- 
guren sind  sehr  lebendig,  selbst  bei  ganz  einfacher  Kon- 
zeption: ein  Page,  welcher  einen  Vorhang  aufzieht;  der 
Page  und  der  Vorhang  sind  so  real,  dass  man  unwillkür- 
lich die  Bewegung  erwarten  möchte;  eine  pompejanische 
Frau,  die  in  einem  antiken  Sessel  lehnend,  in  ein  geradezu 
homerisches  Gelächter  ausgebrochen  ist;  man  möchte  wahr- 
haftig selbst  mit  lachen.  Alles  das  erhebt  nicht  den  An- 
spruch auf  Gedankentiefe,  aber  Zeichnung  und  Kolorit  sind 
erstaunlich  wahr. 

Mit  der  Musik  steht  es  schlecht  in  Italien.  So  eine  Stadt 
wie  Florenz  hat  zum  Beispiel  keine  Oper,  d.  h.  Theater 
giebt  es  genug,  sie  stehen  aber  unbenutzt,  denn  es  findet 
sich  kein  Unternehmer". 

An  Frau  von  Meck: 

„Florenz,  d.  16.  Febr.  1878. 

Welch  Hebe  Stadt  ist  Florenz! 

Je  länger  man  darin  wohnt,  umso  mehr  wächst  es 
Einem  ans  Herz.  Es  ist  nicht  so  geräuschvoll  wie  eine 
Grossstadt,  dafür  aber  von  einer  Fülle  künstlerischer  Ge- 
genstände, dass  man  garkeine  Zeit  hat  sich  zu  langweilen. 
Wir  besichtigen  die  Sehenswürdigkeiten  ohne  Uebereilung, 
ohne  aus  einem  Museum  ins  andere  zu  laufen.  Jeden  Mor- 
gen sehen  wir  uns  Etwas  an  und  kehren  gegen  11  Uhr 
nach  Hause  zurück.  Von  11 — i  Uhr  arbeite  ich,  d.  h. 
schreibe  entweder  ein  kleines  Klavierstück  oder  ein  Lied. 
Nach  dem  Frühstück  besuchen  wir  die  Uffizzi,  oder  den 
Palazzo  Pitti,  oder  auch  die  Akademie;  von  dort  gehen 
wir  zu  Fuss  nach  den  „Cascine",  welche  mit  jedem  Tag 
mehr  ihre  Pracht  entfalten.  Nachmittags  schlendern  wir 
durch  die  sehr  belebten  Strassen.  Den  Rest  des  Tages 
verbringe  ich  mit  Lesen  oder  Briefschreiben.  Musik  giebt 
es  hier  garnicht.  Beide  Operntheater  sind  geschlossen,  und 
das  ist  für  mich  eine  grosse  Entbehrung.  Manchmal  habe 
ich  eine  solche  Lust  etwas  Musik  zu  hören,  dass  ich  sogar 
gern  mit  einem  Troubadour  oder  einer  Traviata  vorlieb 
nehmen  würde.  Aber  auch  das  giebt  es  hier  nicht. 

Von  Allem,  was  ich  hier  gesehen,  hat  auf  mich  die  Ka- 
pelle der  Medici  in  S.-Lorenzo  den  grössten  Eindruck  ge- 


—  4б8  — 

macht.  Sie  ist  kolossal,  schön  und  grandios.  Hier  erst  habe 
ich  zum  ersten  Mal  die  ganze  Grösse  des  Namens  Michel- 
angelo begriffen.  Ich  finde  in  ihm  eine  gewisse  geistige 
Verwandschaft  mit  Beethoven.  Dieselbe  Breite  und  Kraft, 
derselbe  Wagemut,  welcher  oft  die  Grenze  des  Hässlichen 
streift,  dieselben  düstern  Stimmungen.  Uebrigens  ist  die- 
ser Vergleich  vielleicht  nicht  neu.  Ich  habe  einen  sehr 
geistreichen  Vergleich  Rafael's  mit  Mozart  gelesen.  Ob 
aber  Michelangelo  mit  Beethoven  jemals  verglichen  wor- 
den ist — weiss  ich  nicht. 

Schopenhauer  habe  ich  durchgelesen.  Ich  weiss  nicht, 
welchen  Eindruck  diese  Philosophie  auf  mich  gemacht 
hätte,  wenn  sie  mir  zu  einer  andern  Zeit,  an  einem  an- 
dern Ort  und  unter  andern  Umständen  zu  Gesicht  ge- 
kommen wäre.  Hier  ist  sie  mir  als  ein  geistreiches  Para- 
doxon erschienen.  Ich  glaube,  dass  am  wenigsten  stichhal- 
tig Schopenhauer  in  seinen  endgiltigen  Schlussfolgerungen 
ist.  Solange  er  den  Beweis  führt,  dass  es  besser  sei  nicht 
zu  leben,  sagt  sich  der  Leser:  er  hat  allerdings  recht,  was 
soll  ich  aber  thun?  In  der  Antwort  dieser  Frage  erweist 
sich  Schopenhauer  schwach.  Im  Grunde  läuft  seine  Theo- 
rie sehr  logisch  in  den  Selbstmord  hinaus.  Doch  erschrickt 
Schopenhauer  offenbar  vor  diesem  gefährlichen  Mittel 
die  Last  des  Lebens  abzuschütteln,  und  wagt  es  nicht, 
den  Selbstmord  als  Universalmittel  für  die  Durchführung 
seiner  Philosophie  in  der  Praxis  zu  empfehlen,  dabei  ver- 
hert  er  sich  in  sehr  kuriose  Sophismen  und  versucht  zu 
beweisen,  dass  Einer,  der  sich  das  Leben  nimmt  dadurch 
nur  seine  Lust  zum  Leben  unterstreicht.  Das  ist  weder 
folgerichtig  noch  geistreich.  Was  „Nirvana"  anbelangt,  so 
ist  das  ein  solcher  Unsinn,  von  dem  zu  reden  nicht  der 
Mühe  wert  ist.  Wie  dem  auch  sei,  ich  habe  Schopenhauer's 
Buch  dennoch  mit  grossem  Interesse  durchgelesen  und 
vieles  Geistreiche  darin  gefunden.  Seine  Definition  der 
Liebe  ist  sehr  originell  und  neu,  obwohl  einige  Ausführ- 
lichkeiten in  der  Beweisführung  entstellt  und  verzerrt  wor- 
den sind.  Sie  haben  sehr  recht,  wenn  Sie  sagen,  dass  man 
an  der  Aufrichtigkeit  eines  Philosophen  zweifeln  müsse, 
welcher  uns  lehrt,  alle  Freuden  des  Lebens  zu  verneinen 
und  jede  Fleischeslust  abzutödten,  welcher  aber  selbst 
ohne  die  geringsten  Gewissensbisse  bis  zum  letzten  Tage 
seines  Lebens  alle  Annehmlichkeiten  des  Lebens  genossen 
und  es  wohlverstanden  hat,  seine  Geschäfte  vorteilhaft  zu 
arrangieren". 


—  469  — 

An  Frau  von  Meck: 

„Florenz,  d.  17.  Februar  1878. 

Wie  viel  Freude  hat  mir  Ihr  heutiger  Brief  gebracht, 
teuerste  Nadeshda  Filaretownal  Maasslos  glücklich  bin  ich, 
dass  Ihnen  die  SN^nphonie  gefallen  hat,  dass  Sie  beim  An- 
hören derselben  auch  jene  Gefühle  empfunden  haben,  die 
mich  während  der  Arbeit  erfüllten  und  dass  Sie  meine 
Musik  in  Ihr  Herz  geschlossen  haben. 

Sie  fragen  ob  mir  bei  der  Komposition  dieser  Sym- 
phonie ein  bestimmtes  Programm  vorgeschwebt  hätte.  Auf 
derartige  Fragen  pflege  ich  gewöhnlich  mit  Nein  zu  ant- 
worten. In  der  That  ist  es  sehr  schwer  eine  Antwort  auf 
diese  Frage  zu  geben.  Wie  soll  man  alle  jene  unbestimmten 
Gefühle,  welche  Einen  während  der  Komposition  eines 
Instrumentalwerks  ohne  besonderen  Namen  erfüllen,  wie- 
dergeben? Das  ist  ein  rein  13'rischer  Vorgang.  Das  ist  die 
musikalische  Beichte  der  Seele,  in  welcher  sich  viel  Stoff 
angesammelt  hat  und  nun  in  Töne  ausfliesst,  ähnlich  wie 
ein  lyrischer  Dichter  sich  in  Versen  ausspricht.  Der  Un- 
terschied liegt  nur  darin,  dass  die  Musik  unvergleichlich 
reichere  Mittel  besitzt  und  eine  feinere  Sprache  ist  für  den 
Ausdruck  der  tausendfältig  verschiedenen  Momente  einer 
Seelenstimmung.  Gewöhnlich  erscheint  der  Kern  des  kom- 
menden Werkes  urplötzlich,  ganz  unerwartet;  wenn  dieser 
Kern  auf  fruchtbaren  Boden  fällt,  d.  h.  wenn  die  Lust  zur 
Arbeit  da  ist,  dann  fasst  er  mit  unglaubhcher  Kraft  und 
Schnelligkeit  Wurzel,  schiesst  aus  der  Erde  hervor,  treibt 
Zweige,  Blätter  und  endlich  Blüten.  Ich  kann  den  schöp- 
ferischen Prozess  nicht  anders  veranschaulichen,  als  durch 
diesen  Vergleich.  Die  grösste  Schwierigkeit  liegt  darin, 
dass  der  Kern  unter  günstigen  Verhältnissen  erscheint, 
alles  Uebrige  geschieht  dann  von  selbst.  Umsonst  würde 
ich  mich  bemühen  jenes  unermessliche  Wohlgefühl  in  Worte 
zu  kleiden,  welches  mich  überkommt,  sobald  ein  neuer 
Gedanke  in  mir  auftaucht  und  wachsend  bestimmte  For- 
men anzunehmen  beginnt.  Ich  vergesse  dann  Alles,  geberde 
mich  wie  ein  Verrückter,  Alles  in  mir  pulsiert  und  zittert, 
kaum  beginne  ich  die  Skizzen,  als  auch  schon  Tausende 
von  Details  durch  den  Kopf  jagen.  Inmitten  dieses  zauberhaf- 
ten Vorgangs  kommt  es  oft  vor,  dass  irgend  ein  Stoss  von 
Aussen  mich  aus  meinem  Somnambulismus  reisst,  z.  B. 
wenn  plötzlich  Jemand  klingelt,  oder  wenn  der  Diener  ins 
Zimmer  tritt,  oder  wenn  die  Uhr  schlägt  und  mich  daran 


—  470  — 

erinnert,  dass  es  Zeit  ist  abzubrechen....  Solche  Störungen 
sind  geradezu  fürchterhchl 

Manches  Mal  wird  die  Inspiration  dadurch  für  längere 
Zeit  verscheucht,  so  dass  ich  sie  wieder  suchen  muss,  — 
wie  oft  vergebens.  In  diesem  Fall  muss  der  kühle  Ver- 
stand und  das  technische  Können  zu  Hilfe  genommen  wer- 
den. Selbst  bei  den  grössten  Meistern  finden  sich  solche 
Momente,  da  die  organische  Verbindung  fehlt  und  an  ihre 
Stelle  die  künsthche  Nath  tritt,  so  dass  Theile  eines  Gan- 
zen gewissermaassen  zusammengeleimt  erscheinen.  Das  ist 
aber  nicht  zu  umgehen.  Wenn  jene  Seelenstimmung  eines 
Künstlers,  welche  Inspiration  heisst  und  welche  ich  eben 
zu  beschreiben  versucht  habe,  lange  Zeit  ohne  Unterbrechung 
andauern  Avürde,  so  könnte  man  nicht  einen  einzigen  Tag 
überleben.  Die  Saiten  würden  zerreissen  und  das  Instru- 
ment in  tausend  Stücke  zerspringen.  Es  ist  schon  gut,  wenn 
die  Hauptgedanken  und  die  allgemeinen  Umrisse  der  Kom- 
position nicht  mittelst  „Suchens^''  gefunden  werden,  sondern 
unter  dem  Einfluss  jener  übernatürlichen,  unerklärlichen 
Kraft,  welche  Inspiration  heisst,  von  selbst  erscheinen. 

Doch  bin  ich  vom  Wege  abgewichen.  Für  unsere  Sym- 
phonie giebt  es  wohl  ein  Programm,  d.  h.  es  ist  die  Mö- 
glichkeit vorhanden,  ihren  Inhalt  in  W^orte  zu  fassen,  und 
ich  will  Ihnen,  aber  auch  nur  Ihnen  allein  die  Bedeutung 
des  ganzen  Werkes,  so  лvie  seiner  einzelnen  Abschnitte 
mitteilen.  Selbstverständlich  kann  ich  das  nur  in  ganz 
allgemeinen  Strichen  thun. 

Die  Introduktion  ist  der  Kern  der  ganzen  Symphonie, 
der  Hauptgedanke. 


Das  ist  das  Fatum,  jene  verhängnisvolle  Macht,  welche 
den  Drang  nach  Glück  hindert  sein  Ziel  zu  erreichen, 
welche  eifersüchtig  dafür  sorgt,  dass  das  Wohlgefühl  und 
die  Ruhe  nicht  überhand  nehmen,  dass  der  Himmel  nicht 
wolkenfrei  werde, — eine  Macht,  welche,  W4e  ein  Damokles- 
schwert beständig  über  dem  Kopf  schwebt,  welche  un- 
ausgesetzt die  Seele  vergiftet.  Diese  Macht  ist  überwälti- 
gend und  unbesiegbar.  Es  bleibt  Nichts  übrig,  als  sich  ihr 
zu  unterwerfen  und  erfolglos  zu  klagen. 


u.  s.  w. 


—  471  — 

Das  Gefühl  der  Niedergeschlagenheit  und  der  Hoff- 
nungslosigkeit wird  immer  stärker,  immer  brennender.  Ist 
es  nicht  besser,  sich  von  der  Wirklichkeit  abzuwenden 
und  sich  in  Träume  einzuwiegen: 


Oh,  Freude!  welch'  zarter,  welch'  süsser  Traum  ist 
erschienen!  Ein  strahlendes,  glückverheissendes  Menschen- 
wesen schwebt  vor  mir  und  winkt  mir  zu: 


k^ 


■^t-tT=^^m 


5 


^"- 


s.  w. 


Wie  schön!  Das  aufdringliche  erste  Motiv  des  Allegro 
klingt  jetzt  in  weiter  Ferne.  Nach  und  nach  wird  die 
ganze  Seele  von  Träumen  umsponnen.  Alles  Düstere,  alles 
Freudlose  ist  vergessen. 

Glück!  Glück!  Glück!!!— 

Nein,  das  sind  nur  Träume,  das  Fatum  verscheucht 
sie  wieder: 


So  ist  denn  das  ganze  Leben  nur  ein  ewiger  Wechsel 
von  düsterer  Wirklichkeit  und  flatternden  Träumen  von 
Glück.    Einen   Hafen   giebt   es   nicht:    Du   wirst  von  den 

geworfen,   bis   Dich  das  Meer  ver- 
ungefähr   das    Programm    für    den 


her 
wäre 


Wellen  hin  und 
schlingt.    Das 
ersten  Satz. 

Der  zweite  Satz  zeigt  das  Leid  in  einem  anderen  Sta- 
dium. Es  ist  jenes  melancholische  Gefühl,  welches  Einen 
umwebt,  wenn  man  abends  allein  zu  Hause  sitzt,  erschöpft 
von  der  Arbeit;  das  Buch,  welches  man  zum  Lesen  ge- 
nommen hat,  ist  den  Händen  entglitten;  ein  ganzer  Schwann 
von  Erinnerungen  taucht  auf.  Wie  traurig,  dass  so  Vieles 
schon  gewesen  und  verganr/en  ist,  und  doch  ist  es  angenehm 
der  jungen  Jahre  zu  gedenken.  Man  bedauert  die  Vergan- 
genheit und  hat  nicht  den  Mut,  nicht  die  Lust,  ein  neues 
Leben  zu  beginnen.  —  Man  ist  etwas  lebensmüde.  Man 
möchte  sich  erholen  und  zurückbhcken,  manche  Erinne- 
rung auffrischen.  Man  denkt  an  frohe  Stunden,  da  das 
junge  Blut  noch  schäumte  und  sprudelte  und  Befriedigung 


—  472  - 

im  Leben  fand.  Man  denkt  auch  an  traurige  Momente,  an 
unersetzliche  Verluste.  Das  Alles  liegt  schon  so  weit,  so 
weit.  Traurig  ist's  und  doch  so  süss  in  der  Vergangenheit 
zu  grübeln. 

Im  dritten  Satz  ist  kein  bestimmtes  Gefühl  zum  Aus- 
druck gekommen.  Das  sind  kapriziöse  Arabesken,  unfass- 
liche  Figuren,  welche  in  der  Einbildung  dahinhuschen, 
wenn  man  etwas  Wein  getrunken  hat  und  ein  wenig  be- 
rauscht ist.  Die  Stimmung  ist  weder  lustig  noch  traurig. 
Man  denkt  an  Nichts;  man  lässt  der  Phantasie  freien  Lauf, 
und  sie  gefällt  sich  im  Zeichnen  der  merkwürdigsten  Li- 
nien. Plötzlich  taucht  in  der  Erinnerung  das  Bild  eines 
betrunkenen  Bäuerleins  auf  und  ein  Gassenliedchen....  In 
der  Ferne  hört  man  Militärmusik  vorbeiziehen.  Das  sind 
eben  die  unzusammenhängenden  Gebilde,  welche  beim  Ein- 
schlummern in  unserem  Hirn  entstehen  und  vergehen.  Mit 
der  Wirklichkeit  haben  sie  Nichts  zu  thun:  sie  sind  unver- 
ständhch,  bizarr,  zerrissen. 

Vierter  Satz.  Wenn  Du  in  dir  selber  keine  Freude  fin- 
dest, so  schau  um  dich.  Gehe  ins  Volk.  Siehe,  wie  es  ver- 
steht, lustig  zu  sein,  wie  es  sich  voll  und  ganz  seinen 
freudigen  Gefühlen  ergiebt.  Das  Bild  eines  Volksfestes, 
Kaum  hast  Du  dich  selbst  vergessen,  kaum  hast  Du  Zeit 
gehabt,  im  Anblick  der  Freude  anderer  Menschen  zu  ver- 
sinken, als  auch  schon  das  unermüdliche  Fatum  Dir  wie- 
derum seine  Nähe  verkündet.  Die  andern  Menschenkinder 
kehren  sich  aber  wenig  an  Dich.  Sie  schauen  Dich  garnicht 
an,  sie  merken  es  garnicht,  dass  Du  einsam  und  traurig 
bist.  Oh,  wie  sie  sich  freuen,  wie  sie  glücklich  sind!  Und 
Du  willst  behaupten,  dass  Alles  in  der  Welt  düster  und 
traurig  sei?  Es  giebt  doch  noch  Freude,  einfache  urwüchsige 
Freude.  Freue  Dich  an  der  Freude  Anderer  und  —  Du 
kannst  noch  leben. 

Das  ist  Alles  was  ich  Ihnen  in  Betreff  der  S34nphonie 
sagen  kann,  meine  teure  Freundin.  Selbstverständlich  sind 
meine  Worte  nicht  klar  und  nicht  erschöpfend  genug.  Da- 
rin liegt  aber  die  Eigenart  der  instrumentalen  Musik,  dass 
sie  sich  nicht  anal3'sieren  lässt. 

Es  ist  schon  spät.  lieber  Florenz  schreibe  ich  Ihnen 
dieses  Mal  nichts,  ausser — dass  ich  für  mein  ganzes  Leben 
diese  Stadt  in  gutem  Andenken  behalten  werde. 

P.  S.  Als  ich  den  Brief  ins  Couvert  stecken  wollte,  fiel  mir 
ein,  ihn  noch  einmal  durchzulesen.  Ich  erschrak  ob  derUnvoU- 
ständigkeit  und  Unklarheit  des  Programms,  welches  ich  ent- 


—  473  — 

worfen  habe.  Zum  ersten  Mal  in  meinem  Leben  bot  sich 
mir  die  Gelegenheit,  meine  musikalischen  Ideen  und  Ge- 
stalten in  Worte  und  Phrasen  zu  fassen.  Diese  Aufgabe 
habe  ich  nur  schlecht  gelöst.  Im  vorigen  Winter  war  ich 
permanent  verstimmt,  als  ich  an  dieser  Symphonie  arbei- 
tete, und  sie  ist  ein  richtiger  Wiederhall  meiner  damali- 
gen Gefühle.  Aber  wirklich  nur  ein  Wiederhall.  Wie  soll 
man  ihn  in  klare  und  bestimmte  Wortfolgen  zwängen? — 
weiss  nicht,  verstehe  es  nicht.  Vieles  habe  ich  auch  schon 
vergessen.  Nur  ganz  allgemeine  Erinnerungen  an  die  Lei- 
denschaftlichkeit und  Trübseligkeit  meiner  Empfindungen 
sind  mir  geblieben.  Ich  bin  sehr,  sehr  neugierig,  was  meine 
Moskauer  Freunde  sagen  werden. 

Den  gestrigen  Abend  habe  ich  im  Volkstheater  ver- 
bracht und  sehr  viel  gelacht.  Der  Humor  der  Italiener  ist 
grobkörnig,  entbehrt  jeglicher  Feinheit  und  Grazie,  reisst 
aber  alles  mit  sich  fort". 

An  Frau  von  Meck: 

„Florenz,  d.  20.  Febr.  1878. 
Heute    ist   der   vorletzte   Tag   des    Karnevals.    Die 


Strassen  sind  ausserordentlich  bewegt,  doch  lange  nicht 
so,  wie  es  um  diese  Zeit  in  Rom  der  Fall  sein  soll.  Man 
sieht  verschiedene  Gruppen  verkleideter  aber  nicht  mas- 
kierter Männer,  welche  Chorlieder  singen.  Auf  dem  Lun- 
garno und  in  den  „Cascine",  wo  ich  heute  Vormittag 
spaziert  habe,  war  ein  grosses  Gedränge;  man  sah  viele 
reiche  Equipagen,  in  denen  elegante  und  ausgeputzte  Da- 
men und  Herren  sassen.  Nachmittags  begab  ich  mich  in 
eines  der  unzähligen  Theater,  wo  eine  neue  Oper  eines 
unbekannten  Maestro,  „I  falsi  monetari",  zum  ersten  Mal 
gegeben  werden  sollte.  Jenes  Theater  heisst  „Arena  Na- 
zionale"  und  ist  früher  offenbar  ein  kolossaler  Cirkus  ge- 
wesen. Die  Billigkeit  der  Plätze  hat  mich  in  Erstaunen 
versetzt.  Ich  habe  70  Centimes  Entree  bezahlt  und  noch 
50  für  posto  distinto  d.  h.  für  einen  der  besten  Plätze.  Das 
Publikum  war  sehr  zahlreich  erschienen,  die  Männer  rauch- 
ten, vom  Gesang  war  fast  garnichts  zu  hören,  die  Musik 
zeichnete  sich  durch  höchstgradige  Banalität  und  Talent- 
losigkeit  aus,  dazu  herrschte  eine  so  drückende  Hitze  in 
dem  überfüllten  Raum,  dass  ich  kaum  bis  zum  Schluss  des 
ersten  Aktes  darin  ausharren  konnte  und  zur  Einsicht  ge- 
langte, ein  Spaziergang  in  der  frischen  Luft  sei  viel  ange- 


—  474  — 

nehmer.  Die  Nacht  ist  entzückend:  so  warm,  dazu  der 
sternklare  Himmel,  Das  herrliche  Italien!  Nach  Hause 
zurückgekehrt,  erwachte  in  mir  die  Lust,  mit  Ihnen  zu 
plaudern,  meine  unvergleichliche  Freundin. 

Das  Fenster  ist  offen;  mit  Wonne  atme  ich  die  nächt- 
liche Kühle  nach  einem  heissen  Frühlingstag  ein.  Mit  Gru- 
seln denke  ich  an  meine  ferne  und  unaussprechlich  liebe 
Heimat!  Da  haust  noch  der  Winter.  Sie  sitzen  wahrschein- 
lich am  Kamin.  An  Ihrem  Hause  gehen  in  Pelze  gehüllte 
Gestalten  vorbei;  Stille  ringsum,  welche  infolge  der  Schlit- 
tenbahn durch  kein  Wagenrollen  unterbrochen  wird.  Und 
doch  denke  ich  mit  Liebe  an  diesen  Winter.  Ich  habe  ihn 
gern,  diesen  langen  starren  Winter.  Wie  schön  ist  es  dann, 
wie  bezaubernd,  wenn  unser  Frühling  urplötzlich  mit  sei- 
ner hehren  Kraft  einsetzt!  Wie  liebe  ich  die  Ströme  ge- 
schmolzenen Schnees,  jenes  belebende  und  aufmunternde 
Etwas,  was  in  der  Luft  zittert!  Mit  welcher  Freude  begrüsst 
man  den  ersten  grünen  Grashalm,  die  erste  Saatkrähe, 
die  Ankunft  der  Lerchen  und  unsrer  andern  sommerlichen 
Gäste!  Hier  naht  der  Frühling  langsamen  Schritts,  nach 
und  nach,  so  dass  er  sich  garnicht  mit  Bestimmtheit  fest- 
stellen lässt. 

Erinnern    Sie    sich    vielleicht    jenes    Knaben,    von 

dessen  rührend  schöner  Stimme  ich  Ihnen  einst  aus  Flo- 
renz geschrieben  habe?  Vor  einigen  Tagen  begegnete  ich 
einigen  Strassensängern  und  wandte  mich  mit  der  Frage  an 
sie,  ob  ihnen  der  betreffende  Knabe  bekannt  sei.  Sie  kann- 
ten ihn  und  gaben  mir  das  Versprechen,  ihn  um  9  Uhr  auf 
den  Lungarno  zu  bringen.  Punkt  9  erschien  ich  an  Ort 
und  Stelle.  Der  Mann,  welcher  mir  das  Versprechen  ge- 
geben hatte,  war  bereits  da,  und  auch  der  Knabe.  Eine 
ganze  Menge  Neugieriger  standen  um  ihn  herum.  Da  die 
Menge  immer  anschwoll,  so  rief  ich  ihn  zur  Seite  und 
führte  ihn  in  eine  Nebenstrasse.  Ich  zweifelte  ob  es  der- 
selbe Knabe  sei.  „Sie  werden  hören,  sagte  er,  sobald 
ich  Ihnen  vorsinge,  dass  ich  es  wirklich  bin.  Sie  gaben 
mir  damals  ein  silbernes  50  cms  Stück".  Diese  Worte  wur- 
den von  einer  herrlichen  in  die  tiefste  Tiefe  des  Herzens 
dringenden  Stimme  gesprochen.  Was  mit  mir  geschah,  als 
er  anfing  zu  singen,  ist  garnicht  zu  beschreiben. 

Ich  weinte,  ich  zitterte,  ich  zerschmolz  vor  lauter 
Entzücken.  Er  sang  wieder  „Perche  tradirmi,  perche  las- 
ciarmi'Mch  erinnere  mich  nicht,  dass  ein  einfaches  Volkslied 
jemals   einen  so   tiefen    Eindruck  auf  mich    gemacht   hat. 


—  475  — 

Diesmal  hat  mich  der  Knabe  mit  einem  neuen  reizenden 
Liedchen  bekannt  gemacht,  so  dass  ich  die  Absicht  habe, 
mir  dasselbe  noch  einige  Mal  vorsingen  zu  lassen,  um  Text 
und  Melodie  zu  notieren  ^).  Dieses  Kind  dauert  mich  sehr!  Es 
wird  offenbar  von  seinem  Vater,  seinem  Onkel  und  seinen 
andern  Verwandten  ausgebeutet.  Jetzt,  zur  Zeit  des  Kar- 
nevals, muss  er  von  früh  morgens  bis  zum  späten  Abend 
singen,  und  wird  solange  singen  bis  die  Stimme  aut  Nimmer- 
wiederkehr verschwindet.  Heute  schon  ist  die  Stimme  nicht 
mehr  so  frisch  wie  damals,  als  wenn  sie  einen  kleinen  Riss 
bekommen  hätte.  Dieser  kleine  Riss  erhöht  aber  merkwür- 
diger Weise  die  Anmut  des  phänomenal  sympatischen 
Organs.  Das  wird  aber  nicht  lange  dauern.  Würde  er  das 
Kind  einer  wohlhabenden  Familie  sein,  so  könnte  er  viel- 
leicht ein  berühmter  Künstler  werden.  Man  muss  einige 
Zeit  in  Italien  gelebt  haben,  um  der  Gesangskunst  der 
Italiener  die  gebührende  Anerkennung  zu  zollen.  Jeden 
Augenblick  hört  man  auf  der  Strasse  prachtvolle  Stimmen, 
auch  in  diesem  Moment  höre  ich  in  der  Ferne  einen  wun- 
derschönen Tenor,  der  aus  vollem  Halse  irgend  ein  Lied 
in  die  weite  Welt  hinausschmettert.  Aber  selbst  wenn  die 
Stimme  nicht  besonders  schön  ist,  kann  sich  jeder  Italiener 
rühmen,  von  Natur  aus  Sänger  zu  sein.  Sie  haben  alle 
eine  richtige  „emission"  und  verstehen,  aus  der  Brust  heraus 
zu  singen,  nicht  aus  der  Kehle  und  nicht  durch  die  Nase^ 
wie  bei  uns". 


VII. 

An  A.  Tschaikowsky: 

„Sonnabend,  d.  25.  Febr.   1878. 

Gestern  um  7  sind  wir  in  Genf  angekommen.  Du  glaubst 
garnicht,  wie  langweilig  öde  und  prosaisch  Genf  ist,  zu- 
mal w^enn  man  aus  Florenz  kommt,  welches  dank  dem 
schönen  Frühlingswetter  sich  in  eine  geradezu  phantastisch- 
prachtvolle Stadt  verwandelt  hat". 


1)  Diese  Melodie    hat   Peter   Iljitsch   später   in    dem   Lied   „Pimpinella"   verwendet» 
(Op.  38  .V»  6). 


—  47б  — 

An  Frau  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  28.  Febr.  1878. 

Das  Wetter  ist  miserabel.  Es  regnet  ununterbrochen; 

die  Berge  sind  durch  Wolken  verdeckt,  welche  garnicht 
den  Anschein  haben  sich  bald  zerstreuen  zu  wollen.  Das 
ist  nach  dem  ewig  blauen  Himmel  Italiens  sehr  nieder- 
drückend. Dafür  ist  es  hier  aber  so  still,  so  ruhigl  Wie 
gemütlich  sind  unsere  Zimmer,  wie  angenehm  wird  sich's 
hier  arbeiten  lassen!" 

An  Frau  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  3.  März.  1878. 

Meine  Zeit  habe  ich  mir  folgendermaassen  eingetheilt: 
um  8  wird  aufgestanden.  Nach  dem  Thee  unternehmen 
wir  einen  kleinen  Spaziergang,  so  weit  das  Wetter  es  ge- 
stattet. Dann  schliesse  ich  mich  bis  i^->  Uhr  in  mein  Zim- 
mer ein  und  arbeite.  Ich  möchte  im  Laufe  des  bevorste- 
henden Monats  eine  Anzahl  kleiner  Stücke  schreiben.  Es 
arbeitet  sich  hier  sehr  gut,  ich  bin  aber  trotz  dem  noch 
nicht  in  jene  Stimmung  hereingekommen,  in  welcher  es 
sich,  so  zu  sagen,  von  selbst  arbeitet,  d.  h.  wenn  man  sich 
keinen  Zwang  anzuthun  braucht,  sondern  nur  dem  inneren 
Drang  gehorcht.  Am  schlimmsten  ist  es,  der  Unlust  zum 
Schreiben  nachzugeben.  Mann  muss  sich  stets  лvarmhalten, 
sonst  kommt  man  nicht  weit.  Ich  habe  mir  vorgenommen, 
jeden  Morgen — es  koste,  was  es  wolle — irgend  Etwas  zu 
Stande  zu  bringen  und  w^erde  das  so  lange  fortsetzen,  bis 
eine  günstige  Kompositionsstimmung  über  mich  kommt. 

Die  Zeit  zwischen  Mittag  und  Abendessen,  welches  um 
7  Uhr  stattfindet,  widme  ich  dem  Spazierengehen;  da  man 
aber  in  den  letzten  Tagen  unmöglich  ausgehen  konnte,  so 
habe  ich  statt  dessen  sehr  viel  musiziert.  Heute  habe  ich 
den  ganzen  Tag  mit  Kotek  gespielt.  Ich  habe  schon  so 
lange  keine  gute  Musik  gehört  und  gespielt,  dass  ich  mich 
mit  ausserordentlichem  Genuss  dieser  Beschäftigung  hin- 
gebe. Ist  Ihnen  die  „S3'mphonie  espagnole"  von  dem  fran- 
zösischen Komponisten  Lalo  bekannt?  Dieses  Stück  hat 
der  jetzt  sehr  moderne  Geiger  Sarasate  aufgebracht.  Es 
ist  für  eine  Solo-Violine  mit  Orchesterbegleitung  geschrie- 
ben und  besteht  aus  5  selbständigen  Theilen,  die  spa- 
nische Volksweisen  zum  Inhalt  haben.  Das  Stück  hat  mir 
grosses  Vergnügen  bereitet.  Es  ist  von  einer  wohlthuen- 


—  477  — 

den  Frische  und  Leichtigkeit,  dazu  pikante  Rytmen  und 
schön  harmonisierte  Melodieen.  Es  hat  viel  AehnHchkeit 
mit  andern  mir  bekannten  Werken  der  französischen  Schule, 
welcher  Lalo  angehört.  Gleich  Leo  Delibes  und  Bizet  ver- 
meidet er  auf  das  sorgfältigste  alles  Routinenmässige,  sucht 
neue  Formen,  ohne  tiefsinnig  sein  zu  wollen,  sorgt  mehr 
für  musikalische  Schönheit  überhaupt,  als  für  Respektierung 
der  alten  Traditionen,  wie  es  die  Deutschen  thun.  Die 
junge  französische  Komponistengeneration  ist  wirklich  sehr 
vielversprechend. 

Den  Rest  des  Abends  bringe  ich  mit  Lesen  oder  Brief- 
schreiben zu". 

An  Frau  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  5.  März,  1878. 

Es  ist  mir  ausserordentlich  angenehm,  mit  Ihnen  über 
das  von  mir  angewendete  Kompositionsverfahren  zu  plau- 
dern. Bis  jetzt  hatte  ich  noch  niemals  Gelegenheit,  Jemandem 
diese  geheimsten  Aeusserungen  meines  geistigen  Lebens 
anzuvertrauen,  eines  theils,  weil  sich  nur  sehr  Wenige  dafür 
interessiert  haben,  andern  theils,  weil  diese  Wenigen  mir 
keine  Lust  zum  Antworten  einzuflössen  vermochten.  Doch 
Ihnen,  gerade  Ihnen,  teile  ich  die  Details  des  Kompositions- 
prozesses ausserordentlich  gern  mit,  denn  in  Ihnen  habe 
ich  ein  Wesen  gefunden,  welches  ein  grosses  Feingefühl 
und  Verständniss  für  meine  Musik  besitzt. 

Glauben  Sie  denen  nicht,  die  Sie  zu  überzeugen  ver- 
suchen, dass  die  musikalische  Komposition  nur  eine  kalte 
Vernunftarbeit  ist.  Nur  diejenige  Musik  ist  im  Stande  zu 
rühren  und  zu  erschüttern,  welche  aus  der  Tiefe  einer 
durch  Inspiration  angeregten  Künstlerseele  herausgequollen 
ist.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  selbst  die  grössten 
musikalischen  Geister  manchmal  ohne  Inspiration  gearbeitet 
haben.  Dieser  Gast  erscheint  nicht  immer  gleich  auf  den 
ersten  Ruf.  Arbeiten  muss  man  immer  und  ein  ehrlicher 
Künstler  darf  nicht  die  Hände  in  den  Schoss  legen  unter 
dem  Vorwand,  es  fehle  ihm  die  Stimmung.  Wenn  man  auf 
Stimmimg  warten  wollte,  ohne  ihr  entgegen  zu  kommen, 
könnte  man  sehr  leicht  fcml  und  apcitisch  werden.  Man 
muss  Geduld  haben  und  glauben,  dass  die  Inspiration  zu 
demjenigen  kommen  wird,  der  seine  Unlust  bemeistern 
kann.  Heute  noch  ist  es  mir  so  gegangen.  Vor  einigen 
Tagen  schrieb  ich   Ihnen,   dass    ich    täglich    arbeite   aber 


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ohne  rechte  Begeisterung.  Würde  ich  meiner  Unlust  nach- 
gegeben haben,  so  hätte  iche  mich  gewiss  für  längere  Zeit 
dem  Nichtsthun  hingegeben.  Doch  der  Glaube  und  die 
Geduld  verlassen  mich  nie,  und  heute  früh  erfasste  mich 
jenes  unerklärliche  Feuer  der  Begeisterung,  von  dem  ich 
Ihnen  sprach:  und  dank  welchem  ich  im  voraus  weiss, 
dass  alles  heute  von  mir  Niedergeschriebene  die  Eigenschaft 
haben  wird,  Herzen  zu  rühren  und  Eindruck  zu  machen. 
Ich  hoffe,  dass  es  Ihnen  nicht  als  Eigenlob  erscheinen  wird, 
wenn  ich  Ihnen  sage,  dass  ich  nur  sehr  selten  unter  jener 
Arbeitsunlust  zu  leiden  habe.  Ich  schreibe  es  dem  Umstand 
zu,  dass  ich  mit  Geduld  ausgerüstet  bin.  Ich  habe  es  ge- 
lernt, mich  zu  beherrschen,  und  bin  glücklich,  dass  ich 
nicht  in  die  Fusstapfen  derjenigen  meiner  russischen  Kolle- 
gen getreten  bin,  welche  misstrauisch  zu  sich  selbst  und 
ungeduldig  sind,  und  bei  der  geringsten  Schwierigkeit  die 
Flinte  ins  Korn  werfen.  Daher  kommt  es,  dass  sie  trotz 
grosser  Begabung  so  Weniges  und  so  Dilettantenhaftes 
hervorbringen. 

Sie  fragen  mich,  wie  ich  es  mit  der  Instrumentation 
halte?  Ich  komponiere  niemals  abstraM,  d.  h.  der  musika- 
lische Gedanke  erscheint  mir  niemals  anders,  als  in  einer 
entsprechenden  Bekleidung.  Auf  diese  Weise  erfinde  ich 
die  musikalische  Idee  gleichzeitig  mit  der  Instrumentation. 
FolgHch  dachte  ich  mir  das  Scherzo  unserer  Symphonie — 
als  ich  es  komponierte — gerade  so,  wie  Sie  es  gehört  ha- 
ben. Es  ist  garnicht  anders  denkbar,  als  pizzicato.  Wollte 
man  es  mit  dem  Bogen  gestrichen  spielen,  so  würde  es 
seinen  ganzen  Reiz  verlieren  und  ein  Körper  ohne  Geist 
werden. 

In  Betreff  des  spezifisch  russischen  Elements  in  meinen 
Kompositionen  will  ich  Ihnen  sagen,  dass  ich  nicht  selten 
mit  der  Absicht  eine  Arbeit  beginne,  die  eine  oder  andere 
Volksmelodie  in  ihr  zur  Durchführung  zu  bringen.  Manches 
Mal  kommt  es  jedoch  von  selbst,  unbeabsichtigt  (so  zum 
Beispiel  im  Finale  unserer  Symphonie).  Was  meine  volks- 
liederähnlichen Melodieen  und  Harmonieen  anbelangt,  so 
sind  sie  eine  Folge  davon,  dass  ich  auf  dem  Lande  auf- 
gewachsen und  schon  in  frühester  Kindheit  von  der  un- 
beschreiblichen Schönheit  der  für  die  russische  Volksmu- 
sik charakteristischen  Züge  durchdrungen  worden  bin,  so 
wie  davon,  dass  ich  das  russische  Element  in  allen  seinen 
Aeusserungen  leidenschaftlich  liebe,  kurz,  dass  ich  ein 
Russe  bin,  in  vollsten  Sinne  des  Wortes. 


—  479  — 

Ausser  den  kleinen  Stücken  arbeite  ich  augenblicklich 
an  einer  Sonate  für  Klavier  und  an  einem  Violinkonzert. 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  7.  März  1878. 

Das  winterliche  Wetter  will  garnicht  aufliören.  Heute 
schneit  es  den  ganzen  Tag.  Nichtsdestoweniger  langweile 
ich  mich  garnicht,  und  die  Zeit  vergeht  beim  Arbeiten 
sehr  schnell.  Die  Sonate  und  das  Konzert  interessieren 
mich  sehr.  Zum  ersten  Mal  in  meinem  Leben  habe  ich  ein 
neues  Stück  zu  arbeiten  begonnen,  ohne  das  vorherige 
beendet  zu  haben.  Bis  jetzt  habe  ich  stets  die  Regel  befolgt, 
nicht  eher  eine  neue  Arbeit  in  Angriff  zu  nehmen,  als  bis 
die  alte  abgschlossen  ist.  Diesmal  geschah  es  jedoch,  dass 
ich  der  Lust  nicht  widerstehen  konnte,  das  Konzert  zu 
skizziren  und  habe  mich  davon  so  hinreissen  lassen,  dass 
die  Sonate  bei  Seite  geworfen  wurde;  doch  kehre  ich 
nach  und  nach  zu  ihr  zurück. 

Mit  dem  grössten  Vergnügen  habe  ich  die  beiden  Bü- 
cher des  „Russichen  Altertums"  durchgelesen.  Da  sie 
schon  zerschnitten  waren,  nehme  ich  an,  dass  Sie  sie  be- 
reits gelesen  haben.  Nicht  wahr,  meine  liebe  Freundin, 
die  Briefe  Seroff's  sind  doch  sehr  interessant?  Zumal  für 
mich,  denn  jene  Epoche,  auf  welche  sich  die  Briefe  bezie- 
hen, ist  mir  sehr  gut  in  Erinnerung.  Gerade  in  der  Zeit, 
als  die  „Judith"  aufgeführt  wurde,  habe  ich  die  Bekannt- 
schaft Seroff's  gemacht  und  vielen  Proben  dieser  Oper 
beigewohnt.  Sie  hat  damals  helle  Begeisterung  in  mir 
entfacht  und  ich  hielt  Seroff  für  einen  genialen  Mann.  In 
der  Folge  habe  ich  aber  an  ihm — nicht  nur  als  Menschen, 
sondern  auch  als  Komponisten — eine  grosse  Enttäuschung 
erlebt.  Als  Mench  ist  er  mir  übrigens  seit  jeher  ипззап- 
patisch  gewesen.  Sein  kleinlicher  Ehrgeiz  und  seine  Selbst- 
verherrlichung,  welche  sich  in  höchst  naiven  Formen 
äusserten,  kamen  mir  sehr  abstossend  und  für  einen  so 
talentvollen  und  klugen  Mann  unbegreiflich  vor.  Denn  klug 
war  er  ausserordentlich,  trotz  ber  ganzen  Kleinlichkeit 
seiner  Selbstliebe. 

Jedenfalls  war  er  eine  sehr  interessante  Persönlichkeit. 
Bis  zu  seinem  43 — sten  lahr  hatte  er  noch  Nichts  geschrie- 
ben; er  hatte  nur  Versuche  gemacht,  geriethoft  in  Begei- 
sterung von  sich  selbst,  oder  verlor  gänzlich  den  Muth. 
Endlich  begann  er  nach  25 — „jährigem  Hin-und-herpendeln 


—  480  — 

die  Komposition  der  „Judith"  und  versetzte  alle  Welt  in 
Erstaunen.  Man  hatte  von  ihm  eine  langweilige,  talentlose 
und  auf  den  grossen  Opernst}^  Anspruch  machen  wol- 
lende Musik  erwartet;  man  hatte  geglaubt,  dass  ein  Mann,  der 
ein  so  reifes  Alter  erreicht  hatte,  ohne  sich  bis  dahin  als 
Komponist  bethätigt  zu  haben,  kein  grosses  Talent  sein 
könne  und — man  hatte  sich  geirrt.  Der  43-jährige  Neuling 
stellte  sich  dem  Publikum  und  der  Petersburger  musika- 
lischen Welt  in  einer  Oper  vor,  welche  in  jeder  Bezie- 
hung schön  genannt  zu  werden  verdiente  und  an  keiner 
Stelle  verrieth,  dass  sie  das  Erstlingswerk  des  Autors  war 
Ich  weiss  nicht,  meine  liebe  Freundin,  ob  Sie  „Judith" 
kennen;  diese  Oper  weist  sehr  viele  Vorzüge  auf.  Sie 
ist  sehr  warmblütig  und  erreicht  stellenweise  einen  sehr 
hohen  Grad  von  Stimmungszauber  und  Kraft.  Sie  hatte 
einen  sehr  ansehnlichen  Erfolg  beim  Publikum  davon  ge- 
tragen und  in  musikalichen  Kreisen,  namentlich  unter  der 
Jugend,  sogar  Enthusiasmus  hervorgerufen.  Seroff,  welcher 
bis  dahin  ungekannt  ein  sehr  bescheidenes  Leben  geführt 
und  sogar  gegen  die  Not  anzukämpfen  gehabt  hatte,  wurde 
plötzlich  der  Held  des  Tages,  der  Abgott  verschiedener 
musikalischen  Kreise,  eine  Berühmtheit,  Dieser  unerwar- 
tete Erfolg  war  ihm  zu  Kopf  gestiegen,  er  hielt  sich  selbst 
für  ein  Genie.  Merkwürdig  ist  die  Naivetät,  mit  welcher  er 
in  seinen  Briefen  sich  selber  Lob  spendet,  seinen  noch  nie 
da  gewesen  originellen  Styl  und  die  Schönheit  seiner 
Melodien  verherrhcht.  Und  doch  hat  sich  Seroff  zwar  als 
begabter  Mensch,  aber  nicht  als  ein  Talent  ersten  Ranges 
erwiesen.  Seine  zweite  Oper  „Rogneda"  ist  bereits  ein 
viel  weniger  hervorragendes  Werk.  In  ihr  hascht  er  nach 
Effekten,  verfällt  oft  in  Gemeinheit  und  Banalität  und 
bemüht  sich  durch  rein  materialistische  Grobheiten  dem 
Pöbel  zu  imponieren.  Das  ist  um  so  merkwürdiger,  da 
er  als  eifriger  Wagnerianer  in  Wort  und  Schrift  gegen 
Meyerbeer's  Effekthascherei  und  vulgären  Styl  loszieht. 
„Des  Feindes  Macht"  ist  noch  schwächer.  Im  Resultat 
ist  Seroff  eine  ganz  eigentümliche  und  sehr  interessante 
Erscheinung  in  der  Musikgeschichte.  Betrachtet  man  seine 
zahlreichen  kritischen  Aufsätze,  so  bemerkt  man,  dass  seine 
Theorieen  ganz  und  garnicht  mit  der  Praxis  übereinstimmten, 
d.  h.  dass  er  seine  Musik  in  einem  seiner  Kritik  diametral 
entgegengesetzten  Sinne  komponierte.  Ich  halte  mich  deshalb 
über  Seroff  auf,  weil  ich  mich  unter  dem  Eindruck  seiner 
Gestern  von  mir  durchgelesenen  Briefe  befinde  und  Heute 


—  481  — 

den  ganzen  Tag  an  ihn  denken  muss.  Ich  erinnere  mich 
an  jenen  Hochmut,  welchen  er  mir  gegenüber  zur  Schau 
trug,  und  wie  ich  damals  wünschte,  von  ihm  anerkannt 
zu  werden.  Ich  weiss  noch,  wie  dieser  talentvolle,  sehr 
kluge  und  universal  gebildete  Mann  die  Schwäche  hatte. 
Niemandem  Anerkennung  zu  zollen,  als  sich  selbst,  wie 
er  Andere  um  ihre  Erfolge  beneidete,  wie  er  diejenigen, 
welche  in  seiner  Kunst  berühmt  waren,  geradezu  hasste 
und  wie  oft  er  den  allerkleinlichsten  egoistischen  Anwand- 
lungen unterlag.  Anderseits  möchte  man  ihm  das  Alles 
verzeihen,  um  der  Leiden  willen,  die  er  durchgelitten  bevor 
ihn  der  Erfolg  aus  der  Armut  herausgerissen  hatte  und  er 
hatte  männlich  und  stark  sein  Unglück  getragen  aus  Liebe 
zur  Kunst.  Er  hätte  nach  seiner  Herkunft,  Erziehung  und 
nach  seinen  Verbindungen  eine  glänzende  Karriere  machen 
können,  aber  die  Lust  zur  Musik  behielt  die  Oberhand. 
Wie  schmerzlich  war  es  mir,  in  seinen  Briefen  zu  lesen, 
dass  er  in  seinem  Elternhaus  nicht  nur  keine  Stütze,  keine 
Ermutigung  gefunden  hatte,  sondern  im  Gegenteil — Spott, 
Misstrauen  und  Feindseligkeit! 

Im  Schicksal  Seroff's  findet  sich  noch  eine  Eigentüm- 
lichkeit. Er  hat  der  Welt  nicht  viel  hinterlassen:  nur  drei 
Opern.  Von  diesen  sind  zwei  mittelmässig  und  eine  sehr 
gut.  Diese  einzige  gute  Oper  ist  bis  Heute  noch  nicht  ver- 
öffentlicht dank  der  Verrücktheit  seines  Verlegers  Stel- 
lowsky's. 

Ich  weiss  nicht,  wie  ich  Ihnen  danken  soll,  meine  Teu- 
ere, für  die  Zusendung  der  Gedichtsammlungen.  Ganz 
besondere  Freude  macht  mir  A.  Tolstoi,  den  ich  sehr  gern 
habe  und  werde — unabhängig  von  der  Absicht,  einige  sei- 
ner Texte  für  Liederkompositionen  zu  verwenden  —  mit 
Vergnügen  seine  grösseren  Dichtungen  wieder  durchlesen. 
Namentlich  interessiere  ich  mich  für  den  Don-Juan,  den 
ich  schon  vor  längerer  Zeit  gelesen  habe". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  14.  März  1878. 

Eben  habe  ich  die  Zeitung  gelesen  und  bin  ganz 
niedergeschlagen.  Ein  Krieg  steht  ausser  Zweifel  bevor. 
Das  ist  schrecklich.  Es  scheint  mir,  dass  ich  jetzt — da  ich 
nicht  mehr  durch  eigenes  persönliches  Unglück  von  dem 
allgemeinen  abgelenkt  bin  —  viel  intensiver  alle  Wunden 
mitfühlen    kann,    welche    unserem   Vaterland   beigebracht 

Tsehaikowsky ,  M.  P,  I.  Tschaikowsky's  Leben.  31 


—    402    — 

werden  obwohl  ich  nicht  daran  zweifle,  dass  zuletzt  Russ- 
land und  überhaupt  die  slavische  Welt  triumphieren  wird, 
schon  allein  deshalb  dass  auf  unserer  Seite  die  Wahrheit 
und  Ehrhchkeit  hegt.  Ich  freue  mich,  dass  ich  während 
des  Krieges  in  Russland  sein  werde.  Wie  viele  unange- 
nehme Momente  sind  mir  in  der  Fremde  beschieden  ge- 
wesen! Wie  oft  sah  ich,  mit  welcher  Schadenfreude  jede 
Nachricht  von  dem  geringsten  Missgeschick  auf  unserer 
Seite  in  Empfang  genommen  wurde,  und  umgekehrt, 
welchen  Aerger  ein  jeder  unserer  Siege  hervorrief.  Hoffent- 
lich geht  dieser  Kelch  an  uns  vorüber. 

Wenn   es    darauf    ankommt,    können   bei    uns  für 

Alles  tüchtige  Männer  gefunden  werden — nur  mit  einer 
einzigen  Ausnahme.  Ich  rede  jetzt  von  meinem  Fach.  Sei 
es,  dass  das  Konservatorium  von  dem  despotischen  Arm 
Rubinstein's  etwas  gewaltsam  in  die  Moskauer  Verhältnisse 
gepflanzt  worden  ist,  oder  sei  es,  dass  die  Theorie  der 
Musik  dem  russischen  Gehirn  überhaupt  nicht  recht  ver- 
ständlich ist,  jedenfalls  ist  nichts  schwerer,  als  einen  guten 
Theorielehrer  zu  finden.  Ich  komme  aus  dem  Grunde  darauf 
zu  sprechen,  weil  ich  sehr  wohl  weiss,  dass  ich — obwohl 
ich  meine  schulmeisterliche  Begabung  sehr  gering  schätze 
und  die  pädagogische  Thätigkeit  geradezu  hasse  —  dem 
Konservatorium  dennoch  unentbehrlich  bin.  Wenn  ich  mei- 
ne Professur  aufgeben  wollte,  so  würde  man  kaum  einen 
geeigneten  Nachfolger  finden  können.  Das  ist  der  Grund, 
weshalb  ich  es  für  meine  Pflicht  halte,  solange  im  Konser- 
vatorium zu  bleiben,  bis  ich  die  Ueberzeugung  gewinnen 
werde,  dass  es  durch  meinen  Abgang  nichts  verliert. — 
Das  Alles  sage  ich,  Ihnen  meine  Teure,  weil  ich  in  der 
letzten  Zeit  sehr  viel  daran  gedacht  habe  ob  es  sich  nicht 
würde  machen  lassen,  diese  schwere  Last  von  meinen  Schul- 
tern zu  wälzen.  Wie  unangenehm  werde  ich  namentlich 
jetzt,  nach  monatelanger  Erholung  meinen  Lehrerberuf 
empfinden.  Ich  kann  Ihnen  nicht  einmal  einen  annähernd 
richtigen  Begriff  davon  machen,  wie  niederträchtig  diese 
Thätigkeit  für  einen  Menschen  ist,  der  keine  Neigung  für 
sie  spürt.  In  der  männlichen  Abteilung  habe  ich  zwar  eine 
ganze  Menge  sehr  mangelhaft  entwickelte  Jünglinge  vor 
mir,  die  aber  Musiker  von  Fach  werden  wollen:  Geiger, 
Waldhornbläser,  Lehrer  u.  s.  w.  Obschon  es  sehr  schwer 
ist,  12  Jahr  hintereinander  solchen  Jünglingen  klar  zu 
machen,  dass  ein  Dreiklang  aus  Terz  und  Quinte  besteht, 
so  habe  ich    hier  wenigstens   das    Gefühl,  dass  ich  ihnen 


-  403  - 

notwendige  Kenntnisse  beibringe.  Hier  bin  ich  wenigstens 
nützlich.  Aber  die  Damenklassen! 

О  mein  Gott!  Von  60  oder  70  Fräulein,  welche  die 
Harmonielehre  bei  mir  durchnehmen,  sind  es  höchstens  5, 
die  es  in  der  Musik  zu  Etwas  bringen  werden.  Alle  an- 
deren sind  ins  Konservatorium  gekommen,  blos  um  irgend 
eine  Beschäftigung  zu  haben,  oder  aus  Gründen,  welche 
die  Musik  nichts  angehen.  Dabei  kann  man  nicht  behaup- 
ten, dass  die  jungen  Damen  unverständiger  oder  tauler 
wären  als  die  Jünglinge.  Eher  umgekehrt:  die  Damen 
sind  gewissenhafter  und  fleissiger,  ja  sogar  aufnahmefähi- 
ger. Sie  machen  sich  mit  einer  neuen  Regel  viel  schneller 
vertraut,  —  aber  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze,  So 
wie  es  gilt^  die  betreffende  Regel  nicht  mechanisch,  son- 
dern aus  eigener  Initiative  anzuwenden,  werden  all  diese 
jungen  Damen  geradezu  unausstehlich,  obwohl  sie  mög- 
licherweise von  den  besten  Absichten  erfüllt  sind.  Ich 
verhere  oft  meine  ganze  Geduld,  ja  meinen  Verstand,  ich 
sehe  und  höre  nichts,  was  um  mich  herum  geschieht  und 
bekomme  einen  unbeschreiblichen  Wutanfall.  Ich  glaube, 
dass  ein  Anderer,  ein  Geduldigerer  viel  J^essere  Resultate 
erzielen  könnte.  Dass  Schlimmste,  was  mich  in  Verzweif- 
lung bringt,  ist  das  Bewusstsein,  dass  Alles  umsonst  ist: 
eine  blosse  Komödie!  A.us  der  ganzen  Masse  der  von  mir 
unterrichteten  Konservatoriumsschülerinnen  ist  nur  eine 
ganz  geringe  Anzahl  mit  ernstlichen  Zielen  in  das  Kon- 
servatorium eingetreten!  Wie  Wenige  sind  es,  die  es  wert 
sind,  dass  man  um  ihretwillen  sich  abquält,  abmüht  und 
aus  der  Haut  fahren  möchte,  wie  Wenige,  für  welche  mein 
Unterricht  wirklich  von  Bedeutung  ist!  Noch  viele  andere 
unangenehme  Seiten  hat  meine  Lehrthätigkeit.  Und  den- 
noch: ich  muss,  ich  bin  verpflichtet,  sie  fortzusetzen. 

Es  hat  mich  sehr  gefreut,  was  Sie  mir  da  von  der 
Teilnahme  meiner  Schüler  schreiben.  Es  wollte  mir  immer 
seheinen,  dass  sie  mich  allesammt  hassen  müssen  für  mei- 
ne Reizbarkeit,  welche  oft  alle  Grenzen  des  Anstandes 
überschritten  hatte,  für  mein  unaufhörliches  Schelten  und 
beständige  Unzufriedenheit.  Es  war  mir  sehr  angenehm,  sich 
vom  Gegenteil  überzeugen  zu  lassen". 

An  P.  I.  Jurgenson: 

„Ciarens,  d.  15.  März  1878. 
....  Das  Violinkonzert  eilt  seinem  Ende  entgegen.  Ich 
bin  ganz   zufällig    auf  diese  Idee  gekommen,    habe  mich 


-  484  - 

hingesetzt,  wurde  von  der  Arbeit  hingerissen,  und  jetzt 
sind  die  Skizzen  fast  ganz  fertig.  Ueberhaupt  droht  Dir 
eine  ganze  Menge  meiner  neuen  Schreibereien:  7  kleine 
Stücke,  2  Lieder  und  eine  angefangene  Kiaviersonate.  Ende 
des  Sommers  werde  ich  w^hl  einen  ganzen  Eisenbahnw^agen 
in  Anspruch  nehmen  müssen,  um  Dir  Alles  zuzustellen. 
Ich  kann  mir  vorstellen,  wne  energisch  Du  ausrufen  wirst: 
„Dass  dich  der  Teufel  hole!"  Bist  selbst  daran  schuld, 
Freund!  Warum  hast  Du  Dich  überhaupt  mit  mir  einge- 
lassen? Ich  will  hier  noch  zwei  bis  drei  Wochen  bleiben. 
Zu  Ostern  werde  ich  schon  in  Kamenka  sein.  Dich  werde 
ich  vor  dem  Herbst  nicht  wiedersehen  dafür  wollen  \vir 
aber  dann  gleich  in  eine  Kneipe  gehen  und  einen  tüchti- 
gen Trunk  besorgen.  Ueberhaupt  kann  ich  mich  merkwür- 
digerweise in  Moskau  garnicht  anders  denken,  als  in  der 
Kneipe  sitzend  und  ein  Fläschchen  nach  dem  anderen 
leerend". 

An  Frau  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  16.  März  1878. 

Gestern  erhielt  ich  Ihren  Brief  mit  der  Nachricht  von 
dem  Konzert  Rubinstein's.  Es  freut  mich  sehr,  dass  mein 
Konzert  Ihnen  gefallen  hat.  Ich  war  von  je  her  überzeugt, 
dass  Nikolai  Gregorjewitsch  dasselbe  ausgezeichnet  spielen 
würde.  Ursprünglich  war  das  Stück  für  ihn  bestimmt  und 
für  seine  immense  Virtuosität  berechnet.  Aus  Ihrem  Brief 
ersehe  ich  mit  Freuden,  dass  Sie  alle  Neuerscheinungen  auf 
dem  Gebiete  der  Musik  aufmerksam  verfolgen.  Kaum  ist 
ein  neues  Konzert  von  Bruch  erschienen,  und  Sie  kennen 
es  bereits;  mir  ist  es  nicht  bekannt.  Auch  kenne  ich  nicht 
das  Konzert  von  Goldmark,  w^elches  Sie  erwähnen.  Ich 
kenne  nur  ein  einziges  Orchesterstück  von  ihm:  die  Ou- 
vertüre zu  „Sakuntala"  und  ein  Quartett.  Beide  Stücke 
sind  talentvoll  und  S3'mpatisch.  Goldmark  ist  einer  der 
wenigen  deutschen  Komponisten  mit  etwas  Eigenart  und 
frischer  Erfindungsgabe. 

Warum  lieben  Sie  Mozart  nicht?  In  dieser  Beziehung 
gehen  unsere  Meinungen  auseinander,  meine  liebe  Freun- 
din. Ich  habe  Mozart  nicht  nur  gern,  sondern  ich  vergöt- 
tere ihn.  Die  schönste  aller  je  geschriebenen  Opern  ist  für 
mich  „Don  Juan".  Sie,  die  Sie  über  ein  so  feines  musika- 
lisches Gefühl  verfügen, — Sie  müssten  diesen  idealen  und 
reinen  Künstler  eigentlich  auch  verehren.  Es  ist  wahr,  Mo- 


-  485  - 

zart    ging    mit    seinen   Kräften   zu    verschwenderisch   um 
und  schrieb  oft  ohne  Inspiration,  der  Not  gehorchend.  Lesen 
Sie   seine   Lebensbeschreibung  im   ausgezeichneten   Buch 
Otto  Jahn's,  und  Sie  werden  sehen,  dass  er  nicht  anders 
handeln  konnte.  Aber  selbst  bei  Bach  und  Beethoven  fin- 
det man  eine  ganze  Menge  minderwertiger  Kompositionen, 
welche  es  garnicht  verdienen  neben  ihren  Meisterwerken 
genannt    zu  werden.    Das    ist  die   Macht   des   Geschicks, 
welches  sie  zwang,  ihre  Kunst  manchmal  zum  Handwerk 
zu  degradieren.  Betrachten  Sie  aber  Mozart's  Opern,  zwei 
oder  drei   seiner   Symphonieen,    sein  Requiem,   die  sechs 
Haydn  gewidmeten  Quartette  und  das  D-moll  Streich-Quin- 
tett. Finden  Sie  denn  garkeinen  Reiz  an  all'diesen  Werken? 
Zwar  ergreift  Mozart  nicht  so  tief  wie  Beethoven,  er  holt 
nicht  so  weit   aus,    denn  er   war   auch   im  Leben  bis  ans 
Ende  seiner  Tage  ein  sorgloses  Kind,   seiner  Musik  fehlt 
jene    subjektive   Tragik,    welche   so    kraft -und -machtvoll 
bei  Beethoven  zum  Ausdruck  kommt.  Doch  hat  ihn  die- 
ser Mangel  nicht  gehindert  einen  objektiv  tragischen  T}'- 
pus  zu  schaffen,    das  herrlichste    und   erstaunlichste  aller 
jemals    durch    die    Musik    charakterisierten    menschlichen 
Wesen.  Ich  meine  die  Donna  Anna  im  „Don  Juan".  О  wie 
schwer  ist  es,  einen  Andern  dasselbe  in  einem  Musikstück 
finden  und  sehen  zu  lassen,  was  man  selbst  darin  findet. 
Ich  bin   nicht  im  Stande,   Ihnen   wiederzugeben,  was  ich 
beim  Anhören  des  „Don  Juan"  empfunden  habe,  nament- 
hch  bei  der  Scene,  da  die  erhabene  Gestalt  der  rachsüch- 
tigen und  stolzen  Schönen  Donna   Anna   auf  der   Bühne 
erscheint.  In  keiner  andern  Oper  hat  mich  Etwas  so  stark 
ergriffen.   Und  weiter  die  Stelle,   da  Donna  Anna  in  der 
Person  Don  Juan's  jenen  Mann   erkennt,  der  ihren  Stolz 
beleidigt  und   ihren   Vater  getödtet  hat,    da   ihr    Zorn  in 
jenem  genialen  Recitativ,   wie  ein  reissender  Strom   zum 
'Durchbruch  kommt,  und  noch  Aveiter  jene  herrliche  Arie, 
wo    man    aus  jedem   Akkord,   aus  jedem  Orchesterstrich 
ihren    Zorn  und  ihren  Stolz  herausfühlt — da  zittere   vor 
Entsetzen,  ich  könnte  schreien  und  weinen  vor    der   er- 
drückenden Macht  des  Eindrucks.    Und  ihr  Jammer  über 
der  Leiche  des  Vaters,   und  das  Duett  mit  Don    Ottavio, 
in  welchem  sie  Rache  schwört  und  ihr  Arioso  im  grossen 
Sextett  auf  dem  Friedhof— das  sind  unerreichbare,  kolos- 
sale Operngebilde! 

Ich  bin  so  verliebt  in  die  Musik  des  „Don  Juan",  dass 
ich  in  diesem   Augenbhck,    während  ich  Ihnen  schreibe, 


I 


—  486  — 

vor  Rührung  und  Aufregung  weinen  möchte....  In  der  Kam- 
mermusik besticlit  mich  Mozart  durch  die  Reinheit  und 
x\nmut  der  Form,  sowie  durch  die  wunderbare  Schönheit 
der  Stimmführung.  Manche  Stellen  sind  auch  hier  im 
Stande,  den  Augen  Thränen  zu  entlocken.  Ich  nenne  nur 
das  Adagio  des  D-moll  Quintetts.  Noch  nie  hat  es  Einer 
verstanden,  das  Gefühl  der  demütigen  und  hilflosen  Trau- 
rigkeit so  schön  in  der  Musik  wiederzugeben.  So  oft 
Laub  dieses  Adagio  spielte,  musste  ich  mich  in  die  entfern- 
teste Ecke  des  Saals  verstecken,  um  nicht  zu  verraten, 
was  in  mir  vorging. 

Bitte  lesen  Sie  doch  die  umfangreiche,  aber  interes- 
sante Mozartbiographie  Otto  Jahn's.  Sie  werden  sich  über- 
zeugen, was  für  ein  herrhcher,  makelloser  und  unendlich 
guter  Mensch  Mozart  gewesen  ist.  Seine  Musik  kompo- 
nierte er,  so  wie  die  Nachtigallen  singen  d.  h.  ohne  viel  zu 
tifteln,  ohne  sich  Gewalt  anzuthun.  Und  wie  leicht  fiel  ihm 
das  Komponieren.  Er  hat  niemals  Skizzen  gemacht.  Seine 
Genialität  war  so  hervorragend,  dass  er  alle  seine  Werke 

.  sofort  in  Partitur  niedergeschrieben  hat.  Er  pflegte  sie 
bis  zu  den  kleinsten  Details  im  Kopf  auszuarbeiten.  Für 
ihn  gab  es  keine  Schwierigkeiten.  Schon  als  lo-jähriger 
Knabe  beherrschte  er  bis  zur  Vollkommenheit  die  Technik 
seines  Fachs.  Er  führte  ein  sehr  unregelmässiges  Leben. 
Wo  er  die  Zeit  hernahm,  um  das  zu  schaffen,  was  er  ge- 
schaffen hat,  ist  einfach  unerklärlich.  Sein  Schüler  Hummel 
hat  als  Knabe  bei  ihm  gewohnt  und  wusste  später  viel 
Interessantes  darüber  zu  erzählen.  Den  Unterricht  hat  ihm 
Mozart  sehr  nachlässig  erteilt,  d.  h.  sehr  selten  und  zu 
ganz  ungewöhnlichen  Stunden.  Wenn  er  Nachts  spät  nach 
Hause  kam,  weckte  er  den  kleinen  Hummel  und  gab  ihm 
die  Musikstunde.  Aber  seine  Güte  und  sein  kindlicher 
Frohmut  waren  so  bezaubernd,  dass  Hummel  ihn  enthusia- 
stisch verehrte.  Er  wurde  von  Allen  geliebt.  Er  hatte 
einen  schönen  gleichmässigen  Charakter,  von  Stolz  keine 

'  Spur.  So  oft  er  mit  Haydn  zasammenkam,  bezeugte  er 
ihm  seine  Hochachtung  in  den  glühendsten  und  herzlichsten 
Ausdrücken.  Die  Reinheit  seiner  Seele  war  absolut.  Er  kannte 
keinen  Neid,  keine  Rachsucht  und  keine  Missgunst.  Ich 
glaube,  dass  alles  das  auch  aus  seiner  Musik  herausklingt, 
deren  Eigenschaft  es  ist,  die  Menschen  zu  versöhnen,  zu 
erleuchten,  zu  liebkosen. 

Unendlich  viel  könnte  ich  Ihnen  noch  von  diesem  son- 
nigen Genius  erzählen,  mit  dem  ich   einen  richtigen  Kul- 


-487  - 

tus  treibe;  obwohl  ich  gegen  musikahsch  Andersgläubigen 
sehr  tolerant  bin,  muss  ich  doch  gestehen,  dass  ich  Sie, 
meine  liebe  Freundin  gar  zu  gern  in  Bezug  auf  Mozart 
umstimmen  möchte.  Ich  weiss,  dass  das  sehr  schwer  ist. 
Ausser  Ihnen  bin  ich  in  meinem  Leben  noch  einigen  An- 
dern begegnet,  welche  ein  feines  Verständniss  für  die 
Musik  besassen,  aber  trotzdem  Mozart  nicht  anerkannten. 
Ich  hatte  vergeblich  versucht,  ihnen  die  Schönheiten  seiner 
Musik  aufzudecken.  Oft  wirken  rein  äusserliche  Umstände 
bestimmend  auf  unsere  musikalischen  Sympatieen.  Die 
„Don  Juan" -Musik  war  die  erste  Musik,  welche  einen 
erschütternden  Eindruck  auf  mich  gemacht  hat.  Sie  hat  eine 
heilige  Begeisterung  in  mir  entfacht,  welche  nicht  frucht- 
los geblieben  ist.  Durch  ihre  Vermittelung  bin  ich  in  jene 
Region  der  künstlerischen  Schönheit  eingedrungen,  in  wel- 
cher nur  Genien  wohnen.  Vorher  hatte  ich  nur  die  italie- 
nische Oper  gekannt.  Dass  ich  mein  Leben  der  Musik  ge- 
weiht,— das  verdanke  ich  Mozart.  In  meiner  einzigartigen 
\^erehrung  für  Mozart  hat  das  Alles  möghcherweise  eine 
Rolle  gespielt, — und  es  ist  vielleicht  thöricht  von  mir  von 
denen,  die  ich  lieb  habe,  zu  verlangen,  dass  sie  sich  Mo- 
zart gegenüber  ebenso  verhalten  wie  ich.  Aber  selbst  wenn 
ich  nur  ein  Geringes  dazu  beitragen  kann,  dass  Sie  Ihre 
Meinung  ändern, — so  wird  mich  das  schon  glücklich  ma- 
chen. Wenn  Sie  mir  einmal  mitteilen  werden,  dass  Sie 
durch  das  Adagio  des  D-moll  Quintetts  gerührt  worden 
seien, — so  wird  mich  das  hochertreuen.... 

Ich  habe  heute  das   Konzert   beendet.    Ich   will  es 

jetzt  noch  mehrere  Mal  mit  Kotek  (welcher  noch  hier  ist) 
durchspielen  und  dann  an  die  Instrumentierung  gehen. 

An  Frau  von  Meck: 

,,  Ciarens,  d.  18  März  1878. 

Heute  bin  ich  in  ganz  miserabler  Stimmung.  Nicht 

einmal  arbeiten  kann  ich,  weil  ich  mich  ganz  dem  Eindruck 
der  hoffnungslos  traurigen  und  drohenden  politischen  Nach- 
richten hingegeben  habe. 

Gleich  Ihnen  finde  ich,  dass  die  Friedensbedingungen 

sehr  massig  und  bescheiden  sind.  In  politischen  und  finan- 
ziellen Dingen  bin  ich  absolut  unwissend.  Ich  weiss  aber 
nicht,  ob  wir  Recht  haben  uns  darüber  zu  beklagen,  dass 
wir  nur  eine  so  kleine  Geldentschädigung  erhalten.  Ich 
glaube,  dass  nicht  das  türkische  Geld  uns  Not  thut,  wel- 


—  488  — 

ches  die  Türken  nicht  einmal  für  ilire  eigenen  Bedürfnisse 
auftreiben  können,  sondern  dauernder  Frieden,  denn  nur 
in  diesem  liegt  die  Garantie  des  Wiedergewinns  des  für 
den  Krieg  verausgabten  Geldes.  Das  Beispiel  Frankreichs 
und  Deutschlands  lehrt  uns,  dass  der  die  Kriegskontribution 
Empfangende  ebenso  wenig  bereichert  wird,  als  der  die 
Kontribution  zahlende  verarmt.  Noch  nie  war  Frankreich 
so  reich,  als  jetzt  nach  der  Zahlung.  Und  in  Deutschland 
hat  es  in  der  Entwickelung  der  Industrie  noch  nie  einen 
solchen  Stillstand  gegeben,  wie  nach  dem  Empfang  der 
5  Milliarden.  Die  maassvollen  Ansprüche  Rnsslands  müs- 
sen allen  unparteiisch  denkenden  Menschen  den  Beweis 
liefern,  dass  der  Krieg  unsererseits  nur  um  der  grossen 
Idee  willen  geführt  worden  ist. 

Das  Wetter  ist  ebenso  düster,  wie  der  politische  Hori- 
zont. Die  Sonne  haben  wir  schon  lange  nicht  mehr  gese- 
hen. Viele  Bäume,  die  schon  Knospen  getrieben  hatten, 
sind  infolge  des  Nachtfrostes  umgekommen.  Heute  war 
ich  garnicht  im  Stande  zu  arbeiten.  Ich  schämte  mich  ein- 
wenig, die  Abschrift  meines  Violinkonzertes  zu  beginnen, 
angesichts  einer  uns  drohenden  ganz  andern  Musik,  der 
Musik  der  Granaten,  Bomben,  Kugeln  und  Torpedo's. 

An  Frau  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  19  März  1878. 

Um  meinen  ausländichen  Ruhm  brauchen  Sie  nicht 

besorgt  zu  sein.  Wenn  es  mir  vorbehalten  ist  jemals  diesen 
Ruhm  zu  erringen,  so  wird  er  ganz  von  selbst  kommen, 
höchst  wahrscheinlich  aber  erst  dann,  wenn  ich  nicht  mehr 
unter  den  Lebenden  weilen  werde.  Wenn  man  bedenkt, 
dass  ich  auf  meinen  zahlreichen  ausländischen  Reisen 
niemals  den  Grössen  Besuche  gemacht,  Ihnen  niemals  meine 
Kompositionen  geschickt  habe  und  überhaupt  niemals  mei- 
nem Bekanntwerden  im  Ausland  entgegengekommen  bin, 
so  muss  man  schon  mit  den  geringen  Erfolgen  zufrieden 
sein,  deren  sich  meine  Werke  thatsächlich  erfreuen.  Wis- 
sen Sie,  dass  alle  meine  Klavierkompositionen  in  Leipzig 
nachgedruckt  sind,  desgleichen  auch  meine  Lieder  mit 
übersetzten  Texten.  In  allen  grösseren  Städten  sind  meine 
hauptsächlichsten  Werke  (ausser  den  Opern)  ohne  Schwie- 
rigkeit zu  haben.  Ich  selbst  habe  in  Wien  das  Arrange- 
ment (vierhändig)  meiner  dritten  Symphonie  gekauft,  auch 
mein  3.  Quartett.   Ich  habe  sogar  einige  mir  unbekannte 


-  489  - 

Transkriptionen  vorgefunden,  so.  z.  B.  die  Klavierbarca- 
role (opus.  37  bis)  für  Violine  und  Klavier,  das  Andante 
aus  dem  i.  Quartett — für  Flöte.  Bei  Brandus  in  Paris  sind 
alle  meine  Kompositionen  vorrätig. — Dass  meine  sympho- 
nischen Werke  so  selten  im  Ausland  gespielt  werden, 
dafür  giebt  es  viele  Gründe.  Erstens  bin  ich  Russe  und 
flösse  als  solcher  einem  Abendländer  ein  gewisses  Vorur- 
teil ein.  Zweitens  liegt  wiederum  weil  ich  Russe  bin  in  mei- 
ner Musik  für  einen  Westeuropäer  etwas  Fremdartiges  und 
Unbehagliches.  Meine  Ouvertüre  zu  „Romeo  und  Julia" 
ist  in  allen  Hauptstädten  gepielt  worden,  hat  aber  nirgends 
Erfolg  gehabt.  In  Wien  und  Paris  wurde  sie  ausgepfiffen. 
Vor  Kurzem  erging  es  ihr  in  Dresden  auch  nicht  besser. 
In  einigen  andern  Städten  (London  und  Hamburg)  hatte 
sie  mehr  Glück,  und  doch  bin  ich  in  das  ständige  sym- 
phonische Repertoir  Deutschlands  und  der  andern  musi- 
kalischen Länder  nicht  aufgenommen  worden.  In  den  musi- 
kalischen Kreisen  des  Auslandes  ist  mein  Dasein  nicht 
unbekannt.  Einige  Männer  haben  sogar  ein  regeres  Inte- 
resse für  mich  bekundet  und  sich  bemüht,  meinen  Namen 
auf  den  Konzertprogrammen  heimisch  zu  machen.  Sie 
sind  aber  auf  energischen  Widerstand  gestossen.  So  z.  B. 
Hans  Richter, — der  nämliche,  der  in  Bayreuth  dirigiert  hatte. 
Trotz  lebhaften  Protestes  hat  er  im  vorigen  Jahr  meine 
Ouvertüre  auf  das  Programm  eines  der  von  ihm  geleite- 
ten 8  philharmonischen  Konzerte  gesetzt.  Ungeachtet  des 
Misserfolges  wollte  er  heuer  meine  3.  Symphonie  auffüh- 
ren; nach  einer  Probe  hat  aber  der  Vorstand  der  phil- 
harmonischen Gesellschaft  die  Symphonie  ги  riissh-ch  ge- 
funden und  dieselbe  einstimmig  abgelehnt.  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  dass  ich  sehr  zur  Verbreitung  meiner  Kom- 
positionen im  Auslande  beitragen  könnte,  wenn  ich  den 
„Grössen"  Besuche  machen  und  ihnen  meine  Werke  auf- 
binden wollte.  Doch  will  ich  lieber  allen  Lebensfreuden 
entsagen,  als  das  thun.  О  Gott,  wie  viel  Qualen  muss  man 
erleiden,  wie  viel  Beleidigungen  seines  Ehrgeizes  muss 
man  hinnehmen,  ehe  man  die  Aufmerksamkeit  dieser  Her- 
ren erobert!  Ich  will  Ihnen  ein  Beispiel  geben.  Gesetzt 
den  Fall,  dass  ich  mir  in  Wien  einen  Namen  machen  möch- 
te. In  Wien  ist  Brahms  der  berühmteste  Mann.  Ich  müs- 
ste  also  diesem  meinen  Besuch  machen.  Brahms — ein  Licht, 
und  ich — ein  Unbekannter.  Ich  will  Ihnen  aber  ohne  falsche 
Bescheidenheit  sagen,  dass  ich  mich  viel  höher  schätze, 
als  Brahms.   Was  könnte  ich  ihm  sagen?  Wenn  ich   ein 


—  490  — 

ehrlicher  und  wahrheitsliebender  Mann  bin,  so  müsste  ich 
ihm  sagen:  „Herr  Brahms,  ich  halte  Sie  für  einen  unbe- 
gabten, pretentiösen  und  jeglicher  schöpfenden  Kraft  ent- 
behrenden Komponisten.  Ich  stelle  Sie  garnicht  hoch  und 
schaue  hochmütig  auf  Sie  herab.  Doch  habe  ich  Sie  nötig 
und  bin  nur  darum  zu  Ihnen  gekommen".  Bin  ich  aber  ein 
unehrlicher  Mann,  so  werde  ich  ihm  das  Gegenteil  sagen. 
Ich  kann  weder  das  Eine  noch  das  Andere. 

Auf  das  Nähere  brauche  ich  nicht  einzugehen.  Gerade 
Sie,  und  nur  Sie, —  und  vielleicht  auch  noch  meine  Brü- 
der— sind  im  Stande,  mich  ganz  zu  verstehen.  Meine  Mos- 
kauer Freunde  können  sich  bis  jetzt  noch  nicht  mit  der 
Thatsache  befreunden,  dass  ich  die  Delegation  in  Paris 
abgelehnt  habe.  Sie  können  es  nicht  begreifen,  dass  sol- 
che gewaltige  Namen,  wie  Liszt  (der  Delegirte  Ungarns), 
Verdi,  u.  s.  w.  mich  durch  ihren  ausserordentlichen  Ruhm 

erdrücken  würden Meine  liebe  Freundin,  ich  geniesse 

zwar  den  Ruf  der  Bescheidenheit,  ich  muss  Ihnen  aber  ganz 
im  Geheimen  beichten,  dass  meine  Bescheidenheit  nichts 
anderes  ist,  als  ein  verkappter  und  sehr  grosser  Ehrgeiz. 
Unter  allen  lebenden  Musikern  giebt  es  nicht  einen  Einzigen 
vor  dem  ich  gutwillig  mein  Haupt  neigen  würde.  Die  Na- 
tur, die  mich  mit  soviel  Stolz  ausgestattet  hat,  hat  mir 
gleichzeitig  das  Geschick  versagt,  meine  Waare  in's  rechte 
Licht  zu  setzen.  Je  ne  sais  pas  me  faire  valoir.  Ich  ver- 
stehe nicht  meinem  Ruhm  aus  eigener  Initiative  entgegen 
zu  gehen  und  ziehe  es  vor,  abzuAvarten,  bis  er  selbst  zu 
mir  kommt.  Ich  habe  mich  schon  längst  mit  dem  Gedan- 
ken vertraut  gemacht,  dass  ich  die  Anerkennung  meines 
Talents  seitens  der  Allgemeinheit  nie  erleben  werde.  Sie 
sprechen  von  A.  Rubinstein.  Wie  kann  ich  mich  ihm 
gleich  stellen?  Er  ist  doch  gegenwärtig  der  grösste  Pianist 
der  Welt.  In  ihm  hat  sich  ein  ausserordentlicher  Virtuos 
mit  einem  begabten  Komponisten  vereinigt,  so  dass  der 
Letztere  vom  Ersteren,  so  zu  sagen,  auf  den  Schultern 
getragen  wird.  Ich  werde  bei  Lebzeiten  nicht  den  lo-ten 
Teil  dessen  erreichen,  was  Rubinstein  erreicht  hat.  In  Be- 
treff Rubinstein's  möchte  ich  Ihnen  noch  Folgendes  sagen. 
In  der  Eigenschaft  meines  Lehrers  kennt  er  meine  musika- 
lische Natur  besser  als  irgend  ein  Anderer,  so  dass  er  mei- 
nen Ruf  im  Auslande  sehr  fördern  könnte.  Zum  Unglück 
hat  sich  diese  „Grösse"  mir  gegenüber  stets  sehr  hochmü- 
tig, ja  verachtend  verhalten.  Kein  Anderer  hat  meinem 
Ehrgeiz  schmerzlichere  Wunden  beigebracht,  als  er.  Aeus- 


—  491  — 

serlich  war  er  stets  liebenswürdig  und  freundlich  zu 
mir.  Durch  diese  Liebenswürdigkeit  und  Freundlichkeit 
liess  er  aber  durchschimmern,  dass  ich  ihm  nicht  einen 
Groschen  wert  sei.  Die  einzige  „Grösse",  welche  auf  Bezug 
auf  mich  von  den  besten  Absichten  erfüllt  ist— ist  Bülow.  Lei- 
der aber  kann  er  nicht  mehr  viel  thun,  da  er  krankheits- 
halber seine  künstlerische  Thätigkeit  aufstecken  musste. 
Dank  ihm  kennt  man  mich  in  Amerika  und  England  sehr 
gut.  Ich  besitze  eine  ganze  Menge  Zeitungsartikel,  welche 
in  diesen  Ländern  über  mich  geschrieben  und  mir  von 
Bülow  zugesandt  worden  sind. 

Sie  brauchen  sich  also  keine  Sorgen  zu  machen,  meine 
Teure.  Wenn  mir  der  Ruhm  vergönnt  sein  wird,  dann 
wird  er  schon  kommen,  langsamen  aber  sicheren  Schritts. 
Die  Geschichte  beweist  uns,  dass  ein  solcher  langsam  heran- 
nahende Ruhm  sehr  oft  viel  dauerhafter  ist,  als  ein  schnell 
und  leicht  erklommener.  Wie  viele  klangvolle  Namen  sind 
schon  in  das  Meer  der  Vergessenheit  versunken!  Es  scheint 
mir,  dass  der  Künstler  durch  mangelhafte  Anerkennung 
seiner  Zeitgenossen  sich  nicht  beirren  lassen  sollte.  Er 
soll  arbeiten  und  Alles  sagen,  was  zu  sagen  ihm  voraus- 
bestimmt ist.  Er  soll  wissen,  dass  ein  richtiges  und  gerech- 
tes Urteil  nur  die  Geschichte  fällen  kann.  Ich  will  Ihnen 
noch  mehr  sagen.  Vielleicht  trage  ich  mein  bescheidenes 
Teil  nur  deshalb  so  gleichgiltig,  weil  ich  an  das  gerechte 
Urteil  der  Ziihcnft  unerschütterlich  glaube.  Ich  labe  mich 
schon  jetzt  bei  Lebzeiten  am  Vorgeschmack  jenes  Ruhms, 
welchen  mir  die  Geschichte  der  russischen  Kunst  zuer- 
kennen wird.  Im  gegenwärtigen  Augenblick  begnüge  ich 
mich  aber  damit,  was  bereits  erreicht  ist.  Ich  habe  nicht 
das  Recht  mich  zu  beklagen.  Ich  habe  in  meinem  Leben 
Menschen  kennen  gelernt,  deren  feurige  Begeisterung  für 
meine  Musik  mich  für  die  Gleichgiltigkeit,  Verständniss- 
losigkeit  und  Missgunst  Anderer  vollauf  entschädigt. 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  22.  März  1878. 

Mein  Anfall  politischen  Fiebers  beginnt  sich  zu  legen. 
Ich  bin  überhaupt  sehr  pessimistisch  angelegt,  und  hatte 
mir  deshalb  schon  eingebildet,  dass  Russland  sich  am  Vor- 
abend eines  Krieges  und  damit  verbundenen  Unzuträglich- 
keiten befinde.  Heute  Avill  es  mir  scheinen,  dass  einige 
Hoffnung  auf  eine  bessere  Zukunft  vorhanden  sei.  Jedenfalls 


—  492  — 

gedenke  ich,  noch  vor  Beginn  der  Feindsehgkeiten — wenn 
sie  unvermeidhch  sein  sollten,  in  Russland  einzutreffen. 

Den  ersten  Satz  des  Konzerts  habe  ich  ganz  fertig 
gemacht,  d.  h.  rein  abgeschrieben  und  durchgespielt.  Ich 
bin  mit  ihm  zufrieden.  Das  Andante  hat  mich  nicht  befrie- 
digt und  ich  werde  es  entweder  radikal  \^erbessern  oder 
ein  ganz  neues  schreiben.  Das  Finale  ist,  wenn  ich  nicht 
irre,  ebenso  gut  gelungen  wie  der  erste  Satz. 

An  Frau  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  24.  März  1878. 

Mein  Konzert  werden  Sie  früher  erhalten,   als  es 

im  Druck  erscheint.  Ich  werde  eine  Abschrift  desselben 
machen  lassen  und  sie  Ihnen  wahrscheinlich  in  Laufe  des 
nächsten  Monats  zusenden.  Heute  habe  ich  ein  anderes 
Andante  geschrieben,  welches  den  beiden  sehr  komplizier- 
ten Ecksätzen  besser  entspricht.  Das  ursprüngliche  An- 
dante soll  ein  selbstständiges  Violinstück  bilden  und  zwei 
andern  beigefügt  werden,  die  ich  noch  zu  schreiben  beab- 
sichtige. Diese  drei  Stücke  zusammen  sollen  ein  Opus  für 
sich  bilden  und  Ihnen  bald  zugestellt  werden. 

Das  Konzert  kann  als  beendet  angesehen  werden  und 
Morgen  will  ich  mit  Feuereifer  an  die  Partitur  gehen, 
damit  ich  von  hier  abreisen  kann,  ohne  diese  Arbeit 
mehr  in  Perspektive  zu  haben.  Den  Sommer  will  ich 
ausschliesslich  der  Komposition  kleinerer  Stücke  für  Kla- 
vier, Violine  oder  Gesang  wddmen.  Das  wird  zugleich 
Erholung  und  Arbeit  sein.  Ich  fürchte  nur,  dass  ich  in 
Kamenka  nicht  die  für  die  Arbeit  nötige  Bequemlichkeit 
finden  werde.  Ich  habe  meine  Schwester  gebeten  für  mich 
einen  Raum  herzurichten,  wo  ich  ungestört  arbeiten  kann. 

S.  I.  Tanejeff  an  P.  I.  Tschaikowsk\': 

Den  18.  März  1878. 

Der  erste  Satz  Ihrer  Symphonie  ist  gegenüber  den  an- 
dern Sätzen  unverhältnissmässig  lang;  er  kommt  mir  wie  eine 
s^-mphonische  Dichtung  vor,  zu  welcher  die  drei  andern 
Sätze  wie  zufällig  beigefügt  sind,  um  eine  S\'mphonie  heraus- 
zumachen. Die  Trompetenfanfaren  der  Introduktion,  wel- 
che auch  an  andern  Stellen  wiederkehren,  der  ofte  Tem- 
powechsel des  Seitenthemas,  alles  das  lässt  mich  glauben, 
dass  es  sich  hier  um  eine  Programmmusik  handelt.  Uebri- 


—  493  — 

gens  gefällt  mir  dieser  Satz   sehr  gut.   Nur  der  Rytmus 

»  ß  *  . 

\   j  -j    erscheint  etwas  zu  oft  und  wirkt  ermüdend. 

Das  Andante  ist  allerliebst  (der  mittlere  Teil  gefällt  mir 
nicht  besonders).  Das  Scherzo  ist  köstlich  und  klingt  aus- 
gezeichnet. Das  Trio  mag  ich  nicht:  es  hört  sich  wie  ein 
Balletttanz  an. 

Nikolai  GregorjeW'itsch  gefällt  das  Finale  am  besten^ 
лvomit  ich  aber  durchaus  nicht  einverstanden  bin.  Die  Varia- 
tionen über  die  Volksmelodie  scheinen  mir  wenig  bedeu- 
tend und  uninteressant. 

Einen  Fehler  hat  die  Symphonie,  mit  welchem  ich  mich 
niemals  befreunden  werde,  und  dieser  Fehler  ist,  dass  in 
jedem  Satz  solche  Stellen  vorkommen,  welche  wie  Bal- 
lettmusik klingen:  der  Mittelteil  im  Andante,  das  Trio  im 
Scherzo,  eine  Art  Marsch  im  Finale.  Beim  Anhören  der 
Symphonie  drängt  sich  meinem  geistigen  Auge  unwillkür- 
Hch  die  Gestalt  unserer  „prima  ballerina"  auf,  verdirbt 
mir  die  Stimmung  und  hindert  mich  am  Genuss  der  zahlrei- 
chen Schönheiten  dieser  Symphonie. 

Das  ist  meine  aufrichtige  Meinung.  Vielleicht  ist  sie 
Ihnen  in  etwas  scharfer  Form  ausgedrückt,  doch  seien  Sie 
mir  nicht  böse.  Es  ist  nicht  zu  verwundern,  dass  mir  die 
Symphonie  nicht  ganz  gefällt.  Hätten  Sie  nicht  gleichzei- 
tig den  „Onegin"  hierher  geschickt,  dann  würde  mir  die 
Symphonie  wahrscheinlich  sehr  gut  gefallen  haben.  Sie  sind 
selbst  der  Schuldige:  warum  haben  Sie  eine  solche  Oper 
komponiert,  mit  welcher  nichts  einen  Vergleich  aushalten 
kann.  Der  „Onegin"  hat  mir  soviel  Genuss  bereitet,  dass  ich 
garnicht  im  Stande  bin,  auch  nur  das  Geringste  an  ihm 
auszusetzen.  Eine  herrliche  Oper!  Und  Sie  sagen,  dass  Sie 
aufhören  w^ollen  zu  schreiben?  So  schön  haben  Sie  noch 
nie  geschrieben.  Seien  Sie  froh,  dass  Sie  eine  derartige 
Vollkommenheit  erreicht  haben  und  nutzen  Sie  sie  aus. 

P.  I.  Tschaikowsky  an  S.  I.  Tanejeff: 

„Ciarens,  d.  27.  März  1878. 

Lieber  Serge,  Ihren  Brief  habe  ich  mit  dem  grössten 
Interesse  und  Vergnügen  durchgelesen.  Als  Antwort  müs- 
ste  ich  Ihnen  jetzt  eigentlich  eine  ausführliche  Kritik  Ihrer 
Partitur  schicken.  Doch  will  ich  das  um  einige  Tage  auf- 
schieben. Ich  hatte  sie  vor  14  Tagen  erhalten,  gerade  zu 
der  Zeit,  als  ich  ein  Violinkonzert  zu  komponieren  begann, 


—  494  — 

welches  ich  möglichst  bald  beenden  möchte,  damit  es  noch 
vor  meiner  Abreise  fertig  лvird.  Ihre  S3'mphonie  habe  ich 
schon  mehrere  Male  durchgespielt,  wage  es  aber  noch 
nicht,  ein  abschliessendes  Urteil  über  sie  zu  fällen.  Sobald 
ich  die  Sorge  um  das  Konzert  los  bin,  werde  ich  mich  ihr 
ganz  hingeben  und  Ihnen  dann  eine  umfassende  Meinung 
mitteilen. 

Ihre  Befürchtung,  dass  sie  in  der  Besprechung  meiner 
4-ten  S34'nphonie  sich  mitunter  recht  scharf  ausdrücken, 
ist  grundlos.  Sie  teilen  mir  nur  Ihre  aufrichtige  Meinung 
mit,  und  ich  bin  Ihnen  sehr  dankbar  dafür.  Ich  brauche 
ja  gerade  Meinungen  und  nicht  Dithiramben.  Nichtsdesto- 
weniger hat  mich  Vieles  in  Ihrem  Brief  merkwürdig  be- 
rührt. Ich  weiss  absolut  nicht,  was  Sie  unter  „Ballettmusik" 
verstehen  und  warum  Sie  sich  mit  ihr  nicht  befreunden 
können.  Verstehen  Sie  unter  „Ballettmusik"  eine  jede  lus- 
tige und  tanzartig  rytmisierte  Melodie?  In  diesem  Fall 
dürften  Sie  sich  aber  mit  den  meisten  Symphonieen  Beet- 
hoven's  ebenfalls  nicht  befreunden,  denn  da  treffen  Sie 
derartige  Melodieen  auf  Schritt  und  Tritt.  Oder  wollen  Sie 
sag^n,  dass  das  Trio  in  meinem  Scherzo  im  Style  Minkus, 
Gerber's  oder  Pugni's  gehalten  sei?  Das  verdient  es  aber 
doch  nicht,  wie  mir  scheint.  Ueberhaupt  kann  ich  es  nicht 
begreifen,  weshalb  in  dem  Ausdruck  „Ballettmusik"  durch- 
aus etwas  Tadelndes  liegen  soll?!  Die  Musik  eines  Bal- 
letts ist  doch  nicht  immer  schlecht,  es  giebt  auch  gute  (z. 
B.  „Sylvia"  von  Delibes).  Wenn  es  aber  eine  gute  ist,  dann 
dürfte  es  wohl  gleichgiltig  sein,  ob  unsere  „prima  balle- 
rina"  darnach  tanzt  oder  nicht.  Es  bleibt  mir  nichts  Ande- 
res übrig,  als  vorauszusetzen,  dass  die  Ihnen  nicht  ge- 
fallenden Stellen  meiner  Symphonie  Ihnen  nur  deshalb  nicht 
gefallen,  weil  sie  ballettähnlich  und  nicht  weil  sie  schlecht 
sind.  Sie  mögen  Recht  haben.  Es  ist  mir  dennoch  unklar, 
weshalb  in  einer  Symphonie  nicht  episodisch  auftretende 
Tanzmelodieen  vorkommen  dürfen,  selbst  wenn  ihnen  mit 
Absicht  ein  kleiner  Zug  gemeinen  groben  Humors  beige- 
mengt ist.  Ich  berufe  mich  wieder  auf  Beethoven,  welcher 
diesen  Effekt  sehr  oft  gebraucht  hat.  Des  weiteren,  füge  ich 
hinzu,  dass  ich  mir  erfolglos  den  Kopf  darüber  zerbreche, 
an  welcher  Stelle  des  Allegrosatzes  Sie  „Ballettmusik" 
gefunden  haben  können.  Das  ist  für  mich  ein  Rätsel. 
Was  Ihre  Bemerkung  anbelangt,  dass  meine  Symphonie 
nach  Programmmusik  klingt,  so  stimme  ich  dem  voll- 
kommen   bei.    Ich    sehe    nur    nicht   ein,    warum    das    ein 


—  495  — 

Fehler  sein  soll.  Ich  fürchte  mich  vor  dem  Gegenteil, 
d.  h.  ich  wünschte  nicht,  dass  unter  meiner  Feder  jemals 
symphonische  Werke  entstehen,  welche  Nichts  ausdrücken 
und  blos  Akkorden, — Rytmen-und  Modulationenspiel  be- 
deuten. Gewiss  ist  meine  Symphonie  Programmmusik, 
nur  ist  es  ganz  unmöglich,  ihr  Programm  in  Worte  zu 
fassen;  es  würde  komisch  wirken  und  gewiss  ausgelacht 
werden.  Sollte  aber  eine  Symphonie,  die  lyrischste  aller 
musikalischen  Formen,  gerade  so  sein?  Sollte  sie  nicht 
alles  das  ausdrücken,  wofür  es  keine  Worte  giebt,  was 
aber  aus  der  Seele  herausdrängt  und  ausgesprochen 
werden  will?  Uebrigens  muss  ich  Ihnen  bekennen,  dass 
ich  in  meiner  Einfalt  geglaubt  hatte,  der  Gedanke  dieser 
S\miphonie  sei  so  verständlich,  dass  sein  Sinn  in  allge- 
meinen Umrissen  auch  ohne  Programm  Jedem  zugänglich 
sein  würde.  Glauben  Sie  nur  garnicht,  dass  ich  mich  jetzt 
vor  Ihnen  mit  tiefen  Gefühlen  und  erhabenen  Gedan- 
ken prahlen  will.  Ich  hatte  durchaus  nicht  das  Bestreben, 
eine  neue  Idee  auszusprechen.  Im  Grunde  ist  meine 
S34Tiphonie  eine  Nachahmung  der  5-ten  Symphonie  Beet- 
hoven's,  d.  h.  ich  ahmte  nicht  ihren  musikahschen  Inhalt 
nach,  sondern  die  Grundidee.  Wie  denken  Sie,  giebt  es 
ein  Programm  für  die  5.  Symphonie?  Es  giebt  nicht  blos 
ein  Programm,  es  kann  sogar  nicht  die  geringste  Mei- 
nungsverschiedenheit darüber  herrschen,  was  sie  ausdrücken 
will.  Ungefähr  dasselbe  liegt  auch  meiner  Symphonie  zu 
Grunde,  und  wenn  Sie  mich  nicht  verstanden  haben,  so 
folgt  daraus,  dass  ich  kein  Beethoven  bin,  woran  ich 
niemals  gezweifelt  habe.  Ich  will  noch  hinzufügen,  dass 
es  in  dieser  Symphonie,  d.  h.  in  der  meinigen,  nicht 
einen  einzigen  Takt  giebt,  den  ich  nicht  durchfühlt  hätte 
und  der  nicht  ein  Wiederhall  meines  innersten  Seelenle- 
bens wäre.  Eine  Ausnahme  bildet  vielleicht  nur  die  Mitte 
des  ersten  Satzes,  in  welcher  es  einige  Gewaltmässigkeiten, 
zusammengeflickte  Stellen,  kurz-eine  Mache  giebt.  Ich  weiss, 
dass  Sie  beim  Lesen  dieser  Zeilen  lachen  werden.  Sie 
sind  ja  ein  Skeptiker  und  Spottvogel.  Sie  scheinen  trotz 
Ihrer  ganzen  Liebe  für  Musik  nicht  daran  zu  glauben, 
dass  man  aus  innerstem  Drang  heraus  komponieren  kann. 
Aber  warten  Sie  nur,  auch  Sie  werden  an  die  Reihe 
kommen!  Auch  Sie  werden  einst,  vielleicht  schon  sehr 
bald,  nicht  auf  Verlangen  Anderer  schreiben,  sondern  aus 
eigenem  Trieb.  Dann  erst  werden  auf  den  üppigen  Boden 
Ihres  Talents  Samen  fallen,  welche  herrliche  Früchte  tra- 


—  49б  — 

gen  werden.  Einstweilen  jedoch  harrt  Ihr  Boden  auf  die 
Saat.  Uebrigens  will  ich  Ihnen  darüber  im  nächsten  Brief 
schreiben.  In  Ihrer  Partitur  habe  ich  köstliche  Einzelheiten 
gefunden,  es  fehlt  nur....  doch  л\ч11  ich  nicht  voreilig  sein. 
In  meinem  nächsten  Brief  will  ich  nur  von  Ihnen  reden. 

Es  war  mir  sehr  interessant,  Etwas  über  „Francesca" 
zu  erfahren.  Das  hat  Cui  aber  nicht  selbst  erdacht,  dass 
das  erste  Thema  einem  russischen  Lied  ähnlich  klingt.  Ich 
habe  es  ihm  im  vorigen  Jahr  gesagt.  Hätte  ich  es  nicht 
gesagt,  wäirde  er  wahrscheinlich  garnichts  bemerken.  Der 
Wink,  dass  ich  unter  dem  Eindruck  der  „Nibelungen" 
gearbeitet  habe,  ist  sehr  richtig,  ich  habe  das  selbst  ge- 
fühlt. Wenn  ich  nicht  irre,  ist  es  ganz  besonders  in  der 
Introduction  wahr  zu  nehmen.  Ist  das  nicht  merkwürdig, 
dass  ich  mich  des  Einflusses  eines  mir  sehr  unsympati- 
schen  Kunstwerks  nicht  erwehren  konnte? 

Vieles  hat  sich  A'erändert,  seit  ich  Ihnen  schrieb,  dass 
ich  keine  Hoffnung  mehr  habe,  mich  mit  der  Komposition 
zu  beschäftigen.  Doch  ist  der  Autorenteufel  ganz  uner- 
warteter Weise  wieder  in  mich  gefahren.  Bitte  ersehen  Sie 
aus  der  Verteidigung  meiner  S3'mphonie  nicht  die  geringste 
Unzufriedenheit;  gewiss  wünsche  ich  stets,  dass  Ihnen  alles, 
was  ich  schreibe,  gefalle,  es  freut  mich  aber  auch  schon 
das  Interesse,  welches  Sie  mir  entgegenbringen.  Sieglauben 
garnicht,  wie  froh  ich  bin,  dass  Ihnen  der  „Onegin"  gefällt. 
Ich  schätze  Ihre  Meinung  sehr  hoch,  und  je  aufrichtiger 
Sie  mir  dieselbe  mitteilen,  je  mehr  gewinnt  sie  an  Wert. 
Ich  danke  Ihnen  also  von  ganzem  Herzen  und  bitte  fürchten 
Sie  nicht  die  Schärfen.  Ich  erwarte  von  Ihnen  gerade  die 
scharf  ausgedrückte  Wahrheit,  ob  sie  günstig  oder  ungün- 
stig lautet — ist  Nebensache". 

An  Frau  von  Meck: 

I.  April  1878. 

Als  ich  neulich  meinen  letzten  Brief  an  Sie  schrieb, 
meine  teure  Nadeshda  Filaretowna,  wurde  die  Thür  meines 
Zimmers  plötzhch  aufgerissen,  und  mit  einem  lauten  „Ist 
Peter  Iljitsch  zu  Hause?"  erschien  vor  mir  unser  geschätz- 
ter Landsmann,  der  General  a.  D.  ^'"■•,  den  ich  schon  von 
Moskau  her  ein  wenig  kannte.  Ich  habe  mich  von  Gästen 
so  entwöhnt  und  bin  mit  diesem  Herrn  so  selten  zusam- 
men gewesen,  dass  mich  sein  Kommen  sehr  überraschte, 
und  ich   ihn    anfangs  garnicht  erkannte.    Seine  Excellenz 


—  497  — 

hat  vor  Allem  seiner  Freude  darüber  Ausdruck  gegeben, 
mich  gesund  zu  finden.  Seine  Worte  klangen  aber  so,  als 
wenn  er,  während  er  sie  sprach,  eine  kleine  Enttäuschung 
verbergen  wollte.  Er  hatte  mich  wahrscheinlich  auch  für 
verrückt  gehalten.  Vielleicht  wollte  er  bei  mir  Material 
sammeln  für  eine  Erzählung  von  seinem  Wiedersehen  mit 
einem  geistesgestörten  Landsmann  in  der  Fremde,  doch 
dieser  Landsmann  erwies  sich  leider  als  ein  ganz  gesunder 
Mensch!  Der  General  nahm  Platz,  und  seinen  Lippen  ent- 
sprang ein  Schwall  von  Werten,  deren  ein  jedes  dumm, 
unkonsequent  und  empörend  platt  war.  Er  war  direkt 
aus  Moskau  hierher  gekommen  und  fühlte  sich  unbe- 
schreiblich glücklich,  so  weit  von  dem  verfluchten  Loch 
zu  sein.  Er  wünschte  möglichst  weit  von  Russland  zu 
leben  und  zu  sterben.  Unsere  Politik  hat  er  in  Grund 
und  Boden  kritisiert.  Die  Engländer  sind  nach  seiner  Mei- 
nung im  Recht.  Unsere  Handlungsweise  gegenüber  Europa 
sei  unehrlich.  Haben  wir  nicht  um  die  Slaven  gestritten? 
folglich  sei  es  gemein,  Kars  und  Batum  zu  annektieren 
und  eine  Kontribution  zu  verlangen.  Das  alles  sei  Gau- 
nerei und  eine  Affaire  verschiedener  Lieferanten,  Intendan- 
ten u.  s.  w.  u.  s.  w.  Ich  schwieg  und  bemühte  mich  durch 
unzufriedenen  Gesichtsausdruck  dem  General  zu  verste- 
hen zu  geben,  dass  ich  froh  sein  werde,  sobald  er  seinen 
Hut  und  seine  Handschuhe  ergreift.  Glauben  Sie  er  hat 
sich  verblüffen  lassen? — Nicht  im  geringsten.  „Nein,  mein 
Lieberchen,  ich  werde  Sie  nicht  eher  verlassen,  bis  Sie 
mir  etwas  Neues  von  Ihnen  vorspielen,"  sagte  er.  Um  sein 
Gehen  zu  beschleunigen,  spielte  ich  denn  eine  Kleinigkeit. 
Aber  auch  dann  wollte  er  nicht  gehen.  Endlich  sagte  ich 
ihm,  dass  ich  einen  notwendigen  Brief  beenden  müsste, 
und  zog  mich  ins  andere  Zimmer  zurück.  Er  gestattete 
mir  den  Brief  zu  beenden  und  blieb  doch.  Erst  in  der  Däm- 
merung erlöste  er  mich  von  seiner  Gegenwart,  nachdem 
ich  aufgehört  hatte,  seine  Fragen  zu  beantworten.  Beim 
Abschied  bat  er  mich,  ihn  und  seine  Frau  zu  besuchen 
und  sagte  dies  in  der  offenbaren  Zuversicht,  dass  mir  seine 
Einladung  sehr  schmeichelhaft  wäre.  Warum  ist  er  bei 
mir  gewesen?  In  Moskau  hatte  er  mich  те  besucht.  Was 
wollte  er  von  mir?  Das  ist  mir  unerklärlich.  Jetzt  will  ich 
Ihnen  erzählen,  wie  ich  mit  ihm  bekannt  geworden  bin. 
Dieser  General  beschäftigte  sich  seiner  Zeit  mit  Geldver- 
leihen, um  sehr  hohe  Prozente  natürlich.  Durch  Vermitte- 
lung   eines   gemeinsamen  Bekannten  hatte  ich   einst  eine 

Tschaikowaky,  M.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  32 


-  498  - 

kleine  Summe  bei  ihm  geliehen.  Unsere  gegenseitigen  Be- 
ziehungen wurden  durch  diese  Geldangelegenheit  bis  auf 
den  Grund  erschöpft.  Nichtsdestoweniger  hat  mir  Excel- 
lenz hier  in  der  Fremde  seinen  Besuch  gemacht,  und 
zwar  mit  einer  Miene,  als  wenn  Einer  ohne  den  Andern 
garnicht  leben  könnte. 

Sein  Besuch  hat  mich  in  eine  fürchterliche  Wut  gebracht. 
Er  war  der  Vorgeschmack  aller  jener  unv^ermeidlichen 
Begegnungen  und  Berührungen  mit  der  menschlichen  Ge- 
meinheit, welche  mir  in  Russland  bevorstehen,  und  vor 
denen  es  keine  Rettung  giebt,  ausser — die  Flucht.  So  lange 
er  bei  mir  sass  und  seinen  Unsinn  schwatzte  gab  ich  mir 
in  meinem  Innern  das  Wort,  zukünftig  in  solchen  Fällen  grob 
und  frech  zu  sein  und  unumwunden  zu  erklären,  dass  ich  in 
Ruhe  gelassen  zu  werden  wünsche.  Hierbei  habe  ich  nach 
Gebühr  schätzen  gelernt,  wie  wohlthätig  für  mich  der 
halbjährige  Aufenthalt  fern  von  allerlei  Behannten  und 
in  vollkommener  Sicherheit  vor  ihrer  frechen  Aufdringlich- 
keit gewesen  war.  Wahrscheinlich  werde  ich  erst  später 
den  ganzen  Wert  einer  solchen  Freiheit,  wie  ich  sie  hier 
genossen,  begreifen  lernen.  Doch  genug  vom  General. 

Es  ist  noch  früher  Morgen.  Ich  habe  heute  schlecht 
geschlafen  und  mich  nach  einem  missglückten  Versuch, 
ordentlich  auszuschlafen,  ans  Fenster  gesetzt  um  Ihnen 
zu  schreiben.  Welch'  herrhcher  Morgen!  Der  Himmel 
ist  ganz  klar.  Um  die  Berggipfel  am  jenseitigen  Ufer 
schweben  nur  ganz  leichte  ungefährliche  Wölkchen.  Aus 
dem  Garten  ertönt  das  Gezwitscher  einer  Unmenge  von 
Vögeln.  Der  Dent-du-Midi  ist  frei  und  im  Glänze  der 
Sonnenstrahlen,  welche  über  seine  Schneegipfel  gleiten, 
gar  herrlich  anzuschauen.  Der  See  ist  spiegelglatt.  Welche 
Prachtl  Ist  es  nicht  ärgerlich,  dass  erst  jetzt — so  kurz  vor 
meiner  Abreise — das  Wetter  schön  zu  werden  verspricht? 

Wegen  Mozart   möchte  ich  Ihnen  noch  Folgendes 

hinzufügen.  Sie  sagen,  dass  dieser  mein  Kultus  im  Wider- 
spruch zu  meiner  musikalischen  Natur  stehe.  Vielleicht 
habe  ich  Mozart  gerade  darum  so  lieb,  weil  ich  als  Kind 
meiner  Zeit  gebrochen  und  moralisch  krank  bin  und  in 
Mozart's  Musik,  in  w^elcher  die  Lebensfreudigkeit  einer 
ganzen,  gesunden,  noch  nicht  von  Reßex  zerfressenen 
Natur  zum  Ausdruck  kommt,  Beruhigung  und  Trost  suche. 
Es  scheint  mir  überhaupt,  dass  in  der  Seele  des  Künstlers 
die  schöpferische  Kraft  ganz  unabhängig  von  seinen  S^mi- 
patieen  oder  Antipatieen  ist;   man   kann  z.  B.  Beethoven 


—  499  — 

verehren,  und  doch  mehr  nach  Mendelssohn  hinneigen. 
Giebt  es  einen  grösseren  Widerspruch,  als  den  zwischen 
dem  Komponisten  BerHoz,  dem  Verfechter  des  musika- 
hschen  Ultraromantismus, — und  dem  Kritiker  BerHoz,  des- 
sen Abgott  Gluck  ist?  Vielleicht  äussert  sich  hierin  die  gegen- 
seitige Anziehungskraft  der  Gegensätze,  infolge  deren 
z.  B.  ein  grosser  und  starker  Mann  sich  gewöhnlich  in 
eine  kleine  und  schwache  Dame  verliebt  und  umgekehrt? 
Wissen  Sie,  dass  Chopin  Beethoven  nicht  gern  gehabt  hat 
und  einige  seiner  Kompositionen  nicht  ohne  Widerwillen 
anhören  konnte?  Das  erzählte  mir  ein  Herr,  der  ihn  per- 
sönlich gekannt  hat.  Ich  will  damit  sagen,  dass  die  Abwe- 
senheit der  geistigen  Verwandschaft  zwischen  zwei  Künst- 
lerindividualitäten eine  gegenseitige  Sympatie  nicht  aus- 
schliesst". 

An  Frau  von  Meck: 

„Ciarens,  d.  4.  April  1878. 

.....Indem  ich  mich  an  die  hier  verbrachten  sechs 
Wochen  erinnere,  muss  ich  mir  sagen,  dass  sie,  trotz  des 
schlechten  Wetters,  dennoch  schön  gewesen  sind.  Eine 
für  meine  misantropische  Natur  geeignetere  Umgebung 
kann  ich  mir  garnicht  denken.  Es  thut  mir  zwar  sehr  leid, 
dass  meine  Wirtin  so  unglücklich  ist,  nur  selten  Miether 
zu  haben,  aber  für  mich  ist  das  eine  sehr  angenehme  That- 
sache.  Ich  hatte  also  genügenden  Grund,  mir  einzubilden, 
dass  ich  in  einer  eigenen  Villa  wohne.  Ausser  uns  wohnte 
hier  nur  noch  eine  kranke  Dame,  welche  ihr  Zimmer  nie- 
mals verliess,  und  ein  kranker  Herr,  der  ebenfalls  immer 
in  seinem  Zimmer  eingeschlossen  sass.  Ferner,  die  herrli- 
che Gegend,  die  prachtvolle  Terasse  am  Ufer  des  Seees, 
die  Abwesenheit  naher  Nachbarn,  —  das  alles  war  sehr 
angenehm.  Endlich,  die  Gesellschaft  meines  Bruders  und 
seines  Zöglings,  die  Stille  ringsum,  die  Möglichkeit  un- 
gestört zu  arbeiten, — war  mir  sehr  viel  wert!" 

An  Frau  von  Meck: 

„Wien,  d.  8.  April  1878. 

Ich  hatte  einen  Spaziergang  nach  Ouchy  unternom- 
men; kurz  vor  meinem  Ziel  erblickte  ich  einen  Zug  der 
Drahtseilbahn,  der  nach  Lausanne  ging  und  im  Begriff 
war,  an  einer  kleinen  Station  Halt  zu  machen.  Ich  musste 


—  500  — 

mich  beeilen,  eine  ziemlich  steile  Treppe  hinunter  zu  laufen. 
Dabei  stolperte  ich,  fiel  und  rollte  in  vollkommen  be- 
wusstlosem  Zustand  die  ganze  Treppe  hinunter.  Einige 
Sekunden  konnte  ich  nicht  zu  mir  kommen.  Dann  fühlte 
ich  einen  sehr  intensiven  Schmerz  in  mehreren  Körper- 
theilen;  namentlich  hatte  die  rechte  Hand  gelitten,  Vielehe 
auch  in  der  Gegend  des  Gelenks  sehr  geschwollen  war. 
Einem  unglaublich  glücklichen  Zufall  habe  ich  es  zu  ver- 
danken, dass  ich  nicht  ernstlicher  beschädigt  worden  bin. 
In  diesem  Augenblick  spüre  ich  nur  einen  recht  starken 
Schmerz  bei  jeder  Bewegung  der  rechten  Hand,  so  dass 
mir  das  Schreiben  sehr  schwer  fällt.  Darin  hegt  aber 
nichts  Gefährliches.  An  dem  darauf  folgenden  Morgen 
haben  wir  Lausanne  verlassen.  Wir  mussten  in  Zürich 
übernachten  und  sind  dann  noch  24  Stunden  bis  Wien 
gefahren.  Heute  erholen  wir  uns  hier  und  wollen  Morgen 
früh  weiter  reisen.  Meinen  nächsten  Brief  bekommen  Sie 
aus  Russland. 

Ich  war  sehr  erstaunt,  dass  die  Jahreszeit  in  Wien 
viel  weiter  vorgeschritten  war,  als  in  Ciarens.  Während 
dort  die  Bäume  kaum  zu  grünen  begannen,  sieht  es  hier 
schon  ganz  sommerlich  aus.  Heute  ist  es  in  Wien  ganz 
besonders  sonnig  und  fröhhch,  so  dass  es  gewiss  einen 
schönen  Eindruck  auf  mich  machen  würde,  wenn  ich  die 
Morgenzeitungen  nicht  gelesen  hätte,  welche  voll  der 
giftigsten,  boshaftesten  und  gemeinsten  Verleumdungen 
Russlands  waren.  Die  „Neue  Freie  Presse"  bemüht  sich, 
ihren  Lesern  zu  beweisen,  dass  die  That  des  Mädchens, 
welche  auf  Trepoff  geschossen,  in  Russland  eine  ganze 
Revolution  hervorgerufen  habe,  dass  der  Kaiser  in  Gefahr 
sei  und  aus  Russland  fliehen  müsse  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Indem  ich  nun  die  fremden  Lande  verlasse  und  im 
Begriff  stehe,  als  vollkommen  gesunder  und  normaler 
Mensch,  welcher  sich  seiner  Kräfte  und  Energie  bewusst 
ist,  nach  Russland  zurückzukehren,  drängt  es  mich,  Ih- 
nen, meine  theuerste  Freundin,  noch  einmal  für  Alles  zu 
danken.  Ich  werde  es  nie  vergessen!" 


—  50I 


VII. 


An  N.  F.  von  Meck: 

„Kamenka,  d.  12.  April. 

Endlich    sind   wir   Gestern   hier   angekommen.   Die 

Reise  war  sehr  lang  und  ermüdend.  Meine  Erwartungen 
sind  getäuscht  worden.  Ich  hatte  immer  geglaubt,  dass 
die  Rückkehr  in  die  Heimath  süsse,  wohlige  Empfindun- 
gen in  mir  wachrufen  würde.  Nichts  derartiges!  Im  Ge- 
genteil: ein  grober  betrunkener  Gensdarm,  der  uns  lange 
nicht  durchlassen  wollte,  weil  er  nicht  begreifen  konnte, 
dass  die  Anzahl  der  ihm  von  mir  eingehändigten  Pässe 
der  Zahl  der  in  ihnen  angeführten  Personen  vollkommen 
entsprach;  ein  Zollbeamter,  welcher  unsere  Koffer  durch- 
wühlt und  ein  auf  Veranlassung  meiner  Schwester  für 
70  Eres,  gekauftes  Kleid  —  mit  14  Goldrubel  verzollt  hat; 
ein  Gensdarmerie-Offizier,  welcher  mich  sehr  misstrauisch 
betrachtete  und  mich  einem  scharfen  Verhör  unterwarf, 
ehe  er  mir  meinen  Pass  zurückgab;  die  schmutzigen  Wa- 
gen; ein  Gespräch  mit  einem  sehr  aufdringlichen  Herrn, 
welcher  mir  versicherte,  dass  die  Politik  Englands  die 
Humanität  selber  sei;  die  vielen  schmutzigen  Juden  mit 
dem  sie  überall  begleitenden  widerlichen  Geruch;  eine 
Masse  j'unger  Rekruten,  welche  mit  unserem  Zuge  trans- 
portiert wurden  und  die  Abschiedsszenen,  die  sich  zwi- 
schen ihnen  und  ihren  Müttern  und  Frauen  fast  auf  jeder 
Station  abspielten, — Alles  das  vergiftete  mir  die  Freude, 
das  heimatliche  und  innig  geliebte  Land  wiederzusehn. 
Bei  Station  Schmerinka  hatten  wir  einige  Stunden  Aufent- 
halt; leider  war  es  aber  Nacht,  so  dass  ich  Brailow  ^)  nicht 
sehen  konnte,  obwohl  ich  wusste,  in  welcher  Richtung 
es  lag.  Den  ganzen  gestrigen  Tag  war  ich  in  Erwartung 
der  Ankunft  in  Kamenka  sehr  aufgeregt.  Wir  wurden  von 
meiner  Schwester  und  der  ganzen  Verwandtschaft  em- 
pfangen. Es  haben  mir  Alle  so  viel  Liebe  und  Theilnahme 
bewiesen,  dass  ich  mich  sehr  bald  beruhigte  und  mich  in 
angenehmer,  sympatischer  Gesellschaft  fühlte.  Da  die 
Wohnung  meiner  Schwester  ziemlich  überfüllt  ist,  hat 
sie  mir  in  einem  besonderen  Häuschen  einige  sehr  nette 


1)  Die  Besitzung  Frau  von  Meck's. 


—  502  — 

und  ruhige  Zimmer  hergerichtet.  Auch  ein  Gärtchen,  dicht 
mit  Blumen  bepflanzt,  welche  bald  ihren  herrlichen  Duft 
ausströmen  werden,  wird  zu  meiner  Verfügung  stehn. 
Mein  Heim  ist  sehr  bequem  und  komfortabel  eingerichtet. 
Sogar  ein  Klavier  ist  beschaffen  worden  und  steht  in  dem 
kleinen  Zimmer  neben  der  Schlafstube.  Ich  werde  unge- 
stört arbeiten  können. 

Ihr  Brief  hat  mich  hier  erwartet  und  ist  mit  grossem 
Interesse  durchgelesen  worden.  Es  freut  mich  sehr,  liebe 
Nadeshda  Filaretowna,  dass  Sie  die  empörenden  Vorgänge 
in  Petersburg  und  Moskau  so  richtig  und  gerecht  beur- 
teilen. Ich  habe  es  übrigens  auch  nicht  anders  erwartet, 
obAvohl  ich  fürchtete,  dass  Sie  aus  Mitleid  mit  der  Person 
Sassulitsch,  einer  allerdings  ungewöhnlichen  und  unbe- 
dingt Sympatie  einflössenden  Erscheinung,  Ihre  Ansicht 
etwas  mildern  würden.  Das  ist  eben  ein  ander  Ding — die 
persönliche  Sympatie  und  der  Hass  gegen  die  freche  und 
hartherzige  Willkür  des  Petersburger  Präfekten,  und  wie- 
derum ein  ander  Ding  —  jene  antipatriotischen  Kundge- 
bungen, welche  ihre  Freisprechung  begleiteten,  sowie 
die  Rauferei  in  Moskau.  In  diesem  Augenblick  scheint 
es  mir,  dass  diese  beiden  Thatsachen  im  höchsten  Grade 
empörend  sind  und  ich  freue  mich,  dass  das  einfache 
russiche  Volk  es  verstanden  hat,  den  verrückten  Führern 
unserer  Jugend  zu  zeigen,  wie  sehr  ihr  Betragen  gegen 
den  gesunden  Menschenverstand  und  gegen  den  Volks- 
geist gerichtet  ist.  Es  war  mir  sehr  angenehm,  mich  von 
neuem  zu  vergewissern,  dass  trotz  kleiner  Meinungsver- 
schiedenheiten, wir  Beide  im  Grossen  und  Ganzen  diesel- 
ben Gedanken  haben". 

An  Frau  von  Meck: 

„Kamenka,  23.  April  1878. 

Heute  ist  ein  herrlicher  Tag.  Seit  der  Abreise  aus 

Florenz  bin  ich  so  sehr  vom  schlechten  Wetter  verfolgt 
worden,  dass  ich  mich  nicht  genug  freuen  kann  über  den 
endlich  beginnenden  Frühling.  Bis  jetzt  habe  ich  ihn  im- 
mer nur  erwartet.  Bis  zum  Walde  habe  ich  es  ziemlich 
weit;  der  Garten  ist  zwar  gross,  aber  nicht  sehr  malerisch. 
Die  Luft  ist  durch  die  Nähe  einer  Fabrik  etwas  verdor- 
ben. Der  alleinige  Reiz  des  hiesigen  Lebens  liegt  in  dem 
hohen  moralischen  Wert  meiner  hier  wohnenden  Ver- 
wandten, d.  h.  in  der  Familie  Davidoff. 


—  503  — 

Meine  Gesundheit  ist  gut.  Die  Arbeit  macht  gute  Fort- 
schritte. Die  Klaviersonate  nähert  sich  ihrem  Ende.  Nach- 
her will  ich  kleinere  Stücke  und  Lieder  schreiben. 

Meine  Schwester  hat  Heute  Namenstag;  es  sind  viele 
Gäste  geladen  und  ich  w^erde  wahrscheinlich  abends  Tänze 
aufspielen  müssen:  um  meiner  lieben  Nichten  willen. 

Das  hat  auch  sein  Gutes,  denn  es  erlöst  mich  von 
der  Notwendigkeit,  mich  mit  den  Gästen  zu  unterhalten". 

An  A.  Tschaikowsky: 

„Kamenka,  den  27.  April  1878. 

Mein  hiesiges  Leben  hat  schon  ganz  bestimmte  For- 
men angenommen.  Früh  morgens  nach  dem  Thee  unter- 
nehme ich  einen  kleinen  Spaziergang.  Dann  arbeite  ich 
bis  zum  Mittag.  Die  Arbeit  geht  gut  von  statten.  Seit  Du 
von  hier  abgereist  bist,  habe  ich  schon  drei  Sätze  der 
Sonate,  einen  Walzer  und  noch  ein  kleines  Stück  kompo- 
niert. Ich  befand  mich  schon  lange  nicht  mehr  in  einer, 
die  Arbeit  so  fördernden  Umgebung.  Ich  bin  vollkommen 
ungestört.  Nachmittags  schreibe  ich  Briefe,  besorge  die 
mir  von  Jurgenson  zugeschickten  Korrekturen  und  spaziere 
darauf  allein.  Den  Abend  verbringe  ich  im  grossen  Hause 
und  spiele  ziemlich  viel. 

Von  Nadeshda  Filaretowna  ist  ein  Brief  angekommen, 
in  welchem  sie  mir  den  Vorschlag  macht,  im  Mai  einige 
Tage  auf  ihrem  Gut  Brailow  in  völliger  Einsamkeit  zu- 
zubringen. Selbstverständlich  wird  sie  selbst  nicht  da  sein. 
Sie  will  erst  im  Juni  dahin  kommen.  Ich  habe  grosse 
Lust,  ihr  Anerbieten  anzunehmen.  An  meinem  Geburtstag 
erhielt  ich  zwei  Telegramme:  eines  von  Dir,  das  andere 
von  den  Professoren  des  Moskauer  Konservatoriums.  Ich 
nehme  an,  dass  Du  an  diesem  Tage  bei  ihnen  gewiesen 
bist  und  sie  an  mich  erinnert  hast.  Anders  kann  ich  mir 
diese  aussergewöhnliche  Aufmerksamkeit   nicht    erklären. 

Mein  Allgemeinbefinden  ist  ausgezeichnet,  körperlich 
sowohl,  als  auch  geistig.  Es  ist  ein  grosses  Glück,  sich 
seiner  Lieblingsbeschäftigung  so  hingeben  zu  können,  wie 
ich  es  augenblicklich  thue.  Mein  Kopf  ist  stets  von  al- 
lerlei musikalischen  Gedanken  erfüllt,  so  dass  ich  gar  keine 
Zeit  habe,  um  meine  Zukunft  besorgt  zu  sein". 


—  504  — 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Kamenka,  den  30.  April  1878. 

Die  Tage  vergehn  sehr  einförmig.  Diese  Lebens- 
weise übt  aber  eine  sehr  wohlthuende  und  beruhigende 
Wirkung  auf  mich  aus.  Ich  arbeite  recht  viel.  Die  Sonate 
ist  schon  fertig.  Desgleichen  auch  12  Stücke  mittlerer 
SchM^ierigkeit  für  Klavier  allein, — selbstverständlich  ist 
das  Alles  nur  skizziert.  Morgen  will  ich  eine  Sammlung 
von  Miniaturstücken  für  Kinder  beginnen.  Ich  denke  schon 
längst  daran,  dass  es  nicht  übel  wäre,  der  Bereicherung 
der  musikalischen  Kinderliteratur,  welche  gar  zu  dürftig 
ist,  nach  Kräften  zu  fördern.  Ich  will  eine  ganze  Reihe  ab- 
solut leichter  Stücke  machen  und  sie — ä  la  Schumann  mit 
für  Kinder  möglichst  interessanten  Titeln  versehn.  Für 
später  habe  ich  Lieder  und  Violinstücke  vorgemerkt,  und 
dann  möchte  ich — sofern  die  günstige  Stimmung  noch 
vorhalten  sollte,  etwas  für  die  Kirchenmusik  thun.  In  die- 
ser Beziehung  steht  den  Komponisten  noch  ein  weites 
und  fast  unberührtes  Gebiet  offen.  Bei  Bortnjansky  und 
Beresowsky  lasse  ich  allerdings  einige  Vorzüge  gelten, 
aber  es  ist  doch  erstaunlich,  wie  wenig  ihre  Musik  mit 
dem  byzantinischen  Styl  der  Architektur,  der  Gottesbilder 
und  mit  der  ganzen  Form  des  ortodoxen  Gottesdienstes 
harmoniert!  Wissen  Sie  vielleicht,  dass  die  musikahsche 
Kirchenkomposition  durch  die  Kaiserliche  Kapelle  voll- 
ständig monopolisiert  und  dass  es  verboten  ist,  solche 
Kirchengesänge  zu  drucken  und  in  Kirchen  zu  singen, 
welche  sich  nicht  in  den  veröffentlichten  Sammlungen  der 
Kapelle  befindet,  ferner  dass  diese  Kapelle  ihr  Monopol 
eifersüchtig  wahrt  und  unter  keinen  Umständen  neue  Ver- 
suche, die  heiügen  Texte  in  Musik  zu  setzen,  dulden 
will?  Mein  Verleger  Jurgenson  hat  ein  Mittel  gefunden, 
jenes  merkwürdige  Verbot  zu  umgehen,  und  will — falls 
ich  etwas  für  die  Kirche  schreiben  sollte — ^  meine  Musik 
im  Ausland  herausgeben.  Es  ist  sehr  leicht  möglich,  dass 
ich  mich  entschliessen  werde,  die  ganze  Liturgie  des  Joann 
Slatoust  in  Musik  zu  setzen.  Alles  das  will  ich  bis  zum 
Juli  in  Ordnung  bringen.  Den  ganzen  Monat  JuH  will  ich 
mich  vollständig  der  Erholung  hingeben,  um  im  August 
Avieder  ein  grösseres  Werk  in  Angriff  zu  nehmen.  Ich 
möchte  gern  eine  Oper  schreiben.  In  der  Bibliotek  mei- 
ner Schwester  fand  ich  die  „Undine"  von  Schukowsky,  für 
welche   ich    in  meiner   Kindheit   sehr   geschwärmt   hatte. 


—  505  — 

Ich  muss  Ihnen  sagen,  dass  ich  schon  im  Jahre  1869  aus 
diesem  Märchen  eine  Oper  gemaclit  und  dieselbe  der  Thea- 
terdirektion vorgelegt  hatte.  Sie  ist  aber  abgelehnt  wor- 
den. Das  schien  mir  damals  sehr  ungerecht,  später  jedoch 
wandte  ich  mich  selbst  von  meiner  Oper  ab  und  war  froh, 
dass  es  ihr  nicht  vergönnt  gewesen,  über  die  Bretter  zu 
gehn.  Vor  etwa  3  Jahren  habe  ich  die  ganze  Partitur  ver- 
brannt. Und  jetzt  habe  ich  wieder  Lust  zu  diesem  Text". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Kiew,  14.  Mai  1878. 

Mein  heutiges   Telegramm    aus  Kiew  hat  Sie  wohl 

sehr  erstaunt,  meine  liebe  Freundin?  Ich  bin  Gestern  ganz 
unerwartet  hierher  gekommen.  Meine  Schwester  musste 
früher  als  sie  glaubte  nach  Kiew  reisen  und  hat  mich 
und  auch  Modest  überredet,  sie  zu  begleiten,  denn  erstens 
wollte  sie  sich  nicht  von  Modest  trennen,  da  er  uns  schon 
nach  wenigen  Tagen  verlassen  muss,  und  zweitens  war 
ihr  unsere  Begleitung  sehr  nützlich,  weil  sie  mit  fünf  Kin- 
dern die  Reise  angetreten  hatte.  Ihren  Brief  mit  der  aus- 
führhchen  Beschreibung  des  Weges  nach  Brailow  habe 
ich  in  Kamenka  nicht  abgewartet.  Jedenfalls  werde  ich 
am  Dienstag  um  9  Uhr  Abends  abreisen  und  Mittwoch 
früh  um  7  in  Schmerinka  eintreffen". 


•f|\> 


IX. 

An  M.  Tschaikowsk}?^: 

„Brailow,  den  17.  Mai  1878. 

Nachdem  wir  uns  verabschiedet  hatten,  beschäftigte 

ich  mich  im  Eisenbahnwagen,  selbstverständlich,  mit  dem 
Vergiessen  zahlloser  Thränen.  Es  tauchte  in  mir  die  Erin- 
nerung an  unsere  Begegnung  in  Mailand  auf.  Wie  schön 
war  es  damals!  Die  Reise  von  da  nach  Genua  und  wei- 
ter—  war  doch  herrlich!....  Hier  Ströme  von  Thränen. 
Das  Alles  schien  mir  nur  deshalb  so  schön,  weil  es  gewe- 


—  5o6  — 

seil  ist  und  nie  wiederkehren  kann.  Seither  ist  fast  ein 
halbes  Jahr  verflossen! 

Hier  wieder  Thränen  u.  s.  w.  u.  s.  w,  bis  ich  end- 

Hch  einschlief.  Ich  erwachte  erst  in  der  Nähe  von  Schme- 
rinka und  erblickte  einen  unweit  der  Eisenbahnlinie  ar- 
beitenden Dampfpflug.  Einer  der  Mitreisenden,  welcher 
die  Gegend  zu  kennen  vorgab,  erzählte,  dass  Brailow  dem 
Bankier  Meck  gehöre,  drei  Millionen  gekostet  habe  und 
dem  Besitzer  700,000  Rubel  jährlich  einbringe  und  ähnli- 
ches dummes  Zeug.  Ich  war  sehr  aufgeregt.  Im  Warte- 
saal wurde  ich  von  demselben  Kellner  freundschaftlichst 
begrüsst,  welcher  uns  damals,  weisst  Du  noch — das  Abend- 
essen servierte;  ich  schickte  ihn  nachzusehn,  ob  Pferde 
aus  Brailow  da  wären.  Nach  2  Minuten  erschien  Marcel, 
луекЬег  übrigens  gar  kein  Franzose  ist.  Er  war  mir  ge- 
genüber von  einer  ausserordentlichen  Liebenswürdigkeit 
und  Zuvorkommenheit  und  besass  einen  viel  schöneren 
Paletot  und  Hut  als  wie  ich,  so  dass  ich  mich  ordentlich 
schämte,  in  der  prachtvollen  Equipage  zu  sitzen,  während 
er  auf  dem  Bock  neben  dem  Kutscher  seinen  Platz  hatte. 
Die  Fahrt  nach  Brailow  dauerte  etwa  eine  Stunde.  Das 
herrschaftliche  Haus  ist  im  wahren  Sinne  des  Wortes  ein 
Schloss.  Mein  Zimmer  ist  mit  allem  Komfort  ausgestattet. 
Nachdem  ich  mich  gewaschen  hatte,  begab  ich  mich,  der 
Einladung  Marcels  folgend,  ins  Speisezimmer,  wo  ein  gros- 
ser silberner  Samowar  auf  dem  Tisch,  eine  Kaffekanne 
über  einem  Spiritusflämmchen,  Porzellangeschirr,  Eier, 
Butter,  u.  s.  w.  meiner  harrten.  Der  Kaffee  und  der  Thee 
schmeckten  ideal.  Ich  habe  sofort  bemerkt,  dass  Marcel 
instruirt  ist:  er  lässt  sich  in  keine  Unterhaltungen  ein, 
steckt  nicht  hinter  dem  Stuhl,  sondern  serviert  das  Nötige 
und  entfernt  sich  sofort.  Er  fragte,  wie  ich  den  Tag  ein- 
zutheilen  wünsche?  Ich  befahl  um  eins  das  Mittagessen 
und  um  neun  Thee  mit  kaltem  Abendbrot.  Nach  dem 
Kaffee  besichtigte  ich  das  Haus,  welches  aus  einer  ganzen 
Reihe  prachtvoll  möblierter  Wohnungen  besteht.  Ein  sehr 
grosses,  steinernes  Seitengebäude,  w^elches  eigens  für  Gäste 
bestimmt,  ist  nach  Art  eines  Hotels  eingerichtet:  ein  langer 
Korridor  und  zu  beiden  Seiten  Zimmer,  welche  stets  so 
gehalten  werden,  als  wenn  sie  bewohnt  wären.  Die  erste 
Etage,  in  welcher  ich  wohne,  ist  mit  dem  raffiniertesten 
Komfort  ausgestattet.  In  meinem  Zimmer  sind  alle  nur 
denkbaren  Toiletteartikel  vertreten:  allerlei  Bürsten  und 
Bürstchen,  Kämme,  Seifen,  Pulver  u.  s.  w.,  alles  ganz  neu. 


—  507  — 

Auf  zwei  Tischen  liegen  Papier,  Federn  und  andere  Schreib- 
utensilien. In  verschiedenen  Zimmern  stehn  Schränke  mit 
Büchern,  unter  denen  viele  interessante  illustrierte  Ausga- 
ben. Im  Musiksaal:  ein  Flügel,  ein  sehr  schönes  Harmo- 
nium und  eine  Masse  Noten.  Im  Gemach  N.  F.'s  hängen 
einige  Bilder,  unter  denen  sich  auch  „Johannes  der  Täufer" 
befindet,  der  mir  aber  nicht  gefallen  hat.  Um  ein:  ging  ich 
wieder  in's  Speisezimmer  und  ass  Mittag.  Es  war  sehr 
fein,  obwohl  etwas  leicht  zubereitet.  Der  Wein  war  aus- 
gezeichnet. Nachmittag  durchwühlte  ich  die  Noten  und 
machte  dann  einen  Spaziergang  durch   den  Garten.   Um 

4  bestellte  ich  den  Wagen  und  fuhr  aus Brailow  selbst 

ist  keine  sehr  schöne  Gegend.  Aus  den  Fenstern  des  Hau- 
ses hat  man  garkeine  Aussicht.  Der  Garten  ist  gross, 
reich  an  Vegetation  (namentlich  Flieder  und  Rosen),  aber 
auch  nicht  malerisch  und  zu  wenig  schattig.  In  Summa  ge- 
fällt mir  das  Haus  am  besten.  Wie  man  sagt,  ist  die  Um- 
gegend sehr  schön " 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  den  17.  Mai  1878. 

Ihr  aufrichtiges  Urteil  über  mein  VioHnkonzert  freut 

mich  sehr.  Es  wäre  mir  sehr  unangenehm,  wenn  Sie  aus 
Furcht,  den  kleinlichen  Autorenehrgeiz  zu  verletzen,  mit 
Ihrem  Urteil  zurückgehalten  hätten.  Uebrigens  muss  ich 
den  ersten  Satz  des  Konzertes  ein  wenig  in  Schutz  neh- 
men. Selbstverständlich  birgt  er,  wie  ein  jedes  Virtuosen- 
zwecken dienende  Stück  viel  Verstandesarbeit, — ^jedoch  die 
Themen  sind  nicht  herausgequält,  und  der  Plan  zu  diesem 
Satz  ist  plötzlich  in  meinem  Kopf  entstanden  und  hat  sich 
schnell  in  eine  Form  ergossen.  Ich  will  die  Hoffnung  nicht 
verlieren,  dass  Sie  mit  der  Zeit  mehr  Freude  an  dem  Stück 
finden  werden". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  den  18.  Mai  1878. 

Nachdem  ich  Ihnen  den  gestrigen  Brief  geschrieben 

hatte,  war  ich  ein  wenig  spazieren  gegangen.  Wie  schön, 
wie  frei  ist  es  hier  bei  Ihnen!  Die  Sonne  stand  schon 
tief,  und  auf  der  grossen  Wiese  vor  der  Haupteinfahrt 
war  bereits  die  Sonnenglut  der  kühlen  Abendluft  gewichen. 
Der  Flieder  verbreitete  seine  Düfte,  Maikäfer  surrten  hin 


-  5o8  - 


und  her,  eine  Nachtigall  begann  zu  flöten  und  aus  weiter 
Ferne  ertönte  Gesang.  Es  war  herrlich!  Den  Rest  des 
Abends  widmete  ich  der  genauen  Durchsicht  Ihrer  Noten 
und  dem  Musizieren.  Ich  habe  unter  anderem  mit  grossem 
Interesse  ein  Trio  von  Näprawnik  durchgespielt  und  war 
sehr  erstaunt,  im  letzten  Satz  desselben  einen  kleinen 
musikalischen  Diebstahl  zu  entdecken.  Das  Seitenthema 
ist  nämlich  Note  für  Note  meinem  „Wakula"  entnommen: 


bei  Näprawnik: 


AU-o 


^k 


Iziki 


^~^ 


bei  mir: 


Sogar  in  derselben  Tonart!  Uebrigens  beeinträchtigt 
dieser  Umstand  nicht  im  geringsten  den  Wert  der  ganzen 
Komposition.  Selbst  die  genialsten  Männer  haben  sich 
manchmal  diverser  Plagiate  schuldig  gemacht  (Mozart  bei 
Händel,  Beethoven  bei  Mozart).  Das  Trio  von  Näprawnik 
ist  mit  viel  Talent  und  Meisterschaft  geschrieben " 

An  Frau  von  Meck: 

„Brailow,  den  21.  Mai  1878. 

Mein  Leben  in  Brailow  fliesst  regelmässig  dahin.  Früh 
morgens  nach  dem  Kaffee  spaziere  ich  im  Garten,  ver- 
lasse ihn  ader  bald  durch  das  kleine  hölzerne  Thor  in  der 
Nähe  der  Stallungen,  springe  über  den  Graben  und — vor 
mir  liegt  jener  alte  verlassene  Klostergarten,  in  welchem 
einst  Mönche  wandelten,  welchen  aber  jetzt  allerlei  Vögel 
bevölkern,  darunter  auch  Nachtigallen;  dieser  Garten  wird 
wahrscheinlich  von  keiner  Menschenseele  besucht,  denn 
die  Wege  sind  dicht  verwachsen,  das  Grün  ist  so  frisch 
und  rein,  dass  man  glauben  könnte,  man  wäre  im  Walde. 
Zuerst  gehe  ich  etwas  umher,  dann  setze  ich  mich  ge- 
wöhnlich an  irgend  einem  schattigen  Plätzchen  nieder 
und  bleibe  da  etwa  eine  Stunde.  Solche  Momente  der 
Einsamkeit  inmitten  der  grünen  und  blühenden  Natur  sind 
unvergleichlich;  ich  lausche  und  beobachte  jenes  organische 
Leben,  welches  sich  ohne  Geräusch  und  ohne  Lärm  aus- 


—  509  — 

sert  und  dennoch  lauter  von  seiner  Grösse  und  Uner- 
messlichkeit  spricht,  als  der  Strassenlärm  und  das  Gewoge 
und  Getriebe  einer  Stadt.  In  einem  Ihrer  Briefe  sagten 
Sie,  ich  würde  keine  Gorges  de  Chaudiere  u.  s.  w.  in 
Brailow  vorfinden.  Ich  brauche  sie  aber  auch  nicht!  Sie 
befriedigen  mehr  die  Neugier,  als  Herz  und  Gemüt;  da 
giebt  es  mehr  Engländer  als  Vögel  und  Blumen;  mehr 
Ermüdung  als  Genuss.  Niemals  habe  ich  im  Ausland 
solche  Momente  heiligen  Entzückens  erlebt, — selbst  nicht 
inmitten  der  herrlichsten  und  üppigsten  Schönheiten  der 
südlichen  Natur, — welche  für  mich  sogar  mehr  bedeuten, 
denn  jegliche  Kunstgenüsse.  Uebrigens  habe  ich  darüber 
schon  oft  mit  Ihnen  geplaudert. 

Nach  dem  Spaziergang  arbeite  ich  an  den  Violinstüc- 
ken, von  denen  eines  schon  ganz  fertig  ist.  Wenn  ich 
nicht  irre,  wird  es  Ihnen  gefallen,  obwohl  die  Begleitung 
an  einigen  Stellen  ziemlich  schwer  ist  und  Ihnen  wahr- 
scheinlich nicht  behagen  dürfte.  Die  zwei  anderen  Stücke 
sollen  ganz  leicht  werden. 

Punkt  ein  Uhr  ruft  mich  Marcel  in's  Speisezimmer,  wo 
mitten  auf  dem  geschmackvoll  arrangierten  Tisch  jedes- 
mal zwei  grosse  Blumensträusse  stehn,  über  welche  ich 
mich  stets  von  neuem  freue.  Hier  giebt  es  dann  ein  rich- 
tiges festin  de  Balthazar.  Jedes  mal  geniere  und  schäme 
ich  mich  ein  wenig,  ganz  allein  an  einem  so  grossen  und 
so  prachtvoll  dekorierten  Tisch  zu  sitzen. 

Nach  Tisch  spaziere  ich  im  Garten,  oder  lese,  oder 
schreibe  Briefe,  gegen  4V2  Uhr  unternehme  ich  eine  Spa- 
zierfahrt. 

Gestern  ist  wegen  Regens  meine  übliche  Wanderung 
auf  der  vor  dem  Hause  liegenden  Wiese  unterblieben. 
Während  des  Sonnenuntergangs  liebe  ich  mehr  freie  Plätze, 
und  diese  Wiese,  w^elche  von  Bäumen,  Fliederbüschen  und 
dem  Flüsschen  begrenzt  ist,  bildet  einen  bezaubernden 
abendlichen  Spaziergang. 

Dann  spiele  ich  gewöhnlich  ein  halbes  Stündchen  auf 
Ihrem  prachtvollen  Harmonium.  Es  macht  mir  Freude, 
dabei  über  jene  interessanten  akustischen  Erscheinungen, 
welche  Aliquottöne  heissen,  Beobachtungen  anzustellen.  Es 
ist  Ihnen  wahrscheinlich  nicht  entgangen,  dass  beim  Spiel 
von  Akkorden  auf  dem  Harmonium  ausser  den  Tönen, 
welche  den  niedergedrückten  Tasten  entsprechen,  stets 
noch  ein  Ton  im  Bass  mitklingt,  welcher  mit  dem  Akkord 
entweder  harmoniert,  oder  eine  scharfe  Dissonanz  bildet.. 


—  5IO 


Mitunter  erscheinen  dabei  die  eigentümlichsten  Kombina- 
tionen, Folgendes  habe  ich  gestern  entdeckt: 


Rechte  Hand: 


Linke  Hand: 


Aliquottöne: 


'=^^^=Л 


^ 


■^-I&. 


\       \        \         -r        4" 


Prüfen  Sie  doch  gelegentlich  dieses  akustische  Expe- 
riment, indem  Sie  die  Register  №  i  ziehn,  das  heisst  Flute 
et  Cor  anglais.  D  und  Fis,  А  und  С  sind  vollkommen  rein, 
während  das  E  etwas  zu  hoch  erklingt. 

Während  ich  Ihnen  schreibe,  tobt  draussen  ein  heftiges 
Gewitter.  Als  ich  des  morgens  aus  dem  Hause  trat,  wusste 
ich  sofort,  dass  es  kommen  würde,  und  erwartete  es  mit 
Ungeduld.  Trotz  dem  ganz  klaren  Himmel,  war  die  Luft 
so  schwül,  dass  ich  mich  kaum  bewegen  konnte.  Ich  habe 
dem  Gottesdienst  in  der  Kirche  beigewohnt.  Zwei  Nonnen- 
chöre sangen  sehr  schön.  Ich  hörte  verschiedene  recht 
originelle  und  mir  noch  unbekannte  Melodieen.  Leider 
drang  die  schwüle  Luft  auch  in  das  Innere  der  Kirche  ein, 
so  dass  ich  bald  Kopfschmerzen  bekam  und  nach  Hause 
ging. 

Um  neun  Uhr  findet  le  2-ieme  festin  de  Balthazar  statt. 
Dann  spiele  ich  und  mache  mich  mit  Ihrer  musikalischen 
Bibliotek  bekannt.  Gestern  habe  ich  mit  grossem  Vergnügen 
einige  Streichserenaden  von  Volkmann  durchgespielt.  Ein 
sympatischer  Komponist.  Er  hat  viel  Einfachheit  und  na- 
türliche Schönheit.  Wie  schön  ist  z.  B: 


Wissen  Sie  auch,  dass  dieser  Volkmann  ein  ganz  altes 
Männchen  ist  und  in  Pest  in  ganz  ärmlichen  Verhältnissen 
lebt?  Einst  hatte   man  in  Moskau   in  Musikerkreisen  eine 


—  511  — 

kleine  Sammlung  für  ihn  unternommen,  deren  Resultat  300 
Rbl.  gewesen  sind.  Aus  Dankbarkeit  hat  er  seine  2-te 
S^'mphonie  der  Moskauer  Musikalischen  Gesellschaft  ge- 
widmet. — Uebrigens  habe  ich  es  nie  herauskriegen  können, 
weshalb  er  eigentlich  so  arm  ist. 

Um  II  ziehe  ich  mich  auf  mein  Zimmer  zurück,  ent- 
kleide mich,  lasse  meine  Gedanken  schweifen,  schwelge  in 
Erinnerungen,  denke  an  meine  Freunde,  öffne  das  Fenster, 
betrachte  die  Sterne,  lausche  in  die  Nacht  hinaus  und — 
gehe  dann  erst  zu  Bett.... 

Ein  köstliches  Leben!  Wie  ein  Traum!  Teure,  innig 
geliebte,  N.  F.,  wie  bin  ich  Ihnen  dankbar  für  Alles,  für 
Alles!  Manchmal  erfüllt  mich  das  Gefühl  der  Dankbarkeit 
so  sehr,  dass  ich  laut  aufschreien  möchte..." 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  23.  Mai  1878. 

Als  ich  Gestern  durch  die  Wälder  streifte,  fand  ich 

eine  grosse  Menge  Pilze.  Das  Pilzesuchen  ist  eines  meiner 
grössten  sommerlichen  Vergnügen.  Der  Moment,  da  man 
einen  schönen  kräftigen  Steinpilz  erblickt — -ist  einfach 
köstlich.  Ein  ähnliches  Gefühl  müssen  leidenschaftliche 
Kartenspieler  haben,  wenn  sie  lauter  Trümpfe  in  die  Hände 
bekommen.  Die  ganze  Nacht  habe  ich  von  roten,  dicken, 
ungeheuren  Pilzen  geträumt.  Als  ich  erwachte,  fiel  mir 
ein,  dass  solche  Pilzträume  eigentlich  ein  ganz  kindlicher 
Characterzug  seien.  Und  in  der  That  wird  man  zum  Kinde, 
wenn  man  längere  Zeit  ganz  allein,  inmitten  der  Natur 
lebt;  man  wird  für  die  einfachen,  ungekünstelten  Freuden, 
welche  die  Natur  bietet,  viel  empfänglicher.  Gestern  z.  В., 
habe  ich  nahezu  eine  Stunde  lang  beobachtet,  wie  eine,  in 
einen  Ameisenhaufen  gerathene  Schnecke  auf  das  heftigste 
von  den  Ameisen  bedrängt  wurde.  Sie  setzten  dem  gros- 
sen aber  unschädlichen  Feind  derart  zu,  dass  die  arme 
Schnecke  konvulsiv  zuckend  sich  bemühte,  möglichst  tief 
in  ihr  Häuschen  zu  kriechen.  Aber  die  Ameisen  folgten 
ihr  auch  dahin  und  brachten  sie  so  weit,  dass  die  Kräfte 
sie  endlich  vollständig  verliessen.  Ich  verstehe  nicht,  wie 
man  auf  dem  Lande  sich  auch  nur  einen  Augenblick 
langweilen  kann?  Ist  denn  diese  kleine  Szene,  in  deren 
mikroskopischen  Grössenverhältnissen  sich  ein  tragischer 
Kampf  vieler  Individuen  abgespielt  hat,  nicht  tausend  mal 
interessanter,  als  das  geistlose  Geschwätz  der  sogenannten 
Gesellschaftsunterhaltungen?! 


—  =;i2 


Wissen  Sie  was  mich  jetzt  sehr  beschäftigt?  Als  ich 
eines  Abends  in  Kiew  allein  zu  Hause  sass,  während  mei- 
ne Schwester  und  Modest  sich  eine  Vorstellung  von  „Ro- 
meo und  Julie"  mit  Rossi  als  Titelhelden  im  Theater  an- 
sahen, las  ich  dieses  Drama  wieder  einmal  durch.  Sofort 
setzte  sich  der  Gedanke  in  mir  fest,  eine  Oper  daraus  zu 
machen.  Die  Opern  Bellini's  und  Gounod's  erschrecken 
mich  nicht.  In  ihnen  ist  Shakespeare  bis  zur  Unkenntlich- 
keit entstellt.  Finden  Sie  nicht  auch,  dass  dieses  erzge- 
niale Drama  wohl  geeignet  ist,  einen  Musiker  zu  begei- 
stern? Ich  habe  mich  schon  mit  Modest  darüber  beraten. 
Er  scheut  aber  vor  der  Grösse  der  Aufgabe  zurück. 
Doch  wer  nichts  wagt,  gewinnt  nichts.  Ich  werde  viel  über 
das  Szenarium  nachdenken  und  möchte  gern  alle  meine 
Kräfte  einsetzen,  deren  ich  noch  einige  im  Vorrat  habe". 

An  M.  Tschaikowsky: 

„Brailow,  25.  Mai  1878. 

Modi,  seitdem  ich  Romeo  und  Julie  wieder  gelesen 

habe,  erscheinen  mir  Undine,  Berthalde,  Gulbrand,  u.  s.  w. 
wie  der  grösste  kindische  Unsinn.  Selbstverständlich  werde 
ich  Romeo  und  Julie  schreiben.  Alle  Deine  Entgegnungen 
verschAvinden  vor  der  enormen  Begeisterung,  welche  mich 
ergiffen  hat.  Das  soll  mein  kapitalstes  Werk  werden. 
Es  kommt  mir  jetzt  lächerlich  vor,  dass  ich  bisher  nicht 
einsehen  lernte,  dass  ich  gewissermaassen  vom  Schicksal 
dazu  bestimmt  bin,  dieses  Drama  in  Musik  zu  setzen. 
Es  giebt  nichts  passenderes  für  meinen  musikalischen  Cha- 
rakter. Keine  Könige,  keine  Märsche,  mit  einem  Wort  nichts, 
was  die  üblichen  Zuthaten  der  grossen  Oper  sind.  Nur 
Liebe,  Liebe  und  wieder  Liebe.  Und  dann,  wie  reizvoll 
sind  die  Nebenpersonen:  Lorenzo,  Thiebald,  Merkuzio!  Die 
Einseitigkeit  brauchst  Du  nicht  zu  fürchten.  Das  erste  Lie- 
besduett wird  ganz  anders  sein  als  das  zweite.  Im  ersten — 
alles  sonnig,  klar;  im  zweiten  kommt  die  Tragik.  Aus  harm- 
losen verliebten  Kindern  sind  Romeo  und  Julie  hebende 
und  leidende  Menschen  geworden  und  in  eine  tragische 
Situation  geraten.  О  welche  Lust  spüre  ich  an  die  Arbeit 
zu  gehn! 

Nimm  es  mir  nicht  übel,  mein  lieber  armer  Textdichter, 
dass  ich  Dich  umsonst  mit  der  Undine  gequält  habe.  Hol 
sie  der  Teufel,  diese  Undine!  Was  ist  Gutes  an  ihr?  Wie 
kann  man  sich  von  solch  einem  Unsinn  hinreissen  lassen?! 


—  513  " 

Man  müsste  ja  ein  Esel  sein....  u.  s.  w.  Das  ist  jetzt  mein' 
Verhalten  gegenüber  der  Undine.  Ich  denke  stündlich  an 
Dich,  mein  Lieber.  Ich  schwelge  gern  in  Erinnerungen  aus 
unserem  Leben.  Dein  Verstimmtsein  beunruhigt  mich  sehr. 
Ich  wünschte,  Du  könntest  Dich  für  Deine  Novelle  ebenso 
begeistern,  wie  ich  für  die  zukünftige  Oper!  Nur  hinge- 
bende Arbeit  kann  Dich  mit  der  Gegenwart  versöhnen". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  27.  Mai,  1878. 

....Den  ganzen  Abend  hat  es  durchgeregnet  und  es  ist 
kalt  gew^orden.  Darüber  habe  ich  mich  aber  sehr  leicht 
hinweggetröstet,  indem  ich  mir  ein  Buch  zum  Lesen  nahm, 
die  „Memoiren  Ochotsky's".  Sie  wissen  meine  liebe  Freun- 
din, dass  mich  das  achtzehnte  Jahrhundert  sehr  lebhaft 
interessiert.  Diese  Memoiren  boten  mir  denn  auch  sehr 
viel  Neues  und  Interessantes,  da  ich  bisher  mit  den  Sitten 
und  Gebräuchen  der  Polen  des  vorigen  Jahrhunderts  nur 
wenig  bekannt  war.  Ich  weiss  nicht  ob  Sie  das  Buch  in 
seinem  ganzen  Umfang  kennen.  Es  ist  ungewöhnlich  schnei- 
dig geschrieben  und  dabei  in  einem  etwas  naiv  wahr- 
heitsgetreuen und  offenherzigen  Ton  gehalten,  welcher  allen 
Nachrichten  und  Thatsachen  eine  gewisse  Realität,  Wärme 
und  Lebendigkeit  verleiht.  Unter  anderem  ist  im  zweiten 
Teil  auch  ein  Stück  Geschichte  Brailow's  erwähnt,  und 
zwar  die  widerrechtliche  Aneignung  desselben  durch  Ju- 
kowsk3\ 

Am  gestrigen  Morgen  war  es  kalt  und  windig.  Ich  ar- 
beitete ein  wenig  und  beendete  die  Skizzen  einiger  Num- 
mern der  Liturgie.  In  meinem  Portefeuille  liegen  schon  eine 
ganze  Menge  solcher  Skizzen.  Ausser  den  VioHnstücken 
habe  ich  sechs  Lieder,  nahezu  ein  Dutzend  Klavierstücke, 
ein  ganzes  Album  (24  Stück)  kleiner  Kompositionen  für 
Kinder  und  die  Liturgie  des  Joann  Slatoust  geschrieben. 
Ich  werde  sehr  viel  Zeit  brauchen — wenigstens  anderthalb 
Monate  sehr  fleissiger  Arbeit — um  dieses  alles  in  Ordnung 
zu  bringen  und  rein  abzuschreiben. 

Als  ich  Ihren  letzten  Brief  las,  ärgerte  ich  mich  ein 
wenig  darüber,  dass  ich  den  ersten  Satz  meines  Konzer- 
tes so  eifrig  in  Schutz  genommen  hatte.  Ich  fürchte,  dass 
sie  in  Zukunft  Ihre  Meinung — falls  dieselbe  nicht  ganz  gün- 
stig ausfallen  sollte — mir  gegenüber  zu  verschweigen  su- 
chen werden,  um  meinen  Autorenehrgeiz   nicht  zu  krän 

Taehaikowsky,  M.  P.  I.|Tschaikowsky's  Leben.  33 


—  54  — 

keil.  Ich  bitte  Sie  eindringlichst,  meine  Liebe,  mir  stets 
offen  die  Wahrheit  zu  sagen.  Glauben  Sie  nicht,  dass  Ihre 
Bemerkungen  wertlos  für  mich  seien,  weil  Sie  nicht  zum 
Fach  gehören.  Sie  sollen  wissen,  dass  die  Urteile  solcher 
Menschen,  wie  Sie,  —  Menschen,  welche  über  viel  Ver- 
ständniss,  Geschmack  verfügen  und  die  Musik  inbrünstig 
lieben, — viel  wertvoller  für  mich  sind,  als  die  Referate  der 
stets  einseitigen,  durch  vorgefasste  Theorien  und  Prinzi- 
pien eingeschränkten  und  von  ihren  persönlichen  Bezie- 
hungen zu  den  Musikern  beeinflussten  Kritiker.  Ausser- 
dem kann  ich  Ihnen  versichern,  dass  mir  jener  krankhaft 
sensible  Autorenehrgeiz,  der  sich  über  die  geringste  Be- 
merkung gleich  beleidigt  fühlt,  durchaus  fehlt.  Können  Sie 
mich  denn  überhaupt  kränken?  Weiss  ich  denn  nicht,  dass 
Sie  mir  Ihre  innigste  Teilnahme  entgegenbringen  und  dass, 
selbst  wenn  Ihnen  etwas  an  mir  missfällt — es  noch  lange 
kein  Beweis  dafür  ist,  dass  Sie  meine  Eigenschaften  nicht 
genug  schätzen.  Wenn  ich  den  ersten  Satz  meines  Kon- 
zertes so  nachdrücklich  verteidigte,  so  geschah  es  nur, 
weil  das  Stück  mein  Benjamin  ist.  Das  jüngste  Kind  wird 
ja  gewöhnlich  am  zärtlichsten  behandelt.  Die  Zeit  einer 
objektiveren  Beurteilung  des  Gegenstandes  ist  noch  nicht 
gekommen.  Unter  meinen  älteren  Kompositionen  giebt  es 
einige,  für  die  ich  seinerseits  ebenso  leidenschaftlich  ge- 
schwärmt habe,  für  die  ich  aber  jetzt  nicht  die  geringste 
Zuneigung  mehr  verspüre.  Ja,  manche  sind  mir  sogar 
direkt  widerhch.  Hierher  ist  auch  der  „Opritschnik"  zu 
zählen,  ein  sehr  schwaches,  sehr  übereiltes  Werk". 

An  M.  Tschaikowsk}-: 

„Brailow,  den  27.  Mai,  1878. 
...Gestern  Abend  habe  ich  den  ganzen  „Eugen  One- 
gin"  durchgespielt.  Der  Autor  war  zugleich  der  einzige 
Zuhörer.  Ich  schäme  mich  eigentUch  einzugestehn,  doch 
will  ich  es  Dir— meinethalben  ganz  im  Geheimen  sagen, 
dass  der  Zuhörer  von  der  Musik  bis  zu  Thränen  ge- 
rührt war  und  dem  Autor  tausend  Komplimente  sagte.  O, 
wenn  doch  alle  zukünftigen  Zuhörer  diese  Musik  ebenso 
entzückend  finden  wollten,  wie  der  Autor  selbsti!" 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  den  29  Mai,  1878. 
....Ich  verlebe  hier  die  letzten  Tage.  Ich  brauche  Ihnen 
wohl  kaum  zu  erklären,  weshalb  ich  Ihre  Gastfreundschaft 


—  515  - 

nicht  noch  länger  in  Anspruch  nehmen  möchte,  obwohl 
ich  noch  bis  zum  lo-ten  Juni  bleiben  könnte.  Ich  habe 
hier  eine  ganze  Reihe  unvergesslicher  Tage  verlebt,  ich 
habe  die  reinsten,  die  schönsten  Genüsse  durchkostet,  ich 
habe  alle  Schönheiten  der  sympatischen  Natur  Brailow's 
voll  und  ganz  in  mich  aufgenommen,  so  dass  mein  Auf- 
enthalt hierselbst  eine  der  schönsten  Erinnerungen  meines 
Lebens  bleiben  wird.  Ich  danke  Ihnen  sehr". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  den  30.  Mai,  1878. 

....Es  thut  mir  sehr,  sehr  leid,  Brailow  zu  verlassen. 
Mein  Herz  will  schier  zerspringen  bei  dem  Gedanken,  dass 
mir  ein  so  schroffer  Dekorationswechsel  bevorsteht.  Nach 
dem  süssen  Frieden,  der  mich  hier  umgab,  werde  ich  mit- 
ten in  den  Strudel  des  Moskauer  Lebens  geraten!!  Aller- 
dings tröstet  mich  ein  wenig  der  Zweck  meiner  Reise  nach 
Moskau;  ausserdem  ist  es  mir  angenehm  an  das  Wieder- 
sehn mit  meinem  Bruder  zu  denken  und  auch  daran,  dass 
ich  ganze  zwei  Tage  in  Ihrer  unmittelbaren  Nähe  weilen 
werde. 

Der  Garten  hat  in   den  letzten  zwei  Wochen  sein 

i\.ussehn  vollständig  verändert.  Jene  Unmenge  von  Flieder, 
welcher  noch  unlängst  in  voller  Blüte  stand,  ist  spurlos 
verschw^unden.  Statt  seiner  blühen  jetzt  in  grosser  Zahl 
die  herrlichsten  Rosen, — und  dennoch  traure  ich  sehr  um 
den  Flieder;  es  ist  mir  geradezu  beängstigend  daran  zu 
denken,  dass  man  ein  volles  Jahr  auf  sein  Wiedererscheinen 
zu  warten  hat,  also  ganze  12  Monate,  von  denen  ein  je- 
der 30  Tage  zählt.  Uebrigens  hält  es  schwer,  Ihnen  meine 
augenblicklichen  Gefühle  zu  beschreiben.  Ich  denke,  Sie 
verstehen  mich  schon.  Die  Vergangenheit  beklage  ich  im- 
mer, zumal  wenn  sie  so  schön  war,  wie  das  Leben  in 
Brailow.  Der  Flieder  ist  vergangen!  Die  schönen  Tage 
sind  geschwunden, — wann  werden  sie  wohl  wiederkehren?!! 
Noch  ein  Umstand  hat  das  äussere  Bild  des  Gartens  ver- 
ändert: das  üppige  und  duftige  Gras  ist  abgemäht.  Da- 
durch hat  der  Garten  ein  etwas  koketteres  Aussehn  ge- 
wonnen,— und  dennoch  traure  ich  um  das  schöne  Gras, 
welches  Zeuge  meiner  ersten  Spaziergänge  im  Garten  war. 

Meine  Stücke  (welche  Brailow  gewidmet  sind)  habe  ich 
Marcel  gegeben,  damit  er  sie  Ihnen  einhändigt.  Das  erste 
von  ihnen  ist,  glaube  ich,  das  beste,  aber  auch  das  schwer- 


-5i6  - 

ste;  es  heisst  „Meditation"  und  wird  tempo  andante  ge- 
spielt. Das  zweite  ist  ein  seiir  schnelles  „Scherzo",  und  das 
dritte  ein  „Chant  sans  paroles".  Es  war  mir  eben  sehr  weh 
um's  Herz,  dieselben  Marcel  zu  übergeben.  Vor  kurzem 
noch  hatte  ich  sie  abzuschreiben  begonnen!  Damals  stand 
der  Flieder  noch  in  blühendster  Pracht,  das  Gras  war 
noch  nicht  geschnitten,  und  die  Rosen  begannen  kaum  zu 
knospen!!!.. 


•^i^ 


X. 


An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Dorf  Nisy,  den  6.  Juni. 

....Verzeihen  Sie,  meine  Freundin,  dass  ich  Ihnen  nach 
Petersburg  nicht  geschrieben  habe.  Erstens,  fürchtete  ich, 
dass  mein  Brief  Sie  nicht  mehr  antreffen  würde;  zweitens, 
können  Sie  sich  gar  nicht  vorstellen,  welch'  eine  Hölle  der 
dreitägige  Aufenthalt  in  Moskau  für  mich  war.  Wie  drei 
Jahrhunderte  kam  er  m.ir  vor.  Es  war  eine  solche  Wonne 
für  mich,  wieder  im  Eisenbahnwagen  zu  sitzen,  als  wenn 
man  mich  aus  einer  dunklen,  engen  Gefängnisszelle  befreit 
hätte.  Hierhergekommen  bin  ich  infolge  einer  Einladung 
meines  alten  gastfreien  Freundes  Kondratjeff,  bei  dem  ich 
früher  fast  jeden  Sommer  gewohnt  hatte.  Hier  war  auch 
der  „Wakula'■^  entstanden"" 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Nisy,  den  lo.  Juni,  1878. 

....Die  zweiundeinhalb  Tage,  die  ich  in  Moskau  verbracht 
habe,  kamen  mir  wie  zwei  qualvolle  Monate  vor,  vielleicht 
weil  diese  Stadt  im  Sommer  sehr  staubig,  sehr  heiss  und 
überhaupt  unangenehm  ist;  vielleicht  aber  auch,  weil  die 
Erinnerung  an  die  moralischen  Qualen,  die  ich  im  vori- 
gen Herbst  durchgemacht  hatte,  noch  zu  lebendig  in  mir 
war;  oder  auch — weil  ich  auf  Schritt  und  Tritt  bei  Be- 
gegnungen mit  Menschen,  welche  auf  freudige  und  freund- 
schaftliche Gefühlsäusserungen  meinerseits  Anspruch  zu 
haben  glaubten,  es  nicht  vermeiden  konnte,  in  gewissem 


—  517  — 

Sinne  Komödie  zu  spielen.  Und  dennoch  liebe  ich  Moskau, 
und  möchte  in  keiner  anderen  Stadt  leben. 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Kiew,  den  12.  Juni,  1878. 

Schreibe  Ihnen  unter  einem  sehr  traurigen  Eindruck. 
Soeben  las  ich  in  der  Zeitung  die  Nachricht  von  dem  Zu- 
sammenstoss  eines  Militairzuges  mit  einem  Güterzug  auf 
der  Jelez — Eisenbahn,  wobei  es  viele  Tote  und  Verwun- 
dete gegeben  haben  soll.  Ich  muss  Ihnen  sagen,  dass  ich 
auf  meinen  letzten  Reisen  eine  grosse  Zahl  solcher  Mili- 
tairzüge  gesehn  habe.  Der  Anblick  dieser  zu  bedauernden 
Menschen,  welche  wie  die  Schafe  viele  Tage  im  Güter- 
wagen zubringen  mussten,  sehr  schlecht  ernährt  und  sehr 
schlecht  gekleidet  wurden,  hat  mich  stets  von  neuem  em- 
pört. Mit  manchen  der  armen  Geschöpfe  habe  ich  auch  ge- 
plaudert und  konnte  nicht  ohne  Entrüstung  die  Beschrei- 
bung ihrer  Reise  anhören.... 

Gestern  habe  ich  dem  erzpriesterlichen  Gottesdienst 
in  der  herrlichen  Klosterkirche  zu  Podol  beigewohnt  und 
einen  ausserordentlich  tiefen  Eindruck  erhalten.  Bei  derar- 
tigen Gelegenheiten  begreift  man  wohl  die  ganze  uner- 
messliche  Bedeutung  der  Religion  für  das  Volk.  Sie  er- 
setzt dem  Volk  alles  das,  was  wir  in  der  Kunst,  in  der 
Philosophie  und  in  der  Wissenschaft  finden.  Sie  bieten  den 
armen  Leuten  die  Möglichkeit,  von  Zeit  zu  Zeit  zum  Be- 
wusstsein  ihrer  Menschenwürde  emporzusteigen.  Voltaire 
hat  Recht  gehabt  als  er  sagte:  „wenn  es  keine  Rehgion 
gäbe:  il  faudrait  l'inventer!"...  Den  Abend  habe  ich  im 
„Chäteau  des  fleurs"  zugebracht,  welcher  wegen  des  Feier- 
tages sehr  besucht  war.  Zu  meinem  Leidwesen  habe  ich 
dort  viele  Bekannte  getroffen,  meistenteils  aus  musikali- 
schen Kreisen.  Ihre  Gespräche,  ihre  Klatschereien,  ihre 
dummen  Aeusserungen  in  Betreff  der  Musik,  ihre  frechen 
und  indiskreten  Fragen — erschienen  mir  unerträglich  lang- 
vv^eihg  und  widerlich". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Kamenka,  den  24.  Juni,  1878. 

Sie  wollen  wissen  wie  ich  komponiere?  Wissen  Sie, 
liebe  Freundin,  dass  es  sehr  schwer  ist,  ausführlich  auf 
diese  Frage  zu  antworten?  Denn  die  Umstände,  unter  wel- 


-5i8- 

chen  ein  neues  Werk  das  Licht  der  Welt  erblickt,  sind 
ausserordentlich  verschieden.  Ich  will  aber  dennoch  den 
Versuch  machen,  die  Art  und  Weise  meines  Arbeitens  nä- 
her zu  definieren. 

Vorerst  muss  ich  aber  meine  Kompositionen  in  zwei 
Kategorieen  scheiden: 

i)  Werke,  welche  ich  aus  eigener  Initiative  schreibe, 
d.  h.  infolge  eines  unbezwingbaren  inneren  Dranges. 

2)  Werke,  zu  welchen  ich  von  aussen  die  Anregung 
erhalte,  z.  B.  infolge  der  Bitte  eines  Freundes  oder  Ver- 
legers, also  auf  Bestellung. 

Hier  muss  ich  etwas  hinzufügen.  Ich  weiss  aus  Erfah- 
rung, dass  der  Wert  einer  Komposition  durchaus  in  kei- 
ner Beziehung  mit  der  Angehörigkeit  derselben  zu  dieser 
oder  jener  Kategorie  steht.  Es  kommt  sehr  häufig  vor, 
dass  ein  Stück,  welches  seine  Entstehung  einem  Anstoss 
von  aussen  verdankt,  sehr  gut  gelingt,  und  umgekehrt — 
ein  Stück,  welches  nur  meiner  eigenen  Initiative  entsprun- 
gen ist,  infolge  verschiedener  Begleitumstände  weniger  gut 
ausfällt.  Diese  Begleitumstände  sind  für  die  Stimmung, 
während  welcher  gearbeitet  wird,  von  ausserordentlich 
grosser  Bedeutung.  Im  Moment  der  schöpferischen  Thä- 
tigkeit  ist  für  den  Künstler  absolute  Ruhe  unbedingt  not- 
wendig. In  diesem  Sinne  ist  ein  jedes  Kunstwerk,  auch 
ein  musikalisches  stets  ohjeMiv.  Diejenigen,  welche  glauben, 
dass  ein  schaffender  Künstler  im  Moment  des  Affekts  fä- 
hig ist,  durch  die  Mittel  seiner  Kunst  das  auszudrücken, 
was  er  gerade  fühlt, — irren  sich  sehr.  Traurige  Gefühle, 
sowohl  als  auch  freudige,  werden  stets  sozusagen  retrospeJc- 
tiv  wiedergegeben.  Ich  bin  im  Stande,  mich  von  fröhlicher 
künstlerischer  Stimmung  durchdringen  zu  lassen,  auch  ohne 
einen  besonderen  Grund  zu  haben,  mich  zu  freuen, — und 
umgekehrt,  inmitten  einer  glücklichen  Umgebung  ein  Werk 
zu  schaffen,  welches  in  den  düstersten  und  hoffnungslo- 
sesten Farben  gehalten  ist. 

Mit  einem  Wort,  der  Künstler  lebt  ein  zwiefaches  Le- 
ben: ein  allgemein  menschliches  und  ein  künstlerisches, 
wobei  diese  beiden  Leben  manchmal  durchaus  nicht  Hand 
in  Hand  gehn. 

Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  ist  es  beim  Komponieren 
eine  unbedingte  Notwendigkeit,  sich  wenigstens  für  eini- 
ge Zeit  von  allen  Sorgen  des  ersteren  der  beiden  Leben 
frei  zu  machen  und  sich  ganz  dem  anderen  hinzugeben. 

Die  Werke  der  erstgenannten  Kategorie  erfordern  nicht 


—  519  — 

die  geringste  Willenskraft.  Man  braucht  nur,  seiner  inne- 
ren Stimme  nachzugehen,  und  —  wenn  das  künstlerische 
Leben  von  der  Gewalt  der  tragischen  Umstände  des  ma- 
teriellen Lebens  nicht  erdrückt  wird  —  dann  geht  die  Ar- 
beit mit  unglaublicher  Schnelligkeit  vor  sich.  Man  vergisst 
Alles,  die  Seele  erzittert  von  einer  unbegreiflichen  und 
unbeschreiblich  süssen  Aufregung,  kaum  dass  man  ihrem 
rapiden  Aufschn-ung  folgen  kann,  die  Zeit  vergeht  buch- 
stäblich unbemerkt. 

In  diesem  Zustand  liegt  etwas  somnambulistisches.  On 
ne  s'entend  pas  vivre.  Es  ist  unmöglich,  solche  Minuten 
zu  beschreiben.  Alles  das,  was  dann  unter  der  Feder  ent- 
steht, oder  nur  gedacht  wird  (denn  sehr  oft  kommen  diese 
Momente  zu  einer  Zeit,  da  man  keine  Gelegenheit  zum 
Schreiben  hat) — ist  gut,  und  wenn  kein  Stoss  von  aussen 
Einen  an  jenes  andere,  allgemeine  Leben  erinnert,  dann 
wird  das  Resultat  der  Arbeit  das  Vollkommenste,  was  der 
betreffende  Künstler  zu  leisten  vermag.  Leider  sind  solche 
Stösse  von  Aussen  unvermeidlich.  Man  hat  einen  Gang  zu 
besorgen,  oder  man  wird  zum  Mittagessen  gerufen,  oder 
ein  Brief  ist  angekommen,  u.  s.  w.  Das  ist  der  Grund, 
weshalb  es  nur  überaus  wenige  Kompositionen  giebt,  die 
in  allen  ihren  Teilen  gleichmässig  schön  sind. — Daher  die 
Nähte,  Einschaltungen,  Unehe^iheüen. 

Für  die  Werke  der  zweiten  Kategorie  muss  man  sich 
manchmal  erst  in  Stimmung  bringen.  Hierbei  ist  man  sehr 
oft  gezwungen,  seine  Faulheit  und  Unlust  zu  bekämpfen. 
Ausserdem  giebt  es  da  verschiedene  Zufälligkeiten.  Manch- 
mal wird  Einem  der  Sieg  leicht.  Andere  Male  dagegen 
entschlüpft  die  Inspiration  jeden  Augenblick  und  lässt  sich 
nicht  einfangen.  Ich  halte  es  aber  für  eine  Pflicht  des  Künst- 
lers, nicht  nachzugeben.  Man  darf  nicht  warten.  Die  In- 
spiration ist  ein  Gast,  welcher  die  Trägen  nicht  gern  be- 
sucht. Nicht  ohne  Grund  beschuldigt  man  daher  das  rus- 
sische Volk  des  Mangels  an  originellen  Kunstprodukten, 
denn  der  Russe  ist  faul.  Der  Russe  schiebt  gern  Alles  auf; 
er  ist  seiner  Natur  nach  begabt,  leidet  aber — ebenfalls  von 
Natur  aus  —  an  dem  Mangel  an  Willenskraft.  Man  muss 
sich  selbst  besiegen  lernen,  um  nicht  in  Dilettantismus  zu 
fallen,  von  dem  selbst  ein  so  kolossales  Talent  wie  Glinka 
nicht  ganz  frei  war.  Dieser  Mann,  welcher  mit  einer  aus- 
serordentlichen und  eigenartigen  schöpferischen  Begabung 
ausgerüstet  war,  hat — trotzdem  er  ein  ziemlich  reifes  Alter 
erreichte — ganz   erstaunlich   wenig  geschaffen.  Lesen  Sie 


—  520  — 

seine  Memoiren.  Sie  werden  sehn,  dass  er  wie  ein  Dilet- 
tant gearbeitet  hat,  d.  h.  ab  und  zu,  wenn  er  gerade  bei 
Stimmung  war.  Wir  mögen  noch  so  stolz  auf  Glinka  sein, 
Avir  müssen  aber  eingestehn,  dass  er  seine  Aufgabe  nicht 
ganz  erfüllt  hat,  wenigstens  nicht  seiner  Begabung  ent- 
sprechend. Seine  beiden  Opern  laborieren  vielfach  an  einer 
erstaunlichen  Ungleichmässigkeit,  neben  genialen  Stellen 
von  unvergänglicher  Schönheit  finden  sich  ganz  kindisch 
naive  und  schwache  Nummern.  Was  hätte  er  erreicht, 
Avenn  er  in  anderer  Umgebung  gelebt  hätte,  wenn  er  ge- 
arbeitet hätte  wie  ein  Künstler,  welcher  sich  seiner  Kraft 
und  seiner  Pflicht  bewusst  ist,  seine  Begabung  bis  an  die 
letzte  Grenze  der  möglichen  Vollkommenheit  zu  entwik- 
keln,  —  nnd  nicht  wie  ein  Dilettant,  welcher  aus  Lange- 
weile Musik  macht?!  So  habe  ich  Ihnen  denn  erklärt,  dass 
ich  entweder  aus  innerem  Drang  heraus  komponiere,  beflü- 
gelt von  der  höchsten  und  garnicht  zu  definierenden 
Kraft  der  Inspiration,  oder — ich  arbeite  einfach,  indem  ich 
jene  Kraft  selbst  zu  erfassen  suche,  was  mir  manchmal 
gelingt,  manchmal  aber  auch  nicht,  in  welch  letzterem 
Fall  das  zu  schaffende  Werk  stets  nur  das  Produkt  blos- 
ser Arbeit  bleibt,  ohne  vom  echten  musikalischen  Gefühl 
erwärmt  zu  sein. 

Ich  hoffe,  Sie  werden  mich  nicht  des  Eigenlobes  ver- 
dächtigen, wenn  ich  Ihnen  sage,  dass  mein  Apell  an  die 
Inspiration  fast  niemals  vergeblich  ist.  Mit  anderen  Wor- 
ten: jene  Kraft,  welche  ich  vorhin  einen  eigensinnigen  Gast 
nannte,  hat  sich  mit  mir  schon  längst  vertraut  gemacht, 
so  dass  wir  unzertrennlich  mit  einander  leben;  sie  ver- 
lässt  mich  nur,  wenn  mein  materielles  Leben  durch  diese 
oder  jene  Umstände  sehr  bedrückt  wird,  und  sie  glaubt, 
mir  nichts  nützen  zu  können.  W^enn  ich  mich  in  norma- 
ler Verfassung  befinde,  so  kann  ich  wohl  sagen,  dass  ich 
stets  in  jeder  Minute  des  Tages  komponieren  kann.  Manch- 
mal beobachte  ich  neugierig  jene  ununterbrochene  Thätig- 
keit,  welche — unabhängig  von  dem  Gegenstand  der  Unter- 
haltung, die  ich  im  Augenblick  führe, — in  demjenigen  Teil 
meines  Kopfes  vor  sich  geht,  welcher  der  Musik  gegeben 
ist.  Mitunter  ist  es  irgend  eine  vorbereitende  Arbeit,  d.  h. 
ein  Ueberlegen  der  Details  der  Stimmführung  irgend  eines 
vorher  projektierten  Stückchens  Musik,  ein  andermal  er- 
scheint eine  ganz  neue  selbständige  musikalische  Idee,  und 
ich  bemühe  mich,  sie  in  meinem  Gedächtniss  festzuhalten. 
Woher  kommt  das  alles? — ein  unentwirrbares  Rätsel. 


—   521    — 

Jetzt  will  ich  Ihnen  die  eigentliche  Prozedur  meines 
Schreibens  wiederzugeben  versuchen.  Aber  erst  am  Nach- 
mittag. Auf  Wiedersehn.  Wenn  Sie  wüssten,  wie  schwierig 
es  für  mich  ist,  aber  auch  wie  ange^iehm  zugleich,  mit  Ihnen 
über  diesen  Gegenstand  zu  plaudern. 

2  Uhr. 

Meine  Skizzen  notiere  ich  gewöhnlich  auf  dem  ersten 
besten  Blatt  Papier.  Ich  schreibe  in  sehr  abgekürzter  Form. 
Eine  Melodie  kann  niemals  für  sich  allein  erscheinen,  son- 
dern stets  mit  der  dazugehörenden  Harmonie.  Ueberhaupt 
können  diese  beiden  Elemente  der  Musik  zusammen  mit 
dem  R3'tmus  niemals  von  einander  getrennt  werden,  d.  h. 
ein  jeder  melodische  Gedanke  trägt  eine  gewisse  Harmo- 
nie in  sich  und  hat  notwendig  eine  bestimmte  rytmische 
Gliederung.  Ist  die  Harmonie  sehr  kompliziert,  dann  kommt 
es  vor,  dass  ich  gleich  beim  Skizzieren  einige  Ausführlich- 
keiten der  Stimmführung  niederschreibe;  bei  einfacher  Har- 
monie markiere  ich  nur  den  Bass,  oder  nur  die  General- 
bassziffern, in  anderen  Fällen  auch  nicht  einmal  das.  Wenn 
der  Entwurf  für  Orchester  gedacht  ist,  dann  pflegen  die 
Gedanken  gleich  in  einer  bestimmten  Instrumentalfärbung 
zu  erscheinen.  Manchmal  jedoch  w^rd  später  die  ursprüng- 
lich gedachte  Instrumentierung  verändert. 

Niemals  können  die  Worte  später  als  die  Musik  ge- 
schrieben w^erden,  denn  sobald  nur  die  Musik  irgend  einem 
Text  gilt,  so  bedingt  dieser  Text  auch  einen  passenden 
musikalischen  Ausdruck.  Es  ist  allerdings  möglich,  einer 
kleinen  Melodie  Worte  anzupassen  und  unterzulegen,  wenn 
es  sich  aber  um  eine  ernste  Komposition  handelt,  dann 
ist  ein  derartiges  Anpassen  undenkbar.  Desgleichen  ist  es 
auch  unmöglich,  zuerst  ein  symphonisches  Werk  zu  schrei- 
ben und  ihm  dann  erst  ein  Programm  unterzuschieben, 
denn  hier  ruft  wiederum  eine  jede  Episode  des  gewählten 
Programms  eine  entsprechende  musikalische  Illustration 
hervor.  Diese  Periode  der  Arbeit,  d.  h.  das  Skizzieren, 
ist  ausserordentlich  angenehm,  interessant  und  gewährt 
mitunter  ganz  unbeschreiblichen  Genuss,  wird  aber  gleich- 
zeitig von  einer  gewissen  Unruhe  und  nervösen  Aufre- 
gung begleitet.  Der  Schlaf  ist  schlecht,  das  Essen  wird 
vollständig  vergessen.  Dafür  geht  aber  die  Ausführung  des 
Projekts  ganz  friedlich  und  ruhig  vor  sich.  Ein  ganz  ausge- 
reiftes und  durchgearbeitetes  Werk  zu  instrumentieren — 
ist  sehr  lustig. 


5^^ 


Dasselbe  kann  nicht  von  der  Abschrift  in's  Reine  der 
Stücke  für  Klavier,  einer  Singstimme,  kurz  kleinerer  Kom- 
positionen, behauptet  werden.  Das  ist  oft  sehr  langweilig. 
In  diesem  Augenblick  bin  ich  gerade  mit  einer  solchen 
Arbeit  beschäftigt.  Sie  fragen,  ob  ich  mich  an  die  her- 
kömmlichen Formen  halte?  Ja  und  nein.  Es  giebt  Kompo- 
sitionen, bei  denen  sich  die  Beibehaltung  der  bekannten 
Formen  von  selbst  versteht,  aber  nur  in  ganz  allgemeinen 
Zügen,  d.  h.  nur  die  Aufeinanderfolge  der  Teile  der  Kom- 
position betreffend.  In  den  Einzelheiten  darf  man  sich  be- 
liebige Abweichungen  gestatten,  sofern  die  Verarbeitung 
der  gegebenen  Gedanken  es  erheischt.  So  ist  z.  B.  der 
erste  Satz  unserer  S^aiiphonie  sehr  unregelmässig  aufge- 
baut. Das  zweite  Thema,  welches  eigentlich  in  einer  ver- 
wandten Durtonart  stehen  müsste,  erscheint  bei  mir  in 
einem  ziemlich  entfernten  Moll.  Bei  der  Wiederkehr  der 
Hauptpartie  ist  das  zweite  Thema  ganz  fortgelassen  u.  s.  w. 
Das  Finale  enthält  auch  eine  ganze  Reihe  Abweichungen 
von  der  traditionellen  Form.  In  der  vokalen  Musik,  wo 
alles  vom  Text  abhängt,  so  w^e  in  Fantasieen  (z.  B.  „Sturm", 
„Francesca")  ist  die  Form  eine  ganz  selbständige.  Sie 
befragen  mich  über  Melodieen,  welche  auf  harmonischen 
Noten  gebaut  sind?  Ich  kann  mit  Sicherheit  sagen  und 
durch  viele  Beispiele  beweisen,  dass  es  möglich  ist,  aus 
der  Umstellung  dieser  Noten  und  mit  Zuhilfenahme  des 
Rytmus,  unzählige  MiUionen  neuer  und  schöner  melodi- 
scher Kombinationen  aus  ihnen  zu  gewinnen.  Uebrigens 
bezieht  sich  das  nur  auf  die  homophone  Musik.  In  der 
polyphonen  —  schadet  eine  derartige  Melodiebildung  der 
Selbständigkeit  der  Stimmen.  Bei  Beethoven,  Weber, 
Mendelssohn,  Schumann  und  namentlich  bei  Wagner  fin- 
den sich  sehr  oft  Melodieen,  welche  aus  Tönen  eines 
Dreiklanges  bestehn;  ein  begabter  Musiker  W4rd  stets  eine 
neue  und  schöne  Fanfare  zu  finden  wissen.  Erinnern  Sie 
sich,  wie  schön  in  den  Nibelungen  das  Motiv  des  Schwer- 
tes ist? 


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Ich  habe  eine  Melodie  von  Verdi  (eines  sehr  begabten 
Mannes)  sehr  gern: 


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523  — 


Wie  herrlich,  wie  frisch  ist  ferner  der  Hauptgedanke 
des  ersten  Satzes  in  Rubinsteins  „Ozean": 


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Wenn  ich  mein  Gedächtniss  etwas  anstrengen  wollte,, 
könnte  ich  noch  unzähhge  Beispiele  anführen,  welche  meine 
Ansicht  bestätigen.  Das  ganze  Geheimniss  liegt  im  Talent. 
Für  dasselbe  giebt  es  keine  Beschränkungen:  es  schafft  aus 
Nichts  die  schönste  Musik.  Kann  es  etwas  Trivialeres  ge- 
ben als  die  folgenden  Melodieen? 


Beethoven,  7.  Symphonie: 


oder  Glinka,   „Jota  aragonesa": 


Doch  welch  herrliche  musikalische  Gebilde  haben  Beet- 
hoven und  Glinka  aus   diesen  Melodieen  zu  schaffen  ge- 

waisst!" 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Kamenka,  25.  Juni,  1878. 

Als  ich  Ihnen  Gestern  über  die  Prozedur  des  Kompo- 
nierens  schrieb,  hielt  ich  mich  zu  wenig  bei  derjenigen 
Phasis  der  Arbeit  auf,  welche  der  Ausführung  der  Skizze 
gilt.  Diese  Phase  ist  aber  von  kapitaler  Bedeutung.  Das, 
was  im  Eifer  geschrieben  worden  ist,  muss  dabei  kritisch 
nachgeprüft,  verbessert,  ergänzt  oder  gekürzt  werden,  je 
nachdem  wie  die  Form  es  verlangt.  Manchmal  muss  man 
sich  Zwang  anthun,  man  muss  hart  und  rücksichtslos  ge- 
gen sich  selbst  sein,  d.  h.  diejenigen  Stellen,  welche  mit 
Liebe  und  Begeisterung  erdacht  worden  sind,  mitleidslos 
streichen.  Ich  kann  mich  nicht  über  Armut  der  Phantasie 
und  Erfindungsgabe  beklagen,  habe  dafür  aber  stets  an 
der  Unfähigkeit  gelitten,  die  Form  zu  glätten  und  zu  feilen. 


—  524  — 

Nur  durch  hartnäckige  Arbeit  habe  ich  es  jetzt  erreicht, 
dass  die  Form  meiner  Kompositionen  einigermassen  dem 
Inhalt  entspricht.  In  früherer  Zeit  bin  ich  zu  nachlässig 
gewesen  und  habe  der  kritischen  Nachprüfung  der  Skiz- 
zen zu  wenig  Bedeutung  beigemessen.  Daher  waren  bei 
mir  stets  die  Nähte  zu  sehen,  die  einzelnen  Episoden  wa- 
ren organisch  zu  locker  verknüpft.  Das  war  ein  sehr  gros- 
ser Fehler,  und  erst  mit  der  Zeit  begann  ich  nach  und 
nach,  mich  zu  bessern, — doch  wird  die  Form  meiner  Kom- 
positionen niemals  eine  mustergiltige  werden,  denn  ich  kann 
die  wesentlichen  Eigenschaften  meiner  musikalischen  Or- 
ganisation nur  verbessern,  nicht  aber  ganz  umgestalten. 
Auch  denke  ich  nicht  im, entferntesten  daran,  dass  meine 
Begabung  den  höchsten  Punkt  der  Reife  bereits  erreicht  ha- 
be. Ich  kann  nur  mit  Freude  konstatieren,  dass  ich  allmälig 
vorwärts  komme  auf  dem  Weg  der  Selbstvervollkommnung, 
und  wünsche  leidenschaftlich,  den  höchsten  Grad  der  mei- 
nen Fähigkeiten  entsprechenden  Vollkommenheit  zu  er- 
klimmen. Somit  hatte  ich  mich  Gestern  falsch  ausgedrückt, 
indem  ich  sagte,  ich  schriebe  meine  Kompositionen  nach 
den  Skizzen  blos  ah.  Das  ist  mehr  als  ein  Abschreiben, 
das  ist  eine  umständliche  kritische  Arbeit,  welche  mit  Kor- 
rekturen, Ergänzungen  und  anderen  Umgestaltungen  ver- 
knüpft ist. 

Ich  möchte  Ihnen  folgenden  Vorschlag  machen.  In  Ihrem 
Brief  äussern  Sie  den  Wunsch,  meine  Skizzen  einmal  an- 
zuschauen. Wollen  Sie  vielleicht  die  allerersten  Entwürfe 
zu  meiner  Oper  „Eugen  Onegin"  von  mir  annehmen?  Da 
der  Klavierauszug  schon  im  Herbst  im  Druck  erscheinen 
wird,  so  wird  es  Sie  vielleicht  interessieren,  die  hand- 
schriftlichen Notizen  mit  dem  fertigen  Werk  zu  verglei- 
chen? Wenn  „ja",  so  will  ich  Ihnen  das  Manuskript  so- 
fort nach  Ihrer  Rückkehr  nach  Moskau  zusenden.  Dass  ich 
Ihnen  gerade  „Onegin"  vorschlage,  liegt  daran,  dass  ich 
nicht  ein  einziges  meiner  Werke  mit  einer  solchen  Leich- 
tigkeit gearbeitet  habe,  als  gerade  jene  Oper;  die  Hand- 
schrift lässt  sich  fast  durchweg  gut  lesen,  denn  sie  ent- 
hält nur  wenig  Korrekturen". 

An  N.  F.  von  Meck: 

„Werbowka,  den  29.  Juni,  1878. 

....Werbowka  gefällt  mir  sehr.  Ich  sehe,  höre  und  rieche 
keine  Juden,  und  das  ist  sehr  angenehm.  Nach  Kamenka 


—  525  — 

kann  ich  mich  nicht  genug  über  die  hier  herrschende  Ruhe,, 
über  die  schöne  Luft  und  über  die  Einfachheit  der  Sitten 
freuen".... 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Werbowka,  den  4.  JuH,  1878. 

....Ich  erfreue  mich  einer  ausgezeichneten  Gesundheit, 
wenn  man  eine  sehr  merkwürdige  Erscheinung  abrechnet, 
welche  sich  seit  einiger  Zeit  allabendüch  einstellt.  Um  neun 
Uhr  überfällt  mich  eine  unerträgliche  Schläfrigkeit,  be- 
gleitet von  einer  Kräfteabnahme,  infolgederen  ich  weder 
sprechen,  noch  hören,  noch  sonst  etwas  thun  kann.  Ich 
möchte  davon  laufen,  mich  verstecken,  nicht  sein.  Indess 
weiss  ich  aus  Erfahrung,  dass  ich  diese  Schläfrigkeit  be- 
kämpfen muss,  wenn  ich  nicht  in  der  Nacht  an  Herzbeklem- 
mung und  Albdrücken  leiden  will.  Der  ganze  Abend  ver- 
geht in  diesem  Kampf.  Selbstverständlich  ist  es  nichts  an- 
deres als  Nervosität,  welche  keine  Beachtung  verdient.  Aus 
dieser  Not  rettet  mich  erstens  die  Willenskraft  und  zwei- 
tens ein  Glas  Wein. 

Meine  Arbeit  geht  langsam  vorwärts.  Die  Sonate  ist 
aber  dennoch  schon  fertig,  und  Heute  habe  ich  einige  teils 
im  Ausland,  teils  in  Kamenka  (im  April)  komponierte 
Lieder  abzuschreiben  begonnen....  Ich  habe  die  Nachricht 
von  Jurgenson  bekommen,  dass  im  August  vier  grosse  rus- 
sische Konzerte  unter  N.  Rubinsteins  Leitung  in  Paris 
stattfinden  werden.  Von  meinen  Werken  kommen  dran  das 
Klavierkonzert,  „Sturm",  „Francesca"  und  zwei  Sätze  aus 
unserer  Symphonie.  Das  Nähere  darüber  werde  ich  Ihnen 
rechtzeitig  mitteilen  für  den  Fall,  dass  Sie  den  Wunsch 
hätten,  Ihre  Reise  nach  Paris  so  einzurichten,  dass  sie  mit 
der  Zeit  der  Konzerte  zusammenfällt.  Von  Mitwirkenden 
ist  u.  A.  Frau  Lawrowskaja  engagiert". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„13.  Juh,  1878. 

....Hier  werden  jetzt  Proben  zu  einer  Theatervorstel- 
lung abgehalten,  welche  am  16.  Juli,  am  Vorabend  der 
Abreise  Bruder  Anatols,  stattfinden  soll.  Ich  habe  die  Rolle 
des  Souffleurs  und  Regisseurs  übernommen.  Es  wird  Go- 
gols „Heirat"  und  Szenen  aus  Moliere's  „Misanthrope"  ge- 
geben. Als  Schauspieler  treten  ausschliesslich  meine  und 
meines  Schwagers  Nichten  und  Neffen  auf. 


-  52б  - 

Die  recht  langweilige  Arbeit  des  Abschreibens  geht 
langsam  vorwärts.  Jetzt  schreibe  ich  das  „Kinderalbum" 
ab,  dann  kommt  die  Liturgie  dran,  und  dann  will  ich  mich 
(Ihrem  Rat  folgend)  einige  Zeit  erholen,  um  später  wieder 
ein  grösseres  Werk  in  Angriff  zu  nehmen". 

An  P.  J.  Jurgenson: 

(Mitte  Juli). 

....Ich  hatte  an  Frau  Mamontoff  geschrieben,  dass  ihre 
Lieder,  welche  schon  im  Mai  vorigen  Jahres  fertig  waren, 
welche  sie  mir  aber  zwecks  Umarbeitung  der  Ritornels 
zurückgeschickt  hatte,  —  mir  derart  widerlich  seien,  dass 
ich  mich  nicht  länger  mit  ihnen  abgeben  könne,  zumal  da 
ich  das  vorjährige  Manuskript  verloren  hätte  und  nicht 
mehr  wüsste,  bei  welchen  Liedern  die  Ritornels  umgear- 
beitet werden  müssten.  Ich  bat  sie,  mich  nicht  mit  dieser 
Arbeit  zu  belästigen.  Darauf  schrieb  sie  mir  einen  Brief 
mit  Sticheleien  und  Klagen  über  die  Rouünenmässigheit 
(?)  meiner  Klavierbegleitungen  im  ersten  Heft  der  Lieder, 
erklärt  sich  aber  bereit,  mich  zu  dispensiren  und  verlangt 
die  Rücksendung  der  Lieder,  welche  sie  mir  im  Anfang 
des  Sommers  zur  Bearbeitung  geschickt  hatte.  Ich  bin  sehr 
froh, — doch  muss  ich  ihr  auch  das  Geld  zurückgeben,  wel- 
ches ich  im  vorigen  Jahr  mit  vieler  Mühe  von  ihr  erhal- 
ten hatte.  Sie  hatte  mir  damals  fünf  Rubel  pro  Lied  be- 
zahlt. Ich  glaube  es  waren  im  Ganzen  etwa  20  Stück,  also 
für  100  Rubel. 

Willst  Du  nun  so  gut  sein  und  in  Erfahrung  bringen, 
wieviel  ich  ihr  schulde,  und  diese  Schuld  für  mich  be- 
zahlen? 

Kannst  Du  mir  sagen,  ob  ich  das  Recht  habe,  ihr  zu 
verbieten,  meinen  Namen  auf  die  folgenden  Ausgaben  der 
Lieder  zu  setzen?" 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Werbowka,  25.  Juli,  1878. 

Schreibe  Ihnen,  liebe  Freundin,  leichten  Herzens  und 
in  dem  angenehmen  Bewusstsein,  eine  Arbeit  beendet  zu 
haben.  Heute  ist  die  letzte  Seite  der  Liturgie  fertig  ge- 
worden, und  somit  die  lange  und  langweilige  Arbeit  des 
Abschreibens  zu  Ende. — Jetzt  will  ich  mich  erholen  und 
neue  Kräfte  sammeln.  Wissen  Sie  was  mir  soeben  einge- 


—  527  — 

fallen  ist?  Diejenigen,  welche  mit  fieberhafter  Eile  zu  ar- 
beiten pflegen  (wie  ich),  sind  im  Grunde  die  grössten  Fau- 
lenzer. Sie  trachten  danach,  möglichst  schnell  das  Recht 
des  Nichtsthunens  zu  gewinnen.  Dieser  meiner  heimlichen 
Lust  zum  Nichtsthun  werde  ich  jetzt  nach  Belieben  fröh- 
nen  können". 

An  P.  J.  Jurgenson: 

„Werbowka,  29.  Juli,  1878. 

Lieber  Freund,  meine  Manuskripte  werden  Dir  gebracht 
werden.  Deine  Stecher  kriegen  nicht  wenig  Material.  Fünf 
Werke  sende  ich  Dir.  Ausserdem  werde  ich  Dir  nach  eini- 
ger Zeit  3  Stücke  für  Violine  zuschicken. 

Folgende  Honorare  bitte  ich  mir  aus: 

i)  Sonate 50  Rbl. 

2)  12  Stücke  ä  25  Rbl 300     „ 

3)  Das  Kinderalbum 240     „ 

4)  Sechs  Lieder  ä  25  Rbl 150     „ 

5)  Die  Violinstücke  ä  25   „ 75     >- 

6)  Die  Liturgie .     .  100     „ 

915  Rbl. 

Also  rund  900  Rbl.;  jedoch  angesichts  dessen,  dass  ich 
so  viel  auf  einmal  geschrieben  habe,  will  ich  Dir  alles  zu- 
sammen für  800  Rbl.  lassen. 

Nun  m^öchte  ich  Dich  bitten,  lieber  Freund,  eine  Rech- 
nung für  mich  anfertigen  zu  lassen  mit  Berücksichtigung 
dessen,  was  ich  Dir  schuldig  bin  und  mit  Hinzufügung  des 
Honorars  für  „Eugen  Onegin*-"-  und  für  das  Violinkonzert. 
Bist  Du  damit  einverstanden,  die  fünfhundert  Rbl.,  welche 
ich  Dir  schulde,  für  die  Oper  zu  rechnen?  Für  das  Vio- 
linkonzert möchte  ich  gern  50  Rbl.  haben.  Sei  so  gut,  mein 
Lieber,  und  lasse  alle  diese  Rechnereien  in's  Reine  brin- 
gen. Wenn  es  sich  erweisen  sollte,  dass  ich  von  Dir  noch 
etwas  zu  bekommen  habe,  dann  möchte  ich  dieses  Geld 
nicht  auf  einmal,  sondern  nach  und  nach  von  Dir  bezie- 
hen. Uebrigens  wie  Du  willst!  Wenn  ich  nicht  irre  hast 
Du  an  Antonina  Iwanowna  im  Januar,  März,  April,  Mai, 
Juni,  Juli  je  100  Rbl.  ausgezahlt — im  Ganzen  also  600  Rbl. 
Nun  hast  Du  aber  200  Rbl.  aus  dem  Konservatorium  er- 
halten, 100  Rbl.  hatte  ich  Dir  im  Juni  selbst  gegeben  und 
weitere  100  Rbl.  sind  Dir  durch  Anatol  überbracht  wor- 


-528- 

den.   Somit   hätte    ich   von  jenen  600  Rubeln  bereits  400 
beglichen. 

Die  Korrektur  des  ^Onegin"  habe  ich  erhalten  und  wer- 
de wahrscheinlich  sehr  lange  daran  sitzen:  es  sind  sehr 
viele  Fehler  drin,  die  meisten  durch  mein  eigenes  Ver- 
schulden, aber  auch  der  Korrektor  ist  für  viele  verant- 
wortlich zu  machen.  Aergere  Dich  aber  nicht  über  Ka- 
schkin:  er  kann  wahrlich  nichts  dafür". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Werbowka,  2.  August,  1878. 

....Gestern  Abend  habe  ich  den  „Onegin"  meinen  Mit- 
bewohnern vorgespielt.  Ihre  Eindrücke  waren  für  mich 
sehr  günstig.  Ich  geniere  mich  eigentlich,  einzugestehn, 
dass  es  auch  für  mich  ein  grosser  Genuss  war  und  dass 
ich  meinen  Vortrag  infolge  zu  grosser  Aufregung  und  in- 
folge zu  starken  Thränenandranges  oft  unterbrechen 
musste.  Je  öfter  ich  an  eine  Aufführung  der  Oper  denke, 
je  mehr  werde  ich  überzeugt,  dass  eine  solche  unmöglich 
ist,  d.  h.  ich  verstehe  darunter  eine  Aufführung,  die  mei- 
nen Wünschen  und  Absichten  entspräche.  Namentlich 
werden  Tatjana  und  Lensky  wohl  kaum  zu  finden  sein. 
Darum  bin  ich  zu  glauben  geneigt,  dass  meine  Oper  nie- 
mals die  Bretter  sehen  wird.  Ich  selbst  werde  mich  je- 
denfalls nie  um  eine  Aufführung  bemühen,  denn  die  The- 
aterdirektion wird  in  diesem  Fall  dem  Werk  wie  gewöhnlich 
nicht  genügend  Wohlwollen  und  Mühe  entgegenbringen. 
Sollte  aber  irgend  eine  Direktion  von  selbst  darauf  kom- 
men und  die  Oper  bei  mir  bitten,  dann  w^erde  ich  sehr 
hohe  Anforderungen  stellen". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Werbowka,  4.  August,   1878. 

Nach  meiner  Gepflogenheit,  stets  unruhig  zu  sein  und 

sich  über  dies  und  jenes  Sorgen  zu  machen,  gräme  ich 
mich  augenblicklich  darüber,  dass  ich  nicht  rechtzeitig 
nach  Brailow  gekommen  bin,  d.  h.  nicht  sofort  nach  Ihrer 
Abreise.  Ich  fürchte,  dass  es  Ihrer  Dienerschaft  verschie- 
dene Unbequemlichkeiten  verursachen  könnte.  Doch  was 
konnte  ich  thun? 

Ich  wünschte,  es  könnte  mir  Jemand  die  Ursachen  jener 
merkwürdigen  allabendlichen  .Schwächezustände,  unter  de- 


—  529  — 

nen  ich  seit  einiger  Zeit  leide  und  von  denen  ich  Ihnen 
schon  geschrieben  habe,  erklären.  Ich  kann  nicht  sagen, 
dass  sie  mir  unwillkommen  sind,  denn  sie  gehen  gewöhn- 
lich in  einen  tiefen,  fast  letargischen  Schlaf  über,  und  ein 
solcher  Schlaf  ist  für  mich  ein  Hochgenuss.  Nichtsdesto- 
weniger sind  die  Anfälle  selbst  äusserst  lästig  und  unan- 
genehm, namentlich  jener  unbestimmte  Kummer,  jene  un- 
definierbare Sehnsucht,  welche  mit  unglaublicher  Kraft 
meine  ganze  Seele  erfasst  und  in  den  positiven  Wunsch 
des  Nichtseins  ausläuft,  la  soif  du  neant.  Am  wahrschein- 
lichsten sind  die  Gründe  dieses  psychologischen  Phäno- 
mens sehr  prosaischer  Natur;  ich  glaube,  es  ist  keine 
Seelenkrankheit,  sondern  die  Folge  schlechter  Verdauung, 
ein  Rest  meines  früheren  Magenkatarrhs.  Leider  kann  man 
sich  über  die  Thatsache  des  Einflusses  der  Materie  auf  den 
Geist  nicht  hinwegtäuschen!  Nur  zu  oft  kann  eine  überflüs- 
sige saure  Gurke  für  die  höchsten  Funktionen  des  menschli- 
chen Geistes  von  grosser  Bedeutung  werden.  Verzeihen  Sie, 
liebe  Freundin,  dass  ich  Sie  mit  beständigen  Klagen  über 
meine  Gesundheit  langweile,  die  dazu  garnicht  am  Platze 
sind,  da  ich  im  Grunde  ein  ganz  gesunder  Mensch  bin, 
d.  h.  nur  relativ,  denn  jene  kleinen  Schmerzen,  über  die 
ich  mich  beklage,  enthalten  durchaus  nichts  Ernstes.  Ich 
bedarf  nur  der  Erholung.  Und  diese  werde  ich  in  Brailow 
zweifellos  finden.  О  Gott!  Wie  sehne  ich  mich  nach  jenem 
lieben  Haus  und  nach  jener  lieben  Gegend!" 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  12.  August,  1878. 

Endlich  bin  ich  in  Brailow,  meine  liebenswürdige  Wir- 
tin, und  fühle  mich  hier  so  gut,  so  leicht,  so  warm.  Ich 
bin  gestern  Abend  angekommen.  Bei  der  mir  eigenen  krank- 
haften Bescheidenheit,  fühlte  ich  mich  anfangs  selbstver- 
ständlich etwas  unbehaglich.  Es  war  mir  peinlich,  dass 
der  Diener  mich  auf  dem  Bahnhof  empfangen  hat,  dass 
das  ganze  Haus  um  meiner  Person  willen  erleuchtet  war, 
dass  eigens  für  mich  ein  grossartiges  Souper  bereit  stand, 
u.  s.  w.,  u.  s.  w.  Trotzdem  war  es  mir  ein  Genuss,  mich 
bei  Ihnen  in  Brailow  zu  wissen  und  an  die  bevorstehen- 
den herrlichen  Tage  zu  denken.  Vor  lauter  Aufregung 
und,  vielleicht,  vor  Ermüdung  konnte  ich  lange  nicht 
einschlafen;  ich  öffnete  das  P'enster,  träumte  in  die  lautlose 
Stille    der   wunderschönen   Nacht   hinaus.    Später   schlief 

Tsehaikotvsky,  JLf.  P.  I.  Tschaikowsky's  Leben.  34 


—  530  — 

ich  sehr  fest  ein  und  fühlte  mich    heute   beim   Erwachen 
so  heimisch  wie  bei  sich  zu  Hause. 

An  meiner  Einsamkeit  berausche  ich  mich  im  wahren 
Sinne  des  Wortes.  Es  ist  ja  schön,  in  Gesellschaft  ver- 
wandter und  lieber  Menschen  zu  wohnen,  doch  ist  es 
auch  notwendig,  von  Zeit  zu  Zeit  allein  zu  sein.  Ich  habe 
viel  mehr  Grund  mich  eine  Mimose  zu  nennen,  als  Glinka. 
Aus  seinen  Memoiren  ist  es  ersichtlich,  dass  dieser  Spitz- 
name garnicht  für  ihn  passend  war.  Er  fühlte  sich  in 
Gesellschaft,  wie  ein  Fisch  im  Wasser.  Ich  lebe  dann  erst 
ein  echtes  volles  Leben  und  fühle  mich  positiv  glücklich, 
wenn  ich  vor  der  Berührung  mit  meinen  Nebenmenschen 
absolut  gesichert  bin,  was  mich  aber  nicht  hindert,  einige 
Repräsentanten  dieser  Spezies  mehr  denn  das  eigene  Le- 
ben zu  lieben". 

An  Frau  von  Meck: 

„Brailow,  13.  August,  1878. 

Der  Müssiggang  ist  ein  sehr  angenehmes  Ding,  wenn 
er  durch  die  Notwendigkeit  der  Erholung  gerechtfertigt  wer- 
den und  als  ein  wohlverdienter  Lohn  für  fleissige  Arbeit 
angesehn  werden  kann...  Gestern  habe  ich  recht  viel  ge- 
spielt. In  Ihren  Noten  habe  ich  einige  mir  noch  unbekannte 
Lieder  gefunden:  vier  sehr  schlechte  von  Näprawnik  und 
sechs  recht  hübsche  von  Dawidoff.  Auch  habe  ich  eine 
Hamburger  Ausgabe  meiner  Lieder  mit  einer  sehr  schlech- 
ten deutschen  Textübersetzung  zu  Gesicht  bekommen.  Es 
giebt  eine  sehr  gute  Leipziger  Ausgabe  meiner  Lieder.  А 
propos,  ich  habe  bemerkt,  dass  die  Kiewer  Musikalien- 
händler sich  einer  unerlaubten  Handlungsweise  schuldig 
machen,  indem  sie  ausländische  Ausgaben  russischer  Auto- 
ren verkaufen.  Das  Gesetz  verbietet  derartige  Eingriffe  in 
die  Rechte  des  künstlerischen  Eigentums. 

Ich  besuche  sehr  oft  Ihre  Privatgemächer,  und  sitze 
daselbst  entweder  mit  einem  Buch  in  der  Hand,  oder  in 
Gedanken  und  Luftschlösser  versunken.  Unter  anderem 
denke  ich  oft  daran,  dass  ich  für  die  mir  bevorstehende 
Uebersiedelung  nach  Moskau  recht  viel  männlichen  Mut 
fassen  müsste,  um  mein  zukünftiges  Leben  möglichst  an- 
genehm einzurichten.  Ich  bin  zu  der  Ueberzeugung  ge- 
langt, dass  es  am  besten  wäre,  mich  gleich  von  vorn  he- 
rein zu  isolieren  und  nach  Möglichkeit  ganz  allein  zu 
wohnen.  Auch  hege  ich  den  Wunsch,  mir  nach  und  nach 


-  531  — 

eine  Bibliotek  anzulegen,  denn  je  älter  ich  werde — ^je  mehr 
gewinne  ich  die  Ueberzeugung,  dass  Bücher  viel  unter- 
haltender und  nützlicher  seien,  als  eine  Gesellschaft  von 
Menschen.  Das  Zusammensein  ist  nur  mit  solchen  Men- 
schen angenehm,  welche  zu  keinem  Gespräch  verpflichten, 
d.  h.  mit  intimen  Freunden;  solche  ivirhlich  nahe  Menschen 
besitze  ich  aber — ausser  Ihnen — in  Moskau  nicht.  Mit  Ihnen 
werde  ich  mich  schriftlich  unterhalten.  Ein  zwangweise 
geführtes  Gespräch,  das  sogenannte  Unterhalten  eines  Gas- 
tes ist  stets  blos  geistloses  Geschwätz.  Mein  grösster  Feind 
ist  mein  Gast.  Seit  jeher  bin  ich  bestrebt  gewesen,  Gäs- 
ten aus  dem  Wege  zu  gehn.  Jetzt  werde  ich  unerbittlich 
sein". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  14.  August,  1878. 

Ich  habe  sehr  viele  gute  Bücher  mitgebracht,  darun- 
ter auch  „Histoire  de  ma  vie"  von  George  Sand.  Das 
Buch  ist  ziemlich  nachlässig  geschrieben,  d.  h.  ohne  Fol- 
gerichtigkeit, so,  wie  ein  geistreicher  Schwätzer,  der  sich 
von  seinen  Erinnerungen  hinreissen  lässt,  beständig  vor- 
wegeilt, Seitensprünge  macht  u.  s.  w.,  zu  erzählen  pflegt. 
Dafür  sehr  viel  Aufrichtigkeit,  vollständige  Abwesenheit 
jeglicher  Pose  und  ungewöhnlich  talentvolle  Charakte- 
ristik derjenigen  Personen,  unter  denen  sie  sich  in  ihren 
Jugendjahren  bewegt  hatte.  In  Ihrer  Bibliotek  giebt  es 
auch  sehr  viele  Bücher,  von  denen  ich  mich  nicht  los- 
reissen  kann,  wenn  ich  sie  einmal  in  die  Hand  genommen 
habe.  Unter  anderem  habe  ich  bei  Ihnen  eine  prachtvolle 
Ausgabe  von  Musset  vorgefunden,  eines  meiner  liebsten 
Schriftsteller.  Als  ich  Heute  dieses  Buch  durchblätterte, 
liess  ich  mich  vom  Drama  „Andre  del  Sarto"  so  fesseln, 
dass  ich  —  auf  dem  Fussboden  sitzend  —  das  ganze  Stück 
durchlesen  musste.  Ich  liebe  leidenschaftlich  alle  drama- 
tischen Werke  Musset's.  Wie  oft  hatte  ich  Lust,  aus  irgend 
einer  seiner  Komödieen  und  Dramas  ein  Opernlibretto  zu 
machen!  Leider  sind  sie  alle  zu  französisch  und  in  einer 
Uebersetzung  undenkbar,  z.  B.  „Le  Chandelier"  oder  „On 
ne  badine  pas  avec  l'amour".  Andere,  welche  weniger 
lokalen  Charakter  aufweisen,  z.  B.  „Lonrenzaccio"  oder 
„Andre  del  Sarto",  entbehren  wieder  der  dramatischen  Be- 
wegung oder  enthalten  zu  viel  Philosophiererei,  wie  z. 
B.   „Les  Caprices  de  Marianne". 


—  532  — 

Es  ist  mir  unbegreiflich,  weshalb  die  französischen  Kom- 
ponisten diesem  unerschöpflichen  Born  bis  Heute  noch 
nichts  entnommen  haben". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  15.  August,  1878. 
.Jetzt  ist  das  Wetter  etwas  besser;  manchmal  blickt 


die  Sonne  durch  die  Wolken,  und  es  ist  Hoffnung  vor- 
handen, dass  es  sich  gegen  Abend  ganz  aufklären  wird. 
Ich  muss  Ihnen  etwas  beichten,  meine  liebe  Freundin.  Heute 
früh  hatte  ich  so  grosse  Lust,  ein  Scherzo  für  Orchester 
zu  skizzieren,  dass  ich  mich  hinreissen  liess  und  volle  2 
Stunden  gearbeitet  habe.  Auf  diese  Weise  habe  ich  mein 
Wort  gebrochen,  den  Aufenthalt  in  Brailow  ungeteilt  der 
Erholung  zu  widmen.  Es  hat  mich  aber  nicht  im  geringsten 
angestrengt.  Nichtsdestoweniger  will  ich  mich  aller  weite- 
ren kompositorischen  Ausfälle  enthalten". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Brailow,  16.  August,  1878. 

Ich  kehre  zu  Alfred  de  Musset  zurück.  Sie  müssen 
durchaus  seine  „Proverbes  dramatiques"  lesen.  Ganz  be- 
sonderes empfehle  ich  Ihnen  „Les  Caprices  de  Marianne", 
„On  ne  badine  pas  avec  l'amour"  und  „Le  Chandelier". 
Drängt  sich  das  alles  nicht  von  selbst  der  Musik  auf? 
Wieviel  Gedanken,  wieviel  Scharfsinn!  Wie  tief  ist  das 
alles  durchfühlt,  und  dabei  wie  bezaubernd  schön.  Es 
liest  sich  so  leicht,  dass  man  garnicht  die  Empfindung 
hat,  es  sei  blos  um  der  Idee  Willen  geschrieben,  d.  h. 
diese  Idee  sei  vorher  gewaltsam  in  das  künstlerische  Ma- 
terial hineingezwängt  worden  und  habe  die  freie  Ent- 
wicklung der  Handlung,  der  Charaktere  und  Situationen 
paralysiert.  Ferner  gefallen  mir  sehr  die  echt  Shakespear- 
schen  Anachronismen,  wie  z.  B.  das  Gespräch  über  die 
Kunst  der  Sängerin  Grisi  am  Hofe  irgend  eines  phan- 
tastischen Bayernkönigs  beim  Empfang  eines  Herzogs  von 
Mantua.  Wie  Shakespeare,  hält  sich  auch  Musset  garnicht 
an  die  lokale  Wahrheit,  dafür  findet  sich  aber  bei  ihm, 
ebenso  wie  bei  Shakespeare,  sehr  viel  von  jener  allgemein 
menschlichen,  von  Zeit  und  Raum  unabhängigen,  ewigen 
Wahrheit.  Nur  der  Rahmen  ist  bei  ihm  kleiner  und  der 
Flug  nicht  so  hoch.  Im  Uebrigen  giebt  es  wohl  kaum  einen 


—  533  — 

anderen  Bühnendichter,  der  Shakespeare  so  nahe  gekommen 
wäre,  wie  Musset.  Ganz  besonders  starken  Eindruck  hat 
auf  mich  das  Stück  „Les  Caprices  de  Marianne"  gemacht, 
und  Heute  denke  ich  den  ganzen  Tag  daran,  wie  man 
daraus  ein  Opernszenarium  machen  könnte.  Ueberhaupt 
fühle  ich  die  Notwendigkeit,  wieder  an  Operntexte  zu  den- 
ken. „Undine"  bin  ich  untreu  geworden.  Für  „Romeo 
und  Julie"  schwärme  ich  zwar  noch,  aber:  erstens — ist  es 
sehr  schwer,  und  zweitens — schrecke  ich  vor  Gounod  zu- 
rück, der  über  diesen  Text  eine,  allerdings  mittelmässige, 
Oper  bereits  geschrieben  hat". 

An  Frau  N.  F.  von  Meck: 

„Werbowka,  25.  August,  1878. 

Ich  bin  schon  seit  sechs  Tagen  in  Werbowka  und  habe 
aus  verschiedenen  Gründen  gar  nicht  gemerkt,  wie  die 
Zeit  verflogen  ist.  Jeden  Tag  nehme  ich  mir  mit  einigem 
Angstgefühl  vor,  abzureisen,  doch  haben  mich  bis  jetzt 
verschiedene  Umstände  daran  gehindert.  Erstens,  ist  das 
Wetter  so  schön,  dass  ich  mich  nicht  entschliessen  kann 
das  Dorf  mit  der  Stadt  zu  vertauschen.  Zweitens,  bin  ich 
ausser  Stande,  mich  von  meiner  Arbeit  zu  trennen...  Ja, 
meine  liebe,  meine  beste  Freundin,  die  Sie  mir  Ruhe  vor- 
diktiert hatten, — ich  habe  das  Ihnen  gegebene  Wort  gebro- 
chen. Ich  hatte  Ihnen  schon  aus  Brailow  geschrieben, 
dass  ich  mich  eines  kleinen  Scherzoentwurfs  für  Orchester 
nicht  habe  enthalten  können.  Bald  darauf  kam  ich  auf  die 
Idee,  eine  ganze  Reihe  Stücke  für  Orchester  zu  schreiben, 
aus  denen  sich  eine  Suite  ä  la  Lachner  machen  liesse.  In 
Werbowka  angelangt,  fühlte  ich,  dass  ich  meinen  inneren 
Drang  nicht  eindämmen  könne  und  entschloss  mich  daher, 
die  Skizzen  für  die  Suite  zu  Papier  zu  bringen.  Ich  arbei- 
tete mit  einer  solchen  Wonne  und  Begeisterung,  dass  ich 
buchstäblich  nicht  merkte,  wie  die  Stunden  vergingen. 

Augenblicklich  sind  drei  Sätze  dieses  Orchesterwerkes 
bereits  fertig,  der  vierte  ist  entworfen  und  der  fünfte  sitzt 
im  Kopf. 

Ich  bin  nicht  im  geringsten  ermüdet,  und  das  ist  ge- 
wöhnlich der  Fall,  wenn  ich  gearbeitet  habe,  ohne  mir 
Zwang  anzuthun,  d.  h,  aus  reiner  Herzenslust.  Es  scheint 
mir  immer,  ich  hätte  kein  Recht,  mich  meiner  Natur  zu 
widersetzen,  sobald  das  Flämmchen  der  Inspiration  sie 
erwärmt,  und  ich  bitte  Sie  daher,  es  mir  nicht  übel  neh- 


—  534  — 

men  zu  wollen,  dass  ich  mein  Versprechen  nicht  gehalten 
habe.  Die  Suite  wird  aus  fünf  Teilen  bestehn:  i)  Intro- 
duktion und  Fuge,  2)  Scherzo,  3)  Andante,  4)  Intermezzo 
(Echo  du  bal)  5)  Rondo.  Während  ich  an  diesem  Werk 
arbeitete,  dachte  ich  unausgesetzt  an  Sie;  jeden  AugenbHck 
fragte  ich  mich,  ob  Ihnen  w^hl  diese  oder  jene  Stelle  ge- 
fallen, oder  die  eine  oder  die  andere  Melodie  Sie  rühren 
würde;  darum  will  ich  mein  neues  Opus  keinem  andern 
widmen,  als  meinem  besten  Freund.  Morgen  w^ll  ich  di- 
rekt nach  Petersburg  reisen,  um  meinen  Vater  und  Ana- 
tol  wiederzusehn  und  möchte  dort  zw^ei  bis  drei  Tage 
bleiben.  Dann  gehts  nach  Moskau.  Ein  wenig  Furcht,  ein 
wenig  Traurigkeit  und  ein  wenig  Ekel  habe  ich  vor  mei- 
nem zukünftigen  Leben." 

An  M.  Tschaikowsk}^: 

„Werbowka,  28.  August,  1878. 

Ich  habe  eigentlich  schon  Vorgestern  Abend  von  hier 
abreisen  wollen.  Da  aber  für  Gestern  eine  grosse  Treib- 
jagd geplant  geAvesen  ist,  an  welcher  32  Schützen  und  70 
Treiber  teilnehmen  sollten,  so  habe  ich  mich  verführen 
lassen,  meine  Reise  bis  Heute  aufzuschieben.  Leider  habe 
ich  kein  grosses  Vergnügen  an  der  Jagd  gefunden,  denn 
ich  hatte  mich  Vorgestern  erkältet  und  fühlte  mich  den 
ganzen  gestrigen  Tag  so  schlecht,  dass  ich  fast  weinte 
und  die  Rückkehr  nach  Hause  herbeisehnte.  Die  Jagd  war 
misslungen:  es  gab  w^enig  Wild.  Um  neun  Uhr  Abends 
legte  ich  mich  zu  Bett  und  bin  Heute  um  fünf  als  ganz 
gesunder  Mensch  wieder  erwacht." 

An  M.  Tschaikowsk\^: 

„Kiew,  29.  August,  1878. 

In  der  heutigen  Zeitung  („Nowoje  Wremja")  fand  ich 
ein  Feuilleton,  welches  eine  schmutzige,  niedrige  und  ge- 
meine Verleumdung  gegen  das  Moskauer  Konservatorium 
schleudert.  Von  meiner  Person  ist  nur  wenig  gesagt;  es 
ist  nur  erwähnt,  dass  ich  mich  nur  mit  Musik  beschäftige 
und  an  den  Intriguen  nicht  teilnehme. 

Mit  heroischem  und  philosophischem  Gleichmut  habe 
ich  diese  Philippika  über  mich  ergehn  lassen  und  fort- 
gesetzt, mich  mit  Leo  über  Schwarzerde  zu  unterhalten. 
In  Kiew — eine  neue  Ueberraschung.  Wir  hatten  nur  eine 


—  535  — 

halbe  Stunde  Verspätung,  trotzdem  war  der  Zug  nach 
Kursk  bereits  fort.  Ich  hatte  solch  eine  Sehnsucht  nach 
der  Weiterfahrt,  und — prosit  Mahlzeit!  Jetzt  muss  ich  24 
Stunden  in  Kiew  sitzen,  und  Anatol  wird  sehr  betrübt  sein, 
mich  erst  am  Freitag  wiederzusehn. 

Noch  unterwegs,  mit  der  Zeitung  in  der  Hand,  habe 
ich  beschlossen,  meine  Professur  ganz  aufzugeben.  Ich 
hätte  das  schon  jetzt  gethan  und  wäre  garnicht  erst  nach 
Moskau  gefahren,  wenn  die  Wohnung  nicht  schon  gemie- 
tet wäre,  und  wenn  man  im  Konservatorium  mich  nicht 
bestimmt  erwartet  hätte. Mit  einem  Wort,  ich  habe  beschlos- 
sen bis  zum  Dezember  zu  warten,  dann  für  die  Feiertage 
nach  Kamenka  zu  reisen  und  von  da  aus  die  Mitteilung 
zu  machen,  dass  ich  krank  sei;  selbstverständlich  werde 
ich  Rubinstein  im  Geheimen  vorher  verständigen,  damit 
er  einen  anderen  Professor  engagiere.  Also  vive  la  liberte 
et  surtout  Nadeshda  Filaretowna!  Es  unterliegt  garkeinem 
Zw^eifel,  dass  Sie  meinen  Entschluss  billigen  wird — folglich 
werde  ich  in  der  Lage  sein,  ein  herrliches  Wanderleben 
zu  führen  und  mich  bald  in  Kamenka,  bald  in  Werbowka, 
bald  in  Petersburg  oder  im  Auslande  aufzuhalten.  Apres 
tout:  es  ist  alles  zu  unserem  Besten,  und  in  diesem  Augen- 
blick bin  ich  in  Betreff  diverser  Zeitungen  vollständig  be- 
ruhigt. Für  mein  ferneres  Wohlbefinden  thut  mir  nur  eines 
Not:  dass  Du  und  Anatol  mit  eurem  Geschick  zufrieden 
seid;  wie  ist  aber  das  zu  erreichen?  Komme  um  Gottes 
Willen  schneller  nach  Moskau,  ich  sehne  mich.  Dir  mein 
Herz  auszuschütten!  Um  Gottes  Willen  arbeite  an  Deiner 
Novelle!  Nur  die  Arbeit  kann  den  Gedanken  an  die  mi- 
seres  de  la  vie  humaine  verscheuchen.  Gleichzeitig  wird 
sie  Dich  selbstständig  machen. 

Ich  weiss.  Du  wirst  mir  sagen,  dass  Du  zum  Schreiben 
heine  Zeit  findest,  da  Du  den  ganzen  Tag  durch  Kolja  in 
Anspruch  genommen  seiest.  Ich  wiederhole  aber:  schreibe, 
schreibe,  schreibe!  Ich  könnte  Dir  mich  selbst  als  Bei- 
spiel hinstellen.  Ich  hatte  täglich  sechs  geisttötende,  entner- 
vende Stunden  im  Konservatorium  zu  geben,  wohnte  da- 
bei zusammen  mit  Rubinstein,  dessen  Lebensweise  mir  sehr 
hinderlich  war,  die  Wohnung  lag  neben  dem  Konserva- 
torium, von  wo  aus  ununterbrochen  Tonleiter  und  Etüden 
zu  mir  herüberklangen  und  mich  am  Komponieren  störten. 
Allerdings  wird  die  Beschäftigung  mit  Kolja  wohl  etwas 
anstrengender  sein,  als  meine  Theoriestunden,  nichtsdesto- 
weniger— schreibe!  Einstweilen  jedoch  küsse  ich  Dich,  mein 


—  53б  — 

lieber  teurer  Modi.  Im  Grunde  ist  alles — Wurst,  wenn  es 
nur  Menschen  giebt,  die  man  lieb  haben  kann,  so  wie 
ich  Dich  lieb  habe,  und  Du  mich  (verzeih  mir  die  Ein- 
bildung)!" 

Im  Laufe  der  Saison  hat  Peter  Iljitsch  folgende  Werke 
fertiggestellt: 

i)  Op.  36.  Symphonie  №  4  (F-moll),  in  vier  Sätzen,  ge- 
widmet „meinem  besten  Freund."  Die  ersten  Entwürfe 
waren  schon  im  Mai  1877  fertig.  Am  11.  August  begann 
Peter  Iljitsch  mit  der  Instrumentierung  und  beendete  den 
ersten  Satz  der  Symphonie  am  12.  September.  Dann  trat 
eine  zweimonatliche  Pause  ein,  worauf  er  Ende  Novem- 
ber an  die  Fortsetzung  ging.  Am  15.  Dezember  wurde 
das  Andante  fertig,  am  20. — das  Scherzo,  und  am  26. — das 
Finale,  Ihre  erste  Aufführung  erlebte  die  Symphonie  am 
IG.  Februar  1878  in  einem  Symphoniekonzert  der  Rus- 
sischen Musikalischen  Gesellschaft  in  Moskau  unter  Lei- 
tung N.  G.  Rubinsteins. 

2)  Op.  24.- „Eugen  Onegin".  Lyrische  Szenen  in  3  Akten 
und  7  Bildern.  Das  Textbuch  ist  frei  nach  Puschkin  vom 
Komponisten  selbst  und  K.  S.  Schilowsky  gemacht  wor- 
den. Die  Initiative  für  diese  Oper  gehört  Frau  E.  A.  Law- 
rowskaja.  Am  18.  Mai,  1877  hat  Peter  Iljitsch  folgendes 
Szenarium  projektiert: 

Erster  Akt.  Erstes  Bild.  Die  alte  Larina  und  die  Muhme 
sitzen  im  Garten  beim  Einmachen.  Duett  der  beiden  Frauen. 
Aus  dem  Hause  ertönt  Gesang.  Er  rührt  von  Tatjana  und 
Olga  her,  welche  ein  Duett  mit  Begleitung  einer  Harfe 
singen.  Dann  erscheinen  Bauern  mit  der  letzten  Garbe. 
Sie  singen  und  tanzen. 

Plötzlich  meldet  der  Diener  Gäste.  Aufregung.  Onegin 
und  Lensky  treten  ein.  Die  Zeremonie  der  Vorstellung  und 
Bewirtung  (das  Preisselbeerenwasser).  Quintett  ä  la  Mo- 
zart. Die  Alten  entfernen  sich,  das  Abendessen  zu  besor- 
gen. Die  jungen  Leute  promenieren  paarweise  im  Garten 
(ähnlich  wie  in  Faust).  Tatjana  ist  anfangs  etwas  spröde, 
später  verhebt  sie  sich. 

Zweites  Bild.  Die  Szene  mit  der  Muhme  und  der  Brief 
Tatjana's. 

Drittes  Bild.  Duett  zwischen  Onegin  und  Tatjana. 

Zweiter  Akt.  Erstes  Bild.  Tatjana's  Namenstag.  Ball. 
Die  Szene  der  Eifersucht  Lensky's.  Er  beleidigt  Onegin 
und  fordert  ihn.  Allgemeines  Entsetzen. 

Zweites  Bild.  Die  letzte  Arie  Lensky's  und  das  Pisto- 
lenduell. 


—  537  — 

Dritter  Akt.  Erstes  Bild.  Moskau.  Der  Ball  im  Adels- 
klub. Das  Wiedersehn  Tatjana's  mit  allen  ihren  Tanten  und 
Cousinen.  Chor.  Das  Erscheinen  des  Generals.  Er  verliebt 
sich  in  Tatjana.  Sie  erzählt  ihm  ihre  Lebensgeschichte  und 
ist  bereit,  ihn  zu  heiraten. 

Zweites  Bild.  In  Petersburg.  Tatjana  erwartet  Onegin. 
Er  erscheint.  Grosses  Duett.  Tatjana  kämpft  mit  dem  Ge- 
fühl der  Liebe  zu  Eugen,  welches  sie  von  neuem  erfasst. 
Da  erscheint  ihr  Gemahl.  Das  Pflichtgefühl  siegt.  Onegin 
stürzt  in  Verzweiflung  davon. 

Mit  Ausnahme  des  ersten  Bildes  des  dritten  Aktes  in 
welchem  der  Moskauer  Ball  mit  einem  Ball  in  Petersburg 
vertauscht  worden  ist,  hat  Peter  Iljitsch  an  diesem  Szena- 
rium nichts  weiter  geändert. 

Trotzdem  sich  die  Librettisten  bemüht  hatten,  in  Betreff 
der  Anordung  der  Szenen  der  Dichtung  Puschkins  mög- 
lichst treu  zu  bleiben,  auch  die  Originalverse  beizubehal- 
ten und  nur  in  den  dringendsten  Fällen  selbst  erfundene 
Stellen  einzuschalten, — ist  ihnen  dennoch  eine  kapitale  Ab- 
weichung von  dem  Inhalt  der  Urdichtung  mit  unterge- 
schlüpft, indem  sie  im  letzten  Bild  der  Oper  Tatjana  One- 
gin um  den  Hals  fallen  Hessen.  Doch  im  Herbst  1880 — kurz 
vor  der  ersten  Vorstellung  der  Oper  im  Grossen  Theater 
zu  Moskau — hat  Peter  Iljitsch  der  Schlussszene  der  Oper 
diejenige  Fassung  gegeben,  die  uns  bekannt  ist. 

Die  Mitarbeiterschaft  K.  S.  Schilowsky's  bei  dem  Arran- 
gement des  Libretto's  beschränkt  sich  —  abgesehen  vom 
Szenarium  —  auf  den  französischen  und  russischen  Text 
derCouplet'sfür  Triquet;  alle  anderen  eingeschalteten  Verse 
haben  den  Komponisten  zum  Autor. 

Am  6.  Juni  war  das  zweite  Bild  des  ersten  Aktes  (der 
Brief  Tatjana's)  bereits  komponiert  und  am  15.  Juni  —  der 
ganze  erste  Akt  beendet.  Am  23.  Juni  waren  -/3  der  Oper 
fertig.  Nach  einer  30-tägigen  Pause  ging  Peter  Iljitsch  im 
August  (in  Kamenka)  wieder  an  die  Arbeit  und  beendete 
die  Komposition  der  Oper.  Auch  hat  er  daselbst  das  erste 
Bild  des  ersten  Aktes  instrumentiert. — Im  Laufe  des  Sep- 
tember und  der  ersten  Tage  des  Oktober  hat  Peter  Iljitsch 
wiederum  nichts  gearbeitet  und  ist  erst  Mitte  Oktober  an 
die  Fortsetzung  gegangen;  am  20.  ist  der  ganze  erste  Akt 
fertig  instrumentiert  und  am  23.  nach  Moskau  abgeschickt 
worden.  Im  November  instrumentierte  Peter  Iljitsch  das 
erste  Bild  des  zweiten  Aktes.  Den  ganzen  Monat  Dezem- 
ber widmete  er  der  S3miphonie.  Am  2.  Januar  1878  machte 


-538- 

er  sich  in  San  Remo  wieder  an  „Onegin"  und  beendete 
die  ganze  Oper  am  20.  Januar.  Im  Ganzen  hat  Peter  Iljitsch 
für  die  Komposition  der  Oper  (einschhesslich  des  Libretto) 
nicht  mehr  als  fünf  Monate  verwendet.  Im  Sommer  1885 
komponierte  Peter  Iljitsch  auf  Ersuchen  des  Direktors  der 
Kaiserlichen  Theater  eine  Eccossaise  für  das  erste  Bild 
des  zweiten  Aktes  und  änderte  ein  wenig  das  Finale. 

Ihre  erste  Aufführung  erlebte  die  Oper  am  17.  März 
1877  in  Moskau  gelegentlich  einer  Schülervorstellung  des 
Moskauer  Konservatoriums  im  Kleinen  Theater. 

Verlag  P.  I.  Jurgenson. 

3)  Opus  38.  Sechs  an  A.  Tschaikowsky  gewidmete 
Lieder:  №  i.  „Don  Juans  Serenade",  Text  von  Graf  A. 
Tolstoi;  №  2.  „Das  war  im  ersten  Lenzesstrahl"  (A.  Tol- 
stoi); Xs  3.  „Im  erregenden  Tanze"  (A.  Tolstoi);  №  4.  „Ach, 
wenn  Du  könntest"  (A.  Tolstoi);  №  5.  „Aus  dem  Jenseits" 
(Lermontoff);  №  6.  „Pimpinella"  (florentinisches  Lied).  Ver- 
lag P.  I.  Jurgenson. 

4)  Op.  40.  Zwölf  Klavierstücke  (mittlerer  Schwierigkeit), 
M.  Tschaikowsky  zugeeignet:  №  i.  Etüde,  №  2.  Chanson 
triste,  №  3.  Marche  funebre,  №  4.  Mazurka  C-dur,  №  5. 
Mazurka  D-dur,  №  6.  Chant  sans  paroles,  №  7.  Au  vil- 
lage,  №  8.  Valse  As-dur,  X2  9.  Valse  A-dur,  №  10.  Danse 
russe,  №  II.  Scherzo  F-dur,  №  12.  Reverie  interrompue. 
Als  erstes  von  diesen  zwölf  Stücken  ist  №  12  komponiert 
worden.  Der  mittlere  Teil  dieses  Stückes  ist  ein  vene- 
tianisches  Lied,  welches  während  des  Aufenthaltes  Peter 
Iljitsch's  in  Venedig  fast  jeden  Abend  unter  seinem  Fen- 
ster gesungen  wurde.  Die  anderen  sind  zu  verschiedenen 
Zeiten  entstanden,  „Danse  russe"  schon  im  Jahre  1876  und 
war  ursprünglich  als  Einlegenummer  für  das  Ballett  „Der 
Schwanensee"  bestimmt.  Verlag  P.  I.  Jurgenson.. 

5)  Op.  37.  Grosse  Sonate  für  Klavier  (G-dur)  in  vier 
Sätzen.  Ch.  Klindworth  gewidmet.  Sie  ist  in  den  ersten 
Tagen  des  März  1878  in  Ciarens  begonnen  und  am  30. 
April  beendet  worden.  Am  21.  Oktober  1879  hat  sie  N.  G. 
Rubinstein  zum  ersten  Mal  (in  Moskau)  öffentlich  gespielt. 
Verlag  P.  I.  Jurgenson. 

6)  Op.  35.  Konzert  für  Violine  mit  Orchester.  Ursprüng- 
lich war  es  L.  Auer  gewidmet,  später  jedoch  dedizierte 
es  Peter  Iljitsch  an  A.  Brodsky.  Es  ist  Anfang  März  1878 
in  Ciarens  begonnen  und  bereits  am  16.  desselben  Monats 
im  Entwurf  fertig  gemacht  worden,  doch  gefiel  das  An- 
dante dem  Komponisten  nicht,  so   dass  er  ein  neues  ge- 


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schrieben  hat.  Ende  April  war  das  Konzert  instrumentiert. 
Uraufführung  in  Wien  (1879)  durch  A.  Brodsky.  Verlag 
P.  I.  Jurgenson. 

7)  Op.  42.  „Souvenir  d'un  lieu  eher",  drei  Stücke  für 
Violine  mit  Klavierbegleitung:  №  i.  ist  das  ursprüngliche 
Andante  für's  Konzert.  Die  beiden  andern  Stücke  sind  Ende 
Mai  in  Brailow  entstanden.  Verlag  P.  I.  Jurgenson. 

8)  Op.  41.  Liturgie  des  hlg.  Joann  Slatoust  für  vier- 
stimmigen gemischten  Chor.  Begonnen  im  Mai  1878  in 
Kamenka,  beendet  am  27.  Mai  in  Brailow.  Verlag  P.  I. 
Jurgenson. 

9)  Op.  39.  Kinderalbum,  24  leichte  Stücke  für  Klavier 
(ä  la  Schumann).  Gewidmet  an  W.  Dwidoff.  Verlag  P.  I. 
Jurgenson. 

10)  „Skobeleff-Marche",  komponiert  von  Sinopoff.  Peter 
Iljitsch  verheimhchte  seine  Urheberschaft  dieses  Stückes, 
da  er  es  für  zu  unbedeutend  hielt.  Er  hat  es  auf  Bestel- 
lung P.  I.  Jurgenson's  Ende  April  in  Kamenka  komponiert. 
Verlag  P.  I.  Jurgenson. 

Ausserdem  hat  Peter  Iljitsch  im  Laufe  des  Dezember 
1877  die  Uebersetzung  der  italienischen  Texte  von  sechs 
Liedern  von  Glinka  gemacht  und  den  Text  für  ein  Ge- 
sangsquartett desselben  Komponisten  gedichtet. 

Im  August  1878  hat  Peter  Iljitsch  auch  noch  den  gros- 
sten  Teil  der  Suite  №  i  fertig  gestellt. 


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