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in 2011 with funding from
University of Toronto
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Jvfodesf Zschail^owsk^y.
Das Leben
Peter Ilj'itseh
TscliaikoAA^sky's.
Aus dem Russischen übersetzt
von
Paul Juon.
rfrl'
In 2 Bänden
mit vielen Portraits, Abbildungen und Facsimile in Zinko-
graphie.
MOS KAU — LEIPZIG
Ъе1 Р. JURGENSON.
Hl
410
Dampf-Schnellpressendruckerei von P. Jurgenson in Moskau
Gewidmet
Herrn S. TANEJEW
und Allen Denjenigen, denen die Erinnerung an Peter
lljitsch gleich werüi und heilig ist!
M. Tscliaikowsliy.
V о R W ü R T.
Das Archi\^ Peter Iljitsch Tschaikowsky's welches in
Klin aufbewahrt, und als Haupt-Material dieses Werkes
gedient hat, besteht:
Ahth. 1. Aus Briefen von 807 Personen an Peter Iljitsch,
in einer Anzahl von 6137 Nummern.
Ahth. II. Aus Briefen von Peter Iljitsch an verschie-
denen Personen und Auszügen aus seinem Tagebuch, in
der Anzahl von 4112 Nummern.
Abth. III. Aus Briefen, Erinnerungen, Documenten über
Peter Iljitsch. Die Anzahl der Nummern dieser Abtheilung
ist noch nicht genau bestimmt und in voller Ordnung ge-
bracht in Anbetracht nocli immer neuer Zusendungen.
Ahth. IV. Aus Manuscripten musikalischer und litera-
rischer Arbeiten Peter lljitsch's.
Abth. V. Aus seiner Bibliotek musikalischer und litera-
rischer Werke mit Randbemerkungen auf verschiedenen
Exemplaren.
Ausserdem hat mir als Material gedient:
1) Gedenkbuch der im Jahre 1891 entlassenen Rechts-
schüler von W. R. Mordwinoff. St. -Petersburg 1894.
2) Erinnerungen an Peter Iljitsch Tschaikowsky von
N. D. Kaschkin. Mosl-au, F. Jurgenson. 1896.
3) Recensionen und Artikel aus Zeitungen über Werke
Peter Iljitsch's.
Mein Haupt -^Mitarbeiter bei Zusammenstellung des 1^
Bandes \var Hermann Augustowitsch Laroche, welchem
ich viele wesentliche Theile dieser Biographie zu verdan-
ken habe.
Zum Schluss spreche so\vohl den bereits genannten
\vie auch den л1е1еп Mitarbeitern welche auf meine Bitte-
hin mir ihre Erinnerungen mitgetheilt, und dadurch viel
zur Vollständigkeit und Richtigkeit dieses Werkes beige-
tragen haben, meinen herzlichsten Dank aus.
M. TschaikOAvsky.
Klin.
November 1900
Band 1.
1840 — 1877.
Die Vergangenheit bedauern, auf die Zukunit
hoffen und nie mit der Gegenwart zufrieden sein
— das ist mein Leben.
P. Tschaikowsky.
(aus einem Briefe).
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Erster Teil.
I.
Einer der eigenartigsten Züge in Peter Iljitsch Tschai-
kowsky's Charakter war die Ironie, mit welcher er sich
gegenüber seiner adehgen Abstammung verhielt. Bei jeder
sich nur bietenden Gelegenheit bespöttelte er die Krone
und das Wappen seiner Familie, nannte sie „phantastisch"
und hielt mit einer Hartnäckigkeit an der plebejischen
Abstammung seiner Ahnen fest, die oft an's Merkwürdige
grenzte. Das war das Resultat seiner demokratischen An-
schauungen und Sympatieen, aber auch der ausserordent-
lichen Gewissenhaftigkeit, und nicht zum wenigsten des
Stolzes, welche den sittlichen Grund seiner Persönlichkeit
bildeten.
Gleichgiltig gegen die Vornehmheit seiner Verfahren, war
er jedoch nichts weniger als gleichgiltig gegen ihrer Nationa-
lität. Die Ansprüche einiger Verwandten auf Aristrokratismus
bezweifelte und verspottete er, wenn ihn aber Jemand
verdächtigte, polnischer Herkunft zu sein, so wurde er ge-
radezu zornig. Die Liebe zu Russland und zu allem Rus-
sischen wurzelte in ihm so tief, dass er glücklich war, in
der Person eines seiner frühesten Urahnen väterlicherseits
einen echten rechtgläubigen Russen aus dem Kreis Kre-
mentschug feststellen zu können.
hn Register seiner Vorfahren und Verwandten in auf-
steigender Linie stösst man auf keinen Namen, der zur
musikalischen Kunst in irgend welcher Beziehung stände.
Nicht ein einziger Berufsmusiker ist da zu finden und als
Musikdilettanten erscheinen auch nur drei Personen, der
Bruder seiner Mutter, Michael Assier, ihre Schwester Ka-
tharina, die seinerzeit in der Petersburger Gesellschaft be-
kannte und beliebte Gesangsdilettantin, und — die Mutter
Tschaikoivslcy, M. Das Leben P. I. Tsel]aikowsk3's. 1
— 1 —
des Komponisten selbst, die mit Gefühl und Ausdruck die
damals modernen Arien und Romanzen zu singen wusste.
Alle anderen Assiers und Tschaikowsky's waren nicht nur
gänzlich unmusikalisch , sondern auch sehr gleichgiltig
gegen die Musik. Auch in der Generation, welcher Peter
Iljitsch angehörte, sowie deren Nachkommen — zusammen
etwa achtzig Personen — sind kaum zehn zu nennen, welche
unzweifelhafte wenn auch oberflächliche musikalische Be-
gabung aufzuweisen hätten. Die grosse Menge aller andern
Verwandten zeichnete sich durch ganz besonders ausge-
prägte Indifferenz zur Musik aus, welche beinahe an
Abscheu grenzte, sodass es kaum möglich ist, festzustel-
len, von wem Peter Iljitsch sein Talent geerbt hat, wenn
von Vererbung hier überhaupt die Rede sein kann. Das
Einzige, was sich л'оп seinen Ahnen auf ihn vererbt hat,
war seine ganz aussergewöhnliche Nervosität, welche sich
oft in hysterischen Anfällen äusserte und sich wahrscheinlich
von seinem Grossvater Assier, der Epileptiker war, auf
ihn übertragen hatte. Wenn es also wirklich so ist, wie
einige neuere Gelehrte behaupten, nämlich, dass „Genie"
eine gewisse psychische Anormalität sei, dann wäre es
wohl möglich, dass gleichzeitig mit der Nervosität auch das
musikalische Talent Tschaikowsk3''s aus der Familie Assier
auf ihn überkommen ist.
II.
Ueber die Kindheit und Jugend des Vaters des Kom-
ponisten, Ilja Petro witsch, fehlt uns jegliche Auskunft. Er
selbst erzählte nie etwas von seinen jungen Jahren, es war
ihm sogar stets unangenehm, darüber ausgefragt zu wer-
den. Doch wäre es durchaus unrichtig, anzunehmen, dass
irgend welche trübe Erinnerungen daran Schuld hätten.
Ilja Petro witsch vermied es einfach, die Aufmerksamkeit
Anderer durch seine Person in Anspruch zu nehmen und
erinnerte sich nur dann an seine Vergangenheit, wenn
er irgend eine lustige Begebenheit zu erzählen hatte, oder
wenn es ihn drängte, den Anwesenden Freud und Leid
I. р. Tsch.aiko-wsky,
Vater von Р. I. Tschaikowsky, im lahre 1860.
Dampfschnellpressen-Druckerei von P. Jurgenson, Moskau.
aus alter Zeit mitzuteilen; bei solchen Gelegenheiten ver-
gass er jedoch — wie es ältere Herren in derartigen Fällen
gewöhnlich zu thun pflegen, dass alles das, was seinem Er-
lebniss voraufgegangen oder sich nachher ereignet hatte,
dem Zuhörer unbekannt sein musste; wenn ihn nun infol-
gedessen Dieser oder Jener um Aufklärung bat, so wurde
er leicht ungeduldig oder gar etwas ärgerlich. Im folge-
richtigen Zusammenhange hat er aber seinen Lebenslauf
nie erzählt, ja — nicht einmal einzelne Epochen desselben.
Allerdings hatte er einst seine Memoiren zu schreiben be-
gonnen (Peter Iljitsch hat ihn dazu bewegt). Nachdem er
aber kurz alle seine Ahnen aufgezählt hatte, und nun seine
eigene Person an der Reihe war, hörte er auf und wollte
nicht w^eiterschreiben.
Seine Erziehung genoss er im Kadetten-Corps für Bergbau,
welche Anstalt er anno 1817 als zweiundzwanzigj ähriger
junger Mann mit Auszeichnung absolvierte, hn August
desselben Jahres wurde er mit dem Titel Schichtmeister
als Beamter der 13. Klasse in das Departement für Berg-
werks-und Mineral-Angelegenheiten aufgenommen. Aeus-
serlich war sein Lebenslauf nicht gerade glänzend, denn
zwanzig volle Jahre waren seit seinem Dienstantritt ver-
flossen, als ihm der Rang eines Oberstleutnants verliehen
wurde, nachdem er inzwäschenBerggeschworener (12. Klas-
se), Hüttenverwalter (10. Klasse), Markscheider (9. Klasse),
Ober-Hüttenverwalter (8. Klasse) und Ober-Bergmeister
(7. Klasse), gewesen war. Der Umstand aber, dass er
schon mit dreissig Jahren Mitglied des wissenschaftlichen
Komitees für Bergbau war, sowie 1828 — 1831 in den hö-
heren Klassen des Bergbau-Instituts Statistik und Gesetz-
we'sen des Bergbau's lehrte, weist darauf hin, dass er in
seinem Fach ein begabter und fleissiger Arbeiter gewesen
sein muss.
Im privaten Leben war er nach den Bekundungen Al-
ler, die ihn kannten, ein sehr angenehmer, lebensfroher
und geradsinniger Mensch. Ausserordentliche Herzensgüte,
richtiger eine allumfassende Liebe war seine hervorragendste
Charaktereigenschaft. Als Greis traute und glaubte er sei-
nen Nebenmenschen ebenso wie in der Jugend und im
reifen Mannesalter. Weder die schw^ere Schule des Lebens,
noch die verschiedenen Enttäuschungen vermochten es zu
verhindern, dass er einen jeden Menschen, mit dem er zu-
sammenkam, für den besten und tugendhaftesten hielt.
Sein Vertrauen hatte keine Grenzen; er wurde selbst dann
noch nicht misstrauischer, als er gerade infolge seiner
Leichtgläubigkeit sein ganzes, mit so viel Mühe erworbe-
nes Vermögen verlor. Enttäuschungen kränkten und er-
bitterten seine Seele auf's tiefste, konnten aber seinen
Glauben an die Tugendhaftigkeit der Menschen und ihrer
Beziehungen zu einander nicht erschüttern. Die Folge die-
ser idealen Weltanschauung war, dass Ilja Petro witsch —
wie gesagt — viel Kummer geerntet, anderseits aber auch
eine so grosse Zahl treuer Freunde erworben hat, wie sie
kaum je ein Anderer besass. Wegen seiner unveränderli-
chen Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit im Verkehr,
wegen seiner steten Bereitwilligkeit, die Lage seiner Mit-
menschen zu würdigen, erfreute er sich einer allseitigen
Liebe.
Obgleich Ilja Petro witsch ia seinem Fach Tüchtiges
leistete, war seine Allgemeinbildung ziemlich mittelmässig.
Seine geistigen Bedürfnisse waren leicht zu befriedigen,
denn für Kunst und Wissenschaft hatte er nur ein gerin-
ges Verständniss; am meisten interessierte ihn die Musik
und das Drama, In seiner Jugend blies er die Flöte, wahr-
scheinlich aber sehr mangelhaft, denn er hörte schon sehr
früh — noch vor seiner zweiten Heirath — damit auf. Die
Schauspielkunst entzückte ihn bis an's Ende seiner Tage.
Als achtzigjähriger Greis besuchte er noch allwöchentlich
das Theater und war jedesmal bis zu Thränen gerührt,
auch wenn das aufgeführte Stück nichts Rührendes ent-
hielt.
Am II. September 1827 heiratete Ilja Petro witsch eine
gewisse Maria Karlowna Keiser, welche ihm 1829 eine
Tochter (Zinaida) schenkte. Im Anfang der dreissiger Jahre
starb seine Frau, und Ilja Petro witsch heiratete am i. Ok-
tober 1833 zum zweiten Mal und zwar die Jungfrau Ale-
xandra Andreewna Assier.
Von der Kindheit und Jugend der Mutter des Kompo-
nisten ist uns ebensowenig etwas bekannt, wie von demsel-
ben Lebensalter ihres Gatten. Im Jahre 1816 verlor sie ihre
Mutter und wurde 1819 in die Schule für weibliche Waisen-
kinder gebracht, welche sie 1829 absolvierte.
Nach den erhaltenen Schulheften Alexandra Andreew-
na's zu urteilen, wurde in dieser Schule sehr guter Unter-
richt erteilt: Inhalt, Stil und fehlerlose Orthographie der
Schülerin beweisen das. Auf die gediegene Erziehungsme-
tode dieser Anstalt weist auch der Umstand hin, dass die
genannten Hefte von Alexandra Andreewna auf das Sorg-
Alexandra Andreewna Tschaikowsky,
die Mutter P. I. Tschaikowsky's, im Jahre 1848.
Dampfschnellpressen-Druckerei von P. Jurgenson, Moskau.
fältigste aufbewahrt wurden (woraus man schliessen kann,
dass die Schule bei ihr in gutem Andenken blieb) und, dass
sie ausgezeichnete französische und deutsche Sprachkennt-
nisse besass. Allerdings kann es möglich sein, dass sie
diese Kenntnisse schon als Kind im Hause ihres Vaters —
welcher halb Franzose halb Deutscher war — erworben
hatte, doch ist es schon anerkennenswert, dass diese Kennt-
nisse in der Schule nicht erstickt wurden, was leider in
unseren modernen Lehr-Anstalten oft vorkommt.
Wenn man bedenkt, dass Alexandra Andreewna aus-
serdem etwas Klavier spielen und recht hübsch singen
konnte, so kann mal wohl behaupten, dass eine solche Bil-
dung für ein weder reiches noch vornehmes Mädchen doch
recht befriedigend war.
Nach dem Zeugniss derjenigen Personen, welche sie
kannten, war Alexandra Andreewna eine hohe, stattliche
Erscheinung, nicht gerade schön, aber mit jenem wamder-
baren Augenausdruck, welcher unwillkürlich die Aufmerk-
samkeit fesselt. Alle ohne Ausnahme behaupten, dass in
ihrem Aeusseren etwas ganz besonders Anziehendes lag.
Fanny Dürbach, die Gouvernante ihrer älteren Kinder,
welche auch heute noch (in Montbeillard in Frankreich)
lebt, erzählt, dass als sie zum ersten Mal nach Russland
kam (sie zählte damals 22 Jahre), sie stets grosse Unent-
schlossenheit an den Tag legte, als ihr diese oder jene
Stellung angeboten wurde, sodass sie oft ohne genügenden
Grund sogar glänzende Angebote ausschlug; als sie jedoch
Alexandra Andreewna sah, sie gleich im ersten Augenblick
zu dieser vornehmen Erscheinung ein solches Zutrauen
empfand, dass sie sofort rehe noch von ihren Pflichten und
von Honorar die Rede war — den Entschluss fasste, die
Stelle anzunehmen. „Ich hatte mich nicht getäuscht", — er-
zählt sie w^eiter, — „als ich damals meiner inneren Stimme
Gehör schenkte, denn ich gewann die vier glücklichsten Jahre
meines Lebens".
Nach der Erinnerung von Peter Iljitsch war seine Mut-
ter eine hohe, ziemlich volle Frau mit wundervollen Augen
und aussergewöhnlich schönen Händen. — „Solche Hände
giebt es nicht wieder und \vird es auch nie geben!"- sagte
er oft. Im Gegensatz zu ihrem Gemahl, war Alexandra
Andreewna im Familienleben ziemlich zurückhaltend mit
warmen Gefühlsaeusserungen find fast geizig in Liebes-
bezeigungen. Sie Avar sehr gutherzig, diese Herzensgüte
war aber im Vergleich mit der beständigen Freundlichkeit
ihres Gatten zu All' und Jedem eine strengere, die öfter
in Thaten als in Worten ihren Ausdruck fand.
Wenn ein vierzigjähriger Mann aus Liebe ein noch
ganz junges Mädchen heimführt, so erwartet man natur-
gemäss, dass sich die Frau dem alternden Manne vollstän-
dig unterwerfe. In diesem Falle war es aber umgekehrt.
Der gutherzige, ungeachtet seiner Jahre wie ein Jüngling
begeisterungsfähige , vertrauensselige und freigebige Ilja
Petrowitsch fügte sich in Allem — ausgenommen seine dienst-
lichen Pflichten — dem Willen seiner ihn grenzenlos lieben-
den Frau. Nach Aussen hin, fremden Personen blieb diese
Thatsache infolge des angeborenen Taktes dieser Frau
und der Achtung, mit welcher sie ihren Ehemann behan-
delte, freilich verborgen.
Das erste Kind aus dieser Ehe war eine Tochter, wel-
che jedoch bald nach der Geburt verstarb.
hn Jahre 1837 wurde Jlja Petrowitsch zum Oberhaupt
des Bergwerks Kamsko-Wotkinsk (Gouvernement Wjat-
ka) ernannt und siedelte mit seiner Frau dorthin über. Am
9. Mai 1838 schenkte sie ihrem Gatten einen Sohn, Niko-
laus, und am 25. April 1840 gebar sie ihren zuzeiten Sohn,
Peter.
^
щщ
III.
Die Lage des Direktors eines so grossen Bergwerks
wie das Wotkinsk'sche glich aeusserlich derjenigen eines
reichen Gutsbesitzers inmitten seiner Ländereien, war viel-
leicht sogar noch etw^as bedeutender, denn zu allen Bequem-
lichkeiten und Behaglichkeiten des Lebens, einem pracht-
vollen Hause, einer ganzen Schar Diener und Dienerin-
nen, kam noch gewissermassen die Repräsentation der
obersten Gewalt.
Ilja Petrowitsch verfügte z. B. über ein eigenes kleines
Heer, eine Sotnja (100) Kosaken, hatte auch einen kleinen
Hof um sich, w^elcher aus denjenigen Beamten des Berg-
werks bestand, welche privilegierten Ständen angehörten.
Das gute Gehalt ermöglichte dank der weisen Verwal-
tung Alexandra Andrccwna's nicht nur jeden irgend wünsch-
baren Comfort, sondern auch die Zurücklegung einer
kleinen Summe für etwaige schlechtere Zeiten. Die aus-
serdem für Repräsentationszwecke besonders zur Verfü-
gung stehenden Gelder waren gross genug um die Kosten
grösserer Empfcänge zu decken und der Gastfreundschaft
Ilja Petrowitsch's den weitesten Spielraum zu lassen, und
seine Liebenswürdigkeit, sowie der eigenartige Reiz seiner
Gemahlin bewirkten es, dass sein Haus der beliebteste
Versammlungsort der ganzen Wotkinsk'schen Gesellschaft
war. Diese Gesellschaft hatte mit dem groben Provinzia-
lismus der damaligen Zeit Nichts gemein; sie bestand haupt-
sächlich aus Petersburger jungen Leuten und den feinge-
bildeten Familien einiger Engländer, sodass man hier die
unmittelbare Nähe Asiens und die weite Entfernung der
Civihsationszentren absolut nicht verspürte.
In der Zeit der allerfrühesten Erinnerungen Peter
Iljitsch's, d. h. zu Ende der ersten Hälfte der vierziger
Jahre, vergrösserte sich die Familie Tschaikowsky um zwei
Mitglieder: um ein Mädchen, Alexandra (geb. d. 28. Dec.
1842), und um einen Knaben, Hyppolit (geb. d. 10. April
1844). In dieser Epoche lebten bei Tschaikowsky's noch —
die alte Tante Ilja Petrowitsch's, Nadeshda Timofeewna
Walzew, und zwei seiner Nichten: Anastasia Wassiljiewna
Popoff, ein Mädchen von 38 Jahren, und L^^dia Wladimi-
rowna Tschaikowsky, ein lo-j ähriges Mädchen, welches
kurz vorher ihre Mutter verloren hatte. Die Pflege der
jüngsten Kinder nahm Alexandra Andreewna so sehr in
Anspruch, dass sie sich in die Notwendigkeit versetzt sah,
für Lydia und Nikolaus eine Gouvernante zu engagieren.
Als sie zum Zwecke des Wiedersehens ihrer Verwandten
und der im Katharinen-Institut befindlichen Stieftochter
nach Petersburg reiste, lernte sie dort Fanny Dürbach
kennen und kehrte in deren Begleitung im November 1844
nach Wotkinsk zurück.
Angesichts des unauslöschbar tiefen Einflusses, welchen
diese Person auf Peter Iljitsch gehabt hatte, werde ich
mir erlauben, die Aufmerksamkeit des Lesers für einige
Zeit auf sie zu lenken.
Alles, was über die damalige Fann}' gesagt werden
kann, ist, dass sie speziell für die pädagogische Thätigkeit
vorbereitet war, bereits eine gewisse Erfahrung darin hatte,
dass sie die französische so wie die dei#tsche Sprache
gleich gut beherrschte, und dass sie in ihren moralischen
Grundsätzen eine strenge Protestantin war. Um aber ihre
Vorzüge besser zu beleuchten, werde ich meine Begegnung
mit ihr 1894 j^'^ Montbeillard, einem kleinen französischen
Städchen in der Nähe von Beifort, erzählen.
Sie bewohnt mit ihrer Schwester ein eigenes dreistöcki-
ges Häuschen, welches aber kaum gross genug ist, um
ihre drei kleinen sauberen Stuben zu fassen. Sie wohnen
ganz allein. Aus Mangel an Geldmitteln halten sie keinerlei
Bedienung; die Pflichten der Köchin besorgt Frederike,
welche ebenfalls längere Zeit in Russland als Gouvernante
thätig gewesen war und sich ein ganz kleines Vermögen
erspart hatte. Fanny erteilt bis Heute noch Unterricht. Die
ärmlichen Verhältnisse, in denen sie lebt, überraschten
mich umsomehr, da ich wusste, dass Peter Iljitsch zwei
Jahre vorher sie beschwor, eine fortlaufende Geldunter-
stützung von ihm anzunehmen, und dass sie diese auf das
Entschiedenste abwies. „Ich bin zufrieden mit dem was ich
habe" wiederholte sie auch mir gegenüber stets, als ich
ihr bei meinen ziemlich häufigen Besuchen andeutete, dass
die Erben des Komponisten den Wunsch hätten, ihr in
materieller Beziehung nach Möglichkeit zu helfen: „so weit
es nach den schweren Schicksalsschlägen, die mich im
Leben getroffen haben, überhaupt noch möglich ist glücklich
zu sein — bin ich glücklich", sprach sie. Und in der That,
in dem Ausdruck ihres für die 72 Jahre noch ziemlich ju-
gendlichen Gesichtes, in dem Blick ihrer grossen schwar-
zen Augen glänzte eine solche Seelenruhe, eine solche
Reinheit, dass es mir im Augenblick wohl schien, weder
die physischen Leiden (sie krankt an Asthma und Schlaf-
losigkeit), noch alle materiellen Entbehrungen seien imstande,
die Leuchte ihres Lebensabends zu verdunkeln.
Nachdem sie Russland in den fünfziger Jahren verlassen
hatte, liess sie sich in Montbeillard nieder und verbrachte
daselbst als Lehrerin volle vierzig Jahre ohne Unterbre-
chung. Die Hälfte aller Einwohner dieses Städtchens sind
ihre Schüler und Schülerinnen gewesen. Als sie mir vor
meiner Abreise noch ihren kleinen Gemüsegarten zeigen
wollte und mich durch die Strassen in's Feld führte, wurde
sie fast von jedem Entgegenkommenden ehrfurchtsvoll ge-
grüsst. — „Wenn man so viele Freunde hat" — sagte sie mir, —
wie sollte man da noch klagen? — Sie können ruhig sein,
hier bin ich gut aufgehoben, selbst wenn es mir einmal
schlecht gcheU sollte". Ein englisches vSprichwort sagt: the
child is father to the man. Frei übersetzt könnte man
vielleicht sagen: die Jugend erzieht das Alter; nach dem
— 9 —
leuchtenden ruhigen Alter Fanny's kann nian sich daher
wohl vorstellen, was für ein gutes, tugendhaftes Mädchen
sie im Jahre 1844 gewesen sein muss. Dafür spricht aber
auch der Umstand, dass trotz der verhcältnissmässig kur-
zen Zeit ihres Aufenthaltes in der Familie Tschaikowsky
(nur 4 Jahre waren es) das Andenken an sie bis Heute noch
fortlebt, während alle ihre Nachfolgerinnen bereits lange
vergessen sind.
Zu unserem Glück erinnert sie sich sehr klar an die
„glücklichste Epoche ihres Lebens". Ihre Erzählung über
die Ankunft in Wotkinsk charakterisiert sehr lebhaft die
patriarchalen Sitten der Verwandschaft Peter Iljitsch's.
„Ich reiste von Petersburg mit Frau Tschaikowsky und
Nikolaus ab. Wir waren volle drei Wochen unterwegs
und lernten uns in dieser Zeit so gut kennen, dass wir bei
unserer Ankunft bereits intime Freunde waren. Die Güte
und das freundliche Entgegenkommen der Frau Tschai-
kowsky, so wie das angenehme Aeussere Nikolai's gefielen
mir sehr, und das gute Benehmen, die Wohlerzogenheit
des Knaben bürgte mir dafür, dass ich es nicht schwer
haben werde. Und doch war ich sehr verwirrt. Alles wäre
gut, wen ich nach der Ankunft nur mit Frau Tschaikowsky
und ihrem Sohn zu thun haben wäu^de, aber dem war nicht
so: es erwarteten mich auch andere, mir fremde Personen,
andere Sitten, andere Gebräuche, kurz ein ganz anderes
unbekanntes Leben harrte meiner. Je näher zum Ziel, desto
unruhiger und aufgeregter wurde ich. Als wir aber vor
der Thür des Hauses angelangt waren, genügte ein Augen-
blick, um all'meine Angst für immer zu bannen. Es kam
eine grosse Menge Leute herausgelaufen und es begann
ein so allgemeines Küssen und Umarmen, dass man in dem
Gewirr Verwandschaft und Dienerschaft nicht unterschei-
den konnte. Die echte ungeheuchelte Freude verbrüderte
Alle. Herr Tschaikowsky kam auf mich zu und küsste
mich ohne Umstände, als wenn ich seine Tochter wäre.
Diese einfache Herzlichkeit der Beziehungen ermunterte
mich sehr, sodass ich mich fast als Familienmitglied fühlte.
Es war, als ob ich nicht eben erst angekommen, sondern
wie Frau Tschaikowsky und ihr Sohn nach Hause zurück-
gekehrt sei. Am nächsten Morgen schon begann ich mit
dem Unterricht ohne jede Aufregung oder Furcht lür die
Zukunft".
lO
IV.
Peter Iljitsch war damals 4Y2 Jahre alt. Er flehte mit
Thränen in den Augen, man möchte ihn auch am Unterricht
teilnehmen lassen, sodass Alexandra Andreewna endlich
nachgab und ihn zu Nikolai und Lydia gesellte. Von dieser
Zeit an lernte er mit seinen älteren Geschwistern zusam-
men und war stets sehr beleidigt, menn man ihm aus Rüksicht
auf sein Alter diese oder jene Arbeit ersparen wollte. Er
hatte auch wirklich sehr bald seine Mitschüler in allen Fä-
chern eingeholt und konnte als sechsjähriger Knabe flies-
send fl-anzösisch und deutsch lesen. Russischen Unterricht
erteilte ein in's Haus kommender Lehrer Namens Blinoff" ^).
Vom ersten Augenblick an empfand Fanny eine beson-
dere Zuneigung zu ihrem j"üngsten Schüler, nicht nur weil
er den Andern an Befähigung überlegen war und gewis-
senhafter arbeitete, auch nicht weil er im Vergleich mit
Nikolai stiller war und seltener wegen Ungezogenheiten
gescholten werden musste, sondern auch weil all' seinem
Thun und Lassen etwas Besonderes, etwas Ungewöhnliches
anhaftete. Etwas was Jeden, der mit diesem Kinde in Be-
rührung kam, unwiderstehlich bezauberte.
Er war aeusserlich nicht so schön W4e Nikolai, auch
etwas nachlässiger als dieser. Seine Toilette w^ar immer in
Unordnung: entweder hatte er seine Kleider in Zerstreutheit
irgendwo beschmutzt, oder es fehlte Dieses und Jenes daran;
sein Haar war gewöhnlich nur mangelhaft gekämmt u. s.
w., so dass er neben dem pomadisierten, eleganten und
stets tadellosen Nikolai im ersten Augenblick gar keinen
Eindruck machte. Aber schon nach kurzem Zusammen-
sein übte sein Verstand, und noch mehr sein Herz jenen
bezaubernden Einfluss aus, so dass man doch ihm den
Vorzug vor den anderen Kindern geben musste. Dieses
anziehende sympatische Wesen, diese köstliche Eigenschaft,
alle Menschen für sich einzunehmen, blieb ihm in seinem
ganzen Leben eigen. Der Gedanke liegt nahe, dass sein
jetziger Ruhm bei Denjenigen, die ihn auch früher kannten,
die Erinnerung beeinflusst haben könnte, dass sie retrospek-
tiv die Person des Kindes mit dem Glänze dieses Ruhmes
umgeben; dem ist aber nicht so, denn es sind viele Do-
kumente vorhanden, welche beweisen, dass die Person
П Es ist mir nicht gelungen, Ktwas Xäheres über diesen Herrn in Erfahrung zu
bringen.
— II —
Peter Iljitsch's schon damals Aller Aufmerksamkeit fesselte,
als von Ruhm noch gar keine Rede sein konnte.
1843 bereits nannte ihn Ilja Petrowitsch in einem Briefe,
,, unser Aller Liebling", „die Perle meines Hauses". Ale-
xandra Andreewna, welche von Aussen betrachtet, alle
ihre Kinder gleich liebevoll behandelte, soll nach vielen
Zeugnissen gar manches Mal gesagt haben, ihr zweiter
Sohn sei „der Schatz, das Gold der Familie". Das alte
Mütterchen Nadeshda Timofeewna hatte ihn zu ihrem Uni-
versalerben auserkoren. Anastasia Wassiljewna, welche
der Ruhm eines Musikers durchaus gleichgiltig Hess, wel-
che nach ihrer Erziehung und den veralteten, Ansichten
ein solches Fach sogar verachten konnte, welche nie auch
nur eine Note aus seinen Kompositionen gehört hatte, —
hatte bis zum letzten Atemzug ihr „Peterchen" vergöttert.
Und, Fann}^, endlich, welche zur Zeit, als sein Ruhm den
Höhepunkt erreichte, als der Name ihres Zöglings in ganz
Frankreich genannt wurde, sich sorgfältig vor ihm verbarg
und das Wiedersehen mit ihm durchaus nicht wünschte,
aus Furcht „de ne plus retrouver son petit cheri d'autre-
fois" (ihren Liebling von früher in ihm nicht wiederzufin-
den), diese Fanny bewahrte während fünfzig Jahren den
kleinsten von seiner Kinderhand beschriebenen Papierfet-
zen wie ein Heiligtum auf. Beweist dieses nicht zur Ge-
nüge, dass sie in Peter Iljitsch nicht den zukünftigen be-
rühmten Mann liebte, sondern lediglich das Kind? Aber
nicht nur die Nahestehenden Personen zeichneten ihn aus,
auch Andere. Eine gewisse Emilie Landraschen, eine Freun-
din Fanny's, schrieb 1849: „dieses Kind gefällt mir besser,
als die anderen".
Auf meine Frage, auf welche Weise denn dieser eigen-
artige Zauber, den der Knabe ausstrahlte, sich aeusserte,
antwortete die greise Gouvernante: „Eigentlich in Nichts
Besonderem und doch in Allem, was er that. Während des
Unterrichts war Keiner so emsig und so verständig, in den
Pausen erfand Keiner so lustige Spässe, in den Lesestun-
den hörte Keiner so aufmerksam zu, als er, und wenn ich
in der Dämmerung der Feierabende meine Zöglinge um
mich sammelte und einen Jeden irgend eine Geschichte
erzählen Hess, dann wusste Niemand so schön zu impro-
visieren, wie er. Diese köstlichen Stunden unseres Lebens
werde ich nie vergessen. Im gewöhnlichen Umgang mit
ihm hatte man ihn deshalb so lieb, weil er selbst alle lieb
hatte. Seine Empfänglichkeit war geradezu grenzenlos, und
12 —
man musste ihn deshalb sehr vorsichtig behandeln. Er
konnte durch eine Kleinigkeit verletzt, beleidigt werden.
Das war ein „Porzellan"-Kind. Die geringste Bemerkung,
ein einziges Scheltwort (von Strafen konnte bei ihm keine
Rede sein) wie es bei andern Kindern unbeachtet zu bleiben
pflegt, nahm er sich tief zu Herzen und konnte dadurch
so verstimmt werden, dass es geradezu beängstigend wurde.
Eines Tages machte ich beiden Brüdern wegen einer schlecht
ausgeführten Arbeit Vorwürfe und sagte unter Anderem,
dass ich ihren Vater bedauere, denn er müsste schwer
arbeiten um für seine Kinder die Kosten der Erziehung zu
erschwingen, sie seien aber so undankbar und würdigten
das garnicht, indem sie ihre Pflichten vernachlässigten. Ni-
kolai Hess diese Bemerkung über sich ergehen, sprang
und spielte aber an diesem Tage mit seinen Kameraden
nicht minder fröhlich als sonst, Pierre jedoch blieb den
ganzen Tag still und nachdenklich, und als er abends zu
Bette ging, konnte er seine Thränen nicht länger zurückhal-
ten, beteuerte, dass er seinen Vater doch sehr lieb hätte
und dass er ungerechterweise der Undankbarkeit geziehen
worden sei. Ich versichere Ihnen — man konnte nicht anders,
als ihn gern haben, denn er hatte Alle und Alles lieb. Das
Schwache, das Unglückliche hatte in ihm stets einen eifri-
gen Vertheidiger. Einst hörte er, dass Jemand die Absicht
habe, ein Kätzchen zu ertränken. Nachdem er in Erfahrung
gebracht, wer dieser Uebelthäter war, bat er bei diesem
flehentlich um vSchonung des Thierchens und erreichte auch
sein Ziel. Hocherfreut eilte er nach Hause direkt in das
Arbeitszimmer seines Vaters, welcher gerade in einer dien-
stlichen Unterredung mit einigen Herren begriffen war,
und erzählte feierlichst, dass ihm die „Rettung" geglückt sei.
Die Liebe zu allen Unglücklichen fand auch in seiner
ungewöhnlichen Sympatie für Ludwig XVII. Ausdruck.
Fanny erzählt, dass er nicht müde wurde, alle Einzelhei-
ten über den qualvollen Tod dieses unschuldigen Märtyrers
auszufragen. Selbst als Erwachsener hörte er nicht auf, sich
für den Prinzen zu interessieren; 1868 kaufte er in Paris
ein Bild, welches ihn im Temples darstellte, und liess es
einrahmen. Dieses Bild und das Portrait Anton Rubinsteins
blieben lange Zeit hindurch der einzige Schmuck seiner
Behausung. Der an Chauvinismus grenzende grosse patrioti-
sche Zug, welcher die Zeit der Regierung Nikolaus I. cha-
rakterisiert, hat auch auf Peter Iljitsch einen bleibenden
Eindruck hinterlassen, denn aus dieser Zeit stammt jene
— 13 —
geradezu rührende Liebe zu Allem was „russisch" war,
welche Peter Iljitsch das ganze Leben hindurch in sich
trug. Diese Liebe zum Vaterland hat er sogar — wie wir
weiter unten sehen werden — in Gedichten besungen; man-
ches Mal bekundete er sie aber auch auf eine recht drol-
lige Art und Weise. „So war es auch", erzählt Fanny, —
„als er eines Tages während der Pause im Atlas blätterte.
Wie er die Karte von Europa aufschlug, begann er plötzlich
das Russische Reich mit Küssen zu bedecken, während
er den übrigen Teil Europa's gleichsam anspie. Als ich
ihm vorhielt, dass er sich schämen sollte, sich so zu be-
nehmen, dass es schlecht sei, seine Mitmenschen, welche
gleich ihm zu Gott „Unser Vater" sagen, nur deshalb zu
hassen, weil sie nicht Russen seien, dass er' also auch sie,
seine Fann^^, anspucke, weil sie Französin sei! — „Sie haben
keinen Grund, mich zu schelten, haben Sie denn nicht be-
merkt, dass ich Frankreich mit der Hand bedeckt hielt?" —
antwortete Pierre".
Obgleich Peter Iljitsch der allgemeine Liebling in der
Familie w^ar, so wurde er doch von Niemandem verwöhnt
oder verhätschelt, ausser vielleicht von Nadeshda llmo-
feewna oder Anastasia Wassiljewna. Seine Mutter, unter
ihrem Einflüsse aber auch Fanny und alle Uebrigen be-
handelten ihn gerade so wie die andern Kinder, ohne ihn
in irgend einer Weise zu bevorzugen. Fanny erzählt: „Wir
lebten getrennt von den Erwachsenen unser eigenes Leben;
nur benn Mittagessen kamen wir mit ihnen zusammen. Die
Abende verbrachten wir bei uns oben in Unterhaltung
oder beim Lesen. Im Sommer hatten wir eine Ec|uipage
zu unserer Verfügung und unternahmen Spazierfahrten in
die Umgegend von Wotkinsk. An Werktagen war unsere
Zeit von 6 Uhr früh an genau eingeteilt und das Progranun
wurde stets pünktlich ausgeführt. Da die Zahl der freien
Stunden nur sehr gering war, so bestand ich darauf, dass
sie zu körperlichen Uebungen verwendet wurden; oft hatte
ich aber deshalb Auseinandersetzungen mit Pierre, denn
nach dem Unterricht zog es ihn stets an's Klavier. Uebri-
gens fügte er sich gewöhnlich meinem Willen und lief und
tollte gern mit seinen Geschwistern; man musste ihn aber
jedesmal darauf bringen: sich selbst überlassen ging er
lieber an die Musik, oder las, oder machte Gedichte".
Die früheste eigene Erinnerung Peter Iljitsch's- an jene
Epoche seines Lebens bezieht sich auf eine Reise, die er
in Begleitung seiner Mutter und Anastasia Wassiljewi\a's
— 14 —
nach Bad Sergiewsk machte. Das war im Jahre 1845. Un-
terwegs auf der Hinreise kehrten sie nach einer langen,
ermüdenden, abendhchen Fahrt in dem hell erleuchteten
Häuschen einer Verwandten Alexandra Andreewna's ein,
und verbrachten da einige Tage. Der Eindruck, den dieses
freundliche gemütliche Häuschen auf Peter Iljitsch machte,
war ein sehr intensiver — zumal nach der langen Fahrt in
finstrer Nacht. Nach seinen eigenen Worten, datiert seine
grosse Neigung zum ländlichen Leben, die ihn nie verlas-
sen hatte, seit jenem Ereigniss.
Aber auch das Leben im Bad selbst, wo er die Zärt-
lichkeiten seiner von ihm abgötterisch geliebten Mutter mit
Niemandem zu teilen brauchte, das Kennenlernen neuer
Gegenden, anderer Menschen gehörte zu seinen heitersten,
angenehmsten Erinnerungen aus der Kindheit. Eine andere
Begebenheit, die er gern erzählte, war die Rückkehr seiner
Eltern aus Petersburg, wohin sie Ende 1846 gereist waren,
um seine Stiefschw^ester Zinaida abzuholen, die unterdess
den Lehrkursus im Katharinen-histitut durchgemacht iiatte.
Das igeschah an einem Winterabend kurz vor Weihnachten.
Er erinnerte sich lebhaft an das freudige Entzücken, wel-
ches ihn und mit ihm alle andern Hausbewohner ergriff,
als das Glockengeklingel der herannahenden Troika ertönte
und sie alle mit Freudenrufen in den Vortlur stürzten, wie
dann die Thür aufging und eine ganze Wolke frostigen
Dunstes eindrang, wie ein kleines allerliebstes weibliches
Wesen in's Zimmer gelaufen kam, — seine Stiefschwester,
welche er bis dahin noch nie gesehen hatte, denn Zinaida
Iljinischna w^ar noch vor seiner Geburt in das histitut ge-
bracht worden. Er erinnerte sich auch an das überirdische
Glücksgefühl, welches ihn überkam, als er nach drei-oder-
viermonatelanger Trennung seine Mutter wieder umarmen
durfte. Lange, sehr lange noch, als er bereits zum Manne
herangereift war, konnte er nicht ohne Thränen von seiner
Mutter sprechen, sodass seine Bekannten es geradezu ver-
mieden, ihn darauf zu bringen.
Mit der Ankunft des hübschen, munteren, jungen Mäd-
chens, dessen helles Lachen über das ganze Haus schallte,
das ausserdem viele grossstädtische Neuigkeiten, namentlich
inbetreff von allerlei Belustigungen und Gepflogenheiten
mit sich gebracht hatte, — wurde das ohnehin schon fröhliche
Leben in diesem gastfreundlichen Hause noch lustiger, noch
glücklicher. Unserem phantastisch veranlagten Knaben er-
schien Zinaida Iljinischna als eine Fee, welche aus einer
_ Г5 —
Welt voll Zauber und himmlischer Freuden herniederge-
kommen ist. Ihre Erzählungen vom Theater, welches zu
sehen er sich als das höchste Glück dachte, die Tcänze und
lebenden Bilder, welche sie zu arrangieren wusste, — dass
Alles regte seine Phantasie an und entzückte ihn im höchsten
Grade.
Am 6. Februar 1848 wurde Ilja Petrowitsch infolge
seines eigenen Ansuchens mit dem Range eines General-
majors pensioniert. Einige Zeit vorher hatte er aber Unter-
handlungen mit der Verwaltung mehrerer grossen, sehr
reichen Privatpersonen gehörenden Werke angeknüpft, mit
der Aussicht eine Anstellung daselbst zu erlangen. Zu
diesem Zwecke war aber ein längerer Aufenthalt in Mos-
kau notwendig, sodass er im Herbst desselben Jahres
mit seiner ganzen Familie Wotkinsk verliess. Da nun Ale-
xandra Andreewna beabsichtigte nach der Ankunft in der
Hauptstadt Lydia einem Institute anzuvertrauen und auch
die älteren Söhne in eine Schule zu schicken, die jünge-
ren Kinder aber eher einer Bonne, als einer Gouvernante
bedurften, so schlug Fanny es ab, mit der Familie nach
Moskau überzusiedeln, fand eine andere Stelle bei dem
Gutsbesitzer Neratoff und verabschiedete sich von ihren
Freunden für immer. Erst nach 44 Jahren sollte es ihr
vergönnt sein, Peter Iljitsch wiederzusehen.
Aus ihrer Correspondenz mit Tschaikowsky's ist zu
ersehen, wie schwer für beide Teile diese Trennung wurde.
Tschaikowsky's hatten Fanny ein gutes Andenken bewahrt,
und sie selbst hat bis Heute noch Alle in der Erinnerung.
Um den Kindern den Abschied nicht allzu traurig zu
machen, wurde beschlossen, das Fanny ganz in der Frühe,
als sie alle noch schliefen, abreisen sollte. Alexandra An-
dreewna war der Hoffnung, dass die Kinder in dem Tru-
bel der Vorbereitungen für ihre eigne Abreise, welche an
demselben Tage, nur später erfolgen sollte, ihr Unglück
weniger schwer empfinden würden.
V.
Ausser den für einen Biographen sehr wertvollen münd-
lichen Ueberlieferungen, hat Fanny all'die Hefte ihres Lie-
blings aufbewahrt, in welche er Wcährend der Mussestim-
den seine eignen Gedanken, meistens in Versen niederschrieb.
Um keinen Preis in der Welt wollte die Greisin diese
Reliquien ihrer Vergangenheit fortgeben. „Alles was von
Pierre's Hand geschrieben worden ist, kann ich nur nach
meinem Tode preisgeben. Diese lieben Blätter enthalten
meine teuerstenErinnerungen", — schreibt sie in einem Briefe.
Diese Blätter zu kopieren willigte sie jedoch ein.
Diese Hefte enthalten freilich nichts künstlerisch und
litterarisch Vollkommenes, doch sind sie deshalb nicht we-
niger interessant. Man muss bedenken, dass sie von einem
siebenjährigen Knaben herrühren, welcher sie nur für sich
allein, und deshalb wahr und aufrichtig geschrieben hatte,
nicht um heuchlerisch seine edlen Gefühle zur Kenntniss
Anderer gelangen zu lassen, sondern lediglich, weil es ihn
drängte, die ihn bestürmenden Gefühle und Gedanken auf
irgend eine Weise auszudrücken; auch sollte er in Zu-
kunft nicht Dichter sondern Musiker werden, hi diesen
Heften finden wir den Ursprung und die Erklärung seiner
zukünftigen Richtung, sie sind deshalb nicht nur für die
Biographie Peter Iljitsch's allein von Interesse, sondern
liefern auch einiges Material für das Studium der Entwick-
lungsgeschichte eines jeden künstlerischen Genie's über-
haupt. Von solchem Standpunkt aus erscheinen jene Verse,
Bemerkungen und s. w. als handschriftliche Dokumente
eines früh erwachten Dranges sich auszusprechen, sich
mitzuteilen, während das richtige Mittel dazu noch nicht
gefunden war. In ihnen pocht der zukünftige Künstler
gleichsam an eine falsche Thür. Beim Lesen dieser kindi-
schen und kindlichen Gefühlsergüsse muss man anfangs
unwillkürlich über ihre ungeschickten oder missratenen
Formen lächeln, je weiter man aber liest desto mehr wird
man von der Erhabenheit und Reinheit der Stimmungen
des Knaben ergriffen. Diese Stimmungen sind es eben, an
denen wir nicht achtlos vorübergehen dürfen.
Im Ganzen sind es zwei Hefte und mehrere lose Blät-
ter. Die Schriftzüge sind nicht schön, doch für einen Kna-
ben von sieben Jahren merkwürdig ausgebildet und sicher.
Im Anfang eines jeden Aufsatzes ist die Absicht zu mer-
ken, mciglichst kalhgraphisch zu schreiben, besonders sind
dieTitel offenbar sehrmühevoll mitverschiedenenSchnörkeln
und sonstigen pretentiösen Verzierungen ausgeschmückt. Je
weiter aber — je weniger Geduld, und das Ende ist stets
sehr flüchtig hingeworfen. Ueberhaupt trägt das aeussere
— 17 —
Aussehen dieser Hefte den Stempel vollkommener Will-
kürlichkeit und sogar Nachlässigkeit. So schreibt man je-
denfalls nicht, wenn die Absicht vorhanden ist, es Jeman-
dem zu zeigen. Gedichte, Auszüge aus Büchern, Entwürfe
für Briefe, Versuche ein Häus'chen zu zeichnen, einzelne
Sätze und Worte, ohne jede Beziehung zum Voraufge-
gangenen oder Nachfolgenden, finden wir da in bunter
Abwechslung. Sehr interessant ist es, dass am häufigsten
und ohne jeden Grund das Wort „Gott" vorkommt, man-
ches Mal sogar in einer Vignette. Ob das einfach eine
kalligraphische Uebung war, und ihn dieses Wort nur als
Combination von hübschen Buchstaben interessierte, oder
ob sich darin die Gedanken wiederspiegeln, die von der
gottesfürchtigen Gouvernante oft angeregt wurden — ist
jetzt schwer zu entscheiden, doch wird wohl letztere An-
nahme die richtige sein, da unter den Gedichten einige
vorhanden sind, in welchen von Gott die Rede ist.
Das erste Heft beginnt mit einer Uebersetzung aus dem
französischen Lehrbuch „L'education maternelle"; es ist das
in's Russische übersetzte „Gespräch der Frau von Ver-
teuiile mit ihrer Tochter Pauline über die fünf Sinne". Die-
se Uebersetzung strotzt von grammatikalischenFehlern; doch
finden sich einzelne Sätze, welche ganz regelrecht geschrie-
ben sind. Sie ist unbeendet geblieben, obgleich nur ein
Weniges daran fehlen kann, denn ausser dem Tastsinn
sind alle' Sinne besprochen. Unter dieser Arbeit steht die
Jahreszahl 1847 ^^^^^ ^^^^ französische Namensunterschrift.
Dieser Uebersetzung folgen mehrere Gedichte, von de-
nen nur zwei in russischer Sprache verfasst sind, alle an-
deren in französischer. Ihrem Inhalte nach könnte man sie
in drei Gruppen teilen: erstens, finden sich da Gedichte,
welche von Gott handeln; zweitens, solche, in welchen
die Liebe zum Vaterlande besungen wird, und drittens,
solche, in welchen vom Mitleid mit den Schwachen und
Unglücklichen und mit den Tieren, die Rede ist. Es scheint
mir genügend, nur einige wenige Gedichte aus den drei
Gruppen herauszugreifen und sie an dieser Stelle wieder-
zugeben.
Das erste davon ist mit dem Jahre 1847 vermerkt und
trägt die Ueberschrift „L'Univers".
„Eternel notre Dieu c'est toi cpi а fait tout cela
„Enfant! regarde ces plantes si belies
„Ces roses, ces germandrees, elles sont si belles.
Tschaikowsky , M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 2
— i8 —
„Brillan soleil ес1ся1ге toit le monde
„C'est cette Eure qui la fai
„La lune etoiles eclaire notre nui
„Sans toi le ble n'ortf |;?t^ etre
„Les vag{u)es de ces belles ш<а?
„Nous expirerons sans eux
„Les mers dont Vetendu est si grande
„Les lleuves Ventoure
„Mere! Nourisse! Nourisse Vos enfants
„Le bon Dieu les а cree
„Dieu
„Puissant on t'adore.
Par Pierre Tsclmikovsky *).
*) Ewiger Gott! Du hast das Alles gethan. Kind! Betrachte diese Bhimen, die so
schön sind, betrachte diese Rosen und Veronika's: sie sind so schön! Die strahlende Sonne
beleuchtet die ganze Welt, dieses Wesen hat sie erschaffen. Der Mond, die Sterne be-
leuchten unsere Nacht. Ohne Dich könnte der Roggen nicht gedeihen, die Wogen die-
ser herrlichen Wasser... Sterben würden u'ir ohne sie. Die Meere, deren Flächen so
gross sind. Die Flüsse umringen sie. Mütter! Nähret! Nähret Eure Kinder. Der gute Gott
hat sie erschaffen. Mächtiger Gott Dich betet man an.
Die Liebe zum Vaterland verherrlicht der Knabe in
vier Dichtungen (zuerst 1847), einmal sogar in dem Ver-
such einer historischen Abhandlung, die alle Johanna d'Arc
gewidmet sind; diese Persönlichkeit lernte er aus dem Buch
Michel Masson's „Les enfants celebres", kennen.
Uebrigens muss ich bemerken, dass nicht bloss der
Patriotismus der Jungfrau es war, welcher auf den Kna-
ben so grossen Eindruck machte. Aus dem Inhalt seiner
ihr gewidmeten Gedichte geht unzweifelhaft hervor, das
dieser Kultus auch mit dem unbewussten Streben nach
Ruhm im Zusammenhang stand, welcher schon damals die
Einbildungskraft des jungen Dichters reizte. Es gefiel ihm
nicht nur die Thatsache, dass Johanna das Vaterland ge-
rettet, sondern auch, dass ein einfaches Hirtenmädchen
solches vermocht hatte. Es entzückte ihn die Möglichkeit
des Ruhmes eines so schwachen Geschöpfes, sodass der
Ruhm auch für ihn erreichbar schien.
Das erste dieser patriotischen Gedichte heisst „L'he-
roine de la France".
„On t'aime, on ne t'oublie pas
„Heroine si belle!
„Tu as sauve la France
„Fille d'un berger!
„Mais qui fait ces actions si belles!
19 —
• „Barbare anglais vous ont tuee
„Toute la France vous admire
„Tes cheveux blonds jusqu'ä tes genoux
„Ils sont tres beaux
„Tu etais si celebre
„Que Tange Michel t'apparut
„Les celebres on pense ä eux
„Les mechants on les oublie! *)
*) Die Heldin Frankreich's. Man liebt Dich, man vergisst Dich nicht, Heldin, die
Du so schön bist; Du hast Frankreich gerettet! Die Tochter eines Hirten, die so wun-
derbare Thaten vollbringt. Die englischen Barbaren haben Euch getödtet. Ganz Frank-
reich verehrt Euch. Deine blonden Haare reichen bis an's Knie und sind sehr schön. Du
лvarst so berühmt dass der Engel Michael Dir erschienen ist. Die Berühmten — an die
denkt man, die Bösen vergisst man.
An sein eigenes Vaterland wendet sich Peter Iljitsch
in dem Gedicht „Sur ma patrie".
,Oh! patrie que j'aime
Je ne veux point te quitter
J'existe ici, fi mourrai aussi
,Oh! Patrie que j'aime
,Ma terre cherie.
,Oh je n'irai point la
,Chez un peuple etranger
Je t'honnore ma patrie
Je n'honnore point une autre
,Ma ville natale est petite
,Et tres jje?^^ ijeupler
,Mais je l'honnore toujours
,Et je l'honnorerai.
,Si je vivrai dans un peuple etranger
,Oh! je serais bien. triste
,Mais mon bon Dieu
,Fais que n'irai pas.
Je
,Et ne veux pas
,Ma Russie tres cherie
Je *)
■=•■) An mein Vaterland. Oh, Vaterland, ich habe dich so lieb, ich will dich nicht ver-
lassen, ich lebe hier und will hier sterben. Oh, Vaterland, ich habe dich so lieb, mein
teures Land. Oh, ich will nicht hingehen zum fremdländischen Volk, ich achte dich, mein
Vaterland. Die Anderen achte ich nicht. Meine Vaterstadt ist klein und wenig bewohnt.
Doch verehre ich sie und werde sie immer verehren. Wenn ich unter fremdländischen
Menschen leben sollte, würde ich sehr traurig sein. Aber, mein Guter Gott, füge es, dass
ich nicht fortgehe. Ich.... und will nicht. Mein teures Russland.... Ich....
Als ein Beispiel des dritten Tзфus möge hier noch fol-
gendes Gedicht Platz finden.
20
„Mort d'im oiseau". , *
„Elle dort dans une place, sans tombeau
„Elle n'est point comme un homme dans la terre
endormie
„Cependant eile n'est point du tont den du tout pour
Dieu
„Elle lui est quelque chose, sa vie n'est pas perdus.
„Pauvre petit n'ai pas peur
„Les enfant te mettrons dans la terre froide.
„Ils t'orneront de fleurs
„Ils te feront un tombeau
„Oh! le bon Dieu ne Га point oublie
„Oh! toi petit oiseau tu ne peux pas te Souvenir de
lieu *).
'■') Vöglein's Tod. Es schläft an einer Stelle ohne Grab. Es schläft unter der Erde
nicht wie ein Mensch und doch ist es für Gott kein Nichts. Es ist doch Etwas für ihn;
sein Leben ist nicht verloren. Armes, Kleines, fürchte dich nicht. Die Kinder werden
dich in die kalte Erde legen und mit Blumen schmücken. Sie werden dir einen Hügel
machen. Oh! Gott hat es nicht vergessen. Oh, du kleines Vögelchen, du kannst dich
nicht mehr an die Stelle erinnern.
Den Rest des Inhaltes der Hefte bilden zwei Gelegen-
heitsgedichte, die zu Fanny's und Sinaida's Geburtstagen
geschrieben worden waren, weiter einige historische Aus-
züge über Napoleon, Peter den Grossen, Ludwig XIV.,
XVII. und XVIIL, Entwürfe für Briefe, etc.
Aus der Zeit nach 1848 sind keinerlei poetische Schöp-
fungen unseres kleinen Dichters zu unserer Kenntniss ge-
langt, vielleicht, weil Niemand um ihn war, welcher gleich
Fann}^, derartige Dinge aufbewahrt hätte, vielleicht aber
auch, weil er m jener Zeit eine andere Sprache gefunden
hatte, um alle seine Gedanken, Empfindungen und Stim-
mungen auszudrücken: die Musik.
VI.
In dem Ort, in welchem Peter Iljitsch das Licht der
Welt erblickt hat und seine Kindheit verlebte, gab es -aus-
ser dem Klaviergeklimper einiger höchst mittelmässiger Di-
lettanten, gar keine Musik. Alexandra Andreewna konnte
zwar etwas singen, aber auf dem Piano spielte sie höch-
stens ihren Kindern zum Tanz; wenigstens wissen wir seit
.^
— 21 —
ihrer Verheiratung Nichts von einem ernsteren Repertoir.
Alle anderen Hausbewohner konnten nicht einmal soviel.
Zum Unglück war auch Fann}^ ganz unmusikalisch, so dass
die Rolle eines musikalischen Erziehers des zukünftigen
Komponisten einem Gegenstande zufiel, — dem sogenannten
Orchestrion, einer kleinen mechanischen Orgel, welche Ilja
Petrowitsch einst aus Petersburg nach Wotkinsk mitge-
bracht hatte.
Dieses Orchestrion soll nach einstimmigem Urteil Aller
sehr gut geklungen haben. Sein Programm war sehr um-
fangreich. Peter Iljitsch behauptete selbst, dass er seine
ersten musikalischen Eindrücke hauptsächlich diesem Or-
chestrion zu verdanken habe. Er konnte nicht oft genug
seinen Klängen lauschen. Ganz besonders entzückten ihn
einige Kompositionen Mozart's. Seine leidenschaftliche Ver-
ehrung für diesen Genius datiert seit jener Zeit, seit dem
unbeschreiblichen Genuss, dem „heiligen Entzücken", wel-
ches er schon in der frühesten Kindheit empfand, wenn
das Orchestrion die Arie Zerlina's, oder ein Stück aus dem
„Don Juan" anstimmte. Auch mit den Werken Rossini's,
Bellini's und Donizetti's wurde er durch das Orchestrion
bekannt, so dass auch seine Liebe zur italienischen Musik,
die er bis ans Ende seiner Tage in seinem Herzen trug,
schon damals ihren Anfang genommen haben mag.
Ein ausgezeichnetes Gehör und musikaliches Gedächt-
niss erwachten im Knaben schon sehr früh. Nachdem ihm
seine Mutter einige elementare Kenntnisse der Musik bei-
gebracht hatte, konnte er schon als fünfjähriger Knabe auf
dem Piano Alles das nachspielen, was er von dem Orche-
strion gehört hatte, und zeigte überhaupt so viel Lust zum
Klavierspiel, dass man ihn oft vom Instrument geradezu
fortzwingen musste; aber auch in diesen Fällen setzte er
auf dem ersten besten Gegenstand das Trommeln mit den
Fingern fort. Eines Tages trommelte er so auf einer Fen-
sterscheibe und liess sich durch dieses stumme Spiel so
hinreissen, dass das Glas zersprang und ihn nicht uner-
heblich an der Hand verwundete. Dieses an sich unbe-
deutende Geschehniss wurde für das Leben Peter Iljitsch's
von Wichtigkeit, denn von nun an schenkten die Eltern
der unüberwindlichen Neigung des Knaben grössere Be-
achtung und beschlossen, ernstlich für seine musikalische
Entwickelung zu sorgen. Sie engagierten für ihn eine Kla-
vierlehrerin, eine gewisse Marie Markowna Paltschikoff,
Das geschah ungefähr ein Jahr nach Fann3''s Ankunft. Von
wo diese Lehrerin hergekommen und wie weit sie in ihrem
Beruf tüchtig war — entzieht sich leider unserer Kenntniss.
Thatsache ist nur, dass sie extra für Peter lijitsch von
ausserhalb verschrieben worden war, dass ihr Schüler ihr
ein freundschaftliches Andenken bewahrt hat, dass sie aber
den Anforderungen des zukünftigen Komponisten doch
nicht genügen konnte, denn schon 1848 verstand er das
Notenlesen ebenso gut wie sie selbst. Die musikalische Li-
teratur kannte sie höchstwahrscheinlich nur sehr mangel-
haft, denn Peter lijitsch kann sich weder auf ihr Spiel
noch auf ihr Repertoir besinnen. Es scheint überhaupt
zweifelhaft, ob sie jemals in Anwesenheit von Zuhörern
gespielt hat. Nach den Worten Fanny's war sie ein stilles, be-
scheidenes und schüchternes Mädchen. Im Jahre 1883, ^^^
Peter lijitsch, der sie schon längst zu den Verstorbenen
zählte, in Paris war, kam plötzlich ein Brief -von ihr an, in
dem sie den Komponisten um eine Unterstützung bat, da
sie in Not geraten sei. Sofort beauftragte er seinen Ver-
leger P. Jurgenson, ihr Geld zu schicken. „Meine erste
Musiklehrerin, der ich zu grossem Dank verpflichtet bin,
bittet mich um Unterstützung"— schrieb er — „und ich kann
ihr diese Bitte wirklich nicht abschlagen". — Später hat er
ihr sogar eine kleine Rente bewilligt und ist mit ihr in
beständigem Briefwechsel geblieben, bis sie im Dezember
1888 starb.
Wir wissen bereits von Fann^^, л\Ле der Knabe jeden
freien Augenblick an's Klavier ging und wie sie das stets
zu verhindern suchte. Das Leben eines Musikers erschien
ihr durchaus nicht im glänzenden Licht. Viel mehr Freude
hatte sie an seinen literarischen Versuchen und nannte ihn
mit den Anderen „le petit Pouchkine".
Auch merkte Fanny, dass die Musik sehr stark auf die
Nerven Peter Iljitsch's wirkte. Nach seiner Musikstunde
oder nach längerem huprovisieren auf dem Piano war er
stets verstimmt und aufgeregt. Eines Abends war bei
Tschaikowsky's grosser Besuch und es wurde sehr viel
musiziert. Es war gerade Feiertag und die Kinder durf-
ten mit den Grossen sein. Anfangs war Peter lijitsch sehr
lustig, gegen Ende des Abends wurde er aber so müde,
dass er sich früher als sonst zurückzog. Als Fann}^ einige
Zeit darauf in's Kinderzimmer kam, schhef er noch nicht,
sondern sass ganz aufgeregt mit fieberhaft glänzenden Au-
gen und weinte. Sie fragte bestürzt, was ihm fehle, da
antwortete er: „O, diese Musik, diese Musik! Erlösen Sie
— 23 —
mich von ihr! Sie sitzt hier — hier in meinem Kopf! Sie
lässt mir keine Ruhe"!
Hin und wieder kam nach Wotkinsk ein polnischer
Offizier auf Besuch, ein gewisser Maschewsky. Er war ein
guter Dilettant und zeichnete sich namentlich durch den
Vortrag der Mazurka' s von Chopin aus. Für Peter Iljitsch
W3.V es natürlich stets ein Festtag, wenn er kam. Einst
hatte er auch selbst zwei Mazurka's einstudiert und sie
gelegentlich dem Herrn Maschewsky so hübsch vorge-
spielt, dass dieser ihn dafür abküsste. „Ich habe Pierre nie
so glückstrahlend gesehen" — erzcählt Fanny, — „wie an je-
nem Tage".
Damit ist Alles erschöpft, was ich von dem musikali-
schen Leben Peter Iljitsch's in jener Epoche erfahren
konnte.
"T^ASr
T
VII.
Am 26. September verliessen Tschaikowsky's Wot-
kinsk und kamen am 9. Oktober in Moskau an. Hier sollten
sie aber viel Unglück und schwere Enttäuschungen erfah-
ren. Ilja Petro witsch hatte noch in Wotkinsk einem sei-
ner Freunde im Geheimen mitgeteilt, welch'glänzende An-
gebote er erhalten hatte. In Moskau angekommen, erfuhr
er jedoch, dass der ungetreue Freund sein Vertrauen ge-
missbraucht und bereits selbst die an Ilja Petrowitsch offe-
rierte Stellung zu erlangen gewusst hatte. Ausserdem
schlich sich die damals in Moskau grassierende Cholera-
Epidemie auch in die Familie Tschaikowsk3''s ein. Die
Bonne der jüngsten Kinder wurde beinahe ein Opfer je-
ner Krankheit. Alles zusammengenommen: die unbestimmte
Situation, in welche die Familie geraten war; die Abwe-
senheit Ilja Petrowitsch's, der schleunigst nach Petersburg
gereist, nachdem ihm die unangenehme Ueberraschung zu
Teil geworden war; sowie das düstere Gespenst der Cho-
lera trugen viel dazu bei, den Aufenthalt in der alten
Hauptstadt recht traurig zu gestalten. Ganz besonders
intensiv spiegelte sich das Alles auf dem nur zu empfäng-
lichen Gemüt Peter Iljitsch's ab. Gerade in dieser Zeit be-
— 24 —
durfte seine Seele vielleicht am meisten der liebevollen
vorsichtigen Behandlung, und musste ihrer doch zu keiner
anderen Zeit in dem Maasse entbehren, denn Alexandra
x\ndreewna hatte für so viele andere Dinge zu sorgen, die
mit der Reise in Zusammenhang standen, und war ausser-
dem von Gedanken über die Zukunft der ganzen Familie
so in Anspruch genommen, dass sie garkeine Müsse fand,
das Seelenleben eines jeden einzelnen Kindes zu verfol-
gen, und betraute damit ihre Stieftochter, welche selber
noch halb Kind war und absolut keine Vorbildung zur
erzieherischen Thätigkeit besass. Sinaida Iljinischna war
die Einzige, deren Liebling Peter Iljitsch nicht war. Sie
gab stets Nikolai den Vorzug, und es ist daher mehr wie
wahrscheinlich, dass sie als Gouvernante dem kleinen
Dichter gegenüber ungeduldig und ungerecht war. Viel-
leicht ist sein späteres ziemlich kühles Verhalten der
Schwester gegenüber auf jene Zeit zurückzuführen. Unter
solchen Umständen wurde seine Erinnerung an die freu-
devolle, glückliche Vergangenheit immer idealer, immer
schöner und die Sehnsucht immer stärker.
Das ist auch aus seinem ersten Brief an Fanny zu erse-
hen, welchen er in Moskau, wahrscheinlich Ende Oktober
oder Anfang November, geschrieben hatte.
„Chere M-elle Fanny! Nous sommes ä Moscou deja plus
de trois semaines et chaque jour toute les personnes de
notre famille se rapellent de vous; il est si triste chez nous,
trois personnes nous manquent beaucoup: Vous, ma tante,
et ma cousine Anastasie; je vous assure que chaque jour
je me rapelle de Teducation que vous m'avez donne; mer-
credi rappelet vous comme yaprenai bien, vendredi aussi
et samedi rapellez vous? quand Vous nous ecriviez com-
bien nous avions de premieres dans по semaines. On ne
peut se rapellez de cette vie de Votkinsk, je voudrais bien
pleurez quand je pense ä cela. Aiwesent nous apprenous
chez Zina et je suis bien content que nous ayons quel-
qu'un pour aprendre. Ici j'ai vu bien des choses que jamais
je n'ai vu. Papa est alle d'ici ä Petersbourg pour nous
apreter un cartie. Nous sommes grace ä Dieu bien portant
et Vous ma chere M-elle Fann}'? Ecrivez le moi je Vous
en prie. Votre reconnaissant eleve P. T." *).
•'•■■) Liebe Melle Fanny! Wir sind schon länger als drei Wochen in Moskau und den-
ken Alle oft an Sie. Es ist so traurig bei uns; drei Personen fehlen uns sehr: Sie, Tant-
chen und „Schwesterchen" Anastasia. Ich versichere .Sie, dass ich jeden Tag an die
Erziehung, die Sie mir gegeben haben, denke. Wissen sie noch, wie gut ich Mittwoch's
lernte? Und Freitags auch, und Sonnabend's — wissen Sic^ noch, wie Sie anschrieben.
— 2б —
sen. Er wurde nicht nur mager und bleich, sondern auch
kränkhch, sodass der Besuch der Schule immer unregel-
mässiger wurde. Die moralische Reaktion blieb auch nicht
aus und aeusserte sich darin, dass er reizbar und stör-
risch wurde.
hn Dezember erkrankten beide Brüder an den Masern.
Bei Nicolai verlief die Krankheit normal, bei Peter jedoch
nicht. Seine Ueberreiztheit griff noch weiter um sich und
verursachte starke Nerven-Anfälle. Die Aerzte konstatier-
ten ein Rückenmarksleiden.
Leider konnte ich in dem mir zur Verfügung stehen-,
den biographischen Material Nichts Näheres in Betreff die-
ser Krankheit finden. Aus dem Umstand aber, dass die
Aerzte für unbestimmte Zeit hinaus jedwede Beschäftigung
verboten hatten, und dass der Kranke in der That bis zum
Juni 1849 in absoluter Ruhe ausharren musste, könnte man
schliessen, wie sehr die Eltern besorgt gewesen, und wie
schrecklich jene Nerven-Anfälle sich geaeussert haben
müssen.
Die rechtzeitig ergriffenen Massregeln übten auch ihren
heilsamen Einfluss auf das körperliche Befinden des Kna-
ben aus, doch sein Charakter konnte nicht mehr zu der
früheren Gleichmässigkeit und Klarheit zurückkehren. Die
Wunden heilten, die Narben blieben.
^
ЩЩ
VIII.
Im Anfang des Jahres 1849 erhielt llja Petrowitsch die
Stelle eines Verwalters der den Erben lakowleff's gehö-
renden Werke zu Alapajew und Nishne-Newjansk.
Nachdem er den ältesten Sohn zwecks Vorbereitung
in das Bergbau-Institut der Privat-Lehranstalt eines ge-
wissen Herrn Grosdoff anvertraut hatte, verliess er mit
der übrigen Familie Petersburg und siedelte nach dem
Städtchen Alapajew über. Es war im Vergleich zu Wot-
kinsk eigentlicii ein Dörfchen. Die ganze Gesellschaft die-
ses Dörfchens bestand aus der Familie eines Arztes.
llja Petrowitsch's neue Stellung war aeusserlich freilich
nicht so glänzend, wie ein ähnlicher Posten im Staats-
— 27 —
dienst. Anderseits war aber auch kein Grund zu Klagen
vorhanden. Das Wohnhaus war gross und mit allerlei Be-
quemlichkeiten versorgt, und Tschaikowsky's lebten sich
sehr bald in die neuen Verhältnisse ein, indem sie die pa-
triarchale Lebensweise von Wotkinsk in allen Einzelheiten
wiederherzustellen versuchten.
Das ländliche Leben hat zw^ar Peter Iljitsch's Gesund-
heit Mdeder gekräftigt, vermochte aber nicht seine Träg-
heit und Reizbarkeit zu beseitigen.
Im Gegenteil, es scheint sogar, als wenn diese Eigen-
schaften sich fort und fort entwickeln. Unwillkürlich ver-
gleicht er sein jetziges Dasein mit dem idealen Leben in
Wotkinsk und zwar sehr zu Ungunsten von Alapajew.
Erstens, fühlt er sich einsam: es fehlt ihm Nikolai. Lydia
ist zwar da, gilt aber bereits fast für ein erwachsenes Fräu-
lein, also nicht mehr Seinesgleichen. Alexandra und Hyp-
polit sind noch zu klein. Zweitens, vertritt die Stelle Fanny's
Sinaida, welche er nicht gerade gern hat. Drittens wird
seine Seele von etwas Eifersucht gequält, denn er merkt
sehr wohl, dass seine Mutter sowohl als auch alle An-
dern Sehnsucht nach Nikolai haben; dazu erzählen die aus
Petersburg ankommenden Briefe so viel Freudiges über
die Fortschritte, die sein Bruder in der Schule macht. Alle
sind darob entzückt. Er dagegen kommt im Lernen nicht
recht vorwärts, zumal bei einer so schlechten Gouver-
nante, wie Sinaida Iljinischna.
„Pierre ist nicht wiederzuerkennen", — lautet eine Stelle
in einem Briefe Alexandra Andreewna's, — er ist faul ge-
worden, lernt Nichts und erbittert mich oft bis zu Thränen".
Seine Umwandlung war so radikal, dass sie selbst frem-
den Personen nicht verborgen blieb. Fanny's Freundin,
Emilie Landraschen schreibt in einem Brief: „Alles was
ich über Pierre erfahre, betrübt mich sehr, und ich kann
mir wohl denken, wie Sie sich diese Veränderung zu Her-
zen nehmen werden. In meinen Augen war dieses Kind
stets besser als die Andern, und ich kann es mir daher
nicht recht erklären, wie sein Charakter, der so viele edle
Züge barg, sich verändern konnte. Wie müssen die Eltern
es bedauern, dass Sie nicht mehr bei ihren Kindern wei-
len. Besonders hat der arme Pierre darunter zu leiden.
Ich wamdere mich garnicht, dass er jetzt so schlechte
Fortschritte im Lernen macht, denn Niemand versteht es,
seine Erziehung so fortzuführen, wie Sie es angefangen
hatten".
Auch Peter Iljitsch selbst bekennt seine Faulheit in
einem Briefe (vom. 7. Juli): „Ma chere Melle Fanny! Je
vous prie beaucoup de me pardonner que je ne vous ai
ecrit si longtemps. Mais comme vous savez que je ne ment
pas, c'est та paresse qui en est cause, mais ce n'est pas
Voublie parceque je Vous aime toujours comme je vous
aimais avant. Nicolas apprend tresbien, etc.. ■'■)
•■■) Liebe Melle Fannj-.' Ich bitte Sie sehr um Л'ег2е!11ип§;, dass ich Ihnen so lange
nicht geschrieben habe. Sie wissen ja, dass ich niemals lüge, darum sage ich, dass — •
Faulheit die Ursache davon ist, und nicht Vergesslichkeit, denn ich liebe Sie immer
noch, wie ich Sie früher geliebt habe. Nikolai lernt sehr gut, etc..
Nachdem er vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte,
schrieb er Ende Juni noch einen Brief. Die etwas gekün-
stelte Form dieses Briefes, und das Fehlen orthographi-
scher Fehler lässt vermuten, dass er von Jemandem kor-
rigiert worden war. Endlich kam die Antwort auf den
ersten dieser Briefe. Wahrscheinlich machte Fanny darin
ihrem Liebling Vorwürfe, denn Anastasia Wassiljewna er-
zählt: „Als wir Ihren Brief erhalten hatten, las ihn Tantchen
laut vor. Peterchen hat viel geweint; er hat Sie so lieb".
•f|\>
IX.
Eine wirkliche Besserung im Betragen Peter lljitsch's
tritt erst dann wieder ein, als eine neue Gouvernante — in
der Person N. P. Petrowa's — in's Haus kommt. Alexandra
Andreewna berichtet darüber an Fanny: „Pierre wird wie-
der gescheiter und lernt willig mit seiner neuen Lehrerin".
Die Petrowa war eine Waise und hatte ihre Erziehung
im Nikolai-Institut genossen. Zu Tschaikowsky's kam sie
sozusagen direkt von der Schulbank, und zwar am 24.
November 1849. Ebenso wie Fanny hatte sie unterwegs
aus Furcht, unter Fremden leben zu müssen, bittre Thrä-
nen vergossen, beruhigte sich aber auch ebensobald wie
Fanny. Sie war damals 18 — 19 Jahre alt, nicht schön von
Gestalt und Gesicht, aber bescheiden und sympatisch. Ihren
Kenntnissen nach entsprach sie den Bedürfnis.sen eines
russischen Kindes vielleicht besser als Fann}^; es gelang
i
— 29 -
ihr, Peter in weniger als einem halben Jahre für die Schule
der Rechtswissenschaft ausgezeichnet vorzubereiten. Und
doch konnte sie ihre Vorgängerin nicht voll erzetzen und
die Erinnerung an sie nicht auslöschen. Gleich Fanny
stand auch Fräulein Petrowa der Musik verständnisslos
gegenüber.
Gleichzeitig mit dem Erscheinen der neuen Gouver-
nante in Alapaew, wurde das Haus ausserdem durch die
Ankunft der Familie Schobert *) belebt, deren älteste Toch-
ter Amalie (die spätere Gräfin Litke) sich sehr bald mit
Peter Iljitsch befreundete und ihm sogar einigermassen
den Bruder Nikolai ersetzte. Sie war jünger als er und
älter als seine von ihm etwas von oben herab ange-
sehene Schwester Alexandra, sodass sie sozusagen die
Kluft zwischen den beiden Geschwistern überbrückte und
sie einander näher brachte. Nach den Erzählungen der
Gräfin Litke zeichnete sich Peter Iljitsch damals durch
viel Phantasie im Erfinden von allerlei Spielen aus. Das
Lieblingsspiel Aller war das sogenannte „ Opferpriester" -
Spiel. Dieses Spiel bestand darin, dass sie alle drei unter
den roh aus Brettern gezimmerten Winterrutschbahnen,
welche sie sich als grossartige Tempel vorstellten, den
Göttern Opfer darbrachten und die von den jüngeren Ge-
schwistern und andern Kindern erbeuteten Mohrrüben,
Gurken, Erbsen u. A. auf selbstgebauten Altären ver-
brannten. Uebrigens wurde der grösste Teil dieser Opfer-
gegenstände, wie es ja Priestern geziemte, von ihnen
verschlungen. Das Talent Peter's im Erfinden von Belus-
tigungen w^urde von den beiden Mädchen so hoch ge-
schätzt, dass er ihnen, als er Alapajew verlassen musste,
einige „Regeln für Spiele" hinterliess, denen sie in seiner
Abwesenheit zu folgen hatten.
Am I. Mai 1850 erhielt die Familie Tschaikowsky Zu-
wachs durch die Geburt der Zwillinge Anatol und Mo-
dest. Dieses Ereigniss teilt Peter Iljitsch Fanny in folgen-
dem Briefe mit:
Alapaew. 2 Mai 1850.
Chere et bonne Melle Fanny! C'est avec une grande
joie que j'ai appris la nouvelle que Vous avez un eleve
sibдn et si dilligent.
Je veux aussi Vous apprendre, ma chere Fanny, une
■■■) P'iau Schobert war die vervvitlvvete Schwesler Alexandra AndieewnaU.
— Зо —
nouvelle qiii peutetre Vous rejonira im peii; c'est la nais-
sance de mes freres qui sont jiimeaux (la nuit du premier
Mai). Je les ai deja vus plusieurs fois; mais chaque fois
que je les vois je crois que ce sont des Anges qui ont
descendu sur la terre. Vous me demandez, chere Melle F.,
qu'est ce que j'apprends. Je vous citerai les sciences dont
ma chere gouvernante m'enseigne: la grammaire franyaise,
russe et allemande, la Geographie, l'histoire universelle
aussi l'histoire sainte et l'Arithmetique. Je traduis, j'ana-
l3^se en fran^ais, en russe et en allemand et bie souvent
la conjugaison. „Le voyage autour du monde" et „l'histoire
d'Ermac" sont mes lectures.
Votre reconnaissant eleve P. de T. *j.
*) Teure und Hebe Melle Fanny! Mit grosser Freude erfuhr ich die Nachricht, dass
Sie einen so guten und fleissigen Schüler haben....
Ich will Ihnen, liebe Fannv, ebenfalls etwas Neues mitteilen: dass ist die Geburt
meiner Zwillingsbrüder (in der Nacht zum i. Mai). Ich habe sie schon mehrere Male
gesehen. Wenn ich sie ansehe, so denke ich, dass es zwei Engel sind, «eiche vom Him-
mel zur Erde gekommen sind. Sie fragen mich, teure Fann}', was ich jetzt lerne. Ich
werde Ihnen die Gegenstände aufzählen, die meine Lehrerin mit mir durchnimmt: fran-
zösische, russische und deutsche Grammatik, Geographie, Weltgeschichte, auch Biblische
Geschichte und Rechnen. Ich übersetze, analysiere französisch, russisch und deutsch.
Meine Lektüre besteht in „Die Reise um die Welt" und „l>ie Geschichte Ermak's"....
Ihr dankbarer Schüler P. v. T.
Der gekünstelte Ton dieses Briefes, die Manieriertheit
einiger Ausdrücke, ihre gemachte Artigkeit und das gänz-
liche Fehlen der von Herzen kommenden Worte seiner
früheren Briefe weisen darauf hin, dass die Zeit ihren Ein-
fluss ausgeübt, dass der Knabe mit der Gegenwart Frieden
geschlossen hat, dass seine Erinnerungen an Wotkinsk in
das Unerreichbare [entrückt sind, und dass er selbst an-
ders geworden ist. Er will jetzt nicht nur deshalb gut sein,
weil es seine edle Natur so verlangt, sondern hauptsäch-
lich weil er darauf ausgeht, das Lob der Aelteren zu er-
ringen, jenes begeisterte Lob, welches seinem Bruder Ni-
kolai, so oft ein Brief von ihm kommt gezollt wird. Je-
denfalls ist er nicht mehr das unschuldige reine Kind von
früher.
In der Musik hatte er unterdess einen grossen Schritt
vorwärts gemacht. „Sein Spiel ist mit dem von Wotkinsk
garnicht zu vergleichen," — sagt Lydia — „er spielt jetzt, wie
ein Grosser". Ohne Zweifel hat ihm nicht nur der Unter-
richt des Herrn Philipoff grossen Nutzen gebracht, son-
dern überhaupt alle musikalischen Eindrücke, die mit sei-
nem Aufenthalt in Petersburg verbunden waren. Er spielt
jetzt auch schon öfter, wie er sagt, „für sich selbst, wenn
— gl-
ich trciurig bin", d. h. nicht nur die einstudierten Stücke,
sondern das, was ihm gerade in den Kopf kommt. Seine
musikahsche Sprache ist reichhaltiger geworden und ist
nun imstande das zu ersetzen, was für ihn in Wotkinsk
die Poesie war. Von Gedichten ist keine Rede mehr. Nun
hat er das richtige Mittel gefunden, Alles das, was seine
Seele erfüllt, auszudrücken. Von dieser Zeit an, beginnt er
zu komponieren, obgleich dieses Komponieren eigentlich
nur ein Phantasieren ist. Wie er später selbst erzählt, ver-
folgten ihn die Töne überall und stets, wo er auch sein
oder was er auch thun mochte. Seine Eltern iedoch wollten
diesmal Nichts für seine künstlerische Entwickelung thun,
einerseits, weil sie fürchten mussten, dass seine Nerven-
krankheit wiederkommen könnte, anderseits aber auch, weil
sie nicht die Zukunft eines Musikers für ihn im Auge hat-
ten. Ueberhaupt interessierte sich in Alapajew Niemand für
seine musikalische Begabung. Und er selbst behielt seine
Ideen für sich, vielleicht aus Stolz, vielleicht weil er sich
selbst noch nicht recht traute. Möglicherweise hat auch
dieser Umstand dazu beigetragen, dass sein Charakter sich
veränderte. Er wusste, dass er Etwas besass, was kein
anderer Mensch aus seiner Umgebung besass, fühlte im
Grunde seines Herzens seine Ueberlegenheit und ärgerte
sich im Stillen, dass sie unbeachtet blieb und seine künst-
lerischen Bestrebungen Niemanden interessierten.
Jedenfalls war er kein Kind mehr, als er zum zweiten
Mal nach Petersburg kam. Eigentlich waren seine Cha-
raktereigenschaften ja dieselben geblieben, er ist nur durch
etwas Lebenserfahrung zäher geworden, geeigneter, den
Kampf um's Dasein aufzunehmen, seine Empfänglichkeit,
seine Begeisterungsfähigkeit war ein wenig abgestumpft.
Sein junges Leben hatte schon eine Vergangenheit, er
hatte schon leiden gelernt, und die Zukunft sah er nicht
mehr in Regenbogenfarben leuchten, sondern wusste, dass
sie ausser Freuden auch Entbehrungen mit sich bringen
werde. Ausserdem barg er aber auch einen Schatz in
seinem Herzen, ein Licht, welches Niemand sah und wel-
ches ihm in Augenblicken des Kummers Trost spendete
und Mut verlieh.
''»^
32
X.
Anfang August reiste Alexandra Andreewna mit ihrer
Tochter, Stieftochter und Peter lljitsch nach Petersburg.
Anfangs hatten die Eltern die Absicht, ihre beiden Söh-
ne nicht zu trennen und sie Beide in das Bergbau-Insti-
tut zu bringen. Weshalb diese Absicht nicht verwirklicht
und Peter lljitsch in die Juristenschule kam, wissen wir
nicht. Es lässt sich nur vermuten, dass diese Schule von
dem alten Freunde Ilja Petrowitsch's, Herrn M. A. Wa-
kar, dem Pflegevater Nikolai's, sehr empfohlen wurde. Der
Bruder dieses Herrn Wakar, Plato Alexandrowitsch Wa-
kar, der im späteren ^Leben Peter Iljitsch's eine grosse
Rolle spielen sollte, war Jurist und wie alle Juristen — ein
treuer Anhänger seiner „alma mater".Er war ein pracht-
voller Mensch und hatte eine glänzende Zukunft vor sich;
es ist daher sehr w^ahrscheinlich, dass angesichts dieses
Vorbild's Ilja Petro witsch sich entschloss, seinen zweiten
Sohn der betreffenden Schule anzuvertrauen.
Peter lljitsch hatte noch nicht das nötige Alter erreicht,
um in der eigentlichen Juristenschule selbst Aufnahme zu
finden, sondern musste erst die sogenannte Vorbereitungs-
Klasse dieser Schule besuchen. Diese Vorbereitungs-Klasse
zerfiel ihrerseits wiederum in eine Unter -und- Oberabtei-
lung. Ende August wurde Peter lljitsch nach ausgezeichnet
bestandener Prüfung in die Zahl der Zöglinge der Unter-
abteilung anfgenommen.
In der ersten Zeit verbrachte er die Sonn-und Feier-
tage mit seiner Mutter, welche ausserdem jede Gelegen-
heit w^ahrnahm, um ihn zu besuchen, sodass er infolge der
ziemlich häufigen Zusammenkünfte den Uebergang vom
häuslichen Famiüenleben in die neuen ungewohnten Ver-
hältnisse nicht besonders schwer empfand. Alexandra An-
dreewna konnte jedoch nicht länger als bis Mitte Oktober
in Petersburg verbleiben, und so kam einer der „schreck-
lichsten" Tage im Leben Peter Iljitsch's heran, der Tag
der Abreise seiner Mutter.
Im Augenblicke des Abschied's verlor er seine ganze
Selbstbeherrschung. Er klammerte sich an die Mutter
und wollte nicht von ihr lassen. Weder Bitten, noch Trost-
worte, noch das Versprechen bald wiederzukommen hal-
fen etwas. Er hörte Nichts, er sah Nichts und blieb wie
angegossen am geliebten Wesen hängen. Es blieb Nichts
— 33 -
Anderes übrig, als den armen Jungen mit Gewalt loszu-
reissen und solange festzuhalten, bis Alexandra Andreewna
in die Equipage gestiegen war und davonfuhr. Da entrang
sich ihm ein Schrei der Verzweiflung und, seine ganze
Kraft zusammenfassend, lief er dem Wagen nach und ver-
suchte vergeblich, ihn am Rad zu fassen und zum Stehen
zu bringen.
Nie in seinem Leben konnte Peter Iljitsch ohne Bitter-
keit an jene Begebenheit denken. Dieses erste grosse Un-
glück, das er erlebte, konnte sich vielleicht nur mit jenem
anderen — dem Tode seiner Mutter — messen. Obgleich er
in seinem späteren Leben olt noch viel grösseren Schmerz
erlitt und noch bedeutend traurigere und qualvollere Ent-
täuschungen und Entbehrungen erfuhr, so konnte er doch
nie jenes brennende Gefühl der Erbitterung, und Ver-
zweiflung vergessen, welches ihn erfasste, als er dem Wa-
gen nachhef, der ihm seine geliebte Mutter entriss. Der
düstere Schatten dieser Trennung breitete sich über seine
ersten Schuljahre aus. Das Heimweh, die Sehnsucht nach
der Mutter löschte in ihm alle anderen Eindrücke aus, zer-
brach alle früheren Bestrebungen, Wünsche und Gedan-
ken. Zwei volle Jahre verlebte er, wie es aus seinen Brie-
fen zu ersehen ist, in der beständigen Hoffnung auf das
Wiedersehen seiner Eltern. Diese Hoffnung füllte sein gan-
zes Sein aus.
•^i^
XI.
Bald nach der Abreise Alexandra Andreewna's brach
in der Schule eine Scharlach-Epidemie aus, und Herr M.
Wakar veranlasste schleunigst, dass Peter für einige Zeit
bei ihm wohnen bliebe. Das Schicksal wollte es aber, dass
zusammen mit Peter auch die Krankheit in's Haus kam.
Peter Iljitsch selbst blieb zwar gesund, infizierte aber den
ältesten Sohn Wakar's, der auch bald darauf verschied.
Peter Iljitsch wusste nur zu genau, dass er den Tod in's
Haus gebracht hatte, und trotzdem ihm nie Jemand einen
Vorwurf daraus machte, fühlte und glaubte er, dass man
Tschaikowaky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. •>
— 34 —
nicht umhin konnte, ihm im Geheimen doch böse zu sein.
Er verschonte sich auch nicht mit Selbstvorwürfen und
seine Seele hatte unter dem Eindruck dieses Ereignisses um
so schwerer zu leiden, als er den Verstorbenen in der kur-
zen Zeit sehr lieb gewonnen hatte. Es ist kein Wunder,
dass ihm in jener Zeit die Gegenwart rauh und kalt schien
und dass er sich mehr denn je nach seinen Eltern und
Geschwistern sehnte. Alle seine Briefe aus jener Zeit ver-
rathen diese eine grosse Sehnsucht.
Anfang April 185 1 verliess Herr M. Wakar plötzlich
Petersburg und siedelte mit der ganzen Familie nach Ka-
menez-Podolsk über, sodass die beiden Brüder Tschai-
kowsky der Fürsorge eines anderen intimen Freundes Ilja
Petrowitsch's, einem gewissen I. Weiss, anempfohlen wur-
den. Diese Veränderung hatte auf die Stimmung Peter
Iljitsch's garkeinen Einfluss gehabt, seine moralische Nie-
dergeschlagenheit blieb nach wie vor dieselbe und in seinen
Briefen flehte er nach wie vor seine Eltern, sie möchten
doch recht bald nach Petersburg kommen.
Von den Ereignissen jener Zeit ist nur eines bemer-
kenswert: Mitte April wurden die Zöglinge der Vorbe-
reitungs-Klasse auf einen Kinderball, der im Saale der
Adelsversammlung stattfand, geführt, wo sie Gelegenheit
hatten den Kaiser Nikolaus „so nahe, wie Vaters Schreib-
pult vom Sopha" zu sehen.
Anfang Mai nahm Plato Alexejewitsch Wakar die Söhne
Ilja Petrowitsch's zu sich und behielt sie, bis die ganze Fa-
milie Tschaikowsky wieder in Petersburg ihr Domicil auf-
schlug. Plato Alexejewitsch, sowie seine Gemahlin Maria
Petrowna, geborene Markowa, ganz besonders aber die
Mutter und die Schwestern Maria Petrowna's, behandelten
Peter Iljitsch sehr teilnahmsvoll und zuvorkommend. Von
den Letzteren wurde er auch eingeladen, den Sommer bei
ihnen auf dem Lande zu verbringen. Trotzdem kommt er
aber in seinen Briefen an die Eltern immer wieder darauf
zurück, dass er sich sehr nach ihnen sehne und sie bald
in Petersburg zu sehen hoffe. Diese Hoffnung sollte aber
erst im September in Erfüllung gehen.
Unterdess hat er die Prüfung in der Schule glänzend
bestanden und ist in die Oberabteilung der Vorbereitungs-
klasse versetzt worden.
Anfang Juni nahm ihn Frau Markowa mit aufs Land.
Die zwei Ferienmonate, die er dort verbrachte, waren die
glücklichsten in diesem Jahr. „Ihr könnt es Euch garnicht
— 35 —
vorstellen", — schreibt er, — „wie fröhlich ich hier lebe! Das
Dorf liegt so malerisch auf einem Hügel. Eine schattige
Allee führt zum Langen See, in dem es viele Fische giebt.
Links von der Allee liegt ein Hühnerhof.
Hinter dem Hause befindet sich ein Garten, von dem
aus eine Allee in den Wald führt. Von der anderen Seite
des Hauses sieht man ein Kirchdorf, „Nadino". — Aber auch
in diesem Brief vergisst er nicht die flehentliche Bitte, seine
Eltern möchten dach recht bald zu ihm kommen. Anfang
August nach Petersburg zurückgekehrt, ist er voll freudi-
ger Erwartung, nun bald seinen Vater wiederzusehen, hn
Stillen hofft er sogar, dass seine Mutter ihm eine Ueber-
raschung bereiten und auch kommen werde: „Es scheint
mir immer, dass Du, Mutterchen, schon in Kasan oder
Nishny bist. Ich glaube nicht, dass Du imstande wärest
so eine Bitte, wie die meinige, abzuschlagen".
Doch kam Ilja Petrowitsch allein und verbrachte mit
seinen Söhnen nur drei Wochen. Leider wissen wir nichts
Ausführhcheres über diesen Aufenthalt Ilja Petrowitsch's
in Petersburg. Jedenfalls aber hat er die Gelegenheit wahr-
genommen, seine Kinder mit Zärtlichkeiten zu überschüt-
ten. Trotzdem gestaltete sich seine Abreise nicht mehr so
tragisch wie vor Jahresfrist diejenige Alexandra Andreew-
na's. Jener herzzerreissende Auftritt wiederholte sich nicht.
Peter Iljitsch war älter geworden und hatte sich bereits
darein gefunden, ohne Eltern zu leben. Von nun an sind
auch seine Briefe ruhiger. Er erzählt darin immer öfter
verschiedene Petersburger Eindrücke und Erlebnisse. Die
unvermeidlichen Bitten, doch recht bald wieder zu ihm zu
kommen, finden sich allerdings auch jetzt noch in jedem
Brief, sind aber nicht mehr so dringend, wie früher, ja
manches Mal sogar in scherzhaftem Ton gehalten.
"^^"
XII.
Anfang Mai 1852 siedelte die ganze Familie Tschai-
kowsky endgiltig nach Petersburg über. Ein kleines Ver-
mögen, welches Ilja Petrowitsch im Laufe der Zeit erspart
hatte, und die Pension, die er als früherer Staatsbeamter
- зб-
bezog, ermöglichten es ihm, seine Stellung aufzugeben und
mit den Kindern vereint, ein sorgenfreies Leben weiterzu-
führen.
Der Umzug fiel gerade in die Zeit, als die Schüler der
Vorbereitungsklasse sehr fleissig zu arbeiten hatten, um
die Prüfungen bei der Versetzung in die Septima der eigent-
lichen Juristenschule zu bestehen. Erst als diese schwere
Zeit glücklich überwunden war, durfte Peter Iljitsch sich
ganz den Freuden des so lange sehnsüchtig erwarteten
Zusammenlebens mit seinen Angehörigen hingeben. Für
den Sommer mietheten Tschaikowsky's eine „Datsche"
(ein Landhaus) in der Nähe Petersburg's. Leider ist aus
jener glücklichen Zeit nur wenig Interessantes zu berichten.
Im Mittelpunkt des Familienlebens standen drei junge Da-
men: Zinaida Iljinischna, Lydia Wladimirowna und Anna
Petrowna (jetzt Frau Merkling). Letztere, die Nichte Ilja
Petrowitsch's, war von Alexandra Andreewna aus Moskau
mitgebracht worden. Alle drei waren sehr hübsch und
lockten natürlich viele jungej Männer in's Haus, so dass
die jüngeren Kinder sozusagen im Schatten blieben.
Mit Anna Petrowna war Peter Iljitsch am besten be-
freundet. Es vereinigte sie die Liebe zu Scherzen und
Streichen, in welchen der zukünftige Komponist viel Phan-
tasie offenbarte.
Hier ein Beispiel dafür. Im Nachbarhause wohnte eine
zanksüchtige Polin von zweifelhaftem Lebenswandel, welche
eine grosse Vorliebe für Truthähne hatte und eine ganze
Menge deren besass. Peter und Anna hatten nun den Plan
gefasst, diese Nachbarin zu ärgern. Sie begaben sich in
die Nähe ihres Hühnerhofes und stimmten ein Duett an.
Die Truthähne bullerten dann fürchterlich und die Polin
kam herausgestürzt und überschüttete die Beiden mit
Scheltworten. Das machte ihnen aber gerade grossen Spass
und sie wiederholten diesen Streich so oft, bis eines Ta-
ges statt der Polin ein Mann mit ungeheurem Schnurrbart
herauskam und sie derart erschreckte, dass sie ihren Scherz
nie wieder wagten.
Peter Iljitsch hielt es für seine Pflicht, seine Gefährtin,
wenn es nötig war, zu beschützen und zu verteidigen.
Eines Abends, als die drei Mädchen oben auf ihrem Bal-
kon Sassen und vor dem Zu-Bett-gehen sich wieder ein-
mal gegenseitig ihre Herzensgeheimnisse anvertrauten, kam
Peter Iljitsch plötzlich zu ihnen heraufgestürzt und teilte
ihnen in grosser Erregung mit, dass Nikolai und der Bru-
— 37 —
der Anna Petrowna's, Ilja, eine Leiter an den 'Balkon ge-
stellt h.ätten, und die Plauderei der Mädchen belauschten.
Die Folge davon war, dass den beiden Neugierigen ein
Strahl kalten Wassers über die Köpfe gegossen wurde.
Die Handlungsweise unseres Helden war den Damen ge-
genüber zwar sehr ehrlich, aber nichtsdestoweniger ver-
rätherisch.
Diese zwei Begebenheiten habe ich nur erzählt, weil
sie jene Neigung Peter Iljitsch's zu mehr oder weniger
bösen Scherzen illustrieren, welche eigentümlicherweise
mit seiner grenzenlosen Güte und seinem Grossmuth Hand
in Hand ging. Jemanden in eine unangenehme Lage zu
versetzen, oder zu verblüffen, oder gar einen richtigen
Bubenstreich zu begehen, — war ihm stets ein grosses Ver-
gnügen. Er scheute sich aber nie, seine Boshaftigkeit und
seine schlechten Handlungen ganz off"enherzig einzugeste-
hen. Mit einer geradezu wollüstigen Schadenfreude pflegte
er seine Streiche zu erzählen, ohne sie zu beschönigen
oder sich selbst zu entschuldigen.
Das biographische Material jener Zeit seines Lebens
bis zum Jahre 1854 ist so arm, dass es geradezu gar-
nichts Erzählenswertes bietet. Das graue Einerlei des Schul-
lebens wurde nur durch den Sonntagsurlaub, den Peter
Iljitsch bei seinen Eltern verbrachte, unterbrochen. We-
der Briefe noch üeberlieferungen giebt es aus jener Zeit.
Die älteren Geschwister, namentlich die drei jungen Da-
men, waren zu sehr mit ihren eignen Angelegenheiten,
Ausfahrten, Bällen, Theaterbesuchen und kleinen Liebes-
geschichten beschäftigt, sodass sie für das Leben Peter
Iljitsch's nur wenig hiteresse übrig hatten; seine jüngeren
Geschwister hatten noch weniger Verständniss dafür.
Im Januar 1854 verheiratete sich Zinaida Iljinischna.
In demselben Jahre wurde die Familie Tschaikowsky von
einem tragischen Schicksalsschlag betroffen, welcher auf
jene Zeit einen tiefen Schatten warf und die Gemüter noch
lange in Bann hielt. Erst 1856 berichtet Peter Iljitsch da-
rüber an Fanny folgendermassen:
„Jetzt erst will ich Ihnen etwas sehr Trauriges erzäh-
len: ein grosses Unglück hat uns vor 2V2 Jahren heim-
gesucht. Vier Monate nach der Hochzeit Zinaida's bekam
meine Mutter die Cholera. Dank der Bemühungen der
Aerzte besserte sich allerdings ihr Zustand, aber leider
nicht lür lange, denn schon nach drei Tagen gab sie ihren
Geist auf, ohne von uns Abschied genommen zu haben".,..
- 38-
Das geschah am 13. Juni 1854. Am Tage der Beerdi-
gung erkrankte Ilja Petro witsch ebenfalls an der Cholera
und schwebte einige Tage in grosser Lebensgefahr, doch
wurde er zum Glück seinen Kindern wiedergegeben.
Der unerwartete und schwere Verlust hatte Ilja Petro-
witsch ganz aus der Fassung gebracht, sodass er garnicht
recht wusste, was er nun anfangen sollte. Das älteste
weibhche Wesen in der Familie war Lydia Wladimirowna.
Sie war aber Braut, und die Hochzeit sollte schon im kom-
menden Herbst stattfinden; zudem war sie noch so jung
und unerfahren, dass sie den Kindern wohl schwerlich die
Mutter ersetzen konnte. Ilja Petro witsch verstand sich gar-
nicht auf die Erziehung der Kinder, ganz besonders der
Tochter, und vertraute Alexandra Iljinischna einem Insti-
tut für adelige Mädchen (Smolny - Institut) an. Hyppolit
wurde im Seekadettencorps untergebracht, sodass nur die
beiden Zwillinge bei ihm blieben. Nach so vielen Jahren
glücklichen Familienlebens konnte Ilja Petro witsch die Ein-
samkeit nicht ertragen und beschloss daher zu seinem
innig geliebten Bruder Peter Petrow^tsch zu ziehen, deren
Familie aus seiner Frau, fünf Töchtern und drei Söhnen
bestand und im Herbst 1854 in Petersburg ihr Domicil
aufschlug.
XIII.
Die Jahre 1850 — 1852 hatten zwiefache Bedeutung im
Leben Tschaikowsky's.
Die Thränen, die er vergossen, die Leiden, die er ge-
litten, haben seinen Charakter geläutert. Die verschiede-
nen schlechten Triebe, die in ihm zu wuchern begannen,
seine Reizbarkeit, Trägheit, Unwahrhaftigkeit, der aufkei-
mende Neid, die Unzufriedenheit mit seinem Leben, sind
durch die Macht der seelischen Erschütterung bei der
Trennung von seinen Eltern vollständig vernichtet wor-
den, und es ersteht vor unsern Augen das gutherzige,
allbestrickende, durch und durch ehrliche Wesen der glück-
lichen Wotkinsk 'sehen Zeit. Anderseits, aber, wird die
— 39 —
bis dahin freie Entfaltung seiner Seele und seines Ver-
standes gewaltsam in ein S3^stem eingezwängt, welches
ja in mancher Beziehung allerdings heilsam für ihn war,
dafür aber der Entwickelung seiner musikalischen Fähig-
keiten nicht nur garkeine Nahrung bot, sondern derselben
direkt ein Hinderniss in den Weg legte.
Nach dem grossen Fortschritt, den Peter Iljitsch 1848/49
in der Musik gemacht hatte, erstarrte seine künstlerische
Erziehung für volle zehn Jahre. Im Herbst 1850 begann
für ihn das Leben eines zukünftigen Beamten des lustiz-
Ministeriums.
In den 39 Briefen, die er in den zwei ersten Jahren
seines Schullebens geschrieben hatte, erwähnt er nur in
zweien die Musik, und auch da nur ganz unwesentHch.
Das eine Mal erzählt er, dass er seinen Kameraden eine
Polka aufgespielt und dass er das vor drei Jahren ein-
geübte Stück „die Nachtigall" wiederholt habe. Das andere
Mal teilt er den Seinigen mit, dass er ihnen gelegentlich
einmal den Text des „Freischütz" erzählen wolle — (bei-
läufig gesagt — ein nicht gehaltenes Versprechen) und
knüpft daran die Erinnerung, wie er in Petersburg zum
ersten Mal „Das Leben für den Zaren" gesehen. Das ist
auch Alles.
Daraus folgt allerdings noch nicht, dass er keine mu-
sikalischen Eindrücke gehabt hätte. Diese Eindrücke wa-
ren wohl vorhanden und waren sogar sehr intensiv. Der
Komponist bekennt selbst, dass das geniale Werk We-
bers, sowie „Das Leben für den Zaren", seitdem nächst
den Bruchstücken aus Mozart's „Don Juan", die er noch
in Wotkinsk dank dem Orchestrion kennen gelernt hatte, —
die erste Stelle im Tempel seiner Heiligtümer einnähmen.
Er hatte aber Niemanden, mit dem er seine musikalischen
Eindrücke teilen konnte. In seiner Umgebung gab es da-
mals nicht einmal einen Dilettanten. Alle, mit denen er in
Berührung kam, sahen die Musik als eine Spielerei an,
die nur zum Zeitvertreib da war, und der man keine
ernstliche Bedeutung im Leben beimessen sollte. Da Peter
Iljitsch's Liebhaberei weder bei seinen Verwandten, noch
bei seinen Erziehern, Lehrern und Kameraden Anklang
fand, verschloss er sie ganz in das Innerste seiner Seele.
Frau Merkling erzählt über ihn Folgendes: „Wenn er ge-
beten wurde, etwas zu spielen, that er es nur ungern und
sehr flüchtig, nur um es schneller los zu sein. Wenn er
aber für sich selbst auf dem Klavier phantasierte, indem
— 40 —
er allein zu sein glaubte, war er stets ganz weltentrückt.
Ich weiss noch, wie ich dann seine Augen, die in weiter
Ferne zu schweifen schienen, und das erregte Kinderge-
sichtchen bewunderte. Sobald er aber merkte, dass ihn Je-
mand beobachtete, wachte er gleichsam auf und war sehr
unzufrieden, wenn man ihn bat fortzusetzen. Das einzige
Wesen, mit dem er über seine musikalischen Eindrücke
sprechen konnte, war seine Tante Frau E. A. Alexejewa.
In der instrumentalen Musik war sie allerdings ziemlich
unbewandert, umsomehr aber in der vocalen. Peter Iljitsch
wurde nicht müde, mit ihr den Klavierauszug des „Don-
Juan" wieder und immer wieder zu studieren. „Die Mu-
sik des „Don-Juan", — schreibt er 1878, — „war die erste
Musik, die mich tief ergriff. Sie entfachte in mir ein heili-
ges Entzücken, welches später Früchte trug. Durch sie
bin ich in jene Welt der künstlerischen Schönheit gedrun-
gen, wo nur die grössten Genien leben. Mozart verdanke
ich es, dass ich mein Leben der Musik geweiht"....
Indem er seine ernsten musikalischen Bestrebungen und
Gedanken für sich allein behielt und Niemandem mitteilte,
trug er anderseits musikalisch Scherzhaftes oder Unter-
haltendes stets gern und oft vor. So prahlte er z. B. oft
mit seiner Coloratur und sang in der That die schwierig-
sten Vocalisen mit einer Leichtigkeit, welche einer ita-
lienischen Sängerin Ehre gemacht hätte. Er hatte mit der
Frau Alexejewa damals ein grosses fioriturenreiches Duett
aus „Semiramis" einstudiert, und sang darin die erste Stim-
me ganz ausgezeichnet. Ganz besonders stolz war er aut
seinen wirklich famosen Triller.
Jene Epoche seines Lebens ist auch noch dadurch be-
merkenswert, dass ein sehr charakteristischer Zug seiner
Persönlichkeit damals zuerst deutlich zu Tage getreten
ist, das ist seine grosse Nachgiebigkeit, Unterwürfigkeit
fremden Einflüssen gegenüber in Allem, was nicht seine
Musik betraf; diese war jedoch seine ureigenste Angele-
genheit, und er duldete darin keine Einmischung. Allen
aeusseren Einflüssen und Bemühungen, ihn nach dieser
oder jener Richtung mit fortzureissen zum Trotz, blieb
er fest und respektierte nur seine eigene Meinung, fügte
sich nur seiner eignen inneren Stimme. In allen anderen
Sachen war er dagegen weich wie Wachs.
^i^
^^^^yV'^^^/^^.
Zweiter Teil.
I.
Die Schuljahre Peter Iljitsch's haben, wie gesagt, für
die Richtung, die sein späterer Lebenslauf nahm, fast gar
keine Bedeutung gehabt. In der Zeit von 1852 — 1859 wächst
und gedeiht vor unseren Augen Nichts weniger als ein
Künstler, sondern ein sympatischer, aber ziemlich mittel-
mässiger Beamter, von dem jedoch schon in der Mitte der
sechziger Jahre auch nicht die Spur mehr übrig bleibt.
Daher ist auch das biographische Material jener Epo-
che seines Lebens ungemein karg. Es beschränkt sich
hauptsächlich auf ziemlich unklare und mutmassliche Erin-
nerungen seiner Verwandten und Schulkameraden. Ist es
doch damals gewiss Niemandem eingefallen, dem Thun und
Lassen eines ganz gewöhnlichen Jünglings irgend welche
Bedeutung beizumessen.
Von dem ganzen Lehrer-und Erzieher-Personal der Ju-
ristenschule hat Niemand es vermocht, in geistiger oder
moralischer Beziehung einen dauernden Einfluss auf Peter
Iljitsch auszuüben. Das waren alles Herren, w^elche die
Mittelmässigkeit weder nach der guten noch nach der
schlechten Seite hin erheblich überschritten. Die Einen wa-
ren etwas strenger, die Andern etwas nachsichtiger; die
Einen unterrichteten etwas besser, die Andern etwas schlech-
ter; Einige wau'den verehrt, Einige gefürchtet; Alle aber
übten ihre Berufspflichten ohne rechten Eifer aus, nicht
mehr und nicht weniger als gewissenhaft; so verging Stun-
de auf Stunde, Tag auf Tag genau nach der Vorschrift
des Programms. Ebenso war es auch bei den Schülern. Sie
— 42 —
trachteten stets danach, sich mr)ghchst schnell ihrer Arbei-
ten zu entledigen und wendeten nur soviel Mühe daran,
als es nötig war, um keine schlechte Zensur zu bekom-
men, oder am Sonnabend nicht ohne Urlaub zu bleiben.
Der Lehrkursus der sogenannten „j'üngeren Abteilung"
der Schule war halb klassisch halb real; griechischen Sprach-
unterricht gab es nicht, statt dessen aber Geschichte und
Physik. Angesichts der Notwendigkeit, in den höheren Klas-
seri das Römische Recht zu studieren, stand auch Latein
im Programm.
Peter Iljitsch war ein recht wissbegieriger und befä-
higter Jüngling. Viele wissenschaftliche Fächer interessier-
ten ihn, aber weder er selbst noch seine Mitschüler konn-
ten sich später erinnern, dass er für irgend ein Fach ganz be-
sonderes, vornehmliches Interesse gehabt hatte, oder irgend
einen Lehrer den Anderen vorzog. Er war auch in der Schule
fleissig und gewissenhaft, wurde stets mit ziemlich guten
Zensuren versetzt, brauchte nur selten bestraft zu werden,
zeigte aber anderseits auch keinen Uebereifer, geschweige
denn Liebe zur Sache, that sich überhaupt durch Nichts
besonders hervor. Nur die Mathematik fiel ihm recht schwer.
Folgende, für seinen „Stumpfsinn" in jener Wissenschaft,
allerdings, recht bezeichnende Geschichte wusste er zu
erzählen. Er war schon in der Quinta, als es ihm und
einem seiner Kameraden (Schadursky) eines Tages uner-
w^arteterweise gelungen war, ohne fremde Hilfe eine al-
gebraische Aufgabe zu lösen. Darüber waren sie Beide so
erstaunt und so entzückt, dass sie sich vor lauter Freude
umarmten; am merkwürdigsten ist aber, dass jenes Ereig-
niss, welches — nebenbei gesagt — sich nie wiederholte, den
ersten Anstoss zur späteren intimen Freundschaft Tschai-
kowsky's und Schadursky's gab. Unerklärlich ist es, wie
Peter Iljitsch, welcher thatsächlich im Rechnen nur die
vier Species verstand, und die algebraischen Formeln so-
wie die geometrischen Figuren absolut nicht begreifen
konnte, für welchen die Mathematik im wahren Sinne des
Wortes ein undurchdringbarer Urwald war, bei den Prü-
fungen doch das Prädikat, „genügend" erhalten und stets
versetzt werden konnte. Wie oberflächlich mussten die
Lehrer über das wirkliche Wissen ihrer Schüler orientiert
sein! Auch in den drei obersten Klassen, in der III, II und I,
wurde es nicht anders. Auch hier fehlte den meisten Leh-
rern und Professoren der nötige Eifer für den Unterricht
und sie vermochten nicht, Peter Iljitsch zu interessieren
— 43 —
und seinen Verstand anzuregen. Uebrigens hatte hier zum
grossen Teil auch Peter Iljitsch selbst daran vSchuld, denn
er fühlte wohl, wie wenig Veranlagung er für die Wissen-
schaften besass und hatte daher garkeine Lust, viel Mühe
und Fleiss daran zu wenden. Wenn auch die Art des Un-
terrichts in der Juristen-Schule Manches zu wünschen
übrig Hess, so gab es da doch einige talent-und-geistvolle
Lehrer, die Tüchtiges in ihrem Fach leisteten, so dass
diejenigen Schüler, die Lust und Liebe für ihren zukün-
ftigen Beruf hatten, auch wirklich viel lernen konnten.
Dieses beweist schon die Thatsache, dass so viele ausge-
zeichnete Juristen, Theoretiker und Praktiker, aus jener
Schule hervorgegangen sind.
II.
Die Schüler der Juristenschule waren meistens Kinder
des mittleren Adels, sodass Peter Iljitsch beim Eintritt in
die Schule unter Seinesgleichen kam. Gleich ihm, stammten
seine Mitschüler aus geachteten, nicht gerade reichen, aber
auch nicht armen Familien, in deren Stammbaum einige
Generationen gebildeter und adeliger Ahnen vorhanden
waren.
Der XX. Jahrgang dieser Schule, dem Peter Iljitsch
angehörte, hatte in seiner Mitte nicht so viele hoffnungs-
volle junge Männer, denen später eine glänzende Zukunft
beschieden war, als der nächstfolgende, der XXI. Jahrgang,
aus welchem ein Minister, ein Vorsitzender des Kassa-
tionshofes, mehrere Mitglieder des Reichsrathes und einige
andere hohe Würdenträger hervorgegangen sind; dafür
wies er aber Namen auf wie Tschaikow^sky, Apuchtin ')
und Gerard ^).
Wie Gerard erzählt, strebten die Schüler des XX.
Jahrganges nach hohen Zielen. Namentlich hatten Alle
grosses Interesse für die Literatur. Dieses aeusserte sich
darin, dass schon in den unteren Klassen eine Zeitschrift
1 ) Berühmter russischer Dichter.
2) Ein sehr populärer Advokat.
— 44 —
herausgegeben wurde, der „vSchul-Anzeiger". Mitarbeiter
dieser Zeitschrift waren: Apuchtin, Masloff, Aertel, Gerard
und Tschaikowsky. Ein kritischer Aufsatz „Die Geschichte
der Literatur unserer Klasse", welcher Peter Iljitsch zum
Verfasser hatte, soll nach dem Zeugniss Masloff's sehr
hübsch und geistreich gewesen sein.
Auch in der Schule hatte Peter Iljitsch Alle für sich
eingenommen. Er war der ausgesprochene Liebling nicht
nur seiner Kommilitonen, sondern auch seiner Lehrer. Die-
ses bekunden alle seine damaligen Studiengenossen ohne
Ausnahme.
„Seine Freundlichkeit, sein Zartgefühl im Umgang mit
seinen Kameraden", erzählt Gerard, — „erwarben ihm die
weitgehendsten Sympatieen. Ich glaube nicht, dass er sich
jemals mit Jemandem verzankt oder verfeindet hätte. We-
nigstens erinnere ich mich an keinen einzigen derartigen
Fall". Ein gewisser S. N. Turtschaninoff erzählt: „Zwei-
felsohne lag im Wesen Tschaikowsky's Etwas besonders
Anziehendes, Etwas, was ihn über die andern Knaben
stellte und was die Herzen Aller für ihn einnahm. Ein
gutes Herz, ein weiches Gemüt und eine gewisse Sorglo-
sigkeit in Bezug auf seine eigne Person waren von jeher
seine charakteristischen Eigenschaften". Diese Sorglosig-
keit in Bezug auf seine eigne Person beschreibt Masloff fol-
gendermaassen: „Im Alltagsleben zeichnete sich Tschaikow-
sky duch seine Unordentlichkeit aus. Er hatte in kurzer
Zeit fast alle Bücher aus der Bibliothek seines Vaters an
seine Kameraden „verborgt", hatte aber auch selbst so
manches Buch geliehen erhalten, ohne um dessen Rück-
gabe je besorgt gewesen zu sein. Peter war stets ohne
Schulbücher und musste sie sich bei Andern ausbitten,
anderseits war aber auch sein Pult — „Allgemeingut", denn
Jeder durfte darin herumkramen. Er führte damals auch
ein Tagebuch unter dem Titel „Alles", in welchem er seine
intimsten Geheimnisse niederschrieb, war aber so leicht-
sinnig und so naiv, dieses Tagebuch in seinem Pult aufzu-
bewahren, w^ seine und fremde Bücher und Hefte durch-
einander lagen. Einst bereiteten wir uns (d. h. er und
ich) gemeinschaftlich zum Examen vor, und spazierten
täghch in den Sommer-Garten, um daselbst zusammen zu
studieren. Um die nötigen Bücher und Hefte nicht jedes-
mal mitbringen zu müssen, versteckten wir sie in einen
alten hohlen Baumstamm und legten einige Bretter drüber
zum Schutz gegen Wind und Wetter. Nach dem Examen
— 45 —
holte ich natürlich meine Bücher aus ihrem eigentümlichen
Aufbewahrungsort, Tschaikowsky aber vergass es, sodass
seine Bücher vielleicht auch Heute noch da liegen".
Das Tabakrauchen war in der Schule selbstverständlich
auf das strengste verboten. Für die Uebertretung dieses
Verbotes waren aeusserst harte Strafen angesetzt, so dass
man viel Mut und Unerschrockenheit besitzen musste, um
zu den „Rauchern" zu gehören. Es ist kurios, dass Peter
Iljitsch, welcher seine intimeren Freunde unter den „Stil-
len" fand, weil er selbst diesem Typus der Schuljungen
angehörte, und es sonst nie wagte, gegen Gesetz und Re-
gel zu handeln, einer der leidenschaftlichsten Raucher war.
Das Rauchen habe ich an dieser Stelle erwähnt, um
zu zeigen, wie früh in diesem nervösesten aller Menschen
die Sucht zur Narkose erwacht war. Freilich muss man das
Rauchen in der Schule zum Teil auch der bei der Jugend
ja üblichen Neigung zu „gefährlichen Abenteuern" zuschrei-
ben, doch erzählte später Peter Iljitsch, dass ihm das Rauchen
selbst auch ein Genuss war. Er rauchte immer hastig,
gierig. Der ruhige, langsame Genuss des aromatischen Ta-
bakrauches befriedigte ihn nicht, es reizte ihn vielmehr
die Betäubung, die sich nach den ersten sehr tiefen Zü-
gen einzustellen pflegt und im Anfang allerdings ein ge-
wisses Wonnegefühl verursacht, später jedoch in Uebel-
keit und Ekel übergeht.
— >»»C««-
III.
Von den Schulkameraden Peter Iljitsch's muss an er-
ster Stelle Wladimir Stepanowitsch Adamoff genannt wer-
den. Obgleich er nur einige Monate mit Peter Iljitsch in
der gleichen Klasse blieb, befreundeten sich die Beiden
so sehr, dass sie bis an den Tod intime, herzliche Bezie-
hungen zu einander unterhielten. Adamoff war der Typus
eines fleissigen, bewusst arbeitenden Schülers, zugleich
aber auch voll aestetischer Bestrebungen und Sympatieen.
Besondere Vorliebe hatte er für die Schönheiten der Na-
tur; in ihren Mussestundcn plauderten die beiden Freunde
-4б-
gewöhnlich über verschiedene Reisepläne; sie sehnten sich
danach, gemeinschaftlich Italien und die Schweiz zu durch-
wandern, doch sind ihre Träume nie in Erfüllung gegangen,
obgleich ein Jeder Einzelne von ihnen jene beiden Länder
später gründlich kennen gelernt hat. Ausserdem hatte Ada-
moff leidenschaftlich die Musik lieb. Diese Liebhaberei fand
darin ihren Ausdruck, dass er mit Peter Iljitsch zusammen
sehr oft die italienische Oper besuchte. Er nahm auch Ge-
sangsstunden, brachte es aber trotz grosser Anstrengun-
gen nie weiter, als bis zu einem schlechten Dilettanten.
Adamoff absolvierte die Schule als einer der Besten und
erhielt die goldene Medaille. Durch ungeheuren Fleiss und
Energie errang er schon in der kurzen zeit von 14 Jahren
die glänzende Stellung des Departement - Direktors des
Justiz-Ministeriums. Sein im Jahre 1877 erfolgter Tod er-
schütterte Peter Iljitsch sehr tief, denn Adamoff ist in der
That einer der intimsten Freunde Peter Iljitsch's gewesen,
Einer von Denen, welchen Peter Iljitsch seine künstleri-
schen Bestrebungen mitteilen konnte, welche diese Bestre-
bungen verstanden und hochschätzten.
Zur Zeit als Peter Iljitsch bereits in der eigentlichen
Juristenschule war, verbreitete sich daselbst die Kunde,
dass in die Vorbereitungsklasse ein Knabe mit phänome-
naler dichterischer Begabung eingetreten sei, der alle Welt
von sich reden machte, dessen Verse nicht nur von den
Kameraden, sondern auch von Erwachsenen bewundert
würden. Peter Iljitsch interessierte sich sehr für diesen
Wunderknaben und stattete der Vorbereitungsklasse einst
einen Besuch ab, um ihn kennen zu lernen. Seit jenem
Tage spielt Apuchtin ^) — so hiess der Knabe — im Leben
Peter Iljitsch's eine so hervorragende Rolle, dass es not-
wendig ist, diese bedeutende Persönlichkeit ausführlicher
zu charakterisieren.
Im Jahre 1853 war dieser dreizehnjährige Knabe in der
That ein Phänomen. Er stammte aus einer nicht sehr rei-
chen Gutsbesitzerfamilie, war der Abgott seiner Mutter,
einer sehr klugen und gebildeten Frau, und verdiente nicht
nur mit Recht den Ruhm eines Poeten, sondern zeichnete
sich in jeder Beziehung durch ungewöhnliche Reife, glän-
zenden Scharfsinn und ein immenses Gedächtniss aus.
Apuchtin und Peter Iljitsch waren äusserlich und in-
nerlich grundverschiedene Naturen. Apuchtin war ein ma-
1) Alexei Nikolaewitscli Apuchtin — berühmter russischer Dichter.
— 47 —
gerer kleiner unscheinbarer Junge, verhielt sich seinen
Mitmenschen gegenüber verächtlich-gleichgiltig, Manche
hasste er sogar, und nur sehr, sehr Wenige erfreuten sich
seiner Freundschaft und Liebe.
Auch er besass gleich Peter Iljitsch die Fähigkeit, Alle
zu bezaubern und zu entzücken, nur that er das im Ge-
gensatz zu Peter Iljitsch stets bewusst, vorsätzlich. Er
entzückte nur Diejenigen, w^elche er entzücken wollte,
während er Andere hart, schroff und boshaft behandelte.
Die Bewunderung, die ihm von allen Seiten entgegen-
gebracht wurde, die Anregung und Aufmunterung, welche
ihm nicht nur seitens seiner Lehrer sondern sogar von
hohen Persönlichkeiten, wie z. B, vom Prinzen Peter Ge-
orgiewitsch zu Teil wurde, das biteresse, welches solche
Männer wie Turgenew und Fet für ihn hatten — das Alles
machte ihn stolz und er sah den breiten Weg zum Ruhm
offen vor sich liegen.
Apuchtin war in seinem Wissen viel weiter und viel
reifer als Peter Iljitsch. Er kannte gut die Literatur; viele
Dichter, namentlich Puschkin, konnte er zum grossen Teil
auswendig. Im Hause seiner Eltern hatte er schon als Kind
Gelegenheit, viele bedeutende Männer der damaligen Zeit
kennen zu lernen und ihren Gesprächen zu lauschen, so
dass in ihm schon früh ganz bestimmte Ansichten gereift
waren; er hatte in der Literatur scharf ausgeprägte Sym-
patieen und Antipatieen, und vertrat Tendenzen, die nicht
frei von Skeptizismus waren. Kurz — er war das gerade
Gegenteil von Peter Iljitsch. Alles war in den beiden Na-
turen verschieden. Nur jenes heilige Feuer und das Ver-
ständniss der Auserwählten besassen die Beiden, jenes
Etwas, was alle Künstler verbrüdert, wo — wann — und un-
ter welchen Umständen sie sich auch begegnen mögen.
Die Liebe für Poesie, die Empfänglichkeit für alles Erha-
bene und Schöne, der Abscheu vor dem Gemeinen, die
feine Beobachtungsgabe, das Sichbegegnen in gleichen Ge-
fühlen, gleichen Gedanken — das machte Tschaikowsky und
Apuchtin zu Freunden. Die Kontraste in allen anderen
Dingen festigten nur diese Freundschaft, indem sie den
Beiden oft Gelegenheit boten, sich selbst zu prüfen und
das gegenseitige Seelenleben besser kennen zu lernen.
Peter Iljitsch entfaltete als Freund und Schulkamerad
dieselben herrlichen Eigenschaften, wie ehemals als Kind
in Wotkinsk. Er bezauberte auch hier А1Г und Jeden und
war gleichsam von einer Atmosphäre voll Liebe und Freund-
-48-
Schaft umgeben, welche seiner edlen, zarten Seele unent-
behrlich war. Wie in Wotkinsk, in Alapajew, im Hause
Wakar, auf dem Lande bei Markow's; wie späterhin im
Ministerium und noch später im Petersburger und Mos-,
kauer Konservatorium, in Kiew, Odessa, Tiflis, Paris,
London, Berlin, Leipzig, wie jenseits des Oceans — in Ame-
rika, er unmerkbar für sich, ungewollt, immer neue Ver-
ehrer seiner Person warb, so nahm er auch in der Schule
Alle für sich ein, und der Kreis seiner Freunde wurde
immer grösser.
In dieser Beziehung war er also derselbe geblieben.
Was aber seinen Geist und Verstand anbetrifft, so war
da Nichts mehr von dem ehemaligen „prächtigen Kind"
übrig geblieben. Seine Fähigkeiten hatten sich vermittel-
mässigt, wenn man so sagen darf, seine Gedanken und
Interessen waren nicht mehr so erhaben und rein.
Mit dem Uebergang aus der Vorbereitungsklasse in die
eigentliche Juristenschule war seine ideale Weltanschauung,
der Glaube an die Unantastbarkeit und Heiligkeit der be-
stehenden Ordnung der Dinge verschwunden. Der Verkehr
mit der älteren Schuljugend untergrub allmälig seine Achtung
vor der Autorität der Erwachsenen. Die Lehrer und Er-
zieher hatten Spott-und Spitznamen, wurden hinter dem
Rücken ausgelacht, oder gar betrogen; ihren Anordnun-
gen sich zu widersetzen, oder ihnen einen Streich zu
spielen — galt als Heldenthat. Die Folge davon war, dass
Peter Iljitsch nicht mehr mit dem heiligen Eifer und um
der Sache selbstwillen arbeiten konnte. Er arbeitete von
nun an nur soweit gewissenhaft und fleissig, als es nötig
war, um nicht bestraft zu werden, und später Aemter und
Würden bekleiden zu können, ohne jegliches Interesse für
die Wissenschaften, die er erwarb. Zum musikalischen Be-
ruf hatte weder er selbst, noch die Andern das rechte
Vertrauen, so dass er selber nicht wusste, weshalb und
wohin er ging. Gleichzeitig erwachte allmälig in dem zum
Jüngling Heranreifenden die brennende Begierde, die Freu-
den des Lebens zu kosten; die Zukunft erschien ihm, wie
ein langes unendliches Fest, wie eine einzige ununterbro-
chene grosse Freude, und diesem schönen Traum seiner
Phantasie gab er sich voll und ganz hin.
Mit der Allgewalt einer leidenschaftlichen Natur ver-
fiel er dem Leichtsinn und wurde ein sehr lustiger, gut-
mütiger und sorgloser junger Mann, ohne ernste Bestre-
bungen, zwecklos und ziellos dahinlebend.
Ilja Petrowitsch Tschaikowsky mit zwei Söhnen, Modest
und Anatol, im Jahre 1855.
Dampfschnellpressen-Druckerei von P. Jurgenson, Moskau.
— 49 —
IV.
Im Jahre 1855 gestaltete sich das Famüienleben Ilja
Petrowitsch's infolge des Dahinscheidens seiner Gattin ganz
anders, als es bis dahin gewesen war. Ilja Petro witsch war
zwar ein liebevoller und zärtlicher Vater, verstand sich
aber auf sachgemässe Kindererziehung garnicht. In richti-
ger Erkenntniss dessen, und weil er die Einsamkeit nicht
ertragen konnte, beschloss er, seine Familie mit der seines
Bruders Peter Petrowitsch zu vereinigen und bezog mit
diesem eine gemeinschaftliche Wohnung.
Peter Petrowitsch war damals ein siebzigjähriger Greis
mit silberweissem Haar, ein Soldat durch und durch, der
viele Schlachten mitgemacht und ehrenvolle Wunden da-
vongetragen hatte. Er war ausserordentlich religiös und
hatte bis zu seiner Verheiratung ein Leben nach dem Mu-
ster mittelalterlicher Ordensritter gefüht, zwischen Gebet,
Fasten und Krieg. Streng zu sich selbst, verlangte er auch
von seiner Frau und seinen Kindern vollständige Unter-
werfung und blinden Gehorsam, da er aber Weiber und
Kinder garnicht kannte und mit ihnen absolut nicht um-
zugehen verstand, so sah er endhch ein, dass er sein Ziel
nie erreichen werde, schloss sich seither ingrimmig in sein
Zimmer ein und schrieb unendliche Traktate über religiös-
m3'stische Themen.
Seine Gattin Elisabeth Petrowaia fürchtete ihn zwar ein
wenig und unterwarf sich ihm auch scheinbar, kehrte sich
aber im Grunde wenig an sein Schelten und Wettern und
that gewöhnlich Alles nach eignem Willen. Sie war im
Gegensatz zu ihrem Ehegemahl durchaus der Meinung,
dass Vergnügungen und Belustigungen keine Sünden wä-
ren, solange sie die Grenzen des Sittlichen nicht über-
schritten, und veranstaltete für ihre Töchter oft Tanzabende,
Theateraufführungen u. A.; führte sie auf Bälle, Kostüm-
feste, Konzerte, sorgte aber auch für die Bildung und Ent-
wickelung ihres künstlerischen Geschmackes, liess sie Mu-
sik-und Zeichenunterricht nehmen, kurz, unternahm eine
Reihe von Handlungen, die mit den Ansichten Peter Pe-
trowitsch's im schroffsten Gegensatz standen. Auf diese
Weise ist es ihr gelungen, ihre fünf Töchter zu allerliebsten
jungen Damen heranzuziehen, welche durch ihren Liebreiz
alle Welt entzückten und bezauberten. Die Aelteste, Anna
Petrowna, war ein ganz besonders kluges und geistreiches,
Tschaikowsky, M. P. I. Tschaik.owsky's Leben. "t
— 50 —
lebensfrohes Mädchen. Sie besass viel Humor und Witz,
dazu eine feine Beobachtungsgabe, war stets bereit zu lus-
tigen, übermütigen Scherzen, und erschien dadurch wie
ein lebendiger Protest gegen die asketischen Tendenzen
ihres Vaters. Peter Iljitsch war damals, wie wir gesehen
haben, auch Nichts weniger als pessimistisch gesinnt, und
so kam es, dass er sich mit Anna Petrowna nicht nur sehr
gut vertrug, sondern direkt befreundete. Sonntags versam-
melte sich bei Tschaikowsk3''s gewöhnlich die junge Welt
der ganzen Bekanntschaft und Verwandschaft, und da wa-
ren Peter Iljitsch und Anna Petrowna selbstverständlich
der Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft; es wurde bis
spät in die Nacht hinein gelacht, gescherzt und getollt.
Im Herbst des Jahres 1857 kamen die Väter der beiden
Familien aber zu der Ueberzeugung, dass sie eigentlich
doch nicht länger zusammen wohnen bleiben sollten und
trennten sich wieder; doch geschah das in vollem Frieden,
ohne dass sie sich aus irgend welchem Grunde verzankt
hätten.
Ilja Petro witsch vertraute den Haushalt und die Er-
ziehung seiner beiden jüngsten Söhne der eben erst aus
dem Institut entlassenen fünfzehnjährigen Alexandra Ilji-
nischna an. Darob waren die älteren Frauen aus seiner
Verwandschaft natürlich nicht wenig entsetzt, und bedauer-
ten die „arme Familie, welche einem so jungen, unerfahre-
nen Mädchen" ausgeliefert werden war. Alle ihre Befürch-
tungen erwiesen sich jedoch als grundlos. In dem jungen
Mädchen erwachte gerade zur rechten Zeit ein sehr wil-
lensstarkes und energisches Weib, welches mit ihren schwe-
ren Pflichten ausgezeichnet fertig wurde.
Alexandra Iljinischna war um zwei Jahre jünger als
Peter Iljitsch, besass aber bedeutend mehr praktischen Ver-
stand und Geschicklichkeit im Umgang mit Menschen, als
er. Er war erstaunt und zugleich erfreut, in ihr ein so
verständiges und reifes Wesen zu finden, und fügte sich
willig allen ihren Anordnungen. Und sie machte ihn zu
ihrem Ratgeber und Helfer, namentlich wenn es galt, sich
zu zerstreuen und zu belustigen. Vielleicht war auch das
die Ursache, weshalb Tanzabenden und Theaterbesuchen
unvcrhältnissmässig viel Raum gelassen wurde.
Leider sollte aber dieses freudevolle, sorgenlose Leben
nicht lange mehr dauern. Im Frühjahr 1858 verlor Ilja Pe-
trowitsch durch sein übergrosses Vertrauen plötzlich sein
ganzes Vermögen und war auf seine alten Tage genötigt,
— 51 —
Arbeit zu suchen. Dank seiner persönlichen Bekanntschaft
mit dem damahgen Finanz -Minister Knjashewitsch ist es
ihm zum GUick sehr bald gelungen, eine Stellung zu fin-
den und sogar eine sehr glänzende, nämlich die des Di-
rektors des Technologischen Instituts.
In der neuen prachtvoll eingerichteten Direktorwohnung
vereinigten sich Tschaikowsky's mit der Familie Schobert,
und Alexandra Iljinischna legte mit Freuden die Sorge um
den Haushalt in die Hände ihrer Tante Elisabeth Andre-
ewna.
Diese war eine milde, stets gutmütige und freundliche
Frau und wurde von den Kindern Ilja Petrowitsch's seit
ihrem Aufenthalt in Alapajew herzlich geliebt, Sie selbst
hatte drei Töchter und einen Sohn.
V.
Am 13. Mai 1859 wurde Peter Iljitsch aus der Juristen-
schule mit dem Range eines Titularrathes entlassen und
trat als Beamter in die i. Abteilung des Departements des
Justiz-Ministeriums ein.
Dieses, im Leben eines jeden Andern hochbedeutsame
Ereigniss, war für Peter Iljitsch Nichts weniger, als bedeut-
sam. Während für seine Kameraden von nun an ein neuer
Lebensabschnitt begann, ein selbständiges Arbeiten und
Schaffen, war Peter Iljitsch noch nicht einmal am eigent-
lichen Anfang dessen angelangt, was er einst werden sollte,
ja, er hatte sogar noch garkeine Ahnung davon.
In den ersten Jahren seines Beamtentums blieb er noch
derselbe leichtfertige, vergnügungssüchtige Jüngling, wel-
cher er noch in der Schule gewesen war. Auch konnte er
seiner neuen Beschäftigung nicht mehr Geschmack abge-
winnen, als ehemals dem „langweiligen Studium der Rechte".
Er gab sich zwar auch hier die redlichste Mühe, seine
Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, aber es ist ihm hier
ebensowenig wie in der Schule geglückt, über die graue
Mittelmässigkeit hinauszukommen und bessere als gewöhn-
liche Resultate zu erzielen.
— 52
Wie wenig ihn seine
Thätigkeit als Beamter
interessierte, erhellt
schon daraus, dass er,
nachdem er kaum sei-
nen Beruf gewechselt
hatte, nicht mehr im-
stande war anzugeben,
was er im Ministerium
eigentlich zu arbeiten
geh abt h atte. Von seinen
Kollegen hatte er nur
Einen im Gedächtniss
behalten, weil „aus des-
sen Augen etwas Be-
sonderes hervorleuch-
tete". Nach 25 Jahren
traf Peter Iljitsch diesen
„Kollegen" wieder und
zwar in der Person des
so berühmt geworde-
nen Landschaftsmalers
Wolkoff. Nur noch eine
„sagenhafte"Erzählung
— und die Chronik des
Dienstes Peter Iljitsch's im Ministerium ist erschöpft. Eines
Tages musste er ein vom Departementsdirektor unterzeichne-
tes Dokument irgendwo hintragen, Hess sich unterwegs aber
mit Jemandem in ein Gespräch ein und merkte in seiner
Zerstreutheit garnicht, dass er — wie es zum Unglück seine
Gewohnheit war — von dem betreffenden Schriftstück nach
und nach immer ein Stück abriss und diese vStücke eines
nach dem andern zerkaute (so machte er es gewöhnlich mit
Theaterzetteln, Konzertprogrammen u. s. w.). Es blieb ihm
da freilich Nichts Anderes übrig, als das Dokument noch-
einmal zu schreiben und, so unangenehm es war, dem
Direktor wieder zur Unterschrift zu unterbreiten.
Später beklagte sich Peter Iljitsch oft darüber, dass man
ihn als Beamten stets unverdienterweise zurückgesetzt hatte.
Es will mir aber scheinen, dass diese Klagen ungerecht-
fertigt seien. Allerdings war er klüger, befähigter und fleis-
sigcr, als Mancher seiner Kollegen, seine Vorgesetzten
merkten aber sehr wohl, dass er nicht das geringste Inte-
resse für seinen Beruf hatte und dass seine Strebsamkeit
Peter Iljitsch Tschaikowsky im Jahre 1859.
— 53 —
nur eine scheinbare war; zeigte es sich doch in tausend
kleinen Dingen und Ereignissen nach Art des „zerkau-
ten Dokumentes", wie verächthch-gleichgiltig er in Wirk-
Hchkeit seine Arbeit that. Daher kam es jedenfalls auch,
dass er bei Gelegenheit von Avencements oder Verleihung
von Auszeichnungen so manches Mal „umgangen" wor-
den war.
Seine dienstfreie Zeit widmete Peter Iljitsch ganz Ver-
gnügungen und Belustigungen aller Art. Es ist unmöglich
all' die kleinen und grossen Amüsements aufzuzählen, de-
nen er nachging. Sein liebenswürdiges Wesen warb ihm
in allen Gesellschaftsklassen immer neue Freunde, und er
hatte reichlich Gelegenheit, sein Leben voll und ganz zu
geniessen. In eleganten Salons, in Theatern, in Restaurants,
in Spazierfahrten, Spaziergängen — überall suchte und fand
er die köstlichen Blumen der Freude. Das Einzige, was
ihn manches Mal unglücklich machen konnte war Mangel
an Geld, oder unerwiderte Liebe. Aber, obgleich er nicht
viel Erfolg in Herzensangelegenheiten hatte, und auch seine
Einnahmen nicht allzu üppig waren (er bezog ein Gehalt
von nur 50 Rubeln monatlich), so fühlte er sich im Gros-
sen und Ganzen doch sehr glücklich und hatte an der
geringsten Kleinigkeit seine Freude. Namentlich entzückte
ihn stets die schöne freie Gottesnatur. Eine Fusswande-
rung, die er in Gesellschaft einiger Freunde im Jahre 1859
nach dem Sergius-Kloster unternommen hatte, blieb für
immer in seiner Erinnerung haften, ebenso eine 1860 ge-
machte Reise nach dem Imatra-Wasserfall. Ein anderer
Mensch hätte von einer Reise um die Welt nicht so viele
Eindrücke, so viele begeisterte Erzählungen heimgebracht.
Nach zwanzig Jahren noch konnte man auf dem Schreib-
tisch Peter Iljitsch's verschiedene Steine sehen, die er sich
damals als Reiserinnerungen mitgebracht hatte.
Von den winterlichen Belustigungen hatte er das Theater
am liebsten, besonders das französische Schauspiel, das
Ballet und die italienische Oper.
hn Ballet entzückte ihn hauptsächlich das Phantastische,
das Märchenhafte; solche Pallete, in welchen keine über-
natürlichen Dinge vorkamen, hatte er nicht gern. Nach und
nach lernte er aber auch die Technik der Tanzkunst
schätzen. Von den Tänzerinnen gefiel ihm am besten die
Ferraris.
Die Vorstellungen der Adelaide Ristori machten auf
Peter Iljitsch stets einen sehr grossen Eindruck; mit der
— 54 —
Zeit lernte er sogar, ihr Spiel recht gut zu imitieren. Seine
grösste Begeisterung war aber die Sängerin Lagroua. Sie
war nicht schön, gab aber die „Norma" mit so ausseror-
dentlich tragischem Pathos, mit solch einer Plastik, dass
sie sich mit den berühmtesten dramatischen Schauspiele-
rinnen wohl messen konnte.
Peter Iljitsch besass auch selbst etwas schauspieleri-
sches Talent. Dadurch, dass er im Scherz oft die Lagroua
und die Ristori nachahmte, eignete er sich nach und nach
eine recht grosse Virtuosität in graziösen und schönen
Bewegungen an. Er konnte sehr gut in französischer Ma-
nier deklamieren und verstand vorzüglich, die Monologe
von Racine zu lesen. Ganz besonders gut machte er aber
komische Rollen und musste infolge dessen oft in Liebha-
ber-Aufführungen mitwirken. Er verstand sich namentlich
darauf, durch Einflechten einzelner frei erfundener komi-
scher Bemerkungen oder Handlungen die Zuschauer zum
Lachen zu reizen und war überzeugt, dass das Talent eines
Komikers in solchen kurzen Improvisationen am besten
offenbart werden konnte. Eines Tages spielte er wieder in
einer Dilettantenvorstellung und erging sich dabei in den
allertollsten und lächerlichsten Einfällen, so dass das Pu-
blikum ausser sich vor Jubel war. Da — in dem Moment,
als er sich gerade anschickte, seinen Haupttrumpf auszu-
spielen, welcher beweisen sollte, dass es noch nie einen
solchen Komiker gegeben hatte, raunte ihm sein Partner —
vielleicht aus Neid, vielleicht aus gerechter Entrüstung
über die „Corruption" des Stückes, unwillig zu: „Hören
Sie doch auf mit Ihren faulen Witzen. Das ist schon kein
Spiel mehr! Sie machen sich ja zum Harlekin! Es ist eine
Schmach, Sie anzusehen!" Wie Peter Iljitsch später selbst
erzählte, war sein Ehrgefühl nie so sehr beleidigt gewe-
sen, wie damals durch jene Bemerkung. Er verlor seine
ganze Stimmung und führte die Rolle mechanisch und lang-
weihg zu Ende. Seit dem hat er überhaupt die Lust ver-
loren, auf den Brettern zu erscheinen. Immer wieder muss-
te er an jene Worte denken und die dunkle Empfindung
dessen, dass sein Partner damals nicht Unrecht gehabt
haben könnte, lähmte seine Inspiration so gründlich, dass
er endlich das Schauspielern ganz aufgesteckt hat.
Uebrigens geschah das zu einer Zeit als Peter Iljitsch
überhaupt etwas übersättigt war vom genussreichen lusti-
gen Leben, und als die ersten Symptome jener grossen
Umwälzung sich bemerkbar zu machen begannen, welche
für seinen Lebenswandel entscheidend werden sollte.
— 55 —
Im November 1860 verheiratete sich Alexandra Ilji-
nischna mit einem Herrn Leo Wassilje witsch Dawidow
und verliess mit diesem Petersburg, um im Gouvernement
Kiew ihren Wohnsitz aufzuschlagen.
Auch verschiedene andere Familienglieder verliessen
Anfang 1861 das Vaterhaus und zerstreuten sich in alle
Weltgegenden, sodass das lustige Leben ein Ende nahm
und über die Familie Tschaikowsky — Schobert ein leichter
Schatten von Melancholie sich ausbreitete. Vielleicht war
die Abwesenheit der stets glückstrahlenden Alexandra II-
jinischna zum grössten Teil daran schuld. Auch Peter
Iljitsch fühlte sich daheim nicht mehr so recht behaglich.
In seine Beziehungen zum Vater und zur Tante schlich
sich etwas Egoistisches, etwas Trockenes und Verächtli-
ches ein. Freilich war diese Stimmung in ihm — wie wir
später sehen werden — nur vorübergehend, doch kann ich
nicht umhin, sie an dieser Stelle zu konstatieren. Nicht
dass er seine Angehörigen nicht mehr lieb hatte — nein,
sondern er langweilte sich einfach in ihrer Gesellschaft.
Still zu Hause zu sitzen war für ihn einfach unerträglich.
Unter solchen Umständen begann das Jahr 1861, wel-
ches eine neue Aera im Leben Peter Iljitsch's bedeutete.
VI.
In der Juristenschule hatte die musikalische Kunst zur
Zeit Peter Iljitsch's zwei Vertreter: einen Klavierlehrer in
der Person des Herrn K. I. Karel, an dessen Stelle spä-
ter Franz Bekker trat, und einen Gesanglehrer in der Per-
son des Herrn Gabriel Lomakin,
Ob Peter Iljitsch jemals bei Herrn Karel Unterricht
gehabt hatte- -ist unbekannt. Bei Herrn Bekker, jedoch, hatte
er eine Zeit lang Stunden, welche aber vollständig seinem
Gedächtniss entschwunden sind.
Auch Lomakin gab ihm Gesangsunterricht, welcher
aber eigentlich nur auf Chorproben beschränkt war, Lo-
makin war ein tüchtiger Mann in seinem Fach und hatte
-56-
den Schulchorgesang bis zur grösstmöglichen Vollendung
gebracht; aus Mangel an Zeit konnte er jedoch nicht jeden
Einzelnen im Sologesang ausbilden, sodass er auch auf
Peter Iljitsch keinen direkten Einfluss ausüben konnte, ob-
gleich er dessen schöne Sopranstimme und grosse Veran-
lagung für die Musik sehr wohl erkannte. Das Repertoir
des Schulchors bestand hauptsächlich in Kirchengesängen,
welche für den Schulgottesdienst und für besonders fest-
liche Gelegenheiten einstudiert werden mussten. Einmal
musste Peter Iljitsch bei einer solchen Gelegenheit in einem
Soloterzett die Sopranstimme singen und war natürlich
nicht wenig stolz darauf. Er selbst erzählt diese Begeben-
heit in einem seiner, aus dem Jahre 1879 datierten Briefe
folgendermaassen:
„Ganz im Anfang des neuen Semesters begannen wir
schon mit den Proben für den St.-Katharinentag. Es wa-
ren zu meiner Zeit gute Sänger vorhanden; auch ich konnte
mich einer prächtigen Sopranstimme rühmen, sodass ich
ausserwählt wurde im Soloterzett mitzusingen. Die Litur-
gie machte stets auf mich einen sehr tiefen Eindruck; wie
ich damals stolz war, in diesem erhabenen Gottesdienst
mitwirken zu dürfen! Und wie glücklich war ich, als der
Metropolit sich nachher bei mir bedankte und mich segnete!
Später durfte ich sogar an demselben Tisch mit dem Me-
tropoliten und dem Prinzen von Oldenburg sitzen. Als ich
dann nach Hause kam, erzählte ich glückstrahlend meine
gesangliche Heldenthat und rühmte mich des väterlichen
Wohlwollens des hoch würdigen Metropoliten...."
Später, als die Stimme Peter Iljitsch's zu wechseln
begann, musste er im Chor die Partie des 2. Sopran und
noch später die des Alt singen. Zuletzt (in der Prima)
hatte Lomakin ihn zum Dirigenten machen wollen, Peter
Iljitsch erwies sich aber für einen derartigen Posten durch-
aus untauglich, denn er verstand es garnicht, seinen
Kameraden — welche nur zu ungern die Proben besuchten —
in dem nötigen Maasse zu imponieren und sich Respekt
zu verschaffen.
Ausser diesen Musiklehrern hatte Peter Iljitsch damals
noch Einen, der ihm zu Hause Klavierunterricht erteilte.
Dieser war Rudolf Kündinger.
Kündinger war seinerzeit als achtzehnjähriger Jüngling
nach Russland gekommen und begeisterte das Petersbur-
ger Publikum durch seine glänzende Virtuosität derart,
dass er schon nach seinem ersten Konzert, in welchem er
— 57 —
unter Anderem das Klavierkonzert von Litolff spielte, viele
Schüler bekam und dauernd in Petersburg bleiben konnte.
Im Jahre 1855 engagierte ihn Ilja Petrowitsch als Klavier-
lehrer für seinen Sohn Peter. „Wenn ich damals nur geahnt
hcätte", — erzählt Kündinger — „was aus meinem Schüler
später werden würde, so hätte ich über den Fortgang
meines Unterrichts ein Tagebuch geführt; ich habe es mir
leider aber garnicht vorstellen können, daher bin ich Heute
nicht mehr imstande, über die Stunden, die ich ihm gege-
ben, genauen Bericht zu erstatten. Er war ohne Zweifel
sehr talentiert, besass ein feines Gehör und gutes Gedächt-
niss, daraus konnte man aber noch nicht einmal folgern,
dass aus ihm einst ein grosser Pianist, geschweige denn
ein berühmter Komponist werden könnte. Ein Phänomen
war er deshalb noch lange nicht; vor ihm und nach ihm
hatte ich eine ganze Menge junger Leute unterrichtet, die
nicht weniger begabt waren, als er. Das Einzige, womit
er meine Aufmerksamkeit in etwas höherem Maasse fes-
selte, waren seine hnprovisationen. Hier konnte man aller-
dings Etwas nicht ganz gewöhnliches heraushören. Auch
setzte er mich manches Mal durch sein ausserordentliches
Feingefühl für die Harmonie in Erstaunen. Es kam vor,
dass ich ihm meine Kompositionen zeigte und er mir in
Betreff der Harmonie diesen oder jenen Rat gab, welcher
durchaus am Platze war, obgleich Peter Iljitsch damals
wohl kaum eine Ahnung von der Theorie der Musik hatte.
Als mich Ilja Petrowitsch einst fragte, ob ich es für gerecht-
fertigt und lohnend hielte, wenn sein Sohn sich ganz dem
Musikstudium widmete, musste ich dennoch aus voller
Ueberzeugung Nein sagen.
Freilich musste ich dabei auch an die in damaliger Zeit
gar zu traurige Lage eines Musikers in Russland denken.
Doch hatte ich ausserdem keinen rechten Glauben an das
Talent Peter Iljitsch's.
Ich kann nicht behaupten, dass er im Laufe der drei
Jahre meines Unterrichts grosse Fortschritte gemacht hätte;
vielleicht fehlte ihm die nötige Zeit zum Ueben. Ich gab
ihm nur eine Stunde wöchentlich, und zwar immer am
Sonntag. Nach der Stunde blieb ich gewöhnlich zum Früh-
stück da und ging darauf mit Peter Iljitsch zusammen in
das Universitäts-Konzert.
Im Jahre 1858 musste ich den Unterricht einstellen, denn
Herr Tschaikowsky konnte infolge der über ihn hereinge-
brochenen Geldkrise das Honorar nicht mehr bezahlen".
-58-
Wenn solche Fachmänner wie Lomakin und Kündin-
ger in dem Talent Peter Iljitsch's nichts Phänomenales
entdecken konnten, so ist es kein Wunder, wenn die An-
dern, die Nicht-Fachmänner es erst recht nicht thaten.
Seine Schulkameraden schätzten zwar sein musikalisches
Talent sehr hoch, waren aber weit davon entfernt, eine
zukünftige Berühmtheit in ihm zu erblicken. Apuchtin galt
jedenfalls als viel genialer und ihn nannte man den auf-
leuchtenden „Stern". Tschaikowsky war hingegen nur der
talentvolle hiiprovisator, der verschiedene musikalische
Scherze und Kunstücke zu machen wusste: er phantasierte
z. B. sehr unterhaltend über angegebene Themata aus mo-
dernen Opern, spielte auf einer mit einem Handtuch be-
deckten Tastatur, konnte die Tonarten nach dem Gehör
erraten, und Anderes mehr.
Seine Geschwister und Cousinen waren zwar eher ge-
neigt, ihn zu bewundern, und hielten schon das hiiprovi-
sieren von Tänzen für eine geniale Leistung, dafür urteil-
ten aber seine andern Verwandten, mit Ausnahme des
Vaters, viel strenger. Sie verhielten sich seiner Kunst ge-
genüber nicht nur gleichgiltig, sondern sogar verächtlich
und nannten sie „unnütze Spielerei".
Der Einzige, der die Sache einigermaassen ernst nahm,
war Ilja Petro witsch. Er hatte zuerst für einen guten Leh-
rer gesorgt und dachte immer wieder darüber nach, ob er
zur Förderung seines Sohnes auch wirklich gewissenhaft
Alles gethan habe. Er war auch der Erste, der 1861 Pe-
ter Iljitsch anregte, doch ernstlich an das Musikstudium
zu gehen. Den Vater kann also kein Vorwurf treffen, dass
er die Fähigkeiten seines Sohnes vernachlässigt habe, denn
er hat doch wirklich Alles gethan, was ein Mann wie er,
der absolut keine Kenntnisse über Musik und Musiker be-
sass, thun konnte.
Peter Iljitsch hatte, als er in der Schule war, nur zwei
Abende und einen Morgen frei, an denen er sich mit Mu-
sik beschäftigen konnte. Er hatte somit garkeine Gele-
genheit dazu, sich gründlich in diesem Fach auszubilden.
Wann und wo sollte er beispielsweise die symphonischen
Meisterwerke der grossen Deutschen kennen lernen? Al-
lerdings wurden sie hin und wieder in den sogenannten
Universitätskonzerten aufgeführt, welche jeden Sonntag
Nachmittag stattfanden. Das Orchester dieser Konzerte
bestand aber zum grössten Teil aus Dilettanten, und aus-
serdem wurden die Symphonieen ohne Proben — prima vista
— 59 —
heruntergespielt, sodc4SS die Zuhörer wohl kaum eine rich-
tige Vorstellung von den Werken erhalten konnten. Die
Direktionen der Kaiserlichen Theater und der Philharmo-
nischen Gesellschaft veranstalteten damals noch keine S^an-
phonie-Konzerte, und private Unternehmungen gab es auch
nur höchst höchst selten. Es war wirklich nur ein glück-
licher Zufall, wenn das Petersburger Publikum eine Sym-
phonie von Haydn, Mozart oder Beethoven in guter Aus-
führung zu hören bekam.
Auf diese Weise blieb dem zukünftigen Komponisten
Nichts Anderes übrig, als die westeuropäische Instrumen-
talmusik in Klavierauszügen kennen zu lernen. Dieses Ken-
nenlernen war aber auch sehr lückenhaft, denn, erstens,
waren die Noten damals sehr teuer (die wohlfeilen Aus-
gaben von Peters, Litolff u. A. existierten noch nicht) so-
dass die Anschaffung sämmtlicher Werke eines Autors,
ja — sogar nur eines completen Sonatenheftes, für einen
nicht sehr reichen Mann wie Tschaikowsk}' fast unerschwin-
glich war, und zw^eitens, fand Peter Iljitsch auch in den
Notenbiblioteken seiner musizierenden Freunde und Be-
kannten nicht das, war ihm eigentlich notwendig war. Es
ist daher nur sehr erklärlich, dass Peter Iljitsch's musika-
lischen Kenntnisse in jener Zeit ausserordenthch mangelhafte
waren. Es lässt sich nicht feststellen, wieviele und welche
Werke Beethovens, Mozarts, Mendelssohns und Schuberts
ihm vor dem Jahre 1861 bekannt gewesen waren, gewiss
ist nur, dass er noch nicht einmal soviel wusste, wieviel
heutigen Tages ein jeder halbwegs gute Dilettant weiss.
Von Schumann hatte er, z. В., gar keine Ahnung, und
wusste nicht, wieviele und welche Symphonieen Beethoven
komponiert hatte. Peter Iljitsch besuchte oft und gern die
italienische Oper. Das war aber auch die einzige Stätte,
wo er Gelegenheit hatte, ein gutes Orchester, gute Chöre
und ausgezeichnete Solisten zu hören. Die russische Oper
befand sich damals in sehr trauriger Verfassung, er ging
höchstens nur dann hin, wenn dort seine Lieblingsoper „Das
Leben für den Zaren" gegeben wurde. Alle andern Opern
hörte er sich bei den Italienern an. Diese bestärkten nicht
nur seine Schwärmerei für „Don Juan" und „Freischütz",
sondern machten ihn auch mit Meyerbeer, Rossini, Doni-
zetti, Bellini und Verdi bekannt, für welche er sich eben-
falls bis zum Enthusiasmus begeisterte.
In den fünfziger Jahren lebte in Petersburg der viel-
gerühmte Gesanglehrer Piccioli. Er war Neapolitaner von
— 6o —
Geburt, war vor etwa zehn Jahren nach Petersburg ge-
kommen und hatte sich daselbst niedergehissen . Seine
Gattin war eine Freundin der Frau Schobert, und so kam
es, dass auch Tschaikowsky's mit ihm bekannt wurden.
Obgleich er bereits gegen fünfzig Jahre alt war, befreun-
dete er sich sehr intim mit dem kaum siebzehnjährigen
Peter Iljitsch. Uebrigens, was Piccioh's Alter anbelangt,
so wusste Niemand etwas Bestimmtes darüber, denn er
hat es stets verheimlicht. So viel war aber gewiss, dass
er sein Haar färbte und dass Gesicht schminkte. Böse
Zungen behaupteten, dass er schon über siebzig sei und
am Hinterkopf einen kleinen Apparat trage, der seine Ge-
sichtsfalten glattziehe; ich erinnere mich lebhaft daran, wie
wir — ich und mein Bruder Anatol — als Kinder uns oft Mühe
gaben, diesen Apparat zu entdecken und endlich annah-
men, dass er irgendwo unter dem Kragen verborgen liege.
Wie dem auch sei, den Jahren nach konnte Piccioli Peter
Iljitsch's Grossvater sein, und doch entwickelte sich zwi-
schen den Beiden ein echt freundchaftliches Verhältniss,
derjn in der Brust des Itaheners flammte noch das jugend-
liche Feuer der Begeisterung. Er betrachtete das Leben
als eine Freude, war stets in eine seiner Schülerinnen
verliebt, und hegte einen tiefen Abscheu vor allem Dem,
was alt, leidend oder schon tot war. In Betreff der Musik
aeusserte Piccioli solch leidenschaftlich-fanatische Ueber-
zeugungen und Ansichten, verstand es, dieselben so über-
redend und glänzend zu verteidigen, dass er einen Jeden,
selbst einen w^eniger nachgiebigen Charakter wie Peter
Iliitsch, zu seinem Glauben zu bekehren vermocht hätte.
Ausser Rossini, BeUini, Donizetti und Verdi verneinte er
Alles. Er verspottete und hasste in vollkommen gleicher
Weise die Symphonieen von Beethoven, die modernen
Gassenhauer, die Messen von Bach, das „Leben für den
Zaren" u. A. Ausser den Schöpfungen der grossen italie-
nischen Melodiker gab es für ihn keine Musik. Trotz der
Beredsamkeit des Italieners konnte Peter Iljitsch im Grunde
seiner Seele dessen Ansichten nicht beitreten, erstens, weil
er überhaupt kein Freund von Parteilichkeit war, und
zweitens, weil sein persönlicher musikalischer Geschmack
bereits ziemlich festen Fuss in ihm gefasst hatte und nicht
mehr so leicht ins Wanken gebracht werden konnte. Er
trug einen eigenen kleinen Olymp im Herzen, dem er mit
voller Seele ergeben war. Nichtsdestoweniger blieb die
Freundschaft zwischen ihm und Piccioli bestehen, und Pe-
— ei-
tel- Iljitsch verdankt seine gründlichen Kenntnisse der ita-
lienischen Opernliteratur nicht zum wenigsten dieser That-
sache. Vielleicht ist es dem Einflüsse Piccioli's zuzuschrei-
ben, dass Peter Iljitsch in jener Zeit der Opernmusik den
Vorzug vor der symphonischen gab und sich für die Letztere
nicht nur wenig interessierte, sonder sie sogar etwas ver-
ächtlich ansah.
Seit dem Anfang der fünfziger Jahre hatte sich das
schöpferische Talent Peter Iljitsch's noch nie anders ge-
äussert, als in hnprovisationen und Phantasieen am Kla-
vier. Obgleich er seither schon manchen Walzer, manche
Polka und „Reverie de salon" komponiert hatte, welche,
jedenfalls nicht schlechter gewesen sein mögen, als ähnliche
Musikstücke etlicher seiner „auch" komponierenden Freun-
de, so konnte er sich doch nie entschliessen, seine Gedan-
ken zu Papier zu bringen — vielleicht aus Bescheidenheit,
vielleicht aus Stolz. Nur ein einziges Mal hatte er eine Ro-
manze niedergeschrieben, deren Text „Mein Genius, mein En-
gel, mein Freund" — von dem Dichter Fet herrührt, und die
eine echte, völlig talentlose Dilettantenarbeit ist. Doch war
im Laufe der Zeit sein musikalisches Be\Vusstsein , die
eigene Erkenntniss seines eigentlichen Berufes unstreitig
gewachsen. Er erzählte später oft, dass, als er noch in der
Schule war, ihm der Gedanke an die Komponistenlaufbahn
keine Ruhe liess, da er aber fühlte, dass von seiner Um-
gebung Niemand an sein Talent glaubte, so sprach er nur
sehr selten darüber. Turtschaninoff ist der Einzige von
seinen früheren Schulfreunden, der sich erinnern kann, dass
Peter Iljitsch ihm einst anvertraut hatte, dass er eine Oper
zu schreiben beabsichtige, und wie er, Turtschaninoff, ihm
versprechen musste, der ersten Aufführung dieser Oper bei-
zuwohnen. (Dieses Versprechen hat Turtschaninoff aber
erst bei der dritten Oper von Tschaikowsky, „Wakula",
einlösen können. Er suchte den Autor hinter den Kulis-
sen auf, erinnerte ihn an das Gespräch in der Schule, und
sie umarmten sich Beide herzlich). Dann hat mir Peter
Iljitsch selbst einmal erzählt, wie er eines Tages den Mut
gehabt, einem Schulkameraden (seinen Namen habe ich
leider vergessen) gegenüber zu äussern, dass aus ihm noch
ein grosser Komponist werden würde, wie er aber gleich
darauf selber ob seiner Anmaassung erschrak und wie gross
dann sein Erstaunen gewesen sei, als der betreffende Schul-
kamerad ihn nicht nur nicht ausgelacht, sondern in sei-
nem Glauben noch bestärkt, und ihn damit fast bis zu
— б2 —
Thränen gerührt habe. Ein anderer, ähnlicher Vorfall, wel-
cher beweist, wie gross das Selbstvertrauen Peter Iljitsch's
war, ereignete sich später, als die Frage, ob er sich ganz
der Musik widmen sollte, im Prinzip bereits entschieden
war. Ende 1862, bald nachdem er als Schüler in das Kon-
servatorium eingetreten, fuhr er eines Tages mit seinem
Bruder Nikolai zusammen irgendwo hin. Nikolai gehörte
zu Denjenigen, welche seinen Entschluss, zum Musikstu-
dium überzugehen, nicht billigten, und versuchte, ihn da-
von abzubringen, indem er ihm unter Anderem sagte, dass
er das Talent eines Glinka doch nicht besitze und dass
das armselige Leben eines mittelmässigen Musikers doch
durchaus nicht beneidenswert sei. Peter Iljitsch antwortete
Nichts darauf. Als sie aber an ihrem Ziel angelangt und
aus dem Schlitten gestiegen waren, sagte Peter Iljitsch:
„Ein Glinka werde ich vielleicht nicht, aber ich versichere
Dich: Du wirst noch stolz sein, mich zum Bruder zu ha-
ben". Diese Worte, den Klang seiner Stimme und den
Blick seiner Augen hat Nikolai Iljitsch bis Heute noch
nicht vergessen.
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Dritter Teil.
I.
Die langsamen und unerspriesslichen Fortschritte, die
Peter Iljitsch's musikalische Entwickelung in den fünfziger
Jahren gemacht hatte, waren mit seiner leichtfertigen Le-
bensweise Hand in Hand gegangen. Seine im Grunde lie-
bereiche und für alles Schöne empfängliche Seele war
zusammen mit seinem später so fruchtbaren Talent gleich-
sam in einen tiefen Schlaf gesunken; aber im Moment des
Erwachens, erblühten gleichzeitig mit seiner musikalischen
Begabung alle seine andern guten Triebe. Mit dem ober-
flächlichen Dilettanten verschwand auch der leichtfertige Le-
bemann; mit dem strebsamen, eifrigen Forscher erstand
auch der zärtliche und dankerfüllte Sohn, der liebende und
sorgende Bruder.
Die Umwandlung hatte sich ganz unbemerkt vollzogen.
Es ist schwer, den Zeitpunkt ihres Anfanges anzugeben,
denn es sind ihr keinerlei bedeutsame Ereignisse vorauf-
gegangen. Unzweifelhaft zu erkennen ist sie im Jahre 1861,
denn da beginnt Peter lljitsch von Neuem, an eine musi-
kalische Laufbahn zu denken, und nimmt auch mit seiner
Familie wieder engere Fühlung, um in ihr die Befriedi-
gung seiner höheren geistigen Bedürfnisse zu suchen, wel-
che er in seinem früheren Lebenswandel nicht gefunden
hatte. Er war müde geworden vom üppigen Leben, und
der Wunsch, diesem Leben ein Ende zu machen, begann,
sich immer stärker in ihm zu regen; er fürchtete auch, in
dem Sumpf eines kleinlichen, unnützen, lasterhaften Da-
seins ganz zu versinken. Inmitten der fieberhaften Jagd
nach den Freuden des irdischen Lebens, überkamen Pe-
-б4-
ter Iljitsch — nach seinen eigenen Worten — immer öfter Mo-
mente der qualvollsten Verzweiflung. Ob die Uebersätti-
gung plötzlich in ihm erwacht war vielleicht unter dem
Eindruck irgend eines uns unbekannt gebliebenen Ereig-
nisses, oder ob sie sich nach und nach in seine Seele
geschlichen hat, das weiss wohl Keiner, denn Peter Iljitsch
hat sich durch jene schweren Stunden ganz allein durch-
gerungen. Seine Umgebung hat erst dann etwas davon
gemerkt, als die Umwandlung bereits geschehen war, und
ЛЮГ seinem geistigen Auge das erste Morgenrot eines neuen
Lebens zu leuchten begann.
Nachdem Alexandra Iljinischna sich verheiratet hatte
und fortgereist war, dachte Peter Iljitsch gar nicht daran,
in einen Briefwechsel mit ihr einzugehen. Seine brüder-
liche Liebe drückte er nur dadurch aus, dass er der Schwes-
ter passiv „alles Gute" wäinschte. Im März 1861 jedoch,
als er hörte, dass Alexandra Iljinischna Heimweh habe,
überkam ihn plötzlich ein Gefühl sehnsüchtiger Zärtlichkeit
für seine Schwester, und er schrieb ihr einen liebevollen
Trostbrief. In diesem Brief erzählte er unter Anderem auch
ein Ereigniss, welches an sich zwar unbedeutend, doch als
eigentlicher Anfang seiner musikalischen Laufbahn bezeich-
net werden kann. Sein Vater, Ilja Petro witsch, hatte ihm,
nämlich, selbst, — aus eigener Initiative — den Vorschlag ge-
macht, sich ganz der Musik zu wddmen. —
„Beim Abendessen sprach man von meinem musikali-
schen Talent", — schreibt Peter Iljitsch, — „Vater behauptet,
dass es für mich noch nicht zu spät sei, Künstler zu wer-
den. Wenn es nur wirklich so wäre! Die Sache ist aber
die, dass mein Talent, selbst wenn ich es in der That be-
sitzen sollte, wohl kaum mehr entwickelt werden kann.
Man hat aus mir einen Beamten gemacht, aber nur einen
schlechten; ich versuche, mich nach Möglichkeit zu bes-
sern, und meine Dienstpflichten gewissenhafter zu besor-
gen; und gleichzeitig damit sollte ich den Generalbass
studieren?!.."
Ein anderes Ereigniss, ebenso gewöhnlich, ebenso all-
täglich, wie jenes, gab aeusserlich den ersten Anlass zur
Umgestaltung des intimen Lebens Peter Iljitsch's, des Ver-
kehrs mit seinen Familienangehörigen, und beleuchtet noch
heller die Umwälzung in seinem Seelenleben. Hier muss
ich mich aber für einige Zeit meinen persönlichen Erin-
nerungen zuwenden.
Zur Zeit der Verheiratung Alexandra lljinischna's waren
-б5-
wir Zwillingsbrüder, Anatol und ich, zehn Jahre alt. Ob-
gleich Alexandra Iljinischna, hingerissen und berauscht von
dem lustigen Leben eines hübschen Mädchens und später
einer glücklichen Braut, in den letzten Jahren ihres Aufent-
haltes im elterlichen Hause sich nur wenig um unsere
Erziehung gekümmert hatte, so hingen wir an ihr doch
nicht weniger zärtlich und fühlten uns nach ihrer Abreise
sehr verwaist. Dazu kam noch, dass wir in die Privatschule
eines Herrn A. gebracht wurden, wo es uns infolge der
vernachlässigten Erziehung gar nicht möglich war, mit den
anderen Schülern im Lernen gleichen Schritt zu halten.
Dieser Herr A. war ein Untergebener unseres Vaters und
ein sehr schlauer, unaufrichtiger Mensch, der mit geheu-
cheltem Entzücken unsere Erziehung übernommen hatte,
hinter dem Rücken Ilja Petrowitsch's jedoch seiner Ver-
pflichtung nur sehr mangelhaft nachkam. Aeusserlich wur-
den wir als „Generalssöhne" verwöhnt und verhätschelt:^
er schmeichelte uns in den kleinsten Dingen. Als er sah,
dass wir gegenüber seinen andern Schülern sehr zurück-
geblieben waren, hielt er es doch nicht für nötig oder,
richtiger, nicht für vorteilhaft, für uns einen besonderen
Kursus einzurichten, sondern lies uns mit den Andern zu-
sammen in einer Klasse, wo wir absolut Nichts verstanden
und nicht verstehen konnten. Freilich wurden wir sehr bald
die Zielscheibe des Spottes seitens unserer Lehrer und
Kameraden. Einerseits wurden wir ausgelacht, verhöhnt,
halb für Idioten gehalten, anderseits aber erwies man uns
ganz zwecklose und überflüssige „Ehrungen" und Auf-
merksamkeiten; so wurde uns z. B. während des Unter-
richts Kaffee mit Kuchen serviert. Um drei Uhr kamen
wir gewöhnlich nach Hause und waren dort bis zur Nacht
vollständig sich selbst überlassen. Wir waren, natürlich,
nicht imstande, unsere Aufgaben selbständig zu arbeiten,
fanden aber auch zu Hause Niemanden, der uns mit Rat
und That helfen konnte, denn die Einen hatten selber ge-
nug zu thun, die Andern waren nicht zu Hause oder hatten
auch „keine Zeit", so dass wir die Sache gehen liessen,
wie sie eben ging, und die ganzen Abende im Nichtsthun
verbrachten.
An einem solchen greulich langweiligen Abend war es,
als wir Beide im Saal auf dem Fensterbrett saassen und
unsere Beine hin und her baumeln liessen, kam Peter an
uns vorbei. Seit unserer frühesten Kindheit an fühlten wir
für ihn nicht eigentlich Liebe, sondern eine gewisse Ver-
Tachaikowaky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 5
— 66 —
ehriing, Hochachtung. Ein jedes seiner Worte war uns
heilig. Er, dagegen, schien uns garnicht zu bemerken, als
wenn wir garnicht da wären für ihn.
Schon die Thatsache, dass er zu Hause war, dass wir
ihn ansehen durften, genügte, um unsere Langeweile zu
zerstreuen und uns etw^as freudiger zu stimmen, wie gross
war aber unser Erstaunen und unser Entzücken, als er —
nicht wie gewöhnlich — achtlos an uns vorüberging, son-
dern stehen bheb und fragte: „Ihr langweilt Euch? Wollt
Ihr den Abend mit mir verbringen?" — Bis Heute kann ich
jenen denkwürdigen Abend nicht vergessen, denkwürdigen-
weil auch für uns seitdem ein neues Leben begann.
Der weiseste, der erfahrenste Pedagog, die liebevoll-
ste, zärtlichste Mutter würde uns seitdem Peter nicht er-
setzen können, denn er war für uns ausserdem Kamerad
und Freund. Alles, w^as wir dachten und was wir fühlten,
.durften wir ihm erzählen, ohne zu fürchten, dass er kein
Interesse dafür habe. Wir scherzten, wir tollten mit ihm,
respektierten aber auch ein jedes seiner Worte. Sein Ein-
fluss auf uns war grenzenlos. Er war für uns Bruder, Mut-
ter, Freund, Lehrer und Erzieher zugleich. Wir unserer-
seits wurden die grösste Sorge und der Zweck seines Le-
bens. Wir drei bildeten damals sozusagen eine Familie in
der Familie. Ein Jahr darauf schrieb Peter an seine Schwe-
ster: „Meine Anhänghchkeit zu diesen beiden Leutchen
wird von Tag zu Tag grösser. Ich bin sehr stolz auf dieses
Gefühl, vielleicht dass beste meines Herzens. Wenn ich
traurig bin, so brauche ich nur an die Beiden zu denken,
und mein Leben erhält Wert. Ich suche, ihnen nach Mög-
lichkeit die Liebe und die Sorge einer Mutter zu ersetzen",...
S^
ЩР
II.
Trotz jenes bedeutsamen Gespräches beim Abendessen,
trotz der seelischen Wiedergeburt Peter Iljitsch's und der
Veränderung seiner Beziehungen zu den Angehörigen, wel-
che das Fundament bildete für den bleibenden intimen,
hcrzlichfreundscliaftlichen Verkehr mit seinen Zwillingsbrü-
-б7-
dem und mit der Familie Dawidow, blieb vorläufig sein
Lebenswandel aeusserlich noch beim Alten.
Er behielt seine Stellung im Departement und setzte
fort, Salons, Theater und Bälle zu besuchen. Von allen
Genüssen, die er erstrebte, von allen Wünschen, die er
hegte, bliebt nur einer unausgekostet, unerfüllt, und dieser
war — eine Reise ins Ausland.
Aber auch dieser Wunsch Peter Iljitsch's sollte nun
verwirklicht werden.
Ein higenieur, ein gewisser W. W., welcher mit Ilja
Petrowitsch früher in Geschäftsverbindung gestanden und
sich nach und nach auch mit der Familie Tschaikowsky,
besonders mit Peter Iljitsch befreundet hatte, ein ange-
nehmer und geistreicher Gesellschafter, hatte damals vor,
eine Geschäftsreise ins Ausland zu machen. Da er die
fremden Sprachen jedoch nicht genügend beherrschte, so
war für ihn ein sprachenkundiger Begleiter unentbehrlich,
und er machte daher Peter Iljitsch den Vorschlag, als
Dolmetscher mit ihm zu reisen. Hocherfreut nahm Peter
Iljitsch diesen Vorschlag, selbstverständlich, an, und Ilja
Petrowitsch, für den es stets eine Freude war, wenn er
Jemandem eine Freude machen konnte, war nicht nur da-
mit einverstanden, sondern versorgte seinen Sohn sogar
mit einer kleinen Summe Geldes, damit er nicht in allzu-
grosse Abhängigkeit von seinem Reisegefährten gerate.
Peter Iljitsch war überglücklich und schrieb am 9. Juni
1861 an seine Schwester: „Wie Du Avahrscheinlich schon
wissen wirst, reise ich ins Ausland; Du kannst Dir wohl
mein Entzücken vorstellen, zumal da mir diese Reise fast
Garnichts kosten wird; ich werde Etwas in der Art eines
Sekretärs, Uebersetzers oder Dragomans W. W's sein.
Selbstverständlich wäre es ohne diese Verpflichtung bes-
ser, aber was thun? Diese Reise scheint mir vorläufig
noch ein verführerischer, unerfüllbarer Traum zu sein. Ich
werde nicht eher daran glauben, als bis ich an Bord des
Schiffes bin. Ich — und in Paris! In der Schweiz! — Das ist
sogar lächerhch!.." Anfang Juli reisten W. W. und Peter
Iljitsch aus Petersburg ab, jedoch nicht per Schiff, sondern
per Eisenbahn bis Dünaburg, und von da per Diligence
bis zur Grenze. „Das Passieren der Grenze" — schreibt
Peter Iljitsch dem Vater, — „war ein hochpoetischer und
feierlicher Moment. Alle haben sich bekreuzigt, und der
letzte russische Wachtposten rief uns ein „Mit Gott" zu
und winkte bedeutungsvoll mit der Hand."
— 68 —
Die ausführliche Beschreibung dieser Reise würde zu
weit führen, ich will daher nur einen kurzen Auszug aus
den vier grossen Briefen machen, welche Peter Iljitsch
Wtährend der Reise an seinen Vater geschrieben hatte.
Da Peter Iljitsch nur zum Vergnügen, mit der Absicht sich
zu amüsieren diese Reise unternommen hatte, so beurteilte
und schätzte er eine jede Stadt dementsprechend, d. h.
nach der Zahl und den Eigenschaften der Belustigungen,
welche er in ihr fand.
Die erste Stadt, in welcher die beiden Reisenden vier
Tage blieben war Berlin. Damals hielt es ein jeder Russe
für seine Pflicht, diese Stadt ganz fürchterlich auszu-
schimpfen. Dieser Pflicht, oder besser gesagt Gewohn-
heit, hat auch Peter Iljitsch seinen Tribut gezollt. Trotz-
dem spricht er sich nicht klar über den Eindruck aus, den
Berlin auf ihn hinterlassen hat. Einesteils behauptet er,
dass Alles in Berlin schlecht und hässHch sei, anderen-
teils giebt er zu, dass er viel Freude an der Reise habe,
dass „sogar dieses elende Berlin" ihn zu interessieren im-
stande war.
Nachdem er zum Schluss bei Kroll gewesen, einem
Ballsaal seinen Besuch gemacht und „Orpheus in der Un-
terwelt" von Offenbach gesehen hatte, schreibt er in jugend-
licher Naivetät: „Jetzt haben wir Berlin gründlich kennen
gelernt und haben genug davon"!
Nach Berlin kam Hamburg, wo die Beiden eine ganze
Woche verbrachten. Hamburg ist bedeutend besser als Ber-
lin",— schreibt Peter Iljitsch, — „denn erstens habe, ich vom
Balkon aus eine „köstliche x\ussicht, und zweitens, giebt es
da viel mehr i\müsements", — welche zwar nicht immer
sehr edler Natur, manche sogar von recht niedriger Sorte
waren, aber — was fragt ein einundzwanzigjähriger junger
Mann viel danach? Hamburg verliess Peter Iljitsch nur
„ungern". Brüssel und Antwerpen gefielen ihm ganz und
garnicht, vielleicht weil er dort fast die ganze Zeit allein
war, denn sein Gefährte hatte viele Fabriken zu besichti-
gen und blieb tagelang fort, Peter Iljitsch sich selbst über-
lassend. Freilich langweilte sich Dieser, denn er war an
die Einsamkeit durchaus nicht gewöhnt, und es überkam
ihn das Heimweh. In Ostende verlebte Peter Iljitsch drei
Tage. „Hier ist es sehr schön. Ich liebe das Meer, beson-
ders wenn es schäumt und braust, und in diesen Tagen
wütet es geradezu"!
Dann ging es weiter nach London. „Der Autenthalt
-б9-
hier würde mir sehr angenehm sein, wenn nicht die Un-
gewissheit über Euer Wohlbefinden mich quälte," schrieb
er seinem Vater, — „Eure Briefe erwarten mich in Paris,
und mein Herz sehnt sich dahin, aber W. W. will noch
einige Tage hier bleiben. London ist sehr interessant, macht
aber einen sehr düsteren Eindruck. Die Sonne ist fast nie
zu sehen, und es regnet jeden Augenblick." Hier hatte
Peter Iljitsch Gelegenheit, Adeline Patti zu hören, луекЬе
ihn später so sehr entzückte, damals jedoch hat er „Nichts
Besonderes" an ihr gefunden.
Wie zu erwarten war, hat Peter Iljitsch von allen Städ-
ten Paris am besten gefallen. „Ueberhaupt ist das Leben
in Paris sehr schön," — schrieb er, — „man kann machen,
was man will, nur zur Langeweile hat man gar keine Zeit.
Man braucht blos auf den Boulevard zu gehen, und man
wird schon heiter gestimmt. Der Zeitvertreib Peter Iljitsch's
in Paris gestaltete sich umso angenehmer, als er dort einen
früheren Schulkameraden, Juferoff, und später die Freundin
seiner Kindheit, Lydia Wladimirowna mit ihrem Gemahl
Olchowsky traf. Die sechs Wochen, welche Peter Iljitsch
in dieser angenehmen Gesellschaft verlebte, erscheinen als
der Kulniinationspunkt des vergnügensreichen Feiertags-
lebens Peter Iljitsch's; noch nie war soviel Abwechslung
im Programm seiner Unterhaltungen und Belustigungen,
noch nie hatte er sich so sorgenlos dem. Freudentrubel
ergeben dürfen, so voll, so ganz! Inmitten seines Jubels
sollte er aber eine arge Enttäuschung an Herrn W. W.
erleben. Nach einer Reihe peinlicher Auseinandersetzun-
gen musste er sich von seinem Reisegefährten trennen und
kehrte Ende September allein nach Russland zurück.
Viel Nutzen im wissenschaftlichen und aesthetischen
Sinne hat Peter Iljitsch von seiner Reise nicht gehabt. Es
ist geradezu erstaunlich, wie wenig Sinn er für derartige
Eindrücke damals noch hatte. In den drei Monaten seines
Aufenthaltes in fremden Ländern hat er nur Eines positiv
wissen gelernt: wo es am lustigsten war. Und doch war
seine Reise in gewissem Sinne nicht bedeutungslos geblie-
ben. Zum ersten, hat sie ihm Gelegenheit gegeben, die
Macht seiner Anhänglichkeit und Liebe zu seinen Ange-
hörigen zu prüfen. In der Ferne erst sah er ein, wie sehr
sie ihm ans Herz gewachsen waren, und je weiter er war,
desto grösser war sein Heimweh. Am meisten sehnte er
sich nach den Zwillingen. „Sorge doch, lieber Vater, dass
Toly un Modi ') nicht die Hände in den Schoos legen." —
1) Abkürzungen der Xamen Anatol und Modest.
— 70 —
„Lernen Toly und Modi auch fleissig?" „Vergiss nicht
den Examinatoren zu sagen, dass Tol}^ und Modi für die
Oberabteilung vorbereitet sind. Warum schreiben sie mir
nicht?" — u. s. w.
Zum zweiten, hat Peter Iljitsch auf dieser Reise das
nichtsthuerische, genusssüchtige Leben in seiner letzten
Konsequenz kennen und infolge dessen einsehen gelernt,
dass er auf diesem Wege nicht weiter gehen durfte, dass es
noch andere, edlere Ziele des menschlichen Daseins geben
müsse. Das bunte, aufgeregte Leben in Paris hat in ihm
eine heilsame Reaktion gezeitigt, und an der Schwelle
einer neuen Thätigkeit konnte er ruhigen Blickes seine Ver-
gangenheit betrachten, nur den einen brennenden Wunsch
fühlend, möglichst schnell aus ihrem Dunkel an Gottes Ta-
geslicht zu gelangen.
Bald nach seiner Heimkehr schrieb er folgenden Brief
an seine Schwester:
23 Oktober 186 1.
„'...Was soll ich Dir über meine Reise erzählen? Es ist
besser, garnicht davon zu reden. Wenn ich je eine kolos-
sale Dummheit begangen habe, so war es diese Reise. Du
erinnerst Dich wohl noch an W. W. Stelle Dir vor, dass
unter der Maske jener bonhomie, welche mich einen gu-
ten Menschen in ihm vermuten liess, sich die gemeinsten
Charaktereigenschaften verbargen. Du kannst Dir denken,
ob es mir angenehm war, drei Monate mit einem solchen
Gefährten zusammen zu sein. Dazu habe ich mehr Geld
ausgegeben, als ich sollte, und garkeinen Nutzen davon
gehabt. Siehst Du jetzt ein, dass ich ein Thor w^ar? Ue-
brigens schilt mich nicht; ich hatte nur wie ein Kind gehan-
delt, Nichts weiter. Du weisst, dass der sehnlichste Wunsch
meines Lebens von jeher eine Reise ins Ausland gewesen
ist. Als sich die Gelegenheit dafür bot — la tentation etait
trop grande — schloss ich die Augen und — ergriff sie. Daraus
darfst Du aber nicht folgern, dass es im Auslande schlecht
und das Reisen eine langweilige Sache sei. Ganz im Ge-
gentheil; man muss aber unabhängig sein, eine genügende
Portion Geld haben, und einen bestimmten Zweck verfol-
gen. In Paris verbrachte ich die Zeit sehr angenehm mit
Juferoff, und das war mir ein grosser Trost. Das ist ein
reizender Mensch! Du glaubst nicht, wie glücklich ich war,
nach Petersburg zurückzukehren. Ich muss gestehen,
dass ich eine grosse Vorliebe für die russiche Hauptstadt
— yi —
habe. Was tliim? Ich habe mich so eingelebt in ihr; Alles,
was meinem Herzen teuer ist —befindet sich in Peters-
burg... Du weisst, dass ich eine Schwäche habe: sobald
ich im Besitze einiges Geldes bin, so gebe ich es auch
schon für Vergnügungen aus: das ist gemein, das ist un-
klug, das weiss ich; es liegt aber einmal in meinem Cha-
rakter. Wie weit werde ich damit kommen? Was kann
ich von der Zukunft erwarten? Es ist schrecklich, daran
zu denken. Ich weiss, dass ich früher oder später, nicht
mehr imstande sein werde, mit den Mühsalen des Lebens
zu kämpfen, bis dahin aber will ich das Leben gemessen
und Alles für dieses Geniessen opfern. Seit zwei Wochen
verfolgt mich dafür das Unglück: mit meinem Dienst steht
es sehr schlimm. Die Rubel zerschmelzen sehr schnell. In
der Liebe — Pech. Aber es wird schon eine Zeit kommen,
wo es wieder besser geht...
P. S. Ich habe begonnen den Generalbass zu studie-
ren, und mache darin gute Fortschritte. Wer weiss, viel-
leicht wirst Du nach drei Jahren meine Opern anhören
und meine Arien singen".
•7|v-
III.
Das Merkwürdigste an der Umwandlung Peter Iljitsch's
aus einem eleganten Beamten und gesellschaftlichen „Laf-
fen" in einen Jünger der musikalischen Kunst — ist, dass
ihr bei all' ihrer scheinbaren Plötzlichkeit und Bestimmt-
heit durchaus Nichts Ueberhastetes, Aufwallendes, Unü-
berlegtes anhaftete; aus keiner Handlung, aus keinem Wort
Peter Iljitsch's ist zu ersehen, dass er in den Gedanken
verliebt gewesen wäre, einst berühmt zu werden; er un-
ternimmt Nichts Schroffes, er thut Nichts Gewaltsames;
jeder seiner Schritte in der neuen Thätigkeit ist durch-
dacht, entschlossen und, trotz einer gewissen Zurückhal-
tung unerschütterlich fest; Peter Iljitsch's Ruhe und Zu-
versicht ist so gross, dass sie sich sogar seiner Umge-
bung mitteilt, und dass alle Hindernisse und Schwierigkei-
— 72 —
ten, denen er begegnet von selbst verschwinden und ihm
freie Bahn lassen.
Der ps3^chologische Teil der Umwälzung, welche in Pe-
ter Iljitsch vor sich gegangen, die pathetische Seite des
Kampfes, луекЬеп seine Seele zwei Jahre hindurch ge-
kämpft— wird unserer Wissenschaft wohl für immer ent-
zogen bleiben, nicht weil das Material an Briefen aus jener
Zeit sehr knapp ist, sondern weil Peter Iljitsch eifersüch-
tiges Schweigen über die Vorgänge in seinem Innern be-
Avahrte, keine fremde Einmischung in sein Seelenleben dul-
den wollte, die schwere Zeit allein, ganz allein durchlebte,
und vor seinen Mitmenschen immer derselbe ruhige, lus-
tige Peter Iljitsch blieb, welcher er bis dahin gewesen.
Aber je nüchterner, je werktäglicher der Prozess der Wie-
dergeburt Peter Iljitsch's war, um so radikaler und siche-
rer war er auch.
Peter Iljitsch's Zustand spiegelt sich sehr klar in vier
Briefen wieder, die er in jener Zeit an seine Schwester
geschrieben hat, und die den vier Stadien der geschehe-
nen Metamorphose entsprechen. Diese Briefe werfen ein
grelles Licht auf die vier Hauptmomente jener zwei Le-
bensjahre Peter Iljitsch's.
Der erste Brief (vom 23. Oktober, 1861) ist dem Leser
schon bekannt. In ihm erwähnt Peter Iljitsch seine begon-
nenen musikalischen Studien im post scriptum, nur so
nebenher, wie etwas höchst Unwichtiges, — und das ist
sehr bezeichnend. In der That sind in jenem Moment seine
Theoriestunden bei Zaremba, nur ein kleines Detail mehr
im Dasein eines Lebemanns, ebenso wie auch der italie-
nische Sprachunterricht, den er nimmt. Sein Hauptinteresse
konzentriert sich vorläufig immer noch auf den Dienst im
Departement, und die meiste Zeit widmet er immer noch
dem Gesellschaftsleben.|
Der zweite Brief zeugt schon von einer etwas verän-
derten Lage der Dinge. Obgleich er nur wenige Wochen
später geschrieben worden ist, so erscheint in ihm das
Musikstudium Peter Iljitsch's doch schon in wesentlich an-
derem Licht. Sein nebensächlicher Charakter hat sich ver-
loren. Zwar sind die Dienstangelegenheiten für Peter Il-
jitsch immer noch die wichtigeren, die wesentlicheren, aber
die Musik hindert ihn bereits in seiner Beamtencarriere. Um
dieser willen wäre es für ihn jetzt eigentlich am zweck-
mässigsten, eine Anstellung in der Provinz zu finden, doch
„die Stunden bei Zaremba stehen dem im Wege", er bringt
— 73 —
also der Musik bereits ein Opfer dar. Am 4. Dezember
1861 schreibt Peter Iljitsch: „Mir geht es gut. Hoffe, bald
zu avancieren, d. h. zum „Beamten für besondere Ange-
legenheiten" ernannt zu werden. Da wird es um 20 Ru-
bel mehr Gehalt geben und weniger Arbeit. Gott gebe,
das es zustande kommt! Was die Provinz anbelangt, so
werde ich jetzt wohl kaum Petersburg verlassen können.
Ich hatte Dir, glaube ich, schon geschrieben, dass ich die
Theorie der Musik zu lernen begonnen habe, und zwar
recht erfolgreich; Du wirst zugeben, dass es bei meinem
ziemlich grossen Talent (hoffentlich fassest Du das nicht
als Prahlerei auf) thöricht wäre, sein Glück in dieser Be-
ziehung nicht zu versuchen. Ich fürchte nur für meine
Charakterlosigkeit; am Ende wird meine Trägheit siegen,
wenn aber nicht, so verspreche ich Dir, dass aus mir noch
Etwas werden wird. Zum Glück ist es noch nicht zu
spät...."
Weiter teilt er der Schwester verschiedene für uns
gleichgiltige Neuigkeiten aus dem gesellschaftlichen Leben
mit.
Acht Monate sind seit diesem zweiten Brief bis zum
dritten verflossen. In diesen acht Monaten hat Peter Iljitsch
seine Selbstbeschuldigung in der „Trägheit" zu widerlegen
und zu beweisen versucht, dass es in der That „noch nicht
zu spät sei".
Ich erinnere mich, dass ich damals zwei Thatsachen
entdeckt, welche mich in grosses Erstaunen versetzt haben.
Die erste Entdeckung war, dass die beiden Begriffe „Bru-
der Peter" und „Arbeit" sich einander durchaus nicht aus-
zuschliessen brauchen; und die zweite, dass es ausser der an-
genehmen und interessanten Musik noch eine andere, fürch-
terlich unangenehme und langweilige geben kann, welche
sogar die Wichtigere von beiden sein soll. Ich weiss noch,
mit welcher Hartnäckigkeit Peter oft stundenlang am Kla-
vier sass und die „scheusslichsten", „unverständlichsten"
Fugen und Präludien spielte. Seine Ausdauer darin, sowie
das nicht -enden -wollende Notenschreiben verblüffte und
ärgerte mich zugleich, denn nach meiner damaligen Mei-
nung hätte er seine Zeit viel angenehmer verbringen kön-
nen. Mein Erstaunen луаг aber geradezu grenzenlos, als
er mir erklärte, dass er „Aufgaben löse." Es überstieg alle
meine Begriffe, dass ein so reizendes Unterhaltungsmittel
wie die Musik Etwas Gemeinsames niit der verhassten Ma-
tematik haben könnte. Gleichzeitig kam ich zu der Ueber-
- 74 —
Zeugung, dass Beethoven garnicht so ein langweiliger Kerl
war, als ich dachte, denn seine Symphonieen, welche Peter
manches Mal mit Diesem oder Jenem seiner Freunde \äer-
händig spielte, gefielen mir sehr, eine von ihnen — die
Fünfte — fand ich sogar entzückend.
In der äusseren Lebensweise Peter Iljitsch's machte
sich ebenfalls eine Veränderung bemerkbar. Von allen sei-
nen Bekannten und Freunden blieb er eigentlich nur Apuch-
tin und Adamoff treu. Von den Andern besuchte er hin
und wieder nur Diejenigen, welche zur Musik in irgend
welcher Beziehung standen.
Ausser den Arbeiten für die Lektionen bei Zaremba
widmete Peter viele Stunden dem Studium der Klassiker.
Und doch, trotz alledem, blieb sein Dienst für ihn Haupt-
sache, Hauptlebenszweck. Im Sommer 1862 ist er in sei-
nem Beruf, nach seinen eigenen Worten, sogar noch eifri-
ger, noch fleissiger geworden als früher, denn im Depar-
tement sollte zum Herbst eine Stelle frei werden, auf die
er alle Anrechte besass, so dass es nur galt, den Vorge-
setzten seine Befähigung durch besonders regen Fleiss
nachzuweisen. Seine Mühe war aber umsonst: Peter Iljitsch
bekam die Stelle nicht. Seine Verstimmung und sein Aer-
ger darüber, dass man ihn „übersehen" hatte, war gren-
zenlos, und ich zweifle nicht daran, dass dieses Ereigniss
auch ein gut Teil dazu beigetragen hatte, ihn endgiltig
der Musik in die Arme zu stossen. Die letzten Bande, die
ihn an das Beamtentum fesselten, waren infolge jener „Un-
gerechtigkeit" gerissen.
An dieser Stelle müssen auch einige Familienereignisse
erwähnt werden.
Elisabeth Andreewna Schobert hatte eine Pension er-
worben, und trennte sich von der Familie Ilja Petrowitsch's,
Nikolai Iljitsch bekleidete eine Stellung in der Provinz, und
Hзфpolit befand sich auf einer grösseren Seereise, sodass
die Familie Tschaikowsky damals auf vier Personen redu-
ziert war: Ilja Petro witsch, Peter Iljitsch und die beiden
Zwillinge. Während die Sorge um die Letzteren bis dahin
Pflicht Elisabeth Andrecwna's gewesen war, ist sie nun
auf Peter Iljitsch übergegangen und er wurde im vollen
Sinne des Wortes ihr Erzieher und Vormund.
Im dritten Brief, welcher vom 10. September 1862 da-
tiert und dem dritten Stadium der Umwandlung Peter
Iljitsch's entspricht, sehen wir Diesen wieder in anderem
Licht, als acht Monate vorher. Sein Dienst ist ganz in den
— 75 —
Hintergrund getreten, während die Musik als seine Spe-
zialität und sein Lebenszweck nicht nur von ihm selbst,
sondern auch von seiner Umgebung anerkannt wird.
„Ich bin in das neu eröffnete Konservatorium einge-
treten",— erzählter, — „der Kursus beginnt in einigen Tagen.
Im vorigen Jahr habe ich mich, wie Du weisst, viel mit
der Theorie der Musik beschäftigt und bin zu der Ueber- *
Zeugung gekommen, dass ich früher oder später meinen
Dienst mit der Musik vertauschen werde. Glaube nicht,
dass ich mir einbilde, jemals ein grosser Künstler zu wer-
den — ich möchte nur das thun, wozu ich Beruf in mir
fühle. Ob aus mir ein berühmter Komponist oder ein armer
Musiklehrer herauskommen wird — ist gleichgiltig, — jeden-
falls aber wird mein Gewissen rein sein, und ich werde
kein Recht mehr haben, über mein Schicksal zu murren.
Meine Stellung werde ich, freilich, so lange nicht aufge-
ben, bis ich die Versicherung erlange, dass ich kein Beam-
ter, sondern ein Künstler bin."
Von seinen Bekannten und von den Ereignissen des
gesellschaftlichen Getriebes ist in diesem Brief gar keine
Rede mehr. Seine freie Zeit verbringt Peter Iljitsch an
Werktagen meistens mit dem Vater. Seine Anhänglichkeit
an ihn, welche sich bis dahin nur wenig gezeigt hatte,
nahm ausserordentlich zu.
Noch nie hatte die zärtliche Güte Ilja Petrowitsch's in
dem Herzen seines Sohnes soviel ehrfurchtsvolle Dank-
barkeit wachgerufen, als sein Verhalten gegenüber dem
Berufswechsel Peter Iljitsch's. i6 Jahre später erzählte
Letzterer darüber Folgendes: „Ich kann nicht ohne Rüh-
rung daran denken, wie mein Vater meine Flucht aus dem
Justiz-Ministerium ins Konservatorium beurteilt hatte. Frei-
lich musste es ihm weh thun, dass ich seine Hoffnungen,
welche er auf meine Beamtencarriere setzte, nicht erfüllte,
und dass ich freiwillig viele Entbehrungen auf mich genom-
men habe, um Musiker zu werden, — doch hat er mir nie
auch nur mit einem Wort zu verstehen gegeben, dass er
mit mir unzufrieden sei. Vielmehr hat er sich mit warmer
Teilnahme oft nach meinen Absichten und Plänen erkun-
digt und mich verschiedentlich aufgemuntert. Viel, viel
Dank schulde ich ihm. Wie wäre mir zu Mute gewesen,
wenn mir das Schicksal einen Tyrannen als Vater gege-
ben hätte, wie so vielen andern Musikern?"
„Mittag esse ich immer zu Hause," — lautet der Briet
an die Schwester weiter, — „abends gehe ich mit Vater
-7б -
ziemlich oft in's Theater, oder spiele mit ihm Karten."
Doch wird bald darauf auch für Theater und Karten die
Zeit zu knapp. Sein Musikstudium beschränkt sich nicht
blos auf zweimalwöchentlichen Unterricht, sondern bean-
sprucht fast alle Werktage für sich. An Sonn-und-Feier-
tagen giebt er sich ganz dem Zusammensein mit den aus
der Juristenschule auf Urlaub kommenden Zwillingen hin,
hat also fast nie mehr Zeit, verschiedenen Einladungen zu
Diner's, Tanzabenden etc. Folge zu leisten, und bleibt nach
und nach dem gesellschaftlichen Leben ganz fern. Ausser-
dem knüpft er im Konservatorium neue Bekanntschaften
an, Bekanntschaften mit Fachmusikern, denen er den Rest
seiner freien Zeit widmet.
Unter den Letzteren spielt Laroche eine so ausseror-
dentlich hervorragende Rolle im künstlerischen und inti-
men Leben Peter Iljitsch's, dass ich es für nötig halte, den
Leser mit seiner Persönlichkeit, welche von nun an und
für immer der erste und einflussreichste Freund Peter
Iljitsch's bleibt, näher bekannt zu machen.
Hermann Augustoлvitsch Laroche ^) wurde am 13. Mai
1845 ^^"^ Petersburg geboren. Sein Vater, Hannoveraner
von Geburt, war lange Jahre hindurch in Petersburg
als Lehrer der französischen Sprache thätig. Seine Mut-
ter war ebenfalls eine sehr gebildete Frau und hatte es
verstanden, ihrem Sohn vollkommene Beherrschung der
vier Sprachen: Russisch, Deutsch, Französisch und En-
glisch, sowie manche anderen Kenntnisse beizubringen.
Ueberhaupt verdankt Hermann Augustowitsch seine ganze
wissenschaftliche Bildung ausschliesslich seiner Mutter,
denn er ist eigentümlicherweise bis zu seinem Eintritt
ins Konservatorium noch nie in einer Schule gewesen
und hat nie Lehrer gehabt (ausser — für Maematik).
Als Kind ist er sehr schwächlich und kränklich gewesen
und bedurfte der sorgfältigsten Pflege. Die ausserordent-
lichen Fähigkeiten seines Verstandes, ganz besonders das
Gedächtniss, entwickelten sich dank der Fürsorge der
Mutter, enorm schnell, aber sehr zum Nachteil seiner kör-
perlichen Gesundheit. Sein musikalisches Talent hat sich
sehr früh offenbart: als zehnjähriger Knabe hatte er be-
reits einen Marsch und eine Ouvertüre komponiert. Man
hatte ihm damals die ,, Allgemeine Musiklehre" von Marx
und die „Harmonielehre" von Arnold geschenkt, welche
• ) Der berülinite Musikschriftsteller und Kritiker.
— 77 —
beiden Bücher er sehr bald auswendig konnte, wodurch er
sich allerdings noch lange keine gründlichen [musikalischen
Kenntnisse angeeignet hat. Das systematische Musikstu-
dium begann er erst 1860 in Moskau unter Dubuque's Lei-
tung. Anfangs wollte er Virtuose werden. Sein Professor
hat es ihm aber abgeraten, weil seine Hände für das Kla-
vierspiel ganz ungeeignet waren, und hat mehr Gewicht
auf sein kompositorisches Talent gelegt, indem er ihn nach
den Mustern Haydn's, Mozart's und Bach's Sonaten, Quar-
tette und Fugen schreiben liess. hii Sommer 1861 war er
bereits so weit, das er ganz allein, ohne Anleitung, Cheru-
bini's „Traite de contrepoint et de fugue" durchstudieren
konnte. In demselben Sommer komponierte er ein Quar-
tett, welches einem gewissen Kologriwoff, dem Mitbegrün-
der des Petersburger Konservatoriums und Freund A. Ru-
binsteins, sehr gefiel und dieser Kologriwoff durch eine
dritte Person Laroche übermitteln liess, dass ein so talent-
voller Schüler wie er dem Konservatorium sehr willkom-
men wäre. Als Laroche im Herbst 1862 ins Konservato-
rium aufgenommen wurde, überragte er an musikalischem
Wissen alle seine Mitschüler um ein Beträchtliches und
war dazu ein sehr gebildeter und belesener junger Mann.
Tschaikowsky und Laroche begegneten . sich zum er-
sten Mal im Oktober 1862 in der Stunde beim Klavier-
professor Gerke. Hermann Augusto witsch war damals
17 Jahre alt. hi seiner Figur und in seinem ganzen Ge-
bahren lag noch die Naivetät und die Unbeholfenheit eines
Jünglings, welcher bis zu seinem sechszehnten Lebensjahr
unzertrennlich mit der Mutter gewesen ist und daher nicht
den Schatten von Selbstständigkeit gelernt hat. Mit seinem
ungeschickten und etwas furchtsamen Auftreten vereinigte
er aber eine solche Verstandesreife und Gelehrtheit, dass
Peter Iljitsch sofort ein lebhaftes Interesse für ihn empfand,
und sich sehr bald für immer mit ihm befreundete. Von
welch ausserordentlicher Bedeutung diese Freundschaft
für Peter Iljitsch später geworden ist — werden wir weiter
sehen, in jenem Augenblick war sie für ihn in dreifacher
Beziehung von Wichtigkeit. Erstens, fand er unwillkürlich
in der Person Hermann Augustowitsch's, welcher in mu-
sikahscher Hinsicht bedeutend belesener war als Peter
Iljitsch, einen inoffiziellen Leiter im Studium der Musiklitera-
tur; zweitens, wurde Laroche der erste Kritiker der Schü-
lerkompositionen Peter Iljitsch's^ — der erste und einfluss-
reichste zugleich, denn Peter Iljitsch hatte von vornherein
78
ein grosses Vertrauen zu ihm gefasst; drittens verdrängte
Laroche nach und nach alle früheren Bekannten und Freun-
de aus dem Herzen Peter lljitsch's: er wurde für Diesen
der liebste und angenehmste Gesellschafter und Freund.
Die Vielseitigkeit seiner Interessen, die Schärfe seines
kritischen Verstandes, seine beständige Heiterkeit und
sein Witz machten die Stunden der Müsse, welche Peter
Iljitsch von nun an meistenteils mit ihm verbrachte, lehr-
reich und angenehm zugleich, während Laroche's Uner-
fahrenheit im praktischen Leben und seine Unbeholfenheit
im Verkehr mit den Menschen Peter Iljitsch sehr ergötzten
und ihm Gelegenheit gaben, seinen neuen Freund in die-
ser Hinsicht zu bevormunden und zu beraten.
Anfang 1863 gab Peter
Iljitsch seinen Dienst im
Departement auf und ent-
schloss sich endgiltig, ganz
zur Musik überzugehen..
Bis zu w^elchem Grade fest
undunwiederruflich dieser
Entschluss w^ar, wie mutig
Peter Iljitsch um der Musik
willen mit der V^ergangen-
heit gebrochen und einer
entbehrungs-und dornen-
vollen Zukunft entgegen-
ging, geht schon daraus
hervor, mit welcher Ruhe
er sich gegenüber den
damals plötzlich wieder
eingetretenen misslicheren
Vermögensverhältnissen
des Vaters verhielt. Ilja
Petrowätsch hat damals
infolge einiger Meinungs-
verschiedenheiten mit sei-
nen unmittelbaren Vorge-
setzten seinen Abschied
eingereicht und denselben
auch erhalten. Dazu kam,
dass gerade in jener Zeit seine letzte Hoffnung, das 1858 ver-
lorene Geld wiederzugewinnen, durch das Urteil des Ge-
richtes in seinem Prozess zu Nichte gemacht wurde. Das
war ein unerwarteter Schlag, denn jene optimistische Hoff-
Peter Iljitsch Ts
-.ky im Jahre 1859.
— 79 —
nung, der er sich so sorglos hingegeben, hatte ihn verlei-
tet, einige Schulden aufzunehmen. In die Notwendigkeit
versetzt, diese Schulden nicht aus dem Kapital, wie er
gehofft, sondern aus seiner Pension zu bezahlen, musste
er seine Ausgaben bis aufs Minimum beschränken.
Wenn das Alles ein Jahr früher geschehen wäre, —
wer weiss, ob dann Peter Iljitsch seinen Entschluss ge-
fasst hätte. Er ist zwar nie reich gewesen, doch hat sich
sein Vater wohl in der Lage befunden, seinen Lebensun-
terhalt zu bestreiten. Er hat seinem Sohn Wohnung, Klei-
dung, Essen und Trinken gegeben, sodass Peter Iljitsch
das Gehalt, welches er im Departement erhielt ganz für
seine Liebhabereien hat verwenden dürfen. Von nun an,
aber, musste er auf das Gehalt verzichten, und der Vater
konnte ihm höchstens Wohnung, Speise und Trank ge-
währen. Trotzdem blieb sein Wille stark, denn die Liebe
zur Kunst und der Glaube an seinen Beruf hatten bereits
tief Wurzel gefasst in seiner Seele.
Der vierte und letzte Brief, in dem er seiner Schwe-
ster die Gründe auseinander setzt, welche ihn veranlasst
haben, den Dienst zu verlassen, zeigt uns bereits einen
ganz neuen Menschen.
15 April 1863.
„Liebe Sascha! ^) Aus Deinem Heute angekommenen Briet
an Vater ersehe ich, dass Du lebhaften Anteil nimmst an
meiner Lage, und den entschlossenen Schritt, den ich un-
ternommen, etwas misstrauisch ansiehst. Deshalb will ich
Dir hier ausführlich mitteilen, w^as ich vorhabe und wo-
rauf ich hoffe. Mein musikalisches Talent wirst Du wohl
nicht verleugnen wollen, desgleichen auch die Thatsache,
dass dieses — mein einziges Talent ist. Wenn dem so ist,
so versteht sich's von selbst, dass ich diese, mir von Gott
verliehene Gabe, nicht ungepflegt und unentwickelt lassen
soll. Aus diesem Grunde habe ich angefangen, mich ernst-
lich mit der Musik zu beschäftigen. Bis jetzt hatte es mich
nicht gestört, meinen Dienst weiter zu dienen, und ich
blieb im Ministerium. Nun aber, da meine Studien immer
schwieriger und zeitraubender werden, so bin ich genö-
tigt. Eines von Beiden aufzugeben: neben meinen musika-
lischen Arbeiten kann ich nicht mehr den Dienst gewis-
senhaft besorgen; unverdienterweise das Gehalt weiter zu
1) Abkürzung von Alexandra.
— 8o —
beziehen — geht nicht, würde auch wohl kaum gestattet
werden; es bleibt mir also Nichts Anderes übrig, als den
Dienst aufzugeben (zumal ich ihn später immer wieder
aufnehmen darf). Mit einem Wort, ich habe nach langem
Ueberlegen den Entschluss gefasst, auf das Gehalt zu ver-
zichten und meine Stelle zu kündigen. Folgere aber nicht
daraus, dass ich nun die Absicht habe, Schulden zu ma-
chen, oder mir Geld vom Vater geben zu lassen, dessen
Situation augenblicklich durchaus keine glänzende ist.
Freilich, in materieller Beziehung habe ich Nichts gewon-
nen; erstens, hoffe ich, in der künftigen Saison im Konser-
vatorium eine kleine Anstellung zu erhalten (als Gehilfe
des Professors); zweitens, habe ich für das nächste Jahr
einige Privatstunden in Aussicht; und drittens, — was die
Hauptsache ist — entsage ich jetzt vollständig jeglichen
Amüsements und Liebhabereien, sodass meine Ausgaben
sich sehr wesentlich vermindert haben: Nun wirst Du, wahr-
scheinlich, wissen wollen, was aus mir nach Beendigung
des Studiums denn eigentlich werden wird. Eines weiss
ich bestimmt, dass aus mir ein guter Musiker werden wird
und dass ich mein täghch Brot wohl zu finden verstehen
werde. Die Professoren des Konservatoriums sind mit mir
zufrieden und sagen, dass ich es bei dem nötigen Eifer
recht ^weit bringen könnte. Das Alles erzähle ich nicht,
um damit zu prahlen (das liegt nicht in meinem Charak-
ter), sondern um offen, ohne falsche Bescheidenheit, mit
Dir zu reden. Ich träume davon, nach beendetem Studium
für ein ganzes Jahr zu Dir zu kommen und in der stil-
len Umgebung ein grösseres Werk zu komponieren. Dann
aber — hinaus in die weite Welt!"
Im Frühjahr 1863 verliess Ilja Petro witsch das techno-
logische Institut und reiste mit Modest und Anatol für den
ganzen Sommer zu seiner Tochter Alexandra in das Oert-
chen Kamenka (Gouvernement Kiew), und Peter Iljitsch
nahm die Einladung Apuchtins an, den Sommer bei ihm
im Dorf Pawlodar (Gouvernement Kaluga) zu verbringen.
Von diesem Sommeraufenthalt Peter Iljitsch's weiss ich
Nichts zu sagen, ausser — dass er ihm garnicht behagt hatte.
Im Herbst 1863 kehrte er nach Petersburg zurück, inner-
lich und äusserlich ein anderer Mensch: mit lang gewach-
senen Haaren, in einem etwas abgetragenen, frühermal ele-
gant gewesenen Rock, der noch aus der „Mode-Laffen-
Zeit" Peter Iljitsch's stammte, sodass in dem nunmehri-
gen Tschaikowsky der frühere Peter Iljitsch kaum noch
— öl —
zu erkennen war. Seine materielle Lage gestaltete sich
folgendermaassen: Ilja Petrowitsch, welcher eine Pension
von nur 2000 Rubel jährlich bezog, von denen jedoch
800 Rubel für Bezahlung der Schulden abgingen, hatte
eine sehr bescheidene Wohnung in Petersburg bezogen,
und konnte ihn zwar bei sich beherbergen und speisen,
aber nicht für seine übrigen Bedürfnisse sorgen. Um diese
zu bestreiten übernahm Peter Iljitsch einige Privatstunden,
die ihm zum Teil A. Rubinstein verschafft hatte. Diese
Stunden brachten ihm ungefähr 50 Rubel monatlich ein.
Die Entsagung allen Freuden des Lebens und die Ent-
behrungen, welche Peter Iljitsch auf sich genommen, ver-
stimmten und erbitterten seine Seele nicht im Geringsten,
hii Gegenteil, er scherzte nur fröhlich über seine Armut
und ist noch nie in seinem Leben so heiter und ruhig ge-
wesen. In einem kleinen, schmalen Zimmer, in welchem nur
ein Bett und ein Schreibtisch Platz hatten, begann er mutig
sein neues mühevolles Leben, und hat dort seither manche
Nacht hindurch emsig gearbeitet.
IV.
Folgendes erzählt Laroche über Peter Iljitsch's Konser-
vatoriumsjahre:
„In dem von Anton Rubinstein 1861 unter dem Pro-
tektorat der Grossfürstin Helene gegründeten Konserva-
torium erstreckte sich der Unterricht auf folgende Fächer:
Chorgesang (Lomakin und Dütsch), Sologesang (Frau Nis-
sen-Soloman), Klavier (Leschetizky und Beggrow), Vio-
line (Wieniawsky), Violoncello (Schuberth) und musikali-
sche Komposition (Zaremba).
Von allen diesen Fächern studierte Peter Iljitsch nur
das Letztere.
Nikolai Iwanowitsch Zaremba war damals 40 Jahre
alt. Er stammte aus Polen, hatte seinerzeit auf der
Petersburger Universität Jurisprudenz studiert und beklei-
dete später einige Zeit hindurch eine Staatsbeamtenstel-
lung. In ihm war der eigenartige, aber unter Slaven
Tachaikowsky, M. P. 1. Tschaikowsky's Leben. ß
— Ö2 —
nicht selten vorkommende Тз'риз der Verdeutschung in
seiner fast letztmögiichen Konsequenz vertreten. Russisch
sprach er nicht nur makellos, sondern sogar mit glänzen-
der Beredsamkeit; er war auch ein unzweifelhjifter russi-
scher Patriot und hatte für seine damals aufrührerischen
Landsleute durchaus keine Sympatieen. Und doch war die
Art seines ganzen Denkens und Fühlens dermaas'sen von
deutschen Elementen durchdrungen, dass man ihn nicht
für einen Russen halten konnte; selbst seine Beredsamkeit,
welche überall und immer, auch bei dem unbedeutendsten
Gespräch, in gleichem Maasse auffiel, machte den Eindruck
einer bis zur Virtuosität korrekten Uebersetzung aus ei-
ner fremden Sprache.... Die Musik, speziell die Kompo-
sitionslehre hatte er in Berlin bei dem berühmten Adolph
Bernhard Marx studiert, den er seither vergötterte. Als
Komponist ist Zaremba. dem Schreiber dieser Zeilen nicht
bekannt. Niemals, weder in der Stunde noch im Privat-
gespräch, erwähnte er auch nur mit einem Wort seine
Kompositionen. Nur ein einziges Mal ist es geschehen, als
СГ' eines Tages Peter Iljitsch zu sich eingeladen, und ihm
an jenem Abend, welchen er mit ihm, wenn ich nicht irre,
unter vier Augen verbracht, die Partitur eines Streichquar-
tettes eigner Komposition gezeigt hatte. Am folgenden
Tage t4-zählte inir Peter Iljitsch, dass das Quartett „sehr
nett, im Haydn'schen Styl komponiert sei."
Nikolai Iwanowitsch besass viele Eigenschaften eines ide-
alen Professors. Obgleich das Unterrichten ihm, wenn ich
nicht irre etwas Neues war, erschien er in voller Rüs-
tung, mit einem bis in die kleinsten Details durchgearbei-
teten Kursus, fest in seinen aestetischen Tendenzen und
erfinderisch im Vortrag seines Faches... Wie es einem
überzeugten Marxianer geziemte, war Nikolai Iwanowitsch
in musikalischer Beziehung Progressist und Liberaler,
glaubte an Beethoven im Allgemeinen und an dessen
letzte Periode im Besonderen, hasste den Zwang der
Schulregeln, und war überhaupt, eher dazu angethan, seine
Schüler zu „verwahrlosen," als sie durch uebermässige
Strenge zu drücken und einzuengen. Sein einziger Unter-
schied von Marx (dessen Methode er in jeder anderen
Beziehung genau verfolgte) bestand darin, dass er nach
der Harmonielehre den Kontrapunkt im strengen Satz
nach dem damals soeben erschienenen Lehrbuch Heinrich
Bellermanns vortrug. Ich glaube aber nicht, dass er den
strengen .Satz aus eigner Initiative in den Lehrgang auf-
-83-
genommen hat; wahrscheinlich ist er darin nur dem drin-
genden Wunsche Rubinstein's nachgekommen. Zaremba
hatte die Fähigkeit und die Neigung, eine jede Lehre
aeusserhch in eine s\^stematische Ordnung zu bringen,
was seinen Vorträgen Ueberzeugungskraft und Schönheit
verheh. Diese Eigenschaften seiner Vorlesungen gefielen
mir sehr und ich bemerkte mit Erstaunen, dass sie auf
viele meiner Studiengenossen lange nicht so bestechend
wirkten, wie auf mich. Bedauerlich war es, dass Zaremba,
welcher theoretisch so unerschütterlich folgerichtig, so sy-
stematisch, so geistreich und begeistert zu lehren wusste,
nicht die Technik des praktischen Musikers besass, welche
für die Korrektur der Schülerarbeiten unentbehrlich ist:
in einem schwierigen Fall einen Ausweg finden, einige
Takte anstatt des Schülers und besser als der Schüler
aufschreiben das war seine Sache nicht. Dieser Mangel
machte sich besonders in den höheren Klassen fühlbar und
untergrub recht wesentlich die Autorität des talentvollen
Interpreten der Marx'schen Ideen. Oben habe ich Zaremba
einen Progressisten genannt. Er w^ar in der That ein be-
geisterter Anhänger des „späten" Beethovens, aber er ist
bei Beethoven, oder eher bei Mendelssohn-Bartholdy ste-
hen geblieben; die neuere Bewegung der Musik in Deutsch-
land, welche von Schumann ausging, war ihm unbekannt.
Desgleichen kannte er auch Berlioz nicht und ignorirte
Glinka. In diesem letzteren Umstand trat seine Entfrem-
dung vom russischen Boden ganz besonders zum Vorschein.
Peter Iljitsch, welcher mehr zum Empirismus neigte und
von Natur ein Feind jeglicher Abstraktion war, gefiel die
Beredsamkeit Zaremba's nicht, es gefiel ihm nicht die aeus-
sere Logik im Aufbau, hinter welcher er Willkür und Ge-
walt witterte. Dem Missverhältniss zwichen Lehrer und
Schüler steuerte noch der Umstand, dass Nikolai Iwano-
witsch am liebsten und am häufigsten Beethoven zitierte,
während er Mozart — auch hierin dem Beispiel seines Leh-
rers Marx folgend — im Geheimen, manches Mal aber auch
offenkundig verneinte. Tschaikowsky hingegen, hatte für
Beethoven mehr Hochachtung als Enthusiasmus, und be-
absichtigte durchaus nicht, dessen Bahnen zu wandeln.
Peter Iljitsch's Verstandesrichtung war überhaupt etwas
skeptisch: sein Bedürfniss nach Unabhängigkeit — sehr gross;
seit der Zeit, dass ich ihn kenne, ist er noch nie irgend
einem Einfluss blindlings ergeben gewesen, und hat noch
nie aut Jemanden in verba magistri geschworen. Auch Za-
-84-
remba hat ihn nie für sich begeistern können. Als Lehrer
war er Peter Iljitsch sogar antipatisch, wenngleich er ihm
als Mensch wohl gefiel. In dem späteren Komponisten
Tschaikowsky, sowie in dem späteren Professor Tschai-
kowsky, bemerken wir nicht einen einzigen Zug, der ihm
von Zaremba eingeimpft worden wäre, und diese That-
sache ist umso bemerkenswerter, als Zaremba in Tschai-
kowsk}' sozusagen Rohmaterial zur Verarbeitung erhalten
hatte, d. h. in Peter Iljitsch einen Schüler fand, der bei
ihm mit dem ABC anfing, sodass es ihm, wie man den-
ken sollte, leicht fallen musste, tiefen, bleibenden und ent-
scheidenden Einfluss auf ihn zu gewinnen. Doch muss ich
hier der Wahrheit entsprechend eine kleine Begebenheit
erzählen, welche mit meiner Behauptung, dass Zaremba
Peter Iljitsch nie auf irgend eine Weise beeinflusst habe,
in einem gewissen Gegensatz steht. Als ich 1862 oder
1863 eines Tages in einem Gespräch mit Peter Iljitsch ihm
meine Bewunderung darüber zollte, dass er so viel Fleiss
und Energie in seinen Studien entwickelte, antwortete er
mir, dass er früher, im Anfang seines Unterrichts bei Za-
remba, nicht so fleissig gewesen wäre und sogar „sehr
oberflächlich, wie ein richtiger Dilettant" gearbeitet habe,
dass ihn Zaremba deshalb einst bei Seite genommen und
ihm dringend ans Herz gelegt, sich doch ernstlicher zu
beschäftigen, indem er hinzugefügt habe, dass er ein schö-
nes Talent besitze. Diese Ermahnung hat Peter Iljitsch
damals so gerührt und erfreut, dass er seit jenem Augen-
blick seine Faulheit bekämpft und ausserordentlich fleissig
und strebsam geworden ist.
Bei Zaremba hatte Peter Iljitsch 1861- 1862 die Har-
monielehre nach Marx, und 1862 -1863 den Kontrapunkt
im strengen Satz und die Kirchentonarten durchstudiert.
Im September 1863 begann er, ebenfalls bei Zaremba, mit
der Formenlehre und kam gleichzeitig in die von A. Ru-
binstein geleitete Klasse der Instrumentationslehre.
Für die kolossale Persönlichkeit des Direktors des Kon-
servatoriums hegten wir Schüler nicht nur maasslose Ver-
ehrung, sondern auch nicht geringe Furcht. Im Grunde
gab es keinen nachsichtigeren und gutmütigeren Vorge-
setzten, und doch — sein finsteres Aussehn, sein Jähzorn,
zusammen mit dem Reiz seines europäisch berühmten Na-
mens imponierten uns ausserordentlich. Ausser den Pflichten
der Verwaltung des Konservatoriums, übernahm er noch
die sehr zahhvich besuchte Klavierklasse welche das Ziel
-85 -
und der sehnsüchtigste Wunsch der ganzen klavierspielen-
den Jugend des Konservatoriums war, denn die anderen
Klavierprofessore (Gerke, Dre^^schock, Leschetizky) wur-
den, trotzdem sie sich eines guten Rufes erfreuten, durch
den Ruhm Rubinsteins und sein wundervolles Spiel voll-
stcändig in den Schatten gestellt. In seiner Klasse, welche
damals aus drei Schülern und einer ganzen Schaar Schü-
lerinnen bestand, stellte Rubinstein oft die schnurrigsten
Dinge an; so Hess er z. B. Czerny's „Tägliche Studien"
in allen Tonarten mit ein und demselben Fingersatz spie-
len, u. A. m. Seine Schüler und Schülerinnen waren je-
doch sehr stolz auf die „Strapazen", die sie bei ihm durch-
machen mussten, und erregten nach wie vor den Neid ihrer,
bei Leschetizky, Dreyschock und Gerke studierenden Ka-
meraden. Als Lehrer der Theorie war Rubinstein das ge-
rade Gegenteil Zaremba's. Wcährend Dieser so ausseror-
dentlich beredt war, erwies sich Jener geradezu als wort-
karg. Rubinstein kannte zwar mehrere Sprachen, sprach
aber keine von ihnen ganz korrekt. Russisch drückte er
sich oft gewandt und treffend aus, die Grammatik hinkte
jedoch, was namentlich im gebundenen Vortrag eines the-
oretischen Gegenstandes sehr zu merken war. Merkwür-
digerweise schadete dieser Mangel seinen Vorlesungen
durchaus nicht. Bei Zaremba war Alles System, jedes Wort
stand auf seinem Platze, bei Rubinstein dagegen herrschte
die liebe Unordung: ich glaube, dass er fünf Minuten vor
der Stunde noch nicht wusste, was er durchnehmen wollte,
und diese Frage ganz der Stimmung des Augenblicks über-
liess. Obgleich infolgedessen die literarische Form seiner
Vorlesungen unter aller Kritik stand, imponierten diese uns
doch, und wir besuchten sie mit grossem Interesse. Die
ausserordentlichen praktischen Kenntnisse Rubinsteins, sein
Fernblick, die für einen dreissigjcährigen Mann fast unglaub-
liche kompositorische Erfahrung, verliehen seinen Worten
eine Autoritcät, die ihre Wirkung auf uns nicht verfehlte.
Selbst die Paradoxe, mit denen er nur so um sich warf,
und welche uns oft ärgerten oder auch belustigten, trugen
den Stempel einer genialen Natur und eines denkenden
Künstlers. Wie ich schon gesagt habe, hielt sich Rubin-
stein an kein System. Er merkte wohl oft, dass es in sei-
nem Unterricht nicht recht „klappte", das machte ihn aber
nicht mutlos und er ersann immer wieder einen Ausweg,
wobei er — ähnlich wie in seiner Klavierklasse — manche
eigentümliche Idee zu Tage förderte. So hatte er einstmals
— 86 -
ТзсЬа1колУ5ку den Auftrag gegeben, die d-moll-Klavierso-
nate von Beethoven auf vier verschiedene Arten für Orche-
ster zu arrangieren. Eines von diesen vier Arrangements
hatte Peter Iljitsch sehr raffiniert und grüblerisch gestaltet,
mit Anwendung des Englisch-Horns und anderer Selten-
heiten, wofür er von Rubinstein tüchtig ausgescholten wurde.
Hier möchte ich noch hinzufügen, dass Rubinstein seinen
Schüler sehr lieb gewonnen hatte, wenngleich er dessen
Genie vielleicht nicht voll zu würdigen verstandt. Es war
aber auch nicht schwer, dasselbe zu übersehen, denn die
gleichmässige und normale Entwickelung der Fähigkeiten
Peter Iljitsch's war jeglicher Ueberraschungen bar. In sei-
nen Arbeiten, welche stets gleichmässig gut waren, begeg-
nete man nie jenen — wenn man sich so ausdrücken darf —
„Blitzlichten*', Avelche den erstaunten Professor in Entzük-
ken versetzen.
Auf Tschaikowsky hat Rubinstein einen geradezu ma-
gischen Eindruck gemacht. Peter Iljitsch bewahrte allerdings
auch in diesem Fall die vollkommene Unabhc4ngigkeit sei-
nes Urteils, scherzte sogar recht humorvoll über Rubin-
steins Mangel an Logik und Grammatik, betrachtete auch
nicht ohne Bitterkeit die Masse der farb-und gehaltlosen
Kompositionen Rubinstein's, in welchen Dieser gleichsam
das Andenken an seine wenigen chefs d'oeuvres ertränkte,
aber weder die Eigenarten des Professors, noch die immer
zunehmenden Schwächen des Komponisten, vermochten
die Verehrung Peter Iljitsch's für Rubinstein, als Menschen,
zu unterdrücken. Diese Verehrung trug Peter Iljitsch bis
an seinen Tod im Herzen, obgleich er nie mit Anton Ru-
binstein in so intimen, freundschaftlichen Beziehungen
gestanden hatte, лу1е mit dessen Bruder Nikolai. In der
uns beschäftigenden Epoche war jene persönliche Vereh-
rung für Peter Iljitsch von grossem Vorteil. Sie erleichterte
ihm die Arbeit und beflügelte seine Kräfte. Rubinstein merkte
den Eifer seines Schülers und stellte immer grössere An-
forderungen an seine Leistungsfähigkeit. Je grösser aber
seine Ansprüche wurden, um so energischer arbeitete auch
Peter Iljitsch; manches Mal sass er ganze Nächte durch,
um früh morgens die kaum fertiggeschriebene Partitur
seinem unersättlichen Lehrer vorlegen zu können. Wie aus
den Thatsachen hervorgeht, hat dieser übermässige Fleiss
Peter Iljitsch's Gesundheit nicht geschadet und keine üblen
Folgen gezeitigt.
Der stumme Protest, den Peter Iljitsch gegen die Me-
-87 -
thode Zaremba's hegte, war in ihm auch Rubinstein gegen-
über vorhanden, wenn auch in viel geringerem Maasse.
Rubinstein war, nämhch, in Franz Schubert, Mendelssohn
und Schumann aufgewachsen, und anerkannte nur deren
Orchester, d. h. das Orchester Beethoven's mit Hinzufü-
gung der Posaunen und Vertauschung der Natur-Hörner
und Trompeten mit chromatischen. Wir Jungen aber, be-
geisterten, uns selbstverständlich, für das allerneueste Or-
chester. Was Peter Iljitsch anbelangt, so war ihm dieses
neueste Orchester aus den Opern Meyerbeers und Glinkas
schon bekannt. Ausserdem lernte er es in den Proben und
Konzerten (welche wir Schüler unentgeltlich besuchen durf-
ten) der Musikalischen Gesellschaft kennen, w^elche von
diesemselben Rubinstein geleitet, und in w^elchen Werke
von Me^^erbeer, Berhoz , Liszt und Wagner aufgeführt
wurden. Endlich war 1862 Richard Wagner selbst nach
Petersburg gekommen und hatte in einer ganzen Reihe
von Konzerten nicht nur die berühmtesten Nummern sei-
ner früheren, zum Teil schon damals bekannten Opern,
sondern auch einige Teile des „Nibelungen -Ringes" auf-
geführt und dadurch in unserer Mitte grosse Begeisterung
entfacht. A.uf Peter Iljitsch hatte damals nicht sowohl die
Musik Wagners Eindruck gemacht, als vielmehr seine In-
strumentationskunst. Es ist eigentlich merkwürdig, dass
Peter Iljitsch bei all seiner Liebe für Mozart nicht ein
einziges Mal in seinem Leben, auch nicht einmal des Scherzes
halber, oder als tour de force, versucht hat, ein Stück für
das klassische Orchester zu schreiben: die musikalische
Sprache, die er redete, w^ar das enorme neue nach-Meyer-
beersche Orchester. Dieses zu beherrschen, hat er nicht
leicht gelernt, aber seine Vorliebe für dasselbe war in ihm
schon damals reif. Rubinstein kannte das betreffende Or-
chester zw^ar ausgezeichnet, erklärte es gewissenhaft auch
seinen Schülern, in der Erwartung, dass Diese es nach
Kenntnissnahme bei Seite legen würden, um nie wieder
darauf zurückzukommen. In dieser Beziehung hat er aber
an Tschaikowsky einmal eine grosse Enttäuschung erlebt.
Im Frühjahr w^rde den Schülern der Kompositionsklasse
gewöhnlich eine grosse Aufgabe zugeteilt, w^elche sie in
den Sommerferien zu arbeiten hatten. Im Sommer 1864
sollte Peter Iljitsch eine grosse Ouvertüre komponieren, und
hatte als Programm für diese Ouvertüre Ostrowsky's ^)
1) A. N. 081голукку — der 1ier\'orragendste russische Dramatiker. Seine bekanntesten
Dramen sind: „Gewitter", „Wald", „Die arme Braut", „Schneewittchen", „Wolle und
Schafe", u. A.
„Gewitter" gewählt. In der Partitur dieser Ouvertüre ^)
kam ein Orchester zur Verwendung, w^elches so „ketze-
risch" луаг, als nur irgend möglich: Tuba, Englisch-Horn,
Harfe, Tremolo der Geigen im divisi u. A. m. Mit dem
ihm eigenen Optimismus glaubte Peter Iljitsch, wahrschein-
lich, dass das Programm eine derartige Instrumentation
vollauf rechtfertige und dass seine Insubordination gege-
nüber den strengen Regeln ungestraft bleiben würde. Nach-
dem Peter Iljitsch die Arbeit beendet, schickte er sie mir
per Post mit der Bitte, sie Rubinstein zur Beurteilung zu
überbringen (ich weiss nicht mehr, aus welchem Grunde
Peter Iljitsch nicht persönlich kommen konnte). Ich that es
denn auch, und Rubinstein befahl mir, nach einigen Tagen
wieder zu ihm zu kommen, um seine Meinung zu hören.
Nie in meinem Leben habe ich für meine eigenen Sünden
eine solche Strafpredigt zu hören bekommen, als jenes Mal
für fremde (es war dazu ein Sonntag-Morgen)! Mit unge-
wolltem Humor stellte Rubinstein die Frage so: „Wenn
Sie es gew^igt hätten, mir ein solches Stück ihrer eignen
Komposition zu bringen, so..." — und er begann so fürchter-
lich zu schimpfen und zu wettern, wie man sagt „was das
Zeug hält, dass er wahrscheinlich seinen ganzen Vorrat an
Zorn über mein Hauj^t geschüttet und für den eigentlichen
Schuldigen Nichts mehr übrig behalten hat, denn, als Pe-
ter Iljitsch einige Tage später persönlich kam, wurde er
vom Direktor des Konservatoriums ziemlich freundlich
empfangen und erhielt nur einige kurze Bemerkungen in
Betreff der Ouvertüre....
Einer der sehnlichsten Wünsche Rubinsteins war die
Gründung eines Schülerorchesters. In der ersten Zeit des
Bestehens des Konservatoriums war aber auf baldige Ver-
wirklichung jenes Wunsches nur wenig Hoffnung vorhan-
den. Ausser der ziemlich grossen Anzahl von Geigern, wel-
che durch den Namen Wieniawsky angelockt waren, gab
es — soweit ich mich erinnere im ersten Jahre kaum Einen,
der auf irgend einem Orchester-Instrument einigermaas-
sen erträglich spielen konnte. Da spendete Rubinstein, der
damals selber noch keine grossen Einnahmen hatte, volle
1500 Rubel jährlich für unentgeltlichen Unterricht auf den-
jenigen InstrunuMiten, welche seinem zu gründenden Or-
chester noch fehlten. Da fanden sich sogleich auch Lern-
begierige ein. Einer der Ersten war Peter Iljitsch, welcher
1) Diese Ouvertuic ist nacli dem Tode Tscliaikovvsky's bei BelajclT als op. 76 er-
schienen.
Peter Iljitsch Tschaikowsky im Jahre 1863.
Dampfsclinellpressen-Druckerei von P. Jurgenson, Moskau.
-89-
den Wunsch äusserte, Flöte zu lernen. Nachdem er etwa
zwei Jahre lang dieses Instrument spielen gelernt hatte und
im Schülerorchester die Partie der 2. Flöte recht befriedi-
gend auszuführen vermochte (eines Tages musste er sogar
gelegentlich eines Musikabends, welchen Frau Klara Schu-
mann mit ihrer Anwesenheit beehrte, in einem von Kuhlau
komponierten Flötenquartett mitblasen), kam es — wie zu
erwarten war — doch endlich dahin, dass er, sobald keine
Notwendigkeit mehr vorhanden war, sein vSpiel immer mehr
und mehr vernachlässigte und es schliesslich ganz vergass.
Von noch geringerer Bedeutung waren die Orgelstunden,
welche Peter Iljitsch eine Zeit lang bei dem berühmten
Heinrich Stiehl genommen hatte. Der damals noch sehr
j'unge Stiehl war eben erst als Organist an die Peterskir-
che berufen worden und erfreute sich einiger Popularität
für seine leichten und dankbaren, wenn auch oberflächli-
chen und physiognomielosen Kompositionen. Auf das poe-
tische Gemüt Peter Iljitsch's machte der majestätische Klang
des Instrumentes, der unerschöpfliche Reichtum seiner Mit-
tel, sowie der grosse, leere, in geheimnissvolles Dunkel
gehüllte Innenraum der evangelischen Peterskirche, in wel-
cher die Stunden stattfanden, einen mächtigen Eindruck.
Dieser Eindruck war aber auch nur ein vorübergehender:
seine Phantasie strebte nach anderen Welten, und das Reich
Bachs blieb ihr ziemlich fern. Als gewissenhafter und streb-
samer Schüler, hat Peter Iljitsch auch bei Stiehl gute Fort-
schritte gemacht, sobald aber die Stunden aufhörten, ver-
schwand auch sein Interesse für die Orgel, und er hat
nicht ein einziges Stück für dieses Instrument komponiert.
V.
„In der Biographie eines Künstlers", — setzt Laroche
fort, — „spielt neben der Entwickelung seiner Persönlichkeit
eine grosse Rolle auch die Beobachtung aller aeusseren
Einflüsse, denen der betreffende Künstler unterworfen ge-
wesen. Im vorliegenden Falle verstehe ich unter „äussere
Einflüsse" das musikalische Repertoir, welches Peter Iljitsch
— ge-
kannte. In der ganzen Zeit seines Aufenthaltes im Konser-
vatorium, besonders im Laufe der ersten zwei Jahre, bin
ich oft und regehiiässig mit ihm zusammen gewesen, und
kann daher ziemHch lückenlos über die musikalischen Ein-
drücke berichten, welche in seiner Seele eine mehr oder
minder nachhaltige Spur hinterlassen haben. Bald nach
unserer ersten Begegnung lud mich Peter Iljitsch zu sich
ins Technologische Institut ein. Seitdem besuchte ich ihn
regelmässig einmal in der Woche abends und brachte je-
des Mal einige vierhändige Noten mit, welche mir dank
der Liebenswürdigkeit des Geschäftsführers der Musikalien-
handlung Bernhard, Herrn J. I. Jurgenson'), in unbeschränk-
ter Menge zur Verfügung standen. Ich kann genau alle
Stücke aufzählen, welche wir im ersten Jahr durchgespielt
hatten. Das waren: die neunte Symphonie von Beethoven,
die dritte von Schumann, auch „Paradies und Peri" und
„Lohengrin". Peter Iljitsch war stets unzufrieden, wenn
ich ihn lange Vokalkompositionen mit unendlichen Reci-
tativen, die auf dem Klavier höchst langweilig klangen,
spielen Hess, aber die Schönheit der ganzen, gebundenen
Sätze entwaffneten ihn immer wieder. Am wenigsten ge-
fiel ihm Richard Wagner. Ueber das berühmte Lohengrin-
Vorspiel hat er sogar direkt geschimpft, und erst viel spä-
ter mit der ganzen Oper Frieden geschlossen. Eines Tages
hatte er sehr unerschrocken geäussert: „Ich weiss nur
Eines, dass Seroff viel mehr Kompositionstalent besitzt,
als Wagner. Den grössten Eindruck haben auf ihn die
dritte S34nphonie von Schumann und der „Ocean" von
Rubinstein hinterlassen. Dieses letztere Stück hörten wir
einige Zeit später unter der Leitung seines Autors, was
unsere Begeisterung für dasselbe noch erhöhte. Mancher
Leser wird sich wundern, zu erfahren, dass eine der grös-
sten Schwärmereien der Jünglingsjahre Peter Iljitsch's —
Henri Litolff war, d. h. eigentlich nur dessen zwei Ouver-
türen „Robespierre" und „Die Girondisten". Ohne zu über-
treiben kann man behaupten, dass seit jenen beiden Ouver-
türen und seit „Struensee" von Meyerbeer Tschaikowsky
das ganze Leben hindurch die Leidenschaft für Programm-
Musik verfolgte.
In seinen ersten Ouvertüren, auch „Romeo und Julie"
nicht ausgeschlossen, ist der Einfluss Litolff's nicht zu ver-
kennen, während er sich Liszt, welcher doch entschieden
'J ]. I. jurgcnson — der lirudci- des 1 liiuj)tvcilcg(4s Tschaikowsky's, I'. I. Jiugcnson.
— 91 —
mehr dazu angethan ist, einen Jüngling zu begeistern, nur
sehr langsam, unentschlossen, misstrauisch näherte. Wäh-
rend der Konservatoriumsjahre hat ihn nur der „Orpheus"
hinzureissen vermocht; die „Faust -Symphonie" lernte er
erst viel später schätzen. Gerechterweise muss ich hier
noch hinzufügen, dass auf den Styl seiner Kompositionen
die s3miphonischcn Dichtungen Liszt's, welche eine ganze
Generation russischer Komponisten zu Sklaven zu machen
vermocht, nur einen sehr unbedeutenden, ephemären Ein-
fluss ausgeübt hatten.
Der Beachtung wert ist der Umstand, dass Peter Iljitsch
in damaliger Zeit viele merkwürdige, krankhafte musika-
lische Antipatieen hatte, von welchen er erst nach gerau-
mer Zeit frei wurde. Diese Antipatieen bezogen sich nicht
auf Komponisten, sondern auf verschiedene Arten der mu-
sikalischen Komposition, richtiger — auf ihre Klangwirkung.
Zum Beispiel, gefiel ihm nicht die Klangkombination des
Klaviers mit dem Orchester, oder der Klang eines Streich-
quartetts, namentlich aber die Vereinigung des Klaviers
mit einem oder mehreren Streichinstrumenten. Obgleich er
aus Wissbegier gern die Werke der Kammermusik und
die Klavierkonzerte studierte, obgleich es sehr oft vorkam,
dass die eine oder die andere dieser Kompositionen ihn
entzückte, schalt er doch bei der ersten besten Gelegenheit
ihre „scheussliche Klangfärbung". Nicht einmal, auch nicht
zehn Mal, sondern Hunderte von Malen hat er in meiner
Anwesenheit geschworen, dass er nie in seinem Leben ein
Klavierkonzert, eine Klavier-Violinsonate, oder ein Trio,
Quartett u. s. w. schreiben werde. In Betreff der Klavier-
Violinsonate hat er allerdings, sein Wort gehalten. Noch
merkwürdiger ist es, dass er um dieselbe Zeit oft gelobte,
nie kleine Klavierstücke und Lieder für Gesang zu kom-
ponieren. Von Letzteren, namentlich, sprach er mit der
grössten Verachtung. Doch луаг diese Verachtung rein
platonischer Natur, denn in dem nächsten Augenblick schon
war er bereit, sich mit mir zusammen an den Gesängen
Glinka's, Schumann's und Franz Schubert's zu erfreuen.
Es war bei Peter Iljitsch eine Art Krankheit, sich in
gewissen musikalischen Dingen für unfähig, für unvermö-
gend zu halten. So oft beteuerte er beispielsweise, dass
er absolut nicht imstande sei, zu dirigieren. Das Kapell-
meistertalent ist sehr oft mit dem Talent eines Begleiters
identisch, und Peter Iljitsch war ein ausgezeichneter Akkom-
pagniator. Diese Thatsache allein musste eigentlich genü-
gen, die Grundlosigkeit seiner Behauptung zu beweisen.
Im Konservatorium gab es die Einrichtung, dass die Schü-
ler der Kompositionsklasse abwechselnd das Schülerorche-
ster zu dirigieren hatten. Tschaikowsky kam als Erster an
die Reihe. Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob er sich
bei jener Gelegenheit „ausgezeichnet" hatte, nur soviel
weiss ich bestimmt, dass Nichts besonders Schlechtes pas-
siert war und dass er kein augenscheinliches Fiasko ge-
macht hatte. Trotzdem fand aber Peter Iljitsch auch in je-
nem ersten Dirigierversuch die Bestätigung seiner Meinung.
Er behauptete, dass ihm das Stehen auf dem erhöhten Po-
dium vor dem Orchester eine solche nervöse Angst ein-
flösse, dass er die ganze Zeit das Gefühl habe, sein Kopf
müsste ihm von den Schultern fallen; um dieser Katastrophe
vorzubeugen, stützte er mit seiner Linken das Kinn, und
dirigierte nur mit der Rechten. Es ist schwer zu glauben,
dass diese fixe Idee noch jahrelang in ihm sitzen blieb.
1868 wurde Peter Iljitsch eines Tages aufgefordert, in einem
Konzert, welche die Moskauer Theaterdirektion zu einem
wohlthätigen Zweck zu geben beabsichtigte, die Tänze aus
seiner neuen Oper „Der Woiwode" selbst zu dirigieren.
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er in jenem Konzert da-
stand, in der Rechten den Taktstock, in der Linken — sei-
nen blonden Vollbart fest zusammengepresst!
Von der leidenschaftlichen Verehrung Tschaikowsky's
für Glinka, besonders für „das Leben für den Zaren", ist
schon an einer anderen Stelle des vorliegenden Buches
die Rede gewesen. Zu denjenigen Werken des Vaters der
russischen Musik, welche dem Herzen Peter Iljitsch's lieb
und teuer waren, gehört auch „Fürst Holmsky". Was aber
„Ruslan und Ludmilla" anbelangt, so waren in Peter Iljitsch
einige Schwankungen bemerkbar, welche jedoch später
näher erörtert werden sollen. Zu Anfang der sechziger Jahre
kannte er nur einige wenige Nummern aus Glinka's zwei-
ter Oper, welche ihm ohne Weiteres gefielen. Desgleichen
gefiel ihm damals ausserordentlich die Musik, sowie auch
der Text der 1863 zur Aufführung gelangten Oper Seroff's
„Judith". Es muss bemerkt werden, dass, während einige
Meisterwerke in seinem musikalischen Pantheon unerschüt-
terlich und unantastbar blieben, wie z. B. „Don Juan",
„Das Leben für den Zaren", „die C-dur-S^^nphonie" von
Schubert, er in Bezug auf andere musikalische Erzeugnisse
gewissermaassen einer starken Ebbe und Flut unterworfen
war; eine Saison trug er sich mit der „Achten" von Beet-
— 93 —
hoven herum, in der nächsten fand er sie bereits „nur
sehr nett, und nicht mehr"; mehrere Jahre lang behauptete
er, dass die Musik zum „Faust" von Pugni (ehemals be-
kannter Balletkomponist) unermesslich wertvoller sei, als
Gounod's gleichnamige Oper, später jedoch nannte er Gou-
nod's „Faust" — ein Meisterwerk. Um so bemerkenswerter,
dass er Seroff 's „Judith" bis an sein Lebensende treu ge-
blieben ist. Einen Teil dieser Sympatie hat er auch auf
die zweite Oper Seroff 's, „Rogneda", übertragen. Der Er-
folg dieses groben und bunten Erzeugnisses war bekannt-
lich ein kolossaler. Viele glaubten, dass Seroff das Geheim-
niss der russischen Musik erschlossen habe, und dass Al-
les Dagewesene nur eine Vorbereitung, Vorahnung des
Gekommenen gewesen sei. Dieser Erfolg ist Seroff selbst
zu Kopf gestiegen, und er machte sich daran, hirnverbrannte
Artikel und ungeniessbare Romanzen zu schreiben. Der
klare und nüchterne Verstand Tschaikowsky's hat auch in
diesem Fall das Gleichgewicht nicht verloren, obgleich auch
er, wenn auch nur in geringem Maasse, mitgerissen wurde.
Die scenischen Effekte, mit welchen die Oper vollgepfropft
ist, wirkten gar zu bestechend, sodass Peter Iljitsch die
Trivialität und Seichtheit der Musik damals sehr nachsichtig
beurteilte, und erst nach und nach eine andere Ueberzeu-
gung gewann. Gegenüber den literarischen Artikeln Seroff's
verhielt sich Tschaikowsky sehr skeptisch; die populären
Vorträge, welche Seroft' im Jahre 1864 hielt, besuchten
wir Beide und belustigten uns gemeinsam über die ver-
zweifelten Anstrengungen des Vortragenden, die Autorität
des Konservatoriums zu untergraben, Glinka zu stürzen
und Werstowsky ^) zu verherrlichen. Schon allein seine
Angriffe gegen Rubinstein, dessen eifriger Anhänger Tschai-
kowsky war, schadeten ihm in den Augen Peter Iljitsch's;
aber noch viel mehr schadeten ihm seine Phrasen „von
dem geistigen Inhalt der Musik", „das sich organisch he-
rausgebildete musikalische Drama" und dergleichen hohe
Dinge, hinter welche Seroff seinen unglaublichen Mangel
an Prinzipien versteckte.
Der Vollständigkeit halber möge mir erlaubt sein, die
persönliche Begegnung Tschaikowsky's mit dem Kompo-
nisten der „Judith" zu beschreiben. Das geschah, wenn
ich nicht irre, im Herbst 1864, und zwar bin ich Derjenige
gewesen, welcher diese Bekanntschaft vermittelte. Einer
1) Alexei Nikolajewitsch Weistovvsky — der Komponist der iu Russland populär ge-
wordenen Oper „Askold's Grab".
— 94 —
unserer Studienkameraden, ein gewisser Slavinsk}', welcher
schon von früher her mit Seroff bekannt war, hatte sich
einst erboten, mich an einem der „Dienstage" bei Seroff
einzuführen. An diesen „Dienstagen" versammelten sich
bei ihm gewöhnlich einige Freunde, meist Schriftsteller,
und \erbrachten den Abend von 8 12 Uhr in Unterhal-
tung bei einem Glase Thee. Unter den Gästen befanden
sich auch Männer, wie Maikow, Strachovv, Awerkieff und
Dostojewsky. Obgleich es mir wie ein Verrat an Rubin-
stein vorkam, dahin zu gehen, so konnte ich mich meiner
Neugier nicht erwehren und liess mich überreden, den
ärgsten Feind des Konservatoriums zu besuchen, welcher
sich als ein zuvorkommender Wirt und bestrickender Ge-
sellschafter erwies. Erst nachdem ich mehrere Male dage-
wesen war, brachte ich es übers Herz, meine „verräterische"
Handlungsweise Rubinstein zu gestehen. Rubinstein fand
jedoch Nichts Uebles darin und sagte, dass er garnichts
dagegen habe, wenn seine Schüler die verschiedensten
Meinungen und Ansichten über musikalische Dinge kennen
lernen. Ungefähr ein Jahr nach meinem ersten Besuch
führte ich auch Peter Iljitsch bei Seroff ein. Ich erinnere
mich, dass an jenem Abend Dostojewsky sehr viel und
sehr unverständig über Musik geredet hat, wie ein echter
Literat, der in musikalischen Dingen absolut unwissend ist.
Die Person Seroff 's hat Peter Iljitsch garnicht gefallen und,
ich glaube, er ist nie wieder hingegangen, obgleich auch
er sehr zuvorkommend und freundlich aufgenommen wor-
den war. Während Peter Iljitsch in dem Autor der „Judith"
nur den Komponisten verehrte und nicht den Menschen,
war in den Beziehungen Seroff's zu Tschaikowsky gerade
das Umgekehrte der Fall. Persönlich hat ihm Peter Iljitsch
sehr gefallen, als er aber anderthalb Jahre später Gelegen-
heit hatte, in einem Konservatoriumskonzert Tschaikowsky's
Abiturientenarbeit, die nach Schiller's Text komponierte
Kantate „An die Freude" zu hören, soll er gesagt haben:
„Nein, die Kantate ist schlecht; von Tschaikowsky habe
ich entschieden mehr erwartet".
Zum Schluss dieser meiner, allerdings, nur unvollstän-
digen, fragmentarischen Erinnerungen an Tschaikowsk3'''s
Konservatoriumsjahre, werde ich mir gestatten, noch eine
Episode zu erzählen, welche zwar nicht sowohl für ihn,
als vielmehr für mich bedeutungsvoll wurde, welche ihn
aber als kritisch denkenden Beobachter der ihn umgeben-
den Erscheinungen charakterisiert. Er gab damals einer
— 95 —
Dame mit Namen Bonne (welche fhm später ein von eigner
Hand stammendes prachtvolles Potrait Rubinsteins schenkte)
Klavier-, vielleicht aber auch Theoriestunden. Ich war mit
dieser Dame nicht bekannt, begleitete ihn aber oft bis vor
die Thür ihrer ziemlich weit gelegenen Wohnung. Eines
Tages waren wir, als wir vor dem Hause anlangten, in
eine so eifrige und interessante Diskussion verwickelt, dass
Peter Iljitsch im Augenblick gar nicht in der Verfassung
war, die Stunde zu geben, und wir auf zwei Prellsteinen
Platz nahmen, um das Gespräch fortzusetzen; d. h. ich
sprach eigentlich allein, während Peter Iljitsch zuhörte, —
das war gewöhnlich so zwischen uns Beiden, denn ich
war mindestens viermal redseliger als er. Ich ging damals
mit Feuer und Erbitterung dem „Kunstwerk der Zukunft"
von Wagner zu Leibe. Peter Iljitsch hörte lange Zeit
schweigend und beifällig nickend zu, dann sagte er aber
plötzlich: „Anstatt ein Langes und Breites darüber zu re-
den, sollten Sie das Alles zu Papier bringen. Ihr unzwei-
felhafter Beruf ist — die musikalische Kritik". Diese ruhigen
Worte, gesprochen inmitten der prosaischen Umgebung
einer schmutzigen, kleinen Gasse, verdrehten mir den Kopf.
Wie ein Verrückter lief ich seither in ganz Petersburg he-
rum, besuchte Redaktion nach Redaktion und bot mich
überall als Mitarbeiter an, natürlich erfolglos. Mehrere Jahre
waren verflossen, ehe meine Bemühungen ein Resultat er-
zielten, aber für mich steht es unzweifelhaft fest, dass die
erste Anregung dazu von Peter Iljitsch ausgegangen war.
Ich glaube, in meiner Person den Vorläufer, den Urtypus
der vielen, vielen jungen Leute erblicken zu dürfen, die
lange Jahre später, als Peter Iljitsch den Höhepunkt sei-
nes Ruhmes erreicht hatte und bereits ein einflussreicher
Mann geworden war, aus allen Weltgegenden zu ihm ka-
men, um ihm ihre Fähigkeiten zu zeigen und ihn um Rat
zu fragen. Zweifellos hat er den entscheidenden Einfluss,
den er ehemals auf seinen Kameraden ausgeübt, später
noch sehr oft Leuten gegenüber zur Geltung gebracht,
welche ihrem Alter nach seine Kinder hätten sein können.
Zweifellos hat er Vielen ihren Beruf angewiesen, und unter
den Heute noch wirkenden Opernsängern und Sängerinnen,
konzertierenden Künstlern und Kapellmeistern, Musikleh-
rern und Schriftstellern giebt es, wahrscheinlich, Manchen,
dessen Talent Peter Iljitsch erkannt, und dessen Laufbahn
er, dank seinem ungewöhnlichen vSch^irfblick vorausbestimmt
hat.
-9б-
Ausser dem Schreiber dieser Zeilen und N. A. Hubert,
dessen Bekanntschaft dem Leser noch bevorsteht, kann ich
nicht einen einzigen Schüler des Konservatoriums nennen,
mit dem Peter Iljitsch in dauernden intim-freundschaftlichen
Beziehungen gestanden und auch nach dem Verlassen des
Konservatoriums solche Beziehungen zu unterhalten fort-
gesetzt hätte. Er war, so zu sagen, zu Allen gut, mit Vie-
len dutzte er sich sogar. Unter diesen mehr oder weniger
ephemären Freunden Tschaikowsk3^'s waren Einige, die
sich mehr, als die Andern durch Talent und Wissen aus-
zeichneten. Von ihnen gebührt die erste Stelle Gustav Kross.
Er war bei seinem Eintritt ins Konservatorium bereits
ziemlich fertiger Pianist, hatte bei Henselt Unterricht ge-
habt und ist in Petersburg oft mit Erfolg in Konzerten auf-
getreten. Das hinderte ihn jedoch nicht, bei Eröffnung des
Konservatoriums in die Klavierklasse Rubinsteins als Schü-
ler einzutreten und drei Jahre daselbst zu verbleiben. Später
ist er an demselben Konservatorium als Professor für Kla-
vierspiel angestellt worden. Dieser Kross war es, welcher,
wie wir weiter unten sehen werden, als Erster Tschaikow-
sky's Klavierkonzert in Petersburg öffentlich gespielt hat.
Dann war da noch ein gewisser Richard Metzdorf, der spä-
ter in Deutschland als Komponist und Kapellmeister vor-
teilhaft bekannt gewordene Sohn des Waldhornbläsers Her-
mann Metzdorf. Er war ebenfalls schon als gereifter Mu-
siker ins Konservatorium eingetreten, nachdem er bereits
ziemlich lange Zeit in Deutschland studiert hatte. Er war
ein gutmütiger, einfacher junger Mann, befand sich damals
aber in einer Sturm — und Drang-Periode, hatte ein unge-
heueres Selbstbewusstsein, redete immer nur von Richard
Wagner und dünkte sich ein „Genie".
Von den Mitschülern Tschaikowsky's sind ausserdem
noch zu nennen: Karl van-Ark, der spätere ausgezeichnete
Pädagoge und Professor des Klavierspiels am Petersburger
Konservatorium; der früher schon erwähnte Slavinsk}^, ein
gewisser Joseph Lödscher und Nikolai Hubert.
Nikolai Albertowitsch Hubert, der Sohn eines Klavier-
lehrers, war trotz seines fremdländischen Namens Stock-
russe. Von Kindheit auf lebte er nur in Musik und durch
Musik, denn er hat schon sehr früh durch Unterrichtgeben
selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen müssen. Infolge-
dessen besass er viele praktische Kenntnisse, war aber
theoretisch ziemlich schwach vorbereitet, als er ins Kon-
servatorium kam. Bei Zaremba machte er ziemlich gewöhn-
— 97 —
liehe, eigentlich sogar etwas farblose ( — wenn man so sa-
gen darf) Fortschritte. Die vielen Privatstimden, die er zu
geben genötigt war, im Verein mit seiner schwächlichen
und unbeständigen Gesundheit, hinderten ihn, über das
notwendigste Maass hinaus zu arbeiten, und -obgleich er
auf uns wohl den Eindruck eines talentvollen Musikers
und klugen Menschen machte, so erblickte Keiner von uns
in ihm einen zukünftigen Komponisten, aber auch er selbst
schien keinen besonderen Ehrgeiz dafür zu besitzen. Er
war ein edler, warmherziger Mensch, ein interessanter Er-
zähler und pflegte die Gastfreundschaft. Er liebte es, in
seinem grossen, aber nur sehr mangelhaft möblierten Zim-
mer, seine Freunde zu versammeln und mit ihnen die Abende
beim gemütlichen Samowar zwischen Musizieren und Dis-
putieren zu verbringen. Die eifrigsten Besucher dieser Aben-
de waren Tschaikowsky, Lödscher und ich. Die eigentliche
intime Freundschaft Tschaikowsky's und Hubert's nahm
jedoch erst viel später ihren Anfang, erst nachdem Hubert
sein Amt als Direktor des Moskauer Konservatoriums nie-
dergelegt hat, also etwa um die Mitte der achtziger Jahre".
Damit schliesst Laroche seine „Erinnerungen". Ehe ich
aber mit der Schilderung des privaten Lebens Peter Iljitsch's
in jener Epoche beginne, seiner Beziehungen ausserhalb
des Konservatoriums, möchte ich dem Leser einige nicht
uninteressante Einzelheiten aus dem Thun und Treiben der
Konservatoriumszöglinge mitteilen, die zwar ganz neben-
sächlich sind und auf das musikalische Gedeihen unseres
Komponisten gar keinen Einfluss gehabt haben, die aber
das Bild seines Konservatoriumslebens etwas vervollstän-
digen, und die ich wiederum Laroche's Erinnerungen ent-
nehme.
„Ungefähr um das Jahr 1863 wurde in Petersburg circa
ein halbes Dutzend kleiner Cafe-und Speisehäuser eröffnet,
welche ausschliesslich in Kellerräumen placiert waren und
auf ihren Aushängeschildern alle die gleiche Inschrift tru-
gen; „Ein Glas Thee — 5 Kopeken, ein Glas Kaffee — 5 Ko-
peken, ein Glas Chokolade — 10 Kopeken". Angelockt durch
die Billigkeit, verhältnissmässige Reinlichkeit und, was das
Wichtigste war, die vorteilhafte Lage in der Nähe des Kon-
servatoriums, strömte die ganze Aristokratie der Musikstu-
dierenden nach diesen Kellercafes. Wir verbrachten dort die
zwischen Proben, Vorlesungen und Privatstunden liegen-
den Pausen, sodass wir trotz unseres permanenten Geld-
mangels damals ein viel regeres Kneipenleben führten, als
Tschaikowsky, M. P. 1. Tschaikowsky's Leben. 7
-98-
jemals später. Besagte Lokale erhielten von uns den Na-
men „Fünfer-Cafe". Zu gewissen Stunden herrschte in einigen
von ihnen entschieden das musikalische Element vor und
man konnte fast an jedem Tisch die in unserer Kunst ge-
bräuchlichen technischen Ausdrücke hören. Auch Peter
Iljitsch gehörte zu den Stammgästen der „Fünfer-Cafe's".
•=fyi#=-
VI.
Im Herbst des Jahres 1863 kam die Mutter unseres
Schwagers Leo Wassiljewitsch Dawidow nebst ihren Töch-
tern nach Petersburg und schlug daselbst ihr Heim auf.
Alexandra Iwanowna, die Wittwe des bekannten De-
kabristen Wassili Dawidow, war eine sehr rüstige, gute
und kluge alte Frau, die in ihrem langen Leben viel ge-
sehen und viel gelitten hatte. Von ihrer sehr zahlreichen
Familie sind nur vier Töchter und der jüngste Sohn, Ale-
xei, den Peter Iljitsch schon von früher her kannte, mit
nach Petersburg gekommen. Peter Iljitsch befreundete sich
sehr bald auch mit den Schwestern Alexei's sowohl als
auch mit Alexandra Iwanowna selbst. Von den Schwestern
waren es namentlich Elisabeth und Wera, mit denen er
in sehr herzliche Beziehungen trat, und zwar — wiederum
dank der Musik. Beide Schwestern liebten diese Kunst und
interessierten sich für dieselbe sehr, hauptsächlich Wera,
für welche das Leben in Petersburg nur deswegen grosse
Anziehungskraft besass, weil es ihr die Möglichkeit bot,
bei guten Lehrern Klavier-und Gesangunterricht zu nehmen.
Nirgends fühlte sich Peter Iljitsch so heimisch, wie bei
Dawidow's. Ausser der Freude, welche er in seiner Rolle
als musikalischer Vormund und Cicerone Wera Wassiljew-
na's fand — war er glücklich, einen Neuling in die Schön-
heiten der Werke Schumann's, Berlioz' und Glinka's, wel-
che für ihn selbst noch den ganzen Zauber unlängst ent-
deckter Welten hatten, einweihen zu dürfen — war es für
ihn ein grosser Genuss mit Alexandra Iwanowna und Eli-
sabeth Wassiljewna zu plaudern.
— 99 —
Peter Iljitsch interessierte sich von jeher für die Ver-
gangenheit seines Vaterlandes, im Besonderen für die Re-
gierung Katharinas II. und Alexanders I. Alexandra Iwa-
nowna war sozusagen ein lebendiges Stück Geschichte der
letzten Herrscherjahre Alexanders I. und hatte viele her-
vorragende Männer jener Zeit persönlich gekannt, unter
Anderen auch A. b. Puschkin, welcher oft Dawidow's
Gast in Kamenka gewesen war. Daher liebte es Peter Il-
jitsch sehr, den Erzählungen Alexandra Iwanowna's über
Freud' und Leid aus alter Zeit zu lauschen.
Elisabeth Wassiljewna, bereits ein ältliches Fräulein,
regte die Wissbegier Peter Iljitsch's ebenfalls in hohem
Maasse an. Sie war von ihrer Mutter seinerzeit, als diese
ihrem Gemahl freiwillig in die Verbannung zu folgen be-
schlossen hatte, der Gräfin Tschernyschoff-Kruglikoff zur
Erziehung anvertraut worden, und ist also in einem Hause
aufgewachsen, in welchem die bedeutendsten Persönlich-
keiten der ersten Regierungsjahre Nikolai's I. verkehrten.
Sie ist mit Gogol und Puschkin bekannt gewesen und hat
viele Reisen durch Europa und Sibirien gemacht. Ausser-
dem interessierte sie sich sehr für Kunst und Literatur,
verfügte auch selbst über ein hübsches Talent zum Zeichnen.
Unter denjenigen wenigen Bekannten Peter Iljitsch's,
welche trotz dessen Uebergang zur Musik ihre freund-
schaftlichen Beziehungen zu ihm beibehalten hatten, befand
sich auch der Fürst Alexei Golizin. Er hat den armen
Musiklehrer und Konservatoristen sogar vielfach unterstützt,
half ihm, Privatstunden zu finden, lud ihn oft zu glänzen-
den Festlichkeiten ein, und überredete ihn endlich, den
Sommer bei ihm auf seinem prächtigen Landsitz Trostinez
(Gouvernement Charkow) zu verbringen. Peter Iljitsch
hatte ursprünglich den Wunsch, jenen Sommer bei seiner
Schwester in Kamenka zu verleben, da ihm aber die nö-
tigen Mittel für diese grosse Reise fehlten — Eisenbahnen
gab es dorthin noch nicht und die Fahrt per Diligence
kostete sehr teuer, so entschloss er sich, der Aufforde-
rung des Fürsten Folge zu leisten, und verbrachte den
Sommer 1864 in Trostinez.
Das Leben beim Fürsten kam Peter Iljitsch wie ein
Märchen vor. Er war mit einer Pracht und mit einem Lu-
xus umgeben, w^e nie vorher. Die Gegend war herrlich,
dazu genoss Peter Iljitsch vollkommene Freiheit. Des mor-
gens und den Tag über arbeitete er, oder unternahm ein-
same Spaziergänge, die Abende jedoch widmete er dem
Fürsten und seinen Gästen.
— lOO —
Um dem Leser einen Begriff zu geben, mit welcher
Zuvorkommenheit und Aufmerksamkeit Peter Iljitsch vom
Fürsten behandelt wurde, genügt es, eine einzige Begeben-
heit zu erzählen. Am 29. Juni, dem Namenstage Peter II-
jitsch's inszenierte der Fürst ihm zu Ehren ein grossarti-
ges Fest. Nach dem Vormittagsgottesdienst gab es ein
feierliches Frühstück und abends, als es dunkel geworden
war, unternahm man eine Spazierfahrt durch den Wald.
Der ganze Weg war zu beiden Seiten mit brennenden Pech-
fässern umstellt, was einen grandiosen Anblick gewährte.
Inmitten des Waldes, in einem Pavillon war die Festtafel
gedeckt und rundherum im Grünen waren zu Ehren Pe-
ter Iljitsch's Volksbelustigungen aller Art eingerichtet.
Von den Briefen Peter Iljitsch's aus jenem Sommer ist
nur einer erhalten geblieben, der am 28. Juli an seine
Schwester adressierte:
„Liebe Sascha! Mit Unrecht glaubst Du, dass ich nur
deshalb nicht in Kamenka bin, weil es mir bei Golizin so
gut gefällt, dass ich mich von ihm nicht trennen kann. Ich
gebe es wohl zu, dass ich es hier sehr gut habe, aber bei
Dir und den Deinigen hätte ich es gewiss noch viel bes-
ser. Mein Herz sehnt sich zwar nach Dir, der Verstand
gebietet aber aus vielen schwerwiegenden Gründen, unser
Wiedersehen bis zum künftigen Sommer zu verschieben;
dann komme ich aber direkt von Petersburg für volle drei
Monate..... Habe Dank für Deinen Brief; er hat mich in
der That beruhigt: ich habe wohl ein w^enig gefürchtet,
dass Du mir böse seiest. Ich lebe hier sehr still und sehe,
ausser Golizin, Niemanden. Sage an Wera Wassiljewna,
dass mein „Gewitter" gute Fortschritte macht, und dass
sie riskiert, dasselbe in der Musikalischen Gesellschaft zu
Gehör zu bekommen".
Wie aus den letzten Worten des Briefes hervorgeht,
hat Peter Iljitsch in Trostinez sein erstes ganz selbständig
komponiertes Werk verfasst und instrumentiert.
Er hatte schon von jeher geschwärmt, den Inhalt sei-
nes liebsten russischen Dramas, „Gewitter" von Ostrow-
sky, für die Komposition einer Oper zu verwenden. Als
nun A. Rubinstein für die Sommerferien 1864 ihm die Aufgabe
stellte, eine grosse Ouvertüre zu komponieren, wählte er
selbstverständlich, das ihn seit lange interessierende Thema.
Auf Seite 30 der in meiner Verwahrung liegenden Instru-
mentationsarbeiten Peter Iljitsch's von 1863 1864 hat sich
noch das mit Bleistift hingeworfene Programm dieser Ouver-
lOI —
ture erhalten: „Einleitung: adagio (die Kindheit Katharinas
und ihr ganzes Leben vor der Heirat), allegro (Andeutung
des Gewitters): ihre Sehnsucht nach wahrhafter Liebe und
Glück. Allegro appassionato (ihr Seelenkampf). Plötzlicher
Uebergang zum Abend am Ufer der Wolga: wieder der
Kampf nur mit dem Zug eines gewissen fieberhaften
Glückes. Die Vorboten des Gewitters (Wiederholung des Mo-
tives nach dem adagio und die weitere Entwickelung je-
nes Motives). Gewitter: der Höhepunkt des verzweifelten
Kampfes und — der Tod".
Die nächste selbständige Komposition Peter Iljitsch's,
welche nicht verloren gegangen, wie viele andere seiner
ersten Arbeiten, sind — die „Tänze der Landmädchen",
welche er später als Balletnummer in seine Oper „Der
Woiwode" hereingenommen hat. Es lässt sich nicht mit
Bestimmtheit sagen, wann diese Tänze komponiert worden
sind, gewiss ist nur, dass sie im Früjahr 1865 bereits fertig
und auch schon instrumentiert waren.
VII.
In der ersten Hälfte des Jahres 1865 trat Ilja Petro witsch
zum dritten Mal in den heiligen Ehestand, und zwar mit
der Wittwe Elisabeth Michailowna Alexandrowa. Eine Ver-
änderung im äusseren Leben Peter Iljitsch's ist deshalb
nicht eingetreten, da Elisabeth Michailowna schon seit 1862
mit der Familie Tschaikowsky bekannt gewesen, stets an
ihrem Schicksal den lebhaftesten Anteil genommen hat,
und dafür von Allen verehrt und geliebt wurde. Auch
Peter Iljitsch hatte diese Frau sehr gern und suchte in
schwierigen Fällen oft Rat und Hilfe bei ihr. Bald darauf
beschloss Ilja Petro witsch, um die Schulden schneller los
zu werden, seinen Haushalt für den Zeitraum eines Jah-
res aufzulösen und dieses Jahr bei seiner ältesten Tochter
Zinaida Olchowsky im Ural zu verbringen, während seine
Gattin bei ihren Verwandten Unterkunft finden sollte. Pe-
ter Iljitsch, jedoch, und seine Brüder machten sich zur
Schwester Alexandra nach Kamenka auf.
I02 —
Kamenka ist ein am Fluss Tjasmin gelegenes idyllisches
Oertchen, welches nebst umfangreichen Ländereien das auf
den Bruder des Schwagers Peter Iljitsch's überkommene
Erbe des nach Sibirien verbannten Dekabristen Wassily
Dawidow bildete, und seinerzeit eines der wichtigsten Zen-
tren der unter der Regierung Alexanders I. umsichgreifen-
den revolutionären Bew^egung war. Nikolai Wassiljewitsch
Dawidow, ein früherer Gardeoffizier, hatte die Verwaltung
seines Gutes seinem Bruder Leo Wassiljewitsch, dem Schwa-
ger Peter Iljitsch's überlassen, und behielt nur die Aufsicht
über die Gärtnereien für sich, beschäftigte sich im Uebri-
gen aber eifrig mit dem vStudium politischer, historischer
und philosophischer Fragen.
Kamenka verfügt nicht über bemerkenswerte Natur-
schönheiten. Der Aufenthalt daselbst hat Peter Iljitsch
nichtsdestoweniger ausserordentlich gefallen und in ihm so-
gar die Erinnerung an die Pracht Trostinez's verdunkelt.
Alles und Alle gefielen ihm hier, angefangen mit Nikolai
Wassiljewitsch, welchen er sich, bevor er ihn persönlich
kennen lernte, als einen menschenscheuen Grübler und Pe-
danten vorgestellt hatte, der den grössten Teil des Tages
in seiner Bibliotek zubrachte und Alles Das verächtlich
anblickte, worauf er freiwillig verzichtete. Peter Iljitsch
war daher nicht wenig erfreut, ih ihm zwar einen ältlichen,
aber frischen, schönen, sehr liebenswürdigen und mitteil-
samen Mann zu finden, welcher sich durch eine sehr eigen-
artige Verstandesrichtung auszeichnete und dessen An-
sichten und Meinungen mit den damals allgemein üblichen
liberalen Ideen durchaus nicht harmonierten. Dieser ur-
wüchsige und kraftvolle Mensch imponierte Peter Iljitsch
in hohem Maasse und hat sogar seine, Peter Iljitsch's, po-
litischen Ueberzeugungen in anderes Fahrwasser zu brin-
gen vermocht.
Allerdings ist Peter Iljitsch bis ans Ende seiner Tage
ohne irgend welche bestimmt ausgeprägte politische An-
sichten ausgekommen; seine Tendenzen schwankten ziem-
lich oft und waren bald von dieser bald von jener Färbung,
je nachdem, ob er für diesen oder jenen Leiter der öffent-
lichen Meinung Sympatie oder Antipatie hatte. Daher kam
es jedenfalls auch, dass seit der Bekanntschaft Nikolai
Wassiljewitsch's mit Peter Iljitsch die politischen Ueber-
zeugungen des Letzteren eine mehr konservative Schattie-
rung erhalten hatten.
Hauptsäcliüch war es aber das gemütliche und muster-
— юз —
giltige Familienleben Alexandra Iljinischna's, welches so
wohlthuend auf Peter Iljitsch лvirkte. Glücklichere Men-
schen konnte er sich garnicht denken, und er wurde bei
ihrem Anblick von einer solchen Freude und Rührung
ergriffen, dass er noch lange Zeit darauf das Leben in Ka-
menka als die Verkörperung des idealsten irdischen Glückes
betrachtete. Die Familie seiner Schwester würde seit-
her für ihn der liebste Zufluchtsort: dort erholte er sich
später gar oft von den Mühsalen und Aufregungen seines
Lebens; dort schlug er endlich 12 Jahre später sein be-
ständiges Heim auf.
Vielleicht wären diese erfreulichen Eindrücke nicht so
stark gewesen, wenn'nicht ausser ihnen das Bewusstsein voll-
brachter Arbeit beruhigend auf Peter Iljitsch gewirkt hätte.
A. Rubinstein hatte ihm, nämlich, dieses Mal die Aufgabe ge-
stellt, die „Instrumentationslehre" von Gevaert ins Russi-
sche zu übersetzen. Diese Aufgabe hat er gewissenhaft
erfüllt und hat ausserdem eine grosse Konzertouverture in
C-moll komponiert.
In musikalischer Hinsicht sollte er in Kamenka, übrigens,
eine kleine Enttäuschung erleben. Er hatte früher viel von
den ungewöhnlichen melodischen Schönheiten der klein-
russischen Volkslieder sprechen hören und hoffte daher,
recht viele dieser Melodieen zu notieren und eine ganze
Menge Material für zukünftige Kompositionen bei seiner
Rückkehr nach Petersburg mitzubringen. Das geschah je-
doch nicht. Das, was er zu hören bekommen hat, schien
ihm unnatürlich, gekünstelt zu sein, und stand an Schön-
heit und Originalität gegenüber den grossrussischen Volks-
melodieen bedeutend zurück. Nur ein einziges Lied hat er
in Kamenka notiert, welches die Arbeiterinnen im Garten
immer sangen. Dieses Thema hat er anfangs in ein Streich-
quartett, dass er im Herbst zu komponieren begann, he-
reingenommen, später verwendete er es jedoch in dem
Klavierstück „Scherzo ä la russe", Op. i Л'2 1. In der zweiten
Hälfte des August reiste Peter Iljitsch mit seinen Brüdern
nach Petersburg ab.
Auf dem Wege zwischen Kiew und dem Städtchen
Ostrow hatten sie mit vielen Unzuträglichkeiten zu kämp-
fen. Infolge der Durchreise des Grossfürsten Nikolai nach
dem Süden, waren nirgends Postpferde aufzutreiben und
man musste sich mit Bauerngäulen und unerfahrenen Kut-
schern zufrieden geben, was nicht nur oft Verzögerungen
verursachte, sondern auch einige Lebensgefahr mit sich
— I04 —
brachte. Ich erinnere mich, лу1е einst die Pferde mit unse-
rer Ecjuipage bergab durchgingen, und nur durch einen
Zufall bei einer Krümmung des Weges direkt vor einem
gähnenden Abgrund noch rechtzeitig Kehrt machten und
über die Brücke rannten. Ausserdem mussten wir stark
durch Hunger und Durst leiden, denn auf den Stationen
und in den Hotels waren sämmtliche Lebensmittelvorräte
vom Gefolge des Grossfürsten aufgezehrt, sodass wir ta-
gelang ausser Schwarzbrot und Wasser Nichts zu essen
und zu trinken fanden.
'"Щ^~
VIII.
. „Petersburg empfing uns mit einem gewaltigen Regen-
guss", schrieb Peter Iljitsch an seine Schwester zurück.
Aber auch in verschiedenen anderen Hinsichten bereitete
ihm Petersburg einen recht unfreundlichen Emj)fang.
Erstens hat ihm die Wohnungsfrage viel Unannehmlich-
keiten gekostet. Das Zimmer, welches man ihm für 8 Ru-
bel monatlich gemietet hatte, erwies sich sehr klein und
ungemütlich.
Anfangs dachte Peter Iljitsch, dass es ihm nur so vor-
komme und dass er sich bald daran gewöhnen werde, aber —
je länger er darin wohnen blieb, desto „abscheulicher"
fand er es, sodass er endlich im September zu Frau E. A.
Schobert zog, um nach Monatsfrist auch dieses Heim zu
verlassen. „Seit der Zeit, dass ich hier wohne", schreibt
er Mitte Oktober, — „fühle ich mich ununterbrochen schlecht:
bald habe ich Armschmerzen, bald Fussschmerzen, bestän-
digen Husten u. s. w. Ausserdem bin ich hier zu weit
entfernt vom Zentrum, vom Konservatorium. Ruhe geniesse
ich garnicht: die Klingel befindet sich neben meinem Zim-
mer und geht immer zu, den ganzen Tag". — Diese Woh-
nungsnot nahm erst im November ein Ende, als Apuchtin,
in der Absicht, Petersburg für zwei Monate zu verlassen,
ihm sein Zimmer zur Benutzung anbot.
Zweitens, stellte sich bei ihm ein hartnäckiges Augen-
leiden ein und liinderte ihn am regelmässigen Arbeiten,
— I05 -
Drittens, begann die Sorge um seinen Lebensunterhalt
und an seine Zukunft nach Beendigung des Konservato-
riums an ihm zu nagen. Solch ein Leben, wie er es jetzt
führte, auch später fortzusetzen — erschien ihm schrecklich.
Augenblicklich musste er aus seinen eigenen Mitteln,
welche sich nicht vergrössert hatten, seine ganzen mate-
riellen Bedürfnisse bestreiten. Ausserdem musste er am
I. November einen Wechsel über 150 Rubel bezahlen,
denn der Gläubiger wollte keinen Aufschub gewähren, ob-
gleich ihn Peter Iljitsch himmelhoch bat, doch bis zum
Frühjahr zu warten, denn bis dahin hoffte er, von Rubin-
stein das Honorar für die Uebersetzung zu erhalten. Nach
vielen fruchdosen Bemühungen ist es Peter Iljitsch mit
Hilfe seiner Stiefmutter gelungen, diese Schuld zu bezahlen.
Wie schwer ihm der Kampf mit der Not damals ge-
wesen sein muss, geht aus dem Umstand hervor, dass die
bereits längst vergessenen Zweifel an seiner musikalischen
Carriere von Neuem in ihm auftauchten und der Gedanke
an die Wiederaufnahme des Staatsdienstes nicht mehr so
schrecklich schien. In einigen Freunden fand seine momen-
tane Schwäche Wiederhall, Einer von ihnen hat ihm sogar
allen Ernstes eines Tages die leidlich bezahlte Stellung
eines „Fleischbeschauers", oder „Aufsehers über Lebens-
mittel" angeboten. Zum grossen Glück aller Konsumen-
ten jener Lebensmittel und zum Heil unseres Komponisten
selbst ist es damals jedoch bei dem blossen Angebot ge-
bheben.
Gleichzeitig mit der Periode der grössten Armut Peter
Iljitsch's und des ihn in allen seinen materiellen Unterneh-
mungen verfolgenden Missgeschickes, erblühte ihm aber
auch der erste Lorbeer in seiner Kunst. „Im Allgemeinen
ist meine Stimmung eine ziemlich gute, — trotz aller Pla-
gen",— schreibt er an seine Schw^ester, — „denn mein Ehr-
geiz (dieser mein grösster Fehler) ist in letzter Zeit durch
einige musikalische Erfolge sehr geschmeichelt worden".
Diese Erfolge halfen ihm, eine recbit philosophische Ruhe
zu bewahren gegenüber all' den kleinen Unannehmlichkei-
ten, Unbequemlichkeiten und sonstigen Leiden, die er in
damaliger Zeit über sich ergehen lassen musste.
Freilich waren jene künstlerischen Erfolge nur sehr be-
scheidene im Vergleich zu denen, die in Zukunft seiner
harrten, doch ist gewöhnlich für einen so jugendlichen
Musiker schon das Lob des Professors, der Beifall der Ka-
meraden, oder ein, wenn auch noch so mangelhafter und
— io6 —
bedeutungsloser öffentlicher Vortrag" eines seiner Werke —
schon genügend, um in seinem Herzen helle Freude zu
entfachen. So hat denn auch die im August stattgehabte
Aufführung der „Tänze der Landmädchen" in Pawlowsk
unter Leitung des Walzerkönigs Johann Strauss unseren
jungen Komponisten sehr ermuntert. Ein anderes für Pe-
ter Iljitsch sehr freudiges Ereigniss bestand darin, dass
Nikolai Rubinstein, der nach dem Muster seines Bruders
auch in Moskau (1864) ein Konservatorium gegründet hatte,
ihn dorthin als Professor für Theorie engagierte.
Anfangs fiel N. Rubinsteins Wahl auf Seroff, welcher
sich damit auch einverstanden erklärt hatte. Als aber die
Oper „Rogneda" in Petersburg einen so kolossalen Erfolg
errang, während die „Judith" in Moskau Fiasko machte,
so zog Seroff schleunigst sein Versprechen zurück und
wollte in Petersburg bleiben. Das geschah im Herbst 1865.
Da blieb Nikolai Rubinstein Nichts Anderes übrig, als einen
Schüler des Petersburger Konservatoriums aufzufordern,
als Lehrer für Harmonie nach Moskau zu kommen. Als
einen Solchen empfahl ihm A. Rubinstein denn auch Tschai-
kowsky. Obgleich das für Letzteren ein sehr ehrenvolles
Anerbieten war, ging er nicht ohne Weiteres darauf ein,
denn das von Nikolai Rubinstein vorgeschlagene Honorar
betrug nur 50 Rubel monatlich, überstieg also nicht die
Summe, mit welcher Peter Iljitsch in Petersburg sich nur
mühsam durchzuschlagen vermochte. Erst im November
entschloss er sich, die Stelle anzunehmen.
Die übrigen Erfolge, welche Peter Iljitsch damals zu
verzeichnen hatte, galten seinen Kompositionen.
Trotz seiner lästigen Augenkrankheit und trotz seiner
Umzüge von einer Wohnung zur andern, war die Zeit Pe-
ter Iljitschs nicht fruchtlos verstrichen. Er hat damals ein
Streichquartett (B-dur) ^) und eine Ouvertüre (F-dur) kom-
poniert. Das Quartett ist an einem Vortragsabend im Kon-
servatorium (30. Oktober 1865) gespielt worden, und vier-
zehn Tage später kam auch die Ouvertüre ^) in einem
Zöglingskonzert zum Vortrag.
Im November begann Peter Iljitsch mit der Komposition
einer Kantate für Chor und Orchester über Schillers Hym-
nus „An die Freude" ^) Diese Arbeit hat ihm A. Rubinstein
1) Von diesem Streichquartett ist nur das erste ЛИедго unverselirt gel)liebeii. Die
anderen Teile hat wahrcheinlich der Komponist selbst später vernichtet.
-) Diese Ouvertüre hat I'eter Iljitsch später (ür grosses Orchester umgearbeitet, in
welcher Form sie verschiedentlich in Petersburg und Moskau aufgeführt wurde.
3) Das Manuscript dieser Kantate befindet sich im Archiv des Petersburger Kon-
servatoriums.
— I07 —
als Ahituriiimaiifgabe übertragen und wollte sie gelegentlich
des Jahresaktus im Konservatorium auiführen. Die Kan-
tate enthält sechs Sätze:
I. histrumentale Einleitung.
II. Allegro non troppo für Chor und Orchester.
Freude, schöner Götterfunken!
Tochter aus Elysium, etc.
III. Adagio molto für Soloquartett.
Wem der grosse Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein, etc.
IV. Allegro für Soli, Chor und Orchester.
Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur, etc.
V. Andante non troppo, für Bass-Solo,
Chor und Orchester.
Froh, wie seine Sonnen fliegen, etc.
VI. Finale. Allegro giusto für Soli, Chor und Or-
chester.
Freude sprudelt in Pokalen, etc.
Am 31. Dezember 1865 fand im Konservatorium die
überaus feierliche öffentliche Prüfung für die Abiturienten
statt. In Gegenwart sämmtlicher Direktoren der Russischen
Musikalischen Gesellschaft und der Prüfungskomission, in
deren Mitte einige vom Ministerium des Kaiserlichen Ho-
fes ernannte Regierungs-Delegierte sassen: der Direktor
des Hofchors, N. Bachmetjew und die Kapellmeister der
Kaiserlichen Theater, Kashinsk\', Ljadow und Ricci wurde
die Kantate von Tschaikow^sky von den Zöglingen des
Konservatoriums zum Vortrag gebracht.
Peter Iljitsch selbst blieb der Feierlichkeit fern, um dem
mündlichen Examen, w^elches vor der Ausführung der Kan-
tate stattfinden sollte, aus dem Wege zu gehen. A. Rubin-
stein war darüber sehr erzürnt und wollte dem eigensin-
nigen Schüler das Reifezeugniss solange vorenthalten, bis
er sich dazu verstehen würde, seine theoretischen Kennt-
nisse öffentlich prüfen zu lassen. Dazu kam es jedoch nicht.
Wahrscheinlich hat sich das Können und Wissen des jun-
gen Künstlers in seiner Kantate zur Genüge offenbart, und
er sowohl als seine Kommilitonen: Ludwig Albrecht (Vio-
loncello), Wassily Bessel (Bratsche), Gustav Kross (Klavier),
Kvan Ribassow (Klavier) und Alexander Reinhard (Klavier) —
sind alle des Diploms und des Titels „Freier Künstler" für
— io8 —
würdig erachtet worden. xKiisserdem hat man Kross und
Tschaikowsk}' durch Verleihung je einer silbernen Medaille
ausgezeichnet.
Trotz dieses offiziellen Erfolges hat die Kantate den
Beifall der hervorragenden musikalischen Autoritäten der
damaligen Zeit nicht gewonnen.
Anton Rubinstein hat sie offenbar nicht gefallen, denn
Peter Iljitschs Bitte, sein Werk in einem der Konzerte der
Russischen Musikalischen Gesellschaft aufzuführen, hat er
abgelehnt, — es sei denn, dass Peter Iljitsch „umfassende
Aenderungen" vornehme, denn so, wie die Kantate war,
erschien sie ihm nicht gut genug, um neben den Werken
anderer russischer Komponisten (Sokalsky, Christianowitsch,
Rimsky-Korsakoff und Balakireff) placiert zu werden. Die
Meinung Seroff's in Betreff dieser Komposition kennen wir
bereits.
In dem Seroff feindlich gesinnten Lager jungrussischer
Komponisten, welche sich um Dargom^-zski schaarten und
unter welchen sich auch Balakireff, Rimsky-Korsakoff und
Cesar Cui befanden, hat die Kantate noch weniger Anklang
gefunden. Drei Monate nach der Aufführung verfasste Cui,
der Rezensent der „St. -Petersburger Nachrichten", folgende
Kritik: „Der Konservatoriumskomponist, Herr Tschaikow-
sk\', ist — sehr schwach. Allerdings komponierte er die Kan-
tate unter sehr ungünstigen Verhcältnissen: auf Bestellung,
zu einem bestimmten Termin, auf ein gegebenes Thema
und unter Beibehaltung der üblichen Formen. Und doch,
wenn er nur etwas Talent hätte, würde dasselbe gewiss
an irgend einer Stelle die Konservatoriumsfesseln gesprengt
haben. Um nicht viele Worte zu machen, werde ich nur
Eines sagen: alle Herrn vom Schlage Reinthalers und Volk-
manns würden über Herrn Tschaikowskv's Kantate "gewiss
hocherfreut sein und ausrufen: „noch Einer von den Un-
serigen"!
So beurteilten das erste Werk Tschaikovvsk^^'s die mu-
sikalischen Grössen und die Presse.
Ich bin aber im Besitz noch einer anderen Meinung,
welche nicht von einem grossen Meister herrührt, sondern
von einem zwanzigjährigen Jüngling, welcher seinen mu-
sikalischen Lehrgang noch nicht ganz durchgemacht, wel-
cher später, allerdings, Musikkritiker geworden ist, jene
Meinung aber einige Jahre vor dem Anfang seiner musik-
schriftstellcrischen Thätigkeit geäussert hatte. Folgendes
schrieb der Schüler des Konservatoriums, Laroche, an Pe-
ter Iljitsch nach Moskau:
— I09 —
„Petersburg, Mitternacht des ii. Januar 1866.
Rubinstein hat mir gesagt, dass er die Kantate nur
unter der Bedingung grosser Aenderungen aufführen wird.
Das bedeutet aber soviel, dass Sie nun die ganze Partitur
umschreiben müssen. Ob sich das lohnt? Damit will ich
die Vorzüge Ihrer Kantate durchaus nicht verneinen rf^'e^r
Kantate ist das f/rössfc musikalisc/ie Ereigniss Rvssiand's
nach der „Jad/tli'^; sie steht, was Inspiration und Arbeit
anbetrifft, unermesslich höher, als die berühmte und nichts-
würdige „Rogneda". Aber das Umschreiben!! Umschrei-
ben — ist schrecklich! Bilden Sie sich nicht ein, dass ich
Ihnen dieses als Freund sage: ich sage es Ihnen offen,
dass ich in Verzweiflung bin, als Kritiker bekennen zu
müssen, dass iSie das (jrösste musikalische Talent des дед en-
nmrtigen Russland. sind. Kraftvoller und origineller als Ba-
lakireff, edler und schöpferischer als Seroff, unvergleichlich
gebildeter als Rimsky-Korsakoff! In Ihnen erblicke ich die
grösste, oder bes^^er gesagt die einzige Hoffnung unserer mu-
sikalischen Zukunft! Sie wissen sehr gut, dass ich nicht
schmeichle: ich habe keinen Augenblick gezögert, Ihnen
zu sagen, dass Ihre „Römer im Kolosseum" eine traurige
Trivialität und dass Ihr „Gewitter" ein Museum antimusi-
kalischer Kuriositäten w\ären. Uebrigens ist Alles, was Sie
bisher gemacht haben, die „Charaktertänze" und die Szene
aus „Boris Godunow" ') nicht ausgenommen, in meinen
Augen nur eine vorbereitende, experimentale (wenn man
so sagen darf) Schularbeit. Ihre eigentlichen Schöpfungen
tverden vielleicht erst nacli fünf Jahren beginnen. Diese rei-
fen und klassischen ScJiöpfungen aber, iverden Alles über-
treffen, ivas lüir nach Glinka gehabt haben.
Um kurz zusammenzufassen, was ich eben gesagt ha-
be:— nicht dafür verehre ich Sie so sehr, was Sie bis jetzt
vollbracht haben, sondern dafür, was Sie bei der Macht
und Lebendigkeit Ihres Genie's noch zu vollbringen im-
stande sind. Die Proben, die Sic bisher geliefert sind nur
das feierliche Versprechen, alle Ihre Zeitgenossen zu über-
flügeln".
•^i^r
ij Mit Ausnalime der Tüiiice und des „Gewiller'b" ist Alles spurlos verschwunden.
Э}гф;;^^-;Ь-^|^^^'ф!-^^^-^'-^"(Ь"^<^"^'^'^<ф^'ф"ф"ф"ф^'^
t
Vierter Teil.
I.
Die ersten Eindrücke in Moskau und ihre Bedeutung
für Peter Iljitsch beschränken sich auf einige Moskowiter,
die er kennen lernte und mit denen er allmälig herzliche,
bis an sein Lebensende dauernde Beziehungen anknüpfte.
Seine ganze spätere künstlerische Thätigkeit hängt so un-
trennbar mit dem kleinen Kreis seiner Moskauer Bekannten
zusammen, dass es für den Leser von hiteresse sein dürfte,
die einzelnen Personen jenes Bekanntenkreises Peter Iljitschs
des Näheren kennen zu lernen, ehe ich mit der Beschrei-
bung der Lehrer-und Komponistenthätigkeit meines Bru-
ders beginne.
An der Spitze des Moskauer Musiklebens stand damals
Nikolai Gregorje witsch Rubinstein. Man kann wohl be-
haupten, dass Niemand eine grössere Rolle in dem Schicksal
des Komponisten gespielt hat, Niemand in höherem Maas-
se — als Künstler und auch als Freund dem Aufblühen
seines Ruhmes förderlich gewesen , Niemand mehr für
Peter Iljitsch gesorgt und seinen ersten furchtsamen An-
fängen eine thatkräftigere Unterstützung hat angedeihen
lassen als der Direktor des Moskauer Konserv^atoriums.
Der Name Nikolai Rubinsteins ist mit allen Einzelheiten
des privaten und des öffentlichen Lebens Peter Iljitsch's
auf das Innigste verwebt. Ueberall sind die Spuren des
wolilthuenden Einflusses des besten aller Freunde Peter
Iljitsch's zu erkennen. In den ersten Jahren war für Peter
Iljitsch ohne Uebertreibung ganz Moskau in der Person
N. Rubinsleins vci-körpert.
III —
Laroche charakterisiert ihn in seinen „Erinnerungen"
folgendermaassen:
„Nikolai Gregorjewitsch ist am 2. Juni 1835 geboren.
Ebenso wie sein „berühmterer" Bruder hat er schon aus-
serordentlich früh phänomenales musikalisches Talent offen-
bart. Man behauptet sogar, dass er mit noch grösserer
Leichtigkeit gelernt habe, als sein älterer Bruder, und für
noch genialer gehalten worden wäre, als Dieser.
Während aber Anton sich vollständig der Musik ge-
widmet und in Berlin studiert, hatte Nikolai sich die Ge-
lehrtenlaufbahn erwählt und war in die Moskauer Univer-
sität als stud. jur. eingetreten....
Als Student, und auch später, bis zur Gründung der
Russischen Musikalischen Gesellschaft, hatte er sich seinen
Lebensunterhalt durch Klavierstunden erworben, deren er
eine ganze Masse zu geben hatte (eine Zeit lang hatte er
dadurch, wie er mir selbst erzählte, an 7000 Rubel jähr-
lich eingenommen). Bei seiner Verheiratung hat er aus
Rücksicht auf die Ansichten der Verwandten seiner Frau
das Spielen in Konzerten aufgeben müssen. Sein eheliches
Glück ist nicht von langer Dauer gewesen: die Meinungs-
verschiedenheiten, welche zwischen ihm und den Ange-
hörigen seiner Frau in Betreff verschiedener Gepflogen-
heiten, S3'4npatieen und Antipatieen herrschten, hatten sehr
bald — nach zwei Jahren bereits — zum Bruch geführt.
Vor der Gründung der Moskauer Abteilung der Russi-
schen MusikaHschen Gesellschaft setzte er seine ganze
Energie für die Regelmässigkeit der von ihm zu erteilen-
den Klavierstunden ein, w^as ihn jedoch nicht hinderte, die
Abende und sogar ganze Nächte hindurch dem Kartenspiel
obzuliegen. Seine eminentesten Fähigkeiten erglänzten im
vollen Licht erst, als es ihm gelungen war, das Moskauer
Konservatorium zu gründen. Ausser seinem genialen Kla-
vierspiel, offenbarte er grosses Talent als Dirigent und
Administrator. Er verstand es, in seiner Person allein, die
ganze Musikalische Gesellschaft zu repräsentieren: er war
überall und Alles, obgleich er fortsetzte jede Nacht im
„Englischen Klub" Karten zu spielen und die Bekanntschaft
mit ganz Moskau, d. h. mit fast sämmtlichen Vertretern
der kommerziellen, administrativen, literarischen, gelehrten,
künstlerischen und aristokratischen Welt Moskaus zu un-
terhalten".
In der Sache der Förderung des Moskauer Konserva-
toriums war N. Rubinstein der grösste Idealist. Die Rein-
112 — ■■
heit und Erhabenheit seiner Bestrebungen in dieser Sache
hatte er bis an seinen Tod im Herzen getragen, er war
stets gerecht, hess keinerlei Kompromisse zu und besass
nie persönhche Sympatieen oder Antipatieen. Er war stets
bereit, einem Künstler, besonders einem russischen, zu
helfen, und hat in solchen Fällen nie an seine Mittel ge-
dacht, sondern einfach Alles hingegeben, was er im betref-
fenden Augenblick bei sich führte.
Nikolai Gregorje witsch war nur um fünf Jahre älter,
als Peter Iljitsch, in ihren Beziehungen aber, besonders in
der ersten Zeit ihrer Annäherung, machte sich ein viel
grösserer Unterschied bemerkbar. Das kam, erstens, daher,
dass Peter Iljitsch gewissermaassen als ein Untergebener
nach Moskau kam, wo dazu der Name Rubinstein einer
der populärsten war; zweitens, aber, wiesen auch die Cha-
raktereigenschaften der Beiden genug Verschiedenheiten
auf: der Eine gehörte zu denjenigen Menschen, welche
man sich nicht anders, als herrschend, dominierend vor-
stellen kann; Etwas Gewaltiges lag im Wesen Nikolai Gre-
gorjewitsch's, und ihm unterwarf sich unwillkürlich die
ganze Umgebung. Peter Iljitsch war aber gerade im Ge-
genteil, äusserlich stets sehr nachgiebig und unterwürfig,
obgleich er in seinem Innern gegen jede Beeinflussung und
jeden ihm auferlegten Zwang protestierte und im Grunde
auch selbständig blieb, wenigstens was seinen wichtigsten
Lebensfaktor, die Musik, anbelangt. Diese Selbstverwahrung
ist ihm aber nie leicht geworden, daher hatte er auch die
Einsamkeit so lieb. Er fürchtete die Menschen, weil er es
nicht verstand, ihnen nicht nachzugeben, und sich unter-
werfen wollte er nicht. Das Letztere gilt übrigens nicht
von Peter Iljitsch des Jahres 1866, als er dankerfüllt die
väterliche Sorge Nikolai Gregorjewitsch's über sich erge-
hen Hess und sich dem Willen seines neuen Freundes, so-
gar in Bezug auf die Einzelheiten seiner Toilette wider-
spruchslos fügte.
Nur manches Mal wurden die herzhchen Beziehungen
der Beiden durch geringe Meinungsverschiedenheiten ge-
trübt, welche aber nie in Zank ausarteten, sondern nur
darin bestanden, dass Peter Iljitsch auf Nikolai Gregorje-
witsch für dessen übereifrige Bevormundung schmollte, und
Nikolai Gregorje witsch seinerseits Peter Iljitsch's Mangel
an Ergebenheit schalt.
„Die rechte Hand Nikolai Gregorjewitsch's", erzählt
Laroche, „war, im wahren Sinne dieses oft gemissbrauch-
— из —
ten Ausdruckes, der Inspektor des Konservatoriums, Kon-
stantin Karlowitsch Albrecht, welcher um circa fünf Jahre
älter als Peter Iljitsch, und seit 1862 mit der Tochter des
sehr tüchtigen Klavierlehrers Langer verheiratet war. Er
lebte sehr still und bescheiden, und war infolge des reichen
Kindersegens stets in Geldverlegenheit: übrigens war er
von Kindheit auf daran gewöhnt, seinen Lebensunterhalt
selbst zu verdienen und hatte schon als fünfzehnjähriger
Knabe die Stelle eines Cellisten am Grossen Theater be-
kleidet. Wie er nach Moskau gekommen, weiss ich nicht.
Sein Vater ist seinerzeit als Kapellmeister zu beträchtlicher
Berühmtheit gelangt. Konstantin Karlowitsch war ein sehr
befähigter und in mancher Beziehung interessanter Mensch,
bei dem grossen Publikum jedoch unpopulär. Peter Iljitsch
fühlte sich aber sehr zu ihm hingezogen und wurde bald
nach der Ankunft in Moskau sein Pensionär, d. h. früh-
stückte und mittagte bei ihm täglich. Die Ansichten, bes-
ser, Ueberzeugungen Albrechts waren ausserordentlich pa-
radoxalen Charakters.
In der Politik vertrat er die konservativste Richtung
und beweinte sogar, wenn ich nicht irre, die Aufhebung
der Leibeigenschaft, was aber die Musik anbelangt, so gab
es 1866 in Moskau wohl kaum einen Radikaleren, als ihn.
Richard Wagner, Liszt, die letzte Periode Beethovens und
ein wenig Schumann — das war fast Alles, was er anerkannte.
Als Kuriosum füge ich noch hinzu, dass er die „Russalka"
von Dargomizski „verehrte". Er hat auch selbst etwas
komponiert und etwa ein halbes Dutzend Lieder, mehrere
Männerchöre und Etüden für das Cello herausgegeben.
Bei der grossen Masse ist er aber erst durch sein Hand-
buch des Chorgesanges" bekannt und sogar berühmt ge-
worden. Er war stets sehr beschäftigt: erstens hatte er im
Konservatorium ausserordentlich viel zu arbeiten, ausser-
dem war er an den verschiedensten Instituten und Lehran-
stalten (eine Zeit sogar im Civilgefängniss) Chorgesang-
lehrer. Und das ist die einzige Sphäre, wo er wirkliche,
greifbare Resultate erzielt hatte: er schaffte gewissenhafte
Schüler, die später selbst ausgezeichnete Lehrer wurden.
Ausser für Musik, interessierte sich Konstantin Karlo-
witsch sehr für Geologie, Entomologie und Mechanik; für
Letztere besass er sogar ein gewisses Talent und erfand
jeden Augenblick irgend einen Apparat oder eine Vorrich-
tung zu einem, gewöhnlich sehr fern liegenden und un-
praktischen Zwecke. Im Sommer sammelte er leidenschaft-
Tachaikotvaky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 8
— 114 —
lieh allerlei Käfer und Schmetterlinge. Für diejenigen Dinge
aber, welche einen Musiker sonst zu interessieren pflegen,
für auswärtige Politik, für Geschichte, Poesie und Belle-
tristik spürte er nicht die geringste Neigung. Ich glaube
kaum, dass er je in seinem Leben einen Roman gelesen
hätte"
Peter Iljitsch war sehr hoher Meinung von dem musi-
kalisch-schöpferischen Talent Konstantin Karlowitsch's und
hat ihm oft sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass ein
so grosses Talent verloren gehe.
In der Hauptsache war es aber dennoch nur die un-
gewöhnliche Herzensgüte, aber auch der eigenartige Hu-
mor Konstantin Karlowitsch's, welche ihm die Sympatie
Peter Iljitsch's zuführten.
Ganz anderer und wichtigerer Art war die Annä-
herung Peter Iljitsch's an P. I. Jurgenson, den ersten und
hauptsächlichsten Verleger seiner Werke.
Peter Iwanowitsch Jurgenson war 1836 in Reval ge-
boren worden und hat seine erste Kindheit in sehr trau-
rigen Verhältnissen verlebt: seine Eltern hatten schwer mit
der Armut zu kämpfen und erzogen ihren Sohn äusserst
streng, ihn für die unschuldigsten Vergehen jeden Augen-
blick hart bestrafend. Mit neunzehn Jahren erhielt er eine
Stelle als Verkäufer in einer Musikalienhandlung zu Pe-
tersburg.
Er hatte sich sehr bald mit dem Geschäft vertraut ge-
macht, und kam, nachdem er noch einige ähnliche Stellun-
gen in anderen Musikalienhandlungen Petersburg's inne
gehabt, als Verwalter der Musikalienhandlung der Gebrü-
der Schildbach nach Moskau, in welcher Stellung er zwei
Jahre verblieb. Nach Ablauf dieser Zeit löste sich die Firma
auf, und Peter Iwanowätsch blieb ohne Stelle. Da er kei-
ne Hoffnung hatte, in kurzer Zeit wieder eine Anstellung
zu erlangen, so entschloss er sich zu einem, bei seinen
geringen Geldmitteln sehr gewagten Unternehmen, und
eröffnete 1861 in Moskau eine eigne Notenhandlung.
In N. Rubinstein fand sein junges Geschäft einen selbst
losen und mächtigen Freund und Helfershelfer. Zwanzig
Jahre lang hat Rubinstein mit unermüdlicher Energie die
Verlagsunternehmungen Jurgensons unterstützt und geför-
dert. Das erste, auf Rubinsteins Anregung im neuen Ver-
lag erschienene Stück war eine Gavotte von J. S. Bach.
Im Jahre 1862 wurde die in damaliger Zeit erste und ein-
zige Gesammtausgabe der Klavierwerke Mend('lss()hn-Bar-
— 115 —
tholdy's veranstaltet, und 1864 brachte Jurgenson eine Samm-
lung von Schuberts Liedern mit russischem, von N. Ru-
binstein redigiertem Text heraus. Diese Anfänge errangen
der jungen Firma einen glänzenden Erfolg und wurden
zum Grundpfeiler für ihr ferneres Wachstum.
1866 hatte Peter Iwanowitsch die schwerste Zeit bereits
hinter sich und begann, im musikalischen Leben Moskau's
eine hervorragende Rolle zu spielen. Mutig und unterneh-
mungslustig, war er einer der thätigsten Jünger Rubinsteins,
dieses „Peter des Grossen" des musikalischen Moskau,
und hat ihm durch seine kaufmännischen Fähigkeiten in
Sachen der Schöpfung des Konservatoriums grosse Dienste
geleistet. In den Angelegenheiten seines eignen Unterneh-
mens hat er es verstanden, neben den egoistischen Ten-
denzen des Geldverdienstes auch dem edlen Bestreben
der Förderung und Verbreitung gediegener Musik in Russ-
land Rechnung zu tragen. Ungeachtet des grossen ma-
teriellen Vorteils verschmähte er es, leichte und schlechte
Musikstücke (Tänze, Zigeunerheder, Kouplet's, etc.) zu
verlegen und wurde der erste russische Herausgeber der
unsterblichen Werke der klassischen deutschen Kunst. Auch
begann er als Erster, die Kompositionen junger russischer
Tondichter, unter welchen sich auch Peter Iljitsch befand,
in seinen Verlag aufzunehmen.
Peter Iljitsch hat Jurgenson, welcher trotz seiner esth-
ländischen Herkunft ein begeisterter russischer Patriot
war, sehr schnell lieb gewonnen und ist nach und nach
auch in der Famihe Peter Iwanowitsch's ein gern gesehe-
ner Gast geworden.
Augenblicklich ist P. Г. Jurgenson fast der alleinige In-
haber der sämmtlichen Kompositionen Tschaikowsky's. Von
den in seinem Besitz befindlichen und im feuersicheren
Lagerraum seiner Notenstecherei — der grössten in Russ-
land— in Verwahrung liegenden zweihundert Tausend Plat-
ten entfallen mehr denn siebenzig Tausend auf Peter Iljitsch's
Werke.
Den vierten seiner intimen Freunde, N. D. Kaschkin,
hat Peter Iljitsch schon vor der persönlichen Begegnung
mit ihm aus Laroche's Erzählungen noch in Petersburg
gut gekannt.
„ Nikolai Dmitrijewitsch Kaschkin war der Sohn eines
bekannten und beliebten Buchhändlers in Woronesch", —
erzählt Laroche in seinen „Erinnerungen", — „von Kindheit
auf zeigte er grosse Befähigung für das Klavierspiel und
— II6 —
hat es durch eifriges Selbststudium so weit gebracht, dass
er schwere Konzertstücke ziemhch fertig spielen konnte.
In Woronesch hat er schon früh die Aufmerksamkeit des
Publikums auf sich gelenkt und ist nicht nur der belieb-
teste Virtuos jener Stadt, sondern auch der kompetenteste
Pädagog geworden. Das hinderte ihn jedoch nicht, einzu-
sehen, dass ihm die richtige Schule noch fehlte, und er
kam als zweiundzwanzigj ähriger Jüngling nach Moskau,
um bei Dubuque Klavierunterricht zu nehmen... Ich lernte
ihn damals kennen und wir standen seither in recht freund-
schaftlichem Verkehr, bis ich 1862 in's Petersburger Kon-
servatorium kam...
Tschaikowsky ist erst viel später mit ihm bekannt ge-
worden. Obgleich Nikolai Dmitrijewitsch nie irgend einen
Einfluss auf Peter Iljitsch auszuüben vermocht hatte, wa-
ren ihre Beziehungen deshalb nicht weniger freundschaft-
lich. Als Peter Iljitsch nach Moskau kam, war Nikolai
Dmitrijewitsch bereits verheiratet und Professor am Mos-
kauer Konservatorium. Er, sowohl als auch seine junge
Frau, gefielen dem in Moskau anfangs sich recht einsam
fühlenden Komponisten von vornherein sehr und sie tra-
ten bald in intimen Verkehr mit einander. Das Haus Ka-
schkin's war seit 1865 lange Zeit hindurch einer der lieb-
sten Versammlungsorte der Professore des Moskauer Kon-
servatoriums
In damaliger Zeit war Kaschkin noch nicht die musik-
kritische Autorität, als welche ihn die gegenwärtige Ge-
neration kennt. Seine hauptsächlichste Beschäftigung be-
stand im Stundengeben. In Moskau ist er nie als Pianist
öffentlich aufgetreten, das schadete aber seinem Ruf als
Lehrer nicht im Geringsten. N. Rubinstein schätzte ihn
ausserdem als Ratgeber, was vär anderen Lehrer des Kon-
servatoriums, übrigens, auch thaten. Für einen Jeden von
uns, seinen Freunden, war er gleichsam die personifizierte
Kritik. Kaschkin das Manuscript einer frisch komponierten
Partitur, oder eines soeben verfassten Aufsatzes zu zeigen —
war für uns eine ebensolche Notwendigkeit, als — ihn in
Angelegenheiten unseres musikalischen oder nicht musika-
lischen Privatlebens um Rat zu fragen.
Viele Jahre nach der Zeit, von welcher jetzt die Rede
ist, hat Nikolai Dmitrijewitsch die Lehrthätigkeit am Kon-
servatorium, welche ihm soviel Erfolge und Anerkennung
gebracht, aufgegeben und ist Musikkritiker geworden. Aber
auch in diesem, so heiklen Beruf, welcher gar oft Misshel-
— 11? —
ligkeiten und unversöhnliche Feindschaft säet, A\aisste er,
sich die alten freundschaftlichen Beziehungen zu bewahren
und sogar neue Freunde zu erwerben".
Wenn wir zu den genannten vier Männern — N. Rubin-
stein, K. Albrecht, P. Jurgenson und N. Kaschkin- die uns
schon bekannten Studiengenossen Peter Iljitsch's Laroche
und Hubert, gesellen, von denen der Erstere nach einem
Jahr, und der Andere nach drei Jahren ebenfalls nach
Moskau kamen, so ist die Reihe der intimen Freunde Pe-
ter Iljitsch's vollständig. Diesem Freundeskreis unseres Kom-
ponisten war es beschieden, Peter Iljitsch's Talent die wirk-
samste Förderung angedeihen zu lassen, — die sicherste
Stütze für seinen wachsenden Ruhm zu werden, und bis
an den Tod in innigstem Kontakt mit seiner Person zu
bleiben. In diesem Kreis hatte Peter Iljitsch Aufmunterung
und Teilnahme gefunden, zu einer Zeit, als er dessen am
dringendsten bedurfte.
II.
Am 5. Januar 1866 verliess Peter Iljitsch Petersburg.
Die Beschreibung der ersten Moskauer Eindrücke ihm
selbst überlassend, halte ich es nicht für notwendig, den
Leser mit verschiedenen Einzelheiten und, auf den ersten
Bück unbedeutend scheinenden Ausführlichkeiten zu scho-
nen, denn gerade in diesen Einzelheiten, in diesen Kleinig-
keiten, spiegeln sich die Grundzüge der Stimmung Peter
Iljitsch's in jener schweren Periode seines Lebens am be-
sten wieder: die Tiefe seiner Zärdichkeit für seine Ange-
hörigen, die Sehnsucht nach den Brüdern, das anfängliche
Einsamkeitsgefühl in der fremden Stadt, und das allmäliche
Sich-Hineinleben, bis ihm endlich Moskau die „liebste Stadt
der Welt" wird.
An Anatol und Modest Tschaikowsky:
„3V2 Uhr Nachmittags, d. 6. Januar.
Meine lieben Brüder, meine Reise ist zwar traurig doch
glücklich von statten gegangen. Ich habe immer an Euch
— ii8 —
gedacht und es quälte mich der Gedanke, dass ich Euch
in der letzten Zeit mit meiner Verstimmung, an der ich
sehr stark Htt, gar zu lästig gewesen sein muss. Zweifelt
aber niemals an meiner Liebe, selbst wenn sie sich in keiner
greifbaren Art und Weise äussert. Abgestiegen bin ich im
Hotel Kokoreff; war auch schon bei Rubinstein und habe
die Bekanntschaft zweier Direktoren der Musikalischen Ge-
sellschaft gemacht. Rubinstein hat mich so eindringlich ge-
beten, bei ihm zu wohnen, dass ich es nicht abschlagen
konnte und ziehe morgen zu ihm....
Ich habe immer noch Halsschmerzen. Oben auf dem
Schrank, zwischen meinen Manuscripten und Papieren, ist
die Uebersetzung liegen geblieben, an welcher ich im Som-
mer gearbeitet habe. Bitte bringet sie mit den Partituren
zusammen in's Konservatorium an A. Rubinstein: ich hatte
versprochen, ihm dieselben noch vor meiner Abreise abzu-
hefern.
Küsse Euch herzlich. Habet mich lieb! Griisse an Alle.
Schreibt! Bald werde ich wieder schreiben. Eben habe an
Vater geschrieben, Thuet das auch".
An Dieselben:
„Moskau, d. lo. Januar.
Liebe Brüder, nun wohne ich bei Rubinstein. Er ist
ein sehr guter und sympatischer Mensch. Mit der gewis-
sen Unnahbarkeit seines Bruders hat er Nichts gemein,
kann sich aber auch in anderer Beziehung nicht mit ihm
vergleichen: Als Künstler. Ich nehme eine kleine Stube
neben seinem Schlafzimmer ein, und — die Wahrheit zu sa-
gen— fürchte ich, dass ihn abends, wenn er zu Bett gegan-
gen, das Kratzen meiner Feder am Einschlafen hindert
(uns trennt nur eine ganz dünne Wand), ich bin aber sehr
beschäftigt ^). Ich sitze fast die ganze Zeit zu Hause, und
Rubinstein, welcher ein ziemlich zerstreutes Leben führt,
kann meinen Fleiss nicht genug bewundern. Ich bin auch
schon je einmal in beiden Theatern gewesen, — die Oper
ist scheusslich, dafür habe ich aber wohl kaum jemals
einen so grossen künstlerischen Genuss gehabt, wie in der
dramatischen Vorstellung.
Ich habe noch fast gar keine weiteren Bekanntschaf-
ten gemacht, nur mit einem gewissen Kaschkin, dem Freun-
1) Er arbeitete damals an der Instrumentation der im Sommer komponierten C-molI-
Ouverture.
— 119 —
de Laroche's, einem ausgezeichneten Musiker — bin ich recht
gut bekannt geworden.
Ausserdem hat mich Rubinstein eines abends fast mit
Gewalt zu Tarnowsky's geschleppt, welche, übrigens, ganz
angenehme Leute sind. Gestern gab es hier ein populäres
Konzert, welches in materieller Hinsicht misslang, aber
künstlerisch recht interessant war. Das Orchester ist gut,
der Chor sogar ausgezeichnet. Manchmal bin ich etwas
melancholisch gestimmt, im Allgemeinen aber spüre ich in
mir einen unwiderstehlichen Arbeitsdrang, und das ist
mein Trost. Den grössten Teil meiner Ouvertüre habe ich
bereits instrumentirt, zu meinem grossen Entsetzen, jedoch,
merke ich, dass das Stück so ungeheuer lang werden wird,
wie ich es garnicht erwartet habe. Ich habe N. Rubinstein
versprochen, dieses Werk erst hier zur Aufführung brin-
gen zu lassen, ehe ich es nach Petersburg sende. Gestern
beim zu-Bett gehn habe viel an Euch gedacht: ich malte
in meiner Phantasie alle Schrecken der ersten Nacht nach
den Ferien aus: ich stellte mir vor, dass Modi seine Nase
in die Bettdecke gesteckt und bittre Thränen vergossen
habe; wie gern hätt' ich da trösten mögen! Nicht der übli-
chen Phrase wegen sage ich Dir, Modi: büffle, büffle, büffle
und führe Freundschaft mit anständigen Kameraden, aber
nicht mit diesem verrückten H.. Ich fürchte sehr, dass_ Du
in der Klasse sitzen bleiben und in die Zahl derjenigen
geraten wirst, welche von den Vorgesetzten nicht gutge-
heissen Averden. Für Toly fürchte ich nicht und gebe ihm
deshalb keine Ratschläge. Lieber Tol}^ überwinde mal Deine
Trägheit für's Briefschreiben und schreibe mir. Herzlichen
Kuss!"
Die C-moll-Ouverture, von welcher in diesem Brief die
Rede ist, hat Peter Iljitsch einige Tage später N. Rubin-
stein zur Begutachtung vorgelegt. Dieser hat aber ein
absprechendes Urteil darüber gefällt und erklärt, dass das
Werk zu einer Aufführung in einem Symphoniekonzert
der Russischen Musikalischen Gesellschaft ungeeignet sei.
Nach diesem Misserfolg schickte Peter Iljitsch seine Ouver-
türe an Laroche nach Petersburg mit der Bitte, er möchte
Anton Rubinstein veranlassen, sie in einem seiner Konzerte
zum Vortrag zu bringen. „Ihre Ouvertüre ist bei Rubin-
stein";— schreibt ihm Laroche zurück, — „ich habe ihm\Vort
für Wort Ihr Anliegen vorgetragen, worauf er mit einer
tiefen und ironischen Verbeugung geantwortet hat. Uebri-
gens ist das seine Art. Er bedauert, dass die Stimmen
I20
nicht ausgeschrieben seien: er hätte das Stück gern mal
durchgespielt, denn er meint, es sei schwer, nach dem
blossen Durchlesen der Partitur sich ein Urteil zu bilden.
Vorläufig kann also von einer Aufführung keine Rede sein.
Ich sagte ihm, dass er die Stimmen ausschreiben lassen
möchte und dass Sie die Kosten gern tragen wollten, wo-
rauf er erwiderte, dass er Ihnen noch das Honorar für die
Uebersetzung schuldig sei.
Ich fügte dann weiter hinzu, dass mir die Ouvertüre
gefallen hätte, dass aber Nikolai Gregorjewitsch entgegen-
gesetzter Meinung sei. Da lachte er laut auf und sagte:
„Nun ja, dieser „Kanaille" kann man es nur schwer recht
machen, sehr schwer!"... — Und das ist wahr: diese „Ka-
naille" hatte mir eines Tages gesagt, dass die Symphonie
von Raff des letzten Dezenniums schönster — Dreck sei!"
Ob es zum Durchspielen der Ouvertüre gekommen —
wissen wir nicht; dass sie A. Rubinstein aber missfallen
hat — ist nicht zu bezweifeln. Auch von K. Ljadow, dem
damaligen Kapellmeister der Kaiserlichen Oper, ist sie
abgelehnt worden, als Laroche versuchte, ihn zu bewegen,
sie in das Programm eines der Konzerte der Theaterdirek-
tion aufzunehmen. Viele Jahre später, hat sich übrigens,
Peter Iljitsch selbst der Ansicht Ljadow's und der beiden
Rubinsteine angeschlossen und auf dem Umschlag seines
Werkes die Worte „schrecklicher Dreck" vermerkt. Die
Meinung Laroche's über die Ouvertüre ersehen wir aus der
Fortsetzung seines oben angeführten Briefes, welche fol-
gendermaassen lautet: „Ihre Ouvertüre ist prächtig, obwohl
weniger glücklich, als die Kantate. Sie enthält viele schöne
Stellen. Das zweite Thema des Allegro (in es, — Flöten,
Klarinetten und Fagott über dem Orgelpunkt des Brat-
schentremolo) ist voll „humour" (sprechen Sie das englisch
aus) und OriginaHtät; das Motiv der Celli (in ges) ist viel-
leicht weniger neu, kann aber von grosser Wirkung sein...
Endhch das Vorspiel zum „Gewitter", welches Sie ein-
geschmuggelt haben (dazu noch ohne das Englisch -Hörn:
das ist, wie ein ihrer Hauptreize beraubtes Weib), hat mir
schon früher sehr gefallen. Ihre „Fantasie-Ouvertüre" ist
jedoch viel zu kompliziert, was durch den Doppelnamen
durchaus nicht entschuldigt werden kann. Sie enthält ausser
dem Recitativ der Kontrabässe zum Schluss — vier vollkom-
men verschiedene Phrasen (das russische Thema, das erste
und das zweite Thema des Allegro und das Thema der
Celli), aus denen man ganze zwei Ouvertüren zuschneiden
121
könnte. Es ist merkwürdig, aber doch wahr, dass der
Hauptvorzug einer Musik darin hegt, über ein Weniges
viel zu sagen (Beweis — die Fuge). Dann: wissen Sie, dass
diese ewigen zehn Blechinstrumente wie ein Geständniss
der eignen Schwäche anmuten? — und dass sie mich, der
ihre Verwendung in allen Ihren Arbeiten wohl kennt, nach-
gerade zu langweilen beginnen?.. Diese Art, Wirkung zu
erzeugen ist sehr primitiv und unschuldig: dazu hätten
Sie nicht halbsoviel von dem zu lernen brauchen, was Sie
wissen. Wenn Sie doch endlich einmal zu einem weniger
„materiellen" Mittel greifen wollten!... Hat denn das Or-
chester der „Fingalshöhle" oder der „Melusine" wirklich
gar keinen Reiz für Sie? Garnicht zu reden von Haydn
und Mozart".
Am II. Januar 1866 war in den „Moskauer Nachrich-
ten" folgendes Inserat zu lesen: „Der Unterricht in der
Theorie der Musik unter Leitung des Herrn P. I. Tschai-
kowsky beginnt am 14. Januar und soll Dienstags und
Freitags um 11 Uhr Vormittags im Konservatorium statt-
finden. Dieses zur Kenntnissnahme Aller Denenigen, wel-
che am Unterricht teilzunehmen wünschen. Das Honorar
beträgt 3 Rubel monatlich".
An Anatol Tschaikowsky:
„14. Januar.
Lieber Tol}^, habe Dank für den Brief. In den letzten
Tagen habe ich mich nicht sehr gut gefühlt, jetzt geht's
besser. Eure Briefe bereiten mir stets ein grosses Vergnü-
gen. Gestern hielt ich den Probevortrag und genierte mich
dabei fürchterlich, doch ist er gut verlaufen. Was meine
Reise nach Petersburg oder Eure Reise nach Moskau an-
belangt, so wünsche ich das Wiedersehen mit Euch nicht
weniger sehnsüchtig, als Ihr selbst, doch kann man leider
nicht immer das thun, was man möchte! Ich werde es nie
in meinem Leben zugeben, dass Ihr die Reisekosten tra-
get!... Ausserdem ist hier Alles unglaublich teuer. Mein
ganzes Gehalt für den ersten Monat wird für einen neuen
Anzug draufgehen, die Anschaffung dessen Rubinstein von
mir verlangt, indem er behauptet, dass mein gegenwärti-
ger Rock für einen Professor der Theorie der Musik höchst
mangelhaft sei... Mit einem Wort, es ist am besten, wir
verschieben unser Wiedersehen bis Ostern"....
122 —
An Frau А. I. Dawidowa:
„15. Januar.
Von meinem Leben und Treiben habe ich Nichts
Sonderliches zu berichten. Ich werde hier die Theorie der
Musik lehren und habe gestern bereits der Aufnahmeprü-
fung beigewohnt. Es haben sich recht viele hübsche junge
Damen gemeldet. Ich wohne bei dem Moskauer Rubinstein.
Das ist Einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich je
getroffen. Moskau selbst gefällt mir ganz gut, und doch
glaube ich, dass ich mich nie einleben werde: ich bin zu
sehr mit Petersburg verwachsen"....
Ueber den „Künstler-Verein", welchen Peter Iljitsch
damals zu besuchen begann, schreibt Kaschkin Folgendes:
„Damals war der Künstlerverein der Mittelpunkt, wo sich
die Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, überhaupt Alle,
welche sich für Kunst und Literatur interessierten, zu ver-
sammeln pflegten. Diesen Verein hatte N. Rubinstein in
Gemeinschaft mit A. N. Ostrowsky und dem Fürsten W.
Odoewsky gegründet. Die Versammlungen hatten, gewöhn-
lich, kein feststehendes Programm, und doch gab es jedes
Mal Etwas Interessantes zu hören. Sehr oft wurden da
literarische Novitäten vorgetragen, oder es wurde musiziert,
u. A. m.; es war Sitte, dass durchreisende auswärtige
Virtuosen sofort als Gäste in den Verein eingeführt wur-
den und zuerst dort Proben ihres Könnens ablegten. Da
unter den Anwesenden gewöhnlich auch viele Damen wa-
ren, so veranstaltete man nicht selten Tanzabende; die
Tanzmusik wurde — angefangen mit Rubinstein — abwech-
selnd von uns Allen gemacht; manchmal wurde sie von
Rubinstein und J. Wieniawsky gleichzeitig auf zwei Kla-
vieren und über gegebene Motive improvisiert".
An A. und M. Tschaikowsk}^:
„23. Januar.
Liebe Brüder, bitte vergeudet Euer Geld nicht auf
Briefe. Schreibt mir lieber nur einmal wöchentlich, dafür
aber recht viel und recht ausführlich, vielleicht in der Art
eines Tagebuches. Ihr wisset, wie gern ich Eure Plaude-
reien aus der Schule habe! Auf diese Weise werde ich
stets eine Vorstellung darüber haben, was Ihr macht, sonst
aber muss ich meinen Verstand zu sehr anstrengen, um
eine Ahnung da\-on zu bekommen, was Ihr treibt. Ich will
— 123 —
Euch auch regelmässig ein oder zweimal in der Woche
schreiben.
Ich bin soeben von einer Konferenz der Professore des
Konservatoriums, welcher ein grosses, von einem der Di-
rektore der Russischen Musik-Gesellschaft (einem gewissen
Sanin) gegebenes Diner gefolgt war, nach Hause zurück-
gekehrt, hn Allgemeinen ist der Lehrerverband des hiesi-
gen Konservatoriums nicht so hervorragend, wie der in
Petersburg, doch giebt es wohl zwei oder drei tüchtige
Männer. Ich stehe mich mit Allen sehr gut, ganz beson-
ders aber mit Rubinstein, Kaschkin, Albrecht und Osberg^).
Mit Torlezky, einem der Direktore der Russischen Musi-
kalischen Gesellschaft — einem sehr reichen Mann bin ich
ebenfalls bekannt geworden und war neulich bei ihm zu
einer Soiree eingeladen. Ausserdem habe vor Kurzem die
Bekanntschaft einer Familie Tschaikowsky ^) gemacht, habe
dort sehr viel gegessen, aber am Tanzen nicht teilgenom-
men, obgleich ich in Rubinsteins Frack steckte. Rubinstein
pflegt mich, als wenn er meine Kinderfrau wäre, und will
nicht aufhören, diesen Beruf mir gegenüber auszuüben.
Heute hat er mir gewaltsam sechs ganz neue Hemden
geschenkt (an Dawidows braucht Ihr das nicht zu erzäh-
len, überhaupt Niemandem), und will mich Morgen mit
Gewalt zu seinem Schneider bringen, um mir einen Rock
zu bestellen. Ueberhaupt, ist das ein ungemein liebenswür-
diger Mensch. Ich verstehe nur nicht, wie er zu seiner
kolossalen musikalischen Autorität gekommen ist. Er ist
ein ziemlich gewöhnlicher Musiker, mit dem Bruder gar-
nicht zu vergleichen ^).
Beim Aufzählen meiner hiesigen Freunde kann ich Ale-
xander, den Diener Rubinsteins, nicht unerwähnt lassen:
das ist ein sehr ehrbarer Greis und besitzt eine prachtvolle
weisse Katze, welche augenblicklich bei mir auf dem Schoss
sitzt, und welche ich zärtlich streichle. Mein angenehmster
Zeitvertreib ist — an den Sommer zu denken. In der letzten
Zeit spüre ich für Sascha, Leo und deren Kinder ganz
besonders tiefe Neigung, und habe beschlossen, den Som-
mer in Gemeinschaft mit Euch bei ihnen zu verbringen".
1) Der Gesangsprofessor.
2) All mein Forschen nach dieser Familie ist erfolglos geblieben. Zweifellos ist nur,
dass sie nicht mit uns verwandt gewesen ist.
3) .Später hat Peter lljitsch seine Meinung geändert.
— 124 —
An А. und М. Tschaikowsk}^:
„Sonntag, den 30. Januar,
Soeben bin ich im Zoologischen Garten gewesen, wel-
cher hier sehr gut ist. Dort gab es Heute ein grosses
Fest mit Feuerwerk u. s. w. Die vorige Woche habe ich
recht angenehm verbracht; durch Rubinstein habe ich das
Recht des Eintrittes in den „Kaufmännischen Verein", wel-
cher über eine ausgezeichnete Bibliothek verfügt, erhalten;
ich habe derselben ziemlich viele Bücher entnommen und
lese mit grossem Genuss. Ueber Dickens lache ich von
ganzem Herzen, ohne Zeugen, und manches Mal reizt mich
der Gedanke, dass mich Niemand hört, zu noch tollerem
Lachen. Ich empfehle Euch ebenfalls, Dickens zu lesen;
wenn man sich mit der Belletristik begnügen will, so soll
man wenigstens solche Autoren wählen, wie Dikkens. Er
hat viel Aehnlichkeit mit Gogol: dieselbe Ursprünglichkeit
und Natürlichkeit des Humors, dieselbe Meisterschaft, mit
wenigen Strichen einen ganzen Charakter zu zeichnen;
nur die Tiefe Gogol's fehlt ihm. Meine Theoriestunden
machen recht gute Fortschritte, und ich selbst erfreue mich
der allgemeinen Verehrung seitens der von mir zu beleh-
renden Moskowiterinnen, welche sich überhaupt sehr leicht
zu entflammen scheinen. — An dieser Stelle bin ich durch
Tarnowsk3^'s unterbrochen worden, welche nach mir ge-
schickt hatten; und von dort schleppte mich Rubinstein
in's Grosse Theater auf den Maskenball. Meine Furchtsam-
keit vergeht nach und nach. Mein Bekanntenkreis hat
sich wieder etwas vergrössert (leider). Uebrigens sind es
alles nette Leute. Von ihnen gefallen mir namentlich Tar-
nowsk3^'s. Mann und Frau, welche sehr reich und gros-
se Musikfreunde sind. Gestern bin ich bei Kaschkin zu
Blini ^) gewesen. Kaschkin hat an Laroche 10 Rubel ge-
chickt, damit er hierher kommen kann, und ich freue mich
sehr. Einen von den Petersburgern wiederzusehen. Bei
uns sind jetzt verschiedene Sitzungen und Diskussionen
im Gange, betreffs Vergrösserung des Konservatoriums;
diese Diskussionen verlaufen gewöhnlich sehr stürmisch.
Neulich habe ich an der Formulierung der vStatuten teil-
genommen und eine grosse Instruktion verfasst, welche
ohne Veränderungen angenommen worden ist. Ueber den
gestrigen Maskenball habe ich Nichts zu berichten, er war
' ) Blini — eine russisclie Fastiiachtspeise.
— 125 —
grade so, wie sie in Petersburg auch sind: ganz ebenso
langweilig. Ich bin auch wieder einmal im Russischen The-
ater gewesen und habe eine prächtige Tragödie von Pi-
szemsky, „Die Eigenmächtigen", sowie das reizende Stück
von Olchowsky „Allegri" gesehen.
Erkläre mir, Toly, wie das gekommen, dass Du in der
physikalischen Geographie eine 5 bekommen hast, und ob
das schlechte Folgen für Dich haben kann. Teilt mir bitte,
recht ausführlich mit, wie Ihr die Butterwoche ^) verbringen
werdet. Ich werde Euch, meinerseits auch Alles Interessante
erzählen. Wenn Laroche kommen sollte, so werde ich,
höchstwahrscheinlich, die ganze Zeit mit ihm sein. Der
Gedanke an eine Oper fängt an, mich zu beschäftigen.
Alle Texte, die mir Rubinstein gegeben, sind unglaublich
schlecht. Ich habe schon selbst einen Stoff gefunden und
will auch das Textbuch selbst schreiben. Das wird einfach
eine Umarbeitung einer Tragödie w^erden. Hier lebt übri-
gens der Dichter Pleschtschejew, welcher sich bereit er-
klärt hat, mir zu helfen.
Adieu, meine Lieben!"
An A. Tschaikowsky:
„D. 6. Februar.
Mein lieber Toly, verzeihe mir, dass ich Dir nicht so-
fort geantwortet habe... In Betreff des Dich verfolgenden
Gedankens von Deiner Geringfügigkeit und Nutzlosigkeit
rate ich Dir, diese Dummheiten abzuthun. Für einen 16-jäh-
rigen Jüngling ziemt es sich nicht, sein zukünftiges Le-
ben zu bekritteln. Du musst nur zusehen, dass die Gegen-
wart angenehm für Dich sei, d. h. so dass Du mit Dir
(dem 16-jährigen Jüngling) zufrieden seist. Und dazu musst
Du: i) arbeiten, arbeiten, arbeiten und dem Müssiggang
aus dem Wege gehen, um für die spätere Arbeit tüchtig
zu werden. 2) Sehr viel lesen. 3) In Betreff Deiner selbst
möglichst bescheiden sein. Indem Du dich selbst für einen
Thoren halst, brauchst Du deshalb noch nicht, auch Alle
Andern für Thoren zu halten; glaube einfach, dass irgend
ein übernatürlicher Eintluss die Menschen daran hindere,
die Fähigkeiten Deines Verstandes zu erkennen. Ueber-
haupt musst Du bestrebt sein, Dich zu einem gewöhnli-
chen guten und anständigen Menschen vorzubereiten, nicht
1 ) Die Woche vor dt-m Beginn der grossen Osterfasten heisst in Russland — Butter-
woche.
— 120
aber ein Genie zu werden, für welches kein Gesetz gilt.
4) Darfst Du Dich nicht vom Wunsch hinreissen lassen,
zu gefallen und zu entzücken. In dem Verkehr mit Deinen
Kameraden (das ist vorläufig, in der Schule, sehr wichtig)
sollst Du nicht zu stolz sein, aber auch nicht allzu entge-
genkommend; Denen aber, welche Dich nicht lieb haben,
oder Dich links liegen lassen, sollst Du Gleiches mit
Gleichem vergelten, nicht aber sentimentale Zänkereien
und ebenso sentimentale Versöhnungen zulassen, 5) Darfst
Du Dich nicht durch Ungemach verblüffen lassen, z, B.
durch schlechte Nummern, oder durch die Ungerechtigkei-
ten Seh. 's, oder durch die Tobsucht I.'s, u. s. w.. Alles
Das ist im Vergleich mit Dem, was Dich in Deinem spä-
teren Leben erwartet — nur eine ganz geringfügige Kleinig-
keit. Ich wünschte wohl, dass Du Erster in deiner Klasse
wärest, aber selbst wenn Du auch Letzter werden solltest,
würde ich nicht zürnen, sofern ich nur die Versicherung
hätte, dass das nicht infolge Deiner Faulheit gekommen.
Ein schlechter Jurist kann nichtsdestoweniger ein guter
Mensch sein. 6) Die Hauptsache, du sollst nicht eingebil-
det und auf das Schicksal eines gewöhnlichen Sterblichen
gefasst sein; Du sagst: ein Beamter sein — ist Nichts An-
ziehendes. Ich sage Dir aber, dass ich eine ganze Menge
der talentreichsten und klügsten Menschen kenne, welche
ihr ganzes bisheriges Leben im Departement gesessen,
sich nicht für verkannte Genie's gehalten haben, und des-
halb durchaus nicht unglücklich sind. Beispiel: Adamoff,
Maslow u. s. w.
Die ganze Butterw^che habe ich zu Hause gesessen.
Habe viel gelesen und geschrieben. Freue mich, dass die
Grosse Fastenzeit nahet: ich sehe sie als Vorboten des
Frühlings und des Sommers an. An den Sommer denke
ich mit Freuden und hoffe, ihn mit Dir bei Sascha zu ver-
bringen. Küsse Dich vielmals, auch Modi".
An Frau A. I. Dawidowa.
„7. Februar.
Ich fange allmälich an, mich an Moskau zu gewöh-
nen, wenngleich mich die Einsamkeit oft traurig stimmt.
Der Kursus schreitet zu meinem grossen Erstaunen sehr
erfolgreich vorwärts; meine Acngstlichkeit ist spurlos ver-
schwunden und ich gewinne nach und nach die richtige
Ph3'siognomie eines Professors. Mein Heimweh verschwin-
— 127 —
det auch, aber Moskau ist für mich dennoch eine fremde
Stadt, und es wird noch viel Zeit verstreichen, ehe ich
ohne Bangen daran werde denken können, für lange Jahre,
vielleicht für immer hier bleiben zu müssen.
Heute ist der erste Tag der grossen Fasten, und Mos-
kau ist wie ausgestorben.
Die Briefe aus Petersburg kann ich garnicht alle beant-
worten, so viele bekomme ich, und das tröstet mich aus-
serordentlich. Mit den Brüdern bin ich zufrieden: sie haben
bewiesen, dass sie mich aufrichtig gern haben, was ich
ihnen hundertfältig A^ergelten möchte".
An M. Tschaikowsky.
(Mitte Februar).
„Mein lieber Freund Modi, ich war in der letzten Zeit
sehr beschäftigt und habe Euch nur deshalb so lange nicht
geschrieben. Rubinstein hat mir eine sehr wichtige Arbeit
aufgetragen, welche ich bis zur dritten Fastenwoche been-
den will. Die Antworten auf deine Fragen sind folgende:
i) In Betreff der Winzigkeit Deiner Persönlichkeit lies das,
was ich an Toly geschrieben habe. Merkwürdig, dass Ihr
Beide — jedenfalls ohne Verabredung — an ein und derselben
Einbildung leidet. 2) Du w^eisst, dass Anatol — selbst wenn
er Dich wirklich manchmal mit seiner Gouvernanterei
belästigt — es doch nur aus Liebe thut, indem er Dir Gu-
tes wünscht. Desgleichen darfst auch Du ihn beobachten
und ihn auf sein Gesichterzerren so lange aufmerksam
machen, bis er's eben unterlässt.
Ich gerate immer in Verlegenheit, wenn ich von mir
reden soll. Mein Leben fliesst still und einförmig dahin,
so dass ich nicht weiss, was ich Dir erzählen soll. Viel-
leicht wird Dich Folgendes interessieren: ich bin sehr oft
bei Tarnowsky's. Dort giebt es eine Nichte, welche so wun-
derschön ist, wie ich noch nie ein Weib gesehen. Ich muss
gestehen, dass ich mich sehr mit ihr beschäftige, was Ru-
binstein Stoff zu den langweiligsten Nörgeleien giebt. So-
bald wir nur bei Tarnowsky's erscheinen, beginnt man,
sie und mich zu necken, uns aufeinander zu stossen u.
s. w. Zu Hause wird sie „Mufka" genannt und ich bin
augenblicklich sehr mit der Frage beschäftigt, wie ich es
anfangen soll, um zu dem Recht zu kommen, sie ebenfalls
bei diesem Namen nennen zu dürfen: dazu brauche ich
nur. etwas näher mit ihr bekannt zu werden. Rubinstein
— 128 —
ist auch in sie verliebt geAvesen, aber jetzt schon seit lange
wieder erkaltet. Meine Sittsamkeit ist jetzt in der besten
Ordnung; ich bin sehr ruhig geworden, sogar heiter. Ich
denke sehr oft an Ostern, Frühling, Sommer u, s. w.".
Die im Anfang dieses Briefes erwähnte Arbeit, welche
Rubinstein Peter Iljitsch gegeben hat, bestand in der Umin-
strumentierung der F-dur-Ouverture, welche ursprünglich
für das kleine Schülerorchester gesetzt war, —für grosses
Orchester. Nikolai Gregorjewitsch hatte die Absicht, die
betreffende Ouvertüre in seinem Konzert aufzuführen.
Laroche, welcher die Ouvertüre in ihrer ursprünglichen
Gestalt noch vom Petersburger Schülerkonzert, in welchem
sie seinerzeit gespielt worden war, her kannte, behauptet,
dass diese Komposition in der neuen Ausgabe viel an
Formschönheit und einheitlichem Charakter eingebüsst habe.
Ob Laroche Recht hat, ist jetzt schwer zu entscheiden,
denn ich besitze die Ouvertüre nur in ihrer anfänglichen
Gestalt. Ihr anderes Arrangement ist, glaube ich, vom Autor
selbst vernichtet worden.
Am 4. März ist diese Ouvertüre im Grossen Saale der
Russischen Adelsversammlung durch N. Rubinstein zur
Aufführung gekommen.
Obgleich die Kritik über das Debüt Peter Iljitsch's sich
ausgeschwiegen und Kaschkin nur gesagt hat, dass die
Ouvertüre „keinen glänzenden Erfolg errungen", war Pe-
ter Iljitsch selbst von dem Eindruck, welchen sein Werk
auf Musiker und Publikum gemacht, dennoch vollauf be-
friedigt.
An A. und M. Tschaikowsk}',
„6. März.
Unser Wiedersehen steht jetzt so nahe bevor, dass es
eigentlich garnicht mehr lohnt, Briefe zu schreiben, denn
in der Charwoche gedenke ich in Petersburg einzutreffen,
und all' mein Denken und Trachten gilt dieser Reise; in
Betreff des Absteigequartiers bin ich noch im Zweifel.
Schreibet, wo ich am besten untergebracht sein werde
Am Freitag ist meine Ouvertüre gespielt worden und
hat einen guten Erfolg gehabt: ich wurde einmütig geru-
fen und — um mich gelehrt auszudrücken — das Publikum
hat lauten Beifall gezollt. Noch schmeihelhafter war für
mich die mir beim Souper, welches Rubinstein nach dem
Konzert zum Besten gegeben, dargebrachte Ovation. Ich
— 129 — '
war als Letzter erschienen und bin mit lebhaftem und an-
haltendem Händeklatschen empfangen worden, wobei ich
mich sehr ungeschickt und errötend nach allen Seiten hin
verbeugte. Während des Essens brachte Rubinstein einen
Toast auf mich aus, und da gab es wieder eine Ovation.
Ich schreibe deshalb so ausführlich darüber, weil das
eigentlich doch mein erster öffentlicher Erfolg, und daher
für mich sehr angenehm ist. Noch eine Ausführlichkeit:
in der Probe applaudierten mir die Orchestermusiker. Ich
will es nicht verheimlichen, dass dieser Umstand meinem
ferneren Verweilen in Moskau in meinen Augen einen
grossen Reiz verliehen hat".
Ende März entfloh Peter Iljitsch endlich mit dem Ge-
fühl eines Schulbuben, der in die Ferien geht, aus Mos-
kau und stürmte nach Petersburg, wo er bis zum 4. April
bheb.
Er selbst schreibt in einem Brief an die Schwester über
seine Reise so: „Ich bin in Petersburg gewesen und habe
dort sehr angenehme 14 Tage verbracht... Das Wieder-
sehen mit Allen Denjenigen, die meinem Herzen lieb und
teuer sind, war unbeschreiblich erquickend". Zu diesem
kurzen Bericht kann leider weder ich noch mein Bruder
Anatol Etwas aus eigener Erinnerung hinzufügen, ausser,
dass wir Beide bei jener Begegnung mit Peter eine unaus-
löschlich denkwürdige Freude erlebt haben.
An A. und M. Tschaikowsky.
„7. April., Moskau.
Brüder! Verzeihet, dass ich so lange nicht geschrieben
habe. Die Reise ist glücklich von statten gegangen. Die
Nachricht vom Attentat auf den Kaiser hat uns schon auf
derjenigen Station ereilt, wo wir Thee tranken, aber nur
in sehr unklarer Form. Wir hatten uns schon eingebildet,
dass der Kaiser gestorben sei, und eine Dame hat bereits
bittre Thränen darüber vergossen, während eine andere
Dame alle guten Eigenschaften des neuen Kaisers rühmte.
In Moskau erst habe ich das Richtige erfahren. Die Freude
ist hier ganz unglaublich gross: im Grossen Theater, bei-
spielsweise, wo ich Vorgestern „Das Leben für den Za-
ren" gesehen habe, schrie das ganze Publikum, als die
Polen auf der Bühne erschienen, „Nieder, nieder, nieder
mit den Polen!" Im letzten Auftritt des vierten Aufzugs,
wo die Polen Sussanin zu töten haben, fing der Kerl, der
Tschaikowsky, M. P. I. Tschaikowsky 's Leben. 9
— тзо —
den Sussanin machte, so mit den Armen an zu fuchteln,
dass er — da er über eine immense Kraft verfügte — viele
der Choristen-Polen zu Boden warf; und als die übrigen
„Polen" sahen, dass diese Beschimpfung der Kunst, der
Wahrheit und des Anstandes grossen Anklang beim Pu-
blikum fand, fielen sie von selbst alle nieder, und der
triumphierende Sussanin entfernte sich, drohend die Fäuste
schüttelnd, unversehrt unter dem donnernden Beifall der
Moskowiter. Zum Schluss wurde das Bild des Kaisers auf
die Bühne getragen und es begann ein nicht in Worten
wiederzugebender Tumult.
Vom Bahnhof bin ich direkt in die Theoriestunde ge-
kommen, und das hatte eine heilsame Wirkung auf mich,
da ich auf diese Weise ganz plötzlich in die Prosa des
Moskauer Lebens getaucht worden bin. Selbstverständlich
bin ich hier freudig empfangen worden; am selben Tage
war bei Tarnowsky's Diner und später musikalische Soi-
ree, welche ich mit der Ouvertüre zu „Ruslan und Lud-
milla" eröffnete. Das Wetter ist hier anhaltend prachtvoll;
es ist so warm, wie im Juni, und ich habe Gestern lange
im Alexander- Garten spaziert. Das Tagesgespräch dreht
sich um das Attentat auf den Kaiser und Komissaroff ist
plötzlich ein berühmter Mann geworden. Im „Englischen
Klub" hat man ihn einstimmig zum Ehrenmitglied ernannt
und ihm einen goldenen Ehrendegen übersandt...
Gestern Abend ereignete sich folgende kuriose Geschichte:
ich war bei Tarnowsky's zufällig ganz allein mit drei Da-
men geblieben, und sie haben es durchgesetzt, dass ich
abwechselnd mit Jeder von ihnen getanzt habe, und infol-
gedessen so müde geworden bin, dass ich mich kaum bis
zu meinem Zimmer schleppen konnte".
An Frau A. Dawidow.
„8. April.
Ich will Heute den Rechtsanwalt zweier Wiesen ma-
chen, welche nur noch von Kamenka schwärmen. Du hat-
test mir geschrieben, dass man Toly und Modi in Peters-
burg lassen könnte, ich habe aber beschlossen, ihnen
vorläufig Nichts über deine Absicht mitzuteilen: sie wür-
den ganz den Mut verlieren (besonders Toly). Einer der
Gründe, weshalb sie so gern für den Sommer nach Ka-
menka kommen möchten, besteht darin, dass ich bei Euch
sein werde, und das ist der einzige Ort, wo wir eine Zeit
— 131 -^
lang zusammen leben können. Wenn Du nur wüsstest,
wie sehr diese beiden Mcännchen an mir hängen (was ich
übrigens hundertfach erwidere), dann würde es Dir gewiss
Leid thun, sie von mir zu trennen. Also richte es doch
so ein, meine Liebe, dass sie reisen können. Es ist sehr
leicht möglich, dass ich einen Teil der Unkosten werde
auf mich nehmen können.
Am 24. April soll meine Ouvertüre (dieselbe, welche
in Moskau gespielt worden ist) in Petersburg in einem
populären Konzert zur Aufführung gelangen. Leider werde
ich nicht dort sein können".
An A. Tschaikowsky.
„25. April.
Schon lange habe ich keine Zeile von Dir erhalten und
bin traurig darüber. Es haben mich überhaupt Alle ver-
gessen, und ich habe keine Ahnung mehr davon, was in
Petersburg vorgeht. Meine Tageszeit ist jetzt ordnungsmäs-
sig eingeteilt und vergeht, wie folgt:
Zwischen 9 und 10 Uhr erwache ich gewöhnlich, und
unterhalte mich, im Bett liegend, eine Weile mit Rubin-
stein, dann stehe ich auf und trinke mit ihm Thee. Von 11
bis I gebe ich entweder Unterricht, oder arbeite bis 2 Uhr
an der Symphonie ^) (welche übrigens nur langsame Fort-
schritte macht); in dieser Zeit besuchen mich oft Kaschkin
und Frau Walzeck -). Um halb drei begebe ich mich in
die Ulitinsche Buchhandlung, lese dort die Zeitungen durch
und gehe nachher etwas spazieren. Um 4 Uhr esse ich Mit-
tag. Nachmittag gehe ich entweder wieder spazieren, oder
sitze zu Hause. Abends trinke ich oft bei Tarnowsky's
Thee, oder gehe in den Künstler-Verein, oder in den Kauf-
männischen, oder auch in den Englischen Klub, wo ich die
Zeitschriften durchsehe. Um 12 bin ich stets wieder zu
Hause, schreibe Briefe oder komponiere an der Sympho-
nie, und lese noch im Bett ziemlich lange. In letzter Zeit
schlafe ich sehr schlecht: meine apoplexischen Erscheinun-
gen •^) sind wiedergekommen und zwar mit grösserer Inten-
sivität als je, sodass ich jetzt schon immer im Voraus
weiss, ob sie in der bevorstehenden Nacht kommen wer-
den oder nicht, und im ersteren Falle mich bemühe, gar-
1) S3rmplionie № i (G-moIl), Verlag Jurgenson.
2) Frau Walzeck-Gesanglehrerin am Konservatorium.
3) Eigentümliches nei-v'öses Hämmeru im Kopf, welches sich bei Peter Iljitsch immer
infolge von Ueberanstrengung beim Einschlafen einzustellen pflegte.
— 132 —
nicht einzuschlafen. So habe ich, z. В., Vorgestern die
ganze Nacht nicht geschlafen. Meine Nerven sind wieder
ganz zerrüttet. Die Ursachen davon sind: i) die nicht ge-
lingen wollende Symphonie; 2) Rubinstein und Tarnowsky's
haben entdeckt, dass ich leicht zu erschrecken bin, und
erschrecken mich spasseshalber jeden Augenblick auf die
verschiedenste Art und Weise; 3) mich will der Gedanke
nicht verlassen, dass ich bald sterben und die Symphonie
unbeendet hinterlassen werde. Mit einem Wort, ich er-
warte jetzt den Sommer, wie das verheissene Paradies,
und hoffe, in Kamenka Ruhe und Gesundheit zu finden
und alles Missgeschick zu vergessen. Von Gestern an habe
ich mir vorgenommen, keinen Schnaps, keinen Wein und
keinen starken Thee mehr zu trinken.
Ueberhaupt: ich hasse das Menschengeschlecht und
würde mit Genuss in einer Wüste Zuflucht suchen, mit
einem nur geringen Gefolge umgeben. Das Billet für die
Diligence habe ich mir für den 10. Mai schon besorgt".
In dem von Kologriwoff am i. Mai in Petersburg unter
Leitung A. Rubinstein's veranstalteten populären Konzert
ist u. A. auch die F-dur-Ouverture zur Aufführung ge-
kommen.
Dieses erste Petersburger Debüt Peter Iljitsch's ist ganz
unbemerkt geblieben. Die Zeitungen haben dasselbe auch
nicht mit einem Wort erwähnt. Aus dem Umstand, dass
auch von denjenigen Petersburgern, mit denen Peter Iljitsch
im Briefwechsel stand, Keiner über jene Aufführung be-
richtet, geht hervor, dass sie garkeinen Erfolg gehabt hat.
Der Einzige, der mir einmal einige Worte darüber geäus-
sert hat, ist N. A. Rimsky-Korsakoff; er sagte mir, dass
er in jenem Konzert gewesen sei, dass er damals zum
ersten Mal eine Tschaikowsky'sche Komposition zu Ge-
hör bekommen und nur eine schlechte Meinung vom Ta-
lent des Komponisten gewonnen habe.
Die von Peter Iljitsch so lange und sehnsüchtig erwar-
tete, in Gesellschaft der Zwillinge zu unternehmende Reise
zur Schwester nach Kamenka hat leider nicht stattfinden
sollen.
An P'rau A. I. Dawidow.
„14. Mai.
Liebe Freundin Sascha! Habe Dir deshalb so lange
nicht geschrieben, weil ich vorerst die endgiltige Entschei-
dung in Betreff meiner Reise abwarten wollte. Es han-
— 133 —
delt sich darum, dass die Cliaussee zwischen Moskau und
Kiew zur Hälfte unpassierbar sein soll und die Diligencen
nur bis Dowsk fahren. Den Reisenden ist es anheim ge-
stellt die Weiterfahrt auf der „versunkenen" Strasse auf
eigene Gefahr hin im Privatfuhrwerk zu unternehmen. Vor
ungefähr drei Wochen bin ich im Diligencenbureau gewe-
sen und wollte das Billet lösen; der Beamte erklärte mir
aber, dass ich das Billet für den i6. Mai und nur bis Dowsk
erhalten könne, fügte aber hinzu, dass die Chaussee bis
dahin wieder hergestellt sein würde. Ich habe nun infol-
gedessen die Unvorsichtigkeit begangen, das Billet zu neh-
men und 19 Rubel zu bezahlen mit der Bedingung, dass
mir am 16. das Billet bis Dowsk auf ein anderes bis Kiew
umgetauscht werde. Nun erweist es sich aber, dass die
Chaussee bis Heute noch nicht ausgebessert ist und die
Diligencen immer noch blos bis Dowsk fahren. Ueber den
Zustand der Strasse zwischen Dowsk und Kiew weiss man
hier in Moskau so schreckliche Geschichten zu erzählen,
dass ich es nicht wagen möchte, die Reise zu unterneh-
men. Du glaubst garnicht wie sehr mich dieses dumme
Hinderniss verstimmt hat. Den ganzen Winter träumte und
schwärmte ich von Nichts Anderem, als von dem Wie-
dersehen mit Euch, von der Seelenruhe, welche ich nur
bei Euch zu finden vermag und plötzlich kommt so eine
dumme Chaussee dazwischen! Die Brüder können sich
auch nicht entschliessen, die Reise zu unternehmen. Sie
flehen mich jetzt an, zu ihnen nach Petersburg zu kom-
men, gemeinschaftlich das Weitere zu beraten und einen
Entschluss zu fassen.
Du wirst Dich, vielleicht, wundern, dass mir der Weg
zwischen Dowsk und Kiew eine solche Furcht einflösst;
aber das ist es nicht allein, was mich zurückhält, sondern
auch der Mangel meiner Finanzen, denn mein Geld reicht
nur für den Fall, dass ich die ganze Strecke per Diligence
zurücklegen kann. Das Honorar für die Uebersetzung Ge-
vaerts werde ich wahrscheinlich erst im August erhalten.
Küsse Dich, Leo und die Kinder unendlich viele Mal"
u. s. w.
Die Fahrt nach Petersburg hat die Schwierigkeiten
nicht nur nicht beseitigt, sondern sie eher vermehrt, indem
sie Peter Iljitsch in Ausgaben stürzte. In Petersburg war
das Geld für die Reise nach Kamenka erst recht nicht zu
finden. Ueberhaupt, hat sich Peter Iljitsch wohl noch nie
in einer so kritischen Lage befunden, wie damals. Es kam
— 134 —
sogar soweit, dass er die erste Nacht nach seinem Ein-
treffen in Petersburg ohne Obdach unter freiem Himmel
bleiben musste. Als er, nämlich, vom Bahnhof direkt zu
Schoberts kam^ erwies sich dort das ganze Haus bereits
voller Gäste. In der Hoffnung, gegen Abend bei einem
seiner Petersburger Bekannten oder Freunde ein Nachtla-
ger zu finden, wollte er den Tag über bei Schobert's
bleiben, merkte aber in der Freude des Wiedersehens mit
seinen Brüdern garnicht, wie schnell die Zeit verflog, so-
dass— als er erst spät abends fortging — es ihm unmöglich
schien, in so vorgerückter Stunde Jemanden um Nacht-
quartier zu ersuchen, und er es vorzog, da er für ein Hotel
kein Geld hatte, auf der Strasse den Morgen zu erwarten.
Da nun von einer Reise nach Kamenka, dazu noch zu
Dreien, garkeine Rede mehr sein konnte, so blieb Peter
Iljitsch Nichts Anderes übrig, als die Einladung der Schwie-
germutter seiner Schw^ester, Alexandra Iwanowna Dawi-
dow's, den Sommer in ihrer FamiHe im Oertchen Mjat-
lew^ in der Nähe Petersburgs zu verbringen, anzunehmen.
Mit Hilfe des soeben vom Ural zwrückgekehrten Ilja
Petrowitsch ist es Peter Iljitsch gelungen, wenigstens Ana-
tol die Reise zur Schwester zu ermöglichen, während er
selbst mit Modest in der Familie der Frau Dawidow Auf-
nahme fand.
Mjatlewo war Peter Iljitsch schon von früher her be-
kannt und mit angenehmen Erinnerungen verknüpft. In
der Nähe befand sich das Sergius-Kloster, w^hin er Sonn-
abends zum Nachmittagsgottesdienst gern zu gehen pfleg-
te. Auch der Vater Peter Iljitsch's wohnte in jenem Som-
mer in Mjatlewo in der Familie seiner Frau, sodass Peter
Iljitsch den denkbar besten Ersatz für Kamenka gefunden
hatte; und doch konnte er sein Bedauern nicht unterdrücken.
An A. I. Dawddow.
„7. luni.
Teure Sascha! Es vergeht aber auch wirklich nicht eine
Stunde, ohne dass ich bei den geringsten Anlässen an Alles
Das denken muss, was sich grade vor einem Jahr bei Euch
zugetragen hatte. Ach, ich habe so gehofft, mich an Eurer
Seite etwas zu erwärmen.' Ausser Euch muss ich nun auch
noch einen anderen „Wärme-Apparat" lange Zeit hindurch
entbehren. Ich meine Toly.
Wir leben in Mjatlewo eigentlich garnicht schlecht und
ich würde dieses Leben vielleicht sogar sehr nett finden,
— 135 —
wenn nicht der beständig nagende Gedanke an Kamenka
wäfe! Das Wetter ist sehr schön. Vater sehe ich sehr oft.
Was sind das doch für ideale Menschen die Dawidow's!
Für Dich ist es ja Nichts Neues, ich kann aber nicht um-
hin, darüber zu reden; so intim, wie jetzt, bin ich ja noch
nie mit ihnen gewesen und habe jeden Augenbhck Gele-
genheit, ihre Güte zu bewundern.
Jetzt wende ich mich an Dich, Tolз^ Ich habe jede Mi-
nute Deiner gedacht und die Reise Schritt für Schritt ver-
folgt. Nur in diesem Augenblick kann ich mir nicht vor-
stellen, was Du thust, da ich nicht weiss, ob ihr am Montag
rechtzeitig zur Abfahrt des Dampfers gekommen seid. In
diesem Falle schläfst Du jetzt, wahrscheinhch, im Hotel
„Europa", was auch Modest jetzt thut, indem er die nächt-
liche Stille mit seinem ziemlich „gesunden" Schnarchen
erfüllt. Er beträgt sich sehr gut. Es fällt mir angenehm
anf, dass er stets lustig und von gleichmässigem Charak-
ter ist.
Ich habe schon mit dem Instrumentieren der Sympho-
nie begonnen. Meine Gesundheit ist im leidhchen Zustand.
Nur einmal, vor Kurzem habe ich eine Nacht nicht geschla-
fen, da mich wieder die „Hämmerchen" ') gequält hatten".
In meinen Erinnerungen an jenen Sommer, erscheint
Peter Iljitsch viel weniger fröhlich gestimmt, als vor einem
Jahr. Am Tage unternahm er öfter als früher einsame Spa-
ziergänge, indem er meine Begleitung ablehnte, \vas mich
stets sehr kränkte; nur die Abende verbrachte er mit uns.
Nur in diesen Stunden mied er nicht unsere Gesellschaft,
und war veranstalteten oft gemeinsame Exkursionen in die
naheliegenden Wälder, oder unternahmen Spazierfahrten.
Aber die köstlichsten Momente für mich und für Wera
Wassiljewna, deren musikalische Erziehung Peter Iljitsch,
wie früher, beaufsichtigte, waren — wenn er sich Abends ans
Piano setzte und uns eine der Symphonieen Schumanns
(die erste oder vierte), oder „Paradies und Peri", oder
auch die italienische S\aiiphonie von Mendelssohn vor-
spielte. Namentlich entzückte ihn der erste Teil von „Pa-
radies und Peri": jedesmal, wenn er es vortrug, war er
ganz entzückt und verlangte von uns jedesmal eine ganz
besondere Aufmerksamkeit, wenn der jugendliche Held
vor dem grausamen Herrscher erschien, oder der Chor
der Engel den Tod des jungen Märtyrers verherrlichte; er
1) „Hämmerchen" nanute Peter Iljitsch die auf Seite 131 erwähnten nervösen Er-
scheinunsren.
— 136 —
behauptete jedesmal, dass er Etwas Schöneres in der gan-
zen Musik nicht kenne. Trotzdem er in seinen musika-
Hschen S3'mpatieen ziemlich veränderlich war und oft das
Eine oder das Andere schlecht machte, w4:)von er eben
erst entzückt gewesen, hat Peter Iljitsch „Paradies und
Peri" ewige Treue bewahrt, gleich „Don Juan", „Frei-
schütz" und dem „Leben für den Zaren".
Ungeachtet der Schönheit der Gegend, der Gesellschaft
der immer mehr und mehr von ihm geschätzten Familie
Dawidow, ungeachtet der Nähe des Vaters, und des poe-
tischen Eindruckes der Fahrt zum Ladoga-See — war für
Peter Iljitsch die Erinnerung an den in Mjatlewo verleb-
ten Sommer unangenehm. Das lag an der G-moll-Sympho-
nie, welche unter dem Namen „Winterträume" bekannt
geworden ist. Nicht eine einzige seiner Kompositionen hat
ihm soviel Mühe und soviel Qual gekostet, wie gerade
diese Symphonie.
Er hat diese Komposition noch in Moskau im Früh-
jahr in Angriff genommen, und schon damals war sie die
Ursache seiner Nervenschwäche und zahlloser schlafloser
Nächte. Das lag jedenfalls an seiner noch ziemlichen Uner-
fahrenheit im Komponieren, welche sich bei dem ersten
selbständigen grossen Werk nach Absolvierung des Kon-
servatoriums zeigte, zum Teil aber auch an jenem uner-
forschbaren Zufall, лvelcher es fügt, dass die eine Arbeit
schnell, und leicht, und die andere wieder nur mühsam
und langsam von statten geht; am wahrscheinlichsten, je-
doch, lag es daran, dass Peter Iljitsch nicht nur den Tag
über, sondern auch in der Nacht arbeitete. Trotz des enor-
men Fleisses machte die Symphonie nur langsame Fort-
schritte und je mehr Peter Iljitsch arbeitete, desto schwä-
cher wurden seine Nerven. Die Ueberanstrengung ver-
scheuchte den Schlaf, und die Schlaflosigkeit wirkte lähmend
auf die schöpferische Kraft. Ende Juni kam es endlich zu
schrecklichen nervösen Anfällen. Der herbeigerufene Arzt
konstatierte, dass Peter Iljitsch nur „um einen Schritt vom
Wahnsinn" entfernt sei, und dass die Lage eine verzAvei-
felte wäre. Die Krankheit äusserte sich hauptsächlich und
am fürchterlichsten darin, dass Peter Iljitsch von Hallu-
cinationen und von einem beklemmenden Angstgefühl ver-
folgt wurde. Wie schwer Peter Iljitsch unter dieser Krank-
heit gelitten haben muss, geht aus dem Umstand hervor,
dass er später nie mehr in der Nacht zu arbeiten wagte.
Nach jener Symphonie ist nicht eine einzige Note seiner
Kompositionen Nachts entstanden.
— 137 —
Auf diese Weise ist es also Peter Iljitsch nicht gelun-
gen, die Symphonie noch im Sommer zu beenden. Trotz-
dem hat er sie vor seiner Rückreise nach Moskau seinen
Lehrern A. Rubinstein und N. Zaremba gezeigt, in der
Hoffnung, dass sie das Werk für eines der S3nnphonie-
Konzerte der Russischen Musikalischen Gesellschaft in
Aussicht nehmen würden. Er sollte aber schon wieder
eine bittere Enttäuschung erleben: seine Arbeit wurde ei-
ner sehr strengen Kritik unterworfen und einer Aufführung
nicht für wert erachtet. Zaremba hat, unter Anderem, das
zweite Thema des ersten Satzes missfallen, welches dem
Autor selbst durch den Kontrast gegenüber dem ersten
Thema grade gefiel. Und doch war die Autorität der Pro-
fessore einflussreich genug, um Peter Iljitsch zu veranlas-
sen, die Symphonie nach Moskau mitzunehmen und sie
dort gründlich umzuarbeiten.
Diese Symphonie ist das erste Werk, welches er nach
Alsolvierung des Konservatoriums selbständig komponiert
hat. Alles Uebrige, woran er gearbeitet, beschränkt sich
auf die Instrumentierung der Ouvertüren F-dur und C-moU,
welche beiden Werke bis Heute unveröffentlicht geblie-
ben sind.
^
III.
1866 1867.
In den letzten Tagen des Monats August kehrte Peter
Iljitsch nach Moskau zurück, diesmal jedoch ohne jenes
feindselige Gefühl, mit welchem er am 6. Januar in diese
Stadt gekommen war. In dieser Veränderung seines Ver-
haltens gegenüber Moskau spielte nicht zum wenigsten
sein ausserordentlich sensibles künstlerisches Ehrgefühl
eine Rolle. Nach dem absprechenden Urteil der Peters-
burger Autoritäten über seine S3'mphonie, verglich er un-
wilkürlich den Empfang, der ihm und seinen Kompositionen
in Petersburg beschieden gewesen, mit der Anerkennung,
die ihm seitens der Moskowiter zu Teil wurde, und zwar
sehr zu Gunsten der Letzteren. Ausserdem hat er in der
138 -
drei Monate langen
Trennung die Freund-
schaft mit seinen Mos-
kauer Kollegen, N.
Rubinstein, Albrecht
und Kaschkin recht
schätzen gelernt und
freute sich sehr auf
das Wiedersehen mit
ihnen. Endlich musste
auch der sehr wich-
tige Umstand anzie-
hend auf Peter Iljitsch
wirken, dass vom Sep-
tember an sein Gehalt
mehr als um das Dop-
pelte vergrössert wer-
den sollte. Er musste
sich ausserordentlich
freuen, dass die Not
endlich ein Ende ha-
ben sollte, und ein
Einkommen von mehr
als Hundert Rubel mo-
natlich erschien ihm
fast als Reichtum.
„Geld habe ich über
Peter Iljitsch Tschaikowsky im Jahre 1807. ^^^^ . ^^^ ^^^^^ , ^
schreibt er im November an seinen Bruder.
Gleichzeitig fingen die letzten Bande, die ihn noch an
Petersburg fesselten, an, sich zu lockern. Als Komponist
hat er es weder seinen ehemaligen Lehrern, welche seine
S\'mphonie abgelehnt, noch dem Publikum, welches mit
kalter Gleichgiltigkeit seine Ouvertüre angehört, recht ma-
chen können. Die Anhänglichkeit an seinen Vater und seine
Brüder ist zwar die gleiche geblieben, aber — erstens, hatte
er sich bereits daran gewöhnt, getrennt von ihnen zu le-
ben, und zweitens — konnte von einem Bedauern der Zwil-
lingsbrüder, sowie von der brennenden Sorge um sie nicht
mehr die Rede sein: wusste er doch, dass sie im Hause
ihres Vaters wieder ein Heim haben. Und doch blieb noch
ein leises Gefühl der Sehnsucht nach Petersburg in ihm
leben. — Sein Heil erwartete er immer noch von der Aner-
kennung seines Talentes in Petersburg. Moskau war für
— 139 —
ihn immer noch die „fremde" Stadt, deren Sympatie zu
erobern „nicht der Mühe wert" war, — die Provinz, deren
Meinung er keine ernsthche Bedeutung beimessen wollte.
Im Jahre 1866 hat sich das Konservatorium derart ver-
grössert, dass es in der Wohnung Rubinsteins nicht mehr
Platz hatte und nach einem grösseren Lokal verlegt wer-
den musste. Die pädagogische Thcätigkeit Peter Iljitsch's
erstreckte sich auf einen Kursus Harmonielehre (der aber
nur ziemlich schwach besucht war) und die Klasse der
Elementartheorie, sodass er im Ganzen etwa 20 Stunden
wöchentlich zu unterrichten hatte, und ihm für das Kom-
ponieren genug Zeit übrig blieb. Da sein, wenn auch er-
höhtes Gehalt doch nicht genügend war, um eigne Wirt-
schaft zu führen, so blieb er vorläufig noch bei Rubinstein
wohnen, welcher sich eine neue Wohnung in unmittelba-
rer Nähe des Konservatoriums gemietet hatte. Sie beide
nahmen ihr Mittagsmahl bei Albrecht ein, dessen Pensionäre
sie noch lange Zeit hindurch blieben.
Am I. September fand die feierliche Einweihung des
neuen Konservatoriums statt, welcher sämmtliche Hono-
ratioren und hervorragende Vertreter der Gesellschaft Mos-
kau's beiwohnten. Nach dem Festgottesdienst gab es ein
Bankett, bei welchem viele Toaste ausgebracht wurden.
Auch Peter Iljitsch erhob sein Glas und trank, nachdem
er einige ausserordentlich warmherzige und begeisterte
Worte geredet, das Wohl Anton Rubinsteins, N. D. Ka-
schkin, der einzige noch lebende Zeuge jenes Bankett's,
erzählt, dass diese Rede Peter Iljitsch's einen sehr guten
Eindruck hervorgebracht habe, erstens dank ihrem Inhalt,
und zweitens, weil sie sehr gut gesprochen wurde.
„Nach dem Essen", erzählt Kaschkin weiter, — „wollte
man musizieren. Den neuengagierten Cellisten Kossmann
hatte, ausser Rubinstein, noch Keiner von uns gehört, und
wir waren Alle sehr begierig, das Spiel eines der berühm-
testen Virtuosen Europa's kennen zu lernen. Tschaikowsk}^
war aber der Meinung, dass die erste Musik im neuen Kon-
servatorium— die Musik Glinka's sein müsse, setzte sich ans
Klavier und spielte auswendig die Ouvertüre zu „Ruslan
und Ludmilla". Nachher kam ein Trio von Beethoven (Ru-
binstein, Laub und Kossmann) und eine Sonate desselben
Meisters (Rubinstein und Kossmann) zum Vortrag.
Die Flut neuer Kollegen in der Sache der musikalischen
Erleuchtung Moskaus, welche durch die Vergrösserung des
Konservatoriums bedingt war, hat den intimen Freundes-
— 140 —
kreis Peter Iljitsch's nicht wesentlich erweitert. „Keinem
von den Professoren des Konservatoriums ist Peter Iljitsch
damals nahe gestanden. Er bewunderte zwar das unver-
gleichliche Spiel Laub's, vermochte aber nicht, intimere
Bekanntschaft mit ihm zu schliessen, erstens, weil Laub,
ausser der Musik und der FHntenjagd, sich für Nichts inte-
ressierte; zweitens konnte er nur deutsch sprechen, wäh-
rend Peter Iljitsch in dieser Sprache sich nur mühsam
verständigte. Mehr Annäherungspunkte hatte Peter Iljitsch
mit Kossmann, einem ausgezeichneten Musiker und gebil-
deten Menschen, welcher die französische Sprache vollkom-
men beherrschte. Mit I. Wieniawsky ist Peter Iljitsch nur
kurze Zeit bekannt gewesen, denn Der verliess schon nach
einem halben Jahr seinen Lehrerposten und reiste auf Nim-
merwiedersehen fort. Manchen Abend versammelten wir
uns bei A. I. Dubuque, einem sehr gastfreundlichen Herrn,
dessen famoses Klavierspiel, namentlich der einzig in seiner
Art dastehende Vortrag Field'scher Nocturno's und ande-
rer damals modern gewesener Kompositionen, auch Peter
Iljitsch sehr gefiel. Ausserdem war Dubuque ein stets lu-
stiger und interessanter Erzähler".,. Auch der jetzt in Wien
lebende bekannte Klaviervirtuose Anton Door zählte da-
mals zu den Freunden Peter Iljitsch's.
Von denjenigen nicht musikalisch-fachmännischen Be-
kannten Peter Iljitsch's wäre an erster Stelle der Kunst-
freund Fürst Wladimir Odoewsky zu nennen, der Ver-
fasser verschiedener bekanntgewordener wissenschaftlicher
Schriften. Dieser Fürst brachte Peter Iljitsch sein beson-
deres Interesse entgegen und hat ihn stets in jeder mög-
lichen Weise protegiert. Peter Iljitsch war ihm dankbar
dafür und hatte ihn seinerseits sehr verehrt und ihm ein
freundschaftliches Andenken bewahrt. 1878 spricht er sich
in einem seiner Briefe folgendermassen über den Fürsten
Odoewsky aus: „Das ist eine der erleuchtetsten Persön-
lichkeiten, denen ich je begegnet bin. Er war die perso-
nifizierte Herzensgüte, und verband mit seiner grossen
Klugheit allumfassende Kenntnisse, unter Anderen auch
die der Musik. Es scheint mir, dass ich erst vor Kurzem
sein liebes Gesicht gesehen! Vier Tage vor dem Tode ist
er noch im Konzert gewesen, um meine Orchester-Fanta-
sie „Fatum" anzuhören. Mit welcher Jovialität hatte er
mir in der Pause seine Bemerkungen mitgeteilt! Im Kon-
servatorium liegen noch die „Becken", die er irgendwo
selbst ausgegraben und mir geschenkt hatte. Er fand näm-
— I4T —
lieh, dass ich das Talent besitze, dieses Instrument immer
an der richtigen Stelle anzuwenden, nur das histrument
selbst gefiel ihm nicht. Da durchstöberte denn der reizende
Alte ganz Moskau nach einem Paar guter „piatti" und
schickte sie mir, nachdem er sie endlich gefunden hatte,
nebst einem köstlichen Brief". In der Welt der Schrift-
steller und Schauspieler hatte Peter Iljitsch damals auch
zwei gute Freunde, A. N. Ostrowsky und P. M. Sadowsk}^
Die S3'mpatie dieser beiden grossen Künstler hat er sich
nur durcli die Anziehungskraft seiner Person erworben,
denn weder der Eine noch der Andere fand besonderen
Gefallen an der Musik. Namentlich hat Sadowsky Peter
Iljitsch sehr lieb gewonnen, obgleich diese Freundschaft
unserem Komponisten keinerlei künstlerische Vorteile ge-
bracht hatte. Dagegen wurde die Bekanntschaft mit Os-
trowsky schon gleich im Anfang von grosser Bedeutung
für Peter Iljitsch, denn der berühmte Dramatiker hat ihm
versprochen, aus dem Drama „Der Woiwode", welches
sich am besten für eine musikalische Illustration eignete,
ein Opernlibretto zurechtzumachen.
Im Laufe derselben Saison hat Peter Iljitsch noch eine
weitere, für ihn von Wichtigkeit werden sollende Be-
kanntschaft gemacht, — die mit Wladimir Petrowitsch Be-
gitscheff, dem damaligen Intendanten der Moskauer Kaiser-
lichen Oper. Dieser Mann genoss eine ziemlich grosse Po-
pularität, erstens, als ehemaliger „Adonis" und Held der
romantischen Chronik Moskau's, zweitens, als Autor vie-
ler, zum grössten Teil der ausländischen Literatur ent-
lehnter Dramen, und drittens — als Gemahl seiner Frau. Die-
se, eine von der Moskauer und Petersburger Gesellschaft
in den vierziger und fünfziger Jahren sehr gefeierte Salon-
sängerin, hatte gleich ihrem Gemahl eine sehr stürmische
Vergangenheit hinter sich. Begitscheff war ihr zweiter
Gatte. In erster Ehe ist sie mit einem gewissen Schilowsk}'
verheiratet gewesen, welchem sie zwei Söhne, Konstantin
und Wladimir, geschenkt hatte. Sie Beide haben von der
Mutter Talent und Liebe zur Kunst geerbt, gleichzeitig
aber leider auch einen gewissen Dilettantismus, die ihrer
Mutter eigene Oberflächlichkeit. Der ältere der beiden Brü-
der ist in seinem Leben Alles Mögliche gewesen: Bild-
hauer, Sänger, Komponist und noch Verschiedenes Andere,
zuletzt — Schauspieler, während der Jüngere ausschhesslich
der Komposition lebte. Konstantin Schilowsky hat im spä-
teren Leben Tschaikowsk3''s eine nicht unbedeutende Rolle
— 142 —
gespielt, indem er bei der Anfertigung des Textbuches zu
„Eugen Onegin" lebhaften Anteil nahm. Im Jahre 1866
jedoch hatte Peter Iljitsch mehr Interesse für den 14-jähri-
gen Wladimir, einen schwächlichen, kränklichen, aber für
die Musik phenomenal begabten Knaben. Auf Empfehlung
N. Rubinsteins wurde Peter Iljitsch der Theorielehrer Whi-
dimir's und hat ihn in kurzer Zeit so lieb gewonnen, dass
viele Jahre später, als er schon längst den Glauben an die
kompositorische Leistungsfähigkeit seines Schülers verlo-
ren hatte, die Freundschaft mit ihm trotzdem bestehen
blieb und bis an den 1893 erfolgten Tod W. Schilowsky's
dauerte.
Bald nach der Ankunft in Moskau begann Peter Il-
jitsch mit der Komposition einer Ouvertüre über die dä-
nische Nationalhymne ^), welche Arbeit ihm N. Rubinstein
bestellt hat, — gelegentlich der bevorstehenden Hochzeits-
feier des Kronprinzen mit der dänischen Prinzessin Dag-
mar, und zwecks Aufführung in Gegenwart der Erlauchten
Neuvermählten während ihres Aufenthaltes in der alten
Zarenstadt.
Wie alle bestellten Arbeiten, hat Peter Iljitsch auch
diese schon vor dem Termin fertiggestellt, ungeachtet des-
sen, dass er sie unter den denkbar ungünstigsten Verhält-
nissen zu komponieren hatte, denn die Wohnung Rubin-
steins war den ganzen Tag über der Sammelpunkt der
Konservatoriumsprofessore und anderer Besucher, welche
sich nicht genierten, sich auch in Peter Iljitsch's Zimmer
aufzuhalten (wie Kaschkin erzählt), sodass er zu Hause
keine Ruhe hatte und genötigt war, zu anderen Orten
seine Zuflucht zu nehmen, beispielsweise zu dem Hotel
„Grossbrittannien", in dessen geräumigen Zimmern es am
Tage gewöhnlich ziemlich menschenleer war. Die Ouver-
türe hat Peter Iljitsch dem Kronprinzen gewidmet und
erhielt von Diesem als Dank mit Edelsteinen verzierte gol-
dene Manschettenknöpfe, welche Peter Iljitsch aber sofort
an Dubuque verkaufte. Peter Iljitsch, welcher seine ersten
Arbeiten stets sehr streng beurteilte, hat dieser Ouvertüre
jedoch ein sympatisches Andenken bewahrt und schrieb
1892 an Jurgenson, welcher den Wunsch geäussert hatte,
sie herauszugeben: — „Meine „Dänische Ouvertüre" kann
ein Repertoirstück werden, denn sie ist, soweit ich mich
erinnere, ziemlich wirkungsvoll, und ist in musikalischer
Beziehung viel besser als „1812". — Von den Briefen Peter
IJ Dp. 15. Verlag Jurgenson.
— 143 —
Iljitsch's aus der ersten Hälfte der Saison haben sich nur
zwei erhalten.
An A. Tschaikowsky.
„8. November.
...Ich bin wie früher gesund und nach Möglichkeit
glücklich... Die Ouvertüre der Dagmar ist schon fertig,
ihre (der Dagmar) Ankunft ist aber bis zum April verscho-
ben, sodass ich mich umsonst beeilt habe. Jetzt will ich
die Umarbeitung der Symphonie in Angriff nehmen, und
später, vielleicht, eine Oper. Es ist Hoffnung vorhanden,
dass Ostrowsky selbst mir das Textbuch zum „Woiwo-
den" machen wird. Habe einige neue Bekanntschaften ge-
macht, unter Anderen die des Fürsten Odoewsky und die
der Fürstin Meschtschersky, der schönsten Frau in ganz
Moskau. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich über Al-
brecht schon je Etwas geschrieben habe: er spielt eine
grosse Rolle in meinem Leben und ich muss ihm daher
einige Worte widmen. Erstens ist er der liebenswürdigste
Mann von ganz Moskau; ich habe schon im vorigen Jahre
seine Bekanntschaft gemacht und habe mich seitdem so
an ihn gewöhnt, dass ich bei ihm wie zu Hause bin, was
mir oft einen grossen Trost gewährt. Zweitens habe ich
seine zwei reizenden Kinder sehr lieb gewonnen. Tar-
nowsky's besuche ich jetzt lange nicht mehr so oft, als
früher".
An Denselben.
„I. December.
....Bin eben erst von einem Abend nach Hause gekom-
men, wo ich wundervolle Stücke von Schumann, (von Ru-
binstein und Laub vorgetragen) gehört habe... In der vo-
rigen Woche ist Kross ^) hier gewesen, und verbrachte
mit uns vier Tage. Wir haben natürlich ziemlich stark ge-
kneipt und ich habe mich infolgedessen sehr verausgabt.
Den Schluss bildete der Maskenball im Grossen Theater.
Dort hat mich den ganzen Abend eine Maske intriguirt,
welche ich nicht erkennen konnte, welche mich aber gut
zu kennen schien. Zuletzt soupierten wir in Gesellschaft
Rubinsteins und seiner Maske. In Petersburg werde wahr-
scheinlich d. 25. früh eintreffen, wenn ich bis dahin noch
lebe und gesund bin".
1) Siehe S. 96
— 144 —
Nachdem Р. I. die S3miphonie den Fingerzeigen A. Ru-
binsteins und Zaremba's entsprecliend umgearbeitet hatte,
wollte er vor Allem — N. Rubinstein überschlagend — das
neue Urteil seiner Lehrer einholen, so sehr stand er da-
mals noch unter dem Einfluss Petersburg's. In Moskau hat
er nur den unbedeutendsten Teil seines Werkes in einem
Symphoniekonzert (am 8. Dez.) aufführen lassen: das Scher-
zo, welches, übrigens, garkeinen Erfolg hatte.
hl Petersburg wurde die S^^mphonie im Grossen und
Ganzen wiederum abgelehnt; nur die beiden Mittelsätze,
Adagio und Scherzo haben sich einer Aufführung erfreut
(ii. Febr. 1867). Der Erfolg dieser Aufführung war gerin-
ger als mittelmässig. Das Publikum hat applaudiert, den
Autor aber nicht hervorgerufen, was ungefähr einem Fiasko
gleich kommt, denn die Neugier, den unbekannten Autor
zu sehen, erleichtert den Erfolg gewöhnlich sehr.
Trotzdem ist in der Presse die erste lobende Anerken-
nung Peter Iljitsch's gerade dieser Symphonie zu Teil ge-
worden. Während der hervorragendste Kritiker Peters-
burg's, C. Cui, die Erscheinung des Namens Tschaikowsk}'^
auf dem Programm der Symphoniekonzerte mit Schweigen
übergangen, hat ein anderer, ein unbekannter Rezensent,
л¥е1сЬег sich A. D. nennt, einen begeisterten Artikel in
der „Petersburger Zeitung" unter dem Titel „Die Sym-
phonie von Tschaikowsky" geschrieben.
Dieser, offenbar von einer Dilettantenfeder stammende
Artikel, vermochte nur in geringem Maasse den Schlag zu
mildern, welcher das künstlerische Ehrgefühl Peter Iljitsch's
betroffen, als Rubinstein die Bitte unseres Komponisten,
die ganze S3anphonie in der Russischen Musikalischen Ge-
sellschaft aufzuführen, zum zweiten Male abschlägig be-
schieden hatte.
In dem so milden Charakter Peter Iljitsch's bestand ne-
ben der ausserordentlichen Gutmütigkeit und Nachsicht
gegenüber den Mitmenschen merkwürdiger Weise gleich-
zeitig auch der Zug, erfahrenes Leid oder Unrecht nie ver-
gessen zu können, jedoch nicht im Sinne von Rachsucht,
sondern wörtlich verstanden: Peter Iljitsch hat der, seinem
künstlerischen .Stolz angethanen Beleidigungen sehr, sehr
lange gedenken können. Wenn der Beleidiger ihm bis da-
hin lieb und teuer gewesen, so erkaltete Peter Iljitsch ur-
plötzlich und für immer ihm gegenüber. Nicht nur Monate,
auch nicht Jahre, sondein Jahrzehnte lang trug er die ihm
beigebrachte Wunde ungeheilt in der Seele, und man mus-
— 145 —
ste wirklich ausserordentlich viel thim, um ihn ein unvor-
sichtiges Wort oder eine unfreundliche Handlung verges-
sen zu machen. Das war unzweifelhaft das Resultat seiner
Verwöhntheit. Schon von frühester Kindheit an hatte sein
liebenswürdiges Wesen jedwede Feindschaft oder sogar
nur Gleichgiltigkeit ihm gegenüber ausgeschlossen, sodass
die unbedeutendsten Nadelstiche, die ein Anderer kaum
merkt, ihm — weil sie ihm unbekannt — schon wie wuchtige
Schläge mit einem grossen Messer vorkamen. Ich könnte
viele Fälle aufzählen, wo er wegen Kleinigkeiten freund-
schafdiche Beziehungen zerrissen hatte, beschränke mich
aber darauf, zu erwähnen, dass er — als er schon seit lange
in Russland und in Europa berühmt war — noch immer
die ersten absprechenden Urteile Cui's und Hanslick's über
seine Kompositionen nicht vergessen konnte, und sie fast
Wort für Wort in seinem Gedächtniss trug.
Eine solche nie vergessene Beleidigung war auch die
abermalige Ablehnung seiner Symphonie seitens des Pe-
tersburger Direktoriums der Russischen Musikalischen Ge-
sellschaft. Er verbiss seinen Aerger und hörte von nun
an auf, die Anerkennung seines Talentes in Petersburg zu
erstreben. Aus dem ehrerbietigen Schüler, welcher furcht-
sam seine Arbeiten dem Direktorium zur Begutachtung
vorlegt, ist plötzlich ein selbstbewusster Mann geworden.
Nach einem Jahr, als aus Petersburg die mündliche Bitte
an ihn gelangt war, er möchte doch die Tänze aus der
Oper „Der Woiwode" zwecks Aufführung hinsenden, ant-
wortete er stolz, er werde es nicht eher thun, als bis man
ihm ein offizielles schriftliches Gesuch mit sämmtlichen Un-
terschriften des Direktoriums zukommen lassen würde, —
„denn diese Herren", — schrieb er bei der Gelegenheit an
seine Brüder, — „verhalten sich mir gegenüber etwas zu
sehr kavaliermässig. Man muss sie anf....n, um ihnen zu
imponieren." Das weitere Schicksal der „Winterträume"
hat bewiesen, dass im gegebenen Fall das Beleidigtsein
Peter Iljitsch's nicht grundlos gewesen, urid dass er wohl
Recht hatte, über Ungerechdgkeit zu klagen.
Bald darauf erlebte die Symphonie in Moskau, und
einige Jahre später auch in Petersburg, glänzende Erfolge
und gehört auch Heute noch nicht zu den vergessenen
Werken unseres Komponisten.
Nicht nur die Episode mit der Symphonie, sondern
auch viele andere Umstände entfremdeten Peter Iljitsch
nach und nach das „geliebte" Petersburg. Die Reihen sei-
Tschaikou'sky, M. P. I. Tschaik.ovvsky's Leben. lU
— 146 —
пег Freunde lichteten sioh mit der Zeit immer mehr und
mehr, der beste von ihnen, Laroche, kam im Dezember
als Professor nach Moskau. Ausserdem gewann in Peters-
burg der von Balakireff geleitete kleine Kreis talentvoller
jungrussischer Komponisten-Neuerer, welche Dargomyzski
huldigten und zu denen Rimsky-Korsakoff, Mussorgsk}^,
C. Cui und Borodin gehörten, immer mehr an Einfluss
und Bedeutung. Die von diesen Komponisten vertretenen
und durch C. Cui und Stassoff schriftlich verfochtenen Ten-
denzen, welche die alten Götter Haydn, Mozart, Händel
u. A. zu stürzen bestrebt waren, sowie der Krieg, den
sie mit dem Petersburger Konservatorium, speziell mit A.
Rubinstein führten, machten auf Peter Iljitsch einen sehr
uns34npatischen Eindruck.
Das feindselige Gefühl, welches er gegenüber jener
Komponistenplejade empfand, hatte seinen Grund zum Teil
auch in dem Skeptizismus, mit welchem sich Peter Iljitsch
überhaupt den Menschen gegenüber verhielt. Einen jeden,
ihm unbekannten Menschen hielt er von vornherein für
einen Feind. Trat er, z. В., in einen vollen Eisenbahnwa-
gen und sah, wie die Fahrgäste ihn gleichgiltig anblickten,
oder seine Bewegungen ängstlich verfolgten, in der Mei-
nung, er könnte ihren mit Koffern und Körben belegten
Platz wegnehmen, so schien es ihm, als befinde er sich
unter Leuten, die ihm nicht nur übelgesinnt wären, son-
dern ihn ausserdem verachteten. Wenn er in ausländischen
Hotels an der table d'hote sass, so glaubte er, dass er von
Allen mit Abscheu angesehen werde, weil er sich erfrecht
hatte, in ihre vornehme Gesellschaft einzudringen. Dafür
wurden auch sie Alle von ihm mit Verachtung gestraft,
aber nur bis zum ersten liebenswürdigen Wort oder freund-
lichen Blick. Dann verzieh er ihnen sofort und fand sie
sogar sympatisch.
Ebenso ging es ihm mit den Vertretern der neuen Kunst-
richtung in Petersburg. Bis zum Jahre 1868 war ihm
Keiner von ihnen persönlich bekannt, aber auch er war
ihnen bis dahin fremd geblieben. Das genügte, um in Pe-
ter Iljitsch die Vorstellung zu erwecken, dass sie ihm Alle
feindlich gesinnt seien, und er — als 1867 A. Rubinstein von
der Direktion der Symphonie-Konzerte der Russischen Mu-
sikalischen Gesellschaft zurücktrat, und die Leitung der-
selben vollständig in die Hände jener Herren fiel — Peters-
burg vollends für ein feindliches Lager hielt, während man
dort in Wirklichkeit sich ihm gegenüber im schlimmsten
Falle gleichgiltig verhielt.
- 147 -
Gleichzeitig festigten sich die Beziehungen Peter Iljitsch's
zu seinen Mosl<;auer Freunden, und der Kreis Derjenigen,
welche an seine künstlerische Zukunft glaubten und ihm
warme Teilnahme entgegenbrachten, vergrösserte sich von
Tag zu Tag. Ausserdem hat Peter Iljitsch das Moskauer
musikalische Leben nach und nach besser kennen gelernt
und ist zu der Ueberzeugung gelangt, dass Moskau in die-
ser Beziehung zwar ein wenig hinter Petersburg zurück-
stehe, dass aber der künstlerische Wert seiner leitenden
musikalischen Persönlichkeiten nichtsdestoweniger sehr her-
vorragend sei. Bei näherer Bekanntschaft mit Nikolai Gre-
gorjewitsch hat Peter Iljitsch die ausserordentliche Bedeu-
tung dieses Mannes als ausübenden Künstler, ausgezeich-
neten Dirigenten und rastlosen Arbeiter endlich einsehen
gelernt. Infolge der Erscheinung in Moskau solcher musi-
kalischen Grössen, wie Laub und Kossmann, infolge der
intimen Freundschaft mit Kaschkin und Albrecht, infolge
der Ankunft Laroche's u. s. w. wurde Moskau in den
Augen Peter Iljitsch's immer mehr zu einem beachtens-
werten musikalischen Mittelpunkt, wo es wohl der Mühe
wert war, nach Anerkennung zu streben.
Von den Briefen Peter Iljitsch's aus der ersten Hälfte
des Jahres 1867 datiert der erste vom 2. Mai, sodass es
schwer ist festzustellen, wann er mit der Komposition des
„Woiwoden" begonnen hat. Jedenfalls hat ihm Ostrowsky
schon im März oder April den ersten Teil des Textbuches
übergeben. Bis zum Juni hat Peter Iljitsch jedoch verhält-
nissmässig wenig geschaffen: ich erinnere mich, dass im
Sommer noch nicht einmal der erste Akt vollendet war.
Gleich im Anfang musste Peter Iljitsch seine Arbeit un-
terbrechen, denn er hatte es fertigbekommen, das Text-
buch zu verlieren, sodass Ostrowsky es aus dem Gedächt-
niss wiederherstellen musste.
An A. Tschaikowsky:
„2. Mai (Abends).
...Die ganze letzte Woche war ich verstimmt; der
Grund lag in folgenden Umständen: i) schlechtes Wetter,
2) Geldmangel und 3) vollständige Hoffnungslosigkeit, das
Libretto wiederzufinden.
Von den Festtagen ^) ist Nichts zu erzählen: es wird
Euch Alles schon aus den Zeitungen bekannt sein. Auf
1 Aus Anlass des Aufeullialtt-s des neuvermählten Kronprin/;enpaares.
— 148 —
dem Volksfest in Sokolniki ^) bin ich nicht gewesen, denn
ich babe es vorgezogen Turgenew's „Rauch" durchzule-
sen, und bedauere es nicht. Laroche sehe ich sehr oft. Habe
bei ihm neulich die Bekanntschaft des sehr interessanten
Professors Bugajeff-) gemacht. Das ist ein unglaublich ge-
lehrtes und sehr kluges Männchen. Er hat uns bis tief in
die Nacht hinein von der Astronomie und den neuesten
Entdeckungen derselben erzählt. Oh, Gott! Wie grenzenlos
unwissend sind wir doch noch, wenn wir die Schule ver-
lassen. Es überkam mich ein Schauder als ich einen bele-
senen und in Wahrheit aufgeklärten Menschen kennen zu
lernen Gelegenheit hatte!...
Verfügt über mich im Sommer, wie ihr wollt. Unge-
fähr am 28. Mai werde ich in Petersburg eintreffen".
Als Peter Iljitsch nach vielem Hin-und Herüberlegen
endlich doch zur Ueberzeugung gekommen, dass es ihm
auch in diesem Jahr nicht möghch sei, zur Schw^ester nach
Kamenka zu reisen, fasste er den Entschluss, den bevor-
stehenden Sommer mit einem der Zwillingsbrüder (für
Beide reichten seine Mittel nicht) in irgend einem entlegenen
Dörfchen Finnlands zu verbringen. Da im vorigen Sommer
Modest sein Gesellschafter gewesen, sollte diesmal Anatol
mitkommen, während Modest in Hapsal bei Dawidow's
ein Unterkommen fand.
Bei der Abreise aus Petersburg nach Wiborg, Anfang
Juni, verfügte Peter Iljitsch über einhundert Rubel. Mit
der ihm eigenen Naivetät in wirtschaftlichen Sachen, glaub-
te er, mit dieser Summe den ganzen Sommer hindurch
auskommen, und sogar einen Abstecher nach dem Imatra-
Wasserfall unternehmen zu können.
Unsere Reisenden kamen glücklich in Wiborg an, blieben
dort einige Tage, lebten, ohne sich irgendwie einzuschrän-
ken, kamen auch bis zum hiiatra-Fall und merkten hier
erst mit Entsetzen, dass das Geld einstweilen ausgegangen
war, dass an eine Sommerwohnung garnicht mehr zu
denken sei, und dass die noch übrig gebhebenen paar
Rubel kaum noch für die Rückreise nach Petersburg
reichten. So machten sie sich denn auch mit dem ersten
Schiff nach Petersburg auf, um dort bei Bekannten oder
Verwandten wenigstens für die ersten Tage ein Unterkom-
men zu finden, Geld aufzutreiben und das Weitere zu
überlegen; dort harrte ihrer doch eine grosse Enttäuschung.
1) Ein Vorort Moskau's.
2) Bugajefl— Professor der Mathematik an der Moskauer Universität.
— 149 -
Ilja Petrowitsch луаг für den Sommer nach dem Ural ge-
reist, nachdem er seine Wohnung vermietet hatte. Von
den anderen Verwandten und Freunden war auch Nie-
mand zu finden: Alle waren verreist. So blieb unseren
Reisenden nur Eines übrig: so schnell als möglich nach
Hapsal zu flüchten, in der Hoffnung, bei Dawidow's Auf-
nahme finden zu können. „Unsere allerletzten Rubel", —
erzählt Anatol, — „reichten gerade noch hin, um als Zwi-
schendeckspassagiere des Dampfers „Konstantin" bis Hapsal
zu kommen. Zu unserem Unglück war es damals sehr
kalt, und wir litten fürchterlich darunter, denn warme
Kleider hatten wir nicht mit. Peter hat bei einem Mitrei-
senden für die Nacht ein Plaid bekommen und hüllte
mich darin ein, während er selbst trotz meiner Bitten unein-
gehüUt blieb und sich unaufhörlich die bittersten Vorwürfe
wegen seines Leichtsinnes machte.
In der Nähe des von Dawidow's bewohnten Hauses
mietete Peter Iljitsch bei einer armen Wittwe zwei beschei-
dene möblierte Zimmer und bezog sie mit seinen beiden
Brüdern. Da wir alle Drei nur wenig Geld zu unserer
Verfügung hatten, so Hessen wir uns das Essen von einem
billigen Restaurateur ins Haus senden, und zwar immer
nur zwei Portionen, welche wir, so redlich es ging, teilten.
Infolgedessen waren wir eigentlich nie ordentlich satt. Ich
erinnere mich noch lebhaft an jene „Diner's", und wie
oft wir von ganzem Herzen über humoristische Zwischen-
fälle bei der „Teilung" gelacht haben, z. B. wxnn Peter
Iljitsch sich vor die schwierige Aufgabe gestellt sah, zwei
halbe Hühner'in drei Teile zu schneiden, oder wenn er
und ich, die wir Beide ziemlich anspruchslos im Essen
waren, mit gierigen Augen verfolgten, wieviel der von
Kindheit an etwas „unbeschränkte "Anatol selbst verzehren,
und wieviel er uns übrig lassen wird. Wenn wir gar zu
hungrig blieben, so veranstalteten wir einen Kaffee mit
einem ganzen Haufen Brödchen, oder gingen zu Dawi-
dow's und Hessen uns sattfüttern. Diesen war unsere Situa-
tion wohl bekannt, sie konnten und wollten uns aber nicht
einladen, täglich bei ihnen zu essen, denn sie glaubten
mit Recht, dass Peter Iljitsch es doch abschlagen würde,
weil sie selbst das Essen portionsweise aus einem Restau-
rant holen Hessen. Oft haben sie aber List angewendet,
um uns zu helfen, indem sie allerlei Picknicks und Aus-
fahrten unternahmen und uns dnzu einluden.
Trotz dieser kleinen Unannehmlichkeit, welche uns
— I50 —
übrigens viel mehr heitere als traurige Stunden bereitet,
hat Peter Iljitsch den Sommer frohen Mutes verbracht. Er
arbeitete rüstig an dem „Woiwoden", und widmete die
freie Zeit der Gesellschaft seiner lieben Freunde. Abends
lasen wir gewöhnlich und erfreuten uns namentlich an
den dramatischen Werken Alfred deMusset's.Die anspruchs-
lose und einfache Seele Peter Iljitsch's war von solcher
Lebensweise vollauf befriedigt, und seine friedlich-heitere
Stimmung spiegelt sich, glaube ich, ausgezeichnet in dem
„Chant Sans paroles", wieder welches er damals komponiert
und zusammen mit zwei anderen Stücken unter dem Na-
men „Souvenir de Hapsal" Wera Wassiljewna Dawidowa
gewidmet hatte.
Leider hat die Stimmung Peter Iljitsch's in der zweiten
Hälfte des Sommers eine leichte Trübung erfahren, da sich
einige neue Bekanntschaften einstellten, welche an und
für sich zwar sehr angenehm waren, aber auf die gewohnte
und liebgewonnene Lebensweise störend einwirkten. Von
diesen neuen Bekannten muss ein gewisser Konstantin
Petro witsch Pobjedonosszew erwähnt werden, der im spä-
teren Leben Peter Iljitsch's eine grosse Rolle spielte.
Seinen Aufenthalt in Hapsal beschreibt Peter Iljitsch
in folgenden Briefen an die Schwester.
An. A. Dawidow:
„20. Juni.
Von unserer Reise nach Finnland wdrst Du wohl schon
wissen. Das war eine jener Dummheiten, für welche Dein
lieber Bruder ein so grosses Talent besitzt. Nach Hapsal
bin ich mit einem grossen Vorurteil und geringem Geldvor-
rat gekommen, endeckte aber tagtäglich neue Vorzüge,
welche mich mit diesem Ort bereits versöhnt haben. Ueber-
dies hat Deine Unterstützung zusammen mit der mir aus
Moskau gesandten Summe unseren Aufenthalt in Hapsal
möglich gemacht. Möchte Dir im Geheimen mitteilen, dass —
nachdem unser geschlossener Kreis durchbrochen und wir
von neuen Bekanntschaften überflutet worden sind — ich
sehr ingrimmig und ärgerlich bin, und mir in meinem
Innern das Wort gegeben habe, nie wieder eine solche
Sommerfrische aufzusuchen, wo die Leute fast tagtäg-
Hch tanzen und beinahe jede Minute sich gegenseitig Be-
suche machen... Wera Wassiljewna hat Dir wahrscheinlich
schon geschrieben, dass ich sehr viel arbeite. Meine Oper
geht recht munter vorwärts, und bin ich in dieser Hin-
— 151 —
sieht mit mir zufrieden. Schlimm ist aber die Thatsachc,
dass ich hier in Hapsal beständig Gelegenheit habe wahrzu-
nehmen, dass in mir die Krankheit, welche „Misantropie"
genannt wird, steckt. Manchmal überkommt mich ein fürch-
terlicher Menschenhass. Doch — reden wir darüber ein
ander Mal. Sonst bin ich gesund und munter, was auch
Dir wünsche"...
An A. Dawidow:
„Hapsal, d. 8. August.
...Nur noch einige Tage bleiben wir in Hapsal. Nach
drei Tagen, am Sonnabend, werden wir uns schon auf
dem Dampfschiff befinden. Hapsal selbst taugt nichts, aber
einige schöne Erinnerungen werde ich mir bewahren, dank
der Gesellschaft Dawidow's (die Verehrung, welche ich
für diese Familie hege, hat keine Grenzen) und im Bewusst-
sein, dass die Zeit nicht nutzlos verstrichen ist. Obwohl
ich mich stets zurückzog, ist es mir nicht gelungen einige
neue Bekanntschaften zu vermeiden. Heute wollen wir eine
Abschiedsfahrt in den Wald unternehmen".
Zum 15. August sind die drei Brüder wieder nach Pe-
tersburg zurückgekehrt, wo Peter Iljitsch noch etwa eine
Woche blieb und dann nach Moskau abreiste.
Im Laufe der Saison 1866 — 1867, hat Peter Iljitsch fol-
gende Werke komponiert:
i) Op. 15. Festouverture über die dänische Hymne.
Begonnen im September; beendet im October 1866. Verlag
Jurgenson.
2) Op. 13. Symphonie G-moll № i, „Winterträume".
Begonnen im März, beendet im November 1866. Verlag
Jurgenson.
3) Op. I. Russisches Scherzo und Impromptu. Kompo-
niert im Anfang des Jahres 1867. Die erste dieser Kompo-
sitionen hiess anfangs „Capriccio". Es ist auf dem ersten
Thema des B-dur-Quartetts aufgebaut, welches Peter Iljitsch
noch im Konservatorium (1865) geschrieben hatte. Das
Thema selbst ist ein kleinrussisches Volkslied und stammt
aus Kamenka. Das Impromptu ist ebenfalls ein schon frü-
her (im Konservatorium) komponiertes Stück und war
ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung bestimmt. Es
befand sich zufällig in dem Notenheft, in welches Peter
Iljitsch das Capriccio hineingeschrieben hat. Dieses Heft
— 152 —
hat nun Rubinstein, so wie es war, an Jurgenson gegeben,
ohne ihn darauf aufmerksam zu machen, dass das Impromptu
nicht veröffenthcht werden soll. Als Peter Iljitsch die Kor-
rektur zu Gesicht bekam, war er anfangs unangenehm
überrascht, auch das hnpromptu im Stich zu sehen, fügte
sich nachher aber der geschehenen Thatsache. Das „Rus-
sische Scherzo" ist in Rubinsteins Konzert 1867 aufge-
führt. Beide Werke, welche — ebenso wie die Symphonie —
N. Rubinstein gewidmet sind, hat Jurgenson, wenn ich
nicht irre, noch in demselben Jahr herausgegeben.
4) Op. 2. „Souvenir de Hapsal" — drei Klavierstücke:
a) „Die Burgruine", b) Scherzo, c) Lied ohne Worte (Chant
Sans paroles). Juni und Juli 1867, Hapsal.
Nur das erste und dritte dieser Stücke ist in Hapsal
komponiert, das zweite hat Peter Iljitsch einer früheren
Konservatoriumsarbeit entnommen. Dieses opus ist Wera
Wassiljewna Dawidowa gewidmet. Verlag Jurgenson.
Ausserdem hat Peter Iljitsch vom Frühjahr 1867 an
an der Oper „Der Woiwode" gearbeitet.
IV
1867- 1868.
„Vielleicht hast Du schon selbst die Beobachtung ge-
macht"— schreibt Peter Iljitsch an seine Schwester, — „dass
ich mich leidenschaftlich nach dem stillen, ruhigen Leben
sehne, wie es auf dem Lande, im Dorfe gelebt wird. Viel-
leicht hat Dir Wera Wassiljewna schon erzählt, wie oft
wir in Hapsal scherzend von unserem zukünftigen einsa-
men Häuschen schwärmten, in welchem wir den Rest
unseres Lebens zubringen werden. Was mich anbelangt,
so ist das durchaus kein Scherz. Ich hänge in Wirklichkeit
sehr an diesem Gedanken, und das kommt davon, dass
ich — obwohl ich es bis zum Greisenalter noch weit habe —
bereits sehr lebensmüde bin. Lache nicht; wenn Du immer
in meiner Nähe wohnen würdest, hättest Du es leicht sel-
ber gemerkt. Die mich umgebenden Menschen wundern
— 153 -
sich oft über meine Sprechfaulheit, über die Verstimmung,
an der ich oft leide, während ich im Grunde gar kein
schlechtes Leben führe. Was braucht denn noch ein Mensch,
der sich materiell gut steht, der von Allen verehrt wird
und dessen künstlerische Leistungen anerkannt werden?
Und trotz alledem weiche ich Gesellschaften aus, bin nicht
imstande, Bekanntschaften zu unterhalten, habe die Einsam-
keit gern, bin schweigsam u. s. w. Das Alles erkLärt sich
durch meinen Lebensüberdruss. In solchen Minuten, wenn
ich nicht nur zu faul bin zu sprechen, sondern nicht einmal
denken mag — schwämme ich von einem himmlisch — stillen,
ruhigen, fjlücMichen Dasein, und kann mir dieses Dasein
nicht anders vorstellen, als in Deiner unmittelbaren Nähe.
Zweifle nicht daran, dass Du einst einen Teil Deiner Mut-
tersorgen Deinem alten müden Bruder wirst angedeihen
lassen müssen. Du bist vielleicht der Meinung, dass eine
derartige Seelenstimmung gewöhnlich zu Heiratsgedan-
ken führt. Nein, meine Liebe! Wiederum aus Ueberdruss
bin ich zu faul, neue Beziehungen anzuknüpfen, zu faul,
eine Familie zu gründen, zu faul, die Verantwortung für
das Schicksal der Frau und der Kinder auf mich zu neh-
men. Mit einem Wort: die Ehe ist für mich undenkbar.
In welcher Form meine Verschmelzung mit Deiner Familie
geschehen wird — weiss ich noch nicht: ob ich Besitzer
eines in Deiner Nachbarschaft gelegenen Stückchen Lan-
des, oder einfach Dein Pensionär sein werde, wird die
Zukunft lehren. Es ist für mich nur klar, dass das Glück
meiner Zukunft ohne Dich unmöglich ist".
Peter Iljitsch giebt an keiner Stelle eine genügende
Erklärung der Gründe seines Strebens nach Einsamkeit,
nach einem „himmlisch-stillen, ruhigen, glücklichen Leben".
Jedenfalls lagen sie weder, in der „Misantropie", noch in
der „Faulheit", noch im „Lebensüberdruss".
Er w^ar kein „Misantrop", denn ein Jeder, der ihn kann-
te, wird zugeben müssen, dass selten Einer seinen Mit-
menschen soviel Teilnahme entgegenbrachte wie Peter
Iljitsch. Laroche sagt: Die Zahl Derjenigen, welche auf
Peter Iljitsch einen günstigen Eindruck machten, welche
ihm gefielen, welche er auch hinter ihrem Rücken in freund-
schaftlicher Unterhaltung „ S3mipatisch und gut" nannte,
brachte mich schier in Verzweiflung". Die Eigenschaft,
einer jeden Erscheinung die hellen, die angenehmen Seiten
abzugewinnen, und dieselben vor allen Dingen im Verkehr
mit seinen Nächsten zu sehen, hat Peter Iljitsch von sei-
- 154 —
nem Vater geerbt und Nichts Anderes, als gerade seine
Liebe für die Menschen hat ihm soviel Verehrung und
Gegenliebe eingetragen. Er war kein Misantrop, sondern
viel eher und im wahren Sinne des Wortes — ein Philantrop.
Noch weniger gerecht ist seine Selbstbezichtigung in der
„Faulheit". Der Leser, der ihn als Schuljungen, als Be-
amten und als Schüler des Konservatoriums kennen gelernt
hat, wird mit mir darin übereinstimmen. Aber man braucht
nur einen Blick auf das Verzeichniss seiner Kompositionen
zu werfen, welches aus 76 Werken, darunter zehn Opern,
drei Ballets; ferner die Masse von Briefen (ich besitze deren
4000 an Originalen und Kopieen), Rezensionen (61 an der
Zahl), die er geschrieben, zu betrachten, garnicht zu reden
von den verschiedenen Uebersetzungen, Arrangements,
Unterrichtswerken und von seiner zehnjährigen Lehrthä-
tigkeit ( — und Alles im Laufe von 28 Jahren!) und man wird
zur Ueberzeugung kommen, dass das dolce far niente nicht
in seiner Natur gelegen haben kann.
Was seine „ Lebensmüdigkeit " anbetrifft, so wird sie
durch Peter Iljitsch selbst in demselben Brief widerlegt,
in dem er von seiner Sehnsucht nach einem „himmlisch-
stillen, ruhigen, glückhchen Dasein" spricht. Wer wirklich
„lebensmüde" ist, der kann keine Sehnsucht nach irgend
einem „Dasein" haben. •
Nein, nicht Misantropie, nicht Faulheit und auch nicht
Lebensüberdruss waren an seiner permanenten Verstim-
mung, an seiner unbestimmten Sehnsucht nach einem schö-
neren Dasein schuld, sondern der immer stärker werdende
schöpferische Drang, der Drang nach Freiheit um der
künstlerischen Arbeit willen, welcher 1877 endlich zum
Durchbruch kam und eine Umwälzung in Peter Iljitsch's
Leben hervorrief.
Vorläufig durfte er jedoch garnicht daran denken, allein
und frei zu sein. Im besten Falle konnte er die Freiheit
nur zwei bis drei Monate im Jahr geniessen, während der
Sommerferien. Im Winter musste er, erstens, seinen Le-
bensunterhalt verdienen, denn vom Komponieren allein
konnte er nicht leben, zweitens, fand seine Selbstüberzeu-
gung in Betreff seines Talentes noch zu wenig Anklang
in der Aussenwelt; und drittens war in ihm das Bedürfniss
nach dem Verkehr mit Menschen, das Bedürfniss nach
Eindrücken des bunten frisch pulsierenden Stadtlebens,
das Bedürfniss nach mancherlei Zerstreuungen noch lange
nicht abgestorben. Vorläufig war für Peter Iljitsch das Stadt-
— 155 —
leben in materieller und in moralischer Beziehung unent-
behrlich, obgleich er es, allerdings, oft als Etwas Lästiges,
Störendes empfand. Ich glaube, dass wenn ihn damals das
Schicksal gewaltsam an das Leben auf dem Lande gefes-
selt hätte, an ein Leben, wie er es beispielsweise, in den
achtziger Jahren geführt, so würde er noch viel unzufrie-
dener mit seinem Loss gewesen sein und noch viel mehr
zu klagen gehabt haben. Augenblicklich war ihm das Stadt-
leben, wie gesagt, notwendig und sogar lieb, und von allen
Städten war ihm die liebste- -Moskau. Er ist inzwischen
aus einem Petersburger ein Moskowiter mit Leib und Seele
geworden; — „ich sehe wohl ein, dass ich mich an Moskau
sehr gewöhnt habe", schreibt er in seinem ersten Brief im
August. Nach Moskau zurückgekehrt, ist Peter Iljitsch bei
Rubinstein wohnen geblieben.
An A. Tschaikowsk}-:
„31. August.
Soeben komme ich von Ostrowsky und finde Deinen
Brief. In Moskau ist Alles beim Alten geblieben. Vorläufig
habe ich noch keine Beschäftigung und bummle daher den
ganzen lieben Tag ziellos in der Stadt umher. Laroche
wohnt jetzt sehr weit, bei Katkow. Die Beiden haben sich
sehr befreundet und Laroche ist von seinem neuen Freund
ganz entzückt. Ostrowsk}?^ führt mich immer noch an der
Nase herum: in Petersburg habe ich einmal in der Zeitung
gelesen, dass er mein Libretto bereits beendet hätte, dem
ist jedoch nicht so: ich hatte Mühe, die Hälfte des verlo-
renen Aktes von ihm wiederzukriegen. Ich trage mich mit
der Absicht herum, mir einen grossmächtigen Schreibtisch
zu kaufen, überhaupt mein Zimmer etwas gemütlicher
einzurichten, um die Möglichkeit zu haben, mit Genuss zu
Hause zu sitzen und fleissig an der Oper zu arbeiten. Im
Laufe des Winters will ich bestimmt damit fertig werden.
Gestern Abend bin ich bei Dubuque zum Namenstag ge-
wesen und kam etwas angetrunken nach Hause.
Ich sehe wohl ein, dass ich mich an Moskau sehr ge-
wöhnt habe, denn diese Stadt ist mir jetzt lange nicht
mehr so verhasst, wie im vorigen Jahr um diese Zeit.
Mittag essen werde ich, vom 2. September an wieder bei
Albrecht, wie früher; vorläufig lebe ich aber wie ein Vogel
in den Lüften. Zwei Abende hintereinander habe ich im
„Englischen Klub" verbracht. Wie wundervoll ist doch
- 15б -
dieser Klubl Es wäre famos, dort Mitgltcd zu sein, kostet
aber sehr teuer"...
An A. Tschaikowsky:
„ 28. September.
Ich bin an Leib und Seele ganz gesund, was auch dir
wünsche. Lebe, wie sonst. Hier einige Einzelheiten:
i) Montags finden bei uns grosse Unterhaltungsabende
mit Musik und Kartenspiel statt.
War mit Laroche im „Tartuffe", welcher im Kleinen
Theater ausgezeichnet gegeben wird, mit Samarin und
Schumsk}' in den Hauptrollen.
3) Letzterer (d. h. nicht Schumsky und auch nicht Sa-
marin, sondern Laroche) hat in den „Russischen Nachrich-
ten" einen kleinen Artikel über Glinka veröffentlicht und
will in einer ganzen Reihe solcher Artikel, diesen Kompo-
nisten noch ausführlicher besprechen, hii Laufe eines ganzen
Monats habe ich Laroche nur flüchtig gesehen, in den letzten
Tagen sind wir, jedoch, unzertrennlich, gewesen. Da das
Wetter ausgezeichnet ist... übrigens ist das schon Punkt 4.
4) Ich habe mit Laroche einen Ausflug nach Kunzewo
gemacht, sechs Werst von Moskau. Unter Anderem, no-
tierten wir dort nach dem Gesang eines Bauernweibes ein
sehr hübsches Volkslied.
5 ) Den letzten Sonntag haben wir, - Rubinstein,
Laub, Kossmann und ich bei dem Fürsten Trubezkoi auf
seinem 60 Werst von Moskau entfernt liegenden Landsitz
verbracht. Da das gute Wetter noch anhält, will ich Mor-
gen wieder hinfahren und bis Montag früh da bleiben.
6) Meine Oper geht langsam vorwärts. Ostrowsky ist
für einige Zeit nach Petersburg gereist. Wenn er wieder-
kommt, werde ich ihn schon satteln.
7) Meine Geldangelegenheiten befinden sich in ebenso
trauriger Lage, wie auch die Deinigen. Erwarte ungeduldig
die Ankunft Papa's".
Die Besitzung des Fürsten Nikolai Petrowitsch Trubez-
koi hies „Achtyrka". Ausser dem Fürsten selbst lebten
dort auch noch die Schwestern der Fürstin. Eine von ihnen,
die heutige Gräfin Kapnist, erinnert sich, wie ihre Schwe-
stern und auch sie selbst das sympatische Wesen des
jungen Musikers sehr entzückte. Sie hatten ihm den Spitz-
namen „Grünfink" beigegeben, weil der Eindruck, den
Peter Iljitsch auf sie machte sehr an den fröhlichen, hel-
len Gesang jenes Vogels erinnerte.
— 157 —
An А. Tschaikowsky;
(Ende Oktober oder Anfang November).
„Mir geht es gut. Am Sonnabend wird unser erstes
Konzert stattfinden, auf welches ich mich sehr freue, denn
im Allgemeinen geht man in Moskau mehr leiblichen als
geistigen Genüssen nach, d. h. man isst und trinkt un-
glaublich viel. Die Konzerte werden mir wieder etwas
geistige Nahrung zuführen, deren ich sehr bedarf, da ich
sonst, gleich einem Bären in seiner Höhle, an meiner eignen
Kraft zehre, d. h. an meinen Kompositionen, die mir immer
im Kopf herumgehen. Wie ich mich auch bemühe, ein
ruhiges Leben zu führen aber in Moskau geht es nicht,
ohne sich zu überfressen und zu übersaufen. Nun ist es
schon der fünfte Tag hintereinander, dass ich spät Nachts
mit überfüllten! Magen nach Hause komme. Du musst aber
nicht glauben, dass ich garnichts thue: von früh bis Mit-
tag bin ich ununterbrochen beschäftigt".
An M. Tschaikowsky:
„25. November.
Unser Metropolit ist gestorben, das ist die einzige Neu-
igkeit, die ich Dir mitteilen kann. Laroche wohnt jetzt
auch mit uns zusammen, sodass ich nun öfter zu Hause
sitze. Ausserdem ist unser gemeinschaftlicher Freund Kli-
menko nach Moskau gekommen und besucht »uns fast
täglich.
Jetzt macht die Oper ziemlich schnelle Fortschritte: der
ganze dritte Akt ist schon fertig. Die Tänze daraus, wel-
che ich in Hapsal orchestriert habe, kommen im nächsten
Konzert dran.
Sage, um Gottes willen, an Wera Wassiljewna, dass
ich sie fussfällig um Verzeihung bitte wegen der Zurückbe-
haltung der Klavierstücke; ich konnte es aber nicht anders
machen aus Gründen, welche zu beseitigen nicht in meiner
Macht lag. Sage ihr ferner, dass sie im Druck erscheinen
werden, und dass sie das Original zurück erhalten soll".
Iwan Aiexandro witsch Klimenko,der im Leben Tschai-
kowsky's eine Zeitlang eine nicht unbedeutende Rolle
spielte, ist zuerst mit Laroche, und zwar im Jahre 1863
bekanntgeworden. „An einem der Dienstage bei Seroff" —
erzählt Laroche in seinen Autobiographischen Skizzen,—
„machte ich die Bekanntschaft eines s^^npatischen etwa
dreissigjährigcn Mannes mit einem flachen Tartarengesicht
- 158-
und kleinen Augen. Das war der Architekt I. A. Klimenko,
der damals ohne Beschäftigung war und sich in sehr missli-
chen Lebensverhältnissen befand, der aber später das Glück
hatte, am Bau der Moskau — Kursker Eisenbahn angestellt
zu werden. Iwan Alexandro witsch besass, wie ein jeder
Russe, keine sehr umfassende Bildung und suchte seinen
geistigen Horizont durch Lesen zu erweitern. Sein Lesen
hatte aber einen gar eigenartigen Charakter, es ging we-
niger in die Breite, als in die Tiefe. Er las nicht viele
Bücher, kehrte immer wieder zu denselben Werken zu-
rück und durchdachte dieselben immer von Neuem. Bei
seiner ganzen Einseitigkeit, hat Klimenko durch seinen
Verstand und seinen Entusiasmus bald einen ziemlichen
Einfluss auf mich gewonnen, obgleich er eine Zeitlang
mein Schüler (in der Harmonielehre) gewesen ist". Nach
den Worten Kaschkin's, war Klimenko für die Musik sehr
befähigt, hat aber infolge verschiedener hindernder Um-
stände seine Befähigung nicht entwickeln können, und ist
Dilettant geblieben, aber Einer, der sich Rechenschaft
abzugeben imstande war, und stets zu begründen wusste
iveshalh ihm Dieses oder Jenes in der Musik gefiel oder
nicht gefiel. Ausserdem war er ein interessanter Gesellschaf-
ter, ausgezeichneter Erzähler und guter Dialektiker in
Streitfragen.
An Peter Iljitsch hing er mit ganzer Seele und hat als
Einer der Ersten die Bedeutung Tschaikowsky's für die
russische Musik prophezeit.
Im zweiten Symphoniekonzert, welches Anfang De-
zember in Moskau stattfand, wau'den die „Tänze der Land-
mädchen" aus der Oper „Der Woiwode" gespielt. Sie
hatten einen durchschlagenden Erfolg und erlebten noch
in derselben Saison zwei weitere Aufführungen, einmal
in einem Wohlthätigkeitskonzert (zu Gunsten der hunger-
leidenden Finnländer), und das zweite Mal wieder in einem
Symphoniekonzert der Russischen Musikalischen Gesell-
schaft.
An A. Tschaikowsky:
„12. Dezember.
Du fragst, ob ich nach Petersburg kommen werde.
Meine Vernunft veranlasst mich. Dir mit einem Nein zu
antworten. Erstens, habe ich gar kein Geld für die Reise;
zweitens, wird gerade in der Weihnachtszeit Berlioz hier
sein und zwei Konzerte geben: ein populäres und eines
— 159 —
anstatt unseres vierten S3'mphonieabends. Ich werde wohl
meine Reise bis zur Butter woche aufschieben...
Meine Tänze hatten hier einen grossen Erfolg, Jurgen-
son möchte sogar ein vierhändiges Klavierarrangement der-
selben herausgeben. Aus Petersburg wurde mir die mündli-
che Bitte überbracht, die Tänze hinzuschicken, ich habe
aber darauf antworten lassen, dass ich es nicht eher thun
will, als bis man mir ein offizielles, schriftliches, von sämmt-
lichen Direktoren unterzeichnetes Gesuch zukommen lassen
wird. Zaremba hat mir durch N. Rubinstein darautliin sa-
gen lassen, dass ich ein solches Gesuch erhalten werde.
Diese... verhalten sich mir gegenüber etwas zu sehr ka-
valiermässig. Man muss sie anf... n, um ihnen zu impo-
nieren".
Berlioz ist Ende Dezember nach Moskau gekommen,
und zw^ar direkt aus Petersburg, \vo er infolge eines an
ihn ergangenen Engagements seitens des Direktoriums der
dortigen S3'mphoniekonzerte, hauptsächlich auf Anregung
Dargomyzski's und BalakirefT's, sechs Konzerte dirigiert
hatte.
Es war dies bereits der zw^eite Besuch Berlioz 'in Russ-
land. Schon im Jahre 1847 hatte er, wahrscheinlich auf
Anregung Glinka's, welcher ihn als „den grössten Musi-
ker Enropa's" verehrte, in Petersburg, Moskau und Riga
Konzerte gegeben. Es wurde ihm damals von der musi-
kalischen Welt Russlands, an deren Spitze der Fürst Odo-
ewsky stand, ein glänzender Empfang zuteil und er errang
nicht nur grosse materielle Erfolge, sondern wurde vom
Publikum auch sonst ausserordentlich gefeiert. Es ist inte-
ressant, dass nicht nur Berlioz selbst, sondern auch seine
russischen Verehrer, in Betreff seiner künstlerischen Erfolge
die Wahnvorstellung hatten, dass seine Musik in Russland
„verstanden" und „gewürdigt" worden sei. Der Fürst
Odoewsk}^, welcher einen Tag vor dem Konzert in einem
begeisterten Zeitungsartikel dem Talent Berlioz gehuldigt
hatte, ruft in einem seiner Briefe an Glinka aus: „Wo bist
Du, mein Freund? Warum weilst Du nicht bei uns? Warum
teilst Du nicht die Genüsse und die Freuden der „Unse-
rigen?" Berlioz ist in Petersburg „verstanden" worden!!
Man hat hier die feinste kontrapunktische Musik zu „wür-
digen" gewusst, trotz der Geissei italienischer Kavatinen,
welche den slavischen Geschmack beinahe verdorben hät-
ten. Es lebt wohl eine geheime S34npatie zwischen seiner
Musik und dem tief- innersten russischen Empfinden, wie
— i6o —
soll man sonst die Thatsache der Begeisterung unseres
Publikums für Berlioz erklären?" — Ich bin der Meinung,
dass sich das viel eher dadurch erklärt, dass Berlioz ein
genialer Dirigent, und dass das Publikum durch die über-
schwenglichen Zeitungsartikel desselben Odoewsk}^ zum
grossen Teil voreingenommen war. Danach zu urteilen,
wie wenig jener berühmte Komponist bis Heute noch bei
uns gespielt wird (ausser „Faust" ist keines seiner Werke
in Russland populär geworden) — muss meine Annahme
richtig sein.
Zwanzig Jahre später, anno 1867 verdankte Berlioz die
ihm in Russland zuteil gewordenen entusiastischen Ova-
tionen hauptsächlich wiederum seinem Dirigententalent und
der Begeisterung der kleinen Schaar russischer Musiker,
auf dessen Initiative er das Engagement nach Petersburg
erhielt.
Peter Iljitsch, welcher der Richtung jener Musiker-
schaar fern stand, behielt auch in diesem Falle seine „eigene
Meinung. Während er die Bedeutung Berlioz' in der mo-
dernen Musik voll und ganz würdigte, ihn namentlich als
einen Reformator des Orchesters nach Gebühr hochschätzte,
korinte er sich trotzdem für seine Musik nicht begeistern.
Umsomehr aber für den „Menschen" Berlioz. In den Augen
des jungen Komponisten, war er „die Personifizierung des
eifrigsten, uneigennützigsten Fleisses, der feurigsten Liebe
für die Kunst, der energischste, edelste Bekämpfer der
Unwissenheit, der Dummheit, der Gemeinheit, der Routine"
u. s. w... Ferner war er „ein kranker, vom bösen Schick-
sal und von den Menschen verfolgter Greis", welchen
zu trösten, zu erwärmen und durch den Ausdruck der
herzlichsten Teilnahme wenn auch nur für kurze Zeit zu
erfreuen — Peter Iljitsch's Herzensverlangen war.
Berlioz hat in Moskau zwei Konzerte dirigiert, einen
S3-mphonieabend der Musikalischen Gesellschaft und ein
populäres Konzert im Exerzierhaus, wo ihm seitens des
12000 Personen zählenden Auditoriums ausserordentliche
Ovationen dargebracht wurden. Das Konservatorium hat
zu Ehren des grösstcn französischen Komponisten ein Di-
ner veranstaltet, bei welcher Gelegenheit Berlioz in einem
Toast mit den herzlichsten Worten für den ihm bereiteten
und ihn ehrenden Empfang dankte. Kaschkin erzählt, dass
bei jenem Diner auch Peter Iljitsch eine prachtvolle Rede
in französischer Sprache gehalten habe.
Im Laufe dieser Saison ist Peter Iljitsch mit dem Leben
— 16I —
in Moskau noch mehr vertraut geworden und begann, sich
in der alten Zarenstadt so heimisch zu fühlen, dass er
keine Scheu mehr hatte, neue Bekanntschaften zu schlies-
sen und in Gesellschaften zu erscheinen. Er ist u, A. mit
den Schwägerinnen des Fürsten Trubezkoi, die er in
Achtyrka kennen gelernt hatte, näher bekannt geworden
und hat sogar in einer Liebhabertheatervorstellung, die
Jene in ihrem Hause arrangierten, nicht nur als Schau-
spieler mitgewirkt, sondern auch als Komponist, indem er
einige bei der Gelegenheit vorzutragende Kouplet's in
Musik setzte.
Am Sonnabend den 3. Februar kam die ganze G-moll —
Symphonie Peter Iljitsch's in einem Konzert der Russischen
Musikalischen Gesellschaft zur Aufführung und hat einen
ausserordentlichen Beifall gehabt, welcher alle Erwartun-
gen noch übertraf. „Am meisten hat das Adagio gefallen," —
schreibt Peter Iljitsch an seine Brüder. Der Autor wurde
stürmisch gerufen und soll, wie die Gräfin Kapnist erzählt,
in ziemlich unordentlicher Toilette mit dem Hut in der
Hand auf den Brettern erschienen sein und sich sehr unge-
schickt verneigt haben.
Am 19. Februar fand im Grossen Theater ein Wohlthä-
tigkeitskonzert zu Gunsten der Hungerleidenden statt,
welches durch seine Folgen sehr bedeutungsvoll für Peter
Iljitsch werden sollte. In diesem Konzert ist Peter Iljitsch
zum ersten Mal als Dirigent vor der Oeffentlichkeit erschie-
nen (er dirigierte die „Tänze der Landmädchen" aus seinem
„Woiwoden" ). Ausserdem hat er — ebenfalls zum ersten
Mal — Rimsky-Korsakoff als Komponisten kennen gelernt,
dessen „Serbische Fantasie" ebenfalls auf dem Programm
stand.
Die Meinung Peter Iljitsch's über sein Dirigiertalent
kennen wir bereits aus den Erzählungen Laroche's. Fol-
gendes teilt Kaschkin über das Konzert mit: Als ich hinter
die Kulissen kam und an den Debütanten herantrat, sagte
er mir, dass er zu seinem grossen Erstaunen garkeine Furcht
habe. Wir sprachen einige gleichgiltige Worte, und ich
entfernte mich vor seiner Nummer, um meinen Platz im
Parterre aufzusuchen. Als Peter Iljitsch auf das Podium
trat, merkte ich sofort, dass er vollkommen abwesend war:
er schritt furchtsam in etwas gebückter Haltung, — als
wenn er sich verstecken wollte — zwischen den Pulten vo-
ran, und hatte, als er das Dirigentenpult erreicht, das
Aussehen eines Menschen, der sich in verzweifelter Lage
Tschaikoval.y, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 11
— l62
befindet. Seine Komposition war seinem Gedächtniss schein-
bar vollständig entschwunden, er sah auch nicht die vor
ihm liegende Partitur und gab die Einsätze immer an fal-
schen Stellen, oder an falsche Instrumente. Zum Glück war
das Orchester mit dem Stück so gut vertraut, dass die
Musiker auf Peter Iljitsch's Zeichen garnicht achteten,
sondern ihn im Stillen auslachten, und die „Tänze" ausge-
zeichnet durchbrachten. Peter Iljitsch sagte mir später,
dass er vor lauter Angst die Empfindung hatte, dass ihm
sein Kopf von den Schultern fallen wolle, und er ihn des-
halb krampfhaft festhalten zu müssen glaubte."
In den erhaltenen Briefen Peter Iljitsch's ist Nichts
über den Verlauf dieses Konzerts zu lesen, einige Tage
vorher aber schrieb er an seine Brüder: „Wahrscheinlich
Avird es mir schlecht gehen, denn ich komme immer mehr
zu der Ueberzeugung, dass ich absolut nicht imstande
bin ein Orchester zu beherrschen. Und doch konnte ich
die Bitte nicht gut abschlagen". — Jedenfalls ist Peter Iljitsch
mit sich selbst unzufrieden geblieben, denn zehn Jahre
waren seither verstrichen, ehe er es wieder wagte, den
Taktierstab in die Hand zu nehmen.
Das Publikum und die Presse hat, jedoch, von dem
sich am Dirigentenpult abspielenden Drama garnichts ge-
merkt. Die „Tänze" hatten Erfolg und der Autor wurde
gerufen.
In X° 8 des Journals „Entreact" erschien eine Kritik
des Konzerts, in welcher Tschaikowsky „ein gereiftes Ta-
lent" genannt wird, dessen Werke sich durch „hohen
Flug und meisterhafte thematische Arbeit" auszeichneten.
Gleichzeitig wird in dieser Kritik die „Serbische Fantasie"
Rimsky-Korsakoff's sehr absprechend beurteilt, „farb-und
leblos" genannt.
Wenn dieses Urteil über Rimsky-Korsakoff zwei bis
drei Monate früher erschienen und zu Peter Iljitsch's Kennt-
niss gelangt wäre, d. h zu einer Zeit, als er die Werke
jenes Autors noch nicht kannte und die Petersburger
Komponisten, gewissermaassen, als seine Feinde betrach-
tete, wer weiss, ob er dann nicht eine gewisse Schaden-
freude empfunden hätte. Nun aber verhielt sich die Sache
anders. Erstens, hat Peter Iljitsch in den vielen Proben
die „Serbische Fantasie" gut kennen gelernt und eine grosse
Achtung vor dem Komponisten und seinem Werk gefasst.
Zweitens, ist er seit ungefähr zwei Monaten mit dem Haupt
der Petersburger Komponisten, mit M. A. Balakireff in
— lös —
nähere Beziehungen getreten, und hat die Ueberzeugung
gewonnen, dass Keiner von den leitenden Persönlichkeiten
des musikalischen Petersburg ihm feindlich gesinnt sei,
sondern im Gegenteil, dass sie Alle sogar Interesse für
ihn haben.
Das Resultat dieser angenehmen Entdeckung Peter
Iljitsch's war, dass er nur seinerseits das brennende Ver-
langen hatte, dem talentvollsten seiner Zunftgenossen seine
Sympatie auszudrücken, und — er verfasste einen Zeitungs-
artikel, in welchem er scharf gegen die Kritik im „Entreact"
vorging. Damit hat Peter Iljitsch den Anfang seiner mu-
sikkritischen Thätigkeit gemacht. Der Artikel hat in Mos-
kau grosses Aufsehen erregt und viel Beifall gefunden.
Auch in Petersburg ist er nicht unbemerkt geblieben, so-
dass, als Peter Ijitsch zu Ostern seinem Vater einen Be-
such abstattete, ihm seitens der „Allmächtigen Schaar ')
ein freundschaftlicher Empfang beschieden worden war.
Der Zentralversammlungsort jener „Schaar" war die
Wohnung Dargomyzski's, welcher durch eine tödtliche
Krankheit ans Bett gefesselt war, aber dennoch mit Feuer
und Begeisterung an seinem „Steinernen Gast" arbeitete.
Seine jungen Freunde betrachteten dieses Werk als den
Grundstein des grossartigsten Tempels der „Zukunftsmu-
sik" und versammelten sich oft bei dem „Meister", um den
Fortschritt seiner neuen Schöpfung zu beobachten und ihm
gleichzeitig ihre eignen Arbeiten vorzulegen. Auch Peter
Iljitsch, der Dargomyzski in Moskau bei Begitscheff's ken-
nen gelernt hatte, befand sich einige Male unter den Be-
suchern und schloss bei dieser Gelegenheit manche neue
Bekanntschaft.
Auch bei Balakireff kam er mit verschiedenen Musikern
zusammen, die der jungrussischen Richtung huldigten. Ob-
gleich Peter Iljitsch mit den Vertretern der „Allmächtigen
Schaar" Freundschaft geschlossen, hat er ihren Tendenzen
dennoch nicht beipflichten können und ist mit grossem
Geschick und viel Takt unabhängig von ihnen geblieben.
Während er mit Balakireff, Rimsky-Korsakoff, C. Cui und
Wladimir Stassow — mit Jedem Einzelnen von ihnen freund-
schaftliche Beziehungen angeknüpft hatte, ist er ihrer Ge-
sammtheit gegenüber doch feindlich gesinnt geblieben.
Indem Peter Iljitsch fortsetzte, ihre ultraliberalen Be-
strebungen auszulachen, die naiv-unwissenden und plum-
1 ) Mit diesem Sammelnamen wurden später die Anhänger der neurussischen Rich-
tung in der Musik, Dargomyzski, Balakireff", Rimsky-Korsakoff und Andere genannt.
— 164 —
реп Gebilde einiger Mitglieder der „Schaar" (besonders
Mussorgski's) mit V^erachtung anzusehen und den Fanatis-
mus, mit welchem jene Gebilde als „geniale", „noch nie
dagewesene", „Alles in den Schatten stellende Schöpfun-
gen" ausgeschrieen wurden, zu verhöhnen und über die
Frechheit, mit welcher jene Umstürzler seinen alten Idealen,
z. B. Mozart, zu Leibe gingen, unwillig zu sein — imponierte
Peter Iljitsch, andererseits, die Kraft und Macht, welche
einige aus der Schaar in ihren Werken offenbarten, so wie
die jugendliche Aufrichtigkeit ihrer Begeisterung und die
unbestechliche Ehrlichkeit ihrer Bestrebungen, sodass Pe-
ter Iljitsch ihnen nicht nur nicht den Rücken kehrte, son-
dern sogar ein wenig Sympatie und viel Achtung entge-
genbrachte. Diese zwiefachen Beziehungen äusserten sich
auch auf zwiefache Art und Weise.
Peter Iljitsch hat seine Antipatie gegenüber den Ten-
denzen der Neuerer immer offen bekannt; hat es stets ab-
gelehnt, in den dilettantischen Extravaganzen Mussorgski's
chefs d'oeuvres zu sehen, und immer sehr scharf betont,
dass er es verabscheue, durch gewaltsame Sucht nach
Originalität auf Kosten der künstlerischen Schönheit die
Gnade Stassow's und Cui's zu erlangen und dafür den
Titel „Genie" aufgehängt zu bekommen. Gleichzeitig da-
mit hat er aber in Moskau gern für die „Schaar" Propa-
ganda gemacht und die Rolle eines Vermittlers zwischen
Jener und der Moskauer Abteilung der Russischen Musi-
kalischen Gesellschaft gespielt, sich stets bemüht, ihre Werke
zur Aufführung zu bringen, oder eine Herausgabe dersel-
ben zu veranlassen u. s. w. u. s. w. Als im Frühjahr 1869
die Grossfürstin Helene eine Reform in der Richtung der
Symphoniekonzerte durchführen wollte und Balakireff sei-
nes Amtes entsetzte, ist Peter Iljitsch zum zweiten Mal
in einem Zeitungsartikel als \"erteidiger der „Schaar" vor
die Oeffentlichkeit getreten und hat in energischen Worten
seinen Protest gegen die Verfügung der Fürstin und seine
S3mipatie für das Haupt der neurussischen Schule kund-
gegeben. Ausserdem hat er während der ganzen Zeit seiner
Tiiätigkeit als Musikreferent keine Gelegenheit versäumt,
seine Achtung und Begeisterung für die Werke desselben
Balakireff und seine Hochschätzung der Kompositionen
Rimsky-Korsakoff's zu bezeugen, und dieselben für öffent-
liche Aufführungen zu empfehlen.
Am schärfsten prägt sich aber seine S34npatie für die
„.Schaar" in dem Umstand aus, dass er drei seiner besten
- 1б5 -
Schöpfungen „Fatum", „Romeo und Julia" und „Sturm"
die ersten Beiden Balakireff, die dritte — Stassow gewidmet
hat. Darin äussert sich unzweifelhaft auch der indirekte
Einfluss, den die jungrussische Schule auf Peter Iljitsch
ausgeübt hat. Sich mit ihr verschmelzen — wollte er nicht,
ihren Glauben anzunehmen — lehnte er ebenfalls ab. Aber
ihre Sympatie zu erringen, ohne auf Kompromisse einzu-
gehen, ihre Herausforderung anzunehmen („Romeo" und
„Sturm" hat Peter Iljitsch auf Anregung Balakireff 's und
Stassow's komponiert), aus der ihm gestellten Aufgabe
als Sieger hervorzugehen und seine Solidarität mit der
„Schaar" nur auf dem Gebiete der ernsten künstlerischen
Anforderungen zu bekennen — schien ihm nicht nur inte-
ressant, sondern auch seines Berufes würdig.
Die „Allmächtige Schaar" bezahlte Peter Iljitsch sein
Verhältniss zu ihr mit gleicher Münze. Sie verurteilte die
Pedanterie, die Routine und die „Zurückgebliebenheit"
einiger Kompositionen Tschaikowsky's, hat aber gleich am
Anfang der schöpferischen Thätigkeit Peter Iljitsch's gros-
ses Interesse für ihn gefasst und ihn als einen ebenbürti-
gen Gegner geachtet, hat sogar den Versuch gemacht ihn
zu ihrem Glauben zu bekehren und zählte ihn, selbst
nachdem jener Versuch misslungen war, zu den „Ge-
rechten".
Tschaikowsky und die „Schaar" muteten auf diese
Weise wie zwei, freundschaftliche Beziehungen zu einan-
der unterhaltende Staaten an, und lebten ein Jedes sein
selbständiges Leben, indem sie sich aber gegenseitig scharf
beobachteten. Manches Mal griff zwischen beiden Parteien
eine etwas gereizte Stimmung Platz, welche aber niemals
in einen Streit ausartete, manches Mal, jedoch, ergingen
sie sich in gegenseitigen Freundschaftsbezeugungen, nie-
mals ist es, aber, zwischen ihnen zu einem Bündniss ge-
kommen.
Nach der Rückkehr aus Petersburg, avo Peter Iljitsch
die Osterferien verbracht hatte, fühlte er sich infolge der
sehr bewegt und aufregungsreich durchlebten Saison sehr
müde und abgespannt, sodass er mehr den je an „Frei-
heit und Einsamkeit" dachte. Seine Sehnsucht sollte aber
im bevorstehenden Sommer nicht befriedigt werden, und
zwar hatte es Peter Iljitsch diesmal sich selbst zuzuschrei-
ben, denn er zog es vor, die ihm unter sehr günstigen
Bedingungen vorgeschlagene Reise ins Ausland zu unter-
nehmen. Er sollte nämlich seinen Lieblingsschüler, Wla-
— 16б —
dimir Schilowsky, zusammen mit dessen Vormund W. Be-
gitscheff und einem Hausfreund des Letzteren De Lazary,
in's Ausland begleiten. Es war für Peter Iljitsch gar zu
verführerisch, auf so angenehme Bedingungen — seine ein-
zige Verpflichtung war, Wladimir Schilowsky Musikunter-
richt zu erteilen — einzugehen, zumal da ihm auch die an-
deren Reisegefährten S3^mpatisch waren. So hat er sich
denn trotz seiner Sehnsucht, den Sommer inmitten ihm
nahestehender Menschen still, ruhig und ungestört arbei-
tend zu verbringen entschlossen, das Engagement anzu-
nehmen.
An A. I. Dawidowa:
„Paris, Sonnabend d. 20. Juli 1868.
Dir wird wohl bekannt sein, wie das gekommen, dass
ich in's Ausland gereist bin. Die materiellen Bedingungen
dieser Reise sind ausserordentlich angenehmer Natur. Ich
lebe bei reichen Leuten, welche mich dazu sehr lieb ha-
ben. Nichtsdestoweniger seufze ich sehr nach meinem Va-
terland, wo sich so viele mir teure Wesen befinden, mit
denen ich nur im Sommer zusammen sein kann. Mich
empört ein wenig der Gedanke, dass ich von allen Denen,
welche sich freuen würden, drei Monate mit mir zu ver-
bringen, die Reichsten und nicht die Besten gewählt habe.
Vielleicht spielte darin aber nur das verführerische „Aus-
land" eine Rolle. Die Geschichte unserer Wanderungen
ist sehr einfach und sogar uninteressant. Acht Tage haben
wir uns in Berlin aufgehalten und wohnen nun schon seit
fünf Wochen in Paris. Ursprünglich hatten wir die Absicht,
die schönsten Gegenden Europa's zu besuchen, aber die
Krankheit Schilowsky's und die Notwendigkeit, möglichst
schnell mit einem hiesigen berühmten Arzt Rücksprache
zu nehmen, führten uns nach Paris und halten uns entge-
gen unseren Wünschen so lange hier auf. Mein Zeitver-
treib ist folgender: ich stehe ziemlich spät auf, frühstücke
und lese die Zeitungen. Um zwölf kehre ich in mein Zim-
mer zurück, entkleide mich vollständig (es herrscht hier
eine unbeschreibliche Hitze) und arbeite bis zum Mittag-
essen. Wir speisen um 6 Uhr. Abends bin ich, gewöhn-
lich, im Theater. Man kann mit Recht von Paris behaup-
ten, dass es wohl die einzige Stadt der Welt ist, wo die
vielen Bec[uemlichkciten und Vergnügungen des Lebens
so billig feilgeboten werden. Die Theater sind hier pracht-
— 167 —
voll, nicht sowohl in ihrer äusseren Ausstattung, als in
Bezug auf Inscenierung, in Bezug auf die Kunst, mit ge-
radezu erstaunlich einfachen Mitteln, die grösste Wirkung
zu erzielen. Man versteht es, zum Beispiel, ein vStück so
einzustudieren und zu inscenieren, dass es auch ohne be-
deutende Schauspielertalente eine viel grössere Wirkung
ausübt, als es bei uns der Fall wäre, selbst wenn es von
so kolossalen Künstlern wie Sadowsky, Schumsky, Samoi-
low gegeben, aber nachlässig einstudiert und ohne En-
semble heruntergespielt worden wäre.
Was die Musik anbelangt, so muss ich wiederum sagen,
dass ich in den Opern, die ich gehört, keinem einzigen
Sänger mit hervorragender Stimme begegnet, bin, und
trotzdem welch prachtvolle Vorstellungen!! Wie genau
Alles einstudiert ist wie verständnissvoll, wie ernst man
auf jede auch noch so unbedeutenden Kleinigkeiten eingeht,
deren Summe den erwarteten Effekt auch in der That er-
giebt. Bei uns hat man garkeine Ahnung von solchen Vor-
stellungen.
Die verschiedenen Sehenswürdigkeiten von Paris hatte
ich schon bei meinem früheren Aufenthalt hierselbst ken-
nen gelernt und führe daher diesmal nicht das Leben eines
Touristen, welcher in Kirchen und Museen herumläuft.
Ich lebe wie einer, der sich ganz seiner Arbeit hingiebt,
und krieche nur abends aus meinem Häuschen. Ich muss
aber bekennen, dass das lärmende und glänzende Getriebe
von Paris für einen arbeitenden Künstler viel weniger
zweckmässig ist, als zum Beispiel so ein Thuner See, gar-
nicht zu reden von den Ufern des zwar stinkenden aber
lieben Tjasmin '), der das Glück hat, an dem Hause vor-
beizufliessen, in welchem, einige mir liebe und teure We-
sen wohnen. Wie haben Diese wohl den Sommer ver-
bracht? In acht Tagen reisen wir direkt nach Petersburg
ab. Von da möchte ich für einige Tage nach Syllamäggi -),
um meine Brüder und Dawidow's zu besuchen".
In Syllamäggi traf Peter Iljitsch Anfang August ein, ver-
brachte dort einige Tage und reiste Ende August über
Petersburg nach Moskau zurück.
Ausser dem „Woiwoden" hat Peter Iljitsch in der Sai-
son 1867 — 1868 Nichts weiter komponiert.
1) Der Fluss in Kamenka.
~) Sjllamäggi: ein Oertchen in der Xähe Narwa's, wo Dawido\v's und die Zwillinge
Tschaikowsky's eine Sommerwohnung inne hatten.
— I 68 -
In dem Brief vom 25. November sagt er, dass er den
dritten Akt beendet habe, was soviel bedeutet, wie die
Fertigstellung der ganzen Oper, denn Peter Iljitsch hat es
sich von jeher zur Regel gemacht, beim Arbeiten die
richtige Reihenfolge zu beobachten. Zum Februar war die
Instrumentation der zwei ersten Aufzüge bereits gemacht.
Die ganze Partitur ist aber erst im Sommer in Paris fer-
tig geworden. „Der Woiwode" oder „Der Traum an der
Wolga" ist ein Schauspiel in fünf Aufzügen nebst einem
Prolog von A. N. Ostrowsky. Das Libretto hat sich in
drei Aufzüge zusammendrängen lassen. Der Prolog ist
fortgefallen, und die Oper beginnt gleich mit dem zweiten
Auftritt des ersten Aktes des Schauspiels, d. h. mit dem
Erscheinen der Braut des alten Woiwoden, Praskowja,
und ihrer Schwester Maria Wlassjewna mit der Muhme
Nedwiga und den Landmädchen. Nach dem Abgang der
Mädchen erscheint Bastrjukow, welcher in Maria Wlassjew-
na verliebt ist. Diese erscheint wieder, und sie singen ein
Liebesduett. Der Woiwode erblickt Maria Wlassjewna,
verliebt sich sofort in sie und verlangt sie für sich als
Braut, indem er Praskowja ablehnt. Bastrjukow versucht,
seine Geliebte zu entführen , sie werden aber auf der
Flucht ergriffen und getrennt.
Das erste Bild des zweiten Aufzuges spielt bei Bast-
rjukow. Die Diener Bastrjukow's erwarten dessen Heim-
kehr von der Jagd. Als Bastrjukow erscheint, melden sie
ihm, dass, Dubrowin ihn zu sprechen wünsche. Scene und
Duett. Dubrowin ist ebenfalls eine Beleidigung seitens des
Woiwoden widerfahren, welcher ihm seine Frau, Olona,
geraubt hat. Beide jungen Männer beschliessen in das
Schloss des Alten einzudringen und Maria Wlassjewna und
Olona zu befreien.
Zweites Bild des zweiten Aufzuges: beim Woiwoden.
Maria Wlassjewna trauert. Man versucht sie durch Vor-
führung von Tänzen zu erheitern. Ihre Arie („Oh, Nach-
tigall"). Olona erscheint und teilt Maria Wlassjewna im
Geheimen mit, dass in der Nacht Bastrjukow sie im Gar-
ten erwarten wird. Das Duett der beiden Frauen wird
durch das Erscheinen der Muhme Nedwiga und der Land-
mädchen unterbrochen, welche Lieder zu singen beginnen,
um Maria Wlassjewna zu unterhalten und zu erfreuen.
Dritter Aufzug: Schlosshof des Woiwoden. Nacht. Ba-
strjukow und Dubrowin erscheinen. Maria Wlassjewna und
Olona steigen zu ihnen herab. Quartett. Sie werden vom
— 1 б9 —
Woiwoden überrascht. Von wilder Eifersucht gepackt,
will er Maria Wlassjewna erstechen. Da erscheint aber,
grade zur rechten Zeit, der Gesandte des Zaren mit dem
neuen Woiwoden, und. rettet Maria Wlassjewna. Der Ge-
sandte erklärt, dass der alte Woiwode auf Befehl des Za-
ren vor Gericht gestellt werden soll. Finale: Alle danken
Gott und huldigen dem Zaren.
Die Hauptschönheit des Schauspiels — das von Ostrow-
sky so treffend und reizend geschilderte Volksleben, — so-
wie der fantastische Teil desselben sind im Libretto, wie
man sieht, auf die rücksichtsloseste Weise fortgelassen und
nur die inhaltsleere uninteressante Fabel beibehalten wor-
den. Von den prachtvollen, lebenswahren und koloritrei-
chen Volksscenen, von der detaillierten Charakterisierung
der nebensächlichen Personen, z. B. Nedwiga's, von dem
Typus des „Domowoi" '), u. s. w. ist in dem Operntext
nicht die Spur übrig geblieben.
Daran ist aber, scheinbar, nicht Ostrowsky, sondern
Peter Iljitsch selbst schuld. Das kann man, wenigstens,
aus der Handschrift des Libretto folgern, welche Peter
Iljitsch beim Komponieren vorgelegen hatte. Leider ist nur
ein Teil dieses Manuscripts erhalten geblieben. Aber auch
darin kann man sehen, wie der Komponist den ihm von
Ostrowsky gelieferten Text überall zu kürzen bestrebt war,
wie er jeder Episode jeder Scene, welche nicht mit der
Hauptfabel in direktem Zusammenhang stand, aus dem
Wege ging. So hat er z. В., die lustige und hübsche Epi-
sode mit dem Narren, der bei Bastrjukow Schutz gegen
den Zorn des Woiwoden sucht, ganz fortfallen lassen. Eine
solche interessante und dankbare Scene nicht in Musik zu
setzen wäre Peter Iljitsch später nie eingefallen. Jetzt aber
hat er sie ohne Weiteres über Bord geworfen.
Ostrowsky 's Mitarbeiterschaft blieb eigentlich nur auf
den ersten Akt, welcher nebenbei gesagt — der beste ist,
und auf einen Teil des zweiten beschränkt. Alles Uebrige
hat Peter Iljitsch fast ganz allein gedichtet.
Von der ganzen Oper sind nur die „Tänze der Land-
mädchen und der „Entreact" in Jurgenson's Verlag er-
schienen (Op. 3). Den Rest der Partitur hat der Kompo-
nist in den siebziger Jahren vernichtet. Die Orchester-und
Chorstimmen, sowie einige Partieen der Solisten — leider
aber nicht die der Hauptrollen — liegen noch in der Biblio-
thek der Moskauer Kaiserlichen Theater in Verwahrung.
1) Deutsch etwa — Hausteufel, ein in Häusern wohnender, lialb boshafter, halb
mutiger und komischer Geist.
lyo
V.
1868 1869.
Peter lljitsch Tschaikowsky im fahre iE
Die äusseren Lebensbe-
dingungenPeterlljitsch's
in dieser Saison sind
beim Alten geblieben.
Die Stunden, die er im
Konservatorium zu ge-
ben hatte, haben sich
etwas vermehrt.Dement-
sprechend hat sich auch
sein Gehalt bis auf 1441
Rubel vergrössert. Die-
ser Umstand hat ihn ver-
anlasst, den Versuch zu
machen, sich von Ru-
binstein zu trennen und
eine eigne Wohnung zu
mieten, denn das Zu-
sammenwohnen mit Ru-
binstein war für seine
schöpferische Thc4tigkeit
sehr störend. Rubinstein
hat es aber nicht zuge-
lassen, und Peter lljitsch
hat sich ueberzeugen las-
sen, dass seine Einnah-
men noch zu gering seien,
um selbständig leben zu
können.
An A. Tschaikowsky:
„IG. September.
Ich will Dir in kurzen Worten mitteilen, wie es mir
seit unserer Trennung gegangen ist. Am Tage meiner An-
kunft in Moskau (wo meiner Alle sehr froh waren) habe
ich mir auf dem Diner bei Rubinstein einen Rausch an-
getrunken. Schon an dieser Thatsache allein erkennt man
Moskau. Fresserei ist Schwäche der Moskowiter. Am i.
September hat das jährliche grosse Bankett stattgefunden.
-lyi-
also wieder ein Rausch. Ach ja, fast hatte ich es \''erges-
sen: am 30. August war ich bei Ostrowsky zu einem Di-
ner eingeladen. Am i. September hat der Unterricht be-
gonnen. Ich habe mich so davon entwöhnt, dass ich ganz
konfus war und mich genötigt sah, für 10 Minuten aus der
Klasse zu verschwinden, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
Am 2. oder am 3. — weiss das nicht mehr genau — habe ich
Apuchtin im Theater getroffen. Anfangs wollte er mich
nicht wiedererkennen, so böse war er mir noch; nach lan-
gen Erklärungen hat er sich, aber, erweichen lassen. Am
folgenden Tage habe ich mit ihm im Englischen Klub ge-
mittagt und da ist es ihm nach dem Essen plötzlich schlimm
geworden, sodass er in Ohnmacht fiel, und ich zwar einen
grossen Schreck bekam, aber meine Selbstbeherrschung
nicht verlor und ihn mit grosser Mühe in den Garten
schleppte, wo er denn auch bald wieder zu sich kam. Den
nächsten Abend besuchten wir Beide Schilowsky's, welche
er durch seine Erzählungen ganz bezaubert hat. Darauf
war er zwei Tage lang Gast des Fürsten Schachowskoi,
und verbrachte den gestrigen Abend mit mir in der Oper.
Das war die erste Vorstellung unserer italienischen Oper.
Es wurde „Othello" gegeben. Die Artot sang prachtvoll,
auch debütierte ein sehr guter junger Tenor Stanio. Nach
der Oper haben wir im Klub recht angenehm die Zeit
verbracht.
Damit ist Alles Interessante der letzten anderthalb Wo-
chen meines Lebens erschöpft. Gedeonow ist in Moskau
gewesen und hat angeordnet, unverzüglich mit den Pro-
ben zum „Woiwoden" zu beginnen. Die Rollen sind schon
vergeben. Ich glaube aber kaum, dass man bis zum Okto-
ber fertig werden wird, wie es Gedeonow gewünscht hat.
Mit den Italienern ist es fast unmöglich. Ich glaube, dass
die Oper nicht vor Dezember zur Aufführung gelangen
wird. Neues komponiere ich noch Nichts, weiss auch noch
nicht, was in Angriff nehmen soll. Zum Glück werden die
Konzerte der Musikalischen Gesellschaft erst spät ihren
Anfang nehmen, sodass ich bis dahin schon Etwas zusam-
menkleistern werde".
An M. Tschaikowsky:
„13. September.
Arbeit habe ich in Hülle und Fülle. Vorgestern erhielt
ich ganz unerwarteterweise eine Aufforderung zugestellt,
— 172 —
in's Theater zu kommen. Ich erstaunte nicht wenig, als
ich erfuhr, dass schon zwei Chorproben meiner Oper ge-
wesen seien und nun die erste Sohstenprobe stattfinden
sollte. Ich habe selbst die Klavierbegleitung übernommen.
Ich zweifle sehr an der Möglichkeit, ein so schwieriges
Werk in einem Monat einzustudieren und schaudere schon
im Voraus vor der mir bevorstehenden Lauferei und He-
rumwirtschafterei. Die Proben sind fast für jeden Tag an-
gesetzt. Die Sänger sind alle mit der Oper zufrieden.
Im Konservatorium habe ich auch mehr zu thun. Werde
auch mehr Geld dafür bekommen, fürchte jedoch sehr zu
ermüden! In meinem sonstigen Leben sind gegenüber dem
vorigen Jahr keine Veränderungen eingetreten. Meine Pläne
in Bezug auf ein selbständiges Wohnen sind in alle Winde
zerstoben. Als ich Rubinstein andeutete, dass ich es in
seiner Wohnung unbequem habe und ausserdem seine
Gastfreundschaft nicht gern noch länger in Anspruch
nehmen möchte, hat er sich sehr beleidigt gefühlt und mir
das Versprechen gegeben, es so einzurichten, dass mich
Niemand mehr bei der Arbeit störe. Die Mittagsmahlzeiten
nehme ich immer noch wie früher, bei Albrecht, obwohl
ich ihn sehr oft damit anführe".
An A. Tschaikowsky:
„25. September,
Seit meinem letzten Schreiben an Dich, hatte ich
sehr viel zu thun. Du weisst, dass man meine Oper im
Oktober zur Aufl'ührung bringen wollte. Die Stimmen wa-
ren schon ausgeschrieben und die Proben, welche ich be-
suchen musste, hatten schon ihren Anfang genommen. Als
ich aber sah, dass die Oper in einer so kurzen Zeit nicht
einstudiert werden könne, erklärte ich der Direktion, dass —
solange die italienische Oper in Moskau w^eilt und Chor
und Orchester für sich in Anspruch nimmt — ich die Par-
titur meiner Oper nicht hergeben werde, und habe in
diesem Sinne an Gedeonow^ geschrieben. Die Folge davon
war, dass die Aufführung aufgeschoben und die Proben
eingestellt wurden, bis die Italiener Moskau verlassen. Da-
her bin jetzt wieder etwas freier. Uebrigens, die Menschi-
kowa kennt schon einen grossen Teil der Oper auswen-
dig. Heute war ich bei ihr zum Mittagessen, und sie hat
mir einige Nummern garnicht übel vorgesungen. Die Zeit
vergeht im Allgemeinen schnell und angenehm.
— 173 —
Bezüglich meiner zukünftigen Kompositionen kann ich
Dir eine sehr angenehme Nachricht mitteilen. Vor einigen
Tagen habe ich bei Ostrowsk}- gemittagt und er hat mir
von selbst angeboten, ein Libretto für mich zu schreiben.
Das Sujet beschäftigt ihn schon seit zwanzig Jahren, und
er hat sich bis jetzt noch nicht entschliessen können, es
Jemandem vorzuschlagen; nun ist seine Wahl auf mich
getWlen.
'Der Ort der Handlung ist Bab\don und Griechenland
zur Zeit Alexanders von Macedonien, welcher auch in per-
sona mitwirkt. Es stossen da die Vertreter zweier klassi-
schen Völker aneinander: Hebräer und Griechen. Der Held
ist ein junger Hebräer, welcher eine Hebräerin liebt, von
Dieser aber betrogen wird, weil ihr Ehrgeiz sie Alexan-
der in die Arme treibt. Zum Schluss wird aus dem jun-
gen Hebräer ein Prophet. Du kannst Dir garnicht vorstel-
len, wie herrlich diese Vorlage ist! Augenblicklich arbeite
ich an einer symphonischen Dichtung ,,Fatum" ^). Die ita-
lienische Oper macht Furore. Die Artot ist ein reizendes
Wesen: wir Beide sind gute Freunde".
„Im Frühjahr 1868", erzählt Laroche, „kam für einige
Wochen ein italienisches Opernensemble nach Moskau, an
dessen Spitze der Privatunternehmer Merelli stand, wel-
cher für seine Vorstellungen das Grosse Theater pachtete.
Die Truppe bestand aus Sängern fünften und sechsten Ran-
ges, die weder Stimme noch Talent besassen; die einzige
aber grelle Ausnahme war ein dreissigj ähriges nicht grade
schönes Mädchen mit leidenschaftlichem Gesichtsausdruck,
welche damals auf dem Höhepunkt ihrer Kunst stand und
sehr bald darauf zu altern begann.
Desire Artot war die Tochter des berühmten Horni-
sten Artot und die Nichte des noch berühmteren Geigers
und hatte ihre Ausbildung bei Pauline Viardot — Garcia
erhalten. Ihre Stimme \var sehr kräftig und schien für den
grössten dramatischen Pathos wohl geeignet zu sein, ent-
behrte aber leider einer festen Grundlage, infolgedessen
sie verhältnissmässig früh — wie gesagt — zu altern begann
und schon sechs bis sieben Jahre nach der Zeit, von wel-
cher jetzt die Rede ist, vollständig ihren Reiz einbüsste.
Ungeachtet des dramatischen Charakters war die Stimme
auch für Fiorituren und Coloraturen sehr veranlagt und
hatte einen so ausserordentlichen Umfang, dass das Re-
1) Op. 77. Verlag Belajeir iu Leipzig
— i74 — /
pertoir der Sängerin fast unbeschränkt war. Nur die aller-
höchsten Partien, wie z. B. die „Lucia", waren für sie
unausführbar. Desire Artot ist mehr denn einmal auch
in Petersburg aufgetreten, hat dort aber stets nur einen
Achtungserfolg erzielt. Bevor sie nach Moskau kam, hatte
sie in Berlin und Warschau Triumphe gefeiert. Doch dürfte
sie nirgends so viel Entusiasmus erweckt haben, als in
Moskau. Für Viele der damaligen Moskauer Musiker — auch
für Peter Iljitsch — erschien sie als eine Verkörperung des
dramatischen Gesanges selbst, als eine Göttin, welche in
ihrem Wesen all'die Eigenschaften vereinigte, die gewöhn-
lich auf verschiedene Naturen verteilt sind. Sie intonierte
mit der Reinheit und Sicherheit eines Klaviers, vokal}^-
sierte aussergewöhnlich schön und verblüffte die Menge
mit einem ganzen Feuerwerk von Trillen und Passagen,
Ein grosser Teil ihres Repertoirs war der virtuosen Seite
der Kunst gewidmet, welche sie aber durch ihren so über-
aus lebendigen und poetisch ausdrucksvollen Vortrag fast
bis zu künstlerischem Wert erhob. Man kann behaupten,
dass es in der ganzen Musik, in dem ganzen Gebiet der
lyrischen Stimmungen keine Idee, kein Gebilde vorhanden
sei, welches wiederzugeben, zu interpretieren die ausge-
zeichnete Künstlerin nicht verstanden hätte. Die Klangfär-
bung ihrer Stimme glich mehr dem Ton einer Oboe, als
dem einer Flöte, und atmete eine nicht zu beschreibende
Schönheit aus, eine solche Glut, eine solche Leidenschaft,
dass sie Jedermann berückte und entzückte! Ich sagte
oben, dass Desire Artot nicht schön gewesen sei. Es be-
findet sich aber Derjenige im Irrtum, der sie infolgedessen
bemitleiden zu müssen glaubt und der Meinung ist, dass
sie mit grosser Mühe und unter Zuhilfenahme allermögli-
chen Toilettenkünste und Toilettengeheimnisse mit dem
ungünstigen Eindruck ihrer äusseren Erscheinung zu käm-
pfen hatte. Nein, nicht im Geringsten! Sie eroberte die Her-
zen und verwirrte die Köpfe gerade so wie die allerschön-
ste Frau. Die zarte, schneeweisse Haut, die seltene Plastik
und Grazie der Bewegungen, die Schönheit der Hände
und des Halses waren nicht ihre einzigen Waffen: bei der
ganzen Unregelmässigkeit ihrer Gesichtszüge lag eine be-
zaubernde Lieblichkeit in ihnen; unter den vielen, sehr vie-
len „Margarethen", die ich in meinem Leben gesehen, war
die Artot entschieden die idealste, die entzückendste. Frei-
lich bewirkte das zum grossen Teil ihr schauspielerisches
Talent. Ich kenne Niemanden, der mit der Bühne so ver-
— 175 —
traut wäre, wie die Artot es gewesen: von dem ersten
Schritt und bis zum letzten Schrei der Verzweiflung oder
des Triumphes — war die lUusion eine volllcommene; nicht
ein einziger Zug verriet Absicht oder Berechnung, dabei
wurde die Komil^, die Tragilv und der Demi-Charakter in
gleichem Maasse vollkommen von ihr beherrscht".
An A. Tschaikowsky:
„21. Oktober.
....Ich bin jetzt sehr beschäftigt: schreibe die Chöre und
Recitative zum „Schwarzen Domino" von Auber, welches
zum Benefiz der Artot gegeben werden soll; diese Arbeit
wird mir Merelli bezahlen. Ich habe mich mit der Artot
sehr befreundet und erfreue mich ihrer Gegenneigung;
selten habe ich ein so liebes, gutes und kluges Weib
getroffen.
Anton Rubinstein ist bei uns gewesen. Hat gespielt —
wie ein Gott und unbeschreibliches Furore gemacht. Er
hat sich garnicht verändert und ist ebenso nett wie früher.
Ich besuche jetzt ziemlich oft den „Künstler- Verein". Spie-
le dort, gewöhnlich, mit einem ^'-i Kopekeneinsatz „Jera-
lasch" ^), und soupiere darauf mit Ostrow^sky, Sadowsky
und Shiwokini, welche sehr nett und unterhaltend sind.
Laroche ist neulich eine Moskauer Berühmtheit geworden
infolge zweier von ihm verfassten und in den „Moskauer
Nachrichten" abgedruckten Feuilletons über die italienische
Oper. Die Italienomanen schimpfen fürchterlich über ihn
und wollen ihn, wie man sagt, durchprügeln.
Meine Fantasie für Orchester „Fatum" ist fertig".
An M. Tschaikowsky:
(November).
„...Oh, Moding, ich fühle, in mir das Verlangen, meine
Eindrücke vor Dein künstlerisches Herz zu schütten. Wenn
Du nur wüsstest, welch' Sängerin und Schauspielerin die
Artot ist!! Noch nie habe ich einen so starken künstle-
rischen Eindruck gehabt, wie diesmal! Wie Du entzückt
wärest über die Grazie ihrer Bewegungen und Posen"!
An M. Tschaikowsky:
(Dezember).
„...Schon lange habe ich Dir nicht mehr geschrieben,
1) Jeialasch ist der Name eines Kartenspiels.
— .176 —
ich befand mich aber in verschiedenen Umständen, welche
mich der Möglichkeit beraubten, Briefe zu schreiben, denn
meine ganze freie Zeit widmete ich einem Wesen, von
welchem Du gewüss schon gehört haben wirst, und wel-
ches ich sehr liebe.
Meine musikalischen Angelegenheiten befinden sich in
folgender Lage. In den nächsten Tagen gelangen zwei mei-
ner Klavierstücke aus dem Druck ^); habe 25 russische Volks-
lieder für Klavier vierhändig arrangiert, was ebenfalls ge-
druckt wird, und instrumentiere meine Orchesterfantasie „Fa-
tum" für das fünfte Symphoniekonzert der Musikalischen
Gesellschaft.
Neulich fand hier ein Konzert statt zu Gunsten unbe-
mittelter Studenten, in welchem zum letzten Mal vor der
Abreise ein gewisses „Wesen" gesungen hat. In demsel-
ben Konzert wurden auch meine Tänze gespielt und N.
Rubinstein hat ausserdem mein der Artot gewidmetes Kla-
vierstück vorgetragen.
Setze meine Besuche im Künstler -Verein fort, wo ich
jedesmal mit den beiden Alten, Sadowsk}^ und Shiwokini
soupiere".
An Ilja Petro witsch Tschaikowsky:
„26. Dezember.
Mein lieber und teurer Vater! Zu meiner grössten Er-
bitterung haben einige Umstände meine Reise nach Peters-
burg verhindert. Diese Reise würde wenigstens hundert
Rubel kosten, welche ich aber augenblicklich nicht besitze.
So muss ich Dir denn schriftlich meine Neujahrsgratula-
tion darbringen: es versteht sich von selbst, dass ich Dir
Glück und Alles Gute wünsche. Da die Gerüchte von
meiner Heirat Dir, wahrscheinlich, schon mehrfach zu
Ohren gekommen sind und Du jedenfalls unzufrieden bist,
dass ich selbst noch Nichts darüber geschrieben habe, so
will ich Dir nun gleich Alles auseinandersetzen. Die Be-
kanntschaft Artot's habe ich schon im Frühjahr gemacht,
bin damals aber nur ein Mal bei ihr gewesen, und zwar
auf einem Souper gelegentlich ihres Benefizes. Nachdem
sie im Herbst wieder hierhergekommen, habe ich sie einen
ganzen Monat lang garnicht besucht. Zufällig begegneten
wir uns dann auf einem musikalischen Abend; sie hat
1 ) Valse-Capiice, op. 4. und „Komaiice", op. 5.
— t77 —
ihrer Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, dass ich
niemals zu ihr komme und ich gab ihr das Versprechen,
sie zu besuchen, was ich aber gewiss nicht gethan hätte
(bei der mir eigenen SchwerfäUigkeit für neue Bekannt-
schaften), wenn nicht Anton Rubinstein, der sich auf der
Durchreise in Moskau aufgehalten hatte, mich eines Tages
zu ihr geschleppt hätte. Seitdem erhielt ich fast täglich Ein-
ladungskarten von ihr und gewMjhnte mich allmälich, jeden
Tag bei ihr zu sein. Sehr bald entflammten wir in gegen-
seitiger zärtlicher Neigung und die Geständnisse folgten
unmittelbar darauf. Natürlich besprachen wir sofort die
Frage über die gesetzliche Ehe, und, wenn Nichts da-
zw^ischen kommt soll die Hochzeit schon im künftigen Som-
mer zu Stande kommen. Darin liegt aber das Schlimme,
dass verschiedene Hindernisse vorhanden sind. Erstens
ist ihre Mutter, welche stets bei ihr weilt und einen be-
deutenden Einfiuss auf sie ausübt, gegen diese Heirat, da
sie findet, dass ich für ihre Tochter noch zu jung sei, und
wahrscheinlich befürchtet, dass ich sie an Russland fesseln
werde. Zweitens suchen meine Freunde, ganz besonders
N. Rubinstein, mit dem Aufgebot ihrer ganzen Energie
meine Heiratspläne zu Nichte zu machen. Sie behaupten,
dass ich, als Gatte einer berühmten Sängerin, die kläg-
Hche Rolle des „Mannes seiner Frau^^ spielen werde, auf
ihre Rechnung leben, und sie auf ihren Reisen durch ganz
Europa überallhin begleiten, ferner — dass ich keine Ge-
legenheit und Müsse zur eignen Arbeit haben werde, dass —
wenn erst meine Liebe zu ihr etwas nachgelassen mir Nichts
Anderes übrig bleiben wird, als Verzweiflung und Unter-
gang. Die Möglichkeit eines solchen Unglücks liesse sich,
vielleicht, in dem Falle vermeiden, wenn sie sich entschlies-
sen wollte der Bühne zu entsagen und für immer in
Russland zu bleiben: — sie sagt aber, dass sie bei all'ihrer
Liebe zu mir, die Bühne nicht verlassen könne, an welche
sie sich so sehr gewöhnt habe und welche ihr so viel Ruhm
und Geld eintrage. Augenblicklich befindet sie sich schon
auf der Reise nach Warschau. Einstweilen haben wir be-
schlossen, dass ich sie im Sommer auf ihrem Gut (in der
Nähe von Paris) besuchen werde, wo sich dann unser
Schicksal entscheiden soll.
So wie sie sich nicht entschliessen kann, der Bühne zu
entsagen, so möchte ich, meinerseits, auch nicht, ihr meine
Zukunft opfern, denn es unterliegt keinem Zweifel, dass
ich der Möglichkeit, auf meinem Pfade vorwärts zu kom-
TachaikowsTcy, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 12
— lyS —
men, beraubt sein werde, wenn ich ihr bhndhngs folgen
sollte. Du siehst, Väterchen, dass meine Situation eine
sehr schwierige ist: einerseits habe ich sie von ganzem
Herzen und von ganzer Seele lieb und es scheint mir un-
möglich, ohne sie weiter zu leben; andererseits, aber, zwingt
der kalte Verstand zum Ueberlegen und zum näheren Be-
trachten all'der Schrecken, welche mir meine Freunde aus-
malen. Erwarte, mein Lieber, auch Deine Ansicht zu hören.
Ich bin ganz gesund und mein Leben fliesst ordnungs-
mässig dahin, mit der alleinigen Ausnahme, dass ich trau-
rig bin, weil sie nicht da ist".
Als Antwort erhielt Peter Iljitsch vom Vater folgendes
Schreiben:
„29 Dezember 1868.
Mein lieber Peter, Du bittest mich um einen Rat in
der wichtigsten Angelegenheit Deines Schicksals. In der
That, mein Freund, die Heirat ist ein solch gefährlicher
Schritt im Leben, den man nicht unüberlegt thun soll, das
ist eine Frage über Leben oder Tod, über Sein oder Nicht-
sein, das ist das Wagniss eines Spielers, der Hasard eines
Kühnlings, das ist ein solcher Schritt, nach welchem es
kein Zurück giebt, obgleich er von der Jugend gewöhn-
lich unterschätzt wird, indem sie sich anheimstellt, ein Je-
des nach seinem Wunsch zu leben und sich weder an das
Herzensbündniss noch an die kirchliche Trauung zu keh-
ren. Meine Ansicht über Deine Heirat kennst Du bereits
aus der kurzen Zuschrift, die ich in das Couvert des Brie-
fes von Toly gesteckt hatte: ich freue mich, — freue mich,
wie der Vater eines erwachsenen Sohnes oder einer ge-
reiften Tochter, freue mich auf die Ehe eines Würdigen
mit einer Würdigen. Du liebst sie und sie Hebt Dich, und
damit wäre die Sache erledigt, wenn... Oh, dieses ver-
fluchte Wenn!... Man muss wohl Alles überlegen, Alles
zergliedern und diesen Gordios-Knoten zu lösen versuchen.
Desire, d. i. die Erwünschte, muss in der That in jeder
Beziehung herrlich sein, denn mein Sohn Peter hat ihr
seine Liebe geschenkt, mein Sohn Peter, aber, besitzt Ge-
schmack und Talent und wird sich seinem Charakter nach
ein Weib mit den gleichen Eigenschaften gewählt haben.
Von dem Altersunterschied kann hier keine Rede sein, Ihr
Beide seid schon lange mannbar, sodass zwei Jahre mehr
oder weniger keine Rolle spielen, Avas aber die Vermö-
— 179 —
gensverhältnisse und die Lebensstellung eines Jeden von
Euch anbelangt, so wollen wir nun darüber reden. Du bist
Künstler, sie ist auch Künstlerin, Ihr Beide schlaget Ka-
pital aus Euren Talenten, nur dass sie sich Kapital und
Ruhm bereits erworben hat, und Du erst zu erwerben be-
ginnst, und — Gott weiss, ob es Dir gelingen wird, das zu
erreichen, was sie besitzt. Deine Freunde erkennen Dein
Talent an und fürchten, das Du es verlieren könntest durch
die Heirat: ich bin anderer Meinung. Wenn Du um Deines
Talentes willen den Staatsdienst aufgegeben hast, so wirst
Du gewiss nicht authören, Künstler zu sein, selbst wenn
Du im Anfang unglücklich sein solltest, so geht es fast
allen Musikern. Du bist stolz, und es ist Dir daher unan-
genehm, dass Du noch nicht soviel verdienst, um eine
Frau ernähren zu können und um nicht auf ihren Geld-
beutel angewiesen zu sein. Ich verstehe Dich wohl, mein
Freund, es ist bitter und unangenehm, doch wenn Du und
sie, Ihr Beide, gleichzeitig arbeiten und erwerben werdet,
so wird Keiner sich einen Vorwurf machen können: gehe
Du Deinen Weg, lasse sie den ihrigen verfolgen und so
helfet Euch gegenseitig. Weder für Dich, noch für sie ist
es ratsam, den eingeschlagenen Lebenspfad zu verlassen,
solange Ihr noch nicht soviel erspart habt, um sagen zu
können: das sind wir, das ist unsere gemeinsame Arbeit.
Zergliedern wir mal die einzelnen Worte: i) „Als Gatte
einer berühmten Sängerin wird Dir die klägliche Rolle
zufallen, sie auf ihren Reisen durch ganz Europa überall-
hin zu begleiten, auf ihre Rechnung zu leben, und dadurch
solltest Du Dich vom Arbeiten entwöhnen". Wenn nur
Eure Liebe keine leichtfertige ist, sondern eine solide, wel-
che sich für Leute Eures Alters geziemt, wenn nur Eure
Schwüre aufrichtig und unveränderhch sind, dann ist Je-
nes Alles Unsinn. Das Glück einer Ehe gründet sich auf
gegenseitiger Achtung, weder wirst Du es zugeben, dass
Deine Frau wie eine Art Dienerin um Dich sei, noch wird
sie es verlangen, dass Du die Rolle ihres Lakaien spielest,
und das Zusammenreisen hat auch Nichts zu bedeuten,
sofern Du dabei das Komponieren nicht unterlassen wirst, —
ja, es ist sogar vorteilhaft, da Du dann Deine Oper hier
und da anbringen kannst, oder Deine Symphonie, oder
sonst Etwas. Eine liebende Freundin wird es schon ver-
stehen. Dich anzuregen; sieh nur zu, wie Du Alles zu Pa-
pier bringst, mit einem solchen Wesen, wie Deine Er-
sehnte wirst Du eher Fortschritte machen, als das Talent
— i8o —
verlieren. 2) „Wenn erst Deine Liebe zu ihr etwas nach-
gelassen— wird Dir Nichts Anderes übrig bleiben, als
Verzweiflung und Untergang". — Warum denn in der Liebe
nachlassen? Ich habe mit Deiner Mutter 21 Jahre zusam-
mengelebt, und habe sie diese ganze Zeit hindurch gleich-
massig, mit der Glut eines Jünglings geliebt, und habe sie
geachtet und vergöttert, wie eine Heilige. Wenn nur Deine
Ersehnte dieselben Eigenschaften besitzt, wie Deine Mut-
ter, der Du so ähnlich bist, dann ist jene ganze Voraus-
setzung Unsinn. Du weisst doch sehr gut, dass Künstler
keine Heimat haben, sie gehören der ganzen Welt, wozu
soll sie denn, oder auch Du, unbedingt in Russland, in
Moskau oder Petersburg wohnen. Es ist gut, wenn es
irgendwo besonders vorteilhaft ist, zu wohnen; wenn sie,
zum Beispiel, einen Kontrakt für längere Zeit mit der Pe-
tersburger Opernbühne abschliessen wollte (freilich unter
Beibehaltung ihres Namens), wie die Lucca, die Patti und
Andere — dann würde es für uns Alle sehr angenehm sein.
3) „So wie sie sich nicht entschliessen kann, ' der Bühne
zu entsagen, so möchtest Du deinerseits auch nicht, ihr
Deine Zukunft opfern, denn es unterliegt keinem Zw^eifel,
dass Du der Möglichkeit beraubt sein wirst, auf Deinem
Pfade vorwärts zu kommen wenn Du ihr blindlings folgst". —
Sie soll garnicht der Bühne entsagen, was ich schon oben
erwähnt habe, ebensowenig sollst Du Deine Pflichten als
Künstler von Beruf niederlegen. Unsere Zukunft ist zwar
nur Gott bekannt, aber wozu denn voraussetzen, dass Du
der Möglichkeit beraubt sein wirst, auf deinem Pfade vor-
wärts zu kommen, wenn Du ihr blindlings folgst? Das
würde heissen, dass Du keinen Charakter hast und nur
ein Anhängsel bei ihr bist, ihr die Schleppe trägst und
sie mit zwei Fingern auf die Bühne geleitest wie ein Die-
ner, um dann in der Menge zu verschwinden. Nein, mein
Freund, sei Du ein Diener, aber ein selbständiger Diener,
wenn sie Deine Arien singen wird, so — dass der Beifall
Euch Beiden gelte, — wozu dann blindlings folgen? Wenn
sie Dich aufrichtig liebt, so dürfte das doch auch ihr unan-
genehm sein (denke an die gegenseitige Achtung). Alles
das müsst Ihr selber überlegen und an meine Worte den-
ken: das Glück in der Ehe hängt von gegenseitiger Liebe
und Achtung ab. Dann möchte ich Euch noch eine Frage
stellen: habet Ihr Euch auch geprüft? Liebet Ihr Euch auch
wirkhch und für alle Zeiten? Deinen Charakter kenne ich,
mein lieber Sohn, und hoffe auf Dich, Du, aber, liebe
— i-8i —
Braut, bist mir leider noch nicht bekannt. Ich kenne nur
Deine schöne Seele und Dein gutes Herz durch ihn. Es
würde garnicht übel sein, wenn Ihr Euch prüfen wolltet,
nur — um Gottes willen — nicht durch Eifersucht, sondern
durch die Zeit. Wartet und fraget Euch beständig: liebe
ich sie auch wirklich wahrhaft, liebt er mich auch wirklich
wahrhaft? Wird er (oder sie) auch in der That mit mir bis
an das Grab die Freuden und Leiden des Lebens teilen?
Wenn die Zeit Euch nur bedingt antworten wird: ja, viel-
leicht wirst Du glücklich werden, — dann ist es eben noch
nicht ganz gewiss. Stellt Euch noch einmal auf die Probe
und fasset erst dann einen Entschluss, in Gottes Namen.
Beschreibe mir ausführlich den Charakter Deiner Er-
sehnten, mein Lieber, — übersetze ihr das zarte Wort „de-
sire". Der Wille der Mutter bedeutet in Herzensangelegen-
heiten garnichts; überlege es Dir aber doch".
Peter Iljitsch an Anatol:
(Januar).
„ Ich befinde mich jetzt in grosser Aufregung. Der
„Woiwode" soll aufgeführt werden; jeden Tag giebt's Pro-
ben und ich finde kaum Zeit, Alles zu thun was notwendig
ist: dadurch erklärt sich mein Schweigen. Bis jetzt geht
die Oper ziemlich schlecht; es geben sich, aber. Alle die
redlichste Mühe, sodass man auf eine gute Aufführung
hoffen kann. Die Menschikowa wird sich sehr gut machen;
namentlich singt sie im zweiten Akt das Lied „Nachtigall"
sehr schön. Der Tenor ist ebenfalls nicht übel, der Bas-
sist, jedoch, schlecht. Wenn die Oper gelingt, so werde
ich es einzurichten versuchen, dass Ihr Beide in der But-
terwoche hierherkommt, um sie anzuhören.
Ich habe schon eine andere zu komponieren begonnen,
möchte aber das Sujet nicht verraten, weil es einige Zeit
Geheimniss bleiben soll, dass ich überhaupt Etwas in Ar-
beit habe. Wie gross wird das Erstaunen sein, wenn man
erfährt, dass ich im Sommer schon die halbe Oper zu-
sammengeknetet habe (ich hoffe sehr stark, im Sommer
Gelegenheit zum Arbeiten zu haben).
Im nächsten Konzert soll meine neue Ouvertüre ge-
spielt werden; es scheint ein recht gelungenes Stück ge-
worden zu sein und heisst „Fatum".
Bezüglich des Liebesabenteuers, welches ich zu Anfang
des Winters erlebt habe, kann ich Dir mitteilen, dass es
sehr zweifelhaft ist, ob mein Eintritt in Hymens Reich zu
— Г82 —
Stande kommen wird. Die Sache beginnt, etwas auseinan-
derzugehen. Das Nähere darüber werde ich Dir später
erzählen. Jetzt ist nicht die Zeit dazu".
hn Januar hat sich Desire Artot in Warschau mit dem
Bariton Padilla verheiratet, ohne ein Wort davon ihrem
früheren Bräutigam mitgeteilt zu haben.
Die Nachricht davon gelangte an Peter Iljitsch zu einer
Zeit, wo sein ganzes Sinnen und Trachten der Aufführung
seiner Erstlingsoper galt, und hat — wie aus dem Ton sei-
ner Briefe hervorgeht — dank diesem Umstand lange nicht
die erschütternde Wirkung auf ihn gehabt, wie zu erwar-
ten war.
Jedenfalls ist in Peter Iljitsch's Herzen, nachdem die
ersten bittern Stunden verstrichen waren, garkein Groll
gegen die Ungetreue zurückgeblieben. Als Künstlerin blieb
sie für ihn das Vollkommenste, was er je kennen gelernt
hatte. Als Mensch blieb sie ihm ebenfalls für immer teuer.
Nach einem Jahre fast, sollte er ihr wieder begegnen.
Folgendes schreibt Peter Iljitsch über die bevorstehende
Begegnung: „in nächster Zeit steht mir ein Wiedersehen
mit Artot bevor. Sie kommt hierher, und ich werde einer
Begegnung nicht ausweichen können, denn gleich nach
ihrer Ankunft soll mit den Proben des „Schwarzen Do-
mino" mit meinen Recitativen und Chören begonnen wer-
den, bei denen ich notwendigerweise werde zugegen sein
müssen. Dieses Weib hat mir viele bittre Stunden bereitet,
und doch fühle ich mich durch eine unerklärliche S34npa-
tie so zu ihr hingezogen dass ich beginne, mit fieberhafter
Ungeduld ihre Ankunft zu erwarten".
Sie begegneten sich wie zwei Freunde. Alle intimeren
Beziehungen waren geschwunden. „Als 1869 die Artot
wieder auf der Bühne des Grossen Theaters auftrat", —
erzählt Kaschkin, — „sass ich im Parterre neben Tschai-
kowsky, der sehr aufgeregt war. Bei dem Erscheinen der
Künstlerin hob Peter Iljitsch das Opernglas an die Augen
und setzte es während der ganzen Vorstellung nicht wieder
ab; er konnte aber schwerlich sehen, denn Thräne über
Thräne rollte über seine Wangen".
Nach zwanzig Jahren begegneten sie sich wieder. Die
junge Liebe und gegenseitige S\inpatie hatte sich inzwi-
schen in treue Freundschaft verwandelt, welche zwischen
ihnen seitdem bis an den Tod bestehen blieb.
Am 30. Januar 1869 am Benefiztage der Menschikowa,
fand die erste Vorstellung der Oper „Der Woiwode" statt.
Auf dem Theaterzettel stand Folgendes zu lesen;
i83 -
DER WOIWODE.
Oper in drei Akten und vier Bildern. Der Text ist dem
Schauspiel „Der Traum an der Wolga" von Ostrowsky
entnommen.
Musik von P. I. Tschaikowsk}',
Kostüme: die männlichen von H. Simone, die weibli-
chen von H. Manochin.
Die Tänze werden ausgeführt: im 2. Akt von den Da-
men Lwowa, Essaulowa I, Nikiforowa II, Alexandrowa II;
die Koriphäen: Jeshowa, Terentjewa, S^^bina I, Gorocho-
wa I, Belikowa, Prokoffjewa, Wladimirowa I und Pheok-
tistowa — werden den Russischen Tanz ausführen^
Handelnde Personen:
Netschai Schalygin . .
Wlass Djushoi ....
Nastassja, dessen Frau.
Maria Wlassjewna. . .
Praskowja Wlassjewna
Stephan Bastrjukow. .
Dubrowin
Olona, dessen Frau. .
Rjeswy
Ein Narr
Nedwiga
Der Neue Woiwode. .
. H. Finocci.
. H. Radoneshsky,
. Fr. Annenskaja.
. Fr. Menschikowa.
. Fr. Kronenberg.
. H. Rapport.
, H. Demidoff.
. Fr. Iwanowa.
. H. Boschanowsky
. H. Lawroff.
. Fr. Rosanowa.
. H. Korin.
Die Mannen des Woiwoden, die Mannen des Djushoi,
Muhmen, Mädchen.
Der äussere Erfolg der Oper war sehr hervorragend.
Der Komponist ist 15 Mal hervorgerufen worden und hat
einen Lorbeerkranz erhalten. Die Aufführung ist jedoch
nicht ohne Störungen verlaufen. Rapport, nämlich, hat die
letzten Nächte infolge eines sich am Finger bildenden Ge-
schwürs garnicht schlafen können und fühlte sich während
der Vorstellung so schlecht, dass er mehrere Male einer
Ohnmacht nahe war. „Wenn die Menschikowa ihn nicht
mit ihren Armen gestützt, hätte man den Vorhang herun-
terlassen müssen", schreibt Peter Iljitsch an seine Brüder.
Kaschkin erzählt, dass gleich im Anfang der Chor mit
der Volksmelodie sehr gefallen habe, dass das Lied „Nachti-
gall" sehr schnell populär geworden sei, dass die auf dem
— T84 —
schottischen Pentachord (der auch in unseren Volksliedern
zu finden ist), ohne halbe Töne aufgebaute Tenorarie
„Glühe, oh, Morgenrot", so wie das Duett zwischen Olona
und Maria „Still gehet der Mond" und das letzte Quartett
„Dunkle Nacht" — sich eines grossen Erfolges erfreut ha-
ben sollen. Laroche hat sich über die Aufführung der Oper
wie folgt ausgelassen. „Die Benefiziantin verfügt, bekannt-
lich über eine sehr schöne Stimme, besitzt aber — ebenfalls
bekanntlich — keinen dramatischen Sinn; auch zeichnet sie
sich nicht durch ihre musikalische Bildung aus: das Eine
sowie das Andere schadete ihr sehr in der Rolle der Ma-
ria Wlassjewna. Dasselbe muss ich, leider, auch von Herrn
Demidoff sagen der den Dubrowin machte: seine Stimme
ist zwar, noch etwas schöner, die scenische Unbeholfen-
heit springt dafür, aber, noch mehr in die Augen. Den
absoluten Gegensatz zu diesen Beiden bildet Herr Rapport
(Bastrjukow), dessen schönes Talent sich rapide entwickelt
und ihm eine schöne Zukunft verspricht. Die Erscheinung
Fr. Iwanowas mit ihrer frischen sympatischen Stimme in
einer bedeutenderen Rolle, als diejenigen welche sie bis
dato zu singen gehabt hatte, wird die Freunde unserer
Opernbühne jedenfalls sehr gefreut haben. Wenn man be-
denkt, dass Fr. Iwanowa eine, für ihre Stimme zu tief lie-
gende Partie zu singen hatte, so wird man ihrem Vortrag
volle Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen. Die neben-
sächlichen Rollen sind grösstenteils gewissenhaft und be-
friedigend einstudiert Avorden. Sehr t3'pisch war Fr. Rosa-
nowa als alte Muhme. Auch Herrn Merten, der anstelle
des Herrn Schrameck die Aufführung der Oper von Tschai-
kowsk}^ leitete, wird man freudig begrüssen müssen. Einige
Unsicherheit war in seinem Dirigieren wohl zu merken,
aber im Allgemeinen hat er sehr lebendig und energisch, —
nicht wie ein teilnahmsloser Metronom — seines Amtes ge-
waltet".
Die Freunde Peter Iljitsch's triumphierten. Am Tage
nach der Aufführung erhielt er mehrere ihn beglückwün-
schende Briefe. Der Fürst Odoewsky war mit der Oper
seines jungen Freundes sehr zufrieden und sandte dem
Autor als Zeichen seiner Anerkennung ein Paar „Becken"
als Geschenk nebst einem sehr netten Brief.
Aber die Ovationen und der Lärm bei der ersten Vor-
stellung, die Begeisterung der Freunde des Komponisten,
sowie die Anerkennung einiger Kenner haben dennoch
keinen nachhaltigen Erfolg zu schaffen vermocht. Die Oper
- 1 85 -
ist nur fünf Mal gegeben worden und verschwand dann
für immer aus dem Repertoir des Grossen Theaters.
Das erste rügende und sogar strenge Urteil über seine
Oper hat Peter Iljitsch von einer Seite zu hören bekom-
men, von welcher er es am wenigsten erwarten konnte:
von Laroche. Nicht sowohl die Verneinung des Werkes
selbst seitens Laroche, sondern der verächtliche Ton, den
Dieser in Bezug auf das ganze musikalische Talent Peter
Iljitsch's angeschlagen hatte, kränkte den Komponisten so
tief, dass er jede Beziehungen zu seinem Freunde abbrach.
Erst nach zwei Jahren, im Frühling des Jahres 187 1, ver-
söhnten sich die Beiden und blieben bis an den Tod
Freunde.
Bald nach der ersten Vorstellung des „Woiwoden"
gelangte auch Peter Iljitsch's symphonische Fantasie „Fa-
tum" zu ihrer ersten Aufführung, und zwar im achten
Symphonie — Abend der Musikalischen Gesellschaft.
Als Programm für dieses Werk, welches Balakireff ge-
widmet ist hat Peter Iliitsch die Worte Batjuschkoff's ^)
gewählt:
„Weisst Du, was der greise Melchisedeck gesprochen
hat, als, er vom Leben Abschied nehmend, im Sterben
lag? — Als Sklave wird der Mensch geboren, als Sklave
sinkt er auch in's Grab. Der Tod der wird ihm auch nicht
sagen, wozu, warum er dieses lange Thränenthal durch-
wandert und weshalb er gelitten, geduldet, geweinet hat —
und nun verschwinden muss"....
Die Wahl dieses Motto's hat eine kleine Vorgeschichte,
in welche ein gewisser S. A. Ratschinsky werwickelt ist.
Dieser Herr Ratschinsky — Sergei Alexandrowitsch, Pro-
fessor der Botanik an der Moskauer Universität, der spä-
ter durch die Gründung einer Mustervolksschule im Gou-
vernement Twer so berühmt gewordene Pädagoge, ge-
hörte zu den allerersten und allerbegeistertsten Anhän-
gern Tschaikowsky's. Dieser feingebildete, elegante und
einflussreiche, sehr religiöse Mann glich nicht im Min-
desten dem Typus eines damaligen „Gelehrten" dazu noch
„Naturforschers" und war eine im höchsten Grade origi-
nelle und urwüchsige Persönlichkeit, welche Peter Iljitsch
sehr interessierte und welche er sehr bald liebgewann.
Ratschinsky war ein leidenschaftlicher Musik-und Litera-
turfreund, äusserte aber auch in dieser Hinsicht, wie in
1) BatjusclikofF ist ein beliannter russischer Dichter.
— i86 —
Allem Anderen, die eigentümlichste Geschmacksrichtung,
welche mit den allgemein üblichen Ansichten in dem schärf-
sten Gegensatz stand. So hatte er, zum Beispiel, Ostrow-
sky, welcher damals auf dem Höhepunkt seines Ruhmes
stand, garnicht gern, während er den kaum erst für talent-
voll anerkannten Tschaikowsky für einen „grossen" Kom-
ponisten hielt. Eines Tages soll er während eines Streites
über Ostrowsky zur grössten Empörung aller Anwesenden
ausgerufen haben: „Ach, was gilt Euer Ostrowsky! In dem
kleinen Finger Tschaikowsky's steckt mehr Talent, als in
Dem"! Als Anno 1871 Peter Iljitsch ihm sein erstes Quar-
tett dediciert hatte, sagte er voller Begeisterung: „C'est
un brevet d'immortalite que j'ai re^u".
Peter Iljitsch war sehr stolz und sehr froh, einen sol-
chen Verehrer zu besitzen, schätzte ihn aber ausserdem
für seine enorme Belesenheit, für die Originalität seiner
mutig ausgesprochenen Ansichten und glaubte an seine
Autorität.
Ursprünglich hatte „Fatum" kein bestimmtes Programm.
„Als aber die Konzertzettel gedruckt werden sollten", —
erzählt Ratschinsky, — „meinte Rubinstein, der um jede
Kleinigkeit immer sehr besorgt gewesen ist, dass der blosse
Titel „ Fatum " ungenügend wäre und dass es garnichts
schaden könnte, ihm einige den Inhalt des Werkes erläu-
ternde Verse hinzuzufügen. Der Zufall wollte es, dass ich
(der ich noch nicht eine Note der neuen Komposition ge-
hört) gerade damals im Vorbeigehen Rubinstein besuchte
und mir im Moment das Gedicht Batjuschkoff's einfiel;
Rubinstein bat mich sofort, es aufzuschreiben, und hat es
mit Einwilligung Tschaikowsky's in's Programm herein-
genommen".
Diese Begebenheit teilte Ratschinsky später schriftlich
an Laroche mit, welcher das Werk Peter Iljitsch's nach
der ersten Moskauer Aufführung einer überaus scharfen
Beurteilung unterworfen und in der sehr langen Kritik,
dem Autor unter Anderem den Vorwurf gefiiacht, dass seine
Musik dem gewählten Programm nicht im Geringsten ent-
spreche, dass „das Stück viel eher mit einer Schlacht,
einer Empcirung oder einem elementaren Naturereigniss
AehnHchkeit habe, als mit dem düsteren Monolog eines
enttäuschten Greises".
Ratschinsky wollte Laroche's Urteil mildern, indem er
ihm die Berichtigung zukommen liess, dass die Verse Ba-
tjuschkoff's nicht ein Programm bedeuten sollen, sondern
— rSy —
nur als Epigraph auf die Partitur gesetzt sind, hat aber
durch seine Zusendung eine zweite noch ärgere Rezen-
sion seitens Laroche hervorgerufen.
Beim Pubhkum hatte „Fatum", jedoch, nach den Wor-
ten des Komponisten selbst einen „bedeutenden" Erfolg
gehabt und Peter Iljitsch hielt es für „das beste Werk,
was er je geschrieben" und fügte hinzu, das auch „An-
dere derselben Meinung seien", woraus zu ersehen ist, dass
ausser Laroche, diese Komposition den Musikern und den
Freunden Peter Iljitsch's gefallen hat.
Fast gleichzeitig mit der Moskauer Aufführung ist „Fa-
tum" auch in Petersburg gespielt worden, und zwar im
9. Symphoniekonzert der Russischen Musikalischen Ge-
sellschaft unter Leitung Balakireff's. Hier hatte die Ouver-
türe aber einen vollkommenen Misserfolg, das Publikum
applaudierte wenig und auch die Musiker sind unzufrieden
geblieben.
Nichtsdestoweniger hat C. Cui in seiner Besprechung
des ,,Fatum'"'' den jungen Autor nicht so arg mitgenommen,
als bei einer früheren Gelegenheit den Schüler des Kon-
servatoriums für die von ihm komponierte Kantate. In der
neuen symphonischen Fantasie findet er, allerdings, auch
noch vieles Schlechte, zum Beispiel gleich im Anfang das
Epigraph („diese h3/pochondrische Philosophie des grei-
sen Melchisedeck, in komisch wirkende Verse Batjusch-
koff's gekleidet") ferner das einleitende Allegro, „wel-
ches nicht von Tragik durchdrungen wäre, wie es eigent-
lich sollte, sondern nur eine lächerliche Karrikatur" sei, u.
A., charakterisiert die Musik Peter Iljitsch's aber im Allge-
meinen als eine „zwar nicht von hohem Flug, aber immer-
hin recht nette, freundliche, hübsche — stellenweise nur et-
was grob instrumentierte", meint ferner, dass die Harmo-
nieen „gewagt und neu seien, w^enn auch nicht immer
schön".
Balakireff, dem das Stück gewidmet ist, hat keinen Ge-
fallen am „Fatum" gefunden, und mit ihm ohne Zweifel
alle anderen Mitglieder der „Allmächtigen Schaar".
„Ihr „Fatum" ist aufgeführt werden", — schreibt Mili
Alexejewitsch Balakireff an Peter Iljitsch, — „und zwar nicht
schlecht, wie ich glaube annehmen zu dürfen, wenigstens
sind Alle mit der Ausführung zufrieden geblieben. Beifall
geklatscht wurde nur wenig, was ich dem scheuslichen
Höllenspektakel des Schlusses zuschreibe. Das Stück selbst
gefällt mir nicht, es ist nicht durchdacht genug und wie
in Eile geschrieben. An vielen Stellen ist sozusagen die
Naht, der heisse Faden zu sehen. Laroche schreibt das
dem Umstand zu, dass Sie zu wenig die Klassiker studie-
ren. Meiner Ansicht nach ist das aus anderem Grunde
gekommen: Sie sind mit der neuen Musik noch zu wenig
vertraut. Bei den Klassikern werden Sie die freie Form
nicht lernen. Sie werden da Nichts finden, was Ihnen neu
und unbekannt wäre. Alles, was Sie dort finden können,
ist Ihnen schon damals bekannt gewesen, als Sie auf der
Schulbank sassen und ehrfurchtsvoll den weisen Trakta-
ten Zaremba's über den Zusammenhang der „Rondofor-
men" mit dem ersten Sündenfall des Menschen zuhörten.
In demselben Konzert brachten wir auch „Les Prelu-
des" von Liszt. Betrachten Sie doch diese wundervolle
Form, verfolgen Sie mal, wie natürlich sich da Eines auf
dem Anderen aufbaut! Es ist kein buntes Durcheinander!
Oder sehen Sie sich die „Nacht in Madrid" von Glinka
an, wie meisterhaft da die einzelnen Teile der Ouvertüre
verbunden sind: dieser innere, organische Zusammenhang
ist es eben, der Ihrem „Fatum" fehlt. Ich habe Glinka als
Beispiel angeführt, weil Sie ihn, wie mir scheint, viel stu-
dieren, und aus dem „Fatum" habe ich ersehen, dass Sie
sich noch immer unter dem Eindruck eines Chores von
Glinka befinden.
Der Vers, den Sie als Epigraph gewählt, ist unter aller
Kritik.. Es ist eine scheusliche par-force-Reimerei. Wenn
Sie wirklich so am B3Tonismus hängen, \varum suchen
Sie nicht bei Lermontoff ein passenderes Epigraph? In der
Absicht den Gewaltvers ein wenig zu glätten, habe ich im
Programm die beiden ersten Zeilen weggelassen (Melchi-
sedeck kam mir gar zu lächerlich vor), habe aber, wie es
sich erwies, eine Dummheit begangen. Unsere ganze Sipp-
schaft ist wütend über mich hergestürzt und wollte mir
beweisen, dass die Einleitung im „Fatum" gerade der Don-
nerworte verkündende Melchisedeck selber sei. Sie kön-
nen darin Recht haben... Schreibe Ihnen ganz offen und
bin versichert, dass Sie Ihre Absicht, „Fatum" mir zu wid-
men nicht aufgeben werden. Diese Widmung ist mir sehr
teuer, als Zeichen Ihrer Sympatie für mich, und ich fühle
meinerseits eine grosse Neigung zu Ihnen".
Peter Iljitsch hat sich durch das Urteil Balakireff's
nicht beleidigt gefühlt, trotzdem es bitter genug war, son-
dern ist dank dem freundschaftlichen Ton des Briefes und
dem aus demselben herausklingenden Glauben Balakireff's
— 109 —
an sein Talent der Freund des Hauptes der „Allmächtigen
Schaar" geblieben, was schon aus dem Umstand zu erse-
hen ist, dass er drei Monate später als Anwalt Mili Ale-
xejewitsch's vor der Oeffentlichkeit erschien. Nicht nur
das: er hat sich sogar einige Zeit darauf der Ansicht Ba-
lakireff's angeschlossen und — die Partitur des „Fatum"
vernichtet.
Schon ganz im Anfang der Saison begann Peter Iljitsch
nach einem passenden Stoff für eine neue Oper zu suchen.
Das Einzige und Hauptsächlichste, was er vom zu wählen-
den Stoff verlangte, war, dass die Handlung nicht in Russ-
land vor sich gehen sollte. Die Unterhandlungen mit
Ostrowsky in Betreff des Sujets aus der Zeit Alexanders
von Macedonien, welche Peter Iljitsch im Brief vom 25.
September erwähnt hatte, sind zu keinem Abschluss ge-
kommen . Mit anderen Dichtern in Beziehungen treten
wollte der Komponist nicht: seine Sehnsucht, möglichst
schnell an die Arbeit zu gehen, war so gross, dass er
fürchtete, die Sache könnte sich in die Länge ziehen, denn
er wusste bereits aus Erfahrung, wie sehr die Librettisten
Einen anfzuhalten pflegen. Ohne sich weiter nach einem
Dichter umzusehen, begann er, fertige Texte durchzulesen.
Seine Freude war gross, als er unter den Werken des
Grafen Sollogub einen Text fand, der ganz seinen Anfor-
derungen entsprach und dazu noch einer seiner Lieblings-
dichtungen von Shukowsk}^ — „Undine" — entnommen war.
Ohne lange zu überlegen und die Eigenschaften des
gefundenen Libretto's näher zu prüfen, machte er sich
mitten in der aufregenden Zeit der Proben zum „Woiwo-
den"— also im Januar — mit Feuereifer an die Komposition
der neuen Oper und hat schon Anfang Februar den gröss-
ten Teil des ersten Aufzuges fertiggestellt, die „anderen
beiden" komponierte er im April und begann noch in dem-
selben Monat mit der Instrumentation. Mit dem ersten Auf-
zug hoffte er im Mai fertig zu werden und mit den an-
dern beiden im Laufe des Sommers, so dass er zum No-
vember die ganze Partitur an die Direktion der Peters-
burger Kaiserlichen Theater schicken zu können glaubte,
wo Gedeonow sie — laut seinem schriftlichen Versprechen —
zur Aufführung bringen würde.
Diese fieberhaft eilige Arbeit, die vielen Aufregungen
der Wintersaison und gleichzeitig die Sorge um den älte-
ren der Zwillinge, welcher sein Abiturium in der Juristen-
schule machte, die Bemühungen und verschiedenen Schrei-
— I 90 —
bereien wegen einer für ihn möglichst in Moskau selbst
zu findenen Stellung — das Alles reizte Peter Iljitsch's Ner-
ven und schädigte seine Gesundheit im höchsten Grade,
sodass er „seine Kräfte nach und nach bis zur völligen
Erschöpfung verlor" und der Arzt ihm Seebäder oder eine
Mineralwasserkur, hauptsächlich aber absolute Ruhe ver-
ordnete.
Den Sommer dieses Jahres hat Peter Iljitsch in Ka-
menka verbracht, wo sich diesmal die ganze Familie Tschai-
kowsky, ausgenommen Nikolai, vereinigte, hn Juni wurde
dort die Vermählung H\^polit's mit der Jungfrau Sophie
Nikonowa gefeiert, und an diesem Tage ein glänzendes
Feuerwerk eigener Zubereitung abgebrannt. In seinen Musse-
stunden half Peter Iljitsch gern bei den Vorbereitungen zu
diesem Fest, mischte das Pulver mit den notwendigen an-
deren Ingredienzien, füllte die Hülsen, klebte die Laternen
für die Illumination zusammen u. A. Ueberhaupt leuchtete
in ihm trotz der 29 Jahre eine kindlich fröhliche und naiv
lustige Stimmung. In der Gesellschaft seiner 19-jährigen
Brüder und anderer jungen Leute konnte man ihn manch-
mal für den Jüngsten halten. Wie als Kind in Alapajew
setzte er fort, allemöglichen Spiele und Belustigungen zu
erfinden. So hat er z. B. den eigenartigen Sport ersonnen,
über Graben zu springen, was der ganzen Gesellschaft
Kamenkas so gefiel, dass Alle — selbst der vierzigjährige
Besitzer Nikolai Wassilje witsch — eifrigst daran teilnahmen.
Desgleichen hat er bei Spaziergängen im Wald das Zu-
sammentragen und Anzünden von Scheiterhaufen einge-
führt, und ein Jeder gab sich seither die erdenklichste
Mühe, den grössten und effektvollsten Scheiterhaufen zu
bewerkstelligen. Peter Iljitsch's Freude über einen gelun-
genen Sprung, oder über einen grossartig brennenden Holz-
scheit war so gross, dass sein Antlitz strahlte, die Augen
leuchteten und ihn das zum Mindesten ebenso zu interes-
sieren schien, wie der Erfolg eines seiner musikalischen
Erzeugnisse.
Ende Juli war die Partitur der „Undine^'' fertig, und
Peter Iljitsch reiste früher als sonst— schon Anfang August—
nach Moskau.
Die chronologische Reihenfolge der Arbeiten Peter Il-
jitsch's während der Saison 1868 — 1869 ist folgende.
I. Op. 77. S34nphonische Dichtung „Fatum^S Begonnen
zwischen IG. — 25. September 1868. Der Entwurf war vor
— 191 -
dem 21. Oktober fertig. Instrumentiert im Laufe des No-
vember und Dezember. Zum ersten Mal aufgeführt in Mos-
kau im achten Symphoniekonzert der Russischen Musika-
lischen Gesellschaft am 25. Februar 1869 unter Leitung
N. Rubinstein's. Gewidmet an Mili Alexejewitsch Balaki-
reff. In den siebziger Jahren hat Peter Iljitsch die Parti-
tur vernichtet, die Orchesterstimmen sind jedoch erhalten
geblieben. Nach Diesen ist die Partitur 1896 wiederherge-
stellt und von Belajeff in Leipzig herausgegeben worden.
2. Op. 4. „Valse-Caprice'"'' für Klavier. Komponiert im
Oktober 1868. Anton Door gewidmet. Verlag P. Jurgenson.
3. Op. 5. „Romanze" für Klavier. Komponiert im No-
vember 1868. Desire Artot gewidmet. Verlag P. Jurgenson.
4) Vierhändiges Klavierarrangement von 25 russischen
Volksliedern, welches wahrscheinlich im Laufe der Herbst-
monate 1868 gemacht worden ist. Ende November war es
bereits im Druck.
5) Recitative und Chöre zur Oper „Der schwarze Do-
mino" von Auber. Wann Peter Iljitsch sie begonnen und
wann er sie beendet hatte ist unbestimmt; am 21. Okto-
ber hatte er sie gerade in Arbeit. Diese Handschrift ist
spurlos verschwunden. Sie ist weder in der Moskauer noch
in der Petersburger Theaterbibliothek zu finden.
6) Die Oper „Undine". Begonnen im Januar 1869. Im «
April waren die Entwürfe schon fertig und Peter Iljitsch
begann mit der Instrumentation, welche er im Juli been-
dete. Der Text dieser Oper (drei Akte) stammt vom Gra-
fen Sollogub.
Die Oper beginnt mit dem Chor der Fischer, welche
in der Hütte des alten Goldmann und dessen Frau, Berta,
mit Netzen und anderem Fischerwerkzeug hantieren und
dabei singen. Die alten Eheleute sind um ihr Pflegekind
Undine besorgt, welche weggegangen und noch nicht wie-
der heimgekehrt ist. Der Chor geht ab, während die Alten
ihr Gespräch fortsetzen. Da klopft es an die Thür. Doch
ist es nicht Undine, sondern ein Ritter — Gulbrand — wel-
cher um ein Nachtlager bittet. Er erzählt, dass er sich in
einem furchtbaren Walde verirrt und dass ihn „ein Engel
von wunderbarer Schönheit" gerettet habe. Dieser Engel
ist — Undine. Der Ritter liebt sie und singt in einem Arioso,
dass seine Seele „ewig, ewig ihr gehören werde". Die Un-
terhaltung zwischen dem Alten, seiner Frau und dem Rit-
ter wird durch das Erscheinen Undine's unterbrochen. Der
Ritter macht ihr ohne Weiteres eine Liebeserklärung. Undi-
— 1 92 —
ne kokketiert mit ilim und verschwindet „in der Seiten-
koulisse"! Goldmann offenbart, wie er zu Undine gekom-
men ist und geht dann mit seiner Frau ab. Der Ritter
bleibt allein. In seinem Monolog thut er kund, dass „die
Schönheit Bertalden's ihn nicht mehr entzücke", und dass
sein „Herz sich nach Undine sehne". Er schlummert ein,
doch plötzlich erscheint Undine. Grosses Liebesduett. Sie
beschhessen, sich zu heiraten und die Hütte zu verlassen,
rufen den Alten und verkünden ihm ihren Entschluss. Da
beginnt ein Sturm. Der Ritter und Undine „umarmen in
aller Eile die Alten" und entlaufen, während dessen merk-
würdigerweise „die Hälfte der Hütte" einstürzt. „In den
Trümmern sieht man den Ritter, welcher, Undine auf den
Schultern tragend, gegen einen Wasserfall ankämpft".
Der zweite Aufzug spielt auf dem „Platz vor dem Hause
des Herzogs " . Der Herzog , Vater der Bertalde , dür-
stet nach Rache, „schneller Rache, sicherer Rache und
schrecklicher Rache" für die Ehe Gulbrand's mit Undine.
Er spricht das seinem Busenfreund Alwaldo aus und geht
durch die „Seitenthür" ab (sie!), desgleichen die Gäste,
welche zu Bertaldens Geburtstagsfeier gekommen sind. Es
erscheint Undine, „prachtvoll gekleidet", mit einem Fischer
und redet auf ihn ein, noch länger ihr Gast zu bleiben,
wofür sie ihm „ein würdiges Geschenk" verspricht. Sie
gehen wieder ab und Bertalde kommt „traurig und nach-
denklich". In ihrer Arie besingt sie ihre Liebe zu Gul-
brand und ist auf Undine eifersüchtig. Da kommt Gulbrand.
Er liebt Undine nicht mehr und ist bereits wieder in Ber-
talde verliebt. Liebesduett. Im Moment, als er vor ihr auf
die Kniee sinkt, kommt Undine. Im Terzett setzt Gulbrand
fort, Bertalde gegenüber seine Liebe zu beteuern, während
Undine die Worte „möchte glauben, möchte lieben" singt.
Es beginnt ein festlicher Aufzug der Gäste, der „Leibwache
und der Handwerkerzechen". Alle verherrlichen Bertalde.
Dann wird getanzt und geschmaust. Undine singt eine
Ballade, aus welcher hervorgeht, dass Bertalde die Toch-
ter Goldmanns und Bertas ist. Grosse Verwirrung. Der
Ritter verjagt Undine in die „Gottverfluchte Gegend, die
ihr Heim". Voller Verzweiflung stürzt sich Undine in die
Donau. Der Chor singt „des Schicksals Vorschrift hat sich
erfüllt, Undine fand den Tod in den Wellen". Goldmann
führt seine Frau ab, indem er „mit Verachtung" auf Ber-
talde zeigt. Der Ritter will Undine retten, doch hält man
ihn zurück. Der Herzog „steht fassungslos da".
— IQQ —
93
Die • Dekoration des dritten Aktes „stellt einen Weg
dar. In der Ferne links sieht man einen Tempel. Im Hin-
tergrund— Berge und eine Landschaft". Der Ritter ist wie-
der in Undine verliebt und beweint sie. Arie. „Aus der
rechten Thür (sie!) kommt ein Hochzeitszug und Bertalde,
von Frauen umgeben". Sie ruft Gulbrand zum Tempel,
wo schon Alles für die Hochzeit fertig ist. Gulbrand folgt
ihr mit Widerstreben, bis der Herzog erscheint, welcher
„nicht mehr von Rache entbrannt ist", und erzählt, dass
ihn nachts der Geist Undinens verfolgt und ihn anfleht,
die Heirat Guibrands mit Bertalde zu vereiteln. Ersterer
schwankt, die Braut aber besteht darauf, und der Zug be-
wegt sich zum Tempel „mit langsam gesenktem Haupt",
doch wird er zum zweiten Mal aufgehalten, und zwar durch
Goldmann, welcher dasselbe erzählt, wie der Herzog. Er,
als Vater, verbietet Bertalde die^ Heirat. Grosses Ensemble.
Bertalde besteht aber auch diesmal auf ihrem Willen und
führt Gulbrand zum Altar. Alle, mit Ausnahme Goldmanns
und des Herzogs, setzen im „Trauermarsch" ihren Gang
fort. Die beiden Greise erfahren gleich darauf von Alwaldo,
dass unterwegs Undine einem Brunnen entstiegen sei und
den bräutlichen Zug aufgelöst habe. .„Es beginnt eine Ver-
wirrung und Lauferei auf der Bühne". „Ausser sich kommt
Gulbrand hereingestürzt" und hinter ihm her Undine. Lie-
besduett, nach welchem Gulbrand tot am „Rosenstrauch"
niedersinkt. Undine weint über ihm und — „verschwindet
nach ihrer Arie im Gebüsch; anstatt ihrer plätschert ein
Springbrunnen. Auf der Bühne ist es Nacht und Mon-
denschein''''. Schlusschor.
Das ist das Libretto, für welches sich Peter Iljitsch so
begeistert hat. Es enthält unzweifelhaft mehr interessanter
und für eine musikalische Illustration dankbarer Scenen,
als der „Woiwode", hat auch mehr Handlung, ist aber
dafür so ungeschickt gemacht, leidet so sehr an dem Man-
gel an Logik in Bezug auf die Handlungsweise der vor-
kommenden Personen, dass es oft geradezu wie eine Pa-
rodie klingt und in künstlerischer Hinsicht ungleich tiefer
steht, als das zwar trockene, uninteressante, aber wenig-
stens in guten Versen geschriebene Libretto des „Woiwo-
den". Es ist mir geradezu unerfindhch, wie Peter Iljitsch
jenen Text ernst nehmen und eine Musik dazu schreiben
konnte, w^elche -nach den erhaltenen Bruchstücken zu
urteilen — durchaus lebensfähig gewesen sein muss.
Die Partitur der „Undine" hat der Autor selbst im Jahre
Tsehaikowsky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. ^•'
— 194 —
1873 verbrannt. Das Einzige, was von dieser Musik auf
uns überkommen, ist die Arie der Undine „Der Quell ist
mein Bruder", welche später in „Snjegurotschka" (Schnee-
wittchen) Verwendung gefunden hat, und der Hochzeits-
marsch des letzten Aktes, welcher vom Komponisten in
das Andantino marciale der zweiten S3'mphonie (C-moll)
umgearbeitet worden ist. Ausserdem erwähnt Kaschkin
noch ein Adagio aus dem Ballet „Der Schwanensee", wel-
ches ursprünglich das Liebesduett zwischen Gulbrand und
Undine gewesen sein soll.
Einige Teile dieser Oper sind im Konzert des Theater-
Kapellmeisters Merten am 16. März 1870 zur Aufführung
gekommen. Laroche schreibt darüber, „hn Konzert selbst
konnte ich, leider, nicht zugegen sein, habe aber die Frag-
mente der „Undine" in den Proben kennen gelernt und
in ihnen nicht nur jene sorgfältige und elegante Instru-
mentation wiedergefunden, durch welche sich stets die
Werke unseres begabten Mitbürgers auszeichnen, sondern
stellenweise auch eine sehr gelungene Charakteristik des
phantastischen Wasserreiches; andere Stellen wieder, ka-
men mir etwas klobig und gesucht vor, z. B. das grosse
Finale, hn Allgemeinen, aber, verdient die neue Partitur
Tschaikowsk^-'s volle Beachtung".
VI.
1869 — 1870.
An A. Tschaikowsky:
„3. August 1869.
...Die Reise von Kiew bis Moskau war sehr langweilig,
ich empfand grosse Unbequemlichkeiten — trotzdem ich in
der I. Klasse sass — und schhef sehr schlecht. Die Ankunft
in Moskau bereitete mir grosse Freude, die Gewohnheit
hat es mit sich gebracht, dass ich mich in Moskau ganz
heimisch fühle. Rubinstein ist noch nicht da. Er ist in Li-
pezk. Dafür lebt hier aber jetzt Balakireff, und ich muss
gestehen, dass mir seine Anwesenheit etwas unbehaglich
ist: er nötigt mich, den ganzen Tag mit ihm zu sein, das
ist aber sehr langweilig. Er ist zwar ein sehr guter Mensch
— 195 —
und sehr für mich eingenommen, aber — ich weiss nicht
warum — ich kann mich nicht recht mit ihm befreunden.
Es gefällt mir in ihm nicht sonderlich die Ausschliesslich-
keit seiner musikalischen Ansichten und sein schroffer Ton.
Vorgestern bin ich mit ihm bei Pleschtschejeff gewesen
und wir blieben dort über Nacht; gestern Abend fuhr ich
von da direkt zu W. Schilowsky; habe mich unterwegs
stark erkältet und sitze bei ihm als Kranker, obgleich es
mir augenblicklich, gegen Abend, schon etwas besser geht.
In Petersburg bin ich noch nicht gewesen und werde
auch schwerHch hinreisen.
Alle behaupten, dass es keinen Zweck habe, unnütz
Geld auszugeben, da ich die Oper ja hinschicken kann;
Balakireff will sie gern mitnehmen und der Direktion
zustellen.
Im Allgemeinen langweile ich mich vorläufig sehr".
An A. Tschaikowsk}^:
„II. August. 1869.
....Wir haben eine neue Wohnung gemietet; ich habe
mein Zimmer oben, auch für Dich ist Platz. Ich habe all'
meine List aufgeboten, um allein zu wohnen, doch ist es
mir nicht gelungen. Uebrigens werde ich jetzt zahlen und
werde mir einen besonderen Diener halten.... Die Oper
hat Begitscheff nach Petersburg mitgenommen. Ob man
sie geben wird, oder nicht, sie ist für mich abgethan und
ich will eine neue Arbeit beginnen. Balakireff ist noch
hier. Wir sind oft zusammen und ich komme immer zu
der Ueberzeugung, dass — ungeachtet seiner Vorzüge — seine
Gesellschaft wie ein schwerer Stein auf mir liegen würde,
sollte er in derselben Stadt mit mir leben. Besonders unan-
genehm ist mir die Beschränktheit seiner Ansichten und
der Trotz, mit welchem er sie vertritt. Uebrigens hat seine
Anwesenheit mir in mancher Beziehung genützt".
An A. Tschaikowsky:
„18. August.
Neues habe ich Dir Nichts zu berichten. Balakireff reist
Heute ab. Ob er mir auch lästig gewesen, die Gerechtig-
keit erheischt aber, dass ich ihn als einen ehrlichen und
guten Menschen ansehe, welcher dazu als Künstler uner-
messlich höher steht als die Allgemeinheit. Wir haben
soeben rührend Abschied von einander genommen....
Neulich veranstaltete ich einen Abend bei mir. Es w^a-
— Igo-
ren anwesend: Balakireff, Borodin, Kaschkin, Klimenko,
Arnold und Pleschtschejeff.
Ich traf Laroche in der Ermitage und habe ihn sogar
gegrüsst, doch bin ich weit davon entfernt, mich mit ihm
zu versöhnen''''.
An A. Tschaikowsky:
„IQ. September.
Stelle Dir vor: ich bin ganz unerwarteterweise in Pe-
tersburg gewesen. Schilowsk}^ hatte mich nämlich, so him-
melhoch gebeten, ihn zu begleiten, dass ich es nicht ab-
schlagen konnte. Ich wünschte ganz inkognito zu sein, da
ich nur zwei Tage bleiben wollte, das Schicksal hat es
aber anders gefügt. Man hat mich auf dem Newsk}^ \) ge-
sehen und bald wussten es Alle, dass ich in Petersburg
sei. Trotzdem habe ich Niemanden besucht, ausser Bala-
kireff, Apuchtin und Adamoff.
Im Konservatorium hat der Unterricht begonnen, und
damit haben auch meine Leiden wieder ihren Anfang ge-
nommen. Ich wohne bei Rubinstein ungleich gemütlicher,
als früher, so dass ich immer mit einem Wohlgefühl in
mein Zimmer trete.
An A. Tschaikowsky:
„25. September.
Habe in der letzten Zeit fleissig gearbeitet. Beeilte
mich die 25 vierhändigen russischen Lieder zu Ende zu
bringen, in der Hoffnung von Jurgenson Geld zu bekom-
men. Es hat sich aber erwiesen, dass ich schon im vorigen
Jahr mehr denn 50 Rubel Vorschuss von ihm erhalten hatte "'S
Bald nach diesem Brief hat Peter Iljitsch die Kompo-
sition der Ouvertüre „Romeo und Julie''', für welche er
noch im August von ßalakireff angeregt worden war, in
Angriff genommen. Die Mitwirkung Balakireffs in der Schöp-
fung dieses Werkes war überhaupt so bedeutend, dass
wir sie des Näheren besprechen müssen.
Mili Alexejewitsch hat im Verlauf der Arbeit Peter II-
jitsch's das lebendigste Interesse für dieselbe geäussert,
den Komponisten jeden Augenblick mit den verschieden-
sten Ratschlägen versehen und ihn unablässig angespornt.
Am 4. Oktober schrieb er ihm: y,Es scheint mir, dass Ihre
Thatenlosigkeit davon herrührt, dass Sie sich zu wenig
1) Xewskj'-Perspcktive ist die Haujitstrasse l'ctersburgs.
— i97 -
konzentrieren, ungeachtet Ihrer „gemüthchen Bude^S Ich
weiss nicht, wie Sie zu komponieren pflegen; ich folgen-
dermassen, — werde Ihnen gleich ein für Sie passendes
Beispiel geben und Ihnen erzählen, wie ich meinen ^Lear'•^
komponierte. Nachdem ich das Drama durchgelesen, ent-
flammte in mir der Wunsch, eine Ouvertüre zu schreiben
(wozu mich übrigens Stassow angeregt hat) und — da ich
noch kein Material hatte, entflammte ich mich nur für das
Project, — und plante. Eine — Maestoso-Introduktion und
dann Etwas Mystisches (die Prophezeihung Kent's). Die
Introduktion beruhigt sich und es beginnt ein stürmisches
Allegro. Das ist Lear selbst, der entthronte, aber noch
starke Leu. Als Episoden sollten die Gestalten der Regan
und der Goneril erscheinen, und dann — das zweite Thema —
Cordelia, die stille und zärtliche. Weiter, der Mittelsatz
(Sturm, Lear und der Narr in der Wüste) und dann die
Wiederholung des Allegro: Regan und Goneril überwäl-
tigen den Vater endgiltig und die Ouvertüre klingt in
einem morendo aus (Lear über der Leiche Cordelia's),
dann die Wiederholung der Prophezeihung Kent's und
der langsame, feierliche Tod. Sie müssen wissen, dass ich
dabei noch garkeine bestimmten Ideen hatte. Diese kamen
erst später und begannen, sich der vorgezeichneten Form
anzupassen. Ich glaube, dass Das Alles auch bei Ihnen
eintreten wnrd, wenn Sie sich im Voraus für den Plan
begeistern. Dann bewaffnen Sie sich mit Gummischuhen
und einem Spazierstock und unternehmen Sie einen Spa-
ziergang durch die Boulevards, beginnen Sie mit dem Ni-
kitsk}', lassen Sie sich von dem Plan ganz durchdringen,
und — ich bin überzeugt dass Sie schon auf dem Sretensky
Boulevard irgend ein Thema oder eine Episode gefunden
haben werden. In diesem Augenblick da ich an Sie und
an die Ouvertüre denke, werde ich selbst unwillkürlich
angeregt und ich male mir aus, dass die Ouvertüre gleich
mit einem wütenden „Allegro mit Säbelhieben" beginnen
müsste, etwa so:
$ЗЩЩ^
Ш^Р^^Щ
— IqS —
In dieser Art, ungefähr, würde ich den Anfang machen.
Wenn ich die Ouvertüre komponieren sollte, so würde ich
mich für diesen Kern begeistern und würde ihn ausbrüten,
oder besser gesagt, in meinem Gehirn solange herumtra-
gen, bis sich Etwas Lebendiges und Mögliches in dieser
Art daraus entwickelt hätte.
Wenn gegenwärtige Zeilen eine günstige Einwirkung
auf Sie ausüben könnten, wäre ich sehr glücklich. Ich habe
einiges Recht, das zu beanspruchen, denn Ihre Briefe wir-
ken auf mich stets sehr gut. Infolge Ihres letzten Briefes,
zum Beispiel, überkam mich plötzlich eine sehr lustige
Stimmung, welche mich auf den Newsky trieb; ich ging
nicht ich tänzelte, und habe sogar Einiges für meine „Ta-
mar" komponiert".
Als Balakireff bald darauf erfuhr, dass Peter Iljitsch
an die Arbeit gegangen, schrieb er ihm am 12. Novem-
ber: „Freue mich ungeheuer, dass Ihr zukünftiger Spröss-
ling gedeiht, dass Ihr Bäuchlein wächst, und — Gott gebe
eine glückliche Entbindung! Es interessiert mich riesig zu
erfahren, w^e und Was Sie in die Ouvertüre hereinzuneh-
men gedenken, und ich flehe Sie an, mir Ihre bereits zu
Papier gebrachten Entwürfe zuzusenden, wobei ich Ihnen
das Versprechen gebe, solange kein Wort — weder Gutes
noch Schlechtes — darüber zu sagen, bis die Sache ganz
fertig sein wird".
Nachdem, jedoch, Peter Iljitsch dem Wunsche Mili
Alexejewitsch entsprochen und ihm die Hauptmotive sei-
ner Komposition übersandt hatte, erhielt er von Balakireff
folgende Kritik, der zufolge die Ouvertüre einer kleinen
Umgestaltung unterworfen wurde.
„ Der Empfang der Skizzen Ihrer neuen Ouvertüre
hat mich immens gefreut! Da sie schon fertig ist und so-
gar einer Aufführung entgegensieht, so will ich Ihnen offen
(dieses Wort ist nicht im Sinne Zaremba's zu verstehen)
meine Meinung darüber sagen. Das erste Thema gefällt
mir garnicht. Vielleicht kommt es in der Durchführung
zur Geltung, — weiss es nicht, — in so nacktem Zustand, je-
doch, wie es vor mir liegt, hat es weder Kraft noch Schön-
heit, und zeichnet nicht einmal genügend den Charakter
des Pater Lorenzo. Hier würde Etwas in der Art der Cho-
räle von Liszt am Platze sein („Der Nächtliche Zug" Fis-
dur, „Hunnenschlacht" und „Die heilige Elisabeth") in
altkatholischem Styl; Ihr Thema aber ist von ganz ande-
rem Charakter, ist im Style der Quartette von Haydn, des
— 199 —
Genie's der spiessbürgerlichen Musik, welche einen star-
ken Durst nach Bier erweckt. Da ist Nichts Antikes, Nichts
Kathohsches, sondern viel eher der Typus des Gogol'schen
„Kamrad Kunz", welcher sich die Nase abschneiden wollte,
um kein Geld für Schnupftabak ausgeben zu müssen. Aber
es ist möglich, dass Ihr Thema in der Durchführung ganz
anders wirkt, — dann will ich meine Worte zurücknehmen.
Was das H-moll — Thema anbelangt, so muss ich geste-
hen, dass es eher eine sehr schöne Einleitung für ein Thema
abgeben würde. Nach der Lauferei in C-dur müsste eigent-
lich Etwas sehr Kraftvolles, Energisches kommen. Ich nehme
an, dass es auch in der That so ist, und dass Sie nur zu
faul waren, mir die Fortsetzung auszuschreiben.
Das erste Des-dur ist sehr schön, nur ein wenig welk,
das zweite Des-dur einfach wundervoll. Ich spiele es sehr
oft und möchte Sie dafür abküssen. Da ist Liebesglut und
Wollust und Sehnsucht, kurz. Vieles, was dem verunsitt-
lichten Deutschen Albrecht so recht nach Geschmack wäre.
Nur Eines habe ich an diesem Thema auszusetzen; es ist
zu wenig innere, seelische Liebe darin, sondern mehr phan-
tastische, leidenschaftliche Glut, mit nur geringer italieni-
scher Schattierung. Romeo und Julie waren doch keine
persischen Liebesleute, sondern Europäer. Weiss nicht, ob
Sie verstehen, was ich sagen will — ich empfinde immer
einen grossen Mangel an Ausdrücken, wenn ich mich auf
musikalische Traktate einlasse, und muss immer zu erläu-
ternden Beispielen meine Zuflucht nehmen: ein Thema, in
welchem die innere Liebe gut zum Ausdruck gekommen,
ist (meiner Ansicht nach), beispielsweise, die As-dur — Ouver-
türe zur „Braut von Messina" von Schumann. Dieses Thema
hat, allerdings, auch seine Schwächen, es ist krankhaft und
wird zum Schluss etwas sentimental, die Grundstimmung
ist aber sehr gut getroffen.
Erwarte mit Ungeduld die ganze Partitur, um einen
richtigen Begriff von Ihrer talentvollen Ouvertüre zu be-
kommen, w^elche Ihr bestes Werk ist und dessen Widmung
mir — mich ausserordentlich freut. Das ist das erste Stück
Ihrer Komposition, welches in der Summe seiner Schön-
heiten derart anziehend wirkt, dass man es ohne Beden-
ken für gut anerkennen kann. Es ist mit dem alten besof-
fenen Melchisedeck, welcher vor lauter Unglück auf dem
Arbatsky-Platz ^) einen scheusslichen Trepak -) loslässt,
1) Ein Platz in Moskau.
-) Trepak, ein russischer Nationaltanz.
— 2 OO —
garnicht zu vergleichen. Senden Sie mir möglichst bald
die Partitur. Ich lechze danach, sie kennen zu lernen". •
Aber auch in etwas veränderter Gestalt, hat die Ouver-
türe Balakireff nicht ganz befriedigt. Er schreibt am 22.
Januar 1871: „Mit der Introduktion bin ich sehr zufrieden,
der Schluss, jedoch, gefällt mir garnicht. Es ist unmöghch,
ausführlich darüber zu schreiben. Am besten wäre es, wenn
Sie hierherkämen, dann liesse sich Alles mündlich bespre-
chen. Im Mittelsatz haben Sie Etwas Neues gemacht, und
gut gemacht, namentlich die einander abwechselnden Ak-
korde auf dem Orgelpunkt oben, ein wenig „ä la Ruslan".
Am Ende ist viel Schablone, der ganze Teil nach Schluss
des zweiten Thema's (D-dur), ist — wie mit Gewalt aus
dem Kopf herausgewunden. Der eigentliche Schluss selbst
ist nicht schlecht, avozu aber diese Schläge der allerletzten
Takte? Das widerspricht dem Inhalt des Drama's und ist
auch unfein. Nadeshda Nikolajewna ^) hat diese Akkorde
mit ihren reizenden Händchen durchstrichen und will im
Arrangement mit einem „pianissimo" schhessen. Ich weiss
nicht, ob Sie damit einverstanden sein werden".
Nachdem auch dieser willkürlichen Handlung das Ein-
verständniss des Autors gefolgt war, schrieb der unermüd-
hche Kritiker dennoch: „Schade, dass Sie, oder richtiger
Rubinstein, sich mit der Veröffentlichung der Ouvertüre
so beeilt haben. Obgleich die neue Introduktion viel schö-
ner ist, so hatte ich doch einen unwiderstehlichen Wunsch,
noch Einiges an der Ouvertüre zu ändern und sie nicht
so schnell abzuthun, in der Hoffnung auf Ihre zukünftigen
Werke. Ich erwarte übrigens, dass Jurgenson es nicht
ablehnen wird, die Partitur der neu bearbeiteten und end-
giltig verbesserten Ouvertüre zum zweiten Mal in Stich
zu geben".
An A. Tschaikowsky:
„7. Oktober,
Das Konservatorium beginnt schon, mir widerwärtig
zu sein, und die Stunden, die ich zu geben habe, begin-
nen mich wie im vorigen Jahr zu ermüden. Arbeite jetzt
Garnichts. „Romeo und Julie" ist fertig. Gestern erhielt
ich eine Bestellung von Bessel. Er bittet, ein Arrangement
der Ouvertüre .„Johann der Grausame" von Rubinstein zu
machen. Von Balakireff habe einen Scheltbrief erhalten,
1) Die Gemahlin Kimsky-KorsakoU's. In der letzten Umarbeitung hat Peter Iljitsch
diese Akkorde selbst ausgemerzt.
2 Ol —
weil Nichts arbeite. Ueber meine Oper weiss immer noch
Nichts Bestimmtes: man sagt, dass sie gegeben werden
soll, doch wann — ist unbestimmt. Besuche manchmal die
Oper. Die Sängerinnen Markisio sind gut, besonders in
„Semiramis*'^ Wenn ich sie, jedoch, anhöre, komme ich
stets mehr denn je zu der Ueberzeugung, dass Artot die
grösste Künstlerin der Welt ist'-'-.
An M. Tschaikowsky:
„12. Oktober.
„ Meine laufenden Arbeiten sind: i) Das Arrangement
der Ouvertüre „lohann der Grausame" von Rubinstein für
Klavier zu vier Händen, 2) Korrektur der vierhändigen
Volkslieder, 3) Komposition der Ouvertüre „Romeo und
Julie'*, 4) Vorbereitung meiner neuen Vorlesungen über
die Formenlehre. Sitze ziemlich viel zu Hause, abends je-
doch gehe fast immer aus.
Ueber das Schicksal meiner Oper habe keine Ahnung.
Ich fange an zu glauben, dass man sie garnicht aufführen
wird. Soeben erst habe ich an Gedeonow geschrieben und
ihn gebeten, mir positive Nachricht zu _geben, ob meine
Oper gegeben werden soll. Mir scheint es, dass wenn
ich etwas frecher und praktischer wäre, sie schon längst
zur Aufführung gelangt wäre^S
An A. Tschaikowsky:
„30. Oktober.
....Die ganze letzte Zeit habe ich sehr viel gearbeitet.
Das mir von Bessel bestellte Arrangement habe ich beendet
und bin mit den Entwürfen der Ouvertüre zur Tragödie
„Romeo und Julie" fertig. Von meiner Oper habe ich im-
mer noch Nichts gehört und beginne zu glauben, dass sie
in diesem Jahr noch nicht drankommen wird. Ich bin aber
nicht unglücklich darüber. Ich weiss nicht, weshalb ich
jetzt viel gleichgiltiger gegenüber meinen künstlerischen
Erfolgen geworden und bereit bin, das grösste Missge-
schick stoisch zu ertragen".
An. A. Dawidowa:
„15. November.
...Du hast geglaubt, dass ich im November nach Pe-
tersburg reisen würde; stelle Dir aber vor: ich weiss bis
— 2Э2 —
jetzt noch nicht, ob meine Oper gegeben werden wird.
Einem meiner Freunde ist die Nachricht zugekommen, dass
die Chorproben schon begonnen haben, ich selbst habe
aber noch keine offizielle Benachrichtigung erhalten. Ich
war mit Arbeit überhäuft: beeilte mich, die Ouvertüre zu
beenden, welche in einem der nächsten Konzerte der Mu-
sikalischen Gesellschaft gespielt werden soll, hatte ausser-
dem verschiedene Bestellungen zu erledigen, sodass meine
Nerven wieder sehr überspannt sind, und ich beabsichtige,
mich eine Zeitlang zu erholen, d. h. Garnichts zu thun,
ausser dem Unterrichtgeben".
An M. Tschaikowsky:
„i8. November.
„...Gestern erhielt ich aus Petersburg eine sehr traurige
Nachricht. Meine Oper ist bis zur nächsten Saison aufge-
schoben, da es an Zeit mangelt, zwei Opern einzustudie-
ren, die schon vor der meinigen auf dem Repertoir standen:
„Halka" und die „Kroatin". \) Ich werde daher wohl kaum
nach Petersburg kommen. Die Nachricht von dem Aufschub
meiner Oper ist mir namentlich in finanzieller Hinsicht
unangenehm. In moralischer Beziehung dürfte sie aber auch
schlecht auf mich wirken, d. h. ich werde wohl zwei bis
drei Wochen arbeitsunfähig sein. In diesem Augenblick,
wenigstens, kann ich nicht ohne Widerwillen an's Kompo-
nieren denken..."
An A. Tschaikowsky
(Anfang December.)
„Meine Thatenlosigkeit, von welcher ich Dir erzählt,
hat nicht lange angehalten. Im Laufe der vorigen Woche
habe ich 6 Romanzen fabriziert, die herauszugeben ge-
denke".
An M. Tschaikow^sky:
„13. Januar 1870.
...Balakireff und Rimsk\'-Korsakoff sind hier gewesen.
Selbstverständlich waren wir täglich zusammen. Balakireff
beginnt, mich immer mehr und mehr zu verehren. Kor-
i) „Halka"— Oper von Moniuszko; die „Kroatin" — Oper von Dütsch.
— 203 —
sakoff hat mir eine sehr hübsche Romanze gewidmet.
Meine Ouvertüre hat ihnen Beiden sehr gefallen, und mir
gefällt sie auch. Ausser dieser Ouvertüre habe ich in letzter
Zeit noch einen Chor für die Oper „Mandragora" geschrie-
ben, dessen Text von Ratschinsky herrührt und Dir, glaube
ich, schon bekannt ist. Ich hatte die Absicht diesen Text
zu komponieren, meine Freunde rieten es mir aber, ab,
indem sie behaupteten, dass die Oper zu wenig Bühnen-
wirkung haben werde. Jetzt schreibt Ratschinsky einen
anderen Text für mich, welcher den Namen „Raimund
Lully" führt".
Sergei Alexandrowitsch Ratschinsky erzählt den Inhalt
der Mandragora" wie folgt: „Ein Ritter liebt eine wun-
derschöne Dame, welche seine Liebe aber ablehnt. Ein
Fest im Schloss. Menestrel singt von der allmächtigen
Mandragora, das Zauberkraut, welches schon in der Bibel
erwähnt wird. Der Ritter sucht dieses Zauberkraut in
einem geheimnissvollen Garten.
Nacht. Mandragora erblüht. Der Ritter entwurzelt die
Pflanze und — Mandragora verwandelt sich in ein Weib,
verliebt sich, natürlich, sofort in den Ritter nnd folgt ihm
als Page. Nach einer ganzen Reihe Abenteuer verliebt
sich der Ritter in eine andere Frau, und die unglückliche
Mandragora verwandelt sich wieder in eine Blume".
Raimund Lully ist nach den Worten Ratschinsky's ein
sagenhafter spanischer Held und zugleich Poet, Schwarz-
künstler und Missionär des XIII. Jahrhunderts. Zu Anfang
der Oper ist Raimund ein Don Juan. Neben ihm spielt ein
tückischer Maur die Rolle des Leporello-Mephisto. Donna
Ines liebt Raimund. Durch seine Abenteuerlust in Verzweif-
lung gebracht, geht sie in ein Kloster und erweckt da-
durch in Raimund die heisseste Leidenschaft. Hoch zu
Ross dringt er während des Gottesdienstes in die Kirche ein.
Das Volk ist empört, und die Geistlichkeit verflucht ihn.
Im Duett zwischen Donna Ines und Raimund geht in
Letzterem eine Wandlung zum Bessern vor sich. Zuletzt
wird Raimund in Afrika vom Mauren erstochen und stirbt
in den Armen Ines, welche vom Kloster zwecks Auslösung
gefangener Christen nach Afrika entsandt worden ist. Alles
in höchst mystischem St^d.
Kaschkin war Einer derjenigen Freunde Peter Iljitsch's
welche ihm abrieten den Text der „Mandragora" zu kom-
ponieren. „Eines Tages^' — erzählt Kaschkin, — „spielte mir
Peter Iljitsch eine neue Komposition, einen „Chor der Insek-
— 2,o4 —
ten "vor, welche mir sehr gefiel. Darauf teilte er mir
mit, dass er eine Oper schreibe und dass dieser Chor eine
Nummer dieser Oper bilden werde; er zeigte mir auch
sofort das Scenarium. Nach Durchsicht desselben fand ich
dass es sich viel besser für ein Ballet denn für eine Oper
eignete. Peter Iljitsch widersprach dem und es entspann
sich zwischen uns ein heftiger Streit, in welchem ich,
unter Anderem, Peter Iljitsch die Lächerlichkeit verschie-
dener Situationen des Operntextes zu beweisen suchte.
Der Streit dauerte ziemlich lange. Plötzlich bemerkte ich,
dass das Gesicht meines Gegners einen veränderten Aus-
druck annahm; Peter Iljitsch sagte mir mit Thränen in den
Augen, dass ich meinen Zweck erreicht habe und dass er
die Oper nicht komponieren werde, dass er aber sehr
unglücklich darüber sei und mir in Zukunft nie wieder
seine Absichten mitteilen würde. Er war in der That so
verstört, dass ich selber den Erfolg meiner Beweisführung
bedauerte".
Hier die Urteile Balakireffs und Laroche's über diese
unedierte Komposition Peter Iljitsch 's:
Ersterer schrieb 187 1 Folgendes: „Der Chor gefällt mir
wirklich sehr mit Ausnahme des Es-dur-Teiles mit der
trivialen Melodie. Ich hpffe, jedoch, dass die Begleitung
mit dem Orgelpunkt auf Es den banalen Charakter dieser
Melodie etwas abschwächen wird. Manches erinnert an
den Frauenchor (D-dur) von Dargomyzski; die beständi-
gen Sekunden aber sind im Borodin'schen Charakter. Ich
hoffe dass der Chor Effekt machen wird und werde mich
bemühen, ihn möglichst gut einzustudieren".
„Der Chor der Elfen", — sagt Laroche — „stammt aus
einer unbeendeten phantastischen Oper und ist für Kna-
benstimmen gedacht, welche im unisono singen und von
einem vollen gemischten Chor und Orchester begleitet
werden. Die Stimmung der stillen Mondnacht (welche im
Text besungen wird), sowie der phantastische Charakter
sind prachtvoll wiedergegeben: in diesem Elfenchor finden
wir wieder jene sammetne Weichheit, jene Vornehmheit
und Feinheit, welche TschaikoAvsky in seinen besten schöp-
ferischen Momenten auszeichnen, aber auch eine bedeutend
reifere Charakteristik, als in seinen früheren Werken. Die
Instrumentation ist sehr üppig, und — wenngleich stellen-
weise unter Berlioz Einfluss so doch im Ganzen durchaus
eigenartig".
— 2 15
An А. Dawidowa:
Februar.
Eines betrübt mich, dass es in Moskau Niemanden giebt,
mit dem ich so recht häusHch, famihär, intim verkehren
könnte. Ich denke oft daran, wie gUickhch ich wäre, wenn
Ihr hier leben würdet oder wenn irgend was Aehnhches
vorhanden wäre. Ich habe grosses Verlangen nach Kin-
dergeschrei und nach Anteilnahme meiner Person an klein-
lichen häuslichen Interessen, mit einem Wort — nach einem
Familienleben.
Ich habe die Absicht eine dritte Oper anzufangen, und
zwar über ein Sujet, welches der Tragödie von Lashetsch-
nikoff — „Opritschnik''"' ') entlehnt ist. Was meine „Undine"
anbelangt, so dürfte sie im Anfang der nächsten Saison
in Scene gehen, wenn man mich nicht betrügen wird. Im
letzten Winter bin ich im Allgemeinen recht thätig gewe-
sen. Vorgestern habe zwei Klavierstücke in Druck gege-
ben, von denen Eines Dir gewidmet ist. Obgleich der
Frühling noch lange nicht da ist und wir kaum den Frost
überlebt haben, so beginne ich schon an den Sommer zu
denken und sehnsüchtig den Früjahrssonnenschein zu er-
warten, welcher stets eine sehr heilsame Wirkung auf
mich ausübt".
An M. Tschaikowsky:
„3. März.
....Heute wurde vor den Friedensrichtern die Affaire
Rubinsteins mit der Schebalsk}- erörtert, von welcher Du
jedenfalls schon gehört haben wirst. Nikolai Gregorjewitsch
hatte, nämlich einmal — im Januar noch — die Schülerin Sche-
balsky mit einem „Hinaus!" angeschrieen. Ganz Moskau
hat darüber geredet, die Meisten waren gegen Rubinstein.
In erster Instanz ist er freigesprochen worden. Heute aber,
hat ihn die zweite Instanz zu 25 Rubel Strafe verurteilt.
Rubinsteins Anwalt wird Berufung einlegen, und wenn
das Urteil nicht aufgehoben werden sollte, so will Rubin-
stein und mit ihm fast alle andern Professore — auch ich —
das Konservatorium verlassen.
Uebermorgen kommt meine Ouvertüre „Romeo und
Julie" zur Aufführung. Eine Probe ist schon gewesen: das
1 j Opritschnik's waren die Männer der Leibgarde, oder Leibwache des Zaren Joann
I\". des Grausamen.
— 2 об
Stück scheint nicht hässlich zu sein. Uebrigens — das weiss
der liebe Herrgott allein!!
Die Butterwoche habe ich sehr nichtsthuerisch und
nicht ohne Langeweile verbracht.
Wo ich im Sommer bleiben soll — weiss ich noch nicht.
Vielleicht bleibe ich in Moskau. Ich bin jetzt schon so alt
geworden, dass es mich gar nirgends besonders hinzieht.
Nur einen Wunsch habe ich: Ruhe, Ruhe...
hl der dritten Fastenwoche sollen hier im Konzert von
Herten ^) Fragmente aus meiner „Undine'-'' gespielt werden.
Bin sehr neugierig, sie zu hören, Sjetow schreibt, dass
man Grund habe anzunehmen, dass die Oper zu Anfang
der nächsten Saison zur Aufführung kommen werde".
Dieses Konzert ist am i6. März zustande gekommen.
Kaschkin erzählt, dass man damals wieder einmal gesehen
habe, wie schwer es sei, die S\4npatie des Publikums zu
erobern, und fährt fort: „In der Instrumentation der Arie
aus „Undine" hat auch das Klavier Anwendung gefunden,
indem es eine ziemlich bedeutende und schöne Partie zu
spielen hatte. Die Ausführung dieser Partie hat Nikolai
Rubinstein auf sich genommen; aber trotz der ausge-
zeichneten Wiedergabe des Stückes, hatte dasselbe gar-
keinen Erfolg. Nach dem Adagio aus der ersten Sympho-
nie, welches ebenfalls auf dem Programm stand ertönte
sogar ein leises Zischen. Im Grossen Theater herrschte
eben noch zu sehr die Italianomanie, sodass es für ein
russisches Werk sehr schwer war, sich Geltung zu ver-
schaffen".
Auch „Romeo und Julie" hatte im Konzert der Musika-
lischen Gesellschaft (am 4. März) keinen Erfolg erzielt.
„Die Verurteilung Rubinstein's zu 25 Rubel Geldstrafe
ist sofort in ganz Moskau bekannt geworden". — schreibt
Kaschkin, — „Eine Zeitung hat am Tage des Konzerts eine
boshafte Notiz gebracht, in welcher sie die Verehrer Ru-
binsteins auffordert, die 25 Rubel durch eine Kollekte auf-
zubringen, um dem Künstler das Absitzen einiger Tage
Haft zu ersparen. Diese Notiz hat viel Unwillen erregt
und Anlass zu einer der grossartigsten Demonstrationen
gegeben, die ich je gesehen habe. Von dem ersten Erschei-
nen Rubinsteins auf dem Podium und bis zum Schluss
des Konzerts war er der Gegenstand der ausserordent-
lichsten Ovationen seitens des Publikums. An das Konzert,
1) Kapellmeister am Grosseu Theater.
— 2 07 —
an die Musik dachte kein Mensch, und ich ärgerte mich
sehr dass die Erstaufführung von „Romeo und Julie" unter
solchen Umständen vor sich ging". Somit brachte der in
der Hoffnung auf einen grossen Erfolg so sehnsüchtig
erwartete Abend wieder eine Enttäuschung für Peter Iljitsch.
Dadurch ist die ohnehin schon melancholische Stimmung
des Komponisten noch finsterer geworden. „Ich faulenze
in der letzten Zeit ganz unverantwortlich" — schreibt er —
„und meine neue Oper „Opritschnik" ist bei dem ersten
Chor stehen geblieben".
An M. Tschaikow^sky:
,.25. März. .
Gratuliere Dir zum geschehenen Verlassen der Schule.
Indem ich zurückblicke auf meinen Lebenslauf seit dem
Austritt aus der Juristenschule bemerke ich mit einigem
Wohlgefühl, dass die Zeit nicht nutzlos verstrichen ist.
Wünsche auch Dir das Gleiche.
Bei uns giebt es jetzt eine ungeheure Menge Konzerte:
Heute ist das zweite Konzert der Lawrowskaja. Sage der
Chwostowa, dass Lawrowskaja Heute mein Lied, welches
ihr (d. h. der Chwostowa) gewidmet ist, singen wird"....^
An A. Tschaikowsk}^:
,.23. April.
Rjumin ^) bietet Alles auf, um aus mir einen religiösen
Menschen zu machen: er hat mir viele Bücher geistlichen
Inhaltes geschenkt, und ich habe ihm das Wort gegeben,
sie alle durchzulesen. Ueberhaupt ergehe ich mich jetzt in
gottgefälligen Handlungen. In der Charwoche habe ich
mit Rubinstein sogar gefastet. Meine Oper macht nur sehr
träge Fortschritte. Die Ursache davon schreibe ich dem
Umstand zu, dass das Sujet — obgleich es sehr hübsch —
mir doch nicht völlig nach dem Herzen ist. „Undine'•^ ist
zwar ein schlechtes Libretto, da sie aber ganz und gar
meinen Sympatieen entsprach, so ging die Arbeit sehr
schnell vorwärts. Die Feiertage habe ich sehr angenehm
verbracht.
Mitte Mai, wahrscheinlich am 17., reise ich ins Ausland.
Zum Teil freue ich mich darauf, zum Teil trauere ich,
weil ich Dich nicht sehen werde".
1) Rjumin — der Vormund Schilovvsky's.
— 2o8 -
An I. А. Klimenko:
I. Mai.
Unverschämter! Du glaubst doch nicht etwa, dass ich
Dich in geringerem Maasse heb habe, als Diejenigen, wel-
che Du vor mir mit Deinen Briefen beehrt hast? Trotz-
dem entschliesse ich mich nach vierzehntägigem Ueberle-
gen (oder auch Faulheit), Dir zu antworten.
Erstens sage ich Dir, dass ich in diesem Augenblick
(um 4 Uhr Nachts) am offenen Fenster sitze und die in
Wahrheit herrlich duftende Atmosphäre eines Frühlings-
morgens einatme. Ziemlich bezeichnend ist es, dass ich in
meiner liebevollen Stimmung plötzlich den Drang verspürt
habe, mit Dir — grade mit Dir zu plaudern. Du Undank-
barer! Ich möchte Dir sagen, dass das Leben doch schön
und dass der Maimorgen dessen wohl wert ist, dass ich
um 4 Uhr früh mein Herz vor Dir ausschütte und Dir ei-
nige gefühlvolle Worte schreibe, und dass Du, oh Du
giftiger Sterblicher, darüber lachst. So lache denn, ich be-
haupte doch: das Leben ist, trotz Allem, schön! Dieses
,,trotz Allem'''' schliesst aber Folgendes in sich: i. Die
Krankheit: ich werde nachgerade unmässig dick. Die Ner-
ven sind äusserst zerrüttet. 2. Das Konservatorium ist mir
bis zum Erbrechen überdrüssig: komme immer mehr zur
Ueberzeugung, dass ich mich zu einem Lehrer der Musik-
theorie absolut nicht eigne. 3. Meine finanzielle Lage ist
sehr schlimm. 4. Zweifle sehr daran, dass die „Undine'"''
aufgeführt werden wird. Habe gehört, dass man mich be-
trügen will. Kurz, viele Dornen, aber auch Rosen sind da,
und zwar: — die Fähigkeit, entzückt zu sein beim Einatmen
der Frühlingsluft, dahinzuschmelzen und den Drang in sich
zu fühlen, dem in Zarizin ^) lebenden Freund mitzuteilen,
dass das Leben doch schön sei, denn es giebt wunder-
schöne Maimorgen mit feuchter, duftender Atmosphäre,
bleichblauem Hnnmel, dem Zwitschern der erwachenden
Sperlinge, dem geheimnisvollen Miauen der Katzen und
der Abwesenheit jeglicher menschlicher Laute. So rufe ich
denn zum Schlüsse dieser Herzensergüsse noch einmal
aus: schön ist das Leben (an einem Maimorgen), und gehe
nun zur Aufzählung einiger kleiner Thatsächelchen aus
dem Leben eines ehrgeizigen Musikschreibers über.
Was den Ehrgeiz anbelangt, so muss ich sagen, dass
1) Zarizin — Stadt au der Wolga.
209 —
er in letzter Zeit Nichts weniger als geschmeichelt wird.
Meine Lieder sind von Laroche zwar gelobt worden, da-
für hat aber Cui einen Scheltartikel über sie geschrieben,
und Balakireff hat sie so schlecht gefunden, dass er die
Chwostowa (welche eines der Lieder — das ihr gewidmete —
in ihrem Konzert singen wollte) überredete, das Programm
nicht zu verderben, welches durch die Namen Mussorgsky
und Komp. glänzte.
Meine Ouvertüre „Romeo und Julie" hatte hier garkei-
nen Erfolg und ist ganz unbeachtet geblieben. Ich habe
viel an Dich gedacht an jenem Abend. Nach dem Konzert
soupierten wir in grosser Gesellschaft bei Gurin (grosses
Restaurant). Während des ganzen Abends hat Niemand
auch nur ein Wort über die Ouvertüre gesagt. Und doch
lechzte ich so nach Teilnahme und Anerkennung. Ja, ich
habe an jenem Abend viel an Dich gedacht und an Deine
im höchsten Grade aufmunternde Teilnahme. Ich weiss
nicht ob meine Oper „Opritschnik" nicht deshalb so langsa-
me Fortschritte macht, dass Niemand sich dafür interes-
siert, was ich schreibe; ich zweifle, ob ich sie früher, als
nach zwei Jahren fertig bekommen werde. Was das musi-
kahsche Leben Moskau's anbelangt, so hat sich da seit
Deiner Abreise Nichts Besonderes ereignet, denn den kurzen
Aufenthalt Tausig's hierselbst zähle ich nicht zu den her-
vorragenden Geschehnissen. Ach so! Beihnahe hätt'ich es
vergessen! In N. Rubinsteins Konzert kam der erste Satz
der Symphonie von Laroche zur Aufführung welche wir
schon öfter miteinander besprochen haben. Ich bleibe bei
meiner früheren Meinung: in technischer Beziehung über-
ragt diese Komposition auf das Entschiedenste den durch-
schnittlichen Wert der neueren Werke, — als Erfindung
jedoch — ist sie zum Teil sehr pretentiös, zum Teil eckig
und klobig oder auch (wie das Seitenthema) einfach schwach
und bleich. Am Ende dieser langen Geschichte hat das
Publikum zu zischen begonnen. Der arme Laroche war
ganz konfus. Mit unseren gemeinsamen Freunden komme
ich ziemlich häufig zusammen. Manchmal spielen wir Kar-
ten, von denen ich wie früher, begünstigt werde. K... n ist
wie gewöhnlich, sehr nett. Sobald er sich einen Rausch
angetrunken hat beginnt er, allen Meinungen beizupflichten
und Jeden, den Du willst, entweder herunterzumachen
oder zu verteidigen je nach Wunsch, und lacht im Grunde
seiner heimtückischen aber gutmütigen Seele Alle aus. In
Moskau geht das Gerücht, dass er sich neulich mit Seife
Tschaikowsky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 14
— 210 —
gewaschen habe, ich glaube es aber nicht, weil ich sonst
jeden Unsinn glauben müsste, z. B. dass W. ein kluges
und treffendes Wort gesagt, oder dass die Frau L.'s ein
Buch über pantheistische Philosophie geschrieben, oder
dass R. ein Notturno komponiert, oder dass Rubinstein
innerhalb drei Tagen nur ein Hundert Mal seinen Aga-
thon ^) ausgescholten hätte, oder dass der Baumeister Kli-
menko noch ein ganzes Jahr in Zarizin zu bleiben beab-
sichtigt, u. s. w. Letzteres ist ganz ausgeschlossen, denn
ich will garnicht daran denken, dass ich Dich noch so
lange nicht zu sehen bekommen könnte. Ohne Dich lang-
weilen sich, bei Gott, Alle sehr, und am meisten — ich"!
Peter Iljitsch ist über Petersburg, wo er sich nur einige
Tage aufhielt, in's Ausland gereist. In Petersburg erfuhr
er das endgiltige Schicksal seiner „Undine". Die Konfe-
renz sämmtlicher Kapellmeister der Kaiserlichen Theater
mit Konstantin Ljadow an der Spitze hat diese Oper einer
x\ufführung nicht für wert befunden. Wie Peter Iljitsch
dieses Urteil aufgenommen, was er dabei gefühlt und ge-
dacht hat — können wir nur vermuten, da wir die krank-
hafte und gar zu leichte Erregbarkeit seines Autorenehr-
geizes kennen. Damals hat er weder in Briefen noch in
Gesprächen das Vorkommnis auch nur mit einer Sylbe
erwähnt. Acht Jahre später schreibt er aber: „Die Direk-
tion hatte meine „Undine" im Jahre 1870 abgelehnt. Da-
mals ist es mir sehr bitter gewesen und schien mir unge-
recht, in der Folge aber, gefiel mir selber die „Undine"
nicht mehr und ich habe die Partitur vor ungefähr drei
Jahren verbrannt".
An A. Tschaikowsky:
„I. Juni, Soden.
....Von Petersburg bis Paris bin ich ohne Aufenthalt
durchgefahren. Bin sehr müde geworden und näherte mich
Paris mit grosser Aufregung. Ich befürchtete, Schilowsk}'
auf dem Sterbebette zu finden. Er ist zwar sehr schwach,
doch habe ich Schlimmeres erwartet. Wir blieben in Pa-
ris drei Tage und reisten dann nach Hier ab. Da ich Pa-
ris gern habe, so habe ich, selbstverständlich, jene drei
Tage sehr angenehm verbracht. Habe drei Theater be-
sucht und bin viel spazieren gewesen.
1) Agathon hiess der iJieiicr Kubinsteins.
211
Soden ist ein kleines Dorf, welches am Fusse des Tau-
nus liegt. Die Gegend ist schön, die Luft herrlich, aber
die grosse Menge Schwindsüchtiger verleiht Soden einen
ziemlich düsteren Charakter, infolgedessen mich gleich am
ersten Tage eine solche Schwermut überkam, dass ich mich
nur mit Mühe einer Ohnmacht erwehren konnte. Jetzt bin
ich ruhiger geworden. Die Pflicht, Wolodi ^) zu pflegen,
erfülle ich auf das Gewissenhafteste, denn sein Leben hängt
an einem Haar. Der Arzt hat gesagt, dass er bei der ge-
ringsten Unvorsichtigkeit der Schwindsucht verfallen kann,
während — wenn er die Kur aushält — eine Rettung möglich
ist. Seine Liebe zu mir und die Freude darüber, dass ich
gekommen, ist so rührend, dass ich mit Vergnügen die
Rolle eines Argus, d. h. seines Lebensretters auf mich
nehme. Was mich zu Anfang so unglücklich machte, war
der Gedanke, dass ich weder Dich, noch Modest, noch
Sascha '-) zu sehen bekommen werde. Dieser Gedanke
quält mich auch jetzt noch, ich hoffe aber, dass es mir
Ende des Sommers möglich sein wird, vom Süden aus
nach Moskau zurückzukehren, in welchem Falle ich in Ka-
menka und Kiew einkehren könnte.
Gestern unternahmen wir einen Ritt auf Eseln. Ich fand
Nichts Lustiges darin. Was mich in Entzücken versetzt — ist
der Anblick der Berge. Wie wird es erst in der Schweiz
sein, wohin ich mit Wolodi bestimmt reisen will! Li So-
äen leben viele Russen. Ich knüpfe jedoch keine Be-
kanntschaften an und bin, Gott sei Dank, noch keinem
Petersburger oder Moskauer Bekannten begegnet".
An M. Tschaikowsky:
„7. Juni, Soden.
Die Langeweile, an der ich die erste Zeit litt, hat sich
gelegt. Ich habe hier so Manches Beachtenswerte, ja — Be-
wundernswerte gefunden. Der Taunus ist der Gegenstand
meiner Bewunderung. Durch besondere Höhe zeichnet er
sich nicht aus, er ist aber mit einem dichten Nadelwald
bedeckt und mit vielen prachtvollen Burgen bebaut, ge-
gen welche die berühmte von mir besungene Ruine in Hap-
sal rein Garnichts ist. Ganz besonders interessant ist das
Schloss Königstein. Wolodi und ich haben den Thurm
erklettert: der Fernblick, der sich uns aufthat, war in Wahr-
1) Wolodi — Abkürzung von Wladimir.
2) Sascha- Abkürzung von Alexandra.
— 212 —
heit entzückend. Jeden Morgen begebe ich mich an einen
Ort, welcher „Drei Linden" genannt wird, und lese da-
selbst oder komponiere inmitten der rauhen Natur, vor mei-
nen Augen ein prachtvolles, circa 200 Werst umfassendes
Panorama. Das Leben in Soden ist sehr einfach. Wir ste-
hen um 6 Uhr auf, Wolodi trinkt seinen Brunnen, während
ich (auf Rat des Arztes) mein Soolbad nehme. Um 8 trin-
ken wir Kaffee, bis i spaziere ich und sitze bei den „Drei
Linden". Um 4 Uhr hören wir ein ziemlich gutes Orche-
ster, spazieren darauf von 6 bis 8, trinken dann unsern
Thee und legen uns um 10 zu Bett. Es kommen hin und
wieder Momente, da ich mich sehr nach Euch sehne, da
der W^unsch, wenigstens einige Stunden in Kamenka zu
verbringen, mich zum Weinen bringt und die Erinnerung
an den vorigen Sommer, den ich mit Euch verlebt, mich
quält. Ich kämpfe aber energisch gegen die trüben Stim-
mungen an und tröste mich damit, dass meine Anwesen-
heit Wolodi retten wird, und dass die Lebensweise in So-
den mir selbst auch Nutzen bringt. Ob ich mir auch Mühe
gegeben habe, Bekanntschaften mit Russen zu vermeiden,
so ist mir dies doch nicht gelungen. Wir speisen an der
table d'höte und ich finde das Essen durchaus nicht
schlecht. Am Donnerstag hörte ich hier eine preussische
Militärkapelle, die nämliche, welche bei dem Konkurrenz-
spiel sämmtlicher Militärmusikkapellen in Paris den ersten
Preis errungen hatte. Sie spielt erstaunlich gut. Ich habe
noch nie Etwas Derartiges gehört. Wir haben uns vorge-
nommen, eines Tages nach Frankfurt zu fahren und in die
Oper zu gehen, obwohl das Repertoir dort so schlecht
ist, wie ich es von Deutschen kaum erwartet habe".
An M, Tschaikowsk}-:
„24. Juni, Soden.
...Wir führen ein einförmiges Leben und langweilen uns
sehr, dafür ist aber meine Gesundheit in ausgezeichneter
Verfassung. Die Soolbäder wirken sehr gut auf mich, aus-
ser dem ist aber auch die Lebensweise sehr nützlich. Ich
bin sehr faul und habe garkeine Lust zum Arbeiten. Vor
einigen Tagen hat in Mannheim ein grosses Fest gelegent-
lich des hundertsten Geburtstags Beethovens stattgefun-
den. Dieses Fest, bei welchem wir zugegen gewesen sind,
hat drei Tage gedauert. Das Programm war sehr interes-
sant und die Ausführung köstlich. Das Orchester bestand
— 213 -
aus mehreren Kapellen verschiedener rheinischer Städte.
Der Chor zählte 400 Mann. Einen so ausgezeichneten und
kräftigen Chor habe ich noch nie in meinem Leben ge-
hört. Dirigiert hat der bekannte Komponist Lachner. Un-
ter Anderem habe ich zum ersten Mal die sehr schwer
auszuführende Missa solemnis von Beethoven gehört. Das
ist eine der genialsten musikalischen Schöpfungen. Andere
musikalische Unterhaltungen giebt es hier wenig. Das Or-
chester in Soden ist nicht gross, spielt nicht hässlich, die
Programme sind aber fürchterlich. Wir (ich und Wolodi)
haben es veranlasst, die Kamarinskaja von Glinka einzu-
studieren, welche Morgen zum ersten Mal gespielt wer-
den soll.
Ich bin in Wiesbaden gewesen, um mit N. Rubinstein
zusammen zu sein. Als ich ihn auffand, w^ar er gerade da-
bei, seine letzten Rubel bei der Roulette zu verspielen. Das
hinderte uns jedoch nicht, einen sehr angenehmen Tag
zusammen zu verbringen. Er verzweifelt durchaus nicht
und ist fest davon überzeugt, dass er Wiesbaden nicht
eher verlassen wird, als bis er die Bank gesprengt. Ich
sehne mich sehr nach Dir und den Unserigen".
An A. Dawidowa:
„24. Juni, Soden.
Jeden Augenblick denke ich hartnäckig an den vor-
jährigen Sommer. In meiner Erinnerung tauchen alle Ein-
zelheiten jener schönen Zeit auf, und die Erkenntniss der
Unmöglichkeit, selbst wenige Tage in Eurer Mitte zu ver-
bringen, macht mich rasend.
Oh, Gott, was würde ich geben, um plötzlich in den
Grossen Wald versetzt zu werdenl! In meiner Einbildung
sehe ich mich schon trockene Zweige suchend und sie zu
einem Scheiterhaufen zusammentragend, während Du mit
Leo und den Kindern auf einem Hügel sitzest; auf dem
Rasen ist ein Tischtuch gedeckt, drauf steht der Samo-
war, Brot und Butter ich sehe die ruhenden Pferde, das
duftige Heu, höre die lieben Kinderstimmen. Wie köstlich
das Alles! Wenn Ihr wieder eine Spazierfahrt in den Wald
unternehmt, dann zündet doch, bitte, mir zu Ehren ein
mächtiges Feuer an!.."
An M. Tschaikowsky:
„12. Juli, Interlaken.
...Wir sind schon den dritten Tag in Interlaken, wo
2T4 —
Avir, wahrscheinlich einen ganzen Monat bleiben werden,
und von wo aus ich verschiedene Exkursionen durch
die Schweiz zu unternehmen gedenke. Die aufgetauchten
Kriegsgerächte haben Alle schleunigst aus Soden in die
Schweiz vertrieben. Der Andrang von Reisenden ist so
gewaltig, dass Viele keinen Platz in den Zügen und in
den Hotels finden können. Um diesen Unannehmlichkeiten
und Verzögerungen, welche dadurch entstehen, dass die
Züge gleichzeitig mit den Fahrgästen auch die Truppen
an die französische Grenze befördern, aus dem Wege zu
gehen, habe ich mit Wolocii einen grossen Umweg einge-
schlagen, und zwar über Stuttgart und den Bodensee. Aber
auch diese Route war sehr unbequem und unruhig. Aus
Frankfurt wurden von unserem Zug bayerische und würt-
tembergische Rekruten mitgenommen, infolgedessen wir
grosse Verspätungen hatten. Das Gedränge in den Wa-
gen war unbeschreiblich, Essen und Trinken zu bekom-
men war sehr schwer. Aber, Gottlob, wir sind in der
Schweiz und hier geht Alles normal zu. Lieber Modi, ich
bin nicht im Stande, Dir zu beschreiben, was ich beim
Anblick der grossartigsten Naturschönheiten, die man sich
nur' vorstellen kann, fühle. Mein Staunen, meine Bewun-
derung ist grenzenlos. Wie besessen laufe ich herum, ohne
müde zu werden. Wolodi, welcher keinen Gefallen an Na-
turschönheiten findet und, seitdem wir in der Schweiz sind,
sich nur für den Schweizerkäse interessiert, lacht mich
von Herzen aus. Was wird erst sein, wenn ich nach eini-
gen Tagen in den Bergen und Schluchten und auf Glet-
schern allein herumklettern werde?!
Nach Russland werde ich Ende August zurückkehren".
Peter lljitsch verlebte in der Schweiz sechs Wochen,
reiste dann nach München, wo er einen Tag mit seinem
alten Freund dem Fürsten Golizin zusammen war. Von da
kehrte er über Wien -welches ihm „besser als alle Städte
der Welt" gefiel — nach Petersburg zurück, wo er am 24.
August eintraf und zum Beginn des Unterrichts im Kon-
servatorium nach Moskau weiterreiste.
Während der ganzen Auslandsreise hat Peter lljitsch
nach seinen eignen Worten Nichts Ernstliches gearbeitet,
nur „Romeo und Julie" hat er einer radikalen Verände-
rung unterworfen. Dank den Bemühungen N. Rubinsteins
und Professor Klindworths ist die Ouvertüre in ihrer
neuen Gestalt schon im Laufe der nächstfolgenden Saison
in Berlin gedruckt worden und hat sich sehr schnell in
— 215 —
den Programmen verschiedener Konzertiinternehmungen
Deutschlands eingebürgert.
„Karl Klindworth ist 1868 aus London nach Moskau
gekommen", -erzählt Laroche, — „Er war damals 38 Jahre
alt und stand somit in der höchsten Blüte seiner physischen
und künstlerischen Kräfte. Er hatte eine hochgewachsene
kraftvolle Gestalt, hellblondes Haar und bellblaue Augen.
Seine Erscheinung war so, wie unsere Einbildung die mittel-
alterlichen Wikinger ausmalt; er war, übrigens, auch in
der That norwegischer Abstammung. London, wo er meh-
rere Jahre verlebt hatte, hasste er von Herzensgrund,
obwohl er dort die englische Sprache fliessend sprechen
gelernt hatte: für die Wagnerpropaganda war das dama-
lige London noch gänzlich unvorbereitet, ohne eine solche
Propaganda hatte aber das Leben für Klindworth garkeinen
Reiz und garkeinen Sinn. Als Schüler Bülow's und Liszt's
hat er sich schon in verhältnissmässig jungen Jahren dem
Wagnerkultus ergeben. Er ist von Nikolai Rubinstein als
Professor des Klavierspiels nach Moskau berufen worden,
hat sich aber als Virtuos trotz der freundschaftlichsten
Unterstützung Nikolai Gregorjewitsch's keine Sympatieen
erworben; in der Gesellschaft war er auch unpopulär, da
er die französische Sprache nicht beherrschte und zu sehr
an einigen streng-deutschen Gewohnheiten hing; dank dem
Mangel guter Klavierlehrer in Moskau ist es ihm gelun-
gen, viele Privatstunden zu erlangen, infolgedessen er fast
immer zu Hause sass. Richard Wagner hatte ihm damals
anvertraut, den Klavierauszug zu seiner Trilogie zu ma-
chen. Manches Mal veranstaltete Klindworth kleine Soi-
reen bei sich, zu welchen er nur wenige Auserwählte
einlud — N. Rubinstein, Albrecht, Bertha Walzeck, Peter
Iljitsch und mich, bei welcher Gelegenheit er uns Teile
seines Arrangements vorspielte. Er war ein guter Klavier-
spieler, war sehr musikalisch und besass eine vorzügliche
Technik, dennoch vermochte er nicht, auf das grosse Publi-
kum Eindruck zu machen. Es hatte den Anschein, dass
zwischen diesem Einsiedler- Wagnerianer und Peter Iljitsch
keinerlei Berührungspunkte zur Annäherung vorhanden
wären. Wenn man unnachsichtlich konsequent bleiben
wollte, müsste man ferner behaupten, dass Tschaikowsk}'
als Komponist Klindworth nicht nur nicht interessieren,
sondern gewissermassen als Schuldiger in seinen Augen
dastehen musste, denn in Wagners Schriften ist zu lesen,
dass die Konzert-und Kammermusik schon längst ihr Le-
2l6
ben ausgehaucht haben. Zum Glück giebt es aber bei le-
bendigen Menschen keine unnachsichtliche Konsequenz, und
Klindworth erwies sich als ein viel lebendigerer Mensch als
man bei dem ersten Anblick glauben konnte. Peter Iljitsch
hat Klindworth geradezu bezaubert, und zwar nicht nur
als Mensch sondern auch als Komponist. Klindworth hat
als Einer der Ersten im Abendlande Propaganda für Tschai-
kowsky gemacht. Nur dank seinen Bemühungen sind Pe-
ter Iljitsch's Werke in London und New-York bekannt ge-
worden; durch ihn hat sie auch Liszt zum Teil kennen ge-
lernt. In ihm hat Peter Iljitsch einen treuen, aber auch
despotischen Freund gefunden. Bildlich zu reden, zitterte
Peter Iljitsch vor ihm wie Espenlaub, wagte nie, ihm seine
richtige Meinung über den Schöpfer des Ringes des Ni-
belungen zu offenbaren und hat sogar in seinen Feuille-
tons, nach meiner Meinung, seine Ansichten bis zur letz-
ten Möglichkeit beschönigt, um Klindworth nicht zu er-
zürnen".
Indem ich die hochbedeutsame Thatsache des Erschei-
nens von Peter Iljitsch's Werken in den westeuropäischen
Konzertsälen konstatiere, möchte ich den Leser an die
prophetischen Worte eines jungen damals seine eigent-
liche Thätigkeit noch garnicht angefangen habenden Kri-
tikers erinnern. Fünf Jahre vor dem Erscheinen der Ouver-
türe „Romeo und Julie", im Jahre 1866, sagte Laroche
seinem Ereunde: Ihre Schöpfungen werden erst nach fünf
Jahren beginnen: diese reifen und klassischen Werke wer-
den aber Alles übertreffen,'^ was wir seit Glinka gehabt
haben".
Ich, der ich kein Musikkritiker bin, übernehme es nicht,
zu beurteilen, ob in der russischen musikalischen Literatur
seit Glinka in der That Nichts Hervorragenderes als „Ro-
meo und Julie" erschienen war. Ich kann hier nur wieder-
geben, was von vielen bedeutenden Autoritäten behauptet
wird, nämlich, dass die hohe Bedeutung Tschaikowsky's
in der Geschichte der Musik bei jenem Werk beginnt.
Seine künstlerische Individualität offenbart sich hier zum
ersten Mal in ihrer ganzen Grösse, und Alles was Peter
Iljitsch vorher geschrieben, erscheint — nach der Prophe-
zeiung Laroche's in der That als eine vorbereitende Arbeit.
Die chronologische Reihenfolge der Werke Peter Iljitsch's
in der Saison 1869 1870 ist folgende:
I) 25 russische Volkslieder, vierhändiges Klavierarran-
gement. Beendet am 25. September 1869. Sie sind zusam-
— 217 —
men mit den im vorherigen Jahre arrangierten 25 Volks-
liedern im Verlag Jurgenson erschienen.
2) „Romeo und Julie", Phantasie-Ouvertüre für Orche-
ster nach Shakespeare. Begonnen nach dem 25. Septem-
ber, im Entwurf fertiggestellt zum 7. Oktober, instrumen-
tiert bis zum 15. November 1869. Im Laufe des Sommers
1870 vollständig neu umgearbeitet. Nach den Worten Ka-
schkin's bestand die Umgestaltung in einer ganz neuen
Introduktion anstelle der früheren, ferner in der Fortlas-
sung des Trauermarsches zum Schluss und ausserdem in
der Veränderung der Instrumentation an vielen Stellen.
Die Ouvertüre ist Mili Alexejewitsch Balakireff gewidmet
und am 4. März 1870 unter N. Rubinsteins Leitung zum
ersten Mal aufgeführt. Im Druck erschienen bei Bote und
Bock in Berlin (1871).
3) Vierhändiges Arrangement der Ouvertüre „loann der
Grausame" von A. Rubinstein. Fertiggestellt zwischen dem
6. und 30. Oktober 1869. Verlag W. Bessel.
4) Op. 6. Sechs Lieder: I. „Glaub'nicht, mein Freund",
Text von Graf A. Tolstoi, gewidmet an A. G. Menschi-
kowa. II. „Nicht Worte", Text von Pleschtschejeff, gewid-
met an N. D. Kaschkin. III. „Wie wehe, wie süss", Text
von Gräfin Rostoptschin, gewidmet an Frau Kotschetowa.
IV. Die Thräne bebt", Text von Graf A. Tolstoi, gewid-
met an P. Jurgenson. V. „Warum", Text von Mei, gewid-
met an I. Klimenko. VI. „Nur wer die Sehnsucht kennt",
Text von Mei, gewidmet an Frau A. Chwostowa. Kom-
poniert sind diese Lieder zwischen dem 15. November und
19. Dezember 1869. Verlag Jurgenson.
5) „Chor der Insekten" aus der unbeendigten Oper
„Mandragora". Komponiert vor dem 13. Januar 1870. Die
Partitur dieser Komposition ist spurlos verschwunden. Nur
der Klavierauszug ist bei Jurgenson in Verwahrung ge-
blieben. Im Jahre 1898 hat Glazunoff ihn instrumentiert.
6) Op. 7. „Valse-Scherzo" (A-dur) für Klavier, an Ale-
xandra Iljinischna Dawidowa gewidmet. Verlag P. Jur-
genson.
7) Op. 8. „Capriccio" (Ges-dur) für Klavier, an K. Klind-
worth gewidmet. Verlag P. Jurgenson. Diese beiden Werke
sind bis zum 3. Februar 1870 beendet.
Ausserdem hat Peter Iljitsch Ende Januar 1870 die
Komposition der Oper „Opritschnik" begonnen.
^
2Т8 —
VIT.
1870 — 1871.
In dieser Saison war die Stimmung Peter Iljitsch's im
Allgemeinen ziemlich fröhlich; sie wurde nur zeitweise
durch die Sorge um die Zwillingsbrüder getrübt, von de-
nen auch der Jüngere die Juristenschule bereits absolviert
hatte und eine Stellung in Simbirsk bekleidete. Ihre Uner-
fahrenheit im praktischen Leben verleitete sie (namentlich
Modest) zu manchen Missgriffen und Fehlern und trug oft
zur V^erstimmung ihres älteren Bruders bei. Mit der allen
Liebenden eigenen übertriebenen Furchtsamkeit malte Pe-
ter Iljitsch in seiner Einbildung eine jede Handlung seiner
Brüder ins Ungeheuerliche aus und war stets ernstlich um
ihre Zukunft besorgt.
An M. Tschaikowsky:
„17. September 1870.
Nach meiner Ankunft in Moskau habe ich einige Tage
das Krankenlager hüten müssen; dann ist aber Alles wieder
gut geworden und geht jetzt seinen gewöhnlichen Gang"...
An M. Tschaikowsky
„5. Oktober.
Ich habe die Bestellung bekommen die Musik zu
dem Ballet „Aschenbrödel" zu komponieren. Die grosse
vieraktige Partitur muss schon Mitte Dezember fertig sein ').
Ich bin sehr in Sorge, ob Du nicht von der Kälte lei-
dest, da Du keine warmen Kleider besitzest. Ich hatte für
Dich schon einen Schafspelz bestellt gehabt, als ich aber
Deinen Brief erhielt die Bestellung rückgängig gemacht
und einen prachtvollen Kragen aus Biberfell für 50 Rubel
gekauft, den ich Dir Morgen senden w^erde. Ich fürchte
nur dass Du im Paletot frieren Avirst, ich weiss nicht, ob
er genügend mit Watte gefüttert ist".
1) Von diesem Ballet hat Peter Iljitscli nur den Anfang iertiggestellt. Von einer
Bestellung seitens der Direktion des Theaters, sowie von den Gründen, weshalb die
Sache rückgängig gemacht worden, ist uns Nichts bekannt.
219 —
An.I. А. Klimenko:
„26. Oktober.
Bei uns weilt A. Rubinstein. Er hat die Saison
eröffnet: im ersten Symphoniekonzert spielte er das Kon-
zert von Schumann (welches ihm aber missglückt ist), fer-
ner Variationen von Mendelssohn und Etüden von Schu-
mann (diese — ganz ausgezeichnet), hi der Quartettsoiree
trug er sein Trio vor, welches mir nicht gefallen hat. In
einer speziell für ihn angesetzten Orchesterprobe dirigierte
er seine neue Phantasie „Don Quixote". Sehr interessant,
stellenweise sogar famos. Ausserdem hat er ein Violinkon-
zert und eine ganze Menge kleinerer Stücke komponiert.
Eine erstaunliche Fruchtbarkeit! Nikolai Gregorjeivitsch hat
im Sommer sein ganzes Geld bei der Roulette verspielt.
Augenblicklich arbeitet er wieder unermüdlich wie ge-
wöhnlich.
Ich habe drei neue Stücke \), eine Romanze -) kompo-
niert und auch an der Oper weitergearbeitet, ausserdem
die Ouvertüre „Romeo" umgestaltet"....
An I. P. Tschaikowsky:
„26. Oktober.
Von mir kann ich nur berichten, dass ich gesund,
blühend und lustig bin. Arbeite recht viel und beginne,
mich im Konservatorium so einzuleben, dass ich meine
Beschäftigung daselbst nicht mehr als lästig empfinde. An
meinen Kompositionen arbeite einstweilen nicht viel, im
November werde aber ordentlich drangehen".
An A. Tschaikowsk}>:
(Anfang November).
.Meine Zeit ist jetzt sehr in Anspruch genommen:
ich habe die Dummheit begangen, für ein geringes Hono-
rar die Komposition der Musik zum Ballet „Aschenbrödel"
zu übernehmen. Das Ballet soll schon im Dezember zur
Aufführung kommen, und ich habe eben erst mit der Ar-
beit begonnen; zurück kann ich auch nicht mehr, da der
Kontrakt bereits unterschrieben.... Meine Ouvertüre „Romeo
und Julie" wird in Berlin gedruckt und soll in mehreren
deutschen Städten aufgeführt werden"....
1) Dp. 9. Drei Stücke für Klavier: i) Reverie, 2) Polka de salon, 3I Mazurka.
2j Die Romanze „So schnell vergessen".
220
An А. Tschaikowsky:
„29. November.
Ich verbringe meine Zeit wie gewöhnlich und lebe mich
immer mehr in Moskau ein. Wenn ich nur Geld hätte', so
würde ich mich hier sehr gut einrichten. Aber selbst mit
meinen Mitteln könnte man bei verständiger finanzieller
Verwaltung garnicht schlecht leben ohne sich einzuschrän-
ken. Leider aber haben wir alle Drei (Du, Modest und
ich) ein gar zu grosses Talent zum Geldverschwenden".
An A. I. Dawidowa:
„20. Dezember.
Meine Liebe, Dein Brief hat mich sehr gerührt und
gleichzeitig beschämt. Es wundert mich, dass Du auch
nur einen Augenblick an der Unveränderlichkeit meiner
Liebe zu Dir zweifeln konntest?! Mein Schweigen beruht
zum Teil auf Faulheit, zum Teil aber darauf, dass ich zum
Schreiben grosser Seelenruhe bedarf, welche ich fast nie
zu erzielen vermag. Entweder bin ich im Konservatorium,
oder ich erfasse in fieberhafter Eile ein freies Stündchen,
um zu komponieren; entweder verführt mich Jemand zum
Ausgehen, oder habe ich Besuch bei mir, oder, endlich,
bin ich so müde, dass ich nur schlafen kann.
Mit einem Wort, die Umstände fügen sich so, dass es
mir nicht möglich ist, einen Moment zu finden, um an Die-
jenigen, welche mir so wie Du, liebe Sascha, teuer sind,
in Ruhe einen Brief zu schreiben. Ich habe Dir schon ein-
mal geschrieben, dass Du — obwohl Du nicht in meiner
Nähe weilst — dennoch eine bedeutende Rolle in meinem
Leben spielst. In schw^eren Stunden fliegen meine Gedan-
ken stets zu Dir, — „w^enn es mir sehr schlimm gehen sollte,
dann gehe ich zu Sascha", — so denke ich dann, oder: „das
werde ich thun: Sascha würde gewiss auch dazu raten",
oder: „soll ich ihr schreiben? was wird sie dazu sagen?"
Nach alledem setzt das Leben fort, mich mit seiner Bran-
dung fortzureissen ohne Zeit zu lassen zum Ueberlegen
und Kräftesammeln. Die nächste Umgebung saugt an mir
und umgarnt mich von Kopf bis zu Fuss. Mit welcher
Freude denke ich daran, wie ich von dieser Umgebung
einst loskommen und andere Luft atmen werde, wie ich
mich erwärmen werde an Deinem liebevollen Herzen! Im
nächsten Sommer will ich bestimmt zu Dir kommen. In's
Ausland werde ich nicht reisen.
— 221 —
Ich führe eine sehr geregelte Lebensweise. Komponiere
an meiner Oper und bewege mich immer zwischen den-
selben Menschen. In Moskau lebe ich mich immer mehr
ein, sodass mir jetzt ein längerer Aufenthalt in einer an-
deren Stadt undenkbar scheint".
An A. Tschaikowsky:
„3. Februar 187 1.
Ich verbringe die Zeit sehr angenehm. Bei mir wohnt
jetzt der liebe Klimenko, welcher Dir einen Gruss sendet.
Ich turne j'etzt drei Mal in dei* Woche. Die Oper macht
Fortschritte".
An I. P. Tschaikowsk}^
„14. Februar.
Mein lieber teurer Vater! Du schreibst, dass es nicht
übel wäre, wenn ich wenigstens ein Mal im Monat einen
Brief an Dich absenden wollte.
Nein, nicht ein Mal im Monat, sondern wenigstens alle
Woche einmal müsste ich Dir Bericht erstatten über Alles
was mit mir vorgeht, und ich wundere mich wahrlich,
dass Du mich noch nicht gründlich ausgescholten hast!
Nun werde ich Dich, aber, bei Gott, nie wieder so lange
ohne Nachricht lassen. Bitte Dich kniefällig um V^erzeihung
und verspreche, in Zukunft pflichtgetreuer zu sein. Die
Nachricht vom Tode Onkel Peter Petrowitsch's ist vor etwa
fünf Tagen an mich gelangt. Möge Gott ihm ewige Selig-
keit zu Teil werden lassen, denn seine reine und ehrliche
Seele hat es wohl verdient! Ich hoffe, mein Lieber, dass
Du dieses Unglück mutig zu tragen weisst. Denke daran,
dass mein armer Onkel bei seiner schwächlichen Körper-
konstitution und bei den vielen Wunden, an denen er zu
leiden hatte, doch ziemlich lange gelebt hat".
Mit diesem Brief schliesst die Korrespondenz Peter II-
jitsch's in der Saison 1870- -71. Es ist sehr wahrscheinlich,
dass Mancher seiner Briefe durch Zufall verloren gegan-
gen, doch ist es unzweifelhaft, dass Peter Iljitsch seit dem
Februar seltener Briefe geschrieben hat, als früher.
Da Peter Iljitsch sehr an Geldmangel litt, so entschloss
er sich, dem Rate N. Rubinstein's folgend, ein eignes Kon-
zert zu geben. Um diesem Konzert ein grösseres Interesse
zu verleihen, hielt er es für notwendig, eine neue und be-
— 222 — -
deutendere Komposition \on sich ins Programm aufzuneh-
men. Auf ein ausverkauftes Haus durfte er freihch nicht
hoffen, und daher war von einem grossen Orchesterkon-
zert wegen dessen Kostspieligkeit garkeine Rede. Aus
diesem Grunde beschloss Peter Iljitsch ein Streichquartett
zu komponieren. Das war die Entstehungsursache des Quar-
tetts K° I (D-dur). Den ganzen Februar war Peter Iljitsch
mit der Komposition dieses Werkes eifrig beschäftigt.
Das Konzert hat am i6. März im Kleinen Saal der
Adelsversammlung stattgefunden und Peter Iljitsch hat dank
der Mitwirkung des Quartettensembles der Russischen Mu-
sikalischen Gesellschaft mit F. Laub an der Spitze, sowie
N. Rubinsteins, hauptsächlich aber der Sängerin Frau E.
Lawrow^skaja, welche damals auf der Höhe ihrer ausser-
ordentlichen Popularität stand, wenn auch keine volle, so
doch eine ziemlich grosse Einnahme gehabt.
Das Programm dieses Konzerts war folgendes: Erster
Teil — i) Quartett für Streichinstrumente (D-dur) von P.
Tschaikowsky (ausgeführt von den Herren: Laub, Hrimal}',
Minkus und Fitzenhagen), 2) Zwei Lieder: a. „Nur wer die
Sehnsucht kennt" vonTschaikowsk\',b. „Comme ä vingt ans"
von Durand (gesungen von Frau E. A. Lawrowskaja), 3) Ro-
manze von Fitzenhagen und Mazurka von Popper für
Violoncello (vorgetragen von W. Fitzenhagen). Zweiter
Teil — I) Duett aus der Oper „Der Woiwode" (gesungen
von den Damen Alexandrowa und Baikowa), 2) Reverie
und Mazurka von Tschaikowsk}- (vorgetragen von N. Ru-
binstein), 3) Lieder „So schnell vergessen" und „Wie wehe,
wie süss" von P. Tschaikowsky (gesungen von Fr. Ale-
xandrowa), 4) Violinsolo (vorgetragen von Herrn F. Laub),
5) Chor für Frauenstimmen „Natur und Liebe" von P.
Tschaikowsk}' (gesungen von dem Chor der Schülerinnen
Frau Walzecks).
Kaschkin erzählt in seinen „Erinnerungen", dass dieses
Konzert unter Anderen auch I. S. Turgenjew „mit seiner
Anwesenheit beglückt hat, welcher sich zu der Zeit gerade
in Moskau befand und sich für den jungen Komponisten
sehr interessierte, da er schon im Auslande viel von ihm
gehört hatte. Die Aufmerksamkeit des berühmten Schrift-
stellers ist nicht unbemerkt geblieben und in einem für
den Komponisten günstigen Sinne beurteilt worden. Und
in der That hat sich Turgenjew sehr anerkennend über
die Werke Peter Iljitsch's geäussert, obwohl er das be-
deutendste von ihnen, das Quartett, nicht gehört hat, da
er zu spät ins Konzert gekommen ist".
— 223 —
Ende Mai reiste Peter Iljitsch zuerst nach Konotop, dem
Wohnort seines älteren Bruders Nikolai Iljitsch, dann nach
Kiew zu Anatol, und von da mit diesem zusammen nach
Kamenka, wo er den grösseren Teil des Sommers ver-
brachte. Den Rest seiner Ferien widmete er seinen Freun-
den Kondratjew und Schilowsk}^, indem er bei dem Er-
steren zehn Tage, und bei dem Andern nahezu einen Mo-
nat blieb. N. D. Kondratjew war ein früherer Schulkame-
rad Peter Iljitsch's und Einer seiner intimsten Freunde.
Als 1887 Peter Iljitsch die Nachricht erhielt, dass Kon-
dratjew sehr krank sei und in Aachen im Sterben liege,
verhess Peter Iljitsch unverzüglich den Kaukasus, wo er
den Sommer in Gemeinschaft mit seinen Brüdern verbrachte,
und eilte an das Krankenlager seines Freundes.
Die Besitzung Kondratjew's, das Kirchdorf Nis}' (im
Gouvernement Charkow), liegt prachtvoll am Ufer des
schönsten Flusses Kleinrussland's, dem Psjol, und vereinigt
in sich alle Reize der südrussischen Natur mit dem hell-
grünen Kolorit der nordrussischen Landschaften, die Pe-
ter Iljitsch so ans Herz gewachsen sind. In den heissesten
Tagen sieht man hier statt der hoffnungslos öden und aus-
gedorrten Umgebung Kamenka's prachtstrotzende, üppige
Wiesen, welche von hundertjährigen Eichenwäldern einge-
fasst sind. Namentlich, aber, gefiel Peter Iljitsch der Psjol
mit seinem kristallklaren, erfrischenden Wasser.
Der Ort selbst hat Peter Iljitsch sehr gefallen, nur die
Lebensweise nicht, welche nicht ländlich genug, nach städ-
tischer Art eingerichtet war. Die vielen Gäste vmd Ver-
wandten Kondratjews, das damit verknüpfte laute und
festliche Getriebe behagten Peter Iljitsch garnicht und er
gab infolgedessen dem Oertchen Ussowo, der Besitzung
Schilowsk\''s den Vorzug, welches zwar nicht so komfor-
tabel eingerichtet war und weder Badegelegenheit noch
irgendwelche Naturschönheiten aufzuweisen hatte, aber dank
seiner idyllischen Lage inmitten hübscher Waldungen, haupt-
sächlich aber dank der Einsamkeit und Stille, die dort
herrschte,PeterIljitsch dennoch angenehm war. DerSpätsom-
mer ist in Ussowo (Gouvernement Tambow) ebenso schein,
wie im Gouvernement Charkow, und Peter Iljitsch hat dort
mit grossem Genuss das Ende seiner Ferien verlebt. Seit-
dem hat Ussowo alle andern Sommerresidenzen Peter Il-
jitsch's in den Schatten gestellt und blieb mehrere Jahre
hindurch das Ziel seiner Wünsche, sobald nur die Bäume
und Wiesen zu grünen begannen.
— 224 —
Die chronologische Reihenfolge der Arbeiten Peter II-
jitsch's in der Saison 1870 — 1871 ist folgende:
1. Op. 9. Drei Klavierstücke. I. Reverie, N. Muromzewa
gewidmet, II. Polka de salon, A. Sograf gewidmet, III. Ma-
zurka de salon, A. I. Dubucjue gewidmet.
2. Lied „So schnell vergessen", Text von Apuchtin. Die-
ses Lied, sowie die Klavierstücke, sind" vor dem 26. Okto-
ber 1870 komponiert und im Verlag Jurgenson erschienen.
3. „Natur und Liebe", Terzett für zwei Soprane und eine
Altstimme mit Chor und Klavierbegleitung. Dieses Werk
ist an Frau Walzeck gewidmet. Peter Iljitsch hat es im De-
zember 1870 speziell für die Schülerinnen jener Gesangleh-
rerin komponiert und hat es am 16. März in seinem Kon-
zert zur Aufführung gebracht. Nach dem Tode des Kom-
ponisten hat es P. Jurgenson verciffentlich.
4. Op. II. Quartett № i (D-dur) für zwei Violinen,
Bratsche und Violoncello, gewidmet an Sergei Alexandro-
witsch Ratschinsky. Komponiert im Februar 1871. Zum
ersten Mal aufgeführt im Konzert am 16. März 1871. Das
Andante dieses Quartett's ist auf einem russischen Volks-
liede aufgebaut, welches Peter Iljitsch im Sommer 1869 in
Kamenka gehört und notiert hat.
5. Lehrbuch der Harmonie, verfasst im Laufe des Som-
mers in Nisy bei Kondratjew. Verlag Jurgenson.
Ausserdem hat Peter Iljitsch im Laufe der ganzen Sai-
son an der Oper „Opritschnik" gearbeitet.
"rK-
VIII.
1871 1872.
Wie ich bereits mehrfach erwähnt, lag es nicht in Pe-
ter Iljitsch's Charakter, durch gewaltsames Eingreifen sei-
nem Willen Geltung zu verschaffen und die Verhältnisse
seines äusseren Lebens umzugestalten. Er konnte lange
und geduldig warten, und noch länger beharrlich wün-
schen. Hat er doch als Jüngling jahrelang sein Streben zur
Musik widerstandslos in seinem Herzen getragen, so lange,
— 225 —
bis die Energie der Sehnsucht die Verhältnisse derart ge
staltete, dass er ohne Gewalt, ohne Zerstörung festen Kus-
ses den längst gewählten Lebensweg betreten konnte! Des-
gleichen auch jetzt: schon von Beginn seiner Berufsthätig-
keit an erfasste ihn mit Allgewalt das Verlangen, sich von
all' den Fesseln loszumachen, welche seinem Hauptlebens-
zweck— dem Komponieren hindernd im Wege standen.
Aehnlich wie in den sechziger Jahren der Dienst im
Justizministerium Peter Iljitsch lästig war und er in seinem
Innern seinen genusssüchtigen Lebenswandel verdammte,
trotzdem aber Beamter blieb und seine Beziehungen zur
Lebewelt nicht löste, gleichsam alswenn er abwarten wollte,
bis der Abscheu vor seinem nichtsthuerischen und zweck-
losen Dasein seine ganze Seele erfasst haben und ein Um-
kehren als unvermeidlich erscheinen lassen würde — gerade
so war es auch jetzt: obgleich er seine Pflichten als Pro-
fessor des Konservatoriums nur mit Unlust erfüllte und
oft über die Verhältnisse des Stadtlebens klagte, welche
seine schöpferische Thätigkeit beeinträchtigten, setzte er
dennoch das Unterrichtgeben gewissenhaft fort und entzog
sich nicht dem Trubel der Stadt, gleichsam alswenn er
ahnte, dass sein Bedürfniss nach Aufregungen, Verg:nü-
gungen und Zerstreuungen des Stadtlebens noch nicht
ganz geschwunden sei, alswenn er fürchtete, dass es — wenn
er es jetzt gewaltsam unterdrücken wollte — einst in ihm
von Neuem und mit grösserer Intensivität erwachen könnte
und ihn dann unwiderstehlich fortreissen würde. Gleichsam,
alswenn er wieder abwarten wollte bis er sich an seiner
Lebensweise übersättigt haben würde, um dann aus dieser
Uebersättigung neue Kräfte zu schöpfen und seine heisse
Sehnsucht. nach Freiheit, nach voller Freiheit und Offen-
barung aller in ihm schlummernden schöpferischen Keime
zu stillen.
Doch war zui- Erfüllung seiner Freiheitsträume die Zeit
noch nicht gekommen. Moskau war ihm in seinem werk-
täglichen Leben mehr denn je notwendig und zugleich an-
genehm. Er war noch zu sehr abhängig von verschiedenen
Umständen; um mit ihnen zu brechen, musste er gar Vieles
unternehmen: vor allen Dingen musste er sich von dem,
wenn auch freundschaftlichen Einfluss N. Rubinsteins eman-
zipieren. Das war der erste Schritt zur Freiheit, den er
machen musste. Bei all' seiner Freundschaft und Dankbar-
keit zu Nikolai Gregorjewitsch, bei all' der Verehrung,
welche er ihm als Mensch und Künstler zollte, litt er den-
TachaiJcowsky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. iö
22б
noch sehr unter dem Despotismus dieses seines treuesten
und wohhhätigsten Freundes. Vom frühen Morgen an und
bis spät abends musste Peter Iljitsch in allen Kleinigkeiten
des täglichen Lebens sich einem fremden Willen fügen,
und das war umsomehr unerträglich, als die Ansichten
der beiden Hausgenossen über v^erschiedene Dinge, nament-
lich über den Zeitvertreib, sowie ihre Gewohnheiten und
Gepflogenheiten sehr auseinandergingen.
Wie war gesehen, hatte Peter Iljitsch bereits zwei Mal
den Versuch gemacht, sich von Rubinstein zu trennen und
eine eigne Wohnung zu mieten. Aber jetzt erst ist es ihm
gelungen seinen Willen durchzusetzen. Einer der Gründe,
welche in den früheren Jahren Peter Iljitsch davon abhiel-
ten, gar zu energisch auf der Trennung zu bestehen, lag
in dem Umstand, dass es für Nikolai Gregorjewitsch ge-
radezu ein Bedürfniss w^ar, mit Jemandem zusammen zu
wohnen, und Peter Iljitsch es infolgedessen nicht über's
Herz bringen konnte, ihn allein zu lassen. Zum Glück Pe-
ter Iljitsch's fand sich nun endlich Einer der ihn ersetzen
konnte: der Allen sehr S3'mpatische N. A. Hubert willigte
mit Freuden ein, bei Rubinstein zu wohnen.
Somit war es Peter Iljitsch erst im zweiunddreissigsten
Lebensjahr vergönnt, ein ganz selbständiges Leben zu be-
ginnen. Seine Frende darüber, endlich allein zu sein und
sich innerhalb der Wände seiner neuen, drei Stuben um-
fassenden Wohnung als unumschränkter Herrscher zu fühlen,
war unbeschreiblich gross. Mit ausserordentlicher Sorgfalt
ging er nun dran, die kleine Wohnung möglichst gemütlich
einzurichten und auszustatten, und gab sich, als Alles fertig
war,mit rein kindlichem Jubel dem neuen Gefühl des Unabhän-
gigseins hin. Freilich konnte er für seine geringen Geldmittel
keine grosse Pracht entfalten. Seine eizigen Schmuckstücke
waren: das Portrait A. Rubinsteins, welches ihm die Malerin
Bonne schon anno 1865 geschenkt hatte, ferner ein Bild, wel-
ches Ludwig XVII. beim Schuster Simon darstellte, und wel-
ches Peter Iljitsch 1868 in Paris von W. P. Begitscheff
geschenkt worden war. Ein ziemlich grosses Sopha und
einige billige Stühle — das war auch Alles was unser Kom-
ponist sich anschaffen konnte.
Er engagierte einen Diener — Michael Sofronoff, der
früher bei F. Laub in Stellung gewesen war. Diesen Mi-
chael Sofronoff erwähne ich deshalb, weil Peter Iljitsch
bis an seinen Tod mit ihm und seiner Familie Beziehun-
gen unterhalten hat. Später vertrat die Stelle Michaels
— 227 —
dessen Bruder Alexei, der eine nicht unbedeutende Rolle
im Leben Peter Iljitscli's gespielt hat.
Gleichzeitig mit den Ausgaben haben sich in dieser
Saison auch die Einnahmen Peter Iljitsch's vergrössert.
hii Konservatorium ist sein Gehalt auf 1500 Rubel jährlich
gestiegen, ausserdem erhielt er für seine Kompositionen
von deren Verlegern und von der Russischen Musika-
hschen Gesellschaft^) verschiedene Summen Geldes — zu-
sammen etwa 500 Rubel jährlich.
Zu diesen 2000 Rubeln kam noch eine kleine Einnahme.
Peter Iljitsch ist Rezensent geworden; das kam so: La-
roche, der beständige Mitarbeiter der „Moskauer Nachrich-
ten", hat 1871 eine Stellung am Petersburger Konservato-
rium erhalten und übertrug seine Thätigkeit als musika-
hscher Berichterstatter der genannten Zeitung N. A. Hubert.
Dieser aber, vernachlässigte die übernommenen Pflichten
nach und nach teils aus Kränklichkeit, teils aus Faulheit.
Aus Furcht, das Katkow (der Besitzer der Zeitung) die
Stelle des Rezensenten einem Andern, vielleicht gar einem
Dilettanten übertragen, und dadurch den in den letzten
Jahren so erfolgreichen Gang der musikalischen Entwicke-
lung Moskau's hemmen oder schädigen könnte, entschlos-
sen sich Peter Iljitsch und N. Kaschkin, Hubert zu Hilfe
zu kommen und für ihn einzuspringen sobald er ausblieb.
So begann Peter Iljitsch seine journalistische Thätigkeit,
welche er bis zur einschliesslich ersten Hälfte der Saison
1876 fortsetzte.
An A. Tschaikowsky:
„3. September 1871.
....Am 29. August bin ich nach Moskau zurückgekehrt
und habe die Einrichtung meiner neuen Wohnung ener-
gisch in Angriff genommen. Sie ist sehr nett geworden
und ich bin ungeheuer froh, dass ich diesmal den Mut ge-
habt habe, den längst gehegten Wunsch in Erfüllung zu
bringen.
In Moskau ist Alles beim Alten, ich aber lebe ein neues
Leben, und, oh W^under — sitze bereits den zweiten Abend
zu Hause! Das kommt davon, wenn man sich heimisch
fühlt zu Hause!"
1) Auf Anregung N. Rubinsteins zahlte die Russisclie Musikalische Gesellschaft lür
die Aufluhrung neuer Werke in ihren Sjmphoniekonzerten den Autoren zwecks Unter-
stützung und Aufmunterung jedesmal 200-300 Rubel aus.
— 228 —
An Nikolai Iljitsch Tschaikowsk\':
„28. November.
Von mir kann ich nur berichten, dass ich mich nicht
genug freuen kann über meinen Entschluss, mich von N.
Rubinstein zu trennen. Trotz meiner ganzen Freundschaft
zu ilim war mir das Zusammenwohnen mit ihm sehr lästig.
Arbeite jetzt eifrig an meiner Oper, welche zum Ende dieses
Jahres fertig werden soll".
An A. Tschaikowsk}-:
„2. Dezember.
Muss Dir mitteilen, dass ich auf dringenden Wunsch
Schilowsk3''s für etwa einen Monat in's Ausland reisen
werde, wahrscheinlich schon nach 10 — 14 Tagen. Da aber
Niemand in Moskau — ausser Rubinstein — etwas davon
wessen darf, so sollen Alle in dem Glauben erhalten blei-
ben, dass ich zu Sascha gereist sei.
Unser Konservatorium ist ins Schwanken geraten, so-
dass seine Zukunft in Frage steht. Ich weiss nur soviel,
dass ich um der Sache willen sehr empört sein werde,
wenn es zum Krach kommen sollte, um meiner selbst wol-
len werde ich mich aber freuen ^). Meine Konservatoriums-
pflichten sind mir derart widerwärtig geworden und er-
müden und verstimmen mich in so hohem Grade, dass ich
eine jede Veränderung freudig begrüssen werde! Hungers
werde ich wohl nicht sterben. Vielleicht werde ich dann
nach Petersburg übersiedeln, oder — w^er weiss — vielleicht
gar nach KiewI!
Meine Oper gedeiht nur sehr langsam und ich werde
sie w'ohl kaum vor den Grossen Fasten fertig bekommen.
Sonst habe Dir Nichts Interessantes zu berichten. Dass ich
Zeitungsreporter geworden bin, wirst Du wohl schon wis-
sen. Das thue ich aber aus reiner Selbstaufopferung, denn
Hubert faulenzt, und Fremde zulassen möchte ich nicht".
An A. Tschaikowsk}-;
„I. Januar 1872. Nizza.
Meine Reise ist gUicklich von Statten gegangen. Un-
1) Die Geldmittel der Moskauer Abteilung der Kussischen Musikalischen Gesell-
schaft befanden sich in jener Saison in einer so misslichen Lage, dass man genötigt war,
an allerhöchster Stelle um eine Subvention nachzusuchen. Diese wurde denn auch im
Juni 1872 in der Höhe von 20,000 Kubel jährlich auf fünf Jahre hinaus bewilligt.
229
terwegs habe ich mich einen Tag in Petersburg, einen Tag
in Berhn und ebensolange in Paris aufgehalten. Paris ist
zwar glänzend und belebt, gefällt mir aber nicht mehr so gut
wie früher. In Nizza bin ich schon seit acht Tagen. Es ist
gar zu kurios, so plötzlich aus dem dicksten russischen
Winter in eine Gegend zu geraten, wo man im Freien
nicht anders als im blossen Rock (ohne Ueberzieher) spa-
zieren kann, wo Orangen, Rosen und Flieder blühen und
die Bäume belaubt sind. Nizza ist herrlich. Niederträchtig
ist nur das prunkvolle Leben. Im Winter vereinigen sich
hier die reichsten Leute der Welt, die daheim Nichts zu
thun haben, und es kostet mich viel Mühe, um vom Tru-
bel nicht mitgerissen zu werden. Du weisst, wie sehr ich
das Gesellschaftsleben gern habe und wirst begreifen, dass
es mir hier gefällt. Ich muss, überhaupt, eine merkwürdige
Thatsache feststellen. Mit so leidenschaftlicher Ungeduld
hatte ich die Abreise von Moskau herbeigesehnt, dass ich
in der letzten Zeit schlaflose Nächte verbracht, gleich nach
der Abreise jedoch, ergriff mich ein glühendes Heimweh,
welches mich während der ganzen Reise in Bann hielt und
auch jetzt noch inmitten der herrlichen Natur nicht nach-
lassen will. Allerdings, erlebe ich manchmal auch ange-
nehme Stunden, so zum Beispiel, wenn ich im glühenden
(und doch nicht quälenden) Sonnenschein früh morgens
allein am Meere sitze. Aber selbst diese Momente sind
nicht ohne Schatten von Melancholie, Was folgt daraus? —
Dass ich alt geworden bin und mich Nichts mehr erfreut.
Ich lebe an meinen Erinnerungen und an Hoffnungen. Wo-
rauf soll man aber hoffen?
Ohne Floffnung auf die Zukunft kann man nicht leben,
so träume ich denn schon jetzt davon, wie ich zu Ostern
nach Kiew reisen und einen Teil des Sommers mit Dir in
Kamenka verbringen werde".
An Ilja Petro witsch Tschaikowsky:
„31. Januar. Moskau.
Meine Reise war glücklich und angenehm. Ich bin
in Berlin, Paris, Nizza (hier nahezu drei Wochen), Genua,
Venedig und Wien gewesen. In Nizza hatten wir sehr
schlechtes Wetter: eine Zeit lang gab es so starke Regen-
güsse und solch einen Sturm, dass das Meer beinahe ganz
Nizza weggewaschen hätte. Ein Eisenbahnzug ist verun-
glückt, ein Felsblock ist abgestürzt und hat ein grosses
— 230 —
Haus zertrümmert und viele Menschen verschüttet. Es wa-
ren, allerdings, auch herrliche Tage. Manchmal war es so
heiss, лу1е bei uns im Juni. Wenn meine Reise auch an-
genehm gewesen, so hat mich die Unthätigkeit zuletzt doch
ermüdet und ich bin mit Vergnügen nach Moskau zurück-
gekehrt".
An A. Tschaikowsk}^:
„31. Januar.
Aus Wien wollte ich eigentlich zuerst nach Kiew
reisen und habe einen ganzen Tag geschwankt, ob ich,
der Notwendigkeit gehorchend, direkt nach Moskau gehen,
oder meinem Herzenswunsche nachgeben und bei Dir ein-
kehren sollte. Die Berechnung der Reisekosten und die
grosse Zeitversäumniss, welche mein Aufenthalt in Kiew
mit sich bringen müsste, haben entschieden, dass ich den
direkten Weg nach Moskau, d. h. den über Smolensk, zu
wählen habe".
hii Jahre 187 1 wurde in Moskau zur Feier des 200-sten
Geburtstages Peters des Grossen eine grosse Polytechnische
Ausstellung geplant. Der Vorsitz bei den musikalischen
Angelegenheiten der Ausstellung wurde anfangs N. Rubin-
stein übertragen, als aber Dieser sich zurückzog, weil seine
Unternehmungen nach der Ansicht des Komitee's der Aus-
stellung zu viel Geld erforderten und überhaupt zu breit
angelegt waren, da wurde seine Stelle dem berühmten
Cellisten K. Dawidow angeboten, welcher sie auch annahm,
trotzdem er wohl einsah, dass er Rubinstein gegenüber in
eine etwas unbequeme Lage geraten und dass es nur Ru-
binstein allein geziemte, Festdirigent zu sein. Damit aber
die verantwortliche Stellung nicht in unberufene Hände
(am Ende gar an einen Dilettanten) gerate, entschloss sich
Dawidow, wie gesagt,' dennoch, den Vorsitz zu führen und
engagierte zu Mitgliedern des musikalischen Komitees Ba-
lakireff und Laroche. Balakireff hat aber das Engagement
nicht sogleich angenommen, sondern geantwortet, dass er
vorerst die Meinung Nikolai Rubinsteins über das Eindrin-
gen der Petersburger Musiker in die musikalischen Ange-
legenheiten Moskau's einholen wolle und nur im Falle eines
Einverständnisses seitens Nikolai Gregorjewitsch's das ihm
angebotene Amt übernehmen würde. Da aber zwei Mo-
nate lang keine weitere Nachricht von ihm erfolgte, so
beschloss das Komitee auf seine Mitgliedschaft zu verzieh-
— 231 —
ten, und ■ wählte statt seiner Rimsky-Korsakoff; ausserdem
wurden zu Mitgliedern gewählt: Asantschewsky (der da-
malige Direktor des Petersburger Konservatoriums), Wurm
und Leschetizk}^
Dieses eigenartige Moskauer Komitee, welches durch-
weg aus Petersburgern zusammengesetzt war, hat ein
Projekt der musikalischen Sektion der Ausstellung aus-
gearbeitet und unter Anderem den Beschluss gefasst, Pe-
ter Iljitsch Tschaikowsky die Komposition einer Festkan-
tate zu übertragen, deren Text eigens zu diesem Zweck
bei dem Dichter I. P. Polonsky bestellt werden sollte.
Ende Dezember oder Anfang Januar hat Polonsky denn
auch den bereits fertigen Text an das Komitee abgeliefert,
was Laroche in seinem Brief vom 7. Januar an Peter Il-
jitsch folgendermassen mitteilt:
„Da ich nicht weiss, ob dieses Schreiben Sie noch in
Nizza antreffen wird, sende ich Ihnen den Text der Kan-
tate noch nicht: fürchte, er könnte verloren gehen. Die
Wahrheit zu sagen, ist der Text sehr antimusikahsch,
aber — das muss Ihnen schliesslich gleich sein, denn es soll
ja nur ein bestelltes Ausstellungsstück werden und nicht
eine wer weiss wie stimmungsvolle Schöpfung; es ist dazu
auch schon zu spät, einen anderen Text zu besorgen; ich
bin, übrigens, überzeugt, dass Sie als Fachmusiker, auch
bei etlichen Mängeln des Textes das Richtige zu treffen
wissen werden. Sie dürfen laut Einverständniss Polonsky's
und auch Dawidow's, beliebige Kürzungen vornehmen. Po-
lonsky wünscht nur, dass wenigstens auf dem Programm
der ganze Text ungekürzt beibehalten bleibe, denn er
„schätzt die Idee (welche er in seinem Werke zum Aus-
druck gebracht zu haben glaubt) und deren Entwickelung
sehr hoch". Möchte noch hinzufügen, dass manche Stellen
des Gedichts für einen Komponisten mit lebendiger Phan-
tasie und feinem Gefühl allerdings recht dankbar sein müs-
sen. 760 Rubel hat Dawidow bewilligt. Die gewissenhafte
Auszahlung des Honorars an Polonsky soll Ihnen dafür
bürgen, dass jene Summe kein „Fimm" sind, wie der
Kriegsminister Suchozanet sich auszudrücken pflegte. Es
wäre sehr schön, wenn Euer Hochwohlgeboren ein Glanz-
und Paradestück in technischer Beziehung leisten wollten
(da beim Eröffnungskonzert, in welchem die Kantate zur
Aufführung kommen soll, wahrscheinlich viele Ausländer
zugegen sein werden, so würde es garnichts schaden, ihnen
zu zeigen, dass wir nicht nur über „reizende Nationalme-
— 232 —
lodieen", sondern auch über ein ernstes Können verfügen)
Dawidow ratet Ihnen, etwaige Schwierigkeiten mögHchst
alle ins Orchester zu verlegen, und nicht in den Chor,
denn der Moskauer Chor — übrigens, wissen Sie selber,
was von dem Moskauer Chor geleistet werden kann. Die
Einstudierung, sowie die Aufführung der Kantate hat Da-
widow in meine Hände gelegt; er hat mir überhaupt den
ganzen russischen Teil der aufzuführenden Kompositionen
anvertraut".
Wenn zur Fertigstellung eines an Peter Iljitsch erteil-
ten Auftrags ein bestimmter Termin festgesetzt wurde, so
pflegte er, die Arbeit schon vor Ablauf der Frist zu be-
enden, jedenfalls verspätete er niemals. Daher liegt die
Vermutung nahe, dass er auch diesmal die bestellte Arbeit
rechtzeitig fertigbekommen und die Kantate zum i. April
an das Komitee abgeliefert hatte. Da Peter Iljitsch den
Text der Kantate erst bei seiner, Ende Januar erfolgten
Rückkehr nach Moskau zu Gesicht bekam, so hat er dem-
nach nur zwei Monate (Februar und März) gebraucht, um
die umfangreiche und komplizierte Partitur zu komponieren.
Im April hat er an seinem „Opritschnik" weitergear-
beitet und denselben bereits in den ersten Tagen des Mai
zum Abschluss gebracht.
Das Alles kann ich nur vermuten, da aus der Zeit
zwischen dem 31. Januar und 4. Mai nicht ein einziger
Brief Peter Iljitsch's erhalten geblieben ist.
Die Partitur des „Opritschnik" wurde an Eduard Franzo-
witsch Näprawnik nach Petersburg nebst folgendem Begleit-
schreiben übersandt:
„Moskau, d. 4. Mai.
Sehr geehrter Herr! Sende Ihnen die Partitur meiner
Oper „Opritschnik". Gestatten Sie mir, die Bitte an Sie
zu richten, mein Werk wohlwollend zu beurteilen und
Ihren mächtigen Einfluss dahin geltend zu machen, dass
das Werk zur Aufführung angenommen werde.
Hochachtungsvoll
P. Tschaikowsky".
Die Kantate wurde am 31. Mai, dem feierlichen Eröff-
nungstage der Moskauer Polytechnischen Ausstellung, in
dem um 2 Uhr Mittags stattgefundenen Festkonzert zum
ersten Mal aufgeführt. Der Bericht der „Moskauer Nach-
richten" lautet folgendermassen: „In dem Festkonzert ge-
— 233 —
legentlich der Eröffnung der Ausstellung, welches um 2
Uhr Mittag unter freiem Himmel (an der Troizker-Brücke)
veranstaltet worden ist, kam unter Anderem auch die vom
musikalischen Komitee der Ausstellung an Professor P.
Tschaikowsky bestellte Kantate für grosses Orchester, Chor
und Tenorsolo zur Aufführung. Der Text rührt von I. Po-
lonsk\A her. Am Dirigentenpult stand der Vorsitzende des
musikalischen Komitees, der berühmte Cellist K. Dawidow.
Chor und Orchester waren vom Grossen Theater gestellt.
Das Tenorsolo sang Herr DodonofT. Ein geringer Teil des
Publikums hatte auf dem Podium (da waren Stühle auf-
gestellt) Platz gefunden. Die übrigen Anwesenden befan-
den sich im Garten und haben, wie man sagt, vom gan-
zen Konzert nicht eine Note gehört. Die Töne verflogen
in alle Winde, und das Publikum hat daher garkeine Vor-
stellung vom Werk gewonnen. Nach dem Urteil Einiger,
die es in den Proben kennen gelernt haben, soll es ganz
hervorragend schön sein. Wie verlautet soll die Kantate
im Exerzierhause wiederholt werden. Bei dem heutigen
Konzert war Seine Kaiserhche Hoheit der Grossfürst Kon-
stantin Nikolaje witsch anwesend".
Bald nach diesem Fest verliess Peter Iljitsch Moskau
und verbrachte den ganzen Monat Juni in Kamenka. Hier
begann er seine 2. S34nphonie (C-moll). Anfang Juli reiste
er dann nach Kiew und von da mit Modest zusammen zu
Kondratjew nach Nisy. Ein Teil des Weges (von der vSta-
tion der Moskau — Kursker Eisenbahn, Woroschba, bis zum
Städtchen Sum}^ woselbst uns Kondratjews Equipage er-
warten sollte) musste per Diligence zurückgelegt werden.
Nach zehntägigem Aufenthalt in Nisy verabschiedeten wir
uns von Kondratjew und fuhren: ich nach Kiew zurück
und Peter Iljitsch nach Üssowo zu Schilowsky. Bis W^o-
roschba hatten wir gemeinsamen Weg und bestellten uns
in Sum}', einer übermütigen Laune folgend, statt zweier
Plätze in der Diligence einen besonderen Wagen. Zwischen
Sumy und Woroschba befand sich eine Poststation, wo ge-
wöhnlich die Pferde gewechselt wurden. Wir waren Beide
in der besten Stimmung und nahmen auf jener Station ein
opulentes Frühstück mit Schnaps und Wein ein. Der Wein
und der Schnaps wirkten auf nüchternen Magen ziemlich
stark, sodass wir, als man uns meldete, dass keine Pferde
zur Weiterfahrt vorhanden wären, in grossen Zorn ge-
rieten und den Stationsvorsteher tüchtig ausschalten. Die-
ser aber liess sich eine derartige Behandlung seitens sol-
— 234 —
eher, nicht besonders vornehm aussehender Durchreisen-
den durchaus nicht gefallen und begann nun seinerseits
uns anzuschreien. Peter Iljitsch verlor seine ganze Selbst-
beherrschung und konnte die übliche Phrase: „wissen Sie
auch mit wem Sie reden?" nicht vermeiden. Der Stations-
vorsteher liess sich, jedoch, durch diese abgedroschene
Drohung nicht einschüchtern und antwortete, er habe es
durchaus nicht nötig, sich um den ersten besten Herkömmling
zu bekümmern. Diese verächtlichen Worte versetzten Pe-
ter Iljitsch vollends in Wut und er forderte barsch das
Beschwerdebuch. Der Stationsvorsteher brachte es sofort
und Peter Iljitsch, w^elcher aus dieser Bereitwilligkeit fol-
gern zu müssen glaubte, dass eine mit dem unbekannten
Namen Tschaikowsky unterschriebene Beschwerde nicht
die Wirkung ausüben würde nach der seine Rachsucht
dürstete, unterzeichnete schnell entschlossen: „Fürst Wol-
konsk}^, Kammerjunker". Der Erfolg war ein glänzender:
es verging keine Viertelstunde, als der Stationsvorsteher
die Meldung brachte, dass die Pferde angespannt seien,
und unterthänigst um \^erzeihung flehte, indem er die
Schuld dem Oberstallmeister in die Schuhe schob, der ihm
pflichtvergessenerweise nicht rechtzeitig mitgeteilt habe,
dass ein Paar Pferde zurückgekommen seien.
Als wir in Woroschba anlangten war es die höchste
Zeit, denn der Zug, der Peter Iljitsch nach Ussowo brin-
gen sollte, kam schon angebraust. In aller Eile trat Peter
Iljitsch an den Billetschalter und bemerkte jetzt erst mit
Schrecken, dass sein Portefeuille mit seinem ganzen Geld
und allen Papieren auf der Poststation neben dem Beschwer-
debuch liegen geblieben war. Was thun? Jedenfalls konnte
nun Peter Iljitsch mit diesem Zuge nicht mehr mit und
musste bis zum nächsten Tage warten. Das war schon
langweilig genug. Viel schlimmer noch, als das, war aber
der Gedanke, dass der Stationsvorsteher inzwischen den
Inhalt des Portefeuilles näher geprüft und aus dem darin
befindlichen Pass Peter Iljitsch's sowie seinen Visitenkar-
ten unseren richtigen Namen ersehen habe. Während wir
ganz niedergeschmettert dasassen und überlegten, was wir
"unternehmen sollten, kam auch mein Zug an. Trotz des
lebhaftesten Protestes meinerseits bestand Peter Iljitsch da-
rauf, dass icli WTMterfahren sollte. Ich gab denn auch schliess-
lich nach und dampfte nach Kiew ab, nachdem ich dem
armen Pseudofürsten den grösstenTeil meines fünf oder sechs
Rubel betragenden Vermögens geborgt hatte.
— 235 —
„Nachdem Du abgefahren warst", — schrieb er mir noch
am selben Tage, — „ging ich auf das DiHgencenbureau und
bat den Direktor desselben, Nawrotzk}^, er möchte doch
so liebenswürdig sein und einen der Kutscher beauftragen,
mir das liegengelassene Portefeuille wiederzubringen, damit
ich nicht selbst hinzufahren brauche. Er fragt mich nach
meinem Namen und ich antworte mit der grössten Frech-
heit „Fürst Wolkonsky". Sofort tituliert mich Nawrotzky
„Durchlaucht" und verspricht mit der zuvorkommendsten
Höflichkeit, mir die Fahrt zu ersparen, ohrfeigt in meiner
Anwesenheit einen Kutscher, der ihm vorgelogen, dass
mir 500 Rubel abhanden gekommen seien, und springt
überhaupt in devotester Weise um mich herum. Augen-
blicklich sitzt „Durchlaucht" im Hotel, langweilt sich fürch-
terlich und denkt mit Schrecken an die Morgen bevorste-
hende Entlarvung".
Die Nacht, die der arme Peter Iljitsch im Hotel zu-
brachte, war schrecklich. Vor Allem liessen ihm Ratten
und Mäuse — die er wie den Tod fürchtete — keine Ruhe;
er hatte mit den grässlichen Tieren, die über sein Bett,
über Tische und Stühle liefen und ein greuliches Gepolter
anstellten, einen wahren Kampf zu bestehen. Und am näch-
sten Morgen kam die Nachricht, dass der Stationsvorste-
her es strikt abgelehnt habe, das Portefeuille dem Kutscher
anzuvertrauen. Peter Iljitsch musste also nolens volens
selbst hinfahren. Das war schlimmer noch als die schlaf-
lose Nacht und der Kampf mit den Ratten....
Das war fürwahr eine böse Vergeltung für den unvor-
sichtigen Scherz und stand mit der Schuld in garkeinem
Verhältniss. Oft erzählte Peter Iljitsch später, dass er nie
in seinem Leben widerwärtigere Stunden zugebracht und
grössere Angst ausgestanden habe, als damals auf der
Fahrt von Woroschba nach der verhängnisvollen Station.
Zum Glück nahm die ganze Geschichte mit dieser Fahrt
ein Ende. Schon gleich bei seiner Ankunft merkte Peter
Iljitsch, dass der Stationsvorsteher das Portefeuille nicht
geöffnet hatte, denn — ehe er (Peter Iljitsch) noch den Wa-
gen verlassen — kam ihm Der schon entgegen und brachte
Tausend unterthänigste Entschuldigungen vor, dass er es
gewagt „Durchlaucht" persönlich zu bemühen. Die Ehr-
lichkeit dieses Mannes überraschte und erfreute Peter Iljitsch
derart, dass er sich nun seinerseits bei ihm ob seiner ge-
strigen Ungehaltenheit entschuldigte und ihn zum Abschied
noch nach seinem Namen fragte. Wie erstaunte er aber.
— 236 —
als der Stationsvorsteher sich TschalJcov\4l"!i nannte! hn
ersten Augenblick dachte er, dass das seitens des Vorste-
hers ein geistreicher Scherz oder eine Art Rache sei, doch
war dem nicht so, denn nach dem Ergebniss der später
von Kondratjew angestellten Erkundigungen führte der
Stationsvorsteher in der That den Namen Tschaikowsky.
Den Rest des Sommers verlebte Peter Iljitsch in Ussowo
und beendete daselbst die in Kamenka begonnene Sym-
phonie.
Die chronologische Reihenfolge der Arbeiten Peter II-
jitsch's war in dieser Saison folgende:
1. Op. IG. Zwei Klavierstücke: Nocturne und Humo-
resque. Sie sind wahrscheinlich im Dezember 187 1 in Nizza
entstanden. Der mittlere Teil des zweiten Stückes ist ein
französisches Volkslied. Beide Stücke sind Wladimir Schi-
lowsky gewidmet. Verlag Jurgenson.
2. Kantate für Chor, Orchester und Tenor-Solo. Text
von Polonsky. Komponiert im Laufe des Februar und März
1872. Aufgeführt am 31. Mai 1872 unter K. Dawidow's
Leitung. Das Manuscript der Partitur befindet sich in der
Bibliothek der Kaiserlichen Theater zu Moskau.
3. „Opritschnik", Oper in 4 Akten. Begonnen Ende
Januar 1870, beendet im April 1872. Gewidmet Seiner
Kaiserlichen Hoheit dem Grossfürsten Konstantin Niko-
lajewitsch. Verlag Bessel.
Die in Versen geschriebene Tragödie von Lashetschni-
koff, „Opritschnik", ist im Libretto derart verändert, dass
ich zwecks bequemeren Vergleiches der Originaldichtung
mit dem Operntextbuch es für notwendig halte, das Sce-
narium der Ersteren ausführlich darzulegen.
Der erste Aufzug beginnt (ebenso wie auch die Oper)
im Schlossgarten des Fürsten Shemtschushny. Der junge
Andrei Morosoff, welcher aus einem Feldzug zurückgekehrt
ist, erwartet hier seine Geliebte, die Tochter des Fürsten,
Natalie, welche vor Furcht zitternd zu ihm kommt. Andrei
hatte von der alten Muhme Zacharjewna gehört, dass Na-
talie mit dem Bojaren Moltschan Mitjkow verheiratet wer-
den soll, und diese Kunde beunruhigt ihn sehr. Er fragt
Natalie, ob sie ihn noch lieb habe, worauf sie antwortet,
dass sie ihn immer noch lieb und während der ganzen
Zeit seiner Abwesenheit zur heiligen Mutter Gottes gebe-
tet habe, Sie möge ihn beschützen und vor des Feindes
Schwert bewahren. Andrei fragt weiter, ob sie einen An-
— 237 —
dern, den sie nicht liebt, heiraten würde, wenn es ihr Va-
ter so wollte. Sie antwortet: „Wenn es der Vater befiehlt —
wohl!" — „Was gilt mir dann Deine Liebe?" — „Weiss selbst
nicht wie mir ist... Doch dem Willen des Vaters kann ich
nicht trotzen: befiehlt er's — thue ich's, und werde die Frau
eines Andern.... (sie weint) doch werde ich dann nicht
lange leben: gar bald wird man mir ein anderes Kränz-
lein winden müssen". Andrei ist beruhigt: sie liebt ihn und
keinen Andern. „Wenn dem so ist, dann wird sie mein",
denkt er bei sich, — „Alles spricht für mich: vornehm bin
ich, jung und reich!" — Er ahnt es noch nicht, dass er in-
zwischen seiner ganzen Habe beraubt worden ist.
hn zweiten Bild des ersten Aufzuges erweist es sich,
dass Nataliens Vater, der Fürst Shemtschushny in Gemein-
schaft mit dem von ihm bestochenen Djak ^) Podsjedin laut
eines gefälschten Testaments Andrei Morosoff, während
dieser im Feldzug war, ihn enterbt hatte.
Ferner empfängt der habgierige und hinterlistige Alte
den reichen, aber nicht mehr jungen Mitjkoff, der gekom-
men ist, Natalie zu freien, in allen Ehren und verspricht
ihm die Hand seiner Tochter. Andrei jedoch, der ebenfalls
erscheint und um die Hand Nataliens wirbt, jagt Shemt-
schushny wie einen obdachlosen Bettler zur Thür hinaus.
hn ersten Bild des zweiten Aufzuges sehen wir einen
Marktplatz in der inneren Stadt Moskau's. Allerlei Leute
kommen und gehen. Auch Andrei Morosoff wandelt auf
und ab. Er ist finster und missmutig und brütet auf Ra-
che. Plötzlich erscheinen mehrere Opritschniks und eine
Panik ergreift das Volk: die Läden werden eiligst geschlos-
sen, ein Jeder sucht hastig seine Waren in Sicherheit zu
bringen. Viele ergreifen die Flucht. Nur einige Beherzte
finden sich, die es wagen, den Opritschniks, diesen „Hun-
deköpfen" entgegenzutreten und sich gegen ihre Gewalt-
thätigkeiten zu wehren. Andrei stellt sich an die Spitze
der kleinen Schaar, und es entspinnt sich ein regelrechter
Kampf. Da erscheint auf der Bildfläche der Günstling des
Zaren, Fedor Basmanoff, der zugleich AndreT's Freund ist
und oft mit ihm Seite an Seite gefochten hatte; Andrei
hatte ihm sogar einmal das Leben gerettet. Er befiehlt den
Opritschniks sich zu entfernen und begrüsst seinen Freund.
Andrei erzählt ihm von seinem Unglück. Basmanoff will
ihm helfen und spricht ihm Trost zu; er will dafür sor-
1) Ein Djak war in danialii;er /cit ein Slaatsbeaniler, eine Art Notar und Richter
zugleich.
- 2з8 -
gen, dass er seine Braut wiedergewinnt und seine Habe
zurückerhält, nur eine Bedingung knüpft er daran: Andrei
muss Opritschnik werden. Nach einigem Zögern geht An-
drei auch darauf ein, denn nur so ist ihm die Möghchkeit
gegeben, an Shemtschushny Rache zu üben.
hii zweiten Bild des zweiten Aufzuges bringt Andrei
seiner Mutter Geld, welches er von Basmanoff erhalten
hatte, und teilt ihr mit, dass er sich aufmachen will Ge-
rechtigkeit zu suchen, verschweigt aber sein Vorhaben,
Opritschnik zu werden.
Erstes Bild des dritten Aufzuges: die Freunde des ver-
storbenen Vaters Andrei's, die Bojaren Fedoroff und Wis-
kowatoff, versuchen Mitjkow zu überreden, seiner Braut
Natalie zu entsagen und sie dem jungen Andrei" Morosoff
zu überlassen. Mitjkow, welcher jetzt erst erfährt, dass
Natalie und Andrei sich gegenseitig lieben und nur durch
die Grausamkeit Shemtschunshny's von einander getrennt
worden sind, verzichtet grossmütig auf die Heirat und be-
schliesst, in Gemeinschaft mit den genannten Bojaren zum
Zaren Joann Grosny ') zu gehen und von ihm die Ent-
lassung Andrei's aus der Opritschina zu erflehen. Sie neh-
men auch die alte unglückliche Mutter Andrei's mit.
Im zweiten Bild dieses Aufzuges sehen wir die Alexan-
drowskaja Sloboda -). Grosny erscheint, begleitet von eini-
gen in Mönchsgewänder gekleideten Opritschniks. Nach
einigen episodischen Scenen kommt Fedor Basmanoff. Er
ist mit Andrei und dem Djak Podsjedina nach Alexan-
drowskaja Sloboda gekommen und bittet Grosny, Andrei
in Schutz zu nehmen und den Fürsten Shemtschushn}^ zu
strafen. Podsjedina wird hereingeführt und gesteht, dass
jenes Testament gefälscht war. Andrei wird in die Oprit-
schina aufgenommen und muss ein Gelübde ablegen: er
muss Allem entsagen, was ihm lieb und teuer ist und schwö-
ren, dass er nur dem Zaren dienen und nur Diesem blin-
den Gehorsam entgegenbringen werde. Andrei leistet den
Eid und wird zum Opritschnik ernannt. Grosny schenkt
ihm das Vermengen des Vaters zurück und erteilt ihm das
Recht, sich an Shemtschushny zu rächen, wie er will.
Im ersten Bild des vierten Aufzuges dringen Andre'i
und Basmanoff während eines Festes bei Shemtschushny
in dessen Haus ein und verkünden den Willen des Zaren.
1) Grosny-der Grausame.
ü) Alexandi-owskaja Sloboda hiess der Ort, wo sich Joann Grosnj', umgeben von
seinen Ojjritsclinilis, aufgehalten hatte.
— 239 -
Natalie ist voller Entsetzen, Andrei als Opritschnik zu se-
hen, sträubt sich, ihm zu folgen und wird mit Gewalt fort-
geführt, hn zweiten Bild dieses Aufzuges sehen wir die
drei Bojaren Wiskowatoff, Fedoroff und Mitjkow vor Joann
Grosny. Mitjkow fleht den Zaren, Morosoff aus der Opri-
tschina zu entlassen, während die andern Beiden auf das
„arme verwaiste russische Land" hinweisen, über die Ver-
derblichkeit der Opritschina schelten und den Zaren fle-
hentlich bitten, nach Moskau zurückzukehren. Grosny lässt
in seinem Zorn alle drei Bojaren ergreifen und hinrichten.
Fünfter Aufzug, erstes Bild: Andrei ist in grosser Ver-
stimmung: die Opritschina lastet auf ihm. Ausserdem be-
trübt ihn sehr Nataliens Unwillen über seine Handlungs-
weise. Der Opritschnik Wjasemsky, der schon von Be-
ginn an Morosoff nicht gut leiden kann, versteht es so
einzurichten, dass Joann Grosny von einem Versteck aus
das Murren Andrei's über die Opritschina mit anhört. Plötz-
lich erscheint er vor Andrei und sagt ihm, dass er ent-
schlossen sei, seiner Mutter Wunsch zu erfüllen und Mitj-
kow's Bitte zu erhören, dass er ihn, Andrei, in Gnaden
aus der Opritschina entlassen wolle, dass er aber es gern
sehen würde, wenn Andrei seine Hochzeit noch als Oprit-
schnik und in der Alexandrowskaja Sloboda feiern würde.
Ohne die schreckliche Falle, die hinter diesen Worten
Grosny's lag, zu ahnen, eilt Andrei zu Natalie und teilt
ihr seine grosse Freude mit. Im zweiten Bild (welches in
der Oper zugleich das letzte ist) wird die Hochzeit ge-
feiert. Plötzlich kommt Wassili Grjasnoi, ein Gesandter
des Zaren, und sagt Andrei, dass Grosny ihm befohlen
habe, die junge Braut Natalie zu ihm zu bringen, er wün-
sche, sich von ihrer Schönheit persönlich zu überzeugen.
Andrei ist darob voller Entrüstung, erblickt darin eine
Schmähung seines Namens und will mit seiner Braut zu-
sammen zum Zaren gehen. Umsonst hält ihn Basmanoff
zurück, umsonst bemüht er sich ihm klar zu machen, dass
es seitens des Zaren nur eine Prüfung seiner Treue be-
deuten soll: Andrei reisst sich los und folgt seiner Braut,
hii dritten und letzten Bild wird Natalie dem Zaren vorge-
führt. Andrei kommt gleich darauf hereingestürzt. Grosny
erinnert ihn an seinen Eid, den er nun gebrochen hat und
befiehlt den andern Opritschniks, ihn zu richten. Er wird
vor den Augen des Zaren erstochen. Natalie, welche sich
voller Verzweiflung an ihren Gemahl klammern will, er-
hält ebenfalls den Todesstoss.
— 240 —
Ohne die Tragödie Lashetschnikoffs ausführlich kriti-
sieren zu wollen, muss ich dennoch auf einen ihrer Vor-
züge hinweisen, der dem Librettisten seine Arbeit ausser-
ordentlich zu erleichtern imstande ist; dieser Vorzug liegt
im ausgezeichneten Scenarium. Das ungeschwächt fort-
laufende Interesse der Liebesintrigue, eine ganze Reihe
effektvoller Situationen, das düstere und doch poetische
Kolorit einer monströsen Epoche, die Mannigfaltigkeit der
Episoden, welche sich für eine musikalische Illustration
sehr gut eignen (das Liebesduett des ersten Aufzuges, die
Volksscenen, die Opritschniks, die pathetische Scene des
Schwurs, die Figur des Grosny, das Fest bei Shemtschu-
shny, welches durch das Erscheinen Andrei's und Bas-
manoff's unterbrochen wird, endlich der Tod Andrei's),
das Alles könnte von einem gewandten Textdichter zu
einer wirkungsvollen, erschütternden Oper zurechtgemacht
w^erden.
Das geschah jedoch nicht. Als erstes bedeutsames Hin-
derniss erwies sich — die Zensur. Die effektvolle Figur des
Zaren Joann Grosny, welche für eine musikalische Cha-
rakteristik so überaus dankbar erschien, musste gänzlich
fortbleiben.
Das zweite Hinderniss nistete in Peter Iljitsch selbst.
Er, der im alltäglichen Leben so verschwenderische, so
freigebige Peter iljitsch, war in künstlerischen Sachen unge-
mein „haushälterisch" und ging mit dem seinen Kompo-
sitionen zu Grunde liegendem schöpferischem Material sehr
ökonomisch um. Wie ein weiser und sparsamer Bauer nicht
gern Etwas ausgiebt, solange er in Rumpelkammern und
m Scheunen unter allerlei alten Sachen noch den einen
oder den andern brauchbaren Gegenstand zu finden ver-
mag, sei es ein Ziegelstein, oder em Stückchen Holz oder
einige Nägel u. s. w., — so war auch Peter Iljitsch: mit Vor-
liebe entnahm er seinen früheren, der Vergessenheit an-
heimzufallen drohenden Werken, Alles was noch „zu ret-
ten" war und einverleibte es seinen neueren Kompositionen,
Solches that er, übrigens, nur in den seltensten Fällen aus
Faulheit, denn diese kannte er nicht in seiner schöpferi-
schen Thätigkeit; er war viel mehr der Ansicht, dass es
schade sei, sein ihm von Gott verliehenes Talent zu ver-
schwenden und Alles was er Brauchbares geschaffen hatte
untergehen zu lassen.
Peter Iljitsch sah ein, dass seine Oper „Der Woiwode",
welche vom Repertoir des Grossen Theaters gestrichen
— -»241 —
worden war, nie wieder auf den Brettern erscheinen würde,
und es that ihm piötzhcli leid, einige Nummern jener Oper,
welche seiner Meinung nach ein solches Schicksal nicht
verdient hatten, ins Meer der Vergessenheit zu versenken.
Bei der Zusammenstellung des Textbuches für die neue
Oper kam ihm nun der unselige Gedanke, im „Opritschnik"
Alles Das zu verwerten, was im „Woiwoden" in musika-
lischer und scenischer Hinsicht Gutes zu finden war, vor
allen Dingen die ganze erste Hälfte des ersten Aktes, zu-
mal da zum Glück in beiden Opern die Handlung in einem
Schlossgarten begann.
Dieses gewaltsame Eindringen des Textes von Ostrow-
sky in die Tragödie Lashetschnikoffs erzeugte eine Ver-
stümmelung des ganzen Scenariums, was auf das ganze
Libretto sehr schädigend wirkte. Die Exposition wurde
unklar; die Charakteristik der handelnden Personen wur-
de total verwischt. So erscheint zum Beispiel der Fürst
Shemtschushny bei Peter Iljitsch gleich zu Anfang als ein
gutmütiger Alter, der gemütlich mit Mitjkow plaudert und
nicht das Geringste von seiner teuflischen Bosheit mer-
ken lässt, durch die allein Morosoffs spätere Handlungs-
weise gerechtfertigt wird. Die andern Personen thun und
reden in diesem Akt ganz uninteressante und für die Ent-
wicklung des Drama's ganz unwesentliche, oft sogar
unsinnige Dinge, was eine ganz falsche Charakteristik der
betreffenden Personen herbeiführt. So bricht zum Beispiel
Andrei Morosoff — ähnlich wie Bastrjukow im „Woiwo-
den" — den Pfahlzaun des Gartens Shemtschushny 's und
thut dieses sogar in Gemeinschaft und mit Hilfe der Opri-
tschnik's, wodurch er gleich im Anfang seine Sohdarität
mit ihnen bekundet, während das doch dem Sinn der Tra-
gödie ganz und gar widerspricht. Auch unternimmt An-
drei die Verwüstung im Garten Shemtschushny's nicht, wie
Bastrjukow, zwecks Entführung seiner Geliebten, auch
nicht zwecks Wiedersehens mit ihr, sondern — wie es den
Anschein hat — nur um von Basmanoff Geld geborgt zu
erhalten. Darauf bemüht er sich, die Spuren seiner nicht
gerade sympatischen Handlung zu verwischen und bringt
den Pfahlzaun so gut es geht wieder in Ordnung. Nachdem
er das gethan — entfernt er sich plötzlich. Nur so nebenher
erwähnt er, dass ihn Shemtschusny schwer beleidigt habe,
dass er in seinem gerechten Zorn sich rächen wolle, dass
er Natalie liebe u. s. w. u. s. w. Worin jene Beleidigung
eigentlich bestand und was ihn bewogen hat, Opritschnik zu
Tachaikowaky, M. P. I. Tschaikowskj''s Leben. 16
— 242 —
werden — darüber verliert er nicht ein Wort. Somit bleibt
die Hauptaufgabe eines jeden dramatischen Werkes, beim
Zuhörer Interesse für das Schicksal des Helden zu erwek-
ken, ungelöst, und die Oper ist dreiviertelstunden nach
ihrem Beginn in dramatischer Hinsicht nicht um einen
Schritt weitergekommen, und das nur, weil dem Dichter-
Komponisten plötzlich eingefallen ist. Alles was noch Gu-
tes im „Woiwoden" vorhanden war, von dem Untergang
zu retten, und weil ihn dieser Gedanke mehr beschäftigt
hat, als das Schicksal Andrei Morosoff's.
Die aus dem „Woiwoden" geborgten Stellen sind fol-
gendermassen im „Opritschnik" verteilt: die erste Scene
Shemtschushny's mit Mitjkow ist der vierte Auftritt im
„Woiwoden", beginnt sogar mit denselben Worten, Nur
in der Mitte dieser Scene sind einige Phrasen von La-
shetschnikoff, und einige, die Peter Iljitsch selbst gedichtet
hat. Das Versmass Ostrowsky's ist um der Musik willen
durchweg beibehalten. Die Scene der Mädchen ist text-
lich und musikalisch die genaue Wiederholung der ersten
Scene des „Woiwoden". Dann singt Natalie das Lied „Oh,
Nachtigall", — dasselbe, welches im zweiten Akt des „Woi-
woden" Maria Wlassjewna zu singen hat. Das Erscheinen
Andrei Morosoff's mit Basmanoff ist, wie schon gesagt, dem
Erscheinen Bastrjukoffs gleich. Das Arioso Basmanoff's,
das Recitativ Morosoffs, sowie das Arioso Nataliens sind
in diesem Akt die einzigen eigens für den „Opritschnik"
komponierten Nummern. Das Finale (Chorlied) fällt wieder
mit dem Finale des zweiten Aktes des „Woiwoden" zu-
sammen.
Das Vorspiel zum zweiten Akt des „Opritschnik" ist
von Wladimir Schilowsky, dem Schüler Peter Iljitsch's
komponiert und instrumentiert worden, so dass die eigent-
liche Musik des „Opritschnik" erst mit dem zweiten Akt
beginnt. Das erste Bild: die feine Charakteristik der Boja-
renwittwe Morosowa, die rührende Scene zwischen Mut-
ter und Sohn, sowie im zweiten Bild die Eidesleistung
Andrei's in Alexandrowskaja Sloboda sind in dramatischer
Hinsicht als sehr gelungen zu bezeichnen und könnten dem
besten Textbuch zur Zierde gereichen. Sogar die Perso-
nalveränderung (anstatt Joann Grosny erscheint Fürst Wjas-
minsky auf der Bühne) thut der effektvollen, erschüttern-
den Situation keinen Abbruch.
Der dritte Akt beginnt mit einer Volksscene (Chor).
Die Bojarin Morosowa geht in die Kirche. Plötzhch er-
— 243 —
scheint Natalie. Sie hat das väteriiche Haus verlassen und
sucht Schutz bei der Morosowa. Duett der beiden Frauen.
Shemtschushny und Mitjkow erreichen jedoch die Flüch-
tige und wollen sie wieder nach Hause bringen. In diesem
Augenblick erscheinen Opritschniks mit Andrei an der
Spitze und entreissen Natalie den Armen ihres Vaters.
Die Mutter-Bojarin erkennt ihren Sohn unter den Oprit-
schniks und will ihn verfluchen. Grosses morceau d'en-
semble. Andrei entschliesst sich, den Zaren zu bitten, ihn
aus der Opritschina zu entlassen.
Dieses Scenarium, in der Manier Scribes gehalten, hat
Peter Iljitsch ganz selbständig zurechtgelegt und es wäre
auch durchaus gut, wenn die Handlung nicht in der Zeit
Joann des Grausamen spielen würde. Ein Familiendrama
intimsten Charakters, welches sich auf offener Strasse
abspielt, ist ganz und gar nicht im Geiste des Bojaren-
lebens des XVI. Jahrhunderts. Nichtsdestoweniger kann
man wohl behaupten, dass die Aufgabe, so viele ver-
schiedenartige Begebenheiten möglichst geschickt und na-
türlich in einen Aufzug zusammenzufassen, vom Autor
recht gut gelöst worden ist. Gewaltmässigkeiten, sogar
ziemlich klobige, kommen in den berühmtesten Textbü-
chern vor und thun dennoch der grossen Wirkung der
dramatischen Handlung keinen Schaden; man erinnere sich
nur an Valentine in den „Hugenotten", welche gleich nach
ihrer Trauung im Hochzeitsgewand Nachts durch die Stras-
sen von Paris läuft und ein sehr effektvolles Duett mit
einem alten Soldaten singt.
Der vierte Aufzug des „Opritschnik", beginnt mit dem
üblichen Hochzeitsfest nebst den unvermeidlichen Tänzen
russischer Mädchen. Dann folgt ein von Andrei und Na-
talie gesungenes Liebesduett, dessen Andante Peter Iljitsch
dem Mittelsatz seiner Ouvertüre „Fatum'•^ entnommen hat.
Natalie wird zum Zaren befohlen. In dem Moment, da
Ancirei hingerichtet werden soll, schleppt der Fürst Wjas-
minsky die alte Morosowa an's Fenster und zeigt ihr den
Tod ihres Sohnes. Die Bojarin sinkt vom Schlage getrof-
fen todt darnieder, und Wjasminsky triumphiert. Dieser
Schluss ist ganz unklar, kommt unvorbereitet und ent-
behrt vollständig der beabsichtigten Wirkung.
Und dennoch ist dieses Libretto, trotz seiner vielen
Mängel, im Vergleich zum Inhalt der früheren Opern Pe-
ter Iljitsch's „Woiwode" und „Undine" — gut zu nennen.
Ausser den oben aufgezählten Werken hat Peter Iljitsch
• — 244 —
im Laufe des Sommers 1872 die Entwürfe zu seiner zwei-
ten Symphonie (C-moll) fertiggestellt.
IX.
1872 — 1873.
Gleich nach der Rückkehr nach Moskau, hat sich Pe-
ter Iljitsch eine neue Wohnung gemietet, welche viel beque-
mer, geräumiger und komfortabler als seine bisherige war.
Seine Einnahmen haben sich ebenfalls vergrössert. Das Ge-
halt im Konservatorium ist auf 2300 Rubel gestiegen. Aus-
serdem erhielt er ziemlich bedeutende Summen als stän-
diger Mitarbeiter der „Russischen Nachrichten".
Wir wissen bereits, was ihn bewogen hatte, als Schrift-
steller aufzutreten. Diesen Beruf auch ferner hin auszuüben
erschien ihm nicht nur als Ehrensache und Pflicht in Be-
zug auf das Ansehen des Konservatoriums, sondern war
ihm auch ein willkommenes Mittel, seine Einnahmen zu
vermehren, zumal da er jetzt vollkommen selbständig lebte
und auf sich allein angewiesen war. Die Proben seines
schriftstellerischen Talentes sind im vorigen Jahr erfolg-
reich gewesen und haben die Aufmerksamkeit und Aner-
kennung aller beteiligten Kreise auf sich gelenkt. Und
dennoch empfand Peter Iljitsch das Schreiben der Feuille-
tons ebenso wie das Stundengeben im Konservatorium als
eine lästige Pflicht. Er sagte sich „es muss geschehen"» und
that es auch mit der ihm in solchen Fällen eigenen Ge-
wissenhaftigkeit aber ohne jeden Schatten von Liebe und
Begeisterung. Er schrieb interessant und sogar stilvoll, der
allgemeine Charakter seiner Artikel beweist auch, dass
man es mit einem gebildeten und ernsten Musiker zu
thun hat, der uneigennützig und gerecht ist und in seiner
Kunst voll und ganz aufgeht, — aber nicht mehr. Einen tief
überzeugten Redner, jedoch, der mit bezwingender Be-
weisführung seine Ideen durchführt, einen Kritiker, wel-
— 245 —
eher es vermag, mit wenigen feinen, kaum sichtbaren Stri-
ciien, die Bedeutung eines Kunstwerkes oder eines Künst-
lers, treffend, in die Augen springend zu cliarakterisieren,
erblicken wir in Peter Iljitsch nicht. Beim Lesen seiner
Aufsätze unterhält man sich mit einem talentvollen, ehr-
lichen und wissenden Manne, der sich angenehm und deut-
lich auszudrücken versteht, man denkt mit ihm und fühlt
mit ihm, man wünscht ihm von ganzer Seele Sieg in sei-
nem Kampfe gegen die Unwissenheit und Charlatanerie,
man dürstet mit ihm nach dem Triumph der gesunden
Kunstrichtung über die Begeisterung des Publikums für
die „Itahener" und allerlei „amerikanische Walzer". In
diesem Sinne kann man wohl behaupten, das die Mühe
Peter Iljitsch's nicht verloren gegangen ist und wohl einige
Früchte getragen hat.
An A. Tschaikowsk}':
„2. September 1872. Moskau.
....Bin im Begriff, in eine neue Wohnung zu ziehen,
und habe die Hände voll zu thun mit der Einrichtung.
Unsere Ausstellung ist sehr interessant. Morgen wird sie
geschlossenes
An A. Tschaikowsk}^:
„4. September.
....Ueber meine Oper habe noch garkeine Nachrichten.
Ich bin hier am 15. August zusammen mit Schilowsky
angekommen und habe die Zeit einstweilen sehr angenehm
verbracht".
An M. Tschaikowsky:
„2. November.
Modi, mein Gewissen frisst mich geradezu: das ist die
Strafe dafür, dass ich Dir so lange nicht geschrieben ha-
be,— was soll ich aber thun, wenn die Symphonie, die
jetzt ihrem Ende entgegensieht, mich so sehr in Anspruch
nimmt, dass ich nicht imstande bin, an andere Dinge
zu denken. Dieses geniale Werk (wie Kondratjew meine
Symphonie nennt) wird, sobald die Stimmen ausgeschrie-
ben sein werden zur Aufführung gelangen. Es scheint mir,
dass das meine beste Komposition ist, wenigstens was
— 246 —
die Vollkommenheit der Form anbelangt, eine Eigenschaft,
durch welche ich mich bisher nicht gerade hervorgethan
habe. Es wäre sehr wünschenswert, dass Du die Sym-
phonie zu hören bekämest, überhaupt thätest Du gut, we-
nigstens für kurze Zeit Deine Tscherkassker Gefangen-
schaft ^) zu unterbrechen und in Moskau zu erscheinen.
Schilowsky hat sich dauernd in Moskau niedergelassen
und steht im Begriff, ein reizendes herrschaftliches Häus-
chen zu erwerben.
Mein Quartett hat in Petersburg Furore gemacht".
An A. Klimenko:
„Moskau, d. 15. November,
....Ich habe eine neue Wohnung bezogen, welche Du
dreist als Absteigequartier benutzen darfst, sobald Du nach
Moskau kommst. Seit vorigem Jahr hat sich in unserem
(d. h. in meinem und aller Deiner Freunde) Leben Nichts
besonders Wichtiges ereignet. Wir gehen, wie früher, ins
Konservatorium; wie früher, vereinigen Avir uns manchmal
zu einem gemeinsamen „Trunk", und langweilen uns, im
Grunde genommen, nicht weniger als im vorigen Jahr.
Die Langeweile saugt an uns Allen und das erklärt sich
dadurch, dass wir alt werden; ja, ja, ich kann es Dir nicht
verheimlichen, dass jeder Augenblick uns dem Grabe nä-
her bringt.
Was mich persönlich anbelangt, so muss ich wahr-
heitsgetreu bekennen, dass mich nur Eines im Leben inte-
ressiert: meine Erfolge als Komponist. Allerdings kann man
nicht behaupten, dass ich in dieser Beziehung sehr ver-
wöhnt wäre. Beispiel: zwei Komponisten, Faminzyn und
ich reichen zu gleicher Zeit ihre Werke ein. Faminzyn
wird von Allen, als ein talentloser Mann angesehen, ich
dagegen soll — wie man sagt — sehr begabt sein. Nichtsde-
stoweniger wird der „Sardanapal'•^ sofort zur Aufführung
angenommen, während das Schicksal des „Opritschnik"
bis Heute noch nicht entschieden ist, es hat sogar den
Anschein, dass er ebenso „ins Wasser" fallen wird, wie
die „Undine". Eine Undine ins Wasser fallen lassen ist
schliesslich nicht so schlimm: das ist ja ihr Element; stelle
Dir aber einen Opritschnik als Ertrinkenden vor, wie er
mit den Wellen kämpft! Der Aermste wird doch sicher-
1) Ich bekleidete damals die Stelle eines Untersuchungsrichters in der Stadt Tscher-
kassy (Gouv. Kiew).
— 247 —
lieh umkommen. Wenn ich, aber, ihm nachstürze um ihn
zu retten, so bin ich verloren, d. h. ich schwöre hiermit
bei meiner Ehre, dass ich nie mehr die Feder ins Tinten-
fass senken werde, wenn der „Opritschnik" abgelehnt wer-
den sollte. Wie meine Symphonie ausgefallen ist werde
ich Dir nach der Aufführung mitteilen, denn bis jetzt bin
ich zeitweise ungeheuer zufrieden mit ihr, zeitweise scheint
es mir jedoch, dass sie garnichts taugt''"'.
An Ilja Petro witsch Tschaikowsky:
„22. November.
Lieber, guter Vater, obgleich Du mich nicht direkt
schiltst, sondern nur so nebenher erwähnst, dass ich Dir
selten schreibe, so habe ich dennoch quälende Gewissens-
bisse und fürchte, dass Du mir sehr böse bist. Vergieb
mir aber nun, mein Lieber, Du weisst dass ich sehr schreib-
faul bin, dazu hatte ich in letzter Zeit sehr viel an meiner
neuen Symphonie zu arbeiten, die jetzt, Gott sei Dank,
endlich fertig ist. Du schreibst in Betreff der Wohnung,
dass Du wünschtest, sie wäre warm; bis jetzt bin ich in
dieser Beziehung mit ihr zufrieden. Allerdings haben wir
bis jetzt die ganze Zeit sehr warmes Wetter gehabt, des-
sen man, übrigens, schon überdrüssig geworden ist. Ich
sitze viel zu Hause: erhole mich nach der Symphonie. Was
meine Heirat betrifft, so will ich Dir sagen, dass ich schon
selber oft daran gedacht habe, mir eine Ehefrau anzuschaf-
fen, ich fürchte nur, dass ich es nachher bereuen werde.
Ich verdiene zwar genug (an 3000 Rubel jährlich), verstehe
aber so wenig mit dem Gelde umzugehen, dass ich stets
in Schulden bin und jeden Augenblick in der Klemme
sitze. Solange man allein ist, so schadet das weiter nicht
viel. Wie wird es aber sein, wenn ich Frau und Kinder
zu ernähren habe?
Meine Gesundheit ist gut, nur Eines beunruhigt mich
ein wenig — meine Augen, welche von der Arbeit immer
sehr ermüden; mein Sehvermögen ist im Vergleich zu frü-
her so schwach geworden, dass ich mir ein Pincenez an-
schaffen musste, welches mir, übrigens, wie man sagt, zur
Zierde gereicht. Die Nerven sind ebenfalls schwach, die-
sem Uebel ist, jedoch, nicht abzuhelfen, ist auch nicht von
grosser Bedeutung. Wer hätte in unserer Generation keine
zerrütteten Nerven? — namentlich unter uns Künstlern!
In den Weihnachtsferien beabsichtige ich, mit Rubin-
— 248 —
stein nach Kiew zu fahren. Er will dort ein Konzert ge-
ben; ich fahre aber blos zur Gesellschaft mit. Uebrigens
ist es sehr wahrscheinlich, dass die Direktion mich nach
Petersburg zitieren wird zwecks Unterhandlungen über
die Oper, in diesem Falle werde ich die Freude haben,
Dich ordentlich abzuküssen. Meine Symphonie soll in Pe-
tersburg gespielt werden, und ich wünschte sehr, dass Du
sie zu hören bekämest''\
An Ilia Petro witsch Tschaikowsky:
„9. Dezember.
...Meine Gesundheit ist in guter Verfassung, die Ner-
ven, aber, lassen mir immer noch keine Ruhe. Ich fau-
lenze jetzt ein wenig und schreibe Garnichts. Erst möchte
ich meine S^^mphonie aufgeführt sehen, welche ich für mein
bestes Werk halte. Was meine Oper anbetrifft, so bin ich
ietzt fast überzeugt davon, dass sie in der nächsten Saison
dran kommen wird. Zwei Zensuren haben sie bereits durch-
gehen lassen: die Theaterzensur und die dramatische Zen-
sur, es bleibt jetzt nur noch das musikalische Komitee,
Avelches — wie man behauptet — die Oper unzweifelhaft
annehmen wird".
An M. Tschaikowsk}':
„IG. Dezember.
....Du schreibst, dass Anatol Dir von meinem Trübsinn
Mitteilung gemacht hätte. Von Trübsinn ist nun garkeine
Rede, nur manches Mal überkommt mich eine gewisse Mi-
santropie, Avie es, übrigens, auch früher oft der Fall ge-
wesen ist. Das rührt zum Teil von meinen Nerven her,
welche manchmal ohne sichtbaren Grund in Verstimmung
geraten, zum Teil aber auch von dem nicht sehr trost-
reichen Schicksal meiner Komponiererei. Die Symphonie,
auf die ich grosse Hoffnungen setze, wird wahrscheinlich
erst Mitte Januar zur Aufführung gelangen, nicht früher.
Augenblicklich gebe ich mich wegen Mangels an Inspira-
tion dem Nichtsthun hin. Zwar habe ich versucht einige
Lieder zu komponieren, es kommt aber Nichts Rechtes
heraus, auch kann ich keine Texte finden, die mir gefal-
len würden. Wenn Du doch einmal dran gehen und eine
Reihe von passenden Gedichten für mich schreiben wolltest!
Bei uns feiert Christine Nilsson grosse Triumphe. Ich
— 249 —
habe sie zweimal gehört und muss gestehen, dass ihre
ausserordenthche Bühnenkunst einen gewaltigen Fortschritt
gemacht hat seit ich sie in Paris zum ersten Mal kennen
gelernt habe. In gesanglicher Hinsicht ist die Nilsson Etwas
ganz Apartes. Wenn sie zu singen anfängt, so glaubt man
im ersten Augenblick Nichts Bedeutendes zu hören, plötz-
lich schmettert sie so ein Cis, oder haucht im ppp einen
langausgehaltenen Ton aus, dann dröhnt das ganze Theater
von Beifall. Uebrigens gefällt sie mir trotz all'ihrer guten
Eigenschaften dennoch nicht so gut wie die Artot. Wenn
Letztere wieder nach Moskau kommen wollte, würde ich
geradezu hüpfen vor lauter Freude".
Während der Weihnachtsferien ist Peter Iljitsch „ganz
unverhoffterweise nach Petersburg verschlagen worden",
wohin er von dem Komitee berufen worden war, wel-
ches über das Schicksal des „Opritschnik" zu bestim-
men hatte. Das Komitee war aus sämmtlichen Kapellmei-
stern der Kaiserlichen Theater zusammengesetzt: Näpraw-
nik (russische Oper), Bevignani (italienische Oper), Rybas-
sow (russisches Schauspiel), Silvain Mangen (französisches
Schauspiel), Ed. Betz (deutsches Theater) und Babkoff
(Ballet). Von allen diesen Herren, mit Ausnahme Näpraw-
niks, hatte Peter Iljitsch keine sehr hohe Meinung und
betrachtete sie gerechterweise in musikalischer Hinsicht
als tief unter sich stehend; daher sah er mit gekränktem
Ehrgefühl dem Richterspruch des Komitees entgegen. Be-
sonders erniedrigend erschien ihm die Notwendigkeit, per-
sönlich vor jenem Areopag zu erscheinen und seine Oper
eigenhändig vorzuspielen. Er hat kein Mittel unversucht
gelassen, um dieser Formalität aus dem Wege zu gehen,
aber es half nichts, er musste sich bequemen, wie ein
furchtsamer Bittsteller vor den genannten Herren zu er-
scheinen und ihr Urteil in Geduld abzuwarten. „Ich war
so überzeugt", — schrieb er später, — „dass meine Oper ver-
urteilt werden würde, und befand mich daher in solch
einer Aufregung, dass ich mich entschloss, nicht gleich
zum Vater zu gehen, um ihn durch mein verstörtes Aus-
sehn nicht in Besorgniss zu bringen, und ging erst am
anderen Tage nach der verhängnisvollen Sitzung zu ihm
und blieb acht Tage bei ihm. Die Sitzung, die mir soviel
seelische Qualen bereitet hatte, ist übrigens zu meiner vol-
len Zufriedenheit verlaufen".
Der „Opritschnik" ist einstimmig angenommen worden.
Das Protokoll jener Sitzung hat sich im Archiv der Di-
— 250 —
rektion der Kaiserlichen Theater leider nicht finden lassen,
und kann daher an dieser Stelle Nichts Ausführlicheres
darüber gesagt werden.
Während seines diesmaligen Aufenthalts in Petersburg
kam Peter Iljitsch sehr häufig mit seinen Freunden aus
der „Allmächtigen Schaar" zusammen und rief ihre helle
Begeisterung hervor, als er ihnen das auf einem kleinrus-
sischen Volkslied aufgebaute Finale seiner C-moll-Synipho-
nie vorspielte. Auf einer Soiree bei Rimskv-Korsakoff „hätte
mich die ganze Sippschaft beinahe in Stücke gerissen", —
schreibt er, — „und Frau Korsakoff bat mich flehentlichst,
ein vierhändiges Arrangement des Finale zu machen". An
demselben Abend bat Peter Iljitsch Wladimir Stassow, ihm
ein Thema für eine symphonische Phantasie zu geben. Es
war seit jenem Abend kaum eine Woche vergangen, als
Wladimir Wassiljewitsch schrieb:
„St. Petersburg, d. 30. Dezember 1872.
Lieber Peter Iljitsch! Das Thema hatte ich für Sie be-
reits eine Stunde nachdem wir uns an jenem Abend bei
Korsakoff verabschiedet hatten, gefunden, d. h. sofort als
ich allein geblieben war und meine Gedanken sammeln
konnte. Ich habe Ihnen nur deshalb nicht sofort geschrieben,
weil ich keine Zeit finden konnte. Hören Sie nun, was ich
Ihnen vorschlagen möchte. Erstens habe ich für Sie nicht
eine, sondern ganze drei Themen. Zuerst hatte ich bei
Shakespeare zu suchen angefangen, weil Sie mir gesagt
hatten, dass Sie am liebsten Etwas über ein Thema von
Shakespeare komponieren wollten. Hier fand ich denn auch
sofort den so wunderbar poetischen und für die Musik
wie geschaffenen „Sturm", denselben, welchem schon Ber-
lioz seine prachtvollen Chöre zum „Lelio" entnommen hatte.
Meiner Ansicht nach können Sie auf dieses Thema eine
herrliche Ouvertüre schreiben. Alle Elemente sind da so
poetisch und dankbar: zu Anfang das Meer, die unbewohnte
Insel, die imposante und strenge Figur des Prospero, und
gleich darauf die Grazie und Weiblichkeit selbst — Miran-
da, wie eine Eva, welche noch nie einen Mann gesehen
hat (ausser Prospero) und welche entzückt und überrascht
ist beim Anblick des vom Sturme ans Land geworfenen
schönen Jünglings Fernando: Beide verlieben sich sofort,
und hier, glaube ich, ist das wunderbarste poetische Bild
zu schaffen: in der ersten Hälfte der Ouvertüre geht Mi-
— 25T —
randa nur nach und nach aus ihrer kindlichen Unschuld
zur mädchenhaften Liebe über; in der zweiten Hälfte der
Ouvertüre würden die Beiden — sie und Fernando - schon
von den „Flammen der Leidenschaft ergriffen sein! Sie
müssen zugeben: ein dankbares Thema. Um diese Haupt-
personen herum könnte man (im mittleren Teil der Ouver-
türe) die andern Figuren gruppieren: das Ungetüm Cali-
ban, den Luftgeist Ariel mit seinem Elfenchor. Der Schluss
der Ouvertüre müsste darstellen, wie Prospero seiner Zauber-
kraft entsagt, das junge Liebespaar segnet und es veran-
lasst, ins Vaterland zurückzukehren".
Ausserdem hatte Stassow noch zwei andere Sujet's
Peter Iljitsch in Vorschlag gebracht: „Aivengo" und „Ta-
rass Bulba". Peter Iljitsch hat sich aber für den „Sturm"
entschieden, und erhielt von Stassow, nachdem er ihm
seine Wahl mitgeteilt, folgendes Schreiben:
„St. Petersburg, d. 21. Januar 1873.
Beeile mich, auf die Einzelheiten einzugehen und
freue mich im Voraus auf Ihr zukünftiges Werk, auf das
kapitale Seitenstück zu „Romeo und Julie". Sie fragen, ob
der Sturm selbst notwendig sei? Aber gewiss; Unbedingt,
unbedingt, ohne ihn wird die ganze Ouvertüre nichts tau-
gen, ohne ihn wird auch das ganze Programm verstüm-
melt werden müssen!
Ich hatte sorgfältig alle Momente erwogen, alle ihre
Konsequenzen und Gegensätze, darum wäre es schade,
jetzt die ganze Geschichte umzugestalten. Ich dachte mir
das Meer zwei Mal: zu Anfang und zum Schluss. Zu An-
fang, in der Einleitung stelle ich es mir ruhig vor, bis
Prospero seine Zauberworte spricht und den Sturm he-
raufbeschwört. Dieser Sturm müsste aber urplötzlich in
seiner ganzen Geivalt einsetzen und nicht, wie es gewöhn-
lich geschieht, allmälich breiter und stärker werden. Ich
schlage deshalb eine so eigenartige Form für den Sturm
vor, weil er in diesem Falle doch durch Zauberworte ent-
facht wird, während er in allen bisherigen Opern, Sym-
phonieen und Oratorien aus natürlichen Ursachen entsteht.
Nachdem der Sturm sich gelegt, sein Brausen, Pfeifen,
Donnern und Tosen verklungen ist, erscheint die Zauber-
insel in ihrer ganzen wunderbaren Schönheit und die noch
schönere, noch herrlichere Jungfrau Miranda, die wie ein
Sonnenstrahl leichten Schrittes über die Insel wandelt. Ihr
— 252 —
Gespräch mit Prospero und gleich darauf der Jünghng
Fernando, welcher sie überrascht, entzückt, und in welchen
sie sich sofort verliebt. Das Motiv des Verliebens (crescendo)
müsste wie ein Aufblühen, wie ein Wachsen sein; es ist
bei Shakespeare am Ende des ersten Aufzuges so geschil-
dert, und ich glaube, das wäre gerade Etwas für Ihr Ta-
lent. Darauf würde ich das Erscheinen Calibans vorschla-
gen, dieses thierähnlichen und gemeinen Sklaven, dann
weiter — Ariel, dessen Programm in dem Gedicht Shakes-
peares (Ende des ersten Aufzuges) „Come unto these gellow"
u. s. w. zu finden ist. Nach Ariel müssten wieder Miran-
da und Fernando auftreten, diesmal aber voll stürmischer
Leidenschaft. Dann die imposante Figur Prospero's, der
seiner Zauberkraft entsagt und von seiner Vergangenheit
Abschied nimmt; endlich zum Schluss wieder das Meer,
das ruhige, stille Meer, das die einsame und nun verlas-
sene Insel umspült, während deren glückliche Bewohner
von einem Schiff dem fernen Italien zugetragen werden.
Da ich mir dieses Alles in der angeführten Reihenfol-
ge gedacht habe, .so halte ich es nicht für möglich, das
Meer zu Anfang und zum Schluss fortzulassen und die
Ouvertüre „Miranda" zu nennen. In Ihrer ersten Ouver-
türe hatten Sie unglücklicherweise Juliens Amme fortge-
lassen, jene geniale Shakespearefigur, und auch das Bild
des frühen Morgens, an welchem sich die Liebesscene
entwickelt ist bei Ihnen fortgeblieben. Ihre Ouvertüre ist
ja wunderschön, aber sie hätte gewiss noch schöner sein
können. Und nun gestatten Sie, dass ich Ihnen den Rat
aufdränge, noch reifer, breiter und tiefer zu werden. Für
Leidenschaftlichkeit und Schönheit kann man, glaube ich,
schon im Voraus garantieren. So wünsche ich Ihnen denn
recht viel Glück, und — vogue la galere!"
Peter Iljitsch an W. Stassow:
„27. Januar 1873.
Sehr geehrter Wladimir Wassiljewitsch, ich weiss gar-
nicht, wie ich Ihnen danken soll für Ihr ausgezeichnetes,
im höchsten Grade anziehendes und anregendes Programm.
Ob es mir gelingen wird weiss ich nicht, jedenfalls aber
will ich mich in allen Einzelheiten an Ihren Plan halten.
Ich muss Sie aber im Voraus darauf aufmerksam machen,
dass die Ouvertüre noch nicht so bald das Licht der Welt
erblicken dürfte: wenigstens habe ich nicht die Absicht
— 253 —
mich zu beeilen. Eine Menge verschiedener ZufälHgkeiten,
unter Anderen auch der Klavierauszug meiner Oper, wer-
den mich wahrscheinlich hindern, schon in nächster Zeit
ruhige Stunden zu finden, deren ich für eine so delikate
Komposition bedarf. Das Sujet des „Sturmes" ist so poetisch,
Ihr Programm beansprucht eine so grosse Vollkommenheit
und Eleganz der Form, dass ich die Absicht habe, meine
Ungeduld ein wenig einzudämmen und möglichst günstige
Momente abzuwarten.
Gestern wurde endlich meine Symphonie aufgeführt
und erfreute sich eines grossen Erfolges; dieser war in der
That so ausserordentlich, dass N. Rubinstein die Sympho-
nie im IQ. Konzert zur Wiederholung bringen will, wie
er sagt „auf allgemeines Verlangen". Offen gestanden bin
ich mit den beiden ersten Sätzen nicht sonderlich zufrie-
den, aber das Finale ist mir ganz gut gelungen. Wegen
der Sendung der Partitur werde ich mit Rubinstein spre-
chen: ich muss erfahren, wann unser lo. Konzert stattfin-
den soll. Ich möchte, nämhch, noch einige Stellen verbes-
sern und muss in Erwägung ziehen, wieviel Zeit ich dazu
nötig haben werde. Dementsprechend könnte ich die Par-
titur entweder sofort, oder erst nach unserem lo. Konzert
an Nadeshda Nikolajewna schicken ^).
Laroche hat mir die Ehre erwiesen, speziell wegen
meiner Symphonie nach Moskau zu kommen. Heute ist er
wieder fortgereist''.
Die Symphonie stand auf dem Programm des am i6.
Januar stattgehabten Konzertes der Russischen Musika-
lischen Gesellschaft und hat grossen Beifall gefunden. Auch
Laroche äusserte sich sehr anerkennend über das neue
Werk Peter Iljitsch's.
Im IG. Konzert wurde die Symphonie wiederholt und
errang einen noch grösseren Erfolg. Der Komponist wurde
nach jedem Satz stürmisch gerufen und hatte einen Loor-
beerkranz und einen silbernen Pokal erhalten.
An I. P. Tschaikowsky:
„5. Februar.
Die Zeit vergeht schnell, denn ich bin sehr beschäf-
tigt: arbeite an dem Klavierauszug der Oper, schreibe mu-
sikalische Feuilletons und verfasse die Biographie Beetho-
1) Frau Rimsky-Korsakoft' sollte das vierhändige Arrangement der Sj^mphonie
machen.
— 254 —
vens für den „Grashdanin" ^). Ich sitze alle Abende zu
Hause und führe die Lebensweise eines der friedlichsten
und wohlgesinntesten Moskauer Bürgers. Endlich ist der
Winter bei uns eingezogen. Der Frost ist so stark, dass
den Nasen der Moskowiter Geschwülste und Beulen dro-
hen, ich aber, der ich zu Hause sitze, habe es sehr warm
und gemütlich in meiner Wohnung. Neulich habe viel an
Dich gedacht, Vater, und es kam mir folgender Gedanke:
da Du ausgezeichnet die literarische Sprache beherrschst,
so könntest Du eigentlich — so zum Zeitvertreib, vielleicht,
des Morgens — verschiedene Erinnerungen an bekannte Per-
sönlichkeiten, mit denen Du in Deinem Leben zusammen-
gekommen bist, niederschreiben, oder überhaupt verschie-
dene Erinnerungen aus Deinem Leben, interessante Bege-
benheiten aus Deiner Beamtenthätigkeit, z. B. im Bergbau-
institut, oder auch von früher. Ueberlege Dir das mal,
Väterchen, ich glaube, das würde Dich interessieren. Spä-
ter könnte man diese Erinnerungen veröffentlichen".
An M. Tschaikowsk}-:
„13. Februar.
Ueber die Aufführung meiner Symphonie wirst Du
wohl schon in den Zeitungen gelesen haben. Für diese
Symphonie hat mir die Musikalische Gesellschaft 300 Ru-
bel ausgezahlt. Im letzten Konzert soll sie wiederholt wer-
den, und für diesen Tag bereitet man mir eine Ovation
nebst einem Geschenk vor. Ich, in meiner engelhaften Un-
eigennützigkeit, will das Geschenk, selbstverständlich, nicht
annehmen, aber man wird mich, w^ahrscheinlich, dazu zwin-
gen! Ach, wie schwer ist es doch, sich dem Willen des
Publikums unterwerfen zu müssen! Es versteht nicht, dass
wir Künstler in höheren Regionen leben und dass sein
Geld für uns „schnödes Metall" ist. Es nahet die Zeit, wo
Ihr Alle: Nikolai, Hyppolit, Anatol und Du nicht mehr
Tschaikowsky's sein werdet, sondern nur „die Brüder des
Tschaikowsk}'". Ich bekenne offen, dass dieses gerade das
ehrgeizige Ziel meiner Wünsche ist!! Der anmutig-witzige
Ton meines heutigen Briefes ist durch die Anwesenheit
Apuchtins angeregt. Wir sehen uns sehr oft. Er befindet
sich in einer fröhlicheren Stimmung als je".
1) Von diesen Aufsätzen lür die Zeitung „Grashdanin" ist nur der Anfang erschienen.
— 255 —
An W. Bessel:
„4. März.
Es ist unbedingt notwendig, dass icli noch vor dem
Sommer mit Dir über den Druck der Oper und der Ouver-
türe spreche. Wer wird die Korrektur machen? Liesse sich
es einrichten, dass keine Druckfehler stehen bleiben?"
Nach dem ursprünglichen Uebereinkommen mit der
Firma Bessel und C° wurde ihr das Recht der Heraus-
gabe des „Opritschnik" sowie der Ouvertüre „Romeo und
Juhe" von Peter Iljitsch unentgeltlich überlassen, ausser-
dem aber musste sich der Komponist verpflichten, ein Drittel
seiner Tantiemen an den Verleger zu zahlen.
In seinem Brief an Jurgenson erklärt Peter Iljitsch seine
Vereinbarung mit dem Petersburger Verleger wie folgt:
„Ich habe Bessel beauftragt für die baldmöglichste Auf-
führung meines „Opritschnik" Sorge zu tragen und habe
ihm dafür das Eigentumsrecht dieser Oper überlassen mit
der Verpflichtung meinerseits, ihm ausserdem ein Drittel
meiner Tantiemengelder zu zahlen. Die Romeo-Ouverture
ist auf folgende Art in seine Hände gefallen: Bote und
Bock verlangte von mir 35 Thaler Druckerkosten. Ich er-
zählte das Bessel und er bat mich um die Erlaubnis, diesen
Betrag für mich zahlen zu dürfen und die beiden Kla-
vierauszüge, die noch bei Bote und Bock lagen, zurück-
zufordern und für sich zu behalten".
An I. P. Tschaikowsky:
„7. April.
....Fast einen Monat|^sitze ich schon wieder emsig bei
der Arbeit: schreibe die Musik zu Ostrowsky's Feenmär-
chen „Snegurotschka" und habe daher meine Korrespon-
denz ein wenig vernachlässigt. Dazu kam noch, dass ich
vorgestern einen kleinen Unfall erlitt: habe mir die linke
Hand so stark geschnitten, dass der Arzt volle zwei Stun-
den gebraucht hat, um das Blut zu stillen und einen Ver-
band anzulegen. Deshalb kann ich jetzt nur mühsam schrei-
ben und wundere Dich nicht, mein Engel, wenn Du nur
selten Nachricht von mir erhälst.
An A. Tschaikowsky:
„27. April.
....Im Grossen Theater finden jetzt täglich Proben der
„Snegurotschka^^ statt, deshalb muss ich jeden Morgen im
Theater stecken"".
— 256 —
An I. Р. Tschaikowsky:
„24. Mai.
....Die ganze letzte Zeit befand ich mich in einer fieber-
haften Thätigkeit: die Vorbereitungen für die Aufführung
der „Snegurotschka", das Klavierarrangement meiner Sym-
phonie, die Prüfungen am Konservatorium, die Aufnahme
des Grossfürsten Konstantin Nikolajew^itsch u. s. w.. Letz-
terer war, anbei gesagt, sehr freundlich zu mir. Meine
Symphonie hat ihm sehr gefallen".
Kaschkin erzählt:
„Eine glückliche Zeit im Leben Tschaikowsky's waren
jene drei Wochen, als er an der Musik zur „Snegurotschka"
arbeitete. Im Jahre 1873 wurde das Kleine (dramatische)
Theater einer umfangreichen Renovation unterworfen, so-
dass alle drei Ensembles: Oper, Ballet und Schauspiel im
Grossen Theater ihre Vorstellungen gaben. Wenn ich nicht
irre, kam dem damaligen Chef des Repertoirs, W. P. Be-
gitscheff die Idee, im Grossen Theater ein Stück zur Auf-
führung zu bringen, eine Art Feerie, in welcher alle drei
Ensembles mitwirken sollten. Man w^andte sich an A. N.
Ostrowsk}^ mit dem Vorschlag, ein solches Stück zu ver-
fassen, während die Musik dazu Peter Iljitsch bestellt v/ur-
de. Ostrowsky wählte als Thema das Märchen „Snegu-
rotschka" ^) und ging mit Feuereifer an die Arbeit. Er
arbeitete sehr schnell, und Peter Iljitsch, der immer auf
den Text warten musste, blieb wenig Zeit übrig, sodass
er stets eilen musste, um mit Ostrowsky gleichen Schritt
zu halten. Der Frühling sandte bereits seine Vorboten ins
Land, und das Herannahen dieser schönen Jahreszeit er-
füllte Peter Iljitsch stets mit Entzücken und poetischer
Stimmung: er liebte namentlich den russischen Frühling,
wo die Natur plötzlich von ihrem langen winterlichen
Schlaf erwacht und die ganze Umgebung manchmal in
wenigen Tagen ihr Aussehen verändert. Der Frühling
des Jahres 1873 kam, glaube ich, ziemlich früh, sodass
die Komposition der Musik zum „Frühlingsmärchen" mit
dem Beginn des Lenzes zusammenfiel. Peter Iljitsch arbei-
tete mit grosser Begeisterung und — da er sich sehr beeilen
musste — nahm er, entgegen seiner Gepflogenheit, sogar
die Abende zu Hilfe, sodass die sehr umfangreiche Par-
titur schon in drei Wochen fertig war, ohne dass Peter
1 ) Snegurotschka-Schneewittchcn.
— 257 —
Iljitsch sich in seinem Konservatoriumsunterricht irgend
eine Unregelmässigkeit hätte zu Schulden kommen las-
sen. Wenn man nun bedenkt, dass dieser Unterricht da-
mals 27 Stunden wöchentlich umfasste, so erscheint die
Schnelligkeit, mit welcher die „Snegurotschka" kompo-
niert worden ist, geradezu erstaunlich. Die erste Vorstel-
lung der „Snegurotschka" fand am 11. Mai statt. Die
grösste Wirkung erzielte die Scene der Kupawa mit dem
König Berendej, welche von Frau Nikulina und Herrn Sa-
marin ausgezeichnet deklamiert wurde, während das Or-
chester die herrliche Musik dazu spielte. Die talentvolle
und schöne Kadmina, welche die Rolle des Hirten Lei
übernommen hatte, war in gesanglicher und darstelleri-
scher Hinsicht ganz reizend. Die Ausstattung des Stückes
war nach damaligen Begriffen eine überaus glänzende und
kostete, wie man sagt, 15000 Rubel. Trotz der ausgezeich-
neten Wiedergabe hatte die „ Snegurotscka " dennoch
keinen grossen Erfolg. Der Mangel an scenischer Hand-
lung Hess keinen rechten Entusiasmus im Publikum auf-
kommen, wirkte im Gegenteil sehr abkühlend, obwohl
einige Momente ganz köstlich waren und ihre Wirkung
nicht verfehlten. Ostrowsky war bei der ersten Aufführung
nicht anwesend, denn er war schon vorher nach seiner
Besitzung (Gouvernement Kostroma) gereist, wohin man
ihm nach der Vorstellung ein Telegramm sandte.
Bald nach der ersten Aufführung der „Snegurotschka"
hatten wir Konservatoriumslehrer in Gemeinschaft mit Sa-
marin und Fr. Kadmina eines Tages einen Ausflug ins
Freie — nach den in der Nähe Moskau's gelegenen Wo-
robjowi Gori (Sperlingsberge) unternommen. Es war ein
herrlicher Lenztag; die Gärten der Berge prangten in ihrem
weissen Blütengewand; wir alle befanden uns unter dem
Eindruck des Frühlings und der „Snegurotschka" in einer
sehr fröhlichen Stimmung. Draussen lagerten wir uns unter
freiem Himmel auf dem Rasen und wurden sehr bald von
Bauern und Bäuerinnen umringt, die neugierig die zechen-
den Herrschaften angafften. Da kam Rubinstein auf die
Idee, ein kleines Volksfest zu veranstalten, kaufte in der
Dorfbude Wein und allerlei Naschwerk und verteilte das
unter die Anwesenden. Nikolai Gregorje witsch hatte den
echten russischen Volksgesang sehr gern und bat um einige
Lieder. Die Dorfjugend Hess sich das nicht zweimal sagen,
und es begann ein lustiges Singen und Tanzen. Diese Be-
gebenheit ist für immer im Gedächtniss Peter Iljitsch's haf-
Tschaikowsky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 17
-258-
ten geblieben, und die Erinnerung daran hat sich volle
neun Jahre später im Thema für die Variationen des Kla-
viertrio's geäussert, welches dem „Andenken eines gros-
sen Künstlers", d. h. N. Rubinsteins, gewidmet ist. Die
Musik der „Snegurotschka" gefiel Nikolai Gregorje witsch
sehr, und er hat sie später, nachdem dieses Stück vom
Repertoir des Grossen Theaters gestrichen worden war,
ganz, ohne Kürzungen, in einem Konzert mit grossem
Erfolg zum Vortrag gebracht'"''.
Auch Peter Iljitsch selbst gefiel sein Werk. Er hielt
nicht nur den dramatischen Text für eine Perle der Er-
zeugnisse Ostrowsky's, sondern bekannte offen, dass ihn
auch seine Musik dazu sehr befriedige. Er schwärmte da-
von, aus diesem Werk einmal eine Oper zu machen und
war sehr unangenehm überrascht, als Rimsky-Korsakoft'
ihm zuvorkam. Lange Zeit schmollte er darüber und wollte
garnichts von dieser Komposition wissen. Erst viel später
(Ende der achtziger Jahre) lernte er die Partitur kennen
und gewann sie sogar sehr lieb.
Für das Geld, welches Peter Iljitsch für die Komposition
der Musik zur „Snegurotschka" erhalten hatte, wollte er
eine grosse Reise ins Ausland unternehmen. Vorher aber
besuchte er seine Schwester in Kamenka und Kondratjew
in Nisy.
Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass Peter Iljitsch
das Leben sehr lieb hatte: dieses äusserte sich unter An-
derem darin, dass er eine grosse Leidenschaft für Tage-
bücher hatte. Ein jeder Tag war für ihn von grosser Be-
deutung, und der Gedanke, dass er von allem Erlebten auf
Nimmerwiedersehen Abschied nehmen müsse, stimmte ihn
traurig. Er dachte beständig an die Vergänglichkeit und
Veränderlichkeit alles Dessen, was ihm lieb und teuer war,
und es gereichte ihm zum Trost, wenigstens Etwas, we-
nigstens einige Einzelheiten deni Meer der Vergessenheit
zu entreissen, nach denen er später das ganze Bild des
Erlebten in seinem Gedächtniss wieder wachrufen konnte.
Er hoffte, dass es ihm in seinem Alter eine grosse Freude
sein würde, nach kurzen Skizzen, abgerissenen Sätzen,
die Niemandem sonst verständlich, noch einmal seine schöne
Vergangenheit zu durchleben. Er hielt sich an das System,
nur kurze, unvollständige, unwesentliche Andeutungen über
das Erlebte niederzuschreiben, denn beim Durchlesen sei-
nes Tagebuches aus der Kindes-und Jünglingszeit, in wel-
chem er alle seine Gefühle und Gedanken ausführlich dar-
259 —
gelegt hatte empfand er eine gewisse Scham: die Gefühls-
ergüsse und Ideen, die ihn damals interessierten und die
er für gross und wichtig gehalten hatte, erschienen ihm
jetzt hohl, nichtssagend, lächerlich, und er beschloss, in
Zukunft nur Thatsachen dem Papier anzuvertrauen, ohne
Kommentare; ärgerlich über seine Enttäuschung vernichtete
er das Jugendtagebuch. Vom Ende der siebziger Jahre
führte Peter Iljitsch im Laufe von fast zehn Jahren ein
Tagebuch. Er hat es Niemandem gezeigt, und ich musste
ihm mein Ehrenwort geben, dass ich es nach seinem Tode
verbrennen würde; doch hat er es — ich weiss nicht wa-
rum— schon selber gethan und nur das übriggelassen, was
auch Fremde wissen durften.
Den ersten Versuch eines solchen Tagebuches hat Pe-
ter Iljitsch im Jahre 1873 gemacht. Er begann damit — in
Erwartung vieler Eindrücke auf der bevorstehenden Reise
ins Ausland — schon am Tage seiner Abreise aus Nisy.
Tagebuch des Sommers 1873.
II. Juni 1873. Kiew.
Gestern, auf dem Wege von Woroschba nach Kiew,
sang es und klang es wieder in meiner Seele, nachdem
ich längere Zeit der Musik kalt gegenübergestanden. Ein
Embryo in B-dur nistete sich in meinem Kopf ein und
hätte mich beinahe zu einem Attentat auf eine S3^mphonie
verleitet. Plötzlich überkam mich der Gedanke, den nicht
recht gelingenwollenden „Sturm" von Stassow bei Seite
zu werfen und den Sommer einer Symphonie zu widmen,
welche Alles bisher von mir geleistete in den Schatten
stellen sollte. Das ist das Embryo:
Wie ich den Sommer zu geniessen gedachte, und wie
. . . (abgerissen).
2бо
i8. Juni.
Es sind bereits acht Tage dahin, seit ich die letzten
Zeilen geschrieben. Ich bin immer noch krank, und das
Ende meiner Krankheit ist noch garnicht abzusehen. Abrei-
sen wollte ich (abgerissen).
27. Juni, 13. Kompagnie ^).
Das köstliche Frühstück. Das reine Bauernweib! „Der
Moskauer Kreml" und „Ein Abend in Venedig" an der
Wand. Adieu, Gouvernement Kiew! Wie schön ist doch
die Welt!!
4 Uhr Morgens. Birsula.
In Elisabethgrad habe mich von Modi und Sascha ver-
abschiedet. Bin sehr traurig. Mein Magen ist nicht recht
gesund. Die Züge sind überfüllt. Habe kaum einen Platz
erwischt. Muss Sascha schreiben, dass sie I. Klasse fährt 2).
Der Zug hält, weiss nicht warum. Wann werde ich endlich
ankommen?! Langweilig!
Auf dem Wege von. . . .
Was ist langweiliger als ein Eisenbahnzug und lästige
Mitreisende! Ein Italiener, ein grenzenlos dummer Kerl,
belästigt mich in einem fort und ich weiss nicht, wie ich
ihn los werden soll. Er ist nicht imstande zu verstehen, wo-
hin er zu fahren und wo er sein Geld zu wechseln hat.
Mein Geld habe in Krakau bei einem Juden gewechselt.
Langweilig! Denke oft an Sascha und Modi und mein Herz
will zerspringen. In Wolotschisk grosse Aufregung. Die
Reisegesellschaft ist mit Ausnahme des Italieners erträglich.
Die Nacht habe fast garnicht geschlafen. Der Alte, ein Offizier
a. D. mit dem originellen Backenbart. In diesem Augen-
blick belästigt der Italiener eine Dame. Gott, wie ist er
doch dumm! Ich muss ihn durch eine List abschütteln.
29. Juni.
Vier lange Stunden musste ich in Myslowitz warten;
jetzt fahre endlich nach Breslau. Der Italiener ist über-
zeugt, dass ich mit ihm nach Liggia reisen werde. Der
langweilt mich mal zum Erbrechen! Oh, wie ist er dumm!
1) So hiess ein Dorf in der Nähe Kiew's. Es ist ein Ueberrest eines früher an dieser
SteHe gewesenen IVIilitürlagers.
2) Alexandra Iljinischna hatte die Absicht zweclis Erziehung ihrer Töchter auf einige
Jahre in die Schweiz zu reisen.
201
In M3'slowitz habe leidlich Mittag gegessen und bin in der
recht netten Stadt spazieren gegangen. Kann mir vorstel-
len was für ein Gesicht der Italiener schneiden und was
für ein Gezeter er mir nachsenden wird, wenn ich in Bres-
lau plötzlich verdufte! Am Ende wird er da sitzen blei-
ben! Mein Geld schmilzt mit einer unheimlichen Schnel-
ligkeit!
Jean Prosco, Konstantinopel.
Breslau.
Hatte nicht den Mut, den Italiener zu betrügen. Gestand
ihm schon vorher, dass ich in Breslau zu bleiben beab-
sichtige. Er war fast bis zu Thränen gerührt und gab
mir seinen Namen, den ich oben notiert habe. Augenblicklich
sitze auf einer Anhöhe im Hotel „Zur Goldenen Gans".
3. Uhr früh.
Geschlafen habe ich gut. Früh morgens gab es ein
fürchterliches Gewitter. Ich möchte hier einen Tag bleiben.
Bin zu faul, weiter zu reisen. Ausserdem gefällt es mir
hier. Trinke Kaffee. Aus meinem Fenster kann ich nur
Dächer sehen.
Wie gern habe ich manchmal die Einsamkeit! Ich muss
gestehen, dass ich nur deshalb hier bleiben möchte, um
nicht so bald in Dresden in Gesellschaft Jurgensons zu
erscheinen. So allein dazusitzen, zu schweigen, zu denken!...
Bin durch die Strassen geschlendert. Breslau ist schön.
12. Uhr mittags.
iie Strassen £
Bin sehr müde
Nachmittags.
Es gab ein starkes Gewitter mit Hagelschlag. Jetzt ist
es kühl. Das Mittagessen war echt deutsch. Hat mir aber
geschmeckt.
I. JuH.
Abends war ich in Liebigs Etablissement. Ein recht
scheussliches Orchester spielte ein ganz anständiges Pro-
gramm. Habe mich sehr gelangweilt. Habe ein ausgezeich-
netes Opernglas gekauft. Nach einer Stunde reise ab.
202
Unweit Dresden.
bis
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i
Thema für das erste Allegro. Introduktion aus demsel-
ben im ^U Takt.
2. Juli, Dresden.
Gestern um 6 bin ich angekommen. Nachdem ich ein
Zimmer belegt lief ich schnell ins Theater. Es wurde die „Jü-
din" gegeben, — sehr schön. Meine Nerven sind schrecklich.
Ohne den Schluss abgewartet zu haben ging ich ins Ho-
tel, Jurgensons aufzusuchen. Abendessen. Thee in Gemein-
schaft Jurgensons. Heute nahm ein Bad. Schlenderte mit
Jurgenson durch die Stadt. Mittagten an der table d'hote.
Gleich fahren wir in die Sächsische Schweiz. Die Stim-
mung ist erträglich.
Bastei, 3. Juli.
Haben eine prachtvolleTour durch die Sächsische Schweiz
gemacht. Dreiviertelstunden sind auf einem entzückenden
Wege gestiegen. Besonders interessant ist die Brücke ne-
ben dem Hotel. Der Abend ist angenehm verlaufen. Das
Wetter ist prachtvoll, und nur das Böhmen-Orchester hat
den Genuss etwas getrübt. Haben uns früh zu Bett bege-
ben. Der betrunkene Vetter und seine zwei Basen waren
sehr lästig. Nachts habe einen prachtvollen Sonnenaufgang
gesehen. Geschlafen habe gut, J. und S. J. ^) — schlecht.
Augenblicklich ist das Wetter fürchterlich. Die Wolken
hängen über unsern Häupten und wir entschliessen uns,
nach Dresden zurückzufahren.
Dresden.
Das Wetter hat sich verschlechtert und wir haben
beschlossen, zurückzukehren. Den Abstieg machten wir
auf einem andern Wege, zwischen kolossalen Felsen hin-
durch. Erholten uns in einem Restaurant inmitten einer
grossartigen Natur (Felsenthor). Frühstückten am. Ufer der
Elbe (Omelette au confiture) und fuhren zu Schiff nach
1) Sophie Iwanowna — die Gemahlin Jurgensons.
— 263 —
Dresden. Unsere Zimmer sind nicht mehr zu haben, und
mir wurde ein sehr schlechtes zugewiesen.
6. Juh, Köln.
In Dresden habe die „Zauberflöte" gesehen. Ich fühlte
mich schlecht und hatte daher keinen grossen Genuss. Am
andern Tage besuchte ich die Gallerie (Holbein) ^). Um
6 Uhr reisten wir nach Köln ab (der Zwischenfall in Halle).
Nach fast vierundzwanzigstündiger Fahrt kamen wir in
Köln an und sind oben im Hotel du Nord abgestiegen.
Gingen dann Frau Walzeck suchen . . . (abgerissen).
Zürich, 12 Uhr Nachts.
Der Rheinfall ist köstlich. Die Ueberfahrt über den
Strom ist etwas ängstlich. Der Weg bis Zürich war lang-
weilig, hauptsächlich wegen unserer Ermüdung. In der
Hoffnung auf Billigkeit wollten wir im „Schwert" absteigen,
haben dort aber nur mit Mühe Zimmer bekommen, dazu
noch sehr teuer. Aergerlich.
Luzern, 9. Juli.
Habe ausgezeichnet geschlafen. Zürich ist köstlich (Bauer-
garten, Hohe Promenade). Gleich wollen wir per Schiff
nach Rigi-Kulm.
Bern, IG. Juli.
Die Fahrt auf den Rigi war sehr gelungen. Die Eisen-
bahn ist erstaunlich. Zu unserem Glück haben wir in dem
überfüllten Hotel noch Zimmer finden können. Das Früh-
aufstehen ist mir schwer gefallen. Die Kälte war durch-
dringend und fühlte mich beim Sonnenaufgang durchaus
nicht wohl. Auf dem Rückweg mussten wir in Viznau
zwei Stunden auf den Dampfer warten und haben sehr
schlecht Mittag gegessen. In Luzern spazierten wir durch
die Strassen (der Löwe). Unterwegs hierher war es sehr
heiss. Dem Rate eines Landsmannes von uns folgend,
nahmen wir unsere Wohnung im Hotel de France. Es ist
widerwärtig schlecht, das Abendessen war geradezu nie-
derträchtig...
12. Juli, Vevey.
Nachdem wir Gestern im Kasino Mittag gegessen hat-
1 ) Lange Zeit hindurch — bis zum Ende der siebziger Jahre — blieb Holbeins „Ma-
donna" das einzige antike Bild, welches Peter Iljitsch gefiel.
— 264 —
ten, trennten wir uns: Jurgensons sind nach Interlaken ge-
fahren, und ich — hierher (der gesprächige Pohtiker). Gleich
nach der Ankunft im Hotel Monnet machte ich mich auf,
eine Pension für Sascha ausfindig zu machen, habe auch
bald eine passende gefunden. Dann lief ich schnell, zu
depeschieren und habe dabei Konfusion gemacht. Das
Abendessen. Spaziergang am Quai. Dann Zeitunglesen.
Geschlafen habe schlecht. Es gewitterte und war sehr
schwül.
13. Juli, Vevey.
War in der Pension von Miss Peel. Sie hat mir ge-
fallen. Habe sofort einen Brief an Sascha geschrieben, ge-
frühstückt und dann einen sehr dummen, weiten, aber
ziellosen Spaziergang über die Terasse du Panorama un-
ternommen. Wollte eigentlich zum Schloss Hauteville ge-
langen, ist mir aber nicht gelungen. Bin nach Montreux
und Schloss Chillon gefahren, das Letztere habe besichtigt.
Mittagte an der table d'hote inmitten eines ganzen Meeres
von Amerikanern und Engländern. Bin in einen Cirkus
geraten.
Vevey. Abends.
Habe Pissevache und Gorges du Trient besucht. Be-
stieg einen unbekannten Berg, speiste im Grand Hotel de
Gorges de Trient zu Mittag und habe viel Geld ausgege-
ben. Erwarte die Antwortdepesche von Sascha. Inmitten
der grossartigen Natur und der Eindrücke eines Touristen
sehne ich mich doch sehr nach Russland zurück. Bei dem
Gedanken an die weiten Ebenen, Wiesen und Wälder der
Heimat will mir das Herz schier zerspringen. Oh, mein
geliebtes Vaterland, hundertfältig schöner und anmutiger
bist du, als diese wundervollen Bergungetüme, die doch
eigentlich Nichts Anderes sind, als versteinerte Zuckungen
der Erde!... Uebrigens ist es immer da schöner, wo wir
nicht sind!...
14. Juli.
Das Telegramm ist immer noch nicht da. Soeben bin
ich mit der Eisenbahn aus Montreux zurückgekehrt, wo-
hin ich bei fürchterlicher Hitze zu Fuss gegangen war.
Der Genuss war sehr fraglich. Im Hotel du C3^gne habe
gefrühstückt. Offen gesagt weiss ich vor Langeweile nicht,
wo ich bleiben soll.
— 2б5 —
15- Juli.
Den ganzen Abend habe mich gelangweilt, bis endhch
das Telegramm ankam. Heute reise nach Genf weiter.
i6. Juli, unterwegs nach Genf.
Genf. Jurgenson ohne Hut. Spaziergang. Abends Be-
ratung über die Fortsetzung der Reise. Der durch die
Nachbarinnen unterbrochene Schlaf. Heute ein Bad in der
Rhone. Spaziergang. Frühstück. Abreise. Besichtigung des
Gepäcks und der Pässe in Bellegarde. Dawidoff, Koko
mit Gemahlin. Der See. Nach Italien fahre ungern. Schade
ums Geld.
i8. Juli, Mailand.
Der Tunnel. Früh am Morgen Turin. Ich bleibe in Tu-
rin; man führt mich in ein scheussliches „Albergo". Schlaf.
Weiterfahrt mit dem Kourierzug. Mailand. Galleria Vitto-
rio Emanuele. Heute Besuch der Brera (Madonna von
Sasso Ferato). Spaziergang im Giardino Publico. Ich bin
immer noch nicht ganz wohl. Habe in der Apotheke Me-
dizin gekauft. Gleich fahren wir Alle nach Como.
Cadenabbia (Como).
Die Reise war nicht lang und auf dem Dampfer sehr
angenehm. Wir sind im prächtigen Hotel Bellevue abge-
stiegen. Spaziergang...
An dieser Stelle ist das Tagebuch zu Ende. Als seine
Fortsetzung kann der Brief Peter Iljitsch's an seinen Va-
ter angesehen werden:
„Paris, d. 23. Juli.
Aus der Schweiz wandte ich mich nach Italien und
beabsichtigte, es ganz zu durchreisen, doch war die Hitze
schon in Mailand so gross, dass ich es nicht wagte, noch
weiter nach Süden vorzudringen und direkt nach Paris
gefahren bin. Hier ist es zu jeder Jahreszeit schön. Ich
habe die Absicht, ungefähr acht Tage hier zu bleiben und
dann in die Heimat zurückzukehren. Es ist unAvahrschein-
lich, dass der Rest meines Geldes reichen wird über Pe-
tersburg nach Moskau zu reisen, so dass ich sehr daran
zweifle, ob ich Dich in Diesem Sommer zu sehen bekom-
men werde. Ich tröste mich mit der Hoffnung, dass ich
gelegentlich der Aufführung meiner Oper, längere Zeit bei
Dir bleiben werde".
— 2б6 —
Nachdem Peter Iljitsch Anfang August nach Russland
wieder zurückgekehrt war, begab er sich nach seinem
LiebHngssommeraufenthahiUssowo. Schilowsky hat er dort
allerdings nicht angetrofifen, das Haus stand aber schon
für seine Aufnahme bereit. Die zwei Wochen, die Peter
Iljitsch dort in absoluter Einsamkeit verbracht, zählte er
später zu den glücklichsten Tagen seines Lebens. Das Le-
ben im Auslande in gleichen Verhältnissen war für Peter
Iljitsch stets unerträglich, qualvoll, während ihm in der
Heimat die Anwesenheit eines Dieners genügt, um sich
nicht verwaist zu fühlen, er fühlte sogar, wenn er allein
war, ein Anwachsen seiner Kraft und Energie, welches ihm
in dem Getriebe des Stadtlebens unbekannt war. In einem
seiner Briefe aus dem Jahre 1878 erinnert sich Peter Iljitsch
an jenen Aufenthalt in Ussowo mit folgenden Worten:
An N. F. M.
„1878, d. 22. April.
Ich kenne keinen grösseren Genuss, als einige Tage
im Dorf in völliger Einsamkeit zu verbringen. Diesen Ge-
nuss hatte ich nur ein Mal im Leben. Das war im Jahre
73. Ich bin damals aus Paris — es war Anfang August —
zu einem unverheirateten Freund von mir auf's Land in
das Gouvernement Tambow gekommen. Dieser Freund
musste aber gerade zu der Zeit auf mehrere Tage nach
Moskau reisen, sodass ich ganz allein blieb in der herrli-
chen Oase der südrussischen Steppen. Ich befand mich
geradezu in einer exaltiert-seligen Stimmung, streifte am
Tage durch die Wälder, Abends spazierte ich im tiefen
Thal, und in den Nächten lauschte ich, am offenen Fenster
sitzend, der feierlichen Stille ringsum, welche nur hin und
wieder durch irgend einen unbestimmten Laut unterbro-
chen wurde. Während jener zwei Wochen habe ich ohne
die geringste Mühe — gleichsam alswenn ich von einer über-
natürlichen Kraft geleitet worden wäre — meinen „Sturm"
skizziert. Welch unangenehmes und qualvolles Erwachen
aus meinen Träumen erlebte ich bei der Rückkehr meines
Freundes! Plötzlich verschwanden all die Freuden der
unmittelbaren Berührung mit der Grösse und Herrlichkeit
der Natur. Das Stückchen Paradies verwandelte sich in
das prosaische Haus eines Gutsbesitzers. Nachdem ich mich
zwei bis drei Tage sehr gelangweilt hatte, reiste ich nach
Moskau ab".
— 267 —
Peter Iljitsch war am 5. oder 6. August in Ussowo
angekommen und hatte schon am 7. den „Sturm" in An-
griff genommen. Zum 17. August war diese symphonische
Dichtung in allen ihren Einzelheiten bereits im Entwurf
fertig, und konnte der Autor in Moskau ungesäumt mit
der Instrumentierung des Werkes beginnen. Die Gräfin
Wassiljewa-SchiloAvsky hat mir die Handschrift des Ent-
лvurfes, welcher mit den oben angegebenen Daten verse-
hen ist, geschenkt. Augenblicklich befindet er sich in der
Kaiserlichen Bibliothek, der ich ihn überlassen habe.
Die chronologische Reihenfolge der Kompositionen Pe-
ter Iljitsch's in der Saison 1872 — 1873 ist folgende:
1. Op. 17. Symphonie Л'г 2 (C-moll). Komponiert im Juni,
Juli und August 1872. Instrumentiert im September und
Oktober desselben Jahres und ist in den ersten Tagen des
November ganz fertig geworden. Gewidment der Moskauer
Abteilung der Kaiserlich-Russischen Musikalischen Gesell-
schaft. Am 26. Januar 1873 unter N. Rubinsteins Leitung
in Moskau zum ersten Mal aufgeführt. Erschienen bei W.
Bessel. Der zweite Satz, Andantino marziale, ist der Oper
„Undine" entnommen. Kaschkin sagt darüber: Diese Sym-
phonie könnte man die „kleinrussische" Symphonie nennen,
da die Hauptthemata kleinrussische Volkslieder sind. Spä-
ter hat der Autor umfassende Aenderungen an ihr vor-
genommen, deren hauptsächlichste in der völligen Neubear-
beitung des ganzen ersten Satzes bestand.
2. Op. 16. Sechs Lieder: I. „Wiegenlied", Text von Mai-
kow, gewidmet an Frau N. N. Rimsky-Korsakoff. IL „War-
te noch", Text von Grekoff, gewidmet an N. A. Rimsky-Kor-
sakoff. III. „Erfass nur einmal", Text von Maikow, gewidmet
an G. A. Laroche. IV. „Oh, möchtest du einmal noch sin-
gen", Text von Pleschtschejeff, gewidmet an N. A. Hubert.
V. „Was nun?" Text vom Komponisten selbst, gewidmet an
N. Rubinstein. VI. „Neugriechisches Lied", Text von Mai-
kow, gewidmet an K. Albrecht. Die Entstehungszeit dieser
Lieder kann ich nicht genau angeben, wahrscheinlich fällt
sie jedoch, in den Dezember 1872. Verlag Bessel.
3. Op. 12. Die Musik zum Frühlingsmärchen „Snegu-
rotschka" von Ostrowsky. Komponiert im Laufe des März
und April des Jahres 1873. Zum ersten Mal aufgeführt am
II. Mai 1873 im Grossen Theater zu Moskau. Verlag von
P. Jurgenson. Einige Nummern dieses Werkes hat der
Komponist seiner „Undine" entnommen.
— 2б8 —
4- Perpetuum mobile aus einer Sonate von K. M. von
Weber, Arrangement für die linke Hand allein. Gewidmet
an Fr. Sograf. Herausgegeben 1873. Entstehungszeit ganz
unbekannt. Verlag von P. Jurgenson.
Ausserdem hatte Peter Iljitsch vom 7. bis zum 17.
August an der symphonischen Dichtung „vSturm" gear-
beitet.
Seine musikkritische Thätigkeit dieser Saison umfasst
17 Artikel, in welchen die musikalischen Vorkommnisse
Moskau's besprochen werden.
X.
1873- -1874.
Nachdem Peter Iljitsch zum i. September wieder in
Moskau eingetroffen war, begann er mit der Instrumenta-
tion der mitgebrachten Entwürfe des „Sturmes".
Die ersten anderthalb Monate blieb er noch in der frü-
heren Wohnung wohnen, im Oktober jedoch bezog er
eine andere, in der Nikitskajastrasse im Hause Wischnew-
sky gelegene.
In seinen Pflichten als Professor des Konservatoriums,
sowie als Musikreferent sind keinerlei wesentliche Aende-
rungen gegenüber den vorigen Jahren eingetreten. Auch
Avas seine Lebensweise anbelangt hat sich Nichts Neues
ereignet, Alles ging seinen gewöhnlichen Gang, mit dem
einzigen Unterschied, dass Das, was Peter Iljitsch früher
interessant und neu schien, ihm jetzt immer mehr zu lang-
weilen begann und seine Anfälle von Melancholie immer
öfter, intensiver und anhaltender wurden.
An W. Bessel:
„September 1873.
Sei so gut, mein Lieber, und thue Etwas für den
„Opritschnik". Gestern sagte man mir im Grossen Theater,
dass die hiesige Direktion bestimmt die Absicht habe,
р. I. Tschaikowsky im Jahre 1873.
Dampfschnellpresseu-Druckerei von P. Jurgenson, Moskau.
— 269 —
meine Oper aufzuführen, und zwar ebenfalls im Frühjahr.
Obgleich ich hier ausser der Kadmina keine guten Kräfte
finden kann, so glaube ich doch, dass wir gut thun wür-
den, der Aufführung unsere Zusage nicht zu verweigern.
Mögen sie nur aufführen, wenn sie Lust haben. Der Re-
pertoirvorsteher hat mir versichert, dass man keine Kos-
ten scheuen wollte, um die Oper glänzend aufzuführen,
die Proben würden im Laufe der ganzen Saison stattfin-
den. Was die Widmung des „Opritschnik" anbelangt, so
denke ich, dass es am besten wäre, ihn dem Grossfürsten
Konstantin Nikolajewitsch zu widmen. Du irrst Dich sehr,
wenn Du glaubst, dass ich während meiner Sommerreise
im Ausland viel gearbeitet habe; nicht eine einzige Note
habe ich da zu Papier gebracht".
An I. P. Tschaikowsky:
„9. Oktober.
Lieber Vater, ich habe schon wieder eine grosse Schuld
auf dem Gewissen. Ich sehe sie wohl ein, küsse Dich und
bitte Dich, mir diesmal meine grosse Schreibfaulheit noch
zu verzeihen. Uebrigens ist diese Faulheit erklärlich. Ich
bin immer so müde, wenn ich nach Hause komme, und
habe so viel Arbeit, dass ich keine Energie finde Briefe
zu schreiben. In der letzten Zeit war ich sehr krank: ich
hatte die Bräune und starkes Fieber, der Husten hält bis
jetzt noch an. Das Alles ist aber nicht der Rede wert:
im Allgemeinen ist meine Gesundheit in gutem Zustand.
Ich lebe wie gewöhnlich, zur Langweile finde garkeine
Zeit und wäre ganz glücklich, wenn mir das Schicksal
meiner Oper, über die ich noch immer keine positiven
Nachrichten besitze, nicht Sorge machen würde. Soeben
wurde mir mitgeteilt, dass es noch nicht bestimmt sei, ob
es noch in dieser Saison zu einer Aufführung kommen
werde, zum Warten habe ich aber gar zu wenig Lust. Da
ich keine eignen Kinder habe, so hänge ich sehr an den
Ausgeburten meiner Phantasie und sorge um sie wie eine
Mutter, welche ihre Töchter unter die Haube bringen
möchte. Ausser der Annehmlichkeit, meine Oper aufge-
führt zu sehen, verlockt mich die Aussicht, drei bis vier
Wochen bei Dir in Petersburg zu verbringen".
An W. Bessel:
„IG. Oktober.
Lieber Freund! An Gedeonoff habe ich geschrieben.
— 270 —
dass in Sachen der Aiififührung- meines „Opritschnik" Du
mich vertreten sollst. Wegen der Klavierstücke wirst Du
Dich schon eine Weile gedulden müssen. Wenn Du Stas-
sow begegnen solltest, so teile ihm bitte mit, dass ich den
„Sturm" nach seinem Programm bereits komponiert habe,
dass ich ihm diese Komposition aber nicht eher sende,
als bis ich sie in der Ausführung in Moskau gehört ha-
ben werde. W^eiss nicht, ob sie mir gelungen ist oder nicht.
А propos teile mir bitte seine Adresse mit. Ich will ihm
selbst schreiben.
An W. Bessel:
„18. Oktober.
Lieber Freund, die traurigen Nachrichten, die Du mir
zukommen lässt, haben mich — trotzdem ich auf sie gefasst
war — dennoch sehr erbittert. Es scheint geradezu eine Vo-
rausbestimmung zu sein, dass ich nie eine meiner Opern
in guter Ausführung zu hören bekommen soll. Es hat gar-
keinen Zweck, dass Du Dich der Hoffnung hingiebst, dass
der „Opritschnik" im nächsten Jahr in Scene gehen wer-
de. Er wird nie gegeben werden, und zwar schon allein
aus dem einfachen Grunde, dass ich mit Keinem der „Mäch-
tigen" dieser Welt im Allgemeinen und mit denen des
Petersburger Theaters im Besonderen persönlich bekannt
bin. Ist es denn nicht geradezu lächerlich, dass Mussorg-
sky's Oper „Boris Godunoff", obgleich sie vom Komitee
abgelehnt, von KondratjefT ^) zu seiner Benefizvorstellung
gewählt worden ist? Auch die Platonowa -) bemüht sich
um dieses Werk, während von meiner Oper, die vom Ko-
mitee angenommen worden ist. Niemand Etwas wissen will.
Selbstverständlich werde ich es nicht zugeben, dass die
Oper in Moskau in Scene geht solange sie in Petersburg
noch nicht aufgeführt worden ist. Es quält mein Gewis-
sen, dass Dich die Oper in Unkosten zieht, hoffe aber,
dass ich einst Gelegenheit haben werde, mich zu revan-
chieren.
Was die Widmung an den Grossfürsten anbelangt, so
meine ich, dass sie vorläufig lieber unterbleiben könnte,
da doch das Schicksal der Oper noch so unbestimmt ist.
Eine nichtaufgeführte Oper ist, meiner Ansicht nach, wie
1) G. P. Kondratjefl" war ursprünglich Sänger (Bariton), dann lange Jahre hindurch
Regisseur im Maricn-Thcatcr.
2) I. Th. Platonowa, die Primadonna des Marientheaters, eine sehr beliebte Sänge-
rin, besass auch ein unvergleichliches dramatisches Talent.
— 271 —
ein Buch im Manuscript. Soll man nicht lieber noch war-
ten? Erwarte mit Ungeduld die Korrektur der S3'mphonie".
An W. Bessel:
„30. Oktober.
Lieber Freund, Hubert hat mir die glückliche Wendung
in der Opernangelegenheit mitgeteilt. Es freut mich dieses
sehr, sehr! Teile Dir ganz im Geheimen mit, dass ich den
Wunsch habe im ersten Symphoniekonzert in Petersburg
anwesend zu sein, um meine Symphonie anzuhören. Auf
keinen Fall will ich aber, dass Jemand Etwas darüber er-
fährt, verlange daher von Dir das Ehrenwort, dass Du es
Niemandem verratest. Schreibe mir bitte, wann das Kon-
zert stattfinden soll und kaufe mir ein Billet auf die Gal-
lerie. Bei der Gelegenheit können wir Verschiedenes münd-
lich miteinander besprechen. Um Gottes Willen, nur kein
Wort darüber, sonst wird sich mein ganzer Spass in eine
grosse Unannehmlichkeit verwandeln. Nach einigen Tagen
sende Dir drei Stücke ab".
An M. Tschaikowsky
,28. November
Meiner finanziellen Lage dürfte in allernächster Zeit
ein kleines Ereigniss bevorstehen. Der „Sturm" soll, näm-
lich, in der nächsten Woche eine Aufführung erfahren,
bei welcher Gelegenheit ich von der Musikalischen Gesell-
schaft die üblichen 300 Rubel erhalten werde. Diese Sum-
me wird mich sehr aufmuntern. Es wird für mich von
grossem Interesse sein, mein neues Werk mit anzuhören,
auf das ich sehr grosse Hoffnungen setze. Schade, dass
Du es nicht hören kannst, denn ich beachte sehr Deine
maasgebende Meinung.
Erst in diesem Jahr bin ich zu der Ueberzeugung ge-
kommen, dass ich hier ziemlich einsam bin, trotz meiner
vielen Freunde. Unter diesen ist Niemand, dem ich meine
Seele ausschütten könnte, wie zum Beispiel Kondratjew"
hn dritten S3'mphoniekonzert der Musikalischen Ge-
sellschaft zu Moskau, welches am 7. Dezember stattfand,
wurde der „Sturm" mit grossem, ausserordentlichem Er-
folg aufgeführt und noch in derselben Saison in einem
Extrakonzert wiederholt.
— 272 —
E. Näpravnik an P. I. Tschaikowsk}-:
„16. Dezember.
Obwohl wir wahrscheinlich erst in der zweiten Fasten-
woche mit den Proben zu Ihrer Oper beginnen werden,
möchte ich Sie jetzt schon bitten, dem Chor und den So-
listen die Arbeit etwas zu erleichtern und einige Kürzun-
gen vorzunehmen, d. h. alle Wiederholungen im Text und
in der Musik, welche die Entwickelung des Drama's hem-
men, zu streichen. Es sind ihrer sehr viele vorhanden, zum
Beispiel der Hochzeitschor im IV. Aufzug, welcher sich
drei Mal wiederholt. Auch die Tänze müsste man ein we-
nig kürzen. Ich versichere Sie, dass dadurch die ohnehin
schon sehr lange Oper nur gewinnen wird. Ausserdem
rate ich Ihnen, die zu dicke und zu grelle Instrumentation
abzuändern, da sie von den Singstimmen an manchen Stellen
nicht überwältigt werden kann und die Künstler ganz in
den Schatten stellt. Ich hoffe, dass Sie alle meine Bemer-
kungen als wohlgemeint betrachten und sie wie von einem
Ihnen gutgesinnten Kollegen, welchen das Schicksal nun
bereits seit 11 Jahren mit der Opernkunst beschäftigt,
freundlich entgegennehmen werden".
An E. Näpravnik:
„18. Dezember.
Sehr geehrter Herr! Ihre Bemerkungen haben mich
nicht nur nicht beleidigt, sondern ich bin Ihnen sogar sehr
dankbar für dieselben. Ueberhaupt bin ich sehr froh, dass
mir infolge Ihres Briefes die Möglichkeit geboten ist, mit
Ihnen in Verbindung zu treten und mit Ihnen persönlich
Alles zu besprechen. Alles was Sie in Betreff der Rollen-
besetzung, der Abänderungen und Kürzungen für nötig
halten, will ich gern thun. Um ausführlicher die Sache
besprechen zu können, werde ich am nächsten Sonntag
nach Petersburg kommen und Sie besuchen. Wenn Sie
an diesem Tage verhindert sein sollten, zu Hause zu sein,
so wollen Sie bitte die Güte haben, mir eine Mitteilung
zu hinterlassen, um welche Zeit ich Sie am folgenden Tage
aufsuchen darf.
Ich bitte Sie, Niemandem ein Wort über meine Ankunft
zu sagen, denn ich komme nur für kurze Zeit und will
Niemanden, ausser Ihnen, sehen".
— 273 —
An А. Tschaikowsky:
„26. Januar 1874.
In Petersburg bin ich in dem scheusslichen Hotel
Victoria abgestiegen. Bin sofort zu Näpravnik gegangen,
dem ich vorher schrifthch meinen Besuch angemeldet hatte.
Ich war entschlossen, ihn durch ehrfurchtsvolle Behand-
lung und durch mein volles Einverständniss mit allen sei-
nen Meinungen für mich einzunehmen. Dieses zu erreichen
ist mir denn auch gLänzend gelungen, so dass wir uns
als Freunde verabschiedet haben. Die ganzen vier Tage
war ich mit Kürzungen und Aenderungen meiner Partitur
beschäftigt. Die meiste Zeit war ich beim Vater, speiste bei
ihm zu Mittag und arbeitete auch da.... Mit Bessel war
ich auch zusammen. Die Schwierigkeiten mit der Zensur
sind glücklich beseitigt. Ueberhaupt ist die Angelegenheit
der Oper jetzt endgiltig in Ordnung: in der zweiten Fasten-
woche sollen die Proben beginnen und ich bin überzeugt,
dass Näpravnik sich die grösste Mühe geben wird. Ich habe
ein neues Quartett komponiert und werde dasselbe auf einer
Soiree bei N. Rubinstein zu Gehör bekommen".
Das neue Quartett, welches im letzten Brief erwähnt
wird, hatte Peter Iljitsch Ende Dezember oder Anfang
Januar zu arbeiten begonnen. In den „Erinnerungen" Kasch-
kin's findet sich die Beschreibung des Abends bei N. Ru-
binstein, an welchem das Quartett gespielt worden ist:
„Zu Anfang des Jahres 1874 kam das zweite Quartett
(F-dur) Tschaikowsky's gelegentlich einer Soiree in der
Wohnung N. Rubinsteins zum Vortrag. Der Hausherr selbst
war, glaube ich, nicht anwesend, dafür aber sein Bruder
Anton. Die Ausführenden waren F. Laub, Hrimaly, Ger-
ber und Fitzenhagen. Die ganze Zeit, während gespielt
wurde, sass Anton Gregorjewitsch mit düsterem, unzu-
friedenem Gesichtsausdruck da und sagte, als die Musik
zu Ende war, mit der ihm eigenen unnachsichtlichen Auf-
richtigkeit, dass ihm das Quartett garnicht gefallen habe,
dass er den echten Quartettstyl vermisse u. s. w.. Alle
andern Zuhörer, sowie die Ausführenden, waren im Ge-
genteil ganz entzückt".
Am IG. März wurde dieses Quartett an einem Quar-
tettabend der Musikalischen Gesellschaft öffenthch zum Vor-
trag gebracht, und zwar — wie „Das musikalische Blatt"
schreibt — mit grossem und wohlverdientem Erfolg.
Tschaikowsky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 18
— 274 —
An E. Näpravnik:
„19. Februar.
In der letzten Zeit quälte mich der Gedanke, dass
der Klavierauszug nicht rechtzeitig fertig werden würde.
Endlich erhielt ich Gestern einen Brief von Bessel, wel-
cher mir mitteilt, dass er 10 Exemplare — aber noch un-
korrigierte — der Direktion zur Verfügung gestellt habe. Ich
weiss wohl, dass es Ihnen grosse Schwierigkeiten bereiten
wird — weiss aber nicht, wie dem Uebel abzuhelfen ist. Soll
ich vielleicht nach Petersburg kommen? Ausserdem hatte
ich keine Zeit gehabt in den Klavierauszug diejenigen
Striche und Aenderungen zu übertragen, welche ich in der
Partitur gemacht. Wollen Sie wirklich so liebenswürdig
sein und selbst die Kürzungen eintragen? Wenn nicht,
dann ist meine Reise unerlässlich. Was die Symphonie
anbelangt, so wird es mir leider nicht möglich sein, sie
mit anzuhören, da mir die Reise nach Petersburg an dem
betreffenden Tage nicht passt. Wenn ich daran denke,
wieviel Arbeit ich Ihnen mit meinen Kompositionen verur-
sache, so überkommt mich immer ein grosses Schamgefühl.
Erwarte von Ihnen eine kurze Nachricht, ob ich kommen
soll oder nicht.
Am 23. Februar ist die Symphonie № 2 unter Näprav-
niks Leitung zu ihrer ersten Petersburger Aufführung ge-
kommen. Sie hatte grossen Beifall gefunden, namentlich
das Finale; infolge der Abwesenheit des Komponisten, war
der Erfolg dennoch kein so ausserordentlicher und glän-
zender wie der vor Jahresfrist in Moskau. Die Symphonie
hat auch bei den Vertretern der „Allmächtigen Schaar"
Anklang gefunden und nur C. Cui missfallen. Dieser äus-
sert sich in den „St.-Petersburger Nachrichten" wie folgt:
„Introduktion und das erste AUegro sind sehr schwach,
die Dürftigkeit der Komponisterei des Herrn Tschaikow-
sky kommt in ihnen jeden Augenblick zum Vorschein. Der
Marsch des zweiten Satzes ist klobig, ordinär. Das Scher-
zo-weder gut noch schlecht, das Trio so unschuldig, dass
es selbst für eine „Snegurotschka" zu kindisch wäre. Bes-
ser als die andern Sätze ist das Finale, und dennoch ist
sein Anfang so feierlich-trivial wie die Einleitung zu einem
pas de deux, und der Schluss geradezu unter aller Kritik".
Ende März ist Peter Iljitsch nach Petersburg gekom-
men, um den Proben zu seinem „Opritschnik" beizuwoh-
nen, und hat bei seinem Vater Wohnung genommen. Bei
— 275 —
der ersten Zusammenkunft mit Näpravnik hat sein Ehrgeiz
manchen Stich dahinnehmen müssen, an den er nicht ge-
wöhnt war. Peter Ujitsch, welcher durch das Verhalten
N. Rubinsteins gegenüber einer jeden Note seiner histru-
mental werke etwas verwöhnt war, hat sich durch die grosse
Menge der Kürzungen, welche Näpravnik im „Opritschnik"
vorgenommen hatte, etwas beleidigt gefühlt. Später hat er
sie, übrigens, selbst alle gutgeheissen, damals kränkten sie
ihn jedoch sehr.
Die allerersten Proben waren schon vorüber. Der Chor
und die Solisten waren bereits mit ihrer Aufgabe vertraut,
und war der Autor mit der Wiedergabe seines Werkes
wohl zufrieden. Er bedauerte nur sehr, dass die Partie
des Basmanoff wegen einer Erkrankung neu besetzt wer-
den musste und dem Tenor Wassiljew zufiel. Dieser Sän-
ger verfügte zwar über eine sehr kräftige Stimme, verstand
aber nicht, dieselbe zu beherrschen. In den Ensemblestel-
len wurde der holzige schrille Ton seiner Stimme aller-
dings durch die andern Stimmen etwas gemildert, sobald
er aber solo singen musste, traten alle Mängel seines Vor-
trages gar zu unangenehm hervor.-
Von der ersten Probe an hat Peter Ujitsch sein Werk
missfallen. Am 25. März schreibt er an K. Albrecht: „Teile
bitte Allen meinen Freunden mit, dass die Premiere am
Freitag in der Osterwoche stattfinden soll, und lass mich
auch rechtzeitig wissen, ob Ihr die beabsichtigte Reise in
Ausführung bringen werdet, damit ich Billets besorgen
kann; offen gasagt wünsche ich, dass Niemand von Euch
komme. Ä')i meiner Oper ist nic/ds besonders Schönes dran" .
An seinen Schüler S. Tanejew schreibt Peter Ujitsch in
demselben Sinne: „Serjosha ^), sollten Sie wirklich ernst-
lich mit der Absicht umgehen, hierherzukommen um meine
Oper anzuhören, so bitte ich Sie sehr, dieses Vorhaben
aufzugeben, denn an der Oper ist nichts Gutes dran und
es wäre schade, wenn sie nur um ihretwillen nach Peters-
burg kämen.
Je weiter die Einstudierung voran schritt umso düste-
rer und gereizter wurde Peter Iljitsch's Stimmung. Ohne
den wahren Grund seiner Verstimmung zu ahnen, erlaubte
ich mir eines Tages den ersten Akt des „Opritschnik"
einer ziemlich scharfen Kritik zu unterziehen und spöttelte
namentlich über die Stelle, wo Andrei im Garten Shem-
t) Serjosha-Sergius.
— 276 —
tschushn3''s erscheint, um bei Basmanoff Geld zu „pumpen".
Peter Iljitsch geriet in einen solchen Zorn, dass er mich
anschrie, alswenn ich weiss Gott was verbrochen hätte.
Ich war darüber sehr erbittert, da ich damals — wie gesagt-
den Grund seines Jähzornes nicht zu finden vermochte.
Erst viel später erkannte ich, dass meine Kritik gerade
die wundeste Stelle seiner Künstlerleiden getroffen hatte.
Am Tage, als die Affiche des „Opritschnik" zum ersten
Mal am Theater ausgehängt werden sollte, schlug ich Pe-
ter Iljitsch vor, nach dem Frühstück einen kleinen Spa-
ziergang zu unternehmen und bei dieser Gelegenheit die
Affiche in Augenschein zu nehmen. Er ging darauf ein,
und wir machten uns auf den Weg. Wie mussten wir
aber lachen als wir gewahr wurden, dass die Affiche um-
gekehrt, d. h. mit dem Kopf nach unten angeschlagen
war. Im Scherz begann ich meine zukünftigen „Erinnerun-
gen" an diesen Vorfall zu zitieren und sprach, wie in einem
Buch lesend: „Als mein unvergesslicher Bruder" u. s. w.
u. s. \v. Peter Iljitsch lachte von ganzem Herzen über
meinen gar zu frühzeitigen Einfall, die Rolle seines Bio-
graphen zu spielen. Vielleicht hätte ich nicht mitgelacht,
wenn ich geahnt hätte, dass mein Scherz einstmals Ernst
werden sollte.
Entgegen dem Wunsche Peter Iljitch's war zu der am
12. April stattgefundenen Premiere des „Opritschnik" bei-
nahe das ganze Lehrerkollegium des Moskauer Konserva-
toriums mit N. Rubinstein an der Spitze in Petersburg
erschienen.
Die Rollenbesetzung war folgende:
Andrei- Morosoff N. Orloff.
Bojarina Morosoff.
Fürst Shemtschushny .
Natalie, dessen Tochter
Moltschan Mitjkoff . .
Basmanoff
Fürst Vjasminsk}'.
. Fr. Krutikowa.
. H. Wassiljew I.
. Fr. Raab.
. H. Soboleff.
. H. Wassiljew II.
. H. Melnikoff.
Zacharjewna, Nataliens Muhme. Fr. Schröder.
Von diesen Ausführenden hat sich Niemand besonders
hervorgethan, es hat aber auch Keiner das Ensemble ver-
dorben. Am besten waren Chor und Orchester. Im Gros-
sen und Ganzen ging die Aufführung glatt von statten,
ohne besondere Höhepunkte, aber auch ohne störende
— 277 —
Zwischenfälle. Die Dekorationen und Kostüme waren et-
was alt, denn die Theaterdirektion scheute die Kosten
einer glänzenderen Inscenierung des neuen Werkes, da
der Name Peter Iljitsch's damals noch keine Gewähr da-
für bot, dass die Oper durchschlagenden Erfolg erzielen
würde.
Aeusserlich war der Erfolg nichtsdestoweniger ein gros-
ser. Nach dem zweiten Akt wurde der Komponist einstim-
mig hervorgerufen. In der Stimmung des Publikums machte
sich jene Aufregung bemerkbar, welche besser als alle
Hervorrufe den Erfolg eines Werkes erkennen lässt.
In einer Loge des zweiten Ranges sass unser alter Va-
ter mit seiner Familie. Er strahlte vor Glückseligkeit. Als
ich ihm aber die Frage vorlegte, was seiner Meinung nach
besser sei für Peter — dieser künstlerische Erfolg, oder der
Annen-Orden erster Klasse, den er sich als Beamter viel-
leicht verdient hätte, so antwortete Ilja Petro witsch: „Der
Annen-Stern wäre doch schöner!" Diese Antwort bewies
von Neuem, dass Ilja Petrowitsch in der Tiefe seiner Seele
es dennoch bedauerte, dass Peter Iljitsch nicht Beamter
gebheben ist. Doch war es nicht kleinlicher Ehrgeiz, von
dem sich der Vater leiten liess, und auch keinerlei andere
prosaische oder selbstsüchtige Gründe, sondern lediglich
die Ansicht, dass gewöhnliche Menschen, Nichtkünstler,
ein ruhigeres und glücklicheres Leben führen.
Nach der Vorstellung gaben die Mitglieder der Mos-
kauer und Petersburger Direktionen der Kaiserlich Rus-
sischen Musikalischen Gesellschaft zu Ehren Peter Iljitsch's
ein Subscriptionssouper im Restaurant Boreille. Bei diesem
Souper las der Direktor des Petersburger Konservatoriums,
M. P. Asantschewsky, folgendes an Peter Iljitsch gerichte-
tes Schreiben vor:
Hochverehrter Herr! Der im Jahre 1872 dahingeschie-
dene Michael Alexejewitsch Kondratjew hat der Peters-
burger Sektion der Kaiserlich Russischen Musikalischen
Gesellschaft ein Kapital von 7500 Rubeln testamentarisch
vermacht mit der Verfügung, dass die Zinsen dieses Ka-
pitals an talentvolle russische Komponisten vergeben werden.
In dem Bestreben, die Absicht des Stifters zu verwirk-
lichen, konnte die Petersburger Direktion nicht umhin,
ihr Augenmerk auf Ihre kompositorischen Verdienste zu
richten. Im Laufe der letzten neun Jahre hatten wir wie-
derholt Gelegenheit, in den Konzerten der Musikalischen
Gesellschaft zuerst in Moskau und später in beiden Haupt-
— 278 —
Städten die Schöpfungen Ihrer Kunst kennen zu lernen.
Es sind aufgeführt worden: zwei S\4uphonieen, zwei зз^т-
phonische Dichtungen („Fatum" und „Sturm") eine Kon-
zertouverture (F-dur), die Ouvertüre zu „Romeo und Ju-
He", ein Streichquartett und ein Chor aus einer unbeen-
deten phantastischen Oper.
Indem die Petersburger Direktion die Vorzüge der ge-
nannten Komposition voll anerkennt, erstreckt sie ihre Be-
lobigung auch auf die im Druck erschienenen Werke von
Ihnen, auf die Stücke für Klavier und Gesang, von denen
viele öffentlich zum Vortrjig gekommen sind und die hohe
Meinung der Zeitgenossen über Ihr Talent förderten und
befestigten. Endlich haben Ihre musikalisch- dramatischen
Werke („Woiwode" und „Opritschnik"), welche in Mos-
kau und Petersburg Aufführungen erfahren haben, Ihren
Namen weiteren Kreisen bekannt gemacht und Ihrem Ta-
lent weitere S3'mpatien zugeführt.
Die Petersburger Direktion ist glücklich, dank der
hochherzigen und patriotischen Stiftung M. A. Kondrtitjew's
in der Lage zu sein, Ihnen, verehrter Herr, durch ein ma-
terielles Zeichen ihre grosse Hochachtung auszudrücken.
Gestatten Sie, Ihnen anbei die Zinsen jenes Kapitals in der
Höhe von 300 Rubeln auszuhändigen und die Bitte daran
zu knüpfen, dass Sie diese Summe als einen Tribut der
Hochschätzung für Ihre Kompositionen, welche den Kon-
zerten der Russischen Musikalischen Gesellschaft so oft
zur Zierde gereicht hatten, gütigst annehmen zu wollen.
Unterschrieben von: M. Asantschewsky, E. Näpravnik,
P. Brashnikoff, Baron v. Vietinghoff-Scheel, J. Wargunin,
A. Oppel, A. Gerke, W. Trofimoff".
Die Referate in der Presse über die Erstaufführung
des „Opritschnik" waren ebenso zahlreich als widerspre-
chend. C. Cui hat in seinem Bericht in den „St.-Petersburger
Nachrichten" die Meinung vertreten, dass Alles an dieser
Oper schlechter als das Schlechteste sei: „Vom Text könn-
te man glauben, dass ihn ein Schulbube verfasst habe,
welcher nicht die geringste Ahnung von den Anforderun-
gen eines Drama's, geschweige denn einer Oper, besitzt.
Ebenso unreif und unentwickelt ist auch die Musik, sie
ist arm an Ideen und durchweg schwach, ohne eine einzige
hervorragendere Stelle, ohne einen einzigen glücklicheren
Einfall, sie besitzt so kapitale Mängel, welche bei einem
vSchüler oder Anfänger allenfalls erklärlich wären, aber
für einen Komponisten, der bereits eine so grosse Menge
— 279 -
Notenpapier verbraucht hat, sind sie geradezu unver-
zeihlich.... Das schöpferische Talent Tschailcowsky's, wel-
ches in s3nnphonischen Werken stellenweise durchblickt,
fehlt im „Opritschnik" gänzlich; etwas besser als Alles
Andere sind die Chöre; sie sind aber nur deshalb besser,
weil die in ihnen zur Bearbeitung gelangten Melodieen
Volksliedern entnommen sind. Die gemeinen Kantilenen
Tschaikowsky's, sein lügenhaftes, geheucheltes Tempera-
ment, der Wagemut, mit welchem er im Flachen und Tri-
vialen versinkt, die Offenherzigkeit, mit welcher er seine
Geschmacklosigkeit zeigt — erregen nicht nur tiefes Mitleid,
sondern wirken geradezu ahstosseJuV . Damit — schiene es-
wäre der ganze Schatz tadelnder Worte erschöpft, C. Cui
geht aber noch weiter und behauptet, dass der „Opritsch-
nik" nicht nur keinen Vergleich mit andern Opern der
russischen Schule aushalte, z. B. mit „Boris Godunoff",
u. a., sondern sogar viel niedriger stehe, als die itahenischen
Erzeugnisse dieser Art. Mit diesen letzen Worten glaubte
C. Cui, wahrscheinlich, dem Autor des „Opritschnik" den
Todesstoss versetzt zu haben.
Ganz entgegengesetzter Meinung als C. Cui waren G.
Laroche (im,, Musikalischen Blatt") und ein gewisser B. W.
(in der „Petersburger Zeitung"). Sie Beide erblicken in
der Vorstellung des „Opritschnik" ein hoch bedeutsames
und sehr erfreuliches Ereigniss. Laroche sagt: „Während
unsere modernen Opernkomponisten miteinander wettei-
fern und Einer den Andern in der Verneinung der Musik
zu übertreffen bestrebt ist, trägt die Oper Tschaikowsky's
nicht den Stempel jenes verzweifelten Fortschrittes, sondern
zeugt von Begabung und Schönheitssinn. Die Fülle der
musikalischen Schönheiten des „Opritschnik" ist so ausser-
ordentlich, dass diese Oper unter den Werken des Kom-
ponisten, sowie überhaupt unter den Meisterwerken der
russischen dramatischen Musik einen hervorragenden Platz
einnehmen wird. Wenn man zu dem seltenen Melodieen-
reichtum dieser Oper ihren feinen harmonischen Styl, die
wundervolle, freie, oft sehr gewagte Stimmführung, die
echt russische Kunst, in diatonischen Melodieen chroma-
tische Harmonieen herauszufinden, ferner die üppigen
Orgelpunkte (die der Komponist, übrigens, gar zu oft an-
bringt), die abgerundeten und sehr kunstvoll zu grossen
ganzen Sätzen vereinigten Scenen, endlich die wohlklin-
gende, prachtvolle und glänzende Instrumentation hinzu-
fügt, so erhält man in der Summe eine Partitur, welche
viele Vorzüge unserer modernen Opernmusik enthält,
— 28o —
während sie gleichzeitig frei von allen ihren Mängeln ist".
Die herbste, die unnachsichthchste Kritik hat aber Pe-
ter Jljitsch selbst an seiner Oper geübt. Folgende Zeilen
schrieb er 14 Tage nach der Vorstellung:
„Mich quält der „Opritschnik". Diese Oper ist so
schlecht, dass ich bei allen Proben (namentlich bei de-
nen des 3. und 4. Aktes) es nicht aushalten konnte und
stets davonlief, um nicht einen Ton mehr zu hören; in
der Vorstellung war mir zu Mute, als müsste ich versin-
ken vor lauter Scham. Ist es nicht merkwürdig, dass ich
beim Arbeiten an dieser Oper die Vorstellung hatte, es
sei Etwas Entzückendes, was ich schriebe?! Und — welch
eine Enttäuschung in der ersten Probel! Keine Handlung,
kein Styl, keine InspirationI Die Hervorrufe und das Bei-
fallklatschen in der ersten Vorstellung bedeuten garnichts,
denn erstens, waren viele meiner Freunde und Bekannten
im Theater, und zweitens, habe ich mich schon früher
vorteilhaft eingeführt. Ich weiss, dass die Oper nicht einmal
sechs Vorstellungen erleben wird, und das ist mir tödtlich
unangenehm".
Die letztere Annahme Peter Iljitsch's hat sich nicht
bewahrheitet, denn der „Opritschnik" wurde bis zum i.
März 1881 vierzehn Mal gegeben. Diese Anzahl ist an
sich, allerdings, sehr gering, wenn man aber in Erwägung
zieht, dass nicht eine einzige der damals aufgeführten neuen
Opern (z. B. ,,Boris Godunow", „Der steinerne Gast" von
Mussorgsk}', „William Ratkliff", „Angelo" von C. Cui, u. A.)
mehr als 16 Mal gegeben worden ist, manche von ihnen
sogar nur 8 Mal, so muss man bekennen, dass der
„Opritschnik" einen etwas mehr als mittelmässigen Er-
folg gehabt hat.
Am dritten Tage nach der ersten Vorstellung des
„Opritschnik" reiste Peter Iljtsch nach Italien ab. Ausser
dem Wunsch, sich von den Aufregungen der letzten Ta-
ge zu erholen, hatte er die Absicht, der ersten italieni-
schen Vorstellung von Glinka's „Leben für den Zaren"
in der Eigenschaft eines Berichterstatters der „Russischen
Nachrichten" beizuwohnen. Diese Oper ist von Frau San-
tagano-Gortschakowa ins Italienische übersetzt und dank
den Bemühungen der Uebersetzerin vom Teatro dal Ver-
me in Mailand zur Aufführung angenommen worden.
An M. Tschaikowsky:
..Venedig, d. 1729 April 1874.
Heute promenierte ich den ganzen Tag auf dem Mar-
— 28l —
cusplatz. Bin sehr erschöpft und habe grosse Lust, mit
Dir zu plaudern, Modi. Ich bin ohne Aufenthalt bis Vene-
dig durchgefahren. Nur in Warschau musste ich über-
nachten, was sich aber hätte vermeiden lassen, wenn mich
zu Hause Jemand darauf aufmerksam gemacht hätte, dass
nur der 4-Uhr-Zug Anschluss in Warschau hat. Meine
Seele луаг sehr melancholisch gestimmt und warum? — aus
vielen Gründen, deren einer darin lag, dass ich mich vor
Dir schämte. Statt ins Ausland zu reisen und Geld zu
verschwenden, hätte ich eigentlich Deine und Anatols
Schulden bezahlen sollen, — statt dessen eile ich aber, den
herrlichen Süden zu geniessen. Der Gedanke an meinen
Geiz und Egoismus hat mich so gequält, dass ich jetzt
erst, beim Schreiben dieser Zeilen einige Erleichterung
fühle. So vergieb mir denn, mein lieber Modi, dass ich mich
selbst mehr liebe, als Dich und die übrige Menschheit.
Du wirst, vielleicht, glauben, dass ich mich als einen
Wohlthäter aufspielen will. Ganz und gar nicht. Ich weiss
wohl, dass mein Selbstvorwurf zwecklos ist, denn ich set-
ze trotzdem meine Spazierreise fort, während Du mit Dei-
nen Schulden zu Hause sitzest. Und doch hat dieses Be-
kenntniss mein Gewissen etwas entlastet. Nun will ich
aber von Venedig weitererzählen. Erstens ist es hier schreck-
lich kalt, und das gefällt mir, denn die italienische Hitze
habe ich bereits im vorigen Jahr kennen gelernt. Zwei-
tens, die Hotels sind alle überfüllt und ich habe nur mit
Mühe ein sehr unansehnliches Zimmer finden können. Drit-
tens, Venedig ist eine Stadt, in welcher ich — wenn ich län-
gere Zeit hier bleiben müsste — mich schon am fünften Ta-
ge vor Verzweiflung erhängt haben würde. Das ganze
Leben konzentriert sich auf dem St. Marcusplatz. Ferner,
wo man auch hingehen mag, gerät man in ein Labyrinth
stinkender Korridore, welche lauter Sackgassen bilden, so
dass man nicht weiss wo man sich befindet solange man
sich nicht in eine Gondel setzt. Eine Fahrt durch den Ca-
nale Grande ist sehr zu empfehlen, denn da sieht man
lauter Marmorpaläste, von denen einer schöner als der an-
dere, aber auch einer verwahrloster als der andere ist.
Mit einem Wort, man glaubt die verwitterten Dekoratio-
nen zum ersten Akt der „Lucrezia" zu sehen. Dafür ist
aber der Dogenpalast die Schönheit und Eleganz selbst,
dazu der romantische Hauch des Rates der Zehn, der
Inquisition und anderer interessanter Dinge. Diesen Pa-
lazzo habe ich von innen und von aussen sehr genau an-
— 282 —
gesehen, bin aucli pflichtgemäss in zwei anderen gewe-
sen, sowie in drei Kirchen, in denen eine Menge Bilder
von Tizian, Tintoretto, Statuen von Canova und Kostbar-
keiten vorhanden sind. Die Stadt ist aber, wie gesagt,
sehr düster und wie ausgestorben. Pferde giebt es da nicht,
ja — nicht einmal einen Hund habe ich zu Gesicht be-
kommen.
Soeben erhalte ein Telegramm aus Mailand. „Das Le-
ben für den Zaren" kommt erst am 12. Mai (neuen Stils)
-zur Aufführung, sodass ich beschlossen habe. Morgen di-
rekt nach Rom und später nach Neapel zu reisen, wo ich
Deinen Brief erwarten werde".
An A. Tschaikowsky:
„Rom, d. 20. April 1874.
Lieber Toly, ich langweile mich sehr in meiner Einsam-
keit; um meine Seele ein wenig zu zerstreuen setze mich
hin Dir zu schreiben. Die Einsamkeit ist ein nützlich Ding
und ich habe sie sehr gern, aber nur mit Mass. Morgen
sind es bereits acht Tage seit ich aus Russland fort bin,
und ich habe während dieser ganzen Zeit mit Niemandem
nach Herzenslust geplaudert. Ausser der Hotelbedienung
und den Bahnbeamten hat kein Mensch von mir ein Wort
gehört. Den ganzen Morgen schlenderte ich durch die
Stadt und habe in Wahrheit Grossartiges gesehen: das
Colosseum, die Thermen des Caracallus, das Capitol, den
Vatikan, das Pantheon und endlich — den höchsten Triumph
des menschhchen Geistes — die Peterskirche. Nachmittags
unternahm ich einen Spaziergang durch den Corso und
hier überfiel mich ein Spleen, vor dem ich mich durch
Briefeschreiben und durch ein Glas Thee zu retten suche.
Ich möchte die Abkühlung der Temperatur ausnut-
zen und ganz Italien durchreisen. In Venedig ist es so
kalt gewesen, dass es mich sogar im Zimmer fror. Zum
Aufenthalt in Neapel ist die Abkühlung, welche sich über
ganz Italien ausgebreitet hat, sehr angenehm, denn die
Hitze ist hier sonst so überaus gross und lästig, dass die
Hälfte des Genusses an der Reise verloren geht. Mit Aus-
nahme einiger historischer und künstlerischer Sehenswür-
digkeiten Roms, ist die Stadt selbst mit ihren schmalen
Gassen nicht interessant, und ich begreife nicht, wie es
möglich ist, das ganze Leben hier zu verbringen, was
aber viele Russen thun. Geld habe ich genug, um ganz
- 28з ~
Italien zu bereisen. In Venedig nahm ich mir für 173 Francs
ein Rundreisebillet, welches bis Neapel und zurück bis
Mailand gilt — ausserordentlich billig. А propos, was das
Geld anbetrifft, so mache ich mir von dem Tage meiner
Abreise aus Russland an die bittersten Vorwürfe wegen
meines schnöden Egoismus. Anstatt eine Excursion durch
ganz Europa zu unternehmen, wäre es eigentlich meine
Pflicht gewesen. Euch Beide, Dich und Modest, beim Be-
zahlen Eurer Schulden thatkräftigst zu unterstützen. Die-
ser Gedanke vergiftet mir geradezu meine ganze Reise.
Ich spaziere grossartig im Vatikan, während der arme
Toly, vielleicht gerade in diesem Augenblick sich bemüht,
ein Mittel zu finden, den einen oder den anderen zudring-
lichen Gläubiger zu befriedigen. Wenn Du nur wüsstest,
was ich für Gewissensbisse habe! Aber ich habe mich
nun einmal in die Idee verbissen, eine Reise durch Italien
zu machen. Es ist doch zu dumm: wenn ich mich zer-
streuen wollte, hätte ich doch ebenso gut nach Kiew oder
nach der Krim reisen können, das wäre billig und gut!
Lieber Toly, umarme Dich kräftig. Ich würde viel darum
geben, wenn Du plötzlich hier erscheinen würdest!"
An M, Tschaikowsky:
„Florenz, 27. April 1874.
....Du denkst wahrscheinhch „oh, der glückliche Mensch,
bald schreibt er aus Venedig, bald aus Florenz", indessen
giebt es wohl kaum einen Menschen, der sich mehr lang-
weilt, als ich in dieser Zeit. In Neapel kam es soweit,
dass ich täglich bittre Thränen vergoss vor lauter Heim-
weh und Sehnsucht nach lieben Wesen. In solchen Mo-
menten der schwarzen Melancholie bin ich bereit, Alles
hinzugeben, um ein liebes Gesicht neben mir zu sehen....
Die Hauptursache all' meines Leidens ist aber in Pe-
tersburg zu suchen. Es cjuält mich der „Opritschnik".
Ausserdem peinigt mich immer noch Das, wovon ich Dir
in meinem ersten Brief geschrieben habe; endlich verfolgt
mich hier das fürchterlichste Wetter, das man sich nur
vorstellen kann. Die Italiener können sich nicht erinnern
je einen solchen Frühling gehabt zu haben. Neapel, wo
ich sechs Tage verbracht habe, habe ich so zu sagen gar-
nicht gesehen, da die Stadt bei schlechtem Wetter gera-
dezu unmöglich ist. Die letzten zw^ei Tage war es ganz
unmöglich, das Zimmer zu verlassen. Hals über Kopf bin
— 284 —
ich von da geflohen und will direkt zu Sascha fahren,
ohne mich in Mailand aufzuhalten. Ich habe Grund ge-
nug, Mailand zu meiden: aus dem Brief eines gewissen
Schtschurowsky erfahre ich, dass das „Leben für den Za-
ren" dort auf die unerlaubteste Weise verhunzt wird. Ich
würde also bei meinem Erscheinen dort nicht umhin kön-
nen, mich in die Sache einzumischen, Ratschläge zu ertei-
len, welche aber nicht gern gehört w^erden dürften, was
ich ebenfalls Grund genug habe anzunehmen. In Florenz
übernachte ich nur. Bei Sascha werde ich nur zwei Tage
bleiben und dann direkt nach dem geliebten Moskau rei-
sen, vielleicht werde aber auch den Weg über Petersburg
einschlagen, wo ich aber ausser Dir und, selbstverständlich,
Vater keinen Menschen sehen will und darum sollst Du
zu Niemandem über meine Ankunft sprechen. Es ist mög-
lich, dass Du mich bald nach Empfang dieses Schreibens
wiedersehen wirst, bestimmt ist es nicht, denn nach Mos-
kau drängt mich nicht nur die Sehnsucht, sondern auch die
Pflicht, d. h. die Theorieklassen, welche mir schon gros-
se Sorge machen. Eigentlich ist es zwecklos, jetzt noch
Briefe zu schreiben, ich thue es aber, um mein Herz aus-
zuschütten. Ich bin auch in Pompeji gewesen, welches
einen starken Eindruck auf mich gemacht hat.
In Florenz hatte ich nur Zeit, die Hauptstrassen zu
durchlaufen, welche mir sehr gefallen haben. Rom ist mir
verhasst, Neapel auch, mag's der Teufel holen! Es giebt
nur eine Stadt in der Welt, und das ist— Moskau, übri-
gens vielleicht auch noch Paris".
Ohne die Mailänder Vorstellung des „Leben für den
Zaren" — w^elche erst am8'2o. Mai stattgefunden hat — ab-
gewartet zu haben, war Peter Iljitsch schon in den ersten
Tagen dieses Monats nach Moskau zurückgekehrt.
Die Unzufriedenheit mit dem „Opritschnik" hat nur
für kurze Zeit eine fast an Verzw^eiflung an seinem Kön-
nen grenzende Niedergeschlagenheit in Peter Iljitsch wach-
gerufen. Er hatte sich gleichsam nur geduckt, um gleich da-
rauf mit umso grösserer Energie in die Höhe zu schnellen;
schon bei seiner Rückkehr nach Moskau hatte er nur den
einen sehnlichen Wunsch, sich selbst und den Andern zu
beweisen, dass er mehr zu leisten vermag, als er es im
„Opritschnik" gezeigt. Diese Partitur erschien ihm wie
eine grosse Sünde, die er begangen, wie ein Fehler, der
wieder gut gemacht werden musste, wie eine Schuld vor
sich und den Andern, welche gesühnt und getilgt werden
- 285 -
musste, es koste was es wolle. Und da gab es nur ein Mittel:
eine andere Oper zu komponieren, welche garkeine Aehn-
lichkeit mit dem „Opritschnik" hätte und ihn vergessen
machen musste.
hn Laufe dieser Saison wurde von der Direktion der
Russischen Musikalischen Gesellschaft ein Preisausschrei-
ben für die beste Komposition der Oper „Schmied Wa-
kula" veröffentlicht. Die Idee dieser Preiskonkurrenz ent-
stand folgendermaassen:
Als A. N. Seroff noch an seiner Oper „Feindesmacht"
arbeitete, wurde er plötzlich von dem Wunsche ergriffen,
eine russische komische Oper zu schreiben und wählte
als Sujet ein phantastisches Poem von Gogol. Seroff war
damals Vorsitzender der Petersburger Sektion der Musi-
kalischen Gesellschaft, hatte als solcher oft Gelegenheit,
mit der Grossfürstin Helene zu verkehren und verstand
es, nach und nach ihre Gunst für sich zu gewinnen. Als
er eines Tages die Idee in Betreff der komischen Oper
seiner hohen Patronesse mitteilte, hat sie seinem Vorha-
ben ein grosses Wohlwollen entgegengebracht und sich
sogar bereit erklärt, das Textbuch auf eigene Kosten bei
J. Polonsky zu bestellen. Doch hat der Tod den Kompo-
nisten dahingerafft, ehe er noch mit der Verwirklichung
seiner Idee begonnen hatte. Um sein Andenken zu ehren,
setzte die Grossfürstin aus eignen Mitteln zwei Preise aus,
einen in Höhe von 1000 Rubeln und den andern in Höhe
von 500 Rubeln, welche Denjenigen Autoren ausgezahlt
werden sollten, die die besten Opern aus dem nun ver-
waisten Libretto „Schmied Wakula" machten.
Im Januar 1873 verschied die Grossfürstin Helene.
Ehe die Petersburger Direktion der Musikalischen Ge-
sellschaft an die Realisierung der von der Grossfürstin
ausgesprochenen Absicht schritt, veranstaltete sie bei den
musikalischen Autoritäten Russlands eine Rundfrage und
holte sich ihre diesbezüglichen Ansichten und Ratschläge
ein. Auch Peter Iljitsch wurde befragt und sandte folgende
Antwort ein.
An den Fürsten D. A. Obolensky:
„Moskau, d. 7. März 1873.
Ew. Durchlaucht, sehr geehrter Herr D. A.! Die Di-
rektion der Russischen Musikahschen Gesellschaft hat mir
das Projekt der Bedingungen des für die Komposition
— 286 —
der Oper ..Schmied Wakula" auszuschreibenden Wettbe-
werbs zwecks Durchsicht und Begutachtung zugeschickt.
Nach genauer Kenntnissnahme der im Projekt ange-
führten Bedingungen, an welche sich die Bewerber bei
der Komposition des Textbuches von Polonsk}^ zu halten
haben werden, und nach reiflicher Ueberlegung bin ich
zu dem Schluss gelangt, dass das Projekt sehr zweck-
entsprechend zusammengestellt ist und alle Punkte klar
und unzweideutig zum Ausdruck gekommen sind.
Ich kann aber trotzdem Eurer Durchlaucht nicht ver-
schweigen, dass nach meiner Meinung die Zuerkennung
des Preises praktisch nicht ohne Schwierigkeiten durch-
zuführen sein wird. Der Direktion der Musikalischen Ge-
sellschaft dürfte es doch nicht unbekannt sein, dass eine
Oper, wie eine jede Vocalkomposition, keiner bestimmten
traditionellen, von den klassischen Meistern geschaffenen
Form unterworfen ist, wie eine solche zum Beispiel bei
einer Ouvertüre oder S\4nphonie üblich ist. Es ist auch
allgemein bekannt, dass in unserer Zeit die widerspre-
chendsten Ansichten darüber kursieren, wie der Kompo-
nist den Operntext zu behandeln hat. Die Einen geben
zu, dass die älteren, namentlich die italienischen Opern,
was die Abhängigkeit der Musik vom Text anbelangt, oft
sehr gesündigt hätten, sind aber dennoch nicht abgeneigt,
in der Opernmusik bestimmte Formen (als da sind: Arien,
Duette, Ensemblesätze) anzuwenden. Andere wieder sind
in ihrer Jagd nach der grösstmöglichen Realität zu dem
Schluss gelangt, dass eine Oper, obwohl sie aus orga-
nisch miteinander verknüpften Teilen besteht, dennoch im
Grunde ein künstlerischer „nonsens" sei, dass die Menschen
im Leben niemals gleichzeitig mit einander reden, es also
auch in der Oper nicht thun dürfen; diese Andern ver-
treten daher die Ansicht, dass das Recitativ, welches den
Tonfall einer sprechenden menschlichen Stimme sklavisch
nachahmt und dabei vom Orchester, welches die Stim-
mung und Charakteristik der handelnden Personen wie-
derzugeben hat, begleitet wird, dass ein solches Recitativ
die einzig mögliche und logische Form der Oper sei. Ange-
sichts dessen, dass man unabhängig von den Schönheiten
der Musik eine Oper sehr oft nach Massgabe derartiger
vorausgenommener Theorieen beurteilt und auf Grund die-
ser letzteren von vornherein die Logik, die Berechtigung
der Form eines Werkes in Frage stellt, bevor man noch
den rein musikalischen Wert desselben einer Prüfung un-
— 287 —
terzogen hat, — und eine solche theoretische Aburteilung
der eingesandten Partituren seitens des Komitees schliesst
bei einer Preiskonkurrenz die absolute Gerechtigkeit aus —
fürchte ich, dass unsere Komponisten in ihrem Eifer nach-
lassen könnten, sobald sie in Ewägung ziehen, dass man
von ihren Werken solche äusserliche Formalitäten und
Uebereinstimmung mit Theorieen verlangen werde, die
ihren ästhetischen Grundsätzen widersprechen. Das ist der
Grund, weshalb die Oper sich für einen Preiswettbewerb
am wenigsten eignet.
Um aus dieser schwierigen Lage herauszukonnnen wird
die Direktion der Musikalischen Gesellschaft es vielleicht
nicht für unnötig finden, auf die Art der Musik, welche
am besten dem Text entspricht, hinzuweisen und vorzu-
schreiben, ob die Oper aus einzelnen Nummern bestehen
soll, oder ob sich die Komponisten an die neuere Rich-
tung der Opernmusik zu halten haben.
Da ich selbst Komponist bin und vielleicht an der Be-
werbung teilnehmen werde, so habe ich kein Recht und
auch keinen Grund, an dieser Stelle meine persönliche
Ansicht darüber kund zu thun und es erübrigt mir nur,
meinem dringenden Wunsche Ausdruck zu geben, dass
die Direktion geeignete Mittel finden möge, jede Unent-
schlossenheit seitens der Bewerber unmöglich zu machen
und durch möglichst genaue, detaillierte Angabe dessen,
was für die Bewerbung erforderlich, eine recht rege Teil-
nahme an der Konkurrenz anzufachen.
Da Nikolai Gregorje witsch Rubinstein in dieser Ange-
legenheit mit mir vollkommen übereinstimmt, so beauf-
tragt er mich, Ew. Durchlaucht mitzuteilen, dass er es nicht
für nötig hält, eine besondere Antwort auf Ihr Schreiben
zu senden und Sie bittet, gegenwärtige Zeilen als den
Ausdruck unserer gemeinschattlichen Meinung* gütigst an-
sehen zu wollen".
Der Termin, bis zu welchem die Partituren der Be-
werber spätestens bei dem Preisrichterkollegium eingegan-
gen sein mussten, wairde auf den i. August 1875 festge-
setzt. Die preisgekrönte Oper sollte ausserdem das Recht
der Aufführung auf der Kaiserlichen Bühne in Petersburg
erhalten.
Anfangs konnte sich Peter Iljitsch nicht entschliessen,
die Oper in Arbeit zu nehmen, da er fürchtete, dass sie
verloren gehen könnte. Nichtsdestoweniger las er das Li-
bretto aufmerksam durch und wurde von ihm ganz hin-
— 288 —
gerissen. Die Frische des Kolorits, die Eigenart und Viel-
seitigkeit der musikalischen Aufgaben, die wundervollen
Verse und die Poesie des Gogolschen Märchens entzück-
ten Peter Iljitsch's Phantasie derart, dass er dem Drange,
die Musik zu diesem Textbuch zu schreiben, nicht wi-
derstehen konnte. Die Preiskonkurrenz spielte hierbei nur
eine nebensächliche Rolle und war für den Beginn der Ar-
beit keineswegs bestimmend. Und dennoch fürchtete Peter
Iljitsch die Konkurrenz, aber nicht wegen des etwaigen
Nichtgewinnes des Preises, sondern lediglich in der Annah-
me, dass seine Arbeit, wenn sie nicht preisgekrönt wer-
den, auch niemals zur Aufführung im Marientheater kom-
men würde. Nur aus diesem Grunde hat er es für nötig
gefunden, bevor er an die Arbeit ging in Erfahrung zu
bringen, ob A. Rubinstein, Balakireff und Rimsk3--Korsa-
koff an der Bewerbung teilnehmen wollten. Erst nachdem
er die Versicherung erhalten hatte, dass diese ihm eben-
bürtigen Komponisten nicht die Absicht hatten, mit ihm
zu wetteifern, machte er sich, ganz verliebt in seine Auf-
gabe, mit Leidenschaft an die Arbeit.
Mit Beginn der Sommerferien reiste Peter Iljitsch di-
rekt nach Nis3^ zu Kondratjew und machte sich sofort,
ohne Zeitverlust an die Arbeit. Er musste sich sehr be-
eilen, denn er Avar irrtümlicherweise in dem Glauben, dass
der letzte Termin für die Ablieferung der Opern an das
Preisrichterkollegium der i. August dieses Jahres (1874)
sei, ausserdem hatte er den brennenden Wunsch, seine
Schuld um den „Opritschnik" so schnell als möglich wie-
der gut zu machen.
An M. Tschaikowsk}'!
„Nis\', d. 18. Juni.
....Meine Lebensweise ist hier derart, dass für die (über-
haupt lästige) Korrespondenz meine Zeit nicht reicht. Er-
stens trinke ich Karlsbader Brunnen, und zweitens, wage
ich es entgegen Deinen Ratschlägen dennoch, den „Wa-
kula" zu komponieren. Meine Zeiteinteilung: um 6^1^ ühr
stehe auf, trinke 5 Glas Karlsbader; um 9 Thee; dann bis
12 Lesen und Klavierspielen (hauptsächlich Schumann); um
I Frühstück; von i — 3 Arbeit, d. h. Komposition des „Wa-
kula"; 3 — 5 die erste Kartenpartie, dann Baden und Mit-
tagessen. Nach dem Mittag — einsamer Spaziergang; um 9
der Abendthee und gleich darauf die zweite Kartenpartie;
um II zur Ruhe. Diese Ordnung dauert ohne wesentliche
Aenderungen nun schon zwei Wochen. Wir leben ganz
— 289 —
einsam. Manchmal besucht uns der Arzt oder einer der
Brüder Kondratjews. Ich bin mit dieser Lebensweise sehr
zufrieden und erwarte von ihr, sowie von der Brunnen-
kur, einen grossen Nutzen für meine Gesundheit".
Mitte Juli begab sich Peter Iljitsch nach Ussowo und
brachte die fast ganz fertigen Skizzen der neuen Oper
mit, sodass er bald darauf mit der histrumentierung be-
ginnen konnte. Es ist erstaunlich, dass er bei einer nicht
mehr als zweistündigen täglichen Arbeit und bei der von
ihm beschriebenen Lebensweise so viel hatte fertigstellen
können. In Ussowo musste er die Zahl der Arbeitsstunden
nahezu verdoppeln, dafür war aber bei seiner Rückkehr
nach Moskau (Ende August) die Partitur des „Wakula"
ganz fertig. Peter Iljitsch hat also für die Herstellung der
ganzen Oper nicht volle drei Monate gebraucht. Mit einer
solchen Schnelligkeit hat er kein einziges seiner Werke
komponiert. Allerdings ist auch keine einzige seiner Opern
unter einer so lange anhaltenden Inspiration entstanden und
mit so viel Lust und Liebe gearbeitet worden. Auch in
der Folge blieb in Peter Iljitsch eine grosse Anhänglich-
keit, ja Zärtlichkeit zu seinem „Wakula" zurück. Bis ans
Ende seiner Tage war der Komponist überzeugt, dass diese
die beste seiner Opern sei. Im Jahre 1885 hat er sie etwas
umgearbeitet, aber nur sehr unwesentlich: die Aenderun-
gen betrafen nur manche Stellen der Instrumentation, aus-
serdem wurden einige Nummern im volkstümlichen St}^
hinzugefügt. Im Grossen und Ganzen blieb die Oper so
wie sie war. Wir werden an geeigneter Stelle zu diesem
Werk zurückkehren.
In dieser Saison hat Peter Iljitsch's Ruhm grosse Fort-
schritte gemacht. Der Erfolg seiner zweiten S3'mphonie
und die Aufführung des „Opritschnik" haben seinen Na-
men in Petersburg ebenso bekannt gemacht, wie er in
Moskau schon war. Ausserdem ist sein Ruf auch ins Aus-
land gedrungen.
In seinen anlässlich der Erstaufführung des „Leben für
den Zaren" in Mailand an die „Allgemeine Zeitung" ge-
richteten Korrespondenzen schreibt Hans von Bülow über
Peter Iljitsch Folgendes:
„Allgemeine Zeitung" № 148 (1874):
Musikalisches aus Italien.
Mailand 21 — 22 Mai.
Wir kennen zur Zeit nur einen, der gleich Glinka
Tschaikousky, M. V. I. Tschaikowsky's Leben. 19
— 290 —
unermüdlich „strebend sich bemüht", und dessen bisher
geheferte Arbeiten, obwohl noch nicht zur der seinem Ta-
lent entsprechenden völligen Reife gelangt, doch bereits
die sicherste Bürgschaft in sich tragen, dass diese Reife
nicht ausbleiben wird. Es ist dies der in jugendlichem
Mannesalter stehende Compositions-Professor am Kaiser-
lichen Conservatorium in Moskau — Herr Tschaikowsky.
Ein schönes Streichquartett von ihm hat sich bereits in
vielen deutschen Städten eingebürgert. Gleiche Beachtung
verdienen viele seiner Claviercompositionen, zwei Sympho-
nien und vor allem eine ungemein interessante, durch Ori-
ginalität und blühenden Melodienfluss sich empfehlende
Ouvertüre zu „Romeo und Julie". Vermöge seiner Viel-
seitigkeit, wird dieser Componist vor der Gefahr geschützt
bleiben, einer Nichtbeachtung im Auslande anheim zu fal-
len, wie sie dem mit vaterländischem Ruhme zufrieden
gestellten Glinka zutheil geworden ist.
H. V. Bülow.
Wie gross der Erfolg des D-dur-Quartetts im Auslande
gewesen sein niuss ersieht man aus dem Umstand, dass —
als Jurgenson Ende dieser Saison eine zv/eite Auflage des
Quartetts ins Werk setzen wollte und bei dieser Gelegen-
heit Erkundigungen über den Verbleib der ersten Auflage
einzog — es sich herausstellte, dass nur 11 Exemplare in
Russland verkauft und die übrigen ins Ausland verlangt
worden sind.
Die chronologische Reihenfolge der Kompositionen Pe-
ter Iljitsch's im Laufe der Saison 1873 — 1874 ist folgende:
i) Op. 18. „Der Sturm", symphonische Fantasie für
grosses Orchester über • ein Programm von Shakespeare.
Komponiert zwischen dem 7. und 17. August, instrumentiert
bis zum IG. Oktober. An Wladimir Wassiljewitsch Stassow
gewidmet. Zum ersten Mal aufgeführt am 7. Dezember
1873 in Moskau unter Leitung N. Rubinsteins. Verlag
Jurgenson.
2) Op. 21. Sechs Klavierstücke über ein Thema. I. Prä-
ludium, II. Fuge, III. Impromptu, IV. Trauermarsch, V. Ma-
zurka, VI. Scherzo. Gewidmet an A. Rubinstein. Kompo-
niert vor d. 30. Oktober 1873. Verlag Bessel.
3) Op. 22. Quartett № 2 (F-dur) für zwei Violinen,
Viola und Violoncello. Dem Grossfürsten Konstantin ge-
widmet. Dieses Werk ist Ende Dezember 1873 oder An-
fang Januar 1874 begonnen und vor d. 26. Januar been-
— 291 —
det worden (was aus dem Brief dieses Datums hervor-
geht). Bald darauf ist dieses Quartett auf einer Soiree bei
N. Rubinstein gespielt worden und es ist sehr wahrschein-
lich, dass Peter Iljitsch bei dieser Gelegenheit verschiedene
Mängel an seinem Werk entdeckt hatte, denn er arbeitete
bis Mitte Februar von Neuem daran. Oeffentlich ist dieses
Quartett am 10. März 1874 zum ersten Mal gespielt wor-
den. Verlag Jurgenson.
4) Op. 14. „Wakula der Schmied", Oper in drei Akten
und sieben Bildern. Der Text ist einem Märchen von Go-
gol entnommen und von J. Polonsk}^ in Verse gesetzt. Dem
Andenken der Grossfürstin Helene gewidmet. Komponiert
und instrumentiert im Laufe des Sommers 1874. Später ist
diese Oper von Peter Iljitsch umgearbeitet worden und hat
den Namen „Tscherewitschki" erhalten. Verlag Jurgenson.
J. P. Polonsky hat es mit ausserordentlich viel Ge-
schmack, Talent und Geschick verstanden, das köstliche
Märchen von Gogol in ein Opernlibretto umzuwandeln.
Das Fehlen der Einheit der Handlung, des Knotenpunktes,
auf welchem die Aufmerksamkeit des Zuschauers hätte kon-
zentriert werden müssen, hat nicht der Librettist verschul-
det, sondern es lag an dem Stoff selbst. Den Roman Wa-
kula's mit Oxana noch weiter ausspinnen, ihn in den Vor-
dergrund stellen — hiesse die herrliche Schöpfung des be-
rühmten Autors verstümmeln. Hätte Polonsky das gethan,
so würden die Vorwürfe in der Korruption Gogols viel
begründeter sein, als diejenigen, welche ihn für das Episo-
denhafte seines Textbuches trafen. Was schadet's denn,
dass es episodenhaft, da doch eine jede Episode an sich
so überaus reizvoll und künstlerisch ist und eine hochta-
lentvolle Feder verrät? Ich behaupte sogar, dass, wenn die
ganze Handlung sich um die Liebesgeschichte Wakula's
und Oxana's drehen würde — das Textbuch in den Augen
Peter Iljitsch's jeglichen Reiz verloren und ihn nicht zur
Komposition dieser Oper hingerissen hätte. Ehe ich an die
Erzählung des Scenariums schreite, muss ich bemerken,
dass der Hauptvorzug der Dichtung Polonsky's in seinen
Versen liegt, welche sich mit einer geradezu verblüffen-
den Kunstfertigkeit an die Sprache Gogols halten.
Erster Akt: winterhche Landschaft im Dorf Dikanjka.
Mondnacht. Aus einer Hütte kommt die Hexe Ssolocha, um
sich am Mondenschein zu erfreuen. Es kommt auch ein
Teufel hinter ihr gesprungen und macht ihr den Hof. Hu-
moristisches Duett. Die Hexe und der Teufel beschliessen.
— 292 —
einen Flug durch die Lüfte zu machen. Ssolocha entfernt
sich einen Besen zu holen und das Feuer im Ofen zu schü-
ren, um auf einem Rauchwölkchen durch den Schornstein
hinauszufliegen. Währenddessen thut der Teufel in einem
Monolog seinen Hass gegen Wakula kund, welcher sein
Bild an die Wand gemalt hat, und zwar „hat's der Ver-
fluchte so gemalt, dass alle dummen Teufel vor Freude
lachten". Darauf beschwört er aus Rache gegen Wakula
einen Schneesturm herauf. Da fliegt die Hexe auf ihrem
Besen zum Schornstein hinaus. Der Teufel fliegt hinter ihr
her und stiehlt den Mond. Sturm und Finsterniss. Tschub,
der Vater Oxana's, welcher vom Djak zu einer Suppe
eingeladen ist, kommt dahergegangen, verliert aber den
Weg, irrt umher und gelangt endlich, ohne es zu ahnen,
vor die Thür seiner eigenen Hütte. Dichte Schneewolken
verhüllen die ganze Bühne. Der Sturm pfeift. Nach einer
Weile lichten sich die W^olken und der Zuschauer erblickt
das Innere der Hütte Tschubs. Oxana allein. Sie singt ein
melancholisches Liedchen, blickt dann in den Spiegel und
erfreut sich an ihrer Schönheit. Wakula erscheint. Alle seine
leidenschaftlichen Worte der Liebe beantwortet die stolze
und eigensinnige Schöne mit einem Hohnlachen und ver-
schwindet endlich ins Nebengemach. Da erscheint Tschub.
Wakula, der ihn nicht erkennt und für einen Fremdling
hält, stösst ihn wieder zur Thür hinaus. Auf den Lärm
kommt Oxana herbei. Als sie gewahr wird, dass Wakula
ihren Vater hinausgejagt hat, stösst sie ihn von sich. Wa-
kula entfernt sich und Oxana bleibt wieder allein. Wakula
dauert sie und doch kann sie nicht ohne Lachen an ihn
denken: „möchte weinen und lachen zugleich".
Zweiter Akt: in der Hütte der Hexe Ssolocha. Diese
ist eben erst von dem Flug durch die Lüfte zurückge-
kehrt und bringt ihre Toilette in Ordnung. Der Teufel
steigt aus dem Ofen und charmiert mit der Hexe. Sie tan-
zen einen Hopak, während aus allen Löchern und Ritzen
kleine Teufelchen in Gestalt von Heimchen und Schwaben
herausgekrochen kommen und die Tanzmusik machen. Da
klopft es an der Thür. Der Teufel versteckt sich schnell
in einen Sack. Es erscheint Golowa. Gleich darauf klopft
es wieder. Golowa versteckt sich schleunigst — auch in einen
Sack. Es erscheint Djak. Kaum ist er eingetreten, klopft es
zum dritten Mal und Djak kriecht schnell- — ebenfalls in
einen Sack. Tschub tritt ein und muss— auch in den Sack,
denn es klopft schon wieder. Als letzter kommt Wakula.
— 293 —
Trotz der Einseitigkeit der Handlung sind alle vier Sce-
nen — eine komischer als die andere, eine köstlicher als die
andere! Wakula ist der Sohn der Ssolocha. Er ist in Ge-
danken an seine hartherzige Geliebte ganz versunken und
trägt die Säcke, ohne ihre Schwere zu merken, einen nach
dem andern davon und in die Schmiede. Zweites Bild:
Strasse im Dorf Dikanjka. Der Mond ist wieder an sei-
nem Platz. Die Buben und Dirnen des Dorfes singen Weih-
nachtslieder. Auch Oxana ist unter ihnen. Sie erblickt Wa-
kula und kann sich des Verlangens nicht enthalten, ihn
wieder ein wenig zu necken. Sie erklärt ihm, dass sie erst
dann mit ihm Hochzeit feiern würde, wenn er die Schuhe,
welche die Zarin selbst trägt, für sie erlange. Wakula kann
ihren Hohn nicht länger ertragen, ist überzeugt, dass sie
ihn nicht liebt, und will sich ertränken. In seiner Zerstreut-
heit lässt er die schwersten Säcke liegen und trägt nur
den Sack mit dem Teufel auf seinen Schultern davon. Die
Buben und Dirnen öffnen die Säcke und — Golowa, Djak
und Tschub entsteigen unter tollem Gelächter der über-
mütigen Jugend ihren merkwürdigen Verstecken.
Dritter Akt. Das erste Bild zeigt uns eine entlegene
Waldlichtung in der Nähe des Flusses. Die Nixen unter
dem Eis singen klagend, dass sie es „so kalt, ach so kalt"
haben, — „wie im Gefängniss sitzen wir unter dem Eis. Der
Mond, der rötliche Mond steht über dem Fluss, ein Wölk-
chen—kaum sichtbar — zieht an ihm vorbei"!... Auf ihre
Klagelaute antwortet nur die zornige Stimme des Wald-
geistes. Wakula kommt, den Tod im Wasser zu suchen.
Kaum hat er den Sack auf die Erde gelegt, so kriecht der
Teufel aus seinem Versteck heraus, fällt über Wakula her
und verlangt, dass er ihm um Oxana seine Seele verkaufe.
Wakula geht darauf ein und will den Vertrag mit seinem
Blut unterschreiben. Für einen Augenblick lässt ihn der
Teufel los, und Wakula benutzt diese Gelegenheit, um nun
seinerseits über den Teufel herzufallen. Er stellt ihm die
Gegenforderung, dass er ihn zur Zarin bringe und die
Schuhe für Oxana erlange. Der Teufel ist damit einverstan-
den, und Beide entfliegen nach Petersburg. Zweites Bild:
Wakula kommt mit dem Teufel in Petersburg an. Erste-
rer mischt sich unter die Saporoger ^), welche an die-
sem Tage vor den Augen des Zaren erscheinen sollen.
Drittes Bild: ein Saal im Zarenschloss. Festliche Polonaise.
1) Kosaken, welche jenseits der Wasserfälle des Dniepr wolinen.
— 294 —
Der Durchlauchtigste tritt ein und ruft die Nachricht über
den Sieg des russischen Heeres aus. Allgemeine Freude.
Menuett. Unterdess werden die Saporoger dem Zaren
vorgestellt. Wakula nimmt die günstige Gelegenheit wahr
und erbittet sich die Schuhe (Tscherewitschki) der Zarin.
Sie werden ihm bewilligt. Der Durchlauchtigste veranlasst
die Fürstentochter Temira, zur Unterhaltung der Gäste
einen russischen Tanz zu tanzen. Sie thut das auch. Da-
rauf tanzen die Saporoger einen Hopak. In der Zeit, da
sich alle entfernen, um einer Theatervorstellung beizuwoh-
nen und die Komödie „Prinz Chlor, oder die Rose ohne
Dornen" anzusehen, fliegen der Teufel und Wakula mit
den erhaltenen Schuhen der Zarin zu Oxana ins Dorf Di-
kanjka zurück. Viertes Bild: Weihnachtsmorgen. Glocken-
geläute. Das Volk kommt aus der Kirche. Alle sind fröh-
lich, nur Ssolocha und Oxana heulen und klagen, die
erstere über das plötzliche Verschwinden ihres Sohnes,
die andere über den vermissten Geliebten, über den sie
sich so hartherzig lustig gemacht hatte. Da erscheint Wa-
kula, bringt Oxana die Schuhe und Geschenke für ihren
Vater. Schlusschor.
Die musikalisch-kritische Thätigkeit Peter Iljitsch's war
in dieser Saison nicht so ausgiebig, wie in der vorigen.
Von September bis Mai hatte er nur neun Feuilletons ge-
schrieben.
щр-
XI.
1,874— 1875.
Erst nach seiner Ankunft in Moskau erkannte Peter
Iljitsch seinen Irrtum in Betreff des Termins für die Ein-
sendung der Preisbewerbungsarbeiten. Das hat ihn sehr
verstimmt. Wie wohl jeder Autor, brannte auch er von
Ungeduld, sein Werk so bald als möglich aufgeführt zu
sehen. Diese Ungeduld verschärfte sich im vorliegenden
Falle noch dadurch, dass Peter Iljitsch ans Warten nicht
gewöhnt war, denn N. Rubinstein brachte seine Werke
295
stets so zu sagen noch mit
nasser Tinte auf das Po-
dium; ausserdem war Pe-
ter Iljitscli mit seinem neu-
en Erzeugniss so zufrieden,
wie noch nie zuvor. Der
Wunsch „ Wakula " auf
der Bühne zu sehen und
dadurch den schlechten
Eindruck des ,,Opritsch-
nik" zu verwischen artete
in Peter Iljitsch gerade-
zu in eine „idee fixe" aus
und verleitete ihn zu einer
Handlung, welche ihm in
ruhigerer Stimmung si-
cherlich als verwerflich
erschienen wäre.
Peter Iljitsch verstand
sich überhaupt nicht auf
das Wahren von Geheim-
nissen, zumal wenn es
sich — wie es ihm schien —
um die Rehabilitation sei-
ner Komponistenehre han-
delte, welche durch den
„ verhassten Opritschnik
ins Wanken geraten war". Daher gab er sich nicht nur keine
Mühe, seine Teilnahme an der Preiskonkurrenz geheim zu
halten, sondern im Gegenteil: er sprach darüber zu Jeder-
mann. Ja, er bekundete sogar eine für einen Mann in sei-
nem Alter eine schier unglaubliche Naivetät und machte
bei der Direktion der Petersburger Theater den Versuch,
die Aufführung des „Wakula" vor der Preiskonkurrenz
zu veranlassen. Aus dem Brief, den er zu seiner Recht-
fertigung geschrieben und den ich weiter unten wieder-
geben werde, ersieht man, wie wenig er damals noch die
ganze Ungerechtigkeit seiner Handlungsweise gegenüber
den andern Bewerbern begriff und welch' ungenügende
Vorstellung er von der Bedeutung seiner Schwatzhaftig-
keit in einer solchen Sache wie eine Preiskonkurrenz, hatte,
in welcher doch das Namensgeheimniss der Bewerber die
erste und wichtigste Bedingung für eine gerechte Beur-
teilung ihrer Arbeiten bildet.
Peter Iljitsch Tschaikowsky im Jalire 1874.
— 296 —
An I. Р. Tschaikowsky:
„27. September 1874.
.... Erstens, bin ich ganz gesund, und zweitens — sehr
zufrieden mit meiner neuen Wohnung, welche Modest mit
mir zusammen ausgewählt hat. Er würde sie jetzt kaum
wieder erkennen — so hübsch ist sie geworden. Sonst ist
Alles beim Alten".
An E. Näpravnik.
„19. Oktober.
Heute habe ich erfahren, dass Sie und der Grossfürst
sehr unzufrieden seien über meinen Versuch, meine Oper
unabhängig von der Jury auf die Bühne zu bringen. Ich
bedaure sehr, dass meine absolut privat an Sie und Kon-
dratjeff gerichtete Anfrage zur Kenntniss des Grossfürsten
gebracht worden ist, welcher nun wahrscheinlich glaubt,
dass ich mich den Satzungen der Preiskonkurrenz nicht
fügen will. Die Sache erklärt sich jedoch höchst einfach.
Ich hatte, nämlich, irrtümlicherweise angenommen, dass
der Schlusstermin für die Einsendung der Arbeiten auf
den I. August 1874 festgesetzt sei, und habe mich mit
der Fertigstellung der Partitur daher sehr beeilt. Erst in
Moskau bemerkte ich, dass ich mich geirrt habe und nun
länger als ein lahr auf die Entscheidung warten müsste. In
meiner Ungeduld mich der Aufführung meiner Oper (welche
mir in der That viel mehr wert ist, als Geld) zu verge-
wissern habe ich in einem Antwortschreiben an Kondrat-
jefif ganz privatim angefragt, ob meine Oper unabhängig
von der Preiskonkurrenz zur Aufführung angenommen
w^erden könnte. Ich bat ihn, gelegentlich mit Ihnen darü-
ber zu sprechen und mir dann Antwort zu geben. Jetzt
sehe ich wohl ein, dass ich eine grosse Dummheit began-
gen habe, da ich über den Text der Oper nicht allein zu
verfügen habe. Sie hätten einfach Kondratjeff beauftragen
sollen mir zu schreiben, dass ich thöricht sei, anstatt mich
wegen hinterlistiger Absichten (die ich nie gehabt habe)
zu verdächtigen. Ich bitte Sie, Ihren Verdacht zu zerstreuen
und auch den Grossfürsten dazu zu veranlassen, welcher —
wie ich von Rubinstein gehört — sehr unzufrieden gewesen
sein soll.
Erlaube mir, Ihnen meinen Dank auszusprechen für
die Aufnahme meines „Sturmes" in Ihr Repertoir. Bei die-
- 297 -
ser Gelegenheit möchte ich einen kleinen Fehler in der
Instrumentation gut machen: ich habe, nämlich, bemerkt,
dass in der Introduktion, wo die Streicher alle in drei ge-
teilt sind und jede Stimme ihren eignen Rythmus hat, die
ersten Geigen zu laut klingen — erstens, weil sie stärker
sind, als die Andern, zweitens weil sie höhere Noten spie-
len. Es wäre wi^inschenswert, dass an der betreffenden
Stelle überhaupt kein bestimmter R\4hmus herausgehört
werden könnte, und bitte ich Sie daher, die ersten Gei-
gen ppp spielen zu lassen, die Andern aber einfach p.
An M. Tschaikowsk}^:
„29. Oktober.
Stelle Dir vor, Modi, dass ich bis Heute noch über
dem Klavierauszug meiner Oper sitze. Ich hatte diese Ar-
beit eigentlich von mir abwälzen wollen und übertrug sie
zum Teil Langer ^), zum andern Teil Rasmadse ^^). Sie
Beide haben aber entweder Garnichts oder so schlecht
gemacht, dass ich Alles umarbeiten muss. Aus diesem
Grunde bin ich sehr beschäftigt und finde keine Zeit, alle
Briefe zu beantworten. Bin Dir für beide Briefe sehr dank-
bar: sie haben mir grosse Freude bereitet, zumal da Du
sie mit der Eleganz eines Sevigne schreibst. Im Ernst:
Du besitzest eine literarische Ader, und ich würde mich
riesig freuen, wenn diese Ader plötzlich so stark zu pul-
sieren anfinge, dass Du ein Autor würdest. Dann könnte
ich, hoffentlich, auch endlich einmal zu einem hübschen
Libretto kommen, denn es ist zum Verzweifeln: man sucht
und sucht und findet Nichts Gescheites. Der Dichter Berg
(Redakteur verschiedener, russischer Zeitschriften, z. B.
„Graschdanin", „Niwa", u.a.) hat mir vorgeschlagen eine
Oper aus der Zeit der Hussiten und Taboriten zu ma-
chen. Ich fragte ihn, ob er schon einen bestimmten Plan
habe; nein — garkeinen: es gefällt ihm nur, dass sie Hym-
nen singen!!! Gerade jetzt würde ich viel geben um ein
gutes Libretto aus der ausländischen Geschichte!
Mir geht es ganz gut, soweit es bei dem fürchterlichen
Geldmangel, an dem ich seit meiner Ankunft in Moskau
zu leiden habe, Einem überhaupt gut gehn kann. Auf den
Preis kann ich nicht hoffen, denn die Konkurrenz ist, wie
es sich erweist, erst Ende nächsten Jahres. Neues schreibe
1) E. L. Langer — ein Kollege und Freund Peter Iljitsch's.
«ä) A. S. Rasmadse— Lehrer für Musikgeschichte am Moskauer Konservatorium.
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ich vorläufig noch Nichts. Wollte ein Klavierkonzert be-
ginnen, es will mir aber nicht recht gehngen.
Sitze sehr viel zu Hause, komme aber leider wenig
zum Lesen: arbeite oder spiele. „Boris Godunow" und
„Dämon" habe ich gründlich durchstudiert. Die Musik von
Mussorgsky schicke ich von ganzem Herzen zum Teufel:
sie ist die gemeinste, die niedrigste Parodie der Musik,
hn „Dämon" habe ich viele schöne Stellen gefunden, aber
auch viel Ballast. Sonntags spielt bei uns das Russische
Quartett, welches auch mein D-dur- Quartett vorgetra-
gen hat.
Es freut mich sehr, dass mein zweites Quartett Dir,
sowie der Malosjomowa ^) und den andern sich für mich
interessierenden Menschen gefallen hat. Dieses Quartett
ist mein bestes Werk: keine meiner Kompositionen hat
sich so leicht, so einfach ergossen, wie diese. Ich habe
dass Quartett fast in einem Zuge fertiggestellt. Es wun-
dert mich sehr, dass es dem Publikum nicht gefallen hat,
denn ich war immer der Meinung, dass die auf diese Art
hergestellten Werke die meisten Chancen auf einen gros-
sen Erfolg haben".
Wie Peter Iljitsch aus meinem Brief herausgelesen
haben will, dass das Quartett keinen Erfolg gehabt, — ist
mir unerfindlich. Dass das Quartett sehr gefallen hat, er-
sieht man schon aus der Thatsache, dass es noch in
derselben Saison und den nämlichen Exekutierenden zu
einem nochmaligen Vortrag gebracht worden ist. Auch
die Presse hat sich lobend über dasselbe geäussert. Selbst
C. Cui nannte es „ein schönes talentvolles, leicht dahin-
fliessendes Werk, welches von eigenartiger Erfindungsgabe
zeugt" u. s. w. Laroche meint, es wäre ernster und be-
deutender, als dass erste Quartett, und Faminzin behauptet,
dass Tschaikowsky grosse Fortschritte darin bekundet und
sagt: „Der erste Satz ist ebenso st^dvoll, wie dass A-moll-
Quartett von Beethoven".
Am I. November wurde im zweiten Konzert der Mu-
sikalischen Gesellschaft zu Petersburg unter Leitung Nä-
pravniks der „Sturm" aufgeführt und hatte einen grossen
Erfolg.
Stassow an P. J. Tschaikowsky:
„13. November 10 Uhr Morgens.
Komme soeben von der Probe zum Sonnabendkonzert,
1) S. A. Malosjomowa, eine Studiengenossiii Peter Iljitsch's, war damals Klavier,
lehrerin am Petersburger Konservatorium.
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Man spielte zum ersten Mal Ihren „Sturm". Ich und Rimsky-
Korsakoff Sassen allein im leeren Saal und zerflossen vor
lauter Wonne.
Wie herrlich schön ist doch Ihr „Sturm"!! Welch'
unvergleichliches Werk!! Allerdings, der Sturm selbst ist
weniger bedeutend und zeichnet sich nicht durch Neuheit
aus, auch Prospero ist nicht besonders, endlich haben Sie
da zum Schluss eine so ordinäre Kadenz, wie in einem
italienischen Opernfinale, — das sind drei kleine Flecken.
Dafür ist aber Alles Andere — wunderbar, herrlich!! Kali-
ban, Ariel, die Liebesscene — das Alles gehört zu den
allerschönsten Erzeugnissen der Kunst. In beiden Liebes-
scenen — welch eine Leidenschaft, welch' eine Wollust! Ich
finde keinen Vergleich?! Und dieser prachtvolle wild-
ungetüme Kaliban, der entzückende Aufschwung Ariels —
herrlich, herriich!
Das Orchester in diesen Scenen ist wiederum bezau-
bernd!
Wir Beide, Rimsky und ich, machen Ihnen unsere
tiefsten, unterthänigsten Komplimente nebst einem kräfti-
gen Händedruck. Am Freitag, Uebermorgen, wollen wir
wieder in die Probe gehn. Es ist nicht möglich sich des-
sen zu enthalten"...
Der „Sturm" hat nicht nur Stassow und der „Schaar"
gefallen, sondern sogar im feindlichen Lager Anerkennung
gefunden. Nur Laroche fällte ein absprechendes Urteil über
dieses Werk. Er sagt, Tschaikowsky nähere sich in seiner
Programmmusik, namentlich in „Romeo und Julie", was
Form und Instrumentierung anbelangt — Litolff, in harmo-
nischer Beziehung aber — Schumann und Glinka, speziell
über den „Sturm" meint er, es sei ein Werk, welches als
Ganzes vor der Kritik nicht Stich hält, und fährt fort:
„Schön, ja sehr schön, sind eigentlich nur die Einzelhei-
ten, aber auch diese sind nicht alle gleichwertig: so ist
der „Sturm" selbst, beispielsweise, lange nicht so bedeutend,
wie bei Berlioz in dessen Fantasie über das gleiche Thema.
Bei Tschaikowsky zeichnet sich der „Sturm" hauptsächlich
durch lärmende Instrumentation aus, welche in der That
so ohrenbetäubend, dass sie geeignet ist, die Neugier eines
Fachmanns in Bezug auf die technischen Mittel zu erwecken,
durch welche der Komponist einen so unglaublichen Höllen-
spektakel zu erzeugen im Stande war"*
— зоо
An А. Tschaikowskv:
,21. November.
Toly, Euer gemeinschaftliches Schweigen beginnt mich
zu beunruhigen. Ich fange an zu fürchten, dass Etwas
Schlimmes geschehen und Einer von Euch, vielleicht, er-
krankt sei. Namentlich wundert mich Modest. Es ist mir
bekannt, dass vor einigen Tagen mein „ Sturm ^^ aufgeführt
worden ist. Warum schreibt Niemand ein Wort darüber?
Nach dem Quartett hatte mir Modest einen ausführlichen
Bericht gesandt, damals hatte auch Malosjomowa geschrie-
ben. Jetzt aber — Niemand, ausser Stassow. Merkwürdig!
Ich bin ganz in die Komposition eines Klavierkonzerts
versunken. Ich wünsche sehr, dass es Rubinstein in sei-
nem Konzert zum Vortrag bringt. Die Arbeit geht sehr
langsam vorwärts und will nicht recht gelingen. Ich blei-
be aber meinem Prinzip treu, und zwinge meinen Kopf,
Klavierpassagen auszutifteln: das Resultat davon ist eine ge-
linde Nervosität. Daher möchte ich auch so sehr eine Reise
nach Kiew unternehmen, um mich ein wenig zu zerstreuen,
obwohl jene Stadt — da Toly nicht mehr in ihr weilt —
9 IG ihres Reizes für mich eingebüsst hat. Dazu kommt
noch, dass ich den „Opritschnik'' von f/an.ceni Herzen hasse! ^)
Kurz, ich möchte einfach eine Spazierfahrt machen, und
Avürde gar zu gern diese Spazierfahrt in Deiner Gesell-
schaft machen....
Morgen wird hier die Ouvertüre zu meiner „unvollen-
deten Oper" gespielt".
Die „unvollendete Oper" ist Nichts Anderes als „Wa-
kula der Schmied". Die Ouvertüre hatte keinen nennens-
werten Erfolg. Peter Iljitsch erhielt aber von der Musika-
lischen Gesellschaft trotzdem die üblichen 300 Rubel.
An M. Tschaikowsky:
„26 November.
....Ich bin mit Leib und Seele in die Komposition des
Konzerts versunken. Die Sache geht vorwärts — aber nur
sehr langsam. Es hat mich sehr erbittert, dass der „Sturm"
nicht nur beim Publikum, sondern auch bei meinen Freun-
den nur eine laue Aufnahme gefunden. Du schreibst kein
Wort darüber, ob dieses Werk Dir gefallen hat, Ma-
1) Peter Iljitsch musste nach Kiew reisfii, um der ersten dortigen Auftiihrung des
Opritschnik beizuwohnen.
— 30I —
losjomowa schweigt sich ebenfalls aus. Der Bericht La-
roche's hat mich sehr erzürnt. Mit welcher Schadenfreude
behauptet er, dass ich Litolff, Schumann, Berlioz, Glinka,
und weiss Gott wen noch, nachahme. Als wenn ich in der
That Nichts Besseres verstünde, als zu compilieren! Ich
fühle mich durchaus nicht beleidigt, dass der „Sturm"
ihm nicht gefallen hat, — hatte ich's doch erwartet und bin
schon zufrieden, dass er wenigstens die Details lobt. Es
empört mich nur die allgemeine Charakteristik, aus wel-
cher hervorgeht, dass ich Alles bei andern Komponisten
entlehnt und Nichts Eigenes habe"....
Der krankhafte Ehrgeiz, den Peter Iljitsch in diesem
Brief offenbart, während doch der „Sturm" eine gute Auf-
nahme gefunden hatte, ist eines der Symptome für die
unnormale Geistesverfassung, in welcher sich Peter Iljitsch
damals befand und von welcher weiter unten die Rede
sein soll.
Am 9 Dezember fand die erste Aufführung des „Opritsch-
nik" in Kiew statt. Der Komponist hat ihr beigewohnt und
beschreibt sie in einem seiner Feuilletons für die „Russi-
schen Nachrichten" folgendermaassen:
„Dem Leser dürfte es, vielleicht, nicht unbekannt sein,
dass ich zu diesem l^'risch-dramatischen Werk in den al-
lerintimsten Beziehungen stehe. Möglicherweise liegt ge-
rade in diesen Beziehungen der Grund dafür, dass ich im
„Opritschnik" in musikalischer und besonders in sceni-
scher Hinsicht so viele Mängel erblicke, wieviele selbst
die feindseligste kritische Böswilligkeit nicht herauszufin-
den imstande wäre. Als ich nach Kiew reiste, zweifelte
ich sehr daran, ob eine Provinzialbühne den Anforderun-
gen einer musikalisch und scenisch so überaus schwieri-
gen und undankbaren Oper gerecht werden könne: die
Thatsache, dass der „Opritschnik" in Petersburg kein Fias-
co erlitten, schreibe ich nur der Wirkung der ausge-
zeichneten Ausstattung und Wiedergabe des Werkes zu.
Doch waren meine Befürchtungen grundlos. Ich kann wohl
behaupten, dass mit Ausnahme des Orchesters, welches
zwar nicht übel zusammengesetzt ist und sehr gut gelei-
tet wird, sich aber — was das Gleichgewicht zwischen Blä-
ser - und Streicherchor anbetrifft -dennoch nicht mit dem
ausgezeichneten Orchester des Herrn Näpravnik messen
kann, ferner mit Ausnahme des dekorativen Teils, dieses
in einer Opernvorstellung nicht minder wichtigen Faktors,
der „Opritschnik" in Kiew durchaus nicht schlechter ge-
— 302 —
geben wird, als in Petersburg. Wenn in unserer Metro-
pole die Rollenbesetzung eine derartige war, dass der
Komponist es nur dem Talent und Können der Künstler
zu verdanken hat, dass seine Oper nicht durchgefallen ist,
so war die Verteilung der Rollen in Kiew nicht weniger
glücklich getroffen.
Die Ausführung der Musik Hess hinsichtlich der Rich-
tigkeit der Tempi, der Nuancierung u. s. w. nichts zu
wünschen übrig. Es ist bewundernswert, dass Herr Ka-
pellmeister Altani, dessen Energie und Umsicht das gute
Ensemble der Aufführung am meisten zu verdanken ist,
es trotz der lückenhaften Besetzung des Orchesters ver-
standen hat, alle Schwierigkeiten der für die Mittel einer
grossen Bühne berechneten Partitur zu besiegen.
Die Dekorationen sind neu und schön. Von einem Pri-
vattheater, welches dazu seine Thätigkeit eben erst be-
gonnen hat, kann man es gerechterweise nicht verlangen,
dass es sich hinsichtlich der Dekorationen mit der Bühne
des Marientheaters messe; und dennoch haben sie den künst-
lerischen Eindruck des Ganzen durchaus nicht geschä-
digt. In den Kostümen ist eine Pracht, gleichzeitig aber
auch eine solche historische Treue entfaltet worden, wie
ich sie nur in ausländischen Theatern ersten Ranges ge-
sehen habe".
Diesem Bericht ist nur noch hinzuzufügen, dass der
„Opritschnik" in Kiew einen grossartigen Erfolg errungen
und sich die ganze Saison hindurch auf dem Repertoir
gehalten hatte.
An M. Tschaikowsk}-:
„6. Januar 1875.
....Mit Deinem Zeitungsartikel bin ich sehr zufrieden ^).
Du beklagst Dich darüber, dass Dir das Schreiben schwer
falle und Du jeden Satz ausbrüten müssest. Glaubst Du
denn wirklich, dass ohne Mühe und Selbstüberwindung
Etwas zu Wege gebracht werden kann? Ich sitze manches
Mal stundenlang, nage am Federhalter und weiss nicht,
wie ich die Arbeit anfangen soll. Dabei denke ich, dass
ich Nichts Gutes zu Stande bringen werde, und — siehe
da — die Andern loben die Leichtigkeit, die Ungezwungen-
heit der Arbeit! Erinnere Dich mal daran, wieviel Mühe
1) Ich war damals zeitweilig als Vertreter Laroche's (welcher auf ärztlichen Rat
eine Kur im Auslande durchmachte) Musikreferent des „Golos" (Die Stimme).
— ЗОЗ —
mich einst die Aufgaben von Zaremba gekostet hatten.
Weisst Du noch, wie ich im Sommer 66 an meiner ersten
S3m'iphonie meine Nerven kaput gearbeitet habe? Und wie
oft kommt es selbst heuer noch vor, dass ich mir alle
Nägel an den Fingern zerbeisse, eine grosse Menge Ciga-
retten verpaffe und lange in meinem Zimmer auf und ab
spazieren muss, ehe ich ein Motiv, ein Thema finde. Manches
Mal, jedoch, schreibt sich's sehr leicht, die Gedanken kom-
men nur so dahergeflogen. Alles hängt von der Stimmung
ab. Aber selbst wenn diese ungünstig ist muss man sich
zur Arbeit zwingen. Sonst erreicht man nie Etwas.
Du schreibst von Deiner schlechten Laune. Glaube
mir: sie ist bei mir auch nicht besser".
An A. Tschaikowsky:
„9. Januar.
.... Ich kann die Feiertage nicht leiden. An Werktagen
arbeitet man zur festgesetzten Zeit und Alles geht seinen
Gang, wie bei einer Maschine. An Feiertagen fällt die Fe-
der von selbst aus der Hand, man möchte mit lieben Freun-
den zusammen sein, sein Herz vor ihnen ausschütten,
und da überkommt mich denn ein (freilich übertriebenes)
Einsamkeitsgefühl, das Gefühl des Verlassenseins. Ja, ich
lebe in Moskau wohl etwas wie eine Waise. In den Fei-
ertagen war ich daher ziemlich traurig gestimmt. Mit mei-
nen Kollegen und deren Frauen bin ich nicht sehr intim.
Mit einem Wort: ich möchte sehr nach Petersburg, habe
aber kein Geld.
Nicht nur, dass es hier keinen Menschen giebt, den
ich einen wahren Freund nennen könnte (so wie zum
Beispiel Laroche oder Kondratjew), sondern ich befand
mich während der Feiertage unter dem Eindruck eines
harten Schlages, welcher meine Eigenliebe betroffen hatte
und welcher von keinem Andern als N. Rubinstein (und
Hubert) ausging. Wenn Du bedenkst, dass Diese Beiden
meine besten Freunde sind und dass in ganz Moskau Nie-
mand grösseres Interesse für meine Kompositionen haben
kann, als sie, so wirst Du wohl begreifen, wie sehr meine
Seele gelitten hat. Merkwürdig!! Die Herrn Cui, Stassow
und Komp. beweisen mir bei mancher Gelegenheit, dass sie
sich viel mehr für mich interessieren, als meine sogenannten
Freunde! Cui hat mir vor einigen Tagen einen sehr netten
Brief geschrieben. Auch von Korsakoff habe ein Schreiben
erhalten, welches mich sehr gerührt hat....
— 304 —
Ja, ich fühle mich hier sehr verlassen, und wenn die
Arbeit nicht wäre, so Avürde ich ganz der Melancholie
verfallen. In meinem Charakter liegt soviel Furcht vor
Menschen, soviel unnötige Bescheidenheit, soviel Misstrauen,
kurz eine Menge Eigenschaften, die mich immer mehr men-
schenscheu machen. Denke Dir: ich ziehe oft das Kloster-
leben oder drgi. in Erwägung. Glaube nur, bitte, nicht,
dass ich mich körperlich nicht gesund fühle. Ich bin ganz
wohl, schlafe gut, esse noch besser; bin nur etwas senti-
mental aufgelegt, nichts weiteres...
lieber die „von N. Rubinstein verletzte Eigenliebe" er-
zählt Peter Iljitsch so hübsch in einem seiner Briefe an
Frau von Meck, dass ich diesen Brief in seinem ganzen
Umfange hier folgen lasse.
An Frau N. F. von Meck:
San Remo, d. 21. Januar 1878.
Im Dezember 1874 hatte ich ein Klavierkonzert
geschrieben! Da ich kein Pianist bin, so erachtete ich es
für notwendig, einen Virtuosen zu befragen, was an mei-
nem Konzert in technischer Hinsicht unausführbar, undank-
bar oder wirkungslos wäre. Ich brauchte einen strengen,
gleichzeitig aber auch einen mir freundschaftlich gesinnten
Kritiker. Ohne von Kleinigkeiten zu reden, muss ich die
Thatsache constatieren, dass eine Stimme in meinem Innern
gegen die Wahl Rubinsteins zum Richter über den me-
chanischen Teil meines Werkes protestierte. Da er aber
nicht nur der beste Pianist Moskau' s, sondern auch in
der That ein ausgezeichneter Musiker ist, da ich ausserdem
versichert war, dass er es mir sehr übelnehmen würde,
falls er erfahren sollte, dass ich ihn übergangen und das Kla-
vierkonzert einem Andern gezeigt habe, so entschloss ich
mich denn, ihn zu bitten, mein Konzert anzuhören und
seine Bemerkungen in Betreff des Soloparts zu machen. Es
war gerade Weihnachtsabend 1874, wir waren zu Albrecht
eingeladen und Nikolai Gregorje witsch machte mir den
Vorchlag, ehe man zu Albrecht ging, in einem Klassen-
zimmer des Konservatoriums das Konzert durchzuspielen:
das thaten wir denn auch. Ich brachte mein Manuscript
und gleich darauf kamen Nikolai Gregorjewitsch und Hu-
bert. Letzterer ist ein sehr guter und kluger Mensch, ver-
fügt aber nicht über den geringsten Teil von Selbständig-
keit, ist sehr redselig und weitschweifig, braucht immer
— 305 —
eine lange Vorrede um Ja oder Nein zu sagen, er ist nicht
fähig, seine Meinung in bestimmter unzweideutiger Form
auszusprechen und hält sich immer auf Seiten Desjenigen,
der im gegebenen Fall der Stärkere ist. Hier muss ich
aber hinzufügen, dass er das nicht aus Feigheit, sondern
nur aus Charakterlosigkeit thut.
Ich hatte den ersten Satz durchgespielt. Nicht ein Wort,
nicht eine Bemerkung. Wenn Sie wüssten, in welch dum-
mer Lage man sich befindet, wenn man einem Freunde
eine eigenhändig zubereitete Speise vorsetzt und dieser
Freund sie isst und — schweigt! So sprich doch wenigstens
ein Wort, schimpfe meinetwegen freundschaftlichst, sprich
aber um Gottes Willen, sprich, sage Etwas, was es auch
sei! Rubinstein aber sprach nicht, er bereitete sein Donner-
wetter vor, und Hubert wartete, wie sich die Dinge ge-
stalten würden, um dann dieser oder jener Partei beizu-
springen. Die Hauptsache war aber, dass ich über die
künstlerische Gestaltung meines Werkes garkein Urteil
brauchte: es war mir nur um die rein technische Sache
zu thun. Das beredte Schweigen Rubinsteins^ hatte eine
sehr vielsagende Bedeutung. Es sagte mir gleichsam: „Lie-
ber Freund, wie kann ich von den Details reden, wenn
mir die Komposition als Ganzes zuwider ist'"''. Ich fasste
meine Geduld zusammen und spielte das Konzert zu Ende.
Wiederum Schweigen.
„Nun?" fragte ich und stand auf. Da entsprang ein ge-
waltiger Redestrom Rubinsteins Munde. Erst sprach Niko-
lai Gregorjewitsch ruhig, allmälig steigerte sich aber seine
Leidenschaftlichkeit und endlich glich er dem Blitze schleu-
dernden Zeus. Es erwies sich, dass mein Konzert Gar-
nichts taugte, dass es absolut unspielbar, die Passagen ab-
gedroschen und so ungeschickt wären, dass man sie gar-
nicht verbessern könnte, dass die Komposition selbst
schlecht, trivial, gemein sei, dass ich die Stelle von Dem
und die da von Jenem gestohlen hätte, dass nur zwei oder
drei Seiten Etwas taugten, während die übrigen entweder
vernichtet oder radikal umgearbeitet werden müssten. „Zum
Beispiel Das! Was ist Das nun, eigentlich? (dabei wird
die betreffende Stelle in Karrikatur gespielt), und Jenes
da? Ja, ist denn das möglich??" u. s. w. u. s. w. Ich kann
die Hauptsache nicht wiedergeben, den Tonfall der Stimme,
mit welchem Nikolai Gregorjewitsch das Alles sagte. Kurz,
ein unbeteiligter Zuschauer dieser Scene müsste glauben,
ich sei ein dummer talentloser eingebildeter Notenkratzer,
Tschaikoivaky, M. Г. I. Tachaikowbky's Leben. '«iü
— зоб —
welcher sich erfrecht hat, einem berühmten Mann seine
Schmiererei zu zeigen. Hubert war durch mein Schweigen
ganz verbUifft und wunderte sich, wahrscheinhch, sehr,
dass ein Mann, der bereits so viele Werke geschaffen und
der am Konservatorium Kompositionslehre unterrichtete,
eine derartige Moralpredigt ruhig und widerspruchslos
über sich ergehen liess, eine Moralpredigt, wie man sie
selbst einem Schüler nicht hätte halten dürfen, ohne seine
Arbeit vorher aufmerksam durchzusehen, und — Hubert be-
gann, Rubinstein zu kommentieren, d. h. er pflichtete Ru-
binsteins Ansicht bei, nur versuchte er, das, was Nikolai
Gregorjewitsch zu schroff ausdrückte, in mildere Worte zu
kleiden. Ich war durch diesen ganzen Auftritt nicht nur in
Erstaunen versetzt, sondern fühlte mich sehr beleidigt. Ich
brauchte wohl freundschaftliche Ratschläge und Bemerkun-
gen und werde sie wohl immer brauchen, hier war aber
nicht die Spur von Freundschaftlichkeit. Es war ein Schim -
pfen, ein „Herunterreissen" dazu in einer Art und Weise
vorgetragen, die mich sehr verletzte. Ich entfernte mich
schweigend aus dem Zimmer und ging nach oben. Vor
Aufregung und Zorn konnte ich kein Wort sprechen. Bald
darauf kam Rubinstein zu mir herauf und rief mich, als
er merkte, dass ich sehr niedergeschlagen war, in ein
entferntes Zimmer. Dort wiederholte er, dass mein Kon-
zert unmöglich sei, wies auf viele Stellen hin, welche einer
gründlichen Umarbeitung bedurften und fügte hinzu, dass
er — sollten diese Aenderungen bis zu einem bestimmten
Termin fertig werden mein Konzert öffentlich spielen wolle.
„Nicht eine einzige Note werde ich abändern", antwortete
ich, und werde das Konzert in dem Zustand in Druck
geben, in welchem es sich augenblicklich befindet". Das
habe ich denn auch wirklich gethan".
Peter Iljitsch hat es denn auch in Wirklichkeit gethan,
ja, nicht nur das, er hat sogar die Widmung des Konzerts
an N. Rubinstein von der Partitur gestrichen und statt
dessen den Namen Hans von Bülow gesetzt. Persönlich
kannte Peter Iljitsch Bülow allerdings nicht, durch Ver-
mittelung Klindworths, jedoch, wusste er, dass der be-
rühmte Pianist sich lebhaft für seine Kompositionen inte-
ressierte und an ihrer Verbreitung in Deutschland regen
Anteil nahm.
Bülow fühlte sich durch die Widmung sehr geehrt und
äusserte sich in einem langen dankerfüllten Brief — im Ge-
gensatz zu Rubinstein — sehr lobend über das Konzert,
— 307 —
indem er sagte, es sei von den ihm bekannten Werken
Peter Iljitsch's das „vollkommenste". „Die Ideen", schreibt
er, — „sind so originell, so edel, so kraftvoll, die Details —
welche trotz ihrer grossen Menge der Klarheit und Einig-
keit des Ganzen durchaus Nichts schaden — so interessant!
Die Form ist so vollendet, so reif, so stylvoll — in dem
Sinne, dass sich Absicht und Ausführung überall decken.
Ich würde ermüden, wollte ich alle Eigenschaften Ihres
Werkes aufzählen, — Eigenschaften, welche mich zwingen,
dem Komponisten sowie allen Denjenigen, welche das Werk
aktiv oder passiv (receptivement) geniessen werden, in
„gleichem Maasse meine Gratulationen darzubringen".
Ich hatte schon erwähnt, dass Peter Iljitsch trotz sei-
ner im Grunde edlen gutherzigen Natur eine ihm zuge-
fügte Beleidigung sehr lange nachtragen konnte. Die Epi-
sode mit dem Klavierkonzert bestätigt dieses. Peter Iljitsch
konnte Rubinstein die herbe Kritik nie verzeihen, und
dieser Umstand spiegelt sich auf den gegenseitigen Be-
ziehungen der beiden Freunde ab. Schon aus dem Styl
des Briefes Peter Iljitsch's, aus der Lebendigkeit der Er-
zählung jener Episode, aus der genauen Schilderung aller
Einzelheiten geht hervor, dass die Wunde nach drei Jahren
noch nicht geheilt war, dass die blosse Erinnerung an
den Vorfall den Schreiber des Briefes so stark aufregt,
alswenn die Scene sich eben erst abgespielt hätte.
Im Jahre 1878 hat Rubinstein den Grund des Grolles
Peter Iljitsch's gegen ihn beseitigt, indem er mit dem ihm
eigenen Edelmut und Gerechtigkeitssinn einsah, dass er
die Vorzüge des B-moll-Konzerts verkannt hatte, dieses
Konzert einstudierte und es mit der ganzen Genialität
seiner künstlerischen Natur in Russland und im Ausland
öffentlich vortrug.
An A. Tschaikowsky:
„9. März.
....Die Närrin Vorsehung richtet es nun schon seit 10
Jahren immer so ein, dass Diejenigen, welche ich lieb ha-
be, fern von mir weilen. Ich fühle mich in der That sehr
einsam in Moskau, nicht weil Keiner da wäre mit dem
sich die Zeit verbringen Hesse, sondern weil Niemand von
meinen allernächsten Freunden in meiner Umgebung lebt.
Wenn Du ein wenig Beobachtungsgabe besitzest, so wirst
Du gemerkt haben, dass meine Freundschaft mit Rubin-
- 3o8-
stein und den andern Herrn vom Konservatorium nur auf
dem Umstand basiert, dass wir Kollegen sind. Ich habe
schwerwiegende Beweise dafür, dass Keiner von ihnen
soviel Zärtlichkeit und Liebe für mich übrig hat, wieviel
meiner Seele notthut. Kurz, es ist Niemand da, dem ich
mein Herz ausschütten könnte. Vielleicht bin ich selbst
daran schuld: ich bin sehr zurückhaltend. Aber wie dem
auch sei, das Fehlen eines lieben Wesens empfinde ich
bei Anfällen von Hypochondrie sehr schmerzlich. Den gan-
zen Winter hindurch war ich unausgesetzt traurig gestimmt,
was mich oft an den Rand der Verzweiflung brachte und
den Tod wünschen Hess.
Jetzt, da der Frühling naht, sind jene Anfälle ganz
verschwunden, ich weiss aber, dass sie mit jedem Winter
immer intensiver wiederkehren werden und habe daher
den Entschluss gefasst, das ganze nächste Jahr Moskau
fern zu bleiben. Wo ich sein werde, wohin ich reisen
werde — weiss ich noch nicht, ich muss aber unbedingt Ort
und Umgebung wechseln. Ich werde mit Dir darüber noch
reden, vielleicht bei unserem Wiedersehen. Ich bitte Dich
sehr, zu Ostern zu mir zu kommen; Modest auch. Das
müsst Ihr thun, zumal da in der Osterwoche der „Opritsch-
nik" hier gegeben werden soll, und den müsst Ihr doch
wenigstens des Kuriosums halber sehn.
Vom Tode Laub's wirst Du, wahrscheinlich, schon
durch die Zeitungen unterrichtet sein. Uebermorgen soll
hier „Martha" für den Grossfürsten gegeben werden"....
An M. Tschaikowsk}-:
„12. März.
Ich sehe, dass Kondratjew Dir meine Hypochondrie
in übertriebenen Farben geschildert hat. Sie hat mich,
allerdings, den ganzen Winter hindurch gequält, meine
Gesundheit ist aber dadurch nicht im Mindesten geschädigt
worden und befindet sich in der besten Verfassung. Mit
dem Nahen des Frühlings, ist Alles wieder gut. Wahr-
scheinlich habe ich an Kondratj'ew in einem Anfall von Me-
lancholie geschrieben und würde jetzt beim Durchlesen
des betrcft'enden Briefes meine eigene Schilderung für
übertrieben halten. Es scheint, dass Du mir Vorwürfe
machst, dass ich mit Kondratjew aufrichtig bin und nicht
mit Dir. Das kommt daher, dass ich ihn zehn Mal weni-
ger lieb habe, als Dich und i\natol, anderseits weiss ich
— 309 —
wohl, dass er mich zwar gern hat, aber nur soweit ich
sein Wohlbefinden nicht störe, welches er höher schätzt,
als Alles in der Welt. Hätte ich Dir oder Anatol jene
Mitteilung von meiner Verstimmung gemacht, so würdet
Ihr, jedenfalls, meine Klagen gar zu sehr zu Herzen ge-
nommen haben, während Kondratjew sich gewiss keinen
Besorgnissen hingegeben hat. Was Du da über die Anti-
patie schreibst, welche ich für Dich empfinden soll, fasse
ich als Scherz auf. Woraus folgerst Du denn eigentlich
Deinen Verdacht? Es ärgert mich nur, dass Du von kei-
nem meiner Fehler frei bist — das ist, allerdings, wahr. Ich
wollte, ich könnte in Dir die Abwesenheit wenigstens einer
meiner Eigenschaften konstatieren — doch kann icb's nicht.
Du bist mir gar zu ähnlich: wenn ich mich über Dich
ärgere, so ärgere ich mich eigentlich über mich selbst,
denn Du bist gleichsam mein Spiegel, in welchem ich das
getreue Bild aller meiner eignen Schwächen erblicke. Da-
raus kannst Du den Schluss ziehen, dass — wenn Du mir
antipatisch bist — diese Antipatie im Grunde mir selbst gilt.
Ergo — Du bist ein Dummkopf, woran nie gezweifelt habe.
Anatol hat mir einen Brief geschrieben, der von dem Dei-
nigen viel Aehnlichkeit hat. Beide Briefe haben auf meine
kranke Seele die Wirkung eines heilsamen Balsams aus-
geübt"...
An dieser Stelle muss ich den Leser auf jenes mora-
lische Leiden aufmerksam machen, von welchem Peter II-
jitsch in dieser Saison ergriffen wurde und welches sich
im Laufe der Zeit stetig verschärfte, bis es im Jahre 1877
zu einer schrecklichen Krisis kam und für unsern Kompo-
nisten beinahe verhängnissvoll geworden wäre.
Der Drang nach Freiheit, die Sehnsucht, alle Ketten,
welche seine schöpferische Thätigkeit beeinträchtigten, zu
sprengen, hatte bisher den Charakter einer versteckten
chronischen Krankheit, welche nur dann und wann zum
Vorschein kam und sich in Klagen über das Schicksal, in
poetischen Träumereien von einem „stillen, einsamen Heim",
von einem „ruhigen, friedlichen und fröhlichen Leben äus-
serte. Solche Momente kamen und gingen mit der Flut
der vielen Eindrücke und Geschehnisse des alltäglichen
Lebens, welche Peter Iljitsch immer noch interessierten
und seinen Verstand, seine Phantasie anregten. Wenn man
seine Briefe aufmerksam durchsieht, so merkt man, wie
eine jede Veränderung seiner äusseren Lebensverhältnisse
auf seine Seelenstimmung einwirkt. So geschah es, zum
— З^о —
Beispiel, als er sich von Rubinstein getrennt und ein eignes
Heim gegründet hatte. Die Selbständigkeit, die neuen
freundschaftlichen Beziehungen hatten ihn mit seinem Da-
sein ausgesöhnt, und seine Liebe für Moskau, d. h. für die
Lebensweise, die er damals führte, erreichte ihren Höhe-
punkt. Für kurze Zeit verstummt sein Seufzen nach Etwas
Besserem. Aber schon Ende 1872 erscheint — wenn auch
noch sehr selten und in sehr leichter Form — seine Unzu-
friedenheit, seine Sehnsucht, aus den ihn umgebenden Ver-
hältnissen herauszukommen.
hii November 1873 spricht Peter Iljitsch die Enttäuschung
an seinen Moskauer Freunden direkt aus und klagt über
seine Einsamkeit in dem Sinne, dass es ihm an solchen
Wesen fehle,, die ihn verstehen könnten. Das Alles hat
aber dennoch nur den Charakter vorübergehender Anfälle
einer chronischen Krankheit.
Wir sehen, dass er 1874, da er fern von Moskau, fern
von denjenigen Freunden weilt, über die er sich erst vor
kurzer Zeit beklagt hatte, — sich dennoch nach ihnen sehnt,
ihnen zärtliche Briefe schreibt und während seines Aufent-
haltes in Petersburg und später in Italien immer nur da-
ran denkt, wie gern er nach Moskau zurückkehren würde, —
„in das liebe Moskau, wo allein er sich glücklich fühlen"
könne.
Im Jahre 1875 verschärft sich das chronische Leiden
schon sehr bedeutend. Es kommt nicht mehr zeitweise,
sondern quält ihn fast ununterbrochen. Nach seinen eignen
Worten drückt ihn die Melancholie unausgesetzt den gan-
zen Winter hindurch, manchmal bis zur Verzweiflung, bis
zur Todessehnsucht. Seine ganze Umgebung wird ihm
gleichgiltig, er fühlt, dass er so nicht weiter leben kann,
dass er seinen Wohnort und seine Umgebung verändern,
dass er „für ein ganzes Jahr aus Moskau verschwinden
muss", dass er an einem Wendepunkt seines Lebens an-
gelangt sei, welcher seiner Bedeutung nach der Krisis der
60-er Jahre gleichkomme, mit dem alleinigen Unterschied,
dass damals das Ziel seiner Wünsche der musikalische Be-
ruf gewesen ist, während es diesmal das „freie Leben" war.
Wie diejenigen Kranken, welche die wahre Ursache
ihres Leidens nicht zu erkennen vermögen und daher ganz
falsche Heilmittel anwenden, so auch Peter Iljitsch. Die
Hauptursache seiner Verstimmung sucht er in der Abwe-
senheit ihm „nahestehender Menschen" und erblickt die
Möglichkeit einer Genesung nur in der Nähe eines „lieben-
— 311 —
den Wesens", welches allein ihn von der „quälenden Ein-
samkeit retten könnte". Ich muss diesen Irrtiim Peter II-
jitsch's hier ganz besonders betonen, weil er immer mehr
und mehr zu einer idee fixe auswuchs und den Kompo-
nisten zu einem wahnsinnigen Schritt verleitete, welcher
ihn beinahe umgebracht hätte.
Einer der Symptome der unnormalen Geistesverfassung
Peter Iljitsch's lag, wie wir gesehen haben, in einer unge-
wöhnlichen Sensibilität seines Autorenehrgeizes. Selbst in
den allerschmeichelhaftesten Berichten über seine Kompo-
sitionen las er stets einen versteckten Tadel heraus und
bekundete ein derartig nachdrückliches Verlangen nach
Lob und Huldigung, wie er es weder früher noch später
je gethan. Immer will es ihm scheinen, dass man ihn nicht
genügend schätzt, nicht recht versteht, kein Erfolg, er mag
noch so bedeutend sein, befriedigt ihn. Und gerade in je-
ner Zeit, als Peter Iljitsch warmer Freundschaftsbezeugun-
gen am dringendsten bedurfte, fügte es sich so, dass seine
Konservatoriumskollegen, welche den eigentlichen Stamm
seiner ganzen Beziehungen zu Moskau bildeten, ihn jeden
Augenblick — wie auf Verabredung — kränkten und seinen
Ehrgeiz auf das Empfindlichste verletzten. Noch vor der
Episode mit dem B-moll-Konzert geschah es, dass Peter Il-
jitsch eines Tages dem Kreise seiner Freunde den „Wa-
kula" vorspielte. „Wir hatten uns in Rubinsteins Wohnung
versammelt"; erzählt Kaschkin, — „auch der jugendliche S.
Tanejew befand sich in unserer Mitte. Peter Iljitsch setzte
sich an den Flügel und begann zu spielen. Er war aber
sehr unruhig, denn selbst der kleine Zuhörerkreis versetzte
ihn in Aufregung und er spielte ziemlich schlecht, d. h.
nicht gerade falsch oder, unexakt, sondern er suchte mit
übertriebener Gewissenhaftigkeit Nichts fortzulassen und
spielte selbst die unwesentlichsten Begieitungsfiguren des
Orchesters, infolgedessen er die Hauptsachen zu sehr ver-
wischte und der Gesammteindruck ein unklarer blieb. Die
Anwesenden hörten schw^eigend zu und der Komponist,
welcher wohl merkte, dass ihm Nichts Rechtes gelingen
wollte und dadurch nur noch unruhiger wurde, spielte sein
Werk hastig zu Ende und erhob sich vom Klavier, unzu-
frieden mit der kühlen Zurückhaltung seiner Freunde in der
Beurteilung der Oper. Wir sahen uns in unsern Erwar-
tungen getäuscht, denn die Oper hat uns mit Ausnahme
einiger Stellen garnicht gefallen.
Zu einer andern Zeit hätte ein solches Urteil Peter II-
— 312 -
jitsch nur für kurze Zeit erbittert und wäre bald verges-
sen gewesen. Jetzt aber, nachdem er eine so grosse Ent-
täuschung an seinem „Opritschnik" erlebt hatte und die
übertriebensten Hoffnungen auf den „Wakula"^ setzte, jetzt
empfand er es doppelt bitter, dass sein „Lieblingsgeschöpf"
von Denjenigen, welche er nicht nur als Kenner schätzte,
sondern auch zu seinen Freunden zählte, von denen er
also voraussetzen musste, dass sie sein Werk aus freund-
schaftlicher Voreingenommenheit eher zu milde beurteilen
würden, — dass es von diesen Menschen verurteilt worden
ist. Peter Iljitsch war nicht nur erbittert, sondern fühlte
sich durch unser Urteil, welches er für eine Ungerechtig-
keit hielt, sogar sehr beleidigt. Daher die Erbitterung, mit
welcher er in jener Zeit von seinen Moskauer Freunden
spricht, deren Gesinnung ihm gegenüber im Grunde durch-
aus keine Trübung erfahren hatte, was sich auch sofort
nach der Krisis von 1877 herausstellte.
Mit Beginn des Frühlings ist die Melancholie aus Pe-
ter Iljitsch's vSeele geschwunden und er hat die Osterfeier-
tage in Gesellschaft der beiden Zwillinge, welche nach
Moskau zu ihm auf Besuch gekommen waren, sehr lustig
verlebt.
Am 4. Mai fand die erste Aufführung des „Opritsch-
nik" in Moskau statt.
An A. Tschaikowsky:
„12. Mai.
Habe vielen Proben des „Opritschnik" beigewohnt
und mit stoischem Mut die systematische Korruption der
ohnehin schon korrupten und verunglückten Oper über
mich ergehen lassen. Dennoch entsprach die am vorigen
Sonntag stattgehabte erste Aufführung nicht meinen Er-
wartungen, d. h. in dem Sinne, dass ich Schlechteres er-
wartet hatte. Alle gaben sich sehr grosse Mühe. Es schien
mir, dass das Publikum der Oper gegenüber kühl blieb,
was die Gutgesinnten, übrigens, nicht hinderte, zu brüllen,
zu klatschen und Loorbeerkränze darzubringen.
Alle meine Gedanken gelten jetzt meinem „Lieblings-
geschöpf", dem „Wakula". Du kannst es Dir garnicht
vorstellen, wie sehr ich an ihm hänge. Ich glaube ich könnte
wahnsinnig werden, sollte ich kein Glück mit ihm haben.
Nicht den Preis brauche ich — auf den spucke ich, obgleich
das Geld kein unangenehmes Ding ist — sondern ich will
— 313 —
haben, dass mein Werk zur Aufführung kommt. Die Ab-
schrift der Partitur ist fertig und ich bin mit der Durch-
sicht derselben beschäftigt. AugenbHckHch weiss ich noch
garnicht, wie ich meine Sommerreisen einrichten soll. Ge-
wiss ist nur, dass ich die erste Hälfte des August bei Sa-
scha verbringen werde".
Kurz vor seiner Abreise aus Moskau erhielt Peter II-
jitsch von der Direktion der Moskauer Kaiserlichen The-
ater den Auftrag die Musik zu dem Ballet „Der Schwa-
nensee^^ zu schreiben. Doch hat er diese Arbeit nicht so-
fort in Angriff genommen, sondern reiste Ende Mai zu
Schilowsky nach Ussowo und begann daselbst seine dritte
Symphonie (D-dur). Ende Juni kehrte Peter Iljitsch für
einige Tage nach Moskau zurück und reiste darauf zu
Kondratjeff nach Nisy, wo er bis zum 14. Juli ausschliess-
lich mit der Instrumentierung der Symphonie beschäftigt
луаг. Dann begab er sich zur Schwester nach Werbowka.
Am I. August war die Symphonie ganz fertig und Peter
Iljitsch nahm das Ballet vor (für welches ihm die Theater-
direktion— nebenbei gesagt — ein Honorar von 800 Rubel
bewilligt hatte). Nach 14 Tagen waren die beiden ersten
Aufzüge des Balletts bereits entwarfen.
Werbowka, die Besitzung L. W. Dawidows, lag in der
Nähe Kamenka's und hat Peter Iljitsch derart gefallen, dass
es von nun an sein liebster Aufenthaltsort wurde und nach
und nach Ussowo ganz in den Hintergrund gedrängt hat.
In Werbowka lebte Peter Iljitsch in diesem Sommer
nicht nur mit der Familie seiner Schwester zusammen,
sondern auch mit seinem Vater Ilja Petro witsch, und sei-
nem Bruder Anatol.
Die chronologische Reihenfolge der Kompositionen Pe-
ter Iljitschs im Laufe der Saison 1874— 1875 ist folgende:
1. Op. 25. Sechs Lieder: I. „Herz, о lass dich von
Schlummer umfangen", Text von Schtscherbin, gewidmet
an Frau A. Krutikowa. II. „Wie hier die Schrift in Aschen-
gluth", Text von Tjutscheff, gewidmet an D. Orloff. III.
„Mignon's Lied", Text von Goethe, gewidmet an M. Ka-
menskaja. IV. „Der Kanarienvogel", Text von L. Mey,
gewidmet an W. Raab. V. ,,Mit ihr ein Wort gesprochen
hab'ich nie", Text von L. Mey, gewidmet an I. Melnikoff.
VI. „Einst zum Narren Jemand spricht" Text von L. Mey.
Komponiert sind diese Lieder wahrscheinlich im September
1874. Verlag W. Bessel.
2. Op. 19. Sechs Klavierstücke: I. „Reverie", gewid-
— 314 —
met an N. D. Kondratjeff. II. „Sdierzo-humoristique",
gewidmet an Wera Timanoff. III. „Feuillet d'album", gewid-
met an A. Abramowa. IV. „Nocturne", gewidmet an Frau
Terminsky. V. „Capriccio", gewidmet an E. Langer. VI.
„Theme avec Variations", gewidmet an H. Laroche. Auf
dem Manuscript befindet sich der Vermerk: „27. Oktober
1873, Moskau". Verkig jurgenson.
3. Op. 23. Konzert für Klavier mit Orchester (B-moll).
Komponiert im November und Dezember 1874. Die Instru-
mentation beendet, wie es auf der Partitur geschrieben
steht, am 9. Februar 1875. Hans von Bülow gewidmet. Ver-
lag P. Jurgenson. In einem Briefe an Frau von Meck macht
Peter Iljitsch die Mitteilung, das er für das Hauptthema
des ersten Satzes ein von blinden Bettlern in Kamenka
während einer Messe gesungenes Motiv
fei=i3=e=p:=f
grt^trtf^sg
verwendet habe. Ausser diesem bewussten Citat ist Peter
Iljitsch im Prestissimo des zweiten Satzes noch ein unbe-
wusstes mit untergeschlüpft, und zwar die französische
Chansonette „II faut s'amuser, danser et rire", welche ich
und Bruder Anatol Anfang der siebziger Jahre in Erinne-
rung an eine reizende Sängerin fortwährend trällerten,
summten und pfiffen.
4. Op. 26. „Serenade melancolique" für Violine mit
Begleitung des Orchesters (B-moll). Komponiert im Januar
1875, gewidmet an L. Auer. Verlag P. Jurgenson.
5. Op. 27. Sechs Lieder: I. „An den Schlaf" Text von
Ogarjoff. II. „Ob sich die Wolke dort", Text von Gre-
koff. III. „Geh'nicht von mir", Text von Fet. IV. „Abend",
Text von Schewtschenko. V. „Klage", Text von Mickie-
wicz. VI. „Dem Vöglein gleich", Text von Mickiewicz. Alle
sechs Lieder sind an Frau Lawrowskaja gewidmet. Die
Zeit ihrer Entstehung lässt sich nicht feststellen. Verlag
P. Jurgenson.
6. Op. 28. Sechs Lieder: I. „Nein, wen ich liebe",
Text von Musset, gewidmet an A. Nikolajew. II. „Die rothe
Perlenschnur", Text von S^^-okomli, gewidmet an A. Do-
donoff. III. „Warum im Traume", Text von Mey, gewidmet
an Frau M. Jljina. IV. „Er liebte mich so sehr", Text von
Apuchtin, gewidmet an E. Massini. V. „Kein Wort von
— 315 —
Dir", Text von Alexej Tolstoi, gewidmet an B. Korsoff.
VI. „Ein einzig Wörtchen", Text von P. Tschaikowsk}^
gewidmet an Frau E. Kadmina. Fertig geworden sind
diese Lieder laut Vermerk auf dem Manuskript am ii.
April 1875 ^^ Moskau. Verlag P. Jurgenson.
7. Op. 29. Symphonie № 3 (D-dur) in fünf Sätzen. Auf
der Partitur hat der Autor eigenhändig notiert: „Begonnen
am 5. Juni in Ussowo, beendet am i. August 1875 ^^^ Wer-
bowka". Verlag P. Jurgenson. Zum ersten Mal aufgeführt
in Moskau am 7. November.
Ausserdem hat Peter Iljitsch seit dem August dieses
Jahres an dem Ballet „Der Schwanensee" gearbeitet.
Die musikalisch-kritische Thätigkeit Peter Iljitsch's ist
im Laufe dieser Saison sehr ergiebig gewesen. Er hat von
September bis April nicht weniger als fünfzehn Feuilletons
verfasst.
щт
XII.
1875— 1876.
An N. A. Rimsky-Korsakoff:
„Moskau, d. 10. September 1875.
Verehrtester Nikolai Andrejewitsch! Haben Sie Dank
für Ihren lieben Brief Wissen Sie auch, dass ich Ihre vor-
nehme Künstlerbescheidenheit und Ihre Charakterfestigkeit
geradezu bewundere und anbete! All' diese zahllosen Kon-
trapunkte, welche Sie durchgemacht, diese 60 Fugen und
die vielen andern musikalischen Spitzfindigkeiten — Alles das
ist für einen Mann, der bereits vor 8 Jahren einen „Sadko"
geschrieben hat, erstaunlich und eine Heldenthat: ich wollt',
ich könnte das der ganzen Welt verkünden. Ich bin ganz
verblüfft und weiss garnicht, wie ich Ihnen die ganze Achtung,
welche ich^ für Ihre Künstlernatur hege, ausdrücken soll.
Wie ich mir selbst kleinlich, bedauernswert, selbstzufrieden
naiv vorkomme, wenn ich mich mit Ihnen vergleiche! Ich
bin ein Handwerker in der Kompositionskunst, Sie aber —
ein Künstler im wahren Sinne des Wortes. Ich hoffe, dass
Sie meine Worte nicht als Schmeichelei auffassen werden.
Ich bin in der That überzeugt, dass bei Ihrer kolossalen
Begabung und der idealen Gewissenhaftigkeit, wxlche Sie
— 3i6 —
Ihren Arbeiten angedeihen lassen, Ihre Feder Werke
schaffen wird, welche alles bisher in Russland Geschrie-
bene weit hinter sich zurücklassen dürften.
Mit grosser Ungeduld werde ich Ihre lo Fugen erwar-
ten. Da es mir kaum möglich sein wird, in nächster Zeit
nach Petersburg zu kommen, so bitte ich Sie sehr, mich
möglichst bald mit der Zusendung Ihrer Fugen — welche
mich ausserordentlich interessieren — zu erfreuen. Ich werde
sie gründlich durchsehen und Ihnen dann meine ausführ-
liche Meinung sagen.
Den Sommer habe ich in verschiedenen Gouvernements
bei Freunden, resp. Verwandten verlebt. Habe ziemlich
fleissig gearbeitet und ausser der Symphonie noch zwei
Akte eines Ballets entworfen. Im Auftrage der Moskauer
Theaterdirektion schreibe ich die Musik zum Ballet „Der
Schwanensee". Ich habe diesen Auftrag zum Teil aus Geld-
bedürfniss übernommen, zum Teil aber auch, weil ich schon
längst den Wunsch hegte, mich in dieser Art Musik zu
versuchen. Es würde mich sehr interessieren, zu erfahren,
wie die Beurteilung der Eigenschaften der zur Preisbew^er-
bung eingesandten Partituren vor sich gehen wird.
Hoffentlich sind auch Sie Mitglied des Komitee's? Die
Furcht, mich zu blamieren, d. h. den Preis nicht zu er-
halten und dadurch die Möglichkeit einer Aufführung mei-
nes „Wakula" zu verlieren, — quält mich sehr.
Ueber den „Angelo" laufen hier die widersprechendsten
Gerüchte um. Vor etwa zwei Jahren hat mir Cui den er-
sten Akt vorgespielt, welcher aber damals auf mich einen
unsympatischen Eindruck machte, namentlich im Vergleich
zu „Ratcliff", den ich sehr gern habe".
An M. Tschaikowsky:
„14. September 1875.
Sitze im Konservatorium, schreibe fleissig am Ballet,
führe die musikalische Chronik Arbeit genug. Wohne jetzt
eine Etage höher und habe mich etwas komfortabler ein-
gerichtet.... Die italienische Oper hat ihren Anfang genom-
men. In der russischen steht mein „Opritschnik" auf dem
Repertoir. Ich komme oft mit Tanejew zusammen. Wenn
Du wüsstest, Avie prachtvoll er mein Konzert spielt! Habe
Dank für die Nachricht über den „Wakula". Derartige
Nachrichten laufen jeden Augenblick bei mir ein, dennoch
bin ich aber um das Schicksal dieser Oper sehr besorgt.
— 31? —
Wenn ich aber den Preis erhalten sollte, dann wollen wir
Beide mal zu Weihnachten eine kleine Reise ins Ausland
machen.
Entgegen der Gepflogenheit hat diesmal Petersburg
und nicht Moskau Peter lljitsch's neues Werk zuerst zu
Gehör bekommen. Am ersten Symphonieabend der Rus-
sischen Musikalischen Gesellschaft (d. i. November) spielte
Professor Kross daselbst das Klavierkonzert. Der Erfolg
beim Publikum war trotz der Hervorrufe ein mittelmässi-
ger. In der Presse sprach nur eine Stimme zu Gunsten
des Konzerts: Herr Faminz3'n („Das musikalische Blatt")
nannte das Konzert „glänzend, dankbar, obwohl schwer
für den Virtuosen". Alle Andern, auch Laroche nicht aus-
geschlossen, blieben unzufrieden. Laroche lobte die „helle,
feierlichglänzende und üppig blühende Introduktion" und
meinte, dass die andern Teile nicht soviel melodischen Reiz
aufzuweisen hätten, wie man es von dem Autor des „Ro-
meo" und des „Opritschnik" wohl erwarten sollte. Fer-
ner behauptete er, dass das Konzert für den Ausführen-
den undankbar sei und keine Zukunft habe.
Im ersten Symphoniekonzert zu Moskau (am 7. Novem-
ber) kam auch die dritte Symphonie Peter lljitsch's zu
ihrer ersten Aufführung und hat starken Beifall gehabt.
Die „Moskauer Nachrichten" schrieben darüber, dass na-
mentlich die beiden Mittelsätze „dem Publikum grossen
Genuss bereitet und nachhaltiges Händeklatschen hervor-
gerufen haben".
An N. A. Rimsky-KorsakofT:
„Moskau, d. 12, November 1875.
Verehrtester Nikolai Andreejewitsch! Erst Heute finde
ich einen freien Augenblick, um ein wenig mit Ihnen zu
plaudern. Zuerst das Geschäftliche:
i) Es versteht sich von selbst, dass Rubinstein Ihnen
sehr dankbar sein wird, wenn Sie ihm den „Anthar"''
schicken. Wir werden Ihre Partitur mit Ungeduld erwar-
ten, desgleichen auch das Quartett, welches mich sehr in-
teressiert. Gestern wurde es in Petersburg aufgeführt. Wie
gern würde ich wissen wie die Aufführung ausfiel und
wie sich das Publikum und die Musiker zum Quartett ver-
halten haben.
2) Jurgenson wird Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie
ihm das Quartett überlassen werden. Ob ich ihm richtig
- 3i8 -
Ihre Bedingungen mitgeteilt? Ich habe ihm gesagt, dass
Sie 50 Rubel Honorar beanspruchen und dass der Kla-
vierauszug auf seine Kosten hergestellt werden soll. Ich
kenne hier eine junge Dame, welche mein 2-tes Quartett
sehr gut arrangiert hat. Wenn also Ihre Frau Gemahlin
das Arrangement nicht selbst übernehmen wird, so könnte
man besagte junge Dame dafür gewinnen....
Vom Bahnhof war ich direkt in die Probe meiner 83^11-
phonie gekommen. Wie mir scheint, weist die S\'mphonie
keinerlei sehr glücklich erfundene Ideen auf, in Betreff der
Form jedoch, bedeutet sie einen Schritt vorwärts. Am mei-
sten befriedigt mich der erste Satz, sowie die beiden Scherzi,
von denen das zweite sehr schwer ist und infolgedessen
lange nicht so gut gespielt worden ist, wie es möglich
gewesen wäre, wenn wir mehr Proben gehabt hätten.
Unsere Proben dauern immer nur zwei Stunden; wir ha-
ben allerdings drei Proben, aber was lässt sich in zwei
Stunden machen?
Uebrigens war ich im Allgemeinen mit der Auffüh-
rung zufrieden. Wie, wenn Näpravnik die Symphonie in
Petersburg ebenso nachlässig dirigieren wird, wie das
Konzert?
Ich ertrinke geradezu in der Flut meiner Verpflichtun-
gen. Ausser dem Ballet, welches ich möglichst bald been-
den möchte, um eine Oper in Angriff zu nehmen, habe
eine Masse von Korrekturen zu erledigen und muss mu-
sikalische Feuilletons schreiben. Diese Arbeit ist für mich
die schrecklichste. Vor einigen Tagen habe ich von Bülow
einen Brief erhalten nebst einer Menge amerikanischer
Zeitungsausschnitte über mein Konzert. Die Amerikaner
behaupten, dass der erste Satz meines Konzerts „an der
Ahifesenheit einer zentralen Idee leidet, neben tvelcher jene
Schaaren musikalischer Phantasieen sich zu bilden haben,
die das ätherische, luftige Teil des Ganzen bilden^. Im Fi-
nale hat der Verfasser dieser Kritik Synkopen auf Trillern,
krampfhafte Pausen im Thema und erschütternde OJctaven-
passagen gefunden!! Stellen Sie sich vor welch' gesunden
Appetit die Amerikaner haben: jedesmal muss Bülow das
ganze Finale meines Konzerts wiederholen! So Etwas giebt
es allerdings bei uns nicht!"
In Moskau wurde das B-moll-Konzert am 21. Novem-
ber zum ersten Mal gespielt und zwar vom jugendlichen
Pianisten Sergius Tanejew, dem Lieblingsschüler Rubin-
steins und auch Peter lljitsch's. Tanejew war erst im Ja-
— 319 —
nuar dieses Jahres zum ersten Mal vor der Oeffentlichkeit
erschienen und errang damals durch den Vortrag des un-
dankbaren Klavierkonzerts von Brahms nicht nur die Sym-
patie des Publikums sondern auch die Bewunderung der
Fachmänner. Der Bericht Peter Iljitsch's über das erst-
malige Auftreten S. Tanejevv's ist zwar angesichts der in-
tim-herzlichen Gefühle, welche Peter Iljitsch zum Debü-
tanten hegte, nicht ganz objektiv, so doch derart charak-
teristisch, dass ich ihn an dieser Stelle wiedergeben möchte:
„Das Interesse des siebenten S34nphonieabends wurde
durch das erstmalige Auftreten des jungen Pianisten S. Ta-
nejew, welcher die auf ihn gesetzten Hoffnungen seiner
musikalischen Erzieher auf das glänzendste rechtfertigt
hat, noch wesentlich erhöht. Ausser der Sauberkeit der
Technik, der Schönheit des Anschlags und der Eleganz
und Leichtigkeit in der Ausführung der Passagen — war
es ein überaus reifes Verstau dniss, eine bei einem so jun-
gen Künstler fast unglaubliche Selbstbeherrschung, Ruhe
und Objektivität des Vortrags, welche die Zuhörer in Er-
staunen setzten. Indem Herr Tanejew alle hervorragenden
Eigenschaften seines Lehrers und Meisters in sich aufge-
nommen hat, erscheint er trotzdem nicht als blosser Ko-
pist seines Vorbildes, sondern als eigenartige Künstlerin-
dividualität, welche mit einem Schlage den ihr gebühren-
den Platz unter den Virtuosen erobert hat"....
Das zweite Auftreten dieses Pianisten galt dem Kon-
zert Tschaikowsky's und hatte einen noch glänzenderen
Erfolg. Peter Iljitsch selbst war ganz entzückt über die
Wiedergabe seines Werkes und schrieb: „Der Hauptvor-
zug des Klavierspiels des Herrn Tanejew liegt in dessen
Verständniss, den feinsten und kleinsten Intentionen des
Autors gerecht zu werden, jede Absicht des Letzteren zu
erfassen und sie gerade so zu realisieren, wie der Kom-
ponist es sich geträumt hat".
Im November dieses Jahres kam Camille Saint-Saens
nach Moskau, um seine Werke daselbst vorzuführen. Der
kleine, bewegliche Mann mit dem jüdischen Gesichtstypus
gefiel Peter Iljitsch sehr und entzückte ihn nicht nur durch
seine geistreichen und originellen Ideen, sondern auch
durch seine grosse Meisterschaft als Komponist. Peter Il-
jitsch sagt von ihm, er hätte es verstanden, in seinen Wer-
ken die Grazie und Lieblichkeit der französischen Schule
mit dem Ernst und der Tiefe der grossen deutschen Mei-
ster zu vereinigen. Peter Iljitsch hatte herzliche Freund-
— 320 —
Schaft mit ihm geschlossen und erwartete von dieser Freund-
schaft sehr viel für seine Zukunft. Sie blieb aber bedeutungs-
los und verschwand sogar gänzlich. Nach langer Zeit
begegneten sich die Beiden als Fremde und blieben auch
einander fremd.
Während des kurzen Aufenthaltes Saint-Saens' in Mos-
kau ereignete sich eine recht lustige Episode. Eines Ta-
ges entdeckten die beiden Freunde, dass sie sehr viele
gemeinschaftliche Sympatieen und Antipatieen hatten, und
zwar nicht nur in dem Reich der Töne sondern auch auf
andern Gebieten. Sie Beide sind, zum Beispiel, in ihrer
Jugend sehr für das Ballet begeistert gewesen und hatten
die Kunst der Tänzerinnen oft nachzuahmen versucht.
Das brachte sie auf die Idee, sich gegenseitig etwas vor-
zutanzen und sie führten auf der Bühne des Konservato-
riums ein ganzes kleines Ballet — „Galathee und P3^gma-
lon" — auf. Der 40-jährige Saint-Saens machte die Galathee
und spielte mit der hingehendsten Sorgfalt die Rolle der
Statue, während der 35-jährige Tschaikowsky den P^^gma-
lion gab. Rubinstein ersetzte das Orchester. Leider ist aus-
ser den drei Mitwirkenden bei dieser kuriosen Vorstellung
Niemand weiter zugegen gewesen.
Am meisten interessierte Peter Iljitsch in jener Zeit das
Schicksal seines „Wakula".
Die Jury, welche die eingesandten Partituren zu prüfen
hatte, war folgendermaassen zusammengesetzt: den Vorsitz
führte der Grossfürst selbst, Mitglieder waren: A. Kirejeff,
M. Asantschewsky, N. Rubinstein, Th. Tolstoi, N. Rimsky-
KorsakofT, E. Näpravnik, H. Laroche und K. Dawidoff.
Die Partitur Peter Iljitsch's war — wie Laroche erzählt —
selbstverständlich von unbekannter Hand abgeschrieben,
das Kennwort aber, welches mit demjenigen auf dem Brief-
umschlag identisch war, hatte Peter Iljitsch auf der Parti-
tur eigenhändig geschrieben. „Ars longa, vita brevis" stand
da zu lesen, und die markanten charakteristischen Züge
dieser Ueberschrift waren uns Allen sehr wohl bekannt, so-
dass von vornherein jeder Zweifel daran ausgeschlossen war,
dass Tschaikowsky und kein. Anderer die Partitur kom-
poniert hatte. Aber selbst wenn Peter Iljitsch nicht die
Naivetät begangen hätte, die Devise mit eigner Hand zu
schreiben, würde man ihn aus dem Styl der Komposition
sofort erkannt haben. Der Grossfürst bemerkte während
der Sitzung lächelnd: „secret de la comedie".
Das Resultat der Preiskonkurrenz hat sich sehr schnell
— 321 —
in ganz Petersburg herumgesprochen. Lange vor der öffent-
hchen Bekanntmachung des Urteils der Jury wussten es
Alle, dass in Betreff der Eigenschaften des „Wakula" bei
den Preisrichtern Einstimmigkeit herrschte.
hn Oktober schrieb Rimsky-Korsakoff an Peter Iljitsch:
„Keinen Augenblick zweifle ich daran, dass Ihre Oper
den Preis gewinnen wird. Will Ihnen jetzt einige Worte
über die andern sagen: es dürfte Sie interessieren. Meiner
Ansicht nach zeugen jene Opern von einem sehr beklagens-
werten Zustand der musikalischen Kunst bei uns. Würde
es in Deutschland Einer wagen, solch eine dilettantische
Schmiererei — wie es z. B. die Oper mit der Devise „Pro-
bieren geht über Studieren", ist — zu einer Preiskonkurrenz
zu senden? Oder auch die Oper, die mit „Herrgott, hilf
mir" gezeichnet ist, — was ist das doch für ein Dreck! Nicht
nur grenzenlose Armut der Phantasie, sondern ein gera-
dezu erschreckender Mangel an Können und Wissen!!...
Wäre Ihre Oper nicht da, so könnte man, meines Erach-
tens, keiner einzigen den Preis, geschweige denn eine Auf-
führung bewilligen".
In den letzten Tagen des Oktober wurden die Meinun-
gen der einzelnen Mitgheder des Preisrichterkollegiums in
eine gemeinsame Resolution zusammengefasst, und Peter
Iljitsch wurde durch ein eigenhändiges Schreiben des Gross-
fürsten Konstantin Nikolajewitsch beehrt, welches folgen-
den Inhalt hatte:
„Peter Iljitsch! Nachdem die Direktion der Kaiserlich
Russischen Gesellschaft von der Meinung des mit der Prü-
fung der eingesandten Werke betrauten Komitees Kennt-
niss genommen, hat sie einstimmig beschlossen, den Preis
von 1500 Rubeln dem Autor des mit dem Kennwort „Ars
longa, vita brevis" versehenen Werkes zu bewilligen. Das
Oeffnen des Couverts mit der gleichen Devise ergab, dass
Sie der Autor der preisgekrönten Partitur seien. Leider war
es der in Gott ruhenden Hohen Protektorin der Russischen
Musikalischen Gesellschaft, der Grossfürstin Helene Paw-
lowna, deren Initiative und Geldmittel die Preiskonkurrenz
ihre Entstehung verdankt, nicht vergönnt, den ehemaligen
Schüler des mit Hilfe ihrer Bemühungen gegründeten Pe-
tersburger Konservatoriums zu seinem neuen Erfolg zu
gratulieren. Nun liegt mir die angenehme Pflicht ob, Sie
von ganzem Herzen zu beglückwünschen. Indem ich Ihr
Talent sehr hochschätze gebe ich der Hoffnung Ausdruck,
dass Sie — durch die schmeichelhafte Auszeichnung ange-
Tsehaikoivsky, M. Г. I. Tschaikowsky"s Leben. 21
— 322 —
regt — mit erneutem Eifer die Pflege Ihrer Kunst fortsetzen
Averden, welche — entgegen dem Sinne der von Ihnen ge-
wählten Devise — ihre genialen Söhne in die Unsterblichkeit
nach sich zieht.
An A. Tschaikowsk}'
Konstantin".
II. Dezember.
Das Geld ist wie Rauch in alle Winde zerstoben. An-
gesichts der bevorstehenden Reise ins Ausland bin ich so
geizig geworden, dass es fast unmöglich ist für nebensäch-
liche Zwecke von mir Geld zu erhalten. Lieber Tol}^, die
ganze letzte Zeit war ich mit verschiedenen Arbeiten ganz
überhäuft. Unter Anderem habe ich mit grossem Eifer in
den Zeitungen in Betreff Slavjansky's ^) polemisiert. Hier
giebt es eine Zeitung, welche mich als Zielscheibe gewählt
hat und ganze Leitartikel der Beschimpfung Deines lieben
Bruders widmet, welcher — wie Du sehr richtig bemerkst —
seinen T0I3' ganz vergessen hat und ihm garnicht mehr
schreibt. Aber was thun? Wenn Du nur wüsstest, wie
schwer es mir fällt, nach der Artikelschreiberei, nach der
Instrumentation des Ballets und nach den Konservatoriums-
stunden noch Zeit zu finden ausführliche Briefe zu schrei-
ben. Du weisst wohl schon, dass ich infolge der fürchter-
lichen Kälte meine Wohnung habe wechseln müssen....
Von bedeutsamen Erlebnissen kann ich Dir nur mitteilen,
dass ich mit Saint-Saens sehr gut bekannt geworden bin,
einem sehr netten und geistreichen Franzosen, welcher mir
in Bezug auf Verbreitung meines Rufes in Paris sehr gute
Dienste leisten kann. Am 6. Dezember (dem Namenstage
N. Rubinsteins) gab es im Konservatorium ein Fest: der
Vorstellung des „Freischütz" folgten Ball und Souper. Ich
hatte bei dieser Gelegenheit so wahnsinnig getanzt, dass
ich am nächsten Tage ganz krank war. Gestern debütierte
hier die Artot. Sie ist scheusslich dick geworden und hat
ihre Stimme gänzlich verloren.
Ihr Talent hat aber dennoch den Sieg davongetragen,
denn nach dem 4. Akt der „Hugenotten" wurde sie 20 Mal
hervorgerufen. Vor einigen Tagen habe ich die offizielle
Benachrichtigung v- on der Annahme meiner Oper zur Auffüh-
rung im nächsten Jahr erhalten. Bin sehr erfreut".
1) Slavjansky ist der Gründer und Leiter eines russischen Xationalchors.
— 323 —
Im Laufe dieses Monats ist in meinem persönlichen
Schicksal eine Wendung eingetreten, die ^uch für Peter
Iljitsch nicht ohne Bedeutung blieb. Nachdem ich endgil-
tig die Ueberzeugung gewonnen hatte, dass ich für den
Staatsdienst untauglich sei, übernahm ich die Erziehung
eines taubstummen Knaben, Nikolai Konradi, welcher anno
1875 sieben Jahre alt war. Selbstv^erständlich bedurfte ich
für meine neue Thätigkeit einiger Vorbereitung, und die
Eltern meines zukünftigen Zöglings erklärten sich bereit,
mich ein Jahr lang in Lyon die Methode der Behandlung
und Belehrung Taubstummer studieren zu lassen.
Meine Abreise fiel gerade in die Zeit, welche von Pe-
ter Iljitsch schon lange vorher für eine Auslandsreise in
meiner Gesellschaft bestimmt hatte, und so machten wir
uns denn in den letzten Tagen des Dezember auf den Weg.
Alles, selbst die verschiedenen Widerwcärtigkeiten und
unangenehmen Zwischenfälle, denen wir auf unserer Reise
ausgesetzt waren, so zum Beispiel die infolge starken
Schneefalls eingetretene zwölfstündige Verspätung unseres
Zuges, oder der Aufenthalt in einem scheusslichen Gast-
hof in Brest, — vermochten nicht meine und Peter Iljitsch's
fröhliche Stimmung zu verscheuchen. Mein Entzücken, die
helle Freude bei unserer Abreise, das Interesse, mit wel-
chem ich dem verführerischen „Ausland" entgegensah, ha-
ben auch Peter Iljitsch angesteckt. Er freute sich meiner
Freude, ergötzte sich an der Naivetät seines unerfahrenen
Reisegefährten und spielte mit Feuereifer die Rolle meines
Cicerone.
Zuerst hielten wir uns in Berlin auf, dann ging es nach
■Genf, wo wir bei unserer Schwester im Kreise der Fa-
milie Dawidow etwa zehn Tage verbrachten, um dann
nach Paris weiter zu reisen. Hier sollte Peter Iljitsch einen
der stärksten musikalischen Eindrücke seines Lebens em-
pfangen.
Am 3. März 1875 wurde Bizet's Oper „Carmen" zum
ersten Mal gegeben. Der Erfolg war kein sehr grosser.
Wladimir Schilowsky, welcher sich damals in Paris auf-
hielt, besuchte die Vorstellung und erkannte als einer der
Ersten die vielen und grossen Schönheiten des Werkes.
Voller Entzücken schickte er damals den Klavierauszug
an seinen Lehrer nach Moskau. Noch nie ist Peter Iljitsch
von einem modernen musikalischen Erzeugniss so hinge-
rissen gewesen, wie von Bizet's „Carmen". Die Eigenart
und Schönheit des Textes sowie der Musik versetzten un-
— 324 —
seren Komponisten geradezu in flammendes Entzücken.
Der drei Monate nach der Pariser Erstaufführung „Car-
mens" erfolgte Tod Bizet's verstärkte noch die — fast möchte
man sagen krankhafte — Begeisterung für die Oper selbst,
sowie für das Talent des vorzeitig dahingeschiedenen
Meisters.
Während unseres Aufenthaltes in Paris wurde nun in
der Opera comique „Carmen" erneuert. Selbstverständlich
gingen wir hin, und ich muss sagen: noch nie hatte ich
Peter lljitsch nach einer Theatervorstellung so aufgeregt
gesehen. Das hat nicht nur die Musik und die ihm bis da-
hin noch unbekannte Instrumentation der Partitur, bewirkt,
sondern nicht zum wenigsten das hervorragende Spiel der
Sängerin Galli-Marie, welche die Titelrolle sang. Sie gab
den T3^us der „Carmen" so überaus lebenswahr, und
verstand es, ihn mit dem ganzen Zauber der heissen un-
gebändigten Leidenschaftlichkeit, mit einem gewissen my-
stischen Fatalismus gepaart, auszustatten, dass Jeder hin-
gerissen лvurde.
Zum i\ndenken an jenen Abend kaufte sich Peter lljitsch
ein Bild Bizet's und schrieb die Worte darauf: „Bizet —
2o^8 Januar 1876".
Zwei Tage darauftrennten wir uns. Peter lljitsch reiste
nach Russland zurück, während ich in Frankreich blieb.
An M. Tschaikowsk}-:
„Berlin. II. Januar 11 Uhr abends.
Lieber Modi, wenn Du nur wüsstest, wie ich mich nach
Dir sehne! Gestern habe ich den ganzen Tag geweint und
Heute thut mir das Herz weh vor lauter Kummer. In die-
sem Gefühl liegt selbstverständlich etwas Uebertriebenes.
Das sind noch die Ueberreste jener Krankheit, an der ich
in Moskau gelitten habe und welche während unserer ge-
meinsamen Reise verschwunden war. Jetzt, da ich wieder
einsam bin, versinke ich von neuem in düstere Gedanken....
Stelle Dir meinen Aerger vor: Heute wird der „Lohen-
grin" mit Niemann und der Mallinger gegeben, und habe
nicht hingehen können, weil es schon zu spät war. Da
ging ich denn zu Bilse und hörte dort ein Quartett für
4 Celli, Variationen für Cornet-ä-piston und dergleichen
Dreck an. Im grossen Saal waren Tische aufgestellt, an
denen die Berliner sassen, ihr Bier tranken und scheussliche
Zigarren dazu rauchten. Das gefällt mir garnicht....
4
— 325 —
Lieber Modi, sei nicht traurig! Ich rate Dir, möghchst
bald nach Ьзюп zu reisen. Ich glaube, dass nur dort alle
Zweifel, welche Dich jetzt noch quälen, verschwinden kön-
nen. In letzter Nacht habe sehr viel an Dich gedacht. Ich
freue mich sehr, dass Du religiös bist. Theoretisch bin ich
ganz und gar nicht mit Dir einverstanden; ich würde mich,
jedoch, sehr über Dich ärgern, wenn meine Theorieen
Deinen Glauben zu erschüttern imstande wären"....
An M. TschaikowsW:
„Petersburg. Den 20. Januar.
.Ich bin schon am vorigen Mittwoch angekommen
und sitze bis Heute noch hier, denn ich will die Auffüh-
rung meiner Symphonie abwarten, welche in dieser Wo-
che stattfinden soll... Ausser der Notwendigkeit bei den
Proben anwesend zu sein, halten mich die Unterhandlun-
gen in Betreff der Aufführung meines „Wakula" hier zu-
rück. Ich weiss absolut nicht, wem ich die Rolle der Sso-
locha anvertrauen soll.... Gestern hatte ich ein sehr ernstes
Gespräch mit Asantschewsky wegen der Sendung meiner
Person ins Ausland auf zwei Jahre. Es ist sehr wahrschein-
lich, dass sich die Sache schon im nächsten Jahr ver-
wirklichen lassen wird. Das ist für mich zwar sehr wün-
schenswert und dennoch fürchte ich mich etwas, denn ich
liebe so sehr das heilige Russland, dass ich sehr an Heim-
weh zu leiden haben werde".
Am 25. Januar wurde in Petersburg unter Leitung
Näpravnik's die dritte Symphonie (D-dur) aufgeführt. C.
Cui berichtet darüber: „Das Publikum blieb während der
S\'mphonie recht kühl, applaudierte nach den einzelnen
Sätzen ziemHch massig, nach dem letzten Satz, jedoch,
wurde der Autor stürmisch gerufen. Diese Symphonie muss
man in der That ernst nehmen. Die ersten drei Sätze sind
besser als die andern, der vierte Satz bietet nur einigen
Reiz im Sinne des Klanges, da der musikalische Gehalt
nur dürftig ist. Der fünfte Satz, eine Polonaise, ist der
schwächste. Im Allgemeinen ist die neue Symphonie sehr
talentvoll, doch sind wir wohl berechtigt, von Herrn Tschai-
kowsk3^ mehr zu verlangen".
Laroche findet, dass „die Kraft und Gewichtigkeit des
Inhaltes, die Schönheit und Reichhaltigkeit der Form, der
edle St^'l, die Originalität der Erfindung und die seltene
Vollkommenheit der Technik die Symphonie Tschaikow-
— 32б —
sky's zu einem der bedeutendsten musikalischen Ereignisse
des letzten Dezenniums stempeln. Wenn die Symphonie
in einem der musikalischen Mittelpunkte Europa's zur Auf-
führung käme, so würde sie sicherlich dem Namen ihres-
Autors einen Ehrenplatz in der Reihe der berühmtesten
S3'mphonischen Komponisten unserer Tage erobern".
An M. Tschaikowsky:
„Moskau, d. 28. Januar.
Meine Symphonie ist glücklich vom Stapel gelaufen^
ich лvurde einstimmig gerufen und „beklatscht". Nicht we-
niger Erfolg hatte an jenem Abend Tanejew, welcher in
der That ausgezeichnet spielte, namentlich die Rhapsodie
von Liszt. Vorher hatte ich in einer Quartettsoiree das
Glück gehabt, dem Herzog Georg von Mecklenburg vor-
gestellt zu werden, desgleichen seiner Mama und Schwe-
ster, welche sehr wohlwollend zu mir gewesen sind. Mit
Laroche bin ich viel zusammen gewesen. Habe auch zwei
Proben des „Angelo" (von C. Cui) besucht. Diese Oper
will mir durchaus nicht 2:efallen"....
ö^
An M. Tschaikowsky:
„IG. Februar.
....An Ereignissen ist mein Leben arm, wie früher. An
Gefühlen, Sorgen, Arbeiten, Eindrücken ist es reich; um
sie Dir mitzuteilen fehlt es mir aber an Zeit. Augenblick-
lich arbeite ich mit Volldampf an dem Quartett \), wel-
ches ich — wie Du Dich wohl erinnern wirst — in Paris zu
komponieren begonnen hatte.
Ausserdem bin ich mit der Korrektur der Oper be-
schäftigt. Die Feuilletonschreiberei habe ich ganz aufge-
geben. Vor einigen Tagen habe ich ejnen Brief von Bü-
loAv erhalten nebst zahlreichen Zeitungsausschnitten mit
amerikanischen Kritiken über mein Konzert. Ueber meine
Symphonie lautete der Bericht der ganzen Presse — Laroche
nicht ausgeschlossen — ziemlich kühl. Alle finden sie, dass
ich Nichts Neues mehr zu sagen vermag und mich zu wie-
derholen beginne. Sollte das wirklich wahr sein? Nach dem
Quartett will ich eine Zeitlang ruhen, d. h. nur am Ballet
weiterarbeiten; Neues werde aber Nichts in Angriff neh-
1) Op. 30. Quartett № 3.
— 327 —
men, bevor ich mich für eine Oper entschlossen haben
werde. Ich schwanke immer noch zwischen „Ephraim"
und „Francesca", glaube aber, dass Letztere die Ober-
hand behalten wird".
„Ephraim" ist ein Operntext, welchen Konstantin Schi-
lowsky gemacht hat und welcher eine Liebesepisode am
Hofe des Pharao im alten Aegypten zur Zeit der Auswan-
derung der Hebräer zum Inhalt hat.
„Francesca da Rimini" war ein bereits fertiges Libretto,
welches ein gewisser Zwanzew an Laroche in Vorschlag
brachte und welches Laroche seinerseits an Peter Iljitsch
abzutreten bereit war. Der Inhalt dieses Libretto war
dem V. Gesang von Dante's „Hölle" entlehnt.
Weder das Eine noch das Andere war im Stande,
Peter Iljitsch voll zu befriedigen. Nachdem er „Carmen"
gesehen hatte, konnte ihn nur ein ähnlicher Text be-
geistern, d. h. ein Text, in welchem wirkliche Menschen
und keine Figuren handelten, Menschen, die unserer Zeit
und unserem Leben nahe standen. Das Drama musste durch
seine Einfachheit und Lebenswahrheit wirken.
An M. Tschaikowsky:
„3. März.
....Ach, Modi, wie beneide ich Dich! Du schreibst, dass
die Bäume schon zu grünen beginnen und in den Strassen
bereits Veilchen verkauft werden.
Bei uns dagegen sieht es scheusslich aus: das Thau-
wetter ist früher als sonst eingetreten. Mein Quartett ist
bereits fertig und wurde Gestern bei N. Rubinstein pro-
biert. Es hat Allen gefallen, ich selbst bin aber nicht ganz
zufrieden. Es scheint mir, dass ich etwas „versiegt" bin
und Nichts Neues mehr erfinden kann. Sollte ich wirklich
schon am Ende meines Liedes angekommen sein? Sehr
traurig. Uebrigens will ich den Versuch machen, einige
Zeit nicht zu arbeiten, um neue Kräfte zu sammeln. Mich
quälen immer noch die unendlichen Korrekturen des „Wa-
kula", welcher nach etwa vierzehn Tagen erscheinen soll".
An A. Tschaikowsky:
„17. März.
....Ich stecke bis über die Ohren in der Instrumenta-
tion des Ballets, welches gleich nach Ostern fertig werden
— 32Ö —
soll. Da ich noch ganze zwei Aufzüge vor mir habe, so
will ich die Charwoche und die Osterwoche dieser Arbeit
widmen. Um ungestört zu sein, habe ich den Entschluss ge-
fasst, diese Zeit im Dorf bei K. Schilowsky zuzubringen....
Gestern hat uns der Grossfürst einen Besuch gemacht.
Man hat ihm mein neues Quartett vorgespielt, w^elches ihm
gut gefallen hat".
Am i8. März ist das Quartett Л° з zu seiner ersten
öffentlichen Aufführung gekommen, und zwar im Konzert
des Geigers J. Hrimal}^ Bald darauf wairde es in einer
Kammermusiksoiree der Russischen Musikalischen Gesell-
schaft wiederholt. Der Erfolg war an beiden Abenden ein
enormer. Auch die Presse hat dieses Werk sehr lobend
beurteilt.
An M. Tschaikowsky:
„24. März.
...Dein Brief hat mich sehr erfreut, obgleich ich mich
über Dich etwas geärgert habe, dass Du Dich bei Saint-
Saens erkundigt hast, wann meine Ouvertüre in Paris zur
Aufführung gelangen würde. Er wird sich gar einbilden,
dass ich vor Sehnsucht vergehe, in Paris gespielt zu wer-
den, hn Grunde ist das ja wahr, aber Saint-Saens braucht's
doch nicht zu wissen....
Gestern fand die erste Probe einiger Nummern meines
Ballets statt. Es war drollig anzusehen, wie der Ballet-
meister mit dem tiefsinnigsten Gesicht von der Welt bei
dem Klange einer armseligen Fiedel allerlei Tänze erfand....
In den letzten Tagen wurde mein Quartett drei Mal
gespielt, davon zwei Mal öffentlich. Es gefällt Allen sehr.
Das Andante soll Viele bis zu Thränen gerührt haben.
Wenn das wahr ist, so bedeutet das einen grossen Triumph
für mich".
Ende April erschien im Verlage Jurgensons der Kla-
vierauszug des „Wakula". Bald darauf wurden in der „Mu-
sikalischen Welt" einige Aufsätze über diese Oper veröf-
fentlicht, in welchen dieselbe Takt für Takt in Grund und
Boden hineinkritisiert wurde. Trotz der offenkundigen Ten-
denz des Verfassers dieser Aufsätze, eines gewissen Herrn
Galler, des persönlichen Freundes eines der Mitbewerber
Peter Iljitsch's in der Preiskonkurrenz, trotz der ausser-
ordentlichen Talent-und Sinnlosigkeit jener Aufsätze und
trotz der Unbehebtheit der Zeitung, in welcher sie veröf-
— 3^9 —
fentlicht wurden — fühlte sich Peter Iljitsch durch sie sehr
gekränkt und beschloss, in Zukunft nie wieder den Kla-
vierauszug einer neuen Oper vor der Erstaufführung der-
selben herauszugeben.
An A. Tschaikowsky:
„14. Mai.
....In letzter Zeit bin ich oft unwohl gewesen und die-
ser Umstand hat mich bewogen, ernstlich den Entschluss
zu fassen, eine gründliche Kur durchzumachen. Der Arzt
meint, dass ich nach Vichy reisen sollte. Jetzt bemühe ich
mich höllisch, für diese Reise Geld aufzutreiben"....
Am 26. Mai verliess Peter Iljitsch Moskau und begab
sich zunächst für einige Tage zu Kondratjew^, um am 4.
Juni in Kamenka einzutreffen. Mitte Juni trat Peter Iljitsch
seine Reise nach Vieh}- via Wien an. Am 27. Juni er-
reichte er Lyon, wo er mit Modest zusammentraf und bei
dieser Gelegenheit den Zögling des Letzteren, Nikolai Kon-
radi kennen lernte. „Kolja ^) habe ich vom ersten Augen-
blick an lieb gewannen", schreibt er an seinen Bruder Ana-
tol, — -„das zwischen Lehrer und Schüler bestehende Ein-
vernehmen ist das denkbar herzlichste und entlockt meinen
Augen oft Thränen der Rührung. Auch Fräulein Sophie
(die Gouvernante Kolja's) habe ich lieb gewannen. Es ist
ein herzlich gutes Wesen"...
Vichy, wo Peter Iljitsch am i. Juli anlangte, machte
auf ihn von vornherein einen sehr schlechten Eindruck. —
„Hier ist Alles dazu angethan, um meinen Aufenthalt uner-
träglich zu machen'''', — schreibt er seinen Brüdern ^ — das
Gedränge am Brunnen, der völlige Mangel an Naturschön-
heiten, die unangenehme Lebensweise, die man zu führen
genötigt ist: man muss schon um 5 Uhr früh aufstehen,
um ein Wannenbad zu erhalten, hauptsächlich aber die
Einsamkeit" — und das schreckliche Heimweh, welches Pe-
ter Iljitsch empfand, brachten ihn auf den Gedanken, noch
vor Abschluss der Kur abzureisen. Dem ihn behandelnden
Arzte, jedoch, gelang es, ihn zu bewegen, wenigstens eine
„demi-cure" auszuhalten, und so blieb denn Peter Iljitsch
volle zehn Tage in dem „verfluchten, widerwärtigen Vichy".
Vor seiner Abreise hat er jedoch der Heilkraft des Vichy-
Brunnens Anerkennung gezollt, indem er mir schrieb: „Du
1) Kolja — Abkürzung für Nikolai.
— ЗЗО —
glaubst garnicht mit welcher Sehnsucht ich den Tag meiner
Abreise aus diesem langweiligen und dennoch w^hlthuen-
den Vieh}' erw^arte. Der Brunnen übt auf mich eine sehr
heilsame Wirkung aus. Nur schlafe ich schlecht und kann
nicht gehen, da das Wasser die Eigenschaft hat, in den
Füssen ein Gefühl der Müdigkeit und Mattigkeit zu er-
zeugen Selbstverständlich werde ich mit Euch nach
Montpellier und Cette reisen. Habe ich Dir schon erzählt,
dass Klindw^rth mir für die am i. August stattfindende
erste Vorstellung des „Nibelungenringes" einen Platz be-
sorgt hat. Daraus folgt, däss ich bis Ende Juli mit Euch
bleiben werde".
Mitte Juli reiste Peter Iljitsch mit uns zunächst mit
einem Rhonedampfer nach Avignon, wo w^r einen ganzen
Tag blieben, und dann weiter nach Montpellier. In der
Nähe dieses Städtchens liegt das Seebad Palavas wo wir
unser Quartier aufzuschlagen gedachten. Diese Wahl war
eine unglückliche, denn Palavas erwies sich als einer der
langweiligsten Orte der Welt. Dazu kam das schlechte
Trinkwasser, welches uns gleich am ersten Tage Alle auf's
Krankenlager warf. Peter Iljitsch litt weniger darunter und
so kam es, dass er die Rolle unserer Pflegerin übernehmen
musste.
Alle väterlichen Gefühle, die in Peter Iljitsch's Brust
schlummerten, erwachten bei dieser Gelegenheit und er-
füllten urplötzlich seine ganze Seele. In all'den kleinen
Sorgen und Mühen des Familienlebens fand er ein gewis-
ses Wohlbehagen, eine Ruhe, nach welcher er sich in seiner
Einsamkeit so oft gesehnt hatte. All' diese Freuden und
Leiden des häuslichen Lebens erschienen ihm plötzlich als
das richtige Mittel, seine Seele von dem moralischen Leiden,
welches ihn die letzten Jahre hindurch so gec^uält hatte,
zu retten.
Ende Juli trennte sich Peter Iljitsch von uns und reiste
über Paris nach Bayreuth.
An M. Tschaikow^sky:
„Paris, d. 27. Juli.
Lieber Modi, die Reise ist glückhch von Statten ge-
gangen. Von Tarascon bis Paris sass ich ganz allein im
Coupe. Es versteht sich von selbst, dass ich ununterbro-
chen an Dich und an Kolja dachte. Ich kam um 8^/2 Uhr
in Paris an und stieg im Hotel de Hollande ab. Obgleich
— 331 —
ich Paris sehr gern habe, quält mich die Sehnsucht nach
Dir, wenn auch nicht in dem Maasse, wie bei unserer
Trennung im vorigen Winter. Das ist erklärhch: jetzt habe
ich die Ueberzeugung, dass Du ruhig bist und „im siche-
ren Hafen ankerst" . Zudem habe ich Kolja so Heb ge-
wonnen, dass es für mich schreckhch wäre, ihn in frem-
der Obhut zu wissen. Mein Appetit ist vorzügHch, und ich
fühle Kraft in mir: ein Zeichen dessen, dass ich genese.
Heute früh habe ich den fünften Gesang der „Hölle" durch-
gelesen und ward vom Wunsche beseelt, eine symphonische
Dichtung „Francesca da Rimini" zu komponieren".
An M. Tschaikowsky:
„Bayreuth, d. 2. August.
...Alle Phasen des Heimweh's, welche Du durchge-
macht hast, waren auch mir nicht erspart gebheben. Was
mein Leiden anbelangt, so ist es erst jetzt vollkommen
geheilt. In Paris hatte ich — gerade an dem Abend, da ich
Dir den Brief geschrieben — einen heftigen Kolikanfall ge-
habt, so dass ich ernstlich erschrak. Ich verbrachte eine
entsetzliche Nacht; erst gegen Abend des folgenden Ta-
ges fühlte ich mich wieder besser. Infolgedessen war ich
gezwungen, einen sehr langweiligen Tag länger in Paris
zu verweilen. In Nürnberg übernachtete ich und kam erst
Sonnabend d. 31. Juli, also am Vorabend der Aufführung
hier an. Ich wurde von Klindworth empfangen, begegnete
einer ganzen Menge bekannter Persönlichkeiten und geriet
sofort in den Strudel des Bayreuther Festgetriebes, in wel-
chem ich mich den ganzen Tag wie ein Besessener drehte.
Ich habe die Bekanntschaft Liszt's gemacht, der mich äus-
serst liebenswürdig empfangen hat. Bin auch bei Wagner
gewesen, der übrigens Niemanden mehr empfängt. Gestern
fand die Vorstellung des „Rheingold" statt. In szenischer
Hinsicht interessierte mich das Ding sehr, machte auch
mit seiner wahrhaft bewunderungswürdigen Ausstattung
grossen Eindruck. In musikalischer Beziehung ist es ein
unglaublicher Unsinn, in welchem, jedoch, hin und wieder
sehr schöne, ja, entzückende Momente aufbhtzen. Von den
Dir bekannten Persönlichkeiten befinden sich hier: Rubin-
stein, (ich wohne mit ihm zusammen; er ist ebenfalls am
Sonnabend eingetroffen), Laroche und Cui....
Bayreuth ist ein winziges Städtchen, in welchem augen-
blicklich einige Tausend Menschen zusammengepfercht und
— 332 —
bezüglich der Nahrungsfrage keineswegs gut aufgehoben
sind. Wir hatten unsere Wohnung schon sehr rechtzeitig
gemiethet: sie ist sehr hübsch. Was die Kost anbetrifft, so
konnte ich am ersten Tage nur mit Mühe ein Abendbrot
erlangen und das gestrige Mittagessen habe ich auch nur
einem günstigen Zufall zu verdanken. Ich langweile mich
durchaus nicht, kann andererseits aber auch nicht behaup-
ten, dass ich grossen Genuss von meinem hiesigen Aufent-
halt habe, sodass all'mein Sinnen und Trachten darauf
gerichtet ist möglichst bald über Wien nach Russland
zu entfliehen, was ich auch am Donnerstag auszuführen
gedenke".
In den Berichten, welche Peter Iljitsch an die „Rus-
sischen Nachrichten" sandte, beschreibt er seinen Bayreu-
ther Aufenthalt ausführlicher:
„Ich kam am 12. August — am Vorabend der Erstauffüh-
rung des ersten Teils der Trilogie — in Bayreuth an. Die
Stadt befand sich in grosser Aufregung: in Massen eilten
die Menschen — Einheimische und Ausländer, welche im
buchstäblichen Sinne des Wortes aus der ganzen Welt
zusammengeströmt w-aren — zum Bahnhof, um die Ankunft
des Kaisers mit anzusehen. Ich sah dem Schauspiel aus
dem Fenster eines benachbarten Hauses zu. Vor meinen
Augen tauchten zunächst einige glänzende Uniformen auf,
dann erschien die Prozession der Musiker des Wagner-
theaters mit dem Kapellmeister Hans Richter an der Spitze,
dann folgte die interessante Gestalt des „abbate" Liszt mit
dem prachtvollen Charakterkopf, dessen Bild ich schon
früher oft bew^undert hatte, — zuletzt in einem kostbaren
Wagen der heitere Alte, Richard Wagner, mit seiner Ad-
lernase und den feinen ironischen Lippen, welche dem Ge-
sicht des Urhebers dieses kosmopolitisch - künstlerischen
Festes einen so überaus charakteristischen Zug verleihen.
Ein brausendes Hurrah ertönte aus Tausenden von Kehlen,
als der Kaiserliche Extrazug langsam in die Bahnhofshalle
einlief. Der betagte Kaiser bestieg die bereitstehende Equi-
page und fuhr ins Schloss. Wagner, welcher ihm unmittel-
bar folgte, wurde von der Volksmenge nicht minder ju-
belnd begrüsst, als der Kaiser selbst. Welch' stolzen, welch'
überschлvenglichen Gefühle mussten doch in jenem Augen-
blick das Herz jenes kleinen Männchens erfüllen, welcher
kraft seiner Willensenergie und seines enormen Talentes,
allen Schwierigkeiten Trotz bietend, es verstanden hatte,
die Verwirklichung seiner kühnsten Ideale und verwegen-
sten Absichten durchzusetzen!
— 333 —
Ich unternahm eine kleine Wanderung durch die Stras-
sen der Stadt. Sie wimmelten von Menschen aller Nationa-
litäten. Diese Menschen sahen alle sehr besorgt aus und
schienen Etwas zu suchen. Den Grund dieser Besorgniss
und dieses Suchens habe ich nur zu bald herausgefunden,
weil ich ihm selber unterliegen musste: Alle jene unruhig
in der Stadt umherirrenden Menschen suchten, nämlich,
nach Gelegenheit, den stärksten Trieb aller Lebewesen —
den Hunger zu stillen, welchen selbst die Fülle der künst-
lerischen Genüsse nicht zu betäuben imstande war. Die
kleine Stadt bietet den Fremden zwar genügende Unter-
kunft, ist aber nicht in der Lage, alle ihre Gäste zu er-
nähren. So kam es, dass ich gleich am Tage meiner An-
kunft in der That erfuhr, was der „Kampf ums Dasein"
bedeute. In Bayreuth giebt es nur wenige Hotels; der
grösste Teil der Fremden findet in Privathäusern Obdach.
Die Table d'hote's, welche in einigen Gasthäusern einge-
richtet sind, können unmöglich alle Hungernden befriedi-
gen; ein jedes Stück Brot, ein jedes Glas Bier kann nur
mittelst ungeheurer Anstrengungen: durch Kampf, durch
List oder durch eiserne Ausdauer erbeutet werden. Selbst
wenn ein bescheidenes Plätzchen an einem Tisch bereits
erobert ist, so dauert es immer noch sehr lange bis Einem
die ersehnte Speise vorgesetzt wird. An den Tischen
herrscht völlige Anarchie: Alles schreit und tobt, die er-
schöpften Kellner geben garkeine Acht mehr auf die be-
rechtigten Forderungen eines jeden Einzelnen. Falls man
von dem emen oder andern Gericht noch Etwas erhascht,
so ist das der reine Zufall. In der Nähe des Theaters giebt
es eine Restauration, welche um 2 Uhr einen guten Mit-
tagstisch verspricht. Aber da hinein zu gelangen und im
Gedränge der hungrigen Menschheit Etwas zu erwischen —
ist eine Heldenthat.
Ich habe mich absichtlich so lange bei dieser Angele-
genheit aufgehalten, um die Aufmerksamkeit des Lesers
auf den hervorstechendsten Zug der Bayreuther Me-
lomanen zu lenken. Thatsächlich bildet das Essen wäh-
rend der ganzen Dauer der Festspiele das hauptsächhch-
ste Interesse des Publikums, indess die künstlerischen Dar-
bietungen in den Hintergrund treten. Ueber Cotelette's, Brat-
kartoffeln und Rühreier wird viel eifriger debattiert, als
über die Musik Wagners.
Ich habe bereits erwähnt, dass die Vertreter aller zi-
vihsierten Nationen in Ba3'reuth versammelt waren. In der
— 334 —
That: schon gleich am Tage meiner Ankunft erbhckte ich
in der Menge viele bekannte Repräsentanten der musika-
lischen Welt Europa's und Amerika's. Allerdings, die Grös-
sten derselben, die Berühmtheiten allerersten Ranges glänz-
ten durch ihre — Abwesenheit. Verdi, Gounod, Thomas,
Brahms, Anton Rubinstein, Raff, Joachim, Bülow waren
nicht nach Bayreuth gekommen. Von den musikalischen
Autoritäten Russlands w^aren anwesend: Nikolai Rubin-
stein, Cui, Laroche, Faminzyn, Klindworth (welcher be-
kanntlich die Bearbeitung der Wagnerschen Trilogie für
Klavier gemacht hat), die in Moskau rühmlichst bekannte
Gesanglehrerin Frau Walzeck u, A.
Die Aufführung des „Rheingold" fand am i. August
um 7 Uhr abends statt. Sie dauerte ununterbrochene 2V-2
Stunden. Die andern drei Teile — „Walküre", „Siegfried"
und ..Götterdämmerung" wurden mit je einer einstündigen
Pause gegeben und dauerten von 4 — 10 Uhr. In Folge
einer Erkrankung des Sängers Betz ging „Siegfried" statt
am Dienstag erst am Mittwoch in vSzene, sodass die erste
Serie volle fünf Tage in Anspruch nahm. Um 3 Uhr be-
ginnt die Wanderung nach dem Theater, welches sich in
ziemlicher Entfernung von der Stadt auf einer kleinen An-
höhe befindet. Das ist der mühsamste Teil des Tages, selbst
für Diejenigen, denen es gelungen, sich durch ein Mittag-
essen, zu stärken. Der Weg führt bergauf und ist völlig
schattenlos, sodass man den sengenden Sonnenstrahlen
ausgesetzt ist. In Erwartung des Beginnes der Vorstellung
lagert sich die bunte Schaar auf dem grünen Rasen in der
Nähe des Theaters, Einige sitzen auch im Restaurant bei
einem Glase Bier: hier werden alte Bekanntschaften auf-
gefrischt und neue angeknüpft. Von allen Seiten hört man
Klagen über ungestillten Hunger und Durst. Auch die be-
vorstehende oder stattgefundene Vorstellung wnrd bespro-
chen. Punkt 4 Uhr ertönen die Fanfaren, und die Volks-
menge strömt ins Theater. In fünf Minuten sind bereits
alle Plätze besetzt. Wiederum ertönen die Fanfaren, das
vSummen der Unterhaltung verstummt, die Gasflammen im
Zuschauerraum erlöschen und das Auditorium wird in völ-
liges Dunkel gehüllt. Aus der Tiefe des Orchesters, wel-
ches sich in einer Versenkung befindet und für das Publi-
kum unsichtbar ist, ertönt das schöne Vorspiel, der Vor-
hang wird nach rechts und links auseinandergezogen und
die Vorstellung nimmt ihren Anfang. Jeder Aufzug dauert
anderthalb Stunden; dann kommt eine Pause, aber eine
— 335 —
sehr unangenehme, denn die Sonne steht noch ziemlich
hoch am Firmament und es ist sehr schwer, ein Plätzchen
im Schatten ausfindig zu machen; die zweite Pause, da-
gegen, bietet das Schönste vom Tage: die Sonne hat sich
bereits dem Horizont genähert, in der Luft spürt man schon
die Abendkühle, die bewaldeten Hügel ringsum und das
reizende kleine Städtchen in der Ferne sind lieblich anzu-
schauen. Gegen IQ Uhr ist die Vorstellung zu Ende"....
An M. Tschaikowsk}-:
„Wien, d. 8. August 1876.
....Вазч-euth hat eine unangenehme Erinnerung in mir
hinterlassen, obwohl meinem Künstlerehrgeiz mehr denn
einmal geschmeichelt worden ist. Es erwies sich, nämlich,
dass ich in den Abendlanden garnicht so unbekannt bin,
wie ich glaubte. Die unangenehme Erinnerung rührt aber
von dem ununterbrochenen Getümmel her, das ich niitmachen
musste. Am Donnerstag war es endlich zu Ende. Nach
den letzten Akkorden der „Götterdämmerung" fühlte ich
mich wie aus einer Gefangenschaft befreit. Die „Nibelun-
gen" mögen in der That ein grossartiges Werk sein, ge-
wiss ist aber auch, dass es noch nie eine so unendliche
und so langweilige Faselei gegeben hat. Die Aufthürmung
der kompHziertesten, und ausgetifteltsten Harmonieen, die
Farblosigkeit des Gesanges auf der Bühne, die unendhch
langen Monologe und Dialoge, das Dunkel des Zuschauer-
raums, die Abwesenheit jeglicher Poesie, jeglichen Inte-
resses der Handlung — Alles das hat meine Nerven bis zum
letzten Grade ermüdet. Also das ist es, was die Reform
Wagners erstrebt! Früher war man bemüht, die Leute
durch die Musik zu erfreuen — Heutzutage, jedoch, quält
man sie.
Freilich sind auch schöne Stellen darin, im Grossen
und Ganzen ist's aber zum Sterben langweilig. Wieviel
Tausend Mai herrhcher ist das Ballet „Sylvia"!
Aus Ваза-euth war ich zuerst nach Nürnberg gefahren,
wo ich einen ganzen Tag verbracht und den Bericht an
die „Russischen Nachrichten" verfasst habe. Wie köstlich
ist doch Nürnberg! Heute bin ich in Wien angekommen
und reise Morgen nach Werbowka weiter".
Laroche erinnert sich folgendermassen an das Beneh-
men Peter Iljitsch's während der Bayreuther Festspiele:
„Das Anhören und Ansehen der unendlichen Aufzüge
— ззб —
■der Wagnerschen Trilogie (namentlich des „Rheingold"'
und des ersten Teils der „Götterdämmerung", welche ohne
Pausen je zwei Stunden dauerten), das Sitzen im geschlosse-
nen, völlig dunklen und dazu tropischheissen Amphitheater,
das aufrichtige Bemühen, den Styl und die Sprache des
Textbuches zu verstehen, welches in der That so schwer-
fällig und ungeschickt veriasst ist, dass es selbst den Deut-
schen unzugänglich sein muss, — das Alles wirkte auf Pe-
ter Iljitsch sehr niederschlagend, sodass er nach den letzten
Akkorden förmlich auflebte und erst beim Abendessen und
einem Glase Bier sich wieder behaglich fühlte"....
Das war der Eindruck, den Peter Iljitsch von den „Ni-
belungen" gewonnen hatte. Der Oeffentlichkeit berichtete
er selbst folgendermassen über das kolossale Werk Ri-
chard Wagners:
„Ich habe den Eindruck davongetragen, dass die Tri-
logie sehr viele ausserordentlich schöne Stellen aufzu-
weisen hat, namentlich in symphonischer Beziehung, was
sehr merkwürdig ist, da doch Wagner jedenfalls nicht die
Absicht gehabt hat, eine Oper im symphonischen Styl zu
schreiben. Ich bewundere ehrerbietig das kolossale Talent
des Komponisten und seine ungeheure, noch nie dagewe-
sene Technik. Und doch zweifle ich sehr an der Rich-
tigkeit des Wagnerischen Opernprinzips, will aber das
Studium dieser kompliziertesten aller bisher komponierten
Musiken fortsetzen.
Wenn auch der „Ring" stellenweise langweilt, wenn
auch Vieles darin zuerst unverständlich und unklar er-
scheint; wenn auch die Harmonik Wagners oft nicht ganz
einwandsfrei, zu verwickelt, zu gesucht und seine Theorie
fehlerhaft ist; wenn auch das Resultat seiner enormen Ar-
beit später der Vergessenheit anheimfallen und im verlas-
senen Bayreuther Theater einen ewigen Schlaf schlafen
sollte,— so bedeutet der „Ring des Nibelungen" dennoch
ein welterschütterndes Ereigniss, ein epochemachendes
Kunstwerk"....
Moralisch und physisch erschöpft, unausgesetzt an sein
weiteres Schicksal denkend, und sich mit der festen Ueber-
zeugung herumtragend, dass es „nun nicht länger so blei-
ben könne^^ verliess Peter Iljitsch das Ausland und reiste
von Wien aus direkt nach Werbowka.
Dort harrten seiner ein fröhliches Wiedersehen mit den
Verwandten und die id3dlischen Freuden des Landlebens.
Das friedliche Familienleben Dawidows war ganz dazu
— 337 —
angethan, Peter Iljitsch zu trösten und zu beruhigen, be-
festigte in ihm aber auch einen gewissen Entschluss, in
welciiem seine krankhafte Einbildung die einzige „Rettung"
erbhckte, welcher aber in Wahrheit der Ausgangspunkt
noch weit grösserer Leiden und Qualen werden sollte. Am
19. August schrieb mir Peter Iljitsch aus Werbowka:
„Ich habe augenblicklich einen sehr kritischen Moment
meines Lebens zu überwinden. Gelegentlich werde Dir
ausführlicher darüber schreiben, einstweilen will ich Dir
nur mitteilen, dass ich beschlossen habe, zu heiraten. Das
ist unwiderruflich"...
Die chronologische Reihenfolge der Schöpfungen Pe-
ter Iljitsch's in dieser Saison ist folgende:
i) Op. 30. Quartett № 3 (Es-dur) für zwei Violinen,
Bratsche und Violoncello. Dem Andenken F. Laub's ge-
widmet. Der erste Entwurf entstand Anfang Januar 1876
in Paris. Beendet — laut Vermerk auf dem Manuscript — am
18. Februar 1876. Zum ersten Mal aufgeführt am 18. März
desselben Jahres im Konzert Hrimaly's. Verlag Jurgenson.
2) Op. 20. „Der Schwanensee", Ballet in vier Aufzü-
gen. Begonnen im August 1875, beendet Ende Mcärz 1876.
Verlag Jurgenson. Erstaufführung im Moskauer Grossen
Theater am 20. Februar 1877.
Der Inhalt des Ballets ist folgender:
Der junge Ritter Siegfried ist heiratsfähig, sein Herz,
jedoch, hat noch keine Auserwählte gefunden.
Seine Mutter befiehlt ihm, eine Wahl zu treffen und
veranstaltet zu diesem Zweck ein Fest. Am Vorabend der
Brautschau erblickt Siegfried einen Schwärm Schwäne und
begiebt sich mit seinen Freunden auf die Schwanenjagd.
Die Schwäne, die er gesehen hat, sind aber verwandelte
Jungfrauen: die Prinzessin Odetta mit ihren Gespiehnnen.
Der böse Geist hat sie beschworen, des Tages in Schwa-
nengestalt umherzufliegen, und nur des Nachts Menschen-
gestalt anzunehmen. Siegfried erblickt Odetta und ver-
liebt sich in sie. Sie klagt ihm ihr trauriges Schicksal, vor
welchem sie nur durch die Liebe und Treue eines reinen
Herzens gerettet werden kann. Siegfried will ihr Retter
sein. Odetta gemahnt ihn daran, dass sie von dem Augen-
blicke an, da er ihr untreu werden sollte, für ewig der
Macht des bösen Geistes verfallen würde. Um die Be-
freiung Odetta's zu verhindern erscheint der böse Geist
beim Fest der Brautschau und bringt seine Tochter Odil-
lia mit, der er die Gestalt Odettas verliehen hat. Siegfried
Tschaikowsky, M, W I. Tschaikowsky"s Leben. 22
- 338 -
wählt sie zu seiner Braut und wird dadurch Odetta untreu,
welche nun für ewig dem bösen Geist verfallen muss. Odetta
entrinnt aber ihrem Schicksal und wirft sich zur Nacht-
zeit, da sie in Menschengestalt ist, ins Wasser. Als Sieg-
fried seinen Irrthum gewahr wird und die Kunde von
Odetta's Tode erhält, macht er auch seinem Leben ein
Ende und ersticht sich. Die Seelen Beider vereinigen sich
in der Zauberwelt der ewigen Seligkeit.
3) Op. 37bis. „Die Jahreszeiten", zwölf Stücke für Kla-
vier. Diese wurden im Laufe der ganzen Saison, je ein
Stück in jedem Monat geschrieben. Diese Stücke sind von
dem Verleger einer Petersburger Musikzeitung bei Peter
Iljitsch bestellt worden. Kaschkin erzählt, dass Peter Iljitsch
diese Arbeit für sehr leicht und unbedeutend hielt. Um den
mit dem Verleger vereinbarten Termin für die Zustellung
eines jeden Klavierstücks nicht zu versäumen, befahl er
seinem Diener, ihn an einem bestimmten Datum jedes Mo-
nats daran zu erinnern. Der Diener führte prompt den Be-
fehl seines Herrn aus und sagte jedesmal: „Peter Iljitsch,
's wird wohl Zeit sein, die Sendung nach Petersburg abzu-
fertigen"., und Peter Iljitsch setzte sich sofort hin und
schrieb in einem Zuge das Stück fertig. Später sind diese
Stücke alle zusammen in Jurgensons Verlag übergegangen.
4) Die Uebersetzung des Textes und Komposition der
Recitative für Mozart's Oper „Figaro's Hochzeit" hat Pe-
ter Iljitsch auf Wunsch N. G. Rubinsteins gelegentlich einer
Aufführung dieser Oper durch die Schüler und Schüle-
rinnen des Konservatoriums gemacht.
In dieser Saison beschloss Peter Iljitsch seine musik-
schriftstellerische Thätigkeit. Die letzten Aufsätze behan-
delten die Trilogie Richard Wagners, sind aber ohne Ab-
schluss geblieben.
-^i^
339
XIII.
1876 — 1877-
An М. Tschaikowsky:
„Moskau, d. 10. September 1876.
....Nahezu zwei Mona-
te sind hin seit wir uns
von einander verabschie-
det hatten, mir kommen sie
aber wie mehrere Jahrhun-
derte vor.Ich habein dieser
Zeit viel an Dich gedacht,
und auch an mich: an
meine Zukunft. Das Re-
sultat meines Denkens ist
der feste Entschluss, in
den Stand der Ehe zu tre-
ten mit wem es auch sei.
In Werbowka habe ich
wundervolle vierzehn Ta-
ge verbracht, war auch in
Ussowo eingekehrt (aber
nur ungern). Habe jetzt
meine gewöhnliche Le-
bensweise wieder aufge-
nommen. Ueber die Oper
sind noch keinerlei Nach-
richten bei mir eingetro-
ffen. Weiss noch garnicht,
ob sie überhaupt in Szene
gehen wird".
Peter lljitsch Tschaikowsky im Jahre 1876.
An M. Tschaikowsky:
„Moskau, d. 17. September.
...Die Zeit vergeht farblos wie immer. In dieser Farb-
losigkeit liegt aber ein eigener Zauber. Es lässt sich gar-
nicht in Worte fassen, wie süss jenes Gefühl der Ruhe ist,
jenes Wohlbehagen — fast möchte ich sagen Glück — wel-
ches ich in meiner kleinen gemütlichen Wohnung empfinde,
wenn ich abends heimkomme und ein Buch zum Lesen in
die Hand nehme. In diesen Augenblicken hasse ich, wahr-
— 340 —
scheinlich nicht minder als Du, jene schöne Unbekannte,
welche mich zwingen wird, meine Lebensweise zu verän-
dern. Fürchte nicht, ich will mich in dieser Sache durchaus
nicht beeilen; Du kannst sicher sein, dass ich dabei sehr
vorsichtig und mit Ueberlegung zu Werke gehen werde.
Seit meiner Rückkehr habe ich noch garnichts, oder
fast garnichts komponiert. Es beunruhigt mich ein wenig
der Umstand, dass ich bis jetzt noch keine Nachricht über
den j.Wakula" habe. Ob schon Proben gewesen sind, ob
und wann er aufgeführt werden soll — Niemand schreibt
mir darüber. Aber selbst wenn der „Wakula" nicht gege-
ben werden sollte, so werde ich es mit der grössten See-
lenruhe hinnehmen. Ja, ich bin ein grosser Philosoph
geworden!"
An A. Tschaikowsky:
„20. September.
Toly, ich sehne mich sehr nach Dir. Es quält mich der
Gedanke, dass ich Dich während Deines Aufenthaltes in
Moskau nicht zärtlich genug behandelt habe. Sollten Dir
ebenfalls ähnliche Gedanken kommen, so wisse (Du weisst
das übrigens schon), dass der Mangel an Zärtlichkeit meiner-
seits durchaus nicht gleichbedeutend mit Mangel an An-
hänglichkeit und Liebe ist. Ich ärgerte mich nur über mich
selbst, und zwar ärgerte ich mich darüber, dass ich wohl
fühlte, wie ich Dich belog, als ich Dir sagte, dass ich vor
einem bedeutsamen Wendepunkt meines Lebens stehe. Und
das ist nicht wahr: noch stehe ich nicht vor diesem Wen-
depunkt, ich denke nur oft an ihn und warte auf Etwas,
was mich zum Handeln anspornen könnte. Einstweilen,
jedoch, üben die stillen Abende in meinem gemütlichen
Heim, die Ruhe und Einsamkeit — ich muss es gestehen —
einen grossen Reiz auf mich aus. Es fröstelt mich gera-
dezu, wenn ich daran denke, dass ich das Alles aufgeben
muss. Und doch muss es geschehen"!...
An N. A. Rimsk3^-Korsakoff:
„Moskau, d. 29. September 1876.
Lieber Freund N. A., nachdem ich Ihren Brief durch-
gelesen ging ich sofort zu Jurgenson und fragte ihn we-
gen des Quartetts. Folgendes hat er mir geantwortet: im
Sommer ist er in Amerika gewesen; während seiner Ab wesen-
— 341 —
heit soll im Geschäft ein solcher Chaos geherrscht haben,
dass er bis Heute die Ordnung noch nicht wieder her-
stellen kann. Dieser Umstand und auch noch der, dass
sich bei ihm sehr viele Manuscripte für den Druck ange-
sammelt haben, dient ihm als Entschuldigung dafür, dass
sich die Herausgabe Ihres Quartetts verzögert hat. Um
ganz aufrichtig zu sein will ich Ihnen Etwas erzählen,
was die Langsamkeit Jurgensons am besten erklärt. Als
Sie im vorigen Jahr die Stimmen Ihres Quartetts an Ru-
binstein geschickt hatten, wurde es eines Tages von un-
serer Quartettvereinigung in Gegenwart Jurgensons durch-
gespielt. Nun hat Ihr Quartett aber den vier Herren gar-
nicht gefallen und sie sprachen Jurgenson ihr Erstaunen
darüber aus, dass er ein Werk verlegen wollte, welches
bestimmt schien, der Vergessenheit anheimzufallen. Das
hat wahrscheinlich den Eifer unseres Verlegers etwas ab-
gekühlt. In der bevorstehenden Serie wird das Quartett
w^ahrscheinlich zur Aufführung kommen und ich glaube,
dass die Herren Quartettgenossen ihre vorjährige Meinung
zurücknehmen werden, sobald das Werk von ihnen besser
kennen gelernt sein wird. Ich bin sogar überzeugt davon,
da ich aus eigener Erfahrung weiss, wie sehr Ihr Quartett
bei näherer Bekanntschaft gewinnt. Der erste Satz ist ein-
fach köstlich und ideal in der Form. Er kann als Muster
für die Reinheit des Styls gelten. Das Andante ist etwas
trocken, aber gerade in dieser Trockenheit sehr charak-
teristisch — als Reminiscenz aus der Zeit der Zöpfe. Das
Scherzo ist sehr lebendig, pikant und muss sehr schön
klingen. Was das Finale anbelangt, so muss ich offen ge-
stehen, dass es mir garnicht gefällt, obwohl ich zugebe,
dass es mir gefallen kann sobald ich es zu hören bekom-
men werde, und dass ich dann das so aufdringliche r3't-
mische Motiv nicht mehr so fürchterlich unverdaulich fin-
den werde. Sie wissen, dass ich Ihren jetzigen Zustand
für ein Uebergangsstadium halte; es gährt noch Alles in
Ihnen und Niemand weiss, was Sie zu erreichen im Stande
sind. Ich glaube, dass mit Ihrem Talent und Ihrem Cha-
rakter kolossale Resultate zu erzielen wären. Wie gesagt,
der erste Satz ist ein Cluster von mädchenhafter Reinheit
des St3'ls. In ihm steckt Etwas mozartisch Schönes und
Ungezwungenes.
Sie fragen, ob es wahr sei, dass ich ein drittes Quar-
tett geschrieben habe. Es ist wahr. Im vorigen Winter,
nach meiner Rückkehr von der ausländischen Reise habe
— 342 —
ich es erzeugt. Es enthält ein Andante fimebre, welches
einen grossen Erfolg gehabt hatte, so dass das Quartett
im Laufe von vierzehn Tagen drei Mal öffentlich gespielt
worden ist. In dieser Thatsache liegt der Grund dafür, dass
Jurgenson sich mit meinem Quartett mehr beeilt hat,^es
wird, nämlich, schon gedruckt".
An A. Dawidowa:
„6. Oktober.
Bitte mache Dir nur keine Sorgen in Betreff meiner
Heirat, mein Engel. Vor allen Dingen ist die Sache gar-
nicht so eilig: vor dem nächsten Jahr soll's nicht gesche-
hen. Im Laufe der nächsten Monate will ich nur Umschau
halten und mich ein wenig für den Ehestand vorbereiten,
welchen ich aus vielerlei Gründen für mich von Notwen-
digkeit halte.
Sei versichert, dass ich mich nicht unvorsichtigerweise
in den Abgrund einer unglücklichen Verbindung stürzen
werde".
An M. Tschaikowsky:
„14. Oktober.
Soeben erst habe ich eine neue Komposition vollen-
det: die symphonische Fantasie über „Francesca da Rimini".
Ich habe mit Liebe daran gearbeitet und glaube daher,
dass mir die Liebe gut gelungen ist. Was den Wirbelsturm
anbelangt, so könnte er, vielleicht, der Zeichnung Dores
etwas besser entsprechen; er ist mir nicht ganz so gelun-
gen, wie ich ihn eigentlich haben wollte. Uebrigens ist ein
richtiges Urteil über dieses Werk unmöglich solange es
noch nicht instrumentiert und gespielt ist. Ueber den „Wa-
kula" habe ich noch keine positiven Nachrichten, weiss
nur, dass er allmälich vorbereitet wird. Ich nehme jetzt
täglich kalte Wannenbäder, wie Toty. Du glaubst garnicht,
wie erfrischend sie auf m.ich wirken. Ich habe mich noch
nie so wohl gefühlt! Diese Bäder haben sicher auch auf
meine Schreiberei Einfluss. Wenn in „Francesca" etwas
Frisches und Neues vorhanden ist, so ist das in hohem
Maasse dem W^asser meiner Bäder zu verdanken".
An A. Tschaikowsky:
„14. Oktober.
Schreibe mir, wie es um den „Wakula" bestellt ist.
Ich habe garkeine Ahnung davon und weiss nicht, wann
— 343 —
ich nach Petersburg kommen soll. Ich arbeite viel: besorge
die Korrekturen verschiedener Kompositionen (darunter
das dritte Quartett) und schreibe mit Eifer an der „Fran-
cesca".
An E. Näprävnik:
„i8. Oktober.
Verehrter E. F., soeben habe ich in einer Petersbur-
ger Zeitung gelesen, dass Sie für eines der bevorstehen-
den S3miphoniekonzerte die Tänze aus meiner Oper „ Wa-
kula" in Aussicht genommen haben. Würden Sie es, viel-
leicht, möglich machen können, anstatt dieser Tänze meine
neue symphonische Dichtung „Francesca da Rimini" auf-
zuführen? Ich bin gerade mit der Instrumentation dieses
Werkes beschäftigt und könnte die Partitur in zwei bis
drei Wochen fertigstellen. Es wäre mir gewiss nie einge-
fallen, Ihnen mein neues Werk aufzuhalsen, wenn ich nicht
gelesen hätte, dass mein Name im Programm bereits ent-
halten ist. Da Sie nun einmal so gut gewesen sind, mir
einen kleinen Raum in Ihren Konzerten zu bewilligen, so
hoffe ich, dass Sie auf meinen gegenwärtigen Vorschlag
eingehen werden. Ich muss Ihnen offen gestehen, dass ich
um das Schicksal meiner Oper etwas besorgt bin: habe
bis jetzt noch garkeine Nachricht, ob die Chorproben schon
ihren Anfang genommen haben. Vielleicht wollen Sie so
liebenswürdig sein, mir einige Mitteilungen in Betreff der
Aufführung des „Wakula" machen".
An A. Dawidowa:
„8. November.
Wahrscheinlich warst Du, mein Täubchen, nicht ganz
wohl als Du mir den Brief schriebest, denn es weht in ihm
ein recht melancholisches Lüftchen. In diesem Brief er-
kenne ich ein Wesen, welches dem meinigen so verwandt
ist. Ich kenne diese Melancholie nur zu gut. Auch in mei-
nem Leben giebt es Tage, Stunden, Wochen, ja Monate,
da mir Alles in Schwarz erscheint, da mich das Bewusst-
sein quält, dass mich Alle verlassen haben, dass mich
Niemand liebt. In der That lebe ich ein Leben, welches
Niemandem besonderen Nutzen bringt. Wenn ich Heute
vom Antlitz der Erde verschwinden sollte, so wäre das
für die russische Musik vieilleicht kein grosser Verlust,
gewiss aber würde Niemand dadurch unglücklich werden.
Kurz, ich lebe ein egoistisches Junggesellenleben. Ich ar-
— 344 —
beite nur für mich allein, sorge nur um mich allein. Das
ist allerdings sehr bequem, aber trocken, tot, engherzig.
Aber dass Du, die Du so Vielen unentbehrlich bist, so
Viele glücklich machst, dass Du Dich der Melancholie hin-
geben kannst — das hätte ich nie gedacht. Wie kannst Du
nur an der Liebe und Verehrung der Dich umgebenden
Menschen zweifeln? Wie wäre es denn überhaupt möglich.
Dich nicht zu lieben? Nein, es kann in der Welt keinen
andern Menschen geben, der so geliebt wird wie Du!...
Was mich anbetrifft, so wäre es lächerhch, meine Liebe
zu Dir noch in Worte zu kleiden. Wenn ich Jemanden
lieb habe, so bist Du es, Deine Familie, meine Brüder und
unser Alter. Und lieb habe ich Euch nicht weil Ihr meine
Blutsverwandten, sondern weil Ihr die besten Menschen
von der Welt seid"....
Ende Oktober kam Peter Iljitsch nach Petersburg, um
der Aufführung seines „Schmied Wakula" beizuwohnen.
Diesmal hat der Komponist an seinem Werk nicht nur
keine Enttäuschung erlebt, sondern im Gegenteil: von Probe
zu Probe gefiel ihm die Oper immer mehr, und die Hoff-
nung auf Erfolg steigerte sich. Die grosse Anerkennung,
die ihm seitens der Interpreten seines Werkes zu Teil
wurde, die begeisterten IJi"teile der Fachmänner, welche
den Klavierauszug kennen gelernt hatten, sowie Derjeni-
gen, welche Gelegenheit fanden die Proben zu besuchen,
endlich die verschwenderische Pracht, mit welcher die
Direktion das Stück ausgestattet hatte, ohne die Kosten zu
scheuen — Alles das ermutigte Peter Iljitsch sehr und er
war infolgedessen eines grossen Erfolges sicher.
Seit der ersten Vorstellung des „Opritschnik" hatte die
Popularität des Namens Tschaikowsky bedeutend zugenom-
men. Nicht nur die Musiker und die Besucher der Sym-
phoniekonzerte, sondern auch das eigentliche Publikum im
weitesten Sinne des Wortes erwarteten von ihm etwas
Besonderes. Schon lange vor dem 24. November, dem Tage
der Erstaufführung des „Schmied Wakula", waren die
Eintrittskarten bereits alle ausverkauft.
An dem Premierentage selbst herrschte im dichtgefüll-
ten Zuschauerraum des Theaters die gespannteste Erwar-
tung und dank der Popularität des Komponisten — eine
gewisse Voreingenommenheit für das Werk.
Die Aufführung war sehr sorgfältig vorbereitet: die Mit-
wirkenden bemühten sich, Ihr Bestes zu geben. Nach der
Ouvertüre wurde applaudiert. Desgleichen nach der ersten
— 345 —
Szene. Damit schien aber die Begeisterung des Publikums
ihr Ende erreicht zu haben, denn alle folgenden Nummern —
mit Ausnahme des Hopak — riefen fast garkeine Beifallsbe-
zeigungen hervor. Die Oper gefiel offenbar nicht. Ich erin-
nere mich, wie selbst Leute, welche Peter Iljitsch gut ge-
sinnt waren, mir gegenüber ihre Enttäuschung zu verber-
gen suchten und in allgemeinen Phrasen der Hoffnung
Ausdruck gaben, dass der Erfolg noch kommen könnte.
Einer meiner Freunde war aber weniger delikat und sagte
mir geradeheraus, dass Peter Iljitsch ihn betrogen hätte,
dass er gekommen sei, sich zu amüsieren, und statt dessen
sich langweilen müsste. Dieses aufrichtige Bekenntniss cha-
rakterisiert auf das treffendste die Stimmung des Publi-
kums: die Leute waren gekommen, um sich zu amüsieren,
d. h. Etwas Glänzendes, Humoristisches, Lustiges zu sehen
und zu hören, sie erwarteten Alle Etwas in der Art des
„Barbier von Sevilla" oder des „Schwarzen Domino", an-
statt dessen setzte man ihnen ganz etwas Anderes vor,
was an sich vielleicht garnicht einmal hässlich war, jedoch
ihren Erwartungen nicht entsprach. Es w^aren eben Alle
enttäuscht. Trotzdem wurde der Autor zuletzt viele Male
hervorgerufen, wenn auch nicht ohne Opposition seitens
einer kleinen, aber energisch zischenden Schaar.
Peter Iljitsch selbst erzählt über die Aufführung des
„Wakula" in einem Brief an S. Tanejew wie folgt: „Wa-
kula ist glänzend durchgefallen. Die ersten zwei Aufzüge
fanden ein grabesstilles Auditorium. lieber die Szene zwi-
schen Golowa und Djak wurde viel gelacht, aber nicht
applaudiert. Nach dem dritten und vierten Akt wurde ich
einige Male hervorgerufen, gleichzeitig aber auch von einem
Teil des Publikums ausgezischt. Die zweite Vorstellung
war etwas besser, trotzdem aber kann man sagen, dass
die Oper nicht gefallen hat und gewiss keine sechs Vor-
stellungen erleben wird".
Bemerkenswert ist, dass in der Hauptprobe Alle, selbst
C. Cui der Oper einen glänzenden Erfolg prophezeiht hat-
ten. Um so schwerer und bitterer war für mich der Sturz.
Ich muss offen gestehen, dass mich das sehr entmutigt hat,
Ueber die Ausstattung und Inszenierung der Oper kann
ich mich nicht beklagen. Alles war auf das Peinlichste,
auf das Sorgfältigste vorbereitet und einstudiert.... Kurz,
ich bin allein der Schuldige. Die Oper ist mit Nebensa-
chen, mit Details überfüllt, dabei zu dick instrumentiert
und in gesanglicher Hinsicht zu wenig wirkungsvoll. Jetzt
— 34б —
erst habe ich es begriffen, weshalb Sie Alle damals, als
ich Ihnen die Oper bei Rubinstein vorspielte, so kühl
blieben. Der Styl des „Wakula" ist kein richtiger Opern -
styl — es fehlt der Schwung, die Breite".
Wie damals den „Opritschnik", so hatte Peter Iljitsch
auch jetzt den „Wakula-' nicht ganz richtig beurteilt. Im
Vergleich zu den Erwartungen, welche er auf seine Oper
gesetzt hatte bedeutete die erste Vorstellung allerdings
ein Fiasko. Wenn man aber in Erwägung zieht, dass bei
den darauffolgenden Vorstellungen das Publikum schon
mehr Gefallen am Werk fand, sodass garnicht mehr ge-
zischt wurde, und dass die Oper bis zum Jahre 1881 sieb-
zehn Aufführungen erlebte, so muss man den Erfolg des
„Wakula" zum Mindesten einen mittelmässigen nennen.
Die Urteile der Presse über das neue Werk waren
diesmal ziemlich gleichmässig. Niemand hat es „in den
Himmel gehoben", aber auch Niemand verdammt. Dem
Komponisten haben mehr oder weniger Alle ihre Achtung
ausgesprochen, mit seinem Werk aber sind sie Alle unzu-
frieden geblieben.
Laroche sagt: „In der Musik der neuen Oper breitet
sich die Erfindung oft über das Maass des Notwendigen
hinaus, sie wird umfangreicher, grösser als der Charakter
der Situation es erfordert. Die Erfindungsgabe zieht
den Komponisten gewissermaassen mit sich und führt ihn
oft auf Abwege; sie lässt ihn die eine oder andere Phrase
länger oder kürzer machen, lauter oder leiser, schneller
oder langsamer, als es die Handlung verlangt. Diese
Abwesenheit des Sinnes für Bühnenwirkung im Kompo-
nisten kühlt sehr ab, obwohl die musikalischen Gedanken
selbst und ihre Entwickelung, ungeachtet des Drama's, sehr
schön sind". Ferner sagt Laroche, dass das Orchester zu
sehr über dem Gesang dominiert, welchen Umstand er
dem „tadelnswerten Bestreben" zuschreibt, „in die Musik
jenen ungeheuren Schädhng hineinzutragen, welcher ,, dra-
matische Wahrheit" genant wird. Wenn das natürliche
Gefühl", setzt der Kritiker fort, — ,,den Komponisten vor
die abgerundeten Formen der früheren Zeiten stellt, so
kommt dann in der Regel der selbstbewusste Willen, die
Tendenz und — der Komponist folgt diesen Beiden auf dem
Wege zum sogenannten ,, modernen Realismus". Dieser
aber hat die Eigenschaft, keine zwei Worte ohne Ueber-
treibung zu sagen: die unbedeutendste Expedition kann
er nicht ohne schwere Artillerie ausführen, um eine kleine
— 347 —
Schaar Banditen zu zersprengen bedarf er ganzer Armee-
corps".
Auch C. Cui spricht sich dahin aus, dass das Orche-
ster die Sänger überwältigt, dass der symphonische Styl
gegenüber dem vokalen bevorzugt wird, und fährt fort:
,,Die Musik ist fast durchweg schön und edel in thema-
tischer sowie harmonischer Beziehung. Es sind wunder-
volle Stellen zu verzeichnen, welche einen grossen Genuss
zu bieten wohl geeignet wären, ivenn die Sänger scluveigen
nwllten, denn der Gesang, der Text, die Bühne stören nur...
Die Musik entspricht garnicht der Handlung. Abgesehen
von den Offenbach'schen Karrikaturen und Schwänken
kenne ich keinen andern Text, der so lustig, so humoris-
tisch und lebendig wäre, wie der „Wakula". Herr Tschai-
kowsky hat es aber fertig gekriegt, diesen Text mit einer
fast durchgängig melancholischen, elegischen, sentimenta-
len Musik zu versehen.
Man höre nur und staune: im „Wakula" herrschen
Moll-Tonarten und Moder ato-Tempi vor!"...
Anfang Dezember kehrte Peter Iljitsch nach Moskau
zurück.
An S. Tanejew:
„2. Dezember 1876.
Lieber S., Gestern bin ich aus Petersburg, wo ich drei
Wochen verbracht habe, wieder zurückgekehrt....
Erst wollen wir von Ihnen reden. Ich kenne keine ein-
zige Komposition (mit Ausnahme einiger Werke Beetho-
vens), von der man sagen könnte sie sei vollkommen. Auch
Ihr schönes Konzert hat seine Schwächen. Wenn Sie aber
Alles das beherzigen und acceptieren wollen, was man
Ihnen rathet und sagt, so werden Sie das Konzert niemals
zu Ende bringen. Aus diesem Grunde möchte ich Ihnen
vorschlagen, nur diejenigen Rathschläge A. Rubinsteins zu
beachten, welche der Aussenseite Ihrer Komposition gelten,
d. h. versuchen Sie, dem ersten Satz etwas mehr vom
virtuosen Element beizugeben, ohne den ganzen Aufbau
wesentlich zu verändern. Das Andante kann bleiben wie
es ist: es wird auch volle Würdigung erfahren, wenn sie
ihm ein schneidiges, glänzendes Finale folgen lassen wer-
den, welches dem Pianisten Gelegenheit bieten soll, sich
nach Herzenslust auszutollen. Jedenfalls können Sie sicher
sein, dass trotz mancher äusserlichen Mängel Ihrer bisher
-348 -
verfassten Werke es keinem Musiker einfallen wird, Ihnen
ein starkes und S3anpatisches Talent abzusprechen. Also
bitte lassen Sie sich durch Nichts beeinflussen und gehen
Sie sofort an die Komposition des Finale.
Ich habe hier in Moskau die Nachricht erhalten, dass
mein „Romeo" in Wien ausgepfiffen worden sei. Sprechen
Sie aber nicht darüber, sonst wird Pasdeloup am Ende
einen Schreck kriegen; ich habe, nämlich, gelesen, dass er
meine Ouvertüre auch machen will.
Ja ja, mein lieber Freund, es giebt traurige Momente
im Leben!
„Franceska" ist schon lange fertig und wird jetzt ab-
geschrieben".
Hans Richter, welcher die Wiener Aufführung des „Ro-
meo" geleitet hatte, behauptet, dass man den relativen
Misserfolg des Werks durchaus nicht als Fiasko auffassen
kann. Im Konzert selbst wurden, allerdings, einige Zischlaute
hörbar, und einige Tage darauf erschien in der „Neuen
freien Presse" ein von Hanslick verfasster Schmähartikel,
gleichzeitig gaben aber auch Viele grosses Interesse, ja
Begeisterung gegenüber dem neuen russischen Werk zu
erkennen.
Kaum hatte Peter Iljitsch die bittere Wiener Pille ver-
schluckt, als er von Tanejew aus Paris eine nicht minder
unangenehme Nachricht erhielt.
Tanejew an Tschaikowsky:
„Paris, d. 28. November 1876.
Hochverehrter Peter Iljitsch, soeben bin ich aus dem
Konzert Pasdeloup's gekommen, wo Ihre Romeo-Ouver-
ture auf das grässlichste verhunzt worden ist Die Tempi
waren alle viel zu schnell, sodass man die drei Noten
- garnicht mehr unterscheiden konnte. Alles
war verwischt. Das Seitenthema spielten die Bläser so,
alswenn sie blos die Harmonie zu unterstützen hätten: man
war geradezu versucht zu glauben, sie wüssten nicht, dass
sie das Thema zu spielen hatten. Ganz besonders schlecht
wurde diese Stelle vorgetragen:
■^Шт
:t:
— 349 —
nicht ein einziges crescendo, niclit ein einziges diminuendo —
alles gleichmässig. Bei der Wiederholung des Nachsatzes
in D-dur
T
jH=£=j^ibj=J^
:t
=Sr=
-•/
bliesen die Fagotte ihre Qjjinte im Bass so nachdrücklich,
dass sie Alles übrige verdeckten. Direkt falsche Noten
kamen zwar nicht vor, aber das Stück hörte sich trotzdem
ganz miserabel an. Pasdeloup hat es, offenbar, garnicht
verstanden und weiss nicht, wie so Etwas gespielt werden
muss. Kein Wunder, dass die Ouvertüre dem Publikum
nicht gefallen hat und sehr kühl aufgenommen worden ist.
Mir war das Alles so peinlich, alswenn ich selbst im Kon-
zert gespielt hätte. Schuld daran ist selbstverständlich nicht
das Publikum, sondern einzig und allein Pasdeloup. Diese
Ouvertüre ist für das grosse Publikum garnicht so unver-
ständlich: sie muss nur gut gespielt werden.
Ich habe bei Saint-Saens Ihr Konzert vorgespielt. Es
gefällt Allen sehr. Ueberhaupt interessieren sich die hiesi-
gen Musiker sehr für Ihre Kompositionen".
An S. Tanejew:
„Moskau, d. 5. Dezember 1876.
Lieber Serge, Ihren Brief habe soeben erhalten. Glück
und Unglück kommen, bekanntlich, immer zusammen, und
ich wundere mich ganz und gar nicht, dass meine Ouver-
türe ebenso durchgefallen ist, wie jetzt alle meine Kom-
positionen allenthalben durchfallen. Ihr Brief hat mich aber
auf eine Idee gebracht. Im vorigen Jahre hatte mir Saint-
Saens den Rat gegeben, in Paris ein Konzert mit eignen
Kompositionen zu geben. Er sagte, dass ein derartiges
Konzert am besten im Chätelet mit dem Orchester Co-
lonne's zu veranstalten wäre und nicht besonders teuer
kosten würde. An diese Idee klammere ich mich jetzt und
möchte sie in Ausführung bringen. Wollen Sie nun so gut
sein, lieber Freund, und Saint-Saens in dieser Angelegen-
heit einenBesuch machen, um das Nähere in Erfahrung zu brin-
gen: i) ob er seinen Rat auch Heute noch aufrecht erhält?
2) wieviel ungefähr das Vorgnügen kosten könnte? 3) wann
die geeignetste Zeit für so Etwas wäre? — Ich bin sogar nicht
abgeneigt, selbst zu dirigieren. Das erscheint Ihnen, viel-
leicht, merkwürdig, aber ich bin wirklich entschlossen, es
— 350 —
zu thun, gerade weil es Paris ist und nicht Moskau, wo
man mich genau kennt und wo die Meinung, dass ich ein
schlechter Dirigent sei, schon zu sehr um sich gegriffen
hat. Uebrigens ist die Frage, ob ich oder Colonne diri-
gieren wird, nebensächhch. Die Hauptsache hegt darin,
dass ich anwesend sein möchte, um zu bestimmen was und
wie gespielt werden muss. Das Notenmaterial würde ich,
selbstverständlich, mitbringen. Ich würde folgendes Pro-
gramm vorschlagen: i) Ouvertüre „Romeo und Julie", 2)
Andante aus dem Streichquartett K° i, vom ganzen Streich-
orchester gespielt, 3) Einige Lieder, vorgetragen von Jen-
galitschewa, Panajewa (eine ausgezeichnete Sängerin, eine
Schülerin Viardot's) oder gar von derViardot selbst, die meine
Lieder bereits öffenthch gesungen hat. 4) Klavierkonzert,
vorgetragen von S. Tanejew. 5) ,, Sturm". 6) Einige kleine
Klavierstücke (Tanejew). 7) Das Finale aus der zweiten
Symphonie, und 8) Tänze aus dem „Opritschnik" (sie sind
zwar trivial, aber effektvoll)"....
Hier möchte ich, von der chronologischen Reihenfolge
abweichend, die Antwort Tanejew's und die folgenden
Briefe Peter Iljitsch's in Betreffjener Angelegenheit bringen.
S. Tanejew an P. Tschaikowsky:
,, Paris, d. 16. Dezember 1876.
Heute Vormittag sprach ich Saint-Saens. Das Re-
sultat meiner Unterredung ist folgendes: Er ratet Ihnen
jetzt mehr denn je, ein Konzert zu geben. Der Grund da-
von— die Aufführung des ,, Romeo". Er sagt, dass die Mu-
siker, welche er nach dem Konzert gesprochen, Ihre Ouver-
türe sehr gelobt hätten, dass die Aufnahme seitens des
Publikums durchaus keinen Misserfolg bedeute (ich hatte
Ihnen nicht geschrieben, dass nach der Ouvertüre einige
Pfiffe laut wurden, welche aber durch Händeklatschen
zum Schweigen gebracht wurden); jedenfalls wäre es viel
schlimmer gewesen, wenn das Publikum gleichgiltig geblie-
ben wäre. „Cela Га pose, cette ouverture", sagt er. Den Saal
des Chätelet können Sie nicht bekommen; man muss das Kon-
zert also im Saal Herz mit dem Colonne-Orchester geben.
Kostenpunkt: Saal, Orchester, Annoncen, kurz Alles, inclu-
sive zwei Proben, — 1500 Francs. Zwei Proben sind aber
zu wenig, wir brauchen wenigstens drei. Dann würden
sich die Ausgaben auf maximum 2000 Francs belaufen.
Die Orchestermusiker erhalten 5 Eres, für jede Probe und
— 351 —
lo Frcs. für das Konzert, Die günstigste Zeit ist Januar,
Februar und März".
An S. Tanejew:
„Moskau, d. 25. Dezember 1876.
An Colonne habe ich geschrieben. Wenn er sich ein-
verstanden erklärt, mir sein Orchester zur Verfügung zu
stellen, dann zweifle ich nicht, dass das Konzert zustande
kommen wird. Ein Tausend Rubel werden wohl nicht
unerschwinglich sein und ich hoffe, sie zu finden. Ich bin
erstaunt über die Billigkeit des Orchesters und des Saals.
Es freut mich, dass Saint-Saens zuredet. Sobald ich von
Colonne eine zusagende Antwort erhalte, werde ich ohne
Zügern die zur Verwirklichung meiner Absicht notwendi-
gen Schritte unternehmen und vor allen Dingen den Kor-
respondenten Jurgensons, Herrn D. bitten, das Arrangement
des Konzerts zu übernehmen oder mir Jemanden zu nen-
nen, der mir für ein Honorar diesen Dienst zu leisten
geeignet wäre. Dann werde ich mich nach einer Sängerin
umsehen und Sie bitten, in diskreter Weise in Erfahrung
zu bringen, ob Viardot geneigt wäre zwei oder drei Lie-
der von mir zu singen. Auch werde ich Sie bitten, Frl.
Jengalitschewa einen Besuch zu machen und sie zu bitten,
in meinem Konzert mitzuwirken. Ich bin überzeugt, dass
Colonne besser als ich den Taktstock zu schwingen ver-
stehen wird, möchte aber dennoch nicht ganz unthätig
bleiben und wenigstens Etwas von den leichteren Stücken,
z. B. das Finale der 2. S3nnphonie selbst dirigieren. Was Sie
anbetrifft, so möchte ich Sie bitten, meine Variationen etwas
zu studieren und dann noch ein Stück nach eigner Wahl, —
es wird Ihnen doch gewiss nicht zu viel Mühe machen!"
An A. Tschaikowsky:
„ Bei mir haben sich viele Sorgen angehäuft: ausser
meiner Arbeit beschäftigt mich Tag und Nacht der Ge-
danke an eine Konzertreise nach Paris im März. Alle ra-
ten mir dazu. Zu diesem Konzert brauche ich nicht mehr
und nicht weniger als 2000 Rubel; aber wo hernehmen?
Ich habe schon alle meine Dispositionen getroffen, sodass —
falls ich kein Geld auftreibe — das Konzert abgesagt wer-
den muss"...
An S. Tanejew:
„29. Januar 1877, Moskau.
Lieber S., mein Konzert wird nicht zustande kommen.
— 352 —
Trotz der riesenhaftesten Anstrengungen und grössten Hoff-
nungen ist es mir nicht geglückt, die nötige Summe auf-
zutreiben.
Ich bin ganz in Verzweiflung.
Mehr kann ich Heute nicht schreiben. Verzeihen Sie,
dass ich Ihnen so viel Mühe mit meinem missglückten
Plan gemacht habe. Dank für den Brief".
Ungeachtet der Bitterkeit, welche der relative Misser-
folg des „Wakula" in Peter Iljitsch's Seele hinterlassen
hat; ungeachtet der vielen andern Hiebe, w^elche sein künstle-
rischer Ehrgeiz über sich ergehen lassen musste, seit er
wieder in Moskau war, verlor er dennoch nicht einen
Augenblick seine Energie und den Glauben an sich. Von
einer derartigen Verzweiflung, wie sie nach der Auffüh-
rung des „Opritschnik" Peter Iljitsch ergriffen hatte, war
diesmal keine Rede. Ganz im Gegenteil: während er durch
das Schicksal seines „liebsten Sprossen" — wie er den „Wa-
kula" zu nennen pflegte — und durch die verunglückten
Komponistendebüts in Wien und Paris tief betrübt war,
während er gleichzeitig auch von einem ph3^sischen Lei-
den— einer Magenkrankheit — heimgesucht wurde, hat er in
dieser Zeit — wie wir eben gesehen haben — nicht nur sehr
grosses Interesse für die Propaganda seiner Werke im
Ausland bekundet, sondern auch in sehr kurzer Zeit seine
„Variationen über ein Rokoko-Thema" für das Violoncello
mit Orchesterbegleitung komponiert, und stand ausserdem
mit W. Stassow wegen eines Operntexbuches — „Othello" —
in Unterhandlungen. Die Wahl dieses Vorwurfs stammt
von Peter Iljitsch selbst. Als ihm Stassow auseinanderzu-
setzen begann, das dieses Sujet nicht für ihn passend sei,
da wollte Peter Iljitsch nichts davon hören und verlangte
energisch gerade diese Tragödie Shakespeare's. Mitte De-
zember erhielt er denn auch von Stassow den ersten Ent-
wurf dazu und begann, ihn eifrig zu studieren. Dabei blieb
es aber auch. Am 30. Januar schrieb ihm Stassow: „Ma-
chen Sie was Sie wollen, aber den Othello habe ich bis
Heute noch nicht fertig; hängen Sie mich, meinetwegen,
auf, aber— ich bin unschuldig". Uebrigens hatte auch Pe-
ter Iljitsch selbst die Lust verloren, denn in seinem Brief
an Stassow macht er diesem Vorwürfe, dass er sich nicht
bemühen will, einen andern Stoff zu finden.
In jener Zeit fühlte sich Peter Iljitsch seelisch so wohl
und war so arbeitslustig, dass er sein ursprüngliches Vor-
haben, die Weihnachtsferien in Kamenka zu verbringen,
aufgab und in Moskau blieb.
— 353 —
An А. Dawidowa:
„23. Dezember 1876.
Schrecklich viele Menschen sind angereist gekommen:
ich werde geradezu in Stücke gerissen. Und ich Schafskopf
hatte geglaubt, in den freien Tagen recht viel arbeiten zu
können. Oh, wie wird es wohl bei Euch in der neuen Be-
hausung köstlich und gemütlich sein! Mit welcher Sehn-
sucht denke ich daran! Auch die Erinnerungen an das vo-
rige Jahr necken mich sehr: gerade in dieser Zeit war ich
mit Modest auf der Reise....
Graf L. N. Tolstoi war vor einiger Zeit hier. Er hat
mich besucht und ich bin stolz, sein Interesse wachgeru-
fen zu haben. Aber auch meinerseits bin ich ganz begei-
stert von seiner idealen Person".
Schon seit langer Zeit — seit dem ersten Erscheinen
der Werke Tolstoi's — zählte Peter Iljitsch zu den glühend-
sten Verehrern dieses Schriftstellers, und diese Verehrung,
wuchs nach und nach zu einem richtigen Kultus des Na-
mens Tolstoi an. Es war Peter Iljitsch eigen. Alles das,
was er gern hatte, was er aber nicht von Angesicht zu
Angesicht kannte, in seiner Phantasie bis ins Ungeheuer-
liche auszumalen; so stellte er sich denn auch den Schöp-
fer des „Krieg und Frieden^'- nicht als einen gewöhnlichen
Menschen vor, sondern hielt ihn — nach seinen eignen Wor-
ten— für einen „Halbgott". Zu jener Zeit war die Persön-
lichkeit L. N. Tolstoi's, seine Biographie, sein privates Le-
ben—ja, selbst seine Bilder — der grossen Masse noch fast
garnicht bekannt, und dieser Umstand trug auch sehr dazu
bei, dass Peter Iljitsch jenen gewaltigen Mann sich als
einen Zauberer und Hexenmeister ausmalte. Und siehe da,
dieses dämonische Wesen, dieser räthselhafte Mann liess
sich von seiner himmlischen Höhe herab und bot als Er-
ster Peter Iljitsch die Hand.
Zehn Jahre später (1886) beschreibt Peter Iljitsch in
seinem Tagebuch _ die Begegnung mit Tolstoi wie folgt:
„Als ich die Bekanntschaft Tolstoi's machte, hatte ich eine
namenlose Furcht vor ihm. Es schien mir, dass dieser grosse
Herzenkenner nur einen Blick auf mich zu werfen brauchte,
um in die geheimsten Winkel meiner Seele zu dringen.
Seinem Auge konnte— so glaubte ich — auch nicht das ge-
ringste Schlechte meines Innern verborgen bleiben, sodass
es müssig wäre, ihm nur die guten Seiten zeigen zu wol-
len. Wenn er edel ist, dachte ich (und das muss er, selbst-
Tschnilcoualcy, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 23
— 354 —
verständlich, sein), dann wird er es — wie ein Arzt — ver-
meiden, die kranken Stellen zu berühren und zu reizen,
aber gerade daran w^erde ich erkennen, dass er Alles weiss
und Alles sieht. Ist er, dagegen, nicht allzu mitleidig, so
wird er ohne Weiteres seinen Finger in die Wunde stecken.
Es wäre für mich Beides gleich furchtbar, hi Wirklichkeit
geschah es aber ganz anders. Der grösste aller Menschen-
kenner erwies sich im Umgang mit seinen Nebenmenschen
als ein sehr einfaches, herzlich aufrichtiges, liebevolles We-
sen, welchem garnichts daran gelegen schien, jene Allwis-
senheit, welche ich so fürchtete, vor Jedermann zu beto-
nen; er scho7ite durchaus nicht die hranhen Stellen, that aber,
anderseits, wissentlich nie einem Menschenherzen iveh. Offen-
bar sah er in mir nicht das Objekt seiner Forschungen,
sondern wollte lediglich mit mir ein w^enig über Musik
plaudern, für die er sich damals sehr interessierte. Unter
Anderem gefiel er sich in der Verneinung Beethovens und
bezweifelte sehr dessen Genialität. Das ist, allerdings, ein
eines grossen Mannes unwürdiger Zug. Ein von der gan-
zen Welt anerkanntes Genie bis zum eignen Unverstand
herabzuziehen — das ist, gewöhnlich, eine Eigenschaft dum-
mer Menschen".
Nicht nur „über Musik plaudern" wollte Graf L. N.
Tolstoi mit Peter Iljitsch, sondern ihm auch das Interesse
aussprechen, welches er seinen Kompositionen entgegen-
brachte. Peter Iljitsch fühlte sich dadurch derart geschmei-
chelt, dass er N. Rubinstein bat, dem berühmten Autor zu
Ehren einen Musikabend im Konservatorium zu veranstal-
ten. An diesem Abend wurde unter Anderem auch das An-
dante aus dem D-dur-Quartett vorgetragen, bei dessen
Klängen Leo Nikolajewitsch in Thränen ausbrach. „Nie in
meinem Leben war mein Ehrgeiz so über und über be-
friedigt", schreibt Peter Iljitsch in seinem Tagebuch, —
,,nie war mein Autorenehrgeiz so beglückt wie damals, als
L. Tolstoi, neben mir sitzend, den Klängen meines An-
dante lauschte, und Thränen über Thränen seinen Augen
entflossen".
Bald nach jenem denkwürdigen Abend reiste Leo Ni-
kolajewitsch fort und schrieb an Peter Iljitsch aus Jassnaja
Poljana ') folgenden Brief:
„Lieber Peter Iljitsch, sende Ihnen die Lieder. Ich habe
sie noch einmal durchgesehen. In Ihren Händen sind sie
1) Jassnaja Poljana heisst die Besitzung L. Tolstoi's im Gouvernement Tula.
— 355 —
ein Schatz: gebrauchen Sie sie aber um Gottes Willen
nur im Mozart -Haydn'schen Sinne und nicht im Beetho-
ven-Schumann-Berlioz'schen, welcher stets nur das Uner-
wartete, das Ueberraschende sucht. Wieviel hätte ich Ih-
nen noch zu sagen! Garnichts habe ich Ihnen gesagt von
dem, was ich wollte. Es war aber auch keine Zeit dazu!
Ich genoss nur. Dieses mein letztes Verweilen in Moskau
wird für mich eine der schönsten Erinnerungen bedeuten.
Noch nie ist mir für meine literarischen Mühen ein so
schöner Lohn zu Teil geworden, als an jenem wunder-
vollen Abend. Wie nett ist doch Rubinstein! Uebermitteln
Sie ihm, bitte, noch einmal meinen herzlichsten Dank. Aber
auch all' die andern Priester der höchsten aller Künste
haben auf mich einen herrlichen Eindruck gemacht... Wem
von ihnen dürfte ich meine Schriften schicken, d. h. wer
besitzt sie nicht — von denen, die sie auch wirklich lesen
werden?
Ihre Sachen habe noch nicht angesehen, sobald ich aber
darangehe, werde ich Ihnen auch meine Meinung sagen,
ob Sie sie brauchen oder nicht, und zwar ganz dreist,
denn ich habe Ihr Talent lieb gewonnen. Auf Wiederse-
hen! Mit freundschaftlichem Händedruck
Ihr
L. Tolstoi".
An Graf L. N. Tolstoi:
„Moskau, d. 24. Dezember 1876.
Verehrter Graf! Haben Sie herzlichen Dank für die
Zusendung der Lieder. Ich muss Ihnen aufrichtig sagen,
dass dieselben von ungeübter Hand notiert sind und da-
her ihre ursprüngliche Schönheit fast ganz eingebüsst ha-
ben. Der Hauptfehler besteht darin, dass sie künstlich und
gewaltsam in einen regelmässigen Rytmus eingezwängt
worden sind. Nur die russischen Tanzlieder haben einen
gleichmässig accentuirten Takt; die Sagen haben aber mit
Tanzliedern garkeine Aehnlichkeit. Ausserdem sind die
meisten der Lieder — offenbar auch gewaltsam — im hellen
D-dur notiert, was mit der Tonalität des echten russischen
Volksliedes wiederum nicht übereinstimmt, denn dasselbe
bewegt sich überhaupt nicht in einer bestimmten Tonart; am
ehesten noch kann Letztere mit den alten Kirchentonarten
verglichen werden. Ueberhaupt können die mir von Ihnen
zugesandten Lieder keiner systematischen Bearbeitung un-
— 35б —
terworfen werden, d. h. es lässt sich nicht ein Volkslieder-
buch daraus machen, denn dazu müssten die Lieder mög-
lichst genau so notiert sein, wie sie wirklich vom Volke
gesungen werden. Das ist jedoch eine ausserordentlich
schwere Aufgabe und setzt das feinste musikalische Ge-
fühl sowie umfassende musikhistorische Kenntnisse voraus...
Ihre Lieder können aber als Material für symphonische
Arbeiten dienen, und zwar bieten sie in der That ein sehr
reichhaltiges Material, welches ich bei Gelegenheit sehr
auszunutzen gedenke.
Es freut mich sehr, dass der Abend im Konservatorium
einen schönen Eindruck auf Sie gemacht hat. Unsere Quar-
tettmänner haben aber auch wirklich so schön, wie noch
nie, gespielt. Aus dieser Thatsache müssen Sie folgern,
dass ein Paar Ohren eines so grossen Künstlers wie Sie,
den Musiker tausendmal intensiver anzuregen im Stande
sind, als Hunderte von Ohren des grossen Publikums.
Sie sind Einer jener Dichter, von denen man sagen
kann, dass nicht nur ihre Werke Einem lieb und wert
sind, sondern auch ihre Person selbst. Man fühlte es or-
dentlich, dass unsere Herren mit Lust und Hingebung
spielten: spielten sie doch für einen verehrten und gelieb-
ten Mann. Was mich anbelangt, so muss ich gestehen: es
hat mich glücklich und stolz gemacht, dass meine Musik
Sie zu rühren und hinzureissen vermochte.
Ihre Schriften sind allen Mitwirkenden bekannt, ausser
Fitzenhagen, der nicht russisch lesen kann. Ich meine aber,
dass sie Ihnen dennoch sehr dankbar sein werden, wenn
Sie Jedem von ihnen ein Werk dedicieren. Ich für mein
Teil möchte Sie um Ihre „Kosaken" bitten"....
Mit diesem Brief hat die Annäherung Peter Iljitsch's
an Graf Tolstoi ihr Ende erreicht. Merkwürdigerweise ist
dieses durchaus nicht gegen den Wunsch unseres Kom-
ponisten geschehen, wenngleich er es auch nicht absicht-
lich herbeigefüHrt hat. Aus den letzten Worten des oben
angeführten Tagebuchauszuges wird der aufmerksame Le-
ser gemerkt haben, dass die persönliche Bekanntschaft mit
Tolstoi Peter Iljitsch ein wenig enttäuscht hatte. Es war
ihm unangenehm, dass der „Beherrscher seiner Gedanken",
das Wesen, welches aus den tiefsten Tiefen seiner Seele
so viel reine und flammende Begeisterung hervorzuzaubern
verstand, manchmal „recht gewöhnliche Dinge" redete, die
dazu noch „eines grossen Mannes nicht würdig waren". Es
that Peter Iljitsch in der Seele weh, seinen Abgott in der
— 357 —
Nähe betrachtend, alle kleinen Fehler und Mängel dessel-
ben zu sehen. Er fürchtete gleichsam, den Glauben an ihn
zu verHeren und sich den Genuss an seinen Werken zu
verderben. Diesen Genuss hat er sich — wie er mir selbst
erzählte — in der That zeitweilig durch seine übergrosse
Empfindlichkeit getrübt. ,,Anna Karenina", welche gerade
in jener Zeit zu erscheinen begann (im ,,Russki Westnik"),
wurde von Peter Iljitsch in einem an mich adressierten
Brief folgendermaassen kritisiert: „Nach Deiner Abreise
habe ich „Anna Karenina" weitergelesen. Schämst Du Dich
denn garnicht, dieses empörende und gemeine Zeug, wel-
ches sich anmaasst psychologisch tief wahr sein zu wol-
len, so in den Himmel zu heben? Dass sie der Teufel hole
diese psychologische Wahrheit, wenn im Resultat Nichts
als der Eindruck einer grenzenlosen Oede übrig bleibt!"
Später jedoch, nach dem Durchlesen des ganzen Romans,
schämte sich Peter Iljitsch seines Urteils und anerkannte
das Werk als eines der bedeutendsten Schöpfungen Tol-
stoi's. In Gegenwart Tolstoi's fühlte sich Peter Iljitsch
stets sehr unfrei, und das trotz der Liebenswürdigkeit und
Einfachheit Leo Nikolajewitsch's im Umgang mit Menschen.
Aus Furcht, ihn irgendwie zu verletzen, oder ihm zu miss-
fallen, anderseits aber auch aus dem Bestreben, ihm seine
Bewunderung und sein Entzücken nicht zu verraten, wusste
Peter Iljitsch niemals recht, wie er sich benehmen sollte
und wurde daher den Gedanken nicht los, dass er sich
nicht natürlich genug gebe, dass er „eine Rolle spiele".
Dieses Bewusstsein war aber für Peter Iljitsch's Wahrheits-
Hebe fast unerträglich, so kam es denn, dass er Begegnun-
gen mit Tolstoi aus dem Wege zu gehen suchte.
So sehr Peter Iljitsch den Künstler Tolstoi verehrte, so
wenig konnte er sich mit dem Philosophen befreunden.
Im Tagebuch von 1886 schreibt er über „Was ist mein
Glaube?" Folgendes:
„Wenn man Selbstbiographieen unserer besten Män-
ner liest, oder ihre Memoiren, so stosst man jeden Augen-
blick auf Gedanken, Eindrücke, künstlerische Gefühle, wel-
che man oft selbst gehabt und erlebt hat. Nur E'meyi giebt
es, der unbegreiflich ist, der unerreicht und einzig dasteht
in seiner Grösse. Das ist L. Tolstoi. Oft ärgere ich mich
über ihn, ja, hasse ihn beinahe. Warum, denke ich, muss
dieser Mann, welcher die köstliche Gabe besitzt, die Seele
eines Menschen so wundervoll harmonisch zu stimmen;
welcher die Kraft hat unsere schwachen Köpfe zum Be-
-358-
greifen und Verstehen der geheimsten Winkel der Ethik
zu zwingen; — warum muss dieser Mann den Moralprediger
spielen, warum will er unser Lehrer und Vormund sein?
Früher konnte er durch die einfache Erzählung eines ge-
wöhnlichen, alltäglichen Vorgangs den stärksten Eindruck
hinterlassen. Das, was da zwischen den Zeilen zu lesen
war, war eitel Liebe zu seinem Nebenmenschen, eitel Mit-
leid zu seiner Hilflosigkeit, Vergänglichkeit, Winzigkeit.
Wie oft vergoss ich darüber Thränen, ohne zu wissen wa-
rum... Vielleicht weil ich dann durch seilte Vermittelung
für einen Augenblick dem Ideal, dem absoluten Glück, der
Menschlichkeit nahe gerückt wurde. Jetzt kommentiert er
Texte, beansprucht ein ausschliessliches Mo7iopol seiner
Auffassung in Sachen des Glaubens und der Ethik,- —aber
aus allen seinen jetzigen Schriften weht ein kalter Luftzug,
man empfindet eine gewisse Furcht und fühlt, dass auch
er Mensch ist, d. h. ein Wesen, welches gegenüber „un-
serer Bestimmung", „Zweck und Ziel des ganzen Daseins",
„Gott" und „Religion" — ebenso hoffärtig eingebildet, aber
auch ebenso unwissend und gering, wie ein Insekt, wel-
ches an einem warmen Julitag plötzlich geboren wird, um
gegen Abend für ewig zu verschwinden.
Der frühere Tolstoi war ein Gott. Der jetzige — nur
ein Priester...
Tolstoi sagt, dass er früher Nichts gewusst habe und
dennoch anmaassend genug gewesen sei, in seiner Unwis-
senheit die Menschen zu lehren. Er bedauert das. Jetzt
aber belehrt er die Menschen wieder; also ist er nicht mehr
unwissend? Woher dieses Selbstbewusstsein? Ist das nicht
leichtfertige Selbstüberhebung? Der wahre Weise weiss
doch nur, dass er Garnichts weiss"....
Soviel über Peter Iljitsch's Beziehungen zu Tolstoi.
Man sagt, dass vor einem starken Sturm Ruhe in der
Natur eintrete. Diese Erscheinung kann man zwei Mal in
Peter Iljitsch's Leben beobachten. Erinnern wir uns an den
Dienst im Departement, an die Strebsamkeit und den Fleiss
Peter Iljitsch's, welche er im Jahre 1862 — also kurz bevor
er zum Musikstudium überging — bekundete, an seinen Eifer
bei der Erledigung seiner Beamtenpflichten. Nie war er
mit seinem Loos zufriedener, nie war seine Seele ruhiger,
wie damals, einige Monate vor seinem Eintritt in das Kon-
servatorium. So war es auch jetzt. Kurz vor jener wahn-
sinnigen That, die ihn für immer von Moskau losreissen,
die alle seine Gewohnheiten und Beziehungen vollständig
— 359 —
verändern sollte, und den Beginn eines neuen Lebens für
ihn bedeutete, also in einer Zeit, in welcher — wie man
glauben musste, um jenen verzweifelten Entschluss zu be-
gründen— die Unzufriedenheit mit dem Schicksal ihren Kul-
minationspunkt erreicht hatte, — war Peter Iljitsch nichts
weniger als niedergeschlagen. Im Gegenteil: im Januar
und Februar 1877 macht Peter Iljitsch ganz den Eindruck
eines Menschen, der in voller Seelenruhe sich den Um-
ständen unterwirft, mit seinem Leben zufrieden ist, keine
Wünsche hat, keine Sehnsucht kennt und soviel Biederkeit
und gute Laune verrät, wie selten vorher. Diese Stimmung
spiegelt sich vortrefflich in einem scherzhaften Brief wieder,
den Peter Iljitsch am 2. Januar 1877 an mich richtete.
An M. Tschaikowsky:
„Sehr geehrter Herr Modest Iljitsch! Weiss nicht, ob
Sie sich noch meiner erinnern. Ich bin Ihr leiblicher Bru-
der und Professor am Moskauer Konservatorium. Habe
auch einige Kompositionen geschrieben: Opern, Sympho-
nieen, Ouvertüren etc. Ehedem hatten Sie mich mit Ihrer
persönlichen Aufmerksamkeit beehrt. Wir haben sogar im
vorigen Jahr eine gemeinschaftliche Reise ins Ausland un-
ternommen, welche mir unvergesslich bleiben wird. Später
haben Sie mir des öfteren sehr hebe und interessante Briefe
geschrieben. Jetzt scheint mir aber Alles das nur ein schö-
ner Traum gewesen zu sein. Ja, Sie haben mich verges-
sen und wollen Nichts mehr von mir wissen... Ich, aber,
bin nicht so Einer, wie Sie. Ungeachtet meines Abscheu's
vor jeglicher Korrespondenz, ungeachtet meiner Müdigkeit
(es ist Mitternacht) habe ich mich hingesetzt, um Sie auf
mich aufmerksam zu machen und Ihnen meine wärmsten
Freundschaftsgefühle zu Füssen zu legen.
Gratuliere Ihnen, liebes Brüderchen, zum Neuen Jahr,
wünsche Ihnen Glück, Gesundheit und Erfolg in allen Ihren
Arbeiten. Ich grüsse auch Ihren lieben Zögling, Kolja, und
bitte Sie, ihn in meinem Namen zu küssen. Schreiben Sie
mir auch, hebes Brüderchen, über sein Befinden, ob er
fröhlich ist und ob er sich meiner noch erinnern kann.
Die Feiertage habe ich, mein liebes Brüderchen, sehr
unthätig und nicht gar lustig verbracht. Wollte arbeiten,
wurde aber daran gehindert. Augenblicklich wohnt bei mir
unser V^ervvandter M. Assier; er ist — bei Gott — ein sj^mpa-
tischer und lieber Junge, und ich bin allabendhch mit ihm
zu Hause. So ist es, mein liebes Brüderchen.
— збо —
Vor dem Fest bin ich, mein Brüderchen, mit dem Schrift-
steller Graf L. Tolstoi sehr nahe bekannt geworden. Sel-
biger hat mir sehr gefallen. Auch bin ich im Besitz eines
sehr lieben und teuren Briefes von dero Gnaden. Beim
Anhören des Andante meines ersten Quartetts haben seine
Augen Thränen der Rührung vergossen. Und ich bin sehr
stolz darauf, mein liebes Brüderchen, und Du, mein liebes
Brüderchen, darfst Dich mir gegenüber nicht vergessen,
denn ich bin jetzt ein grosses Thier. Nun adieu, mein
liebes Brüderchen...
Dein erzürnter Bruder Peter".
Am 20. Februar fand die erste Vorstellung des Ballets
„Der Schwanensee" statt. Peter Iljitsch sah dieser Vor-
stellung lange nicht mit der nervösen Aufregung entgegen,
welche sich vor den Aufführungen seiner Opern bei ihm
einzustellen pflegte, und nahm daher auch den sehr man-
gelhaften Erfolg dieses Werkes nicht gar zu sehr zu Her-
zen, zumal er diesmal Grund genug hatte die Schuld nicht
sich selbst zuzuschreiben, denn die Ausstattung des Stückes,
im Sinne der Dekorationen und Kostüme, war sehr ärm-
lich, ausserdem fehlte es an talentvollen Darstellern; die
dürftige Phantasie des Balletmeisters hat Nichts aus dem
Stück zu machen verstanden; dazu kam noch der Umstand,
dass das Orchester von einem quasi Dilettanten, Herrn
Rjabow, geleitet wurde, der bis dahin noch nie eine so
komplizierte Partitur zu Gesicht bekommen hatte.
An Frau A. I. Dawidowa:
.22. Februar.
In der Butterwoche ^) bin ich in Petersburg gewe-
sen und habe einige sehr angenehme Tage dort verbracht.
Ich habe mich nicht genug über Väterchen freuen können,
so fröhlich und so zärtlich ist er wieder geworden. Während
seiner Krankheit ^j hat mich gerade die Abwesenheit seiner
gewöhnlichen ZärtHchkeit sehr schmerzlich berührt.
Die ganze vorige Woche wohnte bei mir T0I3', wel-
cher zu meiner grossen Freude nur meinetwegen nach
Moskau gekommen war. Er hat auch mein Ballet mit an-
gehört, welches endlich zur Aufführung gelangt ist. Ueber-
1) Die Woche vor der Grossen Fastenzeit wird in Russland Buttervvoche genannt.
2) Im Januar war Uja Petrowitsch sehr ernst erkrankt, so dass seine Angehörigen
jsich auf das .Schlimmste gefasst machten. Zum Glück seiner Kinder ist dieses Schlimmste
edoch nicht eingetreten.
— зб1 —
haupt habe ich jetzt ganz Moskau mit den Erzeugnissen
meiner Muse überschwemmt. Es vergeht kaum ein Tag, so
nicht irgendwo eines meiner Werke gespielt oder gesun-
gen wird. Neuhch habe ich sogar den Mut gehabt, als Di-
rigent aufzutreten: zwar sehr ungeschickt und sehr ängstlich,
aber nichtsdestoweniger mit grossem Erfolg, dirigierte ich
im Grossen Theater meinen „Russisch-Serbischen Marsch".
Ich will jetzt jede Gelegenheit wahrnehmen, mich im Diri-
gieren zu üben, denn — sollten meine Pläne in Betreff einer
ausländischen Konzertreise in Erfüllung gehen — so werde
ich selbst kapellmeistern müssen"...
Am 25. Februar erlebte die symphonische Fantasie „Fran-
cesca da Rimini" im zehnten Symphoniekonzert zu Mos-
kau ihre Uraufführung. Der Erfolg war ein grossartiger.
Das erhellt schon daraus, dass das Werk noch in dersel-
ben Saison zwei Mal wiederholt wurde, und zwar am 5.
und am 10. März. N. D. Kaschkin lobt in seinem Referat
in begeisterten Worten nicht nur das Werk selbst, welches
er als ein für die russische Musik hochbedeutsames Ereig-
niss begrüsst, sondern auch die geniale Interpretation des-
selben durch N. Rubinstein.
Im Laufe dieses Winters begann Peter Iljitsch die Kom-
position seiner vierten Symphonie. Es ist möglich, dass er
nur deshalb die Lust verlor, das Othello-Textbuch zu kom-
ponieren, w^eil er sich ganz und gar der Symphonie hingab.
Im März und April litt er wieder sehr an seinen Trüb-
sinnsanfällen, was aus der Stimmung seiner damaligen Briefe
hervorgeht.
An S. Tanejew:
„Moskau, d. 25. April 1877.
Heute ist mein Geburtstag, mein lieber Sergei Iwano-
witsch. Im vorigen Jahr haben Sie den Abend dieses Ta-
ges bei mir verbracht und Heute habe ich Lust, mit Ihnen
zu plaudern. Der Gedanke, dass mein Brief sie möglicher-
weise nicht mehr in Paris antreffen wird, benimmt eini-
germaassen meinen Schrifteifer, ich will aber dennoch aufs
Geratewohl schreiben.
Es ist mir bekannt, dass Sie mit Ihrem Zeitvertreib
ganz zufrieden sind, woraus ich folgern könnte, dass Sie
sich nicht nach Ihren in der fernen Heimat weilenden
Freunden (darunter auch ich) sehnen. Mir aber, dem un-
zufriedenen und erfolglos strebenden Menschenkind, der
— Зб2 —
ich vom unbarmherzigen Schicksal an das Konservatoriums-
katheder angekettet bin und nun schon seit 12 Jahren mit
dem eines besseren Zieles würdigen Eiferjene grosse Wahr-
heit verkünde, dass parallele Ouintenfortschreitungen sünd-
haft seien — mir ist es beschieden, beklommenen Herzens
an Sie zu denken, der Sie mir viele Jahre hindurch eine
Freude und ein Trost waren:
Nessun maggior dolore, che ricordarsi del tempo felice
nella miseria.
Oft denke ich an Sie und bin traurig, dass Ihr liebes
Gesicht nicht in meiner Nähe weilt. Man sagt, dass Sie
bald zurückkehren лverden; ich freue mich sehr darauf.
Ihr Lied ist in seiner Art ein herrliches Stück. Die
Schönheit und Ueppigkeit der Harmonie ist erstaunlich.
Trotz der warmen Melodie ist aber das Lied etwas un-
sangbar und wird daher wohl kaum jemals populär wer-
den. Für uns Musiker enthält es dagegen eine ganze Menge
des Interessanten, viele schöne Details. Ich hoffe, dass die-
ses Lied nicht das einzige Werk ist, welches Sie im Laufe
des Winters verfasst haben. Uebrigens will ich Ihnen da-
mit keinen Vorwurf machen und will denken, dass der
Aufenthalt in Paris Ihnen manch' andern Nutzen gebracht
hat"....
An I. Klimenko:
,.8. Mai.
Ich habe mich sehr verändert seit wir uns nicht ge-
sehen, namentlich in moralischer Beziehung. Von Fröhlich-
keit und Lust zu übermütigen Scherzen keine Spur mehr.
Das Leben ist fürchterlich leer, langweilig und trivial. Ich
denke ernstlich an die Heirat als einen dauernden Bund.
Das Einzige was unveränderlich in mir geblieben ist — das
ist die Lust am Komponieren. Wenn sich die Dinge an-
ders gestaltet haben würden, wenn ich nicht auf Schritt
und Tritt allerlei Hindernissen zu begegnen verdammt
wäre — zum Beispiel meinen Konservatoriumsstunden, wel-
che mich von Jahr zu Jahr mehr anekeln — dann könnte
ich wohl etwas wirklich Wertvolles schaffen. Aber oh wehe!
An das Konservatorium bin ich gefesselt!"...
Anfangs Mai waren drei Sätze der Symphonie im Ent-
wurf bereits fertig. Aber schon vorher, im April, bekam
Peter Iljitsch wieder Lust zu einer Oper und wandte sich
mit diesbezüglichen Aufträgen an verschiedene Personen,
— збз —
u. А. auch an mich. Ich fühlte mich dadurch sehr geschmei-
chelt und sandte ihm Mitte Mai das Szenarium eines
Textbuches, dessen Inhalt ich der graziösen Novelle No-
diers, „Ines de Las-Sierras" entlehnt habe, worauf ich fol-
gende Antwort erhielt:
„i8. Mai 1877.
Lieber Modi, verzeihe, dass ich lange nichts geantwor-
tet habe. Ich war drei Tage auf dem Lande (bei Schilow-
sk}^) und habe dort sehr angenehm die Zeit verbracht.
Höre was ich Dir in Betreff Deiner „Ines" zu sagen habe.
Sie hat mich nicht im Geringsten zum Beginn der Arbeit
angeregt: ein Zeichen dafür, dass das Szenarium nicht den
Kern einer guten Oper in sich birgt. Es ist Alles so epi-
sodisch drin und so wenig poetisch. Nein, mein Heber
Freund Modi, ein geborener Textdichter bist Du nicht;
dennoch besten Dank für die gute Absicht.
Neulich war ich bei Frau Lawrowskaja ^). Man kam
auf Operntexte zu sprechen. X. quatschte ein unglaublich
dummes Zeug und machte die fürchterlichsten Vorschläge.
Elisabeth Andrej ewna (Lawrowskaja) schwieg die ganze
Zeit und lächelte nur. Plötzlich sagte sie aber: „Wie wäre
es mit „Eugen Onegin"?" Diese Idee kam mir sehr kurios
vor und ich antwortete nichts. Später aber, während eines
einsamen Mittagessens im Restaurant erinnerte ich mich
an den „Onegin", begann nachzudenken und fand die Idee
garnicht so absurd. Der Entschluss war bald gefasst und
ich begab mich sofort auf die Suche nach Puschkin's Wer-
ken. Es kostete Mühe, sie zu finden. Das Durchlesen ver-
setzte mich inEntzücken. Ich verbrachteeineschlafloseNacht,
deren Resultat: das Szenarium einer köstlichen Oper mit
Puschkins Text. Gleich den nächsten Tag fuhr ich zu Schi-
lowsky, und nun bearbeitet er mit Windeseile mein Sze-
narium. Ich will's Dir in kurzen Worten erzählen:
Erster Akt. Bild I: die alte Larina und die Muhme sit-
zen im Garten und sind gerade beim Einmachen. Duett.
Aus dem Hause ertönt Gesang: Tatjana und Olga singen
ein Duett mit Begleitung einer Harfe.
Schnitter und Schnitterinnen kommen herbei (mit der
letzten Garbe), singen und tanzen. Plötzlich meldet der
Diener Gäste. Es erscheinen Eugen und Lensky. Die Ze-
1) E. A. Lawrowskaja — berühmte Sängerin, Lehrerin am Konservatorium.
— 364 —
remonie der Vorstellung und Bewirtung (Preisselbeer-Was-
ser). Eugen teilt Lensky seine Eindrücke mit, desgleichen
Tatjana ihrer Schwester Olga: Quintett ä la Mozart. Die
alten Frauen entfernen sich, für den Abendtisch zu sorgen.
Die jungen Leute gehen paarweise im Garten auf und ab
(wie in „Faust"). Tatjana ist anfangs schüchtern, dann ver-
liebt sie sich.
Bild II: Tatjana's Brief.
Bild III: Die Szene zwischen Onegin und Tatjana.
Zweiter Akt. Bild I: Tatjana's Namenstag. Der Ball. Len-
sky's Eifersucht. Er beleidigt Onegin und fordert ihn. Grosse
Verwirrung.
Bild II: die Arie Lensky's und das Duell.
Dritter Akt. Bild I: Moskau. Der Ball im Saale der Adels-
versammlung. Das Wiedersehen Tatjana's mit all' ihren
Tanten, Cousinen etc. Chor. Der General erscheint. Er ver-
liebt sich in Tatjana. Sie erzählt ihm ihre Lebensgeschichte
und willigt ein, seine Frau zu werden.
Bild II: Petersburg. Tatjana erwartet Onegin. Er er-
scheint. Grosses Duett. Tatjana Hebt ihn noch und kämpft
einen schweren Innern Kampf mit sich selbst. Da kommt
ihr Gemahl. Die Pflicht siegt. Onegin läuft in Verzweiflung
davon.
Du glaubst garnicht, wie wild ich auf dieses Sujet bin.
Wie froh ich bin, den üblichen Pharao's, äthiopischen Prin-
zessinnen, Vergiftungen und dergleichen Puppengeschich-
ten aus dem Wege gegangen zu sein! Welche Fülle von
Poesie „Onegin" birgt! Ich bin durchaus nicht verblendet,
ich w^eiss genau, dass die Oper zu wenig Handlung, zu
wenig Bühneneffekte haben wird, aber der grosse Poesie-
reichtum, die Lebenswahrheit und Einfachheit der Vorgänge,
sowie die genialen Verse Puschkins wiegen diverse Män-
gel gewisslich auf".
An L, Dawidow:
„19. Mai 1877. Moskau.
Zu Euch komme ich erst in der zweiten Hälfte des
Sommers. Der Grund ist folgender: — In der Nähe Moskau's
(60 Werst) hat der ältere von den Brüdern Schilowsky
einen Landsitz. Dieser Schilowsky ist ein sehr talentvoller
und netter Mann, dessen Frau ich ebenso sehr gern habe.
Er schreibt jetzt für mich ein Textbuch. Gleich nach Schluss
der Prüfungen werde ich zu ihm reisen und die Kompo-
-Зб5-
sition der Oper in Angriff nehmen. Ich werde dort ein
besonderes Häuschen bewohnen, wo ich ganz ungestört
arbeiten kann. Das Komponieren einer Oper geht folgen-
dermaassen vor sich: im Laufe mehrerer Stunden darf ich
keinen Menschen sehen und muss die Versicherung haben,
dass auch ich von Niemandem gesehen und gehört werde,
denn ich habe die Gewohnheit beim Komponieren laut zu
singen, und der Gedanke daran, dass Jemand mich hören
könnte, stört mich sehr, hi meinem Schlafzimmer muss
ich ein Klavier haben. Ohne diese Bedingungen kann ich
nicht arbeiten, wenigstens nicht mit Ruhe und Leichtigkeit.
Diese Bedingungen würden mir aber in Kamenka feh-
len. Es ist für mich von grosser Wichtigkeit, jetzt eine
Oper zu schreiben, denn ich fühle in mir einen unbesieg-
baren Drang dazu, sodass es schade wäre, die Zeit nicht
auszunutzen.
Leo, Du weisst, dass alle meine Freunde zusammen
genommen (mit Einschluss Schilowsky's) mir nicht so lieb
und wert sind wie Sascha, Du und Eure Kinder. Du musst
aber zugeben, dass ich in Kamenka nicht die gleichen vor-
teilhaften Bedingungen für das Zustandebringen eines so
komplizierten Werkes, wie eine Oper, vorfinden werde"...
An M. Tschaikowsky:
„23. Mai 1877.
Die Prüfungen am Konservatorium sehen ihrem Ende
entgegen, meine Abreise naht, aber in meiner Seele sieht
es nicht so fröhlich aus, wie sonst. Der Gedanke daran,
dass nach den Ferien das alte Lied wieder seinen Anfang
nehmen soll, wieder dieselben Stunden, dieselben Verdriess-
hchkeiten beginnen werden, — Alles das vergiftet mir die
Freude an den bevorstehenden drei freien Monaten. Ich
fühle, dass ich alt werde... Manchmal will es mir scheinen,
dass die Vorsehung, welche so blind und ungerecht in
der Wahl ihrer Lieblinge ist, recht gut für mich sorgt. In
der That, oft will es mir vorkommen, dass das Zusammen-
treffen mancher Dinge nicht blos dem Zufall zuzuschreiben
ist. Wer weiss? vielleicht ist das der Beginn der Reli-
giosität"...
An Frau Nadeshda Filaretowna von Meck:
„27. Mai.
.Im Projekt ist meine Symphonie fertig. Ende des
Sommers will ich an die Instrumentation gehen.
- Зб6-
An М. Tschaikowsk}-:
„Gljebowo. 6. Juni.
Gestern erhielt ich Deinen Brief, Heber Modi. Anfangs
ärgerten mich Deine Kritiken über den „Onegin", das
dauerte aber nicht lange. Mag meine Oper noch so un-
szenisch sein, mag sie noch so wenig Handlung haben! Ich
bin aber nun einmal in Tatjana's Bild verliebt, uud von
den Versen Puschkins entzückt. Ich schreibe die Musik
dazu, weil ich einem unwiderstehlichen Drange folge. Ich
bin ganz vertieft in die Komposition der Oper.
Ich stehe um 8 Uhr auf, bade, trinke meinen Thee
(allein) und arbeite dann bis zum Frühstück. Nach dem
Frühstück arbeite wieder bis zum Mittag. Dann unternehme
ich gewöhnlich einen grossen Spaziergang. Den Abend
verbringe ich im grossen Haus. Die Gesellschaft besteht
aus dem Ehepaar Schilowsk}', zwei alten Jungfern (Jasy-
kows) und mir. Gäste sieht man fast garnicht — kurz, es
ist hier sehr ruhig und still. Die Gegend ist im wahren
Sinne des Wortes herrlich. Scheusslich ist nur — das Wet-
ter: es ist so kalt, dass es jeden Morgen Frost giebt. Bis
jetzt haben wir noch nicht einen einzigen warmen Som-
mertag gehabt.
Infolge der oben angeführten Lebensweise macht meine
Arbeit schnelle Fortschritte, sodass wenn ich bis zum
August hier bleiben könnte, ich bis dahin die ganze Oper
im Entwurf fertig bekommen und im Herbst an die In-
strumentation gehen würde. Bis jetzt bin ich sehr zufrieden
mit dem was ich geschrieben".
An A. Tschaikowsk}^:
„Gljebowo. 15. Juni.
Der ganze erste Akt in drei Bildern ist schon fertig.
Heute habe den zweiten begonnen".
Am 23. Juni waren zwei Drittel der Oper fertig. „Es
könnte noch mehr fertig sein", sagt Peter Iljitsch, — „wenn
nicht die seelische Aufregung".
Am 6. Juli 1877 fand in der St. Georgs-Kirche die
Trauung Peter Iljitsch Tschaikowsky's mit der Jungfrau
Antonina Iwanowna Miljukowa statt.
In der Saison 1876 — 1877 hatte Peter Iljitsch folgende
Werke komponiert:
I. Op. 31. „Slavischer Marsch" für grosses Orchester.
— 367 —
Die Zeit seiner Entstehung fällt in den Monat September
1877. Er wurde am 5. November desselben Jahres in einem
Symphoniekonzert zu Moskau unter Leitung N. Rubinsteins
zum ersten Mal aufgeführt. Verlag Jurgenson.
•2. Op. 32. „Francesca da Rimini", symphonische Fan-
tasie für grosses Orchester (nach Dante). Gewidmet an
S. I. Tanejew. Den Plan für dieses Werk hatte Peter II-
jitsch schon im Sommer 1876 während seines Aufenthaltes
in Paris gefasst. Die Komposition hat er aber nicht eher
als Ende September in Angriff genommen. Die Skizzen
waren am 14. Oktober fertig, die Instrumentation — am 5.
November. Uraufführung zu Moskau am 26. Februar 1877
in einem vS34Tiphoniekonzert unter Leitung N. Rubinsteins.
Verlag Jurgenson.
3. Op. 33. „Variationen über ein Rokoko-Thema" für
das Violoncello mit Begleitung des Orchesters. G. Fitzen-
hagen gewidmet. Komponiert im Laufe des Dezember 1876.
Verlag P. Jurgenson.
4. Op. 34. „Valse-Scherzo" für Violine mit Orchester-
begleitung. An Joseph Kotek gewidmet. Komponiert Anfang
des Januars 1877. Verlag P. Jurgenson.
Ausserdem hat Peter Iljitsch in dieser Saison seine 4.
Symphonie skizziert und zwei Drittel der Oper „Eugen
Önegin".
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Fünfter Teil.
1877 1878.
I.
In den siebziger Jahren befand sich unter den Konser-
vatoriumsschülern der Theorieklasse Peter Iljitsch's ein
Geiger, Namens Joseph Kotek.
Das war ein junger Mann von angenehmen Aeusseren,
trotz der unregelmässigen Gesichtszüge, — dazu sehr gut-
herzig, begeisterungsfähig, sehr musikalisch und noch mehr
virtuos begabt. Durch sein S3'mpatisches Wesen, noch mehr
aber durch seine talentvollen Arbeiten lenkte er die Auf-
merksamkeit Peter Iljitsch's auf sich und wurde bald der
Liebling seines Lehrers. Nicht wenig dazu beigetragen hat
auch die Begeisterung des jungen Mannes für die Werke
Peter Iljitsch's und die persönliche AnhängHchkeit an sei-
nen Lehrer. So entwickelten sich allmälich zwischen Meister
und Schüler freundschaftliche Beziehungen, welche auch
ausserhalb der Wände des Konservatoriums unterhalten
wurden.
Kotek war arm und musste nach Absolvierung des Kon-
servatoriums- ehe er ans Konzertieren ging — seinen Un-
terhalt durch Stundengeben verdienen.
Zu der Zeit lebte in Moskau die Wittwe eines sehr
bekannten Eisenbahn-Ingenieurs, Nadeshda Filaretowna von
Meck. Diese Frau wandte sich einst an Nikolai Rubinstein
mit der Bitte, ihr einen jungen Geiger zu empfehlen, der
mit ihr musiziern wollte. Rubinstein empfahl ihr denn auch
J. Kotek. Ein besseres Engagement konnte sich ein junger
— 369 —
Musiker garnicht wünschen. Frau von Meck verbrachte
mit ihrer zahlreichen Famihe gew^öhnhch nur eine kurze
Zeit in Moskau und wohnte sonst teils im Auslande, teils
in ihrer im südwestlichen Russland gelegenen prächtigen
Besitzung, sodass Kotek ausser einem sehr hohen Hono-
rar die Möglichkeit erhielt, ein Stück Welt zu sehen und
sich in den überaus zahlreichen Mussestunden im Spiel
seines Instrumentes zu vervollkommnen.
Ich sagte schon, dass Kotek begeisterter Verehrer des
Talentes seines Professors war, in der Person Frau von
Meck's fand er aber eine noch grössere Anbeterin der
Muse Tschaikowsky's. Als eine ausserordentliche Musik-
liebhaberin im Allgemeinen, brachte sie den Werken Pe-
ter Iljitsch's im Besondern ihr wärmstes Interesse entge-
gen welches intensiv genug war, einen gewaltigen Einfluss
auf die ganze weitere Zukunft unseres Komponisten aus-
zuüben. Frau von Meck interessierte sich nicht nur für die
Werke Peter Iljitsch's, sondern auch für seine Person: sie
suchte sein privates Leben, seinen Charakter als Mensch
zu erforschen und fragte Jeden, der Etwas darüber zu er-
zählen waisste auf das Ausführlichste aus. So war ihr denn
die Bekanntschaft mit Kotek doppelt willkommen, denn er
wusste gar Vieles über die Lebensweise, den Charakter
und die Gewohnheiten des Komponisten, der ihr so grosse
künstlerische Genüsse zu bieten wusste.
Aus Kotek's Erzählungen lernte sie ihn in seinem all-
täglichen Leben kennen und gewann ihn allmälich auch
als Menschen lieb. Sie erfuhr, selbstverständlich, auch von
seiner schwierigen materiellen Lage und von seiner Sehn-
sucht nach Freiheit. Da wurde in ihr der Wunsch rege,
in sein privates Leben einzugreifen und vor Allem wenig-
stens seine Geldsorgen zu vermindern.
Durch Kotek gab sie ihm den Auftrag, gegen ein sehr
hohes Honorar für sie einige Arrangements seiner Kom-
positionen für Violine und Klavier zu machen. Bald nach
Fertigstellung dieser Arbeit erhielt Peter Iljitsch einen
neuen Auftrag, und so entwickelte sich durch die Vermit-
telung Kotek's zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer
nach und nach ein reger Verkehr. Der für alles Eigenar-
tige und Ungewöhnliche sehr empfängliche Peter Iljitsch
lauschte seinerseits mit dem lebhaftesten Interesse den
Erzählungen Kotek's über die „Narrheiten" seiner Patronin.
Durch den Kultus, der im Hause von Meck mit seinem
Namen getrieben wurde, gerührt und geschmeichelt, beauf-
Tsehaikowsky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. '^-^
— 370 —
tragte Peter Iljitsch seinen jungen Freund, der merkwür-
digen Frau seine Dankbarkeit zu überbringen; und Frau
von Meck ilirerseits, war sehr stolz darauf, dass ihr Lieb-
hngskomponist es nicht verschmähte, ihren Bitten nachzu-
kommen, und sprach ihm durch Kotek ihre grosse Danlv-
barkeit und tiefe Sympatie aus.
So begannen die merkwürdigen Beziehungen zwischen
Peter Iljitsch und Nadeshda Filaretowna von Meck. Diese
Beziehungen gewannen einen so ausserordentliche Bedeu-
tung im Leben Peter Iljitsch's, sie veränderten in so radi-
kaler Weise die Grundpfeiler seiner materiellen Situation,
was, selbstverständlich, nicht ohne Einfluss auch auf seine
künstlerische Thätigkeit geblieben ist, — sie waren ausser-
dem an sich so sehr poetisch und aussergewöhnlich, so
ganz anders als wie es sonst im Leben der modernen Ge-
sellschaft zu sein pflegt, dass es, um sie zu verstehen, not-
wendig ist, das Wesen, den Charakter dieser neuen Freun-
din und Beschützerin Peter Iljitsch's etwas näher kennen
zu lernen.
Nadeshda Filaretowna von Meck wurde am 29. Januar
1831 im Kirchdorf Snamensk (Gouvernement Smolensk)
geboren. Obwohl ihre Eltern (Frolowsk^^'s) nicht reich wa-
ren, genoss sie eine ausgezeichnete häusliche Erziehung.
Ihr Vater war ein leidenschaftlicher Musikliebhaber, und
diese Liebhaberei übertrug sich auch auf seine Tochter.
Stundenlang konnte sie dem Geigenspiel ihres Vaters lau-
schen. Als dieser alt geworden und ihm das Musizieren
Mühe machte, wurden die Rollen gewechselt: er hörte zu,
und die Tochter spielte mit ihrer Schwester stundenlang
vierhändig auf dem Klavier. Dadurch gewann sie nach
und nach eine umfassende Kenntniss der musikalischen
Literatur.
Leider besitze ich keine bestimmten Daten über ihre
allgemeine wissenschaftliche Bildung. Ueber ihren Charak-
ter, ihre Ansichten und moralischen Eigenschaften kann
ich mir auch nur auf Grund ihres, allerdings sehr umfang-
reichen, Briefwechsels mit Peter Iljitsch ein Bild machen.
Und da erscheint sie mir als ein stolzes, energisches Weib,
mit selten festen Grundsätzen, mit der Selbständigkeit und
Thatkraft eines Mannes, wohl fähig, im Kampf mit aller-
lei Ungemach auszuharren; ein Weib, welches alles Klein-
liche, Konventionelle und Gemeine verachtet, dabei aber
makellos rein ist in ihren Bestrebungen und in dem Be-
wusstsein ihrer Pflicht, — ohne jede Sentimentalität im Um-
— 371 — \
gang mit ihren Nebenmenschen, aber mit einem tiefen
Gemüt und mit der Fähigl^eit, sich von dem Schönen und
Hohen hinreissen zu lassen.
Am 14. Januar 1848 wurde Nadeshda Filaretowna die
Gemahlin eines Distanz -Chefs der Moskau -Warschauer
Chaussee, des Ingenieurs K. von Meck, und damit begann
für sie eine schwere Zeit. /\ls liebende Frau und sorgende
Mutter hatte Nadeshda Filaretowna viele Prüfungen erfah-
ren, aus denen sie aber als Siegerin hervorgegangen ist.
In einem ihrer Briefe an Peter Iljitsch schreibt sie: „Ich
bin nicht immer reich gewesen, den grössten Teil meines
Lebens war ich arm, sehr arm. Mein Mann war Ingenieur
des Verkehrswesens und befand sich im Staatsdienst, wel-
cher ihm 1500 Rubel jährlich einbrachte — dieses' Einkom-
men musste für den Lebensunterhalt einer Familie von
fünf Kindern reichen: nicht gerade glänzend, wie sie sehen.
Dabei war ich zugleich Amme, Kinderfrau, Lehrerin, Nä-
herin meiner Kinder und Kammerdiener meines Mannes;
die Wirtschaft musste ich ebenfalls besorgen; da gab es
freilich viel Arbeit, aber ich that sie gern. Was mir aber
schwer auf der Seele lastete, war etwas Anderes: wissen
Sie, Peter Iljitsch, was Staatsdienst ist? Wissen Sie, dass
man dabei vergessen muss, dass man ein Mensch ist und
mit Verstand, eignem Willen und Ehrgefühl ausgerüstet
ist, dass man dabei zu einer Puppe, einem Automat wer-
den muss? Diese Situation meines Mannes war es, welche
ich nicht im Stande war zu ertragen, und ihn flehentlich
bat, den Staatsdienst zu verlassen. Auf seine Bemerkung,
dass war dann überhaupt Nichts mehr zu essen haben wür-
den, antwortete ich, dass wir arbeiten wollen und wohl
nicht Hungers sterben würden. Als er endlich meinen
Bitten nachgab und um seinen Abschied nachsuchte, ge-
rieten wir in sehr grosse Bedrängniss: wir durften nur
20 Kopeken täglich ausgeben — für Alles! Und dennoch habe
ich es keine Minute bedauert, dass es so gekommen war".
Dank diesem entscheidenden Schritt, den K. von Meck
auf dringenden Wunsch seiner Frau unternommen hatte,
gelang es ihm, nach und nach durch Eisenbahnbauunter-
nehmungen ein Vermögen von vielen Millionen Rubeln zu
ersparen.
Ende 1876 wurde Frau von Meck Wittwe. Sie hatte
elf Kinder, люп denen aber nur sieben bei ihr wohnten.
Die andern waren bereits erwachsen und hatten zum Teil
eigne Familien. Die. sehr komplizierte Verwaltung ihres
— 372 —
ausserordentlichen Vermögens besorgte sie selbst und wur-
de darin nur von ihrem ältesten Sohn und ihrem Bruder
unterstützt. Ihre Hauptthätigkeit war aber die Erziehung
der minderjährigen Kinder.
Nach dem Tode ihres Mannes gab Nadeshda Filare-
towna das gesellschaftliche Leben ganz auf: sie zeigte sich
nirgends mehr, empfing keine Besuche und blieb bis zum
Ende ihrer Tage für Nichtangehörige ihres Haushaltes im
buchstäblichen Sinne des Wortes „unsichtbar". Wie streng
sie diese Lebensweise durchführte, sieht man schon da-
raus, das Frau Dawidowa (die Schwester Peter Iljitsch's)
und ihr Gemahl Leo Dawidow, deren eine Tochter einen
Sohn Frau von Meck's heiratete, — sie niemals zu sehen
bekommen hatten, trotzdem sie schriftlich die freundschaft-
lichsten Beziehungen mit ihr unterhielten. Uebrigens muss
ich hier eine mir bekannte Ausnahme mitteilen: Nikolai
Gregorjewitsch Rubinstein war der Einzige, der Frau von
Meck besuchen durfte.
Das Merkwäirdigste an der rührenden, herzlichen Freund-
schaft zwischen Nadeshda Filaretowna und Peter lljitsch
war, dass sie sich nur in Theatern, Konzertsälen u. s. w.
sahen, und auch hier in der That — nur sahen, d. h. sie
wechselten nicht ein Wort, nicht einen Blick, ja — nicht ein-
mal einen flüchtigen Gruss mit einander. Wenn sie sich
zufällig begegneten, so gingen sie an einander vorüber,
wie zwei ganz fremde Menschen. Sie verkehrten nie anders
als nur schriftlich, und starben Beide, ohne dass Einer je-
mals des Andern Stimme gehört hatte. — Infolgedessen ist
ihr Briefwechsel, welcher vollständig erhalten geblieben
ist und das hauptsächlichste Material des vorliegenden Tei-
les enthält, so überaus interessant und \virft ein so grel-
les Licht auf die einzig in ihrer Art dastehenden Bezie-
hungen zwischen Mann und Weib, dass eine Sonderaus-
gabe dieser Korrespondenz wohl geeignet wäre, das weit-
gehendste Interesse zu erw^ecken. Doch ist die Zeit für
eine solche Ausgabe noch nicht gekommen. Ich habe das
Recht, dieses kostbare Material nur soweit zu benutzen,
als es das Ziel dieses Buches — die Lebensgeschichte Pe-
ter Iljitsch's, erheischt. Frau von Meck werde ich nur als
den „besten Freund" und Beschützer Peter Iljitsch's anse-
hen, ohne ihr intimes Leben, welches von ihr selbst in
iliren so inhaltsreichen, wahrheitsgetreuen und herzlichen
Briefen geschildert wird, zu berühren.
Bald nachdem Peter lljitsch die von Kotek überbrachte
— 373 —
Bestellung Frau von Meck's — ein Klavier- Violin-Arrange-
ment für sie zu machen — ausgeführt hatte, erhielt er ihren
ersten Brief:
Frau von Meck an P. I. Tschaikowsky:
„i8. Dezember 1876.
Sehr geehrter Herr, gestatten Sie mir, Ihnen meinen
aufrichtigsten Dank auszusprechen für die schnelle Erle-
digung meines Auftrages. Ihnen zu sagen, wie sehr mich
Ihre Kompositionen entzücken, halte ich für überflüssig
und unpassend, denn Sie sind gewiss an ganz andere Hul-
digungen gewöhnt, als die Verehrung eines in der Musik
so unbedeutenden Wesens wie ich, ausserdem könnte sie
Ihnen gar lächerlich erscheinen; mir ist aber meine Lieb-
haberei zu viel wert, als dass ich zugeben könnte, ausge-
lacht zu werden. Nur Eines will ich Ihnen sagen und bitte
Sie, mir Glauben zu schenken: mit Ihrer Musik lebt es sich
leichter und angenehmer.
In aufrichtiger Hochachtung", u. s. w.
P. I. Tschaikowsk}^ an Frau von Meck:
„19. Dezember 1876.
Sehr geehrte Frau! Von Herzen danke ich Ihnen für
das Liebenswürdige und Schmeichelhafte, was Sie mir zu
schreiben belieben. Ich kann Ihnen meinerseits versichern,
dass es für einen Musiker höchst tröstlich ist, trotz allen
Missgeschickes und verschiedener Hindernisse die Gewiss-
heit zu haben, dass es eine kleine Minderheit von Men-
schen giebt, welche die Kunst aufrichtig und herzlich lieb
hat und zu welcher auch Sie gehören".
Zwei Monate später erfolgte eine neue Bestellung nebst
abermaligem Briefwechsel.
N. F. von Meck an P. I. Tschaikowsky:
„Moskau, d. 15. Februar 1877.
Sehr geehrter Herr, Peter Iljitsch! Ich weiss garnicht
wie ich Ihnen meinen Dank ausdrücken soll für Ihr liebens-
würdiges Entgegenkommen; wenn ich nicht herzinnigste
S34npatie für Sie fühlte — würde ich fürchten, dass Sie mich
verwöhnen könnten; ich schätze, übrigens, zu sehr Ihre
Güte zu mir, um so Etwas zuzukissen.
— 374 —
Gern würde ich Ihnen viel, sehr viel von meiner phan-
tastischen Schwärmerei für Sie erzählen, ich möchte Sie
nur nicht Ihrer wenigen freien Minuten berauben. Ich will
Ihnen nur sagen, dass diese Schwärmerei, so ideal, so
abstrakt sie auch ist, zu dem Besten, Teuersten, Höchsten
gehört, dessen ein menschliches Herz fähig ist. Nennen Sie
mich meinethalben eine Närrin, eine Verrückte, nur lachen
Sie mich nicht aus; Alles das wäre, vielleich, lächerlich,
wenn es nicht so ernst, so aufrichtig gemeint луаге.
Ihre Sie verehrende und ergebene von Meck".
P. I. Tschaikowsk}^ an N. F. von Meck:
„i6. Februar 1877.
Sehr geehrte Frau, Nadeshda Filaretowna! Erlaube mir
Ihnen meinen herzlichsten Dank auszusprechen für das
mehr als üppige Honorar, mit welchem Sie meine gerin-
ge Mühe belohnt haben. Schade, dass Sie mir nicht Alles
gesagt haben, was Sie auf dem Herzen hatten. Ich kann
Sie versichern, dass es mir nur sehr angenehm und inte-
ressant gewesen wäre, da auch ich von den wärmsten
Sympatieen für Sie erfüllt bin. Das ist keine Phrase. Ich
kenne Sie weit besser, als Sie glauben.
Wenn Sie mich eines schönen Tages mit der schrift-
lichen Mitteilung des Vielen, was Sie mir zu sagen hatten,
beglücken wollten, so würde ich Ihnen ausserordenthch
dankbar sein. Jedenfalls danke ich Ihnen von ganzer Seele
für den Ausdruck der S3'mpatie, welche ich sehr hoch
schätze.
N. F. von Meck an P. I. Tschaikowsky:
„Moskau, d. 7. März 1877.
Sehr geehrter Peter Iljitsch, Ihre liebe Antwort auf
meinen Brief war mir eine solche Freude, wie ich sie schon
lange nicht mehr gehabt habe, aber — Sie kennen wohl die
Eigenschaft der menschlichen Natur: je mehr man Schö-
nes erhält, je mehr verlangt es Einen danach. Obwohl ich
Ihnen versprochen hatte, mich nicht verwöhnen zu lassen,
so zweifle ich jetzt dennoch sehr an meinen Kräften, denn —
ich erhiube mir, Ihnen eine grosse Bitte vorzutragen, welche
wegen ihrer Unangebrachtheit Ihnen, möglicherweise, etwas
merkwürdig erscheinen wird; aber ein Mensch, welcher —
so wie ich — als ein Asket lebt, muss naturgemäss in eine
— 375 -
Geistesverfassung geraten, in welcher alles Das, was die
Menschen gesellschaftlicher Umgang, Lebensregeln u. s. w.
nennen,- — seinem Verstand als leere Begriffe, als sinnlose
Worte erscheinen. Ich weiss zwar nicht, wie Sie darüber
denken, aber — soweit ich Sie kenne — will es mir scheinen,
dass Sie am Avenigsten mich verurteilen werden; sollte ich
mich getäuscht haben, so bitte ich Sie, mir das offen, ohne
jede Kommentare zu sagen und — meine Bitte abzuschla-
gen, welche in Folgendem besteht: geben Sie mir Ihre
Photographie!
Ich besitze schon zwei derselben, möchte aber eine aus
Ihrer Hand bekommen; auf Ihrem Gesicht will ich die
Inspirationen suchen, die Gefühle, unter deren Wirkung
Sie Ihre Musik komponierten, jene Musik, welche den Men-
schen in das Reich der Sehnsucht lockt. Wieviel Glück
und wieviel Leid liegt in jener Musik! Von diesem Leid
möchte man sich garnicht trennen, denn in ihm findet der
Mensch seine Hoffnung, sein Glück, das ihm im Leben ver-
sagt geblieben ist. „Sturm" ist das erste Ihrer Werke, das
ich zu hören bekommen; es ist nicht zu beschreiben, welch'
starken Eindruck es auf mich gemacht hatte: mehrere Tage
war ich \vie geistesabwesend. Ich muss Ihnen sagen, dass
ich Musiker und Mensch im Komponisten nicht zu trennen
verstehe und im Menschen, als dem Priester einer so heh-
ren Kunst, noch viel eher als in anderen Menschen jene
Eigenschaften suchen und finden möchte, die ich für die
herrlichsten halte. Daher entbrannte damals der Wunsch
in mir, den Menschen im Schöpfer des „Sturmes" kennen
zu lernen. Ich begann nach Ihnen zu forschen, nahm jede
Gelegenheit wahr, Etwas über Sie zu hören, ich fing jede
Bemerkung, jedes Sie betreffende Urteil auf, und muss
Ihnen sagen, dass oft das, was die Andern an Ihnen ta-
delten, mich in Entzücken versetzte, — Geschmacksache!
Vor Kurzem erst, ist mir eine Ihrer Ansichten zu Ohren
gekommen, welche meine helle Begeisterung entfacht hat,
und welche ich so sehr mit Ihnen teile, dass Sie mir ur-
plötzlich näher getreten und — ein teurer, lieber Mensch
geworden sind; mir scheint es, dass nicht die Beziehungen
Mensch und Mensch einander näher bringen, sondern die
Aehnlichkeit der Ansichten, Gefühle und Synipatieen, so-
dass ein Mensch dem andern nahe stehen kann, trotzdem
er ihm fremd ist.
Es interessiert mich so sehr. Alles über Sie zu wissen,
dass ich fast zu jeder Zeit angeben kann, wo Sie sich be-
— 37б —
finden und sogar — bis zu einem gewissen Grade — was Sie
tliun. Alles, was ich selbst beobachtet und von Andern,
Gutes und Schlechtes über Sie gehört habe, gefällt mir
so ausserordentlich, dass ich Ihnen meine herzlichste Zu-
neigung, meine wärmste Sympatie zu Füssen lege. Ich bin
glücklich, dass in Ihnen Mensch und Künstler so köstlich,
so harmonisch vereinigt sind.
Es gab eine Zeit, da ich grosse Lust hatte, Ihre per-
sönliche Bekanntschaft zu machen: jetzt aber geht es mir
so, dass je mehr Sie mich bezaubern, je mehr fürchte ich
mich vor Ihrer Bekanntschaft; ich ziehe es vor, in der
Ferne an Sie zu denken, Sie in Ihrer Musik sprechen zu
hören, und Ihre Gefühle zu teilen. Ich bin so traurig, dass
es mir noch nicht vergönnt gewesen ist, Ihre „Francesca
da Rimini" zu hören; mit Ungeduld erwarte ich das Er-
scheinen des Klavierarrangements.
Verzeihen Sie, Peter Iljitsch, alle meine Herzensergüsse:
Sie können sie doch nicht brauchen; nur mag es Ihnen
nicht leidthun, dass Sie einem sterbenden, fast schon tod-
ten Menschen, wie ich, für einen Moment, лvenigstens, etwas
Leben in die Adern geflösst haben, dazu noch auf solch'
schöne Art und Weise.
Nun habe ich noch eine unterthänigste Bitte an Sie,
Peter Iljitsch. In Ihrem „Opritschnik" sind einige Stellen,
welche mich ganz verrückt machen. Bitte arrangieren Sie
für mich aus diesen Stellen, wenn es geht, einen „Marche
funebre". Gleichzeitig sende Ihnen die Oper, in welcher
die von mir gewünschten Stellen angestrictien sind. Wenn
Sie es möglich finden, den Marsch zu machen, dann bitte
für Klavier vierhändig. Ist Ihnen meine Bitte lästig, dann
schlagen Sie sie mir ab: das wird mich zwar traurig stim-
men, aber nicht beleidigen. Sollten Sie aber meine Bitte
ausführen, dann thun Sie es nur nicht zu eilig, denn sonst
verwöhnen Sie mich, und ich habe gar kein Recht darauf.
Wollen Sie mir erlauben, Ihre Arrangements für mich he-
rauszugeben? Und an wenn könnte ich mich da wenden,
an Jurgenson oder lieber an Bessel?
Ferner bitte ich Sie, Peter Iljitsch, mir zu gestatten,
in meinen Briefen an Sie alle Formalitäten, wie „Hoch-
geehrter Herr" u. s, w., fortzulassen: sie sind mir wahr-
lich nicht nach Sinn. Bitte seien Sie selbst auch so gut
und unterlassen Sie in Ihren Briefen an mich alle jene
Feinheiten. Nicht wahr, Sie sind damit einverstanden?
Ihre ergebene und Sie verehrende v. M.
P. vS. Denken Sie doch an meine erste Bitte".
— 377 —
Р. I. Tschaikowskv an N. F. von Meckf
„Moskau, d. i6. März 1877.
Sie haben vollkommen Recht, Nadeshda Filaretowna,
wenn Sie glauben, dass ich wohl im Stande bin, Ihren
geistigen Organismus zu verstehen. Ich hoffe, dass Sie sich
nicht irren, indem Sie mich zu Ihren Geistesverwandten
zählen. So wie Sie sich bemühten die öffentliche Meinung
über mich zu studieren, so habe auch ich meinerseits bei
jeder sich bietenden Gelegenheit Etwas über Sie und über
Ihre Lebensweise zu erfahren gesucht. Ich habe mich stets
für Sie interessiert, wie für einen Menschen, der in sei-
nem moralischen Gesicht so viele meiner Natur, ähnliche
Züge trägt. — Schon allein der Umstand, dass wir Beide
an ein und derselben Krankheit leiden, bringt uns einan-
der näher. Diese Krankheit heisst Misantropie, es ist aber
eine ganz eigenartige Misantropie, denn sie entspringt we-
der dem Menschenhass noch der Menschenverachtung. —
Diejenigen, welche an dieser Krankheit laborieren, fürch-
ten nicht etwa den Schaden, den ihnen ihr Nebenmensch
zufügen könnte, sondern sie fürchten die Enttäuschung,
die Sehnsucht nach dem Ideal, welche sich nach jeder An-
näherung einzustellen pflegt. Es war eine Zeit, da ich so
sehr von dieser Menschenfurcht befangen gewesen, dass ich
fast wahnsinnig geworden bin. — Die Verhältnisse brachten
es mit sich, dass ich nicht in die Einsamkeit fliehen konnte.
Ich musste mit mir selbst kämpfen, und der alleinige Gott
weiss, was mir dieser Kampf gekostet hat!
Aus diesem Kampf bin ich insofern als Sieger hervor-
gegangen, als mir das Leben aufgehört hat, unerträglich
zu scheinen. Gerettet hat mich die Arbeit, — und diese Ar-
beit ist mir gleichzeitig Genuss. Einige Erfolge, die mir
beschieden gewesen, haben mich ausserdem sehr getröstet
und angefeuert, sodass jene grosse Sehnsucht, die mich
früher oft bis zu Hallucinationen, bis zum Wahnsinn trieb,
jetzt ihre Macht fast ganz über mich verloren hat.
Aus allem Gesagten werden Sie leicht ersehen, dass
ich mich durchaus nicht darüber wundere, wenn Sie, trotz-
dem Sie meine Musik so lieb haben, meine Bakanntschaft
nicht suchen. Sie fürchten, in meiner Person nicht alle jene
Eigenschaften zu finden, mit den mich Ihre zum Idealis-
mus neigende Phantasie ausgestattet hat. Und da haben
Sie ganz Recht. Ich fühle wohl, dass Sie bei näherer Be-
kanntschaft in mir nicht jene Harmonie zwischen Musiker
und Mensch, für die Sie schwärmen, finden Avürden.
- 37» -
Haben Sie vielen Dank für all' die Ausdrücke der Ver-
ehrung, die Sie in Ihrem Brief meiner Musik so überaus
freigebig zollen. Wenn Sie wüssten, wie angenehm und
trostreich es für einen Musiker ist, zu wissen, dass es noch
eine Menschenseele giebt, welche ebenso intensiv, ebenso
tief Alles Das durchempfindet was er selbst durchlebt
und durchdacht hat, als er sein Kunstwerk plante und
ausführte. Ausserordentlich dankbar bin ich Ihnen für Ihre
warmen, herzlichen, mitfühlenden Worte. Ich will nicht sa-
gen, was in solchen Fällen zu sagen üblich ist, nämlich:
dass ich Ihres Lobes nicht wert bin. Ob ich gut schreibe,
ob schlecht — jedenfalls schreibe ich aus innerstem Be-
dürfniss heraus. Ich rede die Sprache der Musik, weil ich
immer Etwas zu sagen habe...
Ich w^eiss nicht, ob Sie der Marsch befriedigen wird
und ob ich es verstanden habe, Avenigstens ungefähr Dem
nahe zu kommen, was Sie gewünscht haben. Wenn nicht — ■
dann zögern Sie nicht, mir die Wahrheit zu sagen. Viel-
leicht wird es mir später einmal gelingen. Etwas Passen-
deres zu machen.
Sende Ihnen meine Kabinetphotographie, allerdings keine
sehr gelungene. Ich will mich in allernächster Zeit pho-
tographieren lassen (was, übrigens, für mich immer eine
fürchterliche Qual ist) und werde Ihnen dann mit Ver-
gnügen noch ein Bild schicken".
N. F. von Meck an P. I. Tschaikowsky:
„i8. März 1877.
....Ihr Marsch, Peter Iljitsch, ist so wundervoll, dass er
mich -wie ich hoffe — in den glücklichen Zustand der Wahn-
sinnigen versetzen Avird, einen Zustand, in dem man das
Bewusstsein all' des Bittern und Erniedrigenden, dessen
es genug auf Erden giebt, verliert... Lausche ich einer
solchen Musik, dann fühle ich mich über allem Irdischen
schwebend, das Blut pocht an den Schläfen, das Herz zit-
tert, vor den Augen wird es dunkel, und das Ohr saugt
gierig die Töne dieser bezaubernden Musik auf! Ich fühle
nur Das, was in mir lebt, und es wird mir so wohl, so
unendlich wohl, dass ich garnicht erwachen möchte.... Oh,
Gott, wie gross ist doch Derjenige, der die Macht besitzt,
seinen Mitmenschen so glücklich zu machen"!
Ende April — zu einer Zeit, da Peter Iljitsch in ganz
besonders schwierige finanzielle Verwickelungen geraten
j
— 379 —
war — erhielt er von Frau v. Meck wieder eine Bestellung.
Diesmal bat Nadeshda Filaretowna um eine selbständige
Komposition für Klavier und Violine und schlug unserem
Komponisten ein ausserordentlich hohes Honorar vor.
Peter Iljitsch antwortete an Frau v. Meck:
„I. Mai 1877.
Verehrte Nadeshda Filaretowna! Trotz der hartnäckig-
sten Dementiversuche eines meiner Freunde, der auch
Ihnen gut bekannt sein dürfte, habe ich Grund anzuneh-
men, dass der Brief, den ich Heute früh von Ihnen erhielt,
der liebenswürdigen Hinterlist besagten Freundes zuzu-
schreiben ist. Schon bei Ihren früheren musikalischen Auf-
trägen konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren,
dass Sie mir dieselben aus zweierlei Gründen zukommen
Hessen: einesteils hatten Sie in der That den Wunsch, die
eine oder andere meiner Kompositionen in diesem oder
jenem Arrangement zu besitzen, andernteils aber beabsich-
tigten Sie, — da Sie gewiss von meinen ewigen Geldcala-
mitäten gehört haben, — mir über diese hinwegzuhelfen.
Auf diesen Gedanken brachte mich das übermässig hohe
Honorar, das Sie mir für meine geringe Mühe zahlten.
Diesmal bin ich nun überzeugt, dass ausschliesslich oder
fast ausschliesslich der zweite Beweggrund vSie bestimmt
hat, mir Ihren neuen Auftrag zu geben. Beim Lesen Ihres
Briefes habe ich Ihr Zartgefühl und Ihre Güte, sowie Ihr
rührendes Entgegenkommen wohl herausgemerkt, gleich-
zeitig pflanzte sich aber in der Tiefe meiner Seele eine so
intensive Unlust auf, sofort an die Ausführung Ihrer Be-
stellung zu gehen, dass ich nicht umhin kann, Ihnen eine
abschlägige Antwort zu geben. Ich möchte nicht, dass in
unsern Beziehungen irgend eine Falschheit, eine Lüge Platz
greift. Und das würde gewiss geschehen sein, wenn ich,
ungeachtet meiner inneren Stimme, mich beeilt hätte, ohne
Lust und ohne Stimmung irgend ein Stück in der von Ihnen
gewünschten Form zusammenzuleimen, Ihnen dieses Stück
schleunigst zuzusenden und ein unverhältnissmässiges Ho-
norar dafür in Empfang zu nehmen. Würde Ihnen da nicht
der Gedanke durch den Kopf schiessen, dass ich für je-
de musikalische Arbeit sofort zu haben bin, wenn mir
nur mit einem Hundertrubelschein gewinkt wird? W4irden
Sie da nicht Grund haben, zu glauben, dass wenn Sie
arm wären, ich Ihre Bitten nicht erfüllen würde? Ueber-
- з8о -
haupt hat sich in unsere Beziehungen von vornherein je-
ner kitzlige Umstand eingenistet, dass fast in jedem Briefe
von Geld die Rede ist. Allerdings liegt für einen Künstler
noch Nichts Erniedrigendes darin, dass er Geld für seine
Mühe erhält, — aber ausser der Mühe muss ich doch in die
von Ihnen gewünschte Komposition einen gewissen Grad
von Stimmung hereinbringen, d. h. das, was Inspiration
genannt wird; diese ist aber nicht jederzeit zu meiner Ver-
fügung. Ich würde künstlerisch unehrlich handeln, wenn
ich zum Zwecke der Verbesserung meiner finanziellen Lage
mein technisches Können missbrauchen und Ihnen gegen-
über falsche Münzen für echte ausgeben wollte.
Augenblicklich bin ich durch meine Symphonie voll-
kommen in Anspruch genommen, welche ich noch im Win-
ter zu schreiben begonnen habe und welche ich gern Ih-
nen widmen möchte, denn ich glaube, dass Sie in ihr ein
Echo Ihrer innigsten Gedanken und Gefühle finden wer-
den. In diesem Augenblick würde mir jede andere Arbeit
lästig sein, d. h. ich rede hier nur von einer solchen Ar-
beit, die das Vorhandensein einer gewissen Stimmung vor-
aussetzt. Ausserdem befinde ich mich jetzt in einer recht
zerfahrenen und gereizten Geistesverfassung, welche zum
Komponieren unbrauchbar und auch auf meine Sympho-
nie von sehr unvorteilhaftem Einfluss ist".
Diese Antwort Peter lljitsch's hat Frau von Meck nicht
nur nicht gekränkt, sondern im Gegenteil hocherfreut: Na-
deshda Filaretowna war ihm tief dankbar für seine Auf-
richtigkeit und Redlichkeit. Die Freundschaft zwischen
Beiden wurde dadurch nur noch mehr gefestigt, Peter ll-
jitsch's uneingeschränkte Offenheit veranlasste Frau von
Meck, auch ihrerseits im Verkehr mit ihm frei und rück-
haltlos wahrhaftig zu sein, was zunächst zur Folge hatte,
dass sie ihm 3000 Rubel zur Bezahlung seiner Schulden
sandte. Indem sie sich zu seinem einzigen Gläubiger machte
übernahm sie die Rolle einer Beschützerin, einer Patronin
Peter Jljitsch's, und von diesem Augenblick an beginnt
sein materieller Wohlstand.
Aber nicht nur dadurch allein hat sie das ganze nun
folgende Leben Peter lljitsch's erwärmt und erleuchtet,
sondern — vielleicht sogar noch in viel grösserem Maasse —
durch das Gefühl, welches ihre Freigebigkeit hervorrief,
jenes tief edle Gefühl, das jeden Augenblick aus den Zeilen
ihrer Briefe hervorblühte.
Ich sorge für Sie nur um meiner selbst willen",
- 38i -
schreibt sie, — „In Ihnen erhalte ich mir meine ureigensten
Sympatieen und den Glauben daran, dass Ihr Dasein mir
uiiendlich viel Gutes bringt, dass das Lesen Ihrer Briete
und das Hören Ihrer Musik mir das Leben angenehm macht,
ferner dass ich Sie um der Kunst willen behüte, welche
ich anbete und welche mir das Liebste auf Erden ist, — so
wie es auch unter den Priestern dieser Kunst keinen sym-
patischeren, keinen besseren und liebenswürdigeren giebt,
wie Sie. Folglich entspringt meine Sorge um Sie rein
egoistischen Gefühlen, und soweit ich das Recht habe,
diese Gefühle zu befriedigen, soweit bin ich glücklich"....
.11-
Peter Iljitsch an Anatol Tschaikowsk}^:
„Gljebowo, d. 23. Juni 1877.
Lieber Anatol, Du hast ganz recht, wenn Du glaubst,
dass ich Etwas vor Dir verheimliche, nur dieses „Etwas"
hast Du falsch geraten. Die Sache ist folgende. Ende Mai
ereignete sich Etwas, was ich weder Dir, noch meinen
andern Verwandten und lieben Freunden vorzeitig ver-
raten wollte, damit Ihr Euch nicht unnütz Sorgen macht.
Ich wollte erst die ganze Geschichte erledigen und sie erst
dann zu Eurer aller Kenntniss bringen. Ich heirate, näm-
lich. Ende Mai habe ich mich verlobt und wollte die Hoch-
zeit Anfang Juli machen, ohne Jemandem Etwas davon
mitzuteilen. Dein Brief hat mich aber unschlüssig gemacht.
Erstens konnte ich einer Begegnung mit Dir nicht aus dem
Wege gehen, und Komödie mit Dir spielen, d. h. allerlei
lügenhafte Gründe vorgeben, weshalb ich nicht mit Dir
nach Kamenka reisen könne, — wollte ich nicht. Zweitens
habe ich gefunden, dass es doch nicht hübsch von mir
wäre, ohne väterlichen Segen in den heiligen Ehestand zu
treten. So habe ich denn beschlossen, mich schon jetzt zu
offenbaren. Beiliegender Brief ist für Väterchen. Bitte sei
nur nicht in Sorge um mich. Ich habe ganz vernünftig ge-
handelt und unternehme diesen so wichtigen Lebensschritt
- 302 -
in voller Ruhe. Dass ich wirklich ruhig bin kannst Du
schon daraus sehen, dass ich angesichts der nahe bevor-
stehenden Hochzeit zwei Drittel der Oper fertigschreiben
konnte. Meine Braut ist zwar nicht mehr sehr jung, aber
absolut vorurteilsfrei und hat einen grossen Vorzug: sie
ist sehr in mich verliebt. Sie ist arm; — - heisst: Antonina
IwanoAvna Miljukowa. Hierdurch lade ich Dich zu meiner
Hochzeit ein. Du und Kotek sollen die einzigen Trauzeu-
gen sein.
Bitte Väterchen, Niemandem Etwas darüber zu erzäh-
len, und Du selbst sprich, bitte, auch nicht davon. Sascha
und meinen andern Brüdern werde ich selbst schreiben".
An I. P. Tschaikowsk}':
„Gljebowo, d. 23. Juni 1877.
Lieber und teurer Vater, Dein Sohn Peter beabsichtigt
zu heiraten. Da er aber ohne Deinen Segen nicht zur
Trauung gehen möchte, so bittet er Dich hierdurch. Du
wollest ihn für das neue Leben segnen. Meine Braut heisst
Antonina Iwanowna Miljukowa. Sie ist ein armes, aber
gutes und unbescholtenes Mädchen, w^elches mich sehr lieb
hat. Liebes V^äterchen, Du weisst, dass man in meinem
Alter nicht unüberlegt zu heiraten pflegt, darum sei ohne
Sorge. Ich bin überzeugt, dass meine zukünftige Gattin
Alles aufbieten ward, mein Leben ruhig und glücklich zu
machen.... Sei gesund, mein Lieber, und antworte mir so-
fort. Küsse Deine Hände".
An Frau N. F. von Meck:
„3. Juli 1877, Moskau.
Vor Allem teile ich Ihnen mit, dass ich Ende Mai
auf die unerwartetste Weise Bräutigam geworden bin. Das
geschah folgendermaassen. Eines Tages erhielt ich einen
Brief von einem Mädchen, das ich von früherher schon
kannte. Aus diesem Brief erfuhr ich, dass sie mich schon
seit Langem ihrer Liebe würdigt. Der Brief war so herz-
lich, so warm geschrieben, dass ich mich entschloss, ihn zu
beantworten, was ich in früheren derartigen Fällen stets
sorgfältig vermieden hatte. Ohne auf die Details dieser
Korrespondenz näher einzugehen, sage ich Ihnen nur, dass
das Resultat derselben mein Einverständniss лvar, der Ein-
ladung meiner zukünftigen Frau Folge zu leisten und sie
- 383 -
zu besuchen. Warum ich das gethan habe? Jetzt scheint
es mir, dass eine geheimnissvolle Kraft mich zu diesem
Mädchen hinzog. Bei der Begegnung wiederholte ich ihr,
dass ich ihr für ihre Liebe nichts als S34iipatie und Dank-
barkeit entgegenbringen könne. Aber später begann ich
über den ganzen Leichtsinn meiner Handlungsweise nach-
zudenken. Wenn ich sie nicht liebe, wenn ich ihre Ge-
fühle für mich nicht noch mehr anfachen will — dachte ich —
warum bin ich dann bei ihr gewesen, und wie kann das
enden? Aus dem darauf folgenden Brief folgerte ich, dass
ich zu weit gegangen sei, dass, wenn ich mich nun plötz-
lich von ihr abwenden sollte, ich sie wirklich unglücklich
machen und einem tragischen Ende in die Агще treiben
würde. So sah ich mich vor eine schwierige Alternative
gestellt: entweder erhielt ich mir meine Freiheit um den
Preis eines Menschenlebens, oder ich heiratete. Ich konnte
nicht anders, als das Letztere wählen. So ging ich denn
eines schönen Abends zu meiner Zukünftigen, erklärte ihr
ganz offen, dass ich sie nicht lieben könne, dass ich ihr
aber ein zugethaner und dankbarer Freund sein wolle; ich
beschrieb ihr ausführlich meinen Charakter, meine Reiz-
barkeit, die Ungleichmässigkeit meines Temperaments, meine
Menschenscheu, — endlich meine materielle Situation. Dann
fragte ich sie, ob sie meine Frau werden wolle. Die Ant-
wort war, selbstverständlich, bejahend. Die fürchterlichen
Qualen, welche ich seit jenem Abend durchgemacht habe,
sind garnicht in Worte zu fassen. Ist auch sehr natürlich.
37 Jahre lang in angeborener Antipatie gegen das Ehele-
ben zu verharren, und dann plötzlich, durch die Macht
der Verhältnisse in den Bräutigamstand hereingezwängt
zu werden, ohne auch nur im geringsten von seiner Braut
entzückt zu sein, — ist schrecklich. Um ein wenig zu Sin-
nen zu kommen und mich an den Gedanken zu gewöhnen,
hatte ich beschlossen, meinen ursprünglichen Plan nicht
aufzugeben und für einen Monat aufs Land zu gehen. Das
habe ich denn auch gethan. Das stille ländliche Leben im
Kreise sehr lieber Menschen und inmitten einer herrlichen
Natur, hat sehr wohlthuend auf mich eingewirkt. Ich be-
ruhigte mich bei dem Gedanken, dass Niemand seinem
Schicksal entrinnen könne und dass in meiner Begegnung
mit jenem Mädchen Etwas Fatalistisches liege. Ausserdem
weiss ich aus Erfahrung, dass oft das schreckliche, beun-
ruhigende Unbekannte sich in Wirklichkeit als Etwas sehr
Förderliches erweist, und umgekehrt: wie oft erlebt man
- 384 -
Enttäuschungen an dem erhofften und erstrebten Glück. Es
komme, was da komme! — Jetzt einige Worte über meine
Gattin in spe. — Sie heisst Antonina Iwanowna Miljukowa
und ist 28 Jahre alt. Auch recht hübsch ist sie. Ihr Ruf
ist makellos. Sie wohnt — aus Liebe zur Selbständigkeit
und Unabhängigkeit — allein, trotzdem sie eine liebende
Mutter besitzt. Sie ist absolut arm und von mittlerem Bil-
dungsgrad, auch ist sie, augenscheinlich, gut und anhänglich.
Im Laufe des Juni Monat habe ich einen grossen Teil
der Oper fertiggemacht und hätte gewiss auch noch mehr
erzielen können, wenn nicht mein alarmierter Seelenzu-
stand. Die Wahl meines Sujets habe ich keinen Augen-
blick bedauert. Ich kann es garnicht fassen, Nadeshda Fi-
laretowna, wie es möglich ist, dass Sie — die Sie die Musik
so lieben — Puschkin nicht anerkennen, welcher kraft sei-
nes genialen Talentes so oft die engen Schranken der
Dichtkunst durchbricht und in das unermessliche Reich
der Musik eindrmgt. Das ist keine Phrase. Unabhängig
von dem Inhalt der dichterischen Form, liegt in seinen
Versen selbst, d. h. in der Aufeinanderfolge der Laute ein
gewisses Etwas, was in das Innerste der Seele dringt.
Dieses „Etwas" ist eben Musik.
Sie können mir wünschen, dass ich angesichts der mir
bevorstehenden Lebensveränderung nicht den Mut verliere.
Gott sieht es, dass ich in Bezug auf die Gefährtin meines
Lebens die lautersten Vorsätze habe, und dass — wenn wir
Beide unglücklich werden sollten -nicht ich daran Schuld
haben werde. Mein Gewissen ist rein. Wenn ich ohne
Liebe heirate, so liegt das daran, dass die V^erhältnisse es
so mit sich gebracht haben: ich konnte ja nicht anders
handeln. Ich habe mich leichtsinnig ihrem ersten Liebes-
geständniss hingegeben; ich hatte ihr damals garnicht ant-
worten sollen"....
Eine solche wissentlich späte Meldung sandte Peter II-
jitsch auch nach Kamenka an seine Schwester Alexandra
Iljinischna Dawidowa und an seinen Bruder Modest.
Wie Peter Iljitsch es vorausgesehen, hat diese Nachricht
nur seinen Vater Ilja Petrowitsch erfreut. Folgendes ant-
wortete
I. P. Tschaikowsky an Peter Iljitsch:
„Pawlowsk, d. 27. Juni 1877.
Mein lieber und teurer Sohn Peter! Toly hat mir Dei-
ivjn Brief übergeben, in welchem Du mich um meinen
-385-
Segen für die Heirat bittest. Dieser Brief hat mich hoch er-
freut und entzückt, sodass ich mich vor Freude bekreuzigt
und in die Höhe gesprungen bin. Gott sei gelobt!! Der
Herr segne Dich! Icli zweifle nicht, dass Deine Erwähke
desselben Zeugnisses wert ist, welches Dir Dein Vater —
ein 83 jähriger Greis, — auszustellen vermag, desgleichen
auch seine ganze Familie und — wahrlich — auch die ganze
übrige Menschheit, mit der Du bisher in Berührung ge-
kommen bist.
Ist's nicht so, meine liebe Antonina Iwanowna? Seit
Gestern bitte ich Sie sehr um die Erlaubniss, Sie meine
mir von Gott beschiedene Tochter nennen zu dürfen und
empfehle Ihnen, Ihren auserwählten Bräutigam und Ge-
mahl zu lieben, denn er ist in Wahrheit dessen wäirdig.
Und Du, lieber Bräutigam, teile mir mit, an welchem Tag
und zu w^elcher Stunde die Trauung vor sich gehen soll;
ich will selbst kommen (bist Du damit einverstanden?) und
Dich segnen"....
Von allen Verwandten konnte nur Anatol nach Moskau
kommen, aber auch er kam zu spät, um das wahnwitzige
Unternehmen Peter Iljitsch's zu vereiteln.
Am 6. Juli fand die Hochzeit statt.
Ich wage es nicht, die traurige Geschichte der Folgen
dieser Heirat in allen ihren Einzelheiten zu erzählen, denn
erstens besitze ich in dieser Angelegenheit nicht den nö-
tigen Grad von Unparteilichkeit; zweitens habe ich keiner-
lei Zeugnisse des altera pars in Händen, auch keine Hoff-
nung, jemals zu einem derartigen Zeugniss zu gelangen;
drittens, endlich, möchte ich nicht das berechtigte Zart-
gefühl verschiedener auch Heute noch lebender Personen
verletzen. Nur Eines will ich sagen: von den ersten Ta-
gen, ja — ersten Stunden seines Ehelebens an musste Pe-
ter Iljitsch den ganzen Leichtsinn, die ganze Unvernunft
seiner That auf das Schwerste büssen und war tief un-
glücklich.
Am Abend nach der Hochzeit reisten die Neuvermähl-
ten nach Petersburg und kehrten nach acht Tagen wieder
nach Moskau zurück.
Peter Iljitsch an Frau von Meck:
„Moskau, d. 15. Juli 1877.
...Morgen oder Uebermorgen reise ich mit meiner Frau
zu ihrer auf dem Lande lebenden Mutter. Wir wollen dort
Tschaikousky, M. P. I. Tschaikowbky's Leben. 25
-386-
5 — 6 Tage bleiben und dann wieder nach Moskau zurück-
keliren. Und dann — weiss ich nicht, was werden soll.
Ich kann noch garnicht mit Bestimmtheit sagen, ob icli
glücklich bin oder nicht. Nur Eines weiss ich: ich bin abso-
lut nicht mehr im Stande zu arbeiten, und das ist das
Symptom einer unruhigen, unnormalen Seelenstimmung.
Leben Sie wohl, meine liebe und teure Freundin; was
immer mir auch drohen mag, — der Gedanke an Sie tröstet
und beruhigt mich. Ihre Freundschaft wird stets die Freude
meines Lebens bleiben".
Nach der Rückkehr von Frau Miljukowa wurde be-
schlossen, dass Peter Iljitsch allein, ohne Frau, zuerst nach
Kamenka und dann in den Kaukasus reisen sollte, um eine
Kur durchzumachen.
Am 26. Juli schreibt er an Nadeshda Filaretowna:
„Nach einer Stunde reise ich ab. Noch einige Tage
und — ich schwöre es — ich wäre wahnsinnig geworden".
An N. F. von Meck:
„Kamenka, d. 2. August 1877.
Es sind schon vier Tage her seit ich hier bin. Ich fand
hier die nächsten und teuersten meiner Verwandten ver-
sammelt, d. h. ausser meiner Schwester und ihrer Fami-
lie sind noch meine zwei liebsten Brüder anwesend. Der
hiesige Arzt, meine Schwester und die Brüder haben mich
überredet, den Essentuky - Brunnen hier zu trinken. Sie
befürchten, dass in Essentuky selbst (einem sehr lang-
weiligen Ort) ich meinem Trübsinn verfallen könnte, und
dann würde die ganze Kur ihre Wirkung verfehlen. Es
ist mir eine so grosse Freude, eine Zeitlang inmitten meiner
Lieben bleiben zu dürfen, dass ich nicht lange zu wider-
sprechen vermochte. So habe ich denn beschlossen, drei
Wochen hier zu bleiben, dann eine kleine Tour nach der
Krim oder einem andern schönen Erdenwinkel zu machen,
um zum I. September nach Moskau zurückzukehren.
Wenn ich sagen wollte, dass mein normales Befinden
wiedergekommen sei, so würde ich lügen. Das ist aber
auch unmöglich. Nur die Zeit kann mich heilen, und ich
zweifle nicht im mindesten daran, dass die Genesung nach
und nach eintreten wird. Die mich umgebenden Personen
wirken sehr wohlthuend auf meine Seele. Ich bin ruhig
und beginne, ohne Furcht der Zukunft ins Auge zu sehen.
Eines ärgert mich nur: ich bin absolut noch nicht im Stande,
- 38? -
die Arbeit wieder aufzunehmen. Dabei sollte gerade die
Arbeit das mächtigste Mittel sein gegen den krankhaften
Zustand meines moralischen Ich. Will hoffen, das der
Durst nach Arbeit sich bald einstellen wird".
An Frau von Meck:
,,ii. August 1877.
....Ich fühle mich ganz bedeutend besser... Ich muss
gestehen, dass ich im Unglück eine grenzenlose Feigheit
und vollständige Abwesenheit von Männermut zur Schau
getragen habe. Jetzt schäme ich mich, dass ich bis zu
einem solchen Grade den Mut verlieren und mich der
finstern, nervösen Exaltation hingeben konnte. Verzeihen
Sie bitte, dass ich Ihnen so viel Beunruhigung und Sorge
verursacht habe.
Ich hin fest davon überzeugt, dass ich jetzt als Sieger
aus der etwas schwierigen und kitzligen Situation hervor-
gehen werde. Es thut Not, das Gefühl der Entfremdung
gegenüber meiner Frau in mir auf das nachdrücklichste
zu bekämpfen, und zur Einsicht aller ihrer guten Eigen-
schaften zu gelangen. Denn gute Eigenschaften besitzt sie
ohne Zweifel.
Mein Befinden hat sich derart gebessert, dass ich die
Instrumentation Ihrer Symphonie in Angriff nehmen konnte.
Einer meiner Brüder, auf dessen Urteil ich mich verlassen
kann, ist mit dem, was ich ihm aus dieser S3'mphonie vor-
gespielt habe, sehr zufrieden geblieben. Ich hoffe, dass sie
Ihnen ebenfalls gefallen wird. Das ist die Hauptsache".
An N. F. von Meck:
„Kamenka, d. 12. August 1877.
Unsere S^anphonie macht Fortschritte. Der erste
Satz wird mir bei der Instrumentierung recht viel Mühe
kosten. Er ist sehr kompliziert und lang; gleichzeitig ist
er aber auch, wie mir scheint, der bedeutendste. Dafür
sind die andern drei Sätze sehr einfach, und es wird sehr
lustig sein, sie zu instrumentieren. Das Scherzo dürfte
einen neuen Klangeffekt bringen, von dem ich recht viel
halte. Zuerst spielt nur das Streichorchester allein, und
zwar durchweg pizzicato. Im Trio setzen die Holzbläser
ein und spielen auch ganz allein. Zum Schluss werfen
-388-
alle drei Gruppen, eine der andern kurze Phrasen zu. Ich
glaube, dass die Klangwirkung sehr interessant sein Avird".
An A. Tschaikowsk}-:
..Kamenka, d. 27. August 1877.
....Uebermorgen ist es bereits eine Woche, seit Du
von hier fort bist. Obwohl ich grosse Sehnsucht nach Dir
habe, spüre ich garkeine Lust, von hier abzureisen. Dank
der Anwesenheit Modi's vergeht die Zeit recht angenehm.
Meine Abreise habe ich bis Dienstag aufgeschoben, und
weiss noch nicht, ob wir nach Odessa fahren werden,
oder direkt nach Kiew.
Ich bin, wie früher, ein geradezu tollwütiger Jäger:
feuere täglich nahezu 30 Schüsse ab.
Die Instrumentation des ersten Bildes ist fertig und
ich bearbeite jetzt den Klavierauszug".
An Frau von Meck:
„Kamenka, d. 30 August 1877.
Das Wetter w^rd nach und nach herbstlich, die Fel-
der sind kahl, und es ist Zeit für mich aufzubrechen. Meine
Frau schreibt, dass unsere Wohnung bald fertig sein wird.
Sie fragen, wie es um meinen „Eugen Onegin" stehe.
Die Oper ist hier nur wenig vorangeschritten, trotzdem
habe ich das erste Bild des ersten Aufzuges bereits instru-
mentiert.— Jetzt, da die Begeisterung verflogen ist, kann
ich diese Komposition etwas objektiver beurteilen: ich
glaube nicht, dass sie jemals Erfolg haben und die Auf-
merksamkeit der grossen Masse des Publikums erregen
wird. Der Inhalt ist so unraffiniert, bietet garkeine Bühnen-
effekte, und auch die Musik ist jeglichen Glanzes, jegli-
cher verblüffender Knalleffekte baar. Nur einige Auser-
wählte werden, vielleicht, beim Anhören dieser Musik
durch die Gefühle und Empfindungen, w^elche mich wäh-
rend der Komposition umflutet haben, ein wenig gerührt
sein. Damit will ich nicht gesagt haben, dass meine Mu-
sik zu schön und für das Verständniss des „Pöbels" uner-
reichbar sei. Ich verstehe es überhaupt nicht, wie es mög-
lich ist, absichtlich für den „Pöbel" oder für Auserwählte
zu schreiben: ich vertrete die Ansicht, dass man so schrei-
ben soll, wie es das unmittelbare innere Bedürfniss ge-
bietet, ohne zu überlegen ob man diesem oder jenem Teil
-389 -
der Menschheit einen Gefallen damit thut. Ich schrieb den
„Onegin", ohne nebensächUche Zwecke damit zu verfol-
gen. Daher kam es, dass diese Oper im Theater nicht
interessant sein wird; Diejenigen, also, welche in der Oper
auf die Handlung das Hauptgewicht legen, werden un-
befriedigt bleiben. Solche aber, w^elche fähig sind, in der
Oper die musikalische Illustration auch untragischer, unthe-
atralischer— einfacher, alltäglicher, allgemeinmenschlicher —
Gefühle und Empfindungen gelten zu lassen. Solche wer-
den (hoffe ich!) Gefallen an meinem Werk finden. Kurz,
meine Musik kommt vom Herzen, und auf diesen Umstand
setze ich all' meine Hoffnungen. Wenn ich mit der Wahl
meines Textes einen Missgriff gemacht, d. h. wenn die
Oper sich nicht auf dem Repertoir halten sollte, so wird
mich das nur wenig betrüben. Letzten Winter hatte ich
einige interessante Gespräche mit dem Schriftsteller, Gra-
fen L. N. Tolstoi gehabt, welche mir über Vieles die Au-
gen geöffnet haben. Er hat mich überzeugt, dass derje-
nige Künstler, welcher nicht aus innerstem Antrieb schafft,
sondern vielmehr mit der feinen Berechnung der Wirkung,
w^elcher sein Talent vergewaltigt, um dem Publikum zu
gefallen, — derjenige ist kein echter und rechter Künstler,
das Resultat seiner Mühe ist nicht unvergänglich, die
Erfolge sind nur ephemär. Ich glaube sehr an diese
Wahrheit".
An Frau von Meck:
„Moskau, d. 12. September 1877.
....Ich war noch nicht im Konservatorium. Heute erst
beginnen meine Stunden. Die Wohnungseinrichtung lässt
Nichts zu wünschen übrig. Meine Frau hat xAlles aufgebo-
ten, um mich zufriedenzustellen. Mein Heim ist wirklich
gemütlich und nett. Alles ist sauber, neu und schön.
Die Instrumentation des ersten Satzes der Symphonie
ist fertig. Jetzt will ich einige Tage verstreichen lassen
ohne zu arbeiten, um mich den neuen Verhältnissen erst
ein wenig anzupassen. Jedenfalls wird die Symphonie noch
vor dem Beginn des Winters fertig werden".
An A. Tschaikowsky:
„Moskau, d. 12. September 1877.
....Meine arme Frau hat bei der Einrichtung der Woh-
— 390 —
nung viele schwere Momente überstanden; in Erwartung
meiner Ankunft hat sie schon zwei Köchinnen gewechseh.
Mit einer von diesen war sie sogar beim Friedensrichter:
zweimal w^urde sie bestohlen, und sass infolgedessen die
letzten Tage ununterbrochen zu Hause, da sie es nicht
riskieren wollte, die Wohnung der Obhut der Köchin
anzuvertrauen. Dafür bin ich aber mit der Einrichtung
der Wohnung sehr zufrieden: Alles hübsch, nett, sogar
nicht ohne Luxus".
Bald darauf erkrankte Peter Iljitsch. Unter dem Vor-
wand eines Telegramms, das ihn eiligst nach Petersburg
abberief, verliess er am 24. September plötzlich Moskau
in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand.
Anatol erzählt, dass Peter Iljitsch bei der Ankunft auf
dem Nikolai -Bahnhof in Petersburg nicht wiederzuerken-
nen gewesen sei: so sehr habe sich sein Gesicht in Mo-
natsfrist verändert. Vom Bahnhof wurde er in das nächste
Hotel (Hotel Dagmar) gebracht, wo er nach einem äusserst
heftigen Nervenanfall in Bewusstlosigkeit verfiel, welche
nahezu 48 Stunden anhielt. Nachdem die scharfe Krisis
vorbei war, meinten die Aerzte, die einzige Möglichkeit
einer vollkommenen Genesung liege in einer radikalen
Veränderung der Lebensverhältnisse des Kranken. Anatol
reiste sofort nach Moskau, ordnete auf das Eiligste alle
Angelegenheiten Peter Iljitsch's, empfahl Antonina Iwa-
nowna einstw^eilen der Fürsorge seiner Familie, und entführte
dann Peter Iljitsch schleunigst ins Ausland.
Peter Iljitsch selbst hat nie in seinem Leben — weder
damals, noch später — weder mündlich, noch in seinen
Briefen — auch nur mit einem Wort die Schuld an dem
traurigen Ausgang seiner Ehe Antonina Iwanowna zu-
geschrieben; deshalb kann auch ich nicht dieses Kapitel
schliessen, ohne den letzten Schatten einer Verdächtigung
oder Verantwortlichmachung für das Geschehene von ihr
zu nehmen.
Peter Iljitsch behauptete selbst, dass sie „stets ehrlich
und aufrichtig gehandelt, ihn niemals wissenthch betrogen
habe, und gegen Wunsch und Willen die Ursache des
tiefsten Herzeleids und schrecklichsten Unglücks" ihres
Gatten geworden sei.
Ueber Peter Iljitsch's Benehmen gegenüber seiner Frau
muss selbst der strengste Richter dasselbe aussagen: er war
stets ehrlich und offen, und dachte nie daran, sie zu be-
trügen. Sie Beide hatten unter der Einwirkung einer un-
— 391 —
normalen und fatalen Erregimg geglaubt, sie hätten sich
gegenseitig Alles gesagt und einander verstanden, und
die ehrlichste Ueberzeugung gehabt, dass sie zu einander
passten. Und erst als sie sich näher getreten waren, wurden
sie Beide mit Schrecken gewahr, dass sie sich noch lan-
ge nicht ausgesprochen hätten, dass zwischen ihnen ein
ganzer Abgrund von Missverständnissen liege, л¥е1сЬег nie
und nimmer überbrückt werden könne, dass sie bis dahin
Beide Avie im Traum gewandelt seien und sich gegensei-
tig in Allem betrogen haben, ohne es zu wollen.
Die Trennung war unter solchen Umständen der einzige
Ausweg, das einzige Mittel zum Wiedergewinn der See-
lenruhe Beider und zur Rettung des Lebens Peter Iljitsch's.
Am 3. Oktober traf Peter Iljitsch in Begleitung seines
Bruders Anatol in Berhn ein. Die gefährlichste Periode
der Krankheit war vorüber und eine langsame Genesung
nahm ihren Anfang. ^
r^isr
III.
Als Aufenthaltsort hatte Peter Iljitsch anfangs Ciarens
gewählt uud mietete sich da in der dicht am Ufer des
Genfer Sees gelegenen Villa Richelieu ein.
Geld hatte er „ nur für 4 bis 6 Wochen genug " . Er
hatte aber absolut keine Lust, nach Ablauf dieser Frist
nach Moskau zurückzukehren und seine Stunden im Kon-
servatorium fortzusetzen. Abgesehen davon, war aber auch
sein Organismus von der überstandenen Nervenkrankheit
noch so schwach und ruhebedürftig, dass wenigstens ein
ganzes Jahr nötig war, um ihn ganz wieder herzustellen.
Eine leise Hoffnung, im Laufe des Winters etwas Geld
zu erhalten, setzte Peter Iljitsch darauf, dass der Direktor
des Petersburger Konservatoriums K. J. Dawidoff ihn als
Delegirten für die bevorstehende Weltausstellung in Pa-
ris vorschlagen wollte. Diese Hoffnung war aber noch
ziemlich zweifelhaft, und selbst im Falle ihrer Verwirkli-
chung Avar das Amt eines Delegirten gerade für Peter
Iljitsch wenig anziehend, denn es erforderte ausser einer
— 392 —
energischen Thätigkeit viel Umgang mit Mensciien, während
der Gesundheitszustand, namentUch aber der Geisteszu-
stand Peter Iljitsch's absoluter Ruhe bedurfte.
Trotzdem wünschte Peter Iljitsch eine Ernennung zum
Delegirten, denn das war die einzige Möglichkeit, länge-
re Zeit von Moskau fortzubleiben.
Diese Sorge um seine Zukunft vergiftete einigermassen
die wohlthuenden Tage der Einsamkeit im stillen Ciarens.
Um diese Sorge loszuwerden, blieb Peter Iljitsch Nichts
Anderes übrig, als die Freundschaft N. G. Rubinsteins
und N. F. von Meck's'in Anspruch zu nehmen.
Auf die Bitte Peter Iljitsch's, seine Geldangelegenheiten
mit dem Konservatorium zu regeln und ihm mitzuteilen,
wie es um den Delegiertenposten stünde, antwortete Niko-
lai Gregorjewitsch:
„Oktober 1877.
Lieber Freund Peter Iljitsch, Du kennst meine lako-
nische Art und wirst es daher nicht übelnehmen, dass
ich mich keinen Gefühlsergüssen, alias Mitgefühlsäusse-
rungen, Hoffnungen etc. hingebe, sondern direkt zur Sache
gehe. Von der Pariser Ausstellung hat Dir Modest, wahr-
scheinlich, schon geschrieben. Dawidoff und ich, wir Beide
haben Dich als Delegirten Russlands in Vorschlag ge-
bracht; ob aber mit diesem Amt ein Gehalt verbunden sein
лvird, ist noch fraglich. Im Konservatorium behelfen wir
uns einstweilen, so gut es geht, ohne Dich; einen neuen
Lehrer will ich nicht engagieren, solange die Hoffnung
vorhanden ist, dass Du zurückkehren wirst. Die Direktion
hat beschlossen, Dir das ganze, von der Oekonomie Deiner
Klassen übrigbleibende Geld — nach Abzug Deiner Schuld —
während der Dauer eines Jahres in monatlichen Raten
ins Ausland zu senden. Das dürfte im Ganzen etwa 1200 —
1300 Rubel ausmachen; wir wollen Deine Adresse wissen,
um mit den Sendungen zu beginnen. In Betreff Deiner
Oper und Symphonie kann ich Nichts im Voraus sagen:
schreibe was Du лvillst, und schick'es uns recht bald; wir
werden schon unser Möglichstes thun; mit unsern Schü-
lern ist es unmöglich zu bestimmen, wann Etwas einstu-
diert sein kann.
Versuche Dich zu beruhigen, schone Deine Gesundheit
und fürchte Nichts. Du bist als Musiker viel zu hoch ge-
stellt, um durch nebensächliche Dinge kompromittiert wer-
den zu können.
Dein treuer Freund N. Rubinstein".
— 393 —
An N. G. Rubinstein:
„Ciarens, d. 20. Oktober 1877.
Lieber Freund, beinahe hätte ich mich ein wenig geär-
gert, da ich so lange keine Nachricht von Dir erhielt;
Heute ist sie aber eingetroffen. Sie hat mich sehr beru-
higt und ich bin Dir sehr dankbar dafür. Es freut mich,
dass ich darauf rechnen kann, bei meiner Rückkehr wie-
der in meine Stellung einzurücken. Ich habe Moskau sehr
gern und habe mich im Konservatorium so eingelebt, dass
es mir sehr weh thun würde, für immer zu scheiden. Das
Geld, welches Du mir zu senden versprichst, genügt vollkom-
men (trotz dem niedrigen Kurs), um meinen Aufenthalt
im Ausland bis zum nächsten Jahr sicher zu stellen, und
ich kann Dir garnicht sagen, wie dankbar ich Dir dafür
bin. Nur habe ich eine Bitte: würde es, vielleicht, möglich
sein, mir sofort den vierten oder dritten Teil der ganzen
Summe auf einmal zu senden? Es handelt sich darum,
dass T0I3' in Monatsfrist nach Hause reisen muss und dazu
eine grössere Summe Geldes braucht. Ausserdem bitte ich
sehr, mir das Geld in Form einer Anweisung zu schicken,
und nicht in Banknoten. Du glaubst garnicht, wie schwer
es jetzt ist, unser Papiergeld zu wechseln: erstens, nimmt
man es an kleineren Orten überhaupt nicht, da dort der
Kurs unbekannt ist; zweitens, ist es zum Verzweifeln,
wie niedrig es im Wert steht, sodass man nur Aerger
beim Wechseln hat. Ich würde es vorziehen, eine Anwei-
sung zu bekommen. Nochmals besten Dank, lieber Freund.
Ich bin mit der Instrumentierung des ersten Aktes „One-
gin's" fertig; muss nur noch die Zeichen und Ueberschriften,
eintragen. Der Klavierauszug, befindet sich unten in der
Partitur. Nach Ankunft der Partitur lass, bitte, sofort den
Klavierauszug nebst Singstimmen abschreiben. Ich möchte
Dich um Folgendes bitten: wäre es möglich, den ersten
Aufzug und das erste Bild des zweiten Aufzuges in der
öffentlichen Schülervorstellung zur Aufführung zu brin-
gen? Die ganze Oper werde ich wohl kaum zur Zeit fer-
tig haben, zumal da es mich jetzt zur S3'mphonie zieht,
welche ich für das Beste halte, was ich bis jetzt geschrieben.
Der erste Akt „ Onegins " und das erste Bild des zwei-
ten würden zusammen eine gute Hälfte des Abends aus-
füllen. Nachher könnte ja noch was Anderes gegeben
werden.
Der erste Akt Avird bald in Deinen Händen sein. Es
— 394 —
würde mich glücklich machen, wenn er Dir gefallen soll-
te. Ich habe ihn mit grosser Begeisterung geschrieben.
Gerade eine Konservatoriumsaufführimg ist mein Ideal.
Die Oper ist nämlich, für bescheidene Mittel und eine klei-
ne Bühne berechnet".
N. G. Rubinstein an P. J. Tschaikowsky:
„Freund Peter! Freue mich sehr, dass Du dich erholst
und nach und nach wieder zu arbeiten beginnst.
Auf den „Onegin" bin ich sehr gespannt. Sei so gut,
die Rollen zu verteilen. Selbst, wenn die Besetzung spä-
ter verändert werden müsste, so ist es doch von Wichtigkeit,
Deine Wünsche zu kennen. — Kann man nicht auch auf
die Svmphonie rechnen?
Bleibst Du in Ciarens, oder nicht?
Was soll mit Deiner Wohnung geschehen, und mit
den Möbeln? Wer soll Alexei (der Diener P. J.'s) verpfle-
gen? Einen Teil Deiner Sachen könnte ich nehmen, der
andere Teil müsste in die Rumpelkammer des Konserva-
toriums geschafft werden.
In Betreff des Geldes kann ich Nichts ändern. Der
Beschluss wurde von der Direktion gefasst und Avird auch
nicht durch mich sondern duch Alexejew in Ausführung
gebracht. Ich habe ihm, übrigens, Deinen Wunsch mitge-
teilt.
Ich bin bei Frau von Meck gewesen. Wir haben viel
von Dir gesprochen. Ich glaube, sie will Dir wieder eine
Bestellung zukommen lassen, oder auch direkt Geld senden".
Nikolai Gregorjewitsch hatte sich nicht geirrt: noch
ehe Frau von Meck Peter Iljitsch's Brief mit der Bitte
um eine kleine Unterstützung erhielt, entschloss sie sich,
die Sorge um sein materielles Wohlergehen voll und ganz
auf sich zu nehmen, und bat ihn, eine jährliche Subven-
tion von 6000 Rubel von ihr anzunehmen. — Auf seinen,
einige Tage später an sie gelangten und — wie gewöhnlich
in solchen Fällen — mit Entschuldigungen und Erklärun-
gen überhäuften Brief, sandte sie ihm folgende Antwort:
„....Sind wir denn einander wirklich so fremd? Wissen
Sie denn nicht, Avie sehr ich Sie lieb habe, wie sehr ich
Ihnen Gutes wünsche? Meiner Ansicht nach sind es nicht
blutsverwandtschaftliche Beziehungen, welche Einem ge-
wisse Rechte einräumen, sondern die Gemeinsamkeit der
Gefühle und moralischen Eigenschaften. Sie wissen, wie-
— 395 —
viele glückliche Momente Sie mir verschaffen, wie dank-
bar ich Ihnen dafür bin, wie unentbehrlich mir diese Mo-
mente sind, und vj'ie sehr ich es nötig habe, dass Sie als
Derjenige bleiben, als welcher Sie geschaffen sind; folglich
thue ich das, was ich thue, nicht für Sie, sondern nur
für mich. Warum wollen Sie mir das Vergnügen verbit-
tern, für Sie zu sorgen? Durch Ihre Entschuldigungen,
durch Ihren Gram darüber, mich um Geld bitten zu müs-
sen, deuten Sie doch nur an, dass ich Ihnen nicht nahe
genug stehe; das thut mir weh... Wenn ich Etwas von
Ihnen brauchen sollte, Avürden Sie es mir doch gewiss
geben, nicht wahr? Also sind лvir c|uitt.
Peter Iljitsch, ich weiss nicht, wie Sie darüber den-
ken, ich meinerseits wünsche nicht, dass Jemand Etwas
über unsere Freundschaft und unsere Korrespondenz er-
fährt. Daher habe ich während der Unterredung mit Ni-
kolai Gregor je witsch von Ihnen so gesprochen, alswenn
Sie mir nichts weniger als nahe stünden; mit verstellter
Neugier habe ich ihn über Sie ausgefragt, w^hin und
weshalb Sie fortgereist wären, wie lange Sie im Auslande
bleiben wollten, u. s. w.. Er gab sich, wie es schien, grosse
Mühe, mich für Sie mehr zu interessieren, ich blieb aber
in der kühlen Rolle einer blossen Verehrerin Ihres Ta-
lentes".
So wurde denn Peter Iljitsch, dank seiner Freundin,
in materieller Beziehung ein unabhängiger und sogar
wohlhabender Mann. Ein neues Leben begann für ihn, ein
Leben, wie es ihm bis dahin als ein unerreichbares Ideal,
als ein unerfüllbarer Traum in seiner Phantasie oft vor-
gesch\vebt hatte, ein Leben voller Freiheit, welche ihm
für seine schöpferische Thätigkeit so unentbehrlich w^ar.
Nun konnte und durfte er, nicht nur die Zeit so ausnut-
zen wie es ihm beliebte, sondern auch seine äusseren Le-
bensverhältnisse sich selbst nach ureigenstem Wunsch ge-
stalten und wählen.
Щ0
IV.
Infolge einer solchen Wendung der Dinge gab Peter
Iljitsch seinen ursprünglichen Plan, den ganzen Winter in
— 39б —
Ciarens zu bleiben, auf, und teilte seine nunmehrigen Ab-
sichten in seinem Dankschreiben an Frau von Meck wie
folgt mit:
„Ich will hier nur so lange bleiben, bis ich dank Ihnen
die Möglichkeit erhalte, nach Italien zu reisen, wohin es
mich mit aller Gewalt zieht. Hier ist es sehr schön, sehr
ruhig, — nur etwas düster.
Sie schreiben, dass die Freiheit unerreichbar sei, dass
es kein Mittel gebe, sie zu erlangen. Absolute Freiheit
giebt es, freilich, nicht. Aber selbst diese relative Freiheit,
die ich augenblicklich geniesse, ist für mich das höchste
Glück. Wenigstens kann ich jetzt arbeiten. Das Arbeiten
in Gegenwart eines Menschen, der mir äusserlich so na-
he stand, innerlich aber so fremd war, — erwies sich für
mich als ein Ding der Unmöglichkeit. Das war eine schwere
Prüfung, die ich durchgemacht habe...".
An N. F. von Meck:
„Ciarens, d. 25. Oktober 1877.
Ihr Brief atmet soviel Wärme, soviel Freundschaft,
dass er allein genügen würde, die Liebe zum Leben in
mir wieder anzufachen und mich alles Unheil ertragen zu
lehren. Haben Sie Dank für Alles das, teuerste Freundin.
Ich glaube nicht, dass sich mir jemals Gelegenheit bieten
könnte, Ihnen durch die That zu beweisen, dass ich zu
jedem Opfer für Sie bereit bin; ich glaube auch nicht,
dass Sie sich jemals gezwungen sehen w^erden, mit der
Bitte an mich heranzutreten, Ihnen einen grossen Freund-
schaftsdienst zu erweisen, — so bleibt mir denn also Nichts
anderes übrig, als Sie durch meine Musik zu bedienen
und zu erfreuen. Nadeshda Filaretowna, eine jede Note,
die in Zukunft meiner Feder entspringen wird, sei Ihnen
gewidmet! Ihnen werde ich es zu verdanken haben, wenn
die Lust zum Arbeiten mit doppelter Kraft in mir лvieder
einsetzen wird! Niemals, keinen Augenblick w^erde ich es
beim Arbeiten vergessen, dass Sie mir die Möglichkeit ge-
ben, meinen Künstlerberuf fortzusetzen. Vieles, gar Vieles
bleibt mir noch zu schaffen übrig! Ohne falsche Beschei-
denheit will ich Ihnen sagen, dass Alles was ich bis jetzt
geschrieben, mir so unvollkommen, so schwach erscheint
im Vergleich zu dem, was ich leisten lami und muss^ —
und luerde.
Mit dem Ort meines gegenwärtigen Aufenthaltes bin
397 —
ich sehr zufrieden. Unabhängig
davon, dass ich aus meinen
Fensterneinenherrhchen Blick
auf den See, die Berge von
Savo^^en und den Dent du Midi
geniesse, gefällt mir aber auch
die Villa selbst, in welcher
ich mit meinem Bruder wohne,
sehr. Ausser uns Beiden woh-
nen hier nur noch zwei kranke
Frauen, welche aber ihre Zim-
mer niemals verlassen. An der
table d'hote sitzen wir stets
allein. Die Ruhe und Stille ist
herrlich. Ich muss aber ge-
stehen, dass mich unablässig
der Gedanke verfolgt, längere
Peter Iljitsch Tschaikowskv, im Jahre 1877. Zclt 1п Italien ZUZubrlngCU, SO-
dass ich beschlossen habe, nach
IG — 14 Tagen zusammen mit meinem Bruder nach Rom zu
reisen, und auch weiter nach Neapel oder Sorrento. Ha-
ben Sie jemals die Empfindung gehabt, welche, wahrschein-
lich, keinem nordischen Bewohner erspart bleibt, nämlich,
jene Sehnsucht nach weiten Ebenen, nach einem freien
Horizont, nach einer unendlichen Ferne, — eine Sehnsucht,
die sich — bei mir, wenigstens, — stets nach einigen Tagen
Aufenthaltes im Gebirge einzustellen pflegt. Das ist auch
der Grund, лveshalb ich trotz der grossartigen Schön-
heit dieser Gegend nach Italien, und zwar am liebsten
nach Neapel reisen möchte. Unterwegs möchte ich mich
einige Tage in Rom aufhalten, um jenen überwältigend
grandiosen Eindruck zu erneuern, welchen die Peters-
kirche und dass Colosseum vor vier Jahren auf mich ge-
macht haben. Also Ihren nächsten Brief, meine liebe Freun-
din, senden Sie mir nach Rom, poste restante; sobald
ich mir eine geeignete Wohnung für einige Monate gefun-
den haben werde, will ich Ihnen meine Adresse sofort
mitteilen. Nach und nach beginne ich wieder zu arbeiten
und kann schon jetzt mit Bestimmtheit sagen, dass unsere
Symphonie spätestens im Dezember fertig werden wird,
sodass Sie sie noch in dieser Saison zu hören bekommen
können. Möge diese Musik, welche mit dem Gedanken an
Sie so innig verknüpft ist, Ihnen zu erkennen geben, dass
ich Sie mit ganzer Seele, von ganzem Herzen lieb habe,
oh meine beste und unvergleichliche Freundin!"
- 398 -
An N. G. Rubinstein:
„Ciarens, d. 27. Oktober 1877.
Gestern erhielt ich Deine Geldanweisung. Besten
Dank, lieber Freund. Der Kurs ist in der That erschrek-
kend, der Bankier sagte mir aber, dass er jetzt wieder
langsam in die Höhe ginge. Wie dem auch sei, wenigstens
bin ich jetzt für ein ganzes Jahr versorgt.
Den I. Akt des „Onegin" hatte ich Dir schon vor vier
Tagen abgeschickt, zu meinem Schrecken, jedoch, kam er
von der Post zurück: das Papier, in das er eingeschlagen
gewesen, war nämlich in Stücke gerissen. Ich musste die
Partitur in Wachstuch wickeln, sodass sie erst Heute wie-
der an Dich abgegangen ist. Oh, wie würde ich froh sein,
wenn Dir die Musik gefallen sollte! Lenke, bitte, Deine
besondere Aufmerksamkeit der Szene Tatjana's mit ihrer
alten Pflegerin und dem Arioso Lensk^^'s zu. Es scheint
mir, dass auch die erste Nummer nicht ohne einigen pi-
kanten Klangreiz sein dürfte. Das zweite Bild werde ich
Dir in etwa drei Wochen zusenden...."
An N. F. von Meck:
„Ciarens, d. 30. Oktober 1877.
So oft ich Alles, was mir widerfahren ist, ordent-
lich überdenke, komme ich zu dem Schluss, dass es eine
Vorsehung giebt, welche sehr um mich besorgt ist. Nicht
nur, dass ich nicht zu Grunde gegangen bin, da mir kein
anderer Ausweg übrig zu bleiben schien, — nein, ich habe
es jetzt sogar gut, und das Morgenrot des Glücks und
der Erfolge leuchtet mir entgegen. Ich muss Ihnen sagen,
dass meine Natur in Bezug auf die Religion sich in einem
Zwiespalt befindet und ich bis Heute noch zu keiner be-
friedigenden Lösung der Frage gekommen bin.
Einerseits versagt mir mein Verstand die Anerkennung
der Wahrheit des dogmatischen Teils der griechisch-or-
thodoxen, sowie auch aller andern christlichen Kirchen.
Zum Beispiel konnte ich, so oft ich auch darüber nach-
dachte, in der Lehre von der Vergeltung und Belohnung
nie einen Sinn finden. Wie soll man eine scharfe Grenze
zwischen den Lämmlein und Böcken ziehen? Was soll
eigentlich belohnt werden, und was fällt der ewigen Ver-
dammniss anheim? Ebenso unfasslich ist für meinen Ver-
stand der Glaube an das ewige Leben. In dieser Be-
— 399 —
Ziehung bin ich vollständig von der pantheistischen Ansicht
über das zukünftige Leben und die Unsterblichkeit be-
fangen.
Anderseits hat die ganz^ Erziehung, die Gewohnheit
von Kindheit auf und die eingeimpften poetischen Ver-
stellungen von Christus und Allem, was mit seiner Lehre
zusammenhängt, auch auf mich einen so nachhaltigen Ein-
druck ausgeübt, dass ich unwillkürlich im Unglück Ihn
anrufe und im Glück Ihm danke".
An N. F. von Meck:
„Paris, d. I. November 1877.
Teure Nadeshda Filaretowna, ganz unerwartet für mich
selbst reiste ich für einen Tag nach Paris.
Ich hatte mich unterwegs der Hoffnung hingegeben
ein gutes Konzert, oder eine schöne neue Oper (z. B. „Le
Roi de Labore") anzutreffen, habe mich aber — wie es ge-
wöhnlich in solchen Fällen zu sein pflegt — getäuscht: in
der Grossen Oper — reläche, Konzert — ist nicht. In der
Opera -Comique werden drei kleine Stücke gegeben und
vom Theatre L34-ique ist „Paul et Virginie" von Masset
angezeigt, was mich nicht im Mindesten interessiert. So
werde ich denn wieder abreisen müssen, ohne Etwas Inte-
ressantes gehört zu haben. Ich muss Ihnen aber trotzdem
gestehen, dass Paris auf mich, wie gewöhnlich, den an-
genehmsten Eindruck gemacht hat; welch' herrliche, le-
bensprühende Stadt!..."
An Frau von Meck:
„Florenz, d. 6. November 1877.
*
Ich schäme mich eigentlich recht gründlich, Ihnen
einen überaus melancholischen Brief schreiben zu müssen.
Zuerst wollte ich überhaupt nicht an Sie schreiben, dann
aber überwältigte mich der Wunsch, ein wenig mit Ihnen
zu plaudern. Es ist mir unmöglich, Ihnen gegenüber un-
wahrhaftig zu sein, selbst wenn ich die zwingendsten
Gründe dafür hätte. Wir sind ganz zufällig hierher ge-
kommen. In Mailand fühlte ich mich so schlecht, war auch
den ganzen folgenden Tag so unwohl, dass ich beschloss,
einen Tag in Florenz zu bleiben, wozu uns das in Paris
gelöste Billet das Recht giebt, denn es heisst da: l'arret
facultatif pendant 3 jours. Die Hauptsache ist, jedoch,
— 400 —
nicht mein Unwohlsein. Gestern Abend ergriff ich ener-
gische Massregehi, und Heute fühle ich mich bereits bes-
ser; das Schlimmste ist mein Gram, ein brennender, herz-
zerreissender Gram, der miclu keinen Augenblick verlässt.
In Ciarens, wo ich doch inmitten einer absoluten Ruhe
und Stille gewohnt habe, sogar dort überkam mich oft
ein unbeschreiblicher Kummer. Ich konnte mir den Grund
jener Anfälle von Melancholie nicht erklären, und glaubte,
dass die Berge sie hervorriefen.... Welche Naivetät! Ich
redete mir ein, dass ich nur über die Grenze Italiens zu
fahren brauchte^ und — ein Leben voller Freude würde be-
ginnen. Unsinn! — Hier fühle ich mich hundertmal nieder-
geschlagener. Das Wetter ist herrlich, am Tage ist es so
heiss wie im Juli; es giebt hier auch was zu sehen, sich
zu zerstreuen, und doch quält mich ein gigantisches, ein
ungeheuerliches Herzeleid. Und je lustiger, je lebensfroher
die Umgebung, in der ich mich befinde, — um so schlim-
mer. Wie ist das zu erklären, ich weiss es nicht. Ich glau-
be, es ist überhaupt nicht zu erklären. Wenn ich nur
wüsste, was ich thun soll? Wenn ich Alle Diejenigen, mit
denen ich korrespondiere, nicht gebeten hätte, ihre Briefe
nach Rom zu adressieren, so würde ich, wahrscheinHch,
garnicht weiter reisen. Bis Rom muss ich kommen, das
steht fest, was weiter geschehen wird — weiss ich nicht.
Die ungeheure Menge der Sehenswürdigkeiten Roms be-
ängstigt mich. Alles das nicht anzusehen, was es da giebt, —
ist etwas komisch, um es aber anzusehen — muss man nicht
ein geistig und körperlich kranker Mensch sein, wie ich,
sondern ein Tourist, welcher zu seinem Vergnügen reist.
Augenblicklich bin ich aber ganz und gar nicht im Stan-
de, ein Touristenleben zu führen. Das wäre doch unter
den obwaltenden Umständen geradezu lächerlich. Um mit
dem Baedeker in der Hand durch alle Strassen, Museen
und Kirchen von Florenz und Rom zu laufen — müsste
man vor allen Dingen auch Zeit haben; ich bin aber hierher
gekommen, nicht um herumzulaufen, sondern um mich
arbeitend zu erholen. In diesem Augenblick will es mir
scheinen, dass es unmöglich ist, in Italien— und ganz be-
sonders in Rom — zu arbeiten. Ich bereue es fürchterlich,
dass stille und friedliche Ciarens verlassen zu haben, wo
ich mit Erfolg die Arbeit wieder begonnen hatte, und über-
lege schon, ob es nicht besser wäre, dahin zurückzukehren.
Mein Bruder muss mich nach ungefähr 14 Tagen verlas-
sen. Augenblicklich ist er in der Gallerie Pitti, wohin er
— 4°^ —
schon vor zwei Stunden gegangen ist. Sein Fortbleiben
beginnt schon, mich zu beängstigen, und ich erwarte von
Minute zu Minute sein Kommen. Was soll denn später
werden, wenn er erst ganz fort ist? Ich kann nicht ohne
Zittern daran denken. Nach Russland zurückkehren kann
ich nicht, und will ich nicht. So drehe ich mich denn in
diesem cercle vicieux"...
An N. F. von Meck:
„Rom, d. 7. November 1877.
....In aller Frühe sind wir Heute in Rom angekommen.
Mit beklommenem Herzen hielt ich diesmal meinen Ein-
zug in die berühmte Stadt. Wie wahr ist doch das Wort,
dass wir die Freude nicht aus den uns umgebenden Din-
gen schöpfen, sondern aus unserem eignen Innern! Das
wird durch meine diesmalige Reise nach Italien vollauf
bestätigt.
Ich bin noch ein ganz kranker Mann. Ich vertrage
noch nicht das geringste Geräusch; Gestern in Florenz
und Heute in Rom versetzt mich ein jeder vorbeirollen-
de Wagen in wahnsinnige Wut, jeder Laut, jedes Geschrei
zerreisst mir die Nerven. Die Masse der Menschen, wel-
che die schmalen Strassen überflutet, ärgert mich derart,
dass ich einen jeden mir entgegenkommenden Unbekannten
als einen argen Feind ansehe. Jetzt erst kann ich mir die
ganze Dummheit meiner Reise nach Rom vergegenwärti-
gen. Mein Bruder und ich sind eben in der Peterska-
thedrale gewesen: Nichts habe ich davon gehabt als gren-
zenlose körperliche Erschöpfung. Vom Strassenlärm, von
der schlechten Luft, von dem Schmutz garnicht zu reden:
ich weiss, dass mein krankhafter Zustand mich nur die
schlechten Seiten Roms in ihrer ganzen Hässlichkeit wahr-
nehmen lässt, während die Schönheiten dieser Stadt wie
verschleiert vor meinem Auge liegen, — das ist aber ein
dürftiger Trost.
...Gestern beriet ich mit meinem Bruder, was wir nun
thun sollten, und kamen zu folgendem Beschluss. Das
ich die Reise nicht fortsetzen kann — ist klar. Wenn ich
mich in Florenz und in Rom schlecht fühlte, so wird es
w^ohl auch in Neapel nicht anders sein. Nach 14 Tagen
verlässt mich mein Bruder; um nun das Zusammensein
mit ihm etwas zu verlängern, habe ich beschlossen, ihn
bis Wien zu begleiten. Ferner bin ich zu der Ueberzeu-
Tachaikowaky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 26
— 402 —
gung gekommen, dass ich nicht allein bleiben darf. Aus
diesem Grunde will ich meinen Diener, welcher augen-
blicklich in Moskau ein Feiertagsleben führt, zu mir kom-
men lassen. Ich werde ihn in Wien erwarten und dann
mit ihm zusammen wieder nach Ciarens gehen, wo ich
auch zu bleiben gedenke.
Morgen oder Uebermorgen wollen wir nach Vene-
dig reisen, wo wir einige Tage (bis zur Abreise nach Wien) zu
bleiben beabsichtigen. \\\ Venedig ist es still, und ich werde
dort arbeiten können, was für mich am notwendigsten ist"....
An N. G. Rubinstein:
„Rom, d. 8. November 1877.
.Die Ungewissheit, ob Dir der erste Akt gefallen wird
oder nicht, regt mich sehr auf. Bitte verlass Dich nur nicht
auf den ersten Eindruck: er täuscht oft sehr. Ich kompo-
nierte diese Musik mit so viel Liebe und LustI Ganz be-
sonders ans Herz gewachsen ist mir Folgendes: i) das
erste Duett hinter den Coulissen, welches später zum Quar-
tett wird, 2) das Arioso Lensk3^'s, 3) die Szene in Tatja-
na's Gemach, 4) der Chor der Mädchen. Wenn Du mir
schreiben wirst, dass Dir das gefallen hat, und dass es
auch Karl ^) gefallen hat (ich schätze seine Meinung sehr
hochl), dann wird mich das überaus glücklich machen. So-
bald ich das erste Bild des 2. Aktes fertig und an Dich
abgeschickt haben werde, will ich mit Feuereifer an die
Symphonie gehen, und bitte Dich eindringlichst, für die-
selbe einen Platz in einem S3'mphoniekonzert frei zu halten.
Ich danke Dir, lieber Freund, von ganzem Herzen für
alles Das, was Du für mich thust, für Deine lieben Briefe,
aus denen ich mit unendlicher Freude Deine treue Freund-
schaft erkenne. Gott behüte Dich aber, mich vor dem näch-
sten September nach Moskau zurückzuberufen. Ich weiss,
dass ich dort jetzt Nichts ausser den schrecklichsten mo-
ralischen Qualen finden würde".
An M. Tschaikowsky:
„Rom, d. IG. November 1877.
Würde Konradi es nicht möglich machen können.
Dich und Kolja wenigstens für einen Monat zu mir nach
1) K. K. Albrecht.
— 403 —
Ciarens zu senden? Der Kurs ist zwar sehr schlecht aber
dafür ist das Leben dort so billig, ich und Anatol haben
für eine sehr hübsche Wohnung und ausgezeichnete Be-
köstigung, inclusive Bedienung, Wäsche u. s. w. nur 13
Francs täglich bezahlt, also nur 6V-2 Frcs. pro Kopf. Für
Dich und Kolja würde es noch biUiger sein, da Kolja noch
kein Erwachsener ist.
Für mich wäre das eine so grosse Freude, solch ein
Glück, wie ich es kaum zu träumen wage! Eigentlich wollte
ich direckt an Konradi schreiben, doch hat es mir Anatol
nicht erlaubt".
An Frau von Meck:
„Venedig, d. 11. November 1877.
Teure Nadeshda Filaretowna, der letzte Tag in Rom
hat mich für all' mein Ungemach einigermassen entschä-
digt, aber auch ein wenig ermüdet. Am Morgen dieses
Tages musste ich einige Gänge machen, ehe ich die mir
aus Ciarens zugesandte ЗзапрЬоп1е fand. Ich suchte sie
auf der Post, auf der Bahn, in verschiedenen andern Bu-
reaux's. Ueberall war man höflich mit mir, man suchte auch
das Packet, fand es aber nicht. Denken Sie sich meine
Aufregung! Wenn die Symphonie verloren gegangen wäre,
hätte ich gewiss nicht mehr die Kraft, sie aus dem Ge-
dächtniss wieder aufzuschreiben. Zuletzt habe ich energisch
gefordert, dass man genauer nachsehen sollte, und — siehe
da, das Packet fand sich! Das war eine grosse Beruhigung
für mich. Nachher ging ich mit meinem Bruder in das Ca-
pitol. Dort habe ich viel Interessantes gefunden, Manches
hat mich direkt gerührt, so z. B. eine Sculptur, die einen
sterbenden Gladiator darstellt. Leider kann ich nicht das-
selbe von der Capitolinischen Venus behaupten. Sie hat
mich auch diesmal vollständig kalt gelassen. Um 2 Uhr
begaben wir uns in das Schloss der Cäsare, und kehrten
unterwegs in die Villa Borghese ein, um die daselbst befind-
liche Gemäldesammlung anzusehen. Auch hier war ich
fähig, künstlerische Eindrücke zu empfangen. Namentlich
hat mich da ein Bild ergriffen: der Tod eines Heiligen
(Hleronymiis, venn Ich nicht irre) von Domenicchino. Uebri-
gens muss ich Ihnen offen gestehen, dass ich durchaus
nicht der enthusiastischste Liebhaber der Maler-und Bild-
hauerkunst bin, und dass mir das tiefere Verständniss für
die Feinheiten der Bilder und Plastiken abgeht. Ich ermüde
— 404 —
sehr bald in den Gallerieen. Unter einer ganzen Masse von
Kunstwerken finden sich gewöhnhch nur sehr wenige,
höchstens zwei oder drei, welche mein Auge zu fesseln
vermögen; diese studiere ich dann bis in die kleinsten Ein-
zelheiten, suche in ihre Stimmung einzudringen, während
ich alles Uebrige nur oberflächlich durchsehe. Um alle die
Kostbarkeiten, welche Rom birgt, nach ihrem Wert abschät-
zen zu können, müsste ein so schlechter Kunstkenner, wie
ich, wenigstens ein Jahr da bleiben und jeden Tag Etwas
besichtigen. Wie dem auch sei, die Gallerie Borghese wird
iür mich eine angenehme Erinnerung bleiben. Ausser dem
Bild Domenicchino's haben mir einige Rafael's sehr gefal-
len (г. В. das Portrait Cesare Borgia's und Sixtus V.) ^).
Das Grossartigste, aber, das Ueberwältigendste, was
ich je gesehen, ist der Palast der Cäsare! Welch' Riesen-
dimensionen, welche Fülle von Schönheit! Auf Schritt und
Tritt wird man an die grosse Vergangenheit erinnert, man
sucht sie sich zu vergegenwärtigen, und je weiter man
geht, je lebendiger werden in der Phantasie die herrlichen
Bilder. — Das Wetter war prachtvoll. Bei jedem Schritt,
beinahe, gewannen wir einen neuen Blick auf die Stadt,
welche ebenso schmutzig ist wie Moskau, nur viel male-
rischer liegt und bedeutend mehr historischer Denkwür-
digkeiten aufweist. Ganz nahe ist auch das Colosseum, und
die Ruine des Palastes Konstantins -). Alles das ist so
grossartig, so wunderschön, so ausserordentlifhl Ich bin
sehr zufrieden, dass ich unter diesem unauslöschhchen Ein-
druck Rom verlassen habe. Abends wollte ich Ihnen schrei-
ben, war aber vom Kofferpacken so müde geworden, dass
ich die Hand kaum bewegen konnte.
Heute früh um 6 sind wir in Venedig angekommen.
Obwohl ich die ganze Nacht kein Auge zudrücken konnte,
obwohl es bei unserer Ankunft noch ganz dunkel und kalt
war, hat mich die eigenartige Schönheit der Stadt ganz
entzückt. Wir sind im Grand-Hotel abgestiegen. Vor un-
sern Fenstern liegt S. Maria della Salute, ein sehr hüb-
sches, graziöses Bauwerk am Canale Grande. Nur bin ich
unzufrieden, dass in diesem Hotel Afles teuer ist, trotzdem
man mir eingeredet hatte, es sei gut und billig".
1 ) Die NervositSt, an der P. I. damals litt, spiegelt sich auch in den verschiedenen
falschen Ang:aben, die er in diesem Brief macht. So befand sich, beispielsweise, die
Gemäldesammlung, von der er spricht, im Jahre 1877 nicht in der Villa, sondern im Pa-
laz/.o Borghese. Ferner hatte P. I. das Gemälde Domenicchino's „Der Tod des heiligen
Hieronymus" nicht in der Gallerie Borghese, sondern im Vatikan gesehen. Auch stammt
das „Portrait Cesare Borgia's" nicht von Rafael, desgleichen auch das Bild Sixtus V.,
denn dieser ist erst 65 Jahre nach dem Tode des berühmten Malers Papst ge\vorden.
2) Die Basilika.
— 405 —
An Frau von Meck:
„Venedig, d. i6. November 1877.
Ich habe einen sehr beruhigenden Brief von meiner
Schwester erhalten, und instrumentiere jetzt fleissig das
I, Bild des 2. Aufzuges meines „Onegin".
Venedig ist eine bezaubernde Stadt. Jeden Tag entdecke
ich neue Schönheiten an ihr. Gestern besichtigten v^ir die
Frari-Kirche, in welcher unter andern Kunstschätzen auch
das Mausoleum Canova's zu sehen ist. Das ist ein Wunder
von Schönheit! Was mir aber am besten behagt — ist die
absolute Stille, die Abwesenheit des Strassenlärms. Abends
bei Mondschein am offenen Fenster zu sitzen und S. Ma-
ria della Salute zu betrachten, oder den Blick links über
die Lagune schweifen zu lassen, — ist einfach herrlich! Sehr
lustig ist es, am Nachmittag auf dem Markusplatz (neben
dem Cafe) zu sitzen und das bunte Treiben des Volkes
anzusehen. Sogar die schmalen, Corridor-ähnlichen Gassen
gefallen mir, besonders abends, wenn die Schaufenster er-
leuchtet sind. Mit einem Wort, Venedig hat's mir angethan.
Heute begann ich sogar zu überlegen, ob ich nach der
Trennung von meinem Bruder statt nach Ciarens nicht
lieber hierher kommen soll: in Ciarens ist es ruhig, still,
billig und gut (aber manchmal auch langweilig); hier ist
die Natur zwar nicht so schön, es ist aber lebendiger, be-
wegter; und diese Lebendigkeit, diese Bewegung betäubt
nicht, belästigt nicht; hier ist es zwar nicht so reinlich und
nicht so ordentlich, dafür giebt es aber viel Interessantes,
historische Denkmäler und unermessliche Kunstschätze.
Morgen will ich auf die Suche nach einer möblierten Woh-
nung gehen. Sollte es mir gelingen, eine zu finden, dann
werde ich — erst recht unschlüssig werden.
Meine Gesundheit ist recht gut. Das Unangenehmste
war, dass ich beinahe den Schlaf verloren hätte: nur mit
Mühe konnte ich in letzter Zeit einschlafen. Nun habe ich
schon 2 Nächte wieder gut geschlafen. Ueberhaupt übt
Venedig auf mich einen günstigen Einfluss aus".
An Frau von Meck:
„Venedig, d. 18. November 1877.
Die wenigen Tage in Venedig haben mir sehr gut
bekommen. Erstens, habe ich ein wenig gearbeitet, sodass
mein Bruder das ganz fertig gewordene 2. Bild der Oper
— 4^6 —
mit nach Moskau nehmen wird. Zweitens, fühle ich, dass
es nun mit meiner Gesundheit besser steht, obwohl ich
mich Gestern nicht besonders wohl fühlte; das wird aber
wohl nur eine kleine Erkältung gewesen sein. Drittens,
habe ich Venedig lieb gewonnen, ich bin sogar ganz ver-
liebt in diese Schöne, und habe beschlossen, nach der
Trennung von meinem Bruder hierher zurückzukehren.
Lachen Sie nur, um Gotteswillen, nicht über meine Unent-
schlossenheit und meinen Wankelmut. Diesmal teile ich
Ihnen aber einen wirklich gefassten Entschluss mit. Ich
habe sogar schon eine sehr nette Wohnung in der Riva
dei Chiavoni gemietet.
Morgen reise ich nach Wien ab. Nach der Rückkehr
will ich an die S3^mphonie gehen, an unsere Symphonie.
Wissen Sie, was mich in Venedig immer in Wut ver-
setzt? — Die Abendzeitungsverkäufer. Geht man auf dem
Markusplatz spazieren, so hört man nur von allen Seiten: „II
Tempo! La Gazzetta di Venezia! Vittoria dei turchi!" Diese
vittoria dei turchi wird jeden Abend ausgerufen. Warum
schreien sie nicht von unseren thatsächlichen Siegen? Wa-
rum suchen sie durch fingierte türkische Siege Käufer an-
zulocken? Ist denn das friedliche, schöne Venedig, welches
ehemals im Kampfe mit denselben Türken seine Macht
verlor, ebenso von Hass gegen Russland erfüllt, wie alle
andern Westeuropäer?
Ganz ausser sich, fragte ich Gestern einen der Ausru-
fer: ma dove la vittoria? Es erwies sich, dass er unter
vittoria eine türkische Nachricht über einen Rekognoszie-
rungsritt verstand, bei welcher Gelegenheit angeblich eini-
ge Hundert Russen geschlagen worden sind. „Ist denn
das ein Sieg?" fragte ich mit zorniger Stimme weiter. Seine
Antwort habe ich nicht verstehen können, aber „Vittoria"
hat er nicht mehr gerufen. Man muss die Gutmütigkeit,
Höflichkeit und Bereitwilligkeit der Italiener voll aner-
kennen. Diese ihre Eigenschaften springen namentlich in
die Augen, wenn man direkt aus der Schweiz kommt, wo
die Leute recht finster, unfreundlich und für Scherze un-
zugänghch sind. Als ich Heute dem Schreier von Gestern
wieder begegnete, grüsste er mich höflich und rief anstatt
„grande vittoria dei turchi", mit welchen Worten die an-
dern Ausrufer ihre Blätter anpriesen, — „Gran combattimento
а Plevna, vittoria dei Russil" Ich wusste, dass er log, aber
dennoch war es mir angenehm, weil darin sich die Höf-
lichkeit eines einfachen Mannes äusserte.
— 407 —
Wann wird denn endlich dieser fürchterliche Krieg, in
welchem so unbedeutende Resultate um einen so ausser-
ordentlich hohen Preis errungen worden sind, ein Ende
nehmen? Und doch muss man so lange kämpfen, bis der
Feind ganz und gar niedergemacht sein wird. Dieser Krieg
kann und darf nicht in Kompromisse und gegenseitige Zu-
geständnisse auslaufen. Einer von Beiden muss untergehen.
Wie beschämend ist es aber, von einem solchen Kampf
auf Leben und Tod, einem Kampf bis zum letzten Tropfen
Blut zu reden, und dabei in einem gemütlichen, hell er-
leuchteten Zimmer zu sitzen, keinen Hunger und Durst zu
leiden und gegen Unwetter und allerlei körperliche Ent-
behrungen und Qualen geschützt zu sein! Gegen mora-
lisches Ungemach ist, jedoch. Niemand geschützt. Was
mich anbelangt, so kenne ich, allerdings, ein Mittel, das-
selbe zu lindern: das ist die Arbeit. Nur reicht zum Ar-
beiten nicht immer die Kraft aus. Oh, mein Gott, wenn
ich nur noch Kräfte in mir finden könnte und frohen Mut
zu neuen Arbeiten! Augenblicklich kann ich nur fortsetzen
und am Alten flicken.
In Neapel soll demnächst— bei Gelegenheit der Enthül-
lung des Bellini-Denkmals — ein Album mit Musikstücken
herausgegeben werden, und viele auswärtige Komponisten
sind zur Teilnahme daran eingeladen worden, unter andern
auch ich. Ich antwortete, dass ich mein Stück zum Ter-
min (zum I. Dezember) einsenden werde. Der Termin
naht, während es mir bis jetzt so ergangen, wie es mir
noch nie ergangen ist, d. h. ich konnte nicht eine einzige
Note aus mir herausquetschen! Jetzt ist es zu spät. Ich
habe, also, unwillkürlich die Herausgeber des Albums
betrogen"....
An N. F. von Meck:
„Wien, d. 20. November 1877.
.Gestern Abend sind wir in Wien angekommen. Die
Ueberfahrt über den Semmering hat auf mich einen be-
zaubernden Eindruck gemacht. Das Wetter war sehr gün-
stig. Unterwegs habe ich Ihren Brief gelesen und immer
wieder gelesen, meine liebe Freundin.
Es ist mir nun klar, dass Sie theoretisch sich von
der Kirche und den Glaubensdogmen losgerissen haben.
Ich sehe, dass Sie durch jahrelanges Nachdenken für sich
selbst einen eignen, einen religiös-philosophischen Kate-
— 4o8 —
chismus geschaffen haben. Nur will es mir scheinen, dass
Sie sich irren, wenn Sie behaupten, das von Ihnen paral-
lel mit dem eingestürzten Bauwerk des früheren starken
Glaubens aufgeführte neue Gebäude wirklich so fest und
zuverlässig sei, dass es Ihnen das Frühere vollauf zu er-
setzen vermag. Darin liegt ja gerade die Tragik des zum
Skeptizismus neigenden Menschen, dass er — wenn er ein-
mal das Band zwischen sich und dem traditionellen Glau-
ben zerissen hat, — sich aus einer philosophischen Theorie
in die andere wirft, in der Hoffnung, jene unversiegbare
Kraft, die für den Lebenskampf nötig ist, und mit welcher
die Gläubigen ausgerüstet sind, zu finden. Sagen Sie was
Sie wollen, aber das Glauben, d. h. ein Glauben, welches
nicht aus Mangel an Vernunft entspringt und zur Routine
Avird, sondern ein vernunftgemässes Glauben, welches im
Stande ist, alle Missverständnisse und alle durch die kri-
tische Thätigkeit des Verstandes erzeugten Widersprüche
auszugleichen, — ein solches Glauben ist das höchste Glück.
Ein kluger und gleichzeitig gläubiger Mensch (und solcher
giebt es viele) ist wie in einen Harnisch gekleidet, an
welchem alle Schicksalsschläge wirkungslos abprallen. Sie
sagen, dass Sie von der bestehenden Religion abgefallen
seien und sich eine neue geschaffen haben. Die Religion
ist "aber ein Element der Versöhnung, des Friedens. Ist denn
dieser Friede in Ihnen? Ich denke nein, — denn, wäre er in
Ihnen, so hätten Sie mir nicht Jenen Brief geschrieben, —
aus Como — wissen Sie noch? — jene Sehnsucht, jene Un-
zufriedenheit, jenes Streben nach einem unbestimmten Ideal,
jene Entfremdung von den Menschen, jene Eigenschaft,
nur in der Musik, d. h. in der idealsten aller Künste, die
Lösung der brennendsten Fragen zu finden, — alles das ist
mir ein Beweis dafür, dass Ihre eigene Religion Ihnen nicht
jenen absoluten seelischen Frieden bietet, den Diejenigen
ihr eigen nennen, welche in der Religion die fertigen Ant-
worten auf alles das gefunden haben, was einen denken-
den und feinfühlenden Menschen quält. Und, wissen Sie
was? — mir scheint, dass Sie nur deshalb meine Musik
so gern haben, weil ich auch stets von jener Sehnsucht
nach dem Ideal erfüllt bin, ganz wie Sie. Unsere Leiden
sind die nämlichen, Ihre Zweifel sind ebenso stark wie die
meinigen, wir schwimmen Beide auf dem unendlichen Meer
des Skeptizismus, einen Hafen suchend und nicht findend.
Auch will es mir scheinen, dass Sie sich irren, indem
Sie sich realistisch nennen. Wenn man unter „realistisch"
— 409 —
die Verachtung jeglicher Falschheit und Lüge im Leben,
so wie in der Kunst, versteht, — so sind Sie, allerdings
„realistisch". Wenn man aber bedenkt, dass ein wirklicher
Realist niemals daran denken wird, in der Musik Trost zu
suchen, wie Sie es thun, so sind Sie vielmehr eine Ideali-
stin zu nennen. Realistisch sind Sie nur in dem Sinne, dass
Sie nicht gern für sentimentale, zwecklose und triviale
Schwärmereien Ihre Zeit opfern, wie es viele Frauen zu
thun pflegen. Sie sind keine Freundin von Phrasen und
sinnlosen Worten, d. h. aber nicht, dass Sie „realistisch"
sind. Sie können es auch gar nicht sein! Der Realismus
setzt immer eine gewisse Beschränktheit voraus, die Eigen-
schaft, sehr schnell und billig den Durst nach Wahrheit zu
befriedigen. Ein Realist hat nicht diesen Durst nach Er-
kenntniss der wesentlichsten Daseinsgründe, ja, er verneint
sogar die Notwendigkeit selbst, nach der Wahrheit zu for-
schen und glaubt auch Denjenigen nicht, welche den Frie-
den in der Religion, Philosophie oder Kunst suchen. Die
Kunst, besonders die Musik, ist dem Realisten Nichts, denn
sie ist die Antwort auf eine Frage, welche sein begrenz-
ter Verstand nicht zu stellen vermag. Das sind die Grün-
de, weshalb ich glaube, dass Sie sich irren, indem Sie vor-
geben, unter dem Banner des Realismus zu stehen. Sie
behaupten, dass die Musik in Ihnen nur ein rein physisch
angenehmes Gefühl verursacht. Dagegen erlaube ich mir
aber auf das entschiedenste zu protestieren. Sie täuschen
sich selbst. Haben Sie denn wirklich die Musik auf gleiche
W^eise gern, wie ich eine Flasche Wein, oder eine saure
Gurke? Nein, Sie lieben die Musik so, wie sie geliebt wer-
den soll, d. h. Sie geben sich ihr mit ganzer Seele hin
und lassen weltvergessen ihre Zauberwirkung voll und
ganz auf Ihr Herz ausüben.
Vielleicht ist es nicht recht von mir, dass ich mir er-
laube, Ihre Selbsterkenntniss zu widerlegen. Aber nach
meiner Ansicht sind Sie: erstens, ein sehr guter Mensch,
und das sind Sie von Geburt an. Sie huldigen dem Guten,
weil das Streben zum Guten, so wie der Hass gegen die
Lüge und gegen das Böse, Ihnen angeboren ist. Sie sind
klug, und folglich auch skeptisch. Ein kluger Mensch kann
nicht anders: er muss skeptisch sein; wenigstens muss er
in seinem Leben eine Periode des qualvollsten Skeptizis-
mus durchgemacht haben. Als der angeborene Skeptizis-
mus Sie zum Verneinen der Traditionen und Dogmen ge-
bracht hat, begannen Sie, selbstverständlich, einen Ausweg
— 4^'^ —
aus Ihren Zweifeln zu suchen. Sie fanden ihn zum Teil in
der pantheistischen Wehanschauung, zum Teil in der Mu-
sik, aber einen voUkommenen Ausgleich fanden Sie nicht.
Das Böse und die Lüge hassend, zogen Sie sich in Ihren
engsten Familienkreis zurück und wollten sich dadurch
vor dem Anblick der menschlichen Schlechtigkeit retten.
Sie thun viel Gutes, weil das — gleichzeitig mit der inbrün-
stigen Liebe zur Kunst und Natur — ein unüberwindliches
Bedürfniss Ihrer Seele ist. Sie helfen Ihrem Nächsten nicht
um sich dadurch die himmlische Seligkeit, an welche Sie
nicht glauben, welche Sie aber auch nicht absolut vernei-
nen, zu erkaufen, — sondern weil Sie nun einmal so ge-
schaffen sind, dass Sie nicht anders können, als Gutes thun''.
An Frau N. F. von Meck:
„Wien, d. 23. November 1877.
Die Fortsetzung meines Briefes:
Ich sehe die Kirche mit ganz andern Augen an, als Sie:
Für mich hat sie noch sehr viel poetischen Reiz bewahrt.
Ich wohne sehr oft dem Gottesdienst bei. Die Liturgie
des Heiligen Joann Zlatoust halte ich für eines der her-
vorragendsten Kunstwerke. Verfolgt man den Dienst sehr
aufmerksam, sucht man in den Sinn einer jeden Zeremo-
nie recht einzudringen, so kann man sich der ausseror-
dentlich erhebenden Wirkung — namentlich unseres russi-
schen Gottesdienstes — nicht verschliessen. Auch habe ich
die Vesper sehr gern. An einem Sonnabend in dem weih-
rauch-erfüllten Halbdunkel einer kleinen und alten Kirche
zu stehen; tief in sich selbst hineinzuversinken und in sei-
nem Innern die Lösung der ewigen Fragen: icozu, woher,
icohin zu suchen; dann aus seinen Grübeleien durch den
Chor aufgeschreckt zu werden; sich dem Eindruck der
hinreissenden Poesie des Gesanges ganz hinzugeben; von
Entzücken durchdrungen zu werden, wenn die Goldenen
Thüren aufgehen und die Worte ertönen: Lobet den Namen
des Herrn; — oh, wie unendlich lieb habe ich das allesi Es
ist einer meiner grössten Genüssel
So bin ich denn in dieser Hinsicht noch durch starke
Bande an die Kirche gefesselt. Anderseits, aber, habe ich —
gleich wie Sie — schon lange den Glauben an das Dogma
verloren. Die Lehre von der Vergeltung, namentlich, scheint
mir ein Monstrum von Ungerechtigkeit und Blödsinnigkeit
zu sein. Gleich Ihnen hin ich zu der Ueberzeugung ge-
— 411 —
kommen, dass — wenn es ein jenseitiges Leben überhaupt
giebt, dasselbe nur im Sinne der Unvergängliclikeit der
Materie, d. h. im pantheistischen Sinne der Ewigkeit der
Natur, deren mikroskopisch winziges Teilchen ich bin,
aufzufassen ist. Kurz, ich bin nicht im Stande, die persön-
liche, individuelle Unsterblichkeit zu begreifen.
Wie sollen wir uns überhaupt das ewige Leben nach
dem Tode vorstellen? als einen unendlichen Genuss? Ein
solcher unendliche Genuss, unendliche Freude ist aber
ohne seinen Gegensatz, ohne ewige Qual, nicht denkbar. —
Die Letztere verneine ich gänzlich. Endlich weiss ich gar-
nicht einmal, ob ein Leben nach dem Tode wünschenswert
ist. Das Leben hat nur dann Reiz, wenn Freud und Leid
abwechseln, wenn ein Kampf da ist zwischen Gut und
Böse, zwischen Licht und Schatten. Wie ist es möglich,
sich das ewige Leben als eine einzige, nicht enden wol-
lende Freude zu denken? Nach unseren irdischen Begrif-
fen muss selbst die Seligkeit, wenn sie durch nichts ge-
stört oder unterbrochen wnrd, endlich langweilig werden.
So bin ich denn mit meinen Gedanken zu der Ueberzeu-
gung gekommen, dass es kein ewiges Leben giebt. Nun ist
aber die Ueberzeugung etwas Anderes, als Gefühl und In-
stinct. Das ewige Leben verneinend, weise ich gleichzei-
tig mit Entrüstung den fürchterlichen Gedanken von mir^
dass ich einige mir teuere Dahingeschiedene niemals wie-
dersehen werde.
Ungeachtet der siegreichen Kraft meiner JJeberzeugun-
f/en, werde ich mich niemals mit dem Gedanken vertragen
können, dass meine Mutter, welche ich so geliebt habe,
für immer verschwunden ist, dass ich niemals Gelegenheit
haben werde, ihr zu sagen, wie lieb ich sie immer noch
habe, trotz der 23 Jahre langen Trennung.
Sie sehen, meine liebe Freundin, dass ich aus lauter
Widersprüchen zusammengesetzt bin, und dass ich ein
sehr reifes Alter erreicht habe, ohne meinen unruhigen
Geist beruhigt zu haben, ohne mich auf etwas Positives
stützen zu können — weder auf die Religion noch auf die
Philosophie. Wahrlich, ich hätte den Verstand verlieren
können, wenn die Älusik nicht da wäre. Sie ist in der
That die schönste Himmelsgabe für die irrende und im
Dunkel vv'andelnde Menschheit. Sie allein erleuchtet, be-
ruhigt und befriedigt. Sie ist aber nicht jener Strohhalm,
an welchen sich der Ertrinkende klammert: sie ist eine
treue Freundin, Beschützerin und Trösterin; schon allein.
— 4^2 —
um ihretwillen ist es wert, auf Erden zu leben. Im Him-
mel wird es vielleicht keine Musik geben. So wollen wir
•denn hienieden leben, solange das Leben reicht".
An N. F. von Meck:
„Wien, d. 26. November 1877.
Ich bin immer noch in Wien. Gestern erhielt ich die
Nachricht, dass mein Diener am Sonnabend von Moskau
abreisen wird. Obwohl ich ihm sehr ausführliche Anord-
nungen gegeben habe, wie er sich unterwegs zu beneh-
men hat, so kann ich mir dennoch garnicht vorstellen, wie
er, ohne das geringste ausländische Wort zu verstehen,
die Ueberfahrt über die Grenze zu Stande bringen wird?
Ich denke, dass es nicht ohne tragikomische Episoden ab-
gehen wird. Manches Mal will es mir scheinen, dass es
meinerseits recht unzweckmässig sei, einen Diener aus
Russland kommen zu lassen. Anderseits aber weiss ich nicht,
was ich hätte thun sollen, da ich doch die Einsamkeit
absolut nicht ertragen kann? Ausserdem weiss ich, dass
das eine Beruhigung für meine Brüder sein wird, mich
nicht allein zu wissen.
Ich habe die „Walküre" von Wagner gesehen; die
Aufführung war ausgezeichnet. Das Orchester hat sich
selbst übertroffen; die besten Sänger und Sängerinnen ha-
ben Alles gethan, was in ihren Kräften stand, — und den-
noch w^ar es langweilig. Welch ein Don-Quixote ist doch
dieser Wagner! Er bietet alle seine Kräfte auf in der Jagd
nach dem Unmöglichen, während ihm ein ausserordentli-
ches Talent zur Verfügung steht, kraft dessen er — wenn
er sich ihm, d. h. seinen natürlichen Eigenschaften unter-
ordnen wollte, — ein ganzes Meer musikalischer Schönheit
aus sich hervorzaubern könnte. Nach meiner Meinung ist
Wagner im Grunde Symphoniker. Dieser Mann ist mit
einem genialen Talent begnadet, welches aber an seinen
Tendenzen zu Grunde geht, seine Inspiration wird durch
Theorieen paralysiert, welche er sich selbst ausgedacht
hat und welche er mit Gewalt praktisch verwerten will.
Indem er nach Realität, Wahrhaftigkeit und Rationalismus
strebt, verliert er die Musik ganz aus dem Auge, welche
in seinen letzten vier Opern grösstenteils durch Abwesen-
heit glänzt. Denn jene kaleidoskopischen, bunten musika-
lischen Stückchen, welche unablässig einander ablösen und
niemals zu einem Abschluss führen, d. h. dem Ohre nicht
— 413 -
die geringste Gelegeniieit bieten, bei irgend einer leicht-
fasslichen musikalischen Form zur Ruhe zu kommen, — kann
ich nicht Musik nennen. Nicht eine einzige breitangelegte,,
in sich abgeschlossene Melodie! Nicht die geringste Bewe-
gungsfreiheit für den Sänger. Dieser muss, vielmehr, un-
ausgesetzt auf das Orchester bedacht sein und dafür sor-
gen, dass die kleinste Note, welche in der Partitur keine
grössere Bedeutung hat, als irgend ein Nötchen des 4.
Waldhorns, nicht verloren gehe. Aber dass Wagner aus-
gezeichneter S34nphoniker ist — unterliegt keinem Zweifel,
Ich will Ihnen gleich durch ein Beispiel beweisen, bis zu
welchem Grade der s^nnphonische St}^ über dem vokalen
in Wagners Opern dominiert. Sie haben wahrscheinlich
seinen berühmten Walkürenritt schon oft in Konzerten
gehört? Welch' grossartiges, herrliches Bild! Man sieht
leibhaftig jene wilden Heldinnen, welche auf ihren Zauber-
rossen in den Wolken dahinjagen. — Dieses Stück übt in
Konzerten stets eine ausserordentliche W^irkung aus. Im
Theater dagegen, angesichts der papiernen Felsen, der
wolkenähnlichen Zeugfetzen und der Soldaten, лvelche sehr
ungeschickt im Hintergrunde über die Bühne galoppieren,
und angesichts des nur zu dürftigen Theaterhimmels, wel-
cher sich anmaasst, die ungeheuren Himmelshöhen zu ver-
körpern,— verliert die Musik ihre ganze Ausdrucksfähig-
keit. Folglich ist das Theater in diesem Falle nicht förder-
lich, sondern wirkt wie ein Glas kalten Wassers. Endlich
begreife ich nicht und лverde es auch nie begreifen lernen,
weshalb die „Nibelungen" als literarisches chef d'oeuvre
anerkannt werden? Als Volkssage — wohl, aber als Libret-
to—nicht!
Wotan, Brünnhilde, Fricka u. s. w. sind alle so un-
möglich, so wenig menschlich, dass es schwer ist, ihr Ge-
schick teilnehmend zu verfolgen! Und wie wenig Leben!
Geschlagene drei Stunden hält Wotan Brünnhilden seine
Strafpredigt für ihre Insubordination. — Wie langweilig!
Und dennoch gibt es da eine ganze Menge kraftvoller und
schöner Episoden rein symphonischen Charakters.
Gestern haben Kotek ^) und ich eine neue Symphonie
von Brahms ^) durchstudiert, einem Komponisten, den die
Deutschen in den Himmel heben. Für mich hat er gar
keinen Reiz. Ich finde, dass er sehr dunkel und kalt ist.
1) Kotek, welcher damals In Berlin bei Joachim studierte, war für einige Tage zu
Peter Iljitsch nach Wien gekommen.
3) Sj-mphonie Л° i (Cmollj.
— 414 —
•dabei voller Pretention aber ohne rechte Tiefe. Ueberhaupt
scheint es mir, dass Deutschland in musikalischer Bezie-
hung sinkt. Ich glaube jetzt kommen die Franzosen an die
Spitze: sie haben viele neue und starke Talente. Neuhch
habe ich die in ihrer Art geniale Musik des Balletts „Зз'1-
via" von Delibes angehört. Diese Musik habe ich schon frü-
her aus dem Klavierauszug kennen gelernt, in der prachtvol-
len Wiedergabe des Wiener Orchesters aber hat sie mich
geradezu bezaubert, namentlich ihr erster Teil. „DerSchwa-
nensee" ist dummes Zeug gegen „Sylvia". In den letzten
Jahren ist mir überhaupt Nichts begegnet, was mich so
entzückt hätte, wie „Carmen" und das Ballett Delibes'".
An N. F. von Meck:
„Wien, d. 27. November 1877.
Mein Bruder und Kotek sind in das grosse Philharmo-
nische Konzert gegangen, in welchem unter Anderem die
herrliche und von mir so geliebte 3. Symphonie von Schu-
mann gespielt werden soll. Dennoch habe ich es vorgezo-
gen, zu Hause zu bleiben. Ich fürchtete einigen mir be-
kannten hiesigen Musikern zu begegnen: wenn ich nur
von einem gesehen werden würde, so müsste ich Morgen
wenigstens bei zehn musikahschen Grössen meinen Besuch
machen, mich ihnen vorstellen und mich für ihre Aufmerk-
samkeit bedanken. (Im vorigen Jahr ist nämlich, ohne dass
ich mich darum bemüht hatte, meine Ouvertüre „Romeo
und Julie" hier gespielt und einstimmig ausgepfiffen wor-
den). Ich würde gewiss viel zur Verbreitung meiner Kom-
positionen im Ausland beitragen, wenn ich allen Kory-
phäen Besuche machen und Komplimente sagen wollte.
Aber, oh Gott, wie hasse ich das! Wenn Sie wüssten in
welch' beleidigend herablassendem Ton sie mit einem rus-
sischen Musiker zu sprechen pflegen. Man liest es förm-
lich in ihren Augen: „Du bist zwar ein Russe, ich bin
aber so gut, dich mit meiner Aufmerksamkeit zu beehren".
Gott mit ihnen! Im vorigen Jahr bin ich bei Liszt gewe-
sen. Er war zum Erbrechen höflich, auf seinen Lippen
aber spielte ein Lächeln, welches mir mit nicht misszuver-
stehender Deutlichkeit die oben angeführten Worte sagte.
In diesem Augenblick bin ich, versteht sich, weniger denn
je aufgelegt, vor diesen Herren Verbeugungen zu machen".
An N. F. von Meck:
„Wien, d. 29. November, 1877.
Erst Heute um 10"^, 4 ist mein Bruder abgereist. Meine
— 415 —
Gefühle will ich Ihnen nicht ausführlicher beschreiben: Sie
kennen sie ja.... Gestern um 5 ist mein Diener angekom-
men. Ich hatte mich sehr geirrt in Betreff der Unannehm-
lichkeiten, welche ich für ihn wegen seiner Unkenntniss
der Sprache erwartet, desgleichen auch in Betreff des Ein-
drucks, welchen auf ihn das Ausland gemacht. Er ist ein
ebenso kluges wie mutiges russisches Bäuerlein, welches
sich geschickt aus den schlimmsten Affairen zu ziehen
weiss und ist so gut über die Grenze gekommen, als wenn
er schon oft diese Reise gemacht hätte. Was den Eindruck
anbelangt, so sind nach seiner Meinung die Häuser in Wien
viel schlechter als in Moskau, und überhaupt Moskau —
unvergleichhch schöner. Infolge der Nachricht von der Er-
oberung Plevna's, ertrage ich die Trennung von meinem
Bruder leichter. Als mir der Kellner Gestern früh den
Kaffee mit den Worten „Plevna ist gefallen!" brachte,
hätte ich ihn beinahe umarmt. Es scheint, als ob Oester-
reich sich über diesen Erfolg ein wenig beleidigt fühlt und
sich ärgert, dass die beste türkische Armee kapituliert hat.
Ich beabsichtige, bald an die Beendigung meiner Sym-
phonie zu gehen, deren Instrumentierung ich noch in Ka-
menka begonnen habe".
An M. Tschaikowsk}': •
„Venedig, d. 4. Dec. 1877.
Heute um 3 Uhr — ich sass gerade an meiner Sympho-
nie— brachte man mir dein Telegramm ^). Das war eine
solche Freude, dass ich fast verrückt geworden wäre. Den
ganzen Tag war ich nervös aufgeregt, und schreibe jetzt
diesen Brief und weiss garnicht, wie ich Dir meine grosse
Freude ausdrücken soll. Nach der Abreise Anatol's war
ich sehr traurig — trotz der Ankunft Alexei's — so traurig,
dass ich zu trinken begann. Nur nach einem Fläschchen
Cognac war ich im Stande, das Leben erträglich zu fin-
den. Die letzten Tage litt ich geradezu fürchterlich, und
wer weiss, wohin das geführt hätte, wenn nicht die heu-
tige Nachricht... Sogar Venedig hat ein ganz anderes Aus-
sehen gewonnen, als ich nach Empfang deines Telegramms
spazieren ging".
1) Mit diesem Telegramm hatte ich Peter Iljitsch mitgeteilt, dass ich mit Einwilli-
gung der Eltern meines Zöglings, für den ganzen Winter zu ihm nach Italien kommen
— 4^6 —
An Frau von Meck:
„Venedig, d. 5. Dec. 1877.
In Ihrem Brief ist Eines, womit ich durchaus nicht
einverstanden bin, — das ist Ihre Ansicht über die Musik.
Besonders missfällt mir Ihr Vergleich der Musik mit einem
Rausch. Ich glaube das ist ganz falsch. Zum Wein nimmt
der Mensch seine Zuflucht, um sich zu betäuben, gleichsam
um sich in einen Traum von Glück und Zufriedenheit ein-
zuv^äegen. Aber dieser Traum kommt ihm teuer zu stehen!
Die Reaktion ist gewöhnlich fürchterlich. Aber .wie dem
auch sei, der Wein lässt ihn für einen Moment allen Kum-
mer vergessen — nichts weiter. Ist denn die Wirkung der
Musik eine ähnliche? Sie ist keine Täuschung, sie ist eine
Offenbarung . Ihre siegreiche Kraft liegt darin, dass sie uns
Schönheiten eröffnet, welche in keiner andern Sphäre zu
finden sind, und deren Erkenntniss nicht zeitweilig, son-
dern dauernd ist. Die Musik erleuchtet und erfreut. Den
Prozess des musikalischen Genusses zu beobachten und
iestzuhalten ist sehr schwer, mit einem Rausch jedoch hat
er nichts gemein. Auf alle Fälle ist er kein physiologisches
Phänomen. Allerdings sind die Nerven, also tnaterielle Or-
gane, an der Aufnahme eines musikalischen Eindrucks be-
teiligt, und in diesem Sinne ergötzt die Musik auch unseren
Körper: bekanntlich ist es sehr schwer, zwischen den leib-
hchen und geistigen Eigenschaften eines Menschen ein
scharfe Grenze zu ziehen, so ist zum Beispiel auch das
Denken ein ph3'siologischer Prozess, denn es gehört zu
den Funktionen des Gehirns. Uebrigens liegt der ganze
Unterschied nur in den Worten. Ob wir Beide den musi-
kalischen Genuss auch auf verschiedene Weise deuten, so
ist Eines doch unzweifelhaft: wir Beide lieben die Musik
gleich stark, und das genügt mir. Es ist mir angenehm,
dass Sie diejenige Kunst f/öttUch nennen, der ich mein Le-
ben geweiht habe.
In Ihrer Philosophie gefällt mir ganz besonders die An-
sicht über Gut und Böse. Diese Ansicht ist zwar fatahs-
tisch, aber ganz von christlicher Nachsicht gegenüber den
Sünden und Schwächen Ihrer Mitmenschen erfüllt. Sie sa-
gen, es sei unsinnig, von einem Menschen, dem Tugend
und Verstand 7iicht gegeben sind, zu verlangen, dass er gut
und klug sei. Hier stosse ich wiederum auf den in die
Augen springenden Unterschied zwischen Ihrer Individuali-
tät und der meinigen; ich war stets bestrebt, das Böse in
— 417 -
der menschlichen Natur als den unvermeidlichen Gegen-
satz des Guten zu betrachten. Auf diesem Standpunkt
stehend (der, wenn ich nicht irre, auf Spinoza zurückzu-
führen ist), dürfte ich niemals das Gefühl des Zornes oder
Hasses in mir aufkommen lassen. In der That erweist es
sich aber, dass ich jeden Augenblick fähig bin in Wut zu
geraten, die Menschen zu verachten und mich über sie zu
ärgern, — ganz wie Einer, der nicht weiss, dass ein Jeder
nur so handelt, wie das Fatum es ihm vorschreibt. Ich
w^eiss bestimmt, dass Ihnen das kleinliche Gefühl des Zür-
nens und der Rachsucht fremd ist. Den gegen Sie gerich-
teten Stössen suchen Sie auszuweichen, ohne Ihrerseits
diese Stösse zu erwidern. Mit einem Wort, Sie wenden
Ihre Philosophie auch im praktischen Leben an. Anders
ich: ich denke Eines, und thue ein Anderes.
Ich will Ihnen gleich ein passendes Beispiel dafür ge-
ben. Ich besitze einen Freund, namens Kondratjew; er ist
ein sehr netter und angenehmer Mensch und hat nur einen
Fehler — den Egoismus. Diesen Egoismus weiss er aber in
so nette und liebenswürdige Formen zu kleiden, dass man
ihm unmöglich lange böse sein kann. Als ich im Septem-
ber in Moskau meine grosse Leidenszeit durchzumachen
hatte und im Paroxismus meines Unglücks Jemandes be-
durfte, der mir einen moralischen Halt gewähren konnte,
traf es sich, dass dieser Kondratjew — er lebte damals auf
seinem Landsitz im Gouvernement Charkow — mir einen,
wie immer sehr liebenswürdigen Brief schrieb und mich
seiner wärmsten Freundschaft versicherte. Meinen Brüdern
wollte ich mich damals nicht offenbaren um sie nicht zu
kränken. Mein Kelch war aber bis an den Rand gefüllt.
Ich schrieb an Kondratjew einen Brief, in welchem ich
ihm das Schreckliche und Hoffnungslose meiner Lage mit-
teilte. Der zwischen den Zeilen zu lesende eigentliche Sinn
meines Briefes war folgender: „Ich gehe unter, rette mich!
Stütze mich, aber beeile dich!" Ich war überzeugt, dass
er als ein sehr vermögender und unabhängiger Mensch,
der — wie er selbst sagte — stets zu jedem Freundschaftsopfer
bereit war, mir zu Hilfe eilen würde. Dann geschah das,
was Sie schon wissen. Erst in Ciarens erhielt ich seine
Antwort, welche acht Tage nach meiner Flucht in Moskau
eingetroffen war. In dieser Antwort bedauert mich mein
Freund sehr und schliesst mit den Worten: „Bete, Freund,
bete! Gott wird Dir helfen, das Unglück zu überwinden".
Fürwahr, ein billiges und gutes Mittel! — Heute Nacht las
Tschaikotvsky, M. P. I, Tschaikowsky"s Leben. 27
— 4IÖ —
ich im dritten Band des prachtvollen Romanes „Pendennis"
von Thakera}'. Da ist ein sehr lebendiger T3'pus „der
Major", welcher mich sehr oft an Kondratjew erinnert.
Eine Episode hat mir meinen Freund ganz besonders scharf
gezeichnet, so dass ich aus dem Bett sprang und ihm so-
fort einen Brief schrieb, in welchem ich mich mit unnöti-
gem Eifer über ihn lustig machte und meinen Zorn an ihm
ausliess. Nachdem ich aber Ihren Brief gelesen, schämte ich
mich sehr. Ich schrieb ihm einen andern Brief und bat
ihn, mir meine unmässige Bosheit nicht übel zu nehmen.
Sehen Sie, welch' wohlthuhenden Einfluss Sie auf mich
ausüben, meine liebe Freundini Sie sind meine Vorsehung
und mein Trost!"
An N. F. von Meck:
„Venedig, d. 9. Dec. 1877.
Ich arbeite fleissig an der Instrumentation unserer S34n-
phonie und bin ganz in diese Arbeit versunken.
Keine meiner früheren Orchesterkompositionen hat mir
sp viel Mühe gekostet, aber auch an keiner habe ich mit
so viel Liebe und Hingebung gearbeitet. Es ist mir eine
angenehme Ueberraschung zu Teil geworden, als ich die
Arbeit in Angriff nahm. Anfangs war ich nur vom Wunsch
geleitet, die einmal angefangene S3'mphonie zu Ende zu
führen, selbst wenn es mir noch so schwier fallen sollte.
Nach und nach aber erwärmte ich mich immer mehr, und
jetzt möchte ich mich garnicht von der Arbeit trennen.
Meine teure und liebe Nadeshda Filaretowna, vielleicht
irre ich mich, aber es scheint mir, dass diese Symphonie
kein mittelmässiges Stück, dass sie das Beste ist von dem,
was ich bis jetzt gemacht habe. Wie freue ich mich, dass
es unser Werk ist, und dass Sie beim Anhören desselben
wissen werden, wie sehr ich bei jedem Takt an Sie ge-
dacht habe. Wäre es jemals beendet worden, wenn Sie
nicht wären? Als ich noch in Moskau war und glaubte,
dass es mit mir zit Ende ginge, machte ich auf den ersten
Entwürfen folgende Aufschrift, die ich unterdess ganz ver-
gessen und erst jetzt wiedergefunden habe: „Wenn ich ster-
ben sollte, so bitte ich, dieses Heft an N. F. von Meck zu
geben". Ich wünschte, das Manuscript meiner letzten Kom-
position in Ihrem Besitz zu wissen. Nun bin ich aber
nicht nur ganz gesund, sondern dank Ihnen auch in der
Lage, mich ganz der Arbeit hinzugeben, und glaube, dass
— 419 —
unter meiner Feder ein Werk entstellt, welches nicht in
Vergessenheit geraten dürfte! Uebrigens ist es möglich,
dass ich unrecht habe: es ist wohl allen Künstlern eigen,
für das jüngste ihrer Erzeugnisse zu schwärmen. Wie dem
auch sei, aber in diesem Augenblick bin ich dank der in-
teressanten Arbeit sehr hoffnungsvoll. In voller Seelenruhe
lasse ich verschiedene kleine UnannehmHchkeiten über mich
ergehen, welche der Hotelwirt mir macht. Das Hotel ist
sehr schlecht, ich möchte aber trotzdem nicht ausziehen,
bevor die Sache mit der Herkunft meines Bruders sich
noch nicht endgiltig entschieden hat".
An Frau von Meck:
„Venedig, d. 12. Dec. 1877.
Heute habe ich die freudige Nachricht erhalten, dass
Modest zusammen mit seinem lieben Zögling zu mir kom-
men wird. Konradi (der Vater des Knaben) hat aber nur
unter der Bedingung seine Einwilligung zu dieser Reise
gegeben, dass ich mich an einem Orte niederlasse, dessen
Klima seinem Sohne zuträglich ist. Er schlägt San-Remo
vor, w^ es jetzt eine ganze Menge guter und bequemer
Hotels und Pensionen geben soll".
An A. Tschaikowsky:
„Venedig, d. 12. Dec. 1877.
Ich beabsichtige, am Freitag nach San-Remo zu reisen,
um daselbst eine nicht zu teuere und möglichst bequeme
Wohnung für uns ausfindig zu machen. Unterwegs will
ich einen Tag in Mailand bleiben.... Ich habe Dir noch
nichts über die Tauben geschrieben. Ich füttere sie jetzt je-
den Tag und habe es herausgekriegt, dass sie schaaren-
weis auf mir sitzen und mich so von Kopf bis Fuss be-
decken".
An Frau von Meck:
„Mailand, d. 16. Dec. 1877.
Ich bin um vier Uhr in Mailand angekommen, habe
einen kleinen Spaziergang durch die hübsche Stadt ge-
macht, und war abends im Theater, aber leider nicht in
der „Scala", welche heute geschlossen war, sondern in
„Dal-V^erme", wo vor etwa vier Jahren das „Leben für
— 4^^ —
den Zaren" aufgeführt worden ist. Heute gab man die
Oper „Ruy Blas" von Marcetti. Diese Oper ist schon seit
einigen Jahren in Itahen rühmlichst bekannt, so dass ich
gehofft habe, Etwas Interessantes kennen zu lernen. Es
erwies sich aber, dass es nur eine ganz talentlose und
triviale Kopie Verdi's war, ohne jene Kraft und Wär-
me, welche die etwas groben Schöpfungen des Letzteren
auszeichnen. Die Ausführung war schlechter als mittel-
mässig. Gelegentlich der Aufführung dieser Oper durch-
streiften einige traurige Gedanken mein Hirn. Es tritt eine
junge Königin auf, in welche Alle verliebt sind. Die Künst-
lerin, welche diese Rolle spielte, schien sehr gewissenhaft
zu sein: sie that Alles, was sie konnte. Wie wenig war sie
aber einem schönen königlichen Weibe ähnlich, welches
die Eigenschaft besitzt, alle sie erblickenden Männer zu
bezaubern! Und erst der Held, Ruy Blas! Gesungen hat
er garnicht schlecht, aber anstatt eines schönen Jünglings
und wahrhaften Helden, — sah man einen Lakaien. Nicht
die geringste Illusion! Da dachte ich an meine Oper. Wo
werde ich eine Tatjana finden, wie sie sich Puschkin ge-
dacht hat, und welche ich musikahsch zu illustrieren ver-
sucht habe? Wo wird sich der Künstler finden, welcher
nur annähernd das Ideal eines Onegin erreichen wird, je-
nes kaltherzigen Dand}^, welchem der „gute Ton" durch
Mark und Bein gedrungen ist? Wo giebt es einen Lensky,
den achtzehnjährigen Jüngling mit den üppigen Locken
mit den eckigen und originellen Manieren eines jungen
Poeten ä la Schiller? Wie gemein wird sich das herrliche
Bildchen Puschkin's auf der Bühne machen, mit ihrer Rou-
tine, mit ihren unsinnigen Traditionen, mit ihren Vetera-
nen und Veteraninnen, welche ohne jede Scham die Rol-
len sechszehnjähriger Mädchen und bartloser Jünghnge
übernehmen. Die Moral davon: es ist viel angenehmer rein
instrumentale Musik zu schreiben, denn man erlebt M^eni-
ger Enttäuschungen. Welche Qualen habe ich bei den
Aufführungen meiner Opern, namentlich des „Wakula",
auszukosten gehabt! Und doch ergab sich ein gewaltiger
Unterschied zwischen dem, was ich mir vorgestellt hatte,
und dem, was auf der Bühne des Marientheaters geleistet
wurde.... — Nach „Ruy Blas" gab es ein sehr lustiges Bal-
lett mir Verwandlungen, einem Harlekin und allerlei Ueber-
raschungen, dazu eine empörend gemeine Musik. Trotzdem
habe ich mich dabei amüsiert, während die Opernvorstel-
lung mich geärgert hatte. „Ruy Blas" ist aber ein schönes
Opernsujet.
— 4^1 —
Aus Venedig habe ich ein sehr hübsches Liedchen
exportiert. Ueberhaupt habe ich diesmal in Itahen zwei ange-
nehme musikahsche Eindrücke empfangen. Das eine Mal
war's in Florenz, ich weiss nicht, ob ich Ihnen darüber
schon geschrieben habe. Eines Abends hörten wir (ich und
Anatol) plötzHch Gesang auf der Strasse und sahen einen
Auflauf von Menschen, unter welche auch wir uns mischten.
Der Gesang rührte von einem zehn-oder elfjährigen Kna-
ben her, welcher sich selbst auf einer Guitarre begleitete.
Er sang mit einer herrlichen volltönenden Stimme, dazu
mit solcher Wärme und Fertigkeit, welche selbst bei gu-
ten Künstlern nur selten vorkommen. Die sehr tragischen
Worte des Liedes klangen von den kleinen Lippen des
Kindes gar zu seltsam. Dieser Strassenkünstler sang wie
alle Italiener sehr rytmisch.
Letztere Eigenschaft der Italiener interessiert mich sehr,
denn sie steht in direktem Gegensatz zu dem Wesen un-
serer Volkslieder und ihrer Wiedergabe durch das Volk".
An Frau von Meck:
„San-Remo, d. 20. Dec. 1877.
Ich habe eine Wohnung in der Pension „Joli" gefun-
den; vier schlecht möbherte Zimmer, welche eine kleine
Wohnung für sich bilden, um einen relativ massigen Preis.
Die Lage San-Remo's ist in der That zauberhaft.
Das Städtchen liegt auf einem Felsen und ist sehr eng
gebaut. Die untere Stadt besteht fast ausschliesslich aus
Hotels, welche alle überfüllt sind. San-Remo ist jetzt mo-
dern, wahrscheinhch seit der Zeit, da unsere Kaiserin sich
hier aufgehalten hat. — Heute hatten wir, ohne Uebertrei-
bung, ganz sommerliches Wetter. Im blossen Rock konnte
man die sengenden Strahlen der Sonne kaum ertragen.
Ueberall sieht man Olivenbäume, Palmen, Orangen, Citro-
nen, Heliotrop, Jasmin, — kurz es ist prachtvoll schön. Und
doch.... soll ich's Ihnen wirkhch sagen? Als ich am Quai
spazieren ging, übermannte mich der Wunsch schnell, nach
Hause zu gehen und meine sehnsüchtigen Gefühle dem
Briefpapier anzuvertrauen: Warum? warum konnte mich
eine einfache russische Landschaft, ein Spaziergang durch
heimatliche Dörfer und Wälder, über Felder und Steppen,
in eine Stimmung versetzen, in der ich mich — über und
über von Liebe zur Natur und von den Gefühlen erfüllt,
welche in mir der Anblick des Waldes, der Steppe, des
422
Baches, des Dorfes in der Ferne, des bescheidenen Kirch-
leins hervorrief, — zur Erde warf und mich ganz der Ver-
zückung hingab? Warum? Ich konstatiere nur diese That-
sache, ohne nach Erklärungen zu suchen.
Ich freue mich sehr, dass ich meinen Spaziergang fort-
gesetzt habe, denn — hätte ich meiner inneren Stimme Ge-
hör geschenkt, so würden Sie jetzt eine neue Jeremiade
zu lesen bekommen. Ich weiss bestimmt, dass ich Morgen
schon mich ganz anders fühlen werde, namentlich beim
Beginn des Finales meiner S3'mphonie, heute jedoch?... Ich
bin garnicht einmal im Stande Ihnen zu beschreiben, was
ich eigentlich fühle und was ich wünsche. Nach Russland —
nein, es bangt mir davor, denn ich weiss, dass ich als
ganz anderer Mensch dahin kommen und mich da wie
ein Verrückter geberden werde. Und hier?... Es giebt
wohl kaum ein herrlicheres Stückchen Erde, als San-Re-
mo, und doch schwöre ich Ihnen, dass weder die Palmen,
noch die Orangenbäume, weder das schöne blaue Meer,
noch die Berge, überhaupt Nichts von all' den Schönheiten
den erwarteten Eindruck auf mich auszuüben vermag.
Trost, Ruhe, Glückgefühl schöpfe ich nur aus mir selbst.
Das Gelingen der Symphonie, das Bewusstsein, dass ich
ein schönes Stück schreibe, wird mich schon Morgen mit
dem voraufgegangenen und noch bevorstehenden Ungemach
aussöhnen. Die Ankunft des Bruders wird mir auch viel
Freude bereiten, — gegenüber der Natur jedoch d. h. einer
solchen üppigen Natur, wie hier, verhalte ich mich sehr
merkwürdig. Sie blendet mich, sie macht mich nervös, sie
ärgert mich. In solchen Momenten scheint es mir, dass ich
den Verstand verliere. Doch genug davon... Wahrlich, ich
bin wie jenes alte Weib, von dessen Schicksal uns Pusch-
kin in seinem Märchen vom Fischer und dem Fischlein
erzählt. Je mehr Ursache ich habe glücldich zu sein, um
so unzufriedener werde ich. Seit meiner Abreise aus
Russland habe ich von einigen mir teuren Wesen so
viele Liebes-und Freundschaftsbeweise erhalten, dass Hun-
derte von Menschen davon glücklich sein könnten. Ich
sehe ein, dass ich mich glücklich fühlen müsste, dass im
Vergleich mit Millionen anderer Menschen, welche in der
That unglücklich sind, ich mein Schicksal als ein wohl-
wollendes ansehen müsste, und doch — es giebt und giebt
kein Glück für mich. Es giebt nur Momente von Glück.
Es giebt auch eine gewisse Voreingenommenheit (preoccu-
pation) für die Arbeit, welche mich oft so sehr erfüllt,
— 423 —
dass ich mich selbst verhere und Alles vergesse, was nicht
in direkter Beziehung zu meiner Arbeit steht. Glück aber
giebt es nicht! So — nun ist's doch eine Jeremiade gewor-
den: ich konnte nicht umhin. Ja, es ist lächerlich, es ist
sogar etwas undelikat. Da Sie aber einmal mein bester
Freund sind, teure Nadeshda Filaretowna, so sollen Sie
auch Alles, Alles wissen, was in meiner merkwürdigen
und kranken Seele vorgeht! Nehmen Sie mir das nicht
übel. Morgen werde ich es bedauern. Heute jedoch ist es
mir eine Erleichterung gewesen, Ihnen etwas vorzujammern.
Bitte beachten Sie das garnicht. Wissen Sie, wie es mir
an solchen Tagen, wie Heute, manchmal geht? Es scheint
mir plötzlich, dass mich im Grunde Niemand lieb hat und
auch nicht lieb haben kann, denn ich bin ein elender und
verachteter Mensch. Und ich habe nicht die Kraft, solche
Gedanken von mir zu weisen. Nun beginne ich schon wie-
der zu lamentieren....
Ich hatte ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass ich einen
Tag in Genua verbracht habe. Genua ist in seiner Art ein
herrlicher Ort. Kennen Sie die S. Maria in Carignano, von
dessen Thurm man eine wundervolle Fernsicht über ganz
Genua geniesst? Ausserordentlich malerisch!"
An Frau von Meck:
„San-Remo, d. 21. Dec. 1877.
Heute früh war ich auf der Post und erhielt einen Brief,
welcher mich ganz stutzig gemacht hat. Er hat mich voll-
kommen verwirrt. Ich muss Ihnen sagen, dass bald nach
meiner Abreise der Gedanke in Russland auftauchte, mich
als musikalischen Delegirten auf die Pariser Ausstellung
zu entsenden. Ich hatte grosse Furcht und Antipatie ge-
gen diesen Plan (Sie kennen mich jetzt wohl schon gut
genug, um zu begreifen, wie unangenehm für mich die
mir zugedachte Rolle erscheinen musste), weil aber die
Zukunft in Dunkel gehüllt war und ich auch keinen ge-
nügenden Grund hatte, den Antrag abzuschlagen, so er-
klärte ich mich bereit den Delegiertenposten anzunehmen.
Bald darauf erhielt ich von dem Finanzministerium (wel-
ches die russische Sektion der Ausstellung zu arrangieren
hatte) eine officielle Anfrage, ob ich bereit wäre, vom Be-
ginn des nächsten Jahres bis zum Schluss der Ausstellung,
in Diensten des Chefs der russischen vSektion als Delegat
in Paris zu verweilen. Von dem aber, welche Geldmittel
— 424 —
mir zur Verfügung" stehen sollten war kein Wort gesagt.
Um meinen Entschluss etwas aufzuschieben, antwortete
ich, dass ich keine positive Antwort zu geben im Stande
sei, solange man mir kein bestimmtes Honorar festsetzen
könne. Darauf habe ich lange Zeit nichts mehr von der
Sache gehört und mich so an den Gedanken gewöhnt,
die Regierung werde dem Delegirten kein Honorar be-
willigen, dass ich Paris ganz vergessen habe. Plötzlich
kommt Heute die Mitteilung, dass der Finanzminister mich
als Delegirten bestätigt und mir ein Gehalt von 1000
Franks pro Monat bewilligt habe. Ich kann Ihnen gar nicht
sagen, wie niederschmetternd dieser Brief für mich ist.
Unter Anderem w^rd in demselben erwähnt, dass die An-
wesenheit des Delegirten bei den Sitzungen des musika-
lischen Komitees, welche zwischen 10. — 18. Januar statt-
finden sollen, dringend notwendig sei. Das bedeutet also
eine sofortige Abreise! Nun bin ich aber noch unzweifel-
haft krank, und zwar nicht so wohl körperlich, als seelisch.
Nach Paris reisen, eine ganze Menge Bekanntschaften
machen, an Sitzungen teilnehmen, in Diensten eines Chefs
stehen, um die russische Musik besorgt sein — und das zu
einer Zeit, da wegen des schlechten Kurses sich wohl kaum
Jemand von den russischen Künstlern entschliessen dürfte,
auf eigene Gefahr hin nach Paris zu reisen — sich plagen
und eine Korrespondenz mit fast allen russischen Musikern
anknüpfen — das Alles ist nichts weniger als lustig.
Ausserdem erwarte ich meinen Bruder mit seinem Zög-
ling, welche schon unterwegs sein müssen. Was soll ich
mit ihnen anfangen? Ist es anderseits nicht meine Pflicht,
um der Förderung des Ruhmes der russischen Musik wil-
len Alles im Stich zu lassen, die eignen Angelegenheiten
zu vergessen und dahin zu eilen, wo ich für die Kunst
meines Vaterlandes nützlich sein kann?
Wie soll ich aus diesem Dilemma herauskommen? Ich
weiss nicht einmal, wo mein Bruder sich augenblicklich
befindet, habe also nicht die Möglichkeit, seine Abreise zu
verhindern, sofern er noch nicht abgereist sein sollte...
Soeben habe ich nach Petersburg telegraphiert, um zu
erfahren, wo mein Bruder ist. Ich habe nicht einmal Zeit,
mich mit meinen Freunden schriftlich zu beraten. Wer
weiss, vielleicht ist es für mich nützlich, aus meiner Ein-
siedlerschaft herauszukommen und gegen den Willen in
die Flut des Pariser Lebens zu tauchen? Wenn Sie nur
wüssten, was mich das kostet! Selbstverständlich habe
— 425 —
Heute nichts thun können. Oh Gott, wann werde ich end-
hch Ruhe finden?!"
An Anatol Tschaikowsky:
„San-Remo, d. 23. Dec. 1877.
Vorgestern schrieb ich Dir, dass ich nach Paris reise.
Darauf verbrachte ich eine schreckhche Nacht, und bin
auch Heute noch ganz krank: Alles ekelt mich an, Alles
ärgert mich, kurz — der Gedanke an diese Reise, an meine
Vorgesetzten, an die Sitzungen, an die obligaten Diners,
Soireen, an die Unmöglichkeit, Zeit zum Komponieren zu
finden — macht mich ganz verrückt. Nein, lieber Toly, är-
gere Dich nicht über meinen Kleinmut. Ich schwöre, dass
ich viel lieber in irgend einem Nest hungern und in völli-
ger Abgeschiedenheit vegetieren möchte, als mich für volle
acht Monate an dieses Babylon fesseln zu lassen. Wo bleibt
all' meine Schwärmerei für das stille Landleben? Wo bleibt
die Ruhe, welche mich wiederherstellen soll? Und was
soll ich mit Modest und Kolja anfangen?
Weisst Du, vorgestern suchte ich mir vorzustellen, was
Du sagen würdest, wenn Du hier bei mir wärest. Ich glaube,
Du würdest mir raten hin zu reisen.
Wenn Du aber Heute mein trauriges Gesicht sehen
würdest, und wie ich wie ein Besessener in meiner Stube
hin und her rannte, dann würdest Du gewiss sagen: bleib!
Ich weiss, dass nun — da ich beschlossen habe, den Dele-
girtenposten abzulehnen — mich der Gedanke quälen wird,
dass Du, Frau Meck und Andere mit mir unzufrieden sein
werden. Und doch ist das besser, als der Zustand, in wel-
chen mich der Brief aus dem Ministerium versetzt hatte.
Seit Du mich verlassen hast, ist meine körperliche Gesund-
heit leidlich, nur mit den Nerven geht es schlechter. Ich
habe Dir bis jetzt eine Sache verheimlicht, nämlich: seit
dem Tage Deiner Abreise und bis Heute trinke ich jeden
Abend einige Cognac's; den Tag über trinke ich auch recht
viel. Ich kann es nicht entbehren.
Ich kann nur dann ruhig sein, wenn ich ein wenig be-
rauscht bin. Ich habe mich so an dieses heimliche Trinken
gewöhnt, dass schon allein der Anblick des Fläschchens,
Avelches stets bei mir halte, mir Freude macht. Briefe
schreiben kann ich auch nur, nachdem ich „einen zu mir
genommen" habe. Das ist ein Beweis dafür, dass ich noch
krank bin.
— 4^6 —
In Paris müsste ich, um allen Anstrengungen gewach-
sen zu sein, von früh bis spät ununterbrochen trinken.
Meine ganze Hoffnung ist Modest. Ein stilles Leben in an-
genehmer Gesellschaft und die Arbeit — das thut mir jetzt
Not. Mit einem Wort, nimm mir's um Gottes Willen nicht
übel, dass ich nicht nach Paris reisen kann".
An N. Rubinstein:
,,San-Remo, d. 23. Dec. 1877.
Lieber Freund, ich kann nicht nach Paris reisen. Das
ist nicht Kleinmut, und auch nicht Faulheit, denn ich kann
wirldich nicht. Die letzten drei Tage, seit dem Empfang
der Nachricht über meine Bestätigung, bin ich vollständig
krank. Ich bin fast wahnsinnig. Lieber den Tod, als das!
Ich wollte mich überwinden, doch ist Nichts daraus ge-
worden. Ich weiss jetzt aus Erfahrung, was das heisst sich
Gewalt anzuthun, gegen seine Natur zu gehen. Ich kann
jetzt keine Menschen sehen, vollständige Isoliertheit von
jeglichem Lärm und jeglicher Aufregung" ist mir dringend
notwendig. Kurz, wenn Du willst, dass ich ganz gesund
zu Dir zurückkehre, so verlange nicht, dass ich nach Pa-
ris gehe. Daraus dürfte nichts Gutes erwachsen, weder
für die russische Musik, noch für mich persönlich. Wenn
Du wüsstest, wie es in meinem Innern aussieht, so wür-
dest Du mir selbst davon abraten. Sei mir nicht böse".
An Frau von Meck:
„San-Remo, d. 24. Dec, 1877.
So eben habe ich auf der Post Ihren Brief erhalten
und möchte ihn ausführlich beantworten. Alle jungen Pe-
tersburger Komponisten sind sehr talentvoll, sind aber von
der schrecklichsten Selbstüberhebung, so wie von der echt
dilettantischen Ueberzeugung angesteckt, dass sie hoch
über allen andern Musikern der Welt stehen. Eine Aus-
nahme ist (in der letzten Zeit) Rimsky-Korsakoff. Er ist
zwar auch ein Autodidakt wie die Andern, es hat sich
aber in ihm vor einiger Zeit ein Umschwung vollzogen.
Dieser Mann ist von Natur sehr ernst, sehr ehrlich und
gewissenhaft. Als sehr junger Mann war er in eine Ge-
sellschaft geraten, welche ihn erstens versichert hatte, dass
er ein Genie sei, und zweitens ihn überzeugt hatte, dass
er nicht zu studieren brauche, dass die Schule jede In-
— 427 —
spiration tödte und die schöpferische Kraft ausdörre u. s.
w. Zuerst hatte er es auch geglaubt. Seine ersten Kompo-
sitionen zeugen von einem sehr hervorragenden, aber je-
der theoretischen Ausbildung ermangelnden Talent. In dem
Kreis, in dem er sich bewegte, war ein Jeder in sich selbst
und in die Andern verliebt. Ein Jeder von ihnen suchte
das eine oder das andere Werk, welches diesem Kreis
entstammte und von ihm als etwas hervorragendes aner-
kannt wurde, nachzuahmen. Infolgedessen ist der ganze
Kreis in Einseitigkeit, Unpersönlichkeit und Manieriertheit
verfallen. Korsakoff ist der einzige von ihnen, der vor etwa
fünf Jahren zur Einsicht gelangte, dass die in dem Kreis
gepredigten Ideen ganz und garnicht begründet луагеп,
dass die Verachtung der Schule und der klassischen Mu-
sik, die Verneinung der Autoritäten und Meisterwerke
nichts Anderes wäre, als Unwissenheit. Ich bin noch im
Besitze eines Briefes aus jener Epoche, welcher mich sehr
gerührt und erschüttert hatte. Rimsk\'-Korsakoff war in
Verzweiflung, als er gewahr wurde, dass so viele Jahre
ohne Nutzen verstrichen waren, und dass er sich auf einem
Wege befand, der nirgends hinführte. Er fragte sich da-
mals, was er nun thun sollte? Selbstverständlich musste
er lernen. Und er begann mit einem solchen Eifer zu ler-
nen, dass die Schultechnik für ihn sehr bald etwas Un-
entbehrliches wurde. In einem Sommer hatte er eine Un-
zahl von Kontrapunkten und 64 Fugen angefertigt, von
denen ich 10 zur Durchsicht erhielt. Die Fugen waren
makellos, aber ich bemerkte schon damals, dass die Reak-
tion eine zu scharfe war. Aus der Verachtung der Schule
war R.-K. plötzlich in den Kultus der musikalischen Tech-
nik gesprungen.
Bald darauf erschien seine S34nphonie und auch das
Quartett. Beide Werke sind voll von Kunststücken und tra-
gen — wie Sie sehr richtig bemerken, — den Stempel des
trocknen Pedantismus. Offenbar befindet er sich augen-
blickhch in einer Krisis, und es ist schwier vorauszusagen,
wie diese Krisis enden wird. Entweder wird er sich zu
einem grossen Meister durcharbeiten, oder in kontrapunk-
tischen Spitzfindigkeiten untergehen.
C. Cui ist ein talentvoller Dilettant. Seine Musik ist nicht
eigenartig, aber hübsch und elegant; sie ist kokett, aber —
so zu sagen — angeleckt; zuerst gefällt sie, man wird aber
sehr bald ihrer überdrüssig. Das kommt davon, das Cui
seiner Specialität nach nicht Musiker, sondern Professor
— 428 —
der Fortifikation ist, welcher ein grosse Masse Vorlesun-
gen in den verschiedensten Militärschulen Petersburg's zu
halten hat. Er hat mir selbst einmal gebeichtet, dass er
nicht anders komponieren könne, als am Klavier sitzend,
Melodieen und Akkorde suchend. Wenn er dann eine hüb-
sche Idee ausfindig gemacht, so verziert und verarbeitet er
sie bis ins kleinste Detail, was immer sehr lange dauert,
so dass er zum Beispiel, an seiner Oper „Ratcliff" volle
IG Jahre gearbeitet hat. Doch ist ihm, wie gesagt, ein
gewisses Talent nicht abzusprechen, wenigstens hat er
Geschmack und Instinkt.
Borodin, — der fünfzigjährige Professor der Chemie in
der medicinischen Akademie — besitzt auch Talent, sogar
■ein recht grosses, welches aber infolge mangelnden Wis-
sens umgekommen ist. Das blinde Schicksal hat ihn statt
zur lebendigen musikalischen Thätigkeit — zum Katheder
der Chemie geführt. Er hat nicht so viel Geschmack wie
Cui, und seine Technik ist so schwach, dass er nicht einen
einzigen Takt ohne fremde Hilfe schreiben kann.
Von Mussorgsky behaupten Sie mit Recht, er sei
„abgethan". Dem Talent nach ist er vielleicht der bedeu-
tendste von Allen, nur ist das eine Natur, in der es kein Ver-
langen nach Selbstvervollkommnung giebt, eine Natur, wel-
che zu sehr von den absurden Theorieen ihrer Umgebung —
und vom Glauben an die eigne Genialität durchdrungen
ist. Ausserdem ist das eine ziemlich niedrige Natur, wel-
che das Grobe, Ungeschliffene, Hässliche liebt. Das ist das
gerade Gegenteil des wohlanständigen und eleganten Cui.
Mussorgsky kokettiert mit seiner Ungebildetheit; er scheint
stolz zu sein auf seine Unwissenheit und schreibt, wie es
gerade kommt, indem er blind an die Unfehlbarkeit seines
Genies glaubt. Und in der That blitzt oft ein recht eigen-
artiges Talent in ihm auf.
Balakireff ist die bedeutendste Persönlichkeit des Cir-
kels. Er ist aber verstummt, ohne viel gethan zu haben.
Dieser besitzt ein ausserordentliches Talent, w^elches aber
durch verschiedene fatale Umstände erstickt worden ist.
Nachdem er seinen Unglauben sehr zur Schau getragen
hatte, ist er plötzlich ganz „devot" geworden. Er sitzt
stets in Kirchen, fastet, betet allerlei Reliquien an — und
thut sonst garnichts. Trotz seiner ausserordentlichen Be-
gabung, hat er viel Böses gestiftet; er war es, zum Bei-
spiel, der die jungen Jahre Korsakoff's umgebracht, indem
er ihm eingeredet hat, dass er nicht zu lernen brauche.
— 429 —
Ueberhaupt ist er der eigentliche Erfinder der Lehren
dieses merkwürdigen Cirkels, in welchem so viele unent-
wickelte, oder falsch entwickelte, oder vorzeitig zu Grunde
gegangene Kräfte vereinigt sind.
Das ist meine aufrichtige Meinung über diese Herren..
Welch traurige Erscheinung! So viele Talente, von denen —
mit Ausnahme von Rimsky-Korsakoff — schwerlich etwas.
Ernstes zu erwarten sein dürfte! Und so ist Alles in Russ-
land: enorme Kräfte, denen aber ein Plevna verhängniss-
vollerweise im Wege steht. Die Kräfte sind aber trotzdem
da. So ein Mussorgsky spricht bei all' seiner Scheusslich-
keit dennoch eine neue Sprache. Sie ist nicht schön, aber
frisch. Man ist wohl zu erwarten berechtigt, dass einst in
Russland eine ganze Reihe starker Männer erstehen wird,,
welche der Kunst neue Wege weisen w^erden. Unsere
Scheusslichkeit ist dennoch besser, als die kläglichen und
ernst sein wollenden Schöpfungen eines Brahms. Die Deut-
schen sind hoffnungslos versiegt. Bei uns ist noch immer
die Hoffnung da, dass Plevna fallen und unsere Macht
sich voll entfalten wird. Bis jetzt ist aber noch sehr we-
nig gethan worden. Bei den Franzosen ist der Fortschritts-
drang sehr gross. Allerdings kommt da Berlioz erst jetzt
zu seinem Recht, d. h. lo Jahre nach seinem Tode. Es
sind aber viele neue Talente und Bekämpfer der Routine
da. Der Kampf gegen die Routine ist gerade in Frank-
reich sehr schwer. In der Kunst sind die Franzosen fürch-
terlich konservativ. Sie waren die letzten, welche Beetho-
ven anerkannten. Noch in den vierziger Jahren galt er
dort, als ein VerrücMer, als ein Sonderling. Der erste fran-
zösische Kritiker Fetis bedauerte, dass Beethoven „Ver-
stösse" gegen die Regeln der Harmonie gemacht hatte und
verbesserte diese Fehler noch vor 25 Jahren.
Von den modernen Franzosen sind Bizet und Delibes
meine Lieblinge. Die Ouvertüre „Patrie", von der Sie mir
schreiben, kenne ich nicht, aber mit Bizet's Oper „Car-
men" bin ich sehr vertraut. Diese Musik will nicht tief
sein und ist in ihrer Einfachheit und Ungekünsteltheit so
lebendig, so schön, so innig, dass ich sie von Anfang bis
zu Ende auswendig gelernt habe. Ueber Ddibes habe ich
Ihnen schon früher geschrieben. In ihren fortschrittlichen
Bestrebungen sind die Franzosen nicht so w^aghalsig, wie
unsere Neuerer: sie überschreiten nicht die Grenze des.
Möglichen, wie Borodin und Mussorgsky".
— 430 —
An А. Tschaikowsk}-:
„Mailand, d. 28. Dec. 1877.
Gestern um 7 Uhr abends habe ich endlich Modest in
meine Arme geschlossen. Welche Freude das für mich
war, lässt sich garnicht beschreiben! Wir verbrachten ei-
nen köstlichen Abend: plauderten ohne Ende. Er hat mir
sehr viel hiteressantes erzählt. Heute sind wir alle vier in
der Kathedrale gewesen; es war sehr lustig, trotz des nie-
derträchtigsten Schneewetters. Dann frühstückten wir. Dann
arbeitete ich. Ich hatte die S3aiiphonie mitgenommen, sie
ist schon ganz fertig, ich muss nur noch alle Bezeichnun-
gen eintragen. Morgen will ich sie nach Moskau senden.
Für Heute Abend hatten wir Billets in die „Scala", wo
Gounod's Oper „Saint-Mars" zum ersten Mal gegeben wer-
den sollte. (Für mittelmässige Plätze hatten wir ä 20 Frcs
bezahlen müssen). Als wir aber Nachmittags zum Theater
kamen, war dasselbe wegen des Heute erfolgten Ablebens
des Königs geschlossen. Das Geld wurde uns nicht zu-
rückgezahlt, morgen sollen wir es aber erhalten. Nach
Hause zurückgekehrt, nahm ein jeder von uns ein Bad,
und augenblicklich stehen wir im Begriff Thee zu trinken.
Morgen um 2 reisen W4r ab und wollen in Genua über-
nachten".
"T^äSr
V.
An Frau von Meck:
„San-Remo, d. i. Jan. 1878.
Nach San-Remo zurückgekehrt fand ich eine ganze
Masse Briefe und Ihr Telegramm. Dieses Mal erhielt ich
wirklich von Ihnen die erste Nachricht über den Sieg Ra-
detzky's ^). Haben Sie Dank für diese frohe Botschaft und
für all' Ihre Wünsche. Was immer auch geschehen mag,
schlimmer als das vorige kann das bevorstehende Jahr
nicht werden; wenigstens lässt die Gegenwart nichts besse-
res zu wünschen übrig, abgesehen von meinem unglück-
1) Der Sieger vom Schipka-Pass.
— 431 —
liehen Charakter, welcher geneigt ist, das Schlimme zu
übertreiben und sich zu wenig über das Gute zu treuen.
Unter den Briefen war auch einer von Anatol, der mir
Vieles über meine Frau schreibt und über diese ganze
traurige Geschichte. Sobald ich an alle Einzelheiten mei-
ner nicht all' zu fernen Vergangenheit denke, fühle ich
mich sofort unglücklich.
Auch von dem Vorsitzenden der russischen Sektion der
Pariser Weltausstellung habe ich einenBrief erhalten, welcher
mir das Bedauern über meine Absage ausdrückt. Mein Ge-
wissen ist immer noch nicht ganz ruhig: ist es nicht ego-
istisch und thöricht von mir gewesen, das Amt eines De-
legirten abzulehnen? Ich schreibe Ihnen das, weibich mich
daran gewöhnt habe, Ihnen Alles zu schreiben. Im Grun-
de bin ich ganz glücklich. Die letzten Tage: Mailand, Ge-
nua und die Reise hierher — brachten mir eine Menge freu-
diger Gefühle. Ich habe Kinder sehr gern, und Kolja freut
mich unendlich. Es war mir ausserordentlich angenehm
zu bemerken, dass er unter der Leitung meines Bruders
in wenigen Monaten sehr grosse Fortschritte gemacht hat.
Er hat sich sehr gut entwickelt; seine Fähigkeiten — be-
sonders das Gedächtniss — sind erstaunhch".
An N. G. Rubinstein:
„San-Remo, d. i. Jan. 1878.
...Aus dem Telegramm Albrecht's, welches ich nach
meiner Mailänder Reise hier vorgefunden habe, ersehe ich,
dass Du mir wegen der Ablehnung des Delegirtenamtes
böse bist. Lieber Freund, Du kennst mich ja gut; bin ich
denn wirklich im Stande, der russischen Musik in Paris
nützlich zu sein? Du weisst wie wenig Talent ich habe,
irgend Etwas zu unternehmen, zu veranstalten. Dazu
kommt noch meine Menschenscheu, welche jetzt den Cha-
rakter einer unheilbaren Krankheit angenommen hat. Was
würde denn dabei herauskommen? Ich würde mich mit
allerlei französischem und russischem Gesindel abquälen
und doch Nichts zu Stande bringen. Was mich selbst an-
belangt, meinen persönlichen Nutzen, so genügt es, wenn
ich Dir ohne jede Uebertreibung sage, dass ich viel lieber
zu Zwangsarbeit verurteilt sein möchte, als in Paris De-
legirter sein. Würde ich mich in einer andern Geistes-
verfassung befinden, dann gebe ich zu, dass mir der Auf-
enthalt in Paris nutzbringend sein könnte. Jetzt aber nicht.
— 432 —
Ich bin krank, ich bin wahnsinnig, ich kann jetzt unmög-
lich an einem Ort leben, wo ich mich bewegen, mich
vordrängen und die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich
zu lenken bestrebt sein muss. Ich muss Dir offen geste-
hen, dass ich, trotz meiner Sehnsucht nach Moskau und
nach euch allen, nicht ohne Bangen daran denken kann,
das nächste Jahr in Moskau zubringen zu müssen. Sei mir
bitte, um Gottes Willen, nicht böse. Ich meine, dass man bis
zum Sommer auch ohne Delegirten auskommen könnte,
im Sommer aber würdest Du den Delegirten machen kön-
nen und würdest entschieden der beste Delegirte sein.
Ueberlege dir's mal! Mit Deiner Autorität und bei Deinem
Organisationstalent könntest Du viel für die russische Mu-
sik im Allgemeinen, und für mich im Besondern thun.
Nun über die Symphonie. Am Donnerstag Morgen habe
ich sie aus Mailand an Deine Adresse abgeschickt, folg-
lich wird sie in etwa drei Tagen in Deinen Händen sein.
Ich bitte Dich eindringlichst, kein Urteil über sie zu fäl-
len, ehe sie nicht gespielt worden ist. Es ist sehr leicht
möglich, dass sie Dir beim ersten Anblick nicht gefallen
wird, darum beeile Dich nur ja nicht mit der Beurteilung,
sondern schreibe mir Deine aufrichtige Meinung erst nach
der Aufführung. Ich hoffe, dass Du es möglich machen
wirst, sie in einem der letzten Konzerte zum Vortrag zu
bringen. Es scheint mir, dass das meine beste Arbeit ist.
Von meinen zwei letzten Erzeugnissen, d. h. der Oper und
der S\miphonie, gebe ich der Letzteren entschieden den
Vorzug. In Mailand wollte ich die Tempi nach dem Metro-
nom angeben, habe es aber nicht gethan, weil der Metro-
nom ganze 30 Eres, kosten sollte. Du bist der einzige Ka-
pellmeister in der ganzen Welt, auf den ich mich verlas-
sen kann. Im ersten Satz sind einige schwierige und allmä-
liche Tempoveränderungen, auf welche ich Deine besondere
Aufmerksamkeit lenken möchte. Der dritte Satz wird piz-
zicato gespielt; je schneller das Tempo, desto besser, nur
habe ich keine rechte Vorstellung, welche Schnelligkeit
beim Pizzicato erzielt werden kann".
An P. I. Jurgenson:
„San-Remo, d. i. Jan. 1878.
....Peter Iwanowitsch, die Symphonie habe ich beendet
und nach Moskau abgeschickt. Ich hoffe, dass Du sie in
Verlag nehmen wirst. Ich brauche kein Honorar, bitte Dich
— 433 —
aber sehr, das Arrangement des Klavierauzugs keinem an-
dern als Wotan ^) zu übertragen, oder auch Tanejew, wenn
dieser es nicht abschlagen sollte, was sehr wahrscheinlich
ist. Ich zweifle nämlich sehr daran, ob der faule Serge die
Arbeit übernehmen wird; wenn er sie aber übernehmen
wird, dann kann ich ruhig sein. Freue mich sehr, dass
Rubinstein mein Konzert spielen will".
An S. I. Tanejew:
„San-Remo, d. 2. Jan. 1878.
Haben Sie Dank, Serge, für Ihren lieben Brief und für
das gestrige Telegramm, welches mich sehr erfreut hat, — •
das ist keine Phrase. Ich bin sehr misstrauisch geworden
und zweifle sehr oft an der Freundschaft der Menschen,
so dass jeder Beweis des Gegenteils mich zu erfreuen
geeignet ist. Also vielen Dank. Mit welchem Neid dachte
ich gestern an Ihren lieben Bekanntenkreis und wie gern
würde ich bei Ihnen weilen! Daran ist aber leider gar-
nicht zu denken. Vor dem nächsten Herbst werde ich Sie
wohl kaum wiedersehen und Ihr Spiel hören und Ihre Par-
tituren kennen lernen. Ich bin sehr neugierig zu erfahren,
was Sie alles geschaffen haben. Die Meinungsäusserungen
Rubinstein's sind für mich nicht ganz maassgebend. Er
hat seine Ansichten über verschiedene Werke schon oft
gewechselt. Und Sie sind in Bezug auf sich selbst stets ein
schreckhcher Pessimist. Hätten Sie nicht Lust sich in einige
Ausgaben zu stürzen und mir die Partitur per Post zu
senden.
Es ist sehr leicht möglich, dass Sie recht haben, wenn
Sie behaupten, meine Oper sei nicht bühnenmässig. Ich
will Ihnen aber sagen, dass ich auf die Bühnenmässigkeit
spucke. Die Thatsache, dass ich keine Bühnenader besitze
ist schon längst festgestellt und ich kümmere mich jetzt
wenig darum. Ist's wirklich nicht bühnenmässig, dann
braucht ihr's nicht aufzuführen!! Ich habe diese Oper ge-
schrieben, weil ich eines schönen Tages Lust bekam, alles
das in Musik zu setzen, was sich im Onegin der Musik ge-
radezu aufdrängt. Und ich habe es gethan, so gut ich's
konnte. Ich habe mit unbeschreiblichem Genuss und gros-
ser Begeisterung gearbeitet und war wenig um die soge-
nannte Handlung, um Effekte u. s. w. besorgt. Ich spucke
auf die Effekte! Was sind eigentlich Effekte?
1) Scherzname für Klindworth.
Tsehaikotvsky, M, P. I, Tschaikowsky's Leben. 28
— 434 —
Wenn sie zum Beispiel in einer „Aida" zu finden sind,
so kann ich Sie versichern, dass ich um keine Reichtümer
der Welt eine Oper mit einem ähnlichen Sujet schreiben
würde, denn ich brauche lebendige Menschen und keine
Puppen. Ich werde stets gern eine Oper schreiben, welche
jeglicher Effekte bar ist, aber in welcher mir ähnliche Wesen
vorkommen, mit denselben Gefühlen und Gedanken, die
auch ich habe und verstehe. Die Gefühle einer ägзфtischen
Prinzessin, eines Pharao, oder eines verrückten Nubiers
kenne ich nicht, verstehe ich nicht. Irgend ein Instinkt sagt
mir, dass diese Menschen ganz anders fühlen, handeln, re-
den und ihre Gefühle ausdrücken müssen als wir. Darum
лvürde meine Musik, welche — ungeachtet meines WoUens —
vom Schumannismus, Wagnerismus, Chopinismus, Glin-
kismus, Berliozismus und verschiedenen anderen der neue-
sten „Ismen" durchdrungen ist, mit den handelnden Per-
sonen einer „Aida" ebenso schlecht harmonieren, wie die
schönen und galanten Reden der Helden Racine's, welche
sich gegenseitig mit „Sie" anreden, sich mit der Vorstel-
lung von dem echten Orestes und der echten Andromache
decken. Eine solche Musik würde eine Lüge sein, und jede
Lüge verabscheue ich. Uebrigens ernte ich die Früchte
meiner gar zu geringen Belesenheit: wenn ich in den Li-
teraturen der verchiedenen Völker besser bewandert wäre,
so würde ich gewiss etwas finden können, was meinem
Geschmack entspräche und zugleich bühnengerecht wäre.
Zu meinem Bedauern bin ich nicht im Stande selbst etwas
zu finden, kenne auch Niemanden, der mich auf ein ähn-
liches Sujet aufmerksam machen könnte, wie zum Beispiel
Bizet's „Carmen" eines ist, eine der köstlichsten Opern
unserer Zeit. Sie werden mich fragen, was ich denn eigent-
lich will? Gut, ich will's Ihnen sagen. Ich will vor allen
Dingen keine Könige, keine Volkstumulte, keine Götter,
keine Märsche, kurz nichts von alledem, was zu den Attri-
buten der „grande opera" gehört. Ich suche ein intimes,
aber erschütterndes Drama, welches auf dem Konflikt
solcher Situationen basiert, die ich selbst durchgemacht
oder gesehen habe, und welche mein Herz zu rühren im
Stande sind. Auch gegen das phantastische Element hätte
ich nichts einzuwenden, denn es beengt nicht und bietet
grenzenlose Freiheit. Ich glaube, ich drücke mich nicht
klar genug aus. Mit einem Wort, Aida steht mir so fern,
ihre Liebe zu Radames, welchen ich mir ebenso wenig
vorstellen kann, lässt mich so vollständig kalt, dass ich
— 435 —
keine vom Gefühl erwärmte Musik dazu schreiben könnte.
Neulich sah ich mir in Genua die „Afrikanerin" an. Oh
diese unglückhche Afrikanerin! Was hatte sie nicht alles
durchzumachen: Sklaverei, Gefängniss, Tod unter einem
giftigen Baum, und musste sterbend noch den Triumph
ihrer Rivahn über sich ergehen lassen — und doch that sie
mir nicht im geringsten leid! Und was für Effekte gab es
da: ein Schiff, ein Kampf und dergl. Was helfen nun die
Effekte?...
In Betreff Ihrer Bemerkung, dass Tatjana sich nicht
plötzlich in Onegin verliebt, mache ich Sie darauf aufmerk-
sam, dass Sie sich irren: sie verliebt sich wohl plötzlich.
Sie lernt ihn doch nicht erst kennen und dann lieben. Die
Liebe kommt plötzlich über sie. Noch vor dem Erscheinen
Onegin's ist sie in den Helden ihres unbestimmten Ro-
mans verliebt. Kaum erblickte sie Onegin, als sie ihn auch
schon mit allen Eigenschaften ihres Ideals ausrüstete, und
die Liebe, welche sie bisher dem Objekt ihrer feurigen
Phantasie zuwandte, nun auf einen lebendigen Menschen
übertrug.
Die Oper „Onegin" wird niemals Erfolg haben, das
weiss ich im voraus. Ich werde niemals solche Künstler
finden, welche auch nur einigermaassen meinen Anforde-
rungen gerecht werden können. Die Routine, welche auf
unsern Bühnen herrscht, die vernunftwidrigen Aufführun-
gen, das System, Invaliden zu beschäftigen und den jun-
gen Kräften den Weg zu versperren, — alles das macht
meine Oper auf der Bühne unmöglich. Viel lieber würde
ich diese Oper der Konservatoriumsbühne anvertrauen.
Hier giebt es wenigstens nicht jene gemeine Routine der
Hoftheater und auch nicht jene widerhchen Invahden. Dazu
kommt, dass das Konservatorium seine Vorstellungen im
privaten Kreis, en petit comite, veranstaltet. Das passt mehr
für mein bescheidenes Werk, welches ich nicht einmal Oper
nennen will, wenn es veröffentlicht werden sollte. Lyri-
sche Scenen möchte ich es nennen, oder ähnlich. Ja, diese
Oper hat keine Zukunft! Das wusste ich wohl, als ich sie
schrieb; nichtsdestoweniger habe ich sie geschrieben und
werde sie in die Welt setzen, wenn Jurgenson sie wird...
drucken wollen. Ich werde nicht nur keinen Versuch ma-
chen, sie im Marientheater aufführen zu lassen, sondern —
im Gegenteil — ich werde dem nach Möglichkeit entgegen-
wirken. Ich habe sie aus unüberwindlichem innerem Drang
geschrieben. Ich versichere Sie, dass man nur unter sol-
— 43б —
chen Umständen Opern schreiben sollte. An Effekte den-
ken und für Bühnenmässigkeit sorgen braucht man nur bis
zu einem gewissen Grade. Wenn meine Begeisterung für
„Eugen Onegin" als Operntext von Beschränktheit, Stumpf-
sinn, Unwissenheit und Unkenntniss der Bühne zeugt, so
thut mir das sehr leid, aber ich kann wenigstens behaup-
ten, dass diese Musik im buchstäblichen Sinne sich aus mir
ergossen hat, dass ich sie nicht ausgedacht und heraus-
gequält habe. Nun genug von „Onegin"....
Jetzt einige Worte über meine neueste Arbeit, die vierte
Symphonie, welche jetzt in Moskau angekommen sein muss.
Was Sie wohl darüber sagen werden? Ich schätze Ihre
Meinung sehr hoch und fürchte Ihre Kritik; dafür weiss
ich, dass Sie rücksichtslos ehrlich sind, und das ist der
Grund, weshalb ich Ihre Meinung so hoch achte. Ich ha-
be einen brennenden Wunsch, den ich Ihnen mitzuteilen
kaum wage, denn ich fürchte, unbescheiden zu sein. Sie
müssen schreiben, schreiben und spielen, spielen und schrei-
ben, nämlich für sich selbst, und haben gewiss keine Zeit
für Arrangements. Es giebt nur zwei Menschen in Mos-
kau, ja in der ganzen Welt, denen ich das Arrangement
meiner Symphonie für Ciavier ä quatre mains anvertrauen
würde. Der eine ist Klindworth und der andere ein ge-
wisser Jemand, der im Obuchowsk3^ Pereulok ^) wohnt.
Der Letztere wäre mir sogar lieber, wenn ich nur nicht
fürchtete, unbescheiden zu sein. Bitte genieren Sie sich
nicht, mir meine Bitte abzuschlagen, wenn Sie aber „ja"
sagen werden, dann bin ich vor Freude bereit hoch auf-
zuspringen, trotzdem es mir bei meiner Korpulenz nicht
sonderlich bequem werden dürfte".
An Frau von Meck:
„San-Remo, d. 6. Jan. 1878.
Die letzten Tage vergingen so, dass einer vom andern
schwer zu unterscheiden war. Um 8 wird aufgestanden,
nach dem Kaffee kommt ein kleiner Spaziergang, und
dann setzen wir uns alle an die Arbeit. Ich orchestriere
den 3. Akt meines „Onegin". Um 12 frühstücken wir und
unternehmen gleich darauf einen grossen Spaziergang,
kehren um V2 4 zurück und arbeiten wieder. Um 6 Uhr
giebt es Mittagessen, dann folgt Lesen, Briefeschreiben
1 ) Der Name der Strasse, wo Tanejew damals wohnte.
— 437 —
und noch ein kleiner Spaziergang und um ii Uhr gehe
ich zu Bett. Die Gesundheit ist gut, die Stimmung ruhig,
aber in der Tiefe meiner Seele nagt ein heimlicher Kum-
mer. Woher kommt er nur? Was habe ich besseres zu
wünschen? Ich weiss es nicht. Ich schreibe es der Gegend
von San-Remo zu, der ich — weiss nicht warum — feindlich
gesinnt bin. Vielleicht aus dem Grunde, weil es hier in
der That ausser dem Ufer des Meeres fast garkeine schö-
nen Spaziergänge giebt, oder auch aus einem andern Grun-
de, nur weiss ich, dass mich, für den es keinen grösseren
Genuss giebt, als durch Wälder, Felder und Steppen zu
streifen, die hiesigen Spaziergänge garnicht erfreuen! Ich
habe einmal in einem Reisebuch gelesen, dass es für voll-
blütige Menschen mit leicht erregbaren Nerven nicht rat-
sam sei, in dieser Gegend zu wohnen, die Farben sind
zu grell, selbst in der Luft liegt etwas Erregendes. In
Summa fühle ich mich wohl, und seit der Abreise Ana-
tols sind jetzt erst stille und ruhige Tage gekommen.
Der Waffenstillstand, über den jetzt die Zeitungen be-
richten, macht mir grosse Sorge. Sollten wir wirklich nicht
bis Adrianopel vordringen dürfen? Sollten unsere Heerfüh-
rer mitten in ihrem Triumphmarsch ihr Einverständniss
zu diesem Waffenstillstand gegeben haben, welcher den
Türken vielleicht nur eine Avillkommene Gelegenheit ist,
neue Kräfte zu sammeln? Mit Zagen nehme ich jeden Tag
die Zeitung zur Hand und fürchte, die Nachricht von der
Niederlegung der Waffen zu erblicken. Bis jetzt habe ich
aber, Gott sei Dank, nichts derartiges gelesen, und die
Unsern rücken immer vor".
An K. K. Albrecht:
„San-Remo, d. 8. Jan. 1878.
Heute habe ich Deinen Brief erhalten.... Wäre er 14
Tage früher gekommen, so hätte ich mir gewiss die Fra-
ge vorgelegt, ob ich nicht in der That eine Dummheit
oder Unwürdigkeit begangen, indem ich das Amt eines
Delegirten abgelehnt habe? Jetzt ist aber die Sache längst
entschieden und ich bin nach reiflichem Ueberlegen zur
Ueberzeugung gekommen, dass es nur klug von mir ge-
wesen, nicht auf einen meiner Natur unsympatischen Vor-
schlag einzugehen. Du irrst Dich sehr (und auch Kasch-
kin), wenn Du Dir einbildest, ich hätte mich als Feigling
erwiesen. Im ersten Augenblick dachte ich allerdings auch
- 438 -
so. Jetzt aber weiss ich, dass ich korrekt gehandelt habe.
Lass uns die Sache sj'stematisch untersuchen, in wie weit
ich als Delegirter i) der russischen Musik überhaupt und
2) mir selbst Nutzen bringen würde.
i) Der nissischen 2IusiTx überhaupt. Die Delegirten-
geschichte hat sich folgendermaassen abgespielt. Als ich
in Petersburg krank darniederlag liess mir Dawidoff durch
meinen Bruder den betreffenden Vorschlag machen. Da ich
damals ins Ausland reisen musste ohne genügende Mittel
zu haben und da mir die Zeit bis zur Eröffnung der Aus-
stellung so lang schien, dass ich zweifelte, sie überleben
zu können, so hielt ich es nicht für notw^endig, den Vor-
schlag abzulehnen. Ausserdem sah in meinem Verstand
damals Alles so unklar, so neblig und unbestimmt aus,
auch war ich nicht im Stande, an etwas Anderes zu den-
ken, als eine schleunige Abreise. Erst in der Schweiz er-
reichte mich die Nachricht, dass auch Rubinstein mich zum
Delegirten vorgeschlagen habe. Auch dann habe ich noch
nichts dagegen gesagt, denn es schien mir überhaupt merk-
w^ürdig, an die Ausstellung zu denken, solange Plevna
noch nicht genommen war, die Geschäfte sehr schlecht
gingen, und der Frühling noch in weiter Ferne stand. In
Venedig erhielt ich die offizielle Anfrage seitens des Mi-
nisteriums, ob ich mit der Ernennung einverstanden wäre.
Da von einem Honorar nicht die Rede war, so wollte ich
schlauer Weise zu diesem Umstand meine Zuflucht neh-
men, um die Geschichte von mir abzuschütteln. Ich schrieb
zurück, dass ich absolut keine Geldmittel besitze und nur
in dem Falle das Amt übernehmen würde, wenn man mir
ein monatliches Honorar bewilligen wollte. Ich w^ar über-
zeugt, dass man mir angesichts unserer politischen und
finanziellen Verwickelungen kein Geld zur Verfügung stel-
len würde. Ich hatte mich geirrt, man hatte mir ein Ho-
norar bewilligt und mich beauftragt, sofort nach Paris zu
reisen; gleichzeitig ist mir aber auch dringend anempfoh-
len worden, mich keinerlei Hoffnungen hinzugeben, dass
die Regierung für irgend w-elche Unternehmungen Geld
hergeben werde. Was hätte ich denn unter solchen Um-
ständen thun können, um die Pariser für die russische Mu-
sik zu interessieren? Wie könnte ich denn Konzerte und
Quartettabende arrangieren? Welch erniedrigend kleine
Rolle hätte ich neben den andern, reichlich mit Geld ver-
sorgten Delegirten spielen müssenl Darauf rechnen, dass
die Künstler auf ihre eignen Kosten nach Paris kommen
— 439 —
werden, konnte man durchaus nicht, denn der Kurs stand
niederträchtig tief. Aber selbst wenn Geldmittel aufzutrei-
ben gewesen wären, hätte ich nichts thun können. Sollte
ich etwa dirigieren? Meine eignen Kompositionen würde
ich ja durchtaktieren können, aber ich dürfte doch nicht
die Programme mit meinem alleinigen Namen ausfüllen.
Ich müsste vielmehr darauf bedacht sein, mich selbst nach
Möglichkeit auszuschliessen und hauptsächlich Werke von
Glinka, Dargomyzsky, Seroff, Rimsky-Korsakoff, Cui und
Borodin zu bringen. Und dazu müsste ich mich doch vor-
bereiten, wenn ich nicht riskieren wollte, die russische
Musik vor aller Welt zu blamieren. Dass ich sie blamiert
hätte — ist sicher. So würde denn ganz Russland mir nachher
Vorwürfe machen, und das mit Recht. Ich bestreite durch-
aus nicht, dass ein Mann mit Temperament, Geschick
und organisatorischem Talent recht viel machen könnte.
Du w^eisst jedoch, dass ich ausserhalb meiner Speziahtät
ein ganz untauglicher Mensch bin. So hätte ich denn der
russischen Musik überhaupt garkeinen Nutzen bringen kön-
nen, selbst wenn mir von der Regierung die nötigen Mittel
zur Verfügung gestellt worden wären.
2) Für mich selbst. Vor allen Dingen hätte ich als De-
legirter der russischen Musik nicht das Recht, mich selbst
zu bevorzugen. Es wäre vielmehr meine Pflicht hauptsächlich
für andere zu sorgen. Was die Bekanntschaft mit den Pa-
riser musikalischen Grössen anbelangt, so muss ich gestehen,
dass gerade das für mich das Schrecklichste wäre. Lie-
benswürdig sein, jedem Lumpen den Hof machen ist
ganz und garnicht meine Sache. Der Stolz äussert sich
bei den Menschen sehr verschieden. Bei mir äussert er
sich darin, dass ich jeder Begegnung mit Menschen, die
meine Vorzüge nicht kennen oder nicht zu würdigen wis-
sen, aus dem Wege gehe. Es wäre für mich z. B. uner-
träglich, bescheiden vor so einem Saint-Saens zu stehen
und seinen gnädig wohlwollenden Blick zu ertragen, denn
in der Tiefe meiner Seele fühle ich mich um einen gan-
zen Alp über ihm. In Paris würde meine Eigenliebe (wel-
che, trotz der scheinbaren Bescheidenheit, dennoch sehr
gross ist) jeden Augenblick fürchterlich zu leiden haben,
gerade infolge der öffteren Begegnungen mit allerlei Be-
rühmtheiten, welche mich von oben herab ansehen wür-
den. Ihnen meine Werke aufdrängen, ihnen zu beweisen
suchen, dass ich nicht ganz wertlos bin, — das verstehe
ich nicht. Aber gesetzt den Fall, dass es mir durch Auf-
— 440 —
dringlichkeit und Speichelleckerei gelingen würde, die Auf-
merksamkeit der Koryphäen auf mich zu lenken, — was
würde das für Folgen haben? Auf der Weltausstellung
werden so ausserordentlich viele Interessen vertreten sein,
dass meine winzige Person in den Fluten dieses Ozeans
untergehen würde. Wenn ich darauf ausgehen wollte,
mich den Parisern vorzustellen, so würde ich gewiss nicht
die Zeit einer W^eltausstellung wählen, wo auch ohne
meine Wenigkeit Tausende und Abertausende verschie-
dener Insektchen sich vorzudrängen bemühen werden.
Ueberhaupt verstehe ich nicht, wie Du glauben kannst,
ich könnte in Paris in einem Nu weltberühmt werden;
selbst wenn ich ein Konzert geben wollte und könnte,
würde es vom grossen Publikum wegen des Ausstellungs-
trubels gar nicht bemerkt werden. Doch lassen wir jetzt
den Ruhm beiseite und reden wir von meiner Gesundheit.
Körperhch befinde ich mich sehr wohl, wenigstens bes-
ser als zu erwarten war, geistig jedoch bin ich ein ganz
kranker Mensch. Kürzer gesagt, ich bin ein Schritt vom
Wahnsinn. Ich kann nur in absoluter Ruhe leben, in voll-
ständiger Isoliertheit von jeglichem grossstädtischem Ge-
räusch. Damit Du noch besser begreifst, w^e sehr ich mich
verändert habe, will ich Dir noch sagen, dass ich auf al-
len Ruhm und alle Erfolge im Ausland spiicJce, ja, spucJce,
spucJce, spuche! Ich wünsche nur Eines und flehe darum,
man möchte mich doch in Ruhe lassen. Mit Vergnügen
würde ich mich auf dem entferntesten Stückchen Erde nie-
derlassen, um dem Verkehr mit Menschen ganz aus dem
Wege zu gehen. Augenblicklich schmiede ich garkeine
Pläne. Nach Ruhm und Ehre jagen will ich am allerwe-
nigsten. Ich werde komponieren wenn es mich dazu drän-
gen wird; ich komponiere nur, weil ich nicht anders kann.
Doch weiss ich nicht, ob ich noch genug Pulver habe
für etwas Neues. Bis jetzt instrumentiere ich noch an den
im vorigen Frühling und vorigen Sommer komponierten
Werken. Wie dem auch sei, ich kann nicht ohne Arbeit
leben, und wenn ich nicht mehr komponieren kann, dann
werde ich mich mit andern musikalischen Arbeiten beschäfti-
gen. Mit einem Wort, ich will keinen Finger rühren, um
der Verbreitung meiner Werke behilflich zu sein, denn
ich brauche sie garnicht. Wer Lust hat, mag meine Sachen
spielen oder singen, hat Niemand Lust — ist's mir auch
recht; wie gesagt ich spucl-e, spuche^ spuche drauf!!! Ich
wiederhole noch einmal: wäre ich reich, dann lebte ich
— 441 —
in völliger Abgeschiedenheit von der Welt und käme nur
ab und zu nach Moskau, dem ich sehr zugethan bin. Von
allen Menschen, die auf der Erde leben, sind mir nur eini-
ge nahe Verwandte und gute Freunde lieb und teuer,
unter denen Du einen hervorragenden Platz einnimmst.
Die ganze übrige Menschheit ist mir höchst gleichgiltig. Im
Monat August werde ich wieder meine Professur aufneh-
men (welche ich, nebenbei gesagt, mit allen meinen Kräf-
ten hasse), werde still und einsam bis zum letzten Atem-
zug in der weissen Zarenstadt wohnen, hin und wieder
mit meinen Freunden plaudern und bis zu meinem Tode
auf die ganze übrige Welt spucken: auf ihre Meinung, auf
ihren Ruhm, auf ihre Ehre und auf alles Andere!
Dein Argument gegen mich, dass Nikolai Gregorje-
witsch mir die Freundschaft kündigen wird, falls ich das
Delegirtenamt ablehne, ist sehr naiv. Da hast Du ja keine
sehr hohe Meinung von den Freundschaftsgefühlen Niko-
lai Gregorjewitsch's, wenn Du glaubst, dass sie von einer
so nichtigen Ursache in alle Winde zerflattern können.
Es ist auch sehr merkwürdig, dass Du von einer persön-
lichen Beleidigung Rubinstein's sprichst. Es ist seinerseits
und seitens Dawidoff's sehr nett, sehr freundschaftlich
und delikat gewesen, auf mich als Delegirten hinzuwei-
sen. Ich bin ihnen dafür sehr dankbar und schäme mich
ordentlich, ihren Erwartungen nicht gerecht geworden zu
sein. Eine Beleidigung kann ich aber dennoch nicht finden.
Viel eher würde ich es verstehen, wenn Dawidoff sich
beleidigt fühlen wollte, denn ich bin mit ihm nicht so in-
tim befreundet wie mit Rubinstein. Ich bin überzeugt, dass
Du Dich irrst. Wenn ich jetzt plötzlich sterben sollte, — ■
würde das auch eine Beleidigung für Rubinstein sein? Er
kann mich höchstens beklagen und bedauern wenn er —
gleich Dir findet, dass ich durch mein ablehnendes Verhal-
ten sehr viel verliere, aber von Beleidigung ist dennoch
keine Rede. Es thut mir sehr leid, lieber Karl, dass Du
unzufrieden mit mir bist. Aber höre, was ich Dir sage:
bittre Erfahrungen haben mich belehrt. Ich weiss, dass
man nicht ungestraft seine Natur vergewaltigen kann. Mein
ganzes „Ich", jeder Nerv, jede Zelle protestiert gegen den
Delegirten, — und ich unterwerfe mich diesem Protest.
Karl, ich empfehle Dir dringend mein neuestes Er-
zeugniss, welches — wie ich hoffe — unterdess in Moskau
angekommen ist. Ich meine die S3miphonie. Gewinne sie
lieb, denn ich kann nicht ruhig sein, wenn Du mich
— 442 —
nicht lobst. Du ahnst es nicht, wie hoch ich gerade Deine
Meinung schätze. Sage bitte an Kaschkin für seinen Brief
meinen besten Dank und zeige ihm diese meine Antwort,
denn sie ist ebenso an ihn gerichtet. Ich danke Euch Beiden
für Eure warmen Worte in Betreff des „Onegin". Sie sind
für mich in Wahrheit i.ooo.ooo.ooo.ooo Mal mehr wert,
als die wohlwollendsten Blicke irgend eines.... Franzosen.
Ich umarme Euch Beide, ebenso auch Rubinstein. Auf den
Ruhm aber sjmcke, sjmcke, spucke ich".
An P. I. Jurgenson:
„San-Remo, d. 12. Jan. 1878.
Lieber Freund, über die Symphonie habe ich Dir schon
geschrieben, ich möchte Dir nur noch einmal meinen drin-
genden Wunsch ans Herz legen, dass der Klavierauszug
dieses Stückes auf das tadelloseste hergestellt werden möch-
te. Nicht nur, dass ich auf das Honorar verzichte, ich bin
sogar bereit selbst dazuzuzahlen wie viel ich kann, da-
mit die S3'mphonie gut arrangiert, gut gedruckt und — was
die Hauptsache ist — gut korrektiert wird. Entscheide selbst,
wem Du den Klavierauszug in Arbeit geben willst: Klind-
worth oder Tanejew; dem Einen so wie dem Anderen
muss ein hohes Honorar gezahlt werden, jedoch dem Er-
steren, wahrscheinlich, ein höheres als dem Letzteren. Mit
einem Wort, thue Dein Möglichstes, о Du mein lieber
Verleger, damit die Ausgabe der Symphonie ein Pracht-
stück werde.
Ebenso dringend bitte ich Dich, meine Oper „Eugen
Onegin" in Verlag zu nehmen. Diese Oper ist unter ganz
besonderen Umständen entstanden. Ich will mich nicht um
eine Aufführung auf einer grossen Bühne bemühen; es steht
ihr überhaupt keine grosse Theaterzukunft bevor, darum
will ich garkein Honorar von Dir haben, so dass die Summe,
welche ich vor 2 Jahren bei Dir geliehen und in Gestalt
einer Oper zurückzugeben versprochen hatte, unverändert
meine Schuld bleiben wird — so lange, bis ich noch eine
andere Oper geschrieben haben, oder meine Schuld durch
andere Kompositionen getilgt haben werde. Ich wünsche
also, dass Du den „Onegin" verlegst, und zwar je schnel-
ler— je lieber. Ein Teil des Klavierauszugs ist fertig, und
Du kannst Dir eine Kopie davon im Konservatorium ge-
ben lassen. Der andere Teil wird in Monatsfrist fertig sein.
Wenn Du gewillt bist, die Oper schon bald in Druck zu
— 443 —
geben, so lass bitte vorher den Klavierauszug von Tanejew
durchsehen und bitte Letzteren in meinem Namen, den
Klaviersatz — wo nötig — zu verbessern. Ich gebe ihm volle
Freiheit, das Arrangement zu verändern so viel er Lust
hat.
Diese Oper wird Dir einst gute Einnahmen bringen
können, denn sie enthält eine ganze Menge Arien, welche
unter günstigen Umständen Glück machen werden. Sei
so gut, lieber Freund, und schlage mir meine Bitte nicht ab".
An N. F. von Meck:
„San-Remo, d. 14. Jan. 1878.
Zwei Nächte hintereinander herrschte hier ein fürchter-
Hcher Nordwestwind. Er heulte, pfiff und tobte so, dass
man das Gruseln bekam. In der letzten Nacht hat er don-
nernd mein Fenster aufgerissen; ich konnte nicht mehr
einschlafen und begann, über mein Leben nachzudenken.
Ich weiss nicht, wie es kam, aber plötzlich schoss mir
ein sehr angenehmer Gedanke durch den Kopf. Ich dachte
daran, dass ich Ihnen noch nie die Dankbarkeit, die ich
Ihnen schulde, in ihrem vollen Umfange ausgesprochen ha-
be, mein bester und teuerster Freund. Es wurde mir klar,
dass alles das, was Sie für mich thun, so voll Teilnahme
und Güte, so unermesslich grossmütig ist, dass ich dessen,
im Grunde, garnicht würdig bin. Ich erinnerte mich an
den Zeitpunkt, da ich mich am Rande eines Abgrundes
befand und glaubte, dass nun alles hin wäre und mir
nichts anderes übrig bliebe, als vom Erdboden zu ver-
schwinden, und wie mir gleichzeitig eine innere Stimme
von Ihnen zuraunte, Sie würden mir die Hand bieten. Die
innere Stimme hat Recht behalten. Sie und meine Brüder
haben mir das Leben wiedergegeben. Ich lebe nicht nur,
ich kann sogar arbeiten; ohne Arbeit hat das Leben für
mich keinen Sinn. Ich weiss, Sie machen sich nichts da-
raus, dass ich mich jeden Augenblick in Dankbarkeits-
versicherungen ergehe. Habe ich Ihnen aber auch nur
einmal gesagt, dass ich Ihnen Alles, Alles verdanke, dass
Sie mir nicht nur die Mittel an die Hand gaben, ohne
die geringsten Sorgen die schwere Krisis, welche mir be-
schieden gewesen ist, zu überstehen, sondern auch das Ele-
ment des Lichtes und des Glückes in mein gegenwärtiges
Leben hineintragen. Ich spreche jetzt von Ihrer Freundschaft,
meine liebe und teure Nadeshda Filaretowna, und versichere
— 444 -
Sie, dass ich, seit ich in Ihnen einen so unendhch guten
Freund gefunden, — nie mehr ganz unglückhch sein werde.
Hoffenthch wird bald die Zeit kommen, da ich die mate-
rielle Unterstützung nicht mehr brauchen werde, welche
Sie mir mit einem so bewunderungswürdigen Feingefühl
und märchenhafter Freigebigkeit zukommen lassen, wäh-
rend ich die moralische Stütze, die ich an Ihnen gefun-
den, wohl niemals entbehren können werde. Bei der Unent-
schlossenheit meines Charakters und bei dem mir von der
Natur verliehenen Talent, oft den Mut zu verlieren, ist es
mir ein angenehmes Bewusstsein, einen so klugen und guten
Freund zur Seite zu haben, der stets bereit ist, mir zu
helfen und den rechten Weg zu weisen. Ich weiss, dass
Sie mir immer ein Förderer meiner guten und verstän-
digen Handlungen, gleichzeitig aber auch ein Richter mei-
ner Fehler bleiben werden, aber ein Richter, der Mitleid
mit mir hat und mir von Herzen Gutes wünscht. Alles
das sagte ich mir in der vorigen schlaflosen Nacht und
gelobte, Ihnen noch heutigen Tages darüber zu schreiben.
Bitte antworten Sie mir darauf garnichts. Ich habe damit
nur meine unüberwindliche Lust befriedigen wollen, mich
Ihnen gegenüber auszusprechen.
Heute früh brachte man mir (welch' merkwürdiger Zu-
fall!) einen Brief von Rubinstein '^). Er ist von seiner Reise
zurückgekehrt und hat sich beeilt, meinen Brief, in wel-
chem ich mich bei ihm wegen der Nichtannahme des De-
legirtenamtes entschuldigte, zu beantworten. Sein Brief
atmet den wildesten Zorn. Das wäre noch nicht schlimm,
aber in dem ganzen Ton des Briefes solch'eine Trok-
kenheit, solch'eine Herzlosigkeit und Starrköpfigkeit! Er
schreibt, dass meine Krankheit — eitel Schwindel sei, dass
ich nur simuliere, dass ich einfach das dolce far niente
der Arbeit vorziehe, das ich mich von der Arbeit nach
und nach entwöhne und dass er sehr bedauere, mir zu
viel Teilnahme entgegengebracht zu haben, denn dadurch
habe er nur meiner Faulheit gesteuert (!!!) u. s. w. u. s. w.
Am Ende des Briefes drückt er die Hoffnung aus, dass
ich mir die Sache noch überlegen und nach Paris eilen
werde. Ein in Zorn geratener Vorgesetzter, seinem zittern-
den Untergebenen schreibend! Dieser Brief strotzt von
Starrsinn, Unverstand und beleidigendem Hochmut, so dass
er eine scharfe Antwort wohl verdient, die ich denn auch
1) Dieser Brief ist leider verloren gegangen.
— 445 —
sofort abgeschickt habe. Und dennoch, wenn Sie nicht
wären, würde ich gewiss zu zweifeln anfangen: ob ich
nicht in der That wie ein Feighng gehandelt habe? Jedoch
nach dem, was Sie mir über jene Angelegenheit geschrie-
ben hatten, fühlte ich mich in meiner Ueberzeugung, dass
ich keinen Fehler begangen, stark genug. Da Sie und
meine Brüder sich zustimmend verhalten haben, so kann
ich ganz ruhig sein. Nichtsdestoweniger kann ich meine
Verwunderung und meine Erbitterung nicht überwinden,
dass Rubinstein trotz unseres langjährigen Zusammenle-
bens mich nicht besser kennen gelernt und so erstaunlich
wenig Verständniss für mich hat. Dieser Mensch, der bei
jeder sich bietenden Gelegenheit mir von seiner Freund-
schaft spricht, hat die merkwürdige Gabe, mir jeden Au-
genblick kleine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Am ab-
stossendsten an ihm ist aber, dass er bei jeder Gelegenheit
betont, er sei mein Wohlthäter. Selbst wenn er in der
That mein Wolhthäter wäre, so paralysiert er mit seinen
Vorwürfen meine ganze Dankbarkeit ^). Er leidet an einer
unheilbaren Manie, sich einzubilden, dass Alle ihm sehr
verpflichtet seien. Wenn Sie seinen heutigen Brief gelesen
hätten, würden Sie staunen bis zu welchem Unsinn ihn
die Manie, sich als den allgemeinen Wohlthäter einzubil-
den, führen kann. Das ist einfach unglaublich! So, nun
habe ich meinen gerechten Zorn über Rubinstein ausge-
gossen und fühle mich jetzt wohler.
In der heutigen Zeitung habe ich die Bedingungen des
Waffenstillstandes gelesen und mich über Gortschakoff
und die andern leitenden Männer nicht weniger geärgert,
als über den Konservatoriums- Jupiter. Ich gebe mich aber
dem Gedanken hin, dass die „Agence Havas" falsch be-
richtet ist. Wenn die Nachricht richtig ist, dann bekommt
also Russland garnichts, ausser den 500 Millionen, welche
die Türken selbstverständlich niemals bezahlen werden.
Sollte das wirklich wahr sein? Sollte Russland nach all'
den Opfern, nach all' den Strömen von Blut, welche um
den heiligsten Zweck vergossen worden sind, wirklich
keine bessere Entschädigung erhalten? Das ist im höch-
sten Grade empörend und demütigend.
Mein Bruder hat mir ein sehr schönes Buch mitge-
1) Ich halte es für notwendig, den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass P. I.
diese Zeilen in sehr gereizter Stimmung geschrieben hat. Weder vor diesem Brief noch
nachher hat P. I., wenn er bei ruhiger Ueberlegung war, die grosse Bedeutung X. Ru-
binstein's für seine künstlerische Laufbahn angezweifelt, und trug stets die tiefste Dank-
barkeit dafür im Herzen.
— 44б —
bracht, welches ich Ihnen hiermit empfehle, meine werte-
ste Freundin. Das ist „Alexander der Erste" von Solowjeff.
Es ist erst vor Kurzem gelegentlich der Hundertjahrfeier
des Titelhelden erschienen.
Heute habe ich die Instrumentierung des dritten Aktes
abgeschlossen. Es bleibt mir also nur noch übrig, das noch
nicht ganz fertige zweite Bild des zweiten Aktes zu Ende
zu führen und eine Introduktion zu schreiben. Nachher
Avill ich versuchen etwas Neues in Angriff zu nehmen".
An N. G. Rubinstein:
„San-Remo, d. 14. Jan. 1878.
Wertester Nikolai Gregorje witsch, Heute habe ich Dei-
nen Brief erhalten. Er hätte mich sehr geärgert, wenn ich
mir nicht gesagt hätte, dass Du nur mein Heil im Auge
gehabt habest. Zu meinem Bedauern siehst Du aber mein
Heil da, wo ich und einige andere Leute nur Unheil fin-
den können, wo ich nichts als zweck-und ziellose Schere-
reien erblicke. In meinem Brief an Karl habe ich sehr
ausführlich meine Ansichten über die ganze Geschichte
klar gelegt und halte es für überflüssig, dieselben jetzt
zu wiederholen. Es hat mir sehr leid gethan. Deine und
Dawidoff's Empfehlung zu Schanden zu machen. Euch
Beide habe ich brieflich um Entschuldigung gebeten und
mich dabei beruhigt. Alles was Du mir schreibst und
luie Du mir schreibst, beweist mir, wie schlecht Du mich
Jcennst, was ich übrigens auch schon bei mancher frühe-
ren Gelegenheit bemerkt habe. Es ist möglich, dass Du
Recht hast und dass ich in der That simuliere, gerade
darin besteht aber meine Krankheit.
Soeben habe ich Deinen Brief noch einmal durch-
gelesen und mich noch einmal durch Deine unglaubliche
Unkenntniss meines Charakters im Allgemeinen und mei-
ner augenblicklichen Krisis im Besonderen in Erstaunen
versetzen lassen. So oft hast Du mir und Andern geäus-
sert, dass Du mich lieb hast. In Deinem Brief jedoch ist
von dieser Liebe keine Spur, ausser — vielleicht — Deines ur-
sprünglichen Wunsches, mir durch den Vorschlag zum De-
legirten über eine schwere Zeit hinwegzuhelfen. Alle Dieje-
nigen, welche mich in der That lieb haben, äusserten sich
ganz anders über meine ablehnende Haltung. Aus deinem
Brief kann ich nur die Absicht herauslesen, mich fühlen zu
lassen, dass ich an Dir einen grossen Wohlthäter besitze,
— 447 —
und mich als ein undankbarer und deiner Gnade nicht
würdiger Faulenzer erwiesen habe. Das hättest Du nicht
thun sollen! Ich weiss sehr gut, wozu ich Dir verpflichtet
bin, aber erstens kühlen Deine Vorwürfe meine Dankbar-
keit ab, und zweitens gefällt es mir garnicht, dass Du
Dir sogar solche Wohlthaten zuschreibst, welche garkeine
Wohlthaten sind.
Doch genug davon. Reden wir jetzt von den Fäl-
len, in welchen Du in der That als mein Wohlthäter er-
scheinst. Da ich selbst, was die Dirigierkunst anbelangt,
absolut talentlos bin, so hätte ich mir gewiss niemals einen
Namen gemacht, wenn mir nicht ein so ausgezeichneter
Interpret meiner Werke zur Seite gestanden hätte. Wenn
Du nicht da wärest, würde ich zu ewigen Verstümmelungen
verurteilt sein. Du bist der einzige Mensch, der meine Waare
von der rechten Seite zu zeigen w^eiss. Diese Deine ver-
blüffend hohe Kunst, ein schweres Stück — ohne es vorher
durchstudiert zu haben — dank einer unglaublichen Kraft des
Instinkts in nur zwei Proben leichthin durchzunehmen und
dann vorzutragen, diese Kunst möchte ich jetzt von Neuem
in Anspruch nehmen, und zwar für meine Oper und meine
Symphonie. In Betreff der Oper will ich Dir noch sagen,
dass es mich durchaus nicht kränken wird, wenn Du die
Aufführung in dieser Saison nicht für möglich halten soll-
test, obwohl ich es sehr wünschte. Die Symphonie da-
gegen muss unbedingt sofort gespielt werden, denn es
würde mir aus verschiedenen Gründen ausserordentlich
unangenehm sein, wenn die Aufführung nicht zu Stande
käme. Ich habe bis jetzt noch garkeine bestimmten Nach-
richten über die beiden Werke. Sei so gut und schreibe
mir entweder selbst darüber, oder beauftrage Albrecht
oder Kaschkin. Diese beiden Herren thäten besser, mir
ausführlich über Alles zu berichten, was im Konservato-
rium und in der Moskauer Musikalischen Gesellschaft vor-
geht, als mich mit Vorwürfen zu überschütten. Alles Je-
nes interessiert mich sehr. Ich habe Dir schon oft geschrie-
ben, dass ich trotz meines giftigsten Hasses gegen die
Professorenpflichten, für das ganze Leben an das Konser-
vatorium gebunden bin; die Gewohnheit hat es fertig ge-
bracht, dass ich nirgends anders als in Moskau und in
Eurer Mitte leben kann. Ich habe Euch Alle, darunter
auch Dich sehr lieb, vielleicht mehr, als Du glaubst. Du
hast mich aber stets verkannt und missverstanden. Dein
merkwürdiger Brief beweist das von Neuem. Es umarmt
Euch etc.".
- 448 -
An А. I. Tschaikowsky:
„San-Remo, d. 15. Jan. 1878.
.Mein lieber Toly, ich muss Dir mitteilen, dass ich
mich sehr wohl fühle und meine Gesundheit gut ist. Ru-
binstein hat nicht unrecht wenn er behauptet, ich „bilde
mir ein'' krank zu sein. Das stimmt, denn meine einzige
Krankheit besteht ja gerade darin, dass ich mir allerlei
„einbilde". In körperlicher Beziehung bin ich vollkommen
gesund, sogar die „ Hämmerchen " sind verschwunden, —
zur „guten Stunde" sei es gesagt".
An N. F. von Meck:
„San-Remo, d. 15. Jan. 1878.
.Schreibe Ihnen aus folgendem Anlass. Wir sind
soeben von einem prachtvollen Spaziergang heimgekehrt.
In einer Entfernung von 1^2 Stunden liegt das kleine Städt-
chen Colla, in welchem es eine ausgezeichnete Bildergal-
lerie giebt; diese ist von einem reichen Mann, der in Colla
geboren worden ist und in Florenz Carriere gemacht hat,
der Stadt vermacht worden. Es war Heute ein köstlicher
Tag, ein richtiger Frühlingstag; die Sonne strahlte, wie
im Sommer. An dem Spaziergang hat auch Kolja teilge-
nojnmen, für den wir einen Esel gemietet hatten. Die Stei-
gung war nicht besonders steil; und, obwohl — wie über-
all in dieser Gegend — dichte Olivenhaine die Aussicht
aufs Meer und auf die Stadt verdecken, so war es doch
sehr schön. Sehr angenehm war es, dass wir wegen des
Feiertags keinen Bauern und Bäuerinnen, welche die Oli-
ven sammeln, begegneten. Es traf sich, dass ich zufällig
allein den Andern etwas vorangeeilt war, ich setzte mich
unter einen Baum, und da überkam mich plötzlich jenes
hohe Glücksgefühl, welches ich auf meinen ländlichen Spa-
ziergängen in Russland so oft genossen und nach welchem
ich mich hier schon lange vergeblich gesehnt hatte. Ich
war allein inmitten der feierlichen Stille des Waldes. Das
sind köstliche, unvergleichliche und garnicht zu beschrei-
bende Minuten gewesen! Die hauptsächlichste Bedingung
solcher Momente ist — Alleinsein. Auf dem Lande spaziere
ich stets allein. Die Begleitung eines so lieben Wesens,
wie der Bruder hat ja auch ihren Reiz, es ist aber doch
ganz etwas Anderes. Kurz ich fühlte mich glücklich. Zum
ersten, stieg in mir sofort der Wunsch auf, an Sie zu schrei-
— 449 —
ben, und zum zweiten, wurde mir auf dem Heimweg eine
grosse Freude zu Teil. Haben Sie Blumen gern? Ich habe
für sie die glühendste Verehrung, namentlich schwärme
ich für Feld-und Waldblumen. Der König der Blumen ist
in meinen Augen das Makjlüchchen; diese Blume liebe ich
geradezu wahnsinnig. Modest, welcher die Blumen ebenso
gern hat, steht für die Veilchen, sodass wir oft mit ein-
ander in Streit geraten, ich pflege dann zu behaupten, dass
die Veilchen nach Pomade riechen, worauf er gewöhnlich
erwidert, dass die Maiglöckchen — Nachthauben ähnlich se-
hen u. s. w. Wie dem auch sei, ich anerkenne das Veil-
chen gern, als einen würdigen Rivalen des Maiglöckchens
und habe es ebenfalls sehr lieb. In den Strassen werden
hier sehr viele Veilchen verkauft, ich selbst aber habe
trotz eifrigen Suchens noch nie eines gefunden, so dass
ich schon zu glauben begann, dass das Finden der Veilchen
ein ausschliessliches Privilegium der eingebornen Kinder-
bevölkerung sei; Heute jedoch hatte ich auf dem Rückweg
das Glück, eine grosse Menge Veilchen an einer Stelle zu
erblicken. Das ist denn auch der zweite Anlass zu meinem
Brief. — Sende Ihnen einige eigenhändig gepflückte liebe
Blümchen. Denken Sie an den Süden, an die Sonne, an
das Meer!..."
An S. I. Tanejew:
„San-Remo, d. 24. Jan. 1878.
Lieber Serge, Heute erst komme ich dazu, Ihre zwei
Briefe zu beantworten. Ich war für einige Tage nach Nizza
gereist, und dieser Umstand hat mich verhindert, Ihnen
rechtzeitig zu schreiben....
Mit fieberhafter Ungeduld werde ich Ihre neue Sym-
phonie erwarten. Ich muss Sie aber einwenig schelten: es
gefällt mir garnicht, dass Sie sich bis jetzt noch nicht je-
nes Maass von Selbstbewusstsein angeeignet haben, zu wel-
chem Ihnen Ihr Talent und Ihre überhaupt sehr begabte
Natur das Recht giebt. Es scheint mir, dass Sie sich gar
zu lange Zeit als Schüler vorkommen, der ohne Anleitung
Rubinstein's nicht einmal eine Sonate von Beethoven in
einer Quartettsoiree zu spielen wagt. Sie haben schon
längst Alles in sich aufgenommen, was Ihnen Ihre Lehrer
bieten konnten. Jetzt ist es Zeit, sich mit der eignen Kri-
tik zu begnügen, und nicht mehr Rubinsteinisch zu spielen,
sondern auf Tanejewsche Art. Seien Sie doch endlich ein-
Tschaikowsky, M. P. I. Tschaikowsky'sJ Leben. 29
— 450 —
mal Sie selbst, und stützen Sie sich fest auf Ihre eignen
Kräfte. Es gefällt mir nicht, dass Sie — nachdem Sie die
vSonate bereits mit Erfolg öffentlich gespielt haben — mir
schreiben: „Ich hoffe, dass die Sonate nach einem Monat
gut gehen wird". Das klingt so schülerhaft. Wie lange
Zeit brauchen Sie denn, um eine Sonate einzudrillen? Für
einen Virtuosen, überhaupt für jeden Künstler ist ein ge-
wisses Maass von Selbstbewusstsein unerlässlich. Sie sind
zu bescheiden; tragen Sie Ihr Haupt höher, wenn Sie
wollen, dass man Ihnen Achtung entgegen bringt und
ehrerbietig Platz macht.
Andernfalls wird ein jeder Schafskopf annehmen müssen,
dass Sie in Wahrheit nicht viel leisten können. Ich sage
Ihnen das Alles, weil ich selbst durch den Mangel an
Selbstvertrauen sehr viel einbüsse...."
An N. F. von Meck:
„San-Remo, d. 25. Jan. 1878,
Ich fühle mich ausgezeichnet. Die Gesundheit ist in
der besten V^erfassung, der Geist ist klar, die Seele — stark:
Mit grosser Freude beobachte ich mich und komme zu der
unzweifelhaften Ueberzeugung, dass ich ganz wiederherge-
stellt bin. Wissen Sie, meine liebe Freundin, dass man
nicht ganz mit Unrecht gemunkelt hat, ich sei verrückt
geworden. Wenn ich mich an alles das erinnere, was ich
gethan, und an alle Verkehrtheiten, die ich begangen habe,
muss ich unwillkürlich den Schluss ziehen, dass mein Ver-
stand zeitweilig nicht ganz in Ordnung gewesen ist, und
dass ich erst jetzt in den normalen Zustand wieder herein-
gekommen bin. Manches aus meiner jüngsten Vergangen-
heit kommt mir wie ein merkwürdiger Traum vor, wie ein
schreckhches Alpdrücken, während dessen das Individuum,
das meinen Namen trägt, mein Aussehen und meine Kenn-
zeichen hat, so handelte, wie man in Träumen zu handeln
pflegt: unsinnig, unzusammenhängend, paradox. Das war
nicht ein Wesen mit gesundem Menschenverstand und lo-
gischem, vernünftigem Wollen. Alles was ich that, trug den
Charakter eines krankhaften Widerspruchs zwischen Ver-
nunft und Willen; das ist aber nichts anderes, als Geistes-
gestörtheit. Inmitten dieses Alpdrückens, unter dessen Zei-
chen jene merkwürdige und schreckliche, aber kurze Pe-
riode meines Lebens stand, ergriff ich, um mich zu retten,
die Hände einiger mir sehr lieben Menschen, welche er-
schienen waren, mich aus dem Abgrund zu ziehen.
— 451 —
Ihnen und meinen zwei lieben Brüdern, Euch dreien
zusammen verdanke ich nicht nur mein Leben, sondern
auch meine ph3'sische und morahsche Gesundheit".
An P. I. Jurgenson:
„San-Remo, d. 26. Jan. 1878.
Heute ist Dein Brief angekommen, heber Peter Iwano-
witsch. Du bist sehr Hebenswürdig. Die Freigebigkeit, wel-
che Du mir gegenüber bekundest, rührt mich sehr. Nichts-
destoweniger will ich für die Oper nur in dem Falle Geld
von Dir nehmen, wenn sie auf einer grösseren Bühne auf-
geführt werden sollte, aber auch dann bei weitem nicht
die hohe Summe, die Du mir anbietest. Das Honorar für
die S3'mphonie überlasse ich Tanejew, und für die Ueber-
setzungen möchte ich kein Geld von Dir nehmen, weil sie
nach meiner Ansicht sehr schwach sind. Ueber das Hono-
rar für das Violin-und Cellostück lass uns später reden.
Ich bin Dir sehr dankbar, mein Herzensfreund, dass Du
mit mir nicht geizest und mich gern herausgiebst. Uebri-
gens ist das für mich nicht neu. Deinen Grossmut und
Deine Freigebigkeit habe ich stets zu würdigen verstan-
den. Merci, merci, merciü"
An N. F. von Meck:
„San-Remo, d. 28. Jan. 1878.
.Heute hatte ich Gelegenheit zu konstatieren, wie
weit meine Menschenscheu gehen kann. Heute besuchten
mich ganz unerwartet zwei Subjekte: der eine — ein Russe,
ein Geigendilettant, den ich schon lange kenne; der an-
dere—ebenfalls ein Geiger, ein Italiener. Der Letztere kam
im Auftrag des augenblicklich in Nizza weilenden Direk-
tors des Petersburger Konservatoriums Asantschewsk}', wel-
cher zufällig erfahren, dass ich mich hier aufhalte, und den
Italiener gebeten hatte, mich aufzusuchen. Der Erstere,
dagegen, erschien bei mir nur, um sich zu vergewissern,
ob es wahr sei, dass ich — wie er in den Zeitungen gele-
sen haben will, — wirklich verrückt geworden bin. Was ich
für Qualen erduldet habe, während diese beiden Künstler
bei mir sassen, ist garnicht zu beschreiben. N., der Russe,
sprach die Ansicht aus, dass es nichts Schlechteres geben
könne, als Russland und speziell Moskau, und dass es das
höchste Glück für einen Menschen sei, jenes verfluchte Land
— 452 -
zu verlassen. Der Italiener belustigte sich über die Schwierig-
keit, meinen Namen richtig auszusprechen, befragte mich,
ob das Haupt der russischen Kirche auch ein Papst sei?
u. s. w. Woher kommt es, dass die überwiegende Mehr-
heit der Menschen nur Dummheiten oder Taktlosigkeiten
plappern kann, und wie kommen diese Herren eigentlich
dazu, sich so zu benehmen, als wenn sie mir durch ihren
Besuch die allergrösste Freude machten? Wie unendlich
klug handeln Sie, indem Sie jeder Begegnung mit solchen
gemeinen Kerls, aus denen hauptsächlich die Menschheit
zusammengesetzt ist, aus dem Wege gehen! Die Perspek-
tive, in der nächsten Zeit den Besuch Asantschewsky's zu
erhalten (übrigens eines sehr netten und gutmütigen Men-
schen), ferner der schreckliche Gedanke, dass mein Zu-
fluchtsort entdeckt sei, und dass sich noch andere Neugie-
rige finden werden, einen Verrückten von Angesicht zu
Angesicht zu schauen, — alles das hat mir den Aufenthalt
in San-Remo gründlich verleidet, so dass ich jetzt mit
Ungeduld die Abreise erwarten werde. Wohin — das weiss
ich noch nicht".
An N. G. Rubinstein:
„San-Remo, d. 30. Jan. 1878,
Lieber Freund, Deinen Brief habe ich Heute erhalten
und mit grosser Genugthuung durchgelesen. Ich bin voll-
kommen überzeugt, dass Du mich durch Deinen vorigen
Brief nicht beleidigen wolltest; nur der Ton desselben ist
mir als ein sehr unfreundschaftlicher vorgekommen, darum
habe ich mich einw^enig verletzt gefühlt. Wenn ich nun
meinerseits in meinem Brief gar zu scharfe Ausdrücke an-
gewendet habe, so bitte ich Dich, das zu vergessen. Doch
lassen wir die ganze Geschichte ruhen.
Ich finde, dass Du sehr klug gethan hast, meine Oper
bis zum nächsten Jahr aufzuschieben. Auch ich bin der
Meinung, dass es besser sei, sie ohne Uebereilung einzu-
studieren und ganz aufzuführen. Dass ich sie nicht dem
Petersburger Konservatorium anbieten werde, dessen kannst
Du sicher sein. Bis jetzt hat mich Niemand darum gebe-
ten, wenn es aber Einer thun sollte, werde ich selbst\'er-
ständlich abschlagen. Die Oper ist bereits ganz fertig. Ich
schreibe jetzt das Textbuch ab und werde — sobald es fer-
tig— Alles nach Moskau senden. Ich hoffe, dass dieser
Brief gerade zur ersten Probe der Symphonie bei Dir ein-
— 453 —
treffen wird. Das Scherzo macht mir grosse Sorge. Ich
hatte Dir, glaube ich, geschrieben, dass es je schneller, je
Heber gespielt werden soll. Jetzt will es mir dagegen
scheinen, dass man es nicht allzuschnell spielen dürfe.
Uebrigens, ich verlasse mich ganz auf Dein Verständniss
und glaube, dass Du besser als ich das richtige Tempo
finden wirst.
Deinen Brief habe ich soeben zum zweiten Mal durch-
gelesen. Du fragst, ob ich Deine Ratschläge wünsche? Selbst-
redend wünsche ich sie.
Du weisst sehr gut, dass ich stets bereit bin, den Rat
eines klugen Freundes anzuhören und zu befolgen, und
dass ich Dich oft selbst um Deinen Rat ersucht habe, so
wie in musikalischen Dingen desgleichen auch in alltägli-
chen Angelegenheiten. In jenem Brief haben mich nicht
Deine Ratschläge verletzt, sondern der trockne, harte
(wenigstens kam es mir so vor) Ton Deiner Worte, der
Vorwurf der Faulheit, den ich zum ersten Mal in meinem
Leben zu hören bekommen habe, ferner Deine Vorausset-
zung, dass ich nur deshalb nicht nach Paris reisen wollte,
Aveil ich von Frau Meck ohnehin genug Geld zum Lebens-
unterhalt beziehe; mit einem Wort: Du hast die wahren
Gründe meiner Handlungsweise garnicht verstanden.
Ich bin ein fürchterlicher Misantrop geworden und den-
ke mit Schrecken daran, dass ich mein jetziges Leben, in
welchem ich mit andern Menschen garnicht in Berührung
komme, nicht ewig fortsetzen können werde. Trotzdem
langweile ich mich sehr und würde gern alle Herrlichkeiten
des hiesigen Klimas und der hiesigen Natur hingeben, um
jetzt in Moskau zu sein, welches ich von ganzem Herzen
liebe. Lebe wohl, mein Freund, und grüsse Alle".
An N. F. von Meck:
„San-Remo, d. i. Febr. 1878.
Meine teure Freundin, gestern habe ich's vergessen,
Ihnen für den Schopenhauer zu danken '). Dieses Buch
(welches übrigens noch nicht angekommen ist) interessiert
mich sehr, zumal jetzt, da ich Heute erst die vollständig
beendeten Opernteile nach Moskau abgeschickt habe und
mich nun einige Zeit erholen möchte.
Haben Sie nicht auch schon den Gedanken gehabt, dass
ich jetzt — da ich wieder vollständig gesund bin — eigentlich
1) „Die Welt, als Wille und Vorstellung".
— 454 —
nach Russland zurückkehren, meine Konservatoriumspflich-
ten und überhaupt die aUe Lebensweise wieder aufnehmen
müsste? Dieser Gedanke schiesst mir sehr oft durch den
Kopf; es ist sehr leicht möglich, dass es in jeder Bezie-
hung gut für mich wäre, diesen Gedanken zur That zu
machen. Und dennoch, trotz meiner Anhänglichkeit an
Moskau und Sehnsucht nach Russland, fiele es mir jetzt
sehr schwer, plötzlich aus der Freiheit und Erholung,
w^elche ich augenblicklich geniesse, in meinen Lehrerberuf
zu springen und zu meinen ziemlich komplicierten Be-
ziehungen, kurz — zu meiner früheren Lebensweise zurück-
zukehren. Ich schaudere geradezu bei diesem Gedanken.
Sagen Sie mir Ihre aufrichtige Meinung. Antworten Sie
mir auf diese Frage, ohne daran zu denken, dass Sie mir
Geldunterstützungen zukommen lassen. Der Umstand dass
ich Ihren Reichtum für einen Erholungsaufenthalt im Ausland
ausnutze, geniert mich wenig. Ich weiss mit welchen Ge-
fühlen mir das Geld gegeben wird, und ich habe mich
schon längst daran gewöhnt, die Sache normal zu finden.
Meine Beziehungen zu Ihnen treten aus dem Rahmen einer
gewöhnlichen Freundschaft heraus. Von Ihnen kann ich
ohne jedes unbehagliche Gefühl materielle Unterstützungen
annehmen. Es ist also etwas Anderes.
Seitdem mir Rubinstein geschrieben hatte, dass ich mich
allmälig an das Nichtsthun gewöhne und simuliere (das ist
sein Ausdruck), quält mich einwenig der Gedanke, dass
es vielleicht in der That meine Pflicht wäre, jetzt — nach
meiner Gesundung — nach Moskau zu eilen. Bitte helfen
Sie mir, meine liebe Freundin, diese Frage zu lösen, ohne
Nachsicht zu üben.
Anderseits, wenn man mich ein halbes Jahr entbehren
konnte, so werde ich jetzt — da bis zu den Ferien nur noch
drei Monate übrig geblieben sind — wohl auch nicht gar
zu sehr vermisst werden. — In seinem letzten Brief ermun-
tert mich Rubinstein ebenfalls zu dem Entschluss, bis zum
September hier zu bleiben, auch weiss ich positiv, dass
ich — sofern meine Schüler durch meine Abwesenheit in
ihren Fortschritten gehemmt worden sind — die Sache doch
nicht mehr wieder gut machen kann. Ausserdem fürchte
ich, dass meine zerrütteten Nerven doch noch nicht ge-
nügend erstarkt sind, und einige Zeit verstreichen dürfte,
che ich erfolgreichen Unterricht werde geben können. Um
alles Obenerwähnte zusammenzufassen: dringenden Falls
könnte ich jetzt schon an meine gewöhnliche Beschäfti-
— 455 —
gung gehen, es würde mir aber sehr schwer fallen, denn
ich habe grosse Lust, mich noch etwas länger zu erholen,
um im September, als ein frischer Mensch zurückzukehren,
welcher vergessen gelernt hat, so weit ein Vergessen solch
trauriger Ereignisse, wie sie vor einem halben Jahr mein
Leben verdüstert haben, überhaupt möglich ist. Eigentlich
liegt in meiner Bitte ein merkwürdiger Widerspruch. — Ich
ersuche Sie, mir die Wahrheit zu sagen, ohne sich durch
nebensächliche Kalkulationen beeinflussen zu lassen, und
die Erfüllung meiner Pflichten strikte von mir zu verlangen,
gleichzeitig aber lesen Sie zwischen den Zeilen: „Um Got-
tes Willen, fordern Sie nur nicht von mir, dass ich jetzt
nach Moskau reise, denn das wird mich tief unglücklich
machen".
Nun ja, es ist für mich einfach ein Bedürfniss, von
Ihnen, meine liebe Freundin, noch einmal zu hören, dass
in meiner Erholung und in meinem Nicht sthun (meinethal-
ben!) durchaus nichts Tadelnswertes liege, und dass ich
meine Pflichten nicht vernachlässige, indem ich mich für
Ihr Geld hier aufhalte. Erst jetzt habe ich das unaus-
sprechhche Glück schätzen gelernt, welches mir die vier-
monatliche Isohrtheit von meiner gewöhnlichen Sphäre
und das Leben in der Fremde geboten haben; in der er-
sten Zeit hatte ich allerdings manchmal Heimweh, so dass
selbst Rom mir unerträglich langweihg vorkam, jetzt aber
bin ich vollkommen zufrieden. Jedenfalls bin ich gewillt,
mein dolce far niente nicht allzu lange auszudehnen. Seien
Sie überzeugt, dass ich vor dem Faulenzen im eigentlichen
Sinne des Wortes einen instinktiven Abscheu hege, so dass
wenn man meine jetzige Lebensweise „Faulenzen" nennen
kann (denn ich arbeite nicht für Andere, sondern für mich
selbst), — dieser Zustand nicht lange anhalten dürfte. Ich
erinnere mich, Ihnen aus Florenz einen sehr düsteren Brief
geschrieben zu haben, denn meine Seele war damals sehr
verstimmt. Selbstverständlich ist Florenz nicht im minde-
sten daran schuld. Jetzt, da ich mich ganz gesund fühle,
ist der Wunsch in mir aufgestiegen, wieder hin zu reisen,
hauptsächhch, weil Modest noch niemals in Italien gewe-
sen war, und weil ich weiss, welch grossen Genuss ihm
die Kunstschätze dieser Stadt bereiten werden. Er ist für
plastische Künste viel empfänglicher als ich und ich glaube,
dass seine Begeisterung auch mich anstecken wird. Ich
habe also beschlossen, für ungefähr 14 Tage nach Florenz
zu reisen, dort den Frühlingsanfang zu erwarten und dann
— 45б —
via IMont-Cenis in die Schweiz hinüberzufahren. Anfang
April will ich nach Russland abreisen, wahrscheinlich nach
Kamenka, wo ich bis zum September bleiben möchte.
Ich will es Ihnen nicht verschweigen, meine teure
Freundin, dass das Bewusstsein, zwei grosse Werke voll-
endet zu haben, in denen ich, wie mir scheint, einen
Schritt vorwärts gegangen bin, ein grosses Wohlbehagen
für mich ist. Bald werden die Symphonieproben beginnen.
Wird es Ihnen möglich sein — vorausgesetzt dass Sie bis
dahin wieder gesund sind — eine der Proben zu besuchen?
Von einem neuen umfangreichen Werk hat man viel mehr,
wenn man es zwei Mal anhört. Ich wünschte sehr, dass
Sie Gefallen an der Symphonie finden! Nach einmahgem
Anhören kann man keinen richtigen Begriff bekommen,
erst beim zweiten Mal wird einem Alles klar; Vieles, was
zuerst nur vorbeigeglitten war, fällt dann besser auf, die
Details kommen schöner zur Geltung, die wichtigeren Ge-
danken gewinnen ihre richtige Bedeutung gegenüber allem
Nebensächlichen. Es wäre sehr schön, wenn Sie es möglich
machen könnten.
Was die Oper anbelangt, so ist es mir ganz lieb, dass
sie aufgeschoben worden ist. Es ist besser, wenn sie im
nächsten Jahr, als ungeteiltes Ganze gegeben wird.
Ich befinde mich in der rosigsten Stimmung. Ich bin
glücklich, dass ich die Oper beendet habe, ich bin glück-
lich, dass der Frühling bald seinen Einzug halten wird,
ich bin glücklich, dass ich gesund und frei bin, dass ich
mich vor unangenehmen Begegnungen sicher fühle, haupt-
sächlich aber bin ich glücklich, in Ihrer Freundschaft und
in der Liebe meiner Brüder feste Lebensstützen zu besitzen,
und mir der Fähigkeit bewusst zu sein, mich in meiner
Kunst zu vervollkommnen. Wenn sich die Umstände gün-
stig gestalten (und Heute möchte ich daran glauben), dann
kann ich mir ein gutes Denkmal schaffen. Ich hoffe, dass
das nicht Selbsttäuschung ist, sondern eine richtige Schät-
zung meiner Kräfte.
Ich danke Ihnen für Alles, für Alles!"
An A. Tschaikowsk}^:
„San-Remo, d. 2. Febr. 1878.
Gestern Abend machte ich einen Gang nach der Stadt,
um einen Brief an Dich zur Post zu tragen, unterwegs
begegnete ich dem Postboten. Er hatte auch für mich einen
— 457 —
Brief. Derselbe war aus Nizza von Asantschewsk}^, wel-
cher mir mitteilte, dass er sich sehr freue, mich zu sehen
und die Absicht habe, morgen, d. h. Donnerstag, für den
ganzen Tag zu mir herüberzukommen. Du kennst mich
viel zu gut, und es bedarf daher keiner näheren Erklärung
dessen, dass mir jener „ganze Tag" nichts weniger als
eine angenehme Aussicht eröffnete. Sofort wurde beschlos-
sen, am folgenden Morgen mit Modest und Kolja ebenfalls
für den ganzen Tag nach Monte-Carlo zu fahren. Am fol-
genden Tag, d. h. Heute früh, haben wir uns denn auch
auf den Weg gemacht. An der Grenze giebt es immer
einen langen Aufenthalt; da begegnen sich zwei Züge, so
dass die Möglichkeit nicht ausgeschlossen schien, dortselbst
mit Asantschewsky zusammenzutreffen. Ich fürchtete mich
sehr davor; meine Befürchtung erwies sich aber als grund-
los, denn Asantschewsky war nicht unter den Passagieren
zu sehen. Gegen drei Uhr trafen wir in Monte-Carlo ein.
Nach meiner Meinung ist es das herrlichste Stückchen
Erde in der ganzen Welt. Ich habe noch nie etwas phan-
tastisch Schöneres gesehen. Modest hat sein Glück im
Spiel versucht, war aber vernünftig genug nach der Ein-
busse von IQ Eres, aufzuhören. Um sieben Uhr abends wa-
ren wir wieder in San-Remo. Ich muss Dir sagen, dass
ich vor der Abfahrt dem Hotelwirt und der ganzen Be-
dienung Ordre gegeben hatte, Asantschewsky zu sagen,
ich sei schon vor zwei Tagen nach Genua abgereist. Als
wir uns dem Hause näherten, kam uns Monsieur Joli ent-
gegengelaufen, ein recht lügenhaftes Frah'^osenkerlchen.
Er hat uns aufgelauert, um uns die Mitteilung zu machen,
dass nicht nur Asantschewsky selbst, sondern auch dessen
Frau und „un general" nach San-Remo gekommen seien; ^
nicht nur gekommen, sondern sogar bei ihm abgestiegen.
Dieser verdammte Schweinekerl! Vor zwei Wochen ist ein
Mieter bei ihm gestorben, und da seither Niemand mehr
Lust hatte bei ihm zu wohnen, so wollte er die Gelegen-
heit wahrnehmen und die reichen Fremden aus Nizza,
welche in einem Wagen gekommen waren, bei sich be-
herbergen! Er entschuldigte sich damit, er habe nicht ge-
wusst, dass der angekommene Herr gerade jener Asan-
tschewsky sei; das war jedoch eine Lüge, denn nach dem
Zeugniss des Dienstmädchens soll die Frau Asantschew-
sky's zuerst nach mir gefragt haben. Asantschewsk}' und
„le general" (habe keine Ahnung wer das sein kann) sol-
len Mr. Joli sehr zugesetzt haben, um herauszukriegen,
:- 458 -
ob ich mich nicht verleugnen lasse. Joli behauptet zwar,
er habe sie vom Gegenteil überzeugt, ich zweifle aber
sehr, ob dieser Hallunke ihnen am Ende doch die Wahr-
heit gesagt hat. Du kannst Dir denken, wie komisch und
unangenehm zugleich unsere Lage war! Den ganzen Abend
und die ganze Nacht befanden W4r uns unter einem Ob-
dach mit Asantschewsky's, während diese uns in Genua
glaubten! Ich befürchtete sehr, dass sie noch einen Tag
bleiben würden. Doch sind sie, Gott sei Dank, Heute mit
dem ersten Zug wieder abgereist.... Ungeachtet meiner
aufrichtigen S\'mpatie für Asantschewsky, spüre ich abso-
lut keine Gewissensbisse, mich vor ihm versteckt zu haben.
War es aber auch in der That nicht etwas unklug seiner-
seits, — wissend, dass ich mich schon seit lange hier auf-
halte, aber ungeachtet dessen eine Begegnung mit ihm
ganz und garnicht suchte, — dennoch mir seinen Besuch
aufzudrängen, dazu noch in Gesellschaft eines „general"?
Ueberhaupt habe ich jetzt ein für alle Mal beschlossen,
mich garnicht mehr um sogenannte Anständigkeiten, Höflich-
keiten und unerlässlichen Verkehrsformen der menschlichen
Gesellschaft zu kümmern, sobald sie mir lästig zu werden
beginnen. Ich habe mich genug danach gestreckt! Es wird
nun Zeit, den Rest meiner Tage in Freiheit zu verleben,
ohne sich der Tyrannei der gesellschaftlichen Beziehungen
zu unterwerfen. Sage mir blos, wie kann ein Mensch, M^el-
cher mich aus irgend einem Grunde zu sehen oder zu
sprechen wünscht, so naiv sein und sich einbilden, dass
mir seine Ge§|^nwart ein Vergnügen ist? Nicht zu reden
von Asantschewsky, der im Grunde ein guter und Achtung
verdienender Mann ist. Dagegen so ein N., dieses freche
Viehstück, welches während seines zweijährigen Aufent-
haltes in Moskau mich nicht ein einziges Mal besucht hatte
und sich hier trotzdem herausnimmt, mit einem Lächeln
auf den Lippen in mein Zimmer zu dringen und zu glau-
ben, dass er mir mit seinem Besuch die herrlichste Selig-
keit biete.
Uebrigens habe ich die Absicht, aus Florenz, wo wir
in einigen Tagen eintreffen werden, einen freundlichen
Brief an Asantschewsky zu richten und ihm Alles zu
beichten".
■ШШГ
— 459 —
VI.
An N. F. von Meck:
„Pisa, d. 8. Febr. 1878.
Pisa gefällt mir sehr, meine teure Freundin. Wir sind
Gestern Abend angekommen. Die Reise war sehr beschwer-
lich; wir mussten schon um 7 Uhr fort und sind ohne Un-
terbrechung volle 12 Stunden unterwegs gewesen. In Ge-
nua hatten wir kaum Zeit in einen andern Zug zu stei-
gen. Wir hatten auch von Hunger sehr zu leiden gehabt,
was in Italien sehr häufig vorkommt, denn man scheint
garnicht in Berechnung ziehen zu wollen, dass man nicht
immerzu fahren, fahren und fahren kann, und das es nicht
sonderlich amüsant ist, blos von Orangen zu leben. Kolja
hat mir besonders leidgethan. Dazu hat es den ganzen
Tag geregnet, so dass man an der nebeligen Landschaft
auch keine Freude zu finden vermochte. Nachdem wir
Kolja zu Bett gebracht, unternahmen wir einen Gang durch
die Strassen der Stadt. Wir kehrten auch in's Theater
ein, wo Verdi'sOper „La forza del destino" gegeben wurde.
Das Theater ist ganz neu, erst vor kurzem erbaut und
sehr schön; es war nur wenig Publikum drin, die Sänger
und Sängerinnen waren nicht einmal mittelmässig, die Chöre
und das Orchester — ganz schlecht. Es kam mir sehr merk-
würdig vor, dass es in einer so kleinen Stadt ein so grosses
Theater giebt.
Für den eintägigen Besuch einer Stadt war das Wetter
Heute wie geschaffen. Pisa hat auf mich dank diesem Umstand
einen sehr günstigen Eindruck gemacht. Zuerst waren wir
in den Dom gegangen. Sind Sie jemals in Pisa gewesen?
Der berühmte schiefe Turm nnd der nicht weniger berühmte
Campo-Santo haben meine Erwartungen bei weitem über-
troffen. Der Dom ist zwar nicht so gross und nicht so
grandios wie der Mailänder, — macht aber durch sein Aeusse-
res und auch durch sein Inneres den angenehmsten Eindruck.
Auch der Campo-Santo ist schön mit seinen alten Denk-
mälern, Sarkophagen und heidnischen Urnen. Aber der
Gipfel aller Anmut, Originalität und Schönheit ist der Cam-
panile. Wir waren hinaufgeklettert. Die Fernsicht von der
Höhe des Turmes ist entzückend. Ich will nicht verschwei-
gen, dass es mir — obwohl ich das Meer sehr gern habe —
ausserordentlich angenehm war, eine ausgedehnte grü-
— фо
nende Ebene zu erblicken, welche am Horizont von Ber-
ten umschlossen wird, — ^also ohne Meer. Der heutige Mor-
gen war wundervoll, — einfach unbeschreiblich! Nach dem
gestrigen Regen schwebten in der Atmosphäre berauschen-
de Frühlingslüfte. In allen Kirchen Pisa's wurden infolge
der soeben eingetroffenen Nachricht von der Wahl eines
neuen Papstes sämtliche Glocken geläutet, so dass die
Luft von den feierlichen Klängen erdröhnte. Unten auf
dem Platz, welchen die drei Sehenswürdigkeiten Pisa's
zieren, d. h. der Turm, der Dom und der Campo-Santo,
war keine Menschenseele zu sehen, und statt auf einen
Strassendamm blickte man auf den weichen Teppich einer
frühlingsgrünen Wiese, hn Grunde ist Pisa eine echte Pro-
vinzstadt, und der ungepflasterte Platz erinnert mich sehr
an eine russische Kleinstadt. Das verleiht Pisa einen eigen-
artigen Reiz. Nach dem Frühstück haben wir die „Cas-
cine" besucht, welche aber mit den köstlichen „Cascine"
von Florenz nichts gemein haben. Dort haben wir zwei
Stunden in völliger Einsamkeit verbracht: nicht eine ein-
zige Equipage, nicht ein einziger Repräsentant der angel-
sächsischen Rasse war zu sehen. Einen prachtvollen Tag
habe ich hinter mir".
An N. F. von Meck:
„Florenz, d. 9. Febr. 1878.
Heute sind wir in Florenz angekommen. Eine Hebe,
sympatische Stadt. Mit den angenehmsten Gefühlen zog
ich in Florenz ein und dachte daran, wie es in mir aus-
gesehen hatte, als ich mich vor zwei Monaten in diesem
selben Florenz befand. Welche Veränderungen sind seit-
her in meiner Seele vor sich gegangen. Welch ein trauriger
und kranker Mensch war ich damals, — und wie wohl
fühle ich mich jetzt, welch schönen Tage sind mir jetzt
beschieden, wie fähig bin ich wieder, das Leben zu lieben,
das schöne üppige Leben, wie es in Italien gelebt wird.
Nachmittags schlenderte ich durch die Strassen der
Stadt. Es war sehr schön! Ein warmer Abend, belebte
Strassen, hellerleuchtete Schaufenster! Wie lustig ist es,
ungekannt und unerkannt mitten im Gedränge zu sein!
Italien beginnt nach und nach seine bezaubernde Wirkung
auf mich auszuüben. Ich fühle mich hier so frei und in-
mitten des sprudelnden Lebens so fröhlich und leicht!
Aber trotz des genussreichen Lebens in Italien, trotz
seines wohlthuenden Einflusses auf mich — bin und bleibe
— ф1 —
ich meiner Heimat ewig treu. Wissen Sie, dass ich keinen
Menschen kenne, der in Mütterchen Russland noch ver-
Hebter wäre als ich. Die Verse Lermontoff's, welche Sie
mir zugesandt haben, charakterisieren sehr treffend nur
eine Seite unserer Heimat, d. h. nur jenen intimen Reiz^
welcher in der bescheidenen, etwas kümmerlichen und
ärmlichen, aber freien und weiten Natur liegt. Ich gehe
etwas weiter. Ich liebe leidenschaftlich das russische Volk,
die russische Sprache, die russische Gesinnung, die Schön-
heit des russischen Gesichtes und die russischen Sitten.
Lermontoff sagt unverholen, dass „die heiligen Ueberliefe-
rungen der dunklen alten Zeiten Russlands sein Herz nicht
zu rühren vermögen. Ich liebe aber auch diese Ueberhe-
ferungen. Ich denke, dass meine Sympatien für den orthodo-
xen Glauben, dessen theoretischer Teil in mir schon längst
einer tödtlichen Kritik unterlegen ist, sich geradeswegs von
meiner angeborenen Verliebtheit in das russische Element
überhaupt herleiten lassen. Umsonst würde ich mich bemü-
hen, meine Verliebtheit durch diese oder jene Eigenschaft
des russischen Volkes oder des russischen Landes zu erklä-
ren. Solche Eigenschaften würden sich zwar gewiss finden
lassen, aber ein Verliebter sieht doch nicht die Eigenschat-
ten des Gegenstandes seiner Liebe, denn er liebt nur, weil
er nicht anders kann, als lieben.
Das ist der Grund, weshalb mich Diejenigen auf das
tiefste empören, welche bereit sind, in irgend einem Win-
kel von Paris Hungers zu sterben und mit einem gewissen
Wonnegefühl auf alles Russische schimpfen, welche im
Stande sind, ihr ganzes Leben ohne das geringste Bedauern
im Ausland zu verleben mit der Begründung, dass es in
Russland viel weniger Bequemlichkeiten und Comfort gebe.
Diese Menschen sind mir verhasst; das, was mir unsag-
bar teuer und heilig ist, treten sie in den Schmutz.
Doch kehren wir zu Italien zurück. Es wäre für mich
die schrecklichste Strafe, für ewig an das wunderschöne
Land Italien gefesselt zu werden; ein ander Ding ist der
zeitweilige Aufenthalt daselbst. Das italienische Land, das
italienische Klima, so wie die Kunstschätze und die histo-
rischen Denkmäler, denen man auf Schritt und Tritt be-
gegnet,— Alles das hat für den, welcher in einer Reise Er-
holung und Zerstreuung sucht, gewiss einen unwidersteh-
lichen Reiz, wer seinen Kummer vergessen, seine brennende
Wunde heilen will, der gehe nach Italien, denn ein besse-
res und für die Genesung geeigneteres Land kann es nicht
ф2
geben. Diese Ueberzeugung gewinnt in mir so sehr an
Boden, dass ich schon zu überlegen beginne, ob es nicht
besser wäre, anstatt nach der Schweiz — nach Neapel zu
fahren. Dieses Neapel neckt und lockt mich unablässig!
Uebrigens bin ich noch zu keinem Entschluss gelangt. Die
Sache will noch besser überlegt sein. Selbstverständlich
werde ich Sie von dem Resultat meines Nachdenkens
rechtzeitig in Kenntniss setzen.
Ist Ihnen jener Brief, in welchem ich für Sie eine kurze
Uebersicht der Philosophie Schopenhauer's zusammenzu-
stellen begonnen hatte, nicht lächerlich vorgekommen? Es
erweist sich, dass Sie sich mit dem Gegenstand bereits ganz
vertraut gemacht haben, ehe ich an den eigentlichen Sinn
der Sache, d. h. die Moral, gekommen bin. Es scheint mir,
dass Sie die Bedeutung seiner merkwürdigen Theorieen
ganz richtig abgeurteilt haben. In den endgiltigen Schluss-
folgerungen liegt etwas Beleidigendes für die menschliche
Würde, etwas Trockenes und Egoistisches, das nicht durch
die Liebe zur Menschheit erwärmt ist. Uebrigens -wie ge-
sagt— bin ich noch nicht am Kern der Sache angelangt. In
der Begründung seiner Ansicht über die Bedeutung des
Verstandes und des Willens, so wie ihres gegenseitigen
Verhältnisses, liegt sehr viel Wahrheit und sehr viel Scharf-
sinn. Es wundert mich sehr (ebenso wie auch Sie), dass
ein Mensch, welcher selbst nicht den Versuch gemacht
hat, die Theorie des strengsten Asketismus durchzuführen,
allen andern Menschen den absoluten Verzicht auf alle
Freuden des Lebens predigt. Jedenfalls interessiert mich
das Buch ausserordentlich, und ich hoffe nach gründlichem
Studium desselben ausführlicher mit Ihnen darüber zu re-
den. Einstweilen nur noch eine Bemerkung: wie kann ein
Mann, der dem menschlichen Verstand einen so unter-
geordneten Platz einräumt, eine so abhängige Rolle bei-
misst, gleichzeitig so stolz und selbstbewusst an die Un-
fehlbarkeit seines eignen Verstandes glauben und mit solch
einer Verachtung von allen andern Theorieen sprechen,
alswenn er der einzige Verkünder der Wahrheit wäre?
Welch ein Widerspruch! Auf Schritt und Tritt davon zu
reden, dass die Denkfähigkeit des Menschen etwas Zufäl-
liges, eine Funktion des Gehirns (also eine physiologische
Funktion) und ebenso unvollkommen und schwach sei,
wie alles Uebrige im Menschen, — und dabei seinen eig-
nen Denkprocess so hoch, so unerreichbar hoch zu stel-
len! Ein Philosoph, welcher gleich Schopenhauer so weit
— 463 —
gekommen ist, im Mensciien nichts anderes als den instink-
tiven Willen zum Leben zwecks Erhaltung der Rasse zu-
sehen,— müsste vor allen Dingen die vollständige Nutzlo-
sigkeit jeglichen Philosophierens anerkennen. Einer, der
zur Ueberzeugung gelangt ist, dass es am besten sei — nicht
zu leben, der müsste selbst versuchen, nicht zu leben, d.
h. sich verbergen, sich vernichten und diejenigen in Ruhe
lassen, welche Lust zum Leben haben. Es ist mir bis jetzt
noch nicht klar geworden, ob er glaubt, der Menschheit
durch seine Philosophie einen grossen Dienst erwiesen
zu haben. Was brauchte er uns zu beweisen, dass es ei-
gentlich nichts Kläglicheres geben könne, als das Leben?
Wenn schon der Selbsterhaltungstrieb wirklich so stark in
uns arbeitet, wenn schon keine Gewalt im Stande ist, die
Liebe zu unserm idividuellen Leben in uns abzuschwä-
chen,— was braucht er, dasselbe durch seinen Pessimis-
mus zu vergiften? Was kann das für einen Nutzen haben?
Es könnte fast scheinen, als wenn er den Selbstmord ver-
herrlichen wolle, doch ist dem nicht so, denn er verwirft
den Selbstmord. Alles das sind Fragen, welche ich mir
vorlege, welche ich aber wahrscheinUch erst nach Durch-
lesen des ganzen Buches werde beantworten können.
Sie fragen, ob mir die nicht — platonische Liebe bekannt
sei? Ja und nein. Wenn die Frage etwas anders lauten
würde, d. h. wenn Sie mich fragen wollten, ob ich das
vollkommene Glück in der Liebe gefunden habe, so würde
ich antworten: nein und abermals nein. Uebrigens glaube
ich, dass die Antwort aut diese Frage schon aus meiner
Musik herausgehört werden kann. Wenn Sie mich aber
fragen würden, ob ich die ganze Macht und die hehre
Glut jenes Gefühls begriffen habe, so müsste ich antwor-
ten: ja, ja, ja, denn gar oft habe ich den Versuch gemacht,
die Qualen und die Seligkeiten der Liebe in der Musik
zum Ausdruck zu bringen. Ob es mir gelungen — weiss ich
nicht, oder, vielmehr, ich "Stelle es Anderen anheim, darü-
ber zu urteilen. Ich bin mit Ihnen garnicht einverstanden,
dass die Musik nicht im Stande sein solle die allumfassen-
den Eigenschaften des Gefühls der Liebe wiederzugeben.
Ich denke — ganz im Gegenteil, dass nur die Musik solches
vermag. Sie sagen, hier seien Worte nötig. О nein! gerade
Worte sind hier entbehrlich, und dort w^ sie keine Macht
haben, erscheint in voller Rüstung eine beredtere Sprache:
die Musik. Schon die dichterische Form, zu welcher die
Poeten ihre Zuflucht nehmen, wenn sie die Liebe besingen
— 464 —
wollen, ist eigentlich eine Usurpation der Sphäre, welche
ungeteilt der Musik angehört. Worte, welche in Verse
gekleidet sind, haben aufgehört blosse Worte zu sein: sie
sind schon zum Teil Musik. Als besten Beweis dafür, dass
Verse, in welchen von Liebe die Rede ist, eigentlich mehr
Musik als Worte sind, kann ich Ihnen die Thatsache an-
führen, dass derartige Gedichte — wenn man sie aufmerk-
sam durchliest, und zwar als Worte, nicht als Musik, —
fast garkeinen rechten Sinn haben. Und dennoch haben
sie einen Sinn, und sogar einen sehr tiefen Sinn (zum
Beispiel bei Fet, den ich sehr gern habe), nur keinen lite-
rarischen, sondern einen rein musikahschen Sinn.
Es gefällt mir sehr, dass Sie die instrumentale Musik
so hoch stellen. Ihre Bemerkung, dass Worte der Musik
oft störend sind und sie von ihrer Höhe herabziehen, — ist
ganz richtig. Das habe ich stets sehr intensiv empfunden,
vielleicht liegt darin der Grund, dass mir instrumentale Kom-
positionen verhältnissmässig besser gelingen als vokale".
Am IG. Februar wurde im 10. S3^mphoniekonzert der
Russischen Musikalischen Gesellschaft die 4. Symphonie
Peter Iljitsch's zum ersten Mal aufgeführt. Jenen Eindruck,
auf welchen der Komponist mit Sicherheit gehofft hatte,
hat sie nicht hervorzubringen vermocht. Die grosse Mehr-
zahl der Zeitungen haben sie mit Schweigen übergangen.
Die wenigen vorhandenen Berichte bestätigen nur einen
mittelmässigen Erfolg des Werkes selbst, so wie seiner
Wiedergabe.
An Frau von Meck:
„Florenz, d. 12. Febr. 1878.
Gestern früh traf Ihr Telegramm hier ein, meine teure
Freundin. Es hat mir eine grosse Freude bereitet. Ich war
sehr gespannt zu erfahren, wie Ihnen die Symphonie ge-
fallen würde. Zwar würden Sie mir wahrscheinlich auch
dann ein freundschaftliches Zeichen Ihrer Teilnahme ge-
schickt haben, wenn Ihnen das Stück nicht besonders ge-
fallen hätte; aus dem Ton des Telegramms, d. h. aus der
ganzen Redaktion desselben, ersehe ich jedoch klar, dass
Sie mit dem Ihnen gewidmeten Werk in der That zufrie-
den geblieben sind. Es berührt mich einigermaassen merk-
würdig, dass keiner von meinen Moskauer Freunden es
bis jetzt für notwendig gehalten hat, mir irgend eine Nach-
richt in Betreff der Symphonie zukommen zu lassen, trotz-
— 465 —
dem ich die Partitur schon vor anderthalb Monaten hin-
geschickt habe. Gleichzeitig mit Ihrem Telegramm erhielt
ich ein anderes, das von Rubinstein und allen Andern ge-
zeichnet war. Aber in diesem Telegramm wird nur erwähnt,
dass die Symphonie eine ausgezeichnete Wiedergabe er-
fahren hat. Kein Wort über ihre Vorzüge. Vielleicht sollte
sich das von selbst verstehen. Ich danke Ihnen für die
Nachricht über den Erfolg „meines liebsten Kindes" und
für die warmen Worte des Telegramms.
In Gedanken befand ich mich mit im Konzertsaal; ich
hatte mir bis auf die Minute ausgerechnet, wann die Ein-
leitungsphrase erklingen musste, und suchte mir dann —
alle Einzelheiten verfolgend — zu vergegemvärtigen, welchen
Eindruck meine Musik macht. Der erste Satz (der kompli-
zierteste, aber auch der beste) ist w^ahrscheinhch Vielen
zu lang und beim erstmaligen Hören wenig verständhch
vorgekommen. Die andern Sätze sind einfach.
Ich setze fort, mich in Florenz wohl zu befinden und
dieser Stadt alle meine Sympatieen zuzuwenden. Der
Frühling ist zwar noch nicht da, rückt aber mit Riesen-
schritten heran. In den Strassen werden sehr viel Blumen
verkauft, darunter auch meine Lieblinge — die Maiblumen,
welche garnicht mal teuer sind. Schon allein der Anblick
dieser Blumen, welche augenblicklich meinen Tisch zieren,
genügt, um Lust und Liebe zum Leben anzufachen. Heute
ist's Feiertag, und Avir waren nach Bello Sguardo gefahren,
einem ausserhalb der Stadt liegenden Ort, von wo aus
man einen herrlichen Blick auf Florenz und seine Umge-
bungen geniesst.
Von da aus begaben wir uns nach Certosa (Chartreuse).
Herr Gott, was ist das doch für eine Pracht!!! Erstens ist
der Ort selbst, wo sich das Kloster befindet, ganz ent-
zückend schön. Zweitens giebt es da eine Unmenge von
Denkmälern des Altertums, namentlich antiker Gräber. Die
Hauptkirche ist wunderbar schön. Dieses Kloster ist aus
irgend einem Grunde bis jetzt noch nicht säcularisiert, so
dass da viele Mönche wohnen, unter denen man sehr in-
teressante Typen sieht. Der Garten ist herrlich, und ich
konnte nicht umhin, einen alten Mönch zu beneiden, wel-
cher mit einem Buch in der Hand eine schattige Allee
entlangschritt, und in dem Bewusstsein, fern von dem städ-
tischen Getriebe zu sein, die absolute Ruhe um sich so
recht zu geniessen schien. Nach Hause zurückgekehrt, haben
wir uns noch die grossartige Prozession angeschaut, welche
Tschaikowaky, M. P. I, ТасЬа1кол\'зку*8 Leben, 30
— 4б6 —
dem Sarg des Fürsten Strozzi lolgte, eines vor einigen
Tagen verstorbenen und heute mit viel Pomp beerdigten
Senators.
Vorgestern — nachdem ich Ihnen meinen Brief abgeschickt
hatte — überfiel mich plötzlich eine fürchterliche Verstim-
mung, die ich den ganzen Tag hindurch nicht los werden
konnte. Ich forschte gründlich nach ihrer Ursache und
entdeckte sie auch sehr bald. Es waren einfach Gewissens-
bisse, die mich infolge meines Nichtsthuens quälten. Ich
gab mir grosse Mühe, mich mit dem Gedanken zu trösten,
dass ich nach der Vollendung zweier grossen Werke wohl
einiges Recht haben dürfte, mich ein wenig der Erholung
und der Faulenzerei hinzugeben, — doch mein Gewissen
liess sich nicht beruhigen und quälte mich nach wie vor.
Endlich kam ich zu der Ueberzeugung, dass ich eine neue
Arbeit beginnen müsste. Doch was? Für eine grosse Kom-
position bedarf ich der Einsamkeit; folglich muss ich bis
zum Herbst warten. Aber nichts hindert mich, eine ganze
Reihe kleinerer Stücke zu verfassen, so dass ich den
Entschluss gefasst habe, jeden Vormittag irgend eine Klei-
nigkeit zu schreiben. Gestern komponierte ich eine Romanze,
heute ein Klavierstück, und siehe — die fröhüche Stimmung
ist wieder da.
Ich habe beschlossen, nicht nach Neapel zu reisen. Er-
stens ist es zu weit und zweitens ist es sehr unbequem,
mit einem Pflegekind, welches dazu noch taubstumm ist
ein Touristenleben zu führen (anders hätte es ja keinen
Sinn, einen Monat in Neapel zuzubringen). Ausserdem
möchte ich meinen Bruder nicht von seiner Arbeit ablen-
ken (er schreibt an einer Novelle). In Neapel kann man
nicht arbeiten. So wollen wir denn einstweilen in Florenz
bleiben, und vielleicht später nach Como und in die Schweiz
reisen. Ich hoffe im April wieder nach Russland zu-
rückzukehren.
Mit Schopenhauer bin ich noch nicht durch und spare
mir den Bericht darüber für einen späteren Brief auf. Bin
zwei Mal mit meinem Bruder im Uffizzi und Palazzo Pitti
gewesen. Dank Modest habe ich ausserordentliche künstle-
rische Eindrücke in mich aufgenommen. Er selbst schwamm
geradezu in einem Meer von Wonne über die Meisterwerke
Rafael's, Leonardo da Vinci's u. s. w. Auch haben wir eine
Bilderausstellung modernerer Richtung besucht und einige
ausgezeichnete Werke darin gefunden. Wenn ich nicht
irre, geht in der neueren italienischen Malerei der Geist
— 467 —
des Realismus um. Alle Bilder der gegenwärtigen Künst-
ler, die ich hier zu sehen bekommen habe, zeichnen sich
mehr durch wahrheitsgetreue Wiedergabe aller Einzelhei-
ten, als durch tiefe und poetische Gedanken aus. Die Fi-
guren sind sehr lebendig, selbst bei ganz einfacher Kon-
zeption: ein Page, welcher einen Vorhang aufzieht; der
Page und der Vorhang sind so real, dass man unwillkür-
lich die Bewegung erwarten möchte; eine pompejanische
Frau, die in einem antiken Sessel lehnend, in ein geradezu
homerisches Gelächter ausgebrochen ist; man möchte wahr-
haftig selbst mit lachen. Alles das erhebt nicht den An-
spruch auf Gedankentiefe, aber Zeichnung und Kolorit sind
erstaunlich wahr.
Mit der Musik steht es schlecht in Italien. So eine Stadt
wie Florenz hat zum Beispiel keine Oper, d. h. Theater
giebt es genug, sie stehen aber unbenutzt, denn es findet
sich kein Unternehmer".
An Frau von Meck:
„Florenz, d. 16. Febr. 1878.
Welch Hebe Stadt ist Florenz!
Je länger man darin wohnt, umso mehr wächst es
Einem ans Herz. Es ist nicht so geräuschvoll wie eine
Grossstadt, dafür aber von einer Fülle künstlerischer Ge-
genstände, dass man garkeine Zeit hat sich zu langweilen.
Wir besichtigen die Sehenswürdigkeiten ohne Uebereilung,
ohne aus einem Museum ins andere zu laufen. Jeden Mor-
gen sehen wir uns Etwas an und kehren gegen 11 Uhr
nach Hause zurück. Von 11 — i Uhr arbeite ich, d. h.
schreibe entweder ein kleines Klavierstück oder ein Lied.
Nach dem Frühstück besuchen wir die Uffizzi, oder den
Palazzo Pitti, oder auch die Akademie; von dort gehen
wir zu Fuss nach den „Cascine", welche mit jedem Tag
mehr ihre Pracht entfalten. Nachmittags schlendern wir
durch die sehr belebten Strassen. Den Rest des Tages
verbringe ich mit Lesen oder Briefschreiben. Musik giebt
es hier garnicht. Beide Operntheater sind geschlossen, und
das ist für mich eine grosse Entbehrung. Manchmal habe
ich eine solche Lust etwas Musik zu hören, dass ich sogar
gern mit einem Troubadour oder einer Traviata vorlieb
nehmen würde. Aber auch das giebt es hier nicht.
Von Allem, was ich hier gesehen, hat auf mich die Ka-
pelle der Medici in S.-Lorenzo den grössten Eindruck ge-
— 4б8 —
macht. Sie ist kolossal, schön und grandios. Hier erst habe
ich zum ersten Mal die ganze Grösse des Namens Michel-
angelo begriffen. Ich finde in ihm eine gewisse geistige
Verwandschaft mit Beethoven. Dieselbe Breite und Kraft,
derselbe Wagemut, welcher oft die Grenze des Hässlichen
streift, dieselben düstern Stimmungen. Uebrigens ist die-
ser Vergleich vielleicht nicht neu. Ich habe einen sehr
geistreichen Vergleich Rafael's mit Mozart gelesen. Ob
aber Michelangelo mit Beethoven jemals verglichen wor-
den ist — weiss ich nicht.
Schopenhauer habe ich durchgelesen. Ich weiss nicht,
welchen Eindruck diese Philosophie auf mich gemacht
hätte, wenn sie mir zu einer andern Zeit, an einem an-
dern Ort und unter andern Umständen zu Gesicht ge-
kommen wäre. Hier ist sie mir als ein geistreiches Para-
doxon erschienen. Ich glaube, dass am wenigsten stichhal-
tig Schopenhauer in seinen endgiltigen Schlussfolgerungen
ist. Solange er den Beweis führt, dass es besser sei nicht
zu leben, sagt sich der Leser: er hat allerdings recht, was
soll ich aber thun? In der Antwort dieser Frage erweist
sich Schopenhauer schwach. Im Grunde läuft seine Theo-
rie sehr logisch in den Selbstmord hinaus. Doch erschrickt
Schopenhauer offenbar vor diesem gefährlichen Mittel
die Last des Lebens abzuschütteln, und wagt es nicht,
den Selbstmord als Universalmittel für die Durchführung
seiner Philosophie in der Praxis zu empfehlen, dabei ver-
hert er sich in sehr kuriose Sophismen und versucht zu
beweisen, dass Einer, der sich das Leben nimmt dadurch
nur seine Lust zum Leben unterstreicht. Das ist weder
folgerichtig noch geistreich. Was „Nirvana" anbelangt, so
ist das ein solcher Unsinn, von dem zu reden nicht der
Mühe wert ist. Wie dem auch sei, ich habe Schopenhauer's
Buch dennoch mit grossem Interesse durchgelesen und
vieles Geistreiche darin gefunden. Seine Definition der
Liebe ist sehr originell und neu, obwohl einige Ausführ-
lichkeiten in der Beweisführung entstellt und verzerrt wor-
den sind. Sie haben sehr recht, wenn Sie sagen, dass man
an der Aufrichtigkeit eines Philosophen zweifeln müsse,
welcher uns lehrt, alle Freuden des Lebens zu verneinen
und jede Fleischeslust abzutödten, welcher aber selbst
ohne die geringsten Gewissensbisse bis zum letzten Tage
seines Lebens alle Annehmlichkeiten des Lebens genossen
und es wohlverstanden hat, seine Geschäfte vorteilhaft zu
arrangieren".
— 469 —
An Frau von Meck:
„Florenz, d. 17. Februar 1878.
Wie viel Freude hat mir Ihr heutiger Brief gebracht,
teuerste Nadeshda Filaretownal Maasslos glücklich bin ich,
dass Ihnen die SN^nphonie gefallen hat, dass Sie beim An-
hören derselben auch jene Gefühle empfunden haben, die
mich während der Arbeit erfüllten und dass Sie meine
Musik in Ihr Herz geschlossen haben.
Sie fragen ob mir bei der Komposition dieser Sym-
phonie ein bestimmtes Programm vorgeschwebt hätte. Auf
derartige Fragen pflege ich gewöhnlich mit Nein zu ant-
worten. In der That ist es sehr schwer eine Antwort auf
diese Frage zu geben. Wie soll man alle jene unbestimmten
Gefühle, welche Einen während der Komposition eines
Instrumentalwerks ohne besonderen Namen erfüllen, wie-
dergeben? Das ist ein rein 13'rischer Vorgang. Das ist die
musikalische Beichte der Seele, in welcher sich viel Stoff
angesammelt hat und nun in Töne ausfliesst, ähnlich wie
ein lyrischer Dichter sich in Versen ausspricht. Der Un-
terschied liegt nur darin, dass die Musik unvergleichlich
reichere Mittel besitzt und eine feinere Sprache ist für den
Ausdruck der tausendfältig verschiedenen Momente einer
Seelenstimmung. Gewöhnlich erscheint der Kern des kom-
menden Werkes urplötzlich, ganz unerwartet; wenn dieser
Kern auf fruchtbaren Boden fällt, d. h. wenn die Lust zur
Arbeit da ist, dann fasst er mit unglaubhcher Kraft und
Schnelligkeit Wurzel, schiesst aus der Erde hervor, treibt
Zweige, Blätter und endlich Blüten. Ich kann den schöp-
ferischen Prozess nicht anders veranschaulichen, als durch
diesen Vergleich. Die grösste Schwierigkeit liegt darin,
dass der Kern unter günstigen Verhältnissen erscheint,
alles Uebrige geschieht dann von selbst. Umsonst würde
ich mich bemühen jenes unermessliche Wohlgefühl in Worte
zu kleiden, welches mich überkommt, sobald ein neuer
Gedanke in mir auftaucht und wachsend bestimmte For-
men anzunehmen beginnt. Ich vergesse dann Alles, geberde
mich wie ein Verrückter, Alles in mir pulsiert und zittert,
kaum beginne ich die Skizzen, als auch schon Tausende
von Details durch den Kopf jagen. Inmitten dieses zauberhaf-
ten Vorgangs kommt es oft vor, dass irgend ein Stoss von
Aussen mich aus meinem Somnambulismus reisst, z. B.
wenn plötzlich Jemand klingelt, oder wenn der Diener ins
Zimmer tritt, oder wenn die Uhr schlägt und mich daran
— 470 —
erinnert, dass es Zeit ist abzubrechen.... Solche Störungen
sind geradezu fürchterhchl
Manches Mal wird die Inspiration dadurch für längere
Zeit verscheucht, so dass ich sie wieder suchen muss, —
wie oft vergebens. In diesem Fall muss der kühle Ver-
stand und das technische Können zu Hilfe genommen wer-
den. Selbst bei den grössten Meistern finden sich solche
Momente, da die organische Verbindung fehlt und an ihre
Stelle die künsthche Nath tritt, so dass Theile eines Gan-
zen gewissermaassen zusammengeleimt erscheinen. Das ist
aber nicht zu umgehen. Wenn jene Seelenstimmung eines
Künstlers, welche Inspiration heisst und welche ich eben
zu beschreiben versucht habe, lange Zeit ohne Unterbrechung
andauern Avürde, so könnte man nicht einen einzigen Tag
überleben. Die Saiten würden zerreissen und das Instru-
ment in tausend Stücke zerspringen. Es ist schon gut, wenn
die Hauptgedanken und die allgemeinen Umrisse der Kom-
position nicht mittelst „Suchens^'' gefunden werden, sondern
unter dem Einfluss jener übernatürlichen, unerklärlichen
Kraft, welche Inspiration heisst, von selbst erscheinen.
Doch bin ich vom Wege abgewichen. Für unsere Sym-
phonie giebt es wohl ein Programm, d. h. es ist die Mö-
glichkeit vorhanden, ihren Inhalt in W^orte zu fassen, und
ich will Ihnen, aber auch nur Ihnen allein die Bedeutung
des ganzen Werkes, so лvie seiner einzelnen Abschnitte
mitteilen. Selbstverständlich kann ich das nur in ganz
allgemeinen Strichen thun.
Die Introduktion ist der Kern der ganzen Symphonie,
der Hauptgedanke.
Das ist das Fatum, jene verhängnisvolle Macht, welche
den Drang nach Glück hindert sein Ziel zu erreichen,
welche eifersüchtig dafür sorgt, dass das Wohlgefühl und
die Ruhe nicht überhand nehmen, dass der Himmel nicht
wolkenfrei werde, — eine Macht, welche, W4e ein Damokles-
schwert beständig über dem Kopf schwebt, welche un-
ausgesetzt die Seele vergiftet. Diese Macht ist überwälti-
gend und unbesiegbar. Es bleibt Nichts übrig, als sich ihr
zu unterwerfen und erfolglos zu klagen.
u. s. w.
— 471 —
Das Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Hoff-
nungslosigkeit wird immer stärker, immer brennender. Ist
es nicht besser, sich von der Wirklichkeit abzuwenden
und sich in Träume einzuwiegen:
Oh, Freude! welch' zarter, welch' süsser Traum ist
erschienen! Ein strahlendes, glückverheissendes Menschen-
wesen schwebt vor mir und winkt mir zu:
k^
■^t-tT=^^m
5
^"-
s. w.
Wie schön! Das aufdringliche erste Motiv des Allegro
klingt jetzt in weiter Ferne. Nach und nach wird die
ganze Seele von Träumen umsponnen. Alles Düstere, alles
Freudlose ist vergessen.
Glück! Glück! Glück!!!—
Nein, das sind nur Träume, das Fatum verscheucht
sie wieder:
So ist denn das ganze Leben nur ein ewiger Wechsel
von düsterer Wirklichkeit und flatternden Träumen von
Glück. Einen Hafen giebt es nicht: Du wirst von den
geworfen, bis Dich das Meer ver-
ungefähr das Programm für den
her
wäre
Wellen hin und
schlingt. Das
ersten Satz.
Der zweite Satz zeigt das Leid in einem anderen Sta-
dium. Es ist jenes melancholische Gefühl, welches Einen
umwebt, wenn man abends allein zu Hause sitzt, erschöpft
von der Arbeit; das Buch, welches man zum Lesen ge-
nommen hat, ist den Händen entglitten; ein ganzer Schwann
von Erinnerungen taucht auf. Wie traurig, dass so Vieles
schon gewesen und verganr/en ist, und doch ist es angenehm
der jungen Jahre zu gedenken. Man bedauert die Vergan-
genheit und hat nicht den Mut, nicht die Lust, ein neues
Leben zu beginnen. — Man ist etwas lebensmüde. Man
möchte sich erholen und zurückbhcken, manche Erinne-
rung auffrischen. Man denkt an frohe Stunden, da das
junge Blut noch schäumte und sprudelte und Befriedigung
— 472 -
im Leben fand. Man denkt auch an traurige Momente, an
unersetzliche Verluste. Das Alles liegt schon so weit, so
weit. Traurig ist's und doch so süss in der Vergangenheit
zu grübeln.
Im dritten Satz ist kein bestimmtes Gefühl zum Aus-
druck gekommen. Das sind kapriziöse Arabesken, unfass-
liche Figuren, welche in der Einbildung dahinhuschen,
wenn man etwas Wein getrunken hat und ein wenig be-
rauscht ist. Die Stimmung ist weder lustig noch traurig.
Man denkt an Nichts; man lässt der Phantasie freien Lauf,
und sie gefällt sich im Zeichnen der merkwürdigsten Li-
nien. Plötzlich taucht in der Erinnerung das Bild eines
betrunkenen Bäuerleins auf und ein Gassenliedchen.... In
der Ferne hört man Militärmusik vorbeiziehen. Das sind
eben die unzusammenhängenden Gebilde, welche beim Ein-
schlummern in unserem Hirn entstehen und vergehen. Mit
der Wirklichkeit haben sie Nichts zu thun: sie sind unver-
ständhch, bizarr, zerrissen.
Vierter Satz. Wenn Du in dir selber keine Freude fin-
dest, so schau um dich. Gehe ins Volk. Siehe, wie es ver-
steht, lustig zu sein, wie es sich voll und ganz seinen
freudigen Gefühlen ergiebt. Das Bild eines Volksfestes,
Kaum hast Du dich selbst vergessen, kaum hast Du Zeit
gehabt, im Anblick der Freude anderer Menschen zu ver-
sinken, als auch schon das unermüdliche Fatum Dir wie-
derum seine Nähe verkündet. Die andern Menschenkinder
kehren sich aber wenig an Dich. Sie schauen Dich garnicht
an, sie merken es garnicht, dass Du einsam und traurig
bist. Oh, wie sie sich freuen, wie sie glücklich sind! Und
Du willst behaupten, dass Alles in der Welt düster und
traurig sei? Es giebt doch noch Freude, einfache urwüchsige
Freude. Freue Dich an der Freude Anderer und — Du
kannst noch leben.
Das ist Alles was ich Ihnen in Betreff der S34nphonie
sagen kann, meine teure Freundin. Selbstverständlich sind
meine Worte nicht klar und nicht erschöpfend genug. Da-
rin liegt aber die Eigenart der instrumentalen Musik, dass
sie sich nicht anal3'sieren lässt.
Es ist schon spät. lieber Florenz schreibe ich Ihnen
dieses Mal nichts, ausser — dass ich für mein ganzes Leben
diese Stadt in gutem Andenken behalten werde.
P. S. Als ich den Brief ins Couvert stecken wollte, fiel mir
ein, ihn noch einmal durchzulesen. Ich erschrak ob derUnvoU-
ständigkeit und Unklarheit des Programms, welches ich ent-
— 473 —
worfen habe. Zum ersten Mal in meinem Leben bot sich
mir die Gelegenheit, meine musikalischen Ideen und Ge-
stalten in Worte und Phrasen zu fassen. Diese Aufgabe
habe ich nur schlecht gelöst. Im vorigen Winter war ich
permanent verstimmt, als ich an dieser Symphonie arbei-
tete, und sie ist ein richtiger Wiederhall meiner damali-
gen Gefühle. Aber wirklich nur ein Wiederhall. Wie soll
man ihn in klare und bestimmte Wortfolgen zwängen? —
weiss nicht, verstehe es nicht. Vieles habe ich auch schon
vergessen. Nur ganz allgemeine Erinnerungen an die Lei-
denschaftlichkeit und Trübseligkeit meiner Empfindungen
sind mir geblieben. Ich bin sehr, sehr neugierig, was meine
Moskauer Freunde sagen werden.
Den gestrigen Abend habe ich im Volkstheater ver-
bracht und sehr viel gelacht. Der Humor der Italiener ist
grobkörnig, entbehrt jeglicher Feinheit und Grazie, reisst
aber alles mit sich fort".
An Frau von Meck:
„Florenz, d. 20. Febr. 1878.
Heute ist der vorletzte Tag des Karnevals. Die
Strassen sind ausserordentlich bewegt, doch lange nicht
so, wie es um diese Zeit in Rom der Fall sein soll. Man
sieht verschiedene Gruppen verkleideter aber nicht mas-
kierter Männer, welche Chorlieder singen. Auf dem Lun-
garno und in den „Cascine", wo ich heute Vormittag
spaziert habe, war ein grosses Gedränge; man sah viele
reiche Equipagen, in denen elegante und ausgeputzte Da-
men und Herren sassen. Nachmittags begab ich mich in
eines der unzähligen Theater, wo eine neue Oper eines
unbekannten Maestro, „I falsi monetari", zum ersten Mal
gegeben werden sollte. Jenes Theater heisst „Arena Na-
zionale" und ist früher offenbar ein kolossaler Cirkus ge-
wesen. Die Billigkeit der Plätze hat mich in Erstaunen
versetzt. Ich habe 70 Centimes Entree bezahlt und noch
50 für posto distinto d. h. für einen der besten Plätze. Das
Publikum war sehr zahlreich erschienen, die Männer rauch-
ten, vom Gesang war fast garnichts zu hören, die Musik
zeichnete sich durch höchstgradige Banalität und Talent-
losigkeit aus, dazu herrschte eine so drückende Hitze in
dem überfüllten Raum, dass ich kaum bis zum Schluss des
ersten Aktes darin ausharren konnte und zur Einsicht ge-
langte, ein Spaziergang in der frischen Luft sei viel ange-
— 474 —
nehmer. Die Nacht ist entzückend: so warm, dazu der
sternklare Himmel, Das herrliche Italien! Nach Hause
zurückgekehrt, erwachte in mir die Lust, mit Ihnen zu
plaudern, meine unvergleichliche Freundin.
Das Fenster ist offen; mit Wonne atme ich die nächt-
liche Kühle nach einem heissen Frühlingstag ein. Mit Gru-
seln denke ich an meine ferne und unaussprechlich liebe
Heimat! Da haust noch der Winter. Sie sitzen wahrschein-
lich am Kamin. An Ihrem Hause gehen in Pelze gehüllte
Gestalten vorbei; Stille ringsum, welche infolge der Schlit-
tenbahn durch kein Wagenrollen unterbrochen wird. Und
doch denke ich mit Liebe an diesen Winter. Ich habe ihn
gern, diesen langen starren Winter. Wie schön ist es dann,
wie bezaubernd, wenn unser Frühling urplötzlich mit sei-
ner hehren Kraft einsetzt! Wie liebe ich die Ströme ge-
schmolzenen Schnees, jenes belebende und aufmunternde
Etwas, was in der Luft zittert! Mit welcher Freude begrüsst
man den ersten grünen Grashalm, die erste Saatkrähe,
die Ankunft der Lerchen und unsrer andern sommerlichen
Gäste! Hier naht der Frühling langsamen Schritts, nach
und nach, so dass er sich garnicht mit Bestimmtheit fest-
stellen lässt.
Erinnern Sie sich vielleicht jenes Knaben, von
dessen rührend schöner Stimme ich Ihnen einst aus Flo-
renz geschrieben habe? Vor einigen Tagen begegnete ich
einigen Strassensängern und wandte mich mit der Frage an
sie, ob ihnen der betreffende Knabe bekannt sei. Sie kann-
ten ihn und gaben mir das Versprechen, ihn um 9 Uhr auf
den Lungarno zu bringen. Punkt 9 erschien ich an Ort
und Stelle. Der Mann, welcher mir das Versprechen ge-
geben hatte, war bereits da, und auch der Knabe. Eine
ganze Menge Neugieriger standen um ihn herum. Da die
Menge immer anschwoll, so rief ich ihn zur Seite und
führte ihn in eine Nebenstrasse. Ich zweifelte ob es der-
selbe Knabe sei. „Sie werden hören, sagte er, sobald
ich Ihnen vorsinge, dass ich es wirklich bin. Sie gaben
mir damals ein silbernes 50 cms Stück". Diese Worte wur-
den von einer herrlichen in die tiefste Tiefe des Herzens
dringenden Stimme gesprochen. Was mit mir geschah, als
er anfing zu singen, ist garnicht zu beschreiben.
Ich weinte, ich zitterte, ich zerschmolz vor lauter
Entzücken. Er sang wieder „Perche tradirmi, perche las-
ciarmi'Mch erinnere mich nicht, dass ein einfaches Volkslied
jemals einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hat.
— 475 —
Diesmal hat mich der Knabe mit einem neuen reizenden
Liedchen bekannt gemacht, so dass ich die Absicht habe,
mir dasselbe noch einige Mal vorsingen zu lassen, um Text
und Melodie zu notieren ^). Dieses Kind dauert mich sehr! Es
wird offenbar von seinem Vater, seinem Onkel und seinen
andern Verwandten ausgebeutet. Jetzt, zur Zeit des Kar-
nevals, muss er von früh morgens bis zum späten Abend
singen, und wird solange singen bis die Stimme aut Nimmer-
wiederkehr verschwindet. Heute schon ist die Stimme nicht
mehr so frisch wie damals, als wenn sie einen kleinen Riss
bekommen hätte. Dieser kleine Riss erhöht aber merkwür-
diger Weise die Anmut des phänomenal sympatischen
Organs. Das wird aber nicht lange dauern. Würde er das
Kind einer wohlhabenden Familie sein, so könnte er viel-
leicht ein berühmter Künstler werden. Man muss einige
Zeit in Italien gelebt haben, um der Gesangskunst der
Italiener die gebührende Anerkennung zu zollen. Jeden
Augenblick hört man auf der Strasse prachtvolle Stimmen,
auch in diesem Moment höre ich in der Ferne einen wun-
derschönen Tenor, der aus vollem Halse irgend ein Lied
in die weite Welt hinausschmettert. Aber selbst wenn die
Stimme nicht besonders schön ist, kann sich jeder Italiener
rühmen, von Natur aus Sänger zu sein. Sie haben alle
eine richtige „emission" und verstehen, aus der Brust heraus
zu singen, nicht aus der Kehle und nicht durch die Nase^
wie bei uns".
VII.
An A. Tschaikowsky:
„Sonnabend, d. 25. Febr. 1878.
Gestern um 7 sind wir in Genf angekommen. Du glaubst
garnicht, wie langweilig öde und prosaisch Genf ist, zu-
mal w^enn man aus Florenz kommt, welches dank dem
schönen Frühlingswetter sich in eine geradezu phantastisch-
prachtvolle Stadt verwandelt hat".
1) Diese Melodie hat Peter Iljitsch später in dem Lied „Pimpinella" verwendet»
(Op. 38 .V» 6).
— 47б —
An Frau von Meck:
„Ciarens, d. 28. Febr. 1878.
Das Wetter ist miserabel. Es regnet ununterbrochen;
die Berge sind durch Wolken verdeckt, welche garnicht
den Anschein haben sich bald zerstreuen zu wollen. Das
ist nach dem ewig blauen Himmel Italiens sehr nieder-
drückend. Dafür ist es hier aber so still, so ruhigl Wie
gemütlich sind unsere Zimmer, wie angenehm wird sich's
hier arbeiten lassen!"
An Frau von Meck:
„Ciarens, d. 3. März. 1878.
Meine Zeit habe ich mir folgendermaassen eingetheilt:
um 8 wird aufgestanden. Nach dem Thee unternehmen
wir einen kleinen Spaziergang, so weit das Wetter es ge-
stattet. Dann schliesse ich mich bis i^-> Uhr in mein Zim-
mer ein und arbeite. Ich möchte im Laufe des bevorste-
henden Monats eine Anzahl kleiner Stücke schreiben. Es
arbeitet sich hier sehr gut, ich bin aber trotz dem noch
nicht in jene Stimmung hereingekommen, in welcher es
sich, so zu sagen, von selbst arbeitet, d. h. wenn man sich
keinen Zwang anzuthun braucht, sondern nur dem inneren
Drang gehorcht. Am schlimmsten ist es, der Unlust zum
Schreiben nachzugeben. Mann muss sich stets лvarmhalten,
sonst kommt man nicht weit. Ich habe mir vorgenommen,
jeden Morgen — es koste, was es wolle — irgend Etwas zu
Stande zu bringen und w^erde das so lange fortsetzen, bis
eine günstige Kompositionsstimmung über mich kommt.
Die Zeit zwischen Mittag und Abendessen, welches um
7 Uhr stattfindet, widme ich dem Spazierengehen; da man
aber in den letzten Tagen unmöglich ausgehen konnte, so
habe ich statt dessen sehr viel musiziert. Heute habe ich
den ganzen Tag mit Kotek gespielt. Ich habe schon so
lange keine gute Musik gehört und gespielt, dass ich mich
mit ausserordentlichem Genuss dieser Beschäftigung hin-
gebe. Ist Ihnen die „S3'mphonie espagnole" von dem fran-
zösischen Komponisten Lalo bekannt? Dieses Stück hat
der jetzt sehr moderne Geiger Sarasate aufgebracht. Es
ist für eine Solo-Violine mit Orchesterbegleitung geschrie-
ben und besteht aus 5 selbständigen Theilen, die spa-
nische Volksweisen zum Inhalt haben. Das Stück hat mir
grosses Vergnügen bereitet. Es ist von einer wohlthuen-
— 477 —
den Frische und Leichtigkeit, dazu pikante Rytmen und
schön harmonisierte Melodieen. Es hat viel AehnHchkeit
mit andern mir bekannten Werken der französischen Schule,
welcher Lalo angehört. Gleich Leo Delibes und Bizet ver-
meidet er auf das sorgfältigste alles Routinenmässige, sucht
neue Formen, ohne tiefsinnig sein zu wollen, sorgt mehr
für musikalische Schönheit überhaupt, als für Respektierung
der alten Traditionen, wie es die Deutschen thun. Die
junge französische Komponistengeneration ist wirklich sehr
vielversprechend.
Den Rest des Abends bringe ich mit Lesen oder Brief-
schreiben zu".
An Frau von Meck:
„Ciarens, d. 5. März, 1878.
Es ist mir ausserordentlich angenehm, mit Ihnen über
das von mir angewendete Kompositionsverfahren zu plau-
dern. Bis jetzt hatte ich noch niemals Gelegenheit, Jemandem
diese geheimsten Aeusserungen meines geistigen Lebens
anzuvertrauen, eines theils, weil sich nur sehr Wenige dafür
interessiert haben, andern theils, weil diese Wenigen mir
keine Lust zum Antworten einzuflössen vermochten. Doch
Ihnen, gerade Ihnen, teile ich die Details des Kompositions-
prozesses ausserordentlich gern mit, denn in Ihnen habe
ich ein Wesen gefunden, welches ein grosses Feingefühl
und Verständniss für meine Musik besitzt.
Glauben Sie denen nicht, die Sie zu überzeugen ver-
suchen, dass die musikalische Komposition nur eine kalte
Vernunftarbeit ist. Nur diejenige Musik ist im Stande zu
rühren und zu erschüttern, welche aus der Tiefe einer
durch Inspiration angeregten Künstlerseele herausgequollen
ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass selbst die grössten
musikalischen Geister manchmal ohne Inspiration gearbeitet
haben. Dieser Gast erscheint nicht immer gleich auf den
ersten Ruf. Arbeiten muss man immer und ein ehrlicher
Künstler darf nicht die Hände in den Schoss legen unter
dem Vorwand, es fehle ihm die Stimmung. Wenn man auf
Stimmimg warten wollte, ohne ihr entgegen zu kommen,
könnte man sehr leicht fcml und apcitisch werden. Man
muss Geduld haben und glauben, dass die Inspiration zu
demjenigen kommen wird, der seine Unlust bemeistern
kann. Heute noch ist es mir so gegangen. Vor einigen
Tagen schrieb ich Ihnen, dass ich täglich arbeite aber
- 478 -
ohne rechte Begeisterung. Würde ich meiner Unlust nach-
gegeben haben, so hätte iche mich gewiss für längere Zeit
dem Nichtsthun hingegeben. Doch der Glaube und die
Geduld verlassen mich nie, und heute früh erfasste mich
jenes unerklärliche Feuer der Begeisterung, von dem ich
Ihnen sprach: und dank welchem ich im voraus weiss,
dass alles heute von mir Niedergeschriebene die Eigenschaft
haben wird, Herzen zu rühren und Eindruck zu machen.
Ich hoffe, dass es Ihnen nicht als Eigenlob erscheinen wird,
wenn ich Ihnen sage, dass ich nur sehr selten unter jener
Arbeitsunlust zu leiden habe. Ich schreibe es dem Umstand
zu, dass ich mit Geduld ausgerüstet bin. Ich habe es ge-
lernt, mich zu beherrschen, und bin glücklich, dass ich
nicht in die Fusstapfen derjenigen meiner russischen Kolle-
gen getreten bin, welche misstrauisch zu sich selbst und
ungeduldig sind, und bei der geringsten Schwierigkeit die
Flinte ins Korn werfen. Daher kommt es, dass sie trotz
grosser Begabung so Weniges und so Dilettantenhaftes
hervorbringen.
Sie fragen mich, wie ich es mit der Instrumentation
halte? Ich komponiere niemals abstraM, d. h. der musika-
lische Gedanke erscheint mir niemals anders, als in einer
entsprechenden Bekleidung. Auf diese Weise erfinde ich
die musikalische Idee gleichzeitig mit der Instrumentation.
FolgHch dachte ich mir das Scherzo unserer Symphonie —
als ich es komponierte — gerade so, wie Sie es gehört ha-
ben. Es ist garnicht anders denkbar, als pizzicato. Wollte
man es mit dem Bogen gestrichen spielen, so würde es
seinen ganzen Reiz verlieren und ein Körper ohne Geist
werden.
In Betreff des spezifisch russischen Elements in meinen
Kompositionen will ich Ihnen sagen, dass ich nicht selten
mit der Absicht eine Arbeit beginne, die eine oder andere
Volksmelodie in ihr zur Durchführung zu bringen. Manches
Mal kommt es jedoch von selbst, unbeabsichtigt (so zum
Beispiel im Finale unserer Symphonie). Was meine volks-
liederähnlichen Melodieen und Harmonieen anbelangt, so
sind sie eine Folge davon, dass ich auf dem Lande auf-
gewachsen und schon in frühester Kindheit von der un-
beschreiblichen Schönheit der für die russische Volksmu-
sik charakteristischen Züge durchdrungen worden bin, so
wie davon, dass ich das russische Element in allen seinen
Aeusserungen leidenschaftlich liebe, kurz, dass ich ein
Russe bin, in vollsten Sinne des Wortes.
— 479 —
Ausser den kleinen Stücken arbeite ich augenblicklich
an einer Sonate für Klavier und an einem Violinkonzert.
An N. F. von Meck:
„Ciarens, d. 7. März 1878.
Das winterliche Wetter will garnicht aufliören. Heute
schneit es den ganzen Tag. Nichtsdestoweniger langweile
ich mich garnicht, und die Zeit vergeht beim Arbeiten
sehr schnell. Die Sonate und das Konzert interessieren
mich sehr. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich ein
neues Stück zu arbeiten begonnen, ohne das vorherige
beendet zu haben. Bis jetzt habe ich stets die Regel befolgt,
nicht eher eine neue Arbeit in Angriff zu nehmen, als bis
die alte abgschlossen ist. Diesmal geschah es jedoch, dass
ich der Lust nicht widerstehen konnte, das Konzert zu
skizziren und habe mich davon so hinreissen lassen, dass
die Sonate bei Seite geworfen wurde; doch kehre ich
nach und nach zu ihr zurück.
Mit dem grössten Vergnügen habe ich die beiden Bü-
cher des „Russichen Altertums" durchgelesen. Da sie
schon zerschnitten waren, nehme ich an, dass Sie sie be-
reits gelesen haben. Nicht wahr, meine liebe Freundin,
die Briefe Seroff's sind doch sehr interessant? Zumal für
mich, denn jene Epoche, auf welche sich die Briefe bezie-
hen, ist mir sehr gut in Erinnerung. Gerade in der Zeit,
als die „Judith" aufgeführt wurde, habe ich die Bekannt-
schaft Seroff's gemacht und vielen Proben dieser Oper
beigewohnt. Sie hat damals helle Begeisterung in mir
entfacht und ich hielt Seroff für einen genialen Mann. In
der Folge habe ich aber an ihm — nicht nur als Menschen,
sondern auch als Komponisten — eine grosse Enttäuschung
erlebt. Als Mench ist er mir übrigens seit jeher ипззап-
patisch gewesen. Sein kleinlicher Ehrgeiz und seine Selbst-
verherrlichung, welche sich in höchst naiven Formen
äusserten, kamen mir sehr abstossend und für einen so
talentvollen und klugen Mann unbegreiflich vor. Denn klug
war er ausserordentlich, trotz ber ganzen Kleinlichkeit
seiner Selbstliebe.
Jedenfalls war er eine sehr interessante Persönlichkeit.
Bis zu seinem 43 — sten lahr hatte er noch Nichts geschrie-
ben; er hatte nur Versuche gemacht, geriethoft in Begei-
sterung von sich selbst, oder verlor gänzlich den Muth.
Endlich begann er nach 25 — „jährigem Hin-und-herpendeln
— 480 —
die Komposition der „Judith" und versetzte alle Welt in
Erstaunen. Man hatte von ihm eine langweilige, talentlose
und auf den grossen Opernst}^ Anspruch machen wol-
lende Musik erwartet; man hatte geglaubt, dass ein Mann, der
ein so reifes Alter erreicht hatte, ohne sich bis dahin als
Komponist bethätigt zu haben, kein grosses Talent sein
könne und — man hatte sich geirrt. Der 43-jährige Neuling
stellte sich dem Publikum und der Petersburger musika-
lischen Welt in einer Oper vor, welche in jeder Bezie-
hung schön genannt zu werden verdiente und an keiner
Stelle verrieth, dass sie das Erstlingswerk des Autors war
Ich weiss nicht, meine liebe Freundin, ob Sie „Judith"
kennen; diese Oper weist sehr viele Vorzüge auf. Sie
ist sehr warmblütig und erreicht stellenweise einen sehr
hohen Grad von Stimmungszauber und Kraft. Sie hatte
einen sehr ansehnlichen Erfolg beim Publikum davon ge-
tragen und in musikalichen Kreisen, namentlich unter der
Jugend, sogar Enthusiasmus hervorgerufen. Seroff, welcher
bis dahin ungekannt ein sehr bescheidenes Leben geführt
und sogar gegen die Not anzukämpfen gehabt hatte, wurde
plötzlich der Held des Tages, der Abgott verschiedener
musikalischen Kreise, eine Berühmtheit, Dieser unerwar-
tete Erfolg war ihm zu Kopf gestiegen, er hielt sich selbst
für ein Genie. Merkwürdig ist die Naivetät, mit welcher er
in seinen Briefen sich selber Lob spendet, seinen noch nie
da gewesen originellen Styl und die Schönheit seiner
Melodien verherrhcht. Und doch hat sich Seroff zwar als
begabter Mensch, aber nicht als ein Talent ersten Ranges
erwiesen. Seine zweite Oper „Rogneda" ist bereits ein
viel weniger hervorragendes Werk. In ihr hascht er nach
Effekten, verfällt oft in Gemeinheit und Banalität und
bemüht sich durch rein materialistische Grobheiten dem
Pöbel zu imponieren. Das ist um so merkwürdiger, da
er als eifriger Wagnerianer in Wort und Schrift gegen
Meyerbeer's Effekthascherei und vulgären Styl loszieht.
„Des Feindes Macht" ist noch schwächer. Im Resultat
ist Seroff eine ganz eigentümliche und sehr interessante
Erscheinung in der Musikgeschichte. Betrachtet man seine
zahlreichen kritischen Aufsätze, so bemerkt man, dass seine
Theorieen ganz und garnicht mit der Praxis übereinstimmten,
d. h. dass er seine Musik in einem seiner Kritik diametral
entgegengesetzten Sinne komponierte. Ich halte mich deshalb
über Seroff auf, weil ich mich unter dem Eindruck seiner
Gestern von mir durchgelesenen Briefe befinde und Heute
— 481 —
den ganzen Tag an ihn denken muss. Ich erinnere mich
an jenen Hochmut, welchen er mir gegenüber zur Schau
trug, und wie ich damals wünschte, von ihm anerkannt
zu werden. Ich weiss noch, wie dieser talentvolle, sehr
kluge und universal gebildete Mann die Schwäche hatte.
Niemandem Anerkennung zu zollen, als sich selbst, wie
er Andere um ihre Erfolge beneidete, wie er diejenigen,
welche in seiner Kunst berühmt waren, geradezu hasste
und wie oft er den allerkleinlichsten egoistischen Anwand-
lungen unterlag. Anderseits möchte man ihm das Alles
verzeihen, um der Leiden willen, die er durchgelitten bevor
ihn der Erfolg aus der Armut herausgerissen hatte und er
hatte männlich und stark sein Unglück getragen aus Liebe
zur Kunst. Er hätte nach seiner Herkunft, Erziehung und
nach seinen Verbindungen eine glänzende Karriere machen
können, aber die Lust zur Musik behielt die Oberhand.
Wie schmerzlich war es mir, in seinen Briefen zu lesen,
dass er in seinem Elternhaus nicht nur keine Stütze, keine
Ermutigung gefunden hatte, sondern im Gegenteil — Spott,
Misstrauen und Feindseligkeit!
Im Schicksal Seroff's findet sich noch eine Eigentüm-
lichkeit. Er hat der Welt nicht viel hinterlassen: nur drei
Opern. Von diesen sind zwei mittelmässig und eine sehr
gut. Diese einzige gute Oper ist bis Heute noch nicht ver-
öffentlicht dank der Verrücktheit seines Verlegers Stel-
lowsky's.
Ich weiss nicht, wie ich Ihnen danken soll, meine Teu-
ere, für die Zusendung der Gedichtsammlungen. Ganz
besondere Freude macht mir A. Tolstoi, den ich sehr gern
habe und werde — unabhängig von der Absicht, einige sei-
ner Texte für Liederkompositionen zu verwenden — mit
Vergnügen seine grösseren Dichtungen wieder durchlesen.
Namentlich interessiere ich mich für den Don-Juan, den
ich schon vor längerer Zeit gelesen habe".
An N. F. von Meck:
„Ciarens, d. 14. März 1878.
Eben habe ich die Zeitung gelesen und bin ganz
niedergeschlagen. Ein Krieg steht ausser Zweifel bevor.
Das ist schrecklich. Es scheint mir, dass ich jetzt — da ich
nicht mehr durch eigenes persönliches Unglück von dem
allgemeinen abgelenkt bin — viel intensiver alle Wunden
mitfühlen kann, welche unserem Vaterland beigebracht
Tsehaikowsky , M. P, I. Tschaikowsky's Leben. 31
— 402 —
werden obwohl ich nicht daran zweifle, dass zuletzt Russ-
land und überhaupt die slavische Welt triumphieren wird,
schon allein deshalb dass auf unserer Seite die Wahrheit
und Ehrhchkeit hegt. Ich freue mich, dass ich während
des Krieges in Russland sein werde. Wie viele unange-
nehme Momente sind mir in der Fremde beschieden ge-
wesen! Wie oft sah ich, mit welcher Schadenfreude jede
Nachricht von dem geringsten Missgeschick auf unserer
Seite in Empfang genommen wurde, und umgekehrt,
welchen Aerger ein jeder unserer Siege hervorrief. Hoffent-
lich geht dieser Kelch an uns vorüber.
Wenn es darauf ankommt, können bei uns für
Alles tüchtige Männer gefunden werden — nur mit einer
einzigen Ausnahme. Ich rede jetzt von meinem Fach. Sei
es, dass das Konservatorium von dem despotischen Arm
Rubinstein's etwas gewaltsam in die Moskauer Verhältnisse
gepflanzt worden ist, oder sei es, dass die Theorie der
Musik dem russischen Gehirn überhaupt nicht recht ver-
ständlich ist, jedenfalls ist nichts schwerer, als einen guten
Theorielehrer zu finden. Ich komme aus dem Grunde darauf
zu sprechen, weil ich sehr wohl weiss, dass ich — obwohl
ich meine schulmeisterliche Begabung sehr gering schätze
und die pädagogische Thätigkeit geradezu hasse — dem
Konservatorium dennoch unentbehrlich bin. Wenn ich mei-
ne Professur aufgeben wollte, so würde man kaum einen
geeigneten Nachfolger finden können. Das ist der Grund,
weshalb ich es für meine Pflicht halte, solange im Konser-
vatorium zu bleiben, bis ich die Ueberzeugung gewinnen
werde, dass es durch meinen Abgang nichts verliert. —
Das Alles sage ich, Ihnen meine Teure, weil ich in der
letzten Zeit sehr viel daran gedacht habe ob es sich nicht
würde machen lassen, diese schwere Last von meinen Schul-
tern zu wälzen. Wie unangenehm werde ich namentlich
jetzt, nach monatelanger Erholung meinen Lehrerberuf
empfinden. Ich kann Ihnen nicht einmal einen annähernd
richtigen Begriff davon machen, wie niederträchtig diese
Thätigkeit für einen Menschen ist, der keine Neigung für
sie spürt. In der männlichen Abteilung habe ich zwar eine
ganze Menge sehr mangelhaft entwickelte Jünglinge vor
mir, die aber Musiker von Fach werden wollen: Geiger,
Waldhornbläser, Lehrer u. s. w. Obschon es sehr schwer
ist, 12 Jahr hintereinander solchen Jünglingen klar zu
machen, dass ein Dreiklang aus Terz und Quinte besteht,
so habe ich hier wenigstens das Gefühl, dass ich ihnen
- 403 -
notwendige Kenntnisse beibringe. Hier bin ich wenigstens
nützlich. Aber die Damenklassen!
О mein Gott! Von 60 oder 70 Fräulein, welche die
Harmonielehre bei mir durchnehmen, sind es höchstens 5,
die es in der Musik zu Etwas bringen werden. Alle an-
deren sind ins Konservatorium gekommen, blos um irgend
eine Beschäftigung zu haben, oder aus Gründen, welche
die Musik nichts angehen. Dabei kann man nicht behaup-
ten, dass die jungen Damen unverständiger oder tauler
wären als die Jünglinge. Eher umgekehrt: die Damen
sind gewissenhafter und fleissiger, ja sogar aufnahmefähi-
ger. Sie machen sich mit einer neuen Regel viel schneller
vertraut, — aber nur bis zu einer gewissen Grenze, So
wie es gilt^ die betreffende Regel nicht mechanisch, son-
dern aus eigener Initiative anzuwenden, werden all diese
jungen Damen geradezu unausstehlich, obwohl sie mög-
licherweise von den besten Absichten erfüllt sind. Ich
verhere oft meine ganze Geduld, ja meinen Verstand, ich
sehe und höre nichts, was um mich herum geschieht und
bekomme einen unbeschreiblichen Wutanfall. Ich glaube,
dass ein Anderer, ein Geduldigerer viel J^essere Resultate
erzielen könnte. Dass Schlimmste, was mich in Verzweif-
lung bringt, ist das Bewusstsein, dass Alles umsonst ist:
eine blosse Komödie! A.us der ganzen Masse der von mir
unterrichteten Konservatoriumsschülerinnen ist nur eine
ganz geringe Anzahl mit ernstlichen Zielen in das Kon-
servatorium eingetreten! Wie Wenige sind es, die es wert
sind, dass man um ihretwillen sich abquält, abmüht und
aus der Haut fahren möchte, wie Wenige, für welche mein
Unterricht wirklich von Bedeutung ist! Noch viele andere
unangenehme Seiten hat meine Lehrthätigkeit. Und den-
noch: ich muss, ich bin verpflichtet, sie fortzusetzen.
Es hat mich sehr gefreut, was Sie mir da von der
Teilnahme meiner Schüler schreiben. Es wollte mir immer
seheinen, dass sie mich allesammt hassen müssen für mei-
ne Reizbarkeit, welche oft alle Grenzen des Anstandes
überschritten hatte, für mein unaufhörliches Schelten und
beständige Unzufriedenheit. Es war mir sehr angenehm, sich
vom Gegenteil überzeugen zu lassen".
An P. I. Jurgenson:
„Ciarens, d. 15. März 1878.
.... Das Violinkonzert eilt seinem Ende entgegen. Ich
bin ganz zufällig auf diese Idee gekommen, habe mich
- 484 -
hingesetzt, wurde von der Arbeit hingerissen, und jetzt
sind die Skizzen fast ganz fertig. Ueberhaupt droht Dir
eine ganze Menge meiner neuen Schreibereien: 7 kleine
Stücke, 2 Lieder und eine angefangene Kiaviersonate. Ende
des Sommers werde ich w^hl einen ganzen Eisenbahnw^agen
in Anspruch nehmen müssen, um Dir Alles zuzustellen.
Ich kann mir vorstellen, wne energisch Du ausrufen wirst:
„Dass dich der Teufel hole!" Bist selbst daran schuld,
Freund! Warum hast Du Dich überhaupt mit mir einge-
lassen? Ich will hier noch zwei bis drei Wochen bleiben.
Zu Ostern werde ich schon in Kamenka sein. Dich werde
ich vor dem Herbst nicht wiedersehen dafür wollen \vir
aber dann gleich in eine Kneipe gehen und einen tüchti-
gen Trunk besorgen. Ueberhaupt kann ich mich merkwür-
digerweise in Moskau garnicht anders denken, als in der
Kneipe sitzend und ein Fläschchen nach dem anderen
leerend".
An Frau von Meck:
„Ciarens, d. 16. März 1878.
Gestern erhielt ich Ihren Brief mit der Nachricht von
dem Konzert Rubinstein's. Es freut mich sehr, dass mein
Konzert Ihnen gefallen hat. Ich war von je her überzeugt,
dass Nikolai Gregorjewitsch dasselbe ausgezeichnet spielen
würde. Ursprünglich war das Stück für ihn bestimmt und
für seine immense Virtuosität berechnet. Aus Ihrem Brief
ersehe ich mit Freuden, dass Sie alle Neuerscheinungen auf
dem Gebiete der Musik aufmerksam verfolgen. Kaum ist
ein neues Konzert von Bruch erschienen, und Sie kennen
es bereits; mir ist es nicht bekannt. Auch kenne ich nicht
das Konzert von Goldmark, w^elches Sie erwähnen. Ich
kenne nur ein einziges Orchesterstück von ihm: die Ou-
vertüre zu „Sakuntala" und ein Quartett. Beide Stücke
sind talentvoll und S3'mpatisch. Goldmark ist einer der
wenigen deutschen Komponisten mit etwas Eigenart und
frischer Erfindungsgabe.
Warum lieben Sie Mozart nicht? In dieser Beziehung
gehen unsere Meinungen auseinander, meine liebe Freun-
din. Ich habe Mozart nicht nur gern, sondern ich vergöt-
tere ihn. Die schönste aller je geschriebenen Opern ist für
mich „Don Juan". Sie, die Sie über ein so feines musika-
lisches Gefühl verfügen, — Sie müssten diesen idealen und
reinen Künstler eigentlich auch verehren. Es ist wahr, Mo-
- 485 -
zart ging mit seinen Kräften zu verschwenderisch um
und schrieb oft ohne Inspiration, der Not gehorchend. Lesen
Sie seine Lebensbeschreibung im ausgezeichneten Buch
Otto Jahn's, und Sie werden sehen, dass er nicht anders
handeln konnte. Aber selbst bei Bach und Beethoven fin-
det man eine ganze Menge minderwertiger Kompositionen,
welche es garnicht verdienen neben ihren Meisterwerken
genannt zu werden. Das ist die Macht des Geschicks,
welches sie zwang, ihre Kunst manchmal zum Handwerk
zu degradieren. Betrachten Sie aber Mozart's Opern, zwei
oder drei seiner Symphonieen, sein Requiem, die sechs
Haydn gewidmeten Quartette und das D-moll Streich-Quin-
tett. Finden Sie denn garkeinen Reiz an all'diesen Werken?
Zwar ergreift Mozart nicht so tief wie Beethoven, er holt
nicht so weit aus, denn er war auch im Leben bis ans
Ende seiner Tage ein sorgloses Kind, seiner Musik fehlt
jene subjektive Tragik, welche so kraft -und -machtvoll
bei Beethoven zum Ausdruck kommt. Doch hat ihn die-
ser Mangel nicht gehindert einen objektiv tragischen T}'-
pus zu schaffen, das herrlichste und erstaunlichste aller
jemals durch die Musik charakterisierten menschlichen
Wesen. Ich meine die Donna Anna im „Don Juan". О wie
schwer ist es, einen Andern dasselbe in einem Musikstück
finden und sehen zu lassen, was man selbst darin findet.
Ich bin nicht im Stande, Ihnen wiederzugeben, was ich
beim Anhören des „Don Juan" empfunden habe, nament-
hch bei der Scene, da die erhabene Gestalt der rachsüch-
tigen und stolzen Schönen Donna Anna auf der Bühne
erscheint. In keiner andern Oper hat mich Etwas so stark
ergriffen. Und weiter die Stelle, da Donna Anna in der
Person Don Juan's jenen Mann erkennt, der ihren Stolz
beleidigt und ihren Vater getödtet hat, da ihr Zorn in
jenem genialen Recitativ, wie ein reissender Strom zum
'Durchbruch kommt, und noch Aveiter jene herrliche Arie,
wo man aus jedem Akkord, aus jedem Orchesterstrich
ihren Zorn und ihren Stolz herausfühlt — da zittere vor
Entsetzen, ich könnte schreien und weinen vor der er-
drückenden Macht des Eindrucks. Und ihr Jammer über
der Leiche des Vaters, und das Duett mit Don Ottavio,
in welchem sie Rache schwört und ihr Arioso im grossen
Sextett auf dem Friedhof— das sind unerreichbare, kolos-
sale Operngebilde!
Ich bin so verliebt in die Musik des „Don Juan", dass
ich in diesem Augenbhck, während ich Ihnen schreibe,
I
— 486 —
vor Rührung und Aufregung weinen möchte.... In der Kam-
mermusik besticlit mich Mozart durch die Reinheit und
x\nmut der Form, sowie durch die wunderbare Schönheit
der Stimmführung. Manche Stellen sind auch hier im
Stande, den Augen Thränen zu entlocken. Ich nenne nur
das Adagio des D-moll Quintetts. Noch nie hat es Einer
verstanden, das Gefühl der demütigen und hilflosen Trau-
rigkeit so schön in der Musik wiederzugeben. So oft
Laub dieses Adagio spielte, musste ich mich in die entfern-
teste Ecke des Saals verstecken, um nicht zu verraten,
was in mir vorging.
Bitte lesen Sie doch die umfangreiche, aber interes-
sante Mozartbiographie Otto Jahn's. Sie werden sich über-
zeugen, was für ein herrhcher, makelloser und unendlich
guter Mensch Mozart gewesen ist. Seine Musik kompo-
nierte er, so wie die Nachtigallen singen d. h. ohne viel zu
tifteln, ohne sich Gewalt anzuthun. Und wie leicht fiel ihm
das Komponieren. Er hat niemals Skizzen gemacht. Seine
Genialität war so hervorragend, dass er alle seine Werke
. sofort in Partitur niedergeschrieben hat. Er pflegte sie
bis zu den kleinsten Details im Kopf auszuarbeiten. Für
ihn gab es keine Schwierigkeiten. Schon als lo-jähriger
Knabe beherrschte er bis zur Vollkommenheit die Technik
seines Fachs. Er führte ein sehr unregelmässiges Leben.
Wo er die Zeit hernahm, um das zu schaffen, was er ge-
schaffen hat, ist einfach unerklärlich. Sein Schüler Hummel
hat als Knabe bei ihm gewohnt und wusste später viel
Interessantes darüber zu erzählen. Den Unterricht hat ihm
Mozart sehr nachlässig erteilt, d. h. sehr selten und zu
ganz ungewöhnlichen Stunden. Wenn er Nachts spät nach
Hause kam, weckte er den kleinen Hummel und gab ihm
die Musikstunde. Aber seine Güte und sein kindlicher
Frohmut waren so bezaubernd, dass Hummel ihn enthusia-
stisch verehrte. Er wurde von Allen geliebt. Er hatte
einen schönen gleichmässigen Charakter, von Stolz keine
' Spur. So oft er mit Haydn zasammenkam, bezeugte er
ihm seine Hochachtung in den glühendsten und herzlichsten
Ausdrücken. Die Reinheit seiner Seele war absolut. Er kannte
keinen Neid, keine Rachsucht und keine Missgunst. Ich
glaube, dass alles das auch aus seiner Musik herausklingt,
deren Eigenschaft es ist, die Menschen zu versöhnen, zu
erleuchten, zu liebkosen.
Unendlich viel könnte ich Ihnen noch von diesem son-
nigen Genius erzählen, mit dem ich einen richtigen Kul-
-487 -
tus treibe; obwohl ich gegen musikahsch Andersgläubigen
sehr tolerant bin, muss ich doch gestehen, dass ich Sie,
meine liebe Freundin gar zu gern in Bezug auf Mozart
umstimmen möchte. Ich weiss, dass das sehr schwer ist.
Ausser Ihnen bin ich in meinem Leben noch einigen An-
dern begegnet, welche ein feines Verständniss für die
Musik besassen, aber trotzdem Mozart nicht anerkannten.
Ich hatte vergeblich versucht, ihnen die Schönheiten seiner
Musik aufzudecken. Oft wirken rein äusserliche Umstände
bestimmend auf unsere musikalischen Sympatieen. Die
„Don Juan" -Musik war die erste Musik, welche einen
erschütternden Eindruck auf mich gemacht hat. Sie hat eine
heilige Begeisterung in mir entfacht, welche nicht frucht-
los geblieben ist. Durch ihre Vermittelung bin ich in jene
Region der künstlerischen Schönheit eingedrungen, in wel-
cher nur Genien wohnen. Vorher hatte ich nur die italie-
nische Oper gekannt. Dass ich mein Leben der Musik ge-
weiht,— das verdanke ich Mozart. In meiner einzigartigen
\^erehrung für Mozart hat das Alles möghcherweise eine
Rolle gespielt, — und es ist vielleicht thöricht von mir von
denen, die ich lieb habe, zu verlangen, dass sie sich Mo-
zart gegenüber ebenso verhalten wie ich. Aber selbst wenn
ich nur ein Geringes dazu beitragen kann, dass Sie Ihre
Meinung ändern, — so wird mich das schon glücklich ma-
chen. Wenn Sie mir einmal mitteilen werden, dass Sie
durch das Adagio des D-moll Quintetts gerührt worden
seien, — so wird mich das hochertreuen....
Ich habe heute das Konzert beendet. Ich will es
jetzt noch mehrere Mal mit Kotek (welcher noch hier ist)
durchspielen und dann an die Instrumentierung gehen.
An Frau von Meck:
,, Ciarens, d. 18 März 1878.
Heute bin ich in ganz miserabler Stimmung. Nicht
einmal arbeiten kann ich, weil ich mich ganz dem Eindruck
der hoffnungslos traurigen und drohenden politischen Nach-
richten hingegeben habe.
Gleich Ihnen finde ich, dass die Friedensbedingungen
sehr massig und bescheiden sind. In politischen und finan-
ziellen Dingen bin ich absolut unwissend. Ich weiss aber
nicht, ob wir Recht haben uns darüber zu beklagen, dass
wir nur eine so kleine Geldentschädigung erhalten. Ich
glaube, dass nicht das türkische Geld uns Not thut, wel-
— 488 —
ches die Türken nicht einmal für ilire eigenen Bedürfnisse
auftreiben können, sondern dauernder Frieden, denn nur
in diesem liegt die Garantie des Wiedergewinns des für
den Krieg verausgabten Geldes. Das Beispiel Frankreichs
und Deutschlands lehrt uns, dass der die Kriegskontribution
Empfangende ebenso wenig bereichert wird, als der die
Kontribution zahlende verarmt. Noch nie war Frankreich
so reich, als jetzt nach der Zahlung. Und in Deutschland
hat es in der Entwickelung der Industrie noch nie einen
solchen Stillstand gegeben, wie nach dem Empfang der
5 Milliarden. Die maassvollen Ansprüche Rnsslands müs-
sen allen unparteiisch denkenden Menschen den Beweis
liefern, dass der Krieg unsererseits nur um der grossen
Idee willen geführt worden ist.
Das Wetter ist ebenso düster, wie der politische Hori-
zont. Die Sonne haben wir schon lange nicht mehr gese-
hen. Viele Bäume, die schon Knospen getrieben hatten,
sind infolge des Nachtfrostes umgekommen. Heute war
ich garnicht im Stande zu arbeiten. Ich schämte mich ein-
wenig, die Abschrift meines Violinkonzertes zu beginnen,
angesichts einer uns drohenden ganz andern Musik, der
Musik der Granaten, Bomben, Kugeln und Torpedo's.
An Frau von Meck:
„Ciarens, d. 19 März 1878.
Um meinen ausländichen Ruhm brauchen Sie nicht
besorgt zu sein. Wenn es mir vorbehalten ist jemals diesen
Ruhm zu erringen, so wird er ganz von selbst kommen,
höchst wahrscheinlich aber erst dann, wenn ich nicht mehr
unter den Lebenden weilen werde. Wenn man bedenkt,
dass ich auf meinen zahlreichen ausländischen Reisen
niemals den Grössen Besuche gemacht, Ihnen niemals meine
Kompositionen geschickt habe und überhaupt niemals mei-
nem Bekanntwerden im Ausland entgegengekommen bin,
so muss man schon mit den geringen Erfolgen zufrieden
sein, deren sich meine Werke thatsächlich erfreuen. Wis-
sen Sie, dass alle meine Klavierkompositionen in Leipzig
nachgedruckt sind, desgleichen auch meine Lieder mit
übersetzten Texten. In allen grösseren Städten sind meine
hauptsächlichsten Werke (ausser den Opern) ohne Schwie-
rigkeit zu haben. Ich selbst habe in Wien das Arrange-
ment (vierhändig) meiner dritten Symphonie gekauft, auch
mein 3. Quartett. Ich habe sogar einige mir unbekannte
- 489 -
Transkriptionen vorgefunden, so. z. B. die Klavierbarca-
role (opus. 37 bis) für Violine und Klavier, das Andante
aus dem i. Quartett — für Flöte. Bei Brandus in Paris sind
alle meine Kompositionen vorrätig. — Dass meine sympho-
nischen Werke so selten im Ausland gespielt werden,
dafür giebt es viele Gründe. Erstens bin ich Russe und
flösse als solcher einem Abendländer ein gewisses Vorur-
teil ein. Zweitens liegt wiederum weil ich Russe bin in mei-
ner Musik für einen Westeuropäer etwas Fremdartiges und
Unbehagliches. Meine Ouvertüre zu „Romeo und Julia"
ist in allen Hauptstädten gepielt worden, hat aber nirgends
Erfolg gehabt. In Wien und Paris wurde sie ausgepfiffen.
Vor Kurzem erging es ihr in Dresden auch nicht besser.
In einigen andern Städten (London und Hamburg) hatte
sie mehr Glück, und doch bin ich in das ständige sym-
phonische Repertoir Deutschlands und der andern musi-
kalischen Länder nicht aufgenommen worden. In den musi-
kalischen Kreisen des Auslandes ist mein Dasein nicht
unbekannt. Einige Männer haben sogar ein regeres Inte-
resse für mich bekundet und sich bemüht, meinen Namen
auf den Konzertprogrammen heimisch zu machen. Sie
sind aber auf energischen Widerstand gestossen. So z. B.
Hans Richter, — der nämliche, der in Bayreuth dirigiert hatte.
Trotz lebhaften Protestes hat er im vorigen Jahr meine
Ouvertüre auf das Programm eines der von ihm geleite-
ten 8 philharmonischen Konzerte gesetzt. Ungeachtet des
Misserfolges wollte er heuer meine 3. Symphonie auffüh-
ren; nach einer Probe hat aber der Vorstand der phil-
harmonischen Gesellschaft die Symphonie ги riissh-ch ge-
funden und dieselbe einstimmig abgelehnt. Es unterliegt
keinem Zweifel, dass ich sehr zur Verbreitung meiner Kom-
positionen im Auslande beitragen könnte, wenn ich den
„Grössen" Besuche machen und ihnen meine Werke auf-
binden wollte. Doch will ich lieber allen Lebensfreuden
entsagen, als das thun. О Gott, wie viel Qualen muss man
erleiden, wie viel Beleidigungen seines Ehrgeizes muss
man hinnehmen, ehe man die Aufmerksamkeit dieser Her-
ren erobert! Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Gesetzt
den Fall, dass ich mir in Wien einen Namen machen möch-
te. In Wien ist Brahms der berühmteste Mann. Ich müs-
ste also diesem meinen Besuch machen. Brahms — ein Licht,
und ich — ein Unbekannter. Ich will Ihnen aber ohne falsche
Bescheidenheit sagen, dass ich mich viel höher schätze,
als Brahms. Was könnte ich ihm sagen? Wenn ich ein
— 490 —
ehrlicher und wahrheitsliebender Mann bin, so müsste ich
ihm sagen: „Herr Brahms, ich halte Sie für einen unbe-
gabten, pretentiösen und jeglicher schöpfenden Kraft ent-
behrenden Komponisten. Ich stelle Sie garnicht hoch und
schaue hochmütig auf Sie herab. Doch habe ich Sie nötig
und bin nur darum zu Ihnen gekommen". Bin ich aber ein
unehrlicher Mann, so werde ich ihm das Gegenteil sagen.
Ich kann weder das Eine noch das Andere.
Auf das Nähere brauche ich nicht einzugehen. Gerade
Sie, und nur Sie, — und vielleicht auch noch meine Brü-
der— sind im Stande, mich ganz zu verstehen. Meine Mos-
kauer Freunde können sich bis jetzt noch nicht mit der
Thatsache befreunden, dass ich die Delegation in Paris
abgelehnt habe. Sie können es nicht begreifen, dass sol-
che gewaltige Namen, wie Liszt (der Delegirte Ungarns),
Verdi, u. s. w. mich durch ihren ausserordentlichen Ruhm
erdrücken würden Meine liebe Freundin, ich geniesse
zwar den Ruf der Bescheidenheit, ich muss Ihnen aber ganz
im Geheimen beichten, dass meine Bescheidenheit nichts
anderes ist, als ein verkappter und sehr grosser Ehrgeiz.
Unter allen lebenden Musikern giebt es nicht einen Einzigen
vor dem ich gutwillig mein Haupt neigen würde. Die Na-
tur, die mich mit soviel Stolz ausgestattet hat, hat mir
gleichzeitig das Geschick versagt, meine Waare in's rechte
Licht zu setzen. Je ne sais pas me faire valoir. Ich ver-
stehe nicht meinem Ruhm aus eigener Initiative entgegen
zu gehen und ziehe es vor, abzuAvarten, bis er selbst zu
mir kommt. Ich habe mich schon längst mit dem Gedan-
ken vertraut gemacht, dass ich die Anerkennung meines
Talents seitens der Allgemeinheit nie erleben werde. Sie
sprechen von A. Rubinstein. Wie kann ich mich ihm
gleich stellen? Er ist doch gegenwärtig der grösste Pianist
der Welt. In ihm hat sich ein ausserordentlicher Virtuos
mit einem begabten Komponisten vereinigt, so dass der
Letztere vom Ersteren, so zu sagen, auf den Schultern
getragen wird. Ich werde bei Lebzeiten nicht den lo-ten
Teil dessen erreichen, was Rubinstein erreicht hat. In Be-
treff Rubinstein's möchte ich Ihnen noch Folgendes sagen.
In der Eigenschaft meines Lehrers kennt er meine musika-
lische Natur besser als irgend ein Anderer, so dass er mei-
nen Ruf im Auslande sehr fördern könnte. Zum Unglück
hat sich diese „Grösse" mir gegenüber stets sehr hochmü-
tig, ja verachtend verhalten. Kein Anderer hat meinem
Ehrgeiz schmerzlichere Wunden beigebracht, als er. Aeus-
— 491 —
serlich war er stets liebenswürdig und freundlich zu
mir. Durch diese Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit
liess er aber durchschimmern, dass ich ihm nicht einen
Groschen wert sei. Die einzige „Grösse", welche auf Bezug
auf mich von den besten Absichten erfüllt ist— ist Bülow. Lei-
der aber kann er nicht mehr viel thun, da er krankheits-
halber seine künstlerische Thätigkeit aufstecken musste.
Dank ihm kennt man mich in Amerika und England sehr
gut. Ich besitze eine ganze Menge Zeitungsartikel, welche
in diesen Ländern über mich geschrieben und mir von
Bülow zugesandt worden sind.
Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, meine
Teure. Wenn mir der Ruhm vergönnt sein wird, dann
wird er schon kommen, langsamen aber sicheren Schritts.
Die Geschichte beweist uns, dass ein solcher langsam heran-
nahende Ruhm sehr oft viel dauerhafter ist, als ein schnell
und leicht erklommener. Wie viele klangvolle Namen sind
schon in das Meer der Vergessenheit versunken! Es scheint
mir, dass der Künstler durch mangelhafte Anerkennung
seiner Zeitgenossen sich nicht beirren lassen sollte. Er
soll arbeiten und Alles sagen, was zu sagen ihm voraus-
bestimmt ist. Er soll wissen, dass ein richtiges und gerech-
tes Urteil nur die Geschichte fällen kann. Ich will Ihnen
noch mehr sagen. Vielleicht trage ich mein bescheidenes
Teil nur deshalb so gleichgiltig, weil ich an das gerechte
Urteil der Ziihcnft unerschütterlich glaube. Ich labe mich
schon jetzt bei Lebzeiten am Vorgeschmack jenes Ruhms,
welchen mir die Geschichte der russischen Kunst zuer-
kennen wird. Im gegenwärtigen Augenblick begnüge ich
mich aber damit, was bereits erreicht ist. Ich habe nicht
das Recht mich zu beklagen. Ich habe in meinem Leben
Menschen kennen gelernt, deren feurige Begeisterung für
meine Musik mich für die Gleichgiltigkeit, Verständniss-
losigkeit und Missgunst Anderer vollauf entschädigt.
An N. F. von Meck:
„Ciarens, d. 22. März 1878.
Mein Anfall politischen Fiebers beginnt sich zu legen.
Ich bin überhaupt sehr pessimistisch angelegt, und hatte
mir deshalb schon eingebildet, dass Russland sich am Vor-
abend eines Krieges und damit verbundenen Unzuträglich-
keiten befinde. Heute Avill es mir scheinen, dass einige
Hoffnung auf eine bessere Zukunft vorhanden sei. Jedenfalls
— 492 —
gedenke ich, noch vor Beginn der Feindsehgkeiten — wenn
sie unvermeidhch sein sollten, in Russland einzutreffen.
Den ersten Satz des Konzerts habe ich ganz fertig
gemacht, d. h. rein abgeschrieben und durchgespielt. Ich
bin mit ihm zufrieden. Das Andante hat mich nicht befrie-
digt und ich werde es entweder radikal \^erbessern oder
ein ganz neues schreiben. Das Finale ist, wenn ich nicht
irre, ebenso gut gelungen wie der erste Satz.
An Frau von Meck:
„Ciarens, d. 24. März 1878.
Mein Konzert werden Sie früher erhalten, als es
im Druck erscheint. Ich werde eine Abschrift desselben
machen lassen und sie Ihnen wahrscheinlich in Laufe des
nächsten Monats zusenden. Heute habe ich ein anderes
Andante geschrieben, welches den beiden sehr komplizier-
ten Ecksätzen besser entspricht. Das ursprüngliche An-
dante soll ein selbstständiges Violinstück bilden und zwei
andern beigefügt werden, die ich noch zu schreiben beab-
sichtige. Diese drei Stücke zusammen sollen ein Opus für
sich bilden und Ihnen bald zugestellt werden.
Das Konzert kann als beendet angesehen werden und
Morgen will ich mit Feuereifer an die Partitur gehen,
damit ich von hier abreisen kann, ohne diese Arbeit
mehr in Perspektive zu haben. Den Sommer will ich
ausschliesslich der Komposition kleinerer Stücke für Kla-
vier, Violine oder Gesang wddmen. Das wird zugleich
Erholung und Arbeit sein. Ich fürchte nur, dass ich in
Kamenka nicht die für die Arbeit nötige Bequemlichkeit
finden werde. Ich habe meine Schwester gebeten für mich
einen Raum herzurichten, wo ich ungestört arbeiten kann.
S. I. Tanejeff an P. I. Tschaikowsk\':
Den 18. März 1878.
Der erste Satz Ihrer Symphonie ist gegenüber den an-
dern Sätzen unverhältnissmässig lang; er kommt mir wie eine
s^-mphonische Dichtung vor, zu welcher die drei andern
Sätze wie zufällig beigefügt sind, um eine S\'mphonie heraus-
zumachen. Die Trompetenfanfaren der Introduktion, wel-
che auch an andern Stellen wiederkehren, der ofte Tem-
powechsel des Seitenthemas, alles das lässt mich glauben,
dass es sich hier um eine Programmmusik handelt. Uebri-
— 493 —
gens gefällt mir dieser Satz sehr gut. Nur der Rytmus
» ß * .
\ j -j erscheint etwas zu oft und wirkt ermüdend.
Das Andante ist allerliebst (der mittlere Teil gefällt mir
nicht besonders). Das Scherzo ist köstlich und klingt aus-
gezeichnet. Das Trio mag ich nicht: es hört sich wie ein
Balletttanz an.
Nikolai GregorjeW'itsch gefällt das Finale am besten^
лvomit ich aber durchaus nicht einverstanden bin. Die Varia-
tionen über die Volksmelodie scheinen mir wenig bedeu-
tend und uninteressant.
Einen Fehler hat die Symphonie, mit welchem ich mich
niemals befreunden werde, und dieser Fehler ist, dass in
jedem Satz solche Stellen vorkommen, welche wie Bal-
lettmusik klingen: der Mittelteil im Andante, das Trio im
Scherzo, eine Art Marsch im Finale. Beim Anhören der
Symphonie drängt sich meinem geistigen Auge unwillkür-
Hch die Gestalt unserer „prima ballerina" auf, verdirbt
mir die Stimmung und hindert mich am Genuss der zahlrei-
chen Schönheiten dieser Symphonie.
Das ist meine aufrichtige Meinung. Vielleicht ist sie
Ihnen in etwas scharfer Form ausgedrückt, doch seien Sie
mir nicht böse. Es ist nicht zu verwundern, dass mir die
Symphonie nicht ganz gefällt. Hätten Sie nicht gleichzei-
tig den „Onegin" hierher geschickt, dann würde mir die
Symphonie wahrscheinlich sehr gut gefallen haben. Sie sind
selbst der Schuldige: warum haben Sie eine solche Oper
komponiert, mit welcher nichts einen Vergleich aushalten
kann. Der „Onegin" hat mir soviel Genuss bereitet, dass ich
garnicht im Stande bin, auch nur das Geringste an ihm
auszusetzen. Eine herrliche Oper! Und Sie sagen, dass Sie
aufhören w^ollen zu schreiben? So schön haben Sie noch
nie geschrieben. Seien Sie froh, dass Sie eine derartige
Vollkommenheit erreicht haben und nutzen Sie sie aus.
P. I. Tschaikowsky an S. I. Tanejeff:
„Ciarens, d. 27. März 1878.
Lieber Serge, Ihren Brief habe ich mit dem grössten
Interesse und Vergnügen durchgelesen. Als Antwort müs-
ste ich Ihnen jetzt eigentlich eine ausführliche Kritik Ihrer
Partitur schicken. Doch will ich das um einige Tage auf-
schieben. Ich hatte sie vor 14 Tagen erhalten, gerade zu
der Zeit, als ich ein Violinkonzert zu komponieren begann,
— 494 —
welches ich möglichst bald beenden möchte, damit es noch
vor meiner Abreise fertig лvird. Ihre S3'mphonie habe ich
schon mehrere Male durchgespielt, wage es aber noch
nicht, ein abschliessendes Urteil über sie zu fällen. Sobald
ich die Sorge um das Konzert los bin, werde ich mich ihr
ganz hingeben und Ihnen dann eine umfassende Meinung
mitteilen.
Ihre Befürchtung, dass sie in der Besprechung meiner
4-ten S34'nphonie sich mitunter recht scharf ausdrücken,
ist grundlos. Sie teilen mir nur Ihre aufrichtige Meinung
mit, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Ich brauche
ja gerade Meinungen und nicht Dithiramben. Nichtsdesto-
weniger hat mich Vieles in Ihrem Brief merkwürdig be-
rührt. Ich weiss absolut nicht, was Sie unter „Ballettmusik"
verstehen und warum Sie sich mit ihr nicht befreunden
können. Verstehen Sie unter „Ballettmusik" eine jede lus-
tige und tanzartig rytmisierte Melodie? In diesem Fall
dürften Sie sich aber mit den meisten Symphonieen Beet-
hoven's ebenfalls nicht befreunden, denn da treffen Sie
derartige Melodieen auf Schritt und Tritt. Oder wollen Sie
sag^n, dass das Trio in meinem Scherzo im Style Minkus,
Gerber's oder Pugni's gehalten sei? Das verdient es aber
doch nicht, wie mir scheint. Ueberhaupt kann ich es nicht
begreifen, weshalb in dem Ausdruck „Ballettmusik" durch-
aus etwas Tadelndes liegen soll?! Die Musik eines Bal-
letts ist doch nicht immer schlecht, es giebt auch gute (z.
B. „Sylvia" von Delibes). Wenn es aber eine gute ist, dann
dürfte es wohl gleichgiltig sein, ob unsere „prima balle-
rina" darnach tanzt oder nicht. Es bleibt mir nichts Ande-
res übrig, als vorauszusetzen, dass die Ihnen nicht ge-
fallenden Stellen meiner Symphonie Ihnen nur deshalb nicht
gefallen, weil sie ballettähnlich und nicht weil sie schlecht
sind. Sie mögen Recht haben. Es ist mir dennoch unklar,
weshalb in einer Symphonie nicht episodisch auftretende
Tanzmelodieen vorkommen dürfen, selbst wenn ihnen mit
Absicht ein kleiner Zug gemeinen groben Humors beige-
mengt ist. Ich berufe mich wieder auf Beethoven, welcher
diesen Effekt sehr oft gebraucht hat. Des weiteren, füge ich
hinzu, dass ich mir erfolglos den Kopf darüber zerbreche,
an welcher Stelle des Allegrosatzes Sie „Ballettmusik"
gefunden haben können. Das ist für mich ein Rätsel.
Was Ihre Bemerkung anbelangt, dass meine Symphonie
nach Programmmusik klingt, so stimme ich dem voll-
kommen bei. Ich sehe nur nicht ein, warum das ein
— 495 —
Fehler sein soll. Ich fürchte mich vor dem Gegenteil,
d. h. ich wünschte nicht, dass unter meiner Feder jemals
symphonische Werke entstehen, welche Nichts ausdrücken
und blos Akkorden, — Rytmen-und Modulationenspiel be-
deuten. Gewiss ist meine Symphonie Programmmusik,
nur ist es ganz unmöglich, ihr Programm in Worte zu
fassen; es würde komisch wirken und gewiss ausgelacht
werden. Sollte aber eine Symphonie, die lyrischste aller
musikalischen Formen, gerade so sein? Sollte sie nicht
alles das ausdrücken, wofür es keine Worte giebt, was
aber aus der Seele herausdrängt und ausgesprochen
werden will? Uebrigens muss ich Ihnen bekennen, dass
ich in meiner Einfalt geglaubt hatte, der Gedanke dieser
S\miphonie sei so verständlich, dass sein Sinn in allge-
meinen Umrissen auch ohne Programm Jedem zugänglich
sein würde. Glauben Sie nur garnicht, dass ich mich jetzt
vor Ihnen mit tiefen Gefühlen und erhabenen Gedan-
ken prahlen will. Ich hatte durchaus nicht das Bestreben,
eine neue Idee auszusprechen. Im Grunde ist meine
S34Tiphonie eine Nachahmung der 5-ten Symphonie Beet-
hoven's, d. h. ich ahmte nicht ihren musikahschen Inhalt
nach, sondern die Grundidee. Wie denken Sie, giebt es
ein Programm für die 5. Symphonie? Es giebt nicht blos
ein Programm, es kann sogar nicht die geringste Mei-
nungsverschiedenheit darüber herrschen, was sie ausdrücken
will. Ungefähr dasselbe liegt auch meiner Symphonie zu
Grunde, und wenn Sie mich nicht verstanden haben, so
folgt daraus, dass ich kein Beethoven bin, woran ich
niemals gezweifelt habe. Ich will noch hinzufügen, dass
es in dieser Symphonie, d. h. in der meinigen, nicht
einen einzigen Takt giebt, den ich nicht durchfühlt hätte
und der nicht ein Wiederhall meines innersten Seelenle-
bens wäre. Eine Ausnahme bildet vielleicht nur die Mitte
des ersten Satzes, in welcher es einige Gewaltmässigkeiten,
zusammengeflickte Stellen, kurz-eine Mache giebt. Ich weiss,
dass Sie beim Lesen dieser Zeilen lachen werden. Sie
sind ja ein Skeptiker und Spottvogel. Sie scheinen trotz
Ihrer ganzen Liebe für Musik nicht daran zu glauben,
dass man aus innerstem Drang heraus komponieren kann.
Aber warten Sie nur, auch Sie werden an die Reihe
kommen! Auch Sie werden einst, vielleicht schon sehr
bald, nicht auf Verlangen Anderer schreiben, sondern aus
eigenem Trieb. Dann erst werden auf den üppigen Boden
Ihres Talents Samen fallen, welche herrliche Früchte tra-
— 49б —
gen werden. Einstweilen jedoch harrt Ihr Boden auf die
Saat. Uebrigens will ich Ihnen darüber im nächsten Brief
schreiben. In Ihrer Partitur habe ich köstliche Einzelheiten
gefunden, es fehlt nur.... doch л\ч11 ich nicht voreilig sein.
In meinem nächsten Brief will ich nur von Ihnen reden.
Es war mir sehr interessant, Etwas über „Francesca"
zu erfahren. Das hat Cui aber nicht selbst erdacht, dass
das erste Thema einem russischen Lied ähnlich klingt. Ich
habe es ihm im vorigen Jahr gesagt. Hätte ich es nicht
gesagt, wäirde er wahrscheinlich garnichts bemerken. Der
Wink, dass ich unter dem Eindruck der „Nibelungen"
gearbeitet habe, ist sehr richtig, ich habe das selbst ge-
fühlt. Wenn ich nicht irre, ist es ganz besonders in der
Introduction wahr zu nehmen. Ist das nicht merkwürdig,
dass ich mich des Einflusses eines mir sehr unsympati-
schen Kunstwerks nicht erwehren konnte?
Vieles hat sich A'erändert, seit ich Ihnen schrieb, dass
ich keine Hoffnung mehr habe, mich mit der Komposition
zu beschäftigen. Doch ist der Autorenteufel ganz uner-
warteter Weise wieder in mich gefahren. Bitte ersehen Sie
aus der Verteidigung meiner S3'mphonie nicht die geringste
Unzufriedenheit; gewiss wünsche ich stets, dass Ihnen alles,
was ich schreibe, gefalle, es freut mich aber auch schon
das Interesse, welches Sie mir entgegenbringen. Sieglauben
garnicht, wie froh ich bin, dass Ihnen der „Onegin" gefällt.
Ich schätze Ihre Meinung sehr hoch, und je aufrichtiger
Sie mir dieselbe mitteilen, je mehr gewinnt sie an Wert.
Ich danke Ihnen also von ganzem Herzen und bitte fürchten
Sie nicht die Schärfen. Ich erwarte von Ihnen gerade die
scharf ausgedrückte Wahrheit, ob sie günstig oder ungün-
stig lautet — ist Nebensache".
An Frau von Meck:
I. April 1878.
Als ich neulich meinen letzten Brief an Sie schrieb,
meine teure Nadeshda Filaretowna, wurde die Thür meines
Zimmers plötzhch aufgerissen, und mit einem lauten „Ist
Peter Iljitsch zu Hause?" erschien vor mir unser geschätz-
ter Landsmann, der General a. D. ^'"■•, den ich schon von
Moskau her ein wenig kannte. Ich habe mich von Gästen
so entwöhnt und bin mit diesem Herrn so selten zusam-
men gewesen, dass mich sein Kommen sehr überraschte,
und ich ihn anfangs garnicht erkannte. Seine Excellenz
— 497 —
hat vor Allem seiner Freude darüber Ausdruck gegeben,
mich gesund zu finden. Seine Worte klangen aber so, als
wenn er, während er sie sprach, eine kleine Enttäuschung
verbergen wollte. Er hatte mich wahrscheinlich auch für
verrückt gehalten. Vielleicht wollte er bei mir Material
sammeln für eine Erzählung von seinem Wiedersehen mit
einem geistesgestörten Landsmann in der Fremde, doch
dieser Landsmann erwies sich leider als ein ganz gesunder
Mensch! Der General nahm Platz, und seinen Lippen ent-
sprang ein Schwall von Werten, deren ein jedes dumm,
unkonsequent und empörend platt war. Er war direkt
aus Moskau hierher gekommen und fühlte sich unbe-
schreiblich glücklich, so weit von dem verfluchten Loch
zu sein. Er wünschte möglichst weit von Russland zu
leben und zu sterben. Unsere Politik hat er in Grund
und Boden kritisiert. Die Engländer sind nach seiner Mei-
nung im Recht. Unsere Handlungsweise gegenüber Europa
sei unehrlich. Haben wir nicht um die Slaven gestritten?
folglich sei es gemein, Kars und Batum zu annektieren
und eine Kontribution zu verlangen. Das alles sei Gau-
nerei und eine Affaire verschiedener Lieferanten, Intendan-
ten u. s. w. u. s. w. Ich schwieg und bemühte mich durch
unzufriedenen Gesichtsausdruck dem General zu verste-
hen zu geben, dass ich froh sein werde, sobald er seinen
Hut und seine Handschuhe ergreift. Glauben Sie er hat
sich verblüffen lassen? — Nicht im geringsten. „Nein, mein
Lieberchen, ich werde Sie nicht eher verlassen, bis Sie
mir etwas Neues von Ihnen vorspielen," sagte er. Um sein
Gehen zu beschleunigen, spielte ich denn eine Kleinigkeit.
Aber auch dann wollte er nicht gehen. Endlich sagte ich
ihm, dass ich einen notwendigen Brief beenden müsste,
und zog mich ins andere Zimmer zurück. Er gestattete
mir den Brief zu beenden und blieb doch. Erst in der Däm-
merung erlöste er mich von seiner Gegenwart, nachdem
ich aufgehört hatte, seine Fragen zu beantworten. Beim
Abschied bat er mich, ihn und seine Frau zu besuchen
und sagte dies in der offenbaren Zuversicht, dass mir seine
Einladung sehr schmeichelhaft wäre. Warum ist er bei
mir gewesen? In Moskau hatte er mich те besucht. Was
wollte er von mir? Das ist mir unerklärlich. Jetzt will ich
Ihnen erzählen, wie ich mit ihm bekannt geworden bin.
Dieser General beschäftigte sich seiner Zeit mit Geldver-
leihen, um sehr hohe Prozente natürlich. Durch Vermitte-
lung eines gemeinsamen Bekannten hatte ich einst eine
Tschaikowaky, M. P. I. Tschaikowsky's Leben. 32
- 498 -
kleine Summe bei ihm geliehen. Unsere gegenseitigen Be-
ziehungen wurden durch diese Geldangelegenheit bis auf
den Grund erschöpft. Nichtsdestoweniger hat mir Excel-
lenz hier in der Fremde seinen Besuch gemacht, und
zwar mit einer Miene, als wenn Einer ohne den Andern
garnicht leben könnte.
Sein Besuch hat mich in eine fürchterliche Wut gebracht.
Er war der Vorgeschmack aller jener unv^ermeidlichen
Begegnungen und Berührungen mit der menschlichen Ge-
meinheit, welche mir in Russland bevorstehen, und vor
denen es keine Rettung giebt, ausser — die Flucht. So lange
er bei mir sass und seinen Unsinn schwatzte gab ich mir
in meinem Innern das Wort, zukünftig in solchen Fällen grob
und frech zu sein und unumwunden zu erklären, dass ich in
Ruhe gelassen zu werden wünsche. Hierbei habe ich nach
Gebühr schätzen gelernt, wie wohlthätig für mich der
halbjährige Aufenthalt fern von allerlei Behannten und
in vollkommener Sicherheit vor ihrer frechen Aufdringlich-
keit gewesen war. Wahrscheinlich werde ich erst später
den ganzen Wert einer solchen Freiheit, wie ich sie hier
genossen, begreifen lernen. Doch genug vom General.
Es ist noch früher Morgen. Ich habe heute schlecht
geschlafen und mich nach einem missglückten Versuch,
ordentlich auszuschlafen, ans Fenster gesetzt um Ihnen
zu schreiben. Welch' herrhcher Morgen! Der Himmel
ist ganz klar. Um die Berggipfel am jenseitigen Ufer
schweben nur ganz leichte ungefährliche Wölkchen. Aus
dem Garten ertönt das Gezwitscher einer Unmenge von
Vögeln. Der Dent-du-Midi ist frei und im Glänze der
Sonnenstrahlen, welche über seine Schneegipfel gleiten,
gar herrlich anzuschauen. Der See ist spiegelglatt. Welche
Prachtl Ist es nicht ärgerlich, dass erst jetzt — so kurz vor
meiner Abreise — das Wetter schön zu werden verspricht?
Wegen Mozart möchte ich Ihnen noch Folgendes
hinzufügen. Sie sagen, dass dieser mein Kultus im Wider-
spruch zu meiner musikalischen Natur stehe. Vielleicht
habe ich Mozart gerade darum so lieb, weil ich als Kind
meiner Zeit gebrochen und moralisch krank bin und in
Mozart's Musik, in w^elcher die Lebensfreudigkeit einer
ganzen, gesunden, noch nicht von Reßex zerfressenen
Natur zum Ausdruck kommt, Beruhigung und Trost suche.
Es scheint mir überhaupt, dass in der Seele des Künstlers
die schöpferische Kraft ganz unabhängig von seinen S^mi-
patieen oder Antipatieen ist; man kann z. B. Beethoven
— 499 —
verehren, und doch mehr nach Mendelssohn hinneigen.
Giebt es einen grösseren Widerspruch, als den zwischen
dem Komponisten BerHoz, dem Verfechter des musika-
hschen Ultraromantismus, — und dem Kritiker BerHoz, des-
sen Abgott Gluck ist? Vielleicht äussert sich hierin die gegen-
seitige Anziehungskraft der Gegensätze, infolge deren
z. B. ein grosser und starker Mann sich gewöhnlich in
eine kleine und schwache Dame verliebt und umgekehrt?
Wissen Sie, dass Chopin Beethoven nicht gern gehabt hat
und einige seiner Kompositionen nicht ohne Widerwillen
anhören konnte? Das erzählte mir ein Herr, der ihn per-
sönlich gekannt hat. Ich will damit sagen, dass die Abwe-
senheit der geistigen Verwandschaft zwischen zwei Künst-
lerindividualitäten eine gegenseitige Sympatie nicht aus-
schliesst".
An Frau von Meck:
„Ciarens, d. 4. April 1878.
.....Indem ich mich an die hier verbrachten sechs
Wochen erinnere, muss ich mir sagen, dass sie, trotz des
schlechten Wetters, dennoch schön gewesen sind. Eine
für meine misantropische Natur geeignetere Umgebung
kann ich mir garnicht denken. Es thut mir zwar sehr leid,
dass meine Wirtin so unglücklich ist, nur selten Miether
zu haben, aber für mich ist das eine sehr angenehme That-
sache. Ich hatte also genügenden Grund, mir einzubilden,
dass ich in einer eigenen Villa wohne. Ausser uns wohnte
hier nur noch eine kranke Dame, welche ihr Zimmer nie-
mals verliess, und ein kranker Herr, der ebenfalls immer
in seinem Zimmer eingeschlossen sass. Ferner, die herrli-
che Gegend, die prachtvolle Terasse am Ufer des Seees,
die Abwesenheit naher Nachbarn, — das alles war sehr
angenehm. Endlich, die Gesellschaft meines Bruders und
seines Zöglings, die Stille ringsum, die Möglichkeit un-
gestört zu arbeiten, — war mir sehr viel wert!"
An Frau von Meck:
„Wien, d. 8. April 1878.
Ich hatte einen Spaziergang nach Ouchy unternom-
men; kurz vor meinem Ziel erblickte ich einen Zug der
Drahtseilbahn, der nach Lausanne ging und im Begriff
war, an einer kleinen Station Halt zu machen. Ich musste
— 500 —
mich beeilen, eine ziemlich steile Treppe hinunter zu laufen.
Dabei stolperte ich, fiel und rollte in vollkommen be-
wusstlosem Zustand die ganze Treppe hinunter. Einige
Sekunden konnte ich nicht zu mir kommen. Dann fühlte
ich einen sehr intensiven Schmerz in mehreren Körper-
theilen; namentlich hatte die rechte Hand gelitten, Vielehe
auch in der Gegend des Gelenks sehr geschwollen war.
Einem unglaublich glücklichen Zufall habe ich es zu ver-
danken, dass ich nicht ernstlicher beschädigt worden bin.
In diesem Augenblick spüre ich nur einen recht starken
Schmerz bei jeder Bewegung der rechten Hand, so dass
mir das Schreiben sehr schwer fällt. Darin hegt aber
nichts Gefährliches. An dem darauf folgenden Morgen
haben wir Lausanne verlassen. Wir mussten in Zürich
übernachten und sind dann noch 24 Stunden bis Wien
gefahren. Heute erholen wir uns hier und wollen Morgen
früh weiter reisen. Meinen nächsten Brief bekommen Sie
aus Russland.
Ich war sehr erstaunt, dass die Jahreszeit in Wien
viel weiter vorgeschritten war, als in Ciarens. Während
dort die Bäume kaum zu grünen begannen, sieht es hier
schon ganz sommerlich aus. Heute ist es in Wien ganz
besonders sonnig und fröhhch, so dass es gewiss einen
schönen Eindruck auf mich machen würde, wenn ich die
Morgenzeitungen nicht gelesen hätte, welche voll der
giftigsten, boshaftesten und gemeinsten Verleumdungen
Russlands waren. Die „Neue Freie Presse" bemüht sich,
ihren Lesern zu beweisen, dass die That des Mädchens,
welche auf Trepoff geschossen, in Russland eine ganze
Revolution hervorgerufen habe, dass der Kaiser in Gefahr
sei und aus Russland fliehen müsse u. s. w. u. s. w.
Indem ich nun die fremden Lande verlasse und im
Begriff stehe, als vollkommen gesunder und normaler
Mensch, welcher sich seiner Kräfte und Energie bewusst
ist, nach Russland zurückzukehren, drängt es mich, Ih-
nen, meine theuerste Freundin, noch einmal für Alles zu
danken. Ich werde es nie vergessen!"
— 50I
VII.
An N. F. von Meck:
„Kamenka, d. 12. April.
Endlich sind wir Gestern hier angekommen. Die
Reise war sehr lang und ermüdend. Meine Erwartungen
sind getäuscht worden. Ich hatte immer geglaubt, dass
die Rückkehr in die Heimath süsse, wohlige Empfindun-
gen in mir wachrufen würde. Nichts derartiges! Im Ge-
genteil: ein grober betrunkener Gensdarm, der uns lange
nicht durchlassen wollte, weil er nicht begreifen konnte,
dass die Anzahl der ihm von mir eingehändigten Pässe
der Zahl der in ihnen angeführten Personen vollkommen
entsprach; ein Zollbeamter, welcher unsere Koffer durch-
wühlt und ein auf Veranlassung meiner Schwester für
70 Eres, gekauftes Kleid — mit 14 Goldrubel verzollt hat;
ein Gensdarmerie-Offizier, welcher mich sehr misstrauisch
betrachtete und mich einem scharfen Verhör unterwarf,
ehe er mir meinen Pass zurückgab; die schmutzigen Wa-
gen; ein Gespräch mit einem sehr aufdringlichen Herrn,
welcher mir versicherte, dass die Politik Englands die
Humanität selber sei; die vielen schmutzigen Juden mit
dem sie überall begleitenden widerlichen Geruch; eine
Masse j'unger Rekruten, welche mit unserem Zuge trans-
portiert wurden und die Abschiedsszenen, die sich zwi-
schen ihnen und ihren Müttern und Frauen fast auf jeder
Station abspielten, — Alles das vergiftete mir die Freude,
das heimatliche und innig geliebte Land wiederzusehn.
Bei Station Schmerinka hatten wir einige Stunden Aufent-
halt; leider war es aber Nacht, so dass ich Brailow ^) nicht
sehen konnte, obwohl ich wusste, in welcher Richtung
es lag. Den ganzen gestrigen Tag war ich in Erwartung
der Ankunft in Kamenka sehr aufgeregt. Wir wurden von
meiner Schwester und der ganzen Verwandtschaft em-
pfangen. Es haben mir Alle so viel Liebe und Theilnahme
bewiesen, dass ich mich sehr bald beruhigte und mich in
angenehmer, sympatischer Gesellschaft fühlte. Da die
Wohnung meiner Schwester ziemlich überfüllt ist, hat
sie mir in einem besonderen Häuschen einige sehr nette
1) Die Besitzung Frau von Meck's.
— 502 —
und ruhige Zimmer hergerichtet. Auch ein Gärtchen, dicht
mit Blumen bepflanzt, welche bald ihren herrlichen Duft
ausströmen werden, wird zu meiner Verfügung stehn.
Mein Heim ist sehr bequem und komfortabel eingerichtet.
Sogar ein Klavier ist beschaffen worden und steht in dem
kleinen Zimmer neben der Schlafstube. Ich werde unge-
stört arbeiten können.
Ihr Brief hat mich hier erwartet und ist mit grossem
Interesse durchgelesen worden. Es freut mich sehr, liebe
Nadeshda Filaretowna, dass Sie die empörenden Vorgänge
in Petersburg und Moskau so richtig und gerecht beur-
teilen. Ich habe es übrigens auch nicht anders erwartet,
obAvohl ich fürchtete, dass Sie aus Mitleid mit der Person
Sassulitsch, einer allerdings ungewöhnlichen und unbe-
dingt Sympatie einflössenden Erscheinung, Ihre Ansicht
etwas mildern würden. Das ist eben ein ander Ding — die
persönliche Sympatie und der Hass gegen die freche und
hartherzige Willkür des Petersburger Präfekten, und wie-
derum ein ander Ding — jene antipatriotischen Kundge-
bungen, welche ihre Freisprechung begleiteten, sowie
die Rauferei in Moskau. In diesem Augenblick scheint
es mir, dass diese beiden Thatsachen im höchsten Grade
empörend sind und ich freue mich, dass das einfache
russiche Volk es verstanden hat, den verrückten Führern
unserer Jugend zu zeigen, wie sehr ihr Betragen gegen
den gesunden Menschenverstand und gegen den Volks-
geist gerichtet ist. Es war mir sehr angenehm, mich von
neuem zu vergewissern, dass trotz kleiner Meinungsver-
schiedenheiten, wir Beide im Grossen und Ganzen diesel-
ben Gedanken haben".
An Frau von Meck:
„Kamenka, 23. April 1878.
Heute ist ein herrlicher Tag. Seit der Abreise aus
Florenz bin ich so sehr vom schlechten Wetter verfolgt
worden, dass ich mich nicht genug freuen kann über den
endlich beginnenden Frühling. Bis jetzt habe ich ihn im-
mer nur erwartet. Bis zum Walde habe ich es ziemlich
weit; der Garten ist zwar gross, aber nicht sehr malerisch.
Die Luft ist durch die Nähe einer Fabrik etwas verdor-
ben. Der alleinige Reiz des hiesigen Lebens liegt in dem
hohen moralischen Wert meiner hier wohnenden Ver-
wandten, d. h. in der Familie Davidoff.
— 503 —
Meine Gesundheit ist gut. Die Arbeit macht gute Fort-
schritte. Die Klaviersonate nähert sich ihrem Ende. Nach-
her will ich kleinere Stücke und Lieder schreiben.
Meine Schwester hat Heute Namenstag; es sind viele
Gäste geladen und ich w^erde wahrscheinlich abends Tänze
aufspielen müssen: um meiner lieben Nichten willen.
Das hat auch sein Gutes, denn es erlöst mich von
der Notwendigkeit, mich mit den Gästen zu unterhalten".
An A. Tschaikowsky:
„Kamenka, den 27. April 1878.
Mein hiesiges Leben hat schon ganz bestimmte For-
men angenommen. Früh morgens nach dem Thee unter-
nehme ich einen kleinen Spaziergang. Dann arbeite ich
bis zum Mittag. Die Arbeit geht gut von statten. Seit Du
von hier abgereist bist, habe ich schon drei Sätze der
Sonate, einen Walzer und noch ein kleines Stück kompo-
niert. Ich befand mich schon lange nicht mehr in einer,
die Arbeit so fördernden Umgebung. Ich bin vollkommen
ungestört. Nachmittags schreibe ich Briefe, besorge die
mir von Jurgenson zugeschickten Korrekturen und spaziere
darauf allein. Den Abend verbringe ich im grossen Hause
und spiele ziemlich viel.
Von Nadeshda Filaretowna ist ein Brief angekommen,
in welchem sie mir den Vorschlag macht, im Mai einige
Tage auf ihrem Gut Brailow in völliger Einsamkeit zu-
zubringen. Selbstverständlich wird sie selbst nicht da sein.
Sie will erst im Juni dahin kommen. Ich habe grosse
Lust, ihr Anerbieten anzunehmen. An meinem Geburtstag
erhielt ich zwei Telegramme: eines von Dir, das andere
von den Professoren des Moskauer Konservatoriums. Ich
nehme an, dass Du an diesem Tage bei ihnen gewiesen
bist und sie an mich erinnert hast. Anders kann ich mir
diese aussergewöhnliche Aufmerksamkeit nicht erklären.
Mein Allgemeinbefinden ist ausgezeichnet, körperlich
sowohl, als auch geistig. Es ist ein grosses Glück, sich
seiner Lieblingsbeschäftigung so hingeben zu können, wie
ich es augenblicklich thue. Mein Kopf ist stets von al-
lerlei musikalischen Gedanken erfüllt, so dass ich gar keine
Zeit habe, um meine Zukunft besorgt zu sein".
— 504 —
An Frau N. F. von Meck:
„Kamenka, den 30. April 1878.
Die Tage vergehn sehr einförmig. Diese Lebens-
weise übt aber eine sehr wohlthuende und beruhigende
Wirkung auf mich aus. Ich arbeite recht viel. Die Sonate
ist schon fertig. Desgleichen auch 12 Stücke mittlerer
SchM^ierigkeit für Klavier allein, — selbstverständlich ist
das Alles nur skizziert. Morgen will ich eine Sammlung
von Miniaturstücken für Kinder beginnen. Ich denke schon
längst daran, dass es nicht übel wäre, der Bereicherung
der musikalischen Kinderliteratur, welche gar zu dürftig
ist, nach Kräften zu fördern. Ich will eine ganze Reihe ab-
solut leichter Stücke machen und sie — ä la Schumann mit
für Kinder möglichst interessanten Titeln versehn. Für
später habe ich Lieder und Violinstücke vorgemerkt, und
dann möchte ich — sofern die günstige Stimmung noch
vorhalten sollte, etwas für die Kirchenmusik thun. In die-
ser Beziehung steht den Komponisten noch ein weites
und fast unberührtes Gebiet offen. Bei Bortnjansky und
Beresowsky lasse ich allerdings einige Vorzüge gelten,
aber es ist doch erstaunlich, wie wenig ihre Musik mit
dem byzantinischen Styl der Architektur, der Gottesbilder
und mit der ganzen Form des ortodoxen Gottesdienstes
harmoniert! Wissen Sie vielleicht, dass die musikahsche
Kirchenkomposition durch die Kaiserliche Kapelle voll-
ständig monopolisiert und dass es verboten ist, solche
Kirchengesänge zu drucken und in Kirchen zu singen,
welche sich nicht in den veröffentlichten Sammlungen der
Kapelle befindet, ferner dass diese Kapelle ihr Monopol
eifersüchtig wahrt und unter keinen Umständen neue Ver-
suche, die heiügen Texte in Musik zu setzen, dulden
will? Mein Verleger Jurgenson hat ein Mittel gefunden,
jenes merkwürdige Verbot zu umgehen, und will — falls
ich etwas für die Kirche schreiben sollte — ^ meine Musik
im Ausland herausgeben. Es ist sehr leicht möglich, dass
ich mich entschliessen werde, die ganze Liturgie des Joann
Slatoust in Musik zu setzen. Alles das will ich bis zum
Juli in Ordnung bringen. Den ganzen Monat JuH will ich
mich vollständig der Erholung hingeben, um im August
Avieder ein grösseres Werk in Angriff zu nehmen. Ich
möchte gern eine Oper schreiben. In der Bibliotek mei-
ner Schwester fand ich die „Undine" von Schukowsky, für
welche ich in meiner Kindheit sehr geschwärmt hatte.
— 505 —
Ich muss Ihnen sagen, dass ich schon im Jahre 1869 aus
diesem Märchen eine Oper gemaclit und dieselbe der Thea-
terdirektion vorgelegt hatte. Sie ist aber abgelehnt wor-
den. Das schien mir damals sehr ungerecht, später jedoch
wandte ich mich selbst von meiner Oper ab und war froh,
dass es ihr nicht vergönnt gewesen, über die Bretter zu
gehn. Vor etwa 3 Jahren habe ich die ganze Partitur ver-
brannt. Und jetzt habe ich wieder Lust zu diesem Text".
An Frau N. F. von Meck:
„Kiew, 14. Mai 1878.
Mein heutiges Telegramm aus Kiew hat Sie wohl
sehr erstaunt, meine liebe Freundin? Ich bin Gestern ganz
unerwartet hierher gekommen. Meine Schwester musste
früher als sie glaubte nach Kiew reisen und hat mich
und auch Modest überredet, sie zu begleiten, denn erstens
wollte sie sich nicht von Modest trennen, da er uns schon
nach wenigen Tagen verlassen muss, und zweitens war
ihr unsere Begleitung sehr nützlich, weil sie mit fünf Kin-
dern die Reise angetreten hatte. Ihren Brief mit der aus-
führhchen Beschreibung des Weges nach Brailow habe
ich in Kamenka nicht abgewartet. Jedenfalls werde ich
am Dienstag um 9 Uhr Abends abreisen und Mittwoch
früh um 7 in Schmerinka eintreffen".
•f|\>
IX.
An M. Tschaikowsk}?^:
„Brailow, den 17. Mai 1878.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, beschäftigte
ich mich im Eisenbahnwagen, selbstverständlich, mit dem
Vergiessen zahlloser Thränen. Es tauchte in mir die Erin-
nerung an unsere Begegnung in Mailand auf. Wie schön
war es damals! Die Reise von da nach Genua und wei-
ter— war doch herrlich!.... Hier Ströme von Thränen.
Das Alles schien mir nur deshalb so schön, weil es gewe-
— 5o6 —
seil ist und nie wiederkehren kann. Seither ist fast ein
halbes Jahr verflossen!
Hier wieder Thränen u. s. w. u. s. w, bis ich end-
Hch einschlief. Ich erwachte erst in der Nähe von Schme-
rinka und erblickte einen unweit der Eisenbahnlinie ar-
beitenden Dampfpflug. Einer der Mitreisenden, welcher
die Gegend zu kennen vorgab, erzählte, dass Brailow dem
Bankier Meck gehöre, drei Millionen gekostet habe und
dem Besitzer 700,000 Rubel jährlich einbringe und ähnli-
ches dummes Zeug. Ich war sehr aufgeregt. Im Warte-
saal wurde ich von demselben Kellner freundschaftlichst
begrüsst, welcher uns damals, weisst Du noch — das Abend-
essen servierte; ich schickte ihn nachzusehn, ob Pferde
aus Brailow da wären. Nach 2 Minuten erschien Marcel,
луекЬег übrigens gar kein Franzose ist. Er war mir ge-
genüber von einer ausserordentlichen Liebenswürdigkeit
und Zuvorkommenheit und besass einen viel schöneren
Paletot und Hut als wie ich, so dass ich mich ordentlich
schämte, in der prachtvollen Equipage zu sitzen, während
er auf dem Bock neben dem Kutscher seinen Platz hatte.
Die Fahrt nach Brailow dauerte etwa eine Stunde. Das
herrschaftliche Haus ist im wahren Sinne des Wortes ein
Schloss. Mein Zimmer ist mit allem Komfort ausgestattet.
Nachdem ich mich gewaschen hatte, begab ich mich, der
Einladung Marcels folgend, ins Speisezimmer, wo ein gros-
ser silberner Samowar auf dem Tisch, eine Kaffekanne
über einem Spiritusflämmchen, Porzellangeschirr, Eier,
Butter, u. s. w. meiner harrten. Der Kaffee und der Thee
schmeckten ideal. Ich habe sofort bemerkt, dass Marcel
instruirt ist: er lässt sich in keine Unterhaltungen ein,
steckt nicht hinter dem Stuhl, sondern serviert das Nötige
und entfernt sich sofort. Er fragte, wie ich den Tag ein-
zutheilen wünsche? Ich befahl um eins das Mittagessen
und um neun Thee mit kaltem Abendbrot. Nach dem
Kaffee besichtigte ich das Haus, welches aus einer ganzen
Reihe prachtvoll möblierter Wohnungen besteht. Ein sehr
grosses, steinernes Seitengebäude, w^elches eigens für Gäste
bestimmt, ist nach Art eines Hotels eingerichtet: ein langer
Korridor und zu beiden Seiten Zimmer, welche stets so
gehalten werden, als wenn sie bewohnt wären. Die erste
Etage, in welcher ich wohne, ist mit dem raffiniertesten
Komfort ausgestattet. In meinem Zimmer sind alle nur
denkbaren Toiletteartikel vertreten: allerlei Bürsten und
Bürstchen, Kämme, Seifen, Pulver u. s. w., alles ganz neu.
— 507 —
Auf zwei Tischen liegen Papier, Federn und andere Schreib-
utensilien. In verschiedenen Zimmern stehn Schränke mit
Büchern, unter denen viele interessante illustrierte Ausga-
ben. Im Musiksaal: ein Flügel, ein sehr schönes Harmo-
nium und eine Masse Noten. Im Gemach N. F.'s hängen
einige Bilder, unter denen sich auch „Johannes der Täufer"
befindet, der mir aber nicht gefallen hat. Um ein: ging ich
wieder in's Speisezimmer und ass Mittag. Es war sehr
fein, obwohl etwas leicht zubereitet. Der Wein war aus-
gezeichnet. Nachmittag durchwühlte ich die Noten und
machte dann einen Spaziergang durch den Garten. Um
4 bestellte ich den Wagen und fuhr aus Brailow selbst
ist keine sehr schöne Gegend. Aus den Fenstern des Hau-
ses hat man garkeine Aussicht. Der Garten ist gross,
reich an Vegetation (namentlich Flieder und Rosen), aber
auch nicht malerisch und zu wenig schattig. In Summa ge-
fällt mir das Haus am besten. Wie man sagt, ist die Um-
gegend sehr schön "
An N. F. von Meck:
„Brailow, den 17. Mai 1878.
Ihr aufrichtiges Urteil über mein VioHnkonzert freut
mich sehr. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Sie aus
Furcht, den kleinlichen Autorenehrgeiz zu verletzen, mit
Ihrem Urteil zurückgehalten hätten. Uebrigens muss ich
den ersten Satz des Konzertes ein wenig in Schutz neh-
men. Selbstverständlich birgt er, wie ein jedes Virtuosen-
zwecken dienende Stück viel Verstandesarbeit, — ^jedoch die
Themen sind nicht herausgequält, und der Plan zu diesem
Satz ist plötzlich in meinem Kopf entstanden und hat sich
schnell in eine Form ergossen. Ich will die Hoffnung nicht
verlieren, dass Sie mit der Zeit mehr Freude an dem Stück
finden werden".
An Frau N. F. von Meck:
„Brailow, den 18. Mai 1878.
Nachdem ich Ihnen den gestrigen Brief geschrieben
hatte, war ich ein wenig spazieren gegangen. Wie schön,
wie frei ist es hier bei Ihnen! Die Sonne stand schon
tief, und auf der grossen Wiese vor der Haupteinfahrt
war bereits die Sonnenglut der kühlen Abendluft gewichen.
Der Flieder verbreitete seine Düfte, Maikäfer surrten hin
- 5o8 -
und her, eine Nachtigall begann zu flöten und aus weiter
Ferne ertönte Gesang. Es war herrlich! Den Rest des
Abends widmete ich der genauen Durchsicht Ihrer Noten
und dem Musizieren. Ich habe unter anderem mit grossem
Interesse ein Trio von Näprawnik durchgespielt und war
sehr erstaunt, im letzten Satz desselben einen kleinen
musikalischen Diebstahl zu entdecken. Das Seitenthema
ist nämlich Note für Note meinem „Wakula" entnommen:
bei Näprawnik:
AU-o
^k
Iziki
^~^
bei mir:
Sogar in derselben Tonart! Uebrigens beeinträchtigt
dieser Umstand nicht im geringsten den Wert der ganzen
Komposition. Selbst die genialsten Männer haben sich
manchmal diverser Plagiate schuldig gemacht (Mozart bei
Händel, Beethoven bei Mozart). Das Trio von Näprawnik
ist mit viel Talent und Meisterschaft geschrieben "
An Frau von Meck:
„Brailow, den 21. Mai 1878.
Mein Leben in Brailow fliesst regelmässig dahin. Früh
morgens nach dem Kaffee spaziere ich im Garten, ver-
lasse ihn ader bald durch das kleine hölzerne Thor in der
Nähe der Stallungen, springe über den Graben und — vor
mir liegt jener alte verlassene Klostergarten, in welchem
einst Mönche wandelten, welchen aber jetzt allerlei Vögel
bevölkern, darunter auch Nachtigallen; dieser Garten wird
wahrscheinlich von keiner Menschenseele besucht, denn
die Wege sind dicht verwachsen, das Grün ist so frisch
und rein, dass man glauben könnte, man wäre im Walde.
Zuerst gehe ich etwas umher, dann setze ich mich ge-
wöhnlich an irgend einem schattigen Plätzchen nieder
und bleibe da etwa eine Stunde. Solche Momente der
Einsamkeit inmitten der grünen und blühenden Natur sind
unvergleichlich; ich lausche und beobachte jenes organische
Leben, welches sich ohne Geräusch und ohne Lärm aus-
— 509 —
sert und dennoch lauter von seiner Grösse und Uner-
messlichkeit spricht, als der Strassenlärm und das Gewoge
und Getriebe einer Stadt. In einem Ihrer Briefe sagten
Sie, ich würde keine Gorges de Chaudiere u. s. w. in
Brailow vorfinden. Ich brauche sie aber auch nicht! Sie
befriedigen mehr die Neugier, als Herz und Gemüt; da
giebt es mehr Engländer als Vögel und Blumen; mehr
Ermüdung als Genuss. Niemals habe ich im Ausland
solche Momente heiligen Entzückens erlebt, — selbst nicht
inmitten der herrlichsten und üppigsten Schönheiten der
südlichen Natur, — welche für mich sogar mehr bedeuten,
denn jegliche Kunstgenüsse. Uebrigens habe ich darüber
schon oft mit Ihnen geplaudert.
Nach dem Spaziergang arbeite ich an den Violinstüc-
ken, von denen eines schon ganz fertig ist. Wenn ich
nicht irre, wird es Ihnen gefallen, obwohl die Begleitung
an einigen Stellen ziemlich schwer ist und Ihnen wahr-
scheinlich nicht behagen dürfte. Die zwei anderen Stücke
sollen ganz leicht werden.
Punkt ein Uhr ruft mich Marcel in's Speisezimmer, wo
mitten auf dem geschmackvoll arrangierten Tisch jedes-
mal zwei grosse Blumensträusse stehn, über welche ich
mich stets von neuem freue. Hier giebt es dann ein rich-
tiges festin de Balthazar. Jedes mal geniere und schäme
ich mich ein wenig, ganz allein an einem so grossen und
so prachtvoll dekorierten Tisch zu sitzen.
Nach Tisch spaziere ich im Garten, oder lese, oder
schreibe Briefe, gegen 4V2 Uhr unternehme ich eine Spa-
zierfahrt.
Gestern ist wegen Regens meine übliche Wanderung
auf der vor dem Hause liegenden Wiese unterblieben.
Während des Sonnenuntergangs liebe ich mehr freie Plätze,
und diese Wiese, w^elche von Bäumen, Fliederbüschen und
dem Flüsschen begrenzt ist, bildet einen bezaubernden
abendlichen Spaziergang.
Dann spiele ich gewöhnlich ein halbes Stündchen auf
Ihrem prachtvollen Harmonium. Es macht mir Freude,
dabei über jene interessanten akustischen Erscheinungen,
welche Aliquottöne heissen, Beobachtungen anzustellen. Es
ist Ihnen wahrscheinlich nicht entgangen, dass beim Spiel
von Akkorden auf dem Harmonium ausser den Tönen,
welche den niedergedrückten Tasten entsprechen, stets
noch ein Ton im Bass mitklingt, welcher mit dem Akkord
entweder harmoniert, oder eine scharfe Dissonanz bildet..
— 5IO
Mitunter erscheinen dabei die eigentümlichsten Kombina-
tionen, Folgendes habe ich gestern entdeckt:
Rechte Hand:
Linke Hand:
Aliquottöne:
'=^^^=Л
^
■^-I&.
\ \ \ -r 4"
Prüfen Sie doch gelegentlich dieses akustische Expe-
riment, indem Sie die Register № i ziehn, das heisst Flute
et Cor anglais. D und Fis, А und С sind vollkommen rein,
während das E etwas zu hoch erklingt.
Während ich Ihnen schreibe, tobt draussen ein heftiges
Gewitter. Als ich des morgens aus dem Hause trat, wusste
ich sofort, dass es kommen würde, und erwartete es mit
Ungeduld. Trotz dem ganz klaren Himmel, war die Luft
so schwül, dass ich mich kaum bewegen konnte. Ich habe
dem Gottesdienst in der Kirche beigewohnt. Zwei Nonnen-
chöre sangen sehr schön. Ich hörte verschiedene recht
originelle und mir noch unbekannte Melodieen. Leider
drang die schwüle Luft auch in das Innere der Kirche ein,
so dass ich bald Kopfschmerzen bekam und nach Hause
ging.
Um neun Uhr findet le 2-ieme festin de Balthazar statt.
Dann spiele ich und mache mich mit Ihrer musikalischen
Bibliotek bekannt. Gestern habe ich mit grossem Vergnügen
einige Streichserenaden von Volkmann durchgespielt. Ein
sympatischer Komponist. Er hat viel Einfachheit und na-
türliche Schönheit. Wie schön ist z. B:
Wissen Sie auch, dass dieser Volkmann ein ganz altes
Männchen ist und in Pest in ganz ärmlichen Verhältnissen
lebt? Einst hatte man in Moskau in Musikerkreisen eine
— 511 —
kleine Sammlung für ihn unternommen, deren Resultat 300
Rbl. gewesen sind. Aus Dankbarkeit hat er seine 2-te
S^'mphonie der Moskauer Musikalischen Gesellschaft ge-
widmet. — Uebrigens habe ich es nie herauskriegen können,
weshalb er eigentlich so arm ist.
Um II ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück, ent-
kleide mich, lasse meine Gedanken schweifen, schwelge in
Erinnerungen, denke an meine Freunde, öffne das Fenster,
betrachte die Sterne, lausche in die Nacht hinaus und —
gehe dann erst zu Bett....
Ein köstliches Leben! Wie ein Traum! Teure, innig
geliebte, N. F., wie bin ich Ihnen dankbar für Alles, für
Alles! Manchmal erfüllt mich das Gefühl der Dankbarkeit
so sehr, dass ich laut aufschreien möchte..."
An N. F. von Meck:
„Brailow, 23. Mai 1878.
Als ich Gestern durch die Wälder streifte, fand ich
eine grosse Menge Pilze. Das Pilzesuchen ist eines meiner
grössten sommerlichen Vergnügen. Der Moment, da man
einen schönen kräftigen Steinpilz erblickt — -ist einfach
köstlich. Ein ähnliches Gefühl müssen leidenschaftliche
Kartenspieler haben, wenn sie lauter Trümpfe in die Hände
bekommen. Die ganze Nacht habe ich von roten, dicken,
ungeheuren Pilzen geträumt. Als ich erwachte, fiel mir
ein, dass solche Pilzträume eigentlich ein ganz kindlicher
Characterzug seien. Und in der That wird man zum Kinde,
wenn man längere Zeit ganz allein, inmitten der Natur
lebt; man wird für die einfachen, ungekünstelten Freuden,
welche die Natur bietet, viel empfänglicher. Gestern z. В.,
habe ich nahezu eine Stunde lang beobachtet, wie eine, in
einen Ameisenhaufen gerathene Schnecke auf das heftigste
von den Ameisen bedrängt wurde. Sie setzten dem gros-
sen aber unschädlichen Feind derart zu, dass die arme
Schnecke konvulsiv zuckend sich bemühte, möglichst tief
in ihr Häuschen zu kriechen. Aber die Ameisen folgten
ihr auch dahin und brachten sie so weit, dass die Kräfte
sie endlich vollständig verliessen. Ich verstehe nicht, wie
man auf dem Lande sich auch nur einen Augenblick
langweilen kann? Ist denn diese kleine Szene, in deren
mikroskopischen Grössenverhältnissen sich ein tragischer
Kampf vieler Individuen abgespielt hat, nicht tausend mal
interessanter, als das geistlose Geschwätz der sogenannten
Gesellschaftsunterhaltungen?!
— =;i2
Wissen Sie was mich jetzt sehr beschäftigt? Als ich
eines Abends in Kiew allein zu Hause sass, während mei-
ne Schwester und Modest sich eine Vorstellung von „Ro-
meo und Julie" mit Rossi als Titelhelden im Theater an-
sahen, las ich dieses Drama wieder einmal durch. Sofort
setzte sich der Gedanke in mir fest, eine Oper daraus zu
machen. Die Opern Bellini's und Gounod's erschrecken
mich nicht. In ihnen ist Shakespeare bis zur Unkenntlich-
keit entstellt. Finden Sie nicht auch, dass dieses erzge-
niale Drama wohl geeignet ist, einen Musiker zu begei-
stern? Ich habe mich schon mit Modest darüber beraten.
Er scheut aber vor der Grösse der Aufgabe zurück.
Doch wer nichts wagt, gewinnt nichts. Ich werde viel über
das Szenarium nachdenken und möchte gern alle meine
Kräfte einsetzen, deren ich noch einige im Vorrat habe".
An M. Tschaikowsky:
„Brailow, 25. Mai 1878.
Modi, seitdem ich Romeo und Julie wieder gelesen
habe, erscheinen mir Undine, Berthalde, Gulbrand, u. s. w.
wie der grösste kindische Unsinn. Selbstverständlich werde
ich Romeo und Julie schreiben. Alle Deine Entgegnungen
verschAvinden vor der enormen Begeisterung, welche mich
ergiffen hat. Das soll mein kapitalstes Werk werden.
Es kommt mir jetzt lächerlich vor, dass ich bisher nicht
einsehen lernte, dass ich gewissermaassen vom Schicksal
dazu bestimmt bin, dieses Drama in Musik zu setzen.
Es giebt nichts passenderes für meinen musikalischen Cha-
rakter. Keine Könige, keine Märsche, mit einem Wort nichts,
was die üblichen Zuthaten der grossen Oper sind. Nur
Liebe, Liebe und wieder Liebe. Und dann, wie reizvoll
sind die Nebenpersonen: Lorenzo, Thiebald, Merkuzio! Die
Einseitigkeit brauchst Du nicht zu fürchten. Das erste Lie-
besduett wird ganz anders sein als das zweite. Im ersten —
alles sonnig, klar; im zweiten kommt die Tragik. Aus harm-
losen verliebten Kindern sind Romeo und Julie hebende
und leidende Menschen geworden und in eine tragische
Situation geraten. О welche Lust spüre ich an die Arbeit
zu gehn!
Nimm es mir nicht übel, mein lieber armer Textdichter,
dass ich Dich umsonst mit der Undine gequält habe. Hol
sie der Teufel, diese Undine! Was ist Gutes an ihr? Wie
kann man sich von solch einem Unsinn hinreissen lassen?!
— 513 "
Man müsste ja ein Esel sein.... u. s. w. Das ist jetzt mein'
Verhalten gegenüber der Undine. Ich denke stündlich an
Dich, mein Lieber. Ich schwelge gern in Erinnerungen aus
unserem Leben. Dein Verstimmtsein beunruhigt mich sehr.
Ich wünschte, Du könntest Dich für Deine Novelle ebenso
begeistern, wie ich für die zukünftige Oper! Nur hinge-
bende Arbeit kann Dich mit der Gegenwart versöhnen".
An Frau N. F. von Meck:
„Brailow, 27. Mai, 1878.
....Den ganzen Abend hat es durchgeregnet und es ist
kalt gew^orden. Darüber habe ich mich aber sehr leicht
hinweggetröstet, indem ich mir ein Buch zum Lesen nahm,
die „Memoiren Ochotsky's". Sie wissen meine liebe Freun-
din, dass mich das achtzehnte Jahrhundert sehr lebhaft
interessiert. Diese Memoiren boten mir denn auch sehr
viel Neues und Interessantes, da ich bisher mit den Sitten
und Gebräuchen der Polen des vorigen Jahrhunderts nur
wenig bekannt war. Ich weiss nicht ob Sie das Buch in
seinem ganzen Umfang kennen. Es ist ungewöhnlich schnei-
dig geschrieben und dabei in einem etwas naiv wahr-
heitsgetreuen und offenherzigen Ton gehalten, welcher allen
Nachrichten und Thatsachen eine gewisse Realität, Wärme
und Lebendigkeit verleiht. Unter anderem ist im zweiten
Teil auch ein Stück Geschichte Brailow's erwähnt, und
zwar die widerrechtliche Aneignung desselben durch Ju-
kowsk3\
Am gestrigen Morgen war es kalt und windig. Ich ar-
beitete ein wenig und beendete die Skizzen einiger Num-
mern der Liturgie. In meinem Portefeuille liegen schon eine
ganze Menge solcher Skizzen. Ausser den VioHnstücken
habe ich sechs Lieder, nahezu ein Dutzend Klavierstücke,
ein ganzes Album (24 Stück) kleiner Kompositionen für
Kinder und die Liturgie des Joann Slatoust geschrieben.
Ich werde sehr viel Zeit brauchen — wenigstens anderthalb
Monate sehr fleissiger Arbeit — um dieses alles in Ordnung
zu bringen und rein abzuschreiben.
Als ich Ihren letzten Brief las, ärgerte ich mich ein
wenig darüber, dass ich den ersten Satz meines Konzer-
tes so eifrig in Schutz genommen hatte. Ich fürchte, dass
sie in Zukunft Ihre Meinung — falls dieselbe nicht ganz gün-
stig ausfallen sollte — mir gegenüber zu verschweigen su-
chen werden, um meinen Autorenehrgeiz nicht zu krän
Taehaikowsky, M. P. I.|Tschaikowsky's Leben. 33
— 54 —
keil. Ich bitte Sie eindringlichst, meine Liebe, mir stets
offen die Wahrheit zu sagen. Glauben Sie nicht, dass Ihre
Bemerkungen wertlos für mich seien, weil Sie nicht zum
Fach gehören. Sie sollen wissen, dass die Urteile solcher
Menschen, wie Sie, — Menschen, welche über viel Ver-
ständniss, Geschmack verfügen und die Musik inbrünstig
lieben, — viel wertvoller für mich sind, als die Referate der
stets einseitigen, durch vorgefasste Theorien und Prinzi-
pien eingeschränkten und von ihren persönlichen Bezie-
hungen zu den Musikern beeinflussten Kritiker. Ausser-
dem kann ich Ihnen versichern, dass mir jener krankhaft
sensible Autorenehrgeiz, der sich über die geringste Be-
merkung gleich beleidigt fühlt, durchaus fehlt. Können Sie
mich denn überhaupt kränken? Weiss ich denn nicht, dass
Sie mir Ihre innigste Teilnahme entgegenbringen und dass,
selbst wenn Ihnen etwas an mir missfällt — es noch lange
kein Beweis dafür ist, dass Sie meine Eigenschaften nicht
genug schätzen. Wenn ich den ersten Satz meines Kon-
zertes so nachdrücklich verteidigte, so geschah es nur,
weil das Stück mein Benjamin ist. Das jüngste Kind wird
ja gewöhnlich am zärtlichsten behandelt. Die Zeit einer
objektiveren Beurteilung des Gegenstandes ist noch nicht
gekommen. Unter meinen älteren Kompositionen giebt es
einige, für die ich seinerseits ebenso leidenschaftlich ge-
schwärmt habe, für die ich aber jetzt nicht die geringste
Zuneigung mehr verspüre. Ja, manche sind mir sogar
direkt widerhch. Hierher ist auch der „Opritschnik" zu
zählen, ein sehr schwaches, sehr übereiltes Werk".
An M. Tschaikowsk}-:
„Brailow, den 27. Mai, 1878.
...Gestern Abend habe ich den ganzen „Eugen One-
gin" durchgespielt. Der Autor war zugleich der einzige
Zuhörer. Ich schäme mich eigentUch einzugestehn, doch
will ich es Dir— meinethalben ganz im Geheimen sagen,
dass der Zuhörer von der Musik bis zu Thränen ge-
rührt war und dem Autor tausend Komplimente sagte. O,
wenn doch alle zukünftigen Zuhörer diese Musik ebenso
entzückend finden wollten, wie der Autor selbsti!"
An Frau N. F. von Meck:
„Brailow, den 29 Mai, 1878.
....Ich verlebe hier die letzten Tage. Ich brauche Ihnen
wohl kaum zu erklären, weshalb ich Ihre Gastfreundschaft
— 515 -
nicht noch länger in Anspruch nehmen möchte, obwohl
ich noch bis zum lo-ten Juni bleiben könnte. Ich habe
hier eine ganze Reihe unvergesslicher Tage verlebt, ich
habe die reinsten, die schönsten Genüsse durchkostet, ich
habe alle Schönheiten der sympatischen Natur Brailow's
voll und ganz in mich aufgenommen, so dass mein Auf-
enthalt hierselbst eine der schönsten Erinnerungen meines
Lebens bleiben wird. Ich danke Ihnen sehr".
An N. F. von Meck:
„Brailow, den 30. Mai, 1878.
....Es thut mir sehr, sehr leid, Brailow zu verlassen.
Mein Herz will schier zerspringen bei dem Gedanken, dass
mir ein so schroffer Dekorationswechsel bevorsteht. Nach
dem süssen Frieden, der mich hier umgab, werde ich mit-
ten in den Strudel des Moskauer Lebens geraten!! Aller-
dings tröstet mich ein wenig der Zweck meiner Reise nach
Moskau; ausserdem ist es mir angenehm an das Wieder-
sehn mit meinem Bruder zu denken und auch daran, dass
ich ganze zwei Tage in Ihrer unmittelbaren Nähe weilen
werde.
Der Garten hat in den letzten zwei Wochen sein
i\.ussehn vollständig verändert. Jene Unmenge von Flieder,
welcher noch unlängst in voller Blüte stand, ist spurlos
verschw^unden. Statt seiner blühen jetzt in grosser Zahl
die herrlichsten Rosen, — und dennoch traure ich sehr um
den Flieder; es ist mir geradezu beängstigend daran zu
denken, dass man ein volles Jahr auf sein Wiedererscheinen
zu warten hat, also ganze 12 Monate, von denen ein je-
der 30 Tage zählt. Uebrigens hält es schwer, Ihnen meine
augenblicklichen Gefühle zu beschreiben. Ich denke, Sie
verstehen mich schon. Die Vergangenheit beklage ich im-
mer, zumal wenn sie so schön war, wie das Leben in
Brailow. Der Flieder ist vergangen! Die schönen Tage
sind geschwunden, — wann werden sie wohl wiederkehren?!!
Noch ein Umstand hat das äussere Bild des Gartens ver-
ändert: das üppige und duftige Gras ist abgemäht. Da-
durch hat der Garten ein etwas koketteres Aussehn ge-
wonnen,— und dennoch traure ich um das schöne Gras,
welches Zeuge meiner ersten Spaziergänge im Garten war.
Meine Stücke (welche Brailow gewidmet sind) habe ich
Marcel gegeben, damit er sie Ihnen einhändigt. Das erste
von ihnen ist, glaube ich, das beste, aber auch das schwer-
-5i6 -
ste; es heisst „Meditation" und wird tempo andante ge-
spielt. Das zweite ist ein seiir schnelles „Scherzo", und das
dritte ein „Chant sans paroles". Es war mir eben sehr weh
um's Herz, dieselben Marcel zu übergeben. Vor kurzem
noch hatte ich sie abzuschreiben begonnen! Damals stand
der Flieder noch in blühendster Pracht, das Gras war
noch nicht geschnitten, und die Rosen begannen kaum zu
knospen!!!..
•^i^
X.
An Frau N. F. von Meck:
„Dorf Nisy, den 6. Juni.
....Verzeihen Sie, meine Freundin, dass ich Ihnen nach
Petersburg nicht geschrieben habe. Erstens, fürchtete ich,
dass mein Brief Sie nicht mehr antreffen würde; zweitens,
können Sie sich gar nicht vorstellen, welch' eine Hölle der
dreitägige Aufenthalt in Moskau für mich war. Wie drei
Jahrhunderte kam er m.ir vor. Es war eine solche Wonne
für mich, wieder im Eisenbahnwagen zu sitzen, als wenn
man mich aus einer dunklen, engen Gefängnisszelle befreit
hätte. Hierhergekommen bin ich infolge einer Einladung
meines alten gastfreien Freundes Kondratjeff, bei dem ich
früher fast jeden Sommer gewohnt hatte. Hier war auch
der „Wakula'■^ entstanden""
An Frau N. F. von Meck:
„Nisy, den lo. Juni, 1878.
....Die zweiundeinhalb Tage, die ich in Moskau verbracht
habe, kamen mir wie zwei qualvolle Monate vor, vielleicht
weil diese Stadt im Sommer sehr staubig, sehr heiss und
überhaupt unangenehm ist; vielleicht aber auch, weil die
Erinnerung an die moralischen Qualen, die ich im vori-
gen Herbst durchgemacht hatte, noch zu lebendig in mir
war; oder auch — weil ich auf Schritt und Tritt bei Be-
gegnungen mit Menschen, welche auf freudige und freund-
schaftliche Gefühlsäusserungen meinerseits Anspruch zu
haben glaubten, es nicht vermeiden konnte, in gewissem
— 517 —
Sinne Komödie zu spielen. Und dennoch liebe ich Moskau,
und möchte in keiner anderen Stadt leben.
An Frau N. F. von Meck:
„Kiew, den 12. Juni, 1878.
Schreibe Ihnen unter einem sehr traurigen Eindruck.
Soeben las ich in der Zeitung die Nachricht von dem Zu-
sammenstoss eines Militairzuges mit einem Güterzug auf
der Jelez — Eisenbahn, wobei es viele Tote und Verwun-
dete gegeben haben soll. Ich muss Ihnen sagen, dass ich
auf meinen letzten Reisen eine grosse Zahl solcher Mili-
tairzüge gesehn habe. Der Anblick dieser zu bedauernden
Menschen, welche wie die Schafe viele Tage im Güter-
wagen zubringen mussten, sehr schlecht ernährt und sehr
schlecht gekleidet wurden, hat mich stets von neuem em-
pört. Mit manchen der armen Geschöpfe habe ich auch ge-
plaudert und konnte nicht ohne Entrüstung die Beschrei-
bung ihrer Reise anhören....
Gestern habe ich dem erzpriesterlichen Gottesdienst
in der herrlichen Klosterkirche zu Podol beigewohnt und
einen ausserordentlich tiefen Eindruck erhalten. Bei derar-
tigen Gelegenheiten begreift man wohl die ganze uner-
messliche Bedeutung der Religion für das Volk. Sie er-
setzt dem Volk alles das, was wir in der Kunst, in der
Philosophie und in der Wissenschaft finden. Sie bieten den
armen Leuten die Möglichkeit, von Zeit zu Zeit zum Be-
wusstsein ihrer Menschenwürde emporzusteigen. Voltaire
hat Recht gehabt als er sagte: „wenn es keine Rehgion
gäbe: il faudrait l'inventer!"... Den Abend habe ich im
„Chäteau des fleurs" zugebracht, welcher wegen des Feier-
tages sehr besucht war. Zu meinem Leidwesen habe ich
dort viele Bekannte getroffen, meistenteils aus musikali-
schen Kreisen. Ihre Gespräche, ihre Klatschereien, ihre
dummen Aeusserungen in Betreff der Musik, ihre frechen
und indiskreten Fragen — erschienen mir unerträglich lang-
vv^eihg und widerlich".
An Frau N. F. von Meck:
„Kamenka, den 24. Juni, 1878.
Sie wollen wissen wie ich komponiere? Wissen Sie,
liebe Freundin, dass es sehr schwer ist, ausführlich auf
diese Frage zu antworten? Denn die Umstände, unter wel-
-5i8-
chen ein neues Werk das Licht der Welt erblickt, sind
ausserordentlich verschieden. Ich will aber dennoch den
Versuch machen, die Art und Weise meines Arbeitens nä-
her zu definieren.
Vorerst muss ich aber meine Kompositionen in zwei
Kategorieen scheiden:
i) Werke, welche ich aus eigener Initiative schreibe,
d. h. infolge eines unbezwingbaren inneren Dranges.
2) Werke, zu welchen ich von aussen die Anregung
erhalte, z. B. infolge der Bitte eines Freundes oder Ver-
legers, also auf Bestellung.
Hier muss ich etwas hinzufügen. Ich weiss aus Erfah-
rung, dass der Wert einer Komposition durchaus in kei-
ner Beziehung mit der Angehörigkeit derselben zu dieser
oder jener Kategorie steht. Es kommt sehr häufig vor,
dass ein Stück, welches seine Entstehung einem Anstoss
von aussen verdankt, sehr gut gelingt, und umgekehrt —
ein Stück, welches nur meiner eigenen Initiative entsprun-
gen ist, infolge verschiedener Begleitumstände weniger gut
ausfällt. Diese Begleitumstände sind für die Stimmung,
während welcher gearbeitet wird, von ausserordentlich
grosser Bedeutung. Im Moment der schöpferischen Thä-
tigkeit ist für den Künstler absolute Ruhe unbedingt not-
wendig. In diesem Sinne ist ein jedes Kunstwerk, auch
ein musikalisches stets ohjeMiv. Diejenigen, welche glauben,
dass ein schaffender Künstler im Moment des Affekts fä-
hig ist, durch die Mittel seiner Kunst das auszudrücken,
was er gerade fühlt, — irren sich sehr. Traurige Gefühle,
sowohl als auch freudige, werden stets sozusagen retrospeJc-
tiv wiedergegeben. Ich bin im Stande, mich von fröhlicher
künstlerischer Stimmung durchdringen zu lassen, auch ohne
einen besonderen Grund zu haben, mich zu freuen, — und
umgekehrt, inmitten einer glücklichen Umgebung ein Werk
zu schaffen, welches in den düstersten und hoffnungslo-
sesten Farben gehalten ist.
Mit einem Wort, der Künstler lebt ein zwiefaches Le-
ben: ein allgemein menschliches und ein künstlerisches,
wobei diese beiden Leben manchmal durchaus nicht Hand
in Hand gehn.
Wie dem auch sei, jedenfalls ist es beim Komponieren
eine unbedingte Notwendigkeit, sich wenigstens für eini-
ge Zeit von allen Sorgen des ersteren der beiden Leben
frei zu machen und sich ganz dem anderen hinzugeben.
Die Werke der erstgenannten Kategorie erfordern nicht
— 519 —
die geringste Willenskraft. Man braucht nur, seiner inne-
ren Stimme nachzugehen, und — wenn das künstlerische
Leben von der Gewalt der tragischen Umstände des ma-
teriellen Lebens nicht erdrückt wird — dann geht die Ar-
beit mit unglaublicher Schnelligkeit vor sich. Man vergisst
Alles, die Seele erzittert von einer unbegreiflichen und
unbeschreiblich süssen Aufregung, kaum dass man ihrem
rapiden Aufschn-ung folgen kann, die Zeit vergeht buch-
stäblich unbemerkt.
In diesem Zustand liegt etwas somnambulistisches. On
ne s'entend pas vivre. Es ist unmöglich, solche Minuten
zu beschreiben. Alles das, was dann unter der Feder ent-
steht, oder nur gedacht wird (denn sehr oft kommen diese
Momente zu einer Zeit, da man keine Gelegenheit zum
Schreiben hat) — ist gut, und wenn kein Stoss von aussen
Einen an jenes andere, allgemeine Leben erinnert, dann
wird das Resultat der Arbeit das Vollkommenste, was der
betreffende Künstler zu leisten vermag. Leider sind solche
Stösse von Aussen unvermeidlich. Man hat einen Gang zu
besorgen, oder man wird zum Mittagessen gerufen, oder
ein Brief ist angekommen, u. s. w. Das ist der Grund,
weshalb es nur überaus wenige Kompositionen giebt, die
in allen ihren Teilen gleichmässig schön sind. — Daher die
Nähte, Einschaltungen, Unehe^iheüen.
Für die Werke der zweiten Kategorie muss man sich
manchmal erst in Stimmung bringen. Hierbei ist man sehr
oft gezwungen, seine Faulheit und Unlust zu bekämpfen.
Ausserdem giebt es da verschiedene Zufälligkeiten. Manch-
mal wird Einem der Sieg leicht. Andere Male dagegen
entschlüpft die Inspiration jeden Augenblick und lässt sich
nicht einfangen. Ich halte es aber für eine Pflicht des Künst-
lers, nicht nachzugeben. Man darf nicht warten. Die In-
spiration ist ein Gast, welcher die Trägen nicht gern be-
sucht. Nicht ohne Grund beschuldigt man daher das rus-
sische Volk des Mangels an originellen Kunstprodukten,
denn der Russe ist faul. Der Russe schiebt gern Alles auf;
er ist seiner Natur nach begabt, leidet aber — ebenfalls von
Natur aus — an dem Mangel an Willenskraft. Man muss
sich selbst besiegen lernen, um nicht in Dilettantismus zu
fallen, von dem selbst ein so kolossales Talent wie Glinka
nicht ganz frei war. Dieser Mann, welcher mit einer aus-
serordentlichen und eigenartigen schöpferischen Begabung
ausgerüstet war, hat — trotzdem er ein ziemlich reifes Alter
erreichte — ganz erstaunlich wenig geschaffen. Lesen Sie
— 520 —
seine Memoiren. Sie werden sehn, dass er wie ein Dilet-
tant gearbeitet hat, d. h. ab und zu, wenn er gerade bei
Stimmung war. Wir mögen noch so stolz auf Glinka sein,
Avir müssen aber eingestehn, dass er seine Aufgabe nicht
ganz erfüllt hat, wenigstens nicht seiner Begabung ent-
sprechend. Seine beiden Opern laborieren vielfach an einer
erstaunlichen Ungleichmässigkeit, neben genialen Stellen
von unvergänglicher Schönheit finden sich ganz kindisch
naive und schwache Nummern. Was hätte er erreicht,
Avenn er in anderer Umgebung gelebt hätte, wenn er ge-
arbeitet hätte wie ein Künstler, welcher sich seiner Kraft
und seiner Pflicht bewusst ist, seine Begabung bis an die
letzte Grenze der möglichen Vollkommenheit zu entwik-
keln, — nnd nicht wie ein Dilettant, welcher aus Lange-
weile Musik macht?! So habe ich Ihnen denn erklärt, dass
ich entweder aus innerem Drang heraus komponiere, beflü-
gelt von der höchsten und garnicht zu definierenden
Kraft der Inspiration, oder — ich arbeite einfach, indem ich
jene Kraft selbst zu erfassen suche, was mir manchmal
gelingt, manchmal aber auch nicht, in welch letzterem
Fall das zu schaffende Werk stets nur das Produkt blos-
ser Arbeit bleibt, ohne vom echten musikalischen Gefühl
erwärmt zu sein.
Ich hoffe, Sie werden mich nicht des Eigenlobes ver-
dächtigen, wenn ich Ihnen sage, dass mein Apell an die
Inspiration fast niemals vergeblich ist. Mit anderen Wor-
ten: jene Kraft, welche ich vorhin einen eigensinnigen Gast
nannte, hat sich mit mir schon längst vertraut gemacht,
so dass wir unzertrennlich mit einander leben; sie ver-
lässt mich nur, wenn mein materielles Leben durch diese
oder jene Umstände sehr bedrückt wird, und sie glaubt,
mir nichts nützen zu können. W^enn ich mich in norma-
ler Verfassung befinde, so kann ich wohl sagen, dass ich
stets in jeder Minute des Tages komponieren kann. Manch-
mal beobachte ich neugierig jene ununterbrochene Thätig-
keit, welche — unabhängig von dem Gegenstand der Unter-
haltung, die ich im Augenblick führe, — in demjenigen Teil
meines Kopfes vor sich geht, welcher der Musik gegeben
ist. Mitunter ist es irgend eine vorbereitende Arbeit, d. h.
ein Ueberlegen der Details der Stimmführung irgend eines
vorher projektierten Stückchens Musik, ein andermal er-
scheint eine ganz neue selbständige musikalische Idee, und
ich bemühe mich, sie in meinem Gedächtniss festzuhalten.
Woher kommt das alles? — ein unentwirrbares Rätsel.
— 521 —
Jetzt will ich Ihnen die eigentliche Prozedur meines
Schreibens wiederzugeben versuchen. Aber erst am Nach-
mittag. Auf Wiedersehn. Wenn Sie wüssten, wie schwierig
es für mich ist, aber auch wie ange^iehm zugleich, mit Ihnen
über diesen Gegenstand zu plaudern.
2 Uhr.
Meine Skizzen notiere ich gewöhnlich auf dem ersten
besten Blatt Papier. Ich schreibe in sehr abgekürzter Form.
Eine Melodie kann niemals für sich allein erscheinen, son-
dern stets mit der dazugehörenden Harmonie. Ueberhaupt
können diese beiden Elemente der Musik zusammen mit
dem R3'tmus niemals von einander getrennt werden, d. h.
ein jeder melodische Gedanke trägt eine gewisse Harmo-
nie in sich und hat notwendig eine bestimmte rytmische
Gliederung. Ist die Harmonie sehr kompliziert, dann kommt
es vor, dass ich gleich beim Skizzieren einige Ausführlich-
keiten der Stimmführung niederschreibe; bei einfacher Har-
monie markiere ich nur den Bass, oder nur die General-
bassziffern, in anderen Fällen auch nicht einmal das. Wenn
der Entwurf für Orchester gedacht ist, dann pflegen die
Gedanken gleich in einer bestimmten Instrumentalfärbung
zu erscheinen. Manchmal jedoch w^rd später die ursprüng-
lich gedachte Instrumentierung verändert.
Niemals können die Worte später als die Musik ge-
schrieben w^erden, denn sobald nur die Musik irgend einem
Text gilt, so bedingt dieser Text auch einen passenden
musikalischen Ausdruck. Es ist allerdings möglich, einer
kleinen Melodie Worte anzupassen und unterzulegen, wenn
es sich aber um eine ernste Komposition handelt, dann
ist ein derartiges Anpassen undenkbar. Desgleichen ist es
auch unmöglich, zuerst ein symphonisches Werk zu schrei-
ben und ihm dann erst ein Programm unterzuschieben,
denn hier ruft wiederum eine jede Episode des gewählten
Programms eine entsprechende musikalische Illustration
hervor. Diese Periode der Arbeit, d. h. das Skizzieren,
ist ausserordentlich angenehm, interessant und gewährt
mitunter ganz unbeschreiblichen Genuss, wird aber gleich-
zeitig von einer gewissen Unruhe und nervösen Aufre-
gung begleitet. Der Schlaf ist schlecht, das Essen wird
vollständig vergessen. Dafür geht aber die Ausführung des
Projekts ganz friedlich und ruhig vor sich. Ein ganz ausge-
reiftes und durchgearbeitetes Werk zu instrumentieren —
ist sehr lustig.
5^^
Dasselbe kann nicht von der Abschrift in's Reine der
Stücke für Klavier, einer Singstimme, kurz kleinerer Kom-
positionen, behauptet werden. Das ist oft sehr langweilig.
In diesem Augenblick bin ich gerade mit einer solchen
Arbeit beschäftigt. Sie fragen, ob ich mich an die her-
kömmlichen Formen halte? Ja und nein. Es giebt Kompo-
sitionen, bei denen sich die Beibehaltung der bekannten
Formen von selbst versteht, aber nur in ganz allgemeinen
Zügen, d. h. nur die Aufeinanderfolge der Teile der Kom-
position betreffend. In den Einzelheiten darf man sich be-
liebige Abweichungen gestatten, sofern die Verarbeitung
der gegebenen Gedanken es erheischt. So ist z. B. der
erste Satz unserer S^aiiphonie sehr unregelmässig aufge-
baut. Das zweite Thema, welches eigentlich in einer ver-
wandten Durtonart stehen müsste, erscheint bei mir in
einem ziemlich entfernten Moll. Bei der Wiederkehr der
Hauptpartie ist das zweite Thema ganz fortgelassen u. s. w.
Das Finale enthält auch eine ganze Reihe Abweichungen
von der traditionellen Form. In der vokalen Musik, wo
alles vom Text abhängt, so w^e in Fantasieen (z. B. „Sturm",
„Francesca") ist die Form eine ganz selbständige. Sie
befragen mich über Melodieen, welche auf harmonischen
Noten gebaut sind? Ich kann mit Sicherheit sagen und
durch viele Beispiele beweisen, dass es möglich ist, aus
der Umstellung dieser Noten und mit Zuhilfenahme des
Rytmus, unzählige MiUionen neuer und schöner melodi-
scher Kombinationen aus ihnen zu gewinnen. Uebrigens
bezieht sich das nur auf die homophone Musik. In der
polyphonen — schadet eine derartige Melodiebildung der
Selbständigkeit der Stimmen. Bei Beethoven, Weber,
Mendelssohn, Schumann und namentlich bei Wagner fin-
den sich sehr oft Melodieen, welche aus Tönen eines
Dreiklanges bestehn; ein begabter Musiker W4rd stets eine
neue und schöne Fanfare zu finden wissen. Erinnern Sie
sich, wie schön in den Nibelungen das Motiv des Schwer-
tes ist?
S
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£
Ich habe eine Melodie von Verdi (eines sehr begabten
Mannes) sehr gern:
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t
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ä
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523 —
Wie herrlich, wie frisch ist ferner der Hauptgedanke
des ersten Satzes in Rubinsteins „Ozean":
^->r
;^
^^^
m
i
Wenn ich mein Gedächtniss etwas anstrengen wollte,,
könnte ich noch unzähhge Beispiele anführen, welche meine
Ansicht bestätigen. Das ganze Geheimniss liegt im Talent.
Für dasselbe giebt es keine Beschränkungen: es schafft aus
Nichts die schönste Musik. Kann es etwas Trivialeres ge-
ben als die folgenden Melodieen?
Beethoven, 7. Symphonie:
oder Glinka, „Jota aragonesa":
Doch welch herrliche musikalische Gebilde haben Beet-
hoven und Glinka aus diesen Melodieen zu schaffen ge-
waisst!"
An Frau N. F. von Meck:
„Kamenka, 25. Juni, 1878.
Als ich Ihnen Gestern über die Prozedur des Kompo-
nierens schrieb, hielt ich mich zu wenig bei derjenigen
Phasis der Arbeit auf, welche der Ausführung der Skizze
gilt. Diese Phase ist aber von kapitaler Bedeutung. Das,
was im Eifer geschrieben worden ist, muss dabei kritisch
nachgeprüft, verbessert, ergänzt oder gekürzt werden, je
nachdem wie die Form es verlangt. Manchmal muss man
sich Zwang anthun, man muss hart und rücksichtslos ge-
gen sich selbst sein, d. h. diejenigen Stellen, welche mit
Liebe und Begeisterung erdacht worden sind, mitleidslos
streichen. Ich kann mich nicht über Armut der Phantasie
und Erfindungsgabe beklagen, habe dafür aber stets an
der Unfähigkeit gelitten, die Form zu glätten und zu feilen.
— 524 —
Nur durch hartnäckige Arbeit habe ich es jetzt erreicht,
dass die Form meiner Kompositionen einigermassen dem
Inhalt entspricht. In früherer Zeit bin ich zu nachlässig
gewesen und habe der kritischen Nachprüfung der Skiz-
zen zu wenig Bedeutung beigemessen. Daher waren bei
mir stets die Nähte zu sehen, die einzelnen Episoden wa-
ren organisch zu locker verknüpft. Das war ein sehr gros-
ser Fehler, und erst mit der Zeit begann ich nach und
nach, mich zu bessern, — doch wird die Form meiner Kom-
positionen niemals eine mustergiltige werden, denn ich kann
die wesentlichen Eigenschaften meiner musikalischen Or-
ganisation nur verbessern, nicht aber ganz umgestalten.
Auch denke ich nicht im, entferntesten daran, dass meine
Begabung den höchsten Punkt der Reife bereits erreicht ha-
be. Ich kann nur mit Freude konstatieren, dass ich allmälig
vorwärts komme auf dem Weg der Selbstvervollkommnung,
und wünsche leidenschaftlich, den höchsten Grad der mei-
nen Fähigkeiten entsprechenden Vollkommenheit zu er-
klimmen. Somit hatte ich mich Gestern falsch ausgedrückt,
indem ich sagte, ich schriebe meine Kompositionen nach
den Skizzen blos ah. Das ist mehr als ein Abschreiben,
das ist eine umständliche kritische Arbeit, welche mit Kor-
rekturen, Ergänzungen und anderen Umgestaltungen ver-
knüpft ist.
Ich möchte Ihnen folgenden Vorschlag machen. In Ihrem
Brief äussern Sie den Wunsch, meine Skizzen einmal an-
zuschauen. Wollen Sie vielleicht die allerersten Entwürfe
zu meiner Oper „Eugen Onegin" von mir annehmen? Da
der Klavierauszug schon im Herbst im Druck erscheinen
wird, so wird es Sie vielleicht interessieren, die hand-
schriftlichen Notizen mit dem fertigen Werk zu verglei-
chen? Wenn „ja", so will ich Ihnen das Manuskript so-
fort nach Ihrer Rückkehr nach Moskau zusenden. Dass ich
Ihnen gerade „Onegin" vorschlage, liegt daran, dass ich
nicht ein einziges meiner Werke mit einer solchen Leich-
tigkeit gearbeitet habe, als gerade jene Oper; die Hand-
schrift lässt sich fast durchweg gut lesen, denn sie ent-
hält nur wenig Korrekturen".
An N. F. von Meck:
„Werbowka, den 29. Juni, 1878.
....Werbowka gefällt mir sehr. Ich sehe, höre und rieche
keine Juden, und das ist sehr angenehm. Nach Kamenka
— 525 —
kann ich mich nicht genug über die hier herrschende Ruhe,,
über die schöne Luft und über die Einfachheit der Sitten
freuen"....
An Frau N. F. von Meck:
„Werbowka, den 4. JuH, 1878.
....Ich erfreue mich einer ausgezeichneten Gesundheit,
wenn man eine sehr merkwürdige Erscheinung abrechnet,
welche sich seit einiger Zeit allabendüch einstellt. Um neun
Uhr überfällt mich eine unerträgliche Schläfrigkeit, be-
gleitet von einer Kräfteabnahme, infolgederen ich weder
sprechen, noch hören, noch sonst etwas thun kann. Ich
möchte davon laufen, mich verstecken, nicht sein. Indess
weiss ich aus Erfahrung, dass ich diese Schläfrigkeit be-
kämpfen muss, wenn ich nicht in der Nacht an Herzbeklem-
mung und Albdrücken leiden will. Der ganze Abend ver-
geht in diesem Kampf. Selbstverständlich ist es nichts an-
deres als Nervosität, welche keine Beachtung verdient. Aus
dieser Not rettet mich erstens die Willenskraft und zwei-
tens ein Glas Wein.
Meine Arbeit geht langsam vorwärts. Die Sonate ist
aber dennoch schon fertig, und Heute habe ich einige teils
im Ausland, teils in Kamenka (im April) komponierte
Lieder abzuschreiben begonnen.... Ich habe die Nachricht
von Jurgenson bekommen, dass im August vier grosse rus-
sische Konzerte unter N. Rubinsteins Leitung in Paris
stattfinden werden. Von meinen Werken kommen dran das
Klavierkonzert, „Sturm", „Francesca" und zwei Sätze aus
unserer Symphonie. Das Nähere darüber werde ich Ihnen
rechtzeitig mitteilen für den Fall, dass Sie den Wunsch
hätten, Ihre Reise nach Paris so einzurichten, dass sie mit
der Zeit der Konzerte zusammenfällt. Von Mitwirkenden
ist u. A. Frau Lawrowskaja engagiert".
An Frau N. F. von Meck:
„13. Juh, 1878.
....Hier werden jetzt Proben zu einer Theatervorstel-
lung abgehalten, welche am 16. Juli, am Vorabend der
Abreise Bruder Anatols, stattfinden soll. Ich habe die Rolle
des Souffleurs und Regisseurs übernommen. Es wird Go-
gols „Heirat" und Szenen aus Moliere's „Misanthrope" ge-
geben. Als Schauspieler treten ausschliesslich meine und
meines Schwagers Nichten und Neffen auf.
- 52б -
Die recht langweilige Arbeit des Abschreibens geht
langsam vorwärts. Jetzt schreibe ich das „Kinderalbum"
ab, dann kommt die Liturgie dran, und dann will ich mich
(Ihrem Rat folgend) einige Zeit erholen, um später wieder
ein grösseres Werk in Angriff zu nehmen".
An P. J. Jurgenson:
(Mitte Juli).
....Ich hatte an Frau Mamontoff geschrieben, dass ihre
Lieder, welche schon im Mai vorigen Jahres fertig waren,
welche sie mir aber zwecks Umarbeitung der Ritornels
zurückgeschickt hatte, — mir derart widerlich seien, dass
ich mich nicht länger mit ihnen abgeben könne, zumal da
ich das vorjährige Manuskript verloren hätte und nicht
mehr wüsste, bei welchen Liedern die Ritornels umgear-
beitet werden müssten. Ich bat sie, mich nicht mit dieser
Arbeit zu belästigen. Darauf schrieb sie mir einen Brief
mit Sticheleien und Klagen über die Rouünenmässigheit
(?) meiner Klavierbegleitungen im ersten Heft der Lieder,
erklärt sich aber bereit, mich zu dispensiren und verlangt
die Rücksendung der Lieder, welche sie mir im Anfang
des Sommers zur Bearbeitung geschickt hatte. Ich bin sehr
froh, — doch muss ich ihr auch das Geld zurückgeben, wel-
ches ich im vorigen Jahr mit vieler Mühe von ihr erhal-
ten hatte. Sie hatte mir damals fünf Rubel pro Lied be-
zahlt. Ich glaube es waren im Ganzen etwa 20 Stück, also
für 100 Rubel.
Willst Du nun so gut sein und in Erfahrung bringen,
wieviel ich ihr schulde, und diese Schuld für mich be-
zahlen?
Kannst Du mir sagen, ob ich das Recht habe, ihr zu
verbieten, meinen Namen auf die folgenden Ausgaben der
Lieder zu setzen?"
An Frau N. F. von Meck:
„Werbowka, 25. Juli, 1878.
Schreibe Ihnen, liebe Freundin, leichten Herzens und
in dem angenehmen Bewusstsein, eine Arbeit beendet zu
haben. Heute ist die letzte Seite der Liturgie fertig ge-
worden, und somit die lange und langweilige Arbeit des
Abschreibens zu Ende. — Jetzt will ich mich erholen und
neue Kräfte sammeln. Wissen Sie was mir soeben einge-
— 527 —
fallen ist? Diejenigen, welche mit fieberhafter Eile zu ar-
beiten pflegen (wie ich), sind im Grunde die grössten Fau-
lenzer. Sie trachten danach, möglichst schnell das Recht
des Nichtsthunens zu gewinnen. Dieser meiner heimlichen
Lust zum Nichtsthun werde ich jetzt nach Belieben fröh-
nen können".
An P. J. Jurgenson:
„Werbowka, 29. Juli, 1878.
Lieber Freund, meine Manuskripte werden Dir gebracht
werden. Deine Stecher kriegen nicht wenig Material. Fünf
Werke sende ich Dir. Ausserdem werde ich Dir nach eini-
ger Zeit 3 Stücke für Violine zuschicken.
Folgende Honorare bitte ich mir aus:
i) Sonate 50 Rbl.
2) 12 Stücke ä 25 Rbl 300 „
3) Das Kinderalbum 240 „
4) Sechs Lieder ä 25 Rbl 150 „
5) Die Violinstücke ä 25 „ 75 >-
6) Die Liturgie . . 100 „
915 Rbl.
Also rund 900 Rbl.; jedoch angesichts dessen, dass ich
so viel auf einmal geschrieben habe, will ich Dir alles zu-
sammen für 800 Rbl. lassen.
Nun m^öchte ich Dich bitten, lieber Freund, eine Rech-
nung für mich anfertigen zu lassen mit Berücksichtigung
dessen, was ich Dir schuldig bin und mit Hinzufügung des
Honorars für „Eugen Onegin*-"- und für das Violinkonzert.
Bist Du damit einverstanden, die fünfhundert Rbl., welche
ich Dir schulde, für die Oper zu rechnen? Für das Vio-
linkonzert möchte ich gern 50 Rbl. haben. Sei so gut, mein
Lieber, und lasse alle diese Rechnereien in's Reine brin-
gen. Wenn es sich erweisen sollte, dass ich von Dir noch
etwas zu bekommen habe, dann möchte ich dieses Geld
nicht auf einmal, sondern nach und nach von Dir bezie-
hen. Uebrigens wie Du willst! Wenn ich nicht irre hast
Du an Antonina Iwanowna im Januar, März, April, Mai,
Juni, Juli je 100 Rbl. ausgezahlt — im Ganzen also 600 Rbl.
Nun hast Du aber 200 Rbl. aus dem Konservatorium er-
halten, 100 Rbl. hatte ich Dir im Juni selbst gegeben und
weitere 100 Rbl. sind Dir durch Anatol überbracht wor-
-528-
den. Somit hätte ich von jenen 600 Rubeln bereits 400
beglichen.
Die Korrektur des ^Onegin" habe ich erhalten und wer-
de wahrscheinlich sehr lange daran sitzen: es sind sehr
viele Fehler drin, die meisten durch mein eigenes Ver-
schulden, aber auch der Korrektor ist für viele verant-
wortlich zu machen. Aergere Dich aber nicht über Ka-
schkin: er kann wahrlich nichts dafür".
An Frau N. F. von Meck:
„Werbowka, 2. August, 1878.
....Gestern Abend habe ich den „Onegin" meinen Mit-
bewohnern vorgespielt. Ihre Eindrücke waren für mich
sehr günstig. Ich geniere mich eigentlich, einzugestehn,
dass es auch für mich ein grosser Genuss war und dass
ich meinen Vortrag infolge zu grosser Aufregung und in-
folge zu starken Thränenandranges oft unterbrechen
musste. Je öfter ich an eine Aufführung der Oper denke,
je mehr werde ich überzeugt, dass eine solche unmöglich
ist, d. h. ich verstehe darunter eine Aufführung, die mei-
nen Wünschen und Absichten entspräche. Namentlich
werden Tatjana und Lensky wohl kaum zu finden sein.
Darum bin ich zu glauben geneigt, dass meine Oper nie-
mals die Bretter sehen wird. Ich selbst werde mich je-
denfalls nie um eine Aufführung bemühen, denn die The-
aterdirektion wird in diesem Fall dem Werk wie gewöhnlich
nicht genügend Wohlwollen und Mühe entgegenbringen.
Sollte aber irgend eine Direktion von selbst darauf kom-
men und die Oper bei mir bitten, dann w^erde ich sehr
hohe Anforderungen stellen".
An Frau N. F. von Meck:
„Werbowka, 4. August, 1878.
Nach meiner Gepflogenheit, stets unruhig zu sein und
sich über dies und jenes Sorgen zu machen, gräme ich
mich augenblicklich darüber, dass ich nicht rechtzeitig
nach Brailow gekommen bin, d. h. nicht sofort nach Ihrer
Abreise. Ich fürchte, dass es Ihrer Dienerschaft verschie-
dene Unbequemlichkeiten verursachen könnte. Doch was
konnte ich thun?
Ich wünschte, es könnte mir Jemand die Ursachen jener
merkwürdigen allabendlichen .Schwächezustände, unter de-
— 529 —
nen ich seit einiger Zeit leide und von denen ich Ihnen
schon geschrieben habe, erklären. Ich kann nicht sagen,
dass sie mir unwillkommen sind, denn sie gehen gewöhn-
lich in einen tiefen, fast letargischen Schlaf über, und ein
solcher Schlaf ist für mich ein Hochgenuss. Nichtsdesto-
weniger sind die Anfälle selbst äusserst lästig und unan-
genehm, namentlich jener unbestimmte Kummer, jene un-
definierbare Sehnsucht, welche mit unglaublicher Kraft
meine ganze Seele erfasst und in den positiven Wunsch
des Nichtseins ausläuft, la soif du neant. Am wahrschein-
lichsten sind die Gründe dieses psychologischen Phäno-
mens sehr prosaischer Natur; ich glaube, es ist keine
Seelenkrankheit, sondern die Folge schlechter Verdauung,
ein Rest meines früheren Magenkatarrhs. Leider kann man
sich über die Thatsache des Einflusses der Materie auf den
Geist nicht hinwegtäuschen! Nur zu oft kann eine überflüs-
sige saure Gurke für die höchsten Funktionen des menschli-
chen Geistes von grosser Bedeutung werden. Verzeihen Sie,
liebe Freundin, dass ich Sie mit beständigen Klagen über
meine Gesundheit langweile, die dazu garnicht am Platze
sind, da ich im Grunde ein ganz gesunder Mensch bin,
d. h. nur relativ, denn jene kleinen Schmerzen, über die
ich mich beklage, enthalten durchaus nichts Ernstes. Ich
bedarf nur der Erholung. Und diese werde ich in Brailow
zweifellos finden. О Gott! Wie sehne ich mich nach jenem
lieben Haus und nach jener lieben Gegend!"
An Frau N. F. von Meck:
„Brailow, 12. August, 1878.
Endlich bin ich in Brailow, meine liebenswürdige Wir-
tin, und fühle mich hier so gut, so leicht, so warm. Ich
bin gestern Abend angekommen. Bei der mir eigenen krank-
haften Bescheidenheit, fühlte ich mich anfangs selbstver-
ständlich etwas unbehaglich. Es war mir peinlich, dass
der Diener mich auf dem Bahnhof empfangen hat, dass
das ganze Haus um meiner Person willen erleuchtet war,
dass eigens für mich ein grossartiges Souper bereit stand,
u. s. w., u. s. w. Trotzdem war es mir ein Genuss, mich
bei Ihnen in Brailow zu wissen und an die bevorstehen-
den herrlichen Tage zu denken. Vor lauter Aufregung
und, vielleicht, vor Ermüdung konnte ich lange nicht
einschlafen; ich öffnete das P'enster, träumte in die lautlose
Stille der wunderschönen Nacht hinaus. Später schlief
Tsehaikotvsky, JLf. P. I. Tschaikowsky's Leben. 34
— 530 —
ich sehr fest ein und fühlte mich heute beim Erwachen
so heimisch wie bei sich zu Hause.
An meiner Einsamkeit berausche ich mich im wahren
Sinne des Wortes. Es ist ja schön, in Gesellschaft ver-
wandter und lieber Menschen zu wohnen, doch ist es
auch notwendig, von Zeit zu Zeit allein zu sein. Ich habe
viel mehr Grund mich eine Mimose zu nennen, als Glinka.
Aus seinen Memoiren ist es ersichtlich, dass dieser Spitz-
name garnicht für ihn passend war. Er fühlte sich in
Gesellschaft, wie ein Fisch im Wasser. Ich lebe dann erst
ein echtes volles Leben und fühle mich positiv glücklich,
wenn ich vor der Berührung mit meinen Nebenmenschen
absolut gesichert bin, was mich aber nicht hindert, einige
Repräsentanten dieser Spezies mehr denn das eigene Le-
ben zu lieben".
An Frau von Meck:
„Brailow, 13. August, 1878.
Der Müssiggang ist ein sehr angenehmes Ding, wenn
er durch die Notwendigkeit der Erholung gerechtfertigt wer-
den und als ein wohlverdienter Lohn für fleissige Arbeit
angesehn werden kann... Gestern habe ich recht viel ge-
spielt. In Ihren Noten habe ich einige mir noch unbekannte
Lieder gefunden: vier sehr schlechte von Näprawnik und
sechs recht hübsche von Dawidoff. Auch habe ich eine
Hamburger Ausgabe meiner Lieder mit einer sehr schlech-
ten deutschen Textübersetzung zu Gesicht bekommen. Es
giebt eine sehr gute Leipziger Ausgabe meiner Lieder. А
propos, ich habe bemerkt, dass die Kiewer Musikalien-
händler sich einer unerlaubten Handlungsweise schuldig
machen, indem sie ausländische Ausgaben russischer Auto-
ren verkaufen. Das Gesetz verbietet derartige Eingriffe in
die Rechte des künstlerischen Eigentums.
Ich besuche sehr oft Ihre Privatgemächer, und sitze
daselbst entweder mit einem Buch in der Hand, oder in
Gedanken und Luftschlösser versunken. Unter anderem
denke ich oft daran, dass ich für die mir bevorstehende
Uebersiedelung nach Moskau recht viel männlichen Mut
fassen müsste, um mein zukünftiges Leben möglichst an-
genehm einzurichten. Ich bin zu der Ueberzeugung ge-
langt, dass es am besten wäre, mich gleich von vorn he-
rein zu isolieren und nach Möglichkeit ganz allein zu
wohnen. Auch hege ich den Wunsch, mir nach und nach
- 531 —
eine Bibliotek anzulegen, denn je älter ich werde — ^je mehr
gewinne ich die Ueberzeugung, dass Bücher viel unter-
haltender und nützlicher seien, als eine Gesellschaft von
Menschen. Das Zusammensein ist nur mit solchen Men-
schen angenehm, welche zu keinem Gespräch verpflichten,
d. h. mit intimen Freunden; solche ivirhlich nahe Menschen
besitze ich aber — ausser Ihnen — in Moskau nicht. Mit Ihnen
werde ich mich schriftlich unterhalten. Ein zwangweise
geführtes Gespräch, das sogenannte Unterhalten eines Gas-
tes ist stets blos geistloses Geschwätz. Mein grösster Feind
ist mein Gast. Seit jeher bin ich bestrebt gewesen, Gäs-
ten aus dem Wege zu gehn. Jetzt werde ich unerbittlich
sein".
An Frau N. F. von Meck:
„Brailow, 14. August, 1878.
Ich habe sehr viele gute Bücher mitgebracht, darun-
ter auch „Histoire de ma vie" von George Sand. Das
Buch ist ziemlich nachlässig geschrieben, d. h. ohne Fol-
gerichtigkeit, so, wie ein geistreicher Schwätzer, der sich
von seinen Erinnerungen hinreissen lässt, beständig vor-
wegeilt, Seitensprünge macht u. s. w., zu erzählen pflegt.
Dafür sehr viel Aufrichtigkeit, vollständige Abwesenheit
jeglicher Pose und ungewöhnlich talentvolle Charakte-
ristik derjenigen Personen, unter denen sie sich in ihren
Jugendjahren bewegt hatte. In Ihrer Bibliotek giebt es
auch sehr viele Bücher, von denen ich mich nicht los-
reissen kann, wenn ich sie einmal in die Hand genommen
habe. Unter anderem habe ich bei Ihnen eine prachtvolle
Ausgabe von Musset vorgefunden, eines meiner liebsten
Schriftsteller. Als ich Heute dieses Buch durchblätterte,
liess ich mich vom Drama „Andre del Sarto" so fesseln,
dass ich — auf dem Fussboden sitzend — das ganze Stück
durchlesen musste. Ich liebe leidenschaftlich alle drama-
tischen Werke Musset's. Wie oft hatte ich Lust, aus irgend
einer seiner Komödieen und Dramas ein Opernlibretto zu
machen! Leider sind sie alle zu französisch und in einer
Uebersetzung undenkbar, z. B. „Le Chandelier" oder „On
ne badine pas avec l'amour". Andere, welche weniger
lokalen Charakter aufweisen, z. B. „Lonrenzaccio" oder
„Andre del Sarto", entbehren wieder der dramatischen Be-
wegung oder enthalten zu viel Philosophiererei, wie z.
B. „Les Caprices de Marianne".
— 532 —
Es ist mir unbegreiflich, weshalb die französischen Kom-
ponisten diesem unerschöpflichen Born bis Heute noch
nichts entnommen haben".
An Frau N. F. von Meck:
„Brailow, 15. August, 1878.
.Jetzt ist das Wetter etwas besser; manchmal blickt
die Sonne durch die Wolken, und es ist Hoffnung vor-
handen, dass es sich gegen Abend ganz aufklären wird.
Ich muss Ihnen etwas beichten, meine liebe Freundin. Heute
früh hatte ich so grosse Lust, ein Scherzo für Orchester
zu skizzieren, dass ich mich hinreissen liess und volle 2
Stunden gearbeitet habe. Auf diese Weise habe ich mein
Wort gebrochen, den Aufenthalt in Brailow ungeteilt der
Erholung zu widmen. Es hat mich aber nicht im geringsten
angestrengt. Nichtsdestoweniger will ich mich aller weite-
ren kompositorischen Ausfälle enthalten".
An Frau N. F. von Meck:
„Brailow, 16. August, 1878.
Ich kehre zu Alfred de Musset zurück. Sie müssen
durchaus seine „Proverbes dramatiques" lesen. Ganz be-
sonderes empfehle ich Ihnen „Les Caprices de Marianne",
„On ne badine pas avec l'amour" und „Le Chandelier".
Drängt sich das alles nicht von selbst der Musik auf?
Wieviel Gedanken, wieviel Scharfsinn! Wie tief ist das
alles durchfühlt, und dabei wie bezaubernd schön. Es
liest sich so leicht, dass man garnicht die Empfindung
hat, es sei blos um der Idee Willen geschrieben, d. h.
diese Idee sei vorher gewaltsam in das künstlerische Ma-
terial hineingezwängt worden und habe die freie Ent-
wicklung der Handlung, der Charaktere und Situationen
paralysiert. Ferner gefallen mir sehr die echt Shakespear-
schen Anachronismen, wie z. B. das Gespräch über die
Kunst der Sängerin Grisi am Hofe irgend eines phan-
tastischen Bayernkönigs beim Empfang eines Herzogs von
Mantua. Wie Shakespeare, hält sich auch Musset garnicht
an die lokale Wahrheit, dafür findet sich aber bei ihm,
ebenso wie bei Shakespeare, sehr viel von jener allgemein
menschlichen, von Zeit und Raum unabhängigen, ewigen
Wahrheit. Nur der Rahmen ist bei ihm kleiner und der
Flug nicht so hoch. Im Uebrigen giebt es wohl kaum einen
— 533 —
anderen Bühnendichter, der Shakespeare so nahe gekommen
wäre, wie Musset. Ganz besonders starken Eindruck hat
auf mich das Stück „Les Caprices de Marianne" gemacht,
und Heute denke ich den ganzen Tag daran, wie man
daraus ein Opernszenarium machen könnte. Ueberhaupt
fühle ich die Notwendigkeit, wieder an Operntexte zu den-
ken. „Undine" bin ich untreu geworden. Für „Romeo
und Julie" schwärme ich zwar noch, aber: erstens — ist es
sehr schwer, und zweitens — schrecke ich vor Gounod zu-
rück, der über diesen Text eine, allerdings mittelmässige,
Oper bereits geschrieben hat".
An Frau N. F. von Meck:
„Werbowka, 25. August, 1878.
Ich bin schon seit sechs Tagen in Werbowka und habe
aus verschiedenen Gründen gar nicht gemerkt, wie die
Zeit verflogen ist. Jeden Tag nehme ich mir mit einigem
Angstgefühl vor, abzureisen, doch haben mich bis jetzt
verschiedene Umstände daran gehindert. Erstens, ist das
Wetter so schön, dass ich mich nicht entschliessen kann
das Dorf mit der Stadt zu vertauschen. Zweitens, bin ich
ausser Stande, mich von meiner Arbeit zu trennen... Ja,
meine liebe, meine beste Freundin, die Sie mir Ruhe vor-
diktiert hatten, — ich habe das Ihnen gegebene Wort gebro-
chen. Ich hatte Ihnen schon aus Brailow geschrieben,
dass ich mich eines kleinen Scherzoentwurfs für Orchester
nicht habe enthalten können. Bald darauf kam ich auf die
Idee, eine ganze Reihe Stücke für Orchester zu schreiben,
aus denen sich eine Suite ä la Lachner machen liesse. In
Werbowka angelangt, fühlte ich, dass ich meinen inneren
Drang nicht eindämmen könne und entschloss mich daher,
die Skizzen für die Suite zu Papier zu bringen. Ich arbei-
tete mit einer solchen Wonne und Begeisterung, dass ich
buchstäblich nicht merkte, wie die Stunden vergingen.
Augenblicklich sind drei Sätze dieses Orchesterwerkes
bereits fertig, der vierte ist entworfen und der fünfte sitzt
im Kopf.
Ich bin nicht im geringsten ermüdet, und das ist ge-
wöhnlich der Fall, wenn ich gearbeitet habe, ohne mir
Zwang anzuthun, d. h, aus reiner Herzenslust. Es scheint
mir immer, ich hätte kein Recht, mich meiner Natur zu
widersetzen, sobald das Flämmchen der Inspiration sie
erwärmt, und ich bitte Sie daher, es mir nicht übel neh-
— 534 —
men zu wollen, dass ich mein Versprechen nicht gehalten
habe. Die Suite wird aus fünf Teilen bestehn: i) Intro-
duktion und Fuge, 2) Scherzo, 3) Andante, 4) Intermezzo
(Echo du bal) 5) Rondo. Während ich an diesem Werk
arbeitete, dachte ich unausgesetzt an Sie; jeden AugenbHck
fragte ich mich, ob Ihnen w^hl diese oder jene Stelle ge-
fallen, oder die eine oder die andere Melodie Sie rühren
würde; darum will ich mein neues Opus keinem andern
widmen, als meinem besten Freund. Morgen w^ll ich di-
rekt nach Petersburg reisen, um meinen Vater und Ana-
tol wiederzusehn und möchte dort zw^ei bis drei Tage
bleiben. Dann gehts nach Moskau. Ein wenig Furcht, ein
wenig Traurigkeit und ein wenig Ekel habe ich vor mei-
nem zukünftigen Leben."
An M. Tschaikowsk}^:
„Werbowka, 28. August, 1878.
Ich habe eigentlich schon Vorgestern Abend von hier
abreisen wollen. Da aber für Gestern eine grosse Treib-
jagd geplant geAvesen ist, an welcher 32 Schützen und 70
Treiber teilnehmen sollten, so habe ich mich verführen
lassen, meine Reise bis Heute aufzuschieben. Leider habe
ich kein grosses Vergnügen an der Jagd gefunden, denn
ich hatte mich Vorgestern erkältet und fühlte mich den
ganzen gestrigen Tag so schlecht, dass ich fast weinte
und die Rückkehr nach Hause herbeisehnte. Die Jagd war
misslungen: es gab w^enig Wild. Um neun Uhr Abends
legte ich mich zu Bett und bin Heute um fünf als ganz
gesunder Mensch wieder erwacht."
An M. Tschaikowsk\^:
„Kiew, 29. August, 1878.
In der heutigen Zeitung („Nowoje Wremja") fand ich
ein Feuilleton, welches eine schmutzige, niedrige und ge-
meine Verleumdung gegen das Moskauer Konservatorium
schleudert. Von meiner Person ist nur wenig gesagt; es
ist nur erwähnt, dass ich mich nur mit Musik beschäftige
und an den Intriguen nicht teilnehme.
Mit heroischem und philosophischem Gleichmut habe
ich diese Philippika über mich ergehn lassen und fort-
gesetzt, mich mit Leo über Schwarzerde zu unterhalten.
In Kiew — eine neue Ueberraschung. Wir hatten nur eine
— 535 —
halbe Stunde Verspätung, trotzdem war der Zug nach
Kursk bereits fort. Ich hatte solch eine Sehnsucht nach
der Weiterfahrt, und — prosit Mahlzeit! Jetzt muss ich 24
Stunden in Kiew sitzen, und Anatol wird sehr betrübt sein,
mich erst am Freitag wiederzusehn.
Noch unterwegs, mit der Zeitung in der Hand, habe
ich beschlossen, meine Professur ganz aufzugeben. Ich
hätte das schon jetzt gethan und wäre garnicht erst nach
Moskau gefahren, wenn die Wohnung nicht schon gemie-
tet wäre, und wenn man im Konservatorium mich nicht
bestimmt erwartet hätte. Mit einem Wort, ich habe beschlos-
sen bis zum Dezember zu warten, dann für die Feiertage
nach Kamenka zu reisen und von da aus die Mitteilung
zu machen, dass ich krank sei; selbstverständlich werde
ich Rubinstein im Geheimen vorher verständigen, damit
er einen anderen Professor engagiere. Also vive la liberte
et surtout Nadeshda Filaretowna! Es unterliegt garkeinem
Zw^eifel, dass Sie meinen Entschluss billigen wird — folglich
werde ich in der Lage sein, ein herrliches Wanderleben
zu führen und mich bald in Kamenka, bald in Werbowka,
bald in Petersburg oder im Auslande aufzuhalten. Apres
tout: es ist alles zu unserem Besten, und in diesem Augen-
blick bin ich in Betreff diverser Zeitungen vollständig be-
ruhigt. Für mein ferneres Wohlbefinden thut mir nur eines
Not: dass Du und Anatol mit eurem Geschick zufrieden
seid; wie ist aber das zu erreichen? Komme um Gottes
Willen schneller nach Moskau, ich sehne mich. Dir mein
Herz auszuschütten! Um Gottes Willen arbeite an Deiner
Novelle! Nur die Arbeit kann den Gedanken an die mi-
seres de la vie humaine verscheuchen. Gleichzeitig wird
sie Dich selbstständig machen.
Ich weiss. Du wirst mir sagen, dass Du zum Schreiben
heine Zeit findest, da Du den ganzen Tag durch Kolja in
Anspruch genommen seiest. Ich wiederhole aber: schreibe,
schreibe, schreibe! Ich könnte Dir mich selbst als Bei-
spiel hinstellen. Ich hatte täglich sechs geisttötende, entner-
vende Stunden im Konservatorium zu geben, wohnte da-
bei zusammen mit Rubinstein, dessen Lebensweise mir sehr
hinderlich war, die Wohnung lag neben dem Konserva-
torium, von wo aus ununterbrochen Tonleiter und Etüden
zu mir herüberklangen und mich am Komponieren störten.
Allerdings wird die Beschäftigung mit Kolja wohl etwas
anstrengender sein, als meine Theoriestunden, nichtsdesto-
weniger— schreibe! Einstweilen jedoch küsse ich Dich, mein
— 53б —
lieber teurer Modi. Im Grunde ist alles — Wurst, wenn es
nur Menschen giebt, die man lieb haben kann, so wie
ich Dich lieb habe, und Du mich (verzeih mir die Ein-
bildung)!"
Im Laufe der Saison hat Peter Iljitsch folgende Werke
fertiggestellt:
i) Op. 36. Symphonie № 4 (F-moll), in vier Sätzen, ge-
widmet „meinem besten Freund." Die ersten Entwürfe
waren schon im Mai 1877 fertig. Am 11. August begann
Peter Iljitsch mit der Instrumentierung und beendete den
ersten Satz der Symphonie am 12. September. Dann trat
eine zweimonatliche Pause ein, worauf er Ende Novem-
ber an die Fortsetzung ging. Am 15. Dezember wurde
das Andante fertig, am 20. — das Scherzo, und am 26. — das
Finale, Ihre erste Aufführung erlebte die Symphonie am
IG. Februar 1878 in einem Symphoniekonzert der Rus-
sischen Musikalischen Gesellschaft in Moskau unter Lei-
tung N. G. Rubinsteins.
2) Op. 24.- „Eugen Onegin". Lyrische Szenen in 3 Akten
und 7 Bildern. Das Textbuch ist frei nach Puschkin vom
Komponisten selbst und K. S. Schilowsky gemacht wor-
den. Die Initiative für diese Oper gehört Frau E. A. Law-
rowskaja. Am 18. Mai, 1877 hat Peter Iljitsch folgendes
Szenarium projektiert:
Erster Akt. Erstes Bild. Die alte Larina und die Muhme
sitzen im Garten beim Einmachen. Duett der beiden Frauen.
Aus dem Hause ertönt Gesang. Er rührt von Tatjana und
Olga her, welche ein Duett mit Begleitung einer Harfe
singen. Dann erscheinen Bauern mit der letzten Garbe.
Sie singen und tanzen.
Plötzlich meldet der Diener Gäste. Aufregung. Onegin
und Lensky treten ein. Die Zeremonie der Vorstellung und
Bewirtung (das Preisselbeerenwasser). Quintett ä la Mo-
zart. Die Alten entfernen sich, das Abendessen zu besor-
gen. Die jungen Leute promenieren paarweise im Garten
(ähnlich wie in Faust). Tatjana ist anfangs etwas spröde,
später verhebt sie sich.
Zweites Bild. Die Szene mit der Muhme und der Brief
Tatjana's.
Drittes Bild. Duett zwischen Onegin und Tatjana.
Zweiter Akt. Erstes Bild. Tatjana's Namenstag. Ball.
Die Szene der Eifersucht Lensky's. Er beleidigt Onegin
und fordert ihn. Allgemeines Entsetzen.
Zweites Bild. Die letzte Arie Lensky's und das Pisto-
lenduell.
— 537 —
Dritter Akt. Erstes Bild. Moskau. Der Ball im Adels-
klub. Das Wiedersehn Tatjana's mit allen ihren Tanten und
Cousinen. Chor. Das Erscheinen des Generals. Er verliebt
sich in Tatjana. Sie erzählt ihm ihre Lebensgeschichte und
ist bereit, ihn zu heiraten.
Zweites Bild. In Petersburg. Tatjana erwartet Onegin.
Er erscheint. Grosses Duett. Tatjana kämpft mit dem Ge-
fühl der Liebe zu Eugen, welches sie von neuem erfasst.
Da erscheint ihr Gemahl. Das Pflichtgefühl siegt. Onegin
stürzt in Verzweiflung davon.
Mit Ausnahme des ersten Bildes des dritten Aktes in
welchem der Moskauer Ball mit einem Ball in Petersburg
vertauscht worden ist, hat Peter Iljitsch an diesem Szena-
rium nichts weiter geändert.
Trotzdem sich die Librettisten bemüht hatten, in Betreff
der Anordung der Szenen der Dichtung Puschkins mög-
lichst treu zu bleiben, auch die Originalverse beizubehal-
ten und nur in den dringendsten Fällen selbst erfundene
Stellen einzuschalten, — ist ihnen dennoch eine kapitale Ab-
weichung von dem Inhalt der Urdichtung mit unterge-
schlüpft, indem sie im letzten Bild der Oper Tatjana One-
gin um den Hals fallen Hessen. Doch im Herbst 1880 — kurz
vor der ersten Vorstellung der Oper im Grossen Theater
zu Moskau — hat Peter Iljitsch der Schlussszene der Oper
diejenige Fassung gegeben, die uns bekannt ist.
Die Mitarbeiterschaft K. S. Schilowsky's bei dem Arran-
gement des Libretto's beschränkt sich — abgesehen vom
Szenarium — auf den französischen und russischen Text
derCouplet'sfür Triquet; alle anderen eingeschalteten Verse
haben den Komponisten zum Autor.
Am 6. Juni war das zweite Bild des ersten Aktes (der
Brief Tatjana's) bereits komponiert und am 15. Juni — der
ganze erste Akt beendet. Am 23. Juni waren -/3 der Oper
fertig. Nach einer 30-tägigen Pause ging Peter Iljitsch im
August (in Kamenka) wieder an die Arbeit und beendete
die Komposition der Oper. Auch hat er daselbst das erste
Bild des ersten Aktes instrumentiert. — Im Laufe des Sep-
tember und der ersten Tage des Oktober hat Peter Iljitsch
wiederum nichts gearbeitet und ist erst Mitte Oktober an
die Fortsetzung gegangen; am 20. ist der ganze erste Akt
fertig instrumentiert und am 23. nach Moskau abgeschickt
worden. Im November instrumentierte Peter Iljitsch das
erste Bild des zweiten Aktes. Den ganzen Monat Dezem-
ber widmete er der S3miphonie. Am 2. Januar 1878 machte
-538-
er sich in San Remo wieder an „Onegin" und beendete
die ganze Oper am 20. Januar. Im Ganzen hat Peter Iljitsch
für die Komposition der Oper (einschhesslich des Libretto)
nicht mehr als fünf Monate verwendet. Im Sommer 1885
komponierte Peter Iljitsch auf Ersuchen des Direktors der
Kaiserlichen Theater eine Eccossaise für das erste Bild
des zweiten Aktes und änderte ein wenig das Finale.
Ihre erste Aufführung erlebte die Oper am 17. März
1877 in Moskau gelegentlich einer Schülervorstellung des
Moskauer Konservatoriums im Kleinen Theater.
Verlag P. I. Jurgenson.
3) Opus 38. Sechs an A. Tschaikowsky gewidmete
Lieder: № i. „Don Juans Serenade", Text von Graf A.
Tolstoi; № 2. „Das war im ersten Lenzesstrahl" (A. Tol-
stoi); Xs 3. „Im erregenden Tanze" (A. Tolstoi); № 4. „Ach,
wenn Du könntest" (A. Tolstoi); № 5. „Aus dem Jenseits"
(Lermontoff); № 6. „Pimpinella" (florentinisches Lied). Ver-
lag P. I. Jurgenson.
4) Op. 40. Zwölf Klavierstücke (mittlerer Schwierigkeit),
M. Tschaikowsky zugeeignet: № i. Etüde, № 2. Chanson
triste, № 3. Marche funebre, № 4. Mazurka C-dur, № 5.
Mazurka D-dur, № 6. Chant sans paroles, № 7. Au vil-
lage, № 8. Valse As-dur, X2 9. Valse A-dur, № 10. Danse
russe, № II. Scherzo F-dur, № 12. Reverie interrompue.
Als erstes von diesen zwölf Stücken ist № 12 komponiert
worden. Der mittlere Teil dieses Stückes ist ein vene-
tianisches Lied, welches während des Aufenthaltes Peter
Iljitsch's in Venedig fast jeden Abend unter seinem Fen-
ster gesungen wurde. Die anderen sind zu verschiedenen
Zeiten entstanden, „Danse russe" schon im Jahre 1876 und
war ursprünglich als Einlegenummer für das Ballett „Der
Schwanensee" bestimmt. Verlag P. I. Jurgenson..
5) Op. 37. Grosse Sonate für Klavier (G-dur) in vier
Sätzen. Ch. Klindworth gewidmet. Sie ist in den ersten
Tagen des März 1878 in Ciarens begonnen und am 30.
April beendet worden. Am 21. Oktober 1879 hat sie N. G.
Rubinstein zum ersten Mal (in Moskau) öffentlich gespielt.
Verlag P. I. Jurgenson.
6) Op. 35. Konzert für Violine mit Orchester. Ursprüng-
lich war es L. Auer gewidmet, später jedoch dedizierte
es Peter Iljitsch an A. Brodsky. Es ist Anfang März 1878
in Ciarens begonnen und bereits am 16. desselben Monats
im Entwurf fertig gemacht worden, doch gefiel das An-
dante dem Komponisten nicht, so dass er ein neues ge-
— 539 —
schrieben hat. Ende April war das Konzert instrumentiert.
Uraufführung in Wien (1879) durch A. Brodsky. Verlag
P. I. Jurgenson.
7) Op. 42. „Souvenir d'un lieu eher", drei Stücke für
Violine mit Klavierbegleitung: № i. ist das ursprüngliche
Andante für's Konzert. Die beiden andern Stücke sind Ende
Mai in Brailow entstanden. Verlag P. I. Jurgenson.
8) Op. 41. Liturgie des hlg. Joann Slatoust für vier-
stimmigen gemischten Chor. Begonnen im Mai 1878 in
Kamenka, beendet am 27. Mai in Brailow. Verlag P. I.
Jurgenson.
9) Op. 39. Kinderalbum, 24 leichte Stücke für Klavier
(ä la Schumann). Gewidmet an W. Dwidoff. Verlag P. I.
Jurgenson.
10) „Skobeleff-Marche", komponiert von Sinopoff. Peter
Iljitsch verheimhchte seine Urheberschaft dieses Stückes,
da er es für zu unbedeutend hielt. Er hat es auf Bestel-
lung P. I. Jurgenson's Ende April in Kamenka komponiert.
Verlag P. I. Jurgenson.
Ausserdem hat Peter Iljitsch im Laufe des Dezember
1877 die Uebersetzung der italienischen Texte von sechs
Liedern von Glinka gemacht und den Text für ein Ge-
sangsquartett desselben Komponisten gedichtet.
Im August 1878 hat Peter Iljitsch auch noch den gros-
sten Teil der Suite № i fertig gestellt.
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