DEB AFFE
2ARATHUSTRA
EINE STEGBEIFMEDE
GEHAETEN AM 25. OKTOBEM 1925
IM WIENER
DER AFFE
ZARATHUSTRAS
EINE STEGJREIFMEBE
GEHAETEN AM 25. OKTOBER 1925
IM. WIENEE KONZEMTHAUSSAAL
(STENOGKAPHISCHES PHOTOKOIJL)
VERLAG J. DEIBLEB, W1EPJ
Vorrede.
„Ich habe getan, was du nur maltestl" — ruft Fdesco, Prinz
von Lavagna und wirft dem zu Tod erschrockenen Maler die
Staffelei um.
Aber liefle sich nicht das umgekehrte Frohlocken, freilich
aus der Scham nicht dem Stolz losbrechend, denken: „Ich
habe nur gemalt, was du tatest?"
Der Herausgeber und Verfasser vorliegender Rede ist in
dieser Lage. Der fallweise in iJim aufgetauchte Plan, das grofie
pamphletistische Schwert wider einen Jugendbestricker zu
ziicken, der ihm zugleich fur die Behextheit einer ganzen
Schichte — des Inlelligenzplebejertums — symbolisoh schien,
brach sich dimmer wieder an der ischanwollen Uberlegung: wie
armlich es sei, an ein solches Werk Sprach- und Formulierungs-
miihe zu wenden; wie unedel und gerade hn Sirnne dieser Rede
und ihres Abschlusses Nietzsche-unwurdig es wirkte, mehr als
impulsive Augenblickskrafte dem Beweis von dem Unwert
eines Menschen, also einem tJberschatzungspxoblem zu opfern
und nicht „voruberzugehen, wo man nicht lichen kann"; wie
es den eigenen Kopf verdiirbe, ihn in , fremden Dreck zu
stecken; woe dooh diese typisch lokale Kampfsache dem auBer-
osterreichischen Leser chinesisch klingen miisse; endlich und
hauptsachlich aber, dafi einer, der zumindest mit dem Wunsch
nach den geistigem Dasems-Wohlgeruchen und auf der Hohe
dieses Wunsches lebt, sich, wenn er gegen Obelgeriiche allzu
geriistet und vorsatzlich zu Feld zieht, selber auf ewig mit
ihnen beladt.
So zog ich es denn vor, die geringere Waffe der rednerischen
Eingebung und des Momentaffektes statt einer literarischen
zu gebrauchen. So viel, glaube ich, ist das Problem wert. Und
wenn ich auch trier der Witz- und Wort-Umspeichelung nicht
entgehen kailn und, um Bornes treffendes Bild zu gebrauchen,
einer „Eskortierung durch Gansefufichen" entgegensehe — es
bleibt der Trost, mir mat der Arbeit, die es kostete, einen guten
Tag und keine schlechte Nacht gemaoht zu haben.
Die Rede selber, von den Schrappnellsplittern des Krawalls
oft in ihrem Zusammenhangen zerrissen, daher in der Nieder-
schrift, die von ihr im Saal angefertigt wurde, vielfaoh undeut-
lich, zeriahren oder notdiirf tig iiberkleistert, an anderen Stellen
— wie in der Einleitung — mit Privatem befaflt, soil ein
Phonogramm, kein Stiliwerk darstellen; vielleioht ist das aber,
da es die Krankheit — von mir „Itzig-Seuche" zubenannt —
noch horbarer macht als die rednerische Aufdeckung dhres
Wesens und ihrer Ursaehen, um so besser. Ich wollte jeden-
falls im einizelnen nur die allergeringfugigsten Dinge aus-
bessern, nur Satze wiederherstellen, die im Larm untergingen,
angedeutete Parenthesen vollenden. Alles absichtlich Derbe
und parodistisch-Triviale — bis zur rednerisohen Wortstellung
— Iie6 ich ebenso absiohtlioh stehen. Desgleichen die ganze
einleitende Auseinandersetzung, die eine Pressefehde streift
und eine Improvisation innerhalb der Improvisation darstellt.
(Die eigentliche Rede beginnt Seite 17). Ja, ich konnte, da nun
einmal in dieses Protokoll bis zum albernsten Zuruf das ganze
Gesinnung&gerausch Wiens eingefangen war, selbst die (fur
ein Parlamentsstenogramm usnerlaBliohen) Vermerke „BeifaH"
und „Heiterkeit" nicht weglassen, anogen sie auch neben der
einen oder anderen Wendung wie eine sofort prasentierite
Quittung wirken.
Ob ioh — bis auf ein paar breiter ausgefuihi'te Satze iiber
die Kraus'sche Sprache — irgendwelche wesentliohe Korrek-
turen vorgenommen babe, das imogem ion uhrdgeni die Horer
meines Vortrages iselbst entscheiden. Aber man iwird mir
glauben, da6 er ohne die minutenlangen Priigeleien und
Exzesse und ohne die meJirmalige Polizeidntervention ein
formal geziigelteres Gesioht bekoanmen hatte.
Meine polemische Lust ist damit zu Ende. Ich habe
Besseres zu tun, und sei es auch: mchts.
Anfon Kuh.
. T.
Herrn Regierungsrat Adolf I r s c h i g nnd Dr. Josef Meier, den
Verfertigern des stenographischen Protokolls, sel an dieser Stelle fiir
ihre miihselige und geistig gewissenhafte Arbeit der herzlicbste Dank
ausgesprochen.
(Beginn des Vortrages: 7 Uhr 40 Minuter, abends.)*)
(Der Vortragende betritt, von stiirmischem Applaus begriiflt, das
Podium. Lebhafte, sich im Takt erneuernde Gegenrufe: „Hoch
Karl Kraus!" Der Applaus fiir den Vortragenden und die stur-
mischen Gegenrufe wiederholen sich durch langere Zeit. An
mehreren Stellen des Saales entstehen heftige Tumulte.)
Anton Kuh:
Haben Sie den Mut, ein, Wort anzuhorenl Feiglinge! (Leb-
hafter Beifall, Handeklatschcn, stiirmische Unterbrechungen.)
Sie sollten besser in die Schule Hires Propheten gegangen sein,
um auf jeden Fall Achtung vor einem geistigen Versuch
zu haben. (Lebhaftes Handeklatschcn.) Wagen Sie es, mich
anzuhoren, dann halte ich etwas von Ihnen! Schreien kanm ich
auch. (Die Unterbrechungen und geschrieenen Zwischenrufe
halten unvermindert an.)
Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus — es 1st das-
selbe. (Lebhafte Zustim.rn.ung. Neuerliche tumultuose Unter-
brechungen, stiirmische Zwischenrufe und Larm.)
Ich babe an die Storungsiwilligen eine Bitte: Ich babe eine
Zeit gehabt, in der mich — es war charakteristischerweise
meine Pubertatszeit — der Mann, der auf die Jugend dieser
Stadt so komplexbildend wirkt, vdelleicht auch hatte gefangen
nehmen konnen. Aber ich muB Ihnen sagen-. ich schatze ihn
offenbar etwas mehr als diese Wahnsinnigen (lebhafter Bei-
fall); denn ich babe den Mann, uher den ich heute bier
sprecben will, nie mit einem Vorortedemagogen verwechselt,
*) Dieser An£angsteil des Vortrages (bis zur Seite 17) stellt sicb.
nur als rednerische Riickwirkung auf die Exzesse im Saale dar, also
wie vorhin bemerkt: als Improvisation innerhalb der Improvisation
und leitet darum Tiber eine private und zeitungsaktuelle Materie zum
Thema hiniiber.
bei dem man Bierkriigel auf dem Tisch zerschlagt. (Neuer-
licher Beifall.) Ich glaube, daB, wenn Sie seine Friibzeit ins
Auge fassen, Sie sich eriniiern werden, daB eine seiner, zu-
mindest fur seine Biographic besteben bleibenden Leistungen
die war, sich gegen eine Welt der Terrorismen und des
Krakehls doch durchgesetzt izu haben. Wenn Sie nunmehr die
Anhangerschaft zu diesem Mann so praktizieren, als ob er ein
politischer Heiliger ware, an den prinzipiell kein Wort heran-
reicht, so schanden Sie seine Anhangerschaf t; deran das, was
er fiir seinen Fall — ich weiB, daB er bei eineni anderen von
dem Prinzip abgeht — als notwendig erklart hat, das war die
Achtung vor der isolierten Gehirnleistung.
Ich bitte, zu beriicksichtigen, dafi ich hier stehe als ein
Mensch, der mit dem Einsatz seines Gehirns versucht, den
Wahnsinn, dessen Zeugen oder Anstifter Sie jetzt waren,
psychologisch und, beinahe moohte ich sagen, philosophisch
Ihnen zu erklaren. (Lebhafte Zustimmung. Anhaltendes Hande-
klatschen. Neuerliche Zwischenrufe.)
Ich hatte mir keine bessere Bestatigunig fiir das, was ich
heute beweisen will, wiinschen koimen, als diese toll gewordene
Judenbuheska. (Lebhafte Heiterkeit und Zustimmung. Pfui-
rufe. Ruf: Wen meinen Sie?) Ich bitte, dieses Wort so zu
nehmen, wie ich es gebraucbte; ich babe mir auch eine Neu-
pragung erlaubt. (Heiterkeit.)
Das, wovon heute namMch die Rede sein soil, 1st nicht
eimmal so sehr der Mann, der der bewuBte oder unbewuBte,
schuldige oder unschuldige Urheber der Epidemie ist, deren
Entartung wir hier mitgebraoht haben, sondern die Epidemie
selber, jene Epidemie, fiir die ich auf eineni medizinisohen
FachkongreB den Nam en vorschlagen wiirde: die Itzig-Seuche.
(Lebhafte Heiterkeit und Beifall. Pfuirufe.)
Ich habe, bevor ich hieher kam, in einer schrvvacheren,
urbaneren Form die Merkmale dieser Krankheit kennenge-
lernt, und zwar so, daB Leute zu mir kainen, die mich mit
den verschiedenslen Beteuerungsmitteln an der Abhaltung
dieses Vor.trages zu hindern und mir mit den iiberspitztesten
Argumenten beizubringen versuohten, welches Verbreohen am
IO
Geiste, welches crimen laasae majestatis, welche Gottes-
lasterung es sei, sich birazustellen und einen, wie der Titel es
ausdriickt, aggressiven Vortrag gegen den Mann zu batten, der
als Ihr unisichtbarer Anfuhrer hier sirzt.
Nun ward Ihnen bisher psychologisch etwas aufgefallen
sem — ich gebe mich einer Art Kritik restlos hin, nicht der
geistigeii, nicbt der astbetiscben, icb gebe mich aucb bei den
feindseligsten Menschen, die bier sitzen, der Wahrheitskritik
hin — es wird Ihnen also aufgefallen sein, dafi ich hier immer
Umschreibungen gebraucht, daB ich gesagt babe: „der Mann,
um den es sich handelt," „der Urheber der Seuche," ,,der un-
sichtbare Anfuhrer," und so. Warum habe ich seinen Namen
nicbt genannt? Ich will es Ihnen sagem. Ich schame niich, ge-
treu der Warming des von diesem Mann gleichfalls wie
iausend andere angegriflenen Friedrich Nietzsche, meine Uber-
legenheiten dort auszuprobieren, wo ich nicht achten kann.
Ich habe seinen Namen bisher verschlwiegen aus einer Scham,
die ich bei der Vorstellung empfinde, welche Wirkung dieser
Name in der Feme auslost, dort, wo man also gleicbsam
die Vogelperspektive hat zu all den mikrobenhaften Irrsinnig-
keiten dieses Bodens, die ich als ,,Tineffologie" zu benennen
pflege; zu der schillernden Armlichkeit, die^He~Angelegenheiten
dieses jiidisch-wienerischen Mischmaschs, ob bekampft oder
verteidigt, einem freniden Ohr bedeuten und fiir die es- kein uni-
fa'S&enderes Wort gibt als ,,kraus" mit kleinem, und grofiem
,.K". Ich schame mich, ein Wort pathetisch anzuwenden,
dessen bochwichtige Anwendung im Munde so vieler einer der
Anlasse zu diesem Vortrag ist — ich schame mich, mit lauter
Stimme den Namen des Mamies zu nennen, den ich Ihnen
jetzt fliisternid sage: Karl Kraus. (Heiterkeit. Zwischenrufe und
Unruhe.) Sie konnen mich ja aucb storen, aber ioh glaube,
niach den paar einleitenden Worlen werden Sie wenig inneres
Vergniigen daran baben. (Heiterkeit.) Es traten also warnende
Leute an mich heran, die mich von dem Vortrag abzubalten
versuchten, .und ich werde Ihnen haargenau main Gesprach
mit diesen besorgten Kopfschiittlern in zwei typischen
Fallen reproduzieren .. . (Ruf: Zur Sache, wenn esbeliebt!)
II
Das ist die Sachel (Forlgesetzte Zwischenrufe. Gegenrufe:
Rulie! Ruhel) Ich kaun niclits datfiir, meine Herren Storen-
friecle, dafi Sie oifenbar eine gesprochene „Fackel" hier heraus-
geben wollen. (Beifall.) Sie hatten welters in den' Buchern Ihres
Abgotts lesen konnen, daU von der Person sprecben heifit, von
der .Sadie sprecben.
Es kani also em Mann zu mir (anhaltende Vnruhe) —
lurditen Sie sich vor meiner Sachlichkeit? — der sagte uiir:
Wie kanin man nur iso was tmi? Gegen Kraus losziehen!
Worauf icb dam Manne Folgendes entgegnete: Ich lasse niidi
in gar kerne Debatte dariiber ein, ob man darf oder nicht
darf — oder aim in der inneren Terminologie Ihres Meislers
zu sprechen: ob man derf oder nioht derf. (Heiterkeit.) Eines
bleibt ,aber sehr charakterislisch: wenn heute ein Wander -
redner sagt: ich halte einen Vortrag iiber die Person Jesu
Christi, und zwar als Haretiker, als Unglaubiger, im
skeptischen, historisch-kritischen Ton eines Renan, so glaube
ich, und davon sind wir alle zusamm'en hier iiberzeugt, daB
nicht ein Mensch etwas dagegen hat. Wenn andersedts einer
kame und sagte: ich werde heute am Eschenbaohsaal einen
Vortrag halten gegen Schopenhauer oder Nietzsche, so werden
moglicherweise einige denken: es ist eine Geschmack-
losigkeit oder Lacherlichkeit, aber ich glaube nicht, dau
irgendeine stramm organisierte Nietzsche - Partei plotzlich
dagegen auftreten und mit Larm und FuBtrampeln sich be-
merkbar machen wird. Wenn ich heute andererseits — um audi
vorn entgegengesetzten Extrem zu reden — .sprecben wiirde
iiber die allerletzte Erscheinung Europas -^ setzen Sie, bitte,
meine Herren Zwischenrufer, den Namen dafiir ein (Ruf: Kuhl)
■ich bitte sehr, so hab' ich's erwartet. (Heiterkeit und lebhafter
Beifall und Hdndeldatschen) — so wird es keinem Menschen
einiallen, sich dariiber in irgend einer hysterisch-monomanen
Art zu erregen. Woher kommt es nun, ich bin beim Tbema
meine Sachlichkeitsrufer, dafi gerade bei der Person des
Schriftstellers. iiber den ich heute spreche, sich ein solcher
Tumult enfcwickelt? Offenbar wedl hier irgendwie in der Nor-
malitats-, respektive Hysterienwirkung dieses Mamies etwas
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nicht ganz in Ordnung 1st. Nun, ioh bin auch Anbeter — nicht
Anbeter dieses Mannes — deh kann auch Verehrer sein, ioh kann
manchmal exzessiver Verehrer sein, aber ich konmte mir nicht
vorstellen, dafi es von Jesus Ghristus bis Buddha und herunter
bis zu Anton Kuh einen Menschen gabe (Heitevkeit), dessen
offentliche Herabsetzung oder — die ist ja noch gar nicht er-
folgt — dessen offentliche Kritisierung mich zu einem der-
artigen Geheul brachte. Hier ist wahrscheinlich etwas nicht
i-ichtig. (Ruf: Aber die Habsburger heruntersetzen, das davf
man. Beifall.) Ich erwiderte also dieser Gruppe Nr. 1, die
mich besobworend davon abzuhalten versuchte, ein Sakrileg
an der Person Karl Krausens — „Stunden"-Genetiv —
(Heiterkeit) zu begehen. Ich konnte mir wohl einen
bheoretischen Fall denken, da.fi man, wenn irgend ein grofier
Schdpfer — nehmen wir an, ein Mann vom Geniewuchs Michel
Angelos, Beethovens — ein Mann, der aus den Blocken des
Phantasiematerials Werte .schafft, herabgesetzt werden soil,
und obendreiii von jemandem aus der Gilde derer, fur die es
den Lebensberuf bildet, mein zu sagen, ihre poleniiischen Affekte
anzubauen an die enthiisdastiscli-kunstlerischen Affekte jenes
anderen, dafi man dann voll Ekel, Verachtung und Wut sich
sagte: Hande weg von diesem Grofien, der Basaltblocke aul-
tiirmt! Verkriech dich ins Dachsloch deiner Negation! Aber,
meine verehrtesten Herren, wenn ich mich erinnere oder
erinnern wall, w.ie dieser grofie Heilige, wie dieser Buddha Karl
Kraus seine geistige und schopferische Karriere gemacht hat,
oder wenn ich mich fr.age: woraus besieht das Basaltwerk
dieses Mannes, dann mufi ich sagen: das Werk dieses
Unantastbaren besteht doch aus lauter Anton Kuh-VoTtragen
gegen Karl Kraus (Heiterkeit), das Werk dieses Mannes
ist doch eine Serie von Entwertungen, Entwurtzelungen,
polemischen Angriftfen. Es ist nun eine ganz eigene und andere
Frage, wann man jemandem das Recht dazu streitig machen
kann und wann nicht. Ich glaube, das wird Ihnen Ibr
Ordinarius Kraus auch wieder eingeblaut ihaben, dafi uber das
Recht allein nur die Form und das Gelingen entscheiden, dafi
es ein moralisches Recht dazu nicht gibt. (Rnfe: Sehr richtig!)
3»
Waller komnit es nun, meine Verehrten, daB Sie plotzlich ein
moralisches Recht der polemischen Behandlung Hires Abgottes
mir entziehen, und daB Sie es mh- entziehen gerade jenem
Manrae gegeniiber, dessen garizes Lebenswerk nichts anderes
war als eine Kette uiiunterbrochener Polemiken: Polemik
gegen Harden, Polemik gegen Heine, Polemik gegen Nietzsche,
Polemik gegen Bekessy? (Beifall und Handeklatschen.)
Nun kam aber noch eine Kategorie von Warnern — das
war die interessantere, der zu Ehren muB ich mich erheben.
(Spricht stehend wetter.) Die anidere Kategorie, die bestand aus
se.hr, sehr sensitiven und noblen Mensohen, denen genaigte der
feiertiche geistige Einwand nicbt, sondern die kamen, wunderbar
erzogen, glanzend, geschuh in der lahnudiThora-JSchule^der
Anspielung, „Fackel" genannt, zu mir mit den Worten: „Ich
will Ihnen etwas sagen. Zwar nehme ich Ihnen das Recht nicbt,
Sie haben Ihre Stellung zu Karl Kraus schon fruher deklariert,
Sie haben sie so often deklariert, daB Kraus gesagt hat, Sie
kommen von hinteii (Heiterkeit), aber sagen Sie mir ganz ehr-
lich — nicht als ob ioh durehaus dieser tlberzeugung ware —
aber es konnte ja die Rede davon sein — , namlich: dafi Sie da
in der Affare „Stunde" — Kraus irgendwie vielleicht ein Sold-
ling sind." Nun meine Herren! Sehen Sie! Auf diesen feigen,
niedertrachtigen .und den unverkennbaren Geruch dieses An-
spielungs-Augiasstalls tragenden Einw.urf reagiere ich hier, umd
zwar, indem ioh Ihnen folgendesimitteile: Wenneiner der Jiinger
des groBen Meislers ihn, Hand aufs Herz, fragt, wem er die
drei oder vier besten Witze in dem Kampfe gegen dieses Blatt
verdankt, so wird er sagen miissen: Ich bin hier irritiert, der
Kerl halt einen Vortrag gegen mich, aber ich mufi ehrlich
gestehen, die Witze wurdenmir von ihm rapportiert, ich habe
ihn ■einanal sogar unverbliknit zitiert. Vielleicht gilt Ihnen das
schon als Zeichen einer gewissen Objektivifat. Ich gehe aber
weiter — esist nicht notig, davon zu sprechen, doch ioh toe es
freiwillig; wenn Sie mich fragen: welche Rolle spielen Sie denn
zwischen diesen, sagen wir Parteien, so wiirde ich antworten:
ich glaube kaum, daB der Herausgeber der „Fackel" mir die
Moglichkeit bote, mich in seinen Blattern dariiber zu auBern,
H
was ich von Karl Kraus denke. (Heiterkeit.) Die „Stunde" gibt
mir die Moglichkeit. Damit ist fiir mich die Parteienfrage ent-
schieden, (Lebhafter Beifall und Handeklatschen.) Ja, ich gehe
noch weiter: ich halte jetzt eine schwere Anklagerede - — ich
habe es zwar nicht notig, aber ich leiste es mir, weil ich ein Ver-
sohwender bin — ich tue es, damit der Vorwurf nicht laut
werde, daB ich als Soldling der Armee Candsius*) dastehe
(Heiterkeit): Ich rufe: Anton Kuh, treten Sie vor — - ich
erhebe feierlich gegen Sie die ArukLage, daB Sie den. Heraus-
geber jener Zeitung, der bekanntlich, wiie Kraus sagt, aus
dem Rakonyerwald ausgebrochen ist und infolgedessen keine
Ahnung von all diesem literarischen Eitelkeitsgestanke 'hat,
dazu miBbraucht haben, unter dem. feigen Schutz der
Anonymitat Ihr Mutehen an Kraus zu kuhlen. Ja, das
habe ich getanl Ich habe es. auch mit Grand getam: Denn
wenn ioh heute die Wahl habe, Rauber, Libertdner in der
Armee eines Karl Moor — heiBe er auch Moor Karol —
oder Ministrant in der groBen Hierarchie des Itziglismus
zu sein, so bin ich lieber Libertiner in der Rauberarmee
als Kirchendiener in einem Tempel (Lebhafte Heiterkeit.
Zwischenrufe.) Lassen Sie mich weiter reden! Wenn Sie sich
brav verhalten, ddskuMere ich sogar mit Ihnen- (Lebhaftei
Beifall und Handeklatschen.)
Man wird mir vielleicht jetzt entgegnen: Sie geben hier
selbst Ihre Fedgheit zu, Sie haben sich in den Schutz der Lmper-
sonalitat der Zeitung begeben, um aus diesem Versteck
ihre boshaften Angriffe gegen unseren verehrten Meister
zu richten. Ich gestehe: ich habe es fruher einmal mit offenem
Visier getan; ich habe damals iziemlich heftig an die Adresse
Karl Kraus', wie es in diesem Jargon heiBt: Angriffe gerichtet,
deren letzter unheantvvortet blieb, selbstverstandlioh wegen der
„unerhor,ten iNiveaulosigkeit" meines Angriffes. Da konnte ich
mir den Luxus leisten, es darrn auch bequem und anonym zu
tun; ich habe die Anonymitat aber ferner aus einem Grunde,
*) Ein Heiliger, der die Gasse benennt, wo das Kraus feindliche
Organ hergestellt wird.
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gewahlt, den er kauou, Sie noch weniger verstelien werden,
namlich deshalb:
Nehinen wir an, es gebe einen Menschen, dessen Lebens-
aufgabe nicht darin bestande, ein Erlehnis, eine geistige Tat-
sache, ein Wort zu setzen, sondern nehnien wir an, sein Beruf
bestande darin, zu ant wort en, dann waren alle jene
Menschen, deren Beruf in etwas andereni besteht: namlich sich
selbst eine Welt zu schaffen, ihren Geist zu setzen wider den
Geist der anderen, ihre Lebenssache hinzustellen, sehr schlecht
daran ; denn da diese Menschen nicht Antwortgeber aus Beruf
sind, da sie nicht die armselige, viebische Eitelkeit haben, das
letzes Wont zu behalten — iniSinne des letzten Wortes iiberdies
und nicht im Sinne ii'gend einer Tat, eines Erlebnisses, einer
Neuerung — so w,iirden sie sich naturlich sagen: Um Himmels-
willen, ich habe noch anderes zu tunl Und wenn ich nichts
anderes Anderes zu tun hatte, als in einem RingstraBencafe mit
eineani hubschen Madohen inich zu unterhalten, isie zartlich an-
zufassen, so ware dieses andere asthetisoh, vital, poUtisch, von
, jedem Standpunkte aus, milliardenanal mehr went als die irrsin-
nige Sdsyi>liusniuhe eines JV-[enschen u lessen Lebensziel darin
besteht: .zu antworten. Angenommen also, es gebe einen Wahn-
sinnigen, der die Manie hatte, von friih bis abends ununter-
brochen zwischen deni Stephans-Platz und der Marien-Brucke
hin und her zu laufen — und nun wiiBte ein anderer: wenn
ich an diesen Mann das Wort richte, oder wenn ich mich iiber-
haupt um ihn kiimuiere, dann bin ich verurteilt, Jahre meines
Lebens hindurch imunterbrochen mit ihm zwischen der
Marien-Brucke und dem Stephans-Platz mit zu laufen, da^s
war niir aber mibequeaai — was sollte dieser andere dann
tun? Er wiihlte eine Methode, die ihn dieser Gefahr des Mit-
laufens entzoge — er gabe die Chance eines Geplankels preisl
Sie werden heute noch horen, da6 und warum ich es als eine
Ehre ansehe und diese Ehre erstrebe, nicht das letzte Wort zu
haben. Denn das letzte Wort ist ein Dreck, das erste Wort ist
alias. (Lebhafter, langanhaltender Beifall und Handeklatschen.
Rufe: Bravo Kuhl Lebhafte Zwischeniufe.)
Ich bin durch die Anstrengungen, , hier mein eigener
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Feuerwehrniann zu sein, etwas heiser geworden. Seien Sie jetzt
etwas ruing, damit ich leiser sprechen kann.
Das, was ich friiher die Seuche der Kraus - Verehrung
nannte, und das Motiv des Letzten-Wort-Behalitens, diese beiden
Dinge haben eng miteinander zu tun. Und nachdem ich teils
Ihnen die Riesenhysterie, die auf den Namen Karl Kraus sich
sofort zu riihren beginnt, vor Augen gefiihrt habe, respektive
nachdem sie sich selbst Ihnen vor Augen gefiihrt hat und nach-
dem ich Ihnen gesagt habe, was meine letzte Abneigung ist,
iiberhaupt hier in einem solchen Thema als Polemiker aufzu-
treten, bin ich mit beiden Dingen dort, wo die Herren wollten,
dafi ich am Anfang sei: bei der Sache.
(Der Redner nimmt einen Schluck Kognak zu sich. Ein
Zuhorer rufi: Prositl Heiterkeit.) Ich damke! Wissen Sie, mich
erinnert eigentlich jedes Detail hier an den Mann und ich will
mioh ahsichtlich in solche Marginalien verlderen. Wenn ich
daran denke, dafi er, der ein Demagoge ist und es mit der
Plattheit und nicht mit der Auserwahltheit halt, sich dariiber
lustig macht, dafi Leute impulsiver und exzessiver Art trinken
— was fur eine arme Konditorei- und Schlagobersseele, welches
trockene Siifinxaul mufi er sein, der nicht weifi, wie notwendig
dem geistigen Blutdruck der Alkoihol sein kami. (Beifall.)*)
Ich wiederhole also, jene Seuche sowohl wie das Motiv des
Letztenworthabens, das sind die Dinge, deren Zusammenhang
mir den Boden dieses Vortrags gibt. Woher die Seuche, woher
die katastrophale Wirkung? Ich bin beim Kern des Themas.
Ich habe vor Jahren einen Typ kreiert, das heifit, ich habe
einen bestehenden Menschenschlag benannt, und zwar habe ich
diesem Typus den Namen gegeben: der Intelligenzplebejer. Was
ist das.der Intelligenzplebejer? Ich will hier nur fiir die Unge-
bildeten vorausschicken, dafi zwischen Plebejer und Proletarier
ein Unterschied ist: (Sehr richtigl) dafi es Plebejer gibt, die
sich vielleicht auch im Adelsstand vorfinden lassen, und dafi
es Proletarier gibt, die Aristokraten sind. (Lebhafter Beifall und
Hdndeklatschen.)
*) Hier etwa endet der Volksversammlungsteil.
Nur vo'm Standpunkt der Beschreibung dieses Intelligenz-
plebejers aus ist es niir wichtig, diesen Vortrag zu halten, denn
— ich habe vielleicht hier etwas friiher vergessen, was ich
glauhe, jetzt naohholen zu konnen — als ich im Anfang sagte,
dafl ich mich schame, den Namen dieses Manines auszu-
sprechen, war es keine Heuchelei: ich schame mich
wirklich. Darf ich Ihnen jetzt auch spezieller sagen,
warum? Solange ich lebe, gilt mil - die bedeutsame
und pathetische Nennung dieses Mamies immer als Kenn-
zeichen dessen, was ich Ihnen nunmehr als intellektuelles Pie-
bejertum vorzufiihren gedenke. Wenn zum Beispiel einige von
Ihnen erne Reise nach Berlin, Hamburg, London, Zurich oder
weifi Gott wohin machen, und dann dort mit drgend einem gei-
stigen Menschen, den sie von vornherein schatzen, die Materie
„Karl Kraus" besprecheii, so wild ihnen — und dann werden
sie meine Scham begreifen — dasselbe passieren, was inir Jahre
hmduroh passjert ist: daB Ihnen namlich die Betreffenden
— ich nenne auf Wuaisch gerne Namen und Sie werden starr
sein, wie nobel die&e 'Namen sind — sagen: Ihr Wiener
Osterreicher, Judaeobajuvaren, muBt total iibergeschnappt
seinl Wer ist dieser Karl Kraus? Das ist doch der mit den roten
Hefteln, nicht? — ■ Darauf wild der Pathetiker einwerfen: Uer
mit den roten Hefteln ist miser Jeremias — unsere heilige
Geisteszier ! Ich bin weniger pathetisch .und wiirde erWidern : Ja,
stimmt, der mit den roten Hefteln! — So sagte mir einmal em
Hollander, der auf der Durchreise hier war: Ich habe diese
roten Hefiteln gelesen, das ist g enialer Klatscb. Dann wieder
hat zu mir ein sehr beriihmter Berliner Dichter — er ist von
der „Fackel" noch iricht ermordet worden, dem steht das, wenn
ich ihn nenne, ab heute bevor — den Satz gesprochen: Ich
brauche den Mann nicht, ich brauche sein Gehirn nicht, weder
fiir meine Kunst noch fur mein Leben — ich kann vollkommen
ohne ihn leben! Und nun werden Sie sich als trejae_Hagada_S)_-
Leser der „Fackel" sagen (Heiterkeit): Woher kommt es, dafi
in der Welt im allgemeinen Austausch iiber ihn die „Weltbuhne"
*) Rot gebundenes, israelitisches Gebetbuch.
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schreibt und das s,Berliner_Tageblatt"- und in Paris die „Nou-
velles Literaires"? Darauf muB ich Ihnen erwidern: Sehr viel
davon — ich demise jetzt an Paris — schriebem Leute, die ent-
weder „Schweizer" hieBen oder wenn nicht direkt Abeles,
mindestens Monsieur Abele. (Heiterkeit.) Ich, der ich Berlin
und Prag und -alle diese S fatten kenne und ; ihnen zurna Teil
naher kommen konnte, habe f olgendes bemerkt: Es gibt in
jeder Stadt ein Corps wienerischer, osterreichischer, groBten-
teils jiidischer und zum kleirieren arischer Exilanten. Wenn
Sie nun wo auf den Anschlagsaulen lesen: Kraus — dann
sind sie alle da, die Kille begleitet ihn durch ganz Europa.
(Heiterkeit.) Wenn Sie aber Leute, die auBerhalb dieser Tineff-
Hiera'chie stehen, fragen: Nun, was sagen Sie zu dieser Er-
scheinung? So wird man Ihnen antworten: Oh, das muB
ein sehr begabter Mann sein, seine_^togj^dje^chemt darin
zu^estehen, ; daj es in Osterreich nicht gibt, was es^etwa :\n
Frankreich gibt: eine wirklichgeistige Gesellschaft, und dafi
der Mann, der in Paris einer der hervorragendsten, an Henri
Roohefort und solche Vorbiider iheranreiohenden JournaMsten
ware, sich.^Iurch _die yerpobehmg der intellektuellen Gesell-
schaft und des Geistesleben in Osterreich dazu gezwungen,
gerade vis-a-vis dem Journalisinus edneru kleinen roten Trafdk-
laden „Antijournalismus" etabliert hat und als , begabtester
Journalist der wienerischen Gegenw.art _der „gro6e Pxessebe-
kampfer wurde, mit alien Befahigungen,_spiachstark, witzig,
erkennerisch und vor allem, was alle Journalisteir mir be-
zeugen werden: ein genialer Ausschneide-Redakteur, dessen
Luchsblick und Schere nicht derJileiniste.Dr.uckfehlerL.entgeht
Das ware ungefahr das Verdikt der vollkommen Unbeteiligten
und vor denen empfand ich eine Europaerscham. Ich hatte
plotzlich das gewisse Gefuhl, das der Provinzmensch hat, der
mit dem groBen Regenschirm in die Weltstadt kommt: ich
komme mit dem groBen Regenschirm Karl Kraus und die
Europaer sehem mich an und sagen: Was ist das? Lassen Srie das
drauBen stehen ^- oder reden wir erst daruberl Ich hatte frei-
lich Weltreisen nicht (machen miissen, urn darauf zu kommen,
wie geographisch uberschatzt das Phanomen Kraus ist und daB
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es absolut eine Angelegenheit — ich will hier nicht einmal
sagen: Osterreichs ist. Glauben Sie mir, es ist so. Ich habe mich
naoh 1918 noch. von etwas Merkwurdigem iiberzeugt: es gibt
positive Bindungen der sogenannten Sukzessionsstaaten, wo-
durch sie innerlich noch irgend eine Art von. schwarz-gelbein
Gefiihl behalten haben. (Beifall.) Zum Beispiel: Die Schlam-
perei, das Barock, die Beamten, der Radetzkymarsch. Es gibt
aber auch aufier diesen positiven und auBern negative und
innere Osterreich-iBindungen. Alle die jungen Studenten nam-
lich, die friiher in Wien waren und jetzt versprengt sind
nach Agram, Prag und Banjaluka, alle die Fabrikanten,
die den GroBteil des Jahres hier verbrachten und jetzt aus-
schlieBIich in den Hauptstadten der Sukzessionsstaaten wohnen,
alle die intellektuellen OfFiziere — ich meine diese Reserve-
offiziere — die hier in Wien waren und den Rapport izwischen
Wien und den Provinzstadten vermittelten — alle die haben
noch ein einigendes Band behalten und das ist der Karl Kraus.
(Heiterkeit.) Der Karl Kraus — der stellt hier den Gegensatz
zu den offiziellen Bindungen dar — so wie die Nacht zum Tag,
die Opposition zur Majoritat. Wie friiher die „Neue Freie
Presse" offiziell die jetzigen neuen Staaten des alten Osterreich
umschlang, so umschMngt die ganze Zahl der Bewohner dieser
Staaten wieder das innere Band des „Neuen Freien Presse"-
Prortestes, den sie ja politisch und Mterarisch immer stark
empfunden haben. Das ist der Grund der osterreichisohen Karl
Kraus- Verehrung, und dem AuBensteheden, Nichtwiener und der
Erscheinung dieses irrsinnigen Kultes Unkundigen, pflege ich
deshalb auch zu sagen: Ja, lieber Freund, da miiBte ich Ihnen
einen Vortrag halten iiber die Geschichte Osterreichs und die
,.Neue Freie Presse"! Ich miiBte Ihnen die Zeitungsiiber-
schatzung des Osterreichers erklaren, die mit seiner Biihnen-
uberschatzung Hand in Hand geht, die innere Verehrung der
Papierkulissen. Das sind aber Sachen, die sub specie aeterni-
tatis et Europae sehr wenig wichtig sind. Nun glaub' ich, werden
Sie meine Scham begreifen. Es ist sehr unedel, nachzuweisen,
daB jemand unedel ist, und es ist sehr ungroB, Dinge, die man
seelisch als Kleindruckdinge empflndet, machtig hinauszupo-
20
saunen, um sich vor dem Publikum zu produzieren, in welch em
unscheinbaren Kleindruck man sie empflndet.
Ich komme zum Begriff des Intelligenzplebejers zuriick
und frage: Was ist der Intelligenzplebejer? Seien Sie sehr auf-
merksam, es wird vom Wichtigsten gesprochen. Sie werden
schon von der politischen Parole gehort haben: „Der geistige
Mittelstand". Na, seine „Geistigkeit" soil anir nioht schaden.
Er ist der eigentliohe Verlierer des Krieges und auch sonst keine
sympathische Erscheinung; dieser geistige Mittelstand nun,
das heiBt: das intellektuelle Kleinburgertum, das ist die Zone,
aus der das Gewachs des Intelligenzplebejers herauskriecht.
(Ruf: Sehr richtigl) Wer ist nun dieser Intelligenzplebejer?
(Gelachter.) Nein, das geht nicbit an Sie! (Heiterkeit.)
Der Abkommling des geistigen, resp. so benannten Klein-
biirgertums und jener gewissen "Schichte, die sich zusaeimen-
setzt aus Fabrikanten, Kaufleuten, Arzben, Apotbekern, Advo-
katen, Zahnarzten — besonders Zahnarziten (Heiterkeit) —
wodurch ist er, wenn man ibn in ein Limiesches Pflanzen-
system einzuiordnen versucht, charakterisiert?
Ich kann mir hier einen ganz Meinen psyohoanalytischen
Abrifl nicht versagen. Ich weiB, dafi Karl Kraus, der gefiihlt
hat, daB auch die Psychoanalyse etwas B6ses ist, das gegen
ihn etwas im Schilde fiihrt, sie sofort mit vier genialen
Aphorismen tot geschlagen hat, obwohl sie in Asien, Afrika
und anderen Orts noch gesund weiber lebt. Diese Psycho-
analyse dst ein sehr nutzliches Instrument der Psychologie,
nicht mehr und nicht weniger und ich glaube, wenn Friedrich
Nietzsche sich ihrer hatte bedi.enen konnen, ware bedeutendes
Ungesagtes noch gesagt worden.
Psychoanalytisch gesehen, stellt sioh der Intelligenzplebejer
— den ich hier in seiner Wienerisqh-Osterreichischen und vor-
Wiiegend mosaischen Ausgabe definieren will, obzwar da leider
Christ und Jud eans sind; — als ein mit unangenehmen Familien-
komplexen beschwertes Wesen dar, aus dem Ktmst der engen
Stube stammend, nicht so sehr voll der edlen Liebe des freien
Menschen, als voll dieser falschen, verkriippelten^ Mitleidsliebe
** 21
des Menschen, der einen Tate, eine Mamme und sechs Briider
hat, jedes erdriickt und auifgefressen von den solidarischen
Egoismeii der Stube. (Lebhafte Heiterkeit uhd Zuslimihung.
Zwischenrufe.) Das 1st der Mensch, der an das Kreuz der
„Mischpoche" geschmiedet ist, dessen Geruchsinn rebellisch
wird, wenn er die Faminendunste einatmet, der sich nach
einer Idealiwelt jenseits dieser vier Mauem sehnt, der von
friihester Jugend auf geiibt ist in der sogenannten typischen
famaliaren Entwertungspsychologie, diesem Gesellschaftsspiel,
mittels dessen festgestellt wird, wo der Defekt das Egon liegt
und wo der Erwin kedn begabter Kopf ist und wo die Mathilde
eine Hur ist. (Heiterkeit. Ruf: Alles, was in der „Stunde" steht!)
Ja, es steht dann auch in der „Stunde". Das ist die schonste
Mission dieses Blattes . . . Der arme, ungliickliche, aus
dieser furchtbaren Zone stammende Bursche ist erstens voll
Unsicherheiten. Er verlaBt diese Wohnung wie einen Kafig.
Er kommt in die Welt hinaus wie das beruhnite Pferd in Zolas
(.Germinal", das zum erstenmal an das Licht konimt und sdch
von ihm wie von einem Blitzstrahl, oder besser, wie von einem
Lichtstrahl getroffen fuhlt. Er kann sich nicht kontrollieren
— und mochte es dooh unentwegt. Er 'fuhlt seine Ungrazie und
versuoht sie diurch eine oiberaus heftige und insistente
Intellektualitat zu kompensieren, die er auch wieder als Nach-
teil verspiirt, so daB als hysterisches Endprodukt edne falsche
Vitalitait herauskommt und, kurz gesagt, alles zum Speien ist.
(Eine Zuhorerin: 1st das schon der geistige Teil? Gegenruf:
J a, das ist schon der geistige Teill) Gnadige Fraul Schade, ich
mochte Ihnen dabei sehr gerne die Rolle der arrnen Frauen
schildern, die ist edne ganz besondere. Die Kraus-Verehrung der
Frauen gehort tatsachlich nur vor den Arzt, sie gehort nicht
mehr vor mein Tribunal. (Lebhafte Zustimmung. Anhaltende
Zwischenrufe.) Ich komme auf den Zwischenruif der Dame
iibrigens noch .sehr griindlich zuriick.
Der Intelligenzplebejer ist also ein Kafigjluchtiger mi-t dem
ganzen psychologischen BewuBtsein der Armseligkedt und
Minderwertigkeit seiner Herkunft und mit dem groBen Be-
diirfnis, sioh Vorhange zu machen, daB man ihm nicht in die
22
Armseligkeit hineinsieht. Seine ganze Unsicherheit besteht
darin, daB er in die AuBenwelt kommend, das Gefiihl hat —
und das triigt ihn nicht — , daB an seinem Gesichte, seinen
Gesten, seinem Tonfall, seinem Nasenriimpfen zoologisch genau
die Merkmale jenes Mitleidskafiigs abzulesen sind, wo sich die
Menschen wechselseitig auffressen — des psychologischen
Entwertungskafigs.
Dieses SchuldbewuBtsein der Durchschaubarkeit, wodurch
er immer wieder mysteriose und anonyme Schleier iiber sein
Gesicht breitet — anders gesagt: sich einen Kren gibt — r im
Verein mit dem SelbsthaB, FamilienhaB, VaterhaB, BruderhaB,
an' dem er laboriert, enitscheiden sein Wesen. Gierig-tiickisch
lauert er nach den verwandten Tonfallen im Umkreis, um sie
psychologisch zu arretieren; sein Ohr bewahrt wie eine Meeres-
muschel das unterirdische Gemauschel der Umwelt. Oh, daB
er doch alien ihre Herkunft aus- derselben Dreckgasse beweisen
konnte, um sich erhabener zu fiihlen!
Sexuell ist das Schicksal dieses Typus ungefahr dieses:
Natiirlich spurt er irgendwie instinktiv, wie schon das Gliick
des restlosen, wechselseitigen Begehrt- und Genommenseins ist.
Dieses Gliick haben aber auf der Welt nur die unbefangenen,
durch irgerndeinen Zufall der Geburt oder irgendeine Ent-
wicklung freigewordenen Kreaturen, die Heiteren, Hinauf-
gelangten. (Zwischenruf.) Ich bitte, sich bei den Zwischenrufen
moglichster Ltitelligenz zu befleiBen. (Heiterkeit.) Es ist
charakteristisch, daB Sie mir gerade das Kapitel storen, wo
Sie innerlich sicherlich am schuldbewuBtesten zuhoren. (Leb-
hafter Beifall und Hdndeklatschen.)
Dieses Sichloswerden schwebt also diesen Leuten natiirlich
innerlich als die auBerste Glucksmogrichkeit vor; aber intellek-
tuell verdorben wie sie sind, in ihrej Sicherheit und Anmuts-
moglichkeit verpatzt, wie sie sind, haben sie zu diesem groBen
Gliick einen nur sehr briichigen Steg: den Stag der
intellektuellen Uberredung.
Nun koraimt als Pubertatserlehnis dieser Ar,msten, die
eingeklemmt sind zwischen einer Welt, vor der sie mehr
Angst als Freude empfinden, und der Kafigwelt zu Hause,
23
noch folgender Gedanke: eine andere Liebesmoglichkeit als die
des Uberreders, Zahlers oder Vergewaltigers im peinliohsten
Shine des Wortes oder vom Standpunkt des Weibes aus: eine
andere Liebesmogbchkeit als die des Selbstverkaufs, der Ehe-
versohacherung oder des durch Uberredung Hineingelegtseins
baben war nicht. Was kann danra bei solcher Gliicklosigkeit
und soldier eigenllichster Erlebnislosigkeit, die die ziwei grofien
Ausstrahlugen hat: a) nach dem Bordell und b) naoh der guten
Mitgift bin, was kann anderes die Folge sein, als die, da8 der
Jiingling, der aus einem solchen Kafigs-, Uberredungs- oder
intellektuellen Bohrungserlebnis kommt, das Gefuhl seiner asthe-
tischen Unzulanglichkeit, seines zur Anmutlosigkeit Verdammt-
seins nie mehr los wird, daft er, der natiirlich nicht die naive
Korpernahe zum geliebten Objekt oder Subjekt hat, sondern der
mit dem Leopardenblick des listigen Vergewaltigers hinschaut
und im Augenbliok, wo ihm der Leopardensprung des Gehirns
gelungen ist, spater zuriickfallt in sein isoliertes intellektuelles
Ich, rsich sagt: Gott, ist mir mies! (Schallende Heiterkeit.) Und
fur diese: Gott, ist mir miesl-Mensohen, die nicht zu, den
erotisch Auserwahlten, das heiBt, den freien, unbefangenen
Kreatuiien geboren, fiir die es keinen Gegensatz zwischen
Intellekt und Liebe gibt, weil bei ihnen Geist und Eros in Eins
verschmilzt, und weil ihr Gehirn keinen Grund hat, sich
unausgesetzt vor der Lust zu schamen — fiir diese Menschen
gibt es auch bereits eine grofie philosophische Bibel, das groBe
Buch Otto Weiningers, des Jugendfreundes Karl Krausens,
dieses Promeihiden, der an den Felsen seiner judisehen Knaben-
qual angeschmiedet, nicht etwa die Gotter anrief: „Ich basse
euch!" — sondern eben: „Wie mies ist mir]" Der Intelligenz-
plebejer, Unglucklich im Erotischen, leidend an seiner Fuchs-
schlauheit, leidend an dem sandigen, ihn isolierenden, ihn noch
unsicherer machenden Intellekt, gliicklos in der Liebe, in der
Welt herumstehend mit dem Gefuhl der Durchschaubarkeit, ver-
logen, maskenbeflissen, ehrfurchtslos, der hat einige Gotter.
Und was ist die Eigenscbaft dieser Gotter? Da8 sie ihm —
das ist namlich immer die Eigenschaft der Gotter — fiir dieses
tiefste, fiir dieses armste, niedergeschlagenste NichtsbewuBtsein
24
oder DreckbewuBtsein eine Hohendeutung geben, das heiBt:
seine Selbstentwertung und Weltentwertung in den GenuB des
„iiberlegenen Standpunktes" verwandeln. DaB sie fur ihn ab-
gekiirzte Wege dahin sind, die Dinge verachtnch durchschauen
zu diirfen, ohne sie iiberhaupt noch erlebt zu haben! Also:
Taschenlexika der Informiertheit — ohne die Mtihe und Pro-
duktivitat des Lokalaugenscheines. Und da kommt Otto
Weininger, der Mann, vor dem diese Armsten Respekt haben,
weil er aus seinem Karl Krausischen Schicksal die heroische
Konsequenz zog, sich im Alter von 23 Jahren niederzuknallen
urnd seine Pubertatsgenialitat nicht zu iiberleben, da kommt er
und sagt: du hast mit allem recht, armer Judenknabe, Qual
des Lebens, Lust des Denkens, du hast recht: ein Weib ist so
minderwertig, wie der, der es anpiBt, es empfinden muB.
(Heiterkeit.) Ich hitte, ich muB so reden. (Ruf: Warum? Gegen-
ruf; Weil's woahr is']) Der Mann hat recht, weil es wahr istl
(Heiterkeit.)
Ich will jetzt nicht weiter darauf eingehen, welcher Art
diese Gotler sein miissen; ihre Mission muB darin bestehen,
die Lebensenthaltung als ein Plus hinizustellen, das Ungliick
als ein Geistesniveau, die Qual der Verdrecktheit als Pro-
inethidenschicksal. Und nun fragen Sie mich und frage ich
mich: wieso ist Karl Kraus auserkoren dazu, ein Gott des
Iratelldgenzplebejertums zu sein, so daB, wenn ich hinter einem
hastig betulichen Buckelgang aus der Tasche dieses rote
Fleckerl guckem sehe, das da die Nachfolge des gelben Fleckes
aus der Ghettozeit angetreten hat, ich mir in Assoziation zu
diesem roten Fleck sofort denken kane: was der Mann, iiber
Nietzsche sprichit, welohe Gedanken er iiber Kaiser Wilhehn hat,
was er iiber die letzte Karl Kraus- Vorlesung sagt — ja ich
wiirde ihm, wenn ich mat ohm redete, sogar von den ge-
schlossenen Lippen ablesen, was er iiber die Frauen denkt. Das
kann ich unbedingt improvisieren, schauspielerisch exakt; nur
von dem kleinen roten Fleck aus. (Lebhafter Beifall und
Handeklatschen.) Was hat Karl Kraus zum Gott . . . (Zwischen-
rufe. Gegenruf: Lassen Sie doch diesen Redeschwall ruhig zu
Ende gehent) (Zum Zwischenrufer) : Trauen Sie sich, mir
25
unter vier Augen eiii Wort auf das zu erwidem? (Ruf: Geben
Sie Gelegenheit dazul Lcbhafte Rufe: Pfuil Pfui!)
(Von hier an setzen wieder minutenlange Tumulte ein.) Ich
bitte, kann ich jetzt weiterreden? (Lebhafte Zwischenrufe und
Unterbrechungen.) Ich bitte, kann jetzt Ruhe sein? Ich bitte
Sie darum! (Anhaltende Zwischenrufe und Unruhe.) Bitte,
setzen Sie sich alle! (Tumult im Hintergrunde des Saales
und anhaltende Unruhe.) Ich bitte, mochten Sie so lieb
sein — ' ich bin schon total heiser. (Grojie Unruhe. Im
Hintergrunde des Saales Raufszenen, Polizeiwache fuhrt
Ruhestorer ab.) Ich bitte Sie, meine verehrten Herren, ob
Sie fiir oder gegen mich sind, von Ihren Gesinnungen
erst nach SchluB des Vbrtrages Gebrauch zu machen.
(Larmende Zwischenrufe.) Ich bitte, meine Herren, haben Sie
ein Interesse, meinen Vortrag anzuhoren, dann seien Sie ruhigl
(Rufe: Nein! Gegenrufe: Ja! Jal Lebhafter Beifall und Hande-
klatschen.) Setzen Sie sich alle nieder, dann wird man ja
wissen, wer stort. Ich bitte, tun Sie mir den Gefallen und
bleiben Sie r,uihig! (Es trilt allmdhlich Ruhe ein.)
Horen Sie bis zum SchluB, es ware schade; bisher habe
ioh nur die Thesen aufgestellt, es wird Sie wohl interessieren,
wie ich sie jetzt beweise.
Ich habe Ihnen friiher notdiirftig eine Charakteristik des
Typus gegeben, den ich als IntelUgenzplebejer bezeichnet habe,
und habe zum Schlufi die Frage aufgeworfen: was ist es, das
die Erscheinung des Karl Kraus zu einem Abgott dieser Figuren
macht, wie ahnlich schon der verstorbene Philosoph Otto Wei-
ninger ein Abgott dieser Menschen ist und war?
Und darauf antwor.tete ich folgendes und beginne endlich
mit dem, was Ihnen so am Herzen liegt, mit dem speziellen
Thema: Karl Kraus.
Karl Kraus selbst war es, der durch den Titel seines
Pamphlets: „Heine und die Folgen" dasPrinzip- — ^obesrichtig
ist oder nicht — der Verantwortlichkeit des Nachgeahmten und
Vergotterten fiir die Nachahmer und Vergotterer festgestellt
hat. Wenn ich also jetzt seinen Anhang, auch den, der heute
sich hier so schon produziert hat, mit ihm identifiziere, was
26
ihm wahrscheinlich nicht sehr angenehm ist, so geschieht es
nur in Anwendung des von ihm selbst aufgestellten Prinzips.
Ich habe aber dazu nicht blofi von ihm aus das Recht; es ist
schon eine tiefere Wahrheit an dem Satze: An ihren Friichten
sollt Ihr sie erkennen, auch wenn man ihn dahin variiert: An
seieen Fruchteln sollt Ihr ihn erkennen. (Heiterkeit.)
Kraus, der also selbst im Falle Heine diesen Dichter Mr die
Feuilletonisten verantwortlich niacht, kann nichts dagegen
haben, dafi ich Kraus fur die Kr.ausianer verantwortlich mache.
Mein weiteres Recht besteht aber in folgendem: Kraus hat
die Eigentiimlichkeit, die ich Ihnen spater sehr exakt beweisen
werde — (Zwischenrufe und Unterbrechungen.) Sie haben leider
nicht den Mut, hier die letzten Syllogismen anzuhoren — Kraus
hat die Eigenart, wenn man ihm als Argument gegen ihn seinen
Anhang anfiihrt — ich bitte Sie festzuhalten: man bringt - —
— Kraus — als Argument — gegen ihn ■ — seinen Anhang
— mit einer Ekelsgeste zu antworten: Was gehen mich diese
widerwartigen Kerle an? (Rufe: Das ist eine platte Liigel) Das
ist ja wahr, das konnte Ihnen 'so passen, daB es nicht wahr
ware. (Neuerliche zahlreiche Zwischenrufe and Larm.) Ich bitte,
maohen Sie sdch Notate, ich verpfliohte (mich, jedem zu ant-
worten, aber seien Sie gesittet! Ich bin einer gegen 900, das
geht nicht I (Zwischenrufe.)
Wenn man also Kraus personlich sagt: Urn Himmels
willen, wie schauen die Leute aus! so entgegnet er: Ich kann
nicht fur diese Menschen! Was gehen mich die an? (Wider-
spruch.) Er hat es nicht blofi gesagt, sondern wenn Sie treue
Leser seiner Zeitschrift waren, so wiirdeo Sie gefunden haben,
dafi er es auch geschrieben hat. (Rufe: Wann?) Ich scheine ein
besserer Leser Hires Heilands zu sein als Sie! (Beifall.) Aber
da erwidere ich diesem Mann folgendes: Wenn einer nicht
sehr zimperlich ist und mir sagt: mir ist es wurscht, aus welcher
Gegend der Beifall kommt, welche Nase meine Anhanger haben,
dann kann er tun, was er will; wenn aber einer gar so zimper-
lich und rigoros tut, dann kann man ihm vorhalten, mit wel-
cher unverkennbaren podiumsbehupfenden Freude er den
Applaus eben jenes Anhangs entgegennimmt. Oder meint Karl
27
Kraus, da6, 'wenn in einem seiner Vortrage rasender Beifall
einsetzt, die Beifallklatscher lauter Goethes, Napoleons und
Jesus Christusse sind? NeinI Er weiB ganz genau: die Beifalls-
trager sind zum allergroflten Teil identisch mit jenen, die er
in der Theorde ablehnt; und wenn nicht Fleisch von seinem
Fleisch, Blut von seinem Blut, dann nooh arger, namlioh
MiBversteher _., aus ardschen Bezirken, aus der Gegend jener
anderen, idealistisch-Ghainiberlaini'schen' Unwirkliohkeit, die
sich _mit der grajmaMkabsch-Kraus'schen so gut vertragt,
Mitgendefier des jiidiso hen Selbsithasses^ jiir die auf denselben
.Banken der Kraus-Verehrung , Platz is.t. Obex diesen Trug-
IschluB koramt er mat keinein. dialektischen Trick hinweg.
Die Verehrer kann er nioht ablehnen, sie bleiben auf ihm
sitzen und es ist eine absolute Feigheit, sioh ihrer zu ent-
schlagen und von ihnen abzuriicken. Er ltann es nicht tun.
Wer je gesehen bait, wiie alle Himanel des Kaintz-Erfolges sioh
iiber ihan auftun, wenn er 3ioh vor jener Jugend, von der er
dann abriickt, verbeugt, der weifi: er kann fur diesen Anfoang.
Das moohte ich feslistellen I
Was macht nun ihn vor allem zu einem Gott dieser Men-
schen? (Zwischenrufe.) Jetzt sind wir dabei. Es kommt ein
Teil, der Ihnen vielleicht etwas besser gefallt, namlich: die zur
spateren starkeren Wirkung der Verneiniung angebracbten Be-
jahungen.
Als Karl Kraus vor ungefahr — er sagt 48, ich sage
30 Jahren, und selbst wenn dch^ mich _irre, habe ich recht —
nach Wien kam (lebhafie Unterbrechungen und Zwischenrufe),
da traf er hier nooh die beste Wiener Kultur an, gekenn-
zeichnet durch das Bestehen des alten Burgtheaters. Dieser
Mann, aus Bohmen staminend, sah hier noch die ehr-
wiirdigsten, schonsten Oberreste des wienerischen Feudalglan-
zes. Nun war ein Umstand da, der ihn allerdings befahigte, der
Kritiker des neueren wienerischen Zeitabschnittes zu sein, und
zwar eben ''seine Unwienerischkeit. I Der eingeborene Wiener
hat jene kalte, abweisende Gedanke nsch arfe nicht, jene ewige
Dooh-Fremdheit des Gefiihls, die dazu notig ist, bei aller Be-
jahung des Graziosen, Schonen, Edlen der Wiener Kultur-
28
atmosphare trotzdem einen lebhaften Widerstand und Ekel
zu empfinden gegeniiber der Verschlampung und Verschlei-
mung dieser Atmosphare durch alles das — ich stehe hier nicht
als Verteidiger der Presse — was teils durch das Verschulden
der Presse, teils durch das Verschulden der Gesellschaft, teils
dadurch entsteht, daB der Wiener eine beinahe passive Zer-
storbarkeit, eine unerhorte Widerstandslosigkeit gegeniiber den
Attacken hat, die gegen ihn unternommen werden. (Sturmische
Zustimmung und Handeklatschen.) Die Scharfe der Fremdheit
in ihm, das sozusagen Pragerische in ihm war das Talentaus-
losende. Er ware, hier geboren, hier blutzustandig, wahrschein-
lich irgendwie in diesem groBen kordialen Cliquenapparat von
Kunst, Literatur und Gesellsichaft mit aufgegangen. Seine
bosen — hier ion guten Sinn „b6sen" — FremdMngsaugen, sein
wunderbarer Geruchsinn des Menschen, der mit dieser Atmo-
sphare teils verwandt, teils ihr geradezu entgegengesetzt ist,
befahigten ihn, der psychologische Ankl£ig er zu sein, der An-
greifer mit der Schauspielerei und der Kenntnis des angegrif-
fenen Objektes. Das gebe ich Ihnen nicht bloB zu, dasbleibt
ein asbhetasch-lokales Verdienst. Er kam so hieher, befahigt
mait drei Eigenschaften: Erstens duroh sein mittelstan-
disches Judentum — denn natiiriich kann diese Eigenschaft,
von der ich friiher verachtlich sprach, diese Eigenschaft des
Detektiyismus, der Entwertung, des Deanaskierungstriebes, die
ihre Wurzelnim Misdhpochalen hat, auch grofien Form- und
Paroddenwert bekommen, wenn &ie auf anderes und weiteres
angewendet wird. Der detektivische Blick, der von Karl Kraus
innerhalb des eigenen jiidischen Familientums geiibt wurde,
war seine erste Befahigung dazu, das Demaskierbare, zu Ver-
haftende, zu Arretierende in der Umwelt zu erkennen. In die
^- i
weiche, duslig-verschwatzte osterreichische Mischluft versetzt,
bekaan er Rontgenkraft. Das Zweite war — und hier komme
ich zu einer engeren Eigensohafl; — ein Talent zur_Sohau-
spielerei, das sich an gewissem korperlichen Dingen ge-
brochen hat, die bei dhon auch wesenithoh psyohologisoh unit-
spielen und durch die es ihm genau sowie Alexander Stra-
kosch, der bekanntlich klein und verwachsen, aber ein gran-
2Q
dioser Rezitator war, unmoglich wurde, Schauspieler zu werden,
obwohl die Mischpoche ihm wahrscheinlich gesagt hat:. Karl,
edne Stiman' hast du wie der Kainzl (Heiterkeit.) Ich bitte,
das _geht nioht ^eigjmtlidw g<gen ^ih^^jdas, _ ^_Leiden_jintgr
dem jMisnhjin^fllRTii^haf: ;iihiri_ja ihiinaiifgpjrjphftnl Das also
ist die zweite gute und niitzliche Qualitat. Die dritte Be-
fahigung war die, daB er — und dies verbindet ihn wieder
mit einer hervorragenden politischen Personlichkek dieser
Stadt, die aus einer Art naivem Fachenthusiaismus, den
ich ; immer gelten lasse, tndt ihm befreundet ist — ein
sozusagen /advokatorischesGehirn \besaB. Es gibt besonders
unter den Juden — wie Sie die Sehrif.ten Lassalles lehren
kann — Menschen, die ein unerhort advokatorisches Gehirn
haben, die Ganghen des Gehirns formlich sind schon Kurven
advokatorischer Beweisfiihrung. Ich bin iiberzeugt, daB schon
der jugendliche Kraus mit diesem fabelhaften dialektischen
Talent zum Rechthaben die Familie .iiberrascht hat, mit diesen
frappierenden Doktor-Viktor-Rosenfeld-Ergiissen seiner Rede.
Diese drei Qualitaten also, namlich seine physjologische Her-
kunft von ebendort, wo seine Anhanger herkommen, seinej r a-
higkeit zur ^chausgielerei und das Anwaltliche seines Gehirns,,
dieses geradezu Winkeladvokatorische, tin den Tatbestand janes
Beistrichs Versessenej — - welcher causa er aber genau dieselben
Winkelgange und boshaften Kurven der Sprache opfert wie
alle die genialen judischen Advokaten, die wjr ja auch nicht
darum bewundern, weil ihre Sprache die deutsche Melodie hat,
nein: weil sie die Ahkunft vom judischen Gehirn zeigt — das
war das Naturmaterial dieses Mannes, das ihn zu einem aufier-
ordentlich oppositionellen, rebellenhaften und unabhangigen
Journalisten teils machte, teils hatte machen konnen.
Ich habe einmal mit dem Jargon - Komiker Eisenbach
iiber das Problem Karl Kraus gesprochen und sagte ihm:
Wissen Sie, daB der Kraus Sie so schatzt, hat eine wichtige
private Ursache: der Mann ist Ihnen viel ahnlicher, als Sie
glauben. Er hat namlioh .in, sioh alle diese genialen — dieses
Wort hat mir damn Werfel weggenommen; maeht nichts, wir
teilen da (Heiterkeit) — alle die genialen Tierstimmen-
30
imitatoren-Qualitaten, die Sie haben, dieses wunderbar parodi-
stische, boshafte Gehor, das Tonfalle imitiert, ob sie im Bezirk
des Jiidischen Oder Arischien auf klingen. Aber, sagte ich, Sie
sind mir doch lieber! Urad als er fragte, warum, erwiderte ich,
ungefahr fiir seine Auffassung prapariert: deshalb lieber, well
innerhalb der -Kunst jedes Naivsein einVor sprung ist gegen-
iiber jedem noch so aus den profundesten Tief en schopfenden
Kompliziertsein und die Natur^ mir. lieber ..J-st_ als. ihre-Selbst-
kommentierung. Wissen Sie namlich, was im Verhaltnis zu
Ihnen dieser Karl Kraus ist, aus welcher Verwandtschaft er seine
V T erehrung fiir Sie hat? Sie sind ein Band Eisenbach — - er ist
eine Konversationslexikonausgabe Heinrich Eisenbach-Talent,
angewandt auf Schriftstellerei, mit 21 Supplementbanden
Selbsterklarung. Um diese 21 Bande, die die Ausgabe Eisenbach
weniger hat, ist Eisenbach — sagte ich zu ihm — mehr
iOrigirialgeniejals der andere mif seinem Schauspielertalent ver-
bunderi mit dem unerhorten dial ektis chenJTalent zmnJRecht-
haben. Ich kann mir bei der Grofie dieses Talents sogar vor-
stellen, daB, wenn man mit dem zehnjahrigear Kraus eine
Debatte hatte: wem gehort die Feder? mir oder dir? man nach
zwei Stunden ohnmachtig mit den Worten zuriicksank: ja, dir
gehort die FedeTl (Heiierkeit.)
Nun bitte ich genau festzuhalten: physiologisch, blut-
gemaB war die Abkunft dieses Mannes — das kann er am
weriigsten dadurch abstreiten, dafi er wie toll fluent und immer
wieder hinausposaunt: mich geht dieser Abhub nichts an! ■ — -
physiologisch war seine Abkunft die gleiche wie die seiner An-
hangerschar, dieser gewisse jiidisoh uberberizte, geistig durch-
schnittliche-Mittelstand. Aber er; war um so und so viel be-
gabter. Das heiflt: er stellt gewissermafien eine Grenz-
erscheinung dar, mit Blut und Leib gehorend zu jenen, die
hinter dhm postiert, die seines Blutes sind: genau so detek-
tivisch, genau so unsicher, genau. so demaskierend, genau so
auf alien Kreuz- und Querpirschgangen das Jiideln im Kosmos
rings horend, genau so geartet wia—sie^ gewissermafien
Richard III. aus dem Haus der Kraus, aber kraft seiner hoheren
Begabung ' mit Nase, Augen, Ohren, alles das witternd, was
31
auf dem seligen Gegeniiber-Ufer der Bessergeartetheit liegt.
Und so wie er physiologisch die Grenzerscheinung ist, blieb er
irgendwie auch kiinstlerisch der beste, begabteste, geeignetste
Journalist — in einer anderen Stadt, in einem anderen Kultur-
rayon geschatztes Concordiamitglaed, wenn Sie wollen (Heiter-
keit) — aber trotz JournaUsmus bereits riechend, Jiorend,
schmeckend das groBe Gegeniiber-Ufer der absoluten, der anti-
journiaHstischen, bedeutenden, nicht am Papier und in der
Zweidimensionaldtat haftenden Kunst. In beiden Dingen
Grenzerscheinung. Diese Grenamenschen sind die eigentlichen
Fiihrer. Denn der von ihnen Gefiihrte hat einerseits die
Moglichkeit, dadurch daft er in ihnen alle seine Eigenschaften
wiedererkennt, sich selbst zu feiern und er ist anderseits zum
Respekt gezwungen, weil er sich sagen muB ; Wenn auch Fleisch
von meinem Fleische, wenn auch Blut von meinem Blut, so
doch schon halb auf dem andern Ufer, wohin ich ihm kaum
folgen kann, und von wo er mir die neuen groBen Enthiillungen
und Offenbarungen .mitbringtlj. . . Ich bin jetzt em bifichen
irritiert, daB gerade dann, wenn ich bed der Entwicklung eines
Gedankens bin, die Salve des Krawalls wieder hineinfahrt.
Erkennen Sie doch meine Denkbemiihtheit an.
Das war die grofie ernste Qualitat des Karl Kraus, die inn
in Wien zu einer betrachtlichen journalistischen Erscbeinung
hatte machen konnen. Wenn Karl Kraus als solche Ersoheinung
rubriziert ware, wenn er nichts anders ware, so wtirde .ich ihn
unbedingt anerkennen, wie dch es in diesem Unikreis, in diesem
Bezirke, in diesem AusmiaB auch tue.
Erst, wenn ich als lebender, die Wirklichkeit und die Welt
sehender Mensch eine Art von epidemischer hysterischer Uber-
schatzung wahrnehme, die fiir das tiefere Problem charak-
teristisch ist, so uberlege ich einen Augenblick und sage
mir: Wo liegt in der Perisonlichkeit des Uberschatzten pendant-
mafiig der Komplex von Eigenschaften, der ihn zum Objekt
einer solchen hysterischen Uberschatzung macht? (Ruf: In
seiner Unbestechlichkeit!) Da erinnere ich Sie als offenbar
bestier Hospitant der Karl Kraus-Schule an seinen Ausspruoh
von dam Mann, der ,,davon lebt, daB er seine reinen Hande her-
32
zeigt". (Beifall und Zwischenrufe.) Horen Sie mir weiter zu.
Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen spater Ordinationsstunden.
Welches waren also diese Eigenschaften? War es nur die
Tatsache, daB jedes [Judenbubenherz auflachen muBte, wenn
der Meister, wie ich es einmal nannte, das latente Jiideln im
Kosmos feststellte? (Schallende Heiterkeit.) War es nur die
Freude des Familienkomplexbeschwerten daran, daB einer ihm
gleichsam den Urlaut der Familie im Universum feststellte?
(Neuerliche Heiterkeit.) NeinI Es waren zwei, zwei eng mit-
einander verwandte Dinge. Ich will sie hier geordnet erlautern.
Also erstens:
Ich sprach fruher davon, daB diese Art Intelligenzplebejer
in einem erstarrten, verharteten Pubertatsstadium sich befin-
den. Ich sprach davon, daB Otto Weininger aus diesem Puber-
tatsstadium die edle heroische Konsequemz zog, freiwillig zu
scheiden, es nioht zu iiberieben. Kraus iiberlebte es, Kraus,
von dem ich weiB, iiberzeugt bin, schwore, daB er —
heute Vorzugsschulerzuchter — Vorzugsschiiler war, da8 er
die glanzendsten Redeiibungen liefente, daB Deutsoh sein
Lieblingsgegenstand war, daB er wahrscheinlich alle diese typi-
schen Schiilerkomplexe des Sicheinschmeichelns in den Klas-
senvorstand, des Brutustums des schlimmen Buben auf der
einen Seite und des Primustums des Ehrgedzigen auf der
anderen Seite in sich vereinigte, verbunden mit dem detelctivi-
schen HaBblick gegen die Mehrzahl seiner Mitschiiler, von
denen er damals schon ahnte, daB sie kiinftige osterreichische
Minister sein wiirden.
Dieser Schiiler Kraus, entwicklungslos, Otto Ernst ver+
ehrend, schiichtern, erlebt in dem fruher beschriebenen psycho-
analytischen Sinn das typische Pubertatserlebnis. Wenn Sie
seine Aphorismen durchlesen, so werden Sie sehen, daB alle
seine Sexualweisheiten ununterbrochen Varianten des Themas
sind: Qual des Lebens, Lust des Denkens, Lust — Scham, vor-
her — nachher, Genie — Leib, Weib ich vergebe mich an dich!
vielleicht mit einem Wedekindschen: Ich bin gliicklich, daB
ich on dir versinke — aber im groBen und ganzen die typischen
Achsenbegriffe des Sexualjiinglings, der sich nicht weiter ent-
33
wiokelt hat — infolge eherner physiologischer iGesetze — fur
den 1 die game Liebe nichts ist als 'die Tragik des sogenannten
Verrats am Geiste, eine Formel, die nur aus der Pubertatszeit
stammt, das heifit aus der Zeit, wo man noch lange nicht dazu
gekommen ist, zu lieben, das ei - 16sende Gliick der Wechsel-
begehrtheit zu flnden, uber seine sehr schwiilen Traume hin-
aus die ekle Isoliertheit abzuschiitteln, als freier Mensch sicher
zu sein und etwas anderes zu tun, als zu vergewaltigen oder zu
iiberreden oder sich izu kaufen, kurz, aus dem Genie-Nest der
Eitelkeit endlich ins Freie zu kriechen. Hier blieb er stehen.
Ich kann mir denken, daB ihm die Psychoanalyse unangenehm
ist. Wenn man diesen Punkt weiter ausfuhrte, kame man blitz-
artiger und rapider zu den AuBenerscheinungen als auf jedem
anderen Wege.
Und nun geschah folgendes: Kennzeichen des Pubertats-
stadiums ist neben der Art unentwickelten Eros ein ebenso un-
entwickelter Selbstbehauptungstrieb, namlich der Selbstbehaup-
tungstrieb im Worte. Diese Dialektik, die die Waffe des iiber-
legenen Standpunkts, der Demaskierung und Enthiillung und
zugleich das beste Schutzmittel vor erschiitternder Selbst-
erkenntnis ist.
Ioh will Ihnen das raseh erklaren. Der lebende, liebende,
demiitig gewordene, der Welt, der Wirklichkeit ins Aug'
sehende Mensch wird die intellektuelle Selbstbehauptung auf-
geben und dadurch erst zur Uberlegenheit, dadurch erst zur
Grofie, zur Kunst komrnen. Der Pubertatsmensoh — sofern
er sich nioht als SproB der christHoh-gerimanischen Denkart
in eine andere Realitatslosigkeit, namlich ins Reich des
Bilderbuch-Heroismus fliiohtet — denkt, sieht^ _sj>richt_ nur
intellektuell. Er hat nur die eine Angst, den sogenannten
uberlegenen Standpunkt aufzuopfern. Er lebt mit Wort-
beredtschaft auf der Zunge, im Ohre, er denkt nicht, er
lafit sich nicht uberzeugen. ; Das Rechthaben auf dem Niveau
seiner Lebensblindheit halt er fiir das Sehen. Wenn einer zu
ihm sprache: die Welt ist anders — er kann nachts horen als
sein Pubertats-Ich oder — Otto Weiningers Scbicksal schwebt
ihm vor I In der Jugend gibt es ja oft nur dieses Entweder —
34
Oder: Selbstmord oder Selbstbehauptung. Und so behauptet
sich der Pubertatsmensch im Worte, nichts dringt durch seine
Wortwatte, die er im Ohr hat. Es ist eine Sprungbereitschaft
im luftleereni Itaum, die Inbrunst der Irrealen. Das wird auch
das Schicksal des etwa 20- bis 22jahrigen Kraus. Er schrieb
diesen, ein biBchen an Daniel Spitzer erinnernden, aus Eisen-
bach-Schauspielerei und Winkeladvokatengeschicklichkeit ge-
paarten und sich aufs ShakespeareroB schwingenden virtuosen
Stil. Er verkroch sich in diesen Stil, Knabe bleibend, Knaben
ziichtend, (Ruf: Buben hassend!) Buben hassend. (Heiterkeit.)
Es werden sehr wenig gescheite Zwischenrufe gemacht, darum
komme ich so wenig vorwarts.
Ich komme nun — weil man mir vielleicht sagen wird:
Herr! Die Sprache! oder wie die am Pathoskoller er-
krankten, ilirem Meister sein Lieblingswort nachpfauchenden
Anhiinger zu sagen pflegen: die Schaparacbe! — naher auf die
Kraus'sche Dialektik zu sprechen. Und jetzt Averden Sie horen
und erfahren, woher aufier den fiir Sie i>einlioh und unange-
nehin, ja beleidigend klingenden Dingen, die aus der und der
Gasse, aus dem und dem Bezirke, aus den und den Komplexen
kommen, Hire eigentliche Gefolgschaft sich herleitet. Und
wenn Sie mir jetzt zuhoren und ein biBohen innerlich ge-
willt sind, zuzuhoren, dann werden Sie vielleicht iiber mich,
das Thema und die Art seiner Erorterung milder urteilen.
(Ruf: Geben Sie nachher Diskussion? ) Nur wenn gescheit
gesprochen wird — unter der Bedingung. Ioh bin nicht
abgeneigt — obwohl ich ziemlich erschopft bin — aber natiir-
lich nicht mit Wor.ten wie „Bube" und dergleichen Unproduk-
tivem.
Ich habe Ihnen friiher abstrakt gesagt, es gibt eine
Pubertatsart, sich in der Dialektik zu verstecken, sich dort zu
versclianzen, wortvoll zu sein und an das Wort nichts heran-
komnien zu lassen. Wie ist diese Dialektik speziell bei iKraus
JieschafTen-? Ich will jetzt gar nicht meine alten Wdtze a.us der
Zeitung wiederholen, die sehr gut waren (Heiterkeit); ich will
hier nicht aneinen beruhmten Satz wiedenholen: .Eine Zeit, die
keine Zeit hat, Zeit zu sein, auch wenn sie Zeit ware oder: diese.
35
jene, welchene — ich will nicht den ganzen Satz aufroHen
(der Vortragende nimmt einen parodistischen Ton an): „jene
Vortrage, die, tragen sie auch nichts anderes ein, als denen,
die den Ertrag xiber das Ertragnis stellen, Eintrag zu tun,
dennoch dem, der 's tut, tat er die Tat nicht um des Taten,
sandern um des Taters willen, mehr tragt als dhnen, die sie
nicht ver tragen" — alles das nicht; ich will nicht kaberetti-
stisch diese Art von (jidyokatoriscliem Pseudodeutsohi persi-
flderen, dhnen auch nicht nachweisen, dafl es nicht die Anti-
these als solche, — die kennen wir ja zur geniige von Mieter-
schutzplaidoj'ers her — sondern ihre Anwendung auf die
„Metaphysik des Beistrdchs" ist, was Sie so fasrziniert. Nein,
dies alles nicht, ich bin sachlich, ich buhle um Ihre Gunst.
(Heiterkeit.) Ich sage Ihnen psychologisch, wie es mit dieser
Dialektik beschaffen ist. Der undialeMische Mensch, der
Mensch, der nidit im Worte lebt, ini Worte wohnt, sich vain
Wort sehutzen laJ3t, der ist, wie ich sagte, in jeder Sekunde
bereit, etwas zu horen, was ihn umwirft, was dlim neu ist,
demgegeniiber er sich neu zusammenihalt. Der dialektische
Mensch hat immer das Gefiilil, alles, was gesprochen wird —
er leidet am sogenanntem ^Beziehungswahnj — soil edne Ent-
wertung fur ihn, soil eine Anspielung auf seine Mandenwertig-
keit sein, auf seine Durchschauung und Demaskierung zielen
imd zugleich die Uberlegenheit des Spreohers beweisen. Ganz
folgerichtig und leitmotivisch kehren bei Kraus darum auch die
Vorwegnalunen der Einwande; „Recht hat er, wo er Recht
hat!" und „Er ist doch ein Jud!" wieder. Der dialektische, also
betroffene Mensch kann nicht mit reinen Ohren horen, er kann
weder Nietzsche noch mich anhoren, denn bei beiden wird er
sich, statt aufzuhorchen; was sagst du mir? sagen: wie viel
Jahre sind Sie gesessen, waim liabe ich Sie beleddigt, wohdin
geht Ihr . Anspruch? (Heiterkeit.) Oder: wer hat Sie veranlafit,
mir zu sagen . . .? Wie konnte ich achtgeben, wenn ich mich
befrage, was ich dazu sage? Oder: wie konnte ich von meiner
Horerschaft . . . (Zwischenrufe. Zum Zwischenrufer.) Ich weifi,
Sie sind wahnsinnig gescheit, aber lassen Sie mich reden, Sie
sehen, ich kampfe um meine Konzentration. Also, ich will
36
sagen, der uiidialekbische Mensch ist jeden Moment gefafit auf
einen geistigen Weltuntergang, den alles und jeder hervorrufen
kann. Der dialektisohe Mensch, der hort nur daraufhin: Wie
kann ich ihm er.widern? Das ersfce Wort ziindet schon diesen
Gedankenan,jdenin alles Reden und Ge^enreden, das istiiur ein
S.treit in der Arena vor deni P.ublikum zur Reliabilitierung des
Intellekts, der Sprache, der tlberlegenheit und nicht zur Er-
weisung von iWirklichkeit/imd WertJ
Die SpraohMiiten, die aus dieser wirkJichkeitsloseii Er-
hitzung, aus dieser Unfahigkeit, zu sehen .und zu >horen,
spriefSen, selien prachtig aus; auf der Hand geiwogen, zerfallen
sie in Staub uaid Papier. Als ich zum Beispiel einmal die judische
Selbstftuoht, die Angst vor der eigenen Rassenstknime, den Vater-
und Faanilienhafi beschrieb, die zuisainmen die Vorbedhigung.fur
Karl Krausens Art und Werk darstellen, was ei-widerte da der
Antworter? Er sagte: dieser . . . jener . . . welcher ... — folgte
meine satirische Personsbeschreibung — „arretiert seine eigenen
Defekte am andern". Fabelhaft! Die Verehrungsburschen
konnten wieder einmal jedes Wort vom Boden aufschlecken,
„arretiert", „Defekt" — herrlich gekraustl Aber was bedeutet
der Satz, wenn man ihn genauer ansieht und ins Gemein-
verstandliche ubertragt? Nichts anderes als das aus Knaben-
und Spielplatzzwisten bekannte Wort: „Selber aner!" Ein
anderesmal schilderte ein Schriftsteller in einem Schliissel-
roman die gierige, wenig anziehende Art, in der der groBe
Ethiker seine Mahlzeiten einnimmt. Kraus schrieb sofort
25^ Aphorismen dagegen unter dem Titel: „Nachts". Einer
von ihnen lautete: „Ich esse gierig aus der Gier nach dem
Nichtessen". Genial! Er hatte auch sagen kannen: „Ich bin ver-
frassen aus Entsagung!"
Ich moohte jetzt etwas einschalten, wedl es mir hier pafit,
und das ist folgendes fiir die Monomanie Krausens-Gharakte-
ristisches: Ich habe einmal edn Buch von 120 Sedten ge-
schrieben, von dem drei Spalten iiber Kraus sind — er wurde
hier. als Beispiel des Selbst-Antisemitismus angefuhrt — dieses
Buch hieB damn: das Kraus-Buch Anton Kuhs. Auch da mufi
ich aber vorerst eine Zwischenbemerkung raachen: Kraus hat
37
es oft poleniisch mit Menschen zu tun, die den Wahnsinn
begehen, wenn sie eine aufs Dachel hekoinmen, ihim in seinen
Drahtverhau von 20 Jahre lang vorbereiteter Dialektik hinein-
zukriechen, sich in diesen Dachsbau von Salvierungen, Anti-
zipationen, Verdrehungsmelodien hineinschleppen zu lassen,
wobei sie sich natiirlich den Bauch wund reifien (Heiterkeit),
und das sind die Leute mit dem „Kraus-Komplex". Jeder,
der angegrilTen wird und sich in dieser Suada zur Wehr
setzt, jeder, der ihm einst Verehrungsbriefe schrieb und
ihn dann befehdete, jeder also, der sich, um in der
naheliegenden Schulterminologie des Klassenvorstandes Kraus
zu sprechen, selbst ins Klassenbuch geschrieben hat, hat
seinen ,,Komplex". Was geschieht aber, wenn weder einer
der ihn Verahrenden, noch ihm Verehrungsbrieiie Schreiben-
den, nocli von ihm Angegriffenen ■ — obzwar ich dafiir ein
sehr exponiertes Gesicht ihabe, das wird mar keiner, nicht einmal
der, der mich „Bube" nennt, ableugnen — wenn also einer
wie ich, ohne „Koanplex", ohne Devotion, ohne erne schlechte
Note gekriegt zu haben, ihm freimutig und geradeheraus die
Meinung sagt? Das mufl ich Ihnen doch erzahlen, ach muB es
sagen, obzwar doh mich in ein sohlechtes Licht bringe. Dann
namlich sagt er: Heri' Kuh kommt von hintem! ^mit deni
neckischen Zusatz: ,,dort kemit er sich aus!" Das heifit: von
vorne kommen, nicht beleidigt sein, nicht angegriffen sein,
sondern sagen: „hier ist meinWort!" das nennt dieser Wahn-
sinnige — der sich eben in Wahrheit doch nur vom auf-
richtigen, nicht hysterisch motivierten Wort unahgienehm iiber-
rascht fiihlt — von hinten kommen! Der.selbe Mann, der die
Campagne gegen Harden gefiihrt hat, well Harden, um das
deutsche Reichskabinelt zu stiirzen (was doch jedenfalls edne
histor.ische Saohe war), festgestellt hat, welche Menschen in
der Umgebung Kaiser Wilhelms an Perversa onen leiden, der-
selbe Mann, der Harden aus diesem Grunde als Abschaum,
Ekel und Brechmittel bezeichnet hat, wird wegen einer
kJeinen, jiidisch-eitlen, dreckigen Literaturfehde in seinem
Anspielungstalnnud, „Fackel" genannt, woraiis sich die
Burschen vielsagende Parenthesen herauspioken, fiir den
Ol
8
Kenner und Nichtkenner sagen: Herr Kuh kommt von hinten
— und den Anfcangern avird es dammern: ,,Ah, das anuB etwas
Besonderes heifien! Da liegt vielleicht eine ProzeBsachel
Sicher ein Wissertum! Pack es, wenn du kannstl Er hat ja
nifchts gemeint, er hat nu-r so gesagt". Deiin es gibt solche Jung-
linge mit dankbaren Schnuppernasen genug. Ich verstehe
es: in der Jugend braucht man Denktriaining, man iibt das
Gehirn an Sprachwendungen, und sich in diesem Dickicht der
Sprache auszukennen, sich in diesem Katechismus der An-
spielung zurechtzufinden, zu wissen, auf wen der GroBdnquisitor
in diesem oder jenem Saitze mit spitzem Zeigeflnger weist, auf
wen: dies oder das geht — ob es eine Unverschamtheit ist oder
nicht, ist ihm gleich — das anacht den Jiinger betrunken von
wangenrotender Gescheifoheit und gibt ihm das Gefuhl, von der
Eiffelturmspitze herunterzusehen. Und wenn sein Anspie-
lungsgott dann etwa mit Unerhortem Pathos sagt: „Ein Schrift-
steller, der sich nicht entblodet, auf sexuelle Privatangelegen-
heiten anzuspielen!" — ward Bravo! gerufen und kein An-
hanger sieht, da 6 man mit ein und derselben Dialektik ,,eso"
anachen kann und „eso". (Heiterkeit. Lebhafter Beifall und
Handeklatschen.)
Begreifen Sie jetzt notabene, warum im Kopf dieses
Marines neben den vorerwahnteii Vokabeln auch schuldbewuBt,
zuvorkommend und noch nicht aufgetauchte Anklager paro-
Hierend, das Wort „Material" spukt? Er namlich hat Material!
Er hat seine Recherchengarde, die ihm von Nietzsche bis
Benedikt den fiir - Klamanernsatze, /Wortspiele, Doppeldeutig-
keiten notigen Rohstoff liefert! Und er weiB in seines Herzens
Grund zu gut: daB er nur auf dem gleichen Weg todlich ver-
wundbar ist, dann namlich, wenn man haargenau Gesprache
mit Altenberg, mit Werfel oder mit dem Onkel auis Nikolsburg
reproduziert, und statt semen Kopf in jenen Dachsbau zu
stecken, niitteilt, wie der Dachs ■drinnen aussieht.
In dem Buche, das ich friiher genannt .babe, — ich hoffe,
Sie sind geduldig genug, ich habe jetzt die Sache selbst in die
Lange gezogen — in diesem Buche sagte ich, die Sprache des
Karl Kraus sei eine sogenannte 'Nachhausebegleitungssprache.
39
Ich werde Ihnen schildern, was das ist. Der Mann, der Welt
in sich hat, Mut gegen Mut, Eriebnis gegen Erlebnis setzt, der
sagt seine Sadie, driickt dem Horer die Hand und geht. Der
Mensch aber, der sich nur vermoge des Wortes behauptet, der
uberall, wo ein Loch in der Tapete entsteht, es mit Wortkalk
verschmiert, der so wie es im „Zerissenen" von: Nestroy ge-
schiebt, bier eine Falltiir niederdriickt, worauf eine andere sich
offnet, dann dorbbin eilt und sie wieder niederdriickt und das
so bin und her weitertut und in dreifiigjahriger monchs-
artiger Hirnmuihe inimer wieder die durch die Wirklichkeit
entstandenem Locher mit Worten verstopft — eine lacherliche
Clownarbeit — dieser Mann muB seinen Stil so schreiben, dafi
alles praventiv vorweggenommen ist, was sich irgendeiner noch
dagegen denken konnte. (Und er wird doch nie, nie damit
fertig.) Sie wissen, dafi es die Art eitler Menschen ist, da/3
sie von einer Gesellsohaft nioht Abschied nebmen konneu,
weil sie burner das unangenehme Gefiihl haben, dafi
hinter ilirern Riicken gesagt wird: nun, ganz gescheit,
aber man niufi schon sagen ... — oder, dafi sie uner-
horte Thesen entwickelt haben und fiixcbten, der Mann, der
ihnen zugehort hat, konne sagen: ja, ich babe ihm zugehort,
um ihm nicht zu zeigen, dafi ich pikiert bin, aber es ware doch
etwas dagegen anzuifiihreii — der undialektische Mensch
denkt sich da: „Habts anieh gern!" — dem dialektiscben aber
ist die Moglichkeit, dafi irgendein Tapetenrifi entstehen
konnte, ein furchtbarer Schreck. Und er wird eine Prosa
schreiben, die alles das, was man sich noch mit einem letzten
Gehimrest dagegen denken konnte, antizipiert.
Es ist namlich sehr klar: ein inoerlich Grofier, Gauzer
und Fester braucht blofi furohtlos seine Saobe hinzustellen,
ihm kann nichts passieren, wenn man ihm sie umwirft; einer
aber aus der Kategorie der ,,optischen Tauschungen", das
heifit: ein Scheingrofier, ihinter dessen Flaanmenwort- ein
klemes Brillengesicht sich duckt — und dieses Gesdcht braucht
inimer mehr und mehr Atem, tim die schlaffen Stellen auf-
zublasen, den Sprachefiekt als Personswert auszugeben — der
wird beim kleinsten Rifi nervos, Wort mufi her, um die Liicke
40
zli stop feu — schuf sie die Vorwelt — gegen die Vorwelt! —
schafft sie die Mitwelt — gegen die Mitwelt! — schafft sie aber
die Nachwelt? ... D a s ist das wunde Wen. Doppelt, nein
hundert- und tausendfach eifriger wird der Fadenspinner —
wie er sein Gesicht vor sich selber birgt, so versteckt er es im
Stil, bosselt, ziseliert, putzt, schleift, nahl, daB die kleinsrte
Gemeinheitsfalle verschwinde und die restlos sich ausgehende
Rechnung der Sprache wie restlose Reinheit wirkel Freilich
gibt es dami naive Enthusiasten, die dieses Wunider der Selbst-
dressur fiir hochste RednheiL nehmen, Nachlaufer aus vermeint-
licher Ehrfurcht und faktischer Schachimattgesetzthieit. Aber
dann neben ihnen sogenannle „Feine" — eine Gruppe inner -
lich verquiilber und ubeldunstiger Noblesse obldge-Menscben,
die im kleimeren Stil Wort und Sprache zur selben Tiiuschung
'mriBbrauchen. Wenn .sie iiber ilm schreiben, ist es wie eine
deutsche Hausarbeit: sie diirfen seine Stil-, seine Selbst-
deutungsgrenzen nicht verlassen und produzieren oft auf tunf-
hundert Seiten das graBliche, silbenstechende Kaudenwelsch,
diese Weihe-Aflerei ausbalanoierter Relativsatze, Inversionen
und Konjunktionen. Und ihr Gott samonelt es und hat seine
Freude d'ran! Ist es doch die Frucht seines eigenen schweifi-
beladenen Handwerks gewesen: niichtelang herumzustricheln,
darnit der Privatklang der Stiinme, die fletschende Betroffen-
heit seines Gesichtes hinter einer Wortreihe unsiohtbar werde,
deren Wiirde himmelentstamant, deren Schopfer erdentruckt
scheint und mit deren unsclieinbarsten Gliedern er anspiele-
risch Belohnungen und Strafen .ausleilen kann! Aber .so wenig
es dann einean Frevler zu verdenken ist, daB es ihn lockt, die
dunnatmige Gespreiztheit so lang anzukletzelra, 'bis die Visage
hervorspringt — : so wenig Lragen viele Ehrldche und Gut-
glaubige, die die Sprache eben als umnittelbaren Menschenaus-
druck nehmen, Sclmld daran, daB sie den irrsinnigen Inter-
punktionsmonoh fiir Gott selber batten!
Vorausgesetzt nun (um beim ohigeuRild des Liickenstopfens
zu bleiben) den unerhorten Respekt, den Pubertatsmenschen
sich zwar nicht vor der Welt bewahrt haben, fiir die sie ja noch
keine Psychologie entwickeln. konnen, mit der sie noch nicht
41
genug Abenteuer thaben, fur die ihnen die Grofie, der Mut, die
Demut, alles fehlt, 1 sondern vorausgesetzt den Respekt vor
dem Rechthaben eines Menschen durch das Medium der
Sprache — diese Junglingsverehrung angenommen, die durch
das Wort, durch intellektuell verwuzelte PJirasen schon an
sich fasziniert ist — was soil mit ihnen geschehen, wenn der
dialektisch Beflissene, Uberredungsgeniale es ungefahr so
macht: Er begleitet dich rait seiner Spraohe bis zum Haustor.
Er sagt sich: Du gehst jetzt hinauf. Vielleicht wird dir aber
auf dem Gang im ersten Stock noch etwas gegen mich einfallen
— ich gehe noch bis zum ersten Stock mit. Du gehst ins
Zimmer, aber auf dem Wege bis zum Belt kannst du sagen:
„es gibt doch ein Gegenargument" oder: „du scheinst mir kein
wahrhaft Grofier." Ich begleite dich daher bis zum Bett, dch
lege mich zu dir ins Bett, ich ziehe dir das Nachtemd an,
knopfle es zu und warte, bis du schliifst, dann mache ich einen
Punkt und schreibe nieder: Lust des Denkens, Qual des Lebens!
Demi ich habe jetzt wieder eines meiner unerhorten dialek-
tasohen Meisterstiicke gebaut, die so beschaiTen sind, dafi der
Leser keine Luft fur eigenen Atem mehr bat.
Und jetzt komme ich von der allgemeinen Faszinations-
wirkung dieser Dialektik zur speziellen, die darin besteht, dafi
der Jiingling — oder wenn er nicht mehr Jiingling ist: der in
seinen Pubertatsenthusiasmen und Pubertatsdefekten stehen-
gebliebene Mensch — , wenn er das liest, dialektisch uberzeugt
ist, ohne zu wissen; ich bin dort uberzeugt, wo mich die Sprache
hinuntcrgefiihrt hat, ich weifi von keiner anderen Welt — ich
■habe gar nicht bemerkt, dafi mich der Verfiihrer mittlerweile
einige Stockwerke tiefer, in die Realitatslosigkeit und Ansich-
gescheitheit gelockt hat! Dieser junge Mensch, wenn er durch
alle jene Kreuz- und Quergange gefiihrt ist, fiihlt sich Wie
erschlagen, er hangt an der Nabelschnur seines Gottes, es bleibt
ihm, nachdem ihm alles weggesagt wurde, auf dem Niveau, auf
das er gefiihrt wurde — das ist die optische Tauschung —
nichts anderes iibrig, als ganz schachmatt zu sagen: „Wunder-
bar!" Und ist vollkornimen sterilisiert. Fragte er sich, was ihm
aufier jener Zustimmung ..Grofiartig!" oder „Sehr richtig!" und
42
dem so rasch und billig erstandenem Entwertungsblick fiir die
unbekannten Dinge der Welt noch bleibt, was ihm an neuen
Werten bleibt — er wiirde traurig. Das ist namlich jetzt die
Sache. Ob Kraus zufallig der Gott schon vorhandener steriler
oder hysterischer Menschen werden mufite, oder ob er sie erst
sterilisiert und hysterisiert hat, lasse ich dahingestellt sein.
Gewohnlich ist da eine wechselseitige Wirkung. Ich glaube
nicht, daB irgend ein Mensch, der dieser Hysterie erliegt, auch
in den Schiitzengraben des Geistes gefallen ware. Ich glaube,
daB eines zum andern sich findet. Aber die Ursache der
Wirkung liegt darin, daB Kraus der Antworter ist.
Wenn Sie heute die Aphorismen des Christian Morgenstern
durchlesen, so wird jeder Satz, auch wenn er nicht diese
virtuose FormuLierung hat, auf Sie so wirken, als ob erne
Welt mit ihm erstiinde; wenn bloB der Satz dort steht: „die
Fliegen, diese Spatzen unter den Insekten," so werden Sie sich
sagen, daB das funfiundziwanziganal so viel wert ist, als das
gekrausteste Kraus-Gedicht und hundertmal so viel wert als
Spruch und Widerspruch; denn es ist Welt darin, das heiBt:
ein lebender, gottinniger, sehender Mensch. Wenn Sie die
ganzen Kraus'schen Aphorismen mit der unerhorten Gehirn-
energie und der peinlichen Virtuosita.it der FonmuMerung durch-
blattern, so werden Sie dimmer das Gefuhl haben: gescheit,
gut, nochmals gescheit, sehr richtig, und werden wie verstopft,
wie vollkommen abgesperrt gegen alles sein und Sie haben
dann — das ist das Ungliick der Kraus-Anhanger — jeden
eigenen Laut, das eigene Gehirn verloren, wie eben Menschen,
die dadurch, daB sie an der Nabelschnur der Dialektik hangen,
nichts Eigenes mehr hervorbringen konnen. Das ist ja das
Ominose und Furchtbare und daraus entsteht es, daB so ein
Jiinger, wenn man ihm Einwande bringt, immer antwortet:
Der Kraus sagt aber ausdriicklich im 26. Jahrgang, Nummer X,
Seite so und so viel, Zeile 3 — folgt eine Antwort. Wenn man
ihm darauf wieder entgegnet, antwortet er: Er sagt aber aus-
driicklich im 11. Jahrgang, Seite 43 bis 45 . . . (Lebhafte
Heiterkeit.) Er kann nichts anderes mehr denken, er ist ein-
gekreist, eingekraust, ausgekraust (Heiterkeit), das Gehirn
43
kann nur noch in den Spiralen der Ganglien dieses Mannes
laufen; denn es ist die damonische Jiinglings-Verzahrungs-
dialektik eines Menschen, der als der starre Buddha der eigenen
Pubertat an tausend Drahten und Faden die Pubertaten
anderer fiihrt, des Obergyannasiasten gegenuber den Unter-
gymnasiasten, der zum Ordinarius der Sittlichkeit avanciert
in den Augen des gierigen Mitscbiilers, der an diesen Faden
hangt. So ist das Bild.
Und nun werden Sie sagen: Und die Sittlichkeit? Das
Ethos? Nun, zum groBten Teil habe dob sohon davon
gesprochen, indem ich von dem Oberredungseffekt seines Stils
sprach — denn welcher Gescheite wollte, gemaB den okono-
mischen Gesetzen dieser Gescheitheit nicht lieber seine bliiten-
weifie Christlichkeit beweisen? Ich gehe aber noch weiter, ich
frage nioht bloB nach Sittlichkeit und Ethos, ieh frage
nach der grofien politischen, aktuellen Wirkung, nach der
Niitzlichkeitswirkung?
Ioh saB einmal mil Peter Altenberg zusammen. Ich habe
Ihnen hier eine neue Mitteilung zu machen. Peter Altenberg war
von Karl Kraus nicht so begeistert, als Sie denken. Ist Ihnen
das bekannt? Ich mochte Ihnen die entziickendsten, genialsten,
boshaftesten Ausspruche mitteilen, das wiirde nichts besagen.
Weseai'tlioh, viel we&entlicher ist — na, dob will, reiner
spreohen — also kurz, einer der wunderbarateni Ausspriiche
Altenbergs war, daB er einmal sagte — da war er noch
mild — : Wissen Sie, der Kraus, das ist ein Mistbauer ■ — • der
Mistbauer, der alien Dreck der Zeit wegtragt. Sehr niitzlich.
Brauchen Sie so einen Mistbauer? Ich auch nicht! Aber die
Jungels, die brauchen ihn! — Wer Altenberg gekannt hat,
wind sotfort horen, daB ihm genau der Tonfall, in dem
er das fonmuldert hat' — man kann es nicht besser sagen
— zu eigem war, in den scheinbaren Gemeinplatzen Altenbergs
lag die beriickende Tiefe. — „Brauehen Sie ihnl Ich brauche
ihn auch nicht!" (Ruf: Die Fackeln brauchen wir, hat er auch
gesagtl) Ja, das hat er auch gesagt. Aber was er daanals sagte,
deckt das ganze Problem. Es ist damdt namlich so: Jede Zeit hat
ihren latenbeti oder offensiohtlichen, ihr zugehorigen und
44
durch gewisse Narnen reprasenlierten Zeittinen'. Jede. Nehmen
wir Goethes Zeitalter: Da gab es einen veritablen Hans Miiller,
es gab einen Otto Ernst — alle diese Erscheinungen, die Kraus
heute befehdet, deren Minderwerfcigkeit, Urschadlichkeit, Ver-
achtlichkeit er feststellt, dde gab es immer und auch damals.
Es gab gegen sie keinen Kraus. Kamen diese Leute deshalb auf
die Nachwelt? Hat z. B. von dem Herrn Nicolai, dieser graB-
lichsten Vielschreiber-Erscheinung aus der Zeit Goethes — die
Mehrzahl von Ihnen je gehort? (Rufe: Neinl Gegenrufe: Jal)
Na gut, danke. (Heiterkeit.) Dieser ZeittinerT hat namlioh die
Eigenschaft, sich chemisch selbst zu paralysiereni; er kommt
nicht an die Nachwelt; er macht Larm, aber er paralysiert sich
selbst. Es wird auch kein Mensoh diesen Mist feststellen — denn
wer sollte es tun? Der selbst Niedrige sieht iihn nicht, der Adelige
hat besseres zu tun; es miifite einer koimmen, der selber aus
Dreck undFeuer geinischt ist, ebiGrenzmernsch, der unit Leib
und Leben nooh dazu gehort und mat den Augen ischon das
gegenuberliegende Ufer sieht. Und da gelangen wir jetzt zur
Mission des Kraus: Erist zwisohen den Zeitdreck, benannt durch
alle die Namen, die Sie aus der „Eaokel" kennen, und seine
ohemische Selbsterledigung mnerhalb der Zeit dazwischen-
gehiipft und hat den Dreck im Namen des Gesetzes arretiert.
(Lebhafte Heiterkeit und Beifall.) Was war nun die Folge?
Dieses Heer der Jntelligenzplebejer, der Unkifortmierten, die
das natiirlich mit glanzenden Augen sahen, weil sie sebst dazu
gehoren, fiir die die ,,Neue Freie Presse" der geistige Kild-
anandscharo, Hans Midler der Shakespeare ist, die sagten: Fabel-
haft! Das ist der Kraus! Es gesohah also in Wahrheit, dafi der
Tineff optisch grofier wurde, viel bedeuitender sogar, aber vor
allem iiberlebensgroB siohthar der grofie Waehimann, der ihn
arretierte und der nun) den Leuten einredet: wenn> ich nicht ware,
damn wiirdet ihr glauben, daB Hans Muller der Shakespeare
ist und die „Neue Freie Presse" die „Times" usw. (Heiter-
keit und Beifall.) Das ist eine der grofien Nutzldchkeits-
wirkungen gewesen. Der frisch hier zugereiste Jiingling, der
heute friih mit der „Nordbahn" angekommen ist, braucht zum
Beispiel gar nicht zu wissen, dafi es in Wien ein Burgtheater
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gibt, nie davon gehort zu haben; er schlagt die „Fackel" auf
und hat mit der Information die Enifrwertung, um 3 Uhr nach-
mittags bereits kann er sagen: „H6ren Sie mir auf — einen
Mitterwunzer gibt es nicht onehrl" Sie fragen: warum Mitter-
wunzer? In der „Fackel" war ein Druckfehlerl
Wenn Sie jetzt noch einmal fragen: Aber die Sittlichkeit,
die w.unde Seele, der Christus-Mensch?! — darauf babe ich
Ihnen zu sagen: Jenes Ethos — oder wie ich es ednsmal so
richtig nannte: Ethospetetos — wollen wir lieber ganz aus
dem Spiele lassen! Es ist eine phonetische, 'klangokonomische
Angelegenheit, zum Satdrikerberuf, wie ihn Kraus iibt, durch-
aus gehorend; denn, wenn dch friiher sagte, daB die dialek-
tische Wirkung den Eindruck bedinge, als ob sie nicht durch
&ich, sondern aus den darunter kochenden' Kratern des Welt-
wehs, des Gewissens und der Menschlichkeit erzdelt sei — was
ist fur sie notiger, als vorerst eine voile Dosis Shakespeareatem
in sich aufzunehmen, ihrer Sache ein strafgewaltiges, empo-
rungsloderndes Postament zu sohaffen oder gleich darauf ins
lyrisch-liebkosende Gegenteil zu verfallen, das hei&t: aus der
gleichen bosen Rechthaberei, die zum ..Wahrlich ich sage
EuchI" ansteigt, in die affektiente ZartMohkeit auszubrechen:
„Es werden der Kohlweislinge zu viele!" Die Schauspielerei
des Wortes verwandelt sich nach riickwarts eben notwendig in
Schauspielerei der Seele. Aber wen wird sie auf die Dauer
tauschen? Wer wird der Entmenschtheit, die sich den Atem
der emporten Menschlichkeit borgit, die leiseste Giiteregung
glauben oder annehanen, die geschriebene — vor dem Spiegel
geschiriebene! — Freude am Nachtigalliensohlag spiele eine an-
dere Rolle, als die eines Arguments?
Ich will Ihnen' dieses Phanomen noch anders deutlich
machen. Es gibt einen Grad der Virtuositat, wo der
Mensch ausruhen kann; es gibt einen Grad der Sprach-
virtuositat, wo er das Virtuose spurt und ahnt: das ist so
unerhort exzellent gekonnt, dafi ich einerseits jetzt die Mog-
lichkeit habe, ruhig Atem zu schdpfen, dafl aber andererseits
jetzt gleichsam als kontrapunktische Notwendigkeit fiir mich
der Moment eintritt, wo gegeniiber meiner Virtuositat des Nein-
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sagens irgendwie auch mein mogliches Ja heraussteigt —
meinen Kopf babe ich iiberbewiesen — ioh beweise mein Herz I
Das nenne ich dann sehr richtig die Geburt des Ethos aus dem
Geist des A.ses*) . (Lebhafle Heiterkeit und Beifall.) Es ist nam-
lich der Moment, wo nach der Logik der Oberredungskunst,
wo nach dem AuBersten niohts mehr Anderes, nichts imehr
Uberflussiges, niohts mehr dariiber hinaus Sagenkonnen, alles
Gesagte den Hintergrund bekommt, als ob es aus Bejahungen,
aus Leiden und Schmerzen gesagt ware. Ich selbst bin geniigend
Wortvirtuose, um Ihnen das beriihmte Geheimnis verraten zu
konnen, dafi ich, wenn ich spiire: ich kann alles beweisen, mir
dann den Luxus gonne und, wiederum mit Dialektik natiirlich,
sage: ich beweise das nicht, um zu entwerten, sondern weil mir
der Mann leid tut I Das kann man sich auf der Hohe der
Virtuositat leisten. Einer, der sich inittels des Wortes gegen alle
behauptet hat, kommt endlioh an 'einen Punkt, wo er die Hande
faltet, die Achseln zuckt und sagt: ich tue es nur aus einem
tiefen christlichen non aliud possel Aber der Unterschied
zwischen dem Wertmenschen und dem Wprtmenschen ist der
Unterschied zwischen dem, der die kleinste erlebte Sache hin-
stellt mit dem Mut zur Arena, und dem, der an ihr . herum-
kraxelt und zeigt, wie geschickt man sie mit Antworten
besteigen kann. Dieser Unterschied zwischen dem groBen
Menschen und dean Menschen von der Pseud ogroBe einer
kleinen Brdllen-PensonlJchkeit (aus dem Satanismus des Ghetto
in die Ghristlichkeit entsprungenl), die aber freilioh eine
solche Angst hat, daB der Zauber schwinden konnte, daB sie
drohend Strafen austeilt wie ein Buddhagotze, Noten gibt, und
herumschreit: Cruciate! Haltet ihn usw. — dieser Gegen&atz
zwischen den beiden kontraren Typen: des GroBien, der nicht
Wert darauf legt, das letzte Wort gehabt zu haben, weil er
anderes zu tun hat, und dessen, der immer wartet, bis einer sein
Haufohen hininacht, damit er das Haufchen mit seiner geniialen
Sprachgabe aufruhrt, ist mir an etwas klar geworden: Karl
Kraus hat jeden Menschen, der nicht Zeitgenosse war, wenn er
*) Soviet wie: Bosheit an sich.
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ihm in seine Blutnahe kam, polemisch niedergemacht . . . (Ruf:
So wie der Herausgeber des „Abend", Karl Cohn-ColbertI) ....
Wenn einer genug lang tot war, hat er inn verehrt; wenn er sein
Zeitgenosse war, hat er ihn weniger verehrt. Er hat Lichtenberg
gelten lassen, er hat Lichtenberg verehrt — da kann ihm nicht
mehr viel geschehen. Heine, von dem hat er nicht viel gelesen;
ich kann nicht streiten, wie wenig er, der sich gleichsam coram
publico erst zu bilden begann, aber dafiir alle, die seine neuesten
Entdeckungen (Claudius, Shakespeare usw.) schon im Alter
von 15 Jahren gemacht haben, unfiihlend und unwissend
schalt, iiberhaupt gelesen hat (wodurch naturlich auch seine
Anhanger von einer stupenden Unbildung sind), aber
ich weiB, da6 er einst, als jemand sich darauf be-
rufen hat, ein von ihm niedergeschriebener Gedanke
stamme schon von Schopenhauer, Miit impressionisti-
schem Stolz ausrief: Ich habe Schopenhauer nie gelesen!
(Siehe ,,Fackel" 1903.) Von Heine also, das schilderte mir ein-
mal der Rezitator Ludwig Hardt (ubrigens auch da ware eine
vielsagende Greschichte zu erzahlen), hat er ein paar Gedichterl
gelesen: „Ich weiB nicht, was soil es bedeuten . . ." und solche.
Diesen Dichter hat er niiedergemacht, well er irgendwie eine Ver-
wandtschaft judischer Geistesgenialitat verspiirte und sich
sagte: einer von uns beiden mufi auf dem Platze bleiben. Ent-
weder bin ich gescheit oder du I (Lebhafte Heiterkeit.) Liliencron
hat er verehrt. Warum soil ein Wiener Jude nicht den Marki-
schen Christen verehren? (Heiterkeit.)
Aber damit Sie mir nicht ein Verbrechen am Geiste vor-
werfen: Es gibt Dinge, die man respektieren soil. Herr Karl
Kraus hat vor zehn Jahren Andeutungen gemacht, — ich bin
ein gedachtnisstarker Leser der „Facker' — es sei da ein Philo-
soph, der habe die Tanzerischen auf dem Gewissen, mit dem
miisse er sich noch auseinandersetzen. Da dachte ich mir: Jetzt
geht es gegen Gott selbst, jetzt geht es gegen Nietzsche - — gegen
ihn, dessen Suflere Beziehung zu seinem Nachfahren ich einmal
in dem Ausspruch feststellte: „Karl Kraus, der leuchtende Saphir
— namlich Gottlieb Moriz Saplidr — in der Krone Nietzsohes."
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Aber Kraus anufi es sich uberlegt haben, seine Verehrer
miissen ihm gesagt haben: lassen Sie isioh unit dem nicht
einl Etwas inuB dazwischen gekommen sein, wahrscheinlich:
Schwierigkeiten bei naherer Lektiire-Bekanntschaft. Bei
Nietzsche hat man viel zu lesen, gegen Nietzsche die Spraohe
zu mobilisieren, ist schiwer. Es ist leichter, Heine die Schuld fur
das Zustandekommen der Feuilletonisten zu geben als Nietzsche,
— der durch ein Mifiverstandnis der Nietzsche-Philologen als
tanzerischer Dionysier gilt, wahrend er in Wirklichkeit ein
Anarchist war — fur die gewissen feurigflammenden Springin-
kerl der Sprache verantwortlich zu machen und ihn als
ihren Urheber hinzustellen. Aber es kam Nietzsches fiinfund-
zwanzigster Todestag. Da wurden viele bedeutende Sachen ge-
schrieben, unter anderem auch ein Aufsatz von mir. Das hat
Kraus nicht gelesen. Er hat blofi die Aufsatze in der „Neuen
Freien Presse" gelesen und h"at daraus, genial wie immer,
deduziert, was Nietzsche fur ein Kraus*) sein muB.
(HcileTkc.it.) Und er hat dann zieanlich unverbliimt gesagt:
Was hat dieser GroBe schon geschriebenl Einmal ein
kleines hiibsches Gedicht, groBe, kunstwichtige Dinge nicht.
Jetzt werden Sie sagen: Da ist doch wenigstens der Fall,
wo Kraus, den Herr Kuh als den Antworter hinstellt, nicht
geantwortet hat. Nein, meine lieben Verehrten, falsch, grund-
f alsch, er hat geantwortetl
Friedrich Nietzsche namlich hat einst in einer Nacht eine
Vision gehabt: Kraus ist ihm erschienen. Nicht bloB als Person.
— Kraus mit seinem „Fackel"-Deutsahl Wie er leibt, ohne zu
lebenl Und nun horen Sie zu und ver&uchen Sie, nicht davon
erschiittert zu sein, was Nietzsche, Krausens Nietzsche-Angriff
ahnend, iiber Kraus und Wien schrieb. Die groBe Stadt, die
hier vorkommt, ist Wien. Wer Kraus ist, werden Sie erraten.
Jetzt geben Sie genau acht (Rest):
Also, durch viel Volk und vielerlei Stadte langsam durch-
schreitend, ging Zarathustra auf Umwegen zurilck zu seinem Ge-
birge und seiner Eohle. Vnd siehe, dabei kam er unversehens auch
*) Im Stenogramm stand „Tine£E".
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an das Stadttor der groffen Stadt: hier aber sprang ein schdumen-
der Narr mit ausgebreiteten Handen auf ihn zu und trat ihm in
den Weg. Dies aber war derselbige Narr, welchen das Volk ,,d e n
Aff en Zar athustras" hie/3: denn er hatte ihm etwas vom
Satz und Fall der Rede abgemerkt und borgte wohl auch gem vom
Schatze seiner Weisheit. Der Narr aber redete also zu Zarathustra:
„0 Zarathustra, hier ist die grofie Stadt: hier hast du nichts zu
suchen und alles zu verlieren.
Warum wolltest du durch diesen Schlamm waten? Habe doch
Mitleiden mit deinem FufS! Speie lieber auf das Stadttor und —
kehre uml
Hier ist die Hblle fur Einsiedler-Gedanken: hier werden grofie
Geheimnisse lebendig gesotten und kleingekocht.
Hier verwesen die gro/3en Gefiihle: hier dtirfen nur Mapper-
dilrre GefUhlchen klappern!
Riechst du nicht schon die Schlachthduser und Garkiichen
des Geistes? Dampft nicht die Stadt vom Dunst geschlachteten
Geistes?
Siehst du nicht die Seelen hangen wie schlaffe, sc hmutzig e
Lumpen? Und sie ma chert no ch Zeitung en aus
die sen Lumpen!
Horst du nicht, wie der Geist hier zum .Wortspiel wurde.
Widriges Wort-Spiilicht bricht er heraus! — Und sie machen noch
Zeitungen aus die s.em Wort-SpUlicht!
Sie hetzen einander und wissen nicht, wohin? Sie erhitzen
einander und wissen nicht, warum? Sie klimpern mit ihrem Dleche,
sie klingeln mit ihrem Golde.
Sie sind kalt und suchen sich Warme bei gebrannten Wassern;
sie sind erhitzt und suchen Kuhle bei gefrorenen Geistern; sie
sind alle siech und siichtia an offentlichen Meinungen.
Alle Lilste und Laster sind hier zu House; aber es gibt hier
auch Tugendhafte, es gibt viel anstellige angestellte Tugend: —
Viet angestellte Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und
Wartefleische, gesegnet mit kleinen Bruststernen und ausgestopften
steifllosen Tochtern.
Es gibt hier auch viel Frommigkeit und viel glaubige Speichel-
Leckerei, Schmeichel-Backerei vor dem Gott der Heerscharen.
„Von oben" her traufelt ja der Stern und der gnadge Speichel;
nach oben hin sehnt sich jeder sternenlose Busen.
Der Mond hat seinen Hof und der Hof hat seine Mondk&lber:
zu allem aber, was vom Hofe kommt, betet das Bettel-Volk und
alle anstellige Bettel-Tugend.
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„lch diene, du dienst, wir dienen" — so betet die anstellige
Tugend hinauf bis zu dem Fiirsten: dap der verdiente Stern sich
endlich an den schmalen Busen hefte!
Aber der Mond dreht sich noch win alles Irdische: so dreht
sich auch der Fiirst noch urn das Aller-Irdischeste; — das aber ist
das Gold der Kramer.
Der Gott der Heerscharen ist kein Gott der Gold-barren: der
Fiirst denkt, aber der Kramer lenkt!
Bei all-em, was licht und stark und gut in dir 1st. o Zarathustra!
Speie auf diese Stadt der Kramer und kehre uml
Eier fliept alles Bint faulicht und lauicht und schaumicht
durch alle Adern; speie auf die grofSe Stadt, welche der groPe Ab-
raum ist, wo oiler Abschaum zusammenschaumt!
Speie auf die Stadt der einged/riickten Seelen und schmalen
Briiste, der spitzen Augen, der klebrigen Finger —
— auf die Stadt der Aufdringlinge, der Vnverschamten, der
S chr eib- und Schr eihdlse, der iib err eizten E h r-
geizig en: —
— wo alles Anriichige, Anbriichige, Lilsterne, Dusterne, t)ber-
miirbe, Geschwiirige, Verschwbrerische zusammenschwiirt: —
— speie auf die grofie Stadt und kehre urn!" — —
Eier aber unterbrach Zarathustra den schaumenden Narren
und Melt ihm den Mund zu:
„Hore endlich auf!" rief Zarathustra, „mich ekelt schon lange
deiner Rede und deiner Art!
Warum wohnest du so lange am Sumpfe, dap du selber zum
Frosch und zur Krote werden muptest?
Flie pt dir nicht selber nun ein fault elites,
s c haumichte s S umpf-Bl u I durch die Adern, daP du
also quacken und lastern lerntest?
Warum gingst du nicht in den Wald? Oder pfliigtest die Erde?
1st das Meer nicht voll von griinen Eilanden?
Ich verachte dein Verachten; und wenn du mich warntest, -J-
wanim warntest du dich nicht selber?
Aus der Liebe allein soil mir mein Verachten und mein loar-
nender Vogel auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe!
Man lieipt dich meinen Affen, du schaumender Narr: aber ich
heipe dich mein Grunze-Schwein — durch Grunzen verdirbst du
mir noch mein Lob der Narrheit.
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• Was war es denn, was dich zuerst grunzen machte? Daft
niemand dir genug g e s c hmeic he It hat: — datum setzest du
dich hin zu diesem Unrate, dafi du Grand hattest, viel zu grunzen, —
dafi du Grund hattest, zu vieler Rachel Bache namlich, du eitler
Narr, ist all dein Schaumen, ich erriet dich wohll
Aber dein Narrenwort tut mir Schaden, selbst wo du recht
hast! Vnd wenn Zarathustras Wort sogar hundertmal recht hatte:
du wilrdest mit meinem Wort immer — Unrecht tun!"
Und nun bitte achten Sie darauf, wie gerecht und richtig
Nietzsche aueh dais andere — namlich Wien im ,,Facbel"-Licht
— sieht:
Also sprach Zarathustra; und er blickte die grofie Stadt an,
seuftzte und schwieg lange. Endlich redete er also:
„Mich ekelt audi dieser grofien Stadt und nicht nur dieses
Narren. Hier und dort ist nichts zu bessern, nichts zu bosern.
Wehe dieser grofien Stadt! — Vnd ich wollte, ich stthe schon
die Feuersaule, in der sie verbrannt wird!
Denn solche Feuersaulen milssen dem grofien Mittage voran-
geh'n. Boch dies hat seine Zeit und s.ein eigenes Schichsal.
Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, sum Abschiede: wo
man nicht mehr lieben Jcann, da soil man- — voriibergeh'n!' 1
Also sprach Zarathustra und ging an dem Narren und der
grofien Stadt vortiber.
O, tiefste Logik! Der satanische TalentsproB des jiidischen
Hauses, schauimendes Tunichtgutprodukt der Decadence, ehr-
geiztoll, rechthaberisch, vol! der hopsenden quakstim'migen
Pojaztalente, die um rituelle Hochzeitstische springen, zugleich
aber monchsartiger Wachter iiber jeden Lauit, der ihn ver-
teidigt, ja sein Leben «o pedantisch fiir diese Verinaier-
lichungsmuh sparend, daB er iheute wie ein ausgedorrter
Heiliger seinen Sprachladen htitet oder auf silberschleamigem
Stiinmseil zur Verkunder-Hohe emporklettert — er nruBte
ZarafchustrajS AfFe sein, so m.uBite der Schaumende aussehen!
Was wird er nun tun, wenn er diese Nietzsche-Stelle zu
Gesicht bekommt, was wird in ihm sich regen, schaumicht
und faulicht und .schaumend und kreischend? 'Seine Suada
wird rings um dieise herrlichen fiinf Seiten her.um ein genial-
boshaftes Speichehietz ziehen und die Jiinglinge, die sclion
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voll Schreck denken: Um Gotteswillen, ich werde von der
Nabelschnur gerissen! werden sehen, da8 diese Nabelschiiur
von ihim wieder ganz geredet wird. Er wird sich warmsinnig
freuen, dafi der Antworter den Beantworter besiegt hat. Ich
aber glaube, meine Herren, es sollte ein biblisohes Wort geben,
das es leider nicfat gibt, und das da lauten miiBte: Wehe dem,
der das letzte Wort hat . . . Ich wall es hier audit haben und
werde «s nicht haben, ich will und werde unit dem schaumenden
Narren nicht um die Wette laufen. Ich raume ohm hiamit das
Feld, der Heir der Rede — „dem Diener am Wort!" (Lebhafter.
langanhaltender Beifall und Handeklatschen.)
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Von Anton K u h ersdiienen s
JUDEN UND DEUTSCHE
Ein Mesxamie
Yea-lag Erich BeiH}, Berlin 1921
VON GOETHE ABWAMTS
Essays in Aussprwdken
E. P. Tal, Wiea umI Leipzig 1922
.B'OKNE, DEM ZEITGENOSSE
Eine Answahl
Verlag GrapMsdhe WerkstStte, Wien wnd Leipzig 1922