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Full text of "Der Affe Zarathustras"

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DEB AFFE 
2ARATHUSTRA 



EINE STEGBEIFMEDE 



GEHAETEN AM 25. OKTOBEM 1925 
IM WIENER 




DER AFFE 
ZARATHUSTRAS 



EINE STEGJREIFMEBE 



GEHAETEN AM 25. OKTOBER 1925 
IM. WIENEE KONZEMTHAUSSAAL 



(STENOGKAPHISCHES PHOTOKOIJL) 



VERLAG J. DEIBLEB, W1EPJ 



Vorrede. 

„Ich habe getan, was du nur maltestl" — ruft Fdesco, Prinz 
von Lavagna und wirft dem zu Tod erschrockenen Maler die 
Staffelei um. 

Aber liefle sich nicht das umgekehrte Frohlocken, freilich 
aus der Scham nicht dem Stolz losbrechend, denken: „Ich 
habe nur gemalt, was du tatest?" 

Der Herausgeber und Verfasser vorliegender Rede ist in 
dieser Lage. Der fallweise in iJim aufgetauchte Plan, das grofie 
pamphletistische Schwert wider einen Jugendbestricker zu 
ziicken, der ihm zugleich fur die Behextheit einer ganzen 
Schichte — des Inlelligenzplebejertums — symbolisoh schien, 
brach sich dimmer wieder an der ischanwollen Uberlegung: wie 
armlich es sei, an ein solches Werk Sprach- und Formulierungs- 
miihe zu wenden; wie unedel und gerade hn Sirnne dieser Rede 
und ihres Abschlusses Nietzsche-unwurdig es wirkte, mehr als 
impulsive Augenblickskrafte dem Beweis von dem Unwert 
eines Menschen, also einem tJberschatzungspxoblem zu opfern 
und nicht „voruberzugehen, wo man nicht lichen kann"; wie 
es den eigenen Kopf verdiirbe, ihn in , fremden Dreck zu 
stecken; woe dooh diese typisch lokale Kampfsache dem auBer- 
osterreichischen Leser chinesisch klingen miisse; endlich und 
hauptsachlich aber, dafi einer, der zumindest mit dem Wunsch 
nach den geistigem Dasems-Wohlgeruchen und auf der Hohe 
dieses Wunsches lebt, sich, wenn er gegen Obelgeriiche allzu 
geriistet und vorsatzlich zu Feld zieht, selber auf ewig mit 
ihnen beladt. 

So zog ich es denn vor, die geringere Waffe der rednerischen 
Eingebung und des Momentaffektes statt einer literarischen 
zu gebrauchen. So viel, glaube ich, ist das Problem wert. Und 
wenn ich auch trier der Witz- und Wort-Umspeichelung nicht 



entgehen kailn und, um Bornes treffendes Bild zu gebrauchen, 
einer „Eskortierung durch Gansefufichen" entgegensehe — es 
bleibt der Trost, mir mat der Arbeit, die es kostete, einen guten 
Tag und keine schlechte Nacht gemaoht zu haben. 

Die Rede selber, von den Schrappnellsplittern des Krawalls 
oft in ihrem Zusammenhangen zerrissen, daher in der Nieder- 
schrift, die von ihr im Saal angefertigt wurde, vielfaoh undeut- 
lich, zeriahren oder notdiirf tig iiberkleistert, an anderen Stellen 

— wie in der Einleitung — mit Privatem befaflt, soil ein 
Phonogramm, kein Stiliwerk darstellen; vielleioht ist das aber, 
da es die Krankheit — von mir „Itzig-Seuche" zubenannt — 
noch horbarer macht als die rednerische Aufdeckung dhres 
Wesens und ihrer Ursaehen, um so besser. Ich wollte jeden- 
falls im einizelnen nur die allergeringfugigsten Dinge aus- 
bessern, nur Satze wiederherstellen, die im Larm untergingen, 
angedeutete Parenthesen vollenden. Alles absichtlich Derbe 
und parodistisch-Triviale — bis zur rednerisohen Wortstellung 

— Iie6 ich ebenso absiohtlioh stehen. Desgleichen die ganze 
einleitende Auseinandersetzung, die eine Pressefehde streift 
und eine Improvisation innerhalb der Improvisation darstellt. 
(Die eigentliche Rede beginnt Seite 17). Ja, ich konnte, da nun 
einmal in dieses Protokoll bis zum albernsten Zuruf das ganze 
Gesinnung&gerausch Wiens eingefangen war, selbst die (fur 
ein Parlamentsstenogramm usnerlaBliohen) Vermerke „BeifaH" 
und „Heiterkeit" nicht weglassen, anogen sie auch neben der 
einen oder anderen Wendung wie eine sofort prasentierite 
Quittung wirken. 

Ob ioh — bis auf ein paar breiter ausgefuihi'te Satze iiber 
die Kraus'sche Sprache — irgendwelche wesentliohe Korrek- 
turen vorgenommen babe, das imogem ion uhrdgeni die Horer 
meines Vortrages iselbst entscheiden. Aber man iwird mir 
glauben, da6 er ohne die minutenlangen Priigeleien und 
Exzesse und ohne die meJirmalige Polizeidntervention ein 
formal geziigelteres Gesioht bekoanmen hatte. 

Meine polemische Lust ist damit zu Ende. Ich habe 
Besseres zu tun, und sei es auch: mchts. 

Anfon Kuh. 



. T. 



Herrn Regierungsrat Adolf I r s c h i g nnd Dr. Josef Meier, den 
Verfertigern des stenographischen Protokolls, sel an dieser Stelle fiir 
ihre miihselige und geistig gewissenhafte Arbeit der herzlicbste Dank 
ausgesprochen. 



(Beginn des Vortrages: 7 Uhr 40 Minuter, abends.)*) 

(Der Vortragende betritt, von stiirmischem Applaus begriiflt, das 
Podium. Lebhafte, sich im Takt erneuernde Gegenrufe: „Hoch 
Karl Kraus!" Der Applaus fiir den Vortragenden und die stur- 
mischen Gegenrufe wiederholen sich durch langere Zeit. An 
mehreren Stellen des Saales entstehen heftige Tumulte.) 

Anton Kuh: 

Haben Sie den Mut, ein, Wort anzuhorenl Feiglinge! (Leb- 
hafter Beifall, Handeklatschcn, stiirmische Unterbrechungen.) 
Sie sollten besser in die Schule Hires Propheten gegangen sein, 
um auf jeden Fall Achtung vor einem geistigen Versuch 
zu haben. (Lebhaftes Handeklatschcn.) Wagen Sie es, mich 
anzuhoren, dann halte ich etwas von Ihnen! Schreien kanm ich 
auch. (Die Unterbrechungen und geschrieenen Zwischenrufe 
halten unvermindert an.) 

Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus — es 1st das- 
selbe. (Lebhafte Zustim.rn.ung. Neuerliche tumultuose Unter- 
brechungen, stiirmische Zwischenrufe und Larm.) 

Ich babe an die Storungsiwilligen eine Bitte: Ich babe eine 
Zeit gehabt, in der mich — es war charakteristischerweise 
meine Pubertatszeit — der Mann, der auf die Jugend dieser 
Stadt so komplexbildend wirkt, vdelleicht auch hatte gefangen 
nehmen konnen. Aber ich muB Ihnen sagen-. ich schatze ihn 
offenbar etwas mehr als diese Wahnsinnigen (lebhafter Bei- 
fall); denn ich babe den Mann, uher den ich heute bier 
sprecben will, nie mit einem Vorortedemagogen verwechselt, 



*) Dieser An£angsteil des Vortrages (bis zur Seite 17) stellt sicb. 
nur als rednerische Riickwirkung auf die Exzesse im Saale dar, also 
wie vorhin bemerkt: als Improvisation innerhalb der Improvisation 
und leitet darum Tiber eine private und zeitungsaktuelle Materie zum 
Thema hiniiber. 



bei dem man Bierkriigel auf dem Tisch zerschlagt. (Neuer- 
licher Beifall.) Ich glaube, daB, wenn Sie seine Friibzeit ins 
Auge fassen, Sie sich eriniiern werden, daB eine seiner, zu- 
mindest fur seine Biographic besteben bleibenden Leistungen 
die war, sich gegen eine Welt der Terrorismen und des 
Krakehls doch durchgesetzt izu haben. Wenn Sie nunmehr die 
Anhangerschaft zu diesem Mann so praktizieren, als ob er ein 
politischer Heiliger ware, an den prinzipiell kein Wort heran- 
reicht, so schanden Sie seine Anhangerschaf t; deran das, was 
er fiir seinen Fall — ich weiB, daB er bei eineni anderen von 
dem Prinzip abgeht — als notwendig erklart hat, das war die 
Achtung vor der isolierten Gehirnleistung. 

Ich bitte, zu beriicksichtigen, dafi ich hier stehe als ein 
Mensch, der mit dem Einsatz seines Gehirns versucht, den 
Wahnsinn, dessen Zeugen oder Anstifter Sie jetzt waren, 
psychologisch und, beinahe moohte ich sagen, philosophisch 
Ihnen zu erklaren. (Lebhafte Zustimmung. Anhaltendes Hande- 
klatschen. Neuerliche Zwischenrufe.) 

Ich hatte mir keine bessere Bestatigunig fiir das, was ich 
heute beweisen will, wiinschen koimen, als diese toll gewordene 
Judenbuheska. (Lebhafte Heiterkeit und Zustimmung. Pfui- 
rufe. Ruf: Wen meinen Sie?) Ich bitte, dieses Wort so zu 
nehmen, wie ich es gebraucbte; ich babe mir auch eine Neu- 
pragung erlaubt. (Heiterkeit.) 

Das, wovon heute namMch die Rede sein soil, 1st nicht 
eimmal so sehr der Mann, der der bewuBte oder unbewuBte, 
schuldige oder unschuldige Urheber der Epidemie ist, deren 
Entartung wir hier mitgebraoht haben, sondern die Epidemie 
selber, jene Epidemie, fiir die ich auf eineni medizinisohen 
FachkongreB den Nam en vorschlagen wiirde: die Itzig-Seuche. 
(Lebhafte Heiterkeit und Beifall. Pfuirufe.) 

Ich habe, bevor ich hieher kam, in einer schrvvacheren, 
urbaneren Form die Merkmale dieser Krankheit kennenge- 
lernt, und zwar so, daB Leute zu mir kainen, die mich mit 
den verschiedenslen Beteuerungsmitteln an der Abhaltung 
dieses Vor.trages zu hindern und mir mit den iiberspitztesten 
Argumenten beizubringen versuohten, welches Verbreohen am 

IO 



Geiste, welches crimen laasae majestatis, welche Gottes- 
lasterung es sei, sich birazustellen und einen, wie der Titel es 
ausdriickt, aggressiven Vortrag gegen den Mann zu batten, der 
als Ihr unisichtbarer Anfuhrer hier sirzt. 

Nun ward Ihnen bisher psychologisch etwas aufgefallen 
sem — ich gebe mich einer Art Kritik restlos hin, nicht der 
geistigeii, nicbt der astbetiscben, icb gebe mich aucb bei den 
feindseligsten Menschen, die bier sitzen, der Wahrheitskritik 
hin — es wird Ihnen also aufgefallen sein, dafi ich hier immer 
Umschreibungen gebraucht, daB ich gesagt babe: „der Mann, 
um den es sich handelt," „der Urheber der Seuche," ,,der un- 
sichtbare Anfuhrer," und so. Warum habe ich seinen Namen 
nicbt genannt? Ich will es Ihnen sagem. Ich schame niich, ge- 
treu der Warming des von diesem Mann gleichfalls wie 
iausend andere angegriflenen Friedrich Nietzsche, meine Uber- 
legenheiten dort auszuprobieren, wo ich nicht achten kann. 
Ich habe seinen Namen bisher verschlwiegen aus einer Scham, 
die ich bei der Vorstellung empfinde, welche Wirkung dieser 
Name in der Feme auslost, dort, wo man also gleicbsam 
die Vogelperspektive hat zu all den mikrobenhaften Irrsinnig- 
keiten dieses Bodens, die ich als ,,Tineffologie" zu benennen 
pflege; zu der schillernden Armlichkeit, die^He~Angelegenheiten 
dieses jiidisch-wienerischen Mischmaschs, ob bekampft oder 
verteidigt, einem freniden Ohr bedeuten und fiir die es- kein uni- 
fa'S&enderes Wort gibt als ,,kraus" mit kleinem, und grofiem 
,.K". Ich schame mich, ein Wort pathetisch anzuwenden, 
dessen bochwichtige Anwendung im Munde so vieler einer der 
Anlasse zu diesem Vortrag ist — ich schame mich, mit lauter 
Stimme den Namen des Mamies zu nennen, den ich Ihnen 
jetzt fliisternid sage: Karl Kraus. (Heiterkeit. Zwischenrufe und 
Unruhe.) Sie konnen mich ja aucb storen, aber ioh glaube, 
niach den paar einleitenden Worlen werden Sie wenig inneres 
Vergniigen daran baben. (Heiterkeit.) Es traten also warnende 
Leute an mich heran, die mich von dem Vortrag abzubalten 
versuchten, .und ich werde Ihnen haargenau main Gesprach 
mit diesen besorgten Kopfschiittlern in zwei typischen 
Fallen reproduzieren .. . (Ruf: Zur Sache, wenn esbeliebt!) 



II 



Das ist die Sachel (Forlgesetzte Zwischenrufe. Gegenrufe: 
Rulie! Ruhel) Ich kaun niclits datfiir, meine Herren Storen- 
friecle, dafi Sie oifenbar eine gesprochene „Fackel" hier heraus- 
geben wollen. (Beifall.) Sie hatten welters in den' Buchern Ihres 
Abgotts lesen konnen, daU von der Person sprecben heifit, von 
der .Sadie sprecben. 

Es kani also em Mann zu mir (anhaltende Vnruhe) — 
lurditen Sie sich vor meiner Sachlichkeit? — der sagte uiir: 
Wie kanin man nur iso was tmi? Gegen Kraus losziehen! 
Worauf icb dam Manne Folgendes entgegnete: Ich lasse niidi 
in gar kerne Debatte dariiber ein, ob man darf oder nicht 
darf — oder aim in der inneren Terminologie Ihres Meislers 
zu sprechen: ob man derf oder nioht derf. (Heiterkeit.) Eines 
bleibt ,aber sehr charakterislisch: wenn heute ein Wander - 
redner sagt: ich halte einen Vortrag iiber die Person Jesu 
Christi, und zwar als Haretiker, als Unglaubiger, im 
skeptischen, historisch-kritischen Ton eines Renan, so glaube 
ich, und davon sind wir alle zusamm'en hier iiberzeugt, daB 
nicht ein Mensch etwas dagegen hat. Wenn andersedts einer 
kame und sagte: ich werde heute am Eschenbaohsaal einen 
Vortrag halten gegen Schopenhauer oder Nietzsche, so werden 
moglicherweise einige denken: es ist eine Geschmack- 
losigkeit oder Lacherlichkeit, aber ich glaube nicht, dau 
irgendeine stramm organisierte Nietzsche - Partei plotzlich 
dagegen auftreten und mit Larm und FuBtrampeln sich be- 
merkbar machen wird. Wenn ich heute andererseits — um audi 
vorn entgegengesetzten Extrem zu reden — .sprecben wiirde 
iiber die allerletzte Erscheinung Europas -^ setzen Sie, bitte, 
meine Herren Zwischenrufer, den Namen dafiir ein (Ruf: Kuhl) 
■ich bitte sehr, so hab' ich's erwartet. (Heiterkeit und lebhafter 
Beifall und Hdndeldatschen) — so wird es keinem Menschen 
einiallen, sich dariiber in irgend einer hysterisch-monomanen 
Art zu erregen. Woher kommt es nun, ich bin beim Tbema 
meine Sachlichkeitsrufer, dafi gerade bei der Person des 
Schriftstellers. iiber den ich heute spreche, sich ein solcher 
Tumult enfcwickelt? Offenbar wedl hier irgendwie in der Nor- 
malitats-, respektive Hysterienwirkung dieses Mamies etwas 



12 



nicht ganz in Ordnung 1st. Nun, ioh bin auch Anbeter — nicht 
Anbeter dieses Mannes — deh kann auch Verehrer sein, ioh kann 
manchmal exzessiver Verehrer sein, aber ich konmte mir nicht 
vorstellen, dafi es von Jesus Ghristus bis Buddha und herunter 
bis zu Anton Kuh einen Menschen gabe (Heitevkeit), dessen 
offentliche Herabsetzung oder — die ist ja noch gar nicht er- 
folgt — dessen offentliche Kritisierung mich zu einem der- 
artigen Geheul brachte. Hier ist wahrscheinlich etwas nicht 
i-ichtig. (Ruf: Aber die Habsburger heruntersetzen, das davf 
man. Beifall.) Ich erwiderte also dieser Gruppe Nr. 1, die 
mich besobworend davon abzuhalten versuchte, ein Sakrileg 
an der Person Karl Krausens — „Stunden"-Genetiv — 
(Heiterkeit) zu begehen. Ich konnte mir wohl einen 
bheoretischen Fall denken, da.fi man, wenn irgend ein grofier 
Schdpfer — nehmen wir an, ein Mann vom Geniewuchs Michel 
Angelos, Beethovens — ein Mann, der aus den Blocken des 
Phantasiematerials Werte .schafft, herabgesetzt werden soil, 
und obendreiii von jemandem aus der Gilde derer, fur die es 
den Lebensberuf bildet, mein zu sagen, ihre poleniiischen Affekte 
anzubauen an die enthiisdastiscli-kunstlerischen Affekte jenes 
anderen, dafi man dann voll Ekel, Verachtung und Wut sich 
sagte: Hande weg von diesem Grofien, der Basaltblocke aul- 
tiirmt! Verkriech dich ins Dachsloch deiner Negation! Aber, 
meine verehrtesten Herren, wenn ich mich erinnere oder 
erinnern wall, w.ie dieser grofie Heilige, wie dieser Buddha Karl 
Kraus seine geistige und schopferische Karriere gemacht hat, 
oder wenn ich mich fr.age: woraus besieht das Basaltwerk 
dieses Mannes, dann mufi ich sagen: das Werk dieses 
Unantastbaren besteht doch aus lauter Anton Kuh-VoTtragen 
gegen Karl Kraus (Heiterkeit), das Werk dieses Mannes 
ist doch eine Serie von Entwertungen, Entwurtzelungen, 
polemischen Angriftfen. Es ist nun eine ganz eigene und andere 
Frage, wann man jemandem das Recht dazu streitig machen 
kann und wann nicht. Ich glaube, das wird Ihnen Ibr 
Ordinarius Kraus auch wieder eingeblaut ihaben, dafi uber das 
Recht allein nur die Form und das Gelingen entscheiden, dafi 
es ein moralisches Recht dazu nicht gibt. (Rnfe: Sehr richtig!) 



3» 



Waller komnit es nun, meine Verehrten, daB Sie plotzlich ein 
moralisches Recht der polemischen Behandlung Hires Abgottes 
mir entziehen, und daB Sie es mh- entziehen gerade jenem 
Manrae gegeniiber, dessen garizes Lebenswerk nichts anderes 
war als eine Kette uiiunterbrochener Polemiken: Polemik 
gegen Harden, Polemik gegen Heine, Polemik gegen Nietzsche, 
Polemik gegen Bekessy? (Beifall und Handeklatschen.) 

Nun kam aber noch eine Kategorie von Warnern — das 
war die interessantere, der zu Ehren muB ich mich erheben. 
(Spricht stehend wetter.) Die anidere Kategorie, die bestand aus 
se.hr, sehr sensitiven und noblen Mensohen, denen genaigte der 
feiertiche geistige Einwand nicbt, sondern die kamen, wunderbar 
erzogen, glanzend, geschuh in der lahnudiThora-JSchule^der 
Anspielung, „Fackel" genannt, zu mir mit den Worten: „Ich 
will Ihnen etwas sagen. Zwar nehme ich Ihnen das Recht nicbt, 
Sie haben Ihre Stellung zu Karl Kraus schon fruher deklariert, 
Sie haben sie so often deklariert, daB Kraus gesagt hat, Sie 
kommen von hinteii (Heiterkeit), aber sagen Sie mir ganz ehr- 
lich — nicht als ob ioh durehaus dieser tlberzeugung ware — 
aber es konnte ja die Rede davon sein — , namlich: dafi Sie da 
in der Affare „Stunde" — Kraus irgendwie vielleicht ein Sold- 
ling sind." Nun meine Herren! Sehen Sie! Auf diesen feigen, 
niedertrachtigen .und den unverkennbaren Geruch dieses An- 
spielungs-Augiasstalls tragenden Einw.urf reagiere ich hier, umd 
zwar, indem ioh Ihnen folgendesimitteile: Wenneiner der Jiinger 
des groBen Meislers ihn, Hand aufs Herz, fragt, wem er die 
drei oder vier besten Witze in dem Kampfe gegen dieses Blatt 
verdankt, so wird er sagen miissen: Ich bin hier irritiert, der 
Kerl halt einen Vortrag gegen mich, aber ich mufi ehrlich 
gestehen, die Witze wurdenmir von ihm rapportiert, ich habe 
ihn ■einanal sogar unverbliknit zitiert. Vielleicht gilt Ihnen das 
schon als Zeichen einer gewissen Objektivifat. Ich gehe aber 
weiter — esist nicht notig, davon zu sprechen, doch ioh toe es 
freiwillig; wenn Sie mich fragen: welche Rolle spielen Sie denn 
zwischen diesen, sagen wir Parteien, so wiirde ich antworten: 
ich glaube kaum, daB der Herausgeber der „Fackel" mir die 
Moglichkeit bote, mich in seinen Blattern dariiber zu auBern, 

H 



was ich von Karl Kraus denke. (Heiterkeit.) Die „Stunde" gibt 
mir die Moglichkeit. Damit ist fiir mich die Parteienfrage ent- 
schieden, (Lebhafter Beifall und Handeklatschen.) Ja, ich gehe 
noch weiter: ich halte jetzt eine schwere Anklagerede - — ich 
habe es zwar nicht notig, aber ich leiste es mir, weil ich ein Ver- 
sohwender bin — ich tue es, damit der Vorwurf nicht laut 
werde, daB ich als Soldling der Armee Candsius*) dastehe 
(Heiterkeit): Ich rufe: Anton Kuh, treten Sie vor — - ich 
erhebe feierlich gegen Sie die ArukLage, daB Sie den. Heraus- 
geber jener Zeitung, der bekanntlich, wiie Kraus sagt, aus 
dem Rakonyerwald ausgebrochen ist und infolgedessen keine 
Ahnung von all diesem literarischen Eitelkeitsgestanke 'hat, 
dazu miBbraucht haben, unter dem. feigen Schutz der 
Anonymitat Ihr Mutehen an Kraus zu kuhlen. Ja, das 
habe ich getanl Ich habe es. auch mit Grand getam: Denn 
wenn ioh heute die Wahl habe, Rauber, Libertdner in der 
Armee eines Karl Moor — heiBe er auch Moor Karol — 
oder Ministrant in der groBen Hierarchie des Itziglismus 
zu sein, so bin ich lieber Libertiner in der Rauberarmee 
als Kirchendiener in einem Tempel (Lebhafte Heiterkeit. 
Zwischenrufe.) Lassen Sie mich weiter reden! Wenn Sie sich 
brav verhalten, ddskuMere ich sogar mit Ihnen- (Lebhaftei 
Beifall und Handeklatschen.) 

Man wird mir vielleicht jetzt entgegnen: Sie geben hier 
selbst Ihre Fedgheit zu, Sie haben sich in den Schutz der Lmper- 
sonalitat der Zeitung begeben, um aus diesem Versteck 
ihre boshaften Angriffe gegen unseren verehrten Meister 
zu richten. Ich gestehe: ich habe es fruher einmal mit offenem 
Visier getan; ich habe damals iziemlich heftig an die Adresse 
Karl Kraus', wie es in diesem Jargon heiBt: Angriffe gerichtet, 
deren letzter unheantvvortet blieb, selbstverstandlioh wegen der 
„unerhor,ten iNiveaulosigkeit" meines Angriffes. Da konnte ich 
mir den Luxus leisten, es darrn auch bequem und anonym zu 
tun; ich habe die Anonymitat aber ferner aus einem Grunde, 



*) Ein Heiliger, der die Gasse benennt, wo das Kraus feindliche 
Organ hergestellt wird. 



15 



gewahlt, den er kauou, Sie noch weniger verstelien werden, 
namlich deshalb: 

Nehinen wir an, es gebe einen Menschen, dessen Lebens- 
aufgabe nicht darin bestande, ein Erlehnis, eine geistige Tat- 
sache, ein Wort zu setzen, sondern nehnien wir an, sein Beruf 
bestande darin, zu ant wort en, dann waren alle jene 
Menschen, deren Beruf in etwas andereni besteht: namlich sich 
selbst eine Welt zu schaffen, ihren Geist zu setzen wider den 
Geist der anderen, ihre Lebenssache hinzustellen, sehr schlecht 
daran ; denn da diese Menschen nicht Antwortgeber aus Beruf 
sind, da sie nicht die armselige, viebische Eitelkeit haben, das 
letzes Wont zu behalten — iniSinne des letzten Wortes iiberdies 
und nicht im Sinne ii'gend einer Tat, eines Erlebnisses, einer 
Neuerung — so w,iirden sie sich naturlich sagen: Um Himmels- 
willen, ich habe noch anderes zu tunl Und wenn ich nichts 
anderes Anderes zu tun hatte, als in einem RingstraBencafe mit 
eineani hubschen Madohen inich zu unterhalten, isie zartlich an- 
zufassen, so ware dieses andere asthetisoh, vital, poUtisch, von 
, jedem Standpunkte aus, milliardenanal mehr went als die irrsin- 
nige Sdsyi>liusniuhe eines JV-[enschen u lessen Lebensziel darin 
besteht: .zu antworten. Angenommen also, es gebe einen Wahn- 
sinnigen, der die Manie hatte, von friih bis abends ununter- 
brochen zwischen deni Stephans-Platz und der Marien-Brucke 
hin und her zu laufen — und nun wiiBte ein anderer: wenn 
ich an diesen Mann das Wort richte, oder wenn ich mich iiber- 
haupt um ihn kiimuiere, dann bin ich verurteilt, Jahre meines 
Lebens hindurch imunterbrochen mit ihm zwischen der 
Marien-Brucke und dem Stephans-Platz mit zu laufen, da^s 
war niir aber mibequeaai — was sollte dieser andere dann 
tun? Er wiihlte eine Methode, die ihn dieser Gefahr des Mit- 
laufens entzoge — er gabe die Chance eines Geplankels preisl 
Sie werden heute noch horen, da6 und warum ich es als eine 
Ehre ansehe und diese Ehre erstrebe, nicht das letzte Wort zu 
haben. Denn das letzte Wort ist ein Dreck, das erste Wort ist 
alias. (Lebhafter, langanhaltender Beifall und Handeklatschen. 
Rufe: Bravo Kuhl Lebhafte Zwischeniufe.) 

Ich bin durch die Anstrengungen, , hier mein eigener 

16 



Feuerwehrniann zu sein, etwas heiser geworden. Seien Sie jetzt 
etwas ruing, damit ich leiser sprechen kann. 

Das, was ich friiher die Seuche der Kraus - Verehrung 
nannte, und das Motiv des Letzten-Wort-Behalitens, diese beiden 
Dinge haben eng miteinander zu tun. Und nachdem ich teils 
Ihnen die Riesenhysterie, die auf den Namen Karl Kraus sich 
sofort zu riihren beginnt, vor Augen gefiihrt habe, respektive 
nachdem sie sich selbst Ihnen vor Augen gefiihrt hat und nach- 
dem ich Ihnen gesagt habe, was meine letzte Abneigung ist, 
iiberhaupt hier in einem solchen Thema als Polemiker aufzu- 
treten, bin ich mit beiden Dingen dort, wo die Herren wollten, 
dafi ich am Anfang sei: bei der Sache. 

(Der Redner nimmt einen Schluck Kognak zu sich. Ein 
Zuhorer rufi: Prositl Heiterkeit.) Ich damke! Wissen Sie, mich 
erinnert eigentlich jedes Detail hier an den Mann und ich will 
mioh ahsichtlich in solche Marginalien verlderen. Wenn ich 
daran denke, dafi er, der ein Demagoge ist und es mit der 
Plattheit und nicht mit der Auserwahltheit halt, sich dariiber 
lustig macht, dafi Leute impulsiver und exzessiver Art trinken 
— was fur eine arme Konditorei- und Schlagobersseele, welches 
trockene Siifinxaul mufi er sein, der nicht weifi, wie notwendig 
dem geistigen Blutdruck der Alkoihol sein kami. (Beifall.)*) 

Ich wiederhole also, jene Seuche sowohl wie das Motiv des 
Letztenworthabens, das sind die Dinge, deren Zusammenhang 
mir den Boden dieses Vortrags gibt. Woher die Seuche, woher 
die katastrophale Wirkung? Ich bin beim Kern des Themas. 
Ich habe vor Jahren einen Typ kreiert, das heifit, ich habe 
einen bestehenden Menschenschlag benannt, und zwar habe ich 
diesem Typus den Namen gegeben: der Intelligenzplebejer. Was 
ist das.der Intelligenzplebejer? Ich will hier nur fiir die Unge- 
bildeten vorausschicken, dafi zwischen Plebejer und Proletarier 
ein Unterschied ist: (Sehr richtigl) dafi es Plebejer gibt, die 
sich vielleicht auch im Adelsstand vorfinden lassen, und dafi 
es Proletarier gibt, die Aristokraten sind. (Lebhafter Beifall und 
Hdndeklatschen.) 



*) Hier etwa endet der Volksversammlungsteil. 



Nur vo'm Standpunkt der Beschreibung dieses Intelligenz- 
plebejers aus ist es niir wichtig, diesen Vortrag zu halten, denn 

— ich habe vielleicht hier etwas friiher vergessen, was ich 
glauhe, jetzt naohholen zu konnen — als ich im Anfang sagte, 
dafl ich mich schame, den Namen dieses Manines auszu- 
sprechen, war es keine Heuchelei: ich schame mich 
wirklich. Darf ich Ihnen jetzt auch spezieller sagen, 
warum? Solange ich lebe, gilt mil - die bedeutsame 
und pathetische Nennung dieses Mamies immer als Kenn- 
zeichen dessen, was ich Ihnen nunmehr als intellektuelles Pie- 
bejertum vorzufiihren gedenke. Wenn zum Beispiel einige von 
Ihnen erne Reise nach Berlin, Hamburg, London, Zurich oder 
weifi Gott wohin machen, und dann dort mit drgend einem gei- 
stigen Menschen, den sie von vornherein schatzen, die Materie 
„Karl Kraus" besprecheii, so wild ihnen — und dann werden 
sie meine Scham begreifen — dasselbe passieren, was inir Jahre 
hmduroh passjert ist: daB Ihnen namlich die Betreffenden 

— ich nenne auf Wuaisch gerne Namen und Sie werden starr 
sein, wie nobel die&e 'Namen sind — sagen: Ihr Wiener 
Osterreicher, Judaeobajuvaren, muBt total iibergeschnappt 
seinl Wer ist dieser Karl Kraus? Das ist doch der mit den roten 
Hefteln, nicht? — ■ Darauf wild der Pathetiker einwerfen: Uer 
mit den roten Hefteln ist miser Jeremias — unsere heilige 
Geisteszier ! Ich bin weniger pathetisch .und wiirde erWidern : Ja, 
stimmt, der mit den roten Hefteln! — So sagte mir einmal em 
Hollander, der auf der Durchreise hier war: Ich habe diese 
roten Hefiteln gelesen, das ist g enialer Klatscb. Dann wieder 
hat zu mir ein sehr beriihmter Berliner Dichter — er ist von 
der „Fackel" noch iricht ermordet worden, dem steht das, wenn 
ich ihn nenne, ab heute bevor — den Satz gesprochen: Ich 
brauche den Mann nicht, ich brauche sein Gehirn nicht, weder 
fiir meine Kunst noch fur mein Leben — ich kann vollkommen 
ohne ihn leben! Und nun werden Sie sich als trejae_Hagada_S)_- 
Leser der „Fackel" sagen (Heiterkeit): Woher kommt es, dafi 
in der Welt im allgemeinen Austausch iiber ihn die „Weltbuhne" 



*) Rot gebundenes, israelitisches Gebetbuch. 

18 



schreibt und das s,Berliner_Tageblatt"- und in Paris die „Nou- 
velles Literaires"? Darauf muB ich Ihnen erwidern: Sehr viel 
davon — ich demise jetzt an Paris — schriebem Leute, die ent- 
weder „Schweizer" hieBen oder wenn nicht direkt Abeles, 
mindestens Monsieur Abele. (Heiterkeit.) Ich, der ich Berlin 
und Prag und -alle diese S fatten kenne und ; ihnen zurna Teil 
naher kommen konnte, habe f olgendes bemerkt: Es gibt in 
jeder Stadt ein Corps wienerischer, osterreichischer, groBten- 
teils jiidischer und zum kleirieren arischer Exilanten. Wenn 
Sie nun wo auf den Anschlagsaulen lesen: Kraus — dann 
sind sie alle da, die Kille begleitet ihn durch ganz Europa. 
(Heiterkeit.) Wenn Sie aber Leute, die auBerhalb dieser Tineff- 
Hiera'chie stehen, fragen: Nun, was sagen Sie zu dieser Er- 
scheinung? So wird man Ihnen antworten: Oh, das muB 
ein sehr begabter Mann sein, seine_^togj^dje^chemt darin 
zu^estehen, ; daj es in Osterreich nicht gibt, was es^etwa :\n 
Frankreich gibt: eine wirklichgeistige Gesellschaft, und dafi 
der Mann, der in Paris einer der hervorragendsten, an Henri 
Roohefort und solche Vorbiider iheranreiohenden JournaMsten 
ware, sich.^Iurch _die yerpobehmg der intellektuellen Gesell- 
schaft und des Geistesleben in Osterreich dazu gezwungen, 
gerade vis-a-vis dem Journalisinus edneru kleinen roten Trafdk- 
laden „Antijournalismus" etabliert hat und als , begabtester 
Journalist der wienerischen Gegenw.art _der „gro6e Pxessebe- 
kampfer wurde, mit alien Befahigungen,_spiachstark, witzig, 
erkennerisch und vor allem, was alle Journalisteir mir be- 
zeugen werden: ein genialer Ausschneide-Redakteur, dessen 
Luchsblick und Schere nicht derJileiniste.Dr.uckfehlerL.entgeht 
Das ware ungefahr das Verdikt der vollkommen Unbeteiligten 
und vor denen empfand ich eine Europaerscham. Ich hatte 
plotzlich das gewisse Gefuhl, das der Provinzmensch hat, der 
mit dem groBen Regenschirm in die Weltstadt kommt: ich 
komme mit dem groBen Regenschirm Karl Kraus und die 
Europaer sehem mich an und sagen: Was ist das? Lassen Srie das 
drauBen stehen ^- oder reden wir erst daruberl Ich hatte frei- 
lich Weltreisen nicht (machen miissen, urn darauf zu kommen, 
wie geographisch uberschatzt das Phanomen Kraus ist und daB 

i 19 



es absolut eine Angelegenheit — ich will hier nicht einmal 
sagen: Osterreichs ist. Glauben Sie mir, es ist so. Ich habe mich 
naoh 1918 noch. von etwas Merkwurdigem iiberzeugt: es gibt 
positive Bindungen der sogenannten Sukzessionsstaaten, wo- 
durch sie innerlich noch irgend eine Art von. schwarz-gelbein 
Gefiihl behalten haben. (Beifall.) Zum Beispiel: Die Schlam- 
perei, das Barock, die Beamten, der Radetzkymarsch. Es gibt 
aber auch aufier diesen positiven und auBern negative und 
innere Osterreich-iBindungen. Alle die jungen Studenten nam- 
lich, die friiher in Wien waren und jetzt versprengt sind 
nach Agram, Prag und Banjaluka, alle die Fabrikanten, 
die den GroBteil des Jahres hier verbrachten und jetzt aus- 
schlieBIich in den Hauptstadten der Sukzessionsstaaten wohnen, 
alle die intellektuellen OfFiziere — ich meine diese Reserve- 
offiziere — die hier in Wien waren und den Rapport izwischen 
Wien und den Provinzstadten vermittelten — alle die haben 
noch ein einigendes Band behalten und das ist der Karl Kraus. 
(Heiterkeit.) Der Karl Kraus — der stellt hier den Gegensatz 
zu den offiziellen Bindungen dar — so wie die Nacht zum Tag, 
die Opposition zur Majoritat. Wie friiher die „Neue Freie 
Presse" offiziell die jetzigen neuen Staaten des alten Osterreich 
umschlang, so umschMngt die ganze Zahl der Bewohner dieser 
Staaten wieder das innere Band des „Neuen Freien Presse"- 
Prortestes, den sie ja politisch und Mterarisch immer stark 
empfunden haben. Das ist der Grund der osterreichisohen Karl 
Kraus- Verehrung, und dem AuBensteheden, Nichtwiener und der 
Erscheinung dieses irrsinnigen Kultes Unkundigen, pflege ich 
deshalb auch zu sagen: Ja, lieber Freund, da miiBte ich Ihnen 
einen Vortrag halten iiber die Geschichte Osterreichs und die 
,.Neue Freie Presse"! Ich miiBte Ihnen die Zeitungsiiber- 
schatzung des Osterreichers erklaren, die mit seiner Biihnen- 
uberschatzung Hand in Hand geht, die innere Verehrung der 
Papierkulissen. Das sind aber Sachen, die sub specie aeterni- 
tatis et Europae sehr wenig wichtig sind. Nun glaub' ich, werden 
Sie meine Scham begreifen. Es ist sehr unedel, nachzuweisen, 
daB jemand unedel ist, und es ist sehr ungroB, Dinge, die man 
seelisch als Kleindruckdinge empflndet, machtig hinauszupo- 



20 



saunen, um sich vor dem Publikum zu produzieren, in welch em 
unscheinbaren Kleindruck man sie empflndet. 

Ich komme zum Begriff des Intelligenzplebejers zuriick 
und frage: Was ist der Intelligenzplebejer? Seien Sie sehr auf- 
merksam, es wird vom Wichtigsten gesprochen. Sie werden 
schon von der politischen Parole gehort haben: „Der geistige 
Mittelstand". Na, seine „Geistigkeit" soil anir nioht schaden. 
Er ist der eigentliohe Verlierer des Krieges und auch sonst keine 
sympathische Erscheinung; dieser geistige Mittelstand nun, 
das heiBt: das intellektuelle Kleinburgertum, das ist die Zone, 
aus der das Gewachs des Intelligenzplebejers herauskriecht. 
(Ruf: Sehr richtigl) Wer ist nun dieser Intelligenzplebejer? 
(Gelachter.) Nein, das geht nicbit an Sie! (Heiterkeit.) 

Der Abkommling des geistigen, resp. so benannten Klein- 
biirgertums und jener gewissen "Schichte, die sich zusaeimen- 
setzt aus Fabrikanten, Kaufleuten, Arzben, Apotbekern, Advo- 
katen, Zahnarzten — besonders Zahnarziten (Heiterkeit) — 
wodurch ist er, wenn man ibn in ein Limiesches Pflanzen- 
system einzuiordnen versucht, charakterisiert? 

Ich kann mir hier einen ganz Meinen psyohoanalytischen 
Abrifl nicht versagen. Ich weiB, dafi Karl Kraus, der gefiihlt 
hat, daB auch die Psychoanalyse etwas B6ses ist, das gegen 
ihn etwas im Schilde fiihrt, sie sofort mit vier genialen 
Aphorismen tot geschlagen hat, obwohl sie in Asien, Afrika 
und anderen Orts noch gesund weiber lebt. Diese Psycho- 
analyse dst ein sehr nutzliches Instrument der Psychologie, 
nicht mehr und nicht weniger und ich glaube, wenn Friedrich 
Nietzsche sich ihrer hatte bedi.enen konnen, ware bedeutendes 
Ungesagtes noch gesagt worden. 

Psychoanalytisch gesehen, stellt sioh der Intelligenzplebejer 
— den ich hier in seiner Wienerisqh-Osterreichischen und vor- 
Wiiegend mosaischen Ausgabe definieren will, obzwar da leider 
Christ und Jud eans sind; — als ein mit unangenehmen Familien- 
komplexen beschwertes Wesen dar, aus dem Ktmst der engen 
Stube stammend, nicht so sehr voll der edlen Liebe des freien 
Menschen, als voll dieser falschen, verkriippelten^ Mitleidsliebe 

** 21 



des Menschen, der einen Tate, eine Mamme und sechs Briider 

hat, jedes erdriickt und auifgefressen von den solidarischen 

Egoismeii der Stube. (Lebhafte Heiterkeit uhd Zuslimihung. 

Zwischenrufe.) Das 1st der Mensch, der an das Kreuz der 

„Mischpoche" geschmiedet ist, dessen Geruchsinn rebellisch 

wird, wenn er die Faminendunste einatmet, der sich nach 

einer Idealiwelt jenseits dieser vier Mauem sehnt, der von 

friihester Jugend auf geiibt ist in der sogenannten typischen 

famaliaren Entwertungspsychologie, diesem Gesellschaftsspiel, 

mittels dessen festgestellt wird, wo der Defekt das Egon liegt 

und wo der Erwin kedn begabter Kopf ist und wo die Mathilde 

eine Hur ist. (Heiterkeit. Ruf: Alles, was in der „Stunde" steht!) 

Ja, es steht dann auch in der „Stunde". Das ist die schonste 

Mission dieses Blattes . . . Der arme, ungliickliche, aus 

dieser furchtbaren Zone stammende Bursche ist erstens voll 

Unsicherheiten. Er verlaBt diese Wohnung wie einen Kafig. 

Er kommt in die Welt hinaus wie das beruhnite Pferd in Zolas 

(.Germinal", das zum erstenmal an das Licht konimt und sdch 

von ihm wie von einem Blitzstrahl, oder besser, wie von einem 

Lichtstrahl getroffen fuhlt. Er kann sich nicht kontrollieren 

— und mochte es dooh unentwegt. Er 'fuhlt seine Ungrazie und 

versuoht sie diurch eine oiberaus heftige und insistente 

Intellektualitat zu kompensieren, die er auch wieder als Nach- 

teil verspiirt, so daB als hysterisches Endprodukt edne falsche 

Vitalitait herauskommt und, kurz gesagt, alles zum Speien ist. 

(Eine Zuhorerin: 1st das schon der geistige Teil? Gegenruf: 

J a, das ist schon der geistige Teill) Gnadige Fraul Schade, ich 

mochte Ihnen dabei sehr gerne die Rolle der arrnen Frauen 

schildern, die ist edne ganz besondere. Die Kraus-Verehrung der 

Frauen gehort tatsachlich nur vor den Arzt, sie gehort nicht 

mehr vor mein Tribunal. (Lebhafte Zustimmung. Anhaltende 

Zwischenrufe.) Ich komme auf den Zwischenruif der Dame 

iibrigens noch .sehr griindlich zuriick. 

Der Intelligenzplebejer ist also ein Kafigjluchtiger mi-t dem 
ganzen psychologischen BewuBtsein der Armseligkedt und 
Minderwertigkeit seiner Herkunft und mit dem groBen Be- 
diirfnis, sioh Vorhange zu machen, daB man ihm nicht in die 

22 



Armseligkeit hineinsieht. Seine ganze Unsicherheit besteht 
darin, daB er in die AuBenwelt kommend, das Gefiihl hat — 
und das triigt ihn nicht — , daB an seinem Gesichte, seinen 
Gesten, seinem Tonfall, seinem Nasenriimpfen zoologisch genau 
die Merkmale jenes Mitleidskafiigs abzulesen sind, wo sich die 
Menschen wechselseitig auffressen — des psychologischen 
Entwertungskafigs. 

Dieses SchuldbewuBtsein der Durchschaubarkeit, wodurch 
er immer wieder mysteriose und anonyme Schleier iiber sein 
Gesicht breitet — anders gesagt: sich einen Kren gibt — r im 
Verein mit dem SelbsthaB, FamilienhaB, VaterhaB, BruderhaB, 
an' dem er laboriert, enitscheiden sein Wesen. Gierig-tiickisch 
lauert er nach den verwandten Tonfallen im Umkreis, um sie 
psychologisch zu arretieren; sein Ohr bewahrt wie eine Meeres- 
muschel das unterirdische Gemauschel der Umwelt. Oh, daB 
er doch alien ihre Herkunft aus- derselben Dreckgasse beweisen 
konnte, um sich erhabener zu fiihlen! 

Sexuell ist das Schicksal dieses Typus ungefahr dieses: 
Natiirlich spurt er irgendwie instinktiv, wie schon das Gliick 
des restlosen, wechselseitigen Begehrt- und Genommenseins ist. 
Dieses Gliick haben aber auf der Welt nur die unbefangenen, 
durch irgerndeinen Zufall der Geburt oder irgendeine Ent- 
wicklung freigewordenen Kreaturen, die Heiteren, Hinauf- 
gelangten. (Zwischenruf.) Ich bitte, sich bei den Zwischenrufen 
moglichster Ltitelligenz zu befleiBen. (Heiterkeit.) Es ist 
charakteristisch, daB Sie mir gerade das Kapitel storen, wo 
Sie innerlich sicherlich am schuldbewuBtesten zuhoren. (Leb- 
hafter Beifall und Hdndeklatschen.) 

Dieses Sichloswerden schwebt also diesen Leuten natiirlich 
innerlich als die auBerste Glucksmogrichkeit vor; aber intellek- 
tuell verdorben wie sie sind, in ihrej Sicherheit und Anmuts- 
moglichkeit verpatzt, wie sie sind, haben sie zu diesem groBen 
Gliick einen nur sehr briichigen Steg: den Stag der 
intellektuellen Uberredung. 

Nun koraimt als Pubertatserlehnis dieser Ar,msten, die 
eingeklemmt sind zwischen einer Welt, vor der sie mehr 
Angst als Freude empfinden, und der Kafigwelt zu Hause, 

23 



noch folgender Gedanke: eine andere Liebesmoglichkeit als die 
des Uberreders, Zahlers oder Vergewaltigers im peinliohsten 
Shine des Wortes oder vom Standpunkt des Weibes aus: eine 
andere Liebesmogbchkeit als die des Selbstverkaufs, der Ehe- 
versohacherung oder des durch Uberredung Hineingelegtseins 
baben war nicht. Was kann danra bei solcher Gliicklosigkeit 
und soldier eigenllichster Erlebnislosigkeit, die die ziwei grofien 
Ausstrahlugen hat: a) nach dem Bordell und b) naoh der guten 
Mitgift bin, was kann anderes die Folge sein, als die, da8 der 
Jiingling, der aus einem solchen Kafigs-, Uberredungs- oder 
intellektuellen Bohrungserlebnis kommt, das Gefuhl seiner asthe- 
tischen Unzulanglichkeit, seines zur Anmutlosigkeit Verdammt- 
seins nie mehr los wird, daft er, der natiirlich nicht die naive 
Korpernahe zum geliebten Objekt oder Subjekt hat, sondern der 
mit dem Leopardenblick des listigen Vergewaltigers hinschaut 
und im Augenbliok, wo ihm der Leopardensprung des Gehirns 
gelungen ist, spater zuriickfallt in sein isoliertes intellektuelles 
Ich, rsich sagt: Gott, ist mir mies! (Schallende Heiterkeit.) Und 
fur diese: Gott, ist mir miesl-Mensohen, die nicht zu, den 
erotisch Auserwahlten, das heiBt, den freien, unbefangenen 
Kreatuiien geboren, fiir die es keinen Gegensatz zwischen 
Intellekt und Liebe gibt, weil bei ihnen Geist und Eros in Eins 
verschmilzt, und weil ihr Gehirn keinen Grund hat, sich 
unausgesetzt vor der Lust zu schamen — fiir diese Menschen 
gibt es auch bereits eine grofie philosophische Bibel, das groBe 
Buch Otto Weiningers, des Jugendfreundes Karl Krausens, 
dieses Promeihiden, der an den Felsen seiner judisehen Knaben- 
qual angeschmiedet, nicht etwa die Gotter anrief: „Ich basse 
euch!" — sondern eben: „Wie mies ist mir]" Der Intelligenz- 
plebejer, Unglucklich im Erotischen, leidend an seiner Fuchs- 
schlauheit, leidend an dem sandigen, ihn isolierenden, ihn noch 
unsicherer machenden Intellekt, gliicklos in der Liebe, in der 
Welt herumstehend mit dem Gefuhl der Durchschaubarkeit, ver- 
logen, maskenbeflissen, ehrfurchtslos, der hat einige Gotter. 
Und was ist die Eigenscbaft dieser Gotter? Da8 sie ihm — 
das ist namlich immer die Eigenschaft der Gotter — fiir dieses 
tiefste, fiir dieses armste, niedergeschlagenste NichtsbewuBtsein 

24 



oder DreckbewuBtsein eine Hohendeutung geben, das heiBt: 
seine Selbstentwertung und Weltentwertung in den GenuB des 
„iiberlegenen Standpunktes" verwandeln. DaB sie fur ihn ab- 
gekiirzte Wege dahin sind, die Dinge verachtnch durchschauen 
zu diirfen, ohne sie iiberhaupt noch erlebt zu haben! Also: 
Taschenlexika der Informiertheit — ohne die Mtihe und Pro- 
duktivitat des Lokalaugenscheines. Und da kommt Otto 
Weininger, der Mann, vor dem diese Armsten Respekt haben, 
weil er aus seinem Karl Krausischen Schicksal die heroische 
Konsequenz zog, sich im Alter von 23 Jahren niederzuknallen 
urnd seine Pubertatsgenialitat nicht zu iiberleben, da kommt er 
und sagt: du hast mit allem recht, armer Judenknabe, Qual 
des Lebens, Lust des Denkens, du hast recht: ein Weib ist so 
minderwertig, wie der, der es anpiBt, es empfinden muB. 
(Heiterkeit.) Ich hitte, ich muB so reden. (Ruf: Warum? Gegen- 
ruf; Weil's woahr is']) Der Mann hat recht, weil es wahr istl 
(Heiterkeit.) 

Ich will jetzt nicht weiter darauf eingehen, welcher Art 
diese Gotler sein miissen; ihre Mission muB darin bestehen, 
die Lebensenthaltung als ein Plus hinizustellen, das Ungliick 
als ein Geistesniveau, die Qual der Verdrecktheit als Pro- 
inethidenschicksal. Und nun fragen Sie mich und frage ich 
mich: wieso ist Karl Kraus auserkoren dazu, ein Gott des 
Iratelldgenzplebejertums zu sein, so daB, wenn ich hinter einem 
hastig betulichen Buckelgang aus der Tasche dieses rote 
Fleckerl guckem sehe, das da die Nachfolge des gelben Fleckes 
aus der Ghettozeit angetreten hat, ich mir in Assoziation zu 
diesem roten Fleck sofort denken kane: was der Mann, iiber 
Nietzsche sprichit, welohe Gedanken er iiber Kaiser Wilhehn hat, 
was er iiber die letzte Karl Kraus- Vorlesung sagt — ja ich 
wiirde ihm, wenn ich mat ohm redete, sogar von den ge- 
schlossenen Lippen ablesen, was er iiber die Frauen denkt. Das 
kann ich unbedingt improvisieren, schauspielerisch exakt; nur 
von dem kleinen roten Fleck aus. (Lebhafter Beifall und 
Handeklatschen.) Was hat Karl Kraus zum Gott . . . (Zwischen- 
rufe. Gegenruf: Lassen Sie doch diesen Redeschwall ruhig zu 
Ende gehent) (Zum Zwischenrufer) : Trauen Sie sich, mir 

25 



unter vier Augen eiii Wort auf das zu erwidem? (Ruf: Geben 
Sie Gelegenheit dazul Lcbhafte Rufe: Pfuil Pfui!) 

(Von hier an setzen wieder minutenlange Tumulte ein.) Ich 
bitte, kann ich jetzt weiterreden? (Lebhafte Zwischenrufe und 
Unterbrechungen.) Ich bitte, kann jetzt Ruhe sein? Ich bitte 
Sie darum! (Anhaltende Zwischenrufe und Unruhe.) Bitte, 
setzen Sie sich alle! (Tumult im Hintergrunde des Saales 
und anhaltende Unruhe.) Ich bitte, mochten Sie so lieb 
sein — ' ich bin schon total heiser. (Grojie Unruhe. Im 
Hintergrunde des Saales Raufszenen, Polizeiwache fuhrt 
Ruhestorer ab.) Ich bitte Sie, meine verehrten Herren, ob 
Sie fiir oder gegen mich sind, von Ihren Gesinnungen 
erst nach SchluB des Vbrtrages Gebrauch zu machen. 
(Larmende Zwischenrufe.) Ich bitte, meine Herren, haben Sie 
ein Interesse, meinen Vortrag anzuhoren, dann seien Sie ruhigl 
(Rufe: Nein! Gegenrufe: Ja! Jal Lebhafter Beifall und Hande- 
klatschen.) Setzen Sie sich alle nieder, dann wird man ja 
wissen, wer stort. Ich bitte, tun Sie mir den Gefallen und 
bleiben Sie r,uihig! (Es trilt allmdhlich Ruhe ein.) 

Horen Sie bis zum SchluB, es ware schade; bisher habe 
ioh nur die Thesen aufgestellt, es wird Sie wohl interessieren, 
wie ich sie jetzt beweise. 

Ich habe Ihnen friiher notdiirftig eine Charakteristik des 
Typus gegeben, den ich als IntelUgenzplebejer bezeichnet habe, 
und habe zum Schlufi die Frage aufgeworfen: was ist es, das 
die Erscheinung des Karl Kraus zu einem Abgott dieser Figuren 
macht, wie ahnlich schon der verstorbene Philosoph Otto Wei- 
ninger ein Abgott dieser Menschen ist und war? 

Und darauf antwor.tete ich folgendes und beginne endlich 
mit dem, was Ihnen so am Herzen liegt, mit dem speziellen 
Thema: Karl Kraus. 

Karl Kraus selbst war es, der durch den Titel seines 
Pamphlets: „Heine und die Folgen" dasPrinzip- — ^obesrichtig 
ist oder nicht — der Verantwortlichkeit des Nachgeahmten und 
Vergotterten fiir die Nachahmer und Vergotterer festgestellt 
hat. Wenn ich also jetzt seinen Anhang, auch den, der heute 
sich hier so schon produziert hat, mit ihm identifiziere, was 

26 



ihm wahrscheinlich nicht sehr angenehm ist, so geschieht es 
nur in Anwendung des von ihm selbst aufgestellten Prinzips. 
Ich habe aber dazu nicht blofi von ihm aus das Recht; es ist 
schon eine tiefere Wahrheit an dem Satze: An ihren Friichten 
sollt Ihr sie erkennen, auch wenn man ihn dahin variiert: An 
seieen Fruchteln sollt Ihr ihn erkennen. (Heiterkeit.) 

Kraus, der also selbst im Falle Heine diesen Dichter Mr die 
Feuilletonisten verantwortlich niacht, kann nichts dagegen 
haben, dafi ich Kraus fur die Kr.ausianer verantwortlich mache. 

Mein weiteres Recht besteht aber in folgendem: Kraus hat 
die Eigentiimlichkeit, die ich Ihnen spater sehr exakt beweisen 
werde — (Zwischenrufe und Unterbrechungen.) Sie haben leider 
nicht den Mut, hier die letzten Syllogismen anzuhoren — Kraus 
hat die Eigenart, wenn man ihm als Argument gegen ihn seinen 
Anhang anfiihrt — ich bitte Sie festzuhalten: man bringt - — 

— Kraus — als Argument — gegen ihn ■ — seinen Anhang 

— mit einer Ekelsgeste zu antworten: Was gehen mich diese 
widerwartigen Kerle an? (Rufe: Das ist eine platte Liigel) Das 
ist ja wahr, das konnte Ihnen 'so passen, daB es nicht wahr 
ware. (Neuerliche zahlreiche Zwischenrufe and Larm.) Ich bitte, 
maohen Sie sdch Notate, ich verpfliohte (mich, jedem zu ant- 
worten, aber seien Sie gesittet! Ich bin einer gegen 900, das 
geht nicht I (Zwischenrufe.) 

Wenn man also Kraus personlich sagt: Urn Himmels 
willen, wie schauen die Leute aus! so entgegnet er: Ich kann 
nicht fur diese Menschen! Was gehen mich die an? (Wider- 
spruch.) Er hat es nicht blofi gesagt, sondern wenn Sie treue 
Leser seiner Zeitschrift waren, so wiirdeo Sie gefunden haben, 
dafi er es auch geschrieben hat. (Rufe: Wann?) Ich scheine ein 
besserer Leser Hires Heilands zu sein als Sie! (Beifall.) Aber 
da erwidere ich diesem Mann folgendes: Wenn einer nicht 
sehr zimperlich ist und mir sagt: mir ist es wurscht, aus welcher 
Gegend der Beifall kommt, welche Nase meine Anhanger haben, 
dann kann er tun, was er will; wenn aber einer gar so zimper- 
lich und rigoros tut, dann kann man ihm vorhalten, mit wel- 
cher unverkennbaren podiumsbehupfenden Freude er den 
Applaus eben jenes Anhangs entgegennimmt. Oder meint Karl 

27 



Kraus, da6, 'wenn in einem seiner Vortrage rasender Beifall 
einsetzt, die Beifallklatscher lauter Goethes, Napoleons und 
Jesus Christusse sind? NeinI Er weiB ganz genau: die Beifalls- 
trager sind zum allergroflten Teil identisch mit jenen, die er 
in der Theorde ablehnt; und wenn nicht Fleisch von seinem 
Fleisch, Blut von seinem Blut, dann nooh arger, namlioh 
MiBversteher _., aus ardschen Bezirken, aus der Gegend jener 
anderen, idealistisch-Ghainiberlaini'schen' Unwirkliohkeit, die 
sich _mit der grajmaMkabsch-Kraus'schen so gut vertragt, 
Mitgendefier des jiidiso hen Selbsithasses^ jiir die auf denselben 
.Banken der Kraus-Verehrung , Platz is.t. Obex diesen Trug- 
IschluB koramt er mat keinein. dialektischen Trick hinweg. 
Die Verehrer kann er nioht ablehnen, sie bleiben auf ihm 
sitzen und es ist eine absolute Feigheit, sioh ihrer zu ent- 
schlagen und von ihnen abzuriicken. Er ltann es nicht tun. 
Wer je gesehen bait, wiie alle Himanel des Kaintz-Erfolges sioh 
iiber ihan auftun, wenn er 3ioh vor jener Jugend, von der er 
dann abriickt, verbeugt, der weifi: er kann fur diesen Anfoang. 
Das moohte ich feslistellen I 

Was macht nun ihn vor allem zu einem Gott dieser Men- 
schen? (Zwischenrufe.) Jetzt sind wir dabei. Es kommt ein 
Teil, der Ihnen vielleicht etwas besser gefallt, namlich: die zur 
spateren starkeren Wirkung der Verneiniung angebracbten Be- 
jahungen. 

Als Karl Kraus vor ungefahr — er sagt 48, ich sage 
30 Jahren, und selbst wenn dch^ mich _irre, habe ich recht — 
nach Wien kam (lebhafie Unterbrechungen und Zwischenrufe), 
da traf er hier nooh die beste Wiener Kultur an, gekenn- 
zeichnet durch das Bestehen des alten Burgtheaters. Dieser 
Mann, aus Bohmen staminend, sah hier noch die ehr- 
wiirdigsten, schonsten Oberreste des wienerischen Feudalglan- 
zes. Nun war ein Umstand da, der ihn allerdings befahigte, der 
Kritiker des neueren wienerischen Zeitabschnittes zu sein, und 
zwar eben ''seine Unwienerischkeit. I Der eingeborene Wiener 
hat jene kalte, abweisende Gedanke nsch arfe nicht, jene ewige 
Dooh-Fremdheit des Gefiihls, die dazu notig ist, bei aller Be- 
jahung des Graziosen, Schonen, Edlen der Wiener Kultur- 

28 



atmosphare trotzdem einen lebhaften Widerstand und Ekel 
zu empfinden gegeniiber der Verschlampung und Verschlei- 
mung dieser Atmosphare durch alles das — ich stehe hier nicht 
als Verteidiger der Presse — was teils durch das Verschulden 
der Presse, teils durch das Verschulden der Gesellschaft, teils 
dadurch entsteht, daB der Wiener eine beinahe passive Zer- 
storbarkeit, eine unerhorte Widerstandslosigkeit gegeniiber den 
Attacken hat, die gegen ihn unternommen werden. (Sturmische 
Zustimmung und Handeklatschen.) Die Scharfe der Fremdheit 
in ihm, das sozusagen Pragerische in ihm war das Talentaus- 
losende. Er ware, hier geboren, hier blutzustandig, wahrschein- 
lich irgendwie in diesem groBen kordialen Cliquenapparat von 
Kunst, Literatur und Gesellsichaft mit aufgegangen. Seine 
bosen — hier ion guten Sinn „b6sen" — FremdMngsaugen, sein 
wunderbarer Geruchsinn des Menschen, der mit dieser Atmo- 
sphare teils verwandt, teils ihr geradezu entgegengesetzt ist, 
befahigten ihn, der psychologische Ankl£ig er zu sein, der An- 
greifer mit der Schauspielerei und der Kenntnis des angegrif- 
fenen Objektes. Das gebe ich Ihnen nicht bloB zu, dasbleibt 
ein asbhetasch-lokales Verdienst. Er kam so hieher, befahigt 
mait drei Eigenschaften: Erstens duroh sein mittelstan- 
disches Judentum — denn natiiriich kann diese Eigenschaft, 
von der ich friiher verachtlich sprach, diese Eigenschaft des 
Detektiyismus, der Entwertung, des Deanaskierungstriebes, die 
ihre Wurzelnim Misdhpochalen hat, auch grofien Form- und 
Paroddenwert bekommen, wenn &ie auf anderes und weiteres 
angewendet wird. Der detektivische Blick, der von Karl Kraus 
innerhalb des eigenen jiidischen Familientums geiibt wurde, 
war seine erste Befahigung dazu, das Demaskierbare, zu Ver- 

haftende, zu Arretierende in der Umwelt zu erkennen. In die 

^- i 

weiche, duslig-verschwatzte osterreichische Mischluft versetzt, 
bekaan er Rontgenkraft. Das Zweite war — und hier komme 
ich zu einer engeren Eigensohafl; — ein Talent zur_Sohau- 
spielerei, das sich an gewissem korperlichen Dingen ge- 
brochen hat, die bei dhon auch wesenithoh psyohologisoh unit- 
spielen und durch die es ihm genau sowie Alexander Stra- 
kosch, der bekanntlich klein und verwachsen, aber ein gran- 

2Q 



dioser Rezitator war, unmoglich wurde, Schauspieler zu werden, 
obwohl die Mischpoche ihm wahrscheinlich gesagt hat:. Karl, 
edne Stiman' hast du wie der Kainzl (Heiterkeit.) Ich bitte, 
das _geht nioht ^eigjmtlidw g<gen ^ih^^jdas, _ ^_Leiden_jintgr 
dem jMisnhjin^fllRTii^haf: ;iihiri_ja ihiinaiifgpjrjphftnl Das also 
ist die zweite gute und niitzliche Qualitat. Die dritte Be- 
fahigung war die, daB er — und dies verbindet ihn wieder 
mit einer hervorragenden politischen Personlichkek dieser 
Stadt, die aus einer Art naivem Fachenthusiaismus, den 
ich ; immer gelten lasse, tndt ihm befreundet ist — ein 
sozusagen /advokatorischesGehirn \besaB. Es gibt besonders 
unter den Juden — wie Sie die Sehrif.ten Lassalles lehren 
kann — Menschen, die ein unerhort advokatorisches Gehirn 
haben, die Ganghen des Gehirns formlich sind schon Kurven 
advokatorischer Beweisfiihrung. Ich bin iiberzeugt, daB schon 
der jugendliche Kraus mit diesem fabelhaften dialektischen 
Talent zum Rechthaben die Familie .iiberrascht hat, mit diesen 
frappierenden Doktor-Viktor-Rosenfeld-Ergiissen seiner Rede. 
Diese drei Qualitaten also, namlich seine physjologische Her- 
kunft von ebendort, wo seine Anhanger herkommen, seinej r a- 
higkeit zur ^chausgielerei und das Anwaltliche seines Gehirns,, 
dieses geradezu Winkeladvokatorische, tin den Tatbestand janes 
Beistrichs Versessenej — - welcher causa er aber genau dieselben 
Winkelgange und boshaften Kurven der Sprache opfert wie 
alle die genialen judischen Advokaten, die wjr ja auch nicht 
darum bewundern, weil ihre Sprache die deutsche Melodie hat, 
nein: weil sie die Ahkunft vom judischen Gehirn zeigt — das 
war das Naturmaterial dieses Mannes, das ihn zu einem aufier- 
ordentlich oppositionellen, rebellenhaften und unabhangigen 
Journalisten teils machte, teils hatte machen konnen. 

Ich habe einmal mit dem Jargon - Komiker Eisenbach 
iiber das Problem Karl Kraus gesprochen und sagte ihm: 
Wissen Sie, daB der Kraus Sie so schatzt, hat eine wichtige 
private Ursache: der Mann ist Ihnen viel ahnlicher, als Sie 
glauben. Er hat namlioh .in, sioh alle diese genialen — dieses 
Wort hat mir damn Werfel weggenommen; maeht nichts, wir 
teilen da (Heiterkeit) — alle die genialen Tierstimmen- 

30 



imitatoren-Qualitaten, die Sie haben, dieses wunderbar parodi- 
stische, boshafte Gehor, das Tonfalle imitiert, ob sie im Bezirk 
des Jiidischen Oder Arischien auf klingen. Aber, sagte ich, Sie 
sind mir doch lieber! Urad als er fragte, warum, erwiderte ich, 
ungefahr fiir seine Auffassung prapariert: deshalb lieber, well 
innerhalb der -Kunst jedes Naivsein einVor sprung ist gegen- 
iiber jedem noch so aus den profundesten Tief en schopfenden 
Kompliziertsein und die Natur^ mir. lieber ..J-st_ als. ihre-Selbst- 
kommentierung. Wissen Sie namlich, was im Verhaltnis zu 
Ihnen dieser Karl Kraus ist, aus welcher Verwandtschaft er seine 
V T erehrung fiir Sie hat? Sie sind ein Band Eisenbach — - er ist 
eine Konversationslexikonausgabe Heinrich Eisenbach-Talent, 
angewandt auf Schriftstellerei, mit 21 Supplementbanden 
Selbsterklarung. Um diese 21 Bande, die die Ausgabe Eisenbach 
weniger hat, ist Eisenbach — sagte ich zu ihm — mehr 
iOrigirialgeniejals der andere mif seinem Schauspielertalent ver- 
bunderi mit dem unerhorten dial ektis chenJTalent zmnJRecht- 
haben. Ich kann mir bei der Grofie dieses Talents sogar vor- 
stellen, daB, wenn man mit dem zehnjahrigear Kraus eine 
Debatte hatte: wem gehort die Feder? mir oder dir? man nach 
zwei Stunden ohnmachtig mit den Worten zuriicksank: ja, dir 
gehort die FedeTl (Heiierkeit.) 

Nun bitte ich genau festzuhalten: physiologisch, blut- 
gemaB war die Abkunft dieses Mannes — das kann er am 
weriigsten dadurch abstreiten, dafi er wie toll fluent und immer 
wieder hinausposaunt: mich geht dieser Abhub nichts an! ■ — - 
physiologisch war seine Abkunft die gleiche wie die seiner An- 
hangerschar, dieser gewisse jiidisoh uberberizte, geistig durch- 
schnittliche-Mittelstand. Aber er; war um so und so viel be- 
gabter. Das heiflt: er stellt gewissermafien eine Grenz- 
erscheinung dar, mit Blut und Leib gehorend zu jenen, die 
hinter dhm postiert, die seines Blutes sind: genau so detek- 
tivisch, genau so unsicher, genau. so demaskierend, genau so 
auf alien Kreuz- und Querpirschgangen das Jiideln im Kosmos 
rings horend, genau so geartet wia—sie^ gewissermafien 
Richard III. aus dem Haus der Kraus, aber kraft seiner hoheren 
Begabung ' mit Nase, Augen, Ohren, alles das witternd, was 

31 



auf dem seligen Gegeniiber-Ufer der Bessergeartetheit liegt. 
Und so wie er physiologisch die Grenzerscheinung ist, blieb er 
irgendwie auch kiinstlerisch der beste, begabteste, geeignetste 
Journalist — in einer anderen Stadt, in einem anderen Kultur- 
rayon geschatztes Concordiamitglaed, wenn Sie wollen (Heiter- 
keit) — aber trotz JournaUsmus bereits riechend, Jiorend, 
schmeckend das groBe Gegeniiber-Ufer der absoluten, der anti- 
journiaHstischen, bedeutenden, nicht am Papier und in der 
Zweidimensionaldtat haftenden Kunst. In beiden Dingen 
Grenzerscheinung. Diese Grenamenschen sind die eigentlichen 
Fiihrer. Denn der von ihnen Gefiihrte hat einerseits die 
Moglichkeit, dadurch daft er in ihnen alle seine Eigenschaften 
wiedererkennt, sich selbst zu feiern und er ist anderseits zum 
Respekt gezwungen, weil er sich sagen muB ; Wenn auch Fleisch 
von meinem Fleische, wenn auch Blut von meinem Blut, so 
doch schon halb auf dem andern Ufer, wohin ich ihm kaum 
folgen kann, und von wo er mir die neuen groBen Enthiillungen 
und Offenbarungen .mitbringtlj. . . Ich bin jetzt em bifichen 
irritiert, daB gerade dann, wenn ich bed der Entwicklung eines 
Gedankens bin, die Salve des Krawalls wieder hineinfahrt. 
Erkennen Sie doch meine Denkbemiihtheit an. 

Das war die grofie ernste Qualitat des Karl Kraus, die inn 
in Wien zu einer betrachtlichen journalistischen Erscbeinung 
hatte machen konnen. Wenn Karl Kraus als solche Ersoheinung 
rubriziert ware, wenn er nichts anders ware, so wtirde .ich ihn 
unbedingt anerkennen, wie dch es in diesem Unikreis, in diesem 
Bezirke, in diesem AusmiaB auch tue. 

Erst, wenn ich als lebender, die Wirklichkeit und die Welt 
sehender Mensch eine Art von epidemischer hysterischer Uber- 
schatzung wahrnehme, die fiir das tiefere Problem charak- 
teristisch ist, so uberlege ich einen Augenblick und sage 
mir: Wo liegt in der Perisonlichkeit des Uberschatzten pendant- 
mafiig der Komplex von Eigenschaften, der ihn zum Objekt 
einer solchen hysterischen Uberschatzung macht? (Ruf: In 
seiner Unbestechlichkeit!) Da erinnere ich Sie als offenbar 
bestier Hospitant der Karl Kraus-Schule an seinen Ausspruoh 
von dam Mann, der ,,davon lebt, daB er seine reinen Hande her- 

32 



zeigt". (Beifall und Zwischenrufe.) Horen Sie mir weiter zu. 
Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen spater Ordinationsstunden. 

Welches waren also diese Eigenschaften? War es nur die 
Tatsache, daB jedes [Judenbubenherz auflachen muBte, wenn 
der Meister, wie ich es einmal nannte, das latente Jiideln im 
Kosmos feststellte? (Schallende Heiterkeit.) War es nur die 
Freude des Familienkomplexbeschwerten daran, daB einer ihm 
gleichsam den Urlaut der Familie im Universum feststellte? 
(Neuerliche Heiterkeit.) NeinI Es waren zwei, zwei eng mit- 
einander verwandte Dinge. Ich will sie hier geordnet erlautern. 
Also erstens: 

Ich sprach fruher davon, daB diese Art Intelligenzplebejer 
in einem erstarrten, verharteten Pubertatsstadium sich befin- 
den. Ich sprach davon, daB Otto Weininger aus diesem Puber- 
tatsstadium die edle heroische Konsequemz zog, freiwillig zu 
scheiden, es nioht zu iiberieben. Kraus iiberlebte es, Kraus, 
von dem ich weiB, iiberzeugt bin, schwore, daB er — 
heute Vorzugsschulerzuchter — Vorzugsschiiler war, da8 er 
die glanzendsten Redeiibungen liefente, daB Deutsoh sein 
Lieblingsgegenstand war, daB er wahrscheinlich alle diese typi- 
schen Schiilerkomplexe des Sicheinschmeichelns in den Klas- 
senvorstand, des Brutustums des schlimmen Buben auf der 
einen Seite und des Primustums des Ehrgedzigen auf der 
anderen Seite in sich vereinigte, verbunden mit dem detelctivi- 
schen HaBblick gegen die Mehrzahl seiner Mitschiiler, von 
denen er damals schon ahnte, daB sie kiinftige osterreichische 
Minister sein wiirden. 

Dieser Schiiler Kraus, entwicklungslos, Otto Ernst ver+ 
ehrend, schiichtern, erlebt in dem fruher beschriebenen psycho- 
analytischen Sinn das typische Pubertatserlebnis. Wenn Sie 
seine Aphorismen durchlesen, so werden Sie sehen, daB alle 
seine Sexualweisheiten ununterbrochen Varianten des Themas 
sind: Qual des Lebens, Lust des Denkens, Lust — Scham, vor- 
her — nachher, Genie — Leib, Weib ich vergebe mich an dich! 
vielleicht mit einem Wedekindschen: Ich bin gliicklich, daB 
ich on dir versinke — aber im groBen und ganzen die typischen 
Achsenbegriffe des Sexualjiinglings, der sich nicht weiter ent- 

33 



wiokelt hat — infolge eherner physiologischer iGesetze — fur 
den 1 die game Liebe nichts ist als 'die Tragik des sogenannten 
Verrats am Geiste, eine Formel, die nur aus der Pubertatszeit 
stammt, das heifit aus der Zeit, wo man noch lange nicht dazu 
gekommen ist, zu lieben, das ei - 16sende Gliick der Wechsel- 
begehrtheit zu flnden, uber seine sehr schwiilen Traume hin- 
aus die ekle Isoliertheit abzuschiitteln, als freier Mensch sicher 
zu sein und etwas anderes zu tun, als zu vergewaltigen oder zu 
iiberreden oder sich izu kaufen, kurz, aus dem Genie-Nest der 
Eitelkeit endlich ins Freie zu kriechen. Hier blieb er stehen. 
Ich kann mir denken, daB ihm die Psychoanalyse unangenehm 
ist. Wenn man diesen Punkt weiter ausfuhrte, kame man blitz- 
artiger und rapider zu den AuBenerscheinungen als auf jedem 
anderen Wege. 

Und nun geschah folgendes: Kennzeichen des Pubertats- 
stadiums ist neben der Art unentwickelten Eros ein ebenso un- 
entwickelter Selbstbehauptungstrieb, namlich der Selbstbehaup- 
tungstrieb im Worte. Diese Dialektik, die die Waffe des iiber- 
legenen Standpunkts, der Demaskierung und Enthiillung und 
zugleich das beste Schutzmittel vor erschiitternder Selbst- 
erkenntnis ist. 

Ioh will Ihnen das raseh erklaren. Der lebende, liebende, 
demiitig gewordene, der Welt, der Wirklichkeit ins Aug' 
sehende Mensch wird die intellektuelle Selbstbehauptung auf- 
geben und dadurch erst zur Uberlegenheit, dadurch erst zur 
Grofie, zur Kunst komrnen. Der Pubertatsmensoh — sofern 
er sich nioht als SproB der christHoh-gerimanischen Denkart 
in eine andere Realitatslosigkeit, namlich ins Reich des 
Bilderbuch-Heroismus fliiohtet — denkt, sieht^ _sj>richt_ nur 
intellektuell. Er hat nur die eine Angst, den sogenannten 
uberlegenen Standpunkt aufzuopfern. Er lebt mit Wort- 
beredtschaft auf der Zunge, im Ohre, er denkt nicht, er 
lafit sich nicht uberzeugen. ; Das Rechthaben auf dem Niveau 
seiner Lebensblindheit halt er fiir das Sehen. Wenn einer zu 
ihm sprache: die Welt ist anders — er kann nachts horen als 
sein Pubertats-Ich oder — Otto Weiningers Scbicksal schwebt 
ihm vor I In der Jugend gibt es ja oft nur dieses Entweder — 

34 



Oder: Selbstmord oder Selbstbehauptung. Und so behauptet 
sich der Pubertatsmensch im Worte, nichts dringt durch seine 
Wortwatte, die er im Ohr hat. Es ist eine Sprungbereitschaft 
im luftleereni Itaum, die Inbrunst der Irrealen. Das wird auch 
das Schicksal des etwa 20- bis 22jahrigen Kraus. Er schrieb 
diesen, ein biBchen an Daniel Spitzer erinnernden, aus Eisen- 
bach-Schauspielerei und Winkeladvokatengeschicklichkeit ge- 
paarten und sich aufs ShakespeareroB schwingenden virtuosen 
Stil. Er verkroch sich in diesen Stil, Knabe bleibend, Knaben 
ziichtend, (Ruf: Buben hassend!) Buben hassend. (Heiterkeit.) 
Es werden sehr wenig gescheite Zwischenrufe gemacht, darum 
komme ich so wenig vorwarts. 

Ich komme nun — weil man mir vielleicht sagen wird: 
Herr! Die Sprache! oder wie die am Pathoskoller er- 
krankten, ilirem Meister sein Lieblingswort nachpfauchenden 
Anhiinger zu sagen pflegen: die Schaparacbe! — naher auf die 
Kraus'sche Dialektik zu sprechen. Und jetzt Averden Sie horen 
und erfahren, woher aufier den fiir Sie i>einlioh und unange- 
nehin, ja beleidigend klingenden Dingen, die aus der und der 
Gasse, aus dem und dem Bezirke, aus den und den Komplexen 
kommen, Hire eigentliche Gefolgschaft sich herleitet. Und 
wenn Sie mir jetzt zuhoren und ein biBohen innerlich ge- 
willt sind, zuzuhoren, dann werden Sie vielleicht iiber mich, 
das Thema und die Art seiner Erorterung milder urteilen. 
(Ruf: Geben Sie nachher Diskussion? ) Nur wenn gescheit 
gesprochen wird — unter der Bedingung. Ioh bin nicht 
abgeneigt — obwohl ich ziemlich erschopft bin — aber natiir- 
lich nicht mit Wor.ten wie „Bube" und dergleichen Unproduk- 
tivem. 

Ich habe Ihnen friiher abstrakt gesagt, es gibt eine 
Pubertatsart, sich in der Dialektik zu verstecken, sich dort zu 
versclianzen, wortvoll zu sein und an das Wort nichts heran- 
komnien zu lassen. Wie ist diese Dialektik speziell bei iKraus 
JieschafTen-? Ich will jetzt gar nicht meine alten Wdtze a.us der 
Zeitung wiederholen, die sehr gut waren (Heiterkeit); ich will 
hier nicht aneinen beruhmten Satz wiedenholen: .Eine Zeit, die 
keine Zeit hat, Zeit zu sein, auch wenn sie Zeit ware oder: diese. 

35 



jene, welchene — ich will nicht den ganzen Satz aufroHen 

(der Vortragende nimmt einen parodistischen Ton an): „jene 

Vortrage, die, tragen sie auch nichts anderes ein, als denen, 

die den Ertrag xiber das Ertragnis stellen, Eintrag zu tun, 

dennoch dem, der 's tut, tat er die Tat nicht um des Taten, 

sandern um des Taters willen, mehr tragt als dhnen, die sie 

nicht ver tragen" — alles das nicht; ich will nicht kaberetti- 

stisch diese Art von (jidyokatoriscliem Pseudodeutsohi persi- 

flderen, dhnen auch nicht nachweisen, dafl es nicht die Anti- 

these als solche, — die kennen wir ja zur geniige von Mieter- 

schutzplaidoj'ers her — sondern ihre Anwendung auf die 

„Metaphysik des Beistrdchs" ist, was Sie so fasrziniert. Nein, 

dies alles nicht, ich bin sachlich, ich buhle um Ihre Gunst. 

(Heiterkeit.) Ich sage Ihnen psychologisch, wie es mit dieser 

Dialektik beschaffen ist. Der undialeMische Mensch, der 

Mensch, der nidit im Worte lebt, ini Worte wohnt, sich vain 

Wort sehutzen laJ3t, der ist, wie ich sagte, in jeder Sekunde 

bereit, etwas zu horen, was ihn umwirft, was dlim neu ist, 

demgegeniiber er sich neu zusammenihalt. Der dialektische 

Mensch hat immer das Gefiilil, alles, was gesprochen wird — 

er leidet am sogenanntem ^Beziehungswahnj — soil edne Ent- 

wertung fur ihn, soil eine Anspielung auf seine Mandenwertig- 

keit sein, auf seine Durchschauung und Demaskierung zielen 

imd zugleich die Uberlegenheit des Spreohers beweisen. Ganz 

folgerichtig und leitmotivisch kehren bei Kraus darum auch die 

Vorwegnalunen der Einwande; „Recht hat er, wo er Recht 

hat!" und „Er ist doch ein Jud!" wieder. Der dialektische, also 

betroffene Mensch kann nicht mit reinen Ohren horen, er kann 

weder Nietzsche noch mich anhoren, denn bei beiden wird er 

sich, statt aufzuhorchen; was sagst du mir? sagen: wie viel 

Jahre sind Sie gesessen, waim liabe ich Sie beleddigt, wohdin 

geht Ihr . Anspruch? (Heiterkeit.) Oder: wer hat Sie veranlafit, 

mir zu sagen . . .? Wie konnte ich achtgeben, wenn ich mich 

befrage, was ich dazu sage? Oder: wie konnte ich von meiner 

Horerschaft . . . (Zwischenrufe. Zum Zwischenrufer.) Ich weifi, 

Sie sind wahnsinnig gescheit, aber lassen Sie mich reden, Sie 

sehen, ich kampfe um meine Konzentration. Also, ich will 

36 



sagen, der uiidialekbische Mensch ist jeden Moment gefafit auf 
einen geistigen Weltuntergang, den alles und jeder hervorrufen 
kann. Der dialektisohe Mensch, der hort nur daraufhin: Wie 
kann ich ihm er.widern? Das ersfce Wort ziindet schon diesen 
Gedankenan,jdenin alles Reden und Ge^enreden, das istiiur ein 
S.treit in der Arena vor deni P.ublikum zur Reliabilitierung des 
Intellekts, der Sprache, der tlberlegenheit und nicht zur Er- 
weisung von iWirklichkeit/imd WertJ 

Die SpraohMiiten, die aus dieser wirkJichkeitsloseii Er- 
hitzung, aus dieser Unfahigkeit, zu sehen .und zu >horen, 
spriefSen, selien prachtig aus; auf der Hand geiwogen, zerfallen 
sie in Staub uaid Papier. Als ich zum Beispiel einmal die judische 
Selbstftuoht, die Angst vor der eigenen Rassenstknime, den Vater- 
und Faanilienhafi beschrieb, die zuisainmen die Vorbedhigung.fur 
Karl Krausens Art und Werk darstellen, was ei-widerte da der 
Antworter? Er sagte: dieser . . . jener . . . welcher ... — folgte 
meine satirische Personsbeschreibung — „arretiert seine eigenen 
Defekte am andern". Fabelhaft! Die Verehrungsburschen 
konnten wieder einmal jedes Wort vom Boden aufschlecken, 
„arretiert", „Defekt" — herrlich gekraustl Aber was bedeutet 
der Satz, wenn man ihn genauer ansieht und ins Gemein- 
verstandliche ubertragt? Nichts anderes als das aus Knaben- 
und Spielplatzzwisten bekannte Wort: „Selber aner!" Ein 
anderesmal schilderte ein Schriftsteller in einem Schliissel- 
roman die gierige, wenig anziehende Art, in der der groBe 
Ethiker seine Mahlzeiten einnimmt. Kraus schrieb sofort 
25^ Aphorismen dagegen unter dem Titel: „Nachts". Einer 
von ihnen lautete: „Ich esse gierig aus der Gier nach dem 
Nichtessen". Genial! Er hatte auch sagen kannen: „Ich bin ver- 
frassen aus Entsagung!" 

Ich moohte jetzt etwas einschalten, wedl es mir hier pafit, 
und das ist folgendes fiir die Monomanie Krausens-Gharakte- 
ristisches: Ich habe einmal edn Buch von 120 Sedten ge- 
schrieben, von dem drei Spalten iiber Kraus sind — er wurde 
hier. als Beispiel des Selbst-Antisemitismus angefuhrt — dieses 
Buch hieB damn: das Kraus-Buch Anton Kuhs. Auch da mufi 
ich aber vorerst eine Zwischenbemerkung raachen: Kraus hat 

37 



es oft poleniisch mit Menschen zu tun, die den Wahnsinn 
begehen, wenn sie eine aufs Dachel hekoinmen, ihim in seinen 
Drahtverhau von 20 Jahre lang vorbereiteter Dialektik hinein- 
zukriechen, sich in diesen Dachsbau von Salvierungen, Anti- 
zipationen, Verdrehungsmelodien hineinschleppen zu lassen, 
wobei sie sich natiirlich den Bauch wund reifien (Heiterkeit), 
und das sind die Leute mit dem „Kraus-Komplex". Jeder, 
der angegrilTen wird und sich in dieser Suada zur Wehr 
setzt, jeder, der ihm einst Verehrungsbriefe schrieb und 
ihn dann befehdete, jeder also, der sich, um in der 
naheliegenden Schulterminologie des Klassenvorstandes Kraus 
zu sprechen, selbst ins Klassenbuch geschrieben hat, hat 
seinen ,,Komplex". Was geschieht aber, wenn weder einer 
der ihn Verahrenden, noch ihm Verehrungsbrieiie Schreiben- 
den, nocli von ihm Angegriffenen ■ — obzwar ich dafiir ein 
sehr exponiertes Gesicht ihabe, das wird mar keiner, nicht einmal 
der, der mich „Bube" nennt, ableugnen — wenn also einer 
wie ich, ohne „Koanplex", ohne Devotion, ohne erne schlechte 
Note gekriegt zu haben, ihm freimutig und geradeheraus die 
Meinung sagt? Das mufl ich Ihnen doch erzahlen, ach muB es 
sagen, obzwar doh mich in ein sohlechtes Licht bringe. Dann 
namlich sagt er: Heri' Kuh kommt von hintem! ^mit deni 
neckischen Zusatz: ,,dort kemit er sich aus!" Das heifit: von 
vorne kommen, nicht beleidigt sein, nicht angegriffen sein, 
sondern sagen: „hier ist meinWort!" das nennt dieser Wahn- 
sinnige — der sich eben in Wahrheit doch nur vom auf- 
richtigen, nicht hysterisch motivierten Wort unahgienehm iiber- 
rascht fiihlt — von hinten kommen! Der.selbe Mann, der die 
Campagne gegen Harden gefiihrt hat, well Harden, um das 
deutsche Reichskabinelt zu stiirzen (was doch jedenfalls edne 
histor.ische Saohe war), festgestellt hat, welche Menschen in 
der Umgebung Kaiser Wilhelms an Perversa onen leiden, der- 
selbe Mann, der Harden aus diesem Grunde als Abschaum, 
Ekel und Brechmittel bezeichnet hat, wird wegen einer 
kJeinen, jiidisch-eitlen, dreckigen Literaturfehde in seinem 
Anspielungstalnnud, „Fackel" genannt, woraiis sich die 
Burschen vielsagende Parenthesen herauspioken, fiir den 



Ol 



8 



Kenner und Nichtkenner sagen: Herr Kuh kommt von hinten 
— und den Anfcangern avird es dammern: ,,Ah, das anuB etwas 
Besonderes heifien! Da liegt vielleicht eine ProzeBsachel 
Sicher ein Wissertum! Pack es, wenn du kannstl Er hat ja 
nifchts gemeint, er hat nu-r so gesagt". Deiin es gibt solche Jung- 
linge mit dankbaren Schnuppernasen genug. Ich verstehe 
es: in der Jugend braucht man Denktriaining, man iibt das 
Gehirn an Sprachwendungen, und sich in diesem Dickicht der 
Sprache auszukennen, sich in diesem Katechismus der An- 
spielung zurechtzufinden, zu wissen, auf wen der GroBdnquisitor 
in diesem oder jenem Saitze mit spitzem Zeigeflnger weist, auf 
wen: dies oder das geht — ob es eine Unverschamtheit ist oder 
nicht, ist ihm gleich — das anacht den Jiinger betrunken von 
wangenrotender Gescheifoheit und gibt ihm das Gefuhl, von der 
Eiffelturmspitze herunterzusehen. Und wenn sein Anspie- 
lungsgott dann etwa mit Unerhortem Pathos sagt: „Ein Schrift- 
steller, der sich nicht entblodet, auf sexuelle Privatangelegen- 
heiten anzuspielen!" — ward Bravo! gerufen und kein An- 
hanger sieht, da 6 man mit ein und derselben Dialektik ,,eso" 
anachen kann und „eso". (Heiterkeit. Lebhafter Beifall und 
Handeklatschen.) 

Begreifen Sie jetzt notabene, warum im Kopf dieses 
Marines neben den vorerwahnteii Vokabeln auch schuldbewuBt, 
zuvorkommend und noch nicht aufgetauchte Anklager paro- 
Hierend, das Wort „Material" spukt? Er namlich hat Material! 
Er hat seine Recherchengarde, die ihm von Nietzsche bis 
Benedikt den fiir - Klamanernsatze, /Wortspiele, Doppeldeutig- 
keiten notigen Rohstoff liefert! Und er weiB in seines Herzens 
Grund zu gut: daB er nur auf dem gleichen Weg todlich ver- 
wundbar ist, dann namlich, wenn man haargenau Gesprache 
mit Altenberg, mit Werfel oder mit dem Onkel auis Nikolsburg 
reproduziert, und statt semen Kopf in jenen Dachsbau zu 
stecken, niitteilt, wie der Dachs ■drinnen aussieht. 

In dem Buche, das ich friiher genannt .babe, — ich hoffe, 
Sie sind geduldig genug, ich habe jetzt die Sache selbst in die 
Lange gezogen — in diesem Buche sagte ich, die Sprache des 
Karl Kraus sei eine sogenannte 'Nachhausebegleitungssprache. 

39 



Ich werde Ihnen schildern, was das ist. Der Mann, der Welt 
in sich hat, Mut gegen Mut, Eriebnis gegen Erlebnis setzt, der 
sagt seine Sadie, driickt dem Horer die Hand und geht. Der 
Mensch aber, der sich nur vermoge des Wortes behauptet, der 
uberall, wo ein Loch in der Tapete entsteht, es mit Wortkalk 
verschmiert, der so wie es im „Zerissenen" von: Nestroy ge- 
schiebt, bier eine Falltiir niederdriickt, worauf eine andere sich 
offnet, dann dorbbin eilt und sie wieder niederdriickt und das 
so bin und her weitertut und in dreifiigjahriger monchs- 
artiger Hirnmuihe inimer wieder die durch die Wirklichkeit 
entstandenem Locher mit Worten verstopft — eine lacherliche 
Clownarbeit — dieser Mann muB seinen Stil so schreiben, dafi 
alles praventiv vorweggenommen ist, was sich irgendeiner noch 
dagegen denken konnte. (Und er wird doch nie, nie damit 
fertig.) Sie wissen, dafi es die Art eitler Menschen ist, da/3 
sie von einer Gesellsohaft nioht Abschied nebmen konneu, 
weil sie burner das unangenehme Gefiihl haben, dafi 
hinter ilirern Riicken gesagt wird: nun, ganz gescheit, 
aber man niufi schon sagen ... — oder, dafi sie uner- 
horte Thesen entwickelt haben und fiixcbten, der Mann, der 
ihnen zugehort hat, konne sagen: ja, ich babe ihm zugehort, 
um ihm nicht zu zeigen, dafi ich pikiert bin, aber es ware doch 
etwas dagegen anzuifiihreii — der undialektische Mensch 
denkt sich da: „Habts anieh gern!" — dem dialektiscben aber 
ist die Moglichkeit, dafi irgendein Tapetenrifi entstehen 
konnte, ein furchtbarer Schreck. Und er wird eine Prosa 
schreiben, die alles das, was man sich noch mit einem letzten 
Gehimrest dagegen denken konnte, antizipiert. 

Es ist namlich sehr klar: ein inoerlich Grofier, Gauzer 
und Fester braucht blofi furohtlos seine Saobe hinzustellen, 
ihm kann nichts passieren, wenn man ihm sie umwirft; einer 
aber aus der Kategorie der ,,optischen Tauschungen", das 
heifit: ein Scheingrofier, ihinter dessen Flaanmenwort- ein 
klemes Brillengesicht sich duckt — und dieses Gesdcht braucht 
inimer mehr und mehr Atem, tim die schlaffen Stellen auf- 
zublasen, den Sprachefiekt als Personswert auszugeben — der 
wird beim kleinsten Rifi nervos, Wort mufi her, um die Liicke 



40 



zli stop feu — schuf sie die Vorwelt — gegen die Vorwelt! — 
schafft sie die Mitwelt — gegen die Mitwelt! — schafft sie aber 
die Nachwelt? ... D a s ist das wunde Wen. Doppelt, nein 
hundert- und tausendfach eifriger wird der Fadenspinner — 
wie er sein Gesicht vor sich selber birgt, so versteckt er es im 
Stil, bosselt, ziseliert, putzt, schleift, nahl, daB die kleinsrte 
Gemeinheitsfalle verschwinde und die restlos sich ausgehende 
Rechnung der Sprache wie restlose Reinheit wirkel Freilich 
gibt es dami naive Enthusiasten, die dieses Wunider der Selbst- 
dressur fiir hochste RednheiL nehmen, Nachlaufer aus vermeint- 
licher Ehrfurcht und faktischer Schachimattgesetzthieit. Aber 
dann neben ihnen sogenannle „Feine" — eine Gruppe inner - 
lich verquiilber und ubeldunstiger Noblesse obldge-Menscben, 
die im kleimeren Stil Wort und Sprache zur selben Tiiuschung 
'mriBbrauchen. Wenn .sie iiber ilm schreiben, ist es wie eine 
deutsche Hausarbeit: sie diirfen seine Stil-, seine Selbst- 
deutungsgrenzen nicht verlassen und produzieren oft auf tunf- 
hundert Seiten das graBliche, silbenstechende Kaudenwelsch, 
diese Weihe-Aflerei ausbalanoierter Relativsatze, Inversionen 
und Konjunktionen. Und ihr Gott samonelt es und hat seine 
Freude d'ran! Ist es doch die Frucht seines eigenen schweifi- 
beladenen Handwerks gewesen: niichtelang herumzustricheln, 
darnit der Privatklang der Stiinme, die fletschende Betroffen- 
heit seines Gesichtes hinter einer Wortreihe unsiohtbar werde, 
deren Wiirde himmelentstamant, deren Schopfer erdentruckt 
scheint und mit deren unsclieinbarsten Gliedern er anspiele- 
risch Belohnungen und Strafen .ausleilen kann! Aber .so wenig 
es dann einean Frevler zu verdenken ist, daB es ihn lockt, die 
dunnatmige Gespreiztheit so lang anzukletzelra, 'bis die Visage 
hervorspringt — : so wenig Lragen viele Ehrldche und Gut- 
glaubige, die die Sprache eben als umnittelbaren Menschenaus- 
druck nehmen, Sclmld daran, daB sie den irrsinnigen Inter- 
punktionsmonoh fiir Gott selber batten! 

Vorausgesetzt nun (um beim ohigeuRild des Liickenstopfens 
zu bleiben) den unerhorten Respekt, den Pubertatsmenschen 
sich zwar nicht vor der Welt bewahrt haben, fiir die sie ja noch 
keine Psychologie entwickeln. konnen, mit der sie noch nicht 

41 



genug Abenteuer thaben, fur die ihnen die Grofie, der Mut, die 
Demut, alles fehlt, 1 sondern vorausgesetzt den Respekt vor 
dem Rechthaben eines Menschen durch das Medium der 
Sprache — diese Junglingsverehrung angenommen, die durch 
das Wort, durch intellektuell verwuzelte PJirasen schon an 
sich fasziniert ist — was soil mit ihnen geschehen, wenn der 
dialektisch Beflissene, Uberredungsgeniale es ungefahr so 
macht: Er begleitet dich rait seiner Spraohe bis zum Haustor. 
Er sagt sich: Du gehst jetzt hinauf. Vielleicht wird dir aber 
auf dem Gang im ersten Stock noch etwas gegen mich einfallen 
— ich gehe noch bis zum ersten Stock mit. Du gehst ins 
Zimmer, aber auf dem Wege bis zum Belt kannst du sagen: 
„es gibt doch ein Gegenargument" oder: „du scheinst mir kein 
wahrhaft Grofier." Ich begleite dich daher bis zum Bett, dch 
lege mich zu dir ins Bett, ich ziehe dir das Nachtemd an, 
knopfle es zu und warte, bis du schliifst, dann mache ich einen 
Punkt und schreibe nieder: Lust des Denkens, Qual des Lebens! 
Demi ich habe jetzt wieder eines meiner unerhorten dialek- 
tasohen Meisterstiicke gebaut, die so beschaiTen sind, dafi der 
Leser keine Luft fur eigenen Atem mehr bat. 

Und jetzt komme ich von der allgemeinen Faszinations- 
wirkung dieser Dialektik zur speziellen, die darin besteht, dafi 
der Jiingling — oder wenn er nicht mehr Jiingling ist: der in 
seinen Pubertatsenthusiasmen und Pubertatsdefekten stehen- 
gebliebene Mensch — , wenn er das liest, dialektisch uberzeugt 
ist, ohne zu wissen; ich bin dort uberzeugt, wo mich die Sprache 
hinuntcrgefiihrt hat, ich weifi von keiner anderen Welt — ich 
■habe gar nicht bemerkt, dafi mich der Verfiihrer mittlerweile 
einige Stockwerke tiefer, in die Realitatslosigkeit und Ansich- 
gescheitheit gelockt hat! Dieser junge Mensch, wenn er durch 
alle jene Kreuz- und Quergange gefiihrt ist, fiihlt sich Wie 
erschlagen, er hangt an der Nabelschnur seines Gottes, es bleibt 
ihm, nachdem ihm alles weggesagt wurde, auf dem Niveau, auf 
das er gefiihrt wurde — das ist die optische Tauschung — 
nichts anderes iibrig, als ganz schachmatt zu sagen: „Wunder- 
bar!" Und ist vollkornimen sterilisiert. Fragte er sich, was ihm 
aufier jener Zustimmung ..Grofiartig!" oder „Sehr richtig!" und 

42 



dem so rasch und billig erstandenem Entwertungsblick fiir die 
unbekannten Dinge der Welt noch bleibt, was ihm an neuen 
Werten bleibt — er wiirde traurig. Das ist namlich jetzt die 
Sache. Ob Kraus zufallig der Gott schon vorhandener steriler 
oder hysterischer Menschen werden mufite, oder ob er sie erst 
sterilisiert und hysterisiert hat, lasse ich dahingestellt sein. 
Gewohnlich ist da eine wechselseitige Wirkung. Ich glaube 
nicht, daB irgend ein Mensch, der dieser Hysterie erliegt, auch 
in den Schiitzengraben des Geistes gefallen ware. Ich glaube, 
daB eines zum andern sich findet. Aber die Ursache der 
Wirkung liegt darin, daB Kraus der Antworter ist. 

Wenn Sie heute die Aphorismen des Christian Morgenstern 
durchlesen, so wird jeder Satz, auch wenn er nicht diese 
virtuose FormuLierung hat, auf Sie so wirken, als ob erne 
Welt mit ihm erstiinde; wenn bloB der Satz dort steht: „die 
Fliegen, diese Spatzen unter den Insekten," so werden Sie sich 
sagen, daB das funfiundziwanziganal so viel wert ist, als das 
gekrausteste Kraus-Gedicht und hundertmal so viel wert als 
Spruch und Widerspruch; denn es ist Welt darin, das heiBt: 
ein lebender, gottinniger, sehender Mensch. Wenn Sie die 
ganzen Kraus'schen Aphorismen mit der unerhorten Gehirn- 
energie und der peinlichen Virtuosita.it der FonmuMerung durch- 
blattern, so werden Sie dimmer das Gefuhl haben: gescheit, 
gut, nochmals gescheit, sehr richtig, und werden wie verstopft, 
wie vollkommen abgesperrt gegen alles sein und Sie haben 
dann — das ist das Ungliick der Kraus-Anhanger — jeden 
eigenen Laut, das eigene Gehirn verloren, wie eben Menschen, 
die dadurch, daB sie an der Nabelschnur der Dialektik hangen, 
nichts Eigenes mehr hervorbringen konnen. Das ist ja das 
Ominose und Furchtbare und daraus entsteht es, daB so ein 
Jiinger, wenn man ihm Einwande bringt, immer antwortet: 
Der Kraus sagt aber ausdriicklich im 26. Jahrgang, Nummer X, 
Seite so und so viel, Zeile 3 — folgt eine Antwort. Wenn man 
ihm darauf wieder entgegnet, antwortet er: Er sagt aber aus- 
driicklich im 11. Jahrgang, Seite 43 bis 45 . . . (Lebhafte 
Heiterkeit.) Er kann nichts anderes mehr denken, er ist ein- 
gekreist, eingekraust, ausgekraust (Heiterkeit), das Gehirn 

43 



kann nur noch in den Spiralen der Ganglien dieses Mannes 
laufen; denn es ist die damonische Jiinglings-Verzahrungs- 
dialektik eines Menschen, der als der starre Buddha der eigenen 
Pubertat an tausend Drahten und Faden die Pubertaten 
anderer fiihrt, des Obergyannasiasten gegenuber den Unter- 
gymnasiasten, der zum Ordinarius der Sittlichkeit avanciert 
in den Augen des gierigen Mitscbiilers, der an diesen Faden 
hangt. So ist das Bild. 

Und nun werden Sie sagen: Und die Sittlichkeit? Das 
Ethos? Nun, zum groBten Teil habe dob sohon davon 
gesprochen, indem ich von dem Oberredungseffekt seines Stils 
sprach — denn welcher Gescheite wollte, gemaB den okono- 
mischen Gesetzen dieser Gescheitheit nicht lieber seine bliiten- 
weifie Christlichkeit beweisen? Ich gehe aber noch weiter, ich 
frage nioht bloB nach Sittlichkeit und Ethos, ieh frage 
nach der grofien politischen, aktuellen Wirkung, nach der 
Niitzlichkeitswirkung? 

Ioh saB einmal mil Peter Altenberg zusammen. Ich habe 
Ihnen hier eine neue Mitteilung zu machen. Peter Altenberg war 
von Karl Kraus nicht so begeistert, als Sie denken. Ist Ihnen 
das bekannt? Ich mochte Ihnen die entziickendsten, genialsten, 
boshaftesten Ausspruche mitteilen, das wiirde nichts besagen. 
Weseai'tlioh, viel we&entlicher ist — na, dob will, reiner 
spreohen — also kurz, einer der wunderbarateni Ausspriiche 
Altenbergs war, daB er einmal sagte — da war er noch 
mild — : Wissen Sie, der Kraus, das ist ein Mistbauer ■ — • der 
Mistbauer, der alien Dreck der Zeit wegtragt. Sehr niitzlich. 
Brauchen Sie so einen Mistbauer? Ich auch nicht! Aber die 
Jungels, die brauchen ihn! — Wer Altenberg gekannt hat, 
wind sotfort horen, daB ihm genau der Tonfall, in dem 
er das fonmuldert hat' — man kann es nicht besser sagen 
— zu eigem war, in den scheinbaren Gemeinplatzen Altenbergs 
lag die beriickende Tiefe. — „Brauehen Sie ihnl Ich brauche 
ihn auch nicht!" (Ruf: Die Fackeln brauchen wir, hat er auch 
gesagtl) Ja, das hat er auch gesagt. Aber was er daanals sagte, 
deckt das ganze Problem. Es ist damdt namlich so: Jede Zeit hat 
ihren latenbeti oder offensiohtlichen, ihr zugehorigen und 

44 



durch gewisse Narnen reprasenlierten Zeittinen'. Jede. Nehmen 
wir Goethes Zeitalter: Da gab es einen veritablen Hans Miiller, 
es gab einen Otto Ernst — alle diese Erscheinungen, die Kraus 
heute befehdet, deren Minderwerfcigkeit, Urschadlichkeit, Ver- 
achtlichkeit er feststellt, dde gab es immer und auch damals. 
Es gab gegen sie keinen Kraus. Kamen diese Leute deshalb auf 
die Nachwelt? Hat z. B. von dem Herrn Nicolai, dieser graB- 
lichsten Vielschreiber-Erscheinung aus der Zeit Goethes — die 
Mehrzahl von Ihnen je gehort? (Rufe: Neinl Gegenrufe: Jal) 
Na gut, danke. (Heiterkeit.) Dieser ZeittinerT hat namlioh die 
Eigenschaft, sich chemisch selbst zu paralysiereni; er kommt 
nicht an die Nachwelt; er macht Larm, aber er paralysiert sich 
selbst. Es wird auch kein Mensoh diesen Mist feststellen — denn 
wer sollte es tun? Der selbst Niedrige sieht iihn nicht, der Adelige 
hat besseres zu tun; es miifite einer koimmen, der selber aus 
Dreck undFeuer geinischt ist, ebiGrenzmernsch, der unit Leib 
und Leben nooh dazu gehort und mat den Augen ischon das 
gegenuberliegende Ufer sieht. Und da gelangen wir jetzt zur 
Mission des Kraus: Erist zwisohen den Zeitdreck, benannt durch 
alle die Namen, die Sie aus der „Eaokel" kennen, und seine 
ohemische Selbsterledigung mnerhalb der Zeit dazwischen- 
gehiipft und hat den Dreck im Namen des Gesetzes arretiert. 
(Lebhafte Heiterkeit und Beifall.) Was war nun die Folge? 
Dieses Heer der Jntelligenzplebejer, der Unkifortmierten, die 
das natiirlich mit glanzenden Augen sahen, weil sie sebst dazu 
gehoren, fiir die die ,,Neue Freie Presse" der geistige Kild- 
anandscharo, Hans Midler der Shakespeare ist, die sagten: Fabel- 
haft! Das ist der Kraus! Es gesohah also in Wahrheit, dafi der 
Tineff optisch grofier wurde, viel bedeuitender sogar, aber vor 
allem iiberlebensgroB siohthar der grofie Waehimann, der ihn 
arretierte und der nun) den Leuten einredet: wenn> ich nicht ware, 
damn wiirdet ihr glauben, daB Hans Muller der Shakespeare 
ist und die „Neue Freie Presse" die „Times" usw. (Heiter- 
keit und Beifall.) Das ist eine der grofien Nutzldchkeits- 
wirkungen gewesen. Der frisch hier zugereiste Jiingling, der 
heute friih mit der „Nordbahn" angekommen ist, braucht zum 
Beispiel gar nicht zu wissen, dafi es in Wien ein Burgtheater 

45 



gibt, nie davon gehort zu haben; er schlagt die „Fackel" auf 
und hat mit der Information die Enifrwertung, um 3 Uhr nach- 
mittags bereits kann er sagen: „H6ren Sie mir auf — einen 
Mitterwunzer gibt es nicht onehrl" Sie fragen: warum Mitter- 
wunzer? In der „Fackel" war ein Druckfehlerl 

Wenn Sie jetzt noch einmal fragen: Aber die Sittlichkeit, 
die w.unde Seele, der Christus-Mensch?! — darauf babe ich 
Ihnen zu sagen: Jenes Ethos — oder wie ich es ednsmal so 
richtig nannte: Ethospetetos — wollen wir lieber ganz aus 
dem Spiele lassen! Es ist eine phonetische, 'klangokonomische 
Angelegenheit, zum Satdrikerberuf, wie ihn Kraus iibt, durch- 
aus gehorend; denn, wenn dch friiher sagte, daB die dialek- 
tische Wirkung den Eindruck bedinge, als ob sie nicht durch 
&ich, sondern aus den darunter kochenden' Kratern des Welt- 
wehs, des Gewissens und der Menschlichkeit erzdelt sei — was 
ist fur sie notiger, als vorerst eine voile Dosis Shakespeareatem 
in sich aufzunehmen, ihrer Sache ein strafgewaltiges, empo- 
rungsloderndes Postament zu sohaffen oder gleich darauf ins 
lyrisch-liebkosende Gegenteil zu verfallen, das hei&t: aus der 
gleichen bosen Rechthaberei, die zum ..Wahrlich ich sage 
EuchI" ansteigt, in die affektiente ZartMohkeit auszubrechen: 
„Es werden der Kohlweislinge zu viele!" Die Schauspielerei 
des Wortes verwandelt sich nach riickwarts eben notwendig in 
Schauspielerei der Seele. Aber wen wird sie auf die Dauer 
tauschen? Wer wird der Entmenschtheit, die sich den Atem 
der emporten Menschlichkeit borgit, die leiseste Giiteregung 
glauben oder annehanen, die geschriebene — vor dem Spiegel 
geschiriebene! — Freude am Nachtigalliensohlag spiele eine an- 
dere Rolle, als die eines Arguments? 

Ich will Ihnen' dieses Phanomen noch anders deutlich 
machen. Es gibt einen Grad der Virtuositat, wo der 
Mensch ausruhen kann; es gibt einen Grad der Sprach- 
virtuositat, wo er das Virtuose spurt und ahnt: das ist so 
unerhort exzellent gekonnt, dafi ich einerseits jetzt die Mog- 
lichkeit habe, ruhig Atem zu schdpfen, dafl aber andererseits 
jetzt gleichsam als kontrapunktische Notwendigkeit fiir mich 
der Moment eintritt, wo gegeniiber meiner Virtuositat des Nein- 

4 6 



sagens irgendwie auch mein mogliches Ja heraussteigt — 

meinen Kopf babe ich iiberbewiesen — ioh beweise mein Herz I 

Das nenne ich dann sehr richtig die Geburt des Ethos aus dem 

Geist des A.ses*) . (Lebhafle Heiterkeit und Beifall.) Es ist nam- 

lich der Moment, wo nach der Logik der Oberredungskunst, 

wo nach dem AuBersten niohts mehr Anderes, nichts imehr 

Uberflussiges, niohts mehr dariiber hinaus Sagenkonnen, alles 

Gesagte den Hintergrund bekommt, als ob es aus Bejahungen, 

aus Leiden und Schmerzen gesagt ware. Ich selbst bin geniigend 

Wortvirtuose, um Ihnen das beriihmte Geheimnis verraten zu 

konnen, dafi ich, wenn ich spiire: ich kann alles beweisen, mir 

dann den Luxus gonne und, wiederum mit Dialektik natiirlich, 

sage: ich beweise das nicht, um zu entwerten, sondern weil mir 

der Mann leid tut I Das kann man sich auf der Hohe der 

Virtuositat leisten. Einer, der sich inittels des Wortes gegen alle 

behauptet hat, kommt endlioh an 'einen Punkt, wo er die Hande 

faltet, die Achseln zuckt und sagt: ich tue es nur aus einem 

tiefen christlichen non aliud possel Aber der Unterschied 

zwischen dem Wertmenschen und dem Wprtmenschen ist der 

Unterschied zwischen dem, der die kleinste erlebte Sache hin- 

stellt mit dem Mut zur Arena, und dem, der an ihr . herum- 

kraxelt und zeigt, wie geschickt man sie mit Antworten 

besteigen kann. Dieser Unterschied zwischen dem groBen 

Menschen und dean Menschen von der Pseud ogroBe einer 

kleinen Brdllen-PensonlJchkeit (aus dem Satanismus des Ghetto 

in die Ghristlichkeit entsprungenl), die aber freilioh eine 

solche Angst hat, daB der Zauber schwinden konnte, daB sie 

drohend Strafen austeilt wie ein Buddhagotze, Noten gibt, und 

herumschreit: Cruciate! Haltet ihn usw. — dieser Gegen&atz 

zwischen den beiden kontraren Typen: des GroBien, der nicht 

Wert darauf legt, das letzte Wort gehabt zu haben, weil er 

anderes zu tun hat, und dessen, der immer wartet, bis einer sein 

Haufohen hininacht, damit er das Haufchen mit seiner geniialen 

Sprachgabe aufruhrt, ist mir an etwas klar geworden: Karl 

Kraus hat jeden Menschen, der nicht Zeitgenosse war, wenn er 



*) Soviet wie: Bosheit an sich. 

47 



ihm in seine Blutnahe kam, polemisch niedergemacht . . . (Ruf: 
So wie der Herausgeber des „Abend", Karl Cohn-ColbertI) .... 
Wenn einer genug lang tot war, hat er inn verehrt; wenn er sein 
Zeitgenosse war, hat er ihn weniger verehrt. Er hat Lichtenberg 
gelten lassen, er hat Lichtenberg verehrt — da kann ihm nicht 
mehr viel geschehen. Heine, von dem hat er nicht viel gelesen; 
ich kann nicht streiten, wie wenig er, der sich gleichsam coram 
publico erst zu bilden begann, aber dafiir alle, die seine neuesten 
Entdeckungen (Claudius, Shakespeare usw.) schon im Alter 
von 15 Jahren gemacht haben, unfiihlend und unwissend 
schalt, iiberhaupt gelesen hat (wodurch naturlich auch seine 
Anhanger von einer stupenden Unbildung sind), aber 
ich weiB, da6 er einst, als jemand sich darauf be- 
rufen hat, ein von ihm niedergeschriebener Gedanke 
stamme schon von Schopenhauer, Miit impressionisti- 
schem Stolz ausrief: Ich habe Schopenhauer nie gelesen! 
(Siehe ,,Fackel" 1903.) Von Heine also, das schilderte mir ein- 
mal der Rezitator Ludwig Hardt (ubrigens auch da ware eine 
vielsagende Greschichte zu erzahlen), hat er ein paar Gedichterl 
gelesen: „Ich weiB nicht, was soil es bedeuten . . ." und solche. 
Diesen Dichter hat er niiedergemacht, well er irgendwie eine Ver- 
wandtschaft judischer Geistesgenialitat verspiirte und sich 
sagte: einer von uns beiden mufi auf dem Platze bleiben. Ent- 
weder bin ich gescheit oder du I (Lebhafte Heiterkeit.) Liliencron 
hat er verehrt. Warum soil ein Wiener Jude nicht den Marki- 
schen Christen verehren? (Heiterkeit.) 

Aber damit Sie mir nicht ein Verbrechen am Geiste vor- 
werfen: Es gibt Dinge, die man respektieren soil. Herr Karl 
Kraus hat vor zehn Jahren Andeutungen gemacht, — ich bin 
ein gedachtnisstarker Leser der „Facker' — es sei da ein Philo- 
soph, der habe die Tanzerischen auf dem Gewissen, mit dem 
miisse er sich noch auseinandersetzen. Da dachte ich mir: Jetzt 
geht es gegen Gott selbst, jetzt geht es gegen Nietzsche - — gegen 
ihn, dessen Suflere Beziehung zu seinem Nachfahren ich einmal 
in dem Ausspruch feststellte: „Karl Kraus, der leuchtende Saphir 
— namlich Gottlieb Moriz Saplidr — in der Krone Nietzsohes." 

4 8 



Aber Kraus anufi es sich uberlegt haben, seine Verehrer 
miissen ihm gesagt haben: lassen Sie isioh unit dem nicht 
einl Etwas inuB dazwischen gekommen sein, wahrscheinlich: 
Schwierigkeiten bei naherer Lektiire-Bekanntschaft. Bei 
Nietzsche hat man viel zu lesen, gegen Nietzsche die Spraohe 
zu mobilisieren, ist schiwer. Es ist leichter, Heine die Schuld fur 
das Zustandekommen der Feuilletonisten zu geben als Nietzsche, 

— der durch ein Mifiverstandnis der Nietzsche-Philologen als 
tanzerischer Dionysier gilt, wahrend er in Wirklichkeit ein 
Anarchist war — fur die gewissen feurigflammenden Springin- 
kerl der Sprache verantwortlich zu machen und ihn als 
ihren Urheber hinzustellen. Aber es kam Nietzsches fiinfund- 
zwanzigster Todestag. Da wurden viele bedeutende Sachen ge- 
schrieben, unter anderem auch ein Aufsatz von mir. Das hat 
Kraus nicht gelesen. Er hat blofi die Aufsatze in der „Neuen 
Freien Presse" gelesen und h"at daraus, genial wie immer, 
deduziert, was Nietzsche fur ein Kraus*) sein muB. 
(HcileTkc.it.) Und er hat dann zieanlich unverbliimt gesagt: 
Was hat dieser GroBe schon geschriebenl Einmal ein 
kleines hiibsches Gedicht, groBe, kunstwichtige Dinge nicht. 
Jetzt werden Sie sagen: Da ist doch wenigstens der Fall, 
wo Kraus, den Herr Kuh als den Antworter hinstellt, nicht 
geantwortet hat. Nein, meine lieben Verehrten, falsch, grund- 
f alsch, er hat geantwortetl 

Friedrich Nietzsche namlich hat einst in einer Nacht eine 
Vision gehabt: Kraus ist ihm erschienen. Nicht bloB als Person. 

— Kraus mit seinem „Fackel"-Deutsahl Wie er leibt, ohne zu 
lebenl Und nun horen Sie zu und ver&uchen Sie, nicht davon 
erschiittert zu sein, was Nietzsche, Krausens Nietzsche-Angriff 
ahnend, iiber Kraus und Wien schrieb. Die groBe Stadt, die 
hier vorkommt, ist Wien. Wer Kraus ist, werden Sie erraten. 
Jetzt geben Sie genau acht (Rest): 

Also, durch viel Volk und vielerlei Stadte langsam durch- 
schreitend, ging Zarathustra auf Umwegen zurilck zu seinem Ge- 
birge und seiner Eohle. Vnd siehe, dabei kam er unversehens auch 



*) Im Stenogramm stand „Tine£E". 

49 



an das Stadttor der groffen Stadt: hier aber sprang ein schdumen- 
der Narr mit ausgebreiteten Handen auf ihn zu und trat ihm in 
den Weg. Dies aber war derselbige Narr, welchen das Volk ,,d e n 
Aff en Zar athustras" hie/3: denn er hatte ihm etwas vom 
Satz und Fall der Rede abgemerkt und borgte wohl auch gem vom 
Schatze seiner Weisheit. Der Narr aber redete also zu Zarathustra: 

„0 Zarathustra, hier ist die grofie Stadt: hier hast du nichts zu 
suchen und alles zu verlieren. 

Warum wolltest du durch diesen Schlamm waten? Habe doch 
Mitleiden mit deinem FufS! Speie lieber auf das Stadttor und — 
kehre uml 

Hier ist die Hblle fur Einsiedler-Gedanken: hier werden grofie 
Geheimnisse lebendig gesotten und kleingekocht. 

Hier verwesen die gro/3en Gefiihle: hier dtirfen nur Mapper- 
dilrre GefUhlchen klappern! 

Riechst du nicht schon die Schlachthduser und Garkiichen 
des Geistes? Dampft nicht die Stadt vom Dunst geschlachteten 
Geistes? 

Siehst du nicht die Seelen hangen wie schlaffe, sc hmutzig e 
Lumpen? Und sie ma chert no ch Zeitung en aus 
die sen Lumpen! 

Horst du nicht, wie der Geist hier zum .Wortspiel wurde. 
Widriges Wort-Spiilicht bricht er heraus! — Und sie machen noch 
Zeitungen aus die s.em Wort-SpUlicht! 

Sie hetzen einander und wissen nicht, wohin? Sie erhitzen 
einander und wissen nicht, warum? Sie klimpern mit ihrem Dleche, 
sie klingeln mit ihrem Golde. 

Sie sind kalt und suchen sich Warme bei gebrannten Wassern; 
sie sind erhitzt und suchen Kuhle bei gefrorenen Geistern; sie 
sind alle siech und siichtia an offentlichen Meinungen. 

Alle Lilste und Laster sind hier zu House; aber es gibt hier 
auch Tugendhafte, es gibt viel anstellige angestellte Tugend: — 
Viet angestellte Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und 
Wartefleische, gesegnet mit kleinen Bruststernen und ausgestopften 
steifllosen Tochtern. 

Es gibt hier auch viel Frommigkeit und viel glaubige Speichel- 
Leckerei, Schmeichel-Backerei vor dem Gott der Heerscharen. 

„Von oben" her traufelt ja der Stern und der gnadge Speichel; 
nach oben hin sehnt sich jeder sternenlose Busen. 

Der Mond hat seinen Hof und der Hof hat seine Mondk&lber: 
zu allem aber, was vom Hofe kommt, betet das Bettel-Volk und 
alle anstellige Bettel-Tugend. 



50 



„lch diene, du dienst, wir dienen" — so betet die anstellige 
Tugend hinauf bis zu dem Fiirsten: dap der verdiente Stern sich 
endlich an den schmalen Busen hefte! 

Aber der Mond dreht sich noch win alles Irdische: so dreht 
sich auch der Fiirst noch urn das Aller-Irdischeste; — das aber ist 
das Gold der Kramer. 

Der Gott der Heerscharen ist kein Gott der Gold-barren: der 
Fiirst denkt, aber der Kramer lenkt! 

Bei all-em, was licht und stark und gut in dir 1st. o Zarathustra! 
Speie auf diese Stadt der Kramer und kehre uml 

Eier fliept alles Bint faulicht und lauicht und schaumicht 
durch alle Adern; speie auf die grofSe Stadt, welche der groPe Ab- 
raum ist, wo oiler Abschaum zusammenschaumt! 

Speie auf die Stadt der einged/riickten Seelen und schmalen 
Briiste, der spitzen Augen, der klebrigen Finger — 

— auf die Stadt der Aufdringlinge, der Vnverschamten, der 
S chr eib- und Schr eihdlse, der iib err eizten E h r- 
geizig en: — 

— wo alles Anriichige, Anbriichige, Lilsterne, Dusterne, t)ber- 
miirbe, Geschwiirige, Verschwbrerische zusammenschwiirt: — 

— speie auf die grofie Stadt und kehre urn!" — — 



Eier aber unterbrach Zarathustra den schaumenden Narren 
und Melt ihm den Mund zu: 

„Hore endlich auf!" rief Zarathustra, „mich ekelt schon lange 
deiner Rede und deiner Art! 

Warum wohnest du so lange am Sumpfe, dap du selber zum 
Frosch und zur Krote werden muptest? 

Flie pt dir nicht selber nun ein fault elites, 
s c haumichte s S umpf-Bl u I durch die Adern, daP du 
also quacken und lastern lerntest? 

Warum gingst du nicht in den Wald? Oder pfliigtest die Erde? 
1st das Meer nicht voll von griinen Eilanden? 

Ich verachte dein Verachten; und wenn du mich warntest, -J- 
wanim warntest du dich nicht selber? 

Aus der Liebe allein soil mir mein Verachten und mein loar- 
nender Vogel auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe! 

Man lieipt dich meinen Affen, du schaumender Narr: aber ich 
heipe dich mein Grunze-Schwein — durch Grunzen verdirbst du 
mir noch mein Lob der Narrheit. 



51 



• Was war es denn, was dich zuerst grunzen machte? Daft 
niemand dir genug g e s c hmeic he It hat: — datum setzest du 
dich hin zu diesem Unrate, dafi du Grand hattest, viel zu grunzen, — 
dafi du Grund hattest, zu vieler Rachel Bache namlich, du eitler 
Narr, ist all dein Schaumen, ich erriet dich wohll 

Aber dein Narrenwort tut mir Schaden, selbst wo du recht 
hast! Vnd wenn Zarathustras Wort sogar hundertmal recht hatte: 
du wilrdest mit meinem Wort immer — Unrecht tun!" 

Und nun bitte achten Sie darauf, wie gerecht und richtig 
Nietzsche aueh dais andere — namlich Wien im ,,Facbel"-Licht 
— sieht: 

Also sprach Zarathustra; und er blickte die grofie Stadt an, 
seuftzte und schwieg lange. Endlich redete er also: 

„Mich ekelt audi dieser grofien Stadt und nicht nur dieses 
Narren. Hier und dort ist nichts zu bessern, nichts zu bosern. 

Wehe dieser grofien Stadt! — Vnd ich wollte, ich stthe schon 
die Feuersaule, in der sie verbrannt wird! 

Denn solche Feuersaulen milssen dem grofien Mittage voran- 
geh'n. Boch dies hat seine Zeit und s.ein eigenes Schichsal. 

Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, sum Abschiede: wo 
man nicht mehr lieben Jcann, da soil man- — voriibergeh'n!' 1 

Also sprach Zarathustra und ging an dem Narren und der 
grofien Stadt vortiber. 



O, tiefste Logik! Der satanische TalentsproB des jiidischen 
Hauses, schauimendes Tunichtgutprodukt der Decadence, ehr- 
geiztoll, rechthaberisch, vol! der hopsenden quakstim'migen 
Pojaztalente, die um rituelle Hochzeitstische springen, zugleich 
aber monchsartiger Wachter iiber jeden Lauit, der ihn ver- 
teidigt, ja sein Leben «o pedantisch fiir diese Verinaier- 
lichungsmuh sparend, daB er iheute wie ein ausgedorrter 
Heiliger seinen Sprachladen htitet oder auf silberschleamigem 
Stiinmseil zur Verkunder-Hohe emporklettert — er nruBte 
ZarafchustrajS AfFe sein, so m.uBite der Schaumende aussehen! 

Was wird er nun tun, wenn er diese Nietzsche-Stelle zu 
Gesicht bekommt, was wird in ihm sich regen, schaumicht 
und faulicht und .schaumend und kreischend? 'Seine Suada 
wird rings um dieise herrlichen fiinf Seiten her.um ein genial- 
boshaftes Speichehietz ziehen und die Jiinglinge, die sclion 

52 



voll Schreck denken: Um Gotteswillen, ich werde von der 
Nabelschnur gerissen! werden sehen, da8 diese Nabelschiiur 
von ihim wieder ganz geredet wird. Er wird sich warmsinnig 
freuen, dafi der Antworter den Beantworter besiegt hat. Ich 
aber glaube, meine Herren, es sollte ein biblisohes Wort geben, 
das es leider nicfat gibt, und das da lauten miiBte: Wehe dem, 
der das letzte Wort hat . . . Ich wall es hier audit haben und 
werde «s nicht haben, ich will und werde unit dem schaumenden 
Narren nicht um die Wette laufen. Ich raume ohm hiamit das 
Feld, der Heir der Rede — „dem Diener am Wort!" (Lebhafter. 
langanhaltender Beifall und Handeklatschen.) 



53 



Von Anton K u h ersdiienen s 

JUDEN UND DEUTSCHE 

Ein Mesxamie 

Yea-lag Erich BeiH}, Berlin 1921 

VON GOETHE ABWAMTS 

Essays in Aussprwdken 

E. P. Tal, Wiea umI Leipzig 1922 

.B'OKNE, DEM ZEITGENOSSE 

Eine Answahl 

Verlag GrapMsdhe WerkstStte, Wien wnd Leipzig 1922