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DER MIMVS.

EIN LITTERAR-ENTWICKELÜNGSGESCHICHTLICHER

VERSUCH.

VON

HERMANN REICH.

ERSTER BAND. ZWEITER TEIL.

ENTWICKELÜNGSGESCHICHTE DES MBIUS.

BERLIN

WEIDMANNSCHE BÜCHHANDLUNG 1903.

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Bd.)

ZWEITES BUCH.

DIE MIMISCHE HYPOTHESE.

Grundlinien ihrer Geschichte von den primitiven Anfängen bis in die moderne Zeit.

utuös fori fxiur,aii ßiov. Theophrast.

SECHSTES KAPITEL.

Die Entwickelung der mimischen Hypothese vor und nach Philistion.

tptXiOTi'üJia iov xah'it xaya&ov

tyto Mivavduos nolii) xai'qnv ßoilouai.

MtvurJgov xai 'PiltOTfowo; dtai.fxrog.

I.

Mimisches Scherzspiel Paegnion.

Wir haben die Terminologie des Mimus kennen gelernt. Nur die wichtige Einteilung in Paegnion und Hypothese blieb unerörtert, weil sie nicht wie die andern bis auf Aristoteles und die Peripatetiker sich zurückverfolgen läf>t Sie findet sich bei Plutarch in den Tischgesprächen. Dort heifst es: es gebe bekanntlich zwei Arten von Mimen, die sich aber beide nicht für die Unterhaltung bei Gastmählern eigneten; nämlich die mimischen Theaterstücke (Hypothesen) nicht wegen ihrer Länge und wegen der Schwierigkeit der Inscenierung. die mimi- schen Scherze oder Possen (Paegnia) nicht, weil sie voll Zoten- reifserei und Spafsmacherei und nicht einmal gut für die Sklaven wären, welche ihren Herren das Schuhwerk besorgten. Dennoch lasse man, selbst wenn Frauen mit bei Tische säfsen und Kinder, solche Darstellungen von Handlungen und Worten sehen, die mehr als das Übermafs von Wein die Gemüter berauschten und verwirrten1).

') VII, 8, 4: ovxivv, ?'/»}V ?yü, uiuoi itv£s tioiv, <uv rovs [ilv i>no9iotts,

JOVi St natyvia xaXoicfiV aouö&iv <T oiiöiilQOV oluut avunoaCip yivos' *aS

fikv vno&taits, dict utjxtj roi»' i oauäraiv xai r& dfff/opijy rjrov rd

St natyvta, noXXfjs ytfiovra ßa>uoi.ox(a; xai ontQ/uoloytas, ovSi roig id vnoSrjuaju

Reich. Mimus. ■_> 7

418 Sechstes Kapitel.

Der Unterschied beider Gattungen wird noch deutlicher durch eine andere Äufserung Plutarchs, die dem Mimus, natürlich der Hypothese, eine dramatische Verwickelung zuschreibt, wie sie das Zusammenspiel mehrerer Personen hervorbringt1). Also die Hypothese ist das mimische Theaterstück, das nach Umfang, dramatischer Verwickelung, Anzahl der Akte kein geringeres und kleineres Gebilde ist wie die Komödie; wir haben ja schon mannigfache, derartige, grofse mimische Schauspiele kennen ge- lernt2).

Das Paegnion umfafst alle mimische Produktion, die unter- halb der Hypothese liegt. Das ist auf griechischem wie auf römischem Boden aufserordentlich viel. Beteiligen sich doch an dieser mimischen Konkurrenz nach der antiken Auffassung selbst die Tiere. Wir hören sogar von Bären, die einen Mimus auf- führen3), und zwar bei den Spielen, die Numerianus und Carinus im Jahre 284 veranstalteten4). Plutarch (de sollert. anim. c. 19) erzählt von einer merkwürdig gelehrigen Elster eines Barbiers am griechischen Markt in Rom. Dieses Tier vermochte Menschen- wie Tierstimmen wiederzugeben und auch die Töne aller möglichen Instrumente. Da kommt einmal ein prächtiger Leichenzug mit grofsartiger Trauermusik an der Barbierstube vorüber; in der

xofiC^ovai naiättqCois, « yt d'rj öednotwv rj a(0(pQOVOvvriov, &eäaaa&ai nQoarjxei ' ol dk noXXoi, xal yvvcuxäiv avyxaxaxti^iivoyv xal nctiöwv ävrjßcov, iniSilxvvvrai ui/urj/uara TiQayfiarwv xal köytav, a nä(Si\<; /Lit&rjs raga^coS^aTegov rag \pv%as &iaTl&rjatv.

r) De sollert. anim. 19: Itkoxr\v . . dga^arixtiv xai noXvnQoawnov.

2) Vgl. oben S. 87 folg.

3) Vopiscus Carinus cap. 19: ursos mimum agentes.

*) Ob man nun hier an wirkliche Bären zu denken hat ich erinnere an die grofse Kunst, zu der es die Römer in der Dressur brachten (vgl. Ludwig Friedländer, Sittengesch. 2. Bd. II, b.) oder nur an verkleidete Schauspieler, will ich unerörtert lassen. Jedenfalls erinnert dieser Bärenmimus etwas an den sonderbaren Eselmimus, den der Eselmensch Lucius, Aovxtog rj ovog, zum Schlufs, nachdem er bei dem Liebesspiele mit der vornehmen Dame belauscht ist, auf offener Bühne mit einem verurteilten Frauenzimmer zum besten geben soll; vgl. Lukian cap. 53 u. Apuleius Metam. X, 23 u. 34. Ich erinnere auch an den Hund, der zur allgemeinen Verwunderung sehr geschickt seine Rolle im Mimus spielt, wie Plutarch (de sollert. anim. 19) berichtet.

Mimisches Scherzspiel Paegnion. 419

nächsten Zeit schweigt dann die Elster still. Eines Tages aber flötet sie die ganze Trauermusik herunter. Plutarch spricht an dieser Stelle, in Anerkennung ihres mimischen Talentes, von ihren Mimemata. Diese Elster gehört gewissermafsen zur untersten Stufe der mimischen Künstler, zu denen, die sich mit der Nachahmung von Tierstimmen und Naturlauten befassen ; doch je niedriger diese Stufe ist, desto zahlreicher sind ihre Vertreter. Schon Plato1) berichtet von Jongleuren, die in mimischer Weise die Stimmen von Tieren nachahmen, das Wiehern der Pferde und das Brüllen der Stiere, und auch sonstige Naturlaute, das Rauschen der Flüsse, das Tosen des Meeres, Donnerschläge und Ähnliches. Diese mimische Nach- ahmung ist zu allen Zeiten ein höchst beliebtes Unterhaltungs- mittel gewesen. So macht bei Petron im Gastmahl Trimalchio, der Gastgeber, selbst den Posaunenbläsern und ein alexandrinischer Knabe den Nachtigallen nach, und der Sklave des Habinnas kopiert, auf einer Thonlampe musizierend, Posaunenbläser und nachher mit zerbrochenen Rohrstücken Chorbläser '). Besonders beliebt scheint die mimische Nachahmung des Grunzens und Quiekens von Schweinen gewesen zu sein, die man offenbar, wie aus einer Fabel des Phaedrus besonders zu ersehen ist, selbst im grofsen Theater zum besten gab*). Auf höherer Stufe des Paegnions steht schon Agathokles, der bei Volksversammlungen gelegentlich Leute, die ihm durch sonderbares Wesen auffielen, nachäffte und sie mimisch darstellte4). Paegnien sind auch einige andere bei Petron erwähnte, mimische Kunststückchen, wie besonders die Barbierstube des Plocamus*). Hierher gehört

») Staat III, 8.

') Vgl. Cena Trimalchionis, übersetzt von Friedländer 64, 68, 69 and dazu die Anmerkung auf S. 293, sowie Wölfflin, Publilii Syri sententiae, pag. 6, wo noch einige ähnliche Beispiele angeführt werden.

3) Vgl. Paroemiogr. App. II. 84; Phaedrus, Fabeln V, 5 und Plutarch, Tischgespräche S. 674 B.

*) Vgl. oben S. 224

5) Die Barbiere waren, wie noch heute, wegen ihrer Geschwätzigkeit und ihres sonstigen eigentümlichen Gebahrens bekannt und forderten so

27*

420 Sechstes Kapitel.

auch der lusor argutus mutus des Tiberius, welcher es zuerst erfand, Advokaten mimisch darzustellen1). Paegnia sind ferner die Darstellungen Noemons des Ethologen, Kleons des Mimaulen, des Heroldes Ischomachus, sowie Nymphodorus', der die Ein- wohner von Rhegium in einem Mimus wegen ihrer Feigheit ver- höhnte.

Auch Straton aus Tarent, der Dithyramben, und der Italiker Oenonas, der Kitharodien mimisch nachäffte, gehören hierher; desgleichen die ionischen Mimoden, die Hilaroden und Magoden, Lysioden und Simoden und zum grofsen Teil die Mimologen, Deikelikten und Phlyaken bis auf Sophron, Xenarch, Herondas und Theokrit; denn auch ihren Mimen fehlt noch das sichere Kennzeichen der Hypothese, der grofse Umfang und die drama- tische Verwickelung. Zum Paegnion gehört auch noch die Cinaedologie oder Ionikologie, die zwischen Mimologie und Mimodie mitten inne steht.

Es kommt hier nur darauf an, den unerschöpflichen Reich- tum des Altertums an mimischen Paegnien anzudeuten.

IL

Paegnion und Hypothese. Mimisches Scherzspiel und mimisches Schauspiel.

Hier haben wir nun einen Grundirrtum in der Auffassung des Mimus zu beseitigen, der sich schon jahrhundertelang forterbt.

Das Gespräch Plutarchs, in dem diese Einteilung in Paegnia und Hypothesen sich findet, ist von lauter Griechen geführt und noch dazu auf einem griechischen Gastmahl, in einer griechischen Stadt, in Chaeronea. Unmittelbar vorher ist von der griechischen Komödie als Unterhaltungsmittel bei Gast- mählern, von der Komödie des Aristophanes und Menander die

geradezu zur mimischen Nachahmung heraus. Vgl. hier die treffenden Be- merkungen Ludwig Friedländers a. a. 0. S. 294. >) Vgl. oben S. 152.

Paegnion und Hypothese. 421

Rede; es handelt sich aufserdem direkt um zeitgenössische, griechische Verhältnisse. Auch die Ausdrücke Hypothese und Paegnion deuten auf griechischen Ursprung. Da sollte man meinen, es handele sich auch um den griechischen Mimus. Aber solange diese Stelle besprochen wurde, ist immer geschlossen worden, dafs der römische Mimus gemeint sei1).

Dem kritischen Urteil Otto Jahns erschien das doch zu bunt; so soll denn Plutarch wenigstens bei den Paegnia an den griechischen Mimus gedacht haben*.). Das hat Grysar Jahn ge- glaubt, und so erklärt er (S. 244), der römische Bühnenmimus. die Hypothese, müsse streng von dem griechischen Volksmimus, dem Paegnion, geschieden und dürfe nicht etwa gar von ihm abgeleitet werden. „Es ist vielmehr der italische Bühnenmimus eine durchaus italische Erfindung, für welchen ich in Griechen- land kein entsprechendes Gegenstück auffinden kann" s).

Der Grund für diese wunderbaren Interpretationen ist eben das Dogma, dafs es ursprünglich keine griechische Hypothese gegeben hat. Der griechische Mimus hört mit Sophron und allenfalls mit Theokrit und Herondas auf, da ist die griechische,

]) Der recht sonderbare Beweis dafür findet sich, soweit ich sehe, zu- erst bei Ziegler, „De mimis Romanorum" S. 17, Anm. v. Weil in diesem Gespräch auch Bathyllus und Pylades, die römischen Pantomimen, erwähnt werden, könne hier nur der römische Mimus gemeint sein. Ebenso z. B- Munk, De fabulis Atellanis S. 20, not. 67.

a) Persius, Prolegomena S. LXXXV.

3) Vergleiche hier auch die kategorische Erklärung bei Führ, De mimis Graecorum S. IG: „Mimica ars, qualis apud Romanos exercebatur, iisdem fere primordiis orta est quibus Graeca, neque tarnen a Graeca originem duxit, sed Caesaris Avgustique tempore Romae primum culta, cum aliis haud paucis tum eo abhorret a Graeca, quod longas fabulas et jinem aliquem spectantes habet, nloxrft' Soauauxi}* xai nolvnQooainov hanc Romanorum artem mimicam vocat Plutarchus". Dieser Grundirrtum kehrt auch in der letzten Behandlung des griechischen Mimus durch Hertling wieder; vgl. Quaestiones mimicae S. 32: „Qua« xmo- dtaac et haec nalyvia quo spectent, satis facile perspici potest et iam perspectum est ab eis. qui statuerunt vno&iatnt mimos romanos, qui in scaena agebantur, naiyviois graecos notasse Plutarchum" . Doch hat das der guten Dissertation nicht geschadet, da sie nur das griechische Paegnion behandelt, und zwar mit Glück.

422 Sechstes Kapitel.

mimische Entwickelung wie mit einem Messer abgeschnitten; dort setzt der römische Mimus ein; der ist aber etwas ganz anderes, er ist eine vornehme Hypothese, nur den Namen hat er merkwürdigerweise mit dem griechischen Mimus gemein.

In der That, wenn man bedenkt, wie bildungs- und trieb- fähig die mimischen Keime sind, die wir bei den Griechen nach- weisen können, so ist eine Weiterbildung zur Hypothese an und für sich selbstverständlich. Zweifellos sind die Mimen Sophrons, die auf der höchsten Stufe der Ausbildung des Paegnions stehen, doch eben nur Paegnien *). Aber der Schritt von dem litterarisch ausgebildeten und schriftlich fixierten Paegnion zur Hypothese, die gleichfalls der schriftlichen Ausarbeitung, und sei es auch nur in Form eines Scenariums oder Canevas, bedarf, ist nicht mehr grofs.

Wenn nicht die geringste Nachricht von einer griechischen Hypothese vorhanden wäre, wäre das argumentum ex silentio wenig beweiskräftig. Aber es existieren genug Nachrichten. Wir haben schon oben die zahlreichen Zeugnisse für die mimische Hypothese in spätgriechischer und byzantinischer Zeit angeführt; der christologische Mimus, ob er nun ein Tauf- oder Kreuzigungs- mimus oder beides in eins war, war eine grofse, mimische Hypo- these. Wir haben aus Choricius mehraktige Theatermimen, also mimische Hypothesen kennen gelernt; alle Klagen und Anklagen des Chrysostomus und aller übrigen griechischen Kirchenväter richten sich gegen die grofse, mimische Komödie der Hellenen.

Doch diese Beweise helfen uns nichts; denn das spät- griechische, mimische Drama ist, wenn es existierte, nur ein Abklatsch des römischen. Wie dieses sich von Rom und Italien aus nach Germanien, Gallien und Spanien, so hat es sich in der späteren Kaiserzeit auch nach Griechenland und den Provinzen des Orients verbreitet und da natürlich unter der griechisch redenden Bevölkerung die griechische Sprache angenommen2).

l) Botzon erklärte, um die litterarische Ehre der Griechen zu retten, da er nun einmal unter dem Bann des Grundirrtums stand, Sophron für einen Hypothesendichter; vgl. Botzon, Quaestionum mimicarum specimen S. 32.

3) So Grysar a. a. 0. S. 261 und 262.

Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 423

m.

Menander und Philistion. attische und mimische Komödie.

Aber Philistion, der griechische Mimograph. der doch schon am Anfange des ersten Jahrhunderts nach Christus blähte! Auch er fiel der altererbten Theorie zum Opfer und wurde, da er ja in Rom lebte, zum Römer gemacht1).

Nun, darüber, dafs Philistion griechisch schrieb, ist ja heute glücklicherweise kein Wort mehr zu verlieren. Das beweisen schon, von allem andern abgesehen, die ZvyxgtGig MtvävÖQov xal Oihaziuvog, Menandri et Philistionis disticha Parisina. /Ya>pa» MevävÖQov xal @iliGzicovog, \ItvavdQov xai 0i).iatiwvog dia'/fxroc, die Studemund herausgab1).

*) Das hat C. Fr. Hermann (Disp. de script. illustribus p. 28) zu beweisen gesucht. Danach diskutiert Grysar die Frage ernstlich, und da er sie nicht recht zu entscheiden weif?, fahrt er vorsichtigerweise Philistion denn doch unter den lateinischen Mimographen auf. Aber Suidas nennt Philistion als griechischen Dichter: er setzt ihn, wenn auch falschlich, in die Zeit des Sokrates, in der es doch gewifs noch keine römischen Mimographen gab, und führt griechische Titel von ihm an. Die griechische Anthologie verherrlicht diesen griechischen Dichter. In der Anthologia Palatina findet sich das Epi- gramm auf Philistion wieder, das Suidas anfuhrt. Epiphanius, der nie Lateiner citiert, erwähnt Philistion wiederholt (vgl. unten S. 426, 427 u. 429 Anm. i Auch Africanus und Origenes kennen Philistion als Griechen. Die lateinischen Grammatiker, die ebenso wie die griechischen so gerne Ausdrücke der mimischen Sprache anführen, die so häufig Publilius Syrus und Decimus Laberius citieren. nennen nicht ein einziges Mal Philistion, obwohl er doch berühmter war als beide. Er schrieb eben griechisch. Und Ovid, der in seinem berühmten Dichterverzeichnis selbst die mittelmäfsigen Lateiner Revue passieren läfst, schweigt von ihm mit Recht, weil er ein Grieche ist. Es wäre Zeit, dafs Philistion endlich aus der römischen Literaturgeschichte von Teuffei -Schwabe 5, 254, 6, verschwände, wo er. wenn auch mit starken Zweifeln und Bedenken, angeführt wird.

*) Breslauer Lektionskatalog für das Sommersemester 1887, Menandri et Philistionis comparatio cum appendicibus edita. Auch hier hat sich wieder der Unstern gezeigt, der von jeher über dem Mimus schwebte. Nachdem Rigaltius die ZCyxQiois aus zwei Pariser Codices herausgegeben hatte, fügte Rutgers noch die disticha Parisina hinzu. Zugleich bemerkte er nach

424 Sechstes Kapitel.

Diese „Vergleichung" ist etwa im sechten Jahrhundert nach Christus entstanden8). Möglich, dafs sie nach älteren Vorbildern gearbeitet ist, aber auch diese würden nachchristlichen Jahr- hunderten angehören, lebte doch Philistion selbst im ersten Jahrhundert nach Christus. Was war für jene Zeiten Philemon? Die neue Komödie bezeichnete für jene Epochen einfach Menander. Das gilt schon für Plutarch. In den „Tischgesprächen" (VIII, 7) bezeichnet er die neue Komödie einfach durch Menanders Namen. Einen Vergleich zwischen Menander und Aristophanes, zwischen alter und neuer Komödie, mochte Plutarch wohl noch anstellen (vgl. Moralia ed. Dübner Bd. II, S 1039); aber einzelne Dichter der neueren Komödie mit einander zu vergleichen, dafür lag schon damals kein Interesse vor.

Nun hatte sich im Laufe der Jahrhunderte eine neue, ganz moderne Komödie gebildet, das war die mimische Hypothese. Ihr lief überall das Volk mit dem glühendsten Eifer zu. Es gab seit dem ersten Jahrhundert nach Christus kein gröfseres, litte- rarisches Interesse als das mimische, und der berühmteste und gefeiertste Mimograph war Philistion.

Rigaltius' Vorgange, dafs eine Anzahl Verse aus diesen Gnomen bei Stobaeus unter Philemons Namen vorkämen, und glaubte nun, es überhaupt mit einer 2.vyxQioig Mtvavdqov xal 4>iXri/iovos zu thun zu haben. Da war ein köst- licher Schatz für die fragmenta comicorum gewonnen, so viele Verse Phile- mons; diesen Fund hat sich fortan kein Herausgeber der fragmenta comico- rum, auch nicht Meineke, und schließlich auch nicht Kock entgehen lassen. Als dann weiter Boissonade aus einem andern Pariser Codex JY<J//a« MtvavSqov xal *t>ihaTltt)vos herausgab (Anecdota graeca I, p. 147— 152), änderte man auch hier sehr methodisch in *PiXr)uovos und husch, mit all den schönen Versen in den Philemon hinein (vergleiche Dübner in der Didot'schen Menander - und Philemon-Ausgabe S. 105 folg.; Meineke, Fragmenta comicorum Graecorum IV, pag. 335 folg.). Da sich nun aber der MevdvdQov xal <Pi\ioitu)vos diä- Xexrog in einem Florentiner Codex fand, so ist der handschriftliche Beweis für die Existenz eines Dichterwettstreits zwischen Menander und Philistion geradezu erdrückend. Nur die Unkenntnis der grofsen, mimischen Ent- wickelung und der außerordentlichen Bedeutung des Mimograpben Philistion hat Meineke wie seine Vorgänger und seinen Nachfolger Kock zu einer so bedauerlichen Vergewaltigung der Überlieferung geführt. >) Vgl. Studemund a. a. 0. S. 18.

Menander and Philistion. attische und mimische Komödie.

425

Begreifen wir Philistions Bedeutung recht. Unablässig wird sein Name in der profanen wie in der kirchlichen Litteratur ge- nannt, so bei:

1.

Philo

1.

Jahrhundert;

2.

Martial

1.

3.

Marc Aurel zweite Hälfte des 2.

Ji

4.

in der griechischen Anthologie

2.

(?)

5.

bei Alciphron

um 200;

6.

Africanus Anfang

des 3.

Jahrhundert;

7.

Origenes

, 3.

y>

8.

Epiphanius

4.

»

9.

Ammianus Marcellinus

4.

»

10.

Eusebius

4.

J>

11.

Hieronymus (zweimal) 4.

u. 5.

y>

12

Nilus Anfang

des 5.

-

13.

Marcus Diaconus

» 5.

■»

14.

Sidonius Apollinaris

5.

»

15.

Cassiodor

6.

m

16.

MevdvÖQOV xai OiliGTiwvoc; at'yxgiOtg

ca. 6.

»

17.

Menandri et Philistionis disticha

Parisina

. 6.

y>

18.

MtvävÖQOV xai (Jhhaiimvoc yväuat

. 6.

y>

19.

MiycivÖQOv xai (DiÄktziojvoc diä'/.txioc.

6.

20.

bei Choricius

6.

21.

in den Eclogen des Maximus

7.

22.

bei Georgios Monachos

9.

m

23.

Suidas

10.

»

24.

in der Melissa des Antonius

11.

25.

Tzetzes

12.

')•

x) Die Belegstellen für Philistion sammelte zuerst Fabricius, Bibl. Graec. II, p. 480 folg. (ed. Harles), dann Jacobs, Anthol. Graec. Bd. XII, 8. 165folg., dann Otto Jahn, Persius S. XC, dann Bernhardy. Suidas II3, S. 1475 folg., und diese gesamte im Laufe der Jahrhunderte vermehrte Stellensammlung findet sich schliefslich vollständig bei Grysar a. a. O. S. 302 folg. Es sind zwölf Stellen. Ich führe sie hier an und füge noch

426 Sechstes Kapitel.

Wenn der Mimus nach der Meinung der Alten überhaupt ein Trostmittel gegen die Trübsal des Lebens ist, dann ist es

elf weitere hinzu; aber es ist nicht unmöglich, dafs mir trotz jahrelangen, methodischen Suchens eine oder die andere Stelle doch noch entgangen ist:

I. Suidas: tpiXiortoav, ügovOaevg, 17 (6g 4>CX(ov 2aq6iav6g, xco/biixog. rsXtvr^ 6i Inl ZatxgäTovg. og tyoaxps xtOjutp6(ag ßtoXoyixäg. reXevrfjc 6k ino yiXonog antigov. 6od/*ara 6k avrov MifioiprjtfuOTat. ovrog loxiv 6 ygaxpag tov 'PiXöytXwv r\yovv rb ßtßXCov rb (pego/uevov tlg rov Kovgia. Nixatvg 6k fiaXXov naga näoiv a6trat, wg fiagrvgu to Iniygafifia'

'O tov noXvarivaxrov av&gconwv ßiov

ytXairt xtgaaag Nixatvg 4>iXiOT(fov. Die Fortsetzung Anth. Pal. VII, 155 siehe oben S. 203. Dafs bei Philo Philistions Erwähnung geschah, ist um so interessanter, als Philo auch sonst des Mimus gedenkt, vgl. in Flaccum §§ 5; 6; 9; 10.

II. Martial. Epigr. II, 41, 15:

mimos ridiculi Philistionis.

III. M. Antoninus, elg eavrbv VI, 47; siehe oben S. 56.

IV. Cassiodor IV, ep. 51 ; siehe oben S. 144.

V. Ammianus Marcellinus XXX, 4, 21: et iudices patiuntur interdum doctos ex Philistionis aut Aesopi cavillationibus quam ex Aristidis illius iusti vel Catonis disciplina productos: qui aere gravi mercati publicas potestates ut creditores molesti opes cuiusque modi fortunae rimantes, alienis gremiis excutiunt praedas.

VI. Sidonius Apollinaris, Epistularum lib. II, 2, 6 : non hie per nudam pictorum corporum pulchritudinem turpis prostat historia, quae sicut ornat artem, sie devenustat artificem. absunt ridiculi vestitu et vultibus histriones pigmentis multicoloribus Philistionis supellectilem mentientes. Grysar schreibt: adsuntl; das könnte ein Druckfehler sein, doch findet er sich schon bei Ziegler, dem Grysar überall so treulich folgt; leider hat er aber Ziegler nicht einmal ganz richtig ausgeschrieben, statt vultibus schreibt er das sinnlose vestibus in- folge des vorausgehenden vestitu.

VII. Epiphanius adv. haereses lib. I, haeresis 26, 1 (ed. Dindorf, vol. II, S. 39): Kai ol "EXXrjveg yäg ifaot ttjv dtvxaXtorvog yvvalxa IJv^gav xaXfto&ai. Eha tt\v ahCav i>7ioT(deviat ovroi oi rov 4>iXiaritüvog rjfiiv aii&tg ngoaytgö- fitvoi, ort noXXaxig ßovXofiivt) fiera rov Neos Iv rrj xißfaitp yevtodat, ov awe^o- gslro, rov äggovrog, (paol, rov rov xoOfiov xrCaavxog ßovXofis'vov avrrjv änoXfaai Ovv rolg liXXoig anaatv tv T(p xataxXvO[j.(ji.

VIII. Epiphanius adv. haereses lib. I, haeresis 33, 8 (ed. Dindorf, vol. II, S. 206 u. 207): r(g 6k rovrcov rwv grifinrcov xal tjj? tov ybr\Tog rovrov xal rfg (Sv ovv avTäi dvi^trai (pgevoßXaßetag, üroXsfiaCov ri <f>r\fii xal twv ä/u</>' avrov, ei; toaovrov xvxiävrwv xal xarrvovrwv nXäa^iara; ovxe yao rwv naXaiüv rga- yu)6o7ioKov rig, ovrt ol xa&tgrg /nijurjXol rov roonov, oi n(ol {PtXiar(wva Xiyot xal Aioyivri, tov amara ygdxpavra, P/ ol aXXoi navrtg ol rovg pv&ovg ävayt-

Menander und Philistion, attische nnd mimische Komödie. 427

besonders der Mimus Philistions. Denn kein Mimograph ver- steht so das laute, lustige, mimische Lachen zu erwecken wie

ygaifÖTtg xai ga-üotärpantg, tooovtov xpevdog TjSvrrfirioav ixrvTiüaai tag ovioi lolurjOÜs (fioöutroi xutc'i Ttjg kaxnwv farfi dura iavroig xajioxivaoay, xai rbv yovv Ttöv 7iei9op£v(ov avToig dv&gwnav ttg uuodg [rjTrtaiig ntgtfßakov xai ytnakoyCag dnigdtTov; x. r. k.

IX. Epiphanias adv. haereses lib. II, haeres. 66, IS (ed. Dindorf, yoI. III, S. 42 u. 43): Ta 6k akka ilntiv n'ff oix av ixytkdofttv, «ff täya toi 4>iliOTi(üios (hat ürayxaiörtga ij ra lijff tovtov uiuokoyiug; 'Sluotfooov yag uv&o- notwv dtddoxa ßaaraCovra Tt]V yrjv näaav, xai ö*ta htöv, (frjoi, Tpwixon« xauvov- ioff Tot wuoi utTaifiytiv (ig tov (TtQov wuov. xai oi'Tft) Tovff atiOfiovs ytv4o&at. El ö*k rp> tovio, xaiä tfvoiv rjv to ngayua, xai ovxitt rv &to~7t£oiov. Ekfyxovot dk tov yörpa jov 2mt fjgog köyoi, og ifftf Ftviolrt ayadoi wff ö Uarijg vftvv ö orptmoff' oti avai&lu tov rtkiov aiiov ini dixaiovg xai ddixotg, xai ßgtylt avrov tov itiov tni novrjgovg xai dya&ovg' xai to* "Eaovral ououoi xara TÖnor xai Xiuoi xai koiuoi. Ei dk ix (fiotwg, >} xaia avrr,Stiav oi oitainoi iyivovro, nokkdxig ovv, ort attouoi xara jfwoav ylvovtai , ow4ßn dt xai in' ivianov okoTtkij xa& ' ixäarrjv vvxra nokkdxig oaktvto9at ti\v yrtv. 'Agd y ovv Toavuaito&fvrarv TtSv tov touoyöoov wutiv dtffgtnottag aytrai ivdfkty^ notovfttvog tov adkov; Kai t($ äi/ffrai tijc Toutvrr,g ucoookoyiag ,

X. Hieronymus contra Rufinnm 2, 20: siehe oben S. 155.

XI. Hieronymns ad Eusebiura chron. Ol. CXCVIa. 2: Pküistio mi'mo- praphus, natione Magntsianus, Romae elarus habetur.

XII. Sextns Iulins Africanus, De historia Snsannae epistnla ad Origenem (Migne a. a. 0. Bd. 11, S. 41—45): XaTgt, xvgU f*ov, xai i<ii, xai närrtov TiuiMTart 'ilgCytrtg, nt-git Atfgixavov. "Ort tov ttgbv inoiov ngbg t6» *Ayvü- fiova dtäloyov, ifJVTjO&rjg Ttjg iv vtoTr/Tt nooiftjniag Tov ^/wiiji.- xai oiff ingt- ■ntv, Tjanaoiiutjv to't«- 9avud£tu 6i, ntög fla&( at to u(oog tov ßißliov tovto xtßötjlov 6v tj yag toi THQtxoni] iclttj, xagi'tv ftev allwg ovyygauua, rftorfoi- xov o*( xai ntJTlaopfvov 6*tixvvTal tc xai xaTa noilovg anfMyxnai rgönovg' Tr}ff yao Zioadi-v^g dnodavtir xfxikti auflag, IIvtvu«Ti lr)<f&fig 6 77ßo<f »j'tijs i£fßoT)aiv, tog äo*(xmg rt änöyaotg t/ot. IIoütov oi-v ot« imfl akkta tqÖitu TTQOffrpivfi, ögauaat xai örttgoig, öid navrbg xaigov' xai ayydov innfavtiag Tiy/üvii, etil' ovx ano7tvo(a ngoyrjTtxrj' &if tra utTa &avuao(tog ntog oiitag ä7io<f&£y!;ao~9ai xai nagu3o$öiuTä Trug avioi; uniliyyn tag oiSt <f>iXiarfmv o fiiuog (Grysar schreibt 'Ptkiorftovog jjiuog)- ov y-äg it-rjgxit r, o*tä nov JIviv- fiarog ininlri^ig, dkl' ISüt ötaaryoag (xdrigov, igtoTa, ov avT^v 9idaano uo/jf»- utvrp. 'ilg o*i 6 fth vtio ngtvov iifaaxtv, dnoxontrai ngt'ouv airöv to» ayyikoy iw 6i irxb a%lvov figrjxoTi. ayto&rivat nagankijOttog dnfiktt.

XIII. Origenes, Epistola ad Africanum de historia Snsannae eil (Migne a. a. 0. Bd. 11, S. 73 76): ,lEntna uitü to &av/uaoitog nwg ovTtog . . . dnfikfi'- "ü.ga yag nagaßdkktiv akko tovto» nagankrjatov ilgr^trov ir t>J to/tjj TtSv

428 Sechstes Kapitel.

Philistion, der an übermäfsigem Gelächter starb, den Mar- tial den lächerlichen tauft. Das mimische Lachen hat aber

BaOiXeuov, ontg xal ainbg ofioXoyrjcretg iyiüg avaytygäif&ai, rcjj >PiXiOTt(ovog [lifAcp. "Exsi °*£ ovTtog 7) änb idiv BaoiXeicHv Xit-ig- Es folgt dann die aus Könige III, 3 bekannte Geschichte. Von zwei Weibern, die zusammen ge- boren haben, nimmt die eine der andern, während diese schläft, ihren Sohn und legt ihr dafür ihr totes Kind in den Arm. Salomon entscheidet den Streit mit dem sprichwörtlichen, salomonischen Urteil. . . . „Kai r\xovae näg 'logarjX t'o xinfia, o Hxgivsv 6 ßaaiXtvg, xal iipoßrj&rjOav anb ngoaiönov tov ßaatXtwg, oTi'itiiSov, oti (pgovTjOig Seov iv avrqi tov noieiv öixaiw/xa." Einig yag XQ*I wcol twv <f,fgo[i£v(ov iv Talg *Exx\r\aiaig anoifaivta&ai /XevaOTixtug, fiäXXov itjV negl xtäv dvo iiaigäv iatoglav xtjj <PiXi0Ti(DVog ul/uo) rj ti\v nagä %r\g os/uvrjg 2coaäwrjg ofioitüaat ixgrjv.

XIV. Choricius § XVIII, vgl. oben S. 220 u. 221. XV. Nilus; vgl. oben S. 204, Anm. 1.

XVI. Apophthegmatum collectio Vindobonensis (Wachsmuth, »Festschrift zur Begrüfsung der XXXVI. Philologenversammlung" Freiburg 1882, S. 24) Nr. 130: <PiXiait<i)v 6 rtäv xca/icoSiuiv noitjTrfg axovoug, oti, Ti&vrjxt Mivavögog, $(p?)- „oiuoi, ort äncüXe /uov ttjv äxovTjv" (Verwechselung mit Philemon).

XVII. Apophthegm. coli. Vindobon. Nr. 131: 4>iXiar(oiv iomT\&s(g, ix twv argoyyvXtov xal fiaxgöiv nolä ilaiv äcHfaXij, ?(/»?• „tu vewXxov/ueva".

XVIII. Anecdota graeca ed. Boissonade II, S. 468: *PiXioiio>v 6 (fnXöaoipog tQU)TT)&etg, „näg äga ixir/Oa tjjv tov Xoyov Svva/uiv" $(fT}' „oidivu %govov nagiXimov Trtg ävayvwotiog".

XIX. Marcus Diaconus, Vita Porphyrii episcopi Gazensis (Ausgabe des Bonner Seminars) c. 86: bfioXoyovaiv dh xal Xgiorov, 6oxr\ast yag avTov Xiyovatv ivav^gionrjaai xal avTol yag öoxrjOti XtyovTat XgiOtiavoi. yag y(X(OTog xal dvöifri/xiag al-ta nagaXifinävw, tva fit] nXtjgwato Tag äxoag T(Sv lvTvy%avövT(ov ij/ovg ßugvTaTuv xal TigaToXoytag. ra yag 4>i Xiaxliovog tov Gxr\vixov xal 'Hoiöö ov xal aXXtav Xiyofiivfov (piXoo6<p(ov avfi- fil^avTeg Tolg tcöv XgtdT laväv tt\v iavTÖiv algsaiv ovvtOT rjaavT o. dianig yag £(oygu<pog ix Stayögtov xoto^T0)V (xü-ir noitöv ctnoTtXii Soxr^aa av&gconov t] xhjgtov rj aXXo Tt ngbg änaTtjV tmv ftstugovvTütv, tV« «föfjj ToTg fih> fitogolg xal ävorjroig aXrjftij Tvyyävttv, Totg 6i vovv h'xovoi axia xal dnaTt} xal inlvoia av&gtonCvT], ovttog xal ol MavixaToi ix äiaifögwv Soy/uaTiov ävTXrjaarreg antTiXeoav ttjv aiiTtov xaxodo%(av, fxaXXov St ix äiaifögav kgntTwv xbv tov avvayayövTtg xal (j.ll-aVTtg 9avaTT](p6gov (fäg/uaxov xaTfOXivacfav ngbg a\a(gtOtv av&g(on Ivtov \pvx<öv.

XX. Georgios Monachos. Chronicon 206 (Migne, Patr. gr. Bd. 110, S. 337 340): jdagüog'b ]Agaä(iov ?nj $', ov *AXfl;avdgog avtXwv, wg $ifi\v, xa&ttXe tt{v ßuoiXtiav ITfgawv, Jtagxtoaoav freoiv Of*£'. 'Ey ' ov xal IlXartov xal ""AgiaTOTiX-rig ol tftXöaotfoi rjx/ua&v, xal Zntvainnog xal StvoxgaTrjg xal

Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 429

zugleich einen ethischen Zweck; es straft die menschlichen Laster und macht verborgene Sünde offenbar. Gerade in

<Pi).taiia>v (Evatßtios). Das Lemma ist falsch. Bei Eusebius ist hier natür- lich keine Rede von Philistion. Hieronymus giebt ja Philistions Zeit ganz richtig an. Gemeint kann nur der Mimograph Thilistion sein; einen be- rühmten Philosophen Namens Philistion giebt es nicht, dagegen kam in der byzantinischen Aera der Ruhm des Mimographen dem der größten Philo- sophen gleich, und er galt selbst als Philosoph, wie auch die Stelle aus Diaconus beweist. Als Rivale Menanders aber wurde Philistion von den Byzantinern auch als dessen Zeitgenosse betrachtet, so z. B. auch von Cho- ricius (vgl. oben S. 220). Darum kann Georgios Monachos ihn auch als Zeitgenossen des Plato, Aristoteles, Speusippos und Xenokrates ansehen. Schon Scaliger hat sich vergeblich bemüht, den Irrtum in der seltsamen chronologischen Bestimmung bei Suidas: xtltvxif dt Ini Zuxgaxovg, den er wohl bemerkte, aufzuklären. Wir besitzen jetzt endlich das Material dazu. Suidas hat die Chronik des Georgios Monachos sehr stark benutzt, mehr als irgend eine andere historische Quelle (vgl. Krumbacher, Byz. Littgesch. ', S. 264). So ist aus der Aufzählung Etvoxgüir)s <Pilurr((ov bei ihm durch Verderbung des Xenokrates in Sokrates bei Suidas das thöricbte ini Zwxgdiovg entstanden. Die Bemerkungen Bernhardys zu dieser Stelle sind gänzlich verfehlt.

XXI. Epiphanius adv. haereses lih. I, haeres 21, 3 (ed. Dindorf, vol. II, S. 9): alla xai 'A&rjväv näliv titv aünj» lltyt ir\v nag' aiitöy erwoiav xalovfiivriv, xgüutvcx, Si)&tv 6 nlävog raig rov ayCov anoarÖÄov üavkov ytovali, utranoitäv T( ii}v akrftttav tlg ib aviov xptvöog, „tvduanabt ibv &u>gaxa ifjg niaxtayg, xai rijf ntgixtifalaiay rov Otüiijgiov, xai xyrjuiSag xai fiä^aigav xai &vgt6v"- (Ep. ad Ephes. 6, 13 sqq.) narret lavia ini rrjg rov 'Ptbaiiwio; utuoloyi'ag 6 änattdtv, ro vnb rov änoaxölov slgrjut'va 6ia aitgtbv loyiauc* xai niaxiv ayvi); avafTgo<f,ijg xai Svvauiv »tiov löyov xai Inovoavlov, tlg Xltvt]V koinbv xai ovöiv htgov fitTaaig£<f<ov.

XXII. Tzetzes, vgl. oben S. 79, Anm. 1.

XXIII. Alciphron epist. III, 55, lO(Hercher): „«Sott« ^fuuv tüv nagaalxojv ouö*tig tu loyog- ib yag &{apa xai tijv &vurtdiav nagt^tr oidtig rar tli rovto xexXrjut'rcjv, xai'zot yt xai <Poißnx6rjg 6 xi&ag^bg xai utuot ytloitov ol ntgi Zavvvgitova xai 4>iliaruxörjv ovx antltinovio. akla rtäna tfoo'da xai olx afröxgea, r,vöoxiuei öt povog b iüv ootfiöv Xijgog. Diese Stelle ist von den Herausgebern, von Bergler. Seiler, Meineke, da ihnen die erforderlichen, mimischen Kenntnisse fehlten, durchaus mißverstanden worden. Meineke änderte das Zavvvgiuva der Codices in Zovoagfwva, von Bergler wurde ntgi 4>ihoTiaöriv in ntgi 4>tUorCiuva geändert; Bergk änderte gar nicht übel in 'PiUajiSrlv. Die Sache verhält sich so: Die Parasiten ärgern sich, dafs der burleske Cyniker ihnen und allen andern, die sonst zum Vergnügen bei den

430 Sechstes Kapitel.

dieser Kunst mufs die philistionische Biologie und Ethologie sich glänzend bewährt haben. Dafür ein Beispiel aus Africanus. Er tadelt den grofsen Origenes, der die biblische Geschichte von der keuschen Susanna für echt hält. Die Art, wie Daniel die beiden lüsternen Greise, welche Susanne fälschlich des Ehebruchs beschuldigen, überführt, zeigt nicht den heiligen und prophetischen Geist, sondern den weltlich -burlesken des Mimo- graphen Philistion. So wie Daniel die beiden Schurken jeden einzeln vernimmt und durch die Aussage des einen, „unter dem Eichenbaum", des andern „unter dem Mastixbaumu sei der Ehe- bruch geschehen, beide ihrer Bosheit überführt, so lustig und schlagend pflegt auch Philistion verborgene Sünden und Laster aufzudecken. Also fort mit diesem Mimus aus der Bibel. Ori- genes meint dagegen, dann sei auch der Rechtsstreit der beiden Mütter vor Salomo und des Königs salomonisches Urteil ein philistionischer Mimus l). Gewifs fallen diese beiden Geschichten

Gastmählern dienen, den Rang abläuft; sogar die /ulfioi yeXoiwv ol negl Zavw- atojva xal <PikiOTuidr}v bleiben unberücksichtigt. Da Alciphron Mimen nennt, will er nach dem mimischen Gesetze, die Eigennamen zu nennen, sie nicht unbenannt lassen, und so nennt er denn Sannyrio und Philistiades. Der Hauptspafsmacher im Mimus ist, wie wir von Cicero wissen, der Sannio, griechisch Zävvoqos oder Zavvvqog'} (Kaibel a. a. 0. S 188.), da konnte man wohl für den Mimen den bezeichnenden Namen ZavvuQiwv bilden ; besser wäre 2avvoQ(iov, und das hat auch ursprünglich wohl im Text gestanden. Da ist also der eine Mime nach dem wichtigsten, mimischen Typus genannt, der andere nach dem wichtigsten Mimographen, mit dessen Namen später über- haupt Mimus und Mimen gekennzeichnet werden, 4>ifoaTtädr\s. Es ist aber kein Grund vorhanden, in 4>ifoOT{<ov(x zu ändern, obwohl diese Konjektur beweist, dafs die älteren Philologen gesehen haben, dafs es sich hier um Philistion handelt, wenn sie auch nicht recht wie und wo begriffen. Meineke (Fragm. com. attic. 1. 1, p. 25) änderte Zavwgitava in ZovoaQfova. Was haben die Mimen mit Susarion zu thun? Sie haben allerdings im letzten Grunde mancherlei mit ihm zu schaffen und mit den Anfängen der Komödie. Aber davon wufste Alciphron ungefähr soviel, wie Meineke seiner Zeit etwa wissen konnte. Nicht mit Susarion, sondern mit Sannio und Sannoros, der lustigen Figur im Mimus, brachte Alciphron die Mimen in Verbindung. Das weiter zu beweisen, wäre jedes Wort zuviel.

l) In der That ist dieses Urteil der Gegenstand eines Dramas, und zwar eines chinesischen, betitelt „Der Kreidekreis". Dort werden die beiden

Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 431

mit ihrer tiefen, aber etwas realistischen und ironischen An- schauung vom menschlichen Leben ein wenig aus der sonstigen geistlichen und gottseligen Auffassung der heiligen Schrift heraus. Aber sie sind mit Recht vor andern biblischen Geschichten be- kannt und berühmt1), und dafs gerade sie an philistionische Mimen erinnern, läfst die philistionische Biologie im besten Lichte erscheinen.

Am schlechtesten ist auf Philistion unter den Kirchenvätern noch Epiphanius zu sprechen. Der schärfste Pfeil, den er auf die Häretiker abschiefst, ist, ihre Irrlehren erinnern an die Mimen Philistions. Besonders die kosmogonischen Mythen der Gnostiker von der Schöpfung und Erhaltung der Welt, von der Sintflut und dergleichen sind nach ihm nicht besser als die mytho- logischen Mimen Philistions, besonders „Deukalion und Pyrrha". Speziell empört er sich über die Identifizierung christlicher Gottesbegriffe mit heidnischen Göttern, so mit Athene. Ähn- liches kann man bei Philistion finden, doch wohl im mytho- logischen Mimus. Marcus Diaconus meint, die Gnostiker hätten ihre Irrlehre aus christlichen Elementen und hellenisch-heidnischen Lehren gemischt, die sie bei Philistion, Hesiod und anderen Philosophen" fanden2). Hier ist doch wohl an Hesiods Theogonie gedacht, und für Philistion ist wieder durchaus an mythologische Mimen zu denken. Wir können hier also wieder die Zweiteilung in die biologische uud mythologische Richtung, die wir für den gesamten Mimus konstatiert haben, auch für den Hauptdichter der mimischen Hypothese feststellen.

streitenden Weiber von dem Richter die eine in den Kreis, die andere draufsen hingestellt, und die den Knaben am leichtesten zu sich zieht, soll ihn behalten. Natürlich wird das Kind der Mutter, die um sein Leben bangt, leicht von der andern entrissen; aber dieser wird das Kind sofort genommen und der rechtmäfsigen Mutter zugestellt. Vgl. Klein, Geschichte des Dramas Bd. III, S. 460 folg.

M So findet sich z. B. die Erzählung von Susanne auch in „Tausend und eine Nacht", Siebenhundert und einundfünfzigste Nacht unter dem Titel nDie tugendhafte Frau". Selbst dramatisch ist dieser Stoff wieder- holt gestaltet worden und schliefslich ward daraus ein englisches Puppenspiel. Vgl. Magnin, Histoire des Marionettes S. 238.

a) Vgl. oben S. 428, Anm. Nr. XIX.

432 Sechstes Kapitel.

Die Kirchenväter hatten auch allen Grund, sich gerade über Philistion zu entrüsten. Erfrechten sich doch damals sogar die Sophisten, wie das Beispiel des Nikotychos zeigt, die Mimen Philistions bei Tische vorzulesen und gar auf dem Marktplatze vor versammeltem Volke vorzutragen. Wenn der Asket Nilus dafür dem Sophisten das Christentum abspricht, so thut er es so sehr steht er selbst unter dem Banne Philistions mit Worten aus einem philistionischen Mimus: Man kennt dich Negromant1). Die Kirchenväter hassen Philistion so sehr und erwähnen ihn so oft, weil er eben so ungeheure Geltung hatte.

Aber Eusebius und Hieronymus nahmen ihn ruhig in die Weltchronik auf, und Hieronymus steht nicht an, seinen „sermo elegans" zu loben. Allmählich söhnte sich die Kirche mit dem Mimus aus"), und so paradieren denn schliefslich in der grofsen, byzantinischen Sentenzensammlung, dem Parallelenbuche oder besser in den späteren, erweiterten Bearbeitungen desselben 8), friedlich neben den Aussprüchen eines Salomo und Paulus auch Sentenzen Philistions. Er galt eben durchaus als einer der gröfsten hellenischen Dichter und Denker. Dafür hielt ihn schon Kaiser Marcus4). Bei Epiphanius wird er in eine Linie mit den alten Tragöden gestellt8). Seit Philistions Zeit findet sich der Vergleich zwischen Mimus und Philosophie häufig; nicht selten allerdings zu dem Zwecke, die Philosophie zu erniedrigen6).

1) Vgl. oben S. 204, Anna. 1 . oiix Zla&eg (paQpaxä. Wir merken uns hier also die Titel zweier philistionischer Mimen, die ungefähr lauteten: devxaklwv xul IIv(i§a ich erinnere zugleich an Epicharms Ilv^a xai TTqo- fiäd-evg und <4>a(>[*ux6s.

2) Vgl. oben S. 134 Anra. 2.

8) Ich verweise hier auf Holl, „Die Sacra Parallela des Johannes Dama- scenus", Texte und Untersuchungen, Neue Folge, Bd. I, 1897, S. 1—392. *) Vgl. oben S. 56.

5) Nun ist ja Epiphanius nichts weniger als ein klassischer Zeuge. Ich verweise auf das wegwerfende Urteil, das in dieser Hinsicht über ihn Hermann Diels, Doxographi S. 176, gefällt und begründet hat. Der Mimus Pbilistions war Epiphanius freilich wohl etwas bekannter wie die alten, hellenischen Philosophen.

6) So verweist Minucius Felix Pythagoras' Lehre von der Seelenwande-

Menander and Philistion, attische und mimische Komödie. 433

Philistion ist nach Choricius der Vollender der mimischen Kunst; neben ihm sind die grofsen, attischen Komöden einfach fiTfioi arzixoi. Ebenso urteilt Cassiodor1). Der Name Philistion bezeichnet fortan den Mimus und die gesamte mimische Kunst. Die Mimen und Mimographen sind 0* ntqi Odiatiwva. Alciphron giebt nach Philistion einem Mimen den typischen Namen Philistiades 2), und Sidonius Apollinaris nennt die Mimen „histriones Philistionis supellectilem mentientes".

So tritt in der Person Philistions die mimische Komödie der attischen gegenüber; hie Menander, hie Philistion J): zuver- sichtlich stellte man die mimische Kunst völlig auf gleiche Stufe mit der alten, attischen. So beginnt das Gespräch zwischen Menander und Philistion mit den Worten: „Dem edelen Philistion

rang in den Mimus; Octavius 34, 7: „addunt (FytAagoras primus et praecipuus Plato) istis et illa ad retorquendam veritatem, in pecudes, aves, beluas hominum animas redire. non phüosophi sani studio, sed mimi convicio digna ista sententia est". Ähnlich äufsert sich Lactanz. divin. Inst. VII, 12,30 und 31: „cetera Epicuraei dogmatis argumenta Pythagorae repugnant disserenti migrare animas de corporibus vetustate ac morte confectis et insinuare se novis ac recens natis et eas dem semper renasci modo in homine modo in peeude modo in bestia modo in volucrr et hoc ratione inmortales esse, quod saepe variorum ac dissimilium corporum domi- cilia commutent. quae sententia deliri hominis quoniam ridicula et mimo dignior quam scoJa fuit, ne refeüi quidem serio debuit: quod qui facit, videtur tereri ne quis id credat." Gry-ar, der sich hier wie überall höchst unmethodisch nur um sein dürftiges Excerpt, nicht um den Zusammenhang des Ganren ge- kümmert hat, meint, durch das deliri getäuscht, Lactanz habe hier an die „ganz dummen Einfalle'- der Mimen, d. h. die „mimicae ineptiae" gedacht.

l) Vgl oben S. 144 und S. 221.

8) Vgl. oben S. 426, Anm. Nr. VIII und S. 429, Anm. Nr. XXIII.

s) So ahmen auch die spätgriechischen Sophisten nicht nur Attikern nach, sondern vergleichen sich auch gerne mit ihnen. Wie zehn attische Redner in den Kanon aufgenommen waren, so gab es auch zehn kanonische Sophisten. Selbst die armseligsten Sophisten liebten es, einen Vergleich zwischen sich und Demosthenes anzustellen. „Begegnet dir jemand unter- wegs, rät Lukian ('Pntöooiv didäaxalog cap. 21) dem jungen Sophisten, so sprich Wunderdinge von dem, was du geleistet und lobe dich selbst, solltest du gleich noch so lästig dadurch werden „Was hat der Päanier mit mir zu schaffen?" oder wenn du noch bescheiden sein willst, „Mit einem einzigen unter den Alten könnte ich wohl noch zu kämpfen haben-.-

Reich, Mimus.

28

434 Sechstes Kapitel.

entbiete ich, Menander, meinen schönsten Grufstt. Philistion er- widert das dann gleichermafsen. Wie zwei gleichberechtigte Potentaten der Dichtkunst verkehren die beiden mit einander. Und ein gewisses Urteil hatten die gebildeten Kreise der damaligen Zeit immerhin; denn in den ersten nachchrist- lichen Jahrhunderten, in denen die avyxgiaeig entstanden, hatte man noch Menanders Komödien wie Philistions Mimen, und die letzteren zum wenigsten sah man noch auf dem Theater.

Philistion wurde sogar mit dem Titel eines Philosophen geehrt. Bei Marcus Diaconus wird er zusammen mit Hesiod und den anderen sogenannten Philosophen aufgeführt, und in den Anecdota bei Boissonade heifst es direkt: Philistion, der Philosoph. Ja, er erscheint nicht nur als einer unter den vielen Philo- sophen, sondern in der Weltchronik des Georgios Monachos, welche die ganze Weltgeschichte bis zum Tode des Kaisers Theo- philos, 842 n. Chr., umfafst, wird er, wie wir sahen, unter den Vertretern der Philosophie neben Aristoteles und Plato, Speu- sipp und Xenokrates genannt (S. 428, Anmerkung Nr. XX)1). Von ihm glaubte man später alle Lebensweisheit lernen zu können; selbst die Frage, wie man Beredsamkeit erwürbe, wird ihm gestellt und von ihm beantwortet2). Wir sahen, dafs der Mimus von Sophrons Zeiten und noch von früher her mit populärer Lebensweisheit, mit Sprichwörtern, moralischen Sen- tenzen und schönen Sprüchen erfüllt war. Der grofse Meister der mimischen Hypothese wird nicht weniger durch seine Spruch- weisheit geglänzt haben wie bei den Römern Publilius Syrus, und seine Sentenzen wird man nicht weniger gesammelt haben wie die des Lateiners. Nun war ebenso Menander ob seiner schönen Sprüche geschätzt, und auch von ihm gab es Sentenzen-

*) Über diese Auffassung des Philistion und die Stellung des Mimus zur Philosophie und den Philosophen überhaupt hat Norden schon vor Jahren sehr bedeutsame Bemerkungen gegeben in der Abhandlung „Scholia in Gregorii Nazianzeni orationes", Hermes 27, 1892, S. 626 folg. Allerdings war ihm damals die Cardinaistelle bei Georgius Monachus noch nicht zur Hand.

2) Vgl. oben S. 428, Anm. Nr. XVIII.

Menander und Philistion, attische und mimische Komödie. 435

Sammlungen, da brauchte man nur die gleichen Rubriken dieser Sammlungen zusammenzuschreiben, so war auf höchst bequeme Weise ein Vergleich hergestellt.

Aber freilich, weil diese Weisheit so billig war, dafs sie jeder Schulmeister, ja, jeder Schüler handhaben konnte, scheint dieses an und für sich höchst interessante Thema unablässig in den Schulen variiert zu sein, und wir haben nicht gerade die gute, alte oi'yxQtaic., sondern späte, stümper- und schülerhafte hahmungen und Variationen zu diesem Thema. Dennoch zeigen viele von diesen Sprüchen eine so gesunde und vortreff- liche Lebensauffassung und sind im grofsen und ganzen auch in Form und Ausdruck so korrekt, dafs hier wohl noch wirklich ein philistionischer Kern vorhanden sein mag').

]) So urteilte schon Wachsmuth (Studien zu den griechischen Florilegien S. 124 folg.) gegenüber Meineke. Dafs vereinzelte Sentenzen Philistions auch unter andern Autorennamen sich finden, kommt auch bei Sentenzensamm- lungen anderer Dichter vor und ist kein Grund, alle Verse zu verdächtigen oder gar Philemon zuzuweisen. Im einzelnen hier nun das philistionische Gut zu sondern und zu scheiden, wird mit zu den Aufgaben gehören, welche die Sammlung eines Corpus mimographorum graecorum et latinorum stellen würde. Vor allem aber müfsten zu diesem Zweck erst die Miscellancodices nach neuen Sentenzen Menanders und Philistions durchforscht werden, was ein so guter Kenner wie Studemund für durchaus au- khtsvoll halt. Ich will hier auch an die Notiz bei Kock a. a. 0. III, Praef. p. VI, Anm. 1, erinnern: Ceterum Athenis, ut per litteras cerliorem me fecit Spir. Lambros vir clarissimus, in aedibus ministerii institutionü publica« codex exstat miscellaneus, bombycinvs saeeuii Xllll, quo praeter alia guaedam continentur IlaQcttvfaftc MaavJoov xara atoi^ttov (versus 413) et MuüiÖQ(> /.. i <i>i/.t IT/m ■■: yvtJuai xai Jiultxrot {versus cir- citer 310).

Aus der ~ "•';•*. «o«; mögen hier ein paar bessere Sentenzen Platz finden: v. 29—34: Ilooötoiiv dtl rep ntn/t' dninria'

xuv aoifhc vnaQ/y xuv X.£yy 16 avfiiffyor,

doxti (jodtttv tote dxovovoiv xaxcü;.

TiSv yäg ntvr,Tfoy nt'ariv oix (%ti XÖyof

dvi)g Sf nt.ovKüV, xuv uyav ip(idr]yoQr},

Soxu « (foa^ttv loig dxoüovo' dayaktc. Vers 30 34 hat Nauk die Ehre angethan, sie unter die fragmenta adespota der Tragiker aufzunehmen; fr. 92. v. 149—152: Ov dti nu&üv at, /Ltrjfiuuov axfxlitj yvyiiv

ov ydo ivvrjOTj dtatfvyiiv, o Of Sti nufft n .

28*

436 Sechstes Kapitel.

Eins jedenfalls lehrt uns dieser brennende Eifer, diese hohe Bewunderung so vieler Jahrhunderte für Philistion, die Unver- wüstlichkeit, mit der seine Stücke sich auf dem Theater be- haupteten1), dafs wir hier einen Grofsen im Reiche der Poesie vor uns haben. Es ist Zeit, dafs endlich das Unrecht, das ihm bisher angethan wurde, wieder gut gemacht wird, und dafs wir ihn als das anerkennen, was er wirklich war, als den letzten, grofsen Volksdichter der Hellenen, der die Keime volks- tümlicher, mimischer Poesie aus althellenischer Zeit, die noch immer lebenskräftig waren und sich schon zu umfangreichen, dramatischen Gebilden gestaltet hatten, die für die Hypothesen der Römer, für Laberius und Syrus das Vorbild waren, zu klassi- schen Kunstwerken geformt hat, die den Vergleich mit den menandrischen Komödien vertragen und sie ersetzen konnten, die den folgenden Jahrhunderten grofse und unerreichte Muster und Gegenstand römischer wie griechischer Bewunderung waren.

IV. Der Ardalio Philistions.

Von jeher ist von den antiken Philosophen und Schrift- stellern das sinnlose Haschen und Drängen der Menschen nach imaginären und unnützen Zielen beklagt worden, dieser ungeheure Lärm um nichts, der den Jahrmarkt des Lebens erfüllt. Am

(t6} TtenQiofjiivov yuQ ov fxövov (naOi) ßgoroig

citftvxTov ioiiv alka xai xat' ovQttvov. V. 175 181: Ei noxt tig r\(xöiv tig (rbv) ayQov lljiarv

/j.vrjfiara nccQtl&ot xai rütpovg av&Qiüxrivovg

tovt(ov 'ixaorog eleytv „eis wQag lyw

nktvaoi, (fvzevaw, xrrjOofiai (jrolloig dyQovg),

rov roT/ov agag nvgyov v\pr)Xbv ßaldü,

TTQoaoixoSofirjGü) 7raQ(cxsijbiev' ayogaffarv".

loyiCo/xtvog tum' ani&avsv /uqdtv noiäiv. J) Noch Martial sah „mimos rldiculi Philistionis" auf der römischen Bühne und auch zur Zeit des Sidonius Apollinaris scheinen sie sogar noch im lateinischen Werten aufgeführt worden zu sein; vgl. oben S. 146 u. 147.

Der Ardalio Philistions. 437

lautesten ertönt diese Klage in der Kaiserzeit, wo sich besonders Seneca zu ihrem Vertreter macht. -Die Leute", heifst es in de tranquillit. anim. XII, .welche sich in Häusern, Theatern und auf den Foren herumtreiben, bieten sich zu Geschäften an, die sie nichts angehen, und haben scheinbar immer etwas zu thun. . . . Man möchte Mitleid mit ihnen haben, wenn sie laufen, als ob es brenne, ... um einen Besuch zu machen, der nicht erwidert wird, um einem Unbekannten das letzte Geleit zu geben, oder aufs Gericht zur Verhandlung in Sachen eines Prozefssüchtigen oder zur Verlobungsfeier einer Frau, die öfter heiratet, und wenn sie eine Sänfte begleiten, tragen sie sie gar stellenweise. ... Sie gehen nur aus, um den Trubel auf der Strafse zu vermehren, und kein bestimmtes Vorhaben, sondern nur der neue Tag treibt sie heraus" ]).

Für diese geschäftigen Müfsiggänger hatte man den typischen Ausdruck Ardalionen. Am lächerlichsten und unerfreulichsten, meint Martial, sind unter ihnen die Grauköpfe. Solch ein alter Ardalio mufs überall mit dabei gewesen sein; vor dem Lehn- stuhl jeder Dame mufs er morgens seinen Grufs darbringen; ohne ihn darf kein Tribun, kein Konsul sein Amt antreten'), gerne giebt er sich das geheimnisvolle Ansehen hoher Verbin-

1 ) Aach Manilias kennt dies« hauptstädtischen, vielbeschäftigten Müfsig- gänger recht gut: sie sind unter dem Gestirn des Jägers Orion geboren; wohl weil sie so unablässig in Rom umherjagen:

Sollertit animos, velocia corpora ßnget Atque agilem officio mentem, curasque per omni» lndelassato properantia cor da tngore. lnttar erit populi, totaque habitabit in urbe Limina pervolitans, unumque per omnia verbum Matte salutandi portans communis amicus. (V. 61 66).

*) Ludwig Friedländer giebt in den Darstellungen aus der Sitten- geschichte Roms Is, S 463 folg., eine höchst anziehende Schilderung des leeren und äufserlichen und doch dabei aufreibenden Lebens und Treibens, das in der römischen Gesellschaft während der Kaiserzeit herrschte. Über die Feierlichkeiten beim Amtsantritt hoher Beamten, zu denen ihre Freunde zu erscheinen hatten. Tgl. auch Sittengesch. I6, S. 407.

438 Sechstes Kapitel.

düngen1). Eine besondere Spezies des Ardalio ist der Dilettant in allen schönen Künsten, der alle sehr nett ausübt und keine ordentlich2).

Bei Phaedrus wird der Typus noch weiter nuanciert. Diese Ardalionen, die stets hastig einherstürzen, um nichts in Atem sind, immer grofse Anstalten treffen, um nichts zu stände zu bringen, sind sich selbst zur Last, anderen aber höchst ärgerlich. So ernten sie statt Dank nur Spott. Dafür giebt Phaedrus (II, 5) ein hübsches Beispiel. Als Tiberius einst in Neapel weilte und in dem Park der kaiserlichen Villa auf dem Vorgebirge Misenum lustwandelte, läuft auf einmal ein kaiserlicher Bedienter vor ihm her und besprengt den Weg mit Wasser. Der Kaiser lacht ihn aus und schickt ihn fort. Schnell eilt er auf Umwegen zur nächsten Säulenhalle, und dort trifft ihn der Kaiser wieder, wie er den Staub niederschlägt. Da merkt Tiberius die Absicht dieses guten Ardalio und ruft: „He, du!" und der wie der Blitz in der Hoffnung auf eine gute Gratifikation, wohl gar auf Frei- lassung, herbei. „Ach,u sagt der Kaiser, ,;wozu die Mühe? So billig erhältst du von mir keine Maulschellen" (Zeichen der Freilassung).

Wo kommt dieser eigentümliche Ausdruck Ardalio her? Breal hat darunter einen Typus der Palliata vermutet3). Fried-

») Martial IV, 78:

Condita cum tibi sit iam sexagesima messis

Et fades multo splendeat alba pilo, Discurris tota vagus urbe, nee ulla cathedra est,

Cui non mane feras inrequietus Bave; Et sine te nulli fas est prodire tribuno,

Nee caret officio consul uterque tuo; Et sacro decies repetis Palatia clivo

Sigerosque meros Partheniosque sonas Haec faciant sane iuvenes; deformius, Afer,

Omnino nihil est Ardalione sene.

2) Bei Martial II, 7, vgl. oben S. 151.

3) Revue de philologie IX, 1885, S. 137: Je suppose, que nous avons ici un nom de the'ätre, comme JMia'o, Hegio, Phormio. Le nom grec serait sann douti AgdaXtbiV. Oest ainsi que nous disons un Figaro, un Maitre- Jacques.

Der Ardalio Philistions. 439

länder hat das zurückgewiesen1) mit Recht; denn in der Kaiserzeit und erst seit der Kaiserzeit findet sich dieser Ausdruck war die Palliata im grofsen und ganzen von der Bühne verschwunden. Dennoch war Br6al auf der richtigen Spur. So wie Martial seinem Narren am Schlüsse seiner epi- grammatischen Schilderung entgegenschleudert: du bist ein Ardalio. ruft man auch: du bist ein Tartuffe, ein Hanswurst, ein Falstaff. Martial erinnert damit offenbar an einen volkstüm- lichen, allgemein bekannten Typus der Bühne, und die volks- tümlichsten Bühnenstücke der Kaiserzeit waren die Mimen. Also war Ardalio ein Typus des Mimus?

Martial, der sich so gerne an den Ardalio erinnert, hat ja nun wirklich, wie wir sahen2), viele Anregungen vom Mimus seiner Zeit empfangen. Veras, der ein ganz besonderer Lieb- haber des Mimus und der Mimen war3), schwärmte auch für Martial und nannte ihn seinen Vergil4). Es ist wohl die rea- listische Biologie und Ethologie, die den Kaiser hier gleich- mäfsig anzog.

Ebenso hat Phaedrus starke Beziehungen zum Theater und zum Mimus. Da ist im fünften Buche die lustige Geschichte von dem Flötenvirtuosen Princeps (V, 7), der einen dem Princeps, dem Kaiser, zu Ehren gesungenen Hymnus auf sich bezieht5). Da hören wir von dem flüchtigen, zum Tode bestimmten Sklaven, den in der Arena vor dem zum Schauspiel versammelten Volke der treue Löwe wiedererkennt (VH, 9). Die Erzählung von dem trunksüchtigen Weibe, das eine leere, noch süfs duftende Wein- flasche findet, hat schon andere an die Komödie erinnert. Die trunksüchtige Alte ist vor allem auch ein Typus des Mimus8).

») Martialausgabe I, S. 242. 3) Vgl. oben S. 57 folg. 3) Vgl. oben S. 199. *) Vita c. 2.

5) Die Grabinschrift dieses Virtuosen ist noch vorhanden; vgl. Bücheier t Rhein. Mus. 37, S. 332

6) Ich erinnere z. B. nur an die Kupplerin Gyllis bei Herondas im ersten Miraiambus.

440 Sechstes Kapitel.

V, 5 tritt ein mimischer Spafsmacher auf dem Theater auf und macht das Grunzen eines Schweines nach. Der Erzählung von diesem mimischen Paegnion folgt (V, 6) die Fabel von den beiden Kahlköpfen, die einen Kamm finden und sich darüber ärgern, dafs sie keine Haare zum Kämmen haben. Vorher (V, 3) steht die lustige Geschichte von dem Kahlkopf, der sich Mühe giebt, eine Fliege, die seine Glatze umschwirrt, zu fangen, und sich dabei selbst eine tüchtige Maulschelle versetzt. Welcher andere Kahlkopf als der mimus calvus sollte wohl darauf kommen, dem Fliegenfang auf seinem glattpolierten Schädel ob- zuliegen und sich dabei gar noch selbst zu maulschellieren ? Das Fliegenfangen scheint von jeher zu den Lazzi der italieni- schen Burleske gehört zu haben. Ich gebe dafür einen Beleg aus Devrient, Gesch. d. deutsch. Schauspielkunst I, S. 315: „Ita- lienische Brocken, Manieren und besonders italienische Lazzi wurden immer allgemeiner in der Stegreifposse, jene panto- mimischen Extraspäfse, durch welche der Harlequin, während seine Mitspieler sprachen, die Aufmerksamkeit immer auf sich zu lenken und sich zur ausschliefslichen Hauptperson zu machen wufste. So that Harlequin z. B. während einer Liebes- scene, als ob er Fliegen finge, ihnen die Flügel ausrupfte und sie schadenfroh vor sich auf dem Boden laufen liefs" '). Zu den unaufhörlich wiederholten Späfsen der stupidi gehört ja das Ertragen klatschender Maulschellen2); sich aber gar selbst zu maulschellieren, war der Gipfelpunkt mimischen Ulkes. Auch dafs der mimus calvus auf der Bühne einen Kamm findet und mit ihm allerhand Grimassen anfängt, wird jedenfalls ebenso zu den Lazzi der mimischen Narren gehört haben. Es ist auch eine urdrollige Scene: ein kahler Narr, der einen grofsen Fund zu machen glaubt, und nachher ist es ein Kamm. Daran konnten allerhand mimisch - burleske Betrachtungen über das Walten der neidischen Tyche geknüpft werden, die in der

*) Weiteres über Lazzi bei Devrient a. a. 0. IV, S. 1 22. 3) Vgl. oben S. 94.

Der Ardalio Philistion«. 441

Komödie wie im Mimus gleichmäfsig regiert'). Damit aber gar kein Zweifel bleibt, dafs wir wirklich hier Scenen aus dem Theater vor uns haben, folgt unmittelbar (V, 7) die Theater- burleske vom Flötenbläser Fürst, und handelte das erste Gedicht dieses fünften Buches von dem Fürsten der komischen Bühne, von Menander.

Wölfflin hat schon vor Jahren hervorgehoben, dafs publi-

*) Wenn in der Mnävögoi xal <Pti.ioTi(ovos aiyxQiai^ Menander und Philistion im Wettstreit allerlei Gnomen über die wichtigsten Fragen des mensch- lichen Daseins, über Armut und Reichtum, über die Gottheit, über Freund- schaft und Nachbarschaft, über Recht und Gesetz, über die Pflicht, Vater und Mutter zu ehren, zum besten geben, so ist doch das erste Problem, das beide behandeln, niol rvxis Menander beginnt seine Paränese mit den Worten:

t. 11—22:

IdoföfitSa loinov nfgl rvjfff (Myttv) ootftvs.

"Orav ti g i]uwv äufgifivov ?/j tov ßtov, ovx Intxaitliai ttjv tvxtjv tvdaiuoiwv oray 6*i Xi'naig nigiTitor) xal ngayuaoir, ti&iig ngoaänrn rp rt'^g rrfv ahlav.

0t>U<JTUt>V.

MtiStrtOTt ututfov irv rw^fjjv, ti6üs ort xaiQty noVTjQip xai 9(ia övOTi'Xft. Mi] Ivntt oauTov rovto yiruaxav, ort, orav nor' äv9g<ü7ioiotv i) Tvjfij yflii. navitov ütfogur, tüy xaltöv tvgioxiraf orav 61 ivarvx^ Tis, oid' tvifgalvnui. "Anavia vtxii xal unaoiy&fti r r x r\-

Studemund, Breslauer Programm Sommersemester 1887, S. 19 und 20. Noch in der deutschen Hans- Wurst-Burleske hat die Fortuna viel zu sagen. Ich führe dafür eine etwas sonderbare Arie aus der „Braut von ohngefähr" an (bei Devrient, Gesch. d. deutsch. Schauspielkunst I, S. 438):

Wie grausam schreibt nicht deine Kreide

Fortuna, falsches Trampelthier?

Du führst mein Leben, meine Freude,

Den Hans und auch die Wurst von hier: . .

Ach netzt ihr Thänen Hand und Fufs. Ach! Ach!

Weil ich mein Liebstes meiden mufs.

442 Sechstes Kapitel.

lianische Sentenzen bei Phaedrus nachgeahmt sind1). Nach Lucian Müller ist Phaedrus zur Wahl des Senars für seine Fabeln durch Publilius Syrus angeregt worden, mit dessen Senaren seine eigenen Ähnlichkeit zeigen2), Auch die niedrig gehaltene, etwas volksmäfsige Sprache, die derben Wendungen, haben nichts mit der Redeweise der damaligen, vornehmen Poesie, alles aber mit der volksmäfsigen Sprache des Mimus gemein3). Wie der Mime will Phaedrus Lachen erregen und zugleich das Leben bessern; seine Fabeln sind nur Scherze4). Auch die Mimen erhoben durchaus den Anspruch, mit ihrer Lebensschilderung trotz allen burlesken Spafses und aller Darstellung von Laster und Sünde zur Besserung der Menschen beizutragen5).

Wenn also Martial die „iocos improbi Phaedri" erwähnt, so dürften damit vornehmlich wohl die mimischen Scherze gemeint sein, da ja im allgemeinen der Mimus und die Mimen als „im- probi" galten; denn den eigentlichen Fabeln bei Phaedrus mit ihrer ernsthaften und moralischen Tendenz „improbitas" vorzu- werfen, wäre doch etwas ungereimt.

Es ist lustig genug, dafs Phaedrus sein fünftes Buch vor- nehmlich mit Reminiscenzen aus dem Mimus angefüllt und dafs er seine moralisierenden Betrachtungen gar an die burlesken Lazzi der mimischen Narren geknüpft hat. Was also bei Phaedrus eigene Erfindung scheint wie besonders die Schnurre von Ardalio , hat er im allgemeinen aus dem Theater und

») Vgl. oben S. 76.

2) Phaedri fabularum libri quinque, Leipzig 1877, Cap. I, pag. IX.

3) Man hat den Phaedrus wiederholt und sehr mit Recht einen Plebejer gescholten; so Leo, Plautin. Forschungen S. 24: „Die archäische Versbildung des Plebejers Phaedrus ist eine Anomalie und tritt aus dem vornehmen Kreise der herrschenden Richtung heraus".

4) Proemium zu Buch I:

Duplex libelli dos est; quod risum movet Et quod prudenti vitam consilio mottet. Calumniari si quis autem voluerit, Quod arbores loquantur, non tantum ferae, Fictis iocari nos meminerit fabulis.

5) Choricius giebt ihnen darin auch durchaus Recht, vgl. oben S. 215.

Der Ardalio Philistions 443

besonders aus dem Mimus; da wäre es also weiter nicht ver- wunderlich, wenn Ardalio gerade ein Typus des Mimus wäre1).

*) Phaedrns hat hier durchaus nicht wider den Geist und Sinn der Fabeldichtung verstofsen. Auch die Fabel fafst wie der Mimus den ßios von der realistischen Seite. Sie begreift wie der Mimus das menschliche Leben, wie es wirklich ist; wie der Mimus zeichnet sie durchaus realistische Typen, wenn sie diese auch in Tiergestalt verkleidet. Man darf sich durch das nur scheinbar Phantastische dieser Verkleidung nicht über den strengen Realismus der ganzen Dichtung tauchen lassen. Der Wolf, der das Lamm zerreif-t, weil es ihm das Wasser des Stromes trübt, obwohl er oben am Strome steht und da- Lamm weiter unten (Phaedr. I, 1 >, der Kranich und der undankbare Wolf (I, 8), der Fuchs und die Trauben (IV. 3), um nur ein paar Beispiele zu geben , sind so realistische, biologische Typen, wie sie nur je ein Mimo- graph erfunden hat. So glaubte Goethe ganz richtig in seinem Reineke Fuchs den Weltlauf geschildert zu haben, wie er wirklich ist, darum nannte er ihn die „unheilige Weltbibel-. Auch Phaedrus ist sich deutlich seines Zusammenbanges mit der realistischen Poesie bewufst und seine Anlehnung an den Mimus ist offenbar nur eine ganz konsequente Folge dieser Einsicht in das durch und durch realistische Wesen der Fabeldichtung. Vgl. be- sonders IV, 3. Wer die Entwickelung-geschichte des Mimus aus dem mimi- schen Tanze begreift, der wird sich über diese Beziehung zwischen Tierfabel und Mimus am allerwenigsten wundern: denn in seinen Anfangen war der mimische Tanz vornehmlich Tiertanz: und dieser stellte die Typen der Tiere mit derselben realistischen Ethologie und Biologie dar, wie sie man denke etwa an den Wulf, den Fuchs, den Esel in der Fabel erscheinen (Da> Nähere über den Tiertanz siehe im VII. Abschnitt dieses Kapitels). Aus diesem uralt>n, mimischen Tiertanz ist in den Uranfängen der hellenischen wie der gesamten Menschheit ebenso der Mimus wie die Tierfabel hervor- gegangen. Denn in primitiver Form findet sich die Tierfabel ebenso wie der Mimu« über die ganze Erde verbreitet. Vielfältig hat auf die Tier- fabel Ratzel in der Völkerkunde Bezug genommen. Tierfabeln finden sich sowohl bei den Wildstämmen in Amerika wie Afrika. Darüber giebt es eine ganze Litteratur. Wir wollen hier den Zusammenhang zwischen Fabel und Mimus nicht weiter verfolgen; aber es ist interessant genug, auch diese höchst wichtige Art der populären Dichtung in so naher Verbindung mit der volkstümlichen Burleske zu erblicken; überall zeigt die eigentliche Volks- poesie zu dem volksmäfsigen Drama, dem Mimus, die allernächsten Be- ziehungen. Hier will ich an eine Bemerkung von Wilamowita erinnern (Hermes Bd. XXXTV, S. 208): „Und wie stehn sie (die Mimologen) zur Thier- fabel: bei Arcbilochos sprachen doch Fuchs und Affe. .Und immer grasten wir Distelblätter ', heifst Sophrons Fragment 166: wer anders hat das sagen können als ein Esel?" Aus dieser neuen Erkenntnis heraus wollen

444 Sechstes Kapitel.

Ich werde nun weitere Überlieferung für Ardalio heran- ziehen:

1. Etym. M. : AiyvmvoQ to 1/jcxtiov rjQdälwoz fiov avxl xov rjößöXcotisv ifioXvvev.

2. Gloss. Lab. p. 1616: ardalio noXvygdyfioov.

wir nur noch kurz die berühmte Stelle bei Ammianus Marcellinus richtig interpretieren, in der Philistion und Aesop zusammen erwähnt werden (siehe den Text oben S. 426, Anm. Nr. V). Grysar a. a. 0. S. 314 schliefst aus dieser Stelle auf einen Mimographen Aesopus. In der That scheint dieses Resultat mit guter Methode gewonnen; denn da Aesop mit Philistion zusammensteht, mufs er ein Mimograph gewesen sein, und wie Philistion dem Griechen Aristides entspricht, so entspricht Aesop dem Lateiner Cato; also haben wir einen lateinischen Mimographen Aesopus. Diese Auffassung Grysars hat wie alle die zahlreichen Irrtümer über den Mimus und seine Geschichte Geltung behalten. Noch heute figuriert der Mimograph Aesop z. B. bei Schanz in der römischen Literaturgeschichte. Daraus kann diesem vortrefflichen Werke natürlich kein Vorwurf gemacht werden; wo, wie auf dem grofsen Gebiete des Mimus jede zuverlässige Vorarbeit fehlt, kann der Litterar - historiker, der die ganze, ungeheure, römische Litteratur umfafst, nicht an seinem Teile alles selber leisten. Jetzt, da wir auf die Ähnlichkeit zwischen Mimus und Fabel aufmerksam geworden sind, werden wir nicht mehr aus einer Zusammenstellung Aesops mit Philistion schliefsen, dafs Aesop ein Mimograph war. Wenn die Alten den Namen Aesop nennen, so verstehen sie wie wir Modernen eben darunter Aesop. Es wäre ja allerdings besser, dafs die Richter sich die Muster der Gerechtigkeit Aristides und Cato zu Lehrmeistern nähmen, aber auch die Mimographen und die Fabeldichter können sie mit ihrer humoristischen Ethologie und Biologie zur Not lehren, was Recht und Gerechtigkeit ist, und wie es in der Welt zugeht; aber ein ordentlicher Jurist sollte sich allerdings ernsthaftere und wissenschaftlichere Quellen der Belehrung suchen.

Bei Martial III, 20 heifst es:

Die, Musa, quid agat Canius mens Rufus:

Utrumne chartis tradit ille victuris

Legenda temporum acta Claudianorum?

An quae Neroni falsus astruit scriptor?

An aemulator improbi iocos Phaedri?

Lascivus elegis an severus herois?

An in cothurnis korridus SopJiocleis? Gleich hat Grysar hier wieder auf einen neuen, lateinischen Mimographen Phaedrus geschlossen, der sich würdig dem Mimographen Aesop anschliefst

Der Ardalio Philistions. 445

3. Excerpta ex libro glossarum: ardulio argutus cum ma- lignitate; Goetz, Corp. Gloss. Lat. V, S. 168.

4. Glossae Scaligeri (Isidori): ardalio glutto vorax manducus; a. a. 0. V, S. 590.

5. Glossae Scaligeri: mandones ambrones ardeliones1); a.a.O. V, S. 605.

6. Hesychius: aQÖaXcofisyovg TccQatTopevovg2).

Also seiner Grundbedeutung nach heifst Ardalio Schmutz- fink'*. Dafs es gerade ein Ägypter ist, der einem andern den Mantel beschmiert, ist merkwürdig. Sonst pflegten die Ägypter allerdings gleich den ganzen Mantel zu stehlen ). Wir haben den Ausdruck „jemand anschmieren". IJoXvnQdyiJtüov stimmt gut zu der unnützen Vielgeschäftigkeit der Ardalionen bei Phaedrus und Martial. Diese Betriebsamkeit ist wohl nicht selten mit allerlei Hintergedanken verbunden, d. h. cum malignitate. Darum ist Tiberius so hart gegen den Ardalio. Daneben ist Ardalio ein Fresser und Säufer (No. 4, No. 5). Daran erinnert weder Martial noch Phaedrus, aber das gehört eben mit zu den typi- schen Eigenschaften der lustigen Figur im griechischen und römischen Mimus. Im kampanischen Mimus, der Atellane, hat der Maccus von dieser Eigenschaft direkt seinen Namen. Ich erinnere auch an den mimischen Herakles, den starken Mann, der nach den ins Humoristische gewendeten Proben seiner un- glaublichen Stärke sich auch als ein ebenso unglaublicher Fresser zeigt und dann zu einem starken Trünke Lust hat4). Noch heute

fa. a. 0. S. 315), und Friedländer (Martialausgabe I, S. 292) folgt ihm. Ach nein! dieser Mimograph Phaedrus ist unser Fabeldichter, der allerdings die Mimographen nachahmt und darum improbus genannt wird: vgl. Martial 11,86,4:

Non sunt ftaec mimü improbiora.

1) Überliefert ist tardeliones; ich brauche meine Änderung in ardeliones wohl nicht weiter zu befürworten.

2) Einzelne von diesen Stellen verdanke ich der Güte 0. Rofsbachs.

3) Vgl. oben S. 184—185.

4) Das Weitere über den mimischen Herakles s. Kap. IX. Cynismus und Mimologie. Absehe. I.

446 Sechstes Kapitel.

mufs Pulcinell vor dem jubelnden Volke seine Maccaroni schlingen, die so lang sind, dafs sie ihm um die Ohren schlagen1).

Wie alle Gutschmecker man denke z. B. an Falstaff ist die lustige Person im Mimus natürlich unerdenklich feige, so feige wie Dionysos und Xanthias bei Aristophanes in den durchaus mimischen Unterweltsscenen2).

Nach Arnobius schreien die stupidi laut auf vor grundloser Angst und trippeln ängstlich hin und her, ohne etwas verbrochen zu haben 3). Darauf deutet das taQaTto/Asvovg. „Bestürzt" wird wohl auch der Ardalio gewesen sein, den Kaiser Tiberius verhöhnte.

Wir haben schon zum Vergleich den Pulcinell heran- gezogen. In der That ist Ardalios Ähnlichkeit mit ihm unver- kennbar. Wie könnte es auch anders sein, da die moderne, italienische Burleske, wie wir noch zeigen werden, die direkte Fortsetzerin des griechischen (byzantinischen) Mimus ist. Auch Pulcinell ist wie Ardalio glutto vorax manducus und gehört zu den mandones. Auch Pulcinell ist durchaus noXvn^dy^(üv\ er versucht sich in den verschiedensten Berufen. Schliefslich wird er gar Räuberhauptmann4). Eine Abart des Pulcinell ist der Meo-Patacca, und er ist zweifellos ein Ardalio, wie er im Buche steht5). Natürlich hat Pulcinell mit allen seinen Unternehmungen,

1) Vgl. z. B. Sand, Masques et Bouffons I, S. 140: „Une des facüies qu'il repetait souvent, surtout en temps de carnaval, car pendant le careme il est defendu ä Polliciniella de porter ni masque ni costume, c'etait de manger dans un enorme cantaro (vase de nuit), des monceaux de macaroni dont ce personnage est tres-friand. On le voyait alors tirer ces longues pätes, et se les faire descendre dans la bouche de toute la hauteur de son bras, aux grands tclats de rire de l'assistance.

2) Ich erinnere auch an den Angsthasen in dem theokriteischen Mimus dhelg, der als Sicherheitskommissarius den Namen Asphaiion (Sicherer) führt.

3) Vgl. oben S. 113, Anm. 2.

4) Sand a. a. 0. I, S. 135: Pulcinella, chef de brigands; dort findet sich eine genaue Inhaltsangabe dieses Stückes.

5) Vgl. Sand a. a. 0. I, S. 154: Meo-Patarca s'irrite de l'audace de „ces canailles de Turcs infames" qui osent assieger Vienne, cette cite chrttienne. 11 forme

Der Ardalio Philistions. 447

wie es einem echten Ardalio zukommt, nicht gerade allzuviel Glück. Ein wenig Schmierfink wie Ardalio ist auch Pulcinell und ebenso der deutsche Kasperle. Vor allem aber ist, andere anzuschmieren, ihre höchste Lust. Sie sind auch wie Ardalio leicht zu erschrecken, wenn auch im Grunde ihre alte Unverschämtheit und Zuversicht stets von neuem wieder zum Vorschein kommt. Wir sahen, dafs die lateinischen Glossen, wenn vom Theater die Rede ist, beileibe nicht den Mimus vergessen '), und auch sonst nehmen sie gerne auf den Mimus und mimische Typen Bedacht8); darum gedenken sie wohl auch wiederholt des Ardalio.

le projet d'aller la delivrer, et s'arretant devant la statue de Marc-Antoine, .,qui a la main leve'e en signe de triomphe'', il la regarde et dit: „Qui tait si ton ne verra pas un jour dresser ici une autre statue? Qui sait si un komme que fappelle moi ne s'en montrera pas dignef'' Ses compagnous, au nombre de dix, qui le suivent comme les moutons suivent le premier de la bände, Vadmirent de'ja et s'in- clinent devant lui".

l) Vgl. oben S. 266.

a) Das möge folgende Zusammenstellung verdeutlichen:

imitatores umtjicti

imitatio uiutjffic:

imitat umtttai

imitatur fttftmrttt] Glossae latino - graecae ; Goetz, Corp. Gloss. Lat.

II, S 77.

u^urjatg imitatio

utuog mimus

fuuovfi<rt emitor; Glossae graeco-latinae; a.a.O. 11,371.

scurpax mimarius

seenicus mimicus

scurra imrisio

scurrio irrisor

scurrilitas locus turpis; Glossae nominum ; a.a.O. II, S. 592.

strambulus strantibus dei mimitum; Glossae nominum; a.a.O. II, S. 593.

srena theatri locus aut ludus mimicus; Glossae Codicis Vaticani 3321 ;

a. a. 0. IV, S. 168.

mimologus qui mimos docet; Glossae Codicis Sangallensis 912; a. a. 0.

IV, S. 258.

mimografus quam mimos creuit: Glossae ab Absens; a. a. 0. IV, S. 416.

mimolacus qui minus docet; Glossae Affatim; a. a. 0. IV, S. 538.

histrir mimo seenicus; Glossae Cod. Sangall. 912; a. a. 0. IV, S. 244.

448

Sechstes Kapitel.

Bei Justin fanden wir die Schilderung einer lustigen Figur, die jegliche Kunst und jegliches Handwerk auszuüben sich unter-

mimolagus qui mimos docet; Glossae Cod. Vat. 3321; a. a. 0. IV, S. 117.

mimi ioculares grc; Placidus Codicis Parisini; a. a. 0. V, S. 116.

mimilogus qui minos docet; Glossarium Ampi, secundum; a.a.O. V, S. 310.

monopticus mimus; Glossae Scaligeri; a. a. 0. V, S. 603.

sannator fxvxTt]Qi,<sirig

sannasubsannator fxüixog; Glossae latino-graecae a. a. 0. II, S. 178.

^tjkoTvnos pelicator pelix; Glossae latino-graecae ; a. a. 0. II, S. 322.

scena theatri locus

scurrulla subtilis inpostor; Glossarium Ampi, secundum; a. a. 0. V, S. 331.

morio stultus malus

siculus stultus, qui cito movetur ad iram. Plaut, quid tu o momar sicule homo praesumis ; Glossae Seal. ; a. a. 0. V, 604.

ludis dediti; Glossae Cod. Vat. 3321; a. a. 0. IV, S. 168.

quasi parasitus puplicus qui non desinit caenas puplicas

puplicus inpostor; Glossae affatim; a. a. 0. IV, S. 571.

theatri locus

histrionis ioculares; Glossae Abavus; a. a. 0. IV, S. 389.

qui res rediculas dicit et facit

parasitus bucellarus

subtilis inpostor; Glossae Abavus ; a. a. 0. IV, S. 390.

saltatores scenici; Glossae Abavus; a. a. 0. IV, S. 349.

praepositi meretricum; Glossae Cod. Sangall. 912; a. a. 0.

IV, S. 244. (vgl. über diesen Ausdruck oben S. 227.)

saltatores

prepositi meretricum; Glossae Cod. Vat. 3321; a.a.O. IV, S. 87.

imitator

homines pecuati; Glossae Bernenses; a.a.O. III, S. 500.

qui propter mercedem alapas patitur

calvus calvaster; Glossae Scaligeri; a. a. 0. V, S. 589. Albrecht Dieterich hat „Pulcinella" S. 153—182 gründlich und geist- reich über den Spitzhut als Kopfbedeckung des burlesken Schauspielers ge- handelt, der, ursprünglich zur Tracht des hellenischen wie des italischen Bauern gehörig, die Bedeutung des Priester-, des Freibeits- wie des Narren- hutes erlangte. Im Narrenhute feierte Kom seine Saturnalien. Den spitzen (grünen) Hut trägt gelegentlich auch der italienische Arlechino wie der Wiener Hanswurst seit Stranitzky. Der Circusclown erscheint ja heute noch gewöhnlich mit dem spitzen Hute, wie man in jedem Circus sehen kann. Diesen spitzen Hut nimmt Dieterich vermutungsweise auch für die Mimen

mmnarius momar

scenici

scurra

scurrola

scena

scenici

8cur

scurra

scurro

histriones

histriones

histrones

histriones

mimetes

moriones

alopus

apiciosus

Der Ardalio Philistions. 449

fängt; die alles kann und versteht, natürlich nur in ihrer Ein- bildung; die in Wut gerät, wenn sie deswegen verlacht wird; dieser Typus erinnert Zug für Zug an unsern Ardalio, und diese burleske Figur wird direkt als mimisch bezeichnet ').

Doch wir können die Wahrscheinlichkeit, dafs Ardalio ein Typus des Mimus ist, zur Gewifsheit erhöhen. Es ist eine häufig wiederkehrende Erscheinung im Bühnenleben, dem antiken wie dem moiernen, dafs Schauspieler sich nach ihren Haupt- rollen nicht blofs auf dem Theater, sondern auch im bürger- lichen Leben nennen. So liefs sich der Dottore „Herr Doctortt nennen, als ob er allen Rechtens promoviert hätte, wie Devrient in der Geschichte der deutschen Schauspielkunst wiederholt hervorhebt; Francesco Cherea, der Erfinder der Commedia dell' arte, der Günstling und Lieblingskomiker Papst Leos X-, hatte seinen Namen von dem terentianischen Cherea, den er mit besonderem Beifall zu spielen pflegte8). Ähnlich steht es mit dem berühmten burlesken Darsteller, der von 1618 1630 in Paris die Rolle des Tabarino (eine Abart des Coviello) gab. Man kennt ihn nur unter dem Namen Tabarin. Nach dieser Rolle des Tabarino nannte sich schon früher am Ende des 16. Jahrhunderts ein französischer Hanswurst Tabary8). Nun wird in den Acta Sanctorum unter dem Jahre 303 von einem Mimus berichtet, in dem die christliche Taufe dargestellt und verspottet wurde. Die lustige Person, die in diesem Stücke den heilsbegierigen Heiden und Täufling darstellte, hiefs Ardalio4). Da hat also Martial den dilettierenden Mimographen, den er

in Anspruch. Diese Vermutung erhebt unsere Stelle hier, die Dieterich entgangen i>t, zur Gewifsheit. Der Hut, und zwar gerade der spitze Hut in der specifischen Form des Apei (vgl. die Abbildung bei Dieterich S. 166), war dem mimus calvus, dem stupidus graecus, dem uwqö; (fakaxgös durch- gebend eigentümlich, darum heifst er eben apiciosus. An den moderneu Circus- narren, der gleichfalls ein apiciosus ist, habe ich schon erinnert.

y) Vgl. oben S. 32, Anm. 3.

3) Vgl. Klein, Geschichte des Dramas IV, S. 903.

5) Vgl. Sand ,a. a. 0. II, S. 295.

*) Vgl. oben S. 83-85.

Reich, Mimus. oq

450 Sechstes Kapitel.

einen Hänswurst nennen will, geistreich mit dem Namen des mimischen Hanswurst gekennzeichnet.

Kein unberühmter Mimograph wird diesen berühmten Typus erfunden haben. Nun hat Ludwig Friedländer ganz richtig be- merkt, der Ausdruck Ardalio sei in der ersten Kaiserzeit auf- gekommen. Zuerst findet er sich bei Phaedrus, dann bei Martial.

Fünferlei mufs also bei dem Ardaliotypus zusammentreffen:

1. Er mufs aus einem Mimus stammen, und zwar

2. einem griechischen,

3. der in Rom zur Aufführung kam,

4. zuerst in der Zeit kurz vor Phaedrus

5. und dann unablässig Jahrzehnte und Jahrhunderte lang.

Denn nur so konnte sich der Ardaliotypus den Römern so einprägen, dafs er sprichwörtlich wurde. Alles fünf stimmt auf die Stücke Philistions und nur auf sie allein. Es waren Mimen, in griechischer Sprache, wurden zu Rom aufgeführt, und zwar zuerst kurz vor der Zeit des Phaedrus und dann unablässig.

Da hat also der Mimograph so recht ins volle Menschen- leben hineingepackt. Mit kecker Kunst schuf er die lustige Person im Mimus zu diesem neuen Typus aus dem gesellschaft- lichen und sozialen Leben Roms um. Man hatte sich schon lange über diese vielgeschäftigen Nichtsthuer moquiert und ge- ärgert, wie es Seneca thut. Da brachte sie Philistion als Ardalio auf die Bühne, und fortan war man mit dem Worte: „Du bist ein Ardalio- diese Gesellen und den Verdrufs über sie los, der sich schnell in ein lautes, mimisches Lachen auflöste. Da hat Philistion seine berühmte Lebensweisheit glücklich bethätigt und das ßi(0(feX£g]) seiner mimischen Biologie2) gezeigt.

Nun wird aber der mimische Narr nicht etwa nur einmal

1) ßiai(f,elrjs wird Philistion in der M(v«v$qov xal <t>ifoOTi<üvog ovyxQiots Vers 8 und 9 genannt.

2) Ein Ardalio ist auch der Diener des Bruders Cipolla (Zwiebel) bei Boccaccio (sechster Tag, zehnte Geschichte). Er heifst Guccio Schmutzfink,

Der Ardalio Philistions. 451

in einem philistionischen Mimus ^Aqdakioiv geheifsen haben, son- dern, da diese Rolle stehend ist, so hiefs er eben bei Philistion wohl gewöhnlich Ardalio und nicht mehr Sannio, wie zu Ciceros Zeit. So erscheint Arlechino zum Trivelino und Truffaldino meta-

wie auch Ardalio Schmutzfink bedeutet. Er besitzt besonders neun schlechte Eigenschaften:

Ein Lügenmaul

Ist er und faul,

Verbofst in Trutz, (cum malignitate)

Und reich an Schmuz; {rjoöaXwu^vo;)

Stets voll Verdacht

Und unbedacht; {xagaTjöfitvoc)

Ein Feind der Pflicht,

Ein grober Wicht,

Und was er soll,

Das thut er nicht

„Außerdem", pflegte Bruder Cipolla zu sagen, „hat er noch einige andere Fehlerchen: doch die wollen wir mit dem Mantel der christlichen Liebe zudecken. Was indefs an seinen seltsamen Manieren das Spaßhafteste ist: in jedem Dorfe, wohin er geräth, will pr ein Weib nehmen und ein Haus miethen, und, so lang und schwarz und schmuzig auch sein Bart ist, bildet er sich dennoch ein, so schön und so anmuthig zu sein, dafs seiner Meinung nach alle Frauenzimmer, die uns zu Gesichte bekommen, sich in ihn ver- lieben, und liefse man ihn gewähren, so liefe er allen nach, und verlöre Gürtel und Kragen. Einräumen mufs ich indefs, dafs er mir vielfach sehr behülflich ist; denn, so geheim auch jemand mit mir zu reden habe, so ist er immer auf dem Platze, um sich sein Theil davon abzuhorchen; und wenn ich vorkommendenfalls um etwas gefragt werde, so ist er so besorgt, ob ich auch auf die Antwort gerüstet sei, dafs er jedesmal sich vordrängt, und als- bald ja oder nein für mich antwortet, wie es ihm eben gut dünkt". (Das Deca- meron von Giovanni di Boccacio, übersetzt von Karl Witte II, S. 234 u. 235.)

Auch der Ardalio thut zwar alles Mögliche, nur nichts Ordentliches, Vernünftiges und Pflichtgemäßes. Also wie der Ardalio hat Guccio die selt- samsten und für ihn unausführbarsten Pläne im Kopfe und fällt mit übel angebrachter Dienstfertigkeit seinem Herrn zur Last wie der Ardalio bei Phaedrus dem Kaiser Tiberius. Offenbar hat hier Boccaccio sich den typischen, lustigen Diener und stupidus der italienischen Volksburleske zum Muster genommen, der ein direkter Nachkomme des mimischen stupidus und also auch des Ardalio ist. Auch im modernen Leben giebt es genug Ardelionen; aber noch hat kein moderner Dichter diesen Typus klassisch gestaltet wie Philistion.

29»

452 Sechstes Kapitel.

morphosiert. So ist Meo-Patacca und Birrighino nur eine andere Erscheinungsform des Pulcinella, und ob der Pierrot nun Bertoldo, Paggliaccio oder Peppe Nappa heifst, es ist immer der alte Pierrot, nur verschieden nuanciert. Darum wird in den Glossarien der Ardaliotypus mit so mannigfaltigen Eigenschaften bezeichnet, die alle zusammen natürlich nicht recht bei einer einzigen lustigen Figur auf einmal vereinigt in Erscheinung treten konnten. Die „natio ardalionum" war eben so zahlreich und zeigte so ver- schiedene Spielarten, dafs der ^Aqöaliu>v stets als derselbe un- nütze, zwecklose Geselle und doch immer wieder in einer neuen Gestalt auftreten konnte, bald als senex ardalio, bald als di- lettierender Stutzer, bald als übereifriger, mit seiner erheuchelten und nutzlosen Dienstfertigkeit lästiger Bedienter, bald als träger, gefräfsiger, dem Trünke ergebener Schmierfink, und dann wieder als glänzender, vielgeschäftiger, in allen Sätteln gerechter Glücks- ritter (nolv7TQciyfiü)v). So ist Pulciuell bald ein schneidiger Räuberhauptmann, bald ein windiger Bedienter, und dann wieder ein Krämer oder gar ein englischer Lord. So erscheint Hans- wurst in den verschiedensten Metamorphosen und versucht sich in den verschiedensten Berufen. Zuletzt hat sich dann Ardalio noch gar zum Märtyrer und christlichen Glaubenshelden metamor- phosiert. Eben das zwecklose Handeln, das Laufen und Jagen nach imaginären Zielen, als was dem Heiden des Christen asketischer Lebenswandel, sein unablässiges Singen und Beten, Fasten und Kasteien nun einmal erschien, ist das wesentliche Kennzeichen des Ardalio. Zugleich aber sehen wir, wie die Bezeichnung der lustigen Figur als Ardalio durch die Jahrhunderte gedauert hat ; denn der Ardalio des Taufmimus starb im Jahre 298.

Noch in der historia Apollonii regis Tyri nennt man den Hans Narren, ob er nun lustig oder blofs thöricht ist, Ardalio. Apollonius liegt unten im Schiffe und betrauert den Verlust seiner Frau und Tochter. Da aber hört er, dafs im Hafen von Mytilene, wo er sich gerade befindet, ein grofses Fest gefeiert wird. Er läfst seinen Matrosen zehn Goldstücke zum Feste geben, aber wer ihn selbst unten in seiner Trauer stört, dem droht er die Beine entzwei zu schlagen. Da kommt Athenagoras,

Der Ardalio Philistions. 453

ein vornehmer Mann aus Mytilene (princeps civitatis), und bittet einen Matrosen, ihn zu Apollonius zu führen; dafür bietet er ihm zwei Goldstücke. Da macht der Matrose im Hinblick auf die Drohung des Apollonius den dummen Witz: „Glaubst du, ich kann mir für zwei Goldstücke vier Beine kaufen?" Dieser etwas stupide Witzbold heifst Ardalio (a. a. 0. c. 39).

Drei Jünglinge bitten den König Archistrates um die Hand seiner Tochter, diese aber will nur einen Schiffbrüchigen (eben Apollonius). Als der König nun fragt, welcher von ihnen dreien denn schon Schiffbruch gelitten habe, meldet sich einer ganz keck; da meinen die andern: „Wie kannst du solchen Unsinn reden? du bist ja nie zum Thore hinausgekommen". Da steht der dummdreiste Narr verlacht und bestürzt da (zagattöpsvos); er heifst Ardalio (a. a. 0. c. 21).

Was für die moderne Burleske der Harlekin, der Hanswurst, was für die Atellane der Bucco, Maccus, Pappus und Dossennus, das bedeutet für die Hypothese seit Philistion Ardalio.

Wenn wir nun sehen, wie sehr dieser Ardalio den Beifall der Römer und des Erdkreises gewann, wie dieser gelungene Typus der lustigen Lebensschilderung, der mimischen Biologie, sich dann durch die Jahrhunderte behauptete, in Epigramm und Fabel und schliefslich gar in den Roman eindrang und im Kampfe zwischen Christentum und Heidentum noch gar ein Stimmführer der Heiden wurde, dann leuchtet uns eine Ahnung auf, dafs die Alten mit ihrer Wertschätzung Philistions und seiner biologischen Komödie Recht haben könnten, dafs wirklich noch das erste Jahrhundert nach Christus einen hellenischen Klassiker erlebt hat, wenn auch den allerletzten, und die Verse der Anthologie:

6 %6v vcokvativaxtov äv&Quinoov ßiov yiXoou xtodous Ntxaevg 0i/.tGiioav

gewinnen für uns Leben und Bedeutung1).

») Fisch (Archiv für lat. Lexikographie V, 1888, S. 61 u. 62) macht aus unserm Ardalio einen ardulio, leitet ihn von ardulns her und rechnet ihn unter die lateinischen Substantiva personalia auf o, onis.

454 Sechstes Kapitel.

V. Philistions Philogelos.

Aufser seinen Mimen hat Philistion noch den Philogelos ge- schrieben 2), d. h. ein Witz- und Schnurrenbuch. Wenn nach Suidas' kaum verständlichem Ausdruck zu diesem Buche noch der Barbier in Beziehung gebracht wird, so mag vielleicht Philistion diese Schnurren einem Barbier in den Mund gelegt haben. Denn die Barbiere galten von jeher als die eigentlichen Erzähler und Verbreiter von allerhand Schnurren. Kommt doch im Philogelos selbst der Witz vor, dafs ein Herr, von einem Barbier gefragt : „Wie soll ich dich rasieren?" antwortet: „schweigend". Ich er- innere an Theophrasts Witzwort, der die Barbierstuben aoiva (yvfinoöMx nannte2). Freilich hat Bernhardy, der seiner Zeit allein die Bedeutung Philistions annähernd richtig würdigte, rundweg erklärt, ein so grofser Poet könne nicht der Verfasser eines Witzbuches sein3). Aber wir sahen, wie selbst Martial sich nicht gescheut hat, die Typen und Scenen, Witze und Schnurren des Mimus in seine fein geschliffenen, scharf zu- gespitzten Epigramme aufzunehmen. Auch Phaedrus liefs sich herbei, der alten aesopischen Fabel mimische Schnurren im Fabel- gewande hinzuzufügen. In den Rhetorenschulen erörterte man spitzfindig Probleme, die zum ersten Mal der Mimus aufge- worfen hatte. Warum sollte da der grofse Mimograph nicht selbst auf den Einfall kommen, die lustigen Witze und Schnurren aus seinen Mimen, die man sich ohnehin schon, so gut man es vermochte, überall wiedererzählte, in ein kleines Büchlein zu sammeln? Der „ridiculus Philistio", der fitfiog yeXoicov, betitelte es

*) Wie Suidas bezeugt. Vgl. oben S. 426, Anm. Nr. I.

2) Vgl. über alles dieses oben S. 310, Anm. 2. Ein Schwätzer sonder gleichen und unerschöpflich an allerhand Geschichten und Schnurren ist auch der seltsame Barbier in „Tausend und eine Nacht", Hundertund fünfzigste Nacht u. folg., der dort mit einem fast mimischen Realismus der Darstellung geschildert wird.

3) Vgl. Grundrifs der griechischen Litteratur II3, 2, S. 554.

Philistions Philogt. 455

„Philogelos *, rder Lachlustige". So gab Melissus, der Freund und Freigelassene des Maecenas, der als Verfasser national römischer Lustspiele (trabeatae) bekannt ist, in seinem Alter eine Sammlung von Schnurren (ineptiae) heraus, die, wie es scheint, eine zweite Auflage erlebte1). Auch Joseph Stranitzky, der Wiener Theaterdirektor, Lustspieldichter und burleske Acteur, der zuerst die Wiener Posse nach dem Vorbild der Commedia dell' arte schuf, der wie Philistion zugleich ein Mime und Mimo- graph gewesen ist, verfafste neben seinen Mimen noch ein Witz- und Schnurrenbuch, die „Ollapatrida des durchgetriebnen Fuchs- mundi", in dem er mancherlei Schnurren aus seinen und andern Mimen zum besten gab2).

Als der Mime Tabarin viele Jahre hindurch das Pariser Publikum ergötzt hatte, ward später ein Facetienbuch gesammelt, in dem alle seine lustigen Erfindungen und Witze vorkamen3).

In einer Pariser, einer Münchener und einer Wiener Hand- schrift ist ein Büchlein überliefert:

OIAOrEAQS

EK T2N

IEPOKAEOrS KAI OIAATPIOr

rPAMMATIKON.

Da haben wir einen Philogelos, nur ist es nicht der von Suidas bezeugte des Philistion, sondern es ist ein Auszug aus den Sammlungen zweier Grammatiker, Hierokles und Philagrius.

In dieser Sammlung von Schnurren kommt die Erwähnung der Feier des tausendjährigen Bestandes von Rom im Jahre 246

J) SuetoD, De gramm. 21, p. 116 R.

8) Vgl. Werner, Ollapatrida des durchgetriebnen Fuchsmundi. Wiener Neudrucke, Wien 18S6, II. Bändchen.

3) Vgl. Sand a. a. 0. II, S. 301. Dieser Recueil des farces tabariniques begann mit folgenden Versen:

9Oevtst este perte est ränge Si, perdant Tabarin des yenx, Nous eussions per du le meslange De set devit facttieux. u

456 Sechstes Kapitel.

n. Chr. vor1), also kann diese Sammlung in letzter Form erst nach der Mitte des dritten Jahrhunderts verfafst sein. Die beiden Grammatiker, die als ihre Urheber genannt werden, sind ganz ob- skure Leute, die sich nicht weiter identifizieren lassen8). Das Nächstliegende ist also immerhin, dafs wir hier eine „vermehrte und verbesserte" Überarbeitung des berühmten, alten Philogelos Philistions haben. Denn Grammatiker pflegen doch höchstens der- artige Schnurrenbücher neu zu bearbeiten und herauszugeben; sie selber zu verfassen, liegt im allgemeinen ebenso tief unter ihrer "Würde wie über ihrer Kapazität3). Aufserdem hätte kein Gram- matiker von sich aus eine so burleske Volkssprache gesprochen, wie sie sich in diesem Büchlein findet.

Es sind gewifs nicht viele philistionische Sentenzen über- liefert worden. Aber so wenig es auch sind, eine davon kommt doch im Philogelos vor. In der Wiener Apophthegmensammlung heilst es: „Philistion, gefragt, welche Schiffe sicher wären, die Kauffahrtei- oder die Kriegsschiffe, antwortete: die ans Land gezogenen", und im Philogelos heilst es: „Ein Feiger, gefragt, welche Schiffe sicherer seien, die Kriegs- oder die Kauffahrtei- schiffe, antwortete: die ans Land gezogenen"4).

Auf Schritt und Tritt werden wir in diesem Philogelos an

») Nr. ftT.

a) Vgl. Eberhard a. a. 0. S. 61.

3) Dafür spricht auch der Titel, der nicht lautet: „aus dem Philogelos der Grammatiker Hierokles und Philagrius", sondern: „der Philogelos aus den Sammlungen der Grammatiker Hierokles und Philagrius". Sehr eigen- tümlich ist es auch, dafs mitten in dieser Sammlung steht: ix rov ^iXöyeXw. Es ist eben wohl immer der bestimmte, sonst allein bekannte Philogelos Philistions gemeint, den zuerst der Grammatiker Hierokles bearbeitete und herausgab und dann von neuem der Grammatiker Philagrius. Aus den Aus- gaben beider wurde dann später unser Auszug gemacht; darum wiederholen sich auch in diesem Buche trotz seines geringen Umfanges zahlreiche Witze, weil sie in der einen Ausgabe einer anderen Person zugeschrieben waren als in der andern; was einmal vom ,,Scholasticus" erzählt wird, wird mit den- selben "Worten vom Kymäer und Sidonier berichtet und so fort.

4) Allerdings wird diese Sentenz bei Athenaeus VIII, 350 b als Ausspruch des Klearchos erwähnt; Aber in den Philogelos ist sie hineingekommen, weil sie später ebpn für philistionisch galt.

Philistions Philogelos. 457

den Mimus erinnert. Ein Scholasticus, ein Kahlkopf und ein Barbier machen zusammen eine Reise. In einer Einöde halten sie Rast und beschliefsen, je einer soll vier Stunden wachen und aufs Gepäck achten, während die andern schlafen. Der Barbier, welcher zuerst Wache halten soll, will einen Witz machen und schert den schlafenden Scholasticus kahl. Als dann seine Zeit um ist und nun der Scholasticus die Ablösung hat, weckt er ihn. Noch schlaftrunken kraut sich dieser den Kopf, merkt, dafs er kahl ist, und ruft voll Empörung: „Da hat nun dieses Scheusal von Barbier statt meiner den Kahlkopf aufgeweckt!" Es ist eine übermütig-lustige Schnurre, der Scholasticus verliert durch das Kahlscheren direkt sein Ich ; so wird in dem Interlude „Jack Juggler" Jenkin Careaway aus seiner Identität heraus- geschreckt, so der Sklave Sosias im Amphitruo '). Der Kahlkopf erinnert uns an den kahlen Narren (fionQoc (fcüaxQÖg) im Mimus. Wir kennen eine ähnliche Reisegesellschaft aus Petron. Da ist auch ein Barbier mit Eumolp, Encolp und Giton zusammen auf Reisen, und dieser Barbier schert Encolp und Giton kahl, und Lichas beschwert sich nachher, er sei mimicis artibus getäuscht worden (Petron 106, Buecheler . S. 73). Nun verstehen wir diese wunderliche Reisegesellschaft im Philogelos; wir haben hier eine burleske Scene aus irgend einem Mimus, vermutlich einem phili-

M Auch an das Volksmärchen mahnt diese seltsame Geschichte. Ich erinnere an „Der Frieder und das Catherlieschen". Von Frieder aufgefordert, geht das faule und dumme Catherlieschen anfs Feld Frucht schneiden; dort spricht sie zu sich: „ess' ich, eh' ich schneid, oder schlaf ich, eh' ich schneid? hei, ich will ehr essen!" Da als Catherlieschen und ward überm Essen schläfrig, und fleug an zu schneiden und schnitt halb träumend alle seine Kleider entzwei, Schürze, Rock und Hemd. Wie Catherlieschen nach langem Schlaf wieder erwachte, stand es halb nackigt da und sprach zu sich selber „bin ichs, oder bin ichs nicht? ach, ich bins nicht!- Unter- dessen wards Nacht, da lief Catherlieschen ins Dorf hinein, klopfte an ihres Mannes Fen-ter und rief .Friederchen?" „Was ist denn?" „Möcht gern wissen, ob Catherlieschen drinnen ist*. „Ja, ja", antwortete der Frieder, es wird wohl drinn liegen und schlafen". Sprach sie „gut, dann bin ich gewifs schon zu Haus" und lief fort. (Grimm, Kinder- und Hausmärchen I, S. 229 und 230).

458 Sechstes Kapitel.

stionischen, vor uns. Vielleicht hat sich der kahlgeschorene Scholasticus in der Überzeugung, dafs er der Kahlkopf und noch gar nicht zum Wachen dran wäre, wieder aufs andere Ohr gelegt und den drei Freunden erwachsen daraus die gröfsten Verlegen- heiten; vielleicht hat er den Kahlkopf geweckt und beide streiten sich nun, wer der richtige (faXaxgog wäre. Aus dem lustigen, mimischen Einfall ergeben sich eben unglaublich burleske Scenen.

Ein Bettelkerl, der gewohnt ist, seiner „Freundin" vorzu- lügen, er sei ein Edelmann und reich, trifft plötzlich, wie er mit dem Bettelsack zu den Nachbarn geht, seine „Freundin". Schnell dreht er sich um und ruft ins Haus: „Sende mir auch meinen Frack mit den goldenen Knöpfen1) nach!" Einen andern armen Protzen findet seine „Freundin", da er krank ist und sie ihn unerwartet besucht, statt in einem prächtigen Bett auf einer armseligen Binsenmatte; da sagt er schnell: „Die Herren Medi- zinalräte rieten mir zur Binsenmattenkur" 2). Ein anderer Narr des gleichen Schlages begegnet seinem Bedienten, der eben vom Landgut in die Stadt gekommen ist. Da fragt er ihn stolz: „Wie steht's mit dem Vieh?" „Ach", sagt der, „das eine Schaf schläft, und das andere Schaf geht" 3). Wir haben schon (S. 318 u. 319) gesehen, dafs der arme Protz ein beliebter Typus der Komödie und des Mimus ist. Aber während der mimische Sannio bei Herennius geschickt auf die prahlerischen Intentionen seines protzigen Herrn ernsthaft eingeht4), setzt der Sklave in Philistions Philogelos als rechter Sannio, als irrisor und ioculator, seinen bettelstolzen Herrn mit seiner scheinbar naiven Antwort in Verlegenheit.

Der Scholasticus will ein Haus verkaufen, da trägt er zur

1) <fißXaT(ÖQtov = tibul&torixim; Kleid mit einer fibula (natürlich von kost- barem Metall, von Gold) og'.

2) Nr. pf „ol xaXol laiooi xccl Söxifiot ttjj nöXtiag txiXtvoüv fit i//*a- &iO&rjvai".

3) Nr. or{ .

*) Vgl. oben S. 318.

Philistion; Philogelos. 459

Probe einen Ziegelstein mit sich herum1). Um die Komik dieser Geschichte zu begreifen, mufs man sich die mimische Aktion des Dümmlings dazu denken, der auf der Bühne mit gewichtiger Miene seinen Ziegelstein vorzeigt und gar nicht begreifen kann, wie man diese doch gewifs zuverlässige Probe nicht gelten lassen will. Mit richtiger Witterung hat diesen Witz der moderne Mimus für Arlechino und für Hanswurst reklamiert; er gehört zu den Lazzi, wie er einst zu den mimischen Trics gehört hat').

Da der Philogelos in weiteren Kreisen so gut wie unbekannt ist. gebe ich eine Anzahl weiterer Proben aus ihm, die hier, soweit mir bekannt ist, zum ersten Male ins Deutsche über- tragen werden. An ihnen kann man vor allem -den Begriff der .mimicae ineptiae*. den wir schon erörtert haben, sich näher er- klären. Zugleich aber vergegenwärtigen diese Witze uns mancherlei mimische Typen und Scenen, was ich dem geneigten Leser überlasse, sich im Einzelnen zu erläutern. Wir werden später noch wiederholt Gelegenheit haben, auf einzelne von diesen Schnurren zurückzukommen.

5. Einem rScholasticus" begegnete jemand und sagte zu ihm: „Herr Doctor, im Traume sah ich Sie und sprach Sie an". Der erwiderte: „In der That, ich war beschäftigt und habe nicht darauf geachtet".

6. Ein „Scholasticus" sah seinen Hausarzt kommen und wollte von ihm nicht gesehen werden. Von einem Gefährten befragt, warum er das thue, antwortete er: „Ich bin schon lange nicht mehr krank gewesen, und deshalb geniere ich mich vor ihm".

7. Einem „Scholasticus-4, der eine Operation am Zapfen bestanden hatte, verbot der Arzt das Sprechen. Da gab er seinem Diener den Auftrag, an seiner Statt alle Begrüfsungen zu

M Nr. u«'. Dieselbe Geschichte irird pvg von einem Kymäer erzählt die im Philogelos als eine Art Schildbörger figurieren.

*) Vgl. Sand a. a. 0. I S. 81: Dans une come'die, Arlequin veut vendre so, maison; il cient trouver Vacheteur en seine, et, qßn. lui dit-il, qu'il n'aehete pas chat en poche, il veut lui faire voir un tchantillon de la marchandise, et tire de dessous son casaquin un yros plätras.

460 Sechstes Kapitel.

erwidern. Drauf sagte er zu jedem: „Nimm's mir nicht übel, wenn mein Diener statt meiner dich begrüfst, der Arzt hat mir nämlich das Sprechen verboten".

9. Ein „Scholasticus" wollte seinem Esel das „Nicht- fressen" beibringen und gab ihm kein Futter mehr. Als dann der Esel vor Hunger krepiert war, sagte er: „Mich hat ein schwerer Verlust betroffen; als der Esel das „Nichtfr essen" ge- lernt hatte, krepierte er".

11. Ein „Scholasticus" wollte sehen, ob es ihm gut stände, wenn er schliefe. Da stellte er sich vor den Spiegel und schlofs die Augen.

12. Zu einem „Scholasticus", der verreiste, sagte sein Freund: „Kaufe mir doch zwei Pagen von 15 Jahren", worauf er erwiderte: „Sollte ich solche nicht finden, so will ich dir einen von 30 Jahren kaufen".

13. Zwei „Scholastiker" beklagten sich gegenseitig dar- über, dafs ihre Väter noch lebten. Als der eine nun sagte: „Bist du dabei, so wollen wir jeder den seinen erwürgen", ant- wortete der andere: „Um Himmels willen, wir könnten ja Vater- mörder gescholten werden; aber, wenn du willst, erschlägst du meinen Vater, und ich deinen".

14. Ein „Scholasticus" hatte ein Haus gekauft; er stellte sich in die Thür und fragte die Passanten, ob ihm das Haus stünde.

15. Ein „Scholasticus" hatte geträumt, er sei auf einen Nagel getreten; er bewickelte sich daher den Fufs. Ein Ge- fährte fragte ihn nach dem Grunde, und als er ihn erfahren hatte, sagte er: „Mit Recht heifsen wir Narren! Wozu auch barfufs schlafen gehen?!"1)

17. Einem „Scholasticus" schrieb jemand, der verreiste, er solle ihm Bücher kaufen. Der kümmerte sich nicht drum, und

!) Hier erinnern wir uns an Asphaiion im theokriteischen und sophro- nischen Fischermimus, der den Schwur, den er im Traume geleistet hat, gleichfalls als etwas Wirkliches und Reales behandelt; vgl. oben S. 374folg. ; Träume und Traumdeuten ist ja überhaupt ein gewöhnliches Sujet des Mimus.

Philistions Philogelos. 461

als er ihn nach seiner Rückkehr traf, sagte er zu ihm: „Den Brief betreffs der Bücher, den du gesandt hast, habe ich nicht erhalten ".

18. Einem „Scholasticus" begegnete jemand und sagte zu ihm: „Der Sklave, den du mir verkauft hast, ist gestorben". Der antwortete: „Meiner Treu, solange er bei mir war. hat er so etwas nicht gethan!"

19. Ein „Scholasticus" sah viele Spatzen auf einem Baume sitzen. Er breitete seine Busenfalte aus. schüttelte den Baum und wollte die Spatzen auffangen.

20. Zwei Scholastiker" begleiteten sich nach einem Gast- mahl gegenseitig nach Hause, um sich die gebührende Achtung zu beweisen, und kamen so nicht zum Schlafen.

22. Ein „Scholasticus* traf seinen Freund und sagte zu ihm: „Ich hörte, du seiest tot!" Auf die Antwort: „Aber ich lebe noch, wie du siehst!" sagte der „Scholasticus": „Und doch war der, welcher es mir erzählte, viel glaubwürdiger als du!"

27. Ein „Scholasticus* verabredete mit dem Arzte, er wolle ihm das Honorar nacli der Heilung zahlen. Als er nun im Fieber Wein trank, schalt ihn seine Gattin. Da sagte er: „Ach so! Ich soll wohl gesund werden und dem Arzte das Honorar zahlen müssen?!"

29. Von einem Zwillingspaar starb der eine Bruder. Da kam ein „Scholasticus" zu dem Überlebenden und sagte: „Bist du tot oder dein Bruder?"

30. Bei einem Schiffbruch verlangte ein „Scholasticus - eine Schreibtafel, um sein Testament aufzusetzen.

32. Ein „Scholasticus- war zu einem Gastmahl geladen, afs aber nicht. Auf die Frage eines von den Gästen, warum er nicht esse, gab er die Antwort: „Es sieht sonst so aus, als wäre ich blofs des Essens wegen hergekommen".

33. Der Sohn eines „Scholasticus" spielte Ball. Der Ball fiel in den Brunnen, er beugte sich vor, sah seinen Schatten (das Spiegelbild im Wasser) und forderte von dem den Ball. Drauf klagte er seinem Vater, dafs er ihn nicht wiederbekommen habe. Nun beugte sich der in den Brunnen, sah seinen Schatten

4-62 Sechstes Kapitel.

und bat ihn um den Ball. „Herr", sagte er, „gieb dem Knaben den Ball wieder" ').

34. Ein „Scholasticus" sah einen kranken Freund und befragte ihn über die Krankheit. Als der keine Antwort gab, sagte er ärgerlich: „Hoffentlich werde ich auch krank werden, und dann werde ich dir auch keine Antwort geben". -

44. Ein „Scholasticus" schlief bei seinem Vater. In der Nacht stand er auf und afs Weintrauben, die oben aufgehängt waren. Sein Vater hatte ein Licht unter einem Topfe verborgen, und als er aufstand, liefs er es plötzlich leuchten. Da stellte der sich schlafend und schnarchte im Stehen.

51. Ein „Scholasticus" sah auf seinem Landgute einen tiefen Brunnen und fragte, ob das Wasser gut sei. Als die Landieute erwiderten: „Jawohl! deine Vorfahren haben draus getrunken", sagte er: „Was müssen die für Hälse gehabt haben, dafs sie aus solcher Tiefe trinken konnten!"

52. Ein „Scholasticus" war in eine Cisterne gefallen und schrie fortwährend um Hilfe. Da aber niemand hörte, sagte er zu sich selbst: „Ich bin doch dumm, dafs ich nicht hingehe und alle durchpeitsche. Dann würden sie mir doch wohl ge- horchen und mir eine Leiter bringen".

57. Einem „Scholasticus" hatte eine Magd ein Kind ge- schenkt. Sein Vater riet ihm, es zu töten. Da sagte er: „Erst begrabe du deine Kinder und dann rate mir, meines umzu- bringen".

67. Ein „Scholasticus" kam aus der Fremde zurück und traf seinen Schwiegervater. Der fragte ihn, wie sich sein Reise- gefährte befinde. „Ganz vortrefflich geht's ihm jetzt", sagte er,

*) Ähnlich sieht Acco, die Närrin im alten dorischen Mimus, ihr Spiegel- bild für eine wirkliche Person an, die ,sie anredet. Vgl. Idxxü : inl rwr [twnatvovTtov. 'H yäg llxxcu ywr\ ytyovev Inl {i<o(>(ct diaßtßorjfitvr), r^v ifaoiv £go7iTQi£o[i€v7}v irj stxövi cog h^gy SiaXiyta&af evd-ev xal Axxi&o&ai negl TavTTjv Itkfy&ai (Paroem. gr. ed. Leutsch u. Schneidewin I, pag. 21, wo auch die weiteren Stellen über 'Axxü angeführt sind. Als einen Typus aus der dorischen Komödie hat die Acco erwiesen Zielinski. Quaestiones comicae S. 45 folg.

Philistions Philogelos. 463

„und er ist guter Dinge; er hat nämlich seinen Schwiegervater begraben ■.

76. Ein Scholasticus" kam ins Sarapeum. Da gab ihm der Priester einen Zweig und sagte; „Der Herr ist dir gnädig". Der erwiderte: „Der Herr mag meinem Ferkel gnädig sein; ich bin ein freier Mannu.

77. Ein „Scholasticus* hatte seinen Sohn begraben. Er traf dessen Lehrer und sagte zu ihm: „Entschuldigen Sie, dafs mein Sohn nicht zur Schule gekommen ist; er ist gestorben".

80. Ein „Scholasticus* machte eine Seereise. Das Schiff geriet durch einen- Sturm in Gefahr. Da warfen seine Reise- gefährten von ihrem Gepäck ins Meer, um das Fahrzeug flott zu machen, und forderten ihn auf, dasselbe zu thun. Der hatte eine Obligation von 1 500 000 Drachmen, wischte die 500 000 weg und sagte: -Von so grofsen Wogen habe ich das Schiff befreit".

81. Ein „Scholasticus" sagte auf einem Schiffe zu seinen Reisegefährten, die bei eiiiem Sturme weinten: „Warum seid ihr so geizig? ich habe zehn Thaler mehr gegeben und fahre auf Gefahr des Schiffsherrn".

87. Ein „Scholasticus" hatte sich zu Hause das Zeug eines Gladiators (atxovToiQ) umgethan und übte. Da meldete ihm jemand die Ankunft seines Vaters. Er warf den Degen weg und nahm die Beinschienen ab. Sein Vater war aber schneller bei ihm, als er erwartet hatte. So las er denn in einem Buche, den Schutz- korb noch vor dem Gesichte.

96. Von zwei feigen „Scholastikern" verbarg sich der eine in einem Brunnen, der andere im Schilf. Als nun die Soldaten den Helm abnahmen, um Wasser zu schöpfen, glaubte jener, ein Soldat werde herabsteigen; er bat um Pardon und wurde gefangen genommen. Als die Soldaten meinten, sie wären an ihm vorbeigegangen, wenn er geschwiegen hätte, sagte der im Schilf verborgene: „Geht also an mir vorbei: ich schweige ja".

104. Ein Geizhals machte sein Testament und setzte sich selbst zum Erben ein.

139. Ein Arzt aus Sidon hatte von seinem Patienten ein

464 Sechstes Kapitel.

Legat von 1000 Drachmen nach dessen Tode erhalten. Beim Begräbnis folgte er dem Leichenzuge und schalt darüber, dafs er ihm ein so kleines Legat hinterlassen hatte. Als nun auch der Sohn des Verstorbenen von einer Krankheit ergriffen wurde und ihn rufen liefs, damit er ihn untersuchte und die Krankheit bekämpfte, sagte der Arzt: „Wenn Sie mir 5000 Drachmen als Legat hinterlassen, werde ich Sie kurieren, wie Ihren Vater".

140. Ein Witzbold sah einen thörichten Schulmeister docieren, trat zu ihm heran und fragte ihn, warum er keinen Unterricht im Zitherspielen erteile. Der antwortete: „Das kann ich nicht". Da sagte er: „Wie kommt es denn, dafs Sie in den Wissenschaften unterrichten, ohne es zu können?"

142. Ein Witzbold war augenkrank. Ein diebischer Arzt lieh sich Yon ihm einen Leuchter und gab ihn nicht wieder. Eines Tages nun fragte er ihn: „Wie geht's mit Ihren Augen?" Da sagte der Witzbold: „Seitdem Sie den Leuchter von mir geborgt haben, sehe ich ihn nicht*.

149. Ein Witzbold war von jemand im Bade unverschämt behandelt und führte als Zeugen die Zugiefser an. Sein Gegner verwarf dieselben als unglaubwürdig. Da sagte er: „Wenn ich im trojanischen Pferde unverschämt behandelt worden wäre, würde ich als Zeugen Menelaos, Odysseus, Diomedes und ihre Gefährten anführen; nun ist aber die Unverschämtheit im Bade passiert, da müssen die Zugiefser den Thatbestand wohl besser kennen".

183. Zu einem mürrischen Arzte kam jemand und sagte: „Herr Doctor, ich kann weder liegen noch stehen noch auch sitzen". Da sagte der Arzt: „Dann bleibt Ihnen nichts übrig, als sich hängen zu lassen".

185. Ein mürrischer Arzt, der nur ,ein Auge hatte, fragte einen Kranken: „Wie geht es Ihnen?" Der antwortete: „Wie Sie sehen". Da sagte der Arzt: „Wenn es Ihnen so geht, wie ich sehe, dann sind Sie zur Hälfte tot".

187. Ein mürrischer Wahrsager sollte einem kränklichen Kinde die Nativität stellen; er erklärte, dafs es der Mutter lange erhalten bleiben werde, und verlangte sein Honorar. Die ant-

Philistions Philogelos. 465

wortete: „Koramen Sie morgen, dann werde ich es Ihnen geben". Da sagte er: „Wie nun? Wenn das Kind in der Nacht stirbt, soll ich dann mein Geld verlieren?"

190. Ein Murrkopf spielte Dambrett. Ein Müfsiggänger safs dabei und redete ihm beständig drein. Der ärgerte sich und fragte ihn: „Von welcher Zunft sind Sie und warum gehen Sie müfsig?" Jener antwortete: „Ich bin Schneider, habe aber nichts zu thun". Da zerrifs er seinen Rock, gab ihm den und sagte: „Nehmen Sie ihn und arbeiten Sie und halten Sie den Mund".

191. Einen Murrkopf fragte jemand: „Wo wohnen Sie?" Da sagte er: „Dort, woher ich komme!"

201. Zu einem närrischen Seher kam jemand1) und fragte ihn, wie es zu Hause stände. Der sagte: „Alle sind gesund, auch Ihr Vater". Als der nun sagte: „Mein Vater ist schon seit zehn Jahren tot", antwortete er: „Sie wissen ja gar nicht, wer in Wahrheit Ihr Vater ist".

202. Ein närrischer Astrolog stellte einem Kinde die Nativität und erklärte: „Es wird Redner, dann Statthalter, dann Imperator werden". Als das Kind gestorben war, forderte seine Mutter das Honorar zurück und sagte: „Der, von dem Sie sagten, er werde Redner, Statthalter und Imperator werden, ist gestorben". Da antwortete er: „Bei seinem Andenken, wenn er am Leben geblieben wäre, wäre er wohl alles geworden".

211. Zwei Faule schliefen zusammen. Da kam ein Dieb herein, zog ihnen die Decke herunter und stahl sie. Der eine merkte es und sagte zum andern: „Steh' auf und ergreife den, der die Decke gestohlen hat". Der antwortete: „Lass' nur; wenn er kommt und das Kissen nehmen will, werden wir ihn fassen, wir beide".

213. Ein Fauler hatte seinesgleichen einen Denar geliehen. Er traf ihn und forderte den Denar. Da sagte der: „Strecken

!) anoärjuiag inaviüv ist ein ungeschickter Zusatz; er kann nur iv unoö^uUt den Seher befragen; wenn er erst zu Hause ist, weüs er es ja selber am besten.

Reich, Mimuc. 3Q

466 Sechstes Kapitel.

Sie Ihre Hand aus, lösen Sie mein Schnupftuch und nehmen Sie den Denar". Da sagte der andre: „Gehen Sie weiter; von jetzt ab sind Sie mir nichts mehr schuldig".

219. Ein Hungerleider gab einem andern seine Tochter zur Frau. Als er gefragt wurde, was er ihr als Heiratsgut mitgebe, antwortete er: „Ich gebe ihr ein Haus, dessen Thür nach der Bäckerei führt".

227. Zu einem Trunkenbold, der in der Kneipe trank, trat jemand und sagte: „Ihre Frau ist gestorben". Als der das hörte, sagte er zum Wirt: „Herr, mischen Sie mir also schwarzen Wein".

228. Ein Trunkenbold wurde von jemand gescholten, weil er vom vielen Trinken den Verstand verloren hätte. Er konnte infolge des Trunkes nicht mehr gut sehen und antwortete: „Bin ich betrunken oder Sie, der Sie zwei Köpfe haben?"

249. Ein Weiberfeind hatte ein schwatzhaftes und zank- süchtiges Weib. Als sie starb, begrub er sie auf einem Schilde. Das sah jemand und fragte nach dem Grunde. Da antwortete er: „Sie war streitbar!"

256. Ein „Scholasticus- Schulmeister" hörte von einem Schüler, dafs er krank sei, am andern Tage, dafs er Fieber habe, und später von dessen Vater, dafs er gestorben sei. Da sagte er: „So macht ihr Ausflüchte und lafst eure Kinder nichts lernen".

263. Ein „Scholasticus" hatte Aminäerwein und versiegelte ihn. Sein Sklave bohrte ihn unten an und stahl von dem Wein. Da wunderte er sich, dafs die Siegel unverletzt waren und der Wein doch weniger geworden war. Ein anderer sagte: „Sieh doch nach, ob er nicht von unten weggenommen ist". Drauf antwortete er: „Dummkopf, der untere Teil fehlt ja nicht, sondern der obere".

Man sieht, diese Witze sind nicht von der Sorte der geist- reichen, sie sind im Gegenteil urdumm und damit zugleich ur- drollig. Eberhard, der letzte Herausgeber, meint, es seien facetiae vel potius ineptiae1); allerdings „mimicae ineptiae". Es

') a. a. 0. S. 58.

Philistions Philogelos. 467

sind die dummen Witze, die so viel verborgenen Gehalt haben, wie sie Laberius, Syrus, Philistion und nach ihnen hier und da auch Shakespeare liebt.

Wir haben (S. 68) schon den dummen Witz aus dem Mimus angeführt: „solang er sich im Bade aufhielt, starb er nie"; so sagt der philistionische Dümmling, als er hört, dafs sein ver- kaufter Sklave gestorben ist: „Bei mir hat er so etwas nie ge- than*. Wie dumm diese Auffassung und doch wie tief; welche Schlechtigkeit auch von diesem niederträchtigen Sklaven, auf einmal zu sterben und so alle Erwartungen, die man mit allem moralischen Recht auf ihn setzt hat man ihn doch gekauft , zu täuschen. Als jemand in einem Mimus (vgl. oben S. 68) dem stupidus seine Frau vorstellt, macht der ihm die seltsame Eloge, sie sei „sein Ebenbild*. Als ob nicht Eltern und Kinder, sondern Mann und Frau sich ähnlich sehen müfsten. Ebenso werden im Philogelos mit der Ähnlichkeit die lustigsten mimicae ineptiae getrieben (vgl. Nr. 30. Nr. 101). Wenn im Philogelos auf die Frage: wo wohnst du? geantwortet wird: dort, woher ich komme; so beantwortet bei Pomponius (43. 44. R.) ein zudringlicher Neu- gieriger die Aufforderung, er solle bei Seite treten, mit der naiven Frage: wie weit?

Viele von diesen Schnurren kann man nur verstehen, wenn man sie sich mit mimischer Aktion auf dem Theater vorgeführt denkt. Ich erinnere an den Scholasticus mit dem Ziegelstein. Man denke sich auch die Schnurre: der Scholasticus breitet seine Busenfalte aus und wird die Sperlinge vom Baum her- unter in seinen Busen schütteln; es ist der reine Blödsinn; denken wir aber einmal an die mimischen Lazzi und an das oben besprochene Fliegenfangen der stupidi, gleich begreift man das Lustige dieses mimischen Auftritts. In einem mimischen Intermezzo thut der papo?, als ob Sperlinge auf einem Baume säfsen; man sieht, er breitet seine Busenfalte aus, um die herab- fallenden Spatzen darin aufzufangen, und nun plötzlich fängt er an, den Baum zu rütteln; offenbar erwartet er, die Spatzen sollen nun in sein Tuch herunterfallen; er schüttelt verwundert sein Narrenhaupt, dafs dies nicht der Fall ist, und blickt er-

30*

468 Sechstes Kapitel.

staunt in das Publikum, das sich im „risus mimicus" über den stupidus ausschüttet. Warum sollte Philistion diesen etwas albernen Witz nicht in den Philogelos aufnehmen; hatte doch Phaedrus mimische Lazzi wie das Fliegenfangen, die damals das Entzücken des Publikums bildeten, gar in seine Fabeln auf- genommen. Wenn der Narr, um zu sehen, ob er im Schlafe gut aussieht, sich vor den Spiegel stellt und die Augen schliefst, so gehört das wohl auch zu den Lazzi der (jbcoqoi und moriones.

Vor allem sind diese Schnurren meistens Situationswitze. Sie sind eben zum grofsen Teil den Scenen des Mimus ent- nommen. Ich erinnere an den Scholasticus, der sich in der Rüstung des Fechters einpaukt; sein Vater aber will als strenger Herr, wie es die Väter in der Komödie und im Mimus sind, von solchem Unsinn nichts wissen. Da hört der Sohn ihn plötzlich kommen; nun rasch herunter mit dem ganzen Ausputz; aber der Alte ist doch zu schnell, und nun steht der Sohn mit dem grofsen Fechterkorb vorm Gesicht da und studiert eifrig in einem Buche. Das ist eine Bühnenscene. Ich verweise auch auf den Bucco auctoratus des Pomponius.

Ganz wie im Mimus werden im Philogelos Gelage und Hoch- zeiten, selbst Kindtaufe und Begräbnis gefeiert, es kommen Be- trügereien und Diebstähle, Kabalen und Ränke vor; selbst Schiff- brüche fehlen nicht (mimicum naufragium). Es sind die gewohnten Scenen des ßiog, die der Mime, der Biologe, vorführt. Auch die Typen, die da auftreten, entsprechen ganz den mimischen. Da sind besonders Ärzte, alberne, betrügerische, diebische, mürrische, ganz wie im Mimus, der seit dem lakonischen Mimus, dem Dikelon, den Arzt unter seine typischen Figuren zählt, Wahrsager, Schul- meister, Schiffer, Bettler, Sklaven, Diebe, Kuppler, Kneipwirte, Trinker, die sich ebenso alle im MimuS' ünden. Es sind die lustigen Typen der mimischen Biologie, die hier mit ihrer realistischen Lebenswahrheit, ihrer bodenlosen Narrheit und seltsamen Drolerie an uns vorüberziehen. Diese pedantischen Schulmeister, die da lehren, was sie selber nicht verstehen, und die es doch für das gröfste Unglück ansehen, wenn ein Junge mal eine Schulstunde versäumt, und durchaus den Entschuldigungs-

Philistions Philogelos. 469

zettel verlangen, denen nicht Krankheit, kaum einmal der Tod als rechter Entschuldigungsgrund gilt, die überall böswilliges Schulschwänzen wittern in richtiger Erkenntnis der sehr geringen Anziehungskraft, die sie ausüben; diese Wahrsager, die den Leuten gerne ein äufserst günstiges Prognostikon für die Zukunft stellen, damit sie in ihrer Freude ordentlich in den Geldsack greifen, die dem Neugeborenen die glänzendste Karriere pro- phezeien und dann schnell ihr Geld verlangen, damit das Kind nicht etwa schon am nächsten Tage tot ist und sie ums Honorar kommen, die nie um eine Ausrede verlegen sind, wenn alles anders kommt, als sie prophezeit haben; diese Ärzte, die gierig ein möglichst hohes Honorar herausschlagen wollen und sich sonst wenig um das Ergehen ihrer Patienten kümmern, die ihre Kranken mürrisch und grob behandeln und gelegentlich auch bei ihren Krankenbesuchen irgend einen kostbaren Gegen- stand auf Nimmerwiedergeben „borgen4*. Da sieht man auch den ängstlichen Patienten, der sich versteckt, wie er den Arzt auf der Strafse kommen sieht, weil er so lange nicht krank war und ihm nichts zu verdienen gegeben hat; und der Dümmling will überhaupt nicht gesund werden, damit er dem Arzt nicht das unerschwingliche Honorar zu zahlen braucht, das er ihm für den Fall der Genesung versprechen mufste. Das sind die Farben, mit denen der Mimus seine Ärztetypen malte. Ich erinnere an die „Mania medica1' des Novius, an den „medicus" des Pomponius1).

Vor allem aber ist der [uoqoq im Philogelos ein spezifisch- mimischer Typus, haben wir doch unter diesen [iioQoi schon

*) Wenn Martial so unablässig auf die Ärzte loszieht, so hat er hier wie so häufig seinen Pinsel in den mimischen Farbentopf getaucht; •wenn er besonders gern auch Leute, die aus dem Munde oder sonstwie übel riechen, verspottet, so scheint das gleichfalls, wie der Philogelos lehrt, aus dem Mimos zu stammen. Bei Martial (III, 17) bläst jemand in eine Pastete, um sie abzukühlen, hinein und macht sie zu Mist. In dem Philogelos bläst der Papa, der oSöotojios ist, in den Brei des Kindes, und dieses bedankt sich dafür mit dem Worte: äua xuxü, wo xaxu durchaus nicht blofs „schlecht* bedeutet (Nr. 236).

470 Sechstes Kapitel.

den echt - mimischen ^cogog (faXaxgog angetroffen. Die bur- lesken Typen des Mimus und seine wichtigsten Darsteller zerfallen in zwei Gattungen, den irrisor und den stupidus; dem ersten entspricht etwa der srnganslog und dem zweiten der liwQÖg. In unserm Büchlein bildet der evigccneXog nur einen Abschnitt, während alle andern Charaktere die verschiedenen Spielarten des peoQos, des Albernen sind. Die Kymäer, die Sidonier und die Abderiten, die Prahler, die Geizigen, die Trunkenbolde, die Neidischen, die Feigen, die Faulen, die Mürrischen1), alles sind Narren. Und dafs gerade die Narren bevorzugt sind, ist verständlich genug; denn von ihnen vornehmlich gehen die mimi- schen „ineptiae" und die mimischen Lazzi aus.

Ein Narr besonderer Art ist nun der „Scholasticus"; diesen Typus wollen wir ein wenig näher beleuchten; denn die „ineptiae" des Scholasticus machen den gröfsten Teil des Philogelos aus. Nirgends wird uns der Begriff des Scholasticus so deutlich wie in Lukians Dialog Hermotimus. Dieser gute Hermotimus hat noch in den Vierzigern angefangen, Philosophie zu treiben, und drückt nun schon 20 Jahre die Kollegbänke. Er hat keine Zeit, weiter mit Lukian, der ihn in ein Gespräch verwickelt, zu disputieren, sonst könnte er am Ende noch gar das Kolleg versäumen. Trotz allen Ernstes und Eifers studiert er niemals aus. Doch hofft der Sechziger, wenn er noch 20 Jahre weiter strebt, werde er die Höhen der stoischen Philosophie erklommen haben und dann allein weise, allein reich, allein glücklich, allein Herr und König sein. Im übrigen ist er bei aller Schulgelehrsamkeit von grofser Naivetät der Auffassung. Als er zum Beispiel hört, sein Professor habe in der Hitze des Disputierens dem Peripatetiker Euthydemus ein Loch in den Kopf geschlagen, triumphiert er über den Sieg. Er

') Ausdrücklich betont Cicero (vgl. oben S. 66), „das Mürrische, Aber- gläubische, Argwöhnische, Prahlerische, Alberne sei Gegenstand der Dar- stellung des Sannio und des mimischen Lachens. Das Mürrische kenn- zeichnet dann Cicero mit einem Witze aus einer Atellane desNovius: „Was weinst du, Vater?" „Soll ich etwa singen, wenn ich verurteilt bin?" Das stimmt gut zu den Aussprüchen des Mürrischen im Philogelos. Bekannt ist der Mimus des Syrus „Mumurco", der Murrkopf, der Brummpeter.

Philistions Philogelos. 471

ist wirklich ein „Scholasticus", wie er im Buche steht. Doch ist er von Vater und Mutter her ein vermögender Mann, der es nicht nötig hat, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, und der bequem das teure Kolleggeld bezahlen kann.

Ganz in diesem Stile ist der Scholasticus des Philogelos; es ist der gelehrte Narr, ob er nun alt oder jung ist. Wie Hermotimus ist er meist recht wohlhabend; er kauft oder ver- kauft ein Haus (14. 41. 85. 156), er besitzt ein Landgut (46. 47. 51. 60. 108. 131.210), hat grofse Viehherden (108) und zahl- reiche Sklaven (18. 108), leiht Geld auf Zinsen (50. 161). Er ärgert sich, dafs sein reicher, alter Vater nicht stirbt und er ihn nicht beerben kann (13. 152). Seltener treibt der Scholasticus ein gelehrtes Gewerbe, er ist Rhetor und Rechtsanwalt (54. 129.), Arzt (3. 139. 142. 143. 175. 176. 177. 182. 183. 184. 185. 186. 189. 222. 260.) oder Schulmeister (61. 77. 140. 196. 197. 255. 256.), aber immer ist er der gleiche ficagög, der sich in die Verhältnisse des praktischen Lebens durchaus nicht zu finden weifs und überall verlacht und genarrt wird. Kurz und gut, dieser Scholasticus ist der Dottore der italienischen Commedia dell' arte. Wir haben auch schon gesehen, dafs der gelehrte Mann wie besonders die Philosophen schon Jahrhunderte vor Philistion zu den mimischen Typen gehörten. Ich erinnere nur an den Dossennus der Atellane. Aber mit dem Scholasticus hat Philistion die klassische Dottore-Figur der Antike geschaffen.

Der Scholasticus ist gewifs nicht weniger genial erfunden wie der Ardalio. Diese Dottores, die wie Hermotimus weiter keine Beschäftigung hatten, die von ihrem Vermögen und dem ihrer Familie als nutzlose Drohnen zehrten, die jahraus, jahr- ein an den verschiedenen Universitäten bis ins hohe Alter hin- ein studierten und dabei als gelehrte Herren auf die öffent- liche Achtung grofsen Anspruch hatten, wenn man sie auch für ein wenig verrückt hielt, haben damals wohl Land und Meer erfüllt und sich nicht selten höchst lästig gemacht. Da brachte sie Philistion, der Biologe, auf die Bühne. Seitdem hat der Dottore zu den wichtigsten, mimischen Typen gehört, und selbst der Scholasticus der türkischen Burleske, der Eflfendi Hadschievad,

472 Sechstes Kapitel.

der Gegenspieler des Karagöz, ist, wie wir noch zeigen werden, ein Nachkomme des philistionischen Dottore.

Sehr eigentümlich ist die Sprache des Philogelos; wieder- holt betonen die Herausgeber, wie sich auf Schritt und Tritt Reminiscenzen an die Volkssprache finden 2). Das wäre bei einem Büchlein, das auf zwei gelehrte Grammatiker zurückgeht, uner- klärlich, wenn wir nicht wüfsten, dafs es mit dem Mimus, der ja vornehmlich die Volkssprache kultiviert (vgl. oben S. 394 396), zu- sammenhängt, und zwar nicht mit dem griechischen Mimus im all- gemeinen, sondern mit dem griechischen Mimus Philistions, der in Rom aufgeführt wurde. Um so interessanter ist es nun, im Philogelos eine grofse Zahl lateinischer Wörter und Latinismen zu finden *). Philistion hat wohl damit dem römischen Publikum seine Stücke ein wenig näher bringen wollen, zugleich aber hat wohl wirklich die Sprache der Griechen in Rom lateinische Brocken angenommen. Wir finden ja auch in dem sizilischen Mimus Sophrons hier und da Wörter lateinischen Sprachstammes eingesprengt.

So verdeutlicht uns der Philogelos ein wenig die burleske Kraft der Mimen „ridiculi Philistionis" ; gewifs, sie waren, wenn man an die überlustigen Scenen denkt, die der Philogelos an- deutet, zum Totlachen, und Philistion ist ja auch nach der Sage am Lachen gestorben. Freilich sind sie meistens urdumm, diese Witze. Aber gerade in ihrer scheinbaren Thorheit und Narrheit machen sie das Närrische und Thörichte der meisten mensch- lichen Verhältnisse aufs deutlichste offenbar. Lustig lärmend und lachend schwingt hier der mimisch-biologische Humor die klin- gelnde Narrenkappe über dem menschlichen ßioq.

Wir können hier nur im allgemeinen auf die Beziehungen

i) Vgl. Eberhard a. a. 0. S. 62.

a) Ich führe hier einige auf: fiiXiov 42. 60. 131. 132., 6r]vdgiov 86 124. 198. 213. 224. 225., axäXa 194., xsvtovqCwv 138. Dazu die viel selteneren osxovtwq 87., aravXog lQ.,-(pißXaTWQiov 106., xoqtivcc 162., acc. ßovXßüv 103., to Xlyaxov 139., oyjixevovres 154., raßXi&iv 190., ßiyiXtvaac statt dyQV7ivrjaai 56., ßgdxas 64., lov7ir)s 257. (Herodian. Epim. p. 46 Ixxlvog, -'Xovnrji), aäyov 211. So wird auch Korn genannt 62., 'Pwfiaios 138., und selbst das Grabmal der Scribonia {Zx^ßcovCas tivrifxa 73).

Philistians Philogelos. 473

des Philogelos zum philistionischen Mimus aufmerksam machen. Im einzelnen ist es vorläufig noch nicht möglich, das philistio- nische Gut von den späteren Zusätzen zu scheiden1). Dazu bedarf es einer kritischen Ausgabe des Philogelos, welche die Überlieferung auf eine genügend sichere, handschriftliche Basis stellt2).

Im Mittelalter hat der Philogelos, den man heute als niederes Witz- und Schnurrenbuch im grofsen und ganzen mit Verachtung straft, eine grofse Wirkung ausgeübt, eine gröfsere, als manches unaufhörlich edierte und mit allem gelehrten Fleifs erläuterte Buch klassischer Kunst. Damals rechnete man eben die Witz- und Schnurrenbücher nicht in dem Mafse zur niederen Litteratur, wie man es heute thut, und namhafte Schriftsteller verfafsten sogenannte Facetienbücher, so Poggio, Filelfo und der deutsche Humanist Bebel. Ich erinnere auch an Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein, an die mancherlei Erzählungen von den Schildbürgern und Laienbürgern, an den Pfaffen von Kahlenberg und den Eulenspiegel. Diese Witzbücher gehen vielfältig auf die älteste, erhaltene Schnurrensaramlung der Welt, auf den Philogelos zurück. Richard Porson hatte die Absicht,

*) Natürlich wird es auch schon vor Philistion „Facetienbüchlein" ge- geben haben und auch daraus mancherlei in den Philogelos geflossen sein: aber wer kann das heute scheiden.

2) Die letzte Ausgabe von Eberhard hat noch als eine Grundlage: apographum Parisinum codicis nescio cuius (sie!!) a Minoide-Mina factum; (vgl. a. a. 0. S. 6). Vor allem aber bedarf dieses Büchlein auch eines Kommentars, den weder Boissonade noch Corais und Eberhard leisten konnten, da sie nichts von der Ursprungsgeschichte dieses Büchleins und seiner historischen Stellung und vor allem nichts vom Mimus und von Philistion wufsten. Darum hat man diese Schnurren auch bisher mit gelehrter Pedanterie mifsachtet, und Eberhard fühlt sich verpflichtet, seinen Kommentar mit den Worten zu schliefsen: Sed iam nimis puto nugis indulsimus lectorum abusi patientia (a. a. 0. 76). Und doch ist dieser Philogelos für die Erkenntuis der Entwickelung der komischen Poesie in Hellas annähernd so wichtig wie das weltberühmte Charakterenbüchlein Theo- phrasts, dem er in der Anordnung nach Charakteren ähnelt, und das ja gleichfalls die nächsten Beziehungen zum Mimus hat.

474 Sechstes Kapitel.

diesen Einflufs des Philogelos im einzelnen nachzuweisen1). An dieser Stelle ist das nun unsere Aufgabe nicht; aber wir sehen doch, wie der Mimus als Urquell des Philogelos hier wieder eine ganze, grofse Litteraturgattung energisch beeinflufst hat, und auch so wird uns Philistions Bedeutung wieder bemerkbar.

Ich freue mich, dafür noch einen neuen Beleg, auf den ich bei fortgesetztem Suchen in zwölfter Stunde stofse, hier einschalten zu können. Marius Mercator, ein Freund und An- hänger des heiligen Augustin und rüstiger Kämpfer in dem pelagianischen Streite fährt in seinem Commonitorium adversum haeresim Pelagii et Caelestii vel etiam scripta Juliani3) ingrimmig auf den Bischof Julianus von Eclanum, einen eifrigen Pelagianer, los, der sich allerhand Späfse und beifsende Spöttereien über das Dogma von der Erbsünde erlaubt hatte. Mercator fordert Julian auf, deswegen zu erröten; das wäre eine „obseönitas", wie sie in den Mimus gehöre. Ja, das verdiene den Applaus der Menge: „Du allein bist der einzige Philistion, und unter den Lateinern3) ist dir allein Lentulus und Marullus zu vergleichen4); denn des Petron und Martial Genie hast du allein überflügelt." Wenn also später ein Mimus den besondern Beifall des Volkes fand, scheinen sich in den Applaus Akklamationen, wie „unus Philistion" gemischt zu haben. Der Vergleich mit Philistion war offenbar die höchste Ehre, die später einem Dramatiker zu teil werden konnte. So spricht Sidonius Apollinaris von Mimen, die gerne für Nachfahren Philistions gelten möchten, aber dessen nicht würdig sind5). „Welch ein Mime, fährt dann Mercator fort, welcher Sannio möchte so etwas öffentlich vor- bringen? Höchst elegant sind solche Witze, wie ein Mime

») Vgl. Eberhard a. a. 0. S. 60.

2) Aus dem Jahre 431 oder 432; vgl. Bardenhewer, Patrologie S. 480.

3) Man sieht also, dafs auch Mercator sich deutlich bewußt ist, dafs Philistion ein Grieche ist.

4) Die beiden berühmtesten lateinischen Mimographen in der Zeit nach Laberius und Syrus.

5) Vgl. oben S. 433.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 475

sprichst du Dach deiner gewohnten Art, und nach der mimischen Manier des Arbiter (Petronius) und des Valerius (Martialis)"1). Wie viel Martial der mimischen Biologie verdankt, haben wir schon angedeutet, und wie viel Petron von ihr entlehnt, werden wir noch im zweiten Bande zeigen. Philistion galt also mehr als beide, und beide hatten gerade in den späteren Jahrhunderten besondere Geltung. Für Mercator gehören natürlich die Heiden Philistion, Petron und Martial in die Verdammnis ebenso wie der pelagianische Bischof.

VH.

Die griechische Hypothese vor Philistion. Grundzüge ihrer Ent- wickeiung von Uranfang an.

Es ist kaum nötig, den Klassiker des griechischen Mimus, den man seltsamer Weise gar zum Lateiner gemacht hat, vor der Meinung zu schützen, er wäre ein Nachahmer des Laberius und Syrus. Philistion ist der Kulminationspunkt der kon- sequenten, selbständigen, mimischen Entwickelung bei den Hellenen. Um das völlig zu begreifen, müssen wir die Entwickelung des hellenischen Mimus, bis er zur Hypothese, zum grofsen, mimi- schen Drama wird, in ihren Hauptzügen überschauen.

l) Ich setze die Stelle aus der editio Stephani Baluzii, Parisiis 1684, S. 9—11, hierher: m£rubesce, infelicissime, in tanla linguae scurrüis vel potius mimicae obscoenitate. Vulgares tu dignus audirt acclamationes : Unus tu, unus Fhilistion, unus Latinorum Lentulus, unus tibi Marullus comparandus, namque Martialis et Petronii solus ingenia superasti .... atque utinam, quia hoc tibi fuisset utihus, vitalem spiritum exhalasses, antequam tarn obscoena tamque pleno dedecoris pleno ore proferres. Quis scenicus turpio, quis durio, vel sannio professae licentia turpitudinis publice isla proferret ? . . . Eleganter scurra loqueris more tuo, et more quo theatrum Arbitri Yaleriique detristi". Bei theatrum denkt man in des Marius Mercator Zeit vornehmlich an Mimus und Pantomimus.

Damit fügen wir zu den elf oben (S. 427 folg.) angeführten, neuen Beleg- stellen für Philistion die zwölfte. Zugleich gewinnen wir damit ein neues, bemerkenswertes Zeugnis für den Sannio, die lustige Figur im lateinischen Mimus. Noch im fünften Jahrhundert nach Christus ergötzte also Sannio das Volk wie zu Ciceros Zeit. Auch für Petron waren bisher für die ältere Zeit nur die drei Belegstellen aus Tacitus, Macrobius und Lydus bekannt (bei Bücheier3, S. 3 u. 4). Hier haben wir nun eine vierte.

476 Sechstes Kapitel.

Wenn wir vom Ursprung des dramatischen Mimus, der sich zur Hypothese entwickelt, handeln, müssen wir uns mit einem Sprunge in die prähistorischen Zeiten des hellenischen Volkes hineinbegeben. Der sizilisch-italische Mimus stammt aus dem Peloponnes1). Die dorischen Kolonisten nahmen ihn schon bei der Auswanderung mit in ihre neue Heimat. Besonders blühte der Mimus im sizilischen Megara, wo Epicharm zuerst, dann in Syrakus, wo er später lebte und nach ihm Sophron. Beide Städte sind etwa am Anfang des achten Jahrhunderts gegründet worden, ebenso Tarent, das gleichfalls eine Pflegestätte des itali- schen Mimus, des Phlyax, war. Also am Anfang des achten Jahr- hunderts giebt es schon eine Art dramatischen Mimus in den sizilisch-italischen Kolonien der Dorier; wie viele Jahrhunderte vorher mag er da schon im Mutterlande existiert haben ! 2) Der Mimus hat mit seiner Entwickelung die ganze, antike, historische Zeit, auf deren Schwelle er uns entgegentritt, erfüllt; so werden seine frühesten Manifestationen sicher in noch viel frühere, prä- historische Zeiträume hinabreichen. Über diese dunkeln Fluten trägt uns die Ethnologie und die vergleichende Völkerpsychologie mit starken Armen an den Ursprung des Mimus und der mimi- schen Poesie. Sie belehrt uns über den dramatischen, mimischen Tanz, welcher der Ursprung des Mimus war.

Bei allen Primitiven ist der Tanz ganz anders als bei den Modernen das wichtigste Mittel ästhetischer Lebensäufserungen. Wenn der Primitive sich zur Schlacht rüstet, tanzt er, wenn er ein Tier erlegt, führt er einen Tanz um seine Beute auf, wenn er seine Götter ehren, seine Toten betrauern will, immer tanzt er. Jedes tiefe Gefühl, Trauer und Freude, Hafs und Liebe, Ehrfurcht und Verachtung bewegt ihn zum Tanze, ihm giebt er sich mit der gröfsten Ausdauer, mit der gröfsten Leidenschaft- lichkeit, mit dem höchsten Genüsse hin, und ein solcher Tanz

') Darauf hat schon Otfried Müller, Dorier 2. Abteilung, S. 352 und S. 362 hingewiesen.

2) Vgl. hier besonders auch die Ausführungen Erich Bethes (Pro- legomena S. 60 und 61), der gleichfalls das hohe Alter des burlesken Dramas betont.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 477

hat auf ihn dann etwa dieselbe ästhetische, kathartische Wirkung wie auf uns ein ergreifendes Gedicht Der Tanz ist -der un- mittelbarste, vollkommenste und wirkungsmächtigste Ausdruck der primitiven ästhetischen Gefühle" 1).

Da dies ein allgemeines Gesetz der ästhetischen mensch- lichen Entwickelung ist, so gilt es auch für die ursprüng- lichen Zeiten des hellenischen Volkes, in die uns die mimische Ursprungsgeschichte verweist. Das ist um so sicherer, als noch in den historischen Zeiten die Bedeutung des Tanzes für das antike Volksleben eine ganz aufserordentliche, für uns Moderne ganz unbegreifliche gewesen ist') und sich nur in Parallele stellen läfst mit seiner Bedeutung für das Dasein der Primitiven.

Da können wir es wohl verständlich finden, dafs aus der

') Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunst Kap. VIII, Der Tanz S. 198.

8) Ich verweise hier auf Emmanuel, La danse grecque antique; es ist eine gründliche und gelehrte Zusammenstellung der Tanzdarstellungen auf den antiken Denkmälern. Das Technische des Tanzes ist, zumal der Autor sich der Hülfe von Herrn Hansen, Maitre de Ballets ä l'Opera, erfreute, glänzend behandelt. Nun ist aber die Mimesis die Seele des griechischen Tanzes, dessen Bewegungen alle etwas Sprechendes haben; der moderne (Ballet-J Tanz ist dagegen „beaucoup moins un langage qu'une gymnastique de- corative, idfalisee" (a. a. 0. S. 324). Der antike Tänzer ist im Grunde ein Mime: „Nous devons en effet voir en lui un mime du moins autant qu'un danseur: ces deux termes sont impliques dans le mot oqxtjOttjs dont la svjnißcation est tri* large et dont l'equivalent n'existe pas dans notre langue. Ce danseur-mime ne saurait etre astreint ä une gymnastique trop rigoureuse. Les formules mtcaniques qu'il a apprises aus lecons du Ptdotribe et du Maitre de danse sont en mtme temps des signes et deviennent en langage (a. a. 0. S. 328). Eine wirkliche Geschichte der griechischen Tanzkunst wäre also vor allem eine Geschichte der orchestri- schen Mimesis, soweit sie idealistisch-mythologisch (pantomimisch) oder rea- listisch-biologisch (rein mimisch) ist. Auch die eigentlichen Mimen sind ja in gewissem Sinne Tänzer, und im Mimus wurde auch viel getanzt. Von alledem finden sich bei Emmanuel kaum Andeutungen. Die nicht geringen Verdienste dieses Buches liegen eben vornehmlich auf dem Gebiete der orchestischen Technik. Die Geschichte des antiken Tanzes wäre also immer noch zu schreiben. Man wird dabei, um die orchestische Mimesis recht zu begreifen, da wir in der modernen Zeit nichts Ähnliches haben, von dem Tanze der Primitiven ausgehen müssen; dort finden sich mancherlei höchst lehrreiche Parallelen.

478 Sechstes Kapitel.

wichtigsten Art des Tanzes, der mimischen, der Mimus als die- jenige dramatische Gattung ihren Ursprung genommen hat, welche während des Altertums am populärsten gewesen ist und nicht blofs alle dramatischen, sondern überhaupt alle Gattungen der griechisch- italischen Poesie an Dauer lebendiger Existenz bei weitem übertroffen hat.

Die Alten selbst hatten einen deutlichen Begriff von dem Zusammenhang zwischen Mimus und mimischem Tanz. Noch die Römer pflegten die Aktion in der mimischen Hypothese mit saltare zu bezeichnen und die Miminnen auch saltatriculae zu nennen1). Wenn dieser Ausdruck mit gesticularia erläutert wird, so bedeutet es, dafs wir nicht an Rund- oder Chortänze, sondern an mimische Geberdentänze denken sollen. Dieser mimische Geberdentanz scheint sich noch bis in die spätesten Zeiten im Mimus erhalten zu haben. Auch die Cinaedologen, die zu den Mimen gehören, sind ursprünglich Tänzer, die ihre kleinen aa^axa Iconxd mit mimischen Geberdentänzen begleiteten. So heilst es noch bei Petron (c. 23): intrat cinaedus homo in- sulsissimus et plane illa domo dignus, qui ut infractis manibus congemuit, eins modi carmina effudit', es folgt dann ein kleines ImvMov qa^ia in Sotadeen. Das mimische, theatralische Element in diesen Gesängen, das allein auf dem mimischen Tanz beruht, betont Varro (Non. p. 170 scenatilis), der comici, cinaedici, scenatici zusammenstellt. Ebenso wird eine Art der ionischen Mimodie, die Magodie, direkt als weichlicher Tanz (ÖQxqai$ ancclri) gekennzeichnet. Wenn Choricius hervorhebt, wie begabt, gebildet und unterrichtet die Mimen sein müssen, so betont er ausdrücklich: dst xal xoqsvsiv aniöraad-ai (a. a. 0. S. 238). Ja, selbst mimische Tiertänze scheinen nicht ganz in der späten, mimi- schen Hypothese gefehlt zu haben. Ich erinnere an die „Bären, die einen Mimus aufführen" 2). Wenn in einer Atellanendarstellung aus der ersten Kaiserzeit ein Mensch mit Eselsmaske auftritt, der von einem andern von hinten verprügelt wird, so dürfen wir

*) Vgl. oben S. 57. 2) Vgl. oben S. 200.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 479

wohl annehmen, dafs er zu dieser Prügelmusik nach Art Freund Langohrs, des für die Antiken typisch komischen Tieres, einen höchst seltsamen, grotesken Eseltanz aufgeführt haben wird1). Tierverkleidungen scheinen im Mimus etwas ganz Gewöhnliches gewesen zu sein. Hier erscheint also der Mime, der Schauspieler, als Tier und nicht wie in der alten, attischen Komödie etwa der Chor; denn den giebt es im Mimus nicht. Bei Sophron scheint im Mimus ein Esel zu sprechen 2). Ich erinnere auch an die mannigfachen Terrakotten, die Schauspieler mit Köpfen von Ratten und Affen vorführen3). Wir dürfen auch nicht ver- gessen, dafs der Göttermimus, der in Xenophons Gastmahl von dem Knaben und dem Mädchen des Syrakusaners vorgeführt wird, noch mehr ein mimischer Tanz als ein Mimus ist, ja, uns sogar direkt den mimischen Tanz in seinem Übergange zum Mimus vorführt.

So dürfen wir also für die Urzeit bei den Hellenen wie bei allen primitiven Nationen mimische Tänze voraussetzen. Aber in historischer Zeit finden sich nur äufserst wenige Belege dafür; wir wissen ja vom hellenischen Tanze überhaupt so wenig.

Zu den mimischen Tiertänzen der Hellenen wird z. B. der Morphasmus gehört haben, den Pollux als die Nachahmung von mancherlei Tieren erklärt, ebenso wohl auch die „Eule", „Löwe", „Kranich" (ysoavog bei Lukian, rrsgl ÖQxrjtewg 84), „Fuchs" (älw- nr}% bei Hesych. s. v.) genannten Tänze. Von dem nach dem Spott- vogel (oxcoip) benannten Tanze sagt Pollux (IV, 103) mit dürren

*) Vgl. oben S. 258.

2) Vgl. oben S. 413 Anm.

3) Babelon et Blanchet Catalogue des bronzes antiques de la bibliotheque nationale, Paris 1895, S. 432. No. 983 Carricature on actenr avec une tete de singe S. 433. No. 984 Acteur comique avec une tete de rat. No. 985 Acteur comique avec une tete de rat. Mit Hundeköpfen erscheinen Aeneas, Anchises und Ascanius auf dem bekannten pompejanischen Bilde (in „Herculanum et Porapei, recueil göneral des peintures, bronzes, mosalques etc." Paris 1840, planche 58 S. 223—226). Die Phallen, welche alle drei tragen, weisen auf den Mimus hin, doch könnten es auch Atellanenspieler sein, die ja von den Mimen den Phallus ererbt haben (vgl. oben S. 258 Anm.).

480 Sechstes Kapitel.

Worten, es sei ein Tiertanz gewesen1). Von der mimischen Nachahmung der Tiere steigt der Primitive zu der mensch- licher Verhältnisse, Thätigkeiten und Typen auf. Zu der- artigen mimischen Tänzen zählen bei den Griechen z. B. die ^äXifizoav sxxvfoq* , „xqscov unoxonr* , „äyyeXixy" (Athen. XIV, 630 e).

Möglich, dafs auch der Schweinetanz (ygvXXiöixog) ein mimi- scher Tiertanz ist2); nicht ganz unmöglich, dafs das auch die Tierprozession auf dem Gewände der Göttin von Lykosura: Schwein, Pferd, Hund, Widder, Esel, Bär bedeutet3), wie Albrecht Dieterich meint4). So ist denn unsere Ausbeute an mimischen Tänzen bei den Hellenen, so zahlreich sie sicher auch einst in dem tanzfrohen Hellas waren, erstaunlich gering.

Allerdings wenn wir den neuesten Forschungen, die sich freilich hier auf schon recht alte Annahmen und Ansichten stützen, folgen wollen, dann ist wenigstens, was den mimischen Tiertanz angeht, ein ganz sicherer Weg gefunden, auf dem man nicht mühsam zu spüren und zu suchen hat, sondern das pure Gold in Massen findet.

Der altattische Chortanz ist eben zum grofsen Teil ein Tiertanz; da sind gleich des Magnes oqvtäsg, xpijveg, ßÜTQa%oi, des Eupolis afysg, des Aristophanes dcpijxsg, bgvi&sg, ßärgccxot, neXaqyoi, Piatos [ivQfitjxeg, des Kantharos [ii^Qfifjxsg und äijdovsg, des Archippus l%&vg. Da haben wir also Tiertänze in Hülle und

*) ö dh (ioQ(pao/j.bs navioSandöv $iä(av fii/urjaig tjV. i\v $1 xi xal axwip. tb <J" aiitb xal axconiag, tlSog og^rjaetog, %xov *wa T0^ XQa%r\lov nfQicpoQav xaxä ttjv tov OQW&og fiifirjaiv, og in' txnXr\'&wg ngbg ir\v oqyrfitv äXtaxtiai, vgl. Ath. IX, 321a.

2) Nach Bekker, Anecd. graec. I, p. 33 wird yqvXMtuv gesagt ln\ iwv (f'OQTixws xal (id^T]fj,6vcos oQ/ov/ufrcov.

3) Vgl. Cavvadias, Fouilles de Lycosoure S. 11, Tafel IV.

4) Pulcinella S. 32. An derselben Stelle deutet Dieterich den sonst allerdings kaum verständlichen Vers aus des Sophokles "A/nvxog bei Athen. IX, 400 b:

yiqavoi, /«ilwrat, ylavxeg, Ixxlvoi, XayoC auf alte Tiertänze. Das soll aber nur eine Vermutung sein und ist ja auch unbeweisbar.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 481

Fülle und gleich die allersonderbarsten von Nachtigallen, Wespen, Ameisen und Fischen.

Nun sind eigentliche, mimische Tänze von Nachtigallen recht schwer vorzustellen und gar von Fischen oder Ameisen schlecht- hin undenkbar. Auch hat es unter den Tiertänzen der Primitiven, welche alle nur irgend der [iiprjöu; zugänglichen Tiere darstellen, niemals einen Fisch-, Nachtigallen-, Ameisen- oder Wespentanz gegeben. Denken wir doch einmal an die Chöre in den Vögeln, den "Wespen und den Fröschen des Aristo- phanes. In Scharen ziehen die Vögel auf den Lockruf der Nachtigall herbei; wir werden dabei mit Vogelnamen über- schüttet:

„Kranich, Amsel, Turteltaube, Witzel, Wachtel, Ortolan, Möve, Meise, Edelfalke, Dohle, Kiebitz, Auerhahn, Schnepfe, Trappe, Gruppe, Dauschnarr, Göckelhahn und Singe- schwan" ! (v. 302—304 Droysen.)

Aber von irgend welcher genauen, mimischen Individualisierung der einzelnen Vögel ist keine Rede. Wenn irgendwo, so hätte da ein mimischer Tanz einzelner Vögel aufgeführt werden können, wo vor dem Auftreten des gesamten Chores einzelne Vögel erscheinen1). Wäre das geschehen, so hätten ihre grotesken Bewegungen dem Rathefreund und Hoffegut auffallen müssen, die sich beim Kuckuk nach ihnen erkundigen; aber das ist nicht der Fall. Offenbar hat dieser Vogelchor genau so getanzt, wie sonst komische Chöre zu tanzen pflegen, mochten sie nun Musen und Wolken und andere Fabelwesen oder Vögel sein. Es wäre ja auch die Ne- gation eines Chortanzes geworden, wenn jeder Choreute die Eigenart des Vogels, den er vorstellte, für sich in einem be- sondern, mimischen Tiertanze hätte ausdrücken sollen.

Dieser Vogelchor soll nur beständig daran erinnern, dafs wir uns in dem phantastischen Reich zwischen Himmel und Erde

*) So der (foivixomtQoq (v. 273), der Mijöog (v. 277), der frtoxp (v. 280) und der xmuxfayai; (y. 288).

Reich, Mimus. 3J

482 Sechstes Kapitel.

befinden, in dem wunderbaren Wolkenkuckuksheim, in dem nur ein leichtbeschwingter Vogel Heimatsrecht hat, in dem allein sich die Wunder zu ereignen vermögen, die uns des Dichters phantastische Märchenkomödie vorgaukelt. Diese Stimmung aber wäre wenig befördert, ja, eher gestört worden durch mimische Tiertänze, bei denen es ja auf möglichste Naturtreue und strengen Realismus der Nachahmung ankommt. Nicht anders ist es mit dem Chor der Wespen und der Frösche ; auch er hat einen ge- wöhnlichen Cbortanz aufgeführt und nicht etwa einen mimischen Tiertanz. Nach des Scholiasten Angabe bleibt der Chor der Frösche sogar unsichtbar1).

Wir sehen auf einem alten, attischen Vasenbilde sechs Reiter als Krieger ausstaffiert auf Delphinen, und darunter sechs Männer auf Straufsen reiten2). Aber wir sehen nicht im entferntesten einen mimischen Tanz von Delphinen oder Straufsen. Und dann der Ritterchor bei Poppelreuter; ich denke, dafs die Pferde, nachdem die Reiter abgestiegen sind, mit diesen ganz harmlos im Chore mittanzen, beweist doch aufs deutlichste, dafs diese Pferde eben durchaus keinen mimischen Pferdetanz auf- führen, sondern die Evolutionen des komischen Massenchores einfach mitmachen3). Auch der Tierchor, der bei Dieterich

x) An und für sich freilich ist ein mimischer Froschtanz durchaus nicht undenkbar. So haben die Australier wirklich mimische Froschtänze (vgl. unten S. 487). Und ebenso traten zu Cholula in der Vorhalle des Tempels von Quetzalcoatl mimische Tänzer als Frösche und ebenso als Käfer und Eidechsen auf und hüpften quackend und pfeifend, genau nach der Art der Tiere, die sie darstellten, über die Bühne (siehe Bancroft, The natives races Bd. II, S. 291).

2) Museum of fine arts Boston. Catalogue of greek etruscan and roman vases by Edward Kobinson. nr. 372 large skyphqs later black-figured style decorated with what appear to be chorus scenes from early Attic comedies (Vgl. Dieterich, Pulcinella S. 55).

3) Dafs wir hier wirklich Berittene vor uns haben, hat Zielinski, Gliederung der altattischen Komödie (S. 163, Anm. 1) scharf hervorgehoben. Poppelreuter hat dann sehr hübsch gezeigt, wie diese Pferde aussahen es sind Choreuten mit Pferdemasken (vgl. a. a. 0. die Abbildung S. 8) , und auch den Nachweis geführt, dafs die Innot, nachdem die InntTg abgestiegen sind, eben einen Teil dos Chorea bilden.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 483

(a. a. 0. S. 33) abgebildet ist1) (vgl. auch Poppelreuter S. 5 ff.), zwei Choreuten mit Flötenspieler, deren Kopf deutlich aus zwei Tiertypen gemischt ist, aus Schweinerüssel mit Hahnenkamm und -nase, kann ja gar nicht einen echten, mimischen Hahnen- tanz aufführen, weil er ja noch so viel vom Schwein, und keinen Schweinetanz, weil er ja so viel vom Hahn hat. Aus Athenaeus wissen wir es: der Chor in der Komödie, d. h. die Sänger der Phalluslieder, sind Menschen8). Diese Menschen kann der Komöde in den verschiedensten Masken auftreten lassen, und wenn er bei seinen Wanderungen durch die bekannte und unbekannte Welt sich auch ins Reich der Tiere begiebt, mufs der Chor eben auch tierische Masken tragen. Aber nie verliert dieser Chor seine menschliche Art gänzlich, seine Ver- kleidung ist immer eine höchst durchsichtige, und gar leicht läfst er seine Maske fallen. So wissen wir es jetzt, dafs der attische Tierchor nichts mit dem uralten, primitiven, mimischen Tiertanz zu thun und auch gar nichts Dämonisches an sich hat1).

Was ein rechter, mimischer Tanz und besonders ein mimischer Tiertanz ist, wie wirklich der Ursprung des dramatischen Mimus aussieht, kann man nur durch die Hilfe der Ethnologie von den Pri- mitiven lernen; die wenigen Nachrichten, die wir über mimische Tänze bei den Griechen haben, reichen dazu in keiner Weise aus.

Schon die Lebensbedingungen des Primitiven müssen ihn in

x) Nach der Amphora des Berliner Museums nr. 1830 (Furtwängler, Be- schreibung der Vasensammlung im Antiquarium I S. 328).

a) Vgl. oben S. 275 folg.

3j Mit Recht hat Poppelreuter, nach einer tiefen Anregung von Hermann Diels (vgl. S. 15, Anm. 2), die altattische Komödie mit dem Spiel burlesker, theriomorpher Vegetationsdämonen in Zusammenhang gebracht, nur den attischen Chor hätte er nicht damit zusammenbringen sollen; der besteht aus Menschen in allerhand beliebig wechselnden Ver- kleidungen, keinen Dämonen oder gar Tierd&monen. Nur der komische, mit dem Phallus, dem Zeichen der ewig neu gebärenden Naturkraft, begabte Schauspieler, der mit dem Phlyaken und Mimen, die alle gleichfalls den Phallus tragen, identisch ist, ist dämonischer Natur, nur er übt mimische Aktion und mimischen Tanz aus, nur er schildert Typen und Figuren wie der mimische Tänzer und der Mime, und er hat da3 direkt von dem zum komischen Menschenchor hinzutretenden Mimen gelernt.

31*

484 Sechstes Kapitel.

eine besonders nahe Beziehung zu den Tieren bringen. Sein Leben steht in engster Beziehung zur Natur; in Wald und Heide, im Gebirg, in Steppen, auf Wiesen und Sümpfen verbringt er seine Tage, wie die Tiere in seiner Umgebung.

Allein schon aus praktischen Gesichtspunkten mufs er sich bemühen, eine recht genaue Kenntnis dieser seiner nächsten Nachbarn zu erlangen; denn sie sichert ihm am ehesten die Herrschaft. Die primitiven Hirten kennen ihr Vieh genau so, wie wir die Individuen unserer Bekanntschaft1). Die primitiven Jäger benutzen diese genaue Kenntnis beim Fange der Tiere. So schleichen sich die Buschmänner, als Straufse verkleidet, an diese Tiere heran, und ihre mimische Geschicklichkeit, dabei ganz als Straufse zu erscheinen, wird als aufserordentlich gerühmt2). Ebenso wissen die Indianer, als Büffel oder Prairie-

!) Vgl. Eatzel, Völkerkunde Bd. I, S. 334: „Die Herden üben einen mächtigen, geradezu zwingenden Einflufs auf die Volksverhältnisse der Herero aus . . . Ihr Sinn und Auge weiden sich schon von frühster Jugend auf an den Gestalten, Farben etc. dieser Tiere. Die kleinsten Jungen vergessen ihre Spiele, um sich über den Wert dieses oder jenes Ochsen zu streiten. Ein Hauptvergnügen der Kinder ist es, Ochsen und Kühe in Thon nachzu- bilden, worin sie es zu einer grofsen Vollkommenheit bringen". Weiter wird dann berichtet, wie die Herero ihr Vieh bei den verschiedensten Herden in allen Teilen des Landes zerstreut weiden lassen, ohne dafs eins von diesen Tieren eine Eigentumsmarke trägt, und doch erkenne jeder Besitzer auch so sein Tier unter Tausenden heraus. Vgl. auch a. a. 0. I, S. 337. Auch Darwin, „Über die Entstehung der Arten", bespricht diese Eigentümlichkeit individueller Kenntnis der Tiere.

2) Vgl. Ratzel a. a. 0. I, S. 68 : „Gerade durch ihre Kunst der Nachahmung sind die Buschmänner im stände, mit ihren einfachen Waffen mit einem Erfolge zu jagen, der die mit den vollkommensten Mordwerkzeugen aus- gerüsteten Europäer in Erstaunen setzt. Am berühmtesten ist ihre Straufsen- jagd, bei welcher sie an einem sattelartigen, mit Straufsfedern besetzten Polster, das sie auf der Schulter tragen, den ausgestopften Kopf und Hals eines Straufses befestigen und ihre Beine weifs anstreichen, um sich so straufsartig wie möglich zu machen. In der Linken den Bogen und die Pfeile tragend, nähern sie sich einer Straufsherde so viel wie möglich, natür- lich gegen den Wind. Moffat behauptet, es geschehe dies mit so natürlichen Bewegungen, dafs mau auf ein paar Hundert Schritte die Täuschung nicht herausfiude. „Dieser menschliche Vogel", sagt er, „scheint die Kräuter ab-

Die griechische Hypothese vor Philistion. 485

wölfe vermummt, durch ihre mimische Kunst die Büffelherden zu berücken.

Dieser genauen Beobachtung der einzelnen Tierindividuen sind die Primitiven aber auch nur fähig, weil für sie das Tier ganz anders wie für den Modernen ein Individuum, eine Per- sönlichkeit ist, wie der Mensch, das Gefühle hegt wie sie selbst, und dem sie alle Gefühle: Abneigung, Vertrauen, Freund- schaft, Bewunderung, Liebe, Furcht und Hafs entgegenbringen1).

So hat denn der Primitive ein erstaunlich enges und in- times, fast verwandtschaftliches Verhältnis zur Tierwelt und eine ganz genaue, ins Einzelnste gehende Kenntnis der verschiedenen tierischen Individuen2).

zuweiden, wendet den Kopf, als ob er scharf ausschaue, schüttelt seine Federn, wechselt zwischen Schritt und Trab, bis er nahe an die Herde herangekommen. Rennt diese, nachdem einer aus ihrer Mitte getroffen, so rennt er mit, um sein Spiel zu wiederholen. Manchmal verfolgen die mann- lichen Straufse den seltsamen Vogel, worauf dieser alles aufbieten mufs, dafs sie nicht seinen Geruch bekommen, denn sonst ist der Zauber gebrochen. Kommt einer zu nahe, so bleibt dem falschen Straufs nichts übrig, als in den Wind zu laufen oder seinen Sattel abzuwerfen, um einem Schlage mit dem Fufse zu entgehen, welcher ihn niederstrecken könnte*.

*) So grofses Erstaunen die Darwinsche Theorie von dem tierischen Ursprung des menschlichen Geschlechts erregte, so geringe Verwunderung würde sie bei den wilden Stämmen erwecken. Amerikanische Indianer fühlen sich durchaus als Abkömmlinge irgend welcher tierischen Geschlechter, von Schildkröten, Schlangen u. s. w. Einzelne Negerstämme müssen wir als Darwinisten vor Darwin bezeichnen, weil sie sich den Affen zum Urälter- vater ihres Geschlechtes erkoren haben. Die australischen Dieyerie glauben, dafs die Menschen aus kleinen Eidechsen entstanden seien (vgl. Ratzel a. a. 0. II, S. 89). „Als Heuglin im Lande der Djur eine grofse Riesenschlange (Python) erlegte, waren die Neger eines benachbarten Gehöftes sehr unge- halten und sagten, der gewaltsame Tod ihres Ahnherrn werde ihnen Unheil bringen. Auch die Bari nennen die Schlange ihre Grofsmutter, und Ähn- liches erzählt Kaufmann von den Dinka" (vgl. Ratzel, a. a. 0. I, S. 518). Die Aino, die Ureinwohner Japans, halten den Hund für ein ebenbürtiges Ge- schöpf und erblicken darin keine Schande, ihn als ihren Stammvater zu betrachten. Sie erzählen sich eine merkwürdige Geschichte : „Wie es kommt, dafs die Hunde nicht mehr sprechen können" (Fischer a. a. 0. S. 302).

*) Ein Rest dieser urmenschlichen Auffassung der Tierwelt offenbart sich noch bei den modernen Kindern auf dem Lande und in der kleinen

486 Sechstes Kapitel.

Darum dürfen wir von den Tiertänzen die äufserste Realistik, die schärfste Hervorhebung bestimmter Eigentümlichkeiten ein- zelner Tierindividuen erwarten; denn so scharfe Beobachter, wie die Primitiven es sind, müssen auch notwendig ebenso treue, mimi- sche Darsteller sein1).

Stadt, die noch nicht von vornherein in Verhältnisse gesetzt werden, die dieser Auffassung den Garaus bereiten müssen. Sie haben noch immer die intimsten Verhältnisse zu den Tieren, und die Gabe, die Sprache der Tiere zu verstehen, die sonst nur Märchenprinzen zu teil wird, ist ihnen noch heutigentags verliehen. Vgl. das hübsche Buch von F. Drosihn, heraus- gegeben von Bolle und Polle, „Deutsche Kinderreime und Verwandtes":

Nr. 135: Täuberich: Wo s min Fru? Wo s min Fru?

Kak Koffee, Kak Koffee, Kak Koffee! Katze: Mi au! Mi au!

Ente: Dat dacht ik wol, dat dacht ik wol.

Gun Dach, gun Dach, gun Dach. Henne: Kakel kakel Klüt!

Ziege: Wat noch me e— e?

Nr. 142: Die Henne ruft, wenn sie ein Ei gelegt hat:

Wat bedüt dat? Wat bedüt dat?

Wie innig das Zusammenleben zwischen den Kindern und Tieren ist, zeigt das fünfte Kapitel des citierten Buches: „Gute Nachbarn und Freunde in Haus und Hof", wo zahlreiche Kinderreime sich finden, welche alle mög- lichen Anreden der Kinder an mancherlei Tiere: Kuh, Hase, Fuchs, Ente, Gans, Storch, Habicht, an das Grützwürmchen oder Marienwürmchen, den Maikäfer u. s. w. enthalten.

*) So bemerkt Grosse (a. a. 0. S. 213 und 214) höchst treffend: „Die mimi- schen Tänze gewähren dem primitiven Menschen jedoch aufserdem noch andere Genüsse, welche er in den gymnastischen Tänzen nicht findet. Sie befriedigen seinen Nachahmungstrieb, der häufig genug zu einer wahren Nachahmungs- sucht entwickelt hervortritt. Die Buschmänner machen sich das gröfste Ver- gnügen daraus, „die Bewegungen bestimmter Menschen oder Tiere täuschend nachzuahmen; alle australischen Eingeborenen besitzen eine staunenswerte mimische Begabung", die sie bei jeder Gelegenheit bethätigen; und von den Feuerländern erzählt man, „dafs sie jedes Wort eines beliebigen Satzes, den man ihnen vorsprechen mag, mit voller Genauigkeit wiederholen, wobei sie zugleich die Manier und die Haltung des Sprechenden copiren" . . . Der Nachahmungstrieb ist allerdings eine allgemeine menschliche Eigenschaft, aber er herrscht nicht auf allen Stuten der Entwickelung in gleicher Stärke. Auf der untersten Kulturstufe ist er für alle Glieder der Gesellschaft bei-

Die griechische Hypothese vor Philistion. 487

Diese Erwartung wird durchaus bestätigt. Bei den Australiern hat man Schmetterling-, Dingo-, Frosch- und Emutänze gefunden. Besonderer Verbreitung aber erfreut sich bei ihnen der Känguru- tanz. Vor allem verwundern sich hier die Reisenden über die getreue Naturnachahmung und den erstaunlichen Realismus der Darstellung. „Als sie alle um die Wette hüpften", sagt Mundy, „konnte man sich nichts Komischeres und keine gelungenere Nachahmung denken", und Eyre fand den Kängurutanz am Lake Victoria so wunderbar ausgeführt, dafs er in jedem europäischen Theater donnernden Applaus hervorgerufen haben würde1).

Nicht anders ist es bei den Eingeborenen Afrikas. Von den Herero berichtet Ratzel (a. a. 0. I. S. 331): „Ihre Tänze sind sehr einfacher Art: Hauptbestandteil derselben ist die Nachahmung der Bewegungen von Tieren. In dieser Nachahmung der Tiere sind wohl die Buschmänner ihre Lehrmeister gewesen, aber die Herero haben es darin sehr weit gebracht. Galton erzählt z. B. von einem Damara, der ihm das Nilpferd so täuschend vorstellte, dafs er augenblicklich die charakteristischen Bewegungen des- selben erkannte. Als Gipfel der Komik gilt die Nachahmung des plumpen Geplärres des Pavians, die in jeder musikalischen Unterhaltung der Herero die unfehlbar wirksamste Nummer des Programmes zu sein pflegt2)".

nahe unwiderstehlich; allein je mehr sich im Fortschritte der Kultur die Differenzen zwischen den einzelnen socialen Gliedern vergröfsern, desto ge- ringer wird seine Macht: und das höchste Individuum strebt vor allem da- nach, nur sich selbst gleich zu sein". Die scharfe Tierbeobachtung der Pri- mitiven, die zur naturgetreuen mimischen Nachbildung im Tanze führt, hat auch die plastische Tierdarstellung schon in ausserordentlich frühen Zeiten zu einer bedeutenden Höhe gehoben, so dafs uns prähistorische Schnitzereien von Tieren durch die erstaunliche Naturwahrheit ihrer wohlgelungenen Nach- ahmung in Erstaunen setzen; vgl. besonders Andree, Ethnographische Paral- lelen N. F. S. 56 folg.

1) Grosse a. a. 0. S. 209.

2) Auch die Hottentotten excellieren im Tiertanze. Wir haben (S. 443, Anm. 1) auf den Zusammenhang zwischen Tierfabel und Tiermimus hin- gewiesen; um so interessanter ist es, dafs sich nun auch bei den Hotten-

488 Sechstes Kapitel.

Ebenso haben die Eingeborenen Nordamerikas mancherlei Tiertänze. Um das realistische Element, das auch sie bezeichnet,

totten ausgezeichnete Tierfaheln finden. Ratzel (a. a. 0. I, S. 1 08) bemerkt darüber: „Ein sonderbarer reicher Zweig der hottentottischen Erzählungs- litteratur sind die Tierfabeln, welche bald in merkwürdigem Anklänge an unsre Reinekefabeln die Überlistung des Löwen und andrer Tiere durch den Schakal, bald die Plumpheit des Elefanten, die Schlauheit des Pavianes in teils witziger, teils freilich auch pointeloser Weise darstellen und kari- kieren". Ich setze die Fabel „Der Leopard und der Widder" wegen der guten, realistisch-humoristischen Biologie, die sie nicht weniger auszeichnet wie den mimischen Tanz, hierher:

„Als ein Leopard einst von der Jagd heimkehrte, kam er zufällig an den Kral eines Widders. Nun hatte der Leopard nie zuvor einen Widder ge- sehen und näherte sich ihm demzufolge in sehr unterwürfiger Weise, wobei er sagte: „Guten Tag, mein Freund! Wie magst du wohl heifsen?" Der Widder erwiderte mit rauher Stimme, indem er sich mit dem Vorderfufse auf die Brust schlug: „Ich bin ein Widder, und wer bist denn du?" „Ein Leopard", versetzte der andre, mehr tot als lebendig; dann nahm er Abschied und eilte heim, so schnell er laufen konnte. Nun lebte mit dem Leoparden zusammen ein Schakal, und zu dem ging der Leopard hin und sprach: „Freund Schakal! Ich bin ganz aufser Atem und halbtot vor Schrecken, denn ich habe soeben einen fürchterlichen Burschen mit grofsem, dickem Kopfe gesehen, der mir auf die Frage nach seinem Namen ganz grob erwiderte: „Ich bin ein Widder!"

„Was bist du doch für ein närrischer Kerl von Leopard", rief der Schakal, „dafs du solch ein schönes Stück Fleisch fahren läfst! Wie kannst du nur das thun? Aber wir wollen uns morgen auf den Weg machen und es in Gemeinschaft verzehren."

Am folgenden Tage machten sich die beiden nach dem Krale des Widders auf; als sie nun auf diesen von der Höhe eines Hügels hinabsahen, erblickte sie der Widder, der ausgegangen war, um frische Luft zu schöpfen, und der eben überlegte, wo er wohl heute den zartesten Salat sich suchen könnte. *Da eilte er denn sofort zu seiner Frau und rief ihr zu: „Ich fürchte, dafs unser letztes Stündlein geschlagen hat! Der Schakal und Leo- pard kommen beide auf uns zu. Was wollen wir anfangen?" „Sei nur nicht bange", meinte sein Weib, „sondern nimm das Kind hier auf den Arm, geh' damit hinaus und kneife es recht tüchtig, so dafs es schreit, als sei es hungrig."

Der Widder gehorchte und ging so den Verbündeten entgegen. Sobald der Leopard den Widder erblickte, bemächtigte Furcht sich abermals seiner, und er wollte wieder umkehren. Der Schakal hatte für diesen Fall schon

Die griechische Hypothese vor Philistion. 489

hervorzuheben, gebe ich hier kurz die Schilderung des Prinzen Maximilian zu Wied, der sie als Augenzeuge kannte1): „Einer macht z. B. den Bären, in einer Bärenhaut mit Kopf und Klauen eingehüllt, ahmt die Bewegungen und Stimmen des Thiers so genau nach, dafs man glaubt einen Bären vor sich zu sehen. Er wird erschossen, man sieht deutlich die Schufs- wunde, das Blut fliefst, er fällt nieder, stirbt, man zieht ihm die Haut ab, und endlich kommt der Mann unverletzt hervor". Steller erwähnt die Tiertänze der alten Kamtschadalen'^ von ihnen haben sie die jetzt dort hausenden, russischen Kosaken geerbt, und noch A. Erman sah die als Krähen und Bären maskierten Kosaken, welche jene Tiere „mit gröfster Treue nachahmten"3). Überhaupt hat die realistische Mimesis, welche die Darstellung des Bären im Tiertanze gefunden hat, stets die besondere Bewunderung der Reisenden erregt. Überall wird hervorgehoben, dafs die ganze Eigenart des Tieres, seine körperliche Haltung, seine plumpen, drolligen Bewegungen und selbst seine seelische Erregung wiedergegeben wird4). Auch

Vorsorge getroffen, er hatte nämlich den Leoparden mit einem ledernen Riemen an sich festgebunden. So sagte er nun: „So komm doch!" Da kniff der Widder sein Kind recht tüchtig und rief dabei laut: „Das ist recht, Freund Schakal, dafs du uns den Leoparden zum Essen bringst, hörst du, wie mein Kind nach Nahrung schreit?"

Als der Leopard diese schrecklichen Worta hörte, stürzte er trotz der Bitten des Schakals, ihn doch loszulassen, in der gröfsten Angst davon, indem er zugleich den Schakal über Berg und Thal, durch Büsche und über Felsen mit sich fortschleppte und erst dann stillhielt und scheu um sich blickte, als er sich selbst und den halbtoten Schakal wieder nach Hause gebracht hatte. So entkam der Widder", (bei Ratzel a. a. 0. I, S. 109.)

1) Reise in das Innere Nordamerikas in den Jahren 1832—1834, Koblenz 1841, Bd. II, S. 246.

2) Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. Frankfurt und Leipzig, 1774, S. 340.

3) Reise um die Erde. Historischer Bericht III, S. 189.

4) Bei Magnin a. a. 0. S. 44 nach Lesseps, Journal historique du voyage de ML Lesseps au Kamtschatka heifst es: „if. Lesseps raconte que les Kam- tsehadales reussissent surtout a contrefaire les mouvements de Vours. Non-seulement üs reprisentent tres-bien la demarche lourde et stupide du male, mais ils excellerU

490 Sechstes Kapitel.

der alte Ostjak, den 0. Finsch diesen Tanz ausführen sah, be- mühte sich, verschiedene Stellungen und Bewegungen des Bären nachzuahmen, schwenkte sonderbar mit den Armen und sprang mit der Plumpheit eines Bären umher. Neben dem Bären aber sehen die Ostjaken auch Kraniche, Elentiere und der- gleichen als geeignete Vorbilder ihrer mimischen Tiertänze an und ahmen sie aufs getreueste nach1).

Die Eskimo geben nach Bancroft8) zahllose mimisch- burleske Darstellungen von Tieren und Vögeln. Bei festlichen Gelegenheiten führen die Tänzer der Hyperboreer, junge Leute, die sich bis zum Gürtel entblöfsen oder sogar im Adamskostüm erscheinen, zahllose, possierliche Nachahmungen von Vögeln und wilden Tieren der arktischen Regionen auf. Die Alten sitzen dann rund herum auf Bänken, rauchen und spenden Beifall wie im Theater3). Einen sehr naturgetreuen Vogeltanz, vielleicht einen Straufsentanz, gab es auch auf Isle de France4). Über den „höchst originellen sogenannten Vogeltanz" der Aino auf Jezo berichtet Fischer: „Er bestand darin, dafs die Weiber die

h exprimer la tendresse que la femelle porte h ses petits; ils peignent h merveille l'agitation et la colere de ces animaux lorsqu'ils viennent a e*tre troublh dam leurs retraitet. „Je demandai, dit ce voyageur, aux Russes plus connaisseurs que moi, puisqu'ils sont dans leurs chasses continuellement aux prises avec ces animaux, si ces ballets itaient bien exe'cutes; ils rri'assur&rent tous quHil etait difficile de ren- contrer dans le pays de plus habiles danseurs et que les cris, la marche et toutes les attitudes de Vours itaient imitds a s^y mdprendre".

*) Reise nach West-Sibirien im Jahre 1876. Auf Veranstaltung des Vereins für die deutsche Nordpolarfahrt in Bremen unternommen mit Dr. A. E. Brehm und Karl Graf v. Waldburg-Zeil-Trauchburg von Dr. 0. Finsch, Berlin 1879, S. 614.

2) Bancroft, The natives races I, S. 67.

3) Bancroft a. a. 0. 1, S. 66.

4) Magnin a. a. 0. S. 43: Mr. Milbert raconte que les negres de V Herde- France revitent, aux jours de fites, le plumage de certains oiseaux, dont ils sejfor- cent de reproduire les mouvements habituels. S'agit-il de Fautruche? ils allongent le cou et se frappent les flancs de leurs coudes pour imiter Vallure de ce geant de la race emplumee. . . . Dans ces petites pieces les spectateurs se mttent h Vaction, feignent de prendre Vacteur pour Voiseau qu!il imite, courent ä sa poursuite et, sHls peuvent Vatteindrey lui arrachent a l'envi ses plumes.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 491

Arme in die breiten Ärmel zurückzogen, so dafs diese das An- sehen von Flügeln erhielten; alsdann begannen sie mit den Ärmeln wie Vögel zu schlagen, indem sie gleichzeitig das Ge- räusch auffliegender Rebhühner nachahmten" (Bilder aus Japan, Berlin 1897, S. 310). Merkwürdigerweise existieren Reste solcher Tiertänze auch noch bei einem so civilisierten Volke wie die Japaner. Ihr Löwentanz wie ihr Fuchstanz sind so mimisch- burleske Tiertänze wie die der Primitiven1). Auch der japanische Löwentanz ist, wie die meisten Tiertänze, kein Chor-, sondern ein Solotanz. Er gehört in Japan zu den gewöhnlichen Vor- führungen, mit dem die Gaukler ihr Publikum ergötzen, und mit dem sie stets sicher sind, Geld und Beifall zu gewinnen. Plötzlich schreitet unter dem Getöse von Pauken, Pfeifen und Tambourins eine seltsame Schreckgestalt, die ein Orchester von drei Mann mit sich führt, durch die Strafsen; es ist ein Un- geheuer mit Löwen- oder Tigerfell, mit einem schrecklichen, phantastischen Löwenhaupt und Löwenmähne. Es überragt die Passanten um 1 2 Meter. Bei näherem Hinsehen freilich bemerkt man die Beine des Gauklers, die aus dem weiten Löwenmantel herausstecken. Dieses Ungetüm führt einen seltsamen Tanz auf; plötzlich verwandelt es sich in einen Vierfüfsler, wie es einem Löwen zukommt, und macht allerlei seltsame Kapriolen; dann wirft es die Umhüllung ab und der Gaukler kommt zum Vor- schein ).

J) In etwas abgeschwächter Form haben sich derartige Tiertänze auch bei den modernen europäischen Völkern bis ins 16. Jahrhundert erhalten, z. B. die Pavane, der Pfauentanz (vgl. Czerwinski, Gesch. d. Tanzkunst S. 67) und Ähnliches. Aus dem alten Ägypten sind, wenn auch nicht Tiertänze, so doch mimische Tänze bekannt, die Gegenstände der Natur und des Natur- lebens darstellen. Vgl. Erman, Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum Bd. I, 339 u. ö.

2) Eine hübsche bildliche Darstellung dieses grotesken, gauklerischen Tiertanzes findet sich bei Aime Humbert, Le Japon illustre, Paris 1870, Bd. II, S. 154. Wir sehen dort den tanzenden Löwen in effigie samt seinem Orchester und dem Strafsenpublikum, das ihm zuschaut, den Kindern, die angstvoll vor ihm davonlaufen, oder, dreister geworden, ihn gar zu attakieren beginnen, so dafs er ihnen drohend sein schreckliches, zähnefletschendes Antlitz zuwendet.

492 Sechstes Kapitel.

Auch der Fuchstanz der Japaner entspricht durchaus der Auffassung, die wir vom Tiertanze gewonnen haben. Auch er ist die möglichst genaue und realistische Nachahmung eines be- stimmten Tierindividuums.

Für unsere Untersuchung ist es von grofsem Werte, den Tiertanz in seinen letzten Manifestationen noch bei einem so vorgeschrittenen Volke, wie die Japaner es sind, zu finden. Wir können daran wohl erkennen, wie lange primitive Ge- bräuche, Sitten, Gewohnheiten und Gefühle sich unter Um- ständen bei einem eigentümlich veranlagten Volke erhalten. Jedenfalls haben wir mehr Grund, den Tiertanz bei den homeri- schen und nachhomerischen Griechen vorauszusetzen wie bei den modernen Japanern.

Diese wenigen Beispiele lassen aufs deutlichste das wesent- liche Element an allen mimischen Tiertänzen hervortreten. Ihnen allen gemeinsam ist die genaue Nachahmung, deren strenge, bis ins Einzelnste gehende Realistik durch den mimischen Humor in das Reich ästhetischer Kunstdarstellung gehoben wird1). Aufserdem aber ist noch hervorzuheben, dafs der mimische Tiertanz ein Solotanz ist und kein Chortanz2).

Natürlich zeigt der mimische Tanz auch, soweit er sich der Darstellung menschlicher Typen zuwendet, was allerdings etwas

1) Es sind gar mannigfaltige Tiere, die einer mimischen Darstellung teilhaftig werden und geworden sind, vornehmlich: Bär, Elen, Kranich (Hyperboreer), Wolf, Stier, Adler (nordamerikanische Indianer), Klapper- schlange, Straufs (Afrika), Fuchs, Löwe (Japan), Käfer, Frosch, Eidechse (Mexiko), Känguru, Emu, Dingo, Schmetterling (Australien). Viele von diesen Tieren werden freilich von den allerverschiedensten Völkern im Tanze nach- geahmt; so giebt es Schmetterlingstänze nicht blofs in Australien, sondern auch in Japan und Mexico, ebenso ist der Froschtanz in Australien wie in Mexico und wohl auch in Kamscbatka zu Hause. Der Bärentanz aber ist über den ganzen Norden Asiens, Amerikas und auch über Grönland ver- breitet.

2) Also hat der komische Chor schon seiner ganzen Natur nach nichts mit dem mimischen Tanze zu thun, desto mehr allerdings der mimische Schauspieler.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 493

seltener, wenn auch häufig genug geschieht, dieselben charakte- ristischen Merkmale. So schildern die Hyperboreer (nach Banc- roft a. a. 0. Bd. I, S. 66) in allerhand pantomimischen Scenen Liebe und Eifersucht, Hafs und Freundschaft. So werden auch bei gröfseren Vorstellungen der Maoris Solotänze aufgeführt, die in burleske, mimische Darstellungen von Zank- und Prügelscenen übergehen '), und die Malayen stellen im mimischen Tanze Kopf- jäger dar, wobei eine Kokosnufs den erbeuteten Kopf vertritt (Ratzel, a. a. 0. II, S. 386). Besonders lehrreich sind hier die primitiven, mimischen Darstellungen der Kamtschadalen , von denen Steller2) berichtet:

„Die vierte Art zu tanzen besteht darinn, dafs sie auf den Knien sitzen wie die Frösche, im Kreise herumhüpfen, mit den Händen klatschen, und allerhand wunderliche Figuren gegen ein- ander machen, und fängt ebenfalls nur einer an, die andern aber kommen alle nach und nach aus den Winkeln wie die Frösche

herbeygehüpft Nach denen Tänzen komme ich auf die

Comedien der Itälmenen. Die Materie ihrer Comedien sind ent- weder neue Sitten und Manieren ankommender Leute, oder närrische Stellungen. Worte und Begebenheiten ihrer Nation. Sobald jemand auf Kamtschatka kommt, ist das erste dafs er einen neuen Namen in ihrer Sprache erhält, von einer Eigen- schaft die ihnen zuerst in die Augen fällt. Kommt jemand zu ihnen in die Wohnung, oder hält sich nur eine kurze Zeit in ihren Ostrogen auf, so beobachten sie nach ihrer angebohrnen Curiosität, den Gang, Gebärden, Sprache, Verrichtungen, Tugenden und Laster, und wissen nach diesem als ächte Mimi diejenige Person welche sie wollen, dergestalt mit blofsen Geberden, theils auch sammt den Worten vorzustellen, dafs mau sogleich merken kan

*) Ratzel a. a. 0. II, S. 133 nach Cook.

2) a. a. 0. S. 340 folg. Ich hebe noch ausdrücklich hervor, dafs noch sehr viel mehr Nachrichten über mimische Tänze der Primitiven in Reise- werken und Missionsberichten vorhanden sind. Ich gebe hier aus meinen Sammlungen nur das besonders Prägnante und für unsere spezielle Unter- suchung Lehrreiche; ich hätte aber ebensogut auch andere Beispiele wählen können.

494 Sechstes Kapitel.

auf wem es angesehen ist, ohnerachtet man solches nimmermehr hinter ihnen suchen sollte, und kommt folglich niemand hieher, der sich Zeit seines Auffenthalts nicht müsse censiren, und mit seiner Aufführung zur öffentlichen Schau aufstellen lassen. Dabey fassen sie deutsche Worte, exprimiren die üble Pronunciation der ausländischen im Russischen. Den Herrn Capitain Spangberg imitiren sie und commandiren alle Segel mit terminis nauticis; mich in Aufzeichnung und Ausforschung ihrer Sitten und Ge- bräuche, dabey einer den Dollmetscher agirt; einen andern in seiner Völlerey verbothenen Caressen, und nächtlichen Unord- nungen; dabey vergessen sie nicht Taback zu rauchen, zu schrauben, zu schnupfen, Leute zu vermahnen, mit Worten an- zugreifen, ja gar mit Schlägen zu tractiren. Sobald sie einen Augenblick frey haben, exerciren sie sich sogleich jemand zu

agiren, er mache auch was er immer wolle Ist dieses

zu Ende so imitiren sie allerhand Vögelgeschrey nach, item das Saussen des Windes und alles was ihnen vorkommt, woraus man das active Gemüth der Kamtschadalen und ihre lebendige Phantasie zur Gnüge beurtheilen kan.

Aufser diesen Mimis und Pantomimis haben sie auch Narren, oder Leute die sich als Harlequins an ihren Festen gebrauchen lassen. Ihre Possen aber kommen dergestalt unfläthig heraus, dafs man sie ohne Schande nicht erzählen kan. Sie lassen sich als Hunde nackend vor den Schlitten spannen und fahren jemand, lassen sich wie Hunde tractiren, und fressen und machen alles was die Hunde thun."

Nach allem, was wir bisher über die realistische Ethologie und Biologie des Mimus gelernt haben, bei der es vor allem auf Schärfe und Richtigkeit der Auffassung wie Lebenswahrheit der Darstellung ankommt, ist es klar, dafs dieser mimische Tanz schon den echten, ethologisch-biologischen, realistisch-humoristi- schen Geist des Mimus besitzt, und dafs ihn vom Mimus selbst nur das Fehlen des gesprochenen Wortes trennt. Nun ist diese lebendige Darstellung bestimmter Typen, seien es Tiere oder Menschen, wenn auch ohne Worte und auch diese finden sich nicht selten durch und durch dramatisch; so ist der

Die griechische Hypothese vor Philistion. 495

Mimus schon in seiner primitivsten Form ein Drama. Ja, nicht selten vereinigen sich mehrere mimische Tänzer zur Darstellung einer mimischen Grundidee. Sie stellen nicht blofs ein Tier, sondern auch die Jagd darauf dar, wobei der eine die Rolle des Tieres, der andere die des Jägers mit mimischem Realis- mus spielt1). Oder sie mimen wie die Wilden Australiens eine weidende Herde oder den Kampf zwischen Wilden und Weifsen2). In solchen gröfseren Tableaux erhebt sich schon der mimische Tanz sozusagen zur Hypothese. Dieses Streben nach gröfserer Ausgestaltung steckt also von vornherein dem Mimus im Blute.

Es wäre demnach leicht zu sagen, zum mimischen Tanze habe sich allmählich das Wort gefunden, um die Charakter- darstellung noch gelungener, noch wirkungsvoller zu gestalten. Allmählich sei dann die Darstellung durch den Tanz hinter der Darstellung durch das Wort zurückgetreten, und so sei der eigentliche Mimus entstanden. Der philosophisch- ästhetischen Kritik wäre mit dieser Erklärung Genüge gethan. Aber es handelt sich hier um den philologisch -historischen Nachweis dieser Entwickelung; und der läfst sich nur geben, wenn man zweierlei erkennt: erstens, wie der mimische Tanz in Beziehung zu den Fruchtbarkeitsdämonen und ihren Naturfesten tritt, und wie dabei der mimische Tänzer die phallische Gestalt dieser Dämonen annimmt, und zweitens, wie dann dieser so seltsam ge- staltete, mimische Tänzer, da ihn die Jongleure in ihren Kreis aufnehmen, allmählich seine Kunst nicht mehr autoschediastisch, sondern berufsmäfsig ausübt, und wie so aus dem Stande der

*) Vgl. oben S. 489 die Schilderung des Bärentanzes durch den Prinzen zu Wied.

*) Auch diese grofsen, mimischen Tableaux atmen Naturtreue und Rea- lismus. Diese Kühe und Stiere scheinen zu weiden und dann im Grase liegend wiederzukäuen, die Mütter lecken ihre Kälber. In der Darstellung des Kampfes werden selbst die Eigentümlichkeiten der Weifsen höchst ge- treu nachgeahmt. Man hört das Trappeln ihrer Pferde, man sieht sie sogar die Patronen abbeifsen und die Zündhütchen aufsetzen ; bald giebt es auf beiden Seiten Gefallene (nach Grosse, Die Anfänge der Kunst).

496 Sechstes Kapitel.

Jongleure ein Stand berufsmäfsiger Darsteller des Miraus hervor- geht. Diese beiden Kardinalpunkte in der Ursprungsgeschichte des Mimus und der Mimen wollen wir ein wenig näher betrachten. Wunderlich mutet uns das Kostüm der Schauspieler der altattischen Komödie an, wie es zahlreiche Terrakotten zeigen. Der Schauspieler hat ein Tricot über seinen Körper gezogen und trägt darunter Leib und Hinterteil stark gepolstert. So tritt er auf mit Riesenbauch und Riesenpodex. Als Kleidung trägt er den kurzen Chiton und Mantel der untern Klassen; darunter ragt der mächtige Lederphallus hervor, der ganz den riesigen Breitedimensionen des Leibes entspricht1). Auf den unteritalischen Vasenbildern, welche Scenen aus der Phlyaken- posse darstellen, zeigen sich genau dieselben wunderlichen Ge- schöpfe. In trefflichen Abbildungen treten sie uns in dem Auf- satz von Heydemann „Phlyakendarstellungen" entgegen2). Nur unterscheidet sie von den attischen Schauspielern die gröfsere Skurrilität und Verzerrtheit der Masken3). Also die altattische Komödie und den Phlyax trennen zeitlich Jahrhunderte, räumlich Hunderte von Meilen. Sie haben keinen direkten Zusammen- hang mit einander. Als der phlyakische Schauspieler noch immer der alte, pudelnärrische Tropf war, war der Schauspieler der

x) Vgl. Körte, Archäologische Studien zur alten Komödie ; Jahrbuch des kaiserlich deutschen archäologischen Instituts 1893, S. 61—93.

Körte weist nach (S. 71), dafs erst seit Mitte des vierten Jahrhunderts die Phallusträger aufhören, die attische Bühne zu bevölkern, und dafs erst seit dieser Zeit die Kostümierung des Schauspielers der Wirklichkeit entspricht.

2) Jahrbuch des kaiserlich deutschen archäologischen Instituts 1886, S. 260 folg.

3) Man hat ursprünglich einen ziemlich engen Zusammenhang zwischen der alten, attischen Komödie und dem unteritalischen Phlyax angenommen. Seit Panofka (Arch. Zeitung 1849, S. 17 folg.) auf der bekannten Berliner Phlyakenvase eine unmittelbare Wiedergabe des Prologs der Frösche zu er- kennen glaubte und Welcker ihm lebhaft beistimmte (Arch. Zeitung 1849, S. 84 folg.) galt die Nachbildung attischer Scenen auf unteritalischen Vasen als gesicherte Thatsache. Nach den Zweifeln, die Heydemann erhob, hat besonders Zielinski in seinen Quaestiones comicae (Petersburg 1887) mit aller Entschiedenheit den Zusammenhang zwischen der aristophanischen Ko- mödie und dem Phlyax verworfen. (S. 80 folg.)

Die griechische Hypothese Tor Philiation. 497

altattische n Komödie schon längst in der neuen Komödie ein bürgerlich-gesitteter Herr geworden. Dennoch ist er ursprüng- lich dasselbe wunderliche Geschöpf wie der phlyakische. Und weiter, auch der römische Atellanenspieler zeigt noch im ersten Jahrhundert vor Christus diese uralte, seltsame Erscheinungsform. Mit baumelndem Phallus und im Trikot schneidet er seine Gri- massen auf den Scherben römischer Thongefäfse, die Pasqui ver- öffentlichte *)•

Wir haben gelernt, dafs der Phlyax die italische Form des Mimus ist und die Atellane wieder die oskisch-lateinische Form des italischen Mimus (oben S. *232folg.). Auch der griechische Mime hat den Phallus noch bis in die späten, byzantinischen Jahrhunderte hinein, bis zum Ende des Mittelalters, getragen). Also der Phallus ist das eigentliche Kennzeichen des mimischen Schauspielers, der Phlyake und der Atellanenspieler tragen ihn, weil sie Mimen sind. Die Komödie ist, wie wir zeigen konnten, nach aristotelisch -peripatetischer Theorie durch das Hinzu- treten des Mimus zum Chorgesang entstanden: also auch der komische Schauspieler trägt den Phallus, weil er ursprünglich ein Mime ist.

Wo stammt dieses sonderbare, den Abscheu des modernen Menschen erregende Symbol her?

Auf den korinthischen Vasen fehlen, wie Löschke und Furtwängler zuerst beobachtet haben, Silene und Satyrn gänz- lich. Die dionysische Ausgelassenheit wird auf ihnen durch höchst groteske Tänzer dargestellt, die meist mit langen Barten, mit eng anliegendem, bis auf die Oberschenkel reichendem, gegürtetem Chiton versehen sind. Unter dem Gürtel quillt die massive Fülle des Bauches hervor, dem ganz das mächtige Gesäfs entspricht, vorne hängt der riesige Phallus. Die Ge- stalten sehen aus, als wären sie direkt von der mimischen Bühne heruntergestiegen.

Diese grotesken Tänzer im Gefolge des Dionysos sind nun gar

i) Vgl. oben S. 9.

*) Vgl. oben S. 258 Anm. und unten S. 502 Anm. 1.

Reieb, Mimus. 32

498 Sechstes Kapitel.

keine Menschen, es sind, wie Körte (a.a.O. S.91 u. 92) nachgewiesen hat, bakchische Dämonen. Von zweien unter ihnen wissen wir aus den Beischriften auf dem von Dümmler (Ann. 1885 tab. D) veröffentlichten Gefäfs sogar die Namen, Eunous und Ophelander, Gutmann und Nutzmann, zwei höchst passende Bezeichnungen für die Dämonen der ewig neu gebärenden Naturkraft, aus der aller Segen und alle Fülle fliefst (vgl. Löschke a. a. 0. S. 521). Tanzend treten diese Fruchtbarkeitsdämonen in unsern Gesichts- kreis; sie sind die ältesten Darsteller des mimischen Tanzes.

Was aber hat der mimische Tanz, der doch überall auf der Erde verbreitet, der aufs tiefste in der menschlichen Natur und Art begründet ist, mit diesen Dämonen zu thun? Auch das kann uns die Ethnologie lehren.

Gewifs wird der mimische Tanz und auch der mimische Tiertanz bei allen möglichen Gelegenheiten geübt, wie gerade das mimische Verlangen sich regt. Aber neben dem rein ästhetischen Zweck haben diese Tänze zugleich einen dämonisch- zauberischen. Die mimischen Tänzer sind vielfältig gar nicht einfache Nachahmer der Tierwelt sondern stellen unter dem Bilde von Tieren zugleich Naturdämonen dar und wollen durch den Zauber des Tanzes Fruchtbarkeit des Landes wie der Tiere erzeugen.

Ein Beispiel diene zur Illustration. Wir haben von dem mimischen Tiertanz der Indianer Nordamerikas gesprochen und des Bärentanzes gedacht; nicht weniger mimisch ist auch der Stier- oder Bisontentanz der Mandan. Sie erscheinen dabei in Bisonfell gekleidet, der Kopf des Tieres mit den langen Stirnhaaren fällt ihnen ins Gesicht, sie tanzen in gebückter Stellung und geben die Bisonstimme von sich. Zu diesen Bisonten gesellen sich, wenn auch in geringerer Zahl, noch als Klapperschlangen, weifsköpfige Adler, Biber, Raubvögel, Bären, Antilopen, Wölfe und Prairiewölfe verkleidete Tänzer. Die Verkleidung ist dabei eine möglichst realistisch-naturgetreue. Diese Tänzer „handeln nach den Vorschriften ihrer Rollen, in- dem sie die natürlichen Gebärden jener Tiere nachzuahmen suchen. Sie schlagen sich unter einander und machen tausenderlei

Die griechische Hypothese yor Philistion. 499

Gebärden. Ein jedes Tier benimmt sich nach seiner natürlich- eigentümlichen ^.rt, die Biber z. B. teilen lautklatschende Schwanz- schläge aus, die Bisonten rollen und wälzen sich im Sande, die Bären schlagen mit ihren Tatzen oder Brauten" u. s. w. Der wichtigste unter diesen Tiertäuzen ist aber der Büffeltanz, die andern Tiere sind nur als in Verbindung mit den Büffelherden auftretend gedacht.

Anscheinend haben diese Büffeltänze nur den ästhetischen Zweck mimischer, humoristisch - realistischer Darstellung. In Wirklichkeit hat aber dieses vier Tage lang mit grofsem Eifer fortgesetzte Tanzfest, während dessen sich andere junge Indianer den ernstesten Martern und Bufsübungen unterziehen, zugleich einen höchst reaien und praktischen Zweck. Das Ganze ist ein Zauber, durch welchen die Büffelherden angelockt und erfolg- reiche Jagden herbeigeführt werden sollen. Darum werden am Schlüsse des Festes die Büffeltänzer zum Schein mit stumpfen Pfeilen erschossen, und es heifst. nun hätte man Fleisch in Hülle und Fülle. Soweit die Schildeiung des Prinzen zu Wied1). Catlin, der diesen Tanz gleichfalls bei den Mandat) beobachtete, erkannte, dafs diese mimische Tanz-Cereni'»nie die Fruchtbarkeit der Büffel befördern sollte, er sah auch, wie mit einem un- geheuren Phallus das Bespringen der Büffelkühe mimisch dar- gestellt wurde'). So erlangt hier der mimische Tanz eine dämo- nisch-zauberische Bedeutung und tritt in die nächste Beziehung zu den Naturdämonen und ihren Festen. Dieser Büffeltanz wird im Frühling, wenn die Natur zu erneuter Fruchtbarkeit erwacht, getanzt8).

') Prinz zu Wied a. a. 0. N, S. 172-180.

2) Catlin, O-Kee-Pa. A religious Ceremony and other Customs of the Mandans. London 1867 (auf einem 'folium reservatum ' zu pag. 22 besonders gedruckt für 'scientific men, who study not the proprieties of man but Man', während das Werk selbst für 'general reading' bestimmt ist) nach Liebrecht, Zur Volkskunde, Heilbronn 1879, S. 395.

3) Vgl. Prinz zu Wied a a 0. II, S. 172. Wie die Nordeuropäer kennen auch die nordamerikanischen Indianer, besonders Mandan und Mönnitarri einen weiblichen Vegetationsdämon, „die Alte, welche nie stirbt", die Korn- alte der Germanen. Ihr wird im Frühjahr ein Naturfest zur Befruchtung

32*

500 Sechstes Kapitel.

Aus Mannhatdts herrlichen» Buche „Wald- und Feldkulte" und seinen „Mythologischen Forschungen" kann man lernen, dafs auch in Europa solchen phallischen, mimischen Ceremonien und Tänzen naturgewaltige Zauberkräfte in der primitiven Auffassung beigelegt werden. So kämpfen am Pfingstfeiertage Hedemöppel, „der Vertreter des Vegetationsalten vom vergangenen Jahr" und Lovfrosch, „der Darsteller des im Frühling wieder einziehenden Wachtsthumsgeistes" mit einander um die „Greitje". Lovfrosch, der mit grünen Zweigen und Blättern dicht umwickelt ist und einen riesigen Phallus trägt, tanzt als Sieger mit der „Greitje" unter allerhand sehr indecenten Pantomimen1). Überhaupt werden um Pfingsten, beim Einzug des Frühlings, gerne mancherlei mimische Tänze uud Pantomimen aufgeführt, bei denen die Naturgeister auftreten, der Kornalte und die Kornalte, in England Lord and Lady of the May, die der Vegetation zu neuer Fruchtbarkeit verhelfen2).

Das Eigentümliche aber ist, dafs bei diesen Begehungen sich zu den dargestellten Vegetationsdämonen auch noch allerlei Charakterfiguren hinzufinden, so dafs aus dieser Verbindung der Vegetationsdämonen mit dem mimischen Tanze sich eine Art mimisch-burlesker Ethologie und Biologie, so etwas wie der An- fang eines primitiven Mimus, entwickelt3). Diese wundersame

des Getreides unter allerhand TäDzeu gefeiert (a. a. 0. II, S. 182); hier hat also der Tanz einen ähnlich zauberischen Zweck wie der Bisontentanz. ») Vgl. Mannhardt, M. F. S. 143 folg.

2) Dabei spielt dann das phallische Element als Symbol der Natur- kraft eine wesentliche Rolle. Vgl. Mannhardt, B. K. S. 416, 417, 469, 521 u. ö.

3) Mannhardt zählt B. K. S. 349 folg. die mancherlei Charakterfiguren auf, die sich in der Begleitung des Pfingstl oder Pfingstling (des Vege- tationsdämonen) beim Pfingstritt befinden. Ich gebe hier seine Schilderung von Seite 352: ;,Aus Oberbaiern, wo der Pfingstling Wasservogel heifst, wird uns vom Jahr 1840 eine noch viel buntere Zusammensetzung der Pfingstproeession zu Sauerlach geschildert. Im berittenen Zuge befanden sich folgende Personen resp. Gruppen: 1) der Nachtwächter, 2) Feldmesser, 3) Trompeter, 4) Trommelschläger, 5) Fähndrich, 6) vierzig Mann Reiterei, 7) beruhter Kaminfeger, 8) Hanswurst, 9) Schleifer, 10) Doctor, 11) Hans-

Die griechische Hypothese vor Phili-tion. 501

Entwickelung findet sich nach Mannhardts Nachweisen fast überall in ihren Anfängen in Europa, und da wir sie nun eben auch in Amerika nachgewiesen haben, ist wohl kein Zweifel, dafs hier ein Grundgesetz der primitiven, dramatischen Kunstentwickelung vorliegt.

Diese Ethologie und Biologie, die sich an die Naturfeste anknüpft, ist allerdings überall in ihren Anfängen stecken ge- blieben. Nur die dämonisch -phallischen, mimischen Tänzer der Hellenen, die uralten (*T[iot rt'koiow, die Ethologen und Bio- logen haben diese Anfänge zur Vollendung gebracht und das grofse, biologische Drama geschaffen, das schliefslich als mimische Hypothese zum Weltdrama werden konnte, weil seine primi- tiven Anfänge sich in der ganzen, weiten Welt regen. Hier haben eben die Hellenen einen grofsen Menschheitsgedanken, den alle Völker dunkel und verworren dachten, zur Klarheit und zur vollendeten Ausgestaltung geführt.

Also auf diesem Wege erhielt der dramatische, mimische Tanz der hellenischen Urzeit in den Fruchtbarkeitsdämonen seine prädestinierten Darsteller. Aus den mimischen Tänzen erwuchs im Laufe für uns nicht mehr zu zählender Jahrhunderte das

grobian, 12) Krügelmann, 13) der Vater der Hocbzeiterin, 14) die Haupt- person, der im belaubten Reisergestell steckende Wasservoge) zu Pferd (also der Fruchtbarkeitsdämon, vgl. oben Lovfrosch), 15) der Landrichter, 16) Bauer, 17) Stadtherr und Bauermädchen, 18) der Klausner, li>) ein Weibsbild mit Kindern. 20) ein Tiroler, 21) Bacchus auf einem Fafs sitxend, 22) der Pfarrer, 23) der schwarze Teufel, auf welchen öfter geschossen wurde, -J4I der bairische Hiesel. 25) Hansel und Gretel-3 von Stroh auf einem Schleifrad, 26) der Küchenwagen mit zerbrochenen Hausgeräten, 27) die Hexe auf einer Eggen- schleife mit einer Flachsschwinge, 28 1 Martin Luther und Kätchen, 29) ein Schäfer mit seinem Hund, 30) Hochzeitsleute mit Braut und Bräutigam, 31) Jäger. 32 1 Rofsdieb, 33) Gensdarmen. Jede dieser Masken sagt einige ihrem Charakter entsprechende Verse her*'. Die bunte Fülle dieser Masken enthält alle Elemente zu einer höchst wirkungsvollen, mimischen Ethologie und Biologie. Mannhardt bemerkt hierzu (a. a. 0. S. 367): „Ohne die innere Einheit einer dramatischen Aktion ist hier doch ein Ansatz zu einer dra- matischen Schaustellung gemacht, deren Figuren von der starren Natur- gebundenheit sich loslösen und der Freiheit eines menschlichen Charakters entgegenstreben-.

502 Sechstes Kapitel.

primitive mimische Drama, das mit einiger Sicherheit schon im neunten Jahrhundert für den Peloponnes vorauszusetzen ist. Seit diesen Zeiten, die noch jenseits Homers liegen, erbte der dramatische, mimische Darsteller von den Vegetationsgeistern den Phallus und die sonstige, burleske Tracht, die er noch im 15. Jahrhundert nach Christus in ßyzanz trägt.

Ich will zu den mannigfachen Zeugnissen für diese seltsame und für moderne ästhetische Begriffe unverständliche und un- erträgliche Ungestalt der Mimen und ihren fortdauernden Bestand, die ich oben (S. 258) angeführt habe, noch ein neues hinzufügen. In den Scholien zu Gregor von Nazianz, die unter dem Namen des Abtes Nonnus gehen, wird ausdrücklich dieser sonderbare Ausputz der Mimen als noch immer gebräuchlich gekennzeichnet1). Gregor lebte in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts; das Scholion könnte also frühestens aus dem fünften Jahrhundert stammen, wahrscheinlich aber ist es aus späterer Zeit2). Also in dieser Ungestalt hat der Mime nicht nur in frühen vor- christlichen Jahrhunderten hellenische Bauern und die Bürger volkreicher Städte und später auch die hellenistischen Könige, die Nachfolger König Philipps und König Alexanders, und noch später das Volk und die Kaiser von Rom in der Kapitale der

r) liegt di tov (paXXov ^'Jjj tigrjxu/tifv iv töJ ngwnp X6y(i), ort uxa&uQtög ng 17V aiäotop ifttov alOXQov, (p ofiotovai viiv oi /uT/lwi dtg/biccTtrov, o xaXovot ipaXriraQtov xal tovro 'i^ovaiv iv rotg dtovvatoig, ifogovvxtg iv naiyvioig xal koQtd^ovaiv, iv (p tot« hiXovv ixeivoi. (Migue, Patrol. gr. Bd. XXXVI, S. 1047). Das Citat des Nonnus bezieht sich, wie ich sehe, auf das Scholion I, 57 niQt tüv (pallüv, Migne a. a. 0. S. 1006. Für diese wichtige, unsere Auffassung so kräftig stützende Stelle habe ich mich bei Herrn Geheimrat Hermann Diels zu bedanken, der die Güte hatte, mich auf Estratti inediti dai codici greci della biblioteca Mediceo-Laurenziana publicati da E. Piccolomiui pag. XLI, Annali delle Universita Toscane Tomo Sedicesimo hinzuweisen, wo diese Stelle citiert wird.

2) Nach Patzig, Ue Nonnianis in IV orationes Gregorii Nazianzeni com- mentariis, Progr. Leipzig 1890 hat der Verfasser dieser Scholien zu Anfang des sechsten Jahrhunderts in Syrien oder Palästina gelebt. Die Autorschaft des Nonnus beruht auf späterer, unhaltbarer Kombination. Um jene Zeit lebte auch Choricius, und von ihm wissen wir, wie sehr der Mimiis damals im Orient blühte.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 503

Macht und Bildung, des Geschmackes und der Intelligenz er- götzt, sondern noch den Beifall des christianisierten, griechisch- römischen Volkes und selbst der allerchristlichsten Kaiser von Byzanz gefunden. Sie alle haben an diesen obscönen, für unsern Geschmack gänzlich zu perhorrescierenden Gestalten keinen An- stofs genommen und selbst die christlichen Prediger, die so sehr gegen den Mimus eifern und alle seine Schwächen und Fehler grell beleuchten, kümmern sich wenig um diesen Aufzug. Selbst Johannes Chrysostomus erinnert nicht ein einziges Mal daran. Man hatte sich eben seit uralten Zeiten gewöhnt, hier nur das religiöse Symbol zu erkennen, das dem Mimen als Erben alter Elementargeister, als Diener des Dionysos gebührte. Nur dar- aus erklärt sich die Duldsamkeit auch der christlichen Jahr- hunderte.

Die primitiven, mimischen Dramen im Peloponnes, in Böotien. in Sizilien, in Süditalien hatten in den verschiedenen Städten die verschiedensten Namen. Erst vom vierten Jahrhundert beginnt für sie alle der Begriff Mimus herrschend zu werden, und seitdem verschwinden allmählich alle anderen, lokalen Be- zeichnungen und gehen im Begriff Mimus unter1). Der Phlyax wie auch der böotische Mimus und das lakonische Dikelon werden später direkt mit dem Mimus identifiziert *). Jedenfalls aber stammt der Phlyax aus dem Peloponnes, ebenso wie die sizilische Burleske, und ist dem peloponnesischen, besonders dem megarischen Mimus wesensgleich. Man hat sich daran gewöhnt, alle diese Burlesken „dorische Komödie" zu nennen, aber keine von ihnen hat je Komödie geheifsen. Sie waren niemals ein Komosgesang, eine xtö/uwd/a, und hatten kein Chorlied*). Nur die alte, attische Komödie hat einen Chor, weil der zweite Be- standteil in ihr neben dem Mimus das Phalluslied ist. Auch kennen die Alten garnicht den Begriff ..dorische Komödie"4).

') Vgl. oben S. 262.

2) Vgl. oben S. 232 u. 256 folg.

3) Vgl. Grysar, De Doriensinm comoedia, S. 200 folg.

M Es giebt keinen einzigen griechischen oder römischen Autor, der den tenninus technicus „Dorische Komödie" verwendet: dieser Begriff i*t

504 Sechstes Kapitel.

Diese Burlesken gehören alle zum grofsen Reiche des Mimus, das Aristoteles und die Peripatetiker begründet haben, gestützt auf die Volksauffassung, die seit dem vierten Jahrhundert alle burlesken Darsteller Mimen nannte. Wir kennen also nur einen dorischen Mimus, daneben giebt es auch einen ionischen. Wenn man also den Ausdruck „dorische Komödie" gebrauchen will, so mufs man bedenken, dafs sie ein Mimus ist und zum Schlufs in die grofse, mimische Hypothese mündet, wie ja auch der so- genannte dorische Komöde dasselbe phallische Kostüm trägt wie der Mime.

Der Lebensnerv des dorischen wie des gesamten Mimus überhaupt ist die burleske Ethologie und Biologie, die Schöpfung und Darstellung realistisch-humoristischer Typen und Figuren, vermittels deren ein reales Bild des Lebens sich ge- stalten läfst; das iambistisch- spottende Element des Phallus- liedes tritt ganz anders wie in der attischen xeofiwdia stark zu- rück. Da sind die Typen des megarischen Mimus (mäsonische Typen), des sizilischen, des italischen Mimus (Phlyax) durchaus wesensgleich. Und diese Typen und Themen des dorischen Mimus kehren in der mimischen Hypothese von neuem wieder.

So findet der Narr des Mimus, der fiu>QÖg, sein Prototyp schon in den dorischen Narren Morychos, Momar, Marikas. Der närrische, kahlköpfige Phlyake bei Heydemann (a. a. 0. S. 300, Nr. o) hat völlig die Gestalt des kahlen Narren im Mimus. Neben diesen Narren kennt der dorische Mimus auch Närrinnen, so Acco, Mormo und Alphito1). Acco sieht ihr Spiegel-

von den Modernen gebildet worden nach der Stelle bei Aristoteles in der Poetik cap. 3, § 3 (p. 1448a Bekker): öib xctl avtinotovvTat irjg it tqay^diag xal ii)s xwfitpSCag ol dojQing, rrjg /niv xtofxudlng oi MsyaQtlg x. t. X. Also die Dorier haben die Komödie überhaupt erfunden, von einer „dorischen Komödie" steht aber nichts. Mit dieser Stelle hebt jeder moderne Darsteller der „dorischen Komödie" an, so z. B. Grysar, so Lorenz.

1) Diese sechs Typen hat Zielinski mit glänzendem Scharfsinn als zur dorischen Komödie gehörig erwiesen Quaestiones comicae S. 90 folg., wo alles einschlägige Material gesammelt ist. Mogv/og, Mw^uq, MttQCxag, Moquw (MoQfxolvxri) gehören zu demselben Stamme ^u^i wie /utoqog und das davon abgeleitete lateinische Lehnwort morio.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 505

bild für eine wirkliche Person an, ähnlich wie der philistionische stupidus, der Scholasticus (vgl. o. S. 461, Nr. 33). Als Närrin erweist die Mormo schon ihr Name.

Acco, Mormo und Alphito gelten nun merkwürdigerweise zugleich als Popanze und als Kinderschreck1). Sie werden also nicht liebreizende Huldinnen, wie sie die Burleske auch liebt man denke an die verführerischen Ehebrecherinnen im Mimus , sondern alte Hexen gewesen sein. Nun sind greuliche, alte Weiber eine Spezialität des Mimus, in dem sie als Trunkenbolde, Zauberinnen, Kupplerinnen und Gelegenheitsmacherinnen, als Hökerinnen und Bordellwirtinnen ihr unheimliches "Wesen treiben. Ich erinnere z. B. an die Kupplerin Gyllis in des Herondas erstem Mimiambus, an die alten Hexen, die Dionysos, dem Pseudoherakles, in den durchaus mimischen Unterweltsscenen bei Aristophanes in den Fröschen nacheilen, weil er ihnen die Zeche nicht bezahlt hat, die er als unglaublicher Esser und Trinker aufsummte. Im römischen Mimus kommen wiederholt alte Weiber als Stief- und Schwiegermütter : ), als Ammen und alte Dienerinnen ) vor. Greuliche Weibertypen finden sich auch auf den Atellanendarstellungen aus der ersten Kaiserzeit, die Pasqui veröffentlichte. Wir werden diesem Typus noch in den

1) Vgl. Et. M. uuQuoXvxtiov 7n>oawxfiot> Initfoßov, nayä irp AJoguw. Lukian Philops. 2 Jlrjyäaovs xal Xiuaiqag xal ruQyovac xai KvxXnmac xa oaa TotaiTci ntcpo ali.oxöra xal ifyüoitc: uv&iSta tiuiSüy «/"#**? xr\Xtiv 6ivä- utva hi irjv AloQfitu xai jrjv Aapiav dtöiöiuv. Plutarch, De stoic. rep. p. 1040 B. oiiiiv dutiftyti if^'Axxovg xal jijc 'Ahftioic, dt' wv naiddotu iov xaxorjxolttv al ywuTxts avtiqyovaiv. Die weiteren Belegstellen bei Röscher, Myth. Lex. unter Acco und besonders bei Zielinski a. a. 0. S 95—99.

*) Vgl. oben S. 76.

3) Hierher gehört besonders die cata carisa (vgl. oben S. 90); von ihr heilst es bei Angelo Mai, Auct. cl. 111,449 Placidi glossae : carisa, vttus lena percallida, unde et in mimo r'allaces ancillae cata carisia appellantur. Ähnlich Pauli Festus p. 44: carissam apud Lwilium (gemeint ist der Mimograph) vafram signißcat. Thes. nov. lat. bei Angelo Mai, Auct. cl. VIII, 98: carisa, vetus lena et litigosa, unde et fallacex ancillae carisae dicuntur, qvia veritate carent. Gloss. Vatic. Angelo Mai Auct. cl. VI, 514: carisa lena est dupla. Gloss. 1 : dori : carissa lena vetus et litigosa, ancilla dolosa failax.

506 Sechstes Kapitel.

spezifisch-mimischen Partien bei Petron begegnen. Ich verweise vorläufig nur auf die Priapuspriesterin, welche Encolp von seiner seltsamen Krankheit mit allerhand Zaubermitteln heilen will. In dem Stile dieser alten Hexen haben wir uns wohl Acco, Mormo und Alphito zu denken. Wie konnten aber diese drei unholden Schwestern das laute, lustige, uneingeschränkte Lachen, den risus mimicus, erwecken und zugleich ein Gegenstand des Grauens sein?

Aus dem Zusammenhang des Mimus mit den Fruchtbarkeits- dämonen heraus will dieses Problem gelöst werden. Acco gehört zum sanskritischen Akka, d. h. Mutter1). Alphito erinnert an äX(firov (Gerste, Getreide); also auch Alphito ist eine Mutter wie Acco, nämlich eine „Gerstenmutter oder Kornmutter". Da sind also wie die männlichen Geister der Vegetation auch die weiblichen auf die mimische Bühne gestiegen. Wird ja doch neben dem Kornalten auch die Kornalte, neben dem Lord auch die Lady of the May, neben dem Pfingstl auch die Greitje in den mimischen Tänzen und Begehungen bei den Frühlingsfeiern zur Darstellung gebracht, wie wir soeben sahen.

So fleht auch Aristophanes nicht nur den männlichen Vege- tationsdämon, Dionysos, als Schützer seiner Komödie an, sondern auch Demeter, die Kornalte:

Du keuscher Orgien Königin, Demeter, sei in Gnaden nah Und schirme selber deinen Chor; Lass sonder Fehl' den Tag hindurch

Mich spielen, tanzen, singen, Mich sagen noch viel Spafsiges, Mich sagen auch viel Ernstliches, Und, wenn ich würdig deines Fest's Gespielet hab', gespottet hab',

Den Siegeskranz mich schmücken!

(Frösche, v. 389—398, Droysen.)

J) Fick, Vergleichendes Wörterbuch4, S. 1.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 507

Wie die männlichen Dämonen der Fruchtbarkeit und Fülle sich durch eine grofse Korpulenz auszeichnen, hat man wohl auch die weiblichen ursprünglich ähnlich gedacht; und wie diese Vor- stellung die Erscheinung der männlichen Mimen und Phlyaken beeinflufste, hat sie anfänglich auch auf die weiblichen eingewirkt. So sind im südlichen Rufsland zusammen mit allerhand phallisch- pblyakischen Schauspielerterrakotten Figuren von häfslichen, korpulenten, alten Weibern gefunden worden, denen der mächtige Wanst ebensowenig wie den männlichen Phlyaken fehlt1). Wir

t) Ich gebe hier die Beschreibungen Stephanis (Compte-Rendu de la com- mission imperiale archeologique pour l'annee 1868, S. 56): „Die auf Tafel I, Nr. 15 wiedergegebene Terrakotta -Figur schliefst sich, indem sie eine schwangere Alte, wie es scheint, bettelnd darstellt, an zwei schon früher von mir bekannt gemachte ähnliche Statuetten an und hat ohne Zweifel auch ähnlichen Zwecken gedient. Sie ist mit einem Kopftuch, mit einem Chiton und einem Himatiou versehen und hat das letztere bis in die Höhe des Kopfs empor gezogen. Sie blickt seitwärts in die Höhe und streckt beide Hände, von denen jedoch die eine verloren gegangen ist, vorwärts, als ob sie von Jemandem Etwas erbitte. Von der bunten Färbung, mit welcher ur- sprünglich die ganze Statuette versehen war, ist nur die weifse Untermalung erhalten." (C.-R. pour l'annee 1869, S. 164 und 165): „Hingegen lassen uns die beiden, einander sehr ähnlichen alten Frauen, welche auf Tafel III Nr. 9 und 10 abgebildet sind, in dieser Beziehung durchaus nicht im Un- gewissen. Offenbar liegt da der Ton auf dem namentlich in den Gesichts- zügen ausgeprägten Charakter gemeiner Häfslichkeit, woran die Besitzerin, wie uns auch andere in ihrer Umgebung gefundene Statuetten hinreichend zeigen, besonderen Gefallen fand. Die Gesichtszüge beider Alten nähern sich in der That denen der Affen. Im Übrigen jedoch zeigen sie nichts Besonderes. Beide stehen in ruhiger Haltung, tragen rothe Schuhe, blaue Untergewänder und haben die Obergewänder über den Hinterkopf gezogen. Die linke Hand ist beide Male gesenkt; die rechte unter dem Gewand auf die Bru<t gelegt. Eine andere Figur zeigt einen noch gemeineren Charakter, indem sie fast genau das Motiv wiederholt, welches wir schon durch eine zweite, ebenfalls in der grofsen Blisnitza gefundene Terrakotta-Figur kennen ge- lernt haben. Eine mit einem Unter- und Obergewand bekleidete schwangere Alte macht sich über ihren Zustand selbst lustig, indem sie das Gewand mit der rechten Hand so über den untern Teil des Gesichts zieht, dafs ihre Körperformen besonders deutlich hervortreten. Wie weit jedoch der Ge- schmack an Gestalten dieser Art in jener Zeit und in jenen Gegenden ver- breitet war, lehren aufser den beiden erwähnten Figuren noch zwei andere,

508 Sechstes Kapitel.

haben hier eben weibliche Phlyaken oder Miminnen, deren Pro- totyp Acco, Mormo und Alphito sind.

Wie die fülligen Vegetationsgeister den Menschen alle Fülle und allen Segen spenden, so kann von ihnen auch alles Verderben kommen. Wie Apollo mit seinen Pfeilen die Pest erregt, so sind auch die Baumgeister, die Elfen und Elbe die Erreger böser Krankheiten1). So sendet der Baumgeist das krankheiterregende, gespenstisch-kleine Ungeziefer*) Auch die Kobolde und Wichtel- männer treiben ja allerhand bösen Schabernack. Und Frau Holle, die den Guten ein Schutz ist, ist für die Bösen ein übler Dämon. In den Kreis dieser niederen Dämonen gehören die Kerkopen und Kobalen, die griechischen Kobolde, wie sie schon Lobeck (Aglaophamus S. 1312) nennt; sie spielen gleichfalls in der grie- chischen Burleske eine Rolle. Ich erinnere an die Phlyaken-

welche ebenfalls im südlichen Rufsland gefunden worden sind. Noch greller tritt die Geistesrichtung der Frau, deren Nachlafs uns beschäftigt, in den drei übrigen weiblichen Figuren hervor, welche im Anschlufs an mehrere der männlichen Figuren Frauen im Zustand der Trunkenheit darstellen. Die eine hat zwar keine runzligen Gesichtszüge, giebt jedoch durch ihren dicken, schwammigen Bauch und die lang herabhängenden Brüste ihr schon etwas vorgerückteres Alter zu erkennen. Aufser roten Schuhen trägt sie ein blaues Obergewand, welches sie, indem sie sich auf einer Erhöhung niedergelassen hat, so über die Schultern geworfen hat, dafs der Bauch und die Brüste frei bleiben. Mit der Linken hat sie ein tiefes Trinkgefäfs erfafst und drückt es an ihre Brust, indem sie, entzückt über den Wohlgeschmack des bereits genossenen Weines, das Haupt zurück wirft und die Rechte, ihn preisend, er- hebt." Vgl. auch Weifshäupl, 'Eif^/ut^U ägxaioXoyixri 1891 na^aaraan yQttias [j.e&vov0T)s S. 144 folg.

1) Mannhardt, B. K. S. 66.

2) Deshalb umwandelt man z. B. bei Zahnschmerzen einen Birnbaum rechts und umfafst ihn mit den Worten:

Birnbaum, ich klage dir

Drei Würmer, die stechen mir,

Der eine ist grau

Der andre ist blau

Der dritte ist rot

Ich wollte wünschen, sie wären alle drei tot. Vgl. Mannhardt, Baumkulte S. 14. Damit soll der Baumgeist, der die Er- reger der Schmerzen sendete, um Hilfe angerufen werden.

Die griechische Hypothese vor Philistion 509

darstellung bei Wieseler, Denkm. IX, 9, S. 56 folg , auf der Herakles, die Kerkopen in Gestalt von Aflfen in einem Tragkorb mit sich führend, erscheint, xoßcdti« wird bei Harpocration mit ßuofsoXoyja (Spafsmacherei) wiedergegeben, also ist der Kobold ein Spafs- macher und zwar meist ein übeler1). Die Kerkopen haben nach der Sage (vgl. Herodot VII, 216.) den Herakles fielcipnv; og mit ihrer Spafsmacherei geärgert und ergötzt. In der deutschen Volkssprache heifst es „lachen wie ein Kobold".

So können wir es verstehen, wie Acco und Alphito, die Kornmütter, und ihre Schwester Mormo, die Närrin, als ge- spenstische Naturgeister Grauen erwecken und andererseits als burleske Typen das Volk belustigen. Damit aber kein Zweifel bleibt, dafs sie wirklich von vornherein in den Kreis der Ele- mentargeister gehören, hat Hesychius noch eine Erinnerung be- wahrt, dafs die „Mormonen" umherschweifende Dämonen seien*); das sind die Geister der Natur eben alle. So erscheinen neben den männlichen Naturgeistern die weiblichen in der alten, dori- schen Burleske. Von ihnen stammen dann weiterhin die Rollen der Weiber im Mimus, soweit sie ältlich sind, wie die cata carisa und ihre Verwandten. Auch hier zeigt sich ein ununterbrochener Zusammenhang zwischen dem uralten, burlesken Drama der Dorier und der späteren, mimischen Hypothese.

Den dorischen Mimus zeichnet von vornherein das Be- streben aus, sich zu einem gröfseren, dramatischen Gebilde auszu- gestalten. Das wird schon der megarische Mimus gewesen sein, sonst hätten die attischen Komiker sich nicht davor verwahrt: ihr Drama megarisch zu machen3). In Sizilien ward der Mimus

!) Vgl. besonders Lobeck a. a. 0. S. 1312. Aristoteles, H. A. VIII, 12, nennt den Vogel Otos:

xoßalog xtti uiutjt^g.

a) uoofiövctf nlmmpmt Satuovas; an diese Dämonen denkt Xenophon bei seiner Bemerkung: (foßovvrai tovs ntlTaöiat; wonig uoßuoj«, naidäqut (Hellenica IV, 4, 17).

3) Ekphantides:

MiyaQtxijs xojuojiSiai aaii ov ditiu' ija^ivouriv tb dottua Alfyantxor 7lou7r.

510 Sechstes Kapitel.

zu einem grofsen Schauspiel zuerst durch Epicharm am Anfang des fünften Jahrhunderts, und wenn die epicharmische Burleske auch nie Mimus geheifsen hat, so hat Epicharm sie auch gewifs nicht Komödie getauft. Bald nach Epicharm aber hat man die sizilische, volksmäfsige Burleske Mimus genannt. Der italische Mimus gestaltete sich am Ende des vierten Jahrhunderts durch Rhinthon, Blaesos und Skiras zu einem gröfseren Drama. Aber dieses hatte keinen Bestand, es starb mit seinen Schöpfern wieder aus. Nur seine Grundlage, der auf niederer Stufe der Kunst festgehaltene, eigentliche Volks-Mimus, hielt sich durch alle Jahr- hunderte in den Tiefen des Volkslebens lebendig.

Solange eben der Mimus nur an den Naturfesten von fest- frohen Bauern oder später auch von den Bürgern der Städte zur Aufführung gebracht wurde, sank er stets wieder von der künstlerischen Höhe, auf die ihn ab und zu grofse Dichter er- hoben, zur primitiven Volksburleske herab. Erst als etwa seit dem vierten Jahrhundert aus dem Stande der wandernden Jong- leure sich auch ein fester Stand mimischer Schauspieler und eine grofse Anzahl wandernder Mimentruppen herausgebildet hatte, wurde jede neue Errungenschaft in der mimischen Kunst durch mündliche Überlieferung erhalten und durch unausgesetzte Kunstübung weiter fortgebildet. Denn diese wandernden Mimen- truppen im vierten vorchristlichen Jahrhundert hatten zugleich auch die Dichter der mimischen Burlesken unter sich, ja sie waren Dichter und Schauspieler in einer Person, da sie nicht selten werden extemporiert haben, ist doch noch Philistion zu- gleich Mime und Mimograph. Das alles war mit eine der wesent- lichsten Ursachen für die fortdauernde Existenz des mimischen Dramas, das nun am Beginn der alexandrinischen Epoche sich als mimische Hypothese zu konstituieren begann.

Ich erinnere hier nun kurz an die einzelnen Phasen der Ent- wickelung des mimischen Schauspielers aus dem Jongleur, dem rJ-ccvfjbtxtonoioi; , wie ich im Mimusprogramm , dem ich hier dem Inhalte und zum Teil auch dem Wortlaute nach folge, mich be- müht habe, sie festzustellen. Dieser Prozefs ist ein so überaus wichtiger und welthistorischer, weil der alte Mime ja auch der

Die griechi8i he Hypothese vor Phili^tion.

Vater des modernen Schauspielers ist, der sich heute noch gerne Mime nennt. Zwischen dem alten Tragöden und Komöden und dem modernen Schauspieler dagegen giebt es nicht den min- desten, direkten, historischen Konnex; sie sind auch in jeder Beziehung wesensungleich.

Gaukler hat es in Hellas seit uralten Zeiten gegeben. Noch viel älter ist die Jonglerie im Oriente, wo sich die profane Gaukelei aus der religiösen entwickelt hat. Ich erwähne nur, um ein allgemein bekanntes Beispiel zu gebrauchen, die Stäbe der ägyptischen Priester, die zu Schlangen werden vor dem An- gesichte Pharaos, und an Aarons Schlangenstab, welcher sie verschlingt1). Noch heute steht die Jonglerie dort, besonders

') Von religiöser Jonglerie der Mönnitari-Indianer berichtet der Prinz zu Wied (a.a.O. II, S. 268— 270) folgendes: „Er l Charbonneau) liefs mir sagen, dafs in einer gewissen Hütte die Weiber einen Medecine-Tanz auf- führten, und wir eilten daher augenblicklich dorthin . . . Die in der Mitte stehende Frau gab vor, eine Mayskolbe im Leibe zu haben, welche sie nun durch Medecine hervor zaubern, und auch wieder verschwinden la«sen könne. Wir waren schon etwas zu spät gekommen, die Mayskolbe war schon wieder verschwunden: allein Charbonneau redete mit den Leuten, denen wir ein Geschenk von zehn Staugen Tabak machten, und die Gaukelei wurde noch einmal wiederholt. Unser Tabak wurde auf einen auf Weidenzweigen auf- geschichteten Haufen von gebratenen Bisonrippen auf den Boden geworfen, wo derselbe bis zu dem Ende der Darstellung, welche eine gute Mays- ernte im künftigen Jahre erzielen sollte, liegen blieb . . . Die Medezine-Frau tanzte allein nahe am Feuer, dem sie ihre Hände zuweilen nahe hielt und sie dann nahe an das Gesicht legte. Sie begann endlich zu schwanken, die Arme vor und rückwärts zu bewegen und diese convul- sivischen Anstrengungen nahmen immer zu. Indem sie nun den Mund rück- wärts bog, sah man bald die Spitze einer weifsen Mayskolbe ihren Mund ausfüllen, und immer mehr vorrücken, wobei ihre Convulsionen zunahmen". Prinz zu Wied macht hierzu die Bemerkung: „Von ähnlichen Gaukeleien erzählt auch d'Orbigny von den Völkern des südlichen Americas, den Pata- gonen. Araucanern, Puelchen (s. dessen Voyages T. IL pag. 91). In Brasilien habe ich nichts Ähnliches gesehen." Wie diese indianischen Gaukeltänze gern in mimische Tänze und mimische Darstellung übergehen, haben wir schon gesehen und es ist interessant, dafs auch dieser Gaukeltanz die Fruchtbarkeit der Natur zauberisch erwecken soll, ähnlich wie der mimische BüffeltanE.

512 Sechstes Kapitel.

in Indien und Ostasien, in voller Blüte und ist eine der wich- tigsten Unterhaltungen der Vornehmen wie des Volkes. Vom Oriente zogen die Gaukler nach den aufblühenden Städten Ioniens, Griechenlands und Süditaliens '). Aber bald fand sich bei den Griechen genug unruhiges Volk, das sich mit Erfolg bemühte, die Künste dieser Gaukler nachzuahmen, und mit der neu erworbenen Fertigkeit sich gleichfalls auf die Wander- schaft begab2).

Schon bei Homer finden wir die Kybisteteren, die man wohl mit Recht für Gaukler erklärt3). Seit Homer erfahren wir dann Jahrhunderte lang von diesen fahrenden Leuten nicht das Min- deste. Sicherlich haben sie auch nach ihm weiter existiert, aber die spärlichen, poetischen Quellen, die wir aus jenen Zeiten be- sitzen, hatten nicht den mindesten Grund, sie zu erwähnen. -Die Poeten jener Zeit gehören, soweit wir überhaupt von ihnen etwas besitzen, der idealistischen Richtung an, sie schreiten auf den Höhen der Menschheit einher, der arme Gaukler aber, der &av(jiccT07ioi,6g, gehört der Hefe der Gesellschaft an, er pafst

!) Beständig sind noch in neuerer und neuester Zeit Jongleure aus dem Orient gekommen und haben hier staunende Verwunderung erregt; so ist Böttiger zu einer seiner kleinen Abhandlungen über die griechische Jonglerie durch die staunenerregenden Produktionen eines indischen Jongleurs aus Madras geführt worden, der sich in Deutschland produzierte. Kl. Schrift. Bd. III, S. 335 361.

2) Auch heute ist der Gaukler ein Zugvogel, der aber gemäfs der un- geheuren Entwickelung des modernen Verkehrs nicht nur von Stadt zu Stadt, von Land zu Lande, sondern gleich von einem Weltteil zum* andern zieht. Alle Jahre, 8 oder 14 Tage vor Weihnachten, findet auf dem Dom zu Harnburg ein grofser „Künstlerjahrmarkt" statt für den ganzen Kontinent und auch für Amerika. Dort finden sich auch die Agenten ein und die Direktoren der grofsen Varietetheater. Ein „Künstler", der über eine wirklich „grofse Nummer" verfügt, wandert, wenn das Glück gut ist, von Petersburg, Berlin und Paris nach New- York, San Francisco, nach Capstadt oder nach Sidney in Australien oder nach Singapore und Hongkong; und auf unseren Varietes sieht man Engländer und Amerikaner, Spanier und Franzosen, Neger, Chinesen und Japaner. Ich erinnere auch an den wan- dernden amerikanischen Riesencircus Barnum und Bailey, der jetzt den ganzen Kontinent heimsucht.

3) Ilias XVI, 750; XVIII, 604.

Die griechische Hypothese Tor Philistion. 513

nicht in ihre Gedichte. Erst aus nachhomerischen Zeiten erhalten wir wieder authentische Kunde von der Existenz der Gaukler durch ein schwarzfiguriges Vasenbild, das Salzmann Necropole de Camiros" S. 37 veröffentlichte. Dort findet sich ein Kunstreiter hoch zu Rofs, während ein anderer mit kühnem Schwünge von hinten aufs Pferd springt. Die Zuschauer sitzen auf ansteigenden Bänken und bezeigen ihren Beifall1).

Jedenfalls scheint sich die Zahl der griechischen Jongleure seit der homerischen Zeit aufserordentlich vermehrt zu haben. Wenn sie nicht schon am Ende des fünften Jahrhunderts Land und Meer erfüllt hätten, so würden Plato und Xenophon sie gewifs nicht so häufig erwähnt haben (vgl. oben S. 247, Anm. 1). Wie auch Aristoteles und die Peripatetiker auf diese Jongleure im Zusammenhang mit den Mimen achteten, haben wir schon ge- sehen (S. 246). So ungeheuer zahlreich wurden sie, dafs man keine Panegyris, keine Festversammlung, ja, dafs man kein kleineres Fest, kaum ein Gelage ohne ihre Vorführungen sich denken konnte. Davon, wie sie scharenweise von Ort zu Ort zogen und stellenweise ordentlich überschwemmend auf- traten, kann sich niemand ein rechtes Bild machen, der an die sogenannten Künstler und Gymnastiker unserer Zeit denkt, die nur vereinzelte Kunstreitergesellschaften und das Vari6t6- theater oder die Spezialitätenbühnen mit ihren Parterregym- nastikern, zahmen Zauberkünstlern und dergleichen kennt.

Um sich eine Vorstellung von der Zahl und Verschieden- artigkeit der griechischen Gaukler zu machen, müssen wir an die Jongleure des Mittelalters denken, die bei grofsen Festen zu Hunderten und Tausenden auftraten 2). Da gab es Springer, Kunstreiter, Feueresser, Zauberkünstler und viele andere Gattungen von Künstlern ganz wie im griechischen Altertum.

Zur Hochz,eit Alexanders und der Statira zogen wie zu den grofsen, mittelalterlichen Ritterfesten, z. B. zum Mainzer

*) Siehe auch die Abbildung bei Schreiber, Kunsthistorischer Bilder- atlas, Taf. XXIV. 0. Rossbach hatte die Güte, mir diese Darstellung nach- zuweisen.

*) Schulz, „Höfisches Leben". Bd. I, S. 566—577.

Kai eh, Mimue. oo

514 Sechstes Kapitel.

Fest, viele Hunderte griechischer Jongleure; dort stiefsen sie mit zahllosen orientalischen Gauklern zusammen, und es scheint ein heftiger Wettstreit zwischen der uralten, orientalischen und der neuen, hellenischen Jonglerie entbrannt zu sein. So weit wir aus den spärlichen historischen Nachrichten über dieses sonderbare Ereignis urteilen können, scheinen die hellenischen Schüler sich ihrer orientalischen Meister im höchsten Grade würdig gezeigt zu haben1).

Alle gauklerischen Kunststücke, mögen sie von Taschen- spielern, Seiltänzern, Akrobaten oder sonstigen Jongleuren aus- geübt werden, verlangen gewisse mimische Fertigkeiten. Wenn wir heutzutage auf den Jahrmarkt gehen, die letzte, volkstümliche Zufluchtstätte des Gauklers, so sehen wir ihn vor seiner Bude mit lauter Stimme das Publikum haranguieren, und, wenn er geschickt ist, durch alle möglichen mimischen Produktionen die Aufmerksamkeit auf sich lenken, bevor seine eigentliche Vor- stellung beginnt. So hören wir bei Plato von Jongleuren, welche die Stimmen von Tieren nachahmen, das Wiehern der Pferde und das Brüllen der Stiere, und auch sonstige Naturlaute wiedergeben, so das Rauschen der Flüsse, das Tosen des Meeres und Donnerschläge (vgl. oben S. 419). Als Agesilaus aufgefordert wurde, einen Gaukler anzuhören, der die Stimme der Nachtigall imitierte, meinte er: „Ich habe sie selber gehört". (Plutarch Agesi- laus XXI, 6.) Überhaupt mufste der Verkehr mit dem Publikum die fahrenden Leute in mimischer Hinsicht anregen.

Der Gaukler fühlte sich dem niederen Publikum, das ihn umdrängte, weit überlegen. Er war weit gereist und viel ge- wandert, wie jener Syrakusier in Xenophons Gastmahl. Bald war er in Syrakus, bald in Athen, dann tauchte er in den Städten des Peloponnes auf, vielleicht war er auch schon in den reichen Städten Grofs-Griechenlands gewesen, die ein besonders

') Einzelne Gaukler Alexanders gewannen solchen Ruhm, dafs ihre Namen noch erhalten sind, so Skyranos aus Tarent, Philistides aus Syracus, Heraclit aus Mitylene (Athen. I, 20a). Ja, Aristonikos aus Karystos, ein Sphärist Alexanders, erhielt von den Athenern das Bürgerrecht und sogar ein Standbild (Athen. I, 19 a).

i

Die griechische Hypothese vor Philistion. 515

ergiebiges Feld für die Thätigkeit der Jongleure waren, vielleicht hatte ihn der Zufall gar nach Afrika, nach Cyrene verschlagen. So hatte er denn viel gesehen und erfahren, und das Gefühl der Überlegenheit ist bei ihm erklärlich genug. Diese Stimmung zeigen die Worte des Syrakusiers in Xenophons Symposion: „Gut, rief hier Charmides, aber Du, Syrakusier, worauf bist Du stolz, gewifs auf den Knaben? 0 nein, versetzt jener, durchaus

nicht. Nun, und worauf denn sonst? Beim Zeus, auf die

Thoren; deun diese sehen meine Gaukeleien mit an und schaffen mir dadurch täglich mein Brot Ach, darum also, sagte Phi- lippus, hörte ich Dich neulich zu den Göttern flehen, sie möchten, wo Du weilst, zwar einen recht reichen Erntesegen, aber einen Mifs wachs an Verstand eintreten lassen*.

Ich habe die>e Stelle angeführt, um zugleich zu zeigen, in welch' freiem Verkehr diese Gaukler selbst mit dem besseren Publikum, dazu gehören doch sicher die Gäste des Kallias, standen. Wir hören sogar noch später, wie dieser Syrakusier mit einem der Gäste, mit Sokrates, einen Streit vom Zaune bricht, weil er glaubt, dafs die sokratischen Gespräche die allgemeine Aufmerksamkeit von seinen Gaukeleien ablenkten. Und doch wird der Gaukler für diese Anmafsung nicht hinausgeworfen, sondern man legt den Streit in gütlicher Weise bei und beruhigt den Aufgeregten (vgl. auch oben S. 360).

So sahen denn diese Gaukler mit freiem Blick alle Ver- hältnisse an und beobachteten die Charaktere des Volkes, wie sie sich ihnen zeigten. Diese Kenntnis des Volkscharakters ge- hörte mit zu einer erfolgreichen Ausübung ihres Gewerbes. Da sie nun beständig auf Reisen waren, was ja im Altertum für eines der Hauptbildungsmittel galt, so hatten sie vielfältig Ge- legenheit, mancherlei Typen zu studieren und auch die Volks- charaktere in den verschiedenen griechischen Städten aufzufassen. Dahin gehört wohl, was Athenaeus (1, 19 f.) erzählt: der Gaukler Nymphodorus habe die Einwohner von Rhegium zuerst wegen ihrer Feigheit verspottet.

So wie es die heutigen Gaukler auf den Jahrmärkten thun, werden wohl die damaligen Jongleure die Menge vor Beginn

33*

516 Sechstes Kapitel.

ihrer Kunststücke harauguiert haben. Das thun, wie wir sahen (S. 97 u. ö\), noch in späten nachchristlichen Jahrhunderten die Mimen von der grofsen Bühne herunter. Wenn ihnen dabei unter den Umstehenden irgend jemand besonders seltsam und dumm erscheint, so äffen sie ihm in lächerlicher Weise nach und stellen ihn zur Freude des Publikums mimisch dar. Derartige Kunststücke werden die griechischen Jongleure auch nicht verschmäht haben. So berichtet Diodor1), wenn eine Volks- versammlung stattfand, hätte Agathokles, der von Natur zur mimischen Darstellung und Possenreifserei neigte, oft ein- zelnen Leuten , die ihm durch ihr sonderbares Wesen auf- fielen, nachgeäfft und sie mimisch dargestellt; dann wäre das Volk in Gelächter ausgebrochen, als wenn es einen Etho- logen oder Jongleur sähe2). Nun erzählt Athenaeus nach dem

') Vgl. oben S. 224, Anm. 1.

2) Von solchen Gaukeleien, sowie mancherlei anderen, welche direkt in mimische Ethologie und Biologie übergehen, berichtet Athenaeus I, 19 d— 20b: £9av/j.aCexo de nao' "EXXtjOi xai 'Ptopatoig Maxofag 6 nXävog 6 ^AXe^avdoevg, dg eXeye xai &tjqiov xottpeiv o avxb eavxb xaxeo&iei ' (bg xai. CTjTeiO&at ptyQ1 viiv xb Maxoeov &rjQiov xi laiiv. lnoix\<Se cJ" ovxog xai nana Tag Aoiaxox e"Xovg anontag xai äveyivcoaxe drjfiooiq, did xi 6 ijXiog dwei fiev xoXvfißä d" ov, xai did xi ol anöyyoi av/univovai /uev övyxco&cuvitovxai d' ov, xai xa xexoadoaxfia xaxaXXdxxexai fiev oDyifcxai, d' ov. AfrqvaToi de no&eivtp xä} vevQOOndaxr) xr\v axt\vr\v edwxav dq?' yg ivefhovOiav ol neoi EvQinidtjV. IdftrjvaToi de xai Evqv- xXeidtjv tv tw &edxoa) dveßxrjaav uexd xtäv neoi Ala/i/Xor. ißav/na^exo de xai 3evo(pwv b &av(iaxo7ioi6g, og /ja&rjxrjV xaxiXme Koaxtaflevr] xov <PXidaiov og TivQ xe avxöuaxov tnoiei dvatfivea&ai xai dXXa noXXd (pdofiaxa ixe^fäxo, ä(f>' (bi> e*l-ioxa xtiiv dvd-odtnwv xr\v ötdvoiav. xoiovxog i\v xai NvfX(fbd(i)Qog b &avfiaxo- nowg, og nooaxoovaag, ^Prjyivoig <5g <prjOi Aovqig^ ttg deiXiav avxovg eOx(ü\ije ngdüxog. Evdixog de 6 yeXioxonoibg rjvdoxifxet (ufiov/uevog naXaiaxdg xai nvxxag, (5g (frfGiv Aoioxöt-evog. 2,'xqutojv <f ö Taoavxtvog £&avfxd£exo xovg di&voapßovg fiifxov/xevog' zag de xi&aoqjdiag ol neoi xov tl-'lxaXiagOh'djvav, og xai KvxXwna eiarjyaye xeoexiCovxa xai vavuybv 'Odvaaia OoXoixi£ovxa, b avxog qrqoi. Aionei- &rjg de 6 Abxqog, äg (prjOi 'Pavödtj/jog, naoayevo/uevos elg Sr\ßag xai iino^oiwii- fxevog o'ivov xvareig /ueaxdg xai yaXaxxog xai xavxag dno&Ußiav dvtfxäv iXeyev Ix xov axöfiaxog. xoiavxa nottüv rjvdoxifjei xai Norjf4(ov b rj&oXbyog. Ivdol-ot d' r^auv xai nao' AXe^dpdQ(i) ^av/^axonoioi Zxvuvog b Taqavxivog, tPiXiai(drlg 6 Zvgaxovotog, 'HgdxXecxog b MiTvXrjvaiog. yeyövaat de xai nXdvot ivdo^oi, btv Kr](f)ia6d(OQog xai IlavtaXiwv. <t>iXinnov de xov yeXaxonotov Sevo(f(öv /uvrj/uovevet (symp. 1). So bildet also hier Jonglerie, Mimus und Pantomimus,

Die griechische Hypothese vor Philistion. 517

Berichte des Phanodemus. in Theben sei ein Gaukler Dio- peithes aufgetreten, der hätte sich Schläuche mit Wein und Milch untergebunden, hätte sie heimlich gedrückt und dann behauptet, die hervorquellende Milch und den Wein aus seinem Munde zu speien. Durch solche Kunst hätte auch Noemon, der Ethologe, grofsen Ruhm gewonnen. Also ist dieser Noemon offenbar ein Gaukler, der zugleich ein Ethologe. das heifst, ein Mime ist. Freilich scheint er als Gaukler glücklicher gewesen zu sein denn als Mime. Damit aber kein Zweifel ent- stehe, dafs dieser Mime Noemon wirklich zugleich ein Jongleur ist, so fährt Athenaeus unmittelbar an derselben Stelle fort: „Ruhm gewannen auch bei Alexander die Jongleure Skymnos aus Taren t, Philistides aus Syrakus und Heraklit aus Mitylene4*. Also mimische Charakterdarstellungen gehörten nach allgemeiner griechischer Auffassung zur Art des Jongleurs. Er war jeden- falls schon in sehr früher Zeit eine Art Mime.

Eine der wichtigsten Produktionen der Gaukler ist der Tanz; wir besitzen zahlreiche Darstellungen von tanzenden Gauklern und Gauklerinnen aus dem griechischen Altertum1). Oft

Spafsmacherei und mimisches Puppenspiel ein buntes Durcheinander, wie es das eben auch im Leben bildet, wo mimische Kunst und Jonglerie direkt in einander übergehen.

x) Solche Gaukeltänze beschreibt nach den Bildwerken besonders Heyde- mann, Die Vasensammlung des Museo Nazionale zu Neapel, Berlin 1872. So heifst es bei ihm (Beschreibung von Nr. 2201): „Ein bärtiger Satyr, der die Doppelflöte bläst, hockt zwischen zwei andern Satyrn. Der eine von diesen, dem der erstbeschriebene Satyr sein Gesicht zuwendet, streckt beide Arme nach hinten aus und will über den vor ihm stehenden Skyphos (F. 34) hinüberspringen : der andere läfst einen Skyphos, den er mit den Zehen fest- hält, auf der Sohle des nach hinten emporgehobenen Fufses balanciren: er scheint auf dem rechten Fufse vorwärts zu springen und streckt den Kopf und die linke Hand zurück, um seine Gefährten auf sein Kunststück auf- merksam zu machen- i Beschreibung von Nr. 3232): .Ein junger Mann, in Mantel, auf einen Knoteustock gestützt, die Linke erhoben und die Rechte in die Seite gestemmt, sieht Übungen von Gauklerinnen zu. Vor ihm steht eine Frau, welche in Chiton ist und, in der Linken Flöten haltend, mit der Rechten einer im Tanzen vor ihr knieenden Frau eine Leier darzubieten scheint: die letztere trägt einen Ärmelchiton, gegürteten kurzen Chiton und

518 Sechstes Kapitel.

genug wird der gymnastische Gaukeltanz in den mimischen Ge- bärdentanz übergegangen sein, aus dem sich der Mimus ent- wickelt hat.

auf dem Haupte eine Krone von Federn. Es folgt eine ebenso geschmückte und gekleidete tanzende Frau, welcher die auf einem Stuhl sitzende, in Chiton und Mantel gekleidete Elpinike (EAHNIKE) vorbläst; zwischen beiden steht ein Stuhl mit daraufliegendem Gewandstück. Dieser Mittel - gruppe folgt weiter nach rechts eine Frau, welche, behelmt und mit Lanze und Schild versehen, einen Angriff im Tanze nachahmt; sie trägt ein eng- anliegendes kurzes Gewand und Schuhe, welche die Zehe freilassen. Vor ihr steht eine Frau, in Haube und langem Chiton mit glattem Überwurf, welche Castagnetten schlägt. Dann folgt auf einem Tisch eine junge Person, in Trikot vom Hals bis unter die Knie; auf die beiden Unterarme gestützt, tiberschlägt sie sich, so dafs die Fufsspitzen fast den Tisch berühren; sie hat den Kopf umgedreht und schiebt mit dem linken Fufs eine Trink- schale (F. 12 ohne Henkel; mit Deckel) ihrem Munde zu. Den Beschlufs machen eine Flötenbläserin, in Haube Chiton und Mantel und ein juDges Mädchen, in Trikot vom Hals bis zur Mitte der Schenkel, welche sich im Schwerttanz übt: vor ihr sind vier kurze Schwerter, mit den Spitzen nach oben gekehrt, aufgepflanzt." (Beschreibung von Nr. 281): „Auf einer Kline rechts vom Beschauer liegen zwei Jünglinge: der eine, Euaion (EVAION), bläst die Doppelflöte; der andere, Kallias (KAAAIA^), hält in der Linken eine Schale am Fufs gefafst und streckt verwundernd die Rechte aus gegen die beiden vor ihm auf einer zweiten Kline liegenden Männer, welche sich umsehen. Der erste von diesen, über dem ein xalog (KAAO^) steht, bewegt staunend die rechte Hand; der andere, welcher Euainetos (EVAINETO^) heifst und bärtig ist, hebt in der Rechten eine Trinkschale nach Kottabosart. Ihre Aufmerksamkeit ist auf die weifsgemalte Frau Panariste (PAA. Pl£TE d. i. naNAgiaxs) gerichtet, welche, mit Perizoma, Helm und Kreuzbändern versehen, in der Rechten eine Lanze hält und auf dem rechten Fufs springend tanzt. Vor jeder Kline ein Tisch mit zwei Äpfeln und herabhängenden Fäden. Die Männer sind alle mit einer Tänie geschmückt und unterwärts bemäntelt. Ähnliche Darstellungen zeigen sich auch Nrr. 1774, 2854, 3010 und 269. Solche gauklerischen Tanzdarstellungen, die direkt in mimische Darstellung übergehen, kommen auch zahlreich bei Furtwängler, Vasensammlung im Antiquarium, vor, z. B. 2919. 3444. 3489 u. ö., nnd bei Stephani, Compte-Rendu de la Commission Imperiale Archeo- logique pour l'annee 1868, Erklärung S. 170 u. S. 161 u. ö.; desgleichen bei Stephani, Vasensammlung der Kaiserlichen Ermitage 57. 270. 407. 808. 1579 u. ö., sowie bei Reinach, Antiquites du Bosphore Cimmerien S. 118 u. <">. Sie finden sich auch bei Furtwängler, Die Sammlung Saburofl, bei Heibig. Die Wandgemälde von Pompeji und Herculanum, bei Gerhardt auf den

Die griechische Hypothese vor Philistion. 519

Eine Art Mime ist auch nicht selten der moderne Jongleur. Selbst die Akrobaten, die nur ihre körperliche Geschicklichkeit zeigen, geben heute gerne ihren Vorführungen einen mimi- schen Rahmen. So führten zwei Künstler, die ich hier in Königsberg im Apollotheater sich am Reck produzieren sah, nicht einfach ihre turnerischen Leistungen im gewöhnlichen Trikot aus; sie erschienen als Gäste eines fashionablen Bades stutzerhaft in weifsem Anzüge mit Hut und Stock, scheinbar auf einem Spaziergange begriffen, entdeckten wie zufällig das Reck, und während der eine, die Cigarette im Munde, zuschaute, voll- führte der andere seine Tricks, bis jener dann seinerseits zu turnen begann. Beide klatschten sich gegenseitig Beifall und schienen ganz von dem Vergnügen beseelt, ihr faules Badeleben durch ein so anregendes Vergnügen zu unterbrechen. Im April 1897 traten in Königsberg die O'Leary, Burlesk- Akrobaten (nach Aasweis des gedruckten Verzeichnisses des engagierten Künstler- personals des Apollotheaters von Februar 1897 bis Januar 1898) auf. Sie gaben als Sänftenträger eine mimische Scene zum besten, in der sie in seltsamer Weise mit der Sänfte, in der einer als Türke verkleidet safs, jonglierten. Im September 1897 trat ein Jongleur Canary auf (' 4 Stündchen ohne Gast). Als gelangweilter Kellner befindet er sich im Gastzimmer und jong- liert scheiubar zu seiner Unterhaltung mit Billardkugel und Queue und, als das Reisegepäck eines Gastes hereingebracht wird, gar damit.

Wer die Entwickelung der modernen, scenischen Kunst über- blickt, weifs. in wie enger Beziehung von jeher der Jongleur zum Schauspieler gestanden hat. Julleville (Histoire du theätre en France, Les com6diens) leitet die französischen Schauspieler von den alten Jongleuren her1). Devrient giebt in seiner Ge-

etruskischen Spiegeln und in zahlreichen andern descriptiyen archäo- logischen Werken. Überall c-ieht man die Jongleure (Savaaronoioi) tanzen und springen, und nicht selten geht ihre Gaukelei direkt in den mimischen Tanz oder überhaupt in mimische Darstellung über.

*) a. a. 0. S. 1 7 und 18: „.../«* Jongleurs, ces plus ancietis comfdiens

520 Sechstes Kapitel.

schichte der deutschen Schauspielkunst den deutschen Schau- spielern den gleichen Ursprung. Mit Recht sagt er (Bd. I, S. 203) in der Schilderung der Schauspielkunst zur Zeit des dreifsigj ährigen Krieges: „Die niederen Lockungen für die Schau- lust, die Seiltänzer-, Schwerdt- und Balancirkünste, das Taschen- spieler- und Bänkelsängerwesen behauptete seine uralte Ver- mischung mit dem Comödienspielen. Klopffechter, Spatonschläger, Luftspringer und Feuerfresser waren unter den ersten Liebhabern und Helden dieser Banden zu finden" ').

So war Schröder, einer der begabtesten und berühmtesten Schauspieler, den die deutsche Bühne je besessen hat, von Jugend auf mehr Equilibrist als Schauspieler, und selbst, als er sich entschieden der Schauspielkunst zugewandt hatte, zeichnete er sich durch eine mehr equilibristische Leistung, den Grotesk-

du moyen äge, n'e'taient-ils pas les he'ritiers directs des histrions et des mimes romainsf „Les histrions sont les Jongleurs", dit un vieux glossaire latin du XIe siede.

Race impe'rissable, et, sous vingt noms dife'rents toujours semblable ä elle- meme, ils ont traverse dix siecles sans beaucoup modifier ni leurs moeurs ni leur physionomie; ce sont toujours les memes hommes que nous rencontrons tantot ä la cour des rois, ou dans la grande salle des chäteaux ; tantot sur les places publiques des bonnes vittes, ou sur les routes ä Ventrie des bourgs; infatigables amuseurs du peuple et des grands; qu'ils surprennent par leurs tours de force ou d'adresse; qu'ils e'gaient par leurs jeux de mots, leurs quolibets, leur niaiserie affectee ou leur häblerie impudente?"

i) Schlager leitet in den „Wiener Skizzen aus dem Mittelalter", Neue Folge I, S. 276) das Kapitel über den Seiltanz, das Marionetten-, Policinell- spiel und andere Spektakel mit folgenden Worten ein: „Mögen die achtungs- wtirdigen Pfleger der dramatischen Kunst neuester Zeit ' deren hohe Kunstleistungen jetzt den Verstand der gebildeten Welt Europas beschäftigen, und das verfeinertste Gefühl, bis auf die innersten Fibern anzuregen ver- mögen — in diesem Anhange die Beifügung der, in der Überschrift bezeich- neten Spektakel, an die Erscheinungen dramatischer Kunst höherer Art ent- schuldigen; so unedel jetzt diese Verbrüderung sich darstellt, so unerläfslich ist sie aber zum Verständnifs jener hinabgesunkenen Zeit, wo dieselbe Hand, welche den Dolch des Trauerspiels zückte, oft auch mit der Drahtpuppe beschäftigt war, und der Fufs desselben Schauspielers im Seiltänzerschuh und im tragischen Kothurn zugleich wandelte so unentbehrlich ist sie zur Vervollständigung der Entwickelungsgeschichte des öffentlichen Wiener Theaterwesens.

' Die griechische Hypothese vor Philistion. 52 1

Tanz, aus1). Noch Lessing empfand über diese Verbindung zwischen Schauspielkunst und Equilibristik Verdrufs, und bekannt genug ist, dafs Goethe die Leitung des weimarischen Theaters niederlegte, weil er es nicht zu verhindern vermochte, dafs gauklerische Kunststücke sich mit] der wahren Schauspielkunst verbau deD.

Freilich haben die Schauspieler, je mehr sie zum Bewufst- sein ihrer vornehmen künstlerischen Würde kamen, desto mehr gegen ein gemeinsames Auftreten mit Akrobaten und Equilibristen und eine Vermischung mit diesen protestiert. Der Versuch, beide Klassen zu gemeinsamer" Wirkung mit einander zu ver- einigen, hat in neuester Zeit Karl von Holtei schwerep Verdrufs bereitet"). Trotz dieses Widerspruchs ist die uralte Verbindung und Vermischung beider Künste nicht ganz geschwunden. Der Cirkus hat sie auch heute noch nicht aufgegeben. Bekannt genug sind die theatralischen Pantomimen des Cirkus Renz und anderer Institute. Fast überall geben da die Clowns panto- mimische und mimische Vorstellungen.

Dafür, dafs aus den griechischen Jongleuren die ältesten berufsmäfsigen Mimen hervorgegangen sind, haben wir nun eine ganze Anzahl quellenmäfsiger Belege. Beständig findet sich im Griechischen die Verbindung der Begriffe Mime und Jongleur (/**/«oc und ÖavuaioTioiöc). Die Klassen der Mimen und Jong- leure grenzen für den Griechen nicht nur nahe an einander, sie scheinen oft geradezu in einander überzugehen. So wurde an der vorher angeführten Stelle des Diodor Agathokles mit einem Jongleur und in demselben Atemzuge mit einem Mimen ver- glichen, ebenso ward, wie wir sahen, Noemon als Jongleur und zu gleicher Zeit als Mime von Athenaeus bezeichnet, desgleichen findet sich bei Diodor (vgl. Suidas nQodtixitjg) der Begriff des Mimen dem weiteren des Jongleurs untergeordnet3). Selbst in den späteren Jahrhunderten, als sich längst der Mime vom Jong-

') Devrient a. a. 0. II, S. 329 folg. 8) Devrient a. a. 0. IV, S. 135.

3) "Exatgev 'AvtIoxos fiifion xat nQodtlxxuts xu\ xti&ölov nuoi roi( &KVfiaionoio7s xtxi roviaiv inirrjSfvuara uav&dvuv hfUonutlio.

522 Sechstes Kapitel.

leur geschieden hatte, blieb die Meinung von ihrer nahen Kunst- verwandtschaft bestehen und äufserte sich in ihrer unaufhörlichen Zusammenstellung, so z. B. bei Dio Chrysostomus1), bei Plutarch2), bei Capitolinus3), bei Sidonius Apollinaris4). Ja, die griechischen Astrologen glaubten ernsthaft daran, dafs Mimen und Gaukler unter derselben Konstellation geboren würden. So heifst es bei Manetho5): „Es werden im Gegenschein der Sonne und des Mars

*) Oratio LXVI. Vgl. oben S. 143; Anm. 2.

2) Autor. XXI. Vgl. oben S. 164, Anm. 2.

3) Capitolinus. Verus cap. VIII; vgl. oben S. 199, Anm. 1.

4) Im Lobgedicht auf die Stadt Narbo finden sich eine Menge mimi und schoenobatae, d. h. Seiltänzer, also Jongleure, &av/uitToni>t,oi. Sidon. Apoll, c. XXIII, 37— 40; 263—271; 300—306:

salve, Narbo potens salubritate, urbe et rure simul bonus videri, muris, civibus, ambitu, tabernis, portis, portieibus, foro, theatro ... Iam si seria forte terminantem te spectacula ceperant theatri, pallebat chorus omnis kistrionum, tamquam si Arcitenens novemque Musae propter pulpita iudices sederent. coram te Caramallus aut Phabaton clausis faueibus et loquente gestu nutu, crure, genu, manu, rotatu toto in schemate vel semel latebit . . . quid dicam citharistrias, choraulas, mimos, schoenobata *• , gelasianos cannas, plectra, iocos, palen, rudentem coram te trepidanter explicare? nam circensibus ipse quanta ludis victor gesseris intonante Roma, laetam par fuit exarare Musam.

'=>) Apotelesmatica IV, 275—293:

Koiov r tlctQÖtvios in wdCvtoat ßqorfiatc, Ioxvqcüv t-Qyiov Tfii/tt novonaixTOQKS üvSqac, bxl°XaQ('Si <pdof4o/d-a &e*tTQOftavovVTttS, lyvtarsiv itl&Qoßitiug, nnxtoifH ntiuvoiairj^Hg h f(>yois, ttidfyt xu) y(u'r) fKjLttiQrj/n^va t-Qycc i(h-vvi(t5, {ii/Ltofi(ovs, %Xevrjs i' f.ntßi]TOQug, vßf)iytt<otus,

Die griechische Hypothese vor Philistion. 523

im Hause des Stier- und Widderzeichens und des Löwen die Gaukler geboren, die theaterlustigeu . Vollbringer kühner Werke, durch die Luft hinfliegende Petauristen; aber auch die Mimen, im Lande ziehende Vögel, in der Stadt die verworfenste Brut. In den nachchristlichen Jahrhunderten teilen Mimen und Jong- leure durchaus die Bühne mit einander. Wenn Dio Chrysostomus meint, wer das Wohlwollen des Volkes gewinnen wolle, müsse ihm Mimen und Jongleure vorführen, so ist es klar, dafs der Jongleur den Mimen auf dem Theater ablöste (vgl. oben S. 143). In der That finden wir diese Gemeinsamschaft zwischen Mimen und Gauklern noch in der heutigen Zeit auf der japanischen Bühne1). Die modernen japanischen Schauspieler können selbst heute noch auf ihren Gastreisen in Europa diesen Zusammen- hang mit der gauklerischen Kunst nicht ganz verleugnen •). Ja, ein wenig übten später noch die Mimen auf der grofsen Bühne und im grofsen, mimischen Drama gauklerische Künste. Dazu boten besonders die unaufhörlichen Prögelscenen Veranlassung (vgl. S 195). So amüsierte sich nach Synesius (Lob der Kahl- heit ed. Tetavii S. 77c.) das Publikum über einen Mimen, der die erstaunlichsten Proben von der Härte seines Schädels gab; man gofs ihm bei seinem Auftreten siedendes Pech auf den

lv ff/Vj yr'jQiog ImßrfioQttg, 6&vioTVfißovg, oqvta yfjg, nökiog nüorfi dnöhoia ytitttku, iHOQÖyoolai, knovg, da/r}fiovag, ain^QOQiltoiaq, XQuiortkayiTg, u^dtovag, ü(i x>(>u(fTJOi ipalaxQovg, iov 6 ßi'og x^l r^Xrriv «nff*aEtt&' hoiurjr. rjv dt aiv 'Hfkioj r* xal "A(X'i xai Kinoig öydj, oxoivoßäiag ttvyji, xakoßäuovag, infMi&ff tl< yertovlt) davaioio xaTugotmoiVTa; iavrovg, tbv 6 nooog ptooog loiiv, inijv ftg atfiikuur« rtvoi,. M Vgl. darüber die Nachweise bei Humbert, Le Japon illustre. a) So berichtet Fischer, der als früherer Theaterdirektor und von allen Vorurteilen freier Kenner japanischer Verhältnisse für sein Urteil alle Be- rücksichtigung verlangen darf a a. 0. S. 186: „Eine japanische Kampf- und Sterbesrene grenzt nicht nur an die Karrikatnr, sondern treibt die Karri- katur auf die Spitze, und ich konnte daher bis jetzt ich will noch nicht endgültig urteilen nie von tragischen Schauspielern in Japan sprechen, sondern nur von mehr oder minder geschickten Hampelmännern. a

524 Sechstes Kapitel.

Kopf, traktierte ihn mit Fausthieben und Fufsstöfsen, ja, selbst der Sturmbock und Steingut vermochten nichts gegen ihn. Das ist schon nicht mehr mimische Kunst, sondern rechtes Gaukel- wesen, und es war doch einmal etwas anderes als die gewöhn- lichen, klatschenden Ohrfeigen der stupidi.

So spärlich und lückenhaft unsere Quellen gerade über diesen Gegenstand sind, so können wir doch einige Beispiele für den Übergang des Jongleurs zum Mimen nachweisen, und zwar, was für uns von besonderem Interesse ist, in recht früher Zeit.

Als die Gaukler bei Xenophon den Schwertertanz ausgeführt, Räder mit dem Körper nachgebildet haben und auf der Töpfer- scheibe, während sie sich im Kreise herumdreht, lesen und schreiben sollten, da verlangt Sokrates, sie möchten Tänze auf- führen, in denen Charitinnen, Nymphen und Hören dargestellt werden. Und zwar setzt er die Fähigkeit zu solchen mimischen Tanzproduktionen als etwas bei Jongleuren Selbstverständliches voraus. In der That wird auch schnell seinem Wunsche Folge geleistet. Der Knabe und das Mädchen des Gauklers stellen das Begegnen der auf Naxos von Theseus verlassenen Ariadne mit Dionysos auf die reizvollste Weise mimisch dar. Die Gäste des Kallias sehen nicht nur, wie das Liebespaar sich herzt und küfst, sie hören auch ihre Beteuerungen und Liebesschwüre.

Wir haben hier zweifelsohne eine mimische Darstellung der Jongleure, freilich ist sie, um einen späteren Ausdruck zu ge- brauchen, in höherem Grade pantomimisch als mimisch. Doch fehlt neben der Musik den Tänzen nicht das gesprochene Wort, das den Mimus vom Pantomimus scheidet1). Von besonderem Werte ist hier, dafs Sokrates von den Gauklern derartige mimische Produktionen als selbstverständlich verlangen kann. Denn danach mufs man im Anfange des vierten und auch schon

1) Auch Hirzel (Geschichte des Dialogs) fafst diese Produktion der Gaukler durchaus als eine mimische auf. Wenn hier die mimische Pro- duktion vornehmlich im Tanze vollführt wird, so wollen wir bedenken, dafs die Mimen häufig genug Tänzer, oQxvaT(<h genannt werden.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 525

im fünften Jahrhundert die Verbindung zwischen mimischen und gauklerischen Vorführungen als alltäglich angesehen haben.

Noch wichtiger ist jedoch, was Athenaeus von Nymphodorus berichtet1). Er war ursprünglich ein Gaukler und scheint als solcher nicht geringen Ruf genossen zu haben, da ihn Athenaeus mit dem berühmten Feuergaukler Kratisthenes vergleicht, der aus der Schule des Jongleurs Xenophon hervorging2). Dann ist er aber auch ein vortrefflicher Mime geworden, wenn er auch nicht ganz den Vergleich mit dem berühmten Kleon, der nach Athenaeus der beste Darsteller italischer Mimen war. aushält. Wir erfahren sogar etwas von seinen Produktionen. - Denn die Verspottung der Einwohner von Rhegium um ihrer Feigheit willen wird, soweit wir sehen können, in einem Mimus des Nymphodorus vorgekommen sein. Hat ja doch auch Xenarch, der Sohn und Nachfolger Sophrons, nach dem Zeugnisse des Photius und Suidas die Rheginer auf Verlangen des altern Dionys wegen ihrer Feigheit verhöhnt3). Da Athenaeus diese Nachricht aus Duris hat, so gehört Nymphodorus spätestens ins dritte Jahrhundert. Hier wollen wir auch des oben erwähnten Noemon gedenken, der sich gleichfalls aus einem Jongleur, der scheinbar allerlei Flüssigkeiten aus seinem Körper zu ziehen wufste, zum Mimen entwickelte.

') Athen. I, 19f.; vgl. oben S.516, Anm. 2 und X, 452f.: in <fe Kktav

6 uiuavlog tnixalovfifvos, oanfQ xai nur 'haluccüv uiutov koiaxog yiyovtv

aVJ07TQ6(JQ)TIOS V7lOXQlT^g' Xal yttQ NlU(fo6'(üOUl' 7lfQlf]V tv Tb) /uvr]/uovivo-

fjiivto fii/uoi.

3) Die Gaukler machten also auch im griechischen Altertum wie im Mittelalter Schule und überlieferten so im geheimen ihre Fertigkeiten weiter.

3) Bekannt ist das Sprichwort: 'Pr\yivov ddXöiiQog. Holm sagt in der Geschichte Siziliens (Bd. II, S.130 u. 131) über den ersten Ausgang des Kampfes zwischen Dionys und den Rheginern: „Er (Dionys) gewährte ihnen Frieden unter der Bedingung, dafs sie 300 Talente zahlen, ihre ganze aus 70 Segeln bestehende Flotte ihm ausliefern und 100 Geiseln stellen sollten. Die Rheginer gingen darauf ein, ohne zu bedenken, dafs sie nun gänzlich in der Hand des Tyrannen waren. Es war das Verfahren der Römer gegen Karthago, aber Karthago ging besiegt solche Bedingungen ein, wie Rhegion ohne Kampf. Also war der Vorwurf der Feigheit nicht ohne Berechtigung.

526 Sechstes Kapitel.

Wie aber auch andere Bevölkerungsklassen unter Umständen Mimen wurden, wenn ihr Beruf sie zu dergleichen Darstellungen antrieb, vermögen wir in recht ergötzlicher Weise aus einer Stelle des Athenaeus herauszulesen1). Dort wird ein gewisser Ischo- machus erwähnt. Er war ursprünglich ein Herold, das heifst ein Ausrufer, ein Mann, dessen Beruf es war. zu verauktionierende Waren anzuzeigen. Er befand sich also in einer ähnlichen Lage wie ein Jongleur, der seine Kunststücke anzupreisen und das Publikum zu den Vorstellungen anzulocken hatte. Wir haben gesehen, dafs hauptsächlich diese Aufgabe die Gaukler zu mimi- schen Produktionen veranlafst hat. Die Ähnlichkeit der Lage hat nun diesen Ausrufer gleichfalls zu einem Mimen gemacht; freilich trug er seine mimischen Darstellungen h totq xvxloig vor, das heifst unter freiem Himmel, auf freien Plätzen und auf der S'trafse, wo sich eine Menge Volkes um ihn im Kreise sam- melte. Da er nun aber allmählich vielen Beifall fand, so dafs er sich sogar später mit Kleon, dem berühmten Mimen, messen konnte, fing er an, seine Darstellungen ganz kunstmäfsig auszu- üben und trug seine Mimen ev öavpaGw vor2). Freilich grenzt das Gewerbe eines Ausrufers nahe an das des Gauklers; so ist denn auch dieses Beispiel geeignet, uns den Übergang des Gauk- lers zum Mimen zu veranschaulichen3).

Ischomachus wird von Athenaeus (X, 452 f) als ein Nach- eiferer, mithin doch als ein Zeitgenosse, wenn auch vielleicht ein jüngerer, des Nymphodorus bezeichnet, also auch dieses Beispiel für die Verwandlung des Jongleurs in den Mimen fällt spätestens

1) Athen. X, 452 f: rovxov (nämlich des Nymphodor) St xai 'fa/öfiaxog o xrjovS lytvtxo fijAtu/^f, og lv roig xvxkoig Ittoihto rag f^i/u^atig- (og <J" rjvSoxifiti, /itraßag £v xolg &av[iKOiv intxQivtTo fifftovg.

2) Als Nacheiferer des Kleon, der ein Zeitgenosse des Nymphodorus war, gehört Ischomachus spätestens ins dritte Jahrhundert vor Christus.

3) Auch der in der deutschen Schauspielkunst rühmlichst bekannte Wiener Archimime Joseph Stranitzky (vgl. oben S. 455) war gleichfalls von Hause aus ein Marktschreier. Schlager in den „Wiener Skizzen aus dem Mittelalter" (Neue Folge I, 287) sagt: „Die Wiener städtischen Grundbuchs- akten 1727 erklären ihn zum Mund- und Zahnarzt von Herkunft (ein Markt- schreier dieser Zeit)".

Die griechische Hypothese vor Philistioti. 527

in deu Anfang des dritten Jahrhunderts. Um diese Zeit ist der Prozefs, der aus den wandernden Gauklerbauden wandernde Mimengesellschaften hervorgehen liefs, vollzogen. Das mimische Drama besitzt jetzt endlich seine berufsmäfsigen Darsteller1).

Dieser Übergang war für den Jongleur leicht genug. Bei schwierigen Produktionen erschien er im Trikot; Oberkörper, Füfse und Arme blieben unbedeckt, auch das Haupt frei und un verhüllt -). Wenn der Gaukler Leib und Hinterteil unter diesem Trikot ausstopfte, sich einen Phallus vorband und den kurzen Kittel, den er sonst im gewöhnlichen Leben trug, um- hing, so war der phlyakische Mime fertig. Ja, das letzte war vielleicht nicht einmal nötig, finden wir doch bei Heydemann wiederholt phlyakische Schauspieler, die selbst dieses Kleidungs- stückes entbehren3).

Theophrast schildert im sechsten Kapitel seiner „Charaktere" den Verworfenen ; er ist ein Pflastertreter, ein liederlicher Bursche, ein Garkoch, ein Spielbudenhalter, ein Dieb, ein Zuchthäusler, ein Kuppler; es kommt ihm nicht darauf an, nüchtern den Kordax zu tanzen*), ja, er ist schamlos genug, im Chor der Komödie ohne Maske aufzutreten. Treffend ist mit diesen Worten die Schmach gekennzeichnet, welche die schauspiele-

1) Am Anfang des dritten Jahrhunderts haben sich auch die Gaukler selbst den Zutritt zur Bühne erkämpft und treten sogar mit Komöden und Tragoden zusammen auf, wie drei choregische Urkunden von Delos erweisen. Vgl. Bulletin de Correspondance hellenique, 7. Jahrgang, 1883. Hauvette- Besuault, Foaillefi de Delos. Inscriptions choregiques S. 1 10, No. V. roa- yco[töoi], Sfoi(ü()oi <Jiovvo6ötüO'>s, Evxlfjg, Oixtädt]i, Kotuottdol 'EQ}oifiioi Itgwvos . . &avurtT07TOibs Kleixcttgct. Dieselbe daiifiaionotoi; KktvnäiQa findet sich in gleicher Gesellschaft auf No. VII und ein SavuaroTroioi Zfg- öuv (ÄYoJwr Bücheier) auf No. VIII. No. V stammt aus 270 a. Chr., No. VII aus 265 a. Chr., No. VIII aus 261 a. Chr. Hauvette-Besnault schrieb 'Olu- [iaronoiös, Bücheier korrigierte in GavutcTonotög. Vgl. Rhein. Museum 38 1883, S. 480.

2) Vgl. die Abbildungen bei Baumeister 631, 632, 633.

3) So die Schauspieler auf C, T und 0. Odysseus und Diomedes auf h erscheinen gleichfalls fast unbekleidet.

4) Aristophanes ^Wolken v. 536) rechnet es sich zum Verdienste an, dafs dieser Tanz in keiner seiner Komödien vorkommt.

528 Sechstes Kapitel.

rische Aktion ohne Maske traf. Niemals sind daher griechische Schauspieler ohne Maske aufgetreten, ausgenommen die mimi- schen Darsteller.

Aber die bäuerlichen und bürgerlichen Schauspieler des alten dorischen Mimus tragen noch Masken. Masken finden wir auf den sogenannten Phlyakenvasen. Auch die Schau- spieler der Atellane trägen noch Masken. Diese finden sich noch auf den schon wiederholt erwähnten Atellanendarstellungen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Erst der berufsmäfsige Mime legte die Maske ab, er hatte als ehemaliger Gaukler keine bürgerlichen Rücksichten zu nehmen. Es ist darum wohl nicht einfach aus künstlerischen Rücksichten zu erklären, wie Heyde- mann will," wenn sich auf den phlyakischen Darstellungen neben den maskierten auch unmaskierte Schauspieler finden, so z., B. auf Ia, b, d, f, i, s, u, X, R, G, B, E, Z, L, 1, w, x, y; hier beginnt sich wohl schon die Sitte der Mimen, ohne Maske zu spielen, langsam einzuführen. Wir können diese Frage glück- licherweise entscheiden. Wenn Athenaeus (X, 452 f) von dem mimischen Schauspieler Kleon sagt, er sei der beste un- maskierte Schauspieler italischer Mimen gewesen, so trat nicht Kleon allein ohne Maske auf, sondern auch andere mimische Darsteller, da er der beste derartige Schauspieler ge- nannt wird. Es handelt sich hier jedenfalls um eine ziemlich alte, mimische Gewohnheit, denn Kleon wird an derselben Stelle als Zeitgenosse des Nymphodor erwähnt, und wir haben eben den Nachweis geführt, dafs Nymphodor spätestens am Anfang des dritten Jahrhunderts lebte.

Weder Tragöden noch Komöden duldeten weibliche Mit- glieder unter sich1). Selbst im Pantomimus traten Frauen erst in der späteren Kaiserzeit auf, nur die Mimen machten hier

J) Die schauspielerische Leistung in dem grofsen antiken Theater soll über weibliche Kräfte gegangen sein (Öhmichen in I. v. Müllers Hdb. V, 3, S. 250). Aber die weiblichen Mimen sind später auch in den grofsen Theatern aufgetreten. Die Stimme, auf die es doch hier vornehmlich an- kommt, ist beim Weibe gewifs nicht weniger kräftig und durchdringend wie bei dem Manne.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 5*29

wieder eine höchst merkwürdige Ausnahme. Es ist bekannt, dafs. es neben männlichen Mimen beständig auch weibliche gegeben hat, ja. die letzteren erfreuten sich unter Umständen solchen Ansehens unter ihren Genossen, dafs sie sogar Direktricen (Archimimae) wurden. Bei Orelli (inscript. Nr. 4760) wird die Claudia Hermione erwähnt, eine rArchimima sui temporis prima-. Wie war es möglich, dafs Jahrhunderte hindurch eine solche Institution bei den Mimen als ganz selbstverständlich und natür- lich, dagegen bei allen andern Schauspielern als ganz unmöglich und undenkbar gelten konnte? In dieses Dunkel bringt die Erkenntnis des gauklerischen Ursprungs der Mimen Licht. Die Jonglerie ist von Anfang an von Männern und von Frauen aus- geübt worden. Wir haben oben orientalische Gauklerinnen nach- gewiesen. Schon in der ersten ausführlichen Schilderung von griechischen Gauklern, die wir besitzen, in Xenophons Symposion, begegnete uns eine Gauklerin. Zahlreich sind die bildlichen Darstellungen weiblicher Jongleure (Baumeister Abb. 231, 631, 632, 633). Auch bei Athenaeus im Sophistenmahl finden sich wiederholt Gauklerinnen erwähnt1). Ward also der Gaukler zum Mimen, so folgte ihm die Gauklerin. So mufste es selbst- verständlich von vornherein männliche und weibliche Mimen geben. Ebenso selbstverständlich ist es andererseits, dafs die Tragöden und Komöden bei ihrer ganz anderen und vornehmeren Herkunft gar nicht in die Kunstgemeinschaft mit einem Weibe gelangen konnten. Wie hätten sie auch eine Ehrlose, denn das war nach antiker Anschauung jedes Weib, das die Bühne betrat, unter sich dulden sollen*)? Der Mime hat sich freilich nie zu dem Ehrbegriffe seiner vornehmen Kunstverwandten erhoben, auch hierin hat er sich stets dem Gaukler näher gefühlt.

x) Athen. IV, 129d: &avuttTovoyol ywatxts; (IV, 137 c) aus Matron, dem Paroden:

Tzögvai 6' tlo?il&ov, xovgai Svo &avfxtttonoto(.

8) Ehrlos sind schon die Vorgängerinnen der griechischen Ganklerinnen und Mimen, die ägyptischen und orientalischen Tänzerinnen (so die alte Hekt in Ebers' Uarda). Klunzinger, Bilder aus Oberägypten, identifiziert ihre Nachfolgerinnen, die ägyptischen Tänzerinnen, mit den Freudenmädchen.

Reich, ilimus. 34

530 Sechstes Kapitel.

Auch die Art der Verfassung der Mimengesellschaften unter einem Archimimen, also nach modernem Ausdruck die Prinzipal- schaft, rührt von der Verfassung der alten Gauklerbanden her, die gleichfalls immer unter einem selbstgewählten Prinzipal standen, falls dieser nicht etwa seine Gesellschaft gekauft hatte, so dafs er den Mitgliedern als Herr den Sklaven gegenüberstand. Schon der Syrakusaner in Xenophons Gastmahl, der das Mädchen und den Knaben als mimische Gaukler herumführt, ist so eine Art Mimenprinzipal.

Es wäre seltsam, wenn in diesen Banden jeder für sich allein gemimt, und wenn man sich nicht gelegentlich zu der wenn auch nur improvisierten Darstellung irgend einer mimischen Grundidee vereinigt hätte ; das ist aber der Ansatz zur mimischen Hypothese.

Diese wandernden Mimengesellschaften bemächtigten sich allmählich all der verschiedenen Typen und Themen des uralten Bauernmimus; sie wurden die Hüter und Mehrer des grofsen mimischen Hortes. Sie waren nicht mehr an heilige Zeiten gebunden, sie fanden sich überall ein, wo es hoch herging, und führten überall ihre kleinen Mimendramen auf, wie der Syra- kusaner von dem Knaben und dem Mädchen auf dem Gastmahl des Kallias das mimische Ballet geben läfst.

Besonders beliebt waren die neuen Mimen am Hofe König Philipps, und mit König Alexander zogen sie in Scharen nach Kleinasien1). Dort stiefsen diese Darsteller des dorischen Mimus auf die ionischen Mimen, die sich inzwischen unabhängig von ihnen entwickelt hatten, und aus diesem welthistorischen Zu- sammenstofs entstand erst das grofse mimische Drama, die mimische Hypothese am Anfang des dritten Jahrhunderts vor Christus. Der dorische Mimus war ursprünglich prosaisch, wie es Sophrons Mimen sind; grofse Künstler, wie Epicharm, hatten

>) Vgl. oben S. 151, 193, 219.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 531

ihn in metrische Formen gezwängt, dahei blieb er immer noch rein mimologisch.

Die mimische Hypothese aber zeichnet sich gerade durch ihre zahlreichen Cantica aus, diese Couplets, die so sehr den Beifall des Volkes fanden, über welche die Kirchenväter darum ganz besonders schalten, und die schliefslich, da man sie nicht ausrotten konnte, dem kirchlichen Gesang in Rythmus und Melodie zum Vorbilde dienen mufsten. Diese Verbindung von Mimologie und Mimodie hat die mimische Hypothese zum Siege geführt. Dabei wurde die Mimodie besonders stark betont, vielfältig nahm später die mimische Hypothese einen ans Opern- oder Operetten- hafte streifenden Charakter an. Damit war zugleich der ersehnte Ersatz für den fehlenden Chor der Komödie geschaffen; das haben Plautus und Caecilius Statius begriffen, als sie die Mimodie als mimisches Canticum in ihre Komödie hinübernahmen; als Novius und Pomponius die Atellane litterarisch ausgestalteten, durfte gleichfalls das mimische Canticum nicht fehlen. Das Couplet aber erlangte das mimische Drama erst, als es im Beginne der alexandrinischen Epoche nach Ionien kam und dort den ionischen Mimus, die Mimodie, in sich aufnahm. Erst da war seine Entwickelung zur Hypothese vollendet.

Durch die ionische Mimodie geht wie durch den ganzen Mimus die Zweiteilung in eine mythologische und eine bio- logische Richtung. Das meinte Aristoxenus, wenn er die beiden Hauptgattungen der ionischen Mimodie, die Magodie mit der Komödie, die Hilarodie mit der Tragödie verglich1) Der Magode stellte biologische Typen dar, Weiber, Ehebrecher, Kuppler, einen Betrunkenen, der im Rausche zum Liebchen zieht, und ähnliche Figuren; der Lysiode und Hilarode wird dagegen seine Typen der Mythologie entlehnt haben. Der mimische Vortrag des Magoden wie des Hilaroden ist durchaus melisch. Der Gesang des Hilaroden wird mit Saitenspiel, der des Magoden mit Pauken und Cyrabeln begleitet -). Festus nennt den Hilaroden

*) Den Nachweis siehe oben S. 239.

2) Ich verweise auf die grofse Belegstelle bei Athenaeus 620d— 621 d.

34*

532 Sechstes Kapitel.

einen Sänger leichtfertiger und pikanter Lieder1), Eustathius den Magoden einen Meliker2). Strabo rechnet Hilarodie und Magodie zur Melik, nur dafs nach ihm die Magodie eine gröfsere Entartung der musikalischen Kunst bedeutet als die Hilarodie3). Dieser ge- sangliche Vortrag wird noch besonders durch mimischen Tanz und Gebärdenspiel unterstützt. So definiert Hesychius (v. (iccyMdij) die Magodie geradezu durch „weichlicher Tanz" 4). Diese ausgelassene und wohl hier und da geradezu obscöne Art des Tanzes und der Mimik beim magodischen Vortrag will Athenaeus mit dem Ausdruck dxivi&tai*) bezeichnen. Des Hilaroden Tanz und Mienenspiel war weniger lasciv6); eben weil er der mythologischen Richtung angehört, legte ihm die mimische Darstellung von Göttern und Helden eine gröfsere Reserve auf.

Jedenfalls waren Hilarodie und Magodie in Ionien viel beliebt und weit verbreitet, da es ja einen besonderen Stand dieser Mimen, eben die Hilaroden und Magoden, gab. Schliefslich fand diese populäre, mimische Poesie noch eine vornehme litterarische Ausgestaltung, die Hilarodie durch Simos von Magnesia und die Magodie durch Lysis. Diese neuen Arten der Mimodie hiefsen fortan Simodie und Lysiodie; daneben bestanden die alte Magodie und Hilarodie weiter. Auch gab es zahlreiche Dichter, die sich in der Hilarodie versuchten; denn bei Athenaeus heifst es ausdrücklich, Simos sei unter ihnen der beste gewesen. Dieser ionische Mimus war durch den besonderen Stand von Mimen, die sich ihm widmeten, durch zahlreiche und anerkannte Dichter

1) hilarodos lascivi et delicati carminis cantator.

2) Od. V, p. 1941,54. sn txaktfto dt ng jxslixbg xctt /xaycotiüg. ») Strabo XIV, 648!

4) Vgl. oben S. 478.

ft) Vgl. oben S. 344. Das Wort ist. hergeleitet von dem axh>ov ge- nannten Zahnpulver und wird gerne von dem Gebahren geckenhafter Men- schen, besonders aber von dem der Cinaeden gebraucht. (Vgl. Hiller, Rh. Mus. XXX, 1875, S. 74.)

G) Das bedeutet der Ausdruck ovdi a%iv(£tTKt bei Athenaeus, nicht aber, er hätte überhaupt mimisches Geberdenspiel und Tanz vermieden, wie Sommerbrodt a. a. 0. S. 6 schliefst.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 533

so sicher fundiert, dafs er, wie es scheint, fast bis in die römische Kaiserzeit Bestand behalten hat; wir lernten schon den Lysioden Metrobius als Freund des Mimenliebhabers Sulla kennen. Ich erinnere ferner an die Lysiodin am Hofe des syrischen Königs Alexander, in die der Epicureer Diogenes so schmählich verliebt war, auch an die schöne Lysiodin Antiodemis, die im zweiten Jahrhundert nach Rom zog, um dort ihr Glück zu machen. So erinnert sich noch der Grammatiker Festus der Hilarodie.

Eine Art des ionischen Mimus ist auch die Cinaedologie oder Ionicologie, allerdings ist sie mehr Mimologie als Mimodie, da sie nur mit mimischem Gebärdentanze vorgetragen, nicht aber eigentlich gesungen wird. Auch diese Art des Mimus war in Ionien weit verbreitet, und zahlreich sind die Dichter, die sich in diesem Genre versucht haben, Sotades, Alexander Aetolus. Pyres, Alexas, Kleomachus, der Faustkämpfer von Magnesia und andere1). Einen Cinaedologen fanden wir bei Petron, und Sotades ward noch nach Jahrhunderten von dem Hafs der Kirchen- väter verfolgt. Also der ionische Mimus, vor allem die ionische Mimodie, war wirklich eine bedeutsame, populäre Dichtung, wenn- gleich die Nachrichten über sie auch nicht reichlicher fliefsen als über den althellenischen Mimus überhaupt. Ohne Aristoxenus und die Peripatetiker wüfsten wir ja überhaupt nichts davon.

Diese ganze, grofse Poesie stammte nun natürlich nicht von heute und gestern her, sie geht in sehr frühe Zeiten hinauf. Ausdrücklich hebt Athenaeus hervor, dafs schon Aristoxenus die Lysiodie, die Abart der Magodie, kannte. Mithin lebte Lysis vor Aristoxenus, also etwa vor 300 vor Christus. Nach der Notiz Strabos ist Simos wieder älter als Lysis; nehmen wir nur ein Menschenalter an, so lebte Simos vor 350. Aber diese Zahlen bezeichnen nur den Terminus, vor welchem Lysis und Simos gelebt haben müssen. Sie können noch viel früheren Zeiten angehören als dem vierten Jahrhundert Aufserdem ist Lysiodie und Simodie erst die modernisierte Form der alten Magodie und Hilarodie, wie ausdrücklich bezeugt ist. Wenn wir be-

*) Vgl. oben S. 295-303.

534 Sechstes Kapitel.

denken, wie viele Jahrhunderte im Allgemeinen die mimischen Gattungen zubrachten, bevor sie sich zu litterarischer Geltung zu erheben vermochten, so wird es wahrscheinlich genug, dafs die Mimodie nicht blofs in dem Jahrhundert vor Simos und Lysis, sondern schon in viel früheren Jahrhunderten existierte. Der Mimus ist eben überhaupt in Hellas uralt.

Nun gab es Mimoden nicht blofs in Iönien, sondern auch in Unteritalien. So erregte Straton aus Tarent Aufsehen durch die mimische Parodie von Dithyramben, der Italiker Oenonas äffte Kitharodien mimisch nach, er führte einen trällernden Cyklopen und einen solökisierenden, schiffbrüchigen Odysseus vor. Oenonas mag also Gesänge wie des Philoxenus Dithyrambus „Der Gyklop" mimisch travestiert haben. Zu ver- gleichen wäre auch Theokrit, Id. VI, 6 40, wo gleichfalls der trällernde Cyklop auftritt. Eine Vorstellung von derartigen Travestien können wir noch am ehesten aus Aristophanes ge- winnen, der so gerne die neumodischen Dithyrambendichter ver- höhnt. Wie singt doch der verdrehte Kinesias, der Dithyramben- dichter, bei ihm in den „Vögeln" (1394 folg.):

„Idole der schwärmenden,

Äther durchlärmenden,

Halsausreckenden Vögel

Berührend kaum des Meersaums Schaumes Raum,

Möcht' ich wallen mit Windes Wehen!

Bald südlicher Bahn mit den Blicken gewandt,

Bald Willen und Wunsch gen des Nordpols Rand,

Portlos ätherische Furchen pflügend!"

Aber man thäte sehr unrecht, wollte man neben der ioni- schen etwa von einer dorischen Mimodie reden. Diese Mimoden in Unteritalien sind sehr jung und sehr wenig zahlreich. Nir- gends hört man von einem besonderen Stande von lyrischen Mimen wie in Ionien, nirgends werden besondere Namen und Bezeich- nungen angeführt, nirgends hat es Dichter und gar bekannte und anerkannte Dichter des lyrischen Mimus unter den Doriern ge- geben; die Mimodie ist im wesentlichen ionisch.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 535

Besser als alle die geringfügigen und verzettelten Notizen und deren kümmerliche Erklärung belehrt uns über die ionische Mimodie „des Mädchens Klage14. Diese Mimodie enthält starke, mächtig pulsierende Leidenschaft, hier findet sich bei allem Realismus hohe und höchste Poesie des Herzens: doch ist darüber nach Wilamowitzens Ausführungen jedes Wort zuviel. Leiden- schaftlich und herzbewegend strömt dort eine Verlassene ihre Klage aus. Der Geliebte hat sie mit seinen Küssen betrogen und verräterisch um ihre jungfräuliche Ehre gebracht, „den Ge- danken an den Bruch im Herzen, den herbeizuführen er so ge- schickt einen Anlafs zu finden wufste" (Wilamowitz a. a. 0. S. 221). Aber während der Ungetreue zugleich mit dem Genüsse der Liebe ledig ward, liebt sie um so leidenschaftlicher. So sollen denn die Sterne und die erhabene Nacht sie zu seiner Schwelle geleiten. Sie ist rasend, wenn sie daran denkt, dafs der Freund in der Umarmung einer anderen liegt. Wenn sie beide sich entzweit haben, mögen die Freunde entscheiden, wer Unrecht hat. Damit bricht, von zusammenhanglosen Bruchstücken abgesehen, der Papyrus ab.

„Des Mädchens Klage" gehört zur biologischen Gattung der Mimodie, und zwar zur Abart der Magodie, zur Lysiodie, sie ist, wie es sich für einen biologischen Mimus gehört, auch im popu- lären Stile gehalten, hier herrscht durchaus die Sprache des Lebens. Wir haben sie uns von den schönen Lysiodinnen, wie die zarte Antiodemis, „Aphroditens Nestküchlein ", eine war, mit allem Zauber einer herrlichen Stimme, bestrickenden körperlichen Liebreizes, verführerischen Tanzbewegungen und mimischen Ge- bärden vorgetragen zu denken1). So sangen später noch nach vielen Jahrhunderten die Miminnen auf den grofsen Theatern von Rom und Konstantiuopel, Alexandria und Antiochia und in allen Städten der alten Welt, in Europa, Afrika und Asien ihre bezaubernden Couplets, wie einst die Lysiodin ihre Liebesklage sang. Wenn Chrysostomus voller Empörung auf diese erotischen Couplets schilt, welche die Leute mit unwiderstehlicher Gewalt

*) Vgl. oben S. 344.

536 Sechstes Kapitel.

anziehen, über denen die Christen ihre Psalmen vergessen, die man den lieben, langen Tag vor sich hinträllert, die die jungen Leute singen, um die Mädchen zu verführen, so erinnert uns das an die zauberische Gewalt, die auch „des Mädchens Klage" haben mufste, von den verführerischen Lysiodinnen vorgetragen, deren Reizen selbst ernsthafte Philosophen unterlagen. Gar manche Lysiodin mag aus den prunkenden Sälen der Fürsten und Reichen, in denen sie ihre Arien vortrug, zur grofsen Bühne geschritten und von der Mimodin direkt zur Mimin geworden sein, wie heute umgekehrt Opernsängerinnen auch im Konzertsaal singen. Jeden- falls ging die Mimodie selber aufs grofse Theater und ward zum mimischen Couplet. Darum erinnern ja auch plautinische Cantica an die Mimodie; Plautus wird schwerlich selbst zuerst die Mimodie als Canticum in seine Komödien aufgenommen haben; das hat er der hellenischen mimischen Hypothese abgesehen1).

Die mythologische Art der Mimodie, Hilarodie und Simodie ist paratragödisch und burlesk. Sie kann also nur den alten Mythus parodiert haben. Auch von ihr gilt wie von der Hilaro- tragödie Rhinthons als Charakteristicum das ntxctQQV&ni&iv xd zQayixd ig zo ysloiov; nur dafs Rhinthons Drama mimologisch, die Hilarodie aber kein Drama und mimodisch ist. Zudem be- steht zwischen Rhinthon und der ionischen Mimodie kein direkter Zusammenhang.

Hier mag uns nun wieder Aristophanes zu einer anschau- lichen Vorstellung verhelfen. Die Parodie, welche Aeschylos in den „Fröschen" einer euripideischen Monodie zu teil werden läfst, hat wie die Hilarodie viel Mythologisch-Parodistisches an sich. Durch die Mengung des Hochtragischen mit dem Gewöhn- lichen und Niedrigen, durch die Anwendung der vornehmen Form auf den niedrigen Inhalt wird eine nahezu mimisch -burleske Wirkung erzielt. Furchtbar fängt . die ganze Monodie an. Ein grausiger Traum hat sich der Heldin genaht wir erfahren

l) Vielleicht war „Des Mädchens Klage" schon gar keine selbständige Mimodie mehr. Die ziemlich komplizierte Situation, die sie zur Voraus- setzung hat, wird von ihr so andeutungsweise behandelt, als ob sie durch vorausgegangene Scenen schon deutlich gemacht wäre.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 537

nicht, wer sie ist ; mit dem Thau der Gewässer will die Träumerin sich den unheilkündenden Traum abspülen. In der That ist das grause Unheil, das er ahnen liefs, auch schon ein- getreten. Die böse Nachbarin Glyke hat im schwarzblickenden Dunkel der Nacht den Kückelhahn gestohlen, das ist freilich eine entsetzliche Greueltbat: man mufs nun bei der bösen Glyke Haussuchung halten. Durch ein Wunderzeichen ist alles schon im Traume vorher verkündigt; der Garnknäuel, den die Träumerin verfertigte, um ihn am nächsten Morgen auf dem Markt zu ver- handeln, hat plötzlich Flügel bekommen, und ist als Vogel in die Luft geflogen. Doch ich will lieber diese Parodie ich hätte beinahe gesagt Mimodie ganz hierhersetzen: sie verdient es wegen ihrer typischen Bedeutung:

„0 schwarzblickend Dunkel der Nacht,

Was schickst du für einen grausigen Traum mir

Her aus schweigendem Ort.

Mir des Hades Gesandten,

Die unseelige Seele,

Der Grabnacht unhold Kind mir, Gesicht furchtbar, graunweckend, Schwarzleichenbahrengewandig, Blutigen, blutigen Mord im Blick. An den Fingern mit langen Nägeln? Aber ihr Mägde mir. züDdet ein Lämpchen an, Schöpft in Eimern mir Thau der Gewässer, doch wärmt

mir das Wasser, Dafs abspülen den göttlichen Traum ich kann! Ja, Fürst du des Meeres,

Ja, das ist's! Ja, Hausgenossen!

Schaut die entsetzliche Greulthat, schaut sie! Mir entführend von dem Hof den Kückelhahn ist

Glyke fort, wehe! 0 Nymphen ihr, Kinder des Bergs. 0 Küchenmagd, greifet sie!

538 Sechstes Kapitel.

Doch ich armes Kind, ich safs grad' für mich so,

Mit Handarbeit fleifsig,

Des Garnes füllende Spindel

Ei ei ei ei ei ei eifrig drehend mit der Hand,

Ein Knäuel zu fertigen

Das grauenden Morgens zu Markt

Ich wandelnd verhandele;

Da entflog er, entlang in den Äther er,

Leichtesten Schwunges der Fittiche!

Ach Klage mir, Klage mir liefs er zurück!

Und Tränen, und Tränen fort und fort,

Strömen mir, strömen die Wimpern mir!

Kreter, Söhne des Ida, auf!

Den Bogen ergreifet, mich zu verteidigen,

Die Beine lafst schweifen, das Haus

Kings umkreisend umzuspähn!

Und du zugleich, holde Maid,

Diktynna Artemis,

Deine Windhund' am Band komm und zieh'

Durch den Palast überall!

Zeus Kind du, doppeltgeflammte Fackel

Hebend empor in geschwungener Hand, Hecate, leuchte mir vor!

Zu Glykes Haus, damit ich

Dort anstelle Haussuchung1)."

(V. 1331 1363 Droysen.) Da wir dem Ursprung der gesamten Hypothese nachgehen, müssen wir auch nach dem der alten ionischen Mimodie, die ja ein wichtiger Bestandteil der Hypothese geworden ist, fragen; oder hat sie etwa denselben wie das alte mimische Drama der Dorier, .sie, die doch weder so alt wie dieses noch überhaupt ein Drama ist?

J) Hier erinnern wir uns ein wenig an den Traum, den bei Herondas im „Traum" die Bäuerin ihrer aufhorchenden Magd Anna erzählt. Auch dieser Traum mufs sehr seltsam gewesen sein. Ich verweise auf den Rekon- struktionsversuch bei Crusius in den „Untersuchungen" S. 151 folg.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 539

Der dramatische Mime trägt Tricot und Phallus, dazu noch meistens vorn eine Polsterung, das Progastridion, seine Bekleidung besteht in einem Kittel, wie ihn die einfachen Leute in Hellas tragen, auf dem Haupte trägt er gerne eine spitze Mütze wie der mimische Odysseus mit dem Schifferhut oder der apiciosus des römischen Mimus. Der Mimode aber er- scheint nach der Schilderung bei Athenaeus (XIV, 620 e folg.) im feierlichen, weifsen, langwallenden Gewände, nirgends findet sich eine Spur von Phallus oder Progastridion, im Haar trägt er den Kranz, seine Füfse sind beschuht, während die Mimen seit den urältesten Zeiten bis zu den mimi planipedes der Römer unbeschuht waren. Man stelle neben eine liebreizende Lysiodin mit ihren wallenden Prunkgewändern, ihrer ganzen luxuriös- prächtigen Erscheinung solch einen halbnackten, dickbäuchigen, phallischen, kahlköpfigen Mimen mit seinem burlesk-verzerrten, grinsenden Gesicht. Eine Welt liegt zwischen beiden.

Der Aufzug dieser Mimoden ist der des citherschlagenden Apoll, es ist die feierliche Tracht, die dem Rhapsoden wie seinen Vettern , den melischen Künstlern , den Kitharoden und auch den Auloden zukommt. Und wenn es von dem Magoden heifst, alle seine Gewänder wären weiblich, so müssen wir be- denken, dafs die Tracht und der Schmuck des Rhapsoden wie der Meliker überhaupt sich der weiblichen sehr nähert. Der alte weifse Chiton der Männer wie der Weiber unterschied sich wenig von einander, nur dafs der weibliche einen Bausch (x6Ä.noc) hatte, den der männliche entbehrte. Es war also für den weibischen Magoden, dem der weichliche, üppige Tanz bei Hesychius (vgl. oben S. 352) vorgeworfen wird, äufserst bequem, seine ursprünglich rhapsodische Kleidung durch geringe Ände- rungen in die weibliche zu verwandeln. Diese ionischen Mimoden unterscheiden sich in ihrem Aussehen von den dori- schen Mimologen wie die idealen ritterlichen Götter Homers von den burlesken Bauerndämonen, den mimischen Geistern, und den mit ihnen verwandten Kobolden, den Wichtelmännern, den Kobalen und Kerkopen.

Der dramatische Mime verleuguet auch in der Art, wie er

540 Sechstes Kapitel.

das Geld für seine Produktionen sammelt, nicht seinen gauk- lerischen Ursprung. Wie heute bei dem Kasperletheater meistens die Frau des Mimen mit dem Teller oder mit dem Hute umher- geht, das Geld zu sammeln, ähnlich geschah es auch bei den hellenischen Mimen.

Jahn (die Wandgemälde des Columbariums in der Villa Doria Pamfili, Taf. II, 5. Abh. d. Münch Acad. Bd. VIII S. 229 folg.) hat ein Wandgemälde veröffentlicht, auf welchem drei Ägypter einen enthu- siastischen Tanz aufführen, während ein vierter in seinem Hute Geld sammelt. Nicht mit Unrecht hat Jahn diesen Tanz zu den Leistungen der Cinaedologen in Beziehung gesetzt, die mit zu den Mimen gehören1). Ähnlich ist die Schilderung bei Theophrast (Charact VI) von der Art, wie die Gaukler, die Kunstverwandten der Mimen, das Schaugeld sammeln. Wenn wir bei Heydemann den Phlyaken auf seih er dürftigen auf drei oder höchstens vier Pfählen errichteten Bühne sehen (vgl. a. a. 0. besonders No. A), dann wissen wir, dafs er das Geld sicher in der primitiven, oben be- schriebenen Weise gesammelt hat. Hätten die Maler dieser Phlyakenvasen jemals auch das Publikum gemalt, so würden sie es nicht unterlassen haben, wie auf dem Wandgemälde bei Jahn die Frau oder den Mann, der das Schaugeld sammelt, abzubilden.

Wieder stehen hier in einem strengen Gegensatz zu dieser eigentlich mimischen Art die Lysioden und Magoden. Des Rhap- soden wie des vornehmen melischen Künstlers ehrenvoller Lohn war der Kranz, der ursprünglich wohl, weil er nur eine Ehren- gabe war, aus Lorbeer- oder Ölzweigen bestand. Als die Zeiten materieller wurden, da ward er aus Gold gefertigt. Und dieser ideelle Lohn, nach dem der eigentliche Mime nie gestrebt, ward dem Hilaroden und Magoden zu teil, mit ihm durfte er sich öffent- lich zeigen. Ausdrücklich sagt Athenaeus, dem Lysioden ward derselbe Kranz zu teil wie dem Auloden, d. h. dem melischen

J) Apuleius giebt (Metam. VIII) eine Schilderung der religiösen Gaukeleien der eigentlichen Metragyrten. Das Ende aber ist die Einsamm- lung des Lohnes: „die Leute drängten herbei und schenkten ihnen reich- lich eherne und auch silberne Münzen, die sie mit aufgehaltenem Schofse einsammelten".

Die griechische Hypothese vor Philistion. 541

Künstler überhaupt. So trägt in der That eine Lysiodin, die Geliebte des Epikureers Diogenes, bei ihrem Auftreten den goldenen Kranz im Haar, den der Epikureer als Lohn der Tugend von dem König Alexander von Syrien erhalten hatte1).

Also Hilaroden und Magoden, Lysioden und Simoden zeigen sich in der Tracht, die allein dem Rhapsoden wie dem melischen Künstler gebührt, und auch sein Lohn, der Kranz, wird ihnen zu teil; sie werden also wohl mimische Vettern der Kitharoden und Auloden sowie der homerischen Rhapsoden sein. Das scheint auch Athenaeus oder vielmehr seine alten Gewährsmänner geglaubt zu haben; denn der Stelle über die Mimoden geht unmittelbar voran eine kurze Erörterung über die Rhapsoden und dieser eine recht lange über die Auloden und Kitharoden (616e— 620d).

Stehen also auch diese Mimoden wie alle Sänger in Ionien, wie die homerischen Rhapsoden, wie grofsenteils auch die ionischen Auloden und Kitharoden auf dem Boden der Epik, der Helden- sage und Mythologie?

Aber die ideale epische Poesie sang von Göttern und Göttersöhnen, sie war für Ritter gedichtet und schnelle Helden, mochten sie zur See oder zu Lande ihre Thaten vollführen; und der Homeride wollte sie in der goldglänzenden Halle der Anakten vortragen. Doch die Zeiten wurden andere in Ionien. Mit der Herrschaft der Zeusentsprossenen ging es zu Ende, das Volk wurde frei, um dann schnell unter die Herrschaft der Bar- baren zu kommen. Da war kein Raum mehr für Göttersöhne, den Ioniern war ihr Rittertum zerbrochen, als sie dem Lyder den Nacken beugten, da und noch früher ging das hochge- spannte, ritterliche, ideale Leben in die Brüche und mit ihm auch der ideale Heldensang. Auf den Trümmern ihrer Städte erschien den Joniern ein anderer Gott als die anthropomorphen, ritterlichen, leichtlebigen Götter Homers, da begann die strenge ionische Naturphilosophie. Da blieb für die alten Götter und ihre Welt nur noch die Kritik übrig, und herb und strenge

») Vgl. oben S. 167.

542 Sechstes Kapitel.

haben die Philosophen sie geübt; sie hatten kein Verständnis mehr für sie und darum auch kein Mitleid. Sie taugen alle nichts, die Götter Homers, wie sollten sie die Welt erlösen, die selbst mit allen ihren Schwächen behaftet sind. Die Welt, welche der Erlösung bedarf, mufs ihrer entraten:

Ildvxa #£Otff' ävs&qxav "OfxrjQÖg •#' Haioööq ts, odda naq^ ävd-QutnoicStv bvsiöea xai xpoyog eötiv, xkimsiv fioix£V6iv ts xal äXXijXovg dnaxevHV.

(Diels, Fragm. poet. philos. S. 39.)

singt Xenophanes, der Rhapsode, als er zum Philosophen ge- worden war.

Da ist die Volkspoesie in Ionien doch mit dieser homerischen Welt milder umgegangen, sie hat sie parodiert und travestiert; aber sie blieb dem Volke als ein altes Erbstück aus der ritter- lichen Väter glänzenden Zeit lieb und wert; sie so ohne weiteres über Bord zu werfen, wie der folgerichtige Philosoph that, war nicht des Volkes Sache. Je jünger die Triebe der homerischen Poesie in Ilias und Odyssee sind, desto realistischer werden sie, wie ihre Träger, die Ionier; ja, sie nehmen nicht selten eine realistisch-humoristische Färbung an, die an die Art des mythologischen und zum Teil auch des biologischen Mimus streift.

Selbst die Götter sind hier und da merkwürdig ver- ändert und sehen aus wie Sterbliche von der niedrigsten Sorte, intriguieren, betrügen, zanken und keifen, schmausen, pokulieren und huldigen den Freuden der Liebe, die Aphrodite Pandemios verleiht, als wären sie garnicht die Bewohner des Olymp, sondern biedere Pfahlbürger irgend eines verrufenen, kleinen griechischen Nestes, die der göttliche Sänger einst während seines Erdenwallens kennen lernte.

Wenn wir diesen galanten Göttervater Homers sehen, der der verführerischen Hera so eifrig und so thöricht schmeichelt ich erinnere an die berühmte Vereinigung beider auf dem Ida (XIV, 157—355; XV, 4—39) um sie dann nach dem Liebes- genufs grob und rüde anzufahren, dann brauchen wir kaum einen

Die griechische Hypothese vor Philistion. 543

einzigen Schritt tiefer zu gehen, um sofort den alten Götter- papa zu verstehen, wie er mit Phallus und Progastridion im italischen Mimus zu Liebchens Fenster auf schwanker Leiter hinaufsteigt1). Wenn er das bei Nacht und Nebel thut. so kennen wir seine Furcht vor der gestrengen Ehehälfte schon aus dem ersten Buch der Ilias, wo er Thetis bittet, sich im geheimen zu entfernen, damit es die ewig keifende Hera nicht merkt (I, 522 und 523).

Wenn aber gerade Hermes ihm dabei helfen mufs, so wissen wir ja aus dem Hermeshymnus, was für ein Galgenstrick und Gauner dieser Gott schon in seinen Windeln war. Es ist doch äufserst merkwürdig, was für erstaunliche Thaten er dort gleich nach seiner Geburt verübt; erfindet die Zither, raubt des Helios Rinder, und ist gleich ein so abgefeimter Spitzbube, der auch zu Meineid und allem Bösen bereit ist, wie es selbst für einen homerischen Gott arg ist. Dafs das bei aller Realistik nur Spafs und Humor ist, können schon die Weissagevögel lehren, die Hermes streichen läfst, als Apollo den kleinen Spitzbuben zum Vater Zeus vor Gericht schleppen will.

Die Göttermutter hat, abgesehen von dem Verdrufs, den ihr der auf hübsche Frauen und Jungfrauen erpichte Gatte be- reitet, im Mimus auch viel Ärger mit ihren Kindern. Auf der bekannten Phlyakenvase aus Bari (Elite ceram. I, 36) sitzt sie auf einem hohen Stuhle und weifs sich nicht zu helfen. Denn dieser Stuhl, den ihr Sohn Hephaestos hergestellt hat, besitzt die Zauberkraft, sie nicht los zu lassen. So tritt denn ihr Sohn Ares für sie ein und kämpft mit Hephaestos, um den Zauber zu lösen*).

») Wieseler a. a. 0. S. 11.

2) Schon bei Epicharm findet sich der Komödientitel „Die Komasten oder Hephaestos", und aus Photius wissen wir, dafs Epicharm hier dasselbe Thema behandelt hat, das später die Phlyaken darstellen. Nur erfahren wir noch den Verlauf des ganzen Abenteuers, die Verbannung des Hephaestos und seine Zurückführung im übermütigen Komos. (Vgl. Lorenz, Leben und Schriften des Koers Epicharmos S. 138, und besonders Löschcke, Korinthische Vase mit der Rückführung des Hephaestos. Mittheilungen des deutschen archäologischen Instituts in Athen 1894.)

544 Sechstes Kapitel.

Auch diese mimische Erfindung ist einfach eine Fortbildung, kaum eine Parodie der homerischen Dichtung zu nennen. Wenn Hephaestos im Mimus Here fesselt, so hat er bei Homer auch Ares und Aphrodite in Bande geschlagen; Here hat sich ja auch schlecht genug gegen ihren Sohn benommen. Sie hat ihn, da er von Geburt hinkend war, als Neugeborenen aus dem Himmel geworfen (Ilias XVIII, 396 f.) Kein Wunder, dafs Hephaestos sich solcher Rabenmutter gegenüber Unziemliches erlaubt. Dafs ihm gerade Ares gegenübertritt, ist auch im Sinne des homerischen Mythos. Ares weifs, wie schlimm es ist, in den Fesseln der Hephaestos zu liegen. Dafs er in dem Kampfe nicht Sieger sein wird, lehrt uns wieder Homer, der ihn als Feigling schildert. Aber Hephaestos ist sehr gutmütig, das wifsen wir aus dem Demodocuslied; er wird sich versöhnen lassen, und so können wir aus der analogen homerischen Dichtung auch den heiteren Schlufs dieses Mimus erraten.

Hier ist der homerische und der mimische Stil sich so ähnlich, dafs sie fast in einander übergehen. Ja, das Demodocus- lied könnte man dreist eine mimische Erfindung nennen. WTie herrlich ist in dem russigen, hinkenden Hephaestus der arme, alte Hahnrei geschildert und ebenso in Ares der galante, junge Mann, der cultus adulter, den Ovid aus dem römischen Mimus kennt, der in des Alten Abwesenheit das zierliche, junge Weib- chen verführt. Der Alte ist schlau genug, die beiden abzufassen, und dumm genug, die lieben Nachbarn als Zeugen herbeizurufen ; die ergötzen sich an dem Anblick weidlich und finden den jungen Mann garnicht so dumm. Der Alte aber tobt und verlangt von dem Schwiegervater alle Geschenke zurück, die er für seine lockere Tochter einst gegeben; doch schliefslich verspricht der Onkel der jungen Frau (Poseidon) ein Stück Geld als Ersatz. Da giebt sich der betrogene Ehemann zufrieden, und das Ganze schliefst mit einem lustigen, mimischen Gelächter, wie ein Mimus nach Choricius endigen mufs.

Wir kommen zu Thersites. Mit welch eindringlichem Realismus wird er geschildert. Er ist der häfslichste der Griechen, schielend, lahm, bucklig und hat einen Spitzkopf, der nur spar-

Die griechische Hypothese vor Philistion. 545

lieh mit dünner Wolle besetzt ist. Das heilst also, er ist nach seinem Aussehen eine echt komische Figur. Noch in später Zeit haben vornehme Damen nach Clemens von Alexandria Zeugnis ihre Narren Thersitesse genannt1). Dieser Thersites ist die In- carnation des niederen Volkes, er vertritt die allgemeine Meinung, er hat scharf, nüchtern und rücksichtslos beobachtet, und seine grelle Stimme verschafft sich Gehör, wenn man ihn auch noch so wenig leiden mag.

„Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi"

sagt Horaz (Epist. I; 2, 14); etwas viel anderes meint Thersites auch nicht. . Und doch erhält er die empfindlichsten Prügel, wie nur je ein Narr im Mimus, so dafs er laut aufheult, und alle Achäer lachen, und wir lachen mit ihnen.

Ist die eigentlich realistische, mimisch- biologische Schil- derung in der Ilias noch seltener, so nimmt sie dagegen in der Odyssee einen grofsen Raum ein. Hier können wir uns für die Richtigkeit unseres modernen Empfindens sogar auf das Urteil eines der hervorragendsten, antiken Aesthetiker berufen, der in den Schilderungen des Lebens und Treibens im Hause des Odysseus mimische Ethologie und Biologie wiederfand, ja dem das Ganze wie eine Art mimischer Hypothese vorkam1). Vor allem ist die Schilderung der Freier so realistisch wie mög- lich: Dieses Gesindel, das in des Königs Abwesenheit sein Weib bedrängt und dabei wider allen Brauch sein Hab und Gut verprafst, das um die Königin wirbt und sich inzwischen mit den Mägden tröstet Ich habe oben schon auf den Bettler Odysseus hin- gewiesen. Er hat nur alte Lumpen am Leibe und trägt einen schmutzigen Ranzen (XVII, 351), gefräfsig geht er von einem zum andern, um ihn anzubetteln. Er hat eine Glatze, auf der auch nicht ein Härchen zu sehen ist, wie der mimische kahle Narr, nur dafs Odysseus unter dieser Maske den Humor zu einem fürchterlichen macht. Einer der Unsterblichen, meint

') Paedagog. III, 4. Vgl. Floegel, Gesch. d. Hofnarren S. 159. *). Vgl. ohen S. 328, Anm. 4.

Reich, Mimu». 35

546 Sechstes Kapitel.

ein Freier, müsse ihn hergeführt haben, denn himmlischer Glanz strahle von seinem glattpolierten Schädel1).

Nicht der Mimus, nicht Epicharm hat die Figur des Parasiten erfunden, der älteste Parasit ist der Bettler Odysseus und daneben der Bettler Iros. Merkwürdig genug, selbst auf Penelope fällt dieser realistische Schimmer und verwandelt sie in der seltsamsten Weise. In der Episode im XVIII. Buche tritt sie in vollem Putze zu den Freiern, kokett hält sie den Schleier, allen erregt sie heifses Verlangen, zumal da ihr so ungewöhnliches Erscheinen verheifsungsvoll wirken mufs. Was Wunder, dafs die Freier auf ihre Klage: nicht, dafs man überhaupt, sondern dafs man ohne Geschenke um sie werbe, bereitwilligst eingehen und reiche Gaben an Gold herbeiholen lassen. Da hat Penelope sie schön genarrt; vergnügt wie eine Hetäre, die ihre Liebhaber ordentlich ge- rupft hat die Mimologen haben diese Freude oft zum Aus- druck gebracht zieht sie ab und besieht oben in ihrem Ge- mache die reichen Gaben2). Odysseus, der das mit ansieht, freut sich über die einträgliche Koketterie seiner Frau (XVIII, 286— 289) 3). Da fällt uns der mimische Odysseus ein, der bei Horaz in der Erbschleichersatire sich bei Tiresias erkundigt, wie er am besten das von den Freiern durchgebrachte Vermögen wiedergewinnen kann, und den guten Rat erhält, sich auf die Erbschleicherei zu legen4).

Die griechischen Systematiker rechnen das homerische Epos

1) Man beachte hier die echt volksmäfsige Ironie; der Hohn prallt auf die Höhnenden zurück, sie reden ironisch und ihre Ironie ist die bittere, aber ihnen verborgene Wahrheit.

2) Kayser (Homer. Abh. ed. Usener S. 41) verwunderte sich ganz richtig über die artes meretricias, denen die Königin hier huldige.

3) Wilamowitz (Homerische Untersuchungen S. 8 folg., S. 29 folg.) hat wegen dieser humoristisch-realistischen Art diese Episode als ein späteres Einschiebsel gekennzeichnet. Man sieht, wie die Rhapsoden in späterer Zeit immer mehr zu realistisch-humoristischer Auffassung neigen, bis sie schliefs- lich sich hierin kaum noch von den Ethologen und Biologen unterscheiden.

4) Über den Zusammenhang dieser Satire mit dem Mimus vergleiche unten die Kapitel „Cynismus und Mimologie" sowie „Mimus und Satire".

Die griechische Hypothese vor Philistion. 547

nicht zur einfach erzählenden Poesie, sondern zum yivoc, [xixtov, weil es aus erzählenden und dramatischen Partien gemischt ist. Man denke an die zahlreichen Reden, die Homer seinen Personen in den Mund legt. Wenn der Rhapsode sich beim Vortrage dieser Reden in die Person des Helden hineinversetzte, so war er direkt zum Schauspieler geworden.

Ich erinnere an den braven Jon, den Plato mit soviel Humor, Lust und Liebe in seinem gleichnamigen Dialoge schildert. Bei schrecklichen Stellen sträuben sich ihm die Haare empor, bei wehmütigen treten ihm die Thränen in die Augen, er be- gleitet also seinen Vortrag mit Mienenspiel. Kein geringer Teil der rhapsodischen Kunst wird in der mimischen Ver- anschaulichung des Epos und seiner Helden bestanden haben, die Rhapsoden waren zugleich vnoxQixai 'OpiJQoVj Darsteller Homers1). Nicht anders wird es mit den Kitharoden und Auloden gewesen sein. Wenn diese mit mimischer Aktion Reden einzelner epischer Personen, realistisch-burlesk parodiert, vortrugen, waren sie zu Hilaroden und zu Magoden geworden. Die homerische Poesie neigt aber in ihren letzten Ausläufern schon an und für sich zu mimischer, realistisch-burlesker Auffassung.

Das ionische Publikum der späteren Zeit, diese Seeleute, Schiffskapitäne, Rheder, Kaufleute und sonstigen Gewerbetreiben- den im betriebsamen Ionien werden ihre Rhapsoden, Kitharoden und Auloden nicht selten zu dieser mimischen Entwickelung gedrängt haben. Immer und ewig mochte man auch nicht den Streit der Könige oder Penelopes Jammer, das Getöse des Wassers und den Donner des Zeus und alle diese idealistischen, hoch- gespannten Dinge vernehmen. Der verwöhnte Gaumen wollte auch einmal derbere und pikantere Kost. Es ist bezeichnend, dafs es gerade die Phäaken sind, vor denen Demodocus die Märe von Ares und Aphrodite singt. Es ist gewifs später im realistischen Ionien viel lukrativer gewesen, ein Mimode als ein Rhapsode zu sein. Bedenken wir es wohl, selbst das

1) Bei Athenaeus (620 c) wird von dem Rhapsoden Mnasion direkt der Ausdruck v7ioxQivta&at, gebraucht.

35*

548 Sechstes Kapitel.

streng-ideale Athen verlangte in seiner Heldenzeit nach dem erhabenen Aeschyleischen Trauerspiel den plumpen Scherz der Satyrn, es wollte nach Prometheus und den Eumeniden den betrunkenen Cyklopen sehen und Herakles, den Fresser. Was für das dramatische Athen das Satyrspiel, das ist für das epische Ionien gewissermafsen die Lysiodie und Magodie. Wenn dem realistischen Volke nach all dem Idealismus der Khapsodie, der Kitharodie und Aulodie flau zu Mute wurde, dann trat die Hilarodie und Magodie in ihre Rechte.

So hat denn also der ionische Mimode nichts mit den burlesken Darstellern des dorischen Mimus und auch von vorn- herein nichts mit dem &av(iaionoi6s> dem Ahnen des Mimen, zu thun. Aber trotz seiner vornehmen Herkunft' und dem prächtigen Auftreten, das er immer beibehielt, gehört er schliefslich doch auch zum fahrenden Volk, das sich mit seiner Kunst das Brod erwirbt, so zog die Lysiodin Antiodemis nach Rom, um sich das Gold der Barbaren zu verdienen (vgl. oben S. 167 u. 194). Diese Mimoden hatten später keinen Grund mehr, sich von den andern Mimen zu scheiden, wie es die vornehmen Tragöden und Komöden thaten: sie vereinigten sich leicht mit ihnen zur Dar- stellung der mimischen Hypothese als Sänger der mimischen Cantica.

Wir dürfen also im allgemeinen sagen, die Mimologie ist dorisch, die Mimodie ionisch. Die realistische dramatische Volkspoesie hat in ihren mannigfaltigen Formen bei den Doriern und Ioniern geblüht. Den idealen Attikern ward es gegeben, die hohe Blüte des vornehmen Dramas zu schaffen, das, wie alles Ideal-Schöne und Hehre, bald dahinwelkte, während seine derben, realistisch-mimischen Vettern ihr unverwüstliches Leben bis an das Ende alles griechischen Wesens weiter führen sollten, da sie, durch ihre Vereinigung stark, das grofse mimische Drama hervorgebracht hatten. Die Suprematie Athens auch auf dem Gebiete der Dichtung hörte auf, der griechische, idealistische Klassizismus hatte sein Ende erreicht, das realistisch.- burleske, das biologische Drama gewann die Herrschaft.

Die ionische Mimodie führt uns also dazu, aufser den bisherigen,

Die griechische Hypothese vor Philistion. 549

durchgreifenden Unterscheidungen im Mimus, die wir aufgestellt haben, ich erinnere z. B. an Paegnia Hypothesen, Mimodie Mimologie, dorischen ionischen Mimus, biologischen— mythologi- schen Mimus, eine weitere Unterscheidung zu machen zwischen dem rein dramatischen, auf die dramatische Aktion zweier oder mehrerer Personen und dem recitativen, allein auf den mimischen Vortrag einer einzigen Person berechneten Mimus. Zur letzteren Gattung haben wir ohne weiteres Magodie und Lysiodie, Hilarodie und Simodie zu rechnen. Wie diese ist auch die mehr mimologische Art des ionischen Mimus, die Ionicologie oder Cinaedologie durch- aus recitativ, ist doch auch sie auf dem Boden der Rhapsodie und der Epik erwachsen. Abgesehen von dem Schmähgedicht gegen Belestiche, die Maitresse des Ptolemaeus Philadelphus, haben wir von Sotades, dem Hauptdichter der Cinaedologie, nur mythologische Titel „Der Abstieg in die Unterwelt", -Priapus", „Die Amazone"1), „Ilias", „Adonis* s). Die Ein- leitung zum „Adonis"* beginnt fast wie ein Märchen:

Tiva tdäv naXaiäv laiooicöv #«JUr' iöaxovaai*).

So kann nur ein Erzähler, ein Recitator, ein Rhapsode anheben- Dennoch gehört, wie wir oben (S. 233 folg.) gezeigt haben, die Cinaedologie zum Mimus. Aus seinem rhapsodischen Ursprung er- giebt sich eben die recitative Art des ionischen Mimus von selbst. Aber auch der rein dramatische Mimus hat noch nebenher eine recitative Spielart ausgebildet; sie wird gekennzeichnet durch die Namen Sophron, Herondas, Theokrit. Auf diesen Mimus, er gehört zur Gattung des mimischen Paegnions, bezieht sich Wilamowitzens Bemerkung: „Was sind die Mimen? Doch keine dramatische Gattung. Der Erzähler tritt auf, seis auf dem Markte oder im Privathause, später auch auf dem Platze, der Schauplatz heifst, weil alles da bequem gesehen werden kann, was ein grofses Publikum sehen will. Der Erzähler kann mit

') Suidas s. v. Zonädrig- tla\ ö' avtov tldtj nktiaia, olav t fr "AtSov xara- ßa<ng, nqlrrnog, dg BtltOTixrp, 'Aua&v, xal hioa.

2) Hephaestion p. 8, 5.

3) Hephaestion an derselben Stelle.

550 Sechstes Kapitel.

den ysXcoTonowi des Westens ebenso verglichen werden, wie mit den vornehmen Rhapsoden des Ostens, die auch Stücke des Archi- lochus und Hipponax recitierten. Er imitiert mit drastischer Komik mehrere Stimmen. Darin hat sich nichts geändert, als im dritten Jahrhundert die eleganten Poeten auch diese alten Formen umbildend und verfeinernd aufnehmen. Theokrits Adoniazusen und Simaitha sind doch zunächst von ihm selbst vorgetragen; das ist keine Buchpoesie: er hat ja gar kein Buch gemacht. Und so hat es im Jambos ihm Herodas nachgemacht1)." Wilamowitz spricht hier2) vom Mimus Sophrons, Herondas' und Theokrits und ihren volksmäfsigen Vorläufern. Diesen gilt seine Bemerkung und aufserdem noch der ionischen Mimodie und Cinaedologie, natürlich aber nicht dem althellenischen, dramatischen Mimus und dem mimischen Drama der späteren Zeiten, dem alexandrinischen, griechisch-römischen und byzan- tinischen, der Hypothese. Hertling hat dann mit guter Methode den Beweis durchgeführt, dafs Herondas' Mimen nicht für die Bühne gedichtet sind, dafs sie also nach unserer Terminologie zum recitativen Mimus gehören, dem, wie er wohl mit Recht vermutet, auch Sophron zuzuweisen ist und selbstverständlich Theokrit3).

Die Lust an den kleinen, mimischen Dramen war eben seit uralter Zeit so grofs, dafs auch Einzeldarsteller sich ganze Mimen vorzuführen bemühten, wie es z. B. Kleon, der Mimaule,

J) Herondas will sich ja direkt als Nachfolger des Hipponax, dessen Dichtung nichts weniger als dramatisch war, betrachtet wissen.

2) Lesefrüchte, Hermes XXXIV, S. 207 u. 208.

3) Wenn aber Hertling nach Besprechung des recitativen Mimus zum Schlüsse seiner Dissertation meint: „Quae de Graecorum mimica arte disputavi, si quis comprehendat, habiturum eum spero, unde rede de usu mimorum graecorum iudicet . . . gravissirna . . monuisse et tibi e re visum est explicatius docuisse mihi videor.", dann zeigt er damit, dafs er glaubt, der griechische Mimus sei mit Sophron, Herondas und Theokrit und der volkstümlichen mimischen Kunst, auf der sie basieren und mit der sie zusammenhängen, erledigt. Das ist ein Irrtum, aber freilich ein altgeheiligter (vgl. oben S. 421). Der recitative Mimus ist bei aller Bedeutung, die ihm innewohnt, doch bei weitem der geringere Teil im grofsen Reiche des Mimus.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 551

that und der Herold Ischomachus und auch Nymphodorus. Ihr Triumph bestand eben darin, durch lebhaftes Gebärdenspiel, durch die Annahme verschiedener Stimme und Sprache beinahe dieselbe Illusion zu erregen, wie sonst eine ganze Bande von Schauspielern *). Die Rolle solcher mimischen Recitatoren mochten dann später auch vornehme Kunstdichter, wie Sophron, Herondas und Theokrit um so eher übernehmen, als diese Einzeldarsteller natürlich nicht in der Tracht des Mimen mit Phallus und Pro- gastridion aufgetreten sind. Sie fühlten sich eben viel mehr als Rhapsoden, ähnlich wie die Mimoden Ioniens. Gewifs haben Herondas und Theokrit ihre Mimen zuerst selber vorgetragen; aber wer möchte sie sich dabei in dem wunderlichen Kostüm des dramatischen Mimen vorstellen.

Die hellenistischen Könige waren, wie wir sahen, dem Bei- spiel Philipps und Alexanders folgend, eifrige Begünstiger des Mimus, des recitativen wie des dramatischen. Wie einst Kleon der Mimaule seine lustigen fMpyONC allein der gaffenden Menge vorführte, wie einst Oenonas einen solökisierenden, schiffbrüchigen Odysseus und einen trällernden, liebeseeligen Cyklopen darstellte, so mag Theokrit vor dem glänzenden Hofe der Ptolemäer als ein neuer Mimologe seinen Mimus von Polyphems und Galateas Liebe und alle seine andern biologischen und bukolischen Mimen mit mimischer Aktion recitiert haben, so hat man auf den glänzenden Gastmählern und Gelagen Alexandriens auch Herondas' Mimen vorgetragen. Sehr gut sagt Richard Reitzenstein : „Wir dürfen nicht vergessen, dafs er (der alexandrinische Dichter) immer einen Vortrag fingiert, und lebendig wird uns sein Werk nur, wenn wir es wirklich vorgetragen denken, die Mimiamben des Herondas . . . wie die Iamben des Kallimachus . . . sind naiyvia 'Scherzvorträge beim Gelage'" (Epigramm und Skolion S. 1). Beim Gelage haben wir uns auch die gesamte Mimodie

l) So führt der Kasperlespieler allein ein ganzes, kleines Drama auf und redet für alle handelnden Personen in seinem Mimus, während draufsen vor dem Publikum die Puppen tanzen. Der mimische Recitator läfst ja nun keine Pappen agieren, aber er unterstützt den dramatischen Eindruck seiner Worte mit lebhafter Gestikulation und mimischem Gebärdenspiel.

552 Sechstes Kapitel.

vorgetragen zu denken, die Hilarodien und Lysiodien, Simodien und Magodien. Nicht umsonst erhält die einzige Lysiodin, die wir kennen, Antiodemis, den Titel tsqnvov n&vqpai (is&ris *). "Wir wissen auch, dafs Sotades, der Mimograpti, seine Cinaedologien an den Höfen der Diadochen selber vortrug.

Aber neben diesen mimischen Recitatoren gab es an den Höfen von Alexandria und Antiochia auch ganze Gesellschaften von dramatischen Mimen. Ich erinnere an die Deikteriade oder Mime Myrtion, die eine von den vielen Geliebten des Philadelphus war und wohl eine ganz ähnliche Rolle gespielt hat wie die weiblichen Mimen später in Rom und Byzanz2). Wir werden uns diese Mimen auf dem Theater und Alexandria und Antiochia agierend zu denken haben, wo sie Dio von Prusa noch im ersten Jahrhundert nach Christus sah, und 'wo sie auch nach des Johannes Chrysostomus Zeugnis in den späteren Jahrhunderten spielten und ihre mimischen Hypothesen aufführten. An den Höfen der Diadochen fand sich jede Art des Mimus vertreten, und der Zusammenflufs aller erhob das grofse, mimische Drama, die Hypothese, wohl schon damals zu einer hohen Vollendung.

Wir sahen, wie die mimische Theorie der Peripatetiker am Anfange der Alexandrinerzeit dazu beitrug, die vornehmen Dichter zu einer Ausgestaltung des alten, volksmäfsigen Pägnions, soweit es recitativ war, anzuregen. Mit einem Schlage entstand eine vollendete mimische Kunstdichtung, aber nur auf dem Gebiete des Pägnions.

Die Hypothese blieb noch den Volksdichtern überlassen; die vornehmen Dichter gingen, durch die mimische Theorie und Theophrasts Charaktere angeregt, darauf aus, die vornehme, attische Komödie zu neuem Glänze zu führen, allerdings mit Hilfe starker Hervorhebung des mimischen Elements. Daneben aber bestand die mimische Hypothese als reines Volksdrama weiter, und die kunstmäfsige Gestaltung des mimischen Pägnions

') Vgl. oben S. 168, 344, 345. 2) Vgl. oben S. 166.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 553

wird sicher auch auf ihre kunstgemäfse Entfaltung nicht ohne Einflufs geblieben sein.

Antiochus IV. trat bei den Festen, die er im Jahre 168 zu Daphne in der Nähe von Antiochia feierte, selbst als Mime auf. Es heifst bei Athenaeus ausdrücklich, der König sei mitten unter den Mimen aufgetreten und hätte mit ihnen zusammen getanzt und gespielt '). Da aber nicht jeder Mime für sich allein gemimt haben kann, weil sie zusammen auftraten, so mufs es sich um ein zusammenhängendes Stück mit mehreren Akteuren gehandelt haben, in das der König auf seine Art eingriff. Hier sind wir also wirklich einer mimischen Hypothese habhaft geworden und zwar im Jahre 168 vor Christus. Warum sollte es zu jener Zeit in anderen Städten anders gewesen sein als in Alexandria und Antiochia; auch sie werden ihre Mimengesellschaften und ihre mimischen Hypothesen gehabt haben. Die Mimentruppen zogen eben schon damals wie in den nachchristlichen Jahrhunderten von Stadt zu Stadt, von Land zu Land und fanden überall mit ihren Stücken ein Publikum und besonders später in Rom.

Diese Betrachtungen waren längst geschrieben und der Druck schon bis zum sechsten Kapitel vorgeschritten, da erhielt ich in zwölfter Stunde durch die Freundlichkeit Watzingers die Ab- handlung „Mimologen"2). Der Autor publiziert eine Terrakotte, die bei den Ausgrabungen des deutschen Instituts am West- abhange der Akropolis bei einer der Cisternen, die dicht unter dem Abhang der Pnyx liegen, gefunden wurde. Es ist eine Lampe, auf deren als Ölbehälter dienenden Basis drei Schau- spieler stehen; der mittelste mit grofsen Ohren, dickem Bauch und Glatzkopf erscheint als rechter mimus calvus und hioqös (faXaxgog. Zu seiner Linken steht ein anderer Glatzkopf in einem Mantel, zu seiner Rechten ein wohlfrisierter Jüngling mit Mantel und Chiton. Alle drei sind, wie es sich für Mimen gehört, ohne Masken.

*) Vgl. oben S. 193 und 194.

2) Sonderabdruck aus den Mitteilungen des Kaiserlich deutschen archaeol. Instituts in Athen. Bd. XXVI. 1901.

554 Sechstes Kapitel.

Zu diesem Bilde gehört die Inschrift auf der Rückseite der Lampe:

MIMOAßrOl (sie!)

HYnOOHCIC (sie!)

EIKYPA(sic!)

Das heifst: Mimologen, das Sujet (rj vnö&eöis): Hecyra. Als besonders beliebten mimischen Typus haben wir die Schwieger- mutter schon oben (S. 76. 120) gekennzeichnet. Die drei Mimo- logen sind in einer gemeinsamen Aktion begriffen, der Ausdruck nloxii ÖQccfjiccTixri, den Plutarch vom grofsen mimischen Drama, der Hypothese gebraucht, gilt also wohl auch von diesem Mimus Hecyra; ob er schon eine wirkliche Hypothese in dem späteren Sinne war und auch schon so hiefs?1) Jedenfalls war

J) Dafs vnöSeais hier schon in dem prägnanten Sinne wie bei Plutarch gebraucht wird, ist mehr wie fraglich, höchstens zeigt sich ein Ansatz dazu. Von der „Hypothese" spricht nur Plutarch und auch er nur einmal, aber da auch so unzweideutig, dafs ich diesen Ausdruck bei dem Mangel einer typischen Bezeichnung für das grofse mimische Drama adoptiert habe. Jeden- falls aber ist das eine rein gelehrte Bezeichnung, die im gewöhnlichen Leben keine Geltung besafs. Der Töpfer, der die drei Mimologen bildete, hat schwerlich je einen Mimus eine Hypothese genannt; das überliefs er den Gelehrten. Vor allem aber' beweist dieser Fund gegen die Auffassung vom recitativen Mimus garnichts. Dafs der Mimus ein Drama und nur ein Drama ist, hatte man bisher geglaubt, was sollten wohl auch des Laberius, Syrus und Philistions und aller ihrer Vorgänger Mimen anderes sein, da war es ja einfach, von Herondas das Gleiche zu glauben. Erst durch Wilamowitz haben wir gelernt, dafs es daneben noch einen recitativen Mimus giebt. Erst auf dieser neuen Grundlage kann man die Entwickelung des Mimus zur Bukolik, zum Idyll und weiter seine Beziehungen zur bukolischen Novelle und zum bukolischen Roman und dann zu Roman (Petron, Apuleius) und Novelle überhaupt, also zur erzählenden Prosadichtung so spricht Wilamo- witz von „diesen Rapsoden der Prosa" recht begreifen. Sie haben eben immer zusammengehört, die recitierenden Mimologen und die Erzähler. Darum erwähnt Dio Chrysostomus (or. XX, 10), wenn er die Leute aufzählt, die im Cirkus ihr Wesen treiben, neben den ^avfiaxonoiot, den nächsten Ver- wandten der Mimen, auch die Erzähler (tbv Si iaxoQlav tiva y /uii&ov diriyov- fxevov) und Philodem stellt die Mimographen mit den Aretalogen zusammen, die zweifellos Erzähler waren: xai yccQ [iifjioyQcupov xai aQtta [X6y]ov [all'] ov avvyqcnftion ägtiriv av rig (ixlfyoiTO?) ravjrjv. Vol. Herc. Coli. alt. II, Col. IX).

Die griechische Hypothese vor Philistion. 555

er ein Drama mit mehreren Darstellern und stammt wie die Terrakotte spätestens aus dem Ende des dritten Jahrhunderts vor Christus1).

So wird denn nun der Gang der griechischen mimischen Entwickelung immer deutlicher. Ununterbrochen ist der Zu- sammenhang zwischen dem mimisch - dramatischen Tanze der

Vgl. Gompertz, Zeitschr. f. öst. Gymn. 1865, S.724 u. 725. Diesen Aufsatz hatte August Brinkmann die Freundlichkeit mir nachzuweisen. Philodems Urteil ist umso wichtiger, als der Mimus in seiner ästhetischen Theorie eine be- deutende Rolle spielt. Vgl. Fragment 72 (Hausrath): xal yag [ra rov] ZwtfQovog xal ja [noXXüv'i] allmv /mfioyg[ä(f(ov] tl nozt 7roijuc[r' ÖQ&wg (?) Xi]ynal. xcu uri . . . . oi ovm&iv [rtg . . .] uiuwv normal .... Dort erscheint der Mimograph zusammen mit dem Redner und Historiker. Vgl. Hausrath, Jhhch. f. kl. Phil. Suppl. XVII, 1890, S. 236. Auch Frgm. 53 wird Sophron erwähnt. Für Phi- lodem (1. Jahrh. v. Chr.) ist noch Sophron der Mimograph xai' ^o/ijv, für die nachchristlichen Jahrhunderte ist es Philistion, der Klassiker der Hypothese. J) Vgl. Watzinger a. a. 0. S. 3-5. "Wiederholt hat in den letzten Zeiten die Altertumswissenschaft die grofse Freude und Genugthuung gehabt, dafs ihre Konjpkturen und Hypothesen, die auf Grundlage des alten, hisher be- kannten Materiales sich nur zur Wahrscheinlichkeit erheben liefsen, durch neue Funde und Entdeckungen bestätigt wurden. Allerdings sind auch nicht selten mancherlei weit verbreitete Auffassungen man denke nur an Theodor Bergks Anschauungen von Sophrons und Herondas Mimen (vgl. Crusius, Die Mimiamben des Herondas. Deutsch. S. XXX) aufs schlagendste widerlegt worden. Nun hat also auch diese Anschauung von der Existenz des grofsen mimischen Schauspiels im alexandrinischen Zeitalter, die ich vor fünf Jahren in der Einleitung zum Mimusprogramm als Grundlage meiner Auffassungen von der mimischen Entwickelung hinstellte, die Feuerprobe durch diesen wich- tigen Fund erhalten. Ich will hier auch an die metrische Inschrift auf der Basis einer Statue eines griechischen Mimographen aus Eski-Zaghra erinnern, die zuerst im Bulletin de correspondance Hellenique V (18S1), S. 130 No. 2, und dann von Dittenberger, Rh. Mus. 1881, 36, S. 463, mit den erforderlichen Emendationen publiziert wurde-

'Aya&rjt T[v%T)t]

'Hquöiovo; ßfti(x()ov na(i)(tög (a)iijatv

XaXxtiov avöoiavTu naxolSog tpTjifw,

yvaijurjg rt txcai. uti'/.i/og yäg r^v näair,

xtQnvüv fxt[C]uwv ovg iyQaxptv äaitltog. Jedenfalls also war dieser Nikias ein Mimograph, ob er Paegnien oder Hypo- thesen dichtete? Hat er etwa Mimiamben gedichtet, weil seine Grabschrift in Skazonten verfafst ist? wie Crusius, Unters. S. 102, zu bedenken giebt.

556 Sechstes Kapitel.

hellenischen Urzeit, den uralten, kleinen mimischen Dramen der Dorier, dem italischen Phlyax des achten Jahrhunderts vor Christus und den mimischen Hypothesen des sechsten und der noch späteren Jahrhunderte nach Christus, von denen wir noch einige ihrem Inhalt nach herstellen konnten, ja, den byzantinischen Mimen, die noch im 14. und 15. Jahrhundert nach Christus in Byzanz aufgeführt wurden, bevor es die Türken eroberten1).

Ein Rätsel giebt uns freilich noch die phänomenale Er- scheinung Philistions auf. Wie durfte man ihn den Erfinder des Mimus nennen? Vor ihm haben doch Sophron, Herondas, Theo- krit gedichtet; nun, das waren eben Pägniendichter. Aber es lebten doch vor ihm auch Rhinthon, Blaesos und Skiras; die rechnete man zur italischen Abart des Mimus, zum Phlyax. Aber es gab zweifellos auch Mimographen der eigentlichen mimischen Hypothese in den vorchristlichen Jahrhunderten. Sie sorgten jedoch wohl wesentlich nur für das theatralische Bedürfnis und haben, wie später noch Publilius Syrus, ihre Stücke nur teilweise ausgearbeitet, vielleicht nur ein Canevas für die Aufführung her- gestellt, wie die Commedia dell' arte -Dichter, und nur Prolog und Cantica vollständig ausgeführt; sie erhoben eben nicht eigent- lich litterarische Ansprüche, sie blieben einfache Volksdichter. Philistion aber arbeitete seine Hypothesen vollständig aus und erhob sie so zu einer vornehmen Litteraturgattung, die ebenso auf Nachruhm und nicht blofs auf den Beifall der flüchtig ver- rauschenden Stunde Anspruch machte wie die anderen. Darum konnte man ihn den Erfinder des Mimus nennen. Das ist nicht eine aus den Verhältnissen sich ergebende Kombination, son- dern Cassiodor bestätigt es aufs ausdrücklichste, wenn er sagt (IV, 21): mimus . . . tanta Philistionis cautela repertus est, ut eins actus poneretur in litteris. Wir erfahren ja auch, dafs diese Mimen noch in den späteren Jahrhunderten gelesen und auch aufgeführt wurden2). Jedenfalls wurden über Philistion alle seine griechischen Vorgänger vollständig vergessen.

a) So erklärte Vahlen vor 42 Jahren, der Mimus sei: ein „uraltes volkstümliches Produkt." Ztschr. f. östr. Gymn. 1859, S. 291. 2) Vgl. oben S. 90 folg.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 557

Warum aber, wenn die mimische Poesie in den letzten vor- christlichen und in den nachchristlichen Jahrhunderten Markt und Strafse, Gastmahl und Gelage und selbst das vornehme Theater füllte, warum haben denn die griechischen Schrift- steller so hartnäckig davon geschwiegen, warum haben sie uns so böswillig dieses Rätsel aufgegeben, das erst die Jahr- hunderte allmählich lösen? Ich glaube, das kann das Beispiel des Athenaeus uns lehren, wie ich es oben erklärt habe. Er spricht nur von den Mimen im vierten oder fünften Jahrhundert vor Christus, und doch lebte er in einer Zeit, in der er fast tagtäglich Mimen vor sich sah. Er hat die ganze Stelle über die Mimen aus Didymus oder einem Zeitgenossen des Didymus abgeschrieben. Didymus wieder lebte in Rom, er lebte in der mimenfrohesten Zeit des römischen Reiches, er hat Laberius und Publilius Syrus gesehen. Doch was machte das dem XalxsvxsQoq aus, solche zeitgenössischen Dinge gehörten für ihn gar nicht in die Wissenschaft. Wir haben Lukian über diese thörichte Auf- fassung schon spotten hören1); dieser Hohn Lukians ist im voll- sten Mafse berechtigt; gelangt doch auch Aristides, der Sophist, in seiner Lobschrift auf Athen nur bis zur Schlacht bei Chaeronea, alles Spätere ist der Erwähnung nicht mehr wert.

Hier und da lassen sich ja auch diese hohen Herrschaften herab, die Angelegenheiten und Verhältnisse ihrer eigenen Zeit eines Blickes zu würdigen, und dann fangen sie sofort an, über den Mimus zu perorieren. Aber das beginnt erst mit Dio Chrysostomus, also mit dem Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus. So würde denn vom Jahre 168 vor Christus bis zum Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus die Lücke in der Entwickelung der griechischen Hypothese klaffen. Aber die mächtige Erscheinung Philistions schliefst diese Lücke und ver- knüpft bedeutungsvoll den vorchristlichen und nachchrist- lichen Mimus mit einander.

So erweist sich die griechische Hypothese der nachchrist- lichen Jahrhunderte als die einfache Konsequenz der mimischen

XJ Vgl. oben S. 433, Änm. 3.

558 Sechstes Kapitel.

Entwickelung der früheren und frühesten Zeiten des Hellenen- tums. Der mimische Tanz vorgeschichtlicher Zeiten, der pelo- ponnesische Mimus des achten und neunten Jahrhunderts vor Christus ist durch das Band ununterbrochener Entwickelung verknüpft mit dem spätesten byzantinischen Mimus, der bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts nach Christus blühte.

Damit ist nun auch das Problem von der Stellung des lateinischen Mimus innerhalb der mimischen Gesamtentwickelung erledigt. Es giebt keine selbständige Entwickelung im Mimus aufserhalb der griechischen. Die Lateiner sind, wie überall, auch hier die Nachahmer.

Im zweiten Jahrhundert zog die Mimodin oder genauer Lysiodin Antiodemis nach Rom und im ersten Jahrhundert finden wir dort wieder den Lysioden Metrobius, den Gesellschafter Sullas (vgl. S. 167 u. 233). Warum sollten nicht ebenso früh oder noch früher auch dramatische Mimen und wandernde Mimen- truppen den Weg nach Rom gefunden haben? Schon im Jahre 211 führte ein bejahrter Mime einen Gebärdentanz unter Flöten- begleitung im römischen Theater auf1). Doch trat er nur einzeln und in der Orchestra auf. Sein mimischer Tanz war nur ein Intermezzo während der Pausen in den auf der Bühne auf- geführten, grofsen Stücken. Jedenfalls aber sehen wir an diesem Mimen, dafs in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts schon die Mimen überhaupt nach Rom gelangt sind. Die Mimen aber, die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts von der Bühne herunter den Accius und Lucilius verhöhnten, sind Darsteller des grofsen, mimischen Schauspiels und folgen hier einem eigentümlichen Brauch der mimischen Hypothese (vgl. S. 190). Sie müssen beim römischen Volk schon in alt eingewurzelter Gunst gestanden haben, wenn sie sich solche Freiheiten herausnahmen. Das wird

*) Festus S. 326, 0. M.: libertinus mimus magno natu, qui ad tibi- einem saltaret.

Die griechische Hypothese vor Philistion. 559

an den übermütigen Floralien geschehen sein, die vornehmlich durch Mimen gefeiert wurden (vgl. S. 53). Das Florafest (28. April bis 3. Mai) wurde im Jahre 238 zum ersten Male, seit dem Jahre 173 ständig begangen. Es ist wohl möglich, dafs von Anfang an der Mimus dieses Fest verherrlichte, das später unlöslich mit ihm verbunden war. Hier bestehen noch dunkle, religiöse Be- ziehungen. Flora ist eine Naturgöttin und die Mimen erscheinen in der Gestalt der Fruchtbarkeitsdämonen; der Mimus aber diente ursprünglich zur Feier uralter Naturfeste x), und ein Naturfest sind die Floralien, die, am Ende des April gefeiert, der Freude über die prächtig erblühte Natur Ausdruck gaben. Also am Anfang des dritten Jahrhunderts konstituiert sich die mimische Hypo- these im griechischen Osten; an seinem Ende beherrscht sie in Rom die Floralienbühne und darf sich schon im zweiten Jahr- hundert persönliche und wohl auch politische Anspielungen er- lauben. Nach dem Muster der Mimodien, der Couplets dieser Hypothesen, gestalteten Plautus und Caecilius Statius ihre cantica (vgl. oben S. 344 folg.).

So hat sich in kaum einem Jahrhundert die mimische Hypothese den griechischen Osten wie den lateinischen Westen erobert. Das ist eine reifsend schnelle Verbreitung; dem Mimen lag eben von seinem Ahn, dem Gaukler, her das Wandern im Blute; die Mimengesellschaften waren wie die Gauklerbanden Wandertruppen, und seit Alexanders Kriegszügen war man in Griechenland an weites Wandern gewöhnt. Der Orient war den Griechen aufgethan, nun öffnete sich auch der Westen. Die Be- ziehungen zwischen Griechenland und Rom werden ja damals immer enger. Im Jahre 272 fällt Tarent, und damit ist Grofs- griechenland römisch; 190 kehrt Lucius Cornelius Scipio Asiaticus nach Besiegung des Antiochus aus dem griechischen Osten, der eigentlichen Heimat der mimischen Hypothese, nach Rom zurück. Aus dem griechischen Osten brachte Kaiser Verus bei seiner Rück- kehr vom Partherkriege ganze Schiffe voll griechischer Mimen nach Rom (vgl. oben S. 199). Ob nicht ebenso schon dem Heere des

!) Vgl. oben S. 498 folg.

560 Sechstes Kapitel.

Asiaticus wandernde Mimentruppen gefolgt sind? Sie schlössen sich ja seit Alexanders Kriegszügen gerne den Armeen an. Noch Kaiser Julianus, der den Mimen bei seiner strengen, fast asketischen Richtung wenig geneigt war, nahm seinen Soldaten zu Gefallen Mimenbanden auf seinem letzten Feldzuge mit (vgl. oben S. 200).

Nun sprachen ja allerdings diese aus dem Osten nach Rom pilgernden Mimentruppen griechisch; aber von allen griechischen Dramen war der Mimus mit seiner Prügelkomik, seinem Grimassieren, seinem Gebärdenspiel und Tanz den Römern noch am ehesten verständlich. Für dieses Verständnis waren sie durch den campanischen Mimus, die Atellane, vorbereitet, von dorther waren sie auch das seltsame Kostüm des dramatischen Mimen schon gewöhnt. Dafs diese neuen Mimen keine Masken trugen wie die Atellanenspieler, war dem Verständnis nur noch förderlicher. Wenn die Mimodin Antiodemis im zweiten Jahr- hundert in Rom auftreten wollte, so mufste sie offenbar darauf rechnen können, dafs man sie dort verstehen werde. So etablierten diese neuen Mimen eine „griechische Bühne" in Rom.

Allmählich fanden sich lateinische Mimen, und dann wurde der griechische Mimus latinisiert. Ich erinnere nur an den Mimus „Der Vormund", den Cicero in der ins Jahr 91 verlegten Unterredung „Vom Redner" als einen „alten" Mimus nennen läfst (vgl. S. 69 Anm. 1), an Laberius und Syrus. Schon Atta, der alte Komödiendichter (starb 77 vor Christus), kennt den Mimen unter der lateinischen Bezeichnung „planipes" *).

Aber die „scaena graeca" blieb. Noch Cicero kennt sie8). Caesar liefs neben lateinischen auch griechische Mimen aufführen,

*) Diomedes III, K. LS. 490: cuius planipedis Atta togatarum scriptor ita in Aedilicia fabula meminit:

daturin estis aurumf exultat planipes.

2) Ad familiäres VII, 1 : Non te puto Graecos aut Oscos ludos desiderasse. ad Att. XVI, 5 : Rumoris nescio quid afßaverat, comissione Oraecorum frequentiam non fuisse; quod quidem me minime fefellit. Scis enim, quid ego de Graecis ludis existimem.

Die griechische Hypothese vor Philistion.

561

desgleichen Augustus1)- Wenn Tacitus berichtet, Nero habe vor- nehme Herren und Damen zu Schauspielern im Mimus geprefst, so spricht er von „graeci latinive histrionis ars% d. h. vom griechi- schen und lateinischen Mimus (vgl. S. 69 Anm. 2). Die griechischen Mimen des Kaisers Verus werden auf der „griechischen Bühneu aufgetreten sein. Die Mime Eucharis wird in ihrer Grabinschrift direkt als eine erste Künstlerin auf der scaena graeca bezeichnet3). Philistion gab griechische Mimen in Rom, sie wurden auch später unaufhörlich dort aufgeführt. So erhielt sich die grie- chische Mimenbühne in Rom, und noch zu Theodorichs Zeit kamen die griechischen Mimen aus Byzanz dorthin (vgl. oben S. 145).

Also in Rom selber hatte der lateinische Mimograph die griechische Hypothese vor Augen; seine Abhängigkeit von ihr ist eine ganz unmittelbare3). So wird die lateinische Hypo- these ursprünglich ein ziemlich getreues Konterfei der gleich- zeitig blühenden, griechisch - alexandrinischen gewesen sein. Andererseits aber schildert der Mime und Mimograph bei dem Realismus der mimischen Ethologie und Biologie stets die Typen

') Sueton, Caesar C 39: Edidit ludo* regionatim et quidem per omnium linguarum histriones. Octavian 43: histriones omnium linguarum d. h. lateinisch, griechisch (Mimus), oskisch (Atellane).

*) C. I. L. VI, 2. 10096: Docta erodiia paene mtuarum manu

Quae modo nobüium ludet decoravi choro Et graeca in scaena prima populo apparui. s) Darum sind auch die lateinischen und griechischen termini technici für Mimus und Mimen, insbesondere die Rollenbezeichnungen, gleich. Ich stelle zusammen:

mimus

piuoc

iocularis

uluo; ytlotwv

mima

("»(Ußf

paelicator paelex

fyLÖTvnoc (S. 448)

archimimus

ccu/iuiuoi

moechus

uoiXU

morio, stupidus

fitOQOC

parasitus

naoäanog

calvus, calvaster

fiiogos (ftikaxoöi

mimus seeundarum

Sannio

JEavvooög

partium

u'iuo; diVTioos

sannator

(iVXTtJQKntjs

mimologus

muo/.oyos

;rri>^r

piöxos

mimia

utuia (S. 577 Anm.)

scurra

ytkvjToiotüi

mimographus

utuoyoafoq

Reich, Jlimu«.

36

562 Sechstes Kapitel.

und Figuren, die Sitten und das Leben des Volkes, unter dem er sich befindet. Also wird im römischen Mimus auch schliefslich wesentlich römisches Leben pulsiert haben, und das lateinische Gepräge wird hier viel deutlicher hervorgetreten sein als in der vornehmen Tragödie und Komödie.

Mommsen hat in den „Unteritalischen Dialekten" (S. 118) die besondere Begabung der Italiker für alles Komisch-Burleske ge- kennzeichnet. In der That haben wir die Grundlagen des primi- tiven Mimus bei allen Völkern der Erde gefunden. Wenn nun auch die Griechen allein diese Anfänge zu einer grofsen Kunst gestaltet haben, so haben wohl später die Italiker zu dem ihnen überkommenen Mimus mancherlei Italisches hinzugethan, manches Neue, Spezifisch- Lateinische dazu erfunden. Es ist kein Zufall, dafs der klassische, griechische Mimus gerade in Rom geschaffen wurde, wo die griechische und die lateinische mimische Kunst sich später gegenseitig befruchteten. Hat doch Philistion im Ardalio einen Typus vornehmlich aus dem römi- schen Leben dargestellt. Wenn die Lateiner von dem gewöhn- lichen archimimus, stupidus, scenicus (mimus) einen archimimus graecus, stupidus graecus, scenicus graecus unterscheiden, wie es auf den Inschriften geschieht, so sind die ersteren eben nicht mehr „more graeco" gewesen, sondern haben ein national- römisches Wesen gehabt. So ist der französische Polichinelle doch eine andere Figur als der italienische Pulcinella, er ist eben ein Franzose und Pulcinella ist ein Italiener. Aber die ganze Gestalt der Stücke und auch die lateinischen Typen und Themen sind nach dem Vorbilde der griechischen geschaffen und gestaltet. Noch Laberius wird, nachdem der Mimus mindestens seit einem Jahrhundert latinisiert war, die griechischen Titel nicht ganz los. Ich erinnere an Kolax, Kophinus, Ephebus (vgl. unten S. 586.)

Griechischer und lateinischer Mimus blühten also seit dem dritten Jahrhundert vor Christus neben einander, der eine im Osten , der andere im Westen der antiken Kulturwelt, obwohl der griechische Mimus auch in Rom eine Freistätte hatte und dort unter Philistion den Gipfelpunkt der Vollendung erreichte.

Form, und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 563

VII.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte.

Ihre Aufführung auf dem Theater.

Wir haben nach der antiken Theorie des Mimus, nach der Auffassung der Heiden wie der Christen, der Priester wie der Laien, der Völker wie der Regierungen, der Philosophen und Sophisten die lateinische, griechische und byzantinische Litteratur durchforscht. Da nun die Bewunderer des Mimus wie seine Feinde und Hasser nicht nur gelobt oder getadelt und verflucht, sondern gelegentlich auch ihr Urteil näher begründet haben, so haben wir eine grofse Anzahl neuer, eigenartiger, für die Be- urteilung des Mimus wichtiger Züge aufgefunden. Wir wollen sie jetzt zu einem Gesamtbilde vereinigen, und dieses mit Hülfe weiterer Zeugnisse noch mehr mit den Farben des Lebens und der Wirklichkeit ausstatten.

Die Hypothese ist in ihrer Vollendung ein grofses Drama, das an Umfang, an Zahl der Akte und der Scenen das alte klassische Drama zum mindesten erreicht.

Wir haben gezeigt, dafs die Ehebruchsstücke, von denen Juvenal, Ovid, Johannes Chrysostomus, Choricius und andere be- richten, eine grofse Zahl von Aufzügen enthalten. Da wird in den ersten Scenen die leichtfertige junge Frau und der mürrische, eifersüchtige Ehemann geschildert, dann findet sich der schmucke, junge Buhle ein, mit Hülfe der verschmitzten Vermittlerin, der cata carissa, gelangt er zu einer Zusammenkunft mit seiner ge- liebten Dame im Hause des Mannes. In den nächsten Scenen wird der täppische Ehemann durch allerlei Ränke betrogen, und je toller die Intriguen, Kabalen und Ränke, die verschmitzten Erfindungen1) sind, mit denen er getäuscht wird, desto besser; schliefslich mufs sich der Liebhaber vor ihm in einen grofsen Kasten2) verstecken. Es erfolgt die Entdeckung, der Gatte schnaubt Rache, schon ruft er nach einem grofsen Messer, um

1) Artes mimicae nennt sie Petron, cap. 106; vgl. darüber oben S. 113, Anm. 1.

2) perituri cista Latini. Vgl. oben S. 90.

36*

564 Sechstes Kapitel.

den Missethäter für immer der Möglichkeit zu berauben, einem Ehemann Hörner aufzusetzen. Doch besinnt er sich schliefslich eines Besseren und entschliefst sich vor Gericht zu gehen. In einer der nächsten Scenen erscheint er auch wirklich mit dem Ehebrecher und der Ehebrecherin vor dem Richter; dieser läfst die Schuldigen hart an. Schliefslich aber, nachdem der Konflikt ernsthaft genug sich zugespitzt hat, erfolgt in den letzten Scenen ein lustiger Ausgleich, damit, wie Choricius sagt, der Mimus lachend endigen kann1).

Denken wir an das berühmte Räuberstück, den „Laureolus" des Catullus. Laureolus befindet sieh zuerst als Sklave bei seinem Herrn, dann entrinnt er nach allerhand schlechten Streichen, bringt es schliefslich bis zum Räuberhauptmann, ver- übt als solcher mancherlei verwegene Banditenstücke. Als man hinter ihm und seiner Räuberschar hinterdrein ist, gelingt' es ihm in der höchsten Not noch einmal zu entrinnen. Dabei kommt ihn aber ein heftiger Bluthusten an, sowie ebenso seine Räuber, die mit ihm zusammen entrinnen, und die Scene schwimmt in Blut. Schliefslich wird er gefangen genommen, es folgt die Gerichtsscene, die der Mimus so sehr liebt, und dann die Scene auf dem Hochgericht. Laureolus wird ans Kreuz geschlagen. Wir sahen, dafs diese Kreuzigung in einer ausgedehnten Scene ganz realistisch vorgeführt wurde. Dieses Räuberstück zeigt nicht viel weniger Aufzüge als etwa Schillers „Räuber"2).

Schwerlich standen die späten christologischen Mimen noch auf der Höhe der mimischen Kunst; zwischen ihnen und den philistionischen Dramen war sicher ein himmelweiter Unterschied. Der Mimus des Genesius, der aus dem Jahre 303 stammt, ist nur extemporiert worden. Dennoch war er zum mindesten auf fünf Aufzüge berechnet, wie ich oben S. 87 gezeigt habe. Nicht anders war es mit den anderen christologischen Mimen, deren letzten wir noch für das Jahre 362 in Konstantinopel nachweisen konnten (vgl. oben S. 85).

i) Vgl. oben S. 213.

2) Die Nachweise im Einzelnen für den Ehebruchs- wie den Räuber- mimus siehe oben S. 89. 90. 120. 127. I 76. 88-92. 148. 198.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 565

So gewinnen also des Plutarch Worte von der dramatischen Verwickelung, von der Länge des mimischen Dramas für uns lebendige Anschauung. Darum spricht auch Suidas nicht von den Mimen, sondern mit vornehmem Ausdruck von den bio- logischen Komödien Philistions, und darum wird in der Schrift „über das Erhabene" der letzte Teil der Odyssee nicht schlechthin mit dem „Mimusu, sondern mit dem grofsen mimischen Drama, der „biologisch-ethologischen Komödie" verglichen. So wird auch Kaiser Marcus' Ausspruch, die Komödie sei zum Mimus ge- worden, noch verständlicher, sowie die Gleichsetzung Philistions mit Menander und die Erklärung des Choricius, die alten Komöden seien „attische Mimen"1)«

Plutarch weist nun aber dem mimischen Schauspiel nicht nur eine Verwickelung zu, wie sie das grofse Drama hat, sondern noch darüber hinaus eine Verwickelung, wie sie aus dem Zu- sammenwirken einer grofsen Anzahl von Personen in der drama- tischen Handlung entsteht (nloxrj doctiicczixrj xai nolvrigöoconog). Bei Petron heifst es (cap. 80):

Grex agit in scaena mimum: pater ille vocatur, filius hie, nomen divitis ille tenet.

Da hätten wir drei Personen im Mimus. Aber das sind nur die drei Hauptpersonen; die weiblichen Rollen und die zahl- reichen Nebenrollen sind nicht erwähnt.

Juvenal (VI, 44; I, 36; VIII, 197) nennt, obwohl er nur eine kurze Anspielung auf den Ehebruchsmimus macht, drei Haupt- akteure: Latinus, der den Ehebrecher, die Mime Thvmele, welche die treulose Gattin, und den Mimen Corinthus, der den Hahnrei, den Eifersüchtigen (^közvnog), spielt. Choricius läfst den Ehe- mann dem Sklaven zurufen, er soll das Messer bringen. Ein Sklave wird auch noch besonders in dem Ehebruchsmimus ge- nannt, der nach dem Zeugnis des Capitolinus (c. 29) vor Kaiser

lJ Schon Friedländer erhebt sich ein wenig über die landläufige Auffassung des Mimus, wenn er, Sittg. II6, S. 438, allerdings noch etwas zaghaft, bemerkt: „vielleicht entlehnte die Posse (gemeint ist der Mimus) um so mehr von der kunstmäfsigen Komödie, je mehr sie diese auf der Bühne verdrängte".

566 Sechstes Kapitel.

Marcus gespielt wurde (vgl. oben S. 188). Ferner ist im Ehe- bruchsdrama die cata carissa unumgänglich (vgl. oben S. 90) und ebenso der Parasit nach dem Zeugnis des Festus (vgl. oben S. 90, Anm. I)1), der also wohl als" Vertrauter dem Ehemann zur Seite stand.

Auch der cultus adulter hat als vornehmer junger Herr zum mindesten einen Sklaven zur Seite gehabt. Wenn wir nur die ausdrücklich bezeugten Typen nehmen, den Buhlen, die Frau, den Mann, den Sklaven, die Vermittlerin, den Richter, kommen wir auf sechs Personen, die zum Schlüsse alle zusammen vor Gericht als Ankläger, Angeklagte und Zeugen erscheinen, für deren Rollen also auch sechs Schauspieler respektive Schau- spielerinnen erforderlich sind. Aber daneben haben wir ja noch den Parasiten, den Sklaven des vornehmen jungen Herrn, die Bei- sitzer des Gerichts, Gerichtsdiener, weitere Zeugen, Verteidiger und dergleichen anzunehmen. Die letzte Scene bot also jedenfalls ein grofses Tableau mit zahlreichen Haupt- und Nebenpersonen.

Und nun der Räubermimus. Wenn im Laureolus auch nicht wie in „Ali Baba und die vierzig Räuber" aus „Tausend und eine Nacht" gleich 40 Räuber auftreten, so sind es doch eine ganze An- zahl, da sie mit ihrem Blute die Bühne überschwemmen2). Natür- lich sind hinter ihnen zahlreiche Soldaten hergewesen, und da die Räuber auf der Bühne davonlaufen, werden wohl die Soldaten hinter ihnen hergelaufen sein. Auch die Gerichtsscene und die Kreuzigung werden figurenreiche scenische Bilder geboten haben.

Selbst der christologische Mimus verfügt noch über zahl- reiche Darsteller. Ich habe oben (S. 87 u. 88) die Personen in dem Mimus des Genesius, die direkt genannt werden, aufgezählt. Da ist Genesius als Täufling und Märtyrer, der Presbyter, der Exorcist, der Vorsitzende des Gerichts (hier der Kaiser), die

1) Für den Parasiten besitzen wir auch das Zeugnis des Hieronymus: ep. XXII ad Eustochium 29; Migne 22, pag. 415: Eas aütem virgines et viduas, quae otiosae et curiosae domos circumeunt matronarum, quae rubore frontis parasitos vincunt mimorum, quasi quasdam pestes abjice.

2) plures secundarum partium bei Sueton, Calig. 57. Vgl. oben S. 89, Anm. 3 u. S. 561, Anm. 3.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 567

Freunde des Genesius (sagen wir, um die geringste Zahl anzu- nehmen, zwei), die römischen Soldaten, die ihn vor Gericht führen (sagen wir wiederum zwei). Das sind mindestens neun Personen. Nun werden sonst im christologischen Mimus noch ausdrücklich der Bischof erwähnt, der die Taufe vornimmt, desgleichen Diakonen und Gemeindemitglieder als Taufzeugen. Wir haben ferner Ge- richtsdiener anzunehmen und Folterknechte, sowie Henker, die den Märtyrer ans Kreuz schlagen. Der Kaiser oder überhaupt der Gerichtsherr wird doch wohl von einem zahlreichen Gefolge umgeben aufgetreten sein, so erfordert es die Lebenswahrheit, nach welcher der Mime, der Biologe, vor allem strebt. Es sind also nicht nur neun Schauspieler, sondern es ist ein wahrer Schwärm von Mimen, der noch im vierten Jahrhundert die Bühne erfüllt

Diese Eigenart des biologischen Dramas erinnert uns wohl an das moderne Schauspiel und besonders an das Schauspiel Shakespeares mit seinen zahlreichen Darstellern und an die indischen Stücke, aber nicht im mindesten an das klassische Drama, das auf seinem Höhepunkte an drei Schauspieler ge- bunden ist und in dieser Gebundenheit trotz mancher Erweite- rung und Erleichterung im grofsen und ganzen beharrt.

Das eigentliche Volksdrama der Hellenen fühlte sich eben auf seinem Gipfel von den meisten Fesseln frei, mit denen das klassische Drama sich band. Von den sogenannten klassischen drei Einheiten existierte für den Mimus höchstens die Einheit der Handlung, und auch sie nur bedingt, der Mimus ersetzte sie mehr durch die Einheit des Interesses. Von Einheit des Ortes ist in ihm nicht im entferntesten die Rede. Der Mimus des Genesius spielt erst auf der Strafse, dann in der Wohnung, wo der Täufling krank im Bette liegt, dann in der Kirche, dann vor Gericht, und endlich sollte Genesius auch noch zum Hoch- gerichte geführt werden. Also wir haben nicht weniger als fünf verschiedene Scenen (vgl. darüber oben S. 87). Denselben Scenen- wechsel zeigen auch alle anderen christologischen Mimen, und gerade weil sie späte, minderwertige Mimen sind, werden sie am wenigsten zuerst eine solche bedeutsame Neuerung gewagt haben, wie es der Bruch mit der Einheit des Ortes ist.

568 Sechstes Kapitel.

Auch die gute mimische Hypothese wie z. B. der berühmte „Laureolus" zeigt diesen bunten Scenenwechsel. Erst befindet sich Laureolus als Sklave im Hause des Herrn, dann führt er ein vagabundierendes Räuberleben, natürlich mit bunt wechselnder Scenerie, als Gefangener erscheint er vor Gericht, endlich auf dem Hochgericht; vier ganz verschiedene Scenen wären also mindestens anzunehmen, selbst wenn man seine Heldenthaten alle an einem Orte geschehen dächte; das ist aber höchst un- wahrscheinlich, und so werden wohl in Wirklichkeit fünf oder sechs verschiedene Scenerien anzunehmen sein, ja wenn seine Verbrechen recht ausführlich vorgeführt wurden, und darauf ist es ja gerade in einem romantischen Räuberstück angelegt, auch noch mehr.

Gänzlich bricht der Mimus auch mit der Einheit der Zeit: Genesius wird auf der Strafse krank, läfst sich in sein Haus tragen, läfst die Priester kommen und bekehrt sich. Wenn wir dann in der nächsten Scene die Taufe mit allem Pompe unter Assistenz des Bischofs, des Presbyters, der Diakonen, Exorcisten und zahlreicher Taufzeugen vor sich gehn sehen, so sind in- zwischen Tage vergangen zu denken. Steht dann der Täuf- ling vor dem Gerichte, so müssen inzwischen wieder Tage verflossen sein, in welchen gegen ihn die ordnungsmäfsige An- zeige erstattet war, und er ordnungsmäfsig geladen und vor- geführt werden konnte. Das ging im römischen Lehen seinen geregelten Gang, und der Mime ist gerade der Biologe und Realist. Genesius hebt hervor, wie er genau nach der Wirklich- keit seine Mimesis eingerichtet habe (vgl. oben S. 93). Nicht anders ist es mit dem Räubermimus. Da liegen zwischen dem Anfang der Handlung, dem Entfliehen des Sklaven Laureolus, und ihrem Ende Monate, vielleicht Jahre, und diesen ganzen Zeitraum umspannen die Scenen dieses Mimus. Auch die Ehe- bruchsstücke haben schwerlich die Zeit des Geschehens auf einen Tag zusammengedrängt.

Von der Einheit der Handlung im Mimus verlohnt sich kaum zu reden. Wir müfsten wenigstens eine Hypothese völlig erhalten haben, um ein Urteil fällen zu können. Jedenfalls

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 569

werden wir uns den Zusammenhang der Scenen ziemlich locker vorzustellen haben, wenn auch die Führung der ganzen Handlung, die dramatische Verknüpfung, nach Plutarchs Ausdruck, eine folgerichtige und genaue gewesen ist, ähnlich wie in der vor- nehmen Komödie '). Wenn Cicero meint, sobald die Mimen nicht mehr recht weiter wissen, so läuft einer schnell fort und die anderen ihm nach, worauf dann die Klappern zum Zeichen des Schlusses ertönen und der Vorhang aufgezogen wird (vgl. oben S. 64, Anm. 1), so haben wir hier wohl eins von den kleinen extempo- rierten Mimenstücken vor uns, die zum Schlufs der Vorstellung nach Tragödien oder Komödien als Exodien gegeben wurden, wesshalb man die Mimen auch exodiarii nannte (vgl. unten S. 604, Anm. 4). Nichts aber kann den bewufsten Bruch des grofsen mimischen Dramas mit der sogenannten klassischen Überlieferung des Hel- lenismus so deutlich machen, wie die eigentümliche Form, in die der Mimograph sein Drama kleidet, in dem Prosa, Iambus und die lyrischen Mafse der Mimodie mit einander wechseln. Aus Mimodie und Mimologie erwuchs im alexandrinischen Zeitalter die Hypothese. Die Mimodie ist in lyrischen Mafsen gehalten, die Mimologie ist Von vornherein Prosa. Noch Sophrons Mimo- logie ist prosaisch, wenn diese Prosa auch schon rhythmisch stilisiert wird. Noch des Herondas Hinkiamben stehen der Prosa nahe genug. So sollte denn eigentlich im mimischen Drama Prosa und Lied wechseln, und die Prosa hat jedenfalls in der mimischen Hypothese eine hervorragende Rolle gespielt. Wir haben oben (S. 87 Anm. 3, S. 95 Anm. 2, S. 97 Anm. 1) die aus dem Mimus des Genesius erhaltenen Stellen angeführt; es ist die reine Prosa. Allerdings ist dieser Mimus wohl im grofsen und ganzen extemporiert gewesen. Aber auch die römischen Gram- matiker überliefern mancherlei Stellen aus Laberius, die durch- aus prosaisch sind und nur durch allerhand Umstellungen und Ver- änderungen in metrische Form gebracht werden können. Ribbeck hat sich dieser sehr undankbaren Mühe mit Eifer unterzogen

]) Ich erinnere an Quintilians Wort: ductus rei credibüis, qualis in comoediis etiam et in mimis. (IV, 2, 53.)

570 Sechstes Kapitel.

und so die Prosa aus dem Mimus mit Mühe und Not heraus- korrigiert1). Grysar hatte ja dem Mimus die Prosa abgesprochen, also mufste man eben korrigieren und emendieren.

Die Worte, die Nilus aus dem Mimus des Philistion „Der Negromant" überliefert hat, sind Prosa2). Dio Chrysostomus bestätigt ausdrücklich, dafs die Mimographen damals bald in Prosa, bald in Versen sprachen3). Vor allem redeten die Narren im Mimus gerne in Prosa, wie sie es so possierlich auch in Philistions Philogelos thun. >

Die Mimologie ist eben ursprünglich durchaus prosaisch; das beweisen Sophrons Mimen. Je mehr wir nun die Kontinuität in der mimischen Entwickelung erkennen, um so begreiflicher mufs es uns erscheinen, dafs die Prosa im Mimus ihr angestammtes Recht behielt. Schon Orelli wollte für den römischen Mimus Prosa feststellen4). Aber er dachte nur an die extemporierten Stellen, und so brachte Grysar diese richtige Auffassung, die nur thöricht begründet war, fcum Schweigen mit der Erklärung: die improvisierten Stellen hätten ja garnicht in den Exemplaren der Mimen des Laberius gestanden5). Um so mehr freue ich mich,

!) Ein Beispiel dafür siehe oben S. 286, Anm. 1.

2) Vgl. oben S. 204, Anm. 1 und S. 432.

3) Oratio II de regno 56 Emp. : dklct nävxa xd xoiavxa nqwxov fikv xal fidkiöxa ixßaXdv cog no^wxdxto xal dnoniiityai xr\g avxov ipv%rg, tntixa xijg ßaocXevovotjg noXfwg' ytXtoxdg xe dxQUxovg xal xoiovxov yiXoixog noiyxdg fiixd axwfjLfiäxcov (die Mimographen) ^(xixQovg xal dfiixQovg.

4) P. Syri et aliorum sententiae, praef. p. X.

5) Vgl. auch a.a.O. S. 263: „Doch kommen einige unter diesen Bruch- stücken vor, die, wenn man auch eine teilweise Corruptel in denselben voraus- setzen will, ursprünglich die Form von Versen schwerlich gehabt haben. Z. B. Non. s. v. colustra: Siquidem mea colustra fretus terris studere fecisset sumere aquam ex fönte, oder Non. s. v. proltibium: Quo quidem me a matronali pudore prolubium meretricis progredi coegit. Dafs die solche Stellen citierenden Gram- matiker durch Auslassungen einzelner Wörter, Transpositionen u. a. die Form derselben verändert und es uns dadurch unmöglich gemacht haben, den Vers herauszufinden, ist wohl das Wahrscheinlichste". Nun, Ribbeck hat hier die Verse herausgefunden; wie sehr er dabei besonders die erste Stelle ver- gewaltigt hat, sehe man Fr. Com. Rom. 2, Laberius Virgo II u. Frag. Trag. Rom. 2 Naevius Lycurgus XVII.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 57 1

dafs Hirzel neuerdings in seiner so verdienstvollen Geschichte des Dialogs sich gegen die ebenso unhistorische, wie unkritische Leugnung der Prosa im römischen Mimus erklärt hat1).

Von dieser Prosa des Mimus, in dem die Volkssprache vor- herrschte, mit ihren niederen, burlesken Vergleichen, ihren selt- samen Redensarten und Sprichwörtern werden sich um so mehr die lyrischen Partieen abgehoben haben, die Mimodien mit ihrer gehobenen Sprache, mit ihrem nicht selten tief erregten Gefühl. Für eine Arie, wie etwa „Des Mädchens Klage" oder selbst die mythologisch-parodische Mimodie in den „Fröschen", die schön in einen mythologischen Mimus passen würde, sind prosaische Rüpel- scenen und Rüpelspäfse ein merkwürdiges Relief. Es war gewifs ein Fortschritt, als die mimische Hypothese sich entschlofs, diese prosaischen Partieen mit den lyrischen durch iambisch-metrische Stellen zu verbinden. Hier wirkt eben auf den Mimus das vornehme iambische Drama ein, dessen Einflufs er sich um so weniger entziehen konnte, als die eine Hälfte des klassischen Dramas, die Komödie, direkt auf dem Boden des Mimus er- wachsen ist

So haben schliefslich vielleicht die metrischen Partieen die prosaischen überwogen. Der Prolog, den jeder Mimus hat1), war durchaus, wie der des klassischen Dramas, in Iamben ge- halten. Ich setze zum Beleg den berühmten Prolog des Laberius in der Wielandschen Übersetzung hierher:

Die Noth, ein Strom, den viele durch entgegenschwimmen

zu überwinden schon versuchten, wenige

vermochten, wohin hat sie beynahe noch

in meinen letzten Augenblicken mich gebracht?

J) Vgl. a. a. 0. 1, S. 437 u. 438.

a) Ich hahe dafür oben S. 214, Anm. 5 n. S. 215 das Zeugnis des Choricius gegeben und will hier noch eine Stelle aus Isidor. orig. Hb. XVIII, Cap. XLIX. hinzufügen : De mimis. Mimi sunt dicti Graeca appellatione, quod rerum humana- rum sint imitatores. Kam habebant sxcum actorem, qui antequam mimum agerent, Jabulam pronuntiaret. Naan jabulae ita componebantur a poetis, ut aptissimae etscnt motui corporis. Die pronuntiatio fabulae bedeutet eben den Prolog.

572 Sechstes Kapitel.

Mich, den nicht Ehrgeitz, noch Gewinnsucht, keine

Gewalt, kein Ansehn, keine Furcht in meiner Jugend

aus meinem Stande heben konnte, seht

wie leicht der grofse Mann durch gnädige

zu sanften Bitten herzgewinnend sich

herunterlassende Beredungen

im Alter mich aus meiner Stelle rückte!

Doch ihm, dem selbst die Götter nichts versagen konnten,

wie hätt' ich blofser Mensch ihm etwas abzuschlagen

geduldet werden können? So geschah es dann,

dafs nun nach zweymal dreyfsig ohne Tadel

verlebten Jahren ich, der meinen Heerd

als römscher Ritter eben itzt verliefs,

nach Haus als Mimus wiederkehren werde.

Um diesen einz'gen Tag hab' ich demnach

zu lang gelebt! 0 du im Bösen wie im Guten

unmäfsige Fortuna, wenn es ja

dein Wille war, des Ruhmes Blume, den

die Musen mir erwarben, abzuknicken,

warum nicht lieber damals, da ich noch

in frischen Jahren grünte, noch die Kräfte hatte

dem Volk und einem solchen Mann genug zu thun?

o! warum beugtest du nicht lieber damals mich,

da ich noch biegsam war, um meine Zweige

zu schneiden? Jetzt wozu so tief herab mich drücken?

Was bring ich auf den Schauplatz? etwa Schönheit, Anstand,

muth volle Kraft des Geistes, Reiz der Stimme?

Ach! wie dem Baum der Epheu durch Umarmen

das Leben raubt, so hat das Alter langsam mich

umschlingend ausgesogen, und gleich einem Grabe

behielt ich von mir selbst nichts als den Nahmen1).

!) Horaz' Satiren übersetzt von Wieland, Teil I, Leipzig 1804, S. 296 folg. Jedenfalls ist dieser Prolog nicht vollständig erhalten, es fehlt die pronuntatio fabulae, die der Dichter bei allem Eingehen auf seine persönlichen Verhält- nisse sich nicht schenken durfte.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 573

Als weiteres Beispiel für den Iambus im Mimus möge die be- rühmte Stelle über den Luxus der Römer aus einem Mimus des Syrus dienen:

Massloses Schwelgen hat der Römer Mark verzehrt.

Für eure Gaumen mästet man im Stall den Pfau,

Dess Kleid dem bunten babylonischen Teppich gleicht;

Für euch Kapaunen und Numidiens Hühnervolk.

Der hochgebeinte Klapperstorch sogar, der Gast

Aus Süden, der so brav die Kindespflicht erfüllt,

Der Feind des Winters, der als Frühlingsbote kommt,

Mufs nisten jetzt im Tiegel schnöder Schlemmerei.

Wozu gibt Indiens Muschel theure Perlen euch?

Damit sogar mit des Meeresgrundes Schätzen sich

Für ihren Buhlen schmück' ein ehrvergessnes Weib!

Wozu begehrt ihr der Smaragden grünen Schein?

Wozu karthagischer Steine rothe Feuergluth?

Gibt Ehrbarkeit denn im Karfunkelglanze sich kund?

Und sollen Frau'n sich' kleiden dürfen in dünnen Flor?

Wie nackt in ganz durchsichtiger Hülle stehn zur Schau? (Friedländer, Übersetzg. v. Petrons Cena Trimalchionis.)

Wir besitzen sonst noch eine längere iambische Stelle aus dem r Seiler" des Laberius. Dort erklärt ein geiziger Vater: wie sich einst der Philosoph Demokrit durch einen in der Sonne blitzenden Schild geblendet habe, um nicht die Schurken im Glücke zu sehn, so werde er sich durch den steten Anblick seines blanken Geldes davor bewahren, seinen verschwende- rischen Sohn schlemmen zu sehn '). Diese Rede ist durchaus in

') Ich setze die Verse hierher:

Democritus Abderiies physicus philosophus

Clipeum constituit cotUra exortum Hyperionis,

Oculos effodere vi posset splendore aereo.

lta radiis sali* aciem efod.it luminü,

Malis bene esse ne uideret ciuibus.

Sic ego ßdgentis splendorem pecuniae

Volo elucißcare exitwn aetati meae.

Ne in re bona esse uideam nequam filium. 72 folg. R.

574 Sechstes Kapitel.

ernsthaften und würdigen Ausdrücken gehalten. Ich erinnere auch an die gröfseren, zusammenhängenden Stellen, in denen Philistion sich im Wettstreit mit Menander über die Pflicht die Eltern zu ehren, über die Nichtigkeit aller irdischen Pläne, über das Regiment der Herrin Tyche und ähnliche, ernste Dinge ausläfst. Überall herrscht ein würdiger Ton. Ob nun diese ernsthaften Verse wirklich von Philistion herrühren, ist unsicher, zum mindesten aber glaubte man damals, dafs sie durchaus dem Tone des philistionischen Mimus entsprächen1). Desgleichen waren, wie wir sahen (vgl. oben S. 69 78, 432 435), die zahlreichen Sentenzen, mit denen der Dialog im Mimus durchwoben war, zugleich in schöner und vornehmer Sprache gehalten, sodafs sie, wie Seneca sagt, jeder Tragödie Ehre gemacht hätten. Die zahlreichen, erhaltenen Aussprüche des Publilius Syrus gestatten hier ja noch ein ganz zuver- lässiges Urteil. So konnte auch Hieronymus die elegante Aus- drucksweise der Mimographen Marullus und Lentulus loben und ebenso Marius Mercator, wenn auch ironisch, von der ele- ganten Art sprechen, mit der Bischof Julianus, der Pelagianer, nach der Weise der Mimographen scherze. Darum konnte man auch finden, dafs Philistion, der Mimograph, Klassiker wie Martial und Petron bei weitem übertreffe (vgl. oben S. 474 und 475).

Die frechen, volksmäfsigen und obscönen Redensarten im Mimus sind dagegen immer nur in ein oder zwei, höchstens drei Versen überliefert. Sie machen allerdings den Hauptbestandteil aller Fragmente aus, weil die Grammatiker, die sie überliefern, die Mimen vornehmlich nur als ergiebige Jagdgründe für wunder- liche Volksausdrücke betrachteten. Aber gerade nach diesen Brocken hat man thörichter Weise die Sprache im Mimus über- haupt beurteilt, als wenn man aus den Rüpelspäfsen und Rüpel- scenen bei Shakespeare die niedrigsten und gemeinsten Ausdrücke zusammenstellen und danach allein die Shakespearesche Aus-

*) Vgl. oben S. 441, Anm. 1.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 575

drucksweise und überhaupt das Shakespearesche Drama beur- teilen wollte1).

Wie die Formen der Rede im Mimus sich von der Niedrig- keit bis zur Erhabenheit erheben, so mengt er auch die Per- sonen des Lebens merkwürdig durcheinander. Es treten alle menschlichen Typen auf vom Rüpel bis zum Kaiser, ja bis zum Gotte. Gewifs verweilt der Mimus gerne in den Niederungen des Lebens. Da zeigen sich allerhand Bettler, Gauner, Diebe, Beutelschneider und sonstiges Lumpengesindel, Höker und Höke- rinnen, Kneipwirte, Ammen, Unteroffiziere, Bordellwirte und Bordellwirtinnen, Handwerker, kurz alle Typen der niedrigen und niedrigsten Volkskreise haben im Mimus eine Freistatt. Vielfältig weisen die Mimentitel des Laberius auf die niederen sozialen Schichten hin, so „Der Walker", „Der Fischer", „Der Färber", „Der Seiler**, „Der Salzverschleifser", „Die Hetäre"2). Aber wir haben Cyprian klagen hören, dafs diese frechen Mimen keineswegs mit ihrer Ethologie und Biologie blofs die niederen Stände geifseln, sondern selbst vor den Standespersonen nicht Halt machen. Alle Stände, alle Kreise des socialen Lebens hecheln sie durch3).

In der That ist der cultus adulter gewifs ein vornehmer junger Herr, etwa wie Delphis, der bei Theokrit Simaetha verführt, oder wie der Jüngling, an den „Des Mädchens Klage" gerichtet ist, der mit Herr (xvqu) angeredet wird*). Die junge Frau, an die sich im Ehebruchsmimus der Buhle heranmacht, ist, wenn keine vornehme Dame, doch eine anständige Bürgerfrau, die eine Zofe (cata carissa) hat, und deren Ehemann über reichliche Diener- schaft verfügt, mit deren Hilfe er den Ehebrecher fängt. Der

l) Vergleiche die Ausführungen über die mimische Pöbelsprache in dem Kapitel: Sokrates, der Ethologe u. s. w. S. 353 folg., S. 395 folg. und die Aufzählung volksmäfsiger Ausdrücke des Laberius bei Gellius (oben S. 395, Anm. 2).

a) Siehe die Aufzahlung der mimischen Typen oben S. 468 und 469 und S. 240, 241.

3) Vgl. oben S. 123.

*) Vgl. darüber Wilamowitz a. a. 0. S. 222 u. 223.

576 Sechstes Kapitel.

Vater, der so beweglich über die Verschwendungssucht seines Sohnes bei Laberius klagt, ist zum mindesten ein angesehener, wohlsituierter Bürger. Ausdrücklich wird für den Mimus der reiche Banquier, der gelegentlich zum Bankerotteur wird, der dives und dives fugitivus, bezeugt. In den Gerichtsscenen er- scheinen vornehme Amtspersonen auf der Bühne, selbst Könige und Kaiser treten mit grofsem Gefolge im Mimus auf1). Auch

x) So berichtet Philo, bei der Judenverfolgung in Alexandrien zur Zeit Caligulas hätte der Pöbel einen armen Narren, dessen Thorheit nicht bösartig war, Namens Karabas, um Agrippa, den Enkel des König Herodes, zu ver- höhnen, in wunderlicher Weise als König herausgeputzt, mit einer papierenen Krone, mit einer Lumpendecke als Königsmantel, und einem Papyrusstengel als Scepter. Und wie einen König im Mimus hätten ihn Jünglinge mit Stäben auf den Schultern wie Trabanten als Gefolge umgeben. Dann hätte man ihm gehuldigt und Recht und Gericht von ihm verlangt. Und die Menge hätte ihn als „Maris", wie nach ihrer Meinung „König" auf syrisch hiefs, begrüfst. Dieser Narr und König im Mimus Karabas erinnert seltsam an die Scene aus der Bibel, da die Kriegsknechte Christus zum Hohn als König verkleiden und ihm als der „Juden König" huldigen. Ich setze diese wichtige Belegstelle hier- her (in Flaccum § 6): "*Hv Tig /ue/urjvtog ovofia Kagaßäg, ov ri]V ayolav xai &T}Quö$ri (laviav aaxr\nxog yao avrrj ys xai Tolg l/oufft xai ToTg nh\Giät,ovGiv dXXd ttjv ävHfxivrjV xai /j.aXaxwTt'gav. Oiiog dtrjfxioeve xai SiEVvxTiqevt yv/xvbg iv Talg odoig, ovts fhäXnog, ovts xqvfxbv ixTgenöfisvog, d&VQ/na vr^nibiv xai' fieiQaxitav o%oXaC6vT(ov. J£vvsXä<TavTeg tov ä&Xiov a/Qi tov yvfxvaalov, xai OT^aavTtg (AtTS'coQOV, Iva xa&OQÜTo nqog ndvrcov, ßvßXov fxkv svQvvapisg dvri diadfj/uaTog iniTi&iaaiv avTov ttj x€(paXrj, %anaiGTQWT(a de to aXXo a<Zuu negtßdXXovaiv dvTl %Xa[j,vdog, ccvtI de GxrpiToov ßga%v ti nanvgov Tfir\^ia ifjg §y%o)Q(ov xafr' odov i^gifxfxivov IdovTeg dvadidoaffiv. 'Enel de tag iv deaTQixoig [xtfiotg Tti nagdarjfxa r% ßaoiXeiag dveiXruptv, xai diexexoGfitjTo eig ßaGiXia, veavCat qaßdovg inl tiov ä>(i(av {fioovTeg dvil Xoyxoupogwv ixaTiocü&ev eloTrjxeoav, [iifzovfievoi doovipooovg, el&' stsqoi ngogrjeaav, ol fiev wg danaaofievoi, ol de w? dixaaöfxevoi, oi d' wg ivTev£ö[xevoi negl xotvwv ngayfiÜTtav. Eit' ix negi- eOTüiTog iv xvxXm nXrj&ovg i^/si ß°V Tt? aTonog Mägtv dnoxaXovvTtav. OvTcog di (faotv tov xvqiov ovo/uäfeo&at nagd Zvgoig' rjdetoav ydg Idyginnav xai yivei, 2vgov, xai SvgCag /ueydXrjV dnoTOftijv e^ovra, fjg ißaolXevae. Doch darf man nicht annehmen, weil die Volksmenge den Narren mit von der Gasse aufgerafftem Aufputz zierte, sei auch der König im Mimus ebenso ärmlich ausstaffiert gewesen. Sehr wichtig ist jedenfalls das Zeugnis, dafs der König auch im Mimus mit grofsem Gefolge auftrat.

Gerichtsscenen bezeugt uns für den Mimus wieder Philo. Als er von

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 577

zeigen sich nach dem Zeugnis des Choricius im Mimus Rhe- toreu, selbst Heroen fehlen nicht in ihm, Choricius nennt aus- drücklich Hektor und Achill (vgl. oben S. 240). Im christo-

den Juden als Mitglied einer Gesandtschaft an Kaiser Caligula gesandt wurde, der durchaus sein Standbild in den jüdischen Synagogen und besonders im Tempel zu Jerusalem aufgestellt wissen wollte, da erinnert ihn die seltsame Gerichtsverhandlung, die vor dem halbwahnsinnigen Kaiser stattfand, die Art, wie die jüdische Gesandtschaft von den Feinden und Anklägern der Juden und vom Kaiser, dem Gerichtsherrn, selber geschmäht und verhöhnt wurde, an die Gerichtsscenen aus dem Mimus. Ein echt mimischer Spott schien dem Juden in der Frage des Kaisers enthalten: warum die Juden kein Schweinefleisch äfsen. Darüber lacht alles laut auf wie die Zuschauer im Mimus. Aber, setzt der Jude etwas bösartig hinzu, die nächste Um- gebung des Kaisers ärgerte sich, denn sie fürchtete, mau hielte ihn für ver- rückt. Auch diese mimische Gerichtsverhandlung endigt schliefslich fröh- lich, wie ein Mimus endigen soll, der Kaiser entliefs die Juden, die ihm mehr als Narren wie als Bösewichter erschienen, ungekränkt. Vgl. Philo, De leg. ad Caium § 45: Ehu rtutig tluvwiftipot mtor^olovS oi utv iiroj xüiw, xaxuy).tvcuöut\oi xai xtoTouoiutvoi ngbg tüv anmäXuiv, tbg iv ötaTQixoTg uiuoig. Kai yäo rb ngäy/uu uiutu tig r^v. 'O fitv dixuortjg urtilr^n aj^ijua xciTTjyÖQov, ot Se xarrjyogoi qavXov dixaorov ngog t/Sony anoßXinovrog, aXV ov ttjv ifvoiv jfji aXr]9tiag .... 'Enit dk tvta tcjv ntgi rag oixoSouitg <fifT«£«ro, ufytoiov xai Ofuior fuu)T7tua r;QWTa, uAük ti yoigtiwr xgtwv ant/fo&t"; Jhti.iv ngog it\v ntvaiv yiXtug Ix rwr aritöi'xarv xctTfggayr) looovTog, rjj fxiv rjäouitwi; t;~ dt xul intTTjdtvovTtov tvtxa xoXaxtiag, intg rov 16 Xt%&iv öoxtiv aiv liirga- Tni.itt xai /«0117 elnrfi&ai, äg xtvag tüv inouivaiv avitjj deoanöriwr ayaraxitiv ini t$ xaT€t(foovt]Tix<og $xliV avjoxgantogog, .... Totavia <fXvagT)9£rTtg xai xaraxtQTouT]&irT(g iv äfit^ävoig ^fxtv, tha 6\p( noit nagaatrsvguivwg „BovXo- fit&a /ua&tu", ttfrn ,,tA» ygfja&i ntgi rfjg noXntiag Jtxatotg" .... 'O öi Xaßtäv oIxjov «j^utüv, Totnti rov dvfibv avrov ngog ti.tov ....

Es ist merkwürdig, wie oft sich dieser ernst gesinnte Jude an den Mimus erinnert fühlt, dem er doch innerlich, rumal die Juden im Mimus häufig verspottet wurden, durchaus feindlich gegenübersteht. Bei Hausrath, Neutest. Zeitgesch. III, 76 heifst es : rRabbi Abahu beklagt sich, welch ge- ringer Aufwand von Witz nötig sei, um das Theater zum Lachen zu bringen, wenn nur auf die Juden gestichelt werde". Es handelt sich natürlich um den risus mimicus und um den Mimus. Philo geht es hier ähnlich wie den Kirchenvätern; der Mimus übte eben über Feind und Freund gleichmäfsig seine dämonische Macht. Vgl. z. B. Philo in Flaccum § 9: Kai ot /uiv kut« ögwneg wantg iv roTg &tui gi xotg uiuoig xadintxüCiovTo 101g näa^ov- iKi' § 10: xai 6gyr,atai xai uiuoi xai avXrjTai. De leg. ad Caium § 7: Reich, Slimns. 3-

578 Sechstes Kapitel.

logischen Mimus erscheinen Presbyter und Exorcisten, ja der Bischof und in den Gerichtsscenen der kaiserliche Gerichtsherr, der römische Statthalter, ja der Kaiser selbst, wie z. B. im Mimus des Genesius.

Gegen diese vornehmen Herren mögen dann allerdings die mimischen Lumpen und Narren, Gauner und Beutelschneider recht seltsam abgestochen haben, umso seltsamer, als die vor- nehmen Personen in stolzen Jamben und in der vornehmen Umgangssprache gesprochen haben, die niederen Figuren aber in der gewöhnlichen Volkssprache und mancherlei Volksdialekten oder gar dem wunderlichen Jargon der Gasse.

Vor allem hat man bei der Überzeugung von der Niedrig- keit des Mimus sich auch gänzlich falsche und vor allem viel zu niedrige Vorstellungen über die Kostümierung der Mimen gemacht. Weil Apuleius ausdrücklich dem Mimus den centun- culus, den aus bunten Lappen zusammengeflickten Hock, zu- weist1), so meint Grysar, die Personen des Mimus hätten ihn durchgängig getragen und ebenso noch einen kurzen Überwurf über dem centunculus, eine Art viereckiges Umschlagetuch, das nach hinten zurückgeschlagen wurde, das Blcinium2). Das alt- modische Ricinum aber gebührt wohl im wesentlichen nur den greulichen alten Weibern im Mimus, zumal der cata carissa, wenn sie alt war. Den Centunculus trägt wohl nur der Narr im Mimus, der auch vornehmlich der Träger des Phallus ist. Vor allem ist sein Haupt bis auf die Haut rasiert: daher der

rj ln\ (jiifxoig al0XQ<i5v xal axwfifiäxtov, fit} vnofxttSitaVTa asfivörtQOV, ali.cc (iu- QuxHüSiaTtQov xayxd&vra, es ist von Caligula die Rede.

*) Apologia XIII: si choragium ihymelicum possiderem, nunc ex eo argu- mentarere, etiam uti me conMiesse tragoedi syrmate, histrionis crocota, mimi cen~ tunculof

2) Festus p. 274 276 : reciniwm . . . esse dixerunt vir{ilis) tog(a)e simile vestimentum quo) mulieres utebantur, praetextum clavo purpureo, unde reciniaü mimi planipedes. Nonius s. v. Bicinium quod nunc Mafurtium dicitur, palliolum femineum breve. Varro, L. L. V, 132: antiquissimis amictui ncinium. Id quod eo utebantur duplici, ab eo quod dimidiam partem retrorsum iaciebant, ab reiicien- do ricinium dictum. Serv. Aen. I, 282: togas etiam feminas habuisse cycladum et recini usus ostendit.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 579

Ausdruck tuwQ6g (falaxQÖg, mimus calvus oder einfach calvaster. Auf diesem kahlen Kopf sitzt eine kleine spitze Mütze, der apex, daher der Ausdruck apiciosus für den mimus calvus'). Zwei solcher kahlen Narren mit dem spitzen Narrenhut stellen zwei römische Bronzen dar. Es sind höchst groteske Gesichter mit recht grofsen Ohren, wie sie auch der mittelste Mimologe auf der S. 553 u. 554 besprochenen Terracotta aus Athen zeigt. Der eine schleppt sich mit einem grofsen Baumast, der andere singt zu der Guitarre ein Schelmenlied, das er mit unglaublich dummem Mienenspiel begleitet'). In der Hand führt der Narr im Mimus nicht selten eine lederne Narrenpritsche oder noch häufiger ein Prügelholz (vgl. oben S. 114). Wegen der Schläge, die er un- aufhörlich erhält, wird er alopus (von alapa) genannt (vgl. oben S. 448).

Also die Narren im Mimus hatten eine besondere, phan- tastisch-burleske Narrentracht wie der Harlekin und Pulcinell im

») Vgl. oben S. 448 u. 449.

2) Bei Babelon et Blanchet a. a. 0. S. 427. Ich gebe die Schilderung. No. 967 (S. 427): Saltxmbanque nu, debout. II est itnberbe; sa Ute, qu'il penche en avant d'un air grottsque. est completement rasee et eouverte (Tun petit bonnet conique. Son cou et ses or eitles sont demesurement long»; il porte sur sa poitrine un collier orne" d'une bulla. De la main gauche, tendue de cöte, ü s'appuie sur vne brauche d'arbre tordue (cep de vignet). L'arant-bras droit est mutile. Travail de l'ipoque romavie. No. 968 (S. 427): Saltimbanque nu, debout, jouant de la cithare. II est imberbe; sa tite, qu'il penche en avant et h droits, d'un air grotesque, est rasee et eouverte d'un petit bonnet conique. Son cou et ses oreiües sont deme- surevient längs. II porte a son cou un collier orni dune bulla. De la main gauche, il tient sa cithare appuyee contre sa poitrine. La main droite et les pieds manquent. Travail de l'epoque r omaine.

Vor allem findet sich auf einem Cornetanischen Grabgemälde ein echter mimischer stupidus. Ich gebe die Beschreibung von E. Brizio: Ha la figura pih interessante e quella ch' io credo d'un istrione, rappresentato nella mossa di danza . . . Porta in capo un lungo beretto fatio a cono, diviso in tonte striscie verti- cali e con la punta ornata d'un ßoechetto. Teste una giubba corta, stretta, scompartita a molti quadretti che in natura doveano etsere di molti colori, ma che il pittore si contentb d' indicare solamente con due. AI di sotto della giubba gli esce una specie di tunica che le avvolge le natiche, e cammina come danzasse, agitando le braccia. Tombe dipint. di Corneto, Roma 1874, p. 6.

37*

580 Sechstes Kapitel.

modernen Schauspiel; da aber die Narren dem Mimus ein be- sonderes Charakteristikum aufdrückten, dachte man im Altertum bei dem Aufzug des Mimen vornehmlich an diese typische Tracht. Alle anderen Personen im Mimus trugen dagegen durchaus die Kleidung des gewöhnlichen Lebens und erschienen je nach dem Stande auch in vornehmen, und wenn Feste und Gastmähler wie so häufig im Mimus gefeiert wurden, auch in prächtigen Gewändern. Kaiser und Könige, Richter und Priester, Bischöfe und Exorcisten erschienen mit allen Zeichen ihrer Stellung und ihres Amtes. Vielfältig hatte der Aufzug der mimischen Typen, vom Narren abgesehen, an sich nichts Burleskes. Aus- drücklich sagt Choricius: warum man immer nur auf die Narren im Mimus hinweise, mit ihren kahlen Köpfen und ihren Ohr- feigengesichtern, und garnicht an die anderen Mimen dächte, die ihr Haar lang wachsen liefsen und niemals Ohrfeigen ein- nähmen, sondern sie höchstens austeilten. Auch Johannes Chrysostomus setzt den Mimen, die um Lachen zu erregen sich entstellen und sich den Kopf rasieren, die jungen Mimen gegen- über, die ihr Haar lang wachsen lassen und in Miene und Haltung, Tracht und Putz geradezu weibische Anmut zeigen und etwas fast mädchenhaft Zartes an sich haben '). Gegenüber den an- mutigen jungen Mimen, die offenbar die Rolle des Liebhabers zu vertreten hatten, erinnern wir uns an die Vertreter dieser Rolle in der italienischen Volkskomödie, besonders an Lelio, Flavio, Cinthio, Ottavio. Diese erscheinen auf den Abbildungen bei Sand überall nach der letzten Mode gekleidet, mit Spitzen, Bändern und Federhüten und mit langwallendem Haar2). Wir haben uns ähnlich den Liebhaber im Mimus in prächtigem, fast stutzerhaftem

») Vgl. oben S. 117.

a) Siehe a. a. 0. die Abbildungen des Orazio (I, S. 300), des Ottavio (I, 335), des Lelio (I, 337), des Leander (I, 347). Vgl. auch die Beschreibung Cinthios bei Sand a. a. 0. I, S. 332: nous le voyons, dans les rbles d'amoureux, habilli comme les jeunes gens de la fin du dix-septieme siecle, avec la grande per- ruque ä la Louis XIV, le rabat de dentelles, la veste et Vhabit longs de taille et temblable h un fourreau, Vicharpe sur les hanches, et le chapeau rond, aux bords im peu releves, entotires de plumee.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 581

Aufzuge zu denken, und durchaus nicht in dem bettelhaften Kostüm, in dem Grysar sich alle Mimen vorstellte. Das sind die mimischen Weichlinge, von denen Arnobius redet, die er ge- legentlich auch Cinaeden schilt. (Vgl. oben S. 112, 117.)

Bei Ovid heifst der geschniegelte Liebhaber, der, wie der Dichter hervorhebt, unablässig im Mimus auftritt, bezeichnender Weise: cultus adulter1). Martial malt, wie wir oben (S. 59) sahen, den verliebten, eleganten Stutzer mit den zahllosen Fingerringen, den galanten Schwerenöther mit den Farben des Mimus.

Ja selbst die feierliche Tracht des römischen Bürgers, die Toga, war im Mimus ganz gewöhnlich. So spricht Cyprian von den betrogenen Ehemännern in der Toga im Mimus2). Nun machte aber den betrogenen Ehemann gewöhnlich der stupidus, der mimus calvus, also nicht einmal für den Narren war der centunculus unter allen Umständen verbindlich. Wenn er als christlicher Glaubensheld erscheint, wird er anstatt des Harlekin- kostüms mit den weifsen Kleidern der Getauften angethan. Ich erinnere für den Aufzug der Mimologen auch an die oben S. 554 besprochene Terrakotte. Die drei Mimen tragen dort durchaus die Kleidung des bürgerlichen Lebens; ihre Tracht ist weder niedrig noch burlesk. Der Jüngling mit seinem wohlfrisierten Haar macht sogar einen etwas stutzerhaften Eindruck.

Denken wir an den Aufzug der Miminnen. Gewifs werden die dickbäuchigen, trunksüchtigen alten Hexen, die Kupplerinnen, Kneipwirtinnen, Mägde, Wahrsagerinnen, wie es ihrer Rolle ent- spricht, im ärmlichen Aufzuge, eben mit dem altmodischen dürf- tigen Umschlagetuche, dem Ricinium, erschienen sein. Aber die Vertreterinnen der weiblichen Anmut, die das Gegenstück zu dem jugendlichen Liebhaber bilden, die zierlichen, jungen Ehe- frauen, die verliebten, jungen Damen, die Bürgerfrauen und die Damen der Aristokratie traten im höchsten Putze auf. Sie trugen kostbare, bunte, strahlende, seidene Kleider, trugen Juwelen, Perlen und Gold. Wir haben Chrysostomus schelten hören, dafs das Herz

>) Vgl. oben S. 52, 90, 544.

a) De spect. VI. Vgl. oben S. 123.

582 Sechstes Kapitel.

des Armen mit Neid erfüllt wird, wenn er diese Miminnen in ihrem strahlenden Putze auf der Bühne sieht und daran denkt, dafs sein ehrbares Eheweib nichts dergleichen hat. Dieser Feind des Mimus kann sich mit seinen Schmähungen über den Glanz und die Pracht, welche die Miminnen im Theater entfalteten, garnicht genug thun1). Die Mime Pelagia erhielt von ihrem von Juwelen und Perlen funkelnden Aufzuge den Bühnennamen Margarito (vgl. oben S. 102 Anm. 2.)

Denken wir an den mythologischen Mimus. „Was willst du mit deinen tragischen Versen und dem Prunkgewande des Tra- göden?" fragt jemand im Mimus „Phormio" des Valerius 2). Also trägt der Frager offenbar kein tragisches Prunkgewand, und auch seine Sprache ist nicht gerade tragisch. Wir haben also eine rechte Person des Mimus im Harlekinsrock, oder aber in der Tracht des alltäglichen Lebens im Gespräch mit einer tragischen Person. Der Mimentitel Ephebus (der junge Herr) bei Laberius deutet an und für sich auf Typen des gewöhnlichen Lebens hin. Dennoch redet in diesem Mimus offenbar ein Gott, ob es nun Quirinus, Mars oder Juppiter selber ist: „Du bittest, ich möchte der Zügellosigkeit und der Wollust der Römer ein Ende machen". Und weiter redet der Gott: „Deswegen ist durch unsere Hülfe die Herrschaft des Volkes in der Toga ausgebreitet wor- den3)". In diesem Mimus mit dem streng biologischen Titel haben sich also Personen des Mythus mit denen des ßiog gemischt. Jedenfalls ist ein Mimus ohne den typischen „kahlen Narren" eben kein Mimus; der durfte auch im Göttermimus nicht fehlen. Dieser kahle Narr ist natürlich immer ein Mensch, so findet sich Mensch und Gott vereint, wie etwa Xanthias und Dionysos bei Aristophanes. Ebenso treten in der mythologischen Atellane

lj Vgl. oben S. 117 u. 118. 'Ich erinnere hier an den prächtigen Aus- putz der Cantatrice im italienischen Volksdrama. Siehe die Abbildung bei Sand a. a. 0. Bd. II, S. 53.

2) Quid hie cum tragicis vereis et syrma facis? Ribbeck, Frag. com. Rom. II», S. 302.

3) Fragm. com. Rom. Ribbeck II2 S. 285. Lab. 42—45.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 583

wohl die typischen Atellanen- Figuren Bucco, Maccus, Pappus, Dossenus, zusammen mit Heroen und Göttern auf.

Da finden wir nun auf einem Elfenbeindiptychon mit sceni- schen Bildern, das zur Feier des Konsulatsantritts des Anastasius im Jahre 517 n. Chr. verteilt wurde, auf dem unteren Streifen der linken Platte drei Figuren im tragischen Kostüme mit lang- wallenden Prunkgewändern, mit Maske und grofsem Aufsatz darüber, auf die von links her vier Mimen ohne Maske und in der Tracht des alltäglichen Lebens zueilen. Unter diesen Mimen wird besonders die Figur des Glatzkopfes, des eigentlichen mimi- schen Narren, des ficoQog (fcdaxQÖg, des mimus calvus deutlich '). Es ist kein Grund anzunehmen, die auf einem Bilde eng ver- einigten Gruppen stellten einerseits einen Mimus, andererseits eine Tragödie dar2); diese Tragöden und Mimen spielen zusammen eine mimische Tragödie, oder besser einen mythologischen Mimus3). Im sechsten Jahrhundert wurden ja auch kaum noch Tragödien aufgeführt.

x) Diptychon Bituricense in Paris auf der Nationalbibliothek, vgl. W. Meyer, zwei antike Elfenbeintafeln der K. Staatsbibliothek in München Nr. 14, S. 67. Vgl. auch Gori Thesaurus veterum diptychorum tom. I, tab. XII. Siehe die wohlgelungene Abbildung bei Dieterich, Pulcinella S. 221.

2) Dieterich a. a. 0. S. 220.

3) Auf einer Vase der Hamiltonschen Sammlung (Tischbein, Collection of engraving3, from ancient vases of Sir Hamilton H, Tafel 57, danach die verkleinerte Abbildung bei Dieterich a. a. 0. S. 239) sieht man einen jungen Helden mit Speer und Schild. Er ist durchaus wohlgestaltet an Körper und Gesicht. Nur seine Kopfbedeckung ist sonderbar mit Hahnenfedern verziert. Ihm folgt ein kurzer, dicker Diener mit burleskem Gesicht, dickem Wanst und Phallus, mit Schild und Helm, der gleichfalls mit Hahnenfedern verziert ist. Wanst und Phallus erweisen den Diener als Mimen, aufserdem sind beide barfüfsig, es sind mimi planipedes. Auch fehlt beiden die Maske, wie es sich bei dem Mimen gehört. Sehr gut erinnert Dieterich an Don Quixote und Sancho Pansa. ^BWbti nat^ovaiv nöktpov ol piTuot sagt Cho- ricius, das thut dieser wehrhafte Jüngling und sein Knappe sicherlich. Es ist schade, dafs sich die Zeit des Vasenbildes nicht genau bestimmen läfst; wäre es sehr früh, so müfste man an den italischen Mimus, den Phlyax denken, aber die Zeichnung der Gesichter ist doch viel weniger burlesk, als sonst auf den Phlyakenvasen, und die Phlyaken tragen meistens Masken, obwohl, wie ich oben bemerkt habe, auch unmaskierte Typen vorkommen.

584 Sechstes Kapitel.

Sicherlich werden die Götter und Heroen des Mimus sich sehr von ihrer tragischen Höhe herabgelassen haben. Nur wird man gut thun, den mythologischen Mimus sich doch nicht etwa im Stile einer modernen Offenbachiade zu denken. Für den Hellenen bleiben die Götter auch in ihrer erniedrigten, ganz und gar vermenschlichten Gestalt immer noch Götter, die sich wieder zur Höhe des Ideals erheben können, und zu denen er in dieser idealen Erhebung wieder gläubig zu beten ver- mag. Auch in ihrer tollen Verwandlung in des Plautus Am- phitruo, der latinisierten Rhinthonica, dem italischen Götter- mimus bleiben Juppiter und Mercur immer noch Götter. Ähn- lich steht es mit den Göttern und Heroen im burlesken Satyr- drama.

So wird denn hier eine sehr starke Kontrastwirkung zwischen den mythischen Heroen und den niedrigen mimischen Personen, besonders den mimischen Narren, stattgefunden haben. Wer an Modernes denken will, erinnere sich etwa an Shake- speares „Troilus und Cressida."

Also der Mimus spielt durchaus nicht nur in den niedrigen und niedrigsten Kreisen, im Gegenteil, er geht selbst bis in die höchsten hinauf.

Wie das biologische Drama Volkssprache und vornehme Sprache, niederes Volk und Vornehme vermischt und so durch die sonderbarsten Kontraste wirkt, so verbindet es mit seinem burlesken Humor auch hier und da den Ernst. Ausdrücklich hebt Choricius hervor, es gebe Mimen, in denen der Ernst von Anfang bis zu Ende vorwiege1). Da höre man Ehemänner ernst- haft ihre Frauen ermahnen, auf Zucht und Ehre zu halten, oder Rhetoren gingen einen Wettkampf in der Beredsamkeit ein und dergleichen. In der That bestätigt das selbst der späte, alberne christologische Mimus. Der Vorwurf im Mimus des Genesius ist im Grunde ernst. Der stupidus verlangt ernsthaft nach der Taufe, er redet ernsthaft im Tone des zerknirschten, reumütigen Sünders. Taufe, Gericht und Hochgericht gehen sicher mit ihm

») Vgl. oben S. 214.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 585

ganz ernsthaft vor sich. Drollig wird die Sache nur dadurch, dafs es eben der Dümmling ist, an dem alles das vorgenommen wird. Und wenn der Räuber Laureolus vor Gericht geführt und ans Kreuz geschlagen wird, so wird es schliefslich doch auch blutiger Ernst.

Wenn der betrogene Ehemann schon zum Dolche greift, schliefslich jedoch sein Recht vor Gericht sucht, so ist. wie Choricius hervorhebt (vgl. oben S. 91), die Situation eigentlich ernst genug, und nur weil zum Schlüsse doch nun einmal der mimische Humor zum Rechte kommen soll, wird alles aus- geglichen. Wenn Giftmischer im Mimus auftreten, wie Plutarch berichtet, so wird die Sache auch ernsthaft.

Auch Totschlag und Mord waren im Mimus offenbar nicht selten. Der Räuberhauptmann Laureolus ist ein Mörder, und im Giftmischermimus sollte auch gemordet werden. So heifst es im Epigramm auf Philistion, er sei schon oft gestorben nämlich auf der Bühne , aber noch nie so nämlich in Wirk- lichkeit. Derselbe eigentümliche Ausdruck kommt im Grab- gedicht auf die Mime Bassilla vor1).

Vergessen wir doch nicht, welch' ernste, ja strenge Biologie uns in Herondas' Mimen entgegentritt. Die Lebensschilderung ist dort so herb, ja nicht selten so bitter, dafs kaum für den risus mimicus, den Humor, Raum bleibt. Ein wenig milder und humoristischer ist schon die biologische Darstellung in den Mimen Theokrits, und noch lustiger mag es in den mehr volks- mäfsigen Mimen Sophrons zugegangen sein*). Aber die ernste Auffassung dieser mimischen Biologie ist unverkennbar. Wir haben allen Grund, von diesem biologischen Ernste viel bei Philistion vorauszusetzen, der die Thoren so geschickt ihrer Narrheit zu überführen wufste wie etwa Moliere den Tartuffe3).

Wie mit dem Burlesken das Ernste, so mischt sich im Mimus mit dem einfach Biologischen, mit dem Platt-nüchternen, dem Realistischen das Phantastische.

x) Vgl. oben S. 157 u. 158.

2) Vgl. darüber oben S. 376 folg.

8) Vgl. darüber oben S. 430, 431, 450; 451, 471.

586

Sechstes Kapitel.

Die Titel bei Laberius sind ja meistens aus dem realen Leben1). Nach dem Titel „Der junge Herr" (Ephebus) zu urteilen, sollte man nun glauben, es handele sich um einfache, bürgerliche Verhältnisse, und doch tritt in diesem Stück, wie wir eben sahen, ein Gott auf. Wenn wir aber an des Laberius „Lacus Avernus" und die „Necyomantia" denken, so haben wir die Unter- welt mit ihren Schrecken vor uns und zugleich argen Zauber und Totenbeschwörung.

Überhaupt scheint der Mimus, selbst wo er rein biologisch war und sich auf dem Boden der Wirklichkeit bewegte, das Be- sondere, Seltsame und Erstaunliche bevorzugt zu haben. Da wird ein Armer im Mimus plötzlich reich, wie Antonius, meint Cicero, der sich in des Pompejus Vermögen einsetzt und es durchbringt (vgl. oben S. 63). Reiche Leute machen Bankerott, und der Millionär wird plötzlich zum Bettler. Das sind die divites fugitivi (vgl. oben S. 71).

!) Ich setze sie in alphabetischer Reihenfolge hierher:

Alexandrea

Anna Perenna

Aquae Caldae

Aries

Augur

Aulularia

Belonistria

Cacomnemon

Gaetuli

Cancer

Carcer

Catularius

Centonarius

Colax

Colorator Ribbeck (Rom. Dicht. I, S. 226) vermutet nach den Titeln „Der Widder", „Der Stier", „Der Krebs", er hätte noch weiter hinzufügen sollen „Die Jungfrau", „Die Zwillinge" Laberius habe die Mythen, welche sich an die Zeichen des Tierkreises anschliefsen, in einer Folge von Mimen behandelt. Bei der Vorliebe für den mythologischen Mimus, von der Ribbeck noch nichts wufste, gewinnt diese geistvolle Vermutung eine hohe Wahrscheinlichkeit.

Compitalia

Parilicii

Cophinus

Paupertas

Cretensis

Piscator

Ephebus

Restio

Fullo

Salinator

Galli

Saturnalia

Gemelli

Scylax

Hetaera

Sedigitus

Imago

Sorores

Lacus Avernus

Staminariae

Late loquentes

Stricturae

Natal

Taurus

Necyomantia

Tusca

Nuptiae

Virgo

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 587

Gelegentlich wird in breiter Ausführung das romantische Räuberleben vorgeführt. Nicht selten wird auch ein Schiffbruch geschildert mit aller seiner Not, Angst und Qual und mit dem Aufruhr der Elemente. Wir befinden uns ganz anders als im klassischen Drama im Mimus direkt auf dem Verdeck des mit dem Sturm in höchster Not kämpfenden Schiffes. So spricht Seneca von den Schiffbrüchen im Mimus, bei deren Anblick sich die Stirn vor Sorge furcht1). Bei Petron lernen wir in einem aus dem Mimus entnommenen Scenengefüge ein solches mimicum naufragium mit allen seinen Aufregungen und Schrecken kennen2). Auch Shakespeare verlegt in seinem „Sturm" die Eingangsscene auf das mit dem Orkane ringende Schiff, auch hier haben wir ein mimicum naufragium, dessen Anblick unsere Stirn vor Sorge furcht.

Vor allem geschehen im Mimus nicht selten schwere und unheimliche Verbrechen. Meineid und Meineidprozesse scheinen nicht selten gewesen zu sein, und besonders war die Giftmischerei im Schwünge. So sah Plutarch im Theater des Marcellus bei einer Vorstellung, der auch der greise Kaiser Vespasianus bei- wohnte, ein grofses mimisches Schauspiel mit zahlreichen Dar- stellern und einer sehr verwickelten Handlung. Die Intrigue in diesem Mimus hing wesentlich mit einem Gifte zusammen, das eigentlich ein eigentümliches Schlafmittel war; wer es einnahm, wurde von Totenstarre befallen, um dann nach einiger Zeit wieder aufzuleben. In diesem Mimus spielte nun ein Hund mit, der ganz vortrefflich bei jeder Gelegenheit, wo er aufzutreten hatte, sich in seine Rolle zu finden wufste. Geradezu erstaunlich erwies sich die Schauspielkunst dieses Tieres, als man sich im Mimus den Anschein gab, die Wirkung dieses eigentümlichen Giftes an ihm zu erproben. Wie ein richtiger Mime glänzte der Hund durch grofsartiges Geberdenspiel, sowie er das Stück Brot mit dem Gifte gefressen hatte, fing er an zu zittern und zu wanken, dann schien ihm der Kopf schwer zu werden, und schliefslich streckte er sich wie

») Vgl oben S. 114, 115.

2) Cap. 114. 115. Das Nähere darüber im zweiten Bande.

588 Sechstes Kapitel.

tot lang aus und liefs sich ganz starr und steif hin- und her- tragen. Als es dann Zeit war wieder zu sich zu kommen, rührte er sich langsam, schien aus tiefem Schlummer zu erwachen, hob den Kopf in die Höhe und blickte sich um. Während nun die Personen im Mimus ihre Verwunderung bezeugten, dafs der Hund wieder auflebe, der doch ein tötliches Gift erhalten habe, lief dieser auf seinen Herrn, vielleicht auch auf den zu, der ihm das Brot gegeben hatte, schmeichelte ihm und legte seine Freude an den Tag. Die Zuschauer, insbesondere auch der alte Kaiser, verspürten eine ordentliche Rührung über die Klugheit dieses Hundes1).

Die Handlung wird nun im Mimus vermutlich folgender- mafsen weiter gegangen sein. Man erkennt, dafs ein durch dieses Gift Ermordeter nur scheintot sei und holt ihn aus seinem Grabe. Damit gewinnt die düstere Handlung' eine glückliche Lösung und ein erfreuliches Ende, doch werden sicher die Bösewichter ihrer Bosheit und Narrheit durch die Wiedererweckung des Totgeglaubten überführt worden sein; wie Philistion die Schurken und Narren überführt. Jedenfalls kann

x) De solert. anim. IX, 7 : nXrjv av yi ti fiüdrifia xvvog ov 6ox<S fioi naorjüsiv, ysvoftevog lv 'Pwfxij Staxfig. nagwv ydq 6 xvtav uifuo tiXoxtjv tyovu ^Qtt/uaTtxrjV xal noXvnqoatonov , aXXag ts /ut^aeig dneälSov lolg vnoxtifxtvois 7id&eoi xal ngäyfxaai noooipÖQovg, xal (pag/udxov notovfxivtov iv aircp ntiqav V7iviüTixov (xlv vnoxftfiivov d" tlvav fravaaifiov, xöv ?' cigiov, ut drj&tv ifxifxixio t6 (fagfiaxov, ifäj-aro xal xaraipaywv oXCyov varsgov üfioiog v\v vnorg^ovri xal oifaXXofie'va) xal xagrjßagovvri' t£kog 61 ngortCvag iaviov (Santo vexgbg J-xeiTo, xal nagtlytv 'iXxtiv xal /Atiacpe'gHV, wg 6 iov Sgäfiaiog vnrjyogtve Xöyog. Infi de rbv xaigbv ix iwv Xeyo/x^vwv xal n gano/usvojv ivotjatv, rav^rj ib ttoiu- tov ixCvr\atv iaviov, äontg l!- vnvov ßu&£og ävacfegöftfvog, xal rrjv xecpaXijv Inäoag Sie'ßXexpev tnena &av/ua<jävi(ov, Itjavaarug ißddtCe ngbg ov edti' xal ngoarjxaXXs %atgwv xal (piXoipgovovftfvog, wate nävtag av&gwnovg xal Kai- Gaga (nagijv ydg 6 yigwv Oveanaaiavbg iv iw Magx4XXov #£«rptj)) avfxna&eig ytvtodai. Für den Hund im Mimus will ich noch an des Laberius „Catularius" erinnern, der wohl ein Hundejunge oder Hundehändler war. Auch im „Scylax* dürfte ein Hund mitgespielt haben; denn der Titel ist ein Hundename. In einer mimischen Prügelscene hei Petron spielt ein grofser Kettenhund mit, den ein altes, entsetzlich häfsliches Weib auf den Poeten Eumolp hetzt (cap. 95).

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 589

ein Stück mit einer derartigen Handlung nicht rein burlesk ge- wesen sein.

Bei Äpuleius steht am Anfang des zehnten Buches der Metamorphosen eine sehr merkwürdige Kriminalgeschichte: vEin Oberst ist in zweiter Ehe mit einer zwar sehr schönen, aber sitten- losen Dame verheiratet. Diese verliebt sich in ihren Stiefsohn; seine abweisende Haltung verwandelt ihre Liebe in Hafs. Wir wissen, wie häufig im Mimus die Stiefmutter in den Stiefsohn ver- liebt ist und umgekehrt1). Ein verruchter Sklave verschafft ihr ein schnell wirkendes Gift, sie giefsen es in einen Becher Wein und beratschlagen, wie sie es dem spröden Jüngling beibringen wollen, indem kommt der rechte Sohn der Dame aus der Schule durstig zurück, trinkt den Becher aus und fällt auf der Stelle tot hin. Das sind die unerwarteten Zwischenfälle, die der Mimus liebt, in dem die Herrin Tyche regiert. Sofort wird allgemein bekannt, dafs hier ein Giftmord vorliegt, und das scheufsliche Weib be- schuldigt ihren Stiefsohn der Giftmischerei und zugleich der versuchten Blutschande. Nun folgt, wie im Mimus, eine grofse Gerichtsscene, bei der nach vielen Dupliken und Kepliken der Jüngling zum Tode verurteilt werden soll, da tritt wieder, wie es im Mimus zu geschehen pflegt, ein unerwarteter Umschwung ein. Ein alter Richter, zugleich ein weiser Arzt, erhebt sich, sagt, er selbst habe dem Sklaven das Gift gegeben, es sei aber nur ein starker Schlaftrunk. Es ist derselbe Schlaftrunk, den wir aus dem Mimus bei Plutaxch kennen. Man solle nur zum Grabmal des Knaben gehen und ihn aufweckeu: das geschieht. Damit ist des Weibes Schandthat aufgedeckt: die Geschichte endigt fröhlich, wie ein Mimus endigen mufs. Die Frau wird zur Strafe nur verstofsen, der Sklave wird allerdings gehenkt; aber was kommt es auch auf einen Sklaven und noch dazu einen so nichts- würdigen an?! '-')

*) Vgl. oben S. 176.

2) Wir werden im zweiten Bande, wo wir von den Beziehungen zwischen Mimus und Roman zu handeln haben, noch im einzelnen den Nachweis führen, dafs Äpuleius hier das Sujet eines Giftmischermimus erzählt, wie der bei Plutarch ist. Der seltsame mimische Schlaftrunk kommt auch in Shakespeares

590 Sechstes Kapitel.

Mit der seltsamen Voraussetzung dieses eigenartigen Giftes macht der Mimus schon ein wenig den Übergang in das Reich des Phantastischen; und es scheint, dafs er sich darin gern bewegt hat. So zeigen sich im Mimus allerhand Hexen und Zauberer. Wahrsager treten auf wie im Philogelos. Ja leib- haftige Gespenster scheinen auf der Bühne vorgekommen zu sein, in dem „Gespenst" des Mimographen Catull lief jemand jedesmal beim Erscheinen des Gespenstes mit lautem Geschrei von dannen1). Auch in der dem Mimus nahestehenden, wenn auch sehr viel niedrigeren Atellane zeigten sich allerhand böse Gespenster, wie der Pytho Gorgonius, die pythische Schlange mit einem Drachenhaupte bei Pomponius, und die böse Mania, die Mutter der Laren, trat bei Novius gar als Ärztin auf. Ein Zauberer und Negromant, der im Stande ist, mit seiner Be- schwörung die Sterne und den Mond vom Himmel herabzu- ziehen, kommt bei Philistion vor. Er wird aber entlarvt (vgl. oben S. 204. 432.)

Kein Wunder, dafs bei dem Einwirken von soviel Hexerei und Zauberei, bei der Mitwirkung so mannigfaltiger Gespenster und Geister erscheinen ja doch ursprünglich die mimischen Schauspieler selbst in Gestalt von Dämonen, und Acco, Mormo und Alphito, welche die Rolle der Alten im dorischen Mimus spielen, sind zugleich Schreckgespenster es schliefslich gar zur Verzauberung von Menschen in Tiere kommt, woraus sich dann natürlich die seltsamsten Verwickelungen ergeben.

Romeo und Julia vor, nur dafs er verhängnisvollere Folgen hat als im Mimus. Dagegen erinnert die Art, wie dieses Gift im Cymbeline behandelt wird, stark an den Mimus. Auch dort findet sich die böse Stiefmutter des Mimus und des Märchens, die allerdings nicht dem Stiefsohn, sondern der Stieftochter feindlich ist. Auch sie wünscht ein tötliches Gift, aber der weise Arzt giebt ihr nur das schwere Schlafmittel. Imogen nimmt dieses nur durch einen Zufall, ähnlich wie der rechte Sohn der bösen Stief- mutter im Mimus bei Apuleius und wird dann wie dieser für tot ge- halten und von Arviragus und Guiderius zum Zeichen der Bestattung mit Blumen überschüttet. Auch sie lebt nachher zur grofsen Freude aller wieder auf, wie der Sohn des Obersten.

l) Daher die Bezeichnung clamosum Phasma Catulli bei Juvenal VIII, 186.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 591

So scheint es einen alten Eselmimus gegeben zu haben, auch in der Atellane, die ja mit dem Mimus häufig die gleichen Sujets hat, erscheint ein Mensch mit Eselkopf '). Wie phan- tastisch und doch zugleich biologisch-realistisch es in dem Esel- mimus zuging, kann uns der berühmte alte Eselroman wenigstens in etwas lehren. Vermutlich wird der vereselte Mensch, der in der Atellanendarstellung in einer Prügelscene erscheint, im Mimus ein grofser Liebesheld gewesen sein, wie der Eselmensch Lucius bei Apuleius und bei Lukian, und wird dabei für seine erotischen Triebe hauptsächlich nur erbauliche Prügel eingenommen haben, ebenso wie Lucius und wie der Eselmann in der Atellane. Zum Schlufs wird allerdings der Eselmann Lucius der begünstigte Liebhaber einer vornehmen Dame. Der Eselmimus erinnert uns an Shakespeares „Sommernachtstraum", wo der Weber Zettel plötzlich einen Eselskopf erhält und keine geringere Dame zur Liebhaberin hat als die Feenkönigin Titania. Nur Zettel wird dort so wunderbar verzaubert, alle anderen Personen behalten ihre natürliche Gestalt; ebenso trägt in den Atellanenscenen nur ein Darsteller den Eselkopf, die anderen sind Menschen ge- blieben.

Wir haben schon oben (S. 478 folg.) darauf hingewiesen, wie der Tiertanz ursprünglich im Mimus eine Rolle gespielt hat. da können wir uns kaum wundern, auch im späteren Mimus Tiere zu finden, die nur verzauberte Menschen sind. So spricht bei Sophron ein Esel (vgl. oben S. 443 Anm.). Ich erinnere auch au die Bären im Mimus (vgl. oben S. 418)2) und an die oben (S. 479) erwähnten mimischen Schauspieler mit Hunde- und Affenköpfen.

*) Vgl. ohen S. 258. 478. Der Titel Asinius bei Ribbeck a. a. 0. S. 255, ist für Novius sinnlos, es hiefs Asinus, wie schon Junius richtig vermutet hat. Möglich, dafs die Atellanenscene mit dem Eselmenschen auf den römischen Thonscherben aus dem Asinus des Novius stammt, jedenfalls aber stammt sie aus einer Atellane, die diesem Stücke sehr nahe stand.

8) Ich habe oben S. 417 auf die Tierbändigerkünste der Alten hin- gewiesen. Gerade Bären als Nachahmer menschlicher Fertigkeiten werden in einer interessanten Stelle bei Isokrates nigl ariiööatoK, 213 genannt: *«#' exaorov ibv ivuzvtbv ^fcjQovyrfi iv tois ßavuaot tov; uiv Uovxas ngao-

592 Sechstes Kapitel.

Sehr seltsam ist auch der Vers von Laberius, wo berichtet wird, jemand sei zu dem Affen des Apothekers in heifser Liebe ent- brannt1). Lactanz erklärt, die Lehre des Pythagoras von der Seelenwanderung, nach der menschliche Geister in Tierleiber gesteckt würden, sei lächerlich und erinnere an die Erfindungen des Mimus2).

Mit dieser Verwandlung von Menschen in Tiere begiebt sich der Mimus direkt in das Gebiet des Phantastisch-Märchenhaften. Ich erinnere beispielsweise nur an die deutschen Märchen von dem Froschkönig oder dem eisernen Heinrich und besonders an Schneeweifschen und Rosenrot mit ihrem Bären, der ein ver-

tsgov Siaxufxivovg ngog roiig dsoanevorzag . . . rag 6' aoxTovg xvXivSovfxivag xul naXaiovaag xal fiifj.ov^ivag rag fifiergoag Imarrjfiag.

1) Farmocopoles simium deamare coepit Lab. 40, 41.

2) Corp. Vind. XIX Firm. Lactanti divin. inst. lib. VII, 12, 30: cetera Epi- curei dogmatis argumenta Pythagorae repugnant disserenti migrare animas de cor- poribus uetustate ac morte confectis et insinuare se nouis ac recens natis et easdem semper renascimodo in hominemodo in pecude modo in bestia modo in uolucre et hac ratione inmortales esse, quod saepe uariorum ac dissimilium corporum domi- cilia commutent. quae sententia deliri hominis quoniam ridicula et mimo dignior quam scola fuit, ne refelli quidem serio debuit. Grysar a. a. 0. S. 317 citiert ganz allgemein „eine Stelle bei Lactanz in der Apologie" (sie!): Multis enim iocis et otio opus erit, si velimus ad hanc partem laseivire (von den Mimen ist die Rede). Quis, in quam bestiam reformari velit? Ich habe die Stelle weder bei Lactanz, wo sie nach Ausweis des vortrefflichen Index im Corpus Vindobonense garnicht vorkommt, noch sonstwo bisher eruieren können. Jedenfalls hat sie Grysar, wie die ganz ungenaue, von seiner sonstigen Weise denn doch abweichende Citierungsart zeigt, nur aus zweiter Hand.

Unablässig wird im Mimus mit der Lehre von der Seelenwanderung gespielt in dem Sinne der Verwandelung von Menschen zu Tieren und Tieren zu Menschen. So behauptet jemand bei Laberius, der Mann sei ursprüng- lich ein Maulesel gewesen und die Frau werde zur Schlange; in der That ist im Ehebruchsmimus der Mann ein Esel und die Frau eine Schlange. Vgl. Tertullian, apolog. 48: age iam, si qui philosophus adßrmet, ut ait Laberius de sententia Pythagorae, hominemfieri ex mulo, colubram ex mutiere, et in eam opinio- nem omnia argumenta eloquii virtute distorserit, nonne consensum movebit et fidem infiget etiam ab animalibus abstinendi proptera? persuasum quis habeat, ne forte bubulam de aliquo proavo suo obsonetf In dem „Krebs" des Laberius stand der Vers: Nee Pythagoream dogmam doctus. Lab. 17, 18 R. Ein Mimus Gozzis heilst: La Donna Serpente, ein anderer II Re Cervo, ein dritter L'Angellino Belverde.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 593

zauberter Prinz ist1). In dem neugriechischen Märchen erscheint ein goldener Krebs, der in Wirklichkeit ein Prinz ist2), und drei Prinzessinnen sind gar zu Citronen verzaubert8). Diese Metamorphose hat Gozzi in seinem Märchenmimus „L'Amore delle tre Melarance (Die Liebe zu den drei Pomeranzen) mit den typischen Personen der commedia dell' arte auf die Bühne gebracht. Auch da berühren sich also wieder Märchen und Mimus. Über- haupt haben die Zauberer, Hexen, Geister und Gespenster des Mimus viel mit den gleichen Typen im Märchen zu schaffen. Acco, Mormo, Alphito, die Prototypen der weiblichen Figuren des Mimus, gehören zugleich als Schreckgespenster und Figuren der niederen Mythologie ins Gebiet des Märchens, ebenso wie Mania, die Mutter der Laren, die als Mania medica in der Atellane erscheint.

Wir haben auch schon auf das Katherlieschen des deutschen Märchens hingewiesen, die Närrin, die sich ihre Identität ab- streiten läfst, wie die Narren im Mimus. Zwischen dem Mimus und Volksmärchen herrschen überhaupt die innigsten Beziehungen, auf die wir im zweiten Bande näher eingehen werden, Beziehungen, welche die alte attische Komödie vom alten Mimus geerbt hat4). Phantastisch genug mufs es auch im Göttermimus zugegangen seiu, wo sich, wie wir gezeigt haben, Götter und Heroen, tra- gische Figuren mit Maske und Onkos, mit langen schleppenden Prunkgewändern und Kothurn, mit Alltagsmenschen in der ge- wöhnlichen Kleidung des Lebens, ja mit burlesken Narren im Clownkostüm mischten.

Wir haben schon oben eine ganze Anzahl von Titeln mytho- logischer Mimen oder von Göttern, die darin vorkamen, nach- gewiesen: „Lacus Avernus", „Necyomantia", „Priapus", „Anna Perenna", „Ehebrecher Anubisui), „Die männliche Lunau, „Die

') Grimm, Kinder- und Hausmärchen II, S. 217 folg.

2) Schmidt, Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. S. 83 folg.

3) a.a.O. S. 71 folg.

*) Ich verweise hier auf Zielinski's geistvolle Abhandlung: Die Märchen- komödie in Athen, Petersburg 1885.

5) In dem Ehebrecher Anubis ist wohl eine Geschichte auf die Bühne

Reich, Mimn*. oo

594 Sechstes Kapitel.

geprügelte Diana", „Jupiter, der nach seinem Tode sein Testa- ment verliest", „Die drei gefoppten, hungrigen Herkulesse", „Attis", „Saturn", „Bacchus", „Isis" (vgl. oben S. 112—113, 240 u. 241), „Actaeon"^)1), „Kinyras und Myrrha" '), „Paris und Oenone" (vgl.

gebracht worden, die zu Tiberius' Zeit passierte. Sie steht bei Josephus, Ant. XVIII 3, 4. Ein Ritter Decius Mundus liebte eine vornehme Dame, Paullina, wurde aber von ihr mit seinen Anträgen abgewiesen. Nun war die gute Paullina aber sehr dem Isisdienste ergeben. Da machte sich der Ritter hinter die Priester, gab ihnen 5000 Denaren, und die Priester redeten dafür der frommen Dame ein, Gott Anubis selber verlange nach einer nächtlichen Zusammenkunft mit ihr. Dem hundsköpfigen Grotte ergab sie sich denn auch, und Mundus kam in der Maske des Gottes an das Ziel seiner Wünsche. Aber dies kam heraus; Tiberius verbannte den Ritter, die Priester wurden ans Kreuz geschlagen, der Tempel nieder- gerissen. Das alles wird der Mimus mit seiner getreuen Biologie aus dem wirklichen Leben auf die Bühne gebracht haben, bis zur Scene auf dem Hochgericht, wie er ja auch des Räuberhauptmann Laureolus Thaten vorführte. Hier spielt also ein Mann mit einem Hundskopfe im Mimus mit, vorher hatten wir eben einen Mann mit einem Eselskopfe. In Boccacios Decameron (4. Tag, 2. Gescb.) findet sich eine Erzählung, die, von der christlichen Färbung abgesehen, unserem Mimus auf ein Haar gleicht. Da redet der Pater Alberto der schönen, frommen und ziemlich dummen Madonna Lisetta ein, der Engel Gabriel habe ein heftiges Verlangen nach ihrer Schönheit. Die geschmeichelte Dame verspricht sich des Erz- engels zu erbarmen, und natürlich erscheint Bruder Alberto mit Engels- flügelu angethan. Das Gespräch des vermeintlichen Erzengels mit der schönen Gans während des Stelldicheins ist ein Meisterstück mimischen Humors, mit „mimicae ineptiae" reichlich durchwirkt. Doch die Schwäger Lisettens kommen dem Erzengel auf die Sprünge und es geht ihm erbärmlich schlecht, noch schlechter als dem Ritter im moechus Anubis. Es ist eine seltsame Ähnlichkeit zwischen diesem Mimus und dieser Novelle, über deren Gründe wir noch zu handeln haben werden.

*) Es ist wohl möglich, dafs Friedländer, Sittengeschichte II 6, S. 437, mit seiner Bemerkung Recht hat: „Auf einen Mimus Actaeon deutet Varro, Sat. Menipp. 513, Petron ed. Buecheler3, p. 216: Quod si Actaeon occupasset et ipse prius suos canes comedi3setf non nugas saltatoribus in theatro ßeretu. Es könnte allerdings auch ein Pantomimus gemeint sein. Als mimisch oder für den Mimus passend bezeichnet den Dienst der Isis Prudentius:

Isidis amissum semper plangentis Osirim

mimica ridendaque suis sollempnia calvis.

Contra Symmach. I, 639—630. 2) Nach dem Zeugnisse des Josephus Ant. XIX, 1, 15.

Form and Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 595

oben S. 190). Gerade der Göttermimus war besonders beliebt, und wie wir (S. 113, Anm. 1.) gezeigt haben, überwiegen in den Jahrhunderten nach Chr. diese phantastischen Stücke. Auch von Philistion konnten wir einen Göttermimus „Deukalion und Pyrrha" konstatieren, wo wir in die Urzeiten der zweiten Schöpfung des Menschengeschlechts zurückversetzt werden, in die Zeiten der Sintflut.

Kein Wunder, dafs bei dieser märchenhaften Art des Mimus die Kirchenväter gegenüber den seltsamsten Erfindungen der Gnostiker und anderer Häretiker über den Ursprung der Welt, die Genealogie von Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, über den Ursprung und die Beziehung der Dämonen zur Gottheit, über den merkwürdigen, grofsen Dämon, der die Welt auf seinen Schultern trägt und gelegentliche Erdbeben veranlafst, über die Sintflut, deren Ursache und nähere Geschichte immer darauf hinweisen, das seien ganz mimische Erfindungen, so phantastisch, wie sie Philistion liebe oder der Mimograph Diogenes, ö %a ämöia ygäipag. äntata, das Wunderbare, hat im phan- tastisch-biologischen Mimus eben keine geringere Rolle gespielt als etwa in dem nicht weniger realistisch -biologischen Drama Shakespeares.

Wenn Apuleius, der, wie seine wiederholten Erwähnungen des Mimus beweisen, ein guter Kenner war, als Charakteristikum des Mimus angiebt „mimus hallucinatur" (Florida XVIII), so werden wir dabei nicht blofs an den niedrigen Sinn von hallucinari „ins Blaue hinein, Unsinn reden", zu denken haben, sondern auch an den höheren Sinn „träumen, seltsame Dinge reden und denken". Gewifs, der Mimus hat bei aller Realistik nicht selten seltsame Träume und Hallucinationen gehabt, wie sie gelegentlich auch Aristophanes hat, kaum je aber die regelrechte Menanderkomödie. So lieifsen die Mimen in einem Juvenalscholion (vgl. unten S. 608, Anm. 3) paradoxi. In der That ist ja alle Phantastik paradox, paradox sind zugleich auch die mimicae ineptiae, die Narrenpossen und Späfse. Der Ausdruck wird auf beides gehen.

So ist denn im Mimus in der wundersamsten Weise Niedriges

38*

596 Sechstes Kapitel.

mit Hohem, Ernstes, ja Grausiges mit Burleskem und Humo- ristischem, das platt Reale mit höchst Phantastischem und Zauberhaftem verquickt. Diese seltsamen Mischungen begreift man am besten, wenn man an die Dramen Shakespeares denkt, an die wir uns schon wiederholt erinnern mufsten, etwa an den Sommernachtstraum, wo im Zauberwalde Heroen und Heroinen, Theseus und die Amazonenkönigin Hippolyta, die Beherrscher der Elfen Oberon und Titania und die niedrigen Geister Droll, Spinnweb, Motte, Bohnenblüte und Senfsamen und dann wieder ansehnliche Bürgersleute und auf der vierten und letzten Stufe das niedere Volk, die ehrsamen Handwerks- meister, Squenz der Zimmermann, Schnock der Schreiner, Zettel der Weber, Flaut der Bälgenflicker, Schnauz der Kesselflicker, Schlucker der Schneider, bunt durcheinander weben. Auch kann man an den Sturm denken, wo neben Ariel, dem Luftgeist, und seinen zauberischen Gehülfen auch allerhand Menschen von der niedrigsten Stufe bis zur höchsten, von dem Halbtier Caliban bis herauf zum Halbgott, bis zu Prospero, dem Menschen, der durch den Adel seiner Gesinnung und die Höhe seiner Kunst und Wissenschaft die Geister unter seine Herrschaft zwingt, im bunten Durcheinander sich bewegen.

So geht denn auch die Sprache bei Shakespeare wie im Mimus vom Gassenjargon zur Umgangssprache, ja zu der höch- sten lyrischen Ausdrucksweise über. Vornehmlich reden die Narren im Mimus Prosa wie bei Shakespeare die Clowns. Man denke etwa an die niedrigen, burlesken Reden des Weber Zettel oder des Bedienten Lanz in den beiden Veronesern oder des Clowns Holzapfel in „Viel Lärm um nichts" oder des Totengräbers im „Hamlet." Um so seltsamer ist es dann, wenn diese Clowns wie im Mimus plötzlich anfangen zu singen.

So fragt in „Was ihr wollt", zweiter Aufzug, zweite Scene, der Narr, wollt ihr ein Liebeslied oder ein Lied von gutem Lebenswandel und hebt dann an zu singen:

0 S-chatz, auf welchen Wegen irrt ihr? 0 bleibt und hört, der Liebste girrt hier.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 597

Sing in hob- und tiefem Ton, Hüpft nicht weiter, zartes Kindlein. Liebe find't zuletzt ihr Stündlein, Das weifs jeder Muttersohn.

Wie singt der Page in „Wie es euch gefällt":

Ein Liebster und sein Mädel schön Mit heisa und ha und juchheisa trala! Die thäten durch das Kornfeld gehn, Zur Maienzeit, der lustigen Paarezeit,

oder der Weber Zettel im „Sommernachtstraum":

Der Kuckuk, der der Grasemück'

So gern ins Nestchen heckt, Und lacht darob mit arger Tück'

Und manchen Ehmann neckt.

3. Aufzug, 1. Scene.

Das alles sind Schelmenlieder, wie die Couplets im Mimus, «da» cccTavixai, wie die alten Kirchenväter schelten. Aber Choricius weist darauf hin, wie es auch ganz ernsthafte Lieder im Mimus gebe, und von einer ernsten Leidenschaft ist wirklich die Mimodie Des Mädchens Klage" durchbebt. Dem gegenüber erinnern wir uns an die Totenklage, die Arviragus und Guiderius im Cymbeline singen oder an das Toten gräberlied im „Hamlet" oder gar an Ophelias Lied:

Wie erkenn' ich dein Treulieb Vor den anderen nun? An dem Muschelhut und Stab Und an den Sandelschuh'n.

4. Aufzug, 5. Scene.

Jedenfalls können die zahlreichen Lieder bei Shakespeare lehren, wie einst die zahlreichen Arien im Mimus gewirkt haben müssen, die in ihm einen so wesentlichen Platz einnahmen und die das Volk besonders bezauberten (vgl. darüber oben S. 138 142). Von der niederen Volkssprache ebenso wie von den

598 Sechstes Kapitel.

lustigen und tiefgefühlten Liedern stechen dann wieder bei Shakespeare die jambischen Verse mit ihrer vornehmen und würdigen Sprache ab. Es herrscht hier eben derselbe Gegen- satz, wie das Leben und wie der Mimus, das Drama des Lebens, ihn liebt.

Auch Shakespeare ist ein Biologe, ein Ethologe und ein Realist. Und doch drängen sich bei ihm wie im Mimus spukhaft Geister und Gespenster und übernatürliche Wesen in die natür- lich-biologische Handlung, und oft scheint die dünne Decke zu zerreifsen, welche die kleine, reale, natürliche Welt der Menschen von der übernatürlichen, überirdischen und unterirdischen trennt. Vor allem wie man Ernstes und Burleskes zu mischen habe, hat niemand so gut wie Shakespeare verstanden und der alte Mimus.

Längst hat man alle diese seltsamen Mischungen, die das Drama seit Shakespeare liebt, für unantik, ungriechisch, spezifisch modern, für romantisch erklärt. Gewifs, diese Mischung ist un- klassisch, denn der klassische Stil bedeutet das Einfache, das streng Einheitliche, ungriechisch aber ist sie durchaus nicht. Im Gegenteil, sie ist ein Spezificum des eigentlichen Volksdramas der Hellenen, des Mimus, der an und für sich das älteste grie- chische Drama ist, wenn auch die mimische Hypothese noch jünger als die Menander- Komödie und in ihrer letzten grofs- artigen Ausgestaltung durch Philistion das jüngste, grofse, grie- chische Drama ist.

Wie der Mimus innerlich und in seiner ganzen Form und Art mit dem klassischen Drama gebrochen hat, so hat er es auch äufserlich gethan in allem, was seine Darsteller, seine Dar- stellung auf der Bühne und seine Bühne selber angeht. So fremdartig uns die Aufführung eines antiken klassischen Dramas mit den seltsamen, unförmlichen Masken, den hohen Kothurnen, den wunderlichen Prunkgewändern der Schauspieler anmuten würde, so leicht würden wir uns in das lebenswahre, lebendige Spiel der Mimen hineinfinden.

Schon das Fehlen der Masken scheidet das Aussehen wie das Spiel des Mimen streng von dem der Schauspieler des klassischen Dramas. Wie beim modernen Schauspieler kam es bei dem

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 599

Mimen wesentlich auf das Mienenspiel an J). Eine der wichtigsten mimischen Typen, der Sannio, hat davon den Namen'). Auch Quintilian spricht von den burlesken Grimassen der Mimen (vgl. oben S. 75, Anm. 3). Die Narren im Mimus waren jedenfalls Meister im Grimassenschneiden; der Mime Vitalis rühmt sich des lebhaften Mienenspieles, mit dem er seine Mitmenschen zu kopieren versteht8). Im niederen mimischen Paegnion bei dem

i) Vgl. darüber oben S. 527 u. 528.

*) Ich erinnere an Ciceros Beschreibung des Sannio: ore vultu denique corpore ridetur ipso (de oratore 11,61); TgL auch Nonius p. 67,2: sanniones dicuntur a sannis [ sanna die Grimasse) qui sunt in dictis fatui et in motibus et in schemis, quos moros vocant graeci. Ganz recht, es ist eben der uwoo; (fctiaxoög im Mimus, der grimassierende Narr.

3) Gaudebam temper. Quid enim, si gaudia desint,

Hie vagus eye fallax utile mundus habet?

Me viso rabidi subito cecidere furores,

ridebat summus me veniente dolor.

Non lieuit quemquam mordaeibus urere curis,

Nee rerum incerta mobilitate trahi.

Vincebat eunetos praesentia nostra timores

Et mecum felix quaelibet hora fiüt.

Motibus ae dictis, tragica quoque voce plaeebam

Exhüarans variis tristia corda modis.

Fingebam vultus, habitus ae verba loquentum,

Ut plures uno erederes ore loqui.

Ipse etiam, quem nostra oeulis geminabat imago,

Morruit, in vultu se magis esse meo.

0 quoties, imitata meo se femina gestu

Vidit et erubuit totaque mota fuit!

Ergo quot in nostro videantur corpore formae;

Tot mecum raptas abstulit atra dies.

Quo vos iam tristi turbatus deprecor ore*

Qui titulum legitis cum pietate meiern,

0 quam laetus eras, Yitalisl diäte rnoesti!

Sint tibi, Vitalis, sint tibi laeta modo!

Meyer, Anthol. II, p. 89, Nr. 1173. Die fehlenden vier Anfangsverse siehe oben S. 158, Anm. 3.

Also Vitalis rühmt an seiner mimischen Kunst besonders sein Mienen- spiel. Er gehört nicht zu einer Mimengesellschaft, sondern ist ein einzelner

600 Sechstes Kapitel.

Nachahmen von Kutschern, Marktschreiern und dergleichen war das Mienenspiel jedenfalls die Hauptsache.

Ganz wie die modernen Mimen haben die antiken eine grofse Kunstfertigkeit in der Anwendung der mannigfaltigsten Schminken besessen: das sind die „vielfarbigen Pigmente", die zum Apparat des Mimen nach Sidonius Apollinaris gehören.

Der Mime verschmähte jeden Theaterschuh, Kothurn wie Soccus; er ging entweder barfufs wie man es in den niederen Ständen im Altertum vielfach that oder er trug zu der Klei- dung des gewöhnlichen Lebens auch das gewöhnliche Schuhwerk wie der moderne Schauspieler4).

Biologe und Ethologe, wie die waren, welche einst Sophrons, Theokrits oder Herondas' Mimen mit wechselnder Stimme vortrugen. Vitalis begleitet den Vortrag seiner mimischen Paegnia nun noch mit lebhaftem Gebärdenspiel und weifs dabei zugleich die Stimme so geschickt zu ändern, dafs man mehrere Personen zu hören glaubt. Dabei erlaubt er sich den Spafs, während seines mimischen Vortrages Gesicht und Haltung bekannter Per- sönlichkeiten nachzuäffen und diese Kopien waren so gelungen, dafs die Originale, ob Mann oder Weib denn der Mime gab in seinem Paegnion ja auch Weiberrollen, man erinnere sich z. B. an Theokrits Zauberinnen oder die Weiber am Adonisfeste oder an Herondas' Eifersüchtige , nicht selten heftig darüber erschraken. Für die andern Zuhörer war das natür- lich ein grofses Gaudium. Ich will hier an eine gewöhnliche Spezies der Varietes erinnern, den Mimiker, der die Gesichter berühmter Männer, man kann verlangen, welche man will nachmacht, bald ist er Napoleon, bald der alte Fritz, dann wieder Kaiser Friedrich, gelegentlich wohl auch eine stadtbekannte Persönlichkeit und so fort. Wenn Vitalis von tragischer Stimme redet, so haben wir das auf mythologische Mimen zu beziehen. Lustig ist das Selbstbewufstsein, mit der Vitalis von seiner mimischen Kunst redet, die ihn zum reichen Manne gemacht hat. Er will die Wertschätzung des grofsen mimischen Dramas auch für seine Kunststücke beanspruchen. Die ersten acht Verse sehen fast wie eine Paraphrase des Lobes aus, das Cassiodor dem Mimus erteilt: mundum curis edacibus aestuantem laetissimis sententiis temperare. Vgl. oben S. 144, Anm. 2.

4) Donat. fragm. de com. planipedia autem dicta ob: . . . vilitatem actor, qui non coturno aut socco nituntur in caena aut pulpito sed piano pede. Seneca epist. VIII, 8, 9 nennt die Mimen excakeati. Vgl. oben 73, Anm. 1. Festus s. v. Ricinium spricht von mimi planipedes. Auch findet sich planipes öfters. Da- her stammt der lateinische Ausdruck für den mimus: planipes bei Diomedes

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 601

Überall stellt der Mime eben als Biologe die Wirklichkeit möglichst getreu dar. Darum werden auch im Mimus wie im modernen Schauspiel die Frauenrollen durch Miminnen gegeben. Der Mime duldet, wie wir sahen, neben sich die Mimin, wie ursprünglich der Gaukler die Gauklerin neben sich geduldet hatte, und auch der moderne Schauspieler konnte sich mit einem Weibe, das durch sein Auftreten zur Ehrlosen wird, auf der Bühne sehen lassen, weil er ursprünglich auch nur ein Gaukler war, und von jeher mit dem Gaukler die Gauklerin gewandert und mit ihm aufgetreten war. Dafs diese Einrichtung eine geradezu revolutionäre ist im Verhältnis zur klassischen Bühnen auf führung und zu dem Standesbewufstsein der Tragöden und Komöden, haben wir schon hervorgehoben: sie ist eben durch und durch modern.

Ich habe schon gezeigt, dafs das mimische Drama ganz im Gegensatz zum klassischen eine grofse Zahl von Mitspielenden gleichzeitig auf der Bühne vereinigte. Aufserdem aber scheint jeder Mime ganz wie der moderne Bühnenkünstler und im Gegensatz zu dem antik -klassischen Schauspieler immer nur in einer Rolle aufgetreten zu sein. So mufste denn eine grofse und vollständige Mimentruppe über ein ungemein reiches Personal verfügen. Auf dem Denkmal, das dem Archimimen L. Acilius Eutyches im Jahre 169 n. Chr. von seiner Mimengesellschaft zu Bovillae, wo er Decurio war, gesetzt worden ist, finden sich auf der rechten Seite und ebenso auf der linken je dreifsig Schauspieler namentlich aufgeführt1). Also im ganzen sechzig Angehörige einer Mimengesellschaft. Nun werden hier wohl die Musiker, Theaterdiener und dergleichen mit aufgeführt sein, andererseits fehlen aber die Miminnen, und wir dürfen kaum zweifeln, dafs die Schauspielerinnen nicht weniger zahlreich waren als die Schauspieler. Da gab es Archimiminnen und gewöhnliche Miminnen, und auch hier wird es wohl wie bei den männlichen

(a. a. 0. S. 490, 4), und nXavmiSÜQta bei Lydus de mag. cap. 40. Doch ist das nur eine Wortbildung der Grammatiker- und Gelehrtensprache. J) C. I. L. XIV, 2408.

602 Sechstes Kapitel.

Schauspielern Miminnen ersten bis vierten Grades gegeben haben. Die häfsliche, alte Mimin, die sich so trefflich herausgeputzt hat, tritt in einem grofsen Chor von Miminnen auf. An den Floralien treten Scharen von Buhlerinnen anstatt der Miminnen auf. Von den Miminnen niederen Grades wird als von Buhlerinnen ge- sprochen, die zahlreich in den Zellen des Cirkus zugleich ihr gemeines Gewerbe üben1). In der That erscheinen ja auch im Mimus zugleich vornehme Damen, sowie geringe Frauen, trunk- süchtige alte Weiber, Ammen, Kupplerinnen2), Mägde, alte und junge auf der Bühne.

Aufserdem traten im Mimus auch häufig Kinder auf. Schon bei Sophron kommt ein kleines Kind vor3); desgleichen bei Theokrit in den Adoniazusen und bei Herondas findet sich ein Knabe im Schulmeistermimus und ein kleines Mädchen im Fastenfrühstück ". Zahlreich scheinen die kleinen Schauspieler in der Atellane gewesen zu sein, die hier wie überhaupt dem gleichzeitigen Mimus entspricht. Ich erinnere an den Bucculo d. h. den kleinen Bucco des Novius. Zahlreich finden sich diese kleinen Mimen auch auf den oft erwähnten Atellanendarstellungen aus der frühesten römischen Kaiserzeit.

Solche Kinder gehörten also mit zur Truppe. Das ist ver- ständlich genug. Die Mimen, die nach Choricius vielfältig ver-

*) Eine solche niedere Mimin ist zum Beispiel, wie wir sahen, die Mime Theodora; denn ihr fehlte, was eine Mime ersten Ranges, wie Choricius hervorhebt, besitzen mufs, die schöne Stimme. Doch gehörte sie andererseits auch nicht zu den allergeringsten Miminnen, Statistinnen oder Tänzerinnen, welche die Bühne füllten, da sie durch ihre Witze und ihr niederes Wesen und die lustige Art, mit der sie Maulschellen hinnahm, den Beifall des Volkes erhielt. (Vgl. darüber oben S. 175.)

2) Diese zahlreichen Typen alter Weiber im Mimus ermöglichten es den talentierten Miminnen bis ins höchste Alter auf der Bühne zu bleiben; sie gingen von den Rollen jugendlicher Liebhaberinnen allmählich zu denen der alten Hexen über. So berichtet Plinius, n. h. VII, 48, von einer Mime Lucceia, die noch im Alter von 100 Jahren im Mimus auftrat, und die Mime (emboliaria) Galeria Copiola, die unter dem Konsulat des alten Marius und des Carbo im Jahre 88 zum ersten Male aufgetreten war, erschien noch unter Kaiser Augustus 104 Jahre alt wieder auf der Bühne.

3) Nach der Bemerkung bei Choricius a. a. 0. § III, 10.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. . 603

heiratet und Familienväter waren, brachten ihre Kleinen bei Zeiten auf die Bretter, damit sie sich schon früh an den Beruf der Eltern gewöhnten und mimische Fertigkeit gewannen. Für den Mimographen aber waren diese kleinen Mimen sehr geeignet, die Realität seiner Lebensbilder zu erhöhen, die sich so gerne gerade mit dem intimsten Familienleben befafsten. Ich erinnere an Mimentitel wie „Der Vormund" oder an des Laberius „Hoch- zeit", „Geburtstag", „Der Ephebe", „Die Jungfrau", „Die Schwestern". Kurz und gut, das Personal einer Mimenbühne war, was weibliche und männliche Schauspieler aller Grade angeht, nicht weniger zahlreich als das eines grofsen modernen Theaters.

Wie bei den modernen Schauspielern bestand die Verfassung der antiken Mimen in der Prinzipalschaft, die sich bei beiden, wie wir sahen, aus der Verfassung der alten Gaukler heraus entwickelt. Der Prinzipal, der Archimime, war der Unter- nehmer1).

Der Mime ist ein durch und durch moderner Schauspieler, und es ist sehr thöricht, sich den vornehmen Mimen, der den Gipfel der mimischen Kunst erklommen hat, als einen gewöhn- lichen Spafsmacher und Possenreifser zu denken. Ausdrücklich mahnt Choricius, man möchte doch nicht immer nur der niederen Mimen gedenken, sondern auch der vornehmen Künstler, die von ihrer schönen Kunst ein fürstliches Einkommen genössen, die ehrsame Hausväter wären, einen ehrbaren und vornehmen Haus- stand führten und Weib und Kind besäfsen. Ja, Johannes Chry- sostomus, der Feind des Mimus und der Mimen, klagt voller Empörung, dafs man die grofsen Mimen wie Gesandte in den Städten aufnähme2). Wir hören von berühmten Mimen, die

') Ich kann hier die Verfassung der Mimengesellschaften nicht bis ins einzelne hinein darlegen, das wird in einem besonderen Anhange am Ende des II. Bandes geschehen, wo ich alle Inschriften, die ich gesammelt habe, vorlegen werde. Es sind leider vorwiegend römische und nur ein paar griechische von ganz geringem Umfange darunter. Auf einer Inschrift aus Ägypten von der Nilinsel Philae befindet sich sogar nur der Name 'Apaqiuv ptpos (Corp. Inscr. graec. Boekh. III, Nr. 4908).

») Vgl. oben S. 157.

604 Sechstes Kapitel.

einen ehrenvollen Ruf an das kaiserliche Theater in Rom er- halten; hören von fürstlichen Gagen, von intimen Beziehungen der Mimen zu Imperatoren, Königen und Kaisern1).

Wie preist Choricius die Kunst der Mimen, ihr Mienenspiel, ihren Vortrag, ihren Gesang, ihren Tanz. Ich habe die Begeiste- rung, welche das Publikum damals für grofse Mimen empfand, wie es sie mit hohen Gehältern, mit reichen Geschenken, mit prunk- vollen Standbildern ehrte, wie es ihren Tod als eine öffentliche Kalamität betrauerte, ausführlich geschildert2). Kurz und gut, die vornehmen mimischen Schauspieler waren an Einkommen, Ansehen und Ehre gewifs nicht schlechter gestellt als ein be- rühmter Mime moderner Zeiten und auch ihre Kunst wie ihr Kunstbewufstsein waren nicht geringer3). Selbst das moderne Unwesen der CIaqueure fand sich im alten Mimus, und die Mimen waren, wenn sie nicht ausgezischt werden wollten, ge- zwungen, eine zahlreiche Claque zu halten, die klatschte, ihnen Ovationen bereitete und durch ehrenvolle Zurufe ihren Beifall bezeugte4).

Wie Mimus und Mimen im strengen Gegensatz zum alten klassischen Schauspiele und Schauspieler stehen, so hat auch

a) Vgl. oben S. 182 folg.

2) Die einzelnen Nachweise siehe oben S. 156 181.

3) Ich erinnere an das Beispiel der Arbuscula. Vgl. oben S. 61, S. 159.

4) Dafür finde ich ein Zeugnis bei Ammianus Marcellinus XXVIII, 32, 33 : Unde si ad theatralem ventum fuerit vilitatem, ich erinnere an des Euanthius und Donat „mimica vilitas" Vgl. oben S. 50. 51. 600. artißces scaenarii per sibilos exploduntur, siquis sibi aere humiliorern non conciliaverit plebem. qui si defuerit strepitus, ad imitationem Tauricae gentis peregrinos vociferantur pelli debere quorum subsidiis semper nisi sunt ac steterunt et taetris vocibus et absurdis, quae longe abhorrent a studiis et voluntate veteris illius plebis, cuius multa facete dicta memoria loquitur et venusta. Id enim nunc repertum est pro sonitu laudum inpensiore per applicatos homines ad plodendum, ut in omni spectaculo, exodiario . . et histrionum generi omni . . . clametur adsidue 'per te ille discat' quid autem debeat disci nemo sufficit explanare. Exodiarius ist der Mime als Spieler des heitern Nachspiels, des exodiums. Vgl. Plut. Crass. 33, Pelop. 34, Schol. Juv. III, 175, Cicero Epp. IV, 16.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 605

die Mimenbühne ursprünglich nichts mit der klassischen Bühne und dem grofsen Dionysostheater zu thun. Dem Mimen gebührt von seinem Ahn, dem Gaukler her, die Gaukelbühne, auf der auch die Wiege unseres modernen Dramas stand.

Die primitive Bühne der Gaukler sehen wir öfters auf den Phlyakendarstellungen bei Heydemann. Bethe hat dieser so- genannten Phlyakenbühne das dreizehnte Kapitel seiner Prolego- mena gewidmet und ihre Gestalt eingehend besprochen. Sie ist nichts weiter als ein Bretterboden, der auf etwa einen Meter hohen, in die Erde getriebenen Pfählen ruht, vorne befindet sich meistens eine schmale Treppe, auf welcher der Schauspieler das Gerüst ersteigt. Wiederholt hat man sich bei dieser primitiven Bühne an das Gerüst unserer heutigen Gaukler, Marktschreier und Bänkelsänger erinnert (vgl. auch Bethe, Prolegomena S. 80). Nicht mit Unrecht! Aber die Bühne, welche der alte griechische Jongleur sich herzustellen gewohnt war, dürfte ihr vielleicht ähnlicher gewesen sein.

Plato gedenkt dieser Bühne als einer gewöhnlichen Er- scheinung des alltäglichen Lebens. Ihre Gestalt wird ersichtlich aus dem berühmten Gleichnis im Staate von den Gefangenen, die sich in der dunklen Höhle befinden, vor deren Eingang in weiter Entfernung ein mächtiges Feuer brennt. Hören wir Plato selbst: »Zwischen dem Feuer aber und den Gefangenen befindet sich oben ein Weg, und an diesem, stelle dir vor, ist eine Art Mauer aufgeführt, wie sich zwischen den Zuschauern jene Ver- zäunung befindet, oberhalb welcher die Gaukler ihre Vorstellungen geben. Stelle dir demnach auch vor, dafs an dieser Mauer ent- lang Leute mancherlei Geräte tragen, welche über die Mauer hinaufreichen, und auch Bildsäulen von Menschen und sonstigen steinernen und hölzernen Tieren." Da es nun heifst, die Gaukler spielten oberhalb der Verzäunung1), so mufs diese einen Bretterboden getragen haben, der dann natürlich auch nach

*) Innvtü ödov, nag rjv ldk Tf/^tov naqojxoSojxrijxivov, (Santo roTg &ccv- fJLaianoioig noo tüv av&ownwv ngöxfacti ia naQa(fQäyfiata, vnko tov ra &av- ftunt duxvvaaiv.

606 Sechstes Kapitel.

hinten zu auf Pfählen ruhte. Dieses Gerüst kann nicht viel höher als einen Meter gewesen sein, denn die Bildsäulen, welche daran vorübergetragen wurden, reichen selbst mit ihren Füfsen über die Bühne. Den Leuten in der dunklen Höhle, die vor allem nur die Schatten sehen, scheint es dann so, als ob diese Dinge auf der Bühne vorüberziehen. Die Ähnlichkeit mit der Phlyakenbühne ist nicht zu verkennen, auch deren Vorderseite ist ein Paraphragma, das seinen Zweck, das Publikum fernzu- halten, erfüllt; auch sie ist etwa einen Meter hoch und mit einem Bretterboden versehen, auf welchem die Mimen spielen. Im Grunde ist diese Gaukelbühne nichts weiter, als ein etwas grofser und klotziger Tisch, von dem aus der Gaukler dem Publikum besser sichtbar ist. Auf einer etruskischen Bronce sehen wir einen Gaukler auf einem solchen Tisch, auf welchem er einen Gaukeltanz aufführt1). Auch wurde schon oben S. 518 eine Gauklerin erwähnt, die auf einem Tische ihre Gaukeleien voll- führt. Ein ähnliches Gerüst befindet sich auf einer Gemme, die bei Caylus, rec. d'ant. I 3, 3 abgebildet ist. Zwei Gaukler mit spitzen Mützen führen auf ihm einen seltsamen Tanz auf, während ein Flötenspieler dazu bläst. Das Ganze befindet sich in einem Boote, welches, von einem Fährmanne geleitet, einen Strom hinabgleitet; es ist wohl der Nil, wie die Pelikane am Rande der Gemme andeuten. Schon Jahn hat dieses Gerüst für eine Art Gauklerbühne gehalten, während Caylus es noch für ein Verdeck des Bootes ansah. .

So hat es seit alter Zeit eine Gauklerbühne gegeben. Als

x) Babelon et Blanchet, Catalogue des Bronzes antiques de la Biblio- teque nationale 1899 in , dem Abschnitt „acteurs", Nr. 958 (S. 423— 424): Danseur nu, debout sur une table. II est imberbe; ses cheveux sont arrangit en petites meches frisees sur le front et sur le cou; sa töte est surmontee cL'une couronne plate, tressee. Les bras, allongh en croix, sont ornes de bracelets; la main gauche tient une sorte de cylix h pied large et eleve. Ses pieds sont chausses de sandales ä bouts releve's et munies d'une languette au dessus des talons (calcei repandi); le pied droit seul pose ä terre; la jambe gauche, ployee et relevte, parait exCcuter un pas de danse. Les trois pie.ds de la table sont ineurvds et riunis p ar une traverse en forme de T. Bon style etrusque; patine verte, rugueuse.

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 607

der Gaukler zum Mimen wurde, hat er seine alte Bühne, wie so vieles andere von seinem früheren Gauklerwesen, beibehalten1).

Der italische Mime, der Phlyake spielt durchaus nur auf der alten Gaukelbühne. Auch in späterer Zeit, als der Mimus schon auf das grofse Theater des Dionysos gehörte, haben die niederen Mimentruppen, die nach Art unserer Schmieren aus einer kleinen Stadt in die andere, aus einem Dorf ins andere zogen, sicherlich diese primitive, mit ein paar Brettern und Pfählen so bequem herzustellende Bühne beibehalten.

Der Übergang von der Gaukelbühne zur grofsen Bühne hat sich beim Mimus nur sehr langsam vollzogen. Ursprünglich wurde dem Mimen in der Orchestra vor der grofsen Bühne ein kleines Gerüst, eine Art Gaukelbühne errichtet, auf der er in den Zwischenakten mimte *). Derartige Intermezzos nannte man Embolium, und die darin auftretenden Mimen em- boliarii und emboliariae3); auch hier findet sich von vorn- herein zum Mimen die Mimin. Allmählich stieg dann der Mimus auf die grofse Bühne, und während ursprünglich die Atellane nach den klassischen Schauspielen als Nachspiel (ex-

') Bethe hat sich bemüht, die römische Bohne von der mimischen her- zuleiten. Dieser Versuch scheint ebenso glücklich als geistreich zu sein, wenngleich vorläufig ja nur die Möglichkeit oder besser gesagt, die innere Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese einleuchtet. Auch Zielinski hat sich in seiner Rezension, Berliner Wochenschrift für klassische Philologie (9. Sept. 1896) der Warscheinlichkeit dieser Hypothese nicht verschlossen. Da nun auch Dörpfeld und Reisch (Das griechische Theater S. 327) den Zusammen- hang zwischen dem römischen Theater und der Phlyakenbühne nachweisen, liegt hier wohl eine wissenschaftlich gesicherte Thatsache vor. Jedenfalls eröffnen sich so noch weitere Perspektiven, und im letzten Grunde würde danach die römische Bühne auf das Gerüst des griechischen Jongleurs zurückgehen.

2) Vgl. Diomedes III, Keil, Gr. L. I, p. 490: Olim tum in tuggestu scenae sed in piano orchestrae positis instrumentis actitabant und Festus pag. 326 0. M.: solebant hit prodire mimi in orchestra, dum in scena actus fabulae componerentur cum gestibus obscaenis.

8) Vgl. Cicero Sest. 54, 116. Bei Plinius, n. h. VII, 48 kommt die Em- boliaria Galeria Copiola vor; desgleichen finden sich im C. I. L. wiederholt emboliarii.

608 Sechstes Kapitel.

odium) aufgeführt wurde, trat seit Ciceros Zeit der Mimus an deren Stelle1). Schliefslich trennte sich der Mimus mehr und mehr von den klassischen Aufführungen und wurde immer selb- ständiger2). An den Floralien wurden schon sehr früh allein Mimen aufgeführt. In der Kaiserzeit trat der Mimus auch sonst selbständig auf dem grofsen Theater auf, und allmählich ver- drängte er dann Komödie und Tragödie von ihrer angestammten Bühne und ward auf ihr neben dem Pantomimus Allein- herrscher.

Aber selbst da blieb noch ein deutliches Zeichen dafür er- halten, dafs er von rechtswegen nicht dahin gehörte. Wenn die Mimen auftraten, wurde vor den prächtigen Hintergrund, der für Tragödie oder Komödie bestimmt war, das Siparium vor- gezogen ; das war ein grofser Vorhang in Form einer Art Gardine, die den hinteren Teil der Bühne von dem vorderen, auf dem die Mimen auftraten, schied. Hinter dieser Gardine standen die Mimen, und an wen die Reihe des Auftretens kam, der schlug den Vorhang in der Mitte auseinander und trat hervor3), hinter ihm aber ging die Gardine wieder zusammen.

!) Vgl. oben S. 604, Anm. 4 und S. 62.

2) Dafür ein eigentümliches, allerdings sehr verworrenes Zeugnis aus Sueton bei Diomedes 1. III, Keil, Gr. L. I, p. 491, 492: primis autem temporibus, sie uti adserit Tranquillus, omnia quae in scena versantur in comoedia agebantur. nam et pantomimus et pyihaules et choraules in comoedia canebant. sed quia nön poterant omnia simul apud omnes artißces pariter excellere, siqui erant inter actores comoe- diarum pro facultate et arte potiores, prineipatum sibi artißcii vindicabant. sie factum est ut nolentibus cedere mimis in artificio suo ceteris separatio fieret re- liquorum. nam dum potiores inferioribus, qui in communi ergasterio erant, servire dedignantur, se ipsos a comoedia separaverunt, ac sie factum est ut exemplo semel sumpto unusquisque artis suae rem exequi coeperit neque in comoediam venire.

3) Zu Juvenal VIII, 186 Vocem, Damasippe, locasti sipario bemerkt der Scholiast: siparium velum sub quo latent paradoxi (das sind die Mimen) cum in scenam prodeunt, aut ostium mimi. Zu vergleichen ist auch Donat, De Comoedia bei Kaibel, Com. graec. Fragm. S. 71 (Leo): siparia aetas posterior aeeepit est autem mimicum velum, quod populo obstitit dum fabularum actus commutantur. Sonst wird das Siparium noch bei Cicero und Seneca erwähnt. Vgl. oben S. 64 u. S. 73, Anm. 1.

Form and Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 609

Als Petronius unter Kaiser Valens im Jahre 365 einen Putschversuch machte, erschien er plötzlich vor den Soldaten, blafs wie ein Gespenst, im prächtigen, goldgestickten kaiserlichen Ornate, dem allerdings mancherlei mangelte, mit den purpurnen Schuhen, in der linken Hand eine Lanze mit einem purpurnen Fähnlein. So taucht, meint Ammianus Marcellinus, plötzlich auf der Bühne im Mimus eine seltsam prächtige Erscheinung hinter dem Vorhange auf).

Dieses Siparium war für den Mimus so typisch, dafs Juvenal wie Seneca für Mimus einfach Siparium setzen2). So entbehrte der Mimus einer bemalten Hinterwand. Im Mimus ist nichts von Scenenmalerei, nichts, was wie im vornehmen Drama an unsere Kulissen erinnern könnte. Doch gab es natürlich sonst allerhand Requisiten. Chrysostomus nennt ausdrücklich das Sopha, bekannt ist auch der grofse Kasten im Ehebruchs- stück3). So wird also die Wohnstube durch allerhand Möbel und häusliche Geräte angedeutet sein, die Kneipe durch Bank und Tisch, desgleichen wird man das Gerichtslokal mit allerhand besonderen Requisiten ausgestattet haben.

*) Amm. XXVI, 6, 15: Stetit Uaque subtabidus excitum putares ab inferis nusquam reperto paludamento, tunica auro distincta ut regius minister, indutus a calce in pubem in paedagogiani pueri speciem, purpureis opertus tegminibus pedum, hastatusque purpureum itidem pannulum laeva manu gestabat, ut in theatrali scaena simulacrum quoddam insigne per aulaeum vel mimicam cavillationem subito putares emersnm. Solin gebraucht diesen Ausdruck gleichfalls für das ein- fache Mimus: hie primum inventa est comoedia hie et cavillatio mimica in scaena stetit. Collect. V, 13 (p. 50 Momms. ed. 2). aulaeum, das allgemeine Wort für Vorhang, ist hier für das speziellere siparium gebraucht, denn es handelt sich zweifellos um den Mimus. Das „simulacrum insigne" schreitet durch das Siparium hindurch (per aulaeum), denn dieses ist „ostium mimi", „Eingang des Mimus". Die „prächtige Erscheinung" ist wohl ein Gott oder sonst ein überirdisches Wesen, wir haben an den mythologischen Mimus zu denken. In simulacrum liegt der Begriff des Geisterhaften. Es ist auch eben erst von den inferi die Rede. Zugleich haben wir hier wieder ein neues Zeugnis für die Pracht, mit der gelegentlich die Mimen auftraten.

2) Vgl. oben S. 73, Anm. 1, und S. 148, Anm. 3.

») Vgl. oben S. 90 u. 503; S. 120, Anm. 5.

Bei eh, Mimus. qq

610 Sechstes Kapitel.

Ursprünglich ist diese höchst einfache Art der Inscenierung daraus hervorgegangen, dafs der Mimus auf dem primitiven, auf vier Pfählen aufgebauten Bretterboden, der seine Bühne be- deutete, keine bessere ins Werk setzen konnte. Als er dann später sich durch das Siparium den neugierigen Blicken der Zuschauer vor dem Auftreten entzog, war dieser Vorhang einer weiteren Ausstattung der Scene auch nicht förderlich, und so behielt man die alte primitive Art der Aufführung bei und ver- liefs sich auf die Phantasie der Zuschauer.

Ursprünglich war das nur Not, aber daraus wurde für das grofse mimische Stück eine Tugend. Wir haben darauf hin- gewiesen, wie in diesem blitzschnell die Scenen wechseln und in bunter Reihenfolge an uns vorüberziehen, wie wir uns bald an diesem, bald an jenem Ort befinden, weil uns der Mimus ge- legentlich vom Himmel durch die Welt zur Hölle führt. Der Mimus sagt eben einfach, jetzt sind wir hier, jetzt sind wir da, damit war der Scenenwechsel vollzogen, und derselbe Tisch, dasselbe Sopha und derselbe Kasten, die vorher das Wohn- zimmer andeuteten, bezeichneten nun wieder das Innere einer Kneipe u. s. w. Vor allem aber brachte dieser Mangel an In- scenierung es mit sich, dafs der Mimus sich nicht, wie die andern dramatischen Stücke, vor dem Hause und Palast, sondern ganz realistisch-biologisch, wie es sich gehört, ebenso gut auch inner- halb des Hauses abspielt. Die Familienscenen, die Kneipenscenen, die Ehebruchsscenen spielen eben drinnen; das Sopha und der Kasten standen doch gewifs nicht auf der Strafse, Genesius liegt erkrankt bei sich zu Hause im Bette und Priester und Exorcisten stehen dort um ihn herum. Also auch hier wieder ein völliger Bruch des Volksdramas mit den Gewohnheiten des klassischen Dramas.

Es ist eben alles ähnlich wie im Shakespearischen Drama, das sich gleichfalls im grofsen und ganzen ohne Kulissen behilft, wo von Scenenmalerei kaum die Rede ist und gelegentlich, um eine Gegend zu bezeichnen, statt eines Bildes eine Tafel mit ihrem Namen ausgehängt wurde. „Ein Tisch mit Feder und Tinte machte aus der Bühne ein Geschäftslokal; zwei Stühle

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. Q\]

statt des Tisches bedeuteten eine Schenkstube, ein vorgeschobenes Bett ein Schlafzimmer" ').

Überhaupt entspricht die Bühne der englischen Komödianten völlig der Gaukelbühne des Mimus. Besonders lehrreich ist hier eine Innenansicht des Schwantheaters, die Gaedertz nach der Federzeichnung eines holländischen Kanonikus Johannes de Witt (vermutlich aus dem Jahre 1596) herausgab*).

Da ist die Bühne einfach ein grofser viereckiger Bretter- boden, der, genau wie bei der Phlyakenbühne. vorne auf zwei Pfählen ruht. Auf der hintersten Seite allerdings sind nicht mehr zwei Pfähle die Stützen. Dort ist an den Bretterboden, weil es schon ein stehendes Theater ist, ein grofser Anbau für die Schauspieler angebaut. Wie bei der Phlyakenbühne hatte diese Bretterplattform etwa Brusthöhe.

Sogar von dem Siparium ist noch ein Rest erhalten, das ist der Vorhang, der die hintere kleine Bühne von der vorderen grofsen scheidet. Er war wie das Siparium eine zweiteilige Gardine, vor welcher wie vor dem Siparium, wenn die hintere Bühne verhüllt war, gespielt wurde und hinter welcher die Schauspieler auf die eigentliche Bühne, wie die Mimen hinter dem Siparium hervortraten. So sehen wir auf einer alten Ab- bildung (aus dem Jahre 1662) des „Red Bull Theatre" den Hintergrund der Bühne gröfstenteils von dem zweiteiligen Vor- hange eingenommen. Vor diesem spielen auf der viereckigen, nach vorn weit ausladenden, auf den übrigen drei Seiten völlig freien Bühne sechs Schauspieler; der siebente schlägt eben die Gardine auseinander und will hinter ihr hervor auf die Scene

*) Ulrici, Shakespeares dramatische Kunst I3, S. 127. Vgl. auch Delius, Über das Englische Theaterwesen zu Shakespeares Zeit; ein Vortrag. Bremen 1853, S. 11 folg.

•) Zur Kenntnis der altenglischen Bühne. Bremen 1888. Vgl. a. a. 0. S. 14: „Die Plattform scheint nach den Dimensionen des ganzen Baues und nach der Gröfse der drei agierenden Personen etwa vier Fufs über dem Erdboden sich zu erheben, sodafs das Auditorium, welches hier stehend zu- schaute, nicht allzuviel die Bretter, welche die Welt bedeuten, überragte, ein grofser erwachsener Mensch ungefähr bis zur Brusthöhe*.

39*

612 Sechstes Kapitel.

treten1). Da haben wir das mimicum velum sub quo latent paradoxi 2).

Es ist bekannt, welche grofse Rolle im altenglischen Volks- drama und besonders im Shakespeareschen Schauspiel Musik und Tanz einnehmen. Häufig genug schauen wir bei Shakespeare Tänzen zu und hören Musik. Nicht anders im Mimus. Die mannig- faltigen Arien im Mimus wurden stets mit Musik begleitet, mit den Tänzen wird es ebenso gewesen sein. Neben den Mimoden und Mimodinnen stand stets ein Musiker, der ihnen aufspielte3); bald ertönten Flöten, bald auch Pauken und Cymbeln. Mimaule hiefs der Mimenflötner. In einem Epigramm wird der Flöten- bläser Theon als Musiker im Mimus und bei den Vorstellungen der Thymeliker gerühmt4). Der Mime, dessen Märtyrertod im

*) Siehe die Abbildung bei Kudolph Genee, Shakespeares Leben und Werke. Hildburghausen 1872. S. 77.

2) Allerdings ist dieses Siparium auf der englischen Bühne nur ge- legentlich im Gebrauch gewesen, es ist eben nur noch ein Rudiment; denn seinen Zweck, die Mimen vor ihrem Auftreten den Blicken der Zuschauer zu entziehen, erfüllte ja auf der stehenden englischen Bühne schon die Wand des Schauspielhauses, aedes mimorum, wie es de Witt auf seiner Zeichnung nennt.

3) So heifst es, Ath. 621b, vom Hilaroden: ipüXXei ö' ai/rai uqqtjv rj &r]Xua, <ag xal tqi avX(i)S(o und vom Magoden: rv/xnava e%ei xal xv{xßaXa.

4) 'HSvXov

Tovio Q£wv 6 fiovavXog vif r)qCov 6 yXvxvg olxel

avXrjTrjs, fiC/nwv xr)v &V[X 4X tjOl ^«pi?.

TvcfXog vnai yr\q(ag ofycoxs, ZxiqtiüXov vl6g,

vrjncov ov y' IxäXu JExtonaXog EvnaXa/xov,

xväa(v(ov ccvtoi Ta yeve'&Xia' tovto ycto efye,

rdv naXafidv ägSTav aloifia ar\fxavi(av.

HvXei de rXavxrjg fiifxs&vafxiva nalyvta Movoimv,

xal tov iv dxorßoig BärruXov TjdunÖTrjV,

rj tov KcoraXov, r) tov üäyxaXov dXXa &4wva

tov xaXafiavXriTTjV elnaTe, xa'Qs ö^wv.

Anth. Pal. III, S. 110. Was die Thymeliker betrifft, will ich hier auf die vortreffliche von Erich Bethe angeregte und ihm zugeeignete Dissertation von Frei hinweisen: „De certaminibus thymelicis" sowie auf Bethes Abhandlung: „Thymeliker und Skeniker". Hermes 36, 1901 , S. 597 folg. In dem Anhange des zweiten Bandes über die Verfassung der Mimentruppen werde ich Veranlassung

Form und Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 613

Jahre 287 die Stadt Antinous in Ägypten so sehr betrübte, war neben seiner Kunst als Mime zugleich ein guter Musiker, natürlich im Mimus (vgl. oben S. 179),

Claudian schildert in dem sechsten griechischen Epigramm eine Mime. Das häfsliche alte Weib hat sich wunderlich heraus- geputzt, das graue Haar aus dem Gesichte fortgekämmt und rote Schminke aufgelegt und nun tanzt sie, die Brüste ordent- lich aufgepolstert, im leichten Röckchen mit unter den Miminnen und schlägt mitjauchzend lustig ihre Castagnetten aneinander1). Es wird zwar vom Chor gesprochen, aber es ist natürlich nicht etwa an einen Chor im Stile des klassischen Dramas zu denken. Ich habe schon oben der Scharen von niederen Miminnen ge- dacht, welche die Bühne erfüllten, sie hatten vor allem zum Schalle der Musik lustige Tänze aufzuführen; wie man im modernen Drama oder der Oper gelegentlich ein Ballet einlegt. Die alte Mime bei Claudian gehörte eben zum Corps de ballet.

Wie im modernen Schauspiel mögen diese Ballettänzerinnen im mythologischen Mimus als Genien, Nymphen, Hören oder sonst etwas erschienen sein und in den biologischen Mimen, wo so vielfältige Feste, Hochzeiten, Gelage vorgeführt werden, war gleichfalls die Einlage eines lustigen Tanzes motiviert. Zwischen diesen mehr phantastischen und üppigen Tänzen wird es dann aber noch allerhand Charakter- und Grotesktänze von Seiten der Narren und Rüpel gegeben haben wie bei Shake-

haben, auch auf diese Fragen vom Standpunkte des Mimus aus einzugehen. Wir haben oben S. 303 schon darauf hingewiesen, dafs die Paegnia der Glauke mimische Paegnia, Mimodien, waren.

x) Eis fii/uäSa yt}Q(iaaaav xal xaXXaTH^Ofxfvrjv ryoxrv aXtufou{vr,v ra riöv ywa$xdv uuyyavtiuaitt. Ma^Xag tvxooici).oKJiv ävtväCovOa ;fop«fa«s, Msvya 7ia).).ouhoioi uväyuaai %aXxov uoäaatt. Ij ulv imoxXimsiv noXir]v rp(ya, yttxova AIol^s i\lt[xüjois [<5'\ axrTat xagclaotTctt ouuajog aiyr\. ipfvdöutvov 6' ?Qi&T)/*a xatiyQaxptv a^Qoos alöovg, uyXaiij ar(\paaa v6&tj xixalvuuivu utlrj.

Ludwich, Eudociae Augustae, Prodi Lycii, Claudiani carminum graecorum reliquiae S. 178.

614 Sechstes Kapitel.

speare, verlangt doch Choricius die Ausbildung im Tanze von allen Mimen. Ausdrücklich wird der Tanz für den Mimus auch bezeugt durch Dio Chrysostomus *).

So zeigt denn die alte Mimenbühne dieselbe Einfachheit wie das moderne Volkstheater. Nur ein Luxus ist auf der mimischen Bühne von den oben bezeichneten Personen, dem Liebhaber, dem cultus adulter und dann besonders von den schönen Miminnen getrieben worden: sie glänzten gerne in Prunkgewändern. Ganz derselbe Kleiderluxus hat bei den eng- lischen Komödianten im Gegensatz zur Dürftigkeit ihrer Scene geherrscht; und wenn der Philosoph Diogenes sein Purpur- gewand und den goldenen Kranz, den Ehrenlohn seines Königs, an eine Mimin wegschenkt, so borgten nach der Restauration König Jacob und seine Kavaliere den Komödianten ihre Krönungs- kleider2).

Da wir nun genug neues Material zusammengetragen haben, um wenigstens eine annähernde Vorstellung haben zu können von dem, was der Mimus in seiner höchsten Vollendung wirklich ist, müssen wir den Hellenismus auch hier preisen und verehren, wo man ihn so schnöde und so schmählich verkannt hat. Da der hohe, ideale Ernst der reinen, strengen Tragik nicht mehr eine Statt hatte auf dieser Welt, setzte das griechische Volk den göttlichen Humor an deren Stelle, den Humor, der auch in dem modernen Drama seit Shakespeare die gröfste Rolle spielt, und setzte an die Stelle der mythischen die biologische Welt- betrachtung, die gleichfalls im modernen Drama die herrschende geworden ist. Der Mimus, der es verstanden hat, realistische Biologie mit übermütiger Phantastik, Humor mit Ernst, Niedriges mit Erhabenem, Narrheit mit Weisheit, Narren und Rüpel mit Kaisern und Göttern, Prosa mit Lyrik, Volkssprache mit höchster

x) Er fährt unmittelbar an der oben S. 570, Anm. 3 citierten Stelle, wo er von Mimen in Vers und Prosa spricht, weiter fort: op/qff«? T* kqos rov- tois xaraXvtiv dasXyeTg, xal ff^jj^uara fraiqixä yvvaixwv Iv OQx^Otaiv, dxoXd- otois, ttvXt]fxüx(av ts cj-sts xal nuQavöfiovs qvd-fxovg x. t. X. Hier haben wir also auch wieder die Flötenmusik im Mimus.

2) Vgl. Elze, William Shakespeare, S. 264 u. Shakespeare. Jahrb. IV, 148.

Form nnd Art der mimischen Hypothese auf ihrem Höhepunkte. 615

Kunstsprache zu vereinen, er fand die freieren Formen der dra- matischen Dichtung wie der schauspielerischen Darstellung, in denen sich fortan auch das moderne Drama bis und seit Shake- speare bewegt hat, soweit es ein Volksdrama und ein Drama des lebendigen Lebens ist. Der Mimus ist in seiner höchsten Vollendung am Beginne der christlichen Ära das grofse moderne Drama der Antike, das Drama des griechisch-römischen Welt- reichs, das mit seiner Biologie dem damaligen Leben in der grofsen griechisch-römischen Kulturwelt gerecht wurde. So können wir auch die dämonische Anziehungskraft des Mimus verstehen und begreifen, wie es möglich war, über ihm Aeschylos und Sophokles, Euripides und Menander zu vergessen. Auch hier ist schliefslich , recht verstanden, die Weltgeschichte das Weltgericht gewesen.

SIEBENTES KAPITEL.

Karagöz.

(Der Mimus im Orient.)

Motto: Mit Aufmerksamkeit betrachte dieses Himmelsgewölbe

Diese Welt ist dem Schatten ähnlich für Kenner.

Was man äufserlich sieht, ist ein Vorhang,

Aber es ist eine Allegorie auf die Welt.

Wähne nicht, dieser Vorhang bestehe lediglich, aus Schattenbildern,

Wenn man ihn in Wahrheit betrachtet, ist er der Platz lehrreichen Exempels.

Die zeitlichen Vorgänge zeigt der Vorhang,

Was alles gekommen und vorübergezogen ist in ver- gangener Zeit.

Diese elende Welt ist keinem zum dauernden Aufenthalt beschieden,

Ohne Dauer hat geschaffen die Majestät, welche man um Beistand anfleht.

Alle, die kommen, gehen wieder, bis die Vernichtung eintritt.

Was man sieht, ist Schatten im Schatten.

Das ist von Gott unser bescheidenes Gebet.

(Prolog zu Schejtan dolaby ja^od Karagözün dschindschiliji. Die Teufelslist oder die Geisterbannerei des Karagöz. Jacob.)

I.

Die modernen Nachrichten Über Karagöz.

Wir haben gesehen, wie der Mimus in seiner eigent- lichen Heimat, im griechischen Osten, sich immer behauptet und weiter geblüht hat wie nur je in den Tagen seines alten Glanzes, zur Zeit Alexanders und der Diadochen und zu Phi- listions Zeit. Ich will die einzelnen Momente noch einmal hier

Die modernen Nachrichten üher Karagöz. 617

kurz zusammenfassen. Ich erinnere an den Christ ologischen Mimus:

275 starb der Mime Porphyrius als Märtyrer,

279 Gelasinus in Heliupolis,

284 Philemon in Antinous,

298 Ardalio,

362 zweite Porphyrius in Konstantinopel.

Am Ende des vierten Jahrhunderts schleudert Johannes Chry- sostomus seine Invektiven gegen den in Pracht und Herrlichkeit zu Antiochia und Konstantinopel blühenden Mimus. Der Mimus nimmt an den kirchlichen Streitigkeiten Anteil, und wie Chrysostomus selbst berichtet, werden seine Gegner, die Bischöfe Severianus und Antiochus, auf der mimischen Bühne verhöhnt, zweifellos aber Chrysostomus, der Feind des Mimus, in noch höherem Grade. Andere Kirchenväter, wie ein Bischof von Ephesus und wie Dioscoros, der Patriarch von Alexandria, waren dem Mimus geneigt (vgl. oben S. 154). Im fünften Jahrhundert peroriert des Chrysostomus Schüler, der Asket Nilus, gegen den über- mächtigen Mimus. Am Beginne des sechsten Jahrhunderts nimmt sich dann Choricius des Mimus mit der gröfsten Energie an. Wir lernen von ihm, wie der Mimus damals wie in den früheren Zeiten die grofse Bühne beherrscht und den Beifall des Volkes wie der Gebildeten hat. So geht es in Byzanz weiter durch die Jahrhunderte hin. Theophilus, der letzte der bilderstürmenden Kaiser (822—849) ward durch die Mimen an Recht und Ge- rechtigkeit gemahnt (vgl. oben S. 191). Noch Michael Psellos (elftes Jahrhundert) tadelt seine Studenten wegen ihres gar zu grofsen Eifers für den Mimus, der sie das Colleg schwänzen läfst (vgl. oben S. 153), und ärgert sich über seinen Schwieger- sohn, der trotz seiner hohen Stellung mit den Mimen lebt (vgl. oben S. 166), Prodromus (zwölftes Jahrhundert) heifst voller Zornes die Gelahrtheit sich zum Teufel scheren, da sie nur Not und Armut bringt. Nur die Mimen gewinnen Geld und Ehre (S. 162 u. 163). Zonaras (Anfang des zwölften Jahrhunderts) berichtet von Mimen, die auf dem grofsen

61g Siebentes Kapitel.

Theater aufgeführt wurden, also von Hypothesen (S. 134 folg.). Desgleichen spricht Manuel Philes (um 1300) von den Mimen, die im Theater vorgeführt werden (S. 135). Vergessen habe ich noch den byzantinischen Prokonsul Theodorus, der dem ver- storbenen Mimologen Tityros Ehre und Ansehen auch in der Unterwelt verspricht (S. 156).

Also der Mimus hat in Byzanz bis ans Ende des Mittel- alters geblüht. Dieser byzantinische Mimus, der das aktuelle byzantinische Leben kritisierte und illustrierte, der, wie er einst die Christen verhöhnt hatte, später an allen christlichen und kirchlichen Streitigkeiten teilnahm, der sich nicht scheute, Mönche und Nonnen vorzuführen, der aber ebenso auch alle die zahlreichen Typen und Figuren verschiedener profaner Stände und Berufe, Nationen und Rassen, die sich auf dem völker- wimmelnden Bazar des hellenischen Byzanz, wie heute - des türkischen Stambul drängten, mimisch abkonterfeite so ist uns z. B. der Araber und der Armenier als Typus des byzan- tinischen Mimus direkt überliefert (vgl. S. 134, Anm. 4) , dieser byzantinische Mimus schilderte wie der hellenische über- haupt die Gegenwart. So bildete er einen bedeutsamen Gegen- satz zur byzantinischen Gelehrsamkeit, Theologie, Philosophie, Philologie, die wesentlich nur in der Vergangenheit lebte. Aber als den Klassiker des Mimus nannte man durch alle diese Jahrhunderte hin doch immer Philistion, der schliefs- lich als der wahre Weise und Philosoph galt. Wie viel würde uns dieser byzantinische Mimus von der damaligen Kultur und dem damaligen Volksleben lehren; um so bedauerlicher ist, dafs wir aufser den Nachrichten bei Choricius nichts Näheres über ihn erfahren. Doch wie der Mimus in der alexandrinischen Epoche sich ins Lateinische umgewandelt hat, so hat er gegen das Ende der byzantinischen Ära noch einmal eine höchst selt- same Metamorphose mit sich vorgenommen. In dieser Meta- morphose hat er sich bis auf unsere Tage erhalten, und in ihr werden wir seiner noch heute habhaft.

Im islamischen Oriente, vornehmlich bei den Türken, giebt es ein merkwürdiges Puppenspiel „Karagöz", das erst in den

Die modernen Nachrichten über Karagöz. 619

letzten Decennien näher bekannt geworden ist1). Man hat es mit unserem Kasperletheater, auch mit der Commedia dell' arte,

J) Allerdings berichtet darüber im 17. Jahrhundert schon der fran- zösische Reisende Thevenot, wie Jacob, Karagözkomödien, 1. Heft, S. IV, be- merkt (der VI. Jahresbericht der geographischen Gesellschaft zu Greifswald 1896 war mir nicht zugänglich). Ich setze diese Stelle aus der deutschen Über- setzung des Thevenotschen Reiseberichtes (Frankfurt a. M. 1693) Erstes Buch, S. 48 u. 49, hierher: „Es deucht mich, dass ich mit unter ihre Ergötzlich- keiten die Marionetten oder Gaucklers-Püppgen rechnen könne, denn obwol die Türeken gantz keine Bilder bey ihnen leyden, so unterlassen sie doch nicht solche Puppen zu haben, mit denen sie zwar nicht öffentlich spielen, aber doch besonders in Häusern, ob sie schon in wehrenden Ramadan die Nacht von einer Cahvehane zu der andern gehen, und wenn sie daselbst viel Geld bekommen, damit agiren, wo nicht, dasselbe wieder geben und davon gehen. Es seynd gemeiniglich Juden, die diese Marionetten auff führen, und ich habe keine andere gesehen, alleine sie gepaaren darmit gantz anders als in Franck- reich; Sie setzen sich in der Cammer in einem Winckel, und nach dem sie einen Teppich vor sich gezogen haben, in welchem oben ein Durchschnitt oder viereckigt Loch, mit einem Stück weisser Leinwad ohngefehr 2. Schuch vermacht ist, zünden sie darhinder viel Lichter an, und wann sie auf diesem Tuche mit dem Schatten ihrer Hände unterschiedene Thiere vorgestellet haben, so brauchen sie kleine schlechte Bilder, die hinter solcher Leinwad von ihnen so artig bewegt werden, dass dieses, meinen Erachten nach, eine bessere Vorstellung giebt als die unsere, und singen immittelst allerhand Lieder in Türckischer und Persianischer Sprache, derer Inhalt aber mit sehr unflätigen und unerbaren Schand-Possen angefüllet ist, und dennoch haben sie grosse Lust dieselbe mit anzusehen, wie mich denn ein Abgefallener, bey dem ich eines Abends zu Tische war, mit dergleichen Puppenspiel rega- liret. Der Herr, dem er zustünde, war damaln in Candia bey dem Hussein Bassa, Generain der Türckischen Armee. Desselben Frau, welche auch Theil an der Erlustigung dieser Puppen haben wolte, liefs einen Teppich vor die Thür ihres Zimmers, das dem Saale, wo wir uns auffhielten, gegen über lag, ziehen, damit sie nicht von uns gesehen werden möchte und gieng nicht ehe weg, biss das Spiel seine Endschafft hatte, welches dann, weiln es über drey gantzer Stunden gewehret, umb 1. Uhr Nach-Mitternacht geschähe. Dann sie können es so lang verschieben als sie wollen; und ich wunderte mich, dass die Frau sich nicht geschämet hatte diese Unflätereyen mit anzusehen, die ihr Caragheuz, die Principal-Person unter diesen Poppen machte." Aus- führliche Berichte und Abhandlungen über das Karagözspiel finden sich aber erst sehr viel später:

1854 bei Rolland, La Turquie contemporaine. 1862 bei Gerard de Nerval, Voyage en Orient.

620 Siebentes Kapitel.

ja, selbst mit den burlesken Scenen der aristophanischen Komödie verglichen und sich Karagöz, dem türkischen Lustigmacher, gegen- über an Harlekin und Pulcinell, Scapin und Turlupin, an Kasperle und auch an den ungarischen Paprika -Jancsi erinnert. Nur steht unser Kasperlespiel auf einer niedrigeren Stufe wie die islamische Puppenkomödie, die in ihren besten Leistungen der italienischen Commedia dell' arte nicht viel nachgiebt.

Im Fastenmonat Ramasan, in dem die Mohammedaner den Tag verschlafen und die Nacht zum Tage machen, finden in den Städten des türkischen Reichs Karagözaufführungen statt1). Schon

1870 bei von Maltzan, Reise in den Regentschaften Tunis und Tripolis

Bd. I, S. 232-238. 1882 bei Jean Lux, Trois mois en Tunisie. 1884 bei Paul Arene, Vingt jours en Tunisie.

1888 bei Champfleury, Histoire de la Caricature 6, S. 1 116, wo sämtliche französische Quellen über Karagöz sorgfältig zusammengestellt sind. Eine eindringende, wissenschaftliche, auf gelehrter Kenntnis des Türkischen und Arabischen basierende Erforschung des Karagöz ward erst in der letzten Zeit durch Künos, von Luschan und Jacob begonnen.

1886 veröffentlichte Künos unter dem Titel Haran Karagös Tätek den Text dreier Karagözstücke mit ungarischer Übersetzung.

1887 Künos, Über türkische Schattenspiele („Karagös"). Ungarische Revue, VII. Jahrgang S. 425—435.

1889 von Luschan, Das türkische Schattenspiel, Internationales Archiv für Ethnologie Bd. II, S. 1—9, 81—90, 125-143.

1892 Künos, Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn, Bd. II, S. 148—158.

Text und Übersetzung des Salyndschak ojunu. 1899 Jacob, Karagöz -Komödien, Heft I „mit einer (sehr gelehrten und

scharfsinnigen) Einleitung über das islamische Schattenspiel versehen",

Heft II Heft III.

Erwähnen will ich noch Quedenfeld, Das türkische Schattenspiel im Magrib. Ausland, Jahrgang 63 (1890), S. 904ff.

Vornehmlich folge ich hier Jacob, von Luschan und Künos, wenn ich auch mit Vorsicht hier und da die Berichte der Reisenden, die des Türki- schen und Arabischen garnicht oder nicht vollkommen mächtig waren, inso- fern ich sie durch die Untersuchungen der drei genannten Gelehrten be- stätigt gefunden habe, und Champfleury heranziehe.

x) Allerdings finden Karagözaufführungen auch bei sonstigen Festen und Lustbarkeiten statt, so bei Beschneidungen und Hochzeiten (vgl. Murad

Die modernen Nachrichten über Karagöz. 621

an den Vormittagen werden an den Caf6s, in welchen Vorstel- lungen stattfinden sollen, Plakate mit bunten Karagözfiguren aus- gehängt. Nach Eintritt der Dunkelheit beginnt das Schauspiel. Eine Ecke des viereckigen Gemachs ist durch eine spanische Wand abgetrennt. In ihr befindet sich ein viereckiger Ausschnitt (perde), der mit einem weifsen Leinen oder weifsem Ölpapier überspannt ist. Das Innere dieses Verschlages oder Kastens, der an unsere Kasperlebuden erinnert, wird durch eine Öllampe gleichmäfsig erhellt, welche die Puppen beleuchtet und ihre Schatten auf den weifsen Vorhang wirft. Drei Personen pflegen im Räume dieses Kastens zu agieren, der Puppenlenker, der Karagödschi oder Hajaldschy (Schattenspieler) und zwei Musi- kanten; manchmal macht der Hajaldschy die Musik auch selbst1).

Wenn das Spiel beginnen soll, drückt er die bunt bemalten, aus Kameelleder geschnittenen, mit Gelenken versehenen Figuren3) gegen den weifsen Vorhang. Damit ist die Scene eröffnet.

Die Hauptfigur ist Karagöz3); sein Gegenspieler ist Ha- dschievad. Aufserdem erscheinen vornehme Herren, der Sultan und Pascha, Bankiers und Kaufleute, Beamte und fremde Ge- sandte, daneben niederes Volk, Derwische und Pilger, Polizisten, Schulmeister, Bauern, Höker, Kneipwirte, Zuhälter, Ausrufer, Lastträger, Holzhacker, Fischer, Eseltreiber, Schiffer, Ruder- knechte, Diebe und Räuber, neben der verheirateten Frau und ihren Töchtern Mägde, Hetären und Tänzerinnen. Es finden sich Perser und Araber, Griechen und Franken, Lasen, Arnauten, Armenier, Juden und Neger. Jede dieser Typen spricht ihren

Efendi, Türkische Skizzen S. 217, vgl. auch S. 93). Überhaupt wird an regnerischen Winterabenden in den Hafenstädten gewöhnlich in irgend einer Matrosenkneipe Karagöz gespielt (vgl. von Luschan a. a. 0. S. 1).

x) Vgl. die eingehende Beschreibung bei von Luschan a. a. 0. S. 2—5.

2) Vorzügliche Abbildungen von nicht weniger als 38 Figuren finden sich bei von Luschan ; auch bei Champfleury sind mancherlei Figuren in den Text eingestreut; doch sind dort sogar die Hauptpersonen Karagöz und Hadschievad, wie der Vergleich mit Luschan lehrt, verwechselt.

3) Schon zur Zeit von Thevenots Reise (1652) war also die Einrichtung des Karagöz wie auch der Name identisch.

622 Siebentes Kapitel.

besonderen Dialekt. Auch allerhand Tiere und Ungeheuer spielen mit. Dieses türkische Puppenspiel giebt ein getreues, realistisch- humoristisches Bild des türkischen und des orientalischen Lebens überhaupt.

In allen Städten und Plätzen des weiten türkischen Reiches ist dieses volkstümliche Schauspiel verbreitet, selbst in Arabien, Ägypten, Tunis und Tripolis findet es sich, natürlich in arabischer Sprache; es giebt sogar von ihm eine persische Abart1).

Wo stammt dieses burleske Volksdrama des islamischen Orients her, das eine so überaus singulare Erscheinung ist, da der Orient von Indien und Indonesien, China und Japan sehen wir hier vorläufig ab eigentlich keine Schauspiele hat2)?

Schon Champfleury hat sich die gröfste Mühe gegeben, dieses Problem zu lösen. Er hat sich bei allen französi- schen Orientalisten danach erkundigt, aber das Resultat war

J) Vgl. Chodzko, Theätre persan. Paris 1878, S. XV folg.

2) Vgl. darüber oben S. 80. Hierüber will ich noch die treffenden Be- merkungen Murad Efendis, dieses so hervorragenden Kenners des Orients, geben (S. 93— 94): „Das Drama hat im ganzen Orient niemals eine Stätte gefunden. Namentlich weist die Literatur der Mohamedaner nirgends einen dramatischen Versuch auf. Selbst die Araber, voreinst im Mittelalter die Leuchten der Bildung, haben diese Dichtungsform nie berührt, obschon ihnen die Anregung hiezu von den alten Griechen hätte kommen müssen. Der Hauptgrund dafür dürfte darin liegen, dass das Übersinnliche den Muselmanen eben näher steht, als das rein Menschliche. Ihr öffentliches, sowie ihr privates Leben, dem immer eine gewisse Dosis Opium beigemengt scheint, lässt sich überdies wenig dramatisch an. Der innerlich tragische Confiikt ist bei ihnen auf ein Minimum von denkbaren Fällen beschränkt. Ihr „Es ist geschrieben" und „Wenn es Gott will" ist denn doch verschieden von dem Fatum der alten Griechen, das sich sinnlich und sozusagen in menschlicher Gestalt äusserte. Für Mummereien im weiteren Rahmen waren sie zu ernst und die Darstellung von Mysterien hätte ihr streng religiöser Sinn niemals ge- stattet. So finden wir bei ihnen nirgends jene Anfänge, aus denen sich die Bühne der meisten abendländischen Völker entwickelt hat, um sich später, zumeist nach griechischem Vorbild, weiter zu bilden. Und selbst die Perser, die hier wie bei der bildlichen Darstellung weiter gehen als die übrigen Mahomedaner, und die Passionsgeschichte Hassan's und Hussei'n's, der Söhne Alis, in der Weise unserer Mysterien darstellen, sind über diese Anfänge nie hinweggekommen".

Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel. 623

negativ1). Im Grunde glaubt man heute, weil das Schatten- spiel in China, Japan, Siam, in Indonesien und besonders auf Java heimisch ist, der Karagöz stamme aus Ostasien2). Aber auch hierfür hat sich sonst nicht der mindeste Beweis erbringen lassen. Im Gegenteil macht Jacob geltend, dafs gerade die Ost- türken den Karagöz nicht haben'). Das Einfachste wäre es also, die Karagözspiele , die humoristisch -dramatischen Äufserungen des türkischen Volkstumes, als türkische Erfindung anzusehen. Dazu scheint Künos zu neigen, wenn man die Bemerkung pressen darf: „Letztere Erscheinung (Karagöz) ist hauptsächlich deswegen interessant und bemerkenswert, weil kein anderes islamitisches Volk im Oriente derartige, wenn auch noch so elementare An- fänge einer dramatischen Dichtkunst aufzuweisen hat"*). Aber wer möchte eine solche Erfindung vor allen islamitischen Völkern gerade den in der Poesie so wenig begabten und er- findungsreichen Türken zutrauen?

IL

Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel.

Für jeden, der mit uns die Entwicklungsgeschichte des Mimus vom uralten, mimischen Tanze her bis zum alexandrini- schen, griechisch-römischen und byzantinischen Mimus verfolgt hat, ist dieses grofse Problem erledigt. Der byzantinische Mimus hat im Reiche der Rhomäer geblüht, als die Türken es im Laufe der Jahrhunderte allmählich eroberten. In allen türkischen Städten, in denen heute Karagöz vor dem jubelnden Volke seine Possen treibt, gab vorher der Mime seine Späfse zum Besten; in ihnen hat Karagöz einfach den hellenischen fitfiog yeXoicov abgelöst. Mit den Schätzen dieser Städte ge- wannen die Türken auch den byzantinischen Mimus, nur dafs

lj Vgl. a. a. 0. S. 17.

3) Vgl. von Luschan a. a. 0. S. 139—140.

s) Heft I, S. in und IV.

*) a. a. O. 8. 425.

624 Siebentes Kapitel.

er bei ihnen türkisch sprechen mufste, wie er vor V/2 Jahr- tausenden bei den Römern lateinisch sprechen lernte. Der hellenische Miraus mit seinem mimischen Tanz und seinem Ge- berdenspiel machte sich von vornherein auch den Barbaren leicht verständlich. Und wie die Mimen einst das Interesse der Römer und der Gothen gewannen, so errangen sie auch den Beifall der Türken und ihrer Sultane1). Die byzantinischen Mimen hatten Zeit genug dazu; denn jahrhundertelang bestand die türkische Macht neben der byzantinischen; bis endlich Byzanz in der Türken Gewalt fiel (1453). Da ward Kon- stantinopel die Hauptpflegestätte des Karagöz, wie es früher die des Mimus gewesen war. Bis zu Konstantinopels Fall, vielleicht noch kurze Zeit darüber hinaus, existiert der byzantinische Mimus. Im Jahre 1652, also zwei Jahrhunderte später, wird uns durch Thevenot bestätigt, dafs es ein altes Volksschauspiel, „Karagöz", bei den Türken gab. Der Karagöz schliefst sich also unmittelbar an den byzantinischen Mimus an; es klafft dort keine Lücke, und die Ähnlichkeit dieser türkische Fortsetzung des hellenischen Mimus mit ihrem Urbilde ist so aufserordent- lich, dafs wir auch ohne jedes Zeugnis den Zusammenhang zwischen Karagöz und Mimus für gesichert ansehen könnten2).

*) So ist andererseits heute noch der Karagöz mit seinen mimischen Gebärden den Reisenden nicht ganz unverständlich, auch wenn sie wenig oder garnicht Türkisch können.

2) Für das hohe Alter des Karagöz (zu deutsch „Schwarzauge") spricht es auch, dafs dieser Harlekin seinen Namen von Bahü-ed-Din Qaraqüsch, einem bei dem grofsen Saladin in höchsten Ehren stehenden Staatsmanne hat, der nach seinem Tode (1201) wegen seiner Thätigkeit als höchster Richter in Ägypten von einem Feinde in dem „Buch des Hohlschädels über die Entscheidungen des Qaraqüsch" verspottet wurde. Das hat Casanova „Karakoüch, sa legende et son histoire" Communication faite ä l'Institut egyptien, Le Caire 1892 und „Karakoüch" Memoires publies par les membres de la mission archeologique francaise du Caire, Tome sixieme, Paris 1897, S. 447 folg. bewiesen. Vgl. auch Jacob a. a. 0. Heft I, S. VII. In diesem Pamphlet wurden allerhand alberne, nichts weniger als salomonische Urteile des Qaraqüch aufgeführt. Daraus wurde schliefslich durch Hinzufügung allerhand lustiger Schnurren eine Art Volksbuch, etwa im Stile des Philo-

Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel. 625

Aber es fehlt selbst nicht einmal dieses direkte Zeugnis. Als Manuel Palaeologus an den Hof des Türkensultans Bajazet als Gesandter kam, fand er dort Scharen von hellenischen

gelos. Das mögen ein paar von diesen Schnurren erläutern, die ich aus Casanova S. 485 folg. übersetze:

Ein kurdischer Soldat war in eine Barke gestiegen, in welcher ein Landmann mit seiner Frau sich befand, und schlug die Frau, welche im siebenten Monat ging, so roh, dafs sie eine Fehlgeburt zur Welt brachte. Auf die Klage des Landmannes verurteilte Karagöz den Soldaten, die Frau zu sich zu nehmen, sie zu ernähren, bis sie im siebenten Monat ginge, und sie dann dem Gatten wiederzugeben. Da sagte der Landmann: „Herr, ich nehme meine Klage zurück und vertraue mich der Gerechtigkeit Gottes an". Dann nahm er seine Frau und ging davon.

Zur Zeit des Karagöz war etwas gestohlen; die Besitzer trugen ihm ihre Klage vor, und er fragte sie, ob die Strafse, in welcher sie wohnten, durch ein Thor geschlossen sei. Auf ihre bejahende Antwort liefs er das Thor zu sich bringen und befahl, es zu schliefsen. Während man seine Befehle vollstreckte, legte er sein Ohr an das Thor und sprach leise mit ihm. Darauf liefs er die Bewohner der Strafse kommen und sagte zu ihnen in Gegenwart des Thores: „Dieses Thor hat mir gesagt, dafs derjenige, welcher die Sache gestohlen hat, eine Feder auf dem Kopfe hat". Der Dieb, welcher dabei war, führte unwillkürlich die Hand nach dem Kopfe. Karagöz sah es und liefs ihn prügeln, um von ihm ein Geständnis zu erhalten. Der gestand den Diebstahl und gab die gestohlene Sache zurück, welche Karagöz ihrem Eigentümer zustellen lief?.

Jährlich setzte er für Almosen eine beträchtliche Summe au?. Als die Summe erschöpft war, kam eine Frau, erzählte ihm, dafs ihr Mann gestorben sei, und dafs sie kein Leichentuch habe, um ihn zu bedecken, und bat ihn, er solle ihr eines geben lassen. „Die Summe ist für dieses Jahr erschöpft*, sagte er, „komme im nächsten Jahre wieder; dann werde ich dir ein Leichentuch geben lassen." Die Frau ging verblüfft zu ihrem Toten, bedeckte und begrub ihn.

In Misr (Foustät) gab es einen Kaufmann, welcher habgierig war, und sein Sohn borgte viel, indem er seineu Tod erwartete. Aber die Schulden wuchsen, und der Vater starb nicht. Der Sohn kam also mit seinen Gläubigern überein, ihn lebendig zu begraben. Die Gläubiger kamen also mit ihm, nahmen den Vater, wuschen ihn, deckten ihn zu und legten ihn auf eine Bahre. Vergebens bat und schrie er. Man versammelte sich um seinen Sarg wie zu einem dhikr [einer religiösen Ceremonie, bei der man viel schreit], schrie um ihn und betete. Es traf sich, dafs Karagöz vorbeiging. Er steigt (vom Pferde) herab, um xu beten. Der Tote hört es und schreit: „Gott sei gelobt; die Befreiung naht." Er richtet sich auf seinem Platz auf der Bahre auf und sagt: „Herr Sultau, gieb mir Recht

Reich, Mimus. aq

626 Siebentes Kapitel.

Mimen1); sobald diese türkisch sprachen, war aus dem Mimus der Karagöz geworden.

Des Mimen Wahrzeichen ist der Phallus. Ihn trägt der alt- hellenische Mime, wie der alexandrinische und byzantinische. Ihn tragen alle Abkömmlinge des Mimus, der alte Komöde wie der Phlyake, der Atellanenspieler wie der lateinische Mime, und weil Karagöz ein Abkömmling des Mimen ist, trägt auch er ihn noch heute 2).

gegen meinen Sohn, der mich lebendig begraben will". „Wie", ruft er, „du willst deinen Vater lebendig begraben?" „Er verläumdet micb, Herr Sultan; wenn ich ihn gewaschen habe, so geschah es, weil er tot war; wenn ich ihn herausgetragen habe, so geschah es, weil er tot war. Die Dabei- stehenden werden das bezeugen". „Ihr bezeugt das?" sagt Karagöz zu den Umstehenden. „Wir bezeugen das, was der Sohn gesagt hat". Darauf wendet sich Karagöz zu dem Toten und sagt: „Dir allein soll ich glauben, um alle diese Leute Lügen zu strafen? Lafs dich ohne weitere Widerrede begraben. Wenn die Toten mit uns thun könnten, was sie wollten, dann würden wir jetzt keinen Toten mehr begraben". Man trug ihn also fort und begrub ihn auf die Verantwortung des Karagöz hin.

Erinnern wir uns an die beiden Scholastici bei Philistion, die gerne ihren Vater beerben möchten und beschliefsen, jeder den Vater des andern totzu- schlagen, oder noch besser an den Scholasticus, der, als sein Vater sich schon dem Tode nähert, seine Freunde zum Begräbnis bestellt; als sie sich ein- stellen, und der Vater ist noch nicht tot, sagt er zu ihnen, da sie sich ärgern, umsonst gekommen zu sein, sie sollten am folgenden Tage wiederkommen, da werde er den Vater begraben, ob er nun tot sei oder nicht. Das sind dieselben mimicae ineptiae wie im „Buche des Hohlschädels". Es ist lustig genug! Den Helden dieser orientalischen mimicae ineptiae machten die Moslims zur Hauptperson in ihrem Mimus, und wir wieder erkennen an dieser mimischen Art der Witze im Philogelos, dafs sie aus dem griechischen Mimus stammen. Es läfst sich schwer sagen, ob diese merkwürdige Ähnlich- keit der letzten arabischen Geschichte mit mimischen Erfindungen nicht etwa doch auf direkter Entlehnung beruht. Der Mimus hat in Ägypten immer eine Hauptpflegestätte gehabt und bis tief ins Mittelalter dort ge- blüht; die Araber haben ihn dort gefunden. So findet sich in „Tausend und eine Nacht" z. B. auch das Motiv der durchbrochenen Wand aus dem Miles gloriosus, wie W. Bacher Ztschr. d. D. M. G. 30, 143 ff. und Rohde „Über griechische Novellen" S. 67 jetzt auch Der griech. Roman2 Anhang, ge- zeigt haben.

J) Vgl. oben S. 202.

2) Abbildungen des phallophorischen Karagöz siehe bei von Luschan a. a. 0. Jacob (Heft I, S. XIII) spricht von der Phallophorie des Karagöz

Übergang des byzantinischen Mimus zum Karagözspiel. 627

Wenn man Karagöz sieht mit dem Phallus, das mimische Prügelholz in der Rechten, an dessen Stelle er allerdings nicht selten sein Wahrzeichen selber schwingt, mit der knappen, all- täglichen Kleidung der niederen Klassen, wie sie einst der Mime trug, dann sieht man den alten fitfiog ysXoiatv vor sich. An Stelle des Trikots des Mimen trägt er die eng anliegenden Hosen, an Stelle der kurzen, griechischen Exomis trägt er einen ebenso kurzen, eng anliegenden Kittel, unter dem der Phallus wie beim hellenischen Mimen zum Vorschein kommt; nur die Beine sind lederbraun gehalten und erinnern, wie das hellenische Trikot, an die menschliche Hautfarbe. Dieselbe Farbe zeigen auch die Arme, die bei Karagöz, wie beim alten Mimen, nackt sind. Allerdings trägt Karagöz als guter Türke einen Turban. Doch auch die Römer versahen ja ihre Mimen mit besonderen, latei- nischen Merkmalen und unterschieden vom lateinischen stupidus den stupidus graecus. Nun aber ist dieser Turban mit dem Hinterhaupte des Karagöz durch ein Gelenk verbunden, so dafs er heruntergeklappt werden kann. Wenn ihm dann in einer der zahlreichen Prügelscenen sein Turban heruntergehauen wird, dann ist er mit seinem glattrasierten Schädel der alte stupidus graecus, der hwqös (falaxQÖg, der kahle Narr, Zug für Zug1).

Ja, in Persien hat Karagöz noch das typische Symbol des kahlen Narren im Mimus, eben die Kahlheit, immer und un- veränderlich beibehalten. Er kann im persischen Puppenspiel seine Tracht ändern, wie er will und bald in den Kleidern eines Bettlers oder eines Derwischs oder eines Kaufmanns auftreten, nur einen unbedeckten kahlen Kopf mufs er unbe- dingt haben. Das ist sein Erkennungszeichen, darum hat er

als „von einer bereits vielfach beseitigten Äufserlichkeit, welche das türkische Schattenspiel mit der antiken Komödie teilt*. Maltzan sagt a. a. 0. S. 233: „Karagus . . eine höchst seltsam geformte Persönlichkeit, welche mit dem „Gott der Gärten" bei den Alten eine auffallende und unanständige Ähn- lichkeit besitzt". Auch alle übrigen Kenner des Karagöz wissen davon zu berichten.

x) Wie solch ein kahler Narr im Türkischen aussieht, verdeutlicht uns sehr gut die Abbildung Nr. 30 bei von Luschan.

40*

628 Siebentes Kapitel.

auch ein für alle Mal den Namen „Kahler Held", eben mimus calvus ').

Wenigstens eine Figur im türkischen Karagöz hat nun aber noch die hellenische Tracht ganz und gar beibehalten. Ich setze sie hierher:

Da haben wir den hellenischen Helm, die griechischen Sandalen und die bis zum Knie nackten Beine, den anliegenden

x) Vgl. Chodzko, Theatre Persan S. XV: Le he'ros populaire persan du Karaguez s'appelle Ketchel Pehle'van (heros chauve). II ria pas de costume parti- culier. La calvitie est son attribut distinctif, comme la bosse eelui de Polichinelle. Quant au caractere, Ketchel Pehlevan ressemble beaucoup au Pulcinello de Naples. S. XVI: Seines de Marionettes Persanes. Küchel Pehlevan se rend cliez un Äkhond (che/ d'une paroisse). La manifre dont il se presente excite dejh la gaietC du public. Per sonne rtaurait reconnu Ketchel s^il n^etait pas chauve, car il a maintenant tous les dehors du plus pieux des musulmans. 11 pourrait servir de modele ä un Cheikh-ul-Islam (archimolla). Chodzko erzählt dann weiter, wie der kahle Narr als Erzpriester in einem fort seufzt und betet und Verse des Korans im besten Arabisch hersagt. Sein geistlicher Bruder in Mahomed fühlt sich aufs höchste erbaut, sie stehen und singen zusammen. Schliefslich besingen sie die Freuden des Paradieses mit den gazellenäugigen Huris und

Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 629

Brustpanzer, der hier sonderbarerweise rot gezeichnet ist. So werden die Soldaten und die Helden im byzantinischen Miinus aufgetreten sein. Der Träger dieser griechischen Rüstung heilst Kör-oghlu (Herakles?) und ist ein grofser türkischer Held1).

HI. Typen des hellenischen Mimus im Karagöz.

Wir wollen ein wenig näher auf die einzelnen Typen im türkischen Mimus eingehen. Karagöz und sein Gegenspieler Hadschievad dürfen in keinem Stücke fehlen, so sehr auch alle andern Typen und Figuren wechseln.

dem feurigen Wein. Sie begeistern sich immer mehr, sie empfinden einen Vorgeschmack des Paradieses, der Rosenkranz entfallt ihren Händen, sie tanzen, sie trinken; denn irgendwie finden sich plötzlich in dem Zimmer des geistlichen Herrn, den der kahle Narr besucht, eine Guitarre und einige Flaschen guten Weines ; sie betrinken sich schliefslich ganz gehörig. Chodxko schliefst damit, die eindringende Realität und Wahrheit dieser mimischen Biologie und Ethologie für die persischen Verhältnisse anzuerkennen: On vit ä la maniere de Küchel Pehleran et honni soit qui mal y perue! Wir denken daran, wie noch in spät byzantinischer Zeit den Mimen unaufhörlich ver- boten werden mufste, in geistlichen Gewändern zu erscheinen, erinnern uns auch an den Augur und den Küster im römischen Mimus und an den Tempel- diener bei Herondas im vierten Mimiambus.

1) von Luschan identifiziert ihn wegen des Namens mit Herakles. Dafür würde der Löwe sprechen, den Kör-oghlu bändigt wie Herakles den nemei- schen Löwen. Dagegen spricht, dafs Herakles nicht mit Helm und Panzer, sondern immer in der Löwenhaut auftritt, zumal im hellenischen Mimus. Ich verweise auf Heydemann a. a. 0. Abbildung Nr. M. Ob die Byzantiner ihn sich etwa gelegentlich auch in Helm und Panzer vorstellten, die Frage ist schwer zu entscheiden. Dennoch ist die Identifizierung von Kör-oghlu und Herakles zumal nach dem, was von Luschan über ähnliche Türkisierung hellenischer Ausdrücke bemerkt, sehr ansprechend. Bedenklich bleibt, dafs sich in der Sage von Kör Oglu sonst nichts eigentlich Herakleisches findet, wie von Luschan a. a. 0. S. 7 selbst bemerkt. Leider sind sonst weder Künos noch Jacob noch Champfleury auf die Figur von Kör-oghlu eingegangen. Doch mag es nun mit Kör-oghlu sein, wie es wolle, für uns ist das Beibehalten altgriechischer Tracht im türkischen Mimus beweisend.

630 Siebentes Kapitel.

Karagöz ist der echte titfiog ysXoicov. Bei aller scheinbaren Einfalt ist er der eigentlich Schlaue, er ist zwar ein Narr, aber einer von der lustigen, übermütigen Art. Alle andern Personen sind nur dazu da, um von ihm verspottet, verlacht, verhöhnt und zum Schlüsse verprügelt zu werden. Er ist der derisor im Mimus, wie Martial den berühmten Mimen Latinus nennt *),* er ist die Verkörperung des rechten Mutterwitzes, der Volksironie und des Volkshumors in demselben Mafse, wie es der hellenisch-römische Sannio war2).

Hadschievad, der typische Gegenspieler des Karagöz, ist dagegen der eigentliche dumme Narr, der Tölpel. Freilich kommt er sich Karagöz gegenüber als der Klügere und Gebildetere vor. Er hat sozusagen studiert, er kann schreiben, er ist so eine Art Efendi und spricht die vornehme, türkische Umgangs- sprache, das Efendi-Türkisch , während Karagöz natürlich nur das eigentliche Türkisch, die gute, rechte, türkische Volkssprache versteht3). Es ist höchst belustigend, die gespreizten Phrasen

i) Vgl. oben S. 54.

2) Wenn man diesen türkischen Mimen alle Welt zum besten halten und verspotten und ihrer Narrheit überführen sieht, versteht man noch mehr, wie der Sillograph Timon den Sokrates, den derisor omnium, einen Mimen schelten konnte.

3) Vgl. darüber die feinsinnigen Bemerkungen bei Künos a. a. 0. S. 433 und 434 : „die türkisch-osmanische Volkssprache . . teilt sich in zwei Haupt- zweige: Die rumelische (europäische) und die anatolische (kleinasiatische), welche Beide sich wieder in viele weniger bedeutende Dialekte verzweigen. Die rumelische Sprache ist die „intsche dil" d. h. die feine Sprache, die Sprache der Osmanen, und anatolisch ist die „kaba dil", die grobe Sprache, deren sich die Türken, die Bauern Anatoliens, bedienen .... Der geschulte Efendi, mit seinem gezierten Gemisch von persisch-arabisch und einigen türkischen Brocken, spricht weder die „intsche dil" noch die „kaba dil". Für ihn sind alle Volkssprachen „Kaba diller", d. h. grobe Sprachen im Vergleich zu seiner Efendisprache, welche auch als Literatursprache dient. . . . und die anatolischen Bauern verstehen die Stambuler Efendisprache mit keinem Worte. . . . Der satyrische Karagös ist der Repräsentant der ver- achteten Volkssprache, sein Gegensatz ist Hadschewat, welcher gerne in ge- spreizter Weise das Efenditürkisch parlirt und dabei von Karagös rücksichts- los verspottet und parodirt wird. Die an Wortspielen und Redewendungen

Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 631

des guten Efendi anzuhören und die kurz angebundene Art, mit der sie Karagöz abfertigt; z. B.:

Hadschievad: „Mein Herr Karagöz, geruhen Sie zu er- scheinen, jetzt ist die Zeit dazu. Ihr ergebenster Hadschievad wartet an der Thür, jetzt

ist die Zeit dazu. Zeige einmal die Mondschönheit, die Augen sollen sich

öffnen, Ertönen sollen Blasinstrumente und Flötenklänge, jetzt ist die Zeit dazu! Karagöz (vom Fenster): Hadschievad, die Zeit ist da, wo du dich bereit halten sollst, Wenn er sich gekratzt hat, ist jetzt die Zeit, seinen

Rücken in Behandlung zu nehmen. Eh! Schamloser! Eh! Unverschämter! Wie viel hab' ich

von dir ertragen! Sieh, da bin ich, Hadschievad, jetzt ist die Zeit des Knüttels ! EL: Bitte, mein Herr, was soll dies Gerede vom Prügel

heifsen ? K. : Nun, und was soll die Unanständigkeit, die du vor der

Thür begehst, heifsen? H. : Mein Herr, in Anbetracht dessen, dafs ich, Euer Sklave, einer von denen bin, welche die Wichtigkeit Eurer hohen Nachsicht zu schätzen wissen, bin ich im Vertrauen auf diese Euere Hochwürdigkeit einige Liederzeilchen singend gekommen, Ew. Wohlgeboren meine Aufwartung zu machen. K.: Was machst du für Quatsch?14

(Die Teufelslist oder die Geisterbannerei des Karagöz, Jacob, Heft 3. S. 18—19).

reiche Volkssprache ist also in den Karagösspielen die herrschende, und das vom Volke so geliebte Aschenbrödel, welches nur noch in den Türkis (Volks- liedern) und Massais (Volksmärchen) von Generation zu Generation sich fort- bringt, soll durch den Hajaldschy wieder zu Ehren gebracht werden".

632 Siebeutes Kapitel.

Sehr häufig verbittet er sich ganz energisch des Karagöz gemeine Redensarten, und am Schlüsse des zweiten von Luschan veröffentlichten Stückes kündigt er ihm entrüstet die Freund- schaft: „von nun an sage ich dir weder kalimera noch kalispera" guten Tag, guten Abend (a. a. 0. S. 138).

Trotz aller Gelehrsamkeit und Bildung wird der gute Efendi aber, immer von dem einfachen und ungebildeten, aber mit Mutterwitz begabten Karagöz zum Narren gehalten. Bei Murad Efendi findet sich die Bemerkung, Efendi sei etwa unser Doctor, nur ohne richtige, gelehrte Graduierung und ordentliche Pro- motion1). Griechisch ist Efendi etwa a%olac>ti,x6q. Seit Philistion tritt der stupidus gerne in der Spielart des Scholasticus auf, des Dossennus der Atellane, des Dottore der Commedia delP arte. So ist also der türkische Dottore nur eine Erneuerung des mimischen Scholasticus.

Gerne giebt der Dottore dem ungebildeten Karagöz Be- lehrungen für richtiges Sprechen, für feines Benehmen und feinen Ton, und Karagöz macht ihn dann gröblich zum Narren2). Als

3) Türkische Skizzen, Zweiter Band, Das osmanische Beamtenthum S. 66.

2) Als Beispiel gebe ich hier ein Gespräch zwischen Hadschievad und Karagöz, das im Anfang des „Sängerkriegs (Uruschma ojunu)" steht, in der Übersetzung von Künos (Ung. Rev. S. 431 und 432):

„Hadschievad: Soeben habe ich mir einen neuen Fez gekauft.

Karagöz: Was gehts mich an?!

H.: So sagt man zu einem Freunde?!

K.: Wie sonst?

H.: Lachend, lachend soll er auf deinem Kopfe zerstückelt werden.

K.: Also gut, wenn du es so willst: Lachend, lachend soll er auf deinem Kopfe zerstückelt werden.

H.: Aber ich mufs dir auch erzählen, dafs ich Brennholz gekauft habe.

K.: Maschallah! Lachend, lachend soll es auf deinem Kopfe zer- stückelt werden.

H.

Kerl! Auf meinem Kopfe soll es zerstückelt werden?

K. : Was weifs ich ; du hast mir ja selbst gesagt, dafs ich so sagen soll.

H.: Ja das galt nur für den Fez. Jetzt mufst du aber sagen: Lachend, lachend verbrenne es und blicke in die Asche.

K.: Also gut, wenn du es so willst: Lachend, lachend verbrenne es und blicke in die Asche.

Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 633

echter stupidus bekommt Hadschievad natürlich auch von Karagöz ungezählte Prügel.

Um dieses burleske Paar, den Sannio und den stupidus, gruppieren sich nun alle anderen Typen. Auch sie zeigen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Figuren des Mimus. Da ist Bekry Mustapha, der reiche Bauer. Er kommt, um sich lustig zu machen, zum ersten Mal in gereiftem Alter in die Stadt, gerät in allerhand Kneipen und Bordelle und kommt schliefslich rarm am Beutel, krank am Herzen ■, aber noch immer betrunken,

H.: Indessen habe ich mir auch ein Haus gekauft.

K.: Peh, Pehü Lachend, lachend sollst du es verbrennen und in die Asche blicken.

H.: Nicht so sagt man, du dummer Kerl!

K.: Wie denn? Du hast mir's ja so befohlen.

H. : Man sagt: Es freut mich sehr. Lachend, lachend wohne darin und nie sollst du es verlassen.

K.: Also gut: Lachend, lachend wohne darin, und nie sollst du es verlassen.

H.: So ist's recht Als aber einer meiner Gläubiger hörte, dafs ich mir ein Haus gekauft habe, kam er zu mir und verlangte sein Geld. Ich konnte ihm nichts geben, es kam zu Streitigkeiten, dann zu einer Rauferei, und am Ende sperrte man uns alle Beide ins Gefängnis.

K.: Lachend, lachend wohne darin, nie sollst du es verlassen.

H. : Bist du von Sinnen?! Das wünscht man seinem Bruder?

K.: Du hast ja selbst angeordnet, dafs ich so zu sagen hätte!

H: Nein, in diesem Falle mufst du sagen: Gott sei's gedankt, der Eine ist schon draufsen; hoffentlich kommt der Andere auch bald heraus.

K. : Wie du willst: Gott sei's gedankt! Der Eine ist schon draufsen. und hoffentlich kommt der Andere auch bald heraus.

H.: Nun mufs ich dir aber weiter erzählen. Als ich aus dem Ge- fängnisse herauskomme, gehe ich bei einem Bäcker vorbei, der gerade sein Brot in den Ofen schiebt. Stöfst mir nicht der blinde Maulwurf mit seinem Brotschieber eins meiner Augen aus!!

K.: Gott sei's gedankt! Das Eine ist schon heraus; hoffentlich kommt auch das Andere bald heraus."

Auch bei Luschan findet sich Text und Übersetzung dieses Stückes; aber beides zeigt erhebliche Abweichungen (a.a.O. S. 125 folg.). Bei Jacob findet sich dasselbe Thema in dem Stücke Karagözün aschyklykv, Karagöz als Dichter, aber in durchaus selbständiger Ausführung.

634 Siebentes Kapitel.

nach Hause. Er ist auf seine Art ein ganz geriebener Bursche, aber die Städter sind dem Bauern doch über. Er giebt aller- hand Bauernmoral zum besten, nur schade, dafs er sie selber nicht befolgt. Er ist der dygotxog, der rusticus des Mimus, wie er im Buche steht, und wohl direkt aus dem byzantinischen Mimus übernommen1).

Der „Dellal" (Ausrufer) ist der zweite Spafsmacher in der türkischen Burleske, so eine Art mimus secundarum partium. Er trägt allerhand alte Sachen, Kleider, Teppiche, Kupfergeschirr und dergleichen umher und bietet es auf der Strafse mit lauter Stimme aus. Da ergeben sich dann, da ihn der Besitzer dieser Kostbarkeiten begleitet und Kauflustige hinzutreten, allerhand mimische Scenen. Man denke an den praeco, der nach der Er- klärung des Scholiasten zu Juvenal (VIII, 185) im Mimus Phasma des Catullus auftrat, und an den xjjqv% Ischomachus, der ein Mime ward, auch an die Atellane des Pomponius Praeco posterior 2). Auch

*) Ich erinnere an den Titel bei Sophron: ilXisvg xbv dygoiwrav, an die Bauern und Landleute bei Theokrit, an Atellanentitel wie : Der Landmann (Agri- cola, Kusticus, Pappus agricola), Der Feigengärtner (Ficitor), Die Winzer (Vin- demiatores), Die Eselin (Asina), Die Ziege (Capella), Das Borgschwein (Maialis), Das kranke Schwein (Verres aegrotus), Das gesunde Schwein (Verres salvos), Das Mutterschwein (Porcetra). Ich verweise auch auf den dyQolxog bei Theophrast. Vom Mimus hat dann die neue Komödie den Typus des Bauern übernommen. Man vergleiche hier Ribbecks Charakterstudie Agroikos (vgl. oben S. 308).

2) Die griechischen Krämer liefsen ihre Waren auf dem Markte durch den Ausrufer (xrJQv!;) versteigern (vgl. Hermann, „Griechische Antiquitäten" 3. Aufl. IV, S. 420). In sehr ergötzlicher Weise macht Hermes den Aus- rufer bei Lukian in der „Philosophenversteigerung" und den „Ausreifsern". Das Gebahren dieser Leute wird dem unserer Auktionatoren ähnlich gewesen sein. Am besten können wir sie wohl mit unserem sogenannten „Schmeifs- weg" vergleichen, der unter den sonderbarsten Beteuerungen, Kapriolen und Witzen auf offenem Markte seine Waren an den Mann zu bringen sucht, dessen Gaukeleien selbst bei uns im kalten, steifen Norden nahe an mimische Produktionen streifen. Auch die orientalischen Ausrufer zeigen ganz die- selbe Art wie die griechischen und treiben genau dasselbe Gewerbe. Wieder- holt treten sie in „Tausend und eine Nacht" auf. Eine lebendige Schilderung eines solchen xrjgv§ finde ich bei Klunziger, Bilder aus Oberägypten, Stutt- gart 1878. S. 20 u. 273. Wie der xrtqvk' Ischomachus sich leicht zum Mimen metamorphosierte (vgl. oben S. 51), bildet der türkische xtiqv!; der Dellal, eine höchst lustige Figur im türkischen Mimus.

Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 635

Räuber treten im türkischen Mimus auf, wie sie es im helleni- schen und römischen thaten. Ich verweise auf den Räuberhaupt- mann Laureolus. Der Räuber im türkischen Mimus ist immer ein Albanese und stets ein edler Mann, der nur reiche Menschen- schinder beraubt und sich edler Frauen ritterlich annimmt, ob er sie nun ihren rohen Männern oder dem sinnlichen, mit seinem schrecklichen Zeichen drohenden Karagöz entreifst. Auch der Räuberhauptmann im Mimus pflegte die Sympathien des griechi- schen und römischen Publikums zu geniefsen1).

Wenn im türkischen Mimus allerhand Kaufleute (meistens sind es Juden), Höker, Kneipwirte, Cafeliers auftreten, so müssen wir uns an die Höker (xäntiXoi) und die Grofskaufleute («ju- noQoi,y) des hellenischen Mimus erinnern. Choricius kennt Höker, Wursthändler, Budiker als typische Figuren im byzantinischen Mimus (vgl. oben S. 214 Anm. 5. u. S. 240). Der Schiffskapitän Thaies bei Herondas (II) ist zugleich ein Grofshändler und Ge- treidespekulant. „Maccus als Kneipwirt (copo)", der „Kleine Gewerbsmann (Cerdo)" hiefsen zwei Atellanen des Novius.

Selbst die Bettler und Derwische des türkischen Mimus finden im hellenischen ihre Vorbilder; Bettler finden sich auf den Atellanenbildern, die Pasqui veröffentlichte, und die geist- lichen Personen sind belegt durch des Laberius „Augur", des Pomponius „Aruspex vel pexor rusticus", und seinen „Aeditumus"; denn der Küster gehört ja nun einmal mit zur Geistlichkeit8). Wie der Derwisch moralische Sprüche im Munde führt und sinn- liche Lust im Herzen, selbst noch mehr wie Karagöz, ist es mit der Moral der Augurn und der Haruspices im Mimus und in der Atellane wohl auch nicht zum besten bestellt gewesen. Bei Pomponius ist der Haruspex zugleich auch noch der Dorfbarbier.

Neben Hadschievad tritt hier und da auch sein kleiner Sohn auf, der ihm auf ein Haar gleicht, was eine besonders drollige

x) Vgl. oben S. 89.

2) Wie häufig in der griechischen und römischen Komödie der tfinoQog und der mercator vorkommt, ist bekannt.

3) Über geistliche Personen im burlesken Volksdrama überhaupt vgl. die Vorrede S. 41 u. 42 und oben S. 628, Anm. 1.

636 Siebentes Kapitel.

Situation abgiebt1). Als Pendant dazu nehme man die zahl- reichen, kleinen Mimen, wie sie auf den Atellanendarstellungen bei Pasqui erscheinen2) und den Bucculo, d. h. den kleinen Bucco, des Novius, der vielleicht seines Vaters „einzige Passion" war8) (vgl. oben S. 602 u. 603).

Was die Typen aus verschiedenen Völkerschaften, Griechen, Juden, Armenier, Arnauten, Lasen, Perser u. s. w. angeht, so wollen wir an des Laberius „Die Gaetuler", „Die Gallier", „Die Kreter", „Die Etruskerin", des Pomponius „Campani", „Galli Transalpini", „Milites Pometinenses" denken. Vor allem aber ist der Typus des Armeniers wie des Arabers schon für den byzantinischen Mimus direkt bezeugt4). Und die Juden, die unablässig im Karagöz vorkommen, spielten ihre Rolle im griechischen und byzantini- schen Mimus (vgl. oben S. 577 Anm.) und auch wohl schon bei Laberius in dem Mimus „die Kiepe (Cophinus)".

Nicht selten treten auch Frauen, sogar anständige Frauen und Matronen auf. Unter den Karagözfiguren, die vonLuschan gesammelt und publiziert hat, finden sich nicht weniger als zehn weibliche Figuren. Neben zwei Tänzerinnen (Taf.III, 19 u. 20) und einer etwas

1) Vgl. von Luschaa a. a. 0. S. 85.

2) Das Kölner Hänneschenspiel ist wohl nur eine der vielen Nach- kommen der Commedia dell' arte (vgl. Dieterich, Pulcinella S. 272), wie diese ein Nachkomme des griechischen Mimus ist. Nun sah ich im vorigen Jahre in Berlin im sogenannten „Theater Millowitsch'" „Drei Tage aus dem Kölner Leben", ein ziemlich blödes Machwerk, das nur als Nach- bildung und nur auf sehr niedriger Stufe stehende Erweiterung des Kölner Hanne schenspiels ein gewisses Interesse bot. Dort trat in einer Gerichts- scene Tünnes mit der Nos als Kölner Dienstmann Anton Träkärche zusammen mit seinem Söhnchen, dem kleinen Tünnes, auf, und das Söhnchen ähnelte seinem Vater auf ein Haar, was grofsen Jubel erregte; zumal der kleine Tünnes schon derselbe Schnapstrinker und Liebhaber von „Schabau" war wie sein Vater.

3) Ribbeck hat daraus (Frgm. com. Rom. S. 255) sehr unnötig einen bubulcus gemacht, vgl. Munk, De fabulis Atellanis S. 166. Auch die Komödie kennt solche kleinen Burschen, allerhand Piccoli und Pagen; ich erinnere an den Küchenjungen in Plautus' „Captivi", an Lurcio im „Miles", an Paegnium im „Persa", der so ausgezeichnet zu schimpfen versteht, an den kleinen, von seiner Wichtigkeit durchdrungenen Knirps Pinacium im „Stichus".

*) Vgl. oben S. 577 Anm.

Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 637

sittenlosen jungen Dame, die zum Schlufs aber gewöhnlich glück- lich an einen stupiden Greis oder einen dummen Neger verheiratet wird, sehen wir die Frau des „rusticus* Bekry Mustapha, die mit Blumen zum Kadi geht, um Scheidung von ihrem Trunkenbold von Mann zu verlangen (III, 18). Auch findet sich eine stark dekollet- ierte, spaniolische Jüdin (III, 17); die auf einem Pferde reitende Dame, die als die Frau des Hadschievad bezeichnet wird (I, 6); die gewöhnlich als Frau des Hadschievad bezeichnete Frau mit der phrygischen Mütze (II, 16); die beiden, durchaus anständigen Töchter des Hadschievad (II, 14 u. 15) und endlich die Matrone mit den beiden Kindern, vor deren strenger Tugend selbst Karagöz Reifsaus nimmt (III, 21). Doch ist diese Figurenserie wohl noch nicht einmal vollständig. So erscheint z. B. in „Die fin- girte Braut" noch die Frau des Karagöz, und in einem tunesischen Karagözstück tritt die Frau eines Inders auf. In diesem türki- schen Mimus vergifst man doch sehr, dafs man im Oriente ist, der die Frauen völlig vom öffentlichen Leben absperrt; es sind hier eben mehr alte griechische als türkische Sitten. Das hat der türkische Mimus natürlich aus dem hellenischen, der ganz anders wie selbst die griechische Komödie die Verhältnisse des intimsten Familienlebens an die Öffentlichkeit brachte, unaufhörlich Matronen und anständige Mädchen auf der Bühne vorführte und mit Vor- liebe die Liebesverhältnisse der verheirateten Frauen schilderte. Wie im Mimus spielen auch im türkischen Schattenspiel aller- hand Tiere mit1). So erscheint Karagöz als Eseltreiber mit seinem Esel, mit dem er allerhand seltsame Kapriolen macht. Ich erinnere an den Menschen mit Eselkopf in der Atellane, an Dionysos und Xanthias mit ihrem Esel bei Aristophanes. Ein beliebter Titel der neuen Komödie ist der Eseltreiber, övayöc. Auch der Hund spielt im Mimus mit"). In der türkischen Burleske wird er ein- mal auf Karagöz gehetzt, der ein Bordell stürmen will, und ent- reifst ihm mit einem grimmigen Bifs sein mächtig drohendes Zeichen3). Dieser grofse Hund spielt eine ganz ähnliche Rolle

*) Vgl. darüber oben S. 418. 487. 488. *) Vgl. oben S. 329. 480. 587. 588. 3) Vgl. Champfleuty a. a. 0. S. 43.

638 Siebentes Kapitel.

in einer mimischen Scene bei Petron '). Wie im Mimus treten auch allerhand Ungeheuer auf (vgl. oben S. 590 folg.). Man denke nur an die Mania, die Mutter oder Grofsmutter aller bösen, ruhelos umherschweifenden Gespenster, mit der die Ammen den Kindern gerne drohten. Sie kommt ab und zu aus der Unterwelt her- auf und verlangt ein kleines Kind zum Opfer. Zur Abwehr gegen sie werden kleine, häfsliche Figuren aus Mehl (maniolae) vor der Hausthür aufgehängt. Bei Novius tritt sie in der „Mania medica" als Heilkünstlerin auf, wohl nach Art des Doktor Eisen- bart. Dem „Pytho Gorgonius" des Pomponius, dem pythischen Drachen mit dem Gorgonenkopf und schrecklichen Hauzähnen entspricht direkt die grofse, furchtbare Schlange der türkischen Burleske. Sie ist nebenbei eine achtbare Vertreterin der Moral und straft Karagöz für seine Unthaten nicht selten in der schrecklichen Art des grofsen Hundes3). Auch der furchtbare Riese Og ben Oniok des tunesischen Mimus gehört hierher; er macht wie die grofse Schlange öfters am Schlufs des Stückes die Zeche3).

Wie die Typen, so ist auch ihr Thun und Handeln, Reden und Agieren, Singen, Tanz und Grimassieren genau wie im alten Mimus. Wie dort erschallt auch hier unaufhörlich das dumpfe Rasseln der Prügel und das Klatschen der Ohrfeigen. Wie der irrisor den Panniculus, wie der Sannio den stupidus ver- prügelt4), so pflegt hier Karagöz seinen Gefährten Hadschievad mit allerlei laut schallenden Handgreiflichkeiten zu begrüfsen. Hin und wieder entschuldigt er sich wegen seiner Grobheit und legt sie unter dem Gelächter des Publikums als zärtliche Lieb- kosung aus5). Doch gerät auch Karagöz bei diesen Prügeleien mit Hadschievad und den andern Mitspielenden manchmal in

i) Vgl. S. 558, Anm. 1.

2) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 85.

3) Vgl. über ihn Quedenfeld, Das türkische Schattenspiel im Magrib 923.

*) Über Prügelscenen in Atellane und Mimus vgl. oben S. 113 u. 114. 5) Künos a. a. 0. S. 428.

Typen des hellenischen Mimns im Karagöz. 639

Not. Oft genug wird ihm sein Turban heruntergehauen. In der Blutpappel wird er von einem Gespenste arg verprügelt.

Die Sprache ist, wie es sich für den Mimus gehört, ich erinnere nur an die vulgären Ausdrücke bei Sophron und Theokrit und vor allem bei Herondas, bei Laberius, bei Pomponius und Xovius, an die Vulgarismen in Philistions „Philogelos" durchaus die Volkssprache. Davon ausgenommen ist wie im griechischen und römischen Mimus nur der Prolog, der im gebildeten Efendi- türkisch gesprochen wird, und die eingestreuten Couplets, diese wenigstens zum Teil. Der Gegensatz zwischen dem vornehmen Effenditiirkisch des Hadschievad und der Volkssprache des Karagöz führt natürlich zu allerhand lustigen Mifsverständnissen. Der Badediener heifst auf Arabisch Kadir, und Katir heifst in der türkischen Volkssprache Maultier ; so erkundigt sich denn Karagöz bei dem Kadir nach dem Fräulein Schwester, das sein Nachbar, der Mistbauer, vor den Karren spannt. Ein Freund des Karagöz, der sich weigert, ihm Geld zu leihen, heifst Künap Sade. Nun bedeutet Künap im Türkischen Strick; da meint Karagöz, schon der Vater des hartherzigen Freundes werde ein Strick gewesen sein. Den Karagöz, der einmal auf die Idee verfällt, sich für einen Journalisten auszugeben, prüft Hadschievad: wie stehts denn mit der Logik (mandik)? 0, die esse ich sehr gerne, ruft Karagöz; er meint mandi, eine beliebte Ramadanspeise1).

Das sind die alten mimicae ineptiae, die wir schon kennen. Dazwischen werden mancherlei schlechte Zoten und Witze wie die dicteria und die dictabolaria (nach Fronto de orat p. 240 ed. Rom.) der Atellanen und Mimen gerissen, es finden sich Frechheiten und Nuditäten, wie in der Atellane und im Mimus, aber ebenso wie im Mimus „tiefsinnige Sprichwörter und natur- philosophische Sentenzen" (Künos a. a. 0. S. 420). Auch die lustigen Ränke, Kabalen, Übertölpelungen und Betrügereien werden im Karagöz mit derselben übermütigen Ruchlosigkeit ver- übt, wie die „tricae" in der Atellane und wie die „artes mimicae", von denen Petron (cap. 106 Bücheier*) weifs.

1 1 Nach Künos a. a. 0. S. 434 u. 435.

640 Siebentes Kapitel.

IV.

Karagöz als Biologe und Ethologe. Politische Anspielungen wie

im Mimus.

Wie der Mimus liebt das Karagözspiel allerhand Anspielungen an die aktuellen Tagesereignisse und vertritt die allgemeine Volksmeinung gegenüber der Eegierung.

Ein hübscher Beleg dafür ist die Anschauung, die man vom Ursprung des Karagöz in Tripolis hat. Ich gebe sie mit Queden- feldts Worten (a. a. 0. S. 905 u. 906): „Vor langer Zeit lebte in Stambul ein Mann, dem die Mifswirtschaft der Paschas und der sonstigen Würdenträger ein Dorn im Auge war. Er sann nach, wie dem abzuhelfen sei. Da es ihm unmöglich war, . bis zur Person des Sultans vorzudringen, um diesem seine Wahr- nehmungen selbst vorzutragen, beschlofs er, ein Schatten- spiel zu etablieren, in der Hoffnung, dafs der Sultan auf das Gerücht von der Neuerung hin sich zu einem Besuche seiner Vorstellungen entschliefsen würde. So geschah es in der That. Kaum gelangte die Kunde von dem allgemeinen Beifall findenden, zotenhaft-drolligen Karaküsspiel zu den Ohren des Herrschers, als derselbe im Theater erschien. Karaküs hat an diesem Abend natürlich ganz andere Dinge geredet als Zoten. Dem Sultan wurden die Augen geöffnet über das Treiben seiner Minister und Gouverneure, die er grofsenteils ihrer Ämter ent- hob und bestrafte. Der Karaküsbegründer aber wurde Wesir. Als solcher konnte er, das ist klar, seine Vorstellungen nicht weiter leiten. Da die Sache aber dem Volke einmal gefallen hatte, so traten andere an seine Stelle, und das Spiel gewann allmählich überall da Verbreitung, wo Türken herrschen und geherrscht haben".

Karagöz ist ein Satiriker, mit dem die Autoritäten in Kon- stantinopel rechnen müssen '), deren Anordnungen, wenn sie un-

J) Wie frech Karagöz nicht selten hohen Würdenträgern die Wahrheit sagt, mag folgende Geschichte bei Champfleury illustrieren, die wegen ihrer gar zu grofseu Frechheit französisch bleiben mag (a. a. 0. S. 52): „A Con-

Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 641

populär sind, leicht seiner Kritik verfallen1). Besonders aber hat er in Algier es auf die französische Obrigkeit abgesehen und überhaupt auf die Franzosen. Dort wurden die Auf- führungen verboten, weil in ihnen das französische Militär lächerlich gemacht wurde 2), und ein Karagödschi erstach den fran- zösischen Marschall Bugeaud, welcher ihn einem Verhör unter- ziehen wollte3). Der Teufel erschien in diesen Stücken immer in französischer Tracht*). So macht Karagöz dem Volksunwillen gegen die Unterdrücker Luft.

Die türkische Regierung ist auf den Karagöz nicht gerade gut zu sprechen, aber das niedere muselmanische Volk schwärmt ebenso für ihn wie das hellenische für den Mimus. Doch sind auch, wie einst die hellenischen Grofsen dem Mimus gewogen waren, wiederholt hohe türkische Würdenträger Freunde des Karagöz gewesen, und zwar besonders der grofse Mehemet Ali &).

stantinople, Caragvevz etait tres hardi. On en jugera par le trait suivant. bien connu du reste: Caragveuz jouait devant de havts fonctionnaires. II dialoguait avec son äne ä la porte (Tun beau Jardin, ou n'entraient que quelques privxUgies. 11 voulut etre un de ceux-la, et se mit en decoir de tirer son äne par la bride. Resistance de la bete. „Attends, attends, dit Caragveuz, je vais te montrer comme on avance en Turquie". Et, se mettant derriere le baudet, il le poussait de la facon que vous savez. On pretend que, ä cette saiüie, les hauts fonctionnaires ne rirent qve du bout des dents."

x) Ich gebe dafür eine Betrachtung Gerards nach Champfleury a. a. 0. S. 101 U. 102: „C'est, dit'ilj ou le bourgeois raillevr, ou Vhomme du peuple dont le bon sens critique les actes des autorites secondaires. A Vipoque ou les regle- ments de police ordonnaient, pour la premiere fois, qv'on ne put sortir sans lanterne apres la chute du jour, Caragvevz parvt avec une lanterne singulierement svspendve, narguant impvnement le pouvoir, parce que Vordonnance n'avait pas dit, qve la lanterne dit enfermer vne bovgie. Arrete par les cavas, et reläche d"apres la Ugalit€ de son Observation, on le vit reparaitre avec une lanterne ornie d"une bougie , qu'il avait ne'glige ctallumer . . . Cette facetie est pareille a Celles que nos legendes populaires attribvent ä Jean de Falaise, ce qvi provve que tous les pevples sont les memes. Caragvevz a son franc-parler ; il a tovjovrs d(fie le pal, le sabre et le cordon". Vgl. auch S. 86.

2) Vgl. Quedenfeldt a. a. 0. S. 906.

3) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 71 u. 72. *) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 72.

5) Vgl. Champfleury a. a. 0. S. 56.

Reich, Mimus.

41

642 Siebentes Kapitel.

Karagöz ist derselbe Ethologe und Biologe, wie der helle- nische Mime es war. Wir sahen, wie die mimische Biologie direkt die antike Kulturgeschichte, den ßiog 'EXXdöog der Peri- patetiker, angeregt hat, wie man aus dem antiken Mimus trotz seiner spärlichen Überlieferung noch viel von der antiken Kultur und dem antiken Volksleben lernen kann. Ganz dasselbe sagen moderne Kenner vom Karagöz. Ausdrücklich bemerkt Jacob: „Der Reiz, welchen das Schattentheater auf uns ausübt, besteht in erster Linie in dem treuen Abbild morgenländischen Volks- lebens, das es darstellt. Es führt uns durch türkische Cafes, durch öffentliche Bäder, zur Bude des Strafsenschreibers, lehrt uns das buntsprachige Völkergewirr, das hier als Kunden vor- spricht, und seine Bedürfnisse kennen. Es führt uns in alle Winkel des orientalischen Lebens, sogar in die Kajyks auf den Fluten des Bosporus. Somit ist es naturgemäfs auch eine reiche Quelle für die Volkskunde". (Heft I, S. 14.)

Freilich, wie uns Karagöz in alle Winkel des morgen- ländischen Lebens führt, lehrt er uns auch allerhand Schmutz und alles Verderben dieses Lebens kennen; er schreckt vor dem Äufsersten nicht zurück und überführt alle ihrer geheimen Sünden und Laster, amovg nwg äntXeyxti, cog ovds OiXiöticov 6 [itfjbog. So kommen denn im Karagöz alle Verkehrtheiten des orientalischen Volkslebens an den Tag. Aber der Karagödschi kann sich entschuldigen, wie Choricius es für den griechischen Mimus that; er schildert eben das gesamte Leben, und der ßiog ist nun einmal nicht blofs moralisch.

Über Moral oder Unmoral des Karagöz hat sich in jüngster Zeit ein Streit erhoben, ähnlich wie der, welcher einst um den Mimus getobt hat; und besonders Monsieur Rolland hat gegen die Unmoralität des Karagöz pathetisch wie ein Kirchen- vater gewettert, wenngleich er den Nutzen der Biologie des Karagöz für die Erkenntnis des orientalischen Volkslebens wohl begriff1). Ihm galt der Karagöz als ein Todeskeim für das

x) Champfleury a. a. 0. S. 38 u. 39 : Je viens d'assister a la reprisentation du Polichinelle turc, Caragueuz, l'homme aux yeux noirs. J'en suis sorli stuptfait,

Typen des hellenischen Mimus im Karagöz. 643

türkische Volk. Nun, dieser Todeskeim ist in der Türkei schon weit über 500 Jahre alt und in Hellas über 2000, und er hat durchaus nirgends tödlich gewirkt. Die besten Kenner nehmen hier Karagöz durchaus in Schutz, der bei aller Frechheit und Zotenhaftigkeit und trotz des Phallus durchaus nicht unmoralisch sei, so wenig wie unsere mittelalterlichen Schwanke oder die Komödien des Aristophanes1). Ganz wie Choricius einst betonte, es gebe doch so viele ernste und durchaus moralische Schilde- rungen im Mimus, hebt von Luschan hervor, dafs es auch genug durch und durch „anständige" Karagözstücke gebe (a. a. 0. S. 143) 2). Auf den türkischen Mimus pafst eben wie auf den hellenischen die Definition Theophrasts: Der Mimus ist die Nach- ahmung des Lebens, die das Erlaubte wie das Unerlaubte dar- stellt. Nicht selten überwiegt allerdings wohl das Unanständige, das Unerlaubte (%ä aGvyxÜQiKx)'

Aber wenn Karagöz auch noch so übermütige Schelmenstreiche verübt, so wird er doch nie wirklich schlechte Streiche machen, welche der Moral des Volkes direkt zuwider sind. Ja, nach türkischer Überlieferung wollte der Scheich Küschteri aus Brussa, der als Altmeister des Karagözspieles in den Karagözprologen gefeiert wird, durch dieses Spiel das Volk belehren und erziehen. Noch Achmed Vefik Pascha, der bekannte Turkologe, bestätigte es Künos, dafs in seiner Jugend die Karagözstücke durch- aus moralich gewesen und erst später frech und obscön ge-

consterne, dirais-je, pour peindre mieux mes impressions. Sans doute, un vif interet m'attire vers toute cette scene reväant les secrets des moeurs indigenes, et je n'eus jamais oceasion pareille de soulever les volles qui se deroulent rarement devant les regards europdens" . S. 51 : „A mon sens, le jour ou le de'goüt public aurait proscrit Caragueuz, un germe de mort serait exstirpe du sein du peuple ottoman".

l) So besonders von Luschan a. a.O. S. 142 u. 143, dem auch Jacob durch- aus beistimmt (Heft I, S. XIII). Wenn Quedenfeldt im Gegensatze zu Maltzan sich über die Unmoralität des Karagöz entrüstet zeigt, so ist zu bedenken, dafs der Karagöz in Afrika auf einer besonders niedrigen Stufe steht. Vgl. Jacob, Heft I, S. XIII. Auch Champfleury verkennt die sittliche Harmlosigkeit des Karagöz durchaus nicht.

21 Vgl. Jacob, Heft I, S. XIII.

41*

644 Siebentes Kapitel.

worden seien1). So sagt auch Heinrich von Maltzan (a. a. 0. S. 237): „Wie allen wahrhaft volkstümlichen Charakteren, fehlt auch dem Karagus nicht eine gewisse moralische Tendenz. Er ist die Verkörperung der naiven, unverdorbenen Ehrlichkeit der untersten Stände; er weifs nichts von einem Abfinden mit dem Gewissen; freilich erscheint dieses bei ihm oft je nach den Um- ständen weiter oder enger; aber im Grunde ist es doch das Ge- wissen des ehrlichsten Teiles des Volkes, vor dem er sich zeigt; was diesem Volke Unrecht erscheint, und sei es oft auch nur etwas durch einseitige Religionsvorurteile Verbotenes, das wird auch von Karagus verworfen; was dagegen die volkstümliche Ansicht nur als leichte Sünden ansieht, und seien es oft auch solche, die in Wirklichkeit einen schlimmeren Namen verdienen, das macht sich Karagus keine Skrupel zu begehen. Einen eigent- lichen, heimtückischen Betrug aber begeht er nie; wenn er seinen Nächsten übervorteilt, beraubt oder durchprügelt, so geschieht dies immer auf eine Weise, dafs er alle ehrlichen Leute für sich hat, denn es geschieht stets zur Strafe für irgend einen listigen Anschlag, der gegen ihn unternommen wurde. Nichts ist aber dem Volke in allen Ländern verbalster als heimtückische List, und nichts erscheint ihm erwünschter und gerechter, als deren Entlarvung und Bestrafung. Man sieht, eine gewisse poetische Gerechtigkeit fehlt in den Possenspielen des Karagus nie".

Jedenfalls ist der Hajaldschy durchaus von dem Werte und der Würde seiner Stücke durchdrungen. In dem Prologe hebt er hervor, die Welt sei nur ein Schatten, und ein Schatten sei alles Leben und alles Lebendige, das, wenn es seine Zeit habe, wieder verschwinden müsse. Dagegen gebe sein Schattenspiel Wirklichkeit; es ist das Bild der Welt und des Lebens; wenn auch nur Schattenbilder auf dem Vorhang (perde) erscheinen, so könne man daraus doch lehrreiche Exempel für das Leben gewinnen. Der Hajaldschy betrachtet sich also weniger als burlesker Spafsmacher wie als rechter Darsteller und Schilderer der Welt und des Lebens, der manche gute Lehre erteilt. Ganz ebenso hat sich der griechische Mime gerne als den eigent-

L) Vgl. Künos a. a. 0. S. 426.

Identität der Form der mimischen Hypothese und des Karagöz. 645

liehen Lebensschilderer aufgefafst und sich darum den pompösen Titel „Biologe" statt des einfachen _Mimetf beigelegt. Als „Bio- logen " bezeichneten ihn die Peripatetiker wie auch Choricius; ich er- innere an die Biologen Heraklides, Agathokles, Flavius Alexander *). Philistion ward von diesem Standpunkte aus unter die Philo- sophen gerechnet. Der Mimus ist nach Auffassung seiner Freunde ein Tröster des Menschengeschlechts, ohne den die Menschen in ihrer Not und in ihrem Elend verzagen müfsten. Er lindert die menschlichen Schmerzen wie Balsam; ohne ihn hätte selbst nach der Meinung der römischen und griechischen Kegierungen das arme Volk verzweifeln müssen-). Man denke auch an das Epigramm, in dem Philistion gepriesen wird, weil er die Menschen in ihrem jammerreichen Leben mit seinem lustigen Lachen getröstet habe. Nicht geringer denkt der türkische Mime von seiner Kunst. „Nach dem Gasel, dem Eröffnungsliede, sagt Künos, beginnt Hadschewat unter feierlichen, aber durch den Schatten verzerrten Gebärden, und mit gewählten Worten den Prolog zu sprechen. Er verspricht darin dem Publikum, sofort seinen lustigen Ge- fährten Karagös vorzuführen, dessen Worte wie Balsam alle Schmerzen lindern werden" (a. a. 0. S. 427). Diese ganze, vornehme Auffassung hat der türkische Mime von seinem vor- nehmen Vorfahren, dem hellenischen, geerbt, wenn er ihr auf seinem viel niedrigeren Standpunkte auch gewifs sehr viel weniger entspricht wie jener.

V.

Identität der Form der mimischen Hypothese und des Karagöz. Prolog und Canticum.

Jedes Karagözstück beginnt mit einem Prolog, wie der Mimus. Dann folgt die dialogisierte Handlung in mehreren Akten. In

x) Eustathius Antioch., De engastromytho (ed. Jahn, Texte u. Unters. Bd. II, Heft IV, S.67: inav&a 6k ovo ngöotona ßtoXoyel ßaaUiar, tha tovtoiv io fikv cidtxov tiaäyti rb dt d(xatov. Die Erinnerung an den Mimus ist hier allerdings doch eine sehr ferne. Die Stelle verdanke ich August Brinkmann.

2) Das Nähere haben wir oben S. 144. 145. 202. 203 entwickelt.

646 Siebentes Kapitel.

„Die Teufelslist oder die Geisterbannerei des Karagöz" werden z. B. drei Akte (fasl oder medschlis) unterschieden (a. a. 0. S. 20 u. 21). Dazwischen werden, wie in der byzantinischen Hypothese, allerhand Couplets gesungen. Diese Couplets bildeten, wie wir oben sahen, einen sehr wesentlichen Bestandteil der Hypothese. Nicht anders ist es im türkischen Mimus, wo jede neu auftretende Person mit einem Couplet sich einzuführen pflegt, was sie nicht hindert, mitten inne bei passender Gelegen- heit noch ein oder das andere Couplet zuzugeben. Wir hörten die Kirchenväter vor allem gegen diese mimischen Cantica wettern, die besonders verführerisch waren, weil sie vornehmlich von Liebe handeln. Auch die Couplets im Karagöz haben zum Hauptthema die Liebe. Ich gebe das Lied Hadschievads aus „Die Teufelslist" (Jacob Heft 2, S. X u. XI):

„Dieses Herz hat sich wieder in eine unglückliche Liebe zu

einem Trügerischen verwickelt, Zu dem Trügerischen hat sich mein Auge gewendet, seine

Augen zum Trügerischen. Indem auf dem Liebesfelde das liebeskranke Herz lustwandelt, Hat sich das Herz zu dem Berückenden, der Berückende zum

Herzen, zum Herzgewinnenden gewendet. Indem auf dem Rosenbeet die liebeskranke Nachtigall ihre

Klage anstimmt, Hat sich die Rose zur Nachtigall, die Nachtigall zur Rose,

zum Rosendorn gewendet."

Ein anderes Lied in demselben Stücke lautet:

„Spazieren gehen wollen wir und Gartenvergnügen (Picknick)

machen,

Wenn du willst, will ich Plaid (ihram) sein unter dir.

Komm, schneide ab mein Haupt, vergiefse mein Blut, mache

es zu Tinte,

Schliefslich für diesen Rohrfinger will ich ein Opfer sein1)."

*) Bei Jacob, Heft 2, S. XII.

Identität der Form der mimischen Hypothese nnd des Karagöz. 647

Höchst erotisch sind auch die Couplets der Dichter im „Sänger- streit". Ich gebe eins davon in der Übersetzung von Luschans (a. a. 0. S. 128):

„Wenn nicht vom reinen Weine der Liebe trunken wäre der

Verliebte, Würde er seine Brust nicht zerschlagen, der Verliebte; Im meerartigen Herzen suche das Kleinod der Liebe Nicht jedes Herz birgt die seltene Perle der Liebe. Treue bei der Schönen, Freude im Herzen, ist nicht möglich, Es haben sich wieder angesammelt Ursachen der Liebe

Das Verlangen nach ihren Brauen hat meinen Körper ge- schwächt, Der scharfe Säbel der Liebe hat mein Herz durchbohrt. Aber meinst du, seine Liebe wird diese Sorgenpein mit der

Freiheit tauschen Wenn auch der Verliebte krank ist vor Liebesgram?41

Ein wenig schlüpfrig sind diese Couplets zum Teil, wie es wohl auch die griechischen waren. Aber auch für 1 und 2 gilt das Wort des Choricius von den Couplets im hellenischen Mimus, sie seien sittlich tadellos. Das Schlufslied im „Sängerstreit* bei von Luschan (a. a. 0. S. 132):

„Habe ich dir nicht gesagt, mein Lämmchen; liebe nicht neun

Liebchen ! Liebchen, Liebchen, Liebchen, liebe nicht neun Liebchen 1 Neun ist keine Glückszahl, zwei schon sind vom Übel; Liebchen, Liebchen, liebe nicht neun Liebchen."

enthält sogar eine ganz moralische Aufforderung.

So zeigt sich denn der türkische Mimus in Form und Inhalt, in der ganzen humoristisch-realistischen Ethologie und Biologie, in allen seinen Typen und Figuren als der rechte Erbe und Nachfolger des byzantinischen Mimus. Wie dieser ist er ein mehraktiges Stück. Selbst den operettenhaften Charakter des Mimus hat das Karagözspiel beibehalten, obwohl die Hajaldschys

648 Siebentes Kapitel.

wohl sehr selten gute Sänger sein werden, was Choricius, wie wir sahen, ausdrücklich an den Mimen hervorhebt, deren schöne Stimme er lobt.

VI. Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels.

Ich gebe hier nun die Inhaltsangaben einzelner Karagöz- stücke; denn mutatis mutandis giebt solch ein Stück uns ein Bild des alten byzantinischen Mimus.

Die fingierte Braut1). (Sa/te gelin).

Hadschievad singt vor des Karagöz Thür ein erotisches Couplet. Karagöz glaubt sich dadurch kompromittiert; Had- schievad aber meint: „Wenn jemand im Begriff ist, seinen Freund zu loben und zu preisen, mufs man da gleich an etwas Schlechtes denken?" Da sich Karagöz so prüde stellt, kommen Hadschievad, dessen Frau und die Frau des Karagöz auf die Idee, ihm einzureden, er sei ein Mädchen und solle den dicken Baba Himmet heiraten. Karagöz sträubt sich, wie er kann, aber da alles gegen ihn im Komplott ist, beginnt er wirklich ein wenig an seiner Identität zu zweifeln. Alle Anstalten zur Hochzeit werden getroffen, alle Bedenken des verzweifelten Karagöz niedergeschlagen. Mit einem Liebescouplet erscheint schliefslich Baba Himmet; Hadschievad und die Weiber, welche die Braut herausgeputzt haben, verschwinden trotz der Proteste des Karagöz. Das Liebes- paar ist allein; die Brautnacht hebt an. Himmet entschleiert die Braut und findet den priapischen, bärtigen Karagöz. Er- grimmt droht er ihm den Tod an. Aber schliefslich läfst er ihn laufen, und das Ganze endet, wie ein Mimus soll, mit dem un- auslöschlichen risus mimicus. Ähnlich wie der wackere Baba Himmet wird wohl der miles gloriosus Mars in dem Mimus des

') Ich folge hier Jacob, Karagöz-Komödien Heft 3, S. 27 folg.

Sujets des Mimus uud des türkischen Puppenspiels. 649

Laberius „Anna Perenna", von der Ovid so hübsch zu erzählen weifs (vgl. Fast, m, 675 folg.), getäuscht worden sein. Ihr gesteht Ares seine Liebe zur spröden Minerva und bittet um ihre Ver- mittelung, die ihm denn auch schliefslich auf vieles Drängen zu- gesagt wird. Mars schmückt nun freudig das Brautgemach. Dicht verschleiert, wie Karagöz, wird die Braut hereingeführt, und als der Bräutigam den Schleier hebt, sieht er die runzlige, alte Nymphe vor sich, die ihn noch dazu tüchtig auslacht.

Aber auch die Verkleidung von Männern zu Frauen ist im italischen Mimus offenbar häufig gewesen, und der folgt ja nur dem hellenischen. In des Pomponius Atellane „Die Kaienden des März" wird einem Manne auf der Bühne die Rolle als Matrone einstudiert, die er spielen soll (Pomp. 57 ff.). In den „Macci gemini * wird ein Mann entlarvt, der sich als Frau verkleidet hat; er sträubt sich dagegen, was er kann1).

Hier möge ein Karagözstück verwandten Inhalts folgen').

Hadschievad stolpert vor des Karagöz Thür. Karagöz bietet ihm Prügel an, man einigt sich schliefslich zu einem friedlichen Gespräch. Hadschievad fragt vertraulich, mit welcher Frau Karagöz jetzt verkehre. Karagöz meint, mit einer hinkenden Eselin. Er fühlt sich zwar genügend erotisch veranlagt, aber es fehlt am Besten, er hat kein Geld.

H. : Das schadet nichts; ich werde dir alles besorgen unter der Bedingung, dafs wir einen Kontrakt machen.

K.: Gut, ich unterzeichne.

H.: So, dann gebe ich dir meine Tochter zur Frau.

Er geht fort, holt seine Tochter nebst zwei Notaren und zwei Zeugen, die Trauung wird vollzogen.

Zwischen der ersten und zweiten Scene liegt eine Nacht.

Die Frau fühlt am nächsten Tage allerhand Schmerzen; schliefslich fürchtet sie, ins Kindbett zu kommen. Karagöz

*) [Ei] perii! non puellula est. numquid [namj abscondidisti

Inter nates? (68. 69.)

*) Quedenfeldt erhielt es durch die Vermittelung eines Freundes von dem Karagödschi-Ssi-Mohammed Ben-Dabüs in Tunis; a.a.O. S. 921 folg.

650 Siebentes Kapitel.

wundert sich, die Frau aber meint, sie sei in einer heiligen Stadt geboren, und wenn sie mit einem Manne verkehre, be- komme sie am nächsten Morgen ein Kind.

Callida dat stulto tarn nova nupta viro,

sagt Ovid vom Mimus. Karagöz holt die Hebamme, und bald stellt das Kind sich ein. Es zeigt sich merkwürdig frühreif, kann gleich sprechen, äufsert gar erotische Bedürfnisse, und als Vater Karagöz es auf den Rücken hebt und mit ihm spazieren geht, benimmt es sich höchst unanständig; da läfst Karagöz es hinfallen, dafs es stirbt. Aber des Kindes Mutter hetzt ihm die Polizei auf den Hals, und Karagöz wird schliefslich hingerichtet. Auch in den griechischen Komödien erschallt das Geschrei ge- bärender Frauen, und es zeigt sich die Hebamme. Das wird im Mimus nicht anders gewesen sein. Ich erinnere auch an Sophrons " Ax.idxQiai J). Auch Hinrichtungsscenen kamen im Mimus vor, so im „Laureolus" und in den Kreuzigungsmimen.

Genau denselben Stoff, wie dieser türkische Mimus, behandelt „Die schwangere Jungfrau" (virgo praegnans) des Pomponius, und sie wird ihn gewifs nicht weniger burlesk gestaltet haben, wie der Karagöz.

Im allgemeinen aber hat Karagöz viel Glück in der Liebe, und seinen Werbungen widersteht selten ein Weib. So entführt in einem bei Quedenfeldt (a. a. 0. S. 922 folg.) erzählten Stück Karagöz einem Araber oder auch einem Inder seine Frau, mit welcher dieser sich zum Vergnügen aufs Land begeben hat. Sieg- reich weifs er die reizende Fatme gegen alle Abgesandten des Inders, die sie zurückholen sollen, zu verteidigen. Erst der Riese Og ben Oniok bringt sie glücklich ihrem rechtmäfsigen Besitzer

') Auch bei Champfleury (a. a. 0. S. 99) wird von einem tunesischen Karagözstück berichtet, „Karagöz als Familienvater", in dem in höchst realistischer Weise alle Vorkehrungen für die Niederkunft einer Frau ge- troffen werden; zum Schlüsse kommt ein kleiner Karagöz zum Vorschein der bis auf den Phallus seines Vaters getreues Konterfei ist; über den letzten Zug vgl. oben S. 602, 603, 635. An derselben Stelle wird das Stück „Karagöz im Irrenhause" erwähnt.

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 651

wieder zurück. Es ist hier eben der alte Ehebruchsmimus. Als wahrer Liebesheld erscheint Karagöz in einem Stücke, das Rolland in Konstantinopel sah. (Ich gebe die Beschreibung nach Champfleury, a.a.O. S. 42 44): „Karagöz kommt auf die Bühne und besingt die Freuden der Liebe, dann kommen der Reihe nach verschiedene Frauen, welche spazieren gehen: der Harem eines Pascha, die Gattin eines Kaufmannes, die eines armenischen Sarafen, die eines Landmannes und die Tochter eines Priesters. Bei ihrem Anblick fängt der Wollüstling Feuer. Seine tierischen Gelüste zeigen sich mit einer unanständigen Offenheit, welche die ganze Zuhörerschaft, selbst die kleinsten Kinder, in Freude ver- setzt. Karagöz versucht diese Schönen alle nacheinander zu ver- führen; und nach mehr oder weniger scheinbaren Äufserungen des Unwillens, nach schwachen Einwänden, nach Gesprächen .voll frecher Sarkasmen, ergeben sich leider schliefslich alle und willigen ein. Nur bestimmen sie ihren Preis ; bei dem Geständnis des Versuchers, er habe keinen Heller, entfernen sich alle im Zorn, oder sie treiben mit ihm derartige Possen, dafs man sie unmöglich erzählen kann.

Von allen abgewiesen und desto mehr erotisch aufgeregt, versucht Karagöz sich zu trösten und liefert sich selbst in einem langen Monolog mit Hilfe vieler niedrig-komischen Vergleiche den Beweis, dafs es kaum einen Unterschied zwischen Torte und Schwarzbrot giebt, und dafs alle Frauen gleich viel wert sind. Infolgedessen klopft er an die Thür eines Lupanar. Da er mit leeren Händen kommt, wird er nicht besser empfangen. Trotz seiner Bitten, Versprechen und Ränke jagt man ihn wiederholt fort. Schliefslich wird er wütend und will die Thür stürmen. Da hetzt man einen grofsen Hund auf ihn, der ihn in einem grotesken Kampfe mit einem Bifs zum Eunuchen macht und fort- läuft. Niedergeschlagen durch sein Unglück sieht sich der Spektakler gezwungen, um seinen Verlust wieder gut zu machen, die Rolle des Lieferanten des Hauses anzunehmen.

Dann beginnt das Gegenstück zur Musterung der Weiber, und diese zweite Hälfte des Dramas übertrifft an Komik bei weitem alles Vorangegangene. Karagöz wendet sich als Versucher

652 Siebentes Kapitel.

nacheinander an einen Pascha, einen Priester, einen Bankier, einen Kaufmann, einen Soldaten, einen Derwisch, einen Juden, einen Christen, einen Packträger u. s. w. Anfänglich widerstehen alle, aber nach langem, höchst moralischem Gerede kommen sie mit ihren wahren Beweggründen zum Vorschein. Es ist das eine eigenartige Satire auf den typischen Charakter der Kasten und Zünfte. Der Pascha spricht von seiner Würde, der Priester von seinem Ansehen, der Bankier von seinem Kredit, der Jude be- rechnet die Kosten und der Kaufmann das Risiko, das die Be- friedigung ihrer Laster mit sich bringen würde. Der Derwisch träumt von andern Freuden und verachtet solch gemeine Ver- gnügungen. Allmählich jedoch verschwinden die Bedenken vor der burlesken Beredsamkeit, den Paradoxien, den erotischen Ge- mälden des Verführers: Jeder willigt ein und rechtfertigt' sich vor sich selbst mit höchst burlesken Sophismen. Schliefslich is.t das Lupanar gefüllt ..."

Das Thema dieses Stückes ist nichts weniger als sauber; aber es war von Uranfang an im Mimus beliebt; noch in der neuen Komödie spielt die Scene gern vor der Thür des Bordells, die manchmal heftig berannt wird1). Herondas führt uns die Kupplerin vor und den Mädchenwirt; der Kuppler ist eine der wichtigsten Typen der Magodie, und die Cinaedologie hat vor- nehmlich mit diesen bösen Stoffen zu thun.

Kein Wunder, dafs also Karagöz gelegentlich auch einmal in der Rolle des Mädchenwirtes erscheint und zwar im

Quartierskandal. (Mehalle baskyny.)

Karagöz, dessen Frau auf mehrere Tage abwesend ist, trifft ein Mädchen, die sich mit ihrem Wirt verzankt hat, und nimmt

*) Diphilus, Menander und andere Dichter der neuen Komödien haben den Kuppler öfter vorgeführt; bei Diphilus und Poseidipp ist der noQVoßöaxog sogar die Titelrolle, bei Plautus und Terenz findet sich der Kuppler. wiederholt; der gelungenste Kupplertypus ist wohl Ballio im Pseu- dolus des Plautus.

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 653

sie bei sich auf. Schon kommen ihre Anbeter; zuerst ein junger Bej, Lokmann aus Skutari, aber Karagöz will für die Zusammen- kunft als echter Gesinnungsgenosse des Kupplers Battaros bei Herondas Geld, und der gute Bej hat keins. Darauf prügelt Karagöz ihn unbarmherzig, wie es alle Kuppler im Mimus und in der neuen Komödie sind, hinaus, ebenso den Stammler und einige andere Kunden des Fräuleins, und zuletzt den Inder. Da erscheint aber ein äufserst rücksichtsloser junger Mann, der Karagöz mit Gewalt zu Leibe geht, wie es im Mimus und der attischen Komödie nicht selten dem Kuppler gegenüber geschieht, der nun einmal dazu da ist, geprellt zu werden und Prügel zu bekommen. Schliefslich wirft er den Karagöz aus seinem eigenen Hause hinaus. Aber Karagöz weifs sich besser zu helfen als etwa Battaros; er ist nun einmal immer der Schlaue; schnell ruft er die vorher von ihm herausgeworfenen ungebetenen Gäste zurück. Der Bej an ihrer Spitze dringt auf den frechen Eindringling ein, und während sie sich draufsen streiten, macht Karagöz die Haus- thür zu und behält das Mädchen frohlockend für sich selber (nach Jacob Heft 2, S. VII— IX).

Urdrollig ist es, diesen lasciven Karagöz in einem Mimus als den Tugendwächter der Frau seines Freundes Hadschievad anzutreffen. Ich gebe den Inhalt dieses Mimus „Karagöz als Opfer seiner Tugend" mit den Worten Gerard de Nervals, der dieses ziemlich heikle Stück geistvoll und geschickt erzählt (bei Champfleury a. a. 0. S. 27-36): „Hinter der Leinwand wurde eine Dekoration angebracht, welche einen Platz von Konstanti- nopel darstellte, mit einem Brunnen und Häusern davor.

Bald sah man aus einem Hause einen Türken kommen, be- gleitet von einem Sklaven, welcher einen Reisesack trug. Er schien unruhig, und indem er plötzlich einen Entschlufs fafste, klopfte er an ein anderes Haus des Platzes und rief: „Karagöz! Karagöz! Bester Freund, schläfst du noch?-4

Karagöz steckte die Nase durchs Fenster, und als man ihn sah, tönte ein Schrei der Bewunderung durch den ganzen Zu- hörerraum; dann bat er um Zeit, sich ankleiden zu können, er- schien bald und umarmte seinen Freund.

654 Siebentes Kapitel.

Höre, sagte dieser, ich erwarte von dir einen grofsen Dienst ; eine wichtige Angelegenheit zwingt mich, nach Brussa zu gehen. Du weifst, dafs ich mit einer sehr hübschen Frau verheiratet bin; ich will es dir gestehen, dafs es mir schwerfällt, sie allein zu lassen, da ich nicht viel Vertrauen zu meinen Dienern habe . . . Nun wohl, mein Freund; heute Nacht ist mir ein guter Gedanke gekommen; dich zum Schützer ihrer Tugend zu bestellen. Ich kenne die zarte und tiefe Anhänglichkeit, die du zu mir fühlst; ich bin glücklich, dir diesen Beweis meiner Achtung zu geben.

Unglücklicher, sagte Karagöz, bist du närrisch? Sieh mich doch ein wenig an!

Nun, und?

Wie, begreifst du nicht, dafs deine Frau, wenn sie mich sieht, dem Drange nicht wird widerstehen können, mir anzu- gehören?

Ich sehe das nicht, sagte der Türke; sie liebt mich, und wenn ich eine Verführung fürchten müfste, der meine Frau er- liegen könnte, dann wird die nicht von deiner Seite kommen, mein armer Freund; dafür bürgt mir zunächst deine Ehre und dann Ah bei Allah! du bist sonderbar gebaut! . . . Kurz, ich rechne auf dich.

Der Türke entfernt sich.

Blindheit der Menschen, ruft Karagöz aus. Ich! sonderbar gebaut! sage doch: zu gut gebaut, zu schön, zu verführerisch, zu gefährlich.

Schliefslich, sagt er im Selbstgespräch, mein Freund hat mir die Bewachung seiner Frau anvertraut, ich mufs dieses Ver- trauen rechtfertigen. Ich will in das Haus gehen und es mir auf dem Divan bequem machen ... 0 Unglück! Seine Frau, neu- gierig, wie sie alle sind, wird mich sehen wollen . . . und sobald sie ihre Augen auf mich geworfen hat, wird sie in Staunen ge- raten und alle Zurückhaltung verlieren. Nein! ich will nicht hineingehen, ich werde an der Thür dieses Hauses stehen bleiben wie ein Soldat auf Schildwache. Eine Frau ist eine so geringe Sache und ein wahrer Freund ein so seltenes Gut.

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 655

Diese Phrase erregte einen wahren Beifallsturm unter der männlichen Zuhörerschaft im Kaffeehaus. Sie wurde als Couplet vorgetragen. In dieser Art Stücke kommen nämlich vielfältig, wie bei uns, Volkslieder vor.

Karagöz zeichnete sich auf der weifsen Leinwand (der perde) . . wunderbar ab mit seinem schwarzen Auge, seinen schön geschwungenen Augenbranen und den am meisten in die Augen springenden Vorzügen seiner ungezwungenen Art (Phallus). Seine Eigenliebe hinsichtlich von Verführungen schien die Zu- hörer nicht in Erstaunen zu setzen.

Nach seinem Liede schien er in Betrachtungen versunken. Was soll ich thun? sagte er zu sich; zweifellos an der Thüre warten, bis mein Freund zurückkommt. Aber diese Frau kann mich heimlich durch die Fenstervorhänge sehen. Aufserdem kann sie Lust haben, mit ihren Sklavinnen ins Bad zu gehen. Kein Mann könnte seine Frau hindern, unter diesem Vorwande auszugehen; dann kann sie mich mit Mufse bewundern . . . 0 thörichter Freund, warum hast du mir diese Überwachung an- vertraut?

Hier geht das Stück ins Phantastische über. Um sich den Blicken der Frau zu entziehen, legt sich Karagöz auf den Bauch und sagt: „Ich werde wie eine Brücke aussehen4*.

Die Possen, die Karagöz jetzt treibt, sind so heikler Natur, dafs ich sie lieber französisch lasse1).

*) Champfleury a. a. 0. S. 30 32 : „11 faudrait se rendre compte de sa conformation particuliere pour comprendre cette excentricit€. On peut se figurer Polichinelle posant la bosse de son ventre comme une arche, et figurant le pont avec ses pieds et ses bras. Seulement, Caragueuz n'a pas de bosse svr les /paules.

Passent une foule de gens, des chevaux, des chiens, une patrouille, puis enfin un arabas traine par des boeufs et chargt de Jemm.es. L'infortune Caragueuz se live a temps pour ne pas servir de pont ä une si lourde machine.

Une sehne plus comique a la reprtsentation que facile ä d4crire succide a celle Caragueuz, pour se dissimuler aux regards de la femme de son ami, a voulu avoir fair cfun pont. 11 faudrait, pour Vexpliquer, remonier au comique des atellanes laünes. Dans cette seine, d"une exentricite qu'il serait difficile de

656 Siebentes Kapitel.

„Plötzlich tritt die Gattin seines Freundes aus dem Hause, um sich ins Bad zu begeben. Karagöz hat keine Zeit, sich zu verbergen, und die Bewunderung dieser Frau bricht in Freuden- rufen los, die den Zuschauern sehr erklärlich sind.

Was für ein schöner Mann! ruft die Dame; ich habe nie etwas Ähnliches gesehen.

Entschuldigen Sie, gnädige Frau, sagt Karagöz, immer tugendhaft; ich gehöre nicht zu den Menschen, mit denen man sprechen kann, ... ich bin ein Nachtwächter, einer von denen, welche mit ihrer Hellebarde klopfen, um das Publikum zu be- nachrichtigen, wenn eine Feuersbrunst in dem Viertel ausge- brochen ist.

Und wie kommt es, dafs du noch um diese Stunde hier zu finden bist?

Ich bin ein armer Sünder . . . Obgleich ich ein guter Muselman bin, habe ich mich von Giaurs ins Wirtshaus verführen lassen. Dann hat man mich, ich weifs selbst nicht wie, sinnlos betrunken auf diesem Platze liegen lassen . . . Mag Mahomet mir verzeihen, dafs ich seine Gebote übertreten habe!

Armer Mann! Du mufst krank sein! . . . Tritt ins Haus, du kannst dich dort ausruhen.

Und die Dame versucht, die Hand des Karagöz zum Zeichen der Gastfreundschaft zu fassen.

faire supporter chez nous, Caragueuz se couche sur le dos et desire avoir Vair d'un pieu.

La foule passe et chacun se dit: Qui a plante' la ce pieu? il n'y en avait pas hier. Est-ce du chene, est ce du sapin?

Arrivent des blanchisseuses revenant de la fontaine, qui etendent du linge sur Caragueuz. II Japercoit avec plaisir que sa supposition a reussi. Un instant apres, on voit entrer des esclaves menant des chevaux a l'abreuvoir; un ami les rencontre et les invite ä entrer dans une galere {sorte de cabarei) pour se rafraichir; mais attacher les chevaux? Tiens, voilä un pieu, et on attache les chevaux ä Caragueuz.

Bientöt des chants joyeux, provoque~s par l'aimable chaleur du vin de Tene'dos, retentissent dans le cabaret. Les chevaux impatients s'agitent. Caragueuz, tir€ a quatre, appelle les passants ä son secours et demontre douloureusement, qu'il est victime d'une erreur. On le ddivre et on le remet sur pied".

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 657

Rühren Sie mich nicht an, Madame, ruft der letztere mit Schrecken . . . Ich bin unrein. Ich kann garnicht in ein an- ständiges muselmanisches Haus eintreten; ich bin durch die Be- rührung eines Hundes befleckt.

Wie ist das gekommen? fragt die Dame.

Der Himmel hat mich gerecht gestraft. Ich hatte bei meiner schrecklichen Schwelgerei in dieser Nacht Confitüren von Weintrauben gegessen. Als ich hier auf der Strafse er- wachte, merkte ich mit Schrecken, dafs ein Hund mir das Gesicht beleckte. Das ist die Wahrheit. Allah möge mir ver- zeihen!

Von allen falschen Angaben, die Karagöz macht, um die Angriffe der Frau seines Freundes zurückzuweisen, scheint diese die siegreichste zu sein.

„Armer Mann, sagt sie mitleidig; wahrhaftig, niemand wird dich anrühren dürfen, bevor du nicht fünf Waschungen von je einer Viertelstunde vorgenommen und dabei Verse des Koran recitiert hast. Gehe zum Brunnen, und wenn ich vom Bade zurückkehre, will ich dich hier wiederfinden."

Die Dame kehrt zurück und mit ihr eine ganze Schaar von Freundinnen, die sie im Bade getroffen hat, alle fallen liebestoll wie Mänaden über ihn her. Da fährt plötzlich der französische Gesandte in einer prächtigen Kutsche vorüber; Karagöz, der schon in Gefahr ist, zu unterliegen, stellt sich unter fran- zösischen Schutz und fährt vor den Augen der verzweifelnden Damen schnell davon. Der Gatte kehrt zu seiner Frau zu- rück, deren Tugend Freund Karagöz durch seine Aufopferung bewahrt hat.

Diese Idee, den gewohnten Verführer, wie er unablässig in den griechischen und römischen Mimen vorkam,

in quibus assidue cultus procedit adutier,

auch einmal die Rolle des Tugendwächters spielen zu lassen, ist so übermütig-lustig und zugleich so genial, dafs schwerlich ein türkischer Karagözdichter der Erfinder war, das dürfte auf

Reich, Mimua. 40

658 Siebentes Kapitel.

einen griechischen Mimographen zurückgehen. Jedenfalls gilt auch von den Karagözstücken Ovids Wort über die Mimen:

qui semper vetiti1) crimen amoris habent.

Gelegentlich sehen wir Karagöz auch als Ehestifter auf- treten, so besonders in Die Teufelslist oder die Geisterbannerei des Karagöz« (vgl. Jacob Heft 3, S. 17 folg,).

Karagöz hat von mehreren geheimnisvollen Männern, die er im Traume gesehen hat, eine Beschwörungsformel gelernt, Kranke und Verrückte zu heilen. Er einigt sich mit Hadschievad dahin, dieser soll ihm alle Kranken und Verrückten bringen, damit er sie heile, und dieser bringt ihm Tusun Bej; aber Tusun stellt sich nur wahnsinnig, in Wirklichkeit liebt er Dilber, die Tochter des Hadschievad, und Karagöz hat vorher ein Gespräch zwischen Dilber und Tusun belauscht und gehört, wie Dilber dem Tusun einen vergrabenen Schatz des Hadschievad anzeigt, den dieser dem Vater Hadschievad als Brautgabe übergeben soll. Tusun gewinnt Karagöz' Beihilfe; dieser weifs Hadschievad durch die schnelle Heilung Tusuns und durch den geheimnisvollen Hinweis auf den verborgenen Schatz so einzuschüchtern, dafs er seine Einwilligung in die Heirat Tusuns und Dilbers giebt. Karagöz empfiehlt sich, um Hochzeitskleider anzulegen. Warum sich Tusun krank und geistesgestört anstellt, ist aus diesem Stück, wie Jacob hervorhebt, absolut nicht zu ersehen. Desto deut- licher wird dieser Zusammenhang in dem alten byzantinischen Mimus gewesen sein, der die letzte Quelle dieses Stückes ist. Wenn Karagöz hier als Arzt auftritt, so erinnern wir uns daran, dafs der Arzt schon im lakonischen Mimus, dem Dikelon, eine typische Figur war und seitdem als unwissender und prahlerischer Charlatan ein stehender Typus des Mimus ist. Nicht selten hat er sogar die Titelrolle; einen „Medicus" schrieb Pomponius, eine „Mania medica" Novius; noch Choricius kennt den Arzt als mimi- schen Typus. Wie Karagöz soll der Arzt in den „Menaechmi" des Plautus einen vermeintlich Wahnsinnigen heilen. Karagöz ist

l) ficti in einzelnen Codd., wohl aus foedi verdorben, was dann die ur- sprüngliche Lesart wäre ; vetiti nur sinngeraäfser Ersatz für das sinnlose ficti?

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 659

zugleich hier eine Art Beschwörer, wie es auch der Negromant Philistions war. Beschwörungen sind überhaupt seit Sophrons rvvaTxfg al xdv Ütöv (fuvxi i^släv und Theokrits OaquaxtvxQiat ein gewöhnliches Thema des Mimus.

Besonders beliebt ist im Mimus die Darstellung nicht blofs von Zank mnd Streit, sondern auch eines regulären Wettstreites zwischen zwei typischen Personen. In einer Atellane des Xovius wird sogar der Wettstreit zwischen Tod und Leben vorgeführt (Mortis et vitae iudicium). Bei den Gerichtsscenen im Mimus werden Verklagte und Kläger einen regelrechten Agon aufgeführt haben. Des Herondas Kuppler Battaros vor Gericht führt uns als recita- tiver Mimus nur den einen Teil dieses Streites vor. Noch Choricius weist darauf hin, wie im Mimus gerne neben dem guten Redner auch ein schlechter auftrete, und an ihnen könne man erkennen, was richtige und was falsche Beredsamkeit sei (vgl. oben S. 214). Die beiden haben also doch wohl im Wett- streite Proben ihrer Kunst abgelegt. Dieses mimische Motiv, das noch weiter wirkt in der AixvSov xal (faxfjg (fvyxQiaig des Cynikers Meleager und später noch in den Streitgedichten des Mittelalters, in denen Sommer und Winter, Wein und Wasser, Leinwand und Wolle oder Phyllis und Flora, die Geliebte eines Ritters und eines Klerikers um den Vorrang streiten1), ist nun auch eines der Hauptthemata im türkischen Mimus.

Dort metamorphosiert sich Karagöz zum Dichter und ringt in einem Kaffeehause mit einer ganzen Gesellschaft von Dichtern um den Preis. Im ersten Akte kommt Hadschievad zu Karagöz, und nach mancherlei Hin- und Herreden erzählt ihm Hadschievad, er sei an dem Cafe" der Dichter vorübergekommen und hätte ein lautes Geschrei gehört. Die Dichter säfsen da, hätten die Mandoline in der Hand und spielten und sängen. Zugleich hörte Hadschievad, sie wollten einen grofsen Dichterwettstreit anheben, und wer darin siege, solle einen Shawl und zehn Gold- stücke erhalten. 0! meint Karagöz, da müssen wir hin, die zehn Goldstücke können wir brauchen. Ja, sagt Hadschievad, kannst du denn die Laute schlagen? Gewifs, sagt Karagöz.

*) Vgl. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas I, S. 384.

42*

660 Siebentes Kapitel.

Hadschievad giebt zu bedenken, er meine aber nicht etwa zer- schlagen. Karagöz weist alle Zweifel zurück und beide gehen ins Cafe\ Schon hat der Wettstreit begonnen, einer von den Dichtern singt eben, doch hier gebe ich lieber den Text selbst in von Luschans Übersetzung (a. a. 0. S. 128—132):

K. : Hadschi E'iwad, ist das der Ort, von dem Du gesprochen ? Was sind das für sonderbare Kerle, und was halten sie in der Hand?

H.: Aber um Gotteswillen, Karagös, sei doch still, schreie nicht so laut; das sind hier die Dichter, von denen ich Dir er- zählt, mit ihnen sollst Du Dich in den Wettstreit einlassen; jetzt mufst du zeigen, was Du kannst.

K.: Oho, oho, was glaubst du denn! Haaaaah, Ihr Dichter, ich, der Karagöz, ich bin gekommen, um mit Euch um den Preis zu ringen, legt nur los, dafs ich Euch höre!

Einer von den Dichtern: Bitte, wollen Sie nur näher treten. Willkommen, sehr willkommen! Caf6-Wirth, mache einen Cafe" mit Zucker.

Caf6-Wirth: Mit Zucker, kommt gleich, gleich.

K.: Ruhig, Du! Mein Trommelfell ist zerplatzt, hat man Dir denn Deinen Hals mit einer Wasserleitungs-Röhre angebohrt!

(Es wird Cafe" gereicht, alle trinken.)

Ein Dichter: Nun Karagös, bist Du gekommen, um Dich mit uns zu messen?

K.: Ja, was glaubst Du denn! Schickt es sich vielleicht, dafs diese Goldfüchse da kleben bleiben und ich mit hungrigem Auge daneben stehe.

Ein Dichter: Dann bitte, tragen Sie nur vor, wir werden zuhören.

K.: Nein, tragt ihr vor, ich werde Gegenreime machen.

Ein Dichter: Gut, dann hören Sie zu.

Komm, wir wollen fröhlich sein, eine Nacht, heimlich in

Bebek, Wollen uns vom Schicksal nach Herzenslust unseren Wunsch

erfüllen lassen.

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 661

Lasse doch durch das Heilmittel Deines Besitzes Deinen

Kranken gesunden, Oder soll er wol so ganz unglücklich im Bette bleiben? All mein Eifer und meine Mühen sind umsonst gewesen Die Silberarmige hat sich meiner Dicht erbarmt.

Sie fertigt den Liebhaber mit Versprechungen ab und läfst

sich nicht umarmen. Ihresgleichen ist nicht wieder zu finden an Bosheit. Ihr Ebenbild hat ein Mensch oder Menschenkind nie noch ge- sehen Vielleicht dafs ihresgleichen an Schönheit sich unter Engeln

nur findet. Der Sänger Nijme soll Tag und Nacht seufzen, Die Liebste zu erringen soll stets nur sein Wunsch sein.

Bitte, Karagös, die Reihe ist an Ihnen. Karagös singt:

Sieh unsere Hütte, sie füllt die Welt mit Gestank Empfange von mir ein Sieb als Ehrengeschenk.

Gestohlen hatte ich den Becher des Scherbet-Verkäufers

Gefangen wurde ich, und lange Zeit blieb ich im Bagno. Meine Zeit verging mit Schmieden von Rosten und Feuerzangen Und doch war meine Mühe und Arbeit keinen Heller wert.

Mir genügt auch irgend eine grobe Matte,

Denn hast Du gehört, dafs je ein Zigeuner in einem Bette

schläft? Es giebt keinen gröfseren Fatzke, als den Hadschi-Eiwad, Vielleicht giebt es seinesgleichen unter Affen und Meerkatzen!

Nicht wahr, das ist schön! Ha, Ha, Ha!

H.: Bravo, Karagös, bravo, ich wufste gar nicht, dafs Du solch ein Dichter seiest!

K.: Ja, was glaubst Du denn, es giebt noch manches an mir, von dem Du nichts weifst.

Dichter: Karagös, ich werde noch etwas singen, und wenn Du auch darauf eine Antwort hast, so bist Du mein Meister, und ich küsse Dir die Hände zur Anerkennung.

662 Siebentes Kapitel.

K. : Singe nur immer zu, so lange Du kannst, (so lange als Deine Hand reicht) meine Antwort ist immer bereit.

Nachdem auch dieser Dichter besiegt ist und Hadschievad Karagöz belobt hat, kommt ein anderer Poet an die Reihe, dessen Lied gleichfalls vom Karagöz parodiert wird. Dann fragt Karagös:

Nun, stimmt es?

D.: Ja, stimmen thut es, aber gehört sich eine solche Parodie?

K.: Wenn es Dir nicht gefällt, singe nur ein anderes Lied!

Schliefslich müssen sich alle Dichter für besiegt erklären, und Karagöz erhält den Shawl und die zehn Goldstücke.

Unerklärt bleibt in diesem Mimus, woher dem sonst höchst ungebildeten Karagöz die Dichtergabe so plötzlich kommt. In „Karagöz als Dichter" (Karagözün aschyklyky), einem gedruckten Karagözstück, das es Jacob in Konstantinopel zu erwerben gelang, und das dasselbe Thema behandelt aber variiert, wird auch dieser Umstand erklärt. Als Hadschievad vor Karagöz' Thür kommt, fragt dessen Frau aus dem Fenster nach seinem Begehr. Auf seine Frage nach Karagöz' Befinden erzählt sie, mit ihrem Mann sei es nicht mehr auszuhalten, er sei direkt verrückt geworden. Er habe nämlich ein Buch in die Hand bekommen, in dem er unablässig lese, und nun fasele er, er sei ein Dichter geworden; auch jetzt hocke er wieder über dem Buche. Darauf erscheint Karagöz und erzählt dem Hadschievad, er sei jetzt sa^yr (taub) geworden, worauf ihm Hadschievad allerhand Mittel gegen Taubheit anrät. Schliefslich kommt denn heraus, er meint, er ist schayr (Dichter) geworden. Er giebt dann Hadschievad einige Proben seines neuen Könnens, und dieser rückt nun mit seiner Nachricht von dem Dichterwettstreit, der stattfinden soll, heraus, und sie gehen ins Caf6, wo sich alles weitere ähnlich wie oben abwickelt. Auf das Lied des Dichters Kulubi:

„Komm, o Dichter, frage nach der Wein-Schilderung bei dem, der (schon) in dieser Welt trinkt,

Frage bei dem, welcher von dem Dichterwein berauscht und bewufstlos geworden ist.

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 663

Wenn du von dem Vogel Greif Kunde zu empfangen verlangst, Frage bei dem, der über die sieben Meere zum Gipfel des Kaf seine Schwingen ausbreitend fliegt."

antwortet Karagöz:

„Nach dem Amüsement dieser Welt frage den, der viel Geld

ausgiebt,

Frag' nach der Furcht vor dem Tode die Maus in der Falle.

Wenn du sprichst: „Was ist Unverschämtheit?" komm, Sänger

Kulubi,

Frag bei dem, der im Wettstreit überwunden mit Schande

flieht.

Kulubi erklärt sich vom Dichter Karagöz besiegt und ruft seine beiden Kollegen, die Karagöz gleichfalls überwindet, den letzten, indem er ein Rätsel löst, das er zufällig kurz vorher von Had- schievad gehört hat. Man sieht hier überall die bessere Moti- vierung (vgl. Jacob Heft 3, S. 7 ff.).

Zum Schlufs giebt es dann noch in der Version des Wett- streites, die Künos kennt, eine Prügelei zwischen Karagöz und Hadschievad bei der Verteilung des Siegespreises, bis beide end- lich, ein Lied singend, abziehen.

Es ist lustig genug, wie Karagöz die vornehmen, idealistischen, ja sogar ein wenig verstiegenen lyrischen Lieder der Dichter in seiner burlesken Weise travestiert. Der realistische Mimus liebte ja schon bei den Hellenen, seinen Gegensatz gegen die idea- listische Poesie herauszukehren. Wie der mythologische Mimus die idealistische Heldensage in ihr burleskes, realistisches Gegen- bild verkehrte, so travestierte der lyrische Mimus gerne die vor- nehme Lyrik. Ich erinnere auch an die Parodie der Euripi- deischen Monodie durch Aeschylos beim Dichterwettstreit in den -Fröschen" (vgl. oben S. 536 ff.). Nun, soweit Aristophanes von einem niederen türkischen Karagödschi absteht, so weit steht der Wettstreit in den „Fröschen" von dem im türkischen Mimus ab. Aber das alte mimische Motiv ist in beiden dasselbe, und eine gewisse Ähnlichkeit in seiuer Ausführung ist nicht zu verkennen, wenn auch der Preis in dem einen der Thron der tragischen

664

Siebentes Kapitel.

Kunst und im anderen zehn Goldstücke sind. Wie Dionysos bei Aristophanes, giebt Hadschievad einen prächtigen Zuhörer ab. Oft genug wird im byzantinischen Mimus dieser Dichterwettstreit vorgekommen sein, der ja in den Einrichtungen des antiken Lebens, seinen vielfältigen dichterischen Konkurrenzen und Preisen, einen realen Boden hatte.

Wir erinnern uns nun noch Karagöztiteln wie: Le mariage de Caragueuz Le mariage de Hubbe Hanum

La peche de Caragueuz

Das Bad

Kanli kavak (blutige Platane, Gespensterstück)

gegenüber

an folgende Mimentitel: Die Hochzeit (Laberius) Die Braut des Pappus

(Pomponius) Der Thunfischer (Sophron) Der Fischer (Sophron) Die Fischer (Theokrit) Die Fischer (Pomponius) Der Fischer (Laberius) Der Gesundbrunnen (Laberius) Das Gespenst (Mimograph

Catullus).

Zuletzt will ich noch, damit man sieht, in wie hohem Grade das Karagözspiel in Nordafrika vergröbert und verschlechtert wird, ein tunesisches Stück mitteilen, welches Champfleury aus Paul Arene „Vingt jours en Tunisiett mitteilt (a. a. 0. S. 95 99): „Bald erscheint ein schwarzes Schattenbild, welches auf dem Grunde des erleuchteten Rahmens mit Händen und Füfsen heftig gesti- kuliert. Doch das ist noch nicht Karagöz, sondern ein Ein- wohner der Stadt, ein Bürger mit einem Turban auf dem Kopfe, der Appetit auf einen guten Fisch hat und den Auftrag zu seiner Beschaffung einem Neger erteilt. Nach diesem kommt Karagöz. Karagöz hat die Unterhaltung zwischen dem Bürger und dem Neger belauscht. Er erklärt, dafs er, Karagöz, den Fisch essen werde. Damit schliefst der erste Akt.

Im zweiten erscheint Karagöz nicht. Wir befinden uns auf dem Meere in einer Barke mit mehreren Ruderknechten, welche sehr geistreich hergestellt ist. Der Neger hält die Stange. Vorne

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. 665

wirft der Eigentümer des Bootes seine Leine in das, was die salzigen Tiefen vorstellt. Ein grofser Thunfisch, mit weifsein, rundem Auge und offenem Maule, streift unter dem Wasser umher und beriecht den Angelhaken. Aber der Neger spricht fortwährend und hindert den Fisch am Anbeifsen. Eine endlose Auseinander- setzung zwischen dem Herrn und dem Neger, infolge deren der Neger verspricht, nicht mehr zu reden. Er redet wirklich nicht mehr ; aber zur grofsen Freude der Zuhörer, die den schmutzigen Witzen dieses rufsfarbigen Pierrot sehr sympathisch gegenüber- stehen — läfst er anderswoher, als aus dem Munde, ein un- passendes, schallendes Geräusch hören, furchtbar wie ein Donner- schlag.

Der Thunfisch rettet sich verstört in die Abgründe. Eine neue Auseinandersetzung des Herrn, begleitet von wütenden Ge- bärden. Neue Eide des Negers, welcher schwört, in Zukunft sich völlig ruhig zu verhalten. Endlich ist der Thunfisch gefangen, man zieht ihn an Bord, die Ruderknechte rudern, die Barke ver- schwindet hinter der Coulisse, und der zweite Akt hat ein Ende.

Im dritten Akt kommt der Bürger, trägt seiden Fisch unter dem Arm und legt ihn auf die Erde. Er legt sich nebenbei hin zu Kopfende. Karagöz kommt hinzu und legt sich an das Schwanzende. Unruhig beobachtet der Bürger Karagöz. Aber Karagöz schläft, Karagöz schnarcht. Der Bürger, sicher gemacht, glaubt, einen Augenblick fortgehen zu können, geht weg, und überläfst den Fisch der Obhut der Sterne.

Als er mit seinen Freunden wiederkommt, die seinen Kauf bewundern wollen, hat Karagöz den Fisch weggenommen; er hat sich an die Stelle gelegt, auf den Rücken ausgestreckt, und es läfst sich erraten, wie gröblich der Bürger sich täuscht, wenn er in der finstern Nacht einen frisch geangelten Thunfisch zu finden glaubt.

Der erste Kampf, an dessen Ende Karagöz das Feld be- hauptet, wobei er gewohnheitsmäfsig den besiegten Feind über seine sonderbare Klinge hat springen lassen.

Vierter Akt und zweiter Kampf, diesmal mit dem Neger, der verlangt, Karagöz solle den Fisch zurückgeben.

Der Neger wird getötet. Karagöz schleppt ihn vor die Thür

666 Siebentes Kapitel.

des Bürgers. Der Bürger, dem nichts an der blofsstellenden Nach- barschaft eines Leichnams liegt, schleppt seinerseits den Neger vor die Thür des Karagöz. Man zerrt den unglücklichen Neger eine Weile hin und her. Endlich entschliefst man sich zu einem Vergleich. Der Neger soll mitten auf die Strafse, in gleicher Entfernung von beiden Häusern, gelegt werden. Karagöz mifst die Strecke ab, aber mit welch sonderbarer Elle! 0 Mahomet! Aber da Karagöz auf andere Streiche sinnt, legt er sich, als der Bürger einmal weggeht, an die Stelle des Negers, den er ver- schwinden läfst.

Fünfter und letzter Akt. Die Klageweiber, die inzwischen be- nachrichtigt sind, umringen Karagöz, den sie für den toten Neger halten. Sie rufen klagend „you! you!", sie stimmen Totenlieder an. Plötzlich richtet sich der Tote auf: das ist nicht der Neger, das ist Karagöz, das ist der Feind! Weniger tapfer gegenüber Frauen als gegenüber Männern, steht Karagöz auf dem Punkte, das Schicksal des Orpheus zu teilen. Angegriffen, zerrissen, mit den Krallen gepackt, in die Nase und anders wohin gebissen, bleibt der Unglückliche auf dem Strafsenpflaster, seufzt und spuckt sich in die Hände „prt . . . prt . . . prt . . .", um seine Wunden einzureiben. Da kommen Juden und wollen ihn be- graben. Sie legen ihn auf eine Bahre, und ihre genäselten Klagen auf hebräisch, ihre amen und adonai, deren Nachahmung sehr komisch karrikiert wird, bringen die Zuschauer häufig zum Lachen. Schon bat sich der Leichenzug in Bewegung gesetzt, da richtet sich Karagöz plötzlich wild auf. Von seiner ewigen fixen Idee fortgerissen, beschimpft er die, welche ihn begraben wollten, indem er sie gegen die Coulissen stöfst.

Der Rahmen bleibt einen Augenblick leer; dann erscheint Karagöz wieder, sehr grofs, ideal, zehnmal so grofs, wie in dem Stück, der Gargantua unter den Karagöz'. Er macht Luft- sprünge und gestikuliert wie ein richtiger semitischer Policinell, er kauderwälscht einen Triumphgesang. Die Lampe erlischt, die Posse ist zu Ende."

Nun dürfen wir nicht vergessen, wenn wir den Karagöz mit dem Mimus identifizieren, dafs der Karagöz doch immer nur

Sujets des Mimus und des türkischen Puppenspiels. ßß7

ein armseliges Puppenspiel ist. und der Mimus ein grofses, auf der vornehmen Bühne aufgeführtes Drama. "Wenn der türkische Hajaldschy auch ein noch so grofser Künstler ist, wie er es nach von Luschans Bemerkungen wirklich hier und da zu sein scheint, so ist er schliefslich doch immer nur ein Puppen- spieler. Trotz alledem fordert noch heute die türkische Puppen- komödie mit ihrer treffenden, wenn auch groben Ethologie und Biologie die Bewunderung verwöhnter europäischer Zu- schauer heraus; selbst so feine Kenner der Poesie, wie Jacob, Künos, von Luschan, Maltzan u. a., können ihr ihren Beifall nicht versagen. Wie hoch müssen da erst die hellenischen Originale gestanden haben, die Mimen Philistions und späterer byzantinischer Mimographen, von denen die Karagözkomödie ein spätes, vielfältig umgestaltetes, verändertes und zum Teil ver- ballhorntes Abbild bietet!

Wie weit steht andererseits wieder der tunesische Mimus mit seiner plumpen und groben Spafsmacherei, seiner fast zusammen- hangslosen Handlung, seinem phantastischen, um Lebenswahr- heit unbekümmerten Schlüsse von einem guten Konstantinopeler Karagözstücke ab! Wie ist er gegenüber jener wahren, witzigen, lebendigen Ethologie und Biologie so blöde und stumpfsinnig, so platt und gemein, und noch dazu so überaus schmutzig! So weit wie dieser tunesische Mimus von den guten Mimen an der Hauptpflegestätte der türkischen, mimischen Kunst absteht, so tief werden andererseits diese wieder unter ihrem alten Vorbilde, dem byzantinischen Mimus, stehen. Die byzantinische Hypothese ist ein grofses Drama der vornehmen Bühne, in dem zahlreiche männ- liche und weibliche Schauspieler agierten1). Der Karagödschi

') Nur in Ägypten tritt noch heute ein phallusbewehrter burlesker Darsteller in Person auf, wie Quedenfeldt in einem Briefe von Schweinfurth (a. a. 0. S. 906) mitteilt: „Der Garagos par excellence aber, eine Spezialität von Ägypten, ist der sogenannte 'Ali Kaka', jetzt 'Ali Kaka Sohn', der nicht nur in Cairo, sondern in allen Städten und auf allen Messen gastiert und auch an andern Orten Nachahmer findet. Ob der ursprüngliche 'Ali Kaka' dieses Genre aufgebracht hat, weifs ich nicht, ich nehme aber an, dafe es früher nicht existiert hat. Denn sonst wäre davon in der Description de l'Egypte und anderswo die Rede gewesen."

668 Siebentes Kapitel.

aber ist Mimus und Archimimus, Schauspieler und Theater- direktor, ja Dichter und Coulissenschieber in einer Person. Zu Konstantinopel finden sich ja nun in neuerer Zeit hin und wieder gedruckte Stücke, im allgemeinen aber und ursprünglich wird die Überlieferung der Karagözstücke nur eine mündliche gewesen sein, wie es noch heute in Tunis und Tripolis der Fall ist. So sagt Quedenfeldt (a. a. 0. S. 922): „Auch hier (in Tripolis) pflanzen sich die Stücke in Form einer Erzählung unter den Karaküs- spielern von Geschlecht zu Geschlecht in der Überlieferung fort. Die Dialoge werden jedesmal improvisiert, der Sinn ist aber stets derselbe. Neue solcher Stücke sollen übrigens nicht oder doch nur sehr selten kreiert werden." Also diese Mimen werden vom Hajaldschy nach einer Art Canevas extemporiert, wie es die antiken Mimen ursprünglich auch wurden. Aber diese Improvisation bewegt sich immer im alten Geleise, es ist eine Reihe stereotyper Figuren, Witze und Scenen, die unab- lässig, wenn auch mannigfach variiert, wiederkehren. So ist der Dichterwettstreit bei Künos, besonders in der Einleitung, mannigfach von demselben Stück bei Luschan abweichend, und Jacob fand denselben Stoff sogar unter einem andern Titel; trotz aller Verschiedenheit aber war es doch dasselbe Stück ; es waren eben verschiedene Hajaldschys, die hier dieselbe Über- lieferung, jeder in seiner Weise, behandelten. Der Puppenspieler ist eben nicht Dichter, sondern Schauspieler, und er hat auch mit seiner Schauspielerei so sehr selbst im eigentlichen Sinne alle Hände voll zu thun, dafs er kaum für selbständiges Erfinden Zeit hat l). Schon Thevenot hat nach seiner Schilderung offenbar dieselben burlesken und nicht selten recht unverschämten Stücke vor 250 Jahren gesehen, wie sie heute noch aufgeführt werden. Die Karagödschis ziehen mit dem alten, in ein Puppenspiel verwandelten Mimus in den Städten Asiens und Afrikas umher, wie es ebenso die griechischen Mimen thaten; ich erinnere z. B. an die weiten Gastreisen der Mime Theodora.

J) Wiederholt ist von Reisenden die aufserordentliche schauspielerische Gewandtheit des Hajaldschy gelobt worden. Er ist nicht selten ein wabrer Künstler, der seine Rolle trefflich spielt.

Der griechische Mimus als Puppenspiel. 669

Das Repertoire des byzantinischen Mimus war ein ungemein reiches. Von Philistion und den übrigen griechischen und byzantini- schen Mimographen haben Hunderte von Mimen existiert, die un- ablässig zur Aufführung kamen. Diesen Kreis hat der Karagödschi natürlich sehr eingeschränkt; aber die gebräuchlichsten mimischen Stoffe hat er doch, soweit sie sich ins Türkische übertragen liefsen, beibehalten. Ein hervorragender Karagödschi soll für jede Nacht im Monat Ramasan ein besonderes Karagözstück bereit halten, das wären also 30 verschiedene Stücke1)- Wenn aber heute selbst hochgebildete und gelehrte Europäer am türkischen Karagöz trotz seiner nicht selten groben, ja gemeinen Zoten ihre helle Freude haben, so bethätigt hier eben die alte Biologie und Ethologie des hellenischen Mimus noch in dieser verstümmelten und verzerrten Form ihre unverwüstliche Kraft, Wahrheit und Schönheit.

vn.

Der griechische Mimus als Puppenspiel.

Wir haben bisher so gesprochen, als ob der türkische Hajaldschy selbst den Mimus zum Puppenspiel gemacht hätte; damit würden wir aber seiner Erfindungskraft wohl zuviel Ehre erweisen. Schon viele Jahrhunderte, ja vielleicht schon zwei Jahrtausende vor ihm hat der griechische Mimus, der das Dionysostheater eroberte, sich zugleich auch zum Puppentheater herabgelassen. Hier müssen wir kurz auf die Geschichte des griechischen Puppenspiels eingehen. Schon der Mimenprinzipal in Xenophons „Gastmahl", dessen Handlung ins Jahr 422 ver- legt ist, führt aufser seinen mimischen Tänzern auch Mario- netten mit sich und zieht seinen Unterhalt, wie er selbst er- klärt, von den Leuten, die diesen Marionetten zuschauen2)- Also schon im 5. Jahrh. v. Chr. gehört das Marionettenspiel als eine

') Vgl. von Luschan a. a. 0. S. 141.

*) Xen. conviv. 4, 55: 'Alla /ua Ji', etpr), ovx ?nl roirtq) piya (foovco. All' inl iüJ pr\v; 'Eni vfj Akt rotg atpQoatv ovroi yccg ict iuä vtvQoanaara

670 Siebentes Kapitel.

gewöhnliche Ergötzung selbst in einen so vornehmen Cirkel, wie ihn die Gäste des Kallias bedeuten. Die Anfänge des Marionetten- spieles in Hellas werden also wohl noch um Jahrhunderte weiter zurückliegen. Plato wie Aristoteles erinnern sich nicht selten an das Puppenspiel. Bei Athenaeus findet sich (I, 19 e) die Notiz, die Athener seien so grofse Liebhaber von Marionetten gewesen, dafs sie dem Neurospasten (Puppenspieler) Potheinos die Bühne des Dionysostheaters überlassen hätten, auf der die Dramen des Euripides aufgeführt wurden. Heron (wohl erst in römischer Zeit. Diels.) spricht in seinem Buche über die Ver- fertigung von Automaten von der Aufführung einer Tragödie „Nauplios" und ebenso einer Apotheose des Dionysos durch Marionetten1). Die griechischen Marionetten müssen einen hohen Grad von Vollendung besessen haben. Sie erschienen wie lebende Menschen, drehten den Nacken, bewegten das Haupt, Arme, Füfse und Hände, ja selbst die Augen2). Wenn Galen den ge- nialen Mechanismus begreifllich machen will, mit welchem die Natur die Muskeln an die Knochen heftet, um die leichte Be- weglichkeit unseres Körpers zu erzielen, gleich kommt ihm der Vergleich mit den Puppenspielern, die durch geschickt ange- brachte Fäden ihre Puppen bewegen, wie sie wollen3). Selbst

') Vgl. Les Theätres d'automates en Grece au ]> siecle avant L'ere Chretienne d'apres les AviofiaTonouxa d'Heron d'Alexandrie par V. Prou. Memoires presentes par divers savants ä l'academie, Serie I, Bd. IX, 1884, S. 117 folg. Siehe Hermann Diels, Über das physicalische System des Straton, Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1893, 1, S. 106 ff. und Richard Schöne Zu Hyginus und Hero, Archaeol. Jahrb. V, 73 ff.

a) Pseudoaristoteles, De mundo C. VI: 'Ojuolwg de xal ot vevQoanäotai fiCav [irjQiv&ov tniönaaafitvoi noiovai xal av%£va xivsiß&ai xal %tT(ia xov Cq>ov xal w/uov xal 6(f&aj.fi6v, toxi d' ots nävia f^iorj, fj.£xä xtvog tvqv&- /j.(ag. (ed. Didot, Paris 1854, Vol. III, 638).

Apuleius, De mundo t. II, pag. 35 1 (ed.Oudendorp): Uli, qui in ligneolis ho- minumfiguris gestus movent, quando filum membri, quod agitare volent, traxerint, torquebitur cervix, nutabit caput, oculi vibrabunt, manus ad omne ministerium praesto erunt, nee invenuste totus videbitur vivere.

3) Galen, Ilegl %Qt(ag xwv iv kv^qwtiov aufiaxi fiooCwv III, cap. XVI. Medicorum graecorum opera ed. Kühn Bd. III, p. 262 folg. üg yctQ xal oaoi J/a xivcdv fxt]Q(v&(ov £vkiva xwv eiäcilm' xtvovoiv, Intxeiva iwv ä()&ptov tig

Der griechische Mimas als Puppenspiel. 671

vornehme, antike Schriftsteller denken nicht selten an das Puppenspiel. Berühmt sind die Verse des Horaz (Sat. II, 7, 81 u. 82):

Tu, mihi qui imperitas, aliis servis miser atque Duceris, ut nervis alienis mobile lignum.

Auch Persius erwähnt die Marionetten '). Favorinus bemerkt gegen die Astrologie, wenn der Mensch wirklich allein von den Sternen abhinge, dann wäre er kein vernunftbegabtes Wesen, sondern eine komische und lächerliche Marionette2). Vor allem erinnert sich Marc Aurel, der so häufig des Mimus gedenkt, in seinen Selbstbetrachtungen unablässig an das Puppenspiel; der menschliche Geist, meint der Kaiser, soll sich den Leidenschaften entgegensetzen, die ihn hin und her zerren, wie mit Fäden3); erst der Tod erlöst den Menschen von diesem niedrigen, irdischen Zustand als Marionette4). Im letzten Grunde geht dieser Vergleich

Trjy x€(ftti.rjv tov [xtllovjog xwXov xtvrj&rjata&at xa&änjovaiv avräg, ovitog t]

ifioig nolv TiQoxioa xa&£xuOTov iwv aQ&Qwv hf/vriaaTo. Vgl. auch I, cap. XVII.

*) Pers. Sat. V, v. 128—131:

Servitium acre

te nihil impeüit, nee quiequam txtrinsecus intrat quod nervös agitet?

*) Bei Gellius, Noctes Atticae XIV, I, 23: Iam vero id. mimime ferundum censebat, quod non modo casus et eventa, quae evenirent extrinsecus, sed consilia quoque ipsa hominum et arbitria et varias voluntates adpetitionesque et declinationes et fortuitos repentinosque in levissimis rebus animorum impetus recessusque moveri agitarique desuper e caelo putarent: tamquam quod forte ire in balneas volueris ac deinde nolueris atque id rursus volueris, non ex aliqua dispari variaque animi agitatione, sed ex necessaria quadam errantium siderum reeiprocatione contigerit, ut plane homines non, quod dicitur, 'Xoytxä Cc5a\ sed ludicra et ridenda quaedam neurospasta esse videantur, si nihil sua sponte, nihil arbitratu suo faciunt, sed ducentibus stellis et aurigantibus.

3) Elg ictvTov II, 2: Tgfrov ovv lazl y\ytfxovixov. wöt tniroTjöyTf yfywv tl' jUTjxiri tovto iäang JovUvoai- urjxtu xa&' ooli^v axotvarrnTov iivgo- onaarn&rivai uijxtfr* iluaoptvov, i) naoov duoyioävai, rj fiillov dnoöüto&ai. III, 16: To fikv Timovodai (fctnaonxüs, xal tcöv ßoaxrJtuäT(ov to ö( vt vqo- anaaitia&ui ogfxvTixiiJs, xal icSi' &r,oicav, xal tcjv (tvdooyvvorv, xal <Paläoidos, xal Nigurvos X, 38 : Miuvnoo, Sit vevgoanaOTovv kariv ixtiro, to fwtov iyxtxovfi^ivov txeivo grjTogeia, txeivo fai»j. ixtivo, et <f«f tlntiv, av&gwnoc.

4) a. a. 0. Vn, 28. Vgl. auch: VI, 16; VII, 29; XII, 19.

672 Siebentes Kapitel.

auf Plato zurück1). Auch die Kirchenväter denken hie und da an das Puppenspiel, um allerhand moralische Betrachtungen daran anzuknüpfen, so Clemens von Alexandrien2) und Tertullian 3), der sich häufig auch an den Mimus erinnert, so besonders in dem „Büchlein über die Schauspiele" (vgl. oben S. 109—113). Von ihm stammt ja auch die wichtige Notiz über Lentulus und Hostilius und den mythologischen Mimus (vgl. oben S. 112). Auch die Mimographen Catullus und Laberius erwähnt er. Das Puppen- spiel hat offenbar auch die ganze byzantinische Aera durch- dauert. Synesius, der Bischof von Ptolemais und Metropolitan der ägyptischen Pentapolis (Cyrenaika) (circa 370 nach Christus), der, wie wir oben S. 523 sahen, gelegentlich an den Mimus denkt, kennt auch die oqyava vtvqoanaata und vergleicht die Ein- wirkung Gottes auf die Dämonen mit der Art, wie der Puppen- spieler seine Marionetten bewegt4). Johannes Philoponus aus Caesarea, Bischof von Alexandrien, der bedeutende Grammatiker, Theologe, Philosoph und Aristoteleserklärer (6. Jahrhundert nach Christus) spricht bei der Erläuterung einer Stelle des Aristoteles von den kleinen Holzfiguren, mit denen man an den Hochzeiten Schau- spiele giebt, und die von dem Taschenspieler so geschickt in Bewegung gesetzt werden, dafs man glaubt, sie tanzen zu sehen 5). Noch Eustathius, der Erzbischof von Thessalonich, verwundert

J) Vgl. de legibus lib. I, p. 644»

2) Strom, lib. II, p. 434: vtvQoanaaxovfxivoiv dh rjfxwv aipv%(ov öixtjv (pvoixccig hsoysiaig xb re axovöiov xal xb ixovaiov naoikxei, bofir) xe r\ ngo- xa&rjyovfAivr] xovxoiv. lib. IV, p. 598: dei yäq xvqiov dvat, xbv xqixr\v xr\g iav- xov yvcj/urjg, [*rj vevQOOnaaxovfifvov axfjv/wv dlxx\v doydvarv difoqfidg lOoog fiovov ■naqd xijg $'£w&tv ahCag Xafxßdvovxa,

3) adv. Valent. cap. XVIII u. ö.

4) De Providentia lib. I. Opera pag. 98: "&öneo xd vevooctnaaxa bqyava xivhxcu /uev xal nmavfjiivov xov xi\v aQ/yv r*is xtv^aetog (vSövxog xrj firjxavrj' xiveixat, ök ovx £71' anetoov ov yaq otxo&ev tyd xfjv Ttr\yr\v xr\g xivr\- atwg, dXX' 'icos r] do&£LOa övvafiig ia/vu, xal ovx ixXvexai tj ngoödw, xrjg oixdag a(pi<Jafx^irj yev^Gscog' xbv avxbv oiov xqotiov, tu (p(Xs 'Ootgi, xb fikv xaXcög, xal xb &uov a\ua xt eJvai, xal ovx tlvai xovdf xov xonov, xaxantftnso&ai dk ix€Q<o&6V.

8) 'Aqictxoxikovg mol Cwcov yeviaswg /usxa xfjg xov 'PiXonovov ^jjyijffftof ßißUa nivxe. Venedig 1526, L. II, p. 37.

Der griechische Mimus als Puppenspiel. 673

sich über die Wertschätzung, die der Puppenspieler Potheinos bei den Athenern genofs. Zugleich aber geht aus seinen Be- merkungen hervor, dafs diese Kunst auch zu seiner Zeit (12. Jahr- hundert) ein beliebtes Unterhaltungsmittel des Volkes war1). Wie der Mimus hat offenbar also auch das Puppenspiel bis ans Ende des Griechentums, bis zum Untergange von Byzanz, gedauert.

Zufällig gehören die zwei griechischen Puppenspiele, deren Titel wir kennen, ins Gebiet des ernsten Dramas. Auch in der modernen Welt hat man auf dem Puppentheater häufig Tragödien aufgeführt. Jahrhunderte, bevor Goethe seinen Faust schrieb, wurde der Faust auf den deutschen Puppenbühnen tragiert, und ehe Shakespeare seinen Julius Caesar dichtete, gab es einen Julius Caesar schon auf der englischen Puppenbühne. In Italien wurden nicht selten die Stücke der grofsen Bühne genau ebenso auf dem Puppen- theater gegeben, nicht blofs Tragödien und Komödien, sondern selbst grofse Opern, ebenso im 17. Jahrhundert in England. In Deutschland wurden im 17. und 18. Jahrhundert die Haupt- und Staatsaktionen bald von wirklichen Schauspielern, bald von Marionetten aufgeführt'). Aber die eigentliche Domäne des Puppenspiels war von jeher die Burleske. So ist unser Kasperle- spiel rein burlesk, und der eigentliche Held der romanischen Puppenspiele ist Pulcinell. Das burleske Element liegt ja auch schon von vornherein in der Darstellung von Menschen durch kleine, bewegliche Puppen eingeschlossen. Also wird auch das antike Puppenspiel im wesentlichen burlesk gewesen sein. Über

*) Comm. in Iliad. IV, v. 151, 1. 1, p. 457 (Leipzig 1827): xal 6 fitxt- Viyxuiv dt änb twv vtvgoonaOTovutvtav Ztötav rois vivgoondaTas öuotto; tnotrjOiv, fov naoüvvfios ij rtvgoanctarixrj rfyry tq' fj ntoinvaxog jv, <ftta\, Uo&sivbg 6 £f !dih}vdh>. rfyvr] 6k ndviai ov onovdai'a 17 v(vgo7iaaTixrj, dlXd rür xar' elöos naidiäg.

2) Die näheren Nachweise dafür am besten bei Magnin, Histoire des Marionettes en Europe, Paris 1852, S. 84 folg. Der Puppenspieler Henry Rowe spielte gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur wiederholt Shakespeares Dramen, sondern veranstaltete sogar von Macbeth, den er be- sonders häufig auf seiner Puppenbühne tragierte, eine recht verdienstliche kritische Ausgabe. Magnin a. a. 0. S. 258 und 259.

Rsieh, Mimus. 10

674 Siebentes Kapitel.

das Puppenspiel der vorchristlichen Jahrhunderte, seine Typen und Themen, will ich jedoch keine Vermutung wagen. Es existierten damals so mancherlei Arten des Dramas auf der grofsen Bühne, nach denen das Puppenspiel sich richten konnte, dafs es vielleicht dieselbe Mannigfaltigkeit gezeigt hat, die auch die grofse Bühne zeigte. Als aber alle diese vornehmen, althellenischen Dramen und ebenso ihre römischen Nachahmungen zum Orcus hinab- gestiegen waren, als einzig und allein der Mimus auf der grofsen Bühne existierte, da konnte das Puppenspiel, dessen Ehrgeiz es von jeher war, ein Abbild der grofsen Bühne zu liefern, eben auch nur noch den Mimus zeigen, und weil es ihn zeigte, hatte es ein unverwüstliches Interesse für sich. Wenn Philoponus die Aktion dieser Puppen „tanzen" (oQxsta&ai) nennt, so bedenken wir, dafs man denselben Ausdruck von der Aktion der Mimen gebrauchte. Wenn Favorinus von ludicra et ridenda quaedam neurospasta spricht (vgl. oben S. 671, Anm. 2), so meint er den Mimus, der zum Puppenspiel geworden ist. Tokke-spil oder Dokkespiel bedeutet Puppenspiel, und in einem alten lateinisch- deutschen Glossar wird Tocha durch mima erklärt1).

So hat denn der Mimus nicht blofs auf der grofsen Bühne die Byzantiner ergötzt, sondern auch auf dem Puppentheater. Wir wissen, wie besonders auf Hochzeiten die Mimen nicht fehlen durften; nun, die kleinen Leute werden sich diesen Luxus nicht haben gestatten können; da mufsten dann dafür die Puppen tanzen. Für diese an und für sich wahrscheinliche Sitte haben wir soeben noch das ausdrückliche Zeugnis des Johannes Philo- ponus angeführt. Das mimische Puppenspiel konnte das Volk zu allen Zeiten haben, den Mimus nur bei grofsen Festen; da wird der rasende Eifer des Volkes für den Mimus dem Puppen- spiele sehr zu gute gekommen sein. Die Verbreitung des byzantinischen Puppenspieles haben wir uns ähnlich zu denken wie in Italien im siebzehnten, achtzehnten, neunzehnten Jahr-

x) Glossae super vitas patrum ap. B. Pezii Thesaur. anecd. noviss. t. I, p. 413. Cf. Graff, Althochdeutscher Sprachschatz t. V, p. 364: Tocha, f. Tocke, Docke, Puppe, pupa. n. s. tocha, pupa. F. Tr. tohcha, mima. Em. 21.

Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 675

hundert und noch heute, wo überall auf den freien Plätzen in den Städten sich ein paar Puppenspielbuden (castelletti) er- heben, die immer eine grofse Menge umdrängt, welche höchst auf- merksam, befriedigt und vergnügt den Puppen zuschaut Von dem griechischen Puppenspieler und wohl nicht direkt von dem Mimen, übernahm der türkische Hajaldschy seine Puppen- komödie. Er hatte es bequem genug, er brauchte nur an Stelle des griechischen Wortes das türkische zu setzen und seine Puppe statt hellenisch türkisch zu kleiden. Das wird zuerst wohl sogar der griechische Puppenspieler selbst besorgt haben, der sich seinem neuen türkischen Publikum anpafste.

Jedenfalls lehrt uns das Repertoire des Karagöz das des byzantinischen Puppenspiels kennen, und dieses wieder wird im grofsen und ganzen dem byzantinischen Theatermimus entsprochen haben. Auf diesem Puppentheater mögen noch alte Philistioni- sche Mimen gespielt worden sein, wie noch am Ende des acht- zehnten Jahrhunderts der Puppenspieler Henry Rowe Shakespeares Dramen gab.

vni.

Karagöz und Pulcinell. byzantinischer Mimus und Commedia dell" arte.

Wie Karagöz der Hauptakteur im asiatischen Puppenmimus ist, so ist es Pulcinell im europäischen. Beide Typen ähneln sich aufs Haar, und jeder Reisende und Gelehrte, der bisher den Karagöz sah, erinnerte sich sofort an den Pulcinell. So spricht Maltzan von des Karagöz grober Polichinellmanier (a. a. 0. Bd. I, S. 234); Revillod nennt ihn „le Polichinelle arabeul), Jean Lux „le Polichinelle musulman* 2), und Künos erklärt, _er entspricht im Wesentlichen . . . dem italienischen Polichinell" 3). In der That ist diese Entsprechung eine sehr weitgehende. Karagöz

') Bei Champfleury a. a. 0. S. 53.

2) Bei Champfleury a. a. 0. S. 88.

3) a. a. 0. S. 425.

43*

676 Siebentes Kapitel.

und Pulcinell sind ganz die gleichen Frechlinge, die alle Welt an der Nase herumführen, verspotten und verhöhnen, die in den schlimmsten Lagen gleich vergnügt und unerschütterlich bleiben, die gleichen Streiche und Schalkheiten mit dem gleichen Humor treiben und dieselben Lazzi ausüben; das Prügelholz in der Faust schlagen sie sich durch die schwierigsten Situationen hin- durch, ihre Gläubiger bezahlen sie gleichermafsen mit dem Knüttel, vor dem auch die hohe Polizei, ob es nun ein Saptieh oder ein Sbirre ist, zittert; zum Schlüsse aber entrinnen sie immer noch dem Galgen, so nahe sie auch nicht selten daran vorbeistreifen. Vor allem aber sind beide grofse Don Juans, die bei den Frauen fabelhaftes Glück machen. Die Ähnlichkeit der ganzen Figur erstreckt sich bis auf die Nase. Pulcinell hat be- kanntlich eine krumme Hahnennase. Nun ist die Nase des Karagöz auf der Abbildung bei von Luschan (Tafel I, Fig. 1 u. 2) zwar auch krumm, aber doch nicht besonders hervorstechend. Aber auf dem Facsimile des Titelbildes eines türkischen Karagöz- druckes (bei von Luschan S. 86) erscheint Karagöz allerdings mit einer mächtigen, schnabelähnlichen Hakennase ; ebenso spricht Rolland (bei Champfleury a. a. 0. S. 39) von „ce grotesque Ottoman au nez et au menton crochus".

Karagöz kann sich in alle Figuren verwandeln; bald tritt er als Sultan auf, bald als Bettler, dann wieder als Bootführer, Eisverkäufer, Arzt, Geisterbanner, Dichter; ja selbst zum Pfahl, zur Brücke und gar zum Weibe kann er werden. Dem gegen- über denken wir an Pulcinella podestä, Pulcinella cittadino mercante, Pulcinella medico, Pulcinella negromante, Pulcinella poeta disperato, Pulcinella finto statua, Pulcinella gravido. Wenn in den Pulcinellastücken Tod, Teufel und Gespenster auftreten, so erinnern wir uns an den Gespensterbaum, die Blutpappel (kanli kavak), an die Riesen und Ungeheuer und die gespenstische Riesenschlange, die Karagöz so viel zu schaffen macht. Von Pulcinella stammt direkt der französische Polichinelle und der englische Punchinello oder Punch, wie er gewöhnlich heifst.

Punch ist gewaltthätiger und gröber, sein Witz ist derber und plumper, und insofern ähnelt er dem türkischen Karagöz fast

Karagöz und Pulcinel), byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 677

noch mehr. Ich verweise hier auf die Tragical comedy of Punch and Judy, die Payne Collier 1828 herausgab. Es existiert aufser- dem eine englische Ballade, in der die Geschichte von Punch und Judy nach den alten Puppenspielen erzählt wird1). Punch hat eine reizende Frau Judy und einen hübschen kleinen Sohn, aber er unterhält nebenbei noch eine Maitresse, und als seine Frau das merkt, schlägt Punch sie mit seinem Prügelholz tot. Seinen kleinen Sohn wirft er zwei Stock hoch zum Fenster hinaus; die Verwandten, die einer nach dem andern kommen und Rechen- schaft verlangen, behandelt er nicht besser. Dann geht er schnell auf Reisen, nach Italien, Frankreich, Spanien und Deutsch- land. Keine Frau kann dort seiner Verführung widerstehen, jede, der er sich nähert, fällt ihm zum Opfer, nur ein junges Mäd- chen vom Lande, eine fromme Äbtissin und eine ganz ver- worfene Dirne weisen ihn ab; und die Verwandten aller dieser Damen traktiert er ebenso mit seinem Knüttel, wie die seiner Frau Judy. Schliefslich kommt er wieder nach England, und als er gehenkt werden soll, bleibt er ganz kaltblütig und will nur noch seine ehemalige Maitresse sehen. Wie der Henker ihm den Kopf in die Schlinge stecken will, stellt er sich dumm, und der Henker macht ihm vor, wie er es thun soll. Schnell zieht Punch die Schlinge zu. Das alles aber gelingt ihm nur mit Hilfe von Old Nick (Teufel). Als der nun zum Schlufs ihn holen will, meint Punch, er sei es gar nicht; da fährt Old Nick auf ihn los: ich werde dir beweisen, dafs du es bist; und sie kämpfen mit aller Macht. Aber trotz seiner Gabel wird der Teufel mit dem mimischen Prügelholz erschlagen. „Hurrah! Old Nick ist tot, mein Herr! Right toi de rol lol u. s. w." schliefst die Ballade.

Auch Karagöz behandelt seine Frau sehr schlecht, wenn er sie auch nicht gerade totschlägt; aber den Sohn, den sie (Hadschievads Tochter) ihm am Morgen nach der Hochzeit präsentiert, wirft er zur Erde, dafs er stirbt. Wie Punch,

a) Ich entnehme diese Notizen aus Magnin, Histoire des Marionettes S. 248 folg. und S. 253 folg.

678 Siebentes Kapitel.

kümmert er sich nicht um seine Frau und läuft allen Weibern nach. Er ist derselbe unwiderstehliche Don Juan, eine Frau nach der andern erliegt seinen massiven Gelüsten; wie Punch erfährt er nur selten eine Abweisung, so besonders von der ernsten Matrone mit den Kindern '). Wie in der englischen Puppenkomödie „Punch and Judy" ein Frauentypus nach dem andern vorgeführt wird, so auch in manchen Karagözstücken3). Auch Karagöz gerät, wie Punch, in die Hände des Henkers, dem er aber wie dieser meistens zu entrinnen weifs, und zu- letzt erscheint, wie bei Punch der Teufel, die gespenstige, grofse Schlange, die Karagöz nicht selten verderblich wird, aber ab und zu scheint er sie zu bewältigen, wie Punch den Old Nick.

Also Pulcinell ist bis auf seine entfernten Nachkommen, selbst bis auf den englischen Punch, des Karagöz Ebenbild3)» Andererseits haben beide nichts direkt mit einander zu thun. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert war für italienische Pupazzi in der christenfeindlichen Türkei kein Eaum, und kein türkischer Hajaldschy ist je nach Italien gezogen. Woher die Ähnlichkeit, da doch gar kein directer Zusammenhang besteht?

Hier mag uns die Weltgeschichte belehren. Vom Unter- gange von Byzanz und den byzantinischen Gelehrten, die nach Italien kamen, her schreibt man die neue Wissenschaft und Poesie. Nun, genau um dieselbe Zeit erlebte auch die volksmäfsige Burleske in Italien ihre Renaissance. Sollte dieses merkwürdige Zusammentreffen zufällig sein? Sollten nicht auch, wie die byzan- tinischen Litteraten und Gelehrten, Mimen und mimische Puppen- spieler, die ja von jeher ans Wandern gewöhnt waren, nach Italien gegangen sein, um lieber unter dem stammverwandten christ- lichen Volke als unter den Türken mit ihrer mimischen Kunst ihr Brot zu erwerben? Karagöz ist der byzantinische Mimus ins

i) Vgl. oben S. 637.

2) Vgl. oben S. 651.

3) Gegenüber Punch candidate for Guzzledown (Magnin S. 254) wollen wir uns noch schnell an den Pappus praeteritus der Atellane erinnern.

Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 679

Türkische gewendet, und Pulcinella ist des Karagöz Ebenbild; also ist auch er der byzantinische Mimus, nur ins Italienische übersetzt.

Es ist dieselbe uralte Entwickelung, die sich von neuem wiederholt. Zuerst ging der althellenische phlyakische Mimus von Hellas nach Italien und ward zum spezifisch italischen Mimus, zur Atellane und ging als solche auch nach Rom. Als er dann Jahrhunderte später auf griechischem Boden zur grofsen, alexan- drinischen Hypothese geworden war, zog er wieder siegreich in Rom ein und gewann die grofse Bühne für sich allein, und stets von neuem zog er von Griechenland her seine beste Kraft. Ich erinnere an die scena graeca, an Philistion, an die Mimen, die noch zur Zeit der Gothen von Byzanz nach Rom zogen. Und zum dritten Mal in der Weltgeschichte zog der griechische Mimus nach der Eroberung von Byzanz nach Italien und ward da, nachdem er die Reste des alten lateinischen Mimus, die sich kümmerlich das Mittelalter hindurch erhalten hatten, in sich aufgenommen hatte, zur Commedia dell' arte. Und wie er einst als lateinischer Mimus sich ganz Westeuropa unterwarf, so that er dies jetzt als italienischer Mimus, als Pulcinell. Auch im Oriente konnte er jetzt seine hellenische Sprache nicht mehr wie einst bewahren und gab die Herrschaft in allen Ländern und Städten, in denen man ihn einst bejubelt, an seinen direkten Nachfolger Karagöz. Darum sind sich heute Pulcinell und Karagöz so ähn- lich, wie nie ein Italiener einem Türken war.

Sathas hat gezeigt, dafs die byzantinischen Mimen, welche nach dem Untergange von Byzanz nach Venedig kamen, dessen Schiffe den Byzantinern in der letzen Türkennot zu Hilfe waren, die Lehrmeister der venetianischen Ethologen und burlesken Darsteller geworden sind. So ist unter anderen der Grieche liks^rjq Kaqaßiag der Lehrmeister des venetianischen Possen- reifsers Zanpol il Buflfone gewesen. Allerhand lustige Auf- führungen pflegten auch zu den Vergnügungen der Katharina Kornaro zu gehören, als sie nach dem Tode ihres Gemahls Jacob H, des Königs von Cypern. wieder ihren Wohnsitz in ihrer Vaterstadt

680 Siebentes Kapitel.

nahm1). Sie wollte eben den byzantinischen Mimus, an den sie in Cypern gewöhnt war, auch in Venedig nicht entbehren. Francesco Cherea, Papst Leo X. Lieblingskomiker, der als der eigentliche Erfinder der Commedia delP arte bezeichnet wird, führte die Steggreifkomödie erst in Venedig, wohin er sich nach der Plünde- rung Roms unter Clemens VIII. begeben hatte, zur Vollendung. Wieder in Venedig ward dann durch Gozzi die alte Steggreif- posse zur grofsen Zauberkomödie umgeschaffen, entsprechend den nahen Beziehungen, die Mimen und Märchen von jeher hatten. Vertritt Gozzi den phantastischen Mimus, so Goldoni, sein Rival in der Gunst des venetianischen Volkes, den rein biologischen. Doch das sind spätere Entwickelungen, die der Mimus in Venedig nahm (vgl. oben S. 332 u. 352). Schon im Jahre 1508 wird in einem Erlasse des Rates der Zehn vom 29. Dezember die vor kurzem aufgekommene Unsitte gerügt, Schauspiele bei Hochzeiten, Gelagen und sonstigen Festen zu geben2). Sathas weist mit Recht darauf hin, dafs die Beschreibung dieser Komödien durch- aus an den byzantinischen Mimus erinnere3).

!) Kqtjtixov &iaTQov Bd. I. Iotoqixov öoxifiiov negl tov &(arQov xal rrjg fiovaixris xwv Bv£avrlv(ov r\ staaywyr] tlg to Kqtjtixov &iarqov vn' vi'.

2) Studuit semper dominium nostrum cum hoc Consilio levare de medio ea omnia quae cognita fuerunt posse quoque modo corrumpere et depravare bonos mores juventutis et consequenter introductiva illarum malarum rerum et effectuum, quae, ut inhonesta, honeste dici et nominari non possunt. Cum igitur a paucissimo tempore citra appareat introductum in hac civitate quae ex causa festorum et nuptiarum, pastuum et aliter, et tarn in domibus, quam etiam in propatulo ad haec praeparato recitantur etfiunt comoediae et repraesentationes comoediarum, in quibus per personatos sive mascheratos dicuntur et utuntur multa verba et acta turpia, lasciva et in- honestissima ; et cum ista quae ultra dispenditim civium nostrOrum pleno et praevia sunt malorum, non sint permittenda procedere ulterius; capiatur: Vadit pars quod auctoritate hujus Consiglii deliberatum, captum et prosivum sit, quod comoediae, recitationes, et repraesentationes comoediales seu tragoediales, eglogae omnino bann- iantur, sie quod de caetero fieri et exercitari non possint, in hac nostra civitate tarn privatim quam publice, et tarn pro festis nuptialibus et pastibus, quam aliter ullo modo e. q. s. aus Arrigoni Kenato Notizie et osservazioni intorno all' origine e al progresso dei teatri e delle rappresentazioni teatrali in Venezia, 1840. 3) to nah /LiiXQOv yvwo&kv tv'EvtTia &€aTQov elx^ naviag rovs xaoaxTrj- (>itg rov rwv Bv£avTtv(Jöv fxlfxwv, ä<fov xal ol 'Everol vnoxQital naolaiav rag xotfXbidlag avrwv £v xaiQtp yä/MJV, avfxnoGiwv xal aXkoiV iöiWTixüJV iogrcöv.

Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus ond Commedia dell' arte. 68 1

Eigentümlicher Weise spielt die Handlung in den Lustspielen der ältesten venetianischen Komödiendichter vielfaltig an griechi- schen Orten und es wird darin häufig griechisch gesprochen; so zum Beispiel in den Komödien „Las Spagnolas" (Venedig 1549) und „H Travaglia* (Venedig 1556) des Venezianers Andrea Calmo, der als rechter Mimograph zugleich ein guter Mime war. Auch in der Maskenkomödie „Rodiana" des Beolco Ruzante aus Padua, der ebenfalls zugleich ein Mime und ein Mimograph war, die allerdings Calmo für sich in Anspruch nimmt, hört man Grie- chisch1). Die eigentümliche Mischung der Dialekte in der Commedia dell' arte des Ruzante, die auch Commedia mimica heifst, erinnert an denselben Gebrauch im Mimus. Im byzan- tinischen Mimus traten, wie wir sahen, Araber, Armenier, Juden auf, auch die anderen Völkertypen, die sich auf den Bazaren von Byzanz drängten, werden nicht gefehlt haben, wie ja auch im Karagöz sich die mannigfachsten Völkertypen finden, deren jeder seinen besonderen Dialekt spricht. Hier ist also nur die Art des byzantinischen Mimus ins Italienische übertragen.

Wenn in dieser Maskenkomödie von einzelnen Typen Masken getragen werden, so wollen wir daran denken, dafs auch dem mythologischen Mimus sich maskierte Personen mit unmaskierten mischen (vgl. oben S. 583). Ein gelegentlicher Gebrauch von Masken ich denke zum Beispiel an den Eselmimus war offenbar im Mimus nicht selten, wie der Mimus überhaupt, da er Komödie und Tragödie ersetzte, manches von dem uralten antiken Gebrauch der Masken übernommen haben mag. Es ist also absolut nicht nötig, wie man das bisher immer gethan hat, für die Maskenkomödie auf die Atellane zurückzugreifen, weil

v) Ich gebe ein Beispiel aus der Komödie „Las Spagnolas" nach Sathas a. a. 0. viß: Polataeci mort adefosmu (rtoila hrh ucoof, aötoyo; uov) no dubitare chie bando sarastu caliche cosa den bosto naplorotti (vic rjloooia^\ tandi Mucegnigi beli tundi de chesio, dose {ätöoe) grecasme ('ygoixag ue;) . . . Aimena, pos me pogni tora to cardio mu gia tb agapiticos mos {ä'iufra, näg /u< novit riöoa to xaotiid fxov yiä ayanrnixög fiag) ... Da me chit vostra ma, emi so rostro, aderfö stin bistimo acarteri (ao'toift, 'c rr/r nioxi /uov üxaoTtou): ela Morula, Jerodo crassi na pium gligora {(la, Maoovla, (fto iJtj xoaoi »ü iioiu ylqyooa).

682 Siebentes Kapitel.

der Atellanenspieler Masken getragen habe, nicht aber der Mime. Von der Atellane hören wir seit dem vierten Jahrhundert nach Christus ich werde selbst dafür die Stellen im neunten Kapitel aus Hieronymus nachweisen absolut nichts mehr, sie ist ver- schollen und wohl auch verschwunden.

Wenn also Pulcinell, „der leichtfüfsige Sohn des sonnigen Kampaniens", wie ihn Dieterich so schön nennt, erst gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts nachzuweisen ist, während der byzantinische Mimus schon 1508 in Venedig verboten wird, so hat eben die Verbreitung des byzantinischen Mimus bis nach Kampanien und seine Verschmelzung mit dem in der verküm- merten Form der Farce erhaltenen italischen Mimus, aus welcher das Pulcinellspiel hervorging, geraume Zeit beansprucht. Ur- sprünglich trug auch Pulcinell den dicken Wanst des fitfiog ytloicov, der später und besonders in der modernen Zeit abge- kommen ist (vgl. Dieterich, Pulcinella S. 249) '). Wenn Pulcinell gelegentlich buckelig ist, so findet sich auch schon ein buckliger fitfiog ysXoiaiv auf einer späten Mimendarstellung des sechsten Jahrhunderts nach Christus2). Trägt Pulcinell die schwarze Hahnenmaske, so hat auch Karagöz gelegentlich eine grofse krumme Hahnennase3). Wir kennen einen Ritter mit dem Hahnenkamm aus dem mythologischen Mimus4) und einen dick- bäuchigen Mimen mit der krummen Hahnennase5).

Jedenfalls sind die Gründe für das Auftreten des byzan- tinischen Mimus in Venedig und später in ganz Italien, die Sathas vor einem Vierteljahrhundert gab, von grofsem Belang,

1) Von dem Pulcinellaspieler Andrea Ciuccio heifst es bei Giovanni Battista Pacichelli Schediasma iuridico-pbilologicum de larvis capillamentis chirothecis, vulgo mascheris perruchis guantis. Neapel 1693, S. 70: advultum ex natura accomodum, ventrem straminibus onustum aptavit, plures ad sui imitationem excitans summamque famam per universam Europam captans.

2) Es ist auf dem Diptychon Bituricense der am weitesten nach links befindliche Mime. Vgl. oben S. 583.

3) Vgl. oben S. 676.

*) Vgl. oben S. 583, Anm. 3.

5) Siehe die schönen Nachweise über den Hahnentypus in der antiken Komik bei Dieterich, Pulcinella S. 237 folg.

Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimus und Commedia dell' arte. 683

wenn er auch den wichtigsten Grund, die Identität von Karagöz und Pulcinella, die nur aus der gleichen Abstammung vom byzantinischen fitfiog ysXoiwv befriedigend erklärt zu werden ver- mag, nicht kannte1).

]) Sathas hatte das Hauptziel, zu zeigen, dafs das gesamte antike Theater, Komödie und selbst Tragödie, die byzantinische Ära hindurch ge- dauert hat. Dieser Beweis konnte von vornherein garnicht gelingen, weil ja im Beginne der byzantinischen Ära schon längst Komödie und Tragödie durch den Mimus von der Bühne verdrängt und ersetzt war, ja auch voll- ständig ersetzt werden konnte, da der Mimus als Hypothese selbst ein grofses Drama war. Dem Mimus aber hat Sathas leider geringere Beachtung ge- schenkt, weil ihn die falschen und niedrigen Auffassungen Grysars hinderten, der nur einen Bruchteil des wirklich vorhandenen mimischen Materiales kannte. Wie nachlässig und unkritisch Grysar selbst mit diesem Bruchteil umgegangen ist, haben wir gesehen und werden dafür im zehnten Kapitel noch weitere erstaunliche Proben erhalten. Sathas aber, der nirgends auf den römischen Mimus näher eingeht, lobt: ohts r«s ntol /tffim* tußgi- #««"? mUrug tov Grysar xal tov Klein (a. a. 0. rpß'). Nun, Klein konnte nach dem grofs angelegten Plane seines Riesenwerkes nicht Spezialstudien über den Mimus treiben, sonst wäre er über den zweiten Band der Geschichte des Dramas, in dem er vom Mimus handelt, vielleicht nie hinausgekommen, er hat einfach den Vorgänger Grysars Grysar, der zehn Jahre vor ihm schrieb, kennt er nicht Ziegler ausgeschrieben, nur dafs er bei seiner temperamentvollen Art noch etwas mehr auf den Mimus den er nicht im mindesten kannte schilt, als es sonst üblich war (a. a. 0. S. 639 folg.). Danach hat also Satbas seine Meinung über den römischen Mimus gebildet und ist zugleich in seinem Urteil über den ganzen Mimus von vornherein befangen gewesen. Trotz alledem mufste sich ihm die merkwürdige Be- deutung des Mimus in der byzantinischen Zeit infolge der unablässigen Er- wähnungen bei den byzantyiischen Autoren aufdrängen, und gelegentlich erhebt er sich bei der Güte seines Materiales denn doch zu der richtigen Auffassung vom byzantinischen Mimus als einem grofsen Schauspiel, aller- dings, wie er meint, im Gegensatz zum römischen Mimus, zum Mimus, den Plutarch kennt und zum althellenischen Mimus. Das letztere ist allerdings richtig. Ja einmal findet sich schon bei Sathas die Beobachtung, dafs der Mime in der byzantinischen Ära der Schauspieler xoi' 1$oxtiv gewesen sei und dafs die Mimen selbst Tragödien gegeben hätten, a. a. 0. rftß', Tjuy: '0 Inl tov diypioa&frovs xal IIXovTaQXov fiiuog r\v uükkov 6 ytlcoionotos T(3v vtüjiiowv xqÖvoiv, Toiavvqv dk arjuaütav tfuiitjai lywv xal Ixl Pcjuai'wv av- Tiaioi/döv, a>s teyei 6 yqauuaTixbi; Jio^irß^g, noos tov &taToiairjv tov oxkov, tov planipedes. "Etog tov 'lovariviavov oi BvCamvol xalws öttxoivov to elöos ttjs äT)[40TtxTjS TavTtjg xcouojdut; {IlkavmtSaqia) anb Trjg utuixfji fJJMMWjC

684 Siebentes Kapitel.

So bedeutet die Renaissance nicht nur die Wiedergeburt der

AvSös, GtX 152 $xd. BövvTjg) . . . Kaxa tov Xoqixiov ol fut/uoi Tr\g ZT' ixcaov- xat ttjqiSos rjoav ol xvotcos Xsyo/utvoi xw (itpdot, . . . 'Eni dioxXtjTiavov xal tov 'lovfoavov naqCßTcav iSiwg xw [tq>dia s xara tov /QiGTiavtO/nov . . . 'Eni t<5v Kofivrivwv ol /ul/uoi naotoxwv ni&avöis xal Toaywdius. Und weiter spricht dann Sathas von dem „[xi/liixov &€atQovu, in dem zwar auch der yelwTonows, der Clown, aufgetreten sei, aber der hätte wie der moderne Cirkusclown seine Lazzi in den Pausen gemacht und nicht zum eigentlichen Schauspiel gehört. Das ist allerdings wieder ganz falsch, der yelioTonoiog gehört zum Mimus wie der Clown zum Shakespearischen Drama. Ebenso falsch ist die Auffassung über die Definition bei Diomedes, denn die ist gemeint, wie von der Lydusstelle (vgl. darüber oben S. 271 ff. u. S. 241, Anm. 1). Aber trotz aller Fehler bricht doch die Grundanschauung vom Mimus, als einem grofsen, be- deutenden Schauspiele, hier siegreich durch. Nein, Komödie und Tragödie hat nicht auf dem Theater die byzantinische Ära durchdauert, wohl aber das grofse mimische Schauspiel, die Hypothese, die daneben auch noch auf der Mimen- bühne des Cirkus, wie in den Prunksälen der Kaiser, der Aristokratie und der Reichen aufgeführt wurde. Allerdings soll Kaiser Justinian (nach Procop, histor. arcana c. 26, und Ioannes Malalas chronicon XVII, Migne 97, p. 416 folg.) rot &£axQK geschlossen haben, und wahrscheinlich hat im Jahre 526 oder kurz vorher, da diese Mafsregel drohte, Choricius seine Rede für die Mimen ge- halten (vgl. Kirsten, Quaest. choricianae, Breslauer philolog. Abhdlg. VII, 1895, S. 21 folg.). Aber noch um 1300 spricht Manuel Philes vom zeit- genössischen Mimus auf dem Theater (vgl. darüber und über ähnliche Zeug- nisse oben S. 134, 135, 136, 162, 163, 617). In der zweiten Trullanischen Synode 691 wird den Anwälten verboten sich ins Theater zu mischen und Theaterkostüme zu tragen. Theatermelodien sollen aus der Kirche verbannt sein. Wenn also die Theater je geschlossen waren, müssen sie um 691 schon längst wieder offen gestanden haben und der Mimus hat eben wieder seinen alten Schauplatz zurückerhalten. Hierfür haben wir nun ein sehr interessantes und ausschlaggebendes Zeugnis. In des Bischof Leontius von Neapolis auf Kypros Lebensbeschreibung des Mönches Symeon Salos, „des Narren um Christi willen", die um 650 ge- schrieben ist (vgl. H. Geizer, Ein griechischer Volksschriftsteller. Histor. Zeitschrift N. F. XXV, S. 1 folg.), wird des Theatermimus als einer ge- wohnten Erscheinung gedacht. Der Heilige Symeon begiebt sich ins Theater und trifft den Mimen Psephas, der mit anderen Mimen dort auf dem Bretterboden, der die mimische Bühne bedeutet, agierte, mit einem Steine gegen die Hand, die verdorrt von Stund an, und der Mime bekehrt sich zu einem gottseligen Lebenswandel. Symeon selbst lebte nach der Vita zu Emesa unter Kaiser Mauricius (582 602), nach dem Bericht des Euagrius (dem Geizer, a. a. 0. S. 7 u. 8, den Vorzug giebt) unter Justinian. Danach

Karagöz und Pulcinell, byzantinischer Mimu3 und Commedia dell' arte. 685

vornehmen, antiken hellenisch-klassischen Dichtung, sondern auch des volksmäfsigen hellenischen Mimus1).

hätten also in der späteren Regierungszeit Justinians wieder die Theater offen gestanden, und wenn wir die Leidenschaft des Volkes für das Theater und den Mimus bedenken, ist es klar, dafs eine derartige rigorose Mafs- regel sich weder durchführen noch aufrechterhalten liefs. Jedenfalls war in der Zeit des Leontius um 650 diese Verordnung längst wieder aufgehoben, sonst hätte er nicht so selbstverständlich vom Mimus im Theater ge- sprochen: mit Recht weist Geizer darauf hin, wie zuverlässig Leontius in kulturhistorischer Hinsicht ist. Ich setze diese wichtige Stelle, deren Nach- weis ich August Brinkmann verdanke, hierher: 'EdeargiCov noie uiuoi tlg tb d-iaroov. 'Hv 6i eig tt; uvxcöv, Vr/ffug. S(i.<ov ovv xb toiovtov xaxbv ävaxoipat 6 6ixaiog (<«££ yäo jira xala foya 6 Ityo/utvog Wrjifäg), oiix am]i"i(ooe tov a7itXxHiv, dlXa antjX&t, xal xär oi Taiajo, tls tb ttH.uu, onov enaitov ol fiiuof xal mg I6tv xbv *Pr)(fäv agl-duevov tov noieTv d&iuixa ngdyfiuTa, (vielleicht ward ein Ehebruchstück oder dergleichen gerade gegeben) ginxti ki&ov uixgbv nävv, noiTfOag eig avrbv aravobv, xal ßdilii xaxd TTjg 6e suig xetgbg tov Wr^ä, xal iir,uavtv «irrjr. OvStlg 6e lrör,oi xb xi'g xbv M&ov eQgixpev. cpalvixai ovv avxqi xfj vvxxl xaxä rovg t/Tryoiv 6 Zaiog xal liya citTÜ- "Ovxtog inixv^ov, xal ei fiij duoatig ort ovx fxi inixrj6sieig Toiovxov xi 7roä|«i, ovx iyiaiveig. "Sluooev ovv aiT<j* xard xr\g Seoroxov, o ti ov (A.i) ixaatk&to xov loinov 6iä xov toiovtov natyvidlov. Kul dvaaxag, elge ti]v x*'Qa ßÜToü vyirj. Acta Sanctorum Bollandistorum Juli, Tom. I, pag. 138 D. Migne 93, S. 1716 B. C.

Gegen Sathas' Theorie vom Fortbestehen der Tragödie und Komödie vgl. die scharfsinnigen und höchst gelehrten Ausführungen Krumbachers, Byzan- tinische Littg.1, S. 298, die jede derartige Annahme völlig vernichten. Doch mag gelegentlich von den Mimen auch einmal eine alte Komödie oder Tra- gödie aufgeführt worden sein, wie ja unablässig Philistions Hypothesen dar- gestellt wurden: aber Aeschylos und Sophokles waren für das byzantinische Publikum nicht mehr theaterfähig, so wenig wie Aristophanes. Um dieser falschen Grundanschauung willen ist Sathas' so verdienstvolles, gelehrtes und mannigfaches, sonst unzugängliches Material darbietendes Werk unberück- sichtigt geblieben, zumal ihm jede übersichtliche Gruppierung, jede deutliche Kennzeichnung der Kapitel, jede chronologische oder sonstige Disposition sowie Indices und Inhaltsangabe fehlen und das schwierige Griechisch von Sathas nur für genaue Kenner ohne Lexikon lesbar ist. Kein moderner Litterator erfuhr darum je von dem Einflufs des byzantinischen Mimus auf die Commedia dell' arte, den Sathas wahrscheinlich macht.

x) Es spricht sehr für die Byzantiner, dafs sie nicht blofs die alten Handschriften erhalten haben, das konnten sie auch ohne ihren Inhalt recht zu verstehen. Viel gröfser war es, die uralte volksmäfsige Dichtung lebendig

686 Siebentes Kapitel.

IX. Karagöz und die alte attische Komödie.

Wiederholt erinnerten sich die Kenner des Karagöz an die alte attische Komödie, mit der Karagöz den Phallus teilt; sie empfanden eine gewisse Ähnlichkeit, und ihr Gefühl hat sie nicht getäuscht. Von jeher hat man mit Verwunderung bemerkt, wie Aristophanes in manchen Stücken nach Zuendeführung der eigentlichen Fabel, nach der Parabase, eine Reihe lose aneinander gereihter Scenen mit verschiedenen volkstümlichen Typen folgen läfst, Scenen, die nicht von einem einheitlichen komischen Ge- danken beherrscht werden und nicht Glieder einer kunstvollen Fabel sind. Es erscheint, zumal im Schlufsakte, auf einmal eine Reihe neuer Typen, die gewöhnlich von der Hauptperson der Reihe nach verspottet und dann eine nach der andern hinaus- gepritscht werden. Genau so ist auch der Verlauf der Handlung in vielen Karagözstücken. Hadschievad und Karagöz ziehen zu- sammen aus, um sich eine bessere Zukunft zu begründen und Geld zu verdienen. Hadschievad weifs dafür stets guten Rat, und Karagöz ist der Hans Hoffegut, der auf alles eifrig eingeht. So ergreifen sie irgend ein neues Gewerbe, das Hadschievad empfiehlt, z. B. das Bootmannsgewerbe (im Kajyk ojunu), oder sie richten eine Schaukel ein (im Salyndschak ojunu1)) oder beginnen einen Betrieb mit Fruchteis oder Karagöz etabliert sich als Strafsen- schreiber (im Jazydschy ojunu3)). Dann kommen allerhand Leute zu ihnen, um von ihrem Gewerbe Vorteil zu ziehen oder etwas zu

und im lebendigen Leben zu erhalten. Man wird doch viel von der unge- rechten Mifsachtung der byzantinischen Aera nachlassen müssen. Ich ver- weise hier auf die schönen und beherzigenswerten Worte, die Krumbacher in dieser Hinsicht in der Einleitung zu seiner byzantinischen Literatur- geschichte gesprochen hat.

J) Text und Übersetzung bei Künos, Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn. Bd. II. Budapest 1892. S. 148—158.

2) Siehe die Zusammenstellung bei Jacob, Heft I, S. X u. XI.

Karagöz und die alte attische Komödie. 687

kaufen. Aber alle werden von Karagöz zum Besten gehalten und zum Schlufs hinausgepritscht. Denken wir an des Aristophanes Vögel". Da ziehen Hoffegut und Rathefreund aus, sich gleichfalls eine neue Zukunft zu schaffen. Sie haben wie Karagöz und Had- schievad beide kein Geld. So begründen sie als ganz neues Unternehmen das Reich der Vögel, mit dem es gewifs nicht weniger windig aussieht, als mit irgend einer Gründung des Karagöz. Es kommen nun, von dieser Gründung angelockt, allerhand Leute an und möchten gerne daran Anteil nehmen und davon Vorteil haben. Es erscheint von Vers 861 1057 nach einander ein Priester, ein Poet, ein Prophet, Meton, der Mathematiker, ein athenischer Staatskommissar, ein Gesetzes- händler, und von Vers 1334 1469 ein ungeratener Sohn, Kinesias, der Dithyrambendichter, ein Sykophant. Wie gravi- tätisch beginnt der Priester, der das Gebet an die Staatsgötter der Vögel im offiziösen athenischen Stile beginnt:

„Betet zu Hestia, der vom Vogelheerd, und dem Schuhu Heerd-

walter,

Und den Olympischen Vögeln und Vögelinnen jedem und

jeder! ....

Betet zu den Heroen und den Vögeln und den Vögelkindern,

Zu den Salanganen und Pelekinen und Pelikanen", u. s. w.

Das wird dem Rathefreund denn doch zu viel, kaum für den Weih wäre das Opfer genug, und nun beruft dieser über- eifrige, ceremoniöse Priester gar alle Vögelgötter; hinaus mit ihm! Wie prächtig ist der bettelhafte Poet geschildert, wie stolziert er ins Wolkenkuckuksheim hinein, und wie befriedigt zieht er ab, als er von Rathefreund schliefslich nach vielen hoch- poetischen Tiraden ein warmes Wams erbettelt hat.

Freilich, der Prophet kommt schon sehr viel schlechter weg. Er hat einen vortrefflichen Orakelspruch des Bakis, der Wolken- kuckuksheim zu gründen und dabei den Propheten ordentlich zu bedenken befiehlt. Aber Rathefreund hat auch einen Orakel- spruch in Bereitschaft:

688 Siebentes Kapitel.

„Wieder sobald dir ein Mensch dummdreist, unerwünscht, un- geladen,

Stört dein Opfer und Theil an dem Fleische des Opfers be- gehret,

Siehe, so holz' ihm die Höh'n, die am Rinnsal steh'n der

Verdauung."

Und gemäfs diesem Spruche behandelt er den Bettelpropheten. So geht es dann nachher auch Meton, dem Mathematiker, dem athenischen Staatskommissar, dem Gesetzeshändler, dem Kinesias und dem Sykophanten. Erstaunlich ist der Realismus, mit dem diese Gestalten gezeichnet sind, und gerade darum haben sie das athenische Publikum so sehr interessiert, es fand in ihnen lauter alte Bekannte von der Strafse und vom Markte wieder, wie sie das türkische Publikum genau so in den Karagözstücken findet.

Wie bei der Schaukel des Karagöz und auf seinem Boote erscheinen auf dem neu abgesteckten, befriedeten Markte des Dikäopolis allerhand Typen:

719 835 der hungrige Megarer, 860 958 der Handelsmann aus Böotien, 910—958 der Sykophant, 911 969 der Diener des Lamachos, 1018 1036 ein Landmann, 1048—1068 Brautführer und Brautjungfer.

Aber wie Karagöz treibt Dikäopolis mit ihnen nur seinen Spott und jagt sie fort. Im „Frieden" verhöhnt und verjagt Try- gaios nach einander:

Vers 1052 1109 den Lehrer Hierokles, 1182 1191 einen Sensenschmied, 1195 1208 einen Helmbuschfabrikanten, 1208 1224 einen Panzerschmied, 1225—1239 einen Helmschmied,

Karagöz und die alte attische Komödie. 689

Vers 1240—1249 einen Lanzenschäfter,

1255—1279 den Sohn des Lamachus, 1280—1296 den Sohn des Kleonymos.

Woher stammt diese Ähnlichkeit zwischen der alten attischen Komödie und dem Karagöz?

Nun, der alte attische Komöde trägt vom uralten hellenischen Mimen den Phallus zum Lehen, wie ihn Karagöz vom byzan- tinischen Mimus hat. Und die lockere Scenenfolge bei Aristo- phanes ähnelt der im Karagöz, weil sie bei beiden aus dem Mimus stammt, und die burleske, realistisch-humoristische Etho- logie und Biologie dieser lockeren Scenen ist bei Aristophanes der im Karagöz verwandt, weil sie beide Ethologen und Biologen sind nach dem Bilde ihres Ältervaters, des Mimen. Da mufs uns also der moderne, türkische Hajaldschy die aristotelisch-peri- patetische Auffassung von dem Mimus als einem wesentlichen Elemente der alten Komödie, ja als der Urkomödie bestätigen.

Auch das Kasperletheater zeigt sich mit seiner lockeren Scenenfolge, mit seinen burlesken, realistisch -humoristischen, ethologischen Typen und Figuren, die Kasperle, der deutsche Sannio und derisor, verspottet und zum Schlufs hinauspritscht, der alten attischen Komödie wie dem Karagözspiele verwandt. In Magdeburg auf der Messe und beim Jahrmarkt auf dem roten Hörn habe ich als Kind den Kasperle alle Jahre unter dem Jubel des Volkes agieren gesehen, das genau so zu lachen anfängt, wenn sich Kasperle nur zeigt, wie die Türken, wenn Karagöz nur die Nase zum Fenster heraushängt. Kasperle ist genau der- selbe mit Mutterwitz, Humor und grofser Schalkheit begabte Frechling wie Karagöz, und verübt auch, wie dieser, dieselben mutwilligen, aber doch nie geradezu schlechten oder nieder- trächtigen Streiche. Kaum hat Kasperle seine Art und Weise mit allerhand Mätzchen und Kapriolen klargestellt und seine lustige und spitzbübische Art offenbart, so erscheinen andere volkstümliche Typen einer nach dem andern, und eine kurze Scene reiht sich an die andere, ohne dafs sie durch eine zu Grunde liegende Fabel mit einander verknüpft wären. Da zeigt

Reich, Mimus. 4 4

690 Siebentes Kapitel.

sich ein prahlerischer Soldat, ein Jude, ein Polizist, auch Kasperles zänkische Frau, schliefslich gar noch der Teufel und der Tod, aber Kasperle mit seiner spitzen Zunge wird mit allen fertig, gewöhnlich greift er jedoch zu schlagenden Argumenten und schwingt triumphierend, wie Karagöz, sein Prügelholz. Aber zum Schlüsse erscheint die böse Schwiegermutter, und vor der nimmt selbst Kasperle Reifsaus. Über die Schwiegermutter als Typus des alten Mimus haben wir schon oben gehandelt.

Die Ähnlichkeit mit den locker gefügten Scenen bei Aristo- phanes ist unverkennbar; Poppelreuter hat darauf in seiner treff- lichen Dissertation hingewiesen. Auch hier lehrt uns jetzt die Entwickelungsgeschichte des Mimus den tief verborgenen Zu- sammenhang erkennen.

Es wäre nicht ganz unmöglich, dafs Kasperle ein Ab- kömmling von Karagöz ist. Wenigstens giebt es dieselbe Puppenkomödie auch in Ungarn (und in Rufsland), so dafs der territoriale Zusammenhang zwischen Kasperle und Karagöz ununterbrochen ist. Es finden sich Ähnlichkeiten, die offenbar auf Entlehnung beruhen. So schreibt Karagöz als Strafsen- schreiber1) für einen Griechen einen Brief. Als es ans Be- zahlen geht, sagt der Grieche, er werde zuvor Karagöz ein Kunststück zeigen; er werde ihn verschwinden lassen; darauf schliefst er die Augen. Karagöz meint, das Kunststück könne er auch, und wie er die Augen schliefst, verschwindet der Grieche. Genau derselbe Streich findet sich auch in dem Puppenspiel „Kasperl als Bräutigam"2). Doch mag nun Kasperle dem Karagöz ähneln, weil er aus dem italienischen Puppenspiel und vom Pulci- nell stammt, oder weil er gar ein direkter Nachkomme des Karagöz ist, jedenfalls stammt die moderne europäische burleske Puppenkomödie im letzten Grunde aus dem byzantinischen, wie die antike und mittelalterliche aus dem griechisch-römischen Mimus.

T) Choricius erwähnt (XIII, 8) die av/jßllaia yQÜiforreg als Typus des byzantinischen Mimus; vgl. oben S. 215 Anm.

2) Deutsche Puppenspiele herausgegeben von Kralik und Winter; Wien 1885, S. 299. Diese Ähnlichkeit hat Jacob a. a. 0. Heft 1, S. IV, V scharf- sinnig bemerkt.

Karagöz und die alte attische Komödie. 691

Aber dieses mimische Problem ist kein europäisches, es ist ein Weltproblem. In Japan giebt es eine burleske Posse ganz im Stile des Mimus (vgl. oben S. 39 41). Auch in China existieren burleske Schauspiele, die an den Mimus gemahnen, und vor allem eine Puppenkomödie, die manche Ähnlichkeit mit Kasperle und Karagöz hat1). Vor allem aber giebt es auf Java ein Puppen- spiel, das schon Serrurier, der es zuerst auf Grund eines grofsen und sorgfältig gesammelten Materials beschrieb, an den türkischen Karagöz erinnerte*). Da wäre ja dann der Zusammenhang mit dem hellenischen Mimus hergestellt. Wir wissen, wie weit die Mimen wanderten. Wenn sie vom Norden Englands bis zu den Katarakten des Nils, von der Mündung des Rheins bis zu der des Euphrat zogen, warum sollten sie nicht auch nach Indonesien gelangt sein? In der That finden sich in diesem Puppenspiele lustige Figuren ganz im Stile des Narren im Mimus, das sind Semar und seine Söhne. Wie der alte Sannio ist Semar ein lustiger Kauz, der auch in den schlimmsten Lagen sich zu helfen weifs, der allerhand lustige Streiche macht und ein rechter Possen- reifser ist; natürlich ist er samt seinen Söhnen glutto, vorax, manducus wie Ardalio. Sein Charakter deckt sich völlig mit

') Mein Freund Dr. Richard Hensel macht mich hier auf die bildliche Darstellung eines chinesischen Puppenspiels in einem der ersten Hefte von Kürschners China, Leipzig 1901, aufmerksam. Es erinnert an unser Kasperle- spiel, nur dafs der Spieler nicht in einer kastenähnlichen Bude steckt, die oben in der Vorderwand einen Ausschnitt hat, in dem die Puppen erscheinen. Er hat sich vielmehr sein Puppentheater vor die Brust geschnallt und ver- schwindet dahinter mit seinem Oberkörper, der noch dazu mit einem grofsen Tuch verhüllt ist. Unten sind seine Beine wie Stützen des ganzen Puppentheaters sichtbar. Auf dieser Puppenbühne agiert ein chinesischer Kasperle mit dem mimischen Prügelholz; eine Puppe hat er schon tot- geschlagen; sie hängt, mit einer langen Zipfelmütze bedeckt, von der Brüstung des Theaters herunter. Nun hat er es mit einem schrecklichen Ungeheuer in Gestalt einer grofsen Bulldogge (wie man John Bull ab und zu malt) zu thun. Derartige Puppenkomödien sollen von den Mandarinen bei dem grofsen Boxeraufstande zur Aufreizung des Pöbels gegen die Fremden benutzt worden sein. Also auch hier ist die Puppenkomödie ab und zu politisch wie Karagöz und der griechische Mimus.

*) De Wajang Poerwa, Eene ethnologische Studie, Leyden 1896, S. 167 ff.

44*

692 Siebentes Kapitel.

dem des Karagöz, er ist offenbar wie dieser auch ein Abkömm- ling des alten Mimus '). Ja, Semar hat auch noch alle äufseren Anzeichen dieser Abkunft; wie die hellenischen Mimen trägt er den dicken Bauch und das mächtige Hinterteil und vor allem den riesigen Phallus2).

Alle diese hinterasiatischen Spiele sind jünger als die hellenischen, sie reichen nirgend ins achte oder neunte Jahr- hundert vor Christus zurück, sondern stammen meist sogar aus nachchristlicher Zeit. Und da nun der vorderasiatische Puppen- spieler nur ein Nachkomme des hellenischen Mimus ist, wie alle europäischen, dürfte es mit den hinterasiatischen auch nicht viel anders sein3).

') a. a. 0. S. 92 (grofse Ausgabe). Semar is van goddelijken oorsprong. Hij is de vaderlijke vriend van de Pandäwäs; in het bezit van goddelijke wijs- heid en van bovennatuurlijke macbt. Listig in de hoogste mate, weet hij op alles raad, en waarschuwt hij voor naderende gevaren; zie o. a. Poensen, Kartä- wiyogä, aanteekening XXVII in Tijdschr. voor Ind. taal-, land- en volkenk. 1883. Hij voegt zieh geheel naar den aard van zijn patroon; zoo helpt hij Ardjoenä bij diens talrijke minnarijen en loopt bij die gelegenheden soms wel een pak slagen op. Het komische element van zijn persoonlijkheid uit zieh vooreerst in zijn voorkomen en in de onaethetische manier van zijn tegenstanders on- aangenaam te zijn; ook in zijn hebbelijkheid om ieder oogenblik as het pas geeft, te gaan huilen.

Petroek en Nälägareng worden als zijn zonen voorgesteld; maar zij hebben altijd wat op hem te zeggen en noemen hem oud en suf. Het zijn zuivere potsenmakers; niets ernstigs is aan hen. Als er gevochten wordt doen zij het niet raet wapens, maar met vuil; het zijn een paar inhalige rakkers, die als zij er kans toe zien, het een en ander meenemen en altijd op lekker eten azen. Petroek riekt uit den adem. Kortum zij zijn de ge- personifieerde platheid.

2) Vgl. die Abbild, zu S. 242 u. S. 269. Serrurier hat S. 187 u. 188 (grofse Ausgabe S. 291 u. 292) zwei solche Phallen abgebildet. Der zweite Phallus endigt in einen Stierkopf. De zooeven vermelde figuur van Poting is vorzien van een buitensporig ontwikkelden phallus, die zieh door middel van een groot aantal geledingen slangvormig Jean Jcronkelen en in een montier achtigen stieren- kop eindigt. Auch der Phallus des Karagöz bei von Luschan S. 141 endigt in einen Tierkopf.

3) Ich will hier aber hervorheben, dafs nach Serrurier das javanische Puppenspiel ernsthaft ist. Es treten darin vor allem Götter und Göttinnen,

Karagoz und die alte attische Komödie. 693

Da wir wenigstens eine asiatische Burleske, den Karagöz, als Mimus erweisen konnten, so ist hier, wo bisher noch alles schwankt und die entgegengesetzten Ansichten mit der gleichen Zuversicht ausgesprochen werden, wenigstens ein fester Punkt ge- wonnen, von dem aus man das grofse, helfs umstrittene Problem, ob das asiatische Drama griechischen Anregungen entsprungen ist oder nicht, mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen kann.

Heroen und Heroinen auf, aber im mythologischen griechischen Mimus gab es gleichfalls Götter und Helden, wenn auch burleske.

ACHTES KAPITEL.

Der Mimus in Indien.

Willst du die Blüte des frühen, die Früchte des späteren Jahres, Willst du, was reizt und entzückt, willst du, was sättigt und nährt, Willst du den Himmel, die Erde mit einem Namen begreifen: Nenn ich, Sakuntala, dich und so ist alles, gesagt.

Goethe.

Das Problem des griechischen Einflusses im indischen Drama.

Es ist nicht viel über ein Jahrhundert her, dafs man in Europa von dem indischen Drama Kunde erhielt. Im Jahre 1789 veröffent- lichte William Jones eine englische Übersetzung von Kälidäsas Qakuntalä1). 1791 gab Förster die erste deutsche Übersetzung; es folgte eine dänische, eine französische, eine italienische. 1827 erschien dann Horace Haymann Wilsons berühmtes, grundlegendes Werk „Select specimens of the Theatre of the Hindus". Der erste Band enthält neben der Einleitung die Übersetzung der Mrccha- katikä, der zweite Vikramorvagi, Mälatimädhava und Uttaracarita, der dritte Mudräräksasa, Ratnävali und eine längere oder kürzere Analyse von 23 weiteren Dramen. Besondere Bewunderung er-

') Sacontala or the Fatal Ring, an Indian drama by Calidas, translated fron» the original Sanscrit and Pracrit.

Das Problem des griechischen Einflusses im indischen Drama. 695

regte die Mrcchakatikä, unablässig erinnerte man sich an Shake- speare, dessen Dichtergröfse (^üdraka zu erreichen schien1).

Schlimm steht es mit der Entwicklungsgeschichte des indi- schen Dramas. Ganz plötzlich hebt diese grofse dramatische Litte- ratur an. Am Anfange steht gleich ein solches Meisterwerk wie die Mrcchakatikä. Kälidäsa lebte etwa im sechsten Jahrhundert n. Chr., Harsa am Anfange, Bhavabhüti am Ende des siebenten Jahrhunderts. An die Werke dieser grofsen Dramatiker schliefst sich durch das Mittelalter hin bis in die neue Zeit eine lange Kette von Dramen, die immer konventioneller und schablonen- hafter werden. Von früheren Dramatikern erwähnt Kälidäsa im Prolog von Mälavikägnimitra Bhäsa, Saumilla, Kaviputra. Aber auch sie erscheinen als ziemlich unmittelbare Vorgänger. Zu ihnen gehört auch noch Candra oder Candraka2). Dann aber gähnt vor uns das dunkele Nichts, aus dem plötzlich die Meisterwerke entsprangen.

Hier setzte die Theorie von dem Einflüsse des griechischen Dramas ein, die Weber begründete. In seinen akademischen Vorlesungen über indische Literaturgeschichte (Berlin 1876) heifst es (S. 223 und 224): „Aus dem Bisherigen hat sich er- geben, dafs uns das Drama gleich vollendet und mit seinen besten Stücken entgegentritt; es wird denn auch in fast allen Prologen das betreffende Werk als neu im Gegensatz zu den Stücken der früheren Dichter dargestellt. Von diesen aber, den Anfängen der dramatischen Dichtkunst, ist uns nicht das Ge- ringste erhalten. Es ist sonach die Vermutung, ob nicht etwa

') Dieser Bewunderung gab Klein in seiner genialen Geschichte des Dramas, Band III, S. 85, zum ersten Male einen entsprechenden Ausdruck: „Seine Geschichtsthaten (Cüdrakas) mögen Terschollen seyn, oder gleich denen so vieler indischer Könige sich mit den Thaten anderer Herrscher unscheidbar vermischt haben: sein Drama, die Spielkutsche, verewigt seinen Namen f&r alle Zeiten. Das Kinderwäglein von Thon ist König Cüdrakas monumentum aere perennius, sein Erz überdauernd Denkmal; der gebrech- liche Kindertand seine unvergängliche Grofsthat. Throne, Königreiche werden wie irdenes Geschirr in Scherben gehn, wenn König Cüdrakas kleiner Thon- karren noch felsenfest dasteht".

a) Ygl. Sylvain Levi, Le theatre indien S. 161.

696 Achtes Kapitel.

die Aufführung griechischer Dramen an den Höfen der griechi- schen Könige in Baktrien, im Penjab und in Guzerate (denn so weit hat sich ja eine Zeit lang die griechische Macht er- streckt) die Nachahmungskraft der Inder geweckt habe und so Ursache zum indischen Drama geworden sei, zwar vor der Hand durch nichts direkt zu beweisen, aber die historische Möglichkeit dafür ist wenigstens unleugbar, zumal da die älteren Dramen fast alle in den Westen Indiens gehören. Ein innerer Zu- sammenhang mit dem griechischen Drama übrigens findet nicht statt".

Windisch schuf dann für diese Frage in der berühmten Ab- handlung „Der griechische Einflufs im indischen Drama" eine breite Basis J). Er wies auf die zahlreichen Beziehungen zwischen Indien und den Griechen hin, die Scharen der dionysischen Techniten, die Alexander den Grofsen begleiteten, die Schau- spieler an den Höfen der Diadochen, die schwerlich an den Höfen der indischen Diadochen gefehlt haben. Aber nicht die Tragödie sondern die neue attische Komödie war das Vorbild für das in- dische Drama. Darauf folgt dann eine Aufzählung der mannig- fachen Vergleichungspunkte.

Diese Ansicht hat eifrige Anhänger und noch eifrigere Gegner gefunden. Zuletzt hat Sylvain Levi in seiner Geschichte des indi- schen Theaters die Beweisführung von Windisch einer eingehenden Kritik unterzogen. Wie es scheint, macht er sie gleich mit seinem ersten Gegenargument zu nichte: „Die griechische Herr- schaft, die im Becken des Indus infolge der vorübergehenden Eroberungen des Demetrius und Menander bestand, verschwand völlig aus Indien während des ersten Jahrhunderts vor Christus; Kälidäsa schuf seine Meisterwerke fünf oder sechs Jahrhunderte später. Darf man annehmen, dafs das Studium der griechischen Vorbilder sich während eines so ungeheuren Zeitraums in den Brahmanenschulen erhalten hat? Die Annahme fällt von selbst ohne Diskussion"2). Ja, wir müssen diese Argumentation L6vis

') Verhandlungen des V. internat. Orientalisten - Congresses zu Berlin 1881, Berlin 1882, S. 3—106.

2) Sylvain Levi, Le theatre indien S. 345.

Das Problem des griechischen Einflusses im indischen Drama. 697

noch unterstützen. In Rom und Hellas selbst hatte im zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr. die Menanderkomödie fast gänz- lich aufgehört. Als Kälidäsa schrieb, war die Komödie schon seit Jahrhunderten selbst in der griechisch-römischen Welt tot. Es liegt wirklich eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Menander- drama und dem Drama Kälidäsas.

Sylvain Le>i geht ein Beweisstück von Windisch nach dem anderen durch. Die Ähnlichkeit des Vidüsaka mit dem servus currens, des Qakära mit dem miles gloriosus, des Vita mit dem Parasiten ist nicht gerade flagrant, und wenn die Königin sowohl etwas von der Matrone" wie dem mifsvergnügten „senex" hat, so wird sie in Wirklichkeit wohl von beiden nichts haben. Zudem weicht die äufsere Form des indischen Dramas ganz von der- jenigen der griechischen Komödie ab, und wenn die Komödien des Plautus fünf Akte haben, so hat die Qakuntalä sieben und die Mrcchakatikä gar zehn. Die griechischen Komöden tragen Masken und die indischen nicht; die Zahl der Schauspieler in den griechischen Stücken ist eine beschränkte, in den indischen eine fast unbeschränkte.

Ob man aber wirklich über die eigentümliche Ähnlich- keit in der Technik der Erkennungszeichen, der yvwQiOfiaxa*), im indischen und griechischen Drama so leicht weggehn darf, wie L6vi will? Gerade solche Techniken erhalten sich am zähesten in der poetischen Praxis, wenn sonst schon alle anderen Spuren früherer Überlieferung verwischt sind. Gewifs, Erken- nungszeichen kommen auch im gewöhnlichen Leben vor -). Aber

') Vgl. die eindringenden Ausfahrungen von Windisch a. a. 0. S. 34 folg.

-I Sylvain Levi a. a. 0. S. 354: Les contes abondent en cos analogues; Vusage de ce procede n'est pas d'ailleurs une simple Imagination de poete; ü etait imite de la vie reelle. Ulnde ancienne, aussi bien que la Grece, ignorait let for~ malites et les acte» de Velat civil ; la vie de famille avec sei incidents, naissance, mariage et mort, avait un caractbre entierement priv€. Si les Hasards inherents d Vexistence des peuples antiques: incursions de tribus voisines, lüttes intestines, voyages aventureiix, arrachaient Vindividu a sa famille ou ä sa tribu et Visolaient brusque- ment, des indices materiels, tels que des bijoux ou des signes physiques, restaient les seuls garants de son identite'. Les nomades et les vagabonds perpüuent dam la societi moderne Vimage du passe lointain; tuntbt des bijoux retrouves trahissent le

698 Achtes Kapitel.

es kommt in ihm so unendlich viel vor, ohne dafs die Poesie daraus ein bestimmtes Motiv bildet. Die yvoogicfiaTcc finden sich doch auch in der Menander-Komödie und im indischen Drama nicht wie im Leben gelegentlich, sondern unablässig und durch sie wird gern der Umschwung in der Handlung bewirkt1). Über- haupt liebt das indische Drama wie das griechische Erkennungs- scenen, wenn sie auch nicht immer durch yvcogiofima herbei- geführt werden; so wird im letzten Akt von Mälavikägnimitra die Zofe Mälavikä als Prinzessin erkannt: Eine derartige Er- kennungsscene bildet fast beständig den Beschlufs der indischen Haremskomödie.

Aber soviel ist gewifs, den ungeheuren, klaffenden, zeitlichen Zwischenraum zwischen Menanderkomödie und indischem Drama, den Sylvain Levi konstatiert, füllen derartige Ähnlichkeiten,- die sich doch verschieden deuten lassen, nicht aus. Nun dieser Spalt existiert nicht mehr, er ist ausgefüllt durch den Mimus.

II. Die Mimen wandern nach Indien.

Zu der Zeit, als Kälidäsa blühte, als man in Indien zum ersten Male Qakuntalä, Urvaci, Mälavikägnimitra aufführte, hielt Choricius zu Gaza im Philisterlande, dessen Küste, nach Indien gerichtet, von den Wellen des roten Meeres bespült wird, die sich mit denen des indischen Oceans vermischen, seine Rede für den Mimus und die Mimen. Er bezeugt uns für jene Zeit des Mimus machtvolle Blüte und seine Verbreitung durch die ganze griechisch- römische Welt und besonders durch den Orient.

meurtrier ; tantot des signes physiaues viennent au secours de la justice hesitante ; aussi les melodrames contemporains, qui portent sur la sehne le monde des voleurs et des criminels ont-ils largement us4 de Yabhijndna, Baptist d'un nom eilehre: la croix de ma mdre*

*) Selbst in den Roman sind diese yvoigia^iata übergegangen. Aber der griechische Romancier hat diese Technik durchaus nicht dem Leben abgelauscht, sondern eben der Komödie. Wir werden das an dem Beispiel des Longus im zweiten Bande bei der Erörterung der Beziehung zwischen Mimus, Komödie und Roman des näheren zeigen.

Die Mimen wandern nach Indien. 699

Im Orient ist die grofse mimische Hypothese aus der alten Mimologie und Mimodie entstanden. Alle grofsen Städte des Orients, Alexandria, Antiochia, Konstantiuopel, waren von Mimen geradezu überflutet. Wir sahen schon, wie Syrien und Palästina Pflanzstätten und Hochschulen der Mimen waren. Von Gaza wurden berühmte Mimen von den Kaisern nach Rom berufen. Immer neue Mimographen traten auf und neue Mimen wurden geschaffeD, neue Typen erfunden, dazu war eine grofse Fülle alter, vortrefflicher Stücke litterarisch überliefert, besonders Philistions Mimen führte man unablässig wieder auf. Jahrhunderte gingen vorüber, Königreiche sanken in Trümmer, neue Weltreiche kamen, Religionen versanken und neue Religionen tauchten auf, nur der Mimus blieb unverändert blühend und herrschend im Orient. Erst als am Ende des Mittelalters Byzanz in die Gewalt der Türken fiel, ging es mit dem griechischen Mimus in Asien zu Ende; aber in seiner türkischen Metamorphose führt der Mimus noch heute ein wenn auch erniedrigtes und dürftiges Dasein.

Die griechischen Fürsten im Orient waren leidenschaft- liche Verehrer des Mimus, der auf der orientalischen Hofbühne souverän herrschte. Die Diadochen in Indien haben da schwer- lich eine Ausnahme gemacht. Bis ins erste Jahrhundert vor Christus fanden die weit wandernden Mimen an den griechischen Höfen in dem Becken des Indus sicherlich eine freundliche Auf- nahme. Dann gingen jene Dynastien zu Grunde. Sollten darum nicht die Mimen weiter die ihnen wohl bekannte Strafse nach Indien gezogen sein, diese Zugvögel der Welt, oQvta y^c, wie Manetho sie nennt (vgl. oben S. 523), die von den Gebirgen Schottlands zu den Katarakten des Nil, von den Säulen des Herkules zu den Küsten des schwarzen Meeres zogen, die, wie einst zu den römischen Barbaren, später zu den Kelten, Ger- manen und Briten wanderten, die wir später noch am Hofe Karls des Grofsen antreffen werden, die selbst, wie der Mime Amarion *), zu den Eingeborenen Afrikas drangen. Es ist bekannt, wie enge Handelsbeziehungen zwischen Indien und dem Römerreiche in

J) Über das Wandern der Mimen vgl. oben S. 55S folg. und im Kapitel Cynismus und Mimologie den ersten Paragraphen „Cyniker und Mimen".

700 Achtes Kapitel.

den ersten Jahrhunderten nach Christus herrschten. Beständig fuhren Schiffe zwischen den orientalischen Häfen des Imperium Romanum und den indischen Emporien hin und her; und gerade in diesen Hafenplätzen bildete der Mimus das besondere Ver- gnügen des Volkes und waren die Mimen in Masse vertreten, so besonders in Alexandria. Wir hörten ja schon Dio Chry- sostomus schelten, die Alexandriner hätten an nichts weiter Vergnügen wie am Mimus und seien davon ganz närrisch und selber beinahe zu Mimen und Spafsmachern geworden. Von Alexandria aus hatten die Mimen bequeme Fahrgelegenheit nach Indien bis in die Zeiten Kälidäsas; was hinderte sie einen indischen Kauffahrer zu besteigen, um einmal auch in dem fabelhaften Goldlande ihr Glück zu versuchen. Was sie an Ge- räten und Kostümen brauchten, ging in einen einzigen Sack und ihre Gaukelbühne konnten sie leicht überall aufschlagen.

Der Mime hat sich von jeher mit seinem lebhaften Gebärden- spiel, mit seiner Grimassen- und Ohrfeigenkomik auch den anders Redenden verständlich gemacht. Anfänglich haben die Römer zum gröfseren Teile ja auch nicht die griechisch redenden Mimen verstanden und ebenso wenig später die Germanen, Kelten und Angelsachsen. Reichte die mimische Kunst nicht aus, so war der Mime noch nebenbei in allerhand Gaukelkunst als ^avfiaro- noi,6g geübt und die Miminnen waren zugleich Tänzerinnen. Diese Biologen kannten den ßiog genau und wufsten mit allen Menschen zu verkehren. Dazu kam ihre lustige Vagabundenfrechheit und der Übermut und die Findigkeit des fahrenden Volkes. Kurz, eine griechische Mimenbande schlug sich auch im fremden Lande durch. Wir dürfen also sagen, dafs recht gut in der Zeit von circa 300 vor Chr. bis 600 n. Chr. die Kenntnis des griechischen Dramas und zwar in der Form des Mimus durch die Mimen den Indern vermittelt sein kann. Ja, wenn man an den ungeheuren Wandertrieb der Mimen und an die nahen Beziehungen zwischen Indien und den Reichen der Diadochen sowie später dem römi- schen Weltreiche denkt, besteht sogar die Wahrscheinlichkeit einer solchen Vermittelung; doch bleiben wir vorläufig erst ein- mal bei der Möglichkeit.

Verfassung der indischen Mimen. 701

ni.

Verfassung der indischen Mimen.

Die griechischen Tragöden und Komöden waren in grofsen Gesellschaften, Synoden, vereinigt. Von diesen Synoden wurden für die Festfeiern der verschiedenen Städte die erforderlichen dionysischen Techniten, vom Tragöden bis zum Flötenbläser her- unter, gegen ein Entgelt, der an die Synode zu zahlen war, ent- sendet. Eine einzige solche Synode konnte zugleich die ver- schiedensten Festspiele beschicken und war für ganze Länder die Versorgerin. Sie hatte ihren festen Wohnsitz; die Verfassung war eine republikanische, auf dem allgemeinen Stimmrecht be- ruhende. Die Synode wählte ihre Beamten, vom Erzpriester bis herunter zum Pedell.

Die Verfassung der indischen Schauspieler ist dagegen die Prinzipalschaft. An der Spitze steht der Direktor, der sütradhära, ihm liegen die Geschäfte der Gesellschaft ob, er sorgt für alles und hat das Regiment. Als Schauspieler giebt er die ersten Rollen. Er ist mit einem Wort der archimimus der griechischen Mimen- banden, der ebenfalls sowohl der Prinzipal, wie auch einer der besten Schauspieler der Truppe ist. Neben dem Direktor be- hauptet die erste Aktrice noch einen hervorragenden Platz. Im Prologe, der vom sütradhära gesprochen wird, tritt sie allein von allen Schauspielern auf und der Archimimus hält mit ihr ein lustiges Zwiegespräch. Gewöhnlich ist sie mit ihm ver- heiratet. Auch die griechischen Mimen pflegten, wie Choricius hervorhebt, verheiratet zu sein. Es ist die archimima der grie- chischen Bühne. Wie archimimus und archimima entspricht sich sütradhära und sütradhäri1).

Die griechischen Archimimae und alle Miminnen, die Prima- donnen waren, erscheinen im allerkostbarsten Schmucke, strahlen von Gold, Perlen und edelem Gestein. Pelagia erhielt davon den Namen Margarito (Perle). Sie haben an dieser Gewohnheit in dem

*) Vgl. Sylvain Levi a. a. 0. S. 378, Anm. 5

702 Achtes Kapitel.

reichen Indien nichts nachgelassen. Die Pracht des Schmuckes und der Toilette einer sütradhäri war sprichwörtlich; von Vasanta- senä heifst es, sie geht so prächtig geschmückt daher wie eine Archimima (Mrcchakatikä erster Aufzug).

Die griechischen Mimentruppen waren, wie wir sahen, sehr zahlreich; neben dem Archimimus und der Archimima, neben den stupidi und moriones, neben den jugendlichen Liebhabern und Liebhaberinnen, den häfslichen alten Miminnen, den Hexen und Kupplerinnen fand sich noch ein Trofs zahlreicher niederer und niederster Mimen bis herunter zu dem Corps de ballet und den Statisten. Genau so verhielt es sich mit den indischen Schau- spielertrupps. Da fanden sich neben dem Prinzipal und der Prinzipalin die Narren, der Vidusaka und der Qakära, der Parasit, der Vita und zahlreiche sonstige Vertreter männlicher Neben- rollen, und vor allem zahlreiche Miminnen, zweite und dritte Liebhaberinnen denn die erste ist ja immer die sütradhäri , Vertraute, Dienerinnen, Kupplerinnen u. dergl., häfsliche alte Hexen, Zauberinnen und Tänzerinnen.

„Zugvögel im Lande" nannte man die hellenischen Mimen, das gilt von den indischen genau in der gleichen Weise. „So organisiert", sagt L6vi (a. a. 0. S. 384 u. 385), „durchzog die Truppe das Land auf der Suche nach günstigen Gelegenheiten: Mondwechsel, das Opfer eines Königs, eine Prozession, eine kirchliche Feier, eine glänzende Hochzeit, die Heimkehr eines teueren Angehörigen, die Besitzergreifung einer Stadt oder eines Hauses, die Geburt eines Sohnes liefsen sich nicht würdig feiern ohne eine dramatische Aufführung". Nun, genau ebenso konnte im griechisch-römischen Weltreiche kein Fest, keine Hochzeit, ja kein Gelage ohne die Mimen gefeiert werden. Selbst die kaiserliche Regierung feierte öffentliche Handlungen, wie die Errichtung einer Bildsäule des Kaisers oder der Kaiserin durch Aufführung von Mimen (vgl. oben S. 132).

Die indischen Schauspieler gaben nun aber ihr Spiel nicht auf eigene Rechnung und nahmen etwa Eintrittsgeld, sondern der Veranstalter des Festes hatte sie zu entlohnen, wie es mit den griechisch-römischen Mimen Sitte war. Allmählich wurde

Verfassung der indischen Mimen. 703

Indien genau so von umherziehenden Mimengesellschaften erfüllt wie das griechisch-römische Weltreich. Zu allen grofsen Festen fanden sich zahlreiche Mimenbanden ein.

Da gab es denn unter diesen indischen Mimenbanden genau dieselben Eifersüchteleien wie etwa zwischen den griechischen, die vor Caesar zur Feier der Begründung der Weltmonarchie spielten, als Publius Syrus mit seiner Truppe alle anderen Mimo- graphen und Mimen zum Wettkampf herausforderte. Davon ist wiederholt in den Prologen indischer Dramen, besonders denen, die zum Kreise des Räma gehören, die Rede. Aber ein richtiger Agon ist wenigstens ursprünglich bei den hellenischen wie den indi- schen Mimentruppen mehr etwas Zufälliges, weniger eine stehende Einrichtung, wie bei den hellenischen Tragöden und Komöden1).

Als fahrende Leute sind die Mimen und Miminnen auch in Indien ehrlos geblieben, wie sie es in Hellas und nachher im griechisch-römischen Reiche nach dem Gesetze nun einmal waren, die Ehrlosigkeit ist ihnen auch über das Weltmeer gefolgt.

Die indischen Miminnen waren, wie die griechischen, meistens zugleich Hetären, trotzdem sie zum Teil verheiratet waren. Ihre Männer waren nicht eifersüchtig, sondern zogen Vorteil aus den Reizen ihrer Frauen. Die indischen Lexiken geben trocken und ohne alle Malice für Ausdrücke wie Schauspieler, Mime das Syno- nym „einer, der von seiner Frau lebtu. Unter dieser spezifisch indischen Voraussetzung verstehen wir jetzt das alte Glossar, das Mimus mit prepositus meretricum übersetzt, noch besser. Ich erinnere auch an {xifjägtov = Bordell. Die griechischen Miminnen standen da doch noch auf höherer moralischer Stufe wie die indi- schen. Wer die Frau eines Mimen verführt, sagt Choricius, wird ebenso bestraft wie irgend ein anderer Ehebrecher. Nach indi- schem Gesetze stand auf Ehebruch mit einer Mimin eine sehr ge- ringe Strafe, weil das gewöhnlich war (vgl. Levi a. a. 0. S. 391). Die indischen Mimen waren in ihre sehr niedrige Kaste gebannt; nie hätte ein vornehmer Mann, wie es seit Justinian gesetzlich

x) Allerdings wird der Mime Flavins Alexander Oxeides als Asionike und Sieger in zahlreichen Agonen bezeichnet (Waddington Voyag. archeol. No. 1652 b).

704 Achtes Kapitel.

erlaubt war, eine rechtliche Ehe mit einer Mimin eingehen können: kein indischer Radscha hat je eine Mimin geheiratet, nie war eine Mimin gar Kaiserin von Indien. Der strenge indische Kastengeist gestattete auch der grofsen Künstlerin nicht, sich aus der Ehrlosig- keit ihres Berufes zu erheben.

Wie im Römerreiche konnten auch in Indien die Mimen nicht Zeugnis vor Gericht ablegen. Aber auch in Indien bildeten sie trotz alledem das Entzücken des Volks, und die indischen Radschas haben ebenso mit den hervorragenden Mimen intim verkehrt, wie es König Philipp und Alexander, die Könige Syriens und Ägyptens und wohl auch die indischen Diadochen thaten. König Vasumitra mufste gar seine Leidenschaft für die Mimen mit dem Tode büfsen (L6vi a. a. 0. S. 381), wie Kaiser Elagabalus nur durch die Ent- lassung der Mimen aus seiner Umgebung einen gefährlichen Auf- ruhr stillen konnte.

IV. Tracht und Spiel der indischen Mimen.

Die indischen Schauspieler tragen nicht wie die griechischen Tragöden fremdartige Prunkgewänder, auch keine Kothurne oder den erhöhten Theaterschuh der Komöden. Sie erscheinen wie die griechischen Mimen im wesentlichen in der Kleidung des gewöhnlichen Lebens.

Vor allem tragen die indischen Schauspieler, wie es sich für Mimen gehört, keine Maske. Dagegen haben sie von den griechi- schen Mimen den Gebrauch der verschiedenartigsten Schminken (pigmenta multicoloria, vgl. oben S. 600) übernommen. Die Be- reitung und der Gebrauch der Schminke gehörte sehr wesentlich mit zu den Künsten des indischen wie des griechischen Mimen. Darüber haben wir sehr eingehende Angaben aus der indischen Litteratur (vgl. Sylyain Le>i a. a. 0. S. 370 u. 388). Der [itpos ysXoioov trat als Kahlkopf auf. Wir werden sehen, dafs sein indischer Nachkomme desgleichen thut, ja wir werden noch den Phallus wiederfinden, der nun einmal mit zur äufseren Er- scheinung des Mimus gehört.

Indische Bühne. Mimenbühne. 705

Bei den griechischen Mimen kam es vornehmlich auf das Mienenspiel an, ich erinnere nur an den Ausdruck „gesticularia", an den Mimen, der in Gebärde und Haltung Kaiser Vespasian nachahmt, an den Mimen Vitalis, an Sannio den Grimassen- schneider. Dasselbe ist bei den indischen Mimen der Fall. Sie mufsten alle Empfindungen und Seelenstimmungen mit besonderen, fein nüanzierten Gebärden ausdrücken. Es gab dafür in den indischen Kunstlehren wahrhaft minutiöse Vorschriften. Die Be- wegung der Hände, der Füfse, alles war aufs genaueste und bis ins einzelnste hinsichtlich des mimischen Ausdruckes geregelt1). Derartige Regeln für Mimen sind uns ja leider aus dem grie- chischen Altertume nicht erhalten. Aber in der pseudolucianischen Schrift über den Pantomimus (negl oQxijoeag) werden gleichfalls die genauesten Anweisungen für mimisches Gebärdenspiel ge- geben2). Dieses lebhafte Mienenspiel der indischen Mimen mufste um so naturwahrer und ethologischer sein, als ja auch die Weiberrollen, wie im griechischen Mimus und im Gegensatz zur griechischen Komödie und Tragödie, durch Frauen gegeben wurden.

V.

Indische BUhne. Mimenbühne.

Wir haben die Bühne der griechischen Mimen kennen ge- lernt; auf einigen Pfählen in Brusthöhe ruht ein leichter Bretter-

x) Ich gebe zum Belege einige von den Beispielen, die Levi a. a. 0. S. 387 u. 3ß8 anführt: Tandis que Qakuntalä effrayee fuit devant Vabeille, eile exprime sa crainte par des signes: <Elle secoue vivement la tite; sei Ibores tremblent; la paume ouverte, les doigts itendus {sauf le pouce qui se recourbe et se fixe ä la bäte de t index) eile retoume se» mains devant son visage > . . . . Les traiiis de mimique ne se contentent pas d'enseigner les gestes de Convention, qui indiquent au speetateur Vaction du personnage; ils de'crivent les manifestations exterieures des sentiments avec autant de patience et de minutie que les ouvrages de rhitorique en mettent ä cataloguer les sentiments meines. Qakuntalä exprime la honte de l'amour (grngä ralajjäm rupayati): *Eüe de'tourne la tite; ses paupieres se rejoignent aux deux bouts, la pupille est baissie et la paupikre retombe».

8) Es wäre interessant genug, wenn einmal diese detaillierten griechi- schen und indischen Vorschriften über mimische Gestikulation im einzelnen verglichen würden; e> liegt ja Material in Fülle vor.

Reich, Mimus. 45

706 Achtes Kapitel.

boden '). Als man dann später die mimische Hypothese zur Ver- herrlichung von Festen und Gelagen gab, ward dasselbe Gerüst im Festsaale aufgeschlagen. So spielten bei dem grofsen Feste, das König Antiochus IV. von Syrien in Daphne im Jahre 168 vor Christus gab, die Mimen im Saale vor der Festversammlung. Im grofsen, steinernen Dionysostheater trennte sich der Mime, wie wir sahen, von dem glänzenden, für die vornehme Tragödie und Komödie bezeichneten scenischen Hintergrunde durch einen Vor- hang, das siparium *). Vor diesem spielten die Mimen, hinter ihm warteten sie auf ihr Stichwort. Dahinter werden zum Teil auch die Musiker gestanden haben, die im Mimus sehr zahlreich waren. Das Siparium war eine Art Gardine, die beim Heraustreten des Schauspielers in der Mitte sich auseinanderschob, um dann wieder zusammenzugehen2); es bildete zugleich für den Mimus den scenischen Hintergrund. Genau so verhält es sich mit der indi- schen Bühne. Grofse steinerne Theater, ja überhaupt ein eigent- liches Theater hat es in Indien nie gegeben. Die Mimen haben ja auch in Griechenland kein Bedürfnis darnach verspürt, sie haben dort das steinerne Dionysostheater, das für Tragödie und Komödie erbaut war, nur benutzt, weil es nun einmal da war. Die wandernden indischen Mimenbanden liefsen sich von dem Festgeber einen Hof oder einen Saal anweisen, an den indischen

*) Der Boden, auf dem die Mimen spielten, heifst niXfia ; so nennt ihn Leontios in der vita Symeons. xal xärco iffraro tis to niX/xa onov enai£ov ol filfxoi heifst es von Symeon; et stetit infra in area drei, ubi ludebant mimi übersetzen die Bollandisten. Aber vom Cirkus ist gar keine Rede sondern vom Theater. Wenn Symeon sich unten hinstellt auf den Bretter- boden, auf dem die Mimen spielen, so haben wir ja eben hervorgehoben, dafs dieser Boden etwa Brusthöhe zu haben pflegte (vgl. anch oben S. 606, 611). Die Zuschauersitze stiegen aber amphitheatralisch an, und die Mehrzahl der Zuschauer schauten von oben auf das „7i£X/xau. Wenn man Symeon nicht auf dem Bretterboden bemerkt und nicht sieht, wie er den Stein wirft, so stand er eben hinter dem Siparium versteckt, nur so konnte er ja auch auf der Bühne geduldet werden. Die Bollandisten haben also hier eine falsche Anschauung, jedenfalls aber wird das ntXfjLK nicht selten ebenso wie im Theater auch im Cirkus aufgeschlagen sein, der ja gleichfalls eine Heimstätte der Mimen war.

2) Vgl. die Ausführungen über das Siparium oben S. 608 612.

Indische Bühne. Mimenbühne. 707

Fürstenhöfen war es gewöhnlich der grofse, prächtig ausgestattete Musiksaal. Dort schlugen sie ihre Bühne auf, zu welcher der Mimentrupp alles Erforderliche mit sich führte. Kräftige Pfähle aus kostbarem Holze wurden zur Hälfte ihrer Höhe in die Erde gegraben, darauf wurde ein Bretterboden gelegt, ganz wie bei der alten Mimenbühne, auch die Brusthöhe stimmt etwa. Wie die Mimenbühne verzichtet die indische Bühne auf Scenenmalerei, der Ort der Handlung wird durch die Personen des Stückes an- gedeutet Bald ist die Bühne ein Büfserhain, bald ein Fürsten- palast, bald die Terrasse des Perlenschlosses, bald stellt sie den Himmelssaal dar, bald gar die Region über den Wolken; wie im Mimus wechselt die Scene, aber die Bühne bleibt unverändert dieselbe. Den Hintergrund schliefst ein Vorhang ab, eine Art Gardine. Hinter diesem Vorhang ist die Musik verborgen und stehen die Schauspieler. Beim Hinaustreten eines Schauspielers auf die Bühne wird der Vorhang in der Mitte auseinander- geschlagen, vor diesem Vorhang spielten die Mimen. Soll ich noch weiter beweisen, dafs er das velum mimicum, das siparium ist? Nun gut, er heilst Yavanikä, der Ionische, der Griechische ').

*) Den Hinweis auf diesen entscheidenden Ausdruck verdanken wir Windisch, der schon hervorhob, wenn der Vorhang der griechische" sei, werde wohl auch mit ihm die ganze Bühneneinrichtung aus Griechenland entlehnt sein (a. a. 0. S. 24 ff.). Nun hat diese aber nichts mit derjenigen der griechischen Komödie zu thun. Komödie und Tragödie kennt in Griechenland keinen Vorhang, am wenigsten aber einen Vorhang wie das Siparium. Bei diesen himmelweiten Unterschieden schien Sylvain Levis Einspruch wohl be- gründet (a. a. 0. S. 348 ff.)= Javani hiefsen nicht blofs die Ionier, die Griechen, sondern im weiteren Sinne neben den Griechen auch alle Völker im Westen, also auch Baktrier, Perser, Araber; da könnte Javanika also möglicherweise einfach auch einen Perserteppich bedeuten, der von Griechen nach Indien verhandelt, dort als Vorhang auf der Bühne diente. Die Perserteppiche waren schon im Altertum berühmt. Nun, die Identität zwischen Yavanikä und Siparium macht diese Möglichkeit zur Unmöglichkeit. Auch die mittel- alterlichen mimi et ioculatores im lateinischen Westen Europas haben sich das Siparium erhalten (vgl. oben S. 611, 612), und ein Rest davon findet sich noch auf der altenglischen Bühne, die von der mittelalterlichen mimischen Gaukel- bühne abstammt. Die Farbe des Sipariums wechselt in Indien je nach dem Inhalt des Stückes; ist er erotisch, ist sie weifs, tragisch: schwarz, komisch :

45*

708 Achtes Kapitel.

Götter und Helden, Könige und Prinzen, Weise und Minister, Göttinnen, Nymphen, Königinnen, Bettelmönche, Kaufleute, Ar- beiter, Fischer, Spieler, Bettler, Henkersknechte und Totengräber, und allerhand Lumpengesindel, Hetären und Kupplerinnen müssen alle, woher sie auch kommen mögen, ob direkt aus Indras Himmel oder aus der Winkelkneipe, durch den einen Schlitz im velum mimicum in die Erscheinung treten. Das war, so seltsam es ist, in Indien Sitte, weil es nun einmal auch im griechisch-römischen Mimus Sitte war und weil die griechischen Mimentruppen alle ihre Einrichtungen, Gewohnheiten und Gebräuche, ihre Art zu erscheinen und zu spielen, ihre Verfassung und ihre Bühne nach Indien verpflanzt haben. Ob sie allein die Hauptsache, den Mimus, zu Hause gelassen haben?

VI. Form des indischen und des mimischen Schauspiels.

Rätselhaft ist die Form des indischen Dramas. Wenn Win- disch zum Schlüsse die Verschiedenheiten zwischen griechischer Komödie und indischem Drama hervorhebt, so nennt er vor allem diese Form: „In der griechischen Komödie war auch der gewöhnliche Dialog in Versen. Das indische Drama hat für den Dialog die Prosa. Dies begreift sich, wenn wir bedenken, dafs die Inder kein Versmafs besafsen, das dem leichten, einzeiligen iambischen Trimeter entsprach, in den sich sogar zwei Personen teilen konnten. Es ist aber nicht ohne Interesse, dafs vereinzelt, am Ende des 7. Aktes der Mriccha-

bunt, gewaltsam: rot u. s. w. Doch scheint die rote Farbe immer zu lässig (Levi S. 374). So wird auf der altenglischen Bühne die Farbe des Vorhanges und der Teppiche geändert; bei Trauerspielen sind sie schwarz, bei Lust- spielen rot. Vermutlich wird die Farbe des Sipariums schon im alten griechisch-römischen Mimus gewechselt haben; doch ist die Überlieferung für solche intime Einzelheiten zu dürftig und lückenhaft. Das velum mimicum bildet noch heute den scenischen Hintergrund in den indischen Volks- schauspielen den Yätras (vgl. L6vi a. a. 0. S. 397).

Form des indischen und des mimischen Schauspiels. 709

katikä, das schöne Zwiegespräch zwischen Aryaka und Cänidatta eine vollkommen korrekte Cärdulavikridita- Strophe bildet, wie Stenzler erkannt hat. Vielleicht ist dies ein Nachklang von Versuchen, die Griechen in der Versifikation des Dialogs nach- zuahmen. Die Prosa des Dialogs kann aber auch beabsichtigt sein als genauer der Wirklichkeit entsprechend, ein Gesichts- punkt, der jedenfalls für das Präkrit der Dramen in Betracht kommt. Es könnte endlich auch die Praxis der modernen ben- galischen yäträs, in denen der Dialog der Improvisation über- lassen ist (vgl. Wilson, Hindu Theatre II, p. 414), schon in die älteste Zeit zurückgehn und die Ursache der Prosa im Dialog des literaten Dramas geworden sein.

Der Dialog besteht aber bekanntlich nicht blofs aus Prosa, sondern zum Teil aus Versen. Diese Verse haben bisweilen einen sentenziösen Charakter, vorwiegend ist jedoch die ge- bundene Form zum Ausdruck der gehobenen Stimmung und der poetischen Gedanken des Zwiegesprächs gebraucht. An die cantica bei Plautus und Terenz darf man nicht erinnern, denn diese sind Monologe und wurden gesungen; mit den canticis könnten höchstens die Singverse des suchenden Königs im 4. Akt der Urvacj verglichen werden. Die Untersuchung über die Entwickelung der Kunstformen der indischen Litteratur ist mindestens noch nicht abgeschlossen. Der Prosa mit ein- gestreuten Versen begegnen wir z. B. auch im Pancatantra und in der Vetälapaiicavimcatikä. Es wird diese Kunstform eine echt indische Erfindung sein, sie könnte aber im Drama neu entstanden sein, als es galt den verifizierten griechischen Dialog nachzuahmen: den ganzen Dialog zu versifizieren liefs sich nicht durchführen, und so unterschied man zwischen der gewöhnlichen und der gehobenen Rede und brachte eben nur für die letztere die indischen Versmafse in Anwendung". (Windisch a. a. 0. S. 101 und 102.)

Also die Form des Dialogs ist Prosa, die durch metrische Stellen unterbrochen wird. Die Singstrophen in der Urvaci er- innern Windisch an Plautinische cantica; ich setze die erste Strophe hierher:

710 Achtes Kapitel.

„Von dem Weibchen getrennt, vom Wahnsinn berückt, So dringt, mit Blütengezweig geschmückt Der Bäume, das vorn um den Leib sich ihm wand, Ins Dickicht der mächtige Elephant".

Die Plautinischen cantica sind aber Mimodieen. Diese Liebesklagen des Königs Purüravas erinnern mit ihrer präch- tigen, sinnberückenden Leidenschaft an die Mimodie „Des Mäd- chens Klage". Solche Liebesklagen, wie sie in den indischen Dramen in reizvollen Liedern erklingen, haben auch unablässig durch die mimische Hypothese geschallt. Auch sonst giebt es Arien in den indischen Dramen. Ich gebe als Beispiel das Lied am Anfange des fünften Aufzuges der Qakuntalä:

„Denkst du nicht mehr, o Honigspender, Der Knospe an dem Mangobaum, Die deiner Liebe Unterpfänder Im Kufs empfing, im Liebestraum?

Nach frischem Saft steht dein Verlangen? Zur Lotusblüte ziehst du ein? Wird dir's im neuen Haus nicht bangen? Wirst du auch wahrhaft glücklich sein?

Die mimische Hypothese hat überhaupt einen etwas opern- haften Charakter, ähnlich dem indischen Drama. Windisch hebt hervor, die metrischen Stellen dienten besonders für sententiöse Wendungen nun wir kennen die metrischen Sentenzen des Mimus und zur Bezeichnung der sich hebenden Stimmung wie im Mimus.

Also das indische Schauspiel hat einen Prolog, dann wechseln Prosa, metrischer Dialog und Lieder miteinander ab. Diese eigen- tümliche Form hat allerdings nichts mit der antiken Komödie oder gar Tragödie gemein, alles aber mit dem Mimus, für den sie typisch ist. Diese Form haben die alten hellenischen Mimo- graphen geschaffen, Philistions Vorgänger und, weil der türkische Mimus ein Nachkomme des byzantinischen ist, zeigt er sie ähnlich wie das indische Drama.

Form des indischen und des mimischen Schauspiels. 711

Der Mimus liebt es, den Dialekt der hohen und niederen Personen zu unterscheiden ; neben dem gewähltesten, ja preziösen Griechisch, wie es die vornehmen Personen, Könige und Götter und vornehmen Damen reden, macht sich der Jargon der Gasse mit den niedrigsten Pöbelausdrücken breit. Das ist ein unver- brüchliches Gesetz der mimischen Hypothese, das man als solches auch in Indien respektiert hat. Die vornehmen Personen im indischen Drama sprechen das vornehme Sanskrit, die einfachen Leute und die Frauen die Volkssprache Präkrit. Nun gab der Mimus aber nicht die Volkssprache schlechthin, er wufste darin fein zu nüanzieren und Dialekte zu unterscheiden. Da redeten Gaetuler, Gallier, Kreter, die Etruskerin, Armenier, Araber, Juden ihre besonderen Dialekte; wir haben auch einen solökisierenden Odysseus. Wir wissen ja auch, wie schon die Aristophanische Komödie, die soviel vom Mimus gelernt hat, Dialekte unter- scheidet und den Böoter eben Böotisch, den Megarer Megarisch und den Dorer Dorisch reden läfst, das hat der Mimus selbst noch in seiner türkischen Metamorphose, dem Karagözspiel, bei- behalten. So wird denn auch im indischen Drama die Volks- sprache das Präkrit nach seinen verschiedenen Dialekten ge- sprochen: Mägadhi, Qäkäri, Cändäli u. s. w.

Im Mimus pflegten, ganz im Gegensatz zur Tragödie und neuen Komödie eine grofse Anzahl von Personen aufzutreten. Ganze Scharen von Mimen und Miminnen füllten die Bühne. Auch das indische Drama kennt keine Beschränkung in der Zahl der auf- tretenden Personen; bei seiner dem Mimus gemäfsen ethologischen Richtung schwelgt es in der Zeichnung zahlreicher Charakter- figuren. 14 verschiedene Personen hat z. B. Mälatimädhava, 18 Urva^i, 20 Mälavikägnimitra, 25 Mudräräksasa, 28 Mriccha- katikä.

Wir haben auf die wunderbare Mischung der vornehmen mit den niedrigen Personen im griechischen Mimus hin- gewiesen. Es geht von Göttern, Helden, Königen, Imperatoren, Prätoren und Gerichtsherrn bis zum Strolch herunter und der Mimus weifs alle diese Typen miteinander zu verbinden. Genau so im indischen Drama, wo gleichfalls alle Skalen der

712 Achtes Kapitel.

sozialen Stufenleiter vom Gotte und Könige bis zum Lumpen vertreten sind und wo selbst in einem so idealen und hoch- gespannten Drama wie der Qakuntalä ein Polizeimeister uüd zwei gewöhnliche Polizeikerle auftreten, die erst einen armen Fischer erbärmlich verhauen und nachher mit ihm in die Kneipe gehn, um gemeinsam einen Schnaps zu nehmen, den natürlich der Fischer zu bezahlen hat.

Schnell wie im Mimus wechselt im indischen Drama der Ort; der Mangel jeder Kulissenmalerei wie auf der griechischen Mimenbühne ermöglicht das. Prächtig schildert der indische Mimus bald den Bergwald, bald den Büfserhain, den könig- lichen Lustpark oder die herrlichen Gemächer des Königs- schlosses, in denen er sich befindet. Aber es ist immer dieselbe kahle Scene, und so kostet es dem Mimen nur ein paar Worte, um plötzlich am anderen Orte zu sein. Wenn schon der griechische Mimus die Zuschauer vom Himmel durch die Welt zur Hölle führt, so ist das indische Drama ebenso in Indras Himmel, und auf den Bergspitzen des Himalaya wie auf der Erde zu Hause. Auch das indische Drama erstreckt wie der Mimus seine Handlung über mehrere Tage; ja er geht über diese Freiheit des griechischen Mimus noch weit hinaus. Die Handlung der Qakuntalä wie der Urvacj umfafst Jahre, an ihrem Anfange sind die Heldinnen liebende Jungfrauen, an ihrem Ende die Mütter munterer, heldenhafter Knaben.

Die klassischen Einheiten kennt also das indische Drama so wenig wie der Mimus; es benutzt die Freiheiten, die ihm der kühne Neuerer, der Biologe, geschaffen hat. Eigentümlich sind dem Mimus die Kinderrollen, selbst diese Besonderheit zeigt das indische Drama und zwar gerade in den ältesten Stücken. In der Mrcchakatikä tritt Rohasena, das Söhnchen des Cärudatta auf; in Kälidäsas Qakuntalä der kleine Sohn Duhsantas und Qankuntalas, in der Urvagi der kleine Bogenschütze Ayus, Urvagis und Purüravas Sohn ; und entsprechend der Gewohnheit des Mimus sind diese Kinderrollen keineswegs unbedeutend. Auch die indi- schen Mimen gewöhnten eben wie die griechischen ihre Kinder schon früh an ein dreistes Auftreten auf der Bühne.

Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 713

vn.

Mrcchakatikä als mimische Hypothese.

Wir wollen den Vergleich zwischen Mimus und indischem Schauspiel etwas eingehender an der Mrcchakatikä durchführen.

Wie im Mimus haben wir einen Prolog, wie im Mimus und in allen indischen Dramen wechseln hier Vers und Prosa, vor- nehme Sprache mit niederer Volkssprache und hier wieder ver- schiedene Dialekte miteinander. Wie im Mimus mischen sich vornehme mit niedrigen Personen. Da findet sich der königliche Prinz Samsthänaka und sein Hofschranze, der Vita, ein vor- nehmer, hochgebildeter, Sanskrit redender Herr; der Brahmane Cärudatta und seine Gattin, Rohasena sein Söhnchen, der Thron- prätendent Aryaka, ein Oberrichter, zwei Hauptleute der Stadt- wache mit ihren Leuten, die reiche Bajadere Vasantasenä und ihre kupplerische Mutter, so geht es immer tiefer herunter zum Gerichtsschreiber und zum Pedell, zu den Bedienten, Zofen und Mägden, ja zu den allerniedrigsten Leuten, den zwei Tschändälern, den Henkern.

Wie im Mimus folgt ein Bild aus dem Leben dem anderen, schnell ändert sich in kurzatmigen Auftritten die Scene, bald sind wir vor, bald in des Brahmanen Cärudatta Haus, oder in Vasanta- senäs Palast, bald in diesem, bald in jenem Zimmer oder im Garten, dann bald wieder auf der Strafse oder im Parke Puschpakaranda, im Gerichtssaale oder auf dem Wege zum Hochgerichte. Ebenso ist wie im Mimus von Einheit der Zeit keine Rede, die Handlung spielt sich nicht an einem sondern an fünf Tagen ab. Auch die Einheit der Handlung ist nicht gewahrt, es sind zwei Handlungen durcheinander geschlungen.

Die Haupthandlung ist eine Liebesgeschichte zwischen der schönen und geistvollen Hetäre Vasantasenä. die ihrem lockeren Gewerbe durch eine reine und heilige Leidenschaft abwendig ge- macht wird, und dem tugendhaften Kaufmanne aus der Brahmanen- kaste Cärudatta, der einst reich, durch seine grofse Mildherzigkeit und Freigebigkeit verarmt ist Die ernsthafte Liebe der Hetäre

714 Achtes Kapitel.

zu einem schönen, aber armen Jünglinge, die bei ihrer hab- süchtigen Mutter keine Billigung findet, ist ein altes, griechi- sches Komödienmotiv. Das hat Windisch vortrefflich entwickelt1). Auch im VII. Hetärenmimus Lukians findet sich dieses Motiv wieder. Dort schilt die Mutter auf Musarion: „Wenn wir noch so einen Liebhaber finden, Musarion, wie dieser Chaereas ist, so können wir weniger nicht thun, als der Venus Pandemos eine weifse Ziege, der Urania und der in den Gärten jeder eine junge Kuh opfern, und die Plutodoteira über und über mit Blumenkränzen behängen; wir werden auch ganz glücklich und dreifach beseeligt sein. Das mufst du mir doch selbst gestehn, dafs es ein freigebiger junger Herr ist! Wenn er, seitdem du ihn kennst, auch nur mit einem Silbergroschen hervorgerückt wäre! Nur ein Halstuch oder ein paar Schuhe, oder ein Pommadetöpfchen wenigstens! Aber nichts! Nichts als Entschuldigungen, und Versprechungen und weit hinaus- geschobene Hofnungen, und das ewige „Wenn mein Vater Wenn ich Herr von meinen Erbgütern sein werde dann ist alles dein" Sagst du nicht, er habe dir mit einem Eide versprochen, dafs er dich sogar heirathen wolle? Musarion: Ja, Mutter, das hat er mir bei den beiden Göttinnen und bei der Polias geschworen!" Besonders empört ist die Mutter dar- über, dafs Musarion zwei wohlhabende junge Leute, die reiche Anerbietungen machten, abwies. „Wie behandeltest du neulich den jungen Gutsbesitzer von Acharnä, den sein Vater mit einem Fuder Wein in die Stadt zum Markte geschickt hatte? Der hatte doch auch noch keinen Bart, aber einen desto gespicktem Beutel; und so einen Landsmann, der dir von seinem gelösten Gelde zwei baare Minen anbot, weisest du verächtlich ab, und letzest dich dafür mit deinem Adonis Chaereas! .... Nun, nun! Er ist freilich nur ein Bauer, und riecht nicht zum besten. Aber was hattest du gegen den Antipho, des Menekrates Sohn, einzuwenden, der eine Mine geben wollte? Ist der nicht ein so feiner junger Herr aus der

J) a. a. 0. S. 31 ff.

Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 715

Stadt als Chaereas immer? Warum wurde auch der abgewiesen?" Aber Musarion bleibt fest, sie will, wie ihre Mutter hämisch sagt, fortan so keusch leben wie eine Ceres und hofft, dafs ihr Geliebter Chaereas, der junge Edelmann, der Dinomache und des Areopagiten Laches einziger Sohn, sie später heiraten werde. Ähnlich wie diese Hetärenmama benimmt sich auch Vasanta- senäs Mutter, die gern ihr Töchterchen an den Narren Samsthä- naka verkuppeln möchte, der zugleich mit der Sänfte, die Vasanta- sena abholen soll, einen Schmuck von hunderttausend Goldstücken an Wert sendete (Beginn des vierten Aufzuges). Dieses Motiv der reinen Liebe einer Hetäre ist zwar Mimus und Komödie ge- meinsam, aber wie es hier durchgeführt wird, entspricht be- sonders dem Mimus.

Bei allen Liebesgeschichten im Mimus ist Eifersucht das treibende, den Knoten der Handlung schürzende Motiv. Eine Eifersüchtige singt „Des Mädchens Klage", eine Eifersüchtige ist die Zauberin bei Theokrit, eine Eifersüchtige (Zylonmog) tritt im fünften Mimiambus des Herondas aul Der Zrjloivnog ist eine stehende Figur in der mimischen Hypothese. Ich erinnere an den „zelotypus Thymeles, stupidi collega Corinthi" bei Iuvenal (vgl. oben S. 89 Anm. 3). Wie er den begünstigten Nebenbuhler verfolgt, wie er die Zusammenkunft der Liebenden hintertreibt oder stört, wie diese doch schliefslich an das Ziel ihrer Wünsche ge- langen, wie er gefoppt, geprellt, gehänselt und geprügelt wird, wie er sich dann später rächt, ist der Inhalt der Liebesgeschichten im mimischen Drama. Der Zylöivrio; , der sich hier zwischen die Liebenden stellt, ist der halbverrückte Samsthänaka, der Schwager des Königs", der Qakära. Als rechter stupidus erntet er bei seiner Liebesbewerbung um Vasantasenä nur ernste Zu- rückweisung und Spott und schliefslich noch gar Prügel. Alle seine Anschläge mifslingen kläglich. Gleich von vornherein jagt er durch seine täppische Verfolgung die schöne Hetäre in das Haus ihres geliebten Brahmanen. Voll Eifersucht trägt er Maitreya „dem drolligen Freunde" des Cärudatta auf, dem Brah- manen zu sagen, er solle die schöne Hetäre ihm ausliefern, oder er, der Prinz, werde ihn aufs Äufserste verfolgen. In der That

716 Achtes Kapitel.

geht nun alles Unglück, was Cärudatta und Vasantasenä trifft, von dem rachsüchtigen ZqXoivnog aus.

Denken wir an die Handlung im Giftmischermimus, auch dort herrscht Liebe und Eifersucht. Die Dame wird aus ver- schmähter Liebe und Eifersucht zur Giftmischerin, sie versucht den Geliebten zu ermorden. Der „Eifersüchtige" in der Mrccha- katikä wird zum Mörder an Vasantasenä. Der Mimus wie das indische Schauspiel wird zur Kriminalgeschichte. An dem Gifte stirbt im Mimus jemand anderes und die Übelthäterin beziehtet den Jüngling, der sie verschmähte, des von ihr verübten Mordes. So beschuldigt der eifersüchtige und verschmähte Qakära den Brahmanen des Mordes an Vasantasenä. Im griechischen Mimus wie im indischen Schauspiel folgt dann eine lang ausgesponnene, mit aller biologischen Treue und Genauigkeit wiedergegebene Gerichtsverhandlung mit Erhebung der Anklage, mit Zeugen- verhör, mit Reden und Gegenreden, mit allen Wendungen des Prozesses. Gerade solche Gerichtsscenen waren, wie wir sahen, für den Mimus typisch1). Schon soll im Mimus das Todesurteil ausgesprochen werden, da erscheinen die Ermordeten und Tot- geglaubten wieder auf der Scene. Alles klärt sich auf, das Gift war nur ein starkes Schlafmittel, Vasantasenäs Tod nur eine starke Ohnmacht; den Scheintoten im Mimus führt ein weiser und mitleidiger Arzt, die scheintote Vasantasenä ein frommer und mitleidiger Mönch ins Leben zurück. Die Unschuld siegt, der Held steht in Reinheit gerechtfertigt da; die eigentlichen Übelthäter kommen in beiden Stücken ohne allzu harte Strafe fort, und so schliefsen beide Schauspiele, obwohl die schwersten Thaten geschehen sind, obwohl das schwärzeste Unheil schon hereingebrochen war, dennoch mit der wolkenlosen Heiterkeit, die dem Mimus eigentümlich ist.

In diese Haupthandlung der Mrcchakatikä ist noch eine bedeutsame politische Nebenhandlung verflochten: die Thron- entsetzung des schlechten Königs Palaka, des Schwagers des bösen Narren Samsthänaka, durch den tapferen Hirtenjüngling

*) Vgl. oben S. 87 ff., 576, 577 u. ö.

Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 717

Aryaka. Dadurch erhält das ganze Drama einen bedeutsamen politischen Hintergrund, alle brahmanischen Elemente sind dem König Palaka übel gesinnt. Beständig wird auf des Herrschers tyrannische Regierung gescholten. Windisch sagt (a.a.O. S. 41): „Solcher Ausblick auf politische Verhältnisse war auch der grie- chischen neueren Komödie nicht ganz fremd"; ganz und gar allerdings nicht, aber dieses Betonen politischer Dinge wie in der Mrcchakatikä ist der neueren Komödie allerdings ganz und gar fremd, sie ist so unpolitisch, wie nur möglich und vermeidet es auf die Händel der grofsen Welt Bezug zu nehmen. Aus- nahmen bestätigen da nur die Regel.

Aber der Mimus nahm unaufhörlich auf das politische Leben Bezug, das Publikum im Theater erwartete politische Anspielungen von ihm; er wagte es, schlechte Herrscher, wie hier König Palaka es ist, zu tadeln1). Selbst die Darstellungen des christologischen Mimus sind viel weniger theologischer als politischer Natur, da sie den Kampf des heidnischen Staates mit der Kirche schildern, wobei der Mimus immer auf Seiten des Staates stand2). Wenn Aryaka aus dem Gefängnis entrinnt, auf der Flucht begriffen erscheint, wenn die königlichen Häscher auftreten, die ihn verfolgen, wenn er ihnen glücklich in der Sänfte Cärudattas entkommt, so sind derartige Scenen auch im Mimus gang und gäbe gewesen. Dort fanden sich flüchtige Sklaven, die ihren Herren entrannen, oder bankerotte Bankiers, die vor ihren Gläubigern ausrissen (vgl. oben S. 71 und S. 586). Laureolus entrinnt dem Ge- fängnis und ist auf beständiger Flucht vor seinen Häschern, die hinter ihm her sind wie hier die Schergen König Palakas hinter Aryaka. Schliefslich wird dann Aryaka, der arme Ver- folgte, König, und da ihm Cärudatta auf der Flucht mit seiner Sänfte einen so grofsen Dienst erwiesen hat, macht er ihn wieder vornehm und reich und Vasantasenä, der er den Schleier über- sendet, frei von dem Makel ihres Hetärenberufes. So trägt denn auch das Ende dieser politischen Nebenhandlung dazu bei, die

1) Über die politische Richtung des Mimus Tgl. oben S. 182—193, 640—645.

2) Vgl. oben S. 80 ff.

718 Achtes Kapitel.

allgemeine Freude, die am Schlüsse eines Mimus nun einmal herrschen soll, zu erhöhen; denn die Hetäre kann nun, wie es sich Musarion in Lukians Hetärenmimus wünscht, ihres edlen und vornehmen Geliebten rechtmäfsige Gattin werden.

Im Mimus herrscht nicht das furchtbar-erhabene Schicksal, nicht die Aha, die ElpccQfiivrj der Tragödie. Der Mimus schildert die wunderbaren Zufälle, die im Menschenleben in Wirklichkeit garnicht selten sind, diese merkwürdigen Wendungen und Um- schläge, dieses launische Walten des Glückes. Der Bettler wird im Mimus plötzlich zum Millionär, der Millionär zum Bettler1). Totgeglaubte stehen wieder auf aus dem Grabe, unschuldig Ver- urteilte werden plötzlich als schuldlos erkannt. Es ist Fortuna, es ist die Herrin Tyche, die hier unumschränkt regiert, bald neidisch, bald auch wieder über die Mafsen freundlich und hold. Dieselbe Herrin Tyche herrscht auch in unserem Drama. Schon wird über Cärudatta das Richtschwert geschwungen, da erfolgt plötzlich der Umschlag. Der arme Cärudatta wird gerettet und wieder reich und glücklich, die tote Vasantasenä wird wieder lebendig. Der Hirtenjüngling Aryaka wird König und König Palaka verliert Thron und Leben, der Hauptmann der Stadt- wache erhält alle Güter Sanisthänakas , der reiche Prinz aber wird zum Bettler.

Im Mimus war beständig von der Herrin Tyche die Rede. Ich habe oben die Verse Philistions über die Tyche angeführt2). Ebenso wird „von dem Schicksal" im Sinne der Tyche gleich im Prologe unseres Dramas gesprochen:

„In diesem Stück erscheinen Cärudatta, ein junger verarmter Kaufmann brahmanischen Standes in der Hauptstadt von Avanti.

Und in seine Tugenden verliebt Vasantasenä, die Hetäre, wie der Frühling so an Schönheit.

Dieser Beiden kluge Wege, die zum Liebesfest hinführen, des Prozesses Schlechtigkeit,

1) Vgl. oben S. 63, 71, 586.

2) S. 440, 441, 574, 589.

Mrcchakatikä als mimische Hypothese. 719

Eines Bösewichts Natur und des Schicksals Macht, dies Alles hat Fürst Qudräka, wie bekannt ist, dargestellt." (Windisch

a. a. 0. S. 71/72.)

Und am Schlüsse des Dramas spricht sich Cärudatta fast

mit Philistions Worten über die Tyche aus.

„Was soll des Köstlichen noch mehr entquellen Des Glückes Füllhorn, was noch mehr gewinnen Soll ich auf Lebens schnellbewegten Wellen? Die einen reifst des Schicksals Sturm von hinnen, Die einen leert's, die andern füllt's mit Gnade: Es hebt, es stürzt wie's gerade ihm zu Sinnen. Des einen Glück es ist des andern Schade, Feindlicher Gegensatz auf jeder Seite, Den Eimern gleich am Schicksalsbrunnenrade 1).tt

In den grofsen Zug der Handlung sind nun in unser Drama mannigfache kleine Scenen eingefügt, mimische Skizzen, in denen allerhand Typen auch niedrigster und widrigster Art vorkommen. Denn auch von unserem Drama gilt die theophrastische Definition des Mimus als einer „Mimesis des Lebens, die das sittlich Erlaubte wie das Unerlaubte darstellt." Da ist die ausführ- liche Schilderung des Diebes und Diebstahls des Goldkästchens. Gerade Dieberei ist, wie wir sahen, ein besonderes Sujet des Mimus. Wenn der Brahmane Qarvilaka in den technischen Aus- drücken der Diebessprache redet, so geschieht das bei Laberius gleichfalls2). Sehr biologisch ist die Spielerscene, auch im Mimus kommen Spieler vor. Entsetzlich ist der Spielhalter in seiner Härte und Geldgier. Sein Gewerbe kommt an Verworfenheit dem des Kupplers gleich, und mit dreister Stirn bekennt er sich dazu. Wie sagt Battaros, der Hurenwirt, vor Gericht bei Herondas (zu Thaies gewandt):

2) Ich citiere aus der Mrcchakatikä, wo ich es nicht ausdrücklich anders bemerke, nach der Übersetzung von Professor Hermann Camillo Kellner, die ja jeder leicht zur Hand hat.

a) Gellius XVI, 7,3, Laberius . . . item in Fullone furem manuarium appellat. Manuari, inquit, pudorem perdidisti.

720 Achtes Kapitel.

Du lachst? Ein Louis bin ich und leugn' es nicht, Und Battaros ist mein Name, und Sisymbras Der war mein Grofspapa und Sisymbriskos *) Mein Vater, und Dirnen hielten sie allesammt. Doch was die Männerkraft betrifft, bin ich Getrost und sage: Heran, Thaies, es sei drum."

(II, 74—78, Crusius.)

Aber wenn der freche Schiffskapitän Thaies, der ihn so schnöde behandelt hat, nur ordentlich bezahlen will, soll alles wieder gut sein:

„Du liebst die Myrtale was ist dabei! Ich liebe Weizenbrot: das gieb mir, dann Kriegst du das andre. Oder brennt dir was Im Inneren lichterloh: beim Zeus, so stopfe Den Preis dem guten Battaros in die Hand Und nimm dein Eigenthum und quetsch' es wie Du willst du darfst es."

(H, 74—83, Crusius.)

Ähnlich sagt Mäthura. „Solches Geschwätz ist nicht am Plalze, du Schurke, heraus mit besagten Goldstücken! Es ist wahr, der Mäthura ist ein Schurke, spielt mit Lug und Trug, hat vor keinem Menschen Scheu: wer aber aller guten Lebens- art bar ist, das bist du!" (S. 56). Mit welchem echt mimi- schem, ironischem Humor ist dieser Typus behandelt worden. Mäthura überhäuft seinen bösen Schuldner, den Bader, mit den schlimmsten Ehrentiteln, prügelt ihn halb tot, aber wie er sein Geld erhält, ist er sofort wie verwandelt. „Dem edlen Herrn meine Empfehlung, seine Schuld wäre damit abgemacht. Er könne nun wiederkommen und die Freuden des Spieles wieder geniefsen". Der Bader hat an diesen Freuden allerdings für ewig genug; er wird buddhistischer Bettelmönch.

]) Diese Namen sind redend und typische Bezeichnungen für Kuppler (vgl. darüber Kap.V, 3). Dieselbe eiserne Stirn wie Battaros pflegen ja auch die Kuppler in der griechischen Komödie wie bei Plautus und Terenz zu zeigen.

Der Vidüsaka und der Sannio. 721

Wenn der entfliehende Gläubiger sieh in einem Tempel starr hinstellt und eine Statue zu sein fingiert, so beweist Pulcinella finto Statua und Karagöz, der zum Pfahle wird, dafs wir es hier mit einer uralten Erfindung des Mimus zu thun haben, auf den die italienische commedia dell' arte wie der türkische Karagöz gleichmäfsig zuriickgehn. Die genaue ethologische Schilderung des Richters und der Beisitzer des Gerichts, des Schreibers, des Pedells, der ganzen Gerichtsverhandlung über- haupt ist typisch für den Mimus, desgleichen das Vorführen von Häschern und Henkern (vgl. oben S. 87 ff., 576, 577, 652 u. ö\). Die weit ausgesponnene Scene des Hochgerichts in unserem Drama hat ihresgleichen nur in den ausgedehnten Blutgerichts- scenen des Mimus (vgl. oben S. 89).

So zieht eine biologische Scene nach der andern, ein mimi- scher Typus nach dem andern an uns vorüber. Jede Scene, jeder Typus läfst sich mit identischen aus dem griechisch-römischen Mimus belegen. Lebhaft, ja unruhig, wie es dem Mimus zu- kommt, ist der Gang der Handlung, unaufhörlich geschieht etwas Neues. Unerwartetes.

VHI. Der Vidüsaka und der Sannio.

Kommen wir noch einmal auf den Typus des Qakära zurück. Er ist, wie wir sahen, der Zylönnoc des griechischen Mimus: seine treibende Leidenschaft ist die Eifersucht, aus ihr ergeben sich zugleich die eigentlichen Verwickelungen. Diese Rolle fällt nun in der mimischen Hypothese durchaus dem stupidus zu. dem Narren, dem Dümmling; er ist schliefslich immer der Ge- peitschte und erhält gewöhnlich Prügel, wie auch Samsthänaka gleich zu Anfang auf seiner Suche nach Vasantasenä von Maitreya Prügel angeboten werden, die er zum Schlüsse in der Gerichts- scene dann wirklich erhält. Der (^akära ist ein stupidus vom reinsten Wasser, seine Narrheit ist geradezu grotesk. Wir kennen die mimicae ineptiae der griechischen Narren. Unaufhörlich ver- wechselt der stupidus die landläufigsten Begriffe, Wasser verlangt

Reich. Mimus. 4g

722 Achtes Kapitel.

er von Dionysos, Wein von den Nymphen. Derartige Ver- drehungen werden in Bharatas Nätyasästra, der alten, grofsen indischen Dramaturgie als für den Qakära typisch angegeben1). So sagt er im ersten Aufzuge der Mrcchakatikä: „Meine Nase ist freilich von Finsternis ganz vollgestopft, doch höre ich den Kranzgeruch. Aber das Klingen des Schmuckes sehe ich noch nicht", oder im achten Aufzuge: „Es ist aus mit dir, ganz aus! Eine Hexe oder ein Dieb hat die Sänfte bestiegen und sitzt noch drinnen. Ist's eine Hexe, dann werden wir be- stohlen; ist'n Dieb, dann frifst er uns", und weiter: „Wie? Schakale fliegen auf und die Krähen traben ab? Während der Meister da mit den grofsen Augen gefressen und mit den Zähnen angeguckt wird, will ich mich aus dem Staube machen". Ganz richtig erinnert sich Huizinga bei diesen seltsamen Ver- wechselungen und grotesken Verdrehungen des Qakära an die Intermezzos moderner Cirkusklowns2). Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dafs der Klown, der Ioculator, der Jongleur direkt vom alten (xfyos yslomv abstammt.

Gern zeigt der Qakära seine Bildung, ähnlich wie der mimische Scholasticüs, der Dottore. Beständig wirft er mit mythologischen Vergleichen aus dem Mahä-Bhärata und dem Rämäyana um sich,- nur dafs ihm dabei unablässig die thörichte- sten und lächerlichsten Verwechselungen der mythologischen Personen und Fabelwesen begegnen (vgl. besonders den ersten Aufzug, ersten und dritten Auftritt in Kellners Übersetzung S. 33 u. 41, sowie den achten Aufzug, vierten Auftritt. Kellner S. 143). Schliefslich hält er gar den Hanumat, den wohlbekannten Affen- häuptling im Rämäyana, für einen Berg. Dieser Art der Komik bedient sich auch Petron, der in seiner biologischen Sittenschilde-

x) XXIV, 105. Ich gebe die Übersetzung Huizingas a. a. 0. S. 111: Prachtig gekleed en getooid, zonder reden toornig en tveer bedaard, van läge af- homst, het mdgadha-dialect spreitend, dat is de sakära, vol van verdraaiingen.

2) a. a. 0. S. 1^5: Het achtste bedrijf bestaat voor een groot deel uit de zotheden van den sakära, levendig herinnerend aan een Intermezzo van hedendaagsche circusclowns ; alleen is bij dat alles het type van den onberekenbaren, boosaardigen half-idioot zeer treffend volgehouden.

Der Vidüsaka und der Sannio. 723

rung das Meiste und Beste dem Mimus verdankt; so erzählt Tri- malchio, der sich wie der (^akära nicht wenig mit seiner Bildung weifs, wenn er auch, wie er sich rühmt, nie einen Philosophen gehört hat: „Diomedes und Ganymedes waren ein paar Brüder; ihre Schwester war Helena. Agamemnon raubte sie und schob der Diana eine Hirschkuh unter. Und so sagt jetzt Homer, wie die Trojaner und Parentiner unter einander kämpfen. Er siegte nämlich und gab seine Tochter Iphigenia dem Achill zur Frau. Deswegen ist Ajax rasend geworden. (Petron ed. Buecheler3, S. 39.) Wie in der Mrcchakatikä wird dieser burleske Zug der mimischen Ethologie öfter vorgebracht. So heifst es an einer anderen Stelle (Buecheler*, S. 33): Sage mir, mein lieber Aga- memnon, kennst du die zwölf Arbeiten des Herkules auswendig, und die Fabel (vom Odysseus), wie der Cyklop ihm mit einer Zange den Daumen ausdrehte.

Wie bösartig die griechischen Mimendichter den ZtjXotvnog schildern, lehrt uns das Beispiel der Eifersüchtigen im fünften Mimiambus des Herondas, sie möchte den Gegenstand ihrer Liebe aus Eifersucht beinahe ermorden, wie es der Qakära, soweit es an ihm ist, wirklich thut. Der stupidus, der in der mimischen Hypothese die Rolle des Ztiloivnog zu geben hatte, ist nicht der lustige, er ist der verdrehte, der bösartige Narr, dem man alle Prügel, die ihm erteilt werden, von Herzen gönnt. So ist denn auch der Qakära, der Nachkomme des eifersüchtigen stupi- dus, ein böser Narr, seine Bosheit und Narrheit ist so grofs, dafs sie beinahe in Verrücktheit übergeht. Gerade wegen dieser Unzurechnungsfähigkeit bleibt er immer noch ein lustiger mimi- scher Typus und wird nicht einfach ein Scheusal. Er hat auch noch allerhand andere nebensächliche Züge, mit denen der grie- chische stupidus ausgestattet zu sein pflegte. Vor allem ist er von einer geradezu grotesken Eitelkeit, Einbildung und An- mafsung, er, der „Schwager des Königs" so eine Art „stolzer Pappus"; das ist auch das Einzige an ihm, was ein wenig an den miles gloriosus erinnert. Auch glaubt er alles zu können und zu verstehen, wie Ardali o. Als ein rechter Ardalio hält der (j'akära sich auch sehr ohne Grund für einen vorzüglichen Sänger.

46*

724 Achtes Kapitel.

Im dritten Auftritte des achten Aufzuges beginnt er zum Zeit- vertreibe zu singen; da soll der Vita seine Stimme loben. Der meint denn auch allerdings ironisch: er habe wie ein Gan- dharver (wie einer von den himmlischen Musikanten) gesungen. Ja, meint der Stupidus, er habe auch Kukuksbraten, wir würden sagen Nachtigallenbraten, gegessen und seine Kehle mit zer- lassener Butter und Sesamsöl geschmiert. Atticus, der Ardalio bei Martial, ist auch besonders stolz auf seine Stimme: Et belle cantas et saltas, Attice, helle (vgl. oben S. 151, Anm. 1). Wie Ardalio scheint der Qakära auch für gutes Essen und Trinken zu sein ') und ebenso wie dieser ist er sehr ä la mode und ein verrückter Stutzer, dazu ist er unerdenklich feige (taQaiTOfievog).

Nun tritt im griechischen Mimus aber nicht nur der dumme Narr, der eigentliche stupidus und fiooQÖg auf, es findet sich immer ein Narrenpaar; neben dem stupidus der derisor, neben dem morio der Sannio, der scurra, neben dem (icogog der [läxog. Haben wir also im Qakära den „dummen Narren" des Mimus wiedergefunden, bedeutet wirklich dieser Typus wie die anderen oben besprochenen die Anpassung uralter, griechischer, biologischer Typen an den indischen ßiog, dann müssen wir auch den lustigen Narren, den scurra, den Sannio, den [tcoxog, den derisor wiederfinden, dann mufs es auch im indischen Schauspiel ein Narrenpaar geben.

In der That giebt es noch einen Narren in den indischen- Dramen, den Vidüsaka, und das ist sogar der Hauptnarr. In der Mrcchakatikä heifst er Maitreya und ist des Brahmanen Qärudatta geringerer Freund; er ist überhaupt immer der drollige Parasit und lustige Rat des Helden. Er hat mancherlei Narrenzüge auch mit dem Qakära gemein. Wie dieser ist auch er erstaunlich feige. Er möchte gern Qakuntalä sehen, von der ihm sein königlicher Freund Duhsanta vorschwärmt, als er aber von den Gespenstern hört, die in dem Büfserwalde umherschwärmen, in dem Qakuntalä

l) So meint er im zehnten Aufzuge höchst befriedigt: „Ein herzhaft - säuerliches Allerlei von Fleisch, Kraut, Fisch, gekochtem Reis und Reismehl- speise hab' ich in meinem Hause zu mir genommen."

Der Vidüsaka und der Sannio. 725

wohnt, verliert er völlig die Lust dazu. Wenn aber die Gefahr vorüber ist, zeigt er wieder grofsen Mut und gewinnt sofort seine alte Unverfrorenheit zurück, wie der (^akära.

Während bei dem Cakära der Hang zum guten Essen nur gerade angedeutet wird, ist er beim Vidüsaka der herrschende Charakterzug. Der Vidüsaka ist ein Fresser wie der Maccaroni schlingende Pulcinell und Karagöz; er ist glutto, vorax, man- ducus wie Ardalio, wie der lustige Narr im Mimus überhaupt. Gleich im Anfange der Mrcchakatikä tritt dieser typische Zug in dem elegischen Selbstgespräch Maitreyas deutlich hervor: „Mit mir, Maitreya, ist's leider soweit gekommen, dafs ich mich wirklich von Fremden einladen lassen möchte. Ach, du jämmer- liche Lage! Wenn ich dich so vergleiche. Bis jetzt habe ich mich so auffüttern lassen mit süfsduftenden Leckerbissen. Von dem schönen Gelde des Herrn ^ärudatta wurde ja bei Tag und Nacht geschmort und gebräkelt. Ach, damals standen drinnen im Hause hundert Näpfe um mich herum, als ob ich ein Maler wäre, und ich ich fuhr nur so mit den Fingern darin herum, schob alles dann weg, wenn ich ein bischen genascht hatte und stellte mich dann hin, wie ein Ochse, der auf dem Markte wieder- käut. * Er nimmt es Vasantasenä bitter übel, dafs sie ihm, ob- wohl er soviel gute Sachen bei ihr sieht, nichts vorsetzt. Zu Beginn des zweiten Aufzuges der Qakuntalä spricht er seinen Arger über des Königs Liebhaberei für die Jagd aus, wobei es weder etwas Gutes zu essen noch zu trinken gäbe. Im zweiten Aufzuge von Vikramorvac,! meint der Vidüsaka, die Königin soll dem Könige nur schnell zu essen geben, dann werde es mit ihm wieder gut. Als der König im dritten Aufzuge begeistert die Schönheit des Mondaufganges preist, stimmt der Vidüsaka bei: Der Mond sähe aus wie ein Zuckerkuchen. Als er in Ratnaväli auf die Worte eines sprechenden Star hören soll, erklärt er, der Star sage, der König möchte dem Vidüsaka zu essen geben. Am Ende des zweiten Aufzuges von Kälidäsas Mälavikägnimitra fordert er zur Mittagszeit die Königin auf, rasch Trank und Speise zu besorgen und beklagt sich beim König, dafs sein Magen ihm vor Hunger brennt.

726 Achtes Kapitel.

Prügeln und Geprügeltwerden ist das Los der stupidi im Mimus, auch die beiden indischen Narren entgehen dem nicht. Gleich im Beginn der Mrcchakatikä werden, wie wir sahen, dem Qakära vom Vidüsaka Schläge angeboten, in der Gerichtsscene geraten dann die beiden stupidi wirklich aneinander und es ent- spinnt sich eine ordentliche Prügelei. Mit Prügeln ist der Qakära, wie es sich für einen Mimen gehört, gleich bei der Hand, erst prügelt er den buddhistischen Bettelmönch, dann den Sthävaraka, sein Dienerchen, wie er ihn nennt; Prügelscenen giebt es über- haupt in der Mrcchakatikä für ein nach so hohen Zielen stre- bendes Kunstwerk erstaunlich viele. Ich erinnere an die lang ausgesponnene Prügelscene zwischen den Spielern, an die Prügelei zwischen den beiden Hauptleuten der Stadtwache. Kurz durch dieses indische Schauspiel schallt der alapittarum sonitus genau so, wie er im grofsen Drama nur noch in der mimischen Hypo- these erscholl. Der Hauptheld der Prügelscenen im griechischen wie im indischen Mimus ist nun aber nicht der dumme, sondern der lustige Narr, der Vidüsaka. Er führt unverbrüchlich sein krummes Prügelholz mit sich herum wie der Sannio seine Pritsche.

Wie der Qakära ist auch der Vidüsaka ein wenig dumm, er ist ja auch ein mimischer Narr. Besonders grotesk ist seine Dummheit im fünften Aufzuge der Mrcchakatikä geschildert. Ich setze die Scene hierher:

Diener (eintretend und sich umsehend): Ah, da sitzt Cäru- datta in seinem Baumgarten; und da ist auch dieser Schlingel. Also hin zu ihnen! Zum Geier, die Garten- thür jist zu. Gut, ich will diesem Schlingel 'ne feine Andeutung geben. (Er wirft einen Erdklumpen nach Maitreya.)

Maitreya: Hoho, wer bewirft mich denn da mit 'nem Erd- klumpen, als wäre ich ein eingehegter Apfelbaum?

Cärudatta: Die Tauben spielen auf dem Dach des Garten- häuschens; die werden es wohl herabgeworfen haben.

M.: Na warte, du Thunichtgut, du Schelm von einer Taube, warte nur, ich werde dich sofort mit meinem Stocke

Der Vidüsaka und der Sannio. 727

vom Dache 'runterhauen, wie 'ne reife Mangofrucht. (Er

hebt den Stock auf und rennt hinter der Taube her.) C. (ihn bei der Brahmanenschnur haltend): Bleib! Was

soll das heifsen? Störe doch nicht diesen unschuldigen

Täuberich, der sich der Gesellschaft seines Weibchens

erfreut. Kumbhilaka: Was? Die Taube sieht er, mich nicht? Da

mufs ich ihn noch mit einem Erdklumpen auf die Spur

bringen. (Er thut es.) M. (nach der Richtung hinsehend): Ah, Kumbhilaka! Ich

komme gleich! (Er öffnet die Gartenthür.) Nun,

Kumbhilaka, immer näher, sei herzlich willkommen. K.: Besten Grufs, Herr!

M. : Na, wo kommst du denn bei dem entsetzlichen Wetter her? K.: Nun, sie ist da. M.: Wa— as? Sie, wer? K.: Sie, sie. M.: Du Schlingel, was machst du nur immer Sisisi wie ein

Kornwucherer, der sich zur Zeit der Hungersnot die

Hände reibt? K. : Und du, guter Freund, was machst du immer dein Wa-

wawa, wie ein Hund, der nach einem Stück Opferfleisch

herumschwänzelt? M.: Na, endlich heraus mit der Sprache! K. (für sich): Hm, gut, ich will es ihm so beibringen. (Laut)

Holla, Achtung! Ich will dir ein Rätsel aufgeben. IL: Und ich dir noch eins auf deinen Schädel draufgeben. K.: Nun, nun höre nur erst! In welcher Jahreszeit be- kommen die Mangobäume Knospen? M.: Alberner Kerl, im Sommer doch natürlich! K. (lächelnd): Grundfalsch! M. (für sich): Ja, was soll ich nun sagen? (Überlegend)

Schön, ich will zu Cärudatta gehn und ihn fragen.

(Laut) Habe einen Augenblick Geduld! (Zu Cärudatta

tretend) Freund, eine Frage! In welcher Jahreszeit

schlagen die Mangobäume aus?

728 Achtes Kapitel.

C: Dummkopf! Im Vasanta!"

M. (zurückkehrend): Dummkopf, im Vasanta!

K.: Hm! Nun will ich dir noch 'ne zweite Frage aufgeben.

Wer besorgt die Bewachung wohlhabender Ortschaften? M.: Die Wache, Freund! K. (lachend): Wieder grundfalsch, Freund! M. : Da stecke ich wahrhaftig wieder in dubio. (Überlegend)

Gut, ich will Cärudatta fragen. (Laut) Warte einen

Augenblick! (Zu Cärudatta) Freund, noch eine Frage!

Wer besorgt die Bewachung wohlhabender Ortschaften? C: Die Senä, lieber Freund. M. (zu Kumbhilaka) : Die Senä, du Esel ! K.: Nun stelle einmal beide Worte zusammen und sprich

sie schnell hintereinander aus. M. : Senavasanta. K.: Nicht doch! Umgedreht! M. (dreht sich um): Senavasanta! K.: 0 du Einfaltspinsel, du Dummkopf; die Füfse im Sprechen

sollst du umdrehen. M. (sich auf den Füfsen umdrehend): Senavasanta. K.: Nein, über so 'nen Einfaltspinsel! Die aus Silben und

Buchstaben bestehenden Wortfüfse sollst du umdrehen. M. (nach längerem Nachdenken): Vasantasenä. K.: Na endlich! Nun, die ist angekommen.

Das ist eine vollständige Clownscene, wie sie die mimischen Narren aufzuführen liebten. Da fehlen nicht die mimischen Foppe- reien, die Eulenspiegeleien, die wunderlichen Mifsverständnisse. Besonders wie hier die Worte buchstäblich genommen werden, erinnert ganz an die mimicae ineptiae im Philogelos, wo jemand sich einen Mantel borgen will aufs Land (zu reisen), worauf der dumme Dottore sagt, einen so langen Mantel habe er nicht (No. 100), oder an den Scholasticus, dem ein sehr tiefer Brunnen gezeigt wird mit der Bemerkung, aus dem hätten immer seine Vorfahren getrunken, worauf er meint, dann müfsten sie aber sehr lange Hälse gehabt haben (No. va).

Der Vidüsaka und der Sannio. 729

Ja, nicht einmal die Lazzi der Mimen fehlen. Dahin ge- hört es, wenn der Diener mit einem Erdklumpen nach Maitreya wirft, wenn dieser sich den Anschein giebt, mit seinem mimi- schen Prügelholze auf die beiden Tauben loszugehn, die garnicht existieren. Werden im griechisch-römischen Mimus die Lazzi mit Fliegen getrieben (vgl. oben S. 440), so vollführt sie der Narr im indischen Drama mit den etwas poetischeren Bienen. In Harsas Nägänanda ist Hochzeit gefeiert. Der Vidüsaka hat sich dabei ge- hörig gütlich gethan. Er erscheint mit einem Blumenkranze auf dem Haupte und ist mit Wohlgerüchen einparfümiert, nun umschwirren ihn die Bienen und er vermag sich ihrer garnicht zu erwehren, schliefslich verschleiert er sich wie eine Frau, um die lästigen Bienen, die um seinen kahlen Kopf fliegen, los zu werden. An diese mimischen Lazzi reiht sich dann gleich wieder ein neuer mimischer Trik. Da nun der Vidüsaka als Frau verkleidet ist, hält ihn der betrunkene Vita, der Parasit, für seine Geliebte und fällt ihm um den Hals. Als er dann hinter dem Schleier den häfslichen, dicken Narren findet, ist er sehr ungehalten, der Vidüsaka wird dabei auch noch von der hinzukommen- den Geliebten des Vita gehänselt. Es ist eine Scene wie im türkischen Puppenspiel, als Baba Himmet den Schleier seiner Braut hebt und zu seinem Ärger darunter den bärtigen Karagöz findet und wie alle die zahlreichen Auftritte im Mimus, wo der stupidus als Frau verkleidet erscheint1).

Aber bei all seiner Narrheit, Dummheit, Feigheit, Eitelkeit, Gefräfsigkeit ist der Vidüsaka durchaus nicht direkt albern wie der Qakära. Im Gegenteil, er zeigt nicht selten Schlauheit und Mutterwitz, zumal wo es sich um seine Bequemlichkeit oder ums Essen handelt. Er betrachtet die Welt von seinem niederen, hausbacken- verständigen, nüchternen im Gegensatz zur idealen, hochgespannten Auffassung des Helden etwas stupiden Stand- punkt aus, dafür ist er eben der stupidus. Dabei hat er aber nicht selten Recht mit seinen Beurteilungen, besonders was die eifersüchtigen, über den verliebten König erzürnten Königinnen

i) Vgl. oben S. 648 u. 649.

730 Achtes Kapitel.

angeht. In Vasantasenä sieht er anfänglich nur die durch ihre Buhlerinnenkünste reich gewordene Hetäre, die nun nach Cäru- datta ihre Netze auswirft, um so höher erstrahlt dieser unge- rechten Kritik gegenüber die Tugend der schönen Hetäre.

So ist denn der Vidüsaka in seinen Keden weniger dumm als vielmehr naiv und lustig. Besonders gebraucht er gern, wie es ja ein Charakteristikum des lustigen Narren im Mimus ist, Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten. So sagt er im fünften Aufzuge der Mrcchakatikä, es bleibt doch ein wahres Wort: „Ein Lotos- stengel, der sich aus einer Zwiebel erhoben hätte, ein Kaufmann, der nicht betrüge, ein Goldarbeiter, der kein Dieb wäre, eine Dorfkneipgesellschaft, wo's ohne Prügel abginge und eine Buhlerin ohne Habsucht, da kann man lange suchen", und weiter: „Na ja, so eine Buhlerin wird nur unter Schmerzen abgeschüttelt, wie'n Steinchen, das man sich in den Schuh getreten hat. Aber Freund bedenke auch: Wo eine Buhlerin, ein Elefant, ein Schreiber, ein Bettelmönch, ein Schwindler und ein Esel hausen, da gedeiht nicht einmal Unkraut. Im Anfange des zweiten Aufzuges der Qakuntalä meint er: „Auf der Beule ist ein Ge- schwür gewachsen", und im vierten Aufzuge der Mälavikägni- mitra: „Ja, Diebe und Verliebte scheuen den Mond". Sprich- wörtliche Redensarten finden sich überhaupt in der Mrcchakatikä häufig, weil das nun einmal die Art des Mimus ist; so sagt, um nur ein Beispiel anzuführen, Cärudatta am Anfange des fünften Aufzuges: „Übrigens heifst es im Sprichwort: Geld macht Liebe, wer Schätze hat, hat auch ein Schätzchen". Der Diener des Samsthänaka meint zu Vasantasenä im ersten Aufzuge: „Sei doch etwas zuvorkommend gegen den Liebling des Königs. An Fisch- und Fleischgerichten solls dir nicht fehlen. Und hat der Hund Fisch und Fleisch, kümmert er sich nicht um's Aas."

Der Vidüsaka ist immer Brahmane. Jedenfalls war er das schon in den alten Volksstücken, das heifst den indischen Mimen, die am Anfange des indischen Dramas gestanden haben, werden doch auch noch später in den indischen Possen Priester aller Sekten unablässig verspottet. Der Mimus hat ja von jeher die Geistlichkeit zur Zielscheibe seiner Witze gemacht: Auguren,

Der Vidüsaka and der Sannio. 731

Haruspices und Tempelhüter und in den nachchristlichen Jahr- hunderten die christlichen Geistlichen, Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen. Der mimische Narr glänzte als christ- licher Glaubensheld. Unablässig mufste es den Mimen, wie wir sahen, im griechischen Osten das ganze Mittelalter hindurch ver- boten werden, in den Kleidern von Priestern, Mönchen und Nonnen aufzutreten und genau so war es, wie wir noch zeigen werden, im lateinischen Westen. Der Spott auf die Geistlichen war also ein Charakteristikum des Mimus und ist es auch in Indien geblieben.

Während sonst die Brahmanen Sanskrit sprachen, spricht der Vidüsaka Präkrit, weil er eben aus den eigentlichen Volks- stücken, den alten indischen Mimen stammt, in denen anfang- lich wohl nur das Volksidiom gesprochen wurde. Huizinga hat es scharfsinnig erschlossen, dafs der Vidüsaka von vorn- herein viel burlesker und närrischer gewesen ist, als in der Mrcchakatikä und den anderen vornehmen Dramen1). In der That, wenn er auch in diesen Dramen alle Züge des lustigen Narren im Mimus trägt, so sind sie hier doch feiner, die Farben sind nicht ganz so grell, die Komik ist nicht ganz die namenlos übermütige und freche des Mimus, sie ist gedämpft. Aber in den indischen Volksstücken, den eigentlichen indischen Mimen,

*) In Bharata's hoofdstuk Siddhivyanjaka vinden wij het folgende omtrent

het lachen der toeschouwers : Het häsya, dat voortspruit uit de uitgelaten-

heid van den vidüsaka en uit den tooneeltoestel, dat moet tuet een schaterlach door de toeschouwers worden ojygenomen. (Ns XXVII, 6-6) De grappen van den vidüsaka, hier op (en lijn gesteld met vertooningen van bespottelijke decoratie en dergelijke zaken, schijnen dus van bijster koddigen aard de zijn geweest. Dit be- festigt het twaalfde hoofdstuk van Bharata (Ns XII, vs. 121), waar sprake is van het spei of de actie van den vidüsaka: „Het spei van den vidüsaka is getooid met drie soorten van häsya: dat van lichaam, van taal en van kleeding. Als hij op- treedt met zijn groote fanden, kaalhoofdig, gebocheld, kreupel, met leelijk gelaat dat is lichamelijk häsya. Onder häsya van taal verstaut men onsamenhangend gebazel, zinnelooze verdraaiingen en zotteklap. Als hij echter gelijk de reiger gaat (met geveinsde diepzinnigheid). terwilj hij toeziet en rondziet, . . . ., dat is häsya van kleeding". De veronderstelling, dat deze voorschriften zijn gemaakt in een tijd, toen de vidüsaka meer uitsluitend hansworst icas dan in de ons bekende stukken, schijnt mij niet te gewaagd. a. a. 0. S. 104 u. 105.

732 Achtes Kapitel.

ist er noch ganz der Hans Wurst des alten griechisch-römischen Mimus.

Vor einem Jahre erklärte Pischel in der Abhandlung über „Die Heimat des Puppenspiels", Hallische Rektorredenil, 1900, der Vidüsaka sei identisch mit den modernen Figuren des Volks-, insbesondere des Puppentheaters, mit Hans Wurst, Kasperle und Pulcinella. Er erinnert gegenüber der gewaltigen Efslust des Vidüsaka an „Jack Pudding % „Jean Potage", „Signor Maccaroni", „Paprika Jancsi", „Pekelharing", „Pickleherring". Ich kann es mir nicht versagen, Pischels eigene Worte hierher zu setzen: „Es ist nach dieser Schilderung fast unnötig, Ihnen zu sagen, wer der Vidüsaka ist': er ist der Hanswurst der Volksbühne, der Kasperle des Puppentheaters. Alle Züge des indischen Lustigmachers kehren bei dem europäischen wieder und zwar in so überraschender Gleichheit, dafs an der Identität der Figuren kein Zweifel sein kann." In dem Worte „Identität" liegt die Tragweite dieser neuen Erkenntnis. Ich will hier weiter die Ausführungen des grofsen Indologen im Wortlaut geben: „Solche Figuren werden in so ausgesprochener einheitlicher Gestalt nicht selbständig an verschiedenen Orten erfunden, sondern sie -haben eine Heimat und wandern, wobei sie je nach dem Lande im Einzelnen um- gestaltet werden".

Der Vidüsaka kann nun nicht von den modernen europäi- päischen Typen abstammen, denn er ist viel älter als sie, also stammen vielmehr die modernen Typen 'vom Vidüsaka ab? Aber auf welchem Wege sollte das geschehen sei? Gewifs ähnelt der Vidüsaka dem Hans Wurst, Pulcinell und Kasperle auf ein Haar, aber ebenso ähnelt er auch dem alten ptfiog yeXoicov. Nur in der äufseren Gestalt unterscheiden sich die modernen Typen doch stark vom Vidüsaka. Der' Vidüsaka ist ein kleiner, dick- bäuchiger Kerl, mit hervorstehenden Zähnen, bucklig, gelbäugig, mit verzerrtem Gesicht, kahlköpfig1).

J) Ich gebe hierfür die Zusammenstellungen aus den indischen Quellen bei Huizinga a. a. 0. S. 103 u. 104: „Een dwerg achtige, yebochelde brahmaan met groote tanden, leelijk van gelaat, kaalhoofdig, geeloogig, aldus zij de vidüsaka

Der Vidüsaka und der Sannio. 733

Nun einen dicken Bauch wie der Vidüsaka tragen die modernen burlesken Figuren im allgemeinen nicht, dafür trägt ihn aber unbedingt der mimische Narr. Auch kahlköpfig wie der Vidüsaka sind die modernen burlesken Figuren nicht, dafür ist aber Kahlköpfigkeit das typische Zeichen des Narren im Mimus, des kahlen Narren, des fioogög (fakaxQÖs, des mimus calvus. Der Vidüsaka hat bei seiner dicken Figur ein etwas fettthraniges Äufsere. Von derselben Art hat Ardalio, der Schmutzfink, den Namen. Der Vidüsaka zeichnet sich durch einen verzerrten Gesichtsausdruck aus, er nennt sich selbst ge- legentlich einen gemalten oder roten Affen. Nun auch die mimischen Narren haben einen verzerrten Gesichtsausdruck, so z. B. der mimische Kahlkopf auf der Vase bei Watzinger, der mit seinem verzerrten Gesicht und seinen grofsen Ohren halb wie ein Esel, halb wie ein Affe aussieht. Ich erinnere auch an die seltsam verzerrten Gesichter der Phlyakischen Mimen, wie an die oben erwähnten Terrakotten von Mimen, wo man nicht weifs, ob es verzerrte Menschengesichter oder Affen- fratzen sind. Wenn der Vidüsaka buckelig ist, so ist das Dossenus in der Atellane auch. Auch auf dem oben S. 583 be- sprochenen Bilde fanden wir einen buckeligen mimus calvus. Nur ein typisches Zeichen des Mimus scheint bei dem Vidüsaka zu fehlen, der Phallus. Aber noch heute trägt ihn sein direkter Nachkomme, der Semar im javanischen Puppenspiel, also hat auch er ihn anfänglich getragen und erst später abgelegt, als dieses groteske Merkzeichen garnicht mehr in das idealistische, blumenhaft zarte indische Drama passen wollte. Kurz der Vidü- saka ist auch äufserlich das Ebenbild des Mimus calvus; ja selbst sein Name ist nur die Übersetzung des Hauptrollennamens des Mimus. Vidüsaka heifst - Schlechtmacher ", „Tadler*, „Ver-

gedefinieerd' (Ns XXIV, 106). Bij Visvanatha: „De vidüsaka is genaamd naar bloemen, de lente enz., lachwekkend door daden, lichaam, kleeding, taal enz., twistziek en kunding in zijn eigen werk" (S. D. 79). „Zijn eigen werk, zegt de commentaar, is eten enzu. Sägara beschrijft den vidüsaka als folgt: Kamer aad, catupatu of wel vidüsaka noemt men den bewoner van het vrouvent immer, 's konings minister van vermaak". (Geciteerd bij Ranganätha, comm. op. Vikr., p. 2fi.)

734 Achtes Kapitel.

spötter'" (Pischel a. a. 0. S. 18), das ist die direkte Übersetzung von derisor und pwxog ').

Dieser Vidüsaka ist allen anderen Personen gegenüber der rechte [mZxos, er moquiert sich über sie auf Schritt und Tritt. Wie schlecht urteilt er über Vasantasenä! Er ist bei aller An- hänglichkeit im Grunde nie mit seinen vornehmen Freunden zu- frieden. Besonders ärgert ihn deren Verliebtheit. Die Liebe des Königs Duhsanta nennt er die Qakuntaläseuche. Immer hat er etwas zu tadeln, obwohl er im Grunde der Seele nichts weniger als böse, sondern sehr gutmütig ist. Wie weifs er sich über Vasantasenäs Mutter lustig zu machen: wie spottet er „über

l) Über den derisor vgl. oben S. 93. 630. Als derisor pflegte der berühmte Latinus aufzutreten (vgl. oben S. 54. 55). Derisores waren vor allem die San- niones, die Grimassenschneider; auch der Vidüsaka ist ein grimassierender Narr. Die Glossen geben, wie wir sahen (vgl. oben S. 484), für Sannio (sanna- subsannator) die Übersetzung ftwxog. Davon kommt /uaxdotuai auch fuaxtCtü ver- spotten, verhöhnen (besonders durch Nachäffen, wie es eben der fii/xog yeloiwv thut); französisch se moquer, und ficSxog = französisch moqueur. Silvain Levi giebt Vidüsaka mit querelleur, das streift an moqueur, was für Vidüsaka die genaue Übersetzung ebenso wie für /uäxog wäre. Windisch übersetzt Raisonneur (a. a. 0. S. 56). Der Spötter war eine stehende Figur schon im uralten dorischen Mimus. Auf einem Vasenbilde des Asteas heilst einer der Phlyaken zluxotQog d. h. eben derisor, fxwxog, Vidüsaka. Den Spötter Sannio können wir im Mimus dann noch für die spätesten Zeiten nachweisen : Marius Mercator erwähnt ihn im fünften Jahrhundert. Noch Eustathius, der uns über den zum Puppenspiel gewordenen Mimus berichtet, kennt auch die populären tCavvui: Eustathius zu Od. 1350, p. 1761, 21 sq.: 6 nao« t<£ xw- /ut,x(ß KgccTivw aävvas' avtog [x£vtoi ov rov ivri&r} anlwg Srjlol, ällct rov [icogov, ov iGcog f] xoivt] yläaaa rCavvov lallt, dögcct 6' dv eilfjip&m dnö w 'Aaiavöiv aavvatv, ovg al Idiwrat, j&vvovg (sie!) xalovai, ßaoßaoixovg oviag xal (6g flxog ivrj&etg dt' dnatSevaCav . . . Vgl. auch das Verbum T&vtdfa, das mit yelü, dnatw erklärt wird, s. Du Cange s. v. Der Sannio ist also in dem byzan- tinischen Mimus nie ausgestorben, seine direkten Nachkommen sind der tür- kische derisor Karagöz und die beiden Zanni der italienischen Volks- komödie. Wenn der Sannio bei Eustathius als uwoög und nicht als fiäxog bezeichnet wird, so ist zu bedenken, dafs auch der Spötter immerhin ein Narr ist, wenn auch kein dummer, sondern ein lustiger. Bei diesen Figuren ist eben Narrheit und Klugheit in seltsam schillernden Farbentönen gemischt. Über die derisores des dorischen Mimus vgl besonders Zielinski, Quaestiones comicae S. 119.

Der Vidüsaka und der Sannio. 735

den grofsartigen Bauchumfang der unsauberen Hexe, die immer trunken ist von Rum, Arak und Schnäpsen". Da haben wir zu dem dickbäuchigen indischen Narren die dickbäuchige Alte aus dem griechischen Mimus, die stets eine grofse Liebhaberin von berauschenden Getränken ist (vgl. oben S. 499. 504 ff.).

Am schärfsten aber läfst der derisor seine Zunge los, wenn er auf seinen Widerpart, den eigentlichen stupidus, den Qakära stöfst. Wenn die beiden Narren aneinander geraten, dann prasselt ein wahrer Hagel von Schimpfworten nieder. Da haben wir die lustigen Schimpfscenen, welche die Narren im Mimus zum besten geben, an denen der alte Mimus so reich war, die auch im vornehmen Mimus des Herondas nicht fehlen. Wie schimpft und prügelt der Schulmeister den Galgenstrick Gryllos, wie schimpfen bei Sophron, Herondas und Theokrit die Frauen auf die Mägde '), der Schuster auf seine Gesellen und der Bordellwirt Battaros auf den frechen Schiffskapitän, der mit Ge- walt in seine Kneipe eingebrochen ist. Als der Jude Philo vor Kaiser Caligula steht und dieser die jüdischen Gesandten fragt, warum sie kein Schweinefleisch äfsen und von allen Seiten lustiger Spott und übermütiger Hohn auf die armen Beschnittenen niederhagelt, da meint Philo, es sei ihnen so gegangen wie im Mimus1). Wie fährt Maitreya im ersten Aufzuge der Mrccha- katikä mit heftigen Scheltreden auf Samsthänaka los, der bei der Verfolgung Vasantasenäs den Frieden des Hauses Cärudattas stört. Schliefslich kommt es in der Gerichtscene zwischen beiden nach allerhand Schimpfereien zu einer grofsen Prügelei, wie sie nun einmal zwischen den Narren im Mimus üblich ist.

So wird der Spötter, der derisor, der Sannio selbst zum Spotte. Ja wie Fallstaff macht der indische derisor sich über sich selber lustig; wie Sokrates, der derisor omnium, der Etho- loge, wendet er seinen Spott gegen sich selbst; er nennt sich

1) Vgl. darüber besonders Diels, Sitz.-B. d. Berl. Akad. 1892, 1, 17 ff., 387 ff.

2) Vergleiche oben S. 577 Anm. den treffenden Ausdruck bei Philo XKTtt^Xtvce^öufyot xal xtoxouovuevot tiqos rwy «ir«rr«Äw»' a»? Iv &taiQtxo7s fiiftots. Ich erinnere an die Schimpfwörter bei Laberius, an die Bezeichnung mimica cavillatio für Mimus (vgl. oben S. 609).

736 Achtes Kapitel.

selbst einen genialten Affen, oder er meint: „Ich bin freilich ein Brahmane, aber mir geht alles in die Quere. Wie im Spiegel wird links zu rechts und rechts zu links" (Mrccha- kat.ikä Aufzug I). Als der lustige Narr weckt er auch den Spott und die Laune der anderen Personen im Mimus, alle haben ihren Spafs mit ihm und foppen und hänseln ihn gern. So wird Mai- . treya z. B. vom Diener der Vasantasenä gehänselt. Unablässig macht man sich über seine Frefsgier, seine Feigheit lustig.

Die Identität des Vidüsaka mit dem mimus calvus, dem Sannio ist eine absolute. Entweder ist der indische Narr der Vater des griechischen oder umgekehrt. Nun, im sechsten Jahrhundert nach Christus blühte Kälidäsa, der Klassiker des indischen Dramas, aber im ersten Jahrhundert nach Christus Philistion, der Klassiker des Mimus. Schon seit 300 vor Christus begann die mimische Hypothese sich im Orient auszubreiten und schon viele Jahrhunderte früher hat der (itfiog yskoiwv mit dickem Wanst und dem Phallus in den kleinen burlesken, mimischen Volksdramen die jubelnde Menge ergötzt. Wir finden ihn auf den Phlyakendarstellungen aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Wir haben ihn dann weiter hinauf verfolgt bis ins achte und neunte Jahrhundert und bis in die vorgeschichtlichen Zeiten hinein, da er noch ein Genosse der dickbäuchigen Naturdämonen war. Also der mimus calvus, der fjbü)QÖ<; ifaXuxqos ist eine uralte griechische Schöpfung und der Vidüsaka ist sein Nachkomme.

Damit ist auch die Frage gelöst, warum die modernen bur- lesken Typen dem Vidüsaka erstaunlich ähnlich sehen, obwohl doch in jenen Zeiten, in denen sie entstanden sind, das Abend- land vom Oriente und noch gar vom fernen indischen und hinter- asiatischen Oriente durch unübersteigbare Schranken getrennt war.

Weil sie Nachkommen des alten mimischen Narren sind, zeigen sie mit dem Vidüsaka Familienähnlichkeit. Aber der Vidüsaka ist des griechisch-römischen Mimus ältester Sohn und seines Vaters leibhaftes Ebenbild1). »

*) Es kann nicht meine Sache sein, im einzelnen die Konsequenzen für die Entwickelungsgeschichte des indischen Dramas zu ziehen und zu zeigen,

Der Vidüsaka und der Sannio. 737

Zum Schlüsse mag noch eine kleine Wortzusammenstellung

wie es sich nach den Gesetzen und Neigungen des indischen Geistes vom Mimus aus weiter entwickelt und ausgestaltet und zu so wunderbarer Blüte entfaltet hat; hier gilt es bescheiden vor den kundigen Indologen und Sanskritisten zurückzutreten, vor deren Forum alles Weitere allein gehört. Meine Pflicht ist es, hier nur noch auf die mannigfachen Eigenschaften des Mimus hinzuweisen, die diese glänzende Entwickelung ermöglicht und be- fördert haben. Scharfsinnig hat Sylvain Levi erschlossen, dafs in seiner ältesten Epoche das indische Drama ein Volksschauspiel war, in dem nur Präkrit gesprochen und das grofsenteils extemporiert wurde. Das war die Epoche, als es noch ein einfacher Mimus war und von den Mimen auf der Gaukelbühne unter freiem Himmel wie in Hellas vor dem jubelnden Volke extemporiert wurde, als der Vidüsaka noch ganz und gar dasselbe burleske Vieh mit dickem Bauch, Kahlkopf und selbst noch dem Phallus war, wie der Sannio, der fitüxog, der mimus calvus. Aus dieser Epoche hat der indische Narr auch noch die Volkssprache, das Präkrit, beibehalten, obwohl er als Brahmane eigentlich Sanskrit sprechen müfste (vgl. darüber Pischel a. a. 0. S. 19). Dieser Stufe des indischen Dramas steht später am nächsten die Farce (Prahasana). Leider sind bisher nur zwei Farcen aus dem späten Mittelalter publiziert, nämlich Dhürtasamägama von Kavi^ekhara-Iyotivicara aus dem XV. Jahrhundert und des Iayadica H&syänava; aber es gab auch ein Prahasana von Kälidäsa wie von Bäna. Also selbst die vollen- detsten Dramatiker dichteten nebenbei noch weiter Mimen. Die Inhalts- angabe der beiden erhaltenen Farcen steht bei Levi a. a. O. S. 252 folg. Es treten darin die typischen Figuren des Mimus auf; Geistliche, Mönche, Ärzte, Barbiere, Bajaderen, Kupplerinnen u. s. w. Der recitative Mimus ist vertreten in der Form des Monologes (bhäna) (vgl. Sylvain Levi a. a. 0. S. 255 u. 256).

In Rom blieb der Mimus so, wie er aus Hellas eingewandert war, ja ob je eine römische Hypothese die Vollendung des biologischen Dramas Philistions erreicht hat, ist sehr die Frage. Die Römer hatten nicht viel aus eigenen Mitteln hinzuzuthun. In Indien aber gab es längst eine grofse Litteratur. Der spezifisch indische Geist hatte sich in Hymnen und Epen, in Lyrik, Roman, Novelle und Märchen prachtvoll entfaltet. Verächtlich mochten die Hofdichter auf die Mimen herabblicken, wenn sie wie auf Markt und Strafse ebenso im prachtvollen Musiksaal des Rajah ihre Gaukelbühne aufschlugen und ihren Mimus vorführten, selbst wenn es eine grofse Hypo- these war. Sahen sie die mimischen Narren und besonders den utäxog, so war ihnen klar, dafs dieses dicke, burleske, freche, lustige Untier nicht in ihre lieblichen, von allen Balsamdüften Indiens durchhauchten Dichtungen gehöre. Wie wenig stimmte dazu ihre Neigung zu idealen, ja zarten und blumen- haften Gefühlen, ihre Naturschwärmerei und gefühlvolle Naturschilderung

Reich, Mimus. 47

738 Achtes Kapitel.

stehen. Das Siparium heifst Yavanikä (Das Ionische, das Grie-

und ihre Richtung aufs Heroisch-Mythische! Und doch trat der freche hellenische Kerl, der Kahlkopf mit dem Riesenwanste und dem Phallus auf und schilderte den ßiog, wie er wirklich ist und stellte lachend die Narren an den Pranger, dann mufste der Rajah lachen und es lachte sein Hof, und der risus mimicus brauste durch das Königsschlofs von Ujjayinl, wie er vielleicht zur selben Zeit im Theater von Alexandria oder von Antiochia oder von Rom erscholl und den Gotenkönig Theodorich schüttelte, dafs er Thränen lachte. Es half nichts, hier hatten die grofsen indischen Dichter eine Weltmacht vor sich, die sich nicht ignorieren liefs.

Die mimische Hypothese ist ein festgefügter Bau. Jahrhunderte helle- nischer Erfindung hatten ihn gefügt. Diese Form ist für die Ewigkeit ge- schaffen, sie mufste bleiben und ebenso die Ethologie und Biologie und der mimische Narr. Aber die Hypothese hatte im Laufe der Jahrhunderte in Ägypten, Palästina und Syrien gewifs viel Orientalisches angenommen, . da waren also manche Anknüpfungspunkte, sie hat ja sowieso die Richtung auf das Nationale, ja das Lokale, sie ist eben Biologie. Auch die Neigung zum Wunderbaren steckt in ihr, diese Zauberer, weisen Frauen, Hexen, Dämonen, Gespenster des indischen Dramas fanden sich schon in der Hypothese. Der mythologischen Richtung der Inder kam der mytho- logische Mimus entgegen, der in den nachchristlichen Jahrhunderten, wie wir oben sahen, überwog. Stellte er unaufhörlich die Liebesgeschichten von Göttern und Göttinnen, Heroen und Nymphen dar, so that das nun das indische Drama auch. Die etwas lockere, weite Form der Hypothese war der Aufnahme eines neuen grofsen Inhaltes günstig und fähig. So drang die vornehme indische Poesie in die Hypothese ein. Damit vollzog sich eine wichtige Erhebung und Läuterung. Auch in dem vornehmen antiken klassi- schen Drama hat ja von burlesken, niederen Anfängen aus ein änoas/nvvvea&ai stattgefunden, wie Aristoteles in der Poetik bezeugt. Der sanfte, ideale, gefühlvolle indische Geist gewinnt allmählich die Oberhand im Mimus. Die übermütige burleske Parodie verschwindet aus dem mythologischen Mimus ganz und gar, er wird eine ernsthafte Schilderung göttlicher Wunder, Leiden und Thaten, schliefslich entwickelt sich so der Mimus zum Mysterium. Das ist das Ende.

Das älteste indische Drama, die Mrcchakatikä, zeigt noch etwa zur Hälfte den mimischen, realistisch-biologischen, zur Hälfte den zarten indischen Geist. Sylvain Levi hat allerdings versucht, dieses Drama entgegen der ge- samten bisherigen Auffassung bedeutend jünger zu machen und nach Kälidäsa etwa zwischen Harsa und Bhavabhüti zu setzen. Das ist dann zugleich ein glücklicher Schlag gegen Windisch und die Annahme des griechischen Einflusses im indischen Drama, für welches besonders dieses älteste Drama spricht. Nun, vor Kälidäsa lebte der Dramatiker Bhäsa, man nannte

Der Vidüsaka und der Sannio. 739

chische). Vidüsaka ist die Übersetzung von tu<äxog. Eine Bezeichnung

ihn das Lachen der Poesie. Allerdings, das ist der ridicnlus Philistion auch, der Verfasser des Philogelos. Das Lachen der Poesie, das ist über- haupt der Mimus, und als das hat er nach der griechisch-römischen Auffassung immer gegolten. Wir haben uns also doch Bhäsa als einen Dramatiker im Stile Cüdrakas zu denken, vielleicht noch etwas burlesker, etwas mimischer. Er ist eben noch älter und dem Mimus noch näher. Pischel hat Bhäsa als den Verfasser der Mrcchakatikä (Götting. Gel. Anz. 1883, S. 1229 ff.) erweisen wollen, diesen glänzenden Einfall aber wieder zurück- gezogen, weil er nach der Lage der Dinge nicht exakt bewiesen werden kann.

In Eälidäsas Qakuntalä überwiegt schon das spezifisch indische, das idyllisch-erotische Element. Die Handlung, die in der Mrcchakatikä noch, wie es sich für eine mimische Hypothese gehört, ein mächtig pulsierendes Leben hat, beginnt in der Cakuntalä abzuflauen, sie wird von allerhand fremden, an und für sich hochpoetischen Zuthaten erdrückt. Nur die Mrcchakatikä ist mit Erfolg über die moderne Bühne geschritten und diesen Erfolg, der beweist, dafs sie für alle Zeiten geschrieben ist,, verdankt sie vor allem der Unverwüstlichkeit des Mimus und zugleich seiner internatio- nalen Art. Mochte das indische Drama sich aber später auch noch so sehr von dem Mimus entfernen, immer behielt es wenigstens die äufsere Form der Hypothese, behielt die alte mimische Bühneneinrichtung, die alten Mimen und vor allem den alten mimischen Narren, den Vidüsaka. dem noch heute das Volk in Indien zujubelt.

Das indische Drama hat also nichts mit der griechischen Komödie zu thun, und die Indologen, die sich, Pischel voran, so scharf und energisch dagegen verwahrt haben, sind im Rechte. Dennoch konnte Windisch merk- würdige Ähnlichkeiten aufweisen, Ähnlichkeiten, die hinreichend schienen, griechischen Einfiufs zu erweisen und die dann unablässig diskutiert worden sind. Nun, der Mimus ist der Ältervater der Komödie, und besonders die neue attische Komödie hat unendlich viel von ihm ererbt und erlernt, wenn sie auch immer ein klassisches Drama blieb mit der klassischen Bühnenein - richtung und den klassischen Schauspielern. Also in jenen Ähnlichkeiten zeigt sich allerdings, wie Windisch scharfsinnig erkannt hat. griechischer Ein- fiufs, wenn ihn auch nicht die Komödie, sondern der Mimus ausgeübt hat und auch allein ausüben konnte.

Seit Lassen und Benfey hat man versucht, das indische Drama mit der uralten hymnischen und epischen Poesie in Beziehung zu setzen und hat ihm mit genialer Kombination eine Entwickelungsgeschichte konstruiert. Diese Konstruktion hat Levi besonders scharfsinnig und geistreich durchgeführt (a. a. 0. S. 297—343). Die Hymnen des Rigveda sind grofsenteils dialogisch. Teilte man den Dialog zwischen den Chören, so war ein Anfang zum Drama gemacht. Ähnlich ist ja das griechisch-klassische Drama entstanden, aber das

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740 Achtes Kapitel.

für Schauspieler ist Kugilava. Weber bringt es mit cüä, Sitten,

hat auch einen Chor und das indische Drama bat keinen, wie der Mimus. Dann kommt noch das Epos hinein, es ist vielfältig dialogisch -dramatisch; teilten die Rhapsoden den Dialog unter einander, traten sie gar in ent- sprechenden Kostümen auf, war das Drama fertig. Das scheint so logisch und einfach. Aber von dem klassischen Drama der Griechen, das sich doch gewifs an das Epos anlehnt, wissen wir genau, dafs es eine ganz andere Her- kunft hat; Aristoteles hat sie gekennzeichnet. Die griechischen Rhapsoden hatten stark schauspielerische Neigung (vgl. oben S. 547), aber nie sind sie auf die Idee gekommen, sich in den Dialog zu teilen und sich entsprechende Kostüme anzuziehen. Nein, die Schauspieler des klassischen Dramas waren niemals Rhapsoden. Die Griechen rechneten das Epos sogar zum yivog fiixiöv, zur halb erzählenden, halb dramatischen Poesie, aber sie wufsten es genau, dafs aus dem halben Drama nie ein ganzes geworden ist und auch garnicht werden konnte, die epische und dramatische Art schliefsen einander aus, selbst da, wo sie sich zu berühren scheinen.

Die Rhapsoden in Indien waren, wenn sie nicht Brahmanen waren, doch immer als Träger der mythischen Poesie angesehene Leute; das Drama be- deutete noch eine Erhöhung ihrer Kunst, wie konnten sie da ehrlos werden ? Die Darsteller des klassischen mythologischen Dramas in Hellas waren doch auch durchaus würdige Bürger und behielten ihre bürgerliche Ehre, noch Sophokles spielte auf der Bühne.

Wir haben die Entwickelung des Schauspielerstandes verfolgt, haben den Gegensatz kennen gelernt zwischen den vornehmen Schauspielern des klassischen Dramas und den Mimen. Nur die Mimen, die von den Gauklern herstammen, waren ehrlos wie die indischen Schauspieler, nur sie duldeten Weiber unter sich wie die indischen Schauspieler, nur sie blieben im Konnex mit den Gauklern, denen sie gern ihre Bühne verstatteten, wie die indischen Schauspieler auch (vgl. über das letztere Levi S. 382 ff.). Das Auftreten eines Weibes auf der Bühne verstiefs ganz gegen die antiken, insbesondere die orientalischen und indischen Auffassungen. Die Indier haben es einfach von den fremden hellenischen Mimen übernommen. Aber allmählich ist bei den Indern diese ihnen nur oktroyierte Sitte wieder abgekommen, man gab später Weiberrollen durch junge Männer.

Wunderbar mischt sich im indischen Drama Humor und Ernst, Er- habenes und Burleskes, vornehme und niedere Sprache. Wo findet sich dies Prinzip in der alten Epik und Hymnologie, wo findet sich dort der Vidüsaka. Die Epik ist durchaus einer grofsen, heldenhaften, tragischen Auffassung des Daseins zugeneigt, wie kommt es, dafs trotzdem im indischen Drama haupt- sächlich schmachtende Liebeshelden auftreten wie im Mimus? Wie kommt es, wenn das indische Drama von dorther seinen Ursprung nahm, dafs es

Der Vidösaka and der Sannio. 741

in Verbindung, also wäre es etwa = y&okoyog, Sittenschilderer, Mime?1) Sonst heifst Schauspieler nata, Schauspiel nätaka; nata bedeutet etwa „mimischer Tänzer-4 -). Der Mimus ist aus dem Tanze entstanden; ich erinnere an die unaufhörliche Verbindung Mimen und Tänzer (jxZpot und dQxijatai), an die mimi saltantes, an saltatricula = mima, ogx^tfjg = Pantomimus, gelegentlich auch = Mimus. Cinaedologie = ÖQxrjoig dnaXq. Durch den mimi- schen Gebärdentanz haben sich die griechischen Mimen und Miminnen den Indern zuerst verständlich gemacht. Also wäre: nata = Mime, nätaka = Mimus?8)

unverbrüchlich zum Schlüsse fröhlich enden muXs selbst wenn schreck- liche Dinge geschehen sind wie im Mimus?

a) Vgl. das Petersburger Lexikon s. v. Ganz anders ist die Erklärung des Wortes bei Sylvain Levi a. a. 0. S. 312 u. 313. Ich kann weder die Er- klärung Webers noch die Levis sicher beurteilen.

2) Vgl. z. B. Windisch a. a. 0. S. 8: „Aber der Schauspieler hei/st nata, das Schauspiel nätaka, und die Sanskritwurzel nrit, welche zu nat präkriti- siert worden ist, bedeutet ohne Frage „Tanzen". Wir dürfen jedoch hier nicht an unsere Tänze mit ihren schematischen, sich wiederholenden Schritt- figuren denken, vielmehr bezeichnet nat hier die Kunst, durch Stellung und rhythmische Bewegung des Körpers und seiner Glieder, durch Gebärden und Mienen einen bestimmten Sinn auszudrücken. Diese Kunst konnte einerseits verbunden mit Gesang und Musik auftreten. Die Mimik drückt dann in ihrer Weise aus, was der Gesang in deutliche Worte fafsf Nun, jedenfalls beweist der Name, dafs man die Mimik im indischen Schauspiel für die Hauptsache angesehen hat wie im Mimus.

3) Für den griechischen Einflufs in Indien, und zwar vornehmlich in der bildenden Kunst, will ich hier noch auf das lehrreiche Buch von Albert Grünwedel hinweisen „Buddhistische Kunst in Indien", 2. Auf! , Berlin 1900 (Handbücher der Königlichen Museen zu Berlin Museum für Völkerkunde), zumal auf den Abschnitt „Die Gandhära-Skulpturen (sog. graeco-buddhistische Skulpturen)" S. 74 ff. Wenn Grünwedel a. a. 0. S. 76 bemerkt: „Griechische Ideen und Erzählungen gingen in die buddhistischen Texte, indische Ver- gleiche, Fabeln und Märchen in die abendländische Litteratur über. Ob die griechische Schauspielkunst die indische blofs beeinflufst oder begründet hat, mag dahingestellt bleiben. Diese Bestrebungen dauern bis in die römische Kaiserzeit etwa bis ins fünfte Jahrhundert fort", so stellt er sich offenbar den Einflufs des griechischen Dramas auf das indische nichts weniger als unbedeutend vor. Ich verweise auch noch auf Ernst Curtius, „Die grie-

742 Achtes Kapitel.

Der dickbäuchige, phallische Semar im javanischen Puppen- spiel ist des Vidüsaka Ebenbild und sein Nachkomme. Das hat schon Serrurier bemerkt *), und Pischel hat es bestätigt (a. a. 0. S. 21). Also ist der alte mimus calvus schliefslich von Indien bis nach Indonesien gewandert und hat sich dort in seiner ursprünglichen althellenischen, burlesken Gestalt erhalten. Wenn

einsehe Kunst in Indien". Gesammelte Abhandlungen II, S. 235—243, und Goblet d'Alviella „Ce que l'Inde doit k la Grece", Paris 1897, sLes Grecs dans l'Inde", Bruxelles 1897, „Des influences classiques dans l'art de l'Inde", Bruxelles 1897. Doch giebt es hier eine ausgedehnte Litteratur besonders in England, die vornehmlich nur den Spezialforscher interessiert.

*) Ausdrücklich erklärt sich Serrurier gegen die gewöhnliche Auffassung, Semar und seine Söhne seien ursprüngliche Schöpfungen der javanischen Phantasie.

Ze zijn te veel geacheveerd, te goed in hunne rol, en daarbij te populair om niet een lange wordingsgeschiedenis achter zieh te hebben ; zulke figuren kamen maar niet op eens pasklaar voor den dag.

Hoezeer Semar en de zijnen als zoodanig in de indische literatuur ontbreken, zoo vind ik loch bij Lassen, Indische Alterthumskunde IV eene aanwijzing, die er mij toe brengt aan deze tooneelfiguur voor een deel althans een indischen oorsprong toe te kennen. Wij lezen aldaar op p. 829 het volgende: „De vidushaka is de indische vertegenwoordiger van den germaanschen hansworst en den italiaanschen polichinel of harlekijn" .... Zie ook Wilson, Theater der Hindu' s, Weimar 1828, p. 42. Herkent men hierin niet punt voor punt de karaktertrekken van de pänäkaioan 's, zooals die hier boven zijn geschilderd? Tot zelf de goddelijke oorsprong van Semar

vindt hare weergade in de hooge käste van den vidushaka De band

usschen Semar en de helden van het drama is te innig om te kunnen aannemen, dat hij er in later tijd tusschen in geschoven is. En eenmaal zijn indische oor- sprong vastgesteld, dunkt het mij niet onwaarschijnlijk, dat hij reeds van den aanvang af met het drama verbanden is geweest, en dat de bewoners der streek, vanwaar de waj angverhalen op de Iavanen zijn overgegaan, die overgeleverde ver- holen nimmer anders hebben gekend dan in den toestand van tooneelstukken met Semar en de zijnen als dramatisch element. (Kleine Ausgabe S. 38/9.)

Ganz recht, ohne den Hanswurst, den Sannio, ist eine mimische Hypo- these ebenso undenkbar, wie ein indisches Drama, ein javanisches Puppen- spiel oder ein Karagözstück, und in allen ist der Hans Wurst nicht etwa später hinzugekommen, sondern er ist das urälteste Element. Der älteste Spieler im Mimus ist eben der nifxog yelolmv. Im Bhäratiyanätyaäästra I, 63 heifst es: Den Helden schützt Indra, die Heldin Sarasvati, den Vidüsaka die heilige Silbe Om, die übrigen Personen Siva. Also neben dem Helden und der Heldin ist der Narr die wichtigste Person, wie im Mimus.

Der Vidnsaka und der Sannio. 743

bis auf unsere Tage Semar zugleich dem Karagöz merkwürdig ähnlich ist, wie Serrurier hervorhebt (vgl. oben S. 691) und Pischel gleichfalls bestätigt (a. a. 0. S. 21), so wissen wir, dafs Karagöz des alten Sannio, des uüxo; Nachkomme ist, und da, wie wir nun sehen, Semar dieselbe Abkunft hat, müssen sie sich beide wohl gleichen. So ist der alte Mimus noch heute im Oriente, in Nordafrika und in Ägypten, in Vorder- wie in Hinter- asien, gewaltig.

NEUNTES KAPITEL.

Der Mimus im Occident.

Melius est deo placere quam histrionibus, pauperum habere curam quam mimorum.

Alcuin. I.

Der römische Mimus im Mittelalter.

Wie im Oriente der griechische Mimus das Mittelalter hindurch geblüht hat und in seinen Kindern und Kindes- kindern dort noch heute fortlebt, so hat im Occidente der römische Mimus sich durch das lange Mittelalter hindurch lebendig erhalten bis auf unsere Tage. Wie Philistion im grie- chischen Osten zahlreiche Nachfolger hatte, Phoebus, Origanion, Diogenes und die zahllosen Mimographen, deren Namen ver- gessen sind, die in immer neuen Mimen die alten Typen und Themen der mimischen Ethologie und Biologie den Wandlungen des ßiog anpafsten und wohl auch neue dazu erfanden, so gab es auch im lateinischen Westen in den nachchristlichen Jahr- hunderten zahlreiche Mimographen.

Aus dem ersten Jahrhundert nach Christus lernten wir als den berühmtesten mimischen Bühnendichter Catullus mit dem „Laureolus", und dem „Gespenst (Phasma)" kennen1). Im

*) Fälschlich habe ich auf S. 76 u. 150 vom Laureolus des Lentulus ge- sprochen. Dieser Irrtum rührt von Ziegler her, dem Grysar folgt; ich habe ihn inzwischen oben S. 584 stillschweigend verbessert. Laureolus gehört dem Catullus, das sagt Tertullian ausdrücklich: Ita depulsa quominus pergeret, nee habens supervolare crucem, id est Horon, quia nullum Catulli Laureolum fueril

Der römische Mimus im Mittelalter. 745

zweiten Jahrhundert beherrschte Marullus die Bühne, dessen Spott Kaiser Marc Aurel geduldig ertrug l). Ungefähr zu gleicher Zeit dichteten auch die Mimographen Lentulus (Catinenses3) und

exercitata, ut destituta Passtoni illi suae in trica multiplici atque perplexa, omni genere eins coepit adfligi e. q. s. (Advers. Valent. XIV). In dem Juvenal- verse:

Laureolum velox etiam bene Lentulus egit (VIII, 187)

ist Lentulus nur der Hauptakteur. Da dieser Mimus schon unter Caligula aufgeführt wurde (vgl. oben S. 150), hätte Lentulus, wenn er der Dichter des Laureolus wäre, zu Juvenals Zeit tot oder zum mindesten ein hochbetagter Greis sein müssen, der schwerlich in der Rolle des flinken Räubers hätte glänzen können. Interessant ist, dafs hier Tertullian gegenüber den gnosti- schen Lehren nach der Gewohnheit der Kirchenväter den Mimus heranzieht und sich hier bei der gnostischen Auffassung der Passion an den Kreuzigungs- mimus „Laureolus" erinnert. Unmittelbar vorher hat Tertullian die gnostische Mythologie von den Äonen, deren einer Christus ist, mit der Tragödie und dem mythologischen Mimus verglichen: Continet hie igitur ordo primam pro- cessionem pariter et nascentium et nubentium et generantium Aeonum .... Ceterum haec intra coetum Pleromatis decueurrisse dieuntur, prima tragoediae scena. Alia autem trans siparium cothurnatio est, extra Pleroma dico. Diese Stelle ist den oben S. 608, 609, Anm. für das velam mimicum angeführten hinzuzufügen. Die trans siparium cothurnatio ist der mythologische Mimus. Ich habe oben S. 582, 583 gezeigt, dafs in diesen Stücken die Mimen in der Kleidung der Tragöden, also auch mit Cothurnen auftraten. Da nun aber Mimus und Puppen- spiel auf das engste zusammenhängen, wird an derselben Stelle zum Ver- gleiche mit der Gnosis ebenfalls das Puppenspiel herangezogen: Ut autem tantum sigillarium extrinsecus quoque inornassent, satellites ei angelos proferunt, par genus; si inter se, potest ßeri, si vero Soteri consubstantivos . . quae erit eminentia eius inter satellites coaequales (Schlufs von cap. XII). Ähnlich heifst es bald darauf (Cap. XVIII): Et primum . .. deum fingit hunc nostrum et omnium, praeter haereticorum, patrem et Demiurgum . . . Ab illo enim; si tarnen ab illo et non ab ipsa potius Achamoth, a qua oeculto, nihil sentiens eius, et velut sigillario extrinsecus duetu in omnem operationem movebatur. Sigillarium bedeutet die Puppe im Puppenspiel, vgl. Marc Aurel VII, 3: aiyiilaout vtvgo- onaaiov/AEva.

«j Vgl. oben S. 188.

2) Vgl. Tertullian, De pallio IV: Qualis ille Hercules in serico Omphales fuerit; iam Omphale in Herculis scorto designata descripsit. Sed et qui ante Tt/rin- thium accesserat, pugil Cleomachus, post Olympiae cum incredibili mutatu de masculo ßuxisset, intra cutem caesus et ultra, inter Fuüones iam Novianos coronandus, meritoque mimographo Leiitulo in Catinensibus commemoratus, e. q. s.

746 Neuntes Kapitel.

Hostilius, die Tertullian als besonders hervorragend im mytho- logischen Drama nennt1). Marullus und Lentulus galten dann in den späteren Jahrhunderten als die eigentlichen grofsen Dichter im römischen Mimus, über deren Leistungen man Publilius Syrus und Decimus Laberius vergafs. So nennt Marius Mercator im fünften Jahrhundert neben dem „einzigen Philistion" unter den Lateinern Marullus und Lentulus und stellt ihren Ruhm über den Martials und Petrons2). Auch Hieronymus erwähnt beide in einem Atemzuge mit Philistion und läfst sich herbei, ihren eleganten Ausdruck, wenn auch ironisch, zu loben und Sabinianus tadelt er, weil er seine Freude vor allem an Mimographen wie Lentulus habe3). Den Marullus erwähnt auch Galen *). Der grofse Arzt bezeugt zugleich, dafs neben Marullus noch ein Schwärm von Mimographen dichtete8). Mimographen fanden sich nicht nur in Rom, sondern auch in den Provinzen. So wurde in Spanien in Tarraco ein Stein mit dem Namen des Mimographen Severianus gefunden6). Neben den berufsmäfsigen Mimographen gab es noch vornehme Dilettanten wie z. B. Atticus,

Über Kleofiaxog 6 nvxxrfi vgl. oben S. 257. Es ist beachtenswert, dafs dieser Faustkämpfer, der später ein Weichling und dann ein Cinaedologe und Mimo- graph wurde, im lateinischen Mimus erwähnt wird. Erstaunlich ist, wie häufig Tertullian des Mimus und des Puppenspiels gedenkt. Seine Kenntnis war hier eine so genaue, dafs er z. B. selbst über die Sprache des Laberius bis ins einzelne unterrichtet ist. Vgl. De pallio 1: Nam et arietem (non quem Laberius reciprocicornem et lanicutem et testitrahum sed trabes viachina est, quae muros frangere militat) nemini unquam adhuc libratum illa dicitur Carthago studiis asperrima belli, prima omnium armasse e. q. s. Über die Erwähnung des Mimus und des Puppenspiels bei Tertullian vgl. auch oben S. 672. i) VgL oben 8. 111, 112.

2) Vgl. oben S. 474.

3) Vgl. unten S. 752.

4) Galen, üsqi avaxofxixäv ly/signomv VII, 12, 6 MaqvXXov xov fitfio- yqä(fov nalg i&eQanev&r) xal £rj vvv fr*, xatiot yvfivio&etoyg avT<p noxt xr\g xitodiag

5) Galen. a.a.O. VII, 16: tovro /*ev ovv, eis ytXioionodav rois yQa- (povoi rovg [Alfxovg xüv ytkotiov ä<fe(o&(o.

6) C. I. L. II, 4092. Deo Tutelae Aemilius Severianus mimographus posuit.

Der römische Mimus im Mittelalter. 747

den Martial verspottete, oder Nucula, den Cicero verhöhnte1). Helvidius Priscus, der wegen seines Mimus „Paris und Oenone" von Domitian hingerichtet wurde, gehörte zur höchsten römischen Aristokratie2).

Die Leidenschaft, welche das römische Volk für den Mimus zeigte, fühlten genau ebenso, wie wir sahen, die römischen Kaiser3). Von den weströmischen Kaisern haben ja erst die oströmischen, die byzantinischen Kaiser und Grofsen die Vorliebe für den Mimus geerbt.

Wie die griechischen Kirchenväter im Orient gegen den Mimus eiferten, so haben es die lateinischen im Occident gethan. Haben wir dort aus späterer Zeit besonders das Beispiel des grofsen Johannes Chrysostomus, so hier das des heiligen Augustinus und Hieronymus4). Hieronymus ist gewifs nicht gut auf den Mimus und das Theater zu sprechen. Paulinus, der ein Mönch geworden ist, erkundigt sich bei ihm, dem grofsen Verteidiger der Askese,

*) Vgl. oben S. 149, 150, 151.

2) Vgl. oben S. 190.

3) Vgl. oben S. 193—204. Zu den dort mitgeteilten einzelnen Zügen will ich noch hinzufügen, dafs litterarisch gerichtete Kaiser wie Hadrian ihr Interesse für den Mimus bis auf die Einzelheiten der mimischen Sprache besonders des Laberius erstreckten. Vgl. Charisius II, p. 124 L.: Obiter divus Hadrianus sermonum primo quaerit an Latinum sit: quamquam inquit, apud Laberium haec vox esse dicaiur, et cum Scaurus Latinum esse neget. Wenn hier Hadrian untersucht, ob ein Ausdruck des Laberius auch rechtes Latein sei, so ist das überhaupt ein bei Grammatikern beliebtes Thema. So ist das berühmte Kapitel bei Gellius XVI, 7, in dem wir mancherlei aus den Mimen des Laberius erfahren, betitelt: Quod Laberius verba pleraque licentius petu- lantiusque finxit; et quod multis item verbis utitur, de quibus, an sint Latina quaeri solet. Fronto, der Lehrer Marc Aureis, scheut sich nicht, in einem Briefe an den Thronfolger den Mimographen Laberius, der zu seinen Lieblings- schriftstellern gehörte, als Autorität zu citieren. Vgl. epist. in M. Caesarem lib. I 6, p. 14 ed. Rom, lverum ut profecta quod ait noster Laberius, ad amorem delenimenta esse deleramenta. beneficia autem veneficia.

4) Aus früheren Jahrhunderten haben wir unter den lateinischen Kirchen- vätern als energische Feinde des Mimus und überhaupt des antiken Schau- spiels Minucius Felix, Arnobius, Tertullian, Lactanz und Cyprian kennen ge- lernt. Vgl. oben S. 109—116.

748 Neuntes Kapitel.

der Jahrelang in der Wüste von Chalcis, der syrischen Thebais ", im Osten von Antiochia, als Einsiedler gelebt und schliefslich in Bethlehem bei der Krippe des Herrn ein Mönchskloster ge- gründet hatte, nach der besten Art, wie man als Mönch leben könne, dabei läfst er sein Verlangen durchblicken, Jerusalem und die heiligen Stätten aufzusuchen. Aber Hieronymus ermahnt ihn, nicht dorthin zu kommen. Ein Mönch müsse in der Einöde, in der Einsamkeit, in der Verborgenheit, nicht aber in Jerusalem dem Herrn dienen, denn dort ist das Stelldichein des ganzen Erdkreises. Dort drängt sich das Volk auf den Strafsen, dort giebt es ein Rathaus und eine Militär-Komman- dantur, Buhldirnen und vor allem Mimen und Possenreifser, genau so wie in allen anderen Städten1). Hier haben wir also zugleich wieder ein Zeugnis dafür, dafs der Mimus, wie wir schon so oft hervorhoben, sich in allen Städten des griechisch- römischen Reiches fand, selbst in dem hochheiligen Jerusalem zur Zeit, als das Christentum bereits unbedingt herrschte. Dieser Brief des Hieronymus an Paulinus stammt aus dem Ende des vierten Jahrhunderts.

An einer anderen Stelle entrüstet sich Hieronymus dar- über, dafs die christliche Obrigkeit die christlichen Kleriker und Mönche von den Erbschaften ausschliefst, während sie selbst solche verworfene Gesellen, wie die heidnischen Priester, Mimen, Wagenlenker und Buhlerinnen zuläfst. Der Staat hatte eben von jeher das Bestreben gehabt, eine Ansammlung des Vermögens in der toten Hand, auch wenn es die der christlichen Kirche war, zu vermeiden. Die Zusammenstellung mit heidnischen

!) Epistola LVIII. Ad Paulinum. Vallarsi I, S. 322 A.B.: Quod loquor, non de Episcopis, non de Presbyteris, non de Clericis loquor, quorum aliud officium est; sed de Monacho, et Monacho quondam apud saeculum nobili: qui iccirco pretium possessionum suarum ad pedes Apostolorum posuit, docens pecuniam esse calcandam; ut humiliter et secreto victitans, semper contemnat quod semel contemsit. Si Crucis et Resurrectionis loca non essent in Urbe celeberrima, in qua curia, in qua aula militum, in qua scorta, mimi, scurrae, et omnia sunt, quae solent in caeteris urbibus etc.

Der römische Mimus im Mittelalter. 749

Priestern, Wagenlenkern und Hetären zeigt, wie wenig Hiero- nymus den Mimen geneigt war1).

Die Witwe Salvina ermahnt er, um ihr Witwentum rein und keusch zu bewahren, keine Pantomimen, die sich zu Weibern entnerven, keine scenischen Künstler damit sind vornehmlich Mimen gemeint in ihrer Umgebung zu dulden 2). Wir wissen ja, mit welcher Vorliebe man Mimen und Pantomimen in vor- nehmen Häusern hielt. Seine Freundin Marcella fordert der Heilige auf, Rom zu verlassen mit seinem Lärm, seinen Gladia- torenkämpfen in der Arena, mit seinem Cirkus und vor allem mit seinem üppigen Theater3). Er denkt hier natürlich vor- nehmlich an den Mimus mit seinen Liebesgeschichten und an den Pantomimus. In der That erwähnt er wenige Zeilen vorher den Pantomimus ausdrücklich4). Da ist also wieder ein Zeugnis für die Fortdauer von Mimus und Pantomimus in Rom gegen das Ende des vierten Jahrhunderts.

In der Streitschrift gegen Iovinian erklärt Hieronymus, durch die fünf Sinne kehren wie durch ebenso viele Fenster die Laster bei der Seele ein. Wenn jemand seine Freude hat am Cirkus oder den Gladiatorenspielen, an der Geschmeidigkeit der Panto- mimen, an der Schönheit der Frauen, an dem Glänze der Edel-

*) Epistola LH. Ad Nepotiannm Vallarsi I, S. 260 E, 261 A: Pudet dicere, sacerdotes idolorum, mimi, et aurigae, et scorta, haereditates capiunt: solis Clericis et Monachis hoc Lege prohibetur: et prohibetur non a persecutoribvs, sed a Principibus Christianis.

*) Epistola LXXXIX. Ad Salvinam. Vallarsi I, S. 505 E, 506 A: Non ambulet juxta te calamistratus Procurator, non histrio fractus in feminam, non cantoris diabolici venenata dulcedo, non juvenis volsus et nitidus. Nihil artium scenicarum, nihil tibi in obsequiis molle jungatur. Habeto tecum viduarum et virginum choros, habeto tui sexus solatia.

s) Epistola XLIII. Ad Marcellam. Vallarsi I, S. 194 B.C.: Habtat tibi Roma mos tumultus, arena saeviat, circus insaniat, theatra luxurient. et quia de nostris dicendum est, matronarum quotidie visitetur senatus.

*) a. a. 0. S. 193D, E: Et quomodo in theatralibus scenis unus atque idem histrio, nunc llerculem robustus ostendit, nunc moüis in Venerem frangitur, nunc tremulus Cybelem: ita et nos ... tot habemus personarum similitudines. quot peccata.

750 Neuntes Kapitel.

steine, der Kleider und des goldenen Geschmeides, dann erfüllt sich das Wort des Propheten: Der Tod stieg ein durch die Fenster (Jeremias 9, 21). Das Gehör hinwiederum wird durch Musik angenehm umschmeichelt, durch den Vortrag von Ge- dichten und Komödien, durch den feinen Witz und die lustigen Intriguen im Mimus1).

Iovinian war in Rom gegen die absolute Askese aufgetreten und hatte den Stand der Ehe dem der Jungfräulichkeit gleich- gestellt unter dem Beifall aller mehr natürlich und irdisch Gesinnten. Da läfst ihn Hieronymus hart an: „Natürlich hast du eine grofse Gemeinde, alle Schmerbäuche, alle Stutzer und vor allem alle Possenreifser (Mimen) und dann die Vornehmen und Reichen2).

Seinen Gegnern wirft der Kirchenvater überhaupt gerne Vor, dafs ihre Art ihn an den Mimus erinnere. Das war ja auch, wie wir sahen, der gewöhnliche Vorwurf der katholischen Kirchen- väter gegenüber den Ketzern, besonders den Arianern und den Manichaeern. Wenn die Kirchenlieder des Arius an die Couplets im Mimus gemahnten, so war dieser Vorwurf nicht einmal un- berechtigt 3).

Wenn Hieronymus den Rufinus am schärfsten tadeln will, so findet er, die Ausführungen seines einstigen Jugendfreundes seien wahnsinnige Erfindungen und erinnerten an die Geschichten, die man am Frühstückstisch oder beim Gastmahl sich erzählt

») Adversus Iovinianum II, 8. Vallarsi II, S. 336 C, D. 337 A: Si Circensi- bus quispiam delectetur: si athletarum certamine: si mobilitate histrionum : si formis mulierum: splendore gemmarum, vestium, metallorum, et caeteris huiuscemodi, per oculorum fenestras animae capta libertas est, et impletur illud propheticum : Mors intravit per fenestras vestras. Rursum auditus vario organorum cantu, et vocum inflexionibus delinitur: et carmine Poetarum et Comoediarum, mimorumque ur- banitatibus et strophis, quidquid per aures introiens, virilitatem mentis effeminat.

2) Adversus Iovinianum 11,37. Vallarsi II, S. 382 C: Eabes praeterea in exercitu plures succenturiatos, habes scurras et velites in praesidiis, crassos, comtos, nitidos, clamatores, qui te pugnis calcibusque defendant. Die scurrae sind hier wohl die scurrae mimarii, wie ja auch inschriftlich scurra sich als Be- zeichnung des Mimen findet.

3) Vgl. oben S. 135 ff.

Der römische Mimus im Mittelalter. 751

oder au den Mimus Philistions oder des Lentulus und Marullus1). Damit nennt er die drei berühmtesten Mimographen der griechi- schen und der lateinischen Welt. Den Lentulus und Marullus hat er ja allerdings nicht in seine Tabelle der Weltgeschichte aufgenommen, aber dem Philistion hat er diese Ehre denn doch geglaubt nicht versagen zu dürfen2).

Der Diakon Sabinianus, der zu Rom durch einen Ehe- bruch grofses Ärgernis erregt hatte und nur mit Mühe dem be- trogenen Ehemann entgangen war, hatte sich im Kloster des Hieronymus in Bethlehem mit einem Empfehlungsbriefe seines Bischofs eingestellt. Hieronymus hatte ihn freundlich aufge- nommen. Aber der verderbte Priester hatte ohne Rücksicht auf die heilige Stätte des Herrn die erste günstige Gelegen- heit benutzt, eine Nonne zu verführen und hatte eine höchst verschmitzte Entführung geplant. Im letzten Augenblicke war dieser ruchlose Plan verraten und vereitelt worden. Hiero- nymus ruft voller Entrüstung aus, eine solche Schandthat könnte kein Mimograph erfinden, kein Mime darstellen, kein Schau- spieler in der Atellane vorführen3). Freilich werde Sabinianus

*) Vallarsi II, S. 514 A, B. Contra Rufinum cap. 20: Quaeso te, amice carissime, ut in Ecclesiasticis tractatibus, ubi de veritate dogmatum quaeritur, et de salute animarum nostrarum, majorum flagitatur auctoritas, huiuscemodi deli- ramenta dimittas, et prandiorum coenarumque fabulas pro argumento non teneas veritatis. Fieri enim potest, ut etiam si a me verum audisti, alius qui huius rei ignarus est, dicat a te esse compositum : et quasi mimum Philistionis, vel Lentuli, ac Marulli stropham eleganti sermone conßctam.

2) Vgl. oben S. 427, XI.

3) Vallarsi I, 1089 B, C: Epistola CXLVH. Ad Sabinianum: Proh nefas, non possum ultra progredi. Prorumpunt singtdtus antequam verba, et indignatione pariter ac dolore, in ipso meatu faucium spiritws coarctatur. Ubi mare illud elo- quentiae Tullianaef ubi torrens fluvius Demosthenis ? Nunc profecto muH essetis ambo, et vestra lingua torpesceret. Inventa est res, quam nulla eloquentia explicare queat. Bepertum est Jacinus, quod nee mimus fingere, nee scurra ludere, nee Atellanus possit effari. Diese Stelle enthält zugleich das letzte Zeugnis für die Existenz der Atellane, die auch Tertullian (De spect. XVII.) bezeugt: Hoc igitur modo etiam a theatro separamur, quod est privatum con- sistorium impudicitiae, tibi nihil probatur, quam quod alibi non probatur. Ita summa gratia eius dei spurcitia plurimum concinnata est, quam atellanus gesticulator quam mimus etiam per mulieres repraesentat, serum pudoris exterminans.

752 Neuntes Kapitel.

wohl alle Vorwürfe in den Wind ' schlagen und darüber lachen als ein eifriger Freund und Leser der alten Komödien, lyri- schen Gedichte und der Mimen des Lentulus1).

Auch erinnert sich Hieronymus in seiner Polemik gern an die Cirkulatoren, die niederen Mimen, die auf Markt und Strafse ihr Wesen treiben. Ihnen gleichen die Unberufenen, die über die heilige Schrift mitsprechen, die da lehren wollen, was sie selber nicht verstehn2).

Scharf fährt der Heilige in seinem Briefe an Domnio „Über die Bücher gegen Iovinian" auf einen Mönch los, der in Rom ihm gegenüber für Iovinian Partei ergriffen hatte. Er nennt ihn eine »Stütze der Plautus-Komödiantensippschaft" 3), der seine Beden höchst elegant mit dem Salze der Komödie würzt4), und seine Anhänger sollte man mit den Namen der Parasiten in den Komödien als Leute wie Gnatho und Phormio kenn- zeichnen. Fortan solle er nicht nur in den Winkeln und Kneipen

i) Vallarsi I, 1086 c. Epistola CXLVII, Ad Sabinianum cap. 3: Haec tibi ridicula forte videantur, qui comoedis, et lyricis scriptoribus, et mimis Lentuli delectaris: quamquam ne ista tibi quidem prae nimia cordis hebetudine intelligenda concesserim.

2) Vallarsi I, 275 B,C, 276 A: Epist. LIII. Ad Paulinum, cap. 7: Sola Scripturarum ars est, quam sibi omnes passim vindicant. „Scribimus indocti, doctique poemata passim". Hanc garrula anus, karte delirus senex, hanc sophista verbosus, hanc universi praesumunt, lacerant, docent, antequam discant. Alii addueto supercilio, grandia verba trutinantes, inter mulierculas de sacris literis philo sophantur. Alii diseunt, proh pudor, afeminis, quod viros doceant: et ne partim hoc sit, quadam

facilitate verborum, immo audacia edisserunt aliis, quod ipsi non intelligunt

Cap. 8. Puerilia sunt haec, et circulatorum ludo similia, docere quod ignores.

3) Vallarsi I, 236 D, E. Epistola L. Ad Domnionem : Eunc JDialecticum urbis vestrae et Plautinae familiae columen, .... Auch sonst gebraucht Hiero- nymus Gegnern gegenüber den Ausdruck plautinische Komödiantensippe. S. 230 D, E : Inventae sunt Plautinae familiae.

4) Vallarsi I, 238 C. Epistola L. Ad Domnionem: Qui tantae in fermo- cinando elegantiae est, ut Comico sale ac lepore conspersus sit. Ahnlich Contra llufiuum I, 13. Vallarsi II, p. 469: audio praeterea te . . . Plautino in me sale ludere; worin zugleich eine Anspielung an Horaz, De arte poetica v. 270 ff. liegt:

at vestri proavi Plautinos et numeros et laudavere sales.

Der römische Mimus im Mittelalter. 753

und in den Vorzimmern der Ärzte allerhand üble Nachrede verbreiten, das können auch die Possenreifser, sondern eine Schrift gegen Hieronymus verfassen, damit man doch etwas Greif- bares habe '). Da ist es nun um so merkwürdiger, dafs wir bei Hieronymus selber auf Schritt und Tritt Reminiscenzen aus Terenz und Plautus begegnen*). Wie nahe aber Plautus den Mimographen steht, ist oben S. 345 ff. entwickelt worden. Ja, wenn Hieronymus seine allzu heftigen Streitschriften gegen Iovinian verteidigt, vergleicht er sich gar mit einem Mimen, der das mimische Prügelholz in der Faust auf dem Markte die Narren auf den Hintern klopfe oder ihnen, wenn sie ihn beifsen wollen, damit in die Zähne schlage*).

1) Vallarsi I, 239 E, 240 A. Epistola L. Ad Domnionem: Loquamur scriptis, ut de nobis tacitus lector iudicet; ut quomodo ego discipulorum gregem ductito , sie ex kuius nomine Gnathonici vel Phormionici vocentur .... (cap. V.) Non est grande mi Domnion, garrire per angulos et medicorum tabcmas, ac de mundo ferre sententiam: hie bene dixit, ille male: iste Scripturas novit, ille delirat: iste loquax, ille infantissimus est. Ut de omnibus iudicet, cuius hoc iudicio meruit? Contra quemlibet passim in triviis strepere, et congerere maledicta, non crimina, scurrarum est. Gnathonici nach dem Parasiten Gnatho in Terenzens Eunuchns, Phormionici nach Terenzens Phormio.

2) Siehe die Zusammenstellungen bei Lübeck, Hieronymus, quos noverit scriptores et ex quibus hauserit S. 106—109, 110—115. In dem Briefe an Eustochium, in welchem Hieronymus die berühmte Vision erzählt, wie er, vor den Richterstuhl Gottes gefordert, sich als Christ erklärt und dann um seiner klassischen Studien willen die Donnerworte vernehmen mufs : du lügst, du bist kein Christ, du bist ein Ciceronianer, berichtet er auch von seiner Leidenschaft für Plautus. Ad Eustochium 30, Vallarsi I, p. 115: post noctium crebras vigilias, post lacrymas, quas mihi praeteritorum recordatio peccatorum ex imis visceribus eruebat, Plautus sumebatur in manus. Vgl. hier die treffenden Bemerkungen von Ebert, Geschichte der Litteratur des Mittelalters I, S. 178 folg.

3) Vallarsi I, 957 B. Epistola CXXVÜ. Ad Principiam: Non mirum si in plateis, et in foro rerum venalium, fictus ariolus stultorum verberet nates, et obtorto fuste dentes mordentium quatiat. Wie die Mimen in den Hofhaltungen und in reichen Häusern als Narren und Lustigmacher d. h. als Hofnarren fungierten, so traten die niedrigsten unter ihnen als Volksnarren auf Märkten und Strafsen auf. Wie der Spafsmacher im Mimus den stupidus mit seinem Prügelholze auf den Hintern klopft, so thut es auch der mimische Circu- lator, welcher mit der ihn umdrängenden Volksmenge spafst. Wird aber einer

Reich, Mimus. 4g

754 Neuntes Kapitel.

Doch auch sonst fällt unserem Kirchenvater, selbst wenn er keine polemischen Tendenzen verfolgt, oft der Mimus ein. So meint er, die Erzählung vom alten König David, für den ein junges Mädchen gesucht wird, ihn zu erwärmen, erinnere an die Erfindungen des Mimus und der Atellane1). In dem Briefe an die vornehme Römerin Furia „über die Bewahrung des Witwenstandes" schildert er die Gefahren einer zweiten Ver- ehelichung. Wenn der neue Mann Kinder mit in die Ehe bringt, wird sie bald als böse Stiefmutter verdächtigt werden. Sie mag den Stiefkindern gegenüber noch so gütig sein, bald wird man doch alle Gemeinplätze der Komöden, Mimographen und Rhetoren gegen die grausame Stiefmutter deklamieren2). Stief- wie

von den Dummen, die er gepritscht hat, grob und will gar beifsen, so schlägt er ihm mit seinem Prügelholze in die Zähne. Das hat auch Hieronymus mit Iovinian gethan, als dessen Narrheit und Schändlichkeit gar zu grofs wurde. Denselben Vergleich hat Hieronymus schon früher in der Streitschrift gegen Iovinian fast mit denselben Worten gebraucht. Nur die Nutzanwendung ist eine ganz andere. Iovinian solle nicht stolz sein auf seine grofse Ge- meinde, die finde auch der Harlekin auf der Gasse. Jedenfalls schwebt hier Hieronymus ein Bild aus dem Strafsenleben jener Zeit vor, in welchem Mimen und Possenreifser offenbar eine grofse Rolle spielten. Vallarsi II, 380 B, C. Quod multi acquiescunt sententiae tuae, indicium voluptatis est: non enim tarn te loquentem probant, quam suis favent vitiis. In circulis platearum quotidie fictus hariolus stultorum nates verberat, et obtorto fuste dentes mordentium quatit, nee tarnen deest qui semper possit induci? et pro magna sapientia deputas, si plures porci post te currant, quos gehennae sueeidiae nutrias?

1) Vallarsi 1 , 255 A , B. Epistola LH. Ad Nepotianum i Quod ne de gentili tantum literatura proferre videamur, divinorum voluminum sacramenta cognosce. David annos natus septuaginta, bellicosus quondam vir, senectute frigescente, non poterat calefieri : Quaeritur itaque puella de universis finibus Israel Abisag Suna- mitis, quae cum rege dormiret, et senile corpus calefaceret. Nonne tibi videtur, si oeeidentem sequaris literam, vel ßgmentum esse de mimo, vel Atellanarum ludicra? Frigidus senex obvolvitur vestimentis, et nisi complexu adolescentulae non tepescit.

2) Vallarsi I, 292 C, D. Epistola LIV. Ad Furiam: Quod si de priore uxore sobolem Habens, domum te introduxerit ; etiam si clementissima fueris, omnes Comoedi, et Mimographi, et communes Bhetorum loci, in novercam saevissimam de- clamabunt. Si privignus languerit, et condoluerit caput, infamaberis ut venefica. Si non dederis eibos, crudelis; si dederis, malefica diceris. Oro te, quid habent tantum boni seeundae nuptiae, ut haec mala valeant compensare?

Der römische Mimus im Mittelalter. 755

Schwiegermütter gehörten wirklich, wie wir sahen, zu den be- liebtesten Typen im Mimus. Hieronymus verrät hier eine gute Kenntnis der mimischen Ethologie und Biologie. Überhaupt erinnert die Art, wie er mit seinen Gegnern umspringt, wie er ihre Fehler aufdeckt und sie ihrer Narrheit oder gar ihrer Bosheit und Schändlichkeit überführt, wie er ihr Charakter- bild mit scharfen Strichen zeichnet und allerhand ironisch- satirische und ab und zu auch humoristische Lichter aufsetzt, ein wenig an mimische Ethologie und Biologie. Niemand schil- derte damals menschliche Typen und Lebensverhältnisse mit solcher eindringlichen realistischen Schärfe und Lebenswahrheit, wie es Hieronymus besonders in den Briefen thut, ausgenommen die Biologen und Ethologen seiner Zeit. So fühlt sich denn Hieronymus selber während des Schreibens unablässig an Plautus und Terenz wie an den Mimus seiner Zeit erinnert. Und wenn er gern die Satiriker Horaz, Persius und Juvenal erwähnt und sich ihrer Worte bedient, einmal sich auch auf Petron beruft1), so werden wir im zweiten Bande im einzelnen ausführen, wie nahe Beziehungen zwischen der Biologie und Ethologie der Satiriker und realistischen Novellisten und Romanciers und der der Mimographen bestanden haben.

In der Schrift gegen Iovinian giebt Hieronymus, um vom Heiraten abzuschrecken eine längere Stelle aus Theophrasts Buch „über die Ehe*; darin heifst es: „Die Frauen haben sehr viele Bedürfnisse: kostbare Garderobe, Gold, Edelsteine, Luxus- artikel, Zofen, schöne Möbel, Sänften und vergoldete Karossen. Ganze Nächte dauert ihr Schwatzen und Klagen: die geht ge- putzter aus; die wird von allen geehrt; ich Arme bin in der Gesellschaft der Damen mifsachtet. Warum sahst du nach der Nachbarin? Was sprachst du mit dem Mädchen? Was hast du mir vom Markte mitgebracht? Wir können keinen Freund und keinen Gesellschafter haben. Wenn ein Anderer uns liebt, so argwöhnt sie schon, dafs man sie hasse .... Immer mnfs man auf ihr Gesicht Acht geben und ihre Schönheit loben,

») Vgl. Lübeck a. a. 0. S. 160-167, 193, 195—199.

48*

756 Neuntes Kapitel.

damit sie nicht, wenn du eine Andre anschaust, glaube, dafs sie dir mifsfalle. Man mufs sie „Madonna" rufen, ihren Geburtstag feiern, bei ihrem Wohlsein schwören, ihr langes Leben an- wünschen, ihre Amme ehren, ihren väterlichen Diener, . . . ihren hübschen Begleiter, ihren wohlfrisierten Hausanwalt und ihren zur langanhaltenden und gefahrlosen Befriedigung ihrer Lust entmannten Verschnittenen. Denn unter allen diesen Namen sind doch nur Ehebrecher versteckt. Wem immer sie zugethan ist, den mufst du auch wider Willen ebenfalls lieben. Wenn du ihr die Regierung des ganzen Hauses überträgst, so mufs du ihr Sklave sein. Wenn du deiner eigenen Verfügung etwas vor- behältst, so glaubt sie, du traust ihr nicht, das giebt dann Hafs und Zank, und nimmst du nicht schnell Rat an, so giebt sie dir Gift. Wenn du alte Weiber, Wahrsager, Zeichendeuter, Juwelen- und Seidenstoffhändler zu ihr lassest, so ist ihre Keuschheit in Gefahr; wenn du sie fern hältst, so klagt sie über ungerechten Verdacht1)".

Wir haben hier eine biologische Schilderung, die an den Stil der „Charaktere" erinnert und vor allem an den Mimus. Wie sehr ja aber die „Charaktere" neben der Komödie vom Mimus beeinflufst sind und ein wie grofser Kenner und Freund des Mimus Theophrast war, wissen wir. Aufserdem ist die ganze Stelle recht unpassend eingefügt. Hieronymus sagt aus- drücklich, er will damit die Frauen vom Heiraten und beson- ders von einer Wieder Verheiratung abschrecken; Theophrast aber denkt hier gerade an die Männer. Hieronymus ist eben in derartige ethologisch-biologische Darstellungen so verliebt, dafs er sie anwendet, auch wenn sie nur halbwegs in seine Aus- führungen passen2).

Auch aus eigenen Mitteln giebt Hieronymus gerne bio- logische Skizzen. Ich erinnere an seine Schilderung der Haus-

') Adversus Iovinianum I, cap. 47. Vallarsi II, S. 313, 314, 315.

2) Sed quid faciam, quum mihi muH er es nostri temporis, Apostoli ingerant auctoritatem ; et necdum elato funere prioris viri, memoriter digamiae praecepta de- cantent? Ut quae Christianae pudicitiae despiciunt fidem, discant saltem ab Ethnicis castitatem. Fertur aureolus Theophrasti über de nuptiis, e. q. s. Vallarsi II, 313 b.

Der römische Mimus im Mittelalter. 757

frau, die ganz in ihrem Berufe aufgeht, ohne viel an Gott zu denken: Sie schminkt sich vor dem Spiegel, und dem Schöpfer zur Schande will sie schöner sein, als sie von Natur ist. Da schwatzen die Kleinen, da lärmt das Gesinde, da hängen die Kinder an ihren Küssen und an ihrem Munde, es werden die Ausgaben zusammengerechnet.- Vorbereitungen zum Fest getroffen. Hier zerhacken Köche mit aufgekrämpten Ärmeln Fleisch, hier flüstert die Schar der Weberinnen; inzwischen wird der Haus- herr mit Gästen gemeldet. Sie durchfliegt wie eine Schwalbe alle Gemächer, ob das Polster strotzt, ob man den Fufsboden ge- kehrt, ob die Becher blank sind, ob das Mahl angerichtet ist1). In der Mahnschrift an Eustochium - über die Bewahrung der Jungfrauschaft* beschreibt Hieronymus die Verdorbenheit vieler gottgeweihten Jungfrauen; nicht selten fallen sie und versuchen es dann mit Abtreibungsmitteln. Das sind die, welche gerne sagen: „Den Reinen ist Alles rein. Mir genügt mein gutes Ge- wissen. Gott fordert ein reines Herz. Aber warum soll ich mich von Speisen enthalten, die Gott zum Gebrauche geschaffen hat?" Und wenn sie sich einmal einen Rausch getrunken haben und recht geistreich und witzig erscheinen wollen, fügen sie zum Rausche die Gotteslästerung hinzu und sprechen: Fern sei es, mich des Blutes Christi zu enthalten. Wenn sie aber eine mit blassem und traurigem Antlitz einhergehen sehen, so nennen sie sie gleich eine Elende, eine Manichäerin und zwar ganz folge- richtig: denn bei solcher Lebensweise ist Fasten freilich eine Ketzerei. Das sind die, welche bei ihrem Erscheinen öffentliches Aufsehen machen und mit verstohlenem Augenwinken eine ganze

Heerde von jungen Männern nach sich ziehen . Ein

nur schmaler Purpurstreifen am Kleide, das Haupt lose ge- bunden, so dafs die Haare herabwallen, ein ordinärer Schuh, der um die Schultern flatternde Überwurf2), kurze Ärmel,

x) Ad versus Helvidium, cap. 20. Vallarsi II, S. 228 B, C, D.

2) et super humeros . . . Maforte volitans. (Vallarsi I, 97 C.) Mafortium ist eine spätere Bezeichnung für ricinium, das besonders die Weiber im Mimus tragen (vgl. oben S. 578).

758 Neuntes Kapitel.

die an die Arme knapp anschliefsen, ein weichlicher Gang mit schlotternden Knieen, darin besteht ihre ganze Jungfrau- schaft1).

Überall zeigt sich bei Hieronymus Ethologie und Biologie, wenn auch zu ernstem und heiligem Zwecke verwendet und den heiligen Ermahnungen zu frommem und asketischem Wandel nur gelegentlich beigemengt.

Aber sein ethologisch- biologisches Interesse führt den Heiligen noch weiter. Mit dem realistischen Pinsel des Etho- logen voll Ironie und bitterem Humor malt er in einem Briefe (CXVII) eine gottgeweihte Jungfrau, die sich von ihrer Mutter getrennt hat und wegen ihres Zusammenlebens mit einem jungen, wohlgebildeten Mönche und wegen ihrer weltlich-leicht- fertigen Gesinnung dem Verdachte und der üblen Nachrede Thür und Thor öffnet. Die Mutter allerdings ist dieser Tochter wert, sie lebt mit einem anderen Mönche.

„Ich höre", ruft er dem Mädchen zu, „du gehst mit Ver- wandten hinaus aufs Land und besuchst die anmutigen Land- häuser vor der Stadt; gewifs wirst du zur Unterhaltung für eine Schwester oder Cousine mitgenommen, aber da ist eine Nonne doch eine sonderbare Gesellschafterin. Natürlich suchst du nicht etwa aus freien Stücken die Gesellschaft der Männer, selbst nicht, wenn sie dir verwandt oder verschwägert sind. Nimmst du auf diesen Ausflügen etwa deinen Liebhaber, den Mönch, mit? So frech du bist, wirst du doch wohl nicht wagen, ihn vor die Augen der Weltleute zu bringen. Da würde ja das Hausgesinde auf euch ein Spottlied singen und alle würden mit Fingern auf euch weisen; selbst die Cousine oder Schwester, die ihn dir zu Liebe in deiner Gegenwart einen Heiligen und einen Mönch nennt, wird, wenn sie sich nur ein wenig von dir wegdreht, über diesen seltsamen Ehemann lachen. Gehst du aber allein, so bewegst du dich in deinen dunkelen Kleidern unter jungen Sklaven, unter verheirateten Frauen und solchen, die heiraten wollen, unter leichtfertigen jungen Damen und jungen

!) Epistola XXII, ad Eustochium. Vallarsi I, S. 96 e, S. 97 A, B, C.

Der römische Mimus im Mittelalter. 759

Stutzern. Ein Dandy mit einem schmucken Bart reicht dir die Hand und führt dich, wenn du ermüdet bist. Da giebt es zärt- liche Händedrücke und entweder kokettierst du oder er."

Dann folgt ein üppiges Mahl mit Musik und Gesang. Selbst eherne Charaktere, meint der geistliche Ethologe, werden durch solche Reizungen verführt und gar erst diese verzärtelte, üppige junge Dame. Selbst das grobe, schwarze Kleid verrät die ver- schwiegenen Gedanken des Herzens, wenn es keine Falte hat, wenn es auf der Erde hingeschleift wird, damit es gröfser erscheint; und die geschlitzte Tunika läfst ab und zu sehen, was für ein üppig- schöner Kern sich unter schlechter und dunkler Hülle birgt: das Häfsliche wird verdeckt, das Schöne blofsgelegt. Auch der schwarze und beim Gehen knarrende Stiefel lockt die Jünglinge an. Die Brust wird mit Binden geschnürt und mit bunt be- setztem Gürtel die Taille enger eingezwängt. Die Haare wallen über die Stirne oder die Ohren herab. Der Mantel fällt bis- weilen herab, um die weifsen Schultern zu entblöfsen, und als ob sie nicht gesehen werden wollte, verbirgt sie schnell, was sie doch absichtlich entblöfst hatte.

Da klagt dann der Bruder der jungen Dame, dafs ihm der Mönch vorgezogen werde, ein junger Mann, der zwar nicht wohl frisiert und in seidenen Kleidern einhergehe, der aber trotz seiner Bufsgewänder recht üppig und weichlich sei. „Dieser habe ich gebe wieder Hieronymus' eigene Worte selbst die Hand auf der Börse, habe die Webestube unter sich, verteile die Arbeiten des Tages, befehle dem Gesinde, besorge die not- wendigen Einkäufe auf dem Markte. Er ist Verwalter und Herr, hat auf die Dienste der Sklaven ein wachsames Auge, so dafs alle Diener über ihn schelten . . . Jener nennt ihn einen Schmeichler, dieser einen Betrüger, dieser wieder einen Erb- schleicher, ein anderer hat wieder einen neuen Namen für ihn. Sie prahlen, dafs er an deinem Bette sitze, bei deiner Krankheit die Hebammen hole, das Geschirr herbeitrage, die Wäsche warm mache, die Binden falte"1). Da haben wir

0 Epistola CXVn. Ad Matrem et Filiam. Vallarsi I, S. 786C-788D.

760 Neuntes Kapitel.

eine Kindbettschilderung, wie sie dem Mimus geläufig ist, und es zeigt sich die Hebamme, die wir seit Sophron als Typus im Mimus kennen. In diesem Tone geht der Brief weiter fort; nach der Tochter wird die Mutter geschildert, die ihrer Tochter würdig ist.

Diese Darstellung ist die Leistung eines bedeutenden Biologen, eines rücksichtslosen Realisten, ja Naturalisten. So schildern die religiöse Heuchelei, hinter der sich ein Abgrund der Sünde und Schande verbirgt, moderne Romanciers, so schildert die Weiber Petron und Juvenal, die, wie überhaupt die Satiriker, von Hiero- nymus geschätzt werden, und gerade hier sind sie, wie wir zeigen werden, bei den Mimographen in die Schule gegangen.

Da ist es nun interessant, dafs der Anlafs zu dieser Skizze einfach fingiert ist. Allerdings sagt Hieronymus am Anfange des Briefes, er schreibe ihn auf Veranlassung des Bruders dieses Mädchens, der ihn unter Thränen darum gebeten ; in Wirklichkeit ist das aber nur erdichtet, der Hintergrund des Ganzen nur er- dacht, wie Hieronymus selber zugiebt1) und wie auch der Titel des Briefes lehrt. Denn während sonst die Briefe des Hieronymus stets einen bestimmt benannten Adressaten aufweisen, ist dieser Brief betitelt „An eine Mutter und Tochter". Hieronymus nennt keinen Namen, weil er an keine wirkliche Person denkt, ja zum Schlüsse des Briefes sagt er, er habe sich gleich- sam an einem Stoffe, wie er in den Schulen als Aufgabe gestellt wird, üben wollen und darum auch alle Citate aus der heiligen Schrift fortgelassen2). In der That, in der Rhetorenschule waren solche verfängliche Themata sehr beliebt: von Schwieger-

3) Contra Vigilantium. Vallarsi II, 389 A : Sed iam tempus est ut ipsius verba ponentes ad singula respondere nitamur. Fieri enim potest, ut rursum malignus interpres dicat fictam a me materiam, cui rhetorica declamatione respondeam : sicut illam quam scripsi ad Gallias, matris et fiiiae inter se discordantium.

2) Haec ad. brevem lucubratiunculam celeri sermone dictavi . . . quasi ad scholasticam materiam me exercens . . simulque ut ostenderem obtrectatoribus meis, quod et ego possim quidquid venerit in buccam dicere. Unde et de Scripturis pauca perstrinxi; nee orationem meam, ut in caeteris libris facere solitus sum, illarum floribus texui. Extemporalis est dietatio. (Vallarsi I, 790 E, 791 A, B.)

Der römische Mimus im Mittelalter. 761

müttern, die in ihre Schwiegersöhne, von Stiefmüttern, die in ihre Stiefsöhne verliebt sind, von Jungfrauen, die durch einen Unglücksfall in ein Bordell verschlagen werden und nun hier von gottgeweihten Jungfrauen, die mit einem jungen Mönche zusammen dem Herrn leben. Freilich hatte die Rhetorenschule diese Sujets zum grofsen Teil aus dem Mimus übernommen1). Solche mimischen Sujets behandelten in den späteren nach- christlichen Jahrhunderten die Epistolographen überhaupt gerne, wie wir später noch an dem Beispiele des Aristaenet genauer zeigen werden.

Hieronymus studierte um die Mitte des vierten Jahrhunderts in Rom; der letzte christologische Mimus, den wir aus Rom nachweisen können, ist der des Genesius vom 25. August 303. Ich erinnere daran, wie hier die christlichen Geistlichen ver- spottet werden und wie der Biologe Genesius sich rühmt, alle Einrichtungen und Gebräuche der Christen genau wiederzugeben, da er den christlichen ßiog zu diesem Zwecke studiert habe:). Noch 362 ward ein christologischer Mimus, wie es scheint in Konstantinopel, aufgeführt ").

Aber selbst als das Heidentum völlig besiegt war, als nicht mehr, da die Obrigkeit wie das Volk christlich geworden waren, Tauf- und Kreuzigungsmimen vorgeführt werden konnten, liefsen sich die Mimen nicht so ohne weiteres den kostbaren Stoff ent- gehen, den ihnen von jeher die Geistlichen, mochten es nun heidnische oder christliche sein, boten. Die Geistlichkeit blieb einer der Zielpunkte ihres Spottes und unablässig treten im Mimus Mönche und gottgeweihte Jungfrauen auf. Zugleich aber ist das Hauptsujet des Mimus die Liebe in allen ihren Formen, der erlaubten wie der unerlaubten. In welcher Weise man also Mönche und Nonnen damals im Mimus in Beziehung zu ein- ander gesetzt und verspottet, wie man sie nach Art des grofsen Meisters Philistion ihrer Heuchelei und Tartüfferie überführt hat,

1) Vgl. oben S. 315 ff.

2) Vgl. oben S. 93.

3) Vgl. oben S. 85.

762 Neuntes Kapitel.

davon können wir aus Hieronymus eine gute Vorstellung ge- winnen, obwohl hier der Kirchenvater ebenso gut von den Mimo- graphen, wie die Mimographen von dem Kirchenvater gelernt haben können.

Besonders müssen wir aber betonen, dafs Hieronymus seine Bildung in den Rhetorenschulen erhalten hat, ebenso wie Augustinus und Johannes Chrysostomus. Sie sind alle Rhetoren, wenn es auch nur Augustin zum Professor der Beredsamkeit gebracht hat. In den Rhetorenschulen liebte man, wie wir schon hervorhoben, die Sujets des Mimus; dort erwog man die Frage, ob Syrus oder Cicero beredter sei, dort ist auch der Vergleich zwischen Philistion und Menander entstanden, dort verwendete man gern die Sentenzen des Publilius Syrus und des Philistion. In der That hat Hieronymus die Sprüche1 des Syrus in der Schule gelesen und wohl auch auswendig gelernt. Denn wenn er später gelegentlich solche Sentenzen mögen sie nun direkt von Publilius herstammen oder nur als publilianisch gegolten haben anwendet, so citiert er natürlich aus dem Gedächtnisse1). Hieronymus ist auch ein grofser Liebhaber Senecas, des Philo- sophen, den wir als Liebhaber der Sentenzen im Mimus und

J) Vgl. ep. CVII, ad Laetam 8. Vallarsi I, p. 685 c : Legi quondam in scholis puer: Aegre reprehendas, quod sinis consuescere. Gruter, Bentley und Ribbeck nahmen den Vers unter die sententiae Publilii Syrii auf. Wölfflin warf ihn heraus, weil er nicht in den Handschriften der sententiae vorkommt, findet aber mit Recht darin publilianischen Ton (vgl. Prolegomena von Wölfflins Ausgabe S. 14). Ribbeck hat danach den Vers dann in der zweiten Auflage der Fragm. com. rom. auch nur noch im Appendix sententiarum vers 180 (S. 380). Er dürfte doch wohl wirklich in dem alten vollständigen corpus Publilianum, das man zu Hieronymus' Zeit in den Schulen gebrauchte, gestanden haben. Zwei Verse bei Hieronymus sind jedenfalls als publilianisch direkt bezeugt: Ep. ad Paulin. LIII, 10. Vallarsi I, S. 281 B: Antiquum dictum est: Avaro tarn deest quod habet, quam quod non habet. Ep. C, 15. Vallarsi I, S. 627 B: Eget semper, qui avarus est: nescit mensuram, cui tantum deest quod habet, quantum quod non habet. Adv. Jovin. I, 47. Vallarsi II, S. 314 D: Difßcile custoditur, quod plures amant. \\ Tarn deest avaro quod habet, quam quod non habet. (Bei Ribbeck, Fragm. com. rom. S. 357, Publili Syri sententiae 628, wo die beiden Stellen aus Hieronymus fehlen.) maximo periclo custoditur quod multis placet (326 bei Ribbeck).

Der römische Mimus im Mittelalter. 763

besonders im Mimus des Syrus kennen1). Überhaupt beurteilte der gröfste Philosoph und zugleich der gröfste Tragiker seiner Epoche seine Dichterkollegen im Fache des Mimus recht günstig. Man vergalt ihm das später von Seiten der Schulmeister damit, dafs man sich auch seinen philosophischen Schriften und besonders seinen Aussprüchen und Sentenzen gegenüber gerne an den Mimus mit seinen wunderlichen Redensarten erinnerte. Alles das wird Hieronymus in der Schule von seinem Lehrer Donat gehört haben, an dessen Erklärung des Terenz er sich später noch mit Vergnügen erinnert.

So hat denn Hieronymus, der als Student in Rom den Mimus unablässig auf dem Theater sah, und in seiner Jugend schwerlich sich der allgemeinen Begeisterung für den Mimus hat entziehen können, der in der Schule auf die grofsen Mimographen hingewiesen wurde, in seinen Schriften sich unaufhörlich ihrer und des Mimus wie der Komödie erinnert, sich gelegentlich selbst wie ein mimischer Bajazzo vorkommt, welcher seine närrischen Gegner mit dem mimischen Prügelholze ordentlich trifft, seinen Pinsel nicht selten wohl recht tief in den mimischen Farbentopf getaucht. In den Rhetorenschulen empfahl man ja auch die Lektüre des Mimus als höchst geeignet für die Bildung des Stiles. Diese gute Lehre hatte z. B. Seneca von seinem Vater dem Rhetor erhalten und hat sie weislich befolgt, wie auch Hieronymus.

Hier ist nun besonders der Brief an Eustochium merkwürdig. Dort zieht Hieronymus im 28. Kapitel gegen die Geistlichen los, die sich nur deshalb um die Würde des Presbyters oder Diakonen bewerben, um mit desto gröfserer Freiheit die Damen besuchen zu dürfen. Es sind die gröfsten Stutzer. Ihre ganze Sorge richtet sich darauf, ob die Kleider auch schön parfümiert sind, ob die Stiefel knapp und nett sitzen. Die Haare werden zu Locken gebrannt, die Finger blitzen von Ringen, und damit die

*) Die Stelle aus Theophrasts Buch über die Ehe entnahm Hieronymus wahrscheinlich aus Senecas Schrift über dasselbe Thema, wie schon Haase, Seneca-Ausgabe HI, p. 428 ff. annahm.

764 Neuntes Kapitel.

schmutzige Strafse nicht ihre Füfschen besudele, schweben sie nur so einher, ohne einen Fufstapfen zurückzulassen. Solch ein Kleriker sieht aus wie ein Bräutigam. Vor allem studieren sie die Lebensgewohnheiten der Damen. Schon frühmorgens erhebt sich solch ein pflichtvergessener Geistlicher, stellt die Liste der Visiten auf und dann dringt der lästige Alte beinahe bis ins Schlafzimmer. Bekommt er ein Kissen zu Gesicht oder ein elegantes Handtuch oder sonst ein Ausstattungsstück, so lobt er es, bewundert es, betastet es und klagt, dafs er dergleichen nicht besitze, wodurch er es nicht sowohl erhält, als her- ausprefst, weil niemand den Stadtkourier beleidigen mag. Er ist ein Wollüstling, ein Trinker, ein Feinschmecker, hat ein un- verschämtes Maul und ist stets zum Schmähen bereit. Überall läuft er herum, überall trifft man ihn zuerst. Alle Neuigkeiten bringt er auf oder tratscht sie mindestens herum. Es ist eine hübsche, mit feinen biologischen Zügen ausgestattete ethologische Studie.

Aber dieser interessante Charaktertypus ist nicht von Hiero- nymus zum ersten Male beschrieben ; er erinnert uns merkwürdig an unseren alten Bekannten, den Ardalio; der läuft auch überall in Rom herum oder ist auf der Visitentour begriffen, hat immer etwas vor (nokvnQdyfKov), nur nichts Vernünftiges, ist glutto, vorax, manducus wie dieser Priester und zugleich auch sehr auls Geschenkebekommen versessen. Auch auf die Damen hat es Ardalio abgesehen und ist ebenfalls wie dieser Priester ein grofser Neuigkeitskrämer und ein lästiger Patron.

Eigentlich schwebt Hieronymus das Bild eines jungen Priesters als Weiberjäger und Stutzer vor; da aber unter den Ardalionen nach Martials Ausspruch der verhafsteste der senex Ardalio ist und Ardalio besonders als Greis auf der Bühne be- kannt war, so wird auch bei Hieronymus dieser Charaktertypus plötzlich zum Greise (senex importunus)'). Vergessen wir nicht,

A) S. Hieronymi Epistola XXII, 28/29 in Migne, Patr. lat. Bd. 22, S. 414; 415: Sunt alii (de mei ordinis hominibus loquor) qui ideo Presbyteratum et Diaconatum ambiunt, ut mulieres licentius videant. Omnis kis cura de vestibus, si bene oleant, si pes laxa pelle non folleat. Crines calamistri vestigio rotantur;

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der Kirchenvater Justinus erinnert sich, wie wir oben S. 32 Anm. 3 u. S. 448 zeigten, bei einer ethologischen Schilderung, die den Ardaliotypus zur Voraussetzung hat, direkt an den Mimus.

Hieronymus fährt nun an derselben Stelle in seiner eigen- artigen Ethologie und Biologie weiter fort. Schildert er erst die leichtfertigen Geistlichen, die in ihrer Art an die verwelt- lichten Kleriker der Renaissance oder die Abb6s in der Zeit Ludwigs XIV. gemahnen, so wendet er sich darauf der Schilderung der Damenwelt zu und besonders der gottgeweihten Jungfrauen und Nonnen. Er hat hier die vornehmsten Kreise Roms im Auge, denen Eustochium von Geburt angehörte.

Vor allem warnt er Eustochium, die dem Herrn ewige Jung- frauschaft gelobt hatte, vor den Jungfrauen und Wit.twen, welche müfsig und neugierig in dem Hause der verheirateten Frauen herumschnüffeln. Sie haben keine andere Sorge als für den Bauch und was dem Bauch am nächsten steht. Die wenden sich wohl an Eustochium und sagen: mein Liebchen, geniefse doch deinen Reichtum Eustochiums Mutter Paula war selbst für römische Verhältnisse sehr reich , freue dich des Lebens, so lange du lebst. Hast du etwa für deine Kinder zu sparen? Dem Weine zugethan und geil, wissen sie zu allem Schlechten

digiti de annulis radiant: et ne plantas humidior via aspergat, vix imprimunt summa vestigia. Tales cum videris, sponsos magis aestimalo quam Clericos. Quidam in hoc omne Studium vitamque posuerunt, ut matronarum nomina, domos, moresque cognoscant. Ex quibus unum, qui hujus artis est princeps, brevüer strictimque descri- bam: quo facilius magistro cognito, discipulos recognoscas. Cum sole festinus exurgit ; salutandi ei ordo disponitur; viarum compendia requiruntur, et pene usque ad cubicula dormientium, senex importunus, ingreditur. Si 'pulviUum viderit, si mantile elegans, si aliquid domesticae suppeUectilis, laudat, miratur, attrectat, et se his indigere con- querens, non tarn impetrat, quam extorquet: quia singulae metuunt Veredarium urbis offendere. Huic inimica castitas, inimica jejunia: prandium nidoribus probat et altili geranopepa, quae vulgo pipizo nominatur. Os barbarum et proeax, et in con- vicia semper armatum. Quocumque te verteris, primus in fade est. Quidquid novum insonuerit, aut auctor, aut exaggerator estfamae. Equi per horarum momenta mutan- tur, tarn nitidi, tamque feroces, ut(a) Thracii regis illum putes esse germanum. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich einer hriefliehen Mitteilung Alfred Schönes, der sich hier an den Mimus erinnert fühlte und mich zugleich auf das in den Zusammenhang nicht passende senex importunus verwies.

766 Neuntes Kapitel.

zu verführen. Wir kennen diese trinksüchtigen, hexenartigen Weiber, die in der Jugend buhlen und im Alter kuppeln, aus dem Mimus zur Genüge. Damit nun aber gar kein Zweifel bleibt, dafs Hieronymus mit mimischen Farben malt, sagt er es einfach selber, indem er sich hier ausdrücklich an den Mimus erinnert. Diese Jungfrauen und Matronen, meint er, haben sich so dicke, rote Schminke aufgelegt, dafs ihre Stirne noch röter ist wie die der Parasiten im Mimus1). Den Gebrauch der Schminke von Seiten der Mimen haben wir oben S. 600 u. 704 besprochen; die Parasiten als Fresser und Trunkenbolde hatten natürlich ein brennend rotes Trinkergesicht und darum ordentlich Rot aufgelegt.

Dann kommen die verheirateten Damen an die Reihe, .die sich für beredt halten und lyrische Gedichte machen. Vor allem zieren sie sich mit der Sprache, und lassen bald mit ge- schlossenen Zähnen, bald mit geöffneten Lippen und stammelnder Zunge halbe Worte fallen und halten alles natürliche Sprechen für bäurisch. Wir wissen, wie sehr der Mimus gerade die Sprache der verschiedenen Klassen aufs genaueste nachäffte, und derartige pröcieuses ridicules sind sicherlich besonders beliebte Typen im Mimus gewesen, der nichts so gerne wie die Eigentümlichkeiten, Heimlichkeiten, Fehler und Narrheiten der Weiber schildert.

Es ist eine erstaunliche Sache, einen so grofsen Kirchen- schriftsteller als einen direkten Nachahmer des Mimographen Philistion zu sehen. Das verdeutlicht recht den dämonischen Einflufs, den der Theatermimus und insbesondere der Phili- stionische — denn Philistion hat den Ardaliotypus geschaffen auch noch im 4. und 5. Jahrhundert besafs2). Wir haben ja gesehen,

!) rubore frontis attrito, parasitos vincunt mimorum. Vallarsi I, 114 A.

2) Wenn man weiter in der kirchlichen Litteratur nachspürt, wird man in den christlichen Predigten und Briefen vielfältig den Einflufs des Mimus aufweisen können. Hier stehen uns noch bei weiteren eindringenden Einzel- forschungen schöne und wichtige Entdeckungen bevor. Der Sittenprediger mufs eben die schlechten Sitten kennen, und niemand schilderte sie damals so klar und so grell wie der Ethologe; der Prediger, der den ßios bessern will, mufs seine übelen Auswüchse kennen, und die kannte damals niemand so gut wie der Biologe: es lohnte sich, bei ihm in die Schule zu gehen.

Der römische Mimus im Mittelalter. 767

wie die Kirchenväter überhaupt sich unablässig 'an den Mimus erinnern: wie sie der häretischen Richtung unaufhörlich vor- werfen, ihre Auffassungen über Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist, über die Schöpfung und Erhaltung der Welt erinnerten an die Erfindungen des Mimus. Hierin stehn die lateinischen Kirchenväter nicht hinter den griechischen zurück, wie uns schon das Beispiel Tertullians lehrte. Marius Mercator meint, Bischof Julianus von Eclanum, der Pelagianer, spafse über den katholischen Glauben im Stile der Mimographen, eines Philistion, Marullus und Lentulus, und wenn die griechischen Kirchenväter die Geschichte von Susanna an den Mimus erinnert, so Hieronymus die vom greisen König David und der Sunamitin. Ja, wenn Hilarius, der fromme Bischof von Poitiers (starb 366), der die gallische Kirche wieder vom Pelagianismus zur ortho- doxen Lehre bekehrte, über die heilige Trinität handelt und das Verhältnis zwischen Gott Vater und Gott Sohn, die zwar zwei besondere Personen und doch wiederum nur eine seien, erklären will, warnt er davor, sich das im Stile des Mimus vorzustellen, wo auch gelegentlich jemand die Gestalt und den Namen eines anderen annimmt und doch derselbe bleibt. Ich erinnere hier an die Verkleidungen und vor allem auch an die eigentlichen Metamorphosen, selbst zu Tieren im Mimus. Hilarius hat den Theatermimus seiner Zeit im Sinne; er spricht von „Mimen im Theater" '). Welchen Eindruck mufs der Mimus auf diesen Kirchenfürsten gemacht haben, wenn er bei der Erklärung der allerheiligsten göttlichen Geheimnisse seiner nicht vergessen kann! Erinnern sich die lateinischen Kirchenväter selbst der christlichen Religion gegenüber an den Mimus, so ist ihnen die heidnische Religion überhaupt gar keine Religion, sondern nur ein „mimus religionis*.

]) St. Hilarii Episcopi opera (Ausgabe der Benediktiner Tom. II. De trinitate, über VII, 206 e, 207a): lnseparabiles esse per naturalem similitudinem Patrem et Filium, non possumus verbis aliis docere, nisi Filii. Non enim hie per demutationem nominum atque specierum Filius, qui via est et veritas et vita, mimt's theatralibus ludit: ut in assumto nomine se filium Dei nuneupet, in natura vero Deum patrem, et unus ac solus personali demutatione se nunc in alio mentiatur.

768 Neuntes Kapitel.

Augustin (354 430) hat sich in seiner Jugend leidenschaft- lich für die Schauspiele interessiert. Schon als Knabe fühlte er sich dadurch im Lernen behindert und er spottet darüber, dafs man dafür die Schuljungen schlägt, und doch nichts sehnlicher wünscht, als dafs sie im späteren Leben so reiche und angesehene Männer werden, dafs sie dem Volke Schauspiele geben können x). Als Augustin dann als Jüngling die Hochschule in Karthago bezog, besuchte er erst recht das Theater. Da sah er Tragödien und vor allem den Mimus; er nahm leidenschaftlichen Anteil an den Liebesgeschichten, die ja unablässig im Mimus vorgeführt wurden, freute sich, wenn die Liebenden selbst durch List und Trug und allerlei Schändlichkeiten an das Ziel ihrer Wünsche gelangten und, wenn sie getrennt wurden, empfand er mit ihnen Mitleid2).

In der That war das Theater in Karthago besonders dem Mimus geweiht. Die grofsen afrikanischen Kirchenväter Tertullian (2. saec.) wie Cyprian (3. saec), beide in Karthago zu Hause, sind beide, wie wir sahen, besonders eifrige Kämpfer gegen das Theater und den Mimus. Selbst in der ägyptischen Pentapolis (Cyrenaica), deren Städte, durch die räuberischen Einfälle der Barbaren (Maketen) bedroht, sehr heruntergekommen waren, hatte sich der Theatermimus noch im fünften Jahrhundert

l) S. Augustini Confessionum über I, cap. 10 (16) ed. Raumer S. 14: Poteram enim postea bene uti litteris, quas volebant ut discerem quocumque animo Uli mei. Non enim meliora eligens, inobediens eram, sed amore ludendi, amans m certaminibus superbas victorias, et scalpi aures meas falsis fabellis, quo prurirent ardentius, eadem curiositate magis magisque per oculos emicante in spectacula ludosque majorum; quos tarnen qui edunt, ea dignitate praediti excellunt, ut hoc pene omnes optent parvulis suis; quos tarnen caedi libenter patiuntur, si spectaculis talibus im- pediuntur a studio, quo eos ad talia edenda cupiunt pervenire.

3) S. Augustini Confessionum über III, cap. 1. 2, Raumer S. 40-42. Veni Carthaginem ; et circumstrepebat me undique sartago flagitiosorum amorum .... Rapiebant me spectacula theatrica, plena imaginibus miseriarum mearum, et fomitibus ignis mei. Quid est quod ibi homo vult dolere, cum spectat luctuosa atque tragica, quae tarnen pati ipse nollet? .... sed tunc in theatris congaudebam amantibus, cum sese fruebantur per ßagitia, quamvis haec imaginarie gererent in ludo spectaculi. Cum autem sese amittebant, quasi misericors contristabar ; et utrumque delectabat tarnen.

Der römische Mimus im Mittelalter. 769

erhalten. Synesius, der Sophist, der Metropolitan der ägyptischen Pentapolis (Cyrenaica), hat noch den Mimus Calvus auf der Bühne gesehen ').

Fast zwei Jahrhunderte vor Augustin lebte Apuleius in Afrika; er fühlt sich unablässig an Atellane und Mimus erinnert2). Besonders bezeichnend ist eine Stelle in den Florida. Dort denkt Apuleius in einem Proemium sich im Theater vor dem Volke von Karthago stehend und mahnt, man solle sich nicht durch die üppige Pracht des gtofsen Baues, nicht durch die Erinnerung an die zahlreichen Schauspieler, Seiltänzer und Gaukler davon abhalten lassen, nun auch dem Philosophen ein ernstes Gehör zu schenken. Unter allen denen aber, die im Theater auftreten, nennt er an erster Stelle den Mimen und dann erst Komöden und Tragöden3). So sah auch Augustinus im Karthagischen Theater vor allem den Mimus.

Wie einst Kaiser Augustus und Seneca4) vergleicht auch Augustin das menschliche Dasein mit dem Mimus. Wie bald, ruft er aus, müssen wir den nachfolgenden Geschlechtern. Platz machen. Wenn die Kinder heranwachsen, sagen sie zu den Eltern, gebt uns Raum, damit wir nun auch unsern Mimus aufführen können. Denn das ganze menschliche Leben ist ein Mimus*). Fulgentius, der Bischof von Ruspe iu Afrika, schreibt in seinem

*) Vgl. oben S. 523.

>) Vgl. oben S. 412 Anm. 1, 578 Anm. 1, 589 ff.

*) Lucii Apulei Madaurensis Apologia sive de Magia liber et Florida, rec. Van der Vliet, Teubner 1900, S. 179, Cap. 18: praeterea in auditorio hoc genus spectari riebet, non pauimenti marmoratio nee proscaenii contabulatio nee scaenae columnatio, .... nee quod hie alias mimus halucinatur, comoedus sermocinatur, tragoedus uoci/eratur, funerepus periclitatur, praestigiator furatur, histrio gesticulalur ceterique omnes ludiones ostentant populo, quod cuiusque artis est: sed istis omnibus supersessis nihil amplius spectari debet, quam conuenientium ratio et dicentis oratio.

*) Vgl. oben S. 72, 196.

5) S. Angustini Episcopi enarratio in Psalmum CXXVII, Ausgabe der Benediktiner, Tom. IV, 1081 C, D: Nati enim pueri tamquam hoc dieunt parenti- bus suis, Eia cogitate ire hinc, agamus et nos mimum nostrum. Mimus est enim generis humani tota vita tentationis: quia dictum est, Universa vanitas omnis homo vivens.

Reich, Mimus. 4Q

770 Neuutes Kapitel.

schnurrigen mythologischen Werke, das er in seiner sündigen und noch sehr unreifen Jugend schrieb, um allerhand unverdaute Schulweisheit zum Besten zu geben, diesen Vergleich dem „Philo- sophen Kleobulos" zu1)- Das ist schwerlich jemand anderes als Kleobulos von Lindos, einer der sieben Weisen. Da hat Ful- gentius für diesen berühmten Vergleich einen ebenso berühmten Erfinder aufgetrieben; wie er dazu gekommen ist, ist bei seiner krausen Art ganz unnütz zu erörtern2). Jedenfalls haben wir auch hier wieder einen afrikanischen Schriftsteller und zugleich einen Verehrer Augustins, der sich an den Mimus erinnert fühlt. Fulgentius starb 533.

Nach seiner Bekehrung war Augustin um so schlechter auf das Theater und den Mimus zu sprechen.

„Fliehet, Geliebte, das Theater, das Eigentum des Teufels", ruft er seiner Gemeinde zu. Kein guter Christ geht ins Theater, nur die schlechten Christen thun das, thäten sie es nicht, so ständen die Theater leer; denn die Minderzahl der Heiden und Juden könnte allein den ungeheuren Raum nicht füllen3). An den Schauspielen haben die Dämonen ihre Freude, an den Narr- heiten und mannigfaltigen Schändlichkeiten im Theater, der Raserei des Circus, der Grausamkeit des Amphitheaters mit seinen Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen und besonders an der

') Fabii Planciadis Fulgentii V. C. Opera, rec. Eud. Helm. Leipzig 1S98. Mitologiarum liber II, XIV, S. 56 : Denique (Jatinius augur dicere solitus || erat diuersarum urbium honores somnialiter peragi urbicario mimologo et quamuis utraque nihil agere dixerit, tarnen hoc Romae praestare uisus est, quod ex parte quidem ueros honores, sed risorios et citius fugitiuos; credo enim quod Cleobuli philosophi scntentiam legerat dicentis: fxifiog 6 ßCog, id est: mimus uita.

2) Ich verweise hier auf die scharfsinuige, das Problem der „Mito- logiae" des Fulgentius zum Abschlufs bringende Abhandlung von Helm: Der Bischof Fulgentius und der Mythograph. Rh. M. N, F. 54, 1899, S. 111 folg.

3) S. Augustini Episcopi sermo LXXXVIII. de verbis Evangelii Matth. 20. Ausgabe der Benediktiner Tom. V, 333 F, 334 A: Non enim solis vocibus com- 2?rimunt bonos Christianos malt, sed et malis operibus. Non vult bonus Christianus ire spectare. Hoc ipsum quod f renal concupiscentiam suam, ne pergat ad theatrum, clamat post Christum, clamat ut sanetur. Älii concurrunt, sed forte Pagani, forte Iudaei. Immo vero tarn pauci essent in theatris, ut erubescendo discederent, si Christiani ad theatra non accederent.

Der römische Mimus im Mittelalter. 771

Raserei, mit der die Zuschauer für einen Mimen, Schauspieler oder Pantomimen Partei ergriffen1). Wer also ins Theater und zum Mimus geht, opfert den Dämonen.

Wenn die Heiden, noch voll Freude über das Geschaute, aus dem Theater kommen und sehen die Christen, die nicht hinein? gegangen sind, so bedauern sie diese, weil sie soviel entbehren müssen. Das ist ein sehr verkehrtes Mitleid und ein sehr un- nützes Wohlwollen; denn in den Schauspielen sieht man nur Verderbliches2). Aber die Macht des Schauspieles über die Gemüter hat sich Augustin so eingeprägt, dafs er nicht wagt zu sagen, es sollen überhaupt keine Schauspiele sein, sondern er erklärt, wer der heidnischen Schauspiele entbehre, erhalte dafür die christlichen. Gott läfst uns nicht ohne Schauspiele. Ist es nicht ein grofses Schauspiel zu sehen, wie der Löwe (der Teufel) durch das Blut des Lammes (Christi) bezwungen wird?8) Ist es nicht ein grofses Schauspiel, wie der Christ gegen die Sünde kämpft, Gott selber schaut vom Himmel diesem erhabenen Schauspiele zu und feuert die Sieger an. Bei den heidnischen Schauspielen sieht man im Pantomimus, wie Jupiter buhlt und donnert, bei den christlichen den wahren Gott, wie

*) S. Augustini Episcopi Sermo CXCVIII. De Kalendis Januariis II. (Aus- gabe der Benediktiner Tom. V, 632 C, D): lue auiem qui dixit, Nolo vos fieri socios daemoniorum, voluit ut ab Ulis qui daemonibus serrirent, vita et moribus separarentur. Etenim illa daemonia delectantur canticis vanitatis, delectantur nugatorio spectaculo, et turpitudinibus rariis Hieatrorum, iiuania drei, crudelitate amphitheairi, certaminibus animosis eorum, qui pro pestileiüibus hominibus Utes et contentiones usque ad inimicitias suseipiunt, pro mimo, pro histrione, pro pantomimo, pro auriga, pro venatore. Ista facientes, quasi thura ponunt daemoniis de cordibus suis.

2) S. Augustini Episcopi enarratio in Psalmum CXLVII, Ausgabe der Benediktiner Tom. IV, 1234 C, D.

3) S. Augustini Episcopi in Johannis Evangel., cap. I, traetatus VII Ausgabe der Benediktiner Tom. III, 250 F, 251 A): Ecce speetacula Christianorum. Et quod est amplius, Uli oculis carnis vident vanitatem, nos cordis oculis veritatem. Ne putetis Fratres, quod sine speetaculis nos dimisit Dominus Deus noster: nam si nulla sunt speetacula, cur hodie convenistist Ecce quod diximus, vidistis; et exclamastis: non exclamaretis nisi vidissetis. Et magnum est hoc speetare per iotum orbem terrarum, victum leonem sanguine Agni.

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772 Neuntes Kapitel.

er zur Keuschheit mahnt und das Heil lehrt. Dort sieht man Juno als Gattin und Schwester Jupiters, hier die heilige Maria, Jungfrau und Mutter zugleich. Dort sieht man den Seiltänzer, hier schreitet Petrus über das Meer. Dort wird im Mimus die Keuschheit verletzt, hier wird durch die keusche Susanna und den keuschen Joseph die Begierde unterdrückt1).

Freilich den Thoren gefallen die Schauspiele Gottes und Gott selber viel weniger als Mimus und Pantomimus'). Aber Gott will auch nicht beklatscht werden wie ein Mime oder Pantomime 3).

!) S. Augustini Episcopi, De Symbolo (Ausgabe der Benediktiner Tom. VI, 406 C, E, F, 407 A) : Quid nobis ire per multa? Breviter admonendi estis quid spev- nere, et quid diligere deheatis. Fugite Dilectissimi spectacula, fugite caveas turpissimas diaboli: Me vos vincula teneant maligni. Sed si oblectandus est animus, et spectare delectat: exhibit vobis sancta maier Ecclesia vener anda ac salubria spectacula, quae et mentes vestras oblectent sua delectatione, et in vobis non corrumpant, sed custodiant fidem. Amator est quispiam circif Quid delectat in circo% . . . Alius fortassis theatri amator admonendus sit, quid fugiat, et quo delectetur: ac sie voluntatem speetandi non perdat, sed mutet. In theatris labes morum, discere turpia, audire inlwnesta, videre perniciosa. Sed adjuvante Domino ea ex cordibus vestris ßrmiter repellamus. Singula singulis comparemus. Illic intuentur speetatores pro- positum nescio quem confictum Deum Iovcm, et adulterantem, et tonantem: hie respieimus verum Deum Christum, castitatem docentem, immunditiam destruentem, salubria praedicantem. Illic fingitur quod idem Iovis lunonem habeat sororem et conjugem: hie praedicamus sanetam Mariam matrem simul et virginem. Illic Stupor ingeritur visui, ex usu hominem in fune ambulantem: hie magnum miraculum, Fetrum mare pedibus transeuntem. Illic per mimicam turpitudinem castitas violatur: hie per castam Susannam castumque Ioseph libido comprimitur, mors contemnitur, Deus amatur, castitas exaltaiur. Chorus illic et cantio Pantomimi illicit auditum, sed expugnat sanum affectum: et quid tale nostro cantico comparan- dum sit.

2) S. Augustini Episcopi in Psalmum XXXII. Sermo I (Ausgabe der Benediktiner Tom. IV, 14 IC): Talibus hominibus infidelibus, impiis, iniquis (quod piget dicere, sed tarnen dicam, nostis enim quam verum dicairi), 'facilius placet pantomimus quam Deus.

3) S. Augustini Episcopi enarratio in Psalmum LIV. (Ausgabe der Be- nediktiner Tom. IV, 372E, F): Laudo Deum, et in ipsa laude gaudeo: ipsius laude gaudeo, quo laudato non erubesco. Non enim quemadmodum laudatur ab studiosis theatricarum nugarum vel Auriga, vel Venator, rel quilibet histrio, et a laudatoribus suis invitantur alii landatores, exhortantur ut paritcr clament; et cum omnes

Der römische Mimus im Mittelalter. , 73

Unablässig fallen Augustinus, während er die Nichtigkeit der heidnischen Mythologie erweist, Scenen aus dem mythologi- schen Mimus ein; die Götter der Heiden sind nicht besser als die Götter im Mimus, eher schlechter, das ist der unaufhörliche Refrain. So fragt er: „Haben etwa blofs die Dichter einen bärtigen Jupiter und einen unbärtigen Merkur? Haben ihn nicht auch die Priester? Oder haben dem Priapus nur die Mimen, nicht auch die Priester einen enormen Phallus gegeben? .... Und was wollten diejenigen, die Schmarotzer-Götter als Parasiten an Jupiters Tisch beriefen anders als einen Mythus nach Art des Mimus? Denn, wenn ein Mime gesagt hätte, Jupiter habe Tellerlecker zu seinem Tische zugelassen, so hätte er offenbar damit Lachen erregen wollen. Aber das sprach Varro und nicht um die Götter zu verlachen, sondern um sie zu ehren." Dann erzählt Augustinus weiter die bekannte, merkwürdige Fabel von der Acca Larentia, die, von einem Tempelhüter in dem Tempel des Herakles eingeschlossen, von dem Gotte im Schlafe besucht und nachher mit grofsen Reichtümern beschenkt wird, die sie dem römischen Volke vermacht. Wenn Derartiges im Mimus vorkäme, so könnte man es zu den mythologischen Er- findungen der Dichter rechnen, aber Varro erzählt es ganz ernst- haft; die Mimen könnten sich bei Darstellung solcher Schänd- lichkeit auf die ernsthafte heidnische Theologie berufen. Ja, die heidnische Theologie erzähle solche Scheufslichkeiten, dafs sie nicht einmal der sittenlose Mimus vorführen mag. Dieses ist im wesentlichen der Inhalt des achten Kapitels im sechsten Buche des „Gottesstaatesul). Im nächstfolgenden Kapitel (IX) macht sich

damaverint, plerumque illo victo omnes erubescunt. Non ita est Deus notier: laudetur coluntate, ametur caritate.

1) Ich gebe hier noch die einzelnen Ausdrücke, die direkt auf den Mimus hinweisen: „De civitate Dei", lib. VI, cap. 7 [C. V. 40, S. 284— 287J: Numquid Priapo mimi, non etiam sacerdotes enormia pudenda fecerunt? An aliter stat adorandus in loci» sacris, quam procedit ridendus in theatris? . . . quid aliud quam viimica Sacra esse uolueruntf Kam parasitos Iovis ad convivium eins adhibitos si mimus dixisset, utique risum quaesisse uideretur . . . ad fabulosam theologiam dicerentur procul dubio pertinere et a civilis theologiae dignitate separaiula iudicarentur. Cum uero haec dedecora non poetarum, sed populorum ; non mimorum,

774 Neuntes Kapitel.

Augustinus über die zahllosen Götter der Römer lustig, da jedem noch so kleinen Thun oder Geschehen eine Gottheit vorstehe, so dem Essen die Göttin Educa, dem Trinken die Göttin Potina. Das seien eigentlich burleske Erfindungen, wie sie der Mimus liebe.

Wenn jemand seinem Kinde zwei Ammen geben wollte, von welchen die eine ihm nur Speise, die andere ihm nur Trank zu reichen hätte, so würde er in seinem Hause einen Eulenspiegel- streich aufführen, wie sie im Mimus vorkämen1). In der That hatte Varro hervorgehoben, man müsse genau wissen, was für Kraft und Gewalt jeder einzelne unter den vielen Göttern habe, damit man es nicht mache wie die Mimen, die zum Bacchus um Wasser, zu den Nymphen um Wein beten. Das berichtet gleichfalls Augustinus2). Im folgenden Kapitel des 6. Buches (X) erzählt dann Augustinus nach Seneca die bekannte, rührende Anek- dote von dem greisen Archimimen3).

Zu Augustins Zeit war jedenfalls noch gar keine Rede von einem Rückgange des Interesses an dem grofsen mimischen

sed sacrorum; non theatrorum, sed templorum . . . non frustra histriones ludicris artibus fingunt deorum quae tanta est turpitudinem . . . Itaque potius est unde gratiae debeantur histrionibus , qui oculis hominum pepercerunt nee omnia speetaculis nudauerunt, quae sacrarum aedium parietibus oeculuntur . . . quae sunt ergo illa sacra, quibus agendis tales elegit sanetitas, quales nee thymelica in se admisit obscenitasf Thymelica obscenitas erinnert an den Mimus; so ist der Mime Genesius magister mimithimelae artis.

x) De ciuitate Dei, lib. VI, eap. 9 [C. V. 40, S. 289] : de ofßciis singulomm deorum. Quid? ipsa numinum officia tarn uiliter minutatimque concisa, propter quod eis dieunt pro uniuseuiusque proprio munere supplicari oportere, unde non quidem omnia, sed multa iam diximus, nonne scurrilitati mimicae quam diuinae consonant dignitatif Si duas quisquam nutrices adhiberet infanti, quarum una nihil nisi escam, altera nihil nisi potum daret, sicut isti ad hoc duas adhibuerunt deas, Educam et Potinam, nempe desipere et aliquid mimo simile in sua domo agere uideretur.

2) De ciuitate Dei, lib. IV, cap. 22 [C. V. 40, S. 190]: Quid est ergo, quod pro ingenti beneßcio Varro iaetat praestare se ciuibus suis, quia non solum commemorat deos, quos coli oporteat a Bomanis, uerum etiam dicit quid ad quemque pertineat'? . . . „Ex eo enim poterimus, inquit, scire quem cuiusque causa deum aduocare atque inuocare debeamus, ne faciamus, ut mimi solent, et optemus a Libero aquam, a Lymphis uinum."

3) Vgl. oben S. 71.

Der römische Mimus im Mittelalter. 775

Drama. Hieronymus bezeugt ja auch, wie wir soeben sahen, für jene Zeit ausdrücklich die Existenz des Mimus in allen Städten der Welt, in Jerusalem wie in Rom. Für Rom wird das Vor- handensein des Mimus auf dem Theater auch durch Claudian bestätigt, der in seinem Lobgedichte auf den Konsulatsantritt des Manlius Theodorus (399) die Spiele beschreibt, die Rom im Amphitheater und im Theater zu erwarten hat. Für das Theater nennt er den Mimus voran, weil der eben die Haupt- sache und dem Volke am liebsten war; dann folgt der Panto- mimus, Komödie und Tragödie, und zum Schlufs die Gaukler, die nun einmal damals durchaus zu den Vorstellungen im Theater gehörten 2).

Auch Marius Mercator spricht, wie wir oben S. 474 sahen, noch um die Mitte des 5. Jahrhunderts von dem Applaus, den das Volk im Theater dem Mimus und dem erfolgreichen Mimo- graphen spendet. Diese Anspielungen an den Mimus drängen

') Claudii Claudiani (XVII.) Pan. Dictus Maiilio Theodoro consuli, rec. Julius Koch S. 138/39, Vers 311—330:

„Nee mottes egeant nota dulcedine ludi: Qui laetis risutn salibus mocisse facetus, Qui nutu manibusque loquax, cui tibia flatu, Cui plectro piUsanda chelys, qui pulpüa soeco Personat aut alte graditur maiore cothurno, Et qui magna levi detrudens murmura tactu Innumeras vocei segetis moderatus aenae Intonet erranti digito penitusque trabali Tecte laborantes in carmina concitet unda», Vel qui more avium sese iaculentur in auras Corporaque aedificent celeri crescentia nexu, Quorum compositam puer amentatua in areem Emicet et vinetu plantae vel cruribus haeren» Pendula Ubrato figat vetligia saltu. Mobile ponderibus deteendat pegma redueti» Inque chori speciem Spargentes ardua flammas Scaena rötet uarios et fingat Mulciber orbis Per tabulas impune vagus pietaeque citato Ludant igne trabes et non permissa morari Fida per innocuas errent incendia turres.

776 Neuntes Kapitel.

sich sogar in das nüchterne Geschichtswerk des Orosiusv eines Schülers und Anhängers Augustins1).

Paulinus von Nola, ein Anhänger des heiligen Augustinus, lobt den Mimen Cardamas, der sich von seiner gottlosen Beschäftigung ganz abgewendet hat, ein Exorcist, ein Teufels- banner, geworden ist und sich mit des Bischofs frugaler Kost begnügen läfst. Ganz traut der Asket dem Mimen aller- dings nicht, wenn er es sich nur nicht auf der Reise, die er unternimmt, fern von der beschöflichen Tafel, bei seinen alten Kollegen wohl sein läfst und statt als blasser Büfser sich wieder als wohlgenährtes Weltkind zeigt2). Es handelt sich eben im

5. Jahrhundert nicht mehr darum, dafs die Mimen Christen, sondern dafs sie Priester, Exorcisten, Mönche und Büfser werden. Von einem Mimen, der durch seine Kunst ein reicher Mann geworden war, wie die grofsen Mimen, von denen Choricius im

6. Jahrhundert erzählt, und ein lockeres Freudenleben mit ztoei Konkubinen führte, wird im Pratum spirituale eine sehr erbau-

J) Pauli Orosii historiarum aduersum paganos VII, 42, 7— 8 [C. V. V, S. 556/57]: quid de infelicissimo Attalo loquar, cui occidi inier tyrannos honor et mori lucrum fuitf in hoc Alaricus imperatore facto infecto refecto ac defecto, citius his omnibus actis paene quam dictis, mimum risit et ludum spectauit imperii. Bei ihm finden wir auch eine Notiz von den Mimen, die mit dem Heere des Königs Antiochus ziehen, Orosius V, cap. 10, 8 [C. V. V, S. 299/300]: Isdem temporibus Antiochus, non contentus Babylona atque Ecbatana totoque Mediae imperio, aduersus Phrahatem Parthorum regem congressus et uictus est. qui cum in exercitu suo cenium milia armatorum habere uideretur, ducenta milia amplius calonum atque lixarum inmixta scortis et histrionibus trahebat. Über Mimen bei den Heeren siehe oben S. 193. 200—202. 530.

2) Paulini Nolani epistola XVIIII, cap. 4 [C. V. XXIX, p. 142, ed. de Hartel] : sit nobis clausula commendatio Cardamatis, quem gratulamur de benedictione manus tuae ita esse renouatum, ut in eo ante [dante] ridiculam mimici nominis leuitatem nunc adsumpta de exorcistae nomine grauitas reuerentiam dederit. magis tarnen admirati eo gauisi sumujs, quod etiam pristinae conditionis ingenium religioso mutauit officio ; nam adsiduus mensulae nostrae particeps ita se ad mensuram nostri gutturis artauit, ut nee holuscula nee pocula nostra uitauerit, quod poterit adtenuatione sui corporis et oris pallore testari, nisi se forte, dum remeat, per iter laboriosum retraetata suorum quondam calicum familiaritate reparauerit.

Der römische Mimus im Mittelalter. 777

liehe Bekehrungsgeschichte erzählt. Er verbringt den Rest seines Lebens als Büfser in einem Turme zu Tharsus1).

Ja wir machen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts sogar noch die Bekanntschaft eines Mimenprinzipals, des Archi- mimen Masculas. Ihn wollte der Vandalenkönig Geiserich, wie Victor, der Bischof von Vita (in der afrikanischen Provinz Byza- cena) in seiner Geschichte der Verfolgungen der Katholiken durch die arianischen Vandalenkönige Geiserich und Hunerich (aus dem Jahre 486) erzählt, durch schwere Drohungen vom katholischen Glauben abbringen. Masculas blieb aber standhaft und bewies, dafs selbst ein Archimime ein guter Katholik sein könne. Er kam dann in den Heiligenkalender so gut wie der Mime Genesius und die anderen Mimen und Miminnen'). Also noch in der zweiten Hälfte

!) Migne, Bd. 74, S. 134b, c, d. Pratum spirituale, Caput. XXXII: Con- versio et vita Babylae mimt, nee non Cometae et Xicosae coneubinarum eins. Mimus quidam erat in Tharso Ciliciae, nomine Babylat: cremt autem Uli duae coneubinae; nomen uni Cometa, nomen alteri Nicosa. Vivebat autem luxuriöse agens omnia quae Uli daemon suggessisset. Die vero quadam ingressus ecclesiam, audirit per dispensationem Dei sanetum Evangelium legi. Erat autem Uta lectio: Poenitentiam agite, appropinquavit enim regnum coelorum (Matth. III). Compunctus- que coepit cum lacrymis horrere, ac te miserum diecre pro his, quae pcccavcrat. Con- festim igitur, egressus extra ecclesiam, vocacit duas amica» mos, dixitque Ulis : Scitis, quomodo vobiscum luxuriöse vixerim, utque nunquam alteram plus quam älterem dilexerrm itaque vestra sunt omnia quaeeunque ego acquisivi, aedpite insuper mea omnia et dividite inter vos; ego enim ex nunc abrenuntio saeculo, et efficior monachus. Illae autem ex uno ore responderunt ei cum lacrymis: Ad luxuriam et animarum nostrarum interitum communieavimus tibi; nunc vero quando hoc Deo placitum opusfacere vis, dimittis nos, et id solusfacis? pro/ecto non ita erit, sed etiam in bona communicabimus tibi. Atque ita mimus quidem inefusit se in una turrium civitatis : illae vero, venditis omnibus suis, erogatisque pauperibus, aeeipientes et ipsae religiosum habitum. fecerunt sibi prope.turrem cellulam, et se ipsas pariter incluserunt. Hunc et ego vidi, et ab eo valde aedißcatus sum; est enim vir valde humilis et clemensi atque misericors. Scripsi autem et hoc pro utilitate legentium.

*) Victoris Vitensis, Üb. I, 47 (I, 15) [Corp. Vind. VII, 20]: Sed nee quen- dam archimimum, nomine Masculan, debeo praeterire. Qui cum multis insidiis premeretur, ut catholicam amitteret fidem, ipse cum rex postea blandiendo affatibus saecularibus inuitabat, prominens multis tum diuitiis cumulandum, si uoluntati eius auditum facilem commodasset. Qui cum fortis atque invictus maneret, iubet eum subire sententiam capitalem, ita tarnen callidus oeculte praeeipiens, ut si in illa hora

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des 5. Jahrhunderts gab es selbst in dem entlegenen Afrika, selbst unter der Vandalenherrschaft Mimenprinzipale und also auch Mimentruppen. Auch gedenkt Salvianus von Marseille in seinem zwischen 439 und 451 verfafsten Werke De gubernatione dei des Mimus als des grofsen Theaterstückes.

Es regten sich in jenen Zeiten, in denen durch die Völker- wanderung unsägliche Not über das römische Reich hereinbrach, allerhand Zweifel an dem göttlichen Weltregimente; es schien, dafs Gott, der so entsetzliche Greuel durch die heidnischen Bar- baren an den Christen verüben liefs, sich nicht mehr um die Welt kümmere und alles gehen lasse, wie es eben wolle l). Salvian aber erklärt diese Prüfungen mit der strafenden Bered- samkeit eines Propheten des alten Bundes für ein göttliches Strafgericht; denn die romanischen Christen und Katholiken seien ganz und gar sittlich verdorben und verwahrlost und viel schlechter als die heidnischen und häretischen Barbaren (Sachsen, Franken, Gepiden und Hunnen, Goten und Vandalen). Vor allem zeige sich ihre Lasterhaftigkeit in ihrer Vorliebe für den Cirkus, für das Theater und insbesondere für den Mimus, während jene Heiden viel sittlicher seien und keine Theater hätten 2). Von dieser Leidenschaft für das Theater und den Mimus handelt das

uibrantis gladii pertimesceret ictum, magis cum occideret, ne martyrem gloriosum fecisset; si autem fortem in confessione conspiceret, a gladio temperaret. Sed ille ut columna immobilis Christo solidante fortis effectus confessor reuertitur gloriosus. Et si martyrem inuidus hostis noluit facere, confessorem tarnen nostrum non potuit uiolare. Dieser Archimimus Masculas kommt sonst noch wiederholt in Matyrologien vor. Siehe die Nachweise hei Migne, Patrol. Lat. 58, S. 199; auch Ruinarti in Historiam Persec. Vandal. Commentarius Historicus bei Migne, Bd. 58, S. 359 ff.

') So beginnt gleich das erste Buch mit den Worten : Incuriosus a qui- busdam et quasi neglegens hnmanorum actuum deus dicitur utpote nee bonos custodiens nee coercens malos, et ideo in hoc saeculo bonos plerumque miseros, malos beatos esse. (De gubernatione Dei 1, 1. C. V. VIII, S. 3.)

2) VI, 7. C. V. VIII, S. 134: Rursiim ergo necesse est redeamus ad illud, quod saepe diximus: quid simile apud barbaros? ubi apud Mos circenses ubi theatra ubi scelus diuersarum impuritatum, hoc est spei nostrae ac salutis excidiuml quibus ille etsi, utpote pagani uterentur, minore tarnen culpa sacrae offensionis errabant, quia, etsi esset impuritas uiaionis praeuaricatio tarnen non erat sacramenti.

Der römische Mimus im Mittelalter. 779

ganze sechste Buch, das noch dazu unter den acht Büchern „De gubernatione dei" das umfangreichste ist. Ich setze einige Hauptstellen hierher: „III. Weil es nun zuviel Zeit erfordert, über alles zu sprechen, nämlich Amphitheater, Konzerte, Spiele, Aufzüge, Wettkämpfe, Gladiatoren, Seiltänzer, Pantomimen und dergleichen Scheufslichkeiten . . . , so will ich nur über die Schänd- lichkeit in Cirkus und Theater reden x) . . . Sonst beschränken sich die Laster auf ihr eigentümliches Gebiet, so schmutzige Gedanken auf den Geist, unzüchtige Blicke auf die Augen, gott- lose Reden auf die Ohren ... Im Theater aber bleibt keines von Schuld frei, denn durch böse Gedanken wird der Geist, durch Hören werden die Ohren, durch Blicke die Augen ge- schändet . . . Wer kann ohne Verletzung der Schamhaftigkeit jene Nachahmung schändlicher Dinge, jene Gemeinheit in Wort und Ausdruck, jene Schmutzigkeit in den Bewegungen, jene Lüsternheit in den Gebärden nennen? Gemeint sind hier vor allem Ehebruchsmimen und sonstige niedrige mimische Sitten- stücke. — Wie frevelhaft sie sind, geht schon daraus hervor, dafs sie nicht erzählt werden können. Einige Verbrechen, sogar sehr grofse, kann man erwähnen und verdammen, ohne die Ehrbarkeit zu verletzen, so Mord, Raub, Ehebruch, Kirchen- raub und dergleichen mehr. Nur die Unreinheit der Theater kann man ehrbarer Weise nicht einmal anklagen . . . Nur die Schändlichkeit der Schauspiele macht die Schandthat für Schau- spieler und Zuschauer gleich. Denn während die Zuschauer solches billigen und mit Vergnügeu ansehen, verüben sie durch Zuschauen und Billigen dasselbe. Fürwahr, für jene gilt beson- ders das Wort des Apostels: „Des Todes wert sind nicht nur jene, die solches thun, sondern auch die den Thätern zustimmen".

a) VI, 3. C. V. VIII, S. 128: et quidem quia longum est nunc de omnibus dicere, amphitheatris scilicet odiis lusoriis pompis athletis petaminariis pantomimis ceterisqae portentis, quae piget dicere . . . de solis circorum ac theatrorum impuri- tatibus dico .... in theatris uero nihil horum reatu uacat, quia et concupiscentiis unimi et auditu aures et aspectu oculi polluuntur .... solae theatrorum impuritates sunt, quae honeste non possunt uel accusari .... et qui forte ad spectaculum puri uenerant de theatro adulteri reuertuntur.

780 Neuntes Kapitel.

So treibt der Zuschauer bei jenen Darstellungen der Hurerei (den Ehebruchsmimen und schlüpfrigen Pantomimen) im Geiste Unzucht, und wenn auch Einzelne noch rein das Schau- spiel besuchen, verlassen sie als Ehebrecher das Theater. Ja, nicht nur treiben sie Unzucht, wenn sie zurückkehren, sondern auch, wenn sie kommen. Denn eben dadurch, dafs Jemand nach einer unlauteren Sache begehrt, wird er, dem unreinen Gegenstande zueilend, selbst unrein. IV. So treiben es alle oder fast alle, die Römer sind. Unter solchen Umständen klagen wir, dafs die Gottheit uns vernachlässige, uns, die wir solches thun; behaupten, Gott verlasse uns, da wir doch selbst Gott verlassen. Stellen wir uns vor, Gott wolle gnädig auf uns herabschauen. Siehe, unzählige Tausende von Christen verweilen täglich in den Schauspielen bei schändlichen Dingen. Kann Gott auf sie herabschauen, die im Cirkus ausgelassen, in den Theatern unzüchtig sind? Oder verlangen wir vielleicht und halten es nicht unter seiner Würde, dafs Gott, wenn er uns im Cirkus und im Theater sehen soll, ebenfalls das mit uns anschaue, was wir anschauen, und mit uns den Schändlichkeiten beiwohne, denen wir beiwohnen? . . . Oder glauben wir etwa mit den 'Heiden an einen eigenen Gott für Theater und Cirkus? Jene übten solches aus, weil sie glaubten, ihre Götzen hätten Gefallen daran. Wie aber wagen wir es, so zu handeln, da wir doch wissen, dafs Gott solches hafst? . . . Christus also, o grauenhafter Wahn- sinn, Christus opfern wir Rennen und Mimen, ganz besonders dann, wenn wir von ihm eine Wohlthat empfangen, wenn er uns Segen bescheert oder die Gottheit uns den Sieg über die Feinde giebt?1). V. Christus also, o des grauenhaften Wahns, Christus opfern wir Rennen und Mimen, Christus bringen wir für seine

x) VI, 4. C. V. VIII, S. 130: potest (deus) ad eos respicere, qui bacchantur in circis qui moechantur in theatrisf an forte hoc uolumus et hoc dignum putamus ut, cum in circis nos et in theatris deus uideat, ea quat nos aspicimus aspiciat quoque ipse nobiscum et turpitudines, quas nos cernimus, cernat etiam ipse nobiscum .... an forte in morem ueterum paganorum theatrorum et circorum nos dewni habere arbitramur? .... Christo ergo (o amentia monstruosa!) Christo circenses oßerimus et mimo8 ....

Der römische Mimus im Mittelalter. 781

Wohlthaten die Schändlichkeiten der Theater dar, Christus weihen wir die Opfer schlüpfriger Schauspiele!1)... VI. In den Schauspielen liegt gewissermafsen ein Abfall vom Glauben, ein todbringendes Abweichen von seinen Symbolen und den himmlischen Sakramenten. Welches ist das erste Bekenntnis des Christen bei der heilspendenden Taufe? Doch Nichts anders, als dem Teufel und seiner Pracht zu entsagen, von seinen Schau- spielen und Werken sich zu trennen. Also Schauspiele und Ge- pränge sind sogar nach unserem eigenen Bekenntnisse Werke- des Teufels. Wie kannst du also, mein Christ, nach der Taufe noch Schauspiele besuchen, die du als Werk des Teufels be- kennst? Du hast einmal dem Teufel und seinen Schauspielen entsagt, wisse also, dafs, wenn du mit Einsicht und Überlegung zu den Schauspielen zurückkehrst, du zum Teufel zurückkehrst . . . VII. Den Kirchen Gottes ziehen wir die Spiele vor, wir ver- achten die Altäre und ehren die Theater. Wenn es sich gerade trifft, was freilich oft der Fall ist, dafs an demselben Tage ein kirchliches Fest und öffentliche Spiele gefeiert werden, so kann ich mich fragend an das Gewissen eines Jeden wenden, welcher Ort die meisten christlichen Männer zählt, die Stätte der öffentlichen Spiele oder die Hallen Gottes? ob alle lieber nach dem Tempel eilen oder zu dem Theater, lieber die Worte der Evangelien hören oder die Gesänge der Bühne, lieber die Worte des Lebens oder die Worte des Todes, lieber Worte Christi oder Worte des Mimen? ... An dem Tage der verderblichen Spiele kommen die. welche Christen heifsen, nicht nur nicht zur Kirche, welche kirchlichen Feste auch gefeiert werden mögen, sondern wenn sie zufällig, ohne es zu wissen, hineinkommen und in der Kirche hören, es würden Spiele gefeiert, verlassen sie dieselbe sofort. Der Tempel Gottes wird verachtet, um zum Theater zu rennen2). VHI. Aber vielleicht kann man hierauf

1) VI, 5. C. V. VIII, S. 131: Christo eireenses offerimus et mimos, Christo pro beneficiis suis theatrorum obscena reddimus ....

2) VI, 7. C. V. VIII, S. 134 : nos ecclesiis dei ludicra anteponimus, nos altaria spernimu* et theatra honoramus .... quis locus maiores Christianorum rirorutn

782 Neuntes Kapitel.

erwidern, das geschehe nicht in allen Städten der Römer. Das ist wahr. Ja, ich sage noch mehr, es geschieht nicht einmal mehr dort, wo es früher immer geschah. Es geschieht nicht mehr in der Stadt Mainz, weil sie zerstört und vernichtet ist. Es geschieht nicht mehr in der Stadt Köln; denn sie ist von Feinden voll. Es geschieht nicht mehr in der berühmten Stadt Trier, denn sie liegt durch eine viermalige Zerstörung in Trümmern. Es geschieht nicht mehr in den meisten Städten Galliens und Spaniens . . . IX. Betrachtet man aber die Wünsche der Menschen, so sind die alten Zustände noch überall da, wenn sie in Wirklichkeit auch nicht mehr überall existieren, denn allenthalben möchte das römische Volk sie wieder haben . . . Was sage ich von Verlangen? Beinahe alle stillen ihr Verlangen, wenn sie können. Denn wenn die Bewohner irgend einer Stadt nach Ravenna oder Rom kommen, gehen sie mit dem römi- schen Volke in den Cirkus oder mit den Bürgern Ravennas ins Theater1) . . . Und da schmeicheln wir uns mit der Reinheit der Sitten, mit der Seltenheit der Laster? Ich gehe noch weiter: Nicht nur werden die schmutzigen und schändlichen Spiele wieder- holt, wie es früher geschah, sondern es wird noch viel sündhafter getrieben als früher ... An den meisten Orten unterhielt man damals Schauspieler für schändliche Ergötzungen, aber Alles war auch reich und überfüllt. Niemand bedachte den Aufwand des Staates, Niemand die Kosten, weil man die Ausgaben nicht spürte. Der Staat konnte sich selbst fragen, wie er viel durch- bringen könne, da er Alles beinahe nicht unterzubringen ver- mochte. Deshalb wurde der aufgehäufte Reichtum, der fasf alles Mafs überschritt, zu Possen benutzt. Was soll man aber jetzt sagen? Die frühere Fülle ist von uns gewichen, das Ver- mögen vergangener Zeiten ist verschwunden, schon sind wir arm, aber wir bleiben närrisch. XI. Man fragt vielleicht, wo-

copias habeat, cauea ludi publici an atrium dei, et templum omnes magis sectentur an theatrum, dieta euangeliorum magis diligant an thymelicorum, uerba uitae an uerba mortis, uerba Christi an uerba mimif . . . spernitur dei templum, ut curralur ad tlieatrum . . .

r) VI, 9. C. V. VIII, S. 139: denique cuiuslibet ciuitatis incolae Bauennam

Der römische Mimus im Mittelalter. 783

hin das alles ziele? Wohin ohne Zweifel anders, als dafs man Nichts für gering erachte, wodurch Gott beleidigt wird? Denn wir sprechen von den öffentlichen Spielen, die unserer Hoffnung spotten, unser Leben zur Thorheit machen; denn wenn wir im Theater und in der Rennbahn uns belustigen, gehen wir verloren nach jenem Worte der heiligen Schrift: „Der Thor begeht mit lachen- dem Munde die Schandthat". . . . Alle Unreinheiten treibt ihr in den Theatern '), alle Wollust auf den Ringplätzen, alle Zügel- losigkeit in den Rennbahnen, alle Raserei auf den Schauplätzen. Hier Unzucht, dort Frechheit, hier Unmäfsigkeit, dort Wahnsinn, überall der Dämon, ja an allen einzelnen Orten, wo Schauspiele gefeiert werden, alle dämonischen Ungeheuer zusammen .... XII. Vielleicht aber werden wir, obschon durch das Glück ver- dorben, im Unglück gebessert . . . Belagert ist die Stadt Rom und erobert. Liefsen deshalb die Römer von ihrer Gottes- lästerung und Thorheit ab? Barbaren haben Gallien über- schwemmt. Sind, was Verderbtheit der Sitten anbelangt, die Laster der Gallier nicht dieselben geblieben? Die Vandalen- schaaren sind in Spaniens Ländereien eingedrungen. Das Ge- schick der Spanier ist dadurch zwar anders geworden, aber nicht ihre Lasterhaftigkeit . . . Barbarenvölker umtosten mit ihren Waffen die Mauern von Cirta und Carthago, und die Cartha- ginienser schwelgten in wahnsinniger Lust in den Rennbahnen, wareu ausgelassen in dem Theater') . . . Wie gesagt, aufserhalb und innerhalb der Mauern Lärm von Kämpfen und Schauspielen; Stimmen von Sterbenden und Schwelgenden mischten sich, kaum konnte man das Wehklagen des Volkes, welches in der Schlacht fiel, und das Getöse des Haufens, welcher im Cirkus schrie,

aut Romam uenerint, pars sunt Rovumae piebü in circo pars sunt populi Rauen- natis in theatro.

1) VI, 11. C.V. VIII, S. 142: nam dum in theatris et circis ludimus, deperimus seeundum illud utique dictum sermonis sacri: stultus per risum operatur scelus . . , quiequid inmunditiarum est hoc erercetur in theatris.

2) VI, 12. C. V. VIII. S. 144: circumsonabant armis muros Cirtae atque Cartha- ginis populi barbarorum, et ecclesia Carthaqiniensis insaniebat in circis, luxuriabat in theatris.

784 Neuntes Kapitel.

von einander unterscheiden . . . XV. Nachdem die erste Stadt Galliens dreimal durch fortgesetzte Zerstörung in den Staub ge- sunken, die ganze Stadt ein Grabmal war, nahmen die Laster trotz des Falles wieder zu . . . Überall lagen, wie ich es selbst gesehen und ertragen habe , entblöfste Leichname beiderlei Ge- schlechts, zerrissen,... von Vögeln und Hunden zerfleischt. Verderben für die Lebenden war der Leichengeruch der Toten. Der Tod hauchte den Tod aus . . . Was erfolgte hierauf, was erreichte man hierdurch? Einige Vornehme, die den Untergang überlebt, verlangten als das beste Hilfsmittel für die vernichtete Stadt vom Kaiser Spiele . . . Also Spiele verlangt ihr Trierer? Ich gestehe, ich habe Euch für sehr elend gehalten nach solchen Niederlagen; aber ich sehe Euch noch in gröfserem Elend,, da ihr Schauspiele verlangt. Ich glaubte, ihr hättet in den Nieder- lagen nur Hab und Gut eingebüfst, aber ich wufste nicht, dafs ihr auch Sinn und Verstand verloren hattet. Theater also wollt ihr, einen Cirkus fordert ihr von der Regierung? . . . XVII. Ent- sagen wir fortan dem früheren lasterhaften Leben, . . . fliehen die Rasereien des Cirkus, verwünschen die Schändlichkeiten der Spiele im Theater, weihen dem Herrn ein neues Leben1). XVIII. Das also müfste Gott gegenüber den neuen Wohlthaten geschehen; lafst uns aber sehen, was in Wirklichkeit geschieht. Sofort eilt man zu den Spielen, fliegt zu den Rasereien, die Bürger zerstreuen sich in den Theatern, das ganze Volk rast in den Rennbahnen2)."

Die Schilderung Salvians ist überzeugend. Trotz aller Not war die alte Leidenschaft für die Spiele, das Theater und den Mimus den Römern und Romanen verblieben. Wenn auch in den meisten Städten Galliens, wenn auch im west- lichen Germanien, in Mainz, Köln und Trier, die Theater in Trümmer gesunken oder bei der Not der Zeit geschlossen waren, so standen zum mindesten noch in Marseille, Ravenna

J) VI, 17. C.V. VIII, S. 152: omnibus denique immunditiis bellum sanetum indieimus, circorum insanias fugimus, foeditates theatralium ludorum execramur.

a) VI, 18. C.V. VIII, S. 152: ad ludos protinus curritur ad insanias con- uolatur, in theatris populus diffunditur in circis plebs tota bacchatur.

Der römische Mimus im Mittelalter. 785

und Rom und sicherlich auch in vielen anderen, weniger ge- schädigten Städten des Westens die Theater offen und auf ihnen wurde wie früher das grofse mimische Schauspiel aufgeführt. Das kränkt Salvian gerade am meisten, dafs man wie einst dem Dionysos oder der Aphrodite nun, da man doch in christlichen Zeiten lebt, sozusagen Christus auf dem Theater Mimen darbringt, dafs man die Worte des Mimus besser behält, als die Worte des Heils, dafs man lieber zum mimischen Schauspiel läuft als in die Kirche. Und wenn man bei der allgemeinem Verelendung und Verarmung auch nicht die kostspieligen Rennen im Cirkus oder Tierhetzen und Gladiatorenspiele im Amphitheater geben konnte, der Mimus war keineswegs so kostspielig.

Also für das fünfte Jahrhundert ist selbst iu den von den Bar- baren am meisten überfluteten und geschädigten Provinzen desOcci- dents, für Gallien und Spanien, der Theatermimus zu konstatieren, wenn er auch schon sehr im Rückgange ist. Im sechsten Jahr- hundert wird dann wohl der Mimus ganz und gar von den Theatern verschwunden sein, die in Trümmer fielen, so dafs im siebenten Jahrhundert der Spanier Isidor von Sevilla in seiner grofsen Realencyklopädie vom Theater und vom Theatermimus als von vergangenen Dingen redet, während die Mimen selber nach seinem eigenen Zeugnis noch zu seiner Zeit existieren1). Am

') Ich setze zum Belege die Stelle aus Etbymologiarum lib. XVIII. hierher: (Migne, Patrol. lat. 82, S. 657-660) Caput XLIL De theatro. 1. Theatrum est quo scena includitur, semicirculi ßguram habens, in quo Staates omnes inspiciunt. Cujus forma primum rotuxda erat, sicut et amphüheatri, postea ex medio amphitheatro theatrum factum est. Theatrum autem a tpectaculo nominatum «7iö rrjc ötugtac, quod in eo populus stans desuper atque spectans ludos contem- plaretur. 2. Idem rero theatrum, idem et prostibulum, eo quod post ludos exactos meretrices ibi prostarenL Idem et lupanar vocatum, ab eisdem meretrieibus, quae propter vulgati corporis vilitatem lupae nuncupabantur .... Caput XLIII. De scena. 1. Scena autem erat locus infra theatrum in modum domus instructa cum pulpito, quod pulpitum orchestra rocabatur, ubi cantabant comici, tragici atque salta- bant histriones et mimi. Dicta autem scena Graeca appeüatione, eo quod in speciem domus erat instructa. Unde et apud Hebraeos tabernaculorum dedicatio a simili- tudine domiciliorum Scenopegia appeüabatur. Caput XLTV. De orchestra. 1. Or- chestra autem pulpitum erat scenae, ubi saltator agere possei, out duo inter se dis- putare. Ibi enim poetae comoedi et tragoedi ad certamen conscendebant, iisque

Reich, yimus. r.n

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frühesten hat der Theatermimus jedenfalls im westlichen Ger-

canentibus, alii gestus edebant. Officio, scenica: tragoedi, comoedi, thymelici, histriones, mimi et saltatores. Caput XLV. De tragoedis. 1. Tragoedi sunt qui antiqua gesta atque facinora sceleratorum regum luciuoso carmine, speetante populo, concine- bant. Caput XLVI. De comoedis. 1. Comoedi sunt qui privatorwm hominum acta dictis atque gestu cantabant, atque stupra virginum et amores meretricum in suis fabulis exprimebant. Caput XLVII. De thymelicis. 1. Thymelici autem erant musici scenici, qui in organis et lyris et citharis, praecinebant. Et dicii thymelici, quod olim in orchestra stantes cantabant super pulpitum quod thymele vocabatur. Caput XL VIII. De histrionibus. 1. Histriones sunt qui muliebri indumento gestus impudicarum feminarum exprimebant: ii autem saltando etiam historias et res gestas demonstrabant. Dicti autem histriones, sive quod ab Istria id genus sit adductum, sive quod perplexas historiis fabulas exprimerent, quasi histriones. Caput XLIX. De mimis. 1. Mimi sunt dicti Graeca appellatione, quod rerum humanarum sint imitatores. Nam habebant suum auctorem, qui antequam mimum agerent, fabulam pronuntiaret. Nam fabulae ita componebantur a poefis, ut aptissimae essent motui corporis. Caput L. De saltatoribus. Caput LI. Quid quo patrono agatur. Caput LH. De amphitheatro. Caput LIII. De ludo equestri. Caput LIV. De retiariis. Caput LV. De secutoribus. Caput LVI. De laqueariis. Caput LVII. De velitibus. Caput LVIII. De serali certamine. Caput LIX. De horum ersecratione. 1. Haec quippe spectacula crudelitatis, et inspectio vanitatum non solum hominum vitiis, sed de daemonum jussis instituta sunt. Proinde nihil esse debet Christiano cum circensi insania, cum impudicitia theatri, cum amphitheatri crudelitate, cum atrocitate arenae, cum luxuria ludi. Deum enim negat, qui talia praesumit, fidei Christianae praeraricator effectus, qui id denuo appetit quod in lavacro jam pridem renwntiavit, id est, diabolo, pompis et operibus ejus. Man bemerke scena erat, orchestra erat, thymelici erant. Und wenn es heilst tragoedi sunt, comoedi sunt, histriones sunt, so beruht das nur auf der Formel der Definition; denn es heilst weiter: qui concinebant, qui exprimebant, sie existieren eben nicht mehr. Wenn aber vom Theater im Tempus der Gegenwart gesprochen wird, so beruht das darauf, dafs die Theater noch stehn; aber man spielt nicht mehr darin und schaut nicht mehr zu, darum quod in eo populus . . . contemplaretur, nicht contempletur, darum quod meretrices ibi pm- starent, nicht prostent. Aber von den Mimen heifst es, quod rerum humanarum .sint imitatores, Tempus der Gegenwart, weil sie noch gegenwärtig existieren. Die Stelle über den Mimus ist ein zusammenhangloses Excerpt aus einer gröfseren Stelle über den Theatermimus; die beiden „nam" sind sinnlos. Es war vom Prolog und vom Mimographen darin die Rede. Mimographen und einen Theatermimus mit einem Prologsprecher gab es aber damals nicht mehr in Spanien; darum die Imperfekte habebant, pronuntiaret, com- ponebantur. Dennoch ist die Erinnerung an das Theater und an diese Schauspiele noch so frisch, dafs der gelehrte llealencyelopädist es für nötig

Der römische Mimus im Mittelalter. 787

manien aufgehört, nach der Schilderung Salvians am Anfange des fünften Jahrhunderts. Bis dahin hat er aber in Köln, in Mainz und Trier und doch wohl auch in anderen hervorragenden Städten dort geblüht. In Rom und Italien dagegen hat der Mimus als grofses Theaterstück noch im sechsten Jahrhundert fortbestanden.

Im Jahre 533 ward durch Belisars Sieg über die Vandalen Afrika wieder oströmische Provinz. Zweifellos wird der Mimus unter den neuen, günstigeren Existenzbedingungen dort kräftig weitergeblüht haben, wie in dem ganzen byzantinischen Orient; war doch das benachbarte Ägypten und besonders Alexandria eine Hochburg des Mimus. Im Jahre 647 fiel dann Afrika in die Ge- walt der Araber. Was dann weiter mit dem Mimus in Afrika ge- worden ist. läfst sich nicht sagen. Jedenfalls erweckt er dort heute noch als mimisches Puppenspiel, als Karagöz, den Jubel des Volke?.

Im 6. Jahrhundert warb Theodorich der Grofse. wie wir (oben S. 143, 144) sahen, mit Mimenaufführungen auf dem Theater um die Gunst der Römer. Auch an seinem Hofe hatte der Goten- könig, wie wir später zeigen werden, Mimen als Spafsmacher und Hofnarren. Vielfältig wird der Mimus im 6. Jahrhundert nach dem Zeugnis des Cassiodor extemporiert sein, sicher sind daneben auch die alten, berühmten mimischen Dramen eines Philistion, Lentulus, Marullus, Hostilius und anderer gelegentlich aufgeführt worden. Ausgaben dieser Dramen befanden sich noch in den Händen der Zeitgenossen des Hieronymus (vgl. oben S. 752, Anra. 1). In der That bezeichnet auch Ausonius (c. 310—395) das Interesse am Mimus und die Lektüre von Mimen als selbst- verständlich bei einem litterarisch interessierten Manne. Er ermahnt den Freund, schnell za ihm zu eilen und seine Bücher, vor allem die Mimen, zu Hause zu lassen, er fände bei ihm eine ganze Bibliothek, darunter auch die Mimen des Cinaeodologen und Ionicologen Sotades1). Auch die Dramen Philistions sind

hält, seine objektive Aufzählung mit der Mahnung zu schliefsen, ein Christ, der daran seine Freude habe, verfalle dem Teufel.

') Ausonii epistulae XIV (in Mon. Germ, hist Auctt. antiqq. V, 2,

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ja sehr' lange in Abschriften verbreitet gewesen, noch im fünften Jahrhundert liefs sie der Sophist Nicotychos vorlesen (vgl. oben S. 204). Wenn im 6. Jahrhundert nach dem Zeugnis des Cho- ricius die Sophisten auf dem Markte Mimen vortrugen, so mufsten sie davon handschriftliche Exemplare besitzen1). Jedenfalls also existierte im lateinischen Westen, zum mindesten in Italien, noch im 6. Jahrhundert der Mimus als grofses Bühnenstück, wie er zu derselben Zeit im, griechischen Osten in voller Macht und Herr- lichkeit blühte und bis zum Ende des Mittelalters geblüht hat2). Ob der Mimus noch über das sechste Jahrhundert hinaus als grofses Theaterstück in Italien geherrscht hat, läfst sich nicht mehr entscheiden. Darüber fehlen mir vorläufig alle

p. 172— 173) XIV (ad Paulum Lugdunensem):

attamen ut citius venias leviusque vehare,

historiam, mimos, carmina linque domi . . .

nobiscum invenies ln£<ov nolvfiOQqia nkrj&vv yQctfificcTixdSv re nXoxdg xai koyodaidaMrjv,

Sdxxvkov TjQtpov xai aoiöonöXarv xoQiapßov, . . . Gvv. @cd(j]S xw/uw avQfiara TeQXpij(6()t]g

GCOTCtdlXOV XS XlVaiSoV, iwVIXOV afMfOx£Q(0&tV.

') Vgl. oben S. 219.

2) Ich will hier noch einmal auf die Schliefsung der Theater durch Justinian zurückkommen, welche überall mit dem Anspruch einer gesicherten Thatsache von welthistorischer Bedeutung auftritt. Es scheint alles so schön zusammenzustimmen. Wie Justinian die letzten Reste des Heidentums be- seitigt, wie er die griechischen Philosophenschulen schliefst, so schliefst er auch die Theater. Ich habe schon oben S. 684 und 685 gezeigt, dafs diese Mafsregel zum mindesten vorübergehend war, und dafs in der späteren Regierungszeit Justinians und unter den folgenden Kaisern die Theater überall offen standen.

Malalas berichtet, die Cirkusparteien hätten im Jahre 525 unter Kaiser Justin (als Justinian schon de facto regierte) wieder Unruhen erregt, und zur Strafe wurden die Schauspiele aufgehoben und die Pantomimen aus dem ganzen Orient verjagt aufser in Alexandria in Ägypten. Auch die olympischen Spiele in Antiochia wurden verboten. Chronographia XVII. Bonner Aus- gabe S. 417: xai in^Q&rjaav xa &t(ÖQia, xai ol oQ/rjaxal ix xfjg dvaxolrjg xai ndvxeg i^cooia&rjOav, dl%a fxivxoi xfjg /usyälqg AXf^avÖQtiag xrjg TiQog Aiyvnxov. '0 dt avxbg ßaaiXevg ixwkvas rov aytiiva xwv'Olvfxniwv nyog xa [iti tnixsltio&ai iv 'Avxioxeiq dnd ivötxxiwvog td". So hob Kaiser Theodosius in Antiochia

Der römische Mimus im Mittelalter. 789

direkten historischen Zeugnisse, und ich wage nicht zu hoffen, dafs sich solche noch finden werden, obwohl ich es nicht für ganz

zur Strafe für einen Aufruhr die Schauspiele auf (vgl. oben S. 146). Natür- lich dauerte es damals nicht lange, so wurden in Antiochia wieder die Theater geöffnet. Die Mafsregel Justinians trifft allerdings den ganzen Orient, aber auch hier werden gleich Ausnahmen zugelassen.

Procop, der zweite Zeuge in der Sache, berichtet: die Fiskalität der Krone hätte unter Justinian erschreckend zugenommen. Dafür giebt er zahl- reiche Belege. Selbst die staatlichen Besoldungen der Professoren und Ärzte wurden aufgehoben, und die Kommunalabgaben, welche die Städte im Interese der Errichtung und Unterhaltung öffentlicher Gebäude und zur Veranstaltung von Schauspielen erhoben, wurden einfach den Staatssteuern zugeschlagen. Infolgedessen hatten seit längerer Zeit die Theater, Amphitheater und der Cirkus Ruhe. Später liefs der Kaiser sogar in Byzanz die Schauspiele ein- schlummern und gab nicht mehr dafür die gewohnten Summen aus dem Staatsschatze her, obwohl zahlreiche Bürger von den Spielen ihre Nahrung zogen. Infolgedessen herrschte allgemeine Trauer: Lachen und Freude waren aus dem menschlichen Leben gewichen. Procop, Historia Arkana 26. Bonner Ausgabe S. 143 4 : xal firjv xal oOovg ol rag noXttg otxovvrtg dndaag noXiri-

X(UV OCfiOlV T) dtülQTjTtXWV OIXO&tV 7lt7lotl]VTai 710QOVS ; xctl loviovg /uaayayioy (fögoig dva/uT^ai roTg dtjuooioig hoXur]OE. xal ovn iargdiv iig r) 6i6aaxdXojf xo Xombv lytvero Xoyog ovie Srjjuoaiag itg tu olxodouittg ngovoüv lo/vatv oisit Xv%va raig nöXtaiv Iv 6tjfioa(co kxämy ovre rig r]v dXXr) nagaxpv/r) joig ravrag olxovOi. xa rt ydg dtaiga xal InnoSgofiot xal xWTjyf'oia Ix rov tmnXtiorov unavia rjgyH. ov dr] ol rr)v yvvaixa xfx^#a* xal rtrgd(f&ai xal ntnat- ätva&at £uv£ßairtv. vOTtgov öi ravia örj dgyttv iv Bv^avilto lx4Xivas rd &ed- fiaza, rov [at] rd (ia)96ra xogrfl'fiv rb drjuöoiov, noXXoTg rs xal a^aSöv ri dva- g(&/xoig ovotv, olg lv&4v6e 6 ß(og. r)v re lata re xal xoivrj Xvnrj x* xal xarrj- (ffia, (üOntQ dXXo ri rwv an' oioavov tnioxqipaoai nd&og, xal ß(og näoir dyiXaOTog. dXXo is ro nagänav ovitv t(f4otio roig dv&gtonoig h' tiirjyquaaiv, 01x01 tl ovat xal dyogaCovoi xdv rotg legoig Siargißovatv r\ avuifooai rt xal Tid&ri xal xaivortgtav aTv/rjfidjwv v7itgßoXr].

Justinian brauchte eben für seine grofsen Eroberungspläne viel Geld, und sein Finanzminister Johannes war ein Finanzgenie, der nahm, was er bekommen konnte (vgl. hier die Ausführungen Geizers bei Krumbacher a. a. 0. S. 930). Es mufsten also darunter, wie man heute sagen würde, die Kulturaufgaben leiden und für das Theater und den Mimus war eben kein Geld da. Wenn aber Städte und Privatpersonen trotz aller Not doch noch ab und zu im Theater, bei der Leidenschaft des Volkes dafür, Mimen aufführen liefsen, stand dem schwerlich etwas im Wege. Unter den späteren Kaisern hat man dann offenbar die Gelder für das Theater und den Mimus ihrer alten Bestimmung zurückgegeben; denn auf die Dauer mufste jede

790 Neuntes Kapitel.

ausgeschlossen halte. Die Herrschaft der Ostgoten in Rom wurde durch Justinian vernichtet (544), Italien ward wieder ein Bestandteil des römischen Reiches. Auch als die Langobarden unter Alboin nach Italien zogen (568), blieb den Byzantinern das Exarchat mit Ravenna, Rom und Venedig. Erst 749 er- oberte der Longobarde Aistulf das Exarchat. Erst 786 nahm die Herrschft der Byzantiner in Mittelitalien ein Ende und ost- römisch blieben nur Neapel, Gaeta, Calabrien und das Gebiet von Otranto. Hatte Theodorich noch im sechsten Jahrhundert für die Römer Mimen auf dem Theater aufführen lassen, so mögen die Byzantiner, bei denen ja immer der Theatermimus in Blüte blieb, es auch noch im siebenten und achten Jahr- hundert gethan haben. Ruft doch noch der Gesandte des Ost- gotenkönigs Vitigis (vgl. oben S. 145) den Römern, die zu den Byzantinern abgefallen waren, höhnend zu, von Byzanz wären ja zu den Römern doch immer nur Schelme und Mimen ge- kommen. Das Theater in Ravenna war noch im fünften Jahr- hundert nach Salvians Schilderung berühmt, da mögen also dort unter der byzantinischen Herrschaft auch in den folgenden Jahr- hunderten Mimen gespielt worden sein, wie sie zu gleicher Zeit im sechsten, siebenten und achten Jahrhundert in allen Städten der Rhomäer in Byzanz und Thessalonich, in Antiochia und Alexandria bis auf die kleinen griechischen Städte, Emesa und andere herunter aufgeführt wurden. Noch am Ende des achten Jahrhundert warnt Alcuin, wie wir gleich sehen werden, einen jungen Freund vor den Mimen in Italien. Wie lange mag

Regierung unpopulär werden, die das nicht that, zumal wenn sie nicht wie die des Justinian grofse äufsere Erfolge aufzuweisen hatte. Wie wenig es sich im Jahre 525 um eine prinzipielle Schliefsung der Theater gehandelt hatte, zeigt Malalas selbst; denn er berichtet, dafs wenige Jahre später, als ein Auf- ruhr unter Justinian im Theater von Antiochia ausbrach, das Theater daselbst zur Strafe geschlossen wurde (vgl. oben S. 146, Anm. 4). Also 525 werden alle Theater im Orient aufser in Alexandria geschlossen und vier oder fünf Jahre später steht das Theater in Antiochia wieder offen, wird aber zur Strafe von neuem geschlossen. Kurz und gut, mit einem prinzipiellen Verbot des Theaters unter Justinian, etwa aus christlich-kirchlichen Gründen, ist es nichts.

Der römische Mimus im Mittelalter. 791

auch noch in dem byzantinischen Neapel der Mimus als grofses Theaterstück existiert haben? Doch schliefslich sanken auch hier wie überall die Theater in Trümmer, wenn auch vielleicht um Jahrhunderte später als in Germanien,. Gallien und Spanien.

Mit den grofsen Theatern waren die letzten Reste des klassischen Dramas, die sich dort noch notdürftig hier und da behauptet haben mögen, unwiderbringlich verloren. Wenn sich ein Tragöde mit seiner seltsamen Maske, dem Kothurne und den schleppenden tragischen Gewändern in einer Taverne oder vor dem Volke auf dem Markte hätte sehen lassen wollen, er wäre dem Gelächter verfallen. Der Mime dagegen war ja von vornherein in der Kneipe, auf Strafsen, Märkten, im Variete oder im Prunksaale der Könige aufgetreten. Ihn kostete es nichts, wieder von der grofsen Scene herabzusteigen; er gab von seiner Kunst nicht einen Deut auf, wenn er sie fortan, wie er einst gewöhnt war, in der Halle der Könige und Grofsen zur Verherrlichung ihrer Feste oder auf dem Markte vor dem Volke zum Besten gab. Seine Bühne war bald aufgeschlagen, einige Pfähle, darüber ein Bretterboden und dahinter der mimische Vorhang das siparium, so hatte er dieselbe Bühne wieder, die ihm einst das grofse Dionysostheater gewährte, und was er selbst zu Philistions Zeit allein als Bühnenausstattung verlangte, ein wenig Hausgerät, einige Bänke, einen grofsen Kasten, das konnte er später leicht auch in der Hofhaltung Dietrichs von Bern oder Karls des Grofsen, oder des Brittenkönigs Alfred erlangen, wie er es auch in derselben Epoche an den Höfen der indischen Radschas erhielt.

Vergessen wir es nicht, an der Schwelle des Mittelalters besafs der Mimus als das letzte, grofse Drama der Antike, als das eigentliche Drama des griechisch-römischen Weltreiches, als das internationale Weltdrama eine ganz erstaunliche Macht und Fülle. Im 3., 4., 5. und 6. Jahrhundert erfüllte der Mimus die ganze Erde, überall jauchzte ihm das Volk in rasender Be- geisterung zu. In jeder gröfseren Stadt gab es hunderte von Mimen, in der ganzen damaligen Kulturwelt also Hunderttausende. Zu Hunderttausenden sind die Mimen ins Mittelalter hinüber-

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gezogen. Dem Mimen war es gleichgültig, ob er seine lustigen Stücklein in der Halle eines italischen Senators oder eines fränkischen, gotischen oder spanischen Grafen zum Besten gab. Was den Barbaren an Sprachkenntnis fehlte, das ersetzte des Mimen lebhaftes Gebärdenspiel. Hatten sich die hellenischen Mimen den Syrern und Ägyptern und später sogar den Indern verständlich gemacht und vvufsten sie selbst den Türken das Verständnis für ihre heitere Kunst zu eröffnen, hatten sie vor Jahrhunderten vor den römischen Barbaren gespielt, die kein oder wenig Griechisch verstanden, warum sollten nun nicht wieder die römischen Mimen vor den keltischen und germanischen Barbaren spielen. Schon mit Stilichos' Heer, das zum grofsen Teile aus Germanen bestand, wanderten die Mimen. Zudem blieb ihnen ja aufser dem vornehmen Publikum der barbarischen Fürsten und Herren in den alten, römischen Kulturstaaten noch immer das lateinisch redende Volk gewifs, und aufserdem sprachen die Priester und Mönche ruhig weiter lateinisch. Noch der Archipoeta ergrimmt darüber, wie er umsonst an das Thor der. Klöster an- klopft, das sich den Mimen sofort öffnet1).

So gilt denn das ganze Mittelalter hindurch bei den itali- schen Fürsten und Herren, wie bei den spanischen, bei den fränkischen Königen, wie bei den französischen und englischen, bei römischen Kaisern deutscher Nation, wie einst bei den alten römischen Kaisern und bei den hellenischen Königen seit Philipp dem Makedonen und Alexander und wie auch bei den indischen Radschas die Regel, dafs es keine Feste geben könne, die nicht der Mime durch sein Spiel verherrliche, oder wie Dio Chrysostomus es ausdrückt, wer die Gunst des Volkes gewinnen wolle, müsse Mimen aufführen lassen oder, wie die römischen Staatsmänner

') J. Grimm, „Gedichte des Mittelalters auf König Friedrich I. den Staufer und aus seiner, sowie der nächstfolgenden Zeit". Berl. 1844, IV. Archi- poeta 24, S. 56/57:

Eia nunc pontifices pietatis mire,

cum poeta soleat foris esurire,

mimi solent cameras vestras introire,

(jui nil sciunt facere preter insanire.

Der römische Mimus im Mittelalter. 793

meinten und wie es auch Cassiodor im Namen Theodorichs ver- kündigt, ohne den Mimus müsse das Volk in der Not des Lebens verzagen, oder wie der türkische Mime, der Hajaldschy, sagt: Die Schmerzen des Volkes werden durch das Karagözspiel wie durch Balsam gelindert.

Karl der Grofse hat diese Maxime ebenso beherzigt wie Ludwig der Fromme, und alle ihre Nachfolger haben danach ge- handelt, wie es ebenso die byzantinischen Kaiser thaten.

Am Hofe Karls war besonders sein vertrauter Rat An- gilbert, den seine geistliche Stellung nicht gehindert hatte, mit Bertha, einer Tochter Karls, eine geheime Ehe einzu- gehen, ein besonderer Freund des Mimus. Er galt zugleich als der gröfste Dichter in dem grammatisch-ästhetischen Kreise Karls, darum ward er mit dem Namen Homerus bezeichnet. Wiederholt beklagt der streng kirchliche Alcuin die weltliche Richtung „Homers" und besonders, seine Neigung für die Mimen. Die Partei der Asketen kämpfte bei Karl unablässig gegen den Mimus; so wendet der Erzbischof von Lyon Leidradus sich in einem Schreiben an Kaiser Karl gegen den Mimus1). Alcuin wird in diesem Sinne unablässig thätig gewesen sein und schliefs- lich überwog dieser Einflufs. Es ward ein Gesetz gegen den Mimus erlassen, das natürlich ebensoviel gefruchtet hat. wie alle

1) Epistolae variorum Carolo magno regname scriptae 29 (Mon. Ger. hist. Ep. IV, S. 540 1): Leidradus archiepiscopus Lugdunensis Carolo 1. imperatori mittit de abrenunciatione diaboli opusculum. Domino gloriosissimo et vere piissimo imperatori et in Christo victori ac triumphatori, invictissimo semper Augvsto Leidra- dus, licet indignus, divina tarnen ditpensatione ac vestra miseratione Lugdunetuis ecclesiae episcopus .... Velut cum teatrorum moles extruuntur et effodiuntur fundamenta virtutum ; cum gloriosa est effusionis insania et opera m'uericordiae deridentur; cum ex his quae dicitibus abundant, luxuriantur histriones, et necessaria rix habent pauperes. Per .quinque sensus corporis Metropolis et an mentis capitur, aspectu scilicet, auditu, gustu, odoratu et tactu [raucht G. ). Si circensibus quispiam delectetur, si adletarum certamine, si mobilitate hystrionum, si j'ormis mulierum, si splendore gemmarum, vestium, metallorum et caeteris kuiuscemodi, per oculorum fenestras animae est capto libertas. XII. Rursum auditu, si vario organorum cantu et vocum flexionibus delinitur, et carmine poetarum et comoediarum mimorumque urbanitatibus et strophis et quicquid per aures introiens virilitatem mentis effeminat. Leidradus folgt hier wortgetreu dem Hieronymus (vgl. oben 8.750).

794 Neuntes Kapitel.

die Gesetze, die schon seit Jahrhunderten auf Antrieb der Geist- lichkeit gegen den Mimus gerichtet wurden. Freilich fürchtet Alcuin in einem Briefe an den Abt Adalhart von Corvey „Homer" werde erzürnt sein über diesen Erlafs; aber schon Augustin habe gesagt, wer Schauspieler, Mimen^ und Tänzer in sein Haus aufnähme,, der wisse nicht, was für eine Schaar un- sauberer Geister ihnen folge *). Doch Adalhart antwortet, „Homer" habe seiner alten Neigung für den Mimus entsagt. Darüber spricht Alcuin in einem erneuten Schreiben an Adalhart seine Freude aus. Die Mimen hätten Angilberts Seele nicht geringe Gefahr gedroht, es sei merkwürdig, dafs Angilbert nicht gewufst habe, dafs darunter seine Würde Schaden litt. Dieser Brief stammt aus dem Jahre 801, fällt also 13 Jahre vor Angilberts Tod, der 814 starb.

Ludwig der Fromme mufste zwar trotz seiner kirchlich- christlichen Richtung den Mimus dulden, persönlich aber mochte er ihn nicht. Der Franke Theganus, ein vornehmer Geistlicher in Trier, lobt in seinem Leben des heiligen Ludwig (ca. 835 geschrieben) diesen frommen König. Er habe nie zu Spafs und Fröhlichkeit geneigt und nur an den hohen Festen zum Vergnügen des Volkes Mimen auftreten lassen. Aber wenn das Volk auch seine Freude am Mimus an den Tag legte, der König blieb immer ernst und zeigte nie beim Lachen seine Zähne, obwohl er schöne weifse hatte, wie Theganus noch be- sonders hervorhebt3).

J) Alcuini Albini epistolae 116 (in Mon. Alcuiniana, Wattenbach und Dümmler, S. 478 u. 479): Alcuinus Adalhardum abbatem Corbeiensem reprehendit, quod ad se neque accedat neque littteras mittat. Se febri impeditum fuisse, quo- minus ad eum veniret. De Angilberto. (799 ante Ja). 10.) Vereor, ne Homerus irascatur contra cartam prohibentem spectacula et diabolica figmenta. Quae omnes sanctae scripturae prohibent, in tantum, ut legebam, sanctum dicere Augustinum : Nescit homo, qui histriones et mimos et saltatores introducit in domum suam, quam maqna eos inmundorum sequitur turba spirituum. Sed absit, ut in domo christiana diabolus habeat potestatem. Olim tibi de kis scrijisi, optans salutem Icarissimi filii toto cordis affectu; volens per te ßeri, quod per me non posse ßeri agnovi.

2) Theganus, Vita Hludowici imperatoris in Mon. Germ. hist. Scripto- rum II, S. 595: Nunquam in risum exaltavit vocem suam, nee quando in

Der römische Mimus im Mittelalter. 795

Die Verbote des Mimus konnten um so weniger fruchten, als gerade die Kirchenfürsten selber für das mimische Schauspiel schwärmten. So schilt der Erzbischof von Lyon Agobert im Jahre 836 auf die untreuen Prälaten und Geistlichen, die das Kirchengut für die Mimen vergeuden und die Armen Hungers sterben lassen1). Auch Alcuin fühlt sich veranlafst, den eng- lischen Bischof Higbald daran zu mahnen, lieber für die Armen zu sorgen als für die Schauspieler und Mimen*).

Auch zu jenen Zeiten erschienen die Mimen nicht nur in den Hallen der Könige und verherrlichten ihre Feste, sondern durch- zogen die ganze Welt und erfüllten sie von den grofsen Städten herab bis zum kleinsten Dorfe. So berichtet der Mönch Milo, der das Leben des heiligen Amandus in den Jahren 845 858 schrieb, von einem Spafsmacher, der Amandus in einem Dorfe auf Antrieb des Satans verhöhnte. Diesen Spafsmacher nannte das Volk „Mimus". Er fand den Lohn seiner Schändlichkeit, der Teufel fuhr mit ihm zur Hölle3). Auch der Abt Ermenrich

summis fettivitatibus ad laetitiam populi procedebant themilici, scurri et mimi cum coraulis et citharistis ad mensam coram eo, tunc ad mensuram ridebat populus coram eo, ille nunquam nee dentes candidos suos in risu ostendit.

') Editio Stephani Baluzii, Paris 1666, S. 299. „Liber de dispensatione ecclesiasticarum rerum" : epulatur cum divitibus epulantibus gaudens, ridensque, et opus Domini non reeipiens, et quasi agens quae Deo placeant jueundatur, satiat prae- terea et inebriat histriones, mimos turpissimosque et vanissimos joculares, cum pauperes Ecclesiae fame discruciati intereant.

2) Alcuini Albini ep. 81. Alcuinus Higbaldum episcopum Lindisfarnensem multa admonet. Memorat de Ecgfridi regis Merciorum obitu inopinato : .... Melius est, pauperes edere de mensa tua, quam istriones. Wattenbach und Dümmler S. 356.

3) Mon. hist. Germ. Poetae latini Bd. III, S. 600. Milonis carmina lib. IV, II. Vita S. Amandi.

70. Unus iners, facilis, male lubricus atque superbus, Turpis et impurus scurrillia probra susurrans, Quem merito vulgus vocitat cognomine Minimum. Ubstitit infelix stolido bachante cachinno. Sed mox arreptus miser atro daemone, plenus

75. $iio fuerat pridem, cum vitae risit alumnum, Ipse suis matibus male sano membra furore

796 '. Neuntes Kapitel.

von Ellwangen, der im Jahre 874 nach Christus starb, erinnert sich in einem Briefe an den Abt Grimald der Mimen. Alcuin ermahnt einen jungen Freund und Schüler, der nach Italien zieht, er möchte sich doch dort nur ja vor den Mimen in Acht nehmen, es sei besser, Gott zu gefallen als den Mimen1).

Wie einst im Altertum, wurden die Mimen auch im Mittel- alter den Damen gefährlich. Das zeigt der bekannte Schwank vom „Schneekinde" aus dem Zeitalter der Ottonenr der modus Liebinc. Ein Schwabe, ein Kaufmann aus Konstanz am Bodensee, unternimmt eine Seereise. Inzwischen sind wandernde Mimen bei seiner Frau eingekehrt, und als er nach zwei Jahren heimkehrt, kommt sie ihm mit einem neuen Söhnlein entgegen und beichtet ihm, bei einem Spaziergange in den Alpen habe sie ihren Durst mit Schnee gelöscht und davon sei das Kind gekommen^).

Merkwürdig ist auch, was der Langobarde Liudprand von dem byzantinischen Kaiser Romanos I. Lekapenos erzählt. Als dieser für den jugendlichen Konstantinos Porphyrogennetos die

Discerpit scindit disrumpit diripit urit,

Anteque quam patulos Iferebi transcurrat hiatus,

Dat certum indicium, duce quo deductus abiret.

') Ep. 289. Wattenbach und Düminler, Monumenta Alcuiniana S. 872. Alcuinus discipulum in Italia peregrinantem ad vitam rede agendam litterasque colendas exhortatur. Studia olim communia in memoriam revocat.

Pater filio, pacificus peregrino, magister discipulo, socius socio peregrinationis sempiternam salutem ...... Melius est Deo placere quam histrionibus, pauperum

habere curam quam mimorum. Sint tibi honesta convivia et convivae religiosi. Esto senior in moribus, quamvis iunior in annis.

2) Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.— XII. Jahr- hundert, herausgegeben von K. Müllenhoff und W. Scherer. 2. Aufl. Berlin 1873, S. 32:

Advertite, omnes populi, ridiculum

et audite quomodo

Suevum mulier et ipse illam defrudaret ....

Nee interim domi vacat coniux . mimi juvenes seeuntur :

quos et immemor viri exulis excepit gaudens

atque' nocte proxima

praegnans Jilium iniustum fudit iusto die.

Der römische Mimus im Mittelalter. 797

Regierung übernommen (919—944) und mit List und Tücke von den Grofsen des Reiches erlangt hatte, dafs man ihm die roten Schuhe, das Symbol der kaiserlichen Würde, bewilligte, da ver- langte er später auch die Krone; denn, erklärte er, er komme sich buntscheckig wie ein Mime vor, wenn er mit seiner Fufs- bekleidung wie ein Kaiser, mit seiner Kopfbedeckung aber wie ein gemeiner Mann erscheine. Auch die Mimen liebten ja, sich mit bunten Farben zu bemalen, aber er müsse dafür danken; entweder wolle er mit den purpurfarbenen Sandalen und mit der Krone erscheinen oder überhaupt auf den buntscheckigen Anzug verzichten und fortan auch die purpurnen Stiefel ablegen x). Diese Schilderung beweist, dafs die Mimen im Mittelalter genau so buntscheckig auftraten wie im Altertum ; ich erinnere auch an den centunculus, den bunten Harlekinsrock der mimischen Narren. Jedenfalls haben die Mimen das ganze Mittelalter hindurch das Volk und die Fürsten mit ihren Späfsen, Schauspielen und Liedern erheitert. Noch im spätesten Mittelalter ist von ihnen die Rede. So berichtet der Mönch Donizo, Herzog Bonifacius von Etrurien habe gelegentlich seiner Hochzeit mit Beatrice von Lothringen die Mimen besonders reich beschenkt -)> und in der Chronik von Asti heifst es, als Galeazzo Visconti die Tochter des Markgrafen von Este in Mailand heiratete, seien an die Ioculatoren 7000 gute Kleider verteilt worden '). Bei dem Feste des Ritterschlags

*) Liudprandi Antapodosis Lib. III, 35 (in Mon. Germ, histor. Tom. V. Script. 3 S. 310: visum est mihi histrionum mimorumve more ineedere, qui ut ad risum facile turbas illieiant, variis sese depingunt colori- bus. Risum denique aliis non solum, sed mihi etiam ipsi moveo, dum pedibus im- peratorem, capite communem imiiari videar plebtm. Nam quae comoedia? mimus quis melior? Gemeint sind nur byzantinische Mimen. Aber die abendländi- schen Mimen können kaum auders ausgesehen haben, da Liudprand mit so grofser Selbstverständlichkeit spricht. Variis sese depingunt coloribus = pig- menti muhicoloribus bei Sidonius Apollinaris. Vgl. oben S. 426. VI. 600. 704.

2) Donizo monachus, vita Mathildis, lib. I, cap. 9. Mon. Germ, histor. XIV, Script. XII. S. 366/367.

3) Chronicon Astense, cap. XIV (in Muratori; Rer. ltal. XI, 169/70):

Opera Maffei Visconti maxima fuerunt. Omnes Lombardi metuebant eum. Galeatius tius filius cepit in uxorem sororem Marchionis de Este. Admirabües nuptiae pro

798 Neuntes Kapitel.

der Jünglinge aus dem Hause Malatesta und vieler anderer Adligen zu Ariminum im Jahre 1324 hatten sich mehr als 1500 histriones eingefunden und waren reich beschenkt entlassen worden1). So wird auch aus dem Jahre 1356 von einer fürst- lichen Hofhaltung Kaiser Karls IV. berichtet, zu der zahlreiche Mimen herbeiströmten und mit reichen Gaben bedacht wurden8). Gelegentlich zeigten sich auch Kaiser und Könige gegen- über den Mimen unfreundlich, das wird dann aber stets als Ausnahmefall bemerkt. So liefs Heinrich IL im Jahre 1054 bei seinem zu Ingelheim gefeierten Beilager mit der schönen Agnese von Poitou die histriones nicht vor sich kommen, sondern ent- liefs sie unbeschenkt3). Philipp August II. von Frankreich ver-

ea Mediolani jactae sunt, ad quas invitati fuerunt omnes Lombardi ; et tot data fuerunt joculaloribus plus quam 1 000 Pannorum bonorum.

1) Annales-Caesenates (bei Muratori XIV. Rer. Ital. S. 114 1/2): De militia Malatestorum et plurium aliorum. Millesimo CCCXX1V. die Dominico Festivitatis Paschae Roxatae III. mensis Iunii. Magnifici et Potentes Domini Pandulphus Mala- testa et Galeottus eius filius, Ferranlinus et Malatislinus eius Jilius sumse-

runt in Arimino cingulum militare. Triumphus quidem maximus fuit ibidem, ad quorum honoranf iam concurrerunt Florentini, Perusini, Senenses, Bononienses, et omnes Nobiles et Potentes de Tuscia, Marchia, Romandiola, et fere tota Lombardia .... Fuit et iam multitudo histrionum circa mille quingentos et ultra.

2) M. Alberti, Argentinensis Chronicon (in „Germaniae historicorum illustrium quorum plerique ab Henrico IV. imperatore usque ad annum Christi 1400 Tomus unus Christiani Urstisii Basiliensis fide et studio nunc in lucem editus" pars altera p. 164): Anno Domini 1356 venu Carolus impe- rator ad civitatem Metensem in adventu Domini: fueruntque ibi Principes, Electores et Officiales sui ministrales. Imperii, quorum quilibet ministrabat Imperatori sedenti in mensa, in officio seu ministerio suo proprio. Quilibet autem veniebat super equo, usque ad mensam. Descendente vero de equo coram mensa, histrionibus et mimis dabatur equus.

3) Herimannus (Contractus) Augiensis, Chronicon (in Mon. Germ, histor. VII Script. 5. S. 124) ad annum 1043: Exin Agnetem Wilhelmi Pictaviensis filiam, sponsam suam accipiens, et Mogontiaci reginam ungui faciens, regales apud Ingelemheim nuptias celebravit, et in vano histrionum favore nihili pendendo, utile cunctis exemplum, vacuos eos et moerentes dimittendo, proposuit .... Dasselbe be- richtet Saxo, der Annalist, Annalista Saxo ad annum 1045 (in Mon. Germ, histor. VIII. Auetores antiqq. 6, p. 687). . . . Deinde Agnetem Willehelmi Picta- viensis prineipis filiam, reginam apud Mogontiam ungi faciens, regalibus sibi nupttis Ingelenheim copulavit; unde infinitam multitudinem histrionum et ioculatorum sine

Der römische Mimus im Mittelalter. 799

ordnete, wie der Historiker Rigord berichtet, im Jahre 1185

cibo et muneribut vacuam et merentem abire permisit. Otto von Freisingen, Chron. VI, 32 (M. G. H. Script. Bd. XX, S. 244), berichtet von derselben Sache mit den Worten : omne balatronum et histrionum collegium, quod, ut assolet, eo conßuxerat, racuum abire permisit, pauperibusque ea, quae membris diaboli subtraxerat, large distribuit.

Hier sind Grysar einige Irrtümer begegnet, welche die eigentümliche Art seiner Stadien für den Mimus illustrieren. Auf Seite 333 heifst es bei ihm: „Agoberd, Erzbischof von Lyon, beklagt es in einem Briefe vom Jahre 83&. dafs der König wenig für die Kirche, desto mehr für die Komödianten thue: inebriat histriones, mimos turpissimos et vanissimos ioculatore*. Hermann, Contr. Chronic, ad. a. 1043, sagt beinahe im ähnlichen Sinne: ad solemnia eiusmodi agmina mimorum et histrionum conßuunt, ac munera a principibus re- ferunt." Man kann suchen, soviel man will, diese Stelle findet sich bei Heri- mannus nicht, auch überhaupt nicht in irgend einer anderen Chronik. Da- gegen citiert Muratori in den Antiquitates Italicae medii aevi Tom. II in der Dissertatio vigesima noiia: De spectaculis et ludis publicis medii aevi auf S. 843 B die eben angeführt^ Stelle aus Otto von Freisiugen; diese Stelle hat dann Grysar S. 335 einfach aus Muratori abgeschrieben. Dann heifst es hei Muratori an derselben Stelle weiter: Paria habet Rermannus Contractu* ad Autatm MXLIH in fusiori editione illius Chronici. Quae cnnnia ottendunt tum XI. Saeculo tantum, sed iamdiu inraluisse moretn, ut ad solemnia eiusmodi spectacula agmina Mimorum et Histrionum conjluerent ac munera a Principibus re/errent. Diese Worte Muratoris hat Grysar für die des Herimannus angesehen und sich so dieses Zeugnis Herimanns zusammen- geschmiedet. Die Quellen selber aufzusuchen gehört nicht zu seinen Ge- pflogenheiten. Darum kann er auch oben sagen, Agoberd klage, dafs der König die Mimen füttere: er hat diese Stelle wieder einfach ans Muratori a. a. 0. S. S45 D abgeschrieben. Hätte er bei Agobert selbst nachgesehen, so hätte ihn der Zusammenhang gelehrt, dafs gerade die Kirchenfürsten, nicht der König gemeint sind (vgl. oben S. 795). Doch hier handelt es sich um entlegene mittelalterliche Litteratur, aber selbst mit den alten lateinischen Quellen geht Grysar nicht vorsichtiger um. Für ricinium giebt er (S. 270) aus Festus das Citat: Ricinia autem portabani, quo aequiore habitu prodirent, atque ut inde nomen ducerent. Ich habe Tage lang im Festus umsonst nach diesem Citate gesucht und mich nicht wenig geärgert, endlich merkte ich, dafs diese Belegstelle für ricinium wieder einfach Grysarsches Fabrikat ist aus der Festusstelle (0. Müller S. 181): planipedes autem soecos nonporta- bant, quo aequiore habitu prodirent: quo factum ut inde nomen ducerent Auf S. -247 ist von dem „mit römischen Kognomen überscbriebenen, also doch wohl römischen Mimus Natta" des Laberius die Rede, der bei Gellius XVI, 7 vorkommen soll. Dieser Mimus heifst aber Natal, und bei der Aufzählung

800 Neuntes Kapitel. '

den „histrionen" mit ihren verderblichen „verba ioculatoria"

der Mimen des Laberius (S. 294) giebt Grysar nachher selbst unter Berufung auf Gellius XVI, 7 diesen Titel richtig und hat schon längst vergessen, dafs er eben von einem seiner Vorgänger, der noch in einer alten Gelliusausgabe Nata las, das einige hss. haben, den Mimus Natta acceptiert hat. Er hat die Gelliusstelle eben garnicht angesehen. S. 328 ist von den verschiedenen Theatern die Rede, die in Rom erbaut waren, dort heifst es weiter: „Plin. H. N. XXXV, 38 bezeichnet uns sogar namentlich einen gewissen Publius als den Erbauer einer Mimenbühne: Publius mimicae scenae conditorem etc.'1 Die Stelle steht nicht, 38 sondern 58 und lautet richtig: Publilium Antiochium etc., und wenn Grysar die Stelle eingesehen und nicht blofs wieder abgeschrieben hätte, hätte er gesehen, dafs hier nicht von irgend einem Baumeister einer Mimenbühne, sondern von dem berühmten Mimographen Publilius Syrus die Rede ist, dem der Ehrentitel conditor mimicae scenae beigelegt wird. Wie Grysar mit den Quellen umgegangen ist, dafür habe ich schon oben ein' und das andere Beispiel gegeben, und diese Beispiele lassen sich stark vermehren, doch wozu (vgl. S. 69, 171, 426, VI, 433, 444 u. ö.). Von einer methodi- schen Ausnutzung der Quellen, ja überhaupt nur von einem Nachschlagen der Citate ist keine Rede, das meiste ist einfach von den Vorgängern ent- lehnt, die wieder ihre Vorgänger benutzen, so sind die Stellen zur Geschichte des Mimus wie abgegriffene Scheidemünze von Hand zu Hand, von Geschlecht zu Geschlecht gegangen; an diesen Bettelpfennigen hat man sich so lange genügen lassen und seine" Unkenntnis des Mimus gelegentlich mit pathetischen Schimpfereien über seine Sittenlosigkeit und Armseligkeit verbrämt. Selb- ständig scheint Grysar die lateinische Patrologie Mignes, wenigstens nach den Indices, durchgearbeitet zu habeii. Aber diese unter theologischen Ge- sichtspunkten verfafsten Indices sind für den Mimus natürlich ganz un- genügend, zudem fehlen sie zum grofsen Teile überhaupt. Da war der Liebe Müh' umsonst. Vollständiger, was den Mimus angeht, sind die In- dices in den alten Einzelausgaben aus dem XVI, XVII und XVIII. Saecu- lum, besonders in den Maurinerausgaben des Augustin und Johannes Chrysostomus ; die hat aber Grysar natürlich wieder nicht' benutzt. Da- gegen bieten die Indices bei Vallarsi und den Maurinern für Hiero- nymus kaum ein einziges Mal das Wort „Mimus", und doch findet man, wenn man Hieronymus genau durcharbeitet, den Mimus unablässig erwähnt. Nur eine solche Durcharbeitung aller einschlägigen Quellen konnte hier eine wissenschaftliche Grundlage liefern, aber darüber gehen viele Jahre hin, und die hatte Grysar wohl nicht übrig. So hat dieses ziemlich leichtfertige Machwerk mit seiner aus einer ganz ungenügenden Kenntnis der Quellen resultierenden geringschätzigen, platten und banalen Auffassung des grofsen mimischen Dramas jeden Fortschritt auf diesem wichtigen litterarischen Gebiete gehindert, wo das Eingeständnis der Unwissen-

Der römische Mimns im Mittelalter. 801

sollten nicht mehr seine abgelegten Gewänder, sondern den Armen gegeben werden1).

Diese Nachrichten über die Mimen stammen vorwiegend aus dem westlichen Deutschland, aus Italien und Gallien. In diesen Ländern waren seit dem ersten Jahrhundert nach Christus die Mimen besonders zahlreich. Aber auch in Britannien sind sie in der nachchristlichen Aera weit verbreitet gewesen. So be- richtet Peter von Blois, an dem Hofe Heinrichs II. von England hätten die Histrionen und Mimen besondere Geltung gehabt ). Das bestätigt Johannes von Salisbury. Er lobt den Augustus, der sich von seiuer Leidenschaft fürs Theater habe heilen lassen. Ganz anders Nero, der trotz seiner Habsucht den Mimen und Histrionen unermefsliche Schätze zufliefsen liefs und sie zu Patriziern und Senatoren ernannte. In der That trieb Nero die Leidenschaft für den Mimus bis zur Verrücktheit1). Nach Nero

heit und Unzulänglichkeit viel nützlicher gewesen wäre als dieses falsche und ein wenig schwindelhafte Wissen, von dem man sich merkwürdiger Weise allgemein imponieren liefs. Ich erinnere nur an Sathas Lobspruch (vgl. obeu S. o83, Anm. 1). Teuffei wufste an Grysar nur zu tadeln, dafs er die Zeiten nicht genug sondere. Du lieber Gott, wir haben ja allerdings den althellenischen, alexandrinischen, griechisch-römischen und byzantinischen Mimus geschieden: aber wir haben daneben gerade eine gewisse Stabilität in der Form der mimi- schen Hypothese sowie in den mimischen Typen und Themen konstatieren können; dieser Einwand, der kritisch und gelehrt klingt, beweist also nur, dafs Teuffei noch weniger vom Mimus verstand wie Grysar und hier noch oberflächlicher urteilte.

') Rec. d. histor. des Gaules et d. 1. France t. XVII. S. 21.

2) Petrus Blesensis, Epistolae (Migne, Patrol. lat. 207, pag. 49, Epi- Stola XIV): .... Curritur ad meretrices et tabernacularios atriales, utjnquiratur ab eis, quo princeps profecturus sit. Hoc enim genus curialium arcana palatii Jrequenter novit. Regis enim curia/n sequuntur assidue histriones, candida- trices, aleatores, dukorarii, caupones, nebulatores, mimt, barbatores . . . .

*) Polycraticus Lib. I, cap. VII. De dissimilitudine Augusti et Neronis (ed. A. Giles, I, Oxford 1848, S. 41 ff.): Augusto tympanizante in caena, a quodam milite probrose dictum est: Vides ne ut cinaedus orbem digito tem- peret? Cujus ille verbi percnssus amaritudine, os, manus et animum in aevum ab hvjusmodi levitate suspendit; habuitque semper gratiam exprobranti. Sed lange secus Nero .... Cum vero esset omnium avarissimus, adeo ut nullt quodcunque officium delegaret, quin prosequeretur, Nosti quid mihi opus sit: aut illud subjiceret. Qui Reich, Mimus. ci

802 Neuntes Kapitel.

und nicht nach Augustus, meint nun Johannes von Salisbury, richteten sich zu seiner Zeit die Fürsten und das Volk in Eng- land, sie seien durchaus Freunde der Mimen. Im Altertum gab es allerdings würdige Schauspiele, denen auch ein ernsthafter Mann mit Recht sein Interesse hätte zuwenden können. Das lehre das Beispiel des Plautus, Menander und Terenz. Zu seiner Zeit gäbe es aber nur die Mimen mit ihren sittenlosen Dar- stellungen und die Gaukler. Sie würden mit Vorliebe selbst in die vornehmsten Haushaltungen aufgenommen und niemand kümmere sich darum, dafs sie von den Kirchenversammlungen exkommuniciert seien und dafs darum auch ihren Gönnern das ewige Verderben bevorstände1).

omnibus praeest, omnibus indiget: tarnen histrionibus et mimis pecunias infinitas erogare non gravabatur; singulos jjrout quisque placuerat, amplissimae dignitatis nomine subornabat, alios patriciosj alios senatores dicens. Hos illustrium spectabi- liumve nominibus illustrabat.

l) Cap. 8. De Histrionibus et Mimis et Praestigiatoribus. Eum vero adhuc aliqui pro parte imitantur, etsi foeditate illius nemo dignetur involvi, quum gratiam suam histrionibus et mimis multi prostituant, et in exhihenda malitia eorum caeca quadam et contemtibili magnißctntia, non tarn mirabiles, quam miserabiles Jaciunt sumtus. lila tarnen aetas (ut sie interim dicam) honestiores habuit histriones, si tarnen aliquo modo honestum est, quod omni nomine libero comprobatur indignum. Nee tarnen histrionem assero turpiter in arte sua versari, etsi indubitanter turpe sit esse histrionem. Et quidem histriones erant, qui gestu corporis arteque verborum, et modulatione vocis, faetas aut fietas historias, sub aspectu publico referebant, quos apud Plautum invenis et Menandrum, et quibus ars nostri Terentii innotescit. Porro comicis et tragicis abeuntibus, quum omnia levitas oecupaverit, clientes eorum, comoedi videlicet et tragoedi, exterminati sunt. Sed eos in servili conditione duntaxat ple- rumque reperies. Quis vero eorum usus extiterit, poetica docens aperit.

Aut prodesse volunt, aut delectare poetae

Aut iueunda simul et idonea dicere vitae. At nostra aetas prolapsa ad fabulas, et quaevis inania, non modo aures et cor prostituit vanitati, sed oculorum et aurium voluptate, suam muleet desidiam, luxuriam accendit, conquirens undique fomenta vitiorum ....

Vitanda est, inquit Ethicus, improba Siren

Desidia

At eam nostris prorogant histriones. Exoccupatis etenim mentibus surrepunt taedia,

seseque non sustinerent, si non alieuius voluptatis solatio muleerentur. Ad/nissa sunt

ergo speetacula et infinita tyrocinia vanitatis, quibus qui omnino otiari non possunt,

Der römische Mimus im Mittelalter. 803

Wie in den Kirchenversammlungen des griechischen Ostens wird der Mimus in denen des lateinischen Westens stets von neuem verflucht, und die Mimen werden unablässig weiter mit Exkommunication bedroht, weil sie eben unaufhörlich weiter existierten. So werden in der zweiten Synode von Arras im Jahre 452 die christlichen Mimen, so lange sie ihren Beruf aus- üben, von der Kommunion ausgeschlossen1). In den Kapitularien Karls des Grofsen wird den Geistlichen ausdrücklich das Halten von Mimen (Ioculatoren) untersagt2), desgleichen den Mimen und Schauspielern verboten, in Kleidern von Priestern, Mönchen und Nonnen aufzutreten3). Wir wissen, dafs genau dasselbe Verbot

pemiciosius occupentur. Satius enim fuerat otiarit quam turpiter occupari. Hinc m im i, salii, vel saliares, balatrones, aemiliani, gladiatores, palaestritae, gignadii, praestigiatores malifici quoque multi et tota joculatorum scena procedit. Quorum adeo error invaluit, ut a praeclaris domibus non arceantur, etiam Uli qui obscenis partibus corporis, oculis omnium eam ingerunt turpitudinem, quam erubescat videre vel Cynicus. Quodque magis mirere, nee tunc ejiciuntur, qvando tumultuantes inferius crebro sonitu aerem foedant, et turpiter inclusum, turpius produnt. Xumquid tibi videtur sapiens, qui oculos, vel aures istis expanditP Quis tarnen libenter non videat et rideat, quum praestigiatoris lotio perfusi ars deletur, et oculis, quos malitia sua praestrinxerat, videndi facultas reparatur f Iucundum quidem est, et ab honesta non recedit, vimm probum quandoque modesta hilaritate muleeri, sed ignominiosum est gravitatem huiusmodi laseivia frequenter resolvi. Ab istis quoque speetaculis, et maxime ab obscenis, viri arcendus est oculus, ne Incontinentia ejus, mentis quoque im- pudicitiam fateatur . . . Sacrae quidem communionis gratiam histrionibus et mimis, dum in malitia perseverant, ex auetoritate patrum non ambigis esse praeclusam. Unde quid fautoribus eorum immineat colligis, si facientes. et consentientes pari poena recolis esse plectendos. Qui donant, inquit, histrionibus, quare donanfi Hoc utique in Ulis Jovent, in quo nequissimi sunt. Nempe qui nequitiam fovet, estne bonusf Quum vero omnium istorum sit odibUis, illorum tarnen qui minus nocent, malitia tolerabilior est.

') Harduin II, 774. De agitationibus sive theatricis, qui jideles sunt, placuit eos, quamdiu agunt, a communione separari. Vgl. auch Hefele, „Concilien- geschichte" II, 283.

J) Caroli Magni capitularia. Duplex legationis edictum 789 m. Martio 23 (M. G. h. Leges, sect. II, I, S. 64) 31. Ut episcopi et abbates et abbatissae cupplas canum non habeant nee falcones nee aeeipüres nee ioculatores.

s) Caroli Magni capitularia, t. V, p. 1509 ed. Heineccius: Si quis ex scenicis vestem sacerdotalem aut monasticam vel mulieris religiosae, vel qualicunque ecclesiastico statu simUem indutus fuerit, corporali poena subsistat et exilio tradatur.

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804 Neuntes Kapitel.

gegen die Mimen im byzantinischen Osten erlassen werden mufste (vgl. oben S. 134, Anm. 2). Im bayrischen Landfrieden vom Jahre 1244 und 1256 werden zusammen mit den Lotterpfaffen die histriones und ihr weiblicher Anhang, Mimen und Miminnen, spilman und spilwip, für aufserhalb des Friedens stehend erklärt1).

*) (Mon. Germ, histor. Leges Sect. IV, Constitutiones II, 577.) Pax Bawarica 1244, Nr. 427, 1244 ante Jul. 25. 64 (61 L): De vagis et hystrioni- bus. Item clericos tonsuram laycalem deferentes, videlicet vagos, et etiam laicos istriones, mulieres secum per provinciam ducentes, et quoslibet ioculatores nisi in sua parrochia innatos ponimus extra pacem.

Pax Bawarica 1256, Nr. 438 (S. 600), 1256 ante Nov. 11. (50. XXXIII.) De vagis. Loterpfaffen mit dem langen hare und spilleut, di diu wip mit in furent uzzerhalb ir pfarre, di sint uz dem fride.

Ähnlich werden in Kapitularien Ludwigs des Frommen oder "Kaiser Lothars die histrionen und scurren für unfähig der Zeugenschaft vor Gericht erklärt. M. G. hist. leg. II, 1. S. 334. Capitula singillatim tradita et Hludo- wico pio vel Hlothario adscripta. Capitulum ultimnm est secundae ad Ansegisum appendicis in codice Paris. 10758. Originis incertae est. 8. De non accipiendis qualibuscumque personis in iuditio, in accusatione et testimonio. Hoc sancimus, ut in palatiis nostris ad accusandum et iudicandum et testimonium faciendum non se exhibeant viles personae et infames, histriones scilicet, nugatores, manzeres, scurrae.

Wenn im Mainzer Concilienbeschlufs aus derselben Epoche (847) (Ad- ditamenta ad capitularia regum Franciae orientalis Nr. 248 in Mon. Germ, histor. leges II, II, S. 179) von den Geistlichen verlangt wird: ante se ioca saecu- laria vel turpia fieri non permittere, so sind damit die Späfse (ioca) der iocu- lares, der filfxoi yeXotcov gemeint. Von diesen Späfsen der Mimen ist auch in dem concilium Turonense wie Cabilonense die Rede. Turonense III (813), Harduin IV, 1024. VII. Ab omnibus quaecumque ad aurium et ad oculorum pertinent illecebras, unde vigor animi emolliri posse credatur, quod de aliquibus generibus musicorum aliisque nonnullis rebus sentiri potest Dei sacer- dotes abstinere debent: quia per aurium oculorumque illecebras, vitiorum turba ad animam ingredi solet. Histrionum quoque turpium et obscoenorum nisolentias ioco- tum et ipsi animo effugere ceterisqice sacerdotibus effugienda praedicare debent. 8. Sacerdotibus non expedit, saecularibus et turpibus quibuslibet interesse jocis; venationes quoque ferarum vel avium minime sectentur.

Cabilonense, Chalons sur Saone 813, II, can. IX. Harduin IV, 1034. IX. Ab omnibus oculorum auriumque illecebris sacerdotes abstinere debent: et camtm, accipitrum falconum vel ceterarum huiusmodi rerum cur am parvi pendere: et h istrio- num, sive scurronum et turpium seu obscenorum iocorum insolenüam non solum ipsi respuant, verum etiam fidelibus respuendum percussant.

Der römische Mimus im Mittelalter. 805

Noch in der Pariser Synode vom Jahre 1212 oder 1213 wird es den Bischöfen eingeschärft, am Anfang und Ende ihrer Mahlzeiten müsse eine Lesung aus der heiligen Schrift stattfinden und bei ihren Gastmählern dürften keine Mimen auftreten1). Das wird ausdrücklich verboten, weil es gewifs ebenso die Regel war, wie bei den Gastmählern der weltlichen Grofsen. Ich erinnere an den Bischof von Ephesus, der auf die Schulter einer Mimin gestützt zum Gastmahl kam (vgl. oben S. 154). In einem Concilien- beschlufs von Ravenna vom Jahre 1238 wird hervorgehoben, zu den weltlichen Festen bei der Erteilung des Ritterschlages und bei Hochzeiten fänden sich gern die histrionen und ioculatoren ein. Dann hätten die Laien die Gewohnheit angenommen, die Mimen nach Beendigung des Festes zu den Geistlichen zu senden, und diese verschwendeten nicht selten das Kirchengut an die Mimen. Fortan aber müsse jeder Kleriker das Doppelte von dem, was er von KircheDgeldern einem Histrionen gegeben habe, den Armen aus seinem eigenen Vermögen darreichen'). So glaubte schon im Altertum der Patriarch Dioscoros von Alexan- dria ein reiches Vermächtnis, das den Armen gemacht war, besser für die Mimen aufzuwenden (vgl. oben S. 154, 155). Auch Erz- bischof Agobert führte Klage über das Kirchengut, das für die

1) Labbe XI (I), 77. V. Ut in menta eorum fiat sacra lectio Statuimus etiam, ut in mensa, nahem in principio et in ßne, coram eis sacra lectio re- citetur: et ne in mensa histriones, vel mimos vel eorum audiant instrumenta. Ähnlich heifit es iu einem Hirtenbriefe Tom Jahre 1280 bei Montfaucon, Catalog. manuscr. S. 1 158 : Nullus spectaculis aiiquibus quae aut in nuptiis aut in scenis exhibentur, intersü.

2) Concilium Ravennate I, anno Christi 1286 (Labbe XI (U), 1238D, E, 1239 A, B) Capitula: Ne clerici ioculatores vel histriones a laicis trans- missos recipiant. . . . cum laici decorantur cingulo militari, seu nuptias contrakunt,

ioculatores et histriones transmittunt ad clericost ut eis provideant

statuimus, ut nullus clericorum nostrae provinciae, quocumque fungatur honore vel statu, a talibus ioculatores vel histriones transmissos recipiat, seu provideat aliquid propter victum, etiam transeundo. Si quis autem contra fecerit duplum eius, quod dederit ioculatori vel histrioni, restituere ecclesiae, a qua habet beneficium, teneatur. per ipxum in MM pauperum convertendum.

806 Neuntes Kapitel.

Mimen vergeudet wurde (vgl. oben S. 795). Unaufhörlich wird den Geistlichen ihre Freude an den Mimen und ihren Schau- spielen von zeitgenössischen Satirikern vorgehalten. So klagt der Archipoeta darüber, dafs die Geistlichen wohl die Mimen, aber nicht ihn mit offenen Armen aufnehmen. Walther Mapes spottet über die Kleriker, die für die Schauspiele immer Zeit haben1). Noch gegen Ende des fünfzehnten, Jahrhunderts werden Synodalbeschlüsse gegen die „mimi et ioculatores" er- lassen 2).

Schliefslich fanden sich denn auch im lateinischen Westen ebenso wie im byzantinischen Osten angesehene Geistliche, die den Mimus und die Mimen nicht so ohne weiteres verwerfen wollten, wie z. B. der heilige Thomas von Aquino (13. Jahr- hundert)3). Ja, sogar die Päpste liefsen es sich gefallen, wenn man ihr Erscheinen in einer Stadt mit Mimen und Spafsmachern feierte. Als Pabst Hadrian VI. im Jahre 1522 von Spanien nach Rom reiste, traten in dem spanischen Städtchen Calahorra ihm zu Ehren Mimen auf. Das ist ungefähr dieselbe Zeit, in

x) Wright, Latin poems commonly attributed to Walther Mapes, p. 233 (de dirersis ordinibus hominum):

Clerici spectacula saepe visitabunti tabulas non deserent, plateas calcabunt et canem pacificum stantes excitabunt libris tardabunt, ad ludos se properabunt.

2) So z. B. auf der Synode zu Olmütz VII (Hartzheim IV, 338): nullus dericus . . . alicui joculatori seu mimo ex nupciis sibi transmisso per aliquem aliquid dare praesumat. Ebenso Synod. Frising. 1480 (Hartzheim V, 512): mimis, j oculatoribus, hystrionibus, buffbnibus seu hominibus artis lubrice pretextu nuptiarum vel alterius similis cansae (rae) quidquam largiantur. Bei Helele in der Conciliengeschichte findet sich unablässig das ganze Altertum und Mittelalter hindurch die Erwähnung solcher Beschlüsse gegen das Theater und die Schauspiele, insbesondere aber gegen die Mimen und Ioculatoren, so 1, 153, 747, III, 307, VI, S. 171, 212, 433, 591, 597, VII, 1, S. 414 u. 415, VII, 2, S. 414, VIII, 6, besonders mit Anm. 3, 37, 201, 293.

3) Vol. II, 2 quaest. 168, art. 3: Histrionum officium non esse per se illici- tum, dummodo moderate ludo utantur, id est non utendo illicitis verbis vel /actis ad ludum.

Jongleur nnd Jongieresse. Mimus und Mima. 807

welcher die' Sultane der Türken ihre Feste durch den byzautini- schen Mimus verherrlichten1).

IL Jongleur und Jongieresse. Mimus und Mima.

Der Mime ist der yelooTonoiög, der ftTpog yeloi<*>v, davon ist iocularis und ioculator die lateinische Übersetzung. Schon in der Mitte des vierten Jahrhunderts bezeichnet Firmicus Materuus in seiner Astrologie die Mimen als „scenische ioculatoren *). So steht in dem alten griechisch-lateinischen Glossar ptpoi; = iocu- laris und im Mittellatein wird mimus und ioculator als identisch neben einander gebraucht. Erzbischof Agobert (im neunten Jahr- hundert) stellt mimos'turpissimosque et vanissimos ioculares zu- sammen (vgl. oben S. 795, Anm. l)s).

l) Baluzii, Miscellaneorum lib. III, 364. Paris 1690. Itinerarium Adriani VI. Pontificis maximi per Blasium Ortizium in Decretis Doctorem Canonicumque Toletanum ac generalem Vicariam summa fide collectum. IV. De honorifica receptione a Lucronensibus habita in Pontificis ad- ventu .... Hinc in oppidum de Alcanadre profeetus, ibidem pernoctavit. Die proxima, hora nona . in antiquam urbern Calagurrium receptus solenniter cum mim 15 et larvis aliisque huiusmodi ludis, .iocunde comitatus in Ecclesiam cathe- dralem.

') Hatbeseos lib. VIII, cap. 22 : Histriones faciet, pantomimos, ac scaenicos ioculatores.

3) Du Cange citiert Lambertus Ardensis pag. 247: ministrantüms mimicis, nebulonibus, yarcionibus, scurris et locularibus (s. v. iocularis); desgleichen (s. V. Mimare) Lit. remiss. ann. 1361 in Reg. 91. Chartoph. reg. eh. 241: Bequisi- rerunt unum mimum seu jugalatorem (sie) .... pro ludendo et spatiando seu Mimando cum ipsis. Das Verbum mimare entspricht dem griechischen ptfio- Xoytio&ai, das Strabo von den Atellanenspielern braucht (vgl. oben S. 281, Anm. 1). Es ist eine mittellateinische Bildung; man bedurfte eines eigenen Verbums für die Thätigkeit des Mimen, den man beständig vor sich sah, und der einen so wichtigen Platz im mittelalterlichen Volksleben einnahm. Selbst für die mimischen Spöttereien, Foppereien und Spafsmachereien, die losen und übermütigen Reden und Narrheiten, die mimicae ineptiae und artes mimicae bildete man ein besonderes Substantivum : mimaritiae. Der Abt Pirminius (stnrb 758) sagt: Xullus Christ ianorum neque ad ecclesiam, neque in domibust neque in trivio, nee in ullo loco balationes, cantationes, saltationes, Jocus

gQg Neuntes Kapitel.

In spanischen Concilienbeschlüssen werden gleichfalls die juglars mit den Mimen identifiziert1).

Allmählich gaben die romanischen Sprachen vor dem griechi- schen Lehnwort mimus dem echt lateinischen, auch in seiner stammhaften Bedeutung noch den Romanen verständlichen, iocularis und ioculator, altfransösisch jogleor (modern Jongleur), italienisch giocolare, giocolatore, spanisch juglar, den Vorzug. Davon stammt im Englischen Juggler, im Althochdeutschen gougaläri, coucaläri, gouggiläri, Mittelhochdeutschen gougelaere, goukelaere, modern Gaukler.

Nun scheint ja allerdings die Schauspielkunst, die eigentliche Kunst des Mimen, sehr weit abzuliegen von den Fertigkeiten der alten Jongleure. Von ihnen gab Tobler vor mehr als 25 Jahren in der formvollendeten Abhandlung „Spielmannsleben im alten Frankreich" eine lebensvolle Schilderung., Ich kann mir's nicht versagen, daraus eine besonders lehrreiche Stelle hier- her zu setzen: „Der unbekannte Dichter der breit angelegten Novelle „Flamenka" weifs kaum ein Ende zu finden, wo er aufzählt, was beim Feste zu Ehren der in Bourbon eingetroffenen jungen Gemahlin an Ohren- und Augenschmaus den Gästen geboten worden sei: aufser den Liedern aller Gattung, der unabsehbaren Reihe von erzählenden Gedichten ...... aufser den vielerlei In- strumenten, die er ertönen läfst, der Fiedel, der Harfe, der Flöte, der Pfeife, der Geige, der Rote, dem Dudelsack, der Schalmei, der Mandoline, der Zither und einigen anderen, für welche deutsche Namen fehlen, erwähnt er der Kunststücke, die mit Messern ausgeführt werden, des Puppenspiels (wenn wir ihn

et lusa diabolica facere non praesumat. Mimaiitias et verba turpia et ama- toria, vel luxuriosa, ex ore suo non proferat. (De singulis libris canonicis sca- rapsus. Migne, Patr. lat. 89, pag. 1041 D.). Allerdings fielen bei den Liebes- geschichten, welche die Mimen darstellten, verliebte und üppige Reden und besonders im roheren Mittelalter mögen sie direkt schändlich gewesen sein. Von Interesse ist hier wieder die Zusammenstellung von mimaritiae mit iocus. >) In Conc. Tarracon. VIII, ann. 1317 inter Constit. Mss. reg. Aragon.: Moneantur (clerici) quocl nee tafurarias exerceant bastaxi aive Iucglars mimi, etc. (bei Du Cange s. v. ioculator).

Jongleur and Jongieresse. Mimus und Mima. 809

richtig verstehen), der Purzelbäume, des Kriechens am Boden, des Tanzes mit einer Flasche, des Springens durch einen Reif; kurz, wir dürfen ihm wohl glauben, wenn er am Ende seiner Beschreibung sagt: Und von der Fidein lautem Schall, Vom Lärmen der Erzähler all, War durch den Saal ein grosses Brausen! Jaquemet Saquesep, der die Geschichte des Castellans von Coucy des breiteren erzählt hat, läfst bei ähnlicher Ge- legenheit auch Hörner, Tamburine, Zimbeln ertönen, Ochsen und Bären tanzen. Jean aus Cond6 klagt einmal über den geringen Erfolg seines lehrhaften Dichtens und schätzt den „Spielmann" glücklieh, dem es besser gelinge, „zum Ergötzen der Leute einem Pferde, einem Bären, einem Hunde mancherlei Kunststücke für die Dauer beizubringen ■tl).

Die Jongleure sind also vorwiegend Gaukler, Springer, Tänzer, Bändiger und Abrichter von Tieren, daneben auch Spielleute, Sänger und Erzähler; die Mimen dagegen sind Schau- spieler.

Nun. wir haben gesehen, wie im vierten und fünften Jahr- hundert v. Chr. der Stand der antiken Mimen aus dem der Gaukler erwuchs, wie Gaukler und Mime noch später sich fried- lich nebeneinander produzierten, wie selbst das grofse mimische Drama neben sich die Produktionen der Gaukler im Dionysos- theater duldete, ja wie gelegentlich allerhandi Gauklerkünste in der mimischen Hypothese selber vorgeführt wurden. Ich denke an den kahlen Narren mit dem unzerbrechlichen Schädel bei Synesius, an das Blutspeien des Laureolus und seiner Räuber, au den Hund, der im Mimus mitspielt. So ward die Verwandt- schaft zwischen Mimen und Gauklern nie gänzlich aufgehoben.

') Im neuen Reich. Wochenschrift für das Lehen des deutschen Volkes. Leipzig 1895. S. 327 u. 32 S. Die hübsche Legende, die Tobler hier von einem alten Jongleur erzählt, der als Mönch die Jungfrau Maria weder mit lateinischem Gebet und Gesang noch sonstiger mönchischer Kunst zu ehren versteht und nun vor dem Bilde der Gebenedeiten ihr zu Ehren seine alten Sprünge und Gaukeltänze machte, erinnert uns an den greisen Mimen, der täglich auf dem Kapitol vor dem Standbild Juppiters diesem zur Ehre einen Mimus aufführte (vgl. oben S. 71).

810 Neuntes Kapitel.

Im Mittelalter war das Niveau der Volksbildung arg herunter- gedrückt, da pafsten sich die Mimen dem roheren Geschmacke an und bevorzugten wieder mehr ihre ,alte Gaukelkunst, hatten sie ja doch die Gaukelbühne des d^avfiatonoiog immer bei- behalten.

So können wir uns nicht wundern, den alten Mimen, den Jogleor als Tänzer, Springer, Gaukler, Messerwerfer, Bärenführer und Tierbändiger wiederzufinden1).

Mit dem Gaukler wanderte schon im klassischen Altertum die Gauklerin, mit dem Mimen die Mimin, mit dem Archimimen die Archimimin, und als der Mimus zum Jongleur wurde, ward die Mime zur Jongieresse. In einer Urkunde der Corporation des menetriens ou joueurs d'instruments de la ville de Paris , vom 14. September 1321 2) werden neben Jongleurs auch jongleresses, neben menestrels auch menestrelles genannt. Freilich hatte die jongleresse auch neben der mimischen und der Gaukelkunst den schlechten Ruf der niederen „Mimae" von diesen geerbt. So hat denn jongleresse und das gleichbedeutende menestrelle einen bösen Nebenbegriff3). In der oben genannten Uckunde unterzeichnet mit den Jongleurs und Menestrels unter anderen Miminnen eine Marguerite, mit dem Spottnamen la fame ou moine.

III. Jongleure und Mimoden.

Wir haben die Mimen in Mimologen und Mimoden geschieden. Die mittelalterlichen Mimen sind zum gröfseren Teile Mimoden.

J) Die einschlägigen Belegstellen dafür aus der altfranzösischen Litte- ratur siehe bei Freymond, Jongleurs und Menestrels. Halle 1883. S. 1 6 folg.

2) Abgedruckt bei B. Bernhard, Recherches sur l'histoire de la Cor- poration, des menetriers ou joueurs d'instruments de la ville de Paris. Bibliotheque de l'ecole des chartes t. III, p. 384.

3) Vgl. darüber Freymond a. a. 0. S. 11. Nachrichten über Spilwip giebt es aus dem frühesten Mittelalter. Vgl. Reiffenbergs Ausgabe der Chronik Mouskets. Bd. I, p. CXXXIX.

Jongleure und Mimoden. 811

Neben den hellenischen Mimoden und Mimodinnen stand stets ein Musikant oder eine Musikantin und begleitete die Arien mit Flöten, Pauken oder Cymbeln (vgl. oben S. 612ff.). So spielten die Jongleure und sangen dazu oder liefsen ihren Gesang auch von anderen auf Instrumenten begleiten. In der „Reise Karls des Grofsen* heifst es:

E cantent e vielent e rotent eil jugler

(V. 413 u. 837.)

Das Singen und Musizieren wurde allmählich zur Haupt- sache1), doch haben noch bis in die späteste Zeit Spielleute mit Musik und Gesang zugleich die alte, spezifisch mimische Kunst verbunden. So heifst es in einem Instrumentum vom Jahre 1482, das dem Spielmann Iter ausgefertigt war: Mihi nomen Iterius trahens originem ex Brabardiae finibus mimia et cantu victum aquiro*). Mimia ist aber nicht, wie Du Cange denkt, ein mittellateinisches Wort, sondern findet sich schon, wie wir saheu, im Griechischen bei Philo (vgl. oben S. 577 Anm.).

Die alten Mimoden, die sich zu Jongleuren und Menestrels verwandelt hatten, bemächtigten sich dann, da sie nun einmal im Mittelalter die Sänger nn? i%oxtjv waren, der uralten epischen Poesie der Germanen und Kelten und verdrängten Barden und Skalden. Schliefslich begannen sie gar selber an der Helden- poesie weiter zu dichten, das heifst dann „Spielmannsepik'' und diese Spielmannsepik schlägt am Ende wieder humoristische Töne an, weil der Spielmann den alten Mimen nicht ganz ver- leugnen konnte. Der Mime, der ioculator, wird eben im dunklen Mittelalter, als die mönchisch gewordene Bildung sich von allem Frohen, Heiteren. Volksmäfsigen als heidnischem Teufelsblendwerk abwandte, der Träger der gesamten Volkspoesie.

Es ist eine hohe Kulturmission, die der Mime, der immer etwas von dem alten, heidnischen Hellenentum beibehielt, im Mittelalter erfüllt, der, nach der alten mimischen Devise qdvg

M Siehe die Nachweise bei Freymond a. a. 0. S. 15 ff. 2J Bei Du Cange s. v. mimia.

812 Neuntes Kapitel.

ßioq &JV, das Recht der Lebensfreude hochhielt, aus der alle wahre Poesie und besonders alle Volkspoesie strömt. Da die vornehme, gelehrte, schriftmäfsige Weisheit der Hellenen im Staub der Bibliotheken, vergessen und begraben, moderte, er- hielt wenigstens der niedere, burleske Mime, der wandernde Gesell, etwas von der alten, heiteren hellenischen Welt und Lebensauffassung unter den Barbaren lebendig so gut er es vermochte.

Der Mime und Jongleur, als der Rhapsode des Mittelalters, ist eine seltsame Erscheinung2), aber nicht so seltsam, dafs wir

2) Ich gebe hier einige Belegst'ellen, die intimere Kenner der Litteratur des Mittelalters leicht werden vermehren können, für mimus = Musiker, Sänger, Rhapsode. Als König Konrads Heer im Jahre 973 von den Sachsen eine blutige Niederlage erlitten hatte, sangen nach Widukinds Zeugnis die Mimen, welche Hölle wäre grofs genug, um alle die Toten aufzunehmen: tarda caede Francos mulctati sunt, ut a mimis declamaretur, ubi tantus ille infernus esset, qui tantam multitudinem caesorum capere posset. Widukindi, Res gestae saxonicae Lib. I, 23. Mon. Germ. hist. V, S. 428. Du Cange teilt aus Nicolaus de Braia das Lied eines Mimen auf König Ludwig VIII. von Frankreich mit (s. v. ministelli S. 393) :

Dumque fovent genium geniali mutiere Bacchi, Nectare commixto curas removente Lyaeo, Principis a facie, citharae celeberrimus arte Assurgit Mimus, ars musica quem decoravit. Hie ergo chorda resonante subintulit ista: Inclyte Rex Hegum, probitatis stemmate vernans, Quem vigor et virtus extollit in aethera famae.

So singt der Mime das Lob des Königs in immer höheren Tönen, um ihm zum Schlüsse die Freigebigkeit als die höhste Tugend zu empfehlen:

Es ist eine sonderbare Eselgeschichte, die im Asinarius vel Diadema erzählt wird. Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten einen Sohn, der von Gestalt ein Esel war, von Sinnen aber ein Mensch wie Lucius im goldenen Esel. Dieser Eselmensch wollte durchaus das Saitenspiel er- lernen und wendet sich an einen Zitherspieler, der ihn das lehren soll; dieser Sänger und Musikant wird ein Mime und Spafsmacher geheifsen, weil mimus und scurra eben zusammengehören; man sagte ja schon im alten Latein scurra mimarius (vgl. oben S. 199, Anm 1). Der Esel bittet: esto magister, ait, o citharista mens. Die Bitte wird abgelehnt: dixerat hoc MtMtti tremit et tabescit asellus. Da fährt der Esel den citharista an:

Jongleure nnd Mimoden. 813

sie jetzt nicht erklären könnten. Aus der alten ionischen Rhapsodie ging, da die Epik allmählich humoristisch wurde, die

quid tibi lecator de me, quid scurra videtur. Es hilft nichts, der Esel will durchaus das Lautenschlagen lernen, und es

gelingt:

nunc mimi more satis arguto canit ort

nunc et informi palliee dtdce melos. Überhaupt galt der Mime schon gegen Ende des Altertums als eine, Art Musikant. So ist der Mime Philemon, über dessen Ende als Märtyrer wir oben S. 179 ff. berichteten, auch ein Choraule. In den mittelalterlichen Glossaren wird Choraule einfach mit Mime erklärt, so Gloss. Sang.: coraula, mimus, cantator; Gloss. Vatic. : choraula mimus; Papias: choraule» prineeps, ehori . . choraula cantator proprie qui cornu canit vtl mimus. So wird gar Taillefer, der wackere normannische Sänger und Held, der in der Schlacht bei Hastings den Angriff auf die Angelsachsen beginnen durfte, in Geffrei Gainer's Estoire Engleis (Mon. hist. britannica, 1878, p. 827, V. 5271 ff.) ein Jongleur genannt. In dem Carmen Widonis de Ea-tingae Proelio heifst er dann entsprechend mimus und histrio (Mon. histor. brit. p. 856 ff. V In der Summa de Poenitentia aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts (abgedruckt in Huon de Bordeaux, chanson de ge^te par M. M. F. Guessard et C. Grandmaison, Paris 1860, Preface p. VI u. VII) werden drei Arten von Histrionen unterschieden. Da sind erstens die Histrionen, die da wunder- liche Tänze aufführen unter allerhand obscönen Gebärden und sich ver- stellen, gelegentlich auch wohl maskieren. Unter diesen etwas nngeschickten Termini sind unzweifelhaft die mimischen Schauspieler gemeint. Der Mime trägt ja nun an und für sich keine Maske, aber der Atellanenspieler, der nächste Verwandte des Mimen, trägt sie, und im Eselmimus trat der Esel- mensch doch auch maskiert auf. Desgleichen scheinen im mythologischen Mimus die Götter Masken getragen zu haben (vgl. oben S. 583, 593, 681) Die Pantomimen traten sogar immer maskiert auf Da ist es verständ- lich, wenn die mittelalterlichen Mimen, als die einzigen überlebenden Schauspieler der Antike, gelegentlich Masken tragen. Die zweite Gattung von Histrionen zieht von Hof zu Hof, um hier Schmähungen über Ab- wesende vorzubringen. Hier wird man gut thun, an Sotades den Cinaedo- logen und Ionicologen zu denken, der am ägyptischen Hofe seine mimi- schen Spottlieder auf die syrischen Könige und am syrischen Hofe auf die ägyptischen Könige vortrug. Die dritte Gattung der Histrionen, die man auch Ioculatoren nennt, sind die Sänger, wir sagen die Mimoden. Sie zerfallen in zwei Kategorien. Die einen singen in den Kneipen und bei üppigen Ge- lagen allerhand Schandlieder; das sind die (oSai nogrixai, wie die Kirchen- väter die Mimodien und die cantica in den Hypothesen nannten. Die anderen singen von den Thaten der Heiligen und der Helden. Diese letzteren Iocula-

814 Neuntes Kapitel.

ionische Mimodie hervor, der Rhapsode wurde zum Mimoden. So können wir nun auch die umgekehrte Entwicklung in der mittelalterlichen Epoche verstehen, da der Mimode sich zum Rhapsoden zurückverwandelt.

Diese Spielleute, Epenerzähler, Sänger, Tänzer, Springer, Tierbändiger, Zauberer waren gröfstenteils keine Spafsmacher, keine Ioculatoren, wie konnte man sie also unter einem so gänz- lich unpassenden Begriffe zusammenfassen? Nun, iocularis ist eben der ptfiog ysXoiow und Mimen sind diese Leute, wenn auch nur ihrem Ursprung nach, alle.

IV. Die Jongleure als Ethologen.

Doch haben die Jongleure niemals den eigentlichen Beruf des Mimen als Darsteller der verschiedenen menschlichen Typen

toren sind die einzigen unter den Histrionen, die man dulden darf. Ich setze den Text hierher: Sunt eciam alii histriones qui nichil operantur, sed curiose agunt, non habentes certum domicilium, sed circumeunt curias magnas et locuntur opprobria et innominias (ignominias) de absentibus: tales et dampnabiles sunt, quare prohibet apostolus cum talibus eibum sumere, et dieuntur tales scurrae sive magi, quare ad nichil aliud utiles sunt nisi ad devorandum et ad male- dicendum. Est tercium genus histrionum, qui habent instrumenta musica ad de- lectandum homines; sed talium duo sunt gener a: quidam enim frequentant pötaciones publicas et laseivas congregationes , ut content ibi laseivas cantilenas, et tales dampnabiles sunt, sicut alii qui movent homines ad laseiviam. Sunt autem alii, qui dieuntur joculatores, qui cantant gesta prineipum et vitas sanetorum, et faciunt solacia hominibus in egritudinibus suis vel in angustiis suis, et non faciunt innumeras turpitudines sicut faciunt saltatores et saltatrices et alii qui ludunt in ymaginibus inhonestis, et faciunt videri quasi quedam fantasmata per incantationes vel alio modo. Si autem non faciunt talia, set cantant gesta prineipum instrumentis suis, ut faciant solatia hominibus, sicut dictum est, bene possunt sustineri tales, sicut ait Alexander papa. Cum quidam joadator quereret ab eo utrum posäet salvare ani~ mam suam in officio suo, quesivit ab eo papa utrum sciret aliquod aliud opus unde posset vivere. Respondit quod non. Permisit igitur dominus papa quod ipse viveret de officio suo, dummodo abstineret a predictis laseivis turpitudinibus. Notandum est quod omnes peccant mortaliter qui dant scurris vel lecatoribus vel predictis histrionibus aliquid de suo. Histrionibus dare nichil aliud est quam per der e etc. etc. (Ms. de la Bibl. Imp., Sorbonne, 1552, fol. 91 col. 2.)

Die Jongleure als Ethologen. 815

und zugleich als Spafsmacher ganz vergessen. In Herberts Dolopathos, V. 6889, ist der jogleor ein Imitator, ein Lustig- macher, ein Komiker1). Robert der Teufel, der, um seine Sünde zu büfsen, sich von dem Abfall nährt, den die Hunde übrig lassen, wird von Alt und Jung .zum Narren" gemacht, sie machen aus ihm ihren „Jongleur* ■).

Zu den Aufgaben der Jongleure und Menestrels gehörte es, die im Turnier verwundeten Ritter aufzuheitern. Dabei gaben sie gerne mimische Charakterdarstellungen zum besten. Sie machten den Dandy, den Eremiten oder den Pilger und gaben besonders Parodien religiöser und kirchlicher Personen und Handlungen J). In einem altfranzösischen Fabliau wird berichtet, wie die Jongleure sich bemühen, den von dem Hausherrn aus- gesetzten Preis zu erringen, einer spielt den Trunkenen, ein anderer den Narren4). Im 14. Jahrhundert mimten Spielleute in Oberitalien Typen von Engländern und Bretonen5).

') In Johannis de Alta Silva Dolopatos sive de rege et Septem sapienti- bus, ed. H. Oesterley, StraM)urg 1873, dem Originale Herberts, p. 55, 24, steht: quod riderit vel audierit imitari conatur, gestus comicos repraetentat, fran- git verba ....

2) De Robert fönt lor jougleor Petit et grant, taut rous puis dire Cor ü let fait moult touent rire.

Vgl. Freymond a. a. 0. S. IS.

3) Bretel, Tournois de Chauvenci V. 4341:

Apres le vin s'entracointerent

Li uns a Vautre et eneerchierent

Qui seit faire le beguignage

L'ermite, le pelerignaige,

Le provencel, le robardel,

Berenglier ot le chapelet

Ou aueuns gieus pour esgaler .... Das Spiel Berengier et le chapelet wird an derselben Stelle v. 4369 4462 eingehend beschrieben.

4) L'uns fet l'ivre, l'antres le sot (Montaiglon et Raynaud, Recueil d. fabliaux 3, 204). Beide Typen waren sehr beliebt. Siehe den Nachweis bei Freymond a. a. 0. S. 24.

8) Cibrario, Economia politica del medio evo Torino 1839, S. 233:

816 Neuntes Kapitel.

Der Pariser Dichter Rutebeuf verfafste um 1265 nach dem Muster solcher ethologischen Vorführungen der Jongleure den berühmten Dit de l'herberie ]): Ein ärztlicher Charlatan, ein Quacksalber, kommt aus dem Orient, wo er den Sultan von Ägypten kuriert hat, und will mit seinen unfehlbar wirkenden Arzneien, die er endlos aufzählt, wie der Schustermeister bei Herondas seine mannigfaltigen Sorten von Schuhwerk, nun auch das ihn umdrängende Publikum beglücken.

In dem Monologe „Lob und Tadel der Frauen" rühmt sich der Sprecher, allein die drei Rollen des Anklägers, Verteidigers und Richters geben zu können; als Mal Embouche klagt er die Frauen an, als Gentil- Courage verteidigt er sie, als Richter er- klärt er sich für sie2).

Wie im Dit de Therberie trat im lakonischen Mimus der Charlatan auf und pries seine wundersamen Arzneien. Seitdem blieb der Arzt einer der beliebtesten Typen im Mimus3) und dann in der attischen Komödie. Fremde Völkertypen darzu- stellen war von jeher der Mimen besondere Lust, wie die Juden, Araber, Armenier, Gaetuler, Galler, Etrusker des griechischen und römischen Mimus, und die zahlreichen Völkertypen des türkischen Karagöz zeigen. Desgleichen war der Betrunkene eine der ältesten und lustigsten mimischen Figuren. Beliebter als er war nur noch der Narr, der stupidus und tMogug, das ist der „sot" der Jongleure.

Vom Stupidus, dem beschorenen Narren, übernahm der der Jongleur sogar die Gewohnheit, sich kahl zu scheeren, selbst dann, wenn er gar kein Narr, sondern ein Sänger oder

„Rappresentando i costumi delle compagnie i inglesi e bretoni" nach „conti dei tesorieri generali di Savoia nel secolo XIV". Ich entnehme diese Notiz aus Creizenach, Geschichte des neuen Dramas, Bd. I, S. 383.

*) So heilst es bei Montaiglon Nr. LXXX v. 150 von den Menestrels und Jongleurs: Et li autres dit VErberie.

2) Vgl. Petit, Repertoire du Theatre comique en France au moyen-äge, S. 261 folg., No. 216: Monologue fort joyeulx, auquel sont introduycts deux ad- vocatz et ung juge, devant lequel est playdoye le bien et le mal des dames.

3) Vgl. oben S. 469, 658 u. ö.

Die Jongleure als Ethologen. 817

Musikant war, wie er sich ja auch ioculator, nach dem alten (iipos ytXoiwv nannte, selbst da, wo er gar kein Spafsmacher war1). Allerdings findet sich diese Sitte nicht durchgängig und doch wohl mehr bei den Ioculatoren, die eigentliche Spafs- macher waren2). Auch behielten die Jongleure viel von der Tracht der Narren im Mimus. Ihre buntscheckige Kleidung ähnelte dem Harlekinsrock des Mimen, dem centunculus8). Und wenn Radulphus Glaber von dem sonderbaren und armseligen Schuhwerk der Ioculatoren spricht, so trugen ja auch die Mimen nur ganz dünne, niedrige Sohlen und hiefsen davon planipedes, womit zugleich, wie die römischen Grammatiker meinen, ihre niedere Art gekennzeichnet ist

1) Dafür giebt es eine grofse Anzahl von Zeugnissen. Gottfried von Monmouth, Historia regum Britanniae (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts, ed. San-Marte, Halle 1854, S. 123), lib. IV, cap. I: Cum ergo alterius modi aditum non haberet: rasit capillos suos et barbam, cultumque ioculatoris cum cythara cepit. Deinde intra contra deambulans, moduli* quos in lyra componebat, »ese cytharittam exhibebat. Glabri Radulphi, Historiarum lib. IV, cap. IX [Duchesne Historiae Francorum scriptores IV, S. 38, C/39, A]: Olim igitur circa millesimum incarnati Yerbi annum, cum Rex Roberto* accepisset tibi Reginam Con- stantiam a partibus Aquitaniae in coniugium, coeperunt confluere gratia eiusdem Reginae in Fraudem atque Burgundiam, ab Aruernia et Aquitania hominet omni leuitate vanissimi, moribus et veste dittorti, armis et equorum pha- leris incompositi, a medio capitis nudati, histrionum more barbit rasi, caligis et oereis turpissimi, fidei et pacis foedere omnino vaeui. Wiederholt wird die Tonsur als Zeichen der Narrheit angegeben:

Mez regardez quel apostol! ü est tondu comrne ung fol.

Martire de Saint Pere et de saint Pol Jubinal, Mysteres inedits 1. 1, pag. 78.

2) Vgl. bei Montaiglon Fabliauxsammlung No. I, V. 54, No. 54, V. 208 ff.

3) So citiert Du Cange S. 422, Joannes Signiensis Episc. in Vita S. Beraldi Episc. Marsorum : Alii quod proprie Iocularium est, ab utroque latere divisis, item mixtis coloribus, vestimenta variabant (s. v. iocularis). Der buntscheckige Auf- zug des Mimen ist für das späte Mittelalter auch bezeugt durch Liudprand in der eigentümlichen Stelle seiner Antapodosis, die wir oben S. 797 näher besprochen haben.

Reich, Mimus. 52

818 Neuntes Kapitel.

Neben dem grofsen dramatischen Mimus giebt es den recita- tiven, ob es nun eine Mimodie oder Mimologie ist; er wird von einem einzigen Sprecher in einer Kolle vorgetragen, ähnlich wie der zweite Mimiambus des Herondas, in dem allein Battaros, der Frauenwirt, vor Gericht spricht, oder wie Theokrits „Zauberinnen", in denen allein Simaetha redet. Das ist dann dieselbe Form des Mimus wie im Dit de l'herberie. Öfters aber wechselt der Sprecher die Stimme und die Rolle, wie im „Lob und Tadel der Frauen" und bringt mehrere Personen zur Darstellung, ähnlich wie in des Herondas „Kupplerin", Schulmeister", „Schuster" und den meisten übrigen Mimiamben, oder in Theokrits Adoniazusen und seinen bukolischen Mimen1). Auf dem Gastmahle Trimalchios

!) Diese Ethologieen der mittelalterlichen Mimen und Ioculatoren machen die Art des alten recitativen Mimus noch deutlicher. Petit bemerkt zum „Lob und Tadel der Frauen" a. a. 0. S. 261 : Cette pikce offre une parti- cularitt curieuse: eile etait jouee par un seul acteur qui remplissait trois rbles differents. Cet acteur de" dar e se nommer Verconus; il vante la souplesse de son talent et, pour en fournir la preuve, il s1 offre a plaider tout seul pour et contre l'fionneur des Dames, et meme h figurer le Juge qui tranchera le differend. So haben wir also vor diesem französischen recitativen Mimus noch ein Pro- oemium, womit ja allerdings die dramatische Illusion gestört wird; aber da nur ein Darsteller für mehrere Personen auftritt, ist diese Illusion im recitativen Mimus ja von vornherein geopfert. Theokrit beginnt in den meisten Mimen gleich mit dem Dialoge, gelegentlich aber durchbricht er auch dieses dramatische Prinzip und läfst durch seinen Kecitator ein kleines orientierendes Proemium im erzählenden Stile voranschicken. So lautet die erzählende Einleitung im sechsten Idyll der BovxoXiaatan

Aätpvtg xal Aa^ioixaq. AafxoiTag %(ü Aäipvis 6 ßovxöXog eis eva %(Öqov räv ayiXav nöx\ "Agare, avväyayov rjs <?' o fiev avrcöv 71vqq6s, 6 d' rl[uye'vecos• tnl xquvciv di tiv' afiifoi iCöfievoi fhe'Qeos fiiaoi äfiatt toikS' iteidov. 7tQccTos d" agl-aro Aaqvis, tnel xal 7iqätog iqiadev. Darauf beginnt dann der dramatische Wettgesang.

Ja, dieser bukolische Mimus nähert sich soweit der Erzählung, dafs sogar der Schlufs wieder episch wird: Damoetas küfste den Daphnis, sie beschenkten sich gegenseitig und rings im üppigen Grase tanzten die Kälber. Ebenso hat der achte bukolische Mimus „BovxoXiaoral, Acupvts xal MevaXxw;" einen erzählenden Prolog und Epilog, und der elfte Mimus, „Der Kyklop",

Die Jongleure als Ethologen. 819

ergötzt man sich an diesen Pägnien, wie Plutarch sie nennt, an den Scenen aus dem Leben der Vetturine und Marktschreier, also auch der Charlatane, doch brauchen es nicht gerade, wie im Dit de l'herberie, Ärzte zu sein. Der Mime Vitalis, der wahrscheinlich an den Anfang des Mittelalters gehört, ist solch ein einzeln .auf- tretender Ethologe und Vertreter des recitativen Mimus (vgl. oben S. 599, Anm. 3). Die Jongleure haben also unter sich auch die direkten Erben der alten hellenischen Ethologen gehabt, die mit denselben mimischen Darstellungen das mittelalterliche Publikum ergötzten, wie ihre Vorfahren die antike Welt. Nur haben diese mimischen Pägnien des Mittelalters, von dem berühmten Dit de l'herberie abgesehen, nicht, wie in der Antike, vornehme Dichter gefunden, die sie kunstmäfsig gestalteten, und darum wissen wir heute so wenig von ihnen.

hat gar zwei Prologe, eine Widmung an Aratos und dann eine epische Ein- leitung über Polyphems Liebe zu Galatea. Dann erst folgt die dramatische Mimodie, in der Polyphemos seine Liebe zu Galatea erklärt. Die beiden Schlufszeilen sind wiederum erzählend:

„Also linderte sich damals Polyphemos die Liebe

Durch den Gesang, und schaffte sich Ruh', die mit Gold nicht erkauft wird."

(Mörike.)

Das 21. Idyll, „Der Fischer", ist gewifs durch und durch ein Mimus (vgl. darüber oben S. 373 ff., über den Fischer als spezifisch mimische Figur vgl. auch oben S.379, 664, 665). Aber auch dieser Mimus hat wieder zwei Prooemien, das erste, eine Widmung an Diophantes. stellt Betrachtungen an über die Armut als Erweckerin der Künste; das zweite schildert erzählend das Leben der beiden alten Fischer, erst dann wird der Mimus mit dem Zwiegespräch der Fischer rein dramatisch, um auch so zu endigen. Wäre der Mimus an und für sich rein dramatisch, wäre er nur als Drama gedacht und nur als Drama dargestellt, hätte Theokrit nie diese Form wählen können; er beherrschte ja auch die scheinbar dramatische Form des recitativen Mimus nicht weniger gut wie Herondas; dann wären die erzählenden Zuthaten unverständlich. Aber wer den recitativen Mimus versteht, der begreift leicht, wie der mimische Recitator durch kleine erzählende Erläuterungen erst in seinen Zuhörern die rechte Stimmung erwecken, sie über die dramatische Situation, in der er sich produziert, aufklären möchte. So thut es der Recitator des französischen, so der des Theokriteischen Mimus.

52*

820 Neuntes Kapitel.

V. Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus.

Dem modernen Gefühl erscheint der Hofnarr als etwas Un- antikes, spezifisch Mittelalterliches. In Wahrheit aber kennt das ausgehende Altertum den Hofnarren schon völlig in der aus- geprägten Art, die er im Mittelalter und im Beginne der modernen Zeit zeigt. Schon die Mimen, die am Hofe Philipps gerne gesehen wurden, mögen dort als eine Art von Hofnarren ge- golten haben. Später gab es an den Höfen der Diadochen grofse Mimenbanden, die auf dem Hoftheater zu spielen hatten und auch gelegentlich bei Gastmählern und Gelagen auftraten. Daneben aber fanden sich noch mimische Einzeldarsteller, Logomimen, Mimoden und Mimodinnen, an denen die Fürsten besonderes Gefallen hatten und mit denen sie persönlich umgingen, wie Antiochus der Zweite mit dem Logpmimen Herodot1). Sulla hatte in seiner Gesellschaft Mimen und Mimoden, auch die römischen Kaiser hatten gerne Mimen und mimische Spafsmacher (scurrae mimarii) in ihrer nächsten Umgebung. Am Hofe des Tiberjus gab es einen mimischen Spafsmacher, der Advokaten ethologisch darstellte8). Wie sehr sich die römischen Kaiser den Mimen geneigt zeigten, habe ich oben im einzelnen ausgeführt. Wenn sie neben den grofsen Mimengesellschaften noch einzelne Mimen besonders in ihre Nähe zogen, so wollten sie eben durch deren Späfse und Narrenpossen ergötzt werden, sie mufsten ihnen vor allein darum bei der Tafel aufwarten, wie es schon Sulla liebte. Der unterhaltendste mimische Typus aber ist der Narr, der mimus calvus, der ficogoc (fakaxgd^ der stupidus und morio.

In den grofsen Haushaltungen der Antike that man es den fürstlichen Hofhaltungen nach und hielt gleichfalls ganze Mimen- trupps, wie z. B. Trimalchio sich eine Schauspielerbande gekauft hat, die er Atellanen spielen läfst, meistens aber begnügte man

*) Vgl. oben S. 193 Anm. 2) Vgl. oben S. 152, Anm. 2.

Die mittelalterlichen Hofnarren and die Moriones im Mimus. 821

sich mit einem einzelnen Mimus oder dem mimischen Narren, der zum Haus- und Hofnarren wurde.

Diese mimischen Hofnarren hatten besonders, wie im Mittelalter, bei Gelagen, Gastmählern und Gesellschaften für die Unterhaltung der Gäste zu sorgen. Ein Gelage ohne die Aufführung eines mimi- schen Schauspiels oder ohne die Narrenspäfse wenigstens eines mimus calvus war ganz undenkbar. Wir finden z.B. diesen mimischen Hofnarren auf einem Gastmahl, das Lukian, wie einem anderen, das Alkiphron beschreibt, und wenn Plutarch von Gastmählern spricht, kommt er sofort auf den Mimus zu reden. Diese Hofnarren1)

x) Vgl. auch Plinius, Ep. IX, 17: C. Plinios Genitori suo S. Beeepi litterat tuas, quibus quereris taedio tibi fuisae quamris lautiaimam cenam, quia scurrae cinaedi moriones mensis inerrabant. vis tu remittere aliquid ex rugü? equidem nihil tote habeo, habentes tarnen fero. cur ergo non habeol quia nequaquatn me ut inexpectatum festirumve delectat, siquid molle a cinaedo, petulans a scurra, (von der petulantia der scurrae mimarii bei Gastmählern haben wir eben gehandelt) shdtum a morione pro/ertur. Der Zoten reifsende Cinaede beim Gastmahl der römischen Grofsen gehörte gleichfalls zu den Mimen, wenigstens wenn er, wie es nach den Worten des Plinius den Anschein hat, ein Cinaedologe oder Iouicologe war. Des Morio Dummheit erwies sich, wie im Mimus nicht selten, als fin- giert. Vgl. Martial VIII, 13:

Morio dictus erat: viginti milibus emi. Bedde mihi nummos, Gargiliane: sapit.

Flögel handelt sehr gründlich und systematisch von den Hofnarren und Lu-tigmachern erstens bei den weltlichen Fürsten, deutschen, spanischen, italienischen, französischen, englischen, niederländischen, ungarischen, polni- schen, rus-i-chen, schwedischen, dänischen; zweitens bei den 'geistlichen Herren, Päpsten, geistlichen Churfürsten, Cardinälen, Erzbischöfen, Äbten uud Weltpriestern. Endlich kommt er auf die Volksnarren, und der erste und älteste darunter ist Tyll Eulenspiegel. Von den Volksnarren der Antike weifs Flügel noch nichts. Wir erinnern uns jetzt an die Bajazzos, die mit dem Prügelholze in der Faust nach Hieronymus' Zeugnis ihre mimicae ineptiae und Narrenteidungeu auf dem Markte verübten. Über die mancherlei Mimen niederer Art, die auf Markt und Strafse ihr Wesen trieben, hat schon Otto Jahn a. a. 0. mancherlei gesammelt (vgl. oben S. 540), auch ich habe darüber im Mimusprogramm einiges angemerkt. Also auch die Antike hatte ihre Volks- narren, welche die ineptiae der Mimenbühne auf Markt und Strafse ver- legten. Gelegentlich wurden auch wirklich närrische Menschen, wie der arme Irre Karabas. den man zum König im Mimus herausputzte und als König verehrte, vom Pöbel, der nun einmal solch' einen Volksnarren haben

822 Neuntes Kapitel.

heifsen bei den Römern „moriones", nach dem [moqos, dem Narren im Mimus.

mufs, dazu gestempelt. Wer diese Volksnarren der Antike kennt, wird auch einen eigentümlichen Typus mönchischer Askese, „die Narren um Christi willen", begreifen, deren Prototyp der Heilige Symeon Salos ist. Wir haben oben (S. 684, 685 Anm.) aus seiner Vita den Streich berichtet, den er einem Mimen spielt. Es sind die tollsten Narrenpossen und Narrenstreiche, die dieser „syrische Till Eulenspiegel", wie ihn Geltzer a. a. 0. S. 30 treffend nennt, zur Ehre Gottes verübt, und die Vita dieses Narren um Christi willen ist trotz ihres ernsthaft - geistlichen Charakters ein echtes Volksbuch, wie das vom Eulenspiegel voll derber Schwanke und Narrenteidungen. Die Streiche des Narren erinnern stark an die mimischen Ränke und Künste, Kabalen und Foppereien, die „artes mimicae". Unter dem Scheine der Narr- heit hält Symeon die ganze Welt zum Besten, wie der derisor im Mimus. Vor allem führt der Heilige wie dieser unablässig sein Prügelholz mit sich herum, von dem er den ausgiebigsten Gebrauch macht. Natürlich fehlen auch die Lazzi der mimischen Narren nicht. An einem Sonntage nahm er Nüsse und warf damit unter die Gemeinde, die sich zum Gottesdienst ver- sammelte, und als man ihn hinauswerfen wollte, lief er schnell auf die Kanzel und zielte mit seinen Nüssen nach den Weibern auf den Emporen (Migne 93, 1707 D). Bald stellte er sich hinkend, bald hielt er einem eilig Vorübergehenden das Bein hin, sodafs er stürzte. Gelegentlich hielt er auch förmliche Reden an den Mond (Migne 93, 1726 B). Auch ging er in die Häuser der Reichen und spafste (nat&iv) und that so, als ob er die Mägde küfste ; und als eine Magd schwanger wurde, entging er dem schwarzen Ver- dacht nur durch ein göttliches Wunderzeichen. Migne 93, 1763 B. War der Narr im Mimus beschoren, so war es der Narr um Christi willen als Mönch ebenfalls. So liefsen sich denn die guten Bürger von Emesa diesen geistlichen Clown Wohlgefallen, da er sich äufserlich fast garnicht von den Bajazzos unterschied, welche die Späfse der Mimenbühne vor dem Volke auf Markt und Strafsen trieben (vgl. oben S. 753, Anm. 3). Sein Hauptquartier hatte der Narr in einer Schenke aufgeschlagen, wo er Bohnen verkaufte. Natür- lich duldete der Wirt den Bajazzo gerne, denn er lockte ihm zahlreiche Kundschaft an: 'Hv Sa lianXayxvog 6 xän^Xog, dioie noXXäxig ovSa rrjv Tf>o(pTjV aiiTOV ISiSov, xuintQ noXXrjv 7iQ«aiv a/av Siä tov ZaXov. '£lg iv rä£ti yaq /mtsiÖqov eXayov 7iQog aXXr\Xovg ol noXltaf "Aytofitv, nCco/Atv onov 6 2aX6g (Migne a.a.O. S. 1712 A). Wenn dieser Wundermann sich auch auf der Mimenbühne hinter dem Siparium herumtreibt (vgl. oben S. 685 Anm.), so kann das nicht auffallen, von dort her hat er ja den gröfsten Teil seiner „mimicae ineptiae" und seiner Lazzi her. Mag es nun mit der Gott- seligkeit und Heiligkeit dieses eigentümlichen Gottesmannes sein wie es wolle, jedenfalls zeugt diese Vita für die Gewalt, mit der das Christentum

Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus. 823 So kommt auch in Philistions Philogelos in einer vornehmen

damals alle Schichten des Volkes bis in die niedrigsten durchdrang, wollten doch damals selbst die Clowns ihre Späfse zur höheren Ehre Gottes ausüben. In der That sind dem Heiligen in seiner Clownmanier mancherlei Bekehrungen zur orthodoxen Kirche gelungen, Bekehrungen, bei denen besonders das mimische Prügelholz und allerhand scherzhafte Wunder eine Rolle spielten. Wenn jemand Geld gestohlen ist, geht er zu dem Narren um Christi willen, und gegen eine kleine Entschädigung entlarvt dieser den Dieb und nennt den Ort, wo das Geld verborgen liegt. Allerdings übt solcherlei Kunst auch Dossenus, der Charlatan in der Atellane. Jedenfalls können wir aus der Schilderung dieses syrischen Till Eulenspiegel ersehen, warum gerade Syrien die besten Komiker für den Mimus bot. Noch in der „veteris orbis de- scriptio" heifst es: Tyrus und Berytos lieferten den Römern die besten Mimen, Caesarea die besten Pantomimen, Heliopolis die besten Musiker. Jedenfalls hat sich diese alte graeco-syrische Narrentradition, die so nahe Zusammenhänge mit dem Mimus hat, in Emesa weiter erhalten, als Höms ist es später das arabische Schiida, die Heimat der orientalischen Hans- würste und Eulenspiegel.

Noch bekannter als Symeon ist in der katholischen Kirche der hl. Andreas, „der Narr um Christi willen", dessen Narrheiten zum grofsen Teile mit denen Symeons identisch sind. Stil und Sprache weisen diese Vita, die Pater Conr. Janning (A. A. S. S. Mai T. VI, Corollarium p. 1*— 103*) 1886 herausgab, in sehr späte Zeiten. Symeon Salos erscheint als ein Mann der Vorzeit; die Bulgaren haben schon die Hämushalbinsel besetzt; Janning dachte an das zehnte Jahrhundert, freilich ist mit Leo dem Grofsen, der er- wähnt wird, schwerlich Leo der Weise (886—911) gemeint. Vgl. Geizer, Leontius von Neapolis, Leben des Heiligen Johannes des Barmherzigen, Erz- bischofs von Alexandrien, S. XIII. Auch in der Vita des heiligen Narren Andreas ist viel vom Theater und vom Mimus die Rede.

In einer Vision fühlt sich Symeon ins Theater entrückt, dort steht auf der einen Seite eine Schaar Mohren, auf der anderen eine Menge Männer in weifsen Kleidern, die mit einander ringen, und Symeon besiegt in heifsem Ringen den Anführer der Schwarzen, es ist Satanas selber. Idno tov <f6ßov <f* vnvco ßu&näiw aiayt&iis 6 Mctxdowg, ogä xai idov ort wv &täto(o, xai r\v h t$ &>i fitoii tov 9tdiQoi . . . (a. a. 0. S. 6*B). Eine fromme Christin, die beständig vom Satan versucht wird, sieht sich im Traume im Theater des Hippodroms stehen und voll leidenschaftlichem Verlangen die Bildsäulen umarmen, die sich dort befinden: nältv oirv brtqtt vixtI öoä iavri]v iv tü> &laTQ(i> tov inTiodoouiov iarwaa xai aana^ouivri td ixuoe liddÄuar«, virtro- fUrq irnb noqvtxrfi Inidvuias toi ovyytv£o9ai uvroig. (S. 62A.) Am Ende seines Lebens verkündet Andreas Salos die Ereignisse vor dem Untergange der Welt und dem letzten Gericht. Ehe der Antichrist in die Welt kommt,

g24 Neuntes Kapitel.

Haushaltung ein Narr {fiooQÖg) vor, an dessen körperlichen Reizen

wird ein schändliches Weib aus dem Pontus Namens Mondion in Byzanz herrschen, eine Mime und Tänzerin; dann wird man in den Kirchen Tänze, satanische Tragödien und Possenspiele (Mimen) aufführen : Töts dk . . . . dva- örrjosTai yvvaiov ala%odv MovSiov ix xov JJovtov, . . . ßaxxtvrQia, rov diaßoXov &vydTT)Q ... Die Mime Pelagia heilst ähnlich nocörr) tüv nQUToxoQt- oToiwr (vgl. oben S. 103, Anm. 1) ... xal iv raig ixxXtjotaig eaovrai dßeXyiai xal docoriai, . . . xa\ OQ%riasig, xal TQaywSCai oazavixal, xal /Ifvaa/nol xai naCyvta. (S. 92 A.) Pater Jannig übersetzt ganz richtig: cavillationes et nugae scurriles. Die Cavillationes sind eben die cavillatio mimica (vgl. oben S. 609, Anm. 1). Kein Wunder, dafs unter der Mimin als Vor- gängerin des Antichrist der Mimus 'in die Kirche dringt. In einer Vision führt Andreas seinen Freund in die Hölle und zeigt ihm den Ort der Qual; da sind die Seelen der Bösen in Tiere verwandelt. Die Mörder sind zu Skorpionen geworden, die Zauberer und Giftmischer Schlangen, die Geilen Schweine, die Diebe Wölfe, die Betrüger Füchse, die Kuppler Esel, die Verläumder Raben u. s. v. u. s. w. Die Sänger in den Tragödien sind gar zu Fröschen geworden, die Mädel vom Ballet zu Reihern und die jungen Leute, die an Späfsen, am Lachen und am Mimus Gefallen finden, sind un- reines, kriechendes Gewürm, Ungeziefer und Schlangenbrut geworden: zovg TQaytpdovvras w? ßaTQU^org . . . rag oqxovfitvag yvvalxag cog tovs i(>(üöiovg, . . . xal rd naiddota wg rotg naiyvioig, xal roTg ytXoCoig, xai ralg p ifxoX oylaig avv- xvfovdov/ueva . . . rjyuTcu (og dxdo&aTa ionerd rijg yr\g, xal (ög rd xvwöaXa, xai tag jd zwv ixidvüv yevvrjfiaTa. (S. 59* F.). Auf die jungen Leute ist der heilige Narr überhaupt sehr schlecht zu sprechen, denn er mufste ihnen bei ihren Gelagen nicht selten, ob er wollte oder nicht, als „stupidus" dienen, mit dem sie dann dje schändlichsten Possen und Mimen aufführten. Vgl. a. a. 0. S. 12 B. : vewTegiOral .-. öqafxövrtg . . ixqäiriOav airbv, xal Ovoavrsg tlaitaav iv T<p tfovaxaoio), jvmovrtg airbv, xal naXtv xa&to9£vrtg inivov, pydtv rat /iixaibi didovrtg. dXXd /udXXov xoOOovg xaid rov ai>%4vog fJiifioXoyovfisvoi ervnrov. "Ors oiiv dnXetorag ot [icoool ixetvoi inat^av, (Sanniones irrisionibus satanas nescii übersetzt Pater Janning) . . . Mwool, fiwool rl exw noifiaat. Die jungen Leute führen eben mit dem armen Narren eine der übermütigen Spott-' und Schimpfscenen aus dem Mimus auf, und Andreas mufs als stupi- dus dabei die Prügel einnehmen. So führt Alarich, wie es bei Orosius heifst, mit dem armen Scheinkaiser Attalus einen Mimus auf (vgl. oben S. 776, Anm. 1). Und in dem neu entdeckten Fragment des Juvenal heifst aliis hunc mimum: Mach' anderen solche Wippchen vor. Gegenüber fit^oXoyda&ai und weiter oben fxtfioXoyia erinnere ich an die drei Mimologen, welche die Hypo- these „Hecyra" vorführen. /ucfioXoytioüai gebraucht Strabo von Spielen der Atellane, fiifioXoyCa und fjo,fioXöyr]fia findet sich bei Epiphanius (vgl. oben S. 281, Anm. 1 3). In den Hermeneumata Monacensia und Montepessulana

Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus. 825

seine Herrin Gefallen findet, nachher aber wird alles von dem

werden die Mimologen als Schauspieler im Theater gekennzeichnet (vgl. oben S. 226). Ich habe 'oben S. 286 den Mimologen Agathokiion erwähnt. Die Inschrift aus Larnaka auf Cypern lautet:

Moxpaiov xövtg r,3t '-iya&oxi.^a nalöa xtxtv&fv ' AfftuolöyttiV näu(ov Ifojrov iv yttoiotv. l4ya&oxki(ova ßtolöyov.

Revue archeol. N. S. XL1 1881 p. 124 und ' Oberhummer, Griech. Inschr. aus Cypern, M. Akad. 1888 I, 310 u. 311. Über den Ausdruck Biologe für den mimischen Schauspieler vgl. oben S. 265 ff. u. 284 ff. Ich füge hier die In- schrift des Biologen Flavius Alexander Oxeides (Waddington, Voyage archeol. 1652b.) hinzu:

'H ßovli) xal 6 Jfjfiog hfifiyoiv fPlä(ßiov, *All$av$oov *ObiSr,v Nnxo^rtSia, ßioXöy\ö)v Aaiovuxr\v, Siä re i^r iov fgyov vntooxriv xal ro x&iuiov toi t)9ovs, vitXTjOarTa 6*i iv Aaia [äy]««mr; it)', tv Avxiu Ji xal üaucfvltu xg, ßm/.f[v]iT}V dt Avtio^ojv xal 'Hoax/.iWTtör, yegovotaoTTjv di Miilrjoitov.

Ich habe oben S. 286 gezeigt, dafs der Ausdruck ßtolöyog ein Ehren- titel für den Mimen ist, was durch die letzte Inschrift ja auch wieder im vollsten Mafse bestätigt wird. Da nun 'Aya&oxUojv sowohl ein Bio- loge wie Mimologe genannt wird, scheint also auch Mimologe eine ehrende Bezeichnung gegenüber dem einfachen Mime zu sein. Ursprüng- lich wurde von den Peripatetikern mit Mimodie und Mimologie der pro- saische und lyrische Mimus geschieden, es ist das also mehr eine gelehrte Terminologie. Iu der That ist der Ausdruck uiuoXoyog für den Mimen nie usuell gewesen: wir kennen sonst noch die Mimologen der Hypothese Hecyra und den Mimologen Tityros in dem byzantinischen Epigramm (vgl. oben S. 156), in dem es ebenfalls Ehrentitel ist. Sonst kennen wir zahlreiche Mimen und Miminnen; Choricius und Johannes Chrysostomus nennen unablässig die pifiot, aber nie kommt es ihnen in den Sinn, sie fit/jolöyoi zu nennen. Dennoch mufs dieses Wort auch im gewöhnlichen Leben gelegentlich für den Schauspieler gebräuchlich gewesen sein. Darum kann in der Vita Andreae Sali mit ihrem spät-byzantinischen Populär-Grie- chisch von fiifiokcyytTa9at und (iiuokoyta gesprochen werden. Jedenfalls er- giebt sich aus der Vita dieses Narren, die kulturhistorisch vom höchsten Interesse ist, dafs im neunten und zehnten Jahrhundert es noch Theater gab, deren Bühne mit Bildsäulen geschmückt war, also grofse stehende Theater, ob blofs im Cirkus oder auch sonst, läfst sich so sicher nicht ent- scheiden; einmal wird schlechthin „das Theater", ein anderes Mal „das Theater im Cirkus- genannt. Auf der Bühne haben natürlich die Mimen agiert, an deren uiuoXoyiai die jungen Leute eine so verwerfliche Freude hatten. Da haben wir also wieder ein Zeugnis für die Existens der Theater

826 Neuntes KapiteL

dummen Narren dem Hausherrn verraten1). So hält sich Polyxena und ihr Gemahl einen Narren, welcher der Herrin mit seinen Possen beschwerlich fällt. Dieser Hofnarr wird ausdrücklich „Mimus" genannt2).

Diese Sitte, einen Mimus als Narren zu halten, war in den letzten Zeiten der Antike so gewöhnlich, dafs dieser Gebrauch direkt ins Mittelalter übernommen wurde.

So erzählt Gregor von Tours von dem Hofnarren des spanischen Königs Miro von Galicien eine seltsame Historie. Der König ging mit seinem Gefolge in die Kirche des Heiligen Martinus, und an dem Wege vor der Kirche war ein Spalier mit herrlichen Weintrauben, die der Kirche und demnach dem Heiligen Martin gehörten. Trotz der Warnung des Königs will der Hofnarr, der den König mit seinen Späfsen aufzuheitern pflegte, sich eine Traube abschneiden und siehe, der arme Narr kommt nicht mehr mit der Hand von der Weintraube los. Da half ihm kein Lachen und keiner von seinen Schalks- und Narren- streichen, er empfand die furchtbarsten Schmerzen und schrie laut um Hülfe, aber erst auf das inbrünstige, von einem Strom von Thränen begleitete Gebet des Königs Miro ward der Narr wieder frei und kam mit dem blofsen Schrecken davon. Dieser Hofnarr heifst bei Gregor (Ende des sechsten Jahrhunderts) ein

und des Mimus bis in die letzte Zeit der byzantinischen Ära. So wird sowohl der heilige Narr Symeon wie der heilige Narr Andreas mit dem Mimus in Beziehung gebracht, und in der That ist Andreas derselbe komische Volksnarr wie Symeon, dessen Streiche ihm zum Teil einfach beigelegt werden, und hat viel von einem Bajazzo an sich. Auch die russische Kirche kennt die Narren um Christi willen als eine Art sonderbaren mönchischen Asketentumes. Vgl. Pelesz, Geschichte der Union der russischen Kirche mit Rom I, S. 231 u. S. 594 ff.

!) Ich gebe diesen sehr bedenklichen Schwank griechisch. Nr. 251: Olxodianoiva [aioquv olxfrrjv fyovaa tfufavrj xal idovoa aviov äo*oox£<fai.ov, lni&V(ir\Ga0a aviov, yi/j.RQiov sig iiQQGomov ßalovaa Iva fxi] imyvtoO&rj, auvinai^tv avxip. 6 dt £v iü) nai&iv GvvaarjX&ev avirj. xal tw öeanorij aw- rj&cog noogyeXaiv ttnt' «xvqi, xvqi, iov oq^gttiv ißivrjOa, xal ij xv^ä »jv

2) Vgl. oben S. 152, Anm. 3.

Die mittelalterlichen Hofnarren nnd die Moriones im Mimus. #•_>:

Miraus 1). Allerdings kennen wir ja noch aus der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts einen Archimimus.

Sidonius Apollinaris berichtet in einem Briefe, in dem er das Leben am Hofe Theodorichs des Grofsen schildert, bei der Tafel des Königs wären Hofnarren aufgetreten. Er nennt sie mimici. Aber Theodorich hätte nicht geduldet, dafs sie seine Gäste durch Spöttereien verletzten2).

In der That war derartiges von den antiken Hofnarren und Mimen leicht zu besorgen. Wie die Mimen auf dem Theater gerne in den Stücken allerhand Foppereien, Kabalen, Betrügereien und Ränke vorbrachten und lustige Schimpf-, Spott- und Prügel- scenen aufführten, so suchten die mimischen Narren die gleichen Späfse von der Bühne in das Gastmahl zu verlegen.

So foppt der mimus calvus in Lukians Gastmahl die Gäste der Reihe nach und nennt den robusten Cyniker Aleidamas zum Spafse ein Schofshündchen. Der Cyniker nimmt das übel und es entspinnt sich eine Prügelei, die der Gesellschaft zur Be- lustigung dient.

Jedenfalls wurden auch die mittelalterlichen Hofnarren durch- aus nicht so streng in Zucht gehalten wie bei Theodorich die „mimici".

Im Alamode Kehraus schildert Philander von Sittewald

l) S. Gregorii episcopi Turonensis de miraculis Sancti Martini lib. IV. cap. VII. (Higne Bd. 71, S. 994 A, B): De uva apud Galliciam. . . . erat enim mimus regis, qui ei per verba iocularia laetitiam erat solitus excitare. Sed non eum adjutit cachinnus aliquis, neque praetigium artis suae; sed eogente dolore, voce* äare eoepit ac dicere: Succurite tiri misero, subeenite oppresso, ferte Ucamen appenso, et sancti antistitis Martini rirtuiem pro me depreeamini, qui tali exitu crueior . . .

>) Migne Bd. 58, S. 449, B. Sidonii Apollinaris Epistol. Liber I, III. . . Circa nonatn recrudescit moles Uta regnand*. Redeimt pulsantes, redeunt svbtnorentes, ubique litigiöses fremit ambitus: qui tr actus in vesperam, eoena regia interpetlante rareseit, et per aulicos deineeps pro patronorum carietate dispergitur, usque ad tempus coneubiae noctis exeubaturus. Sorte intromittuntur, quamquam raro, inter coenandum mimici sales, ita ut nullus conti va mordaeü linguae feile feriatur. Sie tarne* quod illic nee Organa hydraulica sonant, nee sub phonasco vocalium concentus medi- tatxtm acroama simul intonat. Xullus ibi lyristes, choraules, mesochorus, tympa- nistria, psaltria canit ....

828 Neuntes Kapitel.

(Moscherosch) mit Ingrimm ihre Impertinenz: „Indem kam einer mit grofsem Gelächter in den Saal gelaufen, dafs ich wohl sähe, er müsse entweder ein Spitzbub oder ein Schalksnarr seyn; der stellte sich neben den König. Dieser Schalksnarr kam an mich, zauste mir das Haar, griff mir in den Bart, wiewohl ich nicht viel hatte, rupfte mich am Wamms und Hosen, mit kreischen und ruffen, hieher Wälscher, hui Wälscher, hui ä la mode, hot Zopf, Haar tropf, hui Laudel, jyst Faudel, Haar zottel, zu dir Hottel, herum Lottel, hinum trottel u. s. f. Und viel des Verdriefs mehr, dafs ich letzlich entrüstet sprach: mit Erlaubnii's, wenn es nicht vor dem König wäre, und du nicht eben einer seiner Diener einer wärest, ich wollte sagen, du hättest gelogen, wie ein Schelm oder Dieb".

Ähnlich sucht der Narr der Polyxena seine Herrin im Dunkel zu erschrecken, sie aber wirft dem Mimus einen eisernen Vasen- ständer an den Kopf. Nicht anders hat man auch mit den Narren im Mittelalter nicht selten kurzen Prozefs gemacht. Iwan der Schreckliche von Rufsland freilich stiefs seinem Narren, der ihn geärgert hatte, gleich ein Messer in die Kehle, dafs er starb.

Hofnarren wurden vom ausgehenden Altertum durch das Mittelalter bis in die moderne Zeit hinein gehalten. Unter Ludwig XIV. kamen sie in Frankreich ab *). Unter den Hofnarren der Königin Elisabeth von England war der berühmteste Scoggan. Noch am Hofe Karls I. von England findet sich ein Narr. Der letzte wirkliche Hofnarr am preufsischen Hofe war bekanntlich Gundling, der im bürgerlichen Leben Freiher, Geheimrat und Präsident der Akademie der Wissenschaften war. Unter den Päpsten war besonders Leo X., unter dem die Reformation durch Luther begann, ein Freund der Hofnarren. Auch der Kardinal Hypolite de Medici, wie der Kardinal Wolsey unter Heinrich VIII. von England hielten Hofnarren2).

1) Der Hofnarr hatte bis dahin als fous en titre d'office ein ordentliches Hofamt inne. Vgl. Flögel, Geschichte der Hofnarren S. 339.

2) Die Nachweise im einzelnen siehe bei Flögel, Geschichte der Hof- narren, Liegnitz und Leipzig 1789.

Die mittelalterlichen Hofnarren und die Moriones im Mimus. 829

Diese ungeheure Folge der Narrengeschlechter, von denen immer 'das folgende vom vorhergehenden die alten Narren- theidungen, närrischen Streiche, Witze und Bosheiten lernte, reicht also durch das Mittelalter bis in die Antike, bis zu den Narren des Mimus1); Von diesen alten mimischen Moriones stammte vornehmlich das ganze Narrenwesen her. Anfänglich nannte man den Narren darum Mimus, als man später den Mimen ioculator nannte, hiefs wieder auch der Hofnarr so1).

Die Narren sind auch immer dessen eingedenk geblieben, dafs sie von Hause aus Mimen und Ethologen sind und haben darum gerne in possierlichen und humoristischen Charakter- darstellungen geglänzt. Ich gebe hier die Beschreibung dieser Ethologie der Narren durch Garzoni3): „Zu unsern Zeiten ist

r) Flögel hat nach einem recht geistlosen Prinzipe seine fleifsig ge- sammelten Materialien über die Narren aufgeschüttet, er reiht sie chrono- logisch und geographisch und Dach den Herren, denen sie dienten, anein- ander. Die Menge der Narren ist zwar grofs, aber sie treiben immer die- selben oder sehr ähnliche Schalksstreiche, worauf Flögel kaum achtet. Viel- fach fühlen wir uns an den Philogelos erinnert, desgleichen an Symeon Salos, den griechisch-syrischen Eulenspiegel, der die Narrenteidungen der alten mimischen Volksnarren um Christi willen weiter trieb, und überhaupt an die Narrheiten der stupidi und uwool. Es sind sehr einfache, stets von neuem wiederkehrende Motive, und darnach müfste ordnen, wer eine Geschichte der Narren heute schreiben wollte. Uns interessieren sie nur soweit, als wir ihrer bei der Entwicklungsgeschichte des Mimus, insbesondere der mimi- schen Hypothese bedürfen, und wie nützlich sie dabei sein können, wird uns gleich wieder das Shakespeare-Drama mit seinen Clowns lehren, aber dar- über hinaus selbständig interessieren sie uns nicht. Die Geschichte der Narren lehrt vorläufig nur, dafs, dafs sie im Altertum wie im Mittelalter, wie auch in der modernen Zeit immer den Beifall des Pöbels fanden, ob sie nun im Mimus auftraten oder aufserhalb desselben, ob sie wirklich närrisch waren oder sich nur so stellten. Wer diese Geschichte schriebe, müfste nicht nur ein Philologe, sondern auch ein Psychologe, sogar ein guter Psychiater sein; dann könnte seine Behandlung des vorhandenen, sehr kost- baren Materiales, das wir hier um ein beträchtliches ergänzt haben, höchst belehrend für die Geistesgeschichte der Menschheit werden.

2) Wir haben oben S. 815, Anm. 2, den Ausdruck jogleor für den Narren nachgewiesen.

3) Tomaso Garzoni Piazza universale, Discorso 118 übersetzt von Flögel a. a. 0. S. 15 folg.

830 Neuntes Kapitel.

das Possenreifsen wiederum so hoch gestiegen, dafs man der Schalksnarren an Herren Höfen und Tafeln mehr findet, haben auch einen freiem Zutritt und mehr Gunst bei denselben, als ansehnliche und ehrliche Leute. Man glaubt eine Hofhaltung in Abnahme kommen, wo nicht ein Carafula, ein Gonella, ein Boccafresca oder sonst ein unverschämter Possenreifser, die ganze Gesellschaft der Höflinge und der Herren selbst mit kurz- weiligen Reden, geschwinden Antworten, auch mit ziemlich groben Zoten unterhält und lustig macht. Da sitzt oft Herr und Knecht, sperren Maul und Nasen auf und hören dem Narren zu, der allerhand Schnaken vorbringt; bald sagt er eines Bauern Testa- ment her, welches er seiner Grethe hinterlassen; bald kommt er auf ein Instrument des Ceci, welches in so lächerlichen Worten abgefafst ist, dafs es Cocajus nicht ärger machen könnte; bald erzählt er die krummen Sprünge, welche jenes Arztes Weib ihrem ' Manne zu Ehren in der Fastnacht gethan ; bald fällt er auf das Gespräch M. Agresti mit der Togna S. Germani. Er redet von den Gesetzen, wie ein Gratianus zu Bologna, von der Arzneikunst, wie ein M. Grillus; perorirt auf gut pedantisch, wie ein Fidentius Glotocrisus; spricht bergamaskisch, als wäre er der gröbste Bauer in der ganzen Gegend. Bald macht er den Rektor Magnifikus in der Stellung des Leibes, bald einen Spanier in höflichen Gebehrden, bald einen Deutschen im Gange, bald einen Floren- tiner im Reden und Schnarren, bald einen Neapolitaner im Krähen. Mit einem Worte, er kann der ganzen Welt in Reden, Gebehrden und Kleidern nachäffen. Er kann auch das Angesicht fast auf tausenderlei Weise verändern und verstellen. Bald zieht er die Augenbrauen ein, und verdreht die Augen, als wenn er schielte; bald zieht er die Lippen so seltsam zusammen, dafs man glaubt, er habe eine Mafke vor sein Angesicht gezogen; bald reckt er die Zunge spannenlang heraus, wie ein durstiger Schäferhund in der Hitze; bald streckt er den Hals, als wenn er am Galgen hienge; bald zieht er ihn wieder ein, und biegt den ganzen Leib zusammen, als wenn er den Teufel auf den Schultern hätte; bald macht er einen krummen Rücken, wie ein Mailändischer Reffträger; bald schlägt er die Arme übereinander,

Die Tracht der mittelalterlichen Hofnarren gleich der des mimus calvus. 831

als wenn er voller Andacht wäre: bald gehn ihm die Hände und die Finger wie einem Gaukler. Bald streckt er sich wie ein fauler Schlingel, bald geht er einher, wie ein Lastträger, bald richtet er sich auf wie ein Esel. Überhaupt geht seine ganze Kunst dahin, dafs man lachen soll; und wenn er anfängt zu lachen, so mufs jedermann, der ihn ansieht, mit lachen. Dieses sind die Tugenden der Possenmfser, um derentwillen sie bei Fürsten und Herren lieb und angenehm sind, auch in Freuden leben, und wohl begabt werden; da unterdessen ein gelehrter Dichter, ein anmuthiger Redner und ein scharfsinniger Philosoph im hintersten Winkel sitzen, und oft Noth leiden mufs.14

Vor allem ist der mittelalterliche Narr trotz aller Albernheit, trotz aller mimicae ineptiae, die er vorbringt, im Grunde ein ver- schmitzter und gescheidter Bursche, in dessen bodenloser Narr- heit viel verborgener Witz und Gehalt steckt, wie in den Narr- heiten in Philistions Philogelos. Eben weil er vom mimischen Narren abstammt, ist er nicht blos ein stupidus, sondern zu- gleich ein Sannio und derisor, der in der Narrenkappe straflos die Narrheit der Welt verhöhnt. An diesem lustigen Kauze entzündet sich auch der Witz der anderen, wie der Narr im Mimus verspottet wird und zugleich der anderen spottet.

VI.

Die Tracht der mittelalterlichen Hofnarren gleich der des mimus calvus.

Das wichtigste Kennzeichen des mimischen Narren war die Kahlköpfigkeit; davon hatte er den Namen mimus calvus oder ficogög (falaxqög. Synesius spricht im Lob der Kahlheit von dem kahlen Mimen, der den Tag ein paar Mal zum Barbier geht1).

l) 4>alaxQ. tyx. 77 B: Tov Iv S(Ötqü) de av&Qtonov, os nollrjv xai xalrjv 7$ ör)ua> öiargißrjv, f£cam xa&' ixäavrp/ ieoouyviav xaiaXaßövu &fav öfcioSai. Ovrog emi uiv twv r^vij tfalaxoüv, ol twv Mb, ßaSi^cav tnl ia xovgtTa xr\g rjuioas noiläxig- Ich will hier auch noch zu den

832 Neuntes Kapitel.

Noch heute sind Kagal Pahlavan, der persische, und der Vidüsaka, der indische Narr, Kahlköpfe, weil sie Nachkommen des alten mimischen Narren sind; weil das nun der mittelalterliche Hofnarr gleichfalls ist, ist auch er beschoren.

Flögel a. a. S. 51 u. 52 bemerkt dazu: „dafs den Narren ehemals die Köpfe beschoren worden, erhellet daraus, weil man die Mönche wegen ihrer Tonsur mit den Narren verglichen hat. So pflegte Johann Geiler von Kaisersberg zu sagen: die Fran- cifcaner sind geschoren, wie die Narren, sind im Gesichte^bedeckt, als unehrliche Schandbuben, und mit Stricken gebunden, wie Diebe; und dieser Geiler war, wie bekannt, katholisch. Und eben so schreibt Cornelius Agrippa: Die Mönche sind beschoren wie die Narren. Es finden sich auch in den hogarthartigen Holzstichen bei Lochers lateinischer Übersetzung von Bränts Narrenschiff, einige Abbildungen von Narren mit heruntergezogener Kappe, bei. welchen der kahle beschorene Kopf deutlich zu sehen ist; als Blatt 39, der Narr, der in die Sonne sieht; und Blatt 68, der Narr, der in den Spiegel sieht." Auch die Jongleure schoren ja als Nachkommen der pZfjbot yslo'mv ihr Haupt.

Auf dem beschorenen Haupte trägt der mittelalterliche Hof- narr eine spitze Narrenkappe, wie der mimus calvus, den spitzen Apex, wovon er auch apiciosus hiefs. Auch der Hofnarr ist also apiciosus, wie noch heute sein direkter Nachkomme, der Cirkus- clown l). Den Narrenkolben, das mimische Prügelholz, trug gleich- falls vor dem Narren schon der Mime.

Eine mehr gelegentliche Auszeichnung der Narrentracht ist der Hahnenkamm, Eselsohren an der Narrenkappe, Schellen und eine grofse Halskrause. Doch hat schon der antike Mime viel vom Hahnentypus2). Wir kennen einen Ritter aus dem mytho- logischen Mimus mit dem Hahnenkamm und einen dickbäuchigen

zahlreichen anderen Stellen anführen Artemidor. Onirocrit. L. I, C. 22. SvQUO&at St Soxeh1 ttjv xe<fai.r\v oirjv nXi]V Alyvnrliov »tüv tSQtvOi xai ytlcozo- noioTs xal tolg 'id-og tyovOi S-vgeio&cti icya&ov ....

i) Vgl. darüber oben S. 449, 579.

2) Vgl. hier auch die Nachweise bei Dieterich, Pulcinella S. 238 ff.

Der Mimus als Puppenspiel i. d. Händen d. mittelalterlichen Ioculatoren. 833

Mimen mit der Hahnennase1)- Auch die Hahnennase des Karagöz wie des Pülcinell dürfte wohl auf der alten mimischen Über- lieferung beruhen2). Was die Eselsohren angeht, so wollen wir an den alten Eselmimus denken. Schellen und Kragen hat viel- leicht erst das Mittelalter der Narrentracht hinzugefügt.

Da der Narr nun einmal bei der guten Gesellschaft des Mittel- alters (wie der Antike) mit dazu gehört, so fehlt er auch nicht auf den mittelalterlichen Bildern, die sie darstellen. Auf Mair von Landshuts Bilde „Gesellschaft auf dem Balkon" (Wien k. k. Kupferstichsammlung, abgebildet bei Schulz, Deutsches Leben Nr. 138, S. 380 381) befindet sich der Narr, das mimische Prügelholz in der Rechten, auf dem Haupt die Kappe mit den langen, spitzen Ohren, in der Gesellschaft schöner Damen und eines stolzen Herrn. Auf dem Bilde von Martin Jäsinger „Tanz im Münchener Schlosse" (1500. a. a. 0. Nr. 177, S. 494— 495) schaut der Narr mit Kappe und Eselsohren dem Tanze der Hof- gesellschaft zu. Beide Narren dürften beschoren sein, da bei ihnen nicht das Haar, wie bei den anderen Männern, angedeutet ist, doch könnte es auch von der Narrenkappe verdeckt sein. Auf dem Bilde von Israel von Meckenen „Die Tänzer" (a. a. 0. Nr. 174, S. 490—491) springt der Narr unter anderen höchst exaltierten Tänzern mit, in der Hand trägt er die Narrenpritsche, vom Haupte ist ihm die Kappe bei der heftigen Bewegung herab-- geglitten, da sieht man deutlich, er ist ein beschorener Narr, eine Art „mimus calvus".

VIL

Der Mimus als Puppenspiel in den Händen der mittelalterlichen

Ioculatoren.

Mit dem Hofnarren sind wir zur niedrigsten Stufe der mimi- schen Kunst herabgestiegen. Wir erheben uns wieder und gelangen zunächst zum mittelalterlichen Mimus als Puppenspiel. Wir sahen,

') Vgl. oben S. 583.

2) Vgl. darüber oben S. 676, 682.

Reich, Mimua. 53

834 Neuntes Kapitel.

dafs das Puppenspiel in Hellas uralt ist. Im byzantinischen Osten und im Orient hat sich die Hypothese als Puppenspiel erhalten bis zum Untergange von Byzanz, und in der Meta- morphose des Karagözspiels bis auf unsere Tage; auch der Held des persischen Puppenspiels, der Kagal Pahlawan, wie der des indischen, der Vidusaka, wie der des javanischen Semar sind die direkten Nachkommen des alten mimus calvus, des Helden im griechischen Puppenspiel.

Wie wir im zwölften Jahrhundert für Byzanz das Puppen- spiel durch Eustathius bezeugt erhalten (vgl. oben S. 672 u. 673), so haben wir für den lateinischen Westen aus derselben Epoche eine Abbildung des Puppenspiels, in dem Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg (Äbtissin von Hohenburg 1167— 1196) l).

Gerade die mittelalterlichen Mimen, die Ioculatoren, führten solche Puppenspiele vor. Das wird bezeugt in der provengali- schen Flamenca (13. Jahrhundert)2) wie im deutschen Wachtel- märe, wo die Marionetten, die dort an Schnüren befestigt er- scheinen, tatermanne genannt werden8). Die Ioculatoren trugen diese Puppen (Kobolde) vielfältig unter dem Mantel und zogen sie, wenn sie spielen wollten, hervor4). So erscheint Oriande als Jongleur verkleidet bei einem Hochzeitsfeste, dem auch ihr Geliebter Malegys beiwohnt, von dem sie lange Jahre getrennt war. Sie zieht zwei herrlich gearbeitete Puppen hervor und läfst sie auf einer schnell zum Theater hergerichteten Tafel tanzen; die Puppen halten ein Liebesgespräch, zum Schlüsse küssen sie sich, da erkennt Malegys die schöne Fee und küfst sie5).

2) Bei A. Schulz, Höfisches Leben im Mittelalter I, S. 118, wiedergegeben nach Engelhard Herrad von Landsberg, Stuttgard 1818, Tafel V. Es sind zwei geharnischte Gliederpuppen, die, durch Schnüre bewegt, mit einander fechten. Darunter steht die Unterschrift: ludus monstrorum.

2) Vgl. oben S. 808.

3) Mafsmann, Denkmäler der dentschen Sprache und Litteratur. München 1828, 'S. 110.

4) Belegstelle hierfür ist besonders Hugo von Trimbergs Renner, v. 5065. ') Siehe die Ausgabe des Fragments bei Von der Hagen, Germania

VIII, S. 280.

Der Mimus als Puppenspiel i. d. Händen d. mittelalterlichen Ioculatoren. 835

Einen Marionettenkasten finden wir schon auf einer Miniatur- abbildung aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einer Handschrift des „Roman d'Alexandre"1). Dort schaut aus dem Puppenkasten ein dickbäuchiger Herr mit einem kräftigen Knittel heraus, ihm gegenüber befindet sich ein Weib. West- wood sieht diese beiden Puppen als die Vorläufer von Punch und Iudy an. Das ist an und für sich falsch, denn Punchs Ahne ist niemand anders als Pulcinell und von Pulcinell ist im 14. Jahrhundert und noch dazu in England keine Rede. Aber in diesem dickbäuchigen Herrn im Puppenspiel werden wir unschwer den alten, dickbäuchigen Mimen erkennen; auch die Helden des orientalischen mimischen Puppenspiels, Vidüsaka und Semar, haben noch vom alten mimus calvus her den dicken Bauch. Murner beschreibt in der Narrenbeschwörung (1512) einen Puppenkasten, „ein Himmelreich". ' Auf ihm erscheint Meister Isengrimm und stiehlt einer Beghine einen Braten, auch schiefst er mit einem Bogen den Ehebrechern die Nasen ab, ein Mönch wirft mit einem Kissen nach einer Äbtissin. Es sind die alten Themen aus dem Mimus, die Bestrafung der Ehebrecher, der Spott auf die Geistlichkeit, auf Mönche und Nonnen. Dafs hier Meister Isengrimm als eine Person des Tierepos und der Tierfabel im Puppenspiel auftritt, können wir jetzt, da uns die nahen Beziehungen zwischen Mimus und Fabel deutlich geworden sind (vgl. oben S. 442 444), ganz wohl verstehen').

Jedenfalls war der Mimus als Puppenspiel im lateinischen Westen Europas ebenso beliebt wie im byzantinischen Osten. Im Redentiner Osterspiel (1138 ff.) befiehlt der Teufel seinen Dienern, unter den andern Verlorenen auch die Leute vor- zuführen :

Die da spielen mit den Docken

Und den Thoren ihr Geld ablocken*).

J) Vgl. Westwood, Archeological Journal, Bd. V (London 1848), S. 198. *) Vgl. A. Schultz, Deutsches Leben, S. 228.

*) Zweifelsohne war das Marionettenspiel im Mittelalter aufserordent-

53*

836 Neuntes Kapitel.

Also das Puppenspiel in den Händen der mittelalterlichen Mimen, der Ioculatoren, war von vornherein ein Mimus, wie es noch heute im Orient ein Mimus ist und im letzten Grunde ist ja auch unser modernes Kasperle- und Pulcinellspiel nichts anderes. Ich will hier nochmals an die Übersetzung von Tocha, Marionette durch mima, in dem althochdeutschen Glossar hin- weisen 1).

VIII.

Der Mimus am Ende des Mittelalters.

Adams de la Halle „Jeu de la feuillee".

Alle Leistungen der alten griechisch-römischen Mimen bis zu den niedrigsten hinab haben die Jongleure beibehalten. Ob sie auch wie diese ihre Vorfahren Schauspieler geblieben sind, ob sie gelegentlich auch mimische Dramen weiter aufgeführt haben, das ist nun die Frage.

Die mittelalterlichen Mimen treten, wie im Altertume, in Scharen auf und haben auch Miminnen unter sich; sie wandern wie in der Antike, in grofsen Gesellschaften, sie lieben es, Mimo- logieen und ethologische Darstellungen vorzuführen und üben die Künste der Mimesis in weitestem Umfange. Es wäre wunderbar, wenn in diesen Gesellschaften jeder für sich allein gemimt, wenn man sich nicht zur Aufführung ganzer Stücke vereinigt hätte, zumal ja die Jongleure auf dem Puppentheater unablässig kleine Dramen aufgeführt haben.

Wir hören von Verboten gegen Mimen und Miminnen, sie sollen nicht in Gewändern von Mönchen und Nonnen auftreten, also nicht in schauspielerischen Verkleidungen. Die Nachäffung der Typen von Engländern und Bretonen durch Jongleure in Ober- italien könnte wohl, wie schon Creizenach hervorhebt, in kleinen

lieh verbreitet; Magnin giebt dafür (histoire des Marionettes) eine ganze Anzahl interessanter Belege, die sich aber noch sehr vermehren liefsen. . l) Vgl. oben S. 674, Anm. 1.

Der Mimus am Ende des Mittelalters. „Jeu de la fenillee". 837

Dramen, d.h. also in Mimen, vor sich gegangen sein1). Aber von dem Inhalte der mittelalterlichen Mimen erfahren wir sonst nichts. Die Jongleure, die das mimische Schauspiel vorführten, hatten, wie die griechischen Mimographen, die einst Philistions Vorläufer waren, kein litterarisches Interesse und keine litterari- schen Ansprüche, sie stellten in lustigen Stücklein die alten und ewig jungen Typen und Themen dar, die sie von ihren griechisch- römischen Vorfahren überkommen hatten. Das Ganze diente zur Lust des Augenblicks und wurde natürlich extemporiert Der stupidus in diesen Mimen, der sot, war noch ganz der alte mit kahlem Kopf und mit grellbunter Tracht, vielleicht zierte ihn auch noch der dicke <. Bauch, den ja auch noch die komische Figur im mittelalterlichen Puppenspiel beibehalten hat. .

Wer sollte wohl diese Stücke aufschreiben. Möglich auch, dafs anfänglich unter den Jongleuren eine Art Canevas schrift- lich überliefert wurde, nachdem man extemporieren konnte. Im 6., 7. und 8. Jahrhundert sind unter den mittelalterlichen Mimen- banden vielleicht auch noch Hypothesen von Marullus und Lentulus und anderen berühmten Mimographen handschriftlich verbreitet gewesen, wenigstens haben wir festgestellt, dafs noch im fünften Jahrhundert n. Chr. die Mimen der alten berühmten Mimographen gelesen wurden, dafs es also von ihnen handschriftliche Exem- plare gab.

Später hat dann allein die mündliche Überlieferung ein- gesetzt. Aber die lustigen alten Typen des Mimus, der stupi- dus, der derisor, der Sannio, der Ardalio, der betrogene Ehe- mann, der Zr\).6ivnoz, die verschmitzten Eheweiber, die schlaue Vermittlerin und alle die anderen sind so unvergefslich, wie die markantesten Scenen, in denen sie auftraten, die Ränke und Possen, die sie sich spielten, ihre lustigen Foppereien und Schimpfereien, Kabalen und Intriguen. So werden im Karagöz- spiel die alten mimischen Charaktere und Sujets schon über vier Jahrhunderte mündlich überliefert, und doch bleibt die Über- lieferung konstant und äufserst selten wird einmal ein neues

>) a. a. 0. S. 383, Anm. 2.

838 Neuntes Kapitel.

Stück gedichtet und auch dieses setzt sich dann wieder aus den uralten Elementen zusammen1).

Die Litteratur des Mittelalters steht unter dem Zeichen der Geistlichen. Priester und Mönche haben sich weidlich an den Mimen ergötzt, sie haben sich Ioculatoren und Hofnarren gehalten und die Kirchenfürsten waren mit den mimischen Narren gut Freund, aber den Inhalt der Mimen aufzeichnen, wie hätten sie das thun sollen, ja dürfen? Wozu sollte man auch diese lustigen Narrenteidungen aufschreiben, dafs sie aufhören könnten, war ja garnicht zu befürchten, man beschimpfte und verbot sie ja offiziell schon seit Jahrhunderten in Concilienbeschlüfsen und Synodal- verordnungen ohne ihnen je etwas anhaben zu können. Wie empört ist Alcuin, der fromme Lehrer Karls des Grofsen, über die besondere Vorliebe, die Angilbert der „Homerus", der Eidam Karls, der verheiratete Abt den Mimen zeigt, wie dringend mahnt er ihn, davon abzulassen, bis er hört, Angilbert habe seinen Lebenswandel gebessert.

Ja, dafs die Mimen, die alten Darsteller des Mimus, im Mittelalter weiter gelebt haben, ist gar keine Frage. Ich habe die zahlreichen Zeugnisse für ihre Fortexistenz angeführt2). Aber wenn die Mimen weiter lebten, wie sollte dann der Mimus zu Grunde gegangen sein?

Die Existenz des grofsen mimischen Dramas der Hypothese ist mindestens für das vierte, fünfte und sechste Jahrhundert n. Chr. nach den zahlreichen und deutlichen Zeugnissen, die wir aufgefunden haben, erwiesen. Wenn also die mimischen Schau- spieler im sechsten Jahrhundert ihre Existenz behaupteten, wenn sie alle Stürme der Völkerwanderung überstanden hatten, warum sollten sie plötzlich im siebenten, achten, neunten, zehnten Jahr-

*) Vgl. oben S. 668.

2) Schon Petit de Julleville hat sich wenigstens dieser Erkenntnis auch ohne die ganze Masse der Zeugnisse zu kennen, nicht verschlossen; soviel konnte man selbst aus Grysar und noch besser aus Magnin (Origines latines du Theätre moderne), der Grysar vorangeht, lernen. Darum beginnt Petit in seiner berühmten Geschichte der französischen Komödie den Band „Les comediens" mit dem Kapitel „Les Jongleurs".

Der Mimus am Ende des Mittelalters. „Jeu de la feuillee". 839

hundert die Möglichkeit der Existenz verlieren und vor allem die Möglichkeit, ihre alten mimischen Dramen vorzuführen. Ähnlich haben wir wohl Kunde vom Fortleben der Mimen im Mittelalter im byzantinischen Orient, und aus Choricius kennen wir derartige mimische Hypothesen aus dem sechsten Jahrhundert, aber aus der Folgezeit ist auch nicht eine einzige Nachricht über Sujet und Inhalt einer byzantinischen Hypothese überliefert, wenn wir auch gelegentlich von dem Mimus im Theater boren und uns Araber und Armenier als neuer mimischer Typus genannt werden. Dann setzt die reichliche Überlieferung erst wieder mit dem Nachkommen des byzantinischen Mimus, dem Karagöz ein, und wir sehen, dafs der byzantinische Mimus noch in seinen letzten jämmerlichen Aus- läufern ein mehraktiges Stück, eine Hypothese ist. Aber erst moderne Wissenschaft hat den Karagöz entdeckt, mittelalterliche Betrachtungsweise hätte ihn spurlos vergehen und vergessen lassen. In der That zeigen sich auch im lateinischen Westen die Spuren des Mimus sofort wieder, sowie sich das Mittelalter seinem Ende nähert und wieder mehr von einer eigentlich- litterarischen, von der Geistlichkeit unabhängigen Überlieferung die Rede ist

Das älteste erhaltene komische Drama des Mittelalters stammt von dem berühmten Trouvere Adam de la Halle, es ist das Spiel von Adam oder von der Blätterlaube (Jeu d'Adam oder Jeu de la feuill6e) (circa 1262; vgl. Petit, La comädie S. 19). In ihm erscheint Adam selbst, sein Vater, Meister Heinrich, und fünf Bürger des Städtchen Arras, Riquier, Hane, Guillot, Wal6s und Rainnel6s, auch zeigt sich ein Arzt und ein vagabondierender Mönch. Adam ist seiner Vaterstadt Arras und seiner reizenden Frau Marie überdrüssig; sein Hunger nach ihren Reizen ist gestillt, und nun hat er grofse Pläne, er will nach Paris gehen, um zu studieren. Sein Vater ist nicht dagegen, will aber das nötige Geld nicht vorstrecken, weil er alt und krank ist und es selber braucht. Jetzt tritt der Arzt in Scene und meint, die Krankheit des Alten ist der Geiz. Der Arzt wird mit einem Male die Hauptperson, eine Dame kommt hinzu und konsultiert ihn und es folgt eine Art Sprech- stunde. Da tritt auf einmal ein vagabondierender Kleriker, gleich- falls eine Art Mediziner, herein, er führt eine Reliquie mit sich,

840 Neuntes Kapitel.

die imstande ist, alle Narrheit zu heilen. Sofort weist jeder den andern darauf hin, aber nicht einmal der eigentliche Narr Wal6s wird durch die Berührung geheilt. In dieser Nacht, in der man spielt, sind die Feen gewöhnt, unter einer Blätterlaube von den Bürgern von Arras ein Mahl anzunehmen. Aber der Mönch mit seiner Reliquie hält Feen und Geister fern. Schnell versteckt man ihn und schon vernimmt man das Brausen des Geisterheeres; es erscheint Croquesos, der Diener Hellequins, des Herrn der Geister, mit einer Liebesbotschaft seines Herrn für die Fee Morgue. Plötzlich zeigt sich Morgue mit den Feen Arsile und Maglore auf der Scene. Zum Unglück ist etwas an der Tafelzurüstung für Maglore vergessen und während Morgue und Arsile Glück und Segen wünschen, verflucht Maglore Riquier und Adam. ' Zum Schlufs grofses Zechgelage, der Mönch .schläft dabei ein und mufs zuletzt die Zeche bezahlen, und da er nichts hat, die Reliquie zum Pfände lassen.

Magnin hat dieses Spiel zum ersten Male mit der aristo- phanischen Komödie verglichen und Petit hat diesen Vergleich geistvoll weiter durchgeführt (La comedie S. 19). Aber eins ist gewifs, Adam de la Halle hat auch nicht ein Sterbens- wort von Aristophanes gewufst. Was an diesem Drama vor- nehmlich als aristophanisch erschien, die Sittenschilderung, die Mischung des biologischen und märchenhaften Elementes, politische und lokale Anspielung, Humor und Spott, ist nicht spezifisch aristo- phanisch sondern mimisch. Aus Mimus und phallischem Chor- gesang, lehrt Aristoteles und die altperipatetische Schule, setzt sich die sogenannte alte attische Komödie zusammen. Vom Chor- gesange ist im Jeu de Adam, so viele Personen auch darin auftreten, keine Spur, von der alten Komödie findet sich nur das spezifisch mimische Element dort, und um dieses mimischen Elementes willen konnte man sich an die alte attische Komödie erinnert fühlen.

Die Darstellung des Ehelebens, wie sie sich bei Adam findet, ist eines der wichtigsten Sujets des Mimus. Der Mimus führte auch gerne solche stupidi vor, wie es der Narr bei Adam ist, der Biologe liebte es, Personen aus dem ßiog zu schildern, wie es Adam thut; der Mimus liebte es, Ärzte vor-

Der Mimus am Ende des Mittelalters. .Jeu de la feuülee". 841

zuführen in ihrer Praxis, wie bei Adam, und gerade wie diese Ärzte mit Damen umgehen, hat der Mimus geschildert wie Adam. Mönche hat von jeher der nachchristliche Mimus mit Vorliebe auftreten lassen und wenn dieser Mönch mit seiner Reliquie Wahnsinnige und Besessene heilen kann, so hat auch der türkische Mime Karagöz ein geheimes Mittel, Verrückte zu heilen und einmal erscheint er sogar in einer Irrenanstalt. Be- sessene oder die als solche erscheinen oder behandelt werden, fanden sich in der alten Komödie wie im alten Mimus. Wenn Maglore wünscht, dafs Riquier, der nur noch ein Haar auf dem Kopfe hat, ganz kahl wird, können wir uns vielleicht an den mimus calvus erinnern, zumal auch die Ioculatoren dieses Zeichen ihrer griechisch-römischen Vorgänger beibehalten haben. Auch gelegentliche politische Anspielungen wie bei Adam finden sich im Mimus, wenngleich der Mimus niemals wie die altattische Komödie vornehmlich auf die Politik zugeschnitten ist oder gar um ihretwillen gedichtet war. Das war aber auch nicht das Spiel von Adam, es nimmt der Politik gegenüber genau dieselbe Stellung ein wie der alte Mimus.

Dieses Spiel mit seiner Mischung des niedrig-realistischen Elementes mit dem Phantastisch-Märchenhaften ist der Ethologie und Biologie des Mimus am nächsten verwandt. Mimus und Märchen gehören ja überhaupt nahe zusammen, schon die alt- attische Märchenkomödie verdankt viel der uralten Neigung des Mimus zum Märchenhaften ; ich erinnere auch an Gozzis Märchen- mimus (vgl. darüber oben S. 332, 593, 680).

Zum Schlüsse kommt in diesem Drama noch Frau Fortuna herein. Wir kennen sie genau aus dem alten griechisch-römischen Mimus, die Herrin Tyche, die zuletzt die Zeche macht Ganz ähnlich wie Adam von der „Fortune**, redet Philistion von der Tyche. Ja fast wörtlich stimmt Adams Schilderung der „Fortune" und ihres Rades mit derjenigen am Schlüsse von Qudrakas Mimus der Mrcchakatikä überein1).

*) Ich gebe hier die altfranzösischen Verse in der modernisierten und leicht verständlichen Form, die ihnen Petit, La comedie S. 26, giebt:

842 Neuntes Kapitel.

In Adams Dichtung zeigt sich der freie und kühne Geist eines grofsen Poeten, der trefflich mit dem von den Ioculatoren, den alten Mimen, überlieferten Schatze an mimischen Typen und Themen umzugehen weifs und geistvoll das alte Gold zu funkel- nagelneuen Münzen schlägt1).

IX.

Typen und Themen des Mimus in InterSude und Farce.

In einer englischen Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts ist ein Interludium „De Clerico et puella" überliefert. Der Clericus geht in Abwesenheit der Eltern zur Jungfrau Malkin (Mariechen), aber er hat mit seiner Liebeswerbung wenig Glück. Da geht er zur Kupplerin; doch die alte Hexe behauptet," sie sei eine ehrbare Frau, die lieber singe und bete als mit solchen Geschichten zu thun habe. Leider bricht da dieses Spiel ab3).

Wir haben hier wieder den alten Ehebruchs- oder Ver- führungsmimus vor uns. Jungfer Malkin erinnert uns an Metriche im ersten Mimiambus des Herondas, die den von der Kupplerin angepriesenen Verführer so schnöde abweist, der Geistliche, der sich hinter die alte Kupplerin, die Dame Gyllis bei Herondas, die cata carissa des römischen Ehebruchsmimus, steckt, an den edlen Gryllos, der mit Hilfe der Gyllis an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen hofft. Dieses Interludium steht also in

Fortune a toute chose eile est commune et tient tout le monde en sa main pauvre aujourd'hui, riche demain ni ne sait point qui eile avance Pour ce, nul n'y ait confiance si haut qu'il puisse etre monte; car il ne faut qu'uh tour de roue il lui convient descendre ä bas.

r) Ich will hier auf „Robrn und Marion", das zweite Drama Adams, nicht näher eingehen, es ist ein Pastorale mit zahlreichen Couplets, eine Art komischer Oper mit schäferlichen Masken, kurz, ein bukolischer Mimus, während das Spiel von Adam ein biologischer Mimus ist. Gerade für den bukolischen Mimus ist dem Mittelalter die Überlieferung, und zwar hier die schriftmäfsige, niemals -abgerissen. Ich erinnere nur an den Eklogendichter Naso am Hofe Karls des Grofsen. In jeder Hinsicht steht also das älteste komische französische Drama, das wir kenneD, unter dem Zeichen des Mimus.

2j Vgl. Creizenach a. a. 0. S. 400.

Typen und Themen des Mimus in Interlude und Farce. 843

einer Handschrift aus dem Anfange des vierzehnten Jahrhunderts; danach ist es sicher, dafs man schon im dreizehnten Jahrhundert den mittelalterlichen Mimus Interludium nannte (vgl. Creizenach a. a. 0. S. 400), und darum nennt Adam de la Halle seinen Mimus zwar kein Interludium, aber doch einfach einen ludus (jeu), und wir wissen, dafs man die Mimen auch ludiones hiefs. Der Name Interlude blieb das Mittelalter hindurch erhalten. Noch Königin Elisabeth hielt von ihrem Regierungsantritt an eine Gesellschaft von 'Players of Enterludes' ') als königliche Schauspielertruppe 8).

Warum nannte man den Mimus a Interludium?" Wir wissen, wie reichlich in den vornehmen Haus- und Hofhaltungen des Mittelalters für die Unterhaltung der Gäste gesorgt wurde; da gab es eine grofse Masse von „ludi-1 und ludiones". Allen diesen ludiones wurde Schweigen geboten; wenn das Interludium vor sich gehen sollte, dann hörten die Fidein und Harfen auf, die Mim öden sangen nicht mehr, der Puppenspieler schwieg stille, die Bären durften nicht mehr brummen und die dressierten Hunde- nicht mehr bellen, auch der Heldengesang verstummte. Hinter der Gardine"5) traten die Ioculatoren, die Mimen, hervor und führten, während die ludi schwiegen, ihr grofses Interludium auf. Doch wenn die Ioculatoren wieder hinter ihrem velum mimicum verschwunden waren, traten die anderen ludi von neuem

i) Vgl. Karl Elze, William Shakespeare S. 271.

2) Seine Blüte erlangte das Interlude in England durch John Heywood am Hofe Heinrichs VIII ; dieses Spiel ist wie der alte Mimus voller Spott gegen die Geistlichkeit.

*) Das Siparium fanden wir ja noch auf der englischen Bohne zu Shakespeares Zeit, sie hat es von den alten players of enterludes. Wir haben also allen Grund, das velum mimicum überhaupt bei dem Interlude vorauszusetzen. Die mittelalterlichen Mimen haben eben dieses unerläßliche Stück der Ausstattung beibehalten. Hart, Geschichte der Weltlitteratur II, S. 97. giebt nach P. Albert, La litterature fran?aise, Paris 1891, die bild- liche „Darstellung einer Possenscene auf der spätmittelalterlichen Volks- bühne'". Deutlich sieht man hier den Vorhang, vor welchem gespielt wird, das Siparium. Noch heute treten in primitiven Varietes die Gaukler hinter der sich teilenden Gardine hervor.

844 Neuntes Kapitel.

in ihr Recht, und' es erhob sich im Saale das alte Brausen. So traten an den Höfen der Diadochen ÖavpaTonoioi,, Musikanten und Mimoden, in Scharen in dem grofsen Festsaale auf, bis die mimische Hypothese, die alles Interesse auf sich zog, den übrigen Spielen Schweigen gebot.

Der Name interludium für den alten Mimus scheint im späteren Mittelalter wie im Beginne der neuen Zeit in allen romanischen Ländern Geltung gehabt zu haben; in Spanien hiefs das Interlude Entremesa. Cervantes wie Lope de Vega, die grofsen Zeitgenossen William Shakespeares, haben eine ganze Anzahl Entremesas gedichtet1).

Daneben kam der Name Farce auf2). Es sind genau 150 französische Farcen erhalten3), die alle nicht älter sind als das

1) Eine genaue Inhaltsangabe der Entremesas von Cervantes findet sich bei J. L. Klein, Geschichte des Dramas IX, S. 375 ff. Im dritten Entremesa „El viejo zeloso" (Der eifersüchtige Alte) haben wir den alten mimischen Narren, den ^Aonmos, vor uns, mit all' den alten mimischen Zügen bis ins einzelne und einzelste. Gegenüber dem sechsten Entremes „de la Eleccion de los Alealdos de Daganzo" erinnern wir uns an Pappus Praeteritus oder Punch candidate for Guzzledown. Kurz, die Typen und Themen des spani- schen Entremes lassen sich bis ins einzelne hinein mit denen des Mimus be- legen; aber das würde eine ganze Monographie, ja, bei der Fülle des aus dem Mimus Überlieferten und Überkommenen, ein ganzes Buch erfordern.

2) Über den Ausdruck Farce, der als Bezeichnung für den Mimus vor- läufig zuerst für das fünfzehnte Jahrhundert nachweisbar ist, vgl. Petit de Julleville, La comedie et les moeurs en France au moyen-äge, Paris 1886, S. 51 ff. Auch Du Cange, s.v. farsa, giebt nützliche Belege.

3) Petit de Julleville zählt im Repertoire du Theatre comique en France au moyen-äge, Paris 1886, 148 auf. S. 106—258, Nr. 66-213. Inzwischen haben sich zwei neue Farcen hinzugefunden. Vgl. Codd.( Ashburnhamiani I, 63 ff. Und doch sind diese 150 Stücke nur der kleine Bruchteil eines ungeheuren Reichtums. Wie es im griechisch-römischen Weltreiche einst in allen grofsen Städten Mimographen gab, wie überall die Mimen, die das Leben abspiegelten, in diesen lebensfrohen Zeiten wie Pilze aus der Erde hervorschossen, so gab es in dem daseinsfreudigen Frankreich gegen Ende des Mittelalters zahllose Farcendichter, und die Farcen blühten auf wie die Blumen an einem Frühlingstage. Sehr gut bemerkt Petit de Julleville, La comedie S. 57 : Quoique nous posstdions beaueoup de farces, peut-etre n'avons- nous pas la centieme partie des pieces de ce genre compose'es au moyen-äge ....

Typen und Themen des Mimus in Interlude und Farce. 845

sechzehnte Jahrhundert, zum Teil sind sie in alten Drucken, zum Teil handschriftlich überliefert. Doch hebt Creizenach hervor, dafs diese Farcen grösstenteils wohl Überarbeitungen von komischen Schauspielen viel früherer Jahrhunderte sind1). Überall regt sich die Erkenntnis, dafs das komische Drama des Mittelalters sehr viel älter ist, als es scheint, es ist eben der uralte Mimus.

Wie im Mimus treten auch hier wieder alle Typen des ßioq auf. Da sind vor allem die alten Handwerkertypen, der Müller, der Schuster (wie bei Herondas), der Schneider, der Kesselflicker, alle Typen des Marktes und der Strafse, die Fischweiber (wie schon bei Epicharm), die Grünkraut- und Gemüsefrauen wie in den mimischen Scenen bei Petron. Wie im alten Mimus zeigen sich Ärzte, Schulmeister mit ihren Schülern, Advokaten, prahlerische Soldaten (vgl. besonders Petit, Nr. 71, 86, 108, 114). Vor allem werden, wie es der Mimus seit den ältesten Zeiten und besonders der christo- logische Mimus liebt und wie es noch heute im indischen wie im persischen und türkischen Mimus Sitte ist, die Geist-- liehen arg mitgenommen. Da erscheinen allerhand verliebte Cleriker, verbuhlte Äbtissinnen und Nonnen. Nicht einmal der copo compilatus, der betrogene Kneipwirt aus dem alten Mimus fehlt, ebenso wenig fehlen die Industrieritter des Mimus, die in den mimischen Scenen bei Petron eine so wichtige Rolle spielen. Wie der Narr, der stupidus, im griechisch-römischen Mimus, so spielt in der französischen Farce der Narr, der sot oder wie er seit den ersten Zeiten des sechzehnten Jahrhunderts heifst, der Badin, eine wichtige Rolle. Natürlich finden sich, wie im alten Mimus und besonders der Atellane, allerhand Typen des ländlichen Lebens in der Farce, Bauern und Bäuerinnen, Knechte und Mägde.

Du Verdier s'exprime ainsi dans sa Billiotheque franeoise en 1585: *On ne sauroit dire Us farces qui ont (te compose'es et imprimees, si grand en est le nombre. Car au temps passe", chaseun se mesloit (Ten faire».

») a. a. 0. S. 431.

846 Neuntes Kapitel.

Den eigentlichen risus miraicus aber erwecken in diesen Farcen die uralten mimicae ineptiae, diese drolligen Dummheiten der Narren, die Eulenspiegeleien; die mimicae artes, die lustigen Vermummungen und Betrügereien, die Kabalen und Ränke, die praestigiae atque fallaciae, die Cicero als mimorum argumenta kennzeichnet (vgl. oben S. 64, Anm. 2). So sind denn in der französischen Farce wie im alten Mimus besonders allerhand lustige Gaunereien und Diebstähle im Schwange. Das Ver- suchsobjekt für solche Streiche ist besonders der Gastwirt, der copo compilatus des alten lateinischen Mimus. Aber auch sonst werden im französischen Mimus allerhand Gewerbtreibende von ihren Kunden betrogen; so im neuen Pathelin (Nr. 157 bei Petit) ein Kürschner. In Nr. 72 bei Petit tritt ein Blinder und sein Junge auf, die eine Wurst stehlen und dabei abgefafst werden.

Wie es sich für einen Mimus gehört, liebt die französische Farce allerhand politische Anspielungen, besonders über den Steuer- druck wird geklagt, wie im sechsten Mimiambus des Herondas. Und -wie der griechisch-römische Mimus gelegentlich in Anspielungen die Verhältnisse der allerhöchsten Herrschaften berührte, so auch der französische. So wurde im Jahre 1503 in einer Farce vorgeführt, wie ein Hufschmied (marechal) eine Eselin (Anne) beschlägt, dabei aber einen kräftigen Fufstritt erhält. Gemeint war der Marschall von Rohan, der von der Königin Anna gestürtzt wurde (vgl. Petit, Repertoire S. 357).

Der gröfste Wert der französischen Farcen für die Historie in ihrer höchsten und letzten Form, d. h. der Entwicklungs- geschichte der Menschheit, besteht in der Treue, mit der sie die sozialen und politischen Verhältnisse des Mittelalters wider- spiegeln, d. h. um antike Termini zu gebrauchen, in ihrer Bio- logie; auch dem französischen Farceur gebührt der Ehrentitel Biologe, wie dem Mimen. Petit de Julleville hat die Farce vor- nehmlich unter diesem biologischen Gesichtspunkte behandelt, das drückt sich sogar in dem Titel seines Werkes aus: La comSdie et les moeurs en France au moyen-äge. So gründeten die Peripatetiker auf den Mimus ihre Darstellung der „moeurs

Typen und Themen des Mimus in Interlude und Farce. 847

en Grece* und basierten zum Teil auf der mimischen Biologie ihre hellenische Sittengeschichte, ihren Tßiog °ElXddoqu (vgl. oben S. 319, 320).

Die Schwiegermutter, die sich schon in dem alexandrinischen Mimus Hecyra wie im griechisch-römischen Mimus zeigt, spielt auch eine arge Rolle in der Farce vom „Waschfafs". Es handelt sich da, wie oft im Mimus, um die Herrschaft im Hause. Der arme Jaquinot wird von seinem Weibe und seiner "Schwiegermutter drangsaliert. Als Jaquinot sich nun beschwert, dafs ihm alle weiblichen Arbeiten im Hause aufgehalst würden, rät die Schwiegermutter, damit aller Zank und Streit aufhöre, solle er sich ein Verzeichnis seiner Pflichten anlegen; da diktiert ihm denn Frau und Schwiegermutter ein langes Register. So be- giebt man sich an die Wäsche; aber Jaquinot zieht, während er am Waschfafse steht, die Wäsche wohl allzu straff an und die Frau purzelt ins Waschfafs. Als sie nun verlangt, er solle sie herausziehen, sieht er seine Liste nach und findet das nicht darin. Cela n'est point a mon rollet. Auch die Schwieger- mutter kann ihrer Tochter nicht helfen; man ist wirklich allein auf die Kräfte Jaquinots angewiesen und so müssen denn Frau und Schwiegermutter ihn als den Herrn im Hause anerkennen. Vgl. Petit, La comädie S. 321 ff. Es ist eben der alte Schwieger- muttermimus.

Vor allem aber waren offenbar der Verführer, das junge Mädchen oder die junge Frau, auf die sich seine Wünsche richten, und die Vermittlerin die cata carissa des alten Mimus, desgleichen der stupidus als betrogener Ehemann, besonders beliebte Typen auch im späteren mittelalterlichen Mimus. Wir finden sie ja schon im alten Interludium „De clerico et puella" und ebenso in den alten niederländischen Mimen aus dem späteren Mittelalter, die von den französischen Farcen ihren Ursprung genommen haben. (Vgl. Creizenach a. a. 0. S. 404.)

Herr Werrenbracht hat seine Frau im Verdachte der Un- treue. Er begiebt sich aus dem Hause und läfst sich von einem Krämer im Tragkorbe wieder in seine Wohnung bringen.

848 Neuntes Kapitel.

Richtig ist auch schon der Pfaffe bei seiner Frau. Er singt ein Spottlied- auf den Hahnrei Werrenbracht, dann fordert er den Krämer auf, auch ein Lied zu singen. Da singt der Krämer: Herr Werrenbracht soll gleich aus seinem Korbe herauskommen und den falschen Pfaffen durchprügeln, und das geschieht1).

Am lustigsten und verbreitesten unter allen diesen Ehe- bruchsmimen ist nun die Farce von dem armen stupidus von Ehemann, der bei seiner Frau ein Kind findet, dessen Herkunft er sich nicht recht erklären kaun.

Dieses Thema findet sich schon im niederländischen Possen- spiel (Creizenach S. 402); da beschwert sich Rüben bei seiner Schwiegermutter, dafs seine junge Frau schon nach drei Wochen in die Wochen gekommen sei. Die Schwiegermutter meint, er müsse die drei Monate Brautstand und dazu die Tage und Nächte des Ehestandes besonders rechnen, dann kämen neun Monate heraus. Zum Schlüsse schwört sie, dafs ihre Tochter ebenso unschuldig bei der Verheiratung war wie sie selbst. Das mufs dem guten Rüben genügen.

Dasselbe Sujet behandelt ähnlich, wenn auch anders, die französische Farce. Ein Mann hat seine Frau, die ihm mit ihren unaufhörlichen Anforderungen an seinen Geldbeutel gar zu lästig fiel, verlassen. Als er wiederkommt, sieht er mit Erstaunen, wie viel besser seine Wohnung ausmöbliert ist, und wie er sich über ein Stück der neuen Ausstattung nach dem anderen wundert und fragt, wodurch sie das erlangt habe, erhält er die stereotype Antwort: „Durch den Segen Gottes". Zum Schlufs bemerkt er ein kleines Kindlein; auf die Frage: „Woher hast du das?" lautet die Antwort gleichfalls: „Vom Segen Gottes"2).

So kommt im türkischen Mimus des Karagöz junge Frau, des Dottore Hagievad Tochter, schon in der ersten Ehenacht in die Wochen. Der Modus Liebinc bietet dasselbe Motiv. Es sind „mimi juvenes", die da mit der Frau des entfernten Ehe-

') Vgl. Creizenach a. a. 0. S. 403.

2) Bei Petit, Repertoire Nr. 87: Colin gui loue et depite (maudit) dieu. Vgl. auch Petit, La comedie S. 307 ff.

Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 849

mannes scherzen, weil eben in dem Schwanke der Inhalt eines Mimus, mit dem damals die Zuschauer ergötzt wurden, wieder- gegeben wird (vgl. oben S. 796).

Weil dieser Mimus in allen Ländern, in Deutschland, Frank- reich, England, Italien und Spanien weit verbreitet war, darum finden wir die Fabel vom Schneekinde auch in Litteraturen ver- breitet1), die sonst nichts von einander entlehnen.

Es ist wunderlich, man hat bisher immer den alten Ehe- bruchsmimus, wie er in griechisch-römischer Zeit die Bühnen von Alexandria, Rom und Neapel, Konstantinopel, Babylon und Antiochia, Paris, London, Köln, Mainz, Trier und aller anderen Städte des griechisch-römischen Weltreiches beherrschte, als ein spezifisches Zeichen der Sittenverderbnis der antiken Welt an- gesehen und siehe da, nun treffen wir den gleichen Ehebruchs- mimus als den Hauptbestandteil von Interlude, Entremesa und Farce im Mittelalter wieder überall verbreitet. Sollen wir nun dieselbe Sittenverderbnis auch für diese kräftigen, von der christ- lichen Sittlichkeit beherrschten Nationen voraussetzen? Ach nein! Die Sitten waren im Mittelalter unter den Germanen und Franzosen, Engländern, Spaniern wohl bessere als in den Zeiten der endenden antiken Kultur. Aber der mittelalterliche Mimus knüpft doch nun einmal direkt an den Mimus der aus- gehenden Antike an und darum mufste in ihm der Ehebruchs- mimus überwiegen und die in ihm herrschende freche, realistisch- burleske Auffassung von den Frauen, die so merkwürdig absticht von der sonst im Mittelalter herrschenden schwärmerisch-minnig- lichen, romantisch-idealistischen Frauenverehrung, die im Marien- kultus gipfelt.

X.

Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin.

Wir wollen den Vergleich zwischen Mimus und Farce an der Farce Nr. 129 bei Petit ein wenig genauer durchfuhren.

') Vgl. darüber Ebert a. a. 0. II, S. 346.

Reich, Mimus. ",.|

850 Neuntes Kapitel.

Ein Vater und eine Mutter unterhalten sich von ihrem Sohne. Der Vater hat ihn zur besseren Ausbildung einem Schulmeister übergeben. Nun hat die Mutter schlimme Neuig- keiten zu berichten. Der Sohn hat so trefflich Latein ge- lernt, dafs er nicht mehr Französisch zu sprechen versteht. Da mufs man ihn doch gleich aus der Schule herausholen, sonst verstehn ihn nicht einmal die Hunde mehr. Man macht sich auf den Weg, holt unterwegs die Braut dieses seltsamen Schülers und Raoul Machue, seinen Schwiegervater in spe, ab und begiebt sich dann zum Schulmeister. In der That hat der Schüler erstaunlich viel gelernt, er spricht nur Latein und was für ein Latein1). Aber die Braut lehrt ihn nach vielen ver- geblichen Bemühungen wieder Französisch sprechen, und so geht man fröhlich heim zur Hochzeit.

Dieser Student, der ob der grofsen Schulweisheit alle Ver- nunft verlernt hat, ist der alte Scholastikus Philistions, der Dottore. Der Magister ist der Schulmeister des griechisch- italischen Mimus. Bei Herondas schon spielt er seine Rolle

x) So sagt der Magister (Ancien theatre francais, publie par M. Viollet Le Duc, Tome II. Bibliotheque Elzevirienne 10, S. 344/45:

Responde: quod librum legis? En frangoys.

Maistre Mimin:

Ego non dire, Franchoyson jamais parlate; Car ego oubliaverunt.

Le Magister: Jamais je ne vy ainsi prompt Ne d'estudier si ardant.

Auf die weiteren Fragen des Magister fährt dann der Schüler weiter in seinem französischen Latein fort:

Mundo mirabilius Avanturosus Lupare Bonibus et non gaignare Non durabo certambus Et non emportabilibus u. S. W.

Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 851

im Mimiambus „Der Schulmeistert Dort besucht ihn die Mutter seines Zöglings, wie ihn hier Mutter Lubine besucht Er ist dort derselbe würdevolle Pedant, wie in der französischen Farce. Bei Petron lernen wir in einer dem Mimus entlehnten Partie zwei Schulmeister kennen, der eine ist ein fauler Kerl, der andere aber lehrt seine Schüler mehr als er selber versteht. Auch aus Philistions Philogelos kennen wir diese pedantischen Schulmeister, noch Choricius sind sie bekannt. Gelegentlich tritt auch Karagöz im türkischen Mimus als Schulmeister auf. Wenn der Schüler in dem französischen Mimus, doch halt, in der französischen Farce auch noch als Bräutigam auftritt und sich ziemlich verliebt zeigt, so erinnere ich an den Scholastikus in Philistions Philogelos, der von seiner Magd ein Kind hat (Nr. 57, vgl. oben S. 462).

Dazu zeigt sich auch Form und Gestalt dieser Farce bis ins einzelnste der mimischen Hypothese vergleichbar.

Allerdings findet sich nicht Prosa, sondern nur iambischer Vers und Cantica gemischt, und zwar finden sich Couplets mitten drin und am Schlüsse1). Auch in dem Mimus vom betrogenen Ehemann, Herrn Werrenbracht, finden sich Couplets, und wenig- stens für den Schlufs des spanischen Entremesas ist das Couplet ganz unerläfslich.

*) So heifst es a. a. 0. S. 350, 351:

Scait-il plus chanter, voirement, Pour nous rejouyr en allantf

Le Magister: Jl faxt ragt.

Raulet: Chantez avant. (Ils chantent quelque chanson a plaisir.) Und weiter heifst es S. 357:

Mon ßls, vien-fen vien : Nous chanterons bien en allant. Und zum Schlüsse (S. 359) steht: ils chantent. Leider sind diese Couplets nicht erhalten. Auch sonst findet sich in den Farcen häufig zum Schlüsse: un chanson pour dire adieu.

54*

852 j Neuntes Kapitel.

Im spanischen Entremesa, das mit der Farce auf gleicher Stufe steht, findet sich auch die Prosa. Also wenn das mittel- alterliche Drama auch nur eine sehr minderwertige, sehr ein- geschrumpfte Gestalt der mimischen Hypothese , zeigt, aus der es entsprungen ist, so zeigt es sie doch immerhin noch deut- lich genug.

Auch der freie Scenenweclisel, den der Mimus liebt, findet sich in unserer Farce. Erst unterhält sich Mutter Lubine und ihr Mann auf dem Lande. Dann erscheinen sie zusammen vor Raoul Machue's Haus in der Stadt und endlich alle gemeinsam bei dem Schulmeister in der Schule. Ebenso haben wir hier, wie in der Hypothese, eine gröfsere Anzahl von Darstellern, näm- lich sechs.

Doch wozu einen mühsamen Indicienbeweis dafür anstellen, dafs diese Farce aus dem Mimus stammt und ein uralter Mimus in französischer Form ist, dafs hat ja schon der alte französische Mimograph gewufst, der den Hauptdarsteller in. diesem Mimus als Maistre Mimin estudiant bezeichnete1). Der Hauptakteur in dieser Farce ist also der Mime. Nun wohl, wir wissen ja, dafs noch im neunten Jahrhundert nach Christus ausdrücklich bezeugt wird, dafs das Volk einen Lustigmacher mimus nennt (vgl. oben S.795). Es hat also auch noch in den späteren Jahrhunderten, da es ihn einen ioculator, einen jogleor und Jongleur hiefs, was, wie wir sahen, die direkte Übersetzung von (iipog yekoicov ist, nicht ver- gessen, das jeder ioculator, jeder mimische Darsteller eben ein' Mime ist. In der Farce von den „drei Pilgern" wird mit dem Ausdruck „Mymin" der Spafsmacher bezeichnet2). Dafs Meister Mime der Akteur in allen französischen Interludien und Farcen ist, diese Erinnerung haben noch zwei andere französische Farcen bewahrt. Bei Petit de Julleville a. a. 0. Nr. 130 findet sich eine

!) Bei Petit, Repertoire du Theatre comique, Paris 1886, Nr. 129, S. 156. In den Farcensammlungen (Recueil du British Museum, Recueil Viollet-Leduc, Recueil Edouard Fournier) lautet der Titel: Farce joyeuse de Maistre Mimin ä six personnages, c'est assavoir le Maistre d'Escolle, maistre Mimin, estudiant; Raulet, son pere; Lubine, sa mere; Raoul Machue et la Bru Maistre Mimin.

2) Les trois P61erins et Malice bei Petit No. 166.

Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 853

Farce zu drei Personen, nämlich: Maistre Mimin le Gouteux; son varlet Richard le Pel6, sourd, et le chaussetier. Dann giebt es noch eine alte Farce, betitelt: Le Testament de Maitre Mimin (bei Julleville a. a. 0. Nr. 306)» Wir erinnern uns an des toten Juppiters Testament und ähnliche ur- alte Mimen1). Ganz richtig, Meister Mime hat ja das ganze Mittelalter hindurch gespielt. Er spielte ja auch im indischen Drama und spielt noch heute im türkischen Karagöz und als Kacal Pahlavan in dem persischen Puppendrama und in der Commedia deir arte und noch im deutschen Kasperlespiel *). Ihre

J) Petit de Julleville a. a. 0. S. 314 bemerkt dazu: Le nom de Maitre Mimin parait avoir ete celui (Tun farceur celebre, ou peut-etre le sobriquet traditionnel de plusieurs farceurs. Ei, freilich, der berühmteste aller Farceure, der Farceur an sich, ist ja der mimus, der ioculator, der ftipos yeloltov, der maistre Mimin.

3) Der Farce entspricht auf deutschem Boden das Fastnachtsspiel. Auch hier wird es, nachdem die verschiedenen Typen und Themen des Mimus fest- stehn, nicht schwer fallen, die alten mimischen Elemente im einzelnen nach- zuweisen. Nur soweit die Fastnachtsspiele auf dem alten Mimus beruhen, sind sie weiterer Entwickelung fähig gewesen. So bemerkt Creizenach a. a. 0. S. 413: »Die einzige Abart des Fastnachtspieles, in der ein fruchtbarer Kern zu weiterer Entwickelung lag, sind die Spiele, die auf komischen Er- zählungen beruhen; hier wäre es wohl denkbar, dafs die bürgerlichen Fast- nachtsspieler sich Anregungen aus dem Repertoire des fahrenden Volkes holten." Ganz recht, das fahrende Volk sind eben die mimi et ioculatores. Später wirkte dann auf das deutsche Drama auch der italisch-italienische Mimus, die Commedia dell'arte und der Pulcinell. Schon im Jahre 1649 tritt in Nürnberg ein Italiener auf, 'so den Pollizinello mit kleinen Dockelein agiret hat' (vgl. Dieterich, Pulcinella S. 271). Nach dem Bilde der Com- media dell'arte schuf dann Stranitzki die Wiener Posse, und auf dieser Grundlage ruht das Wiener Volksschauspiel, bis auf Raimund („Der Ver- schwender"', „Der Bauer als Millionär", „Der Alpenkönig und der Menschen- feind"), Nestroy (1802—1862) („Lumpaci vagabundus", „Der Unbedeutende", „Die verhängnisvolle Wette", „Einen Jux will er sich machen*, „Freiheit in Krähwinkel" u. a.), ja schliefslich wohl auch Anzengruber (1839 1889) („Der Pfarrer von Kirchfeld", „Der ledige Hof*, „Der Meineidbauer", „Die Kreuzelschreiber", „Die Trutzige", „Der Fleck auf der Ehr'"). So hat denn der Mimus seit den ersten Jahrhunderten nach Christus, da er als grofses Theaterstück auf den Theatern von Mainz, Köln und Trier aufgeführt wurde, seit den Zeiten des späteren Mittelalters, aljä er die burlesken Scenen im

854 Neuntes Kapitel.

Krönung erhielt die alte französische Farce in der Moliere- komödie. Vortrefflich hat Petit de Julleville auseinandergesetzt, wie das ernste, vornehme Drama in Frankreich nichts mit dem alten Mysterium zu thun hat und wie es seit der Renaissance aus dem antiken klassischen Drama sich neu entwickelte, wie aber kein Einschnitt durch die Renaissance in der Entwickelung der französischen Komödie gemacht ist und die aus der Farce, das heifst wie wir es jetzt verstehen, aus dem alten gallischen Mimus, sich konsequent entwickelte. Das Mysterium verschwand vor der Tragödie, aber der Mimus blieb1). Moliere schuf den

deutschen Mysterium inspirierte (vgl. unten die nächste Anmerkung), nie seinen Einflufs in Deutschland ganz verloren. Doch unsere vornehmen, klassischen Dichter haben bei der dürftigen und niedrigen, ja rohen Art man denke an Hans Wurst die der Mimus, so weitab von seiner eigent- lichen Heimat zeigte, nie recht wie in den romanischen Ländern und wie in England den Weg zu dem mimischen Volksschauspiel gefunden. Aber darum haben wir auch nie eine Blüte der Komödie in Deutschland erlebt (vgl. hier- über oben S. 335. 336).

J) Nur insoweit es ein Mimus ist, haben wir hier auf das mittelalter- liche Drama geachtet. Da scheinen sich die Darstellungen der Passions- geschichte, sowie die dramatischen Martyrien und die Mirakelspiele ganz von selber auszuschliefsen. Was hat auch das heilig-ernste Mysterium mit dem lustigen Mimus zu schaffen. Aus dramatischen Ansätzen in der gottes- dienstlichen kirchlichen Handlung, besonders im Weihnachts- und Ostercyklus aus kirchlichen* Wechselgesängen hat das Mysterium sich selbständig ent- wickelt. Das ist die seit langem geltende Meinung, der auch Creizenach in seiner „Geschichte des neueren Dramas" folgt. Diese Entwickelung hat ein so schönes Analogon in der Entstehung der antiken klassischen Tragödie aus der gottesdienstlichen Handlung, zudem war ja am Beginne des Mittelalters Komödie und Tragödie tot, nicht einmal die ursprüngliche Bedeutung der Namen verstand man mehr. Tragödie galt einfach als eine traurige, Komödie als eine fröhliche Geschichte, den Hauptbegriff des Dramas hatte man verloren. Ich erinnere an Dantes „Divina Comedia". Vgl. hier Creizenach a. a. 0. 9 IS und Cloetta, Beiträge zur Litteraturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, I. Komödie und Tragödie im Mittelalter, S. 144ff., S. 166ff. Im Neugriechischen heifst TQayovdw: ich singe und xb TQayoiSi: Volkslied. Vgl. auch Sathas a. a. 0. rf. Also konnte das Mysterium sich gar nicht an die antike dramatische Überlieferung anlehnen und mufste sich eben unabhängig und selbständig entwickeln. Nun, das klassische Drama

Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 855

alten volksmäfsigen Mimus wieder aus seiner verkümmerten und verschrumpften Gestalt zu seiner alten, blühenden Herrlichkeit

war allerdings tot und vergessen, aher das letzte grofse Drama der Antike, der Mimus, war lebendig, und wenn man nicht einmal mehr recht wutste, was comoedia und tragoedia, comoedi und tragoedi waren, was mimus und mimi sind, wufste man genau, denn die sah man das ganze Mittelalter hin- durch vor sich. Wie sollte sich also ein neues Drama unabhängig aus den primitiven dramatischen Uranfängen heraus entwickeln, während daneben ein ausgebildetes Schauspiel bestand, das noch dazu den Beifall des Volkes wie der Höfe und verstohlen auch der Geistlichkeit hatte?

Zum ersten Male in der Weltgeschichte sind die Martyrien und die göttlichen Geheimnisse des Christentums, seine Mysterien, Gnaden und Wunder nicht von christlichen Priestern dramatisch vorgeführt worden, sondern von heidnischen Mimen, allerdings nicht zur Erbauung. Das geschah in den christologischen Mimen. Schließlich bekehrten sich die Mimen zum Christentume, aber sie behielten ihre Gewohnheit , die Geistlichkeit auf der Bühne vorzuführen und hier und da in den Gewändern von Mönchen und Nonnen aufzutreten, bei. Bequemten sich die Mimen dazu, ihren christologischen Mimus ins Ernsthafte zu wenden, so war der Mimus zum Mysterium geworden. Und der Mimus nimmt ja in der That nicht selten eine etwas ernsthafte Richtung, und die Mimen waren nicht selten sehr ernst- hafte Christen, wie der Archimime Masculas, der standhafte afrikanische Katholik Sie hätten ja in dem neuen Mysterium daneben noch das alte burleske mimische Element beibehalten können, wie es das Mysterium ja wirklich in ausgedehntem Mafse thirt. In der That hat sich ja auch, wie wir sahen, in Indien durch immer stärkeres Hervorkehren des ernst- haften, mythologisch-religiösen Elementes aus dem burlesken Mimus das ernsthaft-heilige Mysterium entwickelt. Wie im Occidente kann es auch dort des burlesken Elementes nicht ganz entbehren, das durch den alten ftipo; ydoioiv, den Vidusaka, vertreten wird.

Doch dürfte im Abendlande diese Entwicklung aus dem Mimus nicht so einfach und direkt vor sich gegangen sein. Denken wir an die mannig- fachen Beziehungen der Kirche und der kirchlichen Litteratur zum Mimus, an die Kirchenlieder des Arius, die nach dem Vorbilde von Mimodieen ver- fafst waren, an den Vorwurf, die Arianer brächten mit ihrem dramatisch bewegten Gottesdienste den Mimus in die Kirche. Arius kam hier ge- schickt der mimischen Leidenschaft des Volkes entgegen, und schliefslich folgte ihm die katholische Kirche, wenn auch mit grofser Vorsicht. Seiner Thalia stellte man eine 'Avri&äXaa entgegen; man gab der gottesdienst- lichen Handlung mehr dramatische Bewegung, gab den Wechselgesängen Raum, schuf grofse Prozessionen, bei denen es nicht selten recht theatralisch

856 Neuntes Kapitel.

um zu einem grofsen biologischen Drama, einer mimischen Hypo- these, wie es einst Philistions Drama war. Ihm half dabei das

herging. ,Was hier etwa von mimischer Form war, wurde ganz mit ortho- doxem Inhalte erfüllt; aber hier und da regte sich doch der alte mimische Geist; noch im Trullanum werden „Theatergesänge", d. h. Mimodieen, in der Kirche verboten.

Erfüllte man die Mimodie mit christlichem Geiste, warum nicht auch den Mimus? „Einen Ersatz für die alte Bühne", sagt Krumbacher (Ge- schichte der Byzantinischen Litteratur2 S. 644 u. 645), „schuf das Christen- tum .... durch dramatische Behandlung christlicher Stoffe und endlich durch geistliche Aufführungen, aus denen später das abendländische Mysterienspiel hervorwuchs .... Wenn Bischof Liutprand unter vielen anderen Anstöfsig- keiten, die er bei den Griechen sah, auch die Verwandelung der Hagia Sophia in ein Theater bemerkt, so kann er nichts anderes meinen, als eine Art Mysterienspiel". Ganz gewifs, das Mysterienspiel sollte dem Volke ein Ersatz für das weltliche Theater, d. d. in jenen Zeiten für den Miräus, sein. Das Mysterium ist wenigstens im Oriente von vornherein sozusagen als Konkurrenzunternehmen gegen den Mimus geschaffen, wie das Kirchen- lied gegen die Mimodie, die aa^iaxa noQvixä, die (päal aararixaC. Anfangs ist ja das Mysterium bei den Lateinern wenigstens, gemäfs seiner ursprüng- lichen Bestimmung als Gegengift gegen den Mimus, auch streng ernst und heilig gewesen; bei den Griechen scheint sich schon von vornherein dem Mysterium viel Mimisch - Burleskes beigemischt zu haben, sonst hätte Liutprand nicht solche Entrüstung gezeigt. Allmählich aber drängt sich auch im occidentalischen Mysterium immer mehr und mehr das mimisch- burleske Element in den Vordergrund. Das Volk wollte nun einmal überall seinen seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden geliebten Mimus sehen, und ohne Mimus erschien ihm das Mysterium fade.

Maria Magdalena, die schöne Büfserin, ist mit ihrer Üppigkeit und Weltlust ganz im Stile der üppigen, verliebten jungen Frauen im Mimus ge- schildert, neben ihr die Zofe, die cata carissa, und auch die alte Kupplerin des Mimus. Wenn Maria Magdalena ihre Arie voll Liebeslust und Welt- freude anhebt mit dem Refrain:

Seht mich an,

Jungen man,

Lat mich eu gevallen, so haben wir eine der gewohnten Mimodieen, der cantica, wie sie die Mimi et Ioculatores und vor allem die Jongleure und Menestrels das ganze Mittelalter hindurch gesungen haben. Lustige Couplets erschallen ebenso wie durch den Mimus auch durch das Mysterium. So singen im Mysterium von Revello ebenso wie in der Vengeance die Matrosen während der Über- fahrt ein lustiges Liebeslied. Auch der Knecht Rubin singt gelegentlich

Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 857

lebendige Vorbild des italisch-italienischen Mimus, der Conrmedia

zum Lobe seines Herrn, des Quacksalbers, ein Liedchen. Der Krämer, von dem Maria Magdalena die Schminke kauft, gehört zu den uralten xünriloi des Mimus, desgleichen sind sein Knecht Rubin und seine Frau uralte mimische Typen. Ebenso fehlt, im Mysterium nicht der Gastwirt, der copo des Mimus. Vor der Abendmahlscene pflegen die Jünger des Herrn mit ihm mimisch -burlesk den Kostenpunkt zu erörtern; gelegentlich zanken und prügeln sich gar die Jünger mit dem Gastwirt, es ist eben der copo compilatus des Mimus. Im englischen Magdalenamysterium mufs der Wirt vor der Thür seinen Wein anpreisen; seit dem Nikolas des Jean Dodel waren solche mimischen Wirtshausscenen vor allem auch im französischen Mysterium gang und gäbe. Wie im Mimus ward auch im Mysterium ge- legentlich kräftig pokuliert und wurden allerhand Kneipwitze gerissen. Die Arztscenen im Mysterium entsprechen gleichfalls ganz direkt denen im Mimus. So zeigt der Knecht des Arztes Rubin in den Erlauer Spielen die Zange, das chirurgische Messer und die Klystierspritze mit allerhand bur- lesker Erklärung, wobei er nicht vergifst, recht marktschreierisch die ärzt- lichen Grofsthaten seines Herrn aufzuzählen. Auch die Soldaten im Mysterium sind Aufschneider und Prahler, wie sie es von jeher im Mimus waren, und werden darum nicht selten arg verspottet. Eine Hauptfigur im Mimus war der betrogene Ehemann, der Hahnrei, der CyloivTiog. Es scheint, als ob' man ein ganz klein wenig unter diesem mimischen Gesichtspunkte den frommen Joseph betrachtet hat. Gewöhnlich denkt man ihn sich ein wenig stupide und zugleich etwas ältlich, wie es die betrogenen Ehemänner im Mimus sind. In einem deutschen Weihnachtsspiel, ediert v. Piderit, Parchim 1869, in hessischer Mundart aus dem XV. Saeculum, zankt sich der alte Joseph mit der Magd Hillegard, nachher giebt er ein paar alte Hosen her, das Kind einzuwickeln; in einem anderen Mysterium kocht er für das Kind Milch auf. Natürlich fehlen, wie im Mimus, bei diesen Darstellungen des Ehelebens auch nicht die genauen Darstellungen des Wochenbettes. Wie bei Sophron, im Karagöz und sonst im Mimus erscheinen Hebammen u. s. w. Das sind die beliebten, alten, intimen Familienscenen aus dem Mimus. Wie im Mimus zankt sich auch im Mysterium Ehemann und Ehefrau. Joseph darf das natürlich nicht gegenüber der Himmelskönigin wagen; dafür er- baute man sich desto mehr an den ehelichen Zankscenen zwischen Noah und seiner Frau, die als böse Sieben galt. So ist im Mysterium von York Frau Noah sehr beleidigt, weil ihr Gatte, ohne ihr etwas zu sagen, aus- geblieben war und hundert Jahre lang im Walde an der Arche Noah gezimmert hatte. In den Townley - Mysteries will sie durchaus nicht in die Arche hinein; sie sitzt zornig auf einem Hügel an ihrem Spinnrad und spinnt, aber schliefslich wird ihr der Sündflutregen doch zu viel. Wir sahen schon, dafs die Noah -Legende und die eigentümliche Um-

858 Neuntes Kapitel.

deir arte, die ihrerseits sich wieder nach dem Vorbilde des alten

deutung, die sie bei den Gnostikern fand, alte Kirchenväter an den Mimus gemahnte (vgl. oben S. 426. VII). Ein besonders beliebter Typus im Mimus war schon seit vorchristlichen Zeiten der Jude, der noch heute im türkischen Mimus seine seltsame Rolle spielt. So erscheint er denn auch im Mysterium ganz mit den uralten mimisch-burlesken Zügen. Ich gebe hier Creizenachs mafsgebende Darstellung a. a. 0. S. 205 ff. : „Der komische Effekt wurde, wie es scheint, in erster Linie dadurch erzielt, dafs die Schauspieler Aussehen, Sprache und Gebärdenspiel der jüdischen Bevölkerung beobachtend und karrikierend wiedergeben, wie das ja schon in dem Weihnachtsspiel von Benediktbeuren geschah, und dafs sie von Zeit zu Zeit den Judengesang anstimmten (wie im Karagöz vgl. oben S. 666), der, wie es scheint, regel- mäfsig eines Heiterkeitserfolges sicher war. Der Spott in diesen Scenen war durchaus nicht harmloser Natur". Ich erinnere an die Klage Babi Abahus, dafs nichts so sehr den Pöbel zum Lachen bringe, als wenn im Mimus der Jude verspottet werde, sowie an Philo, der sich von Kaiser Caligula und seiner Umgebung verhöhnt fühlte, wie man die Juden im Mimus höhnte (vgl. oben S. 577 Anm.). Gewifs hat das Volk zur Zeit des mittelalterlichen Mysteriums gegen die Juden dasselbe Übelwollen gefühlt, wie zur Zeit des antiken Mimus aber dafs man die Juden auf die Bühne brachte in der uralten, mimisch -burlesken Gestalt, das hat das Mysterium doch wohl vom Mimus.

Vor allem waren, wie wir gelernt haben, Diebesscenen im althellenischen wie im alexandrinischen, im griechisch-römischen wie im byzantinischen, im indischen und indonesischen wie im türkischen und arabischen Mimus be- liebt, so liebt sie denn auch das Mysterium. In den englischen Townley- Mysteries wird das Treiben der Hirten, denen die Engel die Erscheinung des Herrn verkündigen, in der lustigsten Weise geschildert. Zuerst haben wir eine Art bukolischen Mimus, allerhand Zank- und Streitscenen zwischen den Hirten. Dann bringen sie dem Christuskinde ihre Verehrung dar. Während sie dann schlafen, stiehlt der Schafdieb Mak einen Hammel aus ihrer Herde. Seine Frau legt ihn in die Wiege, und Mak singt ein Wiegen- lied, eine Art mimischen Canticums. Die Hirten halten bei dem Schafdiebe Haussuchung; schon wollen sie gehen, da kommt einer von ihnen auf die Idee, dem Kinde einen Kufs zu geben; er wundert sich über des Kindes grofse Nase und siehe, es ist der vermifste Hammel. Eine echt mimisch- burleske Scene.

Diese lustigen mimischen Betrügereien, Kabalen und Ränke, diese artes mimicae, wie Petron sie nennt, nehmen im Mysterium einen breiten Raum ein. Ja, selbst der geheiligten Person des Heilandes gegenüber wendet man sie an. Im Donaueschinger Passionsspiele wird ihm beim ersten Verhöre ein Stuhl hingesetzt, aber in dem Augenblicke, wie er sich setzen will, zieht

Farcen als mimische Hypothesen. Maistre Mimin. 859

byzantinischen Mimus, nach Konstantinopels Fall, neu entwickelt hatte. Es sind zwei mächtige Ströme uralter, mimischer Über- lieferung, die in Moliere zusammenflössen; darum ward er auch der Franzosen gröfster Maistre Mimin".

ihm Malchus den Stuhl fort, so dafs er sich statt auf den Stuhl auf die Erde setzt. So bemerkt Creizenach a.a.O. S. 201 : „Auch die Scene, in der Jesus vor Herodes erscheint, giebt öfters Anlafs zu einer unwürdigen Posse. Nach Lukas 26, 11 liefs Herodes dem Heilande ein weifses Kleid anlegen; Petrus Comestor cap. 164 sagt: Herodes habe dies zur Verhöhnung gethan, weil er Jesum für einen Narren gehalten habe. Dementsprechend wird die Scene auch mehrmals in den Passionsspielen dargestellt. Bei Greban 23 398 sagt Herodes ausdrücklich, man solle einem seiner Narren das Kleid aus- ziehen und es Jesu anlegen; im bretonischen Passionsspiele ist die Scene mit einem kläglichen Monologe des Narren verbunden, der den Verlust seines Kleides bejammert." Hier erscheint also Christus im weifsen Narrenkleid als eine Art Mimus albus. Da der Narr im Mimus unerläßlich war, so findet sich schließlich auch im Mysterium so der Narr des Pilatus. In manchen französischen Mysterien tritt der alte mimische stüpidus, der sot, auf und begleitet die Handlung mit seinen „mimicae ineptiae". So ist denn auch das Mysterium mit seinen mimischen Narrheiten und Eulenspiegelstreichen erfüllt; selbst die alten, burlesken mimischen Lazzi fehlen nicht. Auch auf die Teufel mit ihren lustigen Sprüngen und Narrenteidungen, mit den rasselnden Prügeln, die sie überall erhalten und austeilen, hat der alte stüpidus merklich abge- färbt. Alle diese burlesken Dinge sind aus dem mittelalterlichen Mimus ins Mysterium hinübergekommen, sie nehmen einen immer gröfseren Raum ein: schliefslich werden ins Mysterium vollständige Mimen und Farcen einge- schoben. Da mögen sich hier und da auch die alten fiiftoi yelodor, die Ioculatores, unter die Darsteller der Mysterien gemischt haben. Ein Spiel von dem Martyrium des Petrus und Paulus ward 1417 in Rom auf dem Scherbenberge durch Jocatores" aufgeführt (vgl. Creizenach a. a. 0. S. 334). In der Entwickelungsgeschichte des neueren Dramas lautet eines der bedeutsamsten Kapitel, das noch ungeschrieben ist, „Mimus und Mysterium". Ich wollte hier nur einige Gesichtspunkte andeuten, denn für die Auffassung des Mimus ist nicht so sehr viel Neues aus dem Mysterium zu lernen, desto mehr für die Auffassung des Mysteriums aus dem Mimus.

ZEHNTES KAPITEL.

Shakespeare.

Es sind keine Gedichte! Man glaubt vor den aufgeschlagenen, ungeheuren Büchern des Schicksals zu stehen in denen der Sturmwind des be- wegten Lebens saust.

Goethe. I.

Mimische Elemente bei Shakespeare.

Seine herrliche Krönung erhielt das mittelalterliche Drama am Beginne der modernen Zeit durch Shakespeare. Wir haben die eigentümliche Form der mimischen Hypothese, den Wechsel zwischen Prosa, Jambus und lyrischen Partieen, zwischen Mimodie und Mimologie, zwischen Niedrigem und Hohem, zwischen Ernst und Humor, Realistik und Phantastik an dem Beispiel des Skakespeare-Dramas . erläutern können. Wie im Mimus findet sich dort Prolog und Epilog mit dem „plaudite", das auch Augustus von seinen Freunden verlangte, wenn er den „Mimus vitae" recht gespielt habe. Wir fanden etwas vom uralten Esel- mimus im Sommernachtstraum. Das märchenhafte Gift, das blofs Scheintod erzeugt, ist der Kern der Fabel von Romeo und Julia1) und diesen Kern schuf, wie wir jetzt wissen, der alte

') Vgl. hierüber die kurzen, aber höchst bedeutsamen Ausführungen von Brandl, Shakespere S. 40, 41.

t Mimische Elemente bei Shakespeare. 861

Mimus. In Cymbeline fanden wir gleichfalls dieses sozusagen mimische Gift. Die böse Stiefmutter wie der weise Arzt dort entsprechen den gleichen Personen im Giftmischermimus, über- haupt endet in Cymbeline alles ähnlich wie im alten Mimus. Der Räuber war ein besonders beliebter Typus im Mimus. Auch bei Shakespeare findet sich in „Die beiden Veroneser" eine Art Räubermimus eingeschaltet und diese Räuber sind dort, wie es sich für einen volksmäfsigen Mimus gehört, ehrenwerte Leute und werden samt ihrem Hauptmann von den Fürsten in Gnaden aufgenommen.

Einen typischen Charakter verleihen dem Shakespearischen Drama die Clowns. Es sind die alten stupidi, die auch im Mimus, selbst wenn es in ihm ernsthaft und grausig zuging, niemals fehlten und für ihn so charakteristisch sind wie die Clowns für Shakespeare. Wenn die Clowns gern als eigentliche Narren, d. h. als Hofnarren erscheinen wie etwa der Narr in „König Lear14 und in „Wie es euch gefällt" oder in „Was ihr wollt- oder der Narr der Gräfin von Roussillon in „Ende gut, alles gut", so erweisen sie sich damit von vornherein als direkte Nach- kommen des alten mimischen Narren des pooQÖt; und morio. Die mittelalterliche Sitte, in vornehmen Haushaltungen einen Narren zu halten, stammt, wie wir sahen, direkt aus dem Altertum und der antike Narr war eben der mimische stupidus und morio, der die mimischen Späfse von der Bühne in die Haushaltung ver- pflanzte, wird er doch noch im Mittelalter wie seine Schauspieler- Kollegen „mimus" genannt. So sind denn auch die Narren in den vornehmen englischen Haushaltungen wie sie Shakespeare aus dem Leben kannte und als Clowns auf die Bühne brachte, im letzten Grunde mimische Narren.

Die Clowns bei Shakespeare reden Prosa, wie sie es auch im alten Mimus und in Philistions Philogelos thun. Gelegent- lich fängt der Clown auch an zu singen und trägt lustige Mimodieen vor, wie der alte stupidus es auch that und ab und zu kommen aus dem Munde des Narren tiefsinnige Sen- tenzen, wie sie sich auch im Mimus unablässig finden. Vor allem reden die Clowns ebensolche erstaunlichen Narrheiten,

862 Zehntes Kapitel.

wie wir sie aus dem Mimus und Philistions Philogelos kennen, und erwecken damit den risus mimicus. Aber nicht selten leuchtet gerade aus diesen urdummen Aussprüchen verborgene Weisheit, wie aus den mimicae inceptiae. Shakespeares Spruchweisheit ist ebenso berühmt wie es die des Publius Syrus oder Philistion war. Prügeln und geprügelt zu werden ist das Los der stupidi wie der Clowns, in Shakespeares Dramen schallt der alapittarum sonitus, und die Clowns üben die lustigen Schimpfereien, in denen sie dem alten mimischen Narren gewachsen sind, die lustigen Triks, Kabalen, Ränke, Foppereien und Betrügereien, die alten, lustigen „artes mimicae".

Schliefslich führt in den beiden Veronesern der Clown Launce gar seinen Hund Shrap vor und hält mit ihm ein selt- sames, mit humoristischer Narrheit und pudelnärrischer Laune erfülltes Gespräch. Wir erinnern uns an Hund, der im Mimus mitspielt, allerdings mit Shrap wird nur gespielt, und der Phylax im Giftmischermimus spielte selber ganz ernsthaft mit, so gut war er dressiert. Der französische Mime, der Farceur, machte freilich aus seinem Kater gar einen König1).

Die Ioculatoren zeigten sich im Mittelalter, ebenso wie die alten ^avfiatonoiol gern mit dressierten Hunden, von ihrem Gaukelwesen her haben die Mimen den Hund mit auf die Bühne gebracht, sie werden auch im Mittelalter nicht die Spielgemein- schaft mit ihm aufgehoben haben, so wenig wie ihre Nachkommen die modernen Cirkusclowns. Shakespeare mochte den getreuen Kameraden des antiken und mittelalterlichen Mimen und Gauklers, der diesem sein Brot verdienen half, nicht mitleidslos verjagen und diese gemütvolle Duldung hat ihm der vierbeinige Spiel- kamerad im Mimus nach Kräften vergolten und hat ihm zu einer Clownscene verholfen, wie sie sich so urdrollig und dabei so hinreifsend gemütvoll kaum sonst wieder findet.

*) Farce nouvelle tres bonne et fort joyeuse de Jeninot qui fist un roy de son chat par faulte lautre compagnon en criant: Le roy boit! et monsta sur sa maistresse pour la mener a la messe, a trois personnaiges, c'est assavoir: le Mary, la Femme et Jeninot. Recueil Viollet-Le Duc t. I, p. 289—304 bei Petit Nr. 122.

Fallstaff und der Narr im Mimus. 863

Wir können wohl sagen, dafs die Clownscenen aus dem alten Mimus stammen. Sie waren auch für das mittelalterliche Drama so unerläfslich, dafs nicht einmal das heilige, ernste Mysterium, das an die Stelle der Erregung von „Furcht und Mitleid*, dem grofsen Ziel (teXo;) des antiken klassischen Dramas, die Erregung des Gefühls der absoluten Sündhaftigkeit, der Zerknirschung, der Bufse und Reue setzen wollte, seiner ganz entbehren mochte. Wir sahen ja schon, wie eng selbst das Mysterium mit dem Mimus zusammenhängt und wie der Mimus schliefslich in ihm mit Saus und Braus seinen Einzug hält. Auch der Narr Vice, der in dem englischen Moralität sich mit Teufeln herumschlägt und dabei kräftig sein mimisches Prügelholz gebraucht, ist ja der alte mimische Narr.

IL

Fallstaff und der Narr im Mimus.

Wir können unmöglich den Vergleich zwischen dem Mimus und den Shakespeare-Dramen für alle Stücke durchführen, das würde weit über den Rahmen und Zweck unserer Unternehmung hinausreichen; wir wollen diesen Vergleich nur für ein einziges Stück durchführen, nämlich für „Die lustigen Weiber von Windsor". Die Hauptperson darin ist Fallstaff, um ihn dreht sich das ganze Stück, das ohne ihn alles Sinnes bar wäre. Die Liebesgeschichte zwischen Fenton und Anne Page ist nur eine Nebenhandlung, wie sie der Mimus, der ähnlich, wie es im Leben geht, gerne allerhand Fäden durcheinander schlingt, liebt und ebenso Shakespeare.

Fallstaff ist die eigentliche Inkarnation des alten Narren im Mimus, er ist sozusagen der König aller Clowns. Er ist eine Metamorphose des alten Jack Jugler. Wir haben schon die Gleichung aufgestellt Jugler gleich Ioculator = iocularis =

ysXiatonowQ = ftTftog ysXoicov, also Fallstaff sse [tipos yf/.oicov.

In der That erinnert Fallstaff mit seinem dicken Bauche und seinen niedrigen, fleischlichen Gelüsten an die dickbäuchigen Narren im uralten hellenischen Mimus, auch an den dickbäuchigen

864 Zehntes Kapitel.

kahlköpfigen Vidüsaka und den dickbäuchigen Semar, die imhoi yeXo'uav und yeXunonowi im indischen Drama und im indischen und javanischen Puppenspiel. Denken wir an Philistions Ardalio, er ist glutto, vorax, manducus, ein Fresser und Säufer; das ist auch Karagöz, Kasperle und Pulcinell, der Vidüsaka und Semar. Bei Fallstaff, als einem Nordländer und Germanen, überwiegt das Trinken. Was steht doch auf der Rechnung, die ihm Poins aus der Tasche zieht:

Item,

ein Kapaun ....

2

Schilling, 2 Pf.

n

- ' 4

VI

Sekt, 2 Mafs . . .

5

v 8

V

Sardellen und Sekt nach

dem Abendessen . .

2

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»

Brot ......

A r,

Ardalio ist, wie sein Name sagt, ein wenig Schmutzfink, er wird eben von seinem vielen Schlemmen und Prassen ein etwas fettiger Geselle sein, wie es auch noch unter seinen Nachkommen der Vidüsaka und Semar ist. Prinz Heinrich sagt von Hans Fallstaff: „Ruft mir das Rippenstück, ruft mir den Talgklumpen" (König Heinrich IV., I. Teil, IL Aufzug, Scene 4) Und weiter: „Ei, du grützköpfiger Wanst! du vernagelter Tropf! du ver- wetterter, schmutziger, fettiger Talgklump en". So vieles Fett macht Fallstaff feige und er ist bei aller Unverfrorenheit, die er als echter mimischer Narr besitzt, durchaus leicht zu erschrecken und ins Bockshorn zu jagen. Er ist lagatTÖfisvog wie Philistions Ardalio und die mimischen Narren alle; ich erinnere auch an die Feiglinge in Philistions Philogelos. Mit welcher Zuversicht fällt Fallstaff über die feigen Krämer her und wie entsetzt nimmt er Reifsaus, „brüllend wie ein Büffelkalb", als Prinz Heinrich und Poins in ihrer Vermummung ihn scheinbar ernsthaft an- greifen.

Vor allem zeigt Fallstaff die Haupteigenschaft des mimi- schen Narren, er ist der noXvnQayficov wie Philistions Ardalio, , er ist ein Industrie- und Glücksritter, ähnlich wie Karagöz und Pulcinell, „der auf der Dummheit der anderen bequem durchs

Fallstaff und der Narr im Mimus. 865

Leben reitet *'). Wie alle Beutelschneider im Mimus ist Fallstaff von Hause aus ein armer Lump. Er ist so arm, wie es der Parasit im Mimus immer ist oder wie es die spezifisch mimischen Typen bei Petron, die Glücksritter Encolpios, Ascyltos und der hungrige Poet Eumolpos sind, die sich durch allerhand Spitz- bübereien ihr Brot verschaffen. Von Beutelschneiderei und Dieb- stahl ist im Mimus beständig die Rede. Laberius verwendet für das schändliche , stehlen" den hochanständigen Ausdruck „manuari* aus der Diebessprache.

Als Fallstaff kein Geld hat, Frau Hurtig zu bezahlen, schlägt er Lärm, er sei in ihrer Kneipe bestohlen worden, besonders sein kostbarer Siegelring ist fort; es kommt aber heraus, dafs dieser Ring aus Kupfer und kaum 8 Pfennig wert, und Fallstaff überhaupt nicht bestohlen ist. Schliefslich verspricht er der Wirtin, sie soll seine Lady werden und verschafft sich damit bei ihr unbegrenzten Kredit; freilich, als sie ihr Geld wieder- haben oder geheiratet werden will, steht die Sache schlimm. Gelegentlich kommt es ihm auch nicht darauf an, bei Nacht auf Raub auszugehen um Börsen mit Gewalt zu ergattern und den Friedensrichter Schallow bringt er um tausend Pfund, indem er ihm goldene Berge verspricht, wenn nur erst sein Heinz König Heinrich sein wird. Wie einträglich ist nicht auch sein Werbe- system. Er ist wirklich ein Beutelschneider, wie sie im Mimus von jeher geschildert sind. Seine Einfälle erinnern überhaupt an die des Karagöz und des Pulcinell und besonders an den alten Mimus. So wie Fallstaff Schallow gegenüber, tritt Eumolpos im Erbschleichermimus bei Petron als Herr über ungeheure Schätze auf, nur dafs er sie nicht gerade zur Hand und zur Ver- fügung hat, und reichlich strömen ihm die Gaben der Gimpel zu, die bei ihm erbschleichen, wie Herr Schallow sich um Fall- staffs Protektion mit tausend Pfund bewirbt. Das sind die prae- stigiae und fallaciae, die als „mimorum argumenta" Cicero nennt, das sind die „tricae* der Atellanen, von denen unser Ausdruck „Intrigue" herkommt.

*) Brandl a.a.O. S. 121.

Reich, Mimus. 55

866 Zehntes Kapitel.

Der Narr im griechischen und römischen Mimus spielt nicht eigentlich die erste Rolle, er ist ein mimus secundarum partium und erscheint gewöhnlich als Parasit der Hauptperson, wie auch der Vidusaka als Parasit des Helden auftritt. Auch Fallstaff ist im „König Heinrich IV.", I. und II. Teil, der mimus secundarum partium, der Parasit bei Prinz Heinrich und als rechter noXv- ngäyficov und Beutelschneider weifs er seinen Herrn trefflich auszunutzen.

So sagt Fallstaff zu Heinz: „Nein, ich lasse dir Gerechtig- keit wiederfahren, du hast immer alles bezahlt."

Prinz Heinrich: „Ja, und anderswo auch, soweit mein bares Geld reichte, und, wo es mir ausging: habe ich meinen Kredit gebraucht."

Die Narren sind im Mimus, wie wir sahen, in zwei Typen geschieden, den wirklich stupiden Narren, den eigentlichen stupidus und fiwQÖg wie Philistion im Scholasticus, dem Dottore, sein Prototyp schuf oder die commedia dell' arte im Arlechino und den Derisor, in dessen Rolle gern der berühmte Mime Latinus auftrat, den Spötter, den eigentlichen Spafsmacher, den scurra und yeXcotonoiog, der nicht nur als Narr den anderen zum Spafse dient, sondern sich ebenso und noch besser über die anderen lustig zu machen versteht. Sein Prototyp ist Sannio, der mit jeder Muskel seines Gesichts, ja seines ganzen Körpers lacht, wie Cicero sagt. Er ist der eigentliche Lustigmacher, der rechte fjbtfiog yeXoicov. Er ist zwar auch ein Narr, aber er weifs, dafs er ein Narr ist und er weifs sogar auch, dafs die ganze Welt närrisch ist und dafs er sie darum als Narr zum Narren halten kann. Wir sahen, dafs zu dieser besonderen Sorte der mimischen Narren auch der Vidusaka und Semar gehört, sowie der türkische Karagöz, der Pulcinell und Kasperle. Und im Grunde gehören auch die mittelalterlichen Hofnarren dazu, die unter der Maske der Thorheit ihren Herrn nicht selten die Wahrheit sagten, und vor allem auch die Clowns bei Shakespeare. Nur darum, weil er diese unsterbliche mimische Narrheit vertritt, ist Fallstaff eine unsterbliche Figur geworden, Fallstaff als der bedeutendste

Fallstaff und der Narr im Mimu.=. 867

moderne Vertreter des mimischen Narren, der zugleich ein Spötter, ein Verhöhner der Narrheit, ein derisor, ein fxüxog ist.

Wie weifs Prinz Heinrich den guten Fallstaff zu verhöhnen ob seiner absoluten Feigheit bei dem räuberischen Überfall auf die Kauf- leute. Doch wie geschickt zieht sich der derisor aus der Schlinge. Er habe Prinz Heinrich und Poins wohl erkannt, aber der Löwe rührt den echten Prinzen nicht an. Mit welchem lustigen Hohne überschüttet der derisor den Bardolph, als dieser sich erlaubt, die Gewissensbisse 'des dicken Hans über seinen schlechten Lebenswandel für sehr berechtigt zu erklären.

Fallstaff: Bessere du dein Gesicht, so will ich mein Leben bessern. Du bist unser Admiralsschiff, du trägst die Laterne, aber nicht im Hinterdeck, sondern sie steckt dir in der Nase, du bist der Ritter von der brennenden Lampe .... Du hast mir an die Tausend Mark für Kerzen und Fackeln erspart, wenn ich mit dir nachts von Schenke zu Schenke wanderte; aber für den Sekt, den du mir getrunken hast, hätte ich von dem teuersten Lichtzieher in Europa ebenso wohlfeil Lichter haben können.

Bei dieser lustigen und unverschämten Art, mit welcher der derisor jede Neckerei doppelt und dreifach heimzuzahlen ver- steht, kommt es nicht selten zu wahren Zank- und Schimpfduetten. Wie schilt Prinz Heinrich auf Fallstaff: ^Diese vollblütige Memme, dieser Bettdrücker. die>er Pferderückenbrecher, dieser Fleisch- bergu, Fallstaff dagegen: „Fort mit dir, du Hungerbild, du Aal- haut, du getrocknete Rinderzunge, du Ochsenziemer, du Stock- fisch, — o, hätte ich nur Odem, zu nennen, was dir gleicht! du Schneiderelle, du Degenfutteral, du erbärmliches Rapier" (König Heinrich IV., I. Teil, H. Aufzug, Scene 4). Ich erinnere auch an die Zankscene zwischen Fall>taff und Dortchen Laken- reifser (König Heinrich IV . IL Teil, Akt H, Scene 4).

Dem Beispiel des grofsen derisors folgen seine Spiefsgesellen. Wie foppt Bardolph Fallstaffs Pagen mit losen Stichelreden: „Komm, du tugendhafter Esel, du verschämter Narr! Mufst du

55*

868 Zehntes Kapitel.

rot werden? Warum wirst du rot? Welch ein jüngferlicher Soldat bist du geworden! Ist es so eine grofse Sache, die Jungfernschaft eines Vier -Nösel- Krugs zu erobern? (König Heinrich IV., II. Teil, IL Akt, Scene 4.) Aber der witzige Junge bleibt dem Ritter von der brennenden Lampe nichts schuldig.

Mit ernster Mahnung sagt der Lord Oberrichter zu Fallstaff (König Heinrich IV., IL Teil, IL Akt, Scene 1): „Nun, der Herr er- leuchte dich! Du bist selbst ein grofser Narr", und doch mufs er sich von diesem notorischen Narren, weil es nun einmal der alte derisor und ioculator ist, der seit zwei Jahrtausenden schon die Narrenfreiheit übt, verhöhnen lassen: „Was die Ohrfeige betrifft, die euch der Prinz gab, so gab er sie wie ein roher Prinz und ihr nahmt sie wie ein feinsinniger Lord. Ich habe es ihm ver- wiesen und der junge Löwe that Bufse, freilich nicht in Sack und in der Asche, sondern in altem Sekt und neuer Seide."

Wie kläglich geht es zum Schlüsse, da König Heinrich sich von ihm wendet, dem alten Beutelschneider, dem noXvnQÜynwv, trotz aller seiner Anschläge, Ränke und Künste; er ist der Ge- preschte, wie es der Narr im Mimus ein für allemal ist. Doch schnell wirft der derisor Spott und Hohn auf den thörichten Friedensrichter Schallow, der ihm die tausend Pfund geborgt hat und nun auch nicht eins davon wiedersieht.

Am lustigsten ist es, den feisten Narren im Kriege zu sehen, der für ihn nur eine lustige Abwechselung und eine gute Er- werbsquelle ist. Der mimische Narr, der mit Dickwanst und Phallus, Helm und Schild hinter seinem jugendschlanken Helden herzieht, auf dem S. 583, Anm. 3. besprochenen Bilde ist auch ein Fallstaff im Kriege. Manchmal spielen die Mimen auch Krieg, sagt Choricius (vgl. oben 'S. 583, Anm. 3).

Wie der mimische Narr durch Philistion in den Ardaliotypus umgeschaffen wurde zu einem Prototyp des zerfahrenen, unruhigen Lotterlebens in den höheren sozialen Kreisen seiner Zeit, so mufs die Inkarnation des alten mimischen Narren und derisors in der Person Fallstaffs durch Shakespeare das heruntergekommene Rittertum in der Zeit der Königin Elisabeth zur Anschauung bringen. Dieses Rittertum, das längst aller Ideale bar geworden

„Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus. 869

ist und nur nach Genufs ohne Mühe und Arbeit strebt, das da glaubt, selbst in der verfetteten und versumpften Gestalt des mimischen Narren den ehrlichen Bürgerweibern eine Ehre an- zuthun, wenn es sie verführt, und das schliefslich als ein Haufen schmutziger Wäsche ins Wasser geschüttet wird. Dafs der mimische Narr hier als Ritter auftritt, kann uns, die wir seine ganze Entwicklungsgeschichte übersehen, nicht wundern, war er doch auch im mythologischen Mimus als Ritter aufgetreten und hatte gar als Zeus, als Vater der ritterlichen Götter, mit mächtigem Wanste bewehrt, den schönen Weibern und Töchtern der Menschen nachgestellt.

So entspringen Fallstaff wie Ardalio, diese beiden berühm- testen Metamorphosen des uralten mimischen Narren, einer im letzten Grunde sehr ernsten Lebensauffassung und einer bei aller Lustigkeit herben und strengen Biologie.

hl

„Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus.

Unter den zahlreichen Arten der mimischen Hypothese war, wie wir wissen, besonders das Ehebruchsstück beliebt und solch ein alter Ehebruchsmimus sind „Die lustigen Weiber von Windsor" Zug für Zug und Punkt für Punkt. Da sind vor allem die lustigen Eheweiber aus dem Mimus, die schlau dem Ehemann so schöne Worte zu geben wissen, wie Ovid erzählt. Frau Page und Frau Flut sind, wie die Eheweiber im alten Mimus, zu aller- hand lustigen Ränken aufgelegt, bei denen ihre Ehre wenigstens scheinbar in Gefahr gerät und ihre Männer wenigstens als be- trogen erscheinen. Herr Flut ist denn auch unablässig um die Treue seiner Frau besorgt; er ist eine typische Figur aus dem Ehebruchsmimus: der Eifersüchtige, der ZriXonmog.

Mit welchem echt mimischen Humor, wie flammend ist Herrn Fluts Eifersucht geschildert, die um so lustiger ist als sie voll- kommen grundlos ist. Wie rast er: Amaimon klingt gut, Lucifer gut, Barbason gut, und doch sind es Teufelstitulaturen, die Namen böser Geister; aber Hahnrei? Hörnerträger? Der

870 Zehntes Kapitel.

Teufel selbst führt nicht solche Namen. Ich will dem Dinge zu- vorkommen, mein Weib entlarven, mich an Fallstaff rächen. Pfui, pfui, pfui! Hahnrei, Hahnrei, Hahnrei (zweiter Aufzug, dritte Scene). Wilder hat gewifs kein Stupidus im Mimus ge- tobt, wenn er seine Schande als betrogener Ehemann entdeckte und mit wilden Flüchen seine Sklaven rief und nach seinem Dolche schrie. Wie sagt Ovid:

Und wo ein Buhle den Mann durch etwas Neues betrogen Wird beifällig geklatscht und ihm die Palme gereicht.

Auch hier wird der Zrjlözvnoc, Herr Flut, immer durch etwas Neues betrogen und wenn er schon den allerdings sehr harm- losen und selbst an der Nase herumgeführten Buhlen ertappt zu haben glaubt, wird er durch die schlauen Weiber genasführt. Wir haben schon auf die „perituri cista Latini", den grofsen Kasten, in dem der Ehebrecher kriecht, als ein unerläfsliches Requisit im alten Ehebruchsmimus hingewiesen. In unserem Ehebruchsmimus ist der beinahe ertappte Ehebrecher, der peri- turus Latinus, der gute Sir John; welche Todesangst befällt ihn, da er von Frau Page hört, Flut kommt mit allen Gerichtsdienern von Windsor, ihn bei seiner Frau zu suchen. Und die unerläfs- liche cista des Ehebruchsmimus ist hier der grofse Waschkorb mit schmutziger Wäsche, in den Fallstaff hineinkriecht. Er wird im Korbe hinausgetragen und der thörichte Zrj&ÖTvnog hält natür- lich vergeblich Haussuchung.

Dieser mimische Kasten kam auch im mittelalterlichen Mimus, der Shakespeares Dramen vorangeht, besonders in der französi- schen Farce unablässig vor, so wird er denn auch bei Shake- speare zum stehenden Inventar. In „Cymbeline" läfst Jachimo sich in einer grofsen Kiste in das Schlai'gemach der keuschen Imogen tragen. Der Buhle im Korbe gehört zu den vielen Situa- tionen des alten Mimus, die auch in Jahrtausenden nicht zu ver- gessen sind.

Das nächste Mal, als Fallstaff wieder bei Frau Flut ist, stürzt sich der arme Ztjlötvnog, der für seine Eifersucht so stark gehänselt wird, wie nur je im Mimus ein betrogener Ehe-

„Die lustigeu Weiber von Windsor" ein Mimus. 871

mann, auf den Korb mit Wäsche, den er vergeblich durch- sucht; denn dieses Mal wird er durch eine Verkleidung ge- täuscht. Fallstaff entrinnt ihm, herausgeputzt als eine alte, dicke Frau. Die Verkleidung von Männern zu Frauen ist eine der gewöhnlichsten Trics im alten Mimus. Ich erinnere an den Mann, der bei Laberius als Frau entlarvt, an einen andern, dem sein Benehmen als Frau einstudiert wird; an Maccus virgo, an Karagöz, der als Frau verkleidet von dem alten Baba Himmet geheiratet werden soll, an Pulcinella gravido (vgl. oben S. 676).

Iu seiner blinden Wut fallt der arme Hahnrei, der es zur Erhöhung des Spafses nur in seiner eigenen Einbildung ist, über die vermeintliche alte Frau mit ordentlichen Prügeln her; denn sie ist eine Hexe, eine Kartenlegerin, Besprecherin, Wahr- sagerin und Zeichendeuterin. Wie fährt Flut während der Prügel auf sie los: Du Zigeunerin, du Vettel, du Meerkatze, du garstiges Tier! Fort mit dir, ich will dich wahrsagen und besprechen lehren. Da haben wir die alte Hexe und Zauberin aus dem Mimus, die, wie wir sahen, darin seit den urältesten Zeiten ein stehender Typus ist. Wir haben gezeigt, wie diese Hexen gern als dickbäuchige Vetteln erscheinen, eben wie wir hier die dicke, alte Frau aus Brentford, die Hexe, in deren Kleidern Faustan" steckt.

Zu diesen Hexen gehört vor allem die cata carissa, die schlaue Kupplerin und Verführerin, das betrügerische, Zank und Hader erregende alte Weib. Im Ehebruchsmimus war dieser Typus unerläfslich; wie es sich gehört, findet er sich auch in unserem Mimus hier. Es ist Frau Hurtig, die Haushälterin des Doktor Caius; Frau Hurtig, die in „König Heinrich IV.14 einen anderen typischen Posten im Mimus als Gastwirtin und zugleich Aushälterin von Dortchen Lakenreifser bekleidet.

Hier spielt sie nun die pfiffige Mittelsperson, die einerseits an Fallstaff die heuchlerischen Liebesbriefe von Frau Page und Frau Flut besorgt, wie sie andererseits Herrn Fentons, wie des Herrn Doktor Caius und schliefslich auch des Junkers Schmächtig Liebeswerbung um Anne Page unterstützen soll Jedem redet sie nach dem Munde und alle betrügt sie; sie ist im höchsten

872 Zehntes Kapitel.

Grade fallax wie die cata .und erregt dadurch Zank und Streit Infolge ihrer Zwischenträgern fordert Doktor Caius den Pastor Evans gär zum Duell.

Der Arzt spielt schon, wie wir sahen, im Dikelon, dem alten lakedämonischen Mimus, mit allerhand fremdartigen Kede- wendungen und Anpreisungen seiner Kunst eine Hauptrolle und spielt sie dann weiter die ganze mimische Entwicklung hin- durch; noch in Philistion Philogelos kommt er vor und ist dort ganz derselbe Prahlhans1, Narr und Windbeutel, der aber nebenbei eine sehr einträgliche Praxis hat, und es versteht zu Gelde zu kommen, wie der französische Doktor Caius. Diesen mimischen Typus des Arztes fanden wir ja auch in der Farce und überhaupt im mittelalterlichen Mimus wieder. Hier geht der gute Doktor auf Freiersfüfsen und mufs sich dabei zum Narren machen lassen, wie es nun einmal des Arztes Los im Mimus ist.

Ebenso lieferte von jeher, wie wir schon sahen, die Geist- lichkeit dem Mimus allerhand lustige Typen. Und da Shake- speares Phantasie mit den Figuren der alten mimischen Biologie erfüllt ist, so liebt er es gleichfalls Typen der Geistlichkeit vor- zuführen. Ich erinnere aufser an den Pastor Evans an Nathanael, den Trottel von Dorfkurat in „Verlorener Liebesmüh". In „Was ihr wollt" tritt Ehrn Matthias, der Pfarrer, auf und wird den Hausmeister Malvolio, den man als närrisch eingesperrt hat, durch geistliche Besprechung heilen. Was diese Beschwörung eines Wahnsinnigen anlangt, so wollen wir an Karagöz denken, der den sich wahnsinnig stellenden Tusun durch seine Be- sprechung heilt: wir haben hier eben wieder ein uraltes mimi- sches Sujet.

Pfarrer und Schulmeister gehören zusammen und nicht selten übt der Pfarrer auch Schulmeisterfunktionen aus, so Pastor Evans in den „Lustigen Weibern". Es ist eine höchst drollige Schulscene. Herr Page meint, sein Wilhelm habe nichts Ordentliches gelernt, und nun bittet Frau Page als besorgte Mutter den Pastor Evans, ihn aus dem Donat zu überhören. Frau Hurtig hört mit zu und, da sie horum harum horum hört,

,Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus. 873

meint sie, man solle dem Jungen nicht in der Schule von Huren und ihren Haaren erzählen, so begleitet sie das Examen mit ihren Glossen. Diese Form der Schulscene findet sich schon genau so in dem mittelalterlichen französischen Mimus.

Schon bei Herondas kommt der Schulmeister vor, im ersten Mimiambus; Schulmeisterscenen kennen wir auch aus PhilistioDS „Philogelos ". Dort hört, wie hier Frau Hurtfg, jemand dem Unterrichte zu und fragt dann den Schulmeister, warum er nicht auch Zitherspielen lehre, und da der Schul- meister meint, das verstehe er nicht, sagt der "Witzbold: ach, das mache ja nichts aus, er lehre ja überhaupt, was er nicht verstehe, ganz wie Pastor Evans, mit dessen Latein es auch sehr bedenklich steht. Bei Petron kommen zwei mimische Schul- meistertypen vor, der eine ist ein wenig träge, der andere aber ist sehr eifrig, der lehrt mehr als er versteht, wie Pastor Evans. Mehr zu lehren als man versteht, meint Hieronymus, der gute Kenner der mimischen Ethologie und Biologie sei Sache der scurrae, doch wohl mimarii (vgl. oben S. 752, Anm. 2). Der Schulmeister kommt überhaupt bei Shakespeare wie in den alten Mimen nicht selten vor, ich erinnere z. B. an den verdrehten Schulmeister Holofernes in „Verlorener Liebesmüh" und an den Schreiber und Schulmeister von Chatam Emanuel, den Cade in „König Heinrich VI", Teil II, mit Feder und Tintenfafs um den Hals hängen läfst.

Eine ganz besondere Art von Schulscenen findet sich in „König Heinrich V." (Akt III, Scene IV), wo die schöne Katha- rina von Frankreich von ihrem Hoffräulein Englisch lernt. In der „Widerspenstigen Zähmung" stellen sich zwei Liebhaber der Bianca ein, der eine als Lateinlehrer, der andere als Musik- lehrer (Akt I, Scene 1), und schliefslich findet sich sogar ein Magister (Akt IV, Scene 2), der den alten Herrn Vincentio vor- stellen mufs und später als sein Doppelgänger diesem sein eigenes Ich abstreitet. Wir haben die Herkunft dieses uralten Motivs aus dem Mimus schon oben besprochen.

Ein besonders beliebter Typus im Mimus war der Huren- wirt oder auch der Gastwirt, der copo, der gewöhnlich beides

874 Zehntes Kapitel.

in einem ist. Frau Hurtig als Gast- und Hurenwirtin kennen wir schon. Der alte mimische copo ist in unserem Stück der Wirt zum Hosenbande. In seiner Taverne wohnt Faustan", und in ihr spielen mehrere Scenen, wie der Mimus überhaupt gerne in der Taberne spielt. Dieser Wirt hält sich für einen grofsen Pfiffikus und die beiden Scholastiker, den Pfarrer und den Arzt, macht er auch schmählich zum Narren. Aber im Mimus tritt der Gastwirt durchaus immer als der Geprellte auf, ich erinnere an den Bordellwirt Battaros bei Herondas. Solch ein geprellter Gastwirt findet sich auch in einer mimischen Tavernenscene bei Petron, wo er erklärt, er werde den Spitzbuben Eumolp und Encolp schon zeigen, dafs das Haus keiner Witwe etwa wie die Gastwirtin Hurtig im II. Teile von „Heinrich IV." sondern Marcus Mannicius (95. B. 3) gehöre. Für den geprellten Gastwirt im Mimus hatte man den terminus technicus: copo compilatus und auch der Schlauberger von Wirt zum Hosenbande ist schliefs- lich ein solcher copo compilatus, als ihm seine Pferde gestohlen sind, und er wird nun von dem vorher gefoppten Arzte und Pfarrer arg verhöhnt. Lustige Spitzbübereien sind ja von jeher ein be- liebtes Motiv im alten Mimus. So genügt denn auch Shakespeare dieser eine Diebstahl in seinem Mimus noch nicht, es findet sich, dafs Bardolph, Nym und Pistol den guten Junker Schmächtig bei einem gemeinsamen Gelage betrunken gemacht und dann eine ergiebige Visitation seiner Taschen vorgenommen haben, und Fallstaff hat in Herrn Shallows Park gewildert.

Ich habe auf die zahlreichen Kinderrollen im Mimus und in der Atellane hingewiesen. In diesem Mimus tritt der kleine Page Falstaffs auf, ferner Wilhelm, Frau Pages Sohn, und dann eine ganze Schar kleiner Kinder, die als Elfen verkleidet er- scheinen.

Wie das ganze Thema und alle Typen dieses Shakespeare- schen Mimus, so lassen sich auch alle Kabalen und Ränke in ihm durchaus als die beliebten praestigiae et fallaciae des alten Mimus erweisen. Und da die mimischen Triks immer weiter- gehn, so mufs sich schliefslich Fallstaff gar ein Gehörn auf- setzen und mufs sich, damit diesem im Grunde rein bio-

„Die lustigen Weiber von Windsor" ein Mimus. 875

logischen Mimus doch auch nicht das phantastische Element fehlt, das der Mimus so sehr liebt, sich zum gespenstischen, wilden Jäger Herne umwandeln und Anna Page und allerlei Kinder verkleiden sich als Feen. Das sind die fortgesetzten Verkleidungen, die der alte Mimus so sehr liebte, so besucht auch Herr Flut Sir Fallstaff als Herr Bach. Zwei von den ver- kleideten Knaben, die absichtlich sich ganz der Jungfrau Anna Page angeähnelt haben, werden von Doktor Caius und Junker Schmächtig entführt. Es geht dem Doktor wie dem Junker dabei ganz wie den gefoppten Liebhabern im alten Mimus, denen ein Mann für eine Frau untergeschoben wird, wie auch Baba Himmet mit dem als Braut verkleideten Karagöz. Als sie genauer zusehen, entdecken sie an den Vermummten die Zeichen des Mannes und Anna Page ist für sie verloren. Ähnlich findet Mars, als er die Braut entschleiert, statt der jugeudschönen Minerva die alte Hexe Anna Perenna.

Fallstaff aber wird nicht nur gefoppt, er wird auch aufs ärgste gezwackt und geprügelt. Auch durch diesen Mimus schallt der alapittarum sonitus und der Narr in ihm, Hans Fallstaff, ist so gut ein alopus, wie es nur irgend ein Narr in einem alten griechisch-römischen war und auch die lustigen Schimpfereien, die ein Specificum des alten Mimus waren, fehlen hier durch- aus nicht; ich erinnere an die amüsant-komische Art, wie Pastor Evans auf Doktor Caius und Doktor Caius auf Pastor Evans schimpft und beide nachher zusammen auf den spitzbübischen Wirt, der sie genasführt hat; ich erinnere ferner an die Zank- scene zwischen Junker Schmächtig und Shallow auf der einen, und Fallstaff und den Seinigen auf der anderen Seite, oder den Hagel von Schimpfworten, die Herr Flut auf die vermeintliche Hexe von Brentford niederprasseln läfst. Zum Schlüsse sind denn bei diesen unaufhörlich durchgeführten Foppereien, Kabalen, Ränken und Spitzbübereien, die mit Verkleidungen, Lügen und Betrügen und allen sonstigen artes mimicae ins Werk gesetzt werden, alle Personen dieses lustigen Mimus gehänselt und genarrt. Vor allem Fallstaff, der gefoppte Ehebrecher, auch Herr Flut, der zwar ein getäuschter Ehemann, aber doch kein Hahnrei ist, auch

876 Zehntes Kapitel.

Doktor Caius so gut wie Pfarrer Evans ist geprellt und Junker Schmächtig, desgleichen Herr Page, der Junker Schmächtig und Frau Page, die Doktor Caius begünstigt; da sie sich gegenseitig hinters Licht führen wollten, müssen sie es sich schon gefallen lassen, dafs ihre Tochter Anne sie beide genarrt hat.

Wie einst von Philistion gerühmt wurde, er hätte die Welt ihrer Narrheit überführt, so müssen wir dasselbe von diesem Shakespearischen Mimus rühmen, der zum Schlüsse trotz aller Kabalen, Ränke und Verwickelungen, wie es sich für einen guten Mimus gehört, mit wolkenloser Heiterkeit und dem lauten risus mimicus endet, den Herrn Fluts Worte entfesseln:

„Sir John, Eu'r Wort an Bach macht Ihr nun dennoch gut, Er geht zu Bett noch heute mit Frau Flut."

IV. Philistion, Shakespeare und Qudraka.

Wir kennen den Mimus als das grofse biologische Drama der ausgehenden Antike, als die herrschende dramatische Poesie am Beginne des Mittelalters, wir haben ihn ins Mittelalter hin- einverfolgt und durch das Mittelalter hindurch, wir wissen, dafs „Meister Mime" noch der Spieler des Interludes wie der fran- zösischen Farce ist.

Die players of interludes in England sind die alten Mimen, sowie Jack Jugler im gleichnamigen Interlude durch den Namen als ioculator und Mime gekennzeichnet ist. Sie treten auch noch auf der alten mimischen Gaukelbühne auf.

Oft genug hat Shakespeare als Kind diese players of interludes in Stratfort gesehen, wir können noch aus den Rechnungsbüchern seines Vaters feststellen, wie viel dieser für die Mimen zu- geschossen hat. So hat der gröfste Dramatiker der Neuzeit die ersten dramatischen Anregungen in seiner Kindheit vom Mimus erhalten. Man hat für „Die lustigen Weiber von Windsor"

Philistion, Shakespeare und Cüdraka. 877

nicht wie für die meisten anderen Stücke Shakespeares eine bestimmte litterarische Quelle nachweisen können, aus der das Stück in seinen Hauptzügen geflossen ist1). Man wird sie wohl auch schwerlich finden.

Der mittelalterliche Mimus hat das griechisch-römische Ehe- bruchsstück besonders bevorzugt. Solche lustigen Ehebruchs- stücke hatte Shakespeare in seiner Jugend von den players of interludes oft gesehen und aus ihnen formte er wieder eine grofse, üppigblühende Hypothese. Nach einer allerdings sehr unverbürgten Sage soll er das Stück auf Aufforderung der Königin Elisabeth in ungefähr 14 Tagen verfafst haben, eine kurze Zeit, aber nicht gerade allzu kurz, wenn man bedenkt, dafs Shakespeare hier fast alle Motive und Personen aus dem Mimus hat. Shakespeare kannte wahrscheinlich auch die com- media delP arte, hat sie vielleicht sogar in ihrer Heimat, in Ober- italien, gesehen (Über Shakespeares vermutliche Reise nach Ober- italien vgl. Sarrazin, William Shakespeares Lehrjahre, Kap. V, S. 118 ff., Shakespeare in Italien?), also den italisch-italienischen Mimus, der vom byzantinischen Mimus befruchtet war. Shake- speare hat auch ein besonderes Interesse am Puppenspiel gehabt, das beweisen seine häufigen Anspielungen, und wir haben gezeigt, dafs das Puppenspiel, das orientalische wie das occidentale, am Beginne des Mittelalters vollständig dem Mimus gehörte und wohl an seinem Ende ebenso. Also auch dort sprudelte für Shake- speare seit seiner Kindheit der tiefe Born des Mimus*).

1) Die bekannte Novelle im Pecorone des Ser Giovanni, die ähnlich auch Straparola und Michael Lindener in seiner Sahwanksammlung „Rast- büchlein" (16. saec.) erzählt, die Tragödie des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig „Tragedia von einer Ehebrecherin" sind trotz einer gewissen Ähnlichkeit schwerlich Shakespeares Quelle ; sie gehen eben wie Shakespeare auf den gleichen, uralten, mimischen Stoff zurück. Wie der Mimus gerne als Novelle oder als Schwank in die erzählende Litteratur übergeht, soll im nächsten Bande gezeigt werden.

2) Zu Shakespeares Zeit war das Puppentheater ganz besonders beliebt; überall zogen die puppet players ebenso wie die Players of interludes herum mit ihrem Puppenkasten und mimten darauf die alten Interludes und Morali-

878 Zehntes Kapitel.

Auch Shakespeare ist ein Ethologe und Biologe. Wenn er sagt (Hamlet, III. Akt, Scene 1): „Der Zweck des Schau- spiels war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vor- zuhalten, der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen-', so kann man bei Shake- speare-Kommentatoren, bei Ästhetikern und sonst die läng- sten Betrachtungen über diese Worte lesen, die in der That viel tiefen Sinn enthalten und zugleich Shakespeares Glaubens- bekenntnis als Dramatiker. Setzen wir dafür die griechische Formel, so können wir uns kürzer fassen: fiiftijatg ßiov te avyxsxdoQrjfiha neqU^uiv xal davyx(^Q1]'ia- Biologe ist der Mime oder lateinisch: rerum humanarum imitator. Er hält dem ßiog, d. h. bei Shakespeare der Natur, dem Jahrhundert, dem Körper der Zeit, den Spiegel vor und das Bild, darin ist eben [tifirjcKg ßiov; und die Tugend soll ihr eigenes schauen, ebenso wie die Schmach. Shakespeare bekennt sich zur Ethologie genau wie der Mime, der Ethologe. Also Ethologie und Biologie, aber un- geschminkt und wahrhaftig, auch das Laster soll dargestellt werden, mit allen seinen abschreckenden Zügen. Wie sagt doch Seneca: soviel Laster gebiert unsere Zeit, dafs der Mimus sie nicht einmal alle abkonterfeien kann. Choricius klagt: „Warum tadelt ihr den Mimus, dafs er ebenso die Laster darstellt wie die Tugenden; scheltet lieber auf die lasterhafte Welt; und Africanus sagt von Daniel, der die beiden greisen Schufte in der Geschichte von der keuschen Susanna ihrer Schurkerei so schlagend überführt; er überführt sie, wie sonst kaum Philistion, der Mimograph. Shakespeares Menschenkenntnis ist in der

täten, später auch die neuen Komödien und Tragödien; und der alte Narr Vice spielte auf der Puppenbühne etwa die Rolle unseres Kasperle. Wieder- holt erwähnt Shakespeare in seinen Schauspielen das Puppenspiel, und gern zielt er in seinen Vergleichen und Anspielungen darauf. Sein Zeitgenosse Ben Johnson brachte in der Komödie „The Bartholomew Fair" gar eine puppet-schow auf die Bühne. Die Nachweise im einzelnen bei Magnin a. a. 0. S. 204 ff.

Philistion, Shakespeare und £üdraka. 879

modernen Zeit sprichwörtlich, in der antiken war es die Philistions, des Philosophen.

Gewifs hat auch das klassische Drama, insbesondere Seneca, Shakespeare beeinflufst, aber vor allem das volksmäfsige, soge- nannte nationale Volksdrama, eben der alte Mimus, der überall das Landschafts- und das Lokalkolorit annimmt und sich darum überall nationalisiert1). Als die Mimen des Herondas gefunden wurden, begann man sofort von der erstaunlichen Ähnlichkeit mit Shakespeare zu reden. Der Gauner Battaros bei Herondas erinnerte schon Crusius an die Shakespearischen Galgenvögel und ebenso Frau Gyllis, die Kupplerin*). Diese Ähnlichkeit Shakespeares mit dem Mimus ist nun für uns keine zufällige mehr, auch nicht blofs in einer ähnlichen Geistesrichtung be- gründete.

Er ist wirklich ein Mimograph geworden, der grofse William Shakespeare und hat mit lustigem Lachen und göttlichem Humor eine grofse biologische Hypothese geschaffen, wie einst Philistion. Bei ihm findet sich wieder der alte, strenge Realismus des mimi- schen Biologen, der göttliche Humor und das laute Lachen, der wunderbare Wechsel zwischen Scherz und Ernst, zwischen Bur- leskem und Traurigem, zwischen Niedrigem und Hohem, wie es sich alles einst bei Philistion fand. Sie sind die beiden gröfsten Hypothesendichter der Weltliteratur, der mit unergründlichem Humor begabte, tiefsinnige, grofse Brite und der ridiculus Philistion, der Philosoph, der alte Klassiker des Mimus. Ihnen

1) Ulrici bemerkt („Shakespeares dramatische Kunsf I, S. 368): Sh. nimmt entschieden Partei für das englische Volkstheater ... er verwirft jene Bestrebungen, welche das in doppelter Beziehung durch seine plastische Idealität wie durch seine Fremdartigkeit unnatürlich erscheinende Drama der Alten zu beleben suchten." Nun, eine Wiederbelebung des Dramas der Alten hat denn doch in gewisser Weise durch Shakespeare stattgefunden, al-er weniger des klassischen, das Ulrici natürlich nur allein kennt, sondern mehr des mimisch-biologischen, des antiken Yolk>dramas. Allerdings gilt das natürlich nur für Shakespeares Lustspiele und die Schauspiele, die ihnen näher stehn.

2) Vgl. Die Mimiambeu des Herondas. Deutsch. S. VII, IX. Unter- suchungen S. 28.

880 Zehntes Kapitel.

beiden ward durch die Volksüberlieferung schon eine grofse Fülle mimischer Ethologie und Biologie überliefert. Philistion schuf daraus zuerst das grofse mimisch-biologische Drama in seiner höchsten Vollendung und als dieses dann im Laufe des Mittelalters tiefer und tiefer gesunken war, schuf zum zweiten Male Shakespeare aus dem unzerstörbaren mimischen Kern ein klassisches biologisches Schauspiel. Philistion dichtete länger als anderthalb tausend Jahre vor Shakespeare, aber der Faden zwischen beiden ist niemals abgerissen, auch wenn der grofse William kein Sterbenswort davon wufste, dafs es jemals eine mimische Hypothese und jemals einen Philistion gegeben habe. Hie Menander, hie Philistion, sagten die Alten, hie Philistion, hie Shakespeare, könnten wir Modernen sagen und das hätte dann einen viel tieferen Sinn.

Wenn wir an die Dramen Philistions denken, nachdem wir so mühsam ihren Charakter und ihre Eigenart, ihre Grofse und ihren Wert festgestellt haben, an ihren Humor, ihre Satire und Ironie, ihre biologisch-realistische und doch zugleich phantastisch- humoristische Art, so könnten wir die These wagen, Philistion sei der Shakespeare der Antike oder besser, der Brite sei der Philistion der modernen Zeit.

Ein dritter gehört noch in diesen gröfsen Bund: Qüdraka. Seit Wilsons Übersetzung der Mrcchakatikä erschien, hat dieses Drama immer ein mafsloses Erstaunen hervorgerufen, das war ja Shakespeare, Shakespeare wie er leibte und lebte. Alle Be- urteiler waren darin einig, jeder kam auf Shakespeare zu sprechen, die Ähnlichkeit war erstaunlich, auffallend, frappant.

Klein gab diesem Erstaunen zum ersten Male einen einiger- mafsen entsprechenden, grofsartigen Ausdruck. Ich setze seine Worte hierher (Geschichte des Dramas III, S. 87fif.): „Im Verlaufe unseres Dramas . . . wird uns noch eine andere Familienähnlichkeit überraschen und in Erstaunen setzen: Eine so tiefe Verwandtschaft dieser indischen Dramen mit denen Shakespeares in Komposition, in Charakteristik, in dem Kultus des Hochmenschlichen, eine so grundinnerliche Wesens- und Formenverwandtschaft, dafs man glauben sollte, eine ähnliche Ursprungserinnerung habe bei den

Philistion, Shakespeare und Qüdraka. ggj

Schöpfungen des gröfsten dramatischen Dichters mitgewirkt wie, nach Plato, das göttliche Wissen und Schauen der menschlichen Seele als ein Erinnerungsdenken der Urbilder zu gelten habe, die sie in ihrem vorkörperlichen Zustande unmittelbar in Gott geschaut, dafs man glauben sollte, diese Erinnerung an den arischen Ursprung wäre in der Seele des gröfsten Poeten des germanischen Völkerstammes beim Dichten seiner Dramen, gleich einer mächtigen Wunderblume, gleich jener Lotos -Weltblume aufgegangen, und hätte in seine Schöpfungen den heimatlichen, zaubervollen Seelenduft und Wohlgeruch ergossen. Aus der neuen Welt in unseren Erdteil verpflanzte Gewächse öffnen zur Nachtzeit ihre Blüten, weil sie um dieselbe Tagesstunde in ihrem Vaterlande blühen. Warum sollte man nicht denken dürfen, dafs auch nach Jahrtausenden unter den entlegensten Himmels- strichen Blüten der Poesie im Geiste sich erschliefsen, die den Balsam ihres geschichtlicen Ursprungs, ihrer Stammeswurzel, atmen? .... Unter allen uns bekannten indischen Dramen trägt dies die Shakespeare-Signatur am sichtbarsten ausgeprägt. Das älteste der vorhandenen indischen Schauspiele ist für uns zugleich das bei weitem merkwürdigste, durch dramatisches Genie und poetisch-tiefe Charakterzeichnung bedeutsamste der indischen Bühne König Qüdrakas „Spielwagen a, als ältestes erhal- tenes Drama der Inder, der Thespis-Spielkarren des romantischen Kunstdramas, wird uns, auch schon bei summarischer Durch- nahme desselben, diesen, von der Geschichte der dramatischen Kunst, ohne Mitwissen der Dichter, an der alten Tragikomödie, an dem griechisch-römischen Hetären-, Schmarotzer-, Kuppler-, Hefenspiel, zu bewirkenden Läuterungsprozefs in einem bereits so vorgeschrittenen Stadium vor Augen stellen, dafs sich uns, bis zu Shakespeares Drama, nichts ähnliches darbieten wird, ja dafs dieses, das Shakespeare-Drama, nach Stil, Ton und Form gewürdigt, als eine Tragikomödie in König Qudrakas Geiste er- scheinen darf, und nur als deren herrlichste, kunstvollkommenste Entfaltung."

Es ist richtig, die Ähnlichkeit ist wunderbar und nicht weniger wunderbar ist die Erklärung des geistreichen Litterar-

Reieh, Mimus. cg

882 Zehntes Kapitel.

historikers und Ästhetikers, eine mythische, dämonische Er- innerung an die arische Urzeit, die platonische Lehre von den Urbildern, die der Mensch yor seiner irdischen Existenz in Gott gekannt habe, mufs herhalten, während sonst bei Klein klar und deutlich, falls sich so grofse Ähnlichkeiten finden, auch die Ur- sachen aufgedeckt werden. Es ist eben das Eingeständnis des Unbegreiflichen oder wenigstens mit den Mitteln der damaligen Wissenschaft, die Klein zur Verfügung standen, Unerklärbaren. Klein kannte die Geschichte des gesamten Dramas bis ins ein- zelndste, es hat nie ein Menschenhirn gegeben, in das die hundert- tausend Dramen der Welt so wohlgeordnet hineingingen, wie in das dieses genialen Kopfes, aber den Mimus kannte er nicht,, oder doch er kannte ihn sehr gut aus Ziegler, dem Vorgänger Grysars1). Und so blieb in der grofsen Geschichte des Dramas dieses Wunder eben als Wunder bestehen.

Das indische Drama soll allein eine Geburt des indischen Genies, wie das Shakespeare-Drama das des englischen sein; wenn man von mystischen, arischen Urerinnerungen absieht, haben die beiden Genies soviel mit einander zu teilen wie der Engländer mit dem Inder, den er heute knechtet, wie das nordische, neblige England und das tropische, sonnige Indien; soviel Meere zwischen England undlndien liegen, soviel Abgründe zwischen indischem und englischem Volkscharakter. Und doch ist das Drama die höchste Blüte des dichtenden Volksgeistes und diese beiden Dramen sind einander so ähnlich, wie nie ein Inder einem Engländer war.

Ja, allerdings Qüdraka und Shakespeare haben beide ein Urbild gesehen, wenn auch nicht eins von den Urbildern Piatos, nämlich den Mimus. Qüdraka gleicht Philistion, wie andererseits Shakespeare Philistion gleicht, und sind zwei Gröfsen einer Dritten gleich, so sind sie unter einander gleich2).

i) Vgl. oben S. 683 Anm. 1.

2) Seit Lessing zum ersten Male energisch auf Shakespeare hinwies, brach trotz des heftigen Widerstandes der alten klassicistisch-französischen Richtung im Drama ein wahrer Sturm der Begeisterung für Shakespeare los. Das ist der Sturm, der vornehmlich durch die grofse Sturm- und Drangperiode wehte, die unserer klassischen Litteratur vorausging. In

Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 883

V. Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus.

Eine Nebenart des biologischen Mimus ist der bukolische, das Idyll. Theokrit, der Begründer der Idyllendichtung hat sich von vornherein als Mimograph gefühlt, als Schilderer des Lebens, als Biologe. Wenn er mit allem Realismus der Darstellung die

seiner brausenden Jugend begriff Goethe die Biologie Shakespeares wohl, die zugleich die Philistions ist, diese grofse mimische Biologie, die das Leben in allen seinen Tiefen und seinen Höhen, mit seiner Tollheit und seiner Narrheit, mit seinem Ernst und seiner tiefen Traurigkeit begreift und dennoch darüber lachen kann voll Humor und darüber die klingelnde Narrenkappe schwingen im jauchzenden risus mimicus. Später hatte Goethe andere Ideale, als er Elassicist geworden; er behauptete, sich von der Shakespearomanie befreit zu haben durch den Götz und durch den Egmont. Und dann folgte Tasso und Iphigenie. In dieser seiner klassischen Epoche hat er Shakespeare beinahe gefürchtet und fast erschien er ihm wie ein schrecklicher Dämon. Aber im Faust findet sich doch wieder die grofse und mächtige Biologie und Ethologie, die alte Mischung der Sprache des Volkes und der Vornehmen, die von der Prosa zur höchsten lyrischen Empfindung reicht, hier mischen sich wieder Götter, Dämonen, Menschen und Fabelwesen. Seltsam schaut wie im alten Mimus allerhand Zauberspuk in den realen ßiog hinein, und Mord und Totschlag, Giftmischerei, Gericht und Hochgericht, Kneip- und Liebesscenen wechseln im bunten Durcheinander. Da ist wieder die alte Ethologie und Biologie, humoristisch, realistisch und phantastisch zugleich und doch dabei so ernsthaft. Freund Mephisto hat sich zwar vornehm herausgeputzt und verkündet sich pathetisch und mit hoher Philosophie als den Teil des Teils, der anfangs alles war. Im Grunde aber ist er doch der alte, arme, dumme, gepritschte Teufel, der schon in dem Interlude, dem mittelalterlichen englischen Mimus „The Devil is he as~ als stupidus proklamiert wird, der vom alten Mimen so lustig im Mysterium gespielt wurde und ebenso in der Moralität, wo er sich mit Vice, dem alten mimischen stupidus, herumprügelt und selbst als stupidus die erbärmlichsten Schläge bekommt. Auch Mephistopheles ist zuletzt ein armer stupidus und fühlt sich ganz als solcher. Die Rosen, welche in der Schlufsscene die Engel auf ihn werfen, brennen ihn ebenso wie den Teufel im mittelalterlichen Mimus und Mysterium seine handfesten Prügel. Die Sage vom Doktor Faust lernte Goethe in der Gestalt des Puppenspieles kennen, und das Puppenspiel war von jeher die Domäne des Mimus. Der Faust ist in der That mehr ein biologisches Schauspiel als eine klassische Tragödie, aber das ist kein Tadel, sondern ein grofses ' Lob. Auch ein Mysterium darf man ihn nennen, doch gehören Mimus und Mysterium von jeher nahe zusammen.

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884 Zehntes Kapitel.

Bürgerweiber schildert, die zum Adonisfeste gehn (XV.) oder das rasend verliebte, gefallene Bürgermädchen, das mit Zauber- mitteln den ungetreuen Buhlen zu sich ziehen will (IL), oder die Schwermut des Soldaten, der aus Eifersucht sein Schätzchen geschlagen hat und nun zur Strafe für immer verlassen ist (XIV.), wenn er das ärmliche Leben der Fischer und ihren thörichten Aberglauben malt (XXL), so sind das biologische Scenen wie sie ebenso Sophron, der Mimograph, Theokrits grofses Vorbild, oder Herondas, der Mimograph, sein Rivale dichtete. Auch bleibt Theokrit, wie es die Mimographen lieben, gern in den niederen Kreisen des Lebens, und wenn er vor allem Hirten und Hirtinnen, Fischer, Bauern, Knechte und Mägde zu schildern beginnt, so verläfst er auch damit noch nicht die alt- gewohnten Geleise des Mimus. Auch Sophron schilderte Bauern und Fischer, und die oskische Abart des Mimus, die Atellane, liebte ja vornehmlich das Landleben darzustellen. In diesen mimischen Schilderungen herrschte der stärkste Realismus. Von ihm ist auch Theokrit ausgegangen, aber dann machte er eine grofse Erfindung. Statt einfach das Landvolk und das Landleben in seiner Niedrigkeit und seinem Schmutze voll Ironie und Herzens- kälte zu schildern wie es wirklich ist, beginnt er sich für das Einfache und Natürliche an diesen niederen Verhältnissen zu begeistern; er fängt an für Natur zu schwärmen und schon hat er das Paradies, in das die überbildete, überreizte und über- sättigte Menschheit sich stets von neuem flüchten kann, entdeckt. Die Natur mit dem Rauschen heiliger Quellen, mit den Berg- wäldern und sonnigen Bergeshalden und dem Blick aufs blaue Meer, mit den Göttern, die sichtbarlich in ihr walten, mit Pan, der um die Mittagszeit im Walde schläft und den man dann ja nicht stören darf, mit den Nymphen und mit Demeter, die Büscheln von Ähren und Mohn in beiden Händen freundlich lächelnd beim Erntefeste dem fröhlichen Treiben zuschaut (VII.). In diese göttliche Natur gehören nicht die mimischen Rüpel, die Bauernlümmel aus der Atellane hinein, die können sie weder verstehen noch ge- niefsen. Die Bauern, Hirten und Fischer des bukolischen Mimus haben feinere Nerven, zartere Empfindungen, sie sind mehr den Städtern angeglichen. Theokrit hat ihnen etwas von seinem

Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 885

eigenen Herzen, von seiner eigenen Freude an der Natur ge- geben, die ihm so herrlich leuchtet. Bei diesen Bauern bricht das romantisch -idyllische Gefühl durch, so ist der Mimus zum Idyll geworden, aber es bleibt doch immer viel von der Realität der Verhältnisse gewahrt; das Theokritische Idyll bleibt eben immer noch Biologie, bleibt immer noch ein Mimus.

Die Folgezeit hob dann an Theokrit das romantisch-idyllische Element vor dem mimisch-biologischen hervor. Bei seinen Nach- folgern und Nachahmern, bei Bion und Moschus, bei Vergil, Calpurnius, Nemesianus in den Bucolica Einsiedlensia tritt der Realismus der mimischen Biologie mehr und mehr zurück. Die Welt der Hirten wird immer unwirklicher, idealistischer, romantischer und unwahrer, immer im modernen Sinne idyllischer. Immer aber behielt das Idyll die dramatische Grundform des Mimus, den Dialog, die Wechselrede und den Wechselgesang bei. Vergils Bucolica sind zweifelsohne nur auf die Rezitation berechnet wie Theokrits oder des Herondas Mimus. Ein Rezitator trägt sie vor, aber mit wechselnder Stimme und gewissermafsen in verschiedenen Rollen. Auch der rezitative Mimus verleugnet nicht das drama- tische Element und seinen Ursprung von dem eigentlichen mimi- schen Drama, das nach Aristoteles und der peripatetischen Schule die dritte Gattung unter den vier grofsen Gattungen des helleni- schen Dramas ist1).

Im Grunde ist nun freilich, wie wir schon hervorhoben (vgl. oben S. 15), der bukolische Mimus nur ein kleiner Neben- schöfsling am grofsen Weltbaume des Mimus. Aber er hat in der Entwickelung der Weltlitteratur einen aufserordentlichen Vorteil vor den anderen Gattungen des Mimus voraus. Der Mimus Theokrits mit seinem direkten Nachkommen, dem römi- schen Idyll, blieb allein erhalten, das grofse mimische Drama,

J) Durch die Güte des Herrn Verfassers erhalte ich noch ganz kurz Tor Thoresschlufs aus der Festschrift für Gomperz den Aufsatz von Crusius ,Die Anagnostikoi". Crusius plaidirt hier unter Hinweis auf die drei von Watzinger veröffentlichten Mimologen und die Hypothesis Hecyra für seine Auffassung von den Mimiamben des Herondas als „Dramolets". Ich werde Veranlassung haben im zweiten Bande bei der Besprechung der Einwirkung des dramatischen wie des rezitativen Mimus auf die antike Prosadichtung näher auf die geistvollen und anregenden Bemerkungen einzugehen.

886 ' Zehntes Kapitel.

Philistion, Syrus, Laberius und alle die modernen Mimographen der Griechen und Römer gingen verloren. Theokrits und vor allem Vergils Eclogen sind doch mehr Gelehrten-Poesie, während das grofse mimische Drama im eigentlichen Sinne Volkspoesie war, und' der Gelehrten-Poesie haben sich die Gelehrten und vor allem die Schulmeister angenommen und so blieb sie erhalten. Wenn auch Theokrit im Mittelalter vergessen wurde, so blieb doch Vergil durchaus lebendig und ebenso Calpurnius und Neme- sianus, und in dieser Form hat dann der bukolische Mimus das Mittelalter hindurch seine Wirkung äufsern können. Davon zeugt z. B. der Bukoliker Naso, der am Hofe Karls des Grofsen am Anfange des neunten Jahrhunderts seine grofse Ecloge dichtete. Noch die Troubadours singen „Pastour eilen" und wenn der berühmte Trouvere Adam de la Halle, von dem das erste komische Drama in Frankreich stammt, im „Spiel von der Blätterlaube" vom volksmäfsig überlieferten biologischen Mimus abhängig ist, so folgt er in „Robin und Marion" dem litterarisch überlieferten bukolischen Mimus. Das war etwa im Jahre 1262. So steht also der bukolische Mimus, wie ich schon oben hervorhob, am Anfange der modernen dramatischen Entwickelung in Frankreich. Dieselbe Entwickelung zeigt sich auch in Italien, der eigentlichen Wiege des modernen Dramas. Als Nachahmer Vergils dichtete schon Petrarca (1304—1374) und Boccaccio (1313—1375) lateinische Eclogen; im fünfzehnten Jahrhundert dichteten dann Bojardo und die toskanischen Dichter Idyllen in italienischer Sprache und bald schofs die italienische Bukolik üppig ins Kraut. Noch blieb die italienische Ecloge ein wenig umfangreiches Werk, aber bei der dem bukolischen Mimus von altersher innewohnenden dramati- schen Kraft begann man diese Eklogen dramatisch aufzuführen, wie man auch einst Vergils Eklogen auf dem römischen Theater gab, obwohl sie ursprünglich nicht dafür bestimmt waren. Lang- sam vergröfserte sich der Körper dieser kleinen bukolischen Mimen, bis aus dem kleinen mimischen Paegnion das grofse bukolische Drama, die bukolische, mimische Hypothese, welche die moderne Ästhetik Pastoraldrama nennt, geworden war. Dieses Wachstum aus den dramatischen Anlagen des bukolischen Mimus heraus ist, sobald man diesen nicht mehr als von einem Rezitator

Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 887

vorgetragenes Paegnion behandelte, sondern von mehreren Per- sonen vorführen liefs, leicht verständlich.

Im Mimus Theokrits und ebenso Vergils sind häufig in der einen Scene, welche der Mimus schildert, auch die Scenen, die vorangehen, wie diejenigen, die noch etwa folgen werden, d. h. eine ganze grofse dramatische Handlung angedeutet. Denken wir an Theokrits Zauberinnen. Vorgeführt wird nur die Zauber- scene, aber wir hören von zahlreichen früheren Scenen; da ist die Scene wie Simätha von Klearista zum Ausgehn das Mäntelchen borgt, da schaut sie einer Procession zu, da sieht sie Delphis, da schickt sie die Thestylis zu ihm, um ihn zu sich zu bitten. Dann folgt die Liebes- und Verführungsscene. Nun bedient sie sich der Zaubermittel, und wir sind gespannt darauf, ob sie helfen werden, vielleicht kommt Delphis, vielleicht söhnen die Liebenden sich aus. Aber das Ganze hat eine so wilde, leiden- schaftliche Färbung, ein glückliches Ende ist kaum zu erwarten; leicht malt die Phantasie eines Dramatikers die düsteren Scenen aus, die nun etwa folgen werden.

So entwickelte sich aus dem bukolischen Paegnion die grofse bukolische Hypothese, die in Italien ihre Vollendung erreicht mit Tassos Aminta (1573) und Guarinis Pastor fido (1585), diesen beiden weltberühmten Hirtendramen. Bei den Spaniern gilt als der älteste Dramatiker Juan de la Encina (1469—1534). Seine kleinen dramatischen Schäferspiele, die am Hofe des Don Fadrique de Toledo, ersten Herzogs von Alba, aufgeführt wurden, nannte er nach Vergils Vorangange und zugleich dem der ältesten italienischen Hirtendichter Eclogen. Seine Abhängigkeit von Vergil ist um so gewisser, als die erste spanische Übersetzung von Vergils Eclogen von ihm herrührt (vgl. von Schack a. a. 0. I, S. 149). Die ältesten von diesen kleinen Hirtendramen schildern nun aber nicht sicilische oder arkadische, sondern die bethlehemitischen Hirten, denen die Ankunft des Herrn verkündet wird. Die erste Ecloge Encinas ist zum Weihnachtsfest gedichtet. Es treten die vier Evangelisten Juan, Mateo, Lucas und Marco auf, aber sie sind zu Hirten geworden und Juan ist aufserdem noch eine Maske für Juan de la Encina. Juan verkündet das Lob des Herzogs von Alba und der Herzogin. Schäfer Mateo erweist

888 Zehntes Kapitel.

sich als Feind und Neider des Juan, aber wie er hört, der Herzog nehme ihn in Lohn und Sold, wünscht er ihm Glück. Nun finden sich auch Lucas und Marco ein. Lucas mit der frohen Botschaft von der Geburt des Herrn. Die vier Hirten brechen nach Bethlehem auf zur Krippe und zum Schlüsse singen die vier ein Villancico.

In wunderlicher Weise verschmilzt hier das schäferliche und das litterarische Element, ganz wie in Vergils Eclogen, nur dafs hier aufserdem noch das geistliche Element hinzukommt. Die zweite Ecloge Encinas handelt von den Leiden Christi. Die dritte von der Auferstehung. In der sechsten Ecloge geht es schon weltlicher, realistischer, lustiger, überhaupt mehr mimisch- biologisch zu. Es sind mittelalterliche Krippen- und Mirakelspiele, die hier im antiken bukolischen Stile behandelt werden; wieder dringt der Mimus ins Mysterium. Vier Hirten Juan, Miguelejo, Rodrigacho und Anton suchen in einer Felshöhle Schutz gegen das böse Wetter, sie zünden sich ein Feuer an, wie es auch Theokrits Hirten thun. Sie schimpfen auf das schlechte Wetter, sprechen über den Tod eines Sakristans und zanken sich darum, wer von ihnen sein Nachfolger werden soll. Es sind die alten, lustigen, mimischen Zank- und Streitscenen. Dann wollen sie ein Schock Kastanien unter sich verteilen, wobei es wieder zum Streit kommt. Da entschliefst man sich die Kastanien auszu- spielen und zu dem Zweck Trentin, etwa unser „Sechsundsechzig", zu spielen. In dem Augenblicke kommt der Engel herein und bringt die frohe Botschaft: Jubel über die Nachricht des ge- putzten Burschen (garcon repicado), auf nach Bethlehem zum Kinde mit den Geschenken, einem Zicklein, Milch, Käsen, Butterstollen und einem hölzernen Napf. Hier überwuchert das bukolische Element, das geistliche tritt stark zurück und wird nebensächlich. Der Mimus verdrängt das Mysterium. In den weiteren Eclogen des Encina handelt es sich dann allein um die weltliche, sündige Liebe wie bei Vergil und Theokrit. So gleich in der nächsten Ecloge. Der Hirt Mingo verläfst seine ver- lobte Braut Menguilla und bewirbt sich um die Liebe der Hirtin Pascuala, um die auch ein Edelknappe freit. Der Junker trägt den Preis davon; doch mufs er ein Hirte werden. In Adams

Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 889

de la Halle bukolischen Mimus wird das gleiche Thema behandelt, aber der Junker wird von der Hirtin Marion verlacht. In einer anderen Ecloge nimmt sich ein Hirte aus Liebesgram das Leben. Schliefslich wird der bukolische Mimus des Encina, wie es sich für einen rechten Mimus gehört, derb realistisch, das ist das „Aucto (Auto) de Repelon (Rauf Auto)", in dem eine grofse Prügelei zwischen Studenten und Hirten, die ihre Waren in die Stadt zum Markte gebracht haben, geschildert wird1).

Wie der erste, so hat auch der gröfste spanische Dramatiker Eclogen und Hirtendramen gedichtet. Schon in seinen Jugend- jahren schrieb Lope de Vega zwei Schäferdramen „El verdadero amante* und „La pastoral de Jacinto". Unter seinen späteren bukolischen Schauspielen ist am berühmtesten „La Arcadia" 2). Allerdings ist diese Arcadia nur eine verkürzte Dramatisierung von Lopes gleichnamigem Pastoralroman, der wieder nur eine Nachahmung von Cervantes' Pastoralroman „Galatea" ist, der wieder seinerseits des Sannazaro „Arcadia" nach- geformt ist. In einer Zuschrift an den Doktor Gregorio Lopez Madera, Mitglied des obersten Staatsrates Sr. Majestät, rühmt sich Lope, dafs La Arcadia nicht einfach die etwas rohen Buco- lica Theokrits nachahme, wie es noch vor ihm der ruhmreiche Lope de Rueda gethan habe, sondern schon höherem Ziele nachstrebe. In der That liefert er eine bei weitem verwickeitere Handlung '). Auch Calderon hat der bukolischen Dichtung seinen Tribut gezollt. Sein Drama „El Golfo de las Sirenas" ist eine Ecloga Piscatoria4).

Zu den ältesten englischen Dramen gehört John Lylys (1554—1606) Pastoraldrama „Loves Metamorphosis" (1601 zuerst gedruckt). Dieser schäferliche Geschmack des Euphuismus wirkt auch stark bei Shakespeare nach.

Opitz, der Bahnbrecher der neueren deutschen Poesie, schuf

') Über Encina und seine Eklogen Tgl. Klein a, a. 0. Band IX. S. 1 33 und von Schack, „Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien", I, S. 146—156.

8) Vgl. Ton Schack, a. a. 0. II S. 381.

3) Vgl. Klein, a. a. 0. IX S. 558.

*) Vgl. von Schack, a. a. 0. III S. 190.

390 Zehntes Kapitel.

nach italienischem Vorbilde ein mythologisch-schäferliches Sing- spiel „Däphne", das 1627 in Torgau bei Gelegenheit der Ver- mählung einer sächsischen Prinzessin aufgeführt wurde. Seitdem wuchsen in Deutschland die bukolischen Dramen wie Pilze aus der Erde, besonders von den litterarischen Orden, zumal der Gesellschaft der Pegnitzschäfer gepflegt. Noch eins von den Jugendwerken Goethes „Die Laune des Verliebten" ist ein Schäferspiel.

Selbst zu den Serben und Kroaten ist die bukolische mimische' Hypothese gelangt. Der ragüsaner Dramatiker Marin Drzic (1520—1580) dichtete Pastoraldramen, Plautinische Komödien und zwei biblische „Rappresentazioni", besonderen Beifall aber fanden seine Hirtenspiele1). Im 16., 17. und zum Teil noch im 18. Jahrhundert waren alle europäischen Bühnen mit Hirten- dramen geradezu überschwemmt. Die grofse, bukolische, mimische Hypothese hatte dieselbe Gewalt und Ausbreitung erlangt, wie die Hypothese überhaupt einst zur Zeit des griechisch-römischen Weltreiches.

Wollte ich alle die modernen, dramatischen, bukolischen Mimen aufführen, ich müfste Seiten und Seiten allein mit den Titeln füllen ; denn sie zählen nach Hunderten. Doch wozu, wenn man einige von diesen Hirtendramen kennt, kennt man sie alle; denn unablässig kehren dieselben Typen, dieselben Sujets, die gleichen Entwickelungen und Lösungen der Handlung, die gleichen Erfindungen wieder, und fast für alle läfst sich Zug um Zug das Vorbild oder mindestens die Anregung bei Vergil oder Theo- krit nachweisen3). Immer findet sich da ein verliebter Hirt, jung, schön und leidenschaftlich. Seine Schönheit ist immer ganz aufserordentlich wie die des Daphnis bei Theokrit und

*) So bemerkt Vatroslav Jagic, „Die Aulularia des Plautus in einer südslavischen Umarbeitung aus der Mitte des XVI. Jahrhunderts. Festschrift für Johannes Vahlen, S. 620: „Das ragusanische Publikum des 16. Jahr- hunderts . . . scheint den Pastoralspielen mit der mythologischen Romantik, wobei Gesänge und Tänze vorkamen, mehr geneigt gewesen zu sein, als den Piecen ohne solche Ingredienzen".

2) Über diese ewige Wiederholung der gleichen bukolischen Motive wird schon in einem alten lateinischen Epigramm gespottet:

Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 89 1

bei Longus. Er bricht immer in die heftigsten Klagen nicht erhörter Liebe aus, wie Aminta bei Tasso oder der Hirt Theo- krits, der Amaryllis sein Ständchen darbringt, oder Polyphem, der über die spröde Galatea leidenschaftlich klagt. Manchmal tönt er diese Klagen in der Einsamkeit liebegirrend aus, öfters vertraut er sie einem Gefährten an wie Tassos Aminta seinem Freunde Tirsi oder Theokrits Battos dem Freunde Milo (X.) oder Theokrits Aeschines dem Freunde Thyonichus (XIV.). Die Geliebte ist zuerst immer spröde wie Amaryllis oder Galatea oder Silvia bei Tasso. Dann droht der verliebte Hirtenjüngling mit dem Selbstmorde wie Tassos Aminta oder Theokrits verliebter Hirt, der sich vor Amaryllis' Grotte niederwirft mit der Er- klärung, mögen die Wölfe mich fressen (IV.) und der ver- zweifelte Dämon bei Vergil (VIH, 58 ff.). Ja schliefslich führt er gar diesen Selbstmord aus wie bei Theokrit der Liebhaber des schönen Knaben (XXIH.) oder wie Tassos Aminta oder wie der Hirt in Encinas1 Ecloge.

Die Hirtin ist bei Vergil und Theokrit, bei Calpurnius und Nemesianus gewöhnlich nur ein Menschenkind, bei den modernen bukolischen Dramatikern fast immer eine Nymphe. Aber die Modernen geben auch ihren Hirten gern eine göttliche Ab- stammung, von Pan oder irgend einem Flufsgotte oder gar einem Olympier her, da mufs eben die Geliebte auch eine Natur- gottheit werden. Aber auch bei Theokrit ist Daphnis ein gött- licher Hirte und seine Geliebte ist eine Nymphe; Amaryllis haust wie eine Waldnymphe in einer Berggrotte und Galatea ist eine Najade, und wenn die Modernen gern noch Venus, Amor, Pan und sonstige Gottheiten auftreten lassen, so erscheint ja Venus

Altno Theon Thyrti» orti sub colle Pelori, semine disparili, Laurente Lacone Sabina vite Sabina, Lacon sulmost, sue cognita Laurens Thyrsis oves, vitulos Theon egerat, Alrno capeUas, Almo puer pubesque Theon ei Thyrsis ephebus canna Almo, Thyrsis stipula, Theon ore melodus. Kais arnot Thyrsin, Glauce Almona, Xysa Theonem, Nysa rosas, Glauce violas dat, lilia Nais.

Baehrens, P. L. M. IV, p. 112.)

892 Zehntes Kapitel.

in Person in der ersten Idylle Theokrits vor dem Hirten Daphnis, und an Eros und Pan wird beständig erinnert; überall erscheint Pan wenn auch unsichtbar gegenwärtig, wie auch in dem ganz von Theokrit abhängigen Hirtenromane des Longus.

Gestört wird nun die Liebe des Hirtenjünglings durch allerhand Nebenbuhler, die sich gleichfalls um die Liebe der Nymphe bewerben. Solchen Nebenbuhler findet z. B. Aeschines in dem jungen, hübschen Lykos oder Daphnis in des Longus Hirtenroman in dem Rinderhirten Lampis, der die Chloe raubt. In Tassos Aminta ist der Nebenbuhler ein Satyr, ein Satyr ist es in den modernen Hirtendramen meistens, wenn es nicht ein gewöhnlicher Bauerkerl ist, der mit seiner Bewerbung Spott und Hohn erntet, genau wie der Satyr. Nun tritt ja der Satyr nicht als Liebhaber im Theokriteischen Idyll auf, aber im IV. Idyll wird von einem alten Hirten, der hinter dem Stalle sich an eine junge Hirtin macht, gesagt, er sei Satyrn und Panen vergleichbar. In einem Theokriteischen Epigramm (III.) ist Daphnis in einer Höhle eingeschlummert. Da schleichen Priap und Pan herein und wollen den hübschen Jungen ver- gewaltigen. Moschus (VI.) erzählt von der Liebe des Pan zur Echo, die ihrerseits einen Satyr liebt. Horaz spricht von Nym- pharumque leves cum Satyris chori (carm. I.) und von dem Faune, der den Nymphen folgt (carm. III, 18). Also auch diese moderne Erfindung ist angeregt von der antiken Bukolik oder der ihr nahestehenden Poesie. Auch die Art, wie die Hirten geschildert werden, ist ganz die antike. Am vornehmsten ist der Rinderhirt, dann kommt der Schafhirt, dann der Ziegenhirt. Dieser hat wie bei Theokrit und Vergil immer einen schlechten Charakter und ist ein Störenfried.

Diese Figuren, der verliebte Hirt und die spröde Hirtin, und ihre Vertrauten, Freund und Freundin, denen sie ihre Liebe klagen, finden sich bei allen Bukolikern typisch wie der feine, junge Galan, der cultus adulter, und die kokette, junge Frau in der mimischen Hypothese; die befreundete Nymphe, die meistens zur Liebe rät, wie die Nymphe Dafne bei Tasso, die geschickt zu vermitteln sucht, erinnert ein wenig an die cata carissa. Jedenfalls sind diese Figuren des bukolischen Mimus ebenso

Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 893

stereotyp die Jahrhunderte hindurch geblieben wie die des biologischen Mimus.

Da Hirt und Hirtin aus Theokrit und Vergil stammen, haben sie auch von dorther die Namen; so ist bei Tasso Aminta und Tirsi nach Theokrits Amyntas (VII.) und Thyrsis (I.), Dafne nach Daphnis und Mopso nach Vergils Mopsus (VII.) genannt. Wie Theokrit und Vergil lieben es die Modernen sich und ihre Freunde in Hirtenmasken zu stecken. Simichidas im VE. Idyll ist Theokrit; Tirsi in Tassos Aminta ist Tasso selbst Dabei wird auch gern auf die politischen und litterarischen Zeit- ereignisse angespielt, wie es von jeher der Mimus that (vgl. oben S. 182 ff.), und vor allem werden die Fürsten gepriesen. Ich erinnere an Theokrits Lob des Ptolemäus, oder Vergils Lob des Augustus. Wenn Tasso im Aminta mit deutlichem Hin- weis auf Herzog Alfonso erklärt: Ein Gott habe ihm diese Mufse gegeben (0 Dame, a me quest' otio ha fatto Dio), so ist das die direkte Übersetzung von Vergils Schmeichelei für Augustus: deus nobis haec otia fecit (Ecl. I, 6).

Kurz, ich könnte noch zahllose Züge anführen, die das moderne Hirtendrama von Vergil und Theokrit hat, aber ich würde damit nur beweisen, was man im grofsen und ganzen schon immer gewufst hat, dafs am Anfange des modernen Hirten- dramas Vergil und Theokrit stehen 1). Aber das hat man bisher nicht gewufst, dafs der Idyllendichter Theokrit ein Mimograph ist, und dafs somit am Anfange des modernen Hirtendramas der Mimus, allerdings der bukolische, steht und dafs dieses also in seiner erweiterten dramatischen Fügung nach antiker Termino-

l) Im zweiten Bande sollen in dem Abschnitte „Mimus und Roman" die Entlehnungen des bukolischen Romans der Alten und der Modernen aus dem bukolischen Mimus im einzelnen nachgewiesen werden. Denn der antike bukolische Roman hat sich direkt aus dem bukolischen Mimus entwickelt. Da nun aber die bukolischen Erfindungen und Voraussetzungen im modernen Pastoraldrama dieselben sind wie im Pastoralroman, so wird dabei auch noch im grösseren Zusammenhange die Entstehung des Hirtendramas aus dem bukolischen Mimus mit weiteren Einzelzügen erläutert werden. Vor- läufig weise ich darauf hin, dafs ich in De Alciphronis Longique aetate S. 54—66 in des Longus Hirtenroman die Entlehnungen aus Theokrit auf- gezeigt habe.

894 Zehntes Kapitel.

logie eine bukolische oder auch idyllische, mimische Hypo- these ist.

Das Hirtendrama war schliefslich so unwahr, ja verlogen und albern geworden, dafs es allmählich dem Spotte verfiel. Es ist heute, wie es scheint, ganz aus der Mode gekommen, aber noch Vofs dichtete Idyllen und seine „Luise" ist auf idyllischer Grundlage erwachsen, noch Goethe singt vom Schäfer Thyrsis und hat sogar ein Schäferspiel gedichtet. Noch Schiller wollte ein Idyll schreiben.

Der Realismus der modernsten Dramatik erinnert vielfältig an den biologischen Mimus, der das Leben schildert, wie es ist; ijdug ßio; %6 £iyy ist die Devise des Biologen. „Es lebe das Leben" ist der Titel eines berühmten modernen Dramas. Dieser moderne Realismus scheint die Pastorale völlig auszuschliefsen. Ein grofses Schauspiel der Jetztzeit giebt es nun aber doch, das merkwürdige Parallelen zu dem bukolischen Mimus und dem Pastoraldrama bietet: Gerhart Hauptmanns „Versunkene Glocke". Der Realismus der antiken wie der modernen Biologen nimmt eben schliefslich die Wendung zum Idyllischen. Die Nymphe des Hirtendramas ist das „Waldfräulein" Rautendelein; der Satyr, welcher der Nymphe folgt, ist der Waldschrat. Der Mensch, der die Liebe der Nymphe erringt, ist Meister Heinrich, der Glockengiefser, allerdings kein Hirte, sondern seinem äufseren Berufe nach ein Handwerker. Der Waldschrat zeigt die Natur, welche die Satyrn, die Pane und Faune in der antiken Dichtung zeigen. Er ist aus dem Geschlechte des Priap, der sich in seiner ganzen Nacktheit im Mimus zeigte. An die Antike erinnert sich Hauptmann, wenn er ihn einen faunischen Wald- geist nennt. Im übrigen hat der Waldschrat als rechter Satyr Bocksfüfse. Seine freien Reden erinnern ein wenig an die Ob- scönitäten im alten Mimus, dem biologischen wie dem bukoli- schen, und die Üppigkeiten, die sich gleichfalls im modernen Pastoraldrama, finden. Wie der Satyr in Tassos Aminta geht er gern direkt auf sein Ziel los; so raubt er aus dem Reigen, den Rautendelein mit ihren Gefährtinnen schlingt, eine Elfin, und am liebsten ginge er Rautendelein selbst mit Gewalt zu Leibe wie bei Theokrit Priap und Pan dem schlafenden,

Das moderne Pastoraldrama als Nachkomme des bukolischen Mimus. 895

schönen Daphnis. Zwischen dem Satyr und dem Menschen, der die Nymphe liebt, kommt es im Pastoraldrama nicht selten zu argen Thätlichkeiten, wobei der Satyr meist den kürzeren zieht; Meister Heinrich will den Waldschrat gar mit dem Schmiede- hammer bedienen. Wenn hier an die Stelle der antiken Nymphe das germanische Waldfräulein gesetzt wird, so hat auch diese Neuerung schon das Pastoraldrama vor Hauptmann eingeführt. Der ragusaner Pastoraldichter Marin Drzic setzte z. B. an die Stelle der Nymphe die Vila, eine serbisch-kroatische Naturgottheit. Seit Mannhardts Buche über die Wald- und Feldkulte der Ger- manen wissen wir ja, wie sehr die niedrigen Elementargeister überhaupt einander ähneln.

Die Nymphen, welche im Pastoraldrama die Heldin um- geben, sind hier die Elfen, Rautendeleins Gespielinnen. Elfen und Nymphen sind ja gleichfalls nach Mannhardt identisch. Die alte Wittichen, „die Buschgrofsmutter", halb Hexe und Zauberin, halb gebietender Naturgeist und Herrin der Dämonen, sowie Nickelmann, der Wassergeist, gehören mit in diesen dämonischen Kreis. Nickelmann gleicht den dickbäuchigen Fruchtbarkeits- dämonen, den ältesten Darstellern des Mimus. Er hat dabei etwas Cyklopisch-Unbehülfliches wie Polyphem, der um die schöne Nymphe Galatea freit.

Der Pfarrer, der Schulmeister und der Barbier sind die be- kannten Typen aus dem alten biologischen Mimus und auch durchaus realistisch gehalten; der Wechsel zwischen dem schlesi- schen Volksdialekt der Wittichen, der niederen Sprache des Waldschrats, des Barbiers und des Schulmeisters und die lyrisch gehobene Ausdrucksweise Heinrichs und Rautendeleins erinnert etwas an die Art, wie die Sprache in der mimischen Hypothese wechselt, bei Rautendeleins Lied könnte man an die Arien im Mimus denken. Hauptmann nennt sein Schauspiel ein Märchen- drama. Wir kennen den Märchenmimus mit seinen Metamorphosen, seinen Göttern und Dämonen, Gespenstern, Zauberern und Hexen, auch in der versunkenen Glocke wird viel gezaubert uud gehext. Es sind uralte, verschollene Motive des bukolischen und zum Teil auch des biologischen Mimus, insbesondere der neueren Pastorale, die hier mit gewaltiger Erfindungskraft neu und

896 Zehntes Kapitel.

eigenartig gestaltet sind. Die grofse, moderne, realistische Biologie ist hier wieder einmal in das bukolisch-idyllische Zauber- land gezogen, in das die antike Biologie zum ersten Male Theo- krit der Mimograph geführt hat.

VI.

Schlufsbetrachtung: Der Mimus als Grundlage der dramatischen Weltliteratur soweit sie nicht klassisch oder klassizistisch ist.

Wir stehen am Ende der Entwickelungsgeschichte des Mimus, wir haben gesehen, wie der Mimus sich von kleinen Anfängen allmählich zu dem grofsen, biologischen Drama Philistions ent- wickelt hat und haben auch die weiteren Schicksale dieses Dramas bis zum Untergange von Byzanz verfolgt. Damit wäre der Ge- schichte des griechisch-römischen Mimus denn das ist unsere eigentliche Aufgabe soweit es möglich war, Genüge geschehen. Aber die eigentümliche, internationale Natur des Mimus hat uns mit Gewalt gezwungen, die Grenzen des Griechisch-Römischen zu überschreiten und dem weitwandernden Mimen zum hohen Norden wie zum fernsten Orient und zugleich durch die Jahr- hunderte und Jahrtausende und durch alle Litteraturen zu folgen. Wenn wir nun in den nächsten Kapiteln wieder nach Hellas und Rom zurückkehren, so haben wir uns sehr bei den jener Litteraturen kundigen Forschern zu bedanken, deren wegkundiger Führung wir es allein verdanken, dafs wir den Pfaden des Mimus auch in den für uns entlegenen Gegenden, Völkern und Zeiten haben folgen können.

Zugleich scheint durch den Mimus die ganze dramatische Entwickelung klar zu werden. Was das klassische Drama der Griechen für die Weltliteratur bedeutet, war seit Jahr- hunderten bekannt, nun haben wir zu lernen versucht, was die andere Hälfte des griechischen Dramas, das biologische Drama, dafür bedeutet. Zuerst entwickelte sich in Hellas das klassische Drama, dann das mimisch-biologische. Als das grie- chisch-römische Weltreich geschaffen war, das entweder alle Kulturländer und Kulturvölker der Welt umfafste oder wenig- stens mit ihnen wie mit den Indern und Chinesen in Beziehung trat, war das klassische Drama verblüht. Der Mimus aber war das

Schlufsbetrachtung: Der Mimas als Grundlage d. dramat. Weltlitteratur. 897

Weltdrama, das internationale Drama geworden. Das klassische Drama war am Beginne des Mittelalters längst von der Bühne verschwunden, der Mimus herrschte absolut. Ja, man hatte später in den Volkskreisen das klassische Volksdrama vollständig ver- gessen und selbst in den gelehrten Kreisen verblafste die Er- innerung mehr und mehr. Wenn die weitere dramatische Ent- wicklung im Mittelalter an das antike Drama anknüpfen wollte, so konnte sie überhaupt nur an den Mimus anknüpfen, weil er allein existierte und das hat sie denn auch in Europa und Asien gleichmäfsig gethan.

Der Mimus ist der Urquell des mittelalterlichen europäischen Dramas wie des gesamten orientalischen Schauspiels geworden. Aus dem Mimus heraus hat sich selbst das indische Mysterium entwickelt, wie er auch noch im mittelalterlichen europäischen Mysterium nachwirkt. Dann kam die Renaissance und mit ihr die Neu- geburt von Tragödie und Komödie, das klassische Drama kam zu seiner alten Ehre und übte einen ungeheuren Einflufs aus be- sonders in Italien und Frankreich, aber auch in Spanien, Eng- land und Deutschland. Von da ab dichtete man erst wieder von neuem Tragödien und Komödien; wie oft erscheint fortan nicht wieder Iphigenie, Medea, Klytemnästra, Orest, Achill, Hektor und Agamemnon auf der Bühne. Diese Dinge sind allgemein bekannt. Der griechische Einflufs ging von allgemein gekannten Litteraturwerken aus, die modernen Poeten rühmten sich be- ständig als Nachahmer der Griechen, der Litteraturhistoriker brauchte nur auszusprechen, was sie ihm selber vorsagten, das war kein tiefverborgenes Geheimnis, es lag alles klar am Tage.

Wie der Mimus einst dem klassischen Drama die Oberherr- schaft auf der Bühne geraubt, so gewann es ihm diese in der Zeit der Renaissance wieder ab, wie man im Mittelalter Komödie und Tragödie völlig vergafs, so in der modernen Zeit den Mimus.

Aber in Shakespeare vereinigen sich beide Ströme der Über- lieferung, der klassicistische wie der volksmäfsige, biologisch- humoristische. So ward das grofse, sogenannte romantische Drama geboren. In ihm ist der Einflufs des Mimus überwiegend. Auch das indische Drama ist ja nicht klassisch, sondern roman- tisch und in seinen Anfängen eine Metamorphose des Mimus.

Reich, Mimus. r.n

898 Neuntes Kapitel.

Damit ist das Problem von der Kontinuität der mensch- lichen Geistesentwickelung im Drama im grofsen und ganzen wohl entschieden. Alle die zahlreichen Dramen, die bisher, da man allein die griechische Komödie und Tragödie als beherr- schenden Faktor in der dramatischen Weltentwickelung kannte, selbständig zu sein schienen, vor allem die Dramen des Mittel- alters und die Dramen des fernen Orientes, erweist die Ent- wicklungsgeschichte des Mimus als im letzten Grunde abhängig vom Drama der Hellenen. Es giebt keine dramatische Poesie in der Welt aufserhalb des hellenischen Einflusses. Es giebt also keine verschiedenen Schöpfungscentren in der dramatischen Poesie, es giebt nur ein einziges und das liegt in Hellas, und von dort strahlte das Drama gleichmäfsig nach allen Richtungen aus nach Europa, Asien und Afrika. Nur der griechische Geist mit seiner leidenschaftlich-genialen Neigung zur plastisch-körper- lichen Darstellung der Ideen liefs die Poesie zur Plastik werden, schuf die höchste Blüte des Menschengeistes, das Drama1).

*) Von jeher haben die besten Kenner der verschiedenen dramatischen Nationallitteraturen bei den Anfängen des modernen Dramas an den Mimus gedacht, so der vortreffliche Kiccoboni für die italienische Komödie, der schon zu ziemlich sicheren Resultaten gelangte (die wichtige Gleichung Zanni- Sanniones verdanken wir ihm), so Weinhold für die komischen Scenen im Mysterium (vgl. oben S. 45), von Schack für das spanische Drama; vgl. Ge- schichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien Bd. I, S. 32 ff.); Sibilet für die französische Farce (vgl. oben S. 39 Anm. 1), Petit de Julleville wollte wenigstens die modernen Schauspieler von den alten Mimen herleiten (vgl. oben S. 838 Anm. 2). Besonders für die Beziehungen des Mimus zu den Anfängen des spanischen Dramas ich erinnere an Encinas Eclogen und den bukolischen Mimus wird eindringende Specialforschung noch viel Neues und Wichtiges lehren. So berichtet die Cronica des Condestables Miguel Lucas de Iranzo, dieser habe 1458—1471 momos (d.h. mimos) representaciones y mysteriös aufführen lassen. Vgl. Klein a. a. 0. IX S. 1 1 Anm. 1. Sehr gut bemerkt Creizenach, der in seiner Geschichte des modernen Dramas einen Abschnitt (VI, 6) „Mimus und Farce" über- schreibt: „Viel wichtiger für die Geschichte des neuen Dramas wäre es, wenn wir nachweisen könnten, dafs die Mimi, diese in der römischen Kaiser- zeit so beliebten Possenspiele, von den Lustigmachern in das Mittelalter hinübergerettet worden wären und so auf die Form des komischen Dramas mittelbar eingewirkt hätten, die wir am Ausgange dieser Epoche an zahl- reichen Beispielen vorfinden. Es begegnen uns hier allerdings manche Eigen-

Schlufsbetrachtung: Der Mimus als Grundlage d dramat. Weltliteratur. 899

Wohl haben wir überall auf der Erde den mimischen Tanz, den Urquell des Mimus nachgewiesen; haben selbst zeigen können, wie dieser hier und da sogar wie in Hellas von Fruchtbarkeits- dämonen in Gestalt der phallischen griechischen Elementargeister, der Prototypen des mimischen Schauspielers ausgeübt wird. Aber wenn sich hier auch überall der grofse Menschheitsgedanke des Mimus und des Dramas überhaupt im Keime regt, so ist er eben überall auch im Keime stecken geblieben.

Vergessen wir es nicht, selbst die genialen Griechen haben fast ein Jahrtausend gebraucht, um die letzte, höchstvollendete Gestalt des Mimus in dem biologischen Drama Philistions zu schaffen. Dann haben sie allerdings auch mit dieser Schöpfung, mit dieser mimischen Ethologie und Biologie so sehr den Kern alles Menschlichen getroffen und ihn so sehr von allem nur zu- fällig Anhaftenden befreit, dafs der Mimus sich fortan überall akklimatisieren und nationalisieren konnte, überall leicht Heimats- recht erhielt.

Den mimischen Narren der Hellenen begrüfsten die Inder ebenso jubelnd als den ihren, wie es Araber und Türken, Syrer und Ägypter, Lateiner, Slaven, Kelten und Germanen thaten und überall war er schnell ein beliebter Volksgenosse und redete die Sprache des Volkes. Riesengrofs richtet sich vor uns der grie- chische mimische Narr auf, der pTnog yekoiwv, der ftoigdg <faXa- x(>oc, der yskcoxo^oiög, der mimus calvus, der alopus, der sannio, der turpio, der pdöxos, der derisor, der scurra, der Vidüsaka, der Semar, der Kacal Pahlavän, der Karagöz, der Pulcinell, der Kas-

tümlichkeiten, die an den Mimus erinnern". (I S. 3S6— 387.) Dennoch kommt er nach Hervorhebung einiger markanter Ähnlichkeiten zum Schlüsse: „Es handelt sich also hier nur um eine Möglichkeit, die indes nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen isf. Soweit konnte die Forschung schon selbst auf Grundlage der erbärmlichen, nicht den zehnten Teil des vorhandenen mimi- schen Materiales bietenden Kompilation von Grysar, der die wahre Be- deutung des Mimus auch im entferntesten nicht einmal ahnte, gelangen. Da nun das grofse mimische Material zum Vergleiche mit der modernen Ent- wicklung vorliegt, dürfen wir von den Spezialkennern und Forschern auf dem Gebiete der neueren Nationallitteraturen, hier, wo der Altphilologe nur unsicher tastend das Gröfste und Gröbste findet, weitere wichtige Belehrung auch im einzelnen erhoffen.

57*

900 Zehntes Kapitel. Schlufsbetrachtung.

perle, der Hans Wurst, der iocularis, der Ioculator, der Jack Juggler, der Fallstaff, der Maistre Mimin und mit was für Namen man sonst ihn nennt. Unablässig hält er der Welt den Spiegel vor und lacht humorvoll über ihre Narrheit, über ihr Glück und über ihr Wehe, über das launische Regiment der Herrin Tyche, der Frau Fortuna, er, der Ethologe und Biologe, der derisor. Wunderlich genug sieht er aus mit seinem dicken Bauche und dem kahlen Schädel und dem häfslichen, seltsam verzogenen Gesichte, fast wie Sokrates, der Ethologe, der derisor omnium. Mit den Füfsen steht er auf der Erde, aber sein Haupt reicht bis zum Zenith, und wenn er sein gellendes, lautes, lustiges Lachen, den risus mimicus erhebt, dann lacht alles Volk auf der weiten Erde und zugleich schallt es durch die sieben Himmel der Weltliteratur.

Gemäfs seiner grofsen Bedeutung mufs der Mimus auch aufserhalb des Dramas einen mächtigen Einflufs ausgeübt haben; wir fanden, während wir die peripatetische Theorie vom Mimus entwickelten, deutliche Spuren des Mimus in Theophrasts „Cha- rakteren" in der peripatetischen Kulturgeschichte, die nach der mimischen Biologie ßiog lEXXäöog sich nannte, in der griechischen und römischen Rhetorik, ferner bei Seneca undPlato, im sokratischen Dialog, in Fabel (Phaedrus) und Epigramm (Martial) im Philo- gelos und den Facetienbüchern, im christlichen Kirchenliede wie bei christlichen Apologeten, Sittenpredigern, Dogmatikern und Epistolographen, insbesondere bei Hieronymus. Aber der Mimus richtet sich zu so riesengrofser Bedeutung vor uns auf, dafs das alles nicht genügen kann, wir werden mehr finden, noch viel mehr.

Wir gelangten bei der Entwickelung der peripatetischen Theorie vom Mimus zuletzt zu Sokrates, dem Ethologen, als dem Ausgangspunkte. Darum wollen wir bei dem Nachweis der praktischen Einwirkung des Mimus auf die hellenisch-römische Litteratur soweit diese nicht dramatisch ist , dem wir den zweiten Teil unserer Untersuchung widmen, wieder von Sokrates ausgehen; denn kein Einzelner hat einen gröfseren Einflufs auf die antike Litteratur und damit auf die Litteratur der Welt ausgeübt, wie dieses dämonische Genie, das nie eine Zeile geschrieben hat.

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